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Full text of "Strauss und die Evangelien, oder Das Leben Jesu von Dr. Strauss für denkend Leser aller Stände"

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Strauft uud die Evangelien, 
| oder 
das Leben Sefn 
von Dr. Strauß 
für denkende Lefer aller Stände 
bearbeitet 
von einem evangelifhen Theologen. 


Erste Abtheilung. 





Mit dem Bildniffe von Dr. Strauß. 





Burgdorf, 1839. 


Druck und Verlag von C. Eangiois! \ | 


vw. 


Vorrede. 


— — 


Als vor nunmehr vier Jahren Dr. Strauß ſein Werk: 
„Das Leben Jeſu“, herausgab, mochte wohl er ſelbſt nicht 
vermuthen, daß dasſelbe fo große und allgemeine Bewegungen 
hervorrufen würde, ale dieß befauntlich in allen Kreifen des 
deutfchen Publikums gefchehen it. Erwarten konnte dieß 
Strauß vorzüglich darum nicht, weil er fein Werk nur für 
Männer vom Fache ſchrieb; er fpricht ſich darüber in der 
Vorrede zur. erften Auflage S. vırı (dritte Aufl. S.x) ganz 
unzweideutig aud, indem er fagt: „für Richttheologen allerdings 
it die Sache noch nicht gehörig vorbereitet, und defmwegen . 
Die gegenwärtige Schrift fo eingerichtet worden, daß wenig« 
fteng die Ungelehrten unter denfelben bald und oft zu ‚merfen 
befommen, die Schrift fei nicht für fie. beſtimmt“. 

Troß dieſer Abwehr des Verfaffers wurde jedoch fein Werk 
bald Gegenftand der Iebhafteften, nicht felten fehr leidenfchafts 
lichen Befprechungen, und wie dieß in folchen Fällen zu ges 
fihehen pflegt, man fah alsbald vieler Drten die ganze gebildete 
GSefellfchaft in Gegner und Freunde des eben fo eifrig ver- 
feßerten, als laut gepriefenen Dr. Strauß fich theilen. Dieß 
war zunächft eine Folge der eben fo unwürdigen, als unflugen 
Weiſe, in welcher viele, namentlich die früheften, Gegner des 
jungen Gelehrten gegen denfelben auftraten. 

Strauß war auf dem Wege des Nachdenkens, welcdem 
kein Chriſt ſich entzichen kann, der fic nicht felbit aller Selbſt⸗ 
ftändigfeit und feſter, klarer Ueberzeugung verluftig erklären 


Die meiften Gegner jedoch ſchlugen einen andern Weg 
ein, ben ich ſchon oben, ich glaube nicht mit Unrecht, ale 
einen umwürdigen und unflugen bezeichnete. Sie verließen den 
Boden der Willenfchaft, und machten die abweichenden Ans 
fihten ihres Gegners zur Gewiſſensſache, in der fchon 
- von Schiller fo treffend gezeichneten Weiſe: 

„Dacht' ich's doch! Wiſſen fle nichts Vernünft'ges mehr zu 

erwiedern, 

Schieben ſie's einem geſchwind in das Gewiſſen hinein.“ 

Mochte es nun das Gefühl fein, daß fie beim Kampfe 
mit gleichen Waffen dem Gegner nicht gewachfen fein 
möchten; — oder war: ed verfehrter und mißverftandener 
Glaubenseifer; — oder eine Anwandlung geiftlichen Hochmu⸗ 
thes, der fich von Rechtes wegen jeder unbequemen Mühe 
der Widerlegung überhoben achtet; — kurz, die meiften Geg⸗ 
ner antworteten mit VBerfegerung und Verdammung. Da dieß 
ganz vorzüglich in Rezenfionen, wegwerfenden Raifonnements 
in Zeitfchriften jeder Art, fo wie m zahllofen Fleinen Broſchü⸗ 
ren gefhah, was Wunder, wenn durch diefes unfluge und 
keidenfchaftliche Benehmen ein Aufjehen unter dem ganzen | 
Iefenden Publiftum erregt wurde, das Strauß felbft mit lobens⸗ 
werther Behutjamfeit zu erregen verfchmäht hatte! Denn ift 
nicht jede Verfeßerung — man verzeihe den etwas harten, 
aber treffenden Namen — gewiffermaßen eine Berufung an 
die ganze Gemeinde, ber man doc auch ein Urtheil über 
Glauben und Unglauben zutrauen wird? Da mun überdieß 
der von feinen Zuhörern gefeierte Lehrer, ehe noch der zweite 
Band feines „Leben Jeſu“ erfchienen war, von feiner theolo- 
gifchen Lehrftelle abberufen wurde, fo mußte die allgemeine 
Aufmerkſamkeit auf diefe Forſchungen in einem für alle Chriften 
fo wichtigen Gebiete, fie mußte auf ein Merk hingelenft 


von dem Berfaffer herrühre, beffen Namen es trägt; in Der 
Vorrede zur dritten aber gefteht er ein, daß ein ernenerted Stu⸗ 
dium biefed Evangeliums, an der Hand von Neander’s „Leben 
Jeſu Chriſti“, ihm Die Unächtheit desfelben wieder zweifelhaft 
gemacht Habe; und doch ift Neander's Schrift als eine Streit⸗ 
ſchrift gegen Strauß zu betrachten! 


vH 


werben, zu beffen Befämpfung man fo- nsgewöhnliche Mittel 
in Anwendung bringen zu müflen geglaubt hatte! 

Hierzu fommt aber noch Ein Umijtand, den wir und, um 
ganz unbefangen zu Werke zu gehen, nicht verhehlen dürfen: 
dieß ift die im unferer Zeit unter den Gebildeten ‚unlaugb..e 
herrfchende Gleichgültigfeit und Kälte gegen die von den vers 
fchiedenen chriftlicyen Konfeffionen aufgeftellten Lehrſyſteme. 
Man verftche mich nicht falſch; id) Elage unfere Zeit keines⸗ 
wege, wie ed von gewilfen Eeiten her zur Genüge gefchicht, 
der Kälte gegen Religion, Chriftenthum und Kirche an; fors 
dern nur gegen Die orthodoxen Kirchenlehren. Sch bale 
dieſe Erfcheinung allerdings für eine ımerfreuliche, ja betri;s 
bende, weil damit auch der Nerv alles wahrhaft Firchlichen, 
die Gemeinde durch und Durch befeligenden, Lebens erlahmt 
it. Aber es kann in folchen Dingen zu Nichts führen, Tich 
die Wahrheit zu verhehlen; und Thatfache iſt ed, daß fich die 
Mehrzahl aller denfenden Chriften mehr oder weniger von fq 
manchen Lehrfägen ihres Katechismus abgeftoßen fühlt, weil 
die Bildung unjerer Zeit, deren wir und nun einmal niche 
entäußern köñnen, denſelben widerftrebt. Der wahrhaft 
Gebildete freilich wird, wenn and) die äußere Hülle ihn un⸗ 
befriedigt läßt, den von jedem Zweifel unberührten Kern 
nicht verjchmähen, und vielleicht mit um fo veincrer Begeiſte— 
rung zu der heiligen Urquelle zurüditeigen, je weniger der 
getrübte Abfluß derfelben feinen Durft zu flillen vermag. 
Smmer aber fühlt er fich allein, verwaist und auf fich ſelbſt 
zurückgeworfen; der Gemeinfchaft mit Brüdern, die des 
gleichen Glaubens find, bedarf zu feinem Gedeihen dag 
glaubende Gemüth aber eben fo fehr, wie die Pflanze ber 
erwärmenden Sonne und des blauen Himmels. — Schlimmer 
jedoch ſteht es mit den nur halb Gebildeten; nachdem fie ſich 
losgeſagt von der poftiiven Lehre ihrer Kirche, einem gefihlofs 
fenen Lehrgebände, und etwa nur einzelne Süße, die ihnen 
noch aufagen, ad libitum beibehalten haben, ift in ihnen eine 
Leere entftanden, die fie aus eigenen Mitteln nicht auszus 
füllen vermögen: fie gehen daher lieber, fo oft fie in devem 
Nähe kommen, ftill und leife an derfelben vorüber, und finfen 
unvermerft, da ein Gegengewicht fehlt, . immer weht \n vw, 


yın 


Flachheit und Rüchternheit des materiellen Daſeins herab. 
Hüten wir uns aber wohl, foldye Menjchen, deren es fo zahls 
los Viele gibt, voreilig zu verdammen! Sie erliegen ben 
Einflüffen einer allgemeinen Krankheit unferer Zeit; fie haben 
das Bertrauen auf die zur Heilung berufenen Aerzte verloren, 
und nicht Jedem ift ed gegeben, fein eigener Arzt zu fein! 
Treten wir näher zu ihnen heran, fo werben wir bei ben 
meiften derſelben eine weit größere Empfänglichkeit für 
hriftliches Xeben und Glauben finden, als ein oberflächlicher 
Anblick erwarten ließ; file wenden fid gar oft mit warmer 
Theilnahme einer Belehrung über diefe wichtigen Gegenftände 
zu, wenn fie nur die mäßigen Forderungen des Berftandes 
anerkannt und befriedigt finden. | 

Unter folchen Umftänden kann es nun wohl nichts Befrems 
dendes haben, wenn man einen Werfe, von dem aller Welt 
fo laut verfündet worden war, ed fei auf den Umſturz des 
pofitiven Chriftenthume gerichtet, eine gedoppelte Aufmerkſam⸗ 
feit zuwendete; zumal da felbft .Eiferer und Gotthelfe verfichern 
mußten, ber Berfafler des Werkes fei fehr gelehrt und fcharf« 
finnig. Männer und Frauen der verfchiebenartigften Gefins 
nungen und Bildungsftufen langten nad) bemfelben; bie im 
Glauben an die pofitive Kirchenlehre aus tieferen Gründen 
wanfend Gewordenen, wie die in ihrer Aufflärung und obers 
flächlichen Verneinung fich felbit Gefallenden; — die entichies 
denen Gegner des Chriftenthums, wie die, Doch auch zuweilen 
von heimlichen Zweifeln überrafchten, Frommen — Alle er: 
warteten wenigftens Etwas von dem verfchricenen Buche; Die 
Meiften jeboch hofften, gründliche und beruhigende Belehrung, 
und gewiß nicht Wenige auch einen ficheren Wegweiſer in 
ihm zu finden auf einem Gebiete, das zu durchwandern ihnen 
zwar unerläßlic,, ohne Führer aber zu gewagt jchien. 

Allein wie Viele mußten, wenn fie das Buch zur Hand 
genommen, ſchon an der Schwelle mit wehmüthigen Gefühlen 
zum Rückzuge ſich genöthigt fehen! fie mußten geftehen, daß 
Strauß Recht gehabt, wenn er fagte, bas Bud; fei nur. für 
Theologen gefchrieben. Denn ein Werk, das Cin der nur 
wenig erweiterten dritten Auflage) 1572 große Dftavfeiten 
zahlt, das auf allen Seiten lateinifche, griechifche oder hebräi« 


— — 


fhe Stellen zitirt, — das genaue Kenntniß ber theologifchen 
Literatur vorausſetzt, — das ben angefpormenen Faben ber 
Unterfuchung von. feinem Anfange an bis in die Fleinften Wins 
dungen des vorliegenden, oft fo verworrenen, geſchichtlichen 
Stoffes fortführtz — ein ſolches Werk erfordert, da es ein 
Ergebniß firenger umd ernfter Forſchung ift, ein eben fo ftrens 
ges Studium bed Leferd, wozu den weitaus meiften Nicht⸗ 
theologen, wenn auch die nöthigen Kenntniffe vorhanden find, 
fhon Zeit und Gefchäftsruhe mangelt: es ift Fein Buch zur 
feftüre. 

Man war alfo genöthigt, fich nach andern Schriften oder 
ausführlichen Anzeigen und Berichten umzufehen, durch Die 
ſich wenigftend aus zweiter Hand eine genaue, klare und 
anfchaulihe Kenntmiß der Grundideen, des wiffenfchaftlichen 
Standpunktes und der auf bemfelben gewonnenen NRefultate 
gewinnen ließe, durch welches Alles das vielbefprochene Buch 
eine. fo bedeutende Berühmtheit erlangt hatte. Allein dieſer 
Berfuch, aus den büftern Nebeln der Gerüchte und Sagen 
den wahren, -biftorifchen Strauß herauszufinden, mußte wo 
möglich noch unbefriedigender ausfallen, als das Anklopfen 
an feiner eigenen, mit Gelehrfamfeit verrammelten Schwelle. 
Mir wenigitens ift unter dem Vielen, Vielen, das id) über 
Strauß gelefeir, feine Schrift, noch irgend eine Anzeige, zu 
Geſicht gefommen, welche geeignet geweſen wäre, dem mit 
der Sache noch unbekannten oder auch fehon oberflächlich bes 
kannten Nichttheologen ein getreucd und anfchanlicyes Bild 
von dem Buche zu geben. Einige, die allerdings mit unbe⸗ 
fangener Wahrheitsliebe berichteten, waren zu kurz und zu 
wenig einläßlih, — id, rede hier überhanpt nicht von dem 
was für Gelehrte gefchrieben wurde — um eine bis ing 
Einzelne gehende vollftindige Kenntniß der Straußifchen For⸗ 
chungen zu gewähren. Die meiften aber, und zum Theil 
grade die ausführlichiten, verriethen es nur zu deutlich, Daß 
fie Die Eache mit gefärbter Brille angefchaut, daß fie das 
Merk von Strauß fchon mit der Abficht, es zu widerlegen, 
in die Hand genommen hatten, und daß fie, vielleicht ohne 
es zu willen, nicht im Stande waren, aus ihrer Werfitätte 
den Farbentopf der Empfindlichkeit und Des Widerwillens fern 


7 


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zu halten. Diefe waren. alfo mehr Dazu gemacht, die ſchon 
halb Belehrten noch zu verwirren, und die noch halb Befan⸗ 
genen ganz befangen zu machen. 


Diefe und Ähnliche Beobachtungen anzuftellen, hatte ich in 
meiner näheren und. entfernteren Umgebung Gelegenheit genug. 
Inzwiſchen fegßte ich Das begonnene Studium des Straußifchen 
Werkes mit allem Eifer, aber ftill und geräufchlos fort. 
Meine feitherigen theologifchen Studien hatten mich bis zu 
einem gewiffen Grade, den näher zu bezeichnen mir nicht zus 
fteht, fähig gemacht, fomohl den Unterfuchungen des Dr. Strauß, 
wie den Einreden feiner Gegner, mit prüfendem Auge zu fols 
gen. Strauß zog mich an und ftieß mich ab; ich muß jedoch 
offen geitehen, daß die Anziehungskraft mehr und mehr das 
Vebergewicht über das abfteßende Element gewann. Als 
Schüler des großen Schleiermacher hatte ich wohl gelernt, 
den Inhalt des Chriftenthums von deffen äußerer Form, 
die Idee eines Ehriftus von den Thatfachen feines Lebens, 
die Wunder feiner im Herzen vwohnenden Göttlichfeit von 
ber in feinen Thaten fich offenbarenden zu trennen. Sch 
hatte wohl fchon die Anficht gewonnen, daß unfere Evangelien 
in ihren mit Wundern überfüllten Berichten ung nur einen 
ſchwachen und theilmeife getrübten Reflex der inneren, wahs 
ren Größe bes Böttlichen geben; daß gar manche Parthien 
berfelben mehr Werk der bemundernden Einbildungsfraft, ale 
Abdruck ungetrübter hiftorifcher Ueberlieferung ſeien. Dennoch 
überrafchte mid) der kühne Verſuch, die ganze evangelifche 
Gefchichte vor den Richterſtuhl der hiftorifchen Kritik zu bes 
rufen, um fi darüber auszumweifen, ob fie nicht vielleicht 
ganz aus Sagen und Mythen beftehe, und nur das in dem 
Feuer einer ſolchen Kritif probehaltig Erfundene als reines 
hiftorifches Metall anzuerfennen. Nähere und fortgefeßte Bes 
trachtung führte mic) indeß zu der Ueberzeugung, Daß Diefer 
Verſuch, wie er auch ausfallen möge, gewagt werden müſſe, 
daß er ber einzige Weg fei, um dem fohmwülen, unheimlichen 
Schwanken zwiſchen Glauben und Zweifel ein» für allemal 
ein Ende zu machen, fei es durch diefes oder durch jenes 


Reiultat. Sch erfannte, daß die wunden Stellen bed vielfach 
verlegten Glaubens an die evangelifchen Berichte nicht länger 
mehr durch Die Immvarmen Umſchlaͤge einer modernen, mit ben 
Schönpfläfterlein einer neuen Weltweisheit dem Zeitgefihmade 
angepaßten, NRechtgläubigfeit kurirt werden dürfe, in Mart 
und Blut müſſen die Heilmittel eindringen, Damit der kräns 
finde Körper zu erkennen gebe, ob er nur äußerlich, oder in 
feinem Innern fchadhaft ſei; ob er, ſtatt zu vegetiren, ents 
weder wahrhaft leben Fünne, oder bei feinen fchon hingegans 
genen Bätern fich zur ewigen Ruhe einzufinden habe. Ich 
veritand jett erit ganz, was unfer Zeifing bei einer aͤhn⸗ 
lichen Gelegenheit ausfprady, und was Strauß in ber Vor⸗ 
tebe zu dem zweiten Theile feines Buches wiederholte: 
„Ich bin überzeugt, daß es fchlechterdings zu Nichte 
hilft, ven Krebs nur halb fchneiden zu wollen; daß dem 


Feuer Luft gemacht werden muß, wenn es gelöfcht 
werden foll.“ 


Mit folhen Betrachtungen wandte ich, meine Blicke wieder 
zu den fogenannten Laien zurüd, die ich durch die Strauß’s 
hen Forfchungen vieliach angeregt, zu vielfachen Erwartuns 
gen aufgeregt, in ihren Erwartungen aber getäufcht fah: es 
war ihnen befannt geworden, daß fich eine neue SHeilquelle 
für die auch fie fohmerzlich berührenden Leiden der gefammten 
hrütlichen Welt aufgethan habe; aber der Zutritt zu ihr war 
verfperrt durch Gelehrfamfeit einerjeitd und durch Befangens 
heit und Borurtheil andererfeits. Sollte man für fie diefe 
Duelle nicht frei machen? follte man fie nicht unmittelbar zum 
Baume der Erfenntniß führen, deſſen Früchte fie fchon 
gefoftet, aber verborben durch unfaubere oder nachläffige Ems 
ballage? Sollte man ihnen, um es Furz zu fagen, nicht 
grabezu den ganzen Strauß, nämlich das „Leben Sefu von 
Dr. ©. F. Strauß“, entfleivet feiner gelehrten Uniform, 
aber ganz, wie er oder es leibt und lebt, vor Augen legen, 
damit fie felbft ſchauen, nachſehen und urtheilen können? 
Warum nicht? — — Als ich fo Dachte, trat mir aber das 
ernite Bedenken entgegen, daß die Laien zu jenem Baume der - 
Erfenntniß nur über das fehaufelnde Meer des Zweifels 
binüber zu führen feien; foll man fie diefem tückiſchen Elemente 


xH 


anheim geben? Nein! wenn ihnen namlich Zweifel noch, ganz 
unbekannt find; da fie aber, wie ich ſchon früher erzählte, fich 
“eine gewiffe Befanntfchaft mit denfelben erworben hatten, fo 
fonnte ich nicht fürchten, daß Diejenigen, welche ihre leichten, 
nur zu Spazierfahrten eingerichteten, Fahrzeuge ſchon dieſen 
Bellen anvertraut hatten, bei einer Fahrt auf einem ſoliden, 
mit Maft, Segeln und Rudern wohl ausgerüfteten Schiffe von 
der Seekrankheit fonderlich heimgefucht werden würden: — 
es ftand vielmehr zu erwarten, daß die Ausficht anf einen ers 
fehnten: Landungsplak ihnen die Befchwerden der Neife leicht 
machen werde. 

Es Feimte Daher fehon vor zwei Jahren der Entichluß in 
mir, Etwas dazu beizutragen, um den denkenden Laien eine 
gene, . ausführliche und von Feinerlei fremdartigen Bes 
ftandtheilen getrübte Anficht von dem Inhalt des „Leben Jeſu“ 
von Strauß zu verfchaffen. Immer aber ward ich, da ich 
Aergerniß zu geben mich fehr fcheue, durch mancherlei Bedenken 
Davon zurückgehalten, bie endlich die Berufung des Dr. Strauß 
nach Zürich und die daran fich Fnüpfenden nur zu befannten 
Ereigniffe meinen Entfchluß beitimmten. Cine Benrtheilung 
Diefes ganzen in vielfacher Beziehung fehr merfwürdigen Ers 
eigniffes liegt außer meiner Abfichtz ich hebe einzig und einfach 
die Thatfachen hervor, daß nicht nur eine ganze weltliche 
Behörde, der Große Rath von Zürich, über die gelehrten 
Korfchungen des Dr. Strauß abgeurtheilt, fondern Die weitaus 
überwiegende Maffe des zürcherifchen Volkes über diefelben 
ben Stab gebrochen hat; daß in dem Verlaufe der ganzen 
Geſchichte bei Freunden und Feinden des alsbald nach feiner 
Anftellung yenfionirten Zürcher Profeffor Strauß eine übers 
rajchende Unkenntniß feines mit fo vieler Wichtigkeit behandel- 
ten Werkes zu Tage kam. Hiermit war auf Einmal das Vers 
hältniß gänzlich umgeändert worden; Strauß iſt nun nicht 
mehr als Bürger der gelehrten Welt zu betrachten, er ift 
gewaltfam vor den Nichterftuhl der öffentlichen Meinung, 
vor die Schranfen des gefammten Publifums gezogen wors 
den, und tiber Die Gränzen ded Kantons Zürich, ja weit über 
Graͤnzen der Schweiz hinaus, find die Morte „ Straußianer“ 
und „Antifiraußianer“ Partheinamen geworden, unter 


xıy 

denen fich gar Mancher eben nur bas benft, was ihm beliebt, 
ober was er zu begreifen vermag. Wenn aber ein großes, 
aus fo verſchiedenen Individuen sufammengefeßtes Publikums 
ſich ein Urtheil über einen Mann und über feine religiöfe und 
wilfenfchaftliche Ueberzeugung vwindizirt hat, fo wird es für 
diejenigen, bie ihn zu kennen glauben, Pflicht, der zu Ges 
richt fißenden Welt den Mann zu zeigen, wie er ift. Auch 
Strauß fcheint Das Veränderte feiner Stellung anerfannt zu 
haben, indem er in feinem befannten, offenbar zur Veröffent⸗ 
lichung beftimmten „Senbfchreiben an die HH. Hirzel, Orelli 
und Hisig* feine Anfichten in einer, jedem gebildeten Laien 
verftändlichen Eprache kurz und bündig zu rechtfertigen gefucht 
bat. 





Unter folchen Limftänden fchien es mir ein nicht nur nicht 
voreiliges, ſondern felbit von der Zeit gefordertes Unternehmen 
zu fein, aus) das größere Publiftum mit dem Werke des 
Dr. Strauß befannt zu wachen, ihm eine genaue Einficht 
in bie Alten zu gewähren, und dadurch ein wirklich begrün⸗ 
detes und beruhigendeg Urtheil vorzubereiten. Sp viel fah ich 
indeß bald ein, daß es nicht genügen könne, Einzelnes aus 
dem Zufammenhange des fo viel befprochenen Werkes heramss 
zunehmen und nun darüber erläuternd, ergänzend, berichtigend ıc. 
fichh weitläuftg zu verbreiten. Das Publifum fcheint, und nicht 
mit Unrecht, mißtrauifch geworden zu fein gegen Alle, die, 
fei es als Freunde oder als Gegner, ſich zu Referenten 
über Strauß und zu Beurtheileen desfelben aufgeworfen haben, 
wobei ihre eigenen Syfteme, Anſichten und Stimmungen 
immer mehr oder weniger, wenn auch ummillfürlidy, Durchs 
fchlagen; nicht einen Xobredner oder Anfläger des Mannes 
möchte man hören, fondern fein Werf felbft fehenz fei es 
auch nur in einer Gopie, die fich zu ihm verhält, wie Der 
forgfältige Kupferftich zu dem Gemälde, wie die treue 
Ueberfeßung zum Driginale. 

Eine ſolche Copie it es, eine Ueberfegung gleich 
fam aus der Sprache des gelehrten Theologen in die Der ges 
bildeten und denfenden Laien, die wir hiermit dem Publikum 


xIıV 


vorlegen. Der Berfaffer wollte Laien ber bezeichneten Klaffe 
em Buch in die Hand geben, von welchem Jeder berfelben, 
dem Das eigene Wert von Strauß verfchloflen ift, mit Zus 
verficht fagen könnte: „Seht, da haben wir nun endlidy eins 
mal auch den Achten Strauß, in ein Gewand gekleidet, in 
welchem auch wir allen feinen Bewegungen folgen können, 
ohne der gelehrten Brille zu bedürfen“. 

Daß ein ſolches Werk für eine vollftändige und allfeitige 
Kenntniß des ‘von Strauß eingefchlagenen wiffenfchaftlichen 
Verfahrens genüge, glaube ich allerdings nicht; daß es aber 
wenigftend eine.nothwendige Grundlage, ein erfter und 
wefentlicher Schritt zu derfelben fei, davon halte ich mich 
vollfommen überzeugt. Um dieß näher zu begründen, wird 
es ımerläßlich fein, mich noch über die Grundfäße, die ich 
bei disjer Arbeit verfolgte, näher auszujprechen, weil es bei 
einem Buche, wie das vorliegende, ganz vorzüglich darauf 
anfommt, zu willen, was man in bemfelben zu erwarten 
habe. 

Für welche Lefer das Buch beftimmt fei, darüber fpridyt 
ſich ſchon der Titel aus: denkende Tefer hatte ich im Auge, 
bie, gleichviel auf welchem Wege, fich ſoviel Selbitftändigs 
‚ teit und Urtheilsfähigfeit erworben haben, daß die Lichtſtrah⸗ 
len fie nicht bienden und erfchreden; — denen die Fragen, 
um die es ſich hier handelt, nicht mehr ganz fremd find; — 
bie mit der Schriftfprache vertraut genug find, um einer - 
ernften und faßlichen Entwidlung folcher Ideen und Anfichten, 
die jedes Gebildeten Intereffe in Anſpruch nehmen, ungeftört 
und ohne Anftoß folgen zn können: — vor Allem aber, lieber 
Lefer, wünfche ich mir folche Leſer, Die mit reiner, heiliger 
Liebe zur Wahrheit erfüllt und von dem lebhaften Wuuſche 
befeelt find, in einer der wichtigften Angelegenheiten bes Les 
bens eben fo dem Gemüthe wie dem Berftande Befriedigung 
zit gewähren, und jened Gleichgewicht der Seele zu fins 
den, ohne welches dieſelbe niemald ein ungetrübter Spiegel 
des Göttlichen werden kann. 

Solchen Leſern dad Werf von Strauß in einer Geftalt 
vorzulegen, in welcher es ihnen durchaus verftänblich ſei; 
ed ihnen So zu geben, wie id, glaubte, Daß Strauß felbft ed 


XV 


ihnen gegeben haben wide, hätte er für fie geſchrieben; — 
dieß ift der meiner Arbeit zu Grunde liegende, und ich darf 
verfichern, gewiffenhaft verfolgte Plan. Es erwuchſen 
mir daraus insbeſondere folgende Aufgaben: 

„Die größte Treue; Vollſtändigkeit neben vers 
„hältnißmäßiger Kürze; Abftreifen der gelehrten Form, 
„und möglichſt anfchaulicye und lebendige Darftellung“, 
Wenige Bemerkungen werden hinreichen, um bie hier ans 

gegebenen einzelnen Geſichtspunkte näher zu bezeichnen, und 
dadurch ein ganz beſtimmtes Urtheil über bag, was der 
Berfaffer wollte, zu begründen. 

1) „Größte Treue* — dieß Erforberniß fchien mir da⸗ 
erſte und wichtigſte; es ſollte Strauß ſein, der da redete 
in anderer Sprache, und nur Strauß bis zu dem kleinſten 
Zuge herab. Ich mußte mich durchaus in die Ideen und An⸗ 
ſichten dieſes Gelehrten verſetzen, mir Alles aneignen, was 
er erzaͤhlt, entwickelt, behauptet, und es alsdann in einer 
andern, meinem Zwecke entſprechenden Weiſe wiedergeben; 
ſo ſehr aber machte ich mir ſtrenge Treue zur Pflicht, daß 
bei jeder Zeile, die ich niederſchrieb, mir die Mahnung leiſe 
in's Ohr tönte: „Schreibe ſo, daß Strauß zu jedem Worte 
ſein Ja geben kann!“ Dieſe ununterbrochene Mahnung gab 
allerdings meiner Arbeit öfters etwas Aengſtliches und Pein⸗ 
liches; allein ich durfte mich ihr, wollte ich meinen wichtig⸗ 
ſten Zweck nicht verfehlen, auf keine Weiſe entziehen, wenn 
auch vielleicht anderen Forderungen dabei nicht ganz ihr 
volles Recht. widerfahren fein ſollte. In wie weit ich Diele 
Aufgabe gelöst habe, darüber mögen gründliche Kenner 
bes Straußifchen Werkes urtheilen; mir bleibt das Bewußts 
fein, daß ich mit Wiſſen auch nicht die Fleinfte Linie in dere 
Zeichnung, in fo weit fie den Inhalt des copirten Gemälbes 
betrifft, aus eigenem Borrathe zugefügt habe. Bei einzelnen 
Parthien war ich allerdings veranlaßt, für meine Lefer mans 
ches von Strauß nur Angedeutete etwas anfchanlicher auszu⸗ 
malen; bei anderen habe ich den Stoff etwas anders geordnet 
Einiges ift von mir etwas mehr in den Vordergrund geftellt, 
Anderes in Perfpeftive verkürzt worben. Dieß Alles aber 
gefchah mit folcher Behutfamkeit und Zurückhaltung, über 


xVi 


war ich fo jehr bemüht, ganz im Geilte und Sinne meines 
Driginals zu zeichnen, daß ich auch für Diefe Partbhien jenes 
Bewußtfein in Anfpruch nehmen darf. Hieraus folgt aber 
auch, daß ich für den Inhalt meines Buches an fich Durchs 
aus nicht verantwortlich fein, fondern daß mich in Diefer Bes 
ziehung nur dann ein Vorwurf treffen kann, wenn fich hier 
Etwas findet, was mit dem von Strauß Entwidelten nicht 
übereinftimmt. Ich geftehe fogar, daß ich in manchen Etüden 
nicht der Anficht von Strauß bin, daß id) überhaupt in vors 
liegender Schrift mein Glaubensbekenntniß nicht ablegen wollte; 
nur das Amt eines redlichen Dolmetfcher’s wollte ich nach 
beiten Kräften verwalten. Diefem Streben nad) möglichiter 
Treue it es auch zuzufchreiben, daß ic) einzelne — wiewohl 
verhältnißmäßig fehr wenige — Stellen ganz wörtlich aus - 
Strauß abgefchrieben habe; alle diefe Stellen (einzelne Aus⸗ 
drücke und licbergangsforneln wird man nicht hierher ziehen 
wollen) find am Anfanze und Ende mit Fleinen Sternchen 
bezeichnet, übrigens aber fo in den ganzen Guß der Darftels 
lung verjchmoßen worden, daß man fie ohne dieſe Zeichen 
wohl nicht erfennen würde. 

» 9 „Größte VBollftändigfeit neben verhältnißmäßiger 
Kürze“: — eine fchwere Aufgabe, aber gleichfalls unerläßs 
liche Forderung! Daß bedeutend abgefürzt werben mußte, 
war, abgejehen von andern Gründen, ſchon darum nothwen⸗ 
dig, weil dem Laien nicht zugemuthet werden fonnte, ein 
voluminöfes Werk zu ftudiren, das weder in feinen eigentlichen 
Berufskreis einfchlägt, noch auch unter die zur Erholung und 
Erheiterung beftimmte Lektüre gezählt werden kann, fondern 
vielmehr eine ernfte Betrachtung in Anſpruch nimmt, wozu 
man nur die beiten Stunden einer fo mandjem andermeitig 
Beichäftigten fparfam zugetheilten Muße verwenden kann. 
Ganz gleihmäßig konnte diefe Abkürzung natürlich nicht 
vorgenommen werden, ba nicht alle Gegenitände gleiche Bes 
deutung haben, und überall auch darauf Rüdjicht genommen 
werden mußte, ob ein verwandter Gegenitand ſchon früher 
behandelt worden war, oder nicht. Namentlich aber mußte 
ich der Einleitung eine größere Augführlichkeit widmen, da 
es von beſonderer Wichtigkeit war, den in ihr dargelegten 


wiſſenſchaftlichen Standp unkt möglichft klar hervorzuheben, 
and dadurch die Soliditaͤt des Bodens, auf weichen die eins 
"zelnen Forſchungen gegrätbet find, recht anſchaulich zu mar 
chen :- wirklich iſt and) dieſe Einleitung kaum um die Hälfte 
verkürzt worden. - In weldyem Maße dieß aber. bei ben eigents 
Tich hiſtoriſchen Unterfuchungen gefchehen ift, möge ber Leſer 
aus dem Inhalte dieſer erften Abtheilmug von Seite 72 ‘bis 
Ende derfelben erſehen; es ift in Diefen Seiten zuſammengefaßt, 
was Steanß auf 660 Seiten (bis Ende bed erften Bandes) 
entwidelt hatı:'3c;, hoffe, daß. durch dieſe Kürze die "Deut 
lichkeit nicht gelitten hatz vielmehr mögen manche ‚Refultate 
ie diefer Beziehung eher. gewonnen haben, wenn fie in ein⸗ 

fache, leicht Aberfehbare Umriſſe zufanmengezogen, einen uns 
fo fchlagenberen Totaleffekt hervorbringen. 


Trog ber bedeutenden Abkürzung iſt indeß gewiß fein 


irgend wefentlicher Punkt übergangen worben, weil es mir 


ebenfalls: fehr um möglichite Vollſtaͤndigkeit in Angabe 
nicht nur der Reſultate, ſondern auch ber Gründe, auf wel⸗ 


chen dieſe beruhen, zu thun war. Denn einestheils iſt ohne 


die Kenntniß dieſer ein genaues Urtheil über jene kanm 


möglich; andererſeits bewährt ſich aber grade in der Entwicke⸗ 
Img der Gründe und in der Strenge ber Folgerungen ein 
ausgezeichneter , theilweife glänzender, Scharffinn, ben felbft 
die Gegner an Strauß rühmen mußten; ed wäre alfo ein 
wefentlicher Theil der inneren Cigenthüntlichfeit feines Bus 
ches verwiſcht worden, wenn ich es nicht fo viel ald möglich 
vermieden hätte, Durch meine Bearbeitung diefe Seite deffels 
ben in Schatten zu ftellen. Deßhalb hielt ich es auch für 
nothmwendig, überall die Anfichten derjenigen Theologen, denen 


Strauß entgegentritt, beftimmt, wenn auch nur kurz, hinzuftels 


len; ohne bieß Berfahren wäre gar Vieles in dem Buche 
uwerſtaͤndlich geblieben, und es hätte überhaupt fehr oft der 
ganze Gedanfengang völlig umgeändert oder unkenntlich ges 
macht werben müfjen. Denn in der. Regel verfährt Strauß 
fo, daß er zuerit. den buchftäblichen Inhalt einer evangelifchen 
Erzählung. angibt,; alsdann die feitherigen Erkläärungsverſuche 
derſelben Der Reihe nach aufzählt und beurtheilt, und endlich 
ba, wo ihm feines. genugend erfcheint, ben feinigen austinans 


— 


berfept. Dieſe Mechode dutſte um fo weniger verlaſen ers 


xvin 


den, da fie zugleich den Leſer mit den herrſchenden Syſtemen 
in der Theologie und mit der intereſſanten Thatſache bekannt 
macht, daß auch auf dieſem Gebiete das goldene Zeitalter 
des ewigen Friedens noch in weiter Ferne liegt. 

Daß es mir bei dieſem ſorgſamen Streben uach einer 
Vollſtändigkeit, die Nichts von dem Charakter und weſentlichen 
Inhalte eines Werkes verloren gehen läßt, dennoch möglich 
war, fo bedeutend abzufürzen, erklärt ſich zunächſt aus der 

gewiſſenhaften Anwendung derjenigen Grundfäße, die überhaupt 
bei einem Auszug aus einem wifjenfchaftlichen Werke beob⸗ 
achtet werden follen, und. die genauer auseinander zu feßen, 
mich hier zu weit führen würde. - Wer fie fchon fennt, für 
ben wäre eine folche Auseinanderſetzung überflüffig, wer fie 
noch nicht kennt, den muß ic) erfuchen, nachzufragen, wie es 
der Seographe anfüngt, um aus. feinen trigonometrifchen 
Bermeflungen eine Landeharte zufammenzufeßen; wie der 
Maler, um ein menfchliched Antlig in den Rahmen eines 
kleinen Miniaturbildes zu faffen; wie der Gefchichtsfchreis 
ber, der in lebendiger Darftellung die Zeiten fchildert, in 
welche feine Studien ihn verfenft haben. Wenn fchon diefe 
im Stande find, ein getreues Bild ihrer eigenen Anfchauungen 
zu geben, P muß ein Auszug aus einem wiflenfchaftlichen 
Werke, wie er bier vorliegt, ſchon feiner ungleich größeren 
-Ausführlichkeit wegen um fo mehr ald ein getreued, wenn 
auch verfürztes, Abbild betrachtet werden, da derjenige, von 
dem er herrührt, fich vedlich bemüht hat, in der Verkürzung 
auch nicht den Fleinften wefentlichen Zug des Urbildes unter 
gehen zu laſſen. — Ferner aber erreichte ich den Zweck bes 
deutender Abkürzung durch 

3) „Das Abftreifen der gelehrten Form der Darftels 
lung.“ — Viele Nachweifungen, Berufungen auf ältere 
Schriften; Erörterungen folcher Stellen aus gelehrten Wers 
fen, die zu Beweifen oder Gegenbeweifen dienen follen; — 
kurz, der eigentlich gelehrte Apparat, den Strauß natürlich 

nicht vorenthalten durfte, konnte und mußte bier entweder 
wegbleiben oder, wo er zu näherem Berftändniffe des Inhals 
tes nöthig fchien, fehr in’d Kurze zufammengezogen werben. 
Wenn ed mir nur gelungen iſt, audy hier bie Treue, bie ich 
ar überall zur Pflicht machte, dabweh, zu bewähren, dag Ach 


den eigentlichen: Peru: and: ber. geichkten:: Gülfe auwerfehen 
hevandfchhlie ,:- ſo hat weine Darſtellaig · det Sache gewiß 
nicht geſchadet: vielmehr muß ich glauben, daß ſelbſt Kunſt⸗ 
verſtaͤndige ein neues Gebaͤude gar gerne auch dann betrach⸗ 
ten, wenn das Baugerüſte ſchon abgeſchlagen iſt, und die 
fchönen Flächen nicht mehr verdeckt, ſo daß das Ganze zu 
bequemerer Ueberſicht vor uns fteht. Daher habe ich auch 
Alles, was Strauß in ben zahlreihen Anmerfungen, bie 
ms einmal ein nothwendiges Uebel in gelehrten Schriften find, 
‚verhandelt hat, mit dem Texte felbit verfchmolzen; ich gewann. 
dadurch zugleich den Bortheil, daß ich das Wenige, was ich 
bier und da hinzugufeßen für nöthig hielt, in Anmerkungen, 
die alſo ſammtlich Zuſaͤtze von mir find, beifügen konnte. 

Ferner mußte ich das gelehrte Gewand auch dadurch abs 
Rreifen, daß ich alle Stellen aus lateinifchen, griechifchen und 
hebräifshen Schriftftellern, die ſaͤmmtlich von Strauß in. ber 
Urfprache angeführt werden, ind Deutfche überfeßte, wo ich 
nämlich es für nöthig hielt, fie wörtlich mitzutheifen. Bei 
uensteftamentlichen Stellen hielt ich mich im Allgemeinen am 
die ‚Intherifche Ueberſetzung, von ber ich. jedoch häufig da, we. 
es die Genauigkeit zu erfordern fchien, auch abgewichen bin. 

. Wenn mir nun audy einerfeits die Rüͤckſicht, daß ich nicht 
für Gelehrte fchreibe, mannichfache Weglaſſungen rein gelehrs 
ter Zuthaten möglich machte, fo ſah ich mich andererfeits 
durch dieſe Rückſicht auch wieder zu vielerlei Zufägen genös _ 
thigt. Strauß nämlich, der für Theologen fchrieb, mußte bei 
feinen Lefern Belanntfchaft mit den theologifchen Syftemen, 
Schriftftellern und Sculausdrinfen, fo wie mit der Kirchens 
gefchichte worausfegen; bei mir ift diefes anders: ich muß eine 
folhye Bekanntſchaft dem größeren ‘Theile meiner Lefer erft 
verfchaffen. Solche Erklärungen durfte ich aber in den Tert 
fhon darum nicht verweben, weil ich mir zum erften Gefeße 
gemacht hatte, in Diefem Texte den Strauß, und nur ben 
Strauß, zu geben, und meine geringe Weisheit gänzlich bins 
ter den Couliſſen verftect zu halten. Daher fchien es dus 
Zweckmaͤßigſte, um Zufammengehöriges nicht zu zerfplittern, 
am Ende des ganzen Werkes eine Reihe alphabetifch geords 
neter Anmerkungen zuzufügen, in welchen der Leſer widıt wur 
eine Erflärung aller in bie wiffenfchaftliche Theologie einickilas 


ax 


genden Ausdrücke, fondern auch furze Nachweifungen über Die 
im Verlaufe der Unterfuchung genannten Gelehrten finden wird. 

Ebenfalls von mir herrührend iſt die intheilung des 
Buches in Abfchnitte und Kapitel. Strauß hat eine folche 
zwar auch; allein feine Abfchnitte wie feine Kapitel find im 
Durchſchnitte von bedeutend größerem Umfange, wogegen er 
. noch die Unterabtheilung in SS. hat. Diefe Einrichtung ift 
in feinem Werke gewiß fehr zweckmäßig; für meinen Zweck 
aber. fchien mir eine befondere Rückſicht auf Symmetrie, und 
„eine Bertheilung in mehrere, und dadurch Fürzer gewordene, 
Abfchnitte und Kapitel nothwendig. Denn ein Leſer, von 
welchem ein ununterbrochenes Studium nicht zu erwarten 
ift, liebt häufige Nuhepunfte und leicht überfehbare Abfchnitte; 
deßhalb find auch faſt alle Kapitel noch durch Hleinere und 
größere Querftriche unterbrochen worden, Die nucht felten den 
65. bei Strauß entfprechen. 

Unter der Weberfchrift jedes Kapitels habe ich die in dem⸗ 
felben behandelten evangelifchen Stellen angegeben. - In 
Bezug auf diefe, fo wie auf die meiften andern zur Sprache 
gefommenen Bibeljtellen muß ich es bedauern, Daß es mir 
nicht möglich war, fie mitzutheifen, was natürlich zuviel Raum 
weggenommen hätte. Dadurch ift nun allerdings eigenes 
Nachſchlagen vielfach nöthig geworden; allein Die meiften 
der citirten größeren Parthien find gewiß meinen Lefern 
hrem wefentlichen Inhalte nach ſchon bekannt, und auch bei 
ben im Borübergehen angeführten Stellen ift deren Inhalt fo 
beftimmt aus der Darftellung erfichtlich, daß der Leier, der 
dem Berfaffer Vertrauen fchenkt, fich das Nachfchlagen er: 
ſparen kann; fo daß Diefe, theilweife ziemlich gehäuften, Gitate 
hanptfächlich nur der nothwendigen diplomatischen Treue nnd 
den Wünfchen derer gewidmet find, die gern überall mit eiges 
nen Augen fehen *). 

4) „ Möglichft anſchauliche und lebendige Darftellung .— 
Ein Buch zu unterhaltender Lektüre wollte und Fonnte ich nicht 
liefern; dazu ift der Gegenftand ein zu wichtiger und bedeus 
tungsvoller; es mußte daher fchon die ernfte und würdige 


*) Da, wo die drei cerften Evangelien übereinftinmen, ift der 
Kürze wegen nur Matthäus citirt. 


Haltımg des Styles Iebem, ber etwas. Anderes, als ruhige 
und ernite Betrachtung bier zu . finden ‚vermeinte, auf: allem 
Seiten bed Buches entgegensufen,.baß er fid, verrechnet habe. 
Aber eben dieſe Beichaffenheit des Stoffes, der vieleicht: Füd 
Manche etwas Spröded und Schwieriged haben mag, und 
eben diefe durch ihm gebotene. Nottwendigkeit einer gemeſſenen 
und körnigen Sprache machten es mir zur Pflicht, der Dar⸗ 
ſtellung zugleich eine lebendige Friſche und einen moͤglichſt 
großen Farbenreichthum zu verleihen. Denn nur durch dieſe 
Eigenſchaften des Styles kann es gelingen, den Leſer zu 
feſſeln, den Gegenſtand ihm nahe zu bringen, ſeiner eigenen 
Anſchauung in die Hände zu arbeiten und das Grmübende, 
das eine im · MWefentlichen etwas gleichförmige Unterfuchung . 
leicht haben könnte, entfernt zu halten. -Diefe Aufgabe: war 
aber: in der That Feine leichte; dem Kenner barf idy ed nicht 
erſt fagen, wie fehr bie freie, bewegliche Lebendigfeit bed 
Styles gehemmt ift durch den Zwang, den das Gebot der 
ſtrengſten Trene in Nachbildung ber von einem: Dritten vor⸗ 
gebildeten‘ Ideen unb Anfichten auferlegt; — durch die Rothe 
wendigfeit, kurz und vollftinbig zugleich zu fen. Die Aufs 
gabe kann nur dann ganz befriedigend gelingen, wenn es vers 
gönnt ift, Die erfte Anlage des Werkes immer und immer - 
wieder in größeren und Fleineren Parthien zu überarbeiten, 
um alle Unebenheiten auszuglätten, alle noch matten Färbun⸗ 
gen aufzufrifchen, alle Eintönigfeit zu entfernen, alles Edige 
abzurunden, und alle noch Klaffenden Fugen auf’ Neue zu 
überfahren. Hierzu gehört eine längere Zeit, als mir zu Diefer 
Arbeit vergönnt war, und ich muß daher offen geftehen, daß, 
fo fehr ich mich auch bemühte, das vorgeftedte Ziel zu erreis 
chen, mr doc, in Diefer Beziehung mein Werk am wenigften 
genügt. Eolite e8 ftch einer zweiten Auflage zu erfreuen has 
ben, fo hoffe ich dem mir vorſchwebenden Ideale um ein 
Merkliches näher zu kommen. 





So übergebe ich denn vertrauensvoll die erfte Abtheilung 
dDiefer Schrift dem Publiftum. Sie enthält die Einleitung, 
und das Leben Jeſu, fo weit es Strauß in bem erften Bande 
feines Werkes geführt hat; die zweite Abtheilung, worldie 
mfeplbar in wenigen Donaten erfcheinen fol, wird ven Aw - 


halt des zweiten Bandes von Strauß wiebergeben; alsdann 
aber noch eine Ueberſicht derjenigen Thatfachen enthalten, 
weiche nach den von Strauß angeftellten Unterfuchungen als 
hiſt oriſch beglaubigt ſich herausftellen: Anmerkungen und 
Regiſter werden das Ganze beſchließen. — 

Noch ehe ich dieſe Arbeit unternahm, wußte ich, daß den 
eutſchiedenen Gegnern des Dr. Strauß dieſelbe ein Aerger⸗ 
niß ſein werde: ich muß dieſe daher erſuchen, ſich mit aus⸗ 
führlichen Verſicherungen ihres Unwillens nicht beſonders zu 
bemühen, da ſie mir nur bekannte Dinge ſagen würden. Von 
den Freunden des ausgezeichneten Mannes aber, und von 
ihm ſelbſt wünſche ich ſehr innig, daß ihnen der Gedanke ſo⸗ 
wohl, von dem meine Arbeit ausging, wie die Ausführung 
desſelben wohl gefallen möge. Allen aber, den Freunden wie 
den Gegnern einer Sache, zu deren Weiterbildung ich etwas 
beizutragen ſuchte, werde ich ſehr dankbar ſein, wenn ſie mich 
auf Die Mängel meiner Schrift aufmerkſam machen, und mir 
dadurch die Verbefferung derfelben erleichtern wollen. Denn 
mit der Berficherung darf ich Diefe Vorrede fchließen, Daß ich 
diefe Arbeit mit ber reinen, heiligen Abficht unternahm, das 
wahre, ächte, tiefe Chriftenthum zu fürdern und die Wieders 
* Belebung desfelben zu befchleunigen. Mögen Andere einen ans 
deren Weg für ben befferen und Fürzeren halten: ich rechte 
nicht mit ihnen, fo wie ich wünfchen muß, daß auch mir 
mein Recht unverfümmert gelaffen werde. So wie aber Baco 
von Verulam fagt: „Wer den Becher der Forfchung aus⸗ 
trinkt, wird, wenn auch von Anfang irre gemacht, doch auf 
dem Grunde desfelben Gott wieder finden“, — fo ift es bei 
mir unerfchütterliche Weberzeugung geworden: Nur der, ber 
ben Becher biftorifcher Unterſuchung austrinft, wird, werm 
auch von Anfang irre gemacht, auf dem Grunde desfelben 
ben wahren Chriſtus, und bie lebendige Gemeinfchaft mit 
ihm wieder finden! — — 

Gefchrieben im Suli 1839. 

Der Verfaffer. 





Einleitung. 





Erfter Theil. 


Darftellung der verfchievenen Auslegungsweifen der bibli 
fhen Geſchichte. 


Erftes Kapitel, 


Die Entſtehung verfchiedener Erflärungsverfuche 
beiliger Gefchiypten. 


Bei allen Religionen, die auf gefchriebene Urkunden fich 
ftügen, wird früher oder fpäter der Fall eintreten müffen, daß 
der Bildungsftufe ihrer Bekenner jene fchriftlichen Denkmale 
nicht mehr genügen. Denn bdiefelben find ja mehr oder weniger 
ans einer gewiſſen Entwidlungsftufe der Zeit und bes 
Volkes hervorgegangen, in welcher fie entitanden: fie mußten 
alfo nothwendig auch den Charakter derfelben annehmen, 
Nun find aber diefe Bücher einmal abgefchloffen; fie bleiben 
unverändert; der Geift der Völfer und der Zeiten aber ift in 
beftändigem, wenn auch oft unterbrochenem, Borwärtsfchreiten 
begriffen, und entfernt ſich alfo mehr und mehr von dem 
Standpunkte jener alten Bücher. Aus dDiefem Grunde wird 
ſich ein Widerftreit zwilhen ihnen und den Forderungen 
der im Laufe der Zeiten gewonnenen Bildung allmählig ers 
geben. Wie ift nun diefer Widerjtreit aufzulöfen? Die ges 
fchriebenen Bücher find da; die veränderte Stufe des geijligen 
Lebens der Bölfer ebenfalls: beide find unläugbare Thatfachen. 
Der einmal gewonnenen Bildung können wir uns nicht 
entfchlagen: die heiligen Urkunden wollen und dürfen wir 
nicht aufgeben. Entfernen Fäßt ſich alfo Keined von 
Beiden, weder die neuere Bildung, noch die alten Ackunben. 

T. 1 


— EEE VE U BE Sul 1 EEE DEE zu 2 nk Bid BEE BE 


Es tritt daher unabweisbar das Bedürfniß einer Ver⸗ 
mittlung ein: dieſes führt und zu mancherlei Verfuchen, durch 
die Auslegung und Deutung jener fchriftlichen Grund- 
lagen der Religion den Widerfpruch zu befeitigen. Durch eine 
uns befriedigende Erflärung berfelben. müffen wir unfere 
eigene Welt: und Lebensanficht mit ihnen in Einklang zu brin- 
gen ſuchen. Died wird vorzüglicd, der Fall fein in Bezug auf 
die in ihnen enthaltene Gefchichte, welche einen wefentlichen 
Theil aller Neligionsurfunden ausmacht. Dieſe Geſchichte ift 
vorzugsweife eine heilige, wunderbare; db. h. ein Geſchehen, 
worin das Göttliche unmittelbar in Das Menfchlichye eintritt, 
ohne durch die natürlichen Gefeße von Urſache und Wir 
fung vermittelt zu fein; alſo eine Unterbredyung des inneren 
Zufammenhangs aller Dinge und Erfcheinungen im Weltall, 
Denn überall, wo ein Wunder gefchieht, wenn 5. B. durd) 
ein bloßes Wort ein Todter wieder erwedt, oder ein Kranker 
- wieder geheilt wird, ftehen die Naturgefeße gleichfam ſtill und 
“weichen einer fremden Macht. | 

Kun führt aber die fortfchreitende Bildung den Menfchen 
gerade mehr und mehr zu der Einficht, daß alles in Der 
Außenwelt, wie in ung felbft, Gefchehende nur unter den in 
der ganzen Natur feſt begründeten VBerhältniffen von Urſache 
nnd Wirfung gefchehen könne, daß mithin aud) das Göttliche 
durch diefe Berhältniffe in den Erfcheiningen der Sinnenwelt 
vermittelt werden müſſe. Daher wird fich jener Wider⸗ 
fpruch zwifchen der neuen Bildung und dem gefchichtlichen 
Inhalte der alten heiligen Schriften genauer dahin ausfprechen, 
daß das wunderbare, unmittelbare Eingreifen des Göttlichen 
in das Menfchliche, 3. B. wunderbare Heilungen durch götts 
liche Kraft; gehörte Worte ohne einen menfchlichen Mund, 
der fie ausipricht ıc., feine Wahrfcheinlichfeit verliert. 
Es erjcheint und dasjenige, was den Gefegen der Natur widers 
fpricht, als unmöglich; 3. B. daß ein vierfüßiges Thier fol 
geredet haben. 

Hier beginnt alfo nothwendig der Zweifel an der Wirflichs 
keit. der erzählten wunderbaren Gefchichten: diefer wird um: fo 
fkärfer, wenn das Erzählte den Character einer unentwidelten, 
ja felbft rohen, Bildungsftufe an ſich trägt. Als Folge uns 


vollkommener Eittwicklung muß es und 5.8. erfcheinen, wenn 
erzählt wird, Gott habe in fo und fo viel Tagen die Welt 
erſchaffen; als roh, wenn er ausdrücklich befohlen haben fol, 
ein ganzes Bolf zu vertilgen. 
Diefe Zweifel werden nun im Wefentlichen fich auf zwei 
verſchiedene Weiſen ausfprechen. Entweder fagen wir: 
„Das Göttliche kann nicht fo gefchehen fein,“ oder: 
„Das fo Gefchehene kann nicht Göttlicheg gewefen fein.“ 


n 


Im erftern Falle behaupten wir, daß das Erzählte nicht 
wirkliche Geſchichte fei, fonbern verweifen es in das Gebiet 
der Dichtung und der Sage. Wir läugnen aber damit noch 
keineswegs, daß die Schriften einen göttlichen Inhalt haben, 
und können eine erhabene, ewige Idee, welche fich in jenen 
Sagen : offenbart, anerkennen: fie können uns erfcheinen alg 
die Bilberfprache einer mit religiöfer Begeifterung erfülls 
ten Zeit. 

Im andern Falle geben wir zu, daß das Erzählte fo ge⸗ 
fhehen fei, führen es aber durch nufere Auslegung auf 
natürliche Gefege zurück, ſuchen es als bie Wirkung naturs 
gemäßer Urſachen zu erklären, und nehmen ihm dadurch 
feinen göttlichen Gehalt, das Wunderbare; 3. B. wenn Kran: 
fenheilungen aus der Anwendung natürlicher, fchnell wirfenber 
Mittel erflärt werden ıc. 

Es kommt hier aber noch Eine mögliche Verfchiedenheit 
der Auslegung in Betracht, welche wohl zu erwägen ift. Wir 
fonnen naͤmlich in beiden Fällen entweder befangen zu Werke 
gehen, oder unbefangen. Befangen find wir, wenn wir 
die Berfchiedenheit der -Bildungsftufen und Anfchauungsweifen 
der damaligen und unferer Zeit nicht anerkennen wollen, 
und behaupten, jene alten Schriftiteller haben die Sache, bie 
fie erzählen, auch fo angefehen, wie wir. — Unbefangen 
verfahren wir, wenn wir diefe Verfchiedenheit offen zugeben, 
und geftehen, die Erzähler der Begebenheiten faßten Ddiefelben 
anders auf, ald wir ed nach der veränderten Weltanficht 
unferer Zeit thun müſſen. Auf diefem letzteren Standpunft 
fügen wir uns jedoch keineswegs los von den alten Neligtongs 


4 


begriffen, fondern halten auch hier noch bas Wefetlichen feit, 
indem wir das Unmwefentliche ungeſcheut Preis geben. 


Es ſind alſo vier verſchiedene Auslegungsweiſen möglidy 
für diejenigen, ‚welche den Widerſpruch zwifchen ihrer Bildung 
und den alten Urkunden vermitteln wollen. 

Erfte. Das Erzählte ift sticht wirklich fo gefchehen, die - 
Berichterftatter haben .auch ſelbſt ed nicht geglaubt, fondern 
im eigenen Bewußtfein, daß ed nur Sage und Dichtung fei, 
es doch fo erzählt, wie fie e8 erfahren oder felbft erdichtet 
haben, Befangen! Dies ift das Verfahren der Gegner 
des Ghriftenthums H, welche die Erzählenden ber Tauſchung 
und des Betruges beſchuldigen. 

Zweite. Das Erzählte iſt nicht wirklich fo geſchehen; 
es ift nur Sage: aber die Berichterftatter haben auf ihrem 
- Standpunkte es doch für Wahrheit gehalten. Unbefans 
gen! Bon diefem unbefangen mythifchen ®) Gefi ichtspunkte 
geht gegenwärtige Unterſuchung aus. 

Dritte. Das Erzählte iſt wirklich ſo geſchehen: allein 
es iſt kin Wunderbares, Göttliches; es ſcheint nur ſo, 
und die Berichterſtatter haben es auch nicht dafür gehalten, 
ſondern entweder abſichtlich und gegen ihre eigene Anſicht es 
nur für etwas Wunderbares ausgegeben; — oder ſie haben 
es auch als etwas ganz Natürliches erzählen wollen. Bes 
fangen! Den erfteren Fall der abfichtlichen Verfälfchung neh⸗ 
men bie Deiften 9 an, den Iepteren Die Rationaliften, 
die Alles natürlich erflären. 


>) Mir nehmen die Beifpiele, wiewohl diefe verfchiedenen Erklä—⸗ 
rungsarten auch im Schooße anderer Religionen vorgefommen 
find, doch nur aus dem Kreife der chriftlichen Schriftaus⸗ 
legung. 

2 Einftweilen bemerken wir nur, daß Mythe und mythiſch im 
Allgemeinen fo viel ift, als Sage und fagenhaft; die nähere 
Begriffsbeftimmung, fowie eine ſtrengere Unterſcheidung zwifchen 
Sage und Mythe, werben fih im Verlaufe Diefer einleitenden _ 
Abhandlung ergeben. 

> Die Erklärung dieſes, wie aller andern, nicht jedem Lefer bekann⸗ 
ten oder verfländlichen Namen, findet fich in den alphabetifch ges 
ordneten Anmerkungen am Ende diefer Schrift. 


5 


Vierte. Das Erzählte ift wirklich fo gefchehen: allein 
es ift fein Wunderbares, Göttliches; die Berichterftatter 
haben es aber doch dafür gehalten, und es daher auch 
old Wunderbares erzählen wollen. Unbefangen! Diefe 
Anficht findet ſich in mancherlei Schattirungen ebenfalls bei 
den Nationaliften, nämlich ba, wo fie mit der ald dritte fo 
eben erwähnten nicht ausreichen. 

Diejenigen aber, weldye die Forderungen ber neuen Bils 
dung und Entwidelung, den heiligen Religionsurfunden gegen⸗ 
über, nicht anerkennen, alfo auch feinen Widerfpruch zwi⸗ 
ſchen beiden zugeftehen, halten feſt an ber buchftäblichen 
Erflärung ber heiligen Bücher und gehen von dem Grund⸗ 
fabe aus: „Das Erzählte ift wirklich fo gefchehen, und iſt zu⸗ 
gleich ein Wunderbares und Göttliches; Die Berichterftatter 
haben e8 als Solches anerkannt und dargeſtellt; wir follen 
gleichfalls e8 glauben, wie fie es ung erzählen.“ Auf die 
fem Standpunfte ftehen die fogenannten Drthodoren und 
Supranaturaliften, die indeffen nicht felten, von ber 
Vernunft unbemußt überwältigt, and) zu andern Erflärunge> 
verfuchen ihre Zuflucht nehmen. 

Diefe verſchiedenen Auslegungsweifen finden fich mehr oder 
wertiger bei ben Befennern aller Religionen; namentlich aber 
der altgriechifchen, der hebräifchen, der chriftlichen, wie aus 
nachſtehender gefchichtlichen Ueberficht hervorgeht, die wir deß⸗ 
halb voranjchicen, un unferm Syſteme, dem unbefangen my⸗ 
thifchen, feine Stelle zwifchen den übrigen, fowohl in Be⸗ 
zug auf deffen gefchichtliche Entftehung und Ausbildung, wie 
auch feiner inneren Wahrheit nach, anzımeifen, was um ſo 
nothmwenbiger ift, da dasfelbe von fo vielen Seiten her ben 
lebhafteften Widerfpruch erfahren hat. 





Zweites Kapitel. 
Berichiedene Deutungen bei Griechen, Hebräern nnd 
riftlichen Kirchenvätern. 
Die alten Griechen hatten zwar feine heiligen Religiong- 
urfunden in Dem Sinne, wie Juden und Chriften; wohl alter 


-6 


eine alte reichhaltige Götterſage, welche füch theils in großen 
Gefangen, wie die des Homer und Hefiod, theild in mänd« 
licher Ueberlieferung aus der Zeit des -Eindlichen Glaubens 
“ auf die nachfolgenden Gefchlechter forterbte. Auch fie erfuhr, 
fobald die fortgefchrittene Bildung im Volke ſich nicht mehr 
mit ihr befreunden Fonnte, die mannigfachiten Erklärungen. 
Ernfte Weltweifen fahen in ihr entweder nur allegorifche 
Hüllen fittlicher Wahrheiten, oder fie verftanden die gemaltis 
gen Kämpfe ber erzürnten Götter ald Sinnbilder von dem 
Ringen gährender Naturkräfte, deren Einheit ihnen das Gött⸗ 
liche war, nach feften Geftaltungen und organifchen Bilbuns 
gen. Beide Erklärungsiweifen ließen zwar einen göttlichen 
Gehalt beftehen, hoben aber die Form derfelben, Die eigent⸗ 
liche Geſchichte, völlig auf. (Zweiter Fall. 

Andere, befonders die Maffe der mehr oberflächlich gebils 
beten, vermochten in jenen Sagen gar nicht s Göttliches zu 
ertennen; fie ließen die Erzählungen zwar als wirkliche Ges 
fhichte gelten, aber als eine rein menſchliche — von 
Helden und Tyrannen, die ſich durch auffallende Thaten ıc. 
die Ehre göttlicyer Verehrung erworben oder erzwungen hatten. 
(Dritter Fall) Noch Andere gingen fo weit, alle Diefe 
Sefchichten für Fabeln zu erklären, bie in alten Zeiten erſon⸗ 
nen worden, um bie noch rohe Maſſe zu bändigen und zur 
Unterwerfung unter die Gefeße der neu gegründeten Staaten 
zu zwingen. (Erſter Ball.) 


Die Hebräer hatten befanntlidh an dem Alten Teſta⸗ 
mente heilige Religionsbücher; diefe Eonnten fie allerdings 
nicht mit folcher Freiheit auslegen, wie die Griechen ihre alten 
Gefänge und mündlichen Ueberlieferungen. Schon aus dem 
Grunde nicht, weil aus ihrem Inhalte der große Vorzug, das 
. auserwählte Volk Gottes zu fein, an dem fie in ihrer Ab⸗ 
gefchloffenheit fo feft hielten, hervorging. Allein dennoch ente 
widelte fidy auch bei ihnen das Bemühen, Anftöße, die fie in 
benjelben fanden, durch allegorifche Auslegung zu entfers 


*, Siehe bie oben, ©. 4 und 5, aufgezaͤhlten möglichen Bälle ber 
auf alte Religeonsurfunden anzumendenden Auslegungsweiſen. 


nen; dies gefchah fchon in Paläftina von der Zeit an, die un⸗ 
mittelbar auf das Eril folgte. In größerem Umfange und Zuſam⸗ 
menhange warb aber diefe Auslegungsmweife erft in Alerans 
dria audgebildet, namentlich von dem gelehrten Philn. 
Diefer umterfchied genan zwifchen einem „gemeinen“ unb 
einem „tieferen“ Sinne der heiligen Schriften; ließ zwar 
größtentheils beide neben einander beftehen; gab aber doch oft 
den gemeinen, d. h. buchftäblichen Sinn bes Erzählten auf, 
md ließ das Dargeftellte nur als bildliche Darftellung gels 
ten, ohne an die gefchichtliche Wahrheit zu glauben. Cr 
that Diefes insbefondere bei Erzählungen, welche ihm Gottes 
umvürbig zu fein fohienen, oder font Widerfprüche enthielten. 
Sp fagt er 3. B. über das Sechſstage⸗Werk der Schöpfung: 
„Es ift ganz einfältig, zu glauben, daß in fechs Tagen, oder 
überhaupt in beftinmter Zeit, die Welt erfchaffen ſei;“ — 
über die Erfchaffung der Eva aus der Rippe des Adam: 
„dies ift fabelhaft; dem wie fönnte doch Semand annehmen, 
daß ans der Rippe eines Mannes ein Weib geworben, oder 
überhaupt ein Menfch? * 


Diefe allegorifcye Erflärungsweife bes alten Teitamentes 
eigneten ſich auch faſt alle chriftlicyen Ausleger in den. ers 
ften Jahrhunderten an: am entfchiedenften warb fie von dem 
gelehrten Drigenes audgebildet. Diefer fchrieb der Schrift 
einen dreifachen Sinn zu: emen buchftäblichen, moralifchen 
und moyftifchen. Bei den meiiten Etellen läßt er freilich alle 
drei zu; häufig aber feßt er aud) den buchftäblichen oder 
Wortſinn tief herunter, 5. B. Da, wo er fagt: „die heilige 
Schrift wolle ung nicht alte Mähren berichten, fondern Les 
bensregeln ertheilen“, oder: „die bloß buchſtäbliche Auffafs 
fung würde oft zum Berderben des Chriſtenthums gereichen.“ 
3a oft giebt er den buchftäblichen Sinn ganz auf, namentlidy 
bei Stellen, in welcher von Männern, denen ſich Gott unmit- 
telbar geoffenbaret haben fol, anjtößige Dinge erzählt werben, 
wie 3. B. von Abraham, daß er fein Weib dem Könige Abis 
melech preisgegeben ıc. ꝛc. Er fpricht über dieſe Auslegungs⸗ 
weife häufig feine Grundfäße offen aus: „nicht jeder Abfthnitt 
der Schrift — jagt er — könne buchitäblik genommen wer: 


-6 


eine alte reichhaltige Bötterfage, welche fid, theils im großen 
Gefängen, wie die des Homer ımd Hefiod, theild in muͤnd⸗ 
licher Ueberlieferung aus der Zeit bes -Finblichen Glaubens 
auf die nachfolgenden Gefchlechter forterbte. Auch fie erfuhr 
fobald die fortgefchrittene Bildung im Volke fidy nicht mehr 
mit ihr befreunden Eonnte, die mannigfachiten Erflärungen. 
Ernfte Weltweifen fahen in ihr entweder nur allegorifche 
Hüllen fittlicher Wahrheiten, oder fie verftanden die gewaltis 
gen Kämpfe der erzürnten Götter ald Sinnbilder von bem 
Ringen gährender Naturkräfte, deren Einheit ihnen das Götts 
liche war, nach feften Geftaltungen und organifchen Bildun⸗ 
gen. Beide Erklärungsweifen ließen zwar einen göttlichen 
Gehalt beitehen, hoben aber die Form derfelben, die eigents 
liche Geſchichte, völlig auf. (Zweiter Fall 9. 

Andere, befonders die Mafle der mehr oberflächlich gebils 
beten, vermochten in jenen Sagen gar nicht s Göttliched zu 
erkennen; fie ließen die Erzählungen zwar als wirkliche Ges 
fchichte gelten, aber als eine rein menſchliche — von 
Helden und Tyrannen, die ſich durch auffallende Thaten ꝛc. 
die Ehre göttlicyer Verehrung erworben ober erzwungen hatten. 
(Dritter Fall.) Noch Andere gingen fo weit, alle dieſe 
Geſchichten für Fabeln zu erklären, bie in alten Zeiten erfons 
nen worden, um bie nody rohe Maſſe zu bändigen und zur 
Unterwerfung unter die Geſetze der neu gegründeten Staaten 
zu zwingen. CErfter Fall) 


Die Hebräer hatten befanntlidh an dem Alten Teſta⸗ 
mente heilige Religionsbücher; biefe Fonnten fie allerdings 
nicht mit folcyer Freiheit auslegen, wie die Griechen ihre alten 
Gefänge und mündlichen Ueberlieferungen. Schon aus dem 
Grunde nicht, weil aus ihrem Inhalte Der große Vorzug, das 
. auserwählte Volk Gottes zu fein, an dem fie in ihrer Abr 
gefchloffenheit fo feft hielten, hervorging. Allein dennoch ente 
wickelte fidy auch bei ihnen das Bemühen, Anftöße, die fie in 
benfelben fanden, durch allegorifche Auslegung zu entfers 


„ Siehe die oben, S. 4 und 5, aufgezählten möglichen Bälle der 
auf alte Religionsurfunden anzumendenden Auslegungsweiſen. 


y 


nen; Died gefchah ſchon in Paläftina von der Zeit an, die ws 
mittelbar auf das Eril folgte. In größerem Umfange und Zufants 
menhange warb aber biefe Auslegungsweife erft in Alerans 
dria andgebildet, namentlih von dem gelehrten Philo. 
Diefer unterſchied genan zwifchen einem „gemeinen“ und 
einem „tieferen“ Sinne der heiligen Schriften; ließ zwar 
größtentheils beide neben einander beftehen; gab aber doch oft 
den gemeinen, d. h. buchftäblichen Sinn bes Erzählten auf, 
und fieß das Dargeftellte nur als bil dliche Darftellung gels 
ten, ohne an die gefchichtliche Wahrheit zu glauben. Cr 
that dieſes insbefondere bei Erzählungen, welche ihm Gottes 
umvürdig zu fein fchienen, oder fonft Widerfprüche enthielten. 
So fagt er 3. B. über dad Sechſstage⸗Werk ber Schöpfung: 
„Es ift ganz einfältig, zu glauben, daß in ſechs Tagen, ober 
überhaupt in beftinnmter Zeit, bie Welt erfchaffen feis“ — 
über die Erichaffung der Eva aus der Rippe des Adam: 
„dies ift fabelhaftz denn wie fünnte doch Semand annehmen, 
daß ans der Nippe eines Mannes ein Weib geworben, oder 
äberhaupt ein Menfch?“ 


Diefe allegorifche Erflärungsweife bes alten Teſtamentes 
eigneten ſich auch faſt alle hriftlichen Augleger in: den. er⸗ 
ften Ssabrhunderten an: am entfchtedenften warb fie von dem 
gelehrten Drigenes audgebildet. Diefer fchrieb der Schrift 
einen dreifachen Sinn zu: einen buchftäblichen, moralifchen 
und myſtiſchen. Dei den meilten Stellen läßt er freilich alle 
drei zu; häufig aber ſetzt er auch den buchitäblichen oder 
Wortſinn tief herunter, 3. B. da, wo er fagt: „bie heilige 
Scyift wolle ung nicht alte Mähren berichten, fondern Les 
bensregeln ertheilen“, oder: „die bloß buchfläbliche Auffaſ⸗ 
fung würde oft zum Berderben bes Chriſtenthums gereichen.“ 
Sa oft giebt er den buchitäblichen Sinn ganz auf, namentlidy 
bei Stellen, in welcher von Männern, denen fi) Gott unmits 
tefbar geoffenbaret haben ſoll, anftößige Dinge erzählt werben, 
wie 3. B. von Abraham, daß er fein Weib dem Könige Abis 
melech preisgegeben ꝛc. ꝛc. Er fpricht über diefe Auslegungs⸗ 
weite häufig feine Grundfäte offen aus: „nicht jeder Abfthnitt 
der Schrift — fagt er — könne buchftäblik genommen wer- 


> 


‚ 8 


den; — oft fei Etwas in myſtiſchem (geiftigem) Sinne wahr, 
was buchitählicd, genommen eine Lüge fei; Vieles fei ald ges 
ſchehen bargeftellt, was nicht fo ſich ereignet habe.“ sc. ꝛc. 

Auch auf das neue Teſtament wendet Drigened biefe 
allegorifche Deutung an: denn weil es ein Werk „deffelben“ 
Geiſtes fei, von demfelben Gotte geoffenbart wie das Alte, 
fo habe auch in ihm jener Gott dem wirklich Gefchehenen 
Richtgefchehenes eingewebt, was nur in geiftigem Sinn zu 
nehmen ſei; daher vergleicht er auch manche evangeliſche Er⸗ 
gählungen fogar mit halb fabelhaften Gefchichten bei heibnis 
chen Schriftftellern. Er nähert ſich dadurch dem mythis 
fhen Standpunkte, indem er vor blindem und grundloſem 
Glauben die Einfichtsvolleren warnt und ihnen Verftand und 
firenge Prüfung empfiehlt. — Es darf aber nicht umbes 
merft gelaffen werden, daß Drigenes, befonders aus Furcht 
vor möglihem Anftoße, bei feiner einzelnen Gefcichte bes 
neuen Teſtament's fo gerade heraus fagt, daß fie nicht wirklich 
fo gefchehen fein könne, wie fie erzählt werde. Bei einigen 
jedoch giebt er es nicht undeutlich zu verftehen, und über bie 
-Berjagung ber Käufer aus dem Tempel (Math. 21, 12.) fagt 
er geradezu, „daß das Verfahren Sefu, buchitäblich gefaßt, 
anmaßend und lärmend wäre.“ 

Nach Drigenes erflärte man zwar auch noch. Einzelned 
allegorifch, jedoch fo, daß man es zugleich aud) als wirklich 
gefchehen gelten ließ. 

Auch die dritte der oben entwidelten Auslegungsweifen, 
die nämlich, welche zwar das Erzählte ald wirklich gefchehen 
gelten Täßt, nicht aber ald göttliche, fondern ald eine rein 
mienſchliche Gefchichte betrachtet; — auch diefe trat fchon in - 
alter Zeit hervor, jeboch nur bei den Gegnern bes Chriftens 
thums. Diefe anerkannten zwar vieles Gefchichtliche im Leben 
Jeſu, erflärten aber das Wunderbare für Erfindungen oder 
gar für Betrügereien, womit fie auf ben erften ber von und 
bezeichneten Standpunkte ſich begaben. 





Drittes Kapitel. 
Die Deiften, Nationaliften uud Kant. 


Che wir auf die Verſuche der neueren Zeit übergehen, 
muß noch ein wogfentlicher Unterſchied zwiſchen der heidnifchen 
und jübifchen Neligion einers, und der chriftlichen andererfeite 
in Bezug auf die Entitehung und Entwidlung jener Auslegungss 
weifen hervorgehoben werben. Bei Heiden und Juden traten 
fie ein, weil die fortgefchrittene Bildung in Widerſpruch ges 
rieth mit den alten, ftehen gebliebenen Religionsurfunden. 
Die neue Bildung vertrug ſich nicht mehr mit der alten 
Religion. Anders war ed bei dem Chriftenthume : dieſes 
trat in eine fchon abgefchlofiene Bildung hinein; in Die ber 
Griechen und Römer und in den durch, beide vielfach bes 
ftimmten und genährten jübifchen Gulturzuftand. Hier trat 
alfo ein umgefehrtes Verhältniß ein: Die alte Bildung vers 
trug ſich nody nicht mit der jungen Religion. Daher bes 
weijen die allegorifchen Auslegungen der chriftlichen Gelehrten 
(Drigened) und die Angriffe der heidnijchen, daß die Welt, 
wie fie war, in den neuen, mit ihr in Widerfpruch tretenden, 
Glauben fich sicht zu finden wußte. 

In dem geſchichtlichen Entwicklungsgange des Chriftens 
thums verſchwand aber fpäter diefer Zwiefpalt, mit ihm alfo 
auch Die aus ihm hervorgehenden Berfuche einer vermittelnden 
Erflärung der heil. Schriften, worauf es ſich ſtützte. Das 
chriſtliche Grundelement erhob fich nämlich allmählig zu einer 
unbedingten Herrfchaft, theild nad) auffen, indem das 
Chriftenthum die Religion des römiſchen Weltreiches wurde ) 
— theild nach innen durch Die zum großen Theile gewaltfante 
Unterdrüdung aller Kebereien, die dem aufftrebenden kirchlichen 
Prinzipe widerftrebten und faſt ſaͤmmtlich aus den Verfuchen 
der alten Bildung, mit der neuen Religion fich in Einklang 
zu fegen, hervorgegangen waren. Dadurch wurde ber Wider⸗ 





2) Bekanntlich wurde das Chriftenthum feit dem Webertritte bes 
Kaifers Eonftantin zu Anfange des vierten Jahrhunderts all: 
mäplig im römiſchen Reiche die herrfchende, und ſchon am 
Ende Diefes Jahrhunderts die Staats⸗Religion. 


10 


ftand diefer alten Bildung mehr und mehr geſchwächt und derſelbe 
endlich ganz aufgehoben, da das Chriſtenthum nun auch die 
Schulen, in weichen heibnifche Weisheit gelehrt wurde, vers 
nichtete. So erhob ſich die allgemeine chriftliche Kirche fliege 
reich auf den Trümmern der alten Welt und ihrer Bildung, 
und fie hatte alle Geifter erobert und im Glauben gefangen 
genommen. Fernerhin dehnte fi ſich nun das Chriſtenthum auch 
Aber noch ganz rohe Nationen, zunaͤchſt über die des großen 
dent ſchen Volksſtammes, aus; endlich verlor ſich im Abend» 
lande die letzte Spur alt-heibnifcher Bildung unter den ges 
mwaltigen Fußtritten der basfelbe erobernden und überſchwem⸗ 
‚ menden urfräftigen, aber noch ungebilbeten deutſchen Völker⸗ 
fhaften ). So konnte ſich das neue, auf die Bücher bes 
NR. T. gegründete Religionsſyſtem in völliger Sicherheit 
entwideln, ohne durch die Wiberfprüdhe einer nicht mehr vor 
handenen Bildung geftört zu” werben. Durdy lange Jahr⸗ 
hunderte blieb alſo num die chriftliche Welt mit dem Chriſten⸗ 
thum nad) Form und Inhalt vollfommen befriedigt; fie war 
mit ihm aufs innigfte verwachfen. Sebt erſt konnte eine neue 
Bildung beginnen; mit ihr allmählig aud) wieder ein nener 
Zwiefpalt derfelben zwifchen ihr und den unverrückt bleibenden 
geihriebenen heil. Urkunden nicht ſowohl fchon anfangen, ale 
vielmehr erſt vorbereitet werben. 

Während diefes langen Zeitraumes durch dag ganze Mittels 
alter hindurch zeigte fich alſo faft Feine Spur jener Ausles 
gungsverficche, weil diefe ja eben nur aus dem erwähnten 
Zwiefpalte, und auch dann erft, wenn biefer zum Bewußtſein 
gekommen ift, hervorgehen. 





Den erften Stoß erlitt, nach manchen vorangegangenen 
fruchtloſen Berfucyen, der in dem Boden des Mittelalters feſt⸗ 
gewurzelte Kirchenglauben: durch die Reformation. Diefe 
war das erſte folgenreiche Lebenszeichen einer neuen Bildung, 
die, allmählig im Schonße des Chriſtenthums felbit aufs 
gewachſen, ſich nun ſtark genug fühlte, mit Demfelben in Kampf 
zu treten : fie unternahm num Achnliches, wie einft bie alte 





*, Während ber fogenannten Völkerwanderung im fünften und 
jechäten Jahrhnudert. | 


— 


\ 


11 


Bildung durch die heidniſchen Gegner des Chriſtenthums. 
Die Reformation aber erhob fi, als folche, nur gegen bie 
berrfchende Kirche, und ihr Syitem. Die heil. Bücher, 
auf welche fie dasfelbe aufgebaut hatte, ließ fie unangefochten. 

Lange jedoch währte es nicht, fo wurden auch dieſe ans 
gegriffen; und ‘damit beginnen denn wieder die verfchiebenen 
AuslegungssDerfuche ; es beginnt die Zeit der auf mans 
nigfache Weife angeftellten Verfuche, die neue Bildung mit 
den alten Urkunden in Einklang zu bringen. Sie gehen alle 
von bem Bewußtfein aus, daß der Inhalt der heil. Schrift in 
vielen Punkten mit der gewonnenen Ausbildung der Bernunfte 
Ideen unverträglidy fei; fie find eine folgerichtige Fortfeßung 
des Neformationswerfes, durch welches. der Grundſatz Des 
freien Forſchens aufgeftellt, die Rechte der Vernunft aner⸗ 
fannt worben, wenn auch nur bis zu einer gewiſſen Grenze. 
Allein eine feſte Grenze kann es hier eben fo wenig geben, 
als die Entwicelung ber Vernunft je ftille ftehen kann. Wir 
wollen alle dieſe Verſuche in ihrer geſchichtlichen Aufeinandere 
folge kurz betrachten und dadurch zeigen, wie das Lnbefriedis 
gende aller vorhergegangenen enblicy zu dem hier vorliegenden 
führte, das Wunderbare und Widerfprechende ald Mythe 
und Sage zu erklären. 


Die erften namhaften Verfuche diefer Art wurden von enge 
liſchen Deiſten und Naturaliften gemadıt : fie müffen aber 
im Allgemeinen als frivol, wüſt, gemein und des Gegenſtan⸗ 
des völlig unwürbig bezeichnet werden. Sie wollten nur 
das Verhaßte vernichten, und verfchütteten recht eigentlic, Das 
Kind fammt dem Bade: fie verftecdten ihre Unfähigkeit, auf 
wiflenfchaftlichem Wege den Streit zu fchliehten, hinter tumul⸗ 
tuarifchem Niederreißen — freilich das gewöhnliche Loos Des 
rer, bie in einem weitausfehenden Kampfe die erften Streiche 
zu thun berufen find. Bald greifen fle die Aechtheit der 
bibliſchen Bücher an und erflären fie für untergefihoben und 
fabelhaft, bei welcher Annahme man ſich gar nicht zu bemühen 
hat, deren Inhalt zu widerlegen; — bald wird von ihnen 
Alles aufgebrten, um diefen Inhalt nicht fowohl ing nadte 
Menichliche, als in Das Gemeine und Tächerliche herabiuichen. 


12 


So nem 3. B. Einer das Geſetz bes Mofes“ „ein elenbes 
Spftem des Aberglaubens, ber Blindheit und ber Sclaverei“;- 
— ein Anderer läugnet, baß die jüdifche Religion eine geoffen- 
barte fei, darum, weil Gott fo große Parteilichfeit für das 
jüdische Volk zeige, und die Kanaaniter auszurotten gebiete; — 
ein Dritter verdächtigt den Charakter Jeſu umb bezeichnet bie 
Denkart der Apoftel ald eigennügig und gewinnſuchtig; — ein 
Bierter ſchwankt, ob er die Wunder Jeſu für „elende Poflen 
und gemeine Betrügereien“, oder, ihre gefchichtliche Wahr 
beit aufgebend, für bloß ſinnbildliche Erzählungen halten 
ſoll. 

In Deutſchland warb eine ähnliche Anſicht über bie 
Bibel verbreitet durch die berühmten „Wolfenbüttel’fchen 
Fragmente“. Diefe erfennen gar feinen göttlichen Ins 
halt der heil. Schriften an, fonbern erflären alles Wunderbare 
für Täufchung oder Betrug. In Bezug auf das alte Teſta⸗ 
ment behaupten fie, die Männer, welchen ein unmittelbarer 
Umgang mit Gott zugefchrieben werde, feien fo fchlecht, ihre 
angeblich göttlichen Lehren fo kraß und verderblich, daß jener 
Umgang mit Gott nur erfonnen und vorgegeben fei, um ben 
Lehren der Priefter und Herrfcher bei ber rohen Menge Eins 
gang zu verfchaffen; namentlich wird Mofes geradezu ein 
Betrüger genannt, der die Sehovah-Erfcheinungen erdichtet und 
die fchändlichften Mittel nicht gefcheut habe, um fich zum Herr⸗ 
ſcher eines freien Volkes zu machen und verbrecherifche Maps 
regeln zu göttlichen Befehlen zu flempeln. — Was das neue 
Teftament betrifft, fo wird Yon dem Fragmentiften Jeſu nur 
ein politifcher Plan zugefchrieben: derfelbe fei mit dem „kei⸗ 
nedwegs vorausgefehenen“ Tode feines Urhebers unerwartet 
gefcheitert, und die Sünger des Getödteten haben durch das 

„betrügerifche Vorgeben“ einer Auferftchung biefes Miplingen 
nur zu bemänteln gefucht. 





Während diefe Deiften mit ihrer Auslegungsweife dem 
Ehriftenthum entfchieden feindfelig entgegentraten, und daher 
mit Necht den lebhafteften Widerſpruch erfuhren, verfuchten 
die ſogenannten Rationaliften, welche füch von der Kirche 


13 


keineswegs losſagen wollten, eimen anbern Ausweg. Sie 
erfaunten zwar auch feine wunderbaren Begebenheiten in 
der heil. Schrift an, und erflärten Alles für ganz natürs 
liche Borgänge, für Wirkungen der gemeinen Raturgefege : 
allein fie erblidten darin Feine Betrügereien, und ließen die in ber 
bibliſchen Erzählung wunderbar fheinenden Handlungen doc 
als fittlich untadelhafte beftehen. Damit entfleideten fie zwar 
auch die betreffenden Männer, einen Mofes, Chriftus ıc. der 
unmittelbaren Göttlichfeit; ließen aber ihren menfhlidhen 
Charakter unangetaftet, legten ihnen nicht die Abficht, zu täuts 
ſchen, bei, und erfannten felbft das Edle in vielen ihrer Zwecke 
und Handlungen an. 

Zuerſt entwidelte Eihhorn in feiner Beurtheilung des 
Wolfenbütteffcyen Fragmentiften diefe Auficht offen und aus⸗ 
führlih. Er ging von dem Grundſatze aus, entweber müffe 
man die Wunder und unmittelbaren göttlichen Einwirkungen 
in den Erzählungen aller Völker des Alterthums anerkennen, 
‚oder bei feinen, alfo auch nicht in den heil. Büchern der Ju⸗ 
den und Chriften. Das Eritere aber habe fehr große Schwies 
rigfeiten: Denn nicht felten fei der Inhalt der von angeblich 
Wunder thuenden Männern ausgefprochenen Lehren ein irris 
ger; fodanıı müffe man doc, einmal an Einem Punkte der 
Gefchichte dag Aufhören eines unmittelbaren göttlichen Eins 
fluffes annehmen, da wir ja Alle darüber einig feien, daß ges 
genwärtig feine Wunder mehr gefchehen. Eichhorn erklärt 
daher alle biblifchen Erzählungen in oben (Seite 5) angegebe- 
ner Weife natürlich; für Betrüger dürfe man aber deßhalb 
die großen Männer, die fo außerordentliche Wirkungen hers 
vorbrachten, nicht erflären. Vielmehr müffe man die „alten 
Urkunden im Geifte ihrer Zeit auffaflen“. Diefe, als eine 
noch durchaus findliche, leitete alles Auffallende, Bedeutfame, 
Nüßliche von der Dazwiſchenkunft höherer Weſen ab; fie fah 
überall Wunder, wo wir einen ganz natürlichen Hergang 
erblickt haben würden. Diefe Auffaffungsweife hatte nicht nur 
das Bolf, fondern auch Die Männer, durch welche Großes ges 
fhah, glaubten felbft, daß fie unter dem unmittelbaren Eins 
fluß der Gottheit jtünden. Sie waren alfo felbft die Getäuſch⸗ 
ten, nicht die Zänfchenden. So fah Mofes 3.8. den lange 


8 


14 


gehenten Gedanken, fein Volk zu befreien, deſſen ex ſich gar 
nicht mehr entfchlagen konnte, für göttliche Eingebung an; er 
betrachtete Träume, Gewitter ıc., die ihn darin beftärften, aufs 
fallende Naturereigniſſe, weldye die Ausführung begünftigten, 
als wunderbare Zuffimmung und Hülfe Gotted. — Diefe 
Erflärımgsweife wendet Eichhorn auf das neue Teftament 
zwar weniger häufig, doch auch an ihm auf einzelne Erzähs 
lungen an; fo fieht er in den Engelerfcheinungen „unerwartet 
rettende Zufälle“, die in der bildlidyen Sprache jener Zeit 
Engel genannt worben feien. 

Dem berühmten Dr: Paulus blieb es vorbehalten, dieſe 
natürliche Erklaͤrnngsweiſe auf die ganze evangelifche Erzähs 
fing des neuen Teftaments auszudehnen. Er geht dabei übers 
all von der Unterfcheidung zwifchen Factum und Urtheil aus. 
Factum ift ihm das, „was den bei einer Begebenheit betheis 
ligten Perfonen als äußere oder innere Erfahrung gegeben 
war“, was alfo wirklich in ihnen oder vor ihren Augen vor 
ging; Urtheil, „die Art, wie fie oder die evangelifchen Be⸗ 
richterftatter jene Erfahrung deuteten und auf ihre vermeint⸗ 
lichen Urfachen zurüdführten“. Beides aber vermengt ſich nach 
feiner Anficht in den Betheillgten, wie in ben Evangeliften, 
oft fo fehr, daß fie es nicht mehr unterfcheiden können und 
an die Richtigkeit ihres Urtheiles, daß naͤmlich Die Begebens 
heit eine wunderbare fei, eben fo feit glauben, als an bad 
Factum felbit. Hier werde es alfo Aufgabe des Auslegerg, 
diefe fo verfchiebenartigen Beſtandtheile ftreng zu fondern und 
auszumitteln, was wirklich Thatfache fei und was dem 
durch herrfchende VBorftellungen erzeugten Urtheile und der Aufs 
fafjungsweife der betreffenden Perfonen angehöre. Gr müſſe 
ſich daher ganz in den Standpunkt der Zeit verfeben, und 
werde Manches durch Nebenumftände, welche felbit der Erzaͤh⸗ 
ler überfah, ergänzen können. Manche Thatfachen find aber; 
sach Paulus, nicht einmal von den Erzählern ald wunders 
bar erkannt, und alfo auch nicht als ſolche dargeftellt worden ; 
erft die fpätere Zeit machte fie durch falfche Auslegung und 
Mißverftand dazu: fo 3. 3. fei das Wunder von Sefu Wane 
ben auf dem Meere nur durch falfche Ueberſetzung ent⸗ 
fanden; bie Worte heißen: neben dem Meere gehen. 


\ 


45 


Nach diefen Grundfügen verfuchte es Paulus, bie ganze 
evangelifche Erzählung in einen vollftändigen gefchichtlichen 
Zufanmenhang zu bringen; er entfernt durch feine Auslegung 
jedes übernatürliche Einwirfen göttlicher Kräfte, und weist, fo 
gut es eben gehen will, überall einen ganz natürlichen Her⸗ 
gang der Begebenheiten nach. Jeſus ift ihm alfo nur em 
weiter, edler Mann, und was in dem Fichte feiner Zeit als 
Wunder erfchien, war nur der Ausfluß feiner Menſchenliebe, 
befonberer Kenntniffe und Kräfte, der natürlichen Einwirkung 
auf gläubige Gemüther, oder auch wohl dee glücklichen Zufalls. 


Bei diefer Auslegungsweife muß vorausgeſetzt werden, daß 
die biblifchen Bücher ganz getreye und kurz nach den Begeben⸗ 
heiten felbft abgefaßte Berichte enthalten: denn wenn wir feis 
nen treuen und urfprünglichen Bericht vor uns haben, fo 
wird es unmöglich fein, Factum und Urtheil genau von einans 
der zu unterjcheiden, weil ja aledann die Erzählung durch die 
mündliche Weberlieferung fo fehr kann umgeftaltet worden fein, 
daß fich ihre Ächte Form nicht mehr erfennen läßt. Es könnte 
auch das, was wir für Factum halten, nur dem Urtheile, der 
Meinung fpäterer Sage angehören. Daher nimmt auch ſchon 
Eihhorn felbit von den älteften Büchern des alten Teſta⸗ 
ments an, daß fie kurz nach den erzählten Ereigniffen nieder« 
gefchrieben worden; die Bücher Moſes 3. B. fehon in der aras 
bifchen Wüfte. Bei einigen jedoch muß er zugeftehen, daß fie 
wirflich erſt längere Zeit nachher gefchrieben worden, und daß 
fie demnach nicht überall die ächte, fondern theilweife auch 
die Durch verherrlichende Sage und den Glauben, vor Alters 
fei Alles größer und beffer gemefen, ausgefhmüdte Ge, 
fhichte enthalten. Bon der Schöpfungsgefchichte und der Er⸗ 
zählung vom Siündenfalle aber gefteht er geradezu, daß fie 
feine Geſchichte enthalten, fondern nur mythifch, in das Ges 
wand einer Erzählung, eingefleidete Verfuche feien, die Ents 
ftehung der Welt und des Böfen zu erflären. 

In den fo eben angeführten Punkten ftreift alfo Eichhorn 
fhon in das Gebiet der mythifchen Auslegungsmweife hins 
über. — Uebrigens ift noch zu erinnern, daß die nartiirlicye 


18 


Auslegungsweife ber zwei genannten Männer fehr viele Ver⸗ 
ehrer und Nachahmer fand, befonders gegen Ende des vorigen 
Sahrhunderts und zu Anfang bed gegenwärtigen. 





Einen andern Weg verfuchte der große Philoſoph Im. 
Kant. Er griff nämlich die allegorifche Erklärung ber 
Kirchenväter wieder auf; jedoch in der eigenthümlichen Weife, 
daß er bie biblifchen Erzählungen als gefchichtliche Hüllen 
moralifcher Ideen betrachtete, gefchaffen nicht von dem 
Geifte Gottes unmittelbar, worin er_von den alten allegoris 
fchen Auslegern abweicht, fondern von dem moralifchen Ges 
fühle und Geifte der Verfaſſer der Schriften. Kant behmuptet 
nicht, daß dieſe wirffich überall nur dieſe moralifche Tendenz 
gehabt, daß nicht auch wirkliche Begebenheiten von ihnen 
erzählt werden, fondern geht nur von der Annahme aus, wir. 
müßten bei allen biblifcyen Erzählungen über den buchftäbs 
lichen Sinn hinaus, einen moralifchen Gehalt, eine Beleh⸗ 
rung über Gegenflände der Eittenlehre, ſuchen; wobei ja. 
‚recht wohl beftehen könne, daß vieles Erzählte wirkliche Chats 
face ſei. Daß 3. 3. Sefus der Sohn Gottes fei, ninmt 
Kant als bildliche Bezeichnung des Ideales der gottgeweihten 
Menfchheit. Diefe Kantifche Erflärungsweile hat indeß wenig 
Eingang gefunden. 





Viertes Kapitel 
Entftehung der mythifchen Auslegungsweiſe. 


Je mehr man aber das Unbefriebigenbe der bisher kurz 
entwidelten Erklaͤrungsweiſen erfannte (der beiftifchen, der 
natürlichen und der allegorifchen), um fo bringender ward 
das Bebürfuiß, viele Erzählıngen auch der Bibel eben fo als 
Mythen oder Sagen zu betrachten, wie Died immer allges 
meiner mit den wunderbaren Erzählungen aus dem griecdhis 
ſchen Alterthume gefchah, nachdem man diefe lange Zeit nur 
für leere Fabeln, von müßigen Köpfen erfunden und ohne 
ieferen Gehalt, asgefehen hatte. Es traten daher Forfcher 


17 


af, wie Gabler, Schelling u. A., namentlich aber 
Bauer, bie den Begriff des Mythus als einen allgemein 
gültigen aufftellten, für alle ältefte Gefchichte, heilige wie 
profane: warum follte die hebräifche Gefchichte eine Aus: 
nahme machen ? 

Wir befchränfen uns hier darauf, nur ganz im Allgemeis 
nen anzudeuten, was unter Mythe verftanden wird, und zu 
zeigen, wie früher andere Gelehrte diefen Begriff faßten und 
amvenbeten. Alsdann werden wir ausführlicher zeigen, wie 
von uns beides in vorliegender Prüfung der evangelifchen Er⸗ 
zählungen gefchieht. - 

Unter Mythe oder Sage, die übrigens fpäter genauer 
unterfchieden werben, verſteht man erftens eine Gefchichte, 
welche nicht wirklich fo, wie fie erzählt wird, fich zus 
getragen hat, fondern durch religiöfe Borftellingen und bie 
leßendige Einbildimgsfraft mehr oder weniger umgeftaltet und 
ausgebilbet worden ift; fodann aber auch zweitens eine folche, 
weicher gar Feine Thatfache zu Grunde liegt, die vielmehr 
aus dem bichtenden Geifte eines ganzen Volkes oder einer 
Religionggefellfchaft hervorging, um irgend eine höhere 
Id ee zu verfinnlichen und ſich anfchaulich zu machen. Beide 
find aljo der Abdruc eines gewiffen geiftigen Lebens, find 
nicht Erfindungen eines Einzelnen, und werben, wie fie ein 
treues Abbild des allgemein herrfchenden Geiſtes einer Zeit 
find, fo auch allgemein geglaubt und fir wirfliche Thats 
fachen gehalten. Beide find alfo wohl zu unterfcheiden von 
Fabeln, weldhe immer eine abfichtliche Erdichtung eines 
Einzelnen enthalten, theild zur Belehrung, theild zu andern 
Zwecken; dieje find entweder unfchuldige Erfindungen, wenn der 
Urbeber vorausfest, Andere halten fie auch dafür, oder bes 
trügerifche, wenn er fie Andern für wahre Gefcjichten aus⸗ 
geben will. 

Es kam nun zunächlt darauf an, feftzuftellen, weldye Er- 
sählungen im alten Teſtamente Cdenn nur von dieſem war 
vorerft die Rebe) für Mythen zu halten feien. Als folche 
bezeichneten jene Männer diejenigen, welche 

1) aus einer Zeit heritammen, wo man ben Gebrauch, der 
Schreibfunft noch nicht Fannte, wo alfo alle Seldyichte buch, 


1. 2 


18 


mündliche Weberlieferung fortgepflanzt werben mußte; was 
von Mund zu Munde geht, wird aber unvermerft und unwill⸗ 
führlich durch die gefchäftige Einbildungskraft fowie Durch man⸗ 
gelhafte Auffaffungsgabe anders geftaltet; — ober Erzaͤh⸗ 
Iungen, welche 

2) Dinge berichten, von welchen der Menſch feine Kennt⸗ 
niß haben kann, theild weil fie einer überfinnlichen Belt an⸗ 
gehören, thelld weil Niemand Augenzeuge berfelben gewefen 
fein konnte; — oder welche 

3) in's Wunderbare »gezogen und in einer Sprache 
vorgetragen find, die ihren finnbildlichen Character Deuts 
lich genug verräth. 

Zugleich wiefen fie nad), daß Diejenigen, welche nicht zu⸗ 

geben wollten, im alten Teſtament ſeien ſolche Sagen enthal⸗ 
ten, entweder von Sage überhaupt einen falſchen Begriff hat 
ten, und fie mit Fabel und Erdichtung verwechfelten, oder 
einer irrigen Anficht von den biblifchen Büchern folgten,” ins 
dem fie biefelben ald von Gott unmittelbar eingegeben be 
trachteten. Denn eben diefe Borftelung von einer göttlichen 
Eingebung fei ja auch eine rein mythifche, nur burch Die 
Sage felbft ausgebildet, ein Beſtandtheil derfelben : könne alſo 
bei Beurtheilung und Prüfung der Bücher nicht ſchon vors 
ausgeſetzt werden. 
Hiermit ſtimmt im Wefentlichen auch) Wegſcheider über 
ein, welcher in feiner chriftlichen Slaubenslehre behauptet, es 
fei unmöglich, das ‚göttlihe Anfehen der heil. Schrift gegen 
die Angriffe ihrer Feinde zu vertheidigen, wenn man in der⸗ 
felben nicht auch Mythen anerfenne. 

Nacıdem durch diefe Männer der Umf ang feftgeftellt 
worden war, in weldyem man den Begriff der Mythe auf 
Das alte Teftament anzuwenden habe, unterichieden fie ferner- 
hin die verfchiedenen Arten berfelben. Sie feien naͤmlich 
theild 
hiftorifche Mythen, d.h. Erzählungen wirklicher Bege⸗ 
benheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche, Göttliches 
mit Menſchlichem, Natüurliches mit Uebernatürlichem vermen⸗ 
gende Denkart, und durch die veranſchaulichende phantaſiereiche 
Redeweiſe des Alterthums; — theils 


philoſophiſche, ſolche, weiche irgend einen Gedanken, 
einen Lehrfat oder eine Idee in bag Gewand der Gefchichte 
einfleiven und baburch gu verfinnlichen ſtreben; — theils 

poetifche, in welchen durch das freie Spiel der Dich» 
tung und bas Bedürfniß Fünftlerifcher Einheit und Abrundung 
bie urfprüngliche, zu Grunde liegende einfache Gefchichte oder 
Idee fait gänzlich verſchwunden ifl. 

Bei vielen Mythen aber ift es, wie biefe Gelehrten felbft 
zugeftehen, freilich ſchwierig, genau zu beitimmen, welcher: 
Diefer drei Arten fie angehören, und manche fpielen offenbar 
aus einer in bie andere hinüber, Nirgends jedoch fol man 
das Kunftiofe und Unbefangene berfelben außer Acht laſſen, 
und nie vergeffen, daß in die hiftorifchen Mythen das Une 
geſchichtliche fich im Laufe der Zeit und ber Lieberlieferung 
von felbft und ungefucht eingefchlichen habe; und daß in ben 
philofophifchen „nicht allein zum Behufe eines finnlichen 
Volkes, fondern auch zu ihrem eigenen Behufe die Alteften 
Weifen das Gewand der Gefchichte für ihre Ideen gewählt 
haben“. Dies liegt in der Borftellungsweile einer Zeit be« 
grünbet, die noch zu fehr in der Anfchauung lebt, als daß fie 
ben reinen, abftraften Gedanfen fihon ohne diefe Hülle 
mit Sicherheit fefthalten Fünnte. 


nen 


ir haben oben gefehen, daß und warım Die natürliche 
Auslegung des alten Teſtaments auf die Vorausſetzung, bie 
Bücher desfelben feien fait ganz gleichzeitig mit den in ihnen 
berichteten Thatfachen entitanden, ſich ſtützen mußte (ſiehe 
©. 15). Diefe Ausleger fonnten aus demfelben Grunde in 
dem alten Teftamente feine Mythen annehmen, weil ja diefe, 
als ein Erzeugmiß längerer mundlicher Ueberlieferung, fich 
nicht bilden Ffönnen, wenn die Gefchichten fehon von Augens 
zeugen, oder doch von Männern, Die den Begebenheiten jehr 
nahe ſtanden, niedergefchrieben wurden. Es mußte baher jene 
natürliche Auslegungsweife nicht wenig eyfchüttert, und Die 
mpythifche nicht wenig befeftigt werden, als fortgefeßte hiſto⸗ 
rifche Unterfuchungen zu dem Nefultate führten, daß gerade 
die altsteftamentlichen Bücher, an welchen am meilten die na 


20 


türkiche Erklaͤrung verjucht wurde, 3.8. die fünf Bücher Mos 
fee, das Buch Sofa ꝛc. geranme Zeit nadı den barin er⸗ 
zählten Begebenheiten gefchrieben worden, und daß fie viel 
jünger feien, ald man bisher angenommen hatte. Indem da⸗ 
durch das in der Anficht über die Entftehung diefer Bücher 
liegende Fundament der natürlichen Auslegung umgeftoßen 
worden war, mußten Diejenigen Theologen, welche durch ihre 
Korfchungen zu diefer Einficht gelangten, zugleich gur myt hi⸗ 
ſchen Deutung hingewiefen werden, und dieſe ald das einzige 
Mittel, das Unglaubliche in den Büchern zu erklären, aners 
fernen. Dies gefchah denn auch zunächft in Bezug auf bie 
Mofaifhen Bücher von Vater, ber ſich dahin ausfpricht, daß 
diefelben nır dann ungezwungen erklärt werben fünnen, wenn 
man von der Anficht ausgehe, die in ihnen enthaltene Ges 
fehichte fei erft durch Die mündliche, immer ums und fortbil 
dende Weberlieferung vieler Menfchengefchlechter hindurch ges 
gangen, .ehe fie durch den gefchriebenen Buchſtaben in ber 
.Geftalt feftgehalten worden, in welcher fie zur Kunde bes 
Schreibenden gelangt war. Ä 
Weit mehr noch, als Vater, fpricht ſich de Wette, in 
Folge feiner tiefer gehenden Unterfuchungen über bas Alter 
der alt=teftamentlichen Schriften, für die mythifche Auffaf 
ſungsweiſe gewiffer Theile des alten Teftaments ang. 
Diefer macht namentlich aufmerkſam auf das patriotiſche 
und ypoetifche Intereffe, welches in dee mündlichen Webers 
Tieferung fich geltend mache : „je fchöner, ehrenvoller, wunder⸗ 
barer, defto annehmlicher; — und wo die gegebene Gefchichte 
Lüden gelaffen oder dunkle, unfcheinbare Stellen habe, da trete 
die Phantafie ſogleich mit ihren Ergänzungen ein.“ hr 
ift es mehr um den reizenden Anbli eines Bildes zu thun, 
das eine ihr theuer gewordene Idee verförpert, als um bie 
gefchichtliche Wahrheit der einzelnen Züge, aus denen es zu⸗ 
fammengefeßt iſt; fie will ſchauen und des Anblicks fich er⸗ 
freuen. Die natürliche Erflärungsmeife verwirft aber be 
Wette fchon darum, weil wir uns bei allen Erzählungen nur- 
an den Bericht des erzählenden Schriftftellers halten können, 
und daher bei wunderbaren Gefchichten den übernatürlichen 
Dergang, fo wie ihn berfelbe gibt, entweder geradezu ans 


2 


uehmen ober einſach verwerfen muͤſſen, nicht aber einen na⸗ 
tärlichen willführlid; herausdeuten dürfen, für welchen uns 
ein ficherer Boden abgeht. So üt es nad) de Wette z. 8. 
unzuläffig, wenn man glaube, einen wirklich gefchloffenen Bund 
Gottes mit Abraham Ci. 1. Mof. 12, 120.) nicht annehmen 
zu können, die Erzählungen davon doc auf eine innere Bis 
fion zurüczuführen; denn darüber können wir ja Nichte wifs 
fen, da es und Niemand erzählt; es ift eine willführliche Deus 
tung. Wie konnte auch in Abraham auf natürlichem Wege 
der Gedanke auffteigen, daß fein Volk einft ganz Canaan bes 
berrfchen werde? Ehe eine Bifton auf eine ſolche Hoffnung 
gedeutet werben Tann, müflen doc; fchon äußere Gründe das 
zu vorhanden fein, woran es aber hier ganz mangelte. Wohl 
aber konnte fpäter, ald nun wirflich die Inden Canaan zu 
erobern ſich anfdjidten, in dem Bolfe die Enge entftehen, 
daß Gott dieſes ſchon Dem Abraham verheißen habe. 

Auch Krug erklärt die Verſuche, die natürliche Möglich: 
feit einer Wundergefchichte ermitteln zu wollen, für fruchtlog, 
weil in der Regel die Erflärung nod) wunderbarer heraus⸗ 
fomme, als die Geſchichte ſelbſt; Dagegen hält er die Unter⸗ 
fuchung über die Frage: Wie mag wohl diefe Erzählung ent: 
fanden fein? — alfo die Frage nadı dem Urfprung der 
Sage — nicht nur für ſehr zuläffig, weil fie dem Terte feine 
Gewalt anzuthun brauche, fondern auch für fehr fruchtbar, 
„weil fie Licht über fanmtlidye Wundererzählungen verbreite“. 

In ähnlicher Weife ſprachen fih aus: Gabler, Horft 
und ein Ungenannter in Berthold's Fritifchem Journale. — 
Alle fo eben Genannten ftimmen in folgenden gegen die na⸗ 
türliche Erklärung gerichteten, und die mythifche cmpfeh: 
lenden Säben überein: 

„Es ift unhiſtoriſch und unerlaubt, Urkunden durch Ver⸗ 
muthungen zu ergänzen, und eigene Spekulationen für ge- 
gebenen Buchftaben zu halten; — 

Es ift ein höchit gezwungenes und undanfhares Bemühen, 
natürlich dDarzuftellen, was die Urkunde Doch als etwas Wun⸗ 
derbared geben will; — 

Durch dieſes Verfahren wird die biblifche Gefchichte von 
allem Seiligen und Böttlichen entleert; — 


Der mythifche Geſichtspunkt dagegen laßt das Material 
ber Erzählung unangefochten, wagt es nicht)! an bem Ein» 
zelnen zu deuteln, nimmt aber das Ganze nicht für wahre 
Geſchichte, fondern für heilige Sage; — 

Durch diefe Auslegung verfchwinden die zahllofen, fonft 
nie zu löfenden Schwierigkeiten in Bezug auf Harmonie (lieber 
einſtimmung) und Chronologie (Zeitrechnung) der Evangelien; — 

Diefelbe wird unterftügt und beftätigt biurch ben Umſtand, 
baß bie Gefchichte aller Völker und Religionen mit heiligen 
Sagen beginnt,“ 





Durch diefe Nefultate über Die Abfaffungszeit unb den In⸗ 
halt altsteftamentlicher Bücher wurde man, in folgerichtigem 
Weiterſchreiten, gleichfam unvermerft zu der Annahme hinübers 
geführt, daß man auch im neuen Teftamente viele Erzähs 
lungen ald Mythen zu betrachten habe; denn viele derfelben 
find ihrem ganzen Character nach den altsteilamentlichen Wun⸗ 
dergefchichten zu auffallend Ahnlich, als daß man nicht für fie 
biefelben Grunbfäße der Auslegung, welche für bie erfteren 
gelten, in Anfpruch nehmen müßte. Allein hier hatte man vor 
allen Dingen Eine Schwierigkeit erſt zu befeitigen. Diefe lag 
darin, daß man Mythen fonft nur in der Urzeit eines Bols 
Bes, wo noch nicht gefchrieben wurde, antrifft, das Auftres 
ten Jeſu aber in eine Zeit fällt, wo das jüdiſche Bolt längft 
ein fchriftftellerifches gevorden war. Allein fchon mehrere ber 
oben genannten Gelehrten hatten in biefer Beziehung auf fol« 
gende fehr wefentliche Punkte hingewiefen : 

„Auch diejenige Geſchichte kann im weitern Sinne my⸗ 
thifch genannt werben, welche, wenn auch in einer fchon 
fchriftftellernden Zeit, doch lange fihh mer im Munde bes 
Bolfes fortpflanzt; — | 

Im neuen Teſtamente ift zwar nicht eine gänzlich my⸗ 
thifche Geſchichte zu ſuchen; wohl aber fünnen einzelne Mythen 
in ihm vorkommen, mögen fie nun aus dem alten in basfelbe 
übergetragen ober in. feinem eigenen Geſchichtskreiſe entſtanden 
ſein; — 

Nachdem Jeſus durch ſein Leben ſo berühmt, durch ſeinen 
Tod ſo glaͤnzend verherrlicht worden, war es ſehr natürlich, 


23 


daß man, wie es in allen ähnlichen Fällen zu gefchehen pflegt, 
feine im Dunfel verlebte Sugend mit ben wundervolliten Er⸗ 
zählungen ausfchmüdte, — 

Der Begriff von alter Zeit if fehr relativ, und in einer 
Zeit, wo man über die meiften Gegenftände fchon fchrift- 
liche Urkunden hat, können über andere gar wohl Sagen 
entftehen, wenn fie, wie es hier im Allgemeinen der Fall ift, 
lange Zeit nur in mündlicher Ueberlieferung fortleben; — 

Ueber Manches hatte man gar feine Ueberlieferung, war 
alfo der eigenen Muthmaßung, einer reichen Quelle vielgeſtal⸗ 
tiger Sagen, überlafjen.“ 

Wenn fich dieſe Säge nicht läugnen laffen, warum fol 
man die Sache nicht bei ihrem wahren Namen nennen, und 
offen befennen: auch im neuen Teſtamente finden ſich Diythen? 





Diefen Grundfägen zufolge wurben nunmehr einzelne Ers 
sählungen des neuen Teitamentes wirklich mythifch gebeiltet, 
wie 3. B. die Verfuchungsgefchichte (Matth. 4, 1 20.5 Marc- 
1, 12 x; Lucas 4, 1 x.) durch Uſteri. Diefer bemerkte: 
„wenn einmal eine Aufregung der Gemüther gegeben fei, zus 
mal eine religiöfe, und unter einem nicht unpoetifchen Volke, 
fo fei nur furze Zeit dazu nöthig, daß, nicht etwa bloß vers 
borgene und geheime, fondern jelbft öffentliche und bekannte 
Zhatfachen einen Schein des Wunderbaren bekommen; — 
nur müſſe man fich die Sache nicht fo denken, als ob hier 
eine abfichtliche und mit Einem Scjlage fertige Erdichtung 
ftattgefunden; fondern nach und nad) und auf eine nicht mehr 
nachweisbare Art fei der Glaube an ben wunderbaren Her⸗ 
gang in den Gemüthern der Gläubigen entflanden und endlich 
die fo geftaltete Erzählung niedergefchrieben worden,“ 





Allein immerhin konnte man, wenn ed auch nach jenen 
Grundfägen fehr wahrfcheinlich wurde, daß das neue Te⸗ 
ftament Mythen enthalte, dennoch der mythifchen Deutung in 
Bezug auf dagfelbe nur eine fehr befchränfte Ausdehnung ge: 
ftatten, fo lange die Anficht fefigehalten wurde, daß vwhexe 


24 

Evangelien theild von Augenzeugen der erzählten Begebenheiten 
(den Apofteln Matthäus und Sohannes), theild von Schüs 
fern und Begleitern einzelner Apoftel (Marcus, dem Doll⸗ 
meticyer des Petrus, und Lucas, dem Begleiter des Apoſtels 
Paulus) wirklich herrühren. Denn ift dieſes der Fall, fo fällt 
die Denkbarfeit mythifcher Ausmalung, und noch mehr bie einer 
volftändigen Erdichtung, weg, wenn wir nicht die Berichten 
ftatter der abſichtlichen Taͤuſchung befchuldigen wollen, wozu 
wir, auch abgefehen von der nicht anzutaftenden Achtbarkeit 
ihres Characters, durchaus feinen Grund haben. 

Indeß haben die neuern gejchichtlichen Forſchungen über 
bas Alter der Evangelien zu überrafchenden Refultaten geführt, 
und nach den LUnterfuchungen eins Schulz, Seiffert, 
Schnedenburg unterliegt es feinem Zweifel mehr, daß wer 
nigſtens bie drei erſten Evangelien ungleich jünger find, als 
man bisher angenommen hatte. Wir werden die Nefultate 
biefer Forſchungen unten genauer angeben, und fahren in uns 
ferer Darftellung‘ der Gefchichte der mythifchen Auslegung fort, 
indem wir zeigen, wie Diefelbe von den Theologen nunmehr, 
da die Annahme eines apoftolifchen Urfprungs der Evan 
gelien wegftel und ein großes Hinderniß damit befeitigt war, 
in Anwendung gebracht wurde. 

Biele Gelehrte überzeugten ſich nun freilid), daß durch 
unfere Evangelien nur ein dünner Baden des apoſtoliſch 
beglaubigten Evangeliums ſich hindurchziehe, und daß mithin 
ber mythifche Standpunkt für viele ihrer Erzählungen gels 
tend gemacht werden könne, und auch werden müffe, da 
wo innere Gründe dazu nöthigen. Nur das Sohanneifche 
Evangelium wird jetzt noch von den Meiften, ber Anficht 
Bretfchneider’s gegenüber, für authentiich, d. h. wirklich 
für das Merk des Apoftels, gehalten: daher die mythifche 
Auslegungsweife bei diefem nur mit großer Borficht anzus 
wenden ift. 


25 


Fünftes Kapitel. 


Mangelbaftigfeit der biäherigen mythifchen Aus⸗ 
legungöverfuche. 


In Bezug auf die Evangelien überhaupt ift die mythifche 
Auslegungsweife noch nicht in ihrer Reinheit und in ihrem 
ganzen Umfange von den Theologen angewendet worben. 

Zunächft ließ man fich durch die unbewußt zur Gewohns 
heit gemorbene Neigung, Gefchichtliches in der heil. Schrift 
möglichit feitzuhalten, beftimmen, faft nirgends philofophis 
fche, fondern allzuhäufig hiftorifche Mythen Cfiehe S. 18) 
anzunehmen, wobei immer noch ein gefchichtliher Kern ges 
rettet werden konnte. Man beachtete zu wenig, daß bie 
Ideen, welche fih in dem jüdischen Bolfe von dem fünftigen 
Meffias gebildet hatten, die unbewußte Veranlaffung wurben, 
von Sefus, nachdem man ihn als Meſſias anerkannt hatte, 
manches Berherrlichende zu erdichten, was nad) allgemeinem 
Glauben ſich zugetragen haben mußte, wenn man auch fein 
gefchichtliches Zeugniß dafür hatte. Das Nähere hierüber 
wird weiter unten erörtert werden. 

Aus derfelben Neigung zum Gefchichtlichen ging man noch 
weiter und verftel haufig wieder unvermerft in die natürs 
liche Erflärungsmweife, d. h. man war nicht zufrieden damit, - 
anzuerfennen, es liege der Sage irgend eine gefchichtliche 
Thatfache zu Grunde, fondern man vermeinte auch, noch bes 
fiimmen zu fünnen, weldyes und von welcher Art dieſelbe ges 
wefen jei, da wir Doch, wenn nicht zugleich wirklich gefchichte 
liche Berichte über Diefelbe vorliegen, gar nichts Sicheres 
darüber wiffen können, wie ſchon ganz richtig von Gegnern 
der natürlichen Erklärungen, die, wie de Wette, die mythi⸗ 
ſche Auslegung begründen halfen, bemerft worden war. So 
legte man 3.3. der Erzählung von ben drei Weifen aus bem 
Morgenlande eine zufällige Reife srientalifcher Kaufleute zu 
Grunde, — die Engelerſcheinung bei Jeſu Geburt erflärte man 
burch ein feuriges Phänomen, — die Berwandlung des Wafs 
jers in Wein durch die Annahme, Sefus habe ſich einen men⸗ 
fchenfreundlichen Scherz erlaubt, u. dgl. Selbſt Männer, die, 
wie Gabler, gegen diefe Verwechslung der Begrike und ar> 


gen bie Abneigung davor, philofophifche Mythen anzuerkennen, 
eifern, verfallen, wenn fie ſelbſt zu Auslegungen fchreiten, wies 
der in die gerügten Fehler. Andere waren confequenter, dran⸗ 
gen darauf, man folle ſich offen befennen, es Taffe fich nicht 
mehr entjcheiden, wie viel und was Geſchichtliches in ben 


. uns überlieferten Sagen enthalten fei, und ſich in Bezug bars 


2) 


auf mit bloßer Wahrfcheinlicyfeit begnügen. | - 





Die Urſache diefer mangelhaften Handhabung der mythi⸗ 
ſchen Erffärungsweife lag vorzüglich darin, daß man den Bes 
griff der Mythe nicht rein und fcharf genug gefaßt, und 
namentlich den Unterſchied zwifchen den beiden Sauptarten, 
ber philsfophifchen oder reinen und der hiftorifchen 
Mythe, nicht genau beftimmt hatte. Diefe Vorarbeit hat ber 
geiftreihe George auf eine fehr befriedigende Weiſe durchge⸗ 
führt, weßhalb wir ſolche wejentliche Theile feiner Begriffebes 
ſtimmungen, mit denen wir übereinftimmen, hier in Kürze wies 
bergeben. — Er nennt die hiftorifche Mythe Sage, und bie 


reine Mythe ausſchließlich Mythe — worin wir ihm indeſſen 


nicht ganz beiſtimmen — und unterſcheidet zwiſchen beiben nun 
folgendermaßen : 

„Mythe ift die Bildung einer Thatfache aus einer Idee 
heraus; Sage die Anſchauung der Idee in und aus der 
Thatſache.“ 

Dieſer Unterſchied iſt von großer Wichtigkeit und erklaͤrt 
ſich naͤher durch Folgendes: 

Jede Religionsgemeinſchaft hat gewiſſe Außere Einrichtun⸗ 
gen und Zuftände, welche der Abdruck der Ideen find, die 
ſich in ihrem geiftigen Leben allmählig entwidelten. Der 
Urfprung jener Zuftände iſt in Dunkel gehüllt: fie ftehen 
als etwas Unerflärtes da. Es ift aber ein angeborned Des 
dürfniß Des menfchlichen Geiftes, Anfang und Urfprung alles 
Vorhandenen ſich zu erklären, und dadurch ale ein Lebens 
diges feiner Anſchauung nahe zu bringen: wo die Gefchichte. 
ſchweigt, da tritt Die ſchaffende Einbildungsfraft ein und Dichtet 
ſich einen erften Anfang; diefe Dichtungen werden ganz hafürlich 
die Karbe der Ideen der Zeit, in welcher fie entitanden find, 
am fich tragen. So verkörpern füch diefe Ideen zu Erzählıns 


27 


gen; bie bee geftaltet ſich zu Mythe; die in ihr erzählten 
Thatfachen find nur Sinnbilder berfelben. Je mehr fich 
aber bie Ideen verflüchtigen, je mehr bie Begeifterung, welche 
bie Mythe fchuf, erfaltet, deito mehr hält fich der Menſch 
an biefe, d. h. an bie dichteriiche Einfleidung der Idee: 
er klammert ſich feft an diefe, und allmählich nimmt er als 
wirkliche Thatfache, was nur Bild war, weil überall um 
fo fefter an dem Aeußeren gehalten wird, je bürftiger bas 
innere Leben geworben ift. 

Auf anderem Wege entfleht die Sage. Hier find ges 
wife Thatfachen gegeben: allein im Laufe der Ueberlieferung 
haben fich „Die Gefichtöpunfte, aus welchen fie aufzufaffen 
nd, die Ibeen, bie urfprünglich in denfelben lagen, verlor 
ven“ ”); fie ftehen allmählich in der mündlichen Ueber⸗ 
lieferung, von ber bier allein bie Rebe ift, ba, wie vereinzelte, 
umverfländliche Bruchflüde, Denen der Zufammenhang fehlt. 
Daher fchafft fi die Einbildungskraft einen neuen Zuſam⸗ 
menhang; fie geftaltet Die Bruchitüde wieder zu einem lebeus 
Bigen Ganzen, bildet fid, aus ihnen eme Sage und legt 
biefen diejenigen Ideen unter, welche in ber Zeit leben, in 
welcher die Sage entiteht. Diefe Sage tft alio ein Aborud 
nicht bes Zuftandes und ber Voritellungen derjenigen Zeit, 
in welcher die ihr zu Grunde liegende Thatjache fich ereignete, 
fondern vielmehr derjenigen, in welcher die Sage ſich bils 
dete, und namentlich der Borftellung, welche fie von den 
Menfchen und den Ereigniffen der Vergangenheit hatte. " Daß 
Dabei Alles ins Wunderbare gezogen wird, hat feinen 
Grund in der Eigenthümlichfeit des menfchlichen Geiftes, vers 


) Wenn hier und an andern Etellen von Ideen bie Nebe ik, 
„weiche in gewiſſen Ereigniſſen liegen“, fo verftehe man daruns 
ter den geiftigen Gehalt, die menfchliche oder göttliche Bes 
deutung, weiche fie haben oder in der Mythe enthielten. Waren 
z. B. viele Handlungen Jeſu Ausdrud feiner menfchenfreunde 
lichen Güte und Herabtaffung , fo ift dies die Idee, die in 
ihnen urfprünglich Liegt; find dieſe Handlungen in ber fpäteren 
Sage zu Wundern umgeftaltet worden, fo iſt die unmittelbare 
wunderbare Aeußerung ber in ihm wohnenden Göttlichkeit die 
dee, weiche fie erhielten. 


28 


"möge welcher er alle Wirkungen, deren Urſachen ihm nicht 
durch die Erfahrung gegeben find, geheimen, höheren Kräfs 
ten zuſchreibt. Wie viel mehr wird dies noch ber Fall fein 
müfjen, wenn die Sage fid) mit dem Leben eines Religions⸗ 
Stifters oder eined anderen in der Gefchichte der Religion 
bedeutungsvollen Mannes, deren Handlungen man fo gerne, 
fo wie fie ihrem inneren Wefen nach den Charakter bes 
GBöttlichen in befonderem Grabe an fich tragen, fo auch ben 
Zauber äußerer wunderbarer Göttlichfeit verleiht! So bil« 
det ſich die heilige Sage, ald eine Geftaltung mangelhaft 
überlieferter Thatfachen in dem Lichte ber Ideen einer ges 
wiflen fpäteren Zeit. 

ꝰEs ergiebt ſich aus dem nach George fo eben Entwickel⸗ 
ten in Bezug auf die Evangelien, daß wir da, wo wir eine 
reine Mythe (was George vorzugsweiſe Mythe nennt) an⸗ 
erkennen müſſen, bei welcher alſo keine geſchichtliche Grund⸗ 
lage anzunehmen iſt, doch ‚den wahren Gehalt der Idee von 
Ehriftus*, den Glauben ber Gemeinde über fein inneres 
Weſen, reiner vor uns haben, als da, wo ſich und eine Er⸗ 
zaͤhlung als Sage Cwas wir hitorifche Mythen nennen) 
darftellt. Denn dieſe hängt in ihren Bildungen immer mehr 
oder weniger von dem Gehalte der überlieferten und 
durch die Meberlieferung oft entftellten Thatfachen ab; es 
ſpricht fich in ihnen, weil ihnen ein gewiſſer Stoff gegeben 
ift, Die Hriſtlich⸗meſſi ianiſche Idee, das Urbild von CEhriſtus, 
wie es in der Gemeinde lebte, nicht ſo frei und rein aus, 
als in der reinen Mythe. 





So wie nun aber einerſeits die Ausleger den Begriff der 
Mythe nicht rein genug bisher gefaßt haben, fo konnten fie 
andererfeitö ſich auch nicht dazu entichließen, ihn in feiner 
vollen Ausdehnung auf das neue Teftament anzınvenden: 
fie blieben immer nur-, ohne zureichenden Grund, bei wenig 
einzelnen Erzählungen ftehen. Zwar geftanden fchon mehrere, 
z. B. Eichhorn, Uſteri ac. ıc. zu, die Kin dheit s⸗Geſchichte 
Jeſu gehoͤre der Mythe an: denn dieſe koͤnne nicht von Gleich⸗ 
zeitigen herrühren, weil auf das Kind Jeſu Niemand fo ges 


28 

nau geachtet habe; erſt nachdem fein Leben und fein Enbe 
ihn auf fo außerordentliche Weiſe verherrlicht, habe man auf 
jene zurüchliden können; ‚damals aber feien entweder feine 
Augenzeugen mehr am Leben, oder bei den am Leben Geblier 
benen fchon Die Erinnerung getrübt gewefen durch ben Anblick 
der wunderbaren Berherrlichung des Heilandes. Gegen bie 
geichichtlihe Wahrheit zweier Erzählungen fpricht auch fchon 
bad, daß Jeſus bei feinem Auftreten als ein völlig Unbe⸗ 
kannter erfcheintz; wäre bied aber. denkbar, wenn wirflich 
feine Kindheit von fo glänzenden Wundern umgeben geweien? 
Konnten Berfündigungen, Engelerfcheinungen, Bethlehemitifcher 
Kindermord fchon fo ganz vergeflen fein? 

Dagegen follen, jenen Auslegern zufolge, alle Erzählungen 
von dem öffentlichen Leben Jeſu durchaus beglaubigte 
Geſchichte fein, weil fie von Augenzeugen ober doch Sol⸗ 
chen herrühren, die fie aus dem Munde von Augenzeugen 
vernommen. Noch leichter machten es fich biejenigen, welche 
jene Kinbheitögefchichte geradezu als fpätere Zufäße verwarfen. 

Bald fahen ſich andere Ausleger (5. B. Ammon) genös 
thigt, auch das Ende von Sefu Lebensgefchichte, namentlich 
die Himmelfahrt, my thiſſch zu erklären, fo daß alfo nun Ans 
fang und Ende der evangelifchen Erzählungen in’d Miythifche 
gezogen waren, während ber in ber Mitte liegende Kern 
unangefochtene Gefchichte bleiben follte. Jedoch auch dieſer 
fonnte fich nicht lange jener Auffaffungsweife entziehen, indem 
wert Gabler, nad ihm Bauer und Rofenfranz, aud 
in dem übrigen Leben Sefu manche Wundergefchichten für 
Mythen erklärten. Aber auch diefe Männer ftedten eine 
durch Nichts gerechtfertigte Grenzlinie ab. Sie unterſchieden 
zwifchen Wundern, die an Sefus, und folchen, die Durch ihn 
gefchahen; jene erflärten fie mythiſch, Dieje natürlich wie 
die Rationaliften. (Siehe Seite 14.) 

Ein fo willführliches, den evangeliichen Berichten eben fo 
fehr, wie den Gefetßen des Denfens, Gewalt anthuendes Ber: 
fahren, fonnte aber die Billigung feiner Partei erhalten und 
erfuhr mit Recht von allen Seiten her vielfachen Widerfpruch. 
Wir wollen das Unhaltbare diefes Verfahrens kurz darlegen. 

Erfilich find zu einem fo fcharfen Unterjcriede yoiiien der 


‘ 
— 
30 


Kindheit Jeſu und ſeinem Mannesalter diejenigen Ausleger 
am wenigſten befugt, welche, wie Tholuck, die Abfaflung 
der Evangelien moͤglichſt nahe au den Tod Jeſu hinaufrüden: - 
denn dann mußten ihre Berfafler, insbefondere Matthäus, als 
fie fchrieben, noch mit folchen Perfonen in Berührung geftans 
den haben, welche auch über Jeſu Geburt und Kindheit 
als Augenzeugen reden konnten; man benfe nur an Maris 
und die Brüder Jeſu. Mag man aber auch immerhin für bie 
Kindheitögefchichte eine größere Möglichkeit des Mythiſchen 
zugeben, als für Die übrigen Abfchnitte feines Lebens, fo folgt 
daraus keineswegs, daß in biefen nichts Mythiſches anges 
nonmmen werben bürfte, denn viele Erzählungen, aud) aus ber 
Zeit nach der Taufe, mit weicher Sefu öffentliches Leben 
beginnt, find denjenigen aus ber Zeit vor ber Taufe ihrer 
inneren Befcaffenheit nadı fo ähnlich, — hier wie dort 
Wunder, Engelerfcheinungen, Weilfagungen; — Geiſt unb 
Ton ber Erzählungen it fo gleich, — daß man entweber 
auf beiden Seiten, oder auf Feiner Mythifches anerkennen 
muß. Die Erzählung von der Taufe felbft, welche bie 
Grenze bes Mythiſchen bilden foll, ald der Anfang von 
Jeſu öffentlichem Auftreten, ift ja auch noch rein mythifch 
gehalten, und fo auch die auf diefelbe folgende Verſuchungs⸗ 
geſchichte. Eben fo auf der andern Seite! Hält man ein 
mal den Endpunkt der Lebensgefchichte, die Himmelfahrt 
mit ihren Engeln, für mythiſch, fo wird man ein Gleiches 
von den Engelerfcheinungen am Grabe, auf Gethjemane und 
bei der Berflärung befennen müſſen. 

Wir fehen uns alfo zu dem Geftändniffe genöthigt, baß, 
jene willführlichen Orenzmarfen feineswegs beachtend, das 
Mythiſche auf allen Punkten der Lebensgefchichte Jeſu zum 
Vorſchein kommt. Jedoch fteht es nicht überall gleich Dicht; 
namentlich wird fic, in dem öffentlichen Leben Jeſu mehr 
gefchichtlicher Boden finden laffen, ald in dem Dunkel feines 
Privat⸗Lebens. 





Mit der Aufſtellung des mythiſch en Geſichtspunktes 
hatte man ſich wieder der alten allegoriſchen Auslegung 
genäbert. (Siehe Seite 7.) Beide ſtimmen nämlich darin 


31 


überein, daß fie mit Aufopferung ber gefchichtlichen Wahr⸗ 
heit des Erzählten eine id eelle feithalten, d. b. eine gewiſſe 
Summe religiöfer Vorſtellungen und Wahrheiten, bie fi in 
Erzählungen abfpiegelte. Beide gehen von ber Anficht aus, 
daß der Berichteritatter zwar ein fcheinbar Gefchichtliches 
gebe, dieſes aber mir die Hülle einer tiefer liegenden Idee, 
einer religiöfen Borftellung fe. Verſchieden aber find 
beide Auslegungsweilen darin, daß nach der allegorifchen 
ber den Schriftiteller leitende höhere Geiſt unmittelbar 
ber göttliche felbft ift — während dies nach der mythifchen 
fein anderer fein kann, als der Geift eines Volkes oder eis 
nee Gemeinde, überhaupt einer gewillen von eigenthinnlis 
hen religisfen Ideen und Borausfesungen geleiteten Zeit, bes 
ren Einwirkungen der Schriftfteller ſich unbewußt hingiebt. 
Diefe mythiice Anficht fucht daher vor allen Dingen eben 
den Geift und die Ideen jener Zeit auf, 3. B. die Meſſias⸗ 
dee, den Ölauben an die WBunderfraft eines Propheten ıc. ıc., 
um an ihnen einen ficheren Mapftab für ihre Erklärungen zu 
gewinnen. 


Dbgleich demnach die mythifche Auslegung einen beſtimm⸗ 
teo göttlihen Gehalt des Erzählten feithält, ohne in dem⸗ 
jelben eme unmittelbare höhere Einwirfung anzuerkennen, 
fo fand fie doch bei den beiden fich entgegenftehenden Pars 
teien, in deren Mitte fie gewiſſermaßen fteht, den lebhafte 
ften Widerſpruch. 

Zunächſt traten gegen fie die Othodoxen auf, namentlidy 
Heß, der fie mit den flacheften Gründen befämpfte; ex 
ging von nachftehenden ganz willführlichen Borausfeßungen 
aus: 1) Mythen find uneigentlich zu verftehenz nun wollen aber 
die biblifchen Bücher eigentlich verftanden fein, alfo fönnen 
feine Mythen in ihnen enthalten fein. () — 2) Mythologie 
it etwas KHeidnifches, die Bibel aber ein chritliches Buch, 
alfo ꝛc. ꝛc. — 3) Nicht nur die Alteften biblifchen Bücher 
enthalten Wunderbares, fondern auch die fpäteren, unläug- 
bar hitorifchen; folglich Fann das Wunderbare fein Kenn⸗ 
zeichen bes Mythiſchen fein. — Diefem Gelehrten war bie 
halte natürliche Erklärung lieber, als eine woxbihHe wir 


S 


32 


bunte gefchichtliche Hülle lieber, als ber reichſte ideelle Kern 9. 
Und ein ſolcher muß doch wahrlich vorhanden fein, wenn bie 
hriftliche Begeifterung fe bedeutungsvolle Mythen fchuf, wie 
bie Evangelien fie darbieten; während: die natürliche And 
legung Alles auf nüchterne, wenn auch moralifche, Zuftänbe 
zurücdführt, und den hohen Schwung veligiöfer Dichtung nicht 
anerfennt. 

Befonders eifrig erhoben fich viele Gelehrte (Meyer, Fritfche, 
Kelle, Steudel ıc. *) gegen de Wette's fühne Durchführung 
des mythiſchen Standpunktes durch die Mofaiihen Bücher. 
Mehrere fanten aber dabei unvermerkt, indem fie die mythiſche 
Anficht befämpften, in die natürliche herab. Denn nur um 
die Wirklichkeit der Gedichte, wenn auch ohne Wunder, 
aufrecht zu halten, wodurch fie ihrem rechtgläubigen Sy 
ftem unbewußt nicht wenig vergaben, begingen fie gerade die 
oben gerügten (fiehe S. 21) Fehler der natürlichen Ausles 
gung, werm fie 3.3. verlangten, man folle von ber Gefchichte 
der Sündfluth, wolle man fie nicht als ein Wunder ans 
fehen, doch wenigftens fo viel gelten laffen, daß bei einer 
großen Ueberſchwemmung in Borderafien viel böfe Menfchen 
umgefommen; Noah aber, ein frommer Mamm, mit den Seinen 
gerettet worden. Allein bier gilt ja eben de Wette Eins 
wurf gegen die natürlich Anslegenden: „Wollt ihr bie 
wunderbare Gefchichte nicht gelten Laffen, woher wißt ihr denn 
überhaupt Etwas über die Sadıje? « 

Eben fo unbequem war die mythifche Deutung den rationalifti- 
fchen Anhängern der oben (ſiehe S. 13) gefchilderten na tür⸗ 
lichen Auslegung; durch jene wurden die Kunftftüce ihrer 
natürlichen Auslegung nun mit Einemmale für verlorne Mübe 
erflärt; denn felbft bei einer hiftorifchen Mythe geben wir 
ed auf, eine wirkliche Thatfache herauszuffauben, weil wir ftaft 
ihrer auch eine leere Fabel erhalten fünnten, die, Des religiöfen 
Inhaltes, des Wunder s Glaubens nämlich beraubt, weit 
weniger werth ift, als die Mythe felbft. Ueberhaupt aber gilt 
und dieſer relig iöſe Gehalt mehr, als zweifelhafte Gefchichte. 


°) Wir verweifen auf die Schlußbemerfung dieſer Einleitung. 
*, Siehe Note 3, Seite 4. 


33 


Beſonders entfchieden ſprachen Eichhorn und Paulus in 
biefem Sinne ſich aus, weld, letzterem Gelchrten die mythifche 
Auffaſſungsweiſe ald veine Geiftesträgheit vorfommt, welche mit 
der evangelifchen Gefchichte auf dem leichteften Wege fertig 
za werben wünſche⸗. Cr überfieht aber dabei, daß man durd) 
imere und äußere Gründe zu diefer fogenannten Geiftesträgs 
heit genöthigt ift, die, näher betrachtet, fich ale das fpürfame 
Beftreben bewährt, aus den Erzählungen einen tiefern Gehalt 
von Ideen und religiöfen Vorftellungen herauszufinden. Andern 
Rationaliften, namentlich Greiling, begegnete es, daß fle dem 
wythifchen Standpunft Vorwürfe machten, den der phantafti- 
(hen Erdichtung, den der tafchenfpielerifchen Lnterfchiebung 
eined andern Factums ıc., welche gerade ihre eigene Erflä- 
rungsweiſe zumeift treffen (wie unten bei einzelnen Erzählungen 
deutlich werben wird), während ber muthifche Ausleger gar 
fein Kactum herausdeuten will, 





Zweiter Theil. 
Naͤhere Begründung des mythifchen Standpunftes. 








Erftes Kapitel 


Möglichkeit von Mythen im neuen Zeftantente nach 
äußern Gründen. 


Nachdem wir nun die Gefchichte (Entftehung und feitherige 
Ausbildung) der mythifchen Auslegung, ihren Standpunkt zwi⸗ 
ſchen den verfchiedenen andern Syitemen und die Einwendun⸗ 
gen gegen fie kurz dargelegt haben, müſſen wir nunmehr Das 
Weſen verfelben näher betrachten, und damit den Stand⸗ 
punkt bezeichnen, auf welchem wir bei der nachfolgenden 
Prüfung der einzelnen ewangelifchen Erzählungen ung befinden. 

„Dürfen und können wir im neuen Teftamente Mythen 
annehmen?“ 

„Bas verftehen wir unter Mythen, und wie entflan- 
den fie?“ 


— 3 


34 


„Woran erkennen wir, bad eine Erzählung Mythe it?“ 
Diefe Fragen werben hier ihre Beantwortung finben 
müflen . * 





Der Annahme, auch vom neuen Teflamente bürfe man 
annehmen, daß in bemfelben Mythen enthalten feien, ftellt ſich 
zunächft das Bewußtſein des gläubigen Chriften mit ent- 
ſchiedenem Nein! entgegen. Weist man ihn auch auf andere 
Peligionen hin, die unbezweifelt ja auch Mythen enthalten, 
fo wird er erwiedbern: „Mas Heiden und Muhamebaner von 
ihren Göttern und Propheten erzählen, it freilich größtentheils 
erdichtetz nichts aber von dem, was bie Bibel von Gott und 
den Propheten, — noch weniger etwas von bem, das bie 
Evangelien von Jeſus erzählen, | 

Diefer Glaube erfcheint ung aber als gaͤnzlich befangen m 
dem dem Ehriften zur Gewohnheit anerzogenen G efichtsfreife. 
Denfen wir und nun in eine andere Neligiong « Gemeinfchaft 
hinein: herrjcht hier nicht derfelbe alles Fremde ausfchließende 
Glauben? Der Muhamedaner, der Jude, der Ehinefe ꝛc. — 
alle halten nur die Erzählung ihrer Religionsurfunden für 
wahr. Würden aber die Chriften, die jegt nur ihren Glauben 
für den wahren halten, nicht eben fo von dem Muhamedanis 
fchen denken, wenn fie in Diefem geboren wurden wären? 
Wer hat hier Recht? Alle zufammen nicht; Eins fchließt das 
Andere aus; nur eine der Religionen kann göttliche Offen 
barıng fein, da ihre Lehren fo verfchieden find. Welcher 


% Bon hier an glaubte der Verfaſſer vorliegender N3earbeitung 
des Straußifchen Werkes etwas ausführlicher fein. u müſſen, 
als in dem Borangegangenen, ja zuweilen ausführlicher, als 
Strauß felbft; denn es fchien ihm von befonberer Wichtigkeit 
zu fein, den Standpunft, von welchem aus in der nach⸗ 
folgenden Prüfung die evangelifchen Berichte ausgelegt werben, 
fo Elar wie möglich herauszuftellen, und damit den vielen 
Mißdeutungen, die berfelbe, fei es aus Unkenntniß oder aus 
welch anderm Grunde, erfahren mußte, nach Kräften zu be 
geguen. Uebrigens verweife ich auf die in der Vorre de darge⸗ 
legten, auch hier getrenlich befolgten Grundſätze, non denen 
ich bei meiner Arbeit ausgehe. 


35 


Einzefne hat Ned? Jeder behauptet ben göttlichen Urs 
forung feiner Religion, vom Chriften bis zum Heiden herab! 
Womit fann aber der Chrift die ausfchließliche Wahrheit 
feiner Religion beweifen? 

- Hierauf hat man die Antwort zur Hand: „Bei feiner 

Religion ift der göttliche Urfprung fo urfundlich belegt, als 
bei der jübiichen und chriftlichen; die biblifche Geſchichte ift 
theild von wirklichen Augenzeugen, theild von Solchen, 
Die mit Augenzeugen in den naäͤchſten Berhälmiffen fanden, 
gefchrieben; gefchrieben von Männern, über deren Glaubs 
würdigfeit Fein Zweifel walten Fanıı.“ 
.  Mlerbings müßten wir fehr bedenklich werben, an der ges 
ſchichtlichen Wahrheit der Evangelien zu zweifeln, wenn 
jene Borausfegung über ihren Urfprung richtig wäre, wies 
wohl auch dann noch einzelne Irrthümer denkbar wären. 
Allein fie iſt eben nicht richtig; beruht vielmehr auf irrigen 
Anfichten. 

Es kann nämlich jene „Augenzeugenfchaft und Zeitnähe⸗ 
der Berichteritatter durch Nichts bewiefen werden; vielmehr 
fpricht fehr viel Dagegen; — es muß demnach die Möglich⸗ 
lichfeit der Miythe in dem neuen Zeftamente, in fo weit 
änßere Gründe, d. h. folche, die aus der Entſtehung der 
Evangelien hervorgehen, darüber entfcheiden, zugegeben wers 
den. Dies wird durch Nachftehendes deutlich werden. 


Borerit beruft man fich zum Beweiſe dafür, daß die Bü- 
cher. von Zeitgenoffen der Begebenheiten herrühren, auf deren 
Ueberfchriften. Allein tragen z. B. Die Bücher, welche 
den Auszug der Sfraeliten erzählen, nicht aud) den Namen 
des Führers derfelben, Moſes, an der Spitze: wer aber wird 
glauben, daß Moſes wirklich Alles gefchrieben, da fein eigener 
Tod in ihnen erzählt iſt? Es ift überhaupt eine längft aus- 
gemachte Sache, daß die Ueberfchriften der heil. Bücher an 
ſich nichts mehr beweifen, ald entweder eine Angabe der Ver: 
faffer felbft, oder die Anficht der alten Zeit über den Ur- 
fprung derfelben. Der erſte Punkt beweist Nichts; in Betreff 
des zweiten müſſen wir fragen: 


36 > 
1) Wie alt ift diefe in den Ueberſchriften ausgedruͤckte Ans 
ficht? Welchen Gewährsmann haben wir dafür? — Welches 
find alfo die äußeren Gründe für die Nechtheit des Buches, 
d.h. dafür, daß es wirflich von dem Verfaſſer herrührt, Dem 
es zugefchrieben wird ? 
| 2) Stimmt die innere Befchaffenheit des Buches mit ber 
Anficht über feinen Urfprung überein? — Frage nach den 
inneren Gründen der Aechtheit. 


u 





Sn Bezug auf die Evangelien nun, um bie es fich hier 
handelt, „haben die bisherigen Unterfuchungen ber Gelehrten 
folgende Refultate geliefert. 

Unfere vier biblifchen Evangelien find durchaus nicht bie 
einzigen, welche über das Leben Sefu niedergefchrieben wurden; 
vielmehr hatte man deren fehr viele, und fait jede der zahl 
reichen Seften in der erften chriftlichen Zeit ihr eigenedg. Spaͤ⸗ 
ter aber, als Eine Partei im Schooße der Chriftenheit über . 
die andere triumphirte, und fich zur herrſchenden Kirche 
erhob, unterdrücte dieſe Kirche alle Evangelien, die fie mit 
ihrer Lehre im Widerſpruch fand, und erflärte Die vier, welche 
unter bie heiligen, geoffenbarten Bücher aufgenommen wur⸗ 
den, für Die einzig gültigen: nur in ihnen erfannten fie ächte 
apoftolifche Zeugniffe über Jeſum. Wir wollen fie einzeln bes 
trachten. 

Das erite wırde dem Matthäus zugefchrieben, der ans 
erfannt einer ber zwölf Apoftel geweſen; — das zweite dem 
Markus, dem Dolmetfcher des Petrus; — das dritte Dem 
Lukas, dem Begleiter des Paulus; — Das vierte dem Jo⸗ 
hannes, Apoftel und Lieblingsjünger Jeſu. 

Ucber die Aechtheit des Evangeliums Matthäi glaubt 
man das Ältefte Zeugniß in einer Stelle des Gefchichtfchreis 
bers Euſebius gefunden zu haben, wo er erzählt, der Biſchof 
Papias (161 — 180) bezeuge, daß der Apoftel Matthäus 
„die Neden (des Herrn)“ gefchrieben habe. NHierunter mag 
er, da er ein andermal, von Markus redend, die Worte 
‚eine Sammlung der Neben des Herrn veranftalten“ und den 
Ausdruck „die Worte und Thaten Chriſti niederichreiben “ 


- 37 


als gleichbebentend gebraucht, allerdings ein vollftändiges 
Evangelium verftanben haben. Daß er aber damit Dasjenige 
meine, -welches wir befiben, ift nicht nur unmahrfcheinlich, 
fondern felbft unmöglich, da er ausdrüdlich fagt, Matthäus 
habe Sin hebräifcher Sprache“ gefchrieben ; daß unfer Evans 
gelium eine Ueberſetzung besfelben fei, ift nur eine Vorauss 
ſetzung fpäterer Kirchenväter, 3.3. ded Hieronymus. — Nun 
finden wir zwar bei andern Kirchenvätern Ausfprüche und Er- 
zählungen von-Sefu, die große Aehnlichkeit mit Stellen in un: 
ferm Matthäus haben; allein diefe fünnen unmittelbar aus 
derfelben mündlichen Ueberlieferung gefchöpft fein, aus wel⸗ 
her das Evangelium felbft hervorging; mithin rührte dann 
die Achnlichkeit nur aus der Gleichheit der Quellen her; wo 
Schriften als Quellen angegeben werden, ift nirgends ges 
rabe gefagt, daß es apoftolifche feien. — Juſtin der Mär- 
tyrer Ct 168) führt öfters Worte als evangelifche an, die 
mit Stellen in unferm Matthäus übereinftimmen ; jedoch be- 
zeichnet er auch wieder Anderes als evangelifch, was fich in 
: feinem unferer Evangelien findet, und niemald nennt er feine 
Duellen bei Namen, frndern nur allgemein „Denktwürdigfeis 
ten der Apoftel“, oder furzweg „Evangelien“. — Auch bei 
Selfus (nach 150), der öfters davon fpricht, „Daß die Schü⸗ 
fer Sefu deſſen Leben bejchrieben haben“, findet ſich nie ein 
einzelner Berfafler angegeben. 

Durch die neueften weitern Unterfuchungen eines Schul, 
Seiffert und Schnedenburger ift daher die Aechtheit unfers 
Matthäus jo fehr erfihüttert worden, daß fie als unrettbar 
betrachtet werden fann. 





In Betreff des Markus befisen wir ebenfalld von Pa⸗ 
pias eine, ale Zeugniß für Die Aechtheit unſers Marfus- 
Evangeliums in Anfpruch genommene Angabe; er fagt näm- 
lich, er wiffe e8 aus dem Munde des Presbyter Sohanneg, 
daß Markus, der Dolmetfcher des Petrus, „aus der Erinne- 
rung an deſſen Lehrvorträge, Die Neden und Thaten Jeſu auf: 
gezeichnet habe“. Allein auch hier fünnen feine Worte, noch 
weniger wie feine Angaben über Matthäus, von dem ung er- 
baltenen Evangelium genommen werden. Denn unfer Morbod⸗ 


38 


Evangelium ift, wie fchon Griesbach unmiderleglich darges 
than hat, „aus dem erften und dritten Evangelium- 9%, 
wenn auch nur nach der Erinnerung, die er davon hatte, zus 
fammengetragen“. Auch paßt auf dasſelbe durchaus nicht, 
was Papias weiter fagt: es habe nämlich Markus „nicht in 
chronologiſchem Zufammenhange* gefchrieben ; benn biefer fins 
bet ſich allerbings bei Markus vor. 





Ueber das Evangelium Lufas haben wir ein Zeugniß 
eigener Art, nicht gerade darüber, daß es von Lufas, Doc 
aber, daß es von einem Begleiter des Apofteld Paulus herz 
rühre. In der Einleitung zur Apoftelgefchichte (1, 1, 2.) 
gibt ſich nämlich der Verfaſſer derfelben ald den zu erfennen, 
der auch ein Evangelium gejchrieben habe; e8 muß damit 
unſer drittes gemeint fein, weil diefes, fowie die Apoftelges 
fhichte, an einen gewiffen Theophilus gerichtet ift Cvergl. 
Luk. 1, 3). Nun redet aber unfer Berfaffer an mehreren 
Stellen ber letztern Schrift von Paulus und von ſich mit Dem 
Wörthen Wir; 3. B. Cap. 20, 5 ıc., wo von einer Reife 
des Paulus erzählt wird: „Diefe gingen voraus, und eriwars 
teten Uns in Troas; Wir aber fegelten ab nach den Ofters 
tagen ıc.* — Gegen diefe Angabe aber, daß ber Verfaſſer 
ein Begleiter Pauli gewefen, hat man mandherlei Bedenfen ers 
hoben, namentlich daß fo Manches in der Apoftelgefchichte fich 
mit den anerkannt ächten Paulinifchen Briefen durchaus nicht 
verträgt, und daß es unbegreiflich ſcheine, warum der Verfaß 
fer beider Bücher nirgends eines nähern Verhältniſſes mit 
dem angefehenften der Apoſtel Erwähnung thut. Deßhalb wird 
vermuthet, jene Stellen feien aus der Denfichrift eines Drits 
ten eingefchoben. Allein nimmt man aud) wirflid) an, unfer 
dritter Evangelift fei ein Begleiter des Apoſtels geweſen, fo 
war er in feinem Falle es fehr lange, da Paulus in feinen - 
Briefen deffen nie erwähnt. Es bleibt daher fehr denkbar, 
daß er feine Bücher erft damals fchrieb, wo er von Paulus 


20, D, h. dem des Matthäus und dem des Lukas. Die Bezeiche 
nung nach der Stelle in der Reihenfolge wird auch fernerhin oft 
ber andern nad den Namen vorgezogen werben. 


| 


39 


wieder getrennt, diefer gar fchon geftorben war, und wo er 
feinen Grund fand, bei feinen Berichten der ihm ſich dDarbies 
tenben, in feinem Kreife herrſchend gewordenen, Lieberlieferung 
nicht zu folgen. Es ergibt ſich alfo aus jenem Umftande, daß 
unfer Evangelift Begleiter eines Apofteld geweſen, noch Zeiness 
wegs, daß er fein Evangelium unter apoftolifchem Einfluffe 
gefchrieben habe. Denn der Schluß, Lukas habe, da die Apo⸗ 
ftelgefchichte mit der. zweijährigen römifchen Gefangenfchaft 
Pauli fchließt, feine Schriften während dieſer Zeit, von 63 
bis 65, gefchrieben, entbehrt aller fichern Grundlage. 





Das Evangelium des Sohannes finden wir zuerft um’s 
Jahr 150 bei den beiden chriftlichen Sekten, den Balentinianern 
und ben Montaniften, die es aber noch nicht ausdruͤcklich als 
ein Werk des Johannes bezeichnen. AS folches wird eg 
zuerft genannt, um 172, von Theophilos von Alerandrien ; 
mit großem Eifer wird fobann die Hechtheit besfelben, als 
einer Schrift des Apoiteld, von Srenäus gegen die Beftreiter 
derſelben vertheidigt. Diefen Zeugniffen ftellen fich aber nicht 
wenig bebenfliche Umſtände entgegen. Vorerſt muß es aufs 
fallen, daß der eben genannte Srenäus bei feinem Kampfe 
für Die Aechtheit fich nirgends — und er fchrieb fehr um: 
ſtaͤndlich — auf die Autorität feines berühmten Lehrers Po⸗ 
lykarpus beruft, der doch, im Sahr 167 geftorben, den Evan- 
geliften noch felbft gekannt und gehört hatte. Sodann fommt 
hinzu der Widerfpruch, den, fobald die oben genannten Sekten 
das Evangelium angenommen hatten, eine andere Sefte, Die 
der Aloger, dagegen erhob, indem fie behauptete, dasfelbe fei 
ein Werk Gerinth’s, eines verfegerten Mannes, und für Ddiefe 
Behauptung vorzüglich den Grund geltend machte, dasfelbe 
fei eine Quelle von Irrlehren, und ſtimme nicht mit den 
übrigen Evangelien überein. Zu überfehen ift endlich 
nicht, daß in Epheſus, neben dem Evangeliften, auch ein Press 
byter Johames lebte, und Daß es mit den Zeugniffen für Die 
„Sohannei’fche“ Abkunft der Dffenbarung, welche fo Viele 
dem Apoſtel abzufprechen geneigt find, um Nichts ſchlechter 
fteht, als mit denen über das Evangelium. 


40 

Wir können alfo von feinem Evangelium ein über das. ” 
Jahr 135 hinaufreichendes Zeugniß feines Daſeins nachweifen ; 
überdies find die früheften noch ganz unbeſtimmt. Beftimms 
tere, daß nämlich dies oder jenes der nod, vorhandenen Evans 
gelien wirklich von dem Berfaffer herrühre, deffen Namen es 
trägt, fangen erft nadı dem Sahre 150 an. Nun waren aber 
alle Apoftel, den Sohannes, über deffen Alter und Ende frühs 
zeitig gefabelt worden ift, nicht ausgenommen, fchon vor bem 
Sahre 100 geftorben. Wie viele Zeit blieb alfo übrig, um 
ihnen Schriften beizulegen, die fie nicht gefchrieben hatten! 

Die Apoftel ftarben alfo fchon in der lebten Hälfte des 
erften chriftlichen Sahrhunderts dahin, nachdem fie an den vers 
fehtedenften Orten des unermeßlichen römifchen Reiches das 
Evangelium” verfündigt hatten. Wie verfchiedenartig mochte 
diefes von den Bekennern desſelben aufgefaßt worben fein ! 
und wie ſchwer war e8, wenn einmal Abweichungen von ber 
apoftolifchen Anficht entflanden waren, diefelben zu berichtigen, 
da die noch nicht gar zahlreichen Chriften fat über alle Theile 
des Reiches zerſtreut wohnten. Es darf daher nicht bes 
fremden, daß die evangelifche Ueberlieferung fich fehr verfchies 
denartig geftaltete, und daß fich frühzeitig fo viele und fich fo 
fehr widerfprechende chriftliche Sekten bildeten. Allmählig aber 
fam in diefe Ueberlieferung größere Einheit; daher fich bei 
ben älteren chriftlichen Schriftftellern mancherlei Sprüche fins 
den, ohne Angabe der Quellen, welche mit Stellen unferer 
Evangelien gleichlautend, und, weil diefe damals fehr wahrs 
ſcheinlich noch nicht gefchrieben waren, aus der mündlichen 
Veberlieferung gleich ihnen gefchöpft find, Bald wurde Diefe 
in Schriften niedergelegt, welche wahrfcheinlich, weil die Sage 
ſelbſt ſich noch immer weiter geftaltete, noch mancherlei Um⸗ 
geſtaltungen zu erfahren hatten. Dieſe Schriften wurden nicht 
nach den Namen der Verfaſſer, ſondern bald nach dem 
Kreiſe von Chriſten, in welchem ſie entſtanden und zuerſt ge⸗ 
braucht wurden, genannt, bald nach dem Lehrer, Apoſtel oder 
Apoſteljünger, deſſen mündliche Vorträge zu Grunde lagen. 
Auf letzteres ſcheinen die Ueberſchriften zu deuten: „nad“ 
(den Vorträgen des) Matthäus ꝛc.; Ueberſchriften, welche un⸗ 
ſere Evangelien noch tragen. Je mehr Zeit aber zwiſchen 


4 


diefem wmünblichen Bortrage und dem Nieberichrieben der Evans 
gelien verfloß, deſto mehr konnte die durch Die neue Heilslehre 
jo mächtig aufgeregte Einbildungsfraft die Erzählungen unver⸗ 
merkt umgeſtalten. Waren bie aus ber urfprünglichen apoftos 
liſchen Mittheilung entftandenen Sagen aber einmal ſchrift⸗ 
Lich abgefaßt, jo bildete ſich ganz natürlich die Borausfeßung 
fehr bald, audy die Schrift felbft fei das Werk eines Apoſtels. 
Daß aber auch fogar der Name bes befondern Apoftels, auf 
den man ben Inhalt irgend eines Evangeliums zurüdführte, oft 
erit fpäter, theild aus mündlicker Ueberlieferung, theild weil er 
in einer Gemeinde, wo man ſich an dies Evangelium vorzuges 
weife hielt, befonders in Anfehen ftand, hinzukommen fonnte, 
mag das HebräersEvangelium beweifen. Dies hatte ans 
fanglich Diefen Namen, dann hieß ed „Evangelium nach den 
zwölf Apofteln“, endlich „Evangelium nach Matthäus“. 


Zweites Kapitel. 


Möglichkeit von Mythen im neuen Teftamente nach 
innern Gründen, 


Iſt es alfo unläugbar, Daß dem Verſuche, unfere Evanges 
lien als apoftolifche Verichte, auch nur im weitern Sinne, 
geltend zu machen, unbejiegbare Schwierigfeiten in den Weg 
treten, fo muß aud) die Möglichkeit, daß mythifche Beftands 
theile in ihnen enthalten find, infofern ſie auf äußern Grün⸗ 
den beruht, zugeftanden werden. Wir Dürfen alfo zu näherer 
Betrachtung ber innern Gründe für diefelbe fohreiten. Hier 
begegnet ung nun zunächft der Einwurf, es fei undenkbar, daß 
in einer Zeit, wo fo manche Augenzeugen noch lebten, in Pas 
läftina, dem Schauplat der Begebenheiten, ſich ungejchicht- 
liche Sagen über Jeſus, oder gar Sammlungen von folchen, ge⸗ 
bildet haben follen. Indeß ift e8, was die Sammlungen 
anlangt, durchaus unerweislich, daß ſolche fchon bei Lebzeiten 
der Apoſtel follten entftanden, oder gar von denfelben anerkannt 
worden fein. Die Entftehung der Sagen, felbft in Paläs 
ftina, ift aber durchaus nicht undenkbar. Mußten fie denn ge- 
rade da entftehen, wo Jeſus längere Zeit gelebt hatte? Kon 


42 


ten die ehemaligen beftändigen Begleiter Jeſu an allen 
Drten zugegen fein, um unrichtige Erzählungen fogleich zu bes 
richtigen ? Diejenigen aber, die ihn nur von Zeit zu Zeit ges. 
fehen hatten, mußten biefe nicht gerade geneigt fein, durch bie 
Berichte Anderer ihre eigenen Kenntniffe zu ergänzen? | 

Ferner aber muß man nicht glauben, daß, weil.die Zeit, 
wo Sefus lebte, im Allgemeinen fchon eine gefchichtliche 
. war, beßwegen gar feine Sagen mehr hätten entitehen kön⸗ 
nen. Allerdings ftand der gebildete Römer und Grieche 
diefer Zeit auf einer Stufe, die Died undenfbar machte; und 
dennoch findet fi; in berfelben Zeit und etwas fpäter unter 
dem ungebildeten Theile felbft dieſer Völker ein fo herrichens 
der Wunderglaube, wie die feltfamen Sagen von dem bes 
rühmten Wunderthäter Apolloniug von Thyana bezeugen, 
daß mehr ald Ein Schriftfteller fich veranlaßt ſah, dieſem 
Glauben entgegenzutreten. Und haben fich nicht auch in neues 
rer Zeit, die doch auch eine gefchichtliche ift, im Volke vieler, 
lei Sagen, wie die von einem Dr. Fauſt ꝛc. ausgebildet ? 
Allerdings war auch das jüdifche Volt ſchon lange ein 
fchriftftellerifches, hatte fchon lange eine Gefchichte ; allein ges 
rade in ihm fand fich, feinem eigenthümlichen Character ges 
mäß, fortwährend eine reiche Quelle für mythifche Erzählungen. 
Dem ein rein gefchichtliches Bewußtſein ift demfelben 
eigentlich niemals aufgegangen, ba felbit feine fpätern Ges 
fhichtswerfe, die Bücher dee Maftabäer, und fogar bie 
Schriften des gHelehrten Sofephus, nicht frei von wunder⸗ 
. haften und abenthenerlichen Erzählungen find. Und von wels 
her Wichtigkeit find in diefer Beziehung die unter ihm herr⸗ 
fhenden meffianifhen Erwartungen, über welche unten 
das Nähere! 

Ueberhaupt aber gibt es Fein reines gefchichtliches Bewußt⸗ 
fein ohne die Einficht, daß die Kette endlicher Urfachen, das 
in der Natur und der Menfchengefchichte feflbegründete und 
von der Vernunft geforderte Verhältniß zwifchen Urfache und 
Wirkung nicht zerriffen werden kann, daß alfo Wunder uns 
möglich find; daß es auch mit dem Wefen Gottes unvers 
einbar fei, anzunehmen, er könne in der endlichen Schöpfung 
ben natürlichen Faden der Raturgefeße zerreißen, um mit dem 


43 


fünftlichen Weberknoten eines Wunders wieber nachzuhelfen. 
Diefe unbefangene Einficht aber mangelt noch fo Vielen in 
unferer, doch wohl auch gebildeten gefchichtlichen Zeit, wenigs 
ſtens in Beurtheilung der jüdifchen und chriftlichen Vorzeit. 
Wie viel weniger-fomnte fie im damaligen Paläftina allgemein 
fen! Vielmehr war die Neigung, Wunder zu glauben, im 
jübifchen Volke feitgewurzelt : und als dazu eine Begeifterung 
des Glaubens trat, als diefe weithin fich verbreitete unb der 
religiöfen Berarmung der Zeit neuen Stoff zuführte, da mußte 
der ſchlummernde Wunderglaube zu neuer Thätigfeit ermachen, 
md es wäre ein wirkliches Wunder geweſen, wenn nicht 
wunberhafte Sagen fich gebildet hätten. 


Wir dürfen uns alfo auch burch den Einwand, daß bie 
Evangelien in einer ſchon gefchichtlichen Zeit abgefaßt feien, 
richt abhalten Taffen, zu einer unbefangenen Unterfuchung 
dee Evangelien felbft zu fohreiten, und die innere Beichaffens 
heit jeber einzelnen in ihnen enthaltenen Erzählung beſtimmt 
in's Auge zu faſſen. 

Indeß könnte doch dieſer Unterſuchung, noch ehe fie ber 
gonnen wird, gleichham an der Schwelle der Evangelien, fols 
gende abwehrende Behauptung noch entgegentreten, und uns 
von unbefangener Prüfung abhalten wollen: 

„Es ift überhaupt mit dem Character des Chriftenthung 
unvereinbar, in ihm Mythen auch nur zu ſuchen; unvers 
einbar mit der allgemeinen Beichaffenheit der Evangelien, 
einzelne ihrer Erzählungen für Mythen zu halten.“ 

Man ſtützt fich für dieſe Behauptung befonders auf fol 
gende, der ganzen Bibel geltende Sätze: 

1) „Die bibliſche Gefchichte unterfcheidet ſich wejentlich das 
durch von den Götterfagen der Griechen, Indier ıc., daß in 
diefen eine Menge das fittliche Gefühl beleidigender Ers 
zählungen enthalten find, in jener dagegen nur Gotteswürdiges 
und Belehrendes.“ — Gibt man dies auch zu, ohne jo manche 
anftößigen, angeblich von Gott ſelbſt unmittelbar gebotenen, 
Handlungen alt=teftamentlicher Gottesmänner in Anfchlag zu 
bringen, fo folgt doch Feineswegs aus diefem Jugend, 


44 
daß, weil eine umnfittliche Böttergefchichte erbichtet fein muß, 
eine fittlich untabelhafte Gottesgeſchichte ſchon darum es nicht 
fein koönne. 

2) „Die heidniſchen Erzählungen enthalten gar zu viel Uns 
Hlaubliches, Abentheuerliches; dergleichen‘ findet fich in -Der 
biblifchen Geſchichte Nichts, wenn man nur Die unmittelbare 
Einwirfung Gottes vorausfeßt.“ — Aber eben dieſe Voraus⸗ 
ſetzung ift e8! was berechtigt und dazu? Wollten wir. nur 
ein Gleiches auch für Die heibnifchen Sagen vorausfegen, und 
annehmen, daß ihre Halbgötter wirflid Söhne ber Götter 
gewefen feien, fo ftele auch bier alles Unglaubliche weg. Aller- 
dings ift die heidnifche Sage viel abentheuerlicher, ale bie 
biblifche ; Dies beweist aber nicht, Daß dieſe darum wahr fein 
müſſe, weil jene unwahrfcheinlicher ift, fondern nur, daß ber 
Glaube, aus dem fie hervorging, ein mehr geläuterter ift, 
und überhaupt einen andern Character hat. 

3) „Bon den meilten Perfonen in der heidnifchen Sage 
ift gewiß, daß fie nie gelebt haben; die der biblifchen Ges 
ſchichte, ein Abraham, Moſes ıc., find ausgemacht wirkliche 
Perfonen geweſen: alſo müffen jene Sagen erdichtet fein, 
was fich von Diefen nicht fagen läßt.“ — Hier ift Irrthum 
auf beiden Seiten. Nicht nur haben Viele die wirflihe Eris 
ſtenz eines Adam, Noah ꝛc. mit guten Gründen bezweifelt; 
fondern von vielen Helden 3. B. der griedhifchen Sagens 
welt ift es fehr wahrjcheinlich, jo wunderbare Sagen auch von 
ihnen erzählt werden, daß fie dennoch wirklich gelebt haben. 

Zugeftehen müflen wir allerdings, daß ein wefentlicher 
Unterfchied ftatt findet zwiſchen heidnifchen und biblifchen Ers 
zählungen. Sene ftehen in fo vielen Stüden mit unferm Glau⸗ 
ben und unferer Gottesidee in fo grellem Widerfpruche; ihre 
Götter find fo fehr in’s Zeitliche herabgezogen, — fie wer: 
den fogar geboren, wachen, verheirathen ſich und zeugen Kins 
der, die gleichfalls Götter werden —, daß dieſe Sagen fchon- 
von unferm religiöfen Gefühle ald pure Erdichtung vermwors 
fen werden müffen: fo urtheilten fehon die Gebildeten unter 
‘den Griechen felbft. In dem alten Zeftamente dagegen, um 
von diefem zuerft zu reden, tritt uns erftlich ein Gott ent- 
gegen, und feine Götter, wiewohl auch noch Spuren vors 


45 


‚kommen, daß dem Glauben an Einen Gott ber an mehrere 
voranging. Zweitens erſcheint dieſer Gott zwar auch in 
menfchlidyer Weile, er fpricht, befiehlt mit drohenden Wors 
ten, übt Rache, begünftigt Ein Volk vor allen andern ꝛc.; als 
kein er iſt Fein werdender Gott, fein Wefen ift nicht in 
menfchlicher Bedürftigfeit untergegangen, während die heids - 
nifchen eſſen, trinfen 2c.; alle Menfchlichkeiten erfcheinen mır 
als nothwendige Einhüllungen einer noch unentwidelten Vor⸗ 
ftellungsweife, aus welcher aber eine tiefe, reine Idee ahn⸗ 
dungsreich hervorſchimmert. Berfteht man alfo unter Mythos 
logie Göttergefchichte, fo hat das alte Teftament allerdings 
feine. Allein damit ift noch feineswegs gefagt, Daß die Ers 
zählungen von den menfchenähnlichen Handlungen Gottes, von 
feinem wunderbaren Eingreifen in Die Geſetze der Natur, wels 
- ches Beweiſe unvollkommener Borftellungen find, für wahre 
Sefchichte zu halten feien. 

Bei dem neuen Teftamente ftellt fich die Sache allers 
dings etwas anders, und, ehrlich geftanden, etwas bedenfficher. 
Auch hier zwar erfcheint Gott ald ein Einer, umveränderlis 
her: allein Jeſus ift der Sohn Gottes, und zwar nicht in 
fo weitem Sinne, wie 3. B. Könige und Patriarchen alten 
Teſtaments "Söhne Gottes genannt werben ; fondern ganz 
eigentlich, als erzeugt durch den göttlichen Geift: wir 
fehen ein göttliches Weſen hier geboren werben, leben, leis 
den: Jeſus ift weit mehr als Mofes, Elia ıc., die nur von 
Gott unmittelbar geleitet find, nicht aber feines Geſchlech⸗ 
tes. Hier alfo ift offenbar mehr Mythifches, ale im alten 
Zeftamente. Doch ift auch hier eine durchgreifende Verſchie⸗ 
denheit von den heidnifchen Sagen in die Augen fallend; die 
Sdeen, welche den evangelifchen Erzählungen zu Grunde 
liegen, ftehen in feinem Widerfpruche mit der erhabenften 
Gottes⸗Idee; nur müſſen wir fragen, ob fie fi fo können 
verwirflicht haben, fo körperlich geworden fein, wie bie 
Evangelien berichten. 


Wir find alfo weit entfernt, die heidnifchen Mythen mit 
den chriftlichen auf Diefelbe Stufe ftellen zu wollen; erfennen 
vielmehr den ungleich ebleren, durchaus Gottes wordiokv 


n 


46 


‚Gehalt des letzteren volllommen an. Nur lafien wir und das 
durch nicht abhalten, Diefelben eben auch für Mythen zu hals 
ten, und näher auf Die inneren aus unferer BernunftsEnts 
wicelung hervorgehenden Gründe dafür einzugehen. Wir wers 
fen daher zunächft Die Frage auf! „Sind die wunderbaren 
bibliſchen Erzählungen vereinbar mit unferen Borftellungen 
von dem Zufammenhange Gottes mit der Welt?!“ Zwar 
die alte Welt, befonders die der Morgenländer, war geneigt, 
in taufendfältigen Erfcheinungen ein unmittelbares Eins 
greifen Gottes, mit Umgehung der Naturgefeße, zu erbliden; 
bei ihr herrichte das religiöüfe Gefühl vor; ihre Kenntniffe 
von dem endlichen Zufammenhange der Dinge waren fo ges 
ring, ihre Einfiht in die der fichtbaren Erfcheinung in der 
Natur zu Grunde liegenden Urfachen fo mangelhaft, und dabei 
ihre Einbildungsfraft jo lebendig und leicht entzündet, daß fie 
geneigt ift, in allen, auc den natürlicdyiten, Erfcheinungen ein 
Wunder, ein unmittelbares Einwirken Gottes anzunehmen. 
Da wo eine auffallende, unerwartete Wirkung den Menfchen 
jener Zeit entgegentritt, muß Gott unmittelbar eingefchritten 
fein; befonders find Menfchen von ungewöhnlicher Kraft des 
Beiftes Lieblinge des Herrn, der mit ihnen in näherem, 
wunderbaren Verkehr fteht, und deſſen Eingebungen fie ihre 
Weisheit und Kraft verdanfen. Auf dem Boden diefed Glaus 
bens ruht die ganze ifraelitifche Gefchichte; nicht Mofes, Elias, 
Jeſus felbft verrichteten fo Großes, fondern Gott auf us 
mittelbare Weife Durch fie; er brachte durch fie Wirkungen 
hervor, welche der ordentliche Lauf der Dinge niemals hers 
beigeführt hätte. 


| Die neuere Zeit Dagegen ift auf dem Wege der Wiſ⸗ 

fenfchaft zu der Maren Einficht gefommen, daß in der Welt 
Alles durch eine ununterbrochene Kette von Urfachen und 
Wirkungen hervorgebracht werden müßte Die einzelnen 
Kreife des Weltalls find zwar nicht in fich abgefchloffen und 
vereinzelt; fie wirken vielfältig auf einander ein, 3. B. der 
Mond und die Planeten auf die Erde, der Menfc auf die 
sohe Natur, die Außenwelt auf die freie Entwicklung des 
Menſchen ꝛc. 2.5 allein alle diefe Kreife zufammen bilden 


47 


ein Ganzes, Das zwar fein Dafein einem höheren Weſen 
verdankt, auf deſſen unmanbelbare Naturgefege aber feine 
anderweitige Macht eimwirfen Fann: ed kann nichts Eins 
zelnes von außenher in dieſelbe hineinfommen. Denn bie 
Raturgefete bilden ein fo innig verfchlungenes Gewebe, daß 
jeder Stoß, fei er noch fo Fein, der von Außen her kommt, 
eine Erfchütterung von Einem Punfte bis zum entfernteften 
verbreiten würde. Daher fünnen wir und eine Äbernatürs 
liche Eimwirfung auf die Natur, als einen Widerfpruch in 
ſich felbft, durchaus nicht denken; es kann, fo müflen wir 
überall fchließen, Gott nicht in der Welt wirfen mit Umge⸗ 
hung der von ihm felbft gegründeten Weltgefebe. Diefe 
Weberzeugung ift fo feſt in und gewurzelt, Daß wir unwill 
Führlich Den verlachen ober für einen Betrüger halten, ber 
uns etwas heut zu Tage Gefchehenes für ein Wunder aus⸗ 
geben will. Sollte aber, jo müflen wir dann weiter fchließen, 
in früherer Zeit die Natur anders eingerichtet geweſen 
fein? fo eingerichtet, daß fie eine übernatürliche Einwirkung 
hätte vertragen Tünnen? 
Durch diefe Betrachtungen wurde die neuere Aufflärung 
bis zu der Anficht geführt, daß Gott nur in der Schös 
pfung der Welt fi) wirkſam erzeigt habe, von da an aber 
dieſelbe fich ganz felbft überlaffe, fo daß fie ohne feinen weis 
tern Einfluß ſich mechanisch fortbewege wie ein künſtliches 
Räderwerk, nachdem es der Meifter bingeftellt, von dieſem 
fortan auch unabhängig ift. Allein dieſe bis zum Aeußerften 
getriebene Anerkennung der Naturgefeße können wir eben fo 
wenig für richtig halten, ald den Wunderglauben, dem fle 
entgegentritt. Denn fie verfiel, indem fie die Unzerftörbarfeit 
der Naturgefebe gegen den Wunderglauben retten wollte, 
in den entgegengefeisten Fehler: fie hob die Wirkſamkeit 
Gottes ganz auf, machte ihn zu einem todten Gotte, 
der, wie ein menfchlicher Künftler, nachdem er fein Werk voll» 
endet, müßig neben demfelben fteht. Damit ift aber der 
Begriff Gottes aufgehoben und fomit die unferer Vernunft 
angegebene Idee eines lebendig waltenden Gottes vernich- 
tet; es ift unferm Gemüthe, das ja in und mit der Welt 
lebt, jeder Troft im Aufblide zu ihm geraubt. 


48 


Diefer Anficht haben alfo Die neueren Supranaturalis 
ften mit Recht fich entgegengeftellt, nır aber auf eine Weife, 
welche die Sache eher noch fchlimmer macht: fie fchlagen 
nämlich einen Mittelweg ein, mit welcdyem fie die Unmans 
delbarkeit Der Naturgefebe zugleich mit der Wahrheit der be 
blifchen Gefchichte gerettet zu haben glauben. Sie fagen: 
„Allerdings wirft Gott in ber Negel nur mittelbar, näms 
lich als Urheber, auf die Welt ein, und läßt fie nad) den 
Geſetzen von natürlichen Urfachen und Wirkungen ſich fort 
bewegen; allein zuweilen, wenn er befondere höhere 


-3wede bat, greift er auch unmittelbar in fie ein, und 


wirft aledann Wunder.“ 

Diefer Standpunkt jedoch vereinigt nur die Fehler ver 
beiden Seiten, zwifchen die er ſich ftellt. Nicht weniger, als 
Die altzorthodore Anficht, welche jenen Unterfchied nicht macht, 
und fic einfach an den Buchftaben der Schrift hält, ohne. 
ihn weiter erklären zu wollen, — nicht weniger verleßt und 
durchlöchert dieſe modern zugefchnittene Gläubigfeit den Zus 
fammenhang der Naturgefege einerfeits, und befchränft Dabei 
andrerfeits, gleich den Aufklärern, die Wirkfamfeit Gottes, 
indem diefer Doch in den Hauptfachen außer der‘ Schöpfung 
geftellt wird. Dazu gefellt ſich aber auch noch ein neuer 


Irrthum; daß nämlich, Gott hier als ein endliches Weſen 


gedacht wird: denn wenn er eg für nöthig erachten muß, um ges 
wifler höherer Zwede willen den doc von ihm begründeten 
Gang der Natur zu unterbrechen, fo erfennt er damit fein 
eigen Werk als ein unvollfommenes an, defien Einrich- 


tung nicht zu Erreichung aller feiner Zwecke hinreichend fei. 


Er muß nacjhelfen, und hat ſich zu dem Ende noch eine bei 
der Schöpfung nicht in Anwendung gebrachte Kraft für vor 
fommende Fälle zurücbehalten. 


Es find alfo mit diefer Anficht Die Schwierigfeiten nur 
vermehrt, und wir müſſen auf anderem Wege den Widerſpruch 
löfen, der fid) folgendermaßen herausftellt. „Der Begriff der 
Welt nöthige und durch Die Einheit. ihrer Naturgefebe zur 
Annahme einer nur mittelbaren Einwirkung Gottes auf fie, 


49 
nämlich nur inſofern er als Schöpfer dieſe Gefeßmäßigfeit 
feinem Werke eingehaucht; der Begriff Gottes als eines lebendis 
gen, ewig gleichmäßig wirkenden und fchaffenden läßt nur Die 
Annahme einer unmittelbaren, nie unterbrochenen, ftetigen 
Einwirkung auf die Welt zu.“ Alle Widerſprüche und Schwie, 
tigfeiten fchwinden, wenn wir und Beides, mittelbare 
md unmittelbare Einwirkung, ald auf das Innigſte und 
ſtets wit einander verbunden denken: Gott wirkt zu allen 
Zeiten mittelbar und unmittelbar auf die Welt ein; d. h. auf 
die Welt ald Ganzes wirkt Gott in jedem Momente unmits 
telbar, er lebt und webt in ihm; auf jedes Einzelne aber 
me mittelbar, d. h. durch Bermitteling der von ihm ges 
gründeten Raturgefeße. 
Die Welt, als ein Ganzes, ift ein einiges, ewi⸗ 
ges, unerklärbares Wunder Gottes — ein ewig 
ſtrömender Ausfluß des Unendlichen; hier verſchwinden die 
Begriffe des Zeitlichen. Dieſes Wunder wäre ein mangels 
haftes, alfo nichtsgöttliches, wenn jein großer Zufammenhang 
geftört und unterbrochen würde durch ein befonderes Eins 
greifen Gottes, neben welchem ja alle andere Erfcheinungen ald 
ein unvollftändiges Einwirfen desſelben erfcheinen müßten. 
Durch Aunahme einzelner Wunderwird das ewige, 
einige Wunder Gottes — Gott im Weltalle — 
aufgehoben. '') 


Bon diefem Standpunkte aus können wir alfo die Erzähl: 
lungen der Bibel, welche und Wunder berichten, nicht für 
wahre Gefchichte halten; denn wenn von Gott erzählt wird, 
er habe an und durch Mofes, Jeſus ıc. Wunder gewirkt, fo 
wären diefes feine unmittelbaren Einwirkungen Gottes auf Das 
Welt Ganze, fondern auf einzelne Theile desfelben, Die 
nach Obigem undenkbar, dem Begriffe Gottes nicht weniger, 
wie dem der Welt widerftrebend find. Wir dürfen diefelben 


22, In dieſer Anſicht, allgemein gefaßt, ſtimmen viele Theologen 
zuſammen, die im Uebrigen verſchiedene Wege wandeln, z. B. 
Wegſcheider, de Wette, Schleiermacher, Marhein— 
ecke ꝛc. 


l. 4 


50 | 

aber in der biblifchen &efchichte eben fo wenig als wirkliche 
Geſchichte gelten laſſen, wie in allen andern alten Sagens 
. denn jener Grundfag kann feine Ausnahme leiden, durch 
welche ja in den Begriff Gotted wiederum die Borftellung 
-siner Willkührlichkeit gelegt würde, durch die er abers 
mals zu einem endlichen Weſen herabfünfe. Unſer Staud⸗ 
punkt verträgt feine Vorausſetzungen: darin bewährt er 
die von ihm in Anfprudy genommene Borausfegungslofigkeit, 
daß er feinem Bolfe und keiner Zeit, alfo auch nicht dem 
jüdifchen Volke und der biblifchen Zeit irgend einen Vorzug 
zuerkennt; Denn worin wäre Diefer begründet? in der Ber» 
nunft doch wohl nicht; Diefe muß ihn vielmehr, wie wir ges 
fehen haben, ald Gottes unwürdig, verwerfen; aus den bibli⸗ 
fhen Büchern kann er gleichfalls nicht ald Vorausſetzung er⸗ ’ 
wiefen werden, denn diefe müfjen wir erft vorher unbefangen 
und ohne Vorausfegung prüfen, ehe wir aus ihnen etwas 
über fie beweifen fünnen. Wir müffen das Letztere um fo 
mehr fejthalten, weil wir fonft für alle Wunder-Erzählungen, 
- auch benen heidnifcher und muhamedanifiher Völker, dieſelbe 
Borausfeßung müßten gelten laffen; denn auch ihre Religions⸗ 
bücher geben die wunderbaren Einwirkungen Gottes ald wahre 


Geſchichte. 


Drittes Kapitel. 


Entſtehungsweiſe der hiſtoriſchen und der reinen 
Mythen, 


Indem wir alfo auf die Behauptung wieder zurücgeführt 
- werden: auch die Bibel, alten und neuen Teftaments, enthält 
Mythen und Sagen, und fie in diefer Beziehung, aber 
auch nur in diefer Beziehung, Da es fich hier durchaus nicht 
um die Lehre und bie religiöfen VBorftellungen derfelben handelt, 
mit den Urkunden aller andern Religionen. gleich ftellen, — 
müſſen wir und nun zu meiterer Begründung unferes Stand⸗ 
punktes die Frage beantworten: Wie künnen überhaupt in 
einer Religion Mythen entftehen? 

So wie fi in einem Volke religiöfes Leben entwickelt, 
ahndet das Gemüth ded Menfchen in den Erfcheinungen der 


Si 


Einnenwelt den Ausdruck, die Dffenbarmmg eier höheren, 
unfichtbaren Kraft: es werben in den Gegenftäuben derfelben, 
in Sonne, Mond, Gebirgen, Thieren, höhere Mächte des 
Daſeins angefchaut und verehrt. Damit wird ihnen eine höhere 
Bedeutung beigelegt, und je mehr biefe von ihrer Wirklich⸗ 
keit verſchieden iR, deſto mehr entjtcht cine Welt ber bloßen 
Borftellung: es bildet ſich ein Kreis von Götterweſen, 
die menfchlich handeln und Ieben, aber in höherem Maße, und 
eben dadurch ſich als höhere, ald Götter⸗Weſen beurfunden. 
Kur auf ſolche Weiſe vermag ber religiöfe, aber noch nicht 
zum reinen Bewußtfein des Göttlichen herangebildete Menſch 
bas in der Borftellung feflzuhalten und ſich nahe gu brin⸗ 
gen, was er als reine Idee noch nicht zu faſſen vermag. 

Aber auch auf der höheren Stufe des Glaubens, wo 
ſchon das Bewußtſein eined einigen Gottes beftimmt hervor- 
tritt, wird dennoch Gottes Lebendigkeit und Wirkſamkeit lange 
Zeit hindurch nur unter ber Form einer Reihe von Thaten 
betrachtet werben fünnen. Deun ber Gedanfe des Einen, un⸗ 
endlichen Gottes ift ein zu erhabener, als daß die noch nicht 
gereifte Bernunft-Entwidelung ihn anders, ale im Bilde er; 
faffen könnte; fein unfichtbares Wirken wird in ber Bor: 
ftellung zur fichtbaren That; fein allgegemmärtiges Sein zur 
wahrnehmbaren Erſcheinung; feine Lenkung der Menfchen 
und ihrer Schickſale zur ummittelbaren Einwirfung Co 
waltet auch hier noch anfangs, und überall noch lange, lange . 
Zeit, das unbewußte Beftreben vor, den an ſich Unerfaßlichen 
dadurch zu erfaffen, daß man ihn unvermerft in den Kreis des 
Endlichen hereinzieht, und fein unendliches Sein zu einer 
zeitlichen, in wunderbaren Einwirkungen fich geitaltenden Ge- 
fhichte unmvandelt. 

Auf ſolche Weife entfiehen die Mythen von den burd 
Gott gewirkten IBundern, und erft auf Der Stufe, wo ber 
Menfc die Idee Gottes rein faflen und, wir möchten fagen, 
ohne Einfleidung ertragen kaun, wird die Eelbftoffenbarung 
Gottes in dem geſetzmäßigen Verlaufe der Natur und ber 
Geſchichte Far erkannt, und das Wunderbare nidyt mehr als 
wirk liche Gefchichte geglaubt, fonbern nur als Thatſache der 
menfchlichen, befchränften Borftellungs- Reife, als ein Pro- 


52 


zeß der Vermirtelung zwifchen dem Göttlichen und dem zu 
feiner Anfchauung aufftrebenden Menfchlichen. 





Wie aber konnten folche Sagen von Nichtgefchehenem er- 
funden werben ohne groben Betrug? wie Eonnten fie ge: 
glaubt werben ohne bie größte Leichtgläubigfeit? wie konnte, 
was doch von Einzelnen hervorgebracht worden und an einzel» 
. nen Orten entitand, Eigenthum Bieler und Inhalt des Glau⸗ 
bens einer ganzen Nation und Religionsgefellichaft werden? ' 

Diefe Fragen find von Gelehrten, weldye ſich mit Erfor⸗ 
fhung des griechiſchen Alterthums befchäftigen, bereits auf 
eine befriedigende Weife gelöst worden, namentlich von Ot⸗ 
fried Müller; was aber die Entitehung von Mythen bei den 
Griechen erflärtih macht, muß auch diefelde Wirkung bei 
den biblifchen thun, da wir, dem oben bezeichneten Stand⸗ 
punkte gemäß, feinen Unterjchied zwifchen beiden zugeben können, 
Wir gehen alfo zur Begründung unferes Verfahrens mit den 
evangelifchen Mythen ebenfalls von den Muller’fchen Anfichten 
aus, welche kurz in Folgenden enthalten find. 

Man konnte fich zunächit darüber wundern, daß die Sa⸗ 
gen,"die doch fo viel Erdichtetes enthalten und Das Gefchehene 
fo vielfach ausfchmüden, allgemein für wahr gehalten worden 
find. Eine folhe Dichtung kann aber doc unmöglich von 
al den Vielen, welche an ihre Wahrheit glaubten, zugleich 
gemacht worden fein; wie -follten viele Köpfe in dem freien 
‚Spiele der Dichtung fo übereinftimmen fönnen, und in einer 
einfachen Begebenheit ganz dasfelbe Wunder, das ja nicht 
wirklich gefchah, fondern nur dazugedacht wurde, erbliden ? 
Wenn aber mr Einer der Erfinder fein kann, wie fomnıt eg, 
dag ihm das Voll, dad doc auch um den wahren Hergang 
der Sache wiffen mußte, fo willig den Glauben ſchenkte? 
Iſt diefer Einer etwa ein fchlauer Betrüger geweſen, der durch 
allerlei Blendwerk das Volk zu täufchen wußte, fich mit andern 
Betrligern in Verbindung feßte und fo feiner Erfindung Eins 
gang verfchaffte? Dieß Fünnen wir unmöglich annehmen ; 
denn ſolche Schlauheit und fo Fünftliche Anftalten, um das 
Volk zu belügen, widerfprechen ganz dem edeln, einfachen Geifte . 


| 93 

jener alten Zeit, wo bie griechifchen (und biblifchen) Sagen 
entitanden find. Ueberdieß wird aud) das feinfte Lügengewebe 
doch früher oder fpäter durchfchaut, und es wäre ein wahres“ 
Wunder, größer faft, als alle andere, wenn e8 Betrügern 
gelänge, dem religiüfen Glanben eines Volkes fo ausge: 
dehnte Erdichtungen unterzufchieben. Oder ſollen wir uns 
den Erfinder. ald einen außerordentlich reich begabten Geift 
denten, als ein erhabeneres Weſen, das von allen Uebrigen 
fo hoch verehrt wurde, Daß fie ihm Alles aufs Wort glaubten, 
auch wenn fie felbft den Hergang einer durch die Dichtung 
ansgefchmücten Thatfache beffer wiffen fonnten? Auch dich 
ft undenfbar. Es würde aber endlich mit jeber der beiden 
Annahmen, felbft wenn fie richtig wären, durchaus nicht-Allce 
erfläst, indem ja dabei Doch immer in der Mafle des Volkes 
ein Hang zum Glauben an das Wunderbare vorausgeſetzt 
würde; eine Borausfeßung, für welche wir ung immer noch 
nach einem Grunde umfehen müßten. 

Wir werden alfo genöthigt, überhaupt den ganzen Begriff 
einer Erfindung, „als einer willführlichen und abfichtlichen 
Handlung“, bier ganz aufzugeben. Vielmehr müffen wir aner: 
fennen, daß bei der Entſtehung der Sagen eine gewiffe Noth⸗ 
wendigfeit waltete, die eben in dem ganzen Charafter der 
Zeit und des Bolfes lag. Das ganze Volk ficht auf eier 
Stufe der Bildung, nach welcher es fich Die Einwirkung dee 
Göttlichen auf den Menfchen als eine unmittelbare und wunder 
bare vorftellen muß; es liegt in feinem Glauben begründet, 
wenn es in der göttlichen Leitung der menfchlichen Schidfale 
alle auffallenden, erfolgreichen Creigniffe ald wunderbare 
betrachtet. Da, mo der gereifte Verftand und die geläuterte 
religiöfe Vorftellung einer fpätern Zeit eine, vielleicht auffallende, 
aber doch auf natürlihem Wege bewirkte, Thatfache er⸗ 
fennen, und ihren, vielleicht nicht gleich in die Augen fallenden 
Urfachen, nachforfchen würde, da fieht jene ältere Zeit 
unbedenklich ein Wunder und macht fi) den Hergang des⸗ 
felben in einer ausſchmückenden und orönenden Erzählung ans 
ſchaulich Chiftorifche Miythe, fiche oben S. 27). Eine Idee, 
weldye man in einer mehr denkenden, als frei Dichtenden, Zeit in 
Haren überzeugenden Sägen ausfprecdyen würde, Welver Kid 


54 


wie von felbft in jener Zeit, Die mehr ſchaut als denkt, in 
eine Erzählung, eine Gefchichte ein, weil fie nur fo von ihr 
"gefaßt werben kann (reine Mythe, fiehe &. 26). Es liegt 
alfo ganz in dem allgemeinen Geiſte berfelben, Thatſache und 
Vorſtellung (Wirklichkeit und Idee) auf das Innigfte mit 
einander zu verfchmelzen und als Eins zu benten. 


— 


Von diefem Geſichtspunkte aus wird und die Entſtehung 
der Sagen und Mythen, fo wie der allgemeine Glauben an’ 
ihre Wahrheit, ohne Zwang erflärbar. Wenn nämlich Eimer 
bei Erzählung einer wunderbaren Gefchichte nur den Antrie⸗ 
ben folgt, welche auch die Gemüther der Uebrigen beherr⸗ 
fchen, wenn er in feiner Anſchauung berfelben ganz in dem 
Kreiſe der Ideen feiner Zeit fleht, fo it er nur „ver Mund, 
durch den Alle reden; der gewandte Dariteller, ber dem, 
was Alle ausfprechen möchten, zu erſt Geſtalt und Aus⸗— 
druck zu geben das Geſchick hat.“ Wie natürlich alſo, daß 
Alle ihm glauben, da er nur der Dollmetſch ihres eigenen- 
Glaubens iſt! Diejenigen aber, durqh welche die Mythen 
und Sagen entſtanden, verfuhren bei der in denſelben waltenden 
Verfchmelsung von Thatfachen und Borjtellimgen durchaus nicht 
willführlich, nicht mit Bewußtſein; vielmehr folgten fie 
in der Auffaſſung, wie in der Darftellung des Gefchehenen 
oder Gedachten, ganz und unbewußt den dunkeln Antrieben, 
die eben in dem Weſen der ganzen Zeitbildung lagen. Hätte 
bei ihnen eine gewiffe Abficht, anders, als fie die Sache 
fannten, erzählen zu wollen, obgewaltet, fo hätten fie fich 
eden als einzelne Perfonen ihrer Zeit gegenüber geftellt 
und dann nimmermehr den allgemeinen Glauben gefunden. — 
Es haben alfo die Fragen: „find die Sagen von Einzelnen, 
von Vielen, vom ganzen Bolfe ausgegangen?“ für die Haupts 
ſache gar Feine Bedeutung, weil fie fich durchaus nicht ſcharf 
von einander trennen laflen: denn was der Einzelne thut, dag 
thun Alle, und was Alle, Einer ; weil Ale von Einem Beifte, Einem 
Zuge des Glaubens und Vorftelleng geleitet werben. Ueberdieß 
haben an vielen Sagen umvermerlt Mehrere, oft Biele, ges 
bildet, indem fie von Mund zu Munde gingen und, immer 


55 nn 

ſich fortentwidelnd, einer Lawine gleich anwuchſen, bie fie, 
fei es durch Dichter, fei es durch einfach erzählende Geſchicht⸗ 
ſchreiber, erft fpäter felte und bleibende Geftalt gewannen. 
In dieſer mündlichen, immer beweglichen, Ueberzeugung 
liegt auch der Grund, weßhalb die Mythen meilt fo wenig 
einfach find; denn nicht mit Einem Schlage find fie ente 
ftanden, und Dürfen daher mit dev Allegorie nicht verwechfelt 
werden, die, weil fie von Einem mit Abficht gedichtet ift, 
größere Einheit und Einfachheit haben muß. Freilich Fönnte 
man von dem Einen, der fie nun nicderfchrieb und offenbar 
anch mehr oder weniger bearbeitete, behaupten, Er wenigs 
ſtens habe mit Abficht und nach eigenthümlichen Anfichten 
Manches umgeftaltet. Allein diefe Veränderungen können nur 
von fehr untergeordneter Bedeutung gewefen fein; denn ſicher⸗ 
ih waren die Berfafler, 3. B. der Bücher Mofes oder ber 
Evangelien felbit, jo ganz befangen in dem Glauben und ber 
Borftellungsmeife, aus welcher die von ihnen niedergefch”iebenen 
Sagen hervorgegangen waren, daß fie, da fie diefelben als 
ausgemadhte heilige Wahrheit verehrten, höchftens nur ergänzend, 
ordnend und veranfchaulichend, aber ganz im Geifte und 
Sinne der Mythe felbft, verfahren konnten. 


% 


Daß die fo eben entwickelte Anficht für fo Viele noch 
etwas Befonderes hat, daß, namentlich in Bezug auf das 
Reue Teftament, dieſelbe ald unzuläßig und den chriüftlichen 
Glauben verletzend erſcheint, hat vorzüglich darin feinen Grund, 
daß unfere Betrachtimgsweife der Welt, der Gefchichte und 
des Göttlichen eine ganz andere tft, als die jener Zeiten, 
wo die religiöfen Mythen entjtanden find und wo namentlich 
der. Einzelne, auch der Ausgezeichnetfte, bei weitem nod) 
nicht fo fehr von allen Andern ſich unterfcheidet, als in unfern 
Zeiten, wo eine weitaus höhere Bildung auch eine weitaus 
fhärfere Scheidung zwifchen den einzelnen, fo verſchieden⸗ 
artig gebildeten, Perfonen herbeiführt. Allein das gerade iſt 
eine der wichtigſten Aufgaben des Geſchichtsforſchers, ſich in 
den Geiſt der Zeiten zu verſetzen, und aus ihm das uns 
Fremdartige herauszufinden und in ſeinem Zuſammenhange zu 


56 \ 
deuten. Soll aber ber Forfcher der evangelifhen Ges 


fhichte, bie doch auch Geſchichte ift, anders verfahren, als 


der Geſchichtsforſcher? 


Wenn man alfo die Möglichkeit einer bewußtlofen Dice 
tung auch für das Leben Jeſu in Bezug auf ſolche Erzaͤhlun⸗ 
gen zugeben muß, weldye einen, durch die Sage nur vielfach 
ausgefchmücten , gefchichtlihen Kern enthalten (hiſtoriſche 
Mythe), — fo feheint diefe Annahme fchwieriger bei denjeni⸗ 
gen, die durchaus nichts Gefchichtliches enthalten, alfo reine 
Mythen find. Denn, fo wird man fragen, wie fonnten bie, 
welche von Jeſu Gefchichten erdichteten, zu Denen gar feine 
wirfliche Thatfache veranlaßte, denen gar Fein wirkliches Er⸗ 
eigniß zu Grunde liegt, — wie fonnten fie dieß thun, ohne 
zu wiffen, daß fie eben nur Erdichtetes erzählten? wie 
konnten ‚fie daran glauben? und wie ed Andern ale Thats 
fache mittheilen, ohne den Vorwurf der Unredlichfeit auf ſich 
zu laden? | 

Hierauf bietet ſich als Antwort ein bei der Gefchichte Jeſu 
eintretender, ganz eigenthümlicher Umſtand dar, nämlich die 
zu feiner Zeit unter den Suden allgemein verbreitete Erwar⸗ 
tung des Meffias: ein Umftand, der von foldyer Wichtig- 
keit iſt, und die Entftehung fo vieler wunderbaren Züge 
in den evangelifchen Erzählungen fo erklaͤrlich macht, daß er 
befonders genau in's Auge gefaßt werden muß. Erſt hieraus 
wird es ganz begreiflich, Daß auch reine Mythen über Jeſus 
entitehen konnten. 


Schon lange vor Sefus waren die Meffianifhen Er, 
wartungen im ifraelitiichen Volke erwachſen, und gerade das 
mals, als Jeſus auftrat, zu ihrer höchſten Reife gediehen. 
Ge größer und andauernder der Drud war, unter dem Das 
Volk fchmachtete, unter fremder, damals unter römifcher 


Herrfchaft 2), defto felter wurde das Vertrauen, es werde ber 





22) Wir erinnern, vielleicht zum Weberfluffe, daran, daß bie Juden 
damals, als Jeſus lebte, fchon feit etwa 700 Jahren, mit kurzen 


= 897 
Meſſias balb, bald erfcheinen, als ein Prophet Gottes, um 
fein anderwähltes Volk zu retten und zu altem Glanze zurüds 
zuführen. Denn nach dem feiten Glauben aller Juden war 
ber Meſſias fchon in den Alteiten Zeiten den Propheten und 
Ergwätern verheißen worben, und eine Menge von altteftas 
mentlichen Stellen wurden als foldye Verheißungen gedeutet; 
Demnach mußte er kommen, fo fchloß man, weil die Weiſſa⸗ 
gungen des alten Teftaments nicht trügen fünnen; er mußte 
ericheinen, ald die glänzende Vollendung des Bundes Gottes 
mit feinen Volle. Ganz allgemein wurde fchon die Stelle 
5 Mojes 18, 15: „Einen Propheten will ich ihnen erwecken, 
aus der Mitte ihrer Brüder, der Dir (dem Mofes) ähnlich 
ſei; und mein Wort will ich in feinen Mund legen, und er 
wird zu ihnen reden Alles, was ich ihn heißen werde“ — 
vom Meffias verftanden, wie deutlich aus einer Rede des 
Petrus im Tempel zu Serufalem (Apoſt. G. 3, 22) unb 
eines andern des Stephanus vor dem hohen Rathe (daſ. 7, 37) 
hervorgeht. Aus Diefer Deutung ergab fich aber auch, daß 
man, veranlaßt durch die Worte jener Stelle: „ver Dir ähm” 
lich fer“, von dem Meffias Ahnlicyhe wunderbare Thaten, wie 
Die des Moſes waren, erwartete, und fchon die alten Nabbinen 
ftellten den Grundfaß auf: „Gleich wie der erfte Prophet 
CMofes) war, fo muß aud) der lebte fein Cder Meſſias ).“ 
Ferner erwartete man, der Auslegung anderer altteftamentlichen 
Stellen gemäß, daß der Meffias den Thron Davids wieder 
aufrichten würde (ſiehe 3. B. die Anrede des Engels an bie 
Maria Luk. 1, 33, verglichen mit der altteftamentlichen Stelle 
2. Eam. 7, 12. 13), — daß er zu Betlehem, dem Stamm⸗ 
fite des David’fchen Hauſes geboren werde (ſ. Matth. 2, 5, 
vgl. mit Micha 5, Du. f. w. 

Es bildete ficdy) nach diefen und vielen andern, ad Meſ⸗ 
fianifche Weiffagungen aufgefaßten, Stellen des alten 
Teftaments nicht nur im Allgemeinen die Erwartung bes 


— 





Unterbrechungen und einzelnen Ausnahmen, Unterthanen frems 
Der Herren waren, ber Aſſyrer, Babylonier, Perſer, Macedonier, 
Syrer und Römer, bie endlich mit Zerftörung ihrer Hauptſtadt 
ihre Zerftreuung in alle Welt herbeiführten. 


‚ 58 | 

Meſſias, fondern auch eine ſehr bejtimmte Borftellung vor 
ihm aus. So und nicht ander mußte er auftreten: ale 
der größte aller Propheten, fchloß man weiter, muß er auch 
die herrlichiten Wunder verrichten, und in den Thaten und 
Schickſalen der alten Propheten erfannte man die Borbilber 
für die des Meffiad. Die Zeit feines Auftretens wurde übers 
haupt als eine Zeit ber Wunder und Zeichen betrachtet Sefaias 
35,5. 42, 7 ꝛc.). 

Sp wurde das Bild bes Meffias ſchon vor dem Erfcheis 
nen Jeſu immer mehr. in’s Einzelne gezeichnet. Es waren 
alfo viele Sagen über Jeſu ſchon vorhanden, noch ehe er 
aufgetreten war, nnd jo wie in feinen Süngern der Glaube 
Wurzel gefaßt hatte, daß Er der verheißene Meſſias fei, fo 
mußte ſich auf ihrem jüdischen Standpunkte in ihnen auch die 
Ueberzeugung befeftigen, daß Alles, was im neuen Teftamente 
von dem Meſſias geweilfagt worden, in ber Perfon ihres 
Meifters ſich erfüllt haben müffe. Wenn nun fchon fo früh« 
zeitig in der Lebensgefchichte Jeſu Lücen ſich vorfanden, 
Abfchnitte, über welche felbft feine vertrauten Sünger Nichte 
oder fehr Unbeftimmtes mußten, z. B. feine Geburt, Erziehung, 
Jugend ꝛc., fo war es höchſt natürlich, Daß jene Lücken durch 
die Anwendung der Mefjtanifchen Erwartungen und Sagen 
ausgefüllt und ihnen emtfprechende Mythen, mit voller 
Ueberzeugung von der Wahrheit derfelben, hinzu⸗ 
gedichtet worden. 

Es ſind daher auch ſolche Züge in dem Leben Jeſu, denen 
nichts Geſchichtliches zu Grunde liegt, keineswegs abſichtliche, 
fondern in der That „bewußtlofe“ Dichtungen, die hervor⸗ 
gingen aus dem feften Glauben einestheils an die Wahrheit 
‚der Meffianifchen Berfündigungen, und anderntheild an die 
Nothwendigfeit, daß Alles von Jeſu oder mit ihm ges 
fehehen fein müffe, was man von dem Meffiad erwartete; 
ſonſt wäre er ja, nad) ihren Borftellungen, der Erwartete 
nicht geweſen. | 


Man könnte aber diefen Sal damit angreifen, daß man 
fragte: Wie konnte man aber, wenn Sefus diefen Erwar⸗ 
tungen meffianifcher Wunder nicht wirklich entfprach, ihn doch 


59 


für den Meſſias halten, und erft fpäter biefe Wunder ihm 
anbichten? — Allein es gibt allerdings in dem Leben Jeſu 
ſolche Züge, weldye, wie unten gezeigt wirb, fehr leicht ale 
Wunder betrachtet werden konnten; hierzu kommt der über 
mächtige Eindrud feiner Perfönlichkeit ımdb Rede, und ans 
Beiden erzeugte fich Die begeifterte Bewunderung feiner Süns 
ger, die, wem fie einmal den feiten Glauben an bie Meffianis 
nat Jeſu gewonnen hatten, nicht in allen Außern Stücken fo 
ängfilich und Falt den Maßſtab des in der Erwartung vorge 
bildeten Meſſias anlegen konnten. Ueberdieß wurde Sefus nur 
fehr allmählich in weiteren Kreifen als Meſſias anerfannt. 
Biele mußten alfo, wenn fie ihn nun dafür hielten, unbewußt 
in die ihnen befannte Lebenszeit besfelben ihre Vorſtellungen 
vom Meffias binübertragen. Schon während feines Lebens 
mag man fid) mancherlei Abentheuerliched von ihm erzählt 
haben: fo hielt ihm nach Marth. 14, 2 Herodes für den aufer⸗ 
ftandenen Johannes. Nachdem aber fpäter der Glauben ar 
feine Auferftehung allgemein geworben, fo lag in diefem 
eine reiche Quelle für die Annahme Meffianifcher- IBunder. 
Es mögen aber allerdings auch in den evangelifchen Be⸗ 
richten manche Erzählungen fich finden, welche wirflih abs 
ſichtliche Erdichtung find. Ganz ähnlich verhält es fich mit: 
der Gefchichte Daniels, die von dem Verfaſſer diefes Buches 
wohl nicht ohne Abficht in den erften Gapiteln der Gefchichte 
Sofephs fo ähnlich gemacht worden ift. 7) Allein wo eine 
fo unverfennbare vorherrfcht, überhaupt neuere Berhältniffe 
nach dem Borbilde des geheiligten Alterthumg zu geftalten, da 
ift folche Dichtung immer noch eine arglofe; — um fo mehr, 
da im ganzen, auch dem heibnifchen Alterthume Poeſie und 
Proſa keineswegs fo ftreng gefchieden find, als bei und, und 
demnach Manches auch von einem profaifchen Schriftfteller ers 
zählt werden kann, wovon er felbft weiß, daß es fich nicht 
ganz fo zugetragen habe, ohne daß er die Abſicht zu täufchen 
hat, weil er für die Auffaffungsweife feiner Zeit fchreibt '*). 


2, Man vergleiche 3. B. Das zweite Eapitel bed Propheten Daniel 
mit dem vierzigiten bes erſten Buchs Moſis. 
, Wir erinnern hier an die griechifchen und römiſchen Gejchichte 


60 

Sind mm wirklich, wie wir zu zeigen ſuchten, fo viele 
Mythen über Jeſus hervorgegangen aus den ſtehend geworbes 
nen Meffianifchen Erwartungen, fo fällt auch, damit ein Ein⸗ 
wand weg, welchen man fo vielfältig gegen die Annahme von 
Mythifchen im Leben Jeſu gemacht hat, daß nämlidy bie Zeit 
von feinem Tode bis zur Zerftörung Serufaleme , innerhalb 
weicher die meilten evangeliichen Erzählungen ſich gebildet 
haben, zu kurz fei (etwas mehr als 30 Sahre), um die Ents 
ftehung fo vieler Mythen denkbar zu machen. Die Mythen 
lagen eben ald Meffianifche fchon vor, und es blieb ber 
Zeit von Jeſu Tode bis zur Abfaffung der Evangelien nur 
noch die Uebertragung derfelben auf Jeſum übrig und bie 
Anbequemung in chriftlichem Sinne an die befonderen Ber; 
haͤltniſſe Jeſu und feiner Umgebung. 





* Aus allem Bisherigen 7°) ergibt fich nun der beſtimmte 
Sinn, in welchem wir den Ausdruck Mythe für gewiſſe 
Theile der evangeliſchen Geſchichte gebrauchen; zugleich die 


ſchreiber (namentlich Livius), die mit der größten, Argloſigkeit 
ihren Erzählungen lange Neben einflehten, die fie nicht aus 
ihren Gefchichtäquellen geichöpft, ſondern im Geifte der Handelns 
ben Perfonen Hinzugebichtet Haben. Berner befigen wir Fa, 
bein von Aeſop, Lieder von Anakreon, Sprühe von Py⸗ 
thagoras, Sentenzen von Syrus, Hymnen von Orpheus, 
Trauerfpiele von Seneca 2c., welche nicht von ben genannten 
Maͤnnern herrühren, fondern von andern, die dieſe Fabein, Lie 
der 2c. in dem Geifte jener Männer erfanden und ihnen unbe 
deuklich deren Namen vorſehten; ohne Abficht unredlicher Täu⸗ 
ſchung, fondern nur darum, weil fie und ihre Zeitgenoflen bieß 
nicht anders verflanden, als wie fie es meinten, nämlich: 
Babeln, Lieder 2c. gebichtet, gefchrieben im Geifte und nach ber 
Weiſe Aeſops, Anakreons ꝛc. 

15) Die mit Sternchen eingeſchloſſenen Sähe find wörtlich aus 
Strauß entichnt; ich gab fie darum wörtlich wieder, weil in 
denfelben gleichfam der Maßſtab niedergelegt ift, den er an 
bie evangelifche Geſchichte anlegt, und daher bie frengfte nnd 
ſelbſt buchſtäbliche Treue Hier unerläßtich fchien. 


Abſtufungen des Mythiſchen, welchen wir in diefer Gefchichte 
begegnen werden. * 

Evangelifhe Mythe ift eine folche auf Sefus fich bes 
ziehende Erzählung, welche nicht als wirkliche Thatfache zu bes 
trachten iſt, fondern als der Ausdrud der Vorftellung, die 
feine früheften Anhänger von ihm fich gebildet hatten, gleich⸗ 
fam ale der „Niederjchlag ihrer Ideen von ihm, als Meffias. * 
Solche Viythen find entweder 

reine Mpthen, d. h. foldhe, welchen Feine beftimmten 
Thatfachen zu Grunde liegen, fondern nur Ideen, die ſich 
als Erzählung, Gefchicdhte verkörpert haben. Diefe fließen 
aus zwei verjchiedenen Quellen, die aber bei den meiften derr 
felben in verichiedenartiger Miſchung fidy vereinigen. Die 
„eine diefer Quellen ift die fchon vor und unabhängig 
von Jeſu unter dem jüdischen Bolfe vorhandene Meffias - Ers 
wartung nad) ihren einzelnen Zügen; — die andere der 
eigenthümliche Eindruck, welchen Jeſus vermöge feiner Pers 
fönlichkeit, feines Wirkens und Schickſals hinterließ, und durch 
welchen er die Meſſiasidee feines Volkes theilmeife umgeſtal⸗ 
tete. * Aus der erften Quelle floß falt ganz die Verklaͤrungs, 
Gefchichte Matth. 17,1 ff.); aus der zweiten die Erzählung 
vom Zerreiffen des Vorhangs im Tempel (Matth. 27, 51), 

Hiftorifhe Mythen find folche, deren Grundlagen be, 
ſtimmte einzelne Vorfälle find: „ihrer bemächtigte ſich aber 
die Begeiterung und umſchlang fie aus der Idee von Chriſtus 
heraus mit miythifchen Bildungen. * Die Thatfachen, welchen 
diefe Mythen ihre Entftehung verdanfen, find bald Reden 
Jeſu, wie die von den Menfchenftichern, dem unfruchtbaren 
Feigenbaume, „welche jett in WWundergefchichten verwandelt 
vor uns liegen * — bald wirflihe Handlungen oder Bes 
gebenheiten aus feinem Leben, wie z. B. einzelnen „BBunder- 
gefchichten natürliche Begebenheiten zum Grunde liegen mögen, 
welche ſofort die Erzählung theils in eine übernatürliche Be⸗ 
leuchtung geftellt, theils mit wunderhaften Zügen ausgeſtat⸗ 
tet hat. * 

Neben diefen eigentlichen Mythen, in denen immer eine 
dee ausgeprägt ift, werden wir aber auch noch 

Sagen finden: fo nennen wir folche Erzählungen, „in 


62 

welchen Unbeftimmtheit und Luͤckenhaftigkeit, Mißverſtand und 
‚Umbeutung, wie fie beim Hindurchgange durch) längere mund⸗ 
Liche lleberlieferung einzutreten pflegen, fich bemerken kaflen, * 
wobei haufig eine ebenfalls durch bie mündliche Leberlieferung 
bewirkte Anfchaulichkeit und Ausmalung hinzufommt. Hier 
wältet alfo bei der Bildung der Erzählung nicht fowohl "eine 
beftimmte Idee, die Meſſias⸗Idee, ald der Zufall, welchem 
alle mündlicdyen Erzählungen mehr oder weniger Preis geges 
ben find. 

Bon Beiden, ben Mythen und Sagen, it noch das zu 
unterfcheiden, was ald Zuthat des Schriftftellere er 
fcheint, dazu dienend, die Erzählımg zu veranfchaulichen, zu 
verknüpfen, zu fleigern ꝛc. | 

„ Mit der Aufzählung verfchiedener Arten des Unge- 
fhichtlichen in den ewangelifchen Erzählungen ift dem Ge: 
fhichtlichen, welches fie Daneben noch in reihem Maße 
enthalten, Nichts vergeben. * 





Viertes Kapitel. 


Merkmale ‚ woran ſich die Mythen im neuen Zeſte- 
mente erkennen laſſen. 


Es bleibt uns alſo, ehe wir zur Prüfung der einzelnen 
Erzählungen übergehen, nur noch übrig, die Merkmale feſtzu⸗ 
ftellen, an welchen fich die Mythe neben dem Geſchichtlichen 
als foldye erkennen laͤßt; durch welche fie von demſelben ſich 
unterfcheibet. 

Diefe Merkmale find folgende zwei: 

I. Mythe ift ein Bericht, wenn das Erzählte nicht fo 
gefchehen fein kann; — Unmöglichkeit der Ge⸗ 
fhichte.) 

1. Diythe ift ferner eine Erzählung, wenn ihre Inhalt, 
jo wie ihre Form, verräth, daß fie eine aus der Gei- 
ftesrichtung und der Ideenwelt der Zeit hervorgegans 


63 
gene Dichtung fein muß. — (Nothwendigkeit ber 
Erdihtung ’‘) 

I. Unmöglichkeit der Geſchichte. Diefe ift vorhanden: 
. 1. Wenn das Erzählte „mit ben befannten und fonft 
überall geltenden Gefeten bes Gefchehens unvereinbar 
iſt.“ Eines der wichtigften dieſer Gefeße ift, daß, nach ver 
nünftigen Begriffen und allen Erfahrungen zufolge, Gott nicht 
durch einzelte willführliche Akte in den firengen und noth⸗ 
wendigen Zufammenhang der Naturgefeße unmittelbar, und 
fomit ftörend, eingreift, fondern daß jcder Wirfung cine 
nach den Naturgefegen begreifbare, aus ihnen zu erfläs 
rende Urfache vorangehen muß. Wo alfo einem Bericht zus 
folge Etwas unmittelbar durch Gott felbft bewirkt fein foll, 
mit Umgehung der Raturgefeße, z. B. Stimmen vom Himmel, 
wunderbare Berklärungen ꝛc., oder wo erzählt wird, daß von 
einzelnen Menfchen in Folge der ihnen von Gott unmittelbar 
verliehenen übernatürlichen Kräfte — Wunder verrichtet 
worden feiern — da haben wir, wenigſtens in Betreff diefes 
Uebernatürlichen, feine gefchichtlihe Wahrheit, fondern - 
eine Diythe vor und. Da ferner „die Einmifhung von 
Weſen einer höhern Geifterwelt in die menfchliche ſich theils 
nur in unverbürgten Berichten findet, theild mit richtigen Ber 
griffen unvereinbar ut *, fo können auch die Erzählungen 
von Engels und Teufels = Erfcheinungen nicht als Gefchichte, 
fondern nur als Mythe genommen werden. 

Ein weiteres Naturgefeß, das wir bei allem Gefchehenen 
beobachten können, ift Das der ftetigen Folge, welche darin 
beiteht, daß auch bei den fchnellften und gewaltfamften Ber: 
änderungen dennoch nirgends ein Sprung ftatt findet, fondern 
Alles „in eurer gewiffen Ordnung und Folge, in allmäh- 
lichem Wachsthum und Abnehmen vor ſich geht. * Wird ung 
aljo von einem großen Manne gefagt, er habe fehon bei feiner 
Geburt und in feiner Kindheit außerordentliches Aufjehen 


) Die Ausdrücke: „Unmöglichkeit der Gefchichte“ und „Nothe 
wendigfeit der Erdihtung“ nehmen fich allerdings etwas fleif 
aus; allein fie find der Kürze wegen gewählt und werden wohl 
nicht mißverfianden werben. 


64. 


erregt; — oder. feine Anhänger haben fchon bei dem erften 
Anblicke ihn ale Das anerkannt, was er.war; — oder wird 
„ber Aufichwung von tieffter Niedergefchlagenheit zur höchſten 
Begeifterung als das Werk einer einzigen Stunde * bargeftellt, 
— ſo fünnen wir auch hier feine reine Gefchichte vor uns 


en. | 

Enblich kommt hier auch die Gefebmäßigfeit des menſch⸗ 
lihen Geiſtes in Betracht, der fich gleichfalls, wenn auch 
mit größerer Freiheit, innerhalb . den Grenzen feiner eigens 
thümlihen Natur bewegt. Nach den Geſetzen derfelben if 
es unglaublich, daß „ein Menſch gegen alle menſchliche, 
oder doch gegen feine fonftige Art und Weiſe empfunden, 
gedacht und gehandelt haben follte*. Daher ift ed 3. B. uns 
denkbar, daß die jüdifchen Aelteften und SHohenpriefter der 
Ausfage der an. Jeſu Grab geftellten Wächter, daß er aufs 
eritanden fei, Glauben geſchenkt, und, ftatt ſie zu befchuls 
digen, fie werden wohl im Schlafe ſich feinen Leichnam 
haben ftehlen laffen, fie beftochen haben follen, um eben 
dies auszu prengen. Auch das gehört hieher, daß, nach allen 
Geſetzen des menfchlichen ErinnerungssDBermögend, es uns 
denkbar ijt, daß ein Zuhörer Neden, wie die von Sefu im 
Evangelium des Johannes, fo ganz wörtlich follte behals 
ten haben, wie fie geiprochen worden. Weil jedoch bei außers 
ordentlichen Menfchen oder. in ungewöhnlichen Aufregungen 
Manches weit rafcher und unermwarteter gefchehen kann, ald 
es gewöhnlich der, Fall zu fein pflegt, und weil die Menfchen 
ja oft charafterlos und gegen ihre fonftige Gewohnheit hans 
dein, fo werden die beiden letzteren Punkte ale Merkmale Des 
Ungejchichtlichen nur dann in Betracht fommen fünnen, wenn 
ſich außer ihnen noch andere finden. j 





2. Auch dann kann ein Bericht nicht reine Gefchichte 
enthalten, wenn er mit fich felbft oder mit andern Be- 
richten in Widerfprudh fteht. 

Am entſchiedenſten it der Widerfpruch, wenn Ein Bericht 
behauptet, was der Andere Täugnet; z. B. Ein Evans 
gelium erzählt, Sefus fei erſt nad) der Verhaftung Sohannes 


65 


bes Taufers in Galiläa aufgetreten, ein Anderes aber, daß 
Sohannes noch nicht im Gefängniß geweſen fei, als Chriſtus 
fon längere Zeit in Galilda und Subäa gewirkt habe. 


Wenn hingegen der Eine Bericht ftatt deffen, was ber 
Andere giebt, nur etwas Anderes hinftellt, ohne geradezu 
zu läugnen, was dieſer behauptet, ſo betrifft der Wider⸗ 
ſpruch entweder nur" äußere Beziehungen und Verhältniſſe, 
— wenn Zeit, Drt, Zahl ꝛc. verfchieden angegeben wers 
den, wo aledann die Ausgleichung leichter möglich ift — oder 
die Sache felbft. Im letzterer Hinficht erfcheinen bald Chas 
ractere oder Anfichten in zwei Erzählungen ganz verfchieden, 
wie 3. 3. wenn der Eine Evangelift erzählt, der Täufer habe 
Jeſum als den zum Leiden beftimmten Meffias erfannt und 
begrüßt, der Andere aber, er habe an deffen leidenden Ver⸗ 
halten Anftoß genommen; — bald aber: wird ein und berfelbe 
. Vorfall auf mehrerlei Weife dargeftellt, wovon Doch nur Die 
Eine der Wirklichkeit gemäß fein kann; fo 3. B., wenn nad 
dem Einen Berichte Jeſus feine erften Tünger am Galiläiſchen 
See zu fid) berufen, nach dem Andern in Sudäa und auf dem 
Wege nad) Galiläa gewonnen haben fol. Hierher gehört auch, 
wenn Neden oder Begebenheiten als zweimal vorgefommen 
dargeftellt werden, die einander fo ähnlich fehen, daß wir 
in den verfchiedenen Berichten die Erzählung einer und der- 
felben Thatfache erblicken müffen, deren Wiederholung wir 
ung nicht denfen fünnen. Endlich ift als ein Widerfpruch auch 
der Umftand anzufehen, wenn der Eine etwas erzählt, wovon 
der Andere ſchweigt; jedoch hat dieß nur dann Gewicht, 
wenn fich beweifen läßt, daß der Schweigende die Sache, 
wenn fie vorgefallen wäre, hätte wiffen, und wenn er fie 
gewußt, hätte erzählen müffen. 


I. Nothwendigkeit der Erdichtung. Diefe erfens 
nen wir in folgenden Fällen, 


1) Wenn die Form eine dichterifche ift, wenn bie 
Handelnden Reden wechjeln, „die Tanger und begeifterter find, 
als fic von ihrem Character, ihrer Bildung und gegemmwärtis 
gen Lage erwarten läßt*, fo find wenigſtens dieſe Neden ald 
nicht gefchichtlich zu betrachten. 

l 5 


66 


2) Trifft der Inhalt einer Erzählımg auffallend zuſam⸗ 
men mit gewiffen Ideen und orftellungen, welche in bem 
Kreife, in welchem die Erzählung entftand, herrfchend fünb, 
und daher die Erwartung, daß etwas diefen Borjtellingen Ent: 
forechendes gefchehen müffe, hervorrufen, fo ift es mehr oder 
weniger wahrfcheinlich, daß jene Erzählung eine Wiythe ift, 
- weil die herrfchende Erwartung, es müffe etwas fo oder fo 
ſich zugetragen haben, gar leicht auch den Glauben und die 
Annahme erwedt, es fei wirklich fo gefchehen. Wir willen 
z. B., daß die Suden gar gerne große Männer zu Kindern 
von Müttern machten, die lange unfruchtbar gewefen: dieß 
muß und ſchon mißtranifch machen gegen die gefchichtliche 
Wahrheit der Angabe, daß dieß bei Johannes dem Täufer 
der Fall gewefen ſei. Zu diefen berrfchenden Vorftelluns 
gen gehören aber in vorzüglichem Grade Die oben näher ent- 
wickelten meffianifchen Erwartungen, nach welchen ein ganz 
beftimmtes Vorbild des Meffias in den Gemüthern bes 
Volkes Tebte. Finden wir alfo in den evangelifchen Berichten 
wunderhafte Züge, in welchen fich auf eine auffallende Weiſe 
diefe Erwartungen abfpiegeln, fo Tiegt die Vermuthung fehr 
nahe, daß Ddiefe Berichte eben aus dieſen in dem Glauben 
der Anhänger Jeſu fich gebildet haben. Dieß gilt 3. B. von 
der Geburt Sefu in Bethlehem, dem Stammorte des David’ 
ſchen Gefchlechtes, dem Gefchlechtsregifter feiner Mutter Maria, 
wodurd Jeſu Abftammung aus dem Kaufe Davids beurkun⸗ 
det werden foll, u. f. w. 

Zu diefen, in I. und 11. entwidelten, mythifchen Be⸗ 
ftandtheilen fommt endlich noch das, was ſich ald Sage oder 
als Zuthat des Schriftftellers anfündigt; hierüber ift fchon 
in Obigem das Nöthige bemerft worden. 





Dieß find, kurz zufammengefaßt, die Merkmale, durch 
welche eine evangelifche Erzählung fich als Mythe anfündig 
kann. | ” 

Für die Anwendung aber muß zunächit noch folgender 
Grundſatz feftgehalten und wohl beachtet werben: findet fid) 
nur eines jener Merkmale an einem Berichte, fo ift es nur - 


67 


möglich, höchſtens wahrfcheinlich, daß berfelbe eine Mythe 
enthalte; erſt dann, went fid, mehrere auffinden laſſen, iſt 
ein ſiche rer Schluß auf den ungefchichtlichen Character ber. 
Erzählung zuläffig. Daß z. B. die Huldigung der Weifen aus 
dem Wiorgenlande auffallend übereinftimmt mit der jüdifchen 
Borftellung von dem durch Bileam geweiffagten Meffias-Sterne, 
ift noch fein hinreichender Grund, die Erzählung für eine 
Mothe zu halten: allein es kommt dazu, daß fie den Naturs 
gefeßen widerfpricht, und daß fie mit dem Berichte eines ans 
dern Evangeliften ſich durchaus nicht in Uebereinftimmung 
bringen läßt. 

Se größer alfo die Zahl jener Merkmale ift, Die bei 
einer einzigen Erzählung zufammentreffen, defto größer ift nas 
türlich auch die Mahrfcheinlichfeit, daß diefelbe eine Mythe fei. 


Endlich erfordert die Gewiffenhaftigfeit in Anwendung der 
von uns aufgeftellten leitenden Grundfäge, daß wir noch über 
nachftehende, oft vorfommende, Fälle und zuvor in's Klare 
ſetzen. 

1) Wenn zwei Berichte ſich entſchieden widerſprechen, 
hat man alsdann Beide, oder mir Einen derſelben für um 
gefchichtlich zu halten? — In der Regel wird man fi, für 
das Letztere entjcheiden müſſen: denn fobald Ein Bericht als 
mythifch aufgegeben ift, fo hört der Widerfpruch auf, und es 
fteht, wenn nicht andere Gründe vorhanden find, dem Glaus 
ben an die gefchichtlihe Wahrheit des Andern nichts mehr 
im Wege. So kann man z. B. mit Lukas ohne Bedenken 
Nazareth als den Wohnort der Aeltern Jeſu annehmen, 
wenn man die Erzählung des Matthäus, der als folchen 
Bethlehem deutlich bezeichnet, als Mythe erfannt hat. Allein 
in vielen Källen diefer Art wird Doch der mythifche Charkfter 
der Einen Erzählung auch die Andere verdächtig machen; denn 
fo gut jene erdichtet ift, eben fo gut kann es ja auch bei 
diefer der Fall fein. Ueberhaupt aber ift eine Wiythe über 
irgend einen Abfchnitt in dem Leben Jeſu immer ein Beweis, 
„daß die Dichtung in Bezug auf benfelben thätig war*, und 
e8 werben daher auch andere Berichte über benfelben Ab- 
ſchnitt mit prüfendem Auge betrachtet werden müflen. 


68 


2) Wenn einzelne Theile einer Erzählung fich ale my⸗ 
thifch herausftellen, hat man defhalb die ganze Erzählung 
als mythifch zu betrachten, oder Fünnen dabei die übrigen 
Theile berfelben Doch als gefchichtlich anerfannt werden? Es 
gibt allerdings Fälle, wo man, wenn man von einer Erzaͤh⸗ 
lung das Wunderbare als den mythiſchen Beftandtheil abgelöst 
hat, den noch übrigen Theil als gefchichtlichen Kern gelten 
laffen muß: nur daß es dann immer zweifelhaft bleibt, wie 
denn die Sache eigentlich zugegangen, da ja der wahre Her 
gang derfelben durch die Mythe in der Erzählung verwiſcht iſt. 
So fünnen wir bei manchen wunderbaren Kranfenheilungen 
durch Sefus auch Dam, wenn wir den Hergang berfelben, 
d. h. die Bewerfftelligung ‚derfelben durch ein Wunder, als 
Mythe erfannt haben, Doc) eine Heilung an fich als gefchichts 
liche Thatfache gelten laſſen; nur aber uns befcheiden, nict 
zu wiflen, wie es dabei zugegangen. 

Wenn aber, nad Entfernung des Wunderbaren und Uns 
denfbaren, fi) für das noch übrig bleibende Natürliche wer 
der ein Grund noch eine Urfache denken läßt, mithin auch 
Diefes als ein Undenfbares erfcheint, fo müflen wir die 
ganze Erzählung für unhiſtoriſch und für religiöfe Dichtung 
erflären. Wollte 3. B. Semand behaupten, es fei zwar nur 
Mythe, daß ein Engel der Maria verfündet, fie werde ben 
Meſſias gebären, allein Maria habe dennoch ſchon vor ber. 
Geburt Jeſu diefe feſte Hoffnung gehabt, fo müffen wir 

erwiedern, Daß Dieß ganz undenfbar fei — denn wie follte 
fie zu einer folhen Erwartung gekommen fein? — und dem- 
nach jedes Vorherwiſſen der Maria in Abrede ftellen. 

Eben fo wird eine Erzählıng in allen ihren Theilen, 
nicht nur in den mythifchen, als gejchichtliche Thatfache nicht 
Betrachtet werden Fünnen, wenn das Ganze einer meffianifchen 
Borftellung der damaligen Suden auffallend ähnlich fieht, weil ° 
wir aledann zu der Annahme berechtigt find, daß dag Ganze 
a's Dichtung in dem oben entwicelten Sinne aus dieſen Vor⸗ 
ftellungen entitanden fei. Könnte man 53. B. auch annchmen, 
der Berflärungsgefchichte liege die Thatfache zu Grunde, daß 
zwei Männer im Glanze der Morgenröthe bei Sefus fich eins 
gefunden hätten, fo ift Doch auch dieß noch, abgefehen von 


0 69 


dem übrigbleibenden Räthfelhaften in der Perfon und dem 
Benehmen der Männer, fehr unmahrfcheinlih, weil in ber 
Erzählung zu auffallend das Beſtreben fichtbar ift, Sefum, 
der ale Meſſias geiftig mit den alten Propheten Miofes und 
Elias fo genau verbunden gedacht wurde, auch in einen fürs 
perlichen, fichtbaren Zufammenhang zu bringen. Hier ift 
alſo der ganze Kern der Erzählung ein rein mythifcher; 
fie ift die Einfleidung einer meffianiichen Idee, ohne welche 
der ganze Vorfall, wollte man ihn auch als gefcyichtlich gelten 
laſſen, alle Bedeutung verliert. 

Wo aber nur Einzelnes an der Form einer erzählten Bes 
gebenheit Merkmale des Ungefchichtlichen an ſich trägt, ber 
ganze Juhalt aber nicht, alfo nicht ale undenkbar, noch als 
unverfennbarer Abdrud einer jüdiichen Meffiasidee erfcheint, 
da kann immer ein gefchichtlicher Kern anerfannt werden. 


Es geht aus dem Erörterten hervor, daß eine fcharfe 
Sränzlinie zwifchen Gefchichtlihem und Ungefchichtlichem bei 
den evangelischen Berichten fehr ſchwer zu ziehen ift; daß es 
ſelbſt unmöglich bleiben wird, überall nachzuweifen, was 
wirflidy gejchehen it, und was nicht. Am wenigften kann 
man dieß von der nachftehenden Unterfuchung verlangen, da 
fie al3 der erfte umf aſſende Berfuch zu betrachten iſt, die 
Evangelien einer firengen Prüfung und Sichtung zu unter; 
werfen und die miythifchen Beftandtheile in denfelben aufzu: 
fuchen. Wenn aljo bei vielen einzelnen Erzählungen das offene 
Befenntniß abgelegt werden muß, daß wir nicht wiffen, was 
wirklich gefchehen fer, fo it damit keineswegs gejagt, Daß 
überhaupt Nichts gefchehen fei, daß die ganze Erzählung 
“eine erdichtete fet. 

Es beruht alfo nur auf einer irrthümlichen Anficht von der 
Sache, wenn man dem Berfahren des mythifchen Auslegers 
vorwirft, es bleibe bei demfelben gar nichts, oder doch nur 
fehr wenig Gefchichtlicyhes übrig. Dieß [cheint nur fo; denn 
wir fliehen mit diefer Unterfuchung erft am Anfange des 
ganzen Prozeffes, deflen erſtes Geſchäft es iſt, das Unge—⸗ 
ſchichtliche wegzuräumen, die blendenden Lichter zu entfernen, 


Pr 


70 


den Schein von dem Weſen zu trennen. Sein zweites de 
fhäft wird und muß fein, dieſes Weſentliche felbit und is 
feiner Neinheit barzuftellen, und dadurch eine, allerdings ew 
fachere, aber um fo mehr beglaubigte und in ſich ſelbſt m - 
fammenhängende Gefchichte zu gewinnen. Dieß kann aber mr 
durch unermüdeted Weiterforfchen und durch das vereinte der 
mühen Bieler gelingen. — Es wird ſich auf unferem Gebiete 
eben fo verhalten, wie auf dem der NRaturmiffenfchaften: lange 
begnügte man ſich hier mit der myſtiſchen Vorſtellung, da 
die Natur durch den unmittelbaren Einfluß höherer, ſowohl 
guter als böfer, Geifter regiert werde, und daß derjenige, ber 
fidy ihres Beiftandes erfreue, als Zauberer über ihre Kräfte 
gebieten könne. Damit hatte man freilich eine befriedigend 
fcheinende Erklärung des in ftiller Verborgenheit waltenden 
Naturlebens und feiner äußeren Erfcheinungen; allein als die 
Wiſſenſchaft mit früher nie geahnter Kraft ſich erhob, da 
ftanden jene Vorftellungen, mit denen man Alles erflärt zu 
haben glaubte, in ihrer Nichtigkeit da. Nun fah man fich frei 
Ich, da man einen ganz neuen, noch nie betretenen Weg, ben 
der natürlichen Erflärungsweife der Naturerfcheinungen, 
eingefchlagen hatte, auf einmal genöthigt, zu .geftehen, daß 
man von vielen dieſer Erfcheinungen eine genügende Erflärung 
noch nicht geben könne. Die Wiffenfchaft aber, in dem Bes 
mußtfein, daß ihre Grundfäge und Vorausfegungen die einzig 
vernünftigen und notwendigen feien, in der barauf.ges 
bauten Ueberzeugung, daß endlich die Erflärung und Ergrün⸗ 
dung aller Erfcheinungen gelingen müffe — verfolgte muthig 
und unermüdet ihre Bahn. Und wie viel ift ihr fchon jebt 
gelingen! Haben ſich die Naturwiffenfchaften nicht zu einer 
Höhe empor gefchwungen, von welcher felbft unfere nächiten 
Vorfahren noc, feine Ahnung hatten? 

Die Anwendung diefes Vergleichs auf unfere Aufgabe 
ergibt ſich leicht. Sind wir nur erft von der in der Vernunft 
begründeten Richtigkeit des eingefchlagenen Verfahrens voll 
fommen überzeugt, haben wir erft uns vollftändig gerüftet und 
unfer Auge mehr gefchärft, uud graben wir in dieſem Glaus 
ben unverdroſſen in dem dunkeln Schachte der Berichte weiter, 
jo werden ſich und noch manche reiche Goldadern gebiegener 


71 
un) verbürgter Geſchichte aufthun, von denen freilich der 


bier vorliegende erfte Anbau nur eine Vorftellung und bunfle 
Ahnung erweden kaun. 7) 





Ueber dasjenige, was nad, den nunmehr beginnenden, in 
a8 Einzelne eingehenden, Unterfuchungen für ven Glauben 
8 Chrijten übrig bleibt; über den unverwüftlichen Gehalt, 
ee fich Durch diefelben herausftellt, wird die Schlußabhande 
ıng Nechenfchaft geben. Wir glauben, darauf fchon hier 
uweiſen zu müffen, um jedem vorgreifenden Urtheile zu be⸗ 


guen. 


m Es fei uns erlaubt, noch auf zwei ähnliche Erſcheinungen auf 
benachbarten wiitenfchaftlichen Gebieten aufmerkſam zu machen. 
Als der berühmte 5. U. Wolf den kühnen Verfuch machte, zu 
beweifen, bie Homeriſchen Gefänge feien nicht bad Werk Eines 
Dichters, und ats Niebuhr bie ältere Geſchichte Roms für 
eine fagenhafte erklärte, da erfchradten Biele ob bes tumultuari⸗ 
fchen, aller Gefchichte, wie fie vermeinten, Hohn fprechenden 
Berfahrens. Gegenwärtig aber wirb wohl kein Sachkundiger 
die Richtigkeit der Worffchen und Niebufr’fchen AUnfichten im 
Befentlichen, beflreiten wollen, und wenigſtens in Bezug anf 
die Homerifchen Gedichte haben fortgefehte Unterfuchungen zu 
Refuttaten geführt, die ung Hoffen laſſen, wir werben noch eine 
Geſchichte derſelben erhalten, beren Umfang und nachweisbare 
Sicherheit feibft ben großen, leider! fchon verftorbenen, Meifter 
überrafchen würde, wenn ihm vergbnnt wäre, bie Früchte feines 
genialen Unternehmeus zu jchanen. 


64 


erregt; — oder. feine Anhänger haben fchon bei dem eriten 
Anblide ihn ale Das anerkannt, was er.war; — oder wird 
„der Auffchwung von tiefiter Niebergefchlagenheit zur höchſten 
Begeiiterung als das Werk einer einzigen Stunde * bargeftellt, 
— fo können wir auch hier feine reine Gefchichte vor und 
haben. Ä | 

Endlich kommt hier auch die Gefekmäßigfeit des menſch⸗ 
lihen Geiſtes in Betracht, der fich gleichfalls, wenn audi 
mit größerer Freiheit, innerhalb den Grenzen feiner eigen 
thümlichen Natur bewegt. Nach den Geſetzen bderfelben ik 
es unglaublich, daß „ein Menſch gegen alle menfchliche, 
oder doch gegen feine fonftige Art und Weife empfunden, 
gedacht und gehandelt haben follte*. Daher ift ed 3. B. un⸗ 
denkbar, daß die jüdifchen Aelteften und Hohenprieſter der 
Ausfage der an. Jeſu Grab geftellten Wächter, daß er aufs 
erftanden fei, Glauben gefchenft, und, ftatt ſie zu befchuls 
digen, fie werden wohl im Sclafe ſich feinen Leichnam 
haben fehlen laffen, fie beftochen haben follen, um eben 
dies auszu'prengen. Auch Das gehört hieher, daß, nad) allen 
Sefeten des menfchlihen ErinnerungssBermögend, es uns 
denkbar it, daß ein Zuhörer Neden, wie die von Sefu im 
Evangelium des Johannes, fo ganz wörtlich follte behals . 
ten haben, wie fie gefprochen worden. Weil jedoch bei außer 
ordentlichen Menfchen oder. in ungewöhnlichen Aufregungen 
Manches weit raſcher und unermwarteter gefchehen kann, ala 
es gewöhnlich der, Fall zu fein pflegt, und weil die Menfchen 
ja oft charafterlos und gegen ihre fonftige Gewohnheit hans 
deln, fo werden die beiden leßteren Punkte als Merkmale des 
Ungeichichtlichen nur dann in Betracht kommen können, wem 
ſich außer ihnen noch andere finden. " 





2. Auch dann kann ein Bericht nicht reine Geſchichte 
enthalten, wenn er mit ſich felbft oder mit andern Be 
richten in Widerfprudy fteht. 

Am entichiedenften it der Widerfpruch, wenn Ein Bericht 
behauptet, was der Andere läugnet; 5. B. Ein Evan 
gelium erzählt, Sefus fei erit nad) ber Verhaftung Sohannes 


65 


es Taufers in Galilaͤa aufgetreten, ein Anberes aber, daß 
vhannes noch nicht im Gefängniß geweſen fei, als Ehriftus 
don längere Zeit in Galilaa und Judaäa gewirkt habe. 


Wenn hingegen der Eine Bericht ftatt deffen, was ber 
Inbere giebt, nur etwas Anderes hinftellt, ohne geradezu 
s läugnen, was bDiefer behauptet, fo betrifft der Wider 
much entweder nur äußere Beziehungen und Berhältniffe, 
— wenn Zeit, Drt, Zahl ꝛc. verfchieden angegeben wers 
en, wo alsdann die Ausgleichung leichter möglich ift — oder 
ie Sache felbft. In letzterer Hinficht erfcheinen bald Cha⸗ 
actere oder Anfichten in zwei Erzählungen ganz verfchieden, 
ie z. 3. wenn der Eine Evangelift erzählt, der Täufer habe 
jefum als den zum Leiden beitimmten Meffias erfannt und 
egrüßt, der Andere aber, er habe an beffen leidenden Ver⸗ 
alten Anftoß genommen, — bald aber: wird ein und berfelbe 
zorfall auf mehrerlei Weife dargeftellt, wovon doc, nur die 
Kine der Wirklichkeit gemäß fein kann; fo 3. B., wenn nad) 
em Einen Berichte Sefus feine erften Sünger am Galiläifchen 
5ee zu ſich berufen, nad) dem Andern in Judäa und auf dem 
Bege nad) Galiläg gewonnen haben fol. Hierher gehört auch, 
yenn Reden oder Begebenheiten ald zweimal vorgefommen 
argeftellt werden, bie einander fo ähnlich fehen, daß wir 
a den verfchiedenen Berichten die Erzählung einer und ders . 
ben Thatfache erbliden müffen, deren Wiederholung wir 
ns nicht denken fünnen. Endlich ift ald ein Widerfpruch auch 
‚er Umftand anzufehen, wenn der Eine etwas erzählt, wovon 
er Andere ſchweigt; jedoch hat dieß nur dann Gewicht, 
venn fich beweifen läßt, daß der Schweigende die Sache, 
venn fie vorgefallen wäre, hätte wiffen, und wenn er fie 
jewußt, hätte erzählen müflen. 


II. Nothwendigfeit der Erdichtung. Diefe erfens 
nen wir in folgenden Fällen, 


1) Wenn die Form eine bichterifche ift, wenn bie 
Handelnden Reben wechſeln, „die länger und begeifterter find, 
als fich von ihrem Character, ihrer Bildung und gegemvärtis 
gen Lage erwarten laͤßt*, fo find wenigſtens biefe Neden ald 
nicht gefchichtlich zu betrachten. 

1. 5 


86 


M Xeifft der Inhalt einer Erzählımg auffallend zuſam⸗ 
men mit gewiffen Ideen und Vorſtellungen, welche in dem 
Kreife, in welchem die Erzählung entftand, herrſchend ſind, 
und daher die Erwartung, Daß etwas diefen Borftellimgen Ent- 
forechendes gefchehen müſſe, hervorrufen, fo ift e8 mehr oder 
weniger wahrfcheinlich, daß jene Erzählung eine Mythe if, . 
- weil die herrfchende Erwartung, ed müffe etwas fo ober fo ' 
ſich zugetragen haben, gar leicht aud) den Glauben und die . 
Annahme erwedt, es fei wirklich fo gefchehen. Wir wiſſen 
z. B., daß die Juden gar gerne große Männer zu Kinden | 
von Müttern machten, die lange unfruchtbar gewefen: dieß 
muß und fchon mißtrauiſch machen gegen die gefchichtliche 
Wahrheit der Angabe, daß dieß bei Johannes dem Täufer 
der Fall gewefen fei. Zu diefen berrfchenden Vorftellun: 
gen gehören aber in vorzüglichem Grade die oben näher ent- 
widelten meffianifchen Erwartungen, nach welchen ein ganz 
beftimmtes Borbild des Meffias in den Gemüthern bes 
Bolfes Tebte. Finden wir alfo in den evangelifchen Berichten 
wunderhafte Züge, in welchen fich auf eine auffallende Weiſe 
diefe Erwartungen abfpiegeln, fo liegt die Vermuthung fehr 
nahe, daß dieſe Berichte eben aus diefen in dem Glauben 
der Anhänger Jeſu fich gebildet haben. Dieß gilt 3. 3. von 
der Geburt Sefu in Bethlehem, dem Stammorte des David’ 
ſchen Geſchlechtes, Dem Gefchlechtsregifter feiner Mutter Maria, 
wodurd Jeſu Abftammung aus dem Kaufe Davids beurfuns 
det werden foll, u. f. w. 

Zu diefen, in I. und I. entwidelten, mythiſchen Be 
ftandtheilen kommt endlich nody das, was ſich ald Sage ober 
als Zuthat des Schriftitellers ankündigt; hierüber ift ſchon 
im Obigem das Nöthige bemerkt worden. 





Died find, kurz zufammengefaßt, die Merkmale, durch 
welche eine evangelifche Erzählung ſich als Mythe anfündig 
kann. 
Für die Anwendung aber. muß zunächſt noch folgender 
Grundſatz feftgehalten und wohl beachtet werben: findet ſich 
nur eines jener Merkmale an einem Berichte, fo tft ed mr - 





67 


möglich, hoͤchſtens wahrfcheinlich, daß derfelbe eine Mythe 
enthalte; erſt dann, wenn ſich mehrere auffinden Iaffen, iſt 
en fiherer Schluß auf den ungefchichtlichen Character ber. 
Erzählung zuläffig. Daß z. B. die Huldigung der Weifen aus 
dem Diorgenlande auffallend übereinftimmt mit der jübifchen 
Borftellung von dem durch Bileam geweiffagten Meffias-Sterne, 
it noch Fein hinreichender Grund, die Erzählung für eine 
Mothe zu halten: allein es kommt dazu, daß fie den Naturs 
geſetzen widerfpricht, und daß fie mit dem Berichte eines ans 
dern Evangeliften ſich durchaus nicht in Uebereinftimmung 
bringen läßt. 

Se größer alfo die Zahl jener Merkmale ift, die bei 
einer einzigen Erzählung zufammentreffen, deito größer ift nas 
türlich auch Die Mahrfcheinlichkeit, daß Diefelbe eine Mythe fei. 


Endlich erfordert die Gewiflenhaftigfeit in Anwendung ber 
von und aufgeitellten leitenden Grundfäge, daß wir noch über 
nachitehende, oft vorfommende, Fälle ung zuvor in’d Klare 
ſetzen. 

1) Wenn zwei Berichte ſich entſchieden widerſprechen, 
bat man alsdann Beide, oder nur Einen derſelben für um 
geichichtlich zu halten? — In der Regel wird man fidy für 
das Lebtere enticheiden müſſen: denn fobald Ein Bericht als 
mythifch aufgegeben ift, fo hört der Widerſpruch auf, und es 
fieht, wenn nicht andere Gründe vorhanden find, dem Glau⸗ 
ben an die gefchichtliche Wahrheit des Andern nichts mehr 
im Wege. So kann man 3. B. mit Lufas ohne Bedenken 
Kazareth ald den Wohnort der Aeltern Sefu annehmen, 
wenn man die Erzählung des Matthäus, der als foldyen 
Bethlehem deutlich bezeichnet, als Miythe erfannt hat. Allein 
in vielen Fällen diefer Art wird Doch der mythiſche Charukter 
der Einen Erzählung auch die Andere verdächtig machen; denn 
fo gut jene erdichtet ift, eben fo gut kann es ja audy bei 
diefer ber Fall fein. Ueberhaupt aber ift eine Miythe über 
irgend einen Abfchnitt in dem Leben Sefu immer ein Beweis, 
„daß die Dichtung in Bezug auf denfelben thätig war*, und 
es werben daher auch andere Berichte über benfelben Ab⸗ 
ſchnitt mit prüfendem Auge betrachtet werden müflen. 


76 


ferner muß nad den Worten des Berichtes felbit als ein 
wirfliches Stunmfein, nicht als Wert des Borfaßes ange 


- fehen werben; vergl. B. 20. 22. 64. Wie wunderbar aber — 
ift ed nun, daß die Zungenlähmung gerade bei der Beſchnei⸗— 
dung des Knaben verfchwand (B. 64)! Man fagt, die Freude — 
bewirfte dieß: aber dann hätte es weit cher bei der Geburt —im 
gefchehen müflen; der erite Anblid des erfehnten Sohnes wirkt —m 


erfchütternder auf den Bater ein, ald ein, wenn auch noch fo — 





feierlicher Akt, der erſt nach achttägigem Beſitze des Neugebor— 


nen vorgenommen wird. Daß endlich der alte Zacharias dure 





bie in dem Tempel über ihn gefommene Extaſe neubelebt wor 
den, und fofort bei feinem Weibe mit befferem Erfolge fin 


die Erfüllung des gemeinfchaftlichen Wunſches habe wirt 


Tonnen, ift denn doch eine gar zu natürliche Erklärung! 

Die ganze Deutung bewirkt in der That nicht mehr, al 
baß wir durch fie ftatt eined Gottes Wunderd ein Wunden 
des Zufalles erhalten, womit Nichts gewonnen ift; vielmehr 
verlieren wir dabei, nemlich den tieferen Gehalt gewiſſer 
religiöfer Vorftelungen. Wir werden und alfo darnadı ums 
fehen dürfen, ob nicht befriedigender die ganze Erzählung ale 
eine Mythe zu deuten fei, um fo mehr, ba feit dem Hergange 
felbft bis zur Ausbildung der Erzählung davon, wie wir fie 
hier vor uns haben, wenigftens 60 Sahre verflofien fein 
mußten. 

Dieſe mythiſche Deutung iſt ſchon früher von mehrern 
Theologen verſucht worden; ſie erklärten die Erzählung für 
eine verherrlichende Dichtung, wollten aber als geſchichtlich 
dennoch feſthalten die lange Unfruchtbarkeit der Eliſabeth und 
das plötzliche Verſchwinden und Wiederkommen der Sprache 
bei Zacharias. Allein beides ohne allen Grund! Denn wird 
die Wirklichkeit der Engelerſcheinung aufgegeben, ſo fällt auch 
jede genügende Urſache für das plötzliche Verſtummen weg; 
ſie wird auch hier ein unerklaͤrtes Wunder des Zufalles; wozu 
in dieſe Verlegenheit ſich begeben, da der mythiſche Stand⸗ 
punkt, wenn man einmal zu demſelben im Allgemeinen ſich ge⸗ 
nöthigt ſieht, von dem Feſthalten an der Treue der Berichte 
im Einzelnen entbindet. Die lange Kinderloſigkeit aber iſt ſo 
im Geiſte der hebräifhen Sagen⸗Poeſie, daß bei dieſem 


77 


Zuge: der mythifche Urfprung unverkennbar ift. Wir ers 
>liden alfo in ber ganzen Erzählıng eine Mythe, welche, 
a8 Johannes durch fein Leben und Ende fo große Bedeutung 
mewoniten hatte, entitand; wahrſcheinlich zu einer Zeit, wo es 
reoch reine Johannis⸗Jünger gab, welchen: diefe Mythe 
Reigen follte, daß Die eigentliche Beftimmung des Johannes 
gewefen, bie Erfcheinung Jeſu vorzubereiten (f. V. 17, 76 c.). 
Die Mythe ift überbieß faft in allen ihren heilen alt⸗teſta⸗ 
mentlichen Erzählungen nachgebilbet. 

Borerit ift ed eine im alten Teitamente öfters wiederfeh- 
rende Borftellung, daß große Männer Söhne fchon betagter 
Aeltern feien, und baß ihre Geburt, als ein nicht mehr zu 
erwartendes Ereigniß, durch Engel verfündet worben; fo 
bei Sfaaf, Ismael, Samuel, Simfon. Den Grund gibt das 
Evangelium von der Geburt der Maria”) an: „auf daß er 
kannt werde, der Geborne fei nicht durch die Luft entftanden, 
fondern eine Gabe Gottes.“ — Daher lag folgender ein- 
facher Schluß fehr nahe: Johannes war ein großer Prophet, 
alfo auch ein Spätgeborner.“ Die einzelnen Züge für Die 
Sage wurden aus verfchiedenen alt=teftamentlichen Erzählun⸗ 
den einzeln entlehnt; jedoch muß man fid) Dieß nicht fo denken, 
als ob man fie erſt einzeln zufammengelefen hätte; viel 
mehr war aus allen einzelnen, wie fie der inneren Anfchauung 
vorfchwebten, in den Gemüthern ſchon ein Geſammtbild 
entitanden, aus welchem Die geeignetiten von felbft fich dar⸗ 
boten, um zur Ausſchmũckung unſerer Erzählung verwendet zu 
werben. | 

So finden wir für den Unglauben des Zachariag (B.18) 
das Borbild in dem des Abraham (1 Mof. 15, 8); für bie 
Engelerfcheinung, in der Verfündigung des Simfon Ride 
tee 13, 3— 9. 11 20); für das dem Knaben auferlegte Ge- 
bot der Enthaltfamkeit und feine Beftimmung zum Prophe⸗ 
ten, in dem fait wörtlich gleichen Befehl, den der Engel den 
Aeltern Simfons gibt (vergl. V. 15 und 80 mit Richter 13, 14. 


2) Es gehört diefes zu den fogenannten apofrnphifchen Evangelien, 
worliber man die Anmerkungen am Ende biefer Schrift nachlefen 
wolle. 


70 


den Schein von dem Weſen zu trennen. Sein zweites Ge⸗ 
ſchaͤft wird und muß fein, dieſes Weſentliche ſelbſt und im 
feiner Reinheit darzuſtellen, und dadurch eine, allerdings ein» 
fachere, aber um fo mehr beglaubigte und in fich felbft zus . 
fammenhängende Gefchichte zu gewinnen. Dieß kann aber nur 
durch unermüdetes Weiterforfchen und durch das vereinte Bes 
mühen Bieler gelingen. — Es wird ſich auf unferem Gebiete 
eben fo verhalten, wie auf dem der Naturwiſſenſchaften: lange 
begnügte man fich bier mit der myftifchen Vorſtellung, daß 
die Natur durch den unmittelbaren Einfluß höherer, ſowohl 
- guter als böfer, Geifter regiert werde, und daß derjenige, ber 
fich ihres Beiſtandes erfreue, ald Zauberer über ihre Kräfte 
gebieten könne. Damit hatte man freilich eine befriedigend 
fcheinende Erklärung des in ſtiller Verborgenheit waltenden 
Nacturlebens ımd feiner äußeren Crfcheinungen; allein als die 
Wiffenfchaft mit früher nie geahnter Kraft fich erhob, da 
ftanden jene Vorftellungen, mit denen man Alles erklärt zu 
haben glaubte, in ihrer Nichtigkeit da. Nun fah man ſich frei- 
li, da man einen. ganz neuen, noch nie betretenen Weg, ben 
ber natürlichen Erklärungsweiſe der Naturerfcheinungen, 
. eingefchlagen hatte, auf einmal genöthigt, zu. geftehen, daß 
‚man von vielen diefer Erfeheinungen eine genügende Erflärung 
noch nicht geben könne. Die Wiffenfchaft aber, in dem Be⸗ 
mwußtfein, daß ihre Grundfäße und Vorausſetzungen die einzig 
vernünftigen und nothmwendigen feien, in der barauf.ger 
bauten Ueberzeugung , daß endlich die Erflarung und Ergrüns 
bung aller Erfcheinungen gelingen müffe — verfolgte muthig _ 
und unermüdet ihre Bahn. Und wie viel ift ihr fchon jebt 
gelungen! Haben ſich die Naturmwiffenfchaften nicht zu einer 
Höhe empor gefchwungen, von welcher felbft unfere nächiten 
Vorfahren noch Feine Ahnung hatten? 

Die Anwendung diefes Vergleich! auf unfere Aufgabe 
ergibt fich leicht. Sind wir nur erft von der in der Vernunft 
begründeten Nichtigkeit des eingefchlagenen Verfahrens voll- 
fommen überzeugt, haben wir erft uns vollftändig gerüſtet und 
unfer Ange mehr gefchärft, uud graben wir in dieſem Glau⸗ 
ben umverdroffen in dent dunkeln Schachte der Berichte weiter, 
jo werden fic und noch manche reiche Goldadern gediegener 


⸗ 


71 
und verbürgter Geſchichte aufthun, won deinen freilich der 


hier vorliegende erfte Anbau nur eine Vorftellung und dunfle 
Ahnung erweden fan. 77) _ 


Ueber dasjenige, was nach den nunmehr beginnenden, in 
das Einzelne eingehenden, Unterſuchungen für ben Glauben 
des Chriften übrig bleibt; über ben unverwüftlichen Gehalt, 
der fich Durch diefelben herausftellt, wird Die Schlußabhands 
lung Nechenjchaft geben. Wir glauben, darauf ſchon hier 
binweilen zu müffen, um jedem vorgreifenden Urtheile zu bes 


gegen. 


7) Es fei und erlaubt, noch auf zwei ähnliche Erfcheinungen auf 
benachbarten willenfchaftlichen Gebieten aufmerkfam zu machen. 
As der berühmte F. U. Wolf ben Fühnen Verſuch machte, zu 
beweifen, bie Homeriſchen Gefänge feien nicht bag Werk Eines 
Dichters, und als Niebuhr bie ältere Gefchichte Roms für 
eine fagenhafte erflärte, ba erfchradten Viele ob des tumultuaris 
fchen, aller Gefchichte, wie fie vermeinten, Hohn fprechenden 
Berfahrens. Gegenwärtig aber wird wohl Fein Sachkundiger 
die Nichtigkeit der Wolf'ſchen und Niebuhr'ſchen Anfichten im 
MWefentlichen, beflreiten wollen, und wentgftens in Bezug auf 
die Homerifchen Gedichte haben fortgefehte Unterfuchungen zu 
Reſultaten geführt, die und hoffen laffen, wir werden noch eine 
Gefchichte berfelden erhalten, deren Umfang und nachweisbare 
Sicherheit feibft Ben großen, leider! fehon verftorbenen, Meifter 
überrafchen würbe, wenn ihm vergönnt wäre, die Krüchte feines 
genialen Unternehmens zu fchanen. 





Erſter Abfchnitt. 
Geburt und Kindheit Jeſu. 





| Erfted Kapitel. 
Berkfündigung und Geburt Johannes, des Täufers. 
Auf. 1, 5— 25 und 57— 80.) ” 


„Dem fronmen. jüdischen Priefter Zacharias, ber m 
vergeblicher Sehnfucht nach, Kindern gealtert ift, erfcheint eines 
Tages, während des Räudyerns im Tempel, der Engel Gas 
briel und verfündet ihm die Geburt eined Sohned. Da er 
beicheidene Zweifel gegen die Verkündigung Außert, macht ihn 
der Engel ftumm; erſt bei der Befchneidung des fpäter gebors 
nen Sohnes, der, wie der Engel befohlen hatte, den Namen 
Sohannes erhält, ehrt ihm die Sprache wieder, und er pros 
phezeit in begeifterter Rede, Daß fein Sohn der Vorläufer bes 
Herrn werde.“ 

Dieß der Inhalt der nur bei Lukas zu leſenden Gefchichte: 
fie bietet und offenbar eine Reihe wunderbarer Vorgänge, 
deren buchftäblicher Auffaffung, im Sinne der Orthodoxen, 
fich nicht wenige Schwierigfeiten entgegenftellen. Zunächft ers 
fcheint das Berfahren des Engeld, ber den Zacharias für 
einen fo befcheidenen und fo begründeten Zweifel (V. 18) fos 
gleich mit Stummheit ftraft CB. 20), eines Engeld unwürdig; 


3, Wir geben bei jedem Kapitel die in demfelben behandelten Ab⸗ 
ſchnitte der Evangelien genau an, und erfuchen den Leſer, Dies 
feiben jedesmal vorher nachfehen zu wollen, da ed und dei Rau⸗ 
mes wegen nicht möglich ift, das in ihnen Enthaltene auss 
führlich zu referiren. Aus bemfelben Grunde werden auch faft 
alle Beweisftellen nur angezeigt, ohne ihren Inhalt genauer ans 
augeben. j 


73 


it um fo undenfbarer, da Abraham bei einer ganz ähnlichen 
Prophezeiung eines Engeld es ungeftraft hingeht, daß er den⸗ 
feiben geradezu auslacht (1 Moſ. 17, 17); und ift nıcht auch 
Maria bei der Verkündigung ungläubig, ohne daß Gabriel es 
rügt (Luk. 1, 34) Daß aber dem Zacharias defhalb die 
Sprache entzogen worden fei, damit er nicht zu frühe Durch 
feine Reden auf ven Knaben Sohannes eine ihm Gefahr dros 
hende allgemeine Aufmerkfamkeit hinlenfe, üt nicht nur gegen 
den Wortlaut der Erzählung (V. 20), fondern wäre auch eine 
ganz verkehrte Gabrieliſche Maßregel gewefen. Denn als 3. 
die Sprache wieder erhielt, bezeichnete er geradezu den Kna⸗ 
ben als Borläufer des Herrn (V. 76 20.) und zwar fo begeis 
tert, daß die Gefchichte in der ganzen Gegend ruchbar wurde 
(3. 65). 

Weiterhin muß fchon der Name bes Engels, hier wie 
anderwärts, Bedenken erregen. Zwar ift der Glauben an 
Engel im Allgemeinen ſchon den früheften altteftamentlichyen 
Büchern eigen, allein die Vorftelluing von einer Nangords 
nung bderfelben, einem fürmlichen Hofſtaate Gottes, in wels 
chem einzelne Engel vermöge ihrer höheren Würde befondere 
Namen führen (Tobias 12, 15 nennt deren fieben) wie Gas 
briel, Raphael ꝛc. findet fich erit in den Büchern, Die nadı 
dem Eril gefchrieben find; und alte Rabbinen bezeugen aus⸗ 
drücklich, daß jene Vorftellung aus Babylon ſtamme, ohne 
Zweifel alfo aus der Zend-Neligion der Perfer ꝛc. Cie kann 
alfo nicht ald eine geoffenbarte Vorſtellung betrachtet wers 
den, oder man müßte auch nichtzifraelitiichen Völkern ben 
Vorzug unmittelbar göttlicher Offenbarung einräumen; — oder 
gar behaupten, eine auf gewöhnlichem Wege entitandene Mei- 
nung werde zu einer geoffenbarten, fobald das jüdiſche Volk 
ſich dieſelbe aneigne. Wir müffen alfo fchließen: der Engel 
Gabriel wenigſtens fann jener Engel nicht geweſen fein; 
der foll er ſich nur der damaligen Vorftellung, alfo auch der 
des Zacharias, Gabriel fei der vornehmften Engel einer, ans 
bequemt haben, um defto mehr Glauben zu finden? Dann 
hätte er fich geirrt: denn 3. glaubte ihm ja Doch nicht! 

Aber Engels Erfcheinungen überhaupt beruhen, wie 
wir nach unferen Einfichten in Das Wefen der Natur annehmen 


+. 


74 ' 
müffen, auf irrigen Vorftellungen; fie find nur ale Dichtun 
gen der Einbildungsfraft zu betradıten. Denn Engel, wie wir 


‚andy über das Dafein berfelben urtheilen mögen, find Weſen, 


die einer überfinnlichen Welt angehören, können als foldye 
son und mit unfern Sinnens Werkzeugen nicht wahrgenoms 
men werden und demnach auch feinem Menfchen wirflih ers 
fheinen. Moher follte es ferner wohl kommen, daß fie in 
der alten Welt aud) bei unwichtigeren Beranlaffungen ſich eins 
finden, und in der neuen niemals, auch nicht bei den wichtigs 
ften und verwicdeltiten Umftanden ? 

Auch für dad Dafein der Engel laſſen ſich keine erheb⸗ 
lichen Gründe anführen; denn ſollen ſie nöthig ſein, um eine 
Stufenleiter der geiſtigen Weſen zwiſchen Gott und den Men⸗ 
ſchen zu bilden, ſo müſſen wir einwenden, daß, wie vollkom⸗ 


mien wir uns auch den erhabenſten Engel denken mögen, immer 


doch der Abſtand zwiſchen der endlichen Creatur und dem 
unendlichen Schöpfer unermeßlich bleiben muß. Sie als Diener 
Gottes nothwendig finden, würde den Allmächtigen, ben wir 
uns überdieß als ftetd und unmittelbar im Weltall wirkend 
denken müffen, zu einem endlichen, hülfsbebürftigen Weſen ers 
niedrigen. Will man aber der Engel Vermittlung in Erfcheis 
nungen ıc. fich geiftiger Denken, etwa ald vorübergehende Aus⸗ 
flüffe, gleichſam Lichtblike, des Göttlichen, fo zeritürt man 
damit gänzlicdy die biblifchen Vorftellungen, welche in jenen 
Erfcheinungen die Engel ſtets ald ganz leibhaftige pers 
ſönliche Wefen hinftellen. Es wird daher nichts übrig bleis 
ben, ald den Urfprung des Glaubens an Engel in dem Bes 
fireben Trüherer Zeiten zu finden, das dahin ging, ſich Die 
beiden ‘Seiten der menfchlichen Doppelnatur, dag Gute und 
Das Böfe, als getrennte perfünliche Weſen zu denfen, ale 
Engel und Teufel, und dadurch der Anfchauung näher zu 
bringen. Hiermit find wir zugleich genöthigt, Die dem Zacha⸗ 
rias zu Theil gewordene, wie jede andere, Engelerſcheinung 
nicht buchftäblich und als wirflihe Thatfache zu nehmen. 
Denn zu behaupten, wie gewifle Theologen es thun, ed ges 


- hören folche Erfcheinungen zur Verherrlichung einer großen 


Zeit, wo der Geift Gottes fo gewaltig in die Menfchenmwelt 
eingriff, ftreift Doch wohl an das Kindifche; als ob die Bers 


75 


herrlichung nicht gerade in der Menſchwerdung Jeſu felbrt 
ſchon läge, und in der Herrlichkeit des geiftigen Lebens, das mit 
ihm und durch ihn in der Menfchheit offenbar wurbe! 

Es fragt fih nun, wie follen wir uns denn unfere evan⸗ 
gelifche Erzählung erflären, da wir fie nicht für buchſtablich 
wahr halten können? | 

Die natürliche Deutung, namentlich die des Dr. Paulus, 
bemüht ſich, zunächft die Engelerſcheinung als das Werk einer 
Ertafe des Zacharias im wachen Zuftande darzuftellen. „Er 
verrichte fein Opfer im NHeiligthume, indem er ganz und gar 
erfüllt fei mit dem fehnlichen, ſchon fo lange gehegten und 
immer unerfüllt gebliebenen, Wunſche, einen Sohn zu erhals 
ten; in der erhöhten Stimmung feines Gemüthes meint der 
Priefter, in dem aufiteigendeu Opferweihrauche, der Figuren 
bildet, eine himmliſche Geſtalt zu ſchauen; er glaubt darin eine 
Bürgfchaft für Erfüllung feines heißen Wunfches zu erblicken; 
da ſich aber doch Zweifel Dagegen regen, fo erſchrickt er über 
diefen Uinglauben fo fehr, daß ihm entweder wirklich Die Zunge 
durch einen Schlagfluß gelähmt wird, oder er fich felbft dazu 
‚ verurtheilt, eine Seitlang zur Strafe ſich bes Redens zu ents 
halten.“ Allein wird nicht hier, indem man alle Wunder ent- 
fernen will, dennoch etwas Wunderbares vorausgeſetzt? 
Daß nemlid 3. in einen fo ganz ungewöhnlichen Zufland ver⸗ 
fett wird, der ſich bei unendlich wenigen Menfchen vorfinden 
wird, — daß gar ber alte Priefter Durch das ihm zur Ge⸗ 
wohnheit gewordene Räuchern an gewohntem Orte in Diefe 
Ertafe verfeßt worden, — iſt Doch in der That mehr, als 
ein halbes Wunder. Iſt es ferner denfbar, daß die Weiffaguns 
gen, die er fich felbft machte und recht eigentlich and Dampf 
nnd Rauch herausdeutete, fo buchftäblich eintrafen? ja, ift es 
vereinbar mit der geiftigen Freiheit des Menfchen, daß die 
ganze fittliche Richtung des Menfchen und die Verdienſte, die 
er fich durch freie Selbſtbeſtimmung erwerben muß, fo buch⸗ 
ftäblich genau vorherbeftimmt werden können, wie ‚der 
Gang eined- Uhrwerf8? CB. 14— 17.) Dieß gefchieht aber, 
wenn dem noch nicht erzeugten Kinde fchon zuvor durch eine 
MWeiffagung, woher fie aud) fomme, feine Stelle in der Stu⸗ 
fenleiter fittlicher Veen angewiefen wird. Das Beriinmmen 


76 


ferner muß nach den Worten bed Berichtes felbit als ein 
wirkliches Stummfein, nicht als Werk des Vorſatzes anges 
- fehen werden; vergl. V. 20. 22. 64. Wie wunderbar aber 
ift es nun, baß die Zungenlähmung gerade bei ber Beſchnei⸗ 
bung des Knaben verſchwand (B. 64)! Man fagt, die Freude 
bewirkte dieß: aber dann hätte es weit eher bei der Geburt 
gefchehen müſſen; der erite Anblic des erfehnten Sohnes wirft 
erfchütternder auf den Vater ein, ald ein, wenn auch nody fo 
feierlicher Alt, der erft nach achttägigem Befite des Neugebor⸗ 
nen vorgenommen wird. Daß endlich der alte Zacharias durch 
die in bem Tempel über ihn gefommene Extafe neubelebt wor⸗ 
den, und fofort bei feinem Weibe mit beijerem Erfolge für 
die Erfüllung des gemeinfchaftlichen Wunſches habe wirken 
können, ift denn Doch eine gar zu natürliche Erklärung! 

Die ganze Deutung bewirkt in der That nicht mehr, ale 
‚daß wir durch fie ftatt eined Gottes⸗Wunders ein Wunder 
bes Zufalles erhalten, womit Nichts gewonnen iſt; vielmehr 
verlieren wir Dabei, nemlich den tieferen Gehalt gewiſſer 
religiöfer Vorſtellungen. Wir werden uns aljo darnach ums 
fehen dürfen, ob nicht befriedigender die ganze Erzählung ale 
eine Mythe zu deuten fei, um fo mehr, da feit dem Hergange 
felbft bis zur Ausbildung der Erzählung davon, wie wir .fte 
hier vor uns haben, wenigftens 60 Ssahre verfloffen fein 
mußten. 

Diefe mythiſche Deutung ift fchon früher von mehrern 
Theologen verfucht worden; fie erklärten die Erzählung für 
eine verherrlichende Dichtung, wollten aber als gefchichtlich 
dennoch fefthalten die lange Unfruchtbarfeit der Elifabeth und 
das yplößlicye Verfchwinden und Wiederfommen der Sprache 
bei Zacharias. Allein beides ohne allen Grand! Denn wirb 
die Wirklichkeit der Engelerfcheinung aufgegeben, fo füllt auch 
jede genügende Urfache für das plötzliche Verftummen weg; 
fie wird auch bier ein umerflärtes Wunder des Zufalles; wozu 
in diefe Verlegenheit fich begeben, da der mythiſche Stand⸗ 
punkt, wenn man einmal zu demfelben im Allgemeinen fich ge⸗ 
nöthigt fieht, von dem Fefthalten an der Treue der Berichte 
im Einzelnen entbindet. Die lange Kinderlofigfeit aber ift fo 
im Geifte der hebräifhen Sagen-Poefie, daß bei dieſem 


77 


Zuge: der mythifche Urfprung umvertennbar if. Wir er⸗ 
blicken alfo. in der ganzen Erzählıng eine Mythe, weiche, 
als Johannes durch fein Leben und Ende fo große Bedeutung 
gewonnen hatte, entſtand; wahrſcheinlich zu einer Zeit, wo es 
noch reine Johannis⸗Jünger gab, welchen diefe Mythe 
zeigen follte, Daß Die eigentliche Beftimmung des Sohannes 
gewefen, die Erjcheinung Sefu vorzubereiten (ſ. V. 17, 76 2). - 
Die Mythe ift überdieß faft in allen ihren Theilen al tsteftas 
mentlichen Erzählungen nachgebildet. 

Borerjt ift es eine im alten Teſtamente öfters wiederfeh- 
rende Borftellung, Daß große Männer Söhne fchon betagter 
Aeltern feien, und daß ihre Geburt, als ein nicht mehr zu 
erwartended Ereigniß, durch Engel verfündet worden; fo 
bei Ifaaf, Ismael, Eamuel, Simfon. Den Grund gibt das 
Evangelium von der Geburt der Maria”) an: „auf daß ers 
fannt werde, der Geborne fei nicht Durch die Luft entitanden, 
fondern eine Gabe Gottes.“ — Daher lag folgender ein- 
facher Schluß fehr nahe: Sohannes war ein großer Prophet, 
alfo auch ein Spätgeborner.“ Die einzelnen Züge für die 
Sage wurden aus verfchiedenen alt=teftamentlichen Erzählun⸗ 
gen einzeln entlehnt; jedoch muß man fich dieß nicht fo denken, 
als ob man fie erft einzeln zufanmmengelefen hätte; viels 
mehr war aus allen einzelnen, wie fie der inneren Anfchauung 
vorfchwebten, in den Gemüthern fehon ein Geſammtbild 
entitanden, aus welchem die geeignetften von felbft fich dar⸗ 
boten, um zur Ausſchmückung unferer Erzählung verwendet zu 
werden. 

So finden wir für den Unglauben des Zacharias (V. 18) 
das Vorbild in dem des Abraham (1 Mof. 15, 8); für Die 
Engelerfheinung, in der Berfündigung des Simfon GRich⸗ 
ter 13, 3— 9. 11 10); für das dem Kuaben auferlegte Ge⸗ 
bot der Enthaltfanfeit und feine Beftimmung zum Prophe⸗ 
ten, in dem fait wörtlich gleichen Befehl, den der Engel den 
Aeltern Simſons gibt (vergl. V. 15 und 80 mit Richter 13, 14. 


2) Es gehört Diefes zu den fogenannten apofrnphifchen Evangelien, 
worüber man die Annterfungen am Ende biefer Schrift nachlefen 
wolle. 


78 


5, 24 16.); — für die begeifterte Rede des Zacharias CB. 68:1.) 
in einer ähnlichen, mit welcher Samueld Wutter dieſen dem 
Hohenpriefter übergibt C1 Sam. 2, 1). Und fo für andere 
Züge andere Vorbilder in alt=tejtamentlichen Erzählungen! 

Als gefhichtlich können wir an dem Berichte nur Das 
gelten laffen, daß Johannes unter König Herodes geboren 
worden, und durch feine fpätere Wirkfamfeit fo große Beden⸗ 
tung gewonnen hat, daß die chriftliche Sage ſich zur Verherr⸗ 
lichung feiner Geburt getrieben fand. 





Zweites Kapitel. 
Jeſu Abftammung von David, nach zwei Geſchlechts⸗ 
regiftern. 


(Matth. 1, 1— 17. und Luk. 3, 23— 38) 


Seder der beiden Evangeliften, welche die. Sugendgefchichte 
Sefu behandeln, Matthäus und Lufas, fügt ein Gefchlechtes 
vegüter bei, um die Davidiſche Abkunft defjelben zu beweifen. 

Betrachten wir zuvörderſt jedes berfelben für ſich allein, 
ohne Rückſicht auf Das andere, fo bietet das des Matthäus 
einige Schwierigfeiten dar. Er rechnet B. 17 die Gefdjlechter 
zufammen, und zählt 14 von Abraham bie David, 14 von 
diefem bis zur babylonifchen Gefangenfchaft, 14 von da bie 
auf Chriſtum: nun finden fich aber in leßterem Abfchnitte nur 
13. Indeß Tapt ſich dieſer Widerſpruch dadurch befeitigen, 
daß man annimmt, er habe den Jechonia (V. 11 und 12), 
obgleich er noch vor der Gefangenfchaft genannt ift, body 
ſchon in Die mit ihr beginnende Ickte der drei Abtheilungen 
gerecdjnet, und dafür den David Doppelt, nemlich auch ale. 
Anfang des zweiten gezählt, wiewohl er nur am Ende ber 
eriten genannt iſt; dann find dreimal 14 da. 

In wirklichem Widerfpruche aber findet ſich Matthäus 
mit den Angaben des alten Teftamentes: dieſes gibt und. 
nemlich, in mehrere Stellen vertheilt, eine vollftändige Ger 
f&hlechtstafel des Davidiichen Haufes bis auf die Söhne Se⸗ 
rubabel’8 (®. 12. 13) herab; von diefen an beginnt daflelbe 
in Dunkelheit fich zu verlieren. Am wichtigften ift hier Die 


79 


Abweichung, daß Matthäus B. 8 den Dfia zum Sohne dee 
Joram macht, da er Doch nach 1. Chronik 3, 11. 12. deſſen 
Urenfel ift: es fehlen alfo bei Matthäus drei Glieder, und 
war bie Könige Ahasja, Goa und Amazia. Diefer Wider⸗ 
ſpruch läßt fich weder durch Die unerlaubte Ueberſetzung bes 
griechifchen Wortes in unferm Verſe, das nur „erzeugte “ 
heißen fann, entfernen, noch auch als bloße Nachläßigkeit er⸗ 
Hären, da jene Weglaffung zu auffallend das Beftreben bes 
Matthäus, drei ganz gleiche Abfchnitte des Stammbaumeg zu 
erhalten, begünftigt. Diefe Gleichheit fürchte er aber nicht zur Ers 
feishterung des Behaltens, fondern offenbar nach jüdischen 
Borftellungen, denen gemäß außerordentliche Heimſuchungen 
des Herrn nad ganz gleichen Zwifchenräumen eintretend 
gedacht wurden, wie ſich aus Schriften des alten Teftamentes, 
der Nabbinen und anderer jübifcher Schriftiteller beweifen 
läßt. Diefe Willführlichkeit aber, nach Bedürfniß anders zu 
zählen, um lebereinftimmung der Zahlen zu erhalten, Tann 
fein Vertrauen zu ber Gejchlesjts- Ableitung im Ganzen ein- 
flößen. 


Sm Stammbaum des Lukas, für fich betrachtet, findet 


fidy Fein erheblicher Anftand, vielleicht nur darum, weil er 
weniger Vergleich nit dem alten Zeftamente zulaßt, indem er 
von David abwärts fat nur durch unbekannte Gefchlechter 
herabläuft, von deren Gliedern das alte Teftament feine Nach⸗ 
richten enthält. 

Vergleichen wir aber nun beide Gefchlechtstafen mit 
einander, fo finden wir unbefiegbare Schwierigfeiten für 
jeden Verſuch, fie in Uebereinftimmung zu bringen. Die große 
Berfchiedenheit, daß Lukas zwifchen David und Jeſus einund⸗ 
vierzig Gefchlechter zählt, Matthäus aber nur fechsundzwanzig, 
fommt nicht einmal in Anfchlag, da wir offenbar zwei gan; 
verfchiedene Stammbaume hier vor ung haben; denn von 
Abraham bis David zwar find fie gleich; von da an weichen. 
fie aber, mit Ausnahme der beiden Namen Salathiel und 
Serubabel Matth. 1, 12 und Luf. 3, 27) gänzlich von ein- 
ander ab. Nach Matthäus ift Salomon, nad) Lukas Nathan, 
der Sohn Davids, von dem Sofeph abitammt, und nad) dem 
Erfteren heißt deffen Vater Jakob, nach dem Letzteren Eli. 


80 


Alfo von David an zwei ganz andere Zweige bes Davidiſchen 
Haufes! Jene Liebereinftimmung in zwei Namen, troß ber 
fonftigen Verſchiedenheit, macht die Sache noch bedenk⸗ 
licher. 

Dieſen Knoten ſuchte man auf mancherlei Weiſe zu löſen, 
auch nach Umftänden zu zerhauen. Schon ältere Schriftſteller 
fuchten fich mit der Annahme einer Adoption zu helfen, wo 
denn ein Evangelift den natürlichen, der andere den Adoptiv⸗ 
Bater des Sofeph fefthalte, um feine Davidifche Abkunft zw 
erweifen; allein wie unmwahrjcheinlich it dieß, da feiner von 
beiden dieß auf irgend eine Weife bemerkbar macht Cogl: 
Matth. 16 mit Luk. 23)5 da die Stammbäume in Sernbabel 
und Salathiel zufammentreffen und dann wieder weit auds 
einander gehen; bier müßte abermals adoptirt worden fein! 
Noch unhaltbarer ift die Erklärung durch eine Leviratsehe ber 
Mutter Joſephs; Denn bier fommt neben den genannten noch 
die neue Schwierigfeit hinzu, daß ja ihre zwei Männer, Ci 
und Jakob, dann Brüder gewvefen feien, und folglich beide 
Stammbäume doc fogleic, in Einen zufammlaufen nrüßten: 
Man flidt aud) bier, und zwar mit der ganz unmahrfcheinlis 
chen Ausflucht, Eli und Jakob feien nur Halbbrüder von vers 
fhiedenen Bätern geweſen, und wiederholt das glsiche Ers 
periment bei Salathiel (ſ. oben). Da diefe Operationen doch 
in der That zu halsbrechend oder tafchenfpielerifch erjcheinen 
mußten, fo entichloffen ſich Neuere lieber dazu, anzunehmen, 
wir haben in Einem Stammbaum den des Sofephs, in dem 
Andern den der Maria vor und. Auch diefe Anshülfe können 
wir nicht gelten laffen. 

Zwar machte fich fchon frühe die Anficht geltend, auch 
Maria müffe aus dem Haufe Davids abſtammen; allein einen 
Davidifhen Stammbanm als den ihrigen zu betrachten, ift 
ohne gemaltthätige Auslegung nicht möglich. Die Worte bes 

eo Evangeliften lauten zu beftimmt; Matthäus: „Jakob zengte 
den Sofeph“ 20.5 Lufas: Sefus war, wie man annahm, 
Sohn des Joſeph, des (Sohnes) des Eli“ *) ıc. Nun könnte 


*) Es iſt ein ganz gewöhnlicher griechifcher Sprachgebrauch, bei 
Angabe des Baterd nach dem Artikel dad Wort Sohn auszu⸗ 


81 


man vielleicht nad) „bes“ bei Lukas auch ergänzen: „Schwie⸗ 
gerfohues * ; allein wie ift bieß zufäffig, da in den 34 obern 
Sliebern, die wir alle aus dem alten Teftamente fennen, zu 
„des“ jedesmal „Sohnes“ hinzugedacht werden muß: — fo 
wweideutig fchreibt Fein vernünftiger Schriftiteller! Ferner 
legen and) hier Salathiel und Serubabel ein fehr bedenkliches 
Beto ein; und überdieß fcheinen gerade bei Lukas mehrere 
Stellen gegen die Davidifche Herkunft der Maria zu {pres 
chen, am meilten 2, 4, wo es heißt: „er (der Joſeph) ging 
nach Bethlehem, um fid) mit Maria einfchreiben zu Taffen, 
weil er aus dem Haufe Davids war.“ Wie nahe hätte es 
hier gelegen, „fie beide“ zu fagen! 

Dieſer verwidelten Schwierigkeiten wegen haben ſich fchon 
viele Theologen entfchließen müflen, den unauflösbaren Widers 
ſpruch einzugeftehen; in der That find beide Stammtafeln gleich 
verbächtig,. die des Matthäus aus angegebenen Gründen, bie 
des Lufas, weil es fehr unmwahrfcheinlich ift, Daß des minder 
bedeutenden Nathan (V. 31) Stammbaum fich erhalten haben 
follte; — dazu kommen die Zerrüttungen des Erils, in welchem 
die Familien fo fchr auseinander geriffen wurden, und die Duns 
felheit des armen Sofeph. 

Muß man. in beiden alfo mehr oder weniger freie Bildun⸗ 
gen erfennen, fo könnte man Doch immer noch die Davidifche 
Abkunft Jeſu gelten laffen, Allein dafür bleibt, fobald Die 
Sefchlechtsregifter nicht als Acht zu retten find, Fein Beweis 
übrig, als bie Reife nach Bethlehem, die aber feineswegs feft 
fieht. Daß Sefus oft fchlechthin „Eohn Davids“ genannt 
wird, beweist nur, daß er frühzeitig für den Meffias gehalten 
wurbe, ber ja von David abftammen mußte (ſ. Einleitung) . 
und aus demfelben Glauben mochte fpäter das Beftreben 
entftehen, dieſe Abkunft durch einen förmlichen Stammbaum 
zu beurkunden. Wir können alſo als gefhichtlich Nichte 
weiter feithalten, ald daß chen diefer Glauben an die Meffias 





laſſen; z. B. flatt: „Joſeph, der Sohn des Eli“ zu fagen: 
„Joſeph, des Eli“. Das aber in gleicher Weife auch andere 
eine Berwandtfchaft bezeichnenden Worte ausgelaiten würden, läßt 
fich nicht erweijen. 

I. k 


84- 


diejenigen, welche annehmen, Maria habe bie ganze Sache 
vergeffen gehabt! — Iſt man aber zu dem Geftäubniß ges 
zwungen, Sofeph habe, troß der Mittheilungen ber Maria, 
fie verlaffen wollen (Matth. 19), fo fällt dadurch nun auf 
feinen Character ein übles Licht; zum minbeften erſcheint er 
dann als -ungläubig. 

Es dringt ſich uns alfo Die Enticheidung auf, nicht beide | 
Engelerſcheinungen koönnen wirflih Thatfache fein, ſondern 
höchftens nur Eine. Allein in Beiden haben wir Engel 
erfcheinungen, die wir nad) dem, im erſten Kapitel, Entwidels 
ten für mythifch halten müſſen. Abgejehen noch von Dem, 
fogleich näher zu betrachtenden, Inhalte der Engelbotichaft, 
nämlich von der übernatürlichen Erzeugung felbit, müflen 
wir daher beide Erzählungen für reine Mythen halten, 
jeden Berfuch, Einzelnes zu deuten, aufgebend. Wir den⸗ 
fen ung aber die Entſtehung derfelben fo: die geglaubte 
Thatfache, daß Iefus durch göttliche Kraft in Maria ers 
zeugt fei, genügte nicht; fie mußte feierlich und zuverläffig 
ausgefprochen und darum verfündet werden durch hHimmlifche 
Boten. Schon im alten Teftamente war dieß bei Geringeren 
gefchehen: konnte es bei dem Meſſias fehlen! So entitanb 
die Miythe der Verkündigung aus tief gemurzeltem Glauben 
und an der Hand altsteftamentlicher Borbilder, die zum Theil 
hier wörtlich benüßt erfcheinen (vgl. Matth. 1, 21 mit 1 Mof. 
17, 19 und Richter 13, 55 fo wie Luk. 1, 30 mit 1 Mof. 
16, 11 2c.). Die Verfchiedenheit der beiden Mythen tft zu 
betrachten ald Variation der Sage, wie ed auch in andern 
Fällen zu gefchehen pflegt; die bei Matthäus ift einfacher und 
funftlofer, die bei Lukas feiner und Eunftreicher. 





Der Inhalt beider Engelöverfündigungen ſtimmt darin 
überein, daß Maria ein Kind durch die unmittelbare Kraft 
Gottes empfangen werde, daß fie, wenn es geboren, ihm 
den Namen Jeſus geben folle, und daß basfelbe ber erwar- 
tete Meſſias fei. Dem Matthäus aber ift eigenthinmmlich, daß 
bei ihm ber Engel eine alt=teftamentliche Weiffagung ans 
führt; hinzufügt: „das Alles gefchah, damit erfüllt werbe 


\ 85 


das vom Herrn Gefagte ꝛc.“ CB. 22) — und demnach bie 
num folgenden Worte aus Sefaias 7, 14 ald meffianifche 
Weiffagung bezeichnet. Nun aber if durch die neueſten For⸗ 
ſchungen unwiderſprechlich dargethan, daß Jeſaias die Worte 
burchaus nicht vom Meſſias meint, ſondern daß dieſelben ledig: 
lich als Borausfagung politifcher Ereigniffe der nächften Zus 
funft gemeint waren. *) | 

Da wir bier zum eriten Male eine altsteftamentliche Weiſ⸗ 
fagung vor und haben, deren Eintreffen in oder Durch Jeſus 
von einem &vangeliften behauptet wird, fo wollen wir bier 
zugleich die verfchiedenen Anft chten über ſolche im Allgemeinen 

zuſammenſtellen. 

1) Orthodoxe Anſicht. „Dergleichen altsteftamentliche 
Stellen hatten ſchon urſprünglich (bei den alt⸗teſtament⸗ 
lichen Schriftſtellern) nur die prophetiſche Beziehung auf 
Chriſtus; denn Die neu⸗teſtamentlichen Schriftſteller deuten 
fie fo, und dieſe müſſen Recht haben, wenn auch der Men- 
fchenverftand dabei zu Grunde geht.* In der That komme. 
hier die wunderlichften Deutungen zum VBorfchein, wie gerade 
die bier in Frage ftehende altsteftamentliche Stelle z. 2. 
Hengftenberg alfo erklärt: „Das und das nahe Ereigniß 
(welches nämlich der Prophet vorausſagt) wird in eben fo 
viel Zeit eintreten, als dereinft zwifchen der Geburt des 
Meffias von einer Sungfrau big zu feiner erften Entwidelung 
verfließen wird.“ Welche Wortquälerei, um fo viel — Nicht: 
Sinn heraussupreffen! 9 

2) Rationaliftifche Anfiht. „Die neu steftamentlichen 
Schriftfteller geben den alt=teftamentlichen Weiſſagungen die 
mefjianifche Deutung nicht, fo wenig wie wir es können.“ 
Auch hier wird den Worten Gewalt angethan, und zwar Den 


2) Die gedrängte Kürze, welche wir ung bei unferer Bearbeitung Des 
Strauß’fihen Werkes zum Gefeße machen mußten, gebietet ung, 
bei diefer, wie bei manchen andern untergeordneten Unter- 
fuhungen, nur bie Ergebniſſe mitzutheilen. Wir thun dieß aber 
nur da, wo und Diefe Ergebniffe ald ganz unzweifelhaft 
erfcheinen. ' x 


2) Man fehe die angegebene Stelle, Jeſaias 7, 14 — 18. 


| 86’ 
—neu⸗teſtamentlichen: denn der, bei Matthäus namentlich, 
faft ftehend gewordene Uebergang bei Anführung folcher Weiſ⸗ 
fagungen fann gar nichts Anderes heißen, als: „Damit ers 
füllet werde.“ Sodann leidet diefe Deutung an gänzlicyer 
Verkennung des jüdifchen Geiſtes, der fo geneigt war, überall 
im alten Teftamente Drafel vom Meſſias zu erblicken, und 
fehiebt demfelben unfere VBernunftbildung und unfere daran 
fließende Anficht von den Weiffagungen des alten Teftamentes 
unter. 

3) Myftifhe Anſicht. „„In den altsteftamentlichen 
Stellen liegt urfprünglicy fowohl der von den neusteftaments 
lichen Schriftftellern ihnen gegebene tiefere, ald auch der 
durch verftändige Anficht uns aufgenöthigte nähere Sinn.“ * 
Eine Bermittlung, aber eine unglüdliche! Denn welch felts 
famer Doppelfinn, wenn von dieſer Anficht aus 3. B. unfere 
Jeſaias⸗Stelle fo gedeutet wird: „Der Prophet weilfagte aller- 
dinge ein Ereigniß der nächften Zukunft, zugleich aber auch, 
Daß Sefus von einer Jungfrau geboren werden fol.“ 

4) Mythiſche Anficht, alfo die unferige. „Die alts 
teftamentlichen Weiffagungen hatten urfprünglich fehr Häufig 
mir jene nähere Beziehung auf Zeitverhältniffe; wurden aber 
von den neuzsteftamentlichen Männern als wirffiche Prophes 
zeiungen auf Jeſus ald den Meſſias angefehen, weil der Ver⸗ 
ftand in jenen Männern durch die Denfart ihres Volfes bes 
schränkt war.* 

Diefer ſchon in der Einleitung begründeten Anficht zufolge 
müffen wir auch von dem hier in Frage fichenden Orakel 
einräumen, baß ihm die Beziehung auf Jeſus vom Evangeliften 
aufgebrungen worden ift. ’ 





Viertes Kapitel. 
Jeſu übernatürliche Erzeugung. 
Diejelben Stellen des Matthäus und Lukas.) 


Darin ftimmen alle Ausdrüde in beiden Evangeliften voll 
 Iommen überein, daß Tefus in der Maria einzig durch 


87. 
göttliche Schöpferfraft, ohne Mitwirkung eines Mannes 
(vgl. Luk. 1, 34; Matt. 1, 18), erzeugt worden fei, durch 
den „heiligen Geist“ (Matth. 205 Luk. 35). Unter dem heit. 
Geiſt haben wir und aber nicht, nad Firchlicher Lehre, bie 
dritte Perſon der Gottheit, fondern nach jüdiicher Boritels 
Img den „Geift Gottes“ in feiner unmitte:baren Einwir⸗ 
tung auf die Melt zu denken; ferner ift die Erzeugung ale 
ene übernatürliche, nicht aber als eine natürliche, wie Die der 
heidnifchen Götterföhne, zu fallen. 

| Diefe Darftellung der Erzeugung Jeſu wird von ben ortho- 
boren Auslegern als buchftäblich wahr angenommen; wir 
wollen aber zumädıit die Einwürfe ind Auge faffen, die ſich 
gegen dieſelbe machen laffen. 

Betrachten wir den Hergang felbit, fo ift Die Entitehung 
eined -menfchlicyen Weſens ohne Zufammenwirfen beider 
Gefchlechter fo fehr gegen alle Naturgefeße, daß wir Diefelbe 
geradezu für unmöglich erklären müflen, wenn wir nicht etwa 
gar mit Drigines in den Worten Pfahn 22, 7: „ich bin ein 
Wurm und fein Menich“ gleichfalls eine Weiffagumg auf 
Jeſum erbliden wollen; denn von Würmern wiffen wir, daß 
fie fi) ohne Begattung fortpflanzen. Wollte man mit dem 
Engel bei Lufas CB. 37) einwenden, daß „bei Gott fein Ding 
unmöglich“ fei, fo erwibern wir, daß es mit der Weisheit 
Gottes unverträglic, it, ohne Zweck und gleichfam unr ans 
kaune die von ihm felbit gegründeten Naturgeſetze zu umgehen. 
Denn felbft der einzige Zweck, den man diefer Umgehung uns 
terichieben Fan, Jeſum als Erlöfer unſündlich zu machen, 
und durch Entfernung des fündhaften Vaters dem Fluche der 
Erbfünde zu entnehmen, wäre ja nicht erreicht, da immer noch 
die gleichfalls die Sünde fortpflanzende Mutter übrig bleibt. 
Hat aber Gott diefe auf wunderbare Weiſe von ihrer Sind 
haftigfeit gereinigt; was man nothwendig annehmen müßte, 
warum nicht auch den Vater, ſtatt „Das Naturgefeß auf fo 
unerhörte Weile zu durchbrechen*? 

Aber auch aus äußeren Gründen muß jene wunderbare 
Erzeugung Jeſu bezweifelt werden. Dem in feiner Stelle 
irgend’ eines Evangeliums üt, außer den hier beſprochenen 
Steffen, auch mir im entfernteiten won derſelben die Mede, 


88 


pielmehr wird Jeſus von feiner Mutter gerabezu als Joſeph— 
Sohn bezeichnet (Luk. 2, 48), und alle feine Zeitgenoflen halten 
ihn dafür. Wenn biefe ihm öfter einen Borwurf daraus 
machten, wie 3. B. Matth. 13, 55, Luk. 4, 22, ja fogar deß⸗ 
wegen feine Berficherung, er fei vom Himmel herabgefons 
men, verhöhnten, hätte er nicht irgend einmak auf feine wuns 
derbare Erzeugung fich berufen follen? hätte ex nicht wenigs 
ftens feinen Süngern, bie ihn auch nur Joſephs Sohn 
nennen, fich in Diefer Beziehung entdecken müffen? Wie konnte 
enblich feine eigene Mutter an ihm irre werden (Mark. 3, 
21 — 31), wenn fie wußte, daß er im firengiten Sinne 
bes Wortes Gottes Sohn war? — Auch in den übrigen 
Schriften des neuen Teftamentes findet fich Davon keine Spur; — 
wo er als Sohn Gottes bezeichnet wird, find die Worte in 
geiftigem Sinne gebraucht, ohne Beziehung auf feine leib⸗ 
liche Abſtammung. 


Den grelliten Widerſpruch aber gegen Die Annahme einer 
übernatürlichen Erzeugung bilden die oben betradıteten Ges 
fhlechtsregifter, die Sefum, wie fchon von Schriftitellern 
der chriftlichen Vorzeit bemerft wird, offenbar ald Sohn- Jo⸗ 
ſephs daritellen; und zwar in der beſtimmten Abjicht, feine 
Davidifche Abkunft zu beweifen (Matth. 1, 1). Es fünnen 
alſo unmöglich Gefchlechtsregüter und Geburtsgefchichte von 
demfelben Verfafler fein, da fie ſich entichieden widerfprer 
hen. Wollte man auch eine Adoption durch Sojeph an« 
nehmen, ſo Fünnte diefe nimmermehr hinreichen, um bie mefs 
fianifhe Würde Jeſu, als eines leiblichen Nachkommen 
Davids zu begründen, und man würde ſich in Diefem Falle 
mit den Stammbänmen Joſephs eine vergeblihe Mühe ge« 
macht haben. Geftehen wir vielmehr ein, daß dieſe aus einer 
fehr frühen Zeit ſtammen, wo man Sefus noch für einen 
wirflihen Sohn Sofephs hielt, und daß die Evangeliften, 
troß ihres Glaubens an eine höhere Abftammung besfelben, 
die Stammtafeln mit einer biefen Glauben bezeichnenden Wen⸗ 
bung (M. 1, 165 8.3, 23) dennoch in ihre Darftellung aufs 
nahmen, weil fie immer noch ein Ssntereffe dabei hatten, ihm 


| 


ald Meſſias mit Davib auf jebe mögliche Weiſe in Verbin⸗ 
bung zu bringen, 

Es könnte nadı dem Gefagten auffallen, daß gerabe bies 
jenige chriſtliche Sefte, die der Ebioniten, welde Jeſum 
für einen natürlichen Sohn Joſephs hielt, jene Stammtafeln 
in ihrem Evangelium nicht hatte, wie ung einige Rirchenväter 
beitimmt berichten. Allein man muß willen, daß es zwei Klaffen 
von Ebioniten gab, deren eine Sefum gleichfalls, wie die herrs 
fchenbe Kirche, für einen wunderbar erzeugten Gottesfohn hielt: 
biefe konnte alfo Fein Sintereffe haben, das Gefchlechtsregifter 
Joſe phs in ihr Evangelium aufzunehmen, ja fie mußte es 
ausftoßen, weil fie zugleich eine große Abneigung gegen David 
hatte, unb überhaupt alle Propheten nach Joſua verabfcheute. 
Jene Zeugniffe, daß die Ebioniten Das Gefchlechtsregifter nicht 
hatten, beweifen aljo nichts über die andere Klaffe der Ebios 
niten, die dieſer Anficht nicht waren, und von welchen ung 
in Diefer Beziehung nichts Ausdrücdliches gemeldet wird. Wir 
dürfen um fo mehr annehmen, daß fie die Stammtafel wirk- 
lich befaßen, da einigen Gnoftifern, die ſich des Ebionitifchen 
Evangeliums bedienten, der Borwurf gemacht wird, fie haben 
eben dieſe Stammtafeln Cdie fie alfo doch in ihrem Evange⸗ 
um vorfanden) dazu bemüst, um die menfchliche Ers 
seugung Jeſn zu beweilen. Es muß demnach in der Älteften 
Zeit unter den Chrilten in Paläftina der Glauben an Diefe 
natürliche Herkunft Jeſu geberrfcht haben, und es find feine 
Spuren vorhanden, daß die Apoftel denfelben für umchrift- 
Sichh gehalten, vielmehr mag die entgegengefeßte Anficht ſich 
erft fpäter ausgebildet haben. 


Den aufgezählten Schwierigfeiten, die ſich der fupranatus 
raliftifchen Erklärung der Empfängnißgefchichte entgegenftellen, 
fuchen die Verehrer der natürlichen Auslegung in der ihnen 
eigenthümlichen Weiſe zu begegnen, wobei fie aber in große 
Berlegenheiten gerathen. Um früherer Verſuche diefer Art 
nicht zu gedenken, wollen wir nur die Deutung des Dr. Paulus 
näher. betrachten. Ten Joſeph für den Vater Sefu zu erfläs 
ren, verbietet ihm freilich der Wortſinn des 18. Verſes bei 


88 

Matthäus; dagegen glaubt er, daß durch die Ausbrüde -„heilis 
ger Geift“ und „Kraft des Höchiten“, bei Luk. 1, 35, bie 
Mitwirkung eines Mamnes keineswegs geläugnet werbe; viels 
mehr habe man die Verkündigung der Engel fo zu verfichen: 
„vor der Verehlichung mit Sofeph werde Maria mit reiner 
Begeifterung für das Heilige ihrerfeits, und durch gottgefällige 
Wirkfamfeit Cverfteht fih, eines Mannes) auf der andern 
Seite, Mutter eines Kindes werden, das wegen biefes heilis 
gen Uriprungs ein Gottesjohn zu nennen fein werbe.“ . Wie 
dieß zugegangen, dieß wird ung nicht beftimmt gefagt, jedoch 
durch die Vermuthung angedeutet, ber angebliche Engel fei 
ein Dann geweien, der Abends oder vielleicht gar bei Nacht () 
zur Maria gefommen. Es muß alfo, um es gerabe heraus 
zu fagen, Jemand fid, für den Engel Gabriel ausgegeben 
und die Maria in ımbewachter Stunde für feine unreinen 
Wünfche gervonnen haben: und dag foll „gottgefällige Wirk⸗ 
famfeit“, „reine Begeifterung für das Heilige“, ein „heiliger 
Urſprung“ fen? Mit weniger Scheu erklärt ſich in demſel⸗ 
ben Sinne der Berfaffer der „natürlichen Gefchichte des großen 
Propheten von Nazareth“ dahin: „Maria fei als bie Ver⸗ 
lobte C!) des ältlichen C!) Joſeph von einem verliebten 
und fchwärmeriichen Jünglinge getäufcht C!) worden“, ja 
er weiß fogar, Daß dieß — Sofeph von Arimathia ges 
wefen (1), der von Matthäus (27, 57 ıc.) als der Mann 
genannt wird, der Jeſum ins Grab legte. Hiermit ftellen fich 
diefe Callzu) natürlichen Ausleger mit den heibnifchen und 
jüdischen Gegnern des Chriftenthums, die geradezu behaupten, 
Jeſus fei im Ehebruche mit einem gewiflen Panthera erzeugt 
worden, faft in ganz gleiche Linie. Mit Recht deutet ſchon 
Drigined gegen diefe Erflärung an, daß es ein ganz willführs 
liches Verfahren fei, die übernatürliche Erzeugung in der Ers 
zaͤhlung we gzubemonftriren, und einen andern Zug in berfelben, 
daß Maria von Sofeph unberührt geweſen fei, ftehen zu 
laſſen: wir aber bringen mit der Strenge der Wiflenfchaft 
darauf, daß alle Theile auch dieſer Erzählung einer gleich 
firengen Prüfung unterworfen werden. 





91 


Bon dieſem Stanbpunfte aus werden wir genöthigt, bie 
wunderbare Erzeugung Jeſu in allen ihren Theilen für mys 
thifch zu erklären; die Entſtehung diefer Mythe ift unſchwer 
nachzuweiſen. Jeſus nannte ſelbſt oft Gott feinen Vater, 
hieß als Meſſias Gottes Sohn; beides freilich nicht in leide 
lihem Sinne; aber die erite chriftliche Kirche deutete Diefe 
Ausdrücke bald fo, bezog, wie Matth. 1, 22 ıc. zeigt, bie 
Stelle Jeſaias 7, 14 (ſ. Matth. 1,23) auf. Sefum, und da 
man nun annahm, Jeſus mußte von einer Sungfrau durch 
Gottes Kraft geboren fein, fo ſchloß man, daß es wirklich 
gefchehen, und es entitand die reine Mythe, die wir nun 
vor uns haben. 

Die Entitehung einer folchen wird fchon dann erflärlich, 
wenn man -fich der Neigung ber gefammten alten Welt erins 
nert, große Männer ald Söhne eines Gottes barzuftellen; fo 
bei den Griechen Herkules, Alerander, Plato ꝛc. Leber diefen 
Lebteren jagt Hieronymus: „Bon dem größten Weltweifen 
nehmen fie an, er könne nur von einer Ssungfrau geboren 
worden fein.“ Freilich wollen die Supranaturaliften dieſen 
Erflärungsgrund nicht gelten laſſen; ihre Einwendungen find 
aber unhaltbar. Denn wenn der ine behauptet, bei den 
Heiden feien jene Sagen von göttlicher Erzeugung großer 
Männer erſt Jahrhunderte nach den Lebzeiten derſelben entitans 
den, was bei Jeſus fich ganz anders verhalte, fo ift Dieß 3.8. 
m Bezug auf Plate unrichtig, da fchon fen Schweſter⸗ 
john erzählt, es fei in Athen eine allgemeine Cage, Plato 
jet Apollos Sohn. Wenn ein Anderer die Sache fo dreht, 
daß Die heidnifchen Eagen nur die Beweiſe einer allgemeinen 
Ahnung und Sehnfucht nad einer folchen Thatfache enthielten, 
die, eben wegen diefer Ahnung, bei Einem, nämlich Chriſtus, 
habe in Erfüllung gehen müffen, fo iſt diefer Schluß eben 
jo fall, al wenn man aus den Sagen von einem goldenen 
Zeitalter fchließen wollte, es habe einit wirklich ein folches 
gegeben. 

Wichtiger könnte der Einwand ericheinen, daß die heidnis 
ſchen Borftellungen Nichts beweilen fir das in feinen äußeren 
Berhältniffen, fo wie nach feinen religiöfen Borftellungen, völlig 
abgefchloffene jüdifche Vol. Allein gerade aud in dieſen 


92 


jadifchen Vorſtellungen liegen fruchtbare Wurzeln, aus denen 
gar wohl die Mythe von einer-übernatürlichen Erzeugung Jeſu 
hervorgehen konnte. Denn ftand einmal ber Glauben fe, baß 
auserwaͤhlte Nüftzeuge Gottes durch einen göttlichen Beis 
fand -erzeugt werben, ber nach Röm. 4, 19 bie bereits ers 
korbenen Kräfte beider Aeltern wieder erneuerte, cf. &. 77) 
fo war ed nur ein Schritt weiter in der Ausbildung biefer 
Borftelung, von dem größten aller Propheten anzunehmen, 
baß bei feiner Erzeugung die Mitwirkung des Einen Theiles, bes 
männlichen, ganz gefehlt habe, bei vollkommener Fähigfeit des 
weiblichen. Daher läßt Lukas ben Engel mit benfelben Wor⸗ 
ten: „bei Gott ift fein Ding unmöglich“ den Unglauben der 
Maria niederfchlagen (V. 37), welche der Engel auf den 
Zweifel der alten verehelichten Sara erwibert (1 Mof. 18, 19. 
Findet fi) and, in älteren Büchern bes alten Teitamentes 
nur die Vorftellung, daß der Meſſias ein menſchlich erzeugter 
Mann fein werde, fo ging doch feit Daniel dieſer die andere 
von ihm, als einem göttlichen Wefen, zur Seite. Eine 
noch nähere Veranlaffung zu der Annahme einer übernatürlichen 
Erzeugung lag in bem für den Meſſias üblich gewordenen 
Titel: „Sohn Gottes“, „Tenn es ift die Natur folcher zus 
nächt bildlichen Ausdrücde, daß fie mit der Zeit immer 
mehr eigentlich und im firengen Sinne genommen werben, 
und befonders unter den fpätern Suden war eine finnliche Aufs 
faffung des früher geiftig und bildlid, Gemeinten an der Tas 
gesordnung. * Mußte nun einerfeits fehon der Zufaß, welchen 
in Pfalm 2, 7 das mefjtanifch gedeutete „Du bift mein Sohn“ 
in den Worten : „heute habe ich dich erzeugt“, erhielt, bie 
Borftellung von der leiblichen Zeugung des Mefftas durch 
den Geiſt Gottes unterftüßen, fo führte andererfeitd die oben 
(S. 85) erwähnte gleichfalls auf den Meſſias gebeutete Weiſ⸗ 
fagung des Sefaind von der gebärenden Sungfrau zu der Ans 
nahme der Geburt durd; eine fledenlofe Jungfrau %. Beide 


65 Daher gebraucht fchon die griechifche Ueberſetzung ded alten Te⸗ 
ſtamentes, die man die Geptuaginte nennt, in diefer Stelle ein 
Wort, welches nicht nur ein unverheirathetes, fonbern anch ein 
teufches Mädchen bezeichnet; keuſch aber blieb die Jungfran, 
wenn ihr Kind ein Sohn Gottes in oben bezeichnetem Sinne war. 


93 


Borftellungen floſſen num gleichſam von felbft in bem Begriffe 
eines in einer Jungfrau von Gott felbft erzeugten Sohnes zus 
fammen. — Bon gar feinem Belange aber ift endlich der . 
Einwand, daß die mythiſche Auffaffung unferer Erzählımg 
nothwenbig einer gottesläfterlichen Vorſtellung Eingang vers 
ſchaffe, da ja alsdann Sefus als in unheiligem, unfeufchem 
Wandel erzeugt betrachtet werden müſſe. Hierin fpricht fidy 
ja ein völliges Verkennen des mythifchen Standpunftes aus ; 
benn wer wird behaupten wollen, daß man, wenn bie über, 
natürliche Erzeugung als Mythe hingeftellt wird, Doch Die Ges 
burt von einem unvermählten Weibe feitzuhalten habe? Diefes 
Letztere ift ja offenbar eiu Zug, der nur zur Stüße der Bor 
ſtellung, daß Sejus von feinem Manne erzeugt worden, dies 
nen ſoll, mithin von felbft fällt, fobald die gefchichtliche Wahrs 
heit diefer wunderbaren Erzeugung aufgegeben ift. Die Angabe, 
daß Sefu Mutter unverehelicht geweſen, muß alfo gleichfalls 
als Theil der ganzen Mythe betrachtet werden; und vernünfe 
tiger Weife können wir durch diefe mythifche Behandlung zu 
feinem andern Refultate uns führen laffen, ald zu ber An- 
nahme, daß Jeſus in rechtmäßiger Ehe von Sofeph und Maria 
erzeugt fei. Dieß nehmen wir ale die übrig bleibende ges 
ſchicht liche Wahrheit an. 





Fuͤnftes Kapitel. 


Verhältniß zwifchen Joſephh und Maria, und Befuch 
bei der Elifabeth. 


(Matth. 1, 24,25; Luk. 2,5; 1, 39—56.) 


Unjere Mythe erzählt weiterhin, ganz im Geiſte jüdiſcher 
Sage, daß Maria auch nad, der Empfängniß von Feinem 
Manne berührt worden, bevor fie den Gottesfohn geboren 
habe. Lukas läßt fie nach 2, 5 bis zu der Geburt desfelben Jo⸗ 
ſephs Verlobte bleiben; dem Matthäus (1, 24,25) zufolge nahm 
fie Sofeph als fein Weib zwar zu fich, allein „er erfannte fie 
nicht, big fie ihren erften Sohn gebar.“ (Ein Gleiches wird 
auch von den Aeltern PM atos erzählt.) Mit diefer heiligen 


\ . 94 


Scheu vor der göttlichen Leibesfrucht begnügte man fich aber 
nieht, fondern ftsigerte von Stufe zu Stufe die Verehrung 
für Maria und Sofeph. . Zuerft ward die Anſicht feftgeftellt, 
ſchon von Drigines, daß Maria auch nicht nach der Ge— 
burt in ehelichem Umgange mit Sofeph gelebt habe, was mas 
dadurch flüßte, daß man Lebteren zu einem abgelebten Greife. 
und die im neuen Teftamente oft genannten „Brüder Jeſu — 
zu feinen Kindern aus einer früheren Ehe machte. Weitere 
hin nahm man an, Maria fei auch bei der Geburt Selm 
ihrer Sungferfchaft nicht verluftig gegangen, und endlich er— 
Härte fchon Hieronymus, um aud für Joſeph unverlegtem 
Keufchheit zu gewinnen, es ald eine gottlofe Träumerei, daß 
Joſeph von einer früheren Gattin Kinder gehabt habe, und 
ed wurden „von jetzt an Die Brüder Sefu zu bloßen Better 
desfelben degrabirt *. Welcher Abftand von jener, den Ges 
fehlechtsregiftern (ſ. S. 78 20.) zu Grunde ‚liegenden Borftels 
lung, daß Sofeph der eheliche Vater Jeſu gewefen, bis zu 
dieſer letzteren myſtiſchen Anficht! 

Allein dieſer kirchlichen, auch von den neueren Orthodoxen 
verfochtenen, Anſicht ſteht der Wortlaut jener Matthäi'ſchen 
Stelle eben ſo entgegen, als die neu⸗teſtamentliche Geſchichte, 
die fo häufig der „Brüder des Herrn“ erwähnt. Denn das 
Pörtlein „big“ bei Matth. 1, 25 kann, wie man auch da⸗ 
ran deuten mag, nur den Gedanfen ausdrüden, daß nicht 
langer, ale während der Zeit der Schwangerichaft, die Ents 
haltfamfeit der Aeltern Jeſu angedauert habez; und wenn man 
mit dem Ausdrude „erften Sohn“ wohl auch einen einzis 
gen bezeichnen kann, fo lange noch Hoffnung zu einem zwei⸗ 
ten vorhanden it, fo würde er doch in diefer Bedeutung 
widerfinnig fein, wenn an weitere Nachfommenfchaft nicht 
mehr gedacht werden kann, was doch bei Abfafjung des Evans 
geliums, wo Jeſu Aeltern nicht mehr lebten, der Fall war. 

Etwas weniger Gewicht hat der aus der häufigen Erwäh- 
nung ber Brüder Jeſu hergenommene Einwurf gegen jene 
orthodore Lehre von der unverlegten Keufchheit Joſephs nnd 
der Maria. Allerdings werden gewiffe Männer und Frauen 
ald Brüder und Schweftern Jeſn ganz beftimmt "aufgeführt; 
vergleiche Matth. 12, 46; 13, 59. — Marl. 6, 3. — 


95 


&il. 8, 19. — Joh. 2, 12: — Apoſtelg. 1, 145 — und 
baß diefe „Brüder Jeſu“ nach Joh. 7, 5 nicht gleich ans 
fange an ihn glaubten und ihn nach Mark. 3, 21 unb 
31 für einen Berrüdten zu halten ſcheinen, widerſpricht ber 
Angabe, daß fie feine Brüder von ber Mutter her gewes 
fen, eben fo wenig, ale der Umitand, daß nicht ihnen, fondern 
Dem Johannes, Jeſus feine Mutter, che er ftarb, empfahl 
CJoh. 19, 26 x). Allein das macht mit Recht Bebenfen, 
Daß außer den vier Brüdern, deren Namen 3. B. bei Matt. 
13, 35 zu lefen find, noch andere Männer mit ganz gleichen 
Namen aufgeführt werden, nämlich im Ganzen — die Brüder 
mitgerechnet — vier Jakobus, zwei Joſes Cunter ihnen 
zwei Bettern Jeſu, Jakobus und Joſes), drei Judas unb 
drei Simon (die Ramen der Schweſtern werben nirgends 
genannt). Ferner fcheint aus den ziemlich verworrenen evans 
gelifchen Berichten über die verfchiedenen Jakobus hervorzu⸗ 
gehen, baß der Bruder Jeſu, der jüngere Apoftel und der 
Better Jeſu dieſes Namens eine und dieſelbe Perfon, und 
zwar der Sohn der Maria, der Schwefter der Mutter Jeſu, 
gewefen. Man könnte aljo bei Diefem das beigegebene gries 
difche Wort Cadelphos), das fonft nur „Bruber“ heißt, in 
dem Sinne von „Better“, „naher YBlutsverwandter“ nehmen, 
worauf Denn Nichts hinderte, ihm auch in Bezug auf bie drei 
andern Diefe Bedeutung zu geben. Jedoch hat dieß wiederum 
anbere nicht zu löfende Schwierigfeiten. Das genannte gries 
difche Wort hat jene Bedeutung „Better“ fonft nirgends, 
wiewohl ed, wie unfer „Bruder“ auch den Nächſten bes 
deutet; — die „Brüder des Herrn“ erfcheinen in den Evan⸗ 


gelien faſt überall in der Begleitung von, Jeſus und feiner 


Mutter; — Apoftelg. 1, 14 werden fie, nach Aufzähs 
lung aller Apoftel, noch ganz befonders genannt; —- auch 
1 Kor. 9, 5 fcheinen fie von den Apoſteln gefondert zu 
werden; — wie fonderbar wäre es endlich, daß gerade von 
diefen Männern jene Bezeichnung ftehend geworden fein 
ſollte, und nicht ein einzigesmal von ihnen wirklich das Wort 
„Bettern“ gebraucht würde, ein Wort, Das im neuen Teſta⸗ 
mente fonft öfters verfannt, 3: B. Kol. 4, 10. 

Wir werben alfo auf bie Annahme, daß jene Männer 


96 

allerdings Jeſu Brüder geweien, als bie wahrſcheinlichſte, 
zurückgeworfen, und haben keinen Grund zu läugnen, baß, 
Maria ihrem Gatten noch mehrere Kinder geboren habe; 
Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf bie verfchle 
denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei foldher Gleich⸗ 

namigkeit nicht feltene, Verwechſelung, zumal bei mänblicen 
Ueberlieferung, erzeugt worben fein. 





An die Verfündigungen des Johannes und Jeſus fchließe 
ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifaberh an, beffen 
Daritelung bei Lukas (1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen, 
wit vielen wunderbaren Zügen burchwebt iſt. Zwar glauben 

Die natürlichen Ausleger mit biefen feicht fertig zu werben. 
„Der Unbefannte, welcher Maria befuchte (ſ. S. 90.), hatte 
ihr aud) die unerwarteten Hoffnungen der Elifabeth mitgetheilt 
(DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu 
befjuchen. Sie thut es, kommt an, und erzählt ihr vorerſt das 
ihr gu Theil gewordene Glück, wodurch Elifaberh in hobe Bes 
geiſterung verfeßt wird; dieſe Gemüthsbewegung theift fich 
Dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches deßhalb eine 
hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bedeutfames 
Zeichen erblickt und mit begeifterten Worten die Maria anres 
det (B. 40 ꝛc.).“ Allein erftlicd hat ja, unferm Berichte zus 
folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß 
hin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend 
einer Erzählung der Maria, die den Worten ber Eliſabeth 
vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges 
müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der 
Bewegung bes Kindes, wenn man den Worten nicht Die größte 
Gewalt anthun will (vgl. nach V. 44). Eben fo wenig bes 
friedigt die natürliche Erklärung des Lobgefanges der Maria 
&. 46 I): „Maria wird durch Elifabeth in ihren meiflanis 
fihen Erwartungen beftärft, und wird Dadurch gleichfalls bes 
geiftert.“ Wie ift es Doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei 
einem Befuche der einen, ſtatt fich zu unterhalten, in begeifterte 
Gefänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen . 
Anläffen, natürlichen Gefprächsform entfagen? 


\ 


97 


Mir fönnen alfo nichtE Anderes annehmen, ale daß Elifas 
beth wirklich in der ganzen Erzählımg etwas Wunderbares 
hat geben wollen; und als folches faßt es auch der orthos 
doxe Ausleger, und bietet und damit Näthfel anderer Art. 
Es ift naͤmlich ganz unglaublich, daß die bloße „Stimme* 
eines Menjchen (B. 44) auf die noch nicht ausgebildete Leibes⸗ 
frucht irgend einen Eindrud foll machen können. Welchen 
Zwed follte auch ein fo abenteuerliches YBunder haben? Elis 
faberh und Maria bedurften ja feiner Beftätigung ihrer Hoffs 
nungen mehr; und das noc, nicht zur Neife gediehene, noch 
unbefeelte Kind Sohannes fonnte, wie gefagt, noch keinen 
Eindrud empfinden, der ihn auf feine fünftige Beftimmung 
bingewiefen hätte. Soll aber die Rede der Maria Wirkung 
des heiligen Geiftes geweſen fein, fo ift fchwer zu begreifen, 
daß berfelbe Nichts bewirkt habe, als eine ziemlich locker zus 
fanmengefügte Reihe alt⸗teſtamentlicher Sprüche, als welche 
die Rede, ſelbſt nach einer flüchtigen Vergleichung nur mit 
1 Sam. 2, 1 ꝛc. und andern Stellen, erſcheint. 

Wir werden alfo nicht anders können, als auch diefen 
legten Theil der Erzählung für rein mythifch zu erflären, 
nur nicht in dem Sinne derjenigen mythifchen Ausleger, welche 
immer noch einen Beſuch der Maria bei Elifaberh als That⸗ 
ſache fefthalten, nebſt einigen begleitenden Umftänden. Denn 
eben diefer Befuch, an fid) genommen, verräth am deutlichten, 
daß das Ganze nur Mythe it. Nach den bei Abfaflung 
des Evangeliums herrichenden Borftelungen mußte Johannes, 
als Sefu untergeordnet, zu deffen Verherrlichung beftimmt 
fein; fie mußten fchon frühzeitig in der innigften Verbindung 
mit einander geftanden haben; diefe aber fonnte durch Nichts 
anfchanlicher gemacht werden, als wenn fchon die Mütter 
der beiden Propheten in eine Berührung mit einander famen, 
bei welcher fchen die Mutter des Sohannes vor der Mutter 
Jeſu ihre Haupt demuthsvoll neigte. Daher der Beſuch 
im Ganzen; einzelne Züge ald hiftorifch fefthalten zu wollen, 
bieße den Charakter meſſianiſcher Mythen ganz verfennen; viels 
mehr mußte dieſe gewiſſe Vorausſetzungen machen, deren fie 
als Grundlage bedurfte. Wir müffen alfo nicht nur den Be⸗ 
fuch der Maria, fondern auch ihre nahe Verwandtfchaft mit 

J. 7 


98 


Elifabeth, fo wie den Umftand, daß Sohammes um ſechs Mo⸗ 
nate Alter als Jeſus gewefen, für mythiſch halten. | 








Sechstes Kapitel. 


Die Geburt Jeſu in Bethlehem, und der Lobgefang 
der Engel. 


(Lufas 1, 1— 21.) 


Indem wir und nun zu den Erzählungen von der Geburt 
Sefu wenden, finden wir die beiden Evangeliften zwar darin 
übereinftimmend, daß fie Sefum in Bethlehem geboren wer - 
den Taffen; während aber Matthäus dieß, gleich, als ware — 
eine befannte Sache, nur im Borübergehen (1, 25 und 2, 1), — 
und zwar fo erzählt, daß man glauben muß, Sefu Aeltern — 
haben in Bethlehem gewohnt, ift Lufas ſehr ausführlich über—— 
die einzelnen Umſtaͤnde und die Zeit der Geburt. 

Die Zeit beftinmt er dahin (2, 1. 2), „ale die erſt— 
Schaßung des römifchen Reiches unter Auguftus aufp | 
deffen Befehl gefchah, und Quirinus Etatthalter in Syriem 
war 7). 

Diefe Angabe gibt und zum erften Male Anlaß, die Rad 
richt eines Evangeliſten mit denen heidnifcher Schriftfteller zr — 
vergleichen: für unfern Lukas fällt diefer Vergleidy jehr un ’ 
günftig aus. Denn ed erweist ſich, daß jene Angabe in alle 
ihren Theilen unrichtig, wenigftens fehr ungenau if. DC 
alle neueren Theologen hierüber mehr oder weniger einver— 
ftanden find, und ſich nur durch fehr gewagte Vermuthunger — 
aus der Verlegenheit zu ziehen wiffen, fo begnügen wir und ⸗ 
die Unrichtigkeit im Allgemeinen anzugeben, ohne in die nähe 
ren Erörterungen derfelben einzugehen. 

1) Bon einer Schaßung des ganzen römischen Neiches 

x 

7) Ueber die hier und weiter unten berührten Verhältniffe der Juden ' 

zu dem damaligen römifchen Reiche werden die Anmerkungen : 
und Erklärungen Auskunft geben. 


99 


umter Auguſtus willen wir durchaus Nichte; Stellen, bie 
man dahin hat deuten wollen, beziehen fich nur auf Italien. 
Chen fo unzuläffig ift es, die Worte, welche das Reich bes 
jeichnen (wörtlich nach dem Griechifchen: „Das ganze bewohnte 
dand“) auf das jüdifche Land zu befchränfen, und unter 
„Befehl“ nur eine Abficht, ein ausgedrüdtes „Beftreben“ zu 
berftehen. 

2 Sn Subäaa inebefondere konnte aber damals, als 
Jeſus geboren wurde, Feine römifche Schagung vorgenoms 
men werben; denn nad) Lukas eigenen Berichten regierte das 

“ Mal noch Herodes (1, 5), worin ihm Matth. 2, 1 beis 
Nimmt, und fein Sohn und Nachfolger ward erft nach zehns 
X ühriger Regierung von Auguft verbannt, worauf Judäa 
Cümifch wurde. Nun waren zwar die damaligen jüdifchen 
Sönige, wie manche andere, den Römern fchon zinsbar: 
ullein eine Schagung ftellten diefe doch nur in ihren eigenen 
Drovinzen an. Daß hievon unter Herodes eine Ausnahme 
DSemacht worden, läßt fid) durchaus nicht ermweifen. 

3) Es war damald Quirinus gar nicht Statthalter in 
Syrien, -fondern erft lange Zeit nach Herodes Tode; diefer 
ſtellte in Judäa allerdings eine Schatung an, aber erft etwa, 
zehn Ssahre nach Sefu Geburt. 

Diefe Unrichtigkeiten Taffen fi weder durch die ganz wills 
Tührliche Annahme, Vers 2 fei ein fpäterer Zuſatz, noch durch 

gewaltfanie Aenderung der Worte, noch durch fprach- und 
fachwidrige Erklärungen wegbringen. Wollte man auch, allen 
übrigen Berichten zum Troße, annehmen, Sefus fei wirklich 
nicht unter Herodes, fondern zu QDuirinus Zeiten geboren, 
ſo war ja aud damals nur Judäa, wo Bethlehem lag, 
nicht auch Galiläa römifche Provinz, und Sofeph von Nas 
zareth, eines Königs Unterthan, hatte nichts bei der Schatzung 
in einer Provinz zu thun. 

Endlich mußte jeder Jude zwar bei einer jüdifhen 
Schatzung in feinem Stammorte fi) einfcreiben Iaflen, 
nicht aber bei einer römifchen, und es war aljo überhaupt 
fein Grund vorhanden, weßhalb Joſeph, obgleich Davide, 
hätte nadı Bethlehem wandern follen, wie V. 3 und 4 er 
zählt wird. 


\ . 94 


Scheu vor der göttlichen Leibesfrucht begnügte man ſich aber 
nieht, fondern fleigerte von Stufe zu Stufe die Verehrung 
für Maria und Sofeph. . Zuerft ward die Anficht feftgeftellt, 
fhon von Drigines, daß Maria auch nicht nach der Ger 
burt in ehelichem Umgange mit Sofeph gelebt habe, was mau 
dadurch ſtützte, daß man Leßteren zu einem abgelebten Greife, 
und die im neuen Teftamente oft genannten „Brüder Sefu“ 
zu feinen Kindern aus einer früheren Ehe machte. Weiters 
hin nahm man an, Maria fei andy bei der Geburt Jeſu 
ihrer Sungferfchaft nicht verluftig gegangen, und endlich er⸗ 
Härte fchon Hieronymus, um auch für Sofeph unverlegte 
Keufchheit zu gewinnen, es als eine gottlofe Träumerei, daß 
Joſeph von einer früheren Gattin Kinder gehabt habe, und 
ed wurden „von jeßt an die Brüder Jeſu zu bloßen Vettern 
desielben degradirt *. Welcher Abftand von jener, den Ges 
fchlechtsregiftern (ſ. S. 78 20.) zu Grunde liegenden Vorſtel⸗ 
lung, daß Sofeph der cheliche Vater Jeſu gemweien, bie zu 
dieſer letzteren myftifchen Anficht ! 

Allein diefer Eirchlichen, aud) von den neueren Orthodoxen 
verfochtenen, Anficht fteht der Wortlaut jener Matthärjchen 
Stelle eben fo entgegen, als die neu=tejtamentliche Geſchichte, 
bie fo häufig der „Brüder des Herrn“ erwähnt. Denn das 
Wörtlein „bis“ bei Matth. 1, 25 kann, wie man auch das 
ran deuteln mag, nur den Gedanken ausdrüden, daß nicht 
länger, ald während der Zeit der Schwangerfchaft, die Ents 
haltfamfeit der Aeltern Jeſu angedauert habe; und wenn man 
mit dem Ausdrude „erften Sohn“ wohl auch einen einzis 
gen bezeichnen kann, fo lange noch Hoffnung zu einem zwei⸗ 
ten vorhanden it, fo würde er Doch in dieſer Bedeutung 
widerfinnig fein, wenn an weitere Nachfommenfchaft nicht 
mehr gedacht werden kann, was doc, bei Abfaſſung des Evans 
geliums, wo Jeſu Aeltern nicht mehr lebten, der Fall war. 
Etwas weniger Gewicht hat der aus der häufigen Erwähr 

nung der Brüder Jeſu hergenoinmene Einwurf gegen jene 
orthodore Lehre von der unverleßten Keufchheit Joſephs nnd 
der Maria. Allerdings werden gewifle Männer und Frauen 
ald Brüder und Schwejtern Jeſu ganz beitimmt "aufgeführt; 
vergleiche Matth. 12, 46; 13, 59. — Mark. 6, 3. — 


95 


Luk. 8, 19. — Joh. 2, 12. — Apoftelg. 1, 14; — und 
daß diefe „Brüder Jeſu“ nad Joh. 7, 5 nicht gleich ans 
fange an ihn glaubten und ihn nach Mark. 3, 21 und 
31 für einen Berrüdten zu halten fcheinen, wiberfpricht ber 
Augabe, daß fie feine Brüder von der Mutter her gewes 
fen, eben fo wenig, ald der Umitand, daß nicht ihnen, fonbern 
dem Johannes, Jeſus feine Mutter, che er farb, empfahl 
(Soh. 19, 26 ꝛc.). Allein Das macht mit Recht Bedenken, 
daß außer den vier Brüdern, deren Namen 3. B. bei Matth. 
13, 55 zu leſen find, noch andere Männer mit ganz gleichen 
Kamen aufgeführt werden, nämlich im Ganzen — die Brüder 
mitgerechnet — vier Jakobus, zwei Joſes Cunter ihnen 
wei Vettern Jeſu, Jakobus und Joſes), drei Sudas und 
drei Simon (die Namen der Schweſtern werden nirgends 
genannt). Ferner fcheint aus den ziemlich verworrenen evans 
gelifchen Berichten über die verfchiedenen Jakobus hervorzus 
gehen, daß der Bruder Jeſu, der jüngere Apoftel und ber 
Better Jeſu dieſes Namens eme und biefelbe Perfon, und 
war der Sohn der Maria, der 'Schwefter der Mutter Jeſu, 
gewefen. Man könnte aljo bei dieſem das beigegebene gries 
hifche Wort Cadelphos), das fonft nur „Bruder“ heißt, in 
dem Sinne von „Better“, „naher Blutsverwandter“ nehmen, 
worauf denn Nichts hinderte, ihm auch in Bezug auf die drei 
andern dieſe Bedeutung zu geben. Jedoch hat dieß wiederum 
andere nicht zu löfende Schwierigkeiten. Das genannte grie> 
chiſche Wort hat jene Bedeutung „Better“ fonft nirgends, 
wiewohl es, wie unfer „Bruder“ aud den Nächften bes 
deutet; — die „Brüder des Herrn“ erfcheinen in den Evans 
gelien faft überall in ber Begleitung von, Jeſus und feiner 
Mutter; — Apoſtelg. 1, 14 werden fie, nad, Aufzähs 
lung aller Apoftel, nody ganz bejonderd genannt; —- auch 
1 Kor. 9, 5 fcheinen fie von den Apofteln gefondert zu 
werden; — wie fonderbar wäre es endlich, Daß gerade von 
diefen Männern jene Bezeichnung ftehend geworden fein 
follte, und nicht ein einzigesmal von ihnen wirklich das Wort 
„VBettern“ gebraucht würde, ein Wort, bas im neuen Teſta⸗ 
mente fonft öfters verkannt, 3. B. Kol. 4, 10. 

Wir werden alfo auf die Annahme, daß jene Männer 


96 

allerdings Jeſu Brüder geweien, als die wahrfcheinfichke, 
zurückgeworfen, und haben feinen Grund zu läugnen, baß, 
Maria ihrem Gatten noch mehrere Kinber geboren habe; 
Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf bie verfchler 
denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei folcher Gleich⸗ 
namigkeit nicht feltene, Berwechjelung, zumal bei minblichen 
Ueberlieferung, erzeugt worden fein. 





An die Verkündigungen des Johannes und Jeſus fchließe 
ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifabeth an, beffen 
Darftellung bei Lufas (1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen, 
mit vielen wunderbaren Zügen burchwebt iſt. Zwar glauben 

bie natürlichen Ausleger mit biefen feicht fertig zu werben. 
„Der Unbekannte, welcher Maria befuchte Ch. S. 90.), hatte 
ihr auch die unerwarteten Hoffnungen der Eliſabeth mitgetheilt 
(DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu 
befuchen. Sie thut es, kommt an, und erzählt ihr vorerſt das 
ihr gu Theil gewordene Glüd, wodurch Eliſabeth in hohe Bes 
geifterung verfegt wird; dieſe Gemüthöbewegung theilt füch 
dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches beßhalb eine 
hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bebeutfames 
Zeichen erblidt und mit begeifterten Worten die Maria anres 
det (DB. 40 ꝛc.).“ Allein erftlich hat ja, unferm Berichte zus 
folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß 
hin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend 
einer Erzählung der Maria, die den Worten der Eiifabeth 
vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges 
müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der 
Bewegung des Kindes, wenn man den orten nicht die größte 
Gewalt anthun will (vgl. nad) V. 44). Eben fo wenig bes 
friedigt die natürliche Erklärung des Lobgefanges der Maria 
(B. 46 10): „Maria wird durch Elifaberh in ihren mefflanis 
fhen Erwartungen beftärft, und wird dadurch gleichfalls bes 
geiſtert.“ Wie ift e8 doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei 
einem Befuche der einen, flatt ſich zu unterhalten, in begeifterte 
Geſänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen . 
Anläffen, natürlichen Geſprächsform entfagen? 


\ 


97 


ir fonnen alſo nichts Anderes annehmen, als daß Elifas 
beih wirflidy in der ganzen Erzählımg etwas Wunderbares 
hat geben wollen; und als ſolches faßt es auch der ortho⸗ 
dore Außleger, und bietet und damit Näthfel anderer Art. 
Es ift naͤmlich ganz unglaublich, daß die bloße „Stimme* 
eines Menfchen (V. 44) auf die noch nicht ausgebildete Leibes⸗ 
frucht irgend einen Eindrud fol machen können. Welchen 
Zweck follte auch ein fo abenteuerliches Wunder haben? Elis 
fabeth und Maria bedurften ja feiner Beftätigung ihrer Hoffs 
nungen mehr; und das noc) nicht zur Reife gediehene, noch 
anbefeelte Kind Sohannes fonnte, wie gefagt, noch feinen 
Eindrud empfinden, der ihn auf feine künftige Beſtimmung 
hingewieſen hätte. Soll aber die Rede der Maria Wirkung 
des heiligen Geiftes gewefen fein, fo ift fchwer zu begreifen, 
daß derfelbe Nichts bewirkt habe, als eine ziemlich locker zus 
fammengefügte Reihe altsteftamentlicher Sprüche, als welche 
die Rede, felbit nach einer flüchtigen Vergleihung nım mit 
1 Sam. 2, 1 ıc. und andern Stellen, erfcheint. 

Wir werden alfo nicht anders Tonnen, als auch diefen 
legten Theil der Erzählung für rein mythifch zu erflären, 
nur nicht in dem Sinne derjenigen mythifchen Ausleger, welche 
immer noch einen Befuch der Maria bei Elifabeth ale That⸗ 
fache fefthalten, nebft einigen begleitenden Umftänden. Denn 
eben diefer Beſuch, an ſich genommen, verräth am beutlichften, 
daß das Ganze nur Mythe if. Nach den bei Abfaffung 
des Evangeliums herrfchenden Vorftellungen mußte Sohanneg, 
als Sefu untergeordnet, zu deſſen Berherrlichung beftimmt 
fein; fie mußten ſchon frühzeitig in der innigften Verbindung 
mit einander geftanden haben; diefe aber fonnte durch Nichts 
anfchaulicher gemacht werden, als wenn fchon die Mütter 
der beiden Propheten in eine Berührung mit einander kamen, 
bei welcher fchen die Mutter des Sohannes vor der Mutter 
Jeſu ihr Haupt demuthsvoll neigte.e Daher der Beſuch 
im Ganzen; einzelne Züge als hiftorifch fefthalten zu wollen, 
hieße den Charafter meffianifcher Miythen ganz verfennen; viel 
mehr mußte dieſe gewilfe VBorausfekungen machen, deren fie 
als Grundlage bedurfte. Wir müffen alfo nicht nur den Be⸗ 
fuch der Maria, fondern auch ihre nahe Verwandticaft mit 

J. 7 


96 

allerbings Jeſu Brüber geweien, als die wahrfcheinfichke, 

zurückgeworfen, und haben feinen Grund zu läugnen, daß 
Maria ihrem Gatten nody mehrere Kinder geboren habe; 

Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf die verfchie 

denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei folcher Gleich⸗ 

namigkeit nicht feltene, Verwechſelung, zumal bei münblicher 

Ueberlieferung, erzeugt worden fein. 





An die Verkündigungen des Johannes und Jeſus ſchließt 


ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifabeth an, deſſer 


Darftellung bei Lukas C1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen „ 


mit vielen wunderbaren Zügen durchwebt iſt. Zwar glauberz 
bie natürlichen Ausleger mit diefen feicht fertig zu werben. 
„Der linbefannte, welcher Maria befuchte (ſ. S. 90.), hatte 
ihre auch die unerwarteten Hoffnungen der Elifabeth mitgetheilt 
(DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu 
befuchen. Sie thut es, fommt an, und erzählt ihr vorerft das 
ihr zu Theil gewordene Glück, wodurch Etifabeth in hohe Bes 
geifterung verjeßt wird; dieſe Gemüthsbewegung theilt ſich 
dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches deßhalb eine 
hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bedeutfames 
Zeichen erblickt und mit begeilterten Worten die Maria anres 
bet (V. 40 2c.).“ Allein erſtlich hat ja, unferm Berichte zus 
folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß 
bin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend 
einer Erzählung der Maria, die den Worten der Eliſabeth 
vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges 
müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der 
Bewegung des Kindes, wenn man den orten nicht Die größte 
Gewalt anthun will (gl. nach V. 44). Eben fo wenig bes 
friedigt die natürliche Erflärung des Tobgefanges der Maria 
(BD. 46 0): „Maria wird durch Elifabeth in ihren meſſiani⸗ 
ſchen Erwartungen beftärft, und wird dadurch gleichfalld bes 
geiftert.“ Wie ift es doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei 
einem Befuche der einen, ftatt ſich zu unterhalten, in begeifterte 
Gefänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen 
Anläffen, natürlichen Gefprächsform entfagen? 


99 

unter Auguſtus willen wir durchaus Nichts; Stellen, die 
man dahin hat deuten wollen, beziehen fidy nur auf Stalien. 
Ehen fo unzuläffig ift eg, Die Worte, welche das Neid, bes 
zeichnen (wörtlich nach dem Griechifchen: „Das ganze bewohnte 
Land“) auf das jüdifche Land zu befchränfen, und unter 
„Befehl“ nur eine Abficht, ein ausgedrüdtes „Beltreben“ zu 
verftehen. 

DD Sn Sudäaa insbefondere Fonnte aber damals) als 
Jeſus geboren wurde, feine römifche Schakung vorgenoms 
men werden; denn nad Lukas eigenen Berichten regierte das 
mals noch Herodeg (1, 5), worin ihm Matth. 2, 1 beis 
flimmt, und fein Sohn und Nachfolger ward erft nach zehn⸗ 
jähriger Regierung von Auguft verbannt, worauf Judäa 
römiſch wurde. Nun waren zwar bie damaligen jübifchen 
Könige, wie manche andere, den Römern fchon zinsbar: 
allein eine Schatzung ftellten diefe doch nur in ihren eigenen 
Provinzen an. Daß hievon unter Herodes eine Ausnahme 
gemacht worden, läßt fid) durchaus nicht erweifen. 

3) Es war damald Quirinus gar nicht Statthalter in 
Syrien, -fondern erft lange Zeit nad) Herodes Tode; diefer 
ftelfte in Sudaa allerdings eine Schakung an, aber erft etwa, 
sehn Sahre nach Sefu Geburt. 

Diefe Unrichtigfeiten laſſen fidy weder durch die ganz will 
führliche Annahme, Berg 2 fer ein fpäterer Zuſatz, noch durch 
gewaltfanie Aenderung der Worte, noch durch fprach- und 
fachwidrige Erflärungen wegbringen. Wollte man auch, allen 
übrigen Berichten zum Troße, annehmen, Jeſus fei wirflich 
nicht unter Herodes, fondern zu Quirinus Zeiten geboren, 
ſo war ja auch damals nur Sudäa, wo Bethlehem lag, 
nicht auch Galiläa römifche Provinz, und Sofeph von Nas 
zareth, eines Königs Unterthan, hatte nichts bei der Schabung 
in einer Provinz zu thun. 

Endlich mußte jeder Jude zwar bei einer jüdifchen 
Schakung in feinem Stammorte fich einfchreiben laſſen, 
nicht aber bei einer römifchen, und es war alfo überhaupt 
fein Grund vorhanden, weßhalb Joſeph, obgleich Davide, 
hätte nadı Bethlehem wandern follen, wie V. 3 und 4 er- 
zählt wird. 


100 | 

Geftehen wir alfo ein, daß die Reife nad) Bethlehem ein 
Erzeugniß der Mythe ift, die, der Weiffagung Micha 5, 1 
zufolge, Jeſum mußte an jenem Ort geboren werden laſſen: 
um eine folche Reife wahrfcheinlich zu finden, knüpfte man fle 
an die berühmt gewordene Schakung des Duirinus an, 
von welcher man zur Zeit der Abfaffung unferes Evangeliums 
nur noch unbeftimmte Kunde im Lande hatte, und die Der 
Zeit nach ohngefähr mit der Geburt Jeſu zufammentraf. 
‚Finden wir alfo im weiteren Verlauf der Unterficchung feine 
weiteren Beweife, fo haben wir in unferer Stelle Feine 
Bürgfchaft dafür, daß Jeſus in Bethlehem geboren worden. 


Unfer Evangelift indeß erzählt, ganz folgerichtig fortfah⸗ 
rend, in V. 6— 20 die wirfliche Geburt in Bethlehem, und 
zwar ausgefchmüct mit Dem wunderbaren Zuge, daß Engel - 
diefelbe den Hirten auf dem Felde angezeigt haben. Noch 
weiter gehen die apofryphifchen Evangelien, Taut welchen Mas 
ria ſchon auf dem Mege in der Nähe von Bethlehem unter 
wunderbaren Unftänden von Geburtswehen überfallen wurde, 
und in einer Höhle Cwährend unſer Lufas nur eine Krippe 
in Bethlehem nennt) ohne Verletzung der Sungfraufchaft 
gebar. 

An der buchſtäblichen Erklärung des Berichtes von 
Lukas mit den Supranaturaliften feftzuhalten, hat mancherlei 
Echwierigfeiten. Abgefehen von dem, mag fihon oden ©. 73 
über Engelerfcheinungen im Allgemeinen bemerkt worden, find 
wir nicht im Stande, hier in unferm befondern Falle einen 
gotteswürdigen Zweck dieſes Wunders heranszufinden. Sollte 
dadurch die Geburt Jeſu allgemein befannt werden? Aber 
Diefer Zwed wäre ja von Gott verfehlt worden; denn, um 
nur das Nächite anzuführen, fchon die Magier (ſ. unten) 
mußten erft in Serufalem nachfragen, wo' Jeſus geboren wor⸗ 
den. Sollten die Hirten in ihren meffianifchen Hoffnungen 
keftärft werden? Auch davon, daß dieß wirklich erreicht wor⸗ 
den, eben fo wenig eine Spur, ald davon, daß gerade fie 
fo befondere Erwartungen der Art gehegt hätten. 

Im Gegenfatse zu diefer Auslegung erklären die Rationaliften 
Alles für einen ganz natürlichen Vorfall. „Die Hirten 


101 


hatten der Maria gaftfreundliche Aufnahme gewährt, von ihr 
erfahren, welcher feligen Hoffnung fie fich erfreute, brachten 
fodann die Nacht auf dem Felde zu, bemerften hier eine im 
Morgenlande nicht feltene feurige Lufterfcheinung, deuteten dieß 
als eine Gottesbotichaft, daß die fremde Frau den Meſſias 
wirflidy geboren, und hielten fofort die glänzenden Lichtftrah- 
len für Engelfchaaren.“ — Allein wie ift e8 benfbar, daß 
Maria, die früher fo fchweigfam war, und felbft ihrem Ver⸗ 
Iobten von ihren. Hoffnungen nichts mitteilte, daß fie dieſe 
Hoffnungen nun fogleich ganz fremden Hirten eröffnet haben 
ſoll? Wo ift eine Spur davon in unferer Erzählung, daß fie 
überhaupt von dieſen gaftfreundlich aufgenommen worden? 
feinen nicht vielmehr die Worte: „Und e8 waren Hirten 
(ganz unbeftimmt gefagt!) in diefer Gegend“ diefer Annahme 
ſtillſchweigend zu widerfprechen ? 

Andere erklären daher die Engelerfcheinung in unferer Ers 
zaͤhlung mit Recht für eine aus den Zeitvorftellungen hervors 
gegangene Mythe; irren aber darin, daß fie als Thatfache 
fefthalten, Maria habe wirklich in einem Hirtenftalle in Beth- 
lehein gewohnt, und in einer Hirtenwohnung fei Jeſus geboren, 
Denn haben wir einmal die Reiſe zur Schatzung nadı Beth 
lehem als mythiſch erkannt, fo kann das Herbergen in einem 
Stalle gar nicht mehr als Thatfache betrachtet werden, weil 
ed fich einzig aus einem ganz ungewöhnlichen Zufammenftrömen 
bon Fremden erklären laßt. Andererfeits finden fich aber in 
den Zeitvorftellungen und in altsteftamentlichen Borbildern aud) 
‚für dieſen Theil der Erzählung Gründe genug, welche vers 
anlaffen konnten, denfelben zu erdichten. Sn Berborgenbheit 
mußte der Mefftas, fo dachte man, geboren werden, um vor 
den Nachftellungen der Pharifäer ficher zu fein. Kerner läßt 
die alte Welt überhaupt in ihren Mythen den Hirten und 
- Randleuten am liebjten göttliche Erfcheinungen zu ‘Theil wer: 
den; von Hirten werden Götterfühne erzogen, 3. B. Roms 
lus u. fm. Im Veiondern bot fi noch das Vorbild Dee 
Mofes dar, der bei den Heerden himmlifche Erfcheinungen 
hatte (2 Mof. 3, 1 ꝛc.) und David, des Meffias Ahnherr, 
war von den Neerden weg zum Könige des Volkes berufen 
worden (Pf. 78, 70 ꝛc.). Die Nadıt aber bildet in tem 


102 


dichterifchen Gemälde den dunfeln Hintergrund, von dem bie . 
„Herrlichkeit des Herrn“ doppelt glanzvoll zurückſtrahlt. 

Wenn man gegen diefe mythifche Auffaflung einwendet, 
bie Erzählung fei zu einfach und zu wenig dichterifch ausge⸗ 
fhmüct, fo antworten wir darauf: „ Die mythifche Poefte 
legt das Dichterifche in den Stoff der Erzählung, und kann 
daher in ganz fehlichter Form, ohne allen Aufwand von Kunft, 
erfcheinen. * Eben fo wenig Gewicht hat die Behauptung, 
daß die ganze Erzählung doch nicht aus Nichts zufammens 
gefloffen fein könne; dieß ift fie auch nicht, vielmehr aus den 
Thatfachen, daß die dee, der Meffias müffe in Bethles 
hem geboren worden fein, und die Borftellung, die Hirten 
werben des Verkehrs mit dem Himmel befonders gewürdigt, 
im jüdifchen Volke herrfchend wareu. 

Die kurze Nachricht von der Befchneidung Sefu (2, 21) 
rührt ohne Zweifel von Semanden her, der, ohne wirkliche 
Nachricht von derfelben zu haben, fie als ſich von felbit vers 
ftehend vorausfeßte; „die angebliche Beftimmung des Namens 
„Jeſus“ (vgl. Luk. 1, 315 Matth. 1, 21), ſchon vor feiner 
Geburt, gehört auch nur zu der mythifchen Einkleidung der 
Erzählung *, wie dieß fchon ganz aͤhnlich von Iſaak, Ismael 
und Sohannes erzählt worden war. 





Stebentes Kapitel. 


Beſuch der Magier und Bethlehbemitifcher Kinder: 
mord. 


(Matthäus 2.) 


Auch Matthäus führt den neugebornen Meffias auf feiers 
liche und wunderbare Weiſe bei den Menfchen ein, jedoch durch 
eine ganz andere Erzählung, ald Lukas; nämlich durch die 
von dem Befuche der Magier aus Dften (Matth. 2, 
1—12.) Hier ift ed ein Stern, der fie zu dem Kinde hins 
führt; und ihre Verehrung fpricht ſich durch koſtbare Ges 
fhenfe aus ihrer Heimath aus. Während bei Lufas Alles 
einen heiteren Ausgang gewinnt, endet dieſe Erzählung mit 


| 


103 

dem blutigen Kindermord, dem Sefus nur durch Die Flucht 
nach Aegypten entgeht. Beide Erzählungen können nicht neben 
einander beitehen; denn wenn wirflidy Die Engel bei Lukas fo 
laut die Geburt Jeſu verkündet hatten, fo mußte Diefelbe in 
dem nur 2— 3 Stunden entfernten Serufalem fchon vor den 
Magiern befannt fein, was aber nach Matth. 1, 4, 5 nicht 
der Fall war. Indeß können wir, da wir bereits des Lukas 
Erzählung als eine Mythe erfannt haben, umgeftört die Des 
Matthäus nun blos für ſich betrachten, und fragen: „Enthält 
fie vielleicht wirkliche Thatfachen oder auch nur Mythe?“ 

Sie ſetzt, um bei dem Allgemeinen zu beginnen, den Glau⸗ 
ben voraus, daß die Geburt großer Maͤnner und andere wich⸗ 
tige Ereigniffe in der Menfchenwelt durch Erfcheinungen am 
Sternenhimmel angezeigt werden (V. 2); eine Borftellung, 
die wir laͤngſt als Aberglauben anfahen. Wie Fonnte nun 
hier die Deutung aus den Sternen, gegen alle fonftigen 
Erfahrungen, zutreffen? Etwa durch wunderbare Beranftals 
tung Gottes? Aber hätte er dann nicht für lange, lange 
Zeiten jenen Aberglauben, fomit die Unmwahrheit, auf sehr 
nachtheilige Weiſe unter den Menſchen felbit befördert? Oder 
durch Zufall? Dann fällt aber das Wunderbare ganz weg; 
die Erzählung verdiente feine Stelle im Evangelium. Hierzu 
fommt noch die offenbar falſche Auslegung der Propheten- 
Stelle Micha 5, 1 (V. 5 und 6), welche von den Prieftern in 
Serufalem auf die Geburt des Meffiad gedeutet wird: denn 
mag auch das hebräifhe Wort,in diefer Stelle, das „Herr 
fher“ bedeutet, vom Mefftas zu verftchen fein, fo fagt fe 
doch weiter Nichts, als daß er aus Davids Gefchlecht kom⸗ 
men werde, deſſen Stammort befanntlic, Bethlchem war. Hat⸗ 
ten e8 aber die Priefter mit ihrer falfchen Auslegung doch 
getroffen, fo wäre das wieder ein Zufall. 

Auffallend it es ferner, daß Herodes, als die Magier ihm 
die Geburt des Meffias melden, fie fogleich nach der Zeit 
fragt, in welcher der Stern erfchienen fei CB. 7): warum 
dieß? Dffenbar, um des Kindes Alter zu erfahren, und zu 
wiffen, welche Kinder er zu ermorden habe, wenn er des 
rechten nicht verfehlen wolle; allein dieſen fcheußlichen Plan, 
alle Kinder dieſes Alters zu ermorden, faßte er erſt damals, 


104 


- als er fah, daß die Magier nicht wieder kamen (B. 16), wie 
er ihnen befohlen hatte, und er aljo Feine Kunde von dem 
Neugebornen erhielt. Iſt ed nun aber nicht undenkbar, 
daß er überhaupt durch einen folchen, feine Angft verrathens, 
den, Auftrag, nämlic wieder zu kommen, das Mißtranen 
gegen ſich rege gemacht haben follte, wodurch fein Plan ger 
gen das Kind vereitelt werden mußte? Dieß gefchah auch 
wirklich, und er mußte nun das entfegliche Blutbad unter fo 
vielen Kindern anrichten. War es nicht einfacher und ſiche⸗ 
ver, fogleich vertraute Boten heimlich nach Bethlehem zu ſen⸗ 
den, Die das unter fo außerordentlichen Umftänden °) geborne 
Kind leicht auffinden und wegräumen fonnten? Ber in dies 
fer Verblendung des Herodes eine befondere göttliche Fügung 
zur Rettung des Kindes erblikt, der verfündigt ſich gegen 
die Weisheit Gottes, die, einmal übernatürlich eingreifend, 
ein anderes Mittel gewählt haben würde, als das, beffen 
Dpfer nun viele unfchuldige andere Kinder wurben: konnte 
er nicht auf wunderbare Weiſe die Magier geräbezu nad) 
Bethlehem führen? 


Die Magier ziehen, ſo geht die Erzählung weiter fort, 
nach Bethlehem; der Stern erfiheint ihnen wieder (B. 9), 
geht vor ihnen her und bleibt gerade über dem Haufe ſtehen, 
worin ſich Sefus befand (V. 10). — Zwar bewegt ſich der 
Sternenhimmel fiheinbar um unfere Erde, aber von Oſten 
nach Welten, nicht von Norden nadı Süden, welches bie 
Richtung des Weges von Serufalem nad) Bethlehem ift. Aber 
auch Diefe fcheindbare Bewegung kann auf einem fo kurzen 
Wege gar nicht fo genau beobadıtet werden, Wie ein Stern, 
aber über einem Haufe ftille ftchen könne, da vielmehr alle 
ftille zu ftehen fcheinen, fobald der Wanderer Halt macht, 
dieß ift auch dann noch unbegreiflihh, wenn man mit einigen 
Kirchenvätern an einen ganz befonderen, von Gott eigens 
zu dieſem Zwecke gefchaffenen, Stern denft. Ein Engel 
kann ed auch nicht gewefen fein, fonft hätte ed Matthäus 
ficherlich gefagt, und ein Meteor noch weniger, weil dieſes 


8) Wie fie nämlich im zweiten Kapitel des Lukas erzählt werben. 


L 
ĩ 
[1 


103. 


sicht fo Tange Zeit andauern konnte, als zwifchen bem Aufs 
brauche der Magier aus ihrer Heimath und ihrer Ankunft in 
Bethlehem verfloß. — Diefes Stilleftehen über einem Haufe 
iR andy felbft den Supranaturaliften jo fehr im Wege, daß 
fie auf mancherlei Weife fich Frümmen, um ihm zu entgehen; 
da es mit verfücchten Sprachverdrehungen nicht gehen will, 
fo meint 5. 3. Olshauſen, die Magier haben mur Findlich 
naiv fagen wollen: „die Bewegung, in welche der Stern fie 
verfeßt, habe nun aufgehört, da fie das Maus gefunden; er 
fei gleidyjam ftille geſtanden!“ — 

Im Hanfe angelangt, überreichen die Magier dem Kinde 
föftfiche Gefchenfe, und nehmen fodann, durch einen Traum 
gewarnt, den Rückweg nicht über Jeruſalem. — Wären fie 
zur auch auf der Hinreife nicht dahin gekommen! denn Heros 
des erläßt nun den fchändlichen Befehl zur Ermordung der 
Bethlehemitiichen Knaben (8.16), und Sefus entgeht der 
drohenden Gefahr nur durch die Flucht feiner Aeltern nad 
Aegypten; indem dieß Matthäus erzählt, deutet er abermals 
ganz fälfchlich eine altsteftamentliche Stelle auf Chriſtus (2. 15). 
Nämlich die Worte im Hofea 11, 1: „aus Aegypten rief ich 


. meinen Sohn“ fünnen nur von der Befreiung der Sfraelis 
ten aus der Sflaverei in Aegypten verftanden werden, und 


der Prophet Fann gar nicht, auch nicht einmal nebenbei, an 
Jeſu Flucht in diefes Land gedacht haben, da in deflen und 
der Sfraeliten Berhältniffen, außer der zufälligen Gleichheit 
des Ortes, Alles verfchieden ift. Es kann demnach hier die, 
Ihon an fich fpielende, Anſicht von der Doppelfinnigfeit einer 
Prophetenitelle ihre Anwendung nicht finden. 

In Bezug auf die Bethlehemitifche Blutjcene felbft muß es 
ſehr auffallend erfcheinen, daß Fein anderer Schriftfteller ihrer 
erwähnt; nicht einmal Joſephus, der fo viel von Herodes 
berichtet. Nur Ein römifcher Schriftfteller aus dem vierten 
Sahrhundert erzählt von einem Herodiſchen Kindermord, vers 
mengt aber dabei die chriftliche Ueberlieferung mit dem Morde, 
den Herodes an feinem eigenen Sohne verübte. Auch hier 
wieder foll ein altes Drafel, dem Matthäus zufolge, in Er» 


- füllung gegangen fein (V. 17, 18): aber auch hier wieder eine 


durchaus irrige Auslegung! 


104 


ale er fah, daß die Magier nicht wieder kamen (B. 16), wie 
er ihnen befohlen hatte, und er alfo feine Kunde von dem 
Neugebornen erhielt. Iſt es nun aber nicht undenkbar, 
daß er überhaupt durch einen folchen, feine Angſt verrathen- 
den, Auftrag, nämlid; wieder zu fommen, das Mißtranen 
gegen fich rege gemacht haben follte, wodurch fein Plan ges 
gen das Kind vereitelt werden mußte? Dieß gefchah auch 
wirflich, und er mußte nun das entfesliche Blutbad unter fo 
vielen Kindern anrichten. War es nicht einfacher und ſiche⸗ 
rer, fogleich vertraute Boten heimlich nach Bethlehem zu fens 
den, Die Das unter jo außerordentlichen Umftänden °) geborne 
Kind leicht auffinden und wegräumen fonnten? Ber in dies 
fer Berblendung des Herodes eine befondere göttliche Fügung 
zur Rettung des Kindes erblidt, der verfündigt fi) gegen 
die Weisheit Gottes, die, einmal übernatürlich eingreifend, 
ein anderes Mittel gewählt haben würde, als das, deſſen 
Dpfer nun viele unfchuldige andere Kinder wurden: konnte 
er nicht auf wunderbare Weife die Magier geradezu nad 
Bethlehem führen? 


Die Magier ziehen, ſo geht die Erzählung weiter fort, 
nad; Bethlehem; der Stern erfiheint ihnen wieder (2. 9), 
geht vor ihnen her und bleibt gerade über dem Haufe ſtehen, 
worin ſich Sefus befand (B. 10). — Zwar bewegt fidy der 
Sternenhimmel fcheinbar um unfere Erde, aber von Oſten 
nach Welten, nicht von Norden nach Süden, welches die 
. Richtung des Weges von Serufalem nach Bethlehem iſt. Aber 
auch dieſe fcheinbare Bewegung kann auf einem fo kurzen 
Wege gar nicht fo genau beobachtet werden. Wie ein Stern. 
aber über einem Hauſe ftille ftchen könne, da vielmehr alle 
ftile zu ftehen fcheinen, fobald der Wanderer Halt madıt, 
dieß ift auch dann noch unbegreiflih, wenn man mit einigen 
Kirchenvätern an einen ganz befonderen, von Gott eigens 
zu dieſem Zwecke gefchaffenen, Stern denkt. Ein Engel 
kann ed auch nicht gewefen fein, fonft hätte ed Matthäus 
ficherlic, gefagt, und ein Meteor noch weniger, weil dieſes 


8) Wie fie nämlich im zweiten Kapitel des Lukas erzählt werben. 


103. 


siht fo lange Zeit andauern konnte, als zwifchen dem Aufs 
bruche der Magier aus ihrer Heimath und ihrer Ankunft in 
Bethlehem verfloß. — Diefes Stilleftehen über einem Haufe 
iſt auch felbft den Supranaturaliften fo fehr im Wege, daß 
fie auf mancherlei Weiſe fich Frümmen, um ihm zu entgehen; 
ba es mit verjuchten Sprachverdrehungen nicht gehen will, 
fo meint 3. B. Olshauſen, die Magier haben nur kindlich 
naiv fagen wollen: „die Bewegung, in welche der Etern fie 
verfegt, habe nun aufgehört, da fie das Haug gefunden; er 
fei gleichſam ftille geftanden!“ — 

Sm Haufe angelangt, überreichen die Magier dem Kinde 
köftfiche Geſchenke, und nehmen fodanı, durch einen Traum 
gewarnt, den Rückweg nicht über Serufalem. — Wären fie 
wur auch auf der Hinreife nicht dahin gekommen! denn Heros 
des erläßt nun den fchändlichen Befehl zur Ermordung ber 
Bethlehemitiichen Knaben (B.16), und Jeſus entgeht der 
drohenden Gefahr nur durch die Flucht feiner Aeltern nadı 
Aegypten; indem dieß Matthäus erzählt, deutet er abermals 
ganz fälfchlich eine altsteftamentliche Stelle auf Chriſtus (V. 15). 
Nämlich die Worte im Hofea 11, 1: „aus Aegypten rief ich 
. meinen Sohn“ fünnen nur von der Befreiung der Sfraclis 
ten aus der Sflaverei in Aegnpten verftanden werden, nnd 
der Prophet kann gar nicht, auch nicht einmal nebenbei, an 
Jeſu Flucht in dieſes Land gedacht haben, da in deffen und 
der Iſraeliten DBerhältniffen, außer der zufälligen Gleichheit 
des Ortes, Alles verfchieden tft. Es kann demmach hier die, 
ſchon an ſich fpielende, Anficht von der Doppelfinnigfeit einer 
Prophetenitelle ihre Anwendung nicht finden. 

In Bezug auf die Bethlehemitijche Blutſcene felbit muß es 
ſehr auffallend erfcheinen, daß Fein anderer Schriftfteller ihrer 
erwähnt; nicht einmal Sofephug, der fo viel von Herodes 
berichtet. Nur Ein römischer Schriftfteller aus dem vierten 
Sahrhundert erzählt von einem Herodifchen Kindermord, vers 
mengt aber dabei die chriftliche Ueberlieferung mit dem Morde, 
den Herodes an feinen eigenen Sohne verübte. Auch hier 
wieder foll ein altes Drafel, dem Matthäus zufolge, in Ers 
- füllung gegangen fein (V. 17, 18): aber auch hier wieder eine 
durchaus irrige Auslegung! 


106 


Nach Herodes Tode Fehrt Joſeph mit dem Kinde zurück; 
aber nicht nach Bethlehem, fondern nad; Nazareth in Gali⸗ 
län, weil über Judäa Archelaus, Herodes Sohn, herrfdhte. 
Zu diefem gedoppelten Entfchluffe treiben ihn abermal zwei 
Engelerſcheinungen im Traume. 

Die ganze Erzählung bietet ung alſo fünf wunderbare gött⸗ 
liche Anordnungen, einen Stern und vier Traumgefichte, wo⸗ 
rin wir einen unbegreiflichen Ueberfluß erblidien müffen. Die 
zwei letzten Traumorakel fonnten gar füglich in Eins zuſam⸗ 
mengezogen werben, und daß die Magier nicht zugleich mit 
dem Sterne auch die göttliche Weifung erhielten, Sernfalem 
nicht zu berühren, erfcheint und fogar ale die eigentliche Vers 
anlaffung des unmenfchlichen Kindermordes, und macht es 
und nur um fo fchwerer, an die Wahrheit biefer Traumge; 
fi ichte zu glauben. 

Endlich kann die den Schluß bildende abermalige Hinweis 
fung aufleine Weiffagung, „er fol Nazarener heißen“, nicht 
einmal recht verftändlich gemacht werden, fo viel Mühe man 
ſich auch damit gegeben hat. 





Die mancherlei Anftöße, die ein buchftäbliches Fefthalten 
diefer Gefchichte, als einer wunderbaren, darbietet, wegzu⸗ 
räumen, haben vorzüglich die natürlichen Ausleger viek 
fach verfucht, am beften Paulus. Diefer hält, um dem _ 
Unglaublichen, daß heidnifche Magier etwas von der Ges 
burt eines jüdifchen Königs follten wiſſen können, aus dem 
Wege zu gehen, — er hält die Magier für Juden, bie in 
Babylon wohnten, und auf einer Handelsreife auch nad 
Serufalem kamen; — „da fie im Lande von einem neugebors 
nen Könige fprechen gehört, fällt ihnen eine kürzlich gehabte 
himmlifche Erfcheinmg ein, und fie wünjchen, gelegentlich das 
Kind auch zu fehen.“ Allein daß fie Feine Tuben waren, 
fcheint doc, aus ihrer Frage: „Wo ift der junge König ber 
Juden?“, daß fie feine Kaufleute waren, aus der bes 
ftimmten Bezeichnung derfelben ald „Magier“, — und daß 
nicht Dandelsgefchäfte ihre Neife veranlaßten, aus der Eile 
hervorzugehen, mit der fie in Jerufalem fogleid) nad) dem 


107 


Kinde fragen, und dabei ald VBeranlaffung ihrer Reiſe den ım 
Morgenlande gefehenen Stern angeben (®. 2). — Aber nım 
weiter: eben dieſer wandernde und ftillftehende Stern, wie 
der zu deuten? Er foll fein Stern, fondern eine Cons 
fellation gewejen fein; merhvürdiger Weife fand nach 
nesern aftronomifchen Berechnungen eine folche wirklich ftatt, 
allein fieben Sahre vor Dem Sahre, welches als das Geburtsjahr 
Jeſu angenommen wird, und ebendiefelbe fol nad) der Rech⸗ 
nımg eines gelehrten Juden auch drei Sahre vor Mofe Geburt 
eingetreten fein, fo daß ihre Wiederkehr zu Herobes Zeiten 
wohl zu meffianifchen Erwartungen benüst werden formte. 
Allein aus vielen Gründen bleibt es fehr zweifelhaft, ob der 
„Stern“ des Matthäus wirklich jene Conftellation gewefen; 
um fo mehr, da auf eine folche Das „vorangehen“ und „ftille 
ftehen über dem Haufe“ eben fo wenig ohne den größten 
Zwang gedeutet werden kann, als auf einen wirklichen Stern 
(f. oben ©. 10%). 

Was die falfch gedeuteten altsteftamentlichen Stellen ans 
langt, fo foll eine folche Auslegung dem Matthäus gar nicht 
zur Laft fallen. Nicht er, fagt man, fondern nur die Schrift- 
gelehrten in Serufalem, haben Micha 5, 1 auf den Meffiag 
gedeutet; allein Matthäus flimmt ihnen Doch indirekt bei, ins 
dem er in feiner weiteren Erzählung dieſe Deutung beftätigt 
werden läßt. Die Stelle aus Hofea foll der Evangelift nur 
angeführt haben (f. S. 105) um durch Hinweifung auf das 
heilige Volk Gottes jedem Anftoße zu begegnen, den man da⸗ 
ran nchmen fonnte, daß der Meffias einft unter Heiden ges 
wohnt. Davon ſteht aber in der Erzählung fein Wort, und 
die Worte: „auf daß erfüllt würde“ (V. 15) heißen auch hier 
nichts Anderes, ald eben das, was fie heißen! — Die 
mehrfachen Traumgeſchichten endlich werden aus vorangegan⸗ 
genen Erfundigungen und Gedanken der Wachenden erflärt. 
Allein auch dagegen fträubt ſich der Text: dieſer läßt Die 
Nachrichten von der Abficht, und fpäter von dem Tode des 
Heroded, fo wie den Befehl, nadı Nazareth zu ziehen, den 
Betreffenden nur im Traume zufommen, und ftellt dieß offen⸗ 
bar ald eine wunderbare Eröffnung dar, was ja thöricht 
wäre, wenn die Träumenden es fchon vorher wuften, 


108 - 


Ehen fo ungeihidt, als diefe natürlichen Erflärungen, 
find die erften mythifchen Auslegungen, zu denen man ſich 
hingetrieben fah, ausgefallen, indem fie von jenen fich kaum 
unterfcheiden, und eine Reife morgenländifcher Kaufleute, eine 
Blutfcene in Bethlehem und eine Flucht nach Aegypten als 
wirflihe Facta ftehen laffen, zu denen die Sage fpäter das 
Wunderbare hinzugedichtet. Allein nimmt man der Erzählung 
einmal dieſes, alles Einzelne derfelben gar wohl verfnüpfende, 
Wunderbare, fo gibt fie uns. nur eine Reihe unbegreiflicher 
Zufälle, die wie zufammengewürfelt erfcheinen. Will man 
Dagegen mit einem neuern Supranaturaliften Die Reife Der 
Magier, die durch ihre Sterndeutungen zur Ahnung Des in 
Sudaa gebornen Erlöfers gelangt waren, den Kindermorb und 
bie Flucht als gefchichtlichen Kern felthalten, und das Uebrige 
anf fich beruhen Taffen, fo hat man das Vertrauen auf bie 
Treue des Erzähler doc fchon aufgegeben, ohne deßhalb 
auch nur den kleinern Theil der Schwierigfeiten zu entfernen. 
Soll aber einmal unbefangene Prüfung jtattfinden, fo muß 
fie eine Richtung einfchlagen, in welcher alle Räthfel ihre 
Löfung finden. 


Diefe Löfung finden wir nur, wenn wir die Erzählung als 
eine reine Mythe betrachten, hervorgegangen*aus den herrs 
fhenden meffianifchen Erwartungen. Den erften allges 
meinen Anhaltspunkt gibt und der Stern der Magier. So 
wie im Alterthbum überhaupt der Glauben verbreitet war, daß 
Geburt und Schickſale großer Männer mit Erfcheinungen am 
Sternenhimmel, Kometen, Gonftellationen ꝛc. in engem Zufams 
menhange ftünden (noch des Julius Caſar Tod ward mit einem 
Kometen in Berbindung gebracht), jo war es auch indbefondere 
rabbinifche Borftellung, ed werde bei der Geburt des Mefs 
fiad ein Stern im Oſten erfcheinen und lange fichtbar fein. 
Diefe Vorftellung fand eine ganz eigenthümliche Stüße in der 
Weiſſagung des heidnifchen Propheten Bileam (4 Mof. 
24, 1: „Ein Stern wird aufgehen aus Sfracl.“ Zwar 
ift hier mit „Stern“ nur bildlich ein großer Fürſt bezeichnet, 
und dag Drafel bezieht ſich auf irgend einen fiegreichen König 
Iſraels, wie ältere jüdifche Erklärer die Stelle auch wirklich 


109 


nahmen. Allein fpäterhin, als ſich der Glauben an Aftrologie 
inmer weiter ausbildete, nahm man jenen Ausdrnd buchftäb- 
ih und bezog die ganze Stelle auf den Meffias, wie aus 
Schriften der Rabbinen erhellt; und es mußte deſſen Geburt 
durch einen Stern voraus verfündet werden. War num aber 
Jeſus einmal von feinen Jüngern aus andermweitigen 
Grümden als der Verheißene anerfannt worden, fo mußten fie 
nach ihren jüdischen VBorftellungen als unzweifelbar annehmen, 
daß auch Diefes Zeichen an ihm in Erfüllung gegangen; je 
mehr Die Kindheit Jeſu ind Dunfel zurüctrat, um fo harm⸗ 
Iofer konnte diefer Glauben zur mythifchen Erzählung fich ges 
‚falten. Daß der Stern aber im Dften gefehen wurde von 
Magiern, mußte man um fo mehr annehmen, da hier die 
Afteologie recht eigentlich zu Haufe war, und Bileam, ber 
den Stern fo beftimmt prophezeit haben follte,-ja auch ein 
Magier war. 

Eben fo ergaben fich, nachdem einmal der erfte Keim der 
Mythe gegeben war, die einzelnen Züge desfelben gleichfalls 
aus andern auf den Meſſias bezogenen Stellen des alten 
Teftamentse. In Sof. 60 und Pf. 72 wird bei Schilderung 
der mefftanifchen Zeit hervorgehoben, daß die entfernteiten 
Könige nadı Serufalem kommen werden, um dem Mefftas mit 
glänzenden- Sefchenfen zu huldigen (man vgl. nur 3. B. Matth. 
2, 11 mit Sof. 60, 6); hieß es num in Sof. 60, 1 und 3: 
„Serufalem, dein Licht ift gekommen“, fo Tag ed nahe, anzus 
nehmen, Magier feien es gewefen, die, von dem Sterne 
angetrieben, mit herrlichen Gaben zum Mefftas gekommen. 
Daß der Stern nun auch ihr unmittelbarer Führer wurde, 
hat feinen Grund in anderweitigen Vorftellungen des Alter: 
thums, das fo viel von Leitfternen zu erzählen weiß, wie 3. B. 
dem Abraham ein Stern den Weg zum Moria zeigte. — Daß 
die Magier aber. zunächft nach Serufalem gehen, ergab ſich 
aus dem Slanze diefer Hauptftadt, und führte auf das Eins 
fachfte zu Dem bethlehemitifchen Kindermorde hinüber. Denn 
auch zu dieſem Theile der Mythe fand die urchriftliche Sage 
Antriebe genug. | 

Bon jeher hat die Sage die Kindheit großer Männer durd) 
Mordverfiche verherrlihtz die wunderbare Nettung aus vet 


110 


Gefahr verkündete ihre künftige Größe. So war, um von 
Eyrus, Romulus und Anderen zu fchweigen, auch Mofes Leben 
fchon frühzeitig durch königlichen Mordbefehl bedroht. In der 
einfachen altsteftamentlichen Erzählung 2 Mof. 1, 2 ift ed das 
bei zwar nicht insbefondere auf Mofes abgejchen; allein 
die fpätere Sage half auch in dieſem Punkte nach; denn 
dem Sofephus zufolge ward Pharao durch die Erflärung feiner 
Schriftdenter, e8 werde ein ifraelitifches Kind geboren werben, 
tas feinen Thron gefährbe, dazu veranlaßt; gerade wie Heros 
bes durch die Eröffnung der Magier. Ein ganz Aehnliches 
erzählt die rabbinifche Sage von dem Kinde Abraham. 
Darf es nun Wunder nehmen, dag auch die hriftliche 
den größten aller Propheten aus den Händen eined anderen 
Pharao wunderbarer Weife gerettet werden läßt? Weiß doch 
ein apofryphifches Evangelium eine nody winderbarere Rettung 
bes Knaben Sohannes zu erzählen! daß nämlich ein Berg ſich 
geöffnet und vor feinen Berfolgern ihn verſteckt habe. 

Daß Sefus gerade durch eine Flucht gerettet wird, mag 
feinen befonderen Grund in einer wenigftens ähnlichen Flucht 
des Moſes haben, nach 2 Mof. 4 Kap., deſſen V. 9 auffallend 
mit Matth. 2, 20 übereinftimmt; ihn gerade nach Aegypten 
fliehen zu laffen, lag nahe genug, weil diefes Land eine alte 
Zufluchtsftätte bedrängter Sfraeliten war. Diefer Grumd ift 
wenigftens haltbarer, als die Berufung des Matthäus auf Hoſea 
11, 1, welche Stelle wohl niemals auf den Meffias gedeutet 
worden ift. . 

Wenn man gegen biefe mythifche Auffaffung der Erzählung 
einwendet, daß Matthäus ja die Weiffagung des Bileam, aus 
‚ welchem der mythifche Zug von dem Sterne erwuchs, gar 
nicht erwähne und in den Magiern den Heiden eine zu große 
Bedeutung beigelegt werde, fo ift damit nicht viel gefagtz mit 
Letzterem nicht, weil fchon Die alt=teftamentlichen Stellen den 
Heiden diefe Bedeutung beilegen, die überdieß ja eine Huldi⸗ 
gung gegen den jüdifchen Meſſias ift. Auf das Erftere kann 
einfach erwidert werden, daß Matthäus die Mythe nicht felbft 
aus der Weiffagung des Bileam herausgefponnen, fondern 
fie nad) der Ueberlieferung, die diefe Wurzel abgeftreift haben 
konnte, nieberfchrieb. 


111 


Bergleichen wir endlich unfere Erzählung mit ber bei Luk. 2 
von dem Lobypreifen der Hirten cf. S. 100), fo müflen wir, 
wenn wir und nicht in große Widerſprüche verwickeln wollen, 
augeftehen, daß beide ganz unabhängig von einander entitanden, 
beide aber ein Beweis find, wie tief der meffianifche Ein- 
druck war, den Jeſus machte, da felbft der Gefchichte feiner 
- Kindheit nad) mehrfachen Richtungen hin die meffianifche 
Form, den vorhandenen Weiffagungen gemäß, gegeben wurde. 





Wir bemerften ſchon oben CS. 103), daß, während bie 
Geburtsgefchichte Jeſu bei Matthäus die fo eben betrachtete 
ängftliche Wendung nimmt, fie bei Lukas ganz friedlich mit 
der Darftellung im Tempel enden. Obgleich wir die Er⸗ 
zählungen des Meſſias als Mythen bezeichnen mußten, fo 
wollen wir doch nun noch näher das Z eitverhältniß diefer 
Darftelung zu dem Beſuche der Magier und der Flucht nach 
Aegypten, alfo das Verhaͤltniß zwifchen beiden Erzählungen, 
mmterfüchen. °) 

Dem Lufas zufolge fand die Darftellung nad) der ges 
feßlichen Zeit der Reinigung ftatt, alfo vierzig Tage nad) der 
Geburt; Matthäus feinerfeits beginnt die Erzählung von dem 
Beſuch der Magier ganz fo CB. 1), als ob zwifchen der 
Geburt und ihm nichts Bedeutendes vorgefallen wäre. Es 
ſetzten alfo viele Ausleger diefen Befuch vor die Darftellung; 
wobei nun die Frage entfteht: gehört auch die Flucht vor 
diefelbe, oder fteht diefe Darftelung im Tempel zwifchen 
Beſuch und Flucht? Dieß Lebtere ift unmwahrfcheinlich; denn 
auch beim Uebergange von dem Beſuche zur Flucht CB. 13) 
fpricht Matthäus, gerade wie oben V. 1, fo, als ob zwifchen 
Beiden gar nichts Erhebliches gefchehen wäre. Aber ganz 


9. Wir ftellen gleich hier zu Teichterer Weberficht Die einzelnen Er: 
eigniffe neben einander, wie fie möglicherweife als aufeinander 
gefolgt, angenommen werden Eünnten: 

1) Befuch der Magier, Darftellung im Tempel, Flucht. 
2) Befuch der Magier, Flucht, Darftellung im Tempel. 
3) Darftellung im Tempel, Beſuch der Magier, Flucht. 


u 112 


undenkbar ift ed deßwegen, weil alsdann Gott, nachdem durch 
die Magier das Leben des Kindes der Grauſamkeit des miß⸗ 
tranifchen Herodes Preis gegeben worden, was ja der Grunb 
der Flucht war, er ed zugelaffen hätte, daß Joſeph mit ihm 
nach Serufalem zur Daritellung im Tempel ging; wie ges 
fährlidy war dieß, zumal da nach Elifabeth der alte Simeon 
und die Prophetin Hanna durdy begeifterte Lobgefünge (B. 29 
und Ausbreiting der beglücenden Nachricht vom erfchienenen 
Erlöfer (V. 38) alle Welt auf das Kind aufmerkffam machten! 

Man ift alfo nothgedrungen, auch die Flucht noch vor 
die Darftellung zu feßen; allein dieß geht noch weniger. Denn 
unmöglich konnte fo viel, als hier vorausgefeßt wird, in vierzig 
Tagen gefchehen: Befuch der Magier, Flucht nad) Aegypten, 
Kindermord. in Bethlehem, Tod des Herodes, Rückkehr ans 
Aegypten. Anzunehmen, daß bis zur Darftellung im Tempel 
mehr, als die gefegliche Zeit verfloffen, ift gegen die Worte 
Luk. 2, 22: „AB verfloffen waren Die Tage ꝛc. nad) dem 
Geſetze.“ Ueberhaupt aber durfte Sofeph mit dem Kinde 
nach der Flucht eben fo wenig, ald vor derfelben, nad 
Serufalem gehen, da er bei feiner Rückkehr durch einen Traum 
angewiefen wurde, nicht einmal das Land Judäa zu betreten 
( Matth. B. 22), weil and) unter dem Nachfolger des Heros 
des, feinem Sohn Archelaus, Jeſus daſelbſt nicht ficher war. 

Diefer großen Schwierigkeit wegen feßen die meiften Theo⸗ 
Iogen Beides, den Bejuch und die Flucht, nach der Darftellung 
im Tempel. Dieß ſcheint auch darum natürlicher, weil Matthäus 
einen größeren Zwifchenraum zwifchen der Geburt und der 
Ankunft der Magier andeutet, indem er erzählt, Herodes habe 
die Kinder bis zu zwei Sahren tüdten laſſen; das Erfcheinen 
des Sterns ſcheint aber gleichzeitig mit Sefu Geburt gebacht 
zu fein. Dem gemäß wären Sefu Eltern mit dem neugebornen 
Kinde von Bethichem zur Darjtellung nach Serufalem gereidt, 
dann wieder nach Bethlehein, wo die Magier fie fanden; 
hierauf Flucht, Rückkehr und Niederlaffung in Nazaret. Wie 
durchaus unwahrſcheinlich es ift, daß fie nochmals nady Bethles 
hem gegangen, wird weiter unten zur Sprache fommen; aber 
auch jehon die Worte des Lukas CB. 39) find fo beftimmt, 
DaB wir fie gar nicht anders auslegen Dürfen, als fo: „uns 


113 


mittelbar von Serufalem gingen fie nad) Nazaret.“ Wäre 
auch Die Darftellimg dem Befuche der Magier vorangegangen, 
fo fonnte Jeſu Geburt nicht fo unbekannt fein, daß die Nach⸗ 
frage berfelben (nach Matth. 2, 3) allgemeine Beftürzung ers 


regt hätte. 


Es fcheint alfo unmöglich, die hier befprochenen Ers 
zählungen des Matthäus und Lukas mit einander in ins 
Hang zu bringen, und Eine wenigftens muß als ungefchichtlich 
aufgegeben werden. Wollte man, wie 3. B. Neanber thut, 
fih nur an die Worte des Evangeliften halten, fo könnte 
man fagen: „Gut; was der Eine erzählt, war allerdings dem 
Andern unbekannt, was aus den Worten hervorgeht; dars 
aus folgt aber nicht, daß es auch nicht gefchehen fei.“ 
Allein damit werben die oben dargelegten Widerfprüche, Die 
in der Sache felbft liegen, nichts weniger, ald entfernt; und 
wir müffen vor der Hand Dabei verbleiben: „ine der Er⸗ 
zäblungen muß eine Mythe fein.“ Die des Matthäus haben 
wir fchon als folche erfanntz; es bleibt und nun noch eine 
nähere Betrachtung der des Lukas, für fi; genommen, ohne 
Rückſicht auf Matthäus, übrig, um nachzufehen, ob nicht auch 
diefe als Mythe ſich herausſtellt. 


Em m 


Achtes Kapitel 


Jeſu Darftellung im Tempel und Wohnort feiner 
Eltern. 


(Luk. 2, 22—405 vgl. mit Matth. 2.) 


Auf den eriten Anblick fcheint diefe Erzählung eine natür- 
lihe Auslegung gar wohl zuzulaffen. Durch ein zweifaches 
Gefeß, das der Reinigung der Mutter und das der Loss 
faufung des erfigebornen Sohnes, werden Jeſu Eltern in 
den Tempel geführt. Hier treffen fie einen frommen Mann, 
den Simeon, der, noch in feinem hohen Alter ganz von 
meffianifchen Hoffnungen durchdrungen, das Bertrauen nährte, 
vieleicht durd, einen Traum beftärft, er werde vor feinem 
Ende noch den Berheißenen ſchauen; Die Schönheit des Kuoben 

1. 8 


AM — 


mochte ihn anziehen; -er erfuhr von Maria beffen Dawibifche- 
Herkunft, und diefe erzählte ihm, da fie feine Theilnahme be⸗ 
merfte, die außerordentlichen Ereigniffe, die fein Eintreten iw 
die Welt begleitet hatten. Dieß Alles feuert die meffianifchen 
Erwartungen des Greifen an, und, überzeugt, daß fie an 
diefem Kinde in Erfüllung gehen werden, ergießt er ſich in 
begeifterter. Rede. Auf ähnliche Weiſe könnte man fich bie 
Aufregung der geiftesverwandten Hanna denfen ‚ welche ja 
die Reden Simeond gehört hatte. 

Allein näher betrachtet, verräth ſich und der ganze Her 
gang doch ald ein wunderbarer. Daß Maria dem Simeon 
irgend eine Eröffnung gemacht, davon finden wir feine Spur; 
vielmehr verrathen die Worte: „ber heilige Geift war in ihm“, 
deutlich genug, daß der Erzähler es fo anfah, er habe durch 
deffen Kraft auf wunderbare Weiſe den Fünftigen Meffias 
fogleich erkannt. Einem noch weiter ausmalenben apo⸗ 
kryphiſchen Evangelium zufolge war das Kind in diefem Augens 
blicke fogar von himmlifchem Glanze umfloffen. Allein ein 
Wunder überhaupt künnen wir, wäre ein folches auch an 
ſich zuläffig, fchon deßwegen hier nicht annehmen, weil es 
durchaus‘ feinen würdigen Zwed hätte. Diefer fönnte boch 
nur der fein, den Glauben an den Meffias zum Voraus 
zu begründen; von einem folchen Erfolge verräth aber Die 
fpätere Geſchichte Nichts; und einzig um die treue Zuverficht 
zweier frommen alten Leute zu belohnen, oder etwa nur ein- 
fach, das Jeſuskind zu verherrlicyhen, dieſe Zwede bei einem 
Wunder können wir unmöglich dem Allweifen zufchreiben. 

Es wird demnach auch diefe Erzählung, zumal da fie 
den Schluß einer gewiffen mythifchen Reihe bildet, für eime 
Mythe zu halten fein. Diefe Anficht wird ſchon durch die 
anffallende Aehnlichfeit derfelben mit der oben befprochenen 
Scene bei des Taufers Befchneidung unterftüßt, hinter welchem 
der Meffias felbft doch nicht zurückbleiben konnte. Es lag 
aber überdieß im Intereſſe der Sage, den göttlichen, in dem 
Meſſias wohnenden Geift ſchon bei dem Kinde gleichfam fo 
lebhaft durchbrechen zu laffen, daß ein gottbegeifterter Mann 
ihn erfanntes und wenn ein frommer Mann das Kind ſchon 
ehrfurchtsvoll in den Armen gewiegt, in ihm feine hohe Bes 


| 


115 


ſtimmung (8: 30, 31) erfannt und die Leiden vorher geahnet 


hatte (V. 34, 35), die ihm berfelbe bereiten würde, fo lag 


- darin ein befeligender Troſt für den Schmerz, den die fpätere 


Erniedrigung ihres Meffias in feinen gläubigen Anhängern 
erweckte. 

Wem die Erzählung als Mythe zu einfach erſcheint, der 
verfennt, was fchon früher entgegnet werden mußte, das We⸗ 
fen des Mythiſchen; — wer in der Beobachtung der gefeßs 
mäßigen Losfaufung eine Erniedrigung erblicdt, welche bie 
Mythe nicht würde habe ftehen laflen, der vergißt, welchen 
Werth auch Paulus (Cal. 4, 4) darauf legt, daß Jeſus uns 
ter bem Geſetze geboren worden, und daß Ssefus felbft in 
der Taufe ſich demfelben unterzieht. Daß aber neben ben 
prophetiichen Simeon noch die Prophetin Hanna geftellt 
wird, ift ganz im Weſen der Mythe begründet, welche eine 
gewiſſe Symmetrie liebt; der erfte bewillfommmnet den jungen 
Meſſias, die zweite breitet die frohe Kunde unter den Gläus 
bigen ang. 

Die Erzählung fchließt damit, daß der Knabe unter dem 
Segen Gottes im Geifte erftarfte. 


* 





Nachdem wir bisher die beiden Berichte über die Kindheit 
Sefu geprüft, fowohl jeden für fi, wie auch beide in ihrem 
Berhältniffe zu einander, wobei fich mehrfache Widerſprüche 
ergaben, bleibt und noch Ein Widerfpruch, auf den wir ſchon 
öfters im Vorübergehen geftoßen, noch näher zu betradhten 
übrig. Er betrifft den eigentlihen Wohnort der Neltern 
Jeſu. 

Lukas gibt ganz beſtimmt Nazaret als ſolchen an, wie 
aus 1, 26, — 1, 56, — 2, 4, — 2, 39 deutlich genug her⸗ 
vorgeht. Matthäus fagt mit aus drücklichen Worten darüber 
Kichts. Daher erklären die Supranaturalijten fich dahin, daß 
Matthäus gleichfalls Nazaret als folhen annehme, ihn aber 
nicht beftimmt bezeichne, weil es ihm um foldye Dertlichfeiten 
nicht zu thun fei, und er Nazaret und Bethlehem ald Wohns 
und Geburtsort nur da angebe, wo ſich eine mefltanifche 
Weiſſagung an denfelben knüpfe (vgl. Matth. 2, 9, 6 ums 


116 


2, 23). — Allerdings läge in dem bloßen Schweigen de — 
Matthäus fein Grund, anzunehmen, er fei anderer Meimmm, ; 
als Lukas; allein eine nähere Betrachtung wird zeigen, bau 
er vielmehr einen anderen Wohnort, nämlich Bethlehem; 
wenn auch nicht ausdrücklich nennt, Doch aber beſtimmt vor, 
ausfegt, und daher allerdings indirect Etwas barüber | 
ansfagt, und fomit dem Lukas widerfpricht. 

Schon aus dem Umftande, daß er Bethlehem als ben 
Drt angibt, wo Maria geboren habe, ohne irgend eine Ber« 
anlafjung anzugeben, die fie dahin geführt, wird es wahr 
fcheinlich, daß er denfelben für ihren Wohnort gehalten habe. 
Gewiß aber wird dieß dadurch, daß er den Engel dem Jo⸗ 
feph bei feiner Rückkehr aus Aegypten ausdrücklich befchlen 
läßt, er folle nicht nach Bethlehem gehen, fondern nach Ga⸗ 
liläa. Wozu diefe Weifung, wenn Sofepy fchon n Nazaret 
in Galtlaa zu Haufe war? Was hatte er noch in Bethlehem 
zu thun? Dffenbar fand ed Matthäus nöthig, noch einen 
befonderen Grund anzugeben, weßhalb Sofeph nicht nad 
Bethlehem gehen konnte. Auch lauten feine Worte B. 22 und 
23: „Er ging weg in die galtläifchen Bezirke, und ald er Das 
hin gekommen, fiedelte er ſich in Nazaret an“ fo, daß man 
sticht verfennen kann, Joſeph wollte zunächſt nur nach Ga- 
lilaa gehen, ohne den Drt zuvor zu fennen, wo er feine 
Wohnung nehmen wollte. So erzählt man nur von Jeman⸗ 
den, der in ein ihm fremdes Land zieht. 

Es laſſen fich alfo, beionders aus dem Grunde, daß eb 
ſich durchaus nicht denken läßt, wie Sefu Aeltern auch nur 
Neigung haben konnten, von Aegypten nach Bethlehem zurüde 
zufehren, wenn dieß nicht ihr Wohnort war, Matthäus und 
Lukas nicht mit einander in Lebereinftimmung bringen. Daher 
hat man andere Gründe fiir den anfänglichen Plan, wieber 
nad, Bethlehem zu gehen, gefucht. Juſtin der Märtyrer gibt 
an, es fei Joſephs Geburtsort geweſen; allein wenn bieß 
‚auch richtig ift, wie follte er auf einmal verfucht worden fein, 
ed auch zu feinem Wohnorte zu machen, da er ja nur ber 
Schagung wegen dorthin gegangen war? Und hätte Matthäus 
nicht wenigfteng vorübergehend erwähnen follen, daß Joſeph 
Jenes im Sinne hatte? — Ein apokryphiſches Evangelium 





117 


erzählt, Nazareth fei Wohnort der Maria, Berhichem ber 
Des Joſeph geweſen: er holte feine VBerlobte nach Bethlehem 
ab, und dieſe kehrte nad) der Geburt Jeſu wieder nad, Haufe 
zZurück. Allein nun fommt Lukas zu kurz, indem die Schatung 
als Grund der Reife wegfüllt, und es unbegreiflich bleibt, wie 
feiner Erzählung zufolge Maria in einem Stalle gebären mußte, 
wenn Sofeph in Bethlehem zu Haufe war. — Diefe Angabe 
haben Neuere darauf befchränkt, daß Joſeph die Abficht ge: 
Habt, ſich mit Maria an feinem Geburtsorte niederzulaffen, 
Darum alſo von dem Engel befonderd abgemahnt werden 
mußte, und diefen Plan Darauf wieder aufgegeben habe. 

Allein von einem folchen Plane weiß Lukas durchaus Nichte, 
und Alles, was fid, bei Matthäus auf einen Aufenthalt in 
Bethlehem bezieht, gehört Erzählungen an, die wir als rein 
mythifch erfannt haben, die alfo Nichts beweifen. — Unter 
Allen, welche eine Vebereinftimmung beider Evangelien foviel 
wie möglich zu retten fuchen, ift Neander am reblichiten, 
indem er eingefteht, daß Matthäus von der Reife nach Beth⸗ 
Ichem nichts gewußt, und daher irrthümlich Dasfelbe für Den 
Wohnort gehalten habe. Daß aber die Folgerung, die aus 
dieſem Zugeftändniß gezogen wird, beide Berichte feien im 
Mefentlichen, naͤmlich in dem Aufenthalte der Aeltern Jeſu 
in Bethlehem zur Zeit feiner Geburt einftimmig, irrig fei, 
wirb Folgendes Flar machen. 

Da dem Obigen zufolge die Wohnmgsveränderung bei 
Matthäus mit unhiftorifchen Angaben zuſammenhängt, und 
alfo auch mit dem Aufgeben diefer von felbft fällt, fo werden 
wir dem Lukas beiftimmen müſſen, der Jeſu Aeltern vor und 
nach deffen Geburt in Nazaret wohnen läßt. Dagegen bietet 
ung Lukas in der Schatzung ein ganz unhiftorifches Moment, 
welches Jeſu eltern veranlaßt haben fell, kurz vor veffen 
Geburt den Wohnort zu verlaffen, was an fich ganz unwahr⸗ 
fcheinlich iſt. In Diefer Beziehung ftimmen wir licher dem 
Matthäus bei, der Jeſum am Wohnorte der Acltern ge- 
boren werden läßt. Es ftellt ſich alfo deutlicher der Widers 
fpruch fo heraus: Beide Evangeliſten nehmen Bethlehem als 
Geburtsort Sefu anz danıı müffen feine Aeltern auch hier ge= 
wohnt haben; — beide geben als Wohnort feiner Aeltern 


118» 


Razaret anz dann muß er auch hier geboren fein. Dies 
fer Widerfpruch fcheint unauflöslich; wir müſſen aber nach⸗ 
fehen, nach welcher Richtung hin und gewichtigere Gründe 
ziehen, ob nad, Nazaret oder Bethlehem: denn Geburtsort 
und Wohnort dürfen wir num nicht mehr trennen 79. 


Einerſeits ftimmen nicht nur Lukas und Matthäus barin 
überein, daß Nazaret der Wohnort von Jeſu Neltern ges 
wefen, fonbern es wird dieß auch durch eine Menge von aus 
berweitigen Angaben beftätigt. ,„aliläer, Nazarener* find 
ftehende Beinamen Jeſu; als Nazaretauer wird er kenntlich 
gemacht (Luk. 18, 37), als folcher gering gefchäßt („Was 
kann aus Nazaret Gutes kommen?“ Joh. 1, 46); als folder 
noch am Kreuze bezeichnet (Joh. 19, 19); nach feiner Aufs 
erftehung verfünden ihn feine Tünger als Jeſum von Nazaret, 
und thun Wunder im Namen Des Nazareners; — Nazaret 
wird nicht nur als der Drt, „wo er auferzogen worden“ 
(Luk. 4, 16), fondern geradezu als feine „Vaterſtadt“ bezeich- 
net (Matth. 13, 345 Mark, 6, 1); — Nazarener endlich iſt 
lange Zeit. der Namen feiner Anhänger. In Nazaret alfo 
muß er fi lange Zeit aufgehalten haben; da er aber wäh. 
rend feines öffentlichen Lebens hier nur vorübergehend 
lebte (Luf. 4, 16), fo kann jener längere Aufenthalt nur in 
in feine Sugend fallen, wo er bei feinen eltern lebte, bie 
alfo bier gewohnt haben müffen: und zwar von jeher, ba 
fein gefchichtlicher Grund zu einer Wohnungsveränderung da 
ift. Alfo, werden wir fchließen, ift er auch hier geboren. 

Andererfeits aber geben beide Evangelien ebenfalls übers 
einftimmend an, daß Jeſns in Bethlehem geboren fei, 
eine Angabe, welche überdieß auf die durch eine Prophetens 
ftelle (Micha 5, 1) veranlaßte Erwartung geftügt iſt. Aber 
eben diefe Stüße ift fehr unficher! Denn „wo der Nachricht 
von einen Erfolge eine lange Erwartung deſſelben vorangeht, 


20, Da obenftehende Linterfuchung zu den vermwideltften gehört, was 
auch in unferer Darftellung noch fühlbar fein mag, fo mußte fie 
etwas ausführlicher behandelt werden. 


119 


da muß fchon- ein ftarfer Verdacht entſtehen, ob nicht die Er⸗ 
zählung,, daß das Erwartete eingetroffen fei, nur der Voraus⸗ 
fekung, daß es habe eintreffen müffen, ihre Entilehung vers 
danten möge. * Dieß ift um fo mehr der Fall, wenn jene 
Erwartung ungegründet it, bemnad, der Erfolg eine 
falfche Auslegung einer Weiffagung beftätigt haben müßte; 
wie wir oben bereits fahen. 

Diefe prophetiiche Grundlage benimmt alfo der Erzählung, 
ftatt ſie zu beitätigen, ihre Wahrfcheinlichkeit, wenn fie nicht 
durch anderweitige Zeugniffe geſtützt iſt. Dieß ift aber bei 
der bethlehemitiichen Geburt Jeſu durchaus nicht der Fall. 
Nirgends font im neuen Teſtament wird deren erwähnt, wir 
fehen Jeſum nicht in der geringiten Berührung mit Bethlehem; 
er beruft ſich niemals zum Beweife feiner Meffianität auf feine 
Geburt daſelbſt; ja fogar auch damals nicht, als das Bolt 
befwegen ungläubig war, weil er unicht aus Bethlehem ſtammte 
ob. 7, 42)! So oft audy Johannes erzählt, daß das Volk 
ihm als Nazarener gering fchäßte, jo fügt er doch nie zur 
MWiderlegung diefer Anficht Etwas hinzu; auch da nicht, als 
Rathanael aus demfelben Grunde Anftand nimmt, Jeſu nach⸗ 
folgen (Joh. 1, 46); — auch die Seinigen willen ihm kei⸗ 
ven andern Namen, als jenen zweidentigen des Nazareners, 
zu geben. Da alfo Fein gefchichtliches Zeugniß für, ja Mans 
dies gegen die Geburt in Bethlehem fpricht, — da Jeſu 
Aeltern unbezweifelt in Nazaret wohnten, und wir feinen Grund 
haben, anzunchmen, daß er nicht an dem Wohnorte feiner 
Yeltern geboren fei, fo können wir nicht umbin, feine Geburt 
in Nazaret ald gefchichtliche Thatfache anzunehmen. 


Wir finden alfo bei beiden Evangeliften Richtiges und Un- 
richtiges; Lukas hat darin Recht, daß er die Aeltern Sefu 
vor und nach der Geburt desfelben an demfelben Orte 
wohnen läßt, namlich, in Nazaret, irrt aber, daß er ihn an 
einem andern ald dem Wohnorte der eltern geboren wers 
den läßt; Matthäus hat darin Recht, daß er den Wohn- 
ort der Aeltern auch zugleich zum Geburtsort des Kindee 
macht, irrt aber, indem er als foldyen vor ber Geburt 


120. 


Bethlehem annimmt, und erſt nach derfelben Nazaret. Darin 
aber haben beide Unrecht, baß fie ald Geburtsort Jeſu Beth⸗ 
lehem angeben. Diefer Irrthum ging aus den jüdifchen 
Borftellungen, welchen fie nachgaben, hervor: die Wahrheit 
aber, bie durch Beider Berichte dennoch durchſchimmert, daß. 
Jeſus namlich feine ganze Tugend in Nazaret zugebracht, floß 
aus ber feftftehenden Thatfache, daß er überall der Nazaresas 
ner genannt wird. Indem Matthäus feinem ganzen Weſen 
nach mehr dem Zuge altsteftamentlicher Weiffagungen folgte, 
ließ er den vermeintlichen Geburtsort Bethlehem glängender 
hervors, feinen Wohnort Nazaret mehr in Hintergrumb 
treten; Lukas dagegen ward mehr von dem hiftorifchen 
Elemente angezogen, legte das Hauptgewicht auf Razaret, 
und knüpfte die Geburt in Bethlehem nur an ein zufällig 
eingetretenes, vorübergehendes Ereigniß an. - 

Wir fehen alfo, daß hier eine den Erzählern geftellte Auf⸗ 
gabe, nämlidy die hiftorifche Thatfache, daß Jeſus ein Nas 
zaretaner geweſen, mit der Forderung der meffianifchen Ers 
wartungen, daß er in Bethlehem geboren werden müfle, 
auf zwei verfchiedene, von einander abweichende Weiſen gelöst 
worden ift: ein Fall, ber öfters auch im alten Zeflamente 
vorfommt, wo 3. B. in einem und bemfelben Buche, im 
erfien Buch Moſis, der Name Iſaak auf dreifache Weiſe 
abgeleitet wird. 


Neuntes Kapitel 
Erfter TZempelbefuch und Jugendverhältniſſe Jeſu. 
CLuk. 2, 41— 52.) 


Aus der ganzen Jugendzeit Jeſu bis zur Taufe durch Jo⸗ 
hannes iſt nur Ein Ereigniß zu unferer Kenntniß gefomnten, 
nämlich fein Auftreten im Tempel zu Serufalem als zwölf⸗ 
jähriger Knabe, wovon ung Lukas eine anziehende und eins 
fache Erzählung gibt. Zwar ift diefelbe in mehreren ihrer 
Theile angegriffen worben, allein, wie wir bald fehen werben, 
mit Unrecht. 


121 


Zuerft hat man ben Aeltern Jeſu ed als Eorglofigfeit 
zum Borwurfe gemacht, daß fie von Serufalem abreisten, ohne 
ihn bei fich zu haben (V. 43, 44). Allein einen zwölfjährigen 
Knaben, ber im Driente fchon fo viel ift, als ein fünfzehnjähriger 
bei ung, haben feine Aeltern nicht mehr mit unausgefetter Aengſt⸗ 
lichleit zu hüten, zumal wenn er von fo ernftem Wefen ift, wie 
“wie uns Jeſum ſchon in diefem Alter denken müffen. War er 
alfo feinen Aeltern einmal aus den Augen gefommen, fo war 
es fehr natürlich, daß fie ihn bei ihren galifäifchen Freunden 
glaubten, ihn in der überfüllten, Hauptſtadt — ed war ja bie 
Zeit des Dfterfeftes — nicht mühfam und vergeblich ſuchten, 
fondern ihrer Caravane nadhreisten. 

Daß fie nach ihrer Rückkehr ihn unter den Lehrern im Tem⸗ 
gel „ſitzend“ fanden (V. 46), kann nicht befremden, da bie 
jübifche Weberlieferung, daß damals die Schüler der Nabbinen 
vor ihren Lehrern noch ftehen mußten, zweifelhaft ift. Auch 
darin, baß er bdenfelben nicht nur zuhörte, fondern fie auch 
„fragte“, darf man keinen Anftoß nehmen, wenn man es 
me nicht fo faßt, wie die Apokryphen, welche ihn feine Leh⸗ 
rer meiltern und gleichfam in allen Fakultäten ihnen Unterricht 
ertheilen Iaffen. Denn es war die Lehrweife ber Nabbinen, 
daß fie nicht nur felbft fragten, fondern auch den Schülern 
Fragen geftatteten. Ueberdieß wird, wahrfcheinlich nicht ohne 
Abficht, angedeutet, daß die Lehrer fich vorzüglich über Jeſu 
Antworten verwunderten (®. 47). Allein wenn auch felbft 
über feine Fragen die Lehrer in Erftaunen gerathen wären, 
jo wäre bieß bei einem genialen zwölf» Cfünfzehn=) jährigen 
Knaben nichts Unerhörtee. 

Etwas anffallender ift ed, daß Jeſus „inmitten der 
Lehrer * faß (V. 46), da doch fonft die Nabbinenfchüler „zu 
den Füßen“ ihrer Lehrer, d. h. auf Dem Boden faßen (Apo⸗ 
ttelgefh. 22, 3. Dürfen aber auch die Worte nicht andere 
genommen werben, als fo, daß er in gleichem Range mit 
ben Lehrern gefeffen, was indeß nicht fo ausgemacht ift, fo 
wäre dieß höchſtens ein ganz unmefentlicher verherrlichender 
Ausdrud. 

Auf die vorwurfsvolle Frage der Mutter (®. 48) antwor⸗ 
tete der Knabe: „Wiffer Ihr nicht, daß ich im Hauſe „mei: 


122 


nes“ Vaters fein muß?“ Damit bezeichnete er. Gott nicht 
im Allgemeinen als den Bater aller Menſchen, Cfonft hätte 
er „unferes“ Vaters gefagt), fondern ald ben feinen in 
ganz befonderem Sinne, weßhalb auch feine Aeltern ihn 
nicht verftanden (V. 50). Dffenbar deutet er mit dieſem Aus⸗ 
drucke auf feine Beitinmung zum Meſſias hin, ber in au 
zeichnendem Sinne „Sohn Gottes“ genannt wird. Daß ſchon 
der Zwölfjährige diefe Beſtimmung erkannt haben foll, kann 
und allerdings befremden; denn zwar kann fich das Bewußt⸗ 
fein eines inneren Berufes, 3. B. zum Dichter ꝛc., ber 
feinen Grund in ausgezeicneten Anlagen hat, fchon frühzeitig 
in manchen Knaben regen; die äußere Beftimmung aber, 
z. B. zum Staatsmann ꝛc., kann fchwerlich fo frühe ſchon 
auch dem reichbegabten Geifte Mar werden. Allein an eine 
folhe Außere Beſtimmung, wobei Die Aufgabe bed Meffias 
in allen ihren Beziehungen zu dem jüdifchen Voll, der mofais 
ſchen Religion ꝛc. in Betracht kommt, bat hier Jeſus auch 
wohl nicht gedacht, da ihm hierzu Kenntniſſe und Reife des 
Verſtandes noch fehlten. Vielmehr verrathen jene Worte nur 
ein lebendiges Gefühl ſeines inneren Berufes, mit feinem 
ganzen Weſen ſich Gott zuzuwenden, und das Bewußtſein, 
daß deßhalb Gott in ganz befonderem Sinne fein Bater fe: 
er fpricht alfo hier als Vorgefühl aus, was fich fpäter bei 
dem Manne zum klaren Bewußtfein feiner Stellung zur Welt 
ale Meſſias geftaltete. 

Unbegreiflich muß es für alle diejenigen fein, welche eine 
andere Anficht, ald wir, von den früheren evangelifchen Er⸗ 
zählungen haben, daß die Acltern Sefu jene Worte ihres 
Sohnes nicht verftanden (3.50). Denn der Maria nas 
mentlich war durch Engelerfcheinungen, prophetifche Neden und 
andere wunderbare Vorzeichen fo vielfach der meffianifche Be⸗ 
ruf ihres Sohnes verkündet worden, daß fie hier chen fo 
wenig, als bei der Begrüßung des alten Simeons (VB. 28), 
wo fie ebenfalls in Berwunderung geräth, hätte zweifelhaft 
fein. follen, was die, den Meffias bezeichnenden, Worte bes 
Deuten wollten. Wir können alfo in dieſem Erftaunen einen 
neuen Beweis dafür finden, daß all das Außerordentliche, 
was von der Geburt und früheften Kindheit Sefu erzählt wird, 


123 


nicht vorausgegangen fein kann. Eo denkbar nun auch für 
uns, nad, unferem mythifchen Standpunkte, Die Verwun⸗ 
derung der XAeltern ift, fo kann Doc, die gefchichtliche Wahr⸗ 
heit berjelben noch bezweifelt werden, da es die Sage liebt, 
ihre Perfonen nicht nur das erfte Dial, fondern auch bei jeder 
Wiederholung, über das Wunderbare in Erftaunen gerathen 
zu lafien, weil dadurch das Außerordentliche desſelben um fo 

auffallender wird. | " 


Wenn wir alfo auch in den einzelnen Theilen unferer Ers 
jäblung hier und da einige verfchönernde Pinfelftricye wahrs 
nennen können, fo gibt fie fi) Doch im Ganzen nicht ale 
mmhiftorifch zu erkennen; wir Dürfen demnach Fein beſonderes 
Gewicht darauf legen, daß ſich allerdings ein Intereſſe nachs 
weifen ließe, welches bie chriftliche Sage gehabt, eine ſolche 
Ecene zu erdichten. Denn bekanntlich werden fehr vielfäls 
tig von großen Männern auch die Fleinften Züge aus ihrer 
frühen Jugend, in denen ihr Geift fchon durchblitzte, aufges 
fucht und verfchönert; ja, wo fich foldye auch nicht finden, 
hinzugedichtet, wie dieß namentlich in der hebräifchen Gefchichte 
oft der Fall ift, 5 2. bei Samuel (1 Sam. 3) und vorzügs 
lich bei Moſes, der fchon als Kuabe weit über fein Alter 
hinaus entwidelt geweſen fein fol. Da überdieß das zwölfte 
Sahr, wie bei und etwa das vierzehnte, ald ber Wendepunft 
betrachtet wurde, wo der Knabe von dem Kindifchen zum 
männlichen Ernſte ſich hinzumenden beginnt, fo erzählt man 
gerne von diefem Lebensalter auffallende Proben befonderer 
Geiftesgaben, wovon bie fyätere jüdifhe Sage Beifpiele in 
Menge liefert. Man fönnte alfo allerdings behaupten: wußte 
man fchon in den erften Chriftengemeinden, daß bei Moſes, 
Samuel, Salomon, Daniel ıc. der göttliche Geift ſchon im 
zwölften Jahre jelbftthätig hervorgetreten, Eonnten fie fich ges 
drungen fühlen, auch in Diefem Punkte ihren Chriftus mit gleis 
chem Blanze- zu umgeben. Erinnert man fih, daß Lukas 
jeden wichtigen Moment in ber früheften Lebensgefchichte Jeſu, 
feine Geburt, Befchneidung, Darftellung im Tempel, mit herr: 
lichen Vorzeichen feiner Fünftigen Größe ausſchmückt, fo könnte 
wan dich auch von dem Endpunkte feiner Kindheit annehmen. 


124- . 


Allein da fo auffallende Dffenbarungen des inneren Lebens 
fchon in früher Jugend bei ausgezeichneten Menfchen wirklich 
nichts Seltenes find, und da es fehr denkbar ift, daß ber x 
Jeſu wohnende erhabene Geift nicht plöglich und erft im Dans 
nesalter zum Durcchbruche gekommen, jondern fchon frühe in 
eigenthümlicher Weife fich zu erfennen geben Tonnte, fo -haben 
wir fein Necht, unferer Erzählung die gefchichtliche Geltung 
abzufprechen. 





Diefer Tempelbefuch ift das Lebte, was wir von Jeſu 
Jugend willen; von da an bis zu feinem öffentlichen Auftreten 
‚ meldet ung fein Bericht Etwas. Da er nad Matth. 3, 13 
und Mark. 1, 9 zur Taufe von Nazaret ber Fam, fo müffen 
wir annehmen, daß er bis zu derfelben ununterbrochen, einzelne 
Reiſen abgerechnet, wie zu den Faften nach Serufalem, hier 
gelebt habe. Sein Vater war ein Handwerker Matth. 13, 
55), wahrfcheinlich ein Zimmermann; daß auch Sefus biefes 
Handwerk betrieben, können wir gleichfalld annehmen. Denn 
da wir, nach unfern bisherigen Unterfuchungen, Feine gefchichts 
liche Kenntniß von außerordentlichen Erwartungen haben, welche 
die Aeltern von ihm hegten, fo haben fie ihn ohne Zweifel 
feühzeitig zu den Gefchäften des Vaters angehalten, um fo 
mehr, da es jüdiiche Sitte war, daß auch der zu einer höhern 
Laufbahn Beftimmte ein Handwerk erlernte, wie ja auch Pans 
lus, der Rabbinenfchüler, ein Zeltmacher war (Apoftelg. 18, 
3). An einer Stelle, Mark.6, 3, wird er geradezu, wie fein 
Bater, ein Zimmermann genannt, was freilich Spätere laͤug⸗ 
nen, weil fie glaubten, es fei diefe Befchäftigung des Meffias 
unwürdig. | 

Sonderbar ift es überhaupt, welches Spiel die fpätere 
Sage mit dieſen Berufsverhältniffen getrieben. Bald fol 
Jeſus ein Wagner gewefen fein, wobei denn gar großer Werth 
baranf gelegt wird, daß er Pflüge und Wagfchalen, „Sinn 
bilder der Thätigfeit und ber Gerechtigkeit“, verfertigt habe; 
nach andern Nachrichten machte er Melfgefäße, Siebe und 
Käften, einmal felbft: einen Königsthron. Ein apokryphiſches 
Evangelium erzählt fogar, daß Jeſus feinen Bater, wenn biefer 


125 


an ben Drten umherging, wo er Arbeit hatte, begleitet, und 
das, was etwa zu lang oder zu kurz in des Vaters Arbeit 
ausgefallen war, durch bloßes Ausftreden der Hand in bie 
rechte Form gebracht habe. 

Ueber die Vermögens⸗Umſtände Sefu umd feiner Aeltern 
haben wir Feine ganz ficheren Nachrichten; daß feine Mutter 
bei der Reinigung im Tempel Tauben darbrachte (Ruf. 2, 
21), das Opfer der Armen, ließe mit Gewißhbeit auf dürfe 
tige Umftände fchließen, wenn wir ficher wären, daß nicht 
auch diefer Zug ein mythifcher wäre. Ueberhaupt war man 
bemüht, feine äußere Lage ald recht niedrig darzuftellen, weil 
dadurch feine göttliche Größe in um fo helleres Licht geftellt 
wurde. Daß er aber wirklich arm gemwefen, beruht auf feinem 
hiftorifchen Zeugniffe: denn feine eigenen Worte: Cich habe 
nicht) „mo ich mein Haupt hinlegen Fünnte* (Matth. 8, 20), 
beziehen fich wohl nur auf die Beichwerden feines meffianifchen 
Manberlebens. Aber auch für das Gegentheil, daß er naͤm⸗ 
lich wohlhabend gewefen, haben wir feine Zeugniffe. 





Noch weniger, als über die früheren äußeren Lebens- 
verhältniffe, wiffen wir über Sefu geiftige Entwidelung vor 
feinem öffentlichen Auftreten, und wir müflen uns in diefem 
Punkte nur mit Bermuthungen begnügen. Aus der fo eben 
betrachteten Reife laͤßt ſich wenigſtens der Schluß machen, 
daß Jeſus häufig mit feinen Achern zum Öfterfefte nad) Je⸗ 
rufalem gereist fein wird, wodurch er Gelegenheit erhielt, 
feinen Geſichtskreis zu erweitern, mit dem Zuftande bes über 
alle Länder zerftreuten jüdifchen Volkes befannt zu werden, 
und frühzeitig ſchon mag er auf dieſem Wege mit defjen Leis 
den und dem tiefen Berfalle feines religiöfen und fittlichen 
Zuftandes befannt geworden fein. 


Ob er die gelehrte Bildung eines Rabbi genoffen, läßt 
fi) aus unfern Evangelien nicht ermitteln. Allerdings wird 
er von feinen Süngern fehr häufig und felbit von dem vors 
nehmen Phariſäer Niko demus „Rabbi“ genannt GJoh. 3, 2); 
— man geitandb ihm das Recht zu, in der Synagoge Bars 


126 


träge zu halten (Luk. 4, 16); er felbft zeigt in feinen Neben, 

z. B. Matth. 5, 6 ꝛc. und 23, eine große Kenntniß Rabbi⸗ 
niſcher Lehrſätze und Mißbräuce; er felbft ſtellt ſich als einen 
für das Gottesreich gebildeten Schriftlehrer dar (Matth. 
13, 32); — allein alles dieß konnte auch ſtattfinden, ohne 
daß er fürmlich durch die Rabbiniſchen Schulen gegangen wäre- 
Sm Gegentheil ift es wahrfcheinlicher, daß dieß nicht ber 
Fall gewefen, da ihm feine Feinde, ohne daß er ihnen wider - 
ſpraͤche, vorwerfen, er habe die (rabbiniſchen) Wiffenfchaften 
nicht erlernt (Joh. 7, 15), und feine Landsleute, die Nazare⸗ 
taner, verwundert fragen: „Woher hat er dieſe Weisheit 
(Matth. 13, 59%“ Ä 


Bei ſolchem Mangel an beftimmten Nachrichten hat mar— 
von den verfchiedenen Standpunkten aus verfchiedene Muth⸗ 
maßungen aufgeftellt. Bon Seiten des Supranaturaliftis 
fhen war man fchon frühzeitig bemüht, alle äußeren Eins 
flüſſe und Bildungsmittel in der Vorjtellung fern zu halten, 
und feine. Erhabenheit ald das alleinige Werk feines göttlichen 
nur von innen heraus fich entwidelnden Geiſtes Darzuftellen. 
Damit hängt zufammen, daß man feine freie Selbitthätigkeit 
als ſchon ſehr frühzeitig gereift auszumalen fuchte; nicht nur 
in Bezug auf feine höheren Kenntniffe und Einfichten — den 
Apokryphen zufolge überfah er fchon lange vor dem zwölften 
Sahre alle feine Lehrer —; fondern mehr noch von Seiten 
feiner göttlichen, wunderbaren Kräfte in apokryphiſches 
Evangelium beginnt die Reihe feiner Wunder fchon mit dem 
fünften Jahre; ein Anderes gar mit der Flucht nach Agypten, 
auf welcher der Knabe höchit unchriftliche Strafwunder und 
kindiſche, wie bie Belebung aus Koth geformier Sperlinge, 
verrichten muß, und feine Mutter mit Windeln und Waſch⸗ 
waſſer feltiame Mirafel bewirkt. 


Unngefehrt fuchte man von rein natürlichem Stand» 
punkte aus die Einflüffe feiner äußern Umgebung, und feine 
Abhängigkeit von der aus ihr fließenden Belehrung und Steir 
gerung feiner Seelenkräfte möglichit hoch zu ftellen, Damit feis 
ner eigenen Kraft möglichlt wenig Verdienſt übrig bleibe. 
Dieß gefchah zunächft von den Gegnern des Chriſtenthums auf 


127 


eine hoͤchſt nmwürbige Weiſe in älterer Zeit. Da man inbeß 
‚nach damaliger Weltanficht dem Menſchen allein ohne frem- 
Den Beiftand wenig zutrauen konnte, fo mußte Jeſus feine 
höheren Einfichten und Kräfte, für die man die Mitwirkung 
des Goͤttlichen nicht einräumen wollte, böfen Geiftern und 
Zaubereien zu verbanfen haben. In Aegypten, bem Lande 
‚geheimer Weisheit, follte er fich Zauberfünfte angeeignet, und 
dann mit beren Hülfe fich für einen Gott ausgegeben haben. 


Erit in neuerer Zeit fonnte man ſich unbefangen nach 
ben Außern Bildungsmitteln, die ſich Jeſu in der Culturſtufe 
feiner Zeit und den Verhältniffen feiner Umgebung für die 
Entwidlung feines großen Geiftes darboten, umfehen, was 
dem auch mit mehr oder weniger Umſicht gefchehen it. 


„Die Grundlage feiner Bildung waren jedenfalls Die 
heiligen Bücher feines Volkes, deren eifriges und tiefbringens 
des Studium die in den Evangelien und aufbewahrten Reden 
Jeſu beurtunden*. Seine Erhebung über den befchränften 
- Gefichtöfreis des alle andern Völker verachtenden gemeis 
nen Ssudenthums und fein meffianisches Bewußtſein fcheint 
fi) in ihm insbefondere an der Hand bes Jeſaias und Das 
niel entwidelt zu haben. 


Großen Einfluß auf feine Bildung hat man häufig auch 
ben damaligen Sekten unter den Juden zugefihrieben. Von 
ben Pharifäern kam dieß wohl nur in negativer Beziehung 
behauptet werden, indem ihre Heuchelei und ihre fcheinheiliger 
Buchftabendienft dazu beigetragen haben mögen, fein höheres, 
göttliches Bewußtſein zu wecken und zu läutern, vermöge deffen 
er fpäter fo entfchieden gegen fie auftrat. Den Sadducäern 
bat man einen größeren Antheil an Jeſu Entwicelung zufihreis- 
ben wollen, weil er fie weniger in feinen Reden angriff. Dieß 
Lestere hat aber feinen Grund darin, daß dieſe Sekte nur in 
den höheren Ständen ihre Anhänger hatte; überdieß konnte 
ihre Kälte, ihr Unglaube an Fortdauer und - Geiſterwelt, Jeſu 
wenig zuſagen. 


/ 128 


Eine Zeitlang war ed eine Lieblingsidee, die Effener 
als die eigentliche Schule anzufehen, aus welcher Jeſus hers 
‚vorgegangen; auch glaubte man manches Geheimnißvolle in 
feinem [eben — feine dunkle Sugendzeit, fein Verſchwinden 
nach der Auferftehung, die räthfelhaften Geftalten bei der Bew 
klaͤrung ꝛc. — am natürlichften aus einem Zufammenhange mit 
den Ejjenifchen Bundesbrüdern erklären zu können. Allerbinge 
fimmen manche Lehren Chrifti und Gebräuche feiner erften 
Jünger auffallend mit Effenifchen zufammen, 3. B. das Bers 
bot des Eides; dad Dringen auf Treue und Friedfertigkeit; 
Gütergemeinfchaftz Verachtung des Neichthumd und Reifen 
ohne Vorräthe; gemeinfame Mahle; Verwerfung der blutigen 
Dpfer, u. 4. Dagegen weicht Das Chriftliche wieder von 
dent Wefen der Eſſener ab, deren gefchärfte Sabbathsfeier, 
Reinigungen, vielfache abergläubifche Gebräuche, Beibehalten 
der Engelnamen, Geheimthun und befchränfte Drdenseinrich- 
tungen ꝛc. fo fehr dem Geifte Jeſu widerfprechen, daß mir 
auch ihnen nicht mehr als mittelbaren und theilweifen Einfluß 
auf Jeſum zufchreiben können. 


Eben fo mag die an den hohen Feften gewonnene Bekannt⸗ 
fchaft mit gebildeten auswärtigen Suden, frommen Heiben- 
(Joh. 12, 20) wenigftend zur Erweiterung feines jüdifchen 
Gefichtsfreifes und zur Vergeiſtigung feiner Anfichten mitgewirkt 
haben. 


Doch alle diefe Unterfuchungen find von untergeorbnete 
Bedeutung! Jeder hohe, gewaltige Genius nährt den inneren 
Funken feines geiftigen Lebens an dem Stoffe, ben ihm bie 
Außenwelt bietet, und zieht ihn mit unmiderftehlicher Kraft in 
feinen Kreis hinein, um ihn zu eigenthümlichen Geftalten zu 
verarbeiten, in benen fic doch immer nur fein Geift, fein 
Weſen abdrüdt. Mag nun Sefus feiner Umgebung viel oder 
wenig verdanken, dieſes oder jenes; daß er in derfelben ger 
rade Das geworden, was er war, wird deßhalb nicht begreifs 
licher, fo wenig wie fein Berdienft dadurch herabgefegt wird. 
Der Schlüffel zu feinem Wefen liegt immer nur im ihm. 
Daher follte man jenen Fragen weder ein fo großes Gewicht 


129 


leihen, noch fo Angftlich umgehen, wie Beides von entgegen. 
geſetzten Seiten fo oft gefchieht. 

« Zur Umbildung einer Welt reichte feines der in feiner 
Zeit liegenden Bilbungselemente auch nur von ferne hin; den 
dam erforderlichen Gaͤhrungsſtoff konnte er nur aus ber Tiefe 
kmed eigenen Geiftes nehmen. * ' 





Eine Erfcheinung jedoch greift unferen Evangelien zufolge 
bedeutend in bie Thätigfeit Jeſu ein, naͤmlich die des Taufers 
Sohannes. Da indefien dieſe Einwirkung besfelben fchon 
in das öffentliche Leben Jeſu hinüber reicht, fo muß mit der 
‚ Betrachtung, feines Verhältniffes zw Johannes der folgende 
Wſchnitt eröffnet werben. 





4130 


Zweiter Abſchnitt. 
Das erfte Öffentlihe Auftreten Jeſu. 








Erfted Kapitel, 
Das Verhältniß Jeſu zu Johannes, dem Täufer, 


(Matth. 3, 112; Marl. 1, 2—9; &ut. 3, 1-18; Soh 1, 
19 — 31.) | 


Daß Johannes, deffen Geburt and Lukas ausführlich er 
zählt, als ein Täufer m der Wüſte aufgetreten, und auch 
Jeſus bei ihm fich habe taufen laſſen, erzählen alle Evan 
geliften; über die Zeit, wann dieß gefchah, fagen Johannes 
und Markus Nichts, Matthäus hat darüber eine fehr mm 
beftimmte, Lukas dagegen fehr beftimmte Angaben. 

Matthäus jagt, nachdem er fo eben C2, 23) die Ueber: 
fiedelung Joſephs nach Nazaret erzählt hat, ganz kurz: „Sr 
jenen Tagen fam Johannes — in die Wüſte“ ıc. 3, 1) 
Wollte man die bezeichneten Worte buchftäblich faffen, fi 
müßte er noch während der Kindheit Sefu zu taufen angefan 
gen haben, und man hätte ſich zwifchen feinem Auftreten um 
2.13, wo es heißt: „Damals begab ſich Sefus —- zu Se 
hannes * ꝛc. eine große Zwifchenzeit zu denken. Dieß ftreite 
aber ganz gegen die Anſicht bes Evangeliſten, der dem Täufe 
eine fo untergeordnete, nur auf Jeſum hinmweifende Stellun— 
gibt, feine Wirkſamkeit fo beftimmt ald eine Einleitung fü 
das Werf Jeſu hinftellt (V. 3 und 11), daß er ſich nur eine 
furzen Zwifchenramm zwiſchen Beider öffentlichem Hervortre 
ten gedacht haben kann. Es ift daher wohl am richtigften 
jene Worte nicht ftreng, fondern fo allgemein zu nchmen, ba 
fie, gerade wie bei Mof. 2, 11, etwas erft nach vielen Jah 
ren Eingetretenes bezeichnen. 

Sehr genau und auf mehrfache Weife beftimmt uf. 3, 
die Zeit, wo Johannes zu taufen begann: alle feine Angabe 


131 


laufen auf das Jahr 28—29 unferer Zeitrechnung hinaus. 
Kur Eine derſelben it mit allen übrigen völlig unvereinbar, 
nämlich die: „als Cyſanias in Abilene herrichte“. Nun 
fennen wir nur Einen Cyfanias als Fürjt von Abilene, und 
zwar. aus. Joſephus: diefer war aber fchon 34 Sahre vor 
Ehrifti Geburt ermordet worden. Man hilft fich daher, um 
bes Lukas Angabe zu retten, theils mit der Annahme, daß cd 
auch noch einen jüngeren Fürft Cyſanias gegeben habe, — 
was aber nicht nur unerwiefen, ſondern fogar fehr unwahr⸗ 
fcheinlich ift, da ihn Sofephus ohne Zweifel genannt haben 
würde, — theil® mit einer jener beliebten Wortverdrehungen, 
bie man fo gerne überall anmendet, wo in den Worten nicht 
ber Sim liegt, den man nun einmal in ihnen finden will. 
Wir müffen aljo, um ehrlich zu fein, einräumen, daß Lufas 
ſich hier geirrt, und, weil noch in fpätern Zeiten Abilene „Das 
Land des Cyfanias * hieß, angenommen habe, es müfje audı 
damals, ald Johannes auftrat, ein Eyfanias dort regiert haben. 





Ueber die Zeit, wann Sefus zur Taufe an den Jordan 
gefommen, wie lange vorher alfo ſchon Johannes getauft hatte, 
fagt Lufas Nichts, fondern gibt nur an, er fei Damals etwa 
dreißig Jahre alt gewefen. Könnten wir uns nun an Luk. 1, 
26 halten, wornach Sohannes ein halbes Jahr alter ald Jeſus 
war, — und wäre ed ausgemacht, daß auch ein Prophet 
wie Sohannes, gleich den Leviten (4. Mof. 4, 3, 47), erft 
nit dem dreißigſten Lebensjahre öffentlich, auftreten durfte, fo 
müßten wir annehmen, Johannes fei höchſtens nur ein halbes 
Jahr vor Jeſu Taufe als Täufer aufgetreten. Allein jenes 
Altersverhältniß zwifchen Beiden haben wir ald mythifchen 
Beitandtheil der Erzählung kennen gelernt, und dieje gefeßliche 
Beftimmung über die Propheten ift zweifelhaft; es hindert alfo 
Nichts, eine längere Wirkfamfeit des Zäufers vor Jeſu 
Ankunft bei ihm anzunehmen. Diefe jedoch ſcheint nicht im 
Sinne des Lukas zu liegen. Denn von ihm, der jede Zeit 
fo genau beftimmt (ſ. oben bei Jeſu Geburt), läßt fich nichr 
erwarten, daß er den Beginn der Wirkjamleit ded Johan⸗ 
nes fo forgfältig angegeben, den der weit widtigeren des 


* 


132 


Meffias aber umbeitinnmt gelaffen haben ſollte. Er muß. 
alfo Die Zeitbeftimmung jener auch auf Diefe bezogen, mithin 
angenommen haben, daß fie bald nadı berfelben eingetres 
ten fei. 

Daß aber Johannes nur fo kurze Zeit gewirkt haben. fo, 
hat man jehr unmahrfcyeinlich gefunden: Ex hatte, wie wir 
aus den Evangelien (Matth. 14, 2; 21, 26) und aus Jo⸗ 
fephus wiflen, fidy ein großes und dauerndes Anfehen erwors 
ben, hatte eine große Anzahl von Süngern (Soh. 4, 1), umb 
hinterließ befonders gebildete Schüler (Luk. 11, 1), bie- 
nach Jeſu Tode ald eigene Partei beftanden (Apoſtelg. 18, 
25; 29, 3: — alles dieß zu bewirken, reichte doch eine 
fleine Zeit, die kaum genügend war, große Aufmerkſamleit 
zu erregen, nicht hin. Dean hat daher nachgefehen, ob. fidh 
nicht eine längere Wirkſamkeit des Täufer nach Jeſu Aufs 
treten anbringen laffe. Nun fagt zwar Joh. 3, 24, baß er 
noch wirkte, ale Jeſus das erfte Paſcha während feines öffent⸗ 
lichen Lebens befuchte, und Luk. 7, 18 zufolge lehrte er wenig» 
ſtens noch zu gleicher Zeit mit Jeſu; dagegen ftellen Matthäus 
(4, 12) und Marfus (1, 14) die Sache fo, daß währenb oder 
kurz nady dem Aufenthalte Sefu in der Wüſte Johannes ges 
fangen genommen und Jeſus Dadurch veranlaßt worden, öffent⸗ 
lich, hervorzutreten. Jedenfalls it er längere Zeit vor Jeſus 
hingerichtet worden (Luk. 9, 95, Matth. 14, ĩ; Mark. 1, 16), 
und während des gehramtes Jeſu kann er feinen Anhang 
nicht fehr vermehrt haben, da diefer ihn fo fehr verdunkelte 
Goh. 3, 26 ıc., 4, D. — Ein anderer Ausweg, anzunehmen, 
daß Jeſus nach feiner Taufe noch eine Zeitlang im Verborge⸗ 
nen gelebt, und erft fpäter öffentlich aufgetreten fei, fo daß 
während dDiefer Zeit Sohannes, von jenem unverbunfelt, habe 
wirken können, ift noch unzuläffiger. Denn die feine Taufe 
begleitenden Wunder (vgl. 5. B. Matth. 3, 16) trugen ganz 
das Gepräge der Einweihung zu feinem Berufe, die Evans 
gelien geben zu bejtimmt zu erfeımen, baß er diefen fogleich, 
nach der einzigen, burch das Faften in der Wüſte bewirkten, 
Paufe angetreten, und Lukas laßt ihn, Apoftelg. 1, 22, von 
ber Taufe an mit feinen Süngern verfehren. 

Wenn aber auch jede diefer Annahmen den Darftelluns 


133 


gen ber Evangelien entgegen ift, fo fragt es ſich noch, ob 
dieſe Darftellungen auch der wirklichen Gefchichte ganz getreu 
geblieben find. Denn nachdem einmal der Täufer, wie es in 
ber erften Gemeinde geſchah, nur ald Vorläufer Sefu bes 
trachtet wurde, fo lag es nahe, fein Auftreten dem des Herrn 
felbft, welchem es zur Einleitung dienen follte, jo nahe als 
möglich zu rücken; noch mehr widerſprach es den herrfchenden 
Borftellungen, anzunehmen, daß Jeſus fich an Sohannes ans 
gefchloffen und fein Sünger geweſen wäre; hat es ſich auch 
wirklich jo verhalten, fo hat die Sage ohne Zweifel diefen 
Zug mit dem audgefireuten Glanze überdeckt. 

Wir müflen alfo es unentfchieden laffen, ob Johannes 
wirffich in fo kurzer Zeit, als die Evangelien anzunehmen 
nöthigen, fo Großes gewirkt habe, was keineswegs, nament⸗ 
fich in einer fo empfänglichen Zeit, undenkbar it, — oder ob 
‚eine. längere Wirkfamkeit vor oder nach Jeſu Taufe durch 
die den Lebteren verherrlichende Sage verbunfelt worben ſei. 

Dasfelbe gilt von dem Altersverhältniffe zwifchen beide ı 
Mämern. Da die Angabe des Lufad in diefer Beziehung 
c1, 26) mythifcher Natur ift, fo fönnen wir uns den So: 
hannes zwar allerdings ale Alter denfen, eben fo gut aber 
auch als jünger: denn ein früher Auftretender ‚muß nicht 
immer der Aeltere fein, und warum follte nicht auch ein Buß⸗ 
prediger, der die Dreißige (Luk. 3, 23) noch nicht erreicht bat, 
Eindruf machen fünnen? 





Sohannes, nach allen Schilderungen ein Nafiräer (vgl. 
Matth. 3, 4, 9, 145 11, 18) trat in der Wüſte als Pro⸗ 
phet auf und taufte im Sordan, worin Matthäus, Markus 
und Lukas übereinftimmen. Johannes widerfpricht nicht. Daß 
auch Lukas fich ihn in der Wüſte denft, geht, obgleich 3, 
2, 3 zn widerfprechen fcheint, doch aus 7, 24 deutlich hervor. 
Im Matthäus dagegen finden wir ben Fleinen Verſtoß, daß 
er die Wüſte als die Judäiſche bezeichnet, welche doc; fern 
vom Sordan liegt; indeß könnte die Wüfte am Sordan, ale 
Fortſetzung der Judäiſchen, auch noch dieſen Namen geführt 
haben. 


-134 


Das Taufen des Johannes war nicht and der ohne 
Zweifel nachchriftlichen ProfelytensZaufe hervorgegangen, fons 
dern ficherlich, wie ähnliche Wafchungen bei den Effenern, 
aus der Deutung bildlicher altsteftamentlicher Ausbrüde, 
in welchen vom jüdifchen Volke, wenn ihm Gott wieder gnäs 
dig werben folle, „Baden und Abmwafchen der Sünden “ vers 
langt wurde, 3. B. Jeſ. 1, 16: „Waſchet euch, werdet rein, 
entfernt das Böſe eurer Gedanken von meinen Augen.“ Hiezu 
kam noch die befondere jüdifche Vorftellung, daß die Sfraeliten 
Buße thun müſſen, ehe der Meffias erfcheine.. Daher 
ftimmen auch alle Evangelüten darin überein, daß bie Buße 
ein wefentliches Erforberniß bei der Taufe des Johannes ges 
wefen. Hiemit verbinden Lukas 3, 3 und Markus 1, 4 noch 
ganz ansdrüclich die Vergebung der Sünden, indirekt auch 
Matthäus, der 3, 6 an die Taufe das Betenntniß ber 
Sünden knüpft; wie auch fchen im alten Zeftament, 3. B. 
Ezechiel 36, 25, das Abwaſchen zugleich ald Befreiung von 
den Sünden gefaßt wird, ald Vergebung. 

Zugleich aber ftellte Sohannes feine Taufe in Verbindung 
mit dem Eintreten des „Himmelreiches“, d. h. mit der 
Erfcheinung des Meffiad. Wenn auch die Darftellumgen 
ber verfchiedenen Erzähler über diefen Punkt nicht in allen 
Ausdrücken ganz haarfcharf übereinitimmen, fo ift doch am Dies 
fer mefflanifchen Beziehung, weldye Johannes der Tanfe ger 
geben, durchaus nicht zu zweifeln, ba es ihr ohne biefe an 
rechter Bedeutung und beftimmten Anhaltspunfte gefehlt has 
ben würde. Daß Johannes das Eintreten bes Meffiasreiches 
als fo nahe bevorftehend anfünbigt, bürfen wir nicht etwa 
der fpätern chriftlichen Sage ale Erfindung zufchreiben wols 
Ien, entitanden aus der damals wirflid eingetretenen 
Thatſache; — vielmehr Fonnte das lebhaft ergriffene Gemäth 
bes Johannes in vielen Erfcheinungen der fo vielfady beweg⸗ 
ten Zeit leicht Andeutungen finden, die ihm die Nähe des 
Meſſiasreiches zu verkünden fchienen. 

Er fpricht ſich Daher näher dahin aus, ed werde ein 
Mann auftreten, ber feine Meſſiaswürde beurkfunden werde 
burch ein „Taufen mit dem heiligen Geifte und mit Keuer* 
Matth. 3, 115 ferner werde derfelbe „mit der IBurfichaufel 


135  - 


feine Zenme fegen“; —. Beides ganz um Geiſte Der meſſiani⸗ 
ſchen Prophezeiungen. 


Hier tritt nun die wichtige Frage ein: Wen bezeichnete 
er als dieſen Meſſias? Dem erſten und dritten Evangelium 
zufolge, auf's Beſtimmteſte Jeſum. Wie Lukas den Johan⸗ 
nes ſchon vor-der Geburt Jeſu huldigen läßt, haben wir 
oben geſehen; beide werden alſo wohl ſpäter in ihrem gegen⸗ 
ſeitigen, durch Wunder eingeleiteten Verhaͤltuiſſe einander naͤ⸗ 
her kennen gelernt haben. Matthäus berichtet über ſolche 
frühe Familien» Verbindung Nichts; allen da nach feiner 
Erzählung Sohannes Sejum fogleich erkennt, indem er fich 
weigert, ihn, den Höheren, zu taufen CB. 14), fo muß er 
eine frühere Befanntfchaft vorausgeſetzt haben. Markus bes 
handelt Die Sache zu fur; (1, 9), als daß feine Anficht Har 
würde; Sohannes dagegen fo, daß der Täufer Jeſum vor 
ber Taufe gar nicht gekannt, mithin auch nicht, che die himm⸗ 
liichen Zeichen bei der Taufe ihn darüber belehrten, für den 
Meſſias gehalten haben kann; der Täufer behauptet dieß näu⸗ 
lich ausdrücklich 1, 31, 33. — Beide widerfprecdyende Angaben 
hat man auf mancherlei Weiſe mit einander auszugleichen vers 
ſucht. 

Manche Ausleger haben geradezu behauptet, Johannes und 
Jeſus haben ſich zwar ſchon früher gekamt, allein vor dem 
Publikum ſich fo angeftellt, als ob fie einander ganz frend 
wären, um ſich einander deſto beffer in die Hände zu arbeiten. 
Andere fuchten, um die beiden Männer von dem Borwurfe 
ber Berftellung ven zu erhalten, durch ihre Erklärung aus dem 
Worten des Taͤufers einen andern Sinn herauszubringen. Sie 
legen nämlich feine Behauptung (33): „Und ich Fannte ihn 
sicht “, fo aus, daß der Täufer Jeſum zwar ald Perfon 
gefannt, aber nicht gewußt habe, daß er der Meſſias fei. 
Wenn auch, was bezweifelt werben muß, jene Worte biefen 
Einn haben können, fo füllt der Widerjprud, damit nicht weg: 
denn unmöglich Fonnten ihm, went feine Familie mit deu 
Achtern Jeſu auf die von Lukas erzählte Weiſe befannt war, 
die Berfündigungen und Wunder unbekannt geblichen fen 


136 


durch welche Sefus fchon fo frühe als Meſſias bezeichnet wurde. 
Wer aber möchte in ber weiten Entfernung ber beiberfeitigen 
Wohnorte von einander einen Grund finden wollen, warm 
"beide junge Männer nicht in nähere Berührung famen? Waͤre 
dieß nicht die ftrafbarfte Bleichgültigfeit gegen die empfanges 
nen göttlichen Mittheilungen, deren Zweck durch biefe kalte 
Adgefchloffenheit gänzlich verfehlt worden wäre? — Deutlich 
genug gibt ja auch bei Matthäns der Täufer zu erfennen, 
daß ihm die Meffiaswürde Sefu befannt war, indem er 3, 14 
fagt: „Mir thut Noth, von Dir getauft zu werden, und Du 
kommſt zu mir?“ Man hat auch hier die Schwierigkeiten zu 
ebnen gefucht, indem man biefe Worte nur als Ausdrud der 
Verehrung für die hohe Vortrefflichfeit Jeſu faßte; allein war 
er noch fo edel, als fündhafter Menfch konnte er der Taufe 
fidy nicht entziehen, und zur Taufe berechtigt konnte Jo⸗ 
hannes nur einen Propheten halten, wie er felbft war, ober 
den Meifias (vgl. Joh. 1, 19); da er nun Sefu einen höhe⸗ 
ren Rang zugefteht, als ſich, fo erflärt er damit ihn zugleich 
für den Meſſias: hatte er ja doch felbft fo eben gefagt, 
„der nach ihm Kommende werde mit dem heiligen Geifte tau⸗ 
fen!“ Es könnte, um den unläugbaren Widerfpruch wegzu⸗ 
raͤumen, noch die Annahme verfucht werben, Matthäus habe, 
um größern Effeft zu machen, die Weigerung vor bie über 
Jeſum ergoffenen himmliſchen Erfcheinungen (V. 16, 17) ges 
ſetzt, da fie body wirklich erft nach denſelben erfolgte, weil 
dieſe Jeſum fo deutlich als Meffias bezeichneten. Allein dafür 
hat man durchaus feinen haltbaren Grund; denn ein folcher 
iſt aus dem Hebräers Evangeliim, das die Sache wirklich fo 
darſtellt, nicht zu entnehmen, ba dieſes offenbar einen fehr 
abgeleiteten und gefünftelten Bericht enthält. Ueberdieß laͤßt 
fih ja auch Lukas, von deffen früheren Erzählungen über 
Maria, Elifabeth und Zacharias wir auf Augenblide ganz 
abfahen, durchans nicht mit des Johannes Darftellung verein⸗ 
baren. — Alles erklärt fi ohne Zwang, wenn wir ben Cha⸗ 
racter populärer Auffaffungsweife überhaupt ins Auge faſſen, 
alles Weſentliche nämlic, als von jcher Gewefenes zu denken. 
Wußten alfo die erften Chriftgemeinden, in welche folgenreiche 
Beziehung der Täufer durch Die Taufe zu Jeſu geftellt war, 


137 


fo mußte dieſe Beziehung ihnen als eine fchon Fräher beftandene 
erfcheinen; Sohannes mußte ſchon früher Jeſum als Meſſias 
gekannt haben: dieß drückt Matthäus einfach aus, Lukas aber 
rückt dieſes geheimnißvolle Berhältniß noch bis in die Zeit vor 
der Geburt der beiden Männer hinauf. | 
Warum biefe frühzeitige Beziehung bei Sohannes fehlt, 
müflen wir unentichieden laſſen; vielleicht darum, weil, wenn 
beide Männer ſich vorher nicht kannten, Die winderbare Scene, 
Durch welche Ssefus dem Täufer bei der Taufe desfelben als 
Meſſtas bezeichnet wurde, um fo größeren Glanz erhielt. 





Es knüpft fich hier zunächit die Frage an, was überhaupt 
Johannes von der Meffianität Sefu hielt? Alle Evanges 
lien ſtimmen darin überein, baß er in fich den Vorläufer 
des Meſſias erkannte, daß als folcher ihm Jeſus durch bie 
Berherrlichung desfelben bei der Taufe (wovon weiter unten) 
bezeichnet wurde, unb baß er diefem Zeichen Glauben fchenfte: 
wenn biefes Lettere von Matthäus und Lukas nicht ans⸗ 
drücklich erzählt wird, fo mag dieß feinen Grund darin haben, 
daß fie ja, wie wir oben fahen, die Sache fo ftellen, Johan⸗ 
nes habe ſchon vor der Taufe Jeſum als Meſſias erkannt. 

Nun muß ed allerdings befremden, daß Sohannes fpäter 
an der Mefitanität Jeſu fcheint irre geworden zu fein; denn 
er ſchickt Junger an ihn ab, mit der Frage: „Biſt du ber, 
der da kommen fol Cder Meſſias), oder müflen wir einen 
Andern erwarten?“ (Matth. 11, 2 ıc. und Luf. 7, 18 ıc.) 
Wie erklären wir uns biefen Widerjpruch? hatte er feinen 
feiten Glauben an Jeſu Mefftanität nicht oft genug ausge⸗ 
fprochen? fandte er nicht gerade Damals jene Boten ab, ale 
er von den „Thaten“ Ssefu hörte, welche eben, nach dem 
Zufammenhange der Erzählung bei Lukas, feine andere, ale 
meſſianiſche Wunderthaten waren? Wie konnte Jeſus fpäter 
auf fein Zeugniß fich berufen (Joh. 5, 33), wenn er wirfs 
lich fo fehr ein Rohr im Winde war, wofür ihn aber Jeſus 
nicht hält (Matth. 11, 7)? 

Man bat dieß auffallende Benehmen durdy bie Anficht ers 
Haren wollen, Johannes habe feine Jünger nur darum geſandt, 


138 


damit fie durch eigene Anſchauuug ber wunderbaren Thaten 
Jeſu ſich von deffen Meffianität überzeugen follten. Allein 
woher mußte er, daß fie ihn gerade mitten im Wunderthun 
treffen würden? was überdieß nach Matthäus nicht einmal ges 
ſchah. Konnte er ihnen alddann eine folhe Frage au Jeſum 
auftragen? Denn wenn fie ihrem eigenen Meifter nicht glaubs 
ten, fo wird das Zeugniß deſſen, um den es fich handelte, 
noch weniger Gewicht für fie gehabt haben. Berträgt es fich 
überhanpt mit ber Würde eines prophetifchen Lehrers, Zweifel 
feiner Schüler in feine eigenen Worte duch fremdes 
Zeugniß niederzufchlagen? Nein! die aufgetragene Frage muß 
eine Frage des Tänfers felbft gewefen fein, wie fie auch Je⸗ 
fus wirklich nahm, indem er antwortete: „DBerfünbet dem 
Johannes!“ (Matth. 11, 4), und fich indireft über deſſen 
Zweifel beflagte (V. 6). 

Die meiſten jeßigen Ausleger fallen Daher Die Sache fo, 
daß Johannes mit feiner Frage feinen Zweifel habe ausbrüden 
wollen, fondern, in feinem Kerker etwas ungeduldig geworben, 
in diefelbe feine Aufforderung, Doc endlich als Meſſias 
vor allem Volfe hervorzutreten, eingefleidet habe. Man findet 
dieß um fo wahrfcheinlicher, da, wenn Sefus einen Haupts 
ſchlag gegen feine Feinde unternahm, auch er, ber Zäufer, 
Erlöfung aus feinem Kerfer hoffen konnte. Allein bann bleibt 
gerade bie Farbe des Zweifels, die feine Frage, wie man auch 
bie Worte drehen mag, unläugbar hat, ganz unerflärlich: 
Vertrauen mußte ſich in ihnen abjpiegeln. Aber auch felbit 
eine folche Aufforderung laßt ſich mit früheren Ausfprüchen 
bes Täufers nicht vereinigen. Wer, wie er, fo hohe Begriffe 
von Jeſus, als Meſſias, hatte (vgl. mır Matth. 3, 11), mußte 
annehmen, diefer werde am beiten die rechte Zeit unb Stunbe 
finden. Noch mehr hätte er feiner früheren Anficht von Jeſu, 
Ben er mit den Worten: „Lamm Gottes“ (Joh. 1, 29) als 
ben leidenden Meffias bezeichnete, miberfprochen, wenn er 
um von ihm erwartet hätte, derfelbe folle mit einem vernich⸗ 
senden Schlage gegen feine Feinde auftreten, 





139 


Wir werben alfo auf unfern frühern Standpunkt wieber 
zurückgeworfen, und müfjen bes Täuferd Frage als Ausdrud 
des Zweifels gelten laſſen. Als einen vorübergehenden 
Abfall Des durch die Leiden des Kerferd gebeugten Mannes, 
laßt ſich derſelbe auch nicht betrachten, Denn hätte dieſer 
feinen Muth gebrochen, fo würde dieß, in allen ähnlichen 
Fällen, in einem Widerrufe beffen, was ihn in ben Kerfer 
gebracht hatte, nämlich der gegen Herodes ausgefprochenen 
Rüge Auf. 3, 18, 19), ſich fund gegeben haben, nicht aber 
duch Wanken in einem Glauben, der zu feiner Einferferung 
Nichts beigetragen hatte. Unverträglich fcheint alfo immer 
der Zweifel des Johannes mit feinem frühern Glauben zu 
fein; denn daß hier von dem Wanfen in einem fchon vors 
handenen Glauben, und nicht von der Unſicherheit eines erſt 
entftehenden die Rede ift, zeigen Jeſn Worte, ber in ber 
Frage ein „Srrewerbden“ findet C11, 6). Diefes ift um fo 
unbegreiflicher, wem es fich auf die Nachricht von Jeſu 
Wunderthaten foll eingeftellt haben, die ihn gerade im 
Stauden beftärken muften. Man kann aber Diefer Bedenk⸗ 
fichfeit ausweichen, wenn man die Darftellung des Lukas, der 
ausdrüdlich, wie oben bemerft, an Wunder anknüpft, als 
theifweife unrichtig bei Eeite läßt, und ſich an die Ausdrücke 
des Matthäus hält, der ung fagt: „nachdem‘er von bem 
Merten Jeſu gehört“ (Matth. 11, 2), worunter fein Dans 
dein überhaupt gemeint fein könnte. Somit können wir es 
allerdings nicht undenkbar finden, daß Johannes zwar früher 
den feiten Glauben an die Mefftanität Jeſu hatte, daran aber 
durch das Wirken und Verfahren deffelben irre werden fonnte, 
indem er ihn anders handeln fah, als er es von dem Meir 
fiad erwartet hatte. Hier ftehen wir an dem Wendepunkte 
unferer Unterſuchung. 

Penn, wie wir nach den brei erften Evangelien annehmen 
dürfen, Sohannes von dem Mefjias „Ausgießung ber Geifteds 
fülle über feine Anhänger, Sichtung des Volks und Ausrots 
tung feiner unwürdigen Mitglieder erwartete, aber fchleunig 
ausgeführt und nicht ohne äußere Gemwaltfamfeit *, fo Fonnte 
er an Jeſu wohl irre werden. Sedoch müflen wir Dabei 
zweierlei vorausſetzen: erſtens kann es füch mit den Wundern 


140 

der Geburt und Kindheit Jeſu nicht fo verhalten haben, wie 
Matthäus und Lukas erzählen, und es kann nicht fchon vor 
der Geburt beider Männer ihr inniges Zufammemvirfen in 
der von Lukas berichteten wunderbaren Weiſe verkündet wors 
ben fein. Beides haben wir fchon ald mythifche Züge ers 
kannt; zweitens können fich bei der Taufe Jeſu die Wunder 

nicht zugetragen haben, welche die Evangeliften erzählen; 
hievon fpäter. . 

Wenn aber Johannes von dem Meffias Die Vorftellumgen 
hatte, welche ihm das vierte Evangelium beilegt (Joh. 1, 
15, 27, 29, 30, 36; 3, 31), dann. freilich burfte er nicht 
irre werden, benn bis jetzt hatte Jeſus ganz in Diefem 
Sinne gehandelt, wenigftens Nichts gethan, was ihm widers 
fprochen hätte. Wir haben daher zunaͤchſt diefe Ausfprüche 
bes Taufers im vierten Evangelium näher zu unterfuchen, und 
fragen: konnte er eine folche Erwartung vom Meſſias haben? 
und fonnte er diefe in Jeſu verwirklicht glauben ? 

Die erfte Frage betreffend, fo bezeichnet er den Meſſias 
als ein höheres Weſen, „von dem Himmel herabfommend“ 
(3, 3D, fodann als „früher, denn er“ (1, 15, 27), womit 
Die anch bei Rabbinen, und felbit bei Paulus (Kol. 1, 15) 
ſich findende Vorftellung von der Präeriftenz 1) des Meſſias 
ausgedrückt fein kann; wenn man nicht den einfachen Gedan⸗ 
ten darin finden will, ber Meſſias fei mehr, als er, ber 
Täufer. Ferner wird er in 1, 29, 36 ber Meſſias ald der 
für die Sünden ber Welt Leidende bargeftellt. - Diefen 
letzten Augjprüchen hat man vergeblich einen allgemeineren 
Sinn zu geben verfucht, das „Lamm“ als finnbilbliche Be⸗ 
zeichnung ber Sanftmuth genommen, und unter dem „Tragen 
der Sünden der Welt“ das gebuldige Ertragen ber Bosheit 
der Menfchen verftanden. Da aber biefe Erklaͤrungen nadı 
ber Ausfage ber beften Erflärer unzuläßig find, und nament⸗ 
ich „das Lamm Gottes“ ein beitinmtes heiliges Lamm bes 
zeichnen muß, fo ift es am wahrfcheinlichften, daß dieſe Worte 
eine Anwendung ber Stelle Jeſaias 33, 4 und 7 find, und 
Das ftellvertretende Leiden des Meffias bezeichnen. 


Siehe die Erklärungen, unter dem Artikel Logos. 


N 


141 


Aber eben das iſt auffallend, daß fchon der Täufer Jeſum 
als den leidenden Meffias betrachtet haben fol, dieß ift ber 
herrſchenden Anficht fo zuwider, daß fogar Jeſu Jünger an 
ihm, als dem Meffias, nach feinem Tobe irre wurden (Luk. 
24, 20 x). Wie follte der tiefer (Matth. 11, 11) und fers 
ner ftehende Täufer eine Einficht gewonnen haben, bie en 
Juͤnger noch lange Zeit fehlte? Hätte fie nicht auch auf Diefe 
übergehen müfjen, die zum Theil Sohannes Schüler gewefen ? 
Ueberdieß weiß feine andere Stelle bes neuen Teſtaments 
Etwas davon, daß Johannes diefe Vorftellung gehabt; viel 
mehr hatte er, den andern Evangelien zufolge, wie wir oben 
fahen, ganz andere vom Meſſias. Wenn wir es aber auch 
für unmöglich halten können, baß ein tiefer blickender Geiſt 
über bie berrichende Meinung feiner Zeit fidy erhoben, fo iſt 
doch die Form jened Ausdrucks fo fehr dem Evangeliften 
eigenthümlich, daß wir dieſe wenigſtens als beffen Zuthat 
anfehen müſſen. 

Wir haben indeffen Beifpiele, daß unfer Evangelift auch 
mehr als die bloße Form von dem Seinigen bei Anführung 
der Worte eines Dritten binzuthut, wie fich gerade in Bezug 
auf den Zäufer aus 3, 27—36 ergibt. Denn hier find die 
Worte von B. 31 an ganz bdiefelben, die fonft er felbft oder 
auch Jeſus in feinen Berichten über Sefum gebraucht; fie 
find überdieß ein auffallender Nachflang der eben voraudges . 
gangenen Unterredung mit Nikodemus; man vergleiche 3. B. 
2. 11 mit 32, B. 18 mit 36; und endlich enthalten fie fo 
viele dem Evangeliſten ganz eigenthümliche Ausdrüde und nur 
bei ihm fich vorfindende Borftellungen über die Perfon Sefu, 
daß wir ımbedenklich zugeftchen müffen, nicht der Evangelift 
hat fie vom Täufer entlichen, fondern fie find Diefem von 
jenem in den Mund gelegt worden. 

Dieß ift fo augenfcheinlich, daß viele Theologen, um dieß 
“nicht an den Evangeliften fommen zu laſſen, behaupten, von 
jenem V. 31 an nehme er wieder dad Wort. Allein nirgends 
findet ſich ein folcher Uebergang angezeigt, und wenn er hier 
fpräche, und nicht der Täufer, fo dürfte er nicht Die Zeit: 
form der Gegenwart, fondern, wie er es auch fonft thut, Die 
der Vergangenheit gebrauchen. Wir fünnen alfo für Diefe, 


142 


im Vorübergehen befprochene, Stelle dem Geftänbnifle nicht 
entgehen, daß der Evangelift feine eigenen Betrachtungen . 
denen bes Täuferd beimifchte; und haben demnach auch für 
jene Bezeichnung des Meſſias, als eines leidenden, feine 
Bürgfchaft dafür, daß nicht auch fie vom Evangeliiten bem 
Käufer, der fie fonft nirgends augfpricht, geliehen worden. 


Diefe Bezeichnung des Meffiad träge nun, um auf bie 
Zweite unferer Fragen („konnte er Diefe Erwartungen in 
Jeſu verwirklicht glauben?“ S. 140) zu fommen, der Täufer 
aud) auf Sefum über. That er biejes fo begeiftert, fo öffent, 
lich, — hatte er fo geläuterte Einfichten in bie Beſtimmung 
Sefu, — ftimmte er mit Sefu fo ſehr überein, fo konnte bie 
fer ihn nicht aus dem Himmelreiche ausfchließen (Matth. 11, 
11), während er den Petrus; der ſich jener Einfichten nicht 
rühmen fonnte, einen Feld feiner Kirche nennt. — Wir 
ftoßen aber bald auf noch größere Räthſel. Wenn er als 
Zwed feine Taufe angibt, „Damit er (Jeſus als Meſſias) dem 
Bolfe offenbar würde“ CB. 31), und ed als göttlihe Ord⸗ 
nung erfennt, daß Diefed zu⸗, er abnehmen müßte (3, 30), 
warum feßte er noch da, wo Jeſus ſchon taufte, feine Taufe 
auch noch fort (3, 23)? warum fchloß er ſich nicht vielmehr 
an Jeſu an? Neander antwortet: Sohannes Fonnte nicht 
über feinen altsteftamentlichen Standpunkt hinaus; er, ber 
gereifte Prophet, konnte nicht in eine Schule treten, welche 
bildfame Tünglinge verlangte. Wenn er aber fo viel tiefer 
ftand, wie war es möglich, Daß er doch Jeſum fo richtig ers 
. kannte, und laut für den Meſſias erklärte? Denn mußte er 
alsdann nicht auch, fo gut wie feine Schüler, Anitoß daran 
nehmen, daß Sefus die von ihm fireng beobachteten äußeren 
Gebräuche des Faftens ꝛc. gering ſchätzte (Matth. 9, 19? 
Wenn er aber nur Anftand nahm, Sefu Schüler zu werben, 
fo mußte er, bei Der Ueberzeugung, Die unfer Evangelijt ihm 
zufchreibt, ganz zurüdtreten; denn durch fortgefeßtes Taufen 
binderte er deſſen Werk und hielt immer noch Viele in ben 
Borhallen des Meiftagreiches; und in der That beitanden 
noch zu den Zeiten des Paulus (Apoftelg. 18, 24) die Jo⸗ 


143 


hannisjünger als eine von ben Chriften getrennte Partei, die 
immer noch des Meſſias Auftreten erwartete, und fich noch 
Inge Zeit forterhalten haben will. Unmoͤglich kann alfo Ios 
hannes jene Anficht von Jeſu gehabt haben, wenigſtens vor 
feiner Berhaftung nicht, bis zu welcher er das Taufen fort 
feste. Seine Sendung aus den Kerker ſcheint freilich gu 
beweifen, daß er anf andere .Gedanfen gefommen, und we 
nigftend die Hoffnung hegte, Jeſus werde als Meſſias ſich 
erweifen. 


Allein die gefchichtliche Wahrheit auch Diefer Sendimg ließe 
ſich bezweifeln; denn aus dem Kerker kamen die Johannes⸗ 
fchüler zu Jeſu, wie Matthäus ausdrücklich ſagt; Lukas freis 
lich nicht, der aber auch hier als fpäterer Bearbeiter erfcheint, 
und dieſe Drtsangabe verwilcht haben kann. Es iſt nänlich 
unwahrſcheinlich, daß zu einem Manne, der, wie Sofephus 
berichtet, hauptfächlich aus Furcht vor einem Aufitande ein« 
geferfert wurde, feine Schüler freien Zutritt hatten, boch für 
ganz undenkbar können wir es freilich nicht halten. Wann 
er aber ind Gefängniß geworfen wurde, darüber fcheint ung 
Matthäus den beiten Aufjchluß zu geben, der dieß Ereigniß 
vor das öffentliche Auftreten Sefu fest (Matth. 4, 12). Allein 
wenn auch, wie dieſer erzählt, jene Verhaftung Jeſum aller- 
dings veranlaffen Fonnte, nun feine Wirkjamfeit zu beginnen, 
fo it es doch chen fo möglich, daß, weil Sefus durch diefelbe 
die des Johannes verdunfelte, die fpätere Sage zu dem Irr⸗ 
thum verleitet werden fünnte, dieſer fei fchon damals, ale 
Jeſus auftrat, im Gefaͤngniſſe gewefen. 

Mag fich dieß auch verhalten, wie es will, während feines 
öffentlichen Wirkens Fann der Täufer Sefum nicht für Den 
Meſſias gehalten haben; wie man aber dazu Fam, Dieß anzu⸗ 
nehmen, darüber gibt Apoſtelg. 19, 4 Auſſchluß. Hier fagt 
Paulus, Johannes habe auf den, „der da kommen fol“, ge 
tauft, und fett hinzu: „das heißt auf Jeſum“; dieß ift eine 
Deutung aus dem Erfolge. Denn weil nun fchon Jeſus 
bei fo Bielen als Meſſias anerfannt war, fo lag die Meinung 
nahe genug, auch Johannes habe ihn als den, „der da kom⸗ 
men ſoll“, bezeichnet. Hieraus feheint fich auch zu erklären, 


144 


warum das Sohannes» Evangelium fo großes Gewicht auf 
Diefe Anerkennung legt. Dasfelbe ijt einer alten Sage zufolge 
in Ephefus gefchrieben, wenigſtens unter griechiichen Chris 
ften; in biefer Stabt waren aber viele Lente, die nur auf 
Johannes getauft waren, und Apoftelg. 19 zufolge von Pau⸗ 
Ins abermals, auf Sefum, getauft wurden. Diefe mußten 
durch jenes Zeugniß des Täuferd um fo mehr mit dem Chris 
ftenthume befreundet, Diejenigen unter ihnen aber, welche noch 
sicht befehrt waren, zu bemfelben hinüber gezogen werben. 
Ueberhaupt aber hatte der Täufer Sohannes großes Gewicht 
bei den Juden, und auch das alte Teftament begünftigte bie 
Annahme eined folchen Zeugniffes. Da nämlih David im 
Sammel gewiflermaßen einen Vorläufer hatte, ber ihm ſtets 
ergeben blieb Cl Sam. 16), fo ſchien auch ber Mefflas einen 
folchen haben zu müſſen, unb diefer war in bem gleichzeitigen, 
jedenfalls tiefer ſtehenden, Johannes gegeben. 





Zweites Kapitel. 


urtheile über den Täufer, und letzte Schickſale bei 
felben. 


(S. die Stellen zum eriten Kapitel, und Matth. 14, 3— 12, 
Marf. 6, 16— 29.) 


Gehen wir nun, um zu einem Endreſultate über das Ber 
haltniß der beiden Männer zu gelangen, noch zu den Urtheis 
len über, die wir von Sefn und ben Evangeliften über den - 
Täufer ausgefprochen finden. 

Zunächft werden mehrere altsteftamentliche Stellen anf den 
Täufer angewendet; er thut dieß felbit, dem Joh. 1, 23 zus 
folge, mit Sef. 40, 73: „die Stimme eined Rufenden in der 
MWüfte* ꝛc., obgleich diefe Stelle ſich urfprünglich nicht auf 
den Borläufer des Meſſias bezieht; in den drei erften Evans 
gelien wird biefe Anwendung von den Evangeliften gemacht. 
— Eine andere Stelle, Maladyia 3, 1, wird von Jeſns, 
Matth. 11, 10 u. Luk. 7, 27, und fobann von Markus (1, 2), 
der fle irrigerweife auch dem Jeſaias zufchreibt, auf Johannes 


“a 


145 


bezogen; fie ift zwar meiftanifch, aber erft durch eine Worts 
änderung dem Berhältuiffe des Täuferd zu Jeſu angepaßt. 
— Durd die Anwendung einer britten Stelle, Malach. 4, 5: 
„ich will Euch den Elias fenden“ ıc., erhielt Johannes eine 
Beziehung zu Elias, bie fich fchon in der Berfündung feiner 
Geburt findet. Wenn daher der Täufer die an ihn ergangene 
Frage, ob er der Elias fei (Joh. 1, 21), verneint, fo ift Das 
mit nur gemeint, daß er nicht der leibhaftig wiedergefoms 
mene alte Prophet fei. 

Asch für den Meſſias felbit ihn zu halten, war man 
geneigt: nach Luk. 3, 15 20. äußert das Volk um ihn dieſe 
Bermuthung, und nach Joh. 1, 19 richten Abgefandte dee 
Synedriums die Frage an ihn: „Wer bit Du?“ Beibe 
Malte lehnt Johannes in feiner Antwort ganz beftimmt Die 
meifianifche Würde von ſich ab; da dieß beide Male faft ganz 
mit denfelben Worten gefchieht, und aus beiden Erzählungen 
die unverfennbare Abficht hervorgeht, Durch das eigene Zeugs 
niß des Zäuferd die Meffianität Jeſu zu begründen, fo liegt 
ohne Zweifel beiden nur Ein Borfall zu Grunde, und eg 
fragt fidy nun, welcher Evangelit Diefen getreuer wiedergibt. 
Beide Darftellungen haben gleich viel innere Wahrfcheinlichs 
feit; denn es üt eben fo natürlicdy, daß das begeijterte Volk 
anf jene Vermuthung kommt, wie es denkbar it, daß das 
Synedrium, dem das Aufjichtsrecht über öffentliche Lehrer zus 
kam (vgl. Matth. 21, 23), eine folhe Frage an Johannes 
richtet. Auch kann noch eben fo gut die Daritellung des 
kukas ein undeutlicher Nachhall des wirklichen Borfalles fen, 
wie die des Johannes eine Ausſchmückung desfelben; fo 
daß wir aljo nur aus einer allgemeinen Anficht über das 
Verhältnig des vierten Evangeliums zu den drei eriten dar⸗ 
über entjcheiden fünnen, wer hier Necht baben mag, Sobanneg 
oder Lukas. 


— — — — 


Auch von Jeſus ſelbſt haben wir einige Ausſprüche über 
den Täufer: Joh. 5, 35 nennt er ihn ein „ſtrahlendes Licht“, 
an deſſen Glanze das Volk ſich nur habe ergötzen mögen; 
nach der Verklärung (Matth. 17, 12 ꝛc.) bezeugt er, daß 
Johannes der als Borläufer verbeißene Elias geweienz und 

l. 10 


\ 


146 


Matth. 11, 17 ꝛc. ftellt er ihn fogar wegen feines erhabenen 
Ernſtes über alle Propheten des alten Teſtaments, zugleich 
aber auch unter Alle, die an dem neuen Bunde Antheil 
haben; — endlich klagt er noch in derfelben Stelle darüber, 
“daß auch der Täufer, gleich ihm, ein veritodtes Volk gefuns 
den. — Hätte nım Sohannes die Meffiass dee nicht reiner 
und klarer aufgefaßt, als alle Propheten des alten Teſtaments, 
fo hätte ihn Sefus nicht Aber Diefelben ftellen können; wenn 
er aber auf der andern Seite ihn dem legten feine s Reiches 
nachitellt, fo Fanıı dieß feinen Grund nur darın haben, Daß 
derfelbe immer noch die Wirkſamkeit des Meſſias als eine 
mit glänzender Wunderfraft durchgeführte Beflegung feiner 
Gegner, und nicht ald ein Leiden auffaßte, durch welches 
. fein Reich von innen heraus, von der Reinigung ber Herzen 
and, als ein geiftiges ſich entwickeln müfle. Da nun Das 
Eritere wenigſtens, die Idee des leidenden Meffias, Johan⸗ 
nes bei unferın vierten Evangeliften (1, 29 u. a.) deutlich 
genug ausipricht, fo müſſen wir, wenn wir Jeſu LUrtheile 
nicht zu nahe treten wollen, Die gefchichtliche Wahrheit dieſes 
Ausſpruches verwerfen, und eingeflehen, daß diefer Evangelift 
bier feine eigenen Anfichten mit denen des Taäͤufers vermengt 
- babe, und können überhaupt nicht wilfen, wie viel Wahres an 
deffen- Reden im vierten Evangelium ift. — Auch in Dem 
Punkte, daß Sohannes noch zu viel Werth auf Faften und 
andere äußerliche Werke lege, feßt ihn Jeſus den Gliedern 
des Meifiasreiches nach (Matth. 11, 18; vgl. 9, 16; 17). 


Wir haben nım eine Ueberficht gewonnen über den Stu—⸗ 
fengang, welchen die Sage in Bezug anf das Berhältniß 
zwifchen beiden Männern durchmachte. Die gefchichtlicdhe 
Grundlage ift die, „Daß Sefus, angezogen von der vorbereis 
tenden Zaufe des Johannes, ſich ihr unterwarf; bald aber 
ſelbſtſtändig als Meffias unter feinen Volksgenoſſen auftrat*. 
Diefe Wirkſamkeit fcheint den Täufer noch im Kerfer auf den 
Gedanken gebracht zu haben, Jeſus fei der Meſſias, ohne 
daß er darüber zur Gewißheit gefommen wäre. — Der Chrifts 
gemeinde aber mochte dieß unbeſtimmte und fpäte Zengniß 


_ 


147 


nicht genügen; baher im vierten Evangelium fchon, ftatt der 
Frage, die feierliche Berficherung der Mefftanität Jeſu, 
feines leidenden Verhaltens ımd feiner göttlichen Natur. Weiters 
hin wurde die Taufe Jeſu in eine glänzende Beftätigung 
diefer Meifianität, und fomit auch in eine Erhebung Jefu 
über den Täufer, fchon beim Beginnen ber Wirkſamkeit 
umgeftaltet, und endlich, wie es uns Lufas überliefert, bes 
Zäuferd untergeordnete Stellung ſchon in bie Berfündigung 
fener Geburt gelegt. 

Alle früheren Ausleger, welche Das Unhiftorifche ber fo 
eben als mythifche Bertandtheile aufgezählten Züge der 
evangelifchen Berichte gleichfalls erkannt haben, find barin 
ohne ficheren Takt bald zu weit, bald nicht weit genug ges 
gangen, was hier nur im Allgemeinen angebentet wird, weil 

im Borhergehenden fchon eine indirefte Beurtheilung dieſer 
Verſuche enthalten ift. 


Gleichſam ald Anhang möge hier noch eine kurze Betradhs 
tung des traurigen Endes folgen, das Johannes nahm. 
Mit unfern drei erften Evangelien (Matth. 14, ıc. 35 
Mark. 6, 175 Luk. 9, 9 20.) ftimmt Joſephus darin überein, 
daß der Täufer nach längerer Gefangenfchaft von Herodes 
IAntipas, Fürften von Galiläa, hingerichtet worden; Dagegen 
weichen fie im Angabe der Urfachen feiner Verhaftung und 
Hinrichtung von einander ab. Die Evangelien nennen als 
Grund der eriten den Tadel, welchen Sohannes über. die 
Verheirathung des Fürften mit feines Bruderd Frau, der 
Herodias, ausgefprochen, — ale Grund der Hinrichtung die 
Kit Diefes Weibes während eines Hoffeſtes. Joſephus aber 
erzählt, derfelbe fei verhaftet worden, weil Herodes von feinem 
großen Anhange einen Aufruhr gefürchtet habe, und hinge⸗ 
richtet in Folge einer Niederlage in dem durch Die Heirath 
der Herodias herbeigeführten Araber» Kriege. Beide laſſen 
ſich aber gar wohl mit einander vereinigen, wem man nur 
annimmt, Herodes habe eben feiner gefekwidrigen Heirath 
und feines feandalöfen Lebens wegen, das Johannes gerügt 
haben mochte, um fo mehr vor einem Aufjtande Durch die 

Johannes⸗Jünger fich fürchten müſſen. 


148 


Auch unfere Evangeliften felbfi ftimmen untereinander nicht 
ganz überein. Matthäus nämlich, um Nichts zu fagen von 
der nicht ganz gleichen Form der verfchiedenen Erzählungen, 
fagt, Herodes habe des Täuferd Tod gewünfcht, das Bolt 
aber gefürchtet, das denfelben für einen Propheten hielt; Mars 
fus dagegen, nur Herodias habe ihm Nache gefchworen, 
und feinen Tod ihrem Gemahle abliften müflen, weil diefer 
felbft ihn als einen heiligen Mann fcheute. Hier werben wir 
die leßtere Darftellung ale ſpätere Ausmalung betrachten 
müſſen, weil in ihr der Zäufer verherrlichter erfcheint, indem 
felbft der Fürft, den er beleidigt hatte, ihn zu achten nicht 
umbin konnte. — Wenn nun endlich die evangelifchen Erzäh⸗ 
lungen die Sache fo jtellen, noch während der Tafel, am 
weldyer des Herodes Tochter. dad Haupt des Sohannes vers 
langt habe, fei dasfelbe auf einer Schüffel gebracht worden _ 
(. z. B. Matth. 14, 8 und 11), ſo ſcheint Joſephus zu wider⸗ 
ſprechen, dem zufolge Johannes in Machärus, eine Tage⸗ 
reiſe weit von Tiberias, der Reſidenz des Herodes, gefangen 
ſaß. Allein der Widerſpruch löst ſich, wenn wir annehmen, 
der Fürſt habe damals, wo er im Kriege mit einem arabi⸗ 
ſchen Könige begriffen war, in Machärus, der Gränzfeſtung 
gegen Arabien hin, fich aufgehalten. 

Wir fehen alfo, das Leben des Taufers iſt in unfern 
evangelifchen Berichten „nur an feiner Jeſu zugewenbeten 
Seite von mythifchem Glanze umfloffen, während die von ber 
Sache Jeſu abgefehrte Seite mehr noch die gefchichtlichen 
Umriffe zeigt *. 





Drittes Kapitel 
-Die Taufe Jeſu. 
(Matth. 3, 13—17; Mark. 1, 9—11; Luk. 3, 21-——235 Joh. 1, 
32 — 34.) 
Ehe wir die Taufe felbft betrachten, werben wir und erit 
Die Frage zu beantworten haben: „In welchem Sinne hat 


149 


ſich Jeſus von Johannes taufen laſſen?“ wobei wir allerdings 
auf mehrere Schwierigkeiten ftoßen. 


Schon in der alten Kirche machte es Bedenken, daß 
Sefus aud, „auf das Bekenntniß feiner Sünden“ (Matth. 
3, 6) follte getauft worden fein, und das Hebräer= Evange: 
lium erzählt, Sefus habe auf die Aufforderung feiner Mutter, 
ſich taufen zu laffen, geantwortet: „Was habe ich gefündigt, 
daß ich gehen fol und von ihm getauft werde?“ Sin der 
That muß man bei der Boransfegung der Sündlofigfeit Jeſu 
den Schluß ziehen, entweder hätte Jeſus mit diefem Bekenut— 
niffe eine Unwahrheit gefprochen, oder es hätte ohne das; 
felbe der Täufer ihn nicht getauft. Mußte aber auch nicht 
jever ZTäufling das Siündenbefenntniß ablegen, fo hielt 
doch ficherlich bei Sedem Sohannes eine auf die Buße fich 
beziehende Anrede; und felbit, Daß dieß nicht immer gefchah, 
gegeben, behält immer der ganze Aft, das Hinabfteigen in 
den Fluß mit Geberden bes Büßenden, einen Anftrich, dag 
Jeſus ohne Heuchelei und ohne die Gefahr, die Gemüther im 
Glauben an feine Reinheit irre zu machen, demfelben ſich nid,t 
unterziehen Fonnte. 


Wollte man annehmen, Sefus habe, als er mit dem Ve⸗ 
wußtfein, ebenfalls der Vergebung und Reinigung zu bedürfen, 
mr Taufe gefommen, fich noch nicht für den Schuldlofen ges 
halten, fo müßten wir einen fo fchnellen Uebergang von dem 
Büßenden zu dem felbft Sündenvergebenden, für mehr als 
unwahrfcheinlich halten. Auch der Ausweg, Jeſus habe eine 
folche Taufe für ſich felbft zwar nicht nöthig gehabt, fich ihr 
aber Doch unterzogen, um Andere auf die Nothwendigfeit 
berfelben hinzumeifen,, befreit Iefum nicht von dem Bormwu f, 
eıne Unmahrheit begangen zu haben, indem er doch fcheins 
bar die Handlung auch auf fich bezog: Daher entgehen wir den 
Schwierigkeiten nur dadurd,, Daß wir die Simdlofigfeit Jeſu 
nicht, nach orthodoxer Anficht, als eme „AUnmöglichfeit der 
Sünde“, fondern natürlicyer, menfchlichyer, als eine „Möglich: 
keit, nicht zu fündigen“, auffaffen, womit es fich denn recht 
wohl verträgt, daß er einer Handlung fich unterzog, durch 
welche er fidy in feinem heiligen Willen, dem allein er dieſe 


150 


Sündloſigkeit verbanfte, flärtte, und ſich fortgefette Reinheit 
gelobte. 

Noch aber haben wir mit einem andern Bedenken ung ab> 
zufinden. Da nämlid Sohannes taufte auf den, der ba 
kommen follte, wie ift es, fo müffen wir aud) hier wieder 
fragen, mit der Wahrheitsliebe Jeſu verträglic,- ſich ſelbſt 
den Anfchein des Erwartens zu geben, dba er doc ber Er- 
wartete war? wie mit feiner Klugheit, das Volk dadurch offene 
bar an einen Andern zu weifen® Daß er damals fich noch 
nicht entfchieden für den Mefftas gehalten habe, Fönnen wir 
nicht annehmen, da auch hier wieder ein undenfbarer Sprung 
angenommen werden müßte, von dem Zweifel an ſich felbft 
zu einer, allen Gefahren des Todes troßenden, Entſchieden⸗ 
heit. Muß nicht vielmehr ein fo ficheres, Andere unwider⸗ 
ftehlich mit ſich fortreißendes, Bewußtſein ſich fchon frühe ale 
der ganze Inhalt und Mittelpunkt feines geiftigen Lebens in 
ihm entwidelt haben? Doc finden wir eine willfommene 
Auskunft in einer Nachricht Juſtins, der zufolge es jüdiſche 
Erwartung war, der Meſſias müffe durd) die Salbung 
des Elias bei feinem Volke eingeführt werden. Eine folche 
konnte Ssefus in der Johannes⸗Taufe erbliden, und eben, weil 
er ſich für den Meffias hielt, derfelben fich unterwerfen, und 
die Erwartungen Anderer von ihm dadurch nicht verwirren, 
fondern beftätigen. Eine gleiche Erwartung hatte der Täus 
fer felbft bei Joh. 1, 32, womit fich freilich Die Weigerung 
bei Matth. 3, 14 nicht verträgt. 


Allen Evangelien zufolge war die Taufe von wunderbaren 
Borfällen, die fich unmittelbar an fie anfchloffen, begleitet 
(f. die Stellen); bei Sohannes werden fie nicht in Direkter 
Erzählung berichtet, fondern der Täufer erzählt fie feinen 
Schälern; von einer göttlichen Stimme wird jedod) bier 
Nichts gejagt. Alte apokryphiſche Erzählungen fügen noch feus 
rige Erfcheinungen hinzu. 

Wem diefe Wunder eigentlihh gegolten haben follen, 
wird nicht von allen Evangeliften gleid) deutlich geſagt; nach 
Sohannes müſſen fie vorzugsweife für den Täufer beftimmt 


151 


gewejen jein, da er fie als Betätigung der Mefjtanität Jeſu 
betrachtet. Auch bei Matthäus feßen wir am natürlichften 
diefe Anficht voraus; wiewohl alsdann feine Worte etwas un⸗ 
genau find, da man unter „er“ bei „fah“ (V. 16) nicht Ses 
fus, der eben genannt war, fondern den Täufer fich denken 
muß; Doc, ſcheint er wirklich das Wort auf Diefen bezogen zu 
haben, da er fagt: Cer fah, wie der Geift) über ihn Fam, 
und nicht „über fich“ — und bei der Gottesſtimme felbft die 
Worte „diefer ift“ und nicht „Du bift“ gebraucht. — Dem 
Lukas zufolge muß die Scene vor allem Volke ſich ereignet 
haben (3, 21), und nad) Markus war es Jeſus, der den 
Geift herabfonmen fah, und zu ihm werden Die Worte ges 
ſprochen: „Du dift ꝛc.“. 

Die meiſten Audleger faffen mın das Erzählte ganz buch⸗ 
ſtaͤblich als Außere, fihtbare und hörbare, Vorfälle aufs 
allein die „gebildete Neflerion * findet hierbei nicht wenige 
Schwierigkeiten. Erftlich gehört es mır einer zeitlichen Vor⸗ 
ftellung an, wenn bei Erfiheinung eines göttlichen Weſens ber 
Himmel fih aufthun muß, ald ob, was wir nicht denkbar ' 
finden können, Gott über dem Himmelsgewölbe wohne, dems 
nach von unferer Erde getrennt feiz — wie famt ſich ferner 
ber heilige Geift von einem Orte zum andern bewegen, wie 
ein endliches Wefen, oder gar m die Geſtalt einer Taube 
verförpern? Endlich kann man es fogar abeuteuerlich finden, 
daß Gott in menfchlidyen Lauten, und in der Sprache eines 
beſtimmten Volkes, geſprochen haben foll. 

Es haben daher ſchon alte Kirchenlehrer ſich zu der Anficht 
flüchten müffen, daß die Stimme Gottes, wo von einer folchen 
die Nede ift, nicht als eine Reihe aͤußerlich hörbar er, durch 
Bewegung der Luft bervorgebrachter Töne zu faffen fei, fons 
dern als ein im Snueren des Menſchen bewirfter Eindrud. 
Drigines namentlich nennt fie „innere Anfchauungen, nicht 
Wirklichkeit“, und erflärt, nur die Einfältigen könnten an 
ein wirkliches Spalten des Himmels Denfen. 





Demgemäß haben denn viele neuere Theologen auch Die 
Stimme bei der Taufe als eine innere, von Gott bewirkte 


152 


Bifion aufgefaßt. Dazu fcheinen die unbeftinmten Ausdrücke 
in dem erften, zweiten und vierten Evangelium: „ihm öffnete 
fi der Himmel“ — „er jah“ — „ich habe gefhaut“ x. 
allerdings die Hand zu bieten, und ſich auf einen im Innern 
des Sohannes, dem wir nach Marfus noch Sefum an bie 
Seite geben müffen, bewirften Eindruc deuten zu laſſen. Die 
Darftellung des Lukas aber bezeichnet die Sache durch bie 
Worte: „es gefhah, daß der Himmel fich öffnete“, — 
- „ber Geift flieg herab, in förperlicher Geſtalt“, — 
„eine Stimme Fam (wörtlich: geſchah)“ — fo beftimmt ale 
einen Außeren Vorfall, daß Diejenigen, welche Die Wahrs. 
heit fäümmtlicher Berichte feithalten, nicht nur des Lukas 
Erzählung von einem folchen verſtehen müſſen, fondern folges 
richtig auch alle übrigen, wenn fie auch) nicht mit Derfelben 
Beltimmtheit fi) ausdrüden. Wie aber nun Dishaufen 
3. B. zugeben kann, daß alles Bolf, dem Lukas zufolge, wirk⸗ 
lich Etwas gehört und gefehen, aber ein Unbeftimmtes, Unvers 
ftandenes, — und dabei doch behauptet, die Taube fei‘ nur 
dem inneren Auge füchtbar, die Stimme nur dem inneren 
Dhre hörbar geweſen, — dieje „überjinnliche Sinnlichkeit * 
vermögen wir nicht zu faffen, und wenden ung lieber gu Denen, 
die Alles für einen äußeren Vorgang halten, diefen aber nas 
türlich erklären. 

Zu diefem Behufe berufen fie fich auf die Vorſtellungsweiſe 
des Alterthums, vermöge welcher man in bedeutenden Mios 
menten, wo ein fühner Entjchluß gefaßt werden foll, ein gött⸗ 
liches Zeichen erwartet, und ganz natürliche Vorgänge ale 
folche zu betrachten geneigt ift. So habe auch Sefu und Jo⸗ 
hannes, in der Stimmung, in weldyer fie bei der Taufe ges 
wefen, „jedes zufällig eintretende Naturphänomen bedentunges 
vol fein und ihnen ald Zeichen des göttlichen Willens erfcheis 
‚nen müfen* Was num diefe natürliche Erfcheinung geweſen 
fei, darüber find fie nicht einig. Theils nehmen fie, den drei 
erften Evangelien folgend, etwas Sichtbares und Hörbares 
an, theils, bei Johannes ftchen bleibend, nur etwas Sichts 
bares. Diefes Sichtbare war den Einen zufolge ein plößliches 
Zertheilen der Wolfen, nach andern ein Bliß; die Taube 
wird als ein wirklicher Vogel dieſer Art, der gerade über 


153 


Jeſu Haupt hinſchwebte, feitgchalten, oder zu einem Blitze 
eder einem Meteore, das mit einer Taube verglichen werde, 
verflüchtigt.. Das Hörbare wird zu einem Donnerfchlage 
gerhacht, oder ganz weg erklärt, und nur für cine Deutung 
des Sichtbaken gehalten. Mit diefem Letteren tritt man aber 
offenbar den drei eriten Evangelien zu nahe, die ganz beftinmt 
auch von etwas Hörbarem, nämlid von Worten, reden; 
und Diefe ald einen Donner zu fallen, geht doch auch nicht, 
ohne eine Nachhilfe der Sage anzunehmen, welche Diefe 
Ausleger bekanntlich nicht einräumen. Daß man ferner ein 
Zertheifen der Wolfen oder einen Blitz auch ein Eichöffnen 
des Himmels nennen: kürme, muß zugeftanden werden; wie 
eines von beiden aber mit einer Taube verglichen werden 
fnne, — und dieſe wird von allen Evangeliften fejtgehalten, — 
ja, wie überhaupt mm mit einem Vogel, dieß ift fchwer zu 
begreifen. Daher gehen Diejenigen, welche an eine wirffiche 
Taube denfen, mit dem Terte noch am glimpflichiten um, kön⸗ 
nen uns aber ſchwer glaublich machen, daß eine Taube fo 
firre geweien, um zu einem Menfchen heranzufliegen und „über 
ihm zu verweilen“ (oh. 1, 32). 


Sehen wir uns aljo Durch die buchftäbliche Cübernatürliche) 
und die natürliche Erklaͤrung des Vorfall gleich wenig bes 
friedigt, fo müffen wir mit den meiften neueren Theologen 
zu einer füchtenden Prüfung unſerer evangelifchen Berichte 
ung hinwenden. Hierbei will man denn in dem des Johannes 
die reinfte Leberlieferung der Thatſache finden, von welcher 
die übrigen nur getrübte Abflüffe feien, weil jener nur von 
dem Herabiteigen des Geiſtes, ald einem meffianifchen Zeug⸗ 
nie, rede; gar wohl können ihm bloße Reden Jeſu als ein 
folches gegolten haben. Allein bezeichnet nicht auch er dieſes 
Herabfteigen fo: „ich fah den Geiſt herabfommen, wie eine 
Taube“? und bildlich, zur Bezeichnung der Sanftmuth Jeſu, 
kann er den Ausdruck auch nicht gemeint haben, fonft hätte 
er eher Jeſum felbit, nicht aber das Herabfteigen des Geifteg, 
mit einer Taube verglichen. Wenn man alfo den drei eriten 
Evangelien Unrecht thut, indem man ihre Darjtellung als 


154 / 
einen trüben Ausflug der Johanneiſchen betrachtet, wobei doch 
Manches hinzugefommen fein müßte, namentlidy die gehörte 
Stimme, wozu ſich in Johannes gar feine Veranlaffung findet, 
fo werden wir richtiger verfahren, wenn wir lieber für alle 
vier nad) einer gemeinfchaftlichen Quelle und umfehen. Als 
folche bietet fich ung zunächft Jeſaia 42, 1 dar, eine Stelle, 
welche nach Matth. 12, 17, 18 auch fonft auf den Meſſias 
angewendet wurde; in dem Berichte des Matthäus (3, 17) 
find die Worte: „an dem ic; Wohlgefallen habe“, faft wört⸗ 


lich jener Prophetenitelle entlehnt. Hiermit find wir auf bie _ 


wahre Quelle der vor nnd liegenden Wunbererzählung ges 


wiefen, nämlich auf das alte Zeftament mit feinen meffiani- . 


fchen Weiffagungen und Vorbildern, was felbft von geiftreichen 
Theologen, wie Schleiermacher, auch bei andern Theilen 
der evangeliſchen Berichte, zu fehr verfannt wird. 


Es lag ganz im Geifte des fpäteren Judenthums, Aus⸗ 


fprüche über den Meſſias, weldhe Dichter dem Sehova. in 
den Mund legten, ald wirklich gehörte Stimmen zu betradh- 
ten; Diefe Borftellungeweife war nicht allein auch Die ber 
erften Chriftgemeinde, fondern diefe mußte auch derielben ger 
mäß die Gefchichte ihres Meffias geftalten, um fich den Juden 
gegenüber zu Tegitimiren. Ganz natürlich alfo war es, aus 
jener jefatanifchen, auf den Meffias allgemein gebeuteten, Stelle 
allmälig eine Scene abzuleiten, wie Die vorliegende; es bot 
ſich aber auch noch eine andere Beranlaffung dazu dar. Die 
Worte in Pf. 2, 7: „Du bift mein Sohn, heute habe ich 
Dich gezeugt“, wurden gleichfalls auf den Meffiag bezogen, umd 
da hier, wie man annahm, der Meffias perfönlich angerebet 
wurde, fo gaben dieſe Worte eine noch beftimmtere Beranlafs 
fung, einen wirflichen göttlichen Zuruf an Sefum anzunehmen; 
daß Lukas und Markus dieſen wirklich als Anrede ftellen, 
„Du bift“, beweist, daß in der That dieſe Pfalmftelle we⸗ 
nigftend mitwirfte, der Erzählung dieſen Zug beizumifchen, 
wenn fie nicht gar die erfte Beranlaflung war. Denn in 


einigen Apokryphen lantet die Gottesftimme ganz fo, wie jene 


Pfalmmworte, und in andern ftehen dieſe wenigftens neben 
den Worten, wie fie unfere Evangelien geben; ja felbft in 
einigen alten Handfchriften des neuen Teftaments in dem bes 


va 


ee, — —— —  — 


155 - 


treffenden Verſe bei Lukas. — Daß aber eine jolche Stimme 
vom Himmel gerade mit der Taufe in Verbindung gebracht 
wurbe, lag nahe genug, fobald diefe als Weihe Sefu zu 

zu feinem Meffiasberufe aufgefaßt worden war. Ä 





Daß aber der Geift Gottes auf Jeſu befonders ruhen 
werde, mußte man annehmen, ba die Meffiagzeit überhaupt 
als die der Ausgießung des Geiſtes über alles Fleiſch gefaßt 
wurde, nad) Anleitung von Soel 3, 1 20.5 und daß es bei 
dee Taufe gefchehen werde, lag vorgebildet in der Gefchichte 
Davids, auf welchen aud) bei feiner Salbung der Geift Gottes 
hernieder fam, 1 Sam. 16, 13. Diefes Herabfonmten ganz 
finnlich zu faffen, als ein fichtbares Niederſinken und Bers 
weilen, ging gleichfalld aus alt= teftamentlichen Vorftellungen 
hervor, bei dem Meſſias aber mußte es auf ausgezeichnete, 
glänzende und, wenn der Ausdruck erlanbt ift, handgreiflichere 
Weiſe gefchehen. Es fragte fid) nur, unter welchem finnlichen 
Bilde der Geiſt Gottes gedacht wurde, wie er fich verkörpern 
fonnte. Zwar findet fich im alten wie im neuen Teſtamente 
vorzugsweife das Feuer als Sinnbild des heil. Geiſtes; da⸗ 
mit aber. find andere nicht ausgeſchloſſen. Als fchwebend - 
wird fchon 1 Mof. 1, 2 der Geift Gottes dargeitellt; dieß 
führte auf den Vergleich mit dem Fluge eines Vogels; das 
Bild bot ſich dar, wurde buchſtäblich genommen, und der 
Borftellung noch näher gerücdt, indem Der allgemeine Begriff 
des Vogels in den noch anſchaulicheren einer Taube fich zu⸗ 
hmmenzog. | 

Dem Öriente it die Taube ein heiliger Vogel; die brü- 
tende ein Sinnbild der belebenden Naturwärme; wie nahe lag 
ed, wenn einmal Die Sache finnlic gefaßt wurde, den Geift 
Gotted, der über den noch rohen Elementen fchwebte, fich 
als Taube vor uftellen! Als daher fpäter die Erde durch Die 
Sündflurh aufs Neue vom Waſſer bedeckt worden war, bringt 
eine Taube die erften Zeichen des Lebens. In fpäteren jü- . 
difchen Schriften wird daher wirklich der über den Waſſern 
fhwebende Geift Gottes mit einer Taube verglichen, und Die 
Zaube überhaupt als Sinnbild des heil, Geifteg dargeftellt; — 


* 


156 | \ 


ja es wird fogar ausdrücklich jener gleich einer Taube ſchwe⸗ 
bende Geift von dem Geifte des Meſſias verftanden, und 
mit diefem auch die Noachiſche Taube in Verbindung "gebracht. 

Die war Anlaß genug, gerade fo, wie ed gefchehen if, 
die Sefchichte der Taufe auszumalen; nur muß man Die Sache 
“nicht wieder verkehren durd; die Annahme, der Täufer habe 
in einer wirklichen Bifion den Geift ald Taube gefehen; dieß 
ift um fo unglaublicher, je mehr Gründe wir haben, den Täufer 
nicht für vollfommen überzeugt von Jeſu Meffianität zu hab 
ten, wie oben gezeigt worden. 

Dbwohl wir alfo alle näheren Umſtände bei der Taufe 
für mythifch halten müffen, fo ift doch Fein Grund vorhanden, 
an der Wirklichfeit der Taufe felbft zu zweifeln; denn ed ft 
nicht unwahrſcheinlich, daß Sefus, feiner meffianifchen Be 
ftimmung ſich bewußt, der Taufe, ald Einweihung zu. feinem 
Amte, ſich unterzogen habe. 





Faſſen wir endlich noch den Zwed ind Auge, dem bag 
Wunderbare bei der Taufe dienen follte, fo fan dieſer wohl 
nur in der, bei der Weihe der Taufe bewirften, Ausrüftung 
. mit höheren Kräften beftehen, wozu im alten Teftamente bad 
Borbild gegeben war, indem auch die Könige durch die Sab 
bung dem Geift Gottes erhalten (1 Sam. 10, 6; 16, 13). 
Wirklich fagen die drei eriten Evangelien ausdrücklich, nach 
der Taufe habe der Geiſt Jeſum in die Wüfte geführt; gleiche 
fam die erſte Wirfung des nım in ihm mohnenden. 

Eine ſolche Ausgießung des Geiftes will ſich aber nicht 
wohl vertragen mit der Erzeugung Sefu durch den heiligen 
Geiſt, wie fie bei Matthäus umd Lukas erzählt wird, noch 
weniger mit der Sohanneifchen Anficht, daß der göttliche 
Logos von Anfang an in ihm Fleiſch geworden (Joh. 1, 1, 
14); denn wozu bedurfte ed dann noch einer befonderen Aus⸗ 
rüftung mit dem heil. Geifte? Mit der Annahme, durch jene 
Erzeugung habe Sefus'nur die Kraft, gleichfam die Anlage, 
erhalten, mit diefer Ausrüftung aber erit die Wirffamfeit, die 
lebendige Thätigfeit des Geiftes in ihm, reicht man nicht 
and, da ja die letztere aus der Anlage ſich von felbit entwickeln 


157 


mußte. Allerdings könnte man mit Lücke fagen, auch bie 
gewaltigite Geiſteskraft bedarf der äußeren Anregung; allein 
je größer jene üt, dejto geringer braucht Diefe zu fein, und 
das größte Maaß des äußeren Anftoßes, wie wir cö hier 
in dem fichtbaren SHerniederjteigen des heil. Geiftes haben, 
ericheint bei dem größten Maaß der inneren Kraft immers 
bin wenigftens als Weberfluß. 


Es kann alfo in dem Kreife von Ehriften, in welchem 
ſich unfere Erzählung von den Wundern bei der Taufe aus⸗ 
bildete, die Borftellung von der Erzeugung Jeſu durch den 
heil. Geiſt nicht geberricht haben. Und wirklich dachten Dies 
jnigen Chriften, welche nicht an diefe glaubten, fich bie 
Mittheilung göttlicher Kräfte an Jeſum als erſt bei der Taufe 
gefchehen; die Ebioniten nämlich, die deßhalb fo heftig vers 
folgt wurden, und in ihrem Evangelium die Sache fogar fo 
daritellten, daß der Geijt in Geitalt der Zaube „in ihn hinein 
gegangen fei“. Auch die gemein jüdifche Vorftellung war 
feine andere, ald daß ber Meffias erft bei der Salbung durch 
den Borläufer Elias den heil. Geift erhalte. 


Sehr wahrfcheinlic, bildete fich die Sage von der Aus⸗ 
gießung des heifigen Geiftes bei der Taufe ſchon damals aus, 
als man anfing, Jeſum für den Meffias zu halten; denn am 
ſchicklichſten ſchien es, die Mittheilung der göttlichen Kraft, 
die er ale Meſſias haben mußte, an die Weihe zu diefem 
Amte zu knüpfen. Später mochte, befonders als Männer mit 
höheren Meffiasideen in die Gemeinde traten, diefe nicht mehr 
genügen; fehon vor feiner Geburt mußte Jeſus von heil. 
Beifte durchdrungen fein, und fo entftand die Miythe von feis 
ner übernatürlichen Erzeugung. Vielleicht knüpft ſich auch daran 
die Umbildung der Himmelsftimme, die, wie wir oben (f. ©. 154) 
fahen, urfprünglich, nach Bf. 2, 7, fo gelautet haben mag: 
„heute habe ich dich gezengt “; diefe Vorftellung mochte nun 
unverträglich fcheinen mit der wirklichen Erzeugung durch 
den heil. Geift, und fo gab ſich eine Umbildung der Worte 
nach Sef. 42, 1 an die Hand, wie wir fie jet haben. 


. 158 5 
Es fchließen ſich alfo die ſo eben befprochenen Erzählungen 
allerdings gegenfeitig aus; "Daß wir fie aber Dennoch neben 
einander haben, geht aus dem Character der Sage und ber 
diefelbe aufzeichnenden Schriftfteller hervor; von den einmal 
gewonnenen Schäßen wollen Beide, Sage und Schriftfteller, 
sicht gerne Etwas verlieren. 


Viertes Kapitel. 
Die Berfuchungsgefchichte. 
(Matth. 4, 1-11; Marf. 1, 12, 13; Luk. 4, 1— 133 ° 


Betrachten wir zuerft Drt und Zeit der Verfuchung Jeſu, 
fo kann es in Bezug auf den eriten auffallen, daß alle brei 
Evangeliften erzählen, Sefus fei „in die“ Wüſte geführt 
worden, da Doch nach der früheren Erzählung Sohannes, alfo 
auch Jeſus bei der Taufe, ſchon in derfelben ſich befanden. 
Indeß mochte die Erinnerung an dieſen Umſtand Teicht Durch 
die fo eben erzählte Taufe im Sordan, der jedenfalls eine 
Unterbrechung dev Wüfte bildet, verwiſcht worden fein, und 
wir dürfen daher höchftens nur eine etwas größere Genauig⸗ 
keit Des Ausdruckes, etwa: „weiter in bie Müfte hinein“ 
vermiffen. Wichtiger ift eine Schwierigkeit in Bezug auf bie 
Zeit der Verfuchung. Alle drei Synoptifer 1°) ftinnen darin 
überein: daß Jeſus unmittelbar nad) der Taufe ſich in bie 
Müfte, wo er verſucht ward, begab, dort vierzig Tage laug 
blieb, und fodann nach Galiläa ging. Betrachtet man aber des 
Johannes Bericht, fo fihmeigt dieſer nicht nur von der 
Verſuchung, fondern erzählt auch fo, daß fie gänzlich aus⸗ 
gefchloffen erſcheint. Der Täufer nämlich autwortet, nad) 
Soh. 1, 19—28 auf die Fragen des Synedriums; dann ers 
wähnt er V. 29— 34 zum Erftenmale der Taufe Jeſu; 
diefe müßte alfo fammt der Verfuchung nach 28 zu fliehen 


»2) Unter dieſem Namen begreift man die drei erften Evangeliſten; 
über die Bedeutung deöfelben vergleiche nıan die Erklärungen. 


159 

fommen; allein V. 29 fängt an: „am andern Tage“; 
Taufe und Berfuchung aber zu trennen, geht nicht, weil dieß 
den Synoptifern geradezu widerfpridht, und auch fo Fein Plaß 
für- leßtere bleibt; denn noch zweimal, V. 35 und 43, heißt 
ed: „am anderen Tage“, und endlich 3, 1 ift Sefus „am 
dritten“ Tage auf der Hochzeit zu Cana in Galiläa, weßs 
halb auch die Aushülfe die Worte „am andern Tage“ in 
„bald nachher“ umzudrchen, nicht anwendbar it. Wollte man 
endlich Taufe und vierzigtägigen Aufenthalt gerade vor B. 19, 
d. h. an die Spite der hier beginnenden Geſchichts⸗Erzählung 
des Evangeliums fegen, fo würden offenbar die Zeugniffe des 
Taufers über das bei Sefu Taufe Gefchehene zu ſpät kom⸗ 
men, nämlich wenigſtens vierzig Tage nachher. Wenn wir alfo 
vergebens in des Sohannes Darftcllung Trepp auf Trepp 
ab wandern, um unſere Verſuchungs⸗-Geſchichte unterzubringen, 
(0 bleibt nur die Annahme übrig, daß Sohannes für fie Feine 
Stelle hat, mirhin fie nicht ſowohl verfchweigt, fondern viels 
mehr gar nicht Fennt. 

Es ſtimmen aber auch die drei Synoptifer nicht genau 
mit einander überein: Markus erzählt nur allgemein, während 
der vierzig Tage fei Jeſus verfucht worden; Matthäus giebt 
drei beftimmte Verſuchungen an, die aber erft nach jenen 
vierzig Tagen eintraten (4,2, 3); Lukas hat zuerft, ganz wie 
Marfus, die allgemeine Angabe (4, 2) und erzählt dann, wie 
Matthäus, noch die befonderen, nachher eingetretenen Ber: 
ſuchungen. Hier hat Leßterer offenbar die fpätere, getrübte 
Ueberlieferung; denn wie follte er dazu kommen, aus einer 
vierzigtägigen Verſuchung gar Feine einzelne anzuführen, ſon⸗ 
dern nur die an's Ende diejer Zeit fallenden? Und dahin 
gehören doch auch feine drei namentlich hervorgehobenen, da 
fhon die erfte derfelben an den, erft aud langem Aufenthalt 
in der Wüſte bervorgegangenen Hunger anfnüpft. Wahr⸗ 
fcheinfidy bildete fich die Erzählung fo aus, daß man zuerft 
nur von Verſuchungen im Allgemeinen Etwas wußte Marf.), 
fodann einzelne hervorhob, und diefe, weil die erfte durch 
den langen Hunger Jeſu motivirt war, an’d Ende des Auf 
enthaltes ftellte Matth.), endlich aber beide Darftellungen 
„anf eine kaum erträglihe Weiſe* zufammenfaßte C&uf.). 


160 


Auch feheint die Anordnung der einzelnen Berfuchungen bei 
Matthäus die urjprüngliche zu fein, da er mit ber ſtärkſten 
fchließt, der Aufforderung zur Anbetung (4, 9 ꝛc.) 

Pas nun weiterhin Marfus mit dem, ihm eigenthümlichen, 
Veifage: „und er war unter den Thieren“, den er offenbar 
mit dem „Berfuchtwerden“ in Verbindung feßt (1, 13), meint, 
it ſchwer zu ſagen; wir müffen cs einftweilen bei dem Ur⸗ 
theife Schleiermacher's, der den Beifat einen „abens 
thenerlichen“ nennt, bewenden laffen und ihn aus der Neigung 
des Marfus erklären, der gern übertreibende Züge, von denen 
wir, wie oft bei den Apokryphen, weder Zwed uoch Anlaß 
einfehen können, beifitgt. 

Endlich fchließen die beiden erſten Evangeliſten mit einer 
Berficherung, in welcher liegt, daß der Teufel nun ganz von 
Jeſu gewichen (Matth. 4, 115 Mark. 1, 13; Lukas laßt 
ihn aber nur „bis auf eine fpätere Zeit“ ihn verlaffen, offeus 
bar im SHinblide auf die Anfechtungen Jeſu während feines 
Leidens; vrgl. Joh. 14, 30. 


— — — 
· — 


Kaum hat irgend ein Theil der evangeliſchen Geſchichte fo 
fehr alle möglichen Erflärungsverfuche erfahren, ald dieſer: 
woran hanptfächlich der Teufel fchuld ift, deffen Teibhaftiges 
Auftreten dazu einlud, die Sache mit allen Hebeln anzufaffen. 

Die erfte, aus umbefangener Anficht der Worte hervor 
gehende, Auffaffung ift die, daß Jeſus, nachdem der heil. Geiſt 
über ihn gekommen, von dieſem in die Wüfte geführt worden, 
um die Verfuchungen des Teufels zu beftehen, daß dieſer ihm 
fihtbarlich erfchien, — dann, als Sefus alle feine Verfuche 
vereitelt hatte, von ihm wich, und daß nun die Engel erw 
fchienen, um ihm zu dienen. Wie aber fünnen wir dieß, ale 
Geſchichte betrachtet, mit unferen Borftellungen und religiös 
fen Ideen vereinigen ? | 

Welchen Zwed fonnte zuvörderſt der Geift Gottes haben, 
Sefum den Verfuchungen entgegen zu führen, wie Matth.4, 1 
ausdrücklich ſagt? „ Einen ftellvertretenden, erlöfenden Werth 
derjelben wird man doch wohl nicht behaupten wollen, fo wer 
ig als daß Gott erſt nöthig hatte, Sejum auf die Probe 


161 


zu ftellen.* Fehlte es body feinem fpäteren Leben an ben 
bitterften Prüfungen nicht, fo daß er ja ohnehin, wie es 
Hebr. 4, 15 heißt, in allen Stücen verficht ward, wie wir. — 
Auch Das vierzigtägige Falten erregt nicht geringen Anftoß: 
denn. vierzig Tage ohne alle Nahrung zu leben, ift für jeden 
Menſchen unmöglicy; biefe Zahl aber für eine runde zu nehs 
men, geht nicht wohl an, ba immer noch, auch nach großem 
Abzuge, eine zu runde, das heißt zu große Anzahl von Tagen, 
übrig bleibt. Wenn Andere das „Nichteffen“ und „Faſten“ 
- tiche fo genau nehmen wollen, fondern damit den Genuß von 
Wurzeln und Kräutern noch vereinbar, oder gar, nadı Hoff⸗ 
manne fcharffinniger Bemerkung, durch dasfelbe das Trinken 
nicht ausgefchloffen erachten, fo ift dieß offenbar gegen bie 
Vorftellung der Evangeliften. Schon ein Vergleich mit dem 
eben fo langen Faften des Mofes (2 Mof. 34, 28), bes 
Elias (1 Kön. 19, 8), nöthigt und, die Erzählung von ganz 
buchftäblichen Kaften zu nehmen. Warum aber, fragen wir 
weiter, legte der Geift eine ſolche Hebung Sefu auf, da er 
wiffen konnte, Daß gerade der durch fie entitandene Hunger 
dem Teufel, den auch der Sicherfte nicht herausfordern fol, 
die erfte Handhabe zu feinen Verſuchungen gab? 





Aber eben diefe perfönliche Erfcheinung des Teufels bildet 
den größten Anftoß. Schon von dem Dafein degjelben müfs 
fen wir das Nämliche behaupten, was oben von dem der 
Engel gejagt worden (f. ©. 73); ja der Glauben an das⸗ 
felbe verträgt fi mit der Bildung des Jahrhunderts noch 
weniger, als der an Engel, und wir müflen Schleiermas> 
her beitreten, wenn er fagt, „die Berufung auf den Teufel 
koͤnne fortan nur als Ausflucht der Unwiffenheit oder Traͤgheit 
gelten“. Aber auch, felbft das Borhandenfein zugegeben, ein 
perfönliches Auftreten des Teufels ift mit unfern Borftel- 
fungen unvereinbar, und im alten wie im neuen Teflament 
ohne Beifpiel. Shnehin hätte er, um nüht ein Dumnter 
Teufel zu fein, in einer geborgten Geftalt erſcheinen müffen, 
was Doch eine gar abenteuerliche Vorftellung wäre. — Aber 
auch die Berf uch ungen ſelbſt find anſtößig genug. Entweder 

I. 11 


| 162 

kannte er ſchon Jeſu höhere Natur, dann waren fie zwecklos; 
oder er kannte fie nicht, Dann hatte er nicht nöthig, Jeſu aus⸗ 
nahmeweife perfünlich zu erfcheinen. Ferner aber hätte er feine 
glücliche Auswahl getroffen; die erfte zwar, durch den Hun⸗ 
ger, war wohl motivirt; fonnte aber durch fie Jeſus nicht 
mwanfend gemacht werden, wie war dieß von der Aufforderung, 
den halsbrechenden Verfuch, ſich von der Tempelzinne herabs 
zuftürzen, zu erwarten, oder von dem jeden nicht fchon abges 
fallenen Ifraeliten empörenden Verlangen, ben leibhaftigen 
Zeufel kniefällig zu verehren? 

Nie aber kam Jeſus, da die Verfuchungen an verfchiebes 
nen Orten ftatt fanden, fo fchnell mit dem Teufel von einem 
zum andern? Ein einfaches Wandern Jeſu kann nicht ans 
genommen werben; denn die Ausdrüde in unfern Berichten; 
„der Teufel nahm ihn, führte, ftellte 2c. ihn“, deuten zu fehr 
auf eine Einwirkung besjelben, und zwar, da er ihm (Lu. 4, 
5) alle Reiche der Welt „in Einem Augenblicke“ zeigte, auf 
eine zauberhafte Berfeßung von hier nad) dort, was doch 
allzufehr gegen die Würde Jeſu verftößr, da ihn ber Teufel 
offenbar in der Luft mit fidy herumgeführt haben müßte. Dieß 
haben fchon alte Ausleger mit Recht anftößig gefunden. Wel⸗ 
ches Auffehen mußte e8 aber machen, Sefum plößlicdy auf dem 
Tempeldach zu fehen, wenn audy fein Begleiter unfichtbar ' 
blieb! Wo ift der Berg, auf dem man „alle Reiche der 
Welt“ überjchauen kann? Es müßte denn der Teufel eine 
nach der damals noch gangbaren Borftellung, die Erde ſei 
eine Fläche, gezeichnete Landkarte vorgelegt haben! 

Daß endlich „Engel“ zu Sefu gefommen und ihm „gebient“ 
haben, kann nach dem Zufchnitte der Erzählung, und nadı 
dem Borbilde von Elias (1 Kön. 19, 5), nur vom Darbrins- 
gen erquidender Speifen genommen werden. Nun fönnen 
aber ätherifche Weſen Feine irbifchen Speifen bringen, oder, 
wenn ätherifche Speifen, fo konnten biefe dem irdifchen Leibe 
Jeſu nicht zufagen. 





Die Erwägung ber furz dargelegten Anftände in den Ver⸗ 
ſuchungsgeſchichten hat ſchon Kirchenväter veranlaßt, wenig⸗ 


163. 


tens die Drtöveränderungen ber zweiten und dritten nur ale 
innere Anſchauung zu nehmen, als ein vom Teufel bewirktes 
Gefichte. Neuere Erflärer gingen weiter, und betrachteten 
die ganze Verfuchung, — wobei denn das Falten entweder 
ald Cunglaubliche) Xhatfache, oder als Cdem Wortfinne der 
Erzählungen widerftreitende) Einbildung gefaßt wurde, — ale . 
en inneres Vorftellen und Aufchauen. Namentlich hält 
Paulus, fie für eine traumartige Bifion. In der durch bie 
Taufe erzeugten begeifterten Stimmung foll Jeſus ſich in Die 
Einfamfeit begeben, fich, das ſchwere Gewicht feines übers 
nommenen Berufes fühlend, auch die Berfuchungen, denen er 
ansgejeßt werben könne, lebhaft vorgeftellt haben; diefen_ ans 
firengenden Betradytungen fei fein feinorganifirter Körper ers 
legen und er fei in einen traumartigen Zuftand verfunfen, in 
welchem fein Geift Die vorangegangenen Ideen zu einer wirk⸗ 
lichen Gejchichte umgebildet habe; wie ja die Cinbildungskraft 
bei Ermattungen ded Körpers am thätigften ift. 

Was nun zunähft die Worte unferer Berichte betrifft, 
die man für diefe Erflärung in Anſpruch nimmt, fo ließen ſich 
allenfalls einige derfelben durch Berufung auf ähnliche Aus⸗ 
drüde- in Offenb. Joh. 1, 105 17, 3 wohl auch auf innere 
Anſchauungen bezichen; allein immerbin Tiegt bei diefen Aus⸗ 
drücken die Deutung auf wirklich außerlicdhe Vorgänge fo 
nahe, daß fie ohne befonderen Zufas nur in fo durch und 
durch vifionären Büchern, wie die angeführten find, von ins 
neren Zuftänden genommen werden können; namentlich dürfte 
in unferer Erzählung bei dem Uebergang zur wirklichen Ges 
(hichte die Bemerkung nicht fehlen, die ſich aud) Matth. 1, 
24; 14, 11 findet, daß namlich nun Jeſus wieder erwacht 
ſei. Auch finden fich folche Träume und Ertafen im Leben 
Jeſu fonft nirgends; nirgends legt er Werth auf fie. Wer 
follte fie auch hier in ihm bewirft haben? am Ende doch wohl — 
der Teufel. 

Eben fo wenig wollte der Verſuch gelingen, die Gefchichte 
der Verſuchung als außeren natürlidyen Vorgang zu betrady- 
ten; dieſer Anficht gemäß war der Teufel ein gewöhnlicher 
Menſch, und zwar ein liftiger Pharifaer, den die herrfchende 
Partei von Serufalen abfandte, um zu verfuchen, ob Jeſus 


“ 164 — 


wirklich meſſianiſche Kräfte befüße, und, wenn es ſich fo faͤnde, 
dazu zu gebrauchen wäre, im Intereſſe ber Prieiter eine Uns 
ternehmung gegen die Römer zu leiten. Neben dieſem natür⸗ 
fichen Teufel find denn die „Engel“ nichts anderes, als eime 
Karawane mit Lebensmitteln! — Es wäre überflüffig, zur 
Widerlegung diefer Anficht Etwas hinzuzufügen. 


Iſt nun unfere Gefchichte auf Feinerlei Weife denkbar, unbam 
fcheitern alle Verfuche, fie begreiflich zu machen, drängt ſich⸗ 
und der Schluß auf, daß diefe nicht fo gefchehen fein fann,_ 
wie die Evangelien fie erzählen. 

Am leichteften fommt man davon, wie es Neuere thun 
anzunehmen, daß derfelben etwas Thatfächliches zu Grunde 
liege, was Sefus feinen Jüngern erzählt habe, er fei nämlidy 
in der Wüfte ober auch anderwärts heftigen Berfuchungen aus⸗ 
geſetzt geweſen; — daß er diefe bildlich als teuflifche bezeich- 
net, und die Jünger dieſes letztere buchitäblich genommen 
haben. Allein was müßten wir von Sefu VBerftande denken, 
wenn er nur jemals ein foldyes Gelüſten, wie das in der 
zweiten Verſuchung liegende, empfunden haben follte? oder 
auch nur ein weniger abenteuerliches unter diefer Form dar 
geftellt hätte (vgl. Matth. 4, 6)2 Ueberdieß würde feine Er- 
zählung ein mit der Nedlichkeit des Lehrers unvereinbares Ges 
mifch von Wahrheit und Dichtung enthalten haben; denn bes 
Satans perſönliches Auftreten wäre ein Zug in dem Bilde, 
von dem er wiflen konnte, daß er Mißverftand veranlaffen 
mußte. | 

Nach Andern fol Jeſus die Sejchichte als Parabel feinen 
Jüngern erzählt haben, wobei denn diefen abermald Das Bers 
dienft, die Sache mißverftanden zu haben, beigelegt wird. 
Sefus wollte, fo fagt man, feine Jünger durch die Parabel 
vor gewiſſen Fehlern warnen, in die fie bei ihrem Berufe 
leicht verfallen fonnten. Allein dagegen ift vorzüglich das 
einzuwenden, daß die Erzählung gar nicht als Parabel zu er- 
fennen if, und dennoch Mißverftand veranlaffen mußte; 
denn in Parabeln müſſen die Perjonen fogleih als bloß 
fingirte fenntlic fein, entweder nur allgemein bezeichnet, 


165 


wie „der Sämann, der König ıc.“, oder wenn fie die Namen 
swirklicher Perfonen tragen, fo muß durch irgend einen Zug 
Das von ihnen Erzählte ald Dichtung deutlic, hingeftellt wers 
Den, wie z. B. wenn dem Lazarus der „reiche Mann“ in der 
Parabel gegenüber fieht. So wenig alſo Jeſus etwa den 
Petrus oder Sohannes zum Träger einer Parabel machen 
konnte, eben fo wenig ſich ſelbſt; unfere Parabel hat aber 
nur dann rechten Sinn, wenn der Meffias der Berfuchte 
ift, weßhalb auch nicht einmal eine fpätere Umbildung berfelben 
anzunehmen ift. 

Es haben daher fchen Andere angefangen, die Erzaͤhlung 
als eine fpätere, über Jeſus gemachte Dichtung zu betrach⸗ 
ten, durch welche man die höhere Anficht vom Meſſias, der 
gemeinen irdifchen Hoffnung gegenüber, habe begründen wollen. 
St hiermit fchon der Uebergang zur mythifchen Auslegung 
gegeben, jo wollen wir diefe Nichtung nun weiter verfolgen, 
und nachforfchen, in welchen altzteftamentlichen Vorbildern 
die Mythe ihre Quelle haben künute. 





Die Juden faßtey den aus der perfifchen Religion herübers 
genommenen Satan fehr bald als den befonderen Gegner 
ihrer Nation, und ald Herrfcher über die heidnifchen Völker 
af. Da nun in der Hand des Meffias die höchflen jüdi—⸗ 
ſchen Sntereffen lagen, fo mußte dieſer insbeſondere feinen 
Berfolgungen ausgefetst fein. So wie Jeſus alfo erfchienen 
war, des Satans Werfe zu zerftören (1. Joh. 3, 8), fo it 
diefer bemüht, Unfraut unter feinen Samen zu freuen (Matth. 
13, 39), fucht über ihn Herr zu werden (Joh. 14, 30) und 
eben fo feine Gläubigen abzuziehen (Eph. 6, 115 1 Petr. 5, 89. 
Da aber die Angriffe des Teufels auf die Frommen nichte 
Anderes, ald Verſuche find, fie in feine Gewalt zu befom- 
men, und zur Sünde zu verleiten, fo wurde er natürlid) ale 
der „VBerfucher“ aufgefaßt: er verfucht die Menfchen mit- 
telbar, durch Leiden und Plagen, wie fchon im Eingange 
des Buche Hiob, und unmittelbar durch Einflüfterungen 
fündlicher Gedanken, wie z. ®. der Rathſchlag, den die Schlange 
den erften Menfchen gab CL Mof. 3, 1 ꝛc.), in Weish. Sal. 


166 


2, 24; Soh. 8, 445 Dffenb. 12, 9 aufgefaßt erſcheint. — As 
Verſucher zum Böfen wird in den Älteren Büchern bes alten 
Teftamentes Sehova felbft dargeftellt, theild um feine Lieblinge 
“auf die Probe zu ftellen (1 Mof. 22, 15 2 Mof. 16, 4), 
theils um fündhafte Menfchen zu verderben (2 Sam. 24, 1); 
fpäter ward diefes Verfuchen, als Gottes unwürdig, dem Sa⸗ 
tan zugefchrieben; daher ganz dieſelbe Berfuchung, welche in 
der zuleßt angeführten Stelle noch Werf Gottes ift, in einem 
fpäteren Buche geradezu auf Rechnung des Teufels gefebt 
wird (1 Chron. 22, 13. Ja felbft die gutgemeinten Verſuchun⸗ 
gen Abrahams und des jüdischen Bolfes (ſ. die oben angeführs 
ten Stellen) find nad) fpäterer jüdifcher Anficht Werke des 
perfönlich erfcheinenden Satans. | 

Wenn aber fchon die Frommen des alten Bundes, ja das 
Bolt felbft, den Berfuchungen des Böfen ausgeſetzt waren, 
wie viel mehr mußte dieß bei dem Meſſias, „dem Haupte 
aller Gerechten und Borfämpfer des Volkes Gottes *, der 
Fall fein! Diefe Borftellung findet fich fchon bei Rabbinen, 
deren Einer z. B. den Satan zu Gott fagen läßt: „Herr, 
erlaube mir, den Meffias zu verfuchen“. Ag Ort folcher ° 
Berfuchungen mußte ſich aus mehrfachen Gründen die Wüfte 
darbieten; hier ift der Wohnfiß der höllifchen Mächte 3 Moſ. 
16, 8, 10; Tob. 8, 35 Matth. 12, 43), — bier ward auch 
das Bolf Ifrael geprüft (5 Moſ. 8, BD, — in einfame Gegens 
den zieht Jeſus zu ftiller Betrachtung fich gerne zurück (Matth. 
14, 135 Mark. 1, 355 uf. 6, 125 Joh. 6, 15), wozu die 
Aufforderung nad) feiner Taufe Doppelt groß war. Es fünnte 
baher ein längerer, und nicht gerade vierzigtägiger, Aufents 
halt desfelben. in der Wüfte nad). der Taufe allerdings bie 
gefchichtliche Grundlage unferer Mythe bilden, wiewohl and) 
ohne diefe Annahme die Verlegung der Verſuchung an diefen 
Ort und dieſe Zeit fehr denkbar ift. 


Das Faften Jefu, und zwar ein vierzigtägiges, lag vor⸗ 
gebildet in den Erzählungen von Mofes (2 Mof. 34, 38), 
und Elias (1 Kön. 19, 8), die beide, und zwar jener auf 
bem Berge Sinai, ebenfalls vierzig Tage fafteten. Ueberdieß 


167 


ſind ohne Zweifel Die vierzig Tage der Berfuchung in verfleir 
nertem Maßſtabe nichts Anderes, als die vierzig Prüfungs» 
jahre bes ifraelitiichen Bolfes in der Wüfte, was ſchon darin 
ſich auffallend bewährt, daß alle vom Satan angeführten 
Schriftſtellen aus der in 5 Mof. 6 und, 8 enthaltenen kurzen 
Beichreibung des Zuges entlehnt find; auch ergibt fih aus 
8 Kor. 10, 6, 11, daß man überhaupt jene über das ganze 
Volt verhängten harten Prüfungen ald Vorbilder derjenigen 
anjah, die über die Anhänger des Meſſias ergehen folkten. 
Mußten dieſe alfo nicht ihn felbft in verflärktem Maße trefs 
fen, um von ihm, im Gegenfaß zu dem anderen „Sohn Got⸗ 
tes“, dem iſraelitiſchen Volke, fiegreich beſtanden au wers 
ben? 

Diefem Vorbilde entſpricht nun zunächft bie erſte Ver⸗ 
ſuchung (ogl. Matth. 4, HT Hunger war ed, der das Volk 
in der Würfe am häufigften zum Murren gegen Sehova vers 
leitet hatte, obgleich es dabei hatte Ternen müſſen, was auch 
Seins dem Teufel erwidert (B. 4), „daß man nicht vom Brode 
allein lebt, fondern.2c.* (5 Mof. 8, 3). Der Ausdrud: 
„Steine in Brod verwandeln“, ald Bezeichnung eigenmäd)- 
tiger Hilfe, lag nahe gemig, da es ſtehende Formel war, 
einen mangelnden Gegenftand aus „Steinen“ hervorgehen 
zu laffen (Matth. 3, 9, und da Stein und Brod häufig als 
Gegenfäte geftellt werden; ohnehin geht ja Die Verfuchung in 
der fteinigen Wüfte vor ſich. 

Eine Verſuchung jedoch genügte nicht, wie auch Abrahaın 
deren zehm hatte beftehen müffen; fo wie aber, nach den Rabs 
binen, mit diefen der Zeufel gleichſam drei Hauptgänge madıt, 
fo bot fich auch für die Verfuchungen des Meſſias Drei als 
heilige Zahl dar: drei Mal verfanf Sefus auf Gethjemane in 
Seelenfampf, dreimal verläugnete ihn Petrus (Matth. 26), 
dreimal ftellte er Petri Liebe zu ihm in Frage (Joh. 21, 15 ıc.) 
u. |. w. 

Auch die zweite Verſuchung Matth. 4, 5, 6) ift dem Ber 
nehmen des ifraelitifchen Volkes nadıgebilder, das 5 Moſ. 6, 
16 ausdrüdlich ermahnt werden mußte, feinen Gott nicht zu 
verjuchen, wozu aud) Paulus, ebenfalls im Hinblick auf das 
Volk m der Wüſte, die Chrijten auffordert, 1 Kor. 10, 9; 


168 
anch zu dieſer Sünde mußte der Mefflas angereist werben, 
und zwar zu einer vecht frevelhaften der Art, Gott nämlich 
“zu verfuchen, ob er auch bei dem tollfühnften Beginnen wun⸗ 
berbaren Beiltand Teifte. Ein folches bot fich dar in der vom 
Satan angeführten Stelle Pf. 91, 11, worin verheißen fchien, 
Daß der unter Sehovas Schuhe Stehende fich ungefährbet von 
einer fteilen Höhe herabftürzen könne. Daß als foldhe hier 
die Zinne des Tempels gefegt ift, mag feinen Grund darin 
haben, daß der Meffias mit dem Tempel in befonderer, ges 
heimnißvoller Verbindung ſtand. 

Die britte Verfuchung ‚ die zur Anbetung des Teufels 
(Matth. 4, 8, M, ging gleichfalls aus jenen mofatfchen Er⸗ 
sählungen, nämlich aus dem öfteren Rüdfalle der Sfraeliten 
in Abgötterei, hervor. Auch dieſe wurden, nach der Lehre 
ber Rabbinen, vom Teufel hierzu verfucht, und nach fpätes 
ren jüdifhen Vorftelungen warb überhaupt jede Abgötterei 
als Anbetung des Teufels bezeichnet (Baruch 4, 75 1 Kor. 
10, 20). Der Meffias aber fonnte zu einer folchen ganz 
verfucht werden, da er, ald König der Inden, zugleich 
die heidnifchen Völfer, die ja, wie wir oben fahen, unter 
ber Gewalt des Teufels ftanden, beflegen, mithin diefen felbft 
überwältigen mußte. Konnte es alfo fir ihn nicht einladend 
fein, fi) den mühevollen Kampf, durd, den er dieß erreichen 
follte, zu erfparen, indem er den Teufel durch Anbetung des⸗ 
jelben zn freiwilliger Unterwerfung vermochte? | 

Daß nun, nad) dem langen Faften und den ſchweren Ber 
fuchungen, Engel ihn erquicten (Matth. 4, 11), lag in. dem 
Vorbilde des Elia, dem ebenfalls Engel Speife reichen (1 Kön. 
19, 5, 69; auch wird das Manna in der Wüfte „Brod der 
Engel“ genannt Pf. 78, 25). 





Fuͤnftes Kapitel, 
Die Lokalität des öffentlichen Lebens Jeſu. 
Matth. 4, 12 — 17, 23; 9, 1, 13, 54— 58; Mark. 1, 14, 
15; 6, 1—6; Luk. 4, 14— 30; Joh. an vielen einzelnen 
Stellen '°.) 


Jeſus, in Nazaret auferzogen, wählt von der Zeit feines 
öffentlichen Auftretens an, den Synoptifern zufolge, fein 
Heimathland Galiläa zum vorzugsweifen Schauplatze feiner 
Thaͤtigkeit. In Kapernaum, am galiläifchen Sce, läßt er 
fihh nieder (Matth. 4, 12—17), von da, wie von einem Mit 
telyunfte aus, macht er häufige Reifen durch ganz Galiläa, 
um zu lehren (Matth. 4, 23 und 9, 35); befucht auch die 
Gegend von Bethfaida, fo wie die nördlicher, gegen ben 
Libanon und Phönikien hin, gelegenen jüdifchen Länder; nies 
mals aber die füdlichen, Samaria und Judäa, bis zu feiner 
Reife nach Serufalem (Matt. 20, 17) wo feiner Leiden und 
Tod am Kreuze warteten. Demnad hat er während feiner 
eigentlichen Wirkſamkeit fich faft immer in dem Gebiete des 
Herodes Antipas (Galiläa), felten in dem des Philippus 
(Zradyenitis), niemals aber in dem unter den Römern 
ftehenden (Judaa) aufgehalten. 

Hiermit fimmt aber nun Sohannes durchaus nicht übers 
en. Zwar laßt ihn auch diefer nad) feiner Taufe nadı Kas 
pernaum reifen, über Kana, wo er eine Hochzeit mitfeiert 
(oh. 2); allein alsbald begibt er fich von da zu dem Pafchas 
fefte nach Serufalem, und fodann in die Landfchaft Judäa, 
von wo er nach längerer Wirkfamfeit über Samarien nad) 
Galiläa zurückkehrt (2, 135 3, 22; 4, 1, 43). — Bald darauf 
folgt eine neue Feitreife nach Jeruſalem, wo er viele Heiluns 
gen bewirkt, längere Reden hält ıc. (5); hierauf zog er eine 
Zeitlang in Galiläa umher (6, 7); dann geht er abermals zu 


23 Es verfteht fi wohl von ſelbſt, daß wir im ben Lieberfchriften 
nur Diejenigen evangelifchen Abſchnitte angeben können, welche 
in dem vorliegenden Kapitel in ihrem ganzen Zuſammenhange 
und nicht nur im Vorübergehen behandelt werben. 


170 


einen Fefte nadı Serufalem, wo er dießmal befonbers viele 
Reden hält; auch knüpft fich hieran feine Theilnahme am Fefte 
der Tempelweihe (Joh. 10, 22). Endlich zog er ſich in bie 
Gegend von Peräa (10, 40) zurüd, und hielt fich fo Lange 
bier auf, bis ihn des Lazarus Tod nadı Bethanien bei Serus 
falem rief (11), von wo er, nach einem kurzen Aufenthalte 
in der Nähe der judäifchen Wüfte (11, 54), zum lebten Pas 
fchafefte nach Serufalem fich begab (12 2c.). — Demnad; hatte 
er vor feiner leiten Feitreife fchon an vier Feften in Serufalem 
Antheil genommen, und hatte fchon längere Zeit und verfdhies 
dene Male in Judäa gewirkt, im Borübergehen auch in Sas 
marien. | 

Diefen großen Widerfpruc, zwifchen Sohannes und den 
Spnoptifern hat man lange Zeit überfehen, neuerdings aber 
fogar läugnen wollen. Man beruft fidy darauf, daß es dem 
Matthäus mehr um Sachordnung, ald firenge Angabe der 
Dertlichkeit zu thun fei, und daß er daher gar Manches von 
Jeſu erzähle, von dem er wohl gewußt, aber nicht ausdrück⸗ 
lich gefagt habe, es fer in Judäa gefchehen. Allein wenn 
er fo forgfältig den Anfang und das Ende der Galiläifchen 
Wirkfamfeit angiebt (4 und 19), wenn er es jedes Mal ges 
nau fagt, jo oft Sefus aus Galilda und auf furze Zeit und 
nur in nahegelegene Drte fich begibt; — wenn er alſo in den 
= allgemeinen Drtsbeftimmungen allerdings genau ift; fo kann 
er fo bedeutende Reifen und längere Entfernungen nicht 
ftillfchweigend übergangen haben, falls er nämlich etwas das 
von wußte; mag er auch einzelne Ortäveränderungen ins 
nerhalb der von ihm angegebenen Provinzen nicht ängftlich 
genau berichten. 

Man bat daher verfuchen müffen, den Unterfchied zwifchen 
ben bargelegten zwei Berichten anerfennend, ihn aus der vers 
fchiedenen Abficht der Schreibenden zu erflären. Einige fagen, 
Matthäus, ein Galiläer, habe ſich nur für das in Galiläa 
Gefchehene intereffirt, und daher nur dieß erzählt; altein mel: 
cher Vorwurf engherziger provinzieller Beſchraͤnktheit gegen 
einen Biographen, der überdieß den Helden feiner Erzählung 
auch außerhalb feiner eigenen Heimath hatte wirken fehen! 
Andere haben aus der Annahme, daß Matthäus in Serufalem 





171 


geichrieben habe, ben Plan besfelben, abgeleitet, den dafigen 
Ehriften nur das zu erzählen, was in dem, ihren eigenen Bes 
ebachtungen entzogenen, fernen Galilän gefchehen fei; allein 
wäre auch jene Annahme erwiefen, was fie nicht ift, fo trifft 

„der Gefchichtfchreiber and, hier wieder der gleiche Vorwurf 
der Befchränttheit, indem er doch wenigitens mit ein paar 
Worten die Ereigniffe in Subäa anerkennen mußte, wenn 
er fie auch nicht erzählen wollte! Beide fünftliche Verſuche 
vernichten fich aber gegenjeitig: denn der eine leitet das 
Schweigen aus der Entfernung, der andere aus der Nähe 
des jubäifchen Schauplates her! Ueberdieß fträuben Markus 
md Lukas, die mit Matthäus im Wefentlichen übereinftimmen, 
fih gegen beide Berfuche, weil bei ihnen die diefen Verſuchen 
a Grunde liegenden Borausfegungen durchaus nicht anwend⸗ 
bar find. 

Richt beſſer kommen diejenigen Theologen zurecht, welche 
die Verſchiedenheit ber Berichte aus der Berfchiedenheit des 
Geiftes und des Zweckes der beiderfeitigen Evangelien herz 
leiten wollen. Da nämlich, fo fagen fie, die Synoptifer, als 
die früheren, für Chriften fihrieben, die noch auf einer niedes 
tm Stufe des chriütlichen Bewußtſeins jtanden, fo mußten fie 
die für Diefelben noch) nicht verftändlichen jerufalemifchen Reden 

eſu noch weglaffen, und erit Sohannes konnte fie den höher 
gebildeten Chriſten Der Zeit, für welche er ſchrieb, wmittheilen. 
Alein dieſe Anficht zerfällt, auch abgefehen von der ungefchichts 
lihen Borausfeßung über die Entftehung der Evangelien, 
worauf fie beruht, in fich felbft. Wie follte Sefus fo Fünftlich 
gefpalten, und das Populäre in Galiläa, feine tieferen Ideen 
in Sudäa vorgetragen haben? Wurde er hier nicht eben fo 
arg mißverftanden, ald dort? Wenn er, den Synoptifern 
zufolge, bei feinem fpätern Aufenthalte in Serufalem ganz po⸗ 
puläre Vorträge hielt, follte er dieß nicht bei dem früheren 
auch gethban haben? Ueberdieß waren von dieſem Nufent- 
halte ja auch Thaten zu berichten, und zwar fehr auffallende; 
die Heilung des Blindgebornen, die Auferwedung des Yas 
zarus ıc. 

E3 mülfen alfo entweder die Synoptifer die wichtigen 

Neden und Borfälle, die Sohannes berichtet, richt gemußt 


haben, ober biefer bat wenigſtens an einen fallen Dri 
fo bedeutende Creigniffe verlegt. Allein der Widerſpruch zwi⸗ 
ſchen Beiden ftellt ſich noch greller heraus. Aus Johannes 
geht augenfcheinlich hervor, daß Jeſus zum Hauptfchauplag 
‚feiner Thätigkeit ſich Ju däa erfehen hatte; aus den Synops 
tifeern, daß dieß offenbar Galilaäg war, mit Ausnahme der 
legten Reife nach Serufalem, worin Beide übereinftimmen. 
Denn bei Johannes verläßt er Sudäa nur, wenn ed Die 
Borficht gebietet; bei den Synoptifern ebenfo Galiläa nur, 
wenn er nöthigende Gründe dafür hat. Man vergleiche aus 
Sohannes: 4, 120.5 6, 1ꝛc., mit Beziehung auf 5,185 7,1; 
Caudy feine Züge nach Peräa, 10, 40, und nach Ephraim, 
11, 54, fcheinen durd, Verfolgungen in Judäa veranlaßt zu 
fein;) — aus Matthäus: 8, 18; 14, 13; 15, 21, wo jedes 
mal als Gründe feiner Entfernung Nachftellungen angeges 
ben find. 


Demmad; nehmen Johannes und die Synoptifer zwei ganz 
verſchiedene Lofalitäten ald den Mittelpunkt der Wirkſam⸗ 
feit Sefu an, und hierin liegt der eigentliche Knoten, den es 
gilt zu entwirren. Zwar hat man fich zu Diefem Zwede in 
neuerer Zeit immer für Sohannes entfchieden, und ſelbſt 
von dieſem Punfte aus die Aechtheit des Matthäus angegrif- 
fen, wie 3. B. de Wette, Credner, Schnedenburger 
thun. Allein die Sache bedarf einer nähern Betrachtung; 
äußere Gründe koönnen hier nicht entfcheiden, da, wie in 
ber Einleitung fehon gezeigt worden, die Anſprüche der Evan⸗ 
gelien auf Anerkennung ihrer Nechtheit ſich ziemlich gleich 
ftehen. Wir müffen die Entfcheidung aus inneren Gründen 
verſuchen; nämlich nachjehen, welche Darftellung mehr innere 
Wahrfcheinlichfeit hat. 

Hier ftellen fich zunächft zwei Fragen einander gegenüber: 
„Iſt es wahrfcheinlicher, daß in der Zeit und der Gegend, 
wo die fynoptifchen Evangelien entftanden, jede Kunde von 
dem öfteren Aufenthalte in Sudaa fi) verloren habe?“ — 


”), Die Aechtheit eines Evangeliums beficht darin, Daß es wirt: 
lich von Dem Evangeliften verfaßt ift, deffen Namen es trägt. 


173 
oder: „mahrfcheinlicher, daß, obgleich ein folcher nicht ſtatt⸗ 


gefunden, doch in dem Kreife, aus dem das Johannesevange⸗ 
fm hervorging, Die Sage davon entſtanden fei?“ 


Die erftere diefer Fragen hat man aus dem Umſtande 
beiahend beantworten wollen, Daß die Ueberlieferung, welche 
- de Synoptifer enthalten, ſich vorzugsweile in Galiläd bils 

dete: alfo, fo fchloß man, ift hier alles außer Galiläa Bors 
gefallene, mit Ausnahme wichtiger Creigniffe (Geburt, Taufe, 
legte Reife) unbekannt geblieben, oder wieder in Vergeffenheit 
gerathen; in lesterm Falle verlegte man das anderwärts 
Gefchehene, was der Erinnerung noch geblieben war, aud) 
nach Galilaa. — Hingegen wenden wir ein: unbefannt 
kann ein früheres Berweilen Sefu in Judäa auch in Galifän. 
wicht geblieben fein, denn eben Johannes erzählt, daß er auf 
der eriten Reife zum Pafcha von vielen Galiläern begleitet 
gewefen fei, und bei vielen derfelden durch feine Thaten Glau⸗ 
ben gefunden (Joh. 4, 45); überdieß waren ja auch feine 
Sünger meift Galiläer, und bei feinen Feftreifen um ihn (4, 
22; 9, 23. Sollten aber ferner foldye Erinnerungen von 
Sen Wirken in Judäa fich wieder verloren haben? Gewiß 
nicht; denn was er dort that und wirkte, Das Auffehen, das 
er in der mit Fremden angefüllten Hauptftadt erregte, trug 
fo fehr zu feiner Verherrlichung bei, daß die Sage es nicht 
verlieren konnte, fondern vielmehr, wäre es auch nicht dort 
geichehen, fogar hinzu zu Dichten ſich veranlaßt fühlen konnte, 
da ber Trieb, zu verherrlichen, einer ihrer ſtaͤrkſten iſt. 
Wir müſſen alfo umgekehrt behaupten: die Sage mußte weit 
mehr veranlaßt fein, das was bei Einem Aufenthalte in 
Serufalem fidy ereignete, auf mehrere zu vertheilen, als die 
Ereigniffe bei mehreren auf Einen zufammenzuziehen. Hieraus 
ergibt ſich Fein günftiges Borurtheil für die Darjtellung des 
vierten Evangeliums. 

Dieß wird jedoch verfchwinden, wenn wir tiefer blicken 
nach den Berhältniffen und Abfichten Sefu, und fragen: 
Iſt es woahrfcheinlicher, daß er in feinem öffentlichen Leben 
mehrmals oder nur einmal in Sudaa und Serufalem ges 
wefen fei ? 


173 | 
Leicht ift ber Anftand zu heben, der darin liegen -foll, daß 
wenn wir nur Eine Feftreife annehmen, ein mwefentlicyes Mits 
tel zur Bildung Jeſu, wiederholter Aufenthalt in Serus 
ſaalem wegfiele. Allein würde auch mit einem ſolchen bie 
Größe Jeſu begreiflicher gemacht? Iſt er nicht ohne Zwei⸗ 
fel öfters in feinem früheren Leben in Serufalem gervefen 
cf oben)? und konnte ihm nicht aud; Galiläa genug Stoff 
Darbieten? — Ohne Gewicht ift ferner ein anderer Einwand 
gegen die Synoptifer, es ſei undenkbar, daß Jeſus fich auf 
ben kleinen Schauplatz, das entlegene Galiläa, folle befcränft, 
und Serufalem, wo fo viel mehr Menfcyen lebten und gebils 
detere, nur einmal betreten habe. Umgekehrt könnte man 
ſagen: er mußte zuerft unter den fchlichten, fräftigen Gali⸗ 
läern, die vom Pharifierthum unabhängiger waren, Anhang 
zu. gewinnen fuchen, ehe er e8 wagen konnte, in dem gefähr« 
lichen Serujalem aufzutreten. — Mehr Bedenken fihon erre⸗ 
gen die Synoptifer durch den Zug in ihrer Darftellung, daß 
Sefus mehrere Sahre lang kein hohes Feft in Serufalem 
befichte, womit fie ihn das mofaifche Gebot ganz (2 Mof. 
23, 14, ꝛc.) ganz aus den Augen ſetzen laffen, da er doch 
fonft fo viel Ehrfurcht dafür ausfpricht (Matth. 5, 17, x) 
und dieſe Nichtachtung den Juden⸗Chriſten, für welche nament⸗ 
lich Matthäus gejchrieben ift, fehr anftößig fein mußte. Doc 
fönnte man aud) dieß Bedenken noch befeitigen, wenn man 
antwortete, gerade weil jenen Juden⸗Chriſten, die am bes 
ften willen mußten, was einen frommen Iſraeliten zufam, 
bie Sache fo erzählt werden fonnte, wie 5. B. Matthäus 
es thut, ohne Furcht, Aergerniß zu geben; — gerade darum 
follen wir auch bier feinen Anftoß finden wollen. 
Am fchwierigften aber ift der Umftand, daß man, ohne eis 
nen mehrmaligen Aufenthalt Sefu in Serufalem, mit Sohan- 
nes, anzunehmen, nicht begreifen kann, wie er in den wenigen 
Tagen des Feftes fich fo fehr mit der herrfchenden Parthei 
der Hauptitadt habe verfeinden fünnen, daß fie ihn gefangen 
nahmen und hinrichteten. Ließe fich hierauf auch Manches . 
erwidern, jo machen e8 ja die Spnoptifer felbft unmöglich, 
- fie gegen diefen Einwand. zu fehüten, da fie felbit das Un⸗ 
richtige ihrer Darftellung verrathen. Denn die Worte, welche 


« 


175 


bei Lukas und Matthäus Iefus über Jernſalem ausfpricht: 
„Serufalem, Sernfalen, wie oft wollte ich Deine Kinder um 
mich verfammeln — aber Ihr habt nicht gewollt!“, haben 
durchaus feinen Sinn bei Luk. 13, 34, wo dieſem Evans 
geliften zufolge, Sefus, ald Lehrer, Serufalem noch nie bes 
treten hatte; — auch nicht einmal bei Mattb. 23, 37, wenn, 
wie aus feiner Stellung diefer Worte hervorgeht, Jeſus fie 
ansfprach, nachdem er erſt einige Tage in Serufalenm ges 
wirft hatte. Jeſus konnte gar nicht fo reden, wenn dieß 
nicht länger und .öfter gefchehen wäre. Hierfür fpricht auch 
fein eigenes Berhältniß zu dem Rathsherrn Joſeph von Aris 
mathia (Matth. 27, 57) und zu der Familie in Bethanien 
(Lu. 10, 38 ꝛc.), denn aud) bie Annahme, Jeſus fei bei feis 
nem einmaligen Feſtbeſuche längere Zeit in Serufalem ges 
wefen, ift unzuläßig, da er fid wohl ſchwerlich allein, ohne 
die Maffe feiner zum Feſte reifenden Galiläifchen Anhänger, 
nach der feindlichen Hauptitadt begeben haben wird. 

Müflen wir alfo der Daritellung des Sohannes, daß Je⸗ 
fus mehrmals in Serufalem geweſen, den Vorzug geben, fo 
fragt fidy nur: warum fchmweigen die Synoptiker davon? 
Die Sache laßt fich fo denken: Die erfte Leberlieferung bes 
zeichnete Die Iteden und Thaten nur allgemein ald: „in Gas 
liläa — auf der Reife — in Terufalem“ gefchehen; fpäter, 
als die Evangelien niedergefchrieben wurden, ließ ſich nicht 
mehr unterfcheiden, auf weldyer Reife, bei weldyem Aufs 
enthalte ıc. jedes Einzelne fich zutrug, und fo begnügten füch 
die Synoptifer damit, Alle in die Nubrifen: „Aufenthalt in 
Galiläa“ — „Reife“ — „Aufenthalt in Serufalem“ nach 
Anweifung der Ueberlieferung einzutragen. 





Als eigentlicher Wohnort während feines öffentlichen Lebens 
in Galiläa wird von den Synoptifern Kapernaum anges 
geben; fie nennen fie „feine Stadt“ (Matth. 9, 1); und 
hier war dag „Haus“, wo er fich aufzuhalten pflegte (Matth. 
13, 1, 36), vielleicht das des Petrus; denn ed wird fehr oft 
als das genannt, wohin ſich Jeſus begab (Mark. 1, 29, 
Matth. 8, 14; 17, 25; Luk, 4, 38). Sohannes fcheint mehr 


176 


Kana als den gewöhnlichen "Aufenthaltsort Jeſu anzunehmen, 
fo oft er in Galilän fic befand (vgl. Joh. 2,1, 125 4, 46 c.); 
auch find ihm zufolge feine vorzüglichiten Sünger nicht, wie 
die Synoptifer fagen, aus Kapernaum, fondern aus Kana 
oder Bethfaide. j 

Man fieht fich vergebens nach einem hinreichenden Grunde 
um, der Sefum bewog, ftatt wie man erwarten follte, in Naza⸗ 
ret, feinen Wohnfis in Kapernaum zu nehmen; denn Mars 
tus gibt darüber gar Nichts (1, 21), und Matthäus nur 
die Erfüllung einer altsteftamentlicdien Stelle un (4, 13 ꝛe.), 
was natürlich Nichts beweifen kann. Lukas dagegen ſcheint 
diefen Wohnungsmwechfel wohl zu motiviren: 4, 16—30 erzählt 
er fehr ausführlich, wie er zuerft in Nazaret in der Synobe 
“aufgetreten fei, dort durch feinen Vortrag Bewunderung, 
endlich aber durd, die Weigerung, Wunder zu thun, folche 
Erbitterung erregt habe, daß er der Verfolgung feiner Landes 
leute nur durch fchnelle Flucht entging. Nun freilich fonnte 
er bier nicht gut mehr wohnen! Allein, genauer betrachtet, 
gibt and) Lukas ung feinen befriedigenden Auffchluß. 

Auch die beiden andern Synoptifer nämlich erzählen einen 
Beſuch Jeſu in Nazaretz verlegen ihn aber in eine weit 
fpätere Zeit, wo derfelbe fchon lange in Kapernaum gewirkt 
hatte (Matth. 13, 54 20.5 Mark. 6, 1 20). Nun fehen aber 
beide Erzählungen einander fo ähnlich, — beide Male derfelbe 
Eindrud, den der „Zimmermanns- Sohn“ macht; — beide 
Diale keine Wunder, und derfelbe Grund dafür, Daß der 
Prophet in feinem Baterlande Nichts gelte; — daß Beiden 
offenbar derſelbe Vorfall zu Grunde liegt. Dieß muß um 
fo mehr angenommen werden, da in beiden Erzählungen ber 
Beſuch auf eine Weife dargeftellt ift, daß ein früherer nicht 
ftattgefunden haben fannz denn bei Matthäus und Markus 
vermindern ſich die Nazaretaner, wie bei Lukas, über die 
unerwartete Weisheit Jeſu; alfo kann der von Lukas ers 
- zählte Beſuch nicht ftattgefunden haben; — bei Lukas eben- 
falls diefe VBerwunderung und der Ausdrud: „heute ift dieſe 
Schrift (vom Meſſias; f. unten) vor Eueren Ohren erfüllt 
worden“; alfo kann das von Matthäus und Marfns berichtete 
Auftreten in Nazaret Fein früheres gewefen fein. 


177 


Wenn wir nun in beiden, allerdings der Form nach nicht 
ganz gleichmäßigen Erzählungen benfelben Vorfall vor und 
haben, fo, ift nur Die Frage, weldye Stellung bes Vorfalles, 
der Zeit nach, verdient den Vorzug? Hier müffen wir ung, 
obgleich die Erzählung des Lufas, wie oben gefagt, zu erflären 
fheint, warum Sefus feinen Aufenthalt nicht in Nazaret nahm, 
body für die der beiden andern entfcheiden. Denn die Worte 
der Razaretaner bei Lukas: „mas du, wie wir gehört, in Kas 
yernaum gethan, thue auch hier in deiner Heimath, bewei⸗ 
fen, baß der Befuch in Nazaret gar nicht fo frühe ftatt ges 
funden haben. kann, wie Lukas ihn ſetzt; er erklärt uns 
alfo feineswegs, warum, doc, offenbar früher, Jeſus grabe 
in Kapernaum Wunder thuend und wirfend auftrat. Es bleibt 
ans nur die Vermuthung übrig, daß Sefus diefen Drt, ale 
Heimathort mehrerer feiner beiten Sünger, unb ald den beleb⸗ 
teren, vorgezogen habe. 

Was die eigentlihe Schilderung betrifft, fo ift ſchwer 
m fagen, welche Die getreuere it. Zwar it Lukas in jeber 
Beziehung ausführlicher: zunächft, indem er die altsteftaments 
liche Stelle, über welche Sefus redet, und die Auslegung 
derſelben (4, 16— 22): genau angibt; allein da diefe Stelle, 
von der man nicht recht weiß, wie Jeſus gerade auf fie Fam, 
sine meffianifche iſt, welche Sefus gewiß öfters auf ſich an⸗ 
zuwenden pflegte, fo ift es fehr möglich, daß fein Dießmas 
liger Vortrag über biefelbe der fpäteren Sage angehört. 
Ferner befchreibt Lufas fehr genau, wie Jeſus den wüthenden 
Razaretanern entging (4, 28 — 30); allein doch fo, daß feine 
Rettung ſich ganz wie eine wunderbare ausnimmt; dennoch 
trägt diefer Theil der Erzählung noch mehr den Gharafter 
bei verherrlihenden Sage an fi, wenn auch Verfolgung 
und Rettung an fich hiftorifch fein mögen. 


E 


n © 178 


Sechsſstes Kapitel, 
Chronologiſche Anordnung ded Öffentlichen Lebens 
’ ef. j 
(Diele einzelne evangeliihe Stellen, namentlich aus Johannes.) 


Wir haben hier zuvörderſt die intereffante Frage zu erör⸗ 
tern: „Wie lange dauerte die öffentliche Wirkſamkeit Jeſu?“ 

Zur Beantwortung dieſer Frage bieten ſich uns vorerft die 
Angaben des Sohannes über die Feftreifen Jeſu nad) Je⸗ 
rufalem dar. Den Anfangspunft ber Zählung bildet dag erfte 
Paſcha, welches Jeſus nad) feiner Taufe befuchte (2, 13), 
und zwar kurze Zeit nach derfelben Cogl.. 1, 29, 35, 44 mit 
3, 1, 12, 13); Kay. 6, 4 kommt das zweite Paſcha, von 
dem aber nicht ausdrücdlich gefagt wird, daß Jeſus es auch 
: befucht habe. So hätten wir Ein Jahr; nachdem nun nod) 
die Fefte der Laubhütten und der Tempelweihe erwähnt wers 
“den, kommen wir zu dem legten Paſcha (12, 1 x) Dem 
nach hätte Jeſus zwei Jahre öffentlich gewirft. Irrigerweiſe 
nimmt man, nad) der alten Anficht der Kirchenväter, gewöhns 
lich drei Sahre an; denn ein weiteres Felt, Das ganz unbe 
ftimmt „ein Felt der Suden“ (5, 1) genannt wird, kann nicht 
auch für ein Pafıha gehalten werden, theils eben diefes uns 
beftimmten Ausdruckes wegen, -theild weil zwifchen ihm und 
dem bald nachher genannten Pafıha (6, 4 fo gut wie nichts 
. erwähnt wird, denmach ein ganzes Sahr mit Stillſchweigen 
übergangen worden wäre. 

Durch jene Rechnung jedoch befommen wir nur das Mis 
nimum der Zeit, während welcher Jeſus öffentlich wirkte; 
denn es ift keineswegs gejagt, daß Sohannes alle Pafchas 
fefte angeführt haben müßte, namentlich auch die von Jeſu 
nicht befuchten. — Aus demfelben Grunde ift es falih, aus 
den Spnoptifern zu fchließen, daß Sefus nur Ein Sahr ges 
wirft habe: es kann auch ihnen zufolge mehrere Jahre lang 
gefchehen fein. Wenn aber dennoch einige der Alteften Sekten 
Ein Jahr annahmen, fo hatte dieß einen ganz andern Grund, 
nämlich Mißverftand der auf Jeſum bezogenen SProphetenftelle 
Jeſ. 61, 2, deren Worte „das dem Herrn wohlgefällige Jahr“ 


17% 

im ftrengen Kalenderfinne genommen murben. Aus einem ans 
bern Mißveritande ging eine Diefer grabe entgegengefeßte Mei⸗ 
nung hervor, bie fich ebenfalls fchon fehr frühe bildete, daß 
naͤmlich Jeſus bei der Kreuzigung ſchon nahe an den Fünfzigen ' 
gewefen. Die Worte aber, aus denen man dieß fchloß, Joh. 
8, 57: „Du haft noch nicht fünfzig Jahre, und Abraham nicht 
geſehen“, heißen doch nur: du biſt noch viel zu jung Chaft 
noch nicht das Mannesalter vollendet), um Abraham ıc., was 
man recht gut auch zu einem Dreißiger fagen Eonnte. 

Demmach können wir, wenn wir dem Sohannes folgen, 
nur fo viel mit Beftimmtheit fagen, daß Jeſus wenigſtens 
wei Sahre und etwas drüber, — Letteres nämlich die Zeit 
von der Taufe bis zum nächften Pafcha verftanden —, öffente” 
lich gewirkt habe. - Wenn übrigens die oben befprochenen An, 
"gaben über das Jahr, in welchem Ssefus ſich taufen ließ (3, 
1) richtig find, fo Fönnte feine Wirkſamkeit auch länger ans 
gedauert haben, da Pontius Pilatus, unter dem Jeſus ges 
kreuzigt wurde, exit fieben Ssahre nach jenem Zeitpunfte von 
feiner Statthalterfchaft abberufen wurde: jedoch fol damit 
Richts behauptet werden, weil wir Feine fichern Anhalte- 
punkte für eine Rechnung haben. 





enden wir uns zweitens zu der Frage, in welcher Zeits 
folge die einzelnen Begebenheiten im Leben Jeſu fih an 
einander reihen, fo bieten ſich uns mehrfache Wege zu deren 
töfung dar. Wie wir oben fahen, fo gibt Johannes meh- 
tere Feſte in feinem Evangelium an, welche, da wir die Zeit 
derfelben genau kennen, fichere Haltpunfte zu bieten fcheinen . 
für Anordnung der Zeitfolge auch der fynoptifchen Berichte, 
denen, wie wir gleichfalls oben fahen, bis zur letzten Reife 
Jeſu, ſolche Haltpunfte gänzlich fehlen. 

Allein fo wie wir nur den erften Berfuch wagen, auf dieſe 
Weiſe den Stoff der Synoptifer zwifchen die feſtſtehenden 
Zeitpunfte der Fefte bei Johannes einzureihen, tritt uns auch 
die Unmöglichfeit, zu irgend einem Ziele zu gelangen, auf 
eine, alles angewandten Scharffinnes fpottende, Weile ents 
gegen. Denn erftens findet fich nirgends in dem winumtere 


180 — 


brochenen Guſſe galilaͤiſcher Erzählungen ber Synoptiker 
cf. oben S. 169) irgend eine Fuge, welche die Einfchiebnung 
einer .Feftreife auc nur möglich machte; fie fträuben fich 
gegen jede Anwendung dieſes Maßftabes der Zeitbeflimmung. 
Zweitens ift auch ſchon darum jede Vereinbarung Der Synops 
tifer und des Johannes unmöglich, weil beide Theile von ber 
Taufe bis zu ber Leidensgefchichte nur in einer einzigen 
. Erzählung zufammentreffen, fonft aber ganz verſchiedene Er⸗ 
eigriffe berichten. Demnach findet ſich auch umgekehrt im 
Fluffe der johanneifchen Erzählungen feine Stelle, wo die ſy⸗ 
noptifchen einmünden könnten, weil auch jene ein in fich ges 
ordnetes Ganze bilden, das Fein fremdes Einfchiebfel duldet. 
Sene einzige Erzählung, worin beide Theile übereinftimmen, 
ift die von der Speifung ımd dem Wandeln auf dem Meere 
(Matth. 14, 14, 365%) Joh. 6, 1—21), welche Johannes 
in die Zeit unmittelbar vor dem zweiten, von Sefus aber nicht 
befuchten, Paſcha (ſ. oben S. 178) fest. Allein auch fie ges 
währt feinen Anhalt fir eine Zeitfolge, weil beide Evangeli⸗ 
Fen ganz verfchiedene Anfangs» und Endpunkte haben, Nach 
Matthäus kommt Jeſus zu jener Speiſung von Galiläa, nad 
Sohannes von Sudaa her; während Matthäus ihn nach ders 
felben in entferntere Gegenden gehen laßt (V. 34), zieht er dem 
Sohannes zufolge grade in das ihm fo bekannte Kapernaum: 
Ein Theil wenigftens hat alfo die Zeit biefer Begebenheit 
falfch angegeben, und man kann aljo nicht willen, wie viele 
ber fonoptifchen Erzählungen vor, wie viele nach jenem Paſch 
zu feßen find. 
Außer diefer, gleichfalls für eine Vermittlung der beiden 
Evangelien unbrauhbaren Erzählung, treffen fie in feinem 
Berichte vor der legten Feftreife zufammen; Denn wenn audı, 
was aber von den Meiften bezweifelt wird, die Heilung eines 
föniglichen Diener (oh. 4, 477 mit der eined Hauptmann 
Knechtes bei Matth. 8, 5 ıc. diefelbe fein follte, fo if 
auch hier die große Verfchiebenheit, baß bei Johannes Jeſus 


5) Der Kürze wegen führen wir überall, wo die trei Synortiker 
im Weſentlichen übereinflimmen,, immer nur den erſten derſelben, 
den Matthäus, an. 


— 


Ä 184 
fo eben vom eriten Pafchafefte kommt, bei Matthäus aber 
von ber Bergprebigt, ‚neben der die Feftreife durchaus keinen 
Pag findet. — Wir müffen alfo darauf verzichten, Synop⸗ 
titer und Sohannes in Harmonie zu bringen; beide bewegen 
ſich zwifchen Zaufe und Leiden Jeſu in. ganz verſchiedenen 
Sagenfreifen. 

Auch. unter fich widerfprechen Die Synoptifer in fo vielen 
Zeitbeftimmungen fich fo fehr, daß auf jeden Einzelnen Bers 
Köße genug kommen, um in biefer Beziehung „feine Verläßs 
lichfeit zu untergraben *. Ueberbieß find ihre Erzählungen 
augenfcheinlich weit mehr nach Verwandtichaft des Inhaltes 
und Anklang der Ideen geordnet, als nach gefchichtlicher Zeits 
folge, obgleich fie auch dDiefe zu geben ſich bemüht, und ges 
geben zu haben ſich gefchmeichelt haben mögen, wie aus ben 
oft wiederfehrenden Uebergangsphrafen erhellt: „Als er vom 
Berge herabgeftiegen, — von da weitergehend, — Damals, — 
an eben dem Tage, — und fiehe ꝛc.“, welche wir als zu 
allgemein und feine Zeitordnung beglaubigend betrachten müſſen. 

Sohannes freilich hat weit mehr Zufammenhang und Forts 
fehritt; ob er aber der richtige fei, fünnen wir, da er gang 
eigenthümlicye Erzählungen bringt, nicht aus Vergleich mit 
andern, fondern einzig aus der inneren Wahrheit jenes von 
ihm gegebenen Zufanımenhanges in Plan und Leben Sefu bes 
urtheilen, was erit im weiteren Verlauf unferer LUnterfuchung 
geichehen muß. 


182 


Dritter Abfchnitt. 
Die Meffianität Jeſu und feine Juͤnger. 


Was fich fpeziell auf die Idee des leidenden, fterbenden und wiederkommen⸗ 
den Meffias bezieht, bleibt hier ausgefchloffen und der Leidensgefchichte 
vorbehalten, * 





N 





Erfted Kapitel. 
Jeſu eigene Anfichten über feine Perſon. 
(Sehr viele einzelne Stellen aus allen Evangelien.) . 


Wir betrachten zunächit, mit welchem Namen Sefus felbft 
feine Perfon als den Meffiad bezeichnet. 

Am’ hänfigften gebraucht er von fich den Ausdrud: „Der 
Sohn des Menfchen“. Man könnte Diefen in dem Sinne 
nehnten, welchen ber gleichbebeutende hebräifche hat, nämlich 
„Menſch“ ganz allgemein; allein dieß paßt nur in fehr wes 
nigen Stellen, 3. B. Mark. 2, 275 Matth. 12, 8, wo uns 
mittelbar vorherging: „Der Sabbath ft um des Menfchen 
willen da, nicht aber zc.“. Sonſt wird überall ein beſtimm⸗ 
ter, einzelner Menfch darunter verftanden, nämlich grade 
er felbft, und fein anderer; 3. B. Matth. 8, 20 vgl. mit ®. 19. 
Irrig aber ift es, den Ausdruck nur als eine der einfachen 
Umfchreibungen des Ich zu nehmen, wie fie allerdings bei 
den Drientalen nicht felten find: Denn wählt man dazu ein fo 
allgemeines Wort, fo bedarf es noch einer hinzutretenden bes 
fiimmteren Hindentung, etwa „biefer“, Die freilich der Re⸗ 
bende felbit durch eine Bewegung ber Hand erfeten kann, ber 
Berichterftatter aber offenbar beifegen muß, wenn er nicht. 
zweideutig fchreiben will. 

Jeſus muß alfo mit jenen Worten ſich ale „ ‚den Sohn 
des Menfchen“ in einem ganz befonderen, nur von ihm 
geltenden Sinne bezeichnet haben; Einige meinen: als „Men« 


- | 183 
ſchen im edelften Sime des Wortes“; allein es ift durchaus 
unerweislich, daß zu Jeſu Zeit die Worte jemals dieſen 
Sinn gehabt hätten. Eher könnten Die Recht haben, die fie 
umgekehrt ald Bezeichnung des „niedrigen, verachteten Mens 
ſchen“ auffaffen; allen diefe Bedeutung paßt doch nur für 
wenige Stellen, 3. B. Matt. 8, 20; Joh. 1, 52. Im ans 
dern Stellen bezeichnet ſich Jeſus damit grabezu als ein höher 
ces Wefen, 3. B. Soh. 3, 13, mo vom „Sohn des Menfchen“ 
gefagt ift, er fei zum Himmel aufgeftiegen, und 3, 13, wo 
das Weltgericht abzuhalten als fein Vorrecht bezeichnet ift. 
Daß er aber grade in feiner Würde ald Meſſias ſich fo 
nennt, geht deutlich aus Matth. 16, 28 hervor: hier ift vom 
„Kommen des Menfchenfohnes in fein Reich“ Die Rede, woruns 
ter nur das des Meffias gemeint fein kann. 
Woher eine folche Bezeichnung des Meſſias fomme, geht 
"hervor aus Bergleichung von Matth. 26, 64, wo das Koms _ 
men bes Menfchenfohnes „auf den Wolfen bes Himmels“ ver: 
kündet wird, mit Daniel, 7, 13 x. Hier fchildert der Pros 
phet, wie er in nächtlichen Gefichten den gewaltigen Herrn, 
nachdem die vier Thiere vernichtet worden, mit den Wolfen 
des Himmels, „wie eines Menfchen Eohn“, habe herabfonmen 
fehen. Da bier unter den vier Thieren die Neiche, deren 
Unterthanen die Juden nad) einander geweſen, verftanden find, 
fo ward „der vom Himmel Kommende “ in diefer Stelle als 
der Meſſias gedeutet, fchon von den Rabbinen. Die Worte: 
„wie ein Sohn des Menfchen“, bezeichnen ihn als den menfch- 
lichen, humanen, im Gegenſatze zu der thierähnlichen Rohheit 
der von ihm geftürzten Herrſcher. Diefen Nebenzug hob 
man, ganz in jüdifchem Geſchmacke (der ja auch den Mefftas 
einfach „dern Sprößling“ nannte) zur Bezeichnung des Meſſias 
überhaupt hervor, und hielt ihn als felche feſt. — Es ift 
alfo Har, daß, wenn auch mit die ſem Namen der Mefitas 
bezeichnet wurde, Sefus ihn nicht fo oft hätte von fich ges 
brauchen können, wenn er damit nicht hätte feine meffianifche 
Würde andeuten wollen. 

So verftanden ihn aud) die Juden; Sch. 12, 34 wenden 
fie das, was Jeſus vom Menfchenfohne gejagt hatte, anf 
den Meffins an. Allein das ut auffallend, daß außer Jeſus | 


184 


felöft Niemand Cden einzigen Stephanus, Apoftelg. 7, 56, 
ausgenommen) ihn fo nennt; ja es fcheinen felbft feine Sänger 
Biefen Ausdruck nicht recht verftanden zu haben; denn auf 
feine Frage: (Matth. 16, 15) „für wen haltet Shr denn mich 
(nämlich des Menfchen Sohn, wie er fih V. 13 genannt 
hatte)? * antwortete Petrus: „Du bift Chriſtus“ — was, 
ja feinen Sinn hätte, wenn diefer ſchon jenen erften von | 
Jeſu gebrauchten Ausdruck ald Bezeichnung des Meſſias (Chris 
ſtus) gefaßt hätte. 

Den Namen Meffias läßt fich Jeſus zwar auch gefallen, 
z. B. von der Samariterin Coh. 4, 26), von Petrus (Matth. 
16, 16), und auf Fragen, ob er der Meffias fei, autwortet 
er mit Sa (Soh. 10, 24 .; Matth. 26, 63 ꝛc.); allein nies 
mals nennt er in feinen Reden felbft fich fo; eben fo wermeis 
det er den Namen: „Sohn Davids“ Beides wohl aus 
dem Grunde, weil fie zu fehr an die gewöhnlichen politis 
fhen Erwartungen, an die Hoffnungen eines irdifch glänzens 
den Reiches erinnerten, Die ſich an die Perfon des Meſſias 
anfnüpften. Obgleich zwar auch der Name „des Meitfchen 
Sohn“ bei Daniel mit der dee einer Weltherrfchaft verbuns 
den erfcheint, fo ift Diefelbe doch hier weit geiftiger und höher 
gefaßt, und ſchon das Ungemwöhnliche des Namens ‚war 
geeignet, ungewöhnliche Vorftellungen zu erwecken. Welche 
Vorſtellung er mit demfelben verband, ift ſchwer zu fagen; 
daß er Damit habe erinnerlich machen wollen, wie Er, uners 
achtet feiner göttlichen Natur, doc wahrer Menſch fei, iſt⸗ 
barum wicht benkbar, ‘weil die herrfchenden Borftellungen 
eher dieſe "Seite zum Nachtheile der Göttlichleit des Meſſias 
hervorhoben, als umgefehrt Die göttliche zum Nachtheile der 
irdifchen. Bielmehr mochte er wohl im Gegentheil, durch dad 
Anfnüpfen an jene Daniel’fche Stelle, die Borftellung von 
feıner göttlichen Natur, die in diefer Stelle ſich mit dieſem 
Namen verbindet, ftets lebendig erhalten wollen, wie wenn 
er fagte: „Sch bin diefer Menfchenfohn, der dem Daniel 
zufolge vom Himmel herabgefommen ift ꝛc.“ — 


. 185 


” Nichte nur „Menfchenfohn“, fondern auch „Sohn Gottes“ 
nennt Jeſus fich, und wird von Andern oft fo genannt, Dies 
fer Ausdrud kommt in der ganz buchftäblichen Bedeutung 
„von Gottes Geift unmittelbar Erzeugter“ nur bei Luk. 1, 35 
vor; fonft wird er in Diefem Sinne niemald von Sefus ges 
braucht. In der weiteften, moralifchen Bedeutung wird er 
ſolchen Menfchen beigelegt, die durch Tugend ſich Gott ähnlich - 
machen; z. B. Matth, 5, 9, 455 Luk. 6, 35. 

Am häufigiten aber iſt Diefer Ausdruck Bezeichnung des 
Meſſias; und in diefem Sinne wird er fo oft von Sefus 
gebraucht; wie namentlich aus den mit ihn verbundenen Wors 
ten erhellt, „du bift der Sohn Gottes, der König Iſraels“ 
(Soh. 1, 50), — „du bift Ehriftus, der Sohn des lebendigen 
Sottes * (Matth. 16, 165 Soh. 6, 695 vgl. Soh. 11, 47; 
Matth. 26, 63). Da nämlicdy nicht nur das Volk Sfrael 
der Sohn Gottes genannt wird CHof. 11, 15 2 Mof. 4, 
22), Sondern aud) vorzugsweife deffen Könige diefen Namen 
führen (22 Sam. 7, 145 Pf. 2, 7), weil fie, nach menfchlicher 
Weiſe, als Mitregenten Jehovas über Das auserwählte Volk 
gebacht werden, fo war es fo natürlich, daß dieſer Ausdrud 
Sohn Gottes in ganz befonderem Maße dem Meffias zus 
fam, als dem geliebteften Eohn Gottes und dem gewaltigften 
Fürften feines Volkes. Während Diefer mit den Worten 
„Sohn Davids“ als der Wiederherfteller des irdifchen Reiches 
der Suden bezeichnet wird, drücden dagegen die Worte Sohn 
Gottes mehr feine göttliche Würde, feine Theilnahme an 
der Macht und Ehre Gottes aus. — Jeſus aber, indem er 
fi) diefen Namen beilegte, gab ihm eine noch tiefere, eigen- 
thümliche Bedeutung, er bezeichnete damit feine Gottegjohn- 
fchaft, als ein Leben und Sichverfenfen in den Angelegenheiten 
des Vaters, als ein Aufgehen feiner ganzen Perfönlichkeit 
in der Semeinfchaft mit Gott, die der Mittelpunft feines 
ganzen Weſens war, der Breinpunft, mit dem er in ben 
Seinen das göttliche Feuer entziinden wollte. Vgl. beſonders 
Matth. 11, 27. Sn diefem Sinue erfcheint jener Ausdrud 
jo oft im ‚vierten Evangelium, in deſſen Reden der Gedanke 
vorherrfcht, daß der Sohn mit dem Vater Eins fei, und 


186° 
ohne ihn Nichts weder rebe, noch thue. Vgl. Joh. 5, 19; 
10, 30; 12, 49; 14, 28; 17, 21. 

Kein Wunder alfo, daß die Tuben fo häufig Anſtoß daran 
nehmen, was ebenfalls im vierten Evangelium vorzüglich her⸗ 
vortritt, wenn Sefus fid) den Sohn Gottes nennt, da er 
diefen Ausdruck von der jüdischen Vorftelung eines glänzenden 
fichtbaren Herrſchers zu dem Begriffe eines mit Gott in um 
fichtbarer Gemeinfchaft lebenden Geiftes erhoben hatte. Diefen 
Anftoß ſucht er nicht nur Dadurch zu entfernen,- daß er auf 
feine Würde als Meſſias, der ja „Sohn Gottes“ im alten 
Zeitamente genannt wird, fich beruft, fondern auch durch bie 
Bemerkung, daß im alten Teftamente Pf. 82, 6) auch andere 
Menfhen, Fürjten und Obrigfeiten, „Götter“ genannt wurs 
ben (Joh. 10, 34); offenbar will er alfo auch darauf bins 
weilen, daß es nicht einmal der Meffianität bebürfe, um fich 
in ein fo inniges VBerhältniß zu Gott und dem Göttlichen zu 
feben. 





Ueber feine göttliche Sendung und die ihm ertheilte Voll⸗ 
macht fpricht ſich Sefus in allen Evangelien auf gleiche Weiſe 
aus: er ift, wie er fagt, von Gott geſendet (Matth. 10, 405. 
Joh. 3, 23), im ansfchließlichen Befiße der reinen Erkenntniß 
Gottes (Matth. 11, 275 Joh. 3, 13); ihm ift alle Gewalt 
gegeben (Matt. 11, 27), nicht nur über fein Neich (Joh. 
10, 29; 17, 6), fondern über alle Menfchen (Sch. 17, 2) 
und bie ganze Welt (Matth. 28, 18); er wird die Todten 
erweden (oh. 5, 28) und Gericht halten (Matth. 25, 31x; 
Soh. 5, 22, 29); — Alles Befugniffe, die nach jübifchen Bors 
ftellungen dem Meſſias zufamen. 

Dagegen ift es dem Evangeliften Sohannes eigenthümlid,, 
daß nur in ihm Jeſus von feiner Präeriftenz, feinem Dar 
fein vor feiner menfchlichen Erſcheinung fpricht, und zwar in 
den beftimmteften Ausdrüden. Zwar könnten die orte „vom 
Himmel herabgefommen“ (Soh. 3, 13) und „ic, bin vom Bas 
ter ausgegangen“ (16, 28) als nur bilbliche Bezeichnungen 
feines höheren, göttlichen Urfprunges genommen werden, 
und der Ausdrud: „ehe Abraham war, war ich“ (8, 38), 
nur von feiner uranfänglichen Beſtimmung zum Meſſias vers 


187 | 


fanden werben, fo wie auch in 17, 5 biefer allgemeine Sinn 
gefunden werden könnte. Wenn er aber Soh. 6, 62 von feis 

nem „Auffteigen dahin, wo ich ſchon früher war“, fpricht, 
fo kann dieß, in Verbindung mit den übrigen Stellen, doch 
nur als eine beitimmte Bezeichnung feines früheren Seins, 
ſchon vor der Geburt, genommen werden. 

Vergleicht man nun die Anfichten, welche ver Evangelift 
ſelbſſt zu Anfang feines Evangeliums über „den Cin Sefus) Fleifch 
gewordenen Logos, der von Anfang anbei Gott war“, aus⸗ 
richt, mit dem, was er Jeſum über feine Präeriftenz fagen 
Kt, fo könnte man freilicy verfucht werben zu der Annahme, 
“er babe Jeſum in den Mund gelegt, was er, Johannes, von 
hm gehalten. Allein wir müſſen Doch zuvor unterfuchen, ob 
sicht auch Jeſus wirklich diefen -Slauben über fich felbit has 
ben konnte? Sin einem fo innig religiöfen, in Gott verfenften 
Gemüthe, wie es fic in Sefus offenbart, Fonnte fich gar 
wohl, auch ohne durch Die gangbaren Borftellungen vom Mefs 
fias angeregt zu fein, Das Gefühl der untrennbaren Gemeins 
fchaft mit Gott zu dem Glauben an ein früheres Sein bei 
Gott fteigern, — Die erregte Einbilbungsfraft geftaltete das 
Gefühl des gegenwärtigen Berhältniffes zu Gott zu einer 
Erinnerung an ein früheres, uranfängliches. „Lieber wes 
nigftens möchte ich die Sache fo faffen, als mich auf die 
göttliche Natur Chrifti int orthodoren Einne berufen, vermöge 
welcher ihm eine Erinnerung eingewohnt habe, die freilich blos 
ßen Menfchen nicht zukommen könne; eine Vorſtellung, welche 
Sefum zu einem fremdartigen Weſen macht, dergleichen 
eines weder dem Philofophen und Hiftorifer glaublich, noch 
bem Gläubigen, wenn er ſich recht verfteht, tröſtlich fein 
fanıt. * 

Weit näher noch lag aber Jeſu eine ſolche Vorſtellung 
von ſeiner Perſon, wie ſie nach unſerer Anſicht in jenem 
Ausdrucke enthalten iſt, wenn er, ſobald er ſich als den Meſ⸗ 
ſias erkannt hätte, Anlaß zu derſelben fand in den Ideen, 
die ſich zu ſeiner Zeit über den Meſſias gebildet hattten. Und 
dieß iſt wirktich der Fall. Zwar beweist die oben ©. 183 
befprochene Stelle aus Daniel, wo von dem Kommen Des 
Menſchenſohnes mit den Wolfen die Rede ift, Nichts über 


188 


das Vorhandenfein einer folchen Idee. - Dagegen finden fich 
ſchon in den Pfalmen, den Spridwörtern ꝛc. Stellen, wo 
die Weisheit, das Wort Gottes ald eigene Perfonen gedacht 
werden; hiesaus floß bie fpätere jüdifche Weife, das Wort 
und die Wohnung Sehovas, anfangs bloße Umfchreibungen 
feines Namens, ſich ald eigene, verfchiedene und doch mit 
ihm einige Wefen vorzuftellen. Bon dieſem perfünlichen Got⸗ 
tesiworte gingen alle Einwirkungen und Dffenbarungen aus, 
die zu Gunſten des ifraelitifchen Volkes gefchahen; wie natürs 
lich war es, die leßte und glänzendfte Veranftaltung der Art, 
das Erfcheinen des Meffias, in befonderem Grade bem 
Gottesworte zuzufchreiben! Hierdurch kam man zu der 
Borftellung, daß mit dem Meſſias auch das Wort erfcheinen 
werde, und was man dieſem zufchrieb, wurde auch vom 
Meſſias ausgeſagt, wie es fchon Paulus thut. Demnach 
war der Meſſias ſchon in der Wüfte ber Begleiter des Volles 
(1 Kor. 10, 4, 9), — ja ichon bei den erften Aeltern im 
Paradiefe, bei der Weltfchöpfung wirkte er mit (Kol. 1, 16), 
lebte noch vor derfelben bei Gott in herrlichem Zuſtande 
Phil. 2, ©, bis er in Jeſus Menfch wurde. 

Wenn diefe Borftelung von der Präeriftenz des Meffias 
erweislich in der höhern jübifchen Theologie ſich vorfand, fo 
ift es allerdings fehr möglich, daß Sefus Diefelbe, nachdem 
er ſich als Meffias erkannt hatte, auf fich übertrug; ba er 
aber dieß einzig in ben Reden des vierten Evangeliums, beffen 
Verfaſſer mit jener Theologie vertraut war, thut, fo muß 
immer der Zweifel -übrig bleiben, ob berfelbe ung nicht ſtatt 
der Reden Jeſu feine eigenen Betrachtungen über deſſen 
Weſen giöt. 


Zweites Kapitel. 

Jeſu meffinnifcher Wlan im Allgemeinen. 
(Matth. 16, 15—20; Marl. 8, 39— 31; Luk. 9, 21 — 24: 
Joh. 6, 68, 69; einzelne Stellen. 

Alle Evangelien ftimmen darin überein, daß Jeſus fchon 
von ber Taufe an fi als Meſſias dargeftelt, und ale 


0 189. 


folcher Anerkennung nicht nur bei feinen Süngern, fonbern auch 
im Bolfe gefunden habe. Darin jedoch weicht Sohannes von 
den übrigen bebeutenb ab, daß bei ihm Jeſus und feine Ans 
hinger dem Glauben an feine Mefftanität durchaus treu bleis 
ben, während jenen zufolge Volk und Sünger öfters wieber 
an Sefu irre werden, ja er felbft zuweilen weniger offen für 
den Meſſias fich erklärt. Bei dem Bolfe ift ein folches 
Schwanfen fehr erflärlich, wie es fich 3. B. Darin ausfpricht, 
daß basfelbe, nachdem er fchon ald Sohn Gottes verehrt 
(Matth. 14, 33; 8, 29), ald Sohn Davids angerufen wors 
den (8, 27) — doch noch ſchwankt, ob es ihn für den wies 
dererftanbenen Täufer, oder für den Elias, oder den Seremias 
halten ſoll; und Alle ihn nur ald Vorläufer des Meſſias 
betrachten, was felbit Soh. 7, 40 durchfchimmert. Erklaͤrlich 
iſt dieß Schwanfen, weil wir ja hier theils bie Urtheile vers 
fhiedener Kreife Des Bolfes haben, theild auch Den Aus⸗ 
druck einer wieder nüchterner gewordenen Anficht, nachdem 
bie durch den Eindrud von Jeſu Thaten hervorgebracdhte erfte 
Begeilterung vorüber war. 

-Auffallender ift das verſchiedene Benehmen feiner Juͤnger 
bei Ssohannes und den Synoptifern. Während fie bei Sohans 
nes fehon unmittelbar nad) der Taufe ihn als Meſſias bes 
grüßen (1, 42, 46, 50), wovon das Befenntniß des Petrus 
nur eine Beftätigung ift (6, 68, 69), erfcheint bei ben 
Synoptikern dieß Bekenntniß fo fehr. als der erfte Ausdrud 
ihres Glaubens an die Meffianität Sefu, und zwar erft nad 
langem Zufammenfein und furz vor deſſen Leiden, daß Jeſus 
barüber erftaunt, den Petrus glücklich preist und den Jün⸗ 
gern verbietet, Diefe neue Ueberzeugung weiter zu verbreiten, 
(S. die oben bezeichneten Stellen.) Auch Sefus felbft benennt 
fi) bei Johannes anders, als bei den Synoptikern; dort er- 
Härt er glei von der Taufe an offen feine Meffianität dem 
Kathanael (1, 51), den Samaritern bei dem erften Feftbefuche 
(4, 26, 39 ıc.) und bei dem zweiten den Suden (5, 46). 
Hier aber, bei den Synoptifern, gibt er fich zwar fchon in 
der Bergpredigt Die Stellung des Meſſias, und fpäter in feis 
ner Inſtruktion der Junger (Matth. 10, 23); dem widers 
fpricht aber fo gänzlich fein Benehmen bei jenem Befenntniffe 


400 


des Petrus, daß er offenbar vor. demfelben den Juͤngern fich 
nicht beftimmt als Meſſias dargeitellt haben konnte. Daher 
find die neueften Ausleger darüber einig, daß alle Reben und 
Thaten Jeſu, wodurch er ſich vor jenem Belenntniffe als 
Meſſias zu erfennen gibt, nur durch einen Verſtoß der Berichts 
eritatter in der Zeitrechnung vor dasſelbe geſetzt worden find. 
Man hat alfo zwei Abfchnitte in feinem Leben zu unterfcheis 
den, deren Wendepunkt eben jenes Belenntniß bildet; in dem 
erften ftellte er füch nicht ale Meffias, fondern ſetzte nur die 
Predigt des Täufers fort: „Thut Buße; denn das Himmels 
reich it nahe“; in dem zweiten aber galt er er den Seinen 
für den Meſſias. Ä 

Hier entiteht nun endlich noch die Frage: Hat auch Jeſus 
ſelbſt fich erit fpäter für den Mefjias gehalten? oder erfannte 
er ſich als folchen fchon von Anfang feines Wirkens an, vers 
mied ed aber, Diefe Ueberzeugung zu verbreiten? Das Leg» 
tere müflen wir bejahen; denn vielfältige Beweife liegen dar⸗ 
über vor, daß er wünfchte, der Glaube an feine Meffianität 
möge fich nicht zu frühe und zu fehr verbreiten; er verbies 
tet den Geheilten die Ausbreitung der Sache, dem Ausfätigen 
Matth. 8, 4, dem Blinden 9, 30, vielen Geheilten 12, 16, 
den eltern bes wieder erwecdten Mäbchens Mark, 5, 43; 
namentlich legt er den Dämonifchen Schweigen auf Mark. 1, 
345 3,12 u. ſ. w.; eben fo verbietet er den Zeugen feiner 
Berklärung die Bekanntmachung des Ereigniffes (Matth. 17, 9) 
und den Tüngern Die Verbreitung ihrer Anficht, Daß er der 
Meſſias fei (16, 20). Diefe Berbote find fo häufig, daß bie, 
Formel derſelben ftehend geworben und felbit da von ben 
Evangeliſten angewendet zu fein fcheint, wo fie feinen rechten 
Sinn hat, wie 5. B. Matth. 8, 4, wo eine Heilung im Ges 
dränge bes Volfed gefchieht. Ald Grund diefer forgfältigen 
Vermeidung alles Auffehens gibt Matth. 12, 19 feine Befcheis 
denheit an, indem er ihn Dem geräufchlos wirkenden Knechte 
Gottes. bei Jeſ. 42, 1 vergleicht; allein dieſer Grund reicht 
nicht aus. Vielmehr liegt der wahre Grund bei Soh. 6, 15 
zu Tage, wo nach einer wunderbaren Speifung das Volk, 
das ihn ald den Meſſias erfannt hatte, zum Könige machen 
will. Er hatte alfo „von der Berbreitung jeder Rede ober 


/ j 194 


That, die‘ ihn als den erwarteten Meſſias zu beurfunben fchien, 
eine Aufregung der fleifchlichen Mefjiashoffnungen feiner 
Zeitgenoffen zu befürchten, deren Umbildung ins Geiftigegre 
die Aufgabe feines Lebens war *. Daher auch‘ verbietet er 
die Bekanntmachung der Verklärung, fo lange er nody lebe, 
und knüpft an jenes Verbot, das Belenntniß Petri zu vers 
breiten (Matth. 16, 20), ſogleich die Verkündigung feines 
Leidens und Sterbens. „Sein Tod nämlich war das einzige 
Mittel, durdy welche er die Mefftasidee feiner Volfsgenoffen 
von ihren irdifchen Beftandtheilen zu befreien hoffte*. Jedes 
entfchiedene Auftreten als Meſſias vor demfelben mußte falſche 
Hoffnungen erweden; daher jene forgfamen Verbote, daher 
die Zurückhaltung felbft gegen feine Junger, und feine Freude 
darüber, daß fie ihn dennoch als Meſſias erkannt hatten; das 
her endlich vermied er es, ſich Chriſtus zu nennen. 


DObgleich aus dem Geſagten ſchon deutlich erhellt, daß 
Jeſus die weltlichen Meifiashoffnungen feiner Zeit, die einen 
durchaus politifchen Anſtrich hatten, und namentlich auf Bes 
freiung von dem Drude der Römer und Begründung eines 
unvergänglichen Reiches gerichtet waren, durchaus nicht theilte, 
fo haben Doch von jeher die Gegner des Chriftenthums Jeſu 
auch einen politifchen Plan beigelegt; — am Beſtimmteſten 
wirft der Wolfenbüttel’fche Fragmentift ihm vor, er habe 
ſich zum weltlichen Herricher erheben wollen. Die Gründe, 
welche für dieſe Anficht vorgebracht werden, find folgende: 
Jeſus kündigt immer nur das nahende Meffiasreich ſchlecht⸗ 
bin an, ohne ſich deutlicher zu erklären, was er Darunter 
verftehe, billigt alfo ftillfchweigend die politifchen Hoffnungen 
feiner Anhänger, die ja Feine andern, als eben dieſe hatten; 
— er fendet feine Apoftel aus, das Meffiagreich zu verfünden 
(Matth. 10), und doch fannte er deren Erwartungen, Die 
fo weltlich waren, daß fie fid) um die oberfte Stelle im Reiche 
. zanften (Matth. 18, 1), ſich Site zur Rechten und Linken Des 
Thrones ausbaten (Mark. 10, 35 20), und felbft nach feiner 
Auferftehung noch ein „Aufrichten der Herrichaft Iſraels“ ers 
warteten; diefe Vorftelungen mußten alfo Die Abgelendeten 


192 


verbreiten; — er felbft verheißt in einer Nebe (Matth. 19, 
28) feinen Apofteln, daß fie in der Wiedergeburt, wen er 
feinen herrlichen Thron beftiegen, auf zwölf Stühlen figen und 
die zwölf Stämme richten werben; ba er die Erwartungen ber 
Sünger kannte, fo hat er diefe damit offenbar nähren wollen, 
wenn er fich nicht bloß ihren Vorftellungen anbequemte, was 
aber unreblich gewefen wäre; — er zog bei dem legten Fefte 
in Serufalem feierlich ein, wie um ben zahlreich verſammelten 
Juden ald Herrfcher fich zu zeigen, erinnerte durch den Eſel 
an den Einzug des Königs Zacharias, ließ fich Die Begrüßung 
des Volkes als König gefallen, und betrug fich mit Herrfchers 
geberden im Tempel und vor dem hohen Nathe Matth. 23). 





Allein alle diefe Gründe blenden nur, ohne Etwas zu bes 
weißen, und fallen bei näherer Betrachtung in fich zufammen. 
Daß er ftillfchweigend die irdiſchen Meffiagerwartungen ges 
billigt und genährt habe, Tann Niemand behaupten, der ſich 
nur der Bergpredigt ?°) erinnert, wo er „als feine Aufgabe 
die Bergeiftigung des Gefeßes, die Erhöhung der fittfichen 
Anforderungen an den Menfhen und die Bereblung feines 
inneren und äußeren Lebens ausgefprochen*, der bedenft, daß 
Sefus in feinen Gleichnißreden „Das Meſſiasreich niemals im 
jüdischen Sinne, fondern immer nur als ein fittlich=religiöfes 
Gemeinwefen gefchildert hatte*, und daß die Juden ohne 
Zweifel nur darum an feiner Meffianität irre wurden. — 
Seine ausgefandten Jünger follten nur vorbereitend wirs 
fen, empfänglich machen für das Meffinsreich; die Läuterung 
der Vorftellungen von demſelben blieb der eigenen Lehre Jeſu 
und dem Eindrude feines nahen Todes vorbehalten. — Die 
Rede von Thron und Seffel kann nur bildlich genommen 
werben; denn in ihr verheißt er auch, daß in feinem Reiche 
die Jünger mit ihm effen und trinfen werben, daß fie die ver- 
Iaffenen Güter, Felder, Mütter, Kinder ıc. hundertfältig wieber 


26, Richtiger „Bergrede“; allein da der Name Bergprebigt ein- 
mal fo gewöhnfich geworden, fo haben wir ihn nicht aufgeben 
wollen. 


193 


erhalten werben, was doch der nicht buchitäblich nehmen 
tonnte, der früher erklärt hatte, man werde dort weder freien 
noch ſich freien laſſen. — Sein Einzug in Serufalem beweist 
am allerwenigftenz; nach allem Borausgegangenen fonnte es 
nicht mehr zweifelhaft fein, in welchem Sinne er die Hub 
digungen des Volkes aufnahm. Die Tempelreinigung und die 
ſcharfen Reden gegen bie Schriftgelehrten deuten aber mehr 
auf einen Neligionsreformator, als auf einen Herrſcher. 
Nimmt man nun dazu, wie er fid) dem Volke entzog, als. 
es ihn zum Könige machen wollte (Joh. 6, 15), — wie er 
erflärt, das Mefftagreich komme nicht in fichtbarem Ganze, 
fondern fei bereits unbemerkt erjchienen (Luk. 17, 20), — wie 
er Gehorfam auch gegen die heidnifche Obrigkeit predigt 
(Matth. 22, 21), — wie er nach dem Einzuge in Serufalem 
der aufgeregten Menge ausweicht, — wie er vor deu Rich⸗ 


tern erflärt, „fein Reich fei nicht von bier, und nicht von - 


diefer Welt“, — daß der römifche Landpfleger Pilatus zur 
Berurtheilung Jeſu von den Suden faft gezwungen wurde, 
da er doch der Erfte fein mußte, ihn zu firafen, wenn audı 
nur eine Spur von politiichen Planen vorgelegen hätte, — 
und daß endlich der Haß des Volkes, mit dem es ihn dem 
Zode überlieferte, grade feinen Grund in getäufchten polis 
tifchen Hoffnungen haben konnte; fo bleibt in der That Fein 
Zweifel mehr daran übrig, daß Jeſus von jeher einen rein 
geiftigen Meffiaspları gehabt habe. 

Es bedarf fomit der Verſuch neuerer Theologen, Die in 
den Evangelien vorliegenden widerfprechenden Anzeichen 
über den Plan Jeſu durch die Annahme auszugleichen, Daß 
Sefus anfangs auch einen politifchen Plan gehabt, Diefen 
aber fpäter ganz aufgegeben habe; — es bedarf diefer Vers 
ſuch Feiner befonderen Widerlegung, weil die Vorausſetzung, 
auf der er beruht, nemlich der vermeintliche Widerfpruch, 
gar nicht vorhanden ift. | 


194 


Ä Dritted Kapitel 
Stellung Jeſu zum mofaifchen Gefege, zu den Heiden 
und den Samaritern. 


(Diele einzelne Stellen und Joh. 4, 5— 43.) 


Daß das moſaiſche Geſetz durch die Kirche Jeſu thats 
fächlich aufgehoben worden, ift befannt; es entfteht nur noch 
Frage, ob Diefes auch im Plane Jeſu gelegen habe? 

Diele feiner Handlungen und Ausfprüche fcheinen biefe 
Frage zu bejahen. Er verlangt von feinen Anhängern nicht 
Beobachten der einzeinen mofaifchen Vorſchriften, fondern Feſt⸗ 
halten an dem inneren Geiſte der Religioſität und Sittlich⸗ 
keit, ohne welchen Faften, Beten ıc. feinen Werth habe (Matth. 
6, 1—18), er verwirft die mofaifchen Speifeverbote durch den 
befannten Ausſpruch Matth. 15, 11, — den Opferdienſt 
ftellt er hinter die Gefinnung weit zurück, indem er die Ans 
ficht eines Schriftlehrers, „die Liebe fei mehr als alle Opfer“, 
fehr billigt, und felbit die Worte Hoſea 6, 6: „Barmherzigkeit 
will ich und nicht Opfer“, fo oft anführt (Matth. 9, 135 12, 
7); — gegen die Sabbatfeier hat er öfters verftoßen, aus⸗ 
drücklich fi) erklärt (Matth. 12, 1 -13; Marl, 3, 1—55 
Joh. 7, 22 20.), und fich, als dem „Menfchenfohn“ die Macht 
über den Sabbat zuerfannt; mas auch in der jüdifchen Mefs 
fiagvorftellung gelegen zu haben fcheint; — Diefer Sinn mag 
auch in den Worten liegen: „Brechet dieien Tempel ab, und 
in drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen“ — Worte, die 
bei Soh. 2, 19 Jeſus felbit fagt, bei Marfus und Matthäus 
aber ‚Zeugen ald Worte Jeſu berichten, und die ihre nähere, 
Erklärung in Apoftelg. 6, 14 finden, nach welcher Stelle Ste» 
phanus dasfelbe von Jeſus gefagt und hinzugefebt haben fol: 
„Er wird die Gebräuche ändern, die Euch Mofes gegeben 
hat“. — Ueberhaupt aber, wer, wie Jeſus, die innere 
Reinheit ded Herzens über die abgeriffenen äußeren Hands 
lungen und die ftarre Uebung des Geremonield gefeßt, und 
die Liebe für das Wefentliche des Geſetzes erklärt hat, 
der drückt eben damit das Aeußere als Unweſentliches tief 
berab. Noch entfchiedener fpricht fich wenigftens die Erwars 


195 


tung Sefu, es werde ber mofaifche Kultus fallen, in ben 
Borherfagungen aus, der Tempel, ber Mittelpunkt dieſes 
Kultus, werde zerftört (Matth. 24, 2), und Gott aller Orten 
„im Geift und in der Wahrheit“ verehrt werben (Joh. 4, 
1— 23). 

Allein auf der andern Seite muß auch Das anerfannt wers 
den, wie es neuerlich befonders von Frisfche gefchehen ift, 
daß fich eben fo viele Stellen auffinden laffen, die zu beiweis 
fen fcheinen, daß Jeſus an einen Umflurz der mofaifchen Res 
figionsverfaffung nicht gedacht habe. Er beobachtet für feine 
Herfon die Hauptpunfte des Geſetzes, beſucht Die Synagoge, 
an hohen Feſten den Tempel in Serufalem, und feiert dag 
Paſchamahl. — Das Heilen und Aehrenlefen am Sabbat, 
das VBerfaumen des Faftens und bes Waſchens vor dem Effen 
waren Berftöße nicht gegen das alte mofaische Gefet, fondern 
gegen fpätere rabbinifche Sabungen. — In der Bergpredigt, 
wo er die ächte Neligiofttät fo hoch über die Beobachtung 
äußerer Gebräuche ftellt, verfichert er doch auch, er fei nicht 
gefommen, das Geſetz aufzulöfen, fondern zu erfüllen, und eg 
werde basfelbe ewig beftehen (Matth. 5, 17). — Auch die 
Apoſtel beobachten noch nach dem Pfingitfefte das Geſetz, 
gehen zum Gebet in den Tempel, beficchen die Synagoge, 
und halten fich an die mofaifchen Speifeverbote. 

Demnady fcheint fich auch hier em Widerfpruch in Sefu 
Reden und Handeln herauszuftellenz; ihn zu löfen, hat man 
verfchiedene Wege eingefchlagen. Einige fagen, Jeſus habe 
im Herzen die Aufhebung des Geſetzes gewollt, ſich aber den 
jüdischen Vorftellungen anbequemt, um das Vertrauen des 
Bolfes nicht zu verlieren. Daß er felbft das Geſetz beobach⸗ 
tete, ließe fich wohl auf diefe Weiſe erklären, wie ja auch 
Panlus offen gefteht, daß er nur den Inden zu Liebe Die 
Gebote des Geſetzes halte (1. Kor. 9, 20), uud wie er e8 
auch nach Apoftelg. 16, 3 wirklich thut. — Allein daß Jeſus 
fo feierlich die Unvergänglichfeit des Geſetzes verfichert, kann 
doch nicht als bloße Anbeguemung genommen werden; ed wäre 
nicht nur unredlich, fondern auch fehr unflug gewefen! — 
Eben fo wenig ift die Auskunft zuläffig, daß er ftreng gefchie- 
ben habe zwifchen dem Neinmoralifchen ınd bloß Aeußer⸗ 


196 


lichen des Geſetzes; benn eine folhe Scheidung macht er 
nicht einmal in der Bergpredigt, wu er fo viel für und fo 
viel gegen das Geſetz redet. 


Auf näherem Wege fommen wir zum Ziele, wenn wir u 
zuvörderſt derjenigen Anſicht anfchließen, die zwifchen altsmos 
ſaiſchen Borfchriften und fpäteren Zufäßen unterſcheidet, 
und Sefum jene feithalten, dieſe verwerfen läßt. Daß fee 
Berftöße gegen die Eabbatfeier nur diefe, nicht jene, betrafen, 
fahen wir fchon oben. Ganz entjchieden aber unterfcheibet 
Jeſus (Matth. 15, 3 ꝛc.) zwifchen dem „Gebote Gottes“ um 
der „Ueberlieferung der Aelteften“, und ermahnt, Beide za 
halten, wenn ed möglich fei; wo nicht, lieber dieſe Ueberliefe⸗ 
rung, als jene Gebote aufzugeben. Ferner bezeichnet er bie 
fpäteren Satzungen ald eine „unerträgliche Bürde“ (Matth. 
23, 4), während feine Gebote eine „leichte Laft“ feien (11, 
29); daher müffe auch all dieß Satzungsweſen als „menfdhr 
liches“ zu Grunde gehen (15, 9, 13): der göttliche Kem 
aber, wie er im ächten, urjprünglichen Mojaismus liegt, gilt 
ihm als ewig wahr. Wollte man nun aber die Forderung au 
Sefum dahin fteigern, daß er, um ganz Fonfequent zu fein, 
auch an dieſem ädıten Moſaismus das bloß Geremonielle, 
defien er nicht wenig enthalt, hätte verwerfen follen, fo muß 
man bedenken, wie ſchwer es hält, an dem durch hohes Alter 
Geheiligten zu rütteln, zumal wenn es jeinem eigenen. Weſen 
nach fo großartig iſt, und feine Außeren Gebrechen vor bem 
berzlofen Pedantismus fpäterer Zufäße fo ganz verfchwinden, 
wie Beides bei dem moſaiſchen Gefeße wirklich der Fall ift. 

Allein bringen wir und nun die fchon oben befprochene 
Erflärungen Jeſu über das Geſetz Mofid (Matth. 5, 18) nod 
einmal näher vor das Auge, fo finden wir, daß cr auch bie 
fem feine ewige Daner zuſchrieb, fondern fein Dafein an da 
des jüdifhen Tempels fnüpfte. Denn aus Matth. 24 fehe 
wir, daß dem Juden Zerftörung feines Staates nnd Tempel 
(als deffen Mittelyunft) 27) und Untergang der Welt -ganı 


29 Wan jehe die Anmerkung unter „Tempel“. 


197 


Dasfelbe war; und wenn Jeſus in obiger Stelle das Beftchen 

des Geſetzes bis zum Ende der Welt verkündet, fo heißt das 
eben nur, bis zum Ende ‚Eures jüdiſchen Volkslebens. 
Lukas zwar gibt dieſen Ausſpruch Jeſu in einer Faffung, welche 
diefe Erklärung weniger zuläßt (16, 16, 17); allein er mag 
auch hier eben fo ein Spätered, Entitellted geben, wie bieß 
mit dem von Sefu bezeichneten Verhältniffe des ZTäufers in 
derfelben Stelle offenbar der Fall ift, wenn wir fie mit Matth. 
11, 13 vergleichen. 

Muß uns num fchon fo viel Har geworden fein, daß Jeſus 
jedenfalls von der durch feine Lehre herbeizuführenden Erhebung 
der Menfchheit zu einem „reineren Leben“ den Untergang des 
. mofaifchen Geſetzes erwartetete, wie er es in dem Bilde von 
dem Abbrechen und Wiederaufbauen des Tempels ausfpricht, 
fo geht doch noch weiter aus anderen Aeußerungen hervor, 
Daß er diefen Untergang ſchon als nächte Folge feiner Wirk 
famfeit vorausſah. Denn zur Samariterin fagt er (Joh. 4, 
23): „Es fommt die Stunde, und fchon jest ift fie da, 
wo die wahren Unbeter Gott anbeten werden im Geifte und 
in der Wahrheit calfo nicht bloß im Tempel zu Serufalem)*, 
Auch in den Rorten: „Herr über den Sabbat ift des Men⸗ 
fhen Sohn Matth. 12, 8)“, ift deutlich genug ausgefprochen, 
daß das Geſetz Mofis fchon jet nicht vor der höheren Kraft 
feiner auf Reinigung des Herzens gerichteten Lehre beftehen 
fünme. 

Es ſtellt fi alfo ale das Wahrfcheinlichfte die heraus, 
daß Jeſus, wie Paulus, das Geſetz beobachtete, um ſich von 
feiner Nation nicht Togzureißen, daß er überhaupt Fein gewalts 
fames Einreißen desfelben beabfichtigte, fondern, feft überzeugt 
son der belebenden Wärme feiner neuen fehre, Die dag 
Wefentliche desſelben heransgehoben und weiter gebildet 
hatte, des feften Glaubens Iebte, ed werde die mofaifche 
Hülle, welche er noch beibehalten mußte, bald von felbft 
abfallen, nnd der überwältigenden Kraft des ihr eingehauchten 
Geiftes meichen, ohne daß es der Zerſtörung bebürfe. 

Hiernach erklärt fich Teicht, warum er im Bezug auf fein 
Verhältniß zum Geſetze Moſis zurückhaltend war: „Sch habe 
noch Vieles Euch zu fagen, aber Ihr könnt es jet nicht 


- s ‘ 


198 

faſſen (Joh. 16, 12). Und wenn er in ber VBergprebigt 
auch dem Heinften Buchftaben des Gefeges ewigen Beſtand 
verheißt, fo dürfen wir bei näherer Betrachtung dieß nur fo 
verftehen, daß der Geift des Gefetes, möge er auch in dem 
unbebeutendften einzelnen Gebote ſich ausfprechen, wicht 
untergehen werde: wie ja auch Paulus (Röm. 3, 31) die 
Kortdauer des Gefeßes nur von dem inneren Geifte und 
Sinne (möge er auch nur unvollfommen in den Außeren For⸗ 
men fich ausfprechen) verfteht. Somit erfcheint nicht nur 
erft bei Paulus, fondern auch fchon bei Sefus, das Geſetz ale 
eine „verbereitende Erziehungsanftalt (Gal. 3, 24)“, die ein 
weifer Erzieher nicht wegnimmt, fondern den Zöglingen fo 
lange läßt, bie er felbft fie, als ein zwar entbehrlicyes, ims 
mer aber ehrwürdiges Hilfsmittel auf die Seite ftellt, um es 
als theure Neliquie in frommem Andenfen zu. behalten. 


[4 


Wenn Jeſus feine Volksgenoſſen von dem ftarr geworbdes 
nen Gefege zu der geiftigeren Gemeinfchaft eines allen teis 
nen Herzen zugänglichen Gottesreiches hinüberführen wollte, 
fo fünnen wir kaum zweifelhaft fein darüber, ob er auch den 
Heiden Antheil an demfelben geftattet habe. Es finden fidy 
wirklich ausdrückliche Erklärungen des Göttlichen darüber vor. 
— {in der Synagoge von Nazaret weist er darauf hin, daß 
ſchon Elia und Elifa ihre Wohlthaten wegen der Unwürbigs 
feit der Suden den Heiden hätten zuwenden müffen (Luk. 4, 
25 ꝛc.); — Matth. 8, 11 20. verfichert er, in das Himmels 
reich würden einſt Viele von Dft und von Welt kommen, 
während die eigentlichen Kinder desfelben verftoßen würden; — 
noch beftimmter in den Worten: „Bon Eud, wird das Reich 
Gottes genommen, und den Heiden gegeben werden (Matth. 
21, 43); — der Wiederfunft des Meſſias foll die Verbreis 
tung des Evangeliums unter allen Völkern vorangehen (Matth. 
24, 19; — enblid erhalten feine Sünger von ihm nad) ber 
Auferftehung die beftimmte Weifung: „Lehret alle Bölfer, 
und taufet fie 2c. (Matth. 28, 19) *. 

Auffallend ift e8 daher, daß an andern Stellen Sefus die 
Heiden gradezu aus dem Meffinsreiche auszufchließen fcheint. 


199 


So gebietet er Matth. 10, 5 feinen Jüngern bei ihrer Aus⸗ 
ſendung, „kommet nicht auf Die Straße der Heiden“ — ein 
Bufaß, den Markus und Lukas nicht haben, weil er dem 
Kreife von Chriften, für den fie fchrieben, ehemaligen Heiden, 
anftößig fein konnte. Sa fogar die Wohlthat einer einfachen 
Heilung verweigert er einem kananäiſchen Weibe, weil er 
„nur zu den verloren Schafen Sfraels gefandt fei (Matth. 
15, 24)“, obgleich doch ſchon Elia und Elifa, auf.die er ſich 
früher berufen hatte, auch Nichtiuden geheilt hatten. — In 
gleihem Sinne benehmen ſich auch die Apoftel noch nad 
feinem Tode. Den frommen heidnifchen Hauptmann Cors 
nelius in die Gemeinde aufzunehmen, Tann Petrus nur durch 
Erfcheinung eines Engels, — und ihn zu taufen, nur durch 
das füchtbare. Herabfommen des heil. Geiftes bewogen werden, 
und er findet es nothwendig, fein Verfahren durch diefe wum 
derbaren Zeichen vor der Gemeinde zu rechtfertigen (Apoſtelg. 
10, 11). Jedenfalls liefert dieſe Erzählung einen Beweis, 
wie ſchwer es den erjten Chriften anfam, auch Heiden aufs 
zunehmen, woraus fich fchließen läßt, daß fie dieß gegen 
den Willen Jeſu hielten, und weßhalb ſchon hier die Wechtheit 
des oben erwähnten Taufbefehls bei Matth. 23, 19 einiger, 
maßen in Zweifel gezogen werben muß. 

Wie erflären wir und aber eine fo einfeitig jüdiiche Bes 
fchränftheit bei einem Sefus, der dadurch ſich unter Die 
Propheten des alten Teftamentes fielen würde, die der Hoff 
nung leben, auch die Heiden werden in der Mefjiagzeit zur 
Religion Sehovas ſich befehren (Jeſ. 2, 2 ıc.; Ser. 3, 17; 
Amos 9, 12 u. A.)? Sm gleihem Sinne fpricht auch der 
Täufer fih aus (Matth. 3, 9). Und Jeſus, der eine Aus 
betung Gottes „im Geilte und in der Wahrheit“ verfins 
dete, follte gewollt haben, daß die Segnungen diejer allein 
wahren Anbetung in die engen Gränen Eines Bolfed eins 
gefchloffen würden? 

Wir müſſen alfo zufehen, oh jene flörenden Stellen nicht 
eine mildere Auslegung zulaffen. Wenn er den Süngern vers 
bot, fich an die Heiden zu wenden, fo that er dieß wohl nur, 
weil er wollte, daß vor der Hand erſt unter den, jedenfalls 
‚mehr vorbereiteten, Juden feine Lehre Wurzel faffe, und erſt 


200 


fpäter, wenn fein Tod die Borftellungen feiner Anhänger go 
geläutert hätte, fi) auch weiter verbreite.e — Un i 
bliebe ſeine Härte gegen das fananätfche Weib, da er — 
dem gleichfalld heidniſchen Hauptmann in Kapernaum fogleid 
bereitwillig half (Math. 8, 5), wenn nicht jenes Weib an der 
Grenze gegen die Heiden bin ihr Anfinnen an ihn gefickt 
hätte, weßhalb eine Heilung bei diejem Bolfe mehr Aufichen 
machen mußte, ald er jest noch wünfchte. Ueberdieß bleibt 
ja, da er ihm endlich Doch entfprach, mit den Worten: „Selb, 
dein Glaube it groß!“, unmer noch die Annahme zuläßig, daß 
er eben diefen Glauben des Weibes habe prüfen wollen. — 
Die Bedenflichfeit der Apoſtel endlich, auch noch nach dem 
Zaufbefeble, Heiden aufzunehmen, mag darin ihren Grub 
haben, daß fie glaubten, dieje müßten zuvor durch die Bi \ 
fchmeidung den Volke Iſraels fich einverleiben laſſen; eim 
Boritellung,, welche auch Die ältern Propheten hatten, mb 
über die fich Jeſus niemals deutlich erflürt haben mag. 





Einer näheren Unterjuchung bedarf nun noch) Die hier fih 
anfchliegende Frage: In welches Berhältnip ftellte ſich Jeſus 
zu den Samaritern? Sm Betracht diefes Punktes bilden 
die Evangelien eine bemerfenswerthe Etufenleiter. 

Bei Matthans lefen wir (10, 5), daß Sefus feinen 
Schülern den Beſuch Samariens cben fo ftreng verbot, ald 
den ber heidniſchen Orte; — Markus erzählt Nichts von 
irgend einer Berührung mit den Samaritern; — nad) Lukas 
zieht Jeſus Durch Samaria nad) Serujalem (17, 11), läßt 
ſich ein andermal dert von feinen Jüngern Herberge beitellen 
(9, 52); daß fie übel aufgenommen werben, bringt fie in 
großen Zorn, weßwegen fie aber Sejus zurechtweist; auf fein 
Urtheil über die Samariter übt dieß feinen nachtheiligen Ein⸗ 
fluß, vielmehr jtellt er einen folchen in der befannten Gleich—⸗ 
nißrede 10, 30 ꝛc. ald Mufter der Barmherzigkeit auf. — 
Ein noch weit näheres Verhältniß zu den Samaritern ftellt 
und Johannes bar, der Jeſus auf einer Reife mehrere Tage 
in Samarien verweilen, mit einer Samariterin fich angeler 
gentlih unterbalten, und fehr glücklich als Meſſias wirken 


201 — 


ſaßt (Kap. 4). Mit dieſer Darſtellung harmonirend, meldet 
Apoſtelg. 1, 8, daß Jeſus feinen Jüngern vor ber Himmels 
fahrt befohlen, auch in Samarien ihn zu verfündigen; und 
nach Apoftelg. 8, 5 ꝛc. erregt der glüdfiche Erfolg, mit wel 
chem der Diafonus Philipp hier wirklich ypredigte, bei der 
Gemeinde. in Serufalem fo große Freude, daß fie ſogleich die 
Apoſtel Sohannes und Petrus dahin fendet, um das Wert 
der Bekehrung fortzujeben. | 

AU diefen, den Samaritern fo günftigen, Zeugniffen fteht 
um vorzüglid) jenes Verbot bei Matthäus, wie es fcheint, 
ganz fchroff entgegen, um fo mehr, da es offenbar erft nadı 
dem von Sohanues erzählten längeren Verweilen Jeſu in Sas 
marien, welches ziemlich bald nach feiner Taufe ftattfand, ers 
folgt fein muß. Betrachten wir zuerft die glänzendfte ſamari⸗ 
tifche Scene, die Gefchichte in Kap. 4 des Sohannes! Hier 
finden ſich num freilich mancherlei Bedenklichkeiten. Es dringt 
ſich zuerſt die Frage auf: Warum fordert Jeſus die Frau 
auf, ſie ſolle ihren Mann rufen (V. 16), da er doch wußte, 
daß fie feinen rechtmäßigen Mann hatte (V. 18)7 Etwa, 
um fie zu befchämen und zur Buße zu leiten? Dann hatte er 
feinen Zwed verfehlt; denn davon zeigte nachmals die Kran 
feine Spur. Dder, um mit einem für feine Belehrungen 
Empfänglicyeren anzufnüpfen? Dieß ftreitet gegen feine Kennt⸗ 
niß von des VBerhältniffen der Frau; denn fie wird nicht ges 
neigt geweſen fein, Den herbeizubringen, deffen Umganges fie 
fi) zu Schämen hatte. Dffenbar wollte er füch ihr ald Pros 
phet zeigen, was ihm auch wirklich gelang (B. 19; und hier 
müfjen wir geftehen, daß er eine folche Gelegenheit mit einer 
etwas anftößigen Gewaltfamfeit herbeiführte. Eine ganz ähn⸗ 
liche Sewaltfamfeit müffen wir auch in der Art finden, wie 
Jeſus nunmehr durch das, was er über die wahre Gotteds 
verehrung fagt, ihr ben weiteren Glauben, daß er fogar ber 
Meſſias fei, gewillermaßen aufbringt (20 — 26). Denn es 
fonnte ibm nicht entgehen, daß das befchränfte Weib Die 
Frage, ob Die Suden oder die Samariter Necht hätten (20), 
nicht aus höherem Sutereffe vorbradyte, fondern nur, um von 
dem ihr-empfindlichen Punfte, den Jeſus berührt hatte, abzu- 
ienfen. Daher mußte auch Jeſus, feiner fonftigen Gewohnheit 


202 


nach, grade die Scham, bie ſich hinter der Frage verftedte, 
feftzühalten und die Frau zum vollen Bekenntniß ihrer Schuib 
zu bringen fuchen. Allein dem Evangeliften war es einmal 
darum zu thun, daß Jeſus ale Meſſias amerfannt werben 
follte; doch wollen wir deßhalb feine Erzählung noch wicht 
als ungeichichtlich verdächtigen, da das uns Auffallende auch 
Daher rühren fanı, daß er Mittelglieder, die die Sache em 
Härlicher machen, in der Daritellung ausließ. 

Eme andere Frage üt die: Woher hatte Jeſus Die Kennt⸗ 
niß von den Berhältniffen der Frau? Die verſuchte natür⸗ 
liche Erflärung, er habe aus Mittheilungen Borübergehendber 
gefchöpft, hat, neben der Unmwahrfcheinlichfeit, auch die offens 
bare Abficht des Evangeliſten gegen fidy; denn er will Diele 
Kenntniß als eine übernatürliche darftellen, da fie ja feiner 
Erzählung zufolge eben der Grund ift, weßhalb nicht nur 
das Weib felbit (DB. 29), fondern auch viele der Samariter 
ihn für den Meffias halten (V. 39). Allein daß Jeſus ſelbſt 
die Außeren Berhältniffe der ihm begegnenden Perfonen 
überall auf den eriten Blick durchſchaut haben follte, wäre 
eine feiner unmürdige Alleswifferei, die man um fo weniger 
annehmen kann, je höhere Borftellimgen man von feinen 
Weſen hat, dem doch auch Die Orthodoxeu das menfchliche: 
Bewußtſein nicht rauben wollen. Höchſtens fünnte man alfo 
eine ſolche Kenntniß in einzelnen Fällen, 3. B. hier, aus ber 
Gabe erflären wollen, welche fi bei Somnambülen wohl 
vorfindet, nämlich auf Augenblicke in dem Inneren anmwefender 
Derfonen auch ihre Beziehungen zu Abwefenden lefen zu küns 
nen, wiewohl dieß in der Regel nur in franfhaften Zus 
fanden der Kal iſt. Vermögen wir aber aud) an Diefem 
letzten Nettungsbalfen die gefdjichtliche Glaubwürdigfeit dieſes 
Zuges in der Erzählung wirklich feftzuhalten, fo ift Doch das 
mit für eine höhere Natur Jeſu Nichts bewiefen. 

Weniger jchwierig ift Die Beantwortung einer dritten Frage: 
Wie fam Jeſus Dazu, gegen ein fo unbedeutendes Weib den 
höchften Grundfag feiner Religion (B. 24) augzufprechen, ba 
er damit felbft gegen feine Fünger noch zurüdhaltend war? — 

Borerft konnte Sefus ganz gute Gründe haben, grade bei 
den Samaritern fchon frühe ale Meſſias anerfannt zu werden, 


203 


weil diefe, gleihfam „ein vom Stamme der Nation abgeriffes 
ser Aft, weniger flarr an politifchen jüdifchen Sntereffen 
hingen, und demnach empfänglicher fein mußten für eine Um⸗ 
bildung der Meifiasidee ins Geiftige, als die Suden, und felbft 
als bie eigerfen, mit jüdifchen Vorftellungen erfüllten Sünger *. 
Sodann aber müffen wir, wenn and jene Mittheilungen an 
ein famaritifches Weib vielleicht nicht ganz richtig berechnet - 
waren, doch aud) bei Jeſus die „ Gewalt, welche Zeit und 
Stunde, Gelegenheit und Stimmung über Eröffnung und 
Verfchließung des Gemüthes hat*, mit in Anfchlag bringen. 
Hiermit hängt ganz genau zufammen, was Jeſus, nachdem 
die Frau ſich wieder in Die Stadt begeben, zu ben Süngern 
fagt, Die ihm Speife anbieten CB. 31 ꝛc.): er fpricht darin 
feine Hoffnung auf eine reiche Ernte in Samaria fo ganz der 
im ihm durch Die Anerfennung des Weibes erregten Stimmung 
gemäß aus, daß man dieſe Ausſprüche Feineswegs ale eine 
von der Sage nach dem fpäteren Erfolge hinzugefügte Zus 
gabe betrachten darf. Wenn die Jünger aber auch hier feine ' 
bifdfich und geiftig gemeinten Worte buchftäblicy und finnlich 
auffaffen ®. 33), fo ift dieß nur Wiederholung eines nament⸗ 
lich bei Sohaunes hundertmal vorfommenden Falles. Ä 

Wenn wir aljo, nad, näherer Betrachtung der hier ents 
fcheidenden johamneischen Erzählung, an der Thatfache eine 
frühen Verkehres Jeſu mit den Samaritern nicht zweifeln 
dürfen, fo bleibt ung noch der Widerfpruch zu löfen, in dem 
die oben ©. 200 erwähnte, feinen Süngern gegebene Bors 
fhrift, Samaria nicht zu berühren, damit zu ftehen fcheint. 
Er löst ſich wohl am Einfachlten Durch die Annahme, daß er 
feine Jünger wegen ber ihnen noch inne wohnenden jüdifchen 
Borurtbeile, noch nicht für unbefangen genug hielt, um jeßt 
ſchon, ehe fein Leiden und Sterben fie auf einen höheren 
Standpunkte befeftigt hatte, vecht fegensreich unter den Sa⸗ 
maritern zu wirfen; ein Grund, der ihn nicht abhalten Fonnte, 
ſelbſt fchon, follte er aud, dadurch bei den Juden Anftoß 
erregen, bei diefem Bolfe eine Saat „auszufüaen, Die Andere 
(feine Sünger) einft ernten ſollten“ (Joh. 4, 37). 





204 


Viertes Kapitel. 
Die Berufung mehrerer Sünger durch Zefum. 


(Matth. 4, 18 — 22; Mark. 1, 16— 20; Luf, 5, 1—11; 
Soh. 1, 35—52; ferner Matth.'9, 9—175; Mark. 2 
14— 22; Luk. 5, 27—39 und 19, 1—-10.) 


Sowohl Matthäus und Marfus, die in ihren Angaben 
ganz übereinftimmen, wie Johannes, erzählen, daß Jeſus ſehr 
bald nach feiner Zaufe mehrere Männer zu fidy berufen habe, 
um ihm (als feine Sänger) nachzufolgen; allein beide Theile 
weichen in wefentlihen Punkten von einander ab. Die bes 
rufenen Perfonen find nicht ganz diefelben (Matthäus: 
Detrus, Andreas, Sohannes, Jakobus; Johannes: ſtatt Des 
Jakobus den Philippus und den Nathanael); — der Ort 
der Berufung ift verfchieden angegeben (Matthäus das Ufer 
des galiläifchen See's, Johannes: Peräa und der Weg von 
da nach Galiläa); — eben jo die Reihenfolge (Matthäus 
f. oben; Johannes: Andreas, Johannes '°), Petrus, Philips 
pus, Nathanael); — endlich auch die Art der Berufung 
Matthäus: vom Fifchergefchäfte hinweg, Sohannes: ganz uns 
beſtimmt ald „Kommende“ und „Gefundene“, ferner nur Dem 
Philippus von Sefu felbft berufen, alle Andern theils durch 
den Täufer, theild durch ſchon Berufene an Jeſum gewiefen). 

Diefer großen Berfchiedenheiten wegen haben daher mehs 
rere Ausleger ſich dahin entjchieden, daß beide “Theile zwei 
verfchiedene Berufungen erzählen, und zwar Matthäus und 
Marfus eine fpätere, Sohannes eine frühere, weil er bie 
feine ſchon vor der Rückkehr nad, Galiläa flattfinden läßt, 
und weil ihm zufolge Andreas und Johannes grade vom Täu⸗ 
. fer weg Tefu nachfolgen, bei dem fie nicht mehr fein fonnten, 
wenn fchon Sefus fie zu fich berufen hatte. — Allein die Ers 
zählung zweier verfchiedenen Begebenheiten fönnen wir doch 
nicht wohl vor uns haben: denn in beiden Erzählungen find 
die Ausdrüde „folget mir nach“, „fie folgten ihm“ (Matth. 


4 


9, Diefer nämlich ift, wie man allgemein annimmt, der LUingenannte, 


welcher mit Andreas zugleich nach V. 40 Jeſu nachfolgt. 


‘ 


4, 19, 20) und „folge mir nah“ (Joh. 1, 43) doch einander 
zu ähnlich, als daß man fie hier von einer bloß vorüber; 
gehenden, dort von einer bleibenden Nachfolge verfichen, 
könnte. Und dieß müßte man doc, wenn Jeſus die ſchon 
(laut Sohannes) Berufenen noch einmal Claut Matthäus) zu 
ſich berufen haben fol! Ueberdieß aber fpricht auch der weis. 
tere Verlauf der evangelifchen Gefchichte entfcieden gegen eine 
folche Trennung der Erzählungen in zwei Berufungen. 

Denn nicht vorübergehende Begleiter fünnen Die nach 
Johannes Berichte Berufenen geweſen fein (was fie doch, 
wenn eine zweite Berufung nöthig war, geweſen fein müß« 
ten), weil auch bei ihm fogleich nach der von ihm erzähle 
ten Berufung Jeſus, der vorher ohne Begleitung war, 
überall im Gefolge von „Süngern“ auftritt (Soh. 2, 2, 11, 
12, 17; 3, 22; 4, 8, 27). Nicht als fhon früher ihm 
wohl Bekannte kann Jeſus jene Männer bei Matthäus zu 
fidy berufen, „weil diefer offenbar großen Werth darauf legt, 
daß die Berufenen „fogleih“ (Matth. 4, 20, 22) ihm folgten, 
was ihm ja ganz natürlic, erfcheinen mußte, wenn fie fchon 
früher an Jeſum ſich angefchloffen hatten. - 

Es können alfo Sohannes’ und die Synoptifer nur eine 
und biefelbe Berufung berichten wollen, und es fragt ficy nun, 
welcher Bericht, da Einer wenigftensd irrig fein muß, der 
richtige fei? Hier erfcheint nun zunächit der Theil der ſynop⸗ 
tischen Darftellung, nach welchem Jeſus die ihm ganz fremden 
Männer auf der Stelle durchfchaute und für fähig hielt, feine 
Jünger zu werden, in hohem Grade unwahrſcheinlich; aber 
auch der Umftand, daß Jeſus fie grade von den Netzen 
weg (4, 18) berief, und fie ihm ohne Weiteres, „fogleich“, 
folgten, fiheint der verfchönernden Sage anzugehören, zumal. 
da ein ganz Gleiches von Elia und Elifa erzählt wird (1 Kön. 
19, 19, 21). Sener berief Diefen von Stier und Pflug zu 
ſich, alſo ebenfalls von niederer Arbeit zu dem geiftigften Be- 
rufe. Wenn aber Elifa fich vorher noch von -feinen Aeltern 
verabfchieden darf, die Fifcher aber Sefu auf der Stelle 
nachfolgen, fo liegt darin eine fehr natürliche Steigerung, ins: 
dem der Meſſias eine noch entfchiedenere Nachfolge mit Hin⸗ 
tanſetzung alles Andern verlangen mußte. Daher gewährt 


— 


206 


Jeſus anderwaͤrts, wenn die Berufenen darum bitten, vorher 
noch Etwas beſorgen zu dürfen, ben Vater zu beerdigen Euk. 
9, 59), oder zu Haufe Abſchied zu nehmen (daſ. 61), dieſe 
Bitten nicht. — Es bliebe ung alfo als gefchichtliche Thats 
fache aus den Synoptifern nur der Umftand übrig, daß mehr 


rere vorzügliche Jünger, darunter Petrus, vorher Fifcher ges 


wefen, weßwegen fi e Sefus fpäter öfters „ Menſchenfiſcher“ 
nennt. 


Aber auch die johanneiſche Erzählung leidet an vieler⸗ 
lei Härten und Unmwahrfcheinlichfeiten. Schon das erregt 
Bedenfen, daß der Täufer felbft (1, 36) Jeſu die erften Schüs 
ler zugewiefen haben ſoll, was fich mit der oben entwickelten 
Stellung: desfelben I. Jeſu nicht wohl vereinigen läßt, und 
nur einer unvollfommenen Erinnerung oder durch allzugroße 
Kürze mangelhaft gewordenen Darftellung des - Evangeliften 
zugefchrieben werden kann. Ferner widerfpricht es der glaubs 
würdigen Erzählung bei den Synoptifern, daß Petrus erft 
nad; langem Umgange Jeſum ald den Meſſias erfannte 
(Matth. 16, 16), wenn Sohannes berichtet, fein Bruder Ans 
dreas habe fehon anderen Tages ihm denfelben als den Mefs 
fias bezeichnet. Wie konnte doch Sefus in jener Stelle bei 
Matthäus fo fehr wegen höherer Erfenntniß den Petrus rühs 
men, wenn diefer fie einer fchon fo frühen Mittheilung 
feines Bruders verdanfte? Auch hier muß wenigftens eine 
Verwechslung der Zeit im Gedäcdhtniffe des Evangeliften ftatts 
gefunden haben. Ein Aehnliches ift man anzunehmen verfucht, 
wenn nach V. 42 Jeſus dem Petrus, der eigentlih Simon 
hieß, ſchon beim erften Anblicke diefen bedeutungsvollen Nas 
men („Fels“) gibt: offenbar, wie es Matt. 16, 18 deutlicher 
fagt, um feinen Muth und feine hohe Befähigung zum Apoftels 
amte zu bezeichnen, die Jeſus doch wohl jeßt noch nicht fo 
beftimmt ausſprechen konnte, wenn er fich nicht der Gefahr 
ansjeßen wollte, fpäter das Bekenntniß eines Irrthums ab⸗ 
legen zu müſſen. 

Endlich iſt es die Unterredung mit Nathanael (45—51), 
welche eine genauere Betrachtung erfordert. Daß dieſer jetzt 


-_ 


207 


ſchon die Frage an Philippus gerichtet habe: „Was kann 
as Nazaret Gutes fommen?“, ift nicht denkbar, weil feine 
Spur vorhanden ift, daß diefe Stadt ſchon früher, ehe die 
Gegner Jeſu der Heimath des von ihnen verworfenen Meſ—⸗ 
fiad diefen Schandflef anhängten, in fo üblen Rufe geftans 
den habe. Galilän im Allgemeinen konnte aber Nathanael, 
ſelbſt in Galiläa, doc nicht meinen. Wenn ferner Jeſus dem⸗ 
felben ſogleich fagt, er fei ein wahrer Ssfraelite, in dem feine 
Falfchheit ftefe, und dem Critaunten mit geheimnißvollen 
Worten (V. 48) andeutet, woher er die nähere Kenntniß 
feines Wefens habe, worauf diefer ihn freudig ald den Mefs 
ſias begrüßt; — fo will offenbar der Evangelift damit Jeſu 
auch bier einen Bli in Das Innere des Menfchen zufchreiben, 
der auf gewöhnlihem, natürlichem Wege nicht gewonnen 
werden kann, zumal da er Sefum zuleßt fagen läßt, Nathanael 
werbe noch viel Größeres erfahren. Es bleibt ung alfo auch 
hier nur der Ausweg übrig, der ſich und oben bei der Ges 
fhichte von der Samariterin (ſ. S. 201) ald den einzigen 
darbot: nämlich die Annahme eines ungewöhnlichen Hellfehens. 

Sm Allgemeinen fann alfo die Anfchließung der erften 
Jünger an Sefu wohl fo erfolgt fein, wie fie und Johannes 
meldet; obgleich, wie wir fahen, einzelne Züge wenigſtens 
ihrer Stellung nach als unhijtorifche erfcheinen. 

Die Berufung ded Petrus, in Verbindung wit Johannes 
und Jakobus, wird aber auch von Lukas ausführlich erzählt, 
und zwar auf eine fo eigenthimliche Weiſe, daß wir hier eine 
ganz andere Begebenheit vor ung haben. Sie it gefnüpft an 
einen ganz ungewöhnlid, glücklichen Filchzug des Petrus (Luk. 
5, 1— 11), wozu ihm Jeſus verhilft. Diefen Fifchzug auf 
natürliche Weife erklären zu wollen, wie es 3. B. Paulng 
verficcht, muß als eine fruchtlofe Bemühung betrachtet werden. 
Denn wenn Sefus den Fijchern beftehlt, tiefer in den See hineins 
jufahren und die Nette auszuwerfen, fo mußte er doc, ſchon 
wiffen, daß dort ein glüdlicher Fang zu machen fei, und er 
nicht erft auf der Fahrt felbft durch nachträgliche Beobachtung 
erfahren haben. Wie aber follte er in diefem Punfte eine 
genauere Kenntniß haben, ald die Männer, bie ihr halbes 
Leben lang Fifcher gewejen, die jegt an einen günftigen Erfolg 


208 


nicht glauben, und im Vertrauen auf fein Geheiß ben Ver⸗ 
fuch. wagen? Daß er wirklich gelang, muß daher ale reiner 
Zufall betrachtet werden; welche Vermeflenheit aber von Je⸗ 
fus, wenn er ſich der Gefahr ausfegte, durch eine fehr mögs 
liche Täufchung der durch feine Aufforderung erregten Enwars 
tungen beſchämt zu werden! Und, da fie nun erfüllt wurben, 
war es redlich, die fußfällige Verehrung des Petrus anzuneh⸗ 
men, wenn er nur einem Zufalle den Erfolg verdankte? 

Es bleibt alfo wohl Nichts übrig, ald den ganzen Borfall 
für ein durch Jeſum bewirftes Wunder zu nehmen, wie es 
ber Evangelift auch gegeben hat. Run könnte man es zunaͤchſt 
als ein Wunder einer höheren Kraft anſehen, vermöge wel 
cher Jeſus die Fifche alle grade an den ihm beliebigen Drt 
zufammengeführt hätte: allein wie it eine foldye Einwirkung 
eines göttlichen Geiftes auf eine Maſſe vernunftlofer Weſen 
irgend denkbar, welhen Zweck konnte Sefus bei folhem Wun⸗ 
ber haben? Etwa, Ueberzeugung an feine Göttlichfeit in 
Petrus zu erweden? Mußte er nicht vielmehr in ihm aber» 
gläubifche BVorftellungen erzeugen? deſſen Blid von ber 
inneren Göttlichkeit Jeſu auf äußere Mirakel hinziehen? 
Nach einer foldyen Schule fieht aber gar nicht aus, ‚was 
fpater den Petrus fo eng an Jeſum fefjelte, nämlich ber 
Glauben, daß Diefer Worte „des ewigen Lebens“ habe 
(Joh. 6, 68)! — Will man aber nur das Wunder eines höheren 
Wiffens hier finden, d. h. daß Jeſus wußte, es feien fchon 
fo viele Fifche hier verfammelt? Aber befaß er eine Allwiffens 
heit von folhem Umfange, daß er die Zahl der Fifche im 
Meere jederzeit fannte, fo hört alles menfchliche Bewußt⸗ 
fein bei ihm auf; fonnte er fie aber nur wiſſen, fo oft er 
wollte, fo 309 dieß feinen Geift Doch in eine gar zu niebere, 
von feinem göttlichen Berufe eines Menfchenfifchere weit 
abliegende, Sphäre hinab! 

Vergleichen wir nun aber noch diefen Fifchzug des Petrus 
mit ber fchon früher betrachteten Berufung dieſes Apoftele, fo 
will er ſich damit durchaus nicht vertragen. Denn früher 
kann er doch wohl nidjt ftattgefunden haben; wie follten Jeſu 
Männer auf einen einfachen Wink nachfolgen, die durch ein 
Wunder, das ihnen fchon früher Staunen abgenöthigt 


209 

hatte, nicht an ihn gefellelt werben konnten? Später, ale 
jene Berufung, kann der Fiſchzug auch nicht vorgefallen fein, 
denn es findet ſich bei Matthäus und Iohannes keine Spur 
davon, daß Petrus und feine Begleiter nach derfelben Jeſum 
wieber verlaffen hätten, und doch lockt ihn diefer Durch dem 
Fiſchzug wieder auf's Neue au fich, und zwar augenfcheinlich 
als einen ihm noch fremden Mann, wie der ganze Ton ber 
eukas'ſchen Erzählung zu erkennen gibt. — Demnach fteht auch 
hier wieder die Sache eben fo, wie oben bei ber doppelten 
Berufungsgefchichte: nur Eins, entweder jene einfache Aufs 
fordberung Jeſu, ihm zu folgen, oder unfer wunderbarer Fiſch⸗ 
zug, kann gefchichtlich wahr fein. Welches von beiden aber? 
Für die Beantwortung diefer Frage bietet ſich ung ein wills 
fommener Anhaltspunkt in der Sentenz dar, die Matth. 4, 19 
Jeſu, als er den Petrus berief, in den Mund gelegt wird: 
„Sch will Euch zu Menfchenfifchern machen“; womit der 
ganz ähnliche bildliche Ausdrud Matth. 13, 47 zu vergleichen 
it. Wir haben nämlidy in Lukas offenbar nicht Anderes 
vor und, als die durch die Tradition zur Wunder geſchichte 
umgebildete Sentenz, die man ſich von Jeſu zu erzählen wußte: 
Denn das ift ja grade das eigentlihe Wefen der Sage, 
daß fie bildliche Reden und Ideen in felte, ftarre Geſchichte 
unmvanbelt; daß fie darauf ausgeht, „dem flüchtigen Gedans 
fen einen foliden Leib zu bauen; das leicht mißverftehbare und 
ſchnell verhallende Wort als allgemein verftändliche und uns 
vergeßliche Begebenheit * feſtzuhalten. Daher erfcheint une 
diefe Erzählung vom Fifchzuge als eine reine, aus der ans 
geführten Sentenz herausgefponnene, Mythe. Es haben 
aber diejenigen, welche umgefehrt die Berufungsgefchichte 
für eine fpätere Abkürzung und Vergeiftigung des Fiſchzuges 
anfehen, — alfo auch als ein Werf der Sage — den Chas 
rafter des Mythiſchen gaänzlich mißverfianden. 


Diefe Anficht von dem durchaus mythifchen Charakter uns 
ferer Erzählung gewinnt noch dadurch an Gewicht, daß Jo⸗ 
hannes, 21, 1—13, einen wunderbaren Fiſchzug Petrus und 
feiner Begleiter erzählt, der von dem eben erſt auferitans 

l. 14 


210 


denen Jeſus angeordnet wird, und mit den bei kLukas fo 
viel Aehnlichkeit hat, daß beide unverfennbar eine und biejelbe 
Mythe find. Wir fehen alfo, die Erzählung ſchwebte gewiſſer⸗ 
maßen fo in der Luft, war fo fehr ohne hiſtoriſchen Boben, 
daß die Weberlieferung fie bald hier-, bald dorthin verfegte. 
Ueberdieß ift die Darftellung bei Johannes noch abgerundeter, 
im Sinne der Mythe, indem er nicht nur bie Zahl_ ber ges 
fangenen Fifche (153) angibt, fondern auch das Wunderbare 
noch vervollftändigt, da bei ihm, troß des ungewöhnlidyen 
Gewichtes, die Nebe nicht zerreißen, während bei Lukas die 
Tepe, und mit ihnen das Wunder, arge Riſſe bekommen. 
Wer fieht nicht in diefem Allem das Werk der an dem Stoffe 
eines ‚gegebenen Gedankens gefchäftig fortbildenden Einbil⸗ 
dungskraft? 





Es bleibt ung noch eine andere fpätere Berufungsgeſchichte 
zu betrachten, die eines Zöllners unmittelbar von feinem Bes 
rufe weg; das erfte Evangelium nennt ihn Matthäus, Das 
zweite und dritte dagegen Levi. Daß alle drei Erzählungen 
troß der Berfchiedenheit der Namen, doch dieſelbe Begebens 
heit enthalten, it ihrer großen Aehnlichkeit wegen unzweifels 
haft; Daher hat man annehmen wollen, aud) die Perfon bes 
Berufenen fei diefelbe, und Matthäus nur ein Beiname bes 
Levi gewefen. Allein dieß wiberfpricht den Evangelien Durch” 
aus; denn Die Evangelien, welche den Zöllner hier Levi nen, 
nen, erwähnen feiner nie mehr, führen den Matthäus ohne 
weiteren Zunamen im Apoftelverzeichniffe (Mark. 3, 18; Luk. 
6, 15) auf, — wo doch Zunamen fonft vorfonmen — und 
laſſen hier felbft den Beifat Zöllner weg, ben bas erfte 
Evangelium (10, 3) ausdrüdlich hat. — Haben wir alfo nur 
Eine Berufungsgefchichte, aber zwei Berufene, fo muß irgendwo 
ein Irrthum ſtecken; diefen hat man auf Seiten des Matthäus 
finden wollen, weil diefer die Gefchichte nach der Bergpredigt 
verlegt, während nach Lukas ſchon vor berfelben alle Apoſtel, 
worunter auch Matthäus, auserwählt waren (uf. 6, 13). 
Allein das wäre nur Irrthum in der Zeit, mit deſſen Ans 
erennung der in der Sache liegende Widerſvruch nicht weg⸗ 


211 
geräumt wird. Da dieß auch auf andere Weiſe nicht gelingen 
will, fo wollen wir lieber die hiftorifche Glaubwürdigkeit beis 
ber, bis auf die Namen fo ähnlichen, Berichte näher in's 
Auge fafien. 

Eben jo ylöglidy und gewaltſam, wie früher Die Fiſcher 
vom Rebe (f. oben S. 205),-wird hier der Zöllner von der 
Zollftätte durch ein einfaches „folge mir“ wmeggeriffen; ba 
auch hier dieſer Aufforderung fogleich entiprochen wird, bieß 
zwar iſt weniger unmwahrfcheinlich, da jet Jeſus fchon längere 
Zeit gewirkt hatte. Um fo unerflärlicher aber ift Jeſu plötz⸗ 
liche Abberufung des Mannes mitten aus ber Ausübung des 
‚Amtes heraus, da er ja eben jenes längeren Wirkens wegen 
Gelegenheit genug haben fonnte, den Mann allmälig an ſich 
zu ziehen. Es wird daher fehr wahrfcheinlich, daß hier bie 
Sage geichäftig war, die Bereitwilligfeit und Hingebung, 
mit welcher, der gefchichtlichen Ueberlieferung zufolge, der 
Zöllner ſich wirklich Jeſu angefchloffen hatte, zu einer folchen 
Scene recht anſchaulich auszumalen. Denn die natürliche 
Erklärung bderfelden, daß die Worte Iefu „folge mir“ nur 
eine Einladımg, zu der vom Zöllner bereiteten Mahlzeit her⸗ 
einzutreten, geweſen feien, verdient faum der Erwähnung, da 
ja überdieß die Mahlzeit nur eine Folge der Berufung des 
Zöllners war (Luk. 5, 28, 29), ein Ausdrud feiner Freude 
barüber. _ | 

"Auffallend muß es ferner erfcheinen, daß Matthäus, 
der ja der Berfaffer des erften Evangeliums fein foll, bier 
alfo- felbft die Hauptperſon wäre, die ganze Sache nicht nur 
weniger anfchaulid, erzählt, als Lukas, fondern aud) fo ganz 
fremb thut, indem er fagt: „ein Menfc, Namens Matthäus“ ; — 
da jedoch ſchon in der Einleitung die Anficht durchgeführt wors 
den ift, Daß das Evangelium nicht von ihm herrühre, fo ann 
diefes Bedenken hier nur furz berührt werden. 

Wichtiger ift ein anderer Zug, der fidy ganz wie ein ebene 
falls fagenhafter ausnimmt, nämlicy die Art, wie die Phas 
rifäer in die Scene hereingezogen werden. Diefe machen 
nämlich Jeſu Vorwürfe, „da fie fahen, wie er mit Zöllnern 
und Sündern aB* (Mark. 2, 16): allein wie follen fie dieß 
gefehen haben, da ja die Mahlzeit „in dem Hawie“ gehalten 


212 


wurde? Hereingegangen werben fie wohl nicht fein, denn 
font hätten fie denfelben Fehler Damit begangen, den fie Luk. 
19, 7 an Sefu rügten; vor Dem Haufe gewartet haben fie 
wohl auch nicht. Nun war e8 aber eine befannte Thatfache, 
daß die Pharifäer fih an Jeſu Umgange mit diefer Menfchens 
Haffe ärgerten; die Antwort, welche ihm bier in den Mund 
gelegt wird (Matth. 10, 12), it fo körnig zugefpißt und Leicht 
behaltbar, daß fie faft als thatfächlich betrachtet werben muß. 
Konnte nun nicht die Sage durch Diefe zwei gegebenen Punkte 
gar leicht zu dem weiteren Zuge ihres Gemäldes veranlaßt 
werden: „Grabe da, wo Jeſus mit einem fo eben zum Apoſtel 
erhobenen Zöllner fpeifete, traten fie mit ihrem Vorwurfe 
zudringlicy hervor, und wurden mit der fAjlagenden Antwort 
abgefertigt“? — Es fanden fid, aber auch noch andere Zus 
fhauer ein, naͤmlich Sohannesjünger, die an Jeſu das Vers 
ſaäumen des Faftens tadeln; — ift diefer Befuch während des 
Eſſens fchon an fich eben fo ummahrfcheinlich, als der fo eben 
kefprochene, fo wird er es Doppelt Durch das Zufanmentreffen 
mit diefem, und wir dürfen auch hier die Thätigfeit der Sage 
annehmen, die foldye Gruppirungen liebte, und mit einem feſt⸗ 
lichen Mahle einen, ebenfalls an fich gefchichtlich wahren, 
weiteren Vorwurf zu Tnüpfen geneigt fein konnte. Wollte 
man auch mit Schleiermacher die Darftellung des Lukas 
(5, 33), der diefen Borwurf auch noch den Pharifäern in 
den Mund legt, für -die richtigere halten, fo wäre damit für 
bie gefhichtliche Wahrheit der ganzen Scene Nichts ges 
wonnen; denn aledann hätten wir nur flatt eines felbititän, 
digen fagenhaften Zuges einen Theil des früheren, ebenfalls 
als fagenhaft ſich anfündigenden, von dem Hinzukommen der 
Pharifäer. | 

Wir können bier füglich noch einer verwandten Erzählung 
gedenken, nad, welcher Jeſus bei dem Zöllner Zadyäug, der 
bei feinem Einzug in Sericho auf einen Baum gefliegen war, 
um ihn deutlicher fehen zu können, einkehrte. Müflen wir 
auch hier annehmen, daß der Mann vorher Sefu ganz unbes 
kannt war, fo berechtigt dieß Doch zu feinem Zweifel an der 
Wahrheit der Erzählung, da ja der Eifer, der den feinen 
Mann auf den Baum geführt hatte, in Jeſu ein günftiges 


" 243 

vorurtheil gar wohl erwecken konnte; auch iſt es durchaus 
nicht ohne Beiſpiel, daß nur Ein Evangeliſt, hier Lukas (19, 
4—10), die Geſchichte aufbewahrt hat. 





— 


Fuͤnftes Kapitel. 
Die zwölf Apoſtel und ſiebenzig Jünger. 
Matth. 10, 2—4; Mark. 3, 13—19; Luk. 6, 12— 16 
und 10, 1.) 


Daß Jeſus einen auserwählten engeren Kreis von Süns 
gen um fich hatte, die zwölf Apoftel, wird von allen Evans 
geliften berichtet, und diefe Zahl hat fich fchon während Jeſu 
Leben fo feltgeitellt, daß fogleich nad, der Himmelfahrt die 
Apoftel zufammentreten, um durch eine neue Wahl Cdie des 
Matthias) die durch Judas Tod entitandene Lücke wieder 
auszufüllen. Wir haben auch feinen Grund zu bezweifeln, 
daß Sefus felbft diefe Zahl feftgeftellt habe, vielleicht ohne 
daß fie gleich Anfangs in feinem Plane lag; fie ift, verglichen 
mit den zwölf Stämmen des Bolfes, mit welcher Jeſus fie 
auch wirklich Matth. 19, 28 in Verbindung bringt, zu bedelts 
tungsvoll, ale daß er, der „ja zu den verloren Schafen 
Iſraels gefandt war“, e8 nicht hätte angemeſſen finden fünnen, 
grade zwölf Hirten zu den zwölf Stämmen der verlornen 
Heerde zu fenden. Daß er fie aber in einem feierlichen Afte 
dazu geweiht, ift unmwahrfcheinlih; Matthäus und Johannes 
wiffen davon gar Nichts, fondern laſſen ohne Weiteres auf 
‚einmal „die Zwölfe“ auftreten. Lukas (6, 13) und Marfus 
(3, 13 fagen zwar, Sefus habe nad, einer im Gebete durchs 
wachten Nacht die Zwölfe erwählt, allein fie bringen dieſen 
Akt in eine fo fonderbare Verbindung mit der Bergpredigt, 
bei der die Zwölfe doch eben nichts Vefonderes weder zu thun 
noch mehr als Andere zu erfahren hatten, daß man bie 
Slaubwürbigfeit ihrer Erzahlungen wohl in Zweiſel ziehen 


darf. 


218 


Ten Zwed, für welchen Jeſus fie berief, gibt am ges 
naueften Mark. 3, 14 an, und zwar als einen doppelten: 

1) „Damit fie um ihn feien“: — nicht nur, um auf feinen 
Reifen ihm Beiftand zu gewähren, 3. B. Quartier zu beftellen 
(Luk. 9, 52), Lebensmittel zu verfchaffen (Joh. 4, 8), und 
andere Dienfte (Matth. 21, 1 2.) zu leiten; fondern auch, 
um durch den beftändigen Umgang mit ihm zu den eigentlichen 
Berbreitern feiner Lehre herangebildet zu werden, weßhalb fie 
ihn oft um befonderen Aufjcyluß bitten (Matth. 13, 10) und 
von Jeſu felbft freundlich und ernit zurechtgewiefen werben 
(Matth. 8, 26; 18, 1 u. f. wo. 

2) „ Damit er fie ausfende, zu prebigen“: — von diefer 
wichtigften Seite ihres Berufes erhielten fie auch den Namen 
- Apoftel, das heißt Abgefandte; einen Namen, der ihnen 
ohne Zweifel Sefus felbft gegeben hat, da er fchon während 
. feines Lebens fie zur Verkündigung des Meſſiasreiches aus⸗ 
fandte (Matth. 10, 59. Daß fie auch fchon bei Sefu Lebzeiten 
tauften, wie Sohannes (4, 2) berichtet, kann eben fo wenig 
in Zweifel ge;ogen werden, weil ja fchon der Qäufer bie 
Taufe als Vorbereitung auf das Meſſiasreich angeordnet hatte, 
und diefelbe fogleich nach Jeſu Tode als Weihe für die Auf 
nahme zum Chriftenthume erfcheint. 

Es blieben alfo die Apoftel, mit Ausnahme der fo eben 
angeführten Ausfendung, ſtets um Jeſu; wenn man aber es un⸗ 
wahrfcheinlich finden will, daß fo viele Mänıter haben leben 
fonnen, ohne irgend ein Gewerbe zu treiben, fo hat man Das 
bei mancherlei eigenthümliche Umftände außer Acht gelaffen: — 
bie große Gaftfreundlichfeit des Miorgenlandes , befonders ger 
gen Rabbinenz die Begleitung vermöglicher Weiber, die Sefum 
mit ihrer Habe unterftüßten (Luk. 8, 35 die von Judas vers 
waltete Gefellfchaftsfaffe, aus der noch Arme unterftüßt wers 
den konnten (ob. 12, 6); endlich die geringen Bebdürfniffe 
des Drientalen. — Ihrem Stande nach gehörten wohl alle 
den niedern Volksklaſſen an, was ſich theild ans ihrer Bils 
dungsftufe, theild aus. Jeſu Vorliebe für die Armen und 
durch fogenannte Bildung noch nicht Verhärteten abnehmen 
läßt, wie wir ja auch von Vieren wirklich wiſſen, baß fie 





215 
Fifher gewefen, und einen Zöltner unter ihnen fennen 
gelernt haben. 





In jedem der vier Namensverzeichniſſe der Apoſtel, die 
wir haben (Matth. 10, 2; Mark. 3, 16; Luk. 6, 14; Apo⸗ 
ſtelg. 1, 13; bei Johannes fehlt es), ſtehen Petrus, An⸗ 
dreas, Jakobus, Johannes voran; Andreas offenbar nur 
als Bruder des Petrus, die drei andern aber, weil ſie Jeſus 
durch beſonderes Vertrauen auszeichnete; daß dieß aber auch 
mit Andreas der Fall geweſen ſei, fünnte höchſtens aus Mar⸗ 
kus erwieſen werden, der alle Vier zweimal beſonders auf⸗ 
treten laͤßt (1, 29 und 13, 3); allein aus Vergleichung mit 
mit andern Evangeliften geht hervor, daß dieß eine bloße auf 
Mißverſtand beruhende Vorausſetzung if. Die übrigen drei . 
aber werben allerdings bei mehreren Anläffen, gleichjam ale 
engerer Ausſchuß, von Jeſu befonders zugezogen, z. B. Matth. 
17, 15 Mark. 9, 2; namentlid) bei der Berflärung (Matth. 
17, 1), bei dem Kampfe auf Gethjemane (Matth. 26, 36, 
37) und bei der Auferwedung der Tochter des Jarrus (Mark. 
3, 37), wenn nicht dieſes Keßtere ein abermaliger Irrthum 
des Markus ift. 

Insbeſondere ausgezeichnet werden die beiden Brüder 
Sohannes und Jakobus in vielen Stellen; Jeſus nennt 
fie „Söhne ded Donners“* (Marl. 3, 18), wahrjcheinlich we⸗ 
gen ihrer feurigen Gemüthsart (Luk. 9, 54); ja fie fanden 
fo hoch, daß fie glaubten, auf die erften Stellen in Jeſu 
Reiche Anfpruch machen zu könneun (Mark. 10, 355 Matth. 
20, 20). Auffallend aber ift ed, daß überall, wo Beide ges 
nannt werden, Jakobus voranfteht, in den Berzeichniffen 
felbft und an zwölf andern Stellen, wogegen nur zweimal 
Sohannes vor Safobus genannt ift, und Johannes gerne 
ganz einfach, ald „Bruder des Jakobus “ bezeichnet wird. 

Den entfchiedenften Vorzug aber hat Petrus, was nur 
übertrieben proteftantifcher Eifer hat in Abrede ftellen können: 
fein Name fteht in allen Verzeichniffen voran, und Matthäus 
nennt ihn ganz beftimmt den „erften“. Ueberall ift er mit 
dem Eifer feiner fenrigen Rede den Andern voran G. B. Matth. 


216 


16, 22; 18, 21; 26, 33) ,-wie mit entfchlofiener That (Matth. 
14, 28; 26, 58; Sob. 18, 10); er üt es, der guerf die 
Meffianität Jeſu erkannte. Auch in ber Apoftelgefchichte und 
den Briefen bed Paulus wird ihm ein entſchiedener Vorrang 
zuerkannt. 


Anders aber ſtellt ſich dieſes Verhaͤltniß der von Jeſu 
ausgezeichneten Apoſtel in dem Evangelium des Johannes 
heraus, auf welches wir in Obigem noch Feine Rüdficht nahe 
men. Zwar widerfährt auch hier an mehreren Stellen dem 
Petrus fein Recht; fein ehrender Beiname (1, 43), fein 
glaubensvolles Bekenntniß (6, 68) werden nicht verfchwiegen; 
bei dem Gange zum Grabe Jeſu (20, 3) und bei der Erſchei⸗ 
nung des Auferftandenen am galiläifchen See (21) ſteht er 
mit Sohannes wenigftens auf gleicher Stufe. Doc, ift in am 
dern Stellen ein Borzug des Sohannes vor ihm unverfenn- 
bar. Johannes muß ihm den Eintritt in den Palaft des 
Hohenpriefterd verfchaffen (18, 15), und nur durch Sohannes 
fann er beim letzten Mahle Jeſum nad) der Perfon des Vers 
rätherd fragen (13, 23). Am entfchiedenften aber wird in 
diefem Evangelium Sohannes über alle Sünger, demnach 
auch über Petrus, geftellt durch Die ftehende Benennung: 
„der Sünger, den Jeſus lieb hatte“; daß hiermit wirklich Sos 
hannes gemeint fei, könnte zwar noch bezweifelt werben, ba 
ber Evangelift niemald neben jener Bezeichnung auch den Ras 
men des Johannes nennt, und die übrigen Evangelien Nichte 
von diefem erzählen, was im vierten dem Lieblingsjünger zus 
geichrieben wird. Allein in den Kreife, in welchem dieſes 
Evangelium entitand, war außer Sohannes fein Apoſtel fo 
befannt, daß er durch eine nur fo allgemeine Bezeichnung, wie 
„der von Jeſus geliebte“, oder „der andere“ ımd „ein anderer 
Sünger“, was ebenfalls oft vorkommt, hätte Fenntlich gemacht 
werden fünnen. — Will nun aber der Evangelift mit Diefen 
allgemeinen Ausdrüden auch feine, bed Berfaffers, Pers 
fon, als den Apoftel Sohannes hinftellen? So fcheint es; 
zwar bie Worte 21, 24: „dieß ift der Jünger, der davon 
Zengniß gibt, und dieß gefchrieben hat“, beweifen Nichte, 
da biefer Zufag bekanntlich, unächt iſt; dagegen lauten bie 


217 


Worte: „wir fahen feine Herrlichkeit“ (1, 14), und „aus 
feiner Külle nahmen wir“ (1, 16), doch fo, daß fie, zufams 
mengehalten mit 19, 35, wo es heißt: „der dieß gefehen, 
bezeugte es, — uud er weiß, daß er die Wahrheit rebet“, 
die Abficht des Berfaffers verrathen, ſich als Augenzengen, 
und zwar, wie der Zufammenhang lehrt (den wir nachzufehen 
bitten), grade ald den Sohannes, den vom Herrn Geliebten. 
Ob der Verfaſſer aber wirklich Johannes gewefen, oder ob 
er nur als ſolcher erfcheinen wollte, dieß ift damit noch nicht 
entfchieden. Wir wollen zwar die fchon früher befprochenen 
Unwahrfcheinlichfeiten in feinen Erzählungen von Jeſu Vers 
haͤltniß zum Täufer, von beffen Unterredung mit der, Sama⸗ 
titerin, u. 9. gerne auf Rechnung des im hohen Alter ges 
ſchwaächten Gedächtniffes feßen, — gerne die -fichtbare Umge⸗ 
faltung der Reden Jeſu zu eigenen Herzendergießungen und 
aus ber Innigkeit des Gemüthes erflären, durch welche fein 
Weſen mit Jeſu gleichjam Eins geworden war. Allein daß 
biefer Sohannes, wenn er wirklich das Evangelium fchrieb, 
feines Jeiblichen Bruders, des Jakobus, den alle andern 
Eyangeliften zu den ausgezeichneten Süngern zählen, mit eis 
ner Sylbe befonders gedacht haben follte, können wir und Doch 
nicht wohl denken. Denn zu der Annahme, daß eine erſt 
fpäter dem Jakobus zu Theil gewordene Bedeutfamfeit den 
Anlaß zu der Sage von einem näheren Verhältniffe zu Jeſu, 
wie wir es bei den Eynoptifern finden, gegeben habe, find 
wir nicht berechtigt, da dieſer Jakobus ſchon frühzeitig getöd⸗ 
tet worden ift (Apoftelg. 12, 2). Es muß demnach diefe, - 
wie wir dafür halten müffen, ungefchichtliche Zurückſetzung 
desfelben im vierten Evangelium immerhin zu den Bedenken 
gezählt werden, die gegen die Heberlieferung, daß Sohannes 
der Berfaffer diefes Evangeliums fei, fich erheben. 





Wir wenden ung nun noch zu den übrigen acht Apofteln, 
ohne befonderen Werth auf die Stelle zu legen, die ihnen in 
ben vier Namensverzeichniffen angewiefen wird, ba diefe hierin 
nicht übereinftimmen. 

Philippus war, dem Sohannes zufolge, der ihn auch 
mehrmals vedend auftreten laßt, aus Bethfaida gebürtig. 


218 


Daß fich Juden aus griechiſchen Ländern, welche Iefum zu 
ſehen wünſchen, an ihn wenden (Joh. 12, 20), ſcheint ihm 
eine ſonſt nicht bemerkbare Bedeutung beizulegen. 

Bartholomäus iſt und nur aus dem Apoſtelverzeichniſe 
befannt: da er bei Johannes niemals genannt wird, und da 
gegen der Rathanael hier in einigen Verbindungen vors 
fommt, wo die Synoptifer den Bartholomäus nennen, fo hat 
man geglaubt, beide Namen bezeichnen diefelbe Perfon, jedoch 
ohne zureichenden Grund, wiewohl der Name Nathanael in 
keinem Apoftelverzeichniffe vorkommt. 

Thomas erfiheint in der Auferſtehungsgeſchichte des Las 
zarus Soh. 11, 16 als treuer Günger ded Herrn; dann * 
nach deſſen Auferſtehung als der Ungläubige (20, 24), 
ift auch bei einer der Erfcheinungen Jeſu vor der mehr 
gegenwärtig (21, 2). 

Bon Matthäus kennen wir nur bie oben befprochene 
Berufungsgeichichte. 

Jakobus, Alphäus Sohn, wird in ber Apoſtelgeſchichte 
mehrmals mit Auszeichnung erwähnt. 

Simon, der Eiferer genannt, feheint früher der, erft 
ſpaͤt entitandenen, jüdiſchen Sefte der Neligiondeiferer ange 
hört zu haben. . 

Sudas Iſcharioth, der berüchtigte Verräther, wird 
weiter unten befprochen werden; er fteht in allen Verzeich⸗ 
niffen am Ende. 

Die vorlegte Stelle nimmt bei Lukas ein Jubas, Jako⸗ 
bus Sohn, ein; bei Markus ein Thaddäus; bei Matthäus 
ein Lebbäus; eine Berfchiedenheit, die fich, wenn man auch 
bie beiden letzten Namen als Bezeichnnng derfelben Perfon 
nehmen will, nicht ausgleichen, und nur aus der wahrfjcheins 
lich erft fpätern Entitehung der Verzeichniſſe erklären läßt. 


Der einzige Lukas erzählt und 10, 1, daß Jeſus außer 
diefen Apofteln auch noch einen weitern Kreis von fiebenzig 
Süngern um fich gehabt habe, die ihm beftändig nachfolg« 
ten. Allein diefe Nachricht hat Vieles gegen fih. Nicht nur 
werben dieſe fiebenzig fonft nirgends erwähnt, ſondern es 


219 


laſſen fich auch leicht Grunde finden, welche bie Sage ver 
anlaffen konnten, Line ſolche Zugabe zur Gefchichte zu liefern: 
fiebenzig war eine heilige Zahl; fiebenzig Aeltefte wählte Moe 
fe8 (4 Moſ. 11, 16, 25), fiebenzig Mitglieder hatte das Sys 
nedrium, fiebenzig griechifche Dolmeticher das alte Teftament. 
Bebeutender noch iſt ed, daß nach jüdifcher Anficht es ſieben⸗ 
sig verfchiedene Völfer und eben fo viele Sprachen auf Erben 
gab. Wußte man nun einmal, daß Sefus nach ber Zahl der 
jüdifchen Stämme ſich zwölf Apoftel auserlefen hatte, wie 
leicht Eonnte man dadurch zu dem Schluffe gelangen, er werde 
auch für jedes der, wenn auch in einiger Ferne, auf ihn 
harrenden, übrigen Völker der Erbe einen Boten aufgeftellt, 
daraus einen ihm etwas ferner ftehenden Kreis gebildet, und 
ſomit die Berufung aller Völker fchon bei feinen Lebzeiten 
finnbüblich angedeutet haben? — 

Mag nun auch Jeſus allerdings außer den Apoiteln noch _ 
andere Männer zu beftänbigen Begleitesn gehabt haben, wie 
auch Apoftelg. 1, 21 zu beweifen fcheint, fo müflen wir doch 
annehmen, er werbe wohl Wichtigeres zu thun gehabt haben, 
„als alle möglichen bedeutfamen Zahlen zufammen zu fuchen, 
und ſich nach Maßgabe berfelben mit verjchiedenen Süngers 
freifen zu umgeben *. 


Vierter Abfchnitt. | 
Die Reden Zefu, und die widtigften natür: 
lichen Begebenheiten aus feinem Leben, 


s Wos auf Leiden, Tob und Wiederfunft ſich beziehf, bleibt auch 
bier aufgefrart. * 








Erfies Kapitel. 


Die Bergpredigt und die Nede bei Ausfendung 
der Zwölfe. 


(Matth. 5—7; Luk. 6, 20—49.) 2 


Indem wir zumächft zu den Reden Jeſu übergehen, feheis 
ben wir nur folche für diefe abgefonberte Betrachtung aus, 
weiche, ohne mit Begebenheiten in einem Zufammenhange 
zu ftehen, für fich felbftftändige Ganze ausmachen. Fer 
ner müffen hierbei die von den Synoptifern mitgetheilten ges 
ſchieden werden von denen bei Johannes, da zwifchen Beiden 
auch in dieſer Beziehung eine große DVerfchiedenheit obwaltet. 
Unter ſich charafterifiren fi) Die Synoptifer wieder fo, daß 
Markus fehr wenige Reden liefert, Lukas bedeutend mehr, 
aber zerftreut und vereinzelt, und Matthäus gewöhnlich in 
größeren Maffen; weßhalb wir am fchidlichften dieſen mit 
feinen größeren Neben zu Grunde legen, und überall die beis 
Den Andern da zuziehen, wo fie etwas Verwandtes und Ents 
fprechendes darbieten. 


19 Da in allen Kapiteln dieſes WUbfchnitted mehrere, ganz vers 
fchiedbene Parthien der evangelifchen Berichte befprochen werben 
müffen, fo fchien es zwedmäßig, am Anfange eines Kapitels 
nme die Stellen anzugeben, welche fich auf den erften Gegen 
ftand desſelben beziehen, die übrigen aber erft dann in befonberer 
Ueberfchrift, wenn ihr Juhalt zur Sprache kommt. 


221 


Wir beginnen mit ber erſten größeren Rebe bei Matthäus, 
der fogenammten Bergpredigt (5, 1 ıc.), welcher eine Rede 
Jeſu bei Lukas in vielen Punkten auffallend ähnlich ift (Luk. 
6, 20 2c.). Beide haben denfelben Anfang und Schluß, eine 
fer verwandte Anordnung der Gedanfen, unb bei beiden 
Evangeliften begibt ſich nach der Rede Jeſus nach Kapers 
naum, wo er den Knecht des Hauptmauns heilt (Matth. 8, 
5 x.; Luk. 7, 1 ꝛc.). Es iſt alſo unverkennbar, daß Beide 
ung die ſelbe Rede geben; denn wenn namentlich ältere Aus⸗ 
leger dieß mit der Behauptung läugnen, Jeſus habe gar wohl 
wichtige Lehren mehrmals vortragen können, fo ift dieß 
mar von einzelnen furzen Sätzen gar wohl benfbar; eine 
Nede aber in fo gleicher Stellung der Säge und ganz mit 
demfelben Anfange und Schluſſe zu wiederholen, die ß fünnte 
doch nur einem befchränften Kopfe, einem Lehrer, dem es an 
mannigfachen und neuen Wendungen gebricht, begegnen. Man 
hat aber auch zu Diefer Annahme nur darım feine Zuflucht 
genommen, weil beide Evangeliften auch wieder in mehreren 
Punkten von einander abweichen. 

Zunächft nämlich könnte es fo fcheinen, ale ob, dem Lukas 
folge, Jeſus feiner Nede eine befondere Beziehung zu den 
fo eben erwählten Jüngern gebe, da er hier beim Beginne 
derfelben feine Augen „anf fene Jünger“ richtet (6, 20), 
während Matthäus Jeſum beitimmt zu den „Volksmaſſen“ 
(5, 1) reden laßt; allein da doch auch Lukas fagt, Jeſus habe 
„zu den Ohren des Bolfes“ geredet (7, 1), fo darf auf 
diefe Kleine Berfchiedenheit fein Gewicht gelegt werden. Auch 
ber Widerfpruch, daß Lukas Mehrere von Jeſus vor der 
Nede erzählt, was Matthäus nach derfelben gefchehen läßt, 
mag als weniger bedeutend überfehen werden. 

Daß aber nach Matthäus Jeſus „auf den Berg ging“, 
und „fisend“ fpradı (5, 1), während er bei Lukas „herabs 
ftieg und auf einem ebenen Orte ftand“ (6, 17), läßt fich 
nicht fo Teicht mit einander vereinigen. Könnte man auch 
fagen, Jeſus fei, laut Matthäng, erft auf eine Anhöhe ges 
fliegen, dann aber, um einen bequemeren Plab zu finden, 
wieder etwas herabgegangen, näher zum Volke: fo hätte doch 
wenigitens Jeder Etwas ausgelaflen, Lukas das vorausgedov⸗ 


gene Auf⸗, Matthäus bas nachfolgende Niederſteigen. Aber 
wein! Jeder nimme eine wirflih andere Stellung Jeſu an; 
Denn des Matthäus „Sigen“ paßt nur zu feinem „Berg“, unb 
des Lufas „Stehen“ nur zu feiner „Ebene“: was alſo der 
Eine fagt, paßt nicht zu der Angabe des Andern. _ 

Am wichtigiten ift die Differenz, daß die Rede bei Lukas 
nur den vierten Theil fo groß ift, als bei Matthäus,. und 
dennoch Manches enthält, was hier fehlt. Dieß fünnte man 
fi) auf zweifache Weiſe erlären. 

1) „Lukas giebt nur einen Auszug“ — fo bie meiiten 
Drthoboren, weil fie annehmen, Matthäus gebe ein gefchlofs 
fenes, fchön georbneteds Ganze. Allein eben bieß ift fo um 
wahrfcheinlich, da fi fchon von 6, 19 an mehr oder minder 
vereinzelte Sentenzen finden, von denen manche ficherlich nicht 
bei dDiefer Gelegenheit von Jeſu gefprochen morden find. 
Daher hat man ſich neuerdings (Sieffert, Fritfche ꝛc.) der 
wahrfcheinlicheren umgefehrten Anficht zugemwendet. 

2) „Lukas hat die urfprüngliche, einfache Rede, und Mats 
thaͤus fie mit Zufägen erweitert“, — dieß wird dadurch gewiß, 
daß allerdings in der Rede bei Matthäus Stellen enthalten 
find, welche bei Lukas und Markus an verfchiedenen Drten zers 
fireut vorfommen. Hiemit ift nun aber zugleich auch anerfannt, 
bad Matthäus im Srrthume- befangen ift und falfch bes 
richtet; denn daß er Ein Ganges hat geben wollen, und 
nicht mit Abficht Manches, das nicht grade jeßt gefprochen 
worden, noch gelegentlich beigefügt, geht Daraus hervor, daß 
er ja vor der ganzen Rede Jeſus auf den Berg und nach 
ber ganzen von bemfelben herabfteigen läßt; — daß er ans 
giebt, welchen Eindrud jekt das Ganze auf das Boll 
machte. Indeß auch bei Lukas finden fich unverfennbar Lücken, 
Zufäge und Unrichtigfeiten in der Stellung des @inzelten, fo 
baß er in diefer Beziehung vor Matthäus Nichts voraus hat, 
wie aus näherer Betrachtung des Einzelnen deutlicher wers 
den wird. 


Die Rede beginnt mit dem bekannten „Seligpreijen“ ber 


und der Menfchen; bei Lukas aber find der aufgezählten Fälle 
nicht nur weniger, fondern es find aud) einige anders gefärbt, 


\ 


223: 


als bei Matthäus; während bei biefem die „Armen am Geifte* 
5, 3), die „nach der Gerechtigkeit Hungernden“ (®. 6) 
felig gepriefen werben, nennt Lukas nur allgemein die „jest 
Armen“ (6, 20) und die „jest Hungernden“. Bei Matthäus 
alfo find es die jet unbefriedigten, leidenden Frommen; bei 
eukas alle gegenwärtig Dürftigen überhaupt, die einft felig 
werben follen. In lettterer Faärbung Des Ausdrucks tritt bie 
Anficht der Ebioniten hervor, nach welcher, ohne Rückſicht 
anf den innern Werth ded Menfchen, Jeder, der fich in 
diefer Zeit fein Theil nimmt, in der künftigen leer ausgeht; 
der Darbende aber ſchon als foldyer Anfprüche auf ewige 
Seligfeit hat. 

Lukas hat fodann nach den „Selig, felig“ eben fo viele 
„Wehe, wehe“, die bei Markus ganz fehlen: fie bilden bie 
Gegenfäte zu jenen, und fprechen als folche, indem den „Reis 
hen, Gefättigten ꝛc.“ (®. 24, 25) ohne Weiteres ewiges 
. Wehe zuerfannt wird, die oben berührte Ebionitifche Anficht 
noch fchärfer aus. Diefe Weherufe bei Lukas find unverfenns 
bar aus jüdiſchen Vorftellungen gefloffene, Jeſu fremde, Zus 
füte. Denn aud) Moſes gefellte überall dem Segen auch den 
Fluch bei, worauf die NRabbinen, die noch weiterhin den zwans 
ig Eeligfeiten in den Pfalmen eben fo viele Wehe aus Ies 
ſaias entgegenftellen, befonderen Werth legen. Es fchien alfo 
der überall Parallele zwiſchen Mofes und dem Meſſias fuchen- 
den chriftlichen Sage fich von felbit zu verftehen, daß auch 
Jeſus feinem „Selig“ das „Wehe“ entgegenftellte. 

An die Geligpreifungen fchließt ſich bei Matthäus ganz 
angemefjen der Ausſpruch, die Jünger feien „das Salz der 
Erde“ (V. 13) und „Das Licht der Welt“ (14). Beides fehlt 
bei Lukas, der diefelben Gedanken an andern Stellen einfügt, 
und zwar „das Salz ıc.“ 14, 34 ebenfalls ganz paſſend, weß⸗ 
halb wir annehmen dürfen, es ſei eine fo bezeichnende, eigen« 
genthümliche Sentenz von Jeſu mehrmals ausgefprochen wors 
den. Markus freilidy gibt fie in ganz ungehöriger Verbin⸗ 
dung 9, 50, wo fo eben das Feuer der Hölle, alfo etwas 
ganz Anderes, mit dem Salze verglichen wurde, weßhalb wir 
annehmen müſſen, daß diefer nur durch die Webereinftimmung 
in dem gebrauchten Außern Worte, nicht durch die Verbin 


224 


dung der Gedanken geleitet worden. — Das Bilb vom 
„Lichte der Welt“ aber bringt Lukas zweimal an ganz uns 
fchicflicher Stelle vor. Einmal 8, 16, nad) der Parabel vor 
bem Shemann, mit welcyer ed zwar einigen Zufammenhang 
zu haben fcheinen könnte; jedoch wird jeder befonnene Red⸗ 
ner nad, einem durchgeführten Gleicyniffe nicht fogleich. wies 
ber, ohne dem Zuhörer einen Ruhepunkt zu gönnen, en neues 
Bild anfügen. Uebrigens folgten hier unmittelbar noch zwei 
andere Sentenzen (17, 18), die vollends gar feinen inneren 
Zufammenhang mit den früheren und unter ſich haben: fo 
daß wir auch hier wieder ben Lukas in feiner Manier antrefs 
fen, die Lücke zwifchen zwei Erzählungen durch Fleine Sentew 
zen Jeſu, die ihm bekannt waren, auszufüllen, weil er an fie 
durch irgend eine entfernte Beziehung erinnert wurde. Auf⸗ 
fallender iſt dieß noch an der zweiten Stelle, 11, 33, wo uw 
fer Bild angeführt wird. 


Mit Vers 17 geht Jeſus zu dem Hauptthema der Rebe 
über, durch den Ausſpruch, daß er nicht zur Auflöfung, ſon⸗ 
dern zur Erfüllung des Geſetzes gefommen ſei; Worte, 
welche Lukas (16, 17) abermals an ganz ungehöriger Stelle 
zwifchen zwei größeren Parabeln hat; — fie hier gerade eim 
zufügen, fonnte er fidy nur durch das im vorhergehenden Berfe, 
der aber gerade das Gegentheil fagt, ebenfalls vorfonmende 
Wort „Geſetz“ veranlaßt finden, | 

Jeſus fahrt fodann V. 20 fort, daB er noch ftrengere 
Achtung vor dem Gefeg, ald die Schriftlehrer und Pharifüer, 
verlange, und zeigt in einer Reihe von Beifpielen, daß er, 
ftatt der blos buchftäblichen todten Werkdienerei, eine Reinheit 
des Gemüthes und ein Handeln im Geiſte und Sinne der 
Gebote des Gefeßed verlange. Diefer vortreffliche Abfchnitt, 
20—48, zeigt eine fehr gefchloffene und wohl geordnete Eins 
heit, während die entiprechende Stelle bei Lukas, 27—36, 
auffallend Tücenhaft und ohne verbindende Grundgedanfen 
daftehet; einige Ausfprüche Jeſu, die Matthäus bier offenbar 
an richtiger Stelle gibt, finden fich bei Lukas an andere 
Drte hin verfchlagen, wie 3. DB. Das ſtrenge Verbot der Ehes 

ſcheidung (Matth. 5, 32), welches Lufad wiederum in eine 


225 


Spalte zwifchen zwei größere Erzählungen gefchoben hat (16, 
18). — Zu Anfang des Kap. 6 warnt Sefus vor pharifäifcher 
Henchelei; aledann fommt das befannte „Vater unfer“, welches 
enlas nicht hier in der Bergpredigt, fondern an einer ganz 
andern Stelle hat. Er erzählt nämlich 11, 1, daß, als eben 
Jeſus gebetet hatte, feine Tünger ihn um eine Anweifung zu 
beten verfuchen, worauf er fogleich ihre Bitten erfüllt. Lukas 
mußte alfo erftlich gar nichts davon willen, daß Sefus ſchon 
früher feinen Süngern ein Wiuftergebet gegeben hatte, fonft 
wäre ihre Bitte ja thöricht geweſen; aber er gibt zweitend 
mich ficherlich Zeit und Veranlaſſung irrig an. Denn ift es 
glaublich, daß die Sünger erſt bei der letzten Reife Jeſu um 
ein folches Mufter gebeten, daß Jeſus überhaupt auf eine 
olche Bitte gewartet haben fol, und nicht fehon oft in ihrem 
Rreife gebetet habe? worauf er fie ja nad) ihrer Frage bins 
veifen mußte. Lufas fcheint die Darftellung nad) bloßer Vers 
nuthung gemacht, und da er eine Gelegenheit, bei der Jeſus 
zas Gebet mittheilte, nicht Fannte, eine folche erfunden zu 
yaben; wiewohl es nicht außer Zweifel liegt, ob nicht auch 
Matthäus in einem unrichtigen Zufammenhange das Vater 
mier gibt. Das aber, daß dasjelbe von Jeſu herrühre, dür⸗ 
ea wir nicht bezweifeln; wenn Gelehrte behaupten, ed „ſei 
janz aus Gebetformeln der Hebräer zufammengefeßt“, fo mag 
xeß fein, immerhin „ift ihre Auswahl und Zufammenftellung 
ner durchaus eigenthümlich und ein genauer Abdruck desjenigen 
eigiöfen Bewußtfeing, welches Jeſus hatte und den Seinigen 
nittheilen wollte *. 

B.14 und 15 find am Schluffe ganz ungehörig; 16— 18 
ber fchließen fich ganz gut an den Gedanken an G. 8), der 
zeſum zur Mittheilung des Gebetes veranlaßt hatte. 

Dagegen beginnt mit V. 19 nun ein Abfchnitt, von dem 
ie neueren Ausleger mit Recht behaupten, daß er eine Zus 
mmenftellung verfchiedenzeitiger Ausſprüche Sefu fei, die 
er Evangelift hier nur einer gewiffen Vollftändigfeit zu Liebe 
gehängt habe. Der Spruch; von irbifchen und himmlifchen 
ichätzen (19 — 21) fteht bei Luk. 12, 33 wahrfcheinlic an 
⁊ richtigeren Stelle. Dann folgen ohne inneren Zufammens 
mg: die Sentenz vom Auge, ale bes Leibes Lichte (22 und 

1. 15 


226 


23), von den zwei Herren (24), Abmahnung vom irdiichen 
Sorgen durch Hinweifen auf das fröhliche Gedeihen der Natur 
(25 - 34). Diefe letztere fcheint Lukas 12, 22 richtiger an eine 
Parabel anzufchließen. — Die nun folgende Warnung vor 
dem Splitterrichter (7, 1—5) paßt zu der, wenn wir 6, 
19 — 34 als Einfchiebfel betrachten, vorausgegangenen Schil⸗ 
derung der Scheinheiligfeit der Pharifüer gang gut; auch findet 
fie fich bei Lukas in der Bergpredigt, 37, 41, aber in ſchlech⸗ 
ter Ordnung. — V. 6 fodanıı ift Dagegen ohne Zuſammen⸗ 
hang, und das über den Nußen des Gebetes 7, 11 Sefagte 
fteht ebenfalls an befferer Stelle Luk. 11, 9. Und fo finden 
wir bis zu Ende der Rede nur abgebrochene Säge und Ge 
danken, die theild an fich, theild Durch Vergleichungen vers 
rathen, daß Jeſus fie hier nicht gefprochen haben fan. — 
Der Schluß ift bei beiden Evangeliften gleich (Matth. 7, 26; 
Luk. 6, 49). 

Wir fehen alfo, „daß die fürnigen Reden Sefu durch bie 
Fluth der mündlichen Ueberlieferung zwar nicht aufgelöst wers 
den fonnten, wohl aber nicht jelten aus ihrem natürlichen -Zus 
fammenhange Iosgeriffen, von ihrem urfprünglichen Lager weg⸗ 
geſchwemmt, und ald Gerölle an Orten abgefeßt worden find, 
wohin fie eigentlich nicht gehörten*. Hier hat nun Matthäus 
das Verwandte finnig zufammengereiht, während Lukas mehr 
zufällige, öfters in Fünftlichen Zufammenhang gebrachte, Aus 
einanderfügungen gibt. — 


Eine andere größere Rebe theilt Matthäus mit bei Aus⸗ 
fendung der Zwölfe zu Berfündigung des Meſſiasreiches 
(Kap. 10)5 Markus und Lufas geben von biefer Rede bei 
diefer Gelegenheit gar Nichts, ald einige wenige Vorfchriften, 
wie bie Jünger reifen follen 2c.; dagegen gibt Lufas den größ⸗ 
ten Theil der in ihr enthaltenen Gedanken theild bei einer viel 
fpätern Gelegenheit (12, 1 2c.), theild bei Ausfendung der 
Siebenzig (10, 2 x.). Läßt ſich nun zunächft nicht vers 


227 


fennen, baß auch hier wieder Matthäus Gleichartiges aus 
verfchiedenen Zeiten zufammengeftellt babe, fo muß man 
alsdann audy das noch zugeftehen, daß Matthäus dennoch 
die Abficht hatte, alles Zufammengeftellte ald damalige 
Worte Jeſu feinen .Lefern zu geben, wie aus dem beftimmten 
Anfange (V. 5): „er gebot ihnen“ — und aus dem noch bes 
ſtimmteren Schluffe (11, 1): „als Jeſus feine Gebote ıc. ges 
endet hatte“ — deutlich genug hervorgeht. Daß aber Sefus 
Manches, was ihm hier Matthäus in den Mund legt, damals 
noch nicht geiprochen haben Fann, wird eine furze Betrachtung 
zeigen. — Eigenthümlich ift der Rede des Matthäus der Aufs 
trag Jeſu an feine Tünger, auch Todte zu erwecken; daß 
bieß zu Jeſu Lebzeiten wirklich gefchehen fei, wird nirgende 
gejagt, und tt fehr unmahrfcheinlich; Daher die Sage ohne 
Zweifel es war, die ſchon hier die Sünger zu dem, was fie 
fpäterhin wirklich gethan haben follen, von Jeſu ermächtigt 
werden ließ. Daß nun aber Die Darftellung des Lukas grade 
die richtige fer, wird mit den Ausftellungen an Matthäus noch 
mdyt behauptet. Zwar iſt ein großer Theil der Vorfchriften, 
weiche Sefus bei Lukas den Siebenzigen gibt, eben fo wohl 
geordnet und augführlich, als die entfprechenden, bei Matthäus 
den Zwölfen gegebenen; allein wenn eben dieſer Lukas nun 
den Zmölfen fo gar kümmerliche Aufträge geben läßt, wie 
wir, oben fahen; den Giebenzigen dagegen, die doch Jeſu 
ferner itanden, weit ausführlichere und zu Vielem ermächtigende, 
fo ijt dieß Doch fehr wenig glaubhaft; vielmehr mag hier 
Matthäus Recht haben, der das, was Lukas den Siebenzigen 
gejagt werden läßt, zu Jeſu Weifungen an die Zwölfe madıt. 
Anders aber verhält es ſich mit Dem Theile der Rede 
bei Matthäus, den Lukas erft auf der lebten Reiſe von Jeſu 
gegen die Sünger ausgefprochen werden läßt. Denn Anwei⸗ 
lungen an fie, wie fie vor Gericht fich zu benehmen haben 
8. 19, Ermahnungen, ſich vor denen nicht zu fürchten, die 
nur den Leib tödten fünnen (23), Jeſum nicht zu verläugnen 
32), fondern fein Kreuz auf ſich zu nehmen (38), und Aehn⸗ 
liches — dieß paßt doch zu einer erften Ausfendung nicht, 
die nur erfreulichen Erfolg hatte (Ruf. 9, 10). Vielmehr feßs 
ten jene Worte fchon die getrübteren Verhältniſſe Seit woraus, 


228 


wie. fie höchſtens erſt bei der lebten Reife nach Terufalem, 
wohin Lukas die Ausfprüche verlegt, fich herausſtellen moch⸗ 
ten; — allein ed wäre felbft das fehr möglich, daß erft nad 
Seft Tode, als die Apoftel wirklich fo vieles Ungemach ers 
dulden mußten, ſich dergleichen Schilderungen desſelben, als 
Prophezeihungen nach dem Erfolge, allmälig geftalteten, die 
ſchon von Jeſu den Seinen mitgetheilt fein ſollten; wenigftend 
fieht das Auffichnehmen des „Kreuzes“ ganz darnach ans. 


Eine folgende größere Rede Sefu bei Matthäus (Kap. 17) 
ift ihrem größeren, auf Johannes fich beziehenden, Theile 
nach ſchon früher betrachtet worden. Sie fchließt von B. 20 
an mit einer Verwünfchung der Städte, die Jeſum unglänbig 
von ſich geftoßen. Dieſe Berwünfchung hängt mit dem Bors 
bergehenden ganz wohl zufammen; bei Lukas aber, der fie 
10, 13 der Ermahnung an Die abgefendeten Siebenzig (ſ. S. 227) 
einwebt, fo wenig gut, daß hier offenbar der Erzähler nr 
durch die äußere Aehnlichfeit des Borausgegangen veranlaßt 
wurde, die Worte hier einzufchieben. — Das hierauf fols 
gende Frohlocen über die „den Unmündigen“ zu Theil gewors 
dene Einficht, fteht bei Matth. 25 ꝛc. ganz ifolirt, während 
es bei Lukas B. 21 durch die mit guten Nachrichten zurüds 
fehrenden Siebenzig (V. 17) ganz wohl motivirt erfcheint. 
Da aber freilich fchon die Auswahl diefer Siebenzig fo un 
gewiß iſt (ſ. ©. 218), fo könnte man am ſchicklichſten jene 
Worte an die Rückkehr der Zwölfe anfchließen. 





weites Kapitel 
Die Parabeln Zefn. 
(Matth. 13, 1— 52; Marf. 4, 1— 34; Luk. 8, 5— 15; 13, 
18 — 21.) 


Wir betraditen nun die befannten Parabeln Jeſu; Mate 
- thaus gibt und die erften im Kap. 13, und zwar fogleich fieben 
auf einmal, Es handeln zwar alle vom „Himmelreiche“, 


229 


bringen aber von dieſem fo wefentlich verfchiebene Seiten zur 
Anfhauung, daß Jeſus das Lob der Lehrweisheit nicht vers 
dienen würbe, wenn er alle, fo ohne Ruhepunft, in Einem 
Zuge vorgetragen hätte, wie Matthäus es darſtellt. Denn 
baß er diefe Anficht geben und nicht bloß Gleichartiges von 
ſich aus zufammenordnen will, geht aus den Anfangss und 
Schlußformeln, V. 3 und 53, deutlich hervor. Die Unrich⸗ 
tigfeit dieſer Daritellung ergibt ſich aber noch mehr aus näher 
ser Betrachtung derfelben. Nachdem Jeſus die erfte Parabel 
dem Volke vorgetragen, gibt er den Süngern, auf ihr 
Anſuchen, privatim eine ausführliche Erklärung derfelben 


- (10— 22); wie er das begierig harrende Volt fo lange müßig 


laſſen konnte, ift unbegreiflich. Sodann folgen noch drei Pas 
rabeln, 24— 33, worauf Iefus mit feinen Süngern in dag 
Haus geht, 36, und ihnen auch die zweite Parabel auslegt, 
und endlich noch drei neue hinzufügt, 44 — 52. Diefes Letz⸗ 
tere ift aus doppeltem Grunde undenkbar: denn nach B. 11 
redete Jeſus ja nur zu dem Bolfe, nicht zu den Jüngern in 


Gleichniſſen; und wie mochte er hier für dieſelben fogleich 


drei neue noch dreingeben, ftatt fich zu überzeugen, ob fie 


"die alten auch recht verfianden, woran er wohl zweifeln mußte? 


Alen man fieht leicht, wie die Berwirrung entftanden ift. 
Matthäus wollte hier Die vielen Parabeln in Einem uffe 
geben, und überbieß die Erklärung der zwei wichtigften; da 
er Die der zweiten nicht much, wie die der erften, unmittelbar 
nach deren Bortrage den Jüngern vor allem Bolfe wollte 
geben laſſen, jo hieß er nach der vierten Jeſum nach Haufe 
gehen; num war aber der Zufammenhang zerriffen, und die 
noch rückſtäändigen Parabeln, Die er noch zu erzählen fich vor; 
geſetzt hatte, traten nun iſolirt an’d Ende. Matthäus mag 
abweichende Leberlieferungen vor ſich gehabt haben, aus denen 
er ſich zurecht fand, fo gut ed gehen wollte, ohne daran zu 
meifeln, daß Sefus alles dieß bei einer und derfelben Ges 
legenheit gefprochen habe, worin wir aber, wie oben bemerkt, 
ihm nicht beiftimmen fünnen, aus Achtung vor Jeſu Weisheit. 

Markus Laßt gleichfalls (4, 1 x.) Jeſum am See dem 
Volke Parabeln vortragen, allein Doc, nur drei, von welcher . 
die erfte CB. 3) und dritte (B. 31) der erften und Deitten Ki 


230 


Matthäus entſprechen CB. 3 und 31); die mittlere aber, vom 
Säen und Ernten (®. 26), iR dem Markus ganz -eigenthüm- 
lich. — Lukas hat ebenfalls nur drei diefer Parabeln, fo baß 
dem Matthäus die vom vergrabenen Schatze (V. 44), von 
der Perle (B. 45), dem Netze (B. 47), und die vom Un⸗ 
traute im Ader (V. 24), eigenthümlich bleiben. Lukas aber 
gibt die gemeinfchaftlichen an andern Stellen, ald Matthäus; 
die vom Säemann bringt er früher an, 8, 45 bie vom 
Senfforn und Sauerteige fpäter, 13, 18 ıc., unb zwar 
diefe leßteren offenbar ganz zur Unzeit, da mit V. 17 bie 
Scene in der Synagoge, an die er fie anreiht, auf bas Ent 
fchiedenfte abgefchloffen ift. 


2 


(Matth. 18, 23—35; 20, 1—16; 21, 28- 323; Luk.7, 
41—43; 10, 30—37; 11, 5—9; 12, 16—21; 15, 4—32; 
16, 1—9 und 19—31; 18, 2—7 und 9—14.) 


Weiterhin findet fidy noch bei Matthäus allein das Gleichge⸗ 
wicht von dem hartherzigen Knechte, welches 18, 23 ſich fehr 
paſſend an die Ermahnung zur Verföhnlichfeit (V. 15 x.) an 
fchließt; eben fo paflend fteht das vom Weinberge-20, 1; 
dagegen hängt die ihm angefügte Sentenz: „Biele find berus 
fen 2c.“, weit weniger damit zufammen, ald mit der Parabel 
vom föniglihen Gaftmahle, wo fie Matthäus auch wirffich 
wiederholt, 22, 14. Endlich ift noch die Parabel von den 
zwei in den Weinberg gefandten Söhnen dem Matthäus 
(21, 28) eigenthümlidy. 

Dem Lufas allein eigen find die von den zwei Schuld» 
nern (7, 41), vom barmherzigen Samariter (10, 30), 
von dem im Sammeln irdifcher Schäße fterbenden Manne 
(12, 16); zwei, welde in etwas auffallenden Bildern Die 
Wirkſamkeit des Gebetes verfinnlichen (11, 5 und 18, 2), 
und ferner die fchöne vom Pharifäer und dem Zöllner 
(18, 9), die eben fo entfchieden gegen die Pharifäer gerichtet 
ift, als die drei vom verlornen Schafe (15, 3), Groſchen 
B. 8) und Sohne (B. 11), welche drei gar wohl hintereinans 
ber gefprochen fein fünnen, Da ihr Inhalt ein fehr verwandter 


. 


231 


iſt. Dieß iſt aber nicht der Fall mit der nun folgenden vom 
ungerechten Daushalter (16, 1), die von jeher den Aus⸗ 
legern fo viel zu fchaffen gemacht hat. Allein fie gibt doch 
bei näherer Betrachtung einen ganz einfachen Sinn, nämlich 
den: „der Menfch, der Gott gegenüber doch immer „„ein 
ummüßer Knecht“ ift, ann biefe ihm anklebende mangelhafte 
Verwaltung der ihm anvertrauten Geiltesgaben am Beſten 
durch NRachficht gegen feine Mitmenfchen wieder gut machen“ ; 
— daß in der Parabel diefe Nachſicht in Form cined Betruges 
ericheint, davon muß man abfehen, da die Parabel gar häufig 
mr den Einen Grundgedanken, bier den der Nachſicht, 
verfolgend, die daran fich knüpfenden Nebenvorftellungen außer 
Acht läßt 2%. — Dieſe unfere Erflärung ift aber freilich nur 
dann zuläffig, wenn wir Die Parabel als mit B. 9 abgeichloffen 
betrachten. Denn was von V. 10 an noch von der Treue im 
Kleinen, und von den zwei Herren, denen man nicht zugleich 
dienen fünne, folgt, — das freilidy will zum Borausgegange- 
nen gar nicht paffen, verwirrt vielmehr den bis dahin ganz _ 
flaren Sinn fo fehr, daß Ausleger, die wie Schleiermacher 
md Dishaufen dasfelbe noch mit hinzunehmen, zu den felts 
famften Erflärungen fich flüchten müflen. Allein it es denn 
bei Lukas etwas fo Unerhörteg, daß er, durch gewifle Worte 
an andere Ausfprüche Jeſu erinnert, diefe anfügt, wenn fie 
auch in feinem inneren Zufammenhange mit dem fo chen 

Dargeftellten ftchen? Wir fehen auch hier, welche Worte 
ihn dazu verleiteten: B. 9 war von dem „ungerechten Mans 
mon“ die Nede, da fiel ihm ein, daß Jeſus auch noch Ande⸗ 
res über den Mammon gefagt hatte, und er feßte Daher 
diefes V. 10— 13 auch noch hinzu, weil er Feine ſchicklichere 
Stelle dafür wußte. Zum Theil wenigſtens flimmen mit bier 


22, Es mag hier die Bemerkung eine Stelle finden, daß in den Ge⸗ 
Dichten des alten Homer die fo zahlreichen Bilder ganz denfel- 
ben Charakter haben ; viele derſelben müßten und ganz anftößig 
erfheinen, wenn wir nicht wüßten, daß der Dichter nur ben 
eigentlichen Bergleichungepuntt im Auge hat, unbefümmert 
um andere Gigenthümlichkeiten bes zum Bilde benüsten Ges 
genftandes. 


232 


fer Anfiht u Schnedenburger und De Wette über- 
ein. Man follte überhaupt noch mehr, als ed bereits gefchehen 
ift, anerkennen, daß die Evangeliften in Abfaffung ihrer Bes. 
richte mehr von dem Beitreben ausgingen, das, was ihnen 
die mündliche, den inneren Zufammenhang bed von Jeſu 
Gefprochenen vielfältig auflöfende Ueberlieferung an die Hand 
gab, möglichft getren wiederzugeben; der Verſuch, Diefen 
zerriffenen Zufammenhang wieder herzuftelen, lag ber 
fchlichten, von Ehrfurcht für Das Leberlieferte befeelten Mäns 
nern weniger nahe. Wo aljo „der Gleichklang gewiſſer Schlag⸗ 
worte * dazu einlud, da gaben fie, was fie hatten, einzig. 
darauf bedacht, daß Nichts verloren gehe. 

Es bedarf nad) dem Gefagten Feiner befonderen Nachwei⸗ 
fung mehr, daß unfere Parabel vom ungerechten Hausvater 
mit der unmittelbar vorhergehenden vom verlornen Sohne 
(15, 11) in feinem Zufammenhange fteht, und Lukas hier 
in das dem Metthäus ſchon nachgewiefene Verfehen, mehrere 
nicht zu gleicher Zeit von Jeſu vorgetragene Parabeln doch 
in unmittelbarem Zufammenhange zu geben, verfallen ift. 


enden wir nun wieder den Blick norwärts, fo bringt 
Lufas nach den fo eben, und andern früher befprochenen Eins 
ſchiebſeln, Die abermals nur eine Spalte zwifchen größeren 
Erzählungen ausfüllen, die befannte Parabel von Lazarus 
und dem reihen Wanne (16, 19. Dffenbar fol Lazarus 
als der Belohnte, der reiche Mann ald der Beſtrafte darges 
ftellt werden, das Ganze alſo im Gleichniſſe Die göttliche 
Strafgerechtigkeit veranſchaulichen; gerade aber in diefer aus 
genfcheinlichen Tendenz liegt für unfere Begriffe die größte 
Schwierigfeit. Denn weder beffer in diefem Leben, ale der 
reiche Mann, erfcheint Lazarus, noch fchlechter, als Lazarus, 
der Reiche; der Berdienft des Erften liegt einzig in feiner 
Armuth, das Verbrechen des Andern in feinem Reichthume. 
. Anzunehmen aus V. 19, daß der Neiche auch ausfchweifend 
geweien, oder aus 20—21, daß er Lazarus Fieblos behandelt 
habe, dazu bieten und die Worte felbit gar feinen Grund bar, 
die offenbar nur beabfichtigen, uns den großen Unterſchied 


233 

zwiſchen ber glänzenden Lage des Neichen, und dem Jammer 
des Lazarıs recht anfchaulich zu machen; von befonderen Bers 
dienften. des Lazarus ift überdieß in diefer Befchreibung ihres 
beiberfeitigen irbijchen Lebens gar feine Rebe. Auch weiß ja 
Abraham (V. 25) dem in der Hölle ſchmachtenden Reichen 
RNichts weiter zu fagen, ale er habe fein Gutes ſchon empfan⸗ 
gen. Wir müffen alfo anerfennen, daß fich auch hier die 
Ebionitifche Vorftellung von den Anfprüchen des in Diefem 
Leben Unglücklichen an Seligfeit im ewigen ausfpricıt, Die 
wir oben (ſ. ©. 223) in Behandlung der Stellen Luk. 6, 20 x. 
uachwiefen. Da, wie dort gezeigt worden, Lukas in dieſen 
Stellen eine getrübte, Matthäus aber (5, 3) die Achte Ueber⸗ 
keferung ber Ausfprüche Sefu gibt, fo können wir auch bei 
diefer Parabel nicht anftehen, zu behaupten, daß des Lulas 
Darftellung durch Ideen getrübt ift, Die Jeſu frend waren, 
und vielleicht auf Rechnung. effenifcher Anfichten zu feßen find. 
Achnliches finden wir z. B. Matth. 19, 16 20.5 Mark. 10, 17 20.5 
Luk. 18, 18 ıc. 

Die Parabeln von den rebellifchen Weingärtnern (Matth. 
21, 3—4; Mar. 12, 1—12; uf. 20, 9I—16) bedarf 
feiner befonderen Behandlung, da ihr Sinn einfach und klar 
ft. Mir haben nur noch zwei bisher nicht befprochene näher 
zu betrachten. 





(Matth. 22, 2—14; 25, 14— 30; Luk. 14, 16 — 245 19, 
12 — 26.) 


Zunächſt die Parabel von den anvertrauten Talenten 
(Matth. 25, 14), oder wie Luk. 19, 12 fagt, Minen. Daß 
beide Evangeliften, troß einiger Abweichungen, doc, im We⸗ 
fentlichen die ſelbe Parabel erzählen, muß nach genauer Bers 
gleichung Jedem einleuchtend fein. Nur Eine wichtige Vers 
fchiedenheit tritt hervor, daß naͤmlich Lukas ein Berhältniß dee 
abweiſenden Herrn zu rebellifihen Bürgern einmifcht, von 
dem Matthäus gar Nichts weiß; daher macht er auch den 
einfachen „Menfchen“ bei Matthäus zu einem „vornehmen 
(d. h. regierenden) Herrn“. Kaum aber läßt ſich eine Diiies 


234 


renz leichter auflöfen, als diefe; während nämlich, Matthäng 
eine. ganz einfache, in fich volllommen abgerundete Parabel 


giebt, hat offenbar Lukas zwei verſchiedene in einander ges 


ſchoben, wozu er ober die Sage burch_ben gemeinfamen 
Zug, ben beide haben, nämlich Abreiſe und Wiederkunft des 
Herrn (8. 12 und 15), verleitet wurde. Die Nichtigfeit Die 
fer Anficht geht Daraus hervor, daß wir, wenn wir bie Berfe 
12, 14, 15, 27 herausheben, die Parabel von ben rebellr 
fhen Bürgern, freilich etwas verfürzt, aber doch ganz rein 
vor und haben. Daß aber nicht Jeſus felbft die beiden Pas 
rabeln fo mit einander verbunden haben kann, geht eben 
daraus hervor, daß fie fo loder zufammenhängen und, wie wir 
faben, bei der erften Berührumg ‚wieber auseinander fallen. 
Ueberdieß müßte er fie auch in ber Fünftlicheren Form, wie 
fie Lulas giebt, früher, als in ber einfachen bei Watthäus 
vorgetragen haben, da jener fie vor, diefer nadı dem Ein 
zuge in Serufalem fett; ein ganz wunderbares Verfahren ! 





Ein ganz ähnliches Verhältniß findet ftatt bei ber num 
noch übrig bleibenden Parabel von dem Gaftmahle und den 
nicht erfcheinenden Gäften Matth. 22, 2, Luk. 14, 16); welche 
indeß bei Lukas in ihrer einfachen, Achten Geftalt erfcheint, 
nicht wie jene bei Matthäus. Diefer nämlich miſcht noch die 
Züge bei: „ein König, deffen Sohn Hochzeit hält, ladet ein; 
die Gelädenen tödten, als fie zum zweitenmale ermahnt 
werden, feine Knechte (®. 6); der König fendet dann Heere 
ans und zerftört ihre Städte ®. 7); endlich muftert der Kö⸗ 
nig die von der Straße aufgelefenen Säfte, und verftößt einen, 
ber fein hochzeitlich Kleid hat, in die dichte Finſterniß“ (V 
11—14). Bon dem Allem Nichts bei Lufas! — Schon ber 
Zug, daß die Seladenen die Knechte erfchlagen, ift ein ganz 
ummatürlicher, den Jeſus wohl nicht beifügen fonnte, wohl aber 
ber Evangelift, dem ein ganz ähnlicher Zug aus der fo eben 
erzählten Parabel vom Weingärtner (21, 33 20.) noch im 
Sinne lag (®. 35), der aber dabei überfah, daß hier ein 
ganz anderes Berhältniß obſchwebte, indem hier der Herr feine 
Steuern eintreiben wollte! Daß der König num ihre Städte 


235 ' 


zerſtörte, ergab ſich freilid, von felbft, ſobald jener erſte Zug 
aufgenommen worden war. — Endlich fchemt der Zufab am 
Ende, 11—14, doch gar nicht hieher zu gehören; denn, um 
Anderes zu übergehen, ‚bringt er einen ganz neuen, fremden 
Gedanken in die Parabel. Diefe will doch anſchaulich machen, 
wie zum SHimmelreiche bie Heiden berufen werben, ba bie 
Suden die Einladung verfchmäht hätten; jener Zufat gibt 
aber einen ganz andern Gegenfa hinzu, den moralifchen 
zwiſchen den Würdigen und Umvürdigen, wovon bie erfte Idee 
der Parabel Nichts weiß; es konnte aber in der Erinnerung 
fidy leicht ein folcher Zufag hier anhängen, wenn man nicht 
mehr recht wußte, wohin er eigentlich gehörte. 

Sonach hätten wir hier eine noch komplizirtere Parabel⸗ 
maſſe vor uns: 1) als Stamm die bei Lukas rein erhaltene 
vom Gaſtmahle, 2) ein Streifen aus der von dem. rebellifchen 
Meingärtnern, 3) den Schluß aus einer fonft nicht befannten 


vom bochzeitlichen Kleide; — „eine Erfcheinung, welche ung. 


einen folgereichen Bid in die Art und Weife geftattet, wie 
die evangelifche Tradition mit ihrem Stoffe zu verfahren 
yflegte *. 





Dritte? Kapitel, 
Andere Neden Zefu in den drei erften Evangelien. 
Matth. 18, 1— 20; 19, 3— 12; Mark. 9, 35 — 48; 
10, 2—12; Luk. 9, 46— 50.) 


Die nächfte Rede, die fich uns darbietet (Matth. 18, 1), 
bildet ein eben fo auffallendes Beifpiel von dieſem Berfahren 
der Tradition; fie ift augenfcheinlich aus vielen einzelnen 
Stüden, ganz an den Faden einer nur durch verwandte 
Worte und Ausdrüde in Thätigfeit verfeßten Erinnerung 
zufanımengefügt. 

Nachdem Jeſus den im Nangftreit begeiterten Jüngern 
ein Kind ald Mufter aufgejtellt CB. 2), knüpft er die ganz 
angemeffene Ermahnung au, fich wie dieſes zu erniedrigen 
(3, 4); der weitere Gedanfe aber, daß wer ein Kind ig 


236 


Jeſu Namen aufnehme, dieſen ſelbſt aufnehme, ſteht doch 
dem Zwecke, zu welchem das Kind aufgeſtellt ward, ganz ferne, 
was noch auffallender bei Mark. 9, 37 und Luk. 9, 48 
it, wo Sefus nur diefe Worte über das Kind ſpricht. Doc 
führen diefe beiden grade auf den richtigen Weg; da Jeſus 
nämlich fonft nur von feinen Süngern fagt, daß, wer fie 
aufnehme ıc. (Matth. 10, 40 u. a.), von den Kindern 
aber gerne, wer das Himmelreich nicht aufnehme wie fie, ber 
werde es nicht gewinnen (Mark. 10, 15), fo liegt die Bers 
muthung nahe, daß hier die zwei ähnlich klingenden Redens⸗ 
arten verwechſelt worden. 


Bei Markus und Lukas (V. 38 und 49) giebt Johan⸗ 
nes, als Antwort auf jene Worte, die Nachricht, daß bie 
- Zünger Einem, der „in Iefü Namen“ böfe Geifter ausgetries 
ben, ohne ſich an fie anzufchließen, dieß unterfagt hätten. Hier 
liegt, wie Schleiermacher richtig bemerkt, das Band in den 
orten „in Jeſu Namen“; allein daß ber fchlichte Jo⸗ 
hannes durch die Betrachtung, ed genüge alfo mır im Näs 
men Sefu zu handeln, an eine ganz ferne liegende Begebens 
heit erinnert worden fei, dieß fünnen wir doch nicht anneh⸗ 
men; „das ſetzt Schleiermacher’fche Denffertigfeit voraus.* 
Bielmehr die Sage war es, bie durch jene Schlagworte „in 
Jeſu Namen“ an eine andere Anekdote 29) mit bemfelben 
Schlagworte, erinnerte. 


Matthäus, bei dem dieſes Einfchiebfel fehlt, fährt dann 
B. 6 fort mit Weheruf über den, der eines diefer Kleinen 
ärgere: ganz gut! Aber wenn er nun Jeſu hinzufegen läßt, 
daß der, den Auge und Hand ärgere, fie von fi werfen - 
folle (8, 9), fo kann dieß doch nicht richtig fein, denn uns 
möglich konnte Jeſus nun auf einmal auf eine Warnung, ſich 


2), Man möge feinen Anftoß nehmen an diefem Ausdrucke, ber ges: 
wählt wurde, weil wir nun einmal Feinen andern haben, um 
einen charakteriftifchen, hiftorifchen Ing .zu bezeichnen, der zu 
Fein ift, um Gefchichte, Erzählung 2c. genannt zu werden; von 
den üblen Nebenbegriffen, bie fich allenfalls mit dem Worte ver⸗ 
binden ließen, fehen wir sänztie ab, und Hoffentlich auch ber 
unbefangene Leſer. 


237 

sicht durch Sinnlichkeit verführen zu laſſen, überfpringen! Die 
Brüde ift auch. hier ein Stichwort, nämlich das „Aergern“. 
—. Sodann wiederholt fich die gewaltfam abgebrochene Ers 
mahnung, man folle die Kieinen nicht verachten (V. 10), und 
dann folgt die Sentenz, daß Jeſus gefommen, „das Verlorne 
zu vetten“; zu dieſer, welche bei Luk. 19, 10 ganz am rechs 
ten Drte fteht, konnte doch unjer Evangelift hier auch nur 
durch eine Äußerliche Gedanfenverbindung, „Sefu Milde 
wendet ſich zu dem, was Flein und verloren ift“, geführt wers 
ben. Daher kann die nun (V. 12 — 14) folgende Parabel 
vom verloren Schaf (die Lukas ebenfalls richtiger anbringt 
15, 3), auch nicht hieher gehören. Ohne inneren Zufammens 
bang mit ihr ift weiterhin ebenfalls die Anweifung zur Bers 
föhnung mit dem Bruder, wenn er uns beleidigt hat (V. 
15—17). Wenn hier Sefus von der „Gemeinde“ fpricht, 
fo kann dieß nicht als Beweis betrachtet werben, daß er eine 
Gemeinde oder Kirche habe ftiften wollen — denn wie von 
einer ſchon beftehenden Einrichtung fpricht er, — vielmehr 
beweist diefe Wendung nur, daß die Lieberlieferung auch 
fpätere Berhältniffe in die Reden Jeſu übertrug. — End⸗ 
lich veranlaßte die obige Erwähnung der Gemeinde nod) das 
Anfügen einiger anderer auf fie.bezüglichen Sprüdye (118—20); 
und fo fichtlich ift in Diefer Rede die Gefchäjtigfeit der Sage, 
Einzelnes auch ohne einen belebenden Grundgedanfen an eins 
ander zu reihen, daß die Schlußworte Sefu V. 18 ganz geeigs 
net fcheinen Eünnen, die hochfahrenden Gedanken, denen er im 
Anfange der Rede begegnen wollte, wieder hervorzurufen, 
alfo den Eindrud des Anfangs am Ende wieder zu vers 
nichten ! J 

Die nächſte und entgegenkommende Rebe iſt die Matth. 
19, 3 Mark. 10, 2), in welcher Jeſus auf vorgelegte Fra⸗ 
gen der Phariſäer über Ehefcheidung und Chelofigfeit ſich 
ausfpricht. Leber dieſe Rede ift nur zu erinnern, daß man 
fi) vor gezwungenen Auslegungen hüten muß, mit welchen 
man ihren Inhalt mit unfern Einrichtungen und Anfichten 
in Uebereinftimmung hat bringen wollen. Denn daß Jeſus 
nur die damals übliche willfürliche Chefcheidung vers 
werfe (B. 4—6), nicht aber unfere gerichtliche, davon fins 


nn 238 Ä : 

det fich doch feine Spur. Eben fo wenig befchränft er bie 
aledann folgende Empfehlung ber Ehelofigkeit (7 —12) 
durch irgend eine Hinweiſung auf die apoftolifchen Vers 
hältniffe, fondern empfiehlt fie fo allgemein, daß auch hier, 
wie an andern Stellen der Synoptiker, eflenifche Grundſaͤtze 
firenger Enthaltfamfeit in den Worten Jeſu durchfchimmern. 


Matth. 21, 23—27; 22, 15—46; Mark. 12, 12 —44; 
Luft. 10, 25— 30.) 


Es folgen nun die Streitreden, welche Jeſus nad 
feinem Einzuge in Serufalem zu halten veranlaßt ift, und 
welche Matth. 21, 23—27; 22, 15—46 faft ganz einftimmig 
mit den übrigen Synoptifern wiebergibt. Diefe „find gewiß- 
vorzüglich Achte Stüde, weil fie fo ganz im Geift und Ton 
damaliger rabbinifcher Disputirkunſt find*. Wir betrachten 
zuerft die beiden unter ihnen, wo Jeſus alt= teftamentliche 
Stellen auslegt. 

Wenn er Matth, 22, 31—33 aus dem mofaifchen Aus⸗ 
drude: „der Bott Abrahams, Iſaaks und Jakobs“ Die Aufers 
ftehung der Todten beweifen will, da ja Gott ein. „Bott der 
Lebenden und nicht der Todten“ fei, fo müflen wir doch — 
wollen wir unbefangen fein — einräumen, daß Jeſus hier 
rabbinifch fpisfindig if. Diefe nämlich fuchten aus älteren 
altsteftamentlichen Stellen, wo es nur anging, den erft fpäter 
unter den Juden verbreiteten Glauben an Unfterblichfeit hers 
auszulefen, mochte auch die Stelle davon Nichts enthalten; 
und daß auch mit der hier vorliegenden fo verfahren wird, 
muß doch wohl jeder unbeflochene Betrachter zugeſtehen. Warum 
fi) deſſen weigern? Machen wir nicht Sefüm zu einem Weſen 
ohne Fleifch und Blut, gleichfam zum Gejpenfte, wenn er von 
der Auffafjungsweife und Bildungsftufe feiner Zeit fo gänz⸗ 
lich fern gewefen fein foll, daß er, ohne auf ihrem Boden zu 
ftehen, nur wie in den Lüften fchwebte? Ehren wir die, eine 
ganze Welt umgeftaltende, Größe und Hoheit feines inneren 
Weſens nicht weit mehr, wenn wir anerkennen, daß auch er 
nicht ganz frei war von den Einfeitigfeiten einer Welt, die er 


239 


überwinden ſollte? Iſt es ein Ruhm, ben Irrthum vernichtet 
zu haben, wenn man felbft bemfelben völlig unzugänglich war? 

Nicht anders können wir über die zweite oben bezeichnete 
Stelle, B. 41—46, urteilen, wo Sefus den Pharifäern die " 
Frage vorlegt: wie Doch der Meſſias zugleich der Sohn und 
der Herr Davids fein fünne? denn beides wird im alten 
Zeitament von ihm ausgefagt. Nun meint ed Paulus zwar 
recht gut, wenn er annimmt, Jeſus fei der Anficht geweſen, 
daß der Pfalm 110, wo der Dichter von feinem Herrn 
fpricht, weder von David herrühre, noch auf den Meſſias 
gehe. Allein wenn wir wiflen, daß die entgegengefette Anficht 
damals die herrſchende war, — daß die Apoftel diefen Pſalm 
ald einen Davidiichen anfahen und auf den Meffiad bezogen 
(Apoſtelg. 2, 34), — daß Jeſus ja felbft in den Worten 
V. 43 augenfcheinlich dasfelbe thut; — warım wollen wir 
ihm eine.Anficht, die wir für die richtige halten müflen, aufs 
dringen? warum nicht zugeftiehen, daß er die Vorftellungen 
feiner Zeit getheilt habe? Das eben iſt der erite Grund⸗ 
fehler dieſer Art von Schriftauslegung, von der fidy auch die 
Rationaliſten nicht freimachen fünnen, „zu meinen, was an 
fich, oder näher für ung, wahr iſt, das müſſe bis auf das 
Einzelnfte hinaus auch fehon für Sefum und die Apoftel das 
Wahre gewefen fein*. Bei unferer Anficht aber gewinnt 
Jeſus nur, indem er offenbar hier die Pharifäer mit ihrer 
irdifchen Anficht vom Meſſias in Verwirrung bringen, und 
die höhere, geiftige, wie fie oben gefchildert worden, hervors 
heben wollte. Daß er e8 gerade auf Diefe Weife that, war 
eine verdiente Züchtigung für die Art, wie fie früher ihn 
hatten in’d Gedränge bringen wollen; weßhalb fie auch von 
da an ihn Nichts mehr fragten, wie Matthäus ganz richtig 
hier bemerkt. | 


— — | 

Diefer. Schrifterflärung geht bei Matthäus unmittelbar die 
Belehrung über das „höchite Gebot“ voraus (34—40), und 
zwar wird Jeſus durch die Frage eines Phariſäers, der die 
fo eben erfolgte Abfertigung des Sadducäers rächen will, 
dazu veranlaßt. Diefe Zufammenftellung ift fchon darum fehr 
unmwahrfcheinlich, weil beide Seften keineswegs ſo befreundet 


240 


waren, um fich gegenfeitig zu ſekundiren; vielmehr freute fich 
‚die eine über die Niederlage der andern (Apoftelg. 23, 7). 
Aber es ift überhaupt fchon als ein Irrthum zu betrachten, 
den auch Marfus (Kor. 12) begeht, von der Anficht auszu⸗ 
gehen, alle diefe Streitreden müffen eben fo in der Zeit auf 
einander gefolgt fein, wie fie ihrer inneren Verwandtſchaft 
nach in der Ueberlieferung zufanmengeftellt fein mochten. In⸗ 
deß auch in der Darftellung der Verhandlung felbft finden 
ſich nicht wenige Bedenflichfeiten, wenn wir Die drei Evangelien 
mit einander vergleichen. Da Lukas von den beiden andern 
fhon darin abweicht, daß er (10, 25) diefen Paffus bei einer 
ganz andern Gelegenheit gibt, überdieß nicht Jeſum, ſondern 
den Fragefteller felbft das höchite Gebot ausfprechen, und 
fodann noch eine weitere verfängliche Frage ftellen läßt; fo 
hat man, faft allgemein angenommen, er erzähle einen ganz 
andern Borfal. Allein mit gleichem Rechte fünnte man Dann 
weiter gehen, und auch des Matthäus und Markus Berichte 
von zwei verfchiedenen Verhandlungen veritehen; denn and) 
fie weichen in wefentlichen Punkten von einander ab; bei 
Matthäus will der Phariſäer Sefum verfuchen, bei Markus 
it er ein harmlos Fragender; dort wird er verblüfft heimges 
fehjieft, bier fcheidet er daufbar und von Sefu noch belobt von 
ihm. Aber Drei verfchiedene Borfälle, die im Wefentlichen 
fo viele Aehnlichkeit mit einander haben, anzunehmen, geht doch 
auch nicht an; müffen wir alfo dabei bleiben, daß den Drei, 
fo vielfach von einander abweichenden, Erzählungen doch nur 
Ein Vorfall zu Grunde liegt, fo haben wir auch hier wieder 
ein Beijpiel Davon, wie die Sage das gleiche Thema in freien 
Bariationen zu behandeln pflegte. Welche Variation hier die 
richtige fei, bleibt dahin geftellt, und nur dag Thema, daß 
Jeſus die beiden Gebote der Gotted- und der Menfchenliebe 
als die vornehmften des Gefebes herausgehoben habe, bleibt 
uns als hiftorifch= gewiß ftehen. 

Die übrigen Streitreden dieſes Abjchnittes, über Jeſu 
Befugniß zu lehren (Matth. 21, 23), über die Entrichtung 
des Zinſes an den Kaifer (22,16) und über das Weſen des 
ewigen Lebens (V. 23), bedürfen Feiner befondern Betrachtung ; 
nur muß nochmald darauf aufmerffanm gemacht werden, wie 


341 


unwahrfcheinlicd; es it, daß Jeſus zu ben von 22, 15 an 
unmittelbar auf einander folgenden Neben über fünf verfchies 
deue Gegenftände gerade an einem Tage foll veranlaßt wor⸗ 
den fein. 


(Matth. 235 Mark. 12, 38 — 405 Luf. 11, 37—53; 14, 
1—14; 20, 45—47.) 


Es folgt nun auf dieſe Borfpiele der Disputationen der 
HauptsAngriff Jeſu auf die Pharifüer in der großen Rede 
Kap. 23 des Matthäus. Obgleich Markus und Lukas ftatt 
derfelben nur einige wenige, auch bei Mattthäus mitgetheilte, 
Berfe geben, fo foheint Doch dieſer wenigſtens in fo fern das 
Richtige zu haben, als er Jeſum bier eine längere Rebe 
halten läßt. Denn nicht nur ift es fehr wahrfcheinlich, daß 
der bintigen Verfolgung durch die Pharifäer und Schriftges 
Iehrten heftige Angriffe Seju auf Diefe Leute voraus gingen, 
fjondern es hat auch . die vorliegende Rede einen fehr guten 
Zufammenhang. Schon dieß muß und mißtrauifch gegen Lukas 
machen, der einen großen Theil der in ihr enthaltenen Aus⸗ 
prüche Sefu bei zwei Oaftmahlen unterbringt, zu welchen 
diefer von Pharifaern eingeladen war; betrachten wir feine 
Erzählungen aber näher, fo erfcheinen fie aufs Beſtimmteſte 
als Produkte der Sage. 

Bei dem einen derfelben, Luk. 11, 37—53, antwortet er 
den Pharifaern auf ihre Frage, warum er vor dem Eſſen 
ſich nicht wafche, in fo foharfen Worten, fchilt nicht nur ihren 
„Raub“ und ihre ‚Ruchloſigkeit“, fondern ruft auch ein Wehe 
über das andere fo leidenfchaftlich aus, daß wir es für uns 
möglich halten müffen, Jeſus habe gegen feine Wirthe das 
Gaſtrecht fo grob verlegen fünnen. Die Auskunft der Vers 
theidiger des Lukas, diefe Rede fei von Jeſu erſt nach beens 
digter Mahlzeit, etwa vor der Thüre, gehalten worden, macht 
die Sache nicht viel beffer, und iſt eine Gewaltthätigfeit gegen 
den Haren Buchſtaben des Terted, wo die Worte: „er Geſus) 
ging hinein, feste fi, — der Phariſäer vermunderte fich ıc., 
dee Herr ſprach zu ihm 20.“ eine ganz ungerreißbare Aufs 

I. 16 


2m 

einanberfolge ohne alle Lücke bilden. Wie kam aber nun Lukas gi 
einer folchen offenbar getrübten Darftellung ? Dem Matthän 
zufolge (15, 1) richteten die Pharifier jene verwundernd 
Frage an Jeſum, da fie „gehört“, — bei Markus (7, 1) 
da fie „gefehen“ hatten, daß Jeſu Jünger das Wafche: 
unterließen; — bei Lufas fehen fie es an Sefu felbft, da e 
mit ihnen ißt. Hier haben wir in „Hören, Sehen, Miteſſen 
ein der Eage eigenthümliches Auffteigen vom Unbeftimmte 
zum Beftimmteren, vom Allgemeinen zum Anſchaulichen 
and es erklärt fic gar leicht, wie auch hier einer von be 
Ueberlieferung erhaltenen Rede Jeſu dadurch gewiſſermaße 
ein lebendiger Leib verliehen wurde, daß man unvermerft fl 
in eine Geſchichte verflocht und fomit in Scene febte. Die 
Auffteigen vom Mittelbaren zum Unmittelbaren, vom bloße: 
Hörenfagen zum Sehen, tft im Charakter der ausmalenbei 
Sage; nicht aber das verwifchende Abfteigen zum bloßen 
nadten Gedanken. Daher ift die Darftellung des Lukas 
ober derjenigen Tradition, ber er folgte, bag Spätere, Un 
gefchichtlichere; nicht aber die der andern Evangeliften. 

Dadurch wird aber auch feine Erzählung von dem zweiten 
Gaftmahle (14, 1— 14), wo Jeſus Die in unferer matthäi 
fchen Nede enthaltene Warnung vor dem Obenanfigen be 
Mahlzeiten ausführlich angebracht haben fol, verdächtig; zu 
mal da nur bei Lufas Jeſu die Ehre einer Einladung von 
Seiten der Pharifäer widerfährt. 


Mag nun auch Matthäus in Die Rede Jeſu Kap. 23 manch 
Ausſprüche desfelben aus früherer Zeit eingemwoben haben, ſi 
ift dieß Verfahren lange nicht fo unhiftorifch, ale Die dem 
Lufas (oder dem Sagenfreife, an ben er fich hielt) eigen 
thümliche „Gefchäftigfeit, zu überlieferten Reden Jeſu paffen 
fcheinende Rahmen zu verfertigen *. 





: Somit haben wir alle bei den Synoptifern fich vorfinden 
den Reben Jeſu in dem Anfangs beitimmten Umfange betrad: 
tet; eben fo die Zufammenftellungen berfelben: letztere freific 
nur, wie fie bei Matthäus ſich finden, was wir aber fü 


5 


243 


zureichend hielten, ba die größeren Maflen auch bei Lukas 
und Markus wenigſtens gelegentlich zur Sprache kamen. Wir 
gehen alfo zu den Reben Sefu bei Sohannes über. 


x 


Biertes Kapitel. 


Größere Neden und einzelne Ausſprüche Jeſu im 
vierten Evangelium. 
(Sch. 3, 1— 21.) 

. Schon das erfte größere Nebeftüd, Jeſu Unterredung mit 
Nikodemus, muß und davon überzeugen, daß wir in ben 
Som vierten Evangelinm mitgetheilten Neben Jeſu nur zum 
Yleineren Theile die wirklichen Ausſprüche und Geſpraͤchs⸗ 
weiſe Jeſu, zum größeren aber diejenigen haben, welche der 
Evangelift ihm aus feiner Vorftellungs = und Denfweife lich. 

Da, fo erzählt Johannes, Jeſus ſchon bei feinem eriten 
Auftreten in Serufalem fo großen Eindruck gemacht hatte (2, 
23), fo begab fidy ein angefehener Pharifäer, Nikodemus, 
des Nachts heimlich zu Sefu, um fich mit ihm zu unterreben. 
Diefer Nifodemus „wird von Sohannes fpäter auch als Vers 
theidiger Jeſu (7, 50) und felbft ald derjenige genannt, der 
Sofeph von Arimathia bei der Beftattung des Gefreuzigten 
Hilfe Teiftete; bei den drei übrigen Evangeliſten wird feiner 
mit feiner Silbe gedacht. Auffallend ift dieß allerdings; 
um fo mehr, da alle Evangeliften den Perfonen, welche dem 
.gemordeten Meifter noch bis zur legten Chrenbezeigung treu 
blieben, ein wohlverdientes Denkmal in ihren Berichten feßen, 
alfo ficherlich von Nifodemus, der doch bei Johannes übers 
dieß als ein gewichtiger Anhänger Jeſu erfcheint, nicht ges 
ſchwiegen hätten, wenn er ihnen befannt gewefen wäre. Allein 
undenfbar ift ein folches Berfchwinden aus der fpätgren 
Meberlieferung nicht, und wir laſſen diefen Punft auf fich bes 
ruhen. Eben fo wenig wollen wir uns an einzelnen Kleinig⸗ 
feiten im Gefpräche felbft ftoßen; 3. B. daran, daß der Evans 
gelift, ald ein Dritter, fo genaue Kenntmiß von einer ganz 


244 
geheimen Unterrebung gehabt; — daß ber noch ganz fremde 
Nikodemus Sefum fo vertrauensvoll angeredet — und. Jeſus 
ihm fo allgemein geantwortet haben fol. Wir wenden und 
fieber fogleich zu den Hauptparthien bes Gefpräches ſelbſt. 


B.3— 10. — Jeſus verlangt von den Tuben, welche in 
das Meffiasreich eintreten wollen, daß fie „neu geboren“ 
werben follen; dieſen Ausdrud nimmt Nifodemus ganz buch- 
ſtaͤblich und meint, fo Etwas fei ja nicht möglid. Doch 
aber war das Bild der „Wiedergeburt“ ein den Juden fo ges 
laufiges, um die geiftige Umwandlung eines Menfchen zu bes 
zeichnen, wie 5. B. die Belehrung eines Heiden zum Jehova⸗ 
dienfte, daß ein „Lehrer in Iſrael“ den Sinn besfelben auf 
der Stelle verftehen mußte, und höchitens fragen konnte: ‚wie 
denn bei einem Juden diefe Wiedergeburt nothwendig fei? 
Daß er nur fich fo angeftellt habe, wie einige Ausleger bes 
haupten, ift auch nicht denkbar, da alsdann Sefus ihm, wie 
einem Heuchler, antworten mußte, was er nicht thutz ja, 
als ihm Jeſus die nöthige Ausfunft gegeben, fragt er .nody 
mals: „Wie Fann dieß gefchehen?“ Der unbegreifliche Miß⸗ 
verftand ift alfo vorhanden; wir fünnen ihn und nur aus einer 
gewiſſen Eigenthümlichfeit des Darftellers erklären, und 
müffen in ihm demnach einen unhiftorifchen Zug -erfennen. 
Liegt es nämlich fchon überhaupt in der Neigung jedes Bios 
graphen, feinen Helden und in augenfälliger Erhabenheit über 
feine Umgebung binzuftellen, fo ift dieß Beſtreben unferm 
Evangeliften ganz beſonders eigenthümlich, wie wir bald noch 
näher fehen werden. Welche Befriedigung liegt für ein chrifts 
liches Gemüth damaliger Zeit fihon darin, einen hochgebildes 
ten Lehrer in Sfrael fo tief unter Sefu ftehen zu fehen! 

V. 11—13. — Die zweite Antwort Jeſu fieht dem 
Worten des Evangeliften in feiner Einleitung (1, 18, 11) 
zwar ſehr ähnlich; doch, dürfen wir darin nicht fowohl eine 
Unterfchiebung des Inhaltes, da fich Aehnliches auch. bei 
andern Evangeliften findet, erbliden wollen, ale vielmehr nur 
eine nach gewohnter Rebeweife gemachte Umbildung der Form 
und Des Ausdruckes. 


245 , 


2. 14 und 15. — Jeſus eröffnet nun dem Nikodemns 
feine GJeſu) eigentliche, höchfte Beſtimmung, daß er naͤmlich 
müffe „erhöhet“ werden, damit Alle, die an ihn glauben, 
das ewige Leben gewinnen. Mit diefem „Erhöhtwerden“ Jeſu 
verbindet Johannes überall ben Doppelfinn, daß er werbe 
gefreuziget umd damit eben zu feiner wahren Herrlichkeit 
erhoben werben. Nun aber müffen wir fragen: Wußte 
bamals Jeſus feinen Tod fchon fo gewiß zum Voraus, und 
ganz fpeziell feinen Tod am Kreuze? Und wenn er biefe 
Wendung feines Schickſals ſchon Fannte, warum entdect er 
fie einem Fremden, einem Pharifäer, fo viel früher, ale 
feinen eigenen Jingern? Und wenn er, wie man hier ante 
mortet, die Erwartung feines Todes fo früh wie möglich all⸗ 
gemein machen wollte, um alle irdifchen Erwartungen nieders 
zuhalten, warum thut er dieß in fo überaus dunkler Andeutung, 
wie fie in der Anfpielung auf die eherne Schlange enthalten 
it? Und wenn er burch Diefes Dımfel zum eigenen Wachs 
denken reizen wollte, wie fonnte er ſich hier von diefer Mer 
thode den geringften Erfolg verfprechen, da Nifodemus fi 

ſelbſt in leichter faßlichen Punften, wie der einer nothwendigen 
Wiedergeburt ift, fo ungelehrig gezeigt hatte? Er konnte durch 
Diefen rafchen Sprung, dem der gute Mann zu folgen offen> 
bar nicht im Stande war, ihn nur verwirren und entmuthigen, 
nicht aber anreizen. Ueberdieß verführt Sefus in den andern 
Evangelien weit gründlicher, und geht von einem Gegenſtande 
der Belehrung nicht früher, als bis er gehörig erfaßt worden, 
zu einem andern über. Bol. Matth. 13, 10 ꝛc.; 13, 36 ꝛe. 
15, 16; 16, 8 ꝛc. Wir fehen daher auch hier den Erzähler 
in dem Beftreben befangen, den Contraſt zwifchen der Weisheit 
Sefu und dem Unverftande Des Schülers immer greller hervor⸗ 
treten zu laſſen. 


Von V. 16 an nimmt die Rede eine ſolche Wendung, daß 
alle Ausleger geſtehen müſſen, dieß können Jeſu eigene Worte 
nicht mehr ſein. Denn alle Beziehung auf Nikodemus verſchwindet 
vor den ganz allgemeinen Betrachtungen über die Beſtimmung des 
Menſchenſohnes; — dieſe Gedanken haben auffallende Aehnlichkeit 


246 


mit den eigenen Worten des Johannes an andern. Steffen 
(man vgl. B. 16 mit 1. Brief des Joh. 4, 9 und B. 19 mit 
Joh. 1, 9, wo der Berfaffer fpriht); — ben Ausdruck: 
„der eingeborne Sohn“, gebraucht Sefus ſonſt nirgends, wohl 
aber Sohannes fehr oft; — manches ift ald vergangen 
dargeſtellt, was erft weit fpäter gefchah; namentlich konnte 
Jeſus jetzt noch nicht fagen: „die Menfchen liebten die Fins 
ſterniß“ CB. 19), da er damit ihre Verhärtung gegen feine 
Lehre meint, von welcher er am Beginn feiner Laufbahn noch 
nicht reden konnte. Ueberhaupt enthält das Ganze fo viele 
ruhige, gegenftändliche Betrachtungen, die Jeſus über feine 
eigene Perfon, wie über eine dritte, nicht wohl felbft ans 
ftellen fonnte. Kann man dieß Alles nicht läugnen, fo hilft 
man fich auch hier wieder damit, daß der Evangelift audy nur 
feine Betrachtungen hier habe anhangsweife geben wollen. 
Allein davon feine Spur! was bei einem hiftorifchen Schrift 
fteller unverzeihlich wäre; vielmehr Fündigt das „denn“ 2% zu 
Anfang des 16. Verſes augenfcheinlic; die innigfte Anfnüpfung 
desjelben an das Vorhergehende an. Daß endlich Johannes 
recht wohl weiß, wie ein Erzähler fich auszudrücken habe, 
wenn er feine eigenen Betrachtungen in die Erzählung eins 
mifchen will, zeigen 3. B. 7, 39; 11, 51 ⁊c.; 12, 16. 

Wir haben vielmehr in der ganzen Nede eine Probe von 
der Beichaffenheit der Neben Jeſu in diefem Evangelium übers 
haupt. Sie haben bie zu einem gewiffen Punfte Die Gefpräches 
form, wobei gewöhnlich Sefu Ausfprüche von den Anbern ftatt 
in geiftigem, vielmehr in grob irdiſchem Sinne gefaßt wers 
den; dann aber verliert fich der Evangelift unvermerft in 
eigene Betrachtungen, welche nicht Sefn Worte, fondern 
des Erzäblers Anfichten über Jeſum enthalten. 


22, Diefes wichtige „denn“ fehlt fünderbarer Weife in der Tutheri« 
ſchen Ueberfesung ; vielleicht legte der Ueberſetzer deßwegen Keinen 
Werth darauf, weil ihm nicht in den Sinn kam, baf fpätere 
Austeger auf den Einfall gerathen würden, diefe Worte gehören 
nicht mehr zur Rede Jeſu. 


— 


‘ 
nn nn 2 


247 


(Ssoh. 5,19 —47; 6, 26— 715 Kap. 7 und 8 an vielen 
Stellen; 10, 1—18 und 26—30; 12, 44— 50.) 


( 

Eine weitere, größere Rede findet fich 5, 19, zu welcher 
Jeſus durch die Vorwürfe über feine Sabbathheilungen vers 
anlaßt wird. Obgleich er Diefe nur fehr kurz und mit gang. 
andern Gründen, ale bei den Synoptikern, vertheidigt, und 
fodann fogfeich auf das „ Grumdthema des Evangeliums, auf 
die Perfon Chrifti und fein Verhältniß zum Vater * übergeht, 
fo ift Doc der Inhalt der Rede ganz fo, daß er wohl 
von Jeſu Herrühren Fünnte. Dagegen bietet Die Form bers 
ſelben den größten Anftoß dar. Es kommen nämlich eine 
ganze Menge von Ausfprüchen und Wendungen vor, welche 
faft wörtlich theild in dem erſten Briefe des Evangeliften, 
theils in feinen und Des Taͤufers Neden im Evangelium fich 
wiederfinden. Wir geben. alle betreffenden Stellen dem Leſer 
zu einer jedenfalld ſehr intereffanten Bergleichung hier an, 
Man vergleiche: 

Soh. 5,20 mit Ev. Joh. 3, 35 (der Täufer ſpricht); 

— 2.24 mit 1. Br. Joh. 3, 145 — 3. 32 mit Soh. 19, 

35 (der Evangelift fpriht); — 2. 34, 36 und 37 mit 

1 Joh. 3, 95 — 2. 37 mit Joh. 1, 18 (der Evangelift); 

— 238 mit, 1 Joh. 1, 105 — 3.40 mit 1 Joh. 5, 12; 

— 8.42 mit 1 50h. 2, 15; — V. 44 mit Soh. 12, 43. — 

Wie erflären wir ung diefe auffallende Erfcheinung? Sol 
der Evangelift ſich die Ausdrucksweiſe Jeſu jo fehr angeeignet 
haben, daß er von derfelben fich nicht mehr Iosmachen wollte 
oder fonnte, fo oft er feine eigenen Tsdeen ausſprach? Dann 
müßte er weniger felbftftändig und originell gewejen fein, als 
er fonft fich zeigt. Soll nun auch gar der Täufer ganz wie 
Jeſus ſich ausgedrüdt haben? Dieß ift bei einem Kanne, 
der fchon vor der Verbindung mit Jeſu ale ein fo feharf abs 
gegränzter Charakter auftritt, noch weniger denkbar. Oder 
fol endlich gar Jeſus in feiner Redeweiſe ein fo Fnechtifcher 
Nachahmer des Täufers gewefen fein? Am allerwenigften! 
Es bleibt alfo Nichts, als die Annahme übrig, Sohannes 
habe auch hier die beiden genannten Männer in dem ihm 
eigenthümlichen Tone reden laffen, was ja überhaupt den Ges 


248 


fchichtfchreibeen, zumal älteren, fo leicht begegnet, wenn fie 
ihre Perfonen redend einführen... Diefe Annahme wird Durch 
die Leichtigfeit, mit welcher er den Nedeftoff beherricht, wähs 
rend feine Kollegen darin ſich meift jo fchwerfällig zeigen, zur 
Gewißheit erhoben. Hiermit entfteht nun aber auch ein nicht 
unbedeutended Bebenfen gegen die Aechtheit des Inhaltes: 
denn wie vielfach fließen in jeder Rede Inhalt und Korm fo 
in einander über, daß man beide zu trennen und zu fcheiden 
ſich außer Stande ſieht! 

Penn, um zu den nächftfolgenden Reben, denen bes Kap. 6 
überzugehen, Jeſus fich hier „das Brod des Lebens, das vom 
Himmel hernieder gekommen“ nennt (V. 35), fo erflärt ſich 
dieß freilich aus der jüdifchen Erwartung, daß der Meffias, 
wie Moſes einft, dem Volle Manna vom Himmel bringen 
werde. Wenn er aber nun von B. 51 an als das Himmels, 
brod fein Fleiſch darftellt, das er der Welt zum Heile bins 
geben werde, und das Eſſen feines Fleifches und das Trinfen 
feines Blutes für das einzige Mittel, das ewige Leben zu ers 
langen, erklärt, fo ftimmen diefe Worte auf eine zu übers 
rafchenbe „Weife mit den von ihm bei Einfegung des Abends 
mahles "gebrauchten überein, als daß man eine Hinweiſung 
auf Dasfelbe hier verfennen dürfte Nur aber muß man ben 
Gedanken ferne halten, daß Jeſus diefe Anfpielung habe 
machen fünnen. Denn abgefehen von der großen Unwahr⸗ 
foheinlichfeit, die darin liegt, daß ihm fchon jebt jener, aus 
der ficheren Erwartung feines nahen Opfertodes hervorgegans 
gene Akt vorgefchwebt haben follte, fo wäre es ja gänzlich 
zwecklos geweien, eine fo völlig dunkele Andeutung laut 
werden zu lafien. Sa, ed wäre verkehrt geweien, da ſchon 
an dem viel verftändlicheren Ausdrudfe vom Himmels brode 
Diele einen Anftoß genommen hatten, den er auch wirklich 
durch den noch dunflern Ausfpruc vom Fleifche in ſolchem 
Grade vermehrte, daß, wie Sohannes B. 60 und 66 erzählt, 
ein Theil feiner Tünger ihn verließ. Daß Jeſus aber einen 
folchen, wohl vorauszufehenden Erfolg felbft herbeigeführt 
habe, ift mit feiner Lehrweisheit unvereinbar; vielmehr trägt 
auch hier Sohannes feine Anſicht und feine nad). dem Abends 
mahl gewonnenen Borftellungen in die Rebe Jeſu über. 


249 

Auf unferem weiteren Wege muß uns vor Allem das 
auffallen, wie oft diefelben Gedanken und Ausdrüde ſich 
wieberholen; ſonach, ben bis hierher gemachten Beobach⸗ 
tungen zufolge, fich als Lieblingsideen des Evangeliften 
berausftellen, wie dieß befonders bei ben Reden Kay. 7 und 8 
der Kal if. Man vergleiche: 

Kap. 7, 17, 28 1.5 8, 28 10.5 38, 40, 42 mit 5, 30, 
43; 6, 385 — 8, 23 mit 3, 315 — 8, 13—19 mit 5, 
31 —37; — 8, 15 ıc. mit 5, 305 — 8, 12 mit 3, 19. — 
Und was nicht fchon früher da gewefen, wie oft wiederholt 
es fich in dieſen Kapiteln felbit, wie 5. B. eine Bergleichung von 
Kap. 7, 17 ıe. mit 8, 50—545 — 7, 28 mit 8, 14, 
19, 545 — 8, 21 mit 8, 24, 51 und zugleich mit 3, 36, 
6,0. — 
zeigt! — Die Reden des Kap. I geben feinen Anlaß zu bes 
fonderen Bemerkungen. 

Die zu Anfange des zehnten Kapitels mitgetheilte bilbliche 
Rebe von dem Hirten und den Schafen beweist allerdings, 
daß auch unferm Evangeliften Die Gewohnheit Sefu, in Gleich 
niffen zu reden, befannt war; allein er gibt uns doch fein 
reines Gleichniß, weil er auch hier feine Neigung, eigene 
Betrachtimgen einzuflechten, nicht verläugnen kann. Diefe, 
alfo nur gleihnißartige Reden, V. 1 — 18, find von 
Jeſu zur Zeit des Laubhüttenfeſtes gefprochen; hierauf folgen 
andere, von B. 26 an, welche in die Zeit des Tempelweih⸗ 
feftes, drei Monate fpäter, fallen. Diefe fpielen wieberumt 
in das Gleichniß vom Hirten hinüber, und zwar öfters in fo 
wörtlichen Wiederholungen, daß man wohl fragen darf: Konnte 
Jeſus das vor Monaten Gefprochene noch fo buchitäblich im 
Gedächtnifie haben? Gewiß nicht; wohl aber der Evangelift; 
denn er hatte wohl fo eben erſt die früheren Neden Sefu 
niedergefchrieben, und mas er nod im Gedächtniſſe hatte, 
floß auch in feine Feder, die ſich fehon daran gewöhnt hatte, 
die Ideen ihres Meifters in Worte Sefu einzufleiden. 

Dieß wird uns endlich noch in Der Rebe, mit welcher 
Jeſus feine öffentliche Wirffamfeit befchließt (12, 44), recht 
anfchaulich gemacht; Tiefe nämlich ift fo durchaus nur eine 
Wiederholung der Kanptfächlichften,, früher fon erfreut 


258 


ansgefprochenen Ideen Jeſu, Daß wir unmoͤglich glauben Ihnen, 
derſelbe fei mit einem bloßen Regiſter des bereits Geſagten 
vom Schauplage abgetreten. Hierin find aud alle ändern 
Ausleger mit und einveritanden; allein fie vermeinen babei, 
Johannes Habe auch nur von ſich aus dieſe Necapitulation 
für den Lefer geben wollen; und doch leitet er fie mit Den 
Werten ein: „Sefus rief md fprah“ (V. 4431: Zwar 
hatte er ſchon in V. 37 gejagt, Jeſus habe fich nun zurüds, 
gezogen und fid; verborgen; allein da er fich bewogen fand, 
son DB. 38 noch einige eigene Schlußbemerkungen. zuzufügen, 
wie leicht‘ konnte es ihm einfallen, noch einmal, gleichfam als 
fchlagenden Schluß des Schluffes, Jeſum felbfl. alles Ges 
fagte befräftigen zu laſſen! Daß es ihm damit Ernft gemefen, 
zeigt aud) der gefteigerte Ausdrud: „Jeſus rief und ſprach“. 
Hatte er es ja auch feither nicht fo genau Damit genommen, 
Sefu Worte und feine Anfichten und Tendenzen ſcharf von 
einander zu ſcheiden! 





(Joh. 4, 44; 13, 20; 14, 31.) 


Alle bis hieher betrachteten längeren Reden find dem vierten 
Evangelium eigenthümlich; nur einige wenige fürzere Ans⸗ 
fprüche Jeſu finden ſich aud) bei den übrigen Evangeliften; 
wir heben nur diejenigen hervor, welche von dieſen in einen 
andern Zufammenhang geftellt find, ald von jenen; es find 
deren drei. 

Die Worte 4, 44: „ber Prophet werde in feinem Vater⸗ 
Iande nicht geehrt“, finden fich bei Matth. 13, 57 in der 
natürlichften Verbindung: Jeſus fpricht fie aus, als ihn bie 
fchlechte Aufnahme in Nazaret veranlaßt, diefen Ort zu vers 
Taffen. Bei Sohannes dagegen fcheinen fie ganz verkehrt 
angebracht; denn hier fpricht fie Jeſus aus, als er im Bes 
griffe fteht, von Samarien nach Galiläa zu gehen, und werben 
überdieß, da es heißt: „denn Jeſus bezeugte, daß ꝛc.“, ale 
der Grund hingeftellt, weßhalb er gerade dahin ging, wo er 
Nichts galt, was in der That abfurd klingt. Wie zu helfen? 
Zunächſt mußte Das Heine Wörtchen „Denn“ herhalten; es 


251 


ſoll auf einmal hier fo viel, wie „obgleich, fein; dieß heißt 
aber doc weiß für fchwarz erflären. Andere verftehen unter 
Vaterland nur Nazaret, und nehmen die Worte als Grund 
davon, daß Jeſus nicht fpeciel in diefe Stadt, fondern allges 
mein nur nad) Galiläa ging; allein war es fo gemeint, fo 
mußte doch offenbar der Evangelift von diefer Unterfcheibung 
und wenigitend einen Wink geben. Aber, fo fagen Andere, 
er wollte ja den, Grund angeben, weßhalb Jeſus erk jest 
sach Galiläa ging; auch dieß ift nicht zuläffig, ba fich die 
Worte nicht an die Nachricht von Jeſu längerer Abwefens 
heit anknüpfen, fondern lediglich an bie zwei Tage, die er 
m Samarien zugebradyt hatte. Noch Andere Hammern ſich 
an das Wort „Baterland“, und fagen: Aus Matthäus und 
kukas wiſſen wir, daß ja nicht Nazaret, fondern Bethlehem 
in Sudäca Jeſu eigentliche Heimath ift, und fomit haben wir 
bier den Grund, weßhalb er jet dieſes Fand verließ. Auch 
damit kommen wir nicht aus; denn von der bethlehemitifchen 
Geburt Seju weiß, wie wir oben ſahen, Sohannes gar Nichte; 
überdieß hatte Jeſus in Judad fo ftarfen Anhang gefunden, 
daß die Pharifäer ihn fchon jest deßhalb verfolgten C4, 1; 
vgl. mit 2, 23; 3, 26 ꝛc.); endlich geht ja Jeſus jest nicht 
aus Judäa, fondern aus Samarien weg, wo er ebenfalls 
ſehr günftig aufgenommen worden war. Wir fünnen, wenn 
wir die johanneifche Stellung der Worte retten wollen, ung 
nur durch die Annahme helfen, Johannes babe — freilich 
nicht deutlich genug — den Grund angeben wollen, weßhalb 
Jeſus nicht fogleich nach der Taufe nad) Oaliläa ſich ges 
wandt habe: er konnte nämlid) es für nothwendig halten, vors 
ber fich erft auswärts Anfehen zu verfchaffen, um in Gas 
liläa Boden zu gewinnen. 





Der Ausspruch Jeſu 13,20: „Wer Einen aufnimmt, ben 
ich fende, der nimmt mich auf“ ꝛc., finder fi Matth. 10, 
40 in der Anweifung, die Jeſus feinen Juͤngern vor ihrer 
Ausfendung gibt; Sohannes aber ftellt ihn mitten in die 
Borherverfündigung des Verrathes durch Judas hinein, 
wohin er ficherlich nicht gehört. Denn daß Jeſus durch den⸗ 


252 


ſelben nad) ber niederſchlagenden Nachricht von dem Berrathe 
feine Sünger habe wieder aufrichten wollen, wäre nur denk⸗ 
bar, wenn er nicht unmittelbar nach diefen Worten wieder 
in ganz gleichen Tone von jenem geſprochen hätte. Es fcheint 
vielmehr, daß auch Sohannes hier einmal, wie ed den Synop⸗ 
tifern fo oft begegnet, einen Ausſpruch Sefn Da anbrachte, wo 
ihn eine zufällige Gedanfenverbindung grade daran erinnerte: 
denn ®. 16 hatte er einige Worte aus der Rebe an bie 
Apoftel angeführt, in welchen ebenfalls von „Abgefanbten“ 
Jeſu gefprochen wurde, und fo fiel ihm nachträglich anch noch 
Diefer Ausſpruch aus berfelben Rebe ein. 

V. 31 des Kap. 14 ruft Jeſus feinen Süngern zu: „ers 
hebet ench; laßt uns von hier weggehen“; und dennoch vers 
laffen fie erft 18, 1 den Saal, wo diefe Worte gefprodgen 
wurden. Daß, wie die meiften Ausleger annehmen, Jeſus nad 
biefen Worten mit feinen Jüngern zwar aufgeftanden, aber 
vor dem wirflihen Weggehen ihnen noch Manches habe 
fagen müflen, was ihm am Herzen gelegen habe, wäre gar 
wohl denkbar, wenn ber Evangelift nur den geringften Wink 
von dieſem Hergange der Sache zur Erflärung eines fonft 
ımbegreiflichen Verweilend gegeben hätte. Wahrfcheinlicher ‚ift 
es, daß er auch hier durch die Erwähnung der feindlichen 
Macht (3. 30) die Jeſum bedrohte, unb welcher er freudig 
entgegenging, an jenen Ausfpruch erinnert wurde, ben die 
Ueberlieferung aus den Augenbliden der Verhaftung Jeſu 
erhalten hatte (Matth. 26, 46), und fo mochte er ihm auch 
hier nicht ganz am unrechten Orte zu ftehen fcheinen, um 
ben Muth, mit dem Jeſus der Gefahr entgegen ging, ans 
ſchanlich zu machen; ohne zu bebenfen, daß die Rede dadurch 
für einen Augenblid unterbrocdyen wurde. 


253 


Fuͤnftes Kapitel 
Die Glaubwürdigkeit der Heden Zefa im vierten 
Evangelium. 


(Ueberblid aller bisher behandelten Stellen.) 


Nach der bisherigen Prüfung aller einzelnen Neben des 
Evangeliums werden wir nun im Stande fein, über die 
Glaubwürdigkeit derfelben im Allgemeinen ung ein 
Urtheil zu bilden und über dieſen fo vielfach befprochenen 
Begenftand auch unfere Stimme abzugeben. 

Es kommt biebei zunächit die innere Befchaffenheit dieſer 
Reden in Betracht, aljo die Fragen nach der Wahrfcheitts 
a und der Behaltbarfeit derjelben. 

ahrfcheinlicd kann es doch wohl nicht genannt wers 
den, daß Jeſus gegen alle Perfonen fo ganz diefelbe Sprache, 
gegen den Lehrer, wie gegen den gemeinen Öaliläer, geführt; 
— daß er falt nur Ein Thema, die Lehre von feiner Pers 
ſon befprochen; in fo dunfeln Worten und Wendungen, als 
ob er abfichtlidy feine Zuhörer irre führen wolle, ſich bewegt 
habe; — wahrſcheinlich ift es endlich gewiß nicht, daß 
alle Perfonen, mit denen Jeſus ſich unterredet, in dem ganz 
gleichen Irrthume, feine bildlichen Reden grob buchitäblich 
zu nehmen, befangen gemwefen fein follen. Daß einige Wedhs 
felreden, 5. B. in Kap. 9 und 11, weniger an diefen Fehlern 
leiden, darf nicht verfchwiegen werden; jedoch reichen dieſe 
lange nicht hin, um die johanneifchen Reden Sefu im Allges 
meinen wahrfcheinlich zu finden. 

Behaltbar ferner können foldye Neden nicht genannt 
- werben, die nicht, wie bei den andern Cyangeliften, aus Fürs 
nigen Sinnfprüden und anfchaulichen Parabeln zufammengefegt 
find, fondern vielmehr zufammenhängende, oft weitläufige Aus⸗ 
einanderfeßungen und völlige Gefpräche bilden; diefe fünnen, 
ohne daß fie ſogleich nachgefchrieben worden find, durchaus 
nicht treu wiedergegeben werden. Es war daher von Paulus 
ernftlich gemeint, wiewohl es nicht darnach ausfieht, wenn er 
vermuthet, man habe Damals bei dem Tempel und den Synas 
gogen eine Art von Schnellichreibern gehabt, deren Protofolle 


254 

fpäter von ben Ehriften ausgebeutet worben -(; "Allein koͤnnte 
man auch überhaupt eine augenblickliche Aufzeichnung des von 
Jeſu Gefprochenen, etwa durch Johannes felbft, wahrſcheinlich 
machen, fo wäre damit Nichts gewonnen. Denn daß dieſe 
Reden nicht ganz friſch vom Munde weg aufgezeichnet worden 
find, fondern lange im Gemüthe des Referenten geruht haben, 
darüber find alle Theologen einig. Aber doc; follen 28 die 
ganz Achten Neben fein; was man durch die Tiefe der erften 
Jugendeindrücke, durch die Wärme und Innigfeit, mit welcher 
Der Jeſu fo vertraute Sohannes alle feine Worte im Herzen 
bewahrte, fich erklären will. Allein dieß zerftreut die Bedenk⸗ 
fichfeiten eines unbefangen Prüfenden nicht. Muß doch ſelbſt 
Tholuck, einer der neueften Vertheidiger dieſer Auffaffung, 
geftehen, daß die Eindliche Einfalt, die Einfürmigfeit und Zer⸗ 
flofjenheit diefer Reden auf Rechnung des Evangeliften zu 
fegen fei: — ift aber einmal die Form fo flarf von der Eigen, 
thümlichkeit des Darſtellers gefärbt, fo haben wir, abgefehen 
von allem Andern, fchon feine Bürgfchaft mehr für die Aecht⸗ 
heit des In haltes; denn wie hundertfältig fließen Form und 
Inhalt einer Rede in einander über? wer will hier eine fcharfe 
Graͤnze ziehen? — Wie wenig aber endlid, die Berufung auf 
den übernatürlichen Beiftand des heiligen Geiſtes ausreicht, 
kraft deffen Jeſu Sünger Alles genau behalten mußten, haben 
die, welche fie zu Hilfe nehmen, unmwillfürlich felbit eingeftehen 
müflen, indem fie die Möglichfeit einräumen, daß manche 
Reden nur durch den über bie Sünger gekommenen höheren 
Geiſt des Meifterd erzeugt fein mögen: — demnach nur Jeſu 
Geiſt in ihnen, wie wenn er geredet hätte, die Rede her 
vorgebracht habe! 





Um weiterhin das Außere Verhältniß diefer Reden zu 
unterfuchen,. müffen wir fie zunächft mit den Neben Jeſu bei 
den Sprioptifern, dann mit der eigenen Redeweiſe ded Evans 
geliſten felbft vergleichen. 

Schon der Form nad find die johanneifchen Neden-fehr 
verfchieden von denen in den Synoptifern, wo Jeſu Vortrag 
ſich meift in Parabeln, die bei Johannes ganz fehlen, und in 


25. | 
farzen, ſchlagenden Sprächen, die er nur felten gibt, bewegen; 
und wer wird läugnen, daß diefe weit mehr für einen Volks⸗ 
iehrer paffen, ald die Fünftlichen und Dunkeln Drafelfprüche 


bei SSohannes? Und follte Sohannes, felbft wenn er Die Wies 
derholung des von den Andern ſchon Mitgetheilten vermeiden 


- wollte, nicht eine reiche Nachlefe noch haben anftellen koͤnnen? 


— Aber diefe Verfchiedenheit erſtreckt fichh auch auf den Ins 
halt der Reden. Daß dieſe Berfchiedenheit Feine totale iſt,, 
verfteht ſich von felbft; aber vorherrfchend ift doch unläug⸗ 
bar in den Synoptifern das Beltreben Jeſu, das Volk grade 
aber Das Zunächitliegende zu belehren, über den wahren Ges 
halt des Geſetzes, über die bösartigen Sabungen der Pharis 
füer, über die wahre Beſtimmung des Meſſias m. f. w., 
während feine Neben bei Johannes ſich faft nur um feine 
Perſon und fein Verhältniß in fpißfindigen und umfruchtbaren 
Unterfuchungen drehen. Man fagt daher, Sohannes habe ben 
beftimmten Zwed gehabt, nadyzutragen, was feine Vorgänger 
übergangen hatten; aber wie fonderbar, wenn dieſe grade nur 
folche Reden, wie Sohannes fie gibt, übergangen, und grabe 
alle von dem Gharafter, wie die von ihnen mitgetheilten, 
aufgezeichnet hätten! ebenfalls hatte unfer Johannes eine 
befondere Vorliebe für dergleichen Reden, wie wir bet ihm fie 
lefenz; und wenn er auch manche ganz wahrhafte Züge, welche 
den Synoptikern fehlen, treu wiedergibt, fo ift doch bei ihm 
eine einfeitige, aus eigenen Zuthaten verfertigte, Ausfchmüdung 
der Reden Jeſu unverkennbar. 

Gegen den Vorwurf diefer, freilich fehr harmlofen, Untreue 
hat man ihn auf mehrfache Weife zu verwahren gefucht. Als 
Beweis feiner Gewiffenhaftigfeit fieht man es an, daß er die 
von ihm in der Einleitung behandelte Lehre vom Logos Sefu 
fo gar nicht in den Mund legt. Allein diefe iſt fo feharf und 
förmlich ausgeprägt, daß er es nie vergeffen fonnte, woher 
er diefe dee habe, und daher nie in DVerfuchung fommen 
fonnte, fie Sefum zu leihen. Wenn man weiterhin ald güns 
ftiges Zeichen anführt, daß bei Johannes Jeſus weit unbes 
ftimmter feinen Tod vorausfage, ald bei den Spynoptifern, 


die offenbar Manches aus dem fpäteren Erfolge in deſſen 


Reden übergetragen; fo ift Dieß höchftene nur halbwahr. Dem 


L 


238 


feinen gewaltfamen Tod, näher ald Kreuzestod bezeichnet, ſagt 
auch hier Jeſus ſehr mumwunden, und den Verrath bed Ju⸗ 
das weit früher, als bei den Synoptifern, voraus. 





Daß, um eigentlich nod) in der eigenen Redeweiſe bes 
Evangeliften die von ihm referirten Reden Jeſu zu vergleichen, 
beide fo große Aehnlichkeit mit einander haben, will man durch 
die Behauptung erklären, daß Sohannes ſich ganz in bie 
Denkweiſe Jeſu hineingefühlt und gelebt habe. Allein dann 
müßten ja die übrigen Eyangeliften den Charakter der Neden 
Jeſu ganz verändert haben; dieß ift aber durchaus undenkbar. 
Denn wir haben gefehen, daß der Kreis der Ueberlieferung, 
aus dem Diefe fchöpften, die Neden zwar in Fleinere Stüde 
zerbrödelte; diefe zerriffenen Theile lösten aber die erften 
Evangeliften nicht auf, fondern fie gaben diefelben fo getreu 
wieder, daß fie lieber fie fpröde und fchroff neben einander 
ftellten, ald erweichten, um fie zu fließender Maffe zu ges 
ftalten. Dieſes Legte ift aber ganz bei Sohannes der Fall: er 
verarbeitete die auseinander gefallenen Theile der Reden fo, 
daß er fie in feinem eigenen Gemüthe gleichfam aufgehen, 
zerfließen ließ, nnd fie nachher in freiem Guffe zu einer neuen 
Einheit umgeftaltete. An den Neben, die auf ſolche Weife zu 
Tage gefördert wurden, hat er demnach felbft überwiegenden 
Antheil. 

Darin ftimmen jest alle forfcyenden Ausleger überein, was 
Bretfchneider ausfpricht: „Sohannes Tieß Jeſum weniger 
Iprechen, wie diefer jedesmal wirflih im Einzelnen gefpros 
chen, als wie es jedesmal dem Eindrude, den er von Der 
ganzen Erfcheinung und Lehre Jeſu hatte, gemäß war“. 
Ueber die Frage aber, ob mit dieſer Anſicht die Abfaffung des 
vierten Evangeliums durch den Apoftel Sohannes beftehen 
könne? — „getraue ich mir nicht *, abzuurtheilen, da fich die 
Geftaltung jener Reden immer noch aus der Eigenthümlichkeit 
des Johannes, wie aus der Abfaffung des Evangeliums in 
- feinem fpäten Alter erklären läßt. 


— 


257 


Sechstes Kapitel, 
Einige Begebenheiten aus dem Leben Jeſu, befons 
ders ber Befuch feiner Verwandten. ?°) 


(Matt. 9, 32—34; 12, 22—455 16, 145 ul. 8, 


Ehe wir auf die einzelnen Begebenheiten eingehen, müffen 
wir den allgemeinen Charakter und Ton der Gefcichtserzähs 
hing in den verfchiedenen Evangelien näher betrachten. 

Matthäus ift es, der in diefer Beziehung am meiften. 
Borwürfe hat erfahren müflen; man wirft ihm vor, es fehle 
ihm an Anfchaulichfeit, an dem lebendigen Ausmalen ins Eins 
zeine und Beflimmte; dagegen verwifche er Alles ind Allgemeine 
und Unbeftimmte, fo daß feine Erzählungen ſich wie trockene 
Umriſſe ausnehmen, denen Farbe und Frifche fehlen. Allerdings 
ift e8 fo: Zeit, Drt, Perfonen gibt er meift ganz unbeitimmt 
an mit einem allgemeinen: „damals, von da weggehend, ein 
Menſch“ꝛc.; — oft faßt er Alles in Baufch und Bogen zufams 
men: „alle Flecken Durchzog Sefus, alle Kranke wurden gebracht 
und von ihm geheilt “5 — dann aber find viele wirkliche Ers 
zählungen ganz kurz und troden. Dagegen find die drei ans 
dern allerdings weit lebendiger, anfchaulicher, ausmalender. 
Johannes zuvörderft hat zwar aud, mehrmals nur allgemeine 
Angaben; meiſt aber fpinnt er feine Darftellung ganz in's Eins 
zelne aus, gibt die Namen der Perfonen, den Ort und bie 
Zeit der Begebenheiten fehr genau an, und viele Erzählungen, 
wie die vom Blindgebornen, der Erwedung des Lazarus ıc., 
haben eine dem Matthäus ganz fehlende Frifche und Anfchaus 
lichkeit. Eben fo verhält es fich bei Marfus und Luͤkas, die 
der größeren Berwandtfchaft Des Inhalte wegen eine nähere 
Bergleichung zulaffen; was Matthäus nur oberflächlid,) angibt, 


23, Nur natürliche, nicht wunderbare, Begebenheiten werben in den 
folgenden zwei Kapiteln behandelt, da bie zahlreichen Wunder⸗ 
gefchichten eine gefonderte Betrachtung in Anfpruch nehmen. 


J. 17 


258 


malen fie aus, 3. ®. die nähere Veramlaffung vieler Neben 
Jeſu, Namen oder Amt der von Matthäus nur unbeitimmt _ 
bezeichneten Perfonen (Matth. 9, 185 Mark, 5, 22; Luk. 8, 
41 u. fe w.); vor Allem aber find Lukas und Markus in den 
meiften Erzählungen an anfchaulicher Schilderung dem Matthäus 
weit überlegen; vgl. 3. B. Matth. 14, 3 ıc. mit Mark. 6, 
17 x. — Matth. 8, 28 ıc. mit Mark. 5, 1— 20. 

Aus diefer Verjchiedenheit hat man den Schluß gezogen, 
es könne der fo unbeftimmt erzählende Matthäus: wohl nicht 
Augenzeuge geweſen fein, fondern feine Darftelung trage 
das Gepräge der das Beſtimmte verwifchenden Ueberliefe— 
rung; wogegen die übrigen Evangelien, die Alles fo lebendig 
anſchaulich hinftellen, ſicherlich dadurch als Augenzeugen ſich 
zu erkennen geben. Dieſer Schluß iſt nur halbwahr; daß ein 
Geſchichtſchreiber, der ſo trocken und farblos, wie Matthäus, 
erzählt, nicht als Augenzeuge erzählen könne, iſt, wenn auch 
nicht ganz ausgemacht, doch wenigſtens ſehr wahrſcheinlich; 
daß aber umgekehrt Jeder, der anſchaulich erzähle, ſich daduͤrch 
als Augenzeuge zu erkennen gebe, iſt ein übereilter Schluß. 
Er könnte nur dann als richtig gelten, wenn wir Berichte 
hätten, die ganz erwieſen von Augenzengen herrühren, an 
denen wir alſo den anſchaulich Erzählenden, wie an einem 
Maßſtabe, prüfen könnten; allein ſchon in der Einleitung ſahen 
wir, daß wir durchaus kein Evangelium beſitzen, das erwie⸗ 
ſen von einem Augenzeugen herrührt, ſondern daß wir bei 
allen, ehe ihre innere Beſchaffenheit uns ein ſicheres Urtheil 
an die Hand gibt, das Gegentheil vorausſetzen müſſen. 


— 


2 


Da uns alſo ein ſolcher Maßſtab fehlt, fo müſſen wir es 
für eben ſo möglich halten, daß das anſchauliche Ausmalen 
der drei Evangelien neben dem trockeneren Matthäus ein Werk 
der ſpäteren, verſchönernden Sage ſei, die ja bekanntlich es 
liebt, an die Stelle der verloren gegangenen geſchichtlichen 
Farben und Bilder ſelbſtgemachte Ausmalungen zu ſetzen, 
nit denen fie den matt gewordenen Grund des Gemäldes 
wieder auffrifcht und die Lücken wieder ausfüllt. Ob dieß bei 


/ 


259 

den bezeichneten Evangelien fich wirklich fo verhalte, wird eine 
‚nähere Betrachtung der von ihnen aufgeftellten Gemälde 
zeigen. 
Zuvörderſt Markus und Lukas! Schon früher ſahen wir 
bei mancher Gelegenheit, daß die beſtimmteren Veranlaſſungen 
u Reden Jeſu, wie fie Lukas gibt, fpätere Zuthat ſeien, 
und daß Die Nennung beſtimmter Namen bei Markus nur auf 
Bermuthung des veranfchaulichenden Erzähler beruhe. Noch 
beftimmtere Belehrung ader muß uns der allgemeine Charakter 
ihrer Ausmalungen geben. Wenn neben den ganz allgemeinen 
Angaben des Matthäus (8, 16 0.) 3. B. Markus (1, 32) 
erzählt, Die ganze Stadt habe vor dem Haufe Jeſu ſich vers 
fammelt; oder (2, 2), die Bolfsmaffe habe das ganze Vorhaus 
gefperrt; oder, das Getümmel habe Sefum nicht zum Effen 
fommen laſſen (3, 20); wenn Lukas fo viel Volfes herbeiftrös 
men läßt, daß fie einander niedertraten (12, 1)5 wenn Beide 
felbft den Blick befchreiben können, mit dem Sefus feine 
Worte begleitete (Mark, 3, 55 Luk. 6, 1095 — fo ift das 
Alles freilich fehr anfchaulich, aber wir können doch auch vor 
der Betrachtung des Einzelnen fihon ahnen, daß wir hier das 
Merk der ausmalenden Sage haben. Wie viel davon auch 
auf Nechnung des Evangeliften fomme, ift ſchwer zu entjcheis 
den; das aber fcheint gewiß, daß die Sage anfangs nur Die 
Hauptmomente, Neden und Thaten, fefthielt, und fomit den 
Zufammenhang verlor, welchen dann Die fpätere Sage wieder 
herzujtellen fichte. Demnach finde Matthäus immer noch 
der Wahrheit näher, als Markus und Lufas, 

Zwifchen fämmtlichen Synoptifern und Sohannes ftellt 
ſich ein anderer Unterfchied in Bezug auf die Schluß formeln 
ber Erzählungen heraus. Die meiften derjelben bei jenen 
laufen auf eine Berherrlichung Jeſu, bei dieſem auf eine 
Erbitterung gegen denfelben hinaus **). So erzählen jene, 
wiewohl fie von manchen Anfchlägen der Feinde Sefu ummittels 


>, Die hierher gehörigen Etellen laffen wir weg, da nur durch 
ihre große Maſſe, zu welcher und der Raum gebricht, etwas 
bewieſen werden ann. 


\ 


200 


bar nach deſſen Thaten berichten, doch fo fehr oft, wie Jeſu 


Ruf weit und breit erfchollen fei, wie das Volk feine Lehre 
bewundert, feine Wunderthaten angeftaunt. und ihm deßhalb 
überall nachgezogen ſei. Bei Johannes dagegen finden ſich 
eben fo häufig die Bemerfungen, die Juden haben Jeſu nad) 
dem Leben getrachtet; die Pharifäer haben ihn greifen wollen ; 
Steine feien gegen ihn aufgehoben worden; und wenn auch 
einmal von günftiger Stimmung des Volkes die Rede ift, 
fo gilt dieß meift nur von einem Theile desfelben, während 
der andere voll Erbitterung if. Welche Idee den Berfaffer 
dabei leitete, ift daraus Far, daß er-Sefum allen diefen Nach⸗ 
ftellungen ungekraͤnkt, oft wunderbarer Weife, entgehen läßt, 
„weil feine Stunde noch nicht gekommen ſei“; dadurch entfteht 


| 


ein ähnlicher Contraft zwifchen Sefu-und ber Welt, wie er 


bei feinen Reden ſich herausftellt. Wie hier fein hoher Geift 
hoch über dem rohen Unverftande fchwebt, der ihn überall 
mißverfteht, fo geht bei jenen Verfolgungen die wunderbare 
Kraft feines Weſens fiegreid) durch alle Anfchläge der Bosheit 
hindurch, neben welcher feine Güte nur um fo rührender er 
foheint, und ‚welcher er erit dann erliegt, als er felbft es 
will. Die Synoptifer dagegen halten die Sache natürlicher, 
indem fie öfters erzählen, die Pharifüer hätten gerne Hand an 
Sefum gelegt, haben fich aber vor dem Volfe, das ihm ans 
hing, gefürchtet. 


Es fommen nun die einzelnen Erzählungen in Betracht, 
jedoch nur folche, bei denen ein Einfluß der Sage ſich nad’ 
weifen läßt; und zwar, da und eine chronologiſche Drdnung 
fehlt, nach ihrer inneren Verwandtichaft. 


Matthäus erzählt, 9, 32—34, daß die Pharifäer Jeſu, 
nachdem er aus einem ſtummen Befeffenen ?°) einen Teufel 
auggetrieben, den Vorwurf machten, er treibe Teufel durch 
den oberjten ber Teufel aus; Sefus fcheint den Vorwurf 


29 Man fehe die Anmerkungen am Ende der zweiten Abtheilung. 


— ob | — 


\ 


| 281 . 
ganz unbeachtet zu laſſen. Derſelbe Vorwurf aber wird ihm 


12, 22 ꝛc., nachdem er einen Beſeſſenen, der ſtumm und 
blind war, geheilt hatte, abermals gemacht; worauf er dieß⸗ 


‚mal eine ſcharfe Strafpredigt hält. Dieſe Wiederholung des 


Vorwurfs iſt an ſich gar wohl denkbar: bedenklich iſt aber ſchon, 
daß es beide Male nach der Heilung eines Stummen ge⸗ 
ſchehen ſein ſoll, und nach keiner andern, da doch die Juden 
alle Arten von Krankheiten dem Einfluſſe böſer Geiſter zus 
ſchrieben, alfo faft jede Heilung als eine Augtreibung erfcheis 
nen konnte. Das Bedenken wächst, wenn wir des Lukas 
Darftellung der Sache vergleichen, 11, 14 ꝛc.: Diefer erzählt 
sämtlich diefelbe ganz fo, wie Matthäus den erften Vorfall 
diefer Art, fügt aber Diefelben Reden bei, welche Sefus in 
der zweiten Erzählung des Matthäus hielt (vgl. Matth. 12, 
22 —25 mit Luk. 11, 17— 26). Alfo müßte Sefus bei zwei 
Gelegenheiten faft ganz dasfelbe gejagt haben; das Unwahrs 
fcheinlichfte von Allem. Wir dürfen alfo nur Einen Vorfall 
annehmen, der aber in der Sage ſich verdoppelt hatz und 
wie? darüber gibt Matthäus Auffchluß. Auffallend war jene 
Heilung gewiß geweſen; der Sage mochte aber die einfache 
Stummheit des Kranken nicht genügen, fie machte ihn auch 
noch zu einem Blinden, und nun hatte man zwei Variationen 
Eines Borfalls; beide fannte Matthäus, und mehr um ges 
wiffenhafte Treue, als prüfende Sichtung, befümmert, gab 
er beide, ließ aber, um Wiederholungen zu vermeiden, das 
eine Mal die Reden Jeſu weg. 

In der zweiten Stelle fügt. Matthäus noch eine weitere 
Rede bei, welche Jeſus auf die Aufforderung, „ein Zeichen“ 
Wunder, das fein Prophetenthum beftätige) zu thun, in eben- 
falls fcharfem Zone hält (12, 383 — 45); Lukas hat diefelbe 
(11, 29 — 36) in der Hauptfache ganz eben fo. Doch findet 
der weſentliche Unterfchied ftatt, daß bei Matthäus die Pha- 
rifäer erft nachdem fie Jeſus wegen ihres Vorwurfes fo heftig 
abgewiefen hatte, ein Zeichen von ihm fordern (2. 38), bei 
Lukas aber diefe Forderung fchon mit jenem Vorwurfe vor 
Sefu Strafrede verbinden. Wer das Rechte hat, tft fehmwer - 
zu enticheiden; bei Matthäus erfcheint das Benehmen ber fo 


s 


262 


derb abgewiefenen Pharifaer unmahrfcheinlich, bei Lukas 


die Ruhe, mit der Jeſu nad, der Strafrede noch auf Das Bes 
gehren eines Zeichens eingehen Fonnte. 

Matthäus aber erzählt eine zweite Zeichenforderung der 
Pharifaer, und zwar nad) der zweiten wunderbaren Spei⸗ 
fung (16, 1—4), an welcher Stelle fie auch Marfus hat 
(8, 11, 12); Jeſus ertheilt dieſes Mal eine Antwort, die 
faft ganz buchftäblich Worte enthält, die er fchon in der ers 
ften gefprochen hatte, namentlich wieder die dunkle Anfpielung 
auf Sonas (vgl. 12, 39 mit 16, 4); überdieß find Die beiden 
erften Verſe derjelben (2, 3) an diefer Stelle ganz ohne 
Sinn; an einer etwas geeigneteren theilt diefe beiden Berfe 
Luk. 12, 54 —56 mit. Wie aber fam Matthäus zu diefer 
offenbar verfälfchten Darftelung? Auch hier mochte eine Bas 
riation durch die Sage gegeben fein; eine, daß die Pharifüer 
nur einfach ein Zeichen begehrt (12, 38), die andere, daß 
fie ein folched vom Himmel verlangt hätten (16, 1). Hatte 
er nun die erfte fchon bei der Erzählung von dem Befeffenen 
angebracht, fo ward er an Die zweite erinnert durch die Rede 
Jeſu von der Unterfcheidung der Zeihen am Himmel und 
der auf der Erde; er beging hier den, dem Lukas fonft eigens 
thbümlichen Fehler, gewiffe Ausfprüche nur nad) der außeren 
Gleichheit der Worte aneinander zu fnüpfen; fo daß fich hier 
Sieffert's Sab bewährt, ed liege in der Natur ber tradis 
tionellen Berichte, Daß der eine Zug von. biefem Erzähler, 
der andere von jenem beffer erhalten fei, und feiner fehr 
viel vor dem andern voraus habe. 





(Matth. 12, 46— 50; Mark. 3, 31—35; Luk. 8, 19—21.) 


„ Ale drei Synoptifer erzählen von einem Befuche ber 
Mutter uud der Brüder Sefu bei ihm, und alle flimmen darin 
überein, daß diefer, als man fie ihm anmeldete, fie mit hars 
ten, barfchen Worten abgewiefen habe. Se unbegreiflicher 
diefe abftoßende Härte Jeſu fein mußte, befto willfommener 
war der Grund, den Markus, 3, 21, dafür darzubieten fchien, 


| 263. — 

Hier erzählt er, Jeſu Verwandte ſeien auf die Nachricht, 
er fei verrüdt geworden, gefommen, um ihn in Familiens 
Gewahrſam zu nehmen °%); nachdem er noch, etwas berich- 
tet, woran er hier leicht erinnert werden konnte CB. 22—30,, 
meldet er die wirkliche Anfunft der Verwandten. Allein nüher 
betrachtet, müſſen wir jene Notiz des Markus fehr bezweifeln, 
fie fteht Dicht neben der augenfcheinlichiten Uebertreibung (B. 20); 
fieht ganz abgebrochen da, ganz ohne im Borhergehenden zu 
wurzeln; und dem Markus ift ed eigen, zu Erklärung uner- 
flärlicher Vorfälle — hier der Beſuch der Verwandten — aus 
eigenen Mitteln veranjchaulichende Schilderungen beizufügen. 
leberdieß ward ſchon früher bemerkt, daß nad) den Erzähluns 
gen von Jeſu übernatürlicher Geburt es fehr undenkbar it, 
wie feine Mutter in jo hohem Grade au ihm irre werben 
fonnte. 

Gehen wir alfo von des Markus Löſungsverſuch ab, und 
wenden ung wieder zur Sache ſelbſt. Matthäus und Marku 
laffen den Befuch grade nach der Vertheidigung Jeſu gegen 
ben Vorwurf wegen ded Zeufelg folgen; Lukas Dagegen ftellt 
den Befuch ziemlich lange vor diefe Bertheidigung. Merk 
mwürdiger Weife aber knüpft aud) er an dieſelbe eine ähnliche 
Anekdote anz einer Frau, welche feine Mutter felig preist, 
gibt er eine Antwort, die dem fehr ähnlich it, wag er bei . 
Anmeldung des Befuches fagt: „Nein; ſelig find die, welche 
Gottes Wort hören und bewahren“ (Luk. 11, 23). Daß 
bieß zur Stelle beſſer paſſe, ald der beiden Andern Erzählung. 
vom Beſuche, muß deßhalb in Abrede geftellt werden, weil 
gar fein Grund gefunden werden kann, weßhalb die Frau ihre 
Seligpreifung grade an jene Neden über Austreibung der 
Zeufel gefnüpft haben fol. Vieimehr mag die Sache fo zu⸗ 
famntenhängen:- Die Ueberlieferung hatte den fchönen Ausſpruch 
Jeſu, „daß feine geiftigen Verwandten ihm näher ſtehen, als 
feine leiblichen“, aufbewahrt; dieſen umfleidete Die Sage, viel: 
leicht durch einen wirklich hijtorifchen Zug veranlaßt, auf 


26, &p nämlich muß diefer Vers verftanden werden, was aus der 
Intherifchen Ueberſetzung ‚freilich nicht herauszufinden ift: 


264 


doppelte Weiſe mit dem Rahmen einer Gedichte: „Sefus 
fpradı die Worte, als feine Verwandte ꝛc.“; „er ſprach fie, 
als jene Frau feine Mutter 20.*). Matthäus und Markus 
feinen nur die eine diefer Anekdoten gefannt zu haben; Lukas 
aber, dem fie beide befannt waren, hatte den Befuch einmal 
ſchon früher gemeldet, fügte alſo hier die zweite Einfleibung 
bes Ausipruches Jeſu ein. 


Siebentes Kapitel. 
Fortfekung: Die Nangftreitigfeiten unter den Tüngern 
die Tempelreinigung und die Salbung durch ein 
Weib. 


(Matth. 18, 1—11; 20, 20- 28; Mark. 9, 33 - 37; 


Wir kennen mehrere Rangſtreitigkeiten unter den Jüngern 
welche Jeſus ſchlichten mußte. Eine derſelben iſt allen dreẽ 
Synoptikern gemein; ſie brach unter ihnen kurz nach der Ver⸗ 
klaͤrung und der Verkündigung des Leidens aus, und bei dieſer 
ftellte Sejus den Süngern ein Kind als Muſter (Matth. 18; 
Mark. 9; Luk. N; eine andere, durch die etwas unbefcheidene 
Bitte der beiden Brüder Sohannes und Jakobus, um bie 
erſten Stellen im Neiche angeregte, erzählen Matth. 20, 
Mark. 105 eine dritte läßt Luk. 22 noch nad) dem Iettten Abends . 
mahle ausbrechen. Die Gründe, mit welchen Sefus ihre Zäntes 
reien niederfchlägt , find jedesmal im Wefentlichen fich fehr 
ähnlich; bemerfenswerth ift e8 befonders, daß der Spruch: 
„wer unter euch der Größte fein will, fei Aller Diener“ bei 
allen drei Beranlaffungen in feinen Reden vorkommt, überdieß 
auch noch von Matthäus (23, 11) in eine große Rede einges 

flochten if. Daß nun Sefus viermal ganz Dasfelbe mit faft 
ganz gleichen Worten gefagt haben fol, wird wohl Niemand 
glauben fünnen. Vielmehr ift hier eine Verwirrung durch die 
Sage anzuerfennen; entweder hat fie Diefelben Worte mehreren 


205 

wirklich en Borfällen beigemifcht,, ober aber mehrere Anläffe 
erdichtet, um fie als Rahmen für diefe Worte zu benußen. 
Welches von Beiden das Wahre fei, muß fich aus einer Bes 
teachtung der genannten Facta herausftellen. Nun ift aber 
Das Aufitellen eines Kindes etwas fo Treffendes und Eigens 
thũmliches; — Die Bitte der beiden Brüder Jakobus und 
Sohannes fo characteriftifch, daß wir Beides als rein hiftos 
rifche Facta anerkennen müffen, wenn auch nur Ein Theil 
des von Sefu dabei Gefprochenen- ganz zu demifelben yaßt. 
Dagegen nimmt fidy der Rangftreit bei Lukas nad) dem Abends 
mahle ganz ald eine grundlos eingelegte Scene aus; fie fteht 
nicht nur ganz ohne Verbindung, fondern uͤnmittelbar nach der 
niederbeugenden Mittheilung, daß ein Verräther unter den 
Jüngern ſei, fogar als ſehr unwahrſcheinlich da. Vielmehr 
verleitete der (22, 23) erzählte Streit unter den Jüngern, 
wer wohl der Verräther fein möge, aud) hier unfern Lufas 
dazu, an einen andern Streit zu denken, und biefen ohne 
Meiteres hier einzufchieben; hatte er ja bei der früheren Ers 
wähnung des Rangftreites noch nicht alle ihm befannten Antworts 
reden Sefu erfchöpft, demnach eine feiner Manier zufagende 
Gelegenheit, Etwas, das er noch im Gedädhtniß hatte, anzu⸗ 
bringen. — Aber auch die Stellung der beiden andern 
Rangftreitigkeiten ift ohne Zweifel ungefchichtlich, da beide 
gerade nach einer Leidensverkündung Jeſu, die doch am wenigiten 
geeignet fein Fonnte, in den Süngern Hochmuthsgedanfen zu 
erweden, vorgefallen fein ſollen. Vielmehr foheint auch hier 
Die Verknüpfung der Ideen eine falfche Stellung der Begeben⸗ 
heit veranlaßt zu haben: weil nämlich das Einemal Jeſu in 
feiner Antwort an die beiden Brüder Coder nach Matthäus 
ihre Mutter) auf fein Leiden hingewiefen hatte, jo fiel dem 
-&vangeliften diefe Anekdote gerade da ein, wo er eben von 
einer Berfündigung des Leidens gefprochen hatte (Miatth. 20, 
18, 21). Eine ähnlicye Sdeenverbindung erzeugte auch die 
unrichtige Einordnung der andern Begebenheit (Mark. 9, 
32—39. 


Das Aufftellen Des Kindes ale Diuiter der Demuth erinnert 
uns an die Erzählung, daß Jeſus einft Kinder, obwohl die 
Sänger fie abweifen wollten, zu fich rief CMatth. 19, 13 u. A.); 
obgleich diefe Erzählung mit der vorigen mehrfache Achnlichkeit 
bat, namentlich darin, daß auch hier die Kinder als Muſter 
aufgeftellt werben, fo hat fie doch wieder fo viel Eigenthüms 
liches, und es it das, was Jeſus dabei fpricht, fo ganz in 
feinem Geiſte, daß an ihrer Aechtheit nicht zu zweifeln ift, 
wenn aud) die Sage thätig geweien fein mag, beiden etwas 
verwandten Erzählungen noch mehr Aehnlichkeit zu geben, ale 
fie urfprünglicy mit einander hatten. 





(Matth. 21, 12, 135 Mark. 12, 15—17; Luk. 19, 45, 36; 


Bon einer gewaltfamen Tempelreinigung Sefu erzählen 
und die Synoptifer ſowohl wie Sohannes: jedoch weichen ihre, 
Erzählungen bedeutend von einander ab; nicht nur in Bezug 
auf die Zeit, da Johames die Sache bei dem erften, bie 
. Spnoptifer bei dem legten Aufenthalte in Serufalem gefchehen 

laſſen, fondern auch in einzelnen Umftänden, wie in den Reden 
- Sefu und dem Erfolge feines Verfahrens (vgl. Soh. 2, 18 
mit Matth. 21, 23). Manche Ausleger nehmen daher hier 
wirklich zwei verfchiedene Begebenheiten an, was ihnen um 
jo. fichyerer erfcheint, da, wie fie fagen, auf die erjte Vertreibung 
der Krämer zc. der Unfug wohl noch nicht werde aufgehört 
haben. 


Diefe Verjchiedenheiten werden indeß überwogen durd, Die 
unverkenubare Aehnlichkeit, die andere Züge mit einander 
haben; Züge, theild der Begebenheit felbft, theild der Neben 
Jeſu. Wir Dürfen daher au zwei Vorfälle dieſer Art um fo 
weniger denfen, da offenbar jeder Evangelift nur von Einem 
etwas weiß, und da die allerdings ftarfe Abweichung in der 
Zeitbeftimmung bei einer durch, die mündliche Ueberlieferung 
erhaltenen Gefchichte nicht entfcheidet. In Bezug auf das 


J 


207 


Factum ſelbſt geben die meiften Ausleger der Darftellung des 
Johannes, ald der anfchaulicheren, den Vorzug; alleius 
folche Anfchaulichkeit finder fich dei Markus z. B. nicht minder; 
will man ihn befchuldigen, er habe diefelbe aus eigenen Mits 
ten zugethan, fo muß auch gegen Sohannes ftrenges Necht 
geübt werden, deſſen Augenzeugenfchaft nicht vorausgefegt 
werden darf, und hier befonders zweifelhaft erfcheint. Denn 
der nur von ihm beigebradıte Zug, Jeſus habe mit einer 
Peitfche Alle zum Tempel hinausgetrieben, erfcheint doch fo 
gewaltthätig und felbft unfchicklich, daß fchon Drigenes daran 
Anſtoß genommen hat. 

Auch was Die Zeit der Handlung betrifft, fo hat die Aus 
gabe des Johannes (ſ. oben) fehr viel gegen fich, indem es 
doc wohl gar nicht denkbar ift, daß Jeſus ſchon fo frühe, 
wo er fonft nur in Güte zu wirfen fucht, auf. einmal fo ges 
waltfam eingefchritten fein follte. Daß er aber nach feinem 
meſſianiſchen Einzuge in Serufalem dieß gethan, ift weit wahrs 
fcheinlicher: demm damals mußte er es darauf anlegen, feinen 
Feinden zum Troße, fich in Allem als Meffias zu zeigen; „das 
mals ftand Alles ſchon fo fehr auf der Spitze, daß durch einen 
folhen Schritt nichts mehr zu verlieren war* Doc, fünnen 
wir über diefen Punkt nicht beftinunt entfcheiden, da genau 
genommen die Synoptifer gar feine Zeitbejtimmung enthalten, 
indem fie weder von einer erften, noch von einer letzten, fons 
dern nur von Einer Reife Sefu nach Serufalem etwas willen, 
wie wir fchon früher fahen. 

Kann aber-das ganze Factum, daß Ein Mann, fo ohne 
äußere Macht, wie Jeſus, eine ganze Maffe in Schreden ge⸗ 
jaat habe, glaubhaft gefunden werden? Man erklärt Die Sache 
einfach für ein Wunder; wir auch, „nämlich für ein Wun⸗ 
Der der religiöfen Begeifterung, gewirkt durch die umwiders 
ftehliche Macht, mit welcher das lange verlete Heilige fich oft 
‚mit Einem Male gegen feine Verächter Eehrt. * 


— — — 





⁊ 


208 


‘oh. 12, 1—8.) 


Sämmtliche Evangeliſten erzählen von einer Salbung 
Jeſu durch ein Weib, jedoch mit bedeutenden Variationen, die 
ung aber doc, nicht abhalten dürfen, auch hier die verſchieden 
geftalteten Erzählungen nur Eines Kreigniffes zu erbliden. 
— Weil beſonders Lukas von allen übrigen bedeutend abs 
weicht, namentlich in der Zeitbeftimmung, indem er Die Bes 
gebenheit weit früher ftellt, und in der falbenden Perjon, 
da nur er fie eine „Sünderin“ nennt, während fie bei den - 
andern eine ganz unbejcholtene Perfon ift, fo nehmen Die meis = 
ften Exflärer zwei Salbungen an; eine von Lukas, die zweite — 
von den andern Evangeliften erzählt. 


Allein will man einmal fcheiden, fo muß man weiter gehen, 
und auch in den Berichten der brei andern zwei verfchiedene — 


= Begebenheiten annehmen, da zwifchen dem Des Sohannes, einer— 


und denen des Markus und Matthäus andererfeitö eine eben- 
fo große Differenz ftattfindet, als zwifchen allen dreien zufam- 
men und dem Lukas. Nach Matthäus und Markus geht die 
Sache im Haufe eined ausfäsigen Simons vor, — höchſtens 

zwei Tage vor dem Pafcha, — ferner wird die Frau nur 

allgemein ald „ein Weib“ bezeichnet; — fie gehört nicht zum 

Haufe; — fie gießt ihre Salbe über das Haupt Jeſu aus; 

und allgemein die Sünger find es, die fie tadeln. Alles ans 

ders bei Johannes! hier ift das Haus des Lazarus deutlich 

als Schauplaß bezeichnet; — der Zeit nach gefchieht Die Sache 

wenigftend ſechs Tage vor dem Paſcha; — die Salbende 

ift Die bethanifhe Maria; — fie gehört zur Familie; — 

fie ſalbt Jeſu die Füße; — und Sfchariot it es, der ihre 

Verſchwendung tabelt. 

Sehen wir und alfo durch die Gonfequenz genöthigt, nicht 
zwei, wenn wir einmal trennen wollen, fondern Drei verfchies 
dene Salbungen anzunehmen, fo werden wir beffer thun, ums 
. gekehrt ung zu bemühen, das Factum, das allen, wenn auch 
fehr abweichenden, Erzählungen zu Grunde liegt, als eins und 


260 


daſſelbe herzuftellen. Denn es it doch ſehr unwahrſcheinlich, 
daß Jeſus dreimal ſoll geſalbt worden ſein, und zwar ſo, 
daß jedesmal bei allen Verſchiedenheiten doch auch wieder 
viele Umſtände ganz dieſelben waren; wie konnten beſonders 
bie Sünger Jeſu noch zweimal an der Salbung der Frau 
Anftoß nehmen, wenn er fie ſchon einmal ſo ernſt zurecht⸗ 
gewieſen hatte? 

Zu einer Ausgleichung zeigen ſich Matthäus und Markus 
zunächit mit Johannes am geneigteften, ba fie beiberfeits 
Bethanien, als den Drt, die letzte Woche ald die Zeit der 
Handlung angeben. Ueberrafchend ift aber befonders dag, daß 
der ferner fichende Lukas hier ben Vermittler machen muß, 
indem er in vielen Stüden mit Matthäus und Markus, in 
vielen mit Sohannes übereinftimmt; mit Matthäus und Markus 
darin, Daß der Saftgeber Simon geheißen, daß die Salbenbe 
nicht zum Haufe gehörte, ein Foftbares alabafternes Gefäß 
hatte 20.5 — mit Sohannes in der Art, wie die Frau Sefu 
Füße falbt, was beide faft mit den gleichen Worten erzählen. 


Da alfo die Varietäten fo fehr aus allen Erzählungen in 
alle hinüberfließen, fo haben wir ohne Zweifel nur Ein Factum 
vor uns, das in mehrfache Formen von der bildenden Sage 
umgeftaltet wurde. Es fragt ſich nun nody, ob die verfchiedenen 
Evangeliften in ihren Abweichungen einander wirklich oder nur 
fcheinbar widerfprechen? Das Lebtere haben viele Theologen 
umſonſt zu erweifen gefuchtz zunädyft in Bezug auf Johannes 
und die beiden erften Evangeliſten. Denn erſtens läßt ſich 
die chronologifche Differenz nicht dadurch wegdemionftriren, 
Daß man annimmt, obgleich Matthäus, ehe er 26, 6 die Ers 
zählung beginnt, fchon V. 2 fage, es fei noch zwei Tage bie 
zum Pafcha, fo behaupte er gar nicht, daß erft jeßt Die 
Salbung gefchehe, fondern trage fie lediglich nach, um Die 
Urfache des nun zu erzählenden Verrathes von Judas ans 
ſchaulich zu machen; allein dann hätte er Sefum viel ftärfer 
und ganz beftimmt den Judas müſſen tadeln laffen, nicht aber 
alle feine Sünger, und zwar fehr fanft und milde. — Noch 


‚270 \ ' 


ungfücficher ift der .Berfuch ausgefallen, Die Angaben über die 
Derfon des Gaftgebers in Lebereinftimmung zu bringen; 
dem von Matthäus und Marfus genannten Simon fol nur 
das Haus gehört haben, in welchem der eigentliche Gaftgeber 
Lazarıd zur Miethe gewohnt habe! Seit wann bezeichnet man 
ein Gaftmahl durch den Namen des Hauseigenthümers? Eben 
fo hinkt die Annahme, Martha fei des verftorbenen Simon 
Fran gewefen, und bei ihr habe fich ihr Bruder Lazarus auch 

: aufgehalten; dann aber mußte doc, wohl Martha ale Wirthin _ 
bezeichnet werden. — Die Ausgleichung der verfchiedenen = 
Arten der Salbung, bald des Fußes, bald des Haupted — 
ftreift gar in's Komifche, indem man, die ältere Anficht, es S 
fei beides gefchehen, aufgebend, annimmt, die Frau habe 
zwar nur die Füße falben wollen, allein da fie das Gefaäͤß— 
gebrochen habe, fei ein Theil der Salbe auch an das Haupt 
Jeſu gefo.nmenz; nun mußte diefe Salbe, wenn wir die Frau - 
nicht gar zu ungeſchickt denfen wollen, wie ein ſchäumendes — 
Getränk nach oben zu gefprigt fein! — Daß bei Matthäus und - 
Markus die Sünger im Allgemeinen die Frau tadeln, nicht 
aber Judas allein, wie bei Johannes, will man dahin be= 
richtigen, daß alle durch Gebärden, Judas allein aber durch 
Worte Unwillen auggefprochen haben; wenn aber die beiden 
erften, die unmittelbar darauf den Berrath des Sudag ers 
zählen, irgend etwas von einem folchen Dervorbrängen des⸗ 
felben gewußt hätten, fie hätten es ficher gefagt. Eben fo 
wenig hätten fie den Namen ber falbenden Frau verfchwiegen, 
wenn er ihnen — befannt gewefen wäre; denn gerade bei. 
ihnen ftellt Jefus ihre That in rühmenden Worten fo hoch 
(Matth. 26, 13). — 

Nicht minder fehwierig ift eine Vereinigung des Lukas mit 
den übrigen;  namentlicy macht, um Anderes zu übergehen, 
der Umftand, daß Lukas allein die Frau eine Sünderin 
nennt, da e8 bei Johannes fogar die edle Maria von Bethanien 
gewefen, es unmöglich, Frieden zu ftiften. Mit der Behaups 
tung, weil Jeſus der Frau gefagt: „dir find deine Sünder- 
vergeben (Luf. 7, 48)“, was fich auf eine ung unbekannte 
leichte Verſchuldung beziehe, fo habe dieß der Berichterftatter 


mißverſtanden, und bie Frau für eine Sünberkt in gemeinem 
Sinne gehalten, reichen wir nicht aus. Denn alebann hat er 
geradezu Alles entſtellt; duch Jeſus fpricht ja von vielen 
Sünden (®. 47) und feine ganze Rede dreht ſich um ben 
Gedanken, „wer viel liebe, dem werde viel vergeben“. 


- Rein, es müfjen alle oder mehrere unferer Erzählungen 
in det Sage bedeutende Umbildungen erfahren haben, und es 
fragt ſich nur, welche berfelben fteht der Wahrheit noch am 
nächften? Die neueren Ausleger geben faft fänmtlich dem 
vierten Evangelium in diefer Hinficyt den Vorzug, weil fie 
vonder — erft zu erweifenden — Vorausſetzung aus⸗ 
gehen, fein Berfaffer fei der Apoftel, demnad, ein Augenzeuge. 
Damit reicht man eben fo wenig aus, ald mit der gerühmten 
Anfchaulichfeit feiner Darftelung; denn dieſe zeigt ſich öfters 
als baare Unmwahrfcheinlichfeit, Die man einem andern nicht 
hingehen laffen würde; wie übertrieben ift fein „Pfund 
Narden“ — die Schätung des Werthed auf 300 Denare — 
und auch die Fußfalbung mit foftbaren Salben ift gegen bie 
gewöhnliche Eitte. 

Schon oben fahen wir, daß den Synoptifern die Namen 
weder der falbenden Frau, noch bes tadelnden Jüngers bes 
kannt gewefen fein fünnen, weil fie dann allen Grund hatten, 
diefelben anzugeben; find es aber dem Johannes zufolge 
Maria und Judas gewefen, fo muß man es fehr auffallend 
finden, daß fie in der Ueberlieferung fick fo ganz follen vers 
Ioren haben. Denn beide Perfonen find auch fonft befannt 
genug; was fie hier thun, ift fo ganz in ihrem Charafter, 
daß man fchwer begreift, wie Die Sage ihre Namen nicht aud) 
hier feitgehalten hat. Man fünnte daher verfucht fein, ums 
gefehrt die Namensbezeichnung des Sohannes als ausjchmücens 
den Zufab zu betrachten, gemacht nach innerer Wahrfcheinlichkeit, 
und auf feiner Seite die geringere hiftorifche Wahrheit 
zu finden. Dieß ift jedody, wenigſtens in Bezug auf die ber 
thanifhe Maria nicht rathfam; denn aus dem ganzen vierten 
Evangelium geht hervor, daß feinem Verfafler das Berhältniß 


u 


Jeſu zur bethanifchen Familie des Lazarus gang befonbers be- 
fannt war. Auch überliefern uns die andern Evangeliten ges _ 
wiffe Züge aus dieſem Verhältmffe (3. B. Matth. 21, 175 
Mark. 11, 112.5 Luk. 10, 38 ꝛc. u. A.), die ung eine Hul⸗ 
Digung, wie die hier erzählte, grade von jener Maria fehr 
glaublich machen. Unerflärlich bleibt es freilich, wie Die Ueber— 
lieferung in unſerer Erzählung die Namen verlieren Fonnte 
Daß aber Lufas die Salbende zur Sünderin macht, kan— 
nur aus einer Bermenguug zweier, ganz getrennter, Be— 
gebenheiten erklärt werden; vielleicht daß hier die, Soh. 8__ 


1 x. erzählte, Gefihichte von der Ehebrecherii zu Grunde 
liegt. 


Drucfebler und Verbefferungen. 


Da der Verfaffer die Correctur nicht felbft beforgen Fonnte, 
fo haben ſich, troß der fehr danfenswerthen Sorgfalt, welche die 
Berlagshandlung auf den Druck diefer Schrift verwendet bat, 
dennoch mehrere Fehler eingefhlichen, was bei der fehwierigen Bes 
ſchaffenheit des Manuferiptes kaum anderd zu erwarten war. Ich 
bebe für jebt nur aus den erſten eilf Bogen, mit Uebergehung 
Heinerer Verftöße, nachfolgende Drudfebler heraus, die zum Theile 
. zugleich auch Schreibfehler fein mögen, und die ich vor dem Ges 
brauche zu verbeffern bitte. Die etwa noch übrigen werden am 
Ende der zweiten Abtheilung verzeichnet werden. 
6. 13, 3. 18 lies: Beinem, flatt: Beinen. 
» 27 u Tv u. l. erhielten, fl. enthielten. 
„ 239 „ TI diefer, fl. zweier. 
34 ,, 4 1. Behanptung, fl. Annahme. 
vr 36 ,, 37 1. andern, ft. andere. 
„36 ,, 21 1. erkannte, ft. erkannten. 
» 42 ,, 44 1. Iyana, fl. Ihyäna. 

I. der, fl. des. 

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„ 46 ,„ 1 

» 846 „ 6v. u. l. müſſe, ft. müßte. 

„ 47,, 41. basfelbe, ft. diefelbe. 

» 47 m 3». u. l. angeborne, fl. angegebene. 

»„ 52 „ Tv. u. if „den“ vor „Glauben“ zu tilgen. 

„ 55 „ 44 v. u. I. Befrembdendes, ft. Befonderes. 

‚59 ,, 12 von unten iſt nach „unverkennbare“ einzufchalten: 
„ Neigung “. 

„ 80 „ sv u. l. der, fl. de. 

„ 83 „ TE Empfängniß, ft. Schwangerfchaft. 

» 95 „ 2». m. I. vorkommt, fl. verkannt. 

„ 97m 11. Lukas, ft. Elifabeth. 

„, 403 ,, 4% I. anfehen, fl. anfahen. 


11 ,, 42 1. endet, fl. enden. 

„ ML ,, iſt „er“ zu tilgen. 

‚„ 115 ,, 21. dieſelbe, ft. derfelbe. 

„ 115 ,„, iv. n. l. diefelben, fl. denſelben. 


S. 124, 8. 14 1. Feſten, ft. Faſten. 
„ 128 ,, 16 v. u. ift an die Etelle des , dad Wort „uni 
zn feßen. 


vr A 7, 3 und fonft l. Lyſanias, ft. Eyfanias. 
„ 432 „ 7» u. l. tragen, fl. trugen. . 
„» 339 ,, 6 if vor „in“ noch „wie“ zu feben. 
„» 4140 ,„, 413 dv. u. iſt „er“ zu tilgen. 
„ 140 „ 5» u. 1. Heiliges Lamm, fl. heilige Lam 
o» 142 ,, ATI. feiner, ft. feine. | 
„143 „ 31 fol, ft. will. 
„343  ,, 18 v. u. l. Eonnte, ft. könnte. 
„164 ,, 8 iſt vor „drängt“ noch „fo“ zu fepen. 
„ 16% ,„ 39. u. l. demnach, ft. dennoch. 
„4166, IL nur, fl. und. 
2 


„ 168 ,, 12 ift vpr „verfucht“ noch „beſonders “ zu ſetzen. 
„171, 7v. u. l. den, fl. dem. 

„» 473 , 121. Hiegegen, ſt. Hingegen. 

„» 17% ,, 49 ift „ganz“ nach „Gebot“ zu tilgen. 

„» 376 ,, 43 1. „Jeſus zuerft“, ft. „er zuerft“. 


[3 











Strang und die Coangelien, 
3weite Abtheilung. 
— Dein - Zen 
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283 


ver Engel, des Meffias ıc.), biefelben aus dem Körper des 
keidenden zu entfernen; hierfür hatte man gewilfe ftehende 
Sormeln, die von Salomon herrühren follten. Da auch der 
Rranfe in der Regel einen feiten Glauben an die Wirkfamfeit 
tiefer Heilmethode hatte, und da die Urfachen folcher Kranfs 
yeiten oft im Nervenſyſteme lag, auf welches Vorftellungen 
md Stimmungen unverfennbaren Einfluß haben, fo wurden 
ohne Zweifel viele derfelben, ohne alles Wunder, auf folchem 
Wege wirklich geheilt. — Auch Jeſus fol durch fein bloßes 
Wort böſe Geiſter ausgetrieben haben; wir wollen bie bes 
merfenswertheften Heilungen diefer Art furz in Betrachtung 
iehen. 


@inzelne Heilungen. 


(Mark. 1, 23—28;5 Luk. 4, 33 — 37; fodann Matth. 8, 
28 — 34; Marf. 5, 1—10; Luk. 8, 26— 39; endlic) 
Matth. 17, 14— 215 Mark. 9, 14— 29; Luk. 9, 

37— 44.) 


Die erfte der Art, welcher wir begegnen, ift zugleidy, dem 
kukas und Markus zufolge, das erfte Wunder überhaupt, 
das Jeſus nach feiner Taufe verrichtet: die Heilung eines 
Befeffenen in der Synagoge zu Kapernaum. Bei diefer ift 
das Auffallendfte, daß der im Kranken wohnende böfe Geift 
(sder Dämon) Iefum fogleich nad) Deffen gewaltiger Predigt 
als den Meſſias erfennt und vor ihm, ale feinem Verderber, 
nsittern beginnt. Mit den natürlichen Auslegern anzunehmen, 
er Kranfe habe von den Anmefenden vernommen, daß Jeſus 
er Meſſias fei, und habe nun diefe Kunde mit feiner Vor⸗ 
tellung in Zufammenhang gebracht ꝛc., — dieß iſt unftatthaft, 
ndem es nicht nur den Worten bed Tertes widerfpricht, fondern 
uch fogar unmöglich ift, da gewiß nod Niemand damals 
jefum für den Meffias hielt. Vielmehr geht aus der Antwort 
jefir deutlich hervor, daß er jene Kenntniß des Leidenden von 
ner Mefftanität einzig auf Rechnung des in ihm wohnenden 
Yamon feßte; denn er gebietet Diefem zu fchmweigen, wie 
r and) anderwärts die böfen Geifter, die er austrieb, bes 


‚ 276 F u 42* ur Per) 


biefes verhärtete, verderbte Gefchlecht, das neben der ganzen, 
eine Mahnung an alles Volk enthaltenden, Erfcheinung Sefu, 
wie eimft Jona den Niniviten war, noch einzelne Wunder 
verlangte, oder gar Zeichen vom Himmel herab (Ruf. 11, 16). 
Daß er aber dennoch unaufgefordert vielfache Wunder vers 
“ richtete, dieß muß als unzweifelhaft angenommen werben. 
Wenn aud, in der Apoftelgefchichte und in den apoftolifchen 
Briefen fehr wenig von ihnen die Rebe ift, und nur auf die 
Auferftehung überall das größte Gewicht gelegt wird, fo bes 
weist dieß nichts gegen die Fülle von Wundererzählungen 
in der evangelifchen Ueberlieferung; und waren fie durch 
diefe einmal der Vergeſſenheit entzogen, wozu ihrer noch häufig 
gedenfen? Hierzu kommt, daß die Apoftel Doch wenigftens 
in der erften Zeit nad, Jeſu Tode das Volk an alle „Thaten, 
Zeichen und Wunder“ erinnerten, die ed von ibm gefehen 
hatte (Apoftelg. 2, 22). Endlich ſchreibt ja der Apoftel Pau⸗ 
lus ſich felbft eine von Chriſtus verliehene Wunderkraft zu 
(GRöm. 15, 19; 2 Kor. 12, 12) und rechnet die Kraft, Wun⸗ 
der zu thun, unter die verfchiedenen in der Gemeinde ver- 
theilten Gaben. Wie viel mehr mußte von Chriſtus der 
Glauben feftftehen, daß er viele und große Wunder verrichtet 
habe: 

Es entfteht aber, ehe wir die einzelnen Nachrichten über 
diejelben näher prüfen, ſchon im Allgemeinen hier die Frage: 
Widerfprechen dieſe Wundererzählungen nicht geradezu den in 
der Einleitung (ſ. ©. 49 der erften Abtheilung) entwickelten 
Grundfägen? Allerdings, infofern man nämlich unter Wun⸗ 
dern folche Eimwirfungen auf Menfchen und finnliche Gegens 
fände verfteht,, bei Denen alle natürlichen Gefeße von Urfache 
und Wirfung umgangen werden, die nur durch den einfachen 
Willen Jeſu hervorgebradjt worden; wir müffen daher ſchon 
bier folche wirkliche, reine Wunder, wie die Erwedung eines 
Todten, bie Vermehrung der Brode, Verwandlung des Waſ⸗ 
fers ꝛc. für fchlehthin undenfbar erflären. Viele andere 
Wunder aber find von Der Art, daß fie bei genauer Betrach⸗ 
tung vielleicht gar nicht ald wirkliche Wunder erfcheinen, 
vielmehr nur Ausflüffe folcher ganz natürlichen Kräfte find, 
bie in tiefer DBerborgenheit wirten, daher im gewöhnlidyen 





HT | 

Leben weit weniger beobachtet, und berem Wirkungen, weil 
fie .fo überrafchenbe fi find, gar gerne ald Wunder betrachtet 
werden. So hat in neuerer Zeit ber thieriihe Magnetis⸗ 
mus ums wirkende Kräfte in dem Menfchen kennen lehren, 
Die wir vorher nicht geahnet hatten; im magnetifchen Zuftande 
vermag das bloße Auflegen der Hand zu heilen, ja das Wort 
und felbft auch nur der bloße Wille des Magnetifivenden reis 
‚hen bin, um eine Wirkung in dem Andern Made: 
— ebenfalld bewirkt der Magnetismus in dem Hells und 
Fernſehen eine uns noch unbegreifliche Steigerung des Er⸗ 
Tenntnißvermögeng, 

Dieß Alles halten wir aber, auch wenn wir ed und nicht 
erflären können, doch für nichts Uebernatürliches; ja, je mehr 
wir in fonft verborgene Naturkraͤfte eindringen, befto weniger 
find wir geneigt, am eigenfliche Wunder zu glauben: dem 
immer mehr erfcheint ung dann die Natur als ein unendlich 
fein gegliederte Ganze, in welches Gott von außen her nicht 

ſtörend eingreifen wird, weil ed dadurch wirklich zerflört 
würde. — Inwiefern nım aus diefen neueren Beobachtungen 
ſich manche für Wunder gehaltene Thaten Jeſu erflären 
Iaffen, wird bei der nun beginnenden Betrachtung der einzelnen 
zur Sprache fommenz für jest haben wir nur folgende allge⸗ 
meine Bemerkung voranzuſchicken. 

Sollten wir auch viele der Wunder Jeſu als Ausflüſſe 
ſolcher tiefer liegenden natürlichen Fähigkeiten uns denken und 
ſomit als wirklich geſchehen annehmen können, ſo würde uns 
dies doch fein Beweis für das Alleinwahre feiner Lehre 
und das Göttliche feines Charakters fein, denn die Kraft 
magnetifcher Einwirkung ift, wie die Erfahrung lehrt, keines⸗ 
wegs eine Folge befonderer Froͤmmigkeit oder nothwendig mit 
höherer fittlicher Kraft verbunden; das fogenannte Hellſehen 
ift fogar immer Folge einer gewiffen Bemwußtlofigfeit. Auch 
dba, wo folche Erfcheinungen fonft noch vorkommen, wie in 
Zuftänden ungewöhnlicher, z. B. religiöfer Begeifterung, find 
fie niemals Kennzeichen höherer Wahrheit, fondern hoͤchſtens 
nur der lebhafteren Bewegung aller Seelenkraͤfte. 

Wenn es alſo auch nahe liegt, zu erwarten, Jeſus, der 
ſo Außerordentliches in dem geiſtigen Leben der Meinen 


s 


278 


bewirfte, werde auch einer ungewöhnlichen Einwirfung auf 
das leibliche fähig geweſen jein, fo kann doch weder das 
Borhandenfein einer folchen Wirfungsfraft großen Werth für 
uns haben, noch auch könnte das Mangeln berfelben unfern 
fonftigen Glauben an Jeſum ftören oder beeinträchtigen. 





nn nenn — — 


Zweites Kapitel. 
Die Austreibungen böſer Geiſter. 


Wir eröffnen die Betrachtung der einzelnen Wunderthaten 
mit den Heilungen der Dämoniſchen oder Beſeſſenen, welche 
in den drei erſten Evangelien eine ſo wichtige Rolle ſpielen, 
und daher da, wo von vielen Heilungen ſchlechthin die Rede 
iſt (Matth. 8, 16; Mark. 1, 39; Luk. 6, 18 u. A.), gewiß 
niemals fehlen. 

Ad Beſeſſene werden vorzüglich ſolche Leidende bezeichs 
net, welche wahnſinnig oder mondſüchtig geworden ſind; die 
gadareniſchen Beſeſſenen ſind es bis zur wüthenden Tobſucht, 
und bei Andern tritt noch Fallſucht mit wildem Geſchrei hinzu. 
Seltener iſt es, daß auch Stumme (Matth. 9, 32 u. A.) und 
durch Gicht Gekrümmte (Luk. 13, 11) Beſeſſene genannt 
werden. 

Nach der herrſchenden Vorſtellung beſteht das Leiden dieſer 
Unglücklichen darin, daß ein unreiner Geiſt ſich ihrer bemädh- 
tigt hat, «daher der Ausdrud „fie haben den böfen Geift“) 
und nun aus ihnen redet (Matth. 8, 31) und ihre Glieds 
maßen in Bewegung ſetzt; wenn daher der Kranfe geheilt 
wird, fo heißt ed: „der böfe Geift wird ausgetrieben und 
verläßt den Menfchen.“ — Diefe Anficht ift auch die der 
Evangeliten, und, wie fich nicht augen läßt, die von Jeſu 
felöft; denn er felbft fordert feine Fünger auf, „böſe Geifter 
auszınreiben (Matth. 10, 8)* — ohne ihnen auch nur einen 
Wink zu geben, daß er dad uneigentlich meine; ja Matth. 
12, 43 — 45, um von andern Stellen zu fchweigen, gibt er 
eine fo genaue und buchftäbliche Befchreibung von dem „Aug 
fahren böfer Seifter“, daB man durch Feine der Windungen, 


279 
die mit dieſer entfcheidenden Stelle verfucht worden find, Der 
Röthigung entgehen kann, auch Jeſu bie zu feiner Zeit herrs 
fhenden Borftellungen zuzufchreiben. Denn als bloß bildlich 
kann man dieſe Ausfprüche Jeſu fchon dem Wortfinne nadı 
nicht nehmen; noch weniger aber, wenn man bedenkt, daß fie 
in der Darftellung des Lukas (11, 24) in unmittelbare Vers 
bindung wit wirklichen Geijteraustreibungen gefeßt find. 
leberhaupt aber bejchreibt Jeſus mehrmals das Reich des 
Teufels und die ihm dienenden Geifter fehr beftimmt und 
deutlich (Matth. 12, 25 u. A.), und bezeichnet das Austreis 
ben böfer Geifter durch feine Tünger ald einen Sieg über die 
>» Macht des Feindes“ (Luk. 10, 19; vgl. mit V. 17). Es 
iſt alfo wohl nicht zu bezweifeln, daß Sefus ebenfalls, wie 
feine Zeitgenoffen, gewiffe leidende Zuftände als ein wirkliches 
Weſeſſenſein des Menfchen von irgend einem freindartigen, 
& öfen Geifte betrachtete, der im Dienfte des Satans ftehe. 
Barum aber auch daran Anftoß nehmen, daß Jeſus diefe, 
Mmach unferer Anfiht irrige, Borftellung hatte? Es be- 
merkt ja ſchon Paulus ganz richtig, daß auch der ausge⸗ 
Zeichnetſte Geift dieſe und jene unrichtige Zeitborftellung gar 
»zvohl theilen fünne, wenn er fie nicht zum befondern Gegens 
ſtande feined Nachdenfend gemacht habe. — 

Fragen wir nun nach dem Urfprunge diefer Vorftellung, 
Daß böfe Geifter von dem Leibe des Menfchen fürmlich Bes 
fig nehmen, fo werden wir, wie früher bei Der Lehre von 
den Engeln Ci. ©. 73), auf den Einfluß gewiefen, den das 
perfiiche Religionsſyſtem auch auf das der Hebraer ausübte. 
Dort fand ſich die Vorftelung von gemiffen, fchon vor ber 
Menfchenwelt entftandenen, von Haufe aus böfen Geiftern; 
ein Glauben, den auch die Suden annahmen, jedoch mit der 
Befchranfung, daß fie diefe Geifter nicht als urfprünglich 
böfe, fondern als anfänglich gute, dann aber gefallene Engel 
betrachteten; — dieſes find die böfen Geifter, die dem ober 
ften derfelben, dem Satane, dienen, und eine Freude daran 
haben, von dem Körper irgend eines Menfchen Beſitz zu neh⸗ 
men, um ihn zu plagen. Die jüdifche Voritellung fügte ihnen 
ferner noch die Seelen der, mit den Töchtern der Menfchen 

erzeugten, Söhne jener gefallenen Engel, ſo wie Die Ver 


280 


großen Verbrecher vor ber Eunbdfinth bei. Anch bie nen⸗te⸗ 
flamentlichen Schriftfteller werden wohl dieſe Anficht von den 
böfen Geiftern gehabt haben; dem überall, wo fein Grund 
zum Gegentheil vorliegt, müflen wir annehmen, daß die jüdis 
ſche Denkweiſe ihrer Zeit auch die ihrige war. Deßhalb ift 
es auch ohne Zweifel falih, was einige Theologen behaup⸗ 
ten, daß nämlid im neuen Zeitament die böfen Geifter für 
Seelen verftorbener böjer Menſchen überbaupt gehalten 
werden. Erſtlich findet fid) dafür im neuen Teſtament felbit 
fein Beweis; denn die Erzählung, dag Herodes „Sefum für 
den (doch wohl leiblich!) wieder auferitandenen (wir wollen 
hoffen, guten!) Täufer gehalten habe (Matth. 14, 2)“ be; 
weist doch wohl fait weniger, ald Nichts. Zweitens treffen 
wir dieſe Anficht allerdings bei fpäteren jüdiichen und 
chriſtlichen Schriftitellern (Joſephus, Juſtin 20.35 fo wie fie 
bie gewöhnliche der Heiden iſt, die auch bafe Geiſter ald Plage⸗ 
geifter der Menichen annahmen, fie aber nur für die Seelen 
abgeftorbener böjer Menſchen fchon darım halten mußten, 
weil ihren religiöfen Vorftellungen der Teufel nebft fammtlis 
hem Hofſtaate von gefallenen Engeln ꝛc. des Gänzlichen 
mangelte, Allein, um zu unjerer Behauptung zurüdzufehren, 
zu der Zeit, in welche die Begebenheiten des neuen Teitamen; 
tes fallen, war den Juden, und demnach auch Sefu und 
den erften Chriften, nur jene frühere Vorſtellung geläufig, 
nicht dieſe fpätere jüdiſch-heidniſche. 

Sp betraditete aud) die ältere Theologie die Sache; 
fchlicht und einfach machte fie jene Vorftellung Jeſu und des 
neuen Teftamentes überhaupt auch zu der ihrigen; aus Scheu, 
biefen zu widerfprechen, und zu ehrlich, um an den Worten 
bes Evangeliums heimlich zu drehen. Neuere Theologen jes 
doch, die ihre Drthodorie retten, und fie aber auch wit ben 
durch die Wiffenfchaften gewonnenen Wahrheiten in Einklang 
bringen möchten, fehen, wie dieß namentlich bei Olshauſen 
der Fall it, ſich zu den feltfamften Onerzügen genöthigt, wie 
ſich fogleich zeigen wird. 





= 


289 


aben, leicht die Sage bilden, fie ſeien wieber in andere Kör⸗ 
ne gefahren, und zwar, ihrem Gefchmade entfprechend, in 
he unveiner Thiere. Ferner aber war es nichts Seltenes, 
8 jüdifche und heidniſche Befchwörer den anszutreibenden . 
Beiftern befahlen, bei ihrem Ausfahren nahe ftehende Gegen- 
linde, 3. B. Waflergefäffe, Standbilder ıc. umzumwerfen, 
m die Zufchauer durch die That zu überzeugen, daß fie aus 
em Körper des Kranken in die weite Welt hinausgefahren 
en. — Ein folcher Beweis der wirklich vollführten Austreis 
ung konnte nun gar leicht auch bei Jeſus nothwendig erſchei⸗ 
en, und da einmal von der Sage die Schweine in fo nahe 
jerbindung mit dem Alte gebracht waren, fo lag ja nichte 
über, als fie auch zum Zeugniß der wirklich erfolgten Aus⸗ 
reibung zu benugen. Dieß gaben fie aber dadurch am aufs 
alendften ab, wenn fie durch die Gewalt der ausgetriebenen, 
ſinſauſenden, böfen Geifter in das ihnen fonft verhaßte Ele- 
went Des Waſſers hinabgefchleudert wurden. — 

Wir kommen alfo zu dem Refultate, daß zwar die Heilung 
eines oder zweier Befeflenen von bejonders fchmwieriger Krank: 
beitsforın nicht bezweifelt werden kann, daß aber viele einzelne 
Züge in der Erzählung als Zuthaten der Sage zu betrachten 
ſind. 


Die dritte umſtändliche Austreibungsgeſchichte (Matth. 
17, 14 u.f.w.) hat das Beſondere, daß vorher die Sünger 
Jeſu vergeblich die Heilung des Kranken verfucht hatten. In 
en wesentlichen Punkten ftimmen allerdings die drei Synop⸗ 
ifer überein; in Einzelnheiten aber weichen fie von einander 
b, und zwar in der Art, daß Matthäus den einfachften, 
Rarfus aber den ausführlichften und anfchaulichften, — alfo 
ich ohne Zweifel den von fpäterer Sage am meiften gefärbe- 
n Bericht hat. Dieß zeigt fich nantentlich in dem verfchie- 
nartigen Verhalten des Volkes: nach Matthäus (DB. 14) tritt 
Jeſu nur zufällig in den Weg, ald er vom Verklärungs⸗ 
xg herabfam; nach Lufas (DB. 37) fam es ihm abfichtlich 
itgegen; bei Markus (VB. 15) flürzt es ihm entgegen und 
egrüßt ihn, nachdem es fich vor ihm „entfeßt“ hatte. 
Jieß Letztere kann wohl nur fo erklärt werben, daß Jeſus 

11, 19 


282 


erften Aderlaffe noch die beklemmende Schwierigkeit übrig, glaub: 
lich zu machen, daß wirflicy ein fremder böfer Geift, wenn 
auch nur bei Wenigen, zwifchen Seele und Körper hineinges 
fchlüpft fein fole. Daher hilft man nun weiter damit ang, 
daß der böfe Geift, der in die Menfchen fahre, nicht als- ein 
beftimmter, einzelner Geift, ald abgefchloffenes Weſen, fon: 
dern nur allgemein als Ausflug und Wirkung des böfen Prin- 
zips zu betrachten, demnach ganz unperſönlich fei. Allein 
Damit wird Die Sache nur noch fchlunmer. Denn nicht nur 
fteht Diefe Erklärung im geraden Miderfpruche mit dem 
neuen ZTeftamente Corgl. 3. B. Marf. 3, 9; fondern fie führt 
auch zu wahren Ungereimtheiten. Es müßte ihr zufolge ja 
der Schlechtefte am meiften von böfen Geiftern befeffen fein, 
wenn diefe nur Ausflüffe des Böſen fein follen; dem ift aber 
nicht fo, und ein Judas Sfcharioth geht ganz frei Durch, wäh- 
rend er gewiß fchlechter war, als alle Befeffene im neuen 
Teftamente zufammengenommen. Soll aber nur etwa der vom 
böfen Geifte ergriffen werden, der zmifchen Gut und Bös noch 
ſchwankt? Dann müßten Alle, die diefen Kampf durchmach⸗ 
ten, einmal beſeſſen geweſen fein! Soll ein geſchwächtes Ners 
venſyſtem erforderlich fein, um diefen Zuftand hervorzubringen? 
allein Leute mit ſchwachen Nerven find doch wohl nicht auch 
immer fchlechter, als folche, die ftarfe haben? Es müßte aber 
doch das böfe Prinzip, wenn man es fidy einmal als eine 
felbitftändige Kraft denfen will, entweder mit feinen Ausflüf- 
fen nothwendig bei Den Menfchen am meilten ausrichten, Die 
am empfänglichiten dafür, d. h. fehon an fich fihlechter als 
Andere find; — und dieß ift, wie wir fahen, nicht der Fall; 
— oder es muß bier eine Willfür und Zufälligfeit anges 
nommen werden, die unferen Gefühlen eben fo fehr, wie Dem 
Verſtande Hohn fpricht. — Erkennen wir vielmehr an, daß 
wir num einmal die neusteftamentlichen Borftelungen in diefem 
Punkte nicht zu den unfrigen machen können; daß fie aber 
dennoch vorhanden find ! 

Diefen Vorftellungen gemäß war auch das Heilverfahren, 
das man einzufchlagen pflegte; man fuchte duch Worte, 
durch Beſchwörungen bei dem Namen derjenigen Wefen, denen 
man Gewalt über die böfen Geifter zufchrieb (3. B. Gottes, 





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Bu ⁊* vu. 
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‚der Eugel, des Meſſias 1.) :biefelben end. dem ‚Körper bes 


Beibenben zu entfernen; hierfür hatte-:mam gewiſſe -ftehenbe 
Formeln, die von Salomon herrühren follten. Da auch ber 


Kreauke in der, Regel einen fefteri Glauben an die Wirkfamteit 


biefer Heilmethode hatte, und ba die. Urſachen ſolcher Krank⸗ 
heiten oft im Nervenſyſteme lag, auf welches Vorſtellungen 
und Stimmungen unverkennbaren Einfluß haben, ſo wurden 
ohne Zweifel viele derſelben, ohne alles Wunder, auf ſolchem 
Wege wirklich geheilt. — Auch Jeſus ſoll durch ſein bloßes 
Wort böſe Geiſter ausgetrieben haben; wir wollen bie bes 
mertenswertheften Deilungen Diele | Art t kurz in Betrachtung 
ram. nn ; 





| Einzelne Heilungen. 


Hart. 1, 23—28; Luk. 4, 33 — 37; ſodann Matth. 8, 
83; Mark. 5, 1—10; Luk. 8, 6 39; endlich 
Matth. 17, 14—21; Mark, 9, 14—29; Eur. d, 
3744.) J 


Die erſte der Art, welcher wir begegnen, iſt zugleich, dem 
Lukas und Markus zufolge, das erfte Wunder überhaupt, 
das Jeſus nach feiner Taufe verrichtet: die Heilung eines 
Befeffenen in der Synagoge zu Kapernaum. Bei diefer iſt 
das Auffallendite, daß der im Kranken wohnende böfe Geiſt 
{sder Dämon) Jeſum fogleich nach deffen gewaltiger Predigt 
als den Meſſias erkennt und vor ihm, als feinem Verberber, 
zu zittern beginnt. Mit den natürlichen Auslegern anzunehmen; 
der Kranke habe von den Anmefenden: vernommen, daß Jeſus 
ber Meſſias fei, und habe nun diefe Kımde mit feiner Bors 
ſtellung in Zufammenhang gebracht ꝛc., — dieß iſt unftatthaft, 
indem es nicht nur den Worten bes Tertes widerfpricht, ſondern 
auch fogar unmöglich ift, da gewiß noch Niemand damals 
Sefum für den Meffias hielt. Vielmehr geht aus der Antwort 
Jeſn deutlich hervor, daß. er jene Kenntniß des Leidenden von 
feiner Meffianität einzig auf Rechnung des in ihm wohnenden 
Dämon ſetzte; denn er gebietet Diefem zu ſchweigen, wie 
er auch auberwärts: Die böfen Geiſter, die. er austeiwb , de⸗ 


281 


drohete, daß „fie ihn nicht offenbar machten (Mark. 3, 12 
u. A)“: — „denn, feßt Marfus (1, 39 hinzu, fie fannten 
ihn.“ | 

Daß nun aber wirklich der böfe Geift hier, oder anders 
wärts, die Mefftanität Jeſu erfannt haben follte, dieß können 
wir natürlicy nicht glauben, da wir ja weder ein Beſeſſen⸗ 
fein, noch überhaupt die Eriftenz böfer Geifter annehmen können. 
Wohl aber ift es denkbar, daß ein in krankhafter Ertafe ſich 
befindender Menfch auf eine Weife, wie fie an. Magnetifchen 
und Somnambülen oft betrachtet worden ift, an den Empfins 
dungen und Gedanken eined Andern durch lebhaftes Hineins 
fühlen in deffen Inneres Theil nehmen fünnen; und auf folchem 
Wege mag denn auch in unferm Falle, wo Ief fo chen aus 
dem vollen Gefühle feiner Mefftanität gefprochen hatte, ber 
Kranfe eine Wahrnehmung von berfelben erhalten haben. 
War aber diefed der Fall, „fo ging auch Wort und Wille 
Jeſu, den Dämon anszutreiben, in unmittelbarer Stärfe und 
Wirkſamkeit auf den NHellfehenden über*. — Man ift alfo 
nicht zu der Annahme genöthigt, daß jene auffallende Kenntniß 
des Kranfen reine Zuthat der den Mefftad nad) jüdiichen 
Borftellungen verherrlichenden chriltlichen Leberlieferung fei. 





Eine andere Heilung Befelfener, die der beiden Gadare⸗ 
ner, deren böfe Geifter in Die Schweine fahren (f. die Stellen), 
bietet fchon darum größere Schwierigfeiten dar, weil die 
einzelnen evangelifchen Berichte fo jehr von einander abweichen, 
namentlich die des Markus und Lufas von dem ded Matthäus, 
dag nur einer von beiden der richtige fein fan. Nach Matthäus 
waren ed zwei Beſeſſene; nad) Lukas und Markus nur Einer, 
diefee Eine aber von vielen Dämonen befeffen; — wer hier 
Precht hat, ift kaum zu entfcheiden. Wenn es auch felten der 
Kal ift, daß zwei Nafende, bejonders fo mwüthende, wie die 
Gadarener, mit einander Ichen, fo beweist dieß doch noch 
nicht, daß Matthäus das Faliche hat; es Fonnte aus der 
urfprünglichen Ueberlieferung von mehreren böfen Geiftern 
in Einem Menfchen allerdings Leicht die fpätere Annahme, es 
feien audy mehrere Beſeſſene geweſen, ſich bilden; eben fo 








. möglich aber ift ed, daß bie ſpaͤtere Umbiſdung ber Sage aus 
\ zwei Befeflenen einen machte, um bad Ungewoͤhnliche bes 


Zuſtandes, viele Damönen naͤmlich in Einem Menichen,. um 
fo mehr hervorzuheben. Gleichfalls muͤſſen wir es unentichieben 


laſſen, 06 bie einfache und kurze Schilberung ber ober bes 


Befeffenen bei Matthäus (8, 28) oder bie weit ausführlichere 
in Mark. 5, 3—5 und Lu. 8, 27, 29 die urfprüngliche fei: 
denn Ausmalung gegebener kurzer Züge: it eben fo Geichäft 
ber Sage, ald ungenaue Zufammenziehung ausgeführter Er⸗ 
Ablungen; eritered jebody das gemöhnlichere, weil die Sage . 


“ wehr im Dienite der verjchwenberiichen Phantafle, ale des 


frarfamen Berftanbes ſteht. 
Auch hier, wie bei der erften Erzählung, wird Jeſus fogleich 


von ben böfen Geiltern erfaunt; allein ba wohl Riemanb den 


oder dem Kafenden, melden Niemand zu nahen wagte, gejagt 
hahen wird, wer ber eben an's Land Geftiegene (Matth. 8, 28) 
war; und da ferner an einen magnetifchen Rapport aus fo 
weiter Ferne (denn ſogleich nad, Jeſu Ankunft wird er von 
den Dämonen Meffiad genannt ) nicht gedacht werden Tann, 
fo wird man hier diefen Zug als fpäteren, aus jüdifchen 
Borftellungen entnommenen, Zuſatz anerfennen müffen. Ueber: 
dieß weichen die Berichte in Bezug auf denfelben fehr von 
einander ab; und die Öteigerung, bie fie bilden, verräth 
deutlich den Trieb der Sage, zu verherrlichen. Bei Matthäus 
entfeßen die -böfen Geifter ſich vor der Nähe des fie vers 
zichtenden Meſſias (V. 29), bei Lukas fleht ihn der Beſeſſene 
fußfallig an, ihm nicht zu plagen (V. 28), und bei Markus 
laͤnſt er ihm gar fchon von Weiten entgegen (B. 6). Daß 
tegteres bei dem menfchenfcheuen Wahnfinnigen das Unmwahrs 
ſcheinlichſte ift, leuchtet von felbft ein; davon aber, was Einige 
in des Markus Erzählung finden wollten, daß nämlich der 
Arme einige lichte Augenblide gehabt und in diefen ſich Jeſu 
genähert habe, kann feine Nede fein, da des Evangeliſten 
Worte V. 6 zu enge zufanmmenhängen, als daß man Etwas 
hinein fchieben fünnte, ohne es ihm aufzuzwingen. Am 
natürlichiten und einfachſten klingt noch die Darftellung des 
Matthäus, die den Schreden der böfen Geiſter recht lebhaft 
und ſcharf zeichnet, 


286 


Noch anitößiger und wahrhaft ftorend it in den Berichten 
ded Markus und Lukas der nachträgliche Zuſatz, Seins 
habe dem böfen Geiſte jchon vor der Anrede geboten, auszu⸗ 
fahren (f. Marf. B. 8, wo Luther jtatt des „denn“ im 
Terte ein unrichtiges, die Eache entitellendes „aber“ ſetzte; 
und Luf. V. 23, wo cd heifen muß: „er hatte geboten“). 
Schon das Nachträgliche iſt bier verdächtig, und man fieht 
feinen Punkt in der früheren Erzählung, wo es eingefchoben 
werden könnte; überdies müßte ja nach Marfus (B. 6) Jeſus 
fchon aus weiter Ferne dem böjen Geilte zugerufen haben. 
Bielmehr fcheint ed ganz fo, daß dem Erzähler (denn das 
Evangelium Markus ift bekanntlich Auszug aus Lufas oder 
Matthäus) erſt hinterher einftel, die flchentliche Bitte dei 
böfen Geiites fei Folge einer harten Drohung Sefu gewefenz 
er fügte diefe aljo noch bei, gab aber damit feiner eigener 
Darftelung, die offenbar auf ein wunderbares, Seju vers 
herrlichendes, Erkennen desſelben durch die Dämonen angeleg 1 
war, eine ganz andere Wendung, die nur dazu dienen kann, 
unfer Mißtranen gegen dieſe ganze Parthie in der Gefchichte 
zu fchärfen. 

Dad Unglaubliche aber häuft ſich bei jedem Schritte 
Den beiden mittleren Evangelien zufolge antworten die böfer 
Geifter auf Sefu Frage: „Welchen Namen trägit du?“ mi 
den Worten: „Mein Name ift Legion (d. h. eine große 
Menge)“ Diefer, bei Matthäus fehlende, Zufag hat fcher 
an fich viel Unwahrfcheinliches, und feheint den folgenden, wc 
erzählt wird, daß die Geifter in eine ganze Heerde vor 
Schweinen gefahren, zur Einleitung dienen zu follen, Damis 
wir ſchon zum Voraus mwiffen, daß etwa eben fo viel böfe 
Seifter in dem Menfchen, ald Schweine in der Heerde vor 
handen gewefen feien. Aber abgejehen von diefer Antwort. 
fo iſt die Sache felbft, daß nämlich viele Geilter von Einen 
Menſchen Beſitz genommen haben follen, ganz undenkbar. 
Denn da der Wittelpunft des Geiftes, oder beffer, die Spitze 
desfelben doc, immer das Bewußtfein ift und die daraus her⸗ 
vorgehende Einheit des Denfend und Handelns, — da im 
Einem Körper nicht mehrere Berftande, nicht mehrere Willen, 
nicht getrennte Perfönlicykeiten ſtecken können, fo ift eine ſolche 


‚287 
Lielheit einzelner, vollftändiger Geiſter in Einem Leibe etwas 
sein Unmögliches, wenn wir auch nicht, wie oben: gezeigt; 
das Eindringen eines fremben Geifted in einen: menfchlichen 
Körper fchon an fi unglaublich finden müßten — — 

Das Bedenklichite it aber der Schluß ber Erzählung, 
Imt welchem Jeſus die böfen. Geiſter auf ihre Bitte in eine 
Heerde Schweine fahren läßt, worauf diefe dann fammt und 
ſeuders im See umgelommen: fein follen (Matth. V. 30 ꝛc.; 
Nark. 2. 11; Luk. 3. 32). Eine ſolche Bitte könnte allens 
falls ein jübifcher MWahnfinniger thun,. bem aus feinem ger - 
Auben Zuftande die jüdiſche Borftellung geblieben, daß böfe 
Geiſter nothwendig in einem Leibe wohnen müflen, weil fie 
shne denſelben ‚ihre finnlichen Lüfte nicht befriedigen können; 
wie aber Dämonen, angenommen auch, fie wohnen in einem 
Menſchen und werden daraus vertrieben, den gaͤnzlich unver 
Rünftigen Wunſch hegen können, in Thiere zu fahren, bieß 
iſt ſchwer zu begreifen. Und daß es nun gar wirflich ale 
gefchehen fei, wie die Evangelien berichten, ift doch wohl 
als ganz unmöglic, zu betrachten: Geifter in Schweine fahren! 
Selbft orthodore Theologen nennen fo Etwas. Skandal und 
Aergerniß“; durch gezwungene Erflärung es zu entfernen, 
will ihnen aber nicht gelingen; die Worte lauten zu beſtimmt 
Dahin, daß die Geifter aus dem Menfchen und in die Schweine 
gefahren feien G. B. Luf. 8, 33). Eben fo wenig befriedigt 

Die natürliche Erklärung, welche die Sache fo faßt, daß 
wicht Die Dämonen, fondern die Befeffenen auf die Schweine 

Yosgerannt feien und diefe in fo heillofe Verwirrung gebracht 

haben; auch hier ftoßen wir an ber fatalen harten Wand des . 

unläugbaren Wortfinnes an! Mit einem Neueren an eine 

magifche Ableitung der Krankheit in die Schweineheerde zu 
denfen, geht auch nicht an, da wir noch gar Feine Beifpiele 
dafür aufweifen Fünnen, daß krankhafte Seelen» Zuftände 
eined Menfchen auf magifche Weile in Thierfürper übergehen 
konnen. Doc, gefebt, ed wäre möglich, wie anftößig wäre in 
unferem Falle die Wirkung eines folchen Uebergehens ges 
weien! alle Schweine nämlih ertrinfen! Was half es 
um bie böfen Geifter, in Schweine gefahzen zu fein, wenn 
fie ſelb ſt dieſelben ins Waſſer jagten, wid Ienadıy ide ol: 


De. \ 





“ 
L_ 7 en 


288 


balb der eben erft gewonnenen eblen leiblichen Hülle wieder 
beraubten ? Die Ausflucht, daß der mit Gefchrei auf die 
Schweine losſtürzende Bejeflene diefelben nur ſchen gemacht, 
und daß nur ein Theil ertrunken fei, it ganz gegen die Worte 
des Tertes (3. B. Mark. V. 13). — Wie anflößig iſt es 
ferner, daß Jeſus durch diefen Ausgang ber Heilung bie 
Eigenthümer der Schweine in fo großen Schaden gebracht 
haben fol! Wenn die Orthodoxen fagen, Sefus habe wohl; 
um die Menfchen zu retten, Thiere opfern dürfen, fo bedenken 
fie nicht, daß fie Damit die von ihnen behauptete unbegrängte 
Macht Jeſu über die böfen Geiiter wieder beichränfen, indem 
fie ung zur Frage nöthigen: Konnte. denn Jeſus feine andere 
Herberge für die Dämonen finden, ald die Schweine, bie 
num durch feine Schuld den Eigenthümern entzogen wurden? 
Daß er aber, wie Andere darauf entgegnen, als ein göttliches 
Weſen nicht verantwortlich fein folle für die Mittel, die er zu 
feinem Zwede gebraucht, dag heißt ihn, gegen die apoitolifche 
Lehre (Sal. 4, 4; Phil. 2, 7), gänzlic, dem Kreife Des Menſch⸗ 
lihyen entheben und ung entfremden. Eben fo fehr widers 
fireitet der biblifchen Anficht ein anderer Ausweg, den man 
hat ergreifen wollen, daß nämlidh für Jeſu der Erfolg feiner 
Heilung unerwartet geweſen fei. 

Diefe vielfachen Anjtöße und die Unmöglichfeit, durch 
ftichhaltige Erklärungen fie zu entfernen, bat fchon frühe 
manche Theologen genöthigt, an der gefchichtlichen Treue der 
Erzählung zu zweifeln, und namentlich den Untergang ber 
Schweine aus andern, mit der Geiiteraustreibung nicht im 
Verbindung ftehenden Urfachen abzuleiten. Hingegen ijt aber 
mit Recht ‘erinnert worden, dieſer Zug hänge fo genau mit 
der ganzen Erzählung zufammen, daß man entweder ihm dieſen 
Zufammenhang laſſen, oder ihn für ganz erdichter erklären 
müffe. Diefes Lestere, mas wir nad) allem Dbigen noths 
wendig anzınchmen genöthigt find, wird durch folgende Er⸗ 
wägungen fehr wahrjcheinlich. 

Da, wie wir oben fahen, die böſen Geiſter nad) jüdifcher 
Borftellung eines Leibes zu ihrem unbeiligen Leben bedürfen, 
jo konnte ſich ans der Boranefekung, auch hier werden bie 
vertriebenen Dämonen wieder eine neue Wohnung gefucht 





haben, leicht Die Sage bilden, fie ſeien wieder in andere wir 
yer gefahren, und zwar, ihrem Gefchmade entfprechend, 
bie unreiner Thiere, Ferner aber war es nichts Seltenes, 
daß jüdifche und heidnifche Beſchwörer den auszutreibenden . 
Geiſtern befahlen, bei ihrem Ansfahren nahe ftehende Gegen» 
Rinde, 3. B. Waffergefälle, Standbilder sc. umzumwerfen, 
mm die Zufchauer durch Die That zu überzeugen, daß fie aus 
dem Körper des Kranfen in die weite Welt hinausgefahren 
fin. — Ein folcher Beweis der wirklich vollführten Austreis 
bung konnte nun gar leicht auch bei Jeſus nothwendig erfchei- 
wen, und da einmal von der Sage die Schweine in fo nahe 
Berbindung mit dem Akte gebracht waren, fo lag ja nichts 
söher, ald fie auch zum Zeugniß der wirflich erfolgten Auss 
teibung zu benugen. Dieß gaben fie aber dadurch am aufs 
fallendſten ab, wenn fie durd) die Gewalt der ausgetriebenen, 
hinfaufenden, böfen Geifter in das ihnen fonft verhaßte Ele⸗ 
ment des Waſſers hinabgefchleudert wurden. — 

Wir kommen alfo zu dem Refultate, daß zwar die Heilung. 
eined oder zweier Befeflenen von befonders fchmieriger Krank⸗ 
heitsform nicht bezweifelt werben kann, daß aber viele einzelne 
Züge in der Erzählung als Zuthaten der Sage zu betrachten 
iind. 


Die dritte umſtändliche Austreibungsgefchichte (Matth. 
1 17, 14 u. ſ. w.) hat das Befondere, daß vorher die Sünger 
Jeſu vergeblich die Heilung des Kranken verfucht hatten. In 
den wefentlichen Punkten ſtimmen allerdings die drei Synop⸗ 
tifer überein; in Einzelnheiten aber weichen fie von einander 
ab, und zwar in der Art, daß Matthäus den einfachiten, 
Markus aber den ansführlichften und anfchanlichften, — alfo 
auch ohne Zweifel den von fpäterer Sage am meilten gefärb- 
ten Bericht hat. Dieß zeigt fich namentlich in Dem verfchies 
denartigen Verhalten des Volkes: nach Matthäus (B. 14) tritt 
8 Jeſu nur zufällig in den Weg, ale er vom Verklärungs- 
berg herabkam; nadı Lukas (V. 37) kam es ihm abfichtlid, 
entgegen; bei Markus (V. 15) ftürzt es ihm entgegen und 
begrüßt ihn, nachdem es fich vor ihm „entfeßt“ hatte. 
Dieß Letztere kann wohl mur fo erklärt. werden, DAR Send 
’ u. 49 - 





noch eben jo von dem Glanze der Verklärung, von weicher eı 
fo eben zurückkehrte, umleuchtet war, wie Mofes nach feinem: 
Herabfteigen vom Sinai, und ift daher als reine Zuthat der 
Sage zu betrachten, was gleicfalld von dem, auch nur dem 
Markus eigenthümlichen Zuge, daß Schriftgelehrte, ald Je⸗ 
fus anfam, grade befchäftigt waren, die Jünger über das 
Mißlingen ihrer Heilungeverfuche „auszufragen ®. 1, au 
genommen werden muß, da er. eine offenbare.. Rachbilbung 
deffen ift, was Markus an anderer Stelle (8, 11) Jeſu ſelbſt 
begegnen läßt. — Dagegen mögen andere Ausmalungen deö 
Markus, die ebenfalls bei den Andern fehlen, daß z. B. der 
Knabe ftumm und taub gewefen (®: 17 u. 25), daß er nad 
ber Heilung wie todt bagelegen und Sefus ihn aufgerichtet 
babe (V. 26 u. 27), ganz gefchichtlich und wahr fein. 

0 Eine .befondere Betrachtung. verdienen noch die Worte 
Sefu, die er ausfprach, als er von. der verunglücten Kur 
feiner Zünger hörte: „OD du ungläubiges und verfchrtes Ges 
ſchlecht!“ (Matth. 17, 170.4.) — Diefe Worte bezieht 
Markus offenbar auf das Volk, namentlich die Schriftgelehrs 
ten, und ganz bejonders auf den Bater des Kranfen, ber 
fpäter Sefum feinen Unglauben unter Thränen gefteht. Daß 
der Unglauben des Kranfen oder auch des Heilenden der Heis 
lung ftörend entgegentreten Fünne, müffen wir zugeben; wie 
aber der eines Dritten in diefer Beziehung nachtheilig fein 
fünnte, ift doch in der That unbegreiflih. Daher verdient 
auch hier Matthäus den Borzug, dem zufolge Jeſus mit jenen 
Morten ohne Zweifel feine Sünger meint, deren fchwacher 
Glauben ihnen folcye. Heilungen unmöglich mache; denn als 
fie ihn fpäter um’ die Urfache des Mißlingens befragen, gibt 
er ihnen als folche ganz beftimmt ihren Unglauben an und 
preist die Kraft. des Glaubens (17, 19, 20): und grade diefe 
orte fehlen in der Antwort Sefu bei Marfus und Lukas 
“ganz. Darin aber fimmt wenigftens Markus mit Matthäus 
überein, daß Sefus feinen Süngern gefagt habe, durch Beten 
und Faſten müſſe die Kraft des Glaubens geftärkt werben 
(Mattb. B. 21, Mark. B. 29): was Jeſus gewiß and) von 
den Heilenden verftcht. Denn diefen Ausfpruch mit Paus 
Ins fo zu deuten, daß Jeſus dem Gcheilten noch Beten 


| en 291 = 

amd Faſten empfohlen habe, damit bie Kur volkftändig werde, 
verftößt nicht mur ‚gegen den Wortlaut biefed Ausſpruches und 
der ganzen Erzählung C vergl. Matth. V. 18), fondern auch 
gegen ben.Charafter aller evangelifchen Berichte von ben 
Heilungen Jeſu, die fanmtlich plögliche und augenblidliche, 
nicht aber allmaͤlige find, 

Die übrigen, nur ganz kurz erzählten, Heilungen Beſeſſener 
bedürfen nach dem, was oben über ſolche Geiſteraustreibungen 
im Allgemeinen ſchon gefagt ift,. feiner befondern Beſprechung. 





Dagegen: mögen noch zwei, die Dämonenaustreibungen 
überhaupt betreffenden Fragen hier kurz ‚behandelt werben. 
„Iſt es denkbar, daß Jeſus im Stande war, folche Hei⸗ 
lungen ohne alle Heilmittel, nur durch die Kraft feines Geis 
ſtes, zu bewirken?“ — Allerdings; bei foldyen Fällen nämlich, 
wo die Krankheit einzig oder doch überwiegend Geiſtes⸗ 
kanfheit, alfo reine Verrücktheit, war, wie bei Dem Befeffenen 
in Der Synagoge zu Kapernaum (ſ. ©. 283); denn .Sefug 
hatte als Prophet und fpäterhin als Meffias fo großes Ans 
fehen, und feine großartige Perfünlichkeit mochte oft einen fo 

- überwältigenden Eindruck bewirken, daß dieſer Eindrud bei 
Geijtesfranfen wohl eine Heilung herbeiführen konnte. In 
Fällen aber, wo. in Folge der Geiſteskrankheit fchon eine bes 
deutende Zerrüttung des Nervenfyitemd eingetreten und mit 
rein körperlichen Gebrechen (Fallfucht, Stummheit ıc.) vers 
bunden war, wie in den beiden andern Erzählungen: — in 
ſolchen Fällen können wir eine fihnelle Heilung nur Durch 
. geiftigen Einfluß und durch die bloßen Worte Sefu nicht 
wohl annehmen; um fo weniger, da bier nicht einmal eine 
Berührung mit der Hand jtattfand, alfo auch nicht von 
. Einwirkung magnetijcher Kraft die Nede fein kann. Auch der 
Umftand, daß Jeſu alle Heilverfuche der Art gelungen fein 
follen, führt und darauf, daß, wie in fo. vielen Stüden, ſo 
auch bei den Erzählungen von Oeiteraustreibungen die Sage 
nicht müßig war; daß fie verherrlichte und vergrößerte, und 
das dem Wunderglauben Auftößige in der Geſchichte allmälig 
verwiſchte. Bei manchem Kranfen mochte wieleicht au wu 


202 
ein augenblidlicher Stillſtand, eine vorübergehende Nüdfehr — 
zum Berfiande eingetreten fein, ohne daß er dadurch vor ſpaͤ⸗ 
teren Rüdfällen bewahrt worden wäre. — 

„Barum berichtet Sohannes fo gar nichtd von irgend 
einer Geifteraustreibung?* — Ein Zeichen größerer Aufklaͤ⸗ 
rung des Evangeliften follte man, wie Einige es thun, doch 
nicht darin erbliden wollen; denn woher follte er fie haben, 
da die Anficht, daß die von uns befprochenen Krankheiten Wir: 
‚hungen böfee Geifter feien, ganz allgemein in Paläftina, und 
auch die von Sefu, des Sohannes Vorbild, war? Hatte er 
aber wirflidy eine ricdjtigere, fo war es ja Pflicht, den ges 
teübteren Darftellungen der Synoptifer durch die ächtere ents 
gegen zu treten. — Wenn Andere fein Schweigen dadurch 
erklären, daß er feinem Zwede gemäß nur die noch nicht aus 
‘den andern Evangelien bekannten Ereigniſſe erzähle, jo muß - 
man eine folche Ausflucht eine rein veraltete nennen; denn— 
wie Vieles erzählt Sohannes, was auch die Andern haben, — 
und ſchon die bedeutenden Abweichungen der Synoptifer im 
diefen Heilungsgefchichten mußten ihn veranlaflen, den eigente= 
lichen Hergang berichtigend zu erzählen. — Sol Johannes ⸗ 
wie Andere fagen, diefe Gefchichten verfchwiegen haben, un 
bei den griechifchen Chriſten, für die er vorzüglich ſchrieb⸗— 
feinen Anftoß zu erregen? Damit hätte er offenbar gegen— 
feine apoftolifchhe Pflicht gehandelt. Wenn wir alfo jene 
Frage auf Leine befriedigende Weife löfen, und aud die 
Berichte der Synoptifer nicht als ganz ungefcyichtlich verwers= 
fen fönnen, fo muß das Schweigen ded Evangeliums gegen - 
die Aechtheit desfelben bedeutende Zweifel in und erregen; 
felbft Neander gefteht: „daß auf den Gründen dieſer Aus⸗ 
laffung ein gewiſſes Dunfel ruhe“, und „für mid) gehört 
fein Stillfchweigen zu den bedenflichiten Eigenthümlichfeiten 
des vierten Evangeliums *. 


— — 





203 , 
Drittes Kapitel 
Seilungen yon Gelähmten, Ansfäkigen und 

Blinden. 


Nach den Geiſteraustreibungen nehmen die nächte Stelle 
isr den wunderbaren Heilungen Jeſu die ber Gliederfrans 
E en ein, ber Lahmen, Verdörrten und Gichtbrüchigen; denn 
eruf foldye beruft ſich Jeſus ganz namentlich (Matth. 11, 5), 
aund fie erregen ganz befonders das Staunen bei dem Volke 
C Matth. 15, 31). Unter Gichtbrüchigen, Die von Lahmen 
rusdrüdlich unterfchieden werden, verftehen die Evangeliften 
maberhaupt Kranfe, die durch gichtifche Zufälle gelähmt 
Kind, wenn auch nur theilweife, und zwar fowohl ſchmerzlos 
¶ Matth. 9, 2), ald unter quälenden Schmerzen (Matth. 8, 6) 
Selähmte 7). 

Die Heilung Eines berfelben (von ben übrigen wird bei 
anderer Gelegenheit die Rede fein) wird von allen drei Sys 
noptifern erzählt, und zwar fo, daß auch hier wieder M. die 
einfachite, Markus die anfchaulichite, — und, wie wir auch 
hier ung enticheiden müffen, M. die glaubwürdigfte, Markus 
die fagenhaftefte — Darftellung gibt. Laut des M. fchlichtem 
Berichte bringt man den Kranken auf einem Tragbette zu 
Jeſu und er heilt ihn; Lufas aber läßt fchon dieſes Tragbett 
„durch die Ziegel“ des Hauſes, worin Sefus fich befand, 
zu Diefem gelangen, weil der Andrang der ihm nachflrömenden 
Menge zu groß war, ald daß man dem gewöhnlichen Ein⸗ 
gange ſich hätte nähern fünnen. Die Häufer im Morgenlande 
hatten nämlich auch in dem platten Dache eine Thüre, und 
durch dieſe ließ man, dem Lufas zufolge, den Kranken auf 
dem Bette, wahrfcheinlich mit Striden, in das Haus hinab. — 
Sn Markus indeffen fteigert fich die Darftellung noch höher, 
indem hier fogar das Dach eingefchlagen wird, um den 
Kranken zu Sefu hinab zu bringen (®. 4). Ein foldyes Vers 
fahren, das ſich durch gezwungene Deutung der Worte nicht 


7, Der fo oft citirte Matthäus möge fortan einfad) ı mit M. be 
zeichnet werden, 


— 
| | 284 N 
wegerklaren läßt, iſt nun doch wohl gewagt. unb abentenerlich 
genug, um zu dem Urtheile zu berechtigen, daß, wie oben 
ſchon angedentet worden, des Markus Bericht ein von der 


Sage theilweife umgeftalteter ſei. Dazu konnte fie veranlaßt 
werden durch das Beftreben, den ſchon in des Lukas Dar 


— 


| ſtellung fichtbaren Eifer des Volkes, durch alle Hinderniſſe 
hindurch zu Jeſu zu gelangen, in’ das hellſte Licht zu ſetzen. 


‚Aber eben deßwegen erfcheint ung auch ſchon des Lukas Dars 
ſtellung als eine durch das gleiche Beftreben getrübte, wenn 
wir fie mit dem fchlichten M. vergleichen, der ganz einfach 
erzählt, Sefus habe den „Glauben“ der Leite gefehen. 

In der Erzählung von ber eigentlichen. Heilung weichen 
die Evangeliften nicht von einander ab, und es fragt ſich ums 
nur, wie wie. und dei Erfolg, den Jeſu Verfahren hatte . 
(M. 9, 6 u. 7), zu erflären haben. Da Jeſus gar wohl 
„eine der magnetiſchen ähnliche Heilfraft *, der Kranfe das 
gegen eine Glaubenskraft befeffen haben kann, die ihn ber 


höchſten Gemüthserregung fähig machte, fo find wir „nicht bes 


vechtigt, diefe Erzählung ohne Weiteres aus dem Kreife bes 
Sefchichtlichen auszufchließen +. Das aber die, ſchon in Je⸗ 
faia 35, 6 enthaltene, Erwartung von der meffianifchen Zeit, 
es werbe in berfelben eine Menge von Wundern gefchehen, 
und namentlich „der’Lahme fpringen wie ein Hirfch“ — Daß 
biefe fo beftimmt misgeprägte Borftelung wenigftens auf Die 
Geftaltung unferer Erzählung eingewirkt habe, bieß anzu⸗ 
nehmen, liegt allerdings nahe genug. — 

Noch Ein Zug unferer Gefchichte bedarf einer näheren 
Betrachtung. - Sefus fagt nämlidy dem Kranken: „Deine Süns 


den find Dir vergeben!“ und als. die Pharifäer fich daran 


ärgern, beweist er ihnen feine Macht, Sünden zu vergeben, 
durch Die noch höhere Heilkraft, die er fofort an dem Krans 
fen bewährt. Dadurch gibt Jeſus offenbar zu erfennen, daß 
er die ſchon im alten Teſtamente angedeutete und fpäter fehr 
ausgebildete jüdifche Vorſtellung, Uebel und Krankheiten feien 
überall Folge von Sünden, — daß er dieje Borftelling 
auch zu der feinigen gemadht hat. Denn daß er fih. nur 
ber Anficht des Kranfen anbequemt habe, um. die Heilung zu 
fördern, dürften wir höchſtens nur dann annehmen, wenn 


= 


— 293 

wir ans andern Stellen wüßten, daß es Jeſu mit dieſer 
Meinung nicht Ernft war; allein dieß läßt fich durchaus nicht 
erweiſen. Zwar erflärt er Luk. 13, 1 2c., die Unfälle, weld;e 
gewiffe Galiläer ‚betroffen hätten, feien Fein Beweis, daß dieſe 
größere Sünder geweſen, als die andern; allein, wenn er - 

num hinzufegt: „Auch Euch, wenn She Euch nicht beffert, 
wird gleiches Unglück treffen“, fo beffätigt er ja grade bie. 

berrfchende Meinung, daß Sünde unfehlbar äußeres Unglüd 
berbeiführe, nur bei dem Einen früher, als bei dem Andern. 
— Eben. fo wenig beweist die Stelle, Soh. 9, 1—3, no 
‚er, über einen Blindgebornen befragt, antwortet, deffen Leiden 
rühre weder von feinen Sünden (denn nad) der Lehre dır 
Rabbinen konnte man fchon im Mutterleibe. fündigen), noch 
von denen feiner Aeltern her; denn nur über dieſen einzelnen 
Fall ſpricht er fich hier aus, und hätte er jene. jüdifche Ans 


ficht überhaupt beftreiten wollen, fo würde er ohne Zweifel . 


ſich ganz anderd ausgedrüdt haben. . Aber Sohannes felbit, 
. der und dieſen Borfall- erzählt, beftätigt e&, daß Jeſus diefe- 
Vorſtellung wirflich hatte; denn 5, 14 läßt er ihn zu einem 
fo eben geheilten Kranken fagen: „Sündige fernerhin nicht 
mehr, damit es Die nicht noch fchlimmer ergehe!“ "Da die 
verfuchte Deutung diefer Worte, ale habe Jeſus gewußt, des 
Mannes Krankheit fei Folge gewiffer Ausfchweifungen, in’ 
der Erzählung nicht den geringiten Haltpunft hat, fo ift doch 
wohl die natürlichite Auslegung audy hier Die, anzuerkennen, 
Sefus habe ebenfalls Krankheiten für unmittelbare Folge der 
Sünden gehalten. Denn eine unbefangene und redliche Erfläs . 
rungsweiſe darf. feinen Anftoß daran nehmen, wenn fie zu 
Tage bringt, daß Sefus BVorftellungen gehabt habt, die wir 
nicht zu den unferigen machen können; Wahrheit geht auch 
bier über Alles. Daher dürfen wir endlich auch Das -ung 
nicht bergen, daß diefe Anficht von Krankheit und Uebel mit 
der 3. B. im Eingange der Bergpredigt ausgefprochenen ebio⸗ 
nitiſchen: der Gerechte müffe auf Erden viel leiden Cfiche 
Th. 1, ©. 223), im Widerfprud, ficht. „Aber wir können 
ja doch nicht wiffen, ob er den Widerſtreit zweter ihm von 
verfchiedenen Seiten der damaligen jüdischen Bildung her gebotes 
nen Weltanfchauungen nicht irgendwie in-fic, geloſt hatte *. 


— tt 


2906 


(M. 8, 1243 Mark. 1, 40 — 45; Luk. 5, 12— 15; ſodann 
, 17, 1219.) 


Auch die Ausfägigen fpielen unter den von Jeſu Ge⸗ 
heilten eine nicht unbedeutende Rolle; außer allgemeinen Er⸗ 
waͤhnungen ſolcher Heilungen werden zwei derſelben ausführ⸗ 
lich erwähnt. 

Die erite diefer Erzählungen CM. 8, 1) gibt uns Anlaß, 
das Verfahren der natürlichen Erflärungsweife recht genau 
fennen zu lernen. Die Evangeliften erzählen: „ein Kranker 
habe Jeſum angefleht, ihn vom Ausfage zu reinigen; Darauf 
habe diefer ihn berührt, und gefagt: „„Ich will ed; werbe 
gereinigt! *“ — und fogleich fei der Ausfägige gereinigt wors 
den“ (M.8, 2,3). Dieß erklärt Paulus fo: „Der Kranke, 
der fchon auf dem Wege der Genefung war, bat Sefum, ihn 
für rein zu erflären °9). Jeſus fagte: „„Sch will es““ — 
befühlte dann zu genauer Unterfuchung, jedoch vorfichtig, Den 
Ausſätzigen, fand, daB er nicht mehr. anfteddend fei, und 
ſprach dann weiter: „„Du bit für rein erflärt““; wirklich 
ward der Ausfägige bald und leicht ganz rein.“ Vergleichen 
wir dieſe wirklich unnatürliche natürliche Erklärung mit dem 
fo eben dargelegten ganz buchftäblicyen Inhalte der evangelis 
fhen Berichte, fo ergeben ſich folgende nicht unbedeutende 
Berftöße gegen den Wortlaut: — 1) Davon, daß der Kranfe 
fhon der Heilung entgegen ging, findet ſich nirgends eine 
Spur; — 2) das Wort, das wir mit „reinigen“ überfeßten, 
fönnte zwar auch wohl „für rein erklären“ heißen; allein 
dann müßte ed in dem ganzen Abfchnitte diefe Bedeutung beis 
behalten, oder die verfchiedene Bedeutung bier Fenntlich ges 
macht fein; — 3) daß zwifchen die fo innig verbundenen Worte: 
„Sch will e8; werde rein“ die umfländliche Handlung des 
Befühlens u. A. hineingezwängt wird, iſt fehr gewaltfam; 
überdieß wird das Wort „berühren“ ftets nur von der heis 
lenden, nicht von der unterfuchenden Hand gebraucht; — 


22, Dem Gefebe gemäß (3 Mof. 14, 2) durfte Fein Ausfähiger in 
die Gefellichaft zurückehren, ehe er von einem Priefter oder 
Rabbi Für rein erklärt worden war. 


305 


Viertes Kapitel 
Nnwilltürliche Seilungen, SDeilungen in bie 
Gerne und Sabbat: Seilungen. 


CM. 9, 20—22; Marl. 5, 33—34; Put. 8, 4348.) 


Es bleiben uns zunäcft noch zwei merhvürdige :Arten 
son Heilungen zu betrachten übrig: Die unmillfürlichen 
und die aus der Kerne. Die erfteren, deren Jeſus eine 
große Menge bewirkt haben fol (Matth. 14, 35, 36. u. 4.) 
beftehen darin, daß Kranfe jeder Art nur durch die, Berühs 
tung von Sefu Leib oder Gewand gefund wurden; ohne: feinen 
Willen, oft ohne fein Vorherwiſſen, ſtrömt eine heilende Kraft 
von ihm aus; er gibt fie nicht, fondern fie wird ihm abge⸗ 
onmen; denn fie liegt nicht in feinem Willen, fonbern in 
ſeinem Leibe und deſſen Umhüllung. 

Eine dieſer Heilungen wird uns von allen Synoptikein 
wöihrlich erzählt, Die einer blutflüſſigen Frau; jedoch wei⸗ 
dm fie von einander,. namentlich M. von den beiden andern, 
bedeutend ab; ihre Erzählungen für die zwei verfchiedener 
Borfalle zu halten, geht aber ſchon darum nicht an, weil bei 
allen dreien diefe Heilung in unmittelbare Verbindung mit ber 
Wiedererweckung von des Jairus Tochter gefebt if. Vielmehr 
if die Darftellung des M. unverkennbar die ältere und eins 
fahere, und bie Abweichungen der beiden andern erfcheinen 
als fpätere Ausfchmücdungen. Laut M. war die Frau 12 Jahre 
lang krank (V. 20); Lukas (V. 43) läßt fie all ihre Gut an 
Aerzte wenden, ohne daß es geholfen, und Markus gar läßt 
fe Vieles von vielen Aerzten erleiden (B.26); — bei M. 
iR Jeſus nur von feinen Süngern umgeben, als die Frau ihn 
rührt, er ſchaut ſich um, erkennt fie nnd rühmt ihren Glau⸗ 
en; in ben beiden anbern fteht die Frau mitten im Gedränge 
es Bolfes, er fühlt, daß bei dem Berühren der Frau eine 
eraft von ihm aueftrömt, und ſucht Daher die, welche durch 
zerührung ihm dieſelbe entloct hat. Hier ift doch wohl ein 
erjchönerndes Ausmalen unverfennbar; bei Markus und vnlas 
t Alles ſeltſamer, grandioſer, wunderbarer. 

Halten wir aber nun aber den Allen gemeinſamen Inhalt 

1l. 20 


208 


(2 Moſ. 4, 6, 7; 4 Mof. 12, 10) und‘ Euſa (2 Kin. : 5; 
vgl. Luk. 4, 27) erzählt werben, fo fchien ‚hinter Diefen ber 


größte aller Propheten wicht zuruckbleiben zu dürfen. 





Die zw eite der. ausfthelcher erzählten Seilungen von 
Ausfägigen findet. ſich nur bei Lukas (17, 12); da bier nicht 
ausdtücklich gefagt wird, daß Jeſus die Kranken -geheilt habe, 
fondern er nur zu ihnen fagt: „ Zeiget Euch den Prieftern*, 
fo hat man. hier. mit aller .Sicherheit annehmen zu fönnen 
geglaubt, es ſei nur von einer Reinerflärung die Rede. Allein 
dein wiberfpricht das fußfältige Danfen B. 16, mehr noch 
die Worte V. 15: „Da er fah, daß er rein geworden“, am 
meiften aber ®. 14: „Und es geſchah, daß fie im Weggehen 
gefund wurden“. Wir haben alfo aud) hier eine wunderbare 
Heilung, über welche wir dasfelbe behaupten müfjen, wie über 
bie erſte. Da indeß als die Hauptfache die Danfbarfeit bes 
Samariters &. 15—19) hervorgehoben. wird, fo fünnte es 
auch wohl möglich fein, daß mit der Sage von irgend einer 
wunderbaren Heilung fich eine ähnliche Parabel, wie bie 
ebenfall® nur dem Lufas eigenthümliche vom barmherzigen 
Samariter, verſchmolzen haͤtte. 


(WM. 20, 29-34; Mark. 10, 46—52; Luk. 18, 35 —43; 
fobann Mark. 8, 22—26 u. 7, 32—37; endlich Joh. 9.) 


Nicht minder wichtig find die Blindenheilungen; auch 
‚von bdiefen ift theils öfters im Allgemeinen die Rede (Matth. 
11, 5, 15, 30), theils werden einzelne derfelben ausführlicher 
erzählt; dieſe legtern haben wir nachher zu betrachten. | 

Alle Synoptifer berichten : eine folche in der Nähe von 
Jericho vorgenommene, weichen aber in ſo weſentlichen 
Punkten von einander ab, daß es unmöglich iſt, ſie in Ueber⸗ 
einſtimmung zu bringen; — dem M. zufolge wurden Cum - 
des Unwichtigeren nicht zu gedenken) zwei Blinde (B. 30) 
geheilt; Markus (®. 46) und Lukas (®. 35) wiffen nur von 
Einem; Lukas läßt die Sache vor, dem Einzuge Sefu in 


oo: 200 | | 
bie Stabt gefchehen.; die beiden andern (M. V. 29, Marf. 
V. 29) erzählen, daß die Heilung erft nach der Abreife von 
Sericho ftattgefunden habe. Da reichen num alle Berfuche, 
zu vermitteln, wie 3. B.: wer nur von Einer vede, laͤugne 
"damit nicht, daß es zwei geweſen, — ober: M..habe wohl 
den Begleiter des Blinden für einen zweiten Blinden gehal⸗ 
ten 2c., gar nicht ans, um von ber unheilbaren Berjdjieden« 
heit -der Ortsangabe nicht zu reden. Es haben ſich Daher 
ſchon ältere Theologen dazu verftehen müflen, zwei Heilungen 
anzunehmen, ‚die eine bei'm Einzuge in, die andere bei'm 
Auszuge aus Jericho. Allein damit ift die Differenz zwi⸗ 
ſchen einem. und zwei Blinden nicht gehoben, und will: man 
einmal ſcheiden, fo muß man folgerichtig drei Heilungen ans 
nehmen: Ein Blinder bei'm Einzuge, Einer beim Auszuge, 
Zwei beim Auszuge. Wer. aber wird es für wahrſcheinlich 
halten können, daß. auch nur zweis, gefchweige breimal. fo viele 
einzelne Umftände ?°) bei einer Heilung ganz auf die gleiche 
Weiſe eingetreten fein ſollen? Konnten insbeſondere die Bes 
gleiter Jeſu bilfefuchende Kranfe noch eins ober gar zweimal 
abweifen (M. V. 31), nachdem fie aus Jeſu Benehmen ers 
Fannt hatten, daß er eine ſolche Zurüdweifung mißbillige ? 

Es bleibt alfo nur der Ausweg übrig, auch hier die Thätige 
keit der Sage anzuerfennen, und anzunchmen, entweder, daß 
biefe mehreren Vorfällen allmälig eine ganz ähnliche Geftalt 
gegeben, oder, daß fie aus Einem Borfalle mehrere Varias 
tionen gebildet habe. Diefes Letztere ift offenbar das Natürlich, 
fte, weil es auch fonft jo häufig gefchieht. Ob nun aber die 
Heilung vor.oder hinter Jericho ftatt hatte, müffen wir unents 
fehieden laffen; dagegen ift es mwahrfcheinlich, daß nur Einer 
geheilt wurde. Dem M., der allein von Zweien redet, konnte 
leicht durd, die Erinnerung an eine nur ihm eigenthümliche 
Heilung von zwei Blinden (9, 27—31) veranlaßt werden, 
auch bei Sericho zwei anzunehmen; überhaupt fehen diefe beiden 
Erzählungen des M. (Kap. 9 und 20) einander jo ähnlich, daß 
unverlennbar Züge der einen in die andere übergegangen find: 


> Wir müffen den Lefer erfuchen, bie betreffenden Stellen in den . 
Evangelien nachzulefen. 


Treten wir nun näher zu der Sache felbfl, der plößlichen 
Heilung, heran, fo wird uns eine folche noch unglaublicher, 
ald die des Ausſatzes. Denn ein fo rein fürperfiches Uebel, 
wie die Blindheit iſt, kann fo wenig dem Glauben an einen 
großen Mann und rein geiftigen Anregungen weichen, daß 
wir defien Heilung durch bloßes Berühren mit ber Hand nur 
magnetifchen Einflüffen zufchreiben könnten. Allen ba fid 
bisher von einer folchen Kraft bes Magnetismus, auch Blinds 
beit zu heilen, noch fein Beifpiel ergeben hat, jo muß es ers 
laubt fein, auch diefe Blindenheilung einzig auf Rechnung der 
Mythe zu feßen. Denn die Verfuche der Rationaliſten, Die 
Sache natürlich zu erflären, durch Amvendnng eines fcharfen 
Waſſers ıc. find zu gewaltfam, ald daß fie hier näher bes 
fprochen werben dürften. Daß aber bie gefchäftige Sage 
folch wunderbare Heilungen erbichten konnte, wird dadurch 
fehr glaublich, daß, wie aus M. 11, 5 und befonders aus 
Jeſaia 35, 5, welche Stelle bekanntlich als meffianifche Weiſſa⸗ 
gung gebeutet wurde, hervorgeht, vorzüglich Blin de nheilun⸗ 
gen vom Meiftad erwartet wurben, um fo mehr, da folche auch 
dem Propheten Elifa zugefchrieben wurden (2 Kön. 17—20). 
Fa, was merkwürdig ift, wunderbare Blindenheilungen galten 
dem Alterthume überhaupt als Zeichen, daß ein Mann Lieb⸗ 
ling der Gottheit feiz fo wird von einem der größten römifchen 
Geſchichtſchreiber, Tacitus, großer Werth darauf gelegt, 
daß der Kaiſer Bespafian einen Blinden nur durch Benetzung 
der Augen mit feinem Speichel wieder fehend gemacht habe. 





Eine andere, nur von Marfus erzählte Blindenheilung 
ift, fo wie eine ebenfalld nur bei diefem Evangeliſten fich 
findende Heilung eines Taubſtummen, ein eigentlicyes Labfal 
für die natürlichen Crflärer; in beiden Erzählungen geht 
nämlich die Kur nicht fo plößlich von Statten, wie in ben 
übrigen, fondern faft ſucceſſive, und it von näheren Umftänden 
begleitet, die einen ganz natürlichen Hergang wie von felbft 
anzudenten fcheinen. Sefus nimmt die Kranken auf die Seite 
(8, 235; 7, 33) — „ohne Zweifel, fagen jene rationaliftifchen 
Ausleger, um zu unterfuchen, ob fie heilbar ſeien“ —; dem 


en - 801 
Tauben ſteckt er die Finger in die Ohren und rührt an feine 
Zunge. (7, 33); den Augen des Blinden legt er die Hände: 
auf (8, 23); — „augenfcheinlich alfo chirurgiſche Opera⸗ 
tionen“; — bei beiden wendet er Speichel an; — „unter . 
den Speichel, der an fich fchon heilende Kraft hat, mifchte 
Jeſus ficherlich irgend ein Medifament, ohne daß die Kranfen 
es bemerften“; — endlid; wird der Blinde nicht mit Einem⸗ 
male ganz fehend, fondern erft nach abermaligem Auflegen der 
Hände (8, 24 2c.); — „offenbar war die Operation bei dem 
erften Verſuche noch nicht vollftändig gelungen, und es mußte 
noch in Etwas nachgeholfen werden“. — Die Leichtigkeit, mit 
der fich die beigefügten natürlichen Erklärungen aus den Ans 
gaben des Evangeliften zu ergeben fcheinen, erregt in den _ 
Berehrern diefer Erflärungsweife den Wunſch, daß doch alle 
Berichte von Heilungen fo in’d Einzelne gehen möchten; dann 
würde es von felbit, glauben ‚fie, um die Wunderkuren im 
neuen Zeftamente geſchehen fein. Aber leider! haben die Ers 
flärer ſelbſt gerade das in die Erzählung hineingetragen, 
was die Erklärung fo leicht macht; das in den Speichel ges 
mifchte Heilmittel ift ihr Werk; fie machen aus dem einfachen 
„Händeauflegen, Berühren ꝛc.“ eine „chirurgifche Operation“ 
— und fie fchieben dem Beifeitnehmen der Kranfen die Abs 
ficht, fie zu unterfuchen, unter, da doch Jeſus offenbar Feine 
andere hat, ald die, — Aufjehen zu vermeiden (7, 365 8, 26). 
Die orthodore Anfiht hat alfo infofern Recht, ale fie, 
um das Wunder in diefer Gefchichte feitzuhalten, alle Anwen⸗ 
dung natürlicher Mittel in Abrede flellt; wenn fie nur 
nicht ebenfalls, um den Schein eines folchen natürlichen - 
Heilverfahrens wegzuläugnen, auf etwas unerlaubte Weiſe 
verführe! Denn den Gebrauch des Speichels für bloße Hers 
ablaffung, und das Allmälige des Heilens für eine bloße 
Glaubensprobe des Kranfen zu erklären, heißt doch auch wie- 
der den Tert durch Einfchiebfel verfälfchen. Wenn aber Die 
Drthodoren (3. B. Olshauſen) diefe fucceffive Heilung gar 
damit erflären wollen, daß eine plößliche dem Kranken hätte 
ſchädlich fein können, fo widerfprechen fie ſich felbft: ein 
Wunderthaͤter, wie Sefus nad) ihrer Anficht ift, wäre ja nur 
ein halber Wunderthaͤter, wenn ee nicht mit feiner wunets 


302 
vollen Heilung auch alle möglichen ſchädlichen Folgen derſelben 
hinwegränmen fünnte. — Wir- fürmen aljo in dieſem Zuge 
der Markus'ſchen Erzählung, da ung die beiden genannten 
.. Erflärungsverfuche nicht befriedigen, nur das Qeitreben des 
Evangeliiten nach größerer Anfchaulichfeit erbliden; denn „ein 
fohneller Erfolg wird nur dann recht vorjtellbar, wenn ihn 
der Erzähler durch alle Momente hindurchfübrt*, und auch 
an dem plößlichen Effekte die verfihiedenen Stadien nady 
weist. Ald etwas Wunderbares hat alfo Markus die Heilung 
fiherlich jich vorgeitellt, wie er fich überhaupt zum Wunder⸗ 
glauben durchaus hinneigt, und auf das Lob der rationalijtis 
ſchen Ausleger feinen Anſpruch macht. 

Diep zeigt ſich bei näherer Betrachtung auch in ben Theis 
fen 'unjerer beiden Erzählungen, worin Marfus Händeauflegen 
und Speichel als Anwendung natürlicher Mittel darzuſtellen 
fheint (&, 23 x). Man fünnte allerdings in Beidem eine 
Art von Feitern (Eondufteren) magnetiſcher Kraft erblicken 
wollen, welche bekanntlich vielfach mittelſt ſolcher äͤußerer Bes 
rührungen ausſtroͤmt; allein aus der Farbe der ganzen Er⸗ 
zählung gebt unverkennbar hervor, daß auch mit dieſen Zi 
gen Marfus (d. b. die Cage, welcher er folgt) Die Geſchichte 
nur in's Gebeimnißvolle, Myſteriöſe zu ziehen jrrebt. Denn 
Speichel galt den Alten nicht als natürlich, ſondern als zaus 
berhaft, magisch wirfendes Mittel; Kandauflegen und Berüb⸗ 
ren war myſtiſches Zeichen übernarärlicer Cimwirfungen; 
alles dieß konnte Daher nur bei Wunderthätern wirfen und 
diente dazu, ihre Kraft den Zuſchauern anſchaulich zu machen. 
Eomit erhebt der Evangeliſt Die Sache nur in ein bellered 


. Licht des Wunderbaren, ſtatt fie in den Kreis natürlicher 


Birfungen berabzuzieben. Nehmen wir dazu noch Die übrigen 
grellen, wmoiterisien Zuge der Erzäblungen — das Beſonder⸗ 
nehmen der Kranken; die übermärige Verwunderung Des Volkes 
(7, 37), das ſtrenge Gebet des Schweigens (8, 26), Die 
ausdrückliche Anführung des bebräiſchen Worte, womit Jeſus 
ten Zaubitummen heilt (7, 34), — Te jehen wir Die ganze 
Regebenbeit jo ſehr ur das Gebiet Des Zauberbaften gezogen, 
das wir nicht umbin kennen, in ihr ein Erzengniß der Sage 
zu erblifen, die nicht mide wurde, der jeſaia ſchen Weijſagung 





* 
® 
303 ht " 


. von ben Wunderheilungen des Meſſias Seſeias 35, 5 und 
11, ” getuhrend. nachzutoumen. 


Die einig von n Sohannes erzählte Heilung eineg Blind» 
gebornen trägt fo fehr ben Charakter des Wunberbaren an 
fi), daß man nur mit einem gewiffen Erſtaunen den kühnen 
Verſuchen der Rationaliften, auch fie natürlich zu erflären, ” 
ſchauen kann. — Da fid, nicht läugnen läßt, daß es V. 1 
heißt: „blind von Geburt an“, fo muß das griechifche Wort, 
welches „blind“ bedeutet, für dieſes Mal fo viel, als „ beis 

mahe blind“ fein; eine baare Wilfür! — Wenn Jeſus 2. 4 
tagt, er müffe wirken, „fo lange es Tag iſt 2c.“, ſo will Je⸗ 
Bus, meinen fie, damit ſagen, er dürfe bie vorhabenbe Ope⸗ 
ration nicht bis zur Nacht verſchieben; als ob. nicht V. 5 auf 
Das Deutlichite bewiefe,. daß Jeſus hier von feinem ganzen 
irdischen Wirken ſpricht! — Da nad) V. 6 Tefus mit feinem 
- Speichel einen Ffeinen Lehm bereitet, fo muß auch hier -ein 
Medikament eingemifcht worden fein, was ber faft Blinde 
nicht bemerfte; aber ed maren ja Sünger zugegen W. ! . 
Wenn erzählt wird, der Kranfe fei auf Jeſu Befehl zum Teiche 
Siloam gegangen und geheilt zurücgefommen, fo kann ja das 
mit auch gemeint ſein, er habe dort eine längere Badekur 
gemacht; allein wer die Worte V. 7: „Er ging.weg, wuſch 
ſich und Fam fehend wieder“, fo erklärt, der muß auch die 
berühmten Worte des Julius Cäfar, in denen er fo fchlagend 
die Gefchichte eines ganzen Feldzuges zuſammenfaßt: „Ich kam, 
ſah (den Feind) und ſiegte“, fo wiedergeben: „Nach meiner 
Ankunft rekognoszirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in 
gehörigen Zwiſchenzeiten unterſchiedliche Schlachten und blieb 
endlich Sieger“! — 

Alſo — es bleibt dabei, daß wir hier eine wund erbare 
Heilung vor uns haben. Wenn wir aber fchon oben geftehen . 
mußten, daß uns Heilungen einfacher Blindheit ohne Ans 

. wendung äußerer Mittel unglaublich feien, fo ift dieß noch 

weit mehr dei der eines Blind gebornen der Fall. Vielmehr 

ſcheint die ganze Erzählung aus dem Beftrebeu, das überhaupt 
. in biefem Evaygelium fihtbar ft, zwar wevige, aber deheo 


\ 


303 


färfere Wunder zu erzählen, hervorgegangen zu fein. So 
wie nur dieſes Evangelium von der Heilung eines feit 33 
Fahren Gelähmten und von der Auferwedung eines fchon vier 
Zage im Grabe gelegenen Todten etwas weiß, fo ift auch 
nur in ihm diefe Heilung eines Blindgebornen ald das größte 
under diefer Art zu lejen. Grabe diefer Umftaud, daß 
fein anderer Evangelift derfelben Erwähnung thut, muß dop⸗ 
pelt mißtrauifh machen. Denn fann auch nicht erwartet 
werben, daß irgend ein Evangelift alle Wunder, die ihm 
befannt geworden, auch erzähle, fo darf doch Feiner, wenn er 
nicht ganz ohne Verſtand ausmwählt, eines der auffallendften 
und von fo merfwürdigen Reden ımd Verhandlungen begleites 
ten Wunder, zu weldyen das vorliegende offenbar gehört, 
ganz mit Stillſchweigen übergehen; überdieß ging dasſelbe, 
wie Sohannes berichtet, mitten in Serufalem vor, und erregte 
felbit bet der Obrigfeit großes. Auffehen ! 

Müffen wir alfo nothwendig auf die Bermuthung kommen, 
dasſelbe fei gar nicht vorgefallen, und die Erzählung davon 
vieleicht nur Ausfchmüdung einer andern und auch fonft bes 
fannten, fo fann ung der Einwand, daß ja Doch der Apoftel 
Johannes ber Gewährsmann fei, nicht zurücchreden. Denn 
nicht nur ift ja, wie wir oben fahen, dieß fchon im Allgemeis 
nen wenigitens noch zweifelhaft, fondern es findet fich insbes 
fondere in unferer Erzählung etwas, was wir dem Sohannes 
kaum zutrauen fünnen. Es wird nämlid) der Name des Tei- 
ches Silvam (V. 7), der „Wafferguß “ bedeutet, mit „ges 
fandt* verdollmetſcht; eine offenbare Anfpielung auf den dahin 
„Hefandten“ Blinden; zugleich aber eine Spielerei, die wir 
eines von dem eigenen Anfchauen des Wunders ergriffenen 
Apoftels wohl nicht würdig halten können; ed mag daher 
auch diefer Punkt zu den Merkmalen des nicht apoftolifchen 
Urfprungs dieſes Evangeliums gezählt werden. 


313 j 


dem Sinne der erften, noch ganz von, jüdiſchen Borftellungen 
geträntten Chriſten. Co wurde fehr wahrfcheinlich jene alts 
teftamentliche Erzählung Vorbild unferer neusteftamentlichen. 

Ein Gleiches gilt von einer weiteren und überlieferten 
Fernheilung, nämlich von ber Heilung eined Madchens, deſſen 
Mutter, ein fananäifches Weib, Jeſum um Hüfe angegangen 
hatte; wir haben dieſe Erzählung ſchon anderwärts in’d Auge 
gefaßt; nämlich Th. I, S. 199, wo die Frage erörtert wurde, 
ob Jeſus den Heiden feine Hilfe verweigert habe. 


(M. 12, 1— 14; Mark. 3, 1—6; Luk. 6, 6— 115 fodann 
Luft. 14, 1—5; 13, 10— 17; endlid Soh. 5, 1— 16.) 


Ein befonderes Intereffe nehmen noch die Heilungen in 
Anſpruch, welche Jeſus am Sabbat verrichtete, weil er da⸗ 
wit jedesmal bei Pharifäern u. dgl. Anſtoß erregt. Eine ders 
felben wird von den drei Synoptifern erzählt; bei Allen ſteht 
fie mit dem ebenfalld ärgerlichen Aehrenausraufen der Sünger 
im Verbindung; während aber M. und Markus Beides an 
demſelben Sabbat gefchehen laffen (M. 12, 95; Marf.3, 1) 
verlegt Lukas ausdrücklich die Heilung auf einen andern (6, 6) 
und hat darin gewiß das Nichtige, indem offenbar beide Ers 
zjahlungen urfprünglich nur des verwandten Suhaltes wegen 
neben einander geftellt wurden. Die fonfligen Abweichungen 
in den verjchiedenen Erzählungen find fehr unbedeutend. Im 
‚allen leidet der Kranfe an einer „vertrockneten“‘ Hand; damit 
iſt nun feineswegs, wie Rationaliften, um mit der natürlichen 
Erflärung defto leichtere Spiel zu haben, annchmen, eine 
nur verftauchte, fondern, wie aus Vergleich mit 1 Kön. 13, 
4 hervorgeht, eine völlig gelähmte und erftarrte Hand gemeint. 

Ehe wir darnach fragen, wie es möglich fei, ein ſolches 
Uebel durch ein bloßes Wort (M. 12, 13) zu heilen, wollen 
wir, da die Spige der Erzählung doch in dem Umſtande liegt, 
daß es am Sabbat gefchehen, noch zwei andere Heilungen der - 
Art in unfere Betrachtung ziehen, die beide nur bei Lukas zu 
lefen find. Die erfte ift die eines Waſſerſüchtigen (14, 1); 
die andere die einer feit 18 Jahren gefrümmten Frau (13, 


\ 308 

feſt, nämlid) die unwillfürliche Heilung durd) bloßes Berüher- . 
werden, fo fehen wir beide theologiſchen Haupipartheien glei — 
abgeneigt, benjelben. anzuerkennen; es fheint ihnen Jeſus 
zu fehr in ein rein körperliches Gebiet herabgezogen, und di 
einer Art von Magnetiſeur gemacht, der durch elektriſche E wer 
ladungen wirke. Allein beide find gleich unglüdlich it Den 
Berfuche, dieſes Anftößige aus der Erzählung‘ herauszubringen, 
weil fie beiberjeitd den Worten die größte Gewalt anthun 
mal 

„Senn erftlich die: Dethodoren,. 3 B. Dishaufen, ber 
haunten, das chriftliche: Bewußtſein verbiete, fo etwas von 
Jeſu anzunehmen, jo muß.sparauf ermidert werden, daß dieſes 
fügenandte -,, chriſtliche Beruußtfein “ Doch eigentlich .nichte. Anz 
deres iſt, als das Bekenntniß ber vorgeſchrittenen religiöſen 
Bildimg::unferer Zeit,. Daß fie fich nicht niehr mit:allen Vor⸗ 
ftellungen befreunden fan, die num. einmal doch in den Evan 
gelien wirklich enthalten find. Denn:um diefe Borftellungen - 
in unſerem Falle wegzuerflären, werden von dem chriftlichen - 
Bewußtſein die gezwungenſten Auslegungen. verfucht. So re 
z. B. Jeſus die Frage: „Wer hat mid berührt?“ mr zum — 
Scheine gethan haben, um die Fran nicht zu beſchämen; und = 
doch geht felbit aus M. Deutlich‘ genug hervor, daß.er dieſelbe 
var ber Heilung wirklich nicht gekannt, noch je gefehen hatte; 
— Jeſus ſoll wohlbedacht feine heilende Kraft. ın fie haben 
überſtrömen laſſen; daß aber davon gar keine Rede ſei, fons 
dern das Ueberſtrömen als ein ganz unwillkürliches, rein ma⸗ 
terielles dargeſtellt wird, dafür bedarf es keines weitern Be⸗ 
weites, als einfach auf Dark. V. 30 md Luk. V. 46 zu ver⸗ 
weiſen. 

Nicht beſſer ergryt es ferner den Rationaliten, die gleich— 
falls mit dem Erzählten ſich nicht vertragen können und daher 
gleichfalls Das Anſtößige durch Erklärung. zu entfernen firchen, 
Dieſer ‚zufolge fragte Jeſus: „wer hat mich berührt 2: darum, 
mei er fi) im Gehen Aufgeljalten fühlte; — die franfe, der 
müthige Frau hätte Jefum fo herzhaft gezupft;. daß: er am 
chen: verhindert wurde?! — Die: Frau. foll ‚nicht wunders 
barer Weife, fondern. durch: dad .eraltirte Bertrauten, das ſie 
bei ver Berührung Yan; Sefwi$tletbung, . ufammenfchauern 


RN 


307 


machte, geheilt worden fein: welch' zügellofes Vertrauen zur 
Macht des Vertrauens, anzunehmen, durch dasfelbe habe ein 
zwölfjähriger Blutfluß geheilt werden fünnen! — Da aber 
äberbieß dieſe Erflärer felbft die Angabe einer plöglichen Hei⸗ 
Img in Abrede ftellen, und fogar. bie Worte Jeſu, Luk. 8, 46 
fir eine Erfindung des Evangeliften halten, fo fieht. man nicht 
en, warum fie nicht lieber die gefchichtliche Wahrheit ber 
ganzen. Erzählung in Abrede ſtellen. 

Zu dieſem Refultate fühlen auch wir und geneigt, allein 
mt aus dem Grunde, weil ein fo ganz Tinnliches Ausſtrö⸗ 
men von Kräften aus dem Körper Sefu- ung deſſen unwürdig 
erfheint, wodurch wir und auf den Standpunkt der Supra⸗ 
naturaliſten fielen würden: fondern weil die Sache an ſich 
mmvahrfcheinlich if. Denn faffen wir bie zahllvfek Wunder 
firen durch die Neliquien und Heiligen der Katholiken, — 
duch bie Windeln des Jeſukindes in einem. apofryphifchen 
Erangelium, — durch den: Schatten und die Schweißtücher 
des Apoſtels Paulus in der Apoftelgefchichte (19, 11) in's Auge, 
fe it doc; von dieſen bis zu unferer Heilung durch den Saum 
von Jeſu Kleide kaum ein halber Schritt; wer alfo jene . 
läugnet, wird auch diefe verwerfen müffen. Inzwiſchen bürfen 
wir dieß Dennoch nicht unbedingt thun, indem ' mmläugbare 
Beiſpiele vorhanden find, daß wirklich theils - magnetifche 
Kräfte von der einen, theils unbegrängter Glauben von ber 
andern Seite foldye wunderbar fcheinenden Handlungen hers 
vorgebracht haben. Wir laſſen es alfo auch hier dahin geftellt, 
ob nur Einzelneg oder das Ganze unferer Erzählung das Wert 
der Sage ki. 





M. 8, 5—13; Luk. 7, 1—10; Joh. 4, 46 —54.). 

Die Heilungen aus der Ferne find eigentlich Das Gegen: 
theil von den umwillfürlichen, indem dieſe ganz förperlic, ohne 
allen. Willensaft, jene nur durch den Willen ohne leibliche 
Nähe gefchehen; — fo fehr das Gegentheil, daß mar fchon 
um Voraus zu der Behauptung verfucht iſt, es haben beide 
rc) denfelben Marin unmöglic, ftatthaben können. Betrach⸗ 
en wir aber die Sache näher. - 


308 


Eine ſolche Fernheilung finden wir bei M., Lufas und 
Sohannes, wo Jeſus von einem Manne angegangen wird, 
einen ihm Angehörigen zu heilen; die Berichterftatter weichen 
aber fo fehr von einander ab, daß man in große Berlegenheit 
geräth. Die größte VBerfchiedenheit findet ſich allerdings zwi⸗ 
fchen Sohannes und den beiden Eynoptifern; verſchieden 
geben fie an: den Drt, mo Jeſus fid befand, Sohannes 
(B. 46) Kana, M. (V. 5) Kapernaum; — die Zeit, Joh. 
(8: 43) nad) der Rückkehr aus Samarien, M. (B. 1) nad 
der Heimfehr ‚von der Bergpredigt; — die Perfon des Ger 
heilten, Joh. (47) ein Sohn, M. (6) ein Sklave; — bie 
Perfon. des Bittenden, Joh. (46) ein Hofbeamteter Calfo 
wahrfcheinlich Jude) und von ſchwachem Glauben (48), M. (5) 
ein Hauptmann Calfo wahrfcheinlich Heide) °9) und voll bins 
gebenden Vertrauens. — Allerdings ftarfe Differenzen! Deß⸗ 
halb haben viele Gelehrten auch angenommen, es feien zwei 
verfchiedene Vorfälle zu unterfcheiden; den einen erzähle os 
hannes, den andern M. und Lufas, Allein dieß geht nicht 
anz denn eritend weichen die Synoptifer auch unter fich wies = 
der in manchen Stüden von einander ab; zweitens flimmt = 
Johames bald mit diefem, bald mit jenem überein. Wir — 
wollen dieß an wenigen Beifpielen zeigen. — 1. Bei Lufas 
(B. 2) iſt ein Sklave der Kranfe, bei M. (B. 6) wahr: 
fcheinlidh der Sohn des Bittenden °’); hier ftimmt Johannes 
(47) mit M. überein. — 2. Nach M. (6) leidet der Kranfe 
an Lähmung, nad Lukas (2) ift er am Sterben, was 
bei bloßen Lähmungen nicht einzutreten pflegt; Sohannes (47) 
ftimmt zu Lukas. — 3. Bei M. (5) fommt der Hauptmann 
felbft zu Jeſu, nad Lukas (3) ſchickt er Boten an ihn; 
Sohannes (47) ſtimmt zu M. — 4. Dem Lukas (6) zufolge 
fommen Sefu aus dem Haufe des Hauptmanng Freunde des⸗ 


>, War es ein Hofbeamteter, fo war er Diener des jüdiſchen Für- 
ften von Galiläa; war e3 ein Hauptmann, fo fland er wahr: 
(heintih in Dienften der SZudäa beherrichenden heidnijchen 
Römer. 

2, Das griechifhe Wort des Terted nämlich bedeutet zwar eigent- 
sh „Kind, Sohn“; jedoch werden auch Eflaven, bie zur 
näheren Umgebung des Seren gehirten, G genanut. ° 





Welten entgegen wevon M. wide ‚meißinüuh. CHR; Finnas 
—— darin, daß air 'zulegentng Teile aus 
dem Haufe treten 51 ticdB) zB Tefus und | 
Witterhen nerfichert,ider: Kranke feiraehelie, Js Yutde par 
Khneigag: oh :(50) fun eich ln nl dan 
Ra; alfo: alle dyei Erzahluugen fo m —— —— | 

Kuh, daR -jebei berfelben baldizir einen / bald site anbern hin⸗ 
iüberneigt, ſo muͤſſen wir bri ver Scheibnug in uch Vorfaͤli⸗ 
nicht ſteher bleiben ;;: ſondern entweber Adein annchinen, ober 
bei. allen Variationen nus:seimem?: Das: Erftebe: wird” ung 
Riemand znvnthen; denw wer kann es glanben, daß Jeſus 
Rreimak-in: Eapernaum den Angehörigenneines vornehmen 
Mannes auf deſſen Bitten aus. ber Kerne: I: Einem Magens 
Blicke geſund genricht /habelr Wir neffen daher!r bei: Einem 
MWorfalle ſtehen bieiben, Dürfen: über dabei nicht; wie manche 

Theologen ſehr gewaltthaͤtig · es vrrſuchen, in Abrehe ſtellen / 
"maß die Erzählungen awirllith ſehr: bedeutend. 00H Rhaunder ab⸗ 
Weichen; wir: mitſſen une vielmehrdie Frage verlegen: Wee 

unier den Berichtenbenchak: nun Recht ud : "0 
Eine unbefangene Prüfung ergibt, daß auch hier wieber 

M. Das: Einfachere und Urfprünglichere hat, und. daß bie 
abweichenden Schilderungen: der beiden Andern meiſt verjchd« 
nernpe, übertreibende. Zufäge find. Faſſen wir zuerſt Lukas 
im’ 8 Auge. Der: arg geplägte Kranke des M. wird’ bei ihm 
ſchon ein dem Tode Raher, wodurch das Wunder der DE 

lung um ſo größer wird;: während bei M. der Hauptmamii 
ſelbſſt zu Jeſus kommt, ‚aber wohl erfennt, ex fei nicht werth⸗ 
daß Jeſus unter ſein Dach komme (V. 8), wird dieſe Demuth 
bei Lukas fo weit gefteigert, daß er jüdiſche Aelteſte (V. 3) 
an Jeſum abſchickt, Die ihm ein gutes Zeugniß geben müffen 
5). Durch die zweite Gefandtfchaft aber. (6). geräth Lukas 
gar in Widerfpruch mit fich felbft: denn durch dieſe laͤßt nun 
der Hauptmann Sefum erfuchen, nicht in fein Haus zu foms 
men! Als ein fo verfehrter wanfelmüthiger Mann erfcheint 
aber diefer Hauptmann fonft gar nicht, vielmehr als ein wades 
rer und verfländiger. Hier ift wohl die -Ausfchmüdung der 
Sage unverfennbar! — Ein Gleiches bei Johannes anzu⸗ 
erfenuen, duͤrfen wir und durch Die Furcht, einen veoxeoxeo. 


310 


den Apoſtel, angugreifen, nicht abhalten laſſen; dem "eben 
diefe Augenzeugenfchaft ſteht ja noch dahin, und Fam nur 
durch unbefangene Prüfung ermittelt werden. 

Schon feine :.beffimmte Angabe, daß ber Kranfe ber 
Sohn gewefen, fieht nicht Danach aus, das Urfprängliche 
zu fein; vielmehr iſt es weit wahrfcheinlicher, daß des M. 
unbeftimmtes Wort (f. oben Anmerf. 31) nad) zwei Seiten 
hin beftimmmt gedeutet wurde, nadı der des Lukas als Sflave, 
und von Johannes ad Sohn. Wem nun ferner bei Sohanr 
nes die Fernheilimg von Kana, und nicht von dem Wohnorte 
des Kranken aus geſchieht, fo iſt Dieß Doch wohl auch ſagen⸗ 
hafte Verherrlichung; denn je größer Die Entfernung, deſto 
größer das Wunder. Wie ängftlidy genau ift weiterhin bie 
beitimmte Angabe, grabe in berfelben: Stunde, wo Jeſus bag 
teöftende Wort (B. 50) gefprochen, fei der Kranke genefen 
(52 u. 53)! Auch bier fehen wir das Bemühen diefes Evans 
geliums, alle Wunder als vecht glänzend und .beglaubigt hins 
zuftellen. Endlich muß auch Charakter und Benehmen bes. 
Bittftellerd dazu dienen, Jeſum in um fo herrlicherem Fichte 
zu zeigen. Er ift von ſchwachem Glauben, während dieß 
bei M. und Lufas fich anders verhält; es tritt in diefem Ges 
genfaße die Herrlichkeit Set um fo mehr hervor, wie es ja 
Sohannes überhaupt befonders licht, denfelben als weit ers 
haben über feine Umgebung ung erfcheinen zu laffen. Er 
bittet Sefum augdrüdlich darum, in fein Haus zu kommen, 
und Diefer ift bei den beiden andern: Evangeliften anfangs auch 
entfchloffen, ihm zu entfprechen; Sohannes aber ftellt die Sache 
fo, daß Jeſus auf jene Bitte gar nicht eingeht, fondern fos 
gleich die aus der, Ferne ſchon bewirkte Heilung anfindigt; 
daburd entgeht Jeſus dem Verdachte, fidy in feinen Entfchlüfs 
fen von Andern beftimmen zu laſſen. — Alles doch wohl 


Spuren einer an der einfachen Thatſache geſchäftig umarbei⸗ 
tenden Sage! 


| Halten wir uns nun aber an die Hauptfache, die in allen 
Berichten und überliefert wird, nämlich an die Fernheilung 
ſelbſt; — iſt eine ſoldhe denkbar? Ehe wir auf Diefe Frage 


a 


su 


eher, müflen wir die Verſuche ber Rational, die Fern⸗ 
ung wegzuerflären, kurz beleuchten. .::-  - 

Am bereitwilligften feheint für Diefe: natürliche Erlärung 
ſannes ſich herzugeben; zwar merkt: biefer felbfl. das 
e Ereigniß das zweite it Balilia von Sefu errichtete 
ichen“; dieß ſoll -aber nichts Weiteres heißen; als: zum 
ten Male (vergl. 2,11) gab Jeſus den Beweis von einer 
er nicht offenbar gewordenen Kraft“; — durchaus gegen 
neu = teftamentlichen Gebrauch dieſes Wortes, verntöge 
nes mit „Wunder“ gleicybedeutend ift. Ferner fol Jeſus 
ar nicht geheilt, fondern nur gefagt haben, derfelbe bes 
» fich wieder außer Gefahr CB. 50), weil er aus ber 
men Erzählung des Bittenden erfannt: hatte, die Krankheit 
chon im Abnehmen. Abgefehen von dem wahrhaften Ein 
uggeln einer folhen, nirgends angedeuteten,- "Erzählung, 
dadurch Jeſus zu einem, man verzeihe ben Ausdruck, 
tfinnigen Gharlatan gemacht, ber feinen. ganzen Kredit auf 
Spiel fett, indem er auf den Bericht eines gewiß nicht 
hfundigen bin ein fo beſtimmtes Verfprechen gibt. Ein 
ıe8 ließe fich nur rechtfertigen, wenn man, wie es von 
ren Auslegern auch wirklich gefchteht, aber gleichfalls ohne 
nd, es als Ausflug einer höheren Erkenntniß Jeſu bes 
ten, alfo darin ein Wunder des Wiffeng erbliden will. 
awiderſpricht ja aber fehon das, daß gerade in bemfelben 
enblide, als Jeſus jene Worte ſprach, der Kranke gefund 
de; das it Doch ficherlich ein Wunder der That, das heißt, 
wunderbaren Kraft des gejprochenen Wortes. 

Bei den Synoptifern it jo beftimmt von der Bitte um 
lung (M. 3. 8) und von deren Gewährung (3. 13) 
Rede, daß man zu einem. andern Mittel feine Zuflucht 
nen muß; dieß finden die ftets rüftigen Erflärer in dem, 
bei M. (V. 9) der Hauptmann gleichnißmweife von den 
imtergebenen Dienern fagt, natürlidy um daran zu erins 
|, welche Kräfte und höhere Geilter Jeſu zu Gebote ſtün⸗ 
‚ am auch ohne perjünliche Gegenwart wirfen zu tönen. 
ı aber fol er Jeſu verblümt zu verftchen gegeben haben, 
ürfe ja nur einen feiner Jünger abfenden, was Jeſus 
rt auch that. Wenu nur von dieſer Abfendung auch nur 


812 


mr eine Silbe in dem Terte flünde! Wenn wirnur andere 
- Beifpiele davon hätten, daß Jeſus feine Juͤnger ald wunder⸗ 
verrichtende Ordonnanz abordnetel Wenn nur nicht die 
Freunde des Hauptmanns ſogleich bei ihrer Ankunft ſchon den 
Kranfen. wieder gefund gefunden hätten! Aber, fagt man, fie 
hatten ja noch bei Jeſu ſich verweilt, während Die Sünger 
ſchon weggeeilt waren.. Wenn wir nur nicht auch hier fagen 
müßten, daß bavon- abermals kein Wörtchen im Texte zu 
leſen iſt! 

Es muß alſo wohl doch fein Verbleiben dabei haben, daß 
uns hier eine wunderbare Heilung aus der Ferne geboten 2 
wird, beren Glaubwürdigkeit wir nun fchließlich zu unterfuchen = 
haben. Sp ganz abweichend von allen andern mwohlthätigen m 
Aeußerungen der Heilkraft Jeſu ift dieſes Fernheilen, daß wir = 
ung wohl darnadı umfehen bürfen, ob wir fonft wo ähnliche — 
Erfcheinungen finden. Nun ift ed zwar erwiefen, daB auf 
Somnambülen von Magnetifeuren oder anderen in magneti— 
fchem Rapport mit ihnen flehenden Perfonen auch in die Ferne— 
hin gewirkt werden kann, aber doch nur nad) vorausgega⸗— 
gener unmittelbarer Berührung. Eine folhe nun hat in Denwmm 
vorliegenden Fall nicht flattgefunden, ‘und wir reichen mi 
diefem Erklaͤrungsgrunde nicht aus. Es bliebe uns nichts 
übrig, ale Jeſum für ein übernatürliches Wefen zu halten, 
deffen Wirklichfeit wir uns aber nicht denfen können. Allein 
wir dürfen um fo mehr die Frage aufmwerfen: Iſt auch das 
erzählte Factum gegründet? da wir ja fchon früher im Eins 
zelnen unjerer Erzählung unverfennbare Spuren von dem Ein: 
fluß der Sage fanden. 

Erinnern wir uns, wie Sefus Kranke durch bloßes Bes 
rühren (Matth. 8, 3), dann wieder einzig durch ein Wort 
(Cuk. 17, 19 geheilt haben fol, fo liegt die Steigerung, daß 
fein Wort auch in die Ferne gewirkt habe, der Sage wohl 
nicht allzu ferne. Hierzu fommt noch, daß fchon der Prophet 
Eliſa den Syrer Naeman durch fein bloßes Wort heilte, 
was allerdings ald Zeichen ausgezeichneter Prophetengabe ers 
jcheint (2 Kön. 5, 9 ꝛc.); allein, war nun einmal durch eine 
folche Elifa berühmt geworden, durfte der größte Prophet, 
ber Meffias, hinter ihm. zurüdbleiben? Gewiß nicht, in 


are Clan — aan noch Hans var Bühl orkilkungen N 
Detrantten Cheiten, So wurhe fehr. wahuiheinlicksäeme, alle 
Erſtawemtliche Zrzählng Vorbild unferer meusellameuluken,, > / 
re Gleiches :pilk.;nonneinen: write: und übenlieferuen ° 
Suberuheilung,, winslich non. ben. Heilung: aines Mäbihend , Arkien 
AMaotbe, ‚ein! kaunniſches Waibeſinn wu Sulfe: ARSCH 
Maotte;: wir hahe dieſe; Crzaͤhlung ſche Mderwara ive Yyge 
ee namlich Th. I, ©1199 ;:wo: —— —— 
ee ben „Heiden, ſene Die verweinen habe. a 


u u! KR Fe | u 33* 2. 














= oo. Er . . F en le 
- a i . 5 N J es, Ss —W 1,7 sic 


- ‚AR: 12, — Mär. 3; T 6; ii. 17 113 fobani 
Euf. 14, 1- 5; 13, 10,173, enbii Ih. 5, I), | 

> ‚: Ein befonberes- Inereſe nehmen. ach bie Hrilungen in 
> Ynfprucy, welche Jeſns am Sab bat verrichtetg, weiß;er. hau 
weit jedesmal bei Phariſaern :n. dgl. Anſtoß erregt, ‚Eingibep . 


ſechen wird von den drei Synoptikern erzählt; bei Allen Sicht 


Be mis dem ebenfalls aͤrgerlichen Achrenausraufen Dee. Iüngen 
in Verbindung; ‚während aber. M. und Markus Beides 
demſelben Sabbat geſchehen laſſen (M. 12, 95 Mark. 3, 1. 
verlegt Lukas ausdrücklich die Heilung auf einen andern (6,.6) 
und hat darin ‚gewiß das Nichtige, indem offenbar heibe Er⸗ 
zählungen urfprünglich nur des, verwandten Inhalts: wegen 
neben - einander geftellt wurben.. Die ſonſtigen Abweichungen 
in den verjchiedenen Erzählungen: find fehr unbedeutend, : JM, 
‚allen leidet bey, Kranke an einer „vertrodueten“ Hand; damit 
ift. nun keineswegs, wie Rationaliften, um mit ber. natürlichen 
Erklärung defto leichteres Spiel zu haben, annehmen, eine 
nur verſtauchte, fonbern, wie aug Vergleich mit 1 Kön. 13, 
4 hervorgeht, eine völlig gelähmte und erftarrte Hand gemeint, 
Ehe wir darnach fragen, wie ed möglich fei, ein ſolches 
Uebel durch ein bloßes Wort (M. 12, 13) zu heilen, wollen 
wir, da die Spitze der Erzaͤhlung doch in dem Umſtande liegt/ 
daß es am Sabbat geſchehen, noch zwei andere Heilungen der 
Art. ia unſere Betrachtung ziehen, die beide nur bei Lukas N. 
leſen find. Die. erite üft die eines Wafferfücjtigen (14, i da 
big, andere. bie. einer feit 18 Jahren gelriemwten Kun 


314 


19). Hier iſt nun zmächft.die große Achnlichkeit Diefer beiden 
mit einander auffallend, und zwar ift fie jo groß, daß ſchon 
Schleiermacher behauptet, wenn biefelben von Einem Ver⸗ 
faſſer zum erften Male aufgezeichnet worden wären, fo habe 
berfelbe nothwendig ſich wegen Wiederholung -entfchufdigen 
müſſen; nun aber müſſe man annehmen, Lukas habe: fie aus 
zwei verfchiedenen fchriftlichen Quellen eingefügt. Indeß fehen 
beide auch jener erften in manchen Stüden gar ähnlich; auf 
beiden Seiten diefelbe fchöne und bezeichnende Eentenz vom 
Thiere, dad in den Brunnen gefallen CM. 12, 115 Luk. 14, 
3); das Anflauern der Pharifüer Mark. 3, 2; uf. 14, 1); 
die Fragen Sefu, ob man am Sabbat ein Leben retten (Mark. 
3, 4) oder heilen bürfe (Luk. 14, 3); endlich, das Verſtummen 
der Pharifaer (Mark. 3, 45 Luk. 14, 4). 

* Da min, wie gefagt, in allen Erzählungen dag Sabbat⸗ 
heilet die Hauptfache ift, fo wird es, trotz der Verfchiedenheit 
- in Angabe der Krankheiten, wohl erlaubt fein, zu fragen, ob 
ihnen nicht etwa nur Ein Vorfall zu Grunde liege? Zmar 
ift e8 bei den vielen Heilungen Sefu wohl denfbar, daß er 
mehr ald Eine am Sabbat vorgenommen, — mehr ald eins 
mal Gelegenheit fand, jenes ſchöne Gleichniß anzuwenden; 
Aber eben fo denkbar, daß dieſem, ficherlich aächten, Gleich: 
niffe mehr ale eine, an fich ſchon befannte Heilung zum Rah⸗ 
men dienen, und Daß jenes Aergerniß am Sabbat bald bei 
biefer, bald bei jener gegeben und abgemiefen worden fein 
mußte, fo daß man bald eine verfrümmte Frau, bald eitten 
MWafferfüchtigen, bald einen Menfchen mit gelähmter Hand 
als die Veranlaffıng angab. Diefe VBermuthung gewinnt an 
Gewicht, wenn es fich ergibt, daß eine oder die andere diefer 
Heilungen ſich als unglaublich herausftellt. Dieß ift zunächft 
der Fall mit der des Wafferfühtigen; denn ein fo mates 
rieller Rranfheitsftoff, wie das unter der Haut angefammelte 
MWaffer, läßt fich unmöglich durch ein bloßes Zauberwort ent- 
fernen. Die Heilung eines 18 Sahre lang gefrümmten Weis 
bes durch dieſes Mittel it ebenfalls wenigftens ſehr nmwahr- 
fheinlih. Einer nähern Betrachtung bedarf in diefer Beziehung 
die erfte Erzählung, die von der geheilten Hand. 

Die Rationaliften freilicdy ind andy hier bold fertig. Bald 


as 


Tagen. fie, das Wort, weiches nur heißen kann: „Ste wurde 
zeheilt“, ‚heiße: „fie war ſchon geheilt“, umb Jeſus heilte 
alfo nicht am Sabbat, fondern erfannte nur, daß früher an⸗ 
gewandte Mittel guten Erfolg gehabt hatten (1). Bald fagen 
fie: Da die Pharifäer an der Sabbatheilung Anftoß nahmen, 
ſo muß damit: eme Merkthätigfeit, etwas Geräufcwolles ıc. 
berbumben geweſen fein; alſo eine natürliche Kur! Aber es 
it befammt, daß die"bamaligen Rabbinen nody fehr ſtreng im 
Yunfte des Sabbats waren, baß fie felbit Befchwörungeit, ja 
viele fogar Trdjtungen in Krankheiten an demfelben für 
nnerlaubt hielten. Da alſo das Heilen durch bloße Worte 
siht in Abrede geftellt werden darf, fo könnte man allenfalls 
ach: hier eine Art magnetifcher Kır annehmen. Natürlicher 
aber ſcheint es, bie: ganze Ezählung als Mythe zu fallen. 
Denn ed findet fich in einer oben angeführten altsteftaments 
lichen Stelle, 1 Kön. 13, die eine unverfennbare Mythe ent 
hält, ein zu einlabendes Vorbild, ald daß man es nicht für 
Wahrfcheinlich halten müßte, die Sefus nach folchen Prophe- 
teworbildern verherrlichende Sage habe auch dieſes Wunder 
als ein Gegenſtück felbft gebildet und zu einer Einfleidung fin 


cs mehrmals ermühnte Gleichniß von den Sabbatheilungen 
enutzt. 





Auch das johanneif he Evangelium erzählt zwei Sabs 
Atheilungen; die ſchon früher befprochene des Blindgebornen, 
Ind die noch näher zu betrachtende des am Teiche Bethesda 
Arch bloße Worte: von Jeſu geheilten feit 38 Jahren Ges 
Shmten (Joh. 5, 1—18). Der Evangelift fpricht fo bes 
Ammt aus, der Menfch -fei wirklich lange krank gewefen 
V. 5); ſo beftimmt, Jeſus habe ihn geheilt (V. 14), daß 
sie. Behauptung der rationaliftifchen Erftärer, Jeſus habe mit 
einen Worten V. 8 nur einen Betrüger, der fich krank anges 
tellt, entlarven wollen, in Nichts zufammenfällt; wir haben 
yier vielmehr wirklich ein Wunder vor und, und zwar ein 
recht auffallendes; 38 Sahre ift Jemand gelähmt,' und mit 
an paar Worten wird er wieder frifch und gefund! 

Gegen bie geſchichtliche Wahrheit der Erzählung muß 
ſchon der Umftand etwas mißtrauiſch machen, daß kein gleich⸗ 


a 


zeitiger. jübifchey. Schriftſteller der "som unſerem Evangeliſten 

als fo bedeutend geſchilderten Heilanſtalt ( V. 2—4) erwähnt. 

Entſcheidend aber iſt das, daß das Wunder dieſer Heilung 

über: alle. andern hinausgeht, da hier ein fo tief eingewurzel⸗ 

tes Hebel nur durch. das Wort eines Unbelannten (®. 13) 

plöglich ‚entfernt wird. .. Wir, haben. nämlicdyıier eine abermas 

fige- @peigerung des MWunderbaren, wie wir fie bei Johannes 

fo, oft im Gegenſatze zu den Synoptikern finden (man vergl. 

die Heilung des Blindgebornen,. die Erweckung des Lazarus 2c.); 5 
— mir ſehen auch hier das Wunder auf einen glänzenden = 

Schauplag verlegt; fo Daß wir annehmen dürfen, es liege — 

unferer Erzählung eine dunkle Kunde irgend einer von den — 

Synoptikern erzählten Heilung (etwa Mark. 2, 3) zu Orunde 

die dann weiter ausgefchmüct und zu einer Sabbatheilungggenn 

gemacht wurde, weil mit dem DBettwegtragen B. 9. ein at 

ftößiges Geräufch verurfacht zu fein fcheinen komme, welches 

die Jeſu gemachten Vorwürfe veranlaßte. 











Fuͤnftes Kapitel. 
Todtenerwedungen. 
EM. 9, 185 23—26; Marf. 5, 22—43; Luk. 8, 41—56=- 5 

ſodann &uf. 7, 11—17, und Soh. 11, 1—46.) 

Sm Ganzen finden fid, drei Todtenerweckungen in bee! 
Evangeliften; wir betrachten zuerit den befonderen Inhalt einer 
jeden Erzählung, um fodann alle drei in Bezug uf Wahr— 
fheinlichfeit und Möglichfeit des Erzählten in's Ange 
faffen. 

Die Erwedung von des Jairus Töchterlein findet fich 
bei allen Synoptifern (M. 9 ⁊c.). Zwar weichen Diefelben 
in mehreren Umftänden von einander ab, namentlich in Dem 
fehr wichtigen, daß nad) Marfus und Lukas das Mädchen 
noch lebte, als der Bater Sefum um Hilfe anflehte, und es ; 
erft ftarb, als Jeſus auf den Wege nach dem Haufe fi für | 
die Sterbende befand (Mark. DB. 23 u. 35), während bei M. 
der Vater gleich Anfangs fein Kind als geitorben bezeichnet 





317 

(B. 18); — allein dennoch haben bie neueren Ausleger gegen 
sıanche ältere Recht, wenn fie daran feſthalten, daß wir in 
zIlen Berichten fur Einer Begebenheit Erzählung vor une 
yaben. Denn wie wunderbar wäre fchon das, daß mit allen 
seiben, an fich fehon fo ähnlichen, Ermedungen die Heilung 
einer blutflüffigen Frau in Verbindung geflanden haben ſoll, 
wie: bei allen drei Evangeliſten zu Iefen iſt. Wir mälfen Das 
yer auch hier, mit Befeitigung aller weichlichen Berfuche, Durch 
Berbrehung der Worte Einftinmigfeit erzielen zu wollen, ſo⸗ 
Deich zu der Frage und wenden: Welcher Evängelift hat das 
Richtigere, Urfprünglichere? Wir entfcheiden und, wie in fo 
wielen früheren Fällen, zu Gunften des M., da die beiden 
Andern unverfennbare Spuren fpäterer, ausfchmüdender Sage 
aur Schau tragen. Dahin zählen wir, daß fie den Namen 
Des Bittftellers (Mar. B. 22) angeben, den M. (V. 18) nicht 
ennt; denn Namen find auch fonft Zuthaten der .Sage, wid 
3.2. erft weit fpätere Schriften die Namen der blutflüffigen 
Frau, der beiden mit Sefu Gekreuzigten 2c. vorzubringen wifs 
fen; — ferner andere genauere Angaben, daß das Mädchen 
eine zwölfiährige einzige Tochter gewefen fei (Kuk. V. 12); — 
befonders aber die oben ſchon hervorgehobene Abweichung. in 
Bezug auf den Zuftand des Mädchens. In der Erzählung 
des Markus und Lukas liegt nämlich eine fichtliche Steiges 
rung des Wunders: ihr gemäß leiſtet Jeſus nicht nur mehr 
als von ihm erbeten wird, ja mehr, ald man für möglid) 
hält; Luk. B. 49 fagen die Todesboten: „bemühe. ben Meifter 
nicht Cumjonft) *, während das Wunder bei M. weit weniger 
frappant erfcheint, da man gleich Anfangs nichts. Anderes von 
Sefu erwartete. Endlich wird auch in’d Myſteriöſe bei jenen 
Beiden die Sache dadurch gezogen, daß fie die erwedenden 
Morte Sefu in der Urfprache,. die er redete ?°),: gleichfam 
als Zauberworte wiedergeben (Mark. B. 41), daß Jeſus bei 
ihnen nur drei erlefene Sünger zum Schauſpiele herbeizieht 
(®. 37), und daß er den eltern das firengfte Stillſchweigen 
auferlegt (B. 43); — Mles Dinge, von welchen der fihlichtere 
M. nichts weiß: Ä Ä ae Ä 

. . . 0. o. ef 
223Siehe Anmerkung HOT 6250 








318 


Schreiten wir num zu den bisherigen :Erflärungsum 1° 
fuchen,- fo finden wir. Diefed Mal Rationaliften und Drthodere |" 
im Ganzen einig: Beide nehmen an, es babe gar: feine Tod 
tenerwecung ftatt gehabt; Sefus fage ja felbft: „Das Maͤd⸗ 
chen ift nicht geftorben, fondern fchläft“, (das heißt, if.nr 
fcheintodt) (M. V. 39). Vergleichen wir aber Joh. 11,11, |" 
wo Jeſus ganz basfelbe -von dem doch wirklich gefforbenen 1 
Lazarus (B. 39) fagt, und. erwägen wir den ganzen Zufchnikt 
der Srzählungen, namentlich das außerordentliche Auflehen, 
das die Sache! erregte (M. V. 26), fo können jene. Worte 
gar feinen andern Sinn haben, ald: „Sehet das "Mäbihen 
nicht als todt, fondern nur als ſchlafend an, da eg bald ins 
Leben zurückkehren wird“, wie auch fchon Frigfche die Stelle 
richtig. erflärt. Ueberdieß, wie leichtfinnig und. vermefien "hätte 
Jeſus gehandelt, wenn er auf die bloße Erzählung der Leute 
bin, auch wenn der Vater ihm die Kranfheitsumftände nech 
fo genau erzählt hatte, fogleich das Mädchen für nur ſchein⸗ 
tobt erklärte! Wie leicht konnte er fich irren, wenn er nicht 
ein übernatürliches Wiffen befaß, das ihm doch die Ratio⸗ 
naliften wenigſtens nicht einräumen wollen! Auch der Text 
ber Erzählung muß fchließlih noch herhalten: denn, obgleich 
die Worte „er berührte das Mädchen ıc. und fogleich ıc- 
(Mark. V. 41, 42) fo freng zufammenhängen, daß fie feirt | 
Einfchiebfel vertragen, fo foll doch zwiſchen den Zeilen zu Iefert | 
fein, Sefus habe erſt Mittel angewandt, um das Mädhert | 
aus dem Scheintode zu erwecken. Unbefangener Weite 
müffen wir vielmehr anerkennen, daß die Evangeliſten uns das 
Wund er einer Todtenerwecung geben wollten. — 






in 





Wir gehen zur ‚weiten | der und > erhaltenen Todtener- = 
wedungen, die nur bei Lukas EXap. 7) zu Iefen ift, über” — 
Wiewohl die Umftände hier etwas ſchwieriger find, fo ver 
zweifeln die Rationaliſten doch nicht an einer natürlichen Er" 
Härung.. „Jeſus mit feinen Begleitern, fagen fie, ſtieß unter 
dem Thore auf einen Leichenzug, und da die Träger 
ftanden, fo ließ er fich in ein Geſpräch mit ihnen ein Callein 
Das GStilffteben erfolgte ja erft fpäter, ald Jeſus den Sarg 


8919 


enfaßte, V. 14) 5: gerührt: durch - bie,» Erzählung derſelben, 
#röftete er die Mutter (8. 13); ex erfannte Lebenszeichen an 
Mem Ssünglinge (noch ehe der Surg geöffnet warb? !); ließ Den, 
<DBarg öffnen, wandte zweckmäßige Mittel an (von dem. Allem 
Steht ‚natürlich fein Wort im Texte); und der Süngling;genag; 
= oDt kann er nicht geweſen fein, da Sefus ihn anredet (V. 14), 
=vas min. doc, gegen Todte. nicht: thut Cdamm müſſen aber: 
Ile, die. Sefus am jüngften- Tage erwecken wird, auch. num 
<5 chyeintodte fein, da fie ja nady Joh. 5, 28 „feine Stimme 
Myören werben“). Abgeſehen von den in Diefer Aus deutung, 
Der Erzählung zu Tage liegenden puren: Erbichtungen,. wirb: 
Durch diefelbe Sefus in ein zweideutiges Licht geftellt, indem. 
Er die lauten Lobfprüche B. 16 ohne nähere Belehrung hinnahın, 
vbgleich er fie nicht verdient hatte, wenn er nur als’ Arzt 
einem : Scheintodten wieber :Bemußtfein verfchafft hatte. — 
Wir haben auch hier eine wunbexbare — Todte nmerweckung. — 





Die dritte, nämlich die des Lazarus bei Joh. Kap. 11. 
iſt die wunderbarſte von allen. Dennoch hat man verfucht, 
ſie entweder ganz oder theilweiſe als geſchichtliches Ereigniß 
feſtzuhalten. Zwar den Vorderſatz: Lazarus könne, da die 
Juden ſo ſchnell beerdigten, nur ſcheintodt geweſen, er könne 
in der kühlen Gruft (V. 17) wieder zum Leben gekommen 
ſein, muß man zugeben; allein die nachfolgenden Beweiſe 
dafür, daß es wirklich fo geſchehen ſei, ſind durchaus une 
ſtichhaltig. Jeſu Worte: „dieſe Krankheit iſt nicht zum Tode“ 
ſollen beweiſen, daß er die Krankheit nach der erhaltenen 
Nachricht V. 3 nicht für tödtlich gehalten habe, weßhalb er 
auch noch zwei Tage in Peräa blieb CB. 6). Gut; woher 
aber plötzlich die beftimmte. Verfiherung, Lazarus ſei tobt 
(V. 14) und der daraus abgeleitete Entfchluß, zu- ihm hinzu⸗ 
gehen DB. HI? Man weiß fich zu helfen; „es Fam ein zweiten, 
Bote, der des Lazarus Tod meldete, worauf aber Jeſus 
fogleich erkannte, daß er nur fiheintgdt fei* CB. 11) — alfein 
von. jenem zweiten Boten ijt nirgends eine Spur zu finden, 
und auch hier wäre Seju Zuverſicht: „ich will ihn erweden“, 
eine wahre Bermefjenheit; überdieß bezeichnet jert (don Sein 


320 


bie befchloffene Wiebererwedung ald ein willfommenes Mittel, 
die Jünger in ihrem Glauben zu flärfen (V. 15). — As 
er nun in Bethanien angelommen, fpricht ihm bes Lazarus 
Schweſter Martha zwar befcheiden, aber unzweibentig die Er⸗ 
wartung and, dap er ihren Bruder erwedfen werde (B. 21, 22) 
und Jeſus verbeißt es ihr; Daß dieß in dem etwas. ımbe- 
flimmten Ausdrude: „er fol auferftehen* (23) gefchieht, daß 
Martha darauf wieber in ihrem Vertrauen wanfend wird (2, 
und daß Jeſus fodann nur allgemein von dem Lohne des 
Glanbens fpricht (25); dieß Alles greifen nun abermals die 
natürlichen Erflärer zur Stüge ihrer Anjicht auf, Sefus denfe 
an feine wirkliche Erwedung. Allein offenbar beruft ſich 
V. 40 Sefus auf fein Verſprechen DB. 23; offenbar hatte re — 
V. 11 ſchon zuverfichtlich von der Wiederermedung gefprochen er 
und wäre alfo jebt irre geworden; und daß Martha fo bald — 
wieder ſchwankt, fann bei einem Weibe fo beweglicher Natur — 
nicht auffallen. Eben fo wenig will ed gelingen, die hierauf” 
erzählte Rührung Jeſn CP. 35) für jene Erklärungsweiſe zu — 
benügen; denn nicht fowohl der Schmerz über den vermeint— 
lihen Tod des Lazarus fpricht fich in feinen Thränen aus — 
fondern vielmehr die Wehmuth über den Unglauben der— 
Weiber. Denn nur diefer fann den innern „Grimm“ (ein—t 
Wort, welches man fprachmidrig von Unterdrüdung des — 
Schmerzedö hat nehmen wollen), von dem V. 33 die Rede — 
war, und der ſich nun zur Wehmuth herabſtimmt, in ihm et 
erregt haben. Daß die Juden (V. 36) die Thränen See - 
feiner Liebe zum Scheintodten, deffen Wiederbelebung ihm noch EI 
nicht gewiß gewefen fein foll, zufchreiben, beweist Nichte, da — 
Nichts bei Johannes gewöhnlicher iſt, als daß dieſe Juden ihn 
gaänzlich mißverſtanden. Endlich darf man ſich auch über die 

Härte, die in dem Unwillen über die Glaubensfchwäche der 

jammernden Weiber liegt, in der Erzählung eines Evangeliſten 


Klum, u 5 














nicht wundern, ber Jeſum einen Wunderſuchenden (4, 48),  ,; 
feine Zünger (6, 61), ja feine eigene Mutter (2, 4) hart ;;, 
anfahren, überhaupt jedesmal entrüftet werden läßt, wenn :n 


oder begehrlich zeigen. 


Menfchen, fein höheres Wefen verfennend, ſich kleinmüthig x 
Hat ſonach Jeſus unbeitreitbor, wacı ber Darſtellung bes 


321 


vangeliften, fchon ehe er nach Bethanien fam, bie Abficht 
habt, Lazarus zu erweden, fo fragt fi nun, wie die Er⸗ 
ihlung von der Ausführung derfelben fich der rationafiftis 
ben Annahme eines von Jeſu geheilten Scheintodes fügt. 
war geben wir zu, daß die Berficherung, Lazarus rieche 
hon, Nichts beweist, da fie nur Anficht der Martha fein 
iochte (39); aber daß Sefus, als auf fein Verlangen das 
zrab geöffnet wurde (41), fo beftimmt verfichert: „du ſollſt 
ir Herrlichkeit Gottes fchauen“ (40), dieß kann doch nur von 
er Auferftehung des Lazarus gemeint fein. Wie matt 
vaͤren die Worte, wenn fie, der natürlichen Erklärung zufolge, 
mr ganz flach hießen, man werde eine herrliche Aeußerung 
wer Gottheit erleben! wie matt gerade nad) der Berficherung 
von dem Beginne der Verwefung! ja, wie verfehrt wäre es, 
a diefelben Worte B. 4 offenbar auf eine Wiebererwedung 
ſindeuten, fie. hier in anderem Sinne zu wiederholen! — 
Daß Jeſus ferner dem Zodten erit dann das „komme heraus 
43) zugerufen, nachdem er Gott gebanft für die Erhörung 
41), fol ein deutlicher Beweis fein, daß nicht erft dieſe Worte 
a8 Wunder bewirkt, fondern daß Jeſus fehon vorher bemerft 
abe, der Scheintodte fei wieder erwacht. Allein einestheils 
cheinen diefe Erflärer nicht zu wilfen, wie oft bei Sohanneg 
olche feierliche Dankfagungen noch vor dem fichtbar ausges 
ührten Wunder vorfommen; anderntheils ftreitet ihre Annahme 
jegen den ganzen Zufammenhang. Waren die Zeichen bes 
ebens ſo auffallend, fo mußten ja auch andere Zufchauer es 
jewahr werden; waren fie fo unfcheinbar, daß nur Sefus fie 
emerkte, wie vermeflen abermals die fefte Zufage, die in ber 
ufforderung an Lazarus lag: „Eomme heraus“! Endlich. war 
8 aber auch Jeſu ganz unwürdig, die Huldigungen des Bols 
e8 anzunehmen (45), wenn er nichts .gethan, als die Wieder⸗ 
rwachung des Scheintodten zuerft bemerkt hatte! — Der Ans 
08, der in jenem Vorherfagen Jeſu liegt, it fo groß, daß 
elbft unfere natürlichen Erflärer ihn zu entfernen fuchen. 
Raulus behauptet daher, die Verkündung V. 11 fei erft 
ad) dem Erfolge von dem Erzähler zugefegt worden; bie- 
:lbe Behauptimg dehnt Gabler auch über V. 4, 15, 22 
us, und ein Anderer erklärt diefe Stellen gar fire. Inltere 


N, a 


322 


Einſchiebſel von einer fremden Kant. Mollte man aber 
eben fo mit allen andern Stellen verfahren, welche nad un 
ferer Audeinanderiekung als der natürlichen Erflärungsweile= 
ungünſtig fich erwieien haben, fo bliebe am Ende fein Steir 
auf dem andern; überhaupt darf ein Ausleger fich nie erlan— 
ben, ohne andere Grunde, einzelne Stellen nır darum übe 
Bord zu werfen, weil fie feiner Erflärungsweife nicht zufagerz 
Es haben aljo jtillicdiweigend die Rationaliiten hier zugeltare- 
den, was wir zu beweiſen fuchten, daß auch dieſe Erweckungs⸗ 
gefchichte ald eine wunderbare geglaubt, oder ihre gejchicht- 
liche Wahrheit gelaugnet werden muß. 


Hiermit find wir an Der oben angefundigten Frage ange 
langt: Sind bie erzählten Todtenerweckungen glaublich, oder 
nicht? Schauen wir zurüd! Daß Geitesfranfe oder ſolche 
Kranke, bei denen nur das. dem Geilte zunächit angehörige 
Nervenfpitem fich angegriffen zeigte, „auch theils »*2) auf 
bem geütigen Wege des bloßen Wortes, Anblidd, Eindrucks 
Jeſu, theils durch magnetifhe Ginwirfung auf die Franken 
Nerven, gebeilt worden fein mochten, auch Die Heilung ven 
Lähmungen, Blutfluß, auf demjelben Wege, fanden mir weder 
an ſich undenkbar, noch ohne Beilpiel; zweifelhafter waren 
wir fchon in Bezug auf die Blindenheilungen; bei Ausjägigen, 
Waſſerſüchtigen, fonnten wir die Heilung ung wenigftend nicht 
als eine plöbliche denken; die Geichichten von Heilungen Ents 
fernter mußten ‘wir geradezu abweiien. Und doch war hier 
immer nody Etwas vorhanden, woran die Wunderfraft Jeſu 
fich wenden konnte; es war doch noch ein Bewußtfen ın den 
Menfchen, auf welches Eindrud zu machen, ein Nervenleben, 
welches anzuregen war. Run aber bei Todten it das 
anders. Der Geftorbene, welchem Leben und Bewußtſein ents 
flohen ift, hat den legten Anfnüpfungspunft für die Eumvirkung 
des Wunderthäters verloren: ee nimmt ihn nicht mchr wahr, 


3, Ich Bann nicht umhin, dieſe ganze höchit charakteriftifche Stelle 
aus Strauß (5. 166) wörtlich hier einzuſchieben, da Berrũrzung 
derſelben faſt unmöglich if. 


323 


befommt keinen Eindrud mehr von ihm, da ihm felbit die Faͤ⸗ 
higkeit, Eindrüde zu befommen, aufs Neue verliehen werben 
muß. Diefe aber zu verleihen, oder beleben im eigentlichen 
Eine, it. eine ſchöpferiſche Thaͤtigkeit, welche von 
einem Menſchen ausgeübt zu benfen, wir unfere Unfähigkeit 
befennen müffen. * 

Bilden ſonach alle jene Wunder mit diefen Todtenerweckun⸗ 
gen eine leicht bemerkbare Stufenleiter, fo iſt dieſes zugleich 
auch der Fall mit den drei einzelnen Todtenerweckungen: 
jede derfelben fügt noch etwas Wunderbares hinzu. Der Tob 
der Jairuss Tochter wirb nur mit einem Worte angezeigt; 
auf dem Bette wird der noch warme Leichnam wieder belebt; 
— der Tüngling von Nain, fchon gänzlich erfaltet, wird im 
Sarge wieder erwedt; — Lazarus liegt fchon Tage lang in 
der Gruft, ift der Verweſung ſchon anheim gefallen, und auch 

. er kehrt durch einfachen Machtipruch in’s Leben zurüd. Alſo 
immer Eins undenfbarer, ald das Andere, wenn es überhaupt | 
im Undentbaren Stufen geben kann. 





Aber auch ganz von dem Wunderbaren abgefehen, fo iſt 
von den drei Gefchichten jede folgende theild in fi unwahrs 
fheinficher, theild äußerlih unverbürgter. - 

Unwahrfcheinlich it bei allen dreien die Wahl der auf 

erweckten Perfonen: warum gerade dieſe Drei, an ſich doch 
fü unbedeutende? warum nicht Männer, die, wie 5. B. Sohans 
nes der Täufer, der Welt noch fo viel hätten nüsen können? 
War vielleicht ihr Seelenzuftand von der Art geweien, daß 
grade für fie ein längeres Leben wünfchbar war? Davon 
feine Spur! Das einfache Mitleiden, das bei der zweiten, 
Freundfchaft, die bei der dritten Erzählung deutlich) als Grund 
hervortreten, find doc; gewiß feine hinreichenden Gründe. 
Wie Biele mögen damals geftorben fein, die vielleicht noch 
größere Anfprüce daranf hatten, wieder erwedt zu werben! 

In hohem Maße aber häuft fich das Unwahrſcheinliche 

befonders in der dritten Erzählung, der von Lazarus. Un⸗ 
begreiflich ift zunächft das Benehmen von Jeſus in mehreren 
Stüden. Warum bleibt er auf die Nachricht von Logoxvð 


324 


Krankheit nody zwei Tage fern von ihm? und body fah er 
den Tod (DB. 11) des geliebten Freundes (5) voraus. Wollte 
er vielleicht einen fruchtbaren Wirkungskreis nicht fogleich ver 
laffen? Aber dann durfte ey ja nur einige feiner Sünger zus 
rüdlafflen, oder mit feiner Wunderfraft den Krauken aus der 
Ferne heilen. Aber nein! Der Evangeliſt gibt ja felbit den 
Grund deutlich genug an; abfichtlich ließ er ihn fterben, 
Damit feine Erwedung die Sünger im Glauben jtärfe (15) 
und er, Sefus, in feiner Glorie ale Meſſias um fo mehr ver 
herrlicht werde (4). Ein ſolches willfürliches Verfahren, eine 
foihe Freude an dem Prunfen mit Wundern verträgt ſich 
aber doch mit dem edlen, großartigen Tharafter eines Jeſu 
nicht! Dieß haben auch andere Theologen eingefehen; nur 
hätten fie deßhalb nicht läugnen follen, daß Sohannes die 
Sache fo darftelle, was fich doch nicht Täugnen läßt, fondern 
eingeftehen müſſen, derfelbe erzähle und wirflid, Unglaubliches. 
— Befremdend ift gleichfalls das Gebet Sefu vor der Er⸗ 
weckung des Lazarus: denn kaum hat er ed V. 41 gefprochen, 
fo fegt er wie entfchuldigend V. 42 hinzu, nur um des Volkes 
willen bete er, da fein Verhältnig zum Vater keines Gebetes 
bebürfe. Wer aber auch nur vorzugsweije zur Erbauung Anz 
derer betet, ſoll doch und wird ganz in Mitgefühl und in 
der Stimmung dieſer aufgeben, oder fein Gebet entbehrt 
der inneren Wahrheit; follte er e8 für nöthig halten, durch 
Ueberlegung fich den Gedanken nahe zu bringen, daß er fo 
zu beten nicht nöthig habe, fo wird er dieß wenigftens leife 
thun, weil er fonft Die Andacht der Zuhörer gänzlich vernich⸗ 
ten würde. Gewiß kann aljo jener erfältende Zuſatz (V. 42) 
nicht von Jeſu felbft fein; vielmehr ift er demfelben nur von 
dem Cvangeliften geliehen worden. Warum ? ift leicht einzus 
fehen: die Lefer, für welche er ſchrieb, fonnten an dem Ges 
bete Jeſu Anftoß nehmen, da fie fchon, bei weiterer Ent» 
wicelung des chriftlichen Glaubens, ſich ein ftetiges, gleiches 
Berhältniß des Sohnes zum Vater dachten, und daher an 
einem folchen Gebete Anſtoß nehmen konnten; diefen Anftoß 
zu vermeiden, fchien der Zuſatz nöthig. Vielleicht ift aber 
auch fchon das Gebet Erfindung des Evangeliften, da ders 


325 


Felbe, wie wir bereits Th. I, ©. 243 ıc. fahen, es liebt, 
ganze Neben Sefu’in den Mund zu legen. 

Befremdend ift endlich auch das Benehmen der Jünger 
und der Juden. Gene fonnten, da ihnen ja fchon früher 
Sefus den Tod der Sairustochter unter dem Bilde des Schla⸗ 
fes vorgeftellt hatte, Sefu Worte V. 12 „er ift entichlafen“, 
unmöglich buchftäblich nehmen: aber es ift ja des Evangeliſten 
Keblingsmanier, überall die Sache fo zu ftelen, daß Sefus 
von feiner Umgebung ganz oberflächlid) mißverftanden wird! — 
Diefe, die Suden, fügen ®. 37 ihre Erwartung, Jeſu babe 
des Lazarus Tod hindern fünnen, auf die Heilung bes Blinds 
gebornen; lag es ihnen nicht viel näher, aus ben „durch's 
ganze Land befannt gewordenen * (M. 9, 26) galilätfchen 
Todtenerwedungen die Hoffnung zu fchöpfen, Sefus werde 
auch den Lazarus wieder auferweden? Aber auch bier 
verräth ſich die einfchiebende Hand des Evangeliften: ihm lag 
die fo eben (Kap. 9 erit erzählte Heilung des Blindgebornen 
noch im Sinne, darum führt er diefe an und von jenen Tods 
tenerwedtungen fcheint er nichts gewußt zu haben. 


Unverbürgt ferner it jede der drei Erzählungen in 
dem Grade, in welchem fie wunderbarer ift. Die einfachfte, 
die von bes Jairus Töchterlein, findet fich in drei Evangelien; 
jede der andern nur bei Einem. Daß die Gefchichte vom 
Süngling von Nain nicht auch von M. und Markus erzählt 
wird, ift unbegreiflih. War fie ihnen befannt, fo mußten 
fie felbige aud) erzählen, denn fie enthält ein weit auffallens 
deres Wunder, ald die von ihnen berichtete Erweckung des 
eben erit geftorbenen Mädchens. Wollten fie diefe aber 
nicht gerne weglaffen, fo hatte jene eben fo gut noch Plaß, 
wie 3. 3. bei M. noch zwei Blindenheilungen neben einem 
fchon erzählten Wunder der Art. Wir müffen aljo fchließeu, 
daß wenigftens M. die Gefchichte des Sünglinge von Nain nicht 
fannte, was und cben fo undenfbar erfcheint; denn viele 
Jünger jollen ja hier zugegen geweſen fein (uf. 7, 11) und 
Die Kunde des Gefchehenen durch's ganze Land fich verbreitet 
häben (3. 17). Diefe räthjelhafte Unkenntniß erxregt voWroeo⸗ 


326 


dig großes Mißtrauen gegen das wirkliche Vorgefallenfein ber 
Sache. Denn Schleiermacher's Bemerkung, die Evanges 
lüften haben wohl alle von ihnen erzählten Begebenheiten an 
Drt und Stelle aufgezeichnet, und da feien M. und Markus 
nicht grabe in das weniger bekannte Nain gekommen, beruht 
auf der ganz irrigen Anficht, daß folche Gefchichten an dem 
Drte, wo fie fich zugetragen, gleichfam wie todte Klumpen 
zu Boden gefallen, fo daß man fie nur grade da auflefen 
könne; während fie doch leicht und lebendig von Ort zu Drt 
fliegen, nach allen Richtungen hin fo flüchtig umherfchmeifen, 
und.das Band mit Dem Orte, wo fie vorgefallen, fo zerreißt, 
Daß fie von der Sage oft an einen ganz andern verlegt werben, 
wie wir das auch täglich erleben können. 

Noch weit auffallender aber ift ed, daß die Erweckung bes 
Lazarus von feinem Synoptifer erzählt wird. Auch hier 
müffen wir behaupten, wenn diefe fie wußten, fo mußten fie 
fie auch erzählen; denn ihre Auswahl wäre ja ganz verftands 
[08 gewefen, wenn fie das größte aller Wunder übergangen 
hätten: ein Wunder, das überdieß fo genau mıt der Entwides 
lung des Schickſales Jeſu zufanmenhing, indem es CSoh. 11 , 
47) den erften Anlaß zu den blutigen Anfchlägen auf ihn gab, 
was doch ebenfalld den übrigen Evangeliten fein Geheimniß 
fein konnte. — Doch wiffen die Theologen auch diefes Schwei⸗ 
gen auf mancherlei Weife zu erflären. Die Einen fagen, der 
Borfall fei noch zu befannt gewefen, ald daß die Synoptifer 
nöthig gehabt, ihm aufzuzeichnen; allein aledann durften fie 
noch weit weniger die allbefannten Vorfälle, Taufe, Tod und Aufs 
erftehung, aufzeichnen; ift es denn überhaupt die einzige Aufs 
gabe des Sefchichtfchreibers, nur Unbekanntes zu erzählen ? 
und nicht auch die, Bekanntes der Vergeffenheit zu entreißen? 
— Andere vermeinen dagegen, die Evangeliften haben die 
Sache nicht zu fehr befannt machen wollen, um dem Lazarus, 
der wegen derfelben fchon ſtark genug angefochten worden 
(Joh. 12, 10), nicht zu fchaden: allen, wenn auch Lazarus 
bei Abfaffung der Evangelien noch lebte, wie konnte ihm, der 
ohne Zweifel Chrijt geworden, die fehriftliche Erzählung eines 
ohnehin fehon allgemein befannten Ereigniffes ſchaden?! und 
gefest auch, durfte man ihm wicht gatranen, ex werde gerne 


327 


den wöllen um ber allgemeineren Verherrlichung Jeſu willen? 
Koch fonderbarer ift die Bemerfung, daß die Syuoptifer die 
sertrauten Verhaͤltniſſe Sefu zur bethanifchen Familie (das heißt 
m Lazarus md feinen Schweftern!) nicht haben in bie 
gemeine Tradition bringen wollen: eine bedenklich feine 
Bemerkung ! Am fonderbarften nimmt es ſich aus, Daß nas 
aentlich M. die Gefchichte darum nicht vorgetragen haben 
ſoll, weil er fich außer Stand gefehen, fie fo rührend zu er- 
fühlen, -ald fie es verdiente! 

Nein! wir müffen ehrlich geftehen , ba die Synoptifer 
bie Gefchichte nicht berichten, fo können fie unmöglich fie ges 
kannt haben. Aber auch dieſes Nichtwiſſen erfcheint uns nun 
unerklaͤrlich. Manche erklären es daraus, daß ja die. Synop⸗ 
er feine Apoftel gewefen: wenn wir auch Diefe zugeben, 
ſo folgt daraus noch nichts; denn das Ereigniß war zu aufs 
fallend, ale daß es nicht hätte in bie allgemeine Zrabition 
übergehen müffen. Auch der Einwand, daß die Synoptifer 
wr das in Galiläa Bekannte aufseichneten ‚ ift gehaltlos; wie 
kemte hier die Erwedung des Lazarus unbefannt bleiben, 
dabei ihr die, meift galiläifchen, Jünger zugegen waren, und 
fehr bald nach ihr das Pafchafeft eintrat, zu welchem fo viele 
Galiläer zur Hauptftadt famen, wo die Sache allgemein bes 
kannt war! — 

Kir können daher nicht umhin, das Schweigen der Sy⸗ 
noptiker, trotz der Bannſtrahlen mancher Theologen, zu Un⸗ 
gunſten des Johannes zu deuten, und dieſe Erweckungsge⸗ 
chichte für Die wie innerlich unwahrſcheinlichſte, fo äußerlich 
im wenigiten beglaubigte * zu halten. — | 

Um nun das Endrefultat auszufprechen, fo erfcheinen ung 
le drei Todtenerweckungen als reine Mythen, deren Ents 
tehung wir und fo erklären. Vom Meffiad wurde die Aufs 
rweckung ber Todten erwartet (Joh. 5, 28 ıc.; 1 Kor. 155 
Theſſ. 4,.16): nun war aber die Erfcheinung Sefu als Mefs 
as nach der Anficht der erften Gemeinde in zwei Hälften 
ebrochen durch Zod und. Auferftehung; er mußte Dereinft 
am zweiten Male wiederfommen, und zwar in aller feiner 
Blorie, und alsdann die Todten erweden. Allein für dieſe 
Ugenieine Todfenerwedung mußte er ſchon bei feinem eriten 


_ 


328 


Erſcheinen durch einzelne eine gewiffe Bürgfchaft gegeben ha⸗ 
ben, als Borfpiel davon, daß einft Alle in ben Gräbern 
feine Stimme hören werden (Joh. 5, 28 ıc.). Ueberdieß 
lagen dafür auch im alten Teftamente Vorbilder vor. Wie 
Sefus die Sairustochter, fo hatten auch Elias (1 Kön. 17, 17) 
und Elifa (2 Kön. 4, 18) Kinder erweckt; fogar ein bereite 
im Grabe Liegender wurde, wie Lazarus von Sefu, durch 
Elifa erwedt (2 Kön. 13, 21). Endlich dürfen wir nicht uns 
bemerft laffen, daß auch von Ayollonius von Tyana eine ber 
Erzählung vom nainitifchen Sünglinge auffallend ähnliche Tod⸗ 
‚tenerwedung erzählt wird. Erklären wir dieſe ganz unbebents 
lich für eine Nachbildung der evangelifchen, wie es ja Jeder⸗ 
mann thut, fo wäre ed ja Die größte Befangenheit, nicht auch 
die evangelifche für Nachbildung der alt-teftamentlichen zu hals 
ten, die in letzter inftanz ihren Urfprung in dem, dem ganzen 
Alterthum gemeinfamen Glauben an die den Tod bezwingende 
Kraft gottgeliebter Männer, (wie bei den Griechen Herfuleg, 
Aeskulap 2.) haben. 





Sechstes Kapitel, 
Seewunder. 
(M. 8, 23 — 27; Mark. 4, 35 - 41; Luk. 8, 22 — 26; 
ſodann M.14, 22—33; Mark. 6, 45—51; Joh. 6, 
16 — 26.) 


Da die Umgebung des galiläifchen See’s, den Synoptifern 
zufolge, der gewöhnliche Aufenthalt Jeſu war, fo kann es 
nicht befremden, daß mehrere feiner Wunder auf diefem See 
fi) ereignen. Eines derfelben, den Fiſchzug Petri, haben wir 
fchon Th. I, ©. 207 betrachtet; e8 folgen noch mehrere andere. 

Das erfte, die wunderbare Befänftigung dedg Sturmes, 
wird von allen Synoptifern erzählt (M. 8, 23 u. a). Die 
natürlichen Erflärer fuchen umfonft das Wunder wegzufchaffen, 
wenn fie behaupten, die Worte (M. 8, 26): „er drohete ben 
Stürmen * hießen nur: „er fprad) zuverfichtlichh aus, daß fie 
fofort aufhören würden“. Wein dos eigen Te wicht; und 


329 


wie follte auch Jeſus größere Kenntniffe von Wind und Wet⸗ 
ter haben, als die auf dem See gleichfam aufgewachfenen 
Petrus, Johannes u. A.? Ueberdieß hätte Sefus auch ımrebs 
lich gehandelt, wenn er Die Meinung, weldye das Aufhören 
des Sturmed in den Degleitern erregte, daß nämlic, Jeſu 
„Wind und Meer gehorchen“ (®. 27), nicht berichtigt hätte. 
Müffen wir alfo daran fefthalten, daß ung die Evange⸗ 
litten ein Wunder erzählen, fo find wir damit auf einer noch 
höheren Sproffe der Wunderftufenleiter angelommen, als bei 
der Todtenerwedungen (f. ©. 322). Denn wir fehen bier, 
daß Jeſus nicht nur auf Seele und Leib der Mienfchen, fons 
dern auch auf Die leblofe Natur unmittelbar eingewirft 
haben fol: hier reißt der Faden der Möglichkeit gänzlich ent⸗ 
zwei; „hier ſpaͤteſtens Cfofern bei Todtenerweckungen immer 
noch die Annahme des Scheintodes an fich möglich bleibt) 
hören die Wunder in dem früher bezeichneten Sinne auf und 
fangen die Mirafel an*. — Da eine ſolche Gewalt Sefu 
über die äußere Natur mit feinem Erlöfungswerfe unmittelbar 
nichts gemein hat, fo haben ihr die Supranatüraliften auf 
anderm Wege eine Beziehung zu demfelben zu geben verfucht, 
indem fie die Stürme in der Ratur ale Folgen ver — Sünde 
anfahen. Sind fie denn aber nicht, wie Gewitter u. dergl., 
wenn man fle im Zufammenhange des Ganzen betrachtet, 
wieder von den wohlthätigften Wirfungen? „und eine- Welt 
anficht, welche im Ernſte der Meinung ift, vor und ohne den 
Sündenfall würde es feine Stürme und Gewitter gegeben 
haben, ftreift — man weiß nicht, fol man fagen, an das 
Schwärmeriſche oder an das Kindifhe* Wozu aber fonft 
ſoll Sefu folhe Macht über die Natur gehabt haben? etwa 
um allgemeinen Glauben zu finden? dieſen fand er aber ja 
doch nicht! Soll fie Sinnbild der äußeren Herrfchaft 
fein, die der Menſch über die Natur auszuüben berufen ift? 
Aber ift nicht eine ſolche um fo größer, je mehr fie durch Nach⸗ 
denfen und Anftrengung vermittelt ift? fo daß Kompaß und 
Dampfſchiff diefelbe weit mehr beurfunden, als eine magifche 
Bändigung durch ein paar Worte. Und weiter: ift nicht jene 
innere Herrichaft, welche der allen Gefahren trotzende Muth 
über die Natur ausübt, iſt fie nicht die ebelite wor allen one 


330 


dern? und wirb grabe biefe nicht ganz unmöglich und zu einem 
bloßen Gaufelipiel herabgewürbigt bei einem Weſen, das die 
wunderbare Kraft in ſich trägt, der Natur mit Zauberworten 
zu gebieten? Kür ein folches gibt es feine Gefahr! 





Halten wir von Jeſu derlei Dinge fern und fragen viel 
mehr, wie entitand wohl unfere ganz fiher fagenhafte Ers 
zählung? Möglicher Weife kann Jeſus - allerdings einmal 
während eines Sturmes gefchlafen, und, nachdem er. geweckt 
worden, feine Sünger ermuthigt haben, jo Daß dann die Sage, 
getrieben durch die Vorftellung von Jeſu Weſen, und durch 
das Vorbild, welches in der von Moſes über dag (rothe) Meer 
ausgeübten Herrfchaft (2 Moſ. 14, 16, 21) lag, noch die 
folgenden Züge von dem Bedrohen des Sturmes.ıc. (die Mark. 
V. 39 am genaueften ausmalt) binzudichtete. Allein es: ift 
ohne Beifpiel, Daß die Sage, wenn fie einmal einer Erzählung 
ſich bemächtigte, den Stamm bderfelben fo ganz unverändert 
ließe; ‚daher liegt e8 näher, nur Das, daß Jeſus einmal bei 
dem Toben der Wellen den Glaubensmuth feiner Jünger aufs 
gerichtet habe, als Faktum feflzuhalten, woraus denn bie 
Sage das fchöne Bild des in Sturmesnötben fchlummernden 
Jeſu ſchuf. Am nächſten aber ſcheint ed und zu liegen, Die 
ganze Erzählung ald eine zur Mythe ausgefponnene Gleichs 
nißrede Sefu zu nehmen. So wie er dem Glauben’ finnbilds 
lich die Kraft zufchrieb, Berge zu verfegen (M. 21, 21) oder 
Bäume in den Meeresgrund zu pflanzen (Ruf. 17, 6), eben 
fo fonnte er einmal im gleichen Sinne gefagt haben: „durch ' 
den Glauben vermögt ihr den Stürmen zu gebieten“. Dieß 
mochte zu unferer Erzählung umgedichtet worden fein; um 
fo mehr, da man gerne die Kämpfe des Gottesreiches mit 
der Welt einer Fahrt durch den flurmbewegten See verglich, 
wobei Jeſus als der Lenker des fturmbewegten Schiffleing, als 
der, ber Wind und Wellen bändigte, gedacht wurde. 





Die zweite hierher gehörige Erzählung gibt und ein eben 
fo wunberbared Wandeln Jeſa auf dem See, um in bas 


- 331 
gefährdete Schiff, worin feine Tünger faßen, zu gelangen 
AM.14, 22 u 2%.) Paulus macht den kühnen Verſuch, 
bie Worte B. 25: „und Jeſus ging auf dem Meer“ zu ers 
klaͤren: „ging über dem Meer“, das heißt, an dem erhabes 
sen Ufer desfelben. Den Worten nach wäre dieſe Erflärung 
allenfalls zuläffig; dem Zufammenhange nach aber durchaus 
nicht.  Zefus kam ja dem Schiffe fo nahe, daß er mit dem 
- Süngern redete (V. 27), und doch befand fich jenes mitten 
auf dem See, oder, wie Joh. 6, 19 genauer fagt, gegen 
1%, Stunden vom Ufer entfernt; wie fonnte da-Sefus von 
diefem aus mit den Jüngern reden? Und tritt nicht. auch 
Petrus zu Sefu auf das Waffer hinaus (V. 29)? kam er 
nicht in Gefahr, unterzufinfen (V. 30)2 was doch wohl auf: 
dem Ufer nicjt möglich war. Andere benfen bei dem Wan⸗ 
dein ıc. an Schwimmen; allein bei'm Sturme 1%, Stunden 
weit zu ſchwimmen, iſt Doch gewiß unmöglich, und ein Schwim⸗ 
mer kann nicht. wohl wie ein Geſpenſt (V. 26) ausſehen! 
Paulus entſchuldigt feine gezwungene Deutung dadurch, daß 
ein ungewöhnlicher oder falfcher Gebrauch von Worten immer 
moch denfbarer fei, als ein fo unerhörtes Wunder. Ganz 
recht! allein diefer Gegenſatz ift falfch geſtellt; denn Daraus, 
Dad ein Wunder erzählt wird, folgt nod) nicht, daß es 
auc gefchehen fei. Richtiger ohne Zweifel fehren wir den 
Sat um, und fagen: „Es ift weit denkbarer, daß Menfchen, 
wie fo fehr zum Wunderglauben geneigt find, in einem Fake. 
tum ein Wunder erbliden, ale daß ſie ganz widerſi nnig ſich 
ausgedrückt haben ſollen“. — 

Ehe wir nun die ganze Erzählung beurtheilen , müffen 
wir in jedem einzelnen Berichte die Unwahrſcheinlichkeiten auf⸗ 
ſuchen. Eine ſehr auffallende findet ſich bei Markus, indem 
er ſagt, Jeſus habe auf dem Meere „an dem Schiffe vor⸗ 
übergehen wollen“ (6, 49): alfo wollte er den Bebrängten 
nicht helfen, fondern nur vermöge feiner göttlichen Kraft über 
den See gehen, wie über’ feften Boden. Gibt es, fagt fchon 
Paulus, etwas Zweckloſeres und Abenteuerlicheres, als ein 
folches Wunder zu thun, ohne gefehen zu werden? In der 
That fchimmert hier Die Vorftellung hindurch, daß Jeſus, auch 
‘ohne weiteren Zwed, fchon gewohnt war, der Kocye wegen 


332 


über Wafler, wie über feften Boden hin, feinen Weg zu ne» 
men: doch wohl eine der ftärfften Uebertreibungen, die in 
diefem Epangelium ſich finden! — Nicht minder ſeltſam it 
bei M. der Zug, daß auch Petrus auf Jeſu Geheiß einm 
ähnlichen, -nicdyt gut gerathenen Verſuch macht, im Glauben 
an Jeſu Hilfe (V. 29, 30). Konnte Sefus auch Andern de 
‚nur ihm inmohnende Kraft ohne Weiteres mittheilen, fo hört 
er auf, Menſch zu fein; unterbrach er aber Die Naturgefee 
fo ganz unnüß, nur um ein Gelüften ;u befriedigen, fo flimmt 
dieß zur Weisheit Gottes fehr wenig. Doch können wir 
leicht auffinden, wie diefer offenbar mythifche Zufaß entſtand. 
Bekannt war ed, daß Petrus vor der Verläugnung fich eine 
größere Glaubensſtärke zutraute, ale er wirklich befaß, daß 
er ganz gefunfen wäre, hätte Jeſus feinem Glauben nicht 
aufgeholfen uf. 22, 31 ꝛc.); wie leicht konnte die Erzählung 
von diefer Glaubensprobe in das Bild vom muthigen, gläubis 
gen Wandeln auf der See, welche ja, wie wir oben fahen, 
ein Sinnbild der argen Welt war, fich einfleiden; — wie 
leicht dieſes Bild wieder zur Erzählung eines wirklichen Fak⸗ 
tums verfnöchern ! 

Auch des Tohannes Bericht bietet ung einige unbegreifs 
liche Eigenthümlichfeiten dar. : Statt daß bei den andern 
Evangelien Jeſus wirklich in das Schiff fteigt, wollten ihn 
bei Sohannes die Sünger zwar hereinnehmen, allein es unters 
blieb, weil dag Schiff ſchon zu nahe dem Lande war (6, 21). 
Man hätte diefe Wendung durch falfche Worterflärung wegzu⸗ 
deuten nicht verfuchen, vielmehr anerkennen follen, daß hier 
Sohannes das Wunder noch mehr fteigerte, ald Markus; denn 
während diefer ſchon Sefu die Abficht zufchreibt, daß Schiff 
nicht zu befteigen, läßt Johannes dieß wirklich auch fo ge: 
ſchehen! — Weiterhin fucht er das Wunder noch mehr zu 
beglaubigen, indem er es vor allem Volke gefchehen läßt (22). 
Das Bolf nämlich, welches von Sefu an dem einen Tage 
diesfeitd des Sees gefpeist worden war (26), fand ihn ander 
Tages ſchon jenfeits des Sees, und konnte nicht begreifen (V. 25), 
wie er dahin gefommen; denn in das Yahrzeug der Jünger 
war er nicht gefliegen, ein anderes war nicht da gewefen (8. 22) 
und zu Lande konnte er in der kurzen Zeit nicht an's jenfeitige 





| 


833 


Ufer gekommen fein.: Wir unfererfeits koͤnnen nicht begreifen, 
wie das Bolt dahin gekommen; denn wäre von dem Volke, 
das aus fünftaufend Menfchen beftand CB. 10), auch nur ber 
fünfte Theil über den See gefahren, fo hätte es, falls es ſich 
gewöhnlicher Fifcherfühne bediente, eine ganze Flotte ‚nöthig 
gehabt, oder wenn es größere Fahrzeuge benuße;: fb mußten 
dieſe ſaͤmmtlich, was undenkbar ift, ihre Richtung nad) Ka⸗ 
pernaum (17) genommen haben. Es ift daher kaum zweifel⸗ 
haft, daß dieſe Volksüberfahrt nur hinzugedichtet wurde, um 
eine bedeutende Controle zu gewinnen, bie das Wunder dee 
Seewandelns beglaubigen ſollte. — 


Geben wir aber auch alle dieſe einzelnen Auswüchſe bes 
Wunderhaften auf, fo bleibt immer der Stamm ſelbſt übrig, 
das Gehen auf dem Meere. Sit ein folches irgend denkbar? 
Dem Olshaufen darauf antwortet, „an einer höheren 
tehlichfeit, gefchwängert mit Kräften einer höhern Welt, bürfe 
ine ſolche Erfcheinung nicht auffallen“, fo find das Worte, 
bei denen man fic Nichts denken farm. Daß die Alles ver- 
Märende Kraft eines höheren Geiftes fich an dem Körper nur 
ſo äußere, daß derfelbe den natürlichen Gefeßen der Schwere 
entzogen werde, und nicht vielmehr durch völlige Herrſchaft 
über irdiſche Begierden, iſt eine offenbar viel zu ſumliche, um 
Richt zu fagen unwürdige, Vorftellung. Wenn aber Jefu Körs 
Per dieſe Eigenfchaft wirklich befaß, warum zeigte er fie noch 
licht bei der Taufe im Jordan, wo er untertauchte, wie ein ge 
Döhnlicher Menſch? Wie Vieles ließe fich noch frägen , um 
as Berfehrte jener abenteuerlichen Anficht in's Licht zu fegen! 

Es ift indeß nicht ſchwer einzufehen, wie unfere Mythe — 
enn etwas Anderes ift ed doch wohl nicht — entitehen Eonnte. 
Bir haben darin nur eine andere Variation des beliebten 
zildes, daß die Gewalt, die Gott-und die mit ihm Einigen 
ber die Welt ausüben, . gleich fei der Uebermacht über ‚die 
ſenden Meeregwellen. Daher das Verjagen des rothen 
Reeres durch einen: Winf des Mofes bei dem Durchzuge der 
fraeliten; daher das noch größere YBunder des Meerwandelns 
uch Sefum, mag es num aus einem zur Geſchichte, umge⸗ 


33% 


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#..2 zuier German Farmer deribreen wueifältig, 
se lee Eerautamer > Staunen. ie m einzelmen 
Zs13eI, me zetizger mν Imre, daß ſie fer 
parsenid 2 Irermg germier Nmbıldlichen Reden 
serie, zareı ler >= Serarz zu Srande lag, daß der 
Flırıı kr ee Smü ee lurer me die Made ber 
ten Herde Seces nierertender Zell der Sieg davon trage- 


Es bliebe u md utrz die Geikichte ven dem Fiſch 


wir tem Stater (TR 17): dieeibe bar ibre eigentbümlicher 
Echwier gketcen. — ih Tich Meralle x. in dem Mager⸗ 
eines Fries iher werıermter baben, jo iſt dech ein Geh 
ſtück in tem Munde des Faches, zmul wem er nach der 
Augel ſchucevt V. 77), enmas Unerhoertes; uw jo wunderbarer” 


baber, daß eins es voraus mußte. Und Dame wozu dieſes 
jehfame Wunder? War auch vielleicht Damals Bein Gelb in 


335 


3er gemeinfchaftlichen Kaffe, fo hatte ja Jeſus grade im 
zrapernaum fo viele Freunde. Daher find die natürlichen Aus⸗ 
‚eger eifrig bemüht, das: Wunder zu entfernen; fie verfuchen 
auch hier ihre Kunft in Verdrehung der Worte. Dadurch 
bringen fle ftatt des fonnenklaren Sinnes von V. 27, wo es 
heißt: „wenn du ihm (dem Fifche) den Mund geöffnet, wirft 
du einen Stater finden“, heraus: „öffnen ihm fogleidy Das 
Maul, nachdem du ihn aus. der Angel genommen, bamit er 
om Leben bleibe, und dann wirft du einen Stater für ihn 
loͤſen“; — gleich als hätte der Fiſcher Petrus ſolche An⸗ 
weiſung nöthig gehabt!. Da es nun ferner unglaublich iſt, 
daß in dem fifchreichen Kapernaum Ein Fifch um fo hohen 
Preis follte verkauft werden können, fo werden die Worte: 

„den erften Fisch, den du aufhebit, nimm heraus“, fo ges 
wendet: „nimm allemal den Fifch, der dir zuerſt aufſtößt, und 
fo fort, bis du genug haft“! 

Es muß alfo beim — Wunder bleiben! da es aber fo 
chenteuerlich ift, fo fönnen wir um fo weniger baran glauben. 
Bahrfcheinlich ift es ein Ausfluß des beliebten Themas von 
Petri Fifchzug: Petrus war in der Sage einmal der Fifcher; 
manch’ glücklichen Yang that er, manchen, in bildlihem 
Einne, follte er noch thun; in unferer Erzählung verkörpert 
bie, diefe Vorftellung umfpielende, Sage die erhafchte Koftbars 
tet zu baarem Gelbe, und zwar als leichte Beute in dem 
Munde des Fiſches. Daß es gerade eine jur Tempelfteuer 
othwenbige Münze war (B. 24), mag feinen Grund vielleicht 
in irgend einer Aeußerung Jeſu haben. — „In dieſen mährs 
Senhaften Ausläufer endigen die Seeaneldoten*. — 


Siebentes Kapitel 
Die Speifung der Tauſende. 
M. 14, 13— 21; Mark. 6, 30 —44; Luk. 9, 10— 17; 
Joh. 6, 1—15; fodann M. 15, 3239; Mark. 8, 
1140.) 

In den nun. folgenden Erzählungen wirkt Jeſus nicht nur 
Tuf die lebloſe Natur, ſondern fogar auf künſtlich verarbei⸗ 
wie Raturprobufte ein: alſo eine abermalige Steigerung! 


2‘ 


336 


„Jeſus vermehrt zubereitete Nahrungsmittel auf wunder, 
bare Weife, um eine übergroße Menſchenmenge fättigen u 
fünnen“: — fo erzählen alle Evangeliiten „mit feltener &w | 
ftimmigfeit * (f. oben); und zwar gefchah es nach dem.Zeuguiß | 
der beiden erſten zweimal (f. oben). Diefe letztere Erzählung 
weicht aber von der eriten in vielen einzelnen Zügen ab, na 
mentlich in dem Verhältniß zwifchen dem Speifevorrath und 
der gefpeifeten .Menfchenmenge, das erfte Dial werden 5000 
. mit I Broden und 2 Fifchen CM. 14, 17, 21), das zweite 
Mat 4000 mit 7 Broden und wenigen Fifchen (15, 34, 38) 
gefpeist; jedoch flimmen beide Erzählungen nicht nur im Ve 
fentlichen, .fondern auch in fo vielen einzelnen Zügen mit eins 
ander. überein, Daß fie offenbar Darftellungen nur Eines 
Faktums find. Beide Male dasfelbe Lokal, dieſelbe Veran 
laffung des Wunderg, diefelben Speifenz beide Dale ift Sefus 
troß der Einrede der Tünger zur Speifung geneigt; gleich it 
endlich der Hergang und das Nefultat, daß weit mehr übrig 
bleibt, als Anfangs da war. Hierzu kommt, daß cs, wen 
zwei wunderbare Speifungen vorgefallen wären, unbegreiflid 
fein würde, wie auch dad zweite Mal die Sünger an ber 
Möglichkeit derfelben zweifeln konnten (15, 33), mochte auch 
fchon lange Zeit feit der erften verfloffen fein. Man Eönnte 
etwa einwenden, es feien in der Ueberlieferung manche Züge 
aus der einen in Die andere. übergegangen, wodurch fie denn 
einander fo ähnlich geworden; allein auch bei diefer, noch 
unerwiefenen, Annahme bleibt die Aehnlichkeit zu groß, um 
eine zweimalige Speifung wahrfcheinlich zu finden, zumal da 
von einer zweiten nur M. und Marfus etwas. wiffen. 

Daß fie aber dennoch fo beſtimmt von zweien erzählen, 
erflärt ficy) am einfachften fo. Don dieſer Einen Speifung 
waren einmal abweichende Erzählungen im Umlaufe; beide fand 
M. (denn ‚von Marfus kann nicht weiter die Rede fein, dA 
er befanntlic das Meifte aus M. und Lukas fchöpfte) vor; 
bemüht, fein ihm befannt gewordene Wunder verloren gehen 
zu laffen, nahm er beide Erzählungen auf, ohne eine firenge 
vergleichende Prüfung vorzunehmen. Bei dieſer Annahme 
fällt auch der wiederholte Zweifel der Sünger nicht mehr auf, 
da jede Ueberlieferung diefen Zug ‚beibehalten hatte. Wert 


337 


dagegen Olshauſen einwendet, die zweite Erzählung fei ja 
nicht wunderbarer und ausgefchmüdter, als Die erfte, während 
doch dieß fonft überall bei einer fpäteren Sage ber Fall 
fii; der Evangelift wäre ja aud) unredlich geweſen, wenn er 
Eine Gefchichte für zwei ausgegeben hätte: fo beweist dieß 
mr, Daß jener Theolog das Wefen der mythiichen Auslegung 
wicht begriffen hat. Wer behauptet denn, die zweite Erzähr 
lung fei auch Die fpätere Sage, weil M. fie erft nadı der 
erften vorbringt? Konnte ihn nicht die in der Ueberlieferung 
gegebene Berbindung mit andern Borfällen beftimmen;, : fie 
grade dahin zu ftellen, wohin er fie ftellte? Der Evangelift 
mredlich? Ald wenn Er Die Doppelte Daritelling Eines 
Borfalles gemacht, und nicht vielmehr mit fchlichter Gewiffen« 
baftigkeit nur darum zwei Erzählungen gegeben hätte, weil er 
fie eben in der Sage vorfand und fchon wegen der abwei⸗ 
chenden Zahlenverhältniffe ganz ehrlidy glauben mochte, es 
haben wirklich, zwei Speifungen ftattgefimden! Kommt doch 
ch im alten Teſtamente der Fall vor; daß z. 3. die Ges 
ſchihte von der Tränfung aus dem Felfen zweimal erzählt 
wird (2 Mof. 17 und 4 Mof. 20), nur mit einigen Berändes 
rungen. 

Wir ſchreiten nun zu der Unterſuchung, ob die wunderbare 
Speiſung nach den in beiden Darſtellungen wiederkehrenden 
Zügen möglich und denkbar ſei? Um dieß bejahen zu kön⸗ 
um, behaupten die Supranaturaliften, es ſei dieſes Wunder 
ch, wie Kranfenheilungen, „vermittelt“ worden durch den 
Slauben ber Gefpeistenz; das fönnte doch wohl nur fo- viel 
reißen: wie Die Kranken durch den Glauben gefund, fo wur⸗ 
en hier die Hungrigen durch denfelben gefättigt.. Demnach 
mißte alſo Jeſus auch ohne Äußere Mittel, nur durch un⸗ 
tittelbare Einwirkung auf den Magen der Hungrigen das 
Bunber der Speifung verrichtet. haben! Allein es wurden ja 
irklich Speifen vertheilt; Jeder genoß, fo viel er wollte, 
nd es blieb noch mehr übrig, ald vor dem Eſſen vorhanden 
ar. Iſt dieſe Vermehrung auch durch den Glauben der 
'efättigten bewirkt oder „vermittelt“ worden? Solche nebels 
ufloffene Sprache kann ung nicht hindern, in der ganzen 
eichichte ein Wunder: zu erbliclen, durch welches unmittelbar 


11. 272 


338 


auf die vernunftlofe Natur eingewirft worden fen fell; 1. _ 
Dieß üt aber befouberd darum jo unbenfbar, weil bavurh |" Iete 
eine Dermebrung von tedten Gegenitänden bis in's Unge⸗ 
beure bewirft worden ware. Zwar jeben wir eine ſolche and 
in der Natur vor jich geben, aber nur in Folge eines regel⸗ 
mäßigen Naturprozeiled von Keimen, Blüthen und Früchte 
tragen. 

Ein jolcher Naturprozeß ſoll nun auch vorliegendes Wun⸗ 
der jein, nur ein jehr beichleunigter, mas ja nicht zum Un⸗ 
denkbaren gehöre. Allein nur dann konnte von einem beſchlen⸗ 
nigten Raturprozefle Die Rede jein, wenn in Stein Hand em 
Korn ſchnell taujendfültige Fruchte getragen hätte, und dieſe 
tchnell gereift wären; wenn er mit immer vollen Händen bie 
Koörner den Hungrigen zu weiterer Zubereitung bingejchüttet 
hätte: oder wenn eben fo in jeinen Händen die Eier in Dem 
Xeibe eines lebenden Fiſches plotzlich ausgegangen umd de 
Heinen Fiſchchen ſchnell herangewachſen wären. Allein was 
hier vermehrt wurde, war ja nicht mehr reined Natur pres 
Duft, kein lebendiges, jondern ein tedtes, zu einem Kunfls 
produkt umgewandeltes! Wenn alje ein beichleimigter wirkli⸗ 
ıher Naturprozeß bier hätte vorgeben jellen, was mußte 
Alles geſchehen? Zuerit mußte Jeſus Das unerhörte Mirakel 
verrichten, und aus dem Brode wieder Komer machen, dam 
in aller Eile aus ihnen Halm und nene Körner hervorwachſen 
laſſen und endlich die getrennten mechanifchen Berrichtungert 
des Muller und Bäders in einen Ru verrichten! Das ware 
etwa theilweije „befchleunigter Naturprozeß * geweſen. Wie 
man doch fo mit den Morten jpielen mag! — Und nım wei⸗ 
ter: in weiten. Hand ſoll denn diejer Bermehrungsprozeß vor 
ſich gegangen fein? In der Hand des empfangenden Bolfe € 
Pit welcher, fait fomijcher, Behutſamkeit hätten dann Jeſue 
und jeine Sünger Brod und Füche in die allerfleiniten Krim 
chen und Bröckchen tbeilen müſſen, Damit ja Seder eins erhielt ⸗ 
um es in feiner Hand zu großen Stüden anſchwellen zu laſ⸗ 
fen! — In der Hand Sein? um von den Süngern zu fchweigen = 
dann könnte es auf zwiefache Weiſe zugegangen jein. Ent 
weder theilte er ganze Brode und Fiſche aus, wobei ſogleich⸗ 
wieder andere nachwuchſen; dem it aber der Tert entgeger® 





339 


(Joh. 6, 13). Ober er brach Stüde von beiden ab, die 
ſich fofort wieder ergänzten; ‚wer vermöchte fich aber Brode 
su denken, die wie Schwänme immer wieder aufichwellen, ober 
Bratfiiche, denen, wie den Krebfen die Scheeren, die Fleiſch⸗ | 
ſtücke wieder nachwachſen? — — 


Wir wollen nun ſehen, ob wir uns mit den Rationaliſten 

beſſer vertragen können. Dieſe faſſen die Sache fo: „Aus 
Joh. 6, 4 wird es wahrſcheinlich, daß der größere Theil der 
Menge aus einer Feſtkarawane beftand und Daher Speifevor- 
väthe bei fich hatte; viele Andere aber hatten nichts, und 
darum fing Jeſus an, von dem Seinen dag Entbehrliche. zu 
sertheilen; fein Beifpiel fand Nachahmung, und fo war er 
‚mit dem Wenigen, was er hatte, die Urfache, daß Alle fatt 
wurden. * Allein diefer Erklärung fehlen doch gar zu viele 
Vittelglieder, die man fich geradezu hinzudenfen muß: nicht 
Feſus allein vertheilt damı, auch Leute des Volkes; nicht nur 
ku, auch Anderer Borrath füttigt die Bedürftigen, wovon 
der Tert nichts weiß. Zwar wird auch die wunderbare Ver⸗ 
mehrung nicht ausdrücklich gemeldet, aber fie ergibt ſich doch 
aus dem Erfolge, dem großen Ueberrefte, von felbft. Aber 
eben dieſen Leberreft erklärt diefe Erklärung auch hinweg durch 
gewaltiame Behandlung der Worte. Es wird genügen, in 
diefer Beziehung nur anzuführen, daß die Worte Soh. 6, 13, 
die aufs allerunzweideutigfte ausfprechen, man habe das, was 
don den fünf Broden übrig geblieben fei, gefammelt, damit 
nichts umfonıme, fo gedreht werden, als ob das Sammeln 
dor der Mahlzeit gefchehen wäre! ben fo fträuben fich die 
Worte der andern Evangelien, 3. B. M. 14, 20, gegen ſolche 
Sewaltthat.. — Nein, das Wunder bleibt! 

Für Die gefchichtliche Wahrheit der ganzen Erzählung,‘ wo- 
Ion wir nun reden müffen, führt man man zunächft die feltene 
Ichereinftimmung aller vier Evangelien an; allein dieſer 
Srund iſt fehr ſchwach. Denn, um von Geringerem zu ſchwei⸗ 
Jen, das ‚vierte Evangelium ftellt einen wichtigen Punft ganz 
widerd dar, als die übrigen. Es ift bei ihm Jeſus fihon 
Alsbald bei dem Anblicke des Volkes entfchloffen, eine wun⸗ 


332 


über Waſſer, wie über feften Boden hin, feinen Weg zu nehs 
men: body wohl eine der flärffien Lebertreibungen, die in 
diefem Evangelium ſich finden! — Nicht minder ſeltſam ift 
bei M. der Zug, daß aud Petrus auf Sefu Geheiß einen 
ähnlichen, nicht gut gerathenen Verſuch macht, im Glauben 
an Sefu Hilfe (V. 29, 30). Konnte Sefus auch Andern bie 
‚nur ihm inwohnende Kraft ohne Weiteres mittheilen, fo hört 
er auf, Menſch zu fein; unterbrad, er aber die Naturgefeße 
fo ganz unnütz, nur um ein Öelüften ‚u befriedigen, fo ftimmt 
dieß zur Weisheit Gottes fehr wenig. Doc, können wir 
leicht auffinden, wie diefer offenbar mythifche Zufaß entitand. 
Bekannt war ed, daß Petrus vor der Verläugmung ſich eine 
größere Glaubensſtärke zutraute, als er wirklich befaß, daß 
er ganz gefunfen wäre, hätte Jeſus feinem Glauben nicht 
aufgeholfen Auf. 22, 31 ꝛc.); wie leicht konnte die Erzählung 
von diefer Glaubensprobe in Das Bild vom muthigen, gläubis 
gen Wandeln auf der See, welche ja, wie wir oben fahen, 
ein Sinnbild der argen Welt war, ſich einfleiven; — wie 
leicht diejes Bild wieder zur Erzählung eines wirklichen Fak⸗ 
tums verfnöchern ! 

Auch des Sohannes Bericht bietet und einige unbegreifs 
lihe igenthümlichfeiten dar. Statt daß bei den andern 
Evangelien Sefus wirklich in das Schiff fteigt, wollten ihn 
bei Sohannes die Jünger zwar hereinnehmen, allein ed unters 
blieb, weil das Schiff ichen zu nahe dem Lande war (6, 21). 
Man hätte dieſe Wendung durch faliche Worterflärung wegzus 
deuten nicht verjuchen, vielmehr anerkennen jollen, daß bier 
Johannes das Wunder noch mehr jteigerte, ald Markus; denn 
während biefer jchon Jeſu die Abjicht zujchreibt, daß Schiff 
nicht zu beiteigen, lüßt Sohannes dieß wirklich audı jo ges 
ſchehen! — Weiterhin jucht er das Wunder noch mehr zu 
beglaubigen, indem er es vor allem Bolfe gejchehen lapt (22). 
Das Volk nämlich, weldyes von Seju an dem einen Tage 
diegjeitd Des Sees geipeist worden war (26), fand ibn andern 
Tages fchon jenjeits des Sees, und konnte nicht begreifen (V. 25), 
wie er babin gefommen; denn in das fahrzeug der Jünger 
war er nicht geftiegen, ein anderes war nicht Da geweien (B. 22) 
und zu Lande konnte er in der turen Zex vicht au's jenjeitige 


833 


Ufer gefommen fein. Wir unfererfeits können nicht begreifen, 
wie das Bolt dahin gefommen; denn wäre von dem Bolfe, 
das aus fünftaufend Menfchen beftand V. 10), audy nur ber 
fünfte Theil über den See gefahren, fo hätte es, falls es ſich 
gewöhnlicher Fiicherfähne bediente, eine ganze Flotte nöthig 
gehabt, oder wenn es größere Fahrzeuge benuße;: ſo mußten 
diefe fümmtlih, was undenkbar ift, ihre Richtung nach Ka⸗ 
pernaum (17) genommen haben. Es ift daher kaum zweifel- 
haft, daß dieſe Volksüberfahrt nur hinzugedichtet wurde, um 
eine bedeutende Gontrofe zu gewinnen, bie das Wunder des 
Seewandelns beglaubigen follte. — 


Geben wir aber auch alle dieſe einzelnen Auswüchſe bes 
Wunderhaften auf, fo bleibt immer der Stamm ſelbſt übrig, 
das Gehen auf dem Meere. ft ein folches irgend denkbar? 
Wenn Dishaufen darauf antwortet, „an einer höheren 
Leiblichfeit, gefchwängert mit Kräften einer höhern Welt, dürfe 
eine ſolche Erſcheinung nicht auffallen“, fo find das Worte, 
bei denen man fich Nichts denken kann. Daß die Alles ver 
flärende Kraft eines höheren Geiltes fi an dem Körper nur 
fo äußere, daß derfelbe den natürlichen Gefeßen ber Schwere 
entzogen werde, und nicht vielmehr Durch völlige Herrſchaft 
über irdiſche Begierden, iſt eine offenbar viel zu ſinnliche, um 
nicht zu ſagen unwürdige, Vorſtellung. Wenn aber Jefu Körs 
per diefe Eigenfchaft wirflic, befaß, warum zeigte er fie noch 
sicht bei der Taufe im Jordan, wo er untertauchte, wie ein ges 
wöhnlicher Menfh? Wie Vieles ließe ſich noch fragen, um 
das Berfehrte jener abenteuerlichen Anſicht in's Licht zu fegen! 

Es ift indeß nicht fchwer einzufehen, wie unfere Miythe — 
denn etwas Anderes ift ed doc; wohl nicht — entitehen Eonnte. 
Wir haben darin nur eine andere Variation des beliebten 
Bildes, daß die Gewalt, die Gott und die mit ihm Einigen 
über die Welt ausüben, gleich fei der Uebermacht über ‚Die 
tofenden Meeregwellen. Daher das Berjagen des rothen 
Meeres durch einen Winf des Mofes bei dem Durchzuge der 
Sfraeliten; daher Das nod) größere Wunder des Meerwandeind 
durch Jeſum, mag ed nun aus einem zur Geidiigte ware 


* 


334 


ftalteten Gleicjniffe, oder aus Nachbildungen altsteftamentlicher 
Erzählungen entftanden fein; etwa der in 2 Kim. 2, 14 u. 
.2 Kön. 6, 6 enthaltenen. Ueberdieß willen auch andere morgens 
laͤndiſche Sagen von Wunderthätern zu erzählen, die über das 
Waſſer fchritten, wovon griechiſche Schrifiſteller mehrere Bei⸗ 
ſpiele anführen. 


(Joh. 21. u. M. 17, 24—27.) 

Die dritte Seeanekdote findet fi in dem anerkannt 
unächten 21 Kap. bed Johannes, wo Jeſus nach ber Aufers 
ftehung feinen Süngern zum dritten Male erfcheint; fie ift 
unverkennbar nur aus Bruchſtücken der fo eben betrachteten 
Erzählungen und der von dem Fifchzuge Petri zufammengefegt, 
aber in abenteuerlicyer Verwirrung. Auch hier wird Sefus 
in nächtlihem Dunkel vom See aus erblidt (®. 4), und zwar 
am Ufer; — eben fo Furcht vor ihm (12); — ein Entgegen 
fommen Petri (7); — ein wunderbarer Fifchzug Desfelben 
(8 x.) und Anderes. Zwar find alle diefe Züge natürlicher, 
wie in den größeren Gefchichten, als deren Bruchftüce mir 
fie betrachten; allein dafür ift die Zufammenftellung um fo 
räthfelhafter, und das Ganze überdieß ein Nachklang des 
größten Wunders, der Auferftehung. — 

Alle bisher behandelten Erzählungen berühren vielfältig, 
bei aller Verfchiedenheit der Handlungen, fi in einzelnen 
Zügen, und beftätigen dadurch unfere Anficht, daß fie fehr 
wahrfcheinlich ihren Urfprung gewiffen finnbildlichen Neben 
verbanfen, denen allen der Gedanke zu Grunde lag, daß ber 
Glauben über die Gewalt der Natur und die Macht der 
dem Reiche Gottes widerfirebenben Welt den Sieg davon trage. 


Es bleibt und noch übrig die Gefchichte von dem Fiſch 
mit dem Stater CM. 17): dieſelbe hat ihre eigenthümlichen 
Schwierigkeiten. Wenn ſich auch Metalle 2c. in dem Magen 
eines Fifches fchon vorgefunden haben, fo iſt doch ein Geld» 
ſtück in dem Munde bes Fifches, zumal wenn er nach .der 
Angel ſchnappt V. 27), etwas Unerhörtes; um fo wunderbarer 
baher, daß Jeſus es voraus wußte. Und dann wozu dieſes 
feltfame Wunder? War auch wieleict bamals kein Gelb in 


335 


der gemeinfchaftlicyhen Kaffe, fo hatte ja Jeſus grabe in 
Kapernaum fo viele Freunde. Daher find die natürlichen Auss 
leger eifrig bemüht, das: Wunder zu entfernen; fie verjuchen 
auch hier ihre Kunft in Berbrehung der Worte. Daburd) 
bringen fie ftatt des fonnenflaren Sinne von V. 27, wo es 
heißt: „wenn bu ihm (dem Fifche) den Mund geöffnet, wirft 
. du einen Stater finden“, heraus: „öffnen ihm fogleich das 
Maul, nachdem du ihn aus: ber Angel genommen, bamit er 
am Leben bleibe, und dann wirft bu einen Stater für ihn 
löfen“; — gleich ald hätte der Fifcher Petrus ſolche Ans 
weifung nöthig gehabt!. Da es nun ferner unglaublich iſt, 
daß in dem fijchreichen Stapernaum Ein Fiſch um fo hohen 
Preis follte verkauft werben können, fo werben die Worte: 
„den eriten Fifch, den du aufhebſt, nimm heraus“, fo ges 
menbet: „nimm allemal den Fifch, der bir zuerft aufftößt;, und 
fo fort, bis du genug haft“! | 
Es muß alfo beim — Wunder bleiben! da es aber fo 
abenteuerlich ift, fo fünnen wir um fo weniger baran glauben. 
MWahrfcheinlich ift es ein Ausfluß des beliebter Themas von 
Petri Fiſchzug: Petrus war in der Sage einmal der Fifcher; 
manch’ glücdlichen Fang that er, manchen, in bildlihem 
Sinne, follte er noch thunz in unferer Erzählung verförpert 
die, dieſe Vorftellung umfpielende, Sage die erhafchte Koftbars 
teit zu baarem Gelde, und zwar als Teichte Beute in dem 
Munde bes Fiſches. Daß es gerade eine zur QTempelfteuer 
nothwendige Münze war (B. 24), mag feinen Grund vieleicht 
Un irgend einer Aeußerung Jeſu haben. — „In dieſen mährs 
<henhaften Ausläufer endigen Die Seeanefdoten*. — 





Siebentes Kapitel. 
Die Speifung der Tanfende, 
AM. 14, 13— 21; Mark, 6, 30 — 44; Luk. 9, 10— 17; 
oh. 6, 1—15; fodann M. 15, 3239; Mark, 8, 
1— 10.) 
In den nun folgenden Erzaͤhlungen wirkt Jeſus nicht nur 
auf die lebloſe Natur, ſondern ſogar auf künſtlich verarbei⸗ 
tete Raturprobufte ein: alſo eine abermalige Steigeruna. ° 


— 


336 


„Jeſus vermehrt zubereitete Rabrungsmirtel auf wınder; 
bare Weiſe, um eine übergroße Menichenmenge jattigen zu 
können“: — fo erzählen alle Evangelüten „mit jeltener Eins 
flinmmigfeit * (f. oben); und zwar geichab es nach bem Zeugniß 
der beiden erſten zweimal (ij. oben). Dieſe legtere Erzählung 
weicht aber von ber eriten in vielen einzelnen Zügen ab, nas 
mentlid in dem Berhältmiß zwiſchen dem Speiſevorrath und 
der geipeileten Menjchenmenge; das erjie Dial werden 5000 
mit 5 Broden und 2 Fiichen CM. 14, 17, 21), das zweite 
Mal 4000 mit 7 Broden und wenigen Füchen (15, 34, 38) 
gefpeist; jedoch flimmen beide Erzählungen nicht nur im We⸗ 
fentlichen, fondern auch in fo vielen einzelnen Zügen mit eins 
ander überein, daß fie offenbar Daritellungen nır Eines 
Zaftums find. Beide Male dasjelbe Lokal, diejelbe Veran⸗ 
lafjung des Wunderg, diefelben Speiſen; beide Male it Jeſus 
troß der Einrede der Jünger zur Speijung geneigt; gleich iſt 
endlich der Hergang und das Reſultat, daß weit mehr übrig 
bleibt, als Anfangs da war. Hierzu fommt, daß cd, wenn 
zwei wunderbare Epeifungen vorgefallen mären, unbegreiflich 
fein würde, wie aud) das zweite Mal die Sünger an der 
Möglichkeit derfelben zweifeln konnten (15, 33), mochte auch 
ſchon lange Zeit feit der erjien verflojien fein. Man Fönnte 
etwa einwenden, es feien in der Lieberlieferung manche Züge 
aus der einen in Die andere. übergegangen, wodurch fie denn 
einander fo ähnlich geworden; allein auch bei diefer, noch 
unerwiefenen, Annahme bleibt die Achnlichkeit zu groß, um 
eine zweimalige Speifung wahrſcheinlich zu finden, zumal Da 
von einer zweiten nur M. und Marfud etwas. willen. 

Daß fie aber dennoch fo beftimmt von zweien erzählen, 
erflärt fi) am einfachften fo. Don Diefer Einen Speifung 
waren einmal abweichende Erzählungen im Umlaufe; beide fand 
M. (denn von Marfus kann nicht weiter die Nede fein, da 
er befanntlic das Meifte aus M. und Lukas fchöpfte) vor; 
bemüht, Fein ihm befannt gewordenes Wunder verloren gehen 
zu lafien, nahm er beide Erzählungen auf, ohne eine firenge 
vergleihende Prüfung vorzunehmen. Bei biefer Annahme 
fällt aud) der wiederholte Zweifel der Sünger nicht mehr auf, 
da jebe Ueberlieferung diefen Zug beibehalten hatte. Wenn 


337 


dagegen Olshauſen einmendet, ‚Die zweite Erzählung fei ja 
nicht wunderbarer und ausgeſchmückter, als die erfte, während 
doch dieß fonft überall bei einer fpäteren Sage ber Fall 
fei; der Evangelift wäre ja auch unreblich geweſen, wenn er 
Eine Gefcichte für zwei ausgegeben hätte: fo beweist dieß 
nur, daß jener Theolog das Wefen der mythiſchen Auslegung 
nicht begriffen hat. Wer behauptet denn, die zweite Erzähs 
lung fei auch die fpätere Sage, weil M. fie erft nach der 
erften vorbringt? Konnte ihn nicht die in der Ueberlieferung 
gegebene Berbindung mit andern Borfällen beftimmen;, : fie 
grade dahin zu ftellen, wohin er fie ſtellte? Der Evangelift 
umredlich? Als wenn Er die doppelte Darftelling Eines 
Borfalles gemacht, und nicht vielmehr mit fchlichter Gewiſſen⸗ 
haftigfeit nur darum zwei Erzählungen gegeben hätte, weil er 
fie eben in der Sage vorfand und fchon wegen der abmeis 
chenden Zahlenverhältniffe ganz ehrlich glauben mochte, «8 
haben wirklich zwei Speifungen flattgefunden! Kommt doch 
auc im alten Zejtamente der Fall vor; daß z. B. die Ges 
fehichte von der Tränfung aus dem Felfen zweimal erzählt 
wird (2 Mof. 17 und 4 Mof. 20), nur mit einigen Verändes 

rungen. 
Wir fchreiten nun zu der Unterfuchung, ob die wunderbare 
Speifung nach den in beiden Darftellungen wiederkehrenden 
Zügen möglich und denkbar ſei? Um dieß bejahen zu füns 
nen, behaupten die Supranaturaliften, es fei diefes Wunder 
auch, wie Kranfenheilungen, „vermittelt“ worden durch den 
Glauben der Gefpeisten; das könnte doch wohl nur fo- viel 
heißen: wie die Kranken durch den Glauben gefund, fo wur⸗ 
ben bier die Hungrigen durch denfelben gefättigt.- Demnach 
müßte alfo Sefus auch ohne Außere Mittel, nur durch un⸗ 
mittelbare Einwirkung auf den Magen der Hungrigen das 
under der Speifung verrichtet. haben! Allein es wurden ja 
wirklich Speifen vertheilt; Jeder genoß, fo viel er wollte, 
und es blieb noch mehr übrig, als vor dem Eifen vorhanden 
war. Iſt diefe Vermehrung auch durch den Glauben der 
Sefättigten bewirkt oder „vermittelt“ worden? Colche nebels 
aımflofjene Sprache fann ung nicht hindern, in ber ganzen 
Geſchichte ein Wunder zu erbliclen, durch) weldyed vmmittelber 

Jı. 22 


338 


auf Die vernunftlofe Natur eingewirft. worden’ fein fol. 
Dieß ift aber beſonders darum fo ımdenfbar, weil dadurdy 
eine Bermehrung von todten Gegenitänden bis in’d Unge⸗ 
heure bewirkt worden wäre. Zwar fehen wir eine ſolche anch 
in der Natur vor fid) gehen, aber nur in. Folge eines regel- 
mäßigen Naturprozefles von Keimen, Blüthen und Früdıtes 
fragen. - . Zr 

Ein ſolcher Naturprogeß fol nun auch vorfiegendes Wun- 
der fein, nur ein fehr befchleunigter, was ja nicht zum Un⸗ 
denfbaren gehöre. Allein nur dann fönnte von einem befchleu- 
nigten Naturprozeſſe die Rede fein, wenn in Jeſu Hand ein 
Korn ſchnell taufendfältige Früchte getragen hätte, und Diefe 
ſchnell gereift wären; wenn er mit immer vollen Händen bie 
Sörner den Hungrigen zu weiterer Zubereitung bingefchüttet 
hätte: oder wenn eben fo in feinen Händen die Eier in dem 
Leibe eines lebenden Fiſches yplöklicyh ausgegangen und die 
Beinen Filchchen fchnell herangewachfen wären. Allein was 
bier vermehrt wurde, war ja nicht mehr reines Natur pro⸗ 
dukt, fein lebendiges, fondern ein todtes, zu einem Kunfts 
produkt umgewandeltes! Wenn aljo ein beſchleunigter wirflis 
cher Naturprozeß bier hätte vorgehen follen, was "mußte 
Altes geſchehen? Zuerft mußte Jeſus das unerhörte Mirakel 
verrichten, und aus dem Brode wieder Körner machen, bann 
in alter Eile aus ihnen Halm und neue Körner hervorwachſen 
laſſen und endlich die getrennten mechanifchen Verrichtungen 
des. Müllers und Bäderd in einem Nu verrichten! Das wäre 
etwa theilweife „befchleuntgter Naturprozeß * gemwefen. Wie 
man doch fp mit den Worten fpielen mag! — Und num weis 
ter: in weſſen Hand fol denn diefer Bermehrungsprozeß vor 
ſich gegangen fein? Im der Hand. des empfangenden Volkes? 
Mit welcher, faft Fomifcher, Behutfamfeit hätten dann Jeſus 
und feine Jünger Brod und Fifche in die allerkleinften Kruüm⸗ 
en und Bröddyen theilen müſſeu, damit ja Jeder eins erhielt, 
um es in. feiner Hand zu großen Stüden anfchwellen zu lafs 
fen! — In der Hand Sefu? um von den Jüngern zu ſchweigen: 
dann könnte es auf.zwiefache Weiſe zugegangen fein. Ent—⸗ 
weder theilte er ganze Brode und. Fiihe aus, wobei ſogleich 
wieber andere nachwuchſen; dem it ober ber Tert entgegen 





Aa Tu m u u We u 


350 


(Soh. 6, 13). Ober er brach Stüde von beiben ab, die 
ſich fofort wieder ergänzten; ‚wer vermöchte fid) aber Brode 
zu. denken, die wie Schwänme immer wieder aufichwellen, oder 
Bratfiiche, denen, wie den Krebfen die Scheeren, die Fleiſch⸗ 
ftücfe wieder nachmachen?! — — 


Wir wollen nın fehen, ob wir ung mit den Rationaliſten 
beffer vertragen können. Diefe faffen die Sache fo: „Aus 
oh. 6, 4 wird es mahrfcheinlich, daß der größere Theil ber 
Menge aus einer Feftfaramane beftand und daher Speiſevor⸗ 
räthe bei fid) ‚hatte; viele Andere aber hatten nichts, und 
darum fing Sefus an, von dem Seinen das Entbehrliche:. zu 
vertheilen; fein Beilpiel fand Nachahmung, und fo war er 
mit dem Menigen, was er hatte, die Urfache, daß Alle fatt 
wurden. * Allein diefer Erklärung fehlen doch gar zu viele 
Mittelglieder, die man ſich geradezu hinzudenfen muß: nicht 
Jeſus allein vertheilt dann, auch Leute des Volkes; nicht nur 
fein, auch Anderer Borrath füttigt die Bedürftigen, wovon 
der Tert nichts weiß. Zwar wird auch Die wunderbare Ver⸗ 
wmehrung nicht ausdrüdlich gemeldet, aber fie ergibt fid) Doc 
aus dem Erfolge, dem großen Leberrefte, von felbft. Aber 
eben diefen Ueberreſt erklärt diefe Erklärung auch himveg durd) 
gewaltjame Behandlung der Worte. Es wird genügen, in 
Diefer Beziehung nur anzuführen, daß die Worte Joh. 6, 13, 
die auf's allerunzweideutigfte ausfprechen, man habe das, mag 
von ben fünf Broden übrig geblieben fei, gefammelt, damit 
nichtd umkomme, fo gedreht werden, als ob das Sammeln 
vor der Mahlzeit gefchehen wäre! Eben fo fträuben fich die 
Worte der andern Evangelien, 3. B. M. 14, 20, gegen folchye 
Gewaltthat. — Nein, das Wunder bleibt! 

Für Die gefchichtliche Wahrheit der ganzen Erzählung,’ wo⸗ 
von wir nun reden müfjen, führt man man zunäcdhft die feltene 
Uebereinjtimmung aller vier Evangelien anz allein dieſer 
Grund ift ſehr ſchwach. Denn, um von Geringerem zu ſchwei⸗ 
gen, das vierte Evangelium ftellt einen wichtigen Punkt ganz 
andere dar, ald die übrigen. Es ift bei ihm Jeſus fihon 
alebald bei dem Anblide des Volkes ent{cyloffen, cur wu 


340 


derbare Speifung vorzunehmen (Joh. 6, 5 1c.); die andern 
' geben ald weit natürlichern Grund die Verfpätung des Volles 
an. Wie abenteuerlic nämlich, wenn Sefus fo ohme alle 
Roth ein Wunder thun wollte, nur. um es zu thun! „sch 
fann es nicht ftarf genug ausjprechen, wie unmöglich hier dag 
Eſſen Sefu erfter Gedanke fein, wie unmöglich er dem Bolfe 
- fein Speifungswunder in diefer Weife aufbringen fonnte!* — 
Ueberhaupt aber müflen wir nachfehen, da ung feine Erflärung 
irgend befriedigen fann, ob nicht eine unhiftorifche Entfiehung 
unferer Erzählung denkbar fer. 

Zunächſt könnten die finnbildlichen Reden vom Himmels⸗ 
brode, welche bei Joh. 6, 26 ꝛc. unmittelbar durch die Spei— 
ſung veranlaßt werden, zu der Vermuthung führen, daß um⸗ 
gekehrt die Reden ſich zu einer wunderbaren Speiſungsgeſchichte 
verkörpert hätten; allein dem widerſprechen die Synoptiker, 
die zwar auch bildliche Reden dieſer Art, z. B. vom Sauer⸗ 
teige der Phariſaer, haben, dieſe jedoch in fo beſtimmte Ver⸗ 
bindung mit einer ſchon vergangenen Speiſung bringen, 
daß man nicht zweifeln kann, von jenen Reden iſt dieſe Ges 
ſchichte ganz unabhängig. Weit näher liegt es, dieſelbe als 
Nachbildung alt⸗teſtamentlicher Erzaͤhlungen zu betrachten. — 
Die bekannte Geſchichte von dem Manna in der Wüſte 
(2 Moſ. 16), die wunderbare Sendung der Wachteln (4 Moſ. 
4) führten leicht zu dem Glauben, auch der Meſſias werde 
ſich durch Aehnliches und Größeres als ſolcher erweiſen: wirk⸗ 
lich war es rabbiniſche Vorſtellung, daß auch dieſer Himmels⸗ 
brod verleihen werde. Selbſt in einzelnen Zügen treffen die 
alt⸗ teſtamentliche und neu⸗teſtamentliche Speiſung zuſammen: 
beide in der Wüſte, beide Folgen des Mangels; beide werden 
dort von dem Volke, hier von den Jüngern, für unmöglich 
gehalten. Allein die nächſten Vorbilder liegen doch wohl in 
den prophetifchen Erzählungen, wo gleichfall8 von Bermehs 
rung des Speifevorrathed die Rede it: fo vermehrt Elias 
wunderbarer Weife den Delvorrath der Wittwe (1 Kön. 17, 
8 ıc.); Elifa fpeist mit wenigen Broden 100 Menfchen, wo: 
bei auch noch viel übrig bleibt (2 Kön. 4, 42 20.) — nur 
daß, wie dieß ſich fait von felbft veriteht, das Speifewunder 
Sefu ungleich auffallender it, als die genannten. Endlich 


34. 


erzählten auch jüdische Schriftteller fpäterer Zeit von heiligen . 
Männern, die mit wenigen Schaubroden zur Sättigung der 
Priefter bis zum Ueberfluß ausreichten: betrachtet man aber 
ſolche Erzählungen einftimnig als Miythen, warum. nicht auch 
die evangeliſche ? | 





Achtes Kapitel, 
Die Verwandlung des Waſſers und die Berwänfchung 
des Feigenbauntes. 


(Joh. 2, 1—11,) 


Jener Speifungsgefchichte fehließt fich die Verwandlung 
des Waſſers als ein wieder um einen Grab höher ftehendes 
under an. Dem es ift immer noch denkbarer, daß ein 
Borhandenes auch bis in's Ungeheure vermehrt, ale daß es 
in eine anz anbere Subſtanz verwanbelt werde, wie bieß 
in unferm Wunder der Fall ift. Denn hätte Sefus urplötzlich 
aus Most Wein gemacht, fo fünnte dieß noch der Vorftellung 
nahe gebracht werden, weil die Verwandlung nur Befchleunis 
gung des natürlichen Ganges, nicht, aber gänzliche Umwand⸗ 
Jung des Stoffes wäre: wie aber Waffer zu Wein werden 
Tonne, der einem ganz andern Naturreiche angehört, Dieß 
überfteigt alle Gränzen des Denkbaren. Demohngeachtet neh« 
men auch hier die Supranaturaliften. einen „befchleunigten Nas 
turprozeß“ an. — Sa, wenn: Sefus ‚einer Nebe geboten hätte, 
fchnell zu blühen und Trauben zur Reife zu bringen, dann 
wohl; und aud, dann müßte noch eine unfichtbare Fünftliche 
Berrichtung, das Keltern, hinzukommen: allein hier wird aus 
Waſſer Wein entwidell. Wohl, fagt man, fo ift ed ja auf 
langfamerem Wege in der Natur auch; denn Waſſer, das ale 
Regen, Than, Feuchtigkeit der Erde ıc. auf die Nebe einwirft, 
ift es, was die Traube, aljo den Wein, zur ‚Entwidelung 
bringt. Hier aber ftedt eine arge, arge Verwechslung von 
Urfache und Beranlaffung im Hintergründe. Allerdings 
fann die Zraube ohne den Einfluß des Waſſers und anderer 
Elemente fid) nicht entwideln, dieſe find die bewegende Ber: 
anlafjung, welche die Bildung hervorruft; allen in der dan 


312 


thümlichen Natur ber Rebe liegt die eigentliche, nethwendige 
Urfache, daß durch jenen Einfluß grade die Traube und nichts 
Anderes zum Borfchein fommt: in der Rebe ift die Traube 
gleihfam ſchon als Keim vorhanden, — daher fann das Waſ⸗ 
fer, je nad) dem Gegenitand, auf welchen es günftig einwirkt, 
unendlich Vielerlei zur Entwidelung und Reife bringen, die 
Rebe aber fann, wenn alle Einflüffe günftig einwirken, nur 
Trauben ald Frucht and fich erzeugen. Wer alſo bloß aus 
Waſſer Wein madıt, läßt, mit Umgehung der nothwendi⸗ 
gen Urſache, nur aus der Beranlaffung die Wirfung bervors 
gehen, was anzunehmen widerfinnig wäre, da es ohne Urfache 
feine Wirkung geben kann; eben fo widerfinnig, wie wenn 
man behauptete, and bloßer Erde Brod machen zu fünnen. 

Sollen aljo die Worte „befchleunigter Raturproseß “ eints 
gen Sinn haben, will man ſich die Sache einigermaßen zurecht 
legen, fo müßte man folgende Turchgangsftufen annehmen: 
1. Jeſus muß außer Wafler auch die übrigen einwirfender 
‚Elemente (alle Beranlaffungen), 2. er muß unfihtbar Rebe 
Cals nothwendige Urfache) herbeigefchafftz fedann 3. den na— 
türlichen Entwidelungsprozeß der Traube ımgemein befchleunigt — 
4. die Fünftliche Verrichtung des Kelterns ſchnell vorgenom — 
men, und endlich 5. abermals einen Naturprozeß, das Gaͤh— 
ren, befchleunigt haben: dann erjt hätten wir den Wunder— 
wein! — Wer aber könnte fih einen folchen Prozeß audi 
nur dunkel denfen! — 

Zu dieſer totalen Undenfbarfeit kommen noch mehrere ein 
zelne, die wir fofort kurz betrachten. — Erſtlich hatte Dag— 
under feinen Sefu würdigen Zweck: wenn auch der Vor⸗— 
wurf, daß er der Trunfenheit damit Vorſchub gethan, unbes= 
gründet ift, fo bleibt doch immer der Anftoß, daß fein PBuns— 
der nur der finnlichen Luft diente, gleichſam ein Luxuswunder 
war. Dadurdy aber den Glauben feiner Sünger befördern 
zu wollen, kann nicht als zureichender Zweck betrachtet werden, 
da fich dieſer fo vielfältig, ohne etwas zu verlieren, auch 
mit einem wohlthätigen verbinden ließ. Hatte ja doch Jeſus 
eben erft den Satan (bei der Verfuchung) zürnend abgewmiefen, 
als er ein bloßes STanzmunder von ihm verlangte! Um die, 
fen Vorwurf abzulehnen, haben dohee wonde Theologen 


343 


behauptet, Jeſus habe einen Zweck gehabt, den er chen mır 
durch Diefes Wander erreichen konnte; nämlich ſinnbildlich 
durch Waſſer und Wein den Gegenfaß feiner Taufe, derZaufe 
des Geiſtes, zu ber: Waflertaufe des Täufers anfchaulich zu 
machen :und.zugleidy feinen neuen Süngern, die zum Theil. von 
Sohannes herfamen, zeigen wollen, daß er die alle Lebens- 
freuden verdammenden Anfichten desfelben nicht theile. Allein 
dann hätte er dieß mit einigen Worten andeuten und. erläutern 
müſſen; wie nothwendig dieß war, geht ſchon daraus’ hervor, 
daß der Evangelift. gar nichts daven gemerft hat, fonbern dag 
Wunder einfach ale „Offenbarung feiner Herrlichkeit“ (V. 11) 
>etrachtet. — Zweitens war. mif diefer Bermandlung doch des 
Buten etwas zu viel gefchehen: denn die 2—.3 Maaß, bie 
ieber der 6 Krüge enthielt (V. 6), betragen zufammen ‚wenn 
man das griechifche Wort „Metrete“, in feiner wahren Bes 
Deutung nimmt, etwa 250 — 375 unferer Maaß: und zudem 
war die Gejellfchaft.nicht mehr beim erften Glas.(®B. 10). — 

Auch das Verhältniß zwifchen Jeſus und feiner Mutter 
hat, wie es fich hier zeigt, manches Anffallende. Die erftewe 
zählt augenfcheinlich darauf, daß ihr Sohn. hier ein Wunder 
werrichten werde (B. 3, 5), und Doch war e8 das erfte, wo⸗ 
zmit er öffentlich auftrat (11). Woher diefe Erwartung? 
Hatte Jeſus ſchon im Stillen, vor der Taufe, under ger 
han? Dieſe Annahme könnte uns leicht in bie mißlichen 
Kindeswunder der apofryphifchen Evangelien verwideln. Ober 
Hatte Maria von den bei Sefu Geburt gefchehenen Zeichen 
her die Ueberzeugung, er fei der Mefitas, und müſſe demnad; 
auch Wunder thun? Allein eben Diefe .Zeichen find ja, wie 
wir früher fahen, jo wenig verbürgt. Oder hatte Jeſus der 
Mutter fchon vorher verfprochen, dieß Wunder zu verrichten ? 
Aber auf dem Wege nach dem Felte kann dieß nicht gefchehen 
fein, weil er da noch nicht willen fonnte, daß Mangel an 
ein eintreten werde. Auf dem Feſte ebenfalls nicht, da er 
ja vielmehr der Mutter auf ihre leife Aufforderung (V. 3) 
eine ablehnende Antwort gibt; oder fol er neben dieſer laut 
gefprochenen eine andere, grade entgegengefeßte, ihr in's Chr 
gefagt haben? Es bleibt ‚demnach unerflärt, wie beharrlich 
(5) Maria bier ein Wunder erwarten Tonnte. — Aufallend 


.344 


hart ift endlich Ssefu Antwort (4): wie mochte er doch ber 
liebevollen, leifen Anfrage der Mutter ſo begegnen, dba er fo - 
oft felbft zubringliche Anfpracdyen um wunderbare Heilung x. _ 
freundlicy aufnahm? Er durfte ed hier um fo weniger, Dom 
er ja wirklich alsbald der Bitte der Mutter entfprady! 


Um allen diefen Anftänden zu entgehen, fucht die natür = 
liche Deutung alles Wunderbare wegzufchaffen: „Nach her⸗ 
gebradhter Sitte, fagt fie, brachte and) Jeſus zur Hochzeit ein 
Geſchenk an Wein; dieß will er zum Scherze auf geheimnißs 
volle Reife anbringen; die Mutter wußte darum, mahnt ihn, 
er aber erinnert fie fcherzend, ihm den Spaß nicht zu ver- 
derben (!). Das Waflereingießen (V. 7) mochte zum Scherz 
gehört haben; wie nun aber auf einmal der Wein zum Bors 
ſchein fam, läßt fich nicht genau mehr fagen, aber in fpäter 
-Radıtftunde, wo fchon viel getrunfen worden, mochte eine 
folchye Ueberraichung leicht zu machen fein; die Herrlichkeit 
und der Glaube, den er fich Dadurch verfchaffte C 11), find 
nichts Anderes, ald die bewundernde Anerfennung feiner harm⸗ 
Iofen Menſchenfreundlichkeit; wie er aber die Sache angeftellt, 
durfte er, um bie fcherzhafte Täuſchung beftehen zu laſſen, 
nicht jagen.“ — Aber grade hier liegt die verwundbare Stelle 
der artigen natürlichen Gefchichte! Seinen Süngern doch we⸗ 
nigfteng mußte er die Täuſchung benehmen! und Dieß geichah 
nicht, denn unfer Evangelift ftellt die Sache ganz wie ein 
Wunder hin, nennt fie ein Zeichen, das Jeſu Herrlichkeit 
a8 heißt in feiner Sprache feine meffianifche Würde) offens 
barte, und wiederholt nody gar 4, 46 ganz beftimmt, in Kana 
habe Sefus „Wafler zu Wein gemacht“. Wie es aber eigents 
lich mit dem fogenannten Scherze zugegangen, willen die nas 
türlichen Erflärer felbft nicht zu fagen, und derjenige, ber 
vermuthet, Jeſus habe heimlich eine Art Liqueur in’s Waſſer 
gegoffen, erklärt den Spaß noch am fpaßhafteften! 

Beiderlei Erflärungsverfuche löfen alfo das Raͤthſel nichts 
der einzige Ausweg bleibt, die Erzählung für eine Mytbe 
zu halten, wozu wir um fo mehr veranlaßt find, da fidy nur 
bei Johannes diefelbe findet, deun enthielte fie wirklich das 


erſte Wunder Sein, fo bleibt es .unbegreiflich, wie ſie ben 
andern: unbelannt geblieben fein kann. Weit erflärlicher ift 
ihr Urfprung als Mythe. Wafferverwandlungen finden fidy 
auch in ber altshebräifchen Sage von Moſes (2 Wof: 17, 120.35 
7, 17 x.; 14, 23), von Simfon (Richt. 15, 18), von Elia 
(2 Kön. 2, 19 ıc.), und wurden aud) ganz beftimmt vom 
Meſſias erwartet, wie aus rabbinifchen Schriften hervorgeht. 
Daß nun daraus grade eine Verwandlung des Waſſers in 
Wein fid) herausbildete, mag daher kommen, daß man dem 
Meiftas zwar aud) eine totale Veränderung der Subſtanz, 
aber doc zum Guten, zufchreiben mußte, wo fich dann 
Wein von felbft darbot. Diefe Miythe nun erzählt Johannes 
ganz in feinem Geiſte; ihm ift es eigen, wie er es auch 
hier thut, Jeſu Erhabenheit über alle Bittenden (B. 3, vergl. 
4, 48) recht grell hinzuftellen, fo wie den unerfchütterlichen 
Glauben derfelben an feine Wunderfraft (V. 5). | 


(M. 21, 18 - 22; Mark. 11, 12 —14 u. 20 — 23.) 

Die Geſchichte vom unfruchtbaren Feigenbaume wird 
von M. und Marfus (ſ. oben) erzählt, jedoch mit manchen 
Abweichungen, wobei die Darftellung des Markus einer 
natürlichen Erflärung befonderd günftig zu fein ſcheint. 
Während nämlih M. den Feigenbaum ,fogleich" nach Jeſu 
Berwünfchung CB. 19) verdorren läßt, ift dieß bei Marfus 
erft am andern Morgen gefchehen (®. 2075 daher halten fich 
die rationaliftiihen Ausleger mit vorzüglicher Zuneigung an 
ihn, und erklären alſo: „Jeſus fah, daß der Baum bald abr 
fterben müffe, fagte daher, von Dem werde auch wohl Niemand 
mehr Früchte leſen; 5i8 zum andern Tage war er wirklich 
durch Einfluß der Hige ıc. verdorrt; die Sünger, bieß bes 
merfend, erinnern ſich der Worte Sefu und deuten diefe nuns 
mehr ald Verwünſchung (21), was übrigens diefer nicht 
billige, wielmehr gebe er der Sache eine andere Wendung (22).* 
Aber diefe Auslegung ift, auch wenn wir den Markus allein 
im Auge behalten, unzuläßig. Sefu Worte laffen fich gar nicht 
anders, wie als Befehl faffen, demnad als Berwünfchung 
(nody ftärker bei M. V. 19), was auch ſchon Das geraitiar 


346 


„in Ewigkeit* anbeutet. Ueberbieß fagt er ja andy zu feinen 
Süngern, er habe Etwas an dem Baume „gethan“, und vers 
gleicht fein Thum: mit dem Bergeverfeten (MM. B. 21); hätte 
er ihn: aber nicht verflücht, fo mußte er, falls er nicht täufchen 
wollte ;’ nothwendig feine Sünger, die die Sache boch fo 
nahmen (Mark. V. 21), eines Befjeren ‚belehren, oder er hätte 
die Täufchung der Sünger mißbraucht. 

Es bleibt und alfo nichts übrig, als den Hergang als 
ein wirkliches Wunder feſtzuhalten, deſſen äußere Unmöglich⸗ 
keit wir gar nicht beſonders herausheben dürfen, da es auch 
von einer andern Seite her, von Seiten des Charakters 
Jeſu, durchaus undenkbar if. Er hätte hier nämlich ein 
Strafmwunder verrichtet, wie wir fie fo häufig in den apos 
kryphiſchen Evangelien finden; in unfern aber findet. ſich 
hicht- nur nirgends ein foldyes, fondern es fpricht fich auch 
Sefus Luk. 9, 55 auf das Bellimmtefle Dagegen aus; da 
nämlicy, als feine Jünger von ihm verlangen, er möge auf 
das Dorf, das ihnen Aufnahme verweigerte, Feuer herabregnen 
laffen. Und nun follte er an einem Baume Rache nehmen! 
Strafen können ja bei leblofen Gegenftänden nicht allein einen 
moralifchen, den der Beflerung, fondern nicht einmal den 
niederen Zwed, den der Vergeltung, haben, da diefe Gegen: 
fände nicht zurecdinungsfähig find; gegen ſolche, wenn fie und 
nicht befriedigen, zu eifern, oder gar im Zorn fie zu zerftören, 
wird mit Necht für roh und unmürdig gehalten. Sind fie 
gänzlich unbraudhbar, fo fchafft man fie zwar hinweg, um 
Befleren Platz zu machen; allein nur, wenn Nichts mehr von 
ihnen. zu hoffen ift, was ja bei einem Baume, der Ein Jahr 
ohne .Früchte bleibt, nicht der Fall iſt; und überdieß fommt 
dieß nur dem Eigenthümer zu. — Noch mißlicher wird die 
Sache durch den Zufab bei Marf. B. 13: „denn ed war nod) 
nicht die Zeit der Feigen“ (d. h. ihrer Reife); aljo wäre der 
Baum ganz unfchuldig gemefen, und wir müffen uns nur 
mundern, wie Sefus über das Fehlichlagen einer widerfinnigen 
Erwartung fich fo fehr ereifern fonnte. Diefen Anftoß haben 
alle Ausleger gefühlt, und daher die mannichfachiten Berfuche 
gemacht, denfelben durch Fünftliche Wendungen zu entfernen. 
Einige fagen, die Worte ſeien (päterer, unächter Zuſatz; Das 





——&& nunerlaubieſtr · Afitlel No See Rey 
venfen:Wefelben ſo Kite, bisnſle vem Sut hercncbriutraiſ 
ho er ( Jeſus) ſich damals befand, ba waren die Feigen 
“| ober machen aus den Worten eine Frage „Barum 
EP Wiederum Andere nehmen bie" Warte, EN 
Meifer” Cf’obeit) in dem Simme Zeit der Ernte, 
%, rben weil die Ernte noch nicht’ Horüber War! 
w aim Baume Feigen erwaren Allxin dieſe Worte werden 
richt ale: Grund ſeiner Erwartung angeführt, föhbetrt feiner 
uſch ang, und der’ Satz enthlete min“ nach dieſet Ertla⸗ 
K den‘ Bnfim: Et · fand Nächte, als Slätter denn die 
mer Erilte war nöd richt vorüber· 1 Beer — 
æere ibs zu machen /· iwenn fie. das griechiſche Wort, d 
Wer bedeutet, tm Sinne von ——— ei nehmen — 
% 98h" günfliger Boden’ da“ "piep Epic" wi 
rr viel beſſer endlich die ae, es war kein F 
h? gürfkiger Tahrgärge,) Märe Lestere‘ (CHEIAHIHE 
$; fo Kitnte man wicht begreifen, wie dieß Jeſus nicht 
vbiwiſſen follen, oder wie er, benn er 68 mußte, jtch über 
Bdum' ereifern konnte "5 "Allein wir "bitfen, ſtatt 
e: ‚geidaltfämen ' Erklaͤrimgen nur daran erihnehn, ‚dag 
irkus diefen Zufag hat, der in’ ſeinem Beſtreben zu vers 
Yanfichen bekanntlich nicht immer glucklich ift, So fest er 
Vans dieTem Beftreben hier die fraglichen Morte ir, 
6:zu bebenfen‘, wie ſchwierig es "andererfeits dadurch Das 
ſtaͤndniß von Jeſu Benehmen 'mbcht. Und daher werden 
"nicht umhin können, auch die oben beſprochene Eigenthumi 
feit, daß er den Baum erſt über Kacıt verborten Taßt; 
"eben fo zu erflärett:‘ babe; "baß’'er. Die Sidje weht 
aälig geſche hen Täßt, / macht er fie” fahriäher hub "einge fe 
Anſchauung näher." -Uebrigend’ bat e “darin daß bea "hart 











an Hatte," grade uur feine Xufi —* in den 
Wetu finden zu wollen. NEN 





348 


Ganzen Recht; wiewohl nach Sofephus zehn Monate lang in 
Daläftina reife Feigen an den Bäumen gefunden wurden. 





Kehren wir num zur Hauptfache, dem aud; dem M. zum 
folge unbegreiflihen Benehmen Jeſu zurüf, um die richtiges 
Erklärung der ganzen Erzählung zu finden. Schon ältere 
Ausleger glaubten den Anftoß am leichteften zu entfernen, 
wenn fie Jeſu Handlung als eine fymbolifche faßtenz; als 
ein Sinnbild, in welchem feine Jünger gleichfam mit eigenen 
Augen fchauen, und deutlicher, ale aus Worten, ed erfennen 
follten, daß. ein von guten Werfen entblößter Menſch gleich 
diefem Baume dem Strafgerichte Gottes nicht entgehen werbe; 
— vielleicht follte auch insbefondere die Wahrheit verfinnlicht 
werden, „daß das jüdifche Boll, welches fo beharrlich Feine 
Gott und Meſſias wohlgefälligen Früchte bringe, zu Grunde 
gehen müfje*. Indeß iſt gegen diefe Auffaffung mit Necht 
erinnert worden, daß aledann Jeſus nothwendig mit einigen 
Morten auf diefen Zwed feines Wunderd hinmweifen mußte, 
um nicht mißverftanden zu werben; davon fagen und aber Die 
Evangeliften gar nichts. Hätten fie nun gar feine an die 
Handlung ſich anfnüpfenden Worte Sefu gemeldet, fo fünnte 
man annehmen, fie haben das, was er gefprochen, nur weg⸗ 
gelaffen; allein fie Iaffen Jeſum allerdings über fein Wunder 
fidy näher erklären, aber auf eine Weife, die deutlich zeigt, 
daß er jenen Zwed dabei nicht hatte. Sm Gegentheil hebt 
er M. 2. 21) fein Thun, als folches, gerade dad Wunder 
an fich, recht hervor, und verfichert, wer den rechten Glauben 
habe, könne noch größere, als diefes verrichten. Die Auss 
flucht, die hier Einige. anbringen, Jeſus werde wohl vor der 
Handlung den beabfichtigten Gefichtspunft auseinandergefegt 
haben, reicht nicht hin, da er wohl wiflen fonnte, daß er bei 
der Borliebe der Sünger für alles Mirakulöfe jenen erften 
Eindrud durch Die lebte Nede wieder ganz verwilchen würde. - 
Wir müffen daher dabei bleiben, daß die Evangeliften nur die 
Anficht hatten, Sefus habe ganz einfach feinen Unmwillen zur 
Berrichtung eines Wunders benußt, um ſich abermals in feinem 
Glanze ald Meffias zu zeigen. IK dieß nun auch unzweifels 


349 


haft die Anficht der Evangeliften, fo folgt daraus noch 
nicht, daß auch wir biefe Anficht hinnehmen müßten, da eine 
folche Wunderthuerei, wie wir fie hier hätten, Jeſu fonftigem 
Weſen ganz widerfpricht. Wir müſſen alfo das wirklich Ges 
fchehenfein eines Jeſu unwürdigen Wunders in Abrede fellen, 
und die Entftehung der Erzählung, auf anderem, als gefchichts 
lichem, Wege ung zu erflären fuchen. 

Dhne Zweifel floß diefelbe aus einer Sentenz, der vom 
Baume, welcher niedergehauen wird, weil er nicht gute Früchte 
trug; einer Sentenz, die wir in des Täufers (M. 3, 10), fo 
wie in Sefu eigenem Munde (7, 19 finden. Weiterhin ward 
dieſe Sentenz zu einer ganzen Parabel, der vom Herrn, 
welcher den unnügen Feigenbaum niederhauen wollte, fortges 
bildet, und endlich verförperte fie fich zu einer fürmlichen Ges 
fhichte, der vom verfluchten Feigenbaume. Daß dabei die 
Art der Vernichtung eine andere wurde, ald in der urfprängs 
lichen Sentenz, darf nicht befremden, da ja die Vernichtung, 
wenn die Geſchichte überhaupt Bedeutung haben follte, noths 
wendig eine wunderbare werden mußte, bewirkt durch em paar 
Worte Sefu. Eher könnte ed auffallen, daß fic hier Reden ans 
Mmüpfen (Mark. 10, 22 ıc.), welche Feine Spur mehr von 
dem urfprünglichen finnbildlichen Kern, aus dem bie Gefchichte 
erwachjen, an ſich tragen; allein da einmal durch bie fo eben 
entwidelte Berförperung der Sentenz das Gefchehenfein eines 
Wunders zur Hauptfache wurde, jo mußte ganz naturgemäß 
in den daran gefnüpften Neden diefes auch als die Hauptfache 
hervorgehoben werden. Und zwar geſchah dieß m einem Gleichs 
niffe, dem vom Bergeverfegen, an welches man bei der Ers 
zählung vom verfluchten Feigenbaume um fo eher erinnert 
werden fonnte, ald man ein anderes ihm fehr ähnliches hatte, 
das von dem durch den Glauben in das Meer verfeßten Fei⸗ 
genbaume, welches Lufas (17, 6) ung erhalten hat. 


Sechster Abfchnitt. | 
Die lebten Zage Jeſu, fein Leiden und Sterben, 


Erfted Kapitel. 
Zefu-Berflärung und legte Reife nach Jeruſalem. 
CM. 17, 1—13; Marl. 9, 2—13; Luk. 9, 28— 36.) 


Faft unmittelbar vor dem Beginne feines Leidens wird Se 
fus noch. auf wunderbare Weife verflärt, wie ung Die drei 
Synoptifer einftimmig berichten, . Es gehört dieſes Wunder 
zu den hellften Glanzpunkten in dem irdijchen Leben Sefn. 

Die evangelifchen Berichte erregen aber fo viele Bedenfen, 
daß ung der gefcjichtliche Hergang fo, wie fie ihn ung erzäh- 
len, ganz unglaublid) wird; wir fönnen von den Haupt: 
punften desfelben: Glanz, Zodtenerfcheinung, Stimme, une 
weder Möglichfeit, noch Zweck denken. — Der Glanz 
rührte von einer Verwandlung Jeſu her (M. V. 2), war alfo 
ein Leuchten von innen heraus; dieſes Durchleuchten der 
Göttlichkeit- enthebt aber Jeſum völlig aus dem Gebiete des 
Menfchlichen in's Zauberhafte, und wie war es möglich, daß 
auch feine Kleider von demfelben erfüllt wurden? An ein 
Beleuchten von außen zu. denken, verbietet die Darftellung 
der Evangeliften. War aber jenes Berflärtwerden auch mög: 
lich, ſo fragt fich weiter, wozu follte es dienen? Einer Ber: 
berrlihung bedurfte Jeſus, der duch Rede und Thal 
fo fehr verherrlichte, nicht; war fie Andern zu Stärfung 
des Glaubens nöthig, fo mußte fie vor Vielen, nicht in dem 
engen Kreife vertrauter Schüler gefcheben (M. V. 1). — 
Undenfbar ift weiterhin die Erfcheinung der Berftorbener 
(3): woher nahmen fie, wenigftens Miofes, der im Grabı 
ruhte, den verklärten Leib vor der allgemeinen Auferftehung‘ 


351 


Ind zw welchem: Zwecke? Moſes ımb Elias: ſprachen mit 
zeſu: was hatten fie ihm mitzutheilen ? ‚dem Lukas zufolge 
8; 31) feinen nahen Tod. Aber diefen kannte ja Jeſus ſchon 
orher und zwar mit falt allen einzelnen Nebenumftänden 
Matth. 16, 21 ꝛc.). Sollte er zu feinem bevorſtehenden Lei⸗ 
en durch jene Unterrebung geftärft werden? Jeſu Stim⸗ 
ung verräth. aber nicht, Daß er jetzt ſolches Troftes beburft 
ftte; für Fünftige Tage wäre er ohnehin: wirkungslos ger 
weien, da fpäter auf Gethfemane ein.abermaliger:näthig. wurde. 
Anf die Beftärfung der Sünger im Glauben kann die Er⸗— 
ſcheinung auch nicht berechnet gewefen fein, da Jeſus in ber 
Parabel vom reichen Manne ausbrüdlich fagt, Gott werbe 
feine Todten für Die erwecken, welche den Propheten. nicht 

ten; wie viel weniger für. die, welche dem lebendigen 
Ekriftus nicht glauben wollen! — Ueber die Stimme endlidy, 
de aus den Wolfen kam, gilt ganz basfelbe, was früher 
über die ganz ähnliche, bei ber Taufe gehörte ‚ geſagt w wor⸗ 
ben it. (©. Th. I, &. 144.1.) ° 





Es ift daher nicht zu verwimbern, daß bie natürliche. Er⸗ 
Mrung vielfache Verfuche gemacht hat, das Wunderbare: zu 
entfernen. Zu dieſem Zwede. nehmen Einige ein inneres 
Wunder an, eine Bifion, in welder die drei: Apoftel.und 
auch wohl Jeſus felbit bis zur Extafe, und durch fie zur Ans 
ſchauung einer höhern Welt, gefteigert: wurden.. Allein. es ift 
beiſpiellos, daß. drei oder vier Perfonen an demſelben, fehr 
ausführlichen Gefichte Antheil gehabt hätten; an einem Ges 
Kchte,, für welches man überdieß feinen Gottes wärbigen 
zweck. auffinden. kann. 

Daher benfen Andere lieber an einen andern Hergang im 
Imern, den natürlichen eines Traumes. Dieſer ſoll in den 
chlafenden .Süngern entſtanden fein, nachdem vor demſelben 
jefus mit ihnen gebetet,. wobei des Mofes und Elias, ale 
einer. Borläufer, gedacht wurde: e8 mochten dieſe Ramen noch 
n: ihre fchlaftrimkenen Ohren hineintönen, und als fie erwach⸗ 
en, ſchwebten ilmen noch die Beitalten der beiden Propheten 
or Augen. — Diefe Erflärung lehnt: ſich befonders an Lukas 


352 


an, der fagt, bie Tünger feien voll Schlaf gewefen unb wies - 
der aufgewacht CB. 32): man fieht dephalb feine Darſtelluug 
wie ald die natürlichere, fo auch ale die urſprüngliche anr— 
allein mit Unrecht. Denn diefer Zug vom Schlafe der Jin— 
ger findet ſich in der allgemeinen Tradition auch bei Deu 
Todeskampfe Jeſn auf Gethfemane CM. 26, 40); und aus 
diefer Scene ift er von Lukas offenbar in unfere hinüber 
getragen, weil audy hier, wie dort, das Schlafen der Jünger 
während eines für den Meifter fo bebeutungsvollen Momentes 
recht dazu geeignet ift, den großen Abfland zwiſchen Diefem 
und jenen hervorzuheben. Sonach hat Lufas durch Beimifchung 
Diefes Zuges die Sache nicht ſowohl in dad Natürlichere, ale 
in das Myſtiſche hinübergefpielt: der große Prophet erjcheint 
unter gewöhnlichen Menjchen, wie der Wachende unter Schlafs 
trunfenen. — Aber auch ganz hiervon abgefehen, fo hat bie 
Annahme eines Traumed auch noch viele andere Schwierigs 
keiten. Es follen Doch nur die Jünger geträumt haben, und 
doch läßt die Erzählung aud) Sefum diefelbe Erfcheinung, wie 
diefe, haben. Träumten aber audy nur fie allein, wie wun⸗ 
berbar, daß alle drei den ganz gleichen Traum hatten! Das 
gegen wird gejagt, nur Petrus allein habe ihn gehabt, weil 
nur er fpricht: allein das ift ja fo oft der Fall, daß der feu⸗ 
rige Mann für Alle redet, und ihn allein zum Sofeph der 
Gefchichte zu machen, dafür laßt fich nicht der mindeite Grund 
in der Erzählung finden. Indeß befennt diefer ganze Erfläs 
rungsverfuch noch deutlicher feine Blößen. Um die Täufchung ° 
der träumenden und wiedererwachenden Sünger zu erflären, 
wird nämlich noch weiter angenommen, Jeſus habe die Namen 
Mofes ınd Elias mehrere Male laut ausgerufen, es habe Donner 
laut gerollt, und DBlige weit geleuchtet, es feien wirklich im 
Nebel zwei Männer zu Sefu herangetreten. Aber das Alles 
konnten die Jünger nur in vollem Wachen wahrnehmen; und 
wenn mit diefer Erklärung das Ganze ſchon fehr ſtark ın das 
Gebiet äußerer Erfcheinungen beraustritt, fo thun offenbar 
die noch am beften, welcdye die Traumhülle gradezu abitreis 
fen und das Ganze zu einer bloß Außeren Erſcheinung mas 
chen; fo erflärt fich wenigftens das, daß alle Sünger basfelbe 
fahen. Im Uebrigen bringt uns diefer Ausweg nicht weiter, 


353 


als die andern. Es foll nämlic, Jeſus auf dem Berge eine 
geheime Zufammenkunft gehabt haben, entweder mit Effenern 
oder andern geheimen Anhängern; während der Verhandlung 
fchlafen die Sünger, beim Erwachen fehen fie Sefum in uns 
gewöhnlichem Glanze, der von den erften Morgenftrahlen bers 
rührte; fie erbliden zwei Männer, die fie für Mofes und 
Elias halten; mit Stumen fehen fie Ddiefelben in leichtem 
Morgennebel verfchwinden und hören noch die.lauten Worte 
des Einen: „Diefer it ıc.* — Die Stüße, welche diefe Ans 
ſicht gleichfalls in Lukas findet, weil er zuerft allgemein fagt: 
„Zwei Männer ꝛc.“ und dann erft genauer: „welche waren 
Mofes und Elias ꝛc.“ ift zu ſchwach, um eine Widerlegung 
zu verdienen, ba überdieß die ganze Anficht fehr viel gegen 
fih hat. Die grelle Morgenbeleuchtung der Berge fonnte die 
damit lange bekannten Sünger nicht täufchen; für die Vers 
muthung derfelben, die Männer feien Mofes und Elias, kann 
gar fein Grund angegeben werden; die Annahme geheimer 
Verbündeten von Jeſu iſt mit Recht Fängft verfchollen; und 
ba Petrus in feinem Staunen über das Wunder augrief: 
„Hier laß ung drei Hütten bauen ıc.“ (Auf. V. 33), fo durfte 
Jeſus redlicher Weife ihn nicht in feinem Wahne laffen, wenn 
ganz andere Leute, ald Moſes und Elias, da geweien waren. 


Da und demnach feine Auslegungsweije genügen fann, fo 
haben wir nun, wie überall, wo diefer Fall eintritt, die ge⸗ 
fchichtliche Glaubwürdigkeit der Erzählung zu unterfuchen. 
Zwar ftimmen die drei Synoptifer in zwei wichtigen Punkten, 
in der Zeitbeftimmung „feche Tage nachher“ (M. V. 1, Mark. 
V. 2), fo wie darin, daß bei allen die Heilung des dämoniſchen 
Knaben unmittelbar auf die Verklärung folgt (M. 14 u. A.), 
ganz überein; allein dieß darf nicht auffallen, da gewiß bei 
Abfaffung der Evangelien nicht wenige Punkte der Ueberliefes 
zung fchon ganz ftehend geworden waren. Sm Gegentheile ift 
der Umſtand weit wichtiger, daß Johannes von der ganzen 
Gefchichte nichts erzählt. Warum er fie nicht erzählte, wenn 
er fie fannte, iſt um fo weniger einzufehen, da fie ſo ſehr 
zur Beftätigung feiner Anficht von Jeſu gaöttlihem Keen 

II. 23 


354 


(1, 14) dienen konnte; der abgenukte Einwand, daß er Be 
kanntes nicht wieder erzählen wolle, paßt hier um fo weniger, 
da er ja Augenzeuge geweien. Man fagt aber, er. habe bie 
Verflärung nicht erzählen wollen, um den von ihm in ben 
Briefen befämpften Dofeten, die Sefu nur einen Scheins 
förper liehen, feinen Vorſchub zu leiſten; allein alsdann durfte 
er auch das Mandeln Sein auf dem Meere hicht erzählen, 


was er weit cher hätte weglaffen können, ald die in jeder 


Beziehung fo bedeutungsvolle Verklärung. Uebrigens ſtreitet 
ein fo partheiifches Auslaffen gegen die apoftolifche Redlichkeit. 


Wir müffen alfo zu feiner Ehre annchmen, daß er die Ge= 
fehichte nicht Fannte, und ſchon darin einen Grund zu Zwei— 
feln an ihrer geichichtlichen Wahtheit herleiten. Das angeb= 
liche Zeugniß des Petrus, in 2 Petr. 1, 17, entfcheidet hiewe 


nichts, Da diefer Brief anerfanntermaßen unächt ift. 


Fin ebenfalls wichtiges Bedenken liegt in der Unterredung „ 


die Jeſus unmittelbar nad) der Verklärung mit den Süngerzt 
gehabt haben fol CM. 8.10). Es fällt nämlidy fehr auf , 
daß dieſe, als fie eben von einer Ericheinung bes Elias zar- 
rücfehrten, noch fragen fonnten, ob denn wirklich Elias wies 
der erfcheinen müffe? „Hätten fie nur das vermißt, ware 


Seins von dem wieder erfcheinenden Elias ihnen verfihert, . 


daß er Alles zuvor auch ordnen (DB. 11) müffe, was Fir 
allerdings an feiner Erjcheinung vermiffen Fonnten, ſo durften 
fie audy nur dieß in Frage flellen. Nuffallender noch iſt 


Jeſu Antwort, indem er das Auftreten des Täufers als Die 
Erſcheinung des (zweiten) Elias bezeichnet, gleich als wilfe er 
felbft nichts von dem fo eben gefehenen (wahren) Elias! — 
Die Anknüpfung diefer Rede an die Verklärung kann alfo nır 
äußerlich durch den Namen des Eliad bewirft worden fein; 
oder vielmehr, beide vertragen fich gar nicht miteinander! 
Denn nicht nur unmittelbar nach der Erſcheinung des Elias 
fonnten die Sünger diefe Frage nicht thun, fondern überhaupt 
gar nicht, weil fie fich jener ja ftets erinnern mußten; audı 
nicht vorher kann ihnen Jeſus die oben genannte Antwort 
gegeben haben; denn er erflärt darin ja ausdrücklich, daß 
Johannes der Elias fer, deffen Ericheinung man erwarte, 
und dann hätte die Vertlürungdaddndte iin tes Terthume 


355 

überwiefen. Eins von beiden, die Verklärung oder jene Us 
Berredung, Fann nicht flattgefunden haben; und hier nehmen 
wir fein Bedenken, uns für die Unterredung zu entfcheis 
ben. Der Suhalt derfelben ift durch M. 11, 14 und Luk. 1, 
17 ganz beftätige, während Die Perflärungsgefdjichte Alles 
gegen fih hat. Es find alfo zwei ganz verfihiedene Erzähs 
lungsſtücke, und zwar aus verfchiedenen Zeiten, hier unges 
ſchickt an einander gereiht worden: bag frühere, die Unters 
zebung enthaltende, und das fpätere, Die Verflärungsgefchichte. 
Die frühere Anficht nämlich begnügte ſich damit, Die Verfüns 
Digung von dem Wiederaufftchen des Eliad vor dem Wirken 
bes Meſſias in dem Täufer erfüllt zu ſehen; der fpäteren ges 
nügte dieß nicht; er mußte auch perfünlich und eigentlich 
erfchienen fein, und fo entftand unfere Erzählung, die ſchon 
mit dem Gefagten ald Mythe bezeichnet ift. 

Wie aber konnte eine folche Mythe entftehen? Hier bietet 
ſich ung als nächite Erklärung der fonnenartige Glanz dar: 
dem Drientalen ift nämlicdy das Leuchten Sinnbild alles Gros 
fen. und Herrlichen; DBeifpiele: die Frommen werden der 
Sonne verglihen (Richt. 5, 31), das Loos der Gerechten 
it gleich dem Glanze der Sterne (Dan. 12, 3); Gott ers 
fcheint in ftrahlendem Lichte (Pf. 50, 2, 3); die Engel mit 
glänzendem Angeficht und leuchtenden Gewanden (Dan. 7,9; 
Dffenb. 1, 13); felbft in fpäteren Sagen erfcheinen Rabbinen 
von überirdifchem Glanze umfloffen. Zunächſt aber lag für 
unfere Mythe das leuchtende Antlig des Mofes vor, nnd 
es war rabbinifche Borftellung, die auch 2 Kor. 3, 7 ꝛc. ans 
gedeutet ift, daß auch der Meſſias in folhem Ganze fid, 
zeigen müffe; wenn mın gar von fpäteren jüdifchen Schrift⸗ 
ftellern der Mangel desfelben bei Jeſu ald ein Beweis dafür 
angeführt wurde, Daß er der Meſſias nicht geweſen fein Fönne, 
wie nahe lag es da der chriftlihen Sage, nach jenem Bor: 
bilde auch Jeſu eine erhöhten Außeren Glanz zu leihen? einen 
Glanz, der ſich ſelbſt über fein Gewand erftredte! Aber 
felbft die einzelnen Züge unferer Mythe fanden ſich in der 
Sage von Moſes vorgebildet: dieſer ward ebenfalls auf 
einem Berge, dem Sinai, von Glanz umleuchtetz auch ihm 
folgen drei Bertraute (2 Miof. 24,1, - 1V, vn anypheren‘, 


356 


auch hier ein leichtes Gewölle und eine Stimme des 
Herm (2.15 — 18). Der Inhalt übrigene der über Jeſum 
ergangenen Stimme iſt theils, wie bei ber Taufe, aus 
Pi. 2, 8, theild aus 5 Mof. 18, 15 entiehnt. 

Ehen fo lag in uralten Vorftellungen das Erfcheinen des 
Moſes und Elias begründet: mehrere Vorläufer ſollte fchen 
nach Sef. 52, 9 20. der Meffias haben, namentlich den Elias 
Dial. 3, 23), und nad) fpäteren Deutungen auch den Moſes: 
wo aber konnten fie fchicflicher erfcheinen, als bei der höchſten 
Berherrlichung des Meſſias? Daß fie ſich mit demjelben uns 
terredeten, verſtand fich nun von ſelbſt; und worüber wohl 
eher, als über das eigentliche meifianiihe Geheimniß des 
neuen Teftamentes, das Leiden und Sterben Jeſu? — Es 
hatte alfo unfer Mythus — und dafür halten die meiften 
jetigen Theologen unfere Erzählung — einen gedoppelten 
Zwed: Jeſum aufs Höchfte zu verflüren, ihn mit feinen bei 
den Borläufern, dem Gründer und dem Wiederheriteller des 
Sottesreiches, zujammen zu bringen, und dadurch ale den 
Bollender diejes Reiches Darzuitellen. 

An unjerem Beifpiele laßt fich recht deutlich nachweifen, 
wie fehr die natürliche Erklärung den höheren Inhalt 
der Erzählungen aufopfert, um eine äußere gefchichtliche Form 
feftzuhalten: wie bedeutungslos wäre doch das Ganze, wenn 
der Glanz nur optiſche Täuſchung war, wenn die Erfchienes 
nen unbekannte Menjchen waren, wie wenig des Erzählend 
werth! Faffen wir die Sache aber mythifch, fo retten wir 
eine höhere Idee, die ſich und als mwefentlichen Inhalt der 
altschriftlihen Borftellungen offenbart, und erft dann Fünnen 
wir begreifen, warum die Evangelien diefer Erzählung eine 
fo wichtige Stelle einräumen. Ä 


(M. 19, 15 Mark. 10, 1; Luk. 9, 51, 525 17, 11; 
Soh. 12, 1 und andere Stellen.) 
Ueber Sefu lebte, verhängnißvolle Reife nadı Serufalem, 
welche bald auf die Verklärung folgte, fimmen die Synoptiker 
zunächft unter ſich, und fodann ale uiammen genommen mit 


357 


Johannes nicht überein, und zwar fo wenig, daß alle Vers 
sche einer Ausgleihung fcheitern mußten. Darin find die 
Spnoptifer einftimmig, daß Sefus von Galiläa aus nad 
terufalem reiste; allein mährend aus des M. freilich fehr 
vunkler, von Markus aber deutlicher wiedergegebener Dar⸗ 
tellung unverkennbar hervorgeht, daß er feinen Weg durch 
ie Randfchaft Peraͤa nahm, läßt ihn Lukas den Tängeren 
urch Samarien emfchlagen (9, 52), wiewohl auch Diefer, 
B. 51, die Sache nicht ganz Far und ausdrücklich hinftellt. 
Erft gegen Ende des Weges ftimmen fie wieder überein, ins 
yem alle. Jeſum nach Serufalem von Jericho her (M. 20, 
29) kommen laffen; einer Stadt, die mehr nad) Peräa, als 
nach Samarien hin lag. — Ganz abweichend von diefer Dars 
ſtellung ift die des Johannes; ihm zufolge hat Jeſus fchon 
por dem Laubhüttenfefte des vorigen Sahres Galiläa vers 
faffen (7, 1—10); nadı dem Fefte der Tempelweihe diefes 
Jahres war er nadı Peräa gegangen, von wo ihn der Tod 
des Lazarus nach Bethanien, in die Nähe Serufalems, rief 
(11, 8); aus Furcht vor den Nachſtellungen der Pharifäer 
entwich er nad; Ephraim, nahe der Wüſte; und von hier aus 
ging er, ohne Sericho zu berühren, auf das Felt nad, Jeru⸗ 
ſalem, und zwar ebenfalls über Bethanien. 

Dieſe Widerfprüche verſuchte man, obgleich, Lukas aus⸗ 
drücklich ſagt, Jeſus ſei abgereist, um feinem Leiden entges 
gen (9, 51), demnach zum letzten Paſcha, zu gehen, durch 
die Annahme aufzulöfen, fein Aufbruch aus Galiläa habe dem 
von Sohannes erwähnten Tempelfeſte gegolten: Allein dann 
müßten die Eynoptifer alles zwifchen dieſer Abreife und der 
legten Ankunft in Ierufalem Liegende, — Jeſu erfte Anwefens 
heit in diefer Stadt, das Feſt felbft, die Reife nach Peräa, 
dag Hineilen nad) Bethanien und die Flucht nach Ephraim, 
gradezu überfprungen haben. Diefe gewaltfame, halsbrechende 
Erflärung findet nicht einmal einen Anhalt in der allerdings 
feltfamen Notiz des Lukas, der, nachdem er 9, 51 ganz bes 
ftinemt die Abreife ans Galilda zum Pafcha gemeldet hatte, 
Sefum 17, 11 abermals nach Serufalem reifen und „mitten 
durch Samaria und Galiläa“ ziehen läßt. Diefe vereinzelte 
Angabe, ohne allen Zufammenhang, beweist nur, daß Lukas 


358 


feine firenge Zeitfolge And Anordnung ber. Begebenheiten ein⸗ 
hält; höchftend, daß er zwei verfchiedene Neifeberichte vor ſich 
hatte, die er ‚beide beuugen zu müffen meinte, ohne den Wi— 
berfpruch zu bedenfen, in den er ſich dadurch verwidelte 
Aus der Beichaffenheit aller dieſer Berichte aber geht unzivei= 
beutig hervor, daß ſich ſchon frühe abweichende. Nachrichten 
über jene letzte Reife bildeten, weßhalb auch ihre Ausgleichung 
zu einem ficheren Nefultate als unmöglid) aufzugeben it... 





AM. 21, 1—115 Mark. 11, 1—10; ul. 19, 29 — 40; 

Joh. 12, 1, 12— 19; ſodann M. 26, 6, 7; Marl. 

14, 35; Joh. 12, 1.) 

Aber auch über den Ausgangspunft der Reife, über bie 
legte Station vor Serufalem, find die Synoptiker mit 
Tohannes nicht einig; den eriteren zufolge jcheint ed, Daß 
Jeſus in Einem Zage von Jericho nadı Serufalen reiste; bei 
Johannes übernachtet er vorher noch in Bethanien. Man 
nimmt nun gewöhnlich an, die Synoptifer haben zwar von 
jenem Nachtlager auch gewußt, die Erzählung. jedocd) durch 
Angabe desjelben nicht unterbrechen wollen; allein fo lautet 
ihre Darftellung doch nicht, daß fich ein Nachtlager dazwiſchen 
ſchieben ließe; ja, fie fchließt es fogar gänzlich aus. Denn 
fie erzählen, Jeſus habe noch vor jeiner Ankunft in Berhanien 
zwei Jünger voraus gejchict, un einen Eſel zu holen, den er 
zum Reiten nad) Serufalem gebrauchen wollte (M. 21, 1; 
Mark 11, 1 20); hatte er aber im Sinne, in jenem Dorfe 
zu übernachten, ſo war das Beſchicken des Ejels für jest nod) 
fehr überflüffig; ed war fogar widerfinnig, wenn er denfelben, 
wie ed nach M. allen Aufchein hat, gar aus dem noch jen⸗ 
ſeits Bethanien gelegenen Bethphage holen liep. . Ferner 
erzählt Markus wenigftens, daß Jeſus erit gegen Abend nadı 
Serufalem kam, und daher einitweilen Tempel und Anderes 
nur befeben fonnte (Mark. 11, 12), worauf er nad) Bethanien 
wieder zurüdging. Ein fo fpäted Kommen wäre ja unerflärs 
lich, wenn er in diefem fo nahen Dorfe übernachtet hätte; 
ſcheint auch M., der Jeſum an demjelben Tage noch vielerlei 
in ber Stadt verrichten laßt C21, 12), ihn früher dajelbit 





aufemmen. zu laſſen, ſo hangt doch bei allen Dreien bie‘ Dans 
ſtellnug fo euge zufammen,. daß in Der fortlaufenden -Exjähs 
Aung von dem Hinkommen ‚gegen, jenes Dorf, ber Sendung 
der. Jünger, der Ankunft des Eſels uud dem Einzuge in. Jeru⸗ 
falem ein dazwiſchenliegendes Nachtlager nixgends Platz ſir der 
Da. alſo dieſe bedeutende Differenz zwiſchen Spnoptikern und 
Zohannes nicht auszugleichen iſt, ſo nehmen Andere einen. 
dDoppelten. Einzug Jeſu an, und ſtellen bie Sache fo: Jeſus 
zog zuerſt mit der Feſtkarawane durch Bethanien gerade nach - 
Serufalem und wurde mit Jubel empfangen; am Abende ging 
er nach Bethanien zurück (Spnoptifer), und ed erfolgte nın 
anderen Tages ber zweite Einzug, wobei ihm viel Volkes 
entgegen.tam (Johannes)“. Aber warum erzählt doch jeder 
Evangelift nur Einen. Einzug ?.- „Es mag wehl, fagt man 
dem Johannes. zu Liebe, dieſ er waͤhrend des erſten Einzuges 
iigendwohin verſchickt worden ſein allein alsdann en 
wir für M. biefelbe Ehrenrettung - in Anfpruc; nehmen, bes 
men aber damit ein fehr mißliches Verdoppeln eines ſchou 
in ſeinem einmaligen Eintreffen ganz unwahrſcheinlichen Um⸗ 
ſtandes. Doch es iſt ja mit des Johannes Erzählung wenig⸗ 
ſtens ein dem ſeinigen vorausgegangener Einzug ganz unver⸗ 
traglich. Er ſagt nämlich, Tage zuvor, alſo an dem Tage, 
an welchem der ſynoptiſche Einzug erfolgt ſein müßte, ſeien 
viele Juden aus der Stadt nach Bethanien heransgekommen, 
um Jeſum zu ſehen (12, 11); wenn er ſchon in Serufalem 
eingezogen war — fo.wäre dieß ganz unnöthig, .ja es wäre 
Fogar .thöricht geweſen, da Jeſus erſt in der Nacht nach 
Bethanien wieder. zurückgekehrt ſein konnte. Ferner hat ein 
weiter ſeierlicher Empfang gar keinen rechten Sinn nach 
einem erſten; Jeſus würde ihn ficher abgelehnt oder vermieden 
Haben; und wie unwahrſcheinlich, daß beide ‚unter fo ganz 
gleichen Umftänden .flatt. gehabt: haben follen! — Lie 
Scywierigfeit wächst, wenn wir die Mahlzeit in Bethaniin 
bedenfen, bei welcher Jeſus gefalbt wurde, und wovon alle 
Evangeliften erzählen (Stellen |. oben); Johannes verfegt fie 
vor den Einzug (11, 2 ıc.), die Synoptifer nach demielben 
EN. 26, 6). Kun könnte man freilich fagen, ‚gerade das be⸗ 


ſtatigt hen doppelten Einzug; bie Mahlzeit fiel:zwiihen mn 


360 


der Synoptifer und den des Iohannes; allein die johanneifche 
Mahlzeit fällt fech8, die fynoptifhe nur zwei Tage vor 
bas Pafcha, und es mußte alfo diefe Doch, dem Johannes 
ganz entgegen, auch nad dem johanneifchen Einzuge ge 
halten worden fein. Soll man nun gar auch zwei Mahlzeiten, 
ebenfalls unter ganz gleichen Umitänden, annehmen? Dieß 
wird und Niemand zumuthen, und es bleibt dabei, Daß auch 
in Bezug auf den Einzug, wie bei der Reife, die gefchichtliche 
Wahrheit durch die Sage verwifcht, getrübt oder verwirrt 
wurde. 





Indem wir nun den näheren Hergang bes Einzuges felbft 
betrachten, haben wir zunaͤchſt bei einem charafterifchen Zuge, 
bem Reiten Jeſu auf einem Efel, zu verweilen. Die Synops 
tifer erzählen ganz aueführlid), wie und woher dag Thier 
herbeigefchafft worden (ſ. oben). Am auffallendften ift die 
Angabe des M., daß Jeſus zwei, eine Efelin mit ihrem Füllen, 
habe holen laffen, und zwar in der Abficht, um auf beiden 
zu reiten. Wenn es ſchon fehr zweifelhaft ift, daß ein Eigens 
thümer ein nod) an der Mutter faugendes Thier zum Iteiten 
hergeben follte, fo fünnen wir ung gar nicht denfen, wie Jeſus 
bei dem kurzen Wege zwei Efel nöthig hatte, um auf beiden 
abwechfelnd reiten. Manche fuchen daher diefe Sonderbarfeit 
zu entfernen, theild durch unerlaubte Aenderung der Worte, 
theils durch unzuläßige Erklärungen, womit ung überdieß dag 
noch nicht erflärt wird, wozu zwei Thiere beftellt wurden, 
wenn nur Eins zum Reiten dienen follte. Allein man erfennt 
leicht, wie M. zu diefer irrthümlichen Angabe fam. Er 
fah nämlich das Reiten auf einem Efel als Erfüllung einer 
WWeiffagung (Zach. 9, 9) anz nun wird in diefer Stelle nur 
Ein Thier, aber mit zwei Namen genannt; das beide vers 
bindende Wörtchen, Das fo viel heißt, als „näntlich“*, nahm 
M. in der Bedeutung von „und“, glaubte aber in der Pros 
phetenitelle zwei Thiere zu finden, und hielt es nun für Pflicht, 
auch in feiner Erzählung ſtets von zweien zu ſprechen. — 
Andere Eigenheiten finden füch bei Marfus und Lukas; naments 
lich, um von ihren fchleppenden Wiederholungen zu fchweigen, 





Se eitten' Wiek‘ Wenige „ai Bei Ai 
geriten hatte (V. DH "Bi woche oa 
noch nicht zugerittenes Thier verlangen, das ihm die "größte 
Mühe machen, und unfehlbar ben ganzen Feſtzug ſtoͤren uußtet? 
Her min ſieht wohl, woher diefer Ing in ber Erzähhintg Ä 
ſtammt; es war jüdifche Verftellung, daß Thiere, die von 
Menſchen noch nicht gebraucht worden, heilig waren. Dip 
aber Jeſus darauf, als etwas Eitles, Aeußerliches, von den 
Begleitern überdieß ſchwerlich Wahrgenommenes Werth gelegt 
haben ſollte, iſt undenkbar, weil feiner unwuͤrdig; feht bes 
greiflich aber, daß ſchon frühe die chriſtliche Sage ihn’ ai 
verherrlichen glaubte, wenn fie, wie er ja auch fpäter in ein 
noch nie gebrauchtes Grab gelegt worden ſein ſollte, ihm ein 
ſolches Thier lieh; die Evangeliften ſchrieben dieß ohne Be - 
benfen ‚nach, „weil ihnen freilich bei'm Schreiben der nicht 
zigerittene Eſel nicht die Unbequemlichkeit verurfachte, ; welche 
er Sefu bei'm Reiten verurfacht haben müßte*. — Eine andere 
Bedenflichkeit erregt der Allen gemeinfame Zug, daß Jeſus 
fo genau vorherfagt, wo die Jünger das Thier finden, "und 
daß ber Eigenthümer es ohne Weigerung hergeben wůrde 
AM. V. 2, 3). Auf eine Verabredung konnte fich bieß nicht 
gründen, da ja Jeſus eben erft aus den fernen Galilän fam; " 
andy nicht auf feine Vermuthung, daß des Feſtes wegen ba 
und da Laftthiere zu finden fein werden, weil ber Auftrag 
auf ein ganz beftimmtes lautet. Nein! es wollte daburdy bie 
Sage einestheild die magiſche Gewalt, welche der Namen dei 
„Herrn“ überall ausübte, anderntheils fein wunderbares Vorher⸗ 
wiſſen abermals ſchlagend herausheben, wie z. B. früher bei 
Berufung der Juͤnger ꝛc. 

Warum aber die Sage gerade ſo dieſes Vorherwiſſen ge⸗ 
ſtaltete, davon finden wir den Grund in einer alt⸗ teſtament⸗ 
lichen Stelle, nämlich 1 Moſ. 49, 11, wo von dem anger 
bundenen &fel des „Friedensfürften *: die Rede ift; ſchon 
frühe wurde nicht nur diefer Friedensfürſt auf den Meiftag, 
fondern auch die ganze Stelle meffianifch gedeutet. Daß fie 
von unfern Evangeliſten nicht auch angeführt wird, erflärt 
fih nur dadurch „daß fie, obgleich fie den Grund der Sage 
bildete, doch allmälig wieder aus der wmnitteluoxren Srumes 


362 


gung verſchwunden war, wie dieß ofters gu geſcheben pfleat; 
auch verräth fi) die mehrfache Umbildung ber Erzählung 
ſchon dadurdı, daß bie Umitände hier ſchon etwas anders bau 
geftellt find, als in ber altsteitamentlichen Stelle jelbit fie ſich 
verhalten. — Jobannes übrigens weiß von dieſem Allem 
nichts, und erzählt ganz einfach, Jeſus habe einen Eſel ge 
funden und jei Darauf geritten. 


Alle Berichte erzählen ferner von einer lauten, Jeſu dar: 
gebrachten, Huldigung beim Einzuge (CM. 8 2c.). Zwar 
die Worte: „Gelobt fei der ıc.“, und „Hoſianna“ waren 
auch fonft gewöhnliche Feſtgrüße, Dagegen bemeist das: „dem 
Sohne Davids, dem Könige in Ssjrael“, dag man Jeſum bier 
in ganz bejonderem Sinne willfommen bie. Und zwar ges 
ſchah dieß nad M. und Marfus von einem großen Bolfes 
haufen, womit ſich Lukas leicht vereinigen läßt mit jeinen 
Worten: „die ganze Menge feiner Sünger“, weil damit eben 
in weiterem Sinne feine Anhänger gemeint find. Dagegen 
wird des Johannes Angabe, daß viele aus Jeruſalem ihm 
Entgegenfommende ®. 12, 13) in den Willkomm eingejtimmt 
haben, dadurch verdächtig, daß fich dieſes Entgegenfommen 
auf die Erweckung des Lazarus jtügt, die, wie wir jahen, ale 
ungefchichtlichh zu betrachten ijt.. — Endlich jtimmen alle 
Evangelien darin überein, daß die Pharijäer großes Aerger: 
niß an diefem feitlichen Empfange nahmen, was fie bei Jo—⸗ 
hannes (B. 19) unter einander, bei Lufas (V. 39) gegen 
Sefum fogleih, nad) M. (3. 15, 16) erit im Tempel aus: 
fpredhen. 

Was nun ſchließlich den Anlaß zur Ausbildung unſerer 
Erzählung "gab, "wird und hinfänglich durch die Evangeliſten 
feloft fund gethan, die darin die Erfüllung einer altsteffament- 
lichen Weifjagung CM. V. 5) erbliden. Wenn übrigens 
auch Jeſus in der angezogenen Stelle eine meifianijche Weil 
fagung erblidte, fo hat er geirrt; denn dieſe Stelle bezieht 
ſich, wenn auch nicht auf einen geſchichtlichen Fürſten, doch 
wenigſtens auf einen Fürſten, der in friedlichem Beſitze von 
Jeruſalem gedacht werden muß. Er konnte aber doch nicht 





| Zweites aepitel 
Im Nieten son. feinem: Tode, feiner inferkehung oo 
Bu und Wiederkuuft zu Gerichte. Rus 
D 5 Schr viele pereinzelte Stellen. — 


"g Evangelien berichten, daß Jeſus ſein Leiden und ſeinen 
Tod nicht nur allgemein, ſondern in allen ‚näheren Umſtaͤnden 
noransgefagt ‚habe; ben Dxt, bie Zeit, bie Urheber, ‚die 
Art und Weile (nämlid, Kreuzigung in Folge. eines fürmlichen 
Nrtheild) und die‘ vielen Damit. ‚verbundenen Schmaͤhungen 
(M..16, 21; 20, 18, 19). Es findet auch in dieſer Bezie 
hung wiſchen den Synoptikern und Johannes ein mehrfacher 
Unterſchied ſtatt. Letzterer laßt Jeſum Alles. nur. unbeſtimmt 
zund in dunkler Bilderrede vortragen und ‚gefteht felöft,. daß 
Dieles deu Juͤngern erſt nach Jeſu Tode. deutlich geworden 
fti (2, 22); befonders. oft. kommt. der bildfiche Ausdrud „ers 
Höht: werden “ vor, der ſowohl von Verherrlichung, wie vom 
Kreuzestod verſtanden wird; gerne vergleicht daher hier 


Jeſus dieſen Tod mit ber Erhöhung. der Schlange in der 3— 


Wüuͤſte; oder ſpricht von einem Weggehen, , wohin man. ihm 
nicht folgen fünne (7, 33 16). Ferner gehen ſolche Vorauss 
fagungen bei Sohannes durch das ganze ‚öffentliche Leben 
Sefu, während fie‘ bei den Synoptikern ſich nur in den letzten 
Zeiten desſelben finden; endlich ſpricht er ſie dort‘ por ‚allen 
Volle, hier nur.gegen vertraute Jünger aus. — Mir müflen 
nun, in nähere . Unterſuchung eintretend, zunaͤchſt die Glaub⸗ 


wuͤrdigkeit der ganz ſpeziellen Vorausſagungen, und alsdann 


die Denkbarkeit ſolcher FVoraucſagungen im "gemeinen, väter 
veifen., 


a ! 
.,% En une 


364 


Jeſus konnte bie einzelnen Umftände feines Leidens entweber, 
wie die Supranaturaliiten annehmen, vermöge feines götts 
lichen, prophetifchen Geiſtes vorherwiffen, oder, den Ratio⸗ 
naliften zufolge, diefe Kenntniß auf dem Wege natürlicher, 
menfchlicher ‚Berechnung erlangt haben. Belennt man fid 
zur eriteren Anficht, fo muß man zugleich annehmen, daß Ges 
fus fein göttliches Wiffen vorzüglich aus Prophezeihungen des 
alten Teſtamentes, auf die er ſich fo oft beruft, fchöpfte. 
Die Zeit ded Todes könnte er aledann nach Daniel beredıs 
net, den Drt, naͤmlich Jeruſalem, durdy die Betrachtung, daß 
bier fo viele Propheten fchon geblutet hatten (Luk. 13, 33), 
gefunden haben; auf eine förmlich Verurtheilung konnte 
ihn Sef. 53, 8, auf eine foldye durch die Priefter des eiges 
nen Volkes das Gleichniß vom verworfenen Baufteine (Pfalm 
118, 22; Apoftelg. 4, 11) geführt haben; — daß Heiden 
ihn plagen würden, fchien aus manchen altsteftamentlichen 
Stellen hervorzugehen; und die Kreuzigung könnte er von 
der Schlange in der Wüfte (4 Mof. 21, 8 ıc.), fo wie von 
dem Durchbohren der Hände in Pf. 22, 17 hergenommen 
haben. Allein auf folche Deutungen konnte ihn der göttliche 
Geiſt nicht geführt haben, da nad) neueren Forfchungen alle 
jene Stellen durchaus nicht auf den Mefftas zu beziehen find: 
fo ift 3.8. Sef. 50, 6 nur von den am Propheten felbft vers 
übten Mißhandlungen die Rede; ef. 53 von den Drangfalen 
des Prophetenitandes; Pf. 118 handelt von der unerwarteten 
Rettung des Volkes; Pf. 22 enthält die Klagen eines bedräng- 
ten Berbannten; — und fo ift durchweg in allen jenen und 
andern früher für mefftanifch gehaltenen Stellen von etwas 
Anderem die Rede. Jeſus muß alfo, da doc; unmöglich der 
göttliche Geift in ihm ein „Lügengeift * geweſen fein fann, 
auf anderem, alfo auf natürlihem Wege zu jener Kennts 
niß feines Fünftigen Schickſals gelangt fein. — Er fünnte 
nämlich durch Nachdenken die Heberzeugung erlangt haben, Die 
Priefter werden ihn flürzen, weil diefe Neigung und Madıt 
genug dazu hatten, und zwar m Serufalem, wo fie am 
mächtigften waren; daß er den Römern überantwortet, daß 
er arg mißhandelt werden, daß er am Kreuze den Tod bes 
‚Dochveerräthers fierben würde, ging leicht aus den damaligen 





Berhäktnigen mb Gebränden, wie and. bem barbariſchen Ver⸗ 
fahren bei. Kriminalverhandlungen hervor. — Jedoch auch dieſe 
Gelfärungämeife - hat die größten. Schwierigkeiten Woher 
konnte Jeſus denn willen, daß nicht fein Landesherr, Herodes 


der. ben Täufer ‚getödtet hatte, auch ihn verderben, ober daß 


sicht einer von ben vielen. Mordverſuchen des. Volkes auf 
ihn. (3 2. oh. 8, 59) einmal gelingen werde? und endlich; 
wie. mochte er: fo zuverläßig behaupten, daß gerabe bei feiner 


Jetzten Reife nach Jeruſalem die Aufıhläge feiner Feinde .zus 
Ausfuhrung kommen werben? - Eine Berufung auf eine it. 


teftamentliche Stelle iſt diefer natürlichen Auslegung noch un⸗ 
günftiger als der eriten, weil es fehr zweifelhaft:üt, ob übers 
haupt das alte: Zeftament die bee eines leidenden unb Ken 
benden Meſſias fennt. 

v Muß man, alfo alle angeblichen VBorherfagungen Jeſu von 
den beſonderen Umſtänden ſeines Todes als Weiſſagungen 


nach dem Erfolge betrachten, fo verdient. Johannes allerdings 


Rob, daß er Jeſu Ausdrücke über dieſen Punkt fo allgemein, 
ubeitimmt hält, und die fpätere Deutung davon ſcheidet, 


wiewohl er doch an Einer Stelle, 8, 28, zu beflimmt. den . 


Tod durch feine Feinde vorherfagt, um. hier einen großen 
Vorzug in Anſpruch nehmen zu können. Ueberhaupt aber liebt 
Der Evangelift ja das Dunfle, Räthfelhafte und Myſterioͤſe. 
Wie die urchriſtliche Sage auf folche Vorherfagumgen nad 
bem Erfolge kommen konnte, fieht man bald: Die Krenzigung 
Des Meſſias erregte bei allen Gegnern des Chriftentkums den 
größten Anftoß (1 Kor. 1, 233: diefer wurde zwar glänzend 
befeitigt durch die Auferfiehung; aber. ed fchien doch auch fchon 
eine dem Tode vorausgegangene Aufhebung besfelben 
nöthig. Wodurch anders konnte dieſe bewirkt werben, . ald 
durch Bas ausgeſprochene Vorherwiſſen des Leidenden felbft? 
Dadurch erſchien der Tod als ein nothwendiges Glied der 
großen Heilsordnung, dem ſich der Erzähler nicht nur mit 
vollem Bewußtſeiu, fondern auch mit freiem Willen fügte, 
da er, im Befige jenes. Vorherwiſſens (Joh. 10, 17 .; M: 
26, 53), ihn auch hätte umgehen Tonnen. So wurde das 
ſcheinbar Sohmachvoue zum größten wre. 3 


u 


366 

Sehen wir num aber and) von allen in Jeſn Reden liegen, 
ben Borausfagungen über die einzelnen Umftänbe feines 
Todes ab, fo bleiben noch viele über denfelben im Allges 
meinen übrig. Da er auch diefe aus alt=teftamentlichen 
Stellen ableitet, welche durchaus feine foldye Vorherverkün⸗ 
digung enthalten, fo müjfen wir auch hier von vornherein 
laugnen, daß feine hierher gehörigen Reden Ausflüffe eines 
göttlichen Geiltes fein. Durch eine natürlich verftändige 
Berechnung aber Tonnte er allerdings feinen gemaltfamen Tod 
mit großer Wahrfcheinlichfeit vorherfehen: die herrfchende Pries 
fterparthei hatte. er fich zur unverföhnlichen Feindin gemacht 
(Joh. 10, 11 ꝛc) und das Beiſpiel früherer Propheten mußte 
ihn ahnen laffen, was auch er zu fürchten habe (M. 5, 12; 
21, 33 ꝛc.) 

Dennoch müffen wir die Frage aufwerfen, ob er feinen 
Tod wirklich aucd voraus gefagt haben fünme, weil diefer 
Annahme das Benehmen feiner Jünger gänzlich widerftreitet. 
Denn nit nur fonnten fie ihn, wenn er von feinem Tode 
fprach, gar nicht begreifen (M. 16, 22); fondern öfters vers 
ftanden fie ihm nicht einmal (Mark. 9, 32; Luk. 9, 45; 18, 
34): — und ald er num wirflich am Kreuze endete, da was 
ren alle ihre Hoffnungen wie vernichtet (Ruf. 24, 20 x. ), ihr 
Glaube an Sefu Mefftanität erfehüttert; was ja nicht hätte 
fein fünnen, wenn Jeſus, namentlih an der Hand altsteftas 
mentlicher Stellen, ihnen diefes Ende fo beftimmt. verfündet 
hatte. Entweder alfo hat Jeſus dieß nicht gethan, oder die 
Jünger wurden nicht fo muthlos, wie uns erzählt wird 
Beides konnte von der Sage erdichtet werden, die Vorherver— 
fündung aus fchon oben angeführten Gründen, die Muthlofiger 
feit, um den Abftand der Tünger (vor Ausgießung des heil 
Geiftes) von Jeſu recht‘ grell herworzuheben. Melches aber” 
iſt nun das Wahrfcheinlichere® Um darüber zu entfcheiden — 
müffen wir die Frage in Betracht ziehen: lag die Erwartung 
von dem Leiden und Sterben des Meſſias fchon in den das 
maligen Zeitvorftelungen? War dieß der Fall, fo mußten 
die Jünger um fo mehr Jeſu Borherfagungen verftehen, und 
um fo weniger fpäter an ihm irre werden. 

Allein kaum ift eine andere thenlogiiche Frage (0 ſchwer m 





entfcheibeii;,: als biefe, well 68 "und: am genanen RNachrichten Ä 
über biefen Punkt durchaus. fehlt. - Dem alten Teſtamente iſt 
die Anſicht von des Meſſias gewaltſamem Tode fremd, wen 

ſich auch darin bie Lehre von einer in ber meſſianiſchen Zeit 
vorzunehmenden Sühne des Volkes findet (Ezech. 36,255 - 
Sach. 13,15 1 Dan. 9,24). Aus den apokryphiſchen Bir 
chern des alten Teftanientes, ſo wie aus den fpäteren jäbifchen 
Schriftitellern Philo und Joſephus [&ßt ſich nichts entnehs 
men; wir find alſo nur auf Bas nene Teitament und anf bie 
fPäteren Rabbinen verwiefen. — Aus dem neuen Teſtamente 
fcheint mit Gewißheit hervorzugehen, daß damals Niemand an . 
einen leidenden und fterbenden Meſſias dachte; den meiften 
Iuden war derfelbe ein Aergerniß, ſie hatten and bem Geſetze 
‚gelernt, „daß der Meſſias (Ehrifins) in alle Ewigkeit bleibe“ 
Gob. 12, 34); und wie hätten fonft die Sänger fo fchwer in beit 
Kreuzestod ihres Jeſu fich finden Fönnen ?- Daß aber einzelne 
erleuchtete und höher gebildete Juden dennoch jene Anficht hats 
ten, wi man and zwei Stellen: beweifen: aus Luk. 2, 35, 
mo der begeifterte Simeon dem Jeſuskinde bittere geiben vers 
findet, und aus. oh. 1, 29, wo ber Täufer Jeſus als „das 
Lamm Gottes, dad ꝛc.“ bezeichnet: allein beide Stellen bewei⸗ 
fen nichts, ba fie, wie wir. fhon früher geſehen haben, der 
Mythe angehören. Eben fo wenig Gewicht haben die Auss 
fprüche der Apoftel, durch welche fie lange nach Jeſu Tode 
die Nothwendigkeit desſelben aus dem alten Teſtamente zu be⸗ 
weiſen ſuchen, wie Petrus: (Apoſtelg. 3, 18; 1Petr. 1, 11 ꝛc) | 
Paulus (1 Kor. 15, 3). und Philippus (&tpoftelg. :8, 35): 
denn wie. leicht können folche Deutungen erſt aus dem Erfolge 
heraus gemacht worden fen! 

Auch in den fpäteren Rabbinen laͤßt fi. die Idee des 
fterbenden Meſſias ſchwerlich nachweiſen. Zwar bezieht Hillel 
ber Aeltere Jeſ. 52, 13— 53, wo von Leiden und Tode die 
Rede ift, auf den Meffias, it aber überall geneigt, dieſe 
Ausſprüche der Stelle wieder vom Volke Iſrael zu verftchen: 
eben fo ungewiß ift ed, ob Rabbinen jemals im Ernfte Jeſ. 53, 
wo eine leidende Perfon geſchildert wird, vom Meſſias ver⸗ 
ſtanden haben. Allerdings finden ſich bei. dieſen Rabbinen 
Hinweiſungen auf große Drangſale, welche det metiiiiteen 


368 


Zeit vorausgehen würden; allein eben dieſe jollte der Meſſias 
vernidhten, fammt dem lirheber berjelben, dem Antichriſt: 
wenn auch hier und da von einem Leiden des Meſſias bie 
Rede it, fo iſt dieß nody fein Sterben, und trifft ibn höch⸗ 
ftiene vor feinem meifianifchen Auftreten. Endlich ſprechen 
bedeutend fpätere Rabbinen zwar auch von einem ſterbenden 
Meſſias, aber dieß ift nicht der eigentliche, der Eohn Davids; 
fondern der ihm untergeordnete, der Sohn Sojephs, der in 
der Schlacht fallen follte. — Es iſt alſo jehr wahrjcheinlich, 
daß ſich vor Jeſu Auftreten nirgends jene Vorſtellung vom 
fterbenden Meifias vorfand. Su Seju jelbit aber fonnte jie 
fi gar wohl entwidelt haben, nidyt nur aus Betrachtung 
bes alten Teſtamentes, fondern weit mehr noch aus dem Bes 
wußtjein jeines erhabenen, den Bolfsideen vom Meſſias nicht 
entiprechenden Planes: ja, ed mußte fait die Ueberzeugung 
in ihm fich befeitigen, daß die fonft unuberwindlichen finnlichen 
Borilellungen feiner Sünger vom dem Meſſiasreiche, ald einem 
irdiichen, nur durch feinen Tod zu vernichten jeien. Allein 
wohl mag er denjelben jparjum und nur dunfel angedeutet 
haben (wie 5.8. M. 9, 155 Luk. 13, 32), weil fie ihn doch 
nicht verjtanden. Daher erklärt fid) denn das Erſtaunen der 
Jünger nad) jeiner Kreuzigung: daher aber auch dag Bemühen 
ber fpäteren Sage, die unbejtimmten Andeutungen Jeſu zu 
bejtimnieren Borausjagungen umzubilden, wie wir fie nun 
in den Evangelien vor und haben. 

Auch über Zweck und Wirkungen feines Todes foll es 
fus öfters ficy geäußert haben. Bon der moralijchen Noth⸗ 
wendigfeit desjelben handelt dad Gleichniß vom guten Hirten 
(Joh. 10, 11, 15); die moraliihe Wirkjamfeit, ald Stärkung 
der Giemüther, madıt das vom Samenforn, das in Der Erde eriters 
ben mine Goh. 12, 24, anfchaulich, und wenn er bei Johannes fo 
oft fagt, er müffe zum Vater geben, um den Seinen den „Zröjter“ 
zu fenden, jo beißt das eben, ohne jeinen Tod werden bie 
grob finnlichen Meifiasideen fih nicht vergeiſtigen fonnen. 
Bei dem legten Abendmahle nennt er jein Blur das Blut Des 
„neuen Bundes“, Das heißt, die Bejiegelung des böheren, geis 
ffigeren Vereines mit Gott, wie blutige Opfer am Sinai einft 
einen äußeren Bund wit Jebovo befcäftiat hatten. Dieß 


369 


Alles. kann und mag Jeſus gar wohl’ aus ber Fülle. feines 
tiefen, begeifterten Gemüthes gejprochen haben haben; was. er 
aber von einem :Tode:ald Sühnopfer „zur Vergebung ber 
Sünden“ (Luf. 26, 285 vergl. M. 20, 28) gejagt haben fol, 
dieß mag wohl „mehr bem nach Jeſu Tode ausgebülberen Ey: 
ſteme. angehören. 


—IEEZ re r 1 


| Auch feine Auferſtehung ſoll Jeſus nicht minder: deutlich 
feinen SZüngern vorausgefagt haben: fo oft er von: feinem 
Kreuzestod fpricht, laffen die Evangelien ihn hinzufegen: „und 
am dritten Tage wird. er (des Menſchen Sohn) wieder. aufs 
erftehen“ (M. 16, 21; 17, 23 u. 4)... .Diefe Vorherverkün⸗ 
digung müfjen aber feine Sünger uoch weniger gefaßt habeu, 
als die feines Todes, wie nicht nur ihr Streiten über. folche 
Worte (Mark. 9, 10), ſondern weit mehr noch ihr Benehmen 
nach feinem Tode beweist. Nach der .Grablegung beginnen 
Goh. 19, 40) oder befchliegen fie wenigftens (Marf. 16,1) 
die Einbalſamirung des. Leichnam, wie wenn er der Berwes 
fung anheim gefallen wäre, — die Weiber, die am dritten 
Zage, wo aljo die Auferftehung gefchehen fein mußte, ‚zum 
Grabe gehen, find um die Wegwälzung des Steines beforgt 
(Mark. 16, 3); ald Maria den Leichnam nicht findet, tt ihr 
eriter Gedanfe, er möge geitohlen worden fein (Sob. 20, 2); 
— die Kunde von der Auferftehung erregt großen Schreden 
(Luk. 24, 21 20.), ober wird gar für leeres Geſchwaͤtz der 
Weiber gehalten (Luk, 24, 11); — der Verficherung felbit .der 
Apoſtel ſchenkt Thomas feinen Glauben (Joh. 20, 25); — 
endlich zweifeln die Sünger fogar noch bei des Auferfiandenen 
Erſcheinung in Oalilia daran, daß er wirklich Jeſus ſei 
¶ Mark. 25, 17). Wie reimt ſich das Alles mit einer klaren 
Borausgerfündigung? Eins von beiden aljo, dad Benehmen 
der Jünger oder die Vorherfagungen, muß erdichtet fein. — 
Um dieſem firengen Schluffe zu entgehen, nehmen nun 
Mandye an, Sefus habe nicht buchitäblich von feiner leiblichen 
Auferftehung gefprochen, fondern nur bildlich von dem neuen 
Aufſchwunge feiner unterdrücdten Lehre, was nachmald Die 
Jünger eigentlich genommen hätten. Allerbingd Wi. im 


Hl. 2A 


370 


alten Teſtamente die Wieberheritellung des ifraelitifchen Volles 
unter dem. Bilde einer Auferfiehung ber Todten bargeftellt 
Geſ. 26, 19); allerdings find die Worte „drei Tage“ aud 
allgemeine Bezeichnung .einer furzen Zeit (Hof. 6, 2; Luk. 13, 
32): — aber in jo bildlihem Sinne fünmen Worte überhaupt 
doch nur in einer Rede gebraudyt werden, die in ihren gans 
zen Zujammenbange einen ſinnbildlichen Anitrichh hat. Wen 
fie aber in gleicher Reihe mit ganz buchftäblichen Nedeweifen, 
wie in umjerm Falle, „überantwortet, verurtbeilt, gefreuzigt, 
getödtet werden“, ftchen, fo müſſen ſie nothwendig auch buch⸗ 
ſtäblich gefaßt werden: und fagt nicht Jeſus ganz unzweidens 
tig M. 26, 32: „Nach meinem Wiedererwachen gebe ich vor 
euch her nach Galiläa“? — Will fidy aber eine fo buchſtäb⸗ 
liche Propbezeihbung mit dem fpäteren Betragen der Jünger 
durchaus nicht vereinigen lajfen, fo müllen wir den, von Anbern 
eingefchlagenen Ausweg ergreifen, daß die in ihrer achten 
Geftalt ganz bildlichen oder Dunklen Aeußerungen Jeſu fpäter 
von den Anhängern desſelben nad dem Erfolge fo umges 
formt worden, dap fie, wie fie und nun die Evangelien 
geben, ſich allerdings als ganz eigentliche Verfündigungen auss 
nehmen. — Wir betrachten zu dieſem Zwede die vorzüglid» 
jten bierher gehörigen Reden Sefu. 


Als die Suden einft Jeſum, nachdem er den Tempel vom 
Marktunfuge gereinigt hatte, um ein Zeichen angingen, - wos 
burch er jene Befugniß zu folchem Handelt beweiien könnte, 
ſprach er die befannten Worte: „Brechet diefen Tempel ab, 
nach drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen“ (Joh. 2, 19 ıc.). 
Die Juden verftauden dieß von dem wirflicyen Tempel und 
nahmen großen Anitog an den Worten; der Evangelift aber 
belehrt und, Jeſus habe hier von feiner Auferftebung ges 
ſprochen (3. 21). Indeß dieſe Deutung Fünnen wir nicht 
annehmen: wenn es auch denkbar jein mag, daß Jeſus das 
Volk auf jene umwiderlegliche Berherrlichung zu ſeiner Legiti⸗ 
mation einitweilen binwies, fo mußte er dieß doch weit Deuts 
licher thun, und jo, daß man ibn andy begriff. Anzunchmen, 
er. babe den Worten duch Hindeutung auf feinen Leib nach- 


1 


371 
geholfen, Klingt faft lächerlich, und dann konnten ihn ja auch 
die Juden nicht mißverfiehen, und feine Jünger noch weniger! 
Daher wird neuerdings jene Auslegung der Worte durch Jos 
hannes mit Recht verworfen, und man nimmt gewiß weit 
richtiger dieſelben als finnbildliche Bezeichnung feines höheren 
Berufes an, vermöge deſſen der alte mofaifche Geremonialdienft, 
deffen Mittelpunkt der Tempel war, fallen müſſe, um einer 
geläuterten Gottesverehrung Plab zu machen. Diefe Auffafs 
fung der Worte wird beftätigt durch Marf. 14, 57 ıc., wo 
die Zeugen gegen Jeſu diejelben Morte, ald von ihm gefpros 
hen, und mit dem Zufaße, er habe gejagt, fein Tempel werde 
„nicht mit Händen gemacht fein“, wiederholen; — beftätigt 
durch die Erflärung, welche ihnen Stephanus gegeben haben 
fol (Apoſtelg. 6, 14); und endlich durch Sefu Aeußerungen 
gegen die Samariterin (Soh, 4, 21 ꝛc.). — Dennoch hat man 
Bedenken getragen, den Ausſpruch wirklich fo zu fallen, weil 
die Worte „am dritten Tage“ nur in Zufammenftellung mit 
dem erften und zweiten Tage (Luk. 13, 32) eine allgemeine 
Zeitbeitimmung zu enthalten fcheinen. Daher ziehen andere 
Theologen ed vor, der Stelle einen Dopyelfinn zu leihen, 
und entweder anzunehmen, Jeſus deute zmar auf eine freilich 
unmögliche Zerftörung des Tempels hin, denfe aber zugleic 
auch an den Untergang des alten Kultus; oder er ſpreche 
zwar von der Vernichtung und Wiederbelebung feines Leibes, 
habe aber auch die höheren Ideen eines auf den Trümmern 
Des alten zu erwedenden neuen Lebens im Auge. Allein ſolch' 
fchielender Doppelfinn geziemt feinem verftändigen und redlis 
hen Menfchen, gefchweige Jeſu. — Bretfchneider vers 
zweifelt fogar ganz an jeder möglichen Erklärung, und hält 
eine folche überbieß für überflüffig, da die Zeugen, welche 
Jeſu vorwerfen, diefe Worte gefprochen zu haben, als falſche 
bezeichnet werden, weßhalb die Worte ald von den Feinden 
erdichtet zu betrachten feien. Allein dieß folgt daraus gar 
nicht, fondern nur, daß bdiefelben von den Zeugen verdreht 
wurden, wie wir deutlich bei Stephanus fehen, dem gleichfallg 
falfche Zeugen nachfagten, er habe, indem er jene Worte Jeſu 
wiederholte, von einer gewaltfamen Aufhebung der Reli- 


372 


gionsverfaſſung gefprochen. — Nein! wir haben feinen Grund, 
jene finnbildliche Auffaffıng der Worte, ald Bezeichnung einer 
Reformation des Judenthums, nicht feftzuhalten: das Allein 
ftcehen der Zahl Drei ift Fein weſentliches Hinderniß. Dem 
war fie einmal in Verbindung mit Eins und Zwei Ausdrud 
einer unbejtimmten Anzahl geworden, fo fonnte fie ed aud 
obne dieſe Verbindung bleiben, wie fie aud) wirklich Sirach 
25, 1, 3, gebraucht iſt; und zwar bald um eine verhäftmißs 
mäßig lange, bald, wie bier, eine verhaͤltnißmaßig kurze Zeit 
zu bezeichnen. 

Noch weniger, als der fo eben beſprochene Ansſpruch Jeſu, 
kann ein anderer, M. 12, 39 u. A., wo Jeſus ſagt, dem 
verdorbenen Geſchlechte werde Fein andered Zeichen gegeben 
werben, als dad des Jon as, anf Jeſu Auferitebung bezogen 
werden, wie es freilich M. thut, wenn er binzujeßt, „wie 
Jonas drei Tage und drei Nächte im Wallfiſche zugebract 
babe, fo werde auch Jeſus eben fo lange im Grabe verwei- 
Ion“. An der ungenauen Zeitbeitimmung in Bezug auf Jeſu 
Aufenthalt im Grabe dürfen wir nun wohl. feinen Anſtoß 
nchmen, da eimmal „Drei Tage“ ſtehende Bezeichnung dieſer 
Zeit geworden war, und deßhalb „Drei Nächte“ leicht das 
zugejest werden fonnte. Weit wichtiger it Die Erwägung, 
daß mit eier jo ausdrüdlichen Berfündigung der Anferſte⸗ 
hung Das jpürere Benehmen der Jünger durchaus unverein⸗ 
bar it; jo wie, daß Jeſus, wenn er wirflich jenen Sum 
mit den Worten verband, ſie ganz gewiß den Seinen noch 
näher ‘erflärt haben würde. Mit Recht -fieht man Daher 
auch dieſe evangeliiche Deutung als eine aus dem Cr- 
folge. beransgeiponnene Erflärung an, und hält ſich Tieber 
an den Winf, den Lukas gibt, indem er Jeſu nach dieſen 
orten noch hinzufügen läßt, Jeſus werde Diefem Gejchlechte 
fein, was Sonas den Niniviten (11, 29 2c.), das beißt: „ie 
wie Diejen die. bloße Gegenwart des Propheten gemügte, 
auch ohne Wunder, jo follen auch die Anden, obne nach 
Wundern zu baichen, Seht Lehre und Perſon alauben“. ‚Se 
richtig diefe Deutung üt, jo beweist ung doch wenigſtens M. 
jo .viel, daß ſchon frühzeitig dem Schdjale des Jonas eine 


- 
a — — 


Beziehung, wenn auch eine irrige, auf. Jeſu Tod und. Auf⸗ 
erſtehung gegeben wurde. 

Auch in den Abſchiedsreden Jeſu bei Johannes finden 
ſich viele Ausdrücke, welche auf ſeine Auferſtehung gedeutet 
worden ſind; wenn Jeſus ſagt: „ich werde euch nicht ver⸗ 
waist laſſen“, — „über ein Kleines werdet. ihr mich nicht 
fehen, und über ein Kleines wieder fehen“ u. A. (Joh. 14; 
185.16, 16), fo ſcheint dieß allerdings jene Deutung zu 
rechtfertigen. Allein es finden fich wieder fo viele andere 
Stellen in diefen Reden, die ſich dagegen fträuben, daß wir | 
eine Erflärung vorerft noch verjchieben müffen, um fpäter 
darauf zurücdzufommen; einſtweilen aber mag daran erinnert 
werben, daß jene Abfchiedsreden Seju mehr, als alle andern 
Reden, mit eigenen Zuthaten bes Evangelijten durchwebt 
ſind. 

Sind wir ſomit an dem Reſultate angelangt, daß Jeſus 
feine Auferſtehung niemals vorausgeſagt bat, ſo fünnte man 
immer noch daran feſthalten, daß er ſie doch für ſich vorher 
gewußt habe. Allein auch dafür fehlt alle Stütze. Zwar 
ſoll er nach Luk. 18, 31 dieſelbe aus dem alten Teſtamente 
vermöge feines göttlichen Geiſtes abgeleitet haben; vergleichen 
wir aber die Stellen, welche die Apoftel fpäter als Vorher⸗ 
fagungen der Auferitehung anführten (Pf. 16, 85 Jeſ. 53, 
55; 3 Hof. 6, 2 u. A.), fo müflen wir, wenn wir nicht be> 
fangen find, geitehen, daß dieſe nody weit weniger die ihnen 
gelichene Beziehung enthalten, als die auf den Tod Jeſu bes 
zogenen diefen wirklich vorherfagten. Daß aber Sefus nur 
nad einfach menſchlicher Vorausſicht feine Auferſtehung 
vorher gewußt haben ſoll, überſteigt vollends allen Glauben. 

Nachdem aber einmal die Auferſtehung ein ſo wichtiger. 
Glaubensſatz der erſten Sünger geworden war, deutete hin⸗ 
tennach die Sage viele feiner Ausſprüche, die eine ſolche Deu— 
tung zuzulaffen fchienen, auf dieſes wunderbare Ereigniß; und 
fo fanden die erften Ehriften denn auch leicht in dem alten 
Teftamente vielfache Berfündigungen derjelben. Dieß geichah 
nicht mit fchlauer Abfichtlichkeit,. fondern lag ganz m Dem 
Geifte und Glauben der erſten Gemeinde. „ie es dem, 
der in die Sonne gefehen, ergeht, Daß er noch linarte Zt, 


m 


373 


wo er hinfieht, ihr Bild erblidt, fo fahen die Tünger, durch 
ihre Begeijterung für den neuen Meſſias geblendet, in dem 
einzigen Buche, das fie lafen, dem alten Teitamente, ihn überall, 
und ihre, in. dem wahren Gefühle der Befriedigung tieffter 
Bedürfniffe gegründete Ueberzeugung, weldye aud wir noch 
ehren, griff nach Stüßen, die längft gebrochen find, und ſelbſt 
durch das eifrigfte Bemühen einer hinter der Zeit zurückgeblie⸗ 
benen Schrifterflärung nicht mehr haltbar gemacht werben 
Fonnen. * 


Außer den vielfachen vereinzelten VBorherfagungen Jeſu von 
feinem Tode und feiner Auferftehung befißen wir in den Evan 
gelien noch einige fehr bedeutungsnolle Neben, worin er fein 
Wiederfommen zum Weltgerichte vorherverfündet. Als er, 
fo erzählt wenigftend M. Cf. oben), zum lebten Male ben 
Tempel befucht hatte, veranlaßte ihn die von feinen Jüngern 
ausgefprocdyene Bewunderung des prachtvollen Gebäudes zu 
einer langen prophetifchen Rede, worin er fie darüber befehrte, 
daß in fehwerer Drangfalgzeit diefer herrliche Tempel ſammt 
der ganzen Stabt zerflört werben, daß aledann er, der Me 
ſias, in den Wolfen bed Himmels fommen würde, um bie 
jegige Weltperiode zu fchließen, und die neue mit dem allge 
meinen Berichte zu eröffnen: dieß Alles folle das gegenwärtige 
Menfchengefchleht noch erleben. Am ausführlichiten gibt M- 
diefe Nede wieder, und es Täßt fich, wenn wir an ihn md 
halten, der Inhalt derfelben am einfachften in folgender Lieber 
fiht darftellen:: 

1. Vorzeichen des Weltendes, 24, 4—14; 
2. Das Weltende felbft: 
a. defien Beginn mit der Zerftörung Serufalems, 
15 — 28; 
b. deffen Mitte mit der Ankunft des Meſſias, 24, 
29; 25, 30; 
c. defien Ende mit dem Weltgericht, 31— 46. 

Es find alſo drei Hauptpunfte, an weldyen die Darftels 

lung ſich hinzieht: Zerftörung Terufalems, Ankunft 


373 


des. Meffiad, Weltgericht;z und feltgehalten wird 
überall, daß bag Lebende Geſchlecht das Alles noch 
erleben werde (M. 24, 34). Br 

. "Diefe merfwürbige Prophezeihung fpielt in der ganzen. es 
ſchichte des chriſtlichen Glaubens eine ſehr wichtige Rolle: — 
Der eine Theil, die Zerſtörung Jeruſalems, iſt ſchon lange 
in Erfüllung gegangen; der andere aber, Ankunft des Meſ— 
fias und Weltgericht, ift bis jett noch, nach 1800 Jahren, 
nnerfüllt geblieben, wiewohl die Zeitgenoffen bes Pros 
pheten es noch erleben follten. Schon in der früheften Zeit 
haben daher Feinde des Chriſtenthums nicht ermangelt, über 
die verunglüdte MWeiffagung zu fpotten: in neuerer Zeit hat 
beſonders der in der. Einleitung erwähnte Wolfenbüttler Frag⸗ 
mentiſt Daraus den Bormurf abfichtlichen Betruges, ben fidy ‘bie 
Apoſtel erlaubt hätten, hergeleitet. . Soldye Vorwürfe muß⸗ 
ten natürlich alle Freunde des. Chriftenthung zur Abwehr in 
Bewegung feßen: e8 wurde Alles verfucht, um bie: vorliegende 
Weiffagung in bürgerlichen Ehren zu erhalten; es. wurden 
alle Federn der ErHärungsfunft in Bewegung gefekt, und man 
fand zunächſt drei. Auswege aus dem Labyrinthe. — Mau 
firchte zu beweifen, 1) daß Jeſus nur etwas jest noch Zus 
künftiges, das Weltgericht; 2) daß er nur etwas fchon 
Eingetroffenes, bie Zerftörung Jeruſalems; oder 3) daß er 
Beides, jedoch mit genauer Sonderung der Zeiten, prophe- 
zeiht habe. Wir wollen allen drei Heildwegen folgen!. 

Anf das Weltgericht allein bezogen die älteren Kirchens 
väter die Weiſſagung; da fie aber felbft zugefichen, daß Jeſus 
in Schilderung derfelben feine Bilder von der Zerftörung Ie- 
rufalems entlehnt habe, fo geben fe ftillfchweigend oder uns 
bewußt zu, daß diefelben ganz auf diefe Zerftörung paſſen, 
mithin, da diefe, als. fie fehrieben, fehon vorüber war, daß 
man die Weiffagung weit natürlicher gradezu auch auf ſie 
beziehe. 

Dagegen faſſen die neueren Rationaliſten die ganze Rede 
als Vorherſagung der Zerſtörung Jeruſalems: was als 
Weltende bezeichnet iſt, fol ihnen zufolge von dem Ende des 
jübifchen Staates, die Erfcheinung des Meffias von fiegreicher 
Berbreitung feiner Lehre zu verftchen fein x. Wein olauoma 


376 


hätte Iefus ſich eine Freiheit im Gebrauche der Bilder erlaubt, 
die :an fid) ſchon unerhört,- den Juden aber gegenüber wirfs 
lich unerlaubt gewefen wäre, da er wußte, wie geneigt fie 
waren, das von der Anfunft des Meffias in den Wolken 
Gefagte buchſtäblich zu nehmen. 

Da 'alfo die fragliche Rede ald Ganzes weder allein 
von dem Weltgerichte, nody allein von Jeruſalem verftanden 
werden kann, fondern einzelne Ausdrüde unzmweidentig auf 
das erite (3.8. M. 25, 31), andere eben fo ungmweibentig 
auf das zweite (24, 2, 3) gehen, fo haben diejenigen noch 
das beffere Theil erwählt, welche zu beweifen fuchen, daß Ses 
fus beide Ereigniffe vorausverfünde, jedoch fo, daß der eine 
Theil feiner Weiffagung nur dem Einen, ber andere nur 
dem Andern gelte. Dieß fchien um fo einladender, weil in 
dee: That gegen das Ende der Nede die Verkündigung des 
MWeltgerichtes, zu Anfange die des Untergangs von Serufalem 
vorherrfchend if. Bei diefer Annahme muß nun aber vor 
allen Dingen die Fuge nachgewiefen werden, wo beide Theile 
der Weiffagung follen an einander geftoßen worden fein; und 
eben über dieſe Fuge find die Ausleger, Die wir auf Diefer 
Straße antreffen, fehr verfchiedener Anficht, was fchon von 
vornherein fein gutes Borurtheil erwedt. — Die Einen finden 
nämlich, die Fuge M. 25, 30, und verftehen Alles bis dahın 
von der Zerftörung Jeruſalems, das Folgende von dem Welt⸗ 
gericht. Allein abgefehen von dem leichtfinnigen „aber“, B.31, 
welches unmöglidy) zwei der Zeit nad) fo weit aus einander 
liegende Creigniffe verbinden fann, fo werden nad) diefer 
Trennung fo viele Ausdrücke auf die blos Serufalem betreffende 
Geite, das heißt die vordere, gefchoben, die nur mit großer Ges 
waltfamfeit für bildliche erklärt werden fünnen (3. B. M. 24, 
31). — Nicht glüdlicher find diejenigen Ausleger, welche einen 
Einfchnitt möglichft bald nad) dem Anfange fuchen: die meis 
ften finden denfelben nach M. 24, 28, fo daß alfo mit V. 29 
die Schilderung des Weltgerichted anfinge. Allein diefe würde 
dann mit dem verdächtigen Wörtchen „fogleich“ beginnen, was 
zufammen gehalten mit der Uebergangsformel des Markus „in 
jenen: Zagen“ (13, 24), auf einen unmittelbaren Anſchluß 
des Weltgerichts an Jeruſalems Zerftörung, der befanntlich 


877 


nicht erfolgt ift, hinwieſe. Ueberdieß fällt ja nun V. 34 des 
M., der, wie oben bemerft, verkündet, das „jetzt lebende . 
Menſchengeſchlecht“ werde noch Alles erleben, aud in bie 
Prophezeihung vom Weltgerichte hinein, und macht diefe ges 
rabezu zu einer. falſchen: denn alle Berfuche, den Worten, 
welche wir mit „jett lebendes Menfchengefchleche * überſetzen, 
einen andern Sinn: unterzufcjieben, fcheitern fchon an dem 
vorhergehenden V. 33, wo in: gang gleicher Verbindung: „Ihr“ 
fteht. Daher helfen .fich wieder Andere mit der Ausrede, 
Jeſus meine im B. 34 nur den Anfang.des durch Jahrhun⸗ 
derte fich durchziehenden WWeltgerichtes; allein zu beſtimmt ift 
B. 8 ſchon der Anfang, und fodann B. 34 das völlige Ges 
fchehen verkündet. — Ein anderer Verſuch, den Einfchnitt 
zwifchen Zerftörung Serufalems und Weltende etivad weiter 
unten zu feben, etwa V. 35 ober 42, ift eben fo unfeuchtbar, 
weil dann wieder vor diefe Bere Schilderungen fallen, die 
nur von dem Weltgerichte verftanden werden können. — 
Das Berzmeifeltfte von Allem iſt endlich die Annahme noch 
Anderer, daß Jeſus zwar V. 26 auf das Weltgericht über» 
gegangen, dann aber B. 32 wieder auf die Zerflörung Serus 
falems gefommen fei: das heißt den Tert zerhaden und Jeſu 
zumuthen, er habe fpringend und unordentlich geredet. 


. Weil man nun der Rede, fo wie fie vor ung liegt, auf 
feine Weiſe beifommen kann, fo hat man von andern Seiten 
her den Evangeliften die Schuld beigemeffen und ihnen 
vorgeworfen, fie haben die Ausfprüche Jeſu fo regellos durchs 
einander geworfen. Namentlich glaubt Schleiermader 
gefunden zu haben, daß zwar Lufas an verfchiedenen Stellen 
die wirklichen Reden Jeſu, die vom Meltgerichte (17, 22 ıc.) 
und die von Zerftörung des Tempeld (21, 5 ıc.), recht gut 
auseinander gehalten, M. aber in feinem Beftreben, zu ver- 
binden, fie ungehörig an einander, gereiht habe: allein dieſer 
Ruhm des Lukas ſchwindet, wenn wir auch in feiner Schils 
derung des Unterganges von Serufalem lefen (21, 27), daß 
man „alsdann des Menfchen Sohn in den Wolfen werde 
kommen fehen“. Wir werben vielmehr geftchen wien, wu 


378 


feinem der Evangeliften Unrecht zu thım, daß zwar vielleicht 
auch in diefer Rede Jeſu, wie in andern, die fie mittheilen, 
manches zu verfchiebenen Zeiten Gefprochene zuſammengeſtellt 
fen mag; aber zu der Annahme hat man fein Recht, daß 
grade das auf jene beiden nach unferer Borftellung fo weit 
auseinander liegenden Begebenheiten fich Beziehende das Nichts 
zufammengehörige fei, zumal wir aus der übereinftimmenden 
Darſtellung ber übrigen nensteftamentlichen Schriften erfehen, 
baß die erfte Gemeinde die Wiederkunft Ehrifti fammt dem 
Ende der gegemwärtigen Weltperiode als nahe bevorftehend 
erwartete (1 Kor. 10, 115 15, 31; 1 Joh. 2, 185 Offenb. 
1,1, 35 3, 110. 9.) 

Es haben endlich noch die Supranaturaliften der Sache 
dadurch aufzuhelfen gefucht, daß fie die modernen Borftelluns 
gen, bie fit) aus Schiller's berühmten Ausfpruche: „bie 
Meltgefchichte ift das Weltgericht“ ergeben, auch in's neue 
Teftament übertragen, indem fic behaupten, es fei hier von 
einem, durch die Zerflörung von Serufalem eingeleiteten 
immerwährenden Weltgerichte die Nede; von einem Durch bie 
ganze chriftliche Gefchichte fortlaufenden Wiederfommen Jeſu. 
Allein dieſe Vorftelung ift der fchärffte Gegenfat gegen bie 
Anfchauungsweife ded neuen Teftamentes überhaupt, und wis 
berfpricht namentlid, einer Menge von Ausdrüden in der vors 
liegenden Rebe, aus welchen wir nur hervorheben wollen, 
daß Sefus fein Kommen mit einem Blite CM. 24, 27) nnd 
mit dem Hereinbrechen des Diebes in der Nacht (M. V. 43) 
vergleicht, demnach als ein einmaliges und ylößliches bes 
zeichnet. 

Wir können alfo dem Geftändniffe nicht ausweichen, da 
auch die von Mehreren verfuchte, allegorifche Auslegung 
im fich felbft zufammenfällt, — daß Jeſus allerdings bag, 
was durch eine Kluft von Sahrtaufenden getrennt ift, die 
Zerftörung Jeruſalems und das Weltende, ſich ald eng vers 
bunden gedadıt hat, indem er nad) jüdiicher Vorftellung das 
Heiligthum des Tempeld als den Mittelpunkt der jeßigen 
Welt betrachtete, die mit dem Einfturze diefes Mittelpunftes 
gleichfalls in Trümmer zufammenftürzen müffe. 





379 


Diefes Nefultat aber, daß Jeſus, wie uns bie Erfahrung 
lehrt, geirrt habe, — ein Nefultat, zu weldyem eine unbe⸗ 
fangene Auslegung nothwendig gelangen muß, ift ben foges 
nannten Rechtgläubigen ein fo großes Aergerniß, daß fie ihm 
auf jede Weife auszuweichen fuchen. Hengftenberg nimmt 
an, baß ſich hier dem -geiftigen Auge Jeſu, wie der Prophe⸗ 
tem überhaupt, die Zufunft wie ein Gemälde bargeftellt habe, 
im welchem der ferne Hintergrund mit. dem nahen Borders 
grunde troß des großen Zwifchenraumes doch in der .engften 
Verbindung zu ftehen fcheine: allein dann hat Sefus "grade 
eben fo, wie Semand, der bei einem wirklichen Gemälde jene 
optifche Täufchung für Wahrheit hält, offenbar- auch fich ges 
iert. — Dishaufen will uns überreden, theild habe es bie 
moralifche Bedeutſamkeit der Wiederkunft Jeſu erfordert, Dies 
felbe als jeden Augenblick bevorftehend darzuftellen, theils ſei 
wirklich die ganze Weltgefchichte ein Kommen Chrifti: aber da 
ja das leibhaftige Wiederfommmen Sefu, welches er doch fo 
ganz beftimmt als ein baldiges verfündete, erwiefenermaßen 
noch nicht erfolgt ift, fo hat er auch nach diefer Auffaſſungs⸗ 
weife entweder geirrt, oder einen „frommen Betrug“ fich ers 
laubt. — Sieffert gefteht nun gradezu, Jeſu einen Irrthum 
zuzuſchreiben, ſtreite gegen das „chriftfiche Bewußtſein“, und 
es bleibe daher, wenn wir eine Rede, die Irrthümer enthalte, 
als von ihm ausgegangen im neuen Teſtamente leſen, nichts 
übrig, als dieſelbe für unächt zu erflären. Dieſer Anſicht je⸗ 
doch muß der Orthodoxe entgegnen, nicht das ſei die Frage, 
„was einem heutigen chriſtlichen Bewußtſein beliebe, von Chriſto 
anzunehmen oder nicht, ſondern was von Chriſto geſchrieben 
ſtehe, worein ſich dann das Bewußtſein wird zu ſchicken ſuchen 
müſſen, ſo gut es geht*; die Sache aber vom Standpunkte 
der unbefangenen vernünftigen Betrachtung aus gefaßt, 
müffen wir erklären, daß ein „folches auf Vorausſetzungen 
ruhendes Gefühl, wie das fogenannte chriftliche Bewußtſein 
it, in wiffenfhaftlichen Verhandlungen feine Stimme 
habe, und fo oft es ſich in folche mifchen will, durch ein eins 
faches: „das Weib fchweige in der Verfummlung * zur Ord⸗ 
nung zu weifen fei*. 


380 

Andere Theologen find Darum, weil Jefus unmöglich fo 
viele außerordentliche Begebenheiten, wie 3. B. die bis zur 
Raferei getriebene Widerfeglicyfeit der Iuden gegen die Rö⸗ 
mer; die vielen wirflid, eingetroffenen Umſtaͤnde bei der Zer⸗ 
ſtörung Serufaleme, Seuchen, Erbbeben, das Auftreten falfcher 
Propheten, das Einſchließen der Stadt durch eine Wagens 
burg ꝛc.; — weil er, fage ich, ſolche Dinge habe unmöglich 
vorausfehen koͤnnen, find andere Theologen geneigt, die ganze 
Weiſſagung als eine nach dem Erfolge gemachte zu betrach⸗ 
trachten,. und ihre Abfaffımg in die nächite Zeit nach Der Zers 
ſtörung Serufalems, wo man nun auch das Weltende als nahe 
bevorſtehend anfehen konnte, zu verlegen. Allerdings Tonnte 
auf übernatürliciem Wege Jeſus zu einer. foldhen Vorauss 
fagung nicht gelangen, weil er alddann nicht nur die alt⸗teſta⸗ 
mentlichen Stellen Dan. 9, 27; 11, 31. ıc., auf die er fidy 
ausdrücklich M. 24, 15 beruft, falfch gedeutet hätte, ins 
dem: fie nicht auf Jeruſalems Untergang, fondern auf bie 
Entweihung des Heiligthums durch Antiochus fich bes 
ziehen, — fondern weil auch feine Prophezeihung bis jett 
nur zur Hälfte eingetroffen iſt. Ob er aber nicht auf nas 
türlichem Wege, durch rein menfchliche Berechnungen, wos 
bei etwaiger Irrthum immer vorbehalten bleibt, zu jenen 
Borausfagungen habe gelangen können, ift eine andere Frage, 
die wir vorerft noch zu erwägen haben, ehe wir unſer Ends 
urtheil ausiprechen. Hier fällt und -zunäcft in die Augen, 
daß in der That -vieles in der Weiffagung Enthaltene bei 
Sernfalemd Vernichtung nicht eingetroffen ift; die Stadt wurde 
nicht ringsum eingefchloffen, falſche Meſſiaſſe find nicht aufs 
getreten und Die Naturerfcheinungen diefer Zeit waren lange 
nicht. fo bedeutend, als die prophezeiten. Was aber wirk⸗ 
Lich zugesroffen it, Fonnte Jeſus gar wohl aus Betrachtung 
der Vergangenheit und Ermägung alt stejtamentlicher. Vorftels 
lungen vorausfehen. Zu den le&teren gehören namentlidy die 
Erwartungen gräßlicher Ereigniffe, die der Ankunft des Mefs 
ſias vorangehen follten, Krieg, Theurung, Seuchen, Erdbes 
ben ꝛc. (Jeſ. 13, 95 Joel 1, 15 u. v. A.); Erwartungen, 
die in fpäteren jüdifchen Schriften auf eine unferer Weiffagung 


sl 

auffallend ähnliche Weife -ausgemalt find. Es fonnte felbft 
Die Danielifche Weiffagung, wiewohl fle, wie oben bemerkt, 
einem andern Ereigniffe galt, doch auf die Zerftörung Serur 
falems bezogen werden, da Vieles, was fie verkündete, noch 
nicht wirklich eingetroffen war; um fo mehr, da ja ſchon ein⸗ 
mal, vor dem babylonifchen Eril, das Heiligthum Des Tem⸗ 
peld umgeſtürzt worden war: „es konnte mithin von da an 
jeder begeijterte Iſraelite, dem der religiöfe und ſittliche Zus 
ftand feiner Landsleute verwerflich und unverbefferlich erſchien, 
die Wiederholung jenes früheren Strafgerichtes erwarten und 
sorherverfündigen*. Der einzige Zug, der. ald Zuthat Jeſn 
ericheint, die Erwartung, ed werbe Das gegenmärtige. Gefchlecht 
Dieß Alles noch .erleben,. war ebenfalls in Zeitvorftellungen 
begründet: denn fobald er fich einmal für den Meſſias hielt, 
mupte er auch zu dem Glauben gelangen, er werbe bereinft, 
wie Daniel und andere Propheten es verkündet hatten: Tach 
feinem Tode) in den Wolfen des Himmels erfcheinen., :und 
wie. nahe bevorftehend. diefe Erfcheinung gedacht wurde, : geht 
fchon daraus hervor, daß die Apoſtel dieſelbe noch zu erleben 
hofften a Kor. 15, 51 u. 





Wir find alſo durch das fo eben Ausgeführte zu der Ber 
hauptung wieder zurüdgeführt, daß wir feinen Grund haben, 
jene Weiſſagungen von dem naben, an Jeruſalems Untergang 
ſich anfchließenden Weltgerihte Jeſu abzuſprechen, und: es 
fragt fich nur, woher es komme, daß das vierte Evangelium 
von demfelben nichts meldet. Die Grundgedanken derſelben 
finden ficg, allerdings auch hier; dereinftige Auferwedung der 
Todten durch Jeſus (5, 2130), Eröffnung des Weltger 
gerichted (9, 39), welches durch Jeſu Berficherung, er fei 
nicht gefommen, um zu richten, nicht geläugnet wird, indem 
er dabei nur fein erſtes Erfcheinen ald Lehrer des Heils im 
Auge hat,. Jeden, der nad, dem Weltende gerichtet werde, 
ſchon als durch ſich ſelbſt (3, 18) gerichtet betrachtet, und 
überhaupt das Abhalten des feierlichen Weltgerichtes nicht ſo⸗ 
wohl als einen Aft feiner Perfon, wie als einen des in ihm 


382 


wohnenden göttlichen Wortes Cd. i. Geiftes) (12, 48) anfieht. 
Allein von feiner bevorfiehenden perfünlidhen Wiederkunft 
fpricht er doch nirgends bei Johannes; denn wo er hier von 
feinem Wiederfommen redet, Tann dieß nur in rein geiftis 
gem Einne verftanden werben, da er ausdrüdlich hinzufügt, 
er werde alsdann nur feinen Süngern, nicht der Welt ſich ofr 
fenbaren (14, 19): von einer ausführlichen finnlihen Schil⸗ 
berung des äußeren Herganges bei feiner Wiederfunft, wie 
wir fie in den Eynoptifern Iefen, findet fidy vollends nichte 
bei Sohanned. Die gewöhnliche Ausflucht, er habe auch hier 
das ſchon Bekannte nicht wieder erzählen wollen, paßt grade 
bier am allerwenigiten, indem theils die Sache viel zu wichtig 
ift, theild der Eoangelift, wenn er wirflidy der Apoftel Sohan, 
nes ift, allen Grund hatte, genau zu berichten, weil Sohannes 
von Dark. 13, 3 als derjenige Sünger hervorgehoben wird, 
der bei Jeſu Reden über diefen Gegenftand zugegen war: — 
da aber überdieß das Evangelium erft nach Serufalems Zer⸗ 
flörung gefchrieben wurbe, fo war die Aufforderung, Sefu 
PWeiffagungen von diefer Begebenheit, deren Nichteintreffen in 
vielen Punkten nothwendig Anftand erregen mußte, berichtigend 
mitzutheilen, doppelt groß und dringend. Wenn dagegen mandye 
Theologen fagen, Sohannes habe Ddiefelben nicht mittheilen 
wollen, weil fie bei den nichtindifchen Chriften, für die er 
vorzugsweife fhrieb, und die Jeſu Wirkfamfeit weit geiſtiger 
auffaßten, als fie in feiner perfünlichen Wiederkunft zum Ge 
richte ſich darftellt, Leicht hätten Anftoß erregen können, for 
muß dieſen ‘Theologen erwidert werden, daß „ grade folder 
Lefern gegenüber es eine pflichtwidrige Nachgiebigfeit gerwefere 
wäre, eine Beftärfung in ihrer alle äußere Gefchichte verflüch⸗ 
tigenden Richtung, wenn Sohannes ihnen zulieb die pofitive 
Ceite an der Wiederkunft Chrifti hätte zurüdtreten Laffen *- 
Ueberdieß enthält das befprochene Evangelium Stellen genug, 
in welchen dieſe äußere Seite des Wirkens Jeſu hinreichend 
hervorgehoben iſt. Es kann daher das Mangeln der frag⸗ 
lichen Weiſſagung bei Johannes nicht als Grund, an ihrer 
Aechtheit zu zweifeln, geltend gemacht, es muß vielmehr zu 
den Gründen gezählt werden, die. und zu Zweifeln an ber 


383 


lechtheit des Evangeliums, ale einer Schrift bes Apoſtels, 
exechtigen ?°). 


Drittes Kapitel. 


Die Feinde Jeſu, der Verräther Judas und das 
legte Abendmahl. 


(Viele zerftreute Stellen.) 


Don den drei Synoptifern werden einflimmmig als Die 
einde Jeſu bezeichnet zunächft die „Pharifaer und Schriftges 
ehrten“, neben diefen die „Priefter und Yelteften“ ; dann wohl 
uch die Sadduzäer (M. 16, 15 22, 23) und. die Parthei 
es Heroded (Mark. 3, 6): — das vierte Evangelium benennt 
ewoöhnlich alle diefe Gegner mit dem allgemeinen Namen 
die Juden“, was vom fpäteren chriftlichen Standpunkt aus 
efprochen if. Als erften Anlaß zur Feindfchaft gegen Sefum 
jeben alle Evangelien feine Sabbatheilungen an CM. 12, 
4; Soh. 4, 16), womit er gegen die herrfchenden engherzigen 
Infichten verftieß. . Ueber die weitere Entwidelung dieſes 
Yaffes aber berichten die Synoptifer Anderes, als Sohannes: 
yährend jene die harten Reden. Sefu über den Heinlichen 
Saßungsgeift der Pharifäer, die er ihrem Tadel wegen. der 
3ernadhläffigung des Waſchens vor der Mahlzeit entgegens 
tellte (Luk. 11, 37), als den Anlaß zu Berfolgungen im Als 
jemeinen, und den Nerger über die vom Bolfe beim Einzuge 
u Serufalem dargebrachten Huldigungen ald Grund zu bes 
timmteren Nacheplanen angeben, find es bei Sohannes feine 
Ausſagen über feine göttliche Natur (5, 18), welche die größte 
Srbitterung in feinen Feinden erregen, und die vom Volfe bes 
vunderte Auferweckung des Lazarus bringt den Entſchluß, ihn 
a.verderben, hier zur Reife. 


ss, Ich habe diefen Abfchnitt, den Strauß S. 362—8397 des zweiten 
Theiles behandelt, mit größerer Ausführlichkeit wiedergegeben, 
theils weil er an ſich von befonderer Wichtigkeit ift, theils weil 
fih in der Behandlung desſelben die Unbefangenheit und Schärfe 
der Straußiſchen Forſchungen ganz befonderd beurtuntet. 


384 


Semöhnlich gibt man der Tarftellung bes. Sohannes ben 
Borzug, weil nur er „einen Blid in die ſtufenweiſe Steiges 
rung der Spannung zwifchen ber hierarchiichen Partei und 
Jeſu eröffne*; allein diefes Lob iſt unbegründet, da fehon 
zu Anfang des Evangeliums der höchfte Grad des Haſſes 
und die gefährlichften Plane (5, 18) berichtet werden. 
Eher noch läßt ſich eine ſtufenweiſe Entwickelung bes feindfeligen 
Verhältniffesg aus den Synoptikern nachweijen, die uns das⸗ 
felbe Anfangs hinter der Anhänglichfeit des Volkes in Galiläa 
veriteden, dann von allgemeinen Anfchlägen auf fein Leben 
(Mark: 3, 6) und endlich von dem beftinmten Plane, ihn mit 
Lift nach dem Pafchafefte zu verderben (M. 26, 4, berichten; 
wogegen im Sohannes bie bitteren Verfolgungen der „Suben“ 
fchon gleich nach feinem erften Auftreten beginnen. Auffallender 
noch iſt ‚bei Johannes die falfche Angabe über Kaiphas, 
daß berfelbe in „jenem Sahre* (in welchem Jeſus getötet 
wurde) Hohepriefter gemejen C11, 49); falſch deßwegen, 
weil fie ganz fo Tautet, ale ob er eben nur in diefem Einen 
Sahre jene Würde beffeider hätte, da er doch befanntlich viele 
Sahre hintereinander Hohepriefter, und überhaupt diefes Amt 
nicht einem Wechjel von Sahr zu Jahr unterworfen war. 
Denjenigen Theologen, welche die Worte „in jenem Jahre“ 
in den. Ausdrud „zu jener Zeit“ umdeuten, mißgönnen wir 
diefen derben Sprachfehler durchaus nicht; müſſen vielmehr 
geitehen, daß jene falfche Angabe dem Johannes, der nodı 
überdieß als ein „Bekannter des Hohenpriefterd“ (18, 15) 
bezeichnet wird, kaum zugetraut werden kann, und daher bie 
Zweifel an dem johanneiichen Urfprung des Evangeliums be 
färkt. Eben fo befremdend iſt es, daß bei Johannes Die bes 
rathenden Priefter Jeſu eine politifche, revolutionäre Tendenz 
unterfchieben (11, 48), an welche wicht einmal der römifce 
Landoogt Pilatus glauben kann. — Somit hätten wir‘ über 
diefen Einen, die Gegner Jeſu betreffenden, Punkt drei wrige 
Angaben in Johannes entdeckt: ben frühzeitigen Beginn offen: 
barer Feindfeligkeit gegen "Sejum, das Aergerniß durch bie 
Erwedung des Lazarıd (die, wie wir weiter oben fühen, eine 
reine Mythe it!) und die Furcht vor politiſchen Plauen Jeſu; 
— drei bedenkliche Irrthümer! — 


— 


7 HE . ı ’ 
47 “ .. Pu . 1 
ara . 
. 2 * 
J ·N * 


R,%6, 41416, 1 —2355- Marl. 14,10, 11,825 


Ruf, 22, 4—6,.21 3; Joh. 13, 26-315: fodamn 
| ‘oh. 6, 70, 71.) 

‚De Untergang Sefu wurde dadurch beſchlennigt ‚ daR ein 
Anger „Judas Ifchariot, den Synoptikern zufolge wenige Tage 
ve dem Paſcha zu ben Borftchern ber Priefterichaft: ging, 
nd gegen einen veriprochenen Lohn ihnen feinen Meiſter ds 


lliefern verſprach. Johannes Dagegen läßt:ihn dieſen Entfchluß .- 


of :bei-ber lebten Mahlzeit .faffen, indem er fagt, „der Satan 
4 jet. in ihn gefahren“ (43, 27). Bei dieſem Widerſpruche 
E.die Wahrfcheinlichteit durchaus mehr auf Stiten.ber Synop⸗ 
Ber, da die Sache bei Johannes doch? gar. zu. ehr Knall und 


uf geht.und Judas wie befeffen davon rennt. Wenn übrigend . 


phames ſchon B. 2, alſo vor jenem. Mahle fagt; „ber Teufel 
abe dem Judas in's Herz gegeben, Jeſum zu .verratken“, 
v.Täßt fich dieß nur fo erflären,. daß jet zum :eriten Male 


m böfe Gedanfe in ihm aufſtieg, wenn er r auch noch nicht 


* feſten Entſchluß faßte. 

Auch in dem Vorherwiſſen Jeſu von des Indes Ber, 
—* weichen die Evangeliſten/ von einander ab; bei ben 
zynoptikern ſpricht er dieſes Wiſſen erſt am lebten Mahle 


ns, und ſcheint früher Feine Ahnung davon gehabt zu haben 


M. 19, 28); bei Sohannes kennt er fchon länger, als ein 
ahr vorher, feinen Verräther (6, 64, 70), und mußte bems 
sch als Herzensfundiger (2, 25) auch wiſſen, daß Habſucht 
e Quelle des Verrathes fein würde. Damit .aber fteht num 
5 höchſten Widerfpruch, daß Jeſus den Judas doch zum 
'affeführer gemacht haben foll; wer vertraut dem Habfüchtigiten 
m Gefellfchaft eine Kaffe an? wer ftellt den Schwachen an 
ne Stelle, wo er jeden Augenblid ‚dem Reiz zur Sünde ers 
gen kann? Hätte dann Jeſus nicht grade das Gegentheil 
m dem gethan, was er ung felbit beten lehrte: „führe ung 
cht in Verſuchung“? — Aber aud, abgefehen von dem 
affenamte, ift jenes Vorherwiſſen für ſich ſchon unwahrſchein⸗ 
4; eritlich hätte ja Jeſus, wenn er bei diefem Vorherwiſſen 
n Judas noc unter den Jüngern behielt, ihn .abfichtlich in 
se Sünde des Verrathes hineingezogen; und daß er fich 
eat beffern würde, wußte er ja auch cyan nocher, won ch 
IL 25 


v 


336 


wäre daher eine Graufamfeit gewefen, ihn auf dem Wege 
zum ſchändlichſten Verbrechen fortwandeln zu Laffen. — Wie 
fonnte ferner Sefus es nur in feinem Gemüthe ertragen, 
im Kreie der Seinen Jahre lang einen ſchwarzen Verräther 
zu wiffen? Nothwendig zur Erfüllung feines Schickſals war- 
e8 aber, was Einige behaupten wollen, nicht; denn nur feinem 
Tod konnte er ald nothwendig anfehen,. keineswegs aber grade 
den auf Dem Wiege des Berrathed. Endlich kann auch Die 
Ausflucht nicht gelten, daß Jeſus feine Sünger mehr habe 
freiwillig fich ihm anfchließen laſſen, ald daß er fie förmlich 
gewählt habe; denn wenn er auch nicht bei Sohannes felbit 
das grade Gegentheil davon ausfpräche (15, 16), fo müßten 
wir fchon das als ganz natürlic, vorausſetzen, daß er ſich 
doc; wenigſtens Erlaubniß und Beftätigung des Eintretend in 
den Kreis. feiner Apoſtel vorbehielt. | 
Müffen wir alſo jenes Vorherwiffen Jeſu als ein undenfs 
bares durchaus in Abrede ftellen, fo können wir zugleich leicht 
einfehen, wie die Erzählung von einem folchen fich bildete, 
Schon frühzeitig wirde der an Jeſu durch einen Sünger 
begangene Berrath von feinen Gegnern zu Spott und Hohn 
auf ihn benutzt; diefer konnte durch Nichts fo Leicht unterdrüdt 
werden, als durch die Angabe: Jeſus babe jchon Tange feinen 
Verräther durchſchaut, allein aus höheren Rüdfichten habe er 
fich freiwillig feiner Treulofigfeit blog geftellt. Dadurch verlor 
der Verrath alles, was Jeſu etwa zum Vorwurfe gemacht 
werden fonnte, wie fein gewaltfamer Tod alles Demütbigende 
durch ein gleiches Vorherwiſſen; ja es wurde dadurch jene 
höbere Natur in um fo jtärferes Licht geſetzt, je länger vorher 
Seins ſchon den Frevel vorausſah; daher erzählt ein apo⸗ 
fryphifches Evangelium, daß Judas fchon ald Knabe den 
kleinen Jeſus mipbandelt habe. — Noch Fünnte man fragen, 
ob nicht Jeſus auf ganz natürlihem Wege, aus Beobachtung 
des Judas, fein Verbrechen vorber willen fonnte? Beftimmt 
gewiß nicht, da er fonft den Böjewicht unmöglidy um fich 
dulden konnte; wohl aber fünnte er ein gewiffes allgemeines 
Mißtrauen gegen ibn aejchöpft, dieſes bier und Da geäußert 
haben, woranf denn fpäter, nad) wirklich ausgeführtem Bere 
rathe, jeine allgemeinen Aengerungen in beitimmte Borherfa- 





gungen umgebildet wurden. Aber and. mit einem nur noch 
unbeſtimmten Mißtrauen vertrug es ſich nicht, Judas Die Kaffe 
zu. laſſen, was wir denmaqh as ganz ange chictuis verwerfen 
mäffen: en. es %. . Be! to. 
Dogleich te newteftamenttichen Scriftflefier ein. entfcier 
denes Verdammungsurtheil über die That des Judas, als 
einen and: Habſucht begangenen.Berrath, ausfprechen, fo haben 
body - viele. ältere und nenere Theologen weit milber über. ihn 
geurtheilt.. Orthodoxe behaupten, Indas habe nur deu goͤtt⸗ 
lichen Rathichluß, die :Menfchen. durch Jeſn Tod zu exlöfen, 
befördern wollen, da er ein hoͤheres Wilfen um denſelben ger 
habt habe; Andere räumen. zwar: ein, daß Habſucht ihn vers 
feitet, glauben aber, er fei zugleich.der Erwartung geweſen, 
. Gefus werde vermöge feiner göttlichen Wunderkraft ſich allen 
Befahren wieder entziehen koͤnnen. Andere, als biefe-äbers 
trieben fupranaturaliftifchen Grünbe: find es, welche neueren 





Rationaliften, die überhaupt fo gerne die in der: Bibel tief 


‚geftellten Perfonen zu erheben ſuchen, das Beſtreben eingeben, 
ben Judas zu entfchuldigen. .: Während einige derfelben feine 
That aus dem Aerger über den. beim bethanifchen Mahle ers 
baltenen Verweis (Soh. 12; 4 ıc.) herleiten, fchreiben. Andere 
Deu Judas, der die finnlichen Meſſiaserwartungen aller Jünger 
getheilt habe, einen burchbachten politifchen Plan zu. Er habe, 
fagt man, ficher darauf gerechnet, die Verhaftung Jeſu werde 
in der überfüllten Hauptftanb ‘einen Aufftand des Bolfes vers 
anlaffen, Sefus befreit, und dadurch genöthigt. werden, fich 
endlich den Bolfe in die Arme zu werfen und fein neues 
‚Reich wirklich aufzurichten; Geld habe er für die Leberliefe- 
rung feines Meifterd angenommen, weil man es ihm ange: 
boten, und er durch Annahme desfelben feine Plane habe vers 
decken wollen; diefe aber feien gefcheitert, weil Jeſus fchneller, 
als er es habe denken können, ben Römern übergeben worden 
fei. Daß er. feine böfe Abficht gehabt habe, gehe fchon ang 
feiner Verzweiflung nach der Uebergabe Sefu an die Römer 
hervor u. ſ. w. — So fchön dieß Alles Mingt, fo fteht es 
Body rein in ber Luft, weil unfere Evangelien nicht Die ges 


riugſte Andentung davdn geben; mit Ausnahme de& Veroocked 


388 


auf den man ſich beruft, ber aber, befonders im Pergleiche 
mit dem ungleich härteren, dem Petrus CM. 16, 23) zu _ 
Theil gewordenen, feinen Verrath begründen kamm. Die vr 
zweifelnde Neue nach der That beweist ebenfalls Nichte 
denn wie mancher Mörder it fchon durch den Anblid dee 
Gemordeten in einen ähnlichen entſetzlichen Zuftand verfeßt 
worden ! 

Mir werden alfo doch wieder auf die evangelifche Bor; 
ftellung, daß Habfucht die Triebfeder des Judas geweſen, 
zurüdgeführt; die weitere Eimmwendung, der Lohn des Berris 
thers, 30 Silberlinge (etwa 20—25 Thaler) fei doch zu 
gering, ald daß er zu foldyem Verbrechen habe reizen können, 
macht und nicht irre. Denn vorerft iſt es der einzige M., 
ber von dieſen 30 Silberlingen etwas weiß; alle Anden 
reden nur allgemein von „Geld, Lohn“ ıc.; und auch M. 
fheint die Summe nur einer Weiffagung (Zac. 11, 12) zu 
Liebe grade auf 30 zu ftellen. Auch der Umftand, daß für 
den Sündenlohn ein Kleiner Ader gekauft worden (M. 27,7 xc.), 
beweist für die Geringfügigfeit desfelben gewiß nichts, zumal 
da dieſer Acer, feiner Beftimmung wegen, nicht Fein gewefen 
jein kann. — Räumen wir endlidy noch den Borwand, Sohan- 
nes habe feinen Vorwurf der Habjucht (12, 6) mehr nad 
dem Erfolge, ald der Wahrheit gemäß gemacht, mit der Ber 
merfung hinweg, daß alsdann Johannes verläumder haben 
müßte, jo werden wir gezwungen, Gewinnfucht bei Sudas 
ald die einzige beglaubigte Zriebfeder feftzuhalten, wenn 
auch damit allein die fchwarze That nicht ganz erklärt it. — 


AM. 26, 17— 19; Mark. 14, 12 —16; Luk. 22, 7—13; 
ſodann Soh. 13, 1, 2.) 

Am Tage des Pafchafeites fendet Sefus einige Sünger ab, 
um für die Feſtmahlzeit ein Lokal zu beftellen: und zwar nemt 
Lukas den Petrus und Sohannes ald die Abgefandten; Mars 
fus und Lukas geben ferner genau an, welches Zimmer bie 
Sünger in Anſpruch nehmen follen, fo wie auch, daß fie das 
Daus durdy einen ihnen begegnenden Waflerträger finden 


wi a Let 27 Se . - . 


würdeng: +-' ales / natere Umfbände,,r wache bei M. mangeln. 
Miher. auch von dieſer Verſchiadenheit abgeſehen, ſo erregt hie 
ganze Erzählung vielfache Anſtͤße. Wie konunte, fragt mon 
Sefug weit. Anordnung des nothwendigen Poſchamahles ſo lange 
ſaͤumen? erſt durch. feine Juͤnger ſich daran erinnern. Iafien? 
Ar wußte ja wohl, welch' nageheure Menſchemnenge in: bp 
Hegel vr dyei Millionen) zur Feſtzeit in Jeruſalem zuſammen⸗ 
ſedmnte; — und. nun weiter: cz. ſoll Dennoch ſogleich ein paſ⸗ 
ſendes botal gefunden, und dieß ſchon vorher gewußt haben 
‚sublich das faſt abenteuerliche Merkgeichen,: ein grade . in: bag 
gefuchte Haus eingehender Waſſertraͤger! Freilich Die watiwp 
fichen Erflärer find bald im Reinen, indem ſſe auch hien-zime 
Sorausgegangene Verabredung annehmen; allein darnach ſicht 
doch Die ganze Darſtellung gar nicht aus; vielmehr dentet 
Alles, hier noch. mehr, als bei dem ſonſt ähnlichen Falle van 
dem abgeholten Reitthiere, auf ein munderbares. ‚göttlicheg 
Vorherwiſſen Jeſu hin. Es ift daher unbegreiflich, wie ſupra⸗ 
naturaliſtiſche Ausleger ihren Vortheil verkennen, und. hier 
«ine natürliche Verabredung aunehmen moͤgen, da doch: vffen⸗ 
bar die vorliegende Erzählung mit der fo eben erwähnten vom 
Meitthiere in-ganz gleiche Kategorie. fällt, und eben ſo beſtiinmt 
um ein Wunder ſich dreht. in: folches ift aber quch in un⸗ 
feem Falle, ſchon als ein eines würdigen Zwedes -ermangelns 
des, ‚ganz undenkbar, und ficherlich nur aus Vorbildern. des 
alten Teftamentes erwachſen, wo Propheten hänfig.:ihr. Pros 
phetenthum durch Vorausſagen Heinlicher- Umftände beurfunden, 
wie z. B. Samuel. dem Saul vorherſagt, wer ihm auf feinem 
Rückwege begegnen werde (1 Sam. 10, 1 3c.). — Uebrigens 
müffen wir, fchließlich noch die drei verfchiedenen Berichte. in’s 
Auge faffend, auch hier dem des M., ald dem einfacyern und 
Daher ohne Zweifel älteren, den Vorzug geben, während die 
der beiden andern, mit ihren. fpezielen Angaben, 3.8, ‚der 
zwei Ssünger, bes oberen Saales, des IBafferträgers, — ganz 
Bas. Sepräge fpäterer Ausfchmüdung an fic tragen, 





Its. j u u tn * 
p In der Erzählung vom letzten Mahle ſelbſt finden ſich nicht 
wenige unaufloösbare Schwierigkeiten; zunächſt va Bererk, Ver 


390 


Zeit. Daß es zwei Tage vor dem Sabbat, alfo am Dons 
nerftage unferer Woche, gehalten worden: darin flimmen alle - 
Evangelien überein; allein den Synoptifern zufolge war dieſer — 
Tag der „erfte der ungefänerten Brode, an dem man dac— 
Paſchalamm opfern mußte“ (M. 26, 17 u. U), mithin wax= 
dieſes legte Mahl eben das feſtliche Paſcha mahl: — Johan — 
nes dagegen gibt den Tag „als einen vor dem Fefte“ art 
(13, 1); bei ihm ift alfo jenes legte Mahl nicht. das Paſcha⸗ 
mahl, vielmehr fand diefes erft am folgenden Tage, d. h. am 
Todestage Sefu ftatt (18, 28), der daher aud, der „Nüfttag 
des Paſchafeſtes“ (19, 14) genannt wird, fo daß der af 
diefen Todestag folgende Tag nicht nur der erfte Felttag, 
fondern auch zugleicy ein Sabbat war, oder wie Sohanned 
fagt: „es war der Tag jenes Sabbats ein großer“ (19, 31): 
nach den Synoptifern dagegen ftel fchon auf diefen erften 
Fefttag die Kreuzigung Jeſu. 

Diefer Widerfpruch ift fo ftarf und fo beftimmt ausgedrüdt, 
daß alle Verfuche, ihn hinwegzuräumen, fcheitern mußten; wir 
wollen fie ung zu einer kurzen Betrachtung der Reihe nad 
vorführen. — 

„Die Cvangeliften erzählen von zwei verfchiedenen 
Mahlzeiten“, fo Heß, Venturini ꝛc. — Allein alle Erzäh: 
lungen ftimmen in einzelnen Punften fo fehr überein, und 
Sohannes bezeichnet auch fein Mahl ald das lekte, Das 
Sefus mit den Jüngern hielt, und fchließt fo unmittelbar den 
Gang nad; Gethfemane an dasfelbe an (18, 1), daß offenbar 
beide Theile das lebte Mahl Jeſu fchildern, und demnach 
der Widerſpruch bleibt. — 

„Auch Sohannes bezeichnet dieſes letzte Mahl als das 
Pafhamahl “; eine fehr unbegründete Behauptung! Sein 
Ausdruck „vor dem Feſte“ (13, 1) fol im Sinne der Gries 
chen, die den Tag mit Aufgang, nicht wie die Suden mit 
Untergang der Sonne, anfingen, gemeint fein: dann mußte 
aber Johannes vielmehr jagen: „am Feſte felbft*, weil ja 
doc), wenn er vom Pafcha redet, fchon der Abend Diefeg 
Tages ein feftlicher war. Ueberdieß fagt er vom folgenden 
Tage zu beftimmt (ſ. oben), daß hier das Paſcha genoffen 


wurbe, was eben: mur::som Paſcha lamm des Bonabends ner - 
landen werden kann. > mi Aa sr moin 


ji Das Paſchalamm wurde allgewein-nicht. aut: 44. Rifan, 
fondern am Donnerflage unſerer Rechmung: (13. Niſaudige⸗ 
geſſen, fo. daß Spnoptiker und Johannes einig find“; a die 
Zuden haben damals dad Paſchamahl Eif. den Freitag ver⸗ 
legt; daher des Johannes Angabe, daß ‚fie. am Todestag ieh 
das Paſcholanmm effen wollten (18,.28): Jeſus aber. blichıder 
ten. Sitte ‚treu; daher mr ber fcheinbare Widerſpruch "3 
zn Jeſus hat das Paſchamahl auf. einen frühern Tag, als 
es eigentlich fiel, verlegt“. — ‚Drei fich unter. einander felbR 
Yernichtende, ‚gleich ‚grundlofe Behatiptungen! indem ſie ſanunt⸗ 
Hich: gegen ganz erwieſene geſchichtliche Thatſachen amd feſt⸗ 
ſtehende jüdiſche Einrichtungen verſtoßen; — Gdaher nur u 
Borübergeben angeführt werben bürfen..:: . ::- 

. Mit Recht. haben,. diefen verfehlten Verſuchen Gegenüber, 
neuere Forſcher nachdruckſamſt hervorgehoben, daß es ſich 
‚hier nicht darum handele, bei ſonſtiger Uebereinſtimmung cine 
zelne Widerfprüche auszugleichen, fondern „alle Zeitbeftisununs 
gen der Synoptifer find von der Art, daß nach ihnen Jeſus 
noch das Pafcha mitgefeiert haben müßtez alle johanneiſchen 
dagegen: ſo, daß er ed nicht mitgefeiert haben kann*“. Es 
muß alfo eingeflanden werden, daß nur Ein Theil Recht ha⸗ 
ben fann, und ber andere Theil eine irrthümliche Angabe ent- 
halt; ed fragt ſich nur noch, welcher? — Hier ftellt fich nun 
‚ollerdings die Sache für die Synoptifer am wenigſten günftig 
heraus: ihnen zufolge war der erfte. Tag, an welchen Sefus 
gefreuzigt wurde, der erfte Paſchatag und daher ein hoher 
Feſttag; und doc, ‚nimmt ſich Alles an Demfelben fo werfel- 
täglich aus: Jeſus verläßt am Abende vorher gegen das Ge⸗ 
fe die Stadt; feine Freunde beſtatten ihn eilig, und lafen 
Die Beitattung nur aus Furcht vor dem anbrechenden:. Sab⸗ 
. bat unvollendet; die Mitglieder :ded Synedriums feiern den 
Feſttag gar nicht, indem fie Gerichtefigung mit Verhör' und 
Urtheil abhalten, ihre Diener zur Verhaftung ausfenden ıc. — 
"Zwar gefchah es nicht :felten, daß anf die Zeit. eines hoben 
Feſtes ſogar fchon befchloffene Hinrichtungen verſchoben wur⸗ 
den; daß aber etwas der Art am edſten. vnd: Leuten αÑ 


Burn 


392 


tage, welche beide einem Sabbat gleich geachtet wurden, ges 
fchehen fei, ift ohne alles Beifpiel. 

Allerdings aber konnte die urdhriftlihe Sage leicht beſtimmt 
werben, die Krenzigung Sefu auf den hoben Feſttag zu vers 
legen, da fein Tod und das darauf vorbereitende Abendmahl 
in geheimnißvolle Beziehung zu dem jüdifchen Pafcha geſetzt 
wurden: ed lag eine folche Berlegung der Einſetzung des 
Abendmahles auf den Paſchaabend um fo näher, weil in ben 
judenchriftlichen Gemeinden noch lange Zeit das Pajchamahl 
nach jüdiſcher Weiſe gefeiert wurde, und dasfelbe nun durdy 
jene Sage eine chriftliche Bedeutung erhielt. — Es hätte aber 
freilich auch dad vierte Evangelium zu der irrigen Anſicht, 
Jeſus fei am Tage des Pafchamahles gefrenzigt worden, 
fommen können, da es in dem Umſtande, daß ihm die Beine 
nicht zerfchlagen wurden, die Erfüllung einer Weiffagung (2 
Mof. 12, 46) erblidt: diefe Stelle jedoch bezieht fich einzig 
auf das Schlachten ber Pafchalänmmer, und die Beziehung 
auf Jeſu Tod feheint nur mit der irrigen Anficht, Jeſus fei 
um biefelbe Stunde getödtet worden, wo man die Pafchaläms 
mer fchlachtete, entitanden zu fein. 

Indeſſen ift „vor der Hand nur der unauflösliche Widers 
ftreit der beiderfeitigen Darftellungen anzuerfennen, eine Ents 
ſcheidung aber, welche die richtige fei, noch nicht zu wagen*. 


(M. 26, 20— 305 Marf. 14, 17— 31; uf. 22, 14— 38; 
‘oh. 13.) 


Aber auch in Bezug auf die einzelnen Borgänge bei’m 
legten Mahle find die Berichte fehr verjchieden; und zwar in 
der Art, daß im Ganzen die Synoptifer unter ſich genauer 
übereinftimmen, als mit Sohannes; Lukas jedoch auch wieder 
von den zwei erften Evangeliten in Manchem abweicht; Diefe 
legteren Berfchiedenheiten, die Berfündigung des Verrathe, 
die Anordnung der einzelnen Stüde, den NRangftreit u. 9. 
betreffend, find von geringer Erheblichfeit. Dagegen ift ber 
MWiderfpruch, in welchen Sohannes mit allen Synoptis 
fern ſteht, darin fchr auffallend, daß ihm zufolge Jeſus eine 


393 


Sußwafchung bei jenem letzten Mahle vornimmt, nach ben 
Synoptifern aber das Abendmahl einfeßt, wovon Johannes 
jar nichts erzählt. 

Diefes gänzliche Schweigen hat man vergebens zu erklären 
gefucht. Zuvörderſt kommt auch hier der nichtige Grund wies 
der, Sohannes wolle nur die übrigen Evangeliften ergänzen, 
md könne daher recht gut über das fchon von diefen erzählte 
Abendmahl fchweigen; allein wäre Senes fein Zweck, fo mußte 
ee auch 3. B. über das weit unmwichtigere Speifungswunder, das 
bereits erzählt war, ſchweigen; das Abendmahl durfte er aber 
nicht übergehen, weil in deſſen Darftellung ſich Manches fanb, 
was er für falfch halten mußte, 3. B. die Angabe der Zeit. 
— Andere meinen, er habe für unnöthig gehalten, daß nies 
derzufchreiben, was ſchon in der gewöhnlichen mündlichen 
Ueberlieferung verbreitet genug gewefen fei; allein das wäre 
fehr unverftändig; denn fchriftliche Aufzeichnung wird ja überall 
defwegen vorgenommen, weil man der Zuverläßigfeit münd- 
licher Meberlieferung nicht traut, und wo follte man jene für 
nothwendiger halten, als bei der fo feierlichen Stiftung eines 
lirchlichen Gebrauches, über deffen Einfegungsworte man ſchon 
damals Cf. unten) verfchiedene Angaben hatte? Und gab es 
überhaupt eine Handlung Sefu, die fo deutlich ihn als den 
göttlichen Stifter eines „neuen Bundes“ bezeichnete, wie 
diefe ? welche Reden Jeſu find ergreifender, tiefer und eigens 
thümlicher, als jene Einfeßungsworte? und tieffinnige Reden 
find es ja gerade, die Johannes mit Vorliebe gefammelt hat! 

Am ungünftigften für alle diefe Verſuche ift es aber, daß 
die Ausleger, die fie anftellen, nirgends in der Darftelung 
des Johannes eine Fuge finden können, wo fich die, nadı 
ihrer Anficht, auch ihm befannte Einfegung des Abendmahs 
leg unterbringen ließe, weßhalb man vieler Orten im Kap. 13, 
wo vom legten Mahle die Rede ift, angeklopft hat. — Einige 
Rüden die Fuge am Ende des Kapitels; allein deffen letzte 
Worte vom Hingange Jeſu hängen mit dem Kap. 14, wo 
Sefus die bewegten Jünger deßhalb tröftet, auf's engfte zu- 
ſaumen. Eben fo wenig paßt eine fo ernfte Handlung zwi: 
Ihen V. 30 und 31: denn die Worte des leßteren Verſes be- 
jiehen ſich unverkennbar noch auf den fo eben erzählten Weggang 


._ “ 


394 


des Verräthers. Nach B. 33 laͤßt fich gleichfalls nichts hinein⸗ 
denfen: denn bes Petrus Frage B. 36 bezicht fih auf B. 33, 
und hätte inzwifchen die Einſetzung ftattgefunden, fo hätte 
ficherlicd; Diefe des Petrus, wie aller Andern, Gemüth ganz 
allein befchäftigt. Gleichfalls zerreißt den Zufammenhang, 
wer bie fragliche Sache. nach V. 32 einfchieben will. — Das 
her glaubte ein. nenerer Ausleger, nach V. 1 die fehicklichfte 
Stelle zu finden, da ja V.2 fage: „ald das Mahl vorüber 
war 2c.“, fo erkläre damit Sohannes, daß er von dem wähs 
rend des Mahles Vorgefallenen, alfo auch von der Ein, 
fegungsfcene, die er wohl gefannt habe, nichts berichten 
wollte Allein wenn eg nım V. 12 von Sefus heißt: 
„er. feßte fi, wieder nieder“, fo war doch bei V. 2, wo 
die Fußwaſchung begann, die Mahlzeit noch nicht vorüber; 
‘und wirklich heißen die angeführten Worte diefes Verſes nad) 
richtiger Ueberſetzung °°) nichts Anderes, als: „nachdem 
Das Mahl angefangen hatte“. — Johannes wollte alfo 
"auch dag während bdegfelben Gefchehene erzählen, und 
mußte die Einfekung erzählen, wenn er fie kannte. 

Daß Sohannes fie aber nicht fannte, müffen wir ale 
Ergebniß der fo eben angeftellten Prüfung beftimmt ausfpre 
chen: nur. muß man ung nicht vorwerfen, daß wir damit be; 
haupten, er habe das Abendmahl felbft, ald allgemeinen fird; 
lichen Ritus nicht gekannt; dieß wäre ſinnlos. Allein gar 
‘wohl tonnten ihm entweder die einzelnen Umftände der Eir 
fesung desſelben unbekannt geblieben fein; oder er konnte and 
es vorziehen, feiner Vorliebe gemäß für myfteriöfe, erſt fpäter 
klar gewordene Ausfprüche Sefu, nur foldye über die Entfte 
hung des Abendmahles feinem Evangelium einzuverleiben, 
wie ſich wirflicy viele zerftreute Andeutungen bei ihm vor 
‚finden von der Nothwendigfeit, Jeſu Leib zu offen und fein 
"Blut zu trinken. 


Andererfeitd könnte es ums nun auch befremden, Daß die 
Synoptifer von der bei Johannes zu lefenden Fußwaſchung 


3) Die freilich au Auther wicht aikt. 








nichts —* dieſe iſt jrvoch "as" ſo Antergtrvrdtietes, "DAR 
jene vrei Evcingeliſten / die auf Vollſtandigkeit keinen: Anſpruch 
machen,/ ſie leicht, auch wenn fie irren befanne war, übers - 
eben: konnten. Näher aber liegt die Annahme⸗ daß die 
ganze Erzaͤhlung des Johannes eine reine Mythe: ſei, die 
ſich ans beridet M. (20, 26) mir allgemein, bei. Lukas (27, 
27) ſchon finnbilbficher durch Hirweiſung auf: Das Verhaltniß 
zwiſchen Jeſu und feinen ärgern ausgeſprochenen Ermahnling 
zur Demuth zu einer Parabel, — und von der Parabel” zu 
. nee: Gefchichtserzählung Tönwte entwickelt haben, die men 
ſodann grade auf das Atſchledemahr Jeſu ans guten Gründeh 
Ä verlegt hätte. :ı 5”. i 
"Die Rede “über die wolf· Throue, auf welchen die 
west Apoftel als: ſolche, dis⸗bei ihrem Meifter': ausgeharrt 
Haben, einft die zwoͤlf Stannme Iſraels richten ſollen; — ſo 
wie die über die Nothwendigkeit/ fi ſich ein Schwert zu kaufenʒ 
Reden, die ſich nur bei Lukas finden CB: 28—30,:36), 
paffen zur ganzen Scene fo wenig, daß fie Lukas mir nach 
einer ganz äußeren Gedankenverknupfung hierher verlegt haben 
kann; wie ihm’ dieß auch‘ mit andern einmal überlieferten Aus⸗ | 
. ſprũchen Jeſu begegnet if. | 


Eine andere wichtige Frage i in Betreff des letzten Mahles 
iſt die, welche die Verkündigung des: Verrathes betrifft. 
M. und Marks laffen fie vor, Lukas nach der Stiftung 
des Abendmahles, Johannes während der Fußwaſchung aus⸗ 
geſprochen werben. Hier nun haben fi. die Drihodoren fehr 
beeilt,; fih an M. und Markus anzufchließen und dazu aus 
dem Johannes zu beweifen, daß der BVerräther bei Stiftung 
des Abendmahles fchon fortgegangen war; es fchien nämlich 
mit der Barmherzigkeit des Heren :unverträglich, daß er den 
Verbrecher durch Zuziehung zum Abendmahle noch ſchuldiger 
machen’ follte. Aber die Abweſenheit des Judas während des⸗ 
felben läßt fich, wenn auch M. und Markus Recht haben, 
durchaus nicht beweiſen; denn fie wiflen nichts davon, daß 
er nad} Verkündung bed Verrathes ſich fogleich entfernt habe; 
nur Johannes ſagt es; md: Dafür, we vei. einer TON, 


396 


zugegen gewefen und wer nicht, wird man doch den nicht 
zum Zeugen nehmen wollen, der von der ganzen Handlung 
Nichts weiß? — Auch in Erzählung der Art und Weiſe, 
wie der Berräther bezeichnet wurbe, ftimmen die Evangelien 
nicht überein; bei Lukas nennt Jeſus deſſen Name gar nicht 
(22, 21); bei M. und Markus fpricht er ebenfalls erft im 
Allgemeinen von einem Verräther und bezeichnet ihn Dann ale 
den, der mit ihm in die Schüffel tauche, worauf M. nod 
ben Judas felbft fragen läßt (M. 26, 21 2.3; auf ähnliche 
Meife fteigt bei Sohannes (13, 18 ꝛc.) die Bezeichnung vom 
Unbeftimmten zum Beltimmteren auf. 

Diefe verfchiedenen Berichte Iaffen fich durchaus nicht vers 
einigen; man müßte denn, wie Einige wollen, annehmen, Jeſus 
habe erft auf die leifen Fragen des Sohannes (Soh. 13, 25) 
und bes Judas leife geantwortet, und dann laut zu Allen 
gefprochen; eine wahre Spielerei! Und dann müßte ja aud 
der Berräther dicht neben Jeſu gefeffen haben, gleich dem 
Lieblinge Johannes! Es find daher alle befonnenen Theologen 
genöthigt, die Berfchiedenheit der Berichte anzuerkennen, nur 
darin nicht einig, welcher ald der zuverläßigere zu betrachten 
ſei; unfere Anficht ift diefe. Urſprünglich mochte man nur 
willen, daß Jeſus überhaupt nur Einen der am Tiſche Sitzenden 
als Berräther bezeichnet habe (Luk.); fpäter bildete ſich dafür 
der, das Schwarze der That mehr ausmalende Ausdrud: 
„einer, der mit mir in die Schüffel taucht“ CM. u. Mark), 
was man nun fofort im engften Sinne nahm: „der, der eben 
jest mit und ꝛc.“, dieß mußte denn dem Erfolge nach der 
Judas geweſen fein; und endlich follte Jeſus ihm fogar den 
Biffen felbit gereicht haben (Joh.). Nach diefer Anficht hätte 
alfo Jeſus den Verräther gar nicht bei Namen genannt, was 
fchon darum fehr wahrjcheinlich ift, weil die übrigen Sünger 
den Judas fo ganz ruhig ziehen und das Verbrechen voll 
führen lafien. 

Ob aber Jeſus den Judas als feinen Verrather auch 
nicht gefannt habe? kann immer nod) gefragt werden. Zwar 
aus Pfalm 41, 10, wie Joh. B. 18 ihn behanpten läßt, kann 
er dieſe Kenntniß ficherlicy nicht gefchöpft haben, da diefer 
Berd auf nichts weniger, als auf den Meſſias ſich bezicht, 


397 


und gewiß auch por dem Berrathe von Niemanden auf ihn 
bezogen wurde. Dagegen könnte Jeſus gar wohl durch ents 
fernter ftehende Freunde unbeftimmte Kunde von einem im 
Kreife der Sünger brütenden Berrathe erhalten haben; in 
welchem Falle er aber Fein Menſchenkenner hätte fein müffen, 
wenn fein Verdacht nicht auf Judas gefallen wäre. 


Auffallend hat man es ferner gefunden, daß die, gleichfalls 
bei jenem Mahle (bei M. jedoch erft auf dem Wege nady 
Gethfemane) ausgefprochene Verfündigung von des Petrus 
Berläugnung fo genau eingetroffen fein fol; man könnte 
baher geneigt fein, fie, als eine Weiffagung nach dem Er- 
folge, Jeſu abzufprechen. Allein wahrfcheinlicher ift es Doch, 
daß Jeſus etwas der Art vorausfagte, was aber fpäter buch⸗ 
ftäblicher gedeutet wurde, ald er es gemeint hatte. Denn 
wenn er, was alle Berichte einftimmig angeben, wirflich einen 
Angriff in der eingebrochenen Nacht erwartete, fo fonnte er 
bei dem aufmwallenden Feuereifer (M. 26, 33) des Petrus, 
Den er gewiß genau fannte, wohl ein augenblidliches Straucheln 
voraugfehen; wenn er dann fagt: „ehe der Hahn kräht“, fo 
heißt es in der Sprache jener Zeit nichts weiter, als: „vor 
Anbruch des Tages“; — „dreimal“ ift unbeftimmter Ausdruck 
für etwas Wiederholtes; — „verlängnen“ kann leicht aus 
einen etwas allgemeineren Ausdrud: „ftraucheln, an mir irre 
werden ꝛc.“, umgebildet worden fein. Es hat alfo eher den 
Anfchein, daß die Erzählung von dem wirklichen Benchmen 
Des Petrus der zu enge gedeuteten Warnung Jeſu nachges 
bildet, als daß eine folhe Warnung nie gefprochen worden. 


Wir haben nun nod) die Einfeßung des Abendmahles, 
als eines Firchlichen Gebrauches, näher in's Auge zu ſaſſen; 
die feierlichen Worte, mit welchen dieß gefchah, werden von 
ben Synoptifern (M. 26, 26; Mark. 14, 22; Luk. 22,19, 9) 
und von Paulus, der fie 1 Kor. 11, 23 wiederholt, nicht 
ganz gleichförmig gemeldet, wie wir fogleich fehen werben. 
Die Eonfeffionellen Streitigfeiten über die Bedeutung Ver: 


398 


felben berühren und hier nicht; nur bemerfen wir, daß in 
denfelben die Worte: „das ift mein Leib ıc.“, von allen 
Partheien nicht im Sinne des phantaftereichen Morgenländers 
genommen werden, der noch nicht fo haaricharf fpaltete, wie 
der fältere, mehr denfende Abendländer der neuen Zeit. Bu 
dürfen behaupten, mit feiner Konfeffion wären bie Evange Üi 
litten zufrieden; die einen würden ihnen zu viel, die andern 
zu wenig in ben geheimnißreichen Wörtchen: „das ijt“ m 
lefen fcheinen. 
Doch kehren wir von den Konfeffionen zu unfern Evangelin 
zurüd! In allen Berichten ftellt Jeſus feinen Tod als Bundes | 
opfer dar, demnach ale höheres Gegenbild der blutigen Thier 
opfer des alten moſaiſchen Bundes; bei dem einzigen M. fügt 
er noch hinzu: „zur Vergebung der Sünden“, wodurch fein 
Sterben zugleich ald ein Sühnopfer bezeichnet wird. Bei 
Vorſtellungen vertragen ſich wohl mit einander, wie fie aud 
ſchon im Hebräerbrief (9, 15) in einander fliegen. — Yerne 
haben nur Lufas und Paulus die Anweifung Jeſu, dieſes Mahl 
fortwährend als „Gedächtnißmahl“ zu wiederholen (Xuf. 22, 19. 
In Bezug auf dDieje Anordnung haben freilich Drthodore ei 
übertriebened Gewicht auf die Worte des Paulus (V. 23): 
„Sch habe ed vom Herrn empfangen“, gelegt, als beziehen 
ſich diefelben auf eine unmittelbare Offenbarung aus Jeſu 
Munde, da fie doch nichts Weiteres, als eine unmittelbare 
Ueberlieferung bedeuten. Dagegen follte man aber auch jene 
Anordnung Jeſu nicht bezweifeln, „weil fie gegen die Demuth 
verftoße (1)*; — vielmehr fünnen wir diefelbe fehr denkbar 
finden, obgleid, M. und Marfus davon nichts erzählen. 
Weiterhin hat man die Frage aufgeworfen: ob Jeſus von 
jeher den Plan gehabt, eine ſolche Gedächtnißfeier für feine 
Kirche zu ftiften? oder ob erft fur; vor feinem Ende biefer 
Plan in ihm entitanden ſei? — Das Eritere mit den Ortho⸗ 
doren anzunehmen, fünnen wir und nicht entfchließen, da fid 
davon feine fichere Spur in den Evangelien findet, und da 
e3 „überhaupt die Wahrheit der menfchlihen Natur in Sefu 
aufzuheben fcheint, in ihm von jeher, oder wenigſtens vom 
Anfange des reifen Alters an, Alles fchon fertig und vorge 
jehen fich zu denfen*. Wenn er auch, fehon einige Zeit vorher 











ie.. der Borahnang feined.gewaltfamen: Kobes:.at -ein ſolches 
Gedaͤchtnißmahl gedacht haben mag, - fo iſt doch wohl. der bes 


ſtimmte Entſchluß dazu an jenem Abende, erft, wo nach allen 


Aeichen: er ſeine Leiden als ſehr uahe bevorſtehend anfah,; 


und wo er völlig emtichloffen war, denſelben auf: feine: Weiſe 
ſich zu entziehen, — und wo ihm das gebrochene Brod und 
der. ausgegoſſene Wein. als Sinnbilder feines . bad hinzurich⸗ 
tenden Körpers: erſchienen, — an jenem Abende. erft feik- tm 
hm gewurzelt; üft:cdfo theild eine Erzeugniß des verhängnißs 
sollen Augenblickes, theils einer Icon: länger aubauernben 
Derracnung | B 


. 3 . „ 


J — Viertes Kapitel‘ \ 
Bern. Weclenfampf ‚feine: Ab ſchiedsreden und feine 
— BE VBerbaftung: 


ew. 26, 30—46; Mart. 14, 32—42; eut. 29, ai 
| Sob. 14— 18,, 2... 


Nach den. Spnoptifern ging Jeſus ſogleich nach Einſetzung 


Ses Abendmahles nach Gethſemane (M. 26, 36); dort 
Segann die Scene, welche man den Seelenkampf Jeſu 
rrennt (V. 37), worauf er denn verhaftet wurde (V. 47). 
Bei Sohannes folgen auf die. Mahlzeit noch die großen: Ab- 
Kchiebsreden Kay. 14—17, wogegen aber der Seelentampf 
ganz fehlt. 


In Schilderung Dief es weichen die drei Spnoptifer in | 


Den wefentlichen Punkten von einander ab, dag M. und Markus 
wir Drei Sünger mitgehen (M. 3. 37), und Sefum drei 
Mal in Zagen gerathen (®. 44) laſſen; Lufas aber von biefen 
beiden Dreijahlen nidyts hat, wogegen von ihm allein noch 
eine Engelerfcheinung (V. 43) und ein Schweiß von Bluts⸗ 
tropfen (DB. 44) erzählt wird. — An diefem Geelenfampfe 
bat man von. jeher großen Anftoß genommen; Feinde des 
Ehrütenthums benugen ihn zu Angriffen auf Jeſu Perſon; 
falfche Evangelien hielten ihn nur für Berftellung, um ben 


Teufel u. täufshen; Kirchenvater fahen ihn wur. 0% TR 


\ 


400 


der menfchlichen Natur in Sefu an, während feine ‚göttliche 
Davon ungerührt geblieben; Spätere betrachten fein Zagen 
nur als mitfühlenden Schmerz über die feinen Süngern und 
dem Volke bevorſtehenden Leiden; die Kirchenlehre endlich 
faßt die Sache fo, „daß Jeſus in das Mitgefühl der Süns 
denfchuld der ganzen Menfchheit verfeßt geweſen fei, und 
Gottes Zorn über diefelbe ftellvertretend empfunden habe“. 
Bon diefem leßteren Grunde findet ſich nun gar nichts in 
der Erzählung jener Scene, vielmehr widerjpricht er der ganzen 

evangelifchen Vorftellung, vermöge welcher Jeſus allerdings 
auch für die Sünden der Welt leidet, aber ganz unmittel- 
bar; demnach, fo wie er am Kreuze wirklich litt und 
fchmachtete, jo beherrfchte in Gethfemane ihn dag wirkliche 
qualvolle Borgefühl diefes Leidens. 

Man griff alfo zu andern, zum Theile grobfinnlichen Er- 
Härungen, wie 3. B., daß man Sefu eine körperliche Webelfeit 
zuftoßen ließ; oder zu überfpannt empfindfamen, wie, daß es 
nur der Schmerz um die nahe Trennung gemwefen u. dgl. 
Andere nehmen daher weit richtiger an, daß hier wirflich die 
Schauer der finnlihen Natur vor ihrer Vernichtung fich 
zeigen; bie fchleunige Unterdrüdung derfelben aber jeden Schein 
der Sündhaftigfeit entferne; daß übrigens das Leben der 
finnlihen Natur vor ihrer Vernichtung zu ihren wefentlichen 
Lebensäußerungen gehöre; ja daß, je reiner die menfchliche 
Natur in Jemand fei, defto empfindlicher fie gegen Schmerz 
nnd Vernichtung ſich verhalte, und daß die Heberwindung eines 
ſolchen durchempfundenen Schmerzes größer fei, ald eine ftarre 
Unempfindlichfeit gegen benfelben. 





Betrachten wir num die von den Synoptifern verfchieden 
erzählten Einzelnheiten, fo fällt ung zunächft die Engelerfcheis 
nung bei Lufas auf: die Orthodoxen wiſſen fich die Stärkung 
Sefu, als des Gottmenfchen, nur dadurch annehmbar zu 
machen, daß fie auf den noch andauernden Stand feiner Ers 
niedrigung hinweiſen; Rationalijten dagegen durch Die Annahme, 
der Engel werde wohl ein Sefum tröftender, unbefannter Mann 
geweſen fein. Allein diefe Bemühungen find unnöthig, weil 


401 


Die ganze Engelerfcheinung, auch abgefehen davon, daß fie nur 
von Lukas erwähnt wird, ganz ıumbeglaubigt ift; denn wer 
follte fie bemerft haben, da ja alle Begleiter Jeſu fchlaftrunfen 
waren? Daß aber Jeſus fie feinen Süngern noch foll- erzählt 
haben, ift wegen des unmittelbar darauf folgenden Leidens fehr 
umvahrfcheinlich, wo nicht unmöglich. Bielmehr haben wir 
Darin einen mythifchen Zug zu erfennen, durch welchen ber 
fehnelle Uebergang Jeſu von tiefem Schmerze zu hoher Seelen⸗ 
ftärfe Ddichterifch verflärt wurde. — Auf ähnliche Weife mag 
es fih mit den, auch nur von Lufas angeführten blutigen 
Schweißtropfen, die Sefus vergoffen Haben foll, verhalten. Daß 
fo etwas möglid, fei, Tann nicht geläugnet werden; allein es 
ereignet fich doch nur in fehr feltenen Fällen und bei ganz 
befonderen frankhaften Zuftänden. Könnte man aber auch die 
falfche Erklärung gelten laffen, daß hier nur von Schweiß⸗ 
tropfen, die fo fchwer und Dicht gewefen, wie Blutstropfen, 
Die Rede fer, fo Fehrt doch auch hier die Frage wieder: wer 
konnte, da Alle, außer Sefu, fchieden, fie bemerkt haben? Denn 
Daß fie nicht bloß auf feiner Stirne ftanden, fondern „zur 
Erde herab fielen“, wird doch deutlich genug gefagt. Nehmen 
wir aljo doch auch diefen Zug ale einen mythifchen, der Daher 
entflanden fein mag, daß man jenes Borfpiel bes blutigen 
Keidens Jeſu am Kreuze nicht nur geiftig, fondern auch ganz 
leiblich und finnlich in fchon jetzt wirklich vergoffene Bluts⸗ 
tropfen ausmalte. 

Andere Eigenthümlichfeiten finden fich hinmwiederum, im 
Gegenfage zu Lukas, nur bei M. und Marfus. Daß grade 
nur die drei befannten Jünger zugegen gewefen, dieß läßt 
ſich nach Früherem wohl denfen; auch daß Sefus drei Mal 
bei feinen Süngern Troſt gefucht, könnte in dem bewegten 
Seelenzujtande degfelben auch feine Erflärung zu finden fcheinen. 
Allein theils ift doc das Hafchen nach der geheimnißvollen 
Dreizahl hier eben fo unverkennbar, wie bei der Verſuchungs⸗ 
geſchichte; theild vwerräth der Umftand, daß Sefus drei Mal 
faft ganz dasfelbe betet (M. V. 39, 42, 44), deutlich genug 
auch hier die Nachhilfe der Sage, — Denken wir ung nun 
aber diefe undenkbaren einzelnen Züge hinweg, fo bleiben uns 
als gefchichtlicher Kern die Thatfachen ‚eines heftigen Ser 

IL. Ä % 


402 


ſchmerzes in Sen, des inbrünftigen Gebete und der wieder⸗ 
gewonmenen Stärfe zurüd; jedoch haben wir noch den auf: 
fallenden Umftand, daß Johannes nichts von Diefer Scene 
erzählt, wogegen er Reden mittheilt, die mit berfelben in 
Widerfpruch ſtehen, näher zu betrachten. 





Was das Erftere, fen Schweigen von dem Seelen: 
fampfe, betrifft, fo ift dieß fchwer zu begreifen, wenn ber 
Berfafler des vierten Evangeliums wirklich der Johannes ift, 
der ja doch auch zugegen war, und wohl nicht fchlaftrunfener 
geweſen fein wird, als die übrigen Jünger. Daß er bie 
Sahe übergangen habe, weil ſchon die andern Evangelien 
fie berichtet hätten, oder wenigſtens Die allgemeine Ueberliefe- 
rung fie enthielte; dieß Fann hier bei fo großen Abweichungen 
in jenen Evangelien, die auch in dieſer Ueberlieferung, als der 
Duelle der Evangelien, nicht gefehlt haben werden, — man 
denfe nur an die Engelerfcheinung bei Lufas! — gewiß nicht 
angenommen werden. Nein, fagen Andere, er wollte eine 
Engelerſcheinung nicht erzählen, um gewiſſen Geften, bie 
das Höhere in Chrifto für einen Engel hielten, feinen Bor: 
ſchub zu thun; aber, um das fchon oben über einen ähnlichen 
Auslegungsverfuc Bemerkte nicht zu wiederholen, mußte er 
denn darum Die ganze Gefchichte weglaffen? und warım 
redet er denn doch 1, 52 von den über Jeſu aufs und ab- 
fteigenden Engeln? 

Schwieriger aber wird die Sache, wenn wir bedenken, 
welch” greller Unterfchied zwifchen den Abfchiedsreden bei 
Sohannes, von denen weg Jeſus unmittelbar zu der befpro- 
chenen Ecene in Gethſemane abgeht (Joh. 14— 17), md 
zwifchen feiner Stimmung bei diefer flattfindet. Nachdem er 
in jenen Reden den Schmerz über feinen Tod völlig über: 
wunden und mit göftlicher Ruhe gefprochen, feine zagenden 
Freunde voll Heiterkeit beruhigt, die Nothwendigkeit feines 
Todes Far und feſt dargelegt hatz — welch' ganz andere 
Stimmung dann ſogleich Darauf in Gethfemane! Hier bie 
vollefte, zagendite Todesbetrübniß! der frühere Tröſter fucht 
ſeinerſeits Troſt bei den fchlafenden Süngern; er zweifelt, ob 


403 


fein Tod des Vaters Wille fei und nur mit bitterm Schmeize 
fügt er ſich demfelben! Das ift mehr, als MWechfel der Stim⸗ 
mung; es ift ein bebenflicher Rückfall, zumal wenn man das 
Gebet Kap. 17 in's Auge faßt. Hier hat er.fein eigenes Lei- 
den ganz in Hintergrund geftellt, feine Rechnung mit dem 
- Bater völlig abgefchloffen, und die Herrlichkeit, in welche er 
fofort eingehen werde, und die Geligfeit, die er den Seinen 
erworben habe, bildet den Hauptgegenftand feiner Rede mit 
Gott: — er ift-Steger über fein fchon überwundenes Leiden! 
Auf Gethfemane finft er dagegen wieder in den heißeften 
Kampf zurüd! Darf man da nicht fragen: „warum haft 
du Triumph gerufen, ehe du gekämpft hatteft, um dann bei 
Annäherung des Kampfes mit Befchämung um Hilfe zu rufen? * 
Eine folche voreilige hohe Meinung von feinem inneren. Zus 
ftande, Die an Vermeffenheit gränzt, ift aber mit bem groß- 
artigen und befonnenen Charafter Jeſu ganz unverträglic. 
Es ift daher die auch fonft verwerfliche Auskunft hier unzu⸗ 
laͤßig, daß im Leben gläubiger Perfonen nicht felten ein Zu⸗ 
ftand völliger Gottverlaffenheit eintrete, in welchem ihre 
ſchwache menfchliche Natur rathlos zufammenfinfe: dieß heißt 
Das Leben des Menſchen in und mit Gott fehr ſinnlich und 
oder auffaflen, als ob Gott nur äußerlich in den Menfchen 
und aus dem Menfchen herausgehe! Wie demüthigend bliebe 
es ferner für Jeſum, daß nur ein Engel feine ſchwache 
Kraft wieder aufrichten Eonnte ! 

Wir fühlen uns alfo aud) hier zu dem Ausfpruche gezwun⸗ 
gen, daß nur Eins von Beiden, Seelenfampf oder Abfchiedes 
reden, gefchichtlich wahr fein kann: welches? darüber fünnen 
wir, um nicht in die Befangenheit anderer Theologen in Dies 
fer Frage zu verfallen, und erft nach folgenden Betrachtungen 
entfcheiden. — Eine ganz ähnliche Scene, wie die in Geth- 
femane, hat auch Sohannes, nur bei ganz anderer Gelegen- 
heit: als nämlich einige griechiſche Juden mit Jeſu zu reden 
wünfchten (12, 20), brach er ebenfalls in ein heftiges Zagen 
aus (B.27 ıc.), wobei zum Theile diefelben Worte vorkom⸗ 
men. Deßhalb. glauben einige Theologen, Synoptifer und 
Johannes erzählen einen und denfelben Vorfall; nur habe ein 
Theil ihn am die unrechte Stelle geſetzt, auch Iier wort der 


404 " 

Irrthum den Synoptifern aufgebürdet »7). Man hat nämlid) 
die Veranlaffung zu jenem Seclenfampfe aus Johannes Ers 
zählung fehr fein herausgewittert. Sene Juden follen Jeſum 
aufgefordert haben, Paläftina zu verlaffen und unter den aud- 
wärtigen Juden zu wirken; Jeſus fei verfucht geweſen, dem 
Antrage nachzugeben, um der drohenden Gefahr zu entgehen; 
der Gedanfe an diefelbe habe ihn Denn bis zu inneren Käm⸗ 
pfen erfchüttert. Dieß heißt aber mit den Evangelien fpielen; 
denn, um von Anderem zu fchweigen, von einem foldyen Ans 
trage findet ſich in unferer Stelle auch nicht die leifefte An- 
deutung; ja ed hat an diefer Stelle dad Zagen Jeſu etwas 
wirklich Unmwürdigee. Hier fteht fein Tod in dem Hinter 
grunde noch ferner Zeiten; er redet am hellen Tage, vor vies 
len Zuhörern: wie viel erflärlicher dagegen ift alles in Geth⸗ 
femane! Hier fleht er an der Schwelle feiner Leiden; ſchauer⸗ 
liche Nacht umgibt und nur wenige: Sünger begleiten ihn! 


Es wird daher das Nichtigere fein, von dem vierten Evans 
gelium zu behaupten, daß es, vielleicht verleitet durch eine vers 
wandte Aeußerung in jener Unterredung Jeſu über die grie- 
chifchen Suden (etwa 12, 23 ıc.) hier irriger Weife den auch 
ihm befannten Seelenfampf einfügte. Nur muß man alsdann 
auch befennen, daß der Verfaſſer wohl faum der bei Diefer 
Scene gegenwärtig gewefene Johannes fein fannz denn 
war ihm einmal diefelbe noch erinnerlic,, fo fonnte fich feine 
Erinnerung, troß feiner damaligen Schlaftrunfenheit, nicht fo 
verwifcht haben, daß er die Sache von dunkler Nacht in 
den hellen Tag, und von den letzten Tagen Sefu in das Sahr 
vorher verlegte. Es wollen Daher Andere lieber annehmen, 
daß das Evangelium eine ganz andere, nur verwandte Scene 


>, Es mag hier die Bemerfung nachgetragen werden, daß fo viele 
Theologen nur darum fo geneigt find, überall den Berichten des 
vierten Evangeliums den Vorzug zu geben, weil jie an der 
Anficht fefthalten, Dasfelbe fei wirklich das Werk des Johannes, 
alfo eines Augenzeugen. Ueber die Anfiht von Strauß 
vergl. man Ih. I, ©. 39. ' 


fchildere. Allerdings hat es mehrere Züge, die den Synop⸗ 


tifern fehlen, namentlich das Gebet Sefu um Verflärung, und , 


bie diefelbe verheißende Himmelsſtimme (V. 28); während ans 
dere ganz mit der Schilderung ber Begebenheit in Gethjemane 
übereinflimmen. Da nun das ihm Eigenthümliche in ber oben 
ſchon betrachteten Berflärungsgefchichte vorkommt, fo tft 
es fehr wahrfcheinlich, daß unfer Sohannes beide, dieſe Vers 
klaͤrung und bie Scene in Gethfemane, aus ungenauer Kennts 
niß in Eins verfchmolen, und Alles, was ihm die fchon 
ziemlich unficher gewordene Sage davon zugeführt hatte, an 
ähnliche Erinnerungen aus der Gefchichte von den griechiichen 
Juden angefnüpft hat, fo daß Jenes bei ihm nun mit biefer 


zuſammengefloſſen iſt. Daß er nicht Das Urfprüngfiche, ſon⸗ 


dern nur zufammengefchwenmte Theile aufgelöster Sagen has 
ben kann, geht ſchon aus dem fehr Iodern Sufammenhange 
derfelben hervor. . 

Wir kehren mın aber zu der Frage zurück: welches Stüg, 


die Erzählung des Seelenfampfes bei den Synoptifern, oder 


Die langen Abfchiedsreden bei Johannes, ift, da beide fich nicht 
mit einander vertragen, ungeſchichtlich? Dffenbar die leg 
teren. Schon das: follte ein Apoflel im Stande geweſen 


fein, fie fogleich aufzuzeichnen? in den Tagen bes tiefftem . 


Schmerzes? nachdem die von Jeſu erwecdten Hoffnungen in 
feiner Sünger Augen fo ganz vernichtet waren? Längere Zeit 
aber im Gebächtniffe behalten Tieß fich fo etwas nicht. Und 
wie wenig paßt der Inhalt jener Neben zu der Stimmung 
- Sefu in der Zeit, wo er fie gefprochen haben fol! Biel na⸗ 
türlicher erflärt fich der gan,e Ton berfelben, „wenn fie das 


Wert eines Solchen find, welchem der Tod Jeſu bereits ein . 


Vergangenes war, deſſen Schredlichkeit in den fegensreichen 
Folgen und der andächtigen Betrachtungsweife der Gemeinde 
fi, gelind aufgelöst hatte +. Auch find manche Verkündigun⸗ 
gen, 3. 3. die von der Sendung bes heil. Geiftes (14, 16 
u. A.) fo beftimmt, daß fie wie nach dem Erfolge gemacht 
ausfehen. Borzüglich aber ift das Schlußgebet, Kap. 17, ges 
wiß weit mehr eine Nede über Sefum, als von Jeſu felbft, 
der auf unerflärliche Weife in den letzten Momenten nod 
mit Gott weitläuftg von feiner Perfon und feinen biäherigen Ar 


. 406 


ftungen fich unterhalten hätte: gemacht fcheinen die Reden das 
für, um über das Hinfcheiden Sefu eine göttliche Glorie zu 
verbreiten, und damit die Sdeen über ihn, als das fleilch- 
gewordene „Wort“ (Joh. 1), weldye ſich allmälig in der Ge- 
meinde gebildet hatten, auch ſchon von ihm, ald dem Gründer 
derfelben, ausgefprochen würden. — 

Aber audy bei den Synoptifern findet ſich ein Borausfagen 
Jeſu, näamlicy neben Anderem das über Stunde und Augens 
bli der Ankunft des DVerrätherd (M. 26, 45 ıc.), das wir 
fo, wie die Evangelien ed und geben, nämlich ald ein wun⸗ 
derbares, aus früher ſchon entwicelten Gründen, .nicht für 
geſchichtlich wahr halten können. Ein natürliches Vorher 
wiffen des ihn in den nächlten Stunden Bebrohenden: mochte 
er. allerdings haben; fei e8 num durch Schlüffe aus Außeren 
Beobachtungen hervorgerufen, oder, was mwahrfcheinlicher. ift, 
durch eine unmittelbare Ahnung, und ein in folchen Verhält 
niffen nicht feltenes, ummwiderftehlich fich aufdrängendes Bor: 
gefühl. 


(M. 26, 47— 56; Mark. 14, 43—52; uf. 22, 47— 54; 


Eobald Jeſus im Gebete auf Gethfemane ſich wieder ge 
ftärft ‚hatte, trat Sudas mit den Bewaffneten herein, um ihn 
gefangen zu nehmen M. V. 47): an die Hauptfchaar, wahr: 
ſcheinlich Tempelfoldaten (Luk. 22, 52), ſchloß ſich noch ſchlecht⸗ 
bewaffnetes Volk (M.) und dem Johannes (V. 12) zufolge 
auch eine Abtheilung römiſcher Soldaten an. Ueber die Art 
der Verhaftung hat Johannes das Eigenthümliche, daß Je ſus 
dem Haufen entgegentritt, und ſich felbft mit den Worten: 
„Sch bin’s“ ihm überliefert (B. 5), während bei den Synop⸗ 
tifern Sudas ihn durch einen Kuß ald den zu Fangenden be 
seichnet. Beide Angaben laffen ſich nicht miteinander vereinis 
gen: denn hatte ſich Jeſus felbft ſchon als den Gefuchten 
feuntlich gemacht, fo war der Kuß unnöthig; oder hatte ums 
gekehrt ſchon Diefer VBerrätherfuß ihn bezeichnet, fo. durfte Jeſus 
nicht erft feierlich fich zu erfennen geben, wenn man nicht etwa 
die ungereimte Aushilfe nehmen will, Judas fei, ald er jenes 


Zeichen gab, der Wache weit voran geweſen. lieberbieß wäre 
Zeſu Benehmen bei Johannes eine ihm .übel anftehende Eil⸗ 
fertigkeit. Aber leicht ſieht man, wie Die Sage dazu kommen 
fonnte, eine folche ihm zuzuſchreiben. Fruhe fchon hatten Geg⸗ 
ner ihm feinen Weggang aus ber Stadt als fchimpfliche Flucht 
vorgeworfen; durch des Johannes Erzaͤhlung wird dieſer Vor⸗ 
wurf aber vernichtet, indem Jeſus in ihr als ein ſich ſelbſt 
Ueberliefernder erſcheint, der aus höherem , freiem Willen 
fein Leiden auf fich ninmt. .. 

Eben fo fonderbar ift ein anderer Zug bei Johannes daß 
nämlich, als Jeſus vor die. Schaar hintrat, dieſelbe vor feinem 
Machtworte zurückwich und. zu Boden fiel (V. 6). Läßt ſich 
“aud) aus der ſouſtigen Geſchichte bier und da ein Beiſpiel 
nachweiſen, daß bie ergreifende Perſonlichkeit eines Yon allge⸗ 
meiner Scheu umgebenen Mannes die mörderiſchen Haͤnde 
Einzelner gelaͤhmt hat, ſo klingt es doch ganz unglaublich, daß 
eine ganze Schaar durch den Anblick eines den Meiſten wenig 
bekannten Mannes ſoll zu Boden geworfen. worden fein. Auch 
hier haben wir nicht den hiftorifchen, fondern ben Chriſtus ver 
urchriftlichen Einbildungskraft, den die Sage fo gern in Alles 
überwältigender Hoheit hinftellte, und hier namentlidy ald den 
Mann verherrlicht, der. Macht genug hatte, feinen Feinden 
zu entgehen, und ihnen daher nur. mit voller Freiheit des 
Willens felbft ſich hingibs, indem er unterliegt. Ä 

Alle Evangelien. flimmen nody am "Ende ber Erzählung 
darin überein, daß ein Juünger einem Knechte das Ohr abs 
gehauen habe (M. V. 51); Johannes fagt genauer, Pes 
teus habe es gethan, und jener Knecht habe Malchus, ger 
heißen CB. 10), was ohne Zweifel fpätere Ausmalımg ift; 
Lukas ſetzt noch hinzu, Jeſus habe das Ohr fogleicy wieder 
angeheilt (V. 51). Dieß Lebtere hätte man nicht natürlich 
erklären follen; namlich fo, daß Jeſus die Winde umterfischt 
babe u. |. w.: denn, abgefehen von dem völligen Alleinftehen 
des Lukas, ging biefer lettte Zug wohl nur aus dem Gebans 
fen hesoor, Jeſus, der fo viele Leiden wunderbar geheilt hatte, 
werbe wohl ein von ihm, wenigſtens mittelbar, veranlaßtes 
nicht ungeheilt gelaffen haben. . 

"Endlich. macht noch Jeſns den teinden den: Weriist, —X 


408 


fie ihn heimlich fangen, da er doch alle Tage öffentlich unter 
fie getreten fei (M. V. 53); was aber Johannes ihn nicht 
bier, fondern erft fpäter (18, 20 2c.) zum Hohenprieiter fagen 
laßt. — Hierauf fliehen, wie die beiden eriten &vangeliften 
erzählen, alle Sünger, wobei Markus den abenteuerlichen Zu 
fag hat, ein mit Leinwand umhüllter Süngling fei mit Zurüd 
lafjung derfelben nackt geflohen ®. 51); ein fagenhafter Pins 
ſelſtrich, mit dem die große Eile der allgemeinen Flucht recht 
anſchaulich gemacht werden follte. 





Fünftes Rapitel. 
Jeſu Berurtheilung, VBerläugnung des Petrus und 
Tod des Verräthers. 

(M. 26, 57—75;5 Mark. 14, 53—72; Luk. 22, 54—71; 

Joh. 18, 12—27.) , 


Sogleich nad) feiner Verhaftung, alfo noch in der Nadıt, 
wird Jeſus, laut dem Berichte der Synoptifer, zum Hohen 
priefter Kaiphas gebracht; Johannes aber läßt ihn vorher 
zu deflen Schwiegervater Annas geführt werden (2. 13), 
worauf er ſogleich, V. 15, das mit ihm aufgenommene Vers 
hör anfnüpft: es ſcheint alfo hier ganz, daß Annas dasfelbe 
anftellte, was den Synoptifern gradezu widerfpräde. Es ift 
dieg um fo auffallender, da hier gar fein Urtheil gefällt 
wird, und von einem weiteren Berhöre vor Kaiphas Feine 
Rede mehr ift; daß Johannes dieſes, als bereits hinlänglich 
befannt, foll übergangen haben, ift rein undenkbar, da es ja 
den eigentlichen Wendepunkt von Jeſu Schidfal bildet, und 
die von und fchon oft befämpfte Ausflucht, Johannes trage 
vorzüglich nur weniger Befanntes nach, hier, wenn irgendwo, 
unftatthaft if. Daher liegt der Verfuch fehr nahe, genauer 
nachzufehen, ob nicht auch, bei aller Verfchiedenheit im Eins 
zelnen, Johannes dag Verhör bei Kaiphas berichten wolle, 
und in der That ift dieß der Fall. Schon der Umftand führt 
uns darauf, daß auch bei Sohannes, wie bei den Synoptifern, 
die Berläugnung des Petrus aufs engfle mit dem Berhöre 


verfchlungen. iſt (V. 15— 18) und daß auch er einfach ben 
„ Hohenpriefter*, was Annas nicht war, als: den Berhörens 
Ben neitnt: V. 19)5 — im Wege zu ſtehen fcheint nur B;24; 
wo ed heißt: „Annas alfo fandte Jefum gebunden zu Katphas“} 
und doch iſt das Verhör ſchon erzählt. Allein wir muͤſſen 
bedenken, baß wir einen Schriftfteller vor uns haben, ber 
keineswegs ganz regelmäßig griechifch fchreibt, and daher 
mit einer im neuen Teſtamente ohnehin nicht -feltenen Unger 
nauigfeit „fandte* ftatt „hatte gefanbt* geſchrieben, und ſtatt 
des deutlichen „Denn“ in jenem Satze ein zweideutigeres 

„alfo * gefegt haben mag. Demnach verhält ſich mun bie 
Sache fo, daß die nähere Bezeichnung des Kaiphas B. 14 
ihn’ verleitete, nachdem er von ber erften Verlaͤugnung bes 
Petrus geiprochen, fogleich das Verhör des Hohenprieſters zu 
erzählen, wie wenn er fchon gefagt hätte, daß Jeſus von 
Annas zu diefem geführt worden feiz was er ſodann V. 24, 
freilid; etwas ungenau, nachholt. Das bleibt immer übrig, 
Daß fein Bericht, namentlich weil ihm jede Nachricht von den 
Urtheile fehlt, unvollſtaͤndig iſt. — 

An den Angaben ber Synoptiker findet ſich die Berichtes 
denheit, daß laut M. und Mark. dag Synedrium noch im der 
Nacht zu Gerichte fist und das Urtheil fällt (M. 8.57), 
während es bei Lufas (22, 66) erft mit Tagesanbruch ſich 
verfammelt. Hier liegt eine Verwechslung zu Grunde; denn 
auch in jenen erften Evangelien wird am Morgen eine Sigung, 
alfo eine zweite, gehalten CM. 27, 1) um Jeſum den Rös 
mern zu überliefern (ſ. unten); und dieſe fcheint Lukas für 
die einzige gehalten zu haben. Eben fo hat er darin Unrecht, 
daß .er von den falfchen Zeugen gegen Iefum nichts fagt 
(M. 26, 60): denn da der von biefen vorgebradjte, aber. 
bögwillig verdrehte Ausſpruch Jeſu vom Abbrechen des Tems 
pels gewiß von ihm einmal gethan worden, fo ift wohl fein 
Zweifel daran, daß man ihn vor Gericht benubte ‚und Zeu⸗ 
gen bafür brachte. 





& 


“ Die einzelnen Vorfälle vor Gericht fünnen wir kurz .an 
uns worüber führen. Jeſus wirb vorzüglic, deſſen heikpiiing, 


410 


daß er der Meſſias zu fein behaupte, was er fofort mit aller 
Ruhe eingefteht, und wobei er verfichert, daß er alsbald nad) 
feinem Tode „zur Rechten Gottes figen werde“ — und, was aber 
nur M, erzählt, „Cbald) auf den Wolken des Himmels kommen“. 
Darauf wird er verurtheilt, des Todes fchuldig erfannt, und 
muß die gröbften Mißhandlungen, Badkenftreiche, Schläge auf 
den Kopf und Spuden in das Angeficht erdulden: als die 
Mißhandelnden werden von M. und Markus gewiß ungenan 
die Mitglieder des Synedriums felbft, richtiger ohne Zweifel 
von Lukas und Sohannes (Joh. B. 22 u. A.) die Diener des 
Gerichte angegeben. Dbgleich nun alle diefe Rohheiten ge 
gen einen Berurtheilten in jener Zeit nicht befremben bürfen, 
fo find fie doch offenbar in der fpäteren Sage wohl noch ges 
fleigert worden, weil man bald viele altsteftamentlicye Stellen 
auf fein Leiden ganz fpeziell bezog, und nach diefen Weiſſagun⸗ 
gen die wirflich überlieferten Tihatfachen allmälig umbildete. 
Eben fo, wie angemeflen aud) dem Charakter Sefu feine ruhige 
Haltung und das würbevolle Schweigen ift, jo wird Doch na 
mentlich dieſes Ießtere von den Evangeliften darum fo oft 
wiederholt, weil‘ fie auch Darin Erfüllung altsteitamentlicher 

Drafel fahen. | 





Obgleich nad, Jeſu Verhaftung alle Sünger auseinander 
ftoben,, fo folgte ihm doch Petrus von ferne und drang in 
den Hof des Hohenpriefters, um ungekannt den Ausgang ber 
Sache zu beobadjten; nad) dem vierten Evangelium verjchaffte 
ihm Sohannes den Zutritt dahin. In diefem Borhofe nun 
war ed, wo Petrus feinen Herrn dreimal verläugnete (ſ. die 
Stellen). Daß ed nur fo fcheint, ald ob in dem johannei- 
ſchen Evangelium diefe Scene in den Palaft des Annas 
verlegt würde, geht aus der fo eben angeftellten Unterfuchung 
über das Verhör Sefu hervor, mit welchem die Berläugnung 
enge verfnüpft it; denn, wie wir fahen, audy von Johannes 
wird jenes Berhör in das Haus bes Kaiphas verlegt, und 
fomit auch die Berläugnung. Wir können alfo über dieſen 
ſcheinbaren Widerſpruch Fur; hinweg gehen. 

- Dagegen: finden fich in Bezug auf die einzelnen Alte der 


FR _ 4 ..ı, . . 
3 * » 4 


41 rt 
Berläugnung viele wirkliche Verſchiedenheiten in ben Berichten — 
ia Bezug auf den Drt (vor dem Palafte, am Feuer, im Bors 
hofe), auf die. Perfonen. (eine. Pförtuerin, eine Magd, ein 
Mann, mehrere Männer‘ ıc.), auf Anreden an Petrus, feine 
Antworten, Betheuerungen ıc. Will man jebe diefer ber 
fonderen Angaben fo genau: feſthalten, daß kein Evangeliſt ir⸗ 
gend eine Unrichtigkeit habe, ſo erhaͤlt man nicht nur drei, 
ſondern 8—9 Verlaͤugnungen, welche auch wirflih. Paulus 
berausgerechnet hat. Indem man auf folche Weiſe die Glaubs 
wärdigfeit der Evangeliften fireng fefthält, muß man aber, 
um bie. von Jeſu nicht in Verdacht zu bringen, annehmen, 
daß fein „dreimal“ in der Weiſſagung jener Verlängnung nur 
eine runde Zahl für eine mehrmalige fei, und. glaubt mım im _ 
Ernfte, während der. furzen Zeit habe Petrus Serum SI Male 
verläugnet! Aber welch' verworrenes Durcheinander von Fras 
gen ‚und Antworten ans allen Eden. und nad allen Eden " 
bin müßte das geweien fein!. Wenn daher die. Erklaͤrer bie 
Stimmung ded Petrus als eine völlige Betäubung bezeichnen, 
fo könnte man vielmehr damit die Stimmung des Leſers ber 
zeichnet glauben, „der in ein ſolches Gebränge von immer 
ſich wiederholenden Fragen und Antworten gleichen Inhaltes, 
dem finns und endlofen Kortfchlagen einer in Unordnung: ges 
rathenen Uhr vergleichbar, ſich hineinverfegen foll*. — Wir 
können zwar nur annehmen, daß Petrus die Verlängnung 
mehrmals wiederholte,. aber nur nicht 8-9 Male; daß bie 
Zahl drei feitgeftellt wurde, damit Jeſu buchftäblich verftans 
bene Weiſſagung ganz in Erfüllung, ginge, und daß die Heinen 
Abweichungen in den Eingelnheiten eine ganz natürliche Folge 
der von Mund zu Mund gehenden Veberlieferung find. 

Ald Ends und Wendepunkt des Ganzen. geben alle Evans 
gelien das Krähen des Hahnes, welches den Petrus ſchnell 
zur Befinnung bringt; Lukas fügt noch hinzu, bei diefem Krä- 
ben habe Jeſus ſich umgewandt und den Petrus angefehen, 
worauf biefer tief erfchüttert worden. Könnte min auch Jeſus 
nach des Lukas Darftellung ſich gleichfalls im Hofe. befunden 
haben, da diefer das Verhör erft am Morgen beginnen läßt, 
fo. findet. fi) doch andy bei. ihm Feine Spur davon, daß Jeſus 
bisher in.der Naͤhe des Petrus geweſen; überbieß haben ui 

\ 


412 | 


ja fchon oben gefehen, daß Luk. über die Zeit des Verhöres 
irrigen Bericht hat, und Sefus alfo nicht im Hofe fein konnte, 
Doc, wer kann hier den mythifchen Zug verfennen? War 


durch das Krähen bes Hahnes plötzlich der verläugnete Mei: - 


fter mit feiner Vorherfagung (ſ. oben) vor das innere Auge 
des Gefallenen getreten, fo ſchuf allmälig daraus die Sage 
ein leibliches Hervortreten Sefu aus dem dunfeln Hinter: 
grunde der Scene, deſſen Bli den Petrus doppelt erfchüttern 
mußte. 


(M. 27, 3—10; Apoftelg. 1, 15 — 21.) 

- Nur das erfte Evangelium berichtet den fchauerlichen Tod 
bed Verräthers; neben ihm aber auch Petrus in ber Apos 
ftelgefchichte, ald an Jenes Stelle ein anderer Apoftel gewählt 
werden follte. Beide flimmen darin überein, daß für das 
Geld, welches Judas erhalten, ein Grundſtück, der Blutader, 
angefauft worden; — daß er eined gewaltfamen Todes ges 
ſtorben; — daß durch dieß Alles alt-teftamentliche Weiffaguns 


gen in Erfüllung gegangen: — in allem Einzelnen Diefer drei ' 


Punkte gehen fie dagegen fehr weit auseinander. 

Der gewaltfame Tod des Verräthers ift bei M. (27, 5) 
Selbftmord durch den Strick; in der Apoftelgefchichte (1, 18) 
trifft ihn die Strafe des Himmels , indem er von einer Höhe 
herabftürzte und fein Leib auseinander barft. — Biel hat man 
es verfucht,, die beiden Ausdrüde „er erhängte ſich“ und „er 
flürzte herab“ gleichbedeutend zu finden: am erträglichften ift 
noch die Deutung, das „Herabſtürzen“ fei fo viel ald (nach 
dem Aufhängen) „Herabhängen“; immer aber fehr gewaltfam ! 
Andere laſſen die Worte unangetaftet, und wollen die Gas 
hen mit einander verfchmelzen, indem fie 3.2. fagen, Judas 
habe fidy auf einer Höhe an einem Baume erhängt, und, 
da der Strid zerriffen, fei er in den Abgrund herabgeftürzt. 
Aber jeder Unbefangene merkt doch leicht den Berichterftattern 
an, daß jeder den ganzen Tod erzählen will, und nicht etwa 
bloß die eine Hälfte, fo daß er die andere für fich behielte. — 

Der Ankauf des Grundftüdes gefchieht bei M. fo, daß 
Judas voll Reue den Hohenprieftern das Sündengeld wieder 


413 


binwirft, worauf dieſe den Ader kaufen; in der Apoſtelge⸗ 
fchichte aber fo, daß Judas ſelbſt ſich einen Adler Fauft, dort 
wohnt und fpäter auch feinen gewaltfamen Tod findet; daher 
denn der Name „Blutader“ nach der beiderfeitigen Darftellung 
einen ganz verfchiedenen Urfprung hätte. — Auch hier fol 
aus den Worten Uebereinftimmumg erpreßt werden, und in 
der Nede bed Petrus das Wort „(er) erwarb“ (nämlich für 
ſich) &. 18) fo viel heißen, ald „erwarb“ (nämlich, für einen 
* Andern); fo daß er dasfelbe fagte, was M.; aber dann müßte 
allem Sprachgebrauche zufolge nothwendig die Perfon, für 
welche erworben wird, dabei ftehen. 

Mupte alfo jeder Verſuch einer Vereinbarung aufgegeben 
werden, fo blieb andern Theologen nichts übrig, ale eine Vers 
fchiedenheit zuzugeben; jedoch fo, daß bei einem ber Referenten 
ein fehr leicht erflärlicher Kleiner Verſtoß ftattgehabt. Andere 
gingen weiter, und erkannten einen Bericht, und zwar den des 
M., als den entjchieden unrichtigen an, um an dem andern, 
dem der Apoftelgeichichte, um fo ficherer feitzuhalten. „Doch 
wie es immer ift bei zwei ſich widerfprechenden Berichten, daß 
ber eine den andern nicht nur durch fein Stehen ausſchließt, 
jondern auch durch fein Ballen miterfchüttert*5 fo haben wir 
auch bier nachzufehen, ob nicht vielleicht beide mythiſchen 
Urſprunges ſind. 


Als hiſtoriſche Grundlage bieten ſich in der Erzählung ung 
zwei Thatfachen an. Es muß bei Serufalem ein ödes Feld 
gewefen fein, das den Namen „Blutader“ — man mochte 
wohl nicht mehr wiffen, woher? — führte, und welchem die 
altchriftliche Sage frühzeitig eine Beziehung auf den Berräther 
gab. Zweitens wurden ſchon fehr bald nach Sefu Tode viele 
altsteftamentlichen Stellen auf den für die Gemeinde fo ers 
fchütternden Verrath des Judas gedeutet. Aus beiden Ele⸗ 
menten floffen die zwei mythifchen vor uns liegenden Ers 
zählungen zufammen, deren Entftehung wir nur mit leijen 
Zügen andeuten wollen. 

Petrus ftüst fi) auf zwei Pfalmen, Pf. 69 und 109; 
beide, namentlich der leßtere, waren wie Dazu gemacht, vW 


414 


als Judaspſalmen von den Iudenchriften aufgefaßt zu werden; 
in Apoftelg. 1, 20 wird vorzüglich der Fluch der Pf. 69 ger 
weiffagten „Deröbung des Befisthums“* hervorgehoben. Einmal 
den Pfalm auf Judas bezogen, mußte dieſem ebenfalls ein 
Beſitzthum zugefchrieben werben; daß er dieß aus dem Lohne 
bes Verrathes erworben, lag nahe genug; daß er verödet 
worden, fagte die. Prophetenftelle; und daß es grade jener 
„Blutacker“ fei, fonnte man um fo eher annehmen, je weniger 
der Urfprung feines Namens befannt war. So bildete ſich 
bie Mythe, wie fie die Apoftelgefchichte und gibt. 

M. dagegen ftellt Die von ihm gegebene Erzählung als 
Erfüllung einer Prophetenftelle dar; er nennt Jeremias, 
meint aber, im Namen irrend, Zach. 11, 12. Es muß alfo 
biefe Stelle gleichfalls fehr frühe auf Judas gedeutet worden 
fein. Hier ift ebenfalls von einem ſchmaͤhlich geringen Preife, 
um welchen Semand angefchlagen wird, naͤmlich von 30 Silbers 
Iingen die Rede; waren diefe Worte einmal auf den Verrath 
des Judas bezogen worden, wie wir fchon oben fahen, fo 
wurden auch alle andern Züge der Stelle fo gedeutet, und 
aus ihnen das weitere Schickſal des Judas mythifch entwickelt. 
Bei Zacharias wurde das Geld in den Tempel geworfen 
(2. 13); es wird, wenn aud) nach falfcher Erklärung, Er⸗ 
wähnung eines Töpfers gethan; — an Diefen Zügen wurde 
fo lange gerüttelt, bis das Werfen des Geldes in den Tempel 
und ein Töpfer auch in die fpäteren Schidfale des Verräthers 
hineingebracht waren: Sollte nın einmal Judas das Geld 
weggeworfen haben, fo mußte er es wohl den Prieftern hin- 
geworfen haben, wofür diefe denn von bem Töpfer ein Grund⸗ 
ſtück erhandelten ıc. Das Zurückgeben des Geldes fonnte nun 
Folge der Reue fein; diefe Fonnte aber bei einem Judas fich nur 
als Verzweiflung zeigen, und fo war denn als Schlußftein des 
Mythus der Selbftmord von felbft gegeben. So mag bie 
ganze matthäifche Erzählung aus einer alt» »teftamentlichen 
Stelle herausgefponnen worden fein ?°). 

Soviel ift gewiß, daß bes Judas Ende in der fpäteren , 
Sage vielfady ausgemalt wurde. Der Apoftelgefchichte folgend, 


„22 | Ä 0) 


415 


wo erzählt wird, daß fein Leib geborften fei, fagt eine weitere 
Ueberlieferung, .er fei fo ungeheuer angefchwollen, daß er breiter 
wurde, ald ein Wagen; — andere, er fei von entfeblicher 
Waſſerſucht geplagt worden; ja fogar, er habe wegen unges 
heuern Anſchwellens der Augen das Tageslicht nicht mehr 
fehen können ıc. — Miöglidy wäre es allerdings, daß Judas 
eines gewaltfamen Todes geftorben, allein wiffen können wir 
darüber nichts: denn gewiß ift er nach feinem Austritte aus 
dem Kreife der Sünger für dieſe fo fehr in die Dunkelheit 
zurüdgetreten, daß ihnen Feine fi ichere Kunde von ſeinem Ende 
zukommen konnte. 


Sechstes Kapitel 
Jeſus vor Pilatus und Serodes und die 
Kreuzigung. 
(M. 27, 1, 2, 11— 30; Marf. 15, 1—19; &uf. 23, 
1— 25; Joh. 18, 29; 19, 15.) 


Jeſus ward, nachdem er von dem jüdifchen Gerichte ver⸗ 
urtheilt worden war, fogleidy zum römifchen Landpfleger Pi- 
latus geführt, weil ohne deffen Beftätigung Fein Sude hin⸗ 
gerichtet werden burfte, wie wenigftens Johannes (18, 31) 
angibt. Pilatus tritt fofort auf den Richterftuhl (M. 27, 9); 
da diejer, wie wir wiffen, im Freien ftand, fo muß die ganze 
Verhandlung in dem Borhofe des Palaftes, den der Landpfles 
ger bewohnte, vor fidy gegangen fein. Bei den Synoptifern 
find ſowohl Jeſus, wie die ihn verflagenden Hohenprieiter 
und Aelteften zugegen; Johannes aber läßt Jeſum in dag 
Innere des Gebäudes gebracht werden, fo daß hier Pilatus 
jedesmal, wenn. er ihn befragen wollte, ſich entfernen mußte. 
— Seine erfte Frage an ihn ift die, „ob er der Juden König 
(der Meffias) ſei?“ — bei M., Markus und Johannes muß 
dieß auffallen, da gar Feine Anflage über diefen Punkt von 
Seiten der Juden vorausgegangen ift CM. V. 11): erflärlich 
macht und nur Lukas diefe Frage, bei welchem die Ankläger - 
Sefum fogleich befchuldigen, daß er, als angebliher Kunig, Od 


416 


Bolf gegen die Römer aufwiegle. — Da Sefus auch bei 
Lufas, wie in den übrigen Evangelien, jene Frage ganz eins 
fach bejaht, fo ift es unerflärlih, wie Lukas hinzuſetzen 
fan, Pilatus habe, ohne die geringfte Unterfuchung anzuftels 
len, den fo hart Berflagten unfchuldig befunden. Eine ähn- 
liche Anficht laͤßt auch bei M. und Marfus Pilatus, ebenfalld 
ohne vorausgegangene nähere Befragung, bliden, indem er 
fidy erbietet, Sefum ftatt ded Barrabas (. unten) Ioszugeben. 
Hier gibt und nun Johannes den Schlüffel zum Näthfel, 
indem er ein genaues Verhör des Landpflegers mit Jeſu bes 
richtet (B. 33 20.): in dieſem erflärt Sefus, er fei allerdings 
ein König, fein Reich aber nicht von diefer Welt, und er fei 
nur zum Zeugniß der Wahrheit geboren, weßhalb auch feine 
Jünger ihn nicht gegen Die Gewalt feiner Feinde vertheidigt 
hätten. Dieß konnte nun allerdings den Pilatus von Sefu 
Unfchuld überzeugen. Wenn man über diefes Verhör das Be- 
benfen aufgeworfen hat, woher denn der Evangeliſt feinen 
Bericht darüber gefchöpft habe, da ihm zufolge Sefus ja im 
Inneren des Palaftes, gefondert von den Klägern und Zus 
fchauern, ſich befand? fo ift unter allen Antworten die die 
annehmbarfte, daß Die nähere Umgebung des Pilatus fpäter- 
hin Mittheilungen darüber gemacht haben kann. „Leicht könm⸗ 
ten wir indeß hier ein Gefpräch haben, das nur der eigenen 
Bermuthung des Evangeliften feinen Urfprung verdanfte *. 
In dem weiteren Verlauf der Verhandlung fchiebt num der 
einzige Lufas ein eigenthümliches Zwifchenipiel ein: Pilatus 
fendet nämlidy Jeſum, da er von den Suden gehört hatte, 
er fei ein Salilier (V. 5— 12), zu dem Damals gerade an⸗ 
weſenden Fürſten Galtläa’s, Dem Herodes, damit diefer ihn richte. 
Hier angekommen und befragt, gibt Sefus gar Feine Antwort, 
und wird fofort unter fchmählichen Mißhandlungen zu Pilatus 
zurücgefandt. Diefe vereinzelte Erzählung des Lufas hat aber 
manches Bedenklihe. Daß Sefus feinem Fürften nicht, wie 
er doc follte, Nede ftand, darf man nicht daraus erflären 
wollen, daß er ja, als in Bethlehem geboren, fein Galiläer 
geweſen; denn wäre auch diefe bethlehemitische Geburt mehr 
als hriftliche Sage, fo bliebe Jeſus, dort nur auf der Muts 
ter Reife geboren, immer ein Galiläer. Biel eher könnte man 


| 417 

»en Grund feines Schweigens in dem eined Richters unwür⸗ 
digen Benehmen des Herodes (V. 8) finden; und feine Zu⸗ 
rücfendung an Pilatus daraus erflären, daß er doch auch 
anf römifchsjüdifchem Gebiete viel gewirkt hatte, und hier ers 
griffen worden war. Unerklärlicher ift es, weßhalb Fein ans 
derer Evangeliſt von dieſer Zwifchenfcene ung etwas meldet, 
namentlich. der vierte nicht, der doch der Apoftel Johannes 
fein foll; denn die Behauptung, diefer habe die Wegführung 

Jeſu wohl darum nicht bemerkt, weil fie durch eine Hinter⸗ 
" thüre gefchehen, ift eben aud; — eine Hinterthüre. Wenn 
nun aud) Schriftfteller, die bald nad) den Evangeliften lebten, 
3 B. Juſtin, dieſes Abführeng gedenfen, fo ift doch das 
Schweigen der übrigen Evangelien bedenklich genug, um zu 
der Bermuthung zu berechtigen, die Erzählung gehöre dem 
Gebiete der Sage an. Es fonnte in ihrem Beftreben liegen, 
Jeſum vor allen. möglichen Richterftühlen in Sernfalem aufs- - 
treten und vor allen feine unerfchütterte Würde und Haltung 
behaupten zu laſſen. — — 

Da nun Pilatus ſieht, daß die Juden ihm die Verurthei⸗ 
lung des von ihm unſchuldig Befundenen nicht erlaſſen wollen, 
bietet er ihnen an, er wolle Jeſum ſtatt des Barrabas (M. 
V. 17) ihnen losgeben, weil ed Sitte war, während des 
Feſtes einen Berurtheilten frei zu laffen (Luf. B. 17). Einen 
folhen konnte das Volk ſich erbitten; daher mochte Pilatus 
hoffen, diefes werde Jeſum verlangen, weßhalb er auch abs 
fichtlich ihn ihren König nannte, um fie anzureizen; er hoffte 
es um fo mehr, weil er wußte, daß ihn nur der Neid der 
herrfchenden Priefter verfolgte CM. V. 17, 18), und weil 
Barrabas ein gemeiner Verbrecher war. Allein das wüthend 
gemachte Volf verlangte lieber dieſen! 


M. erzählt, daß Pilatus zw feinen Verſuchen, Sefum zu 
retten, ganz vorzüglich noch ermuntert wurde durch einen bes 
ängftigenden Traum, den fein Weib gehabt hatte (27, 19). 
Diefer Traum könnte allerdings gar wohl durdy die Ereig- 
niffe der Nacht in der Frau auf ganz natürliche Weiſe her- 
vorgerufen worden fein, allein da namentlich im M. Träume 

II. 97 


418 


als wunderbare Erfcheinungen betrachtet werben, fo wird andı 
wohl diefen der Evangelift für eine folche angefehen haben. 
Wir aber müflen fragen: wozu follte dieſes Wunder dienen? 
Für Pilatus konnte es nur eine um fo größere Strafbarteit 
bewirfen, da er nicht mehr zurüd konnte; .auf die Fran konnte 
ed auch nicht berechnet fein; denn Daß fie fpäter zum Chriften- 
thum übergetreten fei, ift eine reine Sage; — mit ben alten 
Orthodoxen aber, die den Traum für einen Verſuch Des Teu⸗ 
feld halten, das Erlöfungswerf Jeſu, wozu defien Tod noth- 
wendig war, zu hintertreiben, werden wir wohl nicht gemein 
fchaftliche Sache machen wollen. Vielmehr ift diefer bei M. 
vereinzelt ftehende Zug gewiß nur ein Werk der Sage, die 
ſich, ganz im Geifte des Alterthums, bemühte, bintigen Ereig- 
niſſen auch hier einen warnenden Traum vorausgehen zu kaffen; 
auch hier dem vom eigenen Volke vermorfenen Heilande ein 
Zengniß aus dem Munde der Ungläubigen und Schwachen 
zu bereiten. Eben fo fagenhaft lautet eine andere, gleichfalle 
dem M. eigenthümliche Nachricht, daß Pilatus, nachdem er 
Alles vergebens verfücht, feine Hände wufch, zum Zeichen 
feiner Unfchuld (V. 24). Ein ſolches Händemwafchen ift ein 
rein jüdifcher Gebrauch, den ein Römer ſchwerlich nachgemacht 
haben wird; vollende unmahrfcheinlich ift es, daß ein Land: 
pfleger einen Mann, den er Doc zum Tode führen ließ, feier 
lid) einen Gerechten genannt haben fol. Die chriftliche Sage 
aber mochte leicht fich bewogen finden, ein ganz feierliches 
Zeugniß über die Unfchuld des Meffias feinem gezmungenen 
Bertheidiger felbft in den Mund zu legen. Und wenn nun bie 
Suden ihm erwidern, „Sefu Blut möge über fie und ihre 
Kinder fommen“, fo Klingt dieß doc ganz wie vom Stand: 
punkte der fpäteren Chriften aus gefprochen, die das alsbald 
über das jüdifche Wolf hereinbrechende Unglück ald eine Strafe 
für den an Jeſu begangenen Mord betrachteten. 

Pilatus läßt nun Sefum geißeln; bei M. und Marfus ger 
ſchieht dieß als Einleitung zur Kreuzigung, dem bei den Rös 
mern gewöhnlichen barbarifchen Gebrauche gemäß (M. B. 26); 
— Lukas und Sohannes ftellen Die Sache andere. Der er; 
ftere läßt den Pilatus die Geißelung den Suden uur anbies 
ten, um ihn dann frei zu geben (®. 16), ohne daß es wirklich 


419. 


geichieht, weil fie fich Damit nicht begnügen wollen. Bei 
Johannes wirb dieſes Vorhaben. wirffich von Pilatus audges 
führt, ofme daß der Pöbel durch den Anbli des Mißhandel⸗ 
ten fich rühren läßt (19, 5). Ohne Zweifel haben die beiden 
Ießteren eine fagenhafte Umbildung des von den erfteren Evans 
geliften getreu berichteten Faktums, um das Beftreben des 
Pilatus, Iefum zu -retten, auf das Höchite zu fteigern. — 
Weiterhin wird Jeſus von den Kriegsfnechten verfpottet, ins 
dem fie ihn mit Purpurmantel und Dornenkrone ſchmücken 
AM. B. 28, 29): der Moment, in welchem dieß gefchah, wird 
verfchieden angegeben; bei M. und Markus gefchieht es nach 
der DBerurtheilung, bei Lukas beim Wegführen von Herodes 
3. 11), bei Sohanned vor dem nachgebenden Urtheile des 
Pilatus (19, 5). Diefe verfchiedenen Angaben laſſen fich nicht 
mit einander vereinbaren, und man fieht, daß die Ueberliefe⸗ 
rung die fihere Kunde von dem Zufammenhange diefer Miß⸗ 
handlung mit allen übrigen - Vorgängen verloren hatte. — 
Johannes berichtet und endlich noch den wahrfcheinlic, ganz 


richtigen Schluß diefer tumultwarifchen Gerichtöfeene: da Pis | 


latus flandhaft darauf beharren will, Sefum frei zu fprecdhen, 
fo laffen die Juden die Drohung bliden, ihn bei dem Kaifer 
verflagen zu wollen (19, 12 ıc.); und dieſer gewaltfame Be⸗ 
weisgrund mochte allerdings bei dem offenbar ſchwachen und 
charafterlofen Pilatus am fchlagenöften wirfen. 


CM. 27, 31 —56; Mark. 15, 20—41; Luk. 233, 1649; 
Joh. 19, 16—37.) 


| Indem wir zur Gefchichte der KRreuzigung felbft übers 

gehen, faffen wir uur diejenigen Punkte in’d Auge, worin Die 
Evangeliften nicht übereinftimmen. Schon über den Hingang 
zum Orte der Hinrichtung weichen die Synoptifer von Jo⸗ 
hannes ab: während jene berichten, daß ein gewiffer Simon 
aus Kyrene (nach Mark. V. 21 war er der Bater ded Rufus 
und Alerander, zweier in der fpäteren Chriftengemeinde ges 
achteter Männer) Jeſu das Kreuz tragen mußte M. V. 32), 
läßt Sohannes es ihn felbft tragen, und zwar bis er nach Gols 


_ 


‚420 


gatha kam (B. 17), demnach auf dem ganzen Wege. Dies 
fer offenbare Widerſpruch erklärt füh am einfachften fo, Daß 
die Synoptifer das Richtige haben, dem Johannes aber 
diefer bejondere Zug unbefannt blieb, und er alfo annahm, 
eg werde auch Jeſu nach "dem herfümmlichen Brauche fein 
Kreuz felbit getragen haben. — Nur Lukas erzählt, Daß eine 
wehlflagende Volksmaſſe Jeſu nachgefolgt fei, welder er 
ihr eigenes Fünftiges Elend verfündet (23, 27 ꝛc.); und zwar 
in Worten, die offenbar aus feinen früheren Reden über das 
Weltende CM. 24 u. 25) entlehnt, und wohl irriger Weiſe 
hierher verfegt find. — Der Drt ber Hinrichtung wird von 
allen Evangeliften „Solgatha“, d. h. Schäbdelftätte (M. V. 33), 
genannt: ohne Zweifel ftammt der Name von der traurigen 


Beſtimmung des Ortes her. — Die Folge der einzelnen 


Handlungen auf dem Richtplatze erzählt M. offenbar unrich⸗ 
tiger, als die andern, indem er die Verloofung der Kleider 
von Sefu der Kreuzigung der beiden Mifjethäter vorausgehen 
läßt, da doc, ohne Zweifel jene Handlung der Soldaten erft 
nach Vollendung der ganzen Henferarbeit gefchehen konnte. — 
In Bezug auf die Art der Kreuzigung kann man zweifels' 
haft fein, ob Sefus nur an den Händen, oder auch an ben 
Füßen angenagelt worden fei: für beide Anfichten laſſen ſich 
gute Gründe aufbringen; nur muß man fid) bei der Entfcheis 
dung nicht von vorgefaßten Meinungen leiten laffen, wie die 
Drthodoren und die Rationaliften.. Jene beftehen auf der 
Durchbohrung der Füße, weil fie darin die Erfüllung einer 
Weiffagung, Pf. 22, 17, die ſich Doch gar nicht auf den Meſ⸗ 
ſias bezieht, erbliden; Diefe protefliren gegen dad Annageln 
der Füße, weil der nad) ihrer Borausfeßung nur [cheintodte 
Jeſus (ſ. unten) dann unmöglich fo bald wieder hätte einher 
gehen künnen. Gegen bie Fußannagelung kann man anfühs 
ren, daß die Evangeliften nirgends. jene Pfalmftelle auf Jeſum 
anwenden, was ihnen fonft fo nahe gelegen hätte; und daß 
nach der Auferftehung nur den Wunden an den Händen umd . 
in der Seite, nirgends einer foldyen an den Füßen gedacht 
wird. Für die Durchbohrung der Füße läßt fich aber Ge⸗ 
wichtigere anführen, weßhalb Diefelbe als wirklich erfolgt 
zu betrachten ift: — denn wie follte ſonſt Jeſus dazu kommen, 


4231 

Lut. 24, 39 zu fagen: „fehet meine Hände und meine Füße 
an“? Da ferner die Krengigung eine eigenthümlich römis 
ſche Strafe ift, fo muß als entfcheidend angefehen werben, 
daß die gewöhnliche Kreuzigung von einem alten römiſchen 
Dichter nach der vwahrfcheinlichften Erklärung als eine an 
Händen und Füßen bezeichnet if. Wenn nun Kirchenväter 
von der „ungewöhnlichen Bitterfeit der Kreuzigung “ reden, 
fo. muß man dieß alfo nicht von einer ungewöhnlichen Art 
derjelben, fondern nur einfach von Diefer Strafe überhaupt, 
die im alten Teſtamente unerhört ift, verftehen. — 

Allen Evangeliften zufolge wird Sefu, ald er am Kreuze 
hing, ein Getränfe angeboten; bei M. und Markus gefchieht 
dieß auch ſchon vor der Kreuzigung, fo daß Diefe von zwei⸗ 
‚maligem Tränfen reden (CM. V. 34, 48). Alle die verfchie- 
denen Angaben weichen aber fehr von einander ab; fchon 
jene erfte Tränfung ift bei Markus (V. 23) eine mit Myrr⸗ 
henwein, bei M. mit Effig und Galle (V. 34), worin dieſer 
Evangelift ohne Zweifel die Erfüllung einer Weiffagung, 
Pſ. 69, 22, erblidt. Die fpätere Tränfung gejchieht zwar 
bei Allen mit bloßem Effig, in den befonderen Umftänden herrfcht 
‘aber große Verfchiedenheit: nad, Lukas war fie eine Verhöh⸗ 
nung durch die Soldaten (V. 36); nad) Marfus Verfpottung 
eines anderen Menfchen, und viel fpäter, als bei Lukas (®. 36) 5 
bei M. gefchieht es in guter Abficht (®. 48); bei Johannes 
geht ein ansdrüdliches Begehren Jeſu voran CB. 29). Man 
erhält alfo, will man alle diefe Darftellungen als vollfommen 
richtig ftehen Taffen, etwa 5—6 verfchiedene Tränfungen, was 
doch eine zu große Unmahrfcheinlichfeit wäre. Wahricheinlich 
iſt Vielmehr nur das gefchichtlich, daß Sefu am Kreuze Myrr⸗ 
henmwein gereicht wurde, den man nach jüdifcher Sitte den 
Hinzurichtenden zur Betäubung des Schmerzes zu geben pflegte; 
nun bezog man aber fchon frühe jene Pfalmftelle auf Jeſum 
(vergl. Joh. V. 28), wonach die Sage diefe Tränfung frühs 
zeitig in eine mit Effig, dann wohl, um die Weiffagung ganz 
in Erfüllung gehen zu laffen, noch buchftäblicher in eine mit 
untermifchter Galle umdichtete. So entitanden die verfchiedes 
nen Variationen, wie wir fie jegt noch leſen; die beiden erften 
Evangelien melden von zwei Zränfungen, weil fie die weist 


422 


Formen derfelben Erzählung für zwei verfchiedene Tihatfachen 
hielten. Sedoch könnte es auch.wohl der Fall gewefen fein, 
dag man nach jenem Myrrhenwein Jeſu auch noch Eifig ges 
reicht hätte. 
ü Mit der Angabe, daß Sefus am Kreuze gerufen habe: 
„Bater, vergib ihnen, denn fie wiffen nicht, was fie thun“, 
ſteht Lukas ganz allein (V. 34); aus diefem Grunde darf 
derſelbe, obgleidy er ganz der edlen Feindedliebe Jeſu anges 
meſſen ift, in Zweifel geftellt werden; um fo mehr, ba er gar 
leicht aus den für meffianifch gehaltenen Kay. 52 des Jeſaias, 
beflen letzter Vers ganz ähnliche Worte enthält, fommen konnte. 


Allen Evangelien zufolge wurden mit Sefu auch zwei 
„Miſſethäter“ gefreuzigt; ein Umftand, ber an ſich nicht 
bezweifelt werden darf: dagegen verdienen die -verfchiebenen 
Darftellungen desfelben nähere Erwägung. Bei Johannes 
&. 18) verhalten dieſe Miffethäter fi) ganz tumm; bei. 
und Markus (M. B. 44) läftern fie beide Jeſum; bei Lukas 
CB. 39) nur der Eine, der dafür von dem andern zurecht 
gewiefen wird.; leßterem verheißt Sefus, daß er noch heute 
mit ihm in's Paradies kommen werde. Diefe Widerfprüche 
laffen fid) nicht ausgleichen; es entſteht daher die Frage, wer 
am richtigften die Sache erzähle? Daß jene Unglücdlichen 
Sefum, wie die drei Synoptifer berichten, für den Meffias 
gehalten haben, ift durchaus unmöglich; denn die ganze Idee 
eines fterbenden Meffias war, wie wir früher fahen, ben 
Juden ganz fremd; und da felbft die Sünger diefe Idee erft 
nach Jeſu Auferftehung zu faffen vermochten, fo müßte ein 
Ränber, oder, wie Andere wollen, ein Aufrührer, der fichers 
lich doch nur irdifche Hoffnungen von einem Meffiagreiche 
hegte, den Apoſteln in Erfenntniß vorangeeilt fein. Wir 
können daher als Thatfache nur den einfachen Umftand, daß 
Sefus zwei Leidensgenoſſen hatte, feithalten: die Sage war 
‚8, die diefe in die Schmähungen auf Jeſum einftimmen ließ. 
+ Doc, die Mitgefreuzigten ließen ſich von diefer noch beffer 
benügen*: es mußte weiterhin ihn wenigftens Einer, wie früs 
her Pilatus, und fpäter ein heidnifcher Hauptmann (f. unten) 


N) | 
Zeugniß für Iefum ablegen, unb dafür von dieſem eine 
Zufidyerung erhalten, die. ganz den jüdifchen Borftellungen 
anpemeffen war, vermöge welcher bie Frommen von ihrem 
Tode an bis zur Auferftehung in dem Paradiefe verweilten, 
und. nach welcher in dieſes Paradies auch die bei bem Tode 
eines Frommen Anwefenden gelangen fonnten. — Nach der 
Krenzigung warb über Jeſu eine ſeine Schuld mit den Wor⸗ 
ten „Jeſus, der Suden König“ ansfprechende Ueberſchrift auf⸗ 
gehängt, der römischen Sitte gemäß; nur Sohannes G. 21) 
meldet, daß . die jüdifchen Dbern darin einen Spott über ihr 
Volk erblickten. — 

Hierauf ſollen die Kriegsknechte die Gewande Jeſu unter 
ſich vertheilt haben; auch dieſes iſt ganz dem Gebrauche der 
Römer entſprechend, der den Vollſtreckern des Urtheils Die 
. Kleider des Getödteten überließ. Bedenklich ift- inzwiichen ſchon 
das, daß bie Evangeliften auch hierin. Die Erfüllung einer 
Weiffagung, Pf. 22, 19, erblicdten (M. B. 35), die-fie wohl 
nad) ihren jüdischen Vorftellungen -für mefftanifch halten konn⸗ 
ten, die aber die Gelehrten der neueren Zeit doch endlich als 
ſolche aufgeben follten. Bedenklicher noch ift es, daß bie 
Evangeliften in ihren befonderen Angaben von einander abs 
weichen;. bei den drei erften loofen die Soldaten um alle 
Kleivungsftüde, was namentlid Markus ®. 24 mit unzwei⸗ 
fefhafter Deutlichfeit fagt, während Sohannes fie nur um 
das Linterffeid looſen läßt (V. 23 ıc.). Nun darf man aber: 
nicht annehmen, daß bie eriteren die Sache nur unbeftimmt, 
der leßtere dagegen beftimmter angebe; fondern diefer hat die 
Pfalmftelle, welche erfüllt worden fein fol, falfch verftanden; 
bier nämlidy ift von einem „DBertheilen und Berloofen “ 
der Kleider die Nede, was aber im Geifte der poetifchen 
Sprache der Hebräer ?% nichts anderes ift, ald doppelter 
Ansdrad für eine und Diefelbe Handlung. Der Berfafler des 
vierten Evangeliums fah jedoch hierin auch eine doppelte 
Handkung geweiffagt, nahm alfo an, es müffe nur ein Theil, 
der Gewande verloost worden fein, und theilte dieſes Loos 
dem Linterfleide zu; mahrfcheinlich weil er in dem Umſtande, 


3) Siehe die Anmerkung. 


Daß dasfelbe aus Einem Stüde ohne Nath beſtand, einen be, 
fondern Grund dafür zu finden glaubte. Diefe an fich unbe- 
bentende Barietät iſt doch darum von Gewicht, weil: fie den 
Verdacht erregt, die ganze Berloofungsgefchichte möge ans 
dem Beftreben entſtanden fein, alle Züge des für meſſiauiſch 
gehaltenen Pfalms in Erfüllung gehen zu laſſen. — 

Bon. dem Benehmen ber bei'm Kreuze anweſenden Juden 
weiß Johannes nichts: bei den übrigen Dreien verſpotten ſie, 
namentlich die Volksobern (Luk. V. 35), Jeſum auf mannig⸗ 
fache Weiſe. Dieß mag von dem haßerfüllten vornehmen 
Poͤbel wohl geſchehen fein; nur nicht mit den Worten, wie 
- ed und berichtet wird. Denn andy dieſe find zu fichtlich einer 
Stelle jenes Pfalmed 22 (V. 8) nachgebildet, und biefe 
Stelle war den Suden fo heilig, daß die Schriftgelehrten fie 
nicht hätten fpottweife in ben Mund nehmen fünnen, ohne 
ſich als Gottloſe darzuftellen, wovor ſich ein Pharifäer wohl 
wird gehütet haben; fie ihnen aber in den Mund zu legen, 
mußte der chrütlichen Sage nahe genug liegen. 





. Daß einer der Zwölfe bei Jeſu Kreuze gegemmwärtig ges 
weien, davon melden M. und Markus nichts; vielmehr fcheis 
nen fie bier von ihrer Flucht bei Sefu -Gefangennehmung fich 
noch nicht wieder gefammelt zu haben; bei Lufas find fie zu⸗ 
gegen (V. 49), und das vierte Evangelium nennt ald gegens 
wärtig ausdrüdlich den Sohannes, dem Jeſus noch vom 
Kreuze herab feine Mutter empftehlt (B. 25). Daß dieſe 
rührende Scene in allen andern Evangelien fehlt, ift unbes 
greiflich; wie konnte eine folche in der Leberlieferung, welcher 
diefe folgten, fo ganz verloren gehen? oder wie konnte fie von 
ihnen, wenn fie ihnen befannt war, fo ganz übergangen wers 
den? Weit begreiflicher ift e8, wie eine folche in dem Kreife, 
woraus das vierte Evangelium hervorging, erdichtet wer 
den konnte: hier genoß Johannes ganz befondere Verehrung; 
hier galt er vorzugsweiſe ald der „Liebling des Herrn“, und 

wie konnte dieſes beffer bethätigt werden, ald wenn ihm Jeſus 
die theuerſte Hinterlaffenfchaft, feine Mutter, übergab und ihn 
dadurch gleichjam zum Stellvertreter Chrifti machte? — 


| I a 
Dagegen haben nur M. und Markus den fchmerzlichen - 
Ansruf Ten: am Kreuzer: „Eli, Eli, lama ıc. (M. V. 36): 
Dieſer, der den Gegnern bes Chriſtenthums ähnliche: Waffen 
in.bie Hand gab, wie der Seelenkampf auf. Gethfemane, wird 
von ‚der. Kirchenlehre. ald Ausbrud eines inneren Zuftandes 
betrachtet, der zu dem ftellvertretenden Leiden Jeſu ges 
bört. habe:. fein Schmerz fei entſtanden aus dem Zurückweichen 
Gottes von feinem Innern, wobei er den, von den Mens. 
fchen verdienten, göttlihen Zorn empfimben habe. : Aber, 
ſelbſt die kirchliche Anficht von Jeſu Perfon feftgehälten, ift 
ein folched „Zurudweicdhen Gottes“ ganz undenkbar; betraf. 
es Jeſu menfchliche Natur? fo. wäre fie von der göttlichen. 
Iosgeriffien worden; feine göttliche? fo wären die Perfonen 
Gottes in fich entzweit geweſen; ihn, den Gottmenſchen? 
dann :wäre bie Unzertrennlichkeit des Gottinenfchlichen aufger 
“hoben worben.. Man hat daher die Sache milder genommen: 
Sefus habe in feinem Leiden fic, jenes Pfalmes erinnert, bei 
. auch er auf den Meffias, d. h. auf ſich bezog, und nun befs 
fen Anfangsworte (Pf. 22, 1) laut ausgefprochen, wobei 
ihm die weiteshin folgenden (V. 10, 12) freudig erhabenen 
Stellen desfelben im Sinne gelegen. Allein dann mußte er 
auch nur diefe laut ausfprechen, wenn er nicht feine Umge⸗ 
sung über feine innere Stimmung irre führen wollte. Indeſ⸗ 
fen eben der Umftand, daß jene Worte den Anfang eines 
Pfalmes Hilden, den man als die klarſte Vorherverfündigung 
von dem leidenden Meffias betrachtete, führt und von felbft 
zur richtigen Erklärung. Grade diefe Anfangsworte mußten, 
wenn fie auch nicht von Jeſus gefprochen worben,; „Dem ges 
freuzigten Meſſias in den Mund gelegt werben*: denn fie 
drücken die tiefite Tiefe Des mefjianifchen Leidens aus. 

Die legten Worte, welche Sefus vor feinem Ende ſprach, 
werben von M. und Markus (M. B. 50) nur eine „Tante 
Stimme“ genannt; bei Lukas fagt er: „Vater, in Deine Häns 
de ıc.“ (V. 46); bei Johannes: „es ift vollbradıt* (V. 30). 
Beide Ausrufe kann Jeſus nicht nacheinander gethan haben, 
da jeder der zwei Evangeliften Anfpruch darauf macht, den 
vollen lebten Ruf Jeſu zu melden. Vielmehr hat wahrs 

ſcheinlich Johannes das Richtige, und Lukas hat nur den von 


| Ä are 
Schi Hintritt gebräuchlichen Ausdruck: „er befahl Gott feine 
Seele“ zu einem unmittelbaren Stoßgebete Jeſu ungewandelt. 
Halten wir überhaupt alle Ausſprüche, welche und bie 
Eomgeliften von dem: Gefrezigten angeben, bie fogenannten 
Sieben Worte, prüfehd- neben einander, fo finden wir, baß 
er fie unmoͤglich alle gethan haben kann; ſondern nur einige 
berfelben, und daß Jeder eben nur das melbet, was ihm bie 
Sage oder feine eigenen Schlüffe aus ben vorliegenden Weiſ⸗ 

fagungen an die Hand gaben... et us 
Endlich hat noch die Zeitbeſt immung ber Kreuzigung 
einige Schwierigkeit. Nach den brei Synoptikern verſchied 
Jeſus um die „neunte“ Stunde, d. i. um drei. Uhr Nach⸗ 
mittags; nach Markus ward er um die „dritte“ (alſo 9 Uhr 
Vormittags) gekreuzigt (V. 25); nach Johannes aber faß 
Pilatus noch um die „ſechsſste“ (12 Uhr Mittags) zu Ges 
richt; ein Widerfpruch, bee fic nur durch die Annahme Löfen 
laäßt, daß Johannes von einer andern Stundenzählung aus⸗ 

gegangen fei. 


| Siebentes Kapitel. 
Naturwunder bei Iefu Tude, der Lanzenftih in - 
Jeſu Seite und fein Begräbniß. 


Siehe die zuletzt angegebenen Stellen. ) 


Von anßerordentlihen Naturerfcheinungen, die bei Jeſu 
Tode fich ereignet haben follen, erzählt Sohannes durchaus 
nichts; Markus und Lukas berichten von einer plößlich ein; 
getretenen Finfterniß und bem Zerreißen ded Tempelvors 
hanges; wozu M. noch ein Erdbeben und die Auferftehung 
ber Leiber vieler Frommen fügt. — Was zuerft die Berfins 
ſterung der Sonne betrifft, fo kann dieß feine gewöhnliche 
Sonnenfinſterniß gewefen fein, da eine folhe am Paſcha, 
d. h. zur Zeit des Vollmonds, unmöglich if. Man müßte 
alſo an eine Verdunkelung durch Lufterfcheinungen denken, Die 
allerdings, namentlich bei Erdbeben, ftattfinden kann; jedoch 
nicht fo, ‘daß fie ſich „über die ganze Erde" erſtreckt (MR. 


. 8. 45): und überbieß acht aus dem gangen Zufeumenhane 
‚hervor, daß bie Evangeliften bie Erſcheinung als ein. Wunder 
betrachten, beiten Zwechnäßigfeit wir aber nicht einfehen kon⸗ 
nen. Allein wenn wir und erinnern, wie in faſt allen Theilen 
der alten Geſchichte Finfterniffe beim Tode berühmter Männer 
(Romulus, Julius Caͤſar ıc.) eintreten, wie in altsteflaments 


lichen Stellen ef. 50, 3 u. A.) die Verfinfterung des Tages⸗ 


lichtes als Zeichen göttlicher Trauer betrachtet. wird; wie nach 
Rabbinen die Sonne. fi verfinftert bei dem Tode: hoheprie⸗ 
ſterlicher Perfonen: — können wir da wohl zweifelhaft. barüber 
fein, daß wir auch bier mur eine aus Zeitworftellungen her⸗ 
vorgegangene chriftliche Sage haben, welche die ganze Natur 
bei dem Tode bes Meſſias mittrauern ließ? — . 

Ganz dasfelbe muß nun auch, im Zufammenhange mit - der 
Finſterniß, von dem Erdbeben gelten. — 


Vollends undenkbar iſt das Zerreißen des Tempeloorr 


hanges, (ohne Zweifel it es der das Allerheiligfie abſon⸗ 
dernde gemeint); denn fest man auch, was bie Evangeliften 
aber nirgends thun (vergl. Mark. B. 38), damit das Erdbeben 
in Berbindung, fo ift doch das Zerbrechen eines vielfach nach⸗ 
gebenden Gegenftandes bei einer Erberfchütterung etwas Ins 
erhörtes, was nicht einmal durch willfürliche Annahmen, 5. B. 
der Vorhang. fei auf beiden Seiten befeftigt, er fei fchon 
mürbe geweſen 2c., glaulbich gemacht werben fann. Als Wun⸗ 
Der fünnen wir den Borfall fchon darum nicht gelten laſſen, 
weil der einzig denkbare Zweck besfelben, ben Glauben an 
Jeſum zu befördern, nicht erreicht worden wäre, indem nirs 
gende mehr von ihm die Rede ift:. — alfo kann die Sache 


gar nicht gefchehen fein. Wohl aber ift die Entſtehung 


eines folhen Mythus vom zerriffenen Vorhange leicht nach- 
zuweiſen. Schon im Hebräerbriefe G. B, 6, 19; 9, 6-19 
heißt es, Chriftus fei ald ewiger Hoherpriefter „in das Ins 
nere bed Vorhanges“, in das Allerheiligfte bes Himmels, eins 
gegangen, und habe auch ben Ghriften den Eingang bahin 
eröffnet, während vor ihm nur ber Hohepriefter es einmal 
im Sahre betreten durfte. Wie Leicht konnten folche finnbilbs 


liche Reden noch weiter dahin ausgeführt werden: „Jeſus hat- 


durch feinen Tod den Vorhang bes Tempels zerriſſen“! und 


2 


28 
wie bald mußte: ſich in ‚dem Geifie ber Zeit dieſes Sild 
einer Erklaͤrung verförpern, wie wir fie hier vor une haben! 

um fo mehr, da eine folche den ehemaligen Heiden recht au⸗ 
ſchaulich machen konnte, daß fie nicht nöthig hatten, in das 
Judenthum einzutreten, bevor fie Chriſten wurden! 





Am fchwierigften it Das nur von M. berichtete Wunder⸗ 
zeichen, baß die Gräber fich öffneten, viele Todte hervor⸗ 
fliegen und fich nach Jeſu Auferftehung (warum nicht fogleich?) 
in Serufalem oͤffentlich zeigten; ein begrünbeter. Zweck läßt 
fih andy von diefem Wunder nicht nachweifen, ba basfelbe 
feinen Eindruck gemacht zu haben fcheint, und man ſich nir⸗ 
gende im neuen Teftamente auf basjelbe beruft. Die natürs 
liche Erklärung kann und auch nicht befriedigen: daß naͤmlich 
durch das Erdbeben mehrere Grabmäler verfchüttet, Daß bie 
Leichname in denſelben nicht mehr vorgefunden worben; daß 
dieſe Thatfache, verbunden wit ben nach Jeſn Auferftehung 
erregten Auferweckungsgedanken, Bifionen und Träume erzengt 
habe, in denen man die Tobten aus den Gräbern hervorſtei⸗ 
gen zu fehen glaubte ꝛc. — Weit natürlicher ift es, biefe Er⸗ 
zählıng als eine Sage, hervorgegangen aus der verbreiteten 
jüdifchen Erwartung, der Meſſias werde die verftorbenen 
frommen Siraeliten auferweden, zu betrachten: wobei wir 
denn weder Träume noch Ieergeworbene Gräber, Beides gleich 
umwahrfcheinlich, in Anfpruc, zu nehmen haben. 

Mit der Entitehung diefes Mythus mochte es fich aber 
fo verhalten haben: die. Chriften freilich hatten jene jüdifche 
Erwartung dahin. umgebildet, daß ihr Meffias, Jeſus, bei 
feiner erſten Wiederkimft mm die Frommen erweden, mit 
ihnen tanfend Jahre herrfchen, und aledann aud) alle Todten 
aus den Gräbern rufen werde. Diefe von Paulus (1 Ker. 
15, 22 0.) mehrmals audgefprochene Anficht liegt aber unferm 
Mythus noch ferne, der, wahrfcheinlich unter Subenchriften ent 
ftanden, fich noch enger an die jübifche Borftellung anfchließt, 
and bie Auferftehung der Frommen noch in die erfte Ans 
weſenheit Iefu auf Erden verlegt. Sie grade mit feinem 
Tode in Verbindung zu bringen, dazu Fonnte ihn theils ber 


m 
äußere Grund, daß in der Ueberkieferung von einem damals 


eingetretenen Erdbeben, Tas auch die Gräber erichütterte, bie 
Rede war; — theild der innere Grund veranlaflen,. baß 


grade der Tod Jeſu "ald der eigentlich ‚entfcheidende Augen _ 


blick der Erlöfung betrachtet wurde, weßhalb Jeſu ja nach 
1 Petr. 3, 19 fogleich nach demfelben in die Unterwelt gehen 
mußte, um bie früher Verftorbenen zu befreien. — Ä 
:Den Schluß ber Krenzigungsgefchichte macht ‚bei deu: Sy, 
noptifern der bewundernde Ausruf des römifhen Haupt 
manns; daß er. dazu durch bas laute Schreien Jeſu, wie 
Marl: B. 29 fagt, bewogen worden fein fol, it fehr un⸗ 
PO ‚da dieß fein Zeichen ruhiger, göttlicher Faſſung 
— wahrfcheinliher ift der Zufammenhang bei Lukas 
= 47), wo die Bewunderung bes Hauptmanns ſich nah 
dem lebten Gebete Jeſu ausfpricht; — am meiften begründet 
wäre fie bei M. (®. 54), wo fie durch das Erbbeben unb 
Anderes bei Jeſn Tode hervorgerufen wird, wenn nur nicht 
dieſe Erzählungen ſo wenig gefcichtlichen Boden hätten! 
Auch das ift bei M. fehr unwahrſcheinlich, daß der heibnis 
ſche Hauptmann Zefum als Meffias („Sohn Gottes“) er⸗ 
kannt haben foll; eher könnte er ihn nad) Lukas einen „ges 
rechten Mann “ genannt haben: aber auch diefer Zug muß, - 
als Schlußftein einer Reihe ſagenhafter Büge, in Zweifel 
geftellt werben. 





Der einzige Sohannes ift ed, der ung erzählt, baß die: 
Juden, um nicht durdy das Hängenbleiben "der Gefreuzigten 
den bevorftehenden hohen Sabbat entmeiht zu fehen, den Pilas. 
tus baten, denfelben die Beine zerfchlagen und fie dann herabs 
nehmen zu laſſen; ben beiden Mitgefreuzigten gefchah dieß; 
Jeſu aber, den man fchon für todt hielt, gab ein Soldat nur 
einen Tanzenftic in die Seite, worauf Blut und Waſſer 
floß (Soh. 19, 31 - 37). | 
.. Sn diefem Lanzenſtiche fieht ‚man. gewöhnlich den Haupt⸗ 
beweis für den wirklichen Tod Jeſu, den man ſonſt be⸗ 
zweifeln könne, da er nur kurze Zeit am Kreuze hing; 
nach Markus ſechs Stunden, von 9 bis 3 Uhr, nach M. und: 


430 

Lakas wahrfcheinlich mr drei, von 12 bis 3 Uhr, mad 
Johames gar (|. oben) nır 2—3 Stunden. So fdmell 
tödtet fonft Die Kreuzigung nicht; Manche lebten nach derſelben 
noch mehrere Tage. Während daher alte Kirdyemoäter in 
dem fihnellen Ende Jeſu ein Wunder fehen, leiten Neuere es 
von den großen vorausgegangenen Leiden Jeſu ber, wobei fie 
zum Theile es umbeflimmt laſſen, ob nicht erft jener Lanzen⸗ 
Rich den nur Ohmmächtigen vollends getöbtet habe. — Aber 
eben diefer Lanzenſtich war von jeher ein Krenz für die Aus 
leger; weder das Werkzeug ift und genau befaunt; denn bie 
„Lanze“ kann eben fo gut die große, ſchwere geweſen fein, 
wie der leichte Wurfipieß; — das von Luther mit „öffnen“ 
überfette Wort kann eben fowohl von einem bloßen Riten 
oder unblutigen Stoßen, ald vou tieferem Einbohren gebraucht 
werben; — als Stelle der Verwundung ift allgemein ur bie 
Seite angegeben, worunter die rechte, wie bie linfe, von ber 
Schulter bis zur Hüfte, verftanden: fein kann. Dürfte man 
freilich annehmen, der Soldat habe Jeſum vollends tödten 
“wollen, fo wäre man leichter im Reinen; allein dieſe Abficht 
hatte der Soldat gewiß nicht; fonft hätte er Jeſu andy bie 
Beine zerfchlagen, und ſich nidıt mit dem Beweife für Set 
Tod begnügt, den er in dem Waſſer und Blut, das aus ber 
Wunde floß, erblidte. 

Daß aber Blut und Wafler herausflog, muß nach dem 
Urtheile berühmter Aerzte durchaus in Abrede geftellt werben; 
denn daß, wie Einige glauben, das Waſſer aus dem Herz 
beutel gefommen fei, in welchem bei manchen Zodesarten fich 
(namlich fehr wenig) Waſſer anfammle, bedarf femer Wider; 
legung. Nun verhält fich aber Die Sache bei den Leichnamen 
fo: höchftens eine Stunde nad) dem Tode fließt noch aus 
einer gemachten Wunde Blut; außer nach befonderen Krank 
heiten, Exitiden, Rervenfiebern ıc., in welchem Falle das But 
länger flüffig bleibt. Iſt es aber einmal gerommen, fo fließt 
Nichts mehr aus der Wunde, weder Blut noh Waffer. 
Demmach fünnte nach dem Lanzenftiche höchſtens nur Blut 
geflofien fein; nämlich wenn entweder Jeſus erfticht wäre, was 
aber bei Iemanden, der noch bis zum fetten Augenblicke redet, 
nicht gefchehen fein kann, oder wenn er erft vor einer Stunde 


geſtorben war, was gegen alle. Berichte ‚geht, nach welchen 
die Kreuzabnahme um 6, der. Tod um.3 Uhr: erfolgte — 
„Schwerlich alfo hat der Urheber dieſes Zuges. im vierten 
Evangelium Blut und Waffer felbft aus ber Seite Sefu ale 
Zeichen bed erfolgten Todes kommen ſehen; fonbern weil er 
bei Blutlaͤſſen fchon jene Scheidung im erfterbenden Blute 
gefehen hatte, und ihm anlag, eine fichere Probe für den Tob 
Jeſu zu bekommen, ließ er aus deſſen verwundetem keichname 
jene geſchiedenen Beſtandtheile fließen*. — — 

Dennoch verſichert der Verfaſſer bes Evangeliums auf 
Angelegentlichite (V. 35), daß fich dieß wirklich mit Jeſu 
jugetragen habe; ohne Zweifel, um dadurch den wirklichen 
Tod Jeſu zu bezeugen, der gewiß fchon damals von Vielen 
bezweifelt wurde. Eine ähnliche Todesprobe gibt, fehr wahrs 
fcheinlich aus -Demfelben Grunde, auch Markus, indem er den 
Pilatus ſich wundern laßt, daß Jeſus ſchon geftorben fein 
folle, worauf ein Hauptmann Die Sache unterſuchen mußte, 
und meldete: „ber Gekreuzigte fei längft fchon todt“ (V. 44,45). 
— Als Schluß feiner Erzählung führt Sohannes noch zwei 
ultsteftamentliche Weiffagungen an, die an Sefu in Erfüllung 
gegangen fein follen, die eine (2 Mof. 12, 42) dadurch, daß 
ihm nicht die Beine zerfchlagen worden; bie andere (Zach. 
12, 10) durdy den Lanzenſtich (V. 36, 37); Stellen, welche 
von nichts weniger reden, ald vom Meſſias, aber allerdings 
fehon frühe von den Chriften, wie fo mancher Unglückspſalm, 
auf Jeſum gedeutet worden fein mögen. 

Fragen wir nun nach der Glaubwürdigkeit diefer ganzen 
johammeifchen Erzählung, fo beruht zunächft grade das, worauf 
ber Erzähler am meilten Werth legt, das Blut und Waffer, 
auf einer Tänfchung, Die doch auch der Soldat getheilt haben 
müßte; denn hätte er nur Blut zu fehen geglaubt, fo würde 
er, dieß als Zeichen bes noch nicht erfolgten Todes betrach⸗ 
tend, auch Jeſu die Beine zerfchlagen haben. Ueberdieß tft 
dieſes Beinezerfchlagen bei Gefrenzigten fonft ganz ohne Bei⸗ 
fpiel; und es bleibt daher unfere Erzählung, wenn auch nicht 
gradezu erdichtet, doch immer fehr unficher; nur das Fam 
als ausgemacht angefehen werben, daß wirklich die Leichname 


2 
noch vor Eonnuenmntergang herabgenonnnen wurben, weil dieß 
dem jũdiſchen Geſetze (5 Mof. 21, 22) ganz gemäß ift. 


M. 9, 57-61; Mark. 15, 42, 16, 2; Lut. 23, 50-56; 
" | Soh. 19, 38 — 42.) ” 


Nach jüdifchem Brauche hätte num Jeſu Leichnam auf ber 
Kichtftätte felbft verfcharrt werben follen; allein Sofeph von 
Arimathäa, ein angefehener Dann (Ratheherr, Luf.) und 
heimlicher Anhänger Sefu, erbat fich die Leiche von Pilatus, 
erhielt diefelbe, und beftattete fie fofort noch am Abende in 
einem anftändigen Grabe, wobei ihm mehrere galiläifche Weiber, 
und nach Sohannes auch Nifodemus, hüffreiche Hand Teilteten, 
Ueber die Art dieſes Begräbniß gehen aber mın die Evan 
geliſten fo fehr auseinander, daß es bei allen angeftellten 
Berfuchen unmöglidy erfcheint, fie zu vereinigen. Laut M. 
(f. die Stellen) wird der Leichnam ohne Weiteres nur in 
Linnen gewicelt in die Gruft gelegt; nach Sohannes zugleich 
einbalfamirt, und zwar von Nifodemus mit hundert Pfund 
Spezereien, was eine unerhörte, übertriebene Maffe ift; — 
bei Lufas faufen die Weiber Spegereien, verſchieben aber 
das Einbalfamiren bis nach dem Sabbat; — bei Markus 
wird von ihnen auch noch der Einfauf bie dahin verfchoben. — 
Vorerſt wollte man bie beiden letteren Evangeliften mit 
einander ausgleichen, indem Einige des Marfus Worte 
(16, 9: „Da der Sabbat vorüber war, Fauften Markus ıe., 
— auf daß fie ihn falbten“, umdrehen wollten in: „ba ber 
Sabbat ıc., hatten Markus — gefauft (nämlich ſchon vors 
her!), auf daß fie ꝛc.“, — andere dagegen dem Lukas feine 
Angabe (B. 56): „fie Fehrten heim, und bereiteten Speges 
rei ıc., und über den Sabbat waren fie fille ꝛc.“, gleichfam 
im Munde umwandeln in: „fie Eehrten heim und befchloffen, 
Spezereien zu Faufen; thaten es aber erft nad) dem Sabbat“. 
Seder fühlt, wie unerlaubt diefe Gewaltthätigfeiten find! — 
Nicht glüdlicher ift eine andere Auslegung, dahin gehend: 
„die vor dem Sabbat bereiteten Spezereien waren nicht hins 
reichend, und die Frauen lieferten noch weitere nach dem 


483 


Sabbate Hi“ Will man’ aber einmal allgemeinen” Frieden 
Kiften, fo .muß man baun auch ben Johannes mit feinen 
hundert Pfund. binzunehmen, und biefe Maffe hätte roch nicht 
bingereicht? — Daher fagen Andere, es fehlte nur. noch an 
ber rechten. Zubereitung des Leichnams; dieſe ſollte nach 
dem Sabbat noch vollendet werden; aber fagt denn nicht 
Johannes auodrücklich V. 40: „fie nahmen. den Leichnam 
und banden ihn in Tücher mit Spezerein, wie bie-Inben 
m beſtatten pflegen“! alfo war fchon Alles in befter Ord⸗ 
nung! — Am übeliten ift noch eine letzte Austumfe: . die 
Weiber haben von der Einbalfamirung nichts gewußt“; — 
als wenn fie nicht mit Augen angefehen hätten, „wo? * (Mark. 
DB. 47) und „wie?“ Ruf. V. 55) man ben Leichnam hins 
gelegt hatte! 

ft demnach das Zugeftäandniß unvermeidlich, daß die Bes 
richte fehr verſchieden find, fo erflärt man fich die Verichies 
denheit vielleicht am beiten fo. In allen Evangelien lefen 
wir von einer Salbung am bethanifchen Mahle (Th. I, 
S. 268), wobei Jeſus ausdrücklich bemerft (M. 26, 12), . 
das Weib habe ihn zum Tode gejalbt.e Daraus fcheint hers 
vorzugehen, daß die ältefte Sage von einer Einbalfamirung 
(Salbung) des geftorbenen Jeſu nidyts wußte; und daher, 
weil ihrem Meifter die letzte Ehre mangelte, mit befonderem 
Wohlgefallen auf jeder gleichfam vorgreifenden Ehrenbezeugung 
verweilte. M. kannte auch nur fie, und erzählt deßwegen 
von einer folchen, dem Todten widerfahrenen, nichts: fpätere 
Sage (Marfus und Lukas) weiß gleichfalld von diefer legten 
Salbung noch nichts, Fennt aber ſchon den Vorſatz frommer 
Weiber, fie zu vollbringen; bis endlich die legte Stufe dieſer 
Sage auch den Leichnam aus vollen Händen mit der Aug. 
zeichnung eines anftändigen, der Sitte vollig genugthuenden 
Begräbniffes befchenft. — 

Darin find alle Evangeliften einig, daß Jeſu Leichnam 
in einer noch ungebrauchten Felfengruft beftattet wird, bie. 
man mit einem großen Steine verfchloß. Bei M. (2. 60) 
wird es beftimmt ausgefprochen; bei Markus und Lukas 
(8. 46 und V. 53) aber, wie es. fcheint, als befannt- vors 

Il. | 28 


434 


ansgefebt, daß diefes Grab dem Sofeph von Arimathaa ge 
hörte: nach Johannes Darftellung kann dieß nicht der Fall 
gewefen fein, da es hier heißt, Sofeph habe den Leichnam in 
ein Grab gelegt, das fidy in einem Garten in der Nähe 
Des Nichtplages befunden habe: — damit kann nicht das 
Grab bes Eigenthümers gemeint fein, weil er in ein fol 
des jedenfalls den ihm anvertrauten Leichnam gelegt 
hätte, mochte «8 nahe ober ferne fein. Diefen unbedeuten⸗ 
den Widerfpruch in ben Berichten bermögen wir nicht mehr 
zu löſen. 


85 


Siebenter Abfchnitt. 
Auferftehung und Himmelfahrt Jeſu. 


3 


Erfted Kapitel. 
Die Wache am Grabe und erfte Kunde von der 
Auferftehung. 
(M. 27, 62-66.) 


Der Auferftehungsgefchichte geht bei M. eine‘ merhvlrdige 
und gleichfam einleitende Erzählung voraus; die von der an 
Sefu Grabe aufgeftellten Wache (ſ. die Stellen M. 27, 62 ꝛc.), 
welche die Suden, aus Beforgniß, daß Sefu Leichnam entwens 
det werden möge, von Pilatus fich ansgebeten hatten. Im - 
diefer Erzählung hat man von jeher die vielfältigften Bedenfen 
gefunden; fowohl in Bezug auf das Ganze, wie auf bie 
Einzelnheiten derfelben, 

Unbegreiflich erfcheint in erfterer Beziehmg, woher die 
Spnebdriften wußten, daß Jeſus nach drei Tagen auferftehen 
wolle (27, 63)? Selbſt gefagt wird er es feinen Feinden 
nicht haben, da er nicht einmal feinen Süngern ſich beftimmt 
darüber ausſprach; bildliche Andeutungen darüber hätten aber 
jene ficherlich noch weniger verftanden, als biefe: die Sünger 
können die Erwartung der Auferftehung auch nicht verbreiter 
haben, da fie ihnen, wie wir oben ſchon fahen, höchſt uner⸗ 
wartet fam. — Eben fo unerflärlidy ift, wie von Diefer That⸗ 
fache, die ein fchlagender Beweis für die wirfliche Auferftehung 
fein mußte, ſich alle Kunde aus der ewangelifchen Ueberlieſe⸗ 
rung fo. ganz verlieren fonnte, daß wir nirgends, außer bei 
M., auch nur eine leiſe Andeutung derſelben finden. Die 
groben, vermittelt der beftöchenen Wächter (28, 13) ausges 
fireuten Lügen würden die Sünger nicht abgehalten haben 


436 


auf die Wache am Grabe fich zu berufen, und fobalb fie von 
dDiefer etwas erfuhren, fo mußten fie nadı ihren Erfahrungen 
zu jehr wiffen, was hinter dem Mährchen von ber entwende: 
ten Leiche verftekt lag und ſich kühn auf die beftochenen 
Pächter berufen. — Sehr auffallend ift ferner, daß die am 
frühen Morgen des Sonntage zum Grabe gehenden Frauen 
von der Wache an demfelben nichts willen: denn wußten 
fie davon, fo durften fie nicht fo beforgt Darum fein, wer 
ihnen wohl den Stein.vom Grabe wälzen werde (Mark. 16, 
3), fondern ihre einzige Sorge mußte die fein, ob die Wade 
dieß wohl erlauben würde, die ihnen fofort ficherlich auch gehols 
fen hätte. Shre Unmiffenheit ift aber darum fo auffallend, 
weil ganz Serufalem von den Ereigniffen ber lebten Tage 
vol war (Ruf. 24, 8). 

Aber auch im Einzelnen häufen fich Die Schwierigkeiten 
fo jehr, daß man das Benehmen vieler Perfonen bei der 
Sache nicht begreift. Mußte nicht Pilatus fich zum Spotte 
verfucht fühlen, wenn heute Cam Sabbat, 27, 62) diefelben 
Männer vol Angſt find, der von ihnen geftern als Miffethä- 
ter Verurtheilte werde ald Sohn Gottes auferitanden zu fein 
fcheinen können? — War e8 nicht im höchften Grade verwe⸗ 
gen von den Soldaten, die am Grabe Wache gehalten, 
fich zu einem Geftändniffe, daß fie gefchlafen, alfo den Dienft 
gröblich verfäumt hätten: (28, 13), was ihnen bei der firengen 
Kriegszucht der Römer übel befommen fonnte, verleiten zu . 
laſſen? — Am räthfelhafteften ift das Benehmen der Synes 
driften: zwar daß fie am Sabbat fi) Durch Betreten der 
beidnifchen Statthalterwohnung und des Grabes verunreinigen 
mochten, kann man fich aus ihrem Eifer erklären. Unerklaͤr⸗ 
lich aber ift es, daß fie den zitternden Soldaten fogleich: auf's 
Wort glaubten, Sefus fei auferftanden, da fie doch zum 
Theile (die Sadducäer) an gar feine Auferfichiug glaubten, 
und Alle eine fo geringe Meinung von Sefu hatten, daß fie 
an feine Auferftehung nicht denfen konnten! Statt daß fie 
alſo den Soldaten erwidern mußten: Ihr lügt, ihr habt euch 
ben Leichnam ftehlen laſſen! geben fie ihnen noch Geld, um 
Das als eine Lüge auszubreiten, was fie von ihrem Stand» 
punkte aus fir den wahren Hergang der Sache halten muß⸗ 


| LE) Zu 
ten! Unglaublich endlich iſt es, daß ein ganzes Kollegium 
fih fo fehr vergeflen könnte, um in Gefammtheit eine fo nie⸗ 
dertraͤchtige Beftechung zu befchließen: dieß konnte doch wohl 
nur die Erbitterung der erften Chriften, nnter welchen diefe 
Erzählung entitand, für möglich halten! zu 
Diefen großen Schwierigkeiten hat man auf mancherfet 
Weile aus dem Wege zır gehen gefucht: eine unerlaubte Weife 
ift die Annahme, die ganze Erzählung fei fpäter in das Evan⸗ 
gelium hineingefchoben, oder wenigſtens von dem griechifchen 
Ueberfeßer zugefügt worden: — eine umzulängliche, nur Eins 
jenes, 3. B. den Befchluß des Synedriums, für unächt zu 
halten, weil damit nur Ein Anftand gehoben wird. — Den rich: 
tigen Weg gibt und M. felbft an, wenn er 28, 15 fagt, 
„dieſes Gerücht fei allgemein verbreitet big auf feine Zeit“: 
Damit meint er nur das von Jeſu Gegnern ausgefprengte Ges 
rücht von dem entwendeten Leichnam. Dem die Sage 
von einer Wache am Grabe werden fie wohl nicht erfunden 
haben, weil dieſe ja wieder fehr den Glauben an jene vors 
gebliche Entwendung fchwächen mußte. Vielmehr „bildete ſich 
unter den Ehriften die Sage von einer am Grabe Jeſu 
aufgeſtellten Wache, und nun fonnten fie jener Verläumdung 
dreift durch Die Frage entgegentreten: wie kann der Leichnam 
geftohlen worben fein, da ihr ja eine Wade am Grabe 
aufgeftelt und den Stein verfiegelt habt *? Daß num aber 
troß bdiefer Wache die Lüge von der Entwendung habe ent> 
ftehen können, fuchte man dadurch erflärlich zu machen, daß 
man fie aus eimer von dem Synedrium vorgenommenen Be: 
ftechung herleitete. 





CM. 285 Marf. 16, 1—18; Lut. 24, 1— 49; Joh. 20 
Ä | und 21.) Ä 


Darin ftimmen alle Evangelien überein, daß durch Franvn 
die erfte Kunde von der Auferftchung zu den Jüngern gelangt 
fei; allein in allen näheren Umftänden weichen fie auf bes 
denfliche Weife von einander ab. Wir wollen die bemerkens⸗ 
wertheften Berfchiedenheiten der Berichte kurz in's Auge faſſen. 


438 


Die Zahl der zum Grabe wandelnden und Dasfelbe leer 
“ findenden Weiber ift bei Lufas CB. 10) unbeſtimmt; bei Mars 
tus (B. 1.) find es deren drei; .M. (V. 1) nennt nur die 
beiden Marien; Sohannes (B. 1) nur Maria Magdalena. — 
Als Zeit ihres Bejuches geben Johannes und Lukas (B. 1) 
die frühefte Morgendämmerung, Marfus (V. 2) Sonmen⸗ 
anfgang an; M. (V. 1) iſt unflar. — Den Stein finden 
fie bei den drei letzten Evangelien (B. 4, 2, 1) fehon abges 
waͤlzt; nad) M. (2) fcheint Dieß noch vor ihren Augen zu 
gefchehen. — Sm Grabe, das fie ſaͤmmtlich leer antreffen, 
erblicken fie bei Lufas (4) zwei Männer in glänzenden Ger 
wanden; bei Markus (5) nur Einen Jüngling in weißem 
Kleide, nicht ftehen, ſondern fißen; bei M. (2) finden fie einen 
Engel vor dem Grabe auf dem Steine figend; nad) Johan⸗ 
nes (1) findet Maria Magdalena bei'm erften Befuche (demn 
bier geht fie bald nachher zum zweiten Male an das Grab, 
B. 11) nur die Schweißtücher in dem leeren Grabe. — Die 
Jünger erfahren bei Markus (8) von den Frauen, die vor 
Schrecken fchweigen, gar nichts; nach Sohannes (2) Petrus 
und Sohannes nur, daß Jeſus nicht mehr im Grabe ſei; bei 
Lukas (9) erzählen die Weiber allen Süngern die gehabte 
Erfcheinung; bei M. (9) können fie ihnen auch noch berichten, 
daß Sefus felbft ihnen erjchienen fei. — Bon einem Gange 
der Sünger nad) dem Grabe auf die erhaltene Kunde wiſſen 
Markus und M. nichts; bei Lukas (12) begibt ſich Petrus 
und mit ihm mehrere andere Jünger (24) dahin; bei Johan⸗ 
ned (3) ift er nur von Sohannes begleitet. Diefen Gang 
macht Petrus bei Lukas, nachdem er bereits die Engelerfcheis 
nung erfahren hatte; laut dem vierten Evangelium gingen 
jene beiden SGünger nach dem Grabe, ehe fie etwas von der 
Engelerfcheinung wiffen konnten, weil Maria Magdalena, bie 
fie dahin gerufen, erft nad) ihrem zweiten Gange, nachdem 
die Jünger fich fehon wieder entfernt hatten, zwei Engel und 
Jeſum fah (V. 10— 17). 

Hier finden fich fo viele widerſprechende Angaben, daß 
jeder unbefangene Leſer ſelbſt einen Verſuch, ſie mit einan⸗ 
der zu vereinigen, für unmöglich halten ſollte. Allein dennoch 
find von jeher viele ſolcher Berfuche gemacht worden: wie fie 


438 


ausfallen mußten, laßt. fi errathen. Nicht nur mußte die 
Sprache vielfach mißhandelt werben, fondern es famen auch 
die feltfamften, oft unwürdigen Spielereien zum Borfcheine. 
Sp müßten nad) diefen Nefultaten Petrus und Andere 
mehrmals zum Grabe gerannt fein (Joh., Luk.); — es müßte 
zuerft Ein Engel dem Einen Trupp der Weiber fich gezeigt 
haben (Mark); dann deren zwei andern Weibern (Luf.); vor 
den Süngern hätten fie hierauf fich verborgen, um nachher 
beide wieder zum Borfchein zu kommen (Joh.); — Jeſus wäre 
dann zuerit der Maria Magdalena allein hart am Grabe (Joh.), 
hierauf ihr wiederum in Gefellfchaft einer andern Frau auf 
dem Wege erſchienen (M.) u. ſ. w. 

Um diefem, einen leeren Spiele gleichfehenden Kommen 
und Gehen auszumweichen, muß jeder Evangelift für fich bes 
tradhtet werben, um jeden für fich zu prüfen, nicht um fie 
in einander zu fihieben. „Dann befommen wir von jedem 
ein ruhiges Bild in einfachen, würdigen Zügen: Einen Gang ° 
ber Frauen oder nad, Sohannes zwei: Eine Engelerfcheinung: 
Eine Eſcheinung Jeſu (Joh., M.), and Einen Gang Eines 
oder zweier Jünger (Luk., Joh.) *. 

Zu den ſo eben berührten Schwierigkeiten kommt noch die, 
daß man nicht begreifen kann, warum fein Evangeliſt dag 
ganze ſich wiederholende Kommen und Gehen erzählt, fons 
dern jeder aus diefer Fülle des Gefchehenen nı:r einzelne 
Stücke hervorhebt? Man fagt, jeder melde die erfte Kunde 
von ber Auferftehung grade fo, wie er fie zuerft erfahrem 
habe: Johannes alfo, wie fie ihm Maria Magdalena, M., 
wie fie ihm die heimfehrenden Weiber erzählt haben ıc. Allein 
hier deckt fich fchon das Unrichtige dieſer Erklärung von felkft 
auf; denn unter den Weibern bei M. ift ja cben jene Mage 
dalena auch CB. 1); folglich mußte aud) er Alles ſogleich 
erfahren haben, mas Sohannes weiß. Weberhaupt aber ift 
es unbegreiflich, wie jeder der Evangeliften fo zähe grade an 
bem Ffleben mochte, was er zuerft gehört hatte, da dech 
über die fo bedeutungsoolle Auferſtehung gewiß jeder Sün,er 
Den andern mittheilte, was er nur davon wußte. Das Tes 
mühen, Durch felbft aus erfter Quelle Gchörtes ficheren 
Beweis für die Wahrheit der Thatfache zu gebeny konnte fie 


440 


auch nicht leiten, da, nachdem einmal Jeſus allen Jüngern ers 
fchienen war, es einen folchen Beweiſes nicht mehr bedurfte. 





enden wir uns nun zu ben einzelnen Cvangelien, 
den Verſuch, fie zu vereinbaren, aufgebend, und vielmehr 
unterfuchend, welcher unter ihnen die glaubwürdigfte Dars 
ſtellung der erſten Kunde von der Auferftehung gebe! Den 
apoftolifchen Urfprung dürfen wir bei feinem vorausfeßen, ba 
wir wiffen, daß überhaupt nur aus dem Inhalte der Berichte 
über benjelben entfchieden werben fann. _ | 

Matthäus, bei dem wir in vielen früheren Källen die Altes 
ften und ächteften Berichte fanden, hat grade hier unverfeunbar 
fpätere Zufäte. Daß der Engel felbft vor den Frauen deu 
Stein weggewälzt habe (V. 2), konnte, wenn einmal gegeben, 
aus ber Ueberlieferung fich nicht fo leicht verlieren, daß Fein 
anderer Evangelift ed mehr wußte; vielmehr fieht ed ganz 
einem fpäter gemachten Berfuche, die Art des Wegmwälzeng 
ſich zu erflären und anſchaulich zu machen, ähnlich. — Das 
Erdbeben ift ebenfalls fpäteren Urſprungs. Endlich müſſen 
wir die Erfcheinung Jeſu CB. 9) für einen Ueberfluß des 
Wunderbaren halten, da er den Frauen ganz biefelben Aufs 
träge ertheilt, die ihnen ſchon der Engel ertheilt hatte: einer 
Stärkung des Glaubens bedurften jene nicht, da fie ſchon 
den Worten des Engeld vertrauten (V. 8), und bei den Jün⸗ 
gern erweckte nicht einmal die Erzählung von Jeſu perfünlicher 
Erfcheinung Glauben (Lauf. B. 11), war für diefe alfo unnütz. 
Wahrfcheinlich Tiefen zwei verſchiedene Ueberlieferungen um, 
die M. hier vereinigt: fein Zuſatz von Jeſu Reden ift offens 
bar die fpätere. B 

Auch dem vierten Evangelium kann man das Lob, nur 
die unverfälfchten Thatſachen zu geben, nicht zugeſtehen. Es 
tritt naͤmlich auch in feiner Erzählung das fichtbare Beftreben 
hervor, den Johannes dem Petrus mwenigftens gleich, wenn 
nicht voran zu ftellen, wie ein Vergleich mit Lufas lehrt. Hier 
it es Petrus allein, der fogleich zum Grabe eilt und fid) von 
der Leere desfelben überzeugt (®. 12); im vierten Evangelium, 
läuft nicht nur Johannes mit, fondern kommt ihm auch zuvor 


PT 
(3, 4), ſchaut zuerſt in das leere Grab (5), und glaubt 
zu er ſt an die Auferftehung. Daß: es fich wirklich ſo vers 
halten habe, fünnte man deßwegen ‚anzunehmen geneigt fein, 
weil fein Name fpäter von dem alle Andern überragenden 
Anfehen des Petrus bier verdrängt fein fonnte. Allein eben 
jene Eigenheit des vierten Evangeliums muß Bedenken erregen, 
und wenn fpäter in Emaus (Luk. 24, 24) davon die Rebe 
ift, daß mehrere Jünger, alfo auch Sohannes, zum Grabe 
gegangen, fo ift bier fiher em fpäterer Gang gemeint. 
Ja felbft, daß gleich Anfangs nur Petrus Kufas) zum Grabe 
geeift, kann bezweifelt werden, da Markus und M. ganz das 
von fchweigen. Wir vermuthen, daß auch hier bie Sage 
eine allmälige Steigerung. madıte; Anfangs waren für bie 
Entfernung des Leichnams aus dem Grabe nur die Frauen 
M., Mark.) ald Zeugen befannt; fpäter auch Jünger (Zuf.), 
dann genauer Petrus (Luf.) und Sohannes Goh.): ımb 
Diefer war ed nun, der zuerft den Glauben an die Aufers 
ftehung gewann, was im vierten Evangelium noch dadurch 
glänzend hervorgehoben wird, daß erft nachher die überzen⸗ 
genden Engelerjcheinungen eintraten. — Gegen bie fchöne und 
rührende Ecene zwifchen Magdalena und den Engeln und 
Jeſu (V. 11— 18) laßt fich nur das bemerfen, daß, wie bei 


M. (. oben) Sefug, fo bier die Engel eine müßige Noe | 


fpielen, indem fie nur die Erfcheinung Sefu einleiten und dann 
ganz verfchwinden. 

Der Bericht des Markus ermeist ſich vollends als aus 
ungehörigen Beſtandtheilen zuſammengeſetzt; nachdem er die 
Auferſtehung V. 1— 8 ausführlich erzählt hat, fährt er, wie 
wenn er nichts gefagt hätte, V. 9 fort: „Als Sefus in der 
Frühe nad) dem Eabbat auferfianden war, erſchien er zuerſt 
der Maria Magdalena“. Dießt paßt fchon darum nicht zu 
der erften Erzählung, weil hier die Magdalena nicht allein 
war, und überdieß eine Erfiheinung Sefu nicht ftattfand. 
Man hat daher angenommen, der Schluß des Markus von 
B. 9 an fei fpäterer Zuſatz; allein dafür fehlen alle Grünbe. 
Bielmehr haben. wir hier einen Bericht, den der Verfaſſer aus 
verfchiedenartigen Ueberlieferungen zufammenfebte, ohne fi 
zu bemühen, fie gehörig mit einander zu verfchmelzen. 


442 

Sn der Erzählung des Lukas it nichts Verbächtiges, als 
- Die, auch bei den andern Evangeliften vorfommende Engelerichei- 
nung, von der wir uns, wie fchon früher bemerkt, feinen 
rechten Zweck denken fünnen; denn ber einzige, den fie zu. has 
ben fcheint, nämlich Jeſu Aufträge an die Tünger gelangen 
zu laſſen, fällt ja dadurch weg, daß Ssefus felbft dieſelben 
alsbald wiederholt. 

. Man hat ſich aus diefem Grunde bemüht, überhaupt bie 
Engelerfcheinung aus der Erzählung durch natürliche Ers 
klaͤrung hinwegzubringen. Einige Theologen fehen darin eine 
Raturerfcheinung; entweder einen glänzenden, mit heftigem 
Schlage den Stein wegwälzenden Blig (f. M.), oder: ein mit 
Flammen verbundenes Erdbeben. Allein die Bemerkung: in 
den Berichten, daß der Engel auf dem Steine gefeffen, und 
Daß Er geredet, ftößt diefe Erflärung um. — Andere glauben, 
die Weiber haben den hohen, ihre Zweifel plöglich befiegens 
den Gedanken: „Sefus ift auferftanden *, nach orientalifcher 
Weiſe für einen Engel gehalten: allein fo orientalifch ift auch 
der Drientale nicht, baß er einem folden, nur in inneren 
Wirkungen erfannten Engel fofort auch „weiße, frahlende 
Gewande * Leihen follte. — Wieder Andere nehmen an, die 
Weiber haben die weißen Leintücher im Grabe bei ihrem er: 
ften Scyreden für überirdifche Wefen gehalten; waren aber 
die Weiber nicht fchon auf den Anblick eines in weiße Tücher 
gehüllten Leichnames gefaßt? — Noch Andere endlich glauben 
in den Bezeichnungen der Engel ald eines „Sünglings“ (Marf.) 
und ald „zwei Männer“ (Luk.) den ſicheren Fingerzeig dahin 
zu fehen, daß die vermeintlichen Engel wirkliche Menfchen ges 
weſen feien; natürlicy geheime Anhänger Jeſu, etwa Effes 
ner, welche weiße Gewande trugen, ober die Männer, bie 
bei der Berflärung gegenwärtig waren! 

Alle diefe verfehlten Deutungen führen und vielmehr dahin, 
zu fagen: „Die Engel gehörten zur Verherrlichung der großen 
Scene, als Dienerfchaft, welche dem Meffias die Thüre zu 
öffnen hatte, durch welche er ausgehen wollte; als Ehren, 
wache an der Stelle, welche ber Getöbtete jo eben lebendig 
verlaffen hatte *. 5 

Da wir. nun ſolche Engelerfcheinungen durchaus für mythiſ ch 


443 


halten müſſen, ſo ergibt es ſich, daß wir in den Evangelien, 
andy. jedes für ſich betrachtet, über die erſte Kunde. von: der 
Auferftehung durchaus feine Acht dei chichtlichen Verichte 
haben. 


Zweites Kapitel. 
Die Erſcheinungen Jeſu und die Beſchaffenheit 
ſeines Leibes nach der Auferſtehung. 


(Die Stellen fiehe ©. 437.) 


Die ſtärkſten Widerfprüche in der Auferficehungegefchichte 
finden ſich in Bezug auf den Drt, welchen Jeſus zum Haupt⸗ 
ſchauplatz ſeiner Erfceheinungen nad) der Auferfiehung bes 
fiimmte. Nah M. und Markus befcjied er fie noch vor 
feinem Tode (M. 26, 32) und nad) der Auferfiehung (M. 28, 
7; Mark. 16, 7) nadı Galiläa: — bei M. findet hier auch 
wirklich die Erfcheinung Jeſu ftatt (V. 16 ꝛc.); Markus aber 
ſcheint dieſen Befehl jo ganz vergeffen zu haben, daß er. nad) 
der eriten Erfcheinung, die unmittelbar nach der Auferftehung, _ 
alfo noch in Jeruſalem erfolgte (V. 9), ohne irgendeine Orts⸗ 
veränderung zu melden, fofort die übrigen anreiht (V. 12, 14). 
— Johannes fagt von einem Befehle, nach Galiläa zu ziehen, 
nichts, und läßt Jeſum den Süngern zweimal in Serufalem 
erfcheinen (20, 19, 26), und nur anhangsweife fpäter in Gas 
Iläa (21, 1). — Lukas endlich erzählt in völligem- Widers 
fpruche mit M., daß Jeſus den Jüngern befohlen habe, vor 
Empfang des heil. Geiftes Serufalem, wo er ihnen erfchien 
(24, 13),. nicht zu verlaflen (2.49). Wir fragen alſo: 
1) wie konnte Jeſus den Süngern den Befehl geben, nadı 
Galiläa zu reifen, und zugleich auch, in Serufalem zu blei- 
ben? 2) Wie fonnte er fie darauf verweifen, in Galiläa 
feiner Erfcheinung zu harren, wenn er im Sinne hatte, nod) 
an demfelben Tage ihnen in Serufalem fi) zu zeigen? 

Die erfte Frage beantworten die Drthodoren dahin: „Die 
Weiſung, feinen Wohnort nicht zu verändern, fließt Spa⸗ 
ziergänge und Nebenreifen nicht aus“. Allein von ſolchen 
Dingen ift hier nicht die Rede, fondern es handelte fich hier 


4 

um die Rädreife nad, ber Heimath Galiläa, md die Sache 
fieht fo, daß Jeſus dieſe Rüdreife befohlen und zugleich 
verboten haben fol: bag ift ein reiner Widerfpruch, der noch 
dadurch um fo auffallender wird, daß jeber Berichterftatter 
nur Einen Befehl Jeſu meldet, ohne auch nur anzubenten, 
berfelbe widerfpreche einem andermweitigen nicht. — Cinen 
Ausweg aus dieſer VBerlegenheit fchien die Apoftelgefchichte 
(1, 4, 9) darzubieten, die beridıtet, daß Jeſus die Weiſung, 
in Serufalem zu bleiben, erft 40 Tage nach feiner Anferftehung 
gab; inzwifchen fönnen, fagt man, die Jünger gar wohl in 
Galilaͤa gewefen fein, und erft, ald fie wiederum in Sern- 
falem waren, erbielten fie den Befehl, Serufalem nicht zu 
verlafien. Da nun der Evangelift Lukas zugleich audy der 
Verfaſſer der Apoftelgefchichte ift, fo wird er — fo ſchloß man 
weiter — auch in feinem Evangelium fagen wollen, Daß 
Jeſus diefen Befehl erft nach 40 Tagen erlaffen habe. Allein 
davon fleht nun hier feine Silbe, und die Annahme, daß 
zwifchen 43: „er aß“, und 44: „und er fprady“, eine Panfe 
von 40 Tagen einzufchieben fei, ift eine baare Willkür. 

Indeß, wenn auch Lukas gar feinen Befehl Sefu hätte, 
fo widerfprechen fchon die Thatfachen, die er erzählt, der 
galtläifchen Weifung des M. entfchieden. Denn wie mochte 
Doch Jeſus, wenn er, wie Lufas erzählt, am Abende feinen 
Süngern in Serufalem felbft zu zwei Malen erfcheinen wollte, 
(®. 23, 36), ihnen am Morgen (M.) fagen, fie werden ihn 
in Galiläa fehen? oder gar ihnen dieß durch Engel fagen 
koffen? Wer weist auf ein Fernes, wenn das Gleiche in 
der Nähe liegt? Mer beftellt Freunde an einen entfernten 
Ort durch eine dritte Perfon, wenn er fie an demfelben, 
wo er ift, heute noch ſelbſt zu fehen hofft? Aber, erwidert 
man, Jefus war allerdings entichloffen, nach Galiläa fogleid, 
zu gehen; jeboch der Uinglaube, den er bei den Süngern auf dem 
- Wege nadı Emaus fand (V. 13), änderte feinen Plan. Allein 
nicht im Unglauben, fendern im frifch und Ichendig aufglimmenden 
Glauben (B. 31, 32) verließ er fie, und er durfte ihnen 
ruhig nach Salilaa vorangehen. Ueberdieß findet ſich Feine 
Spur von verändertem Plane angegeben, des gänzlichen 
Widerſpruches zwifchen dem Befehle und den Erſcheinungen, 


445 


wie fie bei Markus, der theild dem M., theild dem Lukas 
folgt, neben einander ſtehen, nicht zu gedenken. 


Steht alfo ein unauflösbarer Widerftreit zwifchen M. und 
Lukas über die Dertlichfeit der Erfcheinungen Jeſu feft, fo 
fragt ſich nun: wer gibt den urfprünglicheren, ächteren Bes 
richt? Hier fällt uns vorerft ein Eleines, nidyt unbedeutendes 
Zufammentreffen Beider in die Augen. Auch bei Lukas er⸗ 
wähnen die Sefu Auftrag ausrichtenden Engel Galiläa’s, 
aber nur fo, daß Sefus dort feine Auferftehung verkündet 
habe. Nun iſt e8 aber Doch weit natürlicher, daß ein Drt 
als Ort der Zufammenfunft nach der Auferftehimg genannt, 
als daß feiner ald eines, wo Etwas vorhergefagt worden, 
erwähnt werde. Daher fcheint. die Engelsrede bei M. Die 
urfprüngliche zu fein, und erſt fpäter, ald die Kunde von den 
galtläischen Erfcheinungen mehr und mehr in Hintergrumd trat, 
mochte das „Gallän“ in jener Rede nur noch als Drt, wo 
die Auferfiehung verfündet wurde, ftehen geblieben fein. — 
Doch wichtiger ift die Betrachtung der Sache ſelbſt. Daß 
die Kunde von den jerufalemifchen Erfheinungen (Luk), wenn 
fie einmal vorhanden war, ſich in gewiſſen Kreifen der Ueber⸗ 
lieferung (M.) ganz foll verloren haben, ift fehr unwahrs 
ſcheinlich; theils waren diefe Erfcheinungen fehr wichtig, theils 
waren fie fchon durch des Thomas Befehrung die ficherften 
Zeugniffe für die Auferſtehung, theils erſtreckte ſich der Ein- 
fluß der Gemeinde in Serufalen fehr weit. Wahrfcheinlicher 
iſt es, daß umgekehrt mehr und mehr jerufalemifche Erſchei⸗ 
nungen in der Lieberlieferung hinzutraten; je näher der Aufer« 
ſtehung, deſto überzeugender waren die Erfcheinungen; je näher 
‚den Zodfeinden Jeſu in der Hanptftadt, deſto fchlagender ihre 
Beweiskraft. Traten aber einmal Diefe fo glänzend hervor, 
fo mochten fie allmälig die galiläifchen verbunfeln; — und 
fomit fonnten fie, wie bei Sohannes, nur noch als Nachklange 
erſcheinen, oder gar, wie bei Lukas, ſich ganz verlieren. Da⸗ 
ber erkennen wir des M. Nachrichten, der nur von galiläis 
fhen Erfcheinungen weiß, als die älteften an, wofür auch 
ihre Einfachheit ſpricht; die des Lukas für die ſpateren, und 
des Marfus fir die verworrenſten. 


446 


Nach diefem allgemeinen Nefultate fann das Verhältniß 
der einzelnen, in ben verfchiebenen Berichten ung übers. 
lieferten Erfcheinungen zu einander und nur von untergeord> 
neter Bedeutung fein. M. hat deren zwei: 28,9; 28, 16. — 
Markus drei: 16, 95 16, 12; 16, 14. — Lukas zwei: 
24, 13; 24, 36, erwähnt aber noch einer im Vorübergehen 
24, 34; im Ganzen alfo drei; — Iohannes erzählt von 
vieren: 20, 145 20, 19; 20, 26; 21, 1. — Dazu fommen 
noch fünf, deren Paulus .1 Kor. 15, 5 Erwähnung thut; 
eine vor Petrus, Die zweite vor den Zwölfen, die dritte vor 
fünfhunbert Brüdern, die vierte vor Jakobus, die fünfte vor 
den Apoiteln. — 

.Demnad hätten wir im Ganzen ficbenzehn Erſcheinumgen | 
Jeſu nach feiner Auferftehung. Wenn wir nun audy offenbar 
- manche derfelben, auch troß der abweichenden Darftellung, ald 
eine und diefelbe zu betrachten haben, fo bleiben immer noch 
genug übrig; und immer noch find die Verſchiedenheiten und 
Widerfprüche in den Berichten zu groß, um es möglich zu 
machen, fie alle neben und nad, einander ſich denfen zu fünnen. 
Wir heben nur Einiges hervor. 

Bei M. V. 9 wird einigen Weibern, unter denen auch 
Magdalena ift, eine Erfcheinung zu Theil, ohne eine Spur 
davon, daß diefe Magdalena ſchon Mark. B. 9 eine foldhe 
allein gehabt hatte. — Dffenbar müffen, die Berichte feftges 
halten, die von Joh. 20, 19 unb die von Ruf. 24, 36 er 
zählten eine und diefelbe gewefen fein; und doch läßt Sohannes 
Einiges, 3. DB. das Betaften, Fifcheeflen 2c., was Lukas ers 
wähnt (V. 39, 43), erſt fpäter gefchehen (V. 27 u. 21, 13). 
— Markus legt dem in Serufalem erfchienenen Sefus ganz 
Diefelben Worte in den Mund, die er bei M. erft in Galiläa 
ſprach (28, 19. — Da ferner bei M. Jeſus die Jünger nad 
Galilaͤa befcheidet (B. 10), fo könnten ihm zufolge die früheren 
jerufalemifchen Erſcheinungen des Sohannes (20, 19, 26) gar 
nicht flattgehabt haben. — Eben fo wenig fünnte Paulus 
Recht haben, wenn er die Erfcheinung vor den Fünfhundert 
der vor den Zwölf vorangehen läßt, weil jene in Galiläa, dieſe 
in Serufalem gefchehen fein müßte, was der Zeitfolge bei den 
Evangeliften widerftreitet. — Ferner geben alle Evangeliften 


447 


ine von ihnen erzählte als die legte an, wie wenn Die ber 
indern gar nicht gefchähen wären; Markus (®. 19) und Lufas 
V. 51), indem jeder die feine, jo verfchieben fie find, an die Him⸗ 
nelfahrt anfchließt; M. (B. 18) und Sohannes (21, 22) ebens 
als, da bei ihnen Jeſus von feinen Jüngern Abfchied nimmt; 
ben fo behauptet die Apoftelgefchichte (1, 3), bie lebte zu 
zählen. Und doch kann nur Eine bie legte gewefen fein! 
— Sohannes zählt nur drei. Erfcheinungen (21, 14), weil 
r nur drei berichtet; alle andern fcheint er alfo nicht zu 
ennen. — Am allerwenigften laffen- fich die verfchiedenen Ers 
ahlungen in Bezug Auf die Dertlichfeiten vereinigen; 
yollte man dieß gewaltfamer Weife thun, fo müßte Die bes 
iohannes (20, 19) in Serufalem, die des M. fodann in Galis 
ta; hierauf die bei Joh. 20, 26 wieder in Serufalem, ferner 
ie don ihm Kap. 21 erzählte abermals in Galiläa, und ends 
ch die legte, worauf die Himmelfahrt erfolgte, wieder in Jeru⸗ 
Uem fich ereignet haben! Daran wird doc, Niemand denfen 
Innen! 

Daher müßte man „abfichtlich blind fein wollen, wenn man 
icht anerfennen würde, daß feiner der Berichterftatter dag, 
a8 der andere berichtete, Fannte und vorausſetzte; daß jeder 
ie Sache wieder anders gehört hatte; daß fomit über die. 
rſcheinungen des auferftandenen Sefus frühzeitig nur ſchwan⸗ 
mde und vielfach variirte Gerüchte im Umlauf waren*. So⸗ 
iel bleibt indeß gewiß, daß viele Glieder der erften Gemeinde, 
amentlich die Apoftel, überzeugt waren, "Erfcheinungen 
iefir gehabt zu haben. Ob daraus auch die Wirklichkeit 
er Auferftehung folge, wird fpäter zur Sprache kommen; fos 
iel bleibt für jegt gewiß, daß fich über die Dertlichkeit 
er Erfcheinungen des Anferftandenen nichts Gewiſſes ſa⸗ 
en laͤßt. 


Ehe wir jedoch zur Beantwortung jener wichtigen Frage: 
»Jeſus wirklich auferſtanden ſei, ſchreiten, müſſen wir zus 
se unterſuchen, wie wir ung das Leben und den Leib Jeſu 
ach der Auferftehung zu denken hätten. — Es können dar⸗ 
yer nur zweierlei Vorftellungsweifen möglich, fein. Entweder 


> 


448 


war fein Leben ein ganz natürliches, rein menſchliches, umb 

fein Leib .alfo ein finnlicher, allen Gefeßen der. Kürperwelt 
unterworfener und mit allen ihren Beſchraͤnkungen behafteter; 
oder fein Leben war ſchon ein höheres, übermenfchlicheg, 
und demgemäß auch fein Leib ein verflärter, den Geſetzen bet 
Simnmenwelt bereits entrückter. 

Es entfteht nun aber die Frage, in welcher diefer beiben 
Werfen haben die Evangeliften den Leib Jeſu ſich gedacht? 
als ganz menfchlichen, oder als verflärten? Für beide Bor 
ſtellungsweiſen finden fidy in ihren Berichten Belege, die wir 
kurz zuſammenſtellen wollen, wobei wir den Lefer bitten, fic 
nochmals alle Einzeluheiten der bereits beleuchteten Erzähluns 
gen wieder zu vergegenmwärtigen. 

Daß ſich die chriftliche Ueberlieferung den Leib des Aufer⸗ 
ftandenen als einen ganz. natürlichen dachte, dafür fcheinen 
siele Züge zu fprechen. Sein Ausfehen ift ein ganz menſch⸗ 
liches; man erkennt ihn an feinen Bewegungen (Luk: V. 31) 
an feiner Stimme (Joh. 2. 16), feinen Wundmalen (V. 20); 
er redet, geht wie ein Menſch; ja, er läßt fich betaften (®. 27) 
und genießt Speife (Luk. V. 42); Alles Dinge, die ſich min 
bei einem rein wmenfchlichen Weſen finden. Daher erklären 
auch viele Ausleger beider Partheien, daß man fid) Jeſu Leib 
und Leben auch, nach der Auferftehung als durchaus natürlich 
and menfchlich denken müſſe. 

- Dagegen finden fich nicht wenige Züge, welche nur einen 
ſchon verflärten, überfinnlichen Leibe zufommen fönnen; 
was ſchon die oft gebrauchten unbeftimmten Ausdrüde: „er 
erfchien, ward offenbar“, anzudenten feheinen. Beſtimmter aber 
fpricht für Sefu übernatürliched Leben nad) der Auferftehung 
die ausdrückliche Erwähnung, daß er „eine andere Geftalt“ 
gehabt (Mark. B. 12) und öfters nicht erfannt wurde (ob: 
B. 14); fein plötzliches Erfcheinen und Wiederverfchwinden 
(Luk. V. 15, 16, 31); am meilten aber, Daß er bei ver 
fchloffenen Thüren plöglicy in der Mitte der Anweſenden fteht 
(Joh. V. 19, 26). — Iene Ausleger, ‚welche ein durchaus 
leibliche Sein des Auferftandenen annehmen, find daher fehr 
bemüht gewefen, dieſe Beweife für das übermenfchliche Leben 
Jeſu zu entfräften; wir wollen fehen, wie es ihnen gelungen it! — 


X 


j 249 

Daß die nadı Emaus Waudernden Sefum nicht erfannten, 
obgleich er neben ihnen ging, und ihn auch nicht Fannten, 
als er bei ihnen am Tiſche faß (Luk. V. 13 ıc.), will mai 
aus dem ſtummen Brüten der Sünger und Jeſu, von den 
Qualen des Todes noch entiteltem Angefichte deuten; allein 
die ganze Erzählung hat den unverfennbaren Anftrich des’ 
Wunderbaren. Eben fo verhält es fich mit der Magdalena 
Goh.), die ihn nicht darum für den Gärtner hielt, weil er, 
wie. man meint, wahrſcheinlich nach der Auferftehung- deffen 
Kleider angezogen hatte; ſondern weil fie ihn feiner wunderbar 
veränderten Geftalt wegen nicht fannte, lag ihr nichts näher, 
als zu glauben, er werde eben der Befiter des Gartens fein. 
— Daß er den Süngern zn Emaus fo plößlich verſchwand 
Ruf. V. 31), fol daher fommen, daß die von freudiger -Bes- 
ſtürtzung Ueberrafchten fein ſchnelles Weggehen nicht bemerften ; 
allein wie Einer von nur zwei Andern fo unbemerkt fol 
entfchlüpfen können, ift nicht zu begreifen. — Auch der Um⸗ 
fand, daß Sefus bei verfchloffenen Thüren plößlich inmitten 
ber Schüler ftand, fol nichts Uebernatürliches enthalten; das 
überrafchende Erfcheinen Jeſu fei die plögliche Ankunft Eines, 
von dem man fo eben gejprochen, und den man für ein Ges 
fpenft hielt, weil man an fein wirfliches Wiedererwachen nicht 
glauben kann. Das Kommen bei verſchloſſenen Thüren heiße 
nichts weiter, als daß die Jünger grade bei aus Furcht ver: 
fchloffener Thüren verfammelt gewefen feien; und daß Sefu, 
ehe er eingetreten, vorher von Semanden die Thüre geöffnet 
worden, verftehe ſich fo von felbft, Daß man nicht nöthig ges 
habt, es befonders zu erzählen. 

Allein auffallend iſt ſchon, daß beide Male, wo Jeſus 
fo eintritt (V. 19, 26), die verſchloſſenen Thüren erwähnt 
werden; beide Male ift fein Kommen mit denfelben in genaue 
Verbindung geſetzt; beide Male heißt ed, daß er plötzlich „in 
Die Mitte getreten ſei‘. Darans geht Doch wohl deutlich 
genug hervor, daß der Erzähler fich dad unerwartete Kommen 
als .ein unvermitteltes, mithin wunderbares, gedadıt hat. 
Es fragt ſich nur, wie er fich den wunderbaren Hergang 
dachte; daß vor Jeſu wunderbarer Weife die verfchloffenen 
Thüren, wie vor Paulus im Gefängniffe (Avoſtelg. 12,58), 

IL. : XR 


ſich geöffnet haben, wird er. eben fo wenig geglaubt haben, 
als daß deffen Leib zwifchen den feinen Fafern des Holzes an 
der Thüre hindurch gebrungen ſei; Dieſes wäre abenteuerlich, 
und Senes hätte er ficher nicht verfchweigen, weil das plötzliche 
Auffahren der Thüre Allen bemerkbar werden mußte und die 
fhönfte Anfchauung und Erflärung des Wunderd abgegeben 
haben würde. Des Evangeliften Meinung ift offenbar die, 
daß dem verflärten Leibe Sefu Thüre und Wände, und was 
fonft noch, fein Hinderniß gewefen, plötzlich bereinzutreten. 


. Für das rein körperliche Leben Jeſu nach dem Tode fügen 
die Erflärer noch das ald Beweiſe hinzu, daß in allen Zügen 
fih -ein allmäliges Fortſchreiten zu vollem Erftarfen nad 
fo großen Qualen zeige. „Anfangs hielt. er fich nahe bei, dem 
Grabe, dann wagte er einen Gang nach Emaus, endlich bie 
Reife nach Galiläa“. Diefer Schluß ift rein aus der Luft 
gegriffen. — „Am Auferflehungsmorgen darf ihn Magdalena 
noch nicht berühren (Joh. B. 17), weil fein Leib noch zu 
leidend war; nach adıt Tagen legt er felbft des Thomas Hand 
in feine Wunden (Joh.)“. Woher jenes Verbot Sefu rührte, 
wiffen wir freilidy nichtz ficherlich aber nicht von feiner Körper 
ſchwäche; denn an demfelben Morgen erlaubt er, daß die 
Weiber bei M. CB. 9) feine Füße berühren, und am Abende 
fordert er gar feine Sünger auf, ihn zu befühlen (Cuk. B. 39). 
— Auch das feltene Auftreten Jeſu unter feinen Jüngeren muß 
Zeichen feiner Schwäche fein, die ihm längeres Ausruhen- in 
ftiller Zurücdgezogenheit nothwendig mache. Diefe Behauptung 
jedoch ift die wunderlichſte Verfehrtheit. Wenn Jeſus der Ruhe 
bedurfte, wo konnte: er fie beffer finden, als im Schooße feiner : 
treuen Sünger? "und wo follte er inzwifchen geblieben fein? 
in der Wüfte? auf Bergen?! Etwa bei geheimen Verbündeten, 
von denen felbit die Sünger nichts wußten? Das wäre aber 
ein Sefu durchaus unwürdiges Verfteckipielen gewefen! „Die 
Anficht der Evangeliften ift Feine andere, ald daß Der Aufer- 
ftandene nad) jenen Furzen Erfcheinungen unter den Seinigen 
ſich wie ein höheres Wefen in die Unfichtbarfeit zurückge,ogen 
babe, und aus diefer, wo und wann er es zwedmäßig fand, 
hervorgetreten fei*. — 


451 

Endlich bleibt noch zu fragen, wie hat man fidy Jeſu 
Lebensende zu denfen, wenn er einen wirklich natürlichen 
Leib hatte? Er müßte dann auch eines natürlichen Todes 
geftorben: fein; wie denn wirklich Paulus annimmt, er fei 
in Folge der Krenzigung an einem fchleichenden Fieber ge-- 
ftorben, und ein Anderer ihn noch fiebenundzmanzig Sahre 
zum Wohle der Menfchen im Stillen fortleben läßt. Dieß ift 
aber bekanntlich gradezu gegen die Anficht der Evangeliften, 
die ihn fichtbar zum Himmel aufiteigen laffen. Allein alsdann 
müßte fein natürlicher Leib exit verflärt worden, er müßte die 
Schaden des Sinnlichen abgeftreift und nur einen unend- 
lich feinen Anhauch des Körperlichen beibehalten haben. Da⸗ 
son wird aber nichts gemeldet; man müßte denn mit jenen 
wuuderlichen Theologen annehmen, die Wolfe, die ihn bei der 
Himmelfahrt umgab, fei eine Auflöfung der von ihm abge⸗ 
ftreiften Leiblichkeit geweſen! 

Wir werden alſo durch Alles darauf geführt, daß die 
Evangeliſten Jeſu Leib und Leben nach der Auferſtehung ſich 
nicht als körperlich und natürlich, ſondern als verklärt und 
übernatürlich gedacht haben. — Dieſer Vorſtellung widerſprechen 
aber auf dem Standpunkte der Evangeliften die oben be- 
rührten natürlichen Züge in dem Leben Jeſu keineswegs. Sein 
Effen war eben fo wenig ein Effenmüffen und Bedürfniß, 
als bei Jehova, der 1 Moſ. 18, 8 mit zwei Engeln bei Abra- 
ham fpeiste; und betaftbar war ebenfalls der Gott, der einft 
wit Safob rang (1 Mof. 32, 24 2c.). Es wurden fogar folche 
an's Natürliche freifende Züge für wefentlich gehalten, um 
göttliche Perfonen von bloßen Gefpenftern zu unterfcheiden. 

Es ift aber eine andere Frage, ab auch wir auf uns 
fern gebildeten Standpunfte eine folche Bereinbarfeit von 
Natürlichem und Uebernatürlichem annehmen fönnen ? Dieß 
müfjen wir dahin beantworten: 

Ein Leib, der fihtbare Speife genießt, muß 
ſelbſt fihtbar fein; der Genuß von Speifen febt 
einen Körper voraus; jeder Körper ift Stoff, der 
nicht in beliebigem Wechfel verfchwinden und wie- 
der fihtbar werden kann. — Ferner: Jeder Körper, 
der ſich betaften läßt, und Fleifch und Kuoken wu 


452 


fühlen gibt, befigt die Widerftandefraft, wie jeder 
andere fefte Stoff; und ein folder Körper kann 
wegen dDiefer Kraft nicht ungehindert durch Wände 
nnd verfchloffene Thüren hindurch bringen. 
Demnach müſſen wir nun geftehen: „ES zeigt fich die 
evangelifche Darftellung der FeiblichFeit Jeſu nad 
der Auferftehung als eine in fich widerfprechende*. 
Und zwar läßt ſich eine Steigerung diefes Widerſpruchs 
in den verfchiedenen Evangelien nachweifen. Bei M. zeigt 
fi) Sefns noch am natürlichften; er wird gefehen und betaftet; 
— bei Martus tritt mit der „andern Geftaft“ CD. 12) 
ſchon das Webernatürliche hinzu; — bei Lukas fteht das 
natürliche Betaftetwwerden und Effen neben dem übernatürlichen 
Erfcheinen und Verſchwinden; — bei Sohannes fteht beides 
in- grellem Gegenſatze, indem der oben wunderbar in Das vers 
fchlofiene Gemach Getretene von Thomas betaftet wird. 





Drittes KRapitel 
Endurtheit über Sein Tod und Auferftehing. 
(Die Stellen fiehe voriges Kapitel.) 


„Ser Sap: ein Zodter ift wieder belebt worden, it ans 
zwei jo widerfprechenden Beftandtheilen zufammengefeßt, daß 
immer, wenn man ben einen fejthalten will, der andere zu 
verjchwinden droht. Iſt er wirklich wieder zum Leben gekom⸗ 
men, fo liegt es nahe, zu denfen, er werde nicht ganz todt 
gewefen fein; war er aber wirklich tobt, fo hält es ſchwer, 
zu glauben, daß er wirklich lebendig geworden fei*. 

Es fommt hiebei Alles auf eine richtige Anficht von Dem 
Berhältniffe zwifchen Seele und Leib an. Man muß nämlich 
beide in ihrer Tebendigen gegemfeitigen Durchdringung aufs 
faffen, Die Seele als die Sunerlichfeit des Leibes und den 
Leib als die Aenßerlichfeit der Seele. Bei dieſer Anffaffung 
kann man ſich denn die Wiederbelebung eines Todten durch⸗ 
aus nicht vorftellen, denn haben die Kräfte des Leibes ein⸗ 
mal aufgehört, . in denjenigen regierenden Mittelpunkt zuſam⸗ 


453 


menzulaufen, welchen wir -Seele nennen und welcher fie zur 
Einheit zufammenhält; dann treten alle Theile des Körpers 
auseinander, es entſteht eine Auflöfung, Die weiterhin zur 
Berwefung wird. In dieſe aufgelösten Theile kann fodann 
die Seele nicht wieder zurückehren, weil fie, abgefehen von 
der Unfterblichfeit des Geiftes, mit diefer Auflöfung aufges 
hört hat, zu fein: ed müßte daher bei Wiederbelebung des 
Leibes doch wenigftend erft eine nene Seele gefchaffen wers 
den; dann iſt e8 aber der vorige Menfch nicht mehr, der 
wieder lebt. | 

Aber auch bei der niedern Auficht von dem Verhältniffe 
bed Leibe und der Seele, nad) welcher fie nur fo äußerlich 
mit einander verbunden fein follen, .daß Die Seele in dem 
Leibe gleich einem Vogel im Käfige wohne, kann man fi) 
eine Wiederbelebung des geftorbenen Leibes nicht wohl vor- 
ftellen. Denn im Leibe bringt doch die Seele gewiffe Wir- 
ungen hervor, und zwar burch befondere Werkzeuge, die fie 
in Thätigfeit verfeht, Gehirn, Blut ıc.: diefe müffen, fobald 
die Seele den Körper verlaffen hat, ftillftehen und erftarren. 
Wollte oder müßte fie in denfelben zurückfehren, fo würde fie 
daher die edelften Theile desſelben für fich unbewohnbar fins 
ben; herftellen könnte fie dieſelben nicht, da fie eben nur 
burch diefe Theile etwas im Körper zu wirfen vermag: es 
. müßte alfo mit bem Wunder ihrer Zurücführung zugleich and 
das einer Wiederherftellung ihrer abgeftorbenen Werkzeuge 
im Körper. eintreten; dieß wäre „ein unmittelbares Eingreifen 
Gottes in den gefeglichen Berlauf des Naturlebeng, wie 
es geläuterten Anfichten von Gottes Verhältniß zur Welt 
widerfpricht *. 


Die Bildung unferer Zeit hat fich daher fehr beftimmt da⸗ 
hin ausgefprochen: entweder war Sefus wirklich todt, der 
er ift nicht wieder auferftanden. 

Das Erftere anzunehmen, find befonders die Rationa⸗ 
liften geneigt; fie ftüßen fich auf die furze Zeit, die Jeſus 
am Kreuze hing, und auf bie zweidentige Wirkung des Tanz 
zenftiches; daß Jeſu Freunde und die Diener des Gerichtes 
ihn dennoch für todt hielten, „erkläre fich, glauben (le, ans 


— 


451 


der bei dem mangelhaften medizinifchen Kenntniffen bamafiger 
Zeit doppelt große Schwierigkeit, tiefe Ohnmachten vom Tobe 
zu unterfcheiden. Ferner wird zum Beweiſe der Möglichkeit 
eines folchen Wiedererwachens ein Beifpiel aus Sofephne 
angeführt, wo ein vom Kreuze Genommener wieder genas; 
dieß Beifpiel beweist indeß nicht viel; denn der Wiederbelebte 
ding wenigſtens nicht längere Zeit, ald Sefus, am Kreuze, 
und war unter dreien der einzige, deſſen Herftellung nach 
den forgfältigiten ärztlichen Bemühungen gelang. — Daß 
noch nicht alles Leben in Jeſu erlofchen war, fucht man auf 
mancherlei Art zu beweifen: fehr verwerflich ift zuvörderſt die 
Annahme, Sefus habe Alles mit feinen geheimen Anhängern 
Cabermald Geheimnißkrämerei!) verabredet gehabt, und dem⸗ 

“gemäß fein Haupt fchon vor dem Tobe geneigt. Andere be 
haupten, feine Sünger haben ihn abfichtlich mit betaubendem 
Teanke fcheintodt gemacht, um ihn zu frühe vom Kreuze nehs 
men und "fofort wiederbeleben zu können. Von allem bem 
wiffen die Evangelien rein Nichte. Berftändiger find Diejenigen, 
welche annehmen, auch nach dem Schwinden des Bewußtfeind 
fei in Jeſu Fräftigem Körper noch nicht alle Lebenskraft er⸗ 
Iofchen, und fpäter durch die flärfenden, gewürzhaften Spes 
zereien, die zugleich wohlthtig auf feine Wunden gemirft 
hätten, durch die Fühle Luft des Grabes und die Erfchütterung 
des Bligftrahles wieder hervorgerufen worden. Allein biefer 
Blitz iſt ja fehr unbeglaubigt, die Kühle des Grabes hätte 
eher erflarrend, und die Spezereien eher betäubend, als bes 
lebend auf einen Scheintodten wirfen müffen ! 

- Dennoch würden wim mit Abweilung jedoch aller beſtimm⸗ 
teren Vermuthungen, diefer Anficht, Daß Jeſus fcheintodt ges 
wefen, beitreten, wenn nur die Wiederbelebung desfelben ficher 
verbürgt wäre. Gie wäre ed, wenn wir von unpartheiis 
fhen Zeugen beftimmte und widerſpruchsloſe Nadıs 

richten hätten. Für unpartheiifch müffen wir nun die Sünger, 
obgleich nur ihnen, und, was freilich auffallen muß, nicht 
aud) feinen Gegnern und dem Volke, Jeſus erfchienen fein 
fol, allerdings halten; denn fie waren nadı Jeſu Tode völlig 
hoffnungslos, erwarteten nichts weniger, als deffen Auferſte⸗ 
"Yung, und find daher von dem Berdachte abfichtlicher oder 


455 


auch unmwillfürlicher Selbfttäufchung frei zu fprechen. . Allein 
widerſpruchslos ift unter allen Zeugniffen nur dag gewichtige 
Des Apoſtels Paulus, zugleich aber auch das unbeftimmtefte 
von allen, indem es und. nur Die Thatfache gibt, daß die 
Sünger von der Auferftehung Jeſu überzeugt, waren, ohne 
deren äußere Wirklichkeit zu vwerbürgen. Dagegen find. bie 
beitimmten Zeugnife der Evangeliften fo voller Widerfprüche, 
daß fie und mehr eine Reihe von Vifionen, als eine fortlaus. 
fende Gefchichte darbieten. Weil mın aber neben allen Diefen 
unſichern Berichten über die Auferftehung die über Sefu Tod 
fo einftimmig und beftimmt find, müflen wir ung auf die 
Seite derjenigen jtellen, welche die Wirklichfeit der Aufer⸗ 
ſtehung in Zweifel ziehen. 


Schon die älteſten Gegner des Chriſtenthums thaten 
dieß, indem ſie die Auferſtehung theils als eine Träumerei der 
Anhänger Jeſu, namentlich der Weiber, betrachteten, theils 
als abſichtlichen Betrug; das letztere ſuchten Neuere dadurch 
zu begründen, daß ſie an das von M. (28, 15) überlieferte 
Gerücht, Jeſu Leichnam ſei geſtohlen worden, erinnerten. 
Allein dieſe Anſchuldigung wird durch die Begeiſterung, mit 
welcher die Jünger, aus tiefer Niedergeſchlagenheit ſich em⸗ 
porhebend, die Auferſtehung Jeſu aller Welt verkündeten, 
ſiegreich widerlegt: eine ſelbſterfundene Lüge predigt niemand 
mit ſolcher Standhaftigkeit, daß er ſich dafür kreuzigen oder 
ſteinigen ließe. — Die Auferſtehung Jeſu muß alſo wahrhafte 
Ueberzeugung geweſen fein: daß fie aber auch eine äußere 
Thatſache geweſen, ift damit noch, keineswegs bewiefen. 
Man könnte fie zunächſt für eine im Innern der Sünger 
- anf wunderbare Weife bewirkte Viſion halten, weldhe den 
Zweck gehabt hätte, ihnen anfchaulich zu machen, daß Jeſus 
durch fein tugendhaftes Leben vom geiftigen Tode auferſtan⸗ 
den ſei; — oder man könnte auf Diefem Standpunkte aud) 
annehmen, ber abgefchiedene Geift Jeſu habe, etwa ald eine 
Art Geiftererfcheinung, wirflic auf die zurücgebliebenen Jün⸗ 
ger gewirft. Andere, die diefe Erflärung zu unnatürlich fins 
den, nehmen eine äußere Veranlaffung an, welche die Mei⸗ 


a6. 


nung erregt habe, Jeſus fei auferftanden: da fell denn das 
Grab leer gefunden worden fein, man wußte nicht, wo der 
Leichnam hingefommen, oder der Eigenthümer des Grabes 
hatte ihn entfernen laffen, und was. dergleichen Spielereien 
mehr find. 

Auf näherem Wege gelangt man zum Ziele, wenn ‚man 
die Erſcheinung Sefu, welche dem Apoſtel Paulus zu Theil 
wurde, zur Srundlage macht: Paulus nämlich ftellt dieſelbe 
in ganz gleiche Reihe mit allen andern Erfcheinungen des 
Auferftandenen (1 Kor. 15, 9. Nun wird fie aber Apoftelg. 9 
1 x; 22, 3 ꝛc. auf eine Weile erzählt, die feinen Zweifel 
darüber läßt, daß fie Feine äußere, fondern nur eine innere, 
im Gemüthe des Apofteld vorgegangene Bifion war. Er 
hatte bei feinen heftigen Berfolgungen der Ehriften ohne Zweifel 
oft Gelegenheit gehabt, ihren ftandhaften Glauben zu bewun⸗ 
dern; nad) und nad) mußte fich in feinem Gemüthe eine An⸗ 
ficht über den Gefreuzigten, von feinen Anhängern fo begeiftert 
Berkündigten, bilden, welche er durch verdoppeltes Eifern ges 
gen die neue Sekte vergeblich zu unterdrüden ftrebte, bis fie 
endlich in einem entfcheidenden Momente zur fiegreichen Herr⸗ 
fchaft in ihm gelangte: daß diefer Moment ficy zu einer 
Erfcheinung des Auferftandenen geftaltete, darf ung bei 
einem feurigen, phantafiereichen Morgenländer nicht wundern. 
Konnte aber zu einer folchen Bifion das Gemüth eines Geg⸗ 
ners Jeſu entzündet werden, „fo wird wohl auch der gewals 
tige Eindrud der großartigen Perfünlichfeit Sefu im Stande 
geweien fein, feine unmittelbaren Schüler im Kampfe mit 
den Zweifel an feiner Meffianität, welche fein Tod in ihnen 
erregt hatte, zu ähnlichen Gefichten zu begeiftern +. Daß in 
den evangelifchen Erzählungen Jeſus ganz leiblich wieder ers 
fcheint, daß er redet, ißt, fich betaften und Proben feiner 
Leiblichkeit anftellen läßt, darf und in diefer Auffaffung der 
Sache nicht irre machen, weil einestheils folche grob finnliche 
Züge nur bei den beiden legten Eoangeliften vorfommen, ans 
derntheils aber es fehr natürlich ift, daß in der Leberlieferung 
die rein geiftigen Erfcheinungen ſich mehr und mehr verförper: 
ten und gleichfam verfnöcherten; Daß der ſtumm Erfchienene 


—⸗ 


487 


zu einem Redenden, der Geiſterhafte zu einem Eſſenden, ‚ber 
Sichtbäre zum Handgreiflichen wurde. 





Man könnte ums min aber entgegenhalten, dem Apoſtel 
Paulus fei durch den Glauben der von ihm Berfolgten bie 
Idee der Auferitehung Jeſu fchon gegeben gewefen, weßhalb 
er leichter zu einer an Diefe Idee ſich anfnüpfenden Viſion 


des Auferfiandenen habe kommen fönnen, ald die älteren 


Sünger, in welchen ſich Die Idee der Auferftehung erft er⸗ 
zeugen mußte, ehe fie glauben Fonnten, daß der Auferftans 
dene ihnen wirklich erfchienen fei. Allein wir Dürfen nur. den 


"Standpunkt und die Berhältniffe diefer Jünger Har in's Auge 


faffen, um es fehr erflärlich zu finden, wie jener Glauben in 
ihnen fich erzeugen Fonnte, ja mußte. Sefu Tod hatte das 
bei ihnen fo tief gewurzelte Vertrauen, er fei wirklich ber 
Meffias, für den Augenblid vernichtet: als fich aber ihr 
verwirrted Gemüth wieder gefammelt hatte, mußte in ihnen 
das Bedürfniß entitehen, die frühern Eindrüde mit den fpäs. 
tern erjchütternden Erfahrungen in Einklang zu bringen; ihr 
Nachdenfen mußte fie zu dem Begriffe eines leidenden unb 
fterbenden Meſſias erheben. „Da aber Begreifen- bei ben 
Juden jener Zeit eben nur hieß, etwas aus den heil. Schrifs 
ten ableiten, fo waren fie an diefe gewiefen, ob nicht in ihnen 
vielleicht Andeutungen eines leidenden und fterbenden Meſſias 
fich fänden*. Diefe mußten fie nun faſt ungefucht in Stellen 
finden, die, wie Sef. 53, Pf. 22, die Männer Gottes ale 
verfolgt und bis zum Tode niedergebeugt darftellen. Daher 
erzählt uns auch Lukas, daß Jeſus nach feiner Auferftehung 
nichts Angelegentlicheres zu thun hatte, als den Jüngern die 
gefammte Schrift auszulegen (24, 26; 44 ı0.). Nun war 
ihnen der ſchmachvoll getödtete Jeſus nicht verloren, fondern 
geblieben: er war nur wieder eingegangen in feine uran⸗ 
fänglichye Herrlichkeit; er blieb unfichtbar bei ihnen bis an der 
Welt Ende (M. 28, 20). Aus diefer Herrlichkeit mußte er 
ja den Seimigen, die ihm fo innig verbunden waren, Kunde 
zufommen laffen: und diefe Kunde erhielten fie eben durch die 
Begeifterung, die das wahre Verftändniß der Schrift, ber 


458 


Glauben an den nicht verlornen, fondern jetzt erft umverlierbar 
gewordenen Sefus in ihnen erwedt hatte. In ſolcher Begei⸗ 
fterung mußten fie nicht mir den in ihnen lebendig geworde - 
nen Geiſt Jeſu erfennen; fie erfchien ihrem bewegten Gemüthe 
als ein ummittelbares Neden,. als eine Stimme des fie un 
fihtbar Lmfchwebenden. Solche Gefühle mochten denn, na 
mentlich bei einzelnen Frauen, fich bis zu wirflichen Bifionen 
fteigern; fie fonnten ganze Berfammlungen fo ergreifen und 
erfchüttern, daß Jeder glaubte, wenn überbieß noch irgend 
eine unerwartete Erfcheinung der Einbildimgsfraft zu Hilfe 
fam, den Gefreuzigten wirklich vor fich zu fehen: folche Er: 
tafen find bei Neligionsgefellfchaften, befonders bei verfolgten, 
nichts Seltenes: Wenn aber, fo mußten die Sünger weiter 
fchließen, ihrem Meffias die reinfte Eeligfeit zu Theil gewors 
den war, fo konnte fein Leib nicht im Grab geblieben fein; 
eine Borftellung, welche auch in alt=teftamentlichen Stellen, 
48. Pf. 16, 10; ef. 53, 10, eine Stüße fand. Nunmehr 
gewann ihr früherer, noch jüdischer Glauben, „Chriftus bleibt 


im alle Ewigkeit“ (Joh. 12, 34) einen höhern Gehalt: der 


leiblich Getödtete war auch Feiblich wieder auferfianden. Wie 
konnte es auch anders fein, da ja eine der dem Meſſias zus 
fommenden Wunderfräfte in der Auferweckung der Todten 
beſtand? 


Gegen dieſe Anſicht ließe ſich nun einwenden: wie war 
es möglich, daß die Jünger ſchon wenige Tage nach Jeſu 
Tode und an demſelben Orte, wo er beerdigt worden war, 
- an feine Auferſtehung glauben und fie verkünden konnten, ba 
doch der Augenfchein am Grabe fie zu jeder Stunde wibders 
legen fonnte? Auf diefen Einwand gibt und M. eine befries 
Digende Antwort. Zwar erzählt auch er eine Erſcheinung 
Jeſu in Serufalem; aber er erfchien nur den Weibern, und 
bereitete damit nur eine Zufammenfunft in Saliläa vor: zudem 
ift dieſe Erfcheinung neben der des Engels eine fo überflüffige, 
daß wir ſchon oben die Erzählung davon ald eine durch die 
Sage hervorgerufene Umgeftaltung bezweifeln mußten. Es 
verbirgt fich dahinter offenbar nur die Thatfache, daß die eins 
gejchüichterten Sünger eiligft nach Galiläa zurückkehrten; hier 


450 

erſt fonnten fie wieder freier, aufathmen, hier ihre Gedanken 
zu dem Gekreuzigten ungeftört erheben. Hier aber war es 
ihnen erft möglich, ſich allmälig die Vorſtellung von der Aufs 
erftehung besfelben zu bilden, ohne daß der im Grabe nach⸗ 
zumweifende Leichnam ihre kühnen Vorausfegungen widerlegte: 
„und bis diefe Ueberzengung den Muth und Die Begeifterung 
feiner Anhänger fo weit gehoben hatte, daß fie es wagten, 
in der Hanptitadt mit derfelben aufzutreten, war es nicht 
mehr möglich, durch den Leichnam Jeſu fich felbft zu überfühs 
ren, oder von andern überführt zu werden *. 

Diefe Anficht wird durch Die Erzählung der Apoftelgefchichte, 
die Jünger feien ſchon am nächſten Pfingfifefte in Jeruſalem 
öffentlich hervorgetreten, nicht widerlegt: denn dieſe Nachricht 
iſt ſchon längft aus vielen Gründen, namentlich auch wegen 
des Umſtandes, daß dieſes Auftreten mit der Verkündigung 
der neuen Lehre grade auf das Feſt der Berfündigung des 
alten Gefeßes verlegt ift, mit Recht in Zweifel gezogen wors 
den. Daß aber Sefus ſchon am dritten Tage nach feinem _ 
Tode als der Auferftandene erfchienen fei, ift als eine gang 
ungefchichtliche Sage zu betrachten, Die nur in der Vorftellung 
ihren Grund hat, er werde wohl nur furze Zeit im Grabe 
zugebracht haben, und mit dem Beftreben zufammenhängt, 
überall die feierliche, bedeutungsvolle Dreizahl anzubringen. 

Hatte ſich nun einmal die Vorftellung von der Auferftehumg 
gebildet, fo lag es nahe genug, Diefelbe mit allenı Gepränge 
aus dem Borrathe jüdischer Ideen zu umgeben: Engel waren 
es vor Allem, die das Grab Jeſu eröffner, an demſelben 
Pace gehalten und den Weibern die erfte Kunde gebracht - 
haben mußten: — da Jeſus fpäter den Seinen zuerft in Gas 
liläa erfchien, fo mußte die eilige Reife der Singer dahin von 
den Engeln, ja von Jeſus felbft geboten worden fein. Je 
weiter ſich diefe Erzählungen entwickelten, defto mehr mußte 
es auffallen, daß Jeſus nicht auch da erſchienen fei, wo er 
auferftanden fein follte; die Sage fügte mın auch noch Ers 
fcheinungen in Serufalem felbft hinzu, welches überdicß „ale 
Der glänzendere Schauplas und als Sitz der erften chriftlichen 
Gemeinde befonders dazu geeignet war *. 

———— 


460 
Bierted Kapitel 
Jeſu legte Anordnungen. 


(Biele zerftreute Stellen.) 


Den drei Synoptifern zufolge ertheifte Jeſus bei feiner 
fetten (M. 28, 18), nad) Johannes bei feiner erften Zu 
ſammenkunft nad; der Auferftehung (20, 21), den Süngern 
feine letztwilligen Verordnungen. Bemerfenswerth ift hier be: 
fonderd die Anweifung, die fich bei dem einzigen M. findet 
(V. 19, fie follen alle Völfer „im Namen des Vaters, des 
Sohnes und des heil. Geiftes taufen“. Dieſe Zufammen- 
ftelung ber brei Perfonen in Gott fommt in apoftolifchen 
Schriften fonft nur als Grußesformel vor (2 Kor. 13, 13); 
Die Taufe dagegen wird überall einfach nur als ein Taufen 
„auf Chriftus Jeſus“, — „auf den Namen des Herrn Sefu“ 
Göm. 6, 3; Salat. 3, 27 u. U.) bezeichnet, und erft fpäter, 
3. B. bei Juſtin, erfcheint jene dreifache Bezeichnung der Taufe 
auf Gott. Daher ift nicht daran zu zweifeln, daß jene An: 
weifung nicht von Jeſus fo ausgefprochen wurde, wie wir 
fie bei M. leſen; deßwegen aber zu erflären, fie fei fpäter 
in unfer Evangelium eingefchoben, fteht uns nicht zu; denn 
wie Vieles müßten wir and den Evangelien verbannen, wenn 
Alles, was Jeſus nicht gefagt haben kann, für eingefchoben 
gehalten werden follte! — 





- Die Berheißungen, welche Sefus. feinen Juͤngern nod) 
ertheilt, lauten ebenfalld nicht ganz gleich bei den verfchiebe- 
nen Svangeliften. Bei M. verfichert er fie, Daß er unfichtbar 
bei ihnen fein werde, bis an der Welt Ende (28, 20): Worte, 
weldye ganz aus der Stimmung heraus gefprochen find, vie 
erſt Dann unter den Jüngern zu herrfchen begaun, als der 
Glauben an Jeſu Auferftehung allgemein geworden war. — 
Merktwürdig find die bei Markus (16, 17) den Süngern ges 
gebenen Verheißungen: denn es find in ihnen die befondern 
Gaben, welche die Chriften vor Andern wirklich hatten, aber 
auch folche enthalten, die ihnen nur eine abergläubifche Volks⸗ 
meinung zufchreiben Tonnte, wie Das Schlangenvertreiben n. A., 


461 


was Jeſus feinen Sängern gewiß nicht als befondere Aus: 
zeichnung verheißen hat! — Bei Lukas verſichert Sefus feine 
Sünger, fie werden bald den heil. Geift empfangen (24, 49): 
hier widerfpricht Sufas dem Sohannes, nach deffen Erzählung 
fhon bei der erften Zufammenkunft mit den Jüngern Jeſus 
. biefen den heil, Geiſt mittheilt (20, 22); und zwar gefdjieht 
dieß fo beftimmt mit der finnbildlichen Handlung des Anblafeng, 
daß die Meinung mancher Theologen, Sefus verheiße auch 
bier nur das zufünftige Austheilen des @eiftes, in fich 
felbft zufammenfällt. Allein wir treffen Lukas hier auch im 
Widerſpruche mit M., bei dem ſchon vor feinem Tode Jeſus 
den Apofteln den. heil. Geift .fpendet (10, 20). Diefe drei 
verfchiedenen Angaben laſſen ſich durch die ganz woillfürliche 
Behauptung, Jeſus habe wirklich zu drei Malen den heil. 
Geiſt feinen Süngern mitgetheilt, jedesmal in höherem Maße, 
nicht vereinigen : denn was follten fie doch die früheren Mits 
theilungen genügt haben, wenn fie noch unmittelbar vor der 
Himmelfahrt wähnen fonnten, mit der Geiftesmittheilung werde 
auch Das Reich Iſrael wieder hergeftellt werden (Apoſtelg. 1, 
6)? DVielmehr ift anzunehmen, nur von einer Mittheilung 
des Geiſtes habe die Ueberlieferung zu erzählen gewußt, diefe 
aber in verfihiedene Zeiten verlegt, fo daß jeder Evangelift 
der ihm grade befannt gewordenen Sage in diefer Beziehung 
folgt. | 

Zwifchen diefen dreifachen Angaben findet ein eigenes Vers 
hältniß ftatt. Sehen wir auf die Zeit, in welcher die Apo⸗ 
ftel den Geift empfangen: haben follen, fo verdient Lukas, 
der diefe Mittheilung erft längere Zeit nach der Auferftehung 
fett, offenbar den Borzug. Denn etwas Anderes, ald die bes 
geifternde Kraft des geläuterten, von irdiſchen Erwartun⸗ 
gen gereinigten Meffiasglaubens kann doch der heil. Geiſt 
nicht gewefen fein; und diefen Fonnten fie erft einige Zeit nach 
Sefu Tode erlangen; überdieß willen wir ja, daß fie wirflich 
noch bis in die lebten Lebenstage ihres Meifterd hinein an 
ihren jüdifchen Vorftellungen Flebten. — Sehen wir aber auf 
die Art der Mittheilung, fo hat Lukas offenbar das Spätere 
und Sagenhaftere, da bei ihm der Geift mit Sturmeswehen 
hereinbricht, während bei M. zu feinem Erfcheinen die Worte 


462 


Jeſu hinreichen. Se finnlicher nämlich und mirafulöfer die 
Mittheilung einer geiftigen Kraft und je plößlicher die Ent 
ftehung einer Tüchtigkeit, die ſich nur allmälig entwicdelt haben - 
fan, uns bargeftellt wird, defto weiter liegt eine foldye Dar: 
ftellung von der Wahrheit entfernt: und diefer Vorwurf trifft - 
bier eben ben Lukas. Wenn er alfo in Bezug auf die Zeit 
doch das Nichtigere hat, fo ift dieß ohne feine Schuld gefche 
- den: denn auch hierin mochte ihn nur die Sage leiten, bie 
es für angemefien fand, Diefen Aft in den Stand der Ber 
berrlichung Sefu zu verlegen. — Werfen wir fchließlich noch 
einen Blick auf Sohannes, fo finden wir Darin, daß er jene 
Seiftesmittheilung an die erfte Erfcheinung Sefu nach der 
Auferitehung Mnüpft, einen genauen Zufammenhang mit den 
Abfchiedsreden Jeſu, in welchen die Verfündigung ber Wie⸗ 
derfunft und Die des mitzutheilenden heiligen Geiſtes vielfad 
in einander verfchlungen find. 





suauftes Kapitel. 
Die Himmelfahrt Sen. 
(Mark. 16, 14—20; Luf. 24, 50 - 53; Apoftelg. 1, 1—12.) 


Die Himmelfahrt Jeſn wird und von Marfus (16, 19) 
und Lukas (24, 50) ganz einfach und kurz als ein Aufgehoben: 
werden zum Himmel erzählt; wir Die Apoftelg. (1, 1 —12) 
weiß dieſelbe mit anfchaulichen Zügen, einer Wolfe und zwei 
Männern in weißen Gewanden, auszumalen. Dieje Tettere 
Erzählung ift ee befonders, welche ganz den Charalter bes 
Wunderbaren trägt, und Dadurch unfer Bedenfen erregen 
muß. Iſt es nämlich denfbar, daß Jeſu Leib mit Kleifch und 
Kochen in überirdifche Regionen eingehen? daß er dem Ges 
fege der Schwere fich bis zum Auffliegen entziehen Fonnte? 
Hätte er vorher erft allen irdifch groben Stoff abgelegt, was 
Einige annehmen, fo mußten doch feine Sünger auch etwas 
davon merken; und war, wie Neuere behaupten wollen, ber 
Laͤuterungsprozeß feines Körpers grade fo weit gediehen, daß 
er in die Lüfte aufſchweben Fonnte, fo müßten wir ung Darüber 


463 


wundern; wie derfelbe in dem getränmten Lauterungsprozeſe 
ſolche Ruͤckfälle haben konnte, daß er z. B., nachdem er eben 
erſt ganz wie aͤtheriſch durch verſchloſſene Thuren eingedrungen 
iſt, wieder plößlich fo ganz ſtoffartig wurde, daß Thomas ihn 
befühlen Fonnte (Joh. 20). — Eine weitere Schwierigkeit 
liegt darin, daß der obere Himmel nur nach der befchränften 
kindlichen Weltanficht der alten Weit, feineswegs aber in 
Wahrheit der Sig Gotted und der Seligen iftz fo daß der, 
ber in den Kreis der Eeligen eingehen will, einen Lmmeg 

- macht, wenn er zum Himmel auffteigt. Soll aber Jeſus 
fidy nur jener unvollfonmenen Borftellungsweife gefügt haben, 
um feine Jünger von feinem Nüdgange zu überzeugen, fo 
wäre dieß ein Gottes völlig unwürdiges Speftatelftüd ger 
weſen. — 

Nicht mindere Schwierigkeiten ftellen der natürlichen 
Erflärungeweife fi) entgegen. Denn befonders in der Apo⸗ 
ftelgefchichte find die Ausdrüde: er ward aufgehoben vor 
ihren Augen, und eine Wolfe nahm ihn auf“ (V. 9), fo 
beftunmt und deutlich, daß von einem Erheben auf_eine Fleine 
Anhöhe, moran die natürlichen Augleger denken, feine Rebe 
fein kann. Die weitere Erklärung ftreift vollends in's Laͤch er⸗ 
liche; eine Wolfe foll Sefum nur, mit Hilfe der vielen Del 
bäume, den Jüngern unfichtbar gemacht haben, worauf zwei 

- Männer hervorgetreten feien, natürlicy wieder geheime An⸗ 
hänger, und den Süngern verfichert haben, Jeſus fei zum 
Hinmel eingegangen. Bon dba an gehen die Erflärungsweifen 
auseinander: die Einen fagen, Sefus fei wirflich alsbald ges 
florben, was aber ganz unglaublidy iſt; die Andern, er habe 
fih in die Einfamfeit zu einer geheimen Gefellfehaft zurückge⸗ 
zogen, deren Mitglieder den Jüngern, um ihn verftedt zu 
halten, eingerebet haben, er fei gen Himmel gefahren. Dieß 
iſt nun gar „eine Vorftellung, von welcher fich auch hier, 
wie immer, der gefunde Sinn mit Widerwillen abwendet *. 





Allein grade hier hätte man fich diefe Künfteleien der Aus⸗ 
legung erfparen können, da kaum eine andere Wundererzählung 
des neuen Teftamentes jo wenig beglaubigt ift, ald Die Himmels 


j 464 
fahrt; denn außer von Markus und Lukas wird ihrer von 
feinem andern Schriftfteller Erwähnung gethan. Zwar wollen 
die orthodoren Ausleger in vielen Stellen Hinweifungen auf 
diefelbe erblidlen: allein wenn auch Sejus fagt: man werde 
ihn zur. Rechten Gottes fisen ‚fehen CM. 26, 64); oder, Kei⸗ 
ner fei in den Himmel geftiegen, außer dem vom Himmel ge 
fommenen Menfchenfohne (Soh. 3, 13)5 — wenn er audy die 
Sünger darauf verweist, fie werben ihn einft dahin aufiteigen 
fehen, wo er vorher geweſen (Joh. 6, 62); fo ift in Dielen, 
wie in andern Stellen (Soh. 20, 17; Apoftelg. 2, 33; Eph. 
4, 10; 2 Petri 3, 22), doc, immer nur überhaupt von 
der Erhebung Sefu in den Himmel die Rede, ohne daß fie 
als eine äußere, fihtbare Thatfache dargeftellt würde. Fer: 
ner ift es nach der Erzählung des Paulus, 1 Kor. 15, 5, 
mehr als wahrfcheinlich, daß er nicht nur die ihm zu Theil 
gewordene, fondern alle Erfcheinungen des Anferftandenen 
nad der Himmelfahrt fett; d. h. alfo, Daß er von eier 
folchen, als einer wirklich den irdiichen Wandel Sefu be= 
fchließenden Thatfache nichts wußte. Wenn alfo Johannes 
von einem wirflichen Gefchautwerden des Auffteigens Tem 
zum Himmel zu fprechen fcheint, fo haben wir hierin lediglich 
“eine, Diefem Evangelium eigenthümfiche, Bilderſprache zu ers 
fennen. 

Es haben daher andere Ausleger fich alle Mühe geben 
müffen, das Schweigen des M. und Sohamies über die Him—⸗ 
melfahrt erflärlich zu machen; jedoch ohne Erfolg. Wenn M. 
und Johannes diefelbe Fannten, fo mußten fie, war fie and 
ſchon ohne fie befannt genug, Ddiefelbe doch erzählen, damit 
ihre Evangelien, wie es nun wirflich der Fall iſt, nicht das 
ftünden, wie ein Haus ohne Dach: denn fie ift ein nothwen⸗ 
diger Schlußpunft für das rärhfelhafte Leben, das Sefus nad) 
ber Rückkehr ans bem Grabe geführt haben fol. Was Ans 
dere annehmen, es fei jenen Evangelien nicht möglich ges 
weien, die Himmelfahrt zu erzählen, da alle Augenzcugen 
Ja doch nur das Auffahren in einer Wolfe fehen konnten: 
bieß beurfundet eine Verfennung der morgenländifchen Vorſtel⸗ 
lungsweife, der ein Auffteigen in die Wolfen und eine Him⸗ 
melfahrt ganz gleichbedeutend war. 


465 


Zu dieſem unlaͤugbaren Nichtwiſſen zweier Evangelien fome 
men nun noch die Widerſprüche in den Nachrichten der ans 
bern.. Während Markus (V. 14 und 19) die Himmielfahrt 
in dem Zimmer gefchehen läßt, wo Iefus zum legten Male 
den Elfen erſchien, verlegt Lukas fie natürlicher in's Freie, 
nad) Bethanien (B. 50). Bedeutender ift der Widerfpruch, 
in dem Lukas mit ſich ſelbſt feht: im Evangelium fleigt Jeſus 
fhon am Tage der Auferftehung gen Himmel; in ber Apo⸗ 
ſtelgeſchichte erft vierzig Tage nachher. Offenbar hat Lukas 
keßtere Nachricht erſt fpäter, nachdem fein Evangelium fchon 
geichrieben war, erhalten: denn biefe Geftalt mußte die Sage 
annehmen, nachdem fo viele Erfcheinungen des Auferftandenen - 
erzählt. wurden, daß man fie unmöglidy in dem furzen Zeit 
raum weniger Tage unterbringen konnte. Daß diefer aber 
grade auf vierzig Tage ausgebehnt wurde, hatte feinen Grund 
in der Heiligfeit, die in jüdifchen und chriftlichen Sagen der 
Zahl 40 beigelegt wurde; 40 Tage war Mofes auf dein Sir 
nai, 40 Jahre war das Volt Sfrael in der Wüfte, und 40 
Tage hatten Moſes, Elias und Jeſus gefaftet. — Bemerkens⸗ 
werth ift ferner noch, daß Lufas auch nur in der Apoftelge- 
fhichte den mit Wolfe und Engeln ausgefchmückten Bericht gibt, 
der ebenfalls fpätere Zuthaten enthält. Diefe bildeten ſich aus, 
„um auch diefem letzten Punkte des Lebens Sefu feine Ehre 
anzuthun, und das unzulängliche menfchliche Zengniß über 
feine Erhebung in den Himmel durch zweier himmlischen Zeus 
gen Mund befräftigt werden zu laffen *. 


Wir find alfo bei dem Nefultate angelangt, daß es über 
das Ende zwei verfchiedene Vorftellungsweifen gab. Diejenige, 
nach welcher man fich die Himmelfahrt nicht als eine fichts 
bare, feierliche dachte, findet fich noch am reinften bei M.; 
hier fagt Jeſus zwar feine Erhebung zur Rechten Gottes vor: 
aus (26, 64); er verfichert, nach der Auferftehung, es fei 
ihm alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben (28, 18), 
und verheißt, ohne daß vorher etwas von feiner fichtbaren 
Himmelfahrt gefagt worden wäre, ben Seinen, „er werde 
bei ihnen fein alle Tage bis an der Welt Ende“ CR, AU). 

IL 30 


466 ur 

Hier liegt offenbar die Borftellung zu Grunde, „daß Jeſus, 
ohne. Zweifel fchon bei feiner Auferſtehung unſichtbar zum 
Bater aufgeftiegen, zugleich unfichfbar immer um die Seinigen 
fei, und aus dieſer Berborgenheit heraus fich, fo oft er es 
nöthig finde, feinen Anhängern offenbare*. In ähnlicher All⸗ 
gemeinheit halten fich Die oben befprochenen Darftellungen des 
"Paulus und Johannes. — Der Einbildungsfraft der Chriſten 
mußte es jedoch fehr nahe liegen, allmälig das Aufſteigen 
Jeſu zum Vater auch zum glänzenden Schaufpiel auszumalen: 
beſonders feitdem man, nadı Daniel, feine Wiederkunft vom. 
Himmel als fichtbares Herabfommen in den Wolfen fich vor- 
ftellte, mußte man von felbft zu dem Schluffe gelangen: „wie 
Jeſus bdereinft vom Himmel wieder fommen wird, eben ſo 
wird er wohl auch dahin gegangen ſein*. 

Endlidy mögen auch noch altsteftamentliche Vorbilder zur 
beftinmteren Geftaltung diefer chriftlichen Mythe mitgewirkt 
haben; die Hinwegnahme des Henoch (1 Mof. 5, 24), mehr. 
noch die Himmelfahrt des Elias (2 Kön. 2, 11), der eben 
fo, wie Jeſus CApoftelg. 1,9 den Jüngern, dem Elifa feinen 
Geift zurückließ, in dem Augenblicke, wo biefer ihn mit eiges 
nen Augen zum Himmel aufiteigen fah (2 Kön. 2, 9). 


167. 


Schluß⸗Abhandlung. 
Das Verhaͤltniß Der verſtaͤndigen Geſchichts— 
Forſchung zum chriſtlichen Glauben. 








Erſtes Kapitel, 
Glauben und Wiſſen. 

„ Durch die Ergebniſſe der bisherigen Unterſuchung iſt num, 
vie es ſcheint, der größte und wichtigfte Theil von dem, 
a8 der Chrift von feinem Jeſu glaubt, vernichtet; alle Er- 
aunterungen, die er ans dieſem Glauben fchöpft, find ihm 
ntzogen, alle Tröſtungen geraubt. Der unendliche Schaß 
on Wahrheit und Leben, an welchem feit achtzehn Jahrhun⸗ 
erten die Menfchheit ſich groß genährt, fcheint Damit ver: 
gäftet, das Erhabenfte in den Staub geftürzt; Gott feine 
Snade, dem Menfchen feine Würde genommen, das Band 
wifhen Himmel und Erde zerriffen zu fein. Mit Abſcheu 
dendet ſich von fo ungeheurem Frevel die Frömmigfeit ab, 
md aus der unendlichen Gelbftgewißheit ihres Glaubens her⸗ 
ms thut fie den Machtfpruch: eine freche Forfchung möge 
rerfuchen, was fie wolle, dennoch bleibe Alles, was von Chrifto 
ie Schrift ausfage und die Kirche glaube, ewig wahr, und 
8 Dürfe fein Jota Davon fallen gelaffen werden. * 


Diefe Vorwürfe fcheinen aus vorliegender ftreng wiſſen⸗ 
haftlichen Prüfung der evangelifchen Berichte auf den eriten 
inblick ſich ergeben zu müffen, und wirklich find fie vielfach 
ber diefelbe audgefprochen worden, jedoch mit Unrecht. Es 
t baher nun noch unfere legte Aufgabe, nachzumeifen, wie 
ih auch mit dieſer wiffenfchaftlichen Auficht ein, Glauben 
erträgt, dem ber innere, unfterbliche Gehalt des Chriſtenthums 


x 


468 


heilig iſt: wie durch diefelbe die. hriftlichen Ideen, welde 
mit ihrer belebenden Kraft eine ganze Welt erfchütterten, wer 
der bedroht noch angegriffen find *%. Ausführlich könnte dieſer 
Beweis nur in einem eigenen Werke geführt werden, daher 
müffen wir uns hier darauf befchränfen, anzubeuten, daß auch 
anf dem von uns eingefchlagenen Weg des Zweifeld an den 
Veberlieferungen der Gefchichtsbücher die Brücke zum chriftlichen 
Glauben uns offen geblieben it. 


Glauben und Wiffen find zwei Gebiete im menfchlichen 
Geifte, gleich heilig und ehrwürdig; durchaus verfchieden, aber 
nicht entgegengefeßt: was dem Glauben gehört, fol dem 
Wiſſen unantaſtbar fein, und das Wiffen vom Glauben nid 
geſtört werden; je freier, ungehemmter beide in der menſch⸗ 
lichen Seele gedeihen, defto befreundeter werden fie neben 
einander wohnen: wer dem unerbittlichen Feinde aller Einmis 
‚fchung des Glaubens in das Gebiet des Wiſſens vorwirft, er 
achte den Glauben nicht, der Fennt beide nicht, und kann 
fie Daher auch nicht wahrhaft Tieben und umfaffen. 

Unfere Unterfuchung ber evangelifchen Gefchichte ging nicht 
von einem Standpunfte aus, den fie außerhalb des chriſt⸗ 
lichen Glaubens genommen hatte, wie die feindfeligen Angriffe 
des vorigen Sahrhunderts (f. S. 11 ꝛc.) auf das Chriften 
thum; fondern von dem Mittelpunfte degfelben, in welchem 
unfer Glauben unvermwüftlich wurzelt. Auch wir haben die 
heilbringenden Ideen der Erlöfung, der durch Sefum bewirften 
Berfühnung des Menfchlichen mit dem Göttlichen in unfer 
Bermußtfein aufgenommen; der Gottmenfch, der in der ganzen 
chriftlichen Gefchichte lebt, muß in jedem Gemüthe Ieben, 


) Ich halte es hier am Orte, basjenige wiebergugeben, was Strank 
fhon in der Vorrede zur erften Ausgabe feines Werkes ©. VIL 
ausfprach (dritte Aufl. S. IX): „Den inneren Kern bes dhrifl 
lichen Glaubens weiß der Verf. von feinen Linterfuchungen völlig 
unabhängig. Chrifti übernatürlihe Geburt, feine Wunder, 
feine Auferftehung und Himmelfahrt bleiben ewige Wahrbeiten, 
fo fehr ihre Wirklichkeit als hiftorifche Thatſachen angezweifelt 
werden mag.“ 


| . 469 
das in der neuen, d. h. in der hriftlichen Zeit mit feinen 
ebleren Kräften wurzelt. Aber fo wie wir aus diefer Weit 
des Glaubens, des in ung Iebendigen Chriftenthums, in das 
Gebiet der Außenwelt, der äußeren Erfcheinung, in die ges 
wordene Gefchichte Sefu hinüber getreten waren, fo ſtanden 
wir auf Dem Gebiete der Wiffenfchaft, wo nur der ſcharfe, 
Klare, an. der Hand der Vernunft vorwärts fchreitende Vers 
ftand uns. den richtigen Weg zeigen kann. Wir haben urs 
im vorliegenden Kalle feiner Leitung ganz überlaffen, und fird 
Dadurch zu Nefultaten gelangt, die den Anfchein haben, dın 
chriſtlichen Glauben an Sefum ganz zu vernichten, weil die 
Zhatfachen feiner äußeren Sefchichte in den meiften Fällen 
in Zweifel oder gar in Abrede geftellt wurden. Es ift. alfo, 
nunmehr genauer gefaßt, unfere Aufgabe, nadızumweifen, daß 
auch mit. Diefen Nefultaten der chriftlihe Glauben fi 
friedlich und ungeftört verträgt. — | 
ir müffen, um die Lehre von der Perfon Jeſu, wie 
fie ſich nach vorliegender Unterfuchung berausftellt, vers 
ftändlich zu machen, vorher die von der unfrigen abweichenden 
in kurzer Ueberficht darftellen: es wird dadurch zugleich Har 
werben, welche Stellung die gegenwärtige Wiffenfchaft zum 
chriftlichen Glauben einnimmt. 





Zweites Kapitel, 


Die Lehre der Kirche über Chrifti Perfon und 
Wirken. 


Indem die erften Chriften an der buchftäblichen Walrs 
heit der evangelifchen Ueberlieferungen fefthielten, bildete ſich 
die orthodoxe Lehre von Chriftus, deren Grundzüge fehon 
im neuen Teftamente ſich finden. Die Wurzel derfelben if 
der Slaube an die Auferftehung Jeſu: diefe war ber Bes 
weis feiner Meffianitätz fie hatte ihn über die. Schranfen 
“der Menfchheit und zur unmittelbaren Gemeinfchaft mit dem 
himmlifchen Vater erhoben (Apoſtelg. 2, 32 2c.; 3, 15 ı.. u. A.). 
Nun erfchien fein Tod als Hanpttheil feiner meſſianiſchen 
Beſtimmung; Jeſus batte ihm erlitten für bie Sünden ber 


470 


Welt &poftelg. 8, 32 ꝛc.; 1 Joh. 2, 2),. durch ihn war er 
der ewige, fündlofe Hoheprieiter geworden, deffen Blut mit 
Einem Male bewirkte, was der Jüdiſche mit allen Thieropfern 
nicht vermocht hatte CHebr. 10, 10 ꝛc.); er war das reine 
Lamm, durch deffen Blut die Gläubigen losgefauft find (1 Petr. 
1,18 ꝛc.). — Es mußte aber weiterhin der zur Rechten 
Gottes Erhöhte von jeher mit göttlihem Geifte gefalbt 
(Apoftelg. 4, 27), mit der Gabe des Wunderthuns ausgerä- 
ftet (Apoftelg. 2, 22), er mußte fogar übernatürlich durch den 
heil. Geift erzeugt worden fein (M. 1). Da er alfo fchon 
"vor feinem menfchlichen Dafein in göttlicher Majeftät gewer 
fen, fo war fein Herabfommen unter die Menfchen und fein 
Zod eine Erniedrigung, welcher er freiwillig zum Beften 
derfelben fich unterzogen hätte Phil. 2, 5). So wie er aber 
nach feiner Wiedererhöhung einft zur Auferweckung der 
Todten wiederkommen wird (Apoftelg. 1, 11), fo nimmt er 
auch fchon jeßt an der Weltregierung Antheil (M. 28, 18), 
und fhügt unfichtbar feine Gemeinde (Röm. 8, 34); ja er 
bat auch ſchon an der Weltfhöpfung Theil genommen 
(Soh. 1, 35 Kol. 1, 16 ꝛc.). — 
ie unendlic, viel befeligende und beruhigende Gedanken 
fhöpfte die erſte Chriftengemeinde aus dieſem Glauben an 
ihren Chriftus! Durch fein Hingeben in den Tod für die 
Menfchen ward Himmel und Erde verfühnt (2 Kor. 5, 
18 2c.); die Liebe Gottes den Menfchen verbürgt (Röm. 5, 
8 2c.); Die Menfchen, deren Bruder der Sohn Gottes gewors 
den, find nun gleichfalld Kinder Gotted und Miterben 
Chriſti (Rom. 8, 16 ıc.). Das fnechtifche Verhältniß unter 
dem Gefete hat aufgehört; an die Stelle der Furcht ift die 
Liebe getreten (Röm. 8, 15): denn nicht mehr haben die 
Menſchen das Unmögliche, welches das Geſetz verkıngt 
(Sal. 30, 10 ꝛc., Röm. 5, 12 ꝛc.), zu erfüllen; fondern wer 
an Ehriftum glanbt, der verfühnenden Kraft feines Todes 
vertraut, der ift von Gott begnadigt, nicht durch eigenes 
Berdienft, fondern durch die freie Gnade Gottes (Nöm. 3, 
31 10). Nunmehr ift dad mofaifche Gefeß nicht mehr bindend 
(Röm. 7, 1.2x0.); auch die Heiden find zum Reiche Gottes 
berufen, und die Scheidewand, welche die Menſchheit feind- 


479 


wideln läßt,. ald .Außere Thatfachen, die überall dem prü- 
fenden Zmeifel anheim fallen. Wir faſſen fein intereffantes 
Lehrgebäude über Jeſu Perfon in Folgendem kurz zufammien. 

„As Glied der chriftlichen Gemeinde bin ich mir der 
Aufhebung meiner Sündhaftigfeit bewußt; id, fühle die Eins 
flüffe eines heiligen von Sünden reinigenden Elementes, dag‘ 
in diefer Gemeinfchaft als der chriftliche Mittelpunkt lebt und 
wirft. Aus der Gemeinde an fich kann dieſes Clement nicht 
hervorgegangen fein, da fie aus fiindhaften Menjchen beſteht; 
ed muß der Einfluß eines Höhern fein, ber in ſich ſelbſt 
ſündlos, in einem folchen Verhältniffe mit der Gemeinde fteht, 
daß er ihr Diefe Eigenſchaft mittheilen kann; diefer Höhere 
muß der Stifter derjelben fein, aus deſſen Geifte fie hervors' 
ging. Seine Wirkung alfo ift der von mir gefühlte Geift 
der Sündiofigfeit; die Urfache diefer Wirkung kann nur beffen 
eigene Heiligfeit fein; Ehriftus, der ohne Sünde war, 
lebt in der Gemeinde. — Er ift eg, ber in mir durch jene 
Eindrüde die ftete Gemeinfchaft mit Gott erhält, und dadurch 
mich fähig macht, die Uebermacht der Sinnlichkeit zu brechen, 
fo daß ich Alles auf das Iebendige Bewußtſein Gottes, der 
in und mit mir lebt, beziehen fannı. Darum hat Ehriftus 
mich von der Kuechtfchaft-der Sünde erlöst. Diefe Erlöfung 
bewirft aber auch in mir, daß die Störungen des äußeren’ 
Lebens nicht die Seligfeit meines Gottesbemußtfeins unters 
brechen; Uebel und göttliche Strafen gibt es für mich nicht 
mehr. Darum hat Chriftus mic auch mit Gott verfühnt. 
In diefen Gefühlen erhalten die drei Aemter Sefu erſt ihre: 
innere wahre Bedeutung: er ift Prophet, weil er durd 
fein lebendiges Wort die Menfchheit an fi} 309; Hohes 
priefter und Opfer, da er, der Sündlofe und darum Selige, 
in Die Niedrigfeit des fündlichen Lebens der Menfchheit herabs 
ftieg, um ihre Uebel zu theilen, damit er ung zu Neiligfeit 
und Seligfeit in feine Gemeinfchaft aufnehme; — König ift- 
er als Stifter und Lenker diefer Gemeinde“. 

„Aus diefen Wirkungen Chriſti erfennen wir, was er ges: 
wefen.. Sn ihm muß als ungetrübtes, unmandelbared Bes 
wußtfein Gott gelebt: haben; daher fagt die Kirche, in Chriftus 
fei Gott Menfch geworden. Er muß die Sinnlichkeit fo ganz 


’ 


. 72 
Abrede geftellt. Sekten, welche, wie die Ebioniten, die Gott 
heit, oder umgekehrt, wie die Doketen, die Menfchheit durch⸗ 


- aus aufhoben, mußten von ber chriftlihen Gemeinfchaft, die 


zur Dermittlung die Gottmenfchheit für unerlaͤßlich hielt, ganz 


- ausgefchloffen werben. Aber man mußte auch fchon die Bolls 


ftändigfeit beider Naturen durch fehärfere Bekenntniſſe feſt⸗ 
halten, wenn nicht ihre Bereinigung gefährdet werben follte: 
daher wurde Arius verdammt, weil er ein zwar göttliche, 
aber gefchaffenes und dem höchften Gotte untergeorbnetes 
Weſen in Sefu für Menſch geworden hielt; denn auf biefe 
Weiſe wäre Jeſus nicht vollftändiger Gott geweſen. Andere 
wurden als Srriehrer verftoßen, weil fie annahmen, daß in 
Jeſu das göttliche Weſen die menſchliche Seele vertreten habe ; 
hiernach wäre er nicht vollftändiger Menfch geweien. — 
Andererfeitd fonnte auch durch abweichende Borftellungen über 
die Art der Bereinigung beider Naturen gefehlt werben. 
Einige unterfchieden diefe Naturen in Chrifto gar nicht mehr, 
und erfannten in ihm, wie er ald Eine Perſon erſchienen 
war, fo auch nur Eine Natur, die bes fleifchgewordenen 
Gottesſohnes an: hier war eine Vermifchung, aber nicht 
eine Bereinigung felbitftändiger Weſen geſetzt. Andere ers 
Härten, e8 feien in Chrifto zwei Naturen zwar der Verehrung 
nad) verfnüpft, aber dem Wefen nach noch immer verfchies 
den, und nicht vollfommen Cine Perſon; damit fchien der 
Lebenspunft des Chriftenthums, die Bereinigung des Gött— 
Iihen und Menfchlichen zerftört. Daher fügte die Kirche, 
biefen beiderlei Ketereien gegenüber, noch hinzu: „wir lehren, 
daß Sefus wahrer Gott und wahrer Menſch gewefen, — 
von gleichem Wefen mit dem Vater vermöge feiner Gottheit, 
und von gleichem Weſen mit und vermöge feiner Menſchheit; — 
daß Feineswegs der Unterfchied der Naturen durch ihre 
Einheit aufgehoben, daß vielmehr die Eigenthümlichfeit beider 
Naturen beibehalten worden ſei; — daß beide aber ein und 
berfelbe Ehriflus feien, aus zwei Naturen untrennbar, ums 
theilbar zu Einer Perfon verbunden ſeien“. Weiterhin wurde 
auch noch feltgefeßt, er habe zwei Willen gehabt, aber nicht 
uneins, fondern der menfchlicye dem göttlichen untergeordnet. 


473 

Ohne durch Streitigkeiten beunruhigt zu werben, entwickelte 
fidy Die Lehre von Gefu Thun und Wirken ebenfalld weiter. 
Im Allgemeinen ftellte man ſich dasfelbe fü vor: der Cohn 
Gottes habe durch Annahme der Menfchennatur Diefe geheiligt 
und vergöttlicht, namentlich unfterblich gemacht: Dabei wurbe 
auch noch auf feine heilfame Lehre, fein erhabenes Beifpiel 
hingewiefen, und auf feinen verfühnenden Tod. Ten ſchon 
im neuen Teftamente enthaltenen Begriff der Stellvertres 
tung,. wodurch; von der Menfchheit die Strafen der Sünde 
genommen wurden, führte man mehr und mehr aus, bie 
Anfelm daraus die fünftliche Lehre von der ftellvertretenden 
Genugthuung fchuf, die fich durch folgende Säge hinzieht : 
„Der Sünder (und alle Menfhen find Sünder) entzieht Gott 
die fchuldige Ehre; — diefe Beleidigung kann Gott nicht duls 
den: — freiwillig kann der Menfch Gott nicht wiedergeben, - 
was er ihm entzogen hat; denn dba er alles Gute, was er 
thun kann, Gott ſchuldig ift, fo kann er nichts Gutes übrig 
haben, um durch dieſen Ueberfchuß die begangene Sünde zu 
deden: — alfo muß Gott dem Menfchen zur Strafe bie ihm 
verliehene Glückſeligkeit entziehen, und fich Genugthuung vers 
ſchaffen; dieß aber widerftreitet feiner Güte: — nun aber 
muß doch feine Gerechtigkeit Genugthuung haben; ed muß 
ihm nach Maßgabe deffen, was ihm entzogen worden, Etwas 
gegeben werden, das größer ift, als Alles, außer Gott: — 
bieß aber ift nur Gott felbft, und da andrerfeits für den Mens 
fehen nur der Menſch felbft genug thun kann, fo muß ein 
Gottmenſch diefe Genugthuung leiften: — dieſe Fann aber 
nicht in thätigem Gehorfame, in fündlofem Leben beftehen, 
weil dieß jedes vernünftige Wefen Gott ohnehin ſchuldig iſt; 
aber den Tod, der Sünden Sold, auf fich zu nehmen, tft 
ber Schuldloſe nicht fehuldig: — alfo befteht, da der Gotts 
menſch Dennoc dem Tode fidy unterzogen hat, eben die Ges 
nugthuung Gottes in dieſem Tode des Gottmenfchen, deſſen 
Belohnung, weil er als Eins mit Gott nicht belohnt werden 
fann, der Menfchheit zu Gute kommt. “ 

Diefe alten Kirchenlehren gingen auch in die Intherifche 
Konfeffion über, wo fie noch feiner ausgebildet wurden. 
Hier wird namentlich noch hinzugefügt, Daß der menfchlichen 


474 

Natur in Chriſto vermöge ihrer Verbindung mit der göttlichen 
gewiſſe eigenthümliche Vorzüge zufommen; zumädt Sündlofig- 
feit. und die Möglicyfeit, nicht zu fterben. Außerdem aber 
erhielt die menſchliche Ratur noch gewiffe andere Vorzüge, 
Die ihre von der göttlichen gelichen wurden: denn da die 
Bereinigung beider nicht eine äußere, todte, fondern eine in⸗ 
nere, lebendige ift, wie 3. B. im glühenden Eifen euer und 
Metall ſich durchdringen, fo gehen auch die Eigenthümlichkeiten 
beider in einander über: Daher nimmt die menfchliche Natur 
Antheil an den Vorzügen der göttlichen, Die göttliche an den 
die Erlöfung betreffenden Thätigfeiten der menfchlichen. 

‚Die alſo gedachte Perfon des Gottmenfchen trat auf Erden 
zuerft in den Zuftand der Erniedrigung, indem feine 
menfchliche Natur troß ihrer Vereinigung mit der göttlichen 
bei der Empfängniß, doc bis zum Tode feinen fortwähren- 
den Gebrauch von den erhaltenen göttlichen Cigenfchaften 
machte: mit der Auferftehung aber begann der Stand der 
Erhöhung, der mit dem Sitzen zur Rechten Gottes feine 
Vollendung gewann. 

In Bezug auf ſein Werk ſchreibt dieſe Kirche Jeſu ein 
dreifaches Amt zu; das des Propheten, inſofern er die 
höchſte Wahrheit verkündete und durch Wunder bekräftigte; — 
als Hoheprieſter hat er an unſerer Statt das Geſetz er 
füllt und unſerer Sünden Strafen getragen: und als König 
zegiert er die Kirche, deren NHerrfchaft über alle Welt er 
durch Auferfiehung und WWeltgericht vollenden wird. 


Diefe, ferenge, ſtarre Kirchenlehre fand frühzeitig mehr 
fachen Widerfpruch. Schon die Reformirten konnten ſich zu 
Dem Theile derfelben, demgemäß die beiden Naturen in Sefus 
ihre Eigenfchaften ſich gegenjeitig mitgetheitt haben follen, 
nicht bequemen. Denn fie behaupteten mit Recht, daß eine 
‚unendliche Natur gar keine Eigenfchaft einer endlichen in ſich 
aufnehmen könne, ohne in ihrem Weſen aufgehoben zu werden; 
und fo umgefehrt auch die endliche. Diefe Lehre ift daher 
heut zu Tage felbft von ftreng lutheriſchen NRechtgläubigen auf: 
gegeben worden. — Aber: auch der zu Grunde liegende Haupt: 


475 


fag von der Bereinigung der beiden Naturen zu Einer 
Perſon komte nicht unangetaftet bleiben: ſchon die Socinianer 
erklaͤrten, daß zwei Naturen, deren jede ja ſchon eine Per⸗ 
ſon ausmache, unmöglich zu Einer Perſon vereinigt werden 
könnten, zumal wenn ſie einander entgegengeſetzte, eine ſterb⸗ 
liche und eine unſterbliche, ſeien. Mit Recht ſchloſſen die 
Rationaliſten ſich dieſen an, mit den Bemerkungen, felbft die 
fcharffinnigften Theologen haben nie diefe Lehre dem gefunden 
Berftande anſchaulich machen Fünnen: und ferner, wenn 
Chriftug mit Hilfe einer göttlichen Natur das Böfe überwunden 
habe, fo fei er für den ſolcher Hilfe entbehrenden Menſchen 
kein Vorbild. 


Mit ausgezeichnetem Scharfſinne hat Schleiermacher 
in neuerer Zeit dieſe Kirchenlehre angegriffen und vernichtet, 
etwa in folgenden Sägen: „Ein Göttliches kann nie Natur 
genannt werden, weil „Natur“ nur ein befchränftes, abgeſchloſ⸗ 
fenes Sein. bedeutet: — überall im Weltalle ift Eine Natur 
als Ssubegriff gewiſſer Gefeße (z. B. die menſchliche, vegetas 
bilifche 2c.) mehreren Perfonen oder Engelnweſen gemeinfam 
(allen Menfchen, Pflanzen zc.); nirgends aber fchließt Cine 
Derfon mehrere Naturen (die der Menſchen und bie ber 
Pflanzen) in ſich ein: ja dieß kann nicht geſchehen; denn 
eine Perfon als eine beftimmte Einheit des Dafeins kann 
nicht zwei Naturen, als Inbegriffe verfchtedenartiger Gefeke, 
zu Einem Mittelpinfte in ſich veremen. — Zwei Willen 
cf. ©. 472) in Einer Perfon find. nun vollends undenkbar; 
denn -aledann müßte diefe auch einen doppelten VBerftand 
haben, und darum in zwei Perfonen zerfallen; endlich Tann 
ein götilicher Wille, der ſtets auf das mnendliche Ganze ges 
richtet ift, nie Dasfelbe wollen, was ein immer. nur auf. ein 
Endliches, Einzelnes gerichteter menfchlicher ‚will; fo wenig 
wie menfchlicher Verſtand göttliche Gedanken faſſen kann.“ 





Nicht mindere Widerjprüche mußte die Lehre von dem drei⸗ 
fachen Amte Jeſu erfahren (ſ. S. 474), Gegen. fein prophe⸗ 


rl — 

tiſches wurde vorzüglich das ‚geltenb gemacht, was wir ſchon 
in der Einleitung (5.46 ıc.) über die Wunder auseinander 
gefetst haben. Es muß hier aber namentlich noch der Punkt 
beroorgehoben werden, ob nämlid, under zur Grundlage 
einer Glaubenslehre gemacht werden fünnen. Da ein Wun⸗ 
der doch nichts Anderes ift, als etwas. durch Unterbrechung 

der Naturgefete Bewirktes, fo kann man ein foldyes erft dann 
mit Sicherheit annehmen, wenn man die Raturgefeße fchon 
nach allen Seiten bin kennt, wovon wir bekanntlich noch weit 
entfernt find: ein Glauben alfo, der. fi, auf Wunder gründet, 
ruht auf einer fchwachen Stüge. — Nicht nur ſchwach bes 
gründet, fondern in der That anftößig erfchien aber Vielen 
die Lehre von ber ftellvertretenden Genugthuung (S. 473), 
Wenn es nämlicd, fchon Menfchen wohl anfteht, mit Verzicht: 
leiftung auf Rache, Beleidigungen zu verzeihen, wie viel mehr 
müflen wir dieß von Gott vorausfegen! Daß es mit der re 
gierenden Gerechtigkeit desſelben unverträglich fei, die 
Sünden ohne Genugthuung zu verzeihen, hätten die Bertheis 
diger dieſer Lehre gar nicht einmal behaupten follen: denn 
eine vollftändige Genugthuung hat Gott ja doch nicht erhals 
ten. Diefe konnte er nicht in dem leiblichen Tode eines Eins 
zigen, ber überdieß nad) demfelben zur ewigen Herrlichkeit 
eingingz nicht in dem Tode einer menfchlichen Natur (denn 
nur dieſe litt in Jeſu, nach der Lehre felbft, den Tod) 
finden: — eben fo viele Stellvertreter, ald Sünder, muß⸗ 
ten fterben, oder, wo nicht, alddann das Göttliche in Sen 
Natur. Hatte aber, wie man erwidert, Gott aus freier 
Gnade die unzureichende Genugthuung für zureichend anges 
nommen, fo folgt ja daraus von felbft, daß Gott auch alle 
Genugthunng erlaffen konnte. Doch, abgefehen von dem Allem, 
fhon die Grundvorſtellung, auf welcher diefe ganze Lehre 
ruht, ift eine befchränfte, Gottes unwürdige; eine rohe Ueber; 
tragung niederer VBerhältniffe auf die höchften. -Bei Geld» und 
anderen Schulden kann es dem Gläubiger am Ende einerlei 
fein, wer ihn bezahlt, wenn ihm nur genug gefchieht; Süns 
denftrafen für moralifche Verſchuldungen kann fein Vers 
nünftiger, gefchweige Gott, auf einen Unfchuldigen übertragen 
wollen. Rod) weniger kann Jeſus durch thätigen Gehors 


U | 47 | 
fam, buch Sündloſigkeit, ben Menfchen Berbienfte ers 
worben haben, da er für fich fchon dazu verbunden war, 


und fittliches Verdienſt nicht wie äußered Eigenthum auf Ans 
dere übergehen kann. 


Dritte Rapitel 
Die Lehren der Nationaliften und Schleier; 
macher’8 über Chriftus. 


Nachdem die Ratiovnaliften die Kirchenlehre von. der 
Perſon Sefu verworfen hatten, ald unbegründet und ber fitts 
Iihen Bildung nachtheilig, ftellten fie eine andere auf, von 
welcher fie Gedeihlicheres verfprachen. Sie erfennen Jeſum 
als göttlichen Gefandten an, der ſich als einen befonderen 
Liebling Gottes beurfunde, indem er, mit den herrlichiten Gaben 
ausgerüftet, in Verhältniffe verjeßt wurde, die der Entwidlung 
derfelben fo überaus günftig waren; namentlich wurde eine 
Todesart über ihn verhängt, die eine Wiederbelebung, von 
ber das ganze Gedeihen feines Werkes abhing, möglich machte. 
Auch nach ihrer Lehre ift Jeſus der erhabenfte Menfch, der 
auf Erden wandelte; er fteht, wie fie glauben, in ihrer Lehre 
höher da, als in der. Kirchenlehre, wo er nur ein willenlofes 
Werkzeug des Göttlichen fei, ohne fittliches, durch freie Thätigs _ 
feit erworbenes, Verdienſt; während in diefer rationaliftifchen 
Lehre Alles, was er war, er durch fich felbft wurde; feine 
Weisheit war Folge unermüdeten Strebens nad) der Wahrheit; 
feine fittliche Größe hatte er fich Durch angeftrengten. Kampf 
mit der auch ihn bedrohenden Sinnlichfeit errungen. — Sein 
Yauptverdienft um bie Menfchheit befteht demgemäß in der 
Mittheilung einer reinen Lehre vol göttlicher Kraft und 
Würde; — in dem leuchtenden Borbilde, das feine erhabene 
Sittlichkeit für und bildet; — in dem Tode, den er. für die 
Menfchheit ftarb, um fie zur Todesverachtung zu begeiftern, 
und ihr den ermunterndften Beweis ber göttlichen Liebe zu geben. 





478 j 

Gegen dieſe Lehre von Jeſu Perfon iſt mit Recht einge 
wendet worden, daß fie nicht mehr in die chriftliche Glaubens: 
Ichre gehöre; denn fie ftellt ung Jeſum dar, zwar als würdig 
ften Gegenftand menfchlicher Verehrung und Bewunderung, 
aber er hört auf, Segenftand des Glaubeng zu fein. Jeſus 
wird uns allerdings durch diefe Darftelung begreiflid; 
aber er ift ans aller lebendigen Beziehung zu der frommen 
Verehrung der Gemeinde... gebradyt, wenn fie feinen Namen 
auch mit Verehrung nennt. Vom Chriftus, der mit dem 
Glauben der Ehriften auf's Engfte verflochten fein muß, wenn 
er ein chriftlicher fein fol, it Nichte mehr geblieben; der 
Ehrift aber kann Beides, Chriftum und chriftlichen Glauben, 
nicht von einander trennen. Es haben daher befonnene Rationas 
liſten auch zugeftanden, daß ihre Chriſtuslehre nicht mehr Sadıe 
des Glaubens, fondern der Neligionsgefchichte fei; Dieß tt 
vollkommen richtig. Denn wenn ich 3. B. das Syſtem eines 
Kant oder Schelling darftelle, fo gehört ed gar nicht hieher, 
audeihander zu feßen, was wir von der Perfönlichfeit Diefer 
Männer zu halten haben; fie ftehen ganz außer demfelben, 
abgelöst von ihrer Lehre, und gehören nur der Gefchichte 
der Wilfenfchaft an, wie Sefus nach jener Lehre von ihm 
einzig der Gefchichte der Religion, fo gut, wie Mofes und 
Mahomed, anheim gefallen ift. 


— ER 
——— — — — — 


Dieſer ungenügenden rationaliſtiſchen Glaubenslehre trat in 
nenerer Zeit Schleiermacher mit einer Lehre von Chriſtus 
entgegen, in welcher er ed verſuchte, die Anſprüche der Wiffen- 
fhaft fo mit ‘dem eigenthümlich chriftlichen Glauben in Ueber: 
einftimmung zu bringen, daß beide friedlich neben einander 
beftehen könnten. Er ging dabei weder von der Kirchenlehre, 
noch der gefchichtlichen Weberlieferung aus, die beide den Wider⸗ 
ſpruch der Wiffenfchaft zu fürchten hatten und den Zweifel 
rege machen mußten; — fordern von dem „chriftlichen Be: 
wußtfein“, von der inneren Erfahrung, die Jedem fagt, 
was ihm das Chriftenthum iſt. Die Grundlage feiner Lehre 
ift alfo ein Gefühltes, das fih, da ed aus inneren, unbe: 
zweifelten Thatſachen hervorgeht, . immer unangefochtener ent: 


479 


wickeln laͤßt, als aä;ußere Thatſachen, D’e überall dem prü⸗ 
fenden Zweifel anheim fallen. Wir faſſen fein intereſſantes 
Lehrgebäude über Jeſu Perſon in Folgendem kurz zuſammen. 

„Als Glied der chriſtlichen Gemeinde bin ich mir der 
Aufhebung meiner Sündhaftigkeit bewußt; ich fühle die Ein⸗ 
flüſſe eines heiligen von Sünden reinigenden Elementes, das 
in dieſer Gemeinſchaft als der chriſtliche Mittelpunkt lebt und 
wirkt. Aus der Gemeinde an ſich kann dieſes Element nicht 
hervorgegangen ſein, da ſie aus ſündhaften Menſchen beſteht; 
es muß der Einfluß eines Höhern ſein, der in ſich ſelbſt 
ſündlos, in einem ſolchen Verhältniſſe mit der Gemeinde ſteht, 
daß er ihr dieſe Eigenſchaft mittheilen kann; dieſer Höhere 
muß der Stifter derſelben ſein, aus deſſen Geiſte ſie hervor⸗ 
ging. Seine Wirkung alſo iſt der von mir gefühlte Geiſt 
der Sündloſigkeit; die Urſache dieſer Wirkung kann nur deſſen 
eigene Heiligkeit fein; Chriſtus, der ohne Sünde war, 
lebt in der Gemeinde. — Er ift es, der in mir Durch jene 
Eindrüde die ftete Gemeinfchaft mit Gott erhält, und Dadurch 
mich fähig macht, die Uebermacht der Sinnlichkeit zu brechen, 
fo daß ich Alles auf das lebendige Bewußtſein Gottes, der 
in und mit mir lebt, beziehen fann. Darum hat Ehriftus 
mich von der Kuechtichaft der Sünde erlöst. Diefe Erlöfung 
bewirft aber auch in mir, daß die Störungen Des Äußeren 
Lebens nicht die Seligfeit meines Gottesbewußtſeins unters 
brechen; Uebel und göttliche Strafen gibt es für mich nicht 
mehr. Darum hat Chriftus mich auch mit Gott verfühnt. 
Sn diefen Gefühlen erhalten die drei Aemter Jeſu erft ihre: 
innere wahre Bedeutung: er ift Prophet, weil er durch 
fein lebendiges Wort die. Menfchheit an ſich 309; Hohes 
priefter und Opfer, da er, der Sündlofe und darum Selige, 
in die Niebrigfeit des fündlichen Lebens der Menjchheit herabs 
ftieg, um ihre Uebel zu theilen, damit er ung zu Heiligkeit 
und Geligfeit in feine Gemeinfchaft aufnehme; — König iſt 
er als Stifter und Lenfer diefer Gemeinde“. 

„Aus diefen Wirkungen Ehrifti erfennen wir, wag er ges- 
wefen.. In ihm muß als ungetrübtes, unmandelbares Bes 
wußtfein Gott gelebt haben; daher fagt Die Kirche, in Chriftus 
jet Gott Menfch geworden. Er muß die Sinnlichfeit fo ganz 


480. 


überwunden haben, daß nie ein Kampf mehr in ihm ftattfand, 
daß er nicht mehr- fündigen fonnte; dadurch warb er das 
Urbild feiner Gemeinde. Sollte er aber als folches auch 
nnfer Vorbild fein, fo muß er ganz unter den gewöhnlichen 
Bedingungen des Lebens zu jener heiligen Höhe ſich erhoben 
haben; er muß alle Verfuchungen, die und drohen, wirklich 
überwunden, alle Stufen bid zur höchften durchlaufen haben; 
daher fagt die Kirche, in ihm fei die göttliche und Die menſch⸗ 
liche Natur vereint gewefen. Alles biefes leitet ber Chrift 
nur aus feinem inneren Bewußtfein her; die äußere Ger 
fchichte, welche von der Wiffenfhaft angefochten werben 
kann, beftimmt und flört feinen Glauben nicht. Derjenige, 


ber Solches in mir wirken fann, muß Chriſtus geweſen 


fein, mag er übernatürlich erzeugt, auferftanden fein x. 
oder nicht; wir glauben dieſe außeren Thatſachen, wenn 
wir fie glauben, nur darum, weil die Gefchichte, nicht unfer 
Bewußtſein, fie uns lehrt.“ — 

So ſchon und eigenthümlich auch diefe Entwickelung ift, 
fo kann doch auch fie weder der Wiflenfchaft, noch dem Glaus 
ben vollitändig genügen. Die erftere fann es nicht zugeben, 
daß in Chriftus das Vollkommene, Heilige wirflich, oder, 
wie Schleiermacher fagt, „das Urbildliche gefchichtlich“ ges 
wefen fei: denn vollfommen Tann Fein einzelnes Wefen, 
heilig fein Menſch fein; beides kann ſich nur in unferm Geifte 
zum Sdeale eines folchen Einzelweſens geftalten, von dem 
wir aber wohl willen, daß es wirklich niemals fein wird. 
Auch wenn wir abfehen von allen andern Beziehungen, von 
MWiffenfchaft, Kunft, und ung nur, wie Schl., an die Res 
ligion halten, fo fünnen wir ung feinen Menfchen ale wirt 
Lich denken, in weldem das Gottesbemußtfein ganz volls 
kommen gelebt hätte; ed wäre dieß immerhin, wenn aud) nur 
auf Einem Gebiete, ein Bollfommened, was dem Begriffe 
des Menfchlichen widerfpricht. Daher muß Sch!. wirklich 
einlenfen und es für das einzige Wunder, das die Glaubends 
Ichre annehmen dürfe, erflären, daß ein ſolcher, rein fünds 
Iofer Chriftus entftehen konnte. Allein felbft mit diefem eins 
zigen Wunder ift, wenn auch in feinem eigentlichen Leben 





\ 484 


Reine weiteren anerkannt werden, ein Riß in bie wiſſenſchaft⸗ 
liche Weltanficht gemacht worden, der nicht wieder geheilt 
werben fann, und von dem man mir nicht begreift, warum 
er fo allein ficht. 

Ferner ift es den Geſetzen aller menfchlichen Entwide, 
lung, die, wie die der Natur, vom Kleinen zum Großen, 
vom Keime zur reifen Frucht aufiteigt, zuwider, daß in der 
chriftlichen Gemeinde mit Chriftus das Größte fogleich, 
als Anfang dageftanden habe, von weldyem Das fpätere Leben 


ber Gemeinde nur ein ſchwacher Nachklang war, der in - 


fi) das als unentwicelt darftellt, was in Chriftus vollkom⸗ 
men entwicelt daftand. Nun fagt zwar Schl., das Zeitliche 
und Aeußerliche an Chriftus, feine Redeweiſe, feine einzelnen 
Borftellungen und Anfichten 2c., feien allerdings einer Vervoll⸗ 
fommnung im Leben der Gemeinde fähig; nur nicht deffen 
inneres Wefen, der Kern. feines Lebende. Allein wenn wir 
jenes Zeitliche von Sefu trennen wollen, fo behalten wir nicht 
ben Kern feines Lebens und feiner Perſon; wir haben den 
Chriftus nicht mehr, der da lebte, dachte, wirkte, Denn alle 
jene Aeußerlichfeiten gehören ja auch zur Perfon, ja, fie mas 
chen fie erft zu einer befonderen und eigenthümlichen. 
Wir behalten vielmehr mit jener Scheidung nur ein allgemein 
Menfchliches, eine Idee, ein Ideal, und nicht, worauf Doch 
Schl. fo viel Gewicht legt, einen. Menfchen, in welchem 
vollfommenes Gottbewußtfein wirkliche, bie in's Kleinfte herab 
vollendete Thatfache war. — Faſſen wir die Sache noch 
näher in's Auge, fo ift die Unmöglichkeit, zu fündigen, eine 
mit der menfchlichen Natur, die ja nicht nur aus vernünftigen, 
fondern auch aus finnlichen Antrieben zufammengefegt ift, un⸗ 
vereinbare Eigenſchaft; — und vollends ein Weſen, das nicht 
einmal im Guten fchmwanfte, feinen Kampf beitand, war 
fein Menfch, weil e8 feine Freiheit des Willens hatte. 


Aber auch dem chriftlichen Glauben thut die Lehre Schl. 
nicht genug, indem er behauptet, Auferftchung und Himmel⸗ 
fahrt feien für denfelben unmefentlich: es ift ja ber Glauben 
an biefe der eigentliche Grundſtein, anf welchen die Gemeinde 

11. — 34 


462 
errichtet wurde; ohne fie könnte der geſtorbene Chriſtus 
ihe nicht Quelle der Seligfeit fein, und endlich würde bie 
äußere Daritellung des chriftlichen Glaubens, welche im der 
Reihe der Kirchenfefte liegt, durd) Entfernung des Ofter 
feftes tödtlich verlegt werden. 

Doch es muß die ganze Grundlage, auf welche Sl. 
feine Lehre von ber Perfon Jeſu baut, für ungenügend gehal- 
ten werden; er fchließt nämlich, wie wir fahen, von der Wir 
tung, die ſich in dem chriftlichen Bewußtſein der Gemeinde 
vorfinder, auf die Perfon Jeſu, ald deren Urfache. Allein es 
kann nicht bewiefen werden, daß jene Wirfung ohne Die ges 
fhichtliche Wirklichkeit - eines ſolchen Chriftus unmöglich gewe⸗ 
fen wäre: feine hohe Bortrefflichfeit fonnte gar wohl Anlaß 
fein, feine Perfon zu einem bloßen Ideale zu fleigern, deſſen 
Unfündlichfeit man nur auf den gefchichtlichen Chriftus über: 
trug. Wenn Sch!. dagegen bemerkt, die fündhafte Menfch« 
heit habe ein folches Ideal, ein fleckenloſes Urbild, nicht für 
fich erzeugen können, fo iſt dieß unrichtig: denn fo gut wir 
als unvollkommene Wefen und dennoch die Vorftellung eines 
Bolfommenen, ald endlidye die eines Unendlichen bilden füns 
nen; eben fo gut erheben wir uns als fündhafte Menfchen 
anch zur Vorftellung "eines unfündlichen Ideals: ja wir würs 
den von unvollfommen und findhaft gar nicht reden, wenn 
wir nicht die Idee des Vollkommenen und Heiligen in ung 
trugen. Wenn wir aber auch aus ung das Ideal bes fünd« 
lofen Chriftus nicht bilden Fonnten, warum bewirfte Gott nicht 
das viel geiftigere Wunder, es in der Menfchheit überna- 
türlich zu erzeugen, ald das von Schl. angenommene weit 
feiblichere eines wirflich lebendig gewordenen übermenfchlichen 
Ideales, wie feiner Lehre nach Sefus war? 

Obgleich nun Schl. für feine Perfon feft überzeugt war, 
daß der Chrütus, den er ſich in feiner Vorftellung gebildet 
hatte, wirklich auch gelebt habe, fo bleibt ed Doch gewiß, daß 
nach dem vorliegenden gefchichtlichen Thatbeftand ein ſolcher 
nie gelebt hat; — daß fein Chriftus nicht wirklich geweſen 
fein fann, fondern nur Ideal iftz — und daß ein folcher 
ISdeal-Ehriftus gar nicht nöthig war, um dad in der Ge 
meinde zu bewirfen, was er chrütliches Bewußtſein nennt. 


483 


Schl. hat allerdings in feiner Lehre ein hohes, feltenes Ges 
mütly bewährt; aber was, wie dieſe, nur Ergebniß der innes 
ren Erfahrung eines Einzelnen ift, kann niemald allgemeine 
Grundlage für Glauben und Wiffen Aller werden: am wer 
nigften koͤnnen wir einem Chriſtus, wie er in dem Ideale 
eines Einzelnen lebt, gefchichtliche Wirklichkeit zugeftehen. 





Viertes Kapitel 


Die Kehren Kant's, (de Wette’s, Sort 8), 
und Hegel's über Chriſtus. 


Wir fehen ung alfo dahin wieder zurüdgeführt,. daß „ges 
ſchichtlich Jeſus nichts Anderes gewefen fein fann, als eine 
zwar fehr ausgezeichnete, aber darum der Befchränftheit alles 
Endlichen unterworfene Perfönlichfeit: vermöge Diefer ansge⸗ 
zeichneten Perfönlichfeit aber regte er das religiöfe Gefühl fo 
mächtig an, daß biefes in ihm eig Ideal der Frömmigfeit 
anerfannte*. — Als ſolches Ideal allein konnte er fähig fein, 
Stifter einer pofitiven Neligion zu werden. Daher haben 
Andere es verfucht, Chriftus als Ideal, ald Sinnbild hös. 
herer Wahrheiten, mit dem Chriftus der Kirchenlehre, ale 
einem gefchichtlichen wunderbaren Wefen. in Einklang zu brin- 
gen: dieß geſchah zunächſt ausführlich von Kant. Er geht 
von dem Sabe aus: „Es ift nicht Bedingung zur Seligkeit, 
zu glauben, ed habe einmal ein Menfch gelebt, deffen Heilig: 
feit und Verdienft für fich und Andere genug gethan habe; 
wohl aber ift es Pflicht, ſich zu dem in der Vernunft liegen- 
den Ideale fittlicher Bollfommenheit zu erheben.“ Auf dieſes 
Ideal num bezieht Kant die Lehre von Chriftus in ihren ein- 
zelnen Zügen, und verfährt dabei folgendermaßen : 

„Die Idee fittlicher Vollkommenheit ift das Höchfte, zu 
dem der endliche Menfch füch zu erheben vermag: fie wohnt 
in Gott von Ewigfeit ber: von. ihm geht fie ewig aus, und 
kann Daher der eingeborne Sohn Gottes genannt werben, 
Dad Wort, durch weldyes und Daher auch für welches die _ 
Welt gemacht ift. Diefe Idee hat alfo der Menſch nicht ſelbſt 


484 

erzeugt;. fie iſt ald ein göttliches Lrbild in den Menfchen ge 
kommen, hat fomit gleichfam die Menfchheit angenommen; und 
in der Vereinigung mit und ift fie in den Stand der Ernie: 
drigung bes Gottesfohnes getreten. — Da aber das Ideal 
fittlicher Bollfommenheit in der Umhüllung menfchlicher Bedürf- 
niffe und Neigungen nur durch Kampf verwirklicht werben 
fann, fo müffen wir fie in dem Bilde eines Menfchen un 
denken, der, verſucht durch finnliche Antriebe, mit dieſen ringt, 
fie überwindet, in fich das Ideal der Vollfommenheit in mög. 
lichfter Reinheit darftellt, und dennoch bereit ift, obgleich ohne 
Schuld, zum Beften der Menfchheit in Leiden und Tod zu 
gehen. “ 

„Diefe Idee trägt ihre Wirklichkeit und Wahrheit in ſich 
felbft, und um fie zum perpflichtenden Vorbilde zu machen, 
bedarf fie Feines Beifpieles in einem einzelnen Menfchen: 
auch wird ſich unferer Erfahrung nie ein Einzelnwefen als der 
vollfommene Abdruck diefes Urbildes darftellen fünnen, da wir 
immer nur das Aeußere des Menfchen unmittelbar, fein Inne⸗ 
res aber nur durch dieſes erfennen. Indeß foll Doch der 
Menfc dem Urbilde entfprechen; folglich muß es auch mög: 
lich fein, und es ift daher wohl denfbar, daß dieß durch 
Einen gefchehen fei: aber auch alsdann würde diefer Eine nur 
dadurch, daß wir in ihm das Ideal fittlicher Bollfommenheit 
erblictten, Gegenftand unferes befeligenden Glaubens werben; 
was er fonft erlebt oder gethan, läge ganz außer demfelben. 
Weil aber alle Menfchen dazu berufen find, folche Beifpiele 
zu werden, fo haben wir feinen Grund, jenen, der es gewor⸗ 
den, für einen übernatürlich Erzeugten zu halten: eben 
fo wenig bedarf er zu feiner Beglaubigung der Wunder, da 
unſer Glauben an feine reine Gottwohlgefälligfeit zu unferer 
Berehrung hinreicht. “ 

„Mit dieſer in ihm zur Erfcheinung gefommenen Idee fitt- 
cher Bollfommenheit ift der alte Menſch in ihm erftorben; 
fein Fleifch ift gefreuzigt, und was der alte, fündhafte Menſch 
verſchuldet, hat der neue in ihm gelitten, der aus der Sünde 
zum Urbilde aufftrebende.“ — 

Auf diefe Weife nimmt Kant in feine finnbildlich und 
ideal gewendete Lehre von der Perfon Chrifti die alte 


485 


Kircheniehre auch nur, wie Schleiermader, bis zum 
Tode Sefu auf, woran er noch auf allzu fpibfindige Weile 
die Lehre von der Stellvertretung anzufchließen verfucht hat. 
Die Auferftehung und Himmelfahrt ſchließt auch er aus, ale 
nicht zu feiner Entwidelung eines Ideales fittlicher Volllom⸗ 
menheit gehörig: doc, laßt er fie ald Sinnbilder von Vermunft⸗ 
ideen, ald Bilder. des Eingangs in den Sitz der Seligfeit, 
d. h. in die Gemeinfchaft mit allen Guten, gelten. 


- Sin anderer Weiſe hat de Wette die evangelifche Gefchichte 
von Jeſu, feiner Perfon und feinen Schidfalen, in eine finns 
bildliche, in eine Gefchichte des Idealen umzuwandeln vers 
ſucht. Nach ihm ſtellt die Gefchichte von der wunderbaren 
Erzeugung Jeſu den göttlichen Urfprung der Religion dar; 
feine Wunderthaten die felbftftändige Kraft des Menfchengeis 
ftes; feine Auferftehung ift das Bild des Sieges der Wahrs 
heit, das Vorzeichen eines künftigen Triumphes des Guten 
über das Böſe; feine Himmelfahrt das Sinnbild ewiger Herrs 
lichkeit der Religion. Was Jeſus gelehrt, das fpricht ſich 
eben fo Elar in feiner Gefchichte aus, vorzüglich in feinem 
Tode: Chriftus am Kreuze ift das Sinnbild der durd, Aufs 
opferung geläuterten Menjchheit. 


Klarer und fehöner noch hat Horft diefe ideale, finnbild- 
liche Auffaffung des Chriftenthums entwicdelt. 

„Ob Alles, was von Sefu erzählt wird, wirflich fich fo ers 
eignet habe, läßt fich nicht mehr ganz ermitteln, und kann une 
auch jetzt ziemlidy gleichgültig fen: ja Vieles müſſen wir von 
dem Standpunkte unferer Bildung aus als fabelhaft und 
den Gefeten unferes Denkens widerfpredyend verwerfen. Faſ⸗ 
fen wir Dagegen diefe Erzählungen nicht ſowohl ald Gefchichte, 
wie als Dichtung auf, fo wird ſich uns ein Schab bedeus 
tungsvoller Dffenbarungen aus der geheimnißvollen Tiefe des 
religiöfen Gemüthes darftellen: Alles fnüpft ſich dann an bie 
shriftliche Gefchichte an, was für unfer Gottvertrauen wichtig, 
für den reinen Sinn befebend, für das zarte Gefühl anziehend 


486 


iſt. Jene Gefchichte ift eine heilig fchöne Dichtung des Men- 
fchengefchlechtes, die Gefchichte der höheren Menfchennatur; 
fie zeigt und in dem Leben des Einzigen, was alle Die 
ſchen follen, und werden können: darin eben liege Die höchſte 
Ehre und der ftärkite Beweis für die allgemeine Gültigkeit 
bes Ghriftenthums. — Allerdings haben die Evangeliften bag, 
was fie erzählen, für wirkliche Gefchichte gehalten: aber fie 
fanden auf einem andern Standpunkte, ald wir, bei gleichem 
innerem Bebürfniffe; denn die menfchliche Natur, namentlic 
der ihr inwohnende religiöfe Trieb, bleibt immer derfelbe.* — 

Gegen diefe Umwandlung der Gefchichte in bloße Sinn: 
bilder des Göttlichen erhob fich zunächft der kirchliche Glau⸗ 
den mit allem Eifer. Sie raube, warf ihr Diefer vor, dem 
Menfchen allen Troft, der in den Thatjachen ber Auferftehung, 
Himmelfahrt ıc. liegt; — für die Gewißheit, daß Gott wirt 
fich einmal Menfch geworden, biete fie in der Anmahnung, 
daß der Menfch göttlichen Sinnes werben folle, ſchlechten 
Erſatz; — and ber verfühnten Welt werde der Menfch in 
ine unverföhnte zurücigeworfen, um die verlorne aus eigenen 
Kräften wieder zu erringen; — es könne aber ber Menſch 
durch fich allein nie zur Verführung mit dem Unendlichen fd 
erheben. 

Auch die nenefte Wiffenfchaft hat jene Anſicht verworfen, 
indem fie behauptet, das Endliche dürfe nicht nur als Sinn 
bild des Unendlichen aufgefaßt werden, weil dadurch beide ale 
getrennt auseinander gehalten würden; vielmehr feien beide fo 
ungertrennlich verbunden, daß das Endliche als die ewige 
Verwirklichung des Unendlichen, das zeitliche Leben als eine 
unmmterbrochene Offenbarung des ewigen betrachtet werden müſſe. 





Bon diefem Standpunkte aus, den ſchon Schelling am 
wies, indem er fagte: „Die Menſchwerdung Gottes ift eine 
Menſchwerdung von Ewigkeit her“, hat neneftens Hegel 
die Grundlage zu einer neuen, von manchen Theologen in’s 
Einzelne ausgebildeten Lehre von Chriftus gelegt: wir geben 
feine Lehrfäte fo allgemein verftändlich, wie möglich, wieber. 

Der oberfte Satz diefer Entwideling if: „Alles Ber; 


487 


nünftige Cin ber Vernunft Begründete) muß auch wirklich 
fein.“ Daraus wird folgendes abgeleitet: 

„Da Gott ein Geift, und aud der Menſch Geift it, fo 
folgt daraus, daß beide an fidy nicht verfchieden fein Fonnen: 
denn es iſt das Wefentliche des Geiftes, ein Einiges und _ 
Untheilbares zu fein. Es darf daher Gott nicht als ein ſtarr 
in ſich felbft abgefchloffenes Weſen gedacht werden, foudern 
als das Unendliche geht er ewig in das Endliche ein, und 
ewig fehrt er in fich felbft wieder zurüd: in Diefer fletigen 
Selbftoffenbarung Gottes befteht alles Leben; in ihr liegt Die 
lebendige, innerfie Gemeinfchaft des Menſchen mit Gott. 
Daher ift der unendliche Gott nur darin wirflicd, daß er 
in den endlichen Geiftern lebt; und der endliche Menſchengeiſt 
iſt nur dann wahrer Geiſt, wenn er in dem unendlichen 
Gotte lebt. Der Geift ale folder ift alfo weder allein Bett, 
noch allein Menſch, fondern er lebt nur ald Gottmenfch: 
Gott in dem Menfchen und der Menſch in Gott. Dieß ewige 
Wechſelverhaͤltniß ift von Seiten Gottes verwirklicht durch. feine 
Dffenbarung, durch die er fi) dem Menfchen ewig Funp 
gibt; von Seiten des Menfchen durch feinen Glauben, dur 
den er ungertrennbar mit Gott verbunden if, “ 

„Die Einheit Gottes und des Menfchen kann alſo von 
dem Menfchen verwirklicht werden nur durch ädhte Religion; 
d. h. nur durch den Glauben, in welchen er fid) wahrhaft 
als Eins mit Gott fühlt: er in Gott und Gott in ihm. 
Eine tiefer ftehende Religion faßt Gott entweder nur als Na- 
turkraft, die unter dem Geiſte, alfo aud) unter den Mens 
(chen ſteht; oder als tedten Gefeggeber auf, der über 
dem Menfchen fteht: in beiden Fällen fteht Gott außer dem 
Menfhen. So wie aber die Menfchheit dieß erkennt, daß 
weder der unter ihr ftehende Naturgott, noch der über ihr 
fiehende Geſetzesgott ihrem religiöfen Verlangen genug tbut, 
fo muß fie erfennen, daß Gott im Menfchen leben muß, daß 
Gott und Menſch Eins fein müffen. Diefe Erfenntniß kann 
ihr aber nach ihrer Entzweiung mit Gott nur dadurch zu Theil 
werden, daß eine menſchliche Perfon auftritt, in der wir 
beides, Gott und Menfch, als finnliche, wirkliche, wahrnehns 
bare Einheit fchauen. Ssufofern nun dieſer Gottmenfc das 


288 - 

göttliche und wmenfchliche Weſen zugleich in r ich einſchließt, 
iſt Gott fein Vater und feine Mutter eine menſchliche: — 
da er nur für Gott lebt, in welchem er ganz aufgeht, fo ift 
er der Sündlofe; — ald Menſch von göttlichen Weſen hat 
er Gewalt über die Natur und it Wunderthäter; — e 
lebt im Stande der Erniedrigung, weil er Gott in menſch⸗ 
lichem Weſen ift; ja er muß bis zu den lebten Tiefen ber 
Enbdlichkeit, bis zu dem Tode hinabfteigen, weil er auch im 
der änßerften Entäußerung Gott im Menfchen bleibt. Auf 
diefer lebten Gränze der Einheit mit dem Endlichen mußte 
aber das Linendliche im Sottmenfchen wieder zu fich felbft ben 
eg finden; die Auferftehung und Himmelfahrt mußte 
offenbar machen, daß fein Tod nur Rückkehr zu Gott war, 
und daß durch die völlige Abftreifung der Natürlichkeit ewig 
die VBerföhnung zu Stande gebracht wird.“ — „Nachdem 
diefer Gottmenſch durch den Tod der finnlichen Anfchauung 
des Menfchen entrüdt worden, ging er in ihre Erinnerung 
und Borftellung über; die in ihm enthaltene Einheit des Götts 
lichen und Menfchlicyen wird allgemeines Bewußtfein, und 
ewig muß die Gemeinde fein Leben innerlich wiederholen: 
wie er äußerlich, muß der Gläubige fich geiftig tüdten, damit 
durch die geiftige Auferftehung Gott und Menfch in feinem 
Geiſte völlig Eins werden.“ *') 





An der Hand diefer neuen Heilslehre find nun viele Theos 
logen wieder zur alten Rechtgläubigfeit zurückgekehrt, aber auf 
umgefehrtem Wege. Während nämlich die Kirche aus ber 
Richtigkeit der Geſchichte das Gebäude ihrer Lehre hers 
. leitete, beweist dieſe neusorthodore Schule die Richtigfeit der 
Geſchichte aus der Wahrheit ber aufgeftellten Begriffe: 


2, Wenn der Lefer in Obigem Leinen rechten Sinn finden kann, 

fo möge er fi mit dem Verfaſſer tröften, dem es eben fo er: 
geht. Obgleich von fehr wahren Sätzen ausgehend, läuft Doc 
dieſe Lehre von Chriftus in einen Punkt aus, daß man glau⸗ 
ben möchte, Sefus habe Leben, Tod und Anferftehung nur fo 
durchgemacht, um der Welt auf prattifchem Wege — Heerſqhe 
Philoſophie beizubringen! - 


2% 


denn in dieſen Satz laͤuft ihre Lehre wieder zurüd: „alles 
Bernünftige muß ja wirklich fen“! — Daher 5. 8. folgende 
Säte: Jeſus konnte nicht andere, als wunderbar wirken, 
weil ihm das Wunderthun natürlic, war; die Auferſtehung 
ift fo wenig befrembdend, daß es befremben müßte, wenn Chriftus 
nicht auferftanden wäre; u. f. w. 

Allein Niemand wird fich überreden laffen, daß durch Diefe 
kuͤnſtlich verfchlungenen Säte die Wirklichkeit der von der 
Kirchenlehre vorausgefegten Wundergeſchichten bewiefen fei. 
Denn wenn auch Göttliches und Menfchliches Eins find, folgt 
daraus, daß diefe Einheit in einem einzelnen Menfchen ſich 
verkörperte? daß göttliche und menfchliche Natur in Einer ges 
fchichtlihen Perfon vereinigt geweſen? Wenn fid, der götts 
fiche Geift in der Menfchheit durch immer größere Herrfchaft 
Aber die endliche Natur offenbart, muß deßwegen ein einzelner 
Menſch dieſe Herrichaft im vollften Maße ausgeübt haben? 
Endlich — wer wird aus dem Satze, baß die Ertöbtung des 
Sinnlichen im Menſchen eine Auferftehung des Geiftes fei, bie 
leibliche Auferftehung eines Menfchen beweifen wollen! 

Nein! halten wir die hohe Idee einer Einheit.des Götts 
lichen und Menfchlichen feſt; fuchen wir aber ihre Verwirkli⸗ 
chung nicht in Einem endlichen Weſen, wobei alle andern leer 
ausgingen, fondern in ber ganzen Menfchheit: in der Mans 
nigfaltigfeit von Einzelweſen, die ſich gegenfeitig‘ ergänzen, 
und zufammen ein Ganzes bilden, — hier wird jene Eins 
heit auf eine unendlic, höhere Weife wirflich, als. wenn wir 
fie in Einem eingefchloffen und ab gefchloffen denfen: in ber 
Menfchheit ift Gott nicht einmal, fondern von Ewigfeit her 
Menfch geworden; in ihr lebt er in der reichiten Fülle feiner 
Kraft. 


Fünfted Kapitel. 
VBermittlungsverfuch und Schluß. 


Hierin haben wir den Schlüffel zur ganzen Lehre von 
Chriftus gefunden, daß wir das, was die Kirche von Dem 
Einen Jeſus ausfagt, als Wefen und Eigenfchaften der ganzen 


808 


Menfchheit uichteiben: Die Menſchheit iR Chriſtus. Zu 
dam einzelnen Menſchen wärben Menichliches und Goͤttliches 
nie zur vollen Einheit gelangen: in ber ganzen Gattung ver 
ſchelzen fie zur innigſten Bereinigung. Die Menfchheit iR 
die Bereinigung der beiben NRaturen, des unendlichen Geiftes, 
der fic feiner Unendlichkeit ewig bewußt bleibt; fie ift ber 


i -  menfihgewordene Gott, das Kind ber fihtbaren Mutter, 


der Natur, und bed unfichtbaren Vaters, bed göttlichen 
Seiſtes. — Sie ift der Wunderthäter, indem Durch bie 
Menſchengeſchichte hindurch ber Geift immer vollftändiger ber 
Natur in und außer dem Menfchen ſich bemächtigt und fie 
überwindet: — fie ift ber Unſündliche, infofern ihr Eut 
wicklungsgang ein tabellofer it, und das Unreine immer wmır 
an dem Einzelnen haftet; — fie ift der Sterbende, Aufs 
srfichende, gen Himmel fahrende, indem durch bie 
ſteigende Vernichtung ber Raturgewalt, burch bie Ueberwindung 
aller Trennungen in Perfonen, Bölfer und Zeiten ber umend» 
liche Geiſt des Himmels fich ſtets höher erhebt. Durch dies 
fen Glauben wird der Menſch gerecht vor Gott, indem er 
dadurch fich feiner Abgefchloffenheit entäußert, in und für 
die Menfchheit Lebt und Eins mit dieſer zu dem Anſchauen 
"der ewigen Liebe ſich aufſchwingt: — ber Menfc is ber 
Menfchheit lebend, ift der Erlögte,: ber mit dem himm⸗ 
Dicen Bater Berföhnte: in dieſer lebendigen Gemeinfchaft 

- in der Hingebung au die Menfchheit wird der Menfch 
in Ehrift. 


- Daß diefe allein wahre Lehre von Ehriftus an die Perfon 
eines Einzelnen, an Jeſum, angefnüpft worden, gehört 
nur zu ihrer äußeren Form, ift unmefentlich, und bat nur 
dazu gedient, den Menfchen. diefelbe anfchaulidy zu machen. 
Denn der noch unmündige Glauben des Menſchen hält fich 

überall an äußere Thatfachen, an finnliche Sefchichte: er klam⸗ 
mert fich an diefelben an, weil er noch nicht zur Reife, zur 
inneren Stärfe und Freiheit gelangt ifl. Sobald dieſes ges 
ſchehen it, ſobald die äußere Geſchichte in Dem Gemüthe das 
Bewußtſein ber mit Gott einigen Menichheit entwidelt bet, 
muß auch Der Glauben im Menichen eine audere Gral 





491 


annehmen: er flreift die Hülle .der äußeren Geſchichte ale eine 
unweſentliche, ihm überfläffig gewordene ab, und lebt und 
webt nun mit mündig gewordener Freiheit und Selbftftändigs 
keit in dem feligen Befiße der Ideen, welche die Gefchichte 
in ihm groß gezogen hat. Diefe Gefchichte Iebt in ihm aber 
als theure Erinnerung fort, wie auch der gereifte Mann 
ſtets die Lehrer feiner noch nicht erftarften Jugend verehrt, 
obgleich er ihrem nicht mehr bedarf. Wenden wir. dieß auf 
die Lehre von Chriftus an, fo zeigt. und fchon der alte Luther 
den richtigen Weg, wenn er fagt, die geiſtlichen Mirakel 
feien die rechten hohen: follten wir nun, nach 300 Sahren, 
ein größeres Gewicht auf einige Kranfenheilungen in Galilaͤa 
legen, als auf die Wunder, durch welche die Welt der Geis - 
fer erfchüttert wird, — die in der Weltgefchichte zu 
Tage liegen, die täglich in der hohen Gewalt, mit welcher 
der Menſch die Natur bemeiftert, offenbar werden? Es foll 
ten einzelne, in unbeftimmtes Onnfel gehüllte, und. darum wig 
Mirakel ausfehende Ereigniffe unfern Glauben an die Einheit 
Gottes mit der Welt auf eine folche Weiſe in Anfpruch nehs 
men fünnen, daß wir darum das einzig hohe, ewig Flare und 
doc, geheimnißuolle Wunder, Gott in der Welt, in Schats 
ten fiellen wollten? Bielmehr hat Schleiermadjer hierin 
ganz das Rechte, wenn er behauptet, unfere Zeit fünne nie 
mehr das Bedürfniß empfinden, einzelne Thatſachen ald wuns 
berbare aufzufaffen, weil fie auf einem Standpunkte ftehe, 
auf dem ihr der ewige Kreislauf des göttlichen Lebens, in 
feinem ewigen Sterben und Wiederauferftehen mehr gelte, 
ald äußere Begebenheiten, die ung der Spürfinn prüfender 
Belehrfamfeit jeden Augenblid ans den Händen winden Fann. 


‘ 


Muß alfo eine wiffenfchaftliche Ehriftuslehre über die Pers 
fon Sefu hinausgehen, fo wird fie dennoch in Einer Hinfücht 
immer wieder auf diefelbe zurüdgeführt. Denn alles Große 
in Leben, Kunft und Wiflenfchaft, am meiſten aber in ber 
Religion ift von Einzelnen, als einer überfchwenglich reichen 
Duelle, ausgegangen; erhält daher die Perfon eines Einzelnen 
in unfterblicher Wirkung ftetö lebendig: follte es mit der ge- 


oo. 108 


waltigſten geifligen Schöpfung, dem Ehriſtenthume, ſich am 
ders verhalten kͤnmen? Auch dieſe muß das unſterbliche Wert 
eines Einzelnen fein: fie iſt Die Schöpfung Jefu Chriſti. 
Dieſe Betrachtung verſetzt uns Jeſum in die Reihe der hoch⸗ 
begabten Geiſter, die berufen waren, die Entwickelung des 
Geiſtes zu höheren Stufen zu erheben; der Geiſter, welche 
in andern Gebieten als Genie's bezeichnet werden. Scheint 
es, als wenn Jeſus, der neben einem Mofedp Homer, Alexan⸗ 
Der, Raphael, Mozart, nach dieſer Anſicht zu ſtehen kommt, 
nicht hoch genng geſtellt ſei, ſo muß man folgendes wohl er⸗ 
waͤgen. Erſtens iſt das Gebiet, auf welchem Jeſus fo ſtrah⸗ 
lend emporragt, nicht nur das höchſte aller Gebiete des gei⸗ 
ſtigen Lebens, ſondern vielmehr der eigentliche Mittelpunkt, 
das Herz aller andern, das alle andern mit Lebensfriſche durch⸗ 
dringt; Religion ift bie. Seele der Seele. Zweitens fteht 
grade auf dieſem erhabenften Gebiete Jeſus fo zinzig und 
merreicht da, daß er mit vollem Rechte der Erſte unter ben 
Erften genannt werben kann. 

Jedoch kann dieß nur mil einer gewiffen, durch wiffens 
fhaftlihe Erwägung gebotenen Beſchraͤnkung behauptet werben: 
Menn auch Sefus auf eben erörterte Weife auf die höchfte 
- Stufe menfchlicher Größe geftellt werden muß, fo kann bieß 
nur von ber Vergangenheit gelten: für die Zukunft bürs 
fen wir die Möglichkeit nicht in Abrede ftellen, daß fie einen 
noch Srößeren hervorbringen könne. Er felbft war ja nad 
fo vielen Großen auf dem Gebiete der Religion der Größere: 
Jeſus trat nach Mofes auf. Wenn auch von einzelnen Böls 
tern mit Gewißheit behauptet werden fan, baß fie ihren 
Höhepunkt bereit erreicht haben, fo wird dieß nie von der 
gefammten Menfchheit, am wenigiten von dem höchiten 
Gemeingute berfelben, der Religion, gefagt werben konnen. 
Allerdings wird ein nachfolgender höher ftehender Genius gar 
oft darum der Höhere fein, nicht weil er feinem inneren Werthe, 
feinem reinen Gehalte nach größer ift, fondern weil er, ges 
tragen durch die Errungenfchaft langer Zeiten, mehr Ieiftet, 
Größeres thut; weil er auf den Schultern der Borgänger 
ſteht. Immer aber ſteht er doch Höher, er ſteht der Ents 
widelungeftufe feiner Zeit näher, als ein: früherer, wenn 


. 403 | 
auch eben fo großer Mann. So fünnte es alfo um fo mehr 
möglich fein, daß auch nach Jeſus auf dem Gebiete der Res 
ligion ein Mann aufftünde, der mit höherer Einfidyt begabt, 
der Bildungeftufe feiner Zeit näher verwandt, eine größere 
Anziehungskraft auf deren Religion ausübte, als der, nicht 
minder große Jeſus von Nazaret. Könnte es. auch fo fcheis- 
nen, ald ob der in neuerer. Zeit fo hoch hervorragende Vers 
ftand die freie und fruchtbare Beweglichfeit des Gefühle und 
der Einbildimgsfraft, aus deren feurigem Zuſammenwirken 
alle Religion hervorblüht, in ſolchem Grade hemme, daß ein 
zweiter Chriftus nicht wieder erftehen könne, fo müflen wir 
ung doch fehr hüten, über das eigentliche Lebenselement ber 
Menfchheit durch eine aus diefer Erfahrung abgeleitete Behaup⸗ 
tung abzufprechen. 

Bielmehr müffen wir die beunruhigende Möglichkeit, daß 
ein Größerer, als Sefus, erfcheinen könne, dadurd, in Zweifel. 
zu feßen fuchen, daß wir nachweifen, theild aus der Perfüns 
lichkeit Sefu, theild aus der Natur der Sache, daß dieß nicht 
denkbar fei. 

Weil die Religion wefentlich in der vollendeten Einheit 
bes Gemüthes mit Gott, alfo in der vollendeten Vernichtung 
des Zwiefpaltes zwifchen dem Endlichen nnd Unendlichen, dem 
Menſchlichen und Göttlichen befteht, fo kann, wenn auch in 
entwidelter Einſicht, doch niemals in religiöfer Beziehung 
Jemand fich über Sefum erheben. Denn er war fich bewußt, 
den Bater im Himmel vollfommen zu erfennen; er ließ voll« 
fommen feinen Willen in dem Willen Gottes aufgehen: ‚nach 
Johannes fprach er ausdrüdlic feine Einheit mit dem Bater 
aus, und ftellte fich als die fichtbare Dffenbarung desſelben 
bar *. Und zwar war biefe Stimmung nicht ein vorübers 
gehender Auffchwung feines Gemüthes, fondern der in allen 
feinen Reden, Handlungen, in Thun und Leiden gleichmäßig 
und immer rein burchflingende Grundton feines ganzen Weſens. 





Es ließe fic) dagegen einwenden, daß Doc, auch die durch 
das Denken ausgebildeten Borftellungen nicht unwichtigen 


Einfuß anf dad Gefühl, als eigentliche Quelle der Religion, 
ausüben; und baß alſo, je reiner bie religiöfen Vorſtellungen 
werden, je gelätiterfer durch, die ſtets fortichreitende Verſtan⸗ 
desbildung bie Begriffe werden, auch die Kraft umd Fälle 
des Glaubens ſich um fo freier und ungehemmter bewegen 
möüfle. Aus die ſem Grunde, fo fcheint es, könne gar wohl 
mich nach Jeſu ein noch Höherer auf dem Felde der Religion 
erwartet werden. Allein da. doch das vollendete Bewußtſein 
der Einheit ded Gemüthes Die eigentliche Seele der —— 
keit ift, über welche fie ſich nicht weiter erheben kann; da 
dieſe Einheit erſt durch Jeſus errungen worden ift, fo fönnen 
von nım an bie religiöfen Kortfchritte immer nur Einzelnes 
und Aeußeres betreffen, niemals aber ſich wieder Dem Rie⸗ 
fenfchritte- an die Seite ftellen, um welchen Jeſus bie Menſch⸗ 
beit auf der Bahn ihrer religidfen Entwidelung vorwärts ges 
bracht hat. „Auch ift feitdem die Einheit Gottes und des 
Menſchen in feinem menfcjlichen Bewußtſein mehr in folder . 
fhöpferifchen Urfräftigfeit aufgetreten, daß fie, wie bei ihm, 
fein ganzes Leben gleichmäßig und ohne bemerfbare Trübung 
durchdrimgen und verflärt hätte *. 

Sollte aber, wenn auch fein Höherer nach Sefu zu er 
warten fteht, nicht Doch ein ihm Gleicher auftreten können; 
ihm darum gleich, weil er fich zu derfelben Höhe der Fröm⸗ 
migkeit erhoben hätte, wie er? Allerdings; und was man 
gegen diefe Behauptung vorbringt, beruht auf ZTäufchung 
oder umnflaren Begriffen: jedoch „Angftigt man ſich hier mit 
Träumen ab und ſchlaͤgt fi) mit Schatten herum, fofern ja 
üserall von Feiner wirklich gegebenen Erfahrung, fondern nur 
von gedachten Möglichkeiten die Nebe ift. Auf dergleichen 
Grübeleien des Berftandes braucht die Religion fich fo wenig 
einzniefien, ale em vernünftiger Mann durch die Möglichkeit 
eines Zuſammenſtoßens ber Erde mit einem vorüberwanbelnden 
Kometen ſich ſchrecken Täßt *. 


Wir faffen alſo unfere kehre von Chriſtus in folgende 
. &Säte zuſammen: 


495 


Chrifius ift derjenige, „in beffen Selbfibetunfsts 
fein die Einheit des Göttlichen und Menfchlichen 
zuerft und mit einer Kraft aufgetreten ift, welche in 
des ganzen Umfange feines Gemüthes und Lebens 
alle Senmungen diefer Einbeit bis zum verſchwin⸗ 
denden Eleinften Neſte zurückdrängte; obne daß jes 
boch das von ihm zuerft errungene religidfe Bewußt⸗ 
fein fi im Einzelnen der Läuterung und Weiter⸗ 
bildung durch die fortichreitende Entwidelunug des 
menfchlichen Geiftes entziehen dürfte *. 


496 


Beilagen. 





I. Die evangelifche Gefchichte. 


Es ift den Forfchungen von Dr. Strauß häufig der Vor⸗ 
wurf gemacht worden, daß fie Die ganze evangelifche Gefchichte 
zu vernichten bemüht ſeien; es haben fogar Viele, ich will 
nicht entfcheiden, aus weldyen Gründen, ‚mit Entrüftung der 
Melt verfündet, Strauß laſſe nicht einmal die einfache Eris 
ftenz eines Jefu unangefochten, und ihm zufolge zerfließe felbft 
der Stifter des Chriftenthums in das Nebelgebilde unbeglau- 
bigtee Sage. Aus einer aufmerffamen Betrachtung der vors 
liegenden Forſchungen muß fich zwar das Grundloſe folcher 
unverftändigen Vorwürfe von felbft ergeben: indeffen mag ee 
doch nicht überflüffig fein, aus den vielfachen Windungen 
wiffenfchaftlicher Prüfung Die gewonnenen Ergebniffe gefchicht- 
licher Wahrheit zu einfacher und beruhigender Weberficht 
zufammenzuftellen, und dadurch den unlängbaren Beweis zu 
liefern, Daß auch bei der tief einfchneidenden, zum erften Male 
mit aller Schärfe angewandten mythifchen Auslegungsweiſe 
ein feiter, unangefochtener gefchichtliher Kern übrig bleibt. 

Wir müffen zu diefem Zwede vorerft Die Hauptgrundfäße, 
von welcher diefe Unterfuchung ausging, in aller Kürze zus 
fammenjtellen. 





Die Welt, ald ein Ganzes, ift ein einiges, ewiges, uns 
erflärbares Wunder Gottes: dieſes Wunder wäre ein mans 
gelhaftes, alfo nicht» göttliched, wenn fein großer Zufammens 
bang geftört und unterbrochen würde durch ein befonderes 
Eingreifen Gotted. Daher können Erzählungen, welche ein- 
zelne abgeriffene Wunder, wodurch die von Gott gegründeten 
Naturgeſetze zerftört werden, keine wahre Gefchichte enthalten 


497 


(S. 49); fie fünnen nur ald Mythen oder Sagen (©. 26) 
betrachtet werden. Diefen Grundfaß müflen wir auf die evan⸗ 
geliſchen Berichte mit derfelben Strenge und Unbefangenheit 
anwenden (©. 34), wie wir es ſchon fängft in Bezug auf 
alle andern WVeberlieferungen ans der Vergangenheit zu thun 
gewohnt find CS. 523. Dabei aber vergeffen wir niemals, 
daß Mythen, da ſie aus der BVorftellungsweife einer ganzen 
Zeit hervorgehen, da fie Dichtungen gläubiger Gemüther 
find CS. 53), durchaus nicht mit Fabeln, weldye immer ab- 
fichtliche Erdichtungen eines Einzelnen find (S. 17), verwech⸗ 
felt werden dürfen. Wir vergeffen niemals, daß die Mythen 
der Ehriften einen ungleich edleren, der Frömmigkeit ungleich 
mehr zufagenden Gehalt haben, als die heidnifchen (©. 45): 
— ganz vorzüglich ift es die im alten Zeftamente begründete 
Erwartung eines das jüdifche Volt wieder anfrichtenden Mefs 
fias, welche die einfache Gefchichte Jeſn mit fo vielen my⸗ 
thiſchen Zuthaten durchwebte (S. 56). Wir nennen alfo 
evangelifche Mythe jede auf Jeſum fich beziehende Erzählung, 
welche nicht als wirkliche Thatfache zu betrachten ift, fonts 
dern als der Ausdrud der. Borftellung, die feine früheften 
Anhänger von ihm fich gebildet hatten, gleichſam ale ber 
Niederichlag ihrer Ideen von ihm, ald Meffias (©. 61): 
zu biefen mythifchen Beftandtheilen fommt ferner noch mans 
cherlei, was fi) ald Sage oder als Zuthat des Schriftftel- 
lers anfündigt CS. 66). Hiermit aber ift dem Geſchicht⸗ 
lichen in ben Evangelien, welches fie noch in reichem Maße 
enithalten, nichts vergeben (S. 62): — ferner ift, wenn bei 
vielen einzelnen Erzählungen das Befenntniß abgelegt werben 
muß, daß wir nicht wiffen, was wirklich gefchehen ift, damit 
feineswegs gefagt, daß überhaupt Nichts gefchehen, daß die 
ganze Erzählung eine erdichtete fei (©. 69). 

Zu diefem Berfahren find wir auch ans dem äußeren 
Grunde berechtigt, daß von feinem unferer Evangelien erwie⸗ 
fen werden fann, es fei Werk eines Apoftels oder auch nur 
eines unmittelbaren Schülers der Apoftel (S. 36): vielmehr 
gehen die beftimmten Zeugniffe, welche wir über das Vorhan⸗ 
benfein Diefer Evangelien haben, nicht über das Jahr 150 

nach. Ehriſti hinauf (S. 40). | 
11. 32 


| 298 
Aus genauer Erwägung aller Verhaͤltniſſe geht hervor, 
daß eine fcharfe Gränzlinie ziwifchen Gefchichtlichem und Uns 
‚gefchichtlihem bei den. evangelifchen Berichten fehr ſchwer zu 
‘ziehen iſt; daß es felbft unmöglich bleiben wird, überall 
nachzuweiſen, was wirklich gefchehen ift, und was nicht (S. 69). 


Als gefchichtlich beglaubigte Ereigniffe glauben wir nach 


angeftellter forgfältiger Präfung Nachſte hendes feſthalten zu 
ſollen. . 


— — 





Die Geſchlecht sregiſter, die wir von Jeſu beſitzen, 
und die es ſich zur Aufgabe gemacht haben, ſeine Abkunft 
yon David gu beweiſen, haben ihren alleinigen Werth Darin, 
daß fie bie fefte Veberzeugung beurfunden, Jeſus fei wirklich 
der Meſſias, ber nach allgemeinem Glauben von Davib ab- 
ftammen mußte, geweien (©. 81). Sie find eben. fo gewiß 
bloß erdichtet,  ald die Erzählungen von feiner wunderbaren 
Erzeugung und feiner von Wundern verherrlichten Geburt in 
Bethlehem (S. 91, 100, 101, 108); vielmehr war er ein 
Sohn Joſephs und der Maria, erzeugt in rechtmäßiger Che 
(©. 93) und geboren in Nazaret, wo feine Aeltern wohn 
ten (S. 117): — ohne Zweifel hatte er auch Brüder und 
Schweſtern, die theild älter, theild jünger als er gewefen 
fein mögen (S. 96). Alle Sagen, durch weldye Jeſu Geburt 
verherrlicht wurde, beweilen nur, wie tief der meffianifche 
Eindruck war, den er machte, weil man fo. frühe bemüht war, 
nachzuweifen, daß alle auf den Meffias bezogenen Weiffagune 
gen an ihm in Erfüllung gegangen feien (S. 111). Aus 
der Erzählung von den bei feiner Darftellung im Tempel vors 
gefallenen Ereigniffen (S.. 114) fünnen wir nur das fefthals 
ten, daß von da an fein Geift unter dem Segen Gottes er 
ftarfte (CS. 115). Seine Sugendzeit brachte er in Nazaret, 
dem Wohnorte feiner Neltern, zu: Nazaret wirb öfters feine 
Baterftadt genannt (S. 118). Sein Bater war ein Hands 
werfer, wahrfcheinlich ein Zimmermann; daß auch Jeſus das 
Handwerk betrieben, fünnen wir gleichfall8 annehmen (S. 129: 
in welchen Bermögensumftänden er- lebte, läßt fich nicht mit 
Sicherheit ermitteln (S. 125). Schon frühzeitig begleitete er 
feine Aeltern bei ihren Reifen nach Serufalem zur Feier der 


409 


jüdifchen Feſte: die früheite fiel in fein zwölftes Sahr, und 
gab ihm Gelegenheit, die Schriftgelehrten im Tempel durch 
die ungewöhnliche Neife feines Geiftes ın Erftaunen zu ſetzen 
(S. 121); bei diefer Gelegenheit fam er feinen eltern: aug 
den Augen (S. 121); fie mußten wieder umfehren, um ihn 
zu fiihen, und fanden ihn mitten unter den Lehrern; feine 
Antwort auf ihre Vorwürfe verrathen, daß ſchon damald das 
Bewußtfein von feiner innigen Gemeinfchaft mit Gott in ihm ' 
aufzublühen begann (S. 122). 

Wiederholte Feftreifen nach Serufalem trugen nicht wenig - 
dazu bei, ihn zu feiner künftigen Beſtimmung vorzubereiten, 
feinen Gefichtöfreis zu erweitern und mit dem Zuftande des 
über alle Länder zerftreuten jüdifchen Volkes ihn befannt zu 
wachen; frühzeitig ſchon mag er auf dieſem Wege mit deffen 
Leiden und dem ‘tiefen Berfalle des religiöfen und fittlichen 
Lebens befannt geworben fein (S. 125). Ob er die gelehrte, 
Bildung eines Rabbi genoffen, Täßt fich aus unfern Evange- 
lien nicht ermitteln (©. 125): obgleich er tiefe-Kenntniß der 
heil. Schriften häufig beurfundet, fo ift es doch wahrfchein- 
lich, daß er die Nabbinenfchulen nicht förmlich durchgemacht 
bat, da man ſich mehrmals über feine ‘Weisheit vermunderte 
(S. 126). Seine Erhebung über den befchränften Gefichte- 
kreis des alle andern Völker verachtenden gemeinen Juden⸗ 
thums und fein meſſianiſches Bewußtfein ſcheint ſich in ihm 
insbefondere an der Hand bes Jeſaias und Daniel entwidelt 
zu haben. Die Heuchelei und der fcheinheilige Buchftabendienft 
der Pharifäer mag fchon frühe dazu beigetragen haben, 
frin höheres Bewußtfein zu weden und. zu läutern, vermöge 
defien er fpäter fo entfchieden gegen diefe auftrat (CS. 127); 
den Effenern können wir ebenfalls einen nicht unbedeutens 
den, aber doch wohl nur mittelbaren Einfluß auf feine Bildung 
zufchreiben (S. 128): weitaus das Meifte hatte er ſich ſelbſt 
zu verdanken (S. 129). 


— 
— 


Seine öffentliche Wirkſamkeit begann er damit, daß 
er von Johannes ſich taufen ließ (S. 130). Dieſer Mann 
war unter Herodes geboren, und gewann durch feine (näs 


500 


tere Wirkſamkeit fo große Bedeutung, daß bie chriftliche Sage 
zur Berherrlichung feiner Geburt fich angetrieben fand (S. 78). 
Db er mit Sefu verwandt, ob er älter war, als diefer, oder 
nicht, muß unentfchieben gelaffen werden. Wahrfcheinlich 
wirfte er als Prophet ſchon längere Zeit vor dem öffentlichen 
Auftreten Jeſu (S. 131) und gehörte zu der Selte der Naſi⸗ 
vier (S. 133): er hatte fich ein großes Anfehen erworben 
und hinterließ eine große Anzahl von Schülern. Dem Fürften 
von Galilän, Herodes Antipas, machte er fid) durch die Freis 
müthigfeit, mit welcher er defien unerlaubte Heirath getabelt 
hatte, verhaßt; diefer ließ ihn einferfern und, überliftet durch 
- fein ränfevolled Weib, hinrichten (147), und zwar lange vor 
Jeſu Tode (S. 132). Jeſus ſcheint einige Zeit lang auch 
- fein Sünger gewefen, und erſt nadı deſſen Hinrichtung öffent 
- Lich aufgetreten zu fein (S. 143). 

Das Taufen des Johannes war nicht aus ber ohne 
Zweifel fpäter erft entitandenen. Profelytentaufe hervorgegatis 
gen, fondern ficherlich, wie ähnliche Wafchungen bei den Ele 
nern, aus der Deutung bildlicher, altsteftamentlicher Ausdrüde, 
in welchen vom jüdifchen Bolfe, wenn ihm Gott wieder gnäs 
dig werden folle, Baden und Abwaſchen der Sünden verlangt 
wurde. Denn Sohannes wollte auf die mefftanifche Zeit vors 
bereiten, und ſah fich als Borläufer des bald zu envartenden 
Meifias an (S. 134); daß Jeſus dieſer Meſſias fei, Davon 
hatte er bei feinem Auftreten wohl noch Feine Ahnung (S. 13735 
allerdings aber muß aus näherer Befanntfchaft mit Jeſu diefer 
Gedanke allmälig ſich in ihm entwidelt haben (S. 143). Je⸗ 
doch wurde er, da er noch ganz jüdiſche Meſſſashoffnungen 
hatte, fpäter im Gefängniffe wieder an ihm irre; Denn ale 
leidenden und durch -den Tod erlöfenden Meſſias vermochte 
er ihn nad) feinen Borftellungen nicht aufzufaflen (S. 139). — 
Uebrigens wurde der Täufer felbit von Vielen für den Meſ⸗ 
ſias gehalten, von Andern für Elias (S. 145) x. : Jeſus ſtellt 
ihn zwar über die Propheten des alten Teſtamentes, doch 
aber den Gliedern des Meifiasreiches nicht glei (S. 116). 





u Jeſus unterzog fid) der Taufe, weil er darin Die Erfüllung 
einer altsteitamentlichen Weifung, daß der Meffias bar 


501 

Salbung und. Weihe in feinen Beruf eingeführt werden. müffe, 
rblicte (S. 150): für den Sündlofen aber kann er fi 
yamals noch nicht gehalten haben (S.149). Nach der Taufe, 
yon welcher wir nur mythiſche Erzählungen befiten, zog er 
ich eine Zeit lang zu flillen Betrachtungen in bie Einfamfeit 
mrüd (©. 166), wo er fidy für feinen hohen und: fchweren 
Beruf vorbereitete (S. 159). Denn mit der Ueberzeugung, 
aß er der Meffias fei, trat er auf; allein er hatte Feine pos 
itifchen Plane, wie aus vielen Umftänden und Neben hers 
orgeht; vielmehr erklärte er fehr beftimmt, daß fein Reich 
zicht von diefer Welt fei (S. 193). Den Namen „Meffias“ 
Aßt er fich zwar öfterd gefallen, er felbft nennt fich aber 
aiemals fo, eben fo wenig „Sohn Davids“, weil er beforgte, 
yadurc die ihm fremden Erwartungen eines mit irdifchem 
Glanze umgebenen Meffiagreiches zu nähren CS. 184). : Ges 
möhnlich bezeichnete er ferne Perfon mit dem Namen „Mens 
[chenfohn“ (S. 182), oder ald „Sottesfohn“ (S. 184); zwei 
Bezeichnungen, weldye ganz dazu geeignet waren, die Vorftels 
ungen von der auf das Weberfinnliche gerichteten Beſtimmung 
des Meſſias zu nähren: er wollte damit fagen, daß er in ber 
innigften Gemeinfchaft mit Gott ftehe, in welche der Menfch 
ſich verfeken fünne (S. 185); daß er von Gott zu den Men: 
ſchen gefandt fei (S. 186); daß er von Anfang an mit ihm 
in der innigften Gemeinfchaft geftanden habe (S. 187). Nur 
darum, weil er feinen meffianifchen Beruf weit über die herr- 
fchenden finnlichen Erwartungen des jüdifchen Volkes hinaus 
erweiterte, wurde er ſo oft von diefem Volke verläftert und 
verfolgt (S. 186). 

Auch feine nächften Schüler und Freunde, die Apoftel, 
waren nicht fähig, fidy zu der Höhe des mefftanifchen Bewußt⸗ 
feins, auf der Sefus ftand, zu erheben: fie konnten ſich, fo 
lange ihr Herr und Meifter lebte, von ihren irdifchen Erwar⸗ 
tungen nicht losreißen (S. 189. Daher erkannte Jeſus frühe 
ſchon die Nothwendigkeit feines Todes: dieſer war bas eins 
ige Mittel, durch welche er die Meffinsidee femer Volksge⸗ 
noffen von ihren irdifchen Beftandtheilen zu reinigen vermochte 
(S. 191). Aus diefem Grunde wies er auch feine Junger 
nicht fogleich und nicht mit ganz beſtimmten Worten auf feine 


5 


2 


Peifianität hin; er if von dem Bekenntniſſe des Petrus, daß 
er der Meſſias ſei, überrafcht (S. 189), und verbietet ſehr 
häufig den von ihm Geheilten, etwad von ber Heilung be⸗ 
kaunt werben zu laflen (S. 190). 





Seins wirkte zuerft und wahrſcheinlich andy die laͤngſte Zeit 
in Saliläa (S. 169), und zwar fcheint das volfreiche Ras 
yernaum am See vorzugsweife fein Wohnort gewefen zu fein 
(S. 175). Jedoch iſt er ohne Zweifel mehrmald and, in 
Judäa, und namentlich in Serufalem, bei den hohen Feſten 
lehrend aufgetreten (S. 174), wofür fchon feine genauen Ber 
hältniffe zu Mehreren, die in oder bei der Hauptſtadt wohns 
ten, Beweife find (S. 175). Wie lange er wirkte, von der 
Taufe bis zum Tode, ift nicht mit Sicherheit zu ermitteln 
(S. 179), wahrfjcheinlic, jedoch zwei bis drei Sahre (S. 178) 
lang. Auch ift es nicht möglich, Die genaue gefchichtliche Zeits 
folge der Begebenheiten mit Sicherheit zu ermitteln (S. 181); 
woran befonderd die Eigenthümlichfeit der drei eriten Evans 
gelien Schuld ift, die ihre Erzählungen weit mehr nad, innes 
rer Verwandtſchaft (S. 181) und nad) der Dertlichkeit (S. 175), 
ale nad) der Zeitfolge ordneten. 





Belanntlidy it das mofaifche Geſetz durch bie Etiftung 
Jeſu thatfächlich aufgehoben worden, und ohne Zweifel war 
das auch fein Plan (S. 194). Zwar beobachtet er für feine 
Perſon die Hauptpunfte des Geſetzes; eben fo feine Sünger 
(S. 195); allein er that dieß wohl nur deßwegen, weil er 
ſich von feinem Volke nicht losreißen, dag Geſetz nicht gewalt⸗ 
ſam umftoßen wollte, vielmehr die Ueberzeugung hatte, vor- 

ber belebenden Wärme feiner Lehre werde die Hülle des In⸗ 
denthums von felbft verſchwinden (S. 197). Zwar verfichert 
er, er wolle das Geſetz nicht auflöfen, fonbern erfüllen (S. 195); 
allein dieß verftcht er nur von dem reinen, ewig wahren 
Kern der alten Moſeslehre CS. 196); dem häufig ſpricht 
er aus, daß die Form des Judenthums nicht beftchen könne 
(S. 197)5 daß der Tempel, der Mittelpunkt derfelben, werde 


3083; 

jeeftort „werben, und daß ſchon jetzt bie Zeit erſchienen fei, 
wo man Gott im Geiſte und in der Wahrheit aubete (&. 196), - 
. Daher ift auch nicht Daran zu zweifeln, daß Jeſus auch 
den_Heiden in fein neues Gottesreich den Zutritt öffnen 
wollte (S. 198), wenn er auch im Anfange feiner Wirkfams 
feit diefelben noch ferne hielt CS. 199); dieß Lebtere that er . 
offenbar nur darum, weil er wollte, daß vor. der Hand erft 
unter den, jedenfall mehr vorbereiteten, Tuben feine Lehre 
Wurzel faffe, und erft fpäter, wenn fein Tod bie Vorftelluns 
gen feiner Anhänger geläutert hätte, fich auch - weiter verbreite. 
Die. Bedenflichkeit der Apoſtel, Heiben aufzunehmen, mag 
darin ihren Grund haben, daß fie glaubten, dieſe müßten zus 
vor durch die Beſchneidung dem Bolfe Iſraels ſich einverlei, 
ben laſſen; eine Vorſtellung, welche auch die aͤlteren Propheten 
hatten, und über bie ſich Jeſus niemals Deutlich erklärt haben 
mag (S. 200). 

Gewiß iſt es ferner, daß Jeſus mehrfachen Verkehr mit 
den Samaritern hatte; ja fie ganz beſonders fähig hielt 
für Auffaflung feiner reineren Meffiasidee, weil fie nicht fo 
ftarr an den politifchen jüdifchen Intereſſen hingen, als 
die übrigen Juden (5.203): er felbft verkündete feine Heils⸗ 
Ichre mehrmals unter denfelben, wie z. B. die Unterrebung 
mit dem famaritifchen Weibe zeigt (S. 200), welches in ihm 
freudige Hoffnung auf eine reiche Ernte in Samarien erregte 
( S. 203); eine Hoffnung, die auch fpäter wirklich in Erfüls 
ung ging (S. 201). Wenn er dennoc, feinen Süngern eitt- 
mal gebot, Samarien nicht zu berühren, fo mag dieß feinen 
Grund darin haben, daß er fie, wegen der ihnen noch innes 
wohnenden jüdifchen Vorurtheile, noch nicht für unbefangen 
genug hielt, um jett fihon, ehe fein Leiden und Sterben fie 
auf einem höheren Standpunkte befeftigt hatte, recht ſegens⸗ 
reich unter den Samaritern zu wirken (©. 203). 


Schon fehr bald nach dem erften Auftreten Sefu fchloffen 
ſich zu ungertrennlicher Gemeinfchaft einzelne Männer ale 
Schüler und Jünger an ihn an (S. 209; fie waren fänmts 
lich Leute niederen Standes, einige unter ihnen z. B. Fiſcher 


504 


(S. 206): — daher der ſchöne Ausſpruch Jeſu: „sch will 
euch zu Menfchenfifchern machen“ (S. 209). Auch ein Zölls 
ner befand ſich unter ihnen, der ihm mit großer Bereitwillig⸗ 
keit nachfolgte (S. 211); überhaupt näherte er fich Diefer vers 
achteten Menſchenklaſſe zum Aerger feiner Feinde mit unbefans 
gener Herzlichkeit, wovon wir mehrfache Beweife in einzelnen 
Ausſprüchen (S. 212) und. Erzählungen, 3. B. von dem Sol 
ser Zahäaus (daf.), haben. 

Aus der Mitte feiner Jünger wählte er als engeren Kreis 
die zwölf Apoftel aus; dieſe Zahl, wahrfcheinlicd, eine. Hins 
weifung auf die zwölf Stämme des Volkes, hatte ſich fo feſt⸗ 
geftelt, daß fogleich nach der Himmelfahrt- durch die Wahl 
des Matthias die mit dem Verrathe des Judas entftandene 
Lücke wieder ausgefüllt wurde (S. 213). Die Beftimmung, 
welche er diefen zwölf Männern gab, war im Weſentlichen 
folgende: fie follten in unzertrennlichem Umgange mit ihm zu 
Berbreitern feiner Lehre herangebildet werben, und vorzuges 
weife durch Taufe neue Jünger aufnehmen (©. 214). Sie 
hatten alfo die früheren Gewerbe ganz aufgegeben; daß fie 
dennoch ſich ernähren konnten, erflärt ſich aus der großen 
Saftfreundfchaft im Morgenlande, aus der Begieitung vers 
möglicher Weiber, die Jeſum und die Seinen mit ihrer Habe 
unterftüßten; endlich hatte die Geſellſchaft eine eigene Kaffe, 
aus welcher man noch Arme unterftüßen konnte (S. 214). 

Unter diefen Zwölfen werden Einige mit befonderer Aus⸗ 
zeichnung genannt; Jakobus, Sohannes und Petrus biß 
ben gewiffermaßen einen engeren Ausfchuß, den bei manchen 
Gelegenheiten Sefus insbefondere um fich verfanmelte. Den 
entfchiedenften Borzug hatte Petrus, wegen feines klaren Geis 
fies, der ihn zuerft unter Allen Sefum ald den Mefflad er; 
fennen ließ, und wegen feines feurigen Gemüthes, mit welchem 
er ſtets zu muthiger That entfchloffen it CS. 215). Bon 
den Uebrigen ift ung nicht viel mehr als ihre Namen, deren 
Verzeichniß und die Evangelien geben (S. 217), bekannt. 


—— — — 


Diele Reden und einzelne Ausſprüche Jeſu haben. uns 
feine Lebensbefchreiber überliefert; die föftlichfte Hinterlaſſen⸗ 


03 
fchaft, deren Werth den der erzählten Begebenheiten aus feinem 
Leben weit überwiegt. Wenn auch Vieles, was Jens gefpros 
- chen, nicht immer in dem wahren. Zufammenhange und an 
der rechten Stelle von den Evangeliften erzählt wirb, fo ift 
doch, namentlich das von den drei erften Leberlieferte, zum 
allergrößten Theile aͤcht und von Jeſu wirklich fo geſprochen 
worden. Die herrlichſten Schäge find enthalten in der foges 
nannten Bergpredigt (S. 220) und in den unvergleichlichen 
Parabeln (©. 228). Die erftere gibt ung Lukas wohl am 
richtigften wieder, während Matthäus nad) feiner Weiſe Vie⸗ 
lerlei in fie eingeftreut hat, was Jeſus bei andern Gelegens 
heiten geiprochen haben muß (S. 222): — am meiften ale 
ächte Reden Jeſu find die kurzen Sentenzen, Bilder und leicht⸗ 
behaltbaren inhaltfchweren Stüde, wie z. 3. die Seligfeiten 
‚im Anfange der Bergprebigt und das Baterımfer, zu betrach⸗ 
ten (S. 223, 225). Wir denfen und die Sache am einfach 
ſten fo, daß die fürnigen Reben Jeſu durch die Fluth der 
mündlichen Ueberlieferung zwar nicht aufgelöst werden konn⸗ 
ten, wohl aber nicht felten aus ihrem natürlichen Zufanmens 
hange losgeriſſen, von ihrem urfprünglichen Lager wegges 
ſchwemmt, und als Gerölle an Orten abgefeßt worden find, 
wohin fie eigentlich nicht gehörten (©. 226). — Vorzüglich 
ächte Stüde find auch die Streitreden, welche Sefus nadh 
feinem Einzuge in Serufalem zu halten veranlaßt ift: denn 
fie find ganz im Geiſte und Zone damaliger rabbinifcher Dies 
putirfunft (S. 238). Wenn wir darin auch Manches finden, 
was wir nicht für vollflommen richtig halten können, fo 
fcheuen wir und nicht, dieß offen zu befennen. Denn chren 
wir Die, eine ganze Welt umgeftaltende Größe und Hoheit 
feines inneren Wefens nicht weit mehr, wenn wir anerfennen, 
daß auch er nicht ganz frei war von den Einfeitigfeiten einer 
Welt, die er überwinden follte? Bewundernswürdig ift nas 
mentlich der Muth, mit welchem er in diefen Reben die mächs 
tigen und gefährlichen Pharifäer angriff (S. 241). 

Weit weniger verbürgt find viele Neben Jeſu im Johan⸗ 
nes⸗Evangelium, weil deſſen Verfaſſer unverkennbar Vieles 
aus feinen eigenen Betrachtungen über Sefum in das von 
ihm. Gefprochene eingeflochten hat (©. 243). Sie haben meift 


bis zu einem gewiffen Punkte die Geſpraͤchsform, wobei ges 
wöhnlich. Jeſu Ausſpruͤche von den Andern ftatt in geifligem, 
viehnehe in grob. irdiſchem Sinne gefaßt werden; Dann ‚aber 
verliert fi der Evangeliſt unvermerft in eigene Betrachtun⸗ 
gen CS. 246); gewöhnlicd über das bei ihm vorherrſchende 
Grundthema von dem -Verhältniffe Jeſu zum Bater (©. 247): 
daher „wiederholen ſich hier diefelben Gedanken fo oft (©. 249): 





- Bon eigentlihen Begebenheiten aus. bem Leben Jeſu, 

welche nicht wunderbare find, und nicht. in Die Tage. feines Leidens 
und Sterben fallen, find nur wenige von den Evangeliften aufbes 
wahrt worben: feine Lehren, feine Wunder umd fein aufopfernder 
Tod waren ihnen. das Wichtigfte. Einzelnes hat fich allerdings ers 
halten, an deſſen Wahrheit wir nicht zweifeln dürfen; 3. B. 
bie Rangftreitigleiten der Sünger, wobei Iefus ein. Kind 
ihnen ald Mufter aufftelt (S. 265); die Freundlichkeit, mit 
welcher. er bie Kinder zu. ſich rief (S. 266); — die Reinigung 
bes Tempels von dem Unfuge ber Berfäufer, wobei ſich der 
- überwältigende. Eindrud, den Jeſus hervorzubringen wußte, 
befonders deutlich zeigte (S. 267); — die Huldigung, weldye 
eine fromme Fran ihm darbrachte, indem fie während eines 
Mahles ihn falbte (S. 269); und Anderes, was zu unbebeus 
tend ift, um hervorgehoben zu werben. — 


—— — — 


Viele Wunder ſoll Jeſus verrichtet haben, obgleich; er 
die Sucht nach Wundern oft tadelte, und ſo oft er ausdrück⸗ 
lich um ein ſolches angegangen wurde, ablehnend antwortete, 
und zwar aus Wehmuth über das verhärtete Geſchlecht, das 
neben feinem geiftigen Wirken noch Wunder zur Beglaus 
bigung feines meffianifchen Berufes verlangte (5.275). Den 
uoch verrichtete er auch unaufgefordert viele wunderbare Heis 
lungen; nämlich folche, die bei genauer Betrachtung nicht 
als wirkliche Wunder erjcheinen, vielmehr nur Ausflüffe folcher 
ganz natürlichen Kräfte find, die in tiefer Verborgenheit wirs 
fen, daher im gewöhnlichen Leben weit weniger beobadys 
tet, und beren Wirkungen, weil fie fo überrafchende find, 


507 


gar gerne ale Wunder betrachtet, werden (S. 276). Eins 
wirfungen Jeſu, die fich aus folhen tief waltenden Kräften, 
3. B. magnetifcher Kraft, erflären laffen, haben wir zu bes 
zweifeln feinen Grund: folche aber, bei denen alle Naturs 
gefete hätten ftille ftehen müfjen, können wir nicht ald wahr 
und wirflich gefchehen annehmen. Wie viel oder wie wenig 
ans den Wundererzählungen wir für wahr halten können, ift 
übrigens fir den Glauben an Jeſu Lehre von keiner Bedeu⸗ 
tung (5. 277). 

Nach obiger Scheidung halten wir auf diefem Gebiete 
Folgendes für wahr und im Allgemeinen beglaubigt: Geiſtes⸗ 
franfe, die Sefus, wie feine Zeitgenoffen, auch. für Befeffene 
hielt (CS. 278), hat er öfters durch den mächtigen Eindruck 
feiner Perfon und feiner Rede wieder geheilt, da die Kranken . 
den feiten Glauben an die von Jeſu angewandte Methode, 
die böfen Geifter zu befchmwören, hatten (S. 283). Dahin ges 
hört die Heilung eines Befeffenen in der Synagoge zu Kapers 
naum nach einer erfchütternden Nede Jeſu (S. 283); — die 
eines oder zweier beſonders ſtark affizirter Kranfen der Art, 
des oder der Gadarener, am galiläifchen See (©. 239; — 
die eines geiftesfranfen ftmmen Knaben (S. 290), und vieler 
anderen (S. 291): jedoch nur folcher, wo die Kranfheit eins 
jig oder doch überwiegend Geiftesfrankfheit war. — Wo 
aber ſchon eine bedeutende Zerrüttung des Nervenfyftemes 
eingetreten war und mit rein fürperlichen Gebrechen verbunden 
war, da läßt fich eine Heilung durch bloße Worte Jeſu nicht 
annehmen (S. 291). — Ein Gliederfranfer wurde von 
ihm, wahrfcheinlich durch eine ber magnetifchen ähnliche Heils 
fraft, wieder hergeftellt (S. 299. — 

Die Heilungen von Ausſätzigen durch bloße Worte 
(S. 297, 298); — die von Blinden (S. 300), oder gar 
die eines Blindgebornen (S. 303) ſind als Sagen zu betrach⸗ 
ten. — Möglich iſt es allerdings, daß Kranke auch nur durch 
feine Berührung geheilt wurden, wenn fie unbedingten Glau⸗ 
ben an feine Heilkraft befaßen CS. 307); baß er aber auch 
and der Ferne durch bloßen Befehl Kranfe wieder gefund 
gemacht habe, kann nicht für möglich gehalten werden (S. 312); 


308 


eben fe wenig bie lie Wieberferfeiung eines feit 38 Jah⸗ 
ren Gelähmten (S. 315). 

Ohne Zweifel hat Sefus mehrmals auch am Sabbat 
Heilungen vorgenommen und ſich dadurch Borwürfe zugezogen, 
die er durch fchlagende Gründe widerlegte (S. 314). 





Todtenerwedungen, wie die der Tochter des Jairus 

(S. 316), des Tünglings zu Rain (S. 318) und des Lazarıd 
(5. 319), find meffianifche Mythen (S. 322): die Erzählungen 
von allen dreien find auch fonft vol Unwahrfcheinlichkeiten und 
wenig verbürgt (S. 323). 
Die Seewunder: die Beichwichtigung eines _Sturmes 
(S. 328), das Wandeln auf dem See (S. 330), das Fangen 
eines Fifches mit einem Geldſtücke im Munde (S. 334), find 
gleichfalls Miythen, die vieleicht finnbilblichen Neden ihren 
Urſprung verbanfen. 

Bon. den wunderbaren Speifungen mit wenigen Broben 
(©. 335) gilt dasfelbe (S. 340); fo wie von der Verwand- 
lung des Waffers in Wein (S. 341) und von der Bers 
wänfhung bes Feigenbaumes (©. 345). 





- Bei feinem lebten Feltbefuche in Serufalem ward Jeſus 
von feinen Feinden gefangen und zum Tode verurtheilt. Wels 
hen Weg er aus Galilaͤa dahin einfchlug, laͤßt fich nicht mehr 
mit Sicherheit ermitteln (CS. 358). Bei feinem Cinzuge in 
die Hauptitabt wurde er von vielem Bolfe mit Subel begrüßt 
(S. 360), und zwar ald Meſſias, woran feine Keinde, bes 
fonders die Pharifäer, großes Aergerniß nahmen (S. 362). 

Es entfteht zuwörderft die Frage, ob Sefus vorher wußte, 
daß er jest feinen Tod durch die Hände feiner Feinde finden 
- würde? und zwar den Tod am Kreuze (S. 383)? Durd 

-eine verfländige Berechnung konnte er allerdings feinen ges 
‚waltfamen Tod mit großer Wahrfcheinfichkeit vorherfehen: die 
berrichende Priefterpartei hatte er ſich zur unverfühnlichen 
Feindin gemacht, und das Beifpiel früherer Propheten mußte 
ihn ahnen laffen, was auch er zu fürchten habe (S. 366): er 


509 


erkannte benfelben ald eine Nothwendigkeit, weil ohne .ihn feine 
Ideen von einem rein geiftigen Gottesreiche nie erfaßt. worden 
wären (©. 368). Borausgefagt hat er ihn aber audy feinen 
Süngern nicht, weil Diefen fein Kreuzestob fo völlig unerwartet 
fam (daf.); überhaupt glaubte außer Jeſus damals wahrfcheins 
lidy Niemand an einen leidenden und fterbenden Meffias 
(S. 367). Daß er aber mit Beftimmtheit habe wiffen können, 
er werde grade jest und auf Diefe Weife enden, muß vers 
neint werden (S. 365); noch weniger fanıı er feine Aufers 
ftehung vorhergewußt, oder gar vorhergefagt haben (©. 369, 
373). — 

Dagegen unterliegt es Feinem Zweifel, daß er den Unters Ä 
gang des jüdifchen Staates, fo wie des Tempels in Jeru⸗ 
ſalem mit feierlicher Beſtimmtheit vorausgeſagt hat, und zwar 
als nahe bevorſtehend; — ferner glaubte er, daß die Zerſtö⸗ 
rung Jeruſalems auch das Weltende herbeiführen werde, 
indem er nach jüdiſcher Vorſtellung das Heiligthum des Tem⸗ 
pels als den Mittelpunkt der jetigen Welt betrachtete, die 
mit dem Einfturze dieſes Mittelpunftes gleichfalls in Trümmer 
zufammenftürzen müfle (S. 378). Zu diefer Vorausfagung 
fonnte er gar wohl durd, Betrachtung der Vergangenheit fos 
wohl, wie des damaligen unverbefferlichen Zuftandes der ftarren 
Juden in religiöfer und fittlicher Beziehung gelangen (S. 381). 


Als erbitterte Feinde Jeſu erfcheinen in allen evangelis 
fchen Berichten die Pharifäer und Schriftgelehrten: neben ihnen 
die Priefter und Aelteften des Volkes (S. 383). Am frühes 
ften gaben feine Sabbatheilungen Anftoß; der Haß wuchs, 
je mehr er dem falten Geremoniendienft entgegenwirfte, und 
fi) als den zur Erlöfung des Volkes aus biefen Fefjeln Bes 
rufenen darftellte; der Plan zu feinem Sturze reifte, ald dag 
Volk bei feinem letzten Einzuge in Sernfalem ihn mit fo laus 
tem Subel begrüßte (S. 383). Sein Untergang ward befchleus 
nigt durch den ſchwarzen Verrath eines feiner Jünger, des 
Judas Ifchariot (S. 385), der ihn wenige Tage vor dem 
Pafcha feinen Feinden überantwortete; Gewinnſucht ‚fcheint 
die Hanpttriebfeber zu biefer fchändlichen Handlung gewejen 


510 - 


m fein (S. 388). "Lange vorher kann Jeſns bie ſchwarze 
. That des Judas nicht gewußt, höchſtens ein gewiſſes Miß⸗ 
trauen gegen ihn gehabt haben, weil ex ihn ſonſt in dem Kreiſe 
feiner Jünger nicht geduldet hätte (S. 386). — 

Unmittelbar vor feiner Verhaftung nahm Jeſus bei ber 
letzten Abendmahlzeit von feinen Süngern Abſchied: wahr, 
fcheinlich war Diefe aber nicht das jüdifche Paſchamahl, 
ſondern fand am Abende vorher, jedenfalls aber am Donners⸗ 
tage unſerer Woche, zwei Tage vor dem Sabbat, ſtatt 
(S. 392). Hier war es, wo er das Abendmahl als ein von 
feinen Süngern fortwährend zu feierndes Gedächtnißmahl 
einfeßte, wobei er feinen Tod als Bunbesopfer, als höheres 
Gegenbild der blutigen Thieropfer des alten mofaifchen Bundes 
darſtellte (S. 398). Wahrfcheinlich fchwebte ihm in der. Bors 
ahnung feines gewaltfamen Todes fchon längere Zeit eine 
ſolche Gedächtnißfeier vor der Seele; der beftimmte Entfchluß 
zur Stiftung derfelben aber mag erft an jenem Abende, wo 
er feinen Tod als ganz nahe bevorftchend anfah, zur Neife 
gefommen fein (S. 399). Daß Judas ihn verrathen, und 
Detrus in feiner Treue wanken werde, hat er an dieſem feier 
lichen Abende in allgemeinen Ausdrüden feinen Jüngern vors 
hergefagt (S. 397). 

Bon dem Mahle weg, das in einem Haufe in Jeruſalem 
gehalten wurde, begab er ſich noch in ber Nacht nadı Geth⸗ 
femane, einem Garten in der Nähe der Stadt (S. 399). 
Hier war ed, wo er, erfchüttert durch die Vorausſicht feines 
nahen martervollen Todes, auf Augenblide zu zagen begann, 
feine Angft aber im Gebete fchnell überwand, und nun mit 
heiterer Seelenruhe feinem Schidfale entgegenging (S. 400). 
Bald nachher Fam, was Jeſus richtig vorausgefehen hatte 
(S. 406), Iudas in Begleitung von bewaffneten Schaaren, 
um Sefum zu verhaften; diefer gab ſich ohne Gegenwehr feis 
nen Feinden hin; einer feiner Sünger aber zog das Schwert 
und verwundete einen Knecht (S. 407). Als Sefus gefangen 
genommen und hierauf hinweg geführt wurde, flohen feine 
Jünger vol Angſt davon. Bon den fpäteren Scyidfalen des 
Verräthers haben wir Feine zuverläßige Kunde (S. 415). _ 

Iefus ward zum Hobenpriefter Kaiphas gebracht und 


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daſelbſt fogleich von dem verfanmelten Synedrium in Verhoͤr 
genommen, wobei ihm vorzüglicy zum Vorwurfe gemacht wurde, 
er behaupte der Meſſias zu fein: dieß -gefteht er: mit aller 
Ruhe ein (S. 410); zu feiner Verurtheilung, die nach kurzer 
Zeit über ihn ausgefprochen wurde, trugen am meiften falfche 
Zeugen bei, welche behaupteten, Jeſus habe ben Vorſatz ges 
äußert: das Heiligthum des Tempeld gewaltfant. zu zerftören 
(S. 409). Nach feiner Verurtheilung wird er von den Dies 


nern des Gerichted auf das Schmählichite mißhandelt, was . 


er mit würdevollem Schweigen erbuldet (S. 410). — Inzwis 
fhen hatte Petrus, begierig den Ausgang der traurigen 
Angelegenheit zu erfahren, fich heimlich in den Hof des Ho: 
henpriefterö begeben, wo man ihn als einen Anhänger Jeſu 


erfannte, was er aber mehrmals entjchieden abläugnete; bald - 


jeboch bereute er feine augenblickliche Schwäche (©. 411). 
Am frühen Morgen fam das jüdifche Gericht nochmals 
zufammen, um über die Vollziehung des Urtheild zu berath: 
fchlagen (S. 409): Jeſus wird hierauf zu dem Landpfleger 
Pontius Pilatus mit dem Begehren geführt, an. ihm .die 
- Hinrichtung zu vollziehen. Nachdem Pilatus die von den Sur 
den vorgebradhte Anklage, Jeſus gebe ſich für den König ber 
Suden ans (S. 415), vernommen hat, befragt er Jeſum dars 
über und erflärt denfelben fodann für unfchuldig, da er erfahs 
ren, in welchem rein geiftigen Sinne Jeſus jene Benennung 
feiner Perfon verftehe. Daher -erbietet er fich, Jeſum frei 
zu laffen; allein der wüthende Haufen der Suden will davon 
nichts. wiffen (S. 417), und droht fogar dem Statthalter, ihn 
bei'm Kaifer zu verflagen (S. 419). Dieß wirkte, und Pilatus 
übergibt nun Sefum den Soldaten, um ihn zu kreuzigen; vors 
her aber wird er noch nach römifcher Unfitte gegeißelt (S. 418), 
und fodann auf empörende Weife verfpottet, indem man ihn 
mit Krone und Königsmantel ausſchmückt (S. 419). Das 
Kreuz muß ein Anderer, ein gewifler Simon, tragen, da 
Jeſus zu fchwach dazu ift CS. 420); auf Golgatha anges 
fommen, wird er gefreizigt, und mit ihm noch zwei andere; 
fehr wahrfcheinlich wurden auch feine Füße mit Nägeln durch⸗ 
bohrt: — darauf verloofen die Kriegsknechte feine Kleider 
unter ſich (S. 420), und man heftet am Kreuze eine Snfchrift 


sı2 
an, worauf fein vermeintliches Vergehen bezeichnet war (©. 423). 
‚Während er am Kreuze fhmachtete, ward ihm 
gereicht, den man nad jüdifcher Sitte den Hinzurichtenden 
zur Betäubung des Schmerzes zu geben pflegte; Jeſus ver⸗ 
fchmähte ihn (S. 421). Im feinen Schmerzen mußte er noch 
die Spottreben roher Feinde vernehmen (S. 424). Er ver 
ſchied mit. ftiller Ruhe, die felbft ein römiſcher Mi 
bewundern mußte (S. 429), nachdem er Gott- feinen Geift im 
Gebete empfohlen hatte; feine legten Worte waren: „Es if 
vollbracht!“ (S. 425). — Wahrfcheinlic, war er um 9 Uhr 
Vormittags gefrenzigt worden, ftarb um 3 Uhr bes Nachmit⸗ 
tags, und warb um 6 Uhr vom Kreuze ‚herabgenomnten 
(S. 426). Daß man ihm vorher die Seite mit einer Lanze 
durchſtoßen, kann nicht mit Gewißheit ‚behauptet werden 
(8.431. 
Nach jüdiſchem Gebrauche Hätte nun Jeſu veichnam auf 
der Richtſtaͤtte ſelbſt verſcharrt werden ſollen; allein Joſeph 
von Arimathaͤa, ein angeſehener Mann und geheimer Anhaͤn⸗ 
ger Jeſu, erbat ſich die Leiche von Pilatus, erhielt dieſelbe 
und beftattete fie ſofort noch am Abende in einem anftändigen 
Grabe, wobei ihm mehrere galiläifche Weiber behilflich waren 
(S. 432). 

Alle Evangelien berichten, daß Jeſus aus dem Grabe 
wieder auferſtanden (S. 437), und vielen feiner Anhaͤn⸗ 
ger erfchienen fei CS. 443). Da wir aber ed für durch⸗ 
aus unmöglic; halten müffen, daß die Seele eined wirklich 
Seftorbenen in den Leichnam wieder zurückkehren könne (S.452), _ 
fo müffen wir eind von Beiden, den Tod oder die Aufers 
ftehung, in Abrede ftellen: d. h. wenn Sefus wirklich tobt 
war, fo fann er nicht auferftanden fein, ober wenn er 
wieder aus dem Grabe fih erhob, fo kann er nicht wirklich 
todt geweien. fein (S. 453) *2). Obgleich man in neuerer 
Zeit mehr dahin neigt, den Tod Sefu zu läugnen und einen 
bloßen Scheintod anzunehmen (S. 453), fo halten wir es 


Ich muß den geneigten Leſer dringend erfuchen, ©. 453, 
8.720. u. durch Einfchiebung des Wörtchens „nicht“ vor 
„wirklich“ einen ganz ſinnſtörenden Druckfehler zu verbeſſern. 


513 

boch für wahrfcheinlicher, daß er wirklich geftorben, aber 
nicht wieder auferftanden fei. Denn die Zeugniffe für feinen 
Tod find zu beftimmt; die für feine Auferſtehnng bagegen fehr 
unbeſtimmt und voller Widerſprüche (S. 454); namentlich 
Iaffen fich die Nachrichten über die einzelnen Erfcheinungen 
Jeſu nadı dem Tode durchaus nicht mit einander vereinigen 
(S. 446) und die evangelifchen Vorftellungen von der Be- 
Ichaffenheit des Leibes Jeſu nach der Auferftehung find mit 
den Geſetzen eined vernünftigen Denfens durchaus umver- 
träglich (S. 451). Das aber bleibt unläugbare Thatfache, 
daß die Jünger Jeſu die vollfommene Ueberzeugung von 
feiner Auferftehung gewonnen hatten (S. 455), daß dieſe 
Ueberzeugung ſich erft einige Zeit nach feinem Tode unter 
ihnen entwidelte, und daß nur fie ihnen den unbezwinglichen 
Muth, einflößte, mit welchem fie aller Welt verfündeten, ihr 
Sefus, der Gefreuzigte, fei der Welterlöfer Meffias 
(©. 458). Auf welche Weife diefe Ueberzengung ſich allınälig 
gebildet und befeftigt haben mag, ift ©. 456 ıc. auseinander 
gefebt worden. 

Es verſteht ſich hernach von felbft, daß aud) die Himmels 
fahrt Jeſu, die überdieß nur von Markus und Lukas erzählt 
wird (©. 462), in das Gebiet der chriftlichen Sage gehört 
(S. 465). 


Indem wir nad) dieſem, eine gebrängte Darſtellung des 
geſchichtlichen Inhaltes der evangeliſchen Berichte enthal⸗ 
tenden, Auszuge wieder bei der Frage nach dem Verhältniß 
der Geſchichts forſchung zum Glauben, welche den Inhalt 
der Schlußabhandlung bildet, angelangt ſind, können wir nicht 
umhin, das Endreſultat derſelben als beruhigenden Schluß- 
ſtein mit den eigenen Worten des Dr. Strauß auszuſprechen. 
Sein Aufſatz: „Vergängliches und Bleibendes im Chriſtenthum“, 
der in der kleinen Schrift: „Zwei friedliche Blätter von Dr. 
D. F. Strauß, Altona 1839“ enthalten ift, und den wir dem 
Lefer nicht genug empfehlen fünnen, fchließt mit den Worten: 

„So wenig alfo die Menfchheit jemals ohne Religion fein 
„wird, fo wenig wird fie je ohne Chriftum fein; denn Religion 
haben wollen ohne Chriftun, wäre nicht minder wide Kwhd 

II. - 33 


5143 

als der Poefie ſich erfreuen wollen ohne Bezugnahme anf 
Homer, Shakespeare u. f. f. Und diefer Chriſtus, fofern er 
unzertrennlich ift von der höchſten Geftaltung der Religion, ift 
ein hiftorifcher, Fein mythifcher; ein Individnum, fein bloßes 
Symbol. Zu diefem gefchichtlich perjönlichen Chriftus gehört 
nur dasjenige aus feinem Leben, worin ſich feine religiöfe 
Bollendung darftellte: feine Reden, fein fittlicheg Handeln und 
Dulden. Was in feinem Handeln mit dem Sittlichen nicht 
unmittelbar zufammenhängt, wie feine Wunder; noch mehr, 
was, flatt aus feinem Innern hervorgegangen zu fein, nur 
aͤußerlich an ihn herantrat, wie fein Tod als äußere Chats 
fache und abgefehen von der an demfelben erprobten Geſinnung 
Jeſu; wie ferner feine Auferftehung, Himmelfahrt, kann einen 
relisiöfen Werth nur durch fombolifche Deutung gewinnen, 
weldye auf verfchiedenen Entwidlungsftufen der Arömmigfeit 
und des Denfend verfchieden ausfallen wird. — Alfo feine 
Furcht, ed möchte Chriftus uns verloren gehen, wenn wir 
Manche von dem, was man bisher Chriftenthum nannte, 
preiszugeben uns genöthigt finden! Es bleibt ung und Allen 
um fo ficherer, je weniger wir Lehren und Meinungen ängftlich 
feithalten, welche dem Denfer ein Anftoß zum Abfall von 
Ehrifto werden können. Bleibt uns aber Chriſtus, und bleibt 
er und ald das Höchſte, was 'wir in religiöfer Beziehung 
fennen und zu denfen vermögen, ald derjenige, ohne deſſen 
Gegenwart im Gemüthe feine vollfommene Frömmigkeit möglich 
it; nun, fo bleibt ung in ihm doch wohl das Wefentlice 
des Chriſtenthums!“ — — | 


515 


II. Anmerkungen in olphabetifcher Orb: 
nung. | 


Borbemerfungen. 


Es fcheint mir nöthig, einige Bemerkungen voranzuſchicken, 
Damit der Lefer zum Voraus wiffe, was und wie viel er in 
Diefen Aumerfungen zu erwarten habe. | 

Sch mußte mich einzig darauf befchränfen, über Punkte, 
welche in das Gebiet der Theologie einfchlagen, gang furze 
und gedrängte Nacweifungen und Belehrungen zu geben, weil 
ich mich fonft zu weit hätte ausbreiten müflen. Innerhalb 
diefer Begränzung meines Planes aber wird man hoffentlich 
feinen Artifel vermiffen. In Bezug auf neutsteftamentliche Ge⸗ 
genftände machte ich mir zum Gefeße, alles dasjenige aus⸗ 
zufchließen, was aus dem Werfe felbft, wenn auch an ver- 
fehiedenen Stellen, ſchon hinlänglich erfannt und erklärt wer- 
‚den kann: daher bficben auch die Namen foldyer Sachen und 
Perſonen ansgefchkoffen, über welche wir, außer der zufälligen 
Erwähnung im neuen Teſtamente, nichts Weiteres wiffen. 
Wenn alfo der Lefer 3. B. die im Borübergehen genapkıten 
Rufus und Alerander u. A. unter den Anmerkungen nicht fin⸗ 
det, fo möge er dieß nicht für ein Verſehen halten, fondern 
den Grund davon eben darin finden, daß und von Diefen 
Männern nichts al& ihre Namen befannt find. Alle übrigen 
Artifel, 3. B. altsteftamentliche Gegenftände betreffende, muß- 
ten mit möglichfter Kürze, und zwar immer nur mit fleter. 
Berüdfichtigung des einzigen Zwedes diefer Anmerfungen 
behandelt werden, der darin beftand, Nichttheologen mit dem: 
jenigen befannt zu machen, was zum Berftändniffe nur des 
vorliegenden Buches nöthig if. Eine eigentliche, abfolute 
Volftändigkeit wird man alfo hier nicht erwarten dürfen. Das 
her find auch von den angeführten Gelehrten nur Veen 


‚516 


Schriften genannt, welche von dem Strauß’fchen Werke be- 
rückfichtigt worden find. 

Uebrigend bedarf ed der Erinnerung wohl nicht, Daß ich 
feinen Anfpruch Darauf mache, hier Neues geliefert zu haben: 
aus den beiten Hilfsmitteln das Bekannte einfach und faßlich 
zufammenzuftellen, Tag einzig in meiner Abficht. Mit befons 
derem Danke anerfenne ich Die wefentlichen Dienfte, Die mir 
Winer's vortreffliches „ biblifches Realwoͤrterbuch “ Dabei ge 
leiftet hat. 


Abendmahl. Sn der Lehre vom Abendmahle weichen 
die drei Hanptkonfeffionen in der Art von einander ab, baß 
die Fatholifche Kirche Iehrt, Brod und Wein werde in den Leib 
und das Blut Chrifti verwandelt; die Intherifche, Leib und 
Blut Chrifti feien mit und unter jenen Elementen vorhans 
den; die reformirte Dagegen, daß Brod und Wein den Leib 
und das Blut Ehrifti bedeuten follen. 

Abilene, eine Eleine Landfchaft, nördlich von Paläftina, 
in der Gegend des Libanon: ihre Gefchichte ift fehr dunkel; 
zu Sefn Zeiten muß fie noch eigene Fürften gehabt haben, 

‚fpäter ward fie Eigenthum der römischen Kaifer. 

Abraham C1800 vor Chrifti [%]) wird in der altshe 
bräifchen Ueberlieferung ald Stammvater des Volkes und ale 
Begründer des Sehovadienftes dDargeftellt: er war aus öftlichen 
Gegenden nach Kanaan eingewandert, wo er ein Nomabens 
leben führte. Die Erzählungen aus feinem Leben find zwar 
aͤußerſt fagenhaft; jedoch gehen diejenigen zu weit, welche 
felbft feine Eriftenz in Zweifel ziehen. 

Aegypten, das bekannte Land ſüdöſtlich von Paläftina, 
wird hier nur Darum genannt, um zu bemerfen, Daß es durch 
die ganze jüdiſche Gefchichte hindurd, häufig einzelnen in ihrem 
Baterlande bedrängten Juden zur Zufluchtsftätte diente. 

Aehrenleſen. Während das reife Getreide noch auf 
dem Halme ftand, durfte jeder Vorübergehende fo viel. aus⸗ 
raufen, ald er wollte; dieß hatten Jeſu Zünger auch einmal 
am Sabbate gethan. 

Ahasja (885 v. Ehr.), ein Jahr lang König in Juda; 
Sohn des Joram und Vater des Joa. 


+ 817 


Aeltefte. - Unter den jüdischen Königen beftand cin Kol 
legium verfaffungsmäßiger Bolfsvertreter, welche „Die Aclteften“ 
genammt wurden, wenn fie Dieß auch nicht immer den Jahren 
nad) waren. Im neuen Teftamente erfcheinen fie als Beiſitzer 
des großen Synedriums (ſ. d. Anm.). 

Alexandria, die von Alexander di Gr. gegründete Re⸗ 
ſidenz der fpäteren aͤgyptiſchen Könige: fie war von ſehr vielen 
Juden bewohnt, die hier. volle Religionsfreiheit genoffen. Das 
durch, daß Die gebildeten Juden hier auch mit. griechifcher 
Sprache und Wiffenfchaft vertraut wurden, hat dieſe Stadt 
auf die Entwicelung der jüdifchen, und fomit auch der chrift- 
lichen Religionsbegriffe bedeutenden Einfluß gervonnen. | 

Aloger, eine nicht bedeutende altchriftliche Sekte, welche 
den Ebioniten verwandt, bie schre vom Logos (|. d. Anm.) 
in Chriftus verwarf.- 

Amazia (838 —809 9. Ch.), König in Juda, des Joa Sohn; 
er führte fehr unglückliche Kriege mit dem Könige von Sfrael. 

Annas, ein fehr angefehener Mann, ward von den Rös 
mern zum Hohenpriefter eingefegt, mußte fpäter aber dieſe 
Würde an feinen Sohn, dem bald wieder ein Anderer nach⸗ 
folgte, abtreten, behielt jedoch fortwährend großes Anfehen; 
als Sefus hingerichtet wurde, war fein Schwiegerfohn Kaiphas 
Hoherpriefter. 

Anfelm, Erzbifhoff von Eanterbury, einer der berühmteften 
Scholajtifer, deren Weisheit in den legten Sahrhunderten des 
Mittelalters blühte. 

Antichrift, — nad) jüdischer Darftellung ein boͤſer Geiſt, 
der zugleich mit dem Meſſias auftreten und deſſen ſegensreiches 
Wirken ſtören werde; — im neuen Teſtament werden die 
falſchen Propheten ſo genannt, die vor der Wiederkunft Jeſu 
(S. d. A.) auftreten und für den Meſſias ſich ausgeben 
werden. Was fpäterhin vielfach von einem Antichriſt geträumt 
. wurde, gehört nicht hierher. 

Antiochus Epiphanes (175 v. Chr.), König von Sys 
rien, und als folcher Dberherr der Juden cf. d. Anm.), iſt 
berüchtigt durch die Mißhandlungen derſelben; er wollte fie 
zur Annahme der griechifchen Religion zwingen, plünderte den 


518 


Tempel, verbot den mofaiichen Kultus. und flellte im’ Tempel 
heidnifche Götterbilder auf. Die Wuth, mit welcher er dieſe 
Maßregeln durchführte, begeifterte das Volk zum muthigften 
Miderftande, in welchem es fi die Freiheit erfämpfte. 

Antipas, ſ. Herobes. 

Apokryphen nennt man diejenigen bibliſchen Bücher, 
welchen man keinen goͤttlichen Urſprung beilegt, obwohl ſie 
einen heilſamen Inhalt haben mögen: die jüdiſchen ſtehen in 
unſerer Bibel hinter den ächten, die chriſtlichen aber, nämlich 
die von der Kirche. verworfenen, meift fpäteren Evangelien 
werben gar nicht der Bibel beigegeben. Viele derjelben find 
ganz verloren gegangen. 

Apollonins von Tyana, ein griechifcher, durch feine 
firengen Kaſteiungen und unzählige Wunderkuren befannter 
Philoſoph, der kurz nach Jeſu geboren wurde; fogar fol er 
in Nom eine todte Frau wieder erwedt, den Tod bes Kaiſers 
Lomitian in großer Entfernung fogleicy gewußt haben. Cr 
galt noch lange Zeit nach feinem Tode für einen Gott. 

Apoftel, d. h. Gefandte. Zu dem im Buche ſelbſt fchon 
Enthaltenen nur noch Folgendes: Sie waren zum Theil mit 
Jeſu verwandt und feine Sugendgenoffen, einige fchon Schüler 
Sohannes geweſen; mehrere waren verheirathet und haben 
ihre Berufsgeſchaͤfte nie ganz aufgegeben; — alle aber folg— 
ten öfters Jeſu in. die Einſamkeit nach zu ungeflörter Beleh— 
rung. Sie hatten jedoch Die hohen Zwecke Jeſu während 
feines Lebens nie recht begriffen; feir Tod hatte fie völlig zu 
Boden gefchlagen, und erſt der tief wurzelnde Glauben an 
feine Auferftehung ihre Einficht und ihren Muth in die Höhe 
erhoben, auf welcher fie fo Großes für Jeſu Lehre wirkten. 
Ihre weitere Gefchichte gehört nicht hierher. 

Apoftolifches Bekenntniß, das ältefte der chriftlichen 
Kirche, das feinen Namen davon trägt, daß es fchon in ber 
apoftolifchen Zeit entworfen wurde; fpäter wurde ed mehr und 
mehr erweitert, zur Abwehr fegerifcher Lehren. 

Araberfrieg, f. Heroded Antipas. 

Arius, Presbyter in Alerandria, veranlaßte um's Jahr 
320 nach Chriſtus durch feine Lehre, Chriſtus fei zwar göttlicher 
Natur, aber nicht gleichen Weſens mit Gott, eine Reihe der 


519 


‚bitterften Streitigkeiten in der Rica, die fo leidenfchaftlich 
betrieben wurden, daß die Heiden ihrer in den Theatern fpotteten. 
Als Artus, der für einen Keber erflärt worden war, durch 
Gonftantin wieder in bie Kirche aufgenommen werben follte, 
ftarb er ylößlich, wahrfcheinlich Feines natürlichen Todes. 

Archelaus, Sohn Herodes db. Gr., wurde nach feines 
Baterd Tode Fürft von Sudäa, Sdumda und Samaria, wurbe 
im Sahr 6 n. Chr. wegen feiner Tirannei von dem römijchen 
Kaifer abgeſetzt, worauf feine Länder dem römifchen Reiche 
einverleibt wurden (ſ. Römer). 

Auguſtus, römifcher Kaifer zur Zeit, ald Chriſtus gebos 
ven ward; nämlich von etwa 30 v. Chr. bie 14 n. Ehr. 

Ausſatz, eine fürchterlicye Landplage der Juden; eine 
Krankheit; welche zunächft die Dberhaut, dann aber auch den 
ganzen Körper ergriff, oft völlige Auflöfung herbeiführte, 
fehr anſteckend war und felbit bis auf die Nachkommen bes 
vierten Gliedes forterbte. Daher hatte das mofaifche Gefek 
fehr fcharfe Beftimmungen über die Ausfägigen feftgeftellt: fie 
wurden alsbald für unrein erklärt, vom allem Umgange mit 
reinen Menfchen ausgefchloffen, und durften zu. diefen erft 
dann wieder zurücfehren, wenn ein Priefter fie auf feierliche 
Weiſe für rein erflärt hatte, 

Babylon, die ungeheure Hauptſtadt des babylonifchen 
Reiches, öftlihh von Paläftina, das um 8—600 v. Chr. 
blühte; die Juden lebten hier lange im Exile (f. d. Anm.); 
die Sprache der Babylonier war der der Juden nahe ver- 
wandt, nnd dieſe entlehnten Manches aus den religiöfen Vor⸗ 
ſtellungen Jener. 

Barabbas, der berüchtigte Raubmörder, den die Juden 
am Paſcha ſtatt Jeſu von Pilatus losbaten; er ſoll gleichfalls 
den Namen Jeſus geführt haben. 

Bartholomäus, Apoſtel, ſoll ſpaͤter das Chriſtenthum 
in Indien gepredigt und ein Evangelium geſchrieben haben, 
das wir noch beſitzen. 

Baur, Profeſſor der Theologie in Tübingen; ſchrieb: 
1) Symbolik und Mythologie, oder die Naturreligion des Al⸗ 
terthums. — 2) Hebräiſche Mythologie des alten und neuen 
Teſtamentes. — 3) Geſchichte der hebräiſchen Nation. — 


520. 


4) Die hriftliche Gnoſis, oder. Die chriſtliche Religionsphiloſo⸗ 
phie in ihrer gefchichtlichen Entwidelung. — 5) Eine Regen 
ſion der Schriften über Strauß in-den Berliner Sahrbüchern ıc.; 
1837, März. 

Befhneidung, die Wegfchneidung der Vorhaut, womit 
alle neugebornen iſraelitiſchen Knaben 8 Tage nach ihrer Ge⸗ 
burt, eben fo alle Heiden, die zum Judenthume übertraten, 
dem Sehova geweiht und zu Sfraeliten erhoben wurden; mit 
der Befchneidung war die Namengebung verbunden. Zwar 
ſoll ſchon Abrahanı fie angeorönet haben; allgemein eingeführt 
wurde fie erft durch Joſua: feitdem waren alle Unbefchnittene 
tief verabfcheut. 

Befeffene (S. 278). Es mag noch erinnert werben, 
daß mit den evangeliſchen Schilderungen des Zuſtandes der 
Beſeſſenen die anderen Schriftſteller, griechiſcher wie orientas 
lifcher, ganz übereinftimmen. 

Bethanien, ein Fleden, eine halbe Stunde firböftlich 
von Sserufalem, am Delberge: hier wohnte die Jeſu fehr bes 
freundete Familie des Lazarus. 

Bethesda, ein mit Hallen umgebener Teich vor einem 
Thore Serufalems, deffen Becken noch jett zu fehen ift. Sein 
Waſſer hatte eine bei Lähmungen ꝛc. fehr bedeutende Heilkraft, 
weßhalb er viel befucht wurde. 

Bethlehem, ein Kleden im Stamme Suda, 2 Stunden 
füblich von Serufalem, auf felfiger Anhöhe in fehr fruchtbarer 
Gegend; Stammort Davids, übrigens ganz unbedeutend. 

Bethphage, am Delberge, zwifchen Serufalem und Bes 
thanien. 

Bileam, ein Prophet aus dem oberen Chaldäa, öſtlich 
von Paläftina, der von einem heidnifchen Fürften zur Verflu⸗ 
hung der in Paläftina eindringenden Sfraeliten abgefenbet 
wurde: auf Befehl Jehova's aber mußte er, auch wider feinen 
Willen, fie ſegnen; auf Diefen Segen eines ausländifchen Ses 
hers Tegten die fpäteren Inden großen Werth. 

Bretſchneider, 8. G., Öeneralfuperintendent in Gotha; 
er fchrieb: 1) in Tateinifcher Sprache: Vermuthungen über 
Charakter und Urfprung des Evangeliums und der Briefe des 
Johannes. — 2) Erflärung über die mythiſche Auffaſſung des 


Ä 521: 
hiftorifchen Chriſtus Cin der allgemeinen Kirchenzeitung, Juli 
1837). — 3) Handbuch der Dogmatil. — 4) Ueber den ans 
geblichen Scheintod Jeſu (in dem Journal von Ullmann). 

Brod. Die Juden kannten fo gut, wie wir, den Gebrauch 
des Sauerteiged; wenn man aber eilig baden mußte, fo blieb 
diefer weg. Da dieß vor dem Auszuge aus Aegypten geſche⸗ 
ben fein follte, fo durften die Suden am Pafcha, als ber 
Feier. dieſes Auszuges, auch nur ungefänerted Brod genießen: 
ed war rund und platt, daher es gebrochen, nicht gefchnitten 
wurde. 

Bund, der alte, fo heißt das mofaifche Geſetz, weil in 
ihm das Verhäftniß des jüdiſchen Volkes als ein unauflösbarer 
Bund dargeſtellt iſt, der jährlich durch feierliche Sühnopfer 
(f. d. A.) erneuert werben mußte. Ihm gegenüber nannten 
ſchon die Apoftel das Ehriftenthum den neuen Bund, weil 
Chriſtus ald das einzige ſtellvertretende Bundesopfer betrach⸗ 
tet wurde. 

Celſus (um 125 n. Chr.), ein heibnifcher Philofoph aus 
der Schule der Epifuräer, fchrieb ein verloren gegangenes 
Perf gegen die Chriften, defjen Inhalt wir durch eine Ges 
genfchrift des Drigenes kennen. 

Seremoniendienft wird das fpätere Judenthum im Ge 
genfaß zu dem alten, reinen Moſaismus (|. d. Anm.) genannt, 
weil ſich in ihm alle Religion in äußere Gebräudye vollkom⸗ 
men aufgelöst hatte. 

Gerinth, ein Ketzer, ber noch Zeitgenoffe des Johannes 
geweſen fein ſoll: er lehrte, daß Jeſus ein natürlich erzeugter 
Menſch gewefen, mit dem fic aber bei der Taufe ein höheres 
Weſen, Chriftus genannt, verbunden habe; auch foll er ein 
taufendjähriged Neich (f. d. Anm.) erwartet haben, weßhalb 
ihn Manche als Berfaffer der Offenbarung Johannis anfahen. 

Ehriftus, der „Geſalbte“, das griechifche Wort für Meffi a6 - 

cf. d. A). 

Cornelius, ein heidnifcher Hauptmann, deſſen von 
Wunderun begleitete Bekehrung und merkwürdige Taufe durch 
Petrus, Apoſtelg. 10, erzählt wird. 

Erebuer, Profeffor der Theologie in Gießen; ſchrieb: 


622 


1) Sinteiing in's neue Teſtament. — 2) Ueber ‚Eifener und 
Ebioniten (in Winer's Zeitfchrift). . 

Cyrus (540 v. Chr.) erhob feinen Stamm, bie Perſer, 
zur Herrſchaft über ganz Aſien bis an den Indus, eroberte 
auch Babylonien, und geſtattete den dort im Exile lebenden 
Juden, wieder in ihre Heimath zurückzukehren und den zerſtör⸗ 
ten Tempel wieder anfzubauen. 

Daniel, Prophet, wurde mit feinen Lanbeleuten, den 
Juden, in’s Eril (f. d. Anm.) gefchleppt, unb gelangte hier, 
ald ein durch Talent und vornehme Geburt ausgezeichneter 
Mann, zu den höchften Staatswürden; feine Gefchichte iſt je⸗ 
doch fehr mit Sagen durchwebt, und das nad) ihm benannte 
Prophetenbuch nicht von ihm verfaßt. 

-David Cum 1050 v. Chr.). Die Gefchichte dieſes bes 
rühmten Königs ift befannt genug; da unter feiner Regierung 
Das Reich auf der hödhften Stufe der Madıt ftand, fo Enüpfte 
an feinen Namen fich die Vorftellung des herrlichiten Ganzes, 
und als fich die Idee des Meſſias (ſ. d. Anm.) ausbildete, 
verftand es fi) von felbft, daß dieſer aus dem Gefchlechte 
Davids fein müffe. 

Dämon, ein griechifches Wort, das urfprünglich „Gott, 
göttliches Weſen, Geift“ bedeutet, dann aber befonderd zur 
Bezeichnung der Seelen abgefchiedener Menfchen, und vorzuges 
weife der gefpenftifch böfen Geilter gebraucht wurde. 

Dämonifche, die von einem böfen Geifte Befeffenen. 

Deift ift derjenige, der zwar an das Dafein Gottes 
glaubt, aber alle unmittelbare Dffenbarung desfelben verwirft, 
und die Vernunft als die einzige Duelle des Glaubens be⸗ 
trachtet. 

Denar, eine römiſche Münze, welche zu Jeſu Zeiten etwa 
22°, Kreuzer galt. 

De Wette, -Profeffor in Bafel, einer der gelehrteften und 
freifinnigften Theologen unferer Zeit, deffen Forfchungen vor- 
züglich in Bezug auf das alte Teſtament von großer Bedeu⸗ 
tung find. Er fehrieb: 1) Kommentar über den Pentateudh. 
— 2) Einleitung in die Bibel alten und neuen Teſtamentes. 
— 3) Biblifche Dogmatif. — 4) Archäologie. — 5) Ueber 
Religion und Theologie. — 6) Kommentar zu den Pfalmen. 


523 


— 7) Eregetifches Handbuch. — 8 Viele einzelne "hand: 
lungen. \ 

Diakonus, Diener. In der einfachen Kirchenverfaffung 
der erften Chriften hatte man neben den Presbytern (f. d. Anm.) 
auch Diakont, welche urfprünglic, die Sorge für bie Armen, , 
ſpaͤter aber auch ähnliche Gefchäfte u verrichten hatten, wie 
bie Diener in den jüdifchen Synagogen; ein befouberes Sehr: 
amt befaßen fie urfprünglich. nicht. 

Diener, königliche. Wo in der Krbensgefchichte Jeſu 
von folchen die Rede ift, find immer Beamtete bes jübifchen 
Fürſten in Galilia, demnach $uden gemeint. 

Doketen, eine alte chriftliche Sekte, welche glaubte, 
daß Jeſus nur einen Scheinkörper gehabt habe, demnach 
nicht wirklicher Menſch geweſen fei: gegen fle fcheint ber erite 
Brief des Tohannes gerichtet zu fein. ' 

Dreieinigfeit Gottes; fie iſt nach kirchlicher Lehre die 
Eigenſchaft Gottes, daß er gwar ein einziges Weſen ifſt, aber 
aus drei in verfchiedenen Richtungen wirkffamen Perfonen bes 
fteht. | 

Ebioniten, eine hriftfiche Sekte, welche aus den Suse - 
denchriften (f. d. Anm.) hervorging und lehrte, daß Jeſus 
ein bloßer, wiewohl mit Wunderfraft ausgerüfteter Menfch 
geweſen ſei: in Bezug auf deſſen Erzeugung waren ſie nicht 
einig unter einander. 

Eheloſigkeit galt im Allgemeinen bei den Juden als 
etwas Schimpfliches; nur die Eſſener (ſ. d. Anm.) legten 
einen beſondern Werth daranf. 

Ehefheidung war den Männern bei den Juden geftats 
tet, wenn fie mit der Fran unzufrieden waren; nur mußten 
fie ihr einen Scheidebrief geben; indeß wurden die betreffen, ' 
den Geſetzesſtellen verfchieden auögelegt; Jeſus erklärte ſich 
für ſtrenge Heilighaltung der Ehe. 

Eichhorn, ein berühmter Theologe und Geſchichtsforſcher, 

der als Profeſſor in Göttingen 1833 ſtarb. Er ſchrieb: 
1) Allgemeine Bibliothe k(1788 — 1801). — 2) Einleitung in 
Das alte Zeftament.. — 3) Urgefchichte, herausgegeben von 
Gabler. — 4) Einleitung in das neue Teftament. — 5) Viele 
zerſtreute Aufjäße. 


524 j 


Eli, Eli Lamah ꝛc.; der Anfang des berühmten, auf das 
Reiden Jeſu bezogenen 2. Dfalmes: „Mein Gott, mein Gott, 
warum haft du mich verlaffen?“ 

Elias, einer der berühmteften Propheten, um 900 v. Chr., 
der mit außerorbentlicher Freimüthigfeit den Abfall vom reinen. 
Jehovadienſt rügte; deßhalb häufigen Verfolgungen ausgefegt 
war, fpäter aber nur um fo mehr verehrt wurbe, weßhalb 
feine Gefchichte mehr, als die aller andern Propheten, wit 
Wandern ausgefchmücdt ift. 

Elifa, der Schüler und Nachfolger bes Elias, weit mil 
det und humaner, ale dieſer, jedoch nicht minder geehrt, weßs 
wegen auch feine -Lebensgefchichte reich an Wundern ift, Die 
zum Theil eine große Aehnlichkeit mit denen des Elias haben, 
Emaus (Emmaus), ein zwei und eine halbe Stunde von 
Serufalem entfernter Flecken in norbweftlicher Richtung; heuts 
zutage Cubeibi genannt. 

Engel, d. h. Bote (Gottes), waren nadı dem Glauben 
der Suden höhere, von Gott erfchaffene, durch Weisheit und 
Gerechtigkeit ausgezeichnete Wefen, welche in großer „Zahl 
ben Thron Jehova's umgaben, und von ihm als Verkündi⸗ 
ger und Vollftrecker feines Willens, vorzüglich aber zum Beis 
ftande der Frommen oder des auserwählten Volkes häufig 
auf die Erde gefandt wurden: daher Die vielen Engelerfchei- 
nungen im alten Zeftamente. Während des Erild wurde 
diefe einfache Lehre mehr in's Bilderreiche und Phantaftifche 
umgeftaltet, und namentlich eine Rangordnung der Engel, ger 
fchaffen. 

Ephefus, Hanptitadt Kleinafiend, am griechifchen Meere 
gelegen; da hier viele Suden wohnten, fo bildete ſchon Pau⸗ 
Ins in diefer Stadt eine Chriftengemeinde, welche fpäter an 
Sohannes, der hier ganz befonders verehrt wurde, eine bes 
deutende Stüße fand. 

Ephraim, eine Stadt, 3—4 Stunden (?) norböftlid 
von Serufalem. 

Effener, eine Sefte unter den Suden, die einen förm⸗ 
lichen, fchon etwa 100 Sahre v. Chr. geftifteten Bund bildeten; 
einfames Leben, Gütergemeinfchaft , vielfältige Kajteiungen 
- amd einfach ſtreuger Gottesdienft zeichneten fie aus. 


525 


Enfebiws, feit 314 n. Chr. Biſchof zu Säfarea in Pa⸗ 
laͤſtina; er ift Verfaffer der älteften Kirchengefchichte, die wir 
befigen. 

Evangelium- heißt fo viel, ald „frohe Borfhaft: jo 
sannten die Chriften die ihnen zugekommene Nachricht von 
Jeſu Tod und Auferftehung; fpäter auch das, was fidy baran 

knüpfte, die Gefchichte feined Lebens und feiner Lehren. 

| Eril, Verbannung; fo nennt man den Aufenthalt in-frems 
den Ländern, zu welchen die Sfraeliten und Tuben zu verfchies 
denen. Zeiten genöthigt wurden. Seit 741 v. Chr. wurden 
die meiften Einwohner Iſraels durch  affyrifche Könige nach 
Medien tief im Inneren Aſiens) verfeßtz; die Juden aber 
vom Jahre 606 an zu verfchiedenen Malen durch babylonifche 
Könige nad) Babylon, von wo fie 536, ohne Zweifel in Ver, 
bindung mit vielen Sfraeliten, wieder in ihre Heimath zurück⸗ 
fehrten. 

Fäſten, ein uralter orientaliſcher Religionsgebrauch. Die 
allgemeinen Faften waren theild regelmäßige, theils außerors 
dentlicye, bei eingetretenen Landesplagen; außerdem wurben 
befonders in fpäterer Zeit häufiges Privatfaften angefteht, als 
Bußübungen, mit ‚denen namentlich die Pharifäer prunften. 
Auch die Apoftel beobachteten noch die jüdifchen Fafttage. | 

Fritzſche, Profeffor der Theologie in Roſtock. Er ſchrieb, 
in lateinifcher Sprahe: Kommentare über Matthäus und 
Markus. | | 

Fußwafchung war in dem Morgenlande, wo man ges 
wöhnlich nur Eohlen, feine Schuhe trug, allgemeiner Gebrauch, 
befonders mußten einem anfommenden Gafte die Diener bed 
Hauſes vor allem Andern diefen Dienft erweifen. 

Gabler, Soh. Phil., ein Außerft verbienftvoller Gelehrter, 
der 1826 in hohem Alter als Profeffor der Theologie in Sena 
geftorben ift. Werfe: 1) Einleitung zu Eichhorns Urgefchichte. 
— 2) Sehr viele vortreffliche Aufſätze in feinem theologifchen 
Ssonrnale von 1796 — 1811. 

Gabriel, einer der fieben Erzengel, namentlich der To⸗ 
desengel der Sfraeliten, deren Seelen nach dem Tode alle an 
ihn abgeliefert werden mußten; beſonders thätig iſt er im Buch 
Tobia und in Daniel. 


526 


Gadarener, Bewohner der Stadt Gadara, der Haupt: 
ſtadt von Peräa (ſ. d. Anm.), weiche ohmmeit des galilätichen 
See's lag. 

Galiläa, die nördlichite Landichaft Paläſtina's, ein Alpen: 
land, von vielen Bergen durchichnitten und fehr gut bevölkert. 
Die Galilaer werden ale fleißige und tapfere Leute gerühmt, 
wurden aber von ben übrigen Juden verachtet, weil fie wenis 
ger rechtgläubig waren und einen ſchlechtern Dialekt fprachen. 

Galiläifher Eee, auch See Genezareth genannt, ein 
2 Stunden breiter und 7 Stunden langer Landfee in der füd- 
lichen Hälfte Galtlän’s, deſſen Ufer fehr- bevölkert waren. 

George, ein junger Gelehrter in Berlin, der fchrieb: 
Mythus und Sage, Berfuch einer wiffenfchaftlichen Entwides 
lung diefer Begriffe und ihres Verhältniſſes zum chriftlichen 
Glauben. 

Geſetz, das mofaifche; eine politifchsreligiöfe Verfaſſung, 
"die in den Büchern Mofis enthalten, und deren Grundidee 
ift: „Sehova ift ald der alleinige Gott und zugleich ald König 
des Volkes zu verehren, dieſes Volk alfo fein Eigenthum. * 
Unftreitig rührt die Grundlage, die manches Aegyptiſche ent- 
hält, von Moſes her; vieles Einzelue.aber ift fpäteren Urfprunge. 

Gethfemane, ein Garten bei Iernfalem, der jet Dſches⸗ 
manije heißt, und durch äußerft alte Delbäume ſich bemerkbar 
macht. 

Gnoſtiker, eine verfeßerte chriftliche Sefte der erften 
Sahrhunderte, welche griechifche und morgenländiiche Lehrfäße 
mit Dem Chriftenthume in Harmonie zu bringen fürchten, und Daher 
jehr abenteuerliche Sätze aufftellten, mit welchen fie befonders 
den Urſprung des Böfen und Die Art, wie Sefug, der ihnen fein 
wirflidyer Menfch war, dasſelbe vernichtet habe, zu erflären ſuchten. 

Götterfohn it nach griechifcher Mythologie ein Mann, 
der von einem Gotte mit einem menfchlichen Weibe auf fleifch- 
liche Weife erzeugt if. 

Golgatha, der Richtplag außerhalb Serufalem. Irriger⸗ 
weife hält man den, jet den Kalvarienberg genannten, inners 
halb der Stadt gelegenen Hügel für denfelben. 

Greiling, ein mir nicht weiter befannter Gelehrter, der 
ein Leben Jeſu gefchrieben hat. 


527 


Grieche uch riſten find foldye Glieder in Jernſalem, welche, 
weil fie fremde Suden waren, griechiſch rebeten: fyäter 
nannte man diejenigen fo, welche zugleich auch früherhin Hei⸗ 
den geweſen waren. 

Griechiſche Sprade: fie ift die, in welcher alle Büs 
‚cher des nenen Teſtamentes gefchrieben find, weil feit Alexan⸗ 
ders Eroberungen (330 v. Ehr.) diefelbe in ganz Vorberafien 
die Umgangsſprache war. 

Griesbach, ob. Saf., ein berühmter, in Jena 1812 
verfiorbener Theologe, der ſich durch die Textesreinigung des 
neuen Teſtamentes unſterbliche Verdienſte erworben hat. 

Hanna, eine Prophetin; der Name iſt kananäiſch. 

Hafe, Profefior in Jena, fchried „das Leben Sefu“. 

Hanptmannz wo im neuen Teflamente eines ſolchen 
Erwähnung gefchieht, hat man fich immer einen römiſchen, 
alfo heidnifchen, zu denken. (S. Römer.) 

Hebräer, — fo nannten fid) die Juden im alter Zeit, 
fo oft fie von fi) im Gegenfage zu andern Völkern fprachen; 
fpäter, wo der Name „Jude“ ganz allgemein Bezeichnung 
des Volkes wurde, blieb „Hebräer" der befondere Namen der 
in Paläftina wohnenden Suden. Daher nannte man denn 
in der erften chriftlichen Zeit diejenigen Judenchriſten, die in 
Paläftina wohnten, und hebräifch fprachen, ebenfalls Hebraͤer; 
an dieſe ift der Hebräerbrief im neuen Teſtamente gerichtet; 
und „Sebräerevangelium“ nennt man dasjenige apofcyphifche 
Evangelium, an welches diefe, mit mannigfachen Borurtheilen 
behafteten Chriften fich hielten. 

Hegel (8. W. F.), der in Berlin 1831 veritorbene be- 
rühmte Begründer der nach ihm benannten Hegelifchen Philos 
fophie, die als eine weitere Durchführung der Schelling’jchen 
Raturphilofophie betrachtet werden kann. Schrieb (außer 
vielem Andern) 1). „Phänomenologie des Geiftes“, 2) „Vor⸗ 
lefungen über die Philofophie der Religion“; 3) „Rechts⸗ 
philoſophie“. 

Heide; Jeder, der weder Chriſt, noch Jude, noch Muſel⸗ 
mann iſt; das Wort iſt Ueberſetzung des Lateiniſchen pagonus, 
d. h. Dorfbewohner; ſo nannte man naͤmlich die Nichtchriſten, 
ſeitdem Conſtantin fie aus den Städten verbannt hatte. Die 


328 


Inden nannten die Heiden fchlechthin „die Völfer“, in dem 
ſtolzen Glauben, daß nur ſie das eigentliche, einzige Bolt 
Gottes feien. 

Heilige Thiere waren den Juden folche, welche, 3. 8. 
als erfigeborne, dem Herrn geweiht waren, und baher zu 
feinerlei Dienften gebraucht werden durften. 

Hengftenberg, Profeflor der Theologie in Berlin, ein 
bekannter Wortführer der überfpannten orthoboren Parthei: — 
„Ehriftologie (Meffinslehre) des alten Teftamentes“. 

Henoch, Vater des durch fein hohes Alter berühmten 
Methufaleme, wurde wegen feiner hohen Frömmigkeit lebendig 
in den Himmel zu Gott erhoben: 

Her odes, aus Sdumda, wurde von Dem Römer Antonius 

zum Fürſten, und nachmals (40 v. Chr.) vom Kaiſer Auguſtus 
Fam Könige der Suden ernamt. Er ftarb, von Allen wegen 
feiner Grauſamkeit gehaßt, kurz nach der. Geburt Sefu. 

Herodes Antipas, des vorigen Sohn, erhielt nach beö 
Vaters Tode die Herrfchaft über Galilia und Peräa, wurde 
aber von dem römifchen Kaifer im Sahre 38 nach Chriftug ents 
fett und in die Verbannung gefchidt. Er ließ den Täufer 
Johannes hinrichten, der ihn wegen feiner ungefeglicdyen Vers 
heirathung mit Herodias, feines Bruders Kran, ſcharf ge 
tabelt hatte. Dieſe Heirath war auch der Anlaß zu dem 
Kriege mit dem arabifchen Fürjten Aretad, dem Vater feiner 
früheren, verftoßenen Fran. 

Herodias, f. den vorhergehenden Artifel. 

Heß, ein im Zürich 1819 in hohem Alter verſtorbener, 
fehr ehrmwürdiger Theologe, ſchrieb 1) „das Leben Jeſu“; 
— 2) „Bibliothek der heil. Geſchichte“. — 

Hieronymus, ein Außerit gelehrter Kirchenvater,, Der 
331 in Dalmatien geboren, in reifem Mannesalter zu Rom 
getauft wurde, und 420 in einem von ihm geftifteten Kloſter 
zu Bethlehem ftarb. 

Hillel, ein berühmter Rabbine der pharifäifchen Secte, 
der nicht lange vor Jeſu lebte, und eine eigene Schule fliftete. 

Himmelsbrod, f. Manna. 

Nofbeamte, f. Diener, Föniglicher. 

Hoherprieſter, der oberfte Prieiter der Juden, ımd fo 


529 


inge das Volk feine Körige hatte, der. erite Mann im State, 
e mußte vom Gefchlechte Aarons fein, und. gewöhnlich folgte 
er Sohn dem Bater nach. Er. war in der Regel Borfiger 
ed Synedriums, und Daher auch unter den Römern eine 
olitifch wichtige Perfon (ſ. jedoch „Priefter“). 

Hoher Rath, dasfelbe, was Synebrium. (S. d. A.) 
Horſt, ein ſchon vor längerer Zeit verfiorbener Geiſtlicher 
n Heflens Darmftädtifchen. — 1) „Ueber die beiden erften 
kapitel des Lukas“ Cin Henke's Muſeum). 2) Ideen über 
Rpthologie“ (Daſ.). 

Jairus, ein Synagogenvorſteher, deſſen Tochter Zeſus 
jieberbelebt haben ſoll. 

Jakobus der Ältere, Apoftel, Bruder des Johannes, 
zurde im Sahre 44 in Serufalem hingerichtet. 

Jakobus der jüngere, Bruder Jeſu, wurde 62 n. Chr. 
a Serufalem durch den Hohenpriefter Ananus gefteinigt. 

Sdpumäa, eine füdöftlich von Paläftina nach Arabien 
in fehr bergige Landfchaft, deren Bewohner, die Ebomiten, 
on Eſau abſtammen ſollten. 

Jehova, d. h. „der Unveraͤnderliche“, der Namen des 
udiſchen Nationalgotteg, größer und gewaltiger als alle andern. 

Jeremias, ein augdgezeichneter Prophet, der im fiebenten 
sahrh. v. Chr. ange in Serufalem auf's fräftigfte wirfte, bie 
g durch die Siege Nebukadnezard, des babylonifchen Könige, 
egwungen wurde, nach Aegypten zu flieben, wo er wahr 
heinlich auch geitorben iſt. 

Jericho, eine Stadt in Sudäa, an der Grenze gegen 
Jeräa bin, norböftlid von Serufalen, und etwa 7 Stunden 
on diefer Stadt entfernt. 

Serufalem, „die Stadt Gottes“, faft in der Mitte 
Jalaftina’s; erft David fonute fie erobern, und madıte fie zur 
Yauptftadtz Salomon erbaute fodann den prachtvollen Tempel, 
yodurdy fie Mittelpunft des Sehovadienftes wurde. In der 
eften Zeit betrug ihr Umfang 1%, Stunden, und ihre Eins 
yohnerzahl 120,000. Nachdem fon früher mand)e Stürme 
ber fie ergangen waren, wurde fie 70 n. Chr. von den 
tömern gänzlich zerſtört; erſt 136 baute an der Stelle der 

II. 3x 


530 


verödeten Stadt Kater Hadrian eine neue, bie er Aelia 
Capitolina nannte. 

Jeſaias trat im Sahre-759 v. hr als jübifcher Prophet 
aufs; feine weiteren Lebensſchickſale find fehr in Dunkel gehült; 
auch find nicht .alle Theile der unter feinem Namen erhaltenen 
Weiffagungen von ihm. 

Jeſus, die griechiſche Form des Namens Sofua, d. h. 
„Jehovas Hülfe“. 

Joa, jüdiſcher König um WO v. Chr., Sohn des Apasja 
und Vater des Amazia. 

Johannes, der Apoſtel, war nach Jeſu Tode für das 
Chriſtenthum thätig zuerſt in Jeruſalem, dann in Kleinaſien, 
wo er ſich in Epheſus niederließ. Er ward in ſchon hohem 
Alter auf die Inſel Patmos verwieſen, ſpäter aber wieder 
befreit; er kam nach Epheſus zurück, wo er auch ſtarb. 

Johannes jünger, Anhänger des Täufers, Die ſich noch 
lange nach deſſen Tode als beſondere Secte erhielten, bis 
fie allmaͤlig unter den Chriſten ſich verloren. 

Jonas, ein bekannter israelitifcher Prophet, um 800 v. 
Chr., deffen Gefchichte fehr durch Sagen entſtellt ift; er fol 
den Einwohnern der großen aſſyriſchen. Stadt Ninive Bekeh—⸗ 
rungsreden gehalten und vielen Glauben gefunden haben. 

Sordan, der Hauptfluß Paläftina’s, entipringt an ber 
Kordgränze Galiläa's, durchftrömt das ganze Fand von Norden 
nad; Süden, und ergießt fid) in das todte Meer, einen Land 
fee, der die Dftgränze von Judäa bildet. 

Joſeph von Arimathäa, der befannte heimliche Anhänger 
Sefu, fol fpäter offen zum Chrijtenthume übergetreten fein; 
daher zählt ihn die Sage zu den fiebenzig Süngern, und weiß 
fogar, daß er dad Evangelium in England gepredigt habe. 

Joſephus, ein jüdifcher Schriftiteller des eriten Jahr⸗ 
hunderts, der ſich der Gunft mehrerer römiſcher Kaifer ers 
freute, unter Titus bei der Belagerung Jeruſalems thätig war, 
und nad) der Eroberung feinen befiegten Landsleuten fehr große 
Dienfte erwies. Späterhin fchrieb er in Nom mehrere Ge 
fhichtöwerke, von denen die „Gefchichte der Zerfiörung Jeruſa⸗ 
lems“ und die .„jüdifche Gefchichte “ von befonderer Wichtig. 
feit find. | 


Iſaak, der befannte Sohn Abraham's, deſſen Geſchichte, mit 
Ausnahme der Verkündigung feiner, Geburt., auffallend wenig 
Wunderbares enthält. . 

Ismael, des Abrahams und der Hagar Sohn, fol 
durch feine zwölf Söhne Stammvater mehrerer arabiſchen 
Volkerſchaften geworben fein. . 

Israel, der alte heilige Namen bes jüdifchen Bolfes. 
Später, als das Reich fich theilte, ging dieſer Namen vors 
zugsweife auf die zehn Stämme über, welche ſich vom Davidi⸗ 
fchen Haufe trennten; Sauptitadt des Reiches Jsrael war 
Samaria. (5. „Suden“.) 

Sudbäa, bie ſüdlichſte Provinz Paläftna’s, in welcher 
Jeruſalem lag, norböftlid, ftieß fie an Samaria. Der Namen 
rührt daher, daß hier die eigentlichen Juden (S. d. U.) wohnten, 
weßwegen wohl auch ganz Paläftina fo genannt wurde. Ä 

Subäifche Wüſte, ein felfiger Strid, Landes im Dften, 
der Provinz Sudäa, länge des todten Meeres; hier trat 
Johannes, der Täufer, auf. 

Judas, des Safobug Bruder, ein Apoſtel, deſſen fpätere 
Lebensgefchichte ganz im Dunkel liegt. 

Judas, der Berräther, hatte den Beinamen „Iſcharioth“ 
von feinem Geburtsorte Karioth; mit Unrecht wird er ges - 
wöhnlich als ein vollendeter Böſewicht betrachtet. 

Suden. Es möge hier eine kurze Ueberſicht der jüdifchen 
Geſchichte Plas finden. Das Volk Israel, nachdem es von 
Mofes aus Aegypten weggeführt worden, und unter Sofua 
(1500 — 1400) Paläftina erobert hatte, lebte mehrere Sahr- 
hunderte lang, ohne feite Einheit, unter feinen Prieftern, bie 
es auf fein Verlangen in Saul den eriten König erhielt, deſſen 
Nachfolger, David, das Reich zur Blüthe feiner Macht erhob. 
Aber fchon unter Davids Enkel, Nehabeam, zerftel dasſelbe, 
indem zehn Stämme fich Tostrennten, und unter dem Namen 
Jsrael ein eigenes Reich bildeten; die zwei andern, Juda und 
Benjamin, nannten fich nun das Neid) Juda. Beide Reiche 
wurben ein Raub fremder Bölfer; Serael, 722 v. Chr., warb 
durch Aſſyrien, Inda, 987 v. Chr., durch Babylonien vers- 
nichtet, und die Mehrzahl des Volkes in's innere Aſiens ge⸗ 
ſchleppt (ſ. Exil.). Nachdem 536 die meiſten Verbannten 


532 

wieder zurücgefehrt waren, nnd auf's Neue ihren Tempel in 
Jeruſalem aufgebaut hatten, erhielt das Volk den allgemeinen 
Namen „Suden“, weil die KHeimgefehrten vorzugsweife dem 
ehemaligen Neiche Juda angehörten. Sie waren von da an 
Untertbanen der Perjer, nad) dem Sturze derfelben der Mate 
donier (333 v. Ehr.), und als das riefenhafte Reich diefer ſich 
in einzelne Staaten auflöste, der Syrer. Die (um 290 v. 
Shr.) Bedrückungen des fyrifchen Königs Antiochus (ſ. d. %.) 
veranlaßten eine Empörung, in welcer das Bolt fich frei 
machte (160) und eine Zeit lang unter Hohenprieftern aus 
dem Gefchlechte der Maffabaer glücklich lebte, bie innere 
Zwifte fle allmälig in die Hände der Römer brachten; von 
etwa 50 v. Chr. an. (S. Römer.) 

JIndenchriſten find folche Chriften, welche, ber befonders 
von Paulus eingeleiteten Aufnahme der Heiden in's Chriſten⸗ 
thum entgegentretend, die Beobachtung des mofaifchen Geſetzes 
für nothwendig hielten; fie treten von der Zerftörung Serufas 
lems an jehr in's Dunkel zurüd und verfchwinden allmälig. 
(5. Ebioniten.) 

Suftin, der Märtyrer, um die Mitte des zweiten Jahr 
hunderts; ein Schriftiteller, der zu den erften gehört, welde 
mit gelehrten Kenntniſſen zur Vertheidigung des Chriften 
thums auftreten Fonnten. 

Kaiphas, Hoberpriefter während der ganzen öffentlichen 
Wirkſamkeit Jeſu; wurde im Jahre 36 diefer Würde entfegt; 
Daß er fpäter Chriſt geworden, ift ein Mährchen. 

Kana, kleiner Flecken in Galiläa, etwa in der Mitte 
zwifchen Kapernaum und Nazaret. 

Kanaan, ein ſchönes, meiſt ſehr fruchtbares Land Border: 
aſiens, dag ſich in nicht ganz feit beflimmten Gränzen zwifchen 
Arabien, Babylonien, Syrien nud dem mittelländifchen Meere 
angbreitete. 

Kanaaniter, die alten beidnifchen Einwohner des Landes 
Kanaan, von welchen Paläftina einen Theil bildete, aus welchem 
fie indeß nie völlig verdrängt wurden; mit den nordweſtlich 
von Bälilia Wohnenden ſtanden die Juden in vielfachem 
Verkehre. 

Kant, Im., der große Schöpfer Der neueren Philoſophie, 


"533 


in Königeberg 1804 geſtorben. Hieher gehört feine „Religion 
innerhalb der Gränzen der bloßen Vernunft“. 
"Kapernaum, eine fehr volfreiche Stadt am galiläifchen 
See und an der großen aus Syrien zum mittellänbifchen Meere 
führenden Handelsftraße; Heimath des Petrus und Andreas, 
in deren Haufe. Jefus ſich oft und lange aufzuhalten pflegte. 
Ketzer, ober Häretifer Cd. h. einer, der eigener Wahl 
folgt), ift nad) der Kirchenfpradje derjenige, der in chriftlichen 
Dingen anders denkt und lehrt, ald bie herrfchende Kirche 
will, und daher von dieſer verdammt wird. Berfeßerungen 
fiengen unter den Chriften an, fobald man nad) herrfchender 
: Einheit des Glaubens ſtrebte. 
.  Kirhenväter find Diejenigen Schriftteller der alten ' 
Kirche, welche an die Apoftel und-deren unmittelbare Schüler 
Capoftolifche Väter) ſich anfchließen; Diejenigen, welche erft 
. nad bem fechsten Sahrhundert blühten, werden gewöhnlich 
nicht mehr fo genannt. 

König, der, der Suden hieß „ der Geſalbte“, weil nach 
alter Sitte derſelbe von den Prieſtern durch Salbung geweiht 
werden mußte; der Namen blieb, obgleich die Sitte fich verlor. 
(S. Meſſias.) 

Kreuzigung, eine höchſt qualvolle Todesſtrafe, welche 
von den Römern früherhin nur gegen Sklaven und fchwere 
Verbrecher, fpäterhin aber auch gegen aufrührerifche Unter⸗ 
thanen in Anwendung ‚gebracht wurde, weßhalb fi fie in Paläftina 
häufig vorfam. 

Krug fchrieb: „Verſuch über die genetifche oder formelle | 

Erflärungsart der Wunder“ (in Henke's Mufeum). 
.. Kyrene, eine wichtige Stadt in Afrifa, weftlicd von 
Aegypten; zu Sefu Zeiten beftand faft ein Viertel der Eins 
wohner aus Juden; die Fyreneifchen Juden hatten in Serufas 
lem eine eigene Synode. 

Laubhüttenfeft, eins der drei hohen Feſte, zu deren 
Feier man nach Jerufalem reiſen mußte; gewidmet dem An⸗ 
denken an dad Wohnen der Seraeliten in den Hütten auf 
‚dem Zuge durch die Wüfte; zugleich auch Erntefeſt; denn es 
fiel in die erften Tage des Oktobers. 

Lazarus, der Bruder der bethanifchen Maria, foll nadı 


534 


feiner Auferwedung noch dreißig Jahre gelebt haben; feine 
Gebeine will man auf der Inſel Kypern gefunden haben. 

Legion, eine Abtheilung des roͤmiſchen Fußvolkes, etwa 
4 — 6000 Mann ſtark; fpridywörtlich, wie unfer „Regiment“, 
von einer großen Zahl. 

Levirathsehe. Wenn ein verheiratheter Seraelite ſtarb 
ohne männliche Nachkommen, fo mußte fein älterer Bruder 
(Levi) die Wittwe heirathen, und den mit ihr erzeugten Erſt⸗ 
gebornen ald Sohn des Berftorbenen m das Gefdjlechteregifter 
einfchreiben laſſen. Diefes Geſetz, von dem ed inbeß auch 
Befreiungen gab, hatte feinen Grund in dem Wunfche, fein 
Geſchlecht und den Güterbefit desfelben fortzuerben. 

Leviten, Nachkommen Lewis, eined Sohnes’ Jakobs, 
ein israelitiicher Stamm; im engeren gewöhnliden Sinne 
hießen aber nur die fo, welche nicht vom Geſchlechte Aarons, 
das ja Diefem Stamme gehörte, ber eigentlichen Priefterkafte 
waren, und diefen bei ihren Berrichtungen Dienfte leiften mußten. 

Libanon, ein großes Gebirge, das nörblid, von Paläftina 
ſich Tänge des mittelländifchen Meeres hinzieht, und eigentlich 
aus zwei parallel laufenden Zügen befteht, deren öftlicher ben 
befonderen Namen Antilibanon trägt. 

Logos, Wort, nennt das Evangelium Johannes den 
in Jeſu fleifchgewordenen göttlichen Geift, wie fehon die Juden 
die von Gott ausftrömenden Wirkungen das „Wort Gottes“ 
nannten. Ob man ficd, diefen Logos in Sefus ald Wirkung 
bes ewigen Gottes (rein göttlich) oder als ein Wefen göttlis 
her Art (rein perfünlich) zu denfen habe, darüber warb viel 
geftritten, bis die Kirche entfchied, er fei göttlich und perſon⸗ 
ih. (CS. Präeriftenz.) 

Lücke, Pr. d. Theol. in Göttingen, fchrieb: „Commentar 
zu den Evangelien des Johannes“. 

Lukas, Evangelift, wahrfcheinlich Arzt und fein geborner 
Sude, fol als Martyrer umgelommen fein. 

Machärus, Feftung am nördlichen Ufer des todten Meeres. 

Magier nannte man zunächft bei den Medern und Pers 
fern, dann aber auch bei den Babyloniern den Drden, welchem 
die Ausübung der heiligen Gebräuche und die Bewahrung 
ber Wiflenfchaften anvertraut war; die babylonifchen Magier 


535 


waren bejonderd in der Sternkunde- und Aſtrologie fehr bes 
wandert. Daher nannte man zu. Jeſu Zeiten alle Diejenigen, 
welche als Sterndeuter, Wahrſager, Zauberer ꝛc. umherzogen, 
Magier: folhe waren es wohl, von denen Matthäus erzählt. 

Manna, ein füßes, weißlihes Harz, das befonders im 
Drient von mehreren Sträucdyen und Bäumen gewonnen, und 
ganz fo gefammelt wird, wie es im alten Teftamente erzählt 
iſt; naͤmlich wie eine Art Mehlthan findet man es am früheften 
Morgen auf Blättern und Zweigen. Da es häufig die Israe⸗ 
liten in der Wüſte aus großer DVerlegenheit rettete, fo bildeten 
ſich wunderhafte Sagen über dasſelbe; es fei vom Himmel 
gefallen ıc., daher es and, „Himmelsbrod“ genannt wurde. 

- Marbeinede, ber Theol. Prof. in Berlin, ift Schüler 
Hegels, deſſen Lehre über Ehriftus er weiter ausbildete. — 
„Chriftliche Dogmatif*. — 

Maria — 1) Die bekannte Mutter Sefu, fol in dem 
Haufe des Apofteld Johannes in Serufalem geftorben fein; 
ihr Leben warb fpäter durch die bunteften Sagen verherrlicht, 
die großentheils in dem apofryphifchen Evangelium der Maria 
enthalten find. Schade, daß wir gar nicht wiffen, welchen 
Einfluß fie von früh an auf Sefum ausübte! — 2) Die Mutter 
des jüngeren Jakobus, des Klepas Frau, Schweiter der Mutter. 
Jeſu. — 3) Maria (v. Magdala) Magdalena, folgte Jeſu 
nah, nachdem er fie geheilt hatte; die Erzählungen von ihren 
Sünden und ihrer Neue find reine Sagen. — 4 Die bethas 
nifche Maria, Schweſter des Lazarus; man hat Andeutungen 
- finden wollen, fie habe zu Sefu in befonders nahem Verhaͤlt⸗ 
niffe geftanden. 

Marfus, mwahrfceinlic; durch Petrus befehrt, begleitete 
den Paulus auf mehreren Reifen; aus den Sagen über fein 
fpäteres Leben ſcheint als gewiß hervorzugehen, daß er in 
Alerandria eine chriftliche Gemeinde ftiftete. 

Martha, Schwefter der Maria 9. 

-Martyrer, nennt die ältere chriftliche Sefchichte diejeni- 
gen, welche wegen ihres jtandhaften Bekenntniffes Jeſu Ehrifti 
den Tod fanden, und daher ald „Zeugen“ für die Wahrheit - 
dieſes Glaubens verehrt wurden. 


536 


Marıhäus, weder das neue Tekament, nech die jpätere 
Geſchichte weiß irgend etwas Zwerlaͤßiges über ibn. 

Meſſias, ber „Sefalbte*, alfo der „König“ (f. d. A.) 
vorzugsweife. Unter dem Drucke fremder Despoten ſah 
das jüdiiche Volk mehr und mehr feine alte Derrlidykeit ſchwin⸗ 
den, und da ed von Jehova verlajjen zu jein nicht glauben 
fonnte, jo entwickelte jich in ihm allmälig die Hoffumg, es 
werbe bereinjt ein König unter ibm anfiieben, der ein König 
aller Könige, ein anderer David (ſ. d. A), fein, und alle 
Heiden unterwerfen werde. An diefe Erwartung eines Rett ers 
fnüpfte Jeſu an, faßte aber die Aufgabe desſelben ganz anders, 
als bie im Drucde am meiſten ftolgen Tuben. (S. Wiederkunft.) 

Metrete, das gewöhnliche griechiiche Trap für Flüſſig⸗ 
feiten — 33 Berliner Quart. 

Mine, urſprünglich ein Gewicht, dann eingebildete Münze, 
an Werth etwa GO rhein. Gulden. 

Montaniiten, eine feit 150 fehr bedeutende Secte unter 
den Chriſten, Anhänger eines gewiffen Montans, der behaups 
tete, der von Jeſu verheißene Tröſter zu fein; durch eine fehr 
firenge Eittenlehre wußte er ſich Glauben zu verichaffen, und 
hielt, wie die Sudenchrijten, ftreng am Buchſtaben feit. 

Moria, der Hügel in Serujalem, auf welchem der Ca 
Iomonijche Tempel ftand, jchon in der frühften Sage geheiligt, 
weil hier Abraham den Iſaak opfern wollte. 

Mofes, der unfterblidye Gefetgeber und Begründer bed 
judiichen Staates; da er der größte Prophet war, fo war 
fein Leben auch das wunderbarftes da er der erfte „Netter“ 
bed Volkes war, der Meffias aber der noch geößer zweite 
fein follte, fo erwartete man von die ſem noch größere Wunder, 
aber Wunder nad) dem Borbilde der Mofaifchen. 

Moſais mus, die Verfaffung, das Geſetz Moſes. (S. d A.) 

Müller, Profeſſor der alten Sprachen in Göttingen, 
machte in feinem Buche „Prolegomena zu einer wiſſenſchaftlichen 
Mythologie“ einen fehr glücklichen Verſuch, die alten Miythen 
nach wiffenfchaftlichen Prinzipien zu erklären. | 

Nain, ein galilätfches Städtchen unweit Kapernaum. 

Narde, die Salbe, weldhe aus den Wurzeln der in 
Dftindien wachfenden Nardenpflanze gewonnen wurde, gehörte 


937 


zu den foftbariten im Alterthume, und war recht eigentlich Ge⸗ 
genſtand des Luxus. 

Naſiräer hieß derjenige Israelite, der, entweder ſchon 
vor der Geburt auf Lebenszeit durch Gelübde der Eltern, oder 
ſpaͤter auf eine beſtimmte Zeit durch eigenen Entſchluß, Jehova 
geweiht war; er war zur Enthaltſamkeit, namentlich von allen 
berauſchenden Getraͤnken, ‚verpflichtet, und fein Haar durfte 
von feinem Scheermeifer berührt werden. 

Nazaret, galiläifche Stadt, acht Stunden weſtlich von 
dem galiläifchen See, und drei Tagereifen von Jeruſalem 
entfernt; fie ift noch heutzutage eine artige, beliebte Stadt 
‚mit 3000 Einwohnern. | 

Keander, f. VBorrede ©. V. ' 

Kifodemus fol nad Jeſu Tode von. Petrus getauft 
und hierauf aus Jeruſalem verwieſen worden ſein. 

Niniviten, die, Einwohner der ſehr großen Hauptſtadt 
des aſſyriſchen Reiches; ſeit dee Zerſtörung im Jahre 625 
durch den König der Meder blühte fie nie wieder auf. 

Niſan, der erfte Monat der Hebräer; März — April. 

Delberg, ein bedeutend hoher Berg, eine Biertelftunde 
nordöftlich von Serufalem, mit großen Delpflanzungen; Jeſus 
Hhielt ſich auf und an demfelben gerne auf. 

Olshauſen, Profeffor der Theologie in Königsberg; — 

1) „Gommentar über fänmtliche Schriften bes neuen Teſta⸗ 
ments“. — „Ein Wort über tieferen Schriftfinn“. 
. - Drigened, einer der gelehrteften Kirchenväter, wegen 
feines. Fleißes „der Diamantene“ genannt, lebte im zweiten und 
dritten Sahrhundert in Alerandria, und zog ſich durch feinen 
glühenden Eifer für Ausbreitung und Ausbildung des Chriſten⸗ 
thums große Verfolgungen zu. 

Drthodor wird derjenige genannt, der fich einfach und 
fireng an den Lehrbegriff feiner Kirche hält. Vgl. „Supras 
naturalijt“. 

Dfia, König in Suda, Sohn des Amazia, um 850 v. Shr. 

Paläftina, der von den Israeliten bewohnte Theil 
Kanaans (f. d. A.); der Flächeninhalt kann, obgleich bie 
Gränzen öfters wechfelten, auf 450 Quadratmeilen angegeben 
‚werben... Es beftand aus den Landfchaften Galilda, Samaria, 


538 


Subaa, Peraa, woran fid, onlich ech einige Diftricte 
ſchloſſen, die, obgleich nicht eigentlich judijch, doch im 
Regel mit Palajiina gleiches Schichſal hatten. 

Papias, Biſchoff von Hierapelis (160 m. 3 ), 
meite in vielen Schriſten Rachrichten uber Jeſu und 
Apoſtel, wobei ihn großes Mißtrauen gegen die ſchon vor⸗ 
handenen fchriftlichen Rachrichten leitete. 

Paradies (Hebr. Eden) heißt in der in 1 Moſ. 2 ent 
holtenen, wahrſcheinlich während ber babylouiſchen Periede 
entſtandenen, Mythe die herrliche Gegend, worin die erſten 
Menſchen wohnten; wan glaubt in der Schilderung die Hoch⸗ 
ebene Rorbindiens, Kajchemir, zu erfennen. Spüter war 
der Rame Bezeichnung des Aufenthaltes der Frommen nadı 
Dem Tode bis zur Auferftehung. 

Paſcha, eins der drei hohen judifchen Fefle, bie nur im 
Jeruſalem ſelhſt gefeiert werben konnten; geweiht dem Audenken 
an den fegenbringenden Auszug aus Aegypten: ed dauerte 
fieben Tage lang; der erite Tag war befonders heilig, mehr 
noch, wenn er, wie es bei Jeſu Tode der Fall war, zugleich 
auf einen Sabbat fiel. Am Borabende diejed erften Felttages 
wußte jeder Bater mit den Seinen oder andern Gäften em 
männliches Lamm (Paſchalamm) verzehren, wozu ungefäuertee 
Brod genoſſen wurde, und wobei Alle in Reifefleidern waren; 
beides zum Andenfen an ben ſchnellen Abzug der Sseraeliten, 
vor welchem ebenfalls jede Familie ein Lamm fchlachten mußte, 
am auf den erfien Ruf zur Reiſe die Iette Mahlzeit fchon 
bereit zu halten. 

Paſchalamm, f. Pafcha. 

Paſchamahl, ſ. Paſcha. 

Paulus, Apoſtel, ein in Tarſus (Cilicien in Kleinaſien 
geborner Jude, und römiſcher Bürger; trat in Jeruſalem nach 
vollendeten Studien in Die Secte ber Phariſäer ein, verfolgte 
dort mit glühendem Eifer die auffeimende chriftliche Gemeinde, 
und reiste felbft nach Damask, um fie auch Dort zu erbrüden. 
Auf der Neife dahin war ed, wo ein himmlifches Geſichte 
ihn zum Ghriftenthume befehrte, von wo an er der feurigfte 
Anhänger, der muthuollfte Verbreiter besfelben und der geiſt⸗ 
sollte Fortbildner des chriftlichen "Glaubens wurde, bie er 


639 


nach vielen und weiten Reifen in Rom Sahre lang im Kerler 
ſchmachtete; hier fol er auch hingerichtet worben fein. 

Paulus, Profeffor der Theologie in Heidelberg, bag 
Haupt ber Rationaliften, ein faſt 8Ojähriger Greis; Werke: 
1) „ Eregetifhes Handbuch über die drei erften Evangelien “. 
— 2) „Ueber das Leben Jeſu“. — 3). „ Eommentar zum 
Evangelium Sohannes“. 

Perferz fie wurden durch den gewaltigen Cyrus zur 
Herrfchaft über faft das ganze befannte Aften erhoben. Ihre 
Religion, ein reiner Fenercultus, wurde fpäter zu Der Lehre 
von einem höchften guten und einem böfen Wefen, die beide 
eine Menge von Dienern, Enge und Teufel ‚ hatten, aus⸗ 
‚gebildet. 

Peträa, „fteiniged Land“, eine Provinz Palaͤſtina's, noͤrd⸗ 
lich vom todten Meere, zwiſchen Judäa und Galiläa. 

Petrus, der berühmte Apoſtel, ſteht alsbald nach Jeſu 
Tode an der Spitze der Gemeinde Jeruſalem, wo er mit der 
größten Unerſchrockenheit lehrt; nach mehreren Reiſen wird 
er gefangen und wieder befreit. Ueber feine fpäteren Reiſen 
and fein Ende fehlen ganz zuverläßige Nadjrichten; in Nom 
foll er hingerichtet worden fein. 

Pfingiten, dasjenige der drei Hauptfefte (ſ. Paſcha), 
‚welches fünfzig Tage nad) dem Pafcha als Erntedanffeit und 
zur Erinnerung an die auf dem Sinai gefchehene Mittheilung 
des Geſetzes gefeiert wurde; es beftand vorzüglich in einem 
großen Brands und Sündopfer. 

Pfund; im neuen Teftamente ift immer das römische zu 
verftehen, das etwa 22 unferer Loth fchwer war. 

Pharao, der gemeinfchaftliche Namen aller früheren 
:Agyptifchen Könige. 

Pharifäer, „Abgefonderte, Fromme“, eine politiſch- 
religiöſe Secte, welche wahrſcheinlich erſt hundert Jahre v. 
Ehr. entſtanden; fie machte ſich zur Aufgabe, Das ſeit der 
Rückkehr aus dem Exile ſich immer mehr ausbreitende, ſtarre, 
abgeſchloſſene Judenthum zu befeſtigen und weiter zu bilden, 
weßhalb ſie an allen Satzungen (ſ. d. A.) feſthielten. Durch 
dieſes Streben und durch ihre ſtrenge, aber heuchleriſche Be⸗ 
vbachtung der aͤußeren Religionspflichten erwarben fie ſich 


540 


aid nur großes Anfchen, fondern auch ein bebeutendes poli⸗ 
tiſches Gewicht, befonders feit dem fie den größten Tbeil des 
Synebriums ausmachten. Sie erfannten außer den altsteitas 
meutlichen Urkunden auch die mündliche Weberlieferung ale 
bindende Rorm an, und lehrten eine Vergeltung nach dem Tode. 

Philippus, der Apoitel, foll in Phrygien (Kleinaſien) 
das Evangelium gepredigt haben, und verheiratbet gewefen fein. 

Philippus, der Diakon, foll ald Biſchoff von Cäſarea 
m Samaria geitorben fein. 

Philo, ein fehr gelehrter Jude, der im erften Sahrhundert 
m. Ehr. in Alerandria lehrte, und ein genauer Kenner der 
platoniſchen Philofophie war, aus welcher er viele VBorftellun 
gen in fein ideal-jübiiches Syftem übertrug, welches er in 
vielen Schriften entwickelte. 

Phönikien, derjenige Theil Kanaans, der ſich nördlich 

von Samaria und Galiläa an der Küfte des mittelländifchen 
Meeres hin als eine fhmale Ebene ausbreitete. 

Pilatus, Pontius, zehn Jahre lang Landpfleger in 
Sudäa, unter dem Statthalter von Eyrien, warb wenig Jahre 
nad, Jeſu Tode wegen angeblidyer Bedrüdungen abgefett; 
fol fpäterhin hingerichtet worben fein. 

Doefie der Hebräerz fie hat weder Reims noch Bere 
maß, fondern den fogenannten Parallelismus, der darin bes 
fieht, daß derfelbe Grundgedanfen in zwei aufeinander 
folgenden Sägen, mit etwas verfdjiedener Wendung, auds 
gedrüdt ift. 

Polikarpus, Biihoff von Smyrna, Schüler des Apoſtel 
Johannes, ftarb als Martyrer 167. 

Präeriftenz, d. h. Dafein vor ber Geburt, mußte Jeſu 
zugefchrieben werden, fobald man in ihm ben menfchgerwordenen 
Logos, der von Anfang an bei Gott war, erfannte. 

Presbyter, „Aeltefte“, hießen in der apoftolifchen Zeit 
die Borfteher der Gemeinden, welche die Aufficht über Lehre 
und Sitten führten, daher auch Epiffopen, Bifchöffe, „Wächter“ 
genannt wurden; fie leiteten den Gottesdienft und ware meiſt 
aud) Lehrer. . Späterhin wurde dieſes Verhaͤltniß ein - ganz 
anderes, und von Presbyter ſtammt unfer „Priefter“ ! 

Priefter, Vollzieher der gottesdienſtlichen Gebräudye; Die 


541 


jüdifchen mußten aus dem Gefchlechte Aarons, des Bruders 
Mojes, fein. Sie waren in vierumndzwanzig Claſſen getheilt, 
deren jede ihren Oberprieiter hatte. Diefe find auch ge 
meint, wenn im neuen Zeflamente von mehreren Hohen 
prieftern die Stede ift. - 

Propheten, von Saul bis zu den nädhften Zeiten nah 
dem Erile, gottbegeifterte Männer, welche, ohne einen befonberen 
Drden zu bilden, zu allen Zeiten öffentlich warnend und lehrend 
auftraten, wo e3 galt, Abgötterei und Sittenlofigfeit des 
Bolfes, oder falfche Politif der Könige zu befämpfen. Se 
drohender die Gegenwart ward, defto mehr richtete fich ihre 
Blick in die Zukunft, die fie häufig mit dei lebhafteften Farben 
malen (daher ihr Name — „Vorherfager“), meift Unheil vers 
fündend, oft aber auch hinweifend auf den rettenden Glanz 
des Meſſias. 

Profelyten, diejenigen Heiden, welche zum Sudenthume 
übergegangen waren; fie wurden natürlich befchnitten; ſpaͤter 
kam auch noch eine einweihende Taufe hinzu. 

Quirinus, wurde römifcher Statthalter in Syrien, nicht 
vor dem Sahre 4 n. Chr., und hielt fpäter eine Schatzung in 
Sudäa, weil biefe Landichaft inzwiſchen römiſch geworden war. 
(S. Römer.) 

Rabbi, Ehrentitel der jüdiſchen Geſetzlehrer (ſ. Schrift⸗ 
gelehrte), womit man fie ſtets anredete, weil man es für 
unſchicklich hielt, fie bei ihrem Eigennamen zu nennen. 

Raphael, einer der fieben Erzengel, der im Buche To⸗ 
bias vorfommt. 

Rationaliſt ift der, welcher als Anhänger der Vernunfts 
religion, des Nationalismus, die Vernunft ald einzige Quelle 
und Richtſchnur des Glaubens betrachtet; daher müfjen ftreng 
genommen ſchon die heidnifchen Philofophen, namentlich feit 
Sofrateds, fo genannt werden. Allein man verſteht unter 
Rationalismus nur die Richtung der Vernunftreligion, Die 
im Schooße der chriftlichen Kirche fich dem Glauben an uns_ 
mittelbare, poſitive Dffenbarung, dem Supranaturaliemug, 
entgegenftellt.. Diefe Richtung war von je unter. einzelnen 
Chriften bemerkbar, bildete ſich jedoch erſt feit Dem vorigen 
Sahrhundert ald eigene Schule, die daher: vorzugsweife Den 


542 


Namen „Rationaliften“ führt, aus. Es ift von felbft Mar, 
daß diefelbe alle Wunder in der bibliſchen Gefchichte laͤugnen muß. 

Rüſttag heiß bei den Tuben der Tag, der einem Sabbate 
oder einem hohen Fefktage, z. B. dem Pafcha, voranging; 
der Tag alfo, an deffen Abende das Pafchalamm verzehrt wurde, 
war der Rüfltag des Pafcha. 

Römer. Die Römer kamen dadurch mit den Juden zw 
exit in nähere Verbindung, daß fie während ihren Eroberungen 
in Aflen von ſchwachen jüdifchen Königen um Schuß, und 
bald ald Schiedsrichter in ihren Zwiftigfeiten angerufen wurden 
von 64 v. Ehr. an); dadurch bradıten fie Paläftina unter 
ihre Vormundſchaft. Anfangs gab man dem Hohenprieſter 
Gmb Kürften) einen Ausländer zum Gehülfen, bald aber machte 
won einen andern, Herodes (ſ. d. A.), gar zum Könige, 
Nach defien Tode ward das Reich von den Römern zwifchen 
feine zwei Söhne getheilt; ſchon im Sahre 6 n. Chr. wurde 
der eine, Archelaug, der Judäa, Samaria ıc. beherrichte,- 
entfernt, und feine Ränder zur Provinz Syrien gefchlagen; 
ein Gleiches gefchah 38 n. Ehr. dem zweiten Sohne, H. Antis 
pas. Hierauf erhielt zwar ein Enfel des Herodes, H.Agrippa, 
noch einmal eine Art Scheinherrfchaft über Paläftina; allein 
feit 44 ward dasfelbe auf immer ganz römifd). 

Roſenkranz, Profeflor in Königsberg: — „Encykläpodie 
der theologiſchen Wiſſenſchaften“. 

Sabbat, ber ſiebente Tag ber Woche, Ruhe» umd 
Freudentag, den man durch Brandopfer und Gebete feierte; 
Arbeit jeder Art war fireng verboten, am meiften in ben 
fpäteren Zeiten. 

Sadducäer, eine jüdifhe Secte, deren Urfprung dunkel 
iſt. Im Oegenfage zu dem immer greller überwiegenden Say 
zungsweſen legten die Sabducäer das größte Gewicht auf- 
Tugend und innere Bereblung, und hielten fid) daher nur an 
‚bie gefchriebenen Geſetze; dabei verläugneten fie eine Vergel⸗ 
tung nach dem Tode, und fomit auch die Auferftehung. Dbs 
gleich fie in allen diefen Punkten den mächtigen Pharifäern 
(f. d. A.) entfcjieden entgegen traten, fo waren fie Doc, nicht 
ohne Anfehen, befonderd bei den Gebildeten, faßen auch im 
Synedrium, und gelangten felbft zur Hohenpriefterwürde. 


543 


Salathiel, der fonft unbekannte Sater Sernbabels. 
S. d. A.) 

- Salbungen waren im Morgenlaude ſehr haͤufig, theils 
us Gewohnheit des täglichen Lebens, theils als Ceremonie bei 
zewiſſen Alten. «S. König.) 

Samaria, eine große und fefle Stadt in Mittelpaläfkina, 

dauptſtadt der israelitifchen Könige, gab der Landſchaft dem 
Ramen, die fich, in der Mitte zwifchen Judäa und Perän ger 
egen, bis an das mittelländifche Meer hin erftreckte. 
" Samariter, die Einwohner Samariad nach dem Exile; 
fe waren eine Mifchung zurüctgebliebener Israeliten und einges 
wangener heibnifcher Eoloniften, und wurden daher, obgleich 
ie das moſaiſche Geſetz befolgten, von den zurückgekehrten 
Juden fo verachtet, daß diefe ihnen die Theilnahme an dem 
Tempeldienſt zu Serufalem verweigerten. Sie errichteten daher 
men eigenen auf dem Berge Garizim, und wurden von dem 
suden mehr, ale bie Heiden, veradhtet. | 

Samuel, der bekannte Prophet, um 1100 v. Chr., ber 
en Juden ben erſten König geben mußte, Saul, gegen ben 
r die Rechte der Priefterichaft mit Bitterfeit vertheidigte. 
Fr war zum Nafträer cf. d. A.) beftimmt gewefen, und feine 
Seburt fchon ift durch Mythen verherrlicht. 

Sara, Frau des Abraham, gebahr erft im hohen Alter, 
a neunzigſten Sahre (9), den Iſaak. 

Saßungen nennt man alle diejenigen religiöfen Vor⸗ 
chriften und Lehren der Juden, die nicht im geſchriebenen 
Heſetze enthalten find, ſondern auf mündlicher Ueberlieferung 
eruhen. 
Saul, erſter König der Juden, nach 1100 v. Chr.; ſein 
eben iſt bekannt, ſo wie ſein unglückliches Ende. 

Schatzung. Wenn von einer jüdiſchen die Rede iſt, 

kann dabei nur an Einſchreibung in die Geſchlechtsregiſter, 
am Stammorte geſchehen mußte, gedacht werben. 

Schatzung, römiſche; m den Kaiferzeiten (das 
rühere gehört nicht hierher) wurden zuweilen in den Pros 
inzen genaue VBerzeichniffe aller Unterthanen nach Kopfzahl, 
ermögen und Gewerbe aufgenommen, was die Römer Eenfus 


343 

nannten; Luther überſetzte das griechifche Wort dafür nicht 
ganz richtig mit „Schabung“. 

Schaubrode nannte man die zwölf ungefäuerten Brode, 
weiche, mit Weihrauch und Salz beftreut, im Heiligen bes 
Tempels auf einem Tiſche lagen, ald Sinnbild der täglıchen 
Speife Sehova’s; fie wurden an jedem Sabbat erneuert. Die 
alten Echaubrode wurden von den Prieftern im Heiligthume 
felbft verzehrt. " 

Scelling, Fr. Wilh., der berühmte Begründer der 
fogenannten Naturphilofophie. Hierher gehören: 1) „Ueber 
Mythen, hiftorifche Sagen und Philofophen der älteften Belt“. 
— 2) DBorlefungen über die Methode des afademifchen 
Studiums“. 

Schlange; im Driente gibt ed viele giftige Schlangen: 
ale in der Wüfte Viele, die von ſolchen gebiffen worden, 
ftarben, hieng Mofes eine eherne Schlange an einer Stange 
anf, bei deren Anblicke jeder Gebiffene genas. 

Schleiermacher, Fried., einer der größten Theologen 

neuerer Zeit, ftarb 1834 in Berlin als Profeſſor der Thee⸗ 
logie: — 1) „Reden über die Religion“. — 2) „Chriftliche 
Slaubenslehre“. — 3) „Ueber die Schriften des Lukas“. — 
4) „Zwei Sendfchreiben an Lücke über feine Glaubenslehre“. 
— Strauß hat ihm in feiner neuften Schrift: „Charafteriftifen 
und Kritifen“ ein fchönes Denkmal geſetzt. 
w Schnedenburger, Profeffor der Theologie in Bern. 
— 1) „Ueber den Urjprung des’ erften Fanonifchen Evans 
geliums“. — 2) „Ueber Das Evangelium der Aegypter“. — 
3) „Beiträge zur Einleitung in’d neue Teftament“. — 4) „Leber 
das Alter der jüdifchen Proſelytentaufe“. — | 

Schriftgelehrte; die eigentlich gelehrte Kafte unter 
den Juden, und, da das Geſetz (die Schrift) den Mittel 
punkt aller Gelehrſamkeit bildete, Die zünftigen Ausleger des⸗ 
felben. Sie waren über das ganze Land verbreitet, übten 
eine Art von Polizei in Tempel und Synagogen aus, und 
theilten ſich wahrſcheinlich in drei Claſſen: privatifirende (denn 
jeder mußte noch ein anderes Gewerbe treiben), die gelegent⸗ 
lich Rath ertheilten, — lehrende — und Beifiter des Syne⸗ 
driums. (©. A) 


| 545 | 
Schulz, Profeflor in Breslau. — „Die chriftliche Lehre _ 
- vom heiligen Abendmahle“., 

- Serubabel, aus David's Gefchlechte, der Anführer der 
eriten aus dem Erile heimfehrenden Schaar der Suden 
(536 v. Ehr.); er betrieb eifrigft den Wiederaufbau des 
Tempels. 

Semler, ein berühmter Theologe des vorigen Sahrhuns ° 
dertg, eigentlicher Bahnbrecher; ſtarb 1791 als Profeſſor der 
Theologie in Halle. — 1) „Von freier Unterſuchung des 
Kanon“. — 2) „Umſtändliche Unterſuchung der daͤmoniſchen 
Leute“. 

Sieffert (9. — „Ueber den Urfprung des erften Evans 
geliums“. 

Silberling, auch Sedel genannt, eine jüdifche Münze, 

im Werthe von etwa 19— 20 Basen. 

Silvam, eine Duelle in einem Thale, nahe bei Serufas 
lem, deren Waffer in einem beträchtlichen Teiche gefammelt war. 
| Simon, ber Apoftel, fol fpäter Bifchoff in Serufalem 

gewefen, und unter Trajan gefreuzigt worden fein. 

Simfon, der große Heros der israelitifchen Heldenzeit 
(12 — 1100), deffen Leben und Thaten von der Sage bie 
in's Abenthenerliche gefteigert wurden; erhielt ald Sohn einer 
fange unfruchtbar gewefenen Mutter die Weihe eines Nafis 
raͤers. (©. d. A.) 

Sinai, der durch die Gefeßgebung berühmt gewordene 
Berg, liegt faft in der Mitte der beiden Meerbufen, welche 
Das rothe Meer an feinem nördlichen Ende bildet; er theilt 
ſich in zwei Spigen, deren eine 7047, bie andere 8092 Fuß 
hoch if. 

Spcinianer, eine in ber Reformationszeit entſtandene 
chriſtliche Secte, die ihren Namen von zwei merkwürdigen 
italieniſchen Gelehrten, Laͤlius und Fauſtus Socin, erhielt, 
anfangs weit verbreitet war, jetzt aber unter dem Namen 
„Unitarier“ nur noch in Siebenbürgen beſteht. Sie glauben 
nicht an die Göttlichfeit Chrifti, und fomit auch nicht an die 
Dreieinigfeit. 

Speichel. Die Rabbinen zu Jeſu Zeit bedienten ſ ich 
desſelben häufig bei Augenkrankheiten. 

II. | 35 


546 

Stater, eine griechiiche Münze, nach umferm Gelbe etwa 
23 Baken. 

Stephanug, einer ber erften ſieben Dialonen (S. d. A.) 
in Jeruſalem, wurde bei dem Synebrimm verklagt, wahrſchein⸗ 
lich 37 n. Chr., und ehe er noch feine Vertheidigung geendigt 
hatte, von dem Bolfe gefteinigt; daher der erſte Martyrer 
(S. d. 9.) genannt. 

Steudel, ein kürzlich in Tübingen verftorbener Profeflor 
der Theologie; fchrieb mit großer Leidenfchaftlichkeit gegen 
Strauß, ohne irgend Etwas zu widerlegen. 

Stunde, f. Tag. 

Sündfluth. Die Sagen vieler alten Völker wiflen von 
einer großen allverheerenden Waflerfluth zu erzählen, daher 
die-Wirffichfeit einer folchen nicht zu bezweifeln iſt; eben fo 
gewiß aber ift es, daß fich Die Ueberlieferung davon, wie fie 
im alten Teftamente zu leſen ift, nadı eigenthuͤmlich jüdifchen 
Vorſtellungen geftaltet hat. 

Sündopfer, Sühnopfer, fpielen in dem mofaifchen 
Cultus eine große Rolle; ed gab deren fehr viele; alle waren 
blutige Thieropfer; das wichtigfte war Das an den Neumonden ıc. 
für das ganze Volk dargebrachte. Solche Opfer follten den 
. Zorn Sehova’s über die Sünden des Volkes verfühnen, und 
fehienen nöthig, da das ganze Gefeg (S. d. U.) ald ein Bund 
Jehova's mit dem Bolfe betrachtet wurde, und jede Sünde 
desſelben dieſen verletzte. 

Supranaturaliſten ſind diejenigen, welche Religion 
ohne den Glauben an eine höhere, unmittelbare Offenbarung 
Gottes durch Wunder für unmöglich, und Die Offenbarung 
Gottes, wie fie die heil. Schrift enthält, für die einzig 
wahre halten. Sie ftehen den Nationaliften (f. d. U.) fchroff 
entgegen; von den Drthodoren unterfcheiden fie ſich dadurch, 
daß fie nicht einfach bei dem WWunderglauben der Kirche 
fchlecht und recht ftehen bleiben, fondern denfelben durch myſti⸗ 
fche Ideen und fogenannte wiſſenſchaftliche Beweiſe zu ftügen 
und mit der Bildung der Zeit in Einklang zu bringen fuchen. 

Synagogen waren Berjammlungshäufer zu gemeinfchaft- 
licher, an jedem Sabbat vorgenommener- Andacht, zu Gebet 
und zum Anhören religiöfer Vorträge, jedoch ohne allen Opfers 


537 


dienft, der allein im Tempel ci. d. A.) ftatthaben konnte. Zu 
Jeſu Zeit hatte faft jede Stadt eine Synagoge. 

Synedrium, der oberfte Gerichtshof der Juden in Jeru⸗ 
falem, beftehend aus eimmmbfiebenzig Mitgliedern, theild Ober: 
prieftern CHohenprieftern), theild Aelteſten, theild Schriftges 
Ichrten (Pharifäern und Sabducäern), unter dem Vorfike des 
Hohenpriefterd. Es urtheilte in erfter und letzter Inſtanz ab 
über Stammangelegenheiten, über falfche Propheten, über 
Vergehen gegen die Religion und Cwahrfcheinlich) auch über 
Die gegen den Staat. ©. die betr. Art. 

Synode, jede Berfammlung in firchlichen Angelegenheiten; 
in den früheren chriftlichen Sahrhunderten dienten die Synoden 
aller Bifchöffe ꝛc. befonders zur Entfcheidung über ftreitige 

Punkte der Kirchenlehre. 
| Synoptifer nennt man die drei erften Evangelien; der 
Name heißt „Ueberfichtliche“, und wird ihnen Darum beigelegt, 
weil fie im WWefentlichen fo übereinftimmen, daß fich der Ins 
halt fammtlicher zu faßlicher Ueberficht zufammenftellen läßt, 
während Sohannes für fich weit mehr allein fteht. 

Tag. Der bürgerliche Tag (von 24 Stunden) fteng bei 
den Juden mit Sonnenuntergang anz der wirkliche Tag (von 
Anfang bis Untergang der Sonne) war das’ ganze Sahr über 
in 12 Stunden eingetheilt, weßhalb natürlich die Stunden 
im Sommer beträchtlich größer waren, als im Winter; Die 
fechste Stunde ift alfo immer Mittag 12 Uhr nad) unferer 
Rechnung. 

Talent, griechiſche Bezeichnung einer gewiffen Summe, 
deren Größe aber nad) Zeit und Ort fehr verfchieden war; 

von 2000 bis 800° rhein. Gulden. 
Zanfendjähriges Neid; von Cerinth Cf. d. A.) bis 
auf die neuere Zeit herab träumten chriſtliche Schwärmer 
Davon, daß Sefus nach feiner Wiederfunft (ſ. d. A.) zunächft 
die auserwählten Frommen auferweden, mit Diefen taufend 
Sahre in Herrlichkeit leben, und fodann auch alle Andern zum 
Weltgerichte auferftehen laffen werde. 

Tempel, das eigentliche Nationalheiligthum der Juden, 
in welchem allein dem Jehova Dpfer gebracht werden durften, 
weil er im Tempel unfichtbar wohnte unter feinem auser⸗ 


548 

wählten Bolfe. In früherer Zeit hatten die Juden flatt dee 
Tempels bie fogenannte Stiftshütte, eine Reliquie ihres Romas 
denlebens; David zuerft faßte den von Salomon ausgeführten 
Pan, ein feſtes, prachtvolles Zempelgebäude zu errichten, 
Bor dem Erile ward dieſes zerftört; nach bemfelben noch 
prachtooller wieder aufgebaut; und diefen zweiten Tempel 
ließ Herobes zu noch größerem Glanze erweitern und ums 
bauen. Der Tempel beitand aus Borhalle, Tempelhaus, 
Heiliges, Allerheiligftes. 

Tempelweihe; das Feft der Tempel, zur Erinnerung 

an die durch Salomon vollgogene Einweihung des eriten 
Tempels. 
Teufel. Obgleich ſchon der früheſte Glauben der Juden 
böfe Geiſter, als abgefallene Engel, kannte, fo warb doch bie 
Borftellung von einem mächtigen, Jehova gegenüberfichenden, 
Zürften derfelben, „Zeufel, Satan“, dem perfonifizirten 
böfen Prinzipe, erft nach dem Exile allmälig unter den 
Juden herrfchend. 

Theophilos, Bifhoff von Antiochien (nicht von „Ale 
xandria“, wie ed S. 39 irrigerweife heißt), ein bedeutender 
hriftlicher Schriftiteller, der, ald würdiger Nachfolger Juſtin's 
(S. d. A.), mit Waffen der Gelehrfamfeit das Chriſtenthum 
zu vertheidigen fuchte. 

Tholuck, Profeffor der Theokogie in Halle: — 1) „Eom- 
mentar zu dem Evangelium Johannes“. — 2) „Die Lehre 
von der Simde und vom Berfühner“. 

Tiberias, eine der wichtigften Städte Galilän’s, am 
weftlichen Ufer des See's gelegen, und auch noch in ber 
chriftlichen Zeit von Bedeutung. 

Trachantis, eine Heine, Landfchaft, welche an das nord: 
öftliche Galiläa angränzend, zu Paläftina in weiterem Sinne 
gezählt wird. 

Troas, Stadt am Hellespont (den heutigen Dardanelien), 
welche von Paulus zweimal befucht wurde. 

Unterfleid; ein fehr einfaches, siemlich eng anfchließendes 
Kleidungsftüd, unter welchem VBornehmere noch ein feines 
Hemd trugen; ed war gewöhnlich ohne Aermel. Das darüber 


549 
geworfene Oberkleid war fowohl nach den Völkern, wie nach 
den Geſchlechtern verſchieden. 

Vater, als Profeſſor der Theologie in Koͤnigsberg 1826 
geſtorben; ein ſehr gelehrter Sprachforfcher! Commentar 

über den Pentateuch“. 
Valentinianer, eine ber vielen Fractionen. der Gno⸗ 
ftifer (f. d. A.); fie tragen ihren Namen von einem gewiffen 
Balentin, deffen Syſtem und wenig befannt ift. 

Venturini, ein Hiftorifer, der unter Anderm fchrieb, 
ohne feinen Namen zu nennen: 1) „Die Wunder des neuen 
Teftamentes in ihrer wahren Seftalt“. — 2) „Die natürliche 
Gefchichte des Propheten von Nazaret“. — Er ift ein gläubiger 
Kachbeter des denfgläubigen Dr. Paulus. 

Borläufer des Meſſias; als folcher wird Johannes der 
Täufer bezeichnet, der allerdings viel dazu beitrug, das Volk 
für die höheren Ideen Jeſu empfänglich zu machen; ihn dafür 
zu halten, war man um fo eher geneigt, weil nach gemeinem 
Glauben dem Meſſias der wieder erwachte Elias voranges 
hen follte. 

Waſchungen waren im Morgenlande ungleich häufiger 
als bei ung; im Allgemeinen ſchon wegen der durch die grös 
Bere Hitze bewirkten größeren Ausbünftung; im Befonderen 
wegen eigenthümlicher Gewohnheiten. Die Füße mußte man 
öfters waſchen, weil man feine gefchloffene Schuhe trug; die 
Hände, weil man ohne Werkzeuge mit bloßer Hand die Spei⸗ 
fen aus der Schäffel nahm. 

MWegfcheider, Profeffor der Theologie in Halle, berühmt 
geworben durch feinen Verſuch, in einer chriftlichen Glaubens: 
lehre den Nationalismus zu einem gefcjloffenen Syftem zu er- 
heben : 1) ‚‚Institutiones theol.“ ıc. (der Iateinifche Titel 
feiner Slaubenslehre). — 2) „Einleitung in das Evangelium 
Johannes.“ — 

MWeltgericht, f. Wiederkunft. 

Wiedergeburt, f. Wiederkunft. 

Wiederkunft. Nach Jeſu Tode, der alle irdifchen Mef- 
fiaghoffnungen feiner Sünger vernichtet hatte, bildete fich fehr 
bald der Glaube unter ihnen, daß des Meffias Beitimmung 
nur durch Leiden und Sterben habe erreicht werden können. 


550 


Da fie jedoch die Vorftellung von einem Alles übertreffenden 
Glanze deffelben nicht aufgeben konnten, fo wurbe zugleich der 
Glauben herrſchend, er werbe, nachdem er bei feinem erften 
Kommen ſich felbft erniedrigt hatte, bereinft in all feiner eins 
gebornen Herrlichkeit wieberfommen, und alsdann -ein 
Gottesreich gründen, defien Glanz alle denkbare irdifche Größe 
übertreffe und in alle Ewigfeit fortdaure. 

MWolfenbüttler Fragmentift. Unter diefem Namen 
gab der berühmte ©. E. Leſſing eine Reihe von Abhands 
lungen heraus, die er auf der Bibliothek in Wolfenbüttel, 
welcher er damals, von 1769 an, vorftand, aufgefunden zu 
haben verficherte. Diefe Fragmente erregten durch die Kühn⸗ 
‚heit, mit weldyer fie im Sinne der englifchen Deiften (f. d. A.) 
die Wahrheit der evangelifchen Erzählungen befämpften, uns 
glaubliches Auffehen. Lange Zeit kannte man den Berfaffer 
derfelben nicht; jebt ift ed ausgemacht, daß es der 1768 in ' 
Hamburg verftorbene Profeffor Neimarus war. 

Wort Gottes, |. Logos. 

Wüſte; nach biblifhem Sprachgebrauche nicht eine völlig 
wüfte, fondern nur eine nicht regelmäßig angebaute Gegend, 
die deßhalb Doch gar wohl der Viehzucht dienen konnten. Des 
ren gab ed mehrere in Paläftina, nämlich: 1) die Sudäifche; 
2) die von Jericho, zwifchen dieſer Stadt und Bethanien; 
3 die Wüfte bei Bethfaida am Galiläifchen See (f. d. betrefs 
fenden Artife), u. U. 

Zacharias, ifraelitifcher König, 772 vor Chriſtus, ber 
nur ſechs Monate regierte. 

Zachäus, der aus Lukas bekannte Meine Oberzöllner, ein 
geborner Jude, der ald Bifchof von Cäfaren geftorben fein fol. 

Zeichen; dieſes Wort wird im Neuen Teſtamente fehr 
oft als gleichbedeutend mit „Wunder“ gebraucht, weil nadı 
jüdifchen Vorftelungen Wunder ald ein nothmwendiges und 
untrügliches Zeichen betrachtet wurden, an welchen man 
gottgefandte Propheten erfannte, 

. Zendreligion, die Religion der Perſer (ſ. d. 4), 
deren heilige Bücher den Namen: „Senbeätbefta”, d.h. „leben 
diges Wort“ trugen. 

. Zöllner, die Lintereinnehmer der indireften Abgaben. 


551 . 
, Die Römer hatten das Syſtem, die indireften Einfünfte in 
den Provinzen an einzelne Unternehmer zu verpachten,, dieſe 
gaben fie wieder an einzelne Eingieher ıc. in Pacht. Bei Die: 
fem Spyfteme mußten die Unterbeamten durch das VBeftreben, 
aus ihrem Pacht den möglichften Vortheil zu ziehen, zu viel- 
fältigen Bedrüdungen verleitet werben, die den ganzen Stand 
dem zahlenden Volke verhaßt machten. 

Zollifofer, ein berühmter, in Leipzig 1788 verftorbener 
Kanzelredner; geboren in St. allen. 


77} 


Nachwort. 





Die Erſcheinung dieſer zweiten Abtheilung hat ſich etwas 
laͤnger verzögert, als ich bei Abfaſſung der Vorrede voraus⸗ 
ſehen konnte, und ich halte es für Pflicht, zu erklaͤren, daß 
mein werther Herr Verleger nicht im Mindeften daran fchuld 
ift. Unerwartete Störungen, welche durch meine amtlichen 
Berhältniffe herbeigeführt wurden, raubten mir nur zu oft bie 
zu einer folchen Arbeit erforderliche Ruhe und Muße. Sch 
wollte aber lieber dieſe Abtheilung etwas fpäter an's Licht 
treten laffen, als ihr ben Stempel der Eile aufbrüden; in 
der That darf ich auch verfichern, daß fie hinter der erften 
auch nicht zurücteht, vielmehr, wenn mir darüber ein Urtheil 
vergönnt ift, es verdienen wird, derjelben in Bezug auf Ges 
biegenheit und Klarheit vorgezogen zu werden, weil bei fort 
gefeter Bemühung die Methode einer folchen Bearbeitung ſich 
mit zuwachjender Sicherheit wie von felbft entwideln mußte. 
Daher darf ich hoffen, daß fie den Beifall, welchen zu meiner 
Freude die erfte Abtheilung bereits gefunden hat, wenigſtens 
nicht fchwächen werde. — 

Während ich an dieſer Abtheilung arbeitete, erfchienen die 
„Charakteriftifen und Kritifen von Dr. D. F. Strauß“. Ich 
erfehe aus der Vorrede zu Denfelben, daß Strauß es bedauert, 
in dem erften Theile der dritten Auflage feines Lebens Jeſu, 
welche meiner Bearbeitung zu Grunde liegt, zu viel Gewicht 
auf die neuerlich wieder vorgebrachten Beweife für Die Aecht⸗ 
heit des Tohannes-Evangeliumsd gelegt zu haben, und darum 
in der Kritif der in ihm enthaltenen Berichte und Erzähluns 
gen zu lar und nachfichtig gewefen zu fein. - Dieß beurfundet 
. fich allerdings in einigen Abfchnitten, 3. B. über Die Samaris 
terin (S. 200), über die Reden Jeſu (S. 243) u. A. bemerf: 


553: | 

bar genng, und ich freue mich deßhalb, daß Strauß zu feiner 
firengen Gonfequenz zurüdgelehrt if. — 

* Mit derfelben Zuverficht, die ich in der Vorrede ausſprach, 
ſchließe ich dieſes Nachwort: daß nämlich die, unbefangene 
Prüfung der Geſchichte dem wahren Glauben keinen Eintrag 
thun Tonne, fo wie fie es nicht thun will. In ben inzwi⸗ 
fchen über den Kanton Zürich. herangebrochenen Stürnen, 
die als eine Fortſetzung (Endpunkt wage ich nicht zu fagen!) 
der Strauß’jchen VBerufungsgefchichte zu betrachten. find, hat 
fi) die ganze Maffe des im Inneren des Fanatismus gähs - 
renden vultanifchen Stoffes entladen. Kaum beginnt aber 
der Lavaſtrom fi abzufühlen, fo fangen auch fchon aller 
Drter die Unbefangenen an, ſich wieder zu befinnen, und Iefen 
aus den rauchenden Trünimern die ewige Wahrheit heraus: 
„jo wie das blinde Eifern gegen ächte Wiffenichaftlichfeit nicht 
von Gott fommt, fo kam es auch nicht zu Gott führen!“ 
— Die Zukunft wird richten! 

Im November 1839. 
Der Verfaſſer. 


Borrede 


554 


Inbaltsverzeichniß. 


Cinleitung (S. 1—17). 
Grfter Theil. Darftellung ber verfchiedenen Aus⸗ 


legungsweifen ber biblifchen Gefchichte (1— 33). 


Die Entftehung verfchiedener Erklärnugsverſuche 
heiliger Geſchichten 

Berfchiebene Deutungenbei®riehen, Hebräern 
und chriftlichen Kirchenvätern 

Die Deiften, Rationaliften und Kant 
Entftehung der mythiſchen Auslegungsweife 
Mangelhaftigkeit dee bisherigen mythiſchen 
Auslegungsverfuche 


Zweiter Theil. Nähere Begründung des mythifchen 


Standpunktes (33 — 71). 


Möglichkeit von Mythen im neuen Teſtamente nach 
außeren Gründen 

Möglichkeit von Mythen im neuen Teſtamente nach 
inneren Gründen 

Entftehungsweife der Hiftorifchen und ber reinen 
Mythen 

Merkmale, woran fih die Mythen im neuen 
Zeftamente erkennen laffen 


Erfter Abſchnitt. Geburt und Kindheit Jeſu [72 


bis 129). 
Verkündigung und Geburt Johannes, bed Täufers 
Jeſu Abflammung von David, nach zwei Ge⸗ 
fhledtsregiftern 
Jeſu Verkündigung 
Jeſu übernatürliche Erzeugung 


Seite 


25 


88 


41 


50 


62 


72 


78 
82 
86 


Kay. V. 


— IX 


68 


Berhaͤltniß zwiſchen Jofeph und Ma⸗ 
ria und Beſuch bei der Eliſabeth 
Die Geburt Jeſu in Bethlehem und 
ber Lobgeſang der Engel - . 
Befuch der Magier und Bethlehemi« 
tifher Kindermord 

Jeſu Darftellung im Tempel und 
Wohnort feiner Eltern 

Erfter Temperbefuch und Jugend: 
verhältniffe Jeſu 


Zweiter Abfchnitt. Das erfte öffentliche 
Auftreten Jeſu (S. 130 — 181). 


Kar. 1. 


Das Verhältnig Jeſu zu Johannes, 
dem Täufer 

Urtheileüber den Täufer, und lebte 
Schickſale beöfelben 

Die Taufe Jeſu 

Die Berfuchungsgefchichte 

Die Lokalität des Öffentlichen Lebens 
Jeſu | 
Chronologiſche Anordnung bes dfe 
fentlichen Lebens Jeſu 


Dritter Abſchnitt. Die Meffianität Jeſu 
und feiner Sünger (©. 182 — 219). 


Kap. I. 


Jeſu eigene Anfichten über feine 
Perſon 


. Sefu meſſianiſcher Plan im Allge⸗ 


meinen 

Stellung Jeſu zum moſaiſchen Geſetz, 
zu den Heiden und den Samaritern 
Die Berufung mehrerer Jünger durch 
Jeſum 


Die zwoͤlf Apoſtel und bie ſiebenzig 


Sünger 


Vierter Abichnitt. Die Reden Jeſu und 
die wichtigften natürlichen Begebenheiten 
aus feinem Leben CS. 220 — 272). 


Kay. IL 


Die Bergpredigt und bie Rebe bei 
Ausfendung ber Swölfe 


Seite 
23. * 
98. 100 
108 
418. 145 


1230. 124 


194. 198. 200 


2230. 226 


— V. 
— VI. 
— VIE 
— VIII. 


556 
Die Parabeln Jeſu 
Andere Reben Jeſu in den drei erften 


. Evangelien 


Größere Reden und einzelne Ausfprüche 
Sefu im vierten Evangelium 

Die Staubwürbigfeit der Reben 
Sefu im vierten Evangelium 

Einige Begebenheiten aus dem Le 
ben Jeſu, befonders ber Befuch feiner 
Berwandten 

Die Rangſtreitigkeiten unter den 
Jüngern, die Tempelreinigung und 
die Satbung durch ein Weib 


Abſchnitt. Die Wunder Jeſu 
Die Wunder im Allgemeinen be 
trachtet 

Die Austreibung böſer Beifter 
Heilungnvon®elähmten, Ausſäz⸗ 
zigen und Blinden 


Unwillkürliche Heilungen, Heilun- - 


gen in die Ferne und Sabbatheili« 
gung 

Todtenerwedungen 

Seewunder 

Die Speifung der Tauſende 

Die Berwandlung bes Waffers und 
bie Berwünfchung des Feigenbaumes 


Schdter Abfchnitt. Die letzten Tage Jeſu, 
fein Leiden und Sterben (S. 350 — 434). 


Kay. IL 
- u 
- m. 
- W., 


Jeſu Berflärung und lebte Reife 
nach Jeruſalem 

Jeſu Reden von feinem Tode, feiner 
Auferſtehung und Wiederkunft 
zum Gerichte 

Die Feinde Jefu, der Berräther 
Judas und das lebte Abendmahl 
Jeſu Seelentampf, feine Ab: 
fhiedsreden und feine Verhaf: 
tung - 


2357. 262 


264. 266. 268 


275 
278, 283 


293. 2396. 298 
305. 307. 313 
316 
328 
3335 


341. 345 


350. 356 


363. 369, 374 


983. 385. 388 


899, 402. 406 


557 


Kay. V. Jeſu Berurtheilung, Verläugnung 


des Petrns u. Tod ded Verräthers 408, 


— VI. Jeſus vor Pilatus und Herodes; bie 
Krenzigung 415. 

— VO. NRaturmwunder bei Jeſu Tode, ber 
Lanzeuſtich in Jeſu Seite und ſein 


Begräbniß 436. 


Siebenter Mbfchnitt. Auferſtehung und 
Himmelfahrt Jefu (S. 435 — 466). 
Kap. I Die Wache am Grabe und erfte 
Kunde von der Auferftehung 485, 
— DI. Die Erfheinungen Jeſu und bie 
Beichaffenheit feines Leibes nah ber 


Auferflehung 443, 
— I Endurtheil über Jeſu Tod und 
Auferſtehung 452 
— IV. Jeſu letzte Anoroͤnungen 460 
— V. Die Himmelfahrt Jen 462 
Schluß-⸗Abhandlung. 
Das Verhaͤltniß der verſtaͤndigen Geſchichts⸗ 
Forſchung zum chriſtlichen Glauben 
(S. 467— 495). 
Kap J. Glauben und Wiffen . 467 
— 1. Die Lehre der Kirche über Chriſti 
Derfon und Wirken 469 
— IN. Die Lehre der Nationaliften und 
Schleiermacher's über Chriftus 477. 


— IV. Die Lehren Kants (de Wette's, 


Horſt's), Hegel's über Ehriſtus 488. 

— V. Vermittlungsverfuh und Schluß 489 
Beilagen. 

1. Die evangeliſche Geſchichte 496 

II. Anmerkungen in alphabetiſcher Ordnung 515 

Nachwort 552 


— ——— 7 ___ — 


437 


447 


478 


485. 486 


var 


Schluß des Drudfehlerverzeichnifies. 


"177, 


178 
187 
187 
190 


8. 4 v. u. lies: demnach, ft. dennoch. 


” 


„ 
DD 
n 


15 1. worden, ft. werden. 

91. an bei, ft. anbei. 

5 v. u. 1. hatte, ft. hätte. . 

9.ift nach „Meſſlas“ einzufchalten : „bar“. 

91. welches, ff. welche. 

6 iſt nach „nach“ einzufchalten: „die“. 
42 1, dem Zöglinge, ft. den Söglingen. 
43 v. u. l. lebten, ft. leben. 

10 iſt nach „habe“ einzuſchalten: „ie“. 

7 1. ein Gatifäer, ft. in. Galilda. 

Sv.ml. es, fl. er 
44 I. ben, ff. der, 

44 I. Matthäus, ft. Markus. 

5 1. Splitterrichten, ft. Spiitterrichter. 
16 1. Gleichniß, ft. Gleichgewicht. 

4 v. u. I. abreifenden, ft. abweifenden. 
43 v. u. l. ber, fl. dem. 

50.0. 1. Jeſu, ft. Jeſum. 

41. endlich, ft. eigentlich. 

18 iſt nach „Mufter“ einzufchalten: „vor“, 

50. u. 1. Jeſus, ft. Jeſu. 

5». u. if „und“ zu tilgen. 

6 1. Tagen, ft. lag. 

-10 1. beobachtet, ft. betrachtet. 
42 ift nad) „Inneres“ einzufcalten: „habe“. 

11 0. u. I. Hiergegen, ft. Hingegen. 

10 v. u. l. Haben, ft. habt. 

8. u. I. näher, ft. nachher. 

4 1. Einem, ſt. Einer. 

44 1. der Kranke, ft. derfelbe. 

8 v. u. 1. ber Sterbenden ſich, ft. fih für die Gtı 

bende. 

1 v. u iſt ganz zu tilgen. 

14 1. dieſes, ft. dieſe. 

12 1. jegt, ſt. ja- 


449 
450 


! 


„20 


3. 4 v. u. iſt ſturmbewegten? zu tilgen. 


iſt vor „verknbchern“ einzuſchalten „li“. 


„» TI. Öffne, fl. Öffnen. ° 


„13 


l. keinen, ſt. einen. 

v. u. l. er, fl. es. 

v. u. I. einen, ft. eine. 

v. u. ift vor „weiten“ einzufchalten „au“. 
v. u. l. daher, fl. aber. 

v. u. l. Hauptftadt, ft. Hauptſtand. 

v. u. 1. mittelbare, fl. unmittelbare. 

v. u. I. benusten, ft. benugen. 

v. u. I. Beben, fl. Leben, 


\ ſchliefen, ft. ſchieden. 


v. u. l. der, ſt. den. 

l. dieſer Ausruf, ſt. derſelbe. 
v. u. iſt „ihn“ zu tilgen. 

iſt „es“ zu tilgen. 

l. Erzählung, ſt. Erklärung. 


T. erſtarrenden, ft. erſterbenden. 


v. u. l. jener, ft. jeder. 


„14 v. u. l. verſchloſſenen, fl. verſchloſſener. 


„12 


v. u. l. machte, ſt. mache. 


—— S. 453 3. 7 v. u. iſt vor „wirklich“ einzuſchalten „nicht“. 


S. 


2 


454 
460 
463 
475 
480 
486 
486 


3. 2 
„16 
„12 
„16 
‚4 
„ 45 
„ 2 


- 


I. großen, fl. große. 

I. Beziehung, ft. Bezeichnung. 

l. Hingange, ft. Rüdgange. 

v. u. I. Einzelnwefen, ft. Engelnwefen. 

I. mußte, fl. muß. 

l. liege, fl. liegt. 

v. u. ift nach „Wunder“ einzufchalten: „berichten“, 


Einzelne Bleinere Verfehen wolle der geneigte Leſer gefälligit felbft 
verbeſſern. 


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Dr. Strauß 


D EM; 
Sürcher Sirhe. 


Stimme aus Norddeutſchland. 


Mit einer Vorrede 


von 


Dr. W. M. 8 de Wette. 





Druck und Verlag der Schweighauſer'ſchen Buchhandlung. 
1839. 





Anklam: 


IE 


Borwort. 





Obgleich ein naher und nichts weniger ale 
gleichgültiger Zufchauer der Eirchlichen Bewegung 
in unferer Nachbarfchaft, hielt. ich mich Doch nicht 
für berufen, dabei irgendwie thätigen Antheil zu 
nehmen; und auch Diefe „Stimme aus Nord—⸗ 
deutfchland“ Hätte ich Fieber unter dem bei allen 
Barteien mohlflingenden Namen ihres Verfaffers 
als unter dem meinigen erfcheinen fehen; indeffen, 
da mein Freund einmal die Anonymität vorge- 
zogen und meine Einführung gemwünfcht Hatte, 
fo wollte ich meinen Dienft nicht verfagen. Ge 
wig verdienen diefe Worte der DVerftändigung 
Gehör und Beherzigung, und die Wiſſenſchaft, 
die in der fo lärmenden Abweifung der Straußi- 
fchen Kritik vom theologifchen Lehrftuhle einen 
Widerſpruch von Seiten des Firchlichen Volkes 
und feiner Führer erfahren hat, wodurch Teicht 
ein Verdacht auf fie feldft geworfen werden könnte, 
bedarf eines ſchützenden Fürwortes. Beſonders 
iſt zu wünſchen, daß das junge theologiſche Ge⸗ 
ſchlecht, aus welchem die künftigen Führer der 
Gemeinde und die Pfleger der theologiſchen Wiſ⸗ 
fenfchaft hervorgehen, vor leidenfchaftlicher Bartei- 


A 


nahme bewahrt bleibe, und nicht die Beute einer 
Reaction werde, welche uns um die. Früchte lang- 
wieriger, ernfter und gründlicher Studien zu brin⸗ 
gen droht. Die fchlimmften Feinde der Miffen- 
fchaft, die Cwie mein Freund gezeigt hat) der 
. Kirche nicht fremd bleiben darf, deren Ergebniffe 
nach und nach ins Volk eingeführt werden ſollen, 
find ihre unfähigen, faulen oder verftodten Jün⸗ 
ger,. die fich den ächten Geift derfelben nicht an- 
eignen können oder wollen, und die, wenn fie 
ins praftifche Leben treten, fich auf die ©eite der 
Unwiffenfchaftlichkeit fchlagen und in der Gemeinde 
den Verdacht gegen die Miffenfchaft ausftreuen 
und unterhalten. Die wahre Vermittelung zwifchen 
ihr und der Kirche follte durch die Geiftlichen 
gefchehen, welche der Natur der Sache nad mit- 
ten inne ftehen, und die das in der Schule aus- 
gebeutete reine Gold in umlaufende Münze aus- 
prägen follten. Es ift wahr, nicht immer und 
überall ift in theologifchen Hörfälen reines Gold 
geboten worden; aber wer felbftftändigen Geift und 
das Vermögen felbftftändiger Denfarbeit gewon⸗ 
nen hat, kann es, wenigftens in reifern Jahren, 
felbft finden. Aus der tiefften, heiligften Sehn- 
fucht meines Herzens fpreche ich den Wunfch aus, 
daß der Herr der Kirche ihr mehr und mehr folche 
Arbeiter, wie fie bedarf, fenden möge! 
Bafel, am 15 April 1839, 


Dr. De Wette. 


Die Berufung des Dr. Strauß ald Profeffor der Theologie 
sach Zürich, noch mehr aber die Entwicklung des damit 
begonnenen Drama’s, bat auch in Deutfchland überall die 
größte Aufmerkſamkeit erregt: Wer könnte auch gleichgültig 
breiben bei Erfcheinungen, welche den Anfang zu den er⸗ 
fchütterndften Lebensentfcheidungen enthalten! Bei Zürich 
wie bei Coln möchte man gleichermweife ausrufen: Sehet auf 
und Ihebet eure Häupter empor! aber nicht, mie es dort 
heißt, weil die Erlöfung nahet, fondern der heiße Kampf 
einer ſchweren Zeit. 

Die Urtheile des augenblicklichen Eindrucks, auch das 
Parteigeſchrei zur linken und zur rechten, abgerechnet, — 
ſind wohl alle ruhigen Beobachter darin einverſtanden, daß 
in Zürich ein längſt in der evangeliſchen Kirche bald heim- 
fich, bald offen fortgeführter Streit zwiſchen der freien 
MWiffenfchaft und der Kirche ald chriftlicher Glaubensgemeinde 
zu einem Fritifchen Ausbruch gefommen ift, deffen erfchüt« 
ternde Macht noch Niemand berechnen Tann. Die Bewegung 
wird nicht auf Zürich befchränft breiben, fie wird unauf- 
haltſam ihren Lauf durch die ganze evangelifche Kirche 
nehmen, und früher oder fpäter entweder in einer neuen 
Firchlichen Spaltung oder einer neuen Fräftigern Einigung. 
ihr Ende finden. Gott mende jenes und ſchaffe dieſes! 


6 

Die Zürcher Wirren geben zunächſt einen Maaßſtab, bis 
zu welchem Grade die neuere Theologie mit der Kirche in 
Widerfpruch geratben iſt. Das Erfreufiche ift, daß doch noch 
MWiderfpruch da ift von Seiten der Kirche, daß dieſe wirk 
lich noch vorhanden, ia im neuer Lebenskraft erfianden if. 
Denken wir und unter Strauß und feiner Partei die then- 
logische Wiffenfchaft in der reinen Form der Bewegung, der 
negativen Kritik, fo haben wir das Schaufpiel, daß die 
Kirche von derfelben angegriffen: auf Leben und Tod ſich 
entfchieden wehrt, die Wiffenfchaft aber zurückgefchlagen mit 
fchmer verhaltenem Groll zu neuem troßigem Angriff fich 
augenblicklich zurückzieht. Wenn nun jene Wiſſenſchaftlichen 
fagen, fie gehörten felbft zur Kirche, und, was ihnen entgegen 
ftebe, fen nicht die Kirche, fondern eine Partei in derſelben, 
die fogenannten Frommen, die Kirchlichen aber fich mit glei- 
chem Nechte gar nicht der Wiffenfchaft als folcher feindlich 
gegenüber geitellt denken, fondern nur einer wiffenfchaftlichen 
Sekte, der fogenannten abfolut Liberalen, fo ficht man frei- 
lich, daß der Streit im Bewußtfeyn der Gtreitenden noch 
fein allgemeiner Krieg zwifchen der Kirche und der Wiſſen⸗ 
fchaft überhaupt ift, fondern ein Parteiftreit, mehr ein 
etwas ausgedehntes Duell, als ein ordentlicher Krieg. Allein 
im Hintergrumde des Schlachtfeldes flieht man deutlich genug 
den Anfang jenes univerfelleren Kampfes, in welchem fich 
Kirche und Wiſſenſchaft gegenfeitig meſſen und beide auf 
die letzte Frage mit einander losgehen, ob und wie weit die 
eine die Grenze der andern ſey. Wir find der feiten Weber- 
zeugung, daß wirflich die eine das Maag der andern iſt und. 
ſeyn fol, und daß in ihrer wahren Allgemeinheit jede an der 
andern ihre Wahrheit und ihr Leben bat. Dieß wird Das 


7 


Ende ſeyn und der wahre Friede in Zürich, wie überall, 
wo der Kampf fich erheben wird, Wir behaupten dieß um 
ſo zupverfichtlicher, da mir in dem erften Aft des Zürcher 
Drama’s Fein anderes Nefultat finden, als dieß, daß die 
Kirche, wenn fie in ihrem innerfien Herzen und Gewiſſen 
angegriffen ift, von Gottes und Nechts wegen die Wiſſen⸗ 
fchaft in ihre Grenzen zurüdmeist. 

Die Abficht diefer Zeilen iſt nicht, die Sache bis zu 
ihren legten Gründen zu verfolgen, fondern nur, von dem 
bezeichneten Standpunft aus auf einiges aufmerffam zu ma⸗ 
chen, mas in und außer Zürich zur Verfländigung und zum 
Srieden dienen Tann. In weiter Ferne von dem Schauplatze 
des Streites, find wir auch ohne alle perfünlichen Verhält⸗ 
niffe zu den handelnden Perfonen, und Tonnen Taum anders 
parteiifch ſeyn, als für die Sache. Es fehlt und allerdings 
die anfchauliche Kenntnig des Einzelnen und Perfönlichen; 
wir wiſſen nicht, wie viel politifches Parteiweſen ſich einge- 
mifcht hat, nur daß wir es auf beiden Seiten gefchäftig finden. 
Aber indem die bunten Farben und Nüancen für den fernen 
Beobachter erblaffen, treten die allgemeineren Momente und 
Grundzüge des Streites Flarer und einfacher hervor, und 
unfer Urtheil kann um fo ruhiger und unparteiifcher werden, 

Wir wollen nicht unterfuchen, was zur Berufung des 
Dr. Strauß beivogen hat, ob fein ausgezeichnetes Talent 
feine geiftreiche Eritifche Gabe, die Kunft der Darſtellung', 
die umfaſſende, fertige, reinliche Gelehrſamkeit, — oder die 
befondere Art feiner theologischen Richtung, fein ſpekula⸗ 
tiver fritifcher Nationalismus, oder eben beides zugleich. 
In der That würde fein Ruf in der vollen Blüthe der Ju⸗ 
gend und der Publicität jeder Univerfität einen bedeutenden 


Glanz verleihen, und es mag fich ihn ſchon manche alte und 
neue Hochfchufe als neue Zierde gewünicht haben. Die Ta- 
delloſigkeit feines Wandels, feine liebenswürdige Perſönlich- 
feit, von der man hört, wären dabei feine geringe Zugabe. 
Und wenn er eben fo fchon zu reden und zu Ichren weiß, 
wie er fchreibt, fo möchte es fchmwerlich einen vollkommneren 
Profeſſor geben. Auch ſteht ed einem Freiſtaate, der fich 
eben von Neuem frei gemacht bat, wohl an, einmal zu ver- 
fuchen, was in dem alten Europa bei der modernen Nord- 
amerifanifchen Lehrfreiheit auf Kathedern und Kanzeln für 
Staat und Kirche herauskomme. Iſt die. evangelifche Kirche 
auch wirklich nichts weiter, ald der Gemeinde der abfoluten 
individuellen Freiheit, fo Tann man ihr noch mehr zumuthen, 
als die Lehre von Strauß, Wer nun vollends diefe Lehre 
für ausgemachte Wahrheit hält, für die längſt im Stillen 
gehegte Ueberzeugung aller Bebildeten, dem Tann es kaum 
anders ald ein Verrath der evangelifchen Kirche an fich felber - 
erfcheinen, wenn fie iene Wahrheit zumal in fo goldenen 
Gefäſſen nicht annehmen will, Von diefen Gefichtspunften 
mögen die Bolitifer, meinetiwegen auch die Philologen und 
Philoſophen, welche auf Straußend Berufung antrugen, aus⸗ 
gegangen fenn. Allein wenn nun doch die Kirche von Zürich 
etwas anders zu fenn erflärte, als jene reine Negation aller 
Gebundenheit durch einen gemeinfamen pofitiven Glauben, 
wenn fich fand, daß die religiöfe Gemeinde in Zürich chem 
fo entfchieden glaubt, was die neue Lehre entfchieden Fäug- 
net, ſo mußten die Berufenden Anftand nehmen. Nachdem 
dann die Kirche durch die theologifche Fakultät, — denn 
an diefer bat die Kirche ein unveräußerliches Recht, — ent⸗ 
fchiedener noch durch das eigentliche Kirchenresiment in edler 


Befcheidenheit auf die Gefahren aufmerkſam gemacht hatte, 
welche für die chriftliche Gemeinde daraus entiichen müßten, 
wenn die theslogifche Tugend auf das urfprüngliche Straufi- 
fche Dilemma geftellt würde, entweder den Glauben der Ge 
meinde gradesu aufzuheben, und flatt des einigen hiltorifchen 
Chriſtus einen halb mythiſchen, halb fpefulativen offen zu 
predigen, oder vor der Gemeinde Verſteck und Heuchelei zu 
treiben, — mar es durchaus Pflicht in eine genauere Debatte 
mit der Kirche einzugeben. Die Kirche als religiöfe Ge 
meinde hatte ein unbedingtes Recht gegen eine Lehre der 
Art zu protefliren, — es ift das Recht der Selbfterhaltung, 
nicht der Herrfchaft. Oder hätte chen mur der Staat das 
Recht, fich Theorien zu verbitten, welche ihn von Grund 
ans zu zerfiören drohen? Oder ift der Staat fo fehr der 
einige Vormund der Kirche, daß fie nur von ihm fchweigend 
und gehorfam zu erfahren und zu empfangen bat, mas ihr 
heilfam ift? Oder denken wir die miffenfchaftliche Schufe 
außer der Kirche wie dem Staate, find diefe beiden fo fehr 
nichts von fich felber weder miffend, noch habend, daß fie 
nur von jener ald einer abfoluten Herrin Wahrheit, Leben 
und Tod, Wiſſen und Gewiſſen empfangen ? Die Wilfenfchaft 
ift uns ein hohes But, wir Finnen fie nur mit dem Leben 
ferbft aufgeben. Aber das höchſte Gut ift fie nicht, ſelbſt wenn 
fie irgendwo vollender wäre und die Wahrheit vollfommen 
erfannt hätte. Als weſentlicher Theil des höchſten Gutes 
hat fie an der Religion, an der Kunft, am Staate, an der 
Kirche, an der Familie ihre nothwendige Ergänzung, und 
am Leben wie an der Natur nicht ihr Produft oder ihre 
Erfindung, fondern ihren Grund und Inhalt. Hätte die 
Wiſſenſchaft, und zwar vorzugsmweife bie abſolute/ die Phi- 


40 


Yofophie, den chriftlichen Glauben erzeugt, erfunden, fo 
möchte fie mit ihm fchalten und malten, zerſtören oder be- 
wahren. Aber dieß wird ſelbſt Dr. Strauß nicht behaupten, 
And fo bleibt's dabei, daß Kirche und Wiſſenſchaft menig- 
fiens zu gleichen TIheilen gehen und aneinander ihre Grenze, 
ihre Wahrheit, ihr Leben haben. Wir verwerfen und ver 
abfchenen alles Pabſtthum und Pfaffenthum, allen Fanatis- 
mus, aber nicht bloß in der Kirche, Es giebt ein Pabll- 
und Pfaffenthum der Gelehrſamkeit und Wiffenfchaft, eine 
fanatifche Tyrannei der Wiffenden. Ihr Motto iſt, fiat 
scientia et pereat mundus! Wir verwerfen und verabfchenen 
auch diefe Tyrannei. Iſt davon im Zürcher Handel Feine 
Spur? Wir wollen nicht richten, aber das wiffen wir, jene 
Unholde find gleich verderblich in der Willenfchaft wie in 
der Kirche, 

Hatte die Kirche ein angebornes echt, eine genauere 
Debatte über ihr Verhältniß zur Straußifchen Lehre zu ver- 
langen, fo hatte fie auch ihrerfeits die Pflicht, anzuerkennen, 
daß Dr. Strauß nach feinen neueſten Erflärungen nicht mehr 
in jenem Dilemma zmifchen offener Vernichtung und Heuchelei 
des Firchlichen Glaubens -fiehe,, fondern einen mittlern Punkt 
ausfindig gemacht habe, mo jene entfesliche Wahl aufhöre. 
Mag die file Macht der Kirche, der fih Niemand ganz 
entziehen kann, oder die wiffenfchaftliche Verhandlung, oder 
beides zugleich, den ftrebfamen Dann genstbigt haben, genug, 
in der dritten Ausgabe feined Lebens Fein giebt er der hi— 
ftorifchen Wirflichfeit Chrifti wieder mehr Umfang und Ehre; 
Chriſtus, zwar nicht der fündlofe und fchlechthin vollfommene, 
aber das ausgezeichnete religiöfe Genie habe die Kirche wir. 
lich geftifter, nicht mehr bloß als mythiſcher Exponens einer 


411 


fpefnlativen Idee; die Spekulation geftatte zwar, fich einen 
noch vollfommenern zu denken, aber wie die Gefchichte Feinen 
böhern wife und die Kirche fich in dem biftorifchen befrie- 
digt finde, fo Fonne man darüber unbefümmert feyn. Nach 
diefen Erflärungen fragt fich nun, iſt dieß der richtige Sinn 
und Ausdruck des Glaubens der Kirche? Es Tönnte ſeyn, 
daß die Kirche darin die wahre Subſtanz ihres Glaubens 
ausgedrüdt fände, nur moderner, heller und beflimmter in 
der Art der neuern Bildung. In diefem Falle wäre der 
Friede gefchloffen. Die ariftofratifche Gemeinde der foge- 
nannten Geiftreichen möchte vielleicht fo urtheilen, obwohl 
ein Hauptpresbyter derfelben, der Verftorbene und nachherige 
Semilaſſo, und die vielgefeierte jüdifche oder vielmehr uni- 
verfelle Brophetin in Berlin kaum damit einverflanden fenn 
würden. Diefer Fraction nämlich der neuen Kirche fcheint 
die Macht des religiöfen Genies Chriftus nicht weniger er⸗ 
loſchen zu ſeyn, ald die des Mofes und Muhammed, fo 
daß entweder ein neues Genie der Art zuferwarten ifl, oder 
eben Feines weiter. Aber die Kirche ſowohl im Durchfchnitt 
als in ihrem tiefften Grunde wird fich Doch diefen chrift- 
lichen Geniekultus in allem Ernft verbitten müffen, fchon 
deßwegen, meil vderfelbe eben nur ein interimiftifcher ſeyn 
fol, der ihrige aber dad ewige Evangelium zum Inhalt hat, 
noch mehr aber deßhalb, weil jenes religiöfe Genie im Zu— 
fammenhang der neuen Lehre Doch nichts anderes ift, als 
eine von den vielen Perſönlichkeiten, durch welche der ewig 
werdende Welt- und Menfchengeift hindurchgegangen, und 
die er auf die Schädelflätte der Gefchichte niedergelegt hat 
als ein Moment feines Selbſtbewußtſeyns und feiner Selbft- 
verfühnung. Zn diefem unendlichen Prozeß laſſen fich noch 


12 


unzählige Chriftus denfen, und Niemand kann willen, ob 
nicht allernächft ein neuer, höherer erfieht. Die Kirche aber 
weiß nicht anders, als daß die ewige, perfönliche Liebe 
und Weisheit Gottes, die ewig felbitbewußte Providenz über 
der Welt, einmal für immer jenen Mann aus Nazareth mit 
feinem Kreuz gefendet hat, nicht ald Produft der natura 
naturans, fondern ald Werf freier, fchöpferifcher Gnade, 
als wahrhaft Heiligen, als wirklichen zweiten Adam ohne 
Sünde, nicht ald einen von den Biclen, von denen die 
unvermeidliche Sünde ald Durchgangspunft abfällt, wie der 
Wagen der Weltgefchichte meiterrollt, und die Exemplare 
des allgemeinen Geiſtes in ihrer Vollfommenheit und Unvoll- 
fommenheit einander ergänzen. Hier find einfache Verglei— 
chungspunfte, und fo Fann die Entfcheidung, felbft dem 
Volke verftändlich und fehr einfach, Feine andere als die 
feun, daß die Lehre von Dr. Strauß auch in diefer neuen 
Ausgabe, und der Glaube der Ehriftenheit auf dem Grunde 
der Schrift und in allen Ausgaben des Firchlichen Lchrbe- 
griffs wefentlich verfchieden find und einander aufheben. 
Wir geben zu, daß die freie evangelifche Kirche einer un— 
endlichen Expanſion fähig ift, und ihr Glaube ſelbſt auf 
verfchiedenen Stufen und in den mannigfaltigften Formen 
feine fubitantielle Einheit behalten Fann. Aber dieſe Er- 
yanfion hat ihre Grenzen, und wenn man der Kirche zu- 
muthen wollte, das Widerfprechendfle ald Momente ihrer 
Wahrheit anzırerfennen, fo würde fie freilich eine fehr al 
gemeine, Atberifche werden, aber-auch in diefer Iuftigen 
Allgemeinheit als chriftliche Kirche ihren Tod finden; und 
es wäre nicht abzufehen, warum fie nicht neben dem pofitiv 
chriftfichen Lehrfiupt auch einen muhammedaniſchen, jüdi— 


413 


fchen, meinetwegen auch indifchen, zu gegenfeitiger Ergän- 
zung aufrichten ſollte. 

‚Die evangelifche Kirche verdammt und verbannt einen, 
auf welcher Stufe der Erkenntniß im Glauben er fteht. 
Und wer der Kirche riethe, den Verfaffer des Lebens Fein 
auszuſchließen, wäre ihr ärgfter Feind und ich fein ent- 
fchiedenfter Gegner. Sie hat Kraft genug, um auch die 
fen muthigen und fcharfen Geiſt in fich zu halten und mis 
fich zu verfühnen in Liebe und Geduld. Sie bat fchon fchär- 
fere ertragen und bewahrt. Aber ein anderes ift, in der 
Kirche feyn mit freier, gelehrter Debatte, mit Zweifeln und 
Fragen der Schule, und ein anderes, die künftigen Prediger 
des Evangeliums im Glauben und im Wiſſen zu unterrichten. 

So war es nicht gut gethan, wider Willen der Kirche 
Dr. Strauß zu berufen, und die warnende Stimme des all⸗ 
gemeinen chriftlichen Glaubens nur für das felbitfüchtige 
Angfigeichrei einiger Frömmlinge zu halten. 

Die evangelifche Kirche hat zu ihrem unmandelbaren 
Prinzip die fortfchreitende Neformation, Sie hat dasfelbe 
nie verläugnet, fo oft es auch verdunfelt, aefchmälert zu 
feyn ſchien; recht darauf angewendet, hat fie fich immer 
wieder darauf befonnen und jede wahre Neformation aufge- 
nommen. Aber ed gicht auch eine falfche, eine Schein- 
reformation, es ift eben die, welche rein negativ den pofi- 
tiven Glaubensgrund der Kirche aufhebt. Niemand wird 
verlangen, daß die Kirche ungeprüft jeden reformatorifchen 
Geiſt, der fich dafür ausgiebt, aufnehme, und die unberufe- 
nen wie die wohlberufenen, die englifchen Deiften z. B. und 
Luther und Spener, mit gleicher Bereitwilligfeit über fich 
fchalten und walten Taffe. 


44 


Aber man bat in Zürich wiederholt gefagt; Strauß fen 
eben ein wahrer Neformator, wie einſt Meifter Huldreich. 
Man bat im Namen von diefem die Zulaffung von jenem 
unbedingt gefordert. Und damit die Parallele vollſtändig 
fen, bat man den widerfircbenden Kirchlichen die fanatifchen 
Dunkler des fechszehnten Jahrhunderts als Ebenbild und 
Schredbild vorgehalten. Es find wohl Manche erfchroden, 
als Bürgermeifter Hirzel die großen Schatten der Reforma- 
toren beraufbefchwor, ihm zu beiten. Aber cd war mebr 
als unerwartet und traurig, daß Dr. Strauß, der es doch 
befier verfteben mußte, nicht befcheiden genug war, fich jene 
Barallele zu verbitten. So wird er ed auch nicht übel 
nehmen, wenn man nun in allem Ernfte fragt, ob wohl 
Luther und Zwingli, Melanchtbon und Calvin, wenn fie, 
auch verflärt durch die Cultur und Milde des neunzehnten 
Jahrhunderts, wieder erfchienen, Dr. Strauß als ihren 
Benoffen und wahren Nachfolger anerfennen würden? Gewiß 
würden fie ihn als einen ehrlichen und cifrigen Sorfcher 
ehren und ſchätzen, aber auch bei der dritten Ausgabe ſeines 
Lebens Jeſu wohl mehr als den Kopf fehütteln. Luthers 
namentlich und auch Zwingli's Nede würde fcharf und ſchwer 
ſeyn. Nach ihren befondern Lehrformeln würden fie ihn 
nicht fragen, aber nach dem Chriflus, der ihre ganze Seele 
durchdrang, und nach der Glaubensſubſtanz, worauf fie ihre 
Gemeinden baueten. Oder follte die Reformation des ſechs⸗ 
zehnten Jahrhunderts wirklich und mwefentlich Feinen andern 
Inhalt haben, als die Zerſtörung alles deſſen, was den 
Helden jener Zeit als unzerſtörbarer Fels galt? Oder wäre 
ihr Weſen eben kein anderes, als die formelle Negation jeder 
gegenwärtigen Kirche? Denn eine jede wirkliche Kirche hat 


15 


an Ehrifto mehr, ald Strauß gelten läßt. Es gab damals 
Geifter, in ihrer Art edle Beifter, welche ſelbſt an der erften 
Ausgabe des Lebens Jeſu ihre Freude und Wahrheit ge- 
funden haben würden. Aber wir finden fie nicht unter den 
Reformatoren, fondern theild unter den Scholaftifern, welche 
einen ſpekulativen Chrifius hatten, ohne den entfprechenden 
biftorifchen , theild unter jenen italienifchen Männern, welche 
von der Fabel von Chriſto fprachen und denen Plato am 
Ende mehr mar, als Chriftus fammt den Apofieln. Die 
Lestern würde ſich Dr. Strauß felbft verbitten ald Genoſſen. 
Er bat und weiß mehr von Chriſto. Aber es follte von 
ihm und feinen Freunden wohl bedacht werden, daß die 
Reformation zugleich die Zerfiörung jener Scholaftif war, 
welche den biftorifchen Chriftus verdunfelte., Diejenigen, 
welche wirklich und bleibend reformirten, waren überall folche, 
welche fich Fieber verbrennen ließen, als fich den biftoriichen 
Chrifius, den ewigen Erlöfer und Heiland aller Zeiten und 
Gefchlechter, nehmen. Diefen Männern war es gegeben, 
als die römifche Kirche fie ausfchloß, eine neue chriftliche 
Gemeinde zu gründen, eine bleibende, aber auf das Wort 
Gottes, worin fie ihr Recht und ihre Kraft hatten. Wir 
wünfchen nicht, daß über die neue Reformation jene ſchwere 
Probe verhängt werde, durch eine neue Gemeinde oder Kirche 
ihr Recht gegen die alte cvangelifche Kirche zu bewahren. 
Der Zulauf würde anfangs bie und da nicht gering fenn, 
aber der Verlauf? Wir haben weiffagende Vorbilder genug, 
alte und neue, Wohlan, es werde verfucht, Dad Gottes. 
urtheil der Erfahrung wird nicht ausbleiben! — 

Die Geſchichte ſowohl der Stiftungsreformation ald der 
fortfchreitenden in unferer Kirche lehrt, daß obwohl die 


16 


Schule der Wiſſenſchaft immer ihren Theil daran bat, dic 
Schule des chrifllichen Glaubens, des rcligisfen Lebens, 
doch die eigentliche pofitive Krafı umd Macht derſelben if. 
Diefeb Leben aber bat von jcher Feinen andern Grund ge- - 
babt und gewußt, als Chrikum den eingebornen, der wicht 
wiederfommt, als zum Gericht. 

Wäre es im Zürcher Streit wirklich nur um einige 
Lehrformeln der Kirche zu thun, ob fe bleiben oder der 
einfichtigern Wiffenfchaft weichen follten, fo wäre es eben 
fo frevelbaft als laͤcherlich zu widerſtreben. Die Kirche, 
welche dagegen proteftirt, iR Feine wahrhaft proteftantifche. 
Aber die Hand auf's Herz! gilt es nur dieß? Die Rede 
it von dem inneren Kern des chriflichen Glanbens, und 
die Frage iſt, ob auch diefer zur Schaale werden foll, die 
man auffchlägt und wegwirft. Was man dann als weißen 
Kern finder, ich weiß nicht, ob es nicht ein Stein ill, den 
man den Leuten giebt, welche nach Brod verlangen. Gott, 
Unfterblichfeit und Freiheit, viele beilige Trias, das fei, 
fast man, der wahre Kern, der ewige, unvergängliche. Das 
find allerdings die Schemata der chriftlichen Wahrheit. Aber 
ihr Inhalt, auf den ed anfommt? Es wird, bis beſſere Beweife 
vom Gegentheil kommen, erlaubt fenn immer von Neuem miß- 
trauiſch zu fragen, lehrt die Kirche denfelbigen Bott und die 
felbige Freiheit und Unfterblichkeit, wie die neue Lehre? Wer 
tiefer blickt, fan die Frage nicht beiaben. Wie nun, foll 
die Kirche der neuern Biffenfchaft, ald wäre fie die Wahr- 
beit fchlechtbin, unbedingt und unbewußt nachgeben, bis fie 
in der endlofen Bewegung zu jener feinen neuen Welt gelangt, 
von der Lichtenberg einft weiffagte, wo dem Glauben der Athem 
ausgeht in der höchſten Gletſcherluft des abſoluten Wiſſens? 


17 


Die Straußifche Lehre ift Fein Sprung, Fein abfolnter 
Anfang. Ihre Anfangsgründe, ihre Grundfäden Tiegen in 
der Gefchichte der mächften Vergangenheit klar genug vor, 
Und wenn man in Zürich gefagt hat, fie fei eben nur die 
Spitze, die Vollendung des neuern Rationalidmus, der doch 
überall auf den Kathedern und Kanzeln geduldet, ja gefor- 
dert werde, fo hat man nicht ganz Unrecht. Allein jener 
frühere Nationalismus, der den Supranaturalismus gegen- 
über hatte, nicht bloß als Gegenſatz, fondern auch ald Cor- 
reftur und Ergänzung, ift doch genauer betrachtet ein an- 
derer, ald derjenige, welcher diefen Gegenſatz, kraft der 
abfoluten Philoſophie, in fich aufgehoben hat, Der Haupt- 
unterfchied Liegt weniger in der hiftorifchen Kritif, als in 
dem philofophifchen Hintergrunde. Der frühere Rationa- 
lismus hatte zu feinem Hintergrumde immer die entfchieden 
antipantheiſtiſche, chriftliche Glaubensſubſtanz, wenn auch 

vielfach geſchwächt, und ſo oft er bis an die äußerſte Grenze 
kam, wo dieſe zu verſchwinden drohete, hat er ſich immer 
von Neuem darauf beſonnen und ſich von Neuem überzeugt, 
dag Chriſtus einmal für immer die Kirche, als die Gemein. 
fchaft der fchlechthin wahren Religion, wirklich geftiftet 
habe. Wir können dahin geitellt ſeyn Taffen, ob diefer Ra- 
tionalismus confequent auf Strauß führe. Es fey, was 
folgt daraus? Doch nur dich, daß Dad Necht, welches der 
Nationalismus in feiner erften Geſtalt und als Eorreftur 
des Supranaturalismus gehabt, mit dem Eintritt in Das 
Straußifche Stadium erlifcht, dag er, um fein Recht zu 
behalten, umfchren muß, und daß die wahre Auflöfung des 
Gegenſatzes, welche die Wiffenfchaft und Kirche verlangen, 
nicht da liegt, mo Strauß fie gefunden, fondern darüber hinaus. 


18 


Kurz, wie wir es auch betrachten mögen, die Kirche 
von Zürich har nicht fanatifch, nicht als frömmelnde Bar- 
thei, fondern wirklich ald ewangelifche Kirche gehandelt, als 
fie ich anf dem theofogifchen Katheder die Straußifche Lehre 
verbat. Sie kann und wird die wiflenichaftliche Debatte 
nicht aufheben. Es wäre ein Unglück auch für die Kirche, fe 
gewaltfam abzubrechen. Aber eine andere Frage if, ob die 
felbe auf dem theologiſchen Katheder vor der theologifchen 
Jugend zu führen if? Auch die gebildetſte Jugend if Feine 
berufene Kampfrichterin in diefem Streit; fie it nicht ein- 
mal jene Zubörerin, welche aufmerffam alles prüft und das 
beſte behält. Wir haben einen guten Glauben an die Ju⸗ 
gend, wir Ichen darin und werden ibn nie Taffen; aber 
den unbedingten Glauben halten wir für Aberglauben, für 
ein Stüd aus Tiecks verfchrter Welt. Nur vor einem Senat, 
einer Fury erfahrener Häupter der Wiffenfchaft und des 
religiöfen Lebens werde die Sache in voller Freiheit verban- 
delt und zum Spruch gebracht. Diefe Jury iſt vorhanden, 
nur zerfirent durch die ganze Kirche, aber fie ift längſt zu- 
fammengetreten in dem Titterarifchen Sprechfaal, und ihr 
Spruch wird nicht allzufang ausbleiben. Es ift freilich un- 
möglich vor der afademifchen Tugend den Streit zu verber- 
gen. Aber ein anderes ift, fie vom Katheder herab zur 
Bartei machen, zum Nath der Fungen dem Rath der Alten 
zur abſoluten Oppofition, — ein anderes, ihr davon Kunde 
geben ans einer ruhigen Mitte, im Intereſſe für die Kirche, 
und ihr dabei einprägen gleiche Ehrfurcht vor der Kirche, 
wie vor der Wiflenfchaft, daß fie Yerne befcheiden und de- 
müthig fenn in diefer, und frifch und auten Muthes in jener. 
Hat die Kirche von Zürich eben nur dieß gemollt, — wer 


419 


kann ihr Unrecht geben? Aber ihr Recht würde fich in iin. 
recht verfehren, wenn fie den erregten Streit fich zu etwas 
anderm dienen ließe, als dazu, das Verhältniß zwifchen 
Kirche, Schule und Staat Flarer zu fallen, und friedlicher 
zu ordnen, Wehe ihr, wenn die Flägliche Leidenfchaft fich 
einmifcht, und der Streit nicht eher ruhet, als bis die Hoch- 
fchufe von Zürich von ihr Fnechtifch gebunden wäre, oder, 
was andere verſchuldet haben, ihr mit ihrem Untergang be- 
zahlen müßte! die Nache würde nicht ausbleiben. Es if 
gleich fanatifch, die wiffenfchaftliche Schule der Kirche, wie 
diefe jener zum Opfer bringen.- Vor beiderlei Fanatismus 
bewahre dad edle Zürich die Gnade Gottes! — 





/ 


Laienworte 
Hans Georg Nägeli | 

Dr. Strauß Schen Feſu 

j | und 0 ’ : 


Anfichten gegen deffen Berufung 


an die Nniverfität Zürich. 


Zweite Auflage. 


3 ür i_ eb N 
Drell, Füßli und Sompagnie. 
1839. 





Wie der Laie feine Stellung anfieht. 


„Die Religion ift feine Wiffenfchaft,” wohl aber gift 
die Theologie dafür. Die Theologen find ihre berufenen Be⸗ 
rather und Pfleger... Wie fie aber oft ducch ihre Berathun⸗ 
gen die Religion bevormundend zur Pflegetochter dev Theologie 
machen wollen, gerathen fie in Streit; und wo fie unter fich 
den Streit nicht fchlichten können, da mag etwa auch einmal 
die Einfprache eines Laien nicht Überfläffig fein. - Sie kann 
nach Umftänden zuläffig, nach Umſtänden fogar nothwendig 
werden — zuläffig, wenn die Theologen die Philofophie zu 
Hülfe nehmen, um ihr Pofitives oder ihre Porirtes mit dem 
Abfoluten zu beleuchten, indem fie ihre Dogmen durch Philo⸗ 
fopbeme zu behaupten oder zu beftreiten verfuchen ; wo dann 
jeder der Philofophie befliffene Laie, weil die. Philofophie, 
als folche an kein Fach gebunden, über allen flieht, auch 
mitfprechen darf — nothwendig, wenn die Theologen fich ſo 
hoch verfiiegen haben, daß fie eine Sprache fprechen, die als 
Schriftauslegung dem Volke, felbft ben Sprachgebilbeten im 
Volke, unverftändlich ift, und .fo feinen anderen Eindrud 
machen kann, als einen verderblichen, indem fie die Volks—⸗ 
fprache verwirrt und den Volksbegriffen andere dem Wolle 
fremde Begriffe täufchend ünterfchiebt; wo dann der Laie als 
Dann des Volkes im Namen des Volkes dag Sprachrecht 
als Dienfchenrecht vollends gegen die praftifchen Theologen: 
zu behaupten bat, welche durch ſolcherlei Sprachmißbrauch 
fogar ihre amtliche Stellung, fei ed mittelbar, vom- Ka- 
theder aus, oder unmittelbar, von der Kanzel aus, miß 
brauchen. 


4 ⸗ 
Wie der Laie zum Worte kommt. | 

Der Laie bat im Volke Freunde, gemwichtige; es jind 
Volksfreunde. Die famen, kommen wiederholt, und fpredyen 
ihm von einer Bollsbewegung, nicht zwar von einer vorban- 
denen, aber von einer nahe bevorfiehenten, die fich von oben 
herab mitzutheilen drobe. Die über dem Volke Stehenten 
feien uneins, die einen froßig, die andern beſtürzt. Cs 
handle fi) darum, unfern, auch wiſſenſchaftlich vegenerirten, 
durch die Regeneration höher potenzirten Zürcherifchen Grei- 
ſtaat an feiner höchften Stelle, an der Hochfchule, mit einem 
neuen Lichte zu beglüden,, das wirklich nach den Einen Alles 
überftrablen werde, nach den Andern ein trügliches Irrlicht 
ſei. Es handle ſich um die Berufung des durch fein neues 
Bud, „Leben Sefu” in kurzer Zeit nach den Einen ſehr be 
rühmt, nad) den Undern fehr berüchtigt gewordenen Strauß. 
Deſſen Berufung würde Folgen haben für die Landeskirche. 
Das Volk könne nicht gleichgüffig bleiben, die Landgeiftlichen 
feien es ſchon jekt nicht. 

Man dringt in den Laien, das Bud) zu lefen. Er ſträubt 
fih; er bedarf für feine Perfon feiner Schriftausfegung, 
weil die Darlegung in den Evangelien ihm fo Elar vorliegt, 
daß die Kenntnißnahme einer neuverfuchten Zurechtlegung ihn 
nur zerſtreuen würde. — Da fommt aber ein Brief aus 
Württemberg, worin beiläufig gefchrieben ſteht: Der Neffe 
des großen Philofophen S—g, ein hoffnungsvoller Süngling, 
ift wahnfinnig geworden, und ruft in feinem Wahnfinn aus: 
„Hegel und Strauß haben mir meinen Gott geftohlen, 
„erbarme dich meiner, Jehovah Zebaoth!“ — Das ftimmt 
den Laien ernfihaft. Er ift geneigt, da den Zufall am aller: 
mwenigften für bloßen Zufall zu halten, wo ihm etwas fo ganz 
Eigenes unter fo ganz eigenen Umſtänden zufällt, und muß 
fo das Faktiſche faktifch nehmen, als eines der vielen Zeichen 
der Zeit, auf die man zu merken hat. Er merkt auf, und 
geht ein. 


Wie der Laie den Autor auffaßt. 

Es giebt eine Kunft, zu lefen, wie e8 eine Kunft giebt, 
fidy lesbar zu machen. Sene ift der Laie auf folgende Weiſt 
zu praktiziren gewohnt: 

Indem er einen Autow zur Hand nimmt, trachtet er 
vorerſt die Individualität aufzufaſſen, dann die Leiſtung 
darnach zu bemeffen, mithin zu prüfen, wie das Subiekt 
fich fchriftftellerifch objeftivire. Oft giebt ſich fchon im Vor: 
mort oder in der Einfeitung die Individualität nach ihren - 
Hauptzügen kund, oft abfichtlich, oft unabfichtlih. Manch⸗ 
mal auch fpricht der Autor eine Abſicht aus, um eine andere, 
die er nebenbei bat, hinter: die ausgefpeochene zu verftecden. 
Gewöhnlich beabfichtigt ee mit der Bevorwortung zweierlei, . 
erfteng zu feinem Vortheil den Leſer zu orientiren, zweitens - 
ihn_gut zu ſtimmen, ihn menigftens lefebegierig zu machen, 
und bemüht fi, ihn mit gefchmeidigen Wendungen als einen 
„geneigten“ zu begrüßen. Mitunter giebt es auch Judas» 
küſſe. Häufig bedient fi der Autor auch eines erlaubten 
pſychologiſchen Kunftgriffs: Er läßt aus den Prämiffen, 
die er ‘fo einleuchtend und einladend ale möglich darftellt, 
die Refultate ahnen. 

Nachdem der Laie jo den Autor individuell in’8 Auge 
gefaßt, prüft er ihn im Verhältnig zu den andern, bauptfäch-- 
lich den zeitgenoffenfchaftlichen Autoren feines Faches. Er 
prüft deffen Selbftftändigfeit oder Mitftändigkeit, prüft, ob- 
der Autor fid) an fremde Autorfchaft oder Autorität anlehne, 
oder, ob ihm eigenthümliche zuzufprechen fei vermöge der- 
Eigenthümlichfeit feiner fchriftftelerifchen Leiftung. 

- Hier fommt nunmehr noch die-befondere Prüfungsauf- 
gabe hinzu, ob diefer Autor zum Hochſchullehrer fi 
eignen möge. Ergäbe ſich bald, daß er fich dazu nicht eignet, 
fo hätte die Prüfung ihr nächftes Intereſſe für ung verloren, 
und das weiter liegende wire dann mehr ein bloß litteratis 
fches. Weil nun jenes Nächfte und auch für die Prüfung 


6 


am nächfien liegen muß, jo muß auch Der Laie von born 
berein bei aller ihm inmwohnenden Laienbeicheidenheit ſich 
molens volens fo body ſtellen, als erforderlich iR, um die 
Sequifite, wo möglich das Hauptrequiſit eines Hochſchul 
lehrers, ald die conditio sine qua, non, ind Wort zu faflen. 


Des Laien Anſicht von der Hochſchule. 


Es liegt Shen im Begriff dev Dochichule, daB fie, we 
. nicht eine erhabene, doc) eine erhobene fei, daß fie gehörige 
Höhe gewonnen haben müſſe, fich nicht blog in die Breite 
ausbreite. Die Ausbreitung nach vier Geiten genügt, auch 
noch fo weit und breit, nicht; die DBierzahl, wornach das 
Hochſchulgebäude konftruirt iſt, giebt hier ein unvofllomme 
nes Symbol der Vollkommenheit. Es entfpricht der Idee 
um fo minder, ald das Regiment der darin baufenden vier 
fürftlihen Mächte nicht gehörig, ja nach einem unzureichen⸗ 
den Drganifationg » Princip vertheilt if. Schon Kant bat 
bemerkt, und richtig, wie unbillig es fei, dag die Philofophie 
der Theologie ald der gnädigen Frau bloß die Gchleppe 
nadyzutragen, flatt den Leuchter vorzutragen babe. Noch 
ganz anders muß der Laie der Philofopbie das Wort reden. 
Sie, fie allein, gebört ins obere Stockwerk; die drei 
andern Fakultäten haben das untere einzunehmen; und wo 
ſich's bei diefen um die Anftellung eines Minifters, oder bloß 
eined untergeordneten Kammerheren handelt, da bat Gie 
vorerſt das Ereditiv zu ertbeilen, bat überhaupt Alles, 
was in den drei Departementen des untern Stockwerks vor» 
geht, zu vigiliven und zu controlliven. Sie hat das Wefen, 
den wefentlihen Beftand — es fei erlaubt zu fagen, die Fakul⸗ 
tätität jeder Fakultät zu gewährleiften. Dieſer GSprachge 
brauch fol gleich am Sachverhalt gerechtfertigt werden. 
Der Scyhulmann potenzirt fi) dadurch, allein dadurch 
zum Hochſchulmann, daß er über fein Fach fich erhebt, und 
er erhebte fich fo, indem er über dasfelbe philofopbhirt. 


7 


So, nur fo, verfährt er fakultätiſch. Die bloße Ver⸗ 
mittlung, Mittheilung der im Entwidelungsgang der Cultur 
objektiv gewordenen Fachwiſſenſchaft geht im Gymnaſium vor, 
und voraus. Die Ergänzung bes Fachwiſſens if auf der 
Ssochfchule das Untergeordnete. SHE Werfen unterfcheidet 
fi) dom Wefen des Gymnaſiums fo: Der Gyhmnäaſial⸗Lehrer 
geht ad hominem, der Hochſchullehrer hingegen geht ad Femi; 
jener unterrichtet berichtend über den Thatbeſtand, diefer Be 


feuchtet erweiſend den Sachverhalt. Er fragt nach ber urſprͤng⸗ 


lichen Natur der Sache, und antwortet dus. dein urſptung⸗ 
lichen Wefen der Mienfchennatur, dem Organismus des Men⸗ 
ſchen. Er erklärt die Wiflenfchaft aus ihrem Urſprung, 
die Cultur aus der ratur. Indem er dieß thut, ſtellt er dir 
Entwidelangsgang der Eultur als einer naturnothwendigen 
dar. So ericheint dem LKehtling, wenn der Lehrer eonſequent 
verfährt,, das Natürliche eulturgemäß, das Cultürliche na- 
turgemäß; und fo gelangt die Vernunft des Hochſchülers zur 
Erkenntniß, er lernt das im Gymnafluni bloß faktiſch Ver⸗ 
nommene auf der Hochſchule wiſſenſchaftlich erkennen. 
"Der Laie proteftirt gegen die Unphilofopbie. 

Dad Hauptrequifitdes Hochſchulmannes beſteht mithin dariıt; 
daß er über feine Fachwiffenfchaft (wenn .er an der philoſophi— 
ſchen Fakultät ſteht, Über jeden gewählten Gegenftand) zu 
. philofophiren vermöge. Dadurch ift er ein theoretif ch⸗ 
tüchtiger Fakultäts Mann. Dem Vermögen muß aber die 
Kraft beiwohnen, bier die Sprach kraft, und dieſe Sprach⸗ 
kraft muß als Spradykunft ausgeübt werden. Erſt dadurch 
wird der Fakultäts-Mann ein praktiſch- tüchtiger. Die 
Sprach kunſt muß hinwiederum ihre @efege haben; diefe 
find nur durch Wiffenfchaft auszumitteln. Die Ausmit⸗ 
telung führte auf eine Logik und Dialektik: beide zuſam⸗ 
men find ald Sprachphiloſophie die Halfewiſſenſchaften 
der allgemeinen MPiloſophie. 


— 


- MWeil alle Philofophie eine gedachte, eine durch das 
Wort vermittelte ift,-fo gerieth, feit man philoſophirt, die 
allgemeine Pbilofophie mit dee Sprachpbilofophie immer in 
Conflikt. Die allgemeine Philofopbie umfaßt die Weſen⸗ 
beit, umfaßt den Gefimmtorganismus des Menfchen. . Die 
Sprach philoſophie fert das bloße Drgan an die Stelle 
des Sefammtorganismus,-und ſetzt fich fo an die Stelle der 
allgemeinen Philofopbie. 

- Unter den deutfchen Philofopben, feit Kant durch Aus⸗ 
mittfung der Grenzen des Erfenntnißvermögens die Denker 
frei gemacht und fo in erhöhte und geregelte Thätigkeit gefegt 
bat, feit der Periode des „Eriticismus”, wurde jener Con⸗ 
flilt bis auf's Höchfte gefteigert, und erfcheint heut zu Tage 
fo, daß die Sprachphilofophie über die Weſensphiloſophie 
beinahe zu triumphiren fcheint. Hegel hat duch feine eben 
fo £unftreiche als trugvolle Logik und Dialektik den Entwide 
lungsproceß der Philofophie fo geführt, daß der Lehrling den 
Gegenſtand des Procefies, die Wahrheit, als eine ob» 
jeftive, aus den Augen verliert, und ſubjektiv den formellen 
Gewinn für einen realen hält. Die bloße Geiftesthätigkeit 
ift ihm der Beift felbft, und das in feinem Geifte durch den 
Gedanken vefleftirte Bewußtfein des. Lebens ift ihm das Leben 
ſelbſt. Weil diefer Philofophie diefes ihr Bewußtſein Alles 
ift, fo erfcheint fie wirklich als eine befonnene. Sie verfteigt 
ih nicht. Statt zu transcendiren zieht fie das Göttliche, 
die Gottheit felbft, in. ihren Iogifchen Begriff berab. Um 
das Wefen der Gottheit fo zu erkennen, mußte fie zuvor das 
Ebenbild Gottes, den Menfchen felbft, verfennen, und damit 
auch fein Dafein in einer Iebenvollen Schöpfung. 

Gegen dieſe Unphilofophie, das heißt bier, gegen deren 
Einfhmärzung in unfere von jener Verderbniß bisher freige: 
bliebene Schweiz, muß nun der Laie, ſchon als Schweizer, 
proteftiven und feine Proteftation gehörig durchführen. Un⸗ 
fere Schmweizerjünglinge follen, fo Gott will, nicht in der 


9 


Einbildung, fie feien Philoſpphen, verdummen. Hat Hegel 
eine von Haus aus fo gefunde, Träftige Natur, mie den 
jungen Strauß, zuc Verdummung in philoſophiſchen Din- 
gen gebradht, fo find wir nicht fiher, daß nicht unfern 
Schweizerjünglingen gleich Arges wiederführe, 


J Der verunglüdte Hegelianer. 


Ehe der Laie das Buch zur Hand nahm, hörte er von 
verſchiedenen Seiten die Wiſſenſchaftlichkeit des Autors und 
feines Buches rühmen; ſtreng wiſſenſchaftlich, rein wiſſen⸗ 
ſchaftlich ſei es gehalten; dabei durchaus würdig, gar nicht 
frivol. Auch Letzteres werden wir ſehen. Daß es rein - wif- 
fenfchaftlich fei, konnte der Laie freilich nicht erwarten, 
wohlwiſſend, daß die Fachmänner, zumal die Eregeten, ſchon 
das Fach mwiffenfchaftliche, ſo bald es fie, von Fachgelehrfam- 
keit zeugend, befriediget, vein wiffenfchaftlich zu nennen pflegen.- 
Rein-wiflenfchaftlich ift dem Laien nur die Philofophie, und 
auch fie nur, fo lange fie eine theorvetifche bleibt; wie fie. 
aber von der Theorie aus- und übergeht in's Praktifche und 
Saktifche,. ift fie angewandt - wiffenfchaftlich. Seder fchrift- 
fteleende Fachmann , der fich einer gemwiffen Vollſtaͤndigkeit 
feiner Fachbikdung bemußt ift, meint, er fei als ein Mann 
der Wiflenfchaft auch ein wiffenfchaftlicher Mann, Philofoph, 
verniengt daher auch beliebig. die Philofophie mit feiner Fach» 
wiffenfchäft; und wo vollends die Fachwiffenfchaft zugleich 
Sach wiſſenſchaft iſt, das heißt, wo fie im Hiftorifchen 
wurzelt, da wird ‚häufig das Sadı > und Sachwiſſenſchaftliche 
mit Philofophemen fo bunt vermengt, daß der Schriftfteller, 
als ein philofophirender, muß verunglüden. Denn fo wie 
der Fachmann philofophiren will, entrückt er fich- feinem 
Standpunft, Ddesorientirt fih, wird ungründiich, weil er 
weder zu ergründen, noch zu begründen vermag. Er nimmt 
feine Zuflucht zu VBorausfeßungen. Weil er nichts von 
Innen herauszuholen hat, fo holt er von Außen herein, fett 


40 


fo irgendwie Gefchichtlihhes voraus, und damit zugleich 
(bei'm Leſer) Einverſtändniß über dieſes Geſchichtliche 
oder Glauben an dasſelbe, weil er, der Autor, es ſagt. 

Unter allen ſolchen Vorausſetzern erſcheint Strauß als 
der allerkühnſte, er ſetzt in ſeiner Vorrede feine perfönkiche 
Vorausſetzungsloſigkeit ſelbſt voraus, und zwar als Philo⸗ 
ſoph, dem die Vorausſetzungsloſigkeit ſchon frühe durch ſeine 
philoſophiſchen Studien zu Theil geworden. 

Der Vorausſetzungsloſe ſetzt zuvörderſt in der „Vor— 
rede” als hiſtoriſch ausgemacht voraus: 

Die zweifache, ſowohl die ſupranaturaliſtiſche als die natür⸗ 
liche Betrachtungsweiſe der Geſchichte Jeſu iſt veraltet: — 
Schon früher als die naturaliſtiſche Anſicht hat die orthobere 
ſich überlebt. — Die gelefenften Evangelien » Comntentare find 
jegt diejenigen, welche die fupranaturaliftifche Auffaffung der 
heiligen Gefchichte für den neuern Geſchmack zuzubereiten 
wiffen. (Die Auffaffung der heiligen Geſchichte wäre mithin 
Geſchmacksſache geworden.) — Die neueren Verſuche, mit 
Hülfe einer myſtiſchen Philoſophie ſich in die fupranaturali» 
ftifhe Anfchauungsmeife zurückzuverfegen, find letzte verjmei- 
felte Unternehmungen, das DBergangene gegenwärtig, das 
Undenkbare denkbar zu machen. (Es hätten alfo die Supra 
naturuliften unferer Zeit lauter Undenkbares gedacht; hät 
ten lauter Undenkbares gedanfenlos. denfbar zu machen 
gefucht.) j 

In der „Einleitung“ ſetzt der Verfaffer von vorn 
herein voraus: Jede auf fehriftliche Denkmale ſich ftügende 
Religion treffe das unvermeidliche Loos, früher oder fpäte 
zu veralten; fie Fönne ſich nur fo lange halten, als die Bil 
dung und Entwicdelung noch nicht fo weit gedieben fei, um 
eine völlige Losfagung (von ihren Urkunden als. heiligen) 
herbeizuführen. Damit läugnet er, daß es im Gebiet der 
Religion etwas Abfolutes, unmittelbar Böttliches, Geoffen⸗ 
- bartes gebe; was früher für folches gegeben oder hingenom⸗ 


44 


men wurde, wird nach feiner Behauptung Durch die fleigende 
Bildung und dadurch nothwendig -eintretende Vermittelungs⸗ 
proceſſe modifiziet, verändert, und zuletzt befeitigt. So ift 
ihm nur der Bermittlungsproceh das Nothwendige, hin» 
gegen das Urfprünglichgegebene, die fchriftlichen Dentmale, 
das Zufälige und Hinfällige. Diefe feine Unficht und Dar» 
ſtellung nennt er genetifch, will fogar damit feine „Geneſis 
„des mythiſchen Standpunkts für die ebangeliſche Geſchichte 
„ begründen.” 

Nun folgt (&. 2) eine andere Begeündung. Jene ging 
vom biftorifchen Standpunkt aus, diefe verlegt nunmehr dag 
hiſtoriſch Gefundene, und von ihm gefchichterflärend Vorge— 
brachte auf den pfychologifchen: „Ein Hauptbeftandtheil aller 
„Religionsurkunden ift heilige Gefchichte, ein Gefchehen, in 
„ welchen das Göttliche unvermittelt in das Menfchliche herein- 
„teitt, die Ideen unmittelbar fidy verkörpert zeigen.” Vermöge 
diefeu neuen Vorausſetzung will er wiffen, beftimmt wiffen, 
wie, auf welche beftimmte Weife, das Göttliche unvermittelt 
in das Menfchliche hereintritt, nämlich fo, daß die Ideen 
fich verkörpert zeigen: Hier haben wir zugleich ein Müfter- 
chen von’ feiner Logik. Das. Göttliche bedarf der Verkör⸗ 
perung, mithin der Bermittelung, um unvermittelt ein- 
zutreten.. Das wäre aljo eine unmittelbare Vermittelung oder 
vermittelte Unmittelbarkeit! Iſt es mit einem Schriftſteller 
fo weit gekommen, daß er mit einer folchen Logik eine folche 
Pbilofophie geltend zu machen fucht, fo darf ihn wenigſtens 
Niemand der GSophifterei befchuldigen; wohl aber mag man 
errathen, wie diefer auf eine ſolche Begriffsverwirrung ges 
rathen if. Das Wort Idee ift das bequeme Wort, das in 
feiner. vieldeutigen Unbeftimmtbeit Jedem dienen muß, mo 
ihm die Philoſophie ausgeht. 


Heidenthum und Chriſtenthum. 
Das Wort Idee ſpielt in der Mythologie, ſeit Plato, 


42 


bie Hauptrolle, und fol fie auch hier fpielen. Dadurch wird 
aber Straußens „Genefis des mythiſchen Standpunkte für 
„die evangeliſche Gefchichte” zu einem Teichtfertigen Spiel, 
das nicht bloß ein Sprach - und Begriffsfpiel bleibt. Strauß 
fpielt fo den Standpunkt, aus welchem die evangelifche Ge- 
fchichte erklärt werden fol, aus dem jüdifchen auf den griech: 
fchen hinüber; verfekt und, vorausfekend, daß die Unmittel: 
barfeit des Böttlidyen in Verkörperung von Sdeen beftehe, 
aus dem Chriftenthum in's Heidenthbum. Dort fprach man 
wirklich von verförperten Ideen, und man ſprach fprachrid- 
tig: Ohne der Sprache die mindefte Gewalt anzuthun konnte 
man die Gottheiten der griechifhen Mythologie verkörperte 
Sdeen, ja den ganzen griechifchen Bötterfreis einen verkörper⸗ 
ten Sdeenfreis nennen. Auch wir können-obne Sprachaus: 
ſchweifung füglich fagen, Minerva, die aus dem Haupte 
Jupiters entfprang, fei, zumal plaſtiſch dargeſtellt, die 
verkörperte Idee der Weisheit. Solche Sdeologie Hat fid 
auch) für ung durch die griechifche Eulturgefchichte vollſtandig | 
und verftändlich beurfundet. 

Dennoch ift diefe Urkunde feineswegs eine allgemein 
menfchlich-genetifche, ift nicht aus dem Menfchen als dem 
Ebenbilde Gottes abgeleitet; fie ift auch feine menfchheitlich 
genetifche Urkunde ,- fondern nur die Urkunde von den religiö— 
fen Grundanfihten und Borftelungsweifen Eines Volkes, 
des griechifhen. Die Hebräer haben eine andere Urkunde, 
die nicht bloß aus Sagen und Sagendeutungen, nicht blof 
aus Mythen und Mythendeutungen befteht, woraus nunmehr 
wir verkörperte Sdeen berauszudeuten hätten, fondern wirt 
ih Geſchichte, Gefhichtsbegründung enthält, und fi 
daher mit Recht Genefis nennt, mit vollem Recht, denn es 
ift die mwefentliche Ururfunde für die gefammte Menfchheit. 
Der Urkundsmann ift Mofes. - 

Man mird im Mofaismus fo wenig eine Sdeenverkör- 
perung, als in Mofes bloß eine mythifche Figur finden kün- 


45 


nen; eben fo wenig wird man finden können, der Stamm: 
vater Abraham fei ald Stammbalter der Gläubigen von 
Mofes fo figurirt; um „vermittelnd” eine Idee zu verkör⸗ 
pern. Um ſolcherlei Umdeutung zu Stande zu bringen, muß 
man fo lange an der Geſchichte, ſelbſt wo fie thatſächlich 
"Sndividualifivtes enthält, drehen und .verdrehen, bis man 
als Sprachdrehlünftler ein Kunftftüd zurechtgedreht bat, 
dag, von flüchtigen Leſern hingenommen, den Schein der 
Sründlichkeit und Conſequenz trägt. Solche Confequenz- 
macherei ift das eigentliche Gewerbe diefes Schriftftelers. Wie 
überfchmenglich er darin ift, und mit dem Leſer, fo bald er 
ibn aufgegriffen, davon Täuft, ergiebt fich gleich aus den 
Säßen, die er auf den ſchon angeführten folgen läßt. Wir 
führen diefen zur Verdeutlichung noch einmal, mit den folgen- 
den im Zufammenhang an. 

„ Ein Hauptbeftandtheil aller- Refigionsurtunden it heilige 
„Geſchichte, ein Geſchehen, in welchem das Göttliche unver- 
„mittelt in das Menſchliche hereintritt, die Ideen unmittelbar 
„fich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung überhaupt Ver—⸗ 
„mittlung ift: fo wird die fortfchreitende Bildung der Völker 
„auch der VBermittlungen fich immer deutlicher bewußt, welche 
„die Idee zu ihrer Vermittlung bedarf, und fo erfcheint jene 
„Differenz der neuen Bildung und der alten Religionsurkun: 
„den in Bezug auf deren .gefchichtartigen Theil namentlich 
- „fo, daß jenes unmittelbare Eingreifen des Göttlichen in ° 
„das Menfchliche feine Wahrfäyeinlichfeit- verliert. Wozu, 
„da das Menfchliche jener Urkunden ein Menfchliches der 
„Borzeit, alfo ein relativ Unentwiceltes, nad) Umftänden 
„felbft Rohes ift, auch ein unbehagliches Sichabwenden von 
„diefem insbefondere fich ‚gefellen kann. Das Göttliche 
„ann nicht fo (theils überhaupt unmittelbar, theild noch 
„dazu roh) gefchehen fein, oder das fo Geſchehene kann 
„nicht Göttliches geweſen fein.” 

Jedem Leſer muß auffallen, welch einen gewaltigen Sprung 


44 


der Eonfequenzenmacher vom erfken Perioden zum zeiten 
macht. Hier ſchiebt er den Begriff „Bildung” willkürlich 
ein , und definirt das Wort fcheinbar mit dem Wort „Ber 
mittlung.” Daran hängt er ein eben jo willfärliches Phre 
fengefpinnfi, woraus er das Refultat zieht, daß in und wit 
der fortfchreitenden Bildung der Bölfer das unmittelbare 
Eingreifen des Göttlichen in dag Menſchliche feine Wahr⸗ 
fcheinfichkeit verliere. Daraus würde folgen, daß das Bölt- 
liche den Bölfern nur fo lange wahrfcheinlich bleibt, als fe 
ungebildet find, und immer unmwahrfcheinlicher wird, je ge 
bildeter fie werden. Das Böttlihe wäre alfo nur Gchein 
(Scheinwabrheit) und wäre es nur für die LUngebildeten. 
Weldyen Bortbeil ziehen dagegen die Gebildeten aus ihren 
Bildungsfortfchritten? Strauß fagt’d: Sie kommen endlich 
zuc vollen Weberzeugung, jenes Göttliche könne in ber Vor⸗ 
zeit nicht fo gefcheben fein, oder fo Gefchehenes fünne nicht 
göttlich fein. Daraus ergiebt ſich weiter, welches Refultat 
Etrauß für fi gewonnen hat: Er verfieht, fennt die 
nothwendigen Bedingungen der Geſchehbarkeit des 
Böttlihen; er will willen, wie das Göttliche befchaffen fein 
mußte, um gefcheben fein zu fönnen. 


Griehen und Hebräer. 


Nachdem der Verf. im zweiten $. darthat, wie der „ernfien 
„griehifchen Phifofophie frühzeitig das Bewußtſein aufging, 
„daß das Göttliche ſich nicht in ſolcher menfdhlichen Ummit- 
„telbarkeit und Rohheit verwirklichen könne”, wie ed z. 3. 
beim Homer vortomme, daher denn „ verfchiedene Deutun- 
„gen der Völkerſagen“ entftehen mußten, beginnt er den: 
dritten $. mit folgenden Worten: „Die Gtabilität des 
„bebräifchen Volkes, fein ſtarres Feſthalten am fupranatu- 
„taliftifchen Standpunft” — und will diefer Stabilität bei- 
meſſen, daB eine. ähnliche „Interpretationd- Methode” , wie 
bei den Griechen, fih nur da „ausbilden konnte, wo am 


| 45 
„entfchiedenften die jüdifche Bildung, durch Berührung na- 
„mentlid mit der griechifchen, über fich ſelbſt hinausgegan-· 
„an war, in Ulerandrien”, und zwar hauptfächlich ducch 
Philo. Hier kann er aber nur fo viel hiftorifch nachweifen, 
daß „nicht felten die Form des hiftorifchen Geſchehenſeins 
„aufgegeben wurde”, daß hingegen, „nicht auch die entgegen- 
„gefebte (ich ausbildete, die Gefchichte zwar ftehen zu Laffen, 
„fie aber zu einer gemein-menfchlichen zu entgöttern”, erkläre 
fi) eben „aus dem fupranaturaliftifchen Stantpunft, welchen‘ 
„die Suden immer feftgehalten haben.” | 

Wirklich haben die Hebräer an ihrem fupranaturaliftifchen 
Standpyntt (wie Strauß findet, „flarr”) feftgehalten. 
Hielten die Griechen an dem ihrigen nicht feft, fo rührt ee 
ohne Zweifel daher, daß fie einen anderen hatten. Suprqna⸗ 
turaliſtiſch war indeß der ihrige auch; Fein Volk der Erde 
tonnte je einen anderen haben, denn es ift ja alle Religion 
im Begriff fuprangturaliftifch , fie veiht über die 
Natur hinaus Kind dennoch die Standpunkte verfchie- 
den, fo muß aus den verfchiedenen Standpunften (Religionen) 
einerfeits die Mobilität der Griechen, anderfeits die. Stabilität 
der Hebräer erklärt werden. Der Standpunft felpft liegt bei - 
den Einen und bei den Andern ganz offen vor: Das Wanken 
und Wechfelg erklärt fich bei-den Griechen aus ihrem Poly⸗ 
theismus, das Sefthalten bei den Hebräern aus ihren Mo > 
nofbeismus: Dort ein fagen= und mythenreicher Götter: 
Eyclug, verwoben in eine Gefchichte, wornach die Bötter unter 
ſich und mit den Dienfchen, felbft mit den Schidfalen der 
Völker, ein buntes Spiel treiben, fo bunt, als die ausſchwei⸗ 
fendfte, Phantafie, fowohl die vohe als die Fünftlerifche, es zu 
gefalten vermag. . Hier der „Einige Bott”, bier die Unmit- 
telbarkeit des Göttlichen, nicht etwa durch einen Gedanken, 
durch keinerlei Lehre vermittelt, fondern intuitiv, als 
eingewurzelter,, unverwüftlich,, durch keinerlei Irrthum oder 
 Serfal zu vertilgender Glaube, welcher, in feinem Ur 

J 


416 
fprunge keineswegs „Dentglaube”, feine Beſtätigung jeboch 
fand in der Erfahrung, und zum allgemeinen fich bemwußten 
Volksglauben wurde in einem Volke, welches in feinen wun- 
derbaren Schickſalen eben die Unmittelbarkeit des Göttlichen 
(das Walten der Borfehung) erkennen lernte, fich dasſelbe 
immer von neuem beurfundet, fich immer näher gelegt fand, 
die zunehmende Herannäherung immer lebendiger ahnte, bis 
es endlich in dem Sahrhunderte lang geahnten Meſſias das 
"Göttliche vor feine Anfchauung, in feine Mitte treten fah. 
Will der Rationalift, oder auch der Pantheift, hier zwar 
zugeben, wie er unftreitig nicht anders kann, eine folde 
Blaubens» und Denkweiſe fei zwar bei den Hebräern aller: 
dings gefchichtlich, jedoch fortbehaupten, fie berube nichts 
defto minder auf Irrthum (einem Irrthum, den Strauf 
als Starrfinn bezeichnet): fo bleibt dennoh, rein bifterifd 
genommen, der Gegenfak zwifchen den Griechen und de 
Hebräern gleich unverrüct, unausgeglichen ſtehen. Wer dir 
Erfcheinungen der Eulturgefchichte fo auffaßt, mer die fo fehr 
und fo wefenhaft verfchiedenen Gefchichten jener zwei Völker 
paralleliftrend auszugleichen unternimmt, verrätb nicht den 
„Scharfſinn“, den man hin und wieder Strau fen hat bei 
meffen wollen, fondern einen Blödſinn, welcher in der Aus 
führung zum völligen Unfinn wird, indem er ein völlig ver: 
kehrtes Endrefultat herausbringt. . 
Und fo ſtellt fich wirklich das Endrefultat heraus. Was 
bei Strauß vefultirt, ift gerade das Gegentheil, das fich dem 
fhlichten Verſtande, der nur auch Hiftorifches einfach auf 
zufaffen vermag, wie ed gegeben ift, als die allgemeine cultur- 
gefhichtliche Tchatfache darftelt. Der fchlichte Verſtand findet 
in der Fabelhaftigkeit des Polytheismugs und in der Wahr: 
baftigkeit des Monotheismus den Grund von der Unhaltbarkeit. 
des erftern und der Haltbarkeit des Iektern ; der fchlichte Der: 
ftand findet ed daher ganz natürlich, daß im Lauf der Zeil 
die griechifchen Philofophen in ihrem Polytheismus immer 


47 
‚ mehr Widerfprüche entdecken mußten, während die hebräifchan 
Philoſophen (Propheten) ihren Monotheismus in immer 
vollerer Harmonie erlannten; und nebenbei findet der fchlichte 
Berfiand, der Geſchichtsphiloſohh Strauß habe, indem er 
den Monstheismus der. Hebräer ald Grund ihrer Erftarrung 
angiebt, von feiner Seite die Eukturgefchichte ebeu fo unge: 
ſchickt aufgefaßt ale grob verfälfht. 


Des Laien &oleranz. 


Es giebt bekanntlich unter den allerlei menfchlichen In⸗ 
dividualitäten negative Naturen. Unter diefen giebt’s 
ſolche, die, weil ihnen ſo vieles anftößig ift, erſt abftöfig, 
dann angriffig werden. Auch folche find zu Etwas gut. Obme 
ſchöpferiſche Kraft, find fie manchmal noch ziemlich kräftig. 
Sie bringen Leben in’d Leben hinein, der, Stoß provoeitt 
den Gegenftof. Iſt der Widerftand hartnädig, fo wird am 
Ende das Zurückſtoßen vecht und rechtlich. Jedoch verſtoßen 
darf man Keinen. Wohl aber darf man ihn hinausſtoßen 
aus einer guten Gefellfchaft, wenn er zuvor das hochzeitliche 
Kleid der Humanität ausgezogen bat. So ganz entblößt er- 
fcheint dieſer Gaſt dem Laien zwar nicht, jedoch in einem 
rohen, theilweife gefleckten, theilweife geflickten Kittel; auch 
ift er nicht ganz ohne Haltung, fchlägt jedoch bisweilen mit 
bengelartigen Waffen um fih. Das alles hinderte den Laien 
nicht, Toleranz zu üben. Er übt fie bier fogar auf Unkoſten 
des Concepts diefer feiner Laienſchrift, und will lieber Die 
ſchlimmſten Blößen erft dann aufdecken, nachdem er an diefer 
Erfcheinung als Zeiterfheinung nachgewiefen haben wird, daß 
umd wie fie, durch die Zeitcultur felbft herbeigeführt, fommen | 
mußte und kommen durfte. 

Der Laie nimmt feine Toleranzgründe für Heren Strang 
. nicht zunächft von deflen Perfon ber, an welcher er zwar 
auch welche findet, fondern von der Sache felbft. 

Das Evangelium ift ein unmittelbarer Ausflug und eine 

2 


48 

mittelbare Veranftaltung des großen Dienfchenerzieberd. Wie 
er verfönlich die Mienfchen anzog und anziehen wollte, fo 
will er fie binfort geiftig erziehen durch fein Wort, das, 
urfprünglich ein geiftiger Ausfluß, nunmehr als ein gefchrie: 
benes auf und gekommen if. Immerfort hat er zweierlei 
Zöglinge, bat nebft denjenigen, die als Unerzogene, als Rin- 
der von Ehriftenfamilien,, in die chriftliche Schule und Kirche 
- gebracht werden, auch Berzogene, die ald Kinder der Welt 
in der Zerfireuung der Welt vom Chriſtenthum abgezogen 
wurden, oder denen ſchon zur Zeit ihrer Unmündigfeit durch 
Serlebrer das Ehriftenthum entzogen wurde. Alle aber, bie 
im Chriftenglauben erzogen wurden, und Alle, denen er 
entzogen wurde, wofern diefen nur auch nody Etwas bon reli- 
giöſem Sinne blieb, haben nebft dem eingebornen Blan- 
benselement ein eben fo eingebornes Beglaubigungk- 
bedürfniß defien, des bier Weſentlichen, dag ihnen im 
Wort von Außen dargeboten wird, ein Beglaubigungsbedürf: 
niß, das bei den erſtern zwar leicht, bei den Iektern oft 
ſchwer zu befriedigen iſt. Neben diefen gemeinfamen menſch⸗ 
lichen Anlagen hat jeder Menfch feine befondern individuellen; 
Dabei hat jeder feine äußere Lage; feiner hat fie fo wie der 
andere, jedem wird fein Verhältniß zu feinen Mitmenfchen, 
die auf ihn abfichtlich oder zufällig einwirken, auf eigene Weife 
individualifirt. 

Sol nun das Chriftenthum die Univerfal- Religion fein, 
und ift es fie wirklich, fo muß die Urkunde im Wort (das 
Evangelium) fo befchaffen fein, daß fie für jederlei Indivi— 
dualität Anziehendes, mithin das Wort des Evangeliums 
für Jeden etwas Anfprechendes hat. Und hat diefes Wort 
einen veichen Inhalt, fo muß es nicht allein feine Anziehungs 
kraft am menfchlichen Gemüthe immer neu bewähren, fon- 
dern es muß, als Wort, audy den Sprachverftand immerfort 
veigen. Es muß unzählige Glaubens » und Beglaubigungs: 


49 
worte, dazwifchen auch Bezweifelungs - und Beftceitungswortg, 
erzeugen, und das um fo kaufendfacher, als die. Darlegung 
und die Auslegung des Evangeliums einen Stand, einen 
Theologen» und Predigerftand, längft hervorgerufen bat, deffen 


Berufes ift, das Wort Gottes in feiner ganzen Fülle zu be⸗ 


fprechen, und öffentlich fo auszufprechen (zu predigen), daß 
es in's Leben übergetragen,, praktifches Ehriftenthun werde. 

Während nun Diele ihe Beglaubigungsbedürfniß ſchon 
durch die Perſon Chriſti, durch das geſchichtlich von ihr 
und über ſie Vorliegende, mithin durch die Dar legung völlig 
befriedigt finden, und daher in wiederholten Darlegungen (der 
Predigt) nicht eigentlich Belehrung, ſondern Erbauung 
ſuchen, bedürfen Andere der Aus legung; fie wollen durch 
das Mittel der Spracherörterung und einer logiſchen Beweis⸗ 
führung überzeugt fein; nur die Beglaubigung durch. Leber- 
jeugung genügt ihnen. Diefe Anforderung ift der menfch- 
lichen Natur, auch dem veligiöfen Sinn, keineswegs unange- 
meſſen. Das Wort Gottes bietet fich felbft dem Sprachgeift 
‚des Dienfchen zur Kraftübung, dem Sprachverftand zur Ver⸗ 
ftändigung dat; das Evangelium felbft verſchreibt fich fo 
an den Menfchen, es verbeißt unmittelbar „den Beift, ber 
„da lebendig macht,” verfpricht mittelbar vertraut zu machen 
mit „dem Geift, der in alle Wahrheit leitet.” 

Dergeftalt ift jeder hier Sprachfähige auch ſprachberech⸗ 
tigt; der Ruf, „prüfet Alles, behaltet das Gute,” will offen⸗ 
bar zur Prüfung ermuntern, läßt ſogar dem Prüfungsgeiſt 
und der Urtheilskraft noch Wahl offen. Indem nun aber 
der Schriftausleger, aus dem Wort Gottes ſchöpfend, es 
beſpricht, kann er nicht anders als „menfchlich reden von 
„göttlichen Dingen”, und fo wird feine Rede, auch die be⸗ 
redtefte, das Gepräge menfchlicher Unvollkommenheit, mithin 
auch fprachlicher Unzulänglichkeit tragen, und er wird bei 


‚dem veinften Willen, das Wort Gottes klar vorzutragen und 


‚ 


90 
wahr auszulegen, es nie ganz vermeiden können dazu oder 
„davon zu thun.”, 

Sf nun unter den unzähligen Prüfeen und Befprechern, 
‚ von den Kirchenvätern bis auf die jüngften Söhne unferer 

proteftantifchen Kirche, deren überſchwengliche Redfeligkeit in 
den theologifchen Zeitſchriften u. a. namentlich die Kunft der 
Exegetik fo weit treibt, und fo überlaut wird, daß die ein- 
fache Stimme des Hirten kaum noch ihren natürlichen Wie 
derhalt findet, fo mancher Dreifte aufgetreten, deffen Hinzu: 
thun oft nur ein Hinwegthun war: fo haben wir uns in der 
That weder zu wundern noch ju ärgern, daß jeht Einer ge 
kommen iſt, deffen- Dreiftigkeit im Hinzuthun und Hinweg 
thun die Vorgänger und Mitläufer ale überbietet. Nur 
baben wir um fo genauer in's Auge zu faſſen, was er uns 
nehmen, und was er und dafür geben will. 

Zuvor aber hat der Laie noch einen weitern Toleranz 
grund in Unfchlag zu bringen. Wer heut zu Lage unter 
ung Deutfchen in irgend einer Wiffenfchaft Eigenthümfliches 
leiften will, der muß philofophiren können; er muß es wollen. 
Iſt der Schriftftellee noch jung, als Philofoph noch unreif, 
unfeldftftändig, fo fchließt er fi an eins der vorhandenen 
philofophifchen Syſteme an, und gewöhnlich am liebſten an 
das newefte. Nur allzuleicht büßt er dabei feine ſchriftſtelle⸗ 
rifche Eigenthümlichkeit ein. Iſt das neue Syſtem ein fal- 
fhes, fo wird er ihm irrthümlich und ungeſchickt nachphi⸗ 
Tofophiren. SA die falfhe Philoſophie noch dazu eine vor- 
herrſchend dialektifche, und nimmt fie fo feinen Sprachver⸗ 
Rand gefangen, fo wird ihm fein philofophifches Willen ‘zu 
eifiem leeren Formalismus. Auf Formalismus führt jede 
Philoſophie (auch die fogenannte mathematifhe, fo meit fie 
nur dieß ift), welche die bloße Beiftesthätigkeit zu ihrem 
Princip (zum Grundprineip) macht. Soll das Princip 
durchgeführt, bis zum Syſtem ausgeführt werden, fo erhebt 
fi) die Philofophie auf ihrem Gipfel zue Religion sphilo— 


‘ 


* 24 
fophie. Und worin beftebt diefe ihre Erhebung? Darin, daß 
fie ihr Princip auf die Gottheit überträgt — und fiehe 
da den Hegelfchen Begriffsgott, deſſen Bolllommenheit in 
einem vollkommenen Selbſtbewußtſein beſteht. Solchergeſtalt 
bat aber der Philoſoph nicht einmal vollſtändig fein Menſch⸗ 
liches an die Stelle des Böttlichen gefeßt; er hat das „Eben- 
„bild Gottes,” das Ab bild zum Trugbild gemacht, hat fo das 
Trugbild trüglich auf dag Urbild übergetragen; indem er 
den menfchlihen Organismus unvollfiändig auffaßte, bat er 
den Menfchen, den Normalmenfchen, desorganifirt. Wie follte 
ein folder die Offenbarungsreligion begreifen können? Hie⸗ 
für fehlt ihm das Organ gänzlich. Die ganze „heilige Schrift” 
ift ihm ein Objekt feiner Geiftesthätigkeit, und was ſich ihm 
in und mit diefer auf das Wort Gottes gerichteten Geiſtes⸗ 
thätigfeit offenbart, das macht er zu feinem eigenen Selbſt⸗ 
offenbarungsproceß, den Proceß aber, feine Dialektik, zur 
Wiſſenſchaft felbft, wo nicht gar .zur Religiongurlunde. Die 
Auslegung eines jeden Theils der heiligen Schrift muß ibm. 
mißlingen, weil er zur culturgefchichtlichen Auffaſſung bes 
Drientalismus überhaupt untüchtig, weil ihm der eigen⸗ 
thümliche Sprach geift und Sprach aus druck der Orientalen 
gänzlich fremd if. Wie dennoch die Hegelianer mit jener 
Dialektit auf eine Chriftologie kommen Bönnen, ift allein aus 
der Zügellofigkeit ihres philofophifchen Sprachgebrauhs zu . 
erklären. So fprechen fie viel vom „fleifchgewordenen Wort”, 
das fie in der That zuerſt zerfleifchen, dann entfleifchen, 
gleichmwie ſie die menfchliche Natur, das Ebenbild Gottes ſelbſt, 
entfleifchen. Im Hebräismus (Mofaismus) bietet ſich das 
Göttliche nicht zunächft dem Dentvermögen dar, (mern auch 
das und nunmehr in Schrift dargebotene ſprachlich heraus; 
gelefen, und infoweit durch Denken vermittelt werden muß), 
fondern der Anfchauung, und au dem Gefühl („mi 
„fillen fanften Säufeln kommt Sehevah”), und vollends der 
Logos des Evangeliums wird Fleifch, indem er vor die An⸗ 


fhauung tritt, („wir haben es gefehen voller Bnade und 
Wahrheit”). | 
So hat der Menſch, wie ihn die Bibel auffaßt und dar⸗ 
ftelit, nicht bloß Ein Drgan für das Göttliche (viel weniger 
ein bioßes Vehikel, wie der Hegeliche Sprachverfiand), er 
bat deren mehrere; im Compiler diefee mehreren befteht erſt 
der Organismus; in diefem wurzelt die Empfängfichkeit für 
das Göttliche, dad Glaubens element; aus diefer Wurzel 
wächst der Glaube als ein lebendiger hervor, und daraus 
gefaltet fih der Charakter des Chriſtgläubigen, der 
ſich das Göttliche, auch für fein Individualleben concretirt, 
fü nahe als möglich gelegt findet („er ift nabe allen denen, 
„die ihn anrufen”), fo daß er diefes Göttliche in feiner Un⸗ 
mittelbarkeit gleichwefenhaft und gleichzeitig zu denken, zu 
[hauen und zu fühlen vermag (dad „dreifache Leben” 
Satob Böhme). . | 

Wer diefe organifche Kebensfülle mißfennt, der kann, wenn 
er philofophiren will, nur negiren. Diefe Negativität bes 
ftebt im Hegelianismus darin, daß er an die Stelle des voll: 
ftändig Organologiſchen nur das Rogifche, das Denkvermögen, 
feßt, in dasfelbe eine befchräntte und befchräntende Denk⸗ 
weife bineinlegt, und fo die bloße Disfurfivität des 
Sprachgeiftes zum Wefen madht, in dieſem Wefen aber 
weder eine abfolute Immanenz nocy eine abfolute Transcen⸗ 
denz zu unterfcheiden vermag; daher er auch durchaus umd 
durchein nur Relativität hat, und darin feinen Forma- 
lismus vollendet, daß er aus lauter Relationen, Denkfor- 
men, das Wefen erfennen und erkennbar machen will. 

Diefem Formalismus anheimgefallen, befikt Strauß in 
nicht geringem Grade, was man dabei noch haben kann. 
Seine Discurfivität des Geiftes ift eine lebendige zu nennen. 
Sein Spiel mit Verhältnigbegriffen ift ein Eunftreiches, ift 
meiftens ein mebrfaches zugleich; er miſcht Wort - und Sach⸗ 
begriffe (Formelles und Faktifches) gewandt unter einander, 


23 
und weiß im Eonereten bald das Faktum durch das Diktum, 
bald diefes durch jenes in's Licht oder in Schatten zu ſtellen. 

Peſtalozzi pflegte ſich über eine folche_Indivibualität 
fo nuszufprechen: „Der hat einen guten Bickerli⸗Ver⸗ 
fand.” Was mit einem guten Bickerli⸗Verſtand geleifiet. 
werden kann, mag er wirklich geleiftet haben. Geine bis⸗ 
berigen Gegner, Efhenmayer, Hoffmann, Klaiber 


und Steüdel, nebft mehreren Recenfenten in den Zeitfchriften, | 


feßen zwar auch dieß, und zwar aus dem eregetifchen Stand- 
punkt, in Zweifel, und ‚mehrere treffen in dem Vorwurf zu⸗ 
ſammen, wie culturgefchichtlich ungereimt die Annahme, wie 
unerweislich es fei, daß in einem Zeitraum von dreißig Jah» 
ren ſich nach dem Tod einer gefchichtlichen Perfon, in wel- 
hen Strauß die Niederfchreibung der Evangelien febt, ein 
Sagen » und Mythenkreis, wozu derfelbe den Inhalt der Evans. 
gelien ftempelt, in folcher Reichhaltigkeit um diefelbe habe herum: 
fpinnen können, während das Wenige, was Strauß im Leben 
Sefu als gefchichtlich wahr fteben läßt, auf einer Oetavſeite Raum 
fände. Wenn aber auch fo das Hauptrefultat Straußeng, 
daß die nicht von den Evangeliften gefchriebenen Evangelien 
eine lange nach Sefu Tod zufammengetragene Sagen- und 
Mothenfammlung feien, in ihr Nichts zerfällt, fo muß man 
dennoch anerkennen, Strauß hat in und mit feiner miß- 
Iungenen Ausführung wenigftens in zwei Richtungen ein nega⸗ 
tived Verdienſt fih erworben: er hat dem Unverſtand bem. 

Garaus gemacht; einerfeits dem Unverftand des Stocdortho- 
doren, welche bibliolatrifch die freie Unterfuchung abfchneiden 
wollen, und fo den Beift als Forfchungsgeift tödten; ander⸗ 
feitö dem Unverftand der Rationaliften, welche mit ihrer er- 
bärmlichen Definition des Wunders, es fei etwas den Natur⸗ 
gefegen Zumwiderlaufendes, (ald ob fie die Naturgefege voll- 
ftändig kennten), an die Stelle einer idealen Naturanſchauung 
eine mechanifche Auffaffung und Anwendung einzelner ihnen 
befannten Naturfräfte feßen; woneben er jedoch jene läppiſche 


DR. 

negative Teleologie mit den Rationalifien gemein bat, die ein 
Wunder unglaubli findet, weil fie basdfelbe „unnsthig” 
oder „unwürtig” ſindet. 

Immerhin bat alfe Strauß, wenn er auch Böſes be 
wirkte, doch auch Böſes unwirkſam gemacht. Wir haben ibn 
zu tolericen, denn er bat auf eigene Weiſe unfer Schweiger- 
fprichevort wahrgemacht: „ Bittered muß Bitteres vertreiben.” 


Des Laien Intoleranz. 


Mag ſolch ein Berfiandesmenfch auch noch fo ſehr fich in 
Berhättnißbegriffen reutiniren, vermag er auch noch fo ſprach⸗ 
gewandt ſich auszufprechen, ec taugt damit um fein Haar 
befier, taugt nur um fo minder zum Philofopben, taugt: am 
allerwenigfien zum fpeculativen; ja es if merkwürdig, wie 
bettelarm diefer Schriftfieller, bei feiner Sucht, wo es fich 
immer thun läßt, in feine Schriftauslegung Philoſopheme 
einzuſtreuen, an philofopbifchen Gedanken if. Sucht man 
unter diefen die Hauptgedanten heraus, fo find es eigentlich 
bloß zwei oder drei, und es find die nämlichen, womit die 
Hegelianer ihren Hauptſpuck treiben. 

Der Eine (bei Hegel felbft ein Hauptunfug) befteht 
darin, daß fie den Hiftorifchen Wahrheiten yfyhologifche 
unterfcbieben, und zwar concvet= biftorifchen allgemein⸗pſycho⸗ 
logiſche. So behandelt Strauß dag Leben Sefu und führt 
es fo duch. Dasfelbe foll in feinen gefchichtlichen Haupt: 
momenten (Mienfchwerdung, Wunderwirkung, Opfertod, Auf⸗ 
erſtehung, Himmelfahrt) bloß fumbolifch den Entwickelungs⸗ 
gang der Mienfchheit darftellen, und fo als Mythe aller 
dings objective Wahrheit enthalten, nicht aber als Reihen: 
folge concreter Ereigniffe und Ergebniſſe eines fubjectiven 
Lebenslaufs, ſoll mithin nicht Perfönlichkeit eines Individual⸗ 
lebend, fondern nur Perfonifilation einer Idee enthalten, 
deren Verwirklichung im Geſammtleben der Menſchheit all⸗ 
maͤhlig vor ſich gehe. 


— 


23 


Wenn fo die neuen Mythiker, was fchon die alten My⸗ 
ſtiker thaten, die zuäleich auch Mythiker waren, aus den 
wichtigſten, und gefchichtlich überlieferten Erſcheinungen des 
Lebens Sefu vielfach mythifche Bedeutung herausfinden, fo 
iR dagegen an ſich nichts einzuwenden; wir, die wir die Ge⸗ 
fchichte für Geſchichte nehmen, finden folcherlei Bedeutung 
auch heraus; nur künnen wir nicht finden, daß die Mythe 
(die mythiſche Bedeutſamkeit des Gefchichtlichen) die Gefchichte 
aufbebe. Hegel bebt diefe vermittelft jener wirklich auf. 
Strauß hingegen will vermittelt der verfuchten Beweisfüh⸗ 
rung der Lüdenhaftigleit und Unzuverläffigkeit der Gefchichte 
(aus den Widerfprüchen, welche in den Evangelien enthalten 
‚ feien), ihre Unwabrhaftigleit darthun, jedoch darin mythiſche 
Wahrbaftigleit finden. Mit den Zheologen fpricht ev zwar 
als Schriftausleger die übliche Eregetenfprache, vermengt 
diefe aber mit Hegelfchen Philofophemen -fo, daß die Exegetik 
in eine ganz neue Hermeneutik, und durch diefe die Gefchichte 
in Mythe verwandelt, dadurch aber das Evangelium zu einer 
traditionellen Scription geftempelt wird, die völlig fo unzu⸗ 
verläffig wäre, wie eine nichtniedergefchriebene Tradition. 

Ein zweiter Sprachunfug der Hegelianer befteht darin, 
daß fie relative Wahrheiten für abfolute geben. Diefe 
Seeiheit, welche den Poeten zufteht, haben die modernen 
Philoſophen in ihr. Gebiet hinübergezogen. Wenn Jean 
Paul, nicht bloß da, mo er Humor treibt, oder wo der 
Humor ihn treibt, fogar in der Aeſthetik und Pädagogik 
(„Borfchule” und „Levana”) es ſo macht, fo weiß jeder 
Lefer, wie er's zu nehmen bat; und wenn Göthe fagt „Bes 
„fühl ift Alles, Name it Schall und Rau,” fo ift er 
als Dichter dazu völig befugt. Wenn aber Hegel als Phi- 
loſoph fagt „Begriff it Alles”, alles Wefenhafte, ſo 
können wir andern menfchlichen Wefen unfere Wefenhaftig- 
feit, wie wir fie uns in den Augen Hegels bloß träu« 


26 


men, an feine Philofophie unmöglich verfaufchen; denn wir 
würden gerade für unfer Abfolutes bloß Relatives eintaufchen. 

Einen folhen Tauſch muthet uns Strauß wirkich m, 
und zwar in der allerwichtigfien religiöfen Beziehung; er 
mißt dem inmwohnenden Glaubenselement bloße Relativität 
bei, er fagt: „Mit dem Glauben ift auch der Zweifel ge 
„ſetzt.“ Wirklich! In der Eulturgefchichte kommen häufig 
Zweiflee vor, ſogar foldye, Die ganze Zweifelſyſteme aufm: 
ftellen verfuchten, die Skeptiker; und im menfchlichen &e 
müthe fieigen überhaupt allerlei Zweifel auf. Was Strauf 
fagt, ift alſo eine pfuchologifche Wahrheit, die fich gefchicht 
lich herausgeftellt, erwahrt bat, aber nur eine velative, 
feineswegs eine abfolute, die fih an jedem Individuum, in 
jedem Sndividualleben, erwahren müßte. In Millionen Chri⸗ 
fienfeelen flieg während ihres ganzen Lebenslaufs, vom erſten 
Zag an, wo fie beten lernten, bis zum Sterbebette, fein 
Zweifel auf an der Unmittelbarkeit des Göttlichen, noch an 
den Hauptwahrheiten der Dffenbarungsreligion. Der Menſch, 
das Ebenbild Gottes, muß zuvor einer falfchen Cultur an 
beimgefallen fein, ehe er, was Strauß auch für abfolut 
ausgibt, einer „NRegeneration’’ feines Glaubens bedarf. 

Ein dritter Unfug befteht darin, daß fie Wahrheiten, die 
fie als allgemeine felbft anerkennen, nicht als conerete 
gelten laffen wollen. Strauß fagt (B. J. S. 175.): „As 
„lerdings muß einer allgemeinen Ahnung und Vorſtellung 
„Wahrheit zum Grunde liegen, nur daß diefe nicht in einer 
„einzelnen, jener Vorftelung genau entfprechenden Thatfache 
„beftehen wird, fondern in einer Sdee, welche fich in einer 
„Reihe jener Vorſtellung oft fehr unähnlichen Thatſachen 
„verwirklicht.“ ine einfältigere und anmaßlichere Behaup⸗ 
tung wird man noch kaum bei einem Philofophen gelefen 
haben. Das Ahnungsvermögen fol zwar in dev menfchlichen 
Natur liegen, Allgemeines fol geahnt werden können, Con 
eretes aber nicht. Er gibt hier zugleich ein Müfterchen von 


27 


feiner Pſychologie. Die Erfahrung lehrt, daß den Ahnenden 
ihre Ahnungen gemöhnlidy als concrete (nady der Bibelſprache 
als „Befichte”) zum Bewußtſein kommen; und wie oft hätte die 
Geſchichte gelogen, mo fie von Ahnungen fpricht, die völlig 
eoncret, nach Perfon, Drt und Zeit, in Erfüllung gingen ?: 
Kür feine tolle Behauptung hatte Strauß feinen geringes 
ren Grund, als, die Weisfagungen auf den Meffiad zu ents 
träften; und fo fol diefe allgemeine Ahnung, ja die uni- 
verfelle Ahnung der Erlöfung des gefallenen Menſchenge⸗ 
ſchlechts, nur deshalb wegphilofophict werden, weil fie einen 
conereten Anhaltspunkt, den perfünlichen Meſſias, hat; es 
fott alfo felbft nach dee Hegel - Straußifchen Philofophie die 
Eriöfung zwar geahnt werden (geahnt worden fein) können, _ 
der Erlöfer aber nicht. Bei foldyerlei Beiftesvericrungen 
und Verwirrungen, wo die Sprache duch die Philofophie 
und die Philofophie durch die Sprache verhunzt wird, muß: 
wirklich jedem vernünftigen Menſchen die Geduld ausgehen, 
und hier hat denn auch die Toleranz der Laien ein Ende. Soldy 
eine philofophifche Sprache — 0 ihr armen Sünglinge auf den 
Hegelianifhen Hochfchulen! — verwirrt nicht allein den 
Sprachgeift,, fie verwüftet mehr oder minder den ganzen 
innern Menfchen. Wo in einem willtürlichen und ſchwanken⸗ 
den Begriffsfpiel feine ontologifchen Wahrheiten Wurzel 
faffen können, da iftauch an ein ethiſches und an ein äfthe- 
tiſches Fundament gar nicht zu denken; mit dem Sinne für 
das Wahre wird. auch der Sinn für das Gute und für das 
Schöne getrübt, und es wird vollends in höchfter Beziehung 
der Sinn für das Heilige erflidt. 

Als fol ein Unheiliger, der den Sinn für das Heilige. 
auch an feinen Mitmenfchen nicht achtet, der mit dem von feinen 
Mitmenfchen Heiliggeachteten und zugleich mit dem Heiligen 
ſelbſt ein Spiel treibt, wie es mit der Miene des Exnftes noch 
Keiner trieb, erfcheint Strauß. Er, der die. Ebendürtigkeit 
des „Eingebornen” mit einer Fäfterlichen Ausführlichkeit in 


28 


Zweifel ftellt; ee, der die „@ebenebdeite” ald eine Gefallene dar⸗ 
ſtellt, und den hierfür zufammengetragenen Eitaten der vatio- 
nafiftifchen Schriftausieger von fi aus keineswegs wider⸗ 
ſpricht, fondern nur hintennach eine mythifche Auffaffung be 
liebt; er, der Wunderläugner,, der in den Wundern Cbhrifi 
nichts als eine „Stufenleiter ded Undenkbaren“ erblidt — 
diefer freche Menſch darf in der Vorrede dennoch fagen: 
„Ehrifti übernatürlihe Geburt ift eine ewige Wahrheit.” 
So fehr fonft allerdings in vielen langen Stellen der Ernft des 
Critikers vorherrſcht — hinter diefen noch fo weiten und breiten 
Mantel den eingefleifchten Satyr zu verfteden, gelang ihm 
ſchlecht. Man müßte jedem Leſer, der diefen nicht 3.9. 
aus dem: durch acht volle Seiten bindurchgefponnenen eregeti« 
ſchen Gaukelſpiel über die Zubereitungen zum Einzug Sefu 
in Serufalem berausfände, alle Menfchentenntniß,, alle Fähig- 
feit, am Schriftfteler den Menfchen zu prüfen, abfprechen. 
Aber auch viele einzelne Wendungen und Ausdrücke verrathen 
den Heiligtbumsfchänder. Mit Widerwillen fertigt der Laie 
ſolch ein Sündenregifter an, dabei mit dem Wunfche, daf der 
hriftliche Xefer es überfchlage, hingegen diejenigen, welche ein 
ſolches Subjekt zur Berufung an die Hochfchule haben empfeh- 
fen wollen, e8 leſen — und fich fchämen”). 
*) Band IL. S.70 Bei der Heilung eines Blinden: „Es wird ver: 
„muthet, Jeſus babe den Speichel nur gebraucht, 
„um ein Arzneimittel, wahrſcheinlich ein äßendes 
„Pulver, anzufeuchten, wovon der Blinde nur das 
„Ausſ puden gehört, von den „eingemifhten Mes 
„dikamenten aber nichts gefehen !” 
— S. 95 Bei der Heilung der blutflüßigen Frau: „Jeſus 
„erſcheine wie ein Magnetiſeur, welcher bei der hei⸗ 
„lenden Berührung nervenſchwacher Perſonen einen 
„Abgang von Kraft verſpürt; wie eine geladene 
„elektriſche Batterie, die beim Betaſten ſich 
„entladet.“ 
— S.172 Bei der Todtenerweckung: „— nur brauchte wie 
„billig der Meffias die mühfemen Manipulationen 
„nicht vorzunehmen, durch welche die Propheten zu 
„ihrem Zweck zu M ngen fuchten.” 
— 6.195 Bei der zuletzt erflärten „Fifchgefhichte”» „In 


29 


Wie der fromme, ehrwürdige Neander, von ber Preufi- 
ſchen EenfursBehörde befragt, ob das Buch zu verbieten fei, 
von „mwiffenfchaftlichem Ernft” zeugen fonnte, weiß der Laie 
ſich nur fo zu erklären: Neander hält vieleicht dad moderne 


Band II. S. 230 


— S. 349 


— ©. 464 


— S. 569 


— S. 688 


‚„dieſen märchenhaften Ausläufer endigen die See: 
„und Fiſch-Anekdoten.“ 

Bei der Verwandlung des Waſſers in Wein: — 
„iſt hiernach nur ſeine Humanität, welche gehörigen 
„Ortes auch einen Spaß zu machen nicht ver: 
„ſchmähte — — er aber erinnerte ſie ſcherzend, ihm 
„nicht durch Vorſchnelligkeit den Spaß zu ver: 
„erben — — daß, als auf Einmal Waffer flatt. 
„des Meines in den Krügen fich fand, dieß für eine 
„tmunderbare Verwandlung gehalten wurde, ift leicht 
3 begreiflich in einee fpäten Nachtfiunde, wo 
„man fhon ziemlich gerennfen hatte — — 
„warum richtete er die Darbringung des Geſchenks 
„mit raffinirtem Fleiße fo ein, daß fie als 
„munderbare Befcherung erfcheinen mußte?” 

Bei der Verklärung: „— fo ift in keinem Fall zu 
„begreifen, wie an einem folden Berflärungs: 
„prozeß auch feine Kleider Theil nehmen Ponnten.” 
Beim Einzug in Ierufalem: „das Auffallendfte iſt, 
„daß Jeſus nicht bloß, da doch nur er allein rei: 
„ten wollte, zwei Efel requirirt, fondern daß 
„er auch wirklich auf beide ſich geſetzt haben 
„fol. — — Den Efel konnte man ed nicht anfehen, 
„daß er noch nicht geritten war, außer an der Un 
„gebärdigkeit, mit welcher er den ruhigen Fort- 
a AN des feierlichen Zuges geftört haben 
„, würde.’ 

Bei der Vorherfagung der Wiederkunft: „— die 
„ale Völker Zufammentrompetenden follen 
„die predigenden Apoftel ſein.“ 

Bei der Verſuchungsgeſchichte: „— daß die drei⸗ 
„malige Wiederholung des Angriffs ihren objektiven 
» Grund in einer verborgenen Geſetzmäßigkeit des 
„„Öeifterreiche gehabt habe, wie etwa Mephiſto⸗ 
„pheles dreimal Elopfen und hereingerufen 
„werden muß.” 

Bei dem Lanzenflih: „Ohne Zweifel geht vielmehr 
„der Evangelift von der Hei jeder Aderläffe zu 
„ machenden Erfahrung aus.” 

Dei der „fogenannten” Himmelfahrt: „ Freilich 
„iſt eine Himmelfahrt vom Zimmer aus 
„nicht gut ſich vorzuftelen, daher läßt fie Lucas 
„im Zreien vor fich gehen.” 


30 


Inſtitut der Cenſur nicht durchaus für ein chriſtliches; vielleicht 
ſteht nach feinem chriſtlichen Begriff von der „Freiheit der 
„Kinder Gottes” den ausgearteten Kindern der Welt ned 
imnier dag freie Wort zu. Go mußte ihn die Abforderung des 
Gutachtens ernfthaft ſtimmen, und fo trug er den Ernft in dag 
Buch über, und las ihn wieder heraus. . 


Der unfhuldige VBerratb. 


Kaum war Straufens Buch bier in Zürich im Bud) 
bandel verbreitet, und ohne Zweifel noch von Wenigen gele- 
fen, fo erfchien ſchon in unfern Zeitungen jenes Neander- 
ſche Gutachten. Man hielt dasſelbe mit der Wegweiſung 
Straußens von der Tübinger-Hochſchule zuſammen, 
und ſo entſtand ein gewiſſes Intereſſe für den in Deutſchland 
von der einen Seite tolerirten, von der andern nicht tolerirten 
Verfaſſer. Es entſtand gerade in den Tagen, wo ein durch 
Todesfall erledigter Lehrſtuhl an der theologiſchen Fakultät 
neu beſetzt werden ſollte. So war natürlich auch von Strauß 
die Rede. Mehr als das Buch wurde die Perſon hin und her 
beſprochen, und man fand es recht und billig, einem Gelehrten, 
dem ſein freies Wort in Königreichen verkümmert werden ſollte, 
in einem cenſurfreien Freiſtaat dasſelbe zu ſichern. Und weil 
es hier in unſerm Zürcheriſchen Freiſtaate, wie allwärts, 
Orthodoxen und Rationaliſten, Gläubige und Freidenker giebt, 
die Freidenker aber auch frei wollen, mehr Freiheit, mehr 
Spielraum für dieſelbe wollen, als die Gläubigen, die ihr 
Wichtigſtes ſchon haben; weil ferner die Freiheitsbeftrebun- 
gen zum Handeln antreiben, fo wurde auch Straußens An- 
ftelung von jenen um fo eifriger betrieben, deſſen Perfon 
vorzüglich hervorgehoben und ausdrücklich dag „eminente 
„Lehrtalent.“ So glaubte man fich einer genauen Prüfung 
des Buches um fo eher überhoben, Daß es . von feinem 
einzigen der vielen Stimmgeber in unfern verfchiedenen kirch⸗ 
lihen und politifchen Zeitungen eigentlich gelefen, das beißt, 


31 


kritiſch geprüft wurde (ed mwenigftens von den Eregeten 
bloß eregetifch wurde), macht fhon die Oberflächlichkeit aller 
jener Beitungsartitel wahrfcheinlich.. Der Laie kennt die 
Mehrzahl der Stimmgeber hinlänglich, um verfichern zu 
können, daß fie genug Lnbefangenheit, Urtheilskraft und 
MWiffenfchaftlichleit befiken, um das Buch, wenn fie’d recht 
gelefen,, nicht bloß darin herumgeblättert hätten, als ein zwar 
reichlich von Erudition und Spracdhgewandtheit zeugendes, 
aber ärmlich und mißlich mit Pbilofophie ausgeftatteted, im 
Ganzen unmwiffenfchaftliches qualifijiven, und vollends 
die Darftellungsweife, was man den Ton zu nennen pflegt, 
an vielen Stellen verwerflich finden müßten. 

Daß übrigens diefe Erfcheinung im Allgemeinen auch 
bei unferm Publilum bin und wieder Anklang findet-, ift aus 
der. allgemeinen Zeit: Eultur zu erklären, worin wir Zür- 
her eben auch mitleben und mitfchweben. Vom Strudel 
diefer Zeit⸗Cultur mitfortgeriffen, der Zerftreuung der Welt 
mitpreisgegeben,, die durch unfere nach allen Seiten aus- 
geartete Zageslitteratur tagtäglich genäbrt und gemehrt wird, 
find den Zerſtreuten diejenigen Cultur- und Lebensanfichten 
vorzüglich willfommen, welche von jeder Art Autorität, auch 
der Autorität der. Weltgefchichte, möglichft freimachen, den 
Ernſt binwegfpielen, und im „flott Teben” beftärken. Es 
find daher im Gebiet des Religiöfen die pantheiftifchen 
Anfichten die willkommenſten. Weil dem Zoͤgling einer fal- 
fhen Eultur, dem die Offenbarungsreligion und mit ihr.der 
Dffenbarungsglaube verloren gegangen ift, noch immer etwas 
von einem gewiffen veligiöfen Gemeingefühl übrig bleibt, 
fo ift ihm der Pantheismus dasjenige, mas ihn am wenigften 
genirt; weil ihm die „AUnmittelbarkeit des Böttlichen” Tand 
und Wahn ift, fo hat er -den „Born Gottes” (ein göttliches 
Strafverhängniß) fo mwenig zu fürchten, als fih um die 
»Gnadenwirkung des Erlöfers’’ zu kümmern. Ja es find. 
einen folchen veligiöfen Gemeingefühl,,. wo e8 noch regſam 


ift, gerade die mittelbaren Anklänge an etwas Ideelles noch 
lieber, als die unmittelbaren. So fprechen die pantheifl- 
fen Idealiſten die Ideale der griechifchen Mythologie , ald 
„verkörperte Ideen,” gerade wie Strauß fie auftifcht, weit 
mehr an, als die heilige Befhichte in ihrer Unmittd- 
barkeit. Sie gewinnen damit wenigftens einen griechtfchen 
"Himmel; nur ift diefer nicht fo ſchön und gang, wie der umd 
in der Eufturgefchichte der Griedjen überlieferte. Es fehlt 
namentlich dem gräcificenden Hegelianismus, der höchfiens 
an die Phantafie gelangt, um das Gemüth zu negiren, 


das Hauptideal: die Liebe. Eolchergeftalt bilden die dürcm 


Hegelianer in unſerer Beit-Eultur ein merkwürdiges Seiten- 
füd zu den brünftigen Gutzkovianern: Sene haben den 
- Himmel ohne die Venus, diefe die Venus ohne den Himmel. 
An fidy betrachtet, ift der Antrag auf Berufung eines 
„eminenten Lehrtalents” nicht nur zu entfchuldigen,, er tft 
recht und Löblich, ift auch fihon durch die Klugheit geboten. 
Man weiß, dag alle florivenden Hochfchulen nur durch große 
Sndividualitäten in Flor gelommen find, und nur durch ſolche 
fich darin erhalten. Damit ift auch die Aufgabe für eine neu⸗ 
gegründete, ſich erft noch vollftändig geftaltende, geftellt. 
Große Sndividualitäten find aber nicht bloß die Stützen und 
3ierden einer Hochfchule. Sft der unmittelbare Einbrud, 
den fie machen, ſchon wichtig, fo ift ihr mittelbarer Einfluß 
kaum zu berechnen. An einer großen Individualität richtet der 
Süngling fiy auf; indem er Großes perfonifizirt anfchaut, lernt 
er großartig denken, fühlen und wollen; er wird geneigt, die 
Menfchengröße und Menſchenwürde, welche ſich ihm in einer 
Derfon rvepräfentirt, in der Menſchheit, feinem Zeitalter, 
feiner Nation überall und in jeder Beftalt zu fuchen und zu 
fhäßen, fie auch individuell mir eigener Kraftanftrengung zu 
‚erfteeben, und eben fo in feinen Umgebungen verwirklichen zu 
helfen. So nützt ein großer Lehrer feinem Lehrling nicht 
:allein durch das, was er ihn lehrt, ſondern durch das, 


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was er ihm iſt, wie er ihm erfcheint, wie feine. Erfchei- 
nung auf ihn einwirkt. Darum — Heil unfern Schweizer: 
jünglingen! Die Menſchengröße erfcheint ihnen wirklich und 
wahrhaft auf unferer Hochfchule. Unter einem ehrenmwertben, 
vielfach ausgezeichneten Perfonal. von würdigen Hochfchufs 
lehrern, die zugleich faft alle Schriftfteler find, und fo duch 
das doppelte Mittel der Lehre und Schrift unfere vaterländi« 
fhe Bildung befördern, haben wir hervorragend große In— 
dividualitäten, ja wirflich große Männer, wie Keller, Oken, 
‚Drelli, Schönlein; wir können wirklich von „eminenten 
„Talenten“ fprechen; yperfönlich und litterarifch, in der 
Wiffenfchaft und im Leben, ift Kellers organifatori- 
fhe8:Zalent, Okens ſchöpferiſches Talent, Drellig 
cultui-vermittelndes Talent, Schoͤnleins conſer⸗ 
vatives Talent beurkundet. 

Haben wir wirklich die Hülfsmittel, und gerade jetzt die Ge⸗ 
legenheit, mit noch eine m fo entſchiedenen Talent das Inſtitut 
unſerer Hochſchule zu vervollkommnen, ſo wäre das Talent 
Straußens, auch wenn kein Mackel an der Perſon haftete, noch 
unreif, und auch fo noch unbewährt; vollends von „Eminenz” 
kann nicht die Rede fein, die Wißlofigkeit, welche Strauß 
mit den Philologen von gewöhnlichem Schlag gemein bat, 
zeugt eher von Zalentlofigkeit; wer, wißelnd, ftatt Witzge⸗ 
danken nur Witzworte, meiftens ftatt Wigworten nur Witz⸗ 
wörter vorzubringen hat, die eigentlich. nur Wortfpäffe 
find, der erfcheint damit als ein ganz ordinärer Menich. 

Iſt gegenwärtig die Gewinnung eines entfchiedenen Talents 
für unfere Hochſchule auch nur möglich, fo ift die leichtfer- 
tige Verfcherzung diefes Gewinns ein Qulturverbrechen. Die 
Hochſchule ift dem Laien unter allen menſchlich⸗geſellſchaftli⸗ 
chen. Stiftungen das höchſte Heilighum der Eultur. 
Shre Beftimmung ift nicht bloß auf icdifche, nicht bloß auf 
weltliche Dinge beſchränkt. Sft die sheologifche Fakultät mit 
ächten Theologen beſetzt, fo heißt es von diefen: „Ihr aber feid 

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„nicht weltlich, fondern geiſtlich!“ ift die pbilofophifche mit 
äckten Philoſophen befekt, fo bieten diefe jenen die Hand, 
lehren das Weltliche geiſtig auffaffen, dag Irdiſche himmliſch 
beziehen; ihre Pbilofopbie wird Religionsphilofophie, ver 
schmilzt fich fo mit der Theologie und lehrt himmliſche 
Weisheit, fo weit dem Erdenfohne ein Wiffen um göttliche 
Dinge vergömnt ift. 


Der ſchudige Verrath. 


Daß ebenfowobl als die Schreib: und Lefefreibeit auch 
die Lehr» und Hörfreiheit bei uns ungefchmälert fein fol, 
verfiebt fi. Keineswegs aber verfteht ſich's, daß, wie ges 
wifle zudringliche Leute dem Erziehbungsrathe haben infinuiren 
wollen, der Staat berufen fei, den Strauß zu berufen, 
weil diefer eine eigentbümlihe Richtung genommm 
babe, die durch feinen unferer jetzigen Sochfchullehrer reprä- 
fentirt fei. Die Richtung könnte eine verkehrte, ja gerade 
nur in der Verkehrtheit eine eigenthümtliche fein; der junge 
Mann könnte erft neulich begonnen haben, feine Kräfte in 
diefer Richtung zu verfuchen; er könnte, fie an Studenten ver- 
ſuchend, diefelben nur irveleiten, ja wirklich in Berfuchung 
führen. Inzwiſchen müßte der Staat das fehlgefchlagene 
Erperiment nody bezahlen, und hätte bintendrein « einen Irr⸗ 
lehrer bleibend auf dem Hals. 

Will man hier von Richtung fprechen, fo ift es paffend, 
dag man’s im Plural thue. Der Staat hat wirklich bei An- 
flelung eines Profeffors der Theologie zwei Richtungen zu⸗ 
gleich in's Auge zu faffen, die fpekulative und die praßtifche. 
Nach der erfiern follen die Hochichüler Herren der Wiſ— 
fenfhaft, nach der lehtern Diener der Kirche werden. 
Handelt ed fidy aber um die Anftellung eines Mannes, der 
mit feiner Religionsanficht,, und wäre fie auch noch fo begrün- 
det, gegen die Landeskirche in den Kampf träte, würde 
er mit feinem Efoterifhen das vorhandene Eproterifche aus 


36 


dem Wege räumen wollen, oder würde ſeine Lehre auch ohne 
ſeine Abſicht auf die Hinwegräumung führen, ſo wäre die 
Anſtellung eines ſolchen ein offenbarer Verrath, zwar kei— 
neswegs vaterlandsverrätheriſch, aber ein Mißrath, der, 
ohne Böſes zu beabſichtigen, unvermeidlich und unabſehbar 
Boͤſes bewirken müßte. 

Jedoch iſt unter den Rathgebern noch eine Unterſcheidung 
zu machen. Die bisher lautgewordenen find einerſeits Ges 
lehrte, anderfeits Politiker. Unter den erſtern haben manche 
in unfern beiden Kirchenzeitungen fich ausgefprochen, und einer 
von diefen bat den Strauß ald Hegelianer in.Schuß ges 
nommen, bat defjen Berufung an diephilofophifche Fakultät 
gewünfcht, „indem die bisherige Abfperrung unſers Baterlandes 
„vom Studium diefer tieffinnigen Philofophie nicht in Ewigkeit 
„fortbeftehen könne.” Abgefeben von der Vorausſetzung, wie 
die Hegelianifhen Großſprecher fich folche erlauben, daß jene 
Philofopbie in Ewigkeit dauern werde, müffen wir bemerken, 
daß der troßige Kivchenzeitungsfchreiber fich in der Seit, und 
zwar an der Zeit, an unferer Zürcherifchen Zeiteultur, ivrt, - 
daß er fich fo ziwar feines Verrathes fchuldig macht, aber einer 
Unmwahrheit. Eine Unmahrbeit ifts, daß, „vor kurzer Zeit 
„noc eine mit Unkenntniß dieſer Philoſophie verbundene, alfo 
„borurtheifende Berdammung derfelben herrſchende Marime 
„war.” Der Laie ftehtden Zürcherifchen Schul: und. Rittera- 
turverhältniffen nabe genug, um bezeugen zu fünnen, daß 
einerfeits in dem feit fünf Sahren beftehenden Erziehungs» 
rathe feine fo unwürdige Maxime berrfchte, vielmehr alle herr- 
fchenden (oder concurrirenden) pbilofophifchen Syfteme in diefer 
Behörde ihre angemeffene Würdigung finden, und anderfeits 
auf unferer Stadtbibliothek richtig auch Hegels fämmtliche 
Werke aufgeftellt find — und fo ift am Vorgeben einer Sperre, 
die von jenem Kirchenzeitunggfchreiber ſogar, dreiſt genug, 
als eine unfittliche bezeichnet wurde, fein wahres Wort. — 
Uebrigens .ift von diefer Seite wohl feine weitere Zudringlich- 
feit zu befürchten. Kaum bat jener Kivchenzeitungsfchreiber 


36 


ſich fo ausgefprochen, fo fommt von Berlin her (Jahrbücher 

für wiffenfchaftliche Eritit Nro. 86, 87, 88) alfo vom eigentfi« 
chen Forum des Hegelianigmus aus, ein Ausfpruch als Endur- 
theil, in welchem durch einen capitelfeften Hegelianer der arme 
Strauß fo unbarmherzig durchgebechelt und durchgehegelt 
wird, daß nun er faum mehr für einen Hegelianer paffiren 
fann; der unreife „.Sürihegel” aber, betroffen, ſich ſelbſt fa- 
gen dürfte: si tacuisses„ hegelianus mansisses. 

Anders als mit den gelehrten Rathgebern verhäft es ſich 
mit den politifchen. Hier ift wirklicher VBerrath (Mißrath in 
obigem Sinne), jedoch fein heimlicher, fondern ein offen aus- 
gefprochener, ein Rath, zu dem die Rathgeber ftehen. Seit 
Sahren her ward in den politifchen Zeitungen oft und unter 
allerlei Wendungen und Anwendungen dem Staat der Rath 
ertheilt, fich von der Landeskirche loszufagen, den Gemeinden 
die Befoldung der Pfarrherren zu überlaffen, deren „perio 
„difche Erneuerung” ihnen anheimzuftellen ꝛc. 20.5; wobei 
man nicht ermangelte, Nordamerika ald Mufterftaat und 
Muftervolt anzuführen. So dringt man nun confequent 
auf die Unftelung eines Religionslehrers, der da lehrt: Die 
heilige Gefchichte fei keine Geſchichte, - die Evangelien feien 
nicht von den Evangeliften, fie feien nur ein zufanmenge: 
tragener Sagen: und Mythenkfreis; jeder aufgeflärte Pre: 
diger, welcher den Inhalt der Evangelien für biftorifche 
Wahrheit ausgebe, fei ein Lügner, dem fein Gewiffen eigent- 
li) gebiete, feine Stelle niederzulegen — und fo ift aud) 
das confequent, dag man folcher Lehre durch ein „eminentes 
„Lehrtalent“ Eingang zu verfchaffen fich getraut. 

Es treten aber hiermit gemwiffe Inconſequenzen hervor, 
wodurch die Verrätber an der Kirche in einer andern Be 
jiehung zu Selbftverräthern werden, indem fie ihr wahres 
Inneres verratben, nämlicdy ihren zweideutigen Liberalismus, 
gerade indem fie deffen Eindeutigkeit und Confequenz zu be» 
haupten vermeinen. Sie wollen aus lauter Sreifinnigfeit 
ihrer Ueberzeugung folgen, wollen dad Volk, wie fie meinen, 


87 
vom Aberglauben, und daber von der Kirche, frei machen. 
Zu diefem Behufe wollen fie, daß das Chriſtenthum an der 
Hochſchule nicht bloß pofitiv, fondern auch negativ vorgetra—⸗ 
gen werde, wollen ihr daher, politifch Tieberal, aber kirchlich 
ufurpatorifch — und dag ift eben der zweideutige Liberalismus — 
einen Lehrer aufdringen, der da lehrt, daß die Evangelien als 
Urkunden nichtig, daß fie unhiſtoriſch ſeien, daß fomit die auf 
unbiftorifchen, daher unhaltbaren Grund gebaute Landeskirche 
für vernünftige Leute nicht länger tauge. Zwar bevormundet 
‚ wücden dadurch die Theologie:Studierenden nicht, würden viel⸗ 
mehr ermuntert, zur Beit ihrer vollen Mündigkeit vecht frei zu 
fprechen. Sie würden aber planmäßig zum Boraus mit fich felbft 
fo in Widerfpruch geſetzt, , daß fie dereinft, als angeftellte Prediger 
der Landeskirche, entweder heuchlerifch für, oder rebellifch -ge= . 
gen diefelbe predigen müßten, in jedem Sallaber der „Mißbrauch 
„der-Zunge” fo verderblich wäre, wie Jacobus ihn ſchildert. 

Daß auf folhe Weife die Liberalen Reformatoren ihre 
Ueberzeugung unberechtigt- in einem ihnen fremden Gebiet 
würden geltend machen wollen, fann, ihnen freilich nicht zu 
Sinne fommen. Sie glauben alled zu thun und alles ein 
zurdumen, wenn fie die Gewiſſens freiheit eines Seden ans 
erfennen, worunter fie die fubjective Glaubens freiheit eines 
Seden verfiehben. Daß aber der Glaube, der Ehriftenglaube, 
ein Objekt fei, worüber man übereinfommen fünne, daß es 
einen Volksglauben gebe, daß die darin Übereingefömmene 
Mehrheit des Volks ſich eines freien Rechts bewußt fei, 
diefes fein Glaubensobjekt fih objektiv zu fihern, das 
heißt hier, in ebendemfelben Glauben fein kirchliches Leben 
fortzuleben, in ebendemfelben Glauben feine Kinder zu erzie⸗ 
ben, und zu diefem Behuf die Gewährleiftung der Firchlichen 
Einrichtungen, gleichwie der damit übereinftimmenden Schul: 
einrichtungen, vom Staat zu fordern — dad alles fann 
ihnen nicht beifallen; es widerfpricht ihrer Ueberzeugung, 
und diefe ift abgefchloffen. Hier aber iſt jedoch die aa 
ſchloſſene Ueberzeugtheit noch naͤher zu prüfen. 


Das Bolt und feine Repräfentanten. 

Die Repräfentanten-im Volke find von den Repräfentanten 
des Volkes zuvörderſt zu unterfcheiden. Unter ketztern find 
bei uns die vom Wolke hingeftellten Großräthe, unter den 
erftern theils die Schriftfteller, welche fich felbft hinſtellen, 
theild die vom Staat angeftellten Beamten zu verfiehen. An 
diefen allen haben wir vielerlei Wortführer und Sachwalter, 
fowohl für die Aufgaben der Wiffenfchaft, als für die Ange 
legenheiten des Lebens. 

Sollen nun von der Willenfchaft Aufgahen gelöfet wer⸗ 
den, die fir die Angelegenheiten des Lebens von vorzüglicher 
Wichtigkeit find, fo it es nicht genug, daß Einer, in öffent 
licher Stellung auftretend, feiner Weberzeugung folge, und 
nicht genug, daß er ſich deffen bewußt fei, fondern er muß 
fih bewußt fein, eine vollſtändige Kunde und Kenntniß von 
dem Begenftande feiner Ueberzeugung gewonnen zu haben; 
und ift vollends diefer Gegenftand der wichtigfie, der allge: 
meinfte, ift er nämlich das Volk felbft, fo entftehen daraus 
ecnfte und ſtrenge Anforderungen, zumal in einem Freiſtaat. 
Der Volkswille iſt zu reſpektiren — nicht nur dieß, es 
ift dem Bollswillen zu entfprechen in allem, was nicht 
unrechtlich und nicht unfittlich if. Was das Volk in feiner 
Mehrbeit wollen würde, wenn e8 in feiner Mehrheit die er- 
forderliche Einficht hätte, das haben feine amtlichen Wort- 
führer und Sachwalter, denen es feine Intereflen anvertraut 
bat, zu verwirklichen, felbft wo fie e8 auch nicht gerade für 
das Beſte hielten. Will daher Einer ein rechter Volksmann 
fein, fo muß er ſich's zur ernften Aufgabe machen, den Volks⸗ 
willen allfeitig zu erforfchen; er muß fich in das Volk hin: 
einleben, um fo vom Bolt aus für das Wolf zu wirken. 

Wie fteht es nun um eure Stellung und um eure Ueber: 
geugung, ihr unvolfsthümlichen Volksmänner, die ihr euch 
in das religiöfe und kirchliche Leben des Volkes folche Ein⸗ 
griffe erlaubt? — She mögt wirklich glauben, aus voller 
Ueberzeugung, ja fogar als von der Ueberzeugung des Volks 


39 


überzeugt , deffen Intereffen zu wahren und zu fördern — 
aber welcdyerlei Intereffen? — -offenbar die materiellen! 
Euer eigener Materialismus ift’s, der euch glauben macht, 
die materiellen Interefien feien, wie euch, fo auch dem Volke 
die höchften. Nein! fo iſt's nicht! Ihr entehrt hierin das Volt, 
indem ihr eure niedrige Gefinnung auf die feinige überträgt. 
Unfer Bolt ift, Gottlob! in feiner großen Mehrheit — ihr 
babt das weibliche Gefchlecht auch dazu zu zählen — ein reli- 
giöfed, ein hriftgläubiges Volk, dem feine Kirche fein 
höchftes Erdenheiligthum ift und bleibt. Als ein folches könnt 
ihre es freilich weder in den Wirtbshäufern, noch auf den 
Märkten, noch auf den Schüßenpläßen,, nody auch vor den 
Gerichtsfchranten kennen lernen. So dringt der Volksmund 
nicht ale cin chriftlicher zu euern Ohren, und dennoch ift er 
es in That und Wahrheit. Unfer Volk if ein Voll, dag 
beten kann, ein Volk, das da glaubt, „alle guten Gaben kom⸗ 
„men von Dben”; der Landmann ift gewohnt, dem Geber. 
für die guten Gaben, wie auch für das Gelingen feiner Ars 
beit, zu danfen, und fo ift feine Arbeitſamkeit mit Frömmig⸗ 
feit verbunden, und mit beiden ‚die Genügſamkeit. Zaufend 
Familien finden in einem befcheidenen Familienglüc auch fchon 
ihe Lebensglück. Was aber die Religiofität unferes Volkes 
am fchönften beurfundet, das ift dag gangbarſte Sprichwort, 
oder vielmehr Lofungswort, welches die Stillen im Lande, 
und die Armen im Lande, und die Frommen im Lande am 
liebſten im Munde führen: „Wenn ich nur mit Gott und 
„Ehren durch die Welt fommen kann!” Das ift ein vrühren- 
des Wort, denn es ift ein heiliges Wort, ein Wort, nad 
deſſen Inhalt das Volk in liebenswürdiger Demuth bemeifet, 
wie es feine irdifche und feine himmlifche Beftimmung erkennt, 
und zu erfüllen trachtet. She aber, ihre Uebermüthigen! 
kommt nicht mit Gott und Ehren durch die Welt, wenn ihr 
nicht ablaßt von dem fo übel berechneten Wagniß. Erkennet 
endlich eure Selbftbetbörung! Ihr habt das Volk, Viele im 
Volk, ſchon genug beunruhigt; ihr habt die ehrwürdigen Geift- 
lichen fhon genug geärgert; ihr habt manchem ehrbaren Land- 
mann, manchem frommen Vater und mancher frommen Mutter 
ihre fehönfte Lebenshoffnung zerftöct, die mit Verzichtung ak 


40 


Lebensgenuß, durch vieljähriges „Haufen und Sparen” es dahin 
gebracht hätten, und fo gern als ihr höchſtes Erdenglück hätten 
erleben mögen, wie ihr Sohn por allem Volk von heiliger Stätte 
aus „den Herrn befenne”; und aus manchem hoffnungsvollen 
Sohn des Landes, den der Vater für den Beruf des Geiftlichen 
nicht. zu beftimmen wagen darf, weil durch euch die Landes: 
firche gefährdet ift, wird vielleicht, wenn er einem induftriellen 
Beruf anheimfällt, ftatt eines Gottbegeifterten — eine Krämer: 
feele. Soldye Dinge habt ihr ſchon verfchuldet, und es ift nicht 
zu früh, daß man's euch öffentlich fage! 


Schlußwort. 


Iſt dem Laien wenigſtens die Beweisführung gelungen, daß 
man fidy in Beurtheilung jenes Buches und der Würdigung des 
Autors fehr übereilt hat, und fehr unüberlegt ihn an unfere 
Hochſchule hat berufen wollen, fo ergibt fidh leicht, was nun 
vernünftiger Weife zu thun und zu laffen fei. Rettig, durch 
deffen Tod die Stelle erledigt war, hat befriedigt... Seine Rich. 
tung war, der fehr prononcirten rationaliftifchen wenigſtens 
zweier andern Profefforen gegenüber, die fupranaturaliftifce. 
Empfand man Rettigs Verluſt fo fchmerzlich, fo ift der 
Schmerz ganz natürlich zu heilen durch einen Nachfolger in 
feinem Sinn und Geiſt, einen Nachfolger, der fein Glaubens» 
befenntnig im einfachen Sinne des Ehriftenvolfed in die ein: 
fahen Worte faßt, die Rettig feinem Schriftwerk „die freie 
„proteſtantiſche Kirche” vorfeßte: „Ich glaube an den 
„Sohn Gottes.” 


Ferner find bei Orell Füßli und Comp. in Zürich zu haben: 
Doftor Strauß- und feine Lehre. in freies Wort an die 
freien Zürcher. „Prüfet Alles, und das Gute behaltet“. 8. 


geheftet hf. 
If Strauß uns zum Heil oder Unheil berufen? DBeant: 
wortet aus deffen Leben und Lehre. 8. geb. 38. 


Strauß ift ein Chriſt. Sendſchreiben eines Geifklichen an einen 
Laien. 8. geh. 28. 


[3 
— — “Rn —— 


ur 


Yoh. Raspar Orelli’s 


YAurede 


an die 
Studirenden der Hochichule 
Bürid 
über die Berufung des Hrn. Profeflor Strauß. 


Den 17. März 1839. 


Nebſt der Adreſſe der Studirenden an den Profeſſor Orelli. 


en 2 nn nn an nn nn nn — 
Züri, 
bei Drell, Füßli und Compagnie 
1889. 





Meine Serren! 


Mi inniger Rührung hat mid Ihr Gedanke erfüllt, es Taut 
zu bezeugen, daß mein neuliches Wirken als Mitglied des Er- 
ziehungsrathes Ihnen nicht unſinnig oder ketzeriſch, meine Beharr- 
Fichfeit im Behaupten einer beftimmten Weberzeugung nicht als 
unbegreifliher Starrfinn erfcheint. 

Aus Gründen, deren Gewicht ohne Zweifel von Ihnen allen 
gefühlt wird, mußte ic) nothwendig jede öffentliche Anerfennung 
meines Strebend von Ihrer Seite ablehnen. Aber falfches Zart- 
gefühl, ja Zeighelt wäre es gewefen, Hätte ichs nicht gewagt, 
Shnen in diefen Hallen der Wiffenfchaft für Ihren mich für viel 
Widriges tröftenden, ja neu ermuthigenden Beichluß zu banfen. 

Hiezu erfah ich diefe Stunde. An einem Feiertage darf Feine 
Leibenfchaft ihre tobende Stimme erheben, um in der Kirche bie 
Maffe zur Verkeherung anders Denfender, zur Verlegung der 
Geiche Anfzufordern, hier in der Aula, irgend einen disharmoni⸗ 
ſchen Wiederhall aus der Zünglinge Bruſt hervorzulocken; wohl 
&ber darf ruhige ernſte Wahrheit dort iind hier ſich eben fo ruhiges 
Gehör erbitten. 

Damit wir und weihfelfeitig über ben eigentlichen Grand 
der unfeligen Wirren verftäubigeh, in welche Die bedauernswurdige 


4 


Mehrzahl unferd vor kurzem noch fo glüdfichen Volkes fich hat | 
hineinführen lafjen; damit wir uns in diefer Feierftunde in Got⸗ 
tes Gegenwart wahrhaft erbauen, fo theile ich mit MWeglaffung 
einer einzigen mich perfönlich betreffenden Stelle, ein Eendfchreiben 
des Hrn. Profeffor Strauß an Hirzel, Hitig und mich mit, wel- 
ches erſt morgen ausgegeben werden darf. 


Zu weiterer Verftändigung muß ich Ihnen mit zwei Worten 
meine Anficht über die Schule an fidy darlegen. 

Nämlich die Schule von den erften Glementen an bis zur 
Mittheilung der abftracteften Wiffenfchaft ift durchaus Feine eigene, 
eben fo in fich abgefchloffene, ihre eigenthümlichen Zwecke verfol- 
gende Intelligenz oder Potenz, oder wenn man will, myſtiſche 
Berfon, wie es der Staat und die Kirche find. Denn welches 
wäre doch ihr Zweck? Wiffenfchaft und Kunft find einmal Thätig- 
feiten des Menfchengeiftes, welche ihren Wirkungsfreis weit über 
die Sphäre der Schule ausdehnen, ja ihre genialften Schöpfungen 
‚gehen nicht aus der Schule hervor, wirfen meift nicht unmittelbar 
auf Diefelbe ein. 
| An ſich Fönnte der von Staat und Kirdye abgefonderten 
Schule Zweck am Ende nur der fein, bloß um des Lehrend 
und Lernens felbft willen an einem fort zu lehren und zu lernen; 
etwa auch der, fih neue Lehrer nachzubilden, die wiederum 
raſtlos fortlehrten bi8 and Ende der Tage. 

Nein, meine Herren, in dem idealen Leben eined wahrhaft 
gefitteten Volkes iſt Die Schule vielmehr eine aus dem innern 
Pflichtgefühl und nothwendigen Erhaktungstrieb diefes Volkes her- 
-sorgehende, von ihm feſt begründete Volksanſtalt. Ihre Aufgabe 
iſt es, mit klarem Bewußtſein des Erforderlichen und Zwedmäßigen, 
‚mit den geeignetften Mitteln, jede nächſte Generation für gefeb- 
liche Ordnung, Wiffenfhaft, Kunft, Religion zu bilden, damit 
Staat und Kirche in völliger Einheit fich forterhalten zum irdifchen 
und ewigen Heil jedes Bürgers, jedes Gläubigen, und dieſe 
Harmonie das Reich Gottes auf Erden ald eine Wahrheit darſtelle. 


5 

Allerdings iſt es eine unerläßliche Bedingung der heilfamen 
Wirkſamkeit der idealen Schule, daß Staat und Kirche fie ver- 
nunftgemäß geftalten, mit den nothwendigen Kräften fie freigebig. 
ansftatten, aber fie dann nicht ſtets hemmen und ftören, fondern unter 
dem Grziehungsgefege zutrauensvoll mit geiftiger Freiheit walten 
und wirfen laffen; dieß heiße ich Die ideale, die freie Schule. _ 

Sn die arme Wirklichkeit freilich tritt Die erhabene, heilige 
Idee der Schule wegen der Beichränftheit und der Leidenfchaften. 
der Maſſe meiſt nur getrübt und beengt ein. 

Seit dem Mittelalter bis 1830 war es bei uns ausſchließlich 
die Kirche, welche die Schule gründete und erhielt, deßhalb natür⸗ 
lich auch ihr Gefege vorfchrieb, fie leitete, und zur Dienerin ihrer, 
der Kirche, Zwecke machte. 

Die Folge hievon war im Ganzen genommen wie allenthalben, 
fo aud) bei und mechanifche Geiftesabrichtung, todted Auswendigs 
lernen der fogenannten Hauptftüde der Religion, das heißt, 
nicht verftandener Formeln und Slaubensfäge, jüdifcher und chriſt⸗ 
licher Mythen und Gefchichten, unpoetifcher Lieder. Kurz, alles 
vereinte fich in der frühern Volksſchule, um Geiftesträgheit und 
Verdumpfung des Volkes methodisch zu erzielen. Etwas Rechnen, 
etwas bdeutfche Grammatif wurde auch getrieben, alles jedoch 
nur fpärlic und oberfläcdhlid) ; höchft geringen Gewinn, felbit fürs 
Berufsleben, zog der Schüler aus feiner Kirchenfchule; der Schul- 
meifter aber war der folgfame Diener des Pfarrers. 

Bor allem Fonnten die Bewohner unferer Landfchaft, wel: 
chen mit Ausnahme der Medizin alles übrige Studiren unterfagt 
war, zu eigentliher Bildung nur durch ganz fonderbare, ja 
abenteuerliche Lebensſchickſale gelangen, wie die beiden berühmten 
Hope, andere nur, wenn fie nächtliher Weiſe und gleichfam ver- 
ftohlen ſich etwas von menfchlicher Cultur aneigneten. Manchmal, 
borgte ihnen irgend ein wohlwollender Landvogt oder Pfarrer 
gute Bücher; geiftiger no wurden fie gehoben, wenn edle Män- 
ner, wie Hirzel, Lavater, Beftalozzi, Nägeli, Schultheß 
gleich Apofteln der Cultur die Gauen unferd Landes, namentlich, 


6 


die Seegegend, durchwanderten und fih den Untertbanen ber 
Stadı ald Menfchenfreunde mittheilten. 

Wenn nun aud) der eine oder andere Sohn der Landſchaft 
fpäterhin die Aargauiſche Kantonsſchule oder unfre ſtädtiſchen An- 
ftalten befuchte, jo wollte Doch der Grziehungsrath von 1831 nicht 
länger jenem Zammerzuftande des Volkes zufehn: darum 
ſchuf er die freie Staatsſchule. Hauptfächlich durch des talentreichen 
Scherr’sKEinficht, raftlofe Anftrengung, Ausdauer gegen alle Op⸗ 
pofition erhielt fie eine Geſtaltung, die ſich ruhig mit jeder andern 
Guropäifchen meſſen darf, Allerdings harrte fie von 1832 an auf 
immer weitere Entwidelung durch die Bildung neuer Lehrer, durch 
neue Lehrmittel, Durch allmälige Srhebung und Begeifterung des 
Volkes für Achte Bildung. Vor allem aber bedurfte dieſe neue zarte 
Schöpfung harmoniſcher Mitwirkung von Seite des Staates und 
ber Kirche. Jede Hemmung, jeder rohe Angriff von ber Ieptern 
ber, mußte ihr, wie wir es jegt leider nur allzu deutlich ſehn, 
nachtheilig, vielleicht ſogar verderblich werden. Aber ſie wird den⸗ 
noch nicht untergehn die dem Volke wohlthätige, einem Theile 
des Klerus ohne Grund fo verhaßte freie Staatsſchule. 

Als höhere Anftalt ftand wiederum ein kirchlicher Bau da, 
aber eine traurig verwitterte Ruine, das Carolinum. Wir muß- 
ten es bis auf den Grund abtragen und eine neue unfrer Zeit 
und unfern Bedürfnifien genügende Anftalt gründen. 

Eine Kantonsfchule in zwiefacher Richtung für Wiffenfchaft 
und Snduftrie verftand ſich von felbft, und ich will Sie Damit 
nicht länger aufhalten, 

Aber fo genügend diefe Schule für ihren Zwed mochte ge- 
flaltet fein, wahrhaftig es lag doch in dem alten Garolinum, 
dem jungen politifchen Smftitute, eben fo in dem mebizinifchen, 
der wiewohl fehr verfümmerte Keim einer dee, welche unfern, 
Vätern dunkel vorfchwebte, aber von taufend Bedenklichkeiten 
zurüdgedrängt, nie ſich organifch entwideln Tonnte. 

Hier nun erhob fich die wichtige Frage, follen wir noch einen 
Schritt weiter gehn als fie und eine Hochſchule ftiften ? 


7. 


Meine Herren, von bier an Tann ich nur meine individuellen 
Anfichten ausfprechen, da ich mich nicht mehr erinnere, ob ale 
meine Collegen in der Behörde damit einverftanden waren, nicht 
weiß, ob ſie Diefelben ‚gegenwärtig noch billigen Der Menfchen. 
Sinn ift fo wandelbar. &leichviel, dad Grgebniß, an dem mir 
alles lag, die Thatfache, unfre Hochfchule ſteht da, 

Meine finnmtlichen Anträge gingen aus folgenden Erwägungen. 
hervor und fehrten ftets auf die nämlihen Anſichten zurüch; fie 
bleiben noch jest diefelben und fönnen mir nicht entriffen werden, 
ſo lange ich noch athme. 

Ja, der Freiſtaat Zürich bedarf einer Hochſchule zur Sicherung 
feiner innerften Sdeen, feines höhern Selbftbewußtfeing. Ohne 
eine Hochfchule wird Die Wiffenichaft eingefchürhtert; fie entweicht, 
unferer Heimath fehneller vielleicht ald wir Denfen, eine andere 
Sreiftätte fuchend vor all dem raftlofen Geld- und Genußtreihen 
diefer Zeit, gleichwie nad dem finnnollen helleniſchen Mythos, 
Afträa, von ber frevelbefledten Erde zu ihren ewigen Genoflen, 
den Herrfchern. des Olympos, entfloh. Führwahr ein Staat ohne 
alle Wiffenfchaft ift ein höchft trauriges Mifigebilde, etwag wahr« 
haft unmenfchlicyes, die Utopia irgend einer Thierart. Selbſt der 
Kirhenftaat, felht Spanien und Bortugal, wie entfeglih auch 
diefer beiden Staaten Elend fein mag, fie befigen Doch noch Unis 
. verfitäten, fie haben wohl Klöfter vernichtet, auf eine graufame 
ſcheußliche Weife, aber noch Feine Hochſchule. — An dieſe reine 
ee, der Rothwendigfeit einer höhern wiſſenſchaftlichen Anflakk 
für Die Ehre, die Würde, das geiftige Wohl Zuͤrichs reihten ſich 
auch andere. Oft dachte ich in den feligen Momenten des Schafs 
fens an die urfprüngliche, der äußern Form nach bis 1648, fogar- 
politifch bewahrten, Einheit des fhweizerifchen und. des. beutfchen, 
Volkes. Geiftig beſtand fie immerfort und fie bleibt Durch Die. 
gemeinfame Rationalliteratur unvertilglich, bis entweder wir, ober 
aber die Deutfchen Barbaren werden ohne Poefie, ohne Philofophie 
ohne — doch wozu follte ich Ihnen, die ührigen Richtungen des 
göttlichen Gedankens in der Meufchheit anfzählen, welche alle 


8 


ſich organifch gliedern und deren belebenden Mittelpunft bie dee 
der Wiſſenſchaft bildet. | 

-Zerner wußte ich, wie im fechzehnten Sahrhundert Züri 
eine Freiftätte war für fo manchen von den Brieftern verfolgten 
Denker und Glaubensheld; und ich fah im Geiſte diefelbe Erfchei- 
nung wiederfehren, wenn ich auch damals nicht ahnen Tonnte, 
wie weit es hierin noch Fommen könne. Allein das Unerhörte if 
gefchehen, in Göttingen. 

Dagegen lag das Grundübel unferer frühern Anſtalten feit 
dem fiebzehnten Jahrhundert darin, daß Fein anderer Lehrer als 
Züricher und in immer mehr verengerten ‚Kreifen Feine andere als 
Stadtbürger, feine andere als Geiſtliche angeftellt wurden. Sa hätten 
wir je durch irgend einen Wunderfall Herven, wie Galilei, 
Leibnig, Newton, Bentley, Boerhave, Haller, Lin 
neus, Sant, Zeffing, Herder gewinnen können — nein dieſer 
erhabene Geifterhor wäre aus unfern engen Mauern fehleunigft 
weggemiefen worden. Bon dem göttlihen Denker Spinoza, 
der fein irdiſches Dafein fo erhaben rührend durch mechanifche 
Arbeit friftete, Darf ich vollends gar nicht fpredjen. 

Alfo um die Würde der Wiffenfhaft auch nur anftreben zu 
fönnen, um und aus dem frühern Zuftande der geiftigen Lähmung 
herauszureißen, beburften wir nothwendig der thatfräftigen Bei- 
hülfe deutfcher Männer der Wiffenfchaft. 

Wir fanden fie, und ich freute mich fo innig, fie unter unfäglichen 
Anftrengungen zu Mitftreitern gegen Unwiſſenheit und Finfterniß, 
zu Mitverbreitern höherer Ideen und pofitiven Wiffend gefunden 
zu haben, 

Run, meine Herren, hat die Gefammtheit Diefer meiner neuen 
Collegen unferm Yreiftaate irgend einen Nachtheil, irgend eine 
Unehre gebracht? Hat diefe Gefammthelt, hat irgend ein einzelnes 
Mitglied derfelben uns in politifhe oder Firchliche Wirren hinein 
geführt? 

Sch will hier feinen Lebenden nennen: aber ein deutfcher Leh⸗ 
rer tft allzufrühe für uns in Die Wohnungen des ewigen Friedens 


$ 


hingegangen; deiner darf ich wohl an diefer Stätte gedenken, 
du freifinniger, edler Rettig, du mein geliebter Freund in alle 
Ewigkeit, bätteft du es je verdient, wieder von beinem Süric 
angegriffen und ausgeftoßen zu werden? 

| Fürwahr jeder irgendwie Gebildete unter ung ſollte doch im 
Zahr 1839 unumwunden eingeftehen, daß e8 nichts. engherzigeres, 
unverftändigeres und zugleich traurigeres giebt, ald den von Uns- 
fundigen angeregten, blinden Haß gegen Denfer, Borfcher, Förderer 
der Willenfchaft, bloß weil fie nicht Landesfinder find. 

Meine Herren, ich fhäme mid, wahrhaftig Diefes neulich wieder: 
gebrauchten, niedrigen Ausdruds, von dem ich wähnte, er ſei fchon 
(ängft aus unferm Sprachgebraudhe verbannt. Sch Ferne nur 
einen noch verwerflicheren, wenn mitten unter und Broteftanten 
der Bräfident des Kirchenrathes unglaublicher Weife das Ober- 
haupt der Landesfirche genannt wird, und fich fo nennen 
läßt. — 

Rein, wir find zürcherifche Bürger, nicht Landeskinder! 

Nur noch einige Worte über den zunächft Tiegenden Fall: 

Sie alle kennen jett den Mann, durch deffen angefeindeten 
Namen unfer Volf in eine fo unerhörte Bewegung gebracht wor⸗ 
den ift, gewiß weit befier als vor Einer Stunde und begreifen 
es auch nun weit eher, warım die Majorität des Erziehungs⸗— 
rathes, unzugänglich für alle Drohungen und Berlodungen fo feft 
auf feiner Berufung beharrte. 

Keiner von allen unfern Geiſtlichen, fo viele derfelben auch 
wiffenichaftlihe Theologie hier, in Berlin oder anderswo mehrere 
Jahre hindurch ftudirt haben, meldete fidy für dieſen Lehrſtuhl. 
Alfo war ed allgemein anerkannt, ed müfje entweder ein Fremder 
gewählt werden oder die Stelle unbeſetzt bleiben. 

Deutfche Bewerber traten fieben auf: einflimmig urtheilte 
unfre theologifhe Facultät, Feiner derfelben fei geeignet unfern - 
Bedürfniffen volles Genüge zu leiften; eben fo verhielt es fich 
mit einem und von Tübingen her empfohlenen, gewiß wadern, 


2 


40 


aber noch durch Feine wißlenfchaftliche Leiſtungen dazu befähigten 
Repetenten. 

Dagegen begte ich Die moralifche Ueberzeugung, ‘Doktor Strauf 
fei ein eminenter Denker, ein wahrhaft gründliher Theologe, ein 
durch feine Meiſterſchaſt über die Sprache und die Anmuth- feines 
Vortrages höchft ausgezeichneter Lehrer; er befige alfo drei felten in 
folhem Grade vereinte Eigenjchaften eines vorzüglichen Brofeflors 
an einer Hochichule, 

In kirchlicher Hinficht trug ich nicht das. geringfte Bebenfen, 
weil ih aus der ganzen Haltung feiner Schriften Die völlige 
Sicherheit geichöpft hatte, er fei Feiner Frivolitaͤt fähig, fondern 
er werde als gewifienhafter Mann die Dogmatik wirflich fo lehren, 
wie er fich felbft Darüber ausgeſprochen hat: 

„Es bildete ſich in mir und meinen gleichftrebenden Freunden 
der Gedanfe einer Dogmatif. — Es follte, meinten wir, zuerſt 
die biblifhe Vorftellung dargelegt werden; dieſe hierauf Durch Die 
häretiihen Einjeitigfeiten hindurd. fi zum kirchlichen Dogma fort 
beftimmen; das Dogma fofort in der Polemif des Deismus und 
Rationalismus ſich auflöfen, um, geläutert, durch den Begriff 
fich wieder herzuftellen.” Nun dieß, Dächte ich, ift Doch des Poſitiven 
genug, nicht rein negativ, wie gewiſſe Sacultäten vermeint haben, 

Jh fagte: „feine Fritifche Methode felbft fteht dem Autori⸗ 
tätöglauben an die Worte des Lehrers fehnurftrads entgegen und 
muß in den Zuhörern den Geilt der Prüfung werden; fürchtet doch 
nicht, daß fie unbedingt auf des Meifterd Worte ſchwören werden: 
im Gegentheil eben fo gute Drthodoren werden aus feiner Schule 
hervorgehen, als aus derjenigen unjerd ehrwürdigen, allerfrei- 
finnigften Schultheß vor euern Augen herummwandeln.” 

Doc, der übrige Verlauf dieſes Trauerfpiels ift Ihnen allzu 
befannt, ald daß ich weiter Dabei verweilen möchte. 

Nur einen Grundirrthum vieler unferer Mitbürger möchte ich 
beſeitigen. Mancher wirklich redlihe Mann fpricht etwa: „wie 
edel wäre ed doch geweien, wenn Strauß zu rechter Zeit ein Ent⸗ 
Iaffungsbegehren eingefandt; wie Hug und zeitgemäß, wenn ir- 
gend einer feiner Zürichercollegen ihn dafür beichworen hätte!” 


44 

Meine Freunde, wer diefe Meinung. begt, hat offenbar feinen 
richtigen Begriff von wiſſenſchaftlicher Ehre. Strauß iſt geſetz⸗ 
maͤßig berufener Profeſſor an einer Hochſchule ; er iſt zugleich der. 
Träger einer heiligen Idee; diefe darf er nicht verrathen, er muß 
fein guted Recht und feine Idee um jeden Preis verfechten. 

Oder glauben Sie, wenn eine Rotte flarentiniſchen Stadt- 
poͤbels einſt dem fuͤrſtlichen Kaufmann Lorenzo de' Medici zugemu⸗ 
thet hätte, er ſolle ſich ihr zu Gefallen zahlungsunfaͤhig erflären;. 
wenn eine Rebellenſchaar Bayard, den Ritter ohne Furcht und ohne 
Tadel, erfucht hätte, ihr eine von ihn befehfigte Feſtung unver⸗ 
zuͤglich zu übergeben, Lorenzo und Bayard hätten der Bande, der 
Rotte alſobald entſprochen? 

Wie mancher Züricher mag unſern Zwingli fußfällig gebeten 
haben, er ſolle doch. mit feiner Predigt Des göttlichen Wortes inne: 
halten und verftummen; bann, von jenem kurz abgewieſen, ſich 
nachher gewaltig verwundert haben, wie doch der gelehrte Meiſter 
Ulrich ſo „ſtarrſinnig,“ ja fo „unedel” fein könne, ein. ſo nar- 
türliches Geſuch nicht auf der Stelle zu erfüllen. 

Durch den letzten Beichluß des hohen Regierungsrathes iſt 
nun, die Sache der Entſcheidung der oberſten Landeshehörde an— 
heimgeſtelli worden. 

Nicht wahr, meine Freunde, Sie theilen mit mir die Anſicht, 
daß mit dem Augenblicke der Abſtimmung des großen Rathes, 
ſie mag ausfallen wie ſie will, aller Streit über die Stellung 
des Herrn Profeſſor Strauß zu unſerer Hochſchule aufhören, 
muß, daß die weitere Fortſetzung derfelben eitel, ja gefegmwidrig, 
wäre? Uns aber, den Lehrern wie den Studirenden, kommt es 
vor allen übrigen Buͤrgern zu, dem ſchlimmen, von Andern gege⸗ 
benen Beiſpiele der Verletzung des Geſetzes, des Ungehorſams 
gegen Die Kundmachungen der Regierung nimmermehr zu folgen, 
jondern unferer heiligen Bürgerpflicht Genüge zu leiſten. Unfere, 
individuellen Anfichten, Meinungen, Leidenſchaften, muͤſſen wir 
der Willenserklaͤrung des großen Rathes unbedingt unterwerfen. 

Natürlich aber Tann über die von Strauß ausgefprochenen Ideen 
ſelbſt keine menſchliche Behörde zu Gericht figen, noch weniger 


42 


ein Endurtheil darüber fällen. Nein, ein Tangwieriger, auf Tod 
und Leben (wohlverftanden im geiftigen Sinne) durchgeführter 
Kampf dazu befähigter Geiſter, ein Kampf, deſſen Aus- 
gang - die jeßt von irdiſchen Gewalten unterftügten Theologen 
nody nicht abzufehn vermögen, wird es entfcheiden, ob die religiö- 
fen Ideen, zu welchen auch ich mich frei und offen befenne, ber- 
einft das unveräußerlihe Eigenthum des fortfchreitenden Pro- 
teftantismus, der wahrhaft freien Kirche fein und bleiben werden, 
ober ob fie der rüdfchreitende Proteftantismus (wenn er dann 
noch diefen Namen verdient) verwerfen wird, fo daB man ihrer 
dereinft nur als einer biftorifchen Sonderbarfeit, einer Heinen Hä- 
tefis, in der Kirchengefchichte kurze Erwähnung thun wird? 

Den thatfächlichen Entfcheid diefer geiftigen Lebensfrage und 
defien Einwirfung auf ein veredeltes, wahrhaft religiöfes Dafein 
der Menfchheit, werde ich ficherlich nicht erleben, wahrfcheinlic 
felbft Sie nicht, meine Freunde, obgleich fo begabt mit aller Fülle 
jugendlicher Lebenskraft. Allein mit ruhigem Blicke fehe ich in bie 
ferne Zufunft hinaus. Der Geiſt ift frei von den Feffeln der Zeit 
und des Raumes. 

Sch gedachte noch, mich über Die theologische Lehrfreiheit auszu— 
ſprechen. Allein ich wüßte in der That nichts bündigeres hierüber 
zu fagen, ald Sie nächſtens in einem ganz trefflihen Send: 
fchreiben des ehrwürdigen Paulus finden werden. Möchte dieſe 
Zufchrift Hauptfächlich auch von unferm Klerus beherzigt werden 
und ihm zu einiger Belehrung dienen. — Bei uns handelt es ſich 
nun um dieſe Frage: | 

Sol die theofogifhe Fakultät wie bisanhiu, wie an den 
deutfchen Univerfttäten, Lehrfreiheit behalten? oder foll fie unter 
die Vormundſchaft eines, abgerechnet eine rühmliche Ausnahme, 
mit der Wiſſenſchaft und ihrem jetzigen Standpunfte nicht fonderlich 
vertrauten Kirchenrathes gefeßt werden? Mit andern Worten, foll 
fie eine theologifche Facultät bleiben, oder zum bloßen Prediger- 
feninar werden ? 

Glaubt die Kirche, durch die Facultät in der Predigerbildung 


43 


gefährdet zu werden (was aber ein eitler Wahn, wohl eigentlich 
‚nur ein hierarchiſcher Vorwand ift) nun, fo gründe fie aus ihren 
‚Mitteln noch ein theologifches Seminar ; ja fie faffe den Beſchluß, 
feiner könne fernerhin Diener des „Oberhauptes der Landeskirche? 
werden, welcher nicht dieſe Firchliche Anftalt ein oder zwei Jahre 
befucht habe. 

Doch eine noch wichtigere Frage beängſtigt jetzt unſer aller 
Gemüth, meine Freunde, unſre geſammte Hochſchule; ihr Sein 
oder Nichtſein. Schon vorher habe ich zu zeigen verſucht, daß 
Zürich einer Hochſchule bedürfe: gerne ſetzte ich noch Hinzu, fo 
lange bis feine freie Eidgenöffifche begründet wird. Doch damit 
hat es noch gute Weile. Ganz überflüffig wäre es offenbar, Ih— 
nen al das DBerfehrte und Unfinnige, das Schändliche, das 
Gräßliche einer Zerftörung der Hochjchule vor Augen zu legen. 

Meiner Anficht nach wäre dieß nichts anderes als ein geis 
ftiger Selbſtmord. 

Alles zwar ift möglich geworden: denn wer vermag es Der ſcheuß⸗ 
Tichften aller Erinnyen, der Wuth des Fanatismus, Zaum und 
Gebiß anzulegen? Nicht einmal Der, welcher fie unbefonnen und 
ruchlos aus den düftern Tiefen des Tartarus emporbeſchworen 
und auf unfre früher fo glüdliche Heimath losgelaſſen hat. 

Geſchieht das Unglaubliche, fo werden wir und wiederum 
‚dem Ausſpruche der oberften Landesbehörde, mit Trauer zwar, 
aber der Bürgerpflicht gemäß, unterziehen. Lehrer und Schüler 
gehen auseinander: die Wiffenfhaft wandert aus; die Hörfäle 
ftehen einfam und verödet da; eine traurige Ruine nicht Der Vor- 
zeit, fondern einer im Toben aller geiftigen Kräfte jammervoll wo⸗ 
genden, ſchiffbruchigen Gegenwart. 

Doc wie würde ſich eine ſolche Verlegung, ja Bernichtung 
der Staatsehre vor der Eidgenoffenfchaft, vor dem gefammten 
gefitteten Guropa, in den fünftigen Fahrbüchern unferer Gefchichte 
ausnehmen? Denkt denn feiner der Gegner unferer Hochfchule 
mehr an die Nachwelt? an den inhaltsfchweren Denkſpruch: Die 
MWeltgefhichte ift das Weltgericht. Fürchtet Feiner mehr 


43 


einen zweiten Johannes von Müller? Zn diefem Kalle der 
Zerftörung ber höchſten Zierde unſers Kantond, bliebe mir außer 
der Frefftätte der Religion imd der Wiffenfchaft, fürwahr m 
Ein Troft: Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor! Daß heift, 
meine Frennde: Vielleicht find unter Ihnen ſetzt ſchon einer oder meh⸗ 
tere, oder ed kommen nach Ihnen ſolche Zünglinge, welche es fi 
‚mit reiner Begeifterung zur ernften Lebensaufgabe machen werben, 
die ungehenre Schmach barbarifcher Zerſtörungswuth wieder von ' 
unferm Sreiftante abzuwälzen, und eine neue, noch vollfomimnere, 
jedenfalls dauerhaftere Hochfchule zu ftiften. — In der Hoffnung, 
das Unglaubliche werde nicht gefchehen, wollen wir heute von 
‘einander fcheiden. Meine Freunde, ich danfe Ihnen noch einmal 
herzlich für alle Ihre Liebe! 


Da das folgende Schreiben ver Stuventenichaft mir unmittelbar 
vor dem Vortrage überreicht wurde, jo lautete in demſelben ©. 3. 9. 8. 
folgendermaßen: 

„ber falfches Zartgefühl wäre es geivefen, hätte ich nicht 
von Ihnen ein Schreiben angenommen, deſſen Inhalt und Form 
mich gleich fehr erfreut, für viel Widriges tröftet, ja neu ermu⸗ 
thigt, von meiner bald zurüdgelegten Bahn nimmermehr abzu⸗ 
irren. ” 





Sochgeachteter Serr Profeſſor! 


Zurichs freie Studierende glaubten ſchon mit feſter Zuverſicht, 
daß ſie in unſerm freien Lande bald den Tag ſehen, an dem 
unſere Hochſchule endlich dem Wahne trotzen fönnte, daß in Re- 
publiken fein Boden zu finden ſei, auf welchem die Wiſſenſchaften 

gedeihen, und ihre Tempel errichten können. | 

Sie freuten ſich als ächte, geiftig geftärfte Republifaner, unferer 
Anftalt als einer Stätte des reinften, höchften, freiften Allkampfes, 
wo Wahrheit gegen Wahrheit zieht, und fich aneinander erprobt, 
wo Jeder ohne Schen und Furcht Zeugniß gibt von dem, was 
in ihm lebt, utid wenn er and) neu und bfigend ift, doch Den 
Funken fprüben läßt. 

Unfer Vaterland vermag und zu begeiftern für die Idee des 
Sreiftaats, und was wir in und felbft erlebt, und Männer, bie 
ſich⸗ der Wiffenfchaft geweiht, fie weifen uns Hin, wo die freie 
Wiſſenſchaft blüht; aber hier in Zürich follte e8 eine Wahr- 
heit werden, wie diefe von jenem getragen, jener durch dieſe ge⸗ 
krönt wird, wie eine republifanifche Hochfchnfe die Stimmen Des 
freien Geiſtes alle zum freien Kampfe in fich emporziehen, das 
Leben des freien Volkes nad) feinem geiftigen Gehalte noch ein- 
mal erzeugen foll. 

Aber es iR eine Zeit gefommien, wo dieſer Anſtalt die fchärf- 
ften Angriffe drohen, wo ihr Lebensprincip, ja geradezu ihre 
Exiſtenz wieder in die Frage kömmt, eine Zeit, die ihr um fo 
gefährlicher ift, da Alles feine Bahnen zu verlaflen und in Ge- 
biete überzugreifen fcheint, Die der anderd gewöhnte Geift nicht 
zu umfaffen, nicht zu begreifen vermag. 


16 


In folder Zeit der Verwirrung, da wirb es heilige Pflicht, 
feft zu ftehen in der reinen Idee des zu erhaltenden Gutes; wer 
für die Hochſchule Fämpft, muß für die freie Wiſſenſchaft kaͤm⸗ 
pfen, und wer für fie mit Begeiflerung lämpft, wird nicht von 
Zweden der Parteien gefpornt. 

In dieſem Sinne hat ſich die Studentenfchaft gegen unfere 
vberfte Landesbehörde ausgefprochen, in dieſem Sinne, Herr Pros 
feffor, haben wir auch Ihre Stimme im Erziehungsrathe gehört; 
und wir hielten Shre Stimme für eine der erften, die mit Diefer 
Begeifterung in der obfchwebenden Frage gegeben worden, und 
wir fönnen Sie feierlich verfichern, wir glaubten uns nicht mehr 
ehren zu können, ald wenn wir ebenfo republifanifch, ebenfo rein 
wiſſenſchaftlich uns ausfprächen. 

Empfangen Sie alfo unfern innigften Danf, es fpricht zu: 
gleich das Vaterland, die Wiſſenſchaft, fo wie fie in uns leben⸗ 
‚dig geworden. Nicht weil Sie für den Herrn Profeffor Strauß 
Ihre Stimme gegeben, — denn darüber wären auch die Stubie- 
renden nicht einig — fondern weil Sie ihn rein um der Willen- 
fchaft willen berufen, empfangen Sie ihn! Denn ed bat den 
Süngling gefreut, daß Sie ihm freie Wahrheit bieten wollen, 
und faft noch mehr, daß Sie ihm felbft zugetraut haben, eben- 
falls frei zu fein, fo daß er zu prüfen und auch zu verwerfen 
vermöge. 

Verehrter Herr Profefior, die Studentenfchaft erkennt Ihren 
Sinn; möge dieß Ihnen ein geringer Erſatz dafür fein, daß Die mei- 
fien Andern ihn nicht begreifen; wir wollen fuchen, in unferm 
Streben Ihnen zu folgen, und Sie und uns dadurch zu ehren. 


Die allgemeine Berfammlung der Studenten. 


— — — — — —— — — — — 


Bwingli 
vordem Örofen Rathe 


in dem Jahre 1522. 


Dramatifche Scenen aus dem Leben des Reformators. 


+ 


Mit einem Nacdhfpiele: 
Zwingli vor dem Großen Natbe 


en indem Sabre 1839. 


1839. 





Vorwort. 


„Ich übergebe hier einige Scenen aus Zwingli's Leben 
dem leſenden Publikum. Für Behörden find fie beſonders 
beſtimmt, denen in dieſen ſtürmiſchen Tagen das Steuer der 
öffentlichen Ordnung und der gemeinfamen Intereſſen anver⸗ 
traut if. Mögen fie in dem Spiegel' der Vergangenheit die 
Gegenwart erbliden! Die Gefchichte gibt den Völkern und 
ihren Führern ernfte Lehren. Wer die Ereigniffe der jüngften 
Zeit in unferem Vaterlande beobachtet bat und zu würdigen 
verfieht, weiß, mad auf dem Spiele ftebt. Volk, laß. dich be- 
lehren, laß dich warnen und führen! Führer, geht uner— 
fhroden die Bahn der Pflicht und Ehre voran. Mit Weig- 
heit und begeifterter Kraft leitet ein freies Volk! — 

Meine Leſer werden frappante Aehnlichkeit zwifchen 


Zwingli’s Zeit und der unfrigen finden. Sch babe fie nicht: 


gefucht, fie hat fih von felbft dargeboten. Ich ging mit 
Ausnahme der Scene des Bolksauflaufes, der eigentlich in 
Luzern ftattfand, vein gefchichtlich zu Werke. Selbft die Na⸗ 
men der handelnden Perfonen find faft ſämmtlich hiſtoriſch 
und nicht ohne Abficht beibehalten worden. Diejenigen, welche 
immer die Gefahr der Landestirhe im Munde führen und 
Straußens Lehre mit Abfcheu betrachten, bitte ich, wenn fie 
noch Vernunft hören können, doch mit ruhiger Befonnenheit 
Zwingli’s eigene Ausfprüche, befonders feine Predigt im Grof- 


münfter zu lefen. Sch babe fie hauptfächlich zu ihrer Beru⸗ 


4 


higung bier aufgenommen. Dadurch hat zwar die Lebhaftig- 
keit der Darftelung gelitten, doch will ich gerne das Lob des 
Schriftſtellers hingeben, wenn ich einige von ihnen für die 
Wahrheit gewinnen kann. Sie müſſen ſich daraus über— 
zeugen, daß Zwingli nie eine Landeskirche in dem Sinne grün: 
den wollte, in welchem ſie dieſelben verſtanden wiſſen wollen. 
Sie werden ferner einſehen, mit welchem Abſcheu Zwingli 
jede Auflehnung des Volkes und beſonders der Geiſtlichen gegen 
rechtmäßige wackere Regierungen betrachtet habe. Auf meine 
Treue in der Mittheilung feiner Lehre dürfen fie ſich verlaffen; 
Äh war infoferne nur Kopiſt, Hottingers Reformationgge- 
fhichte meine Duelle. Der vollftändige. Titel jenes Werkes 
ift: Geſchichte der Eidgenoffen während der Zeiten der Kicchen: 
trennung, erfle Abtheilung, Zürich, bei Orell, Füßli und 
Compagnie, 1825. 

Möge auch dieſer dramatiſche Verſuch beitragen, die Ruhe, 
die ſeit dem 29. Jenner aus ſo mancher Bruſt dahin geſchwun⸗ 
den, wieder in fie zurück zu führen! Möge er unter unſern 
Stellvertretern im Großen Rathe die Läffigen fpornen, die 
Wankenden befeftigen, die Unerfchütterlichen mit froher Zuver⸗ 
ficht begeiftern! Mitbürger, wir ‚haben .eine gute Sache! 
ſie muß ſiegen, wenn wir es werth ſind. 


J 


| 


Zwingli 


vor dem Großen Rathe 


im Jahr 1522. 





Berfonen: 


Felix Schmied, erſter Bürgermeifter. 

Marfus Rönſt, zweiter Bürgermeifter. 

Diethelm Röuſt, 

Grebel, 

Edlibach, 

Schweizer, 

Hürlimaun, Laudvogt. 

Eſcher, Statthalter. 

Faber, Geueralbikar des Bischofs von Konſtanz. 

Wagner, Seſaudter von Schaffhauſen. 

Vadian, Geſandter von St. Gallen. 

Ufteri, Prob uud Ehorherr. 

Hofmaun, 

Göldli, Chorherren. 

Myfonius, 

Zmwingli. 

Leo Judä—. 

"Schmied, Komthur der Johanniter. 

Jakob von Shwerzenbadh, Pfarrer. 

Wilhelm Röubli, Vikar von Wiedifon. 

Adelheid Lemann, feine Braut. 

Haller von Bern, , un 

Bernhard Weiß, | ihre Beiftände. 

Mutter der Braut. et 

Ein Zleifcher. Gerichfsperfonen. Bürger. Landleute. 
Die Handlung fpielt im Kanton Zürich. 

2 Zeit der Handlung: 1519 bie 1524. 


Räthe. 


Erſte Scene. 
(Shorheren in Zurich.) 


uſteri, Probſt, Hofmann, Göldli, Myfonius, Die übrigen 
Chorherrn. 


Probſt. Hochehrwürdige Väter! Cs kann Euch nicht mehr un⸗ 
bekannt ſein, in welcher Abſicht wir uns in dieſer Stunde hier verfam⸗ 
melt Haben. Es handelt fh um bie Wahl eines neuen Leutprieſters 
am Sroßmünfſter. Mehrere achtbare Kompetenten haben ſich für die 
Stelle gemeldet. Ihe kennet ihre Namen amd die Verdienſte der Ein⸗ 
zelnen. Wir wollen nun den Würdigften aus ihnen waͤhlen. Euch, 
Hochehrwürdiger Peter Konrad, will ich zuerft in Anfrage feßen: wen 
- fhlaget Ihr uns vor ? 

Hofmann. Pater Fabula! Er iſt zivar ein Fremder, betet aber 
fleißig das Brevier, iſt dabei ein. eifriger Anhänger des Papfies und hat 
durch feinen frommen Eifer ſchon drei Ketzer auf den Scheiterhaufen 
gebradht. 

Mykonius. Entſetzlicher Eifer, der mit Tigergrimm gegen 
Schulölofe wüthe. Ich. trage. auf: Wermerfung hei. Unmenſchen am. 
Mir bedürfen in unferer freien Stadt Peiner Inquiſitoren. Ich empfehle 
dagegen. einen andern. fehr würdigen Mann: Huldreich Srolngf von 
Wildhaus. 

Göldli. Wie, den Heterodoxen, der den Nonnen zu heirathen 
und Fleiſch zu genießen erlaubt? 

Mykonius. Eden darum. Uns fehle ein, fedfinniger Heildenn 
kender Daun as unferer Kirche. und: der ift Zwingli. „Dabei fi er 
ein ei gebildeter Tchesloge, welcher den alten: Sprachen 
mädtig ift. 

Hofmann. Er liest den heidniſchen Pindar. 

Mykonius. Was ihm nur zur Ehre gereicht. Bon: den hohen 
Muſtern der Humanitat, die wie. in, den altem Griechen aufgeſtellt fin: 
den, mülfen wir lernen. 

Hofmann, Auch gegen den Ablaß und die Ohrenbeichte had ® 
von r der Kanzel in Einſiedeln geſprochen. 


Mykonius. Hat er Unrecht getan, warum wies man ihn nicht 
zurecht? Im Gegentheil, er genoß an jenem MWallfahrtsorte der ausge: 
zeihnetfien Achtung; fein Ruf verbreitete fih in und außer dem 
Baterlande. 

Göldli. Wird er für unfere Stiftseinkünfte Sorge tragen? 

Mykonius Das weiß ich nicht, allein, daß er in feiner Amts: 
führung gewiffenhaft fein wird, davon bin ich überzeugt. Hört ihn nur 
erft fprechen, den begeifterten Redner. Gr ift Feine tönende Schelle; fein 
Vortrag ſchwebt nicht in den Wolfen; er ift klar, wohl geordnet, dem 
Volke durchaus verftändlich, vol Kraft und Salbung. Was den andern 
betrifft, der zuerft in Vorſchlag kam, fo weiß ich nichts anders von 
ihm zu urtHeilen, ale: ich Fenne den Mann nicht, Ich trage darauf 
an, daß man Zwingli zum Leutpriefter wähle. (Paufe.) 

Prälat. Wenn Niemand weiter das Wort verlangt, fo laſſet 
uns abfiimmen. Denket Eures Eides, dem Wägſten und Beſten gebe 
jeder feine Stimme. 

F (Stimmen werden abgefammelt und gezählt.) 

.  Hochehrwürdige Väter, es ergibt fich aus der Zählung der Stim⸗ 
men, daß von 24 — 17 auf Zwingli gefallen (ind. Huldreich Zwingli 
ift alfo unfer Zeutpriefter. Cr lebe! 


Zweite Scene. 


(Sroßmünfter.) 
Z wingli auf der Kanzel. Zwei Bürger. 


Erſter Bürger (im Hintergrunde der Kirche, halblaut). Horche 
mit mir auf Alles, was der Ketzer predigt, damit wir dem. Pater Sam: 
fon recht viel erzählen Fönnen. Gr fpendet uns dafür reichlich Ablaß. 

Zweiter Bürger. Führt dir gar wunderfame Reden. Erfi 
‚ließ er fich „ganz deutlicy merken, die Päpfte könnten auch irren, wie 
andre Menfchen, ja fie Hätten fchon oft in den wichtigftien Dingen geirrt. 

Zwingli (predigt). Zum Schluffe unferer heutigen Betrachtung 
Iaffet uns noch die Hauptpuntte derfelben zufammen faffen. 

Ich ſprach zuerfi von der wahren Religion, dann von der wahren 
Kirche, endlich vom theuren WBaterlande. 

Erfier Bürger. Was will uns der Fremdling vom Daterlande 
ſchwätzen? u 

Zweiter Bürger. Horch! 

Zwingli. Gott ſpricht nicht nur durch die heiligen Schriften zu 
uns, fondeen auch durch die Wunder und Gefeke der Natur, durch die 
Erfahrungen des. chend, durch die Schriften der gricchifchen und romi⸗ 


’ E J 


ſchen Weiſen, denn auch Plato, Pythagoras und Seneka haben aus 
göttlichen Quellen getrunfen; und wir werden jenfeits neben Moſes und 
Johannes auch Sokrates, Ariſtides, Kamillus, die Katone und 
Scipionen finden. 

Erſter Bürger. Hörſt du, er läßt die Heiden ſelig werden. 
Durch Abgöttrer, ſagt er, hätte ſich Gott den Menſchen offenbart. 
Wollen wir länger ſchweigen? 

Zweiter Bürger. Geduld! 

Zwingli. Was iſt die Kirche? Sie iſt die ächte Gemein⸗ 
fame aller Frommen, von Gott allein gekannt. Unter allem 
Volke, wer ihn verehrt, yehört zu derfelben als Mitglied. 

Exrſter Bürger. Er glaubt an feine Fatholifche Kirche. Die 
Landeskirche ſchwebt in Gefahr! 

Zwingli. Daß keiner fpreche: der einfältige Menfch mag das 
göttliche Wort nicht verfichen. Der Meifter, der ihn ſolches lehrt, Heißt 
weder Papft, noch Koncilium, noch Doktores, noch Väter. Es iſt der 
Vater Jeſu EhHrifti feld. Er gibt die Weisheit denen, die ihn bitten. 

Erfier Bürger. - Pater Samfon lehrt es anders. Cr fagt, 
Niemand als die Gelftlichen verfichen die Bibel auszulegen; darum hät: 
ten fie Audirt. Der Unverfchämte ! 

Zwingli. Der Beruf des Predigers fordert vielfache Sorge, 
Wachſamkeit, Entſagung; auch alle Süßigkeit des Herrſchens, ſelbſt in 
geiſt lichen Dingen muß den Geiſtlichen fremd bleiben. Sie aber find 
größtentheile dem Miüffiggang und der Sinnenluſt ergeben. Ihre 
Serefchfucht kennt keine Grenzen. Ich rede befonders von den Mönchen. 

—Erſter Bürger. Länger Halt ich nicht zurüd. Unſere feommen, 
wohlehrwürdigen Väter öffentlich beſchimpfen! Ä 

Beide (rufen laut). Der Zwingenmacher, fchlagt ihn todt, 
den Keper ! 

(Unwille unter dem Volk; die nähft Stehenden ergreifen bie Beiden unb 

führen fie hinaus. Es berrfcht wieder Ruhe.) 

Zwingli. Laſſet Euch in Eure Andacht nicht ſtören. Die 
Wahrheit kann ohne Kampf und Widerſpruch nicht ſiegen. — Noch ein 
Wort Über die Liche zum Waterlande. Sie fordert vor allen 
Dingen Gehorſam gegen dieLandesohrigfeit, denn iſt fie 
niht von Gott geordnet? So fällt ihr denn auch über 
- die Landeskirche die Auffiht zu. Ich kann nirgends finden, 
daß je bei den Alten zweierlei Herrfchaft gewefen, eine weltliche und eine 
geiftliche. Sie hätten auch nie fich vertragen können. Chriſtliche Lehe 
ver, laſſet es Euch daher nicht verdrießen, wenn eine Gewalt, die Ihr 
mit Unrecht befeffen, von Euch genommen wird. Geht voran mit 
dem Beifpiel der Bürgertugenden, des Schorfams gegen 

2 


40 - 
die Obrigkeit! Gefühle ein Jeber aus und feine Pflichten, mb | 
das Wohl des. MWaterlandes wird feft wie die Felſen unferer Ulpen 
ſtehen. Amen. 


Dritte Scene. 
(Marftplas in Wädenfchweil.) 


Hürlimann. Fleiſcher. Ein Bürger. Bolt. 
(Wildes Gefcbrei.) 

Bürger. Wen fchleppen fie dort einher ? 

Landvogt. Einen Popanz, der den Zwingli vorfiellt. Den 
rechten aber haben fie nicht. Sie führen ihn zum Gcheiterhaufen. 

(Tumult nähert fich.) 

Bürger: Was bat aber Zwingli verbrochen, daß man ibm an 
das Leben wii? 

Landvogt. Er iſt ein Ketzer. Er iſt Schuld, daß meine beiden 
Wchter das- Kloſter verlaffen Haben. Er hat auch ‚gepredigt, daß der 
Bauer nicht fehuldig fei,_ den Jehnten zu geben. Jetzt hat er wider: 
rufen, darum, weil er ein Chorherr ift werden, und werm ich es- thäte, 
hätte man midy ſchon längft ertränft. Ich weiß, er wird einft neh 
meiner Serren von Zürich und der Gidgenofienfchaft Leib und Seele 
verführen. Wenn man ihn längft verbrannt hätte, wäre ihm Recht 
voideffahren. 

Fleiſcher. Er widerfeht fich aud) dem Bündniſſe unferer Stadt 
mit dem Könige von Franfreich, was unferer Zunft Nachtheil bringt. 

Bürger: Ihe folltet ihm vielmehr Dank wiffen‘, weil er gegen 
die Fafttage eifert. Die Leute effen nun öfter Fleiſch. 

(Der Arfgug ift bei den Sprechenden angelangt. Man errichtet in Haſt 
einen Scheiterhaufen, zündet ihn an, und wirft den Popanz in die 
Slammen.) 

Bürger. Was für eine feltfame Mütze das Bild auf dem Kopfe 
trägt, roth mit Feuerflammen und mit: Teufen, welche die ‚Zunge her: 
vorſtrecken, bemablt. 

Zandvogt. Go bringt es die Sitte der Religion mit fich. 

Bürger. in folches Treiben nennt Ihe Religion ? 

Landvogt. Welt Ihr ſchweigen? Ihr feid auch einer von der 
neuen Lehre. 

Bürger. Darf man für Rede und Wahrheit feine Stimme 
sticht erheben ? 

Zandvogt. Ihr feid ein Schelm! Kin. Lutheramer ! 

Mehrere. Schlagt ihn todt! Ins Feuer mit. ihm! 

Bürger. Daß Ihr es nur wiſſet, Herr Landvogt, Euch Achte es 


4 


- Befonderd übel an, alſo gegen einen Maun zu wüthen, der vechtmäßig, 
mit Vorwiſſen und Einwilligung unfereer Regierung zum Prediger if 
geroählt worden. 
(Volk ruft: Greift ihn, in die Flammen mie ihm! Mehrere wollen fich 
feiner bemächfigen. Er entflieht.) 


Vierte Scene. 
Saal im Rathhaus. 


Felix Schmied, erſter Bürgermeifter. Marfusföuf, zweiter Bür⸗ 
germeiſter. Diethelm Röuſt. Grebel. Edlibach. Schweizer. 
Andere Räthe. 


Erſter Bürgermeiſter. Es iſt euch, hochgeachtete Hemen, be⸗ 
kannt, was für eine Zweiung über die Lehre unſers Zwingli Stadt 
und Land ergriffen hat. Der Biſchof von Konſtanz hat über die Ver⸗ 
letzung der Kirchengebräuche Klage erhoben, und die Geſandten, die er 
in Folge derſelben abgeordnet hat, vernahmen bereits Zwingli. Allein 
vergebens. Zwingli macht ſie verſtummen. Sie brachten ihre Beſchwerde 
vor den Kleinen Rath, und da ſie auch hier nicht durchdringen konnten, 
wollen ſie heute in unſerer Verſammlung vor der höchſten Behörde ihre 
Klage zum letztenmal erheben. Der heutige Tag iſt entſcheidend; Sieg 
oder Niederlage iſt fein Loos. Zwingli ſammt dem ganzen Klerus iſt 
einberufen. Obſchon die Hifchöflichen Geſandten allein vernommen fein 
wollten, Eonnte ich doch nicht dazu eimwilligen : dem Beflagten werde 
fein Kläger gegenüber geftellt. Bedenket nun und überlegt mit allem 
Ernſte, was Ihe zu thım gefonnen feld. Wollt Ihr den Huldreich 
fahren laffen oder ihn gegen feine Widerfacher nach beften Kräften fchligen : 
dieß ift die große Frage, dieß der Gegenſtand unferer heutigen außeror⸗ 
dentlichen Berathung, die ich hiemit für eröffnet erkläre. | 

Diethelm Röufl. Mir haben Zwingli mit weifem Vorbedacht 
in unſere Stadt berufen. Daß Mißbräuche im unſerer Kirche vorhanden 
ſeien, leidet keinen Zweifel. Dieſe Ohrenbeichte, dieſe Meſſen, dieſes 
Wallfahrten, Faſten, und fo viele Auswüchſe an dem lebendigen Baume 
des Chriſtenthums, können wir ſie länger dulden? Von unſern Mönchen 
erwartet kein Heil, fie Eennen ihr Antereffe zu gut, um fi zu einer 
Öurchgreifenden Religionsverbefferung hergeben zu wollen. Sie zittern 
für ihre Klöfter und Pfründen. Sie haben auch den Muth, den das 
Bewußtſein der Tugend gibt, nicht. Der Papft ift ihe Abgott. Zwingli 
dagegen ift freifinnig, Bat uns fchon Beweiſe von feiner Entichloffenheit, 
für die Wahrheit Alles zu opfern, gegeben, und wird fürder zue gutem 
Sache fiehen, Dabei verbindet er Klugheit und Borfiht mit Muth und 


423 


Eutſchloſſenheit. Wenn ihn aber etwas mir teuer gemacht bat, fe iſt 
es fein unbefcheltener Lebenswandel und feine .Befcheldene Sitte. Bir 
haben ihn gerufen, er hat feine Verbindlichkeiten erfüllt, wir ' Können wicht 
anders, wir müffen ihn aufrecht halten. . 


Grebel. Die Menge ift gegen ihn eingenommen ; fie iſt taub gegen 
die Stimme der Bernunft. 


Diethelm Röuft. Die Menge ift verführt. Sie fürchte ich nicht. 
Die Geiftlichen follen die Herzen des Volkes umflinimen. 

Grebel. Eben die Geiſtlichen find Zwingli's gefährlichſten Feinde. 
Diethelm Röufl: Nicht ale. Würdige Amtsbrüder, wie Les 

Judä und Bullinger ſtehn ihm helfend zur Seite. Nur die dummen 
Möõnche und einige liederliche Chorherrn find feine Feinde darum, weil 
er fie Lügner, Müßiggänger, Schlemmer, und zwar mit Recht fehalt; 
weit er ihre Falkenjagden und Kurtifanen nicht dulden will. 

Zweiter Bürgermeifter. Aud von uns find einige, daß ich 
es offen ‚geftehe, an diefem großen Zwiefpalt Schuld, diejenigen näm: 
lich, die fletd Abends und Morgens in den Klöftern effen und trinken. 
Diefe ſtärken die Bonzen und ermuntern fie zum Widerfland gegen uns. 
Solche find es ferner, die ihe Blut fire franzöfifche Jahresgelder ver: 
kauft haben. Wahren fie aber ihres Hauptes! Das Geſetz iſt für al 
Mitglieder des Staates gegeben! In keinem Falle fürchten wir die träge 
Mönchsarmee. Eind wir niht Männer ? Haben wir nicht in Schlachten 
unfee Blut verfprißt ? 


Edlibach. Die Gedichte wird mit ehernem Griffel unfere Thaten 
aufzeichnen; Ruhm oder Verachtung erwartet und vor der Nachwelt. 

Schweizer. Ich will licher mein Leben ald von Meifter Zwingli 
lafien *). 

Erſter Bürgermeifter. Uebereilen wir au nichts! Hören wir 
ion zuerfi, und Finnen ihn feine Ankläger nicht überführen, dann ifl 
Mahrheit in dem Manne. Dann ifl es aber auch unfere Pflicht, für ihn 
entfchloffen einzuftehn. Hochgeachtete Herrn! as ift nun Euer letzter 
Entſchluß? 

Die Räthe. Wenn er Wahrheit ſpricht, wollen wir, müſſen 
wir ihn in feinem Rechte ſchützen. 

Erſter Bürgermeifter. So bolet ihn denn herbei! 

(Rathediener ab.) 


*) Der Edle hielt Wert. Er fiel bei Kappel. 


43 
Fünfte Scene. 


Generalvifar Faber. Wagner. Badian. Zwingli. Leo Zudd. 


"Hofmann. Komthur Schmid. Prälaten. Achte. Doftoren. 


N 


Der Übrige Klerus. 


Erſter Bürgermeifter. Es ift euch bekannt, Hochgelehrte, edle und 
würdige Herren! welche Zwietracht fich in neuern Zeiten bei und in 
geiftlichen Dingen erhoben hat. Bon Vielen wird unfer, bier anweſende 
Prediger, Huloͤreich Zwingli, ein Ketzer gefcholten. Oft Hat er uns um ' 
Veranftaltung eines öffentlichen Geſpräches mit feinen Gegnern gebeten, 
der Rath ihm durch Ginberufung diefer Verſammlung willfahrt. Wer 
ihn von fchriftwidrigee Lehre überzeugen kann, ift eingeladen, diefes un⸗ 
verholen und furchtlos zu thun; denn wir wünſchen einmal auf ben 
Grund der Wahrheit zu fommen, und find der Unruhe müde. 

Zwingli. Wehlan denn,-in dem Namen Gottes, bier bin ich! 

(Allgemeines Stifffchtveigen.) 

Bürgermeiſter. Wer etwas anzubringen weiß oder wünſcht, der 
trete hervor! 

(Stillſchweigen.) 

Zwingli. Um der chriſtlichen Liebe willen bitte ich Jeden, der 
meine Lehre für irrig hält, ſeine Bedenken auszuſprechen. Ich weiß, daß 
mehrere hier ſind, die mich der Ketzerei beſchuldigt haben; ich wäre ge⸗ 
zwungen, ſie mit Namen aufzurufen. 

(Need Slillſchweigen, endlich) 


Sine Stimme aus dem hinterſten Raum. Wo find nun 
die Helden, die auf den Straßen und beim Wein tapfer pochen? Hier 


iſt ihr Mann! 


(Allgemeines Gelächter.) 

General vikar. Ihr verwerfet die Anrufung der Mutter Gottes 
und der Heiligen. 

Zwingli. Ich beſchwore Euch, die Schriftftellen anzuführen, welche 
für ſie ſprechen. 

Generalvikar. Ich bin nicht hergekommen mit Euch zu freiten , 
ſondern Zeuge eueres Widerrufs zu ſein. 

Zwingli. Wenn Ihr mich meines Jrrthums überführet. 

Hofmann. Papft Leo und Kaiſer Karl haben jüngſt Lehren, wie 
die Eurigen find, verdammt, und fo follten dieſelben auch nicht ge: 


‚predigt werden. Warten wir die Entfcheidung über diefelben von einer 


fünftigen Kirchenverſammlung ab. Ich bin zehn Jahre zu Heidelberg 
geweſen, oder dreizehn, und babe bei einem feommen, fiudirten Mann 
gewohnt, ‚mit ihm gegeflen und getzunfen fo manches mal aber nie gehoͤrt, 


44 


daß man von ſolchen Sachen disputiren fol. Darum will ich wicht 
disputiren, fondeen gehorfam fein, erſt dem Bifchof, dann dem Probſt, 
dies ſollt auch Ihr als Leutpriefler thun. 

(Gelächter.) 

Zwingli. Daß unſere Lehre falſch und verführeriſch ſei, das ſoll 
Meiſter Konrad beweiſen; wenn er aber ſagt, daß keine Irrthümer ſollen 
abgethan werden bis auf Verordnung einer Kirchenverſammlung, ſo er⸗ 
Höre ich öffentlich: Nicht der jüngſtgeborne Sohn eines der Anweſenden 
wird. ein Konzilium erleben, wo das Wort Gottes Recht behält. 

Hofmann. Ich werde Öffentlich gegen Euch predigen. 

Zwingli. Und ih wid Euch öffentlich darein reden, fo gewiß 
Ihr mir einen einzigen Satz bringet, der mir das Wolf verführen Eönnte. 
-Deffentlih müßt Ihe mir Mechenfchaft geben, oder aus der Kirche ent: 
rinnen. 

Hofmann. In alten Zeiten hat man es fo gehalten: — — — 

Erſter Bürgermeiſter (ihn unterbrechend). Ihr kommet von der 
Sache ab. 

Komthur. Wir ſollen die Bilder und Statuen jetzt nicht anfechten, 
fondern fo lange mit ihrer Abfchaffung warten, bis fein Aergerniß da: . 
durch mehr entfiände. | 

Zwingli. Wollte man fo lange damit warten, fo fäme man gar 
nie dazu. - | . 

Komthur. No bleibt ein wichtiger Punkt übrig, die Meſſe. 

Zwingli. Es ift wahr, ich habe mie gegen fie harte Ausdrüde 
erlaubt, getraue mir aber dies zu verantworten, Diele find, die allein 
das Bittere van mir auffaffen; wer mich näher Fennt, weiß auch, daß 
ih nachgeben kann. So Habe ich von Anrufung der Heiligen gefagt: 
Klaget das Gurige wen Ihr wollt; ich will das Meinige Gott Flagen. 
Meine Pflicht aber Heifcht nach meiner Weberzeugung zu reden. Es ge: 
falle oder nicht. . - 

Komthur. Mit diefer Erklärung bin ich wohl zufrieden. 

Bürgermeifter. Wünſcht weiter Niemand mehr das Wort zu 
ergreifen ? 

(Paufe. Er fährt forf.) 

Da Meifter Huldreich Zwingli von Niemand ift widerlegt worden, 
fo haben Bürgermeifter, Räthe und der Große Rath für diefen Fall be: 
ſchloſſen, und iſt ihre ernftliche Meinung, daß Huldreich fortfahren folle, - 
wie bisher, das Evangelium zu verfünden. 

Zwingli. Der Allmächtige fei gelobet! Er will, daß fein heiliges 
ort herriche. Euch, meine Herren von Zürich, bitte ich dringend feft 
daran zu halten. Wohl mag auf Euch, wohl aucd auf mich noch viel 
Ditteres warten ; aber wir follen nicht zaghaft werden. Gott wird Guch, 


45 


darauf vertrauet, Keaft geben, fein Evangelium im eurer Landſchaft zu 
handhaben, und was Ihr je darum erleiden moͤchtet, das wird ce durch 
andere Gaben Euch reichlich vergelten. Amen. 


Schste Scene. 


Kirche in Wiedikon. Man ſieht den Altar mit Blumengewinden geziert. 
Darauf liege. ziwei goldene Ringe. 


Jakob von Schwerzenbadh, Pfarrer. Wilhelm Nöubli. Adel: 
heid Leemann. Haller von Bern. Bernhard Weiß. Die 
Mutter dee Braut. Zwei Bürger. Volk. 


Erſter Bürger. Kür wen ift der Traualtar feſtlich geſchmückt ? 

Zweiter Bürger. Du weißt nicht, daß der Bilar von Wiedlkon 
ſich heute verehlicht? 

Erſter Bürger. Was, gegen das päpſtliche Verbot? Segen uns 
auffösfiche Gelübde? 

Zweiter Bürger. Hat ſich was zu löſen! Was Menſchen knupfen, 
können Menſchen auch wieder löſen. Iſt dee Papſt ein Herrgott? Der 
Kaplan ſhut nach meiner Anſicht recht daran, daß er heirathet. Haben 
doch andere fchon vor ihm das Nämliche gethan. So diefer Haller von 
Bern, der heute ald DBeiftand erfcheinen wird. So andere mehr, nur 
heimlich, mas ich nicht billigen kann. Offen gehandelt, wenn man vor 
Gott und der Welt das Hecht auf feiner Seite Hat. 


(Zug nahf, voran die Braufleute, dann ihre Beiſtände und Freunde, das Volk 
befchließt ihn.) 
Da kommen fi! 
Erfter Bürger. Schon ift die Braut. 
Zweiter Bürger. Und ehrbar. Der hat gut gewählt. 
Erfier Bürger. Woher ift das Mädchen, und wie heißt fie? 
Zweiter Bürger. Adelheid Leemann von Hirslanden. 
Erfter Bürger. Ein muthiges Mädchen ! 
Zweiter Bürger. Ihr Name fol verewigt werden. 


(Pfarrer tritt zum Altar und winkt dem Paare; fie fiellen fich vor ihn.) 


Pfarrer. Tretet herbei, ihe Liebenden, zum Zraualtar. Ihr dürfet 
es, sie ungleich aud die Welt von eurem Schritte denken mag. Seit 
Jahrhunderten feid ihr das erfie Paar, das in der Eidgenoffenfchaft bes 
geht, was den Prieftern von Päpften und Biſchöfen verhalten geweſen. 
Doch unfere Religion verwirft nieht die füßeften Triebe der Nutur, fie 
heiligt ſie nur. Hat fie doch Gott in das Menſchenweſen gepflanzt: 


⸗ 
“ 


46 


ein ift auch das Gebot des Liebenden : „Water und Mutter foll ver 
Loffen der Menſch, daB Mann und Weib fich vereinen.“ Hinweg mit 
den Sakungen paäpſtlicher, Willkühr! — Geh’ denn in Frieden, 
Blühende Tochter. Sei dem Manne ein fruchtbarer Weinftod um fein 
Haus; die Kinder um Guern Tifch wie des Delbaums Sprößlinge. — 
So wird gefegnet ein Mann, der dem Herrn vertraut! — Lieblid und 
ſchön fein ift nichts; ein gottesfürdhtiges Ehweib bringet Lob und 
Segen! denn bauet der Herr das Haus nicht, dann arbeiten umfonft 
die Bauenden! — So laffet und denn den Bund der Ehe würdig 
fchliegen! Wilhelm Roubli, ich frage vor Gott und diefer Verfammlung : 
Wählt Ihr mit ernſtem Bedacht zur chlihen Gattin die Jungfrau 
Adelpeid Leemann! Verſprecht Ihr als chriftliher Ehmann Freude mit 
ihr und Kummer, wie Gott in diefen Zeiten es fügt, zu ertragen, und 
fie troß Papft und Bannſtrahl nicht zu verlaffen, bis Gott Euch väter: 
lich fcheidet ? 

Vikar. Ja! 

Pfarrer. Adelheid Lemann, ich frage Euch auch vor Gott und dieſer 
Berfammlung : Wählt Ihe mit ernſtem Bedacht zum ehlichen Gatten den 
Vikar Wilhelm Röoͤubli? Verſprecht Ihr als chriflliched Ehweib Freude 
und Kummer, wie Gott es fügt, zu erfragen und ihn nicht zu verlaffen, 
was auch die Welt davon urtheile, bis Gott Euch väterlich fcheidet ? 

Adelheid (weinend). Ja! | 

Pfarrer. So gebt Euch die Hände und wechfelt die Ringe, fie 
binden Euch jtärker als Papft und Kloftee! — Ich fegne hiemit als 
Diener des göttlichen Wortes fo gut ald Bifchof und Papft, fegne mit 
allem Segen des allbarmherzigen Gottes Euren ehlichen Bund! Euch hat 
der Vater im Himmel beide zufammengefügt; Fein Kaifer noch Papſt 
vermag Euch zu fcheiden. Segn’ und behüt' Euch der Herr! der Herr 
laß Leuchten fein Antlitz gnädig über Euch; es erhebe ‚der Here fein 
Antlig und geb’ Euch feinen Frieden allhier und dort in Ewigkeit! 
Amen. 

Erfter Bürger. Schön war die Handlung! Hat fie mich alten 
Mann doch faft zu Thränen gerührt. 

Zweiter Bürger. Noch unfere Kindeskinder werden davon 
reden. 

Erfier Bürger. Warum heirathet doch auch der Urheber aller 
diefer Reformen, unfer Zwingli, nicht ? 

‚Zweiter Bürger. Das wird fich finden. Die Klugheit hat es 
Bisher noch nicht geftattet. Doch weiß ich von fücherer Hand, daß er 
im Stillen um Anna Reinhard wirbt. 

Erſter Bürger. Um die fchöne, reiche Reinhard, die junge 
Witwe? 


47 


Zweiter Bürger. Eben diefe meine ich. Und fie fol ihm bes 
reits recht gut fein. 

Erfter Bürger. Wer Fönnte den Mann baffen, der uns allen 
zum Segen ins Land gekommen iſt. — Wohin geht nun der Zug?. 

Zweiter Bürger. Dorthin in den blühenden Baumgarten. Dort 
in Gottes freiem, heiteren Tempel, wo die Bäume ihre Aeſte zum grü⸗ 
nenden Dome wölben, dort werden die Liebenden mit ihren theuern 
Angehörigen ein fröhliches Mahl halten. 

Erſter Bürger. Glück und Segen dem ſeltenen Hunde! 

(Sie frennen fich.) 


Letzte Scene. 
Kirche zu Wädenfchiveit. " . 


Eſcher, Statthalter. Aktuar. Zwei Bürger. Doll. 


Statthalter. Mitbürger! Ich Habe Euch im Namen der Re: 
gierung eine Verordnung vorzutragen. Ihr wiſſet, daß zu wiederholten . 
Malen die Lehre Zwingli's von Geiftlihen und Weltlihen im Angefichte 
der Megierung ift geprüft und nichts als Wahrheit darin erfunden 
worden. Der Rath der Zweihunderte bat Hierauf Wereinfachung des 
Kultus befchloffen. Er Bat aber zugleich verheißen, diefelbe noch ein 
halbes Jahr anftehen zu. laffen, damit in der Zwifchenzeit von Jeder: 
mann, der dazu Beruf fände, Gegengründe eingefendet werden Fönnten. 
Dies Alles it Euch bekannt. Seitdem ift die gefammte Geifilichkeit- 
nochmals einberufen worden, doch Eonnte ſich auch da Niemand ale 
Gegner erheben. Nun iſt die anberaumte Friſt abgelaufen, ohne daß 
von irgend einer Seite her Gegengründe wären geltend gemacht worden. 
Darum hat der Große Rath am Pfingfitage folgende Verordnung ges 
teoffen, die Hiemit verlefen werden fol. 

Aftuar (liest). „Mir Bürgermeifter, Klein und große Räthe zu 
‚Zürich verorönen wie folgt : Der ganzen Gemeinde fol der entzogene 
Gebrauch des Kelches wieder geftattet fein. Täglich foll Morgens eine ' 
Predigt flattfinden. Die Sakramente follen von nun an in der Mutter: 
fprache gefpendet werden. Wir haben uns ferner entfchloffen die Bilder 
abzufchaffen. Was bisher für Zierrathen derfelden verwendet worden ift, 
fol den Armen zum Beften kommen. Die Lehrer dürfen nichts anders 
als das göttliche Wort, frei von päpfilihen Zuſätzen, predigen. Indeß 
ift nicht unfere Abfiht Jemanden mit Gewalt in Slaubensfachen zu 
zivingen. Darum Hat Zwingli den Auftrag empfangen, eine kurze Ans 
leitung der gereinigten Glaubensichre zu verfaffen, welche euch wird be⸗ 
fannt gemacht werden. Endlich follen ale Schimpfreden aufhören, denn 


48 


wie find zum Frieden berufen. So fei denn das Werk im Namen 
Gottes und mit der Hoffnung begonnen, ee werde mit feiner Hand das 
Schiff felder führen.“ 

Statthalter. Ihr feht, daß die Regierung jedem billigen Wunſche 
Remung trägt. Seid Ihr es nun zufrieden ? 

Bolt. Mir find es! wir find es! 

Erfter Bürger. Wir haben vernommen, - daß fich mit verfdie 
denen Kantonen feindliche Verhältniffe angefponnen Haben. Wir wünfchen, 
daß diefelben ausgeglichen werden. 

Statthalter. Zweifelt nicht, daß die Regierung ihre Pflichten 
erfüllen werde. Bereits find Bern, Schaffhaufen und einige andere Kan: 
tone gewonnen, den übrigen follen zweckmäßige Borftellungen gemacht 
werden. _ 

Erfter Bürger. Beſonders mit Schwyz und Zug wollen wir 
nachbarliche Freundſchaft erhalten wiffen. Wir wären dem Anfall diefer 
Kantone zuerſt ausgefckt. 

Statthalter. Die Regierung wird Euch fehügen. 

Zweiter Bürger. Mir mwünfchten auch, daß die fetten Kloſter⸗ 
mahlzeiten abgefchafft würden. Mancher Müßiggänger findet dadurch 
Vorſchub. Beſſer, die Gemeindearmen werden dafür gefpeist. Gefchähe 
dies nicht, fo würden auch wir kommen, um von ſolchem Sen und 
Trinken unfern Theil zu nehmen. 

Mehrere. Mir danken der Megierung für ihr freundliches Gehör, 
für ihre Rathsbotſchaften und für die zur veligiöfen Belehrung uns zu: 
“ gefendeten Druckſchriften. 

Statthalter. Freuen wird es die Behörden, «ure geänderten Ge⸗ 
finnungen Eennen zu lernen. Und fo fei uns ihre Verordnung willfommen, 
wofür fie noch den Segen fpäter Jahrhunderte empfangen werden. Ruhm 
und Ehre folge ihren Befchlüffen nad. 


Nahfpiel 


Zwingli vor dem Großen NHathe 


im Jahr 1839. 


Perfonen. 


Erſter Bürgermeiſter. 
Zweiter Bürgermeiſter. 


H...... 
S...... Regierungsräthe. 
St... ) 
H...... Präfident bed Glaubenskomites. 
E...... Aftuar desſelben. 
Regierungerätpe. Kantonsräthe. Kirchenräthe. Deputirte der Gemeinden. 


Volk. 
Schauplatz: Kantou Zürich. Zeit: 1839. 


Erfte Scene. 


® 
Humanitäfögebäude. 


Zwingli (anfangs unter dem Volke). H., Präfident des Glaubens: 
fomite's. Aktuar E. Pfarrer 3. Abgeordnete der Gemeinden. Volk. 


Präfident. Eo find wir denn einig diefe Adreſſe an den Re 
gierungsrath zu überreichen? Herr Altuar, leſen Sie diefelbe den An: 
wefenden vor. 

Aktuar. Das Glaubensfomite des Kantons Zürich hat im Namen 
des Volkes befchloffen, folgende Adreſſe an den Regierungsrath zu er: 
laſſen: „Dr. Strauß von Ludwigsburg darf und ſoll nicht kommen. 
Ja er darf niemals an irgend einer Xchranftalt unfers 
Kantons eine Anftellung erhalten. Bisher hat das Wolf die 
Stellung feiner Stellvertreter gefhont, länger aber prüfe 
man feine Geduld nicht mehr, es befindet fihb im höchſten Grade 
der Kraft und in der höchſten Spannung. Gefährlich wäre 
der Widerftand der Regierung. Sie hat ihren Pakt mit 
uns gebrodhen. Sie Hat den Artikel der Verfaffung, wel: 
cher den Beſtand der Landeskirche garantirt, verlest. Sie muß 
nachgeben. Und wenn der Große Rath nicht willig ift, fo werden wir 
auf einer Landesgemeinde unfere Forderungen erzwingen. “ 

Präfident. Sind Sie mit diefer Adreffe einverfkanden ? 

Deputirte Mir find ee. 

Präfident. So wollen wir fie noch heute der hohen Behörde be: 
bändigen. Noch heute muß uns Antwort werden. (Leife zu Pfarrer 3.) 
Wir Haben gewonnen. Die bisherige Stellung Ihrer Heren Amtsbrüder 
ift gefichert. 

- Pfarrer. 3. (eben fo zum Präfidenten). Ich wünſche Glück zum 
Miniſterſtuhl. 

Präſident (laut). So laſſet uns denn Gott danken, daß er uns 
dieſen Weg geleitet Hat, um feine heilige Religion zu beſchützen. 
Bwingl i friff hervor. Schrecken und Staunen ift auf allen Gefihfern zu 

fefen.) 


21 


Zwingli (ergreift, zum Zifche teetend, die Adreſſe). Dieß die 
Urkunde eurer fchändlichen Umtriebe! Eure Regierung foll und muß 
euerer Glaubenswuth weichen? (zerreißt das Blatt und wirft es bei 
Seite.) Da liege, Infteument des Aufruhrs, Denkmal der Verführung 
eines guten, doc, leicht zu bethörenden Volkes. Gehorſam feid Ihr 
Eurer höchſten Behörde fchuldig. 

Pröfident. Sie Hat ihre Vollmacht überfchritten, indem fie die 
Landeskirche angriff. 

Zwingli. Das lügft Du in Deine Eeele. Die Landesficche ſteht 
feft, und wird beſtehen, fo lange es Gott gefällt. Was hat die Wiſ— 
fenfchaft bei der Kirche anzufeagen, wenn es fih um Anſichten und 
Lehrmeinungen handelt? Glaubensfreiheit ift gewährleiſtet; ihrer darf der 
Lehrer an der Hochſchule um ſo weniger beraubt werden, da Ih mit 
derfelben einen fo argen Mißbraud) treibt. 


Pfarrer 3. Wir gedachten nur Deiner Worte, wenn wir für "die 
Kirche firitten. 


Zmwingli. Leſet meine Schriften : wo babe ich einer flabilen Kirche 
das Wort geredet; wo die Ausſprüche der Vernunft verhöhnt; wo Aufs 
ruhe gegen die Obrigkeit gepredigt? Binnen drei Stunden fordert Ihr 
Antwort auf Eure revolutionäre Adreſſe! Go ehret Ahr die Behörde, 
die Euch Gott nah Eurem Willen gegeben hat ? 

Präfident. Die Gemeinden verlangen nad) ſchneller Entfcheidung. 

Zwingli. Die Gemeinden haben Euch den Auftrag gegeben, ihnen 
die DBefchlüffe eures Winkelkonziliums früher zur Einficht vorzulegen. 
Ihr betrüget fie fhbändlih und Euch ſelbſt. Solche Willkühr wird den 

Getäuſchten zuerft die Augen öffnen. _ 
Pfarrer 3. Wir Haben die Gemeinden redfich ermahnt zu wachen 


und zu beten, und übrigens Alles dem Heren anheim zu 
ftellen. 


Zwingli. Nein! Ihr Geiſtlichen habt das Feuer der Zwietracht 
zu Stadt und Land angefacht. Ihr ſeid noch jetzt geſchäftig, Oel in 
die Flammen zu gießen. Auf Euch fällt die ſchwerſte Verantwortung 
zurück. Hinweg mit Euch Barbaren von dieſer Stätte, wo einſt Huma⸗ 
nität gelehrt wurde. Hinweg, im Namen des Herrn befehl' ich Euch, 
oder Ihr ſollt Zwingli's Grimm erfahren — hinweg! 


(Oas Comite zerſtreut ſich.) 


Zweite Bceme. 
(Rathefaal.) 
Beide Blrgermeifter. Regierungsräthe. D.... Sch..... 
Re... G.... Kirchenrath. F..... Kantonsräthe. 


Erfter Bürgermeifter. Hochgeachtete Herren! Der heutige 
Tag tuft uns auf eime außerordentliche Weiſe hieher. Die Straußiſche 
Sache ift es, die uns befchäftigen ſoll. Schon der Umftand ihrer Voll: 
zaͤhligkeit beweist das Intereſſe welches Sit daran. nehmen. ie fol 
heute zur Entſcheidung! Gteauß iſt zum Profeffor an der Hochſchule 
gewählt. Das Volk will ihn nicht. Was iſt nun unter folchen Um⸗ 
Ränden zu: befchliegen? Dieß Die Frage, deren Beantwortung und 
nun obliegt. 

Zweiter Bürgermeifter. Das Boll will Doktor Stranß 
niht? Das Wolf ift getheilt. Gin Theil, ich Hoffe, der beffere, der 
gebildetere, will Doktor Strauß Haben; ein anderer will ihn nidyt, ein 
deittee iſt unentfchieden. Zu weldhem Theile gehören wir? Auch zu 
Zwingli’s Zeiten, war Parteiung zwiſchen Stadt und Land. Dennod 
fhüßte ihn die Behörde mit Nahdrud. Ich trage darauf an: Doktor 
Strauß foll kommen und lehren. 

R. R. 9. Meine Anfiht geht dahin, man fol Doltor Strauß 
ſeinen Ruhegehalt ausſetzen. 

R. R. Sch. Einem rüſtigen Manne von 32 Fahren? 

Doftor K. Man möchte fih Billig wundern, wie ganz andere 
die Sprache einiger Volksmänner Hier, als einft auf den Gefilden Uftere 
lautet. 

RR. H. Tempora mutantur, et nos mulamur in ipsis. 

F. Ih finde es nöthig, daß die Landesbehörde dem Glaubens: 
Fomite aufrichtiges Bedauern ihrer bisherigen Uebereilung bezeuge, denn, 
geftehen wir es uns offen, die Souveränetät des Volkes ift verletzt wor⸗ 
den: wie find ihm Genugthuung ſchuldig. 

(unwillen und Gelächter in der WBerfammlang.) 

Doktor 8. Wenn man Recht und Verfaffung nicht mehr reſpek⸗ 
tiven will, wenn unferer Hochfchule ihre fchönfte ‚Zierde fehlen foll: fo 
falle mit Strauß auch fie: ih trage auf die Aufbebung der Hoch⸗ 
fhule an. 

(Lebhafte Bewegung unfer den Anivefenden.) 

Zweiter Bürgermeifter. Here Präfident! Hochgeachtete 
Herren! Wohin follen alle diefe Ertreme führen? In unfere Mitte 
ſelbſt herrſcht Uneinigkeit. O daß nun Zwingli's Geiſt Euch beſeelte! 
Daß der Treffliche ſelbſt unter Euch ſtünde! 


23 
Dritte Scene. 


Zwingli. Die Vorigen. 


Zwingli (tritt plötzlich ein). Hier ſteht er und wird nicht wei⸗ 
chen, bis er der Wahrheit Zeugniß gegeben. Soll Strauß kommen oder 
nicht, dieß ift die Frage. Nichts Hat Eure Vorgänger im Amte gehin⸗ 
Bert, meine Perfon gegen Papft und Reich zu fehlten. Wen fürchtet 
Ihr jeht? Ihr Habt den Mann gewählt: könnet Ihr nod zurück? 
Die ganze Schweiz ſieht in dieſer Stunde auf Eure Entſcheidung, die 
Geſchichte iſt bereit, ſie in ihre Annalen aufzuzeichnen. Ihr wollt 
Strauß mit einer Penſion abfertigen? Iſt es dem begeiſterten Religions⸗ 
freunde um klingend Gold zu thun?- Er hat Eure Wahl angenommen ; 
er will ihe gemäß dem Rufe der Vorfehung folgen, feine eigenthlimliche 
Lebensbeftimmung erfüllen: und Ihr wollt zurück? Sind Euch Verttäge 
nicht Heiliger? Ihe wolltet ernöten, allein die Ausfaat koſtet einige. 
Müpe: darum Habt Ihr die Hände in den Schooß gelegt. Noch ift 
nicht Alles verloren! Aber nur Entjchloffenheit, Kraft, Beharrlichkeit 
führt zum ſchönen Ziele. 

Erſter Bürgermeiſter. Dieſer Rath ſcheint denn doch be⸗ 
denklich. u 

Zwingli. WBor drei "Jahrhunderten waren die Vorſtände des 
Rathes nicht fo bedenfenvol. Sie traten entfchieden feft auf.” 

R. R. S. Damald war eine Reformation nöthig; nicht aber in 
unfer® Tagen. 

Zwingli. Der Mißbräuche gibt es auch unter Euch vollauf. 
Kaum erkenne ich meine Kirche mehr. Klagt ja das Glaubenskomite 
über religiöſe Leerheit, über vorherrſchende Sinnlichkeit und Ueppigkeit. 

F. Wir wollen ſelbſt die nöthigen Reformen einleiten, haben auch 
damit bereits begonnen. | 

Zwingli. Wohl hat Euch die Landesbehörde lange genug die 
Initiative gelaffen. Allein was iſt gefchehen? Die Laufe Habt Ihe 
feei gegeben, ein neues Chorhemd verfertigt, und den Teufel aus dem 
Katechismus gefirichen. Die Reformen aber, die Ihr weiter im Sinne 
haben möget, drohen der geiftig = religiöfen Freiheit neue Gefahren und 
flimmen durchaus nicht zu dem Begriffe meiner Kirche. 

% Wir glauben doch eben die Landeskirche, wie du fie gefchaffen, 
verbiete uns die Berufung des Doktor Strauß. 

Zwingli. Meine Kiecche ift eine mit der „Zeit fortfchreitende, 
Ihr aber Habt fie fiabil gemacht, fie ift feit drei hundert Jahren 
Stilftänderin. 

Zweiter Bürgermeifter. Was ratheft du uns alfo? 


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Z wingli. Strauß ſoll kommen, doch nicht in dieſen Tagen der 
Unruhe. Den Schwachen im Glauben Rechnung zu fragen, ſtellt ihm 
einen zweiten Lehrer an die Seite. Im Uebrigen nehmt das Verfahren 
Eurer Vorgänger zum Vorbilde. Wahret die Glaubensfreiheit! In 
Betreff der Landeskirche ſpreche ich heute wie vor drei hundert Jahren: 
„Euch fällt die Aufſicht über ſie zu. Ich kann nirgends finden, daß je 
bei den Alten zweierlei Herrſchaft iſt geweſen, eine geiſtliche und eine 
weltliche. Sie hätten auch nie ſich vertragen können. Ihr aber, theure 
Amtsbrüder in Chriſto, geht voran mit dem Beiſpiele aller Bürger⸗ 
tugenden, des Gehorſams gegen die Obrigkeit!“ So ſprach ich im 
Jahre 1519. Nicht anders kann ich heute reden. 

Zweiter Bürgermeiſter. Es iſt alſo unſere heiligſte Amts- 
pflicht, zu kräftigen Maßregeln zu ſchreiten. Recht, Verfaſſung und 
Freiheit ſtehen auf dem Spiel. 


Rathsdiener (mit Depeſchen, tritt fehnel ein). Die Vorigen. 


Erxfter Bürgermeifter (nachdem er gelefen). So eben meldet 
man vom rechten Seeufer, ein Gewalthaufen Habe fi) gegen das Ge: 
minar in Bewegung gefeßt. 

Augemeine Unruhe.) 

Unter ſolchen Umftänden erkläre ich die Sitzung für aufgehoben. 
Meine Herren, Sie ſind entlaſſen. 

Zweiter Bürgermeiſter. Vergeſſen Sie nicht, Hochgeachtete, 
meines letzten Wortes. Alles für Recht und Verfaſſung! 

(Verſammlung geht raſch auseinander.) 


Druck von Orell, Füßli u. Comp 


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"his book is under no ciroumstances to be 
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