Google
This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project
to make the world’s books discoverable online.
It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to {he past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book’s long journey from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.
‘We also ask that you:
+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individual
personal, non-commercial purposes.
and we request that you use these files for
+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance in Google Book Search means it can be used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.
About Google Book Search
Google’s mission is to organize the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web
alkttp: /7sooks. google. com/]
Google
Über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei — eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nutzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|'http: //books .google.comldurchsuchen.
nn N!
eppitftäitent
PAS EFEIPFE RANG
ine Höesmiegersdr
—
Pa
“
—8
—
F *
*
4
*
Strauft uud die Evangelien,
| oder
das Leben Sefn
von Dr. Strauß
für denkende Lefer aller Stände
bearbeitet
von einem evangelifhen Theologen.
Erste Abtheilung.
Mit dem Bildniffe von Dr. Strauß.
Burgdorf, 1839.
Druck und Verlag von C. Eangiois! \ |
vw.
Vorrede.
— —
Als vor nunmehr vier Jahren Dr. Strauß ſein Werk:
„Das Leben Jeſu“, herausgab, mochte wohl er ſelbſt nicht
vermuthen, daß dasſelbe fo große und allgemeine Bewegungen
hervorrufen würde, ale dieß befauntlich in allen Kreifen des
deutfchen Publikums gefchehen it. Erwarten konnte dieß
Strauß vorzüglich darum nicht, weil er fein Werk nur für
Männer vom Fache ſchrieb; er fpricht ſich darüber in der
Vorrede zur. erften Auflage S. vırı (dritte Aufl. S.x) ganz
unzweideutig aud, indem er fagt: „für Richttheologen allerdings
it die Sache noch nicht gehörig vorbereitet, und defmwegen .
Die gegenwärtige Schrift fo eingerichtet worden, daß wenig«
fteng die Ungelehrten unter denfelben bald und oft zu ‚merfen
befommen, die Schrift fei nicht für fie. beſtimmt“.
Troß dieſer Abwehr des Verfaffers wurde jedoch fein Werk
bald Gegenftand der Iebhafteften, nicht felten fehr leidenfchafts
lichen Befprechungen, und wie dieß in folchen Fällen zu ges
fihehen pflegt, man fah alsbald vieler Drten die ganze gebildete
GSefellfchaft in Gegner und Freunde des eben fo eifrig ver-
feßerten, als laut gepriefenen Dr. Strauß fich theilen. Dieß
war zunächft eine Folge der eben fo unwürdigen, als unflugen
Weiſe, in welcher viele, namentlich die früheften, Gegner des
jungen Gelehrten gegen denfelben auftraten.
Strauß war auf dem Wege des Nachdenkens, welcdem
kein Chriſt ſich entzichen kann, der fic nicht felbit aller Selbſt⸗
ftändigfeit und feſter, klarer Ueberzeugung verluftig erklären
Die meiften Gegner jedoch ſchlugen einen andern Weg
ein, ben ich ſchon oben, ich glaube nicht mit Unrecht, ale
einen umwürdigen und unflugen bezeichnete. Sie verließen den
Boden der Willenfchaft, und machten die abweichenden Ans
fihten ihres Gegners zur Gewiſſensſache, in der fchon
- von Schiller fo treffend gezeichneten Weiſe:
„Dacht' ich's doch! Wiſſen fle nichts Vernünft'ges mehr zu
erwiedern,
Schieben ſie's einem geſchwind in das Gewiſſen hinein.“
Mochte es nun das Gefühl fein, daß fie beim Kampfe
mit gleichen Waffen dem Gegner nicht gewachfen fein
möchten; — oder war: ed verfehrter und mißverftandener
Glaubenseifer; — oder eine Anwandlung geiftlichen Hochmu⸗
thes, der fich von Rechtes wegen jeder unbequemen Mühe
der Widerlegung überhoben achtet; — kurz, die meiften Geg⸗
ner antworteten mit VBerfegerung und Verdammung. Da dieß
ganz vorzüglich in Rezenfionen, wegwerfenden Raifonnements
in Zeitfchriften jeder Art, fo wie m zahllofen Fleinen Broſchü⸗
ren gefhah, was Wunder, wenn durch diefes unfluge und
keidenfchaftliche Benehmen ein Aufjehen unter dem ganzen |
Iefenden Publiftum erregt wurde, das Strauß felbft mit lobens⸗
werther Behutjamfeit zu erregen verfchmäht hatte! Denn ift
nicht jede Verfeßerung — man verzeihe den etwas harten,
aber treffenden Namen — gewiffermaßen eine Berufung an
die ganze Gemeinde, ber man doc auch ein Urtheil über
Glauben und Unglauben zutrauen wird? Da mun überdieß
der von feinen Zuhörern gefeierte Lehrer, ehe noch der zweite
Band feines „Leben Jeſu“ erfchienen war, von feiner theolo-
gifchen Lehrftelle abberufen wurde, fo mußte die allgemeine
Aufmerkſamkeit auf diefe Forſchungen in einem für alle Chriften
fo wichtigen Gebiete, fie mußte auf ein Merk hingelenft
von dem Berfaffer herrühre, beffen Namen es trägt; in Der
Vorrede zur dritten aber gefteht er ein, daß ein ernenerted Stu⸗
dium biefed Evangeliums, an der Hand von Neander’s „Leben
Jeſu Chriſti“, ihm Die Unächtheit desfelben wieder zweifelhaft
gemacht Habe; und doch ift Neander's Schrift als eine Streit⸗
ſchrift gegen Strauß zu betrachten!
vH
werben, zu beffen Befämpfung man fo- nsgewöhnliche Mittel
in Anwendung bringen zu müflen geglaubt hatte!
Hierzu fommt aber noch Ein Umijtand, den wir und, um
ganz unbefangen zu Werke zu gehen, nicht verhehlen dürfen:
dieß ift die im unferer Zeit unter den Gebildeten ‚unlaugb..e
herrfchende Gleichgültigfeit und Kälte gegen die von den vers
fchiedenen chriftlicyen Konfeffionen aufgeftellten Lehrſyſteme.
Man verftche mich nicht falſch; id) Elage unfere Zeit keines⸗
wege, wie ed von gewilfen Eeiten her zur Genüge gefchicht,
der Kälte gegen Religion, Chriftenthum und Kirche an; fors
dern nur gegen Die orthodoxen Kirchenlehren. Sch bale
dieſe Erfcheinung allerdings für eine ımerfreuliche, ja betri;s
bende, weil damit auch der Nerv alles wahrhaft Firchlichen,
die Gemeinde durch und Durch befeligenden, Lebens erlahmt
it. Aber es kann in folchen Dingen zu Nichts führen, Tich
die Wahrheit zu verhehlen; und Thatfache iſt ed, daß fich die
Mehrzahl aller denfenden Chriften mehr oder weniger von fq
manchen Lehrfägen ihres Katechismus abgeftoßen fühlt, weil
die Bildung unjerer Zeit, deren wir und nun einmal niche
entäußern köñnen, denſelben widerftrebt. Der wahrhaft
Gebildete freilich wird, wenn and) die äußere Hülle ihn un⸗
befriedigt läßt, den von jedem Zweifel unberührten Kern
nicht verjchmähen, und vielleicht mit um fo veincrer Begeiſte—
rung zu der heiligen Urquelle zurüditeigen, je weniger der
getrübte Abfluß derfelben feinen Durft zu flillen vermag.
Smmer aber fühlt er fich allein, verwaist und auf fich ſelbſt
zurückgeworfen; der Gemeinfchaft mit Brüdern, die des
gleichen Glaubens find, bedarf zu feinem Gedeihen dag
glaubende Gemüth aber eben fo fehr, wie die Pflanze ber
erwärmenden Sonne und des blauen Himmels. — Schlimmer
jedoch ſteht es mit den nur halb Gebildeten; nachdem fie ſich
losgeſagt von der poftiiven Lehre ihrer Kirche, einem gefihlofs
fenen Lehrgebände, und etwa nur einzelne Süße, die ihnen
noch aufagen, ad libitum beibehalten haben, ift in ihnen eine
Leere entftanden, die fie aus eigenen Mitteln nicht auszus
füllen vermögen: fie gehen daher lieber, fo oft fie in devem
Nähe kommen, ftill und leife an derfelben vorüber, und finfen
unvermerft, da ein Gegengewicht fehlt, . immer weht \n vw,
yın
Flachheit und Rüchternheit des materiellen Daſeins herab.
Hüten wir uns aber wohl, foldye Menjchen, deren es fo zahls
los Viele gibt, voreilig zu verdammen! Sie erliegen ben
Einflüffen einer allgemeinen Krankheit unferer Zeit; fie haben
das Bertrauen auf die zur Heilung berufenen Aerzte verloren,
und nicht Jedem ift ed gegeben, fein eigener Arzt zu fein!
Treten wir näher zu ihnen heran, fo werben wir bei ben
meiften derſelben eine weit größere Empfänglichkeit für
hriftliches Xeben und Glauben finden, als ein oberflächlicher
Anblick erwarten ließ; file wenden fid gar oft mit warmer
Theilnahme einer Belehrung über diefe wichtigen Gegenftände
zu, wenn fie nur die mäßigen Forderungen des Berftandes
anerkannt und befriedigt finden. |
Unter folchen Umftänden kann es nun wohl nichts Befrems
dendes haben, wenn man einen Werfe, von dem aller Welt
fo laut verfündet worden war, ed fei auf den Umſturz des
pofitiven Chriftenthume gerichtet, eine gedoppelte Aufmerkſam⸗
feit zuwendete; zumal da felbft .Eiferer und Gotthelfe verfichern
mußten, ber Berfafler des Werkes fei fehr gelehrt und fcharf«
finnig. Männer und Frauen der verfchiebenartigften Gefins
nungen und Bildungsftufen langten nad) bemfelben; bie im
Glauben an die pofitive Kirchenlehre aus tieferen Gründen
wanfend Gewordenen, wie die in ihrer Aufflärung und obers
flächlichen Verneinung fich felbit Gefallenden; — die entichies
denen Gegner des Chriftenthums, wie die, Doch auch zuweilen
von heimlichen Zweifeln überrafchten, Frommen — Alle er:
warteten wenigftens Etwas von dem verfchricenen Buche; Die
Meiften jeboch hofften, gründliche und beruhigende Belehrung,
und gewiß nicht Wenige auch einen ficheren Wegweiſer in
ihm zu finden auf einem Gebiete, das zu durchwandern ihnen
zwar unerläßlic,, ohne Führer aber zu gewagt jchien.
Allein wie Viele mußten, wenn fie das Buch zur Hand
genommen, ſchon an der Schwelle mit wehmüthigen Gefühlen
zum Rückzuge ſich genöthigt fehen! fie mußten geftehen, daß
Strauß Recht gehabt, wenn er fagte, bas Bud; fei nur. für
Theologen gefchrieben. Denn ein Werk, das Cin der nur
wenig erweiterten dritten Auflage) 1572 große Dftavfeiten
zahlt, das auf allen Seiten lateinifche, griechifche oder hebräi«
— —
fhe Stellen zitirt, — das genaue Kenntniß ber theologifchen
Literatur vorausſetzt, — das ben angefpormenen Faben ber
Unterfuchung von. feinem Anfange an bis in die Fleinften Wins
dungen des vorliegenden, oft fo verworrenen, geſchichtlichen
Stoffes fortführtz — ein ſolches Werk erfordert, da es ein
Ergebniß firenger umd ernfter Forſchung ift, ein eben fo ftrens
ges Studium bed Leferd, wozu den weitaus meiften Nicht⸗
theologen, wenn auch die nöthigen Kenntniffe vorhanden find,
fhon Zeit und Gefchäftsruhe mangelt: es ift Fein Buch zur
feftüre.
Man war alfo genöthigt, fich nach andern Schriften oder
ausführlichen Anzeigen und Berichten umzufehen, durch Die
ſich wenigftend aus zweiter Hand eine genaue, klare und
anfchaulihe Kenntmiß der Grundideen, des wiffenfchaftlichen
Standpunktes und der auf bemfelben gewonnenen NRefultate
gewinnen ließe, durch welches Alles das vielbefprochene Buch
eine. fo bedeutende Berühmtheit erlangt hatte. Allein dieſer
Berfuch, aus den büftern Nebeln der Gerüchte und Sagen
den wahren, -biftorifchen Strauß herauszufinden, mußte wo
möglich noch unbefriedigender ausfallen, als das Anklopfen
an feiner eigenen, mit Gelehrfamfeit verrammelten Schwelle.
Mir wenigitens ift unter dem Vielen, Vielen, das id) über
Strauß gelefeir, feine Schrift, noch irgend eine Anzeige, zu
Geſicht gefommen, welche geeignet geweſen wäre, dem mit
der Sache noch unbekannten oder auch fehon oberflächlich bes
kannten Nichttheologen ein getreucd und anfchanlicyes Bild
von dem Buche zu geben. Einige, die allerdings mit unbe⸗
fangener Wahrheitsliebe berichteten, waren zu kurz und zu
wenig einläßlih, — id, rede hier überhanpt nicht von dem
was für Gelehrte gefchrieben wurde — um eine bis ing
Einzelne gehende vollftindige Kenntniß der Straußifchen For⸗
chungen zu gewähren. Die meiften aber, und zum Theil
grade die ausführlichiten, verriethen es nur zu deutlich, Daß
fie Die Eache mit gefärbter Brille angefchaut, daß fie das
Merk von Strauß fchon mit der Abficht, es zu widerlegen,
in die Hand genommen hatten, und daß fie, vielleicht ohne
es zu willen, nicht im Stande waren, aus ihrer Werfitätte
den Farbentopf der Empfindlichkeit und Des Widerwillens fern
7
L
x
zu halten. Diefe waren. alfo mehr Dazu gemacht, die ſchon
halb Belehrten noch zu verwirren, und die noch halb Befan⸗
genen ganz befangen zu machen.
Diefe und Ähnliche Beobachtungen anzuftellen, hatte ich in
meiner näheren und. entfernteren Umgebung Gelegenheit genug.
Inzwiſchen fegßte ich Das begonnene Studium des Straußifchen
Werkes mit allem Eifer, aber ftill und geräufchlos fort.
Meine feitherigen theologifchen Studien hatten mich bis zu
einem gewiffen Grade, den näher zu bezeichnen mir nicht zus
fteht, fähig gemacht, fomohl den Unterfuchungen des Dr. Strauß,
wie den Einreden feiner Gegner, mit prüfendem Auge zu fols
gen. Strauß zog mich an und ftieß mich ab; ich muß jedoch
offen geitehen, daß die Anziehungskraft mehr und mehr das
Vebergewicht über das abfteßende Element gewann. Als
Schüler des großen Schleiermacher hatte ich wohl gelernt,
den Inhalt des Chriftenthums von deffen äußerer Form,
die Idee eines Ehriftus von den Thatfachen feines Lebens,
die Wunder feiner im Herzen vwohnenden Göttlichfeit von
ber in feinen Thaten fich offenbarenden zu trennen. Sch
hatte wohl fchon die Anficht gewonnen, daß unfere Evangelien
in ihren mit Wundern überfüllten Berichten ung nur einen
ſchwachen und theilmeife getrübten Reflex der inneren, wahs
ren Größe bes Böttlichen geben; daß gar manche Parthien
berfelben mehr Werk der bemundernden Einbildungsfraft, ale
Abdruck ungetrübter hiftorifcher Ueberlieferung ſeien. Dennoch
überrafchte mid) der kühne Verſuch, die ganze evangelifche
Gefchichte vor den Richterſtuhl der hiftorifchen Kritik zu bes
rufen, um fi darüber auszumweifen, ob fie nicht vielleicht
ganz aus Sagen und Mythen beftehe, und nur das in dem
Feuer einer ſolchen Kritif probehaltig Erfundene als reines
hiftorifches Metall anzuerfennen. Nähere und fortgefeßte Bes
trachtung führte mic) indeß zu der Ueberzeugung, Daß Diefer
Verſuch, wie er auch ausfallen möge, gewagt werden müſſe,
daß er ber einzige Weg fei, um dem fohmwülen, unheimlichen
Schwanken zwiſchen Glauben und Zweifel ein» für allemal
ein Ende zu machen, fei es durch diefes oder durch jenes
Reiultat. Sch erfannte, daß die wunden Stellen bed vielfach
verlegten Glaubens an die evangelifchen Berichte nicht länger
mehr durch Die Immvarmen Umſchlaͤge einer modernen, mit ben
Schönpfläfterlein einer neuen Weltweisheit dem Zeitgefihmade
angepaßten, NRechtgläubigfeit kurirt werden dürfe, in Mart
und Blut müſſen die Heilmittel eindringen, Damit der kräns
finde Körper zu erkennen gebe, ob er nur äußerlich, oder in
feinem Innern fchadhaft ſei; ob er, ſtatt zu vegetiren, ents
weder wahrhaft leben Fünne, oder bei feinen fchon hingegans
genen Bätern fich zur ewigen Ruhe einzufinden habe. Ich
veritand jett erit ganz, was unfer Zeifing bei einer aͤhn⸗
lichen Gelegenheit ausfprady, und was Strauß in ber Vor⸗
tebe zu dem zweiten Theile feines Buches wiederholte:
„Ich bin überzeugt, daß es fchlechterdings zu Nichte
hilft, ven Krebs nur halb fchneiden zu wollen; daß dem
Feuer Luft gemacht werden muß, wenn es gelöfcht
werden foll.“
Mit folhen Betrachtungen wandte ich, meine Blicke wieder
zu den fogenannten Laien zurüd, die ich durch die Strauß’s
hen Forfchungen vieliach angeregt, zu vielfachen Erwartuns
gen aufgeregt, in ihren Erwartungen aber getäufcht fah: es
war ihnen befannt geworden, daß fich eine neue SHeilquelle
für die auch fie fohmerzlich berührenden Leiden der gefammten
hrütlichen Welt aufgethan habe; aber der Zutritt zu ihr war
verfperrt durch Gelehrfamfeit einerjeitd und durch Befangens
heit und Borurtheil andererfeits. Sollte man für fie diefe
Duelle nicht frei machen? follte man fie nicht unmittelbar zum
Baume der Erfenntniß führen, deſſen Früchte fie fchon
gefoftet, aber verborben durch unfaubere oder nachläffige Ems
ballage? Sollte man ihnen, um es Furz zu fagen, nicht
grabezu den ganzen Strauß, nämlich das „Leben Sefu von
Dr. ©. F. Strauß“, entfleivet feiner gelehrten Uniform,
aber ganz, wie er oder es leibt und lebt, vor Augen legen,
damit fie felbft ſchauen, nachſehen und urtheilen können?
Warum nicht? — — Als ich fo Dachte, trat mir aber das
ernite Bedenken entgegen, daß die Laien zu jenem Baume der -
Erfenntniß nur über das fehaufelnde Meer des Zweifels
binüber zu führen feien; foll man fie diefem tückiſchen Elemente
xH
anheim geben? Nein! wenn ihnen namlich Zweifel noch, ganz
unbekannt find; da fie aber, wie ich ſchon früher erzählte, fich
“eine gewiffe Befanntfchaft mit denfelben erworben hatten, fo
fonnte ich nicht fürchten, daß Diejenigen, welche ihre leichten,
nur zu Spazierfahrten eingerichteten, Fahrzeuge ſchon dieſen
Bellen anvertraut hatten, bei einer Fahrt auf einem ſoliden,
mit Maft, Segeln und Rudern wohl ausgerüfteten Schiffe von
der Seekrankheit fonderlich heimgefucht werden würden: —
es ftand vielmehr zu erwarten, daß die Ausficht anf einen ers
fehnten: Landungsplak ihnen die Befchwerden der Neife leicht
machen werde.
Es Feimte Daher fehon vor zwei Jahren der Entichluß in
mir, Etwas dazu beizutragen, um den denkenden Laien eine
gene, . ausführliche und von Feinerlei fremdartigen Bes
ftandtheilen getrübte Anficht von dem Inhalt des „Leben Jeſu“
von Strauß zu verfchaffen. Immer aber ward ich, da ich
Aergerniß zu geben mich fehr fcheue, durch mancherlei Bedenken
Davon zurückgehalten, bie endlich die Berufung des Dr. Strauß
nach Zürich und die daran fich Fnüpfenden nur zu befannten
Ereigniffe meinen Entfchluß beitimmten. Cine Benrtheilung
Diefes ganzen in vielfacher Beziehung fehr merfwürdigen Ers
eigniffes liegt außer meiner Abfichtz ich hebe einzig und einfach
die Thatfachen hervor, daß nicht nur eine ganze weltliche
Behörde, der Große Rath von Zürich, über die gelehrten
Korfchungen des Dr. Strauß abgeurtheilt, fondern Die weitaus
überwiegende Maffe des zürcherifchen Volkes über diefelben
ben Stab gebrochen hat; daß in dem Verlaufe der ganzen
Geſchichte bei Freunden und Feinden des alsbald nach feiner
Anftellung yenfionirten Zürcher Profeffor Strauß eine übers
rajchende Unkenntniß feines mit fo vieler Wichtigkeit behandel-
ten Werkes zu Tage kam. Hiermit war auf Einmal das Vers
hältniß gänzlich umgeändert worden; Strauß iſt nun nicht
mehr als Bürger der gelehrten Welt zu betrachten, er ift
gewaltfam vor den Nichterftuhl der öffentlichen Meinung,
vor die Schranfen des gefammten Publifums gezogen wors
den, und tiber Die Gränzen ded Kantons Zürich, ja weit über
Graͤnzen der Schweiz hinaus, find die Morte „ Straußianer“
und „Antifiraußianer“ Partheinamen geworden, unter
xıy
denen fich gar Mancher eben nur bas benft, was ihm beliebt,
ober was er zu begreifen vermag. Wenn aber ein großes,
aus fo verſchiedenen Individuen sufammengefeßtes Publikums
ſich ein Urtheil über einen Mann und über feine religiöfe und
wilfenfchaftliche Ueberzeugung vwindizirt hat, fo wird es für
diejenigen, bie ihn zu kennen glauben, Pflicht, der zu Ges
richt fißenden Welt den Mann zu zeigen, wie er ift. Auch
Strauß fcheint Das Veränderte feiner Stellung anerfannt zu
haben, indem er in feinem befannten, offenbar zur Veröffent⸗
lichung beftimmten „Senbfchreiben an die HH. Hirzel, Orelli
und Hisig* feine Anfichten in einer, jedem gebildeten Laien
verftändlichen Eprache kurz und bündig zu rechtfertigen gefucht
bat.
Unter folchen Limftänden fchien es mir ein nicht nur nicht
voreiliges, ſondern felbit von der Zeit gefordertes Unternehmen
zu fein, aus) das größere Publiftum mit dem Werke des
Dr. Strauß befannt zu wachen, ihm eine genaue Einficht
in bie Alten zu gewähren, und dadurch ein wirklich begrün⸗
detes und beruhigendeg Urtheil vorzubereiten. Sp viel fah ich
indeß bald ein, daß es nicht genügen könne, Einzelnes aus
dem Zufammenhange des fo viel befprochenen Werkes heramss
zunehmen und nun darüber erläuternd, ergänzend, berichtigend ıc.
fichh weitläuftg zu verbreiten. Das Publifum fcheint, und nicht
mit Unrecht, mißtrauifch geworden zu fein gegen Alle, die,
fei es als Freunde oder als Gegner, ſich zu Referenten
über Strauß und zu Beurtheileen desfelben aufgeworfen haben,
wobei ihre eigenen Syfteme, Anſichten und Stimmungen
immer mehr oder weniger, wenn auch ummillfürlidy, Durchs
fchlagen; nicht einen Xobredner oder Anfläger des Mannes
möchte man hören, fondern fein Werf felbft fehenz fei es
auch nur in einer Gopie, die fich zu ihm verhält, wie Der
forgfältige Kupferftich zu dem Gemälde, wie die treue
Ueberfeßung zum Driginale.
Eine ſolche Copie it es, eine Ueberfegung gleich
fam aus der Sprache des gelehrten Theologen in die Der ges
bildeten und denfenden Laien, die wir hiermit dem Publikum
xIıV
vorlegen. Der Berfaffer wollte Laien ber bezeichneten Klaffe
em Buch in die Hand geben, von welchem Jeder berfelben,
dem Das eigene Wert von Strauß verfchloflen ift, mit Zus
verficht fagen könnte: „Seht, da haben wir nun endlidy eins
mal auch den Achten Strauß, in ein Gewand gekleidet, in
welchem auch wir allen feinen Bewegungen folgen können,
ohne der gelehrten Brille zu bedürfen“.
Daß ein ſolches Werk für eine vollftändige und allfeitige
Kenntniß des ‘von Strauß eingefchlagenen wiffenfchaftlichen
Verfahrens genüge, glaube ich allerdings nicht; daß es aber
wenigftend eine.nothwendige Grundlage, ein erfter und
wefentlicher Schritt zu derfelben fei, davon halte ich mich
vollfommen überzeugt. Um dieß näher zu begründen, wird
es ımerläßlich fein, mich noch über die Grundfäße, die ich
bei disjer Arbeit verfolgte, näher auszujprechen, weil es bei
einem Buche, wie das vorliegende, ganz vorzüglich darauf
anfommt, zu willen, was man in bemfelben zu erwarten
habe.
Für welche Lefer das Buch beftimmt fei, darüber fpridyt
ſich ſchon der Titel aus: denkende Tefer hatte ich im Auge,
bie, gleichviel auf welchem Wege, fich ſoviel Selbitftändigs
‚ teit und Urtheilsfähigfeit erworben haben, daß die Lichtſtrah⸗
len fie nicht bienden und erfchreden; — denen die Fragen,
um die es ſich hier handelt, nicht mehr ganz fremd find; —
bie mit der Schriftfprache vertraut genug find, um einer -
ernften und faßlichen Entwidlung folcher Ideen und Anfichten,
die jedes Gebildeten Intereffe in Anſpruch nehmen, ungeftört
und ohne Anftoß folgen zn können: — vor Allem aber, lieber
Lefer, wünfche ich mir folche Leſer, Die mit reiner, heiliger
Liebe zur Wahrheit erfüllt und von dem lebhaften Wuuſche
befeelt find, in einer der wichtigften Angelegenheiten bes Les
bens eben fo dem Gemüthe wie dem Berftande Befriedigung
zit gewähren, und jened Gleichgewicht der Seele zu fins
den, ohne welches dieſelbe niemald ein ungetrübter Spiegel
des Göttlichen werden kann.
Solchen Leſern dad Werf von Strauß in einer Geftalt
vorzulegen, in welcher es ihnen durchaus verftänblich ſei;
ed ihnen So zu geben, wie id, glaubte, Daß Strauß felbft ed
XV
ihnen gegeben haben wide, hätte er für fie geſchrieben; —
dieß ift der meiner Arbeit zu Grunde liegende, und ich darf
verfichern, gewiffenhaft verfolgte Plan. Es erwuchſen
mir daraus insbeſondere folgende Aufgaben:
„Die größte Treue; Vollſtändigkeit neben vers
„hältnißmäßiger Kürze; Abftreifen der gelehrten Form,
„und möglichſt anfchaulicye und lebendige Darftellung“,
Wenige Bemerkungen werden hinreichen, um bie hier ans
gegebenen einzelnen Geſichtspunkte näher zu bezeichnen, und
dadurch ein ganz beſtimmtes Urtheil über bag, was der
Berfaffer wollte, zu begründen.
1) „Größte Treue* — dieß Erforberniß fchien mir da⸗
erſte und wichtigſte; es ſollte Strauß ſein, der da redete
in anderer Sprache, und nur Strauß bis zu dem kleinſten
Zuge herab. Ich mußte mich durchaus in die Ideen und An⸗
ſichten dieſes Gelehrten verſetzen, mir Alles aneignen, was
er erzaͤhlt, entwickelt, behauptet, und es alsdann in einer
andern, meinem Zwecke entſprechenden Weiſe wiedergeben;
ſo ſehr aber machte ich mir ſtrenge Treue zur Pflicht, daß
bei jeder Zeile, die ich niederſchrieb, mir die Mahnung leiſe
in's Ohr tönte: „Schreibe ſo, daß Strauß zu jedem Worte
ſein Ja geben kann!“ Dieſe ununterbrochene Mahnung gab
allerdings meiner Arbeit öfters etwas Aengſtliches und Pein⸗
liches; allein ich durfte mich ihr, wollte ich meinen wichtig⸗
ſten Zweck nicht verfehlen, auf keine Weiſe entziehen, wenn
auch vielleicht anderen Forderungen dabei nicht ganz ihr
volles Recht. widerfahren fein ſollte. In wie weit ich Diele
Aufgabe gelöst habe, darüber mögen gründliche Kenner
bes Straußifchen Werkes urtheilen; mir bleibt das Bewußts
fein, daß ich mit Wiſſen auch nicht die Fleinfte Linie in dere
Zeichnung, in fo weit fie den Inhalt des copirten Gemälbes
betrifft, aus eigenem Borrathe zugefügt habe. Bei einzelnen
Parthien war ich allerdings veranlaßt, für meine Lefer mans
ches von Strauß nur Angedeutete etwas anfchanlicher auszu⸗
malen; bei anderen habe ich den Stoff etwas anders geordnet
Einiges ift von mir etwas mehr in den Vordergrund geftellt,
Anderes in Perfpeftive verkürzt worben. Dieß Alles aber
gefchah mit folcher Behutfamkeit und Zurückhaltung, über
xVi
war ich fo jehr bemüht, ganz im Geilte und Sinne meines
Driginals zu zeichnen, daß ich auch für Diefe Partbhien jenes
Bewußtfein in Anfpruch nehmen darf. Hieraus folgt aber
auch, daß ich für den Inhalt meines Buches an fich Durchs
aus nicht verantwortlich fein, fondern daß mich in Diefer Bes
ziehung nur dann ein Vorwurf treffen kann, wenn fich hier
Etwas findet, was mit dem von Strauß Entwidelten nicht
übereinftimmt. Ich geftehe fogar, daß ich in manchen Etüden
nicht der Anficht von Strauß bin, daß id) überhaupt in vors
liegender Schrift mein Glaubensbekenntniß nicht ablegen wollte;
nur das Amt eines redlichen Dolmetfcher’s wollte ich nach
beiten Kräften verwalten. Diefem Streben nad) möglichiter
Treue it es auch zuzufchreiben, daß ic) einzelne — wiewohl
verhältnißmäßig fehr wenige — Stellen ganz wörtlich aus -
Strauß abgefchrieben habe; alle diefe Stellen (einzelne Aus⸗
drücke und licbergangsforneln wird man nicht hierher ziehen
wollen) find am Anfanze und Ende mit Fleinen Sternchen
bezeichnet, übrigens aber fo in den ganzen Guß der Darftels
lung verjchmoßen worden, daß man fie ohne dieſe Zeichen
wohl nicht erfennen würde.
» 9 „Größte VBollftändigfeit neben verhältnißmäßiger
Kürze“: — eine fchwere Aufgabe, aber gleichfalls unerläßs
liche Forderung! Daß bedeutend abgefürzt werben mußte,
war, abgejehen von andern Gründen, ſchon darum nothwen⸗
dig, weil dem Laien nicht zugemuthet werden fonnte, ein
voluminöfes Werk zu ftudiren, das weder in feinen eigentlichen
Berufskreis einfchlägt, noch auch unter die zur Erholung und
Erheiterung beftimmte Lektüre gezählt werden kann, fondern
vielmehr eine ernfte Betrachtung in Anſpruch nimmt, wozu
man nur die beiten Stunden einer fo mandjem andermeitig
Beichäftigten fparfam zugetheilten Muße verwenden kann.
Ganz gleihmäßig konnte diefe Abkürzung natürlich nicht
vorgenommen werden, ba nicht alle Gegenitände gleiche Bes
deutung haben, und überall auch darauf Rüdjicht genommen
werden mußte, ob ein verwandter Gegenitand ſchon früher
behandelt worden war, oder nicht. Namentlich aber mußte
ich der Einleitung eine größere Augführlichkeit widmen, da
es von beſonderer Wichtigkeit war, den in ihr dargelegten
wiſſenſchaftlichen Standp unkt möglichft klar hervorzuheben,
and dadurch die Soliditaͤt des Bodens, auf weichen die eins
"zelnen Forſchungen gegrätbet find, recht anſchaulich zu mar
chen :- wirklich iſt and) dieſe Einleitung kaum um die Hälfte
verkürzt worden. - In weldyem Maße dieß aber. bei ben eigents
Tich hiſtoriſchen Unterfuchungen gefchehen ift, möge ber Leſer
aus dem Inhalte dieſer erften Abtheilmug von Seite 72 ‘bis
Ende derfelben erſehen; es ift in Diefen Seiten zuſammengefaßt,
was Steanß auf 660 Seiten (bis Ende bed erften Bandes)
entwidelt hatı:'3c;, hoffe, daß. durch dieſe Kürze die "Deut
lichkeit nicht gelitten hatz vielmehr mögen manche ‚Refultate
ie diefer Beziehung eher. gewonnen haben, wenn fie in ein⸗
fache, leicht Aberfehbare Umriſſe zufanmengezogen, einen uns
fo fchlagenberen Totaleffekt hervorbringen.
Trog ber bedeutenden Abkürzung iſt indeß gewiß fein
irgend wefentlicher Punkt übergangen worben, weil es mir
ebenfalls: fehr um möglichite Vollſtaͤndigkeit in Angabe
nicht nur der Reſultate, ſondern auch ber Gründe, auf wel⸗
chen dieſe beruhen, zu thun war. Denn einestheils iſt ohne
die Kenntniß dieſer ein genaues Urtheil über jene kanm
möglich; andererſeits bewährt ſich aber grade in der Entwicke⸗
Img der Gründe und in der Strenge ber Folgerungen ein
ausgezeichneter , theilweife glänzender, Scharffinn, ben felbft
die Gegner an Strauß rühmen mußten; ed wäre alfo ein
wefentlicher Theil der inneren Cigenthüntlichfeit feines Bus
ches verwiſcht worden, wenn ich es nicht fo viel ald möglich
vermieden hätte, Durch meine Bearbeitung diefe Seite deffels
ben in Schatten zu ftellen. Deßhalb hielt ich es auch für
nothmwendig, überall die Anfichten derjenigen Theologen, denen
Strauß entgegentritt, beftimmt, wenn auch nur kurz, hinzuftels
len; ohne bieß Berfahren wäre gar Vieles in dem Buche
uwerſtaͤndlich geblieben, und es hätte überhaupt fehr oft der
ganze Gedanfengang völlig umgeändert oder unkenntlich ges
macht werben müfjen. Denn in der. Regel verfährt Strauß
fo, daß er zuerit. den buchftäblichen Inhalt einer evangelifchen
Erzählung. angibt,; alsdann die feitherigen Erkläärungsverſuche
derſelben Der Reihe nach aufzählt und beurtheilt, und endlich
ba, wo ihm feines. genugend erfcheint, ben feinigen austinans
—
berfept. Dieſe Mechode dutſte um fo weniger verlaſen ers
xvin
den, da fie zugleich den Leſer mit den herrſchenden Syſtemen
in der Theologie und mit der intereſſanten Thatſache bekannt
macht, daß auch auf dieſem Gebiete das goldene Zeitalter
des ewigen Friedens noch in weiter Ferne liegt.
Daß es mir bei dieſem ſorgſamen Streben uach einer
Vollſtändigkeit, die Nichts von dem Charakter und weſentlichen
Inhalte eines Werkes verloren gehen läßt, dennoch möglich
war, fo bedeutend abzufürzen, erklärt ſich zunächſt aus der
gewiſſenhaften Anwendung derjenigen Grundfäße, die überhaupt
bei einem Auszug aus einem wifjenfchaftlichen Werke beob⸗
achtet werden follen, und. die genauer auseinander zu feßen,
mich hier zu weit führen würde. - Wer fie fchon fennt, für
ben wäre eine folche Auseinanderſetzung überflüffig, wer fie
noch nicht kennt, den muß ic) erfuchen, nachzufragen, wie es
der Seographe anfüngt, um aus. feinen trigonometrifchen
Bermeflungen eine Landeharte zufammenzufeßen; wie der
Maler, um ein menfchliched Antlig in den Rahmen eines
kleinen Miniaturbildes zu faffen; wie der Gefchichtsfchreis
ber, der in lebendiger Darftellung die Zeiten fchildert, in
welche feine Studien ihn verfenft haben. Wenn fchon diefe
im Stande find, ein getreues Bild ihrer eigenen Anfchauungen
zu geben, P muß ein Auszug aus einem wiflenfchaftlichen
Werke, wie er bier vorliegt, ſchon feiner ungleich größeren
-Ausführlichkeit wegen um fo mehr ald ein getreued, wenn
auch verfürztes, Abbild betrachtet werden, da derjenige, von
dem er herrührt, fich vedlich bemüht hat, in der Verkürzung
auch nicht den Fleinften wefentlichen Zug des Urbildes unter
gehen zu laſſen. — Ferner aber erreichte ich den Zweck bes
deutender Abkürzung durch
3) „Das Abftreifen der gelehrten Form der Darftels
lung.“ — Viele Nachweifungen, Berufungen auf ältere
Schriften; Erörterungen folcher Stellen aus gelehrten Wers
fen, die zu Beweifen oder Gegenbeweifen dienen follen; —
kurz, der eigentlich gelehrte Apparat, den Strauß natürlich
nicht vorenthalten durfte, konnte und mußte bier entweder
wegbleiben oder, wo er zu näherem Berftändniffe des Inhals
tes nöthig fchien, fehr in’d Kurze zufammengezogen werben.
Wenn ed mir nur gelungen iſt, audy hier bie Treue, bie ich
ar überall zur Pflicht machte, dabweh, zu bewähren, dag Ach
den eigentlichen: Peru: and: ber. geichkten:: Gülfe auwerfehen
hevandfchhlie ,:- ſo hat weine Darſtellaig · det Sache gewiß
nicht geſchadet: vielmehr muß ich glauben, daß ſelbſt Kunſt⸗
verſtaͤndige ein neues Gebaͤude gar gerne auch dann betrach⸗
ten, wenn das Baugerüſte ſchon abgeſchlagen iſt, und die
fchönen Flächen nicht mehr verdeckt, ſo daß das Ganze zu
bequemerer Ueberſicht vor uns fteht. Daher habe ich auch
Alles, was Strauß in ben zahlreihen Anmerfungen, bie
ms einmal ein nothwendiges Uebel in gelehrten Schriften find,
‚verhandelt hat, mit dem Texte felbit verfchmolzen; ich gewann.
dadurch zugleich den Bortheil, daß ich das Wenige, was ich
bier und da hinzugufeßen für nöthig hielt, in Anmerkungen,
die alſo ſammtlich Zuſaͤtze von mir find, beifügen konnte.
Ferner mußte ich das gelehrte Gewand auch dadurch abs
Rreifen, daß ich alle Stellen aus lateinifchen, griechifchen und
hebräifshen Schriftftellern, die ſaͤmmtlich von Strauß in. ber
Urfprache angeführt werden, ind Deutfche überfeßte, wo ich
nämlich es für nöthig hielt, fie wörtlich mitzutheifen. Bei
uensteftamentlichen Stellen hielt ich mich im Allgemeinen am
die ‚Intherifche Ueberſetzung, von ber ich. jedoch häufig da, we.
es die Genauigkeit zu erfordern fchien, auch abgewichen bin.
. Wenn mir nun audy einerfeits die Rüͤckſicht, daß ich nicht
für Gelehrte fchreibe, mannichfache Weglaſſungen rein gelehrs
ter Zuthaten möglich machte, fo ſah ich mich andererfeits
durch dieſe Rückſicht auch wieder zu vielerlei Zufägen genös _
thigt. Strauß nämlich, der für Theologen fchrieb, mußte bei
feinen Lefern Belanntfchaft mit den theologifchen Syftemen,
Schriftftellern und Sculausdrinfen, fo wie mit der Kirchens
gefchichte worausfegen; bei mir ift diefes anders: ich muß eine
folhye Bekanntſchaft dem größeren ‘Theile meiner Lefer erft
verfchaffen. Solche Erklärungen durfte ich aber in den Tert
fhon darum nicht verweben, weil ich mir zum erften Gefeße
gemacht hatte, in Diefem Texte den Strauß, und nur ben
Strauß, zu geben, und meine geringe Weisheit gänzlich bins
ter den Couliſſen verftect zu halten. Daher fchien es dus
Zweckmaͤßigſte, um Zufammengehöriges nicht zu zerfplittern,
am Ende des ganzen Werkes eine Reihe alphabetifch geords
neter Anmerkungen zuzufügen, in welchen der Leſer widıt wur
eine Erflärung aller in bie wiffenfchaftliche Theologie einickilas
ax
genden Ausdrücke, fondern auch furze Nachweifungen über Die
im Verlaufe der Unterfuchung genannten Gelehrten finden wird.
Ebenfalls von mir herrührend iſt die intheilung des
Buches in Abfchnitte und Kapitel. Strauß hat eine folche
zwar auch; allein feine Abfchnitte wie feine Kapitel find im
Durchſchnitte von bedeutend größerem Umfange, wogegen er
. noch die Unterabtheilung in SS. hat. Diefe Einrichtung ift
in feinem Werke gewiß fehr zweckmäßig; für meinen Zweck
aber. fchien mir eine befondere Rückſicht auf Symmetrie, und
„eine Bertheilung in mehrere, und dadurch Fürzer gewordene,
Abfchnitte und Kapitel nothwendig. Denn ein Leſer, von
welchem ein ununterbrochenes Studium nicht zu erwarten
ift, liebt häufige Nuhepunfte und leicht überfehbare Abfchnitte;
deßhalb find auch faſt alle Kapitel noch durch Hleinere und
größere Querftriche unterbrochen worden, Die nucht felten den
65. bei Strauß entfprechen.
Unter der Weberfchrift jedes Kapitels habe ich die in dem⸗
felben behandelten evangelifchen Stellen angegeben. - In
Bezug auf diefe, fo wie auf die meiften andern zur Sprache
gefommenen Bibeljtellen muß ich es bedauern, Daß es mir
nicht möglich war, fie mitzutheifen, was natürlich zuviel Raum
weggenommen hätte. Dadurch ift nun allerdings eigenes
Nachſchlagen vielfach nöthig geworden; allein Die meiften
der citirten größeren Parthien find gewiß meinen Lefern
hrem wefentlichen Inhalte nach ſchon bekannt, und auch bei
ben im Borübergehen angeführten Stellen ift deren Inhalt fo
beftimmt aus der Darftellung erfichtlich, daß der Leier, der
dem Berfaffer Vertrauen fchenkt, fich das Nachfchlagen er:
ſparen kann; fo daß Diefe, theilweife ziemlich gehäuften, Gitate
hanptfächlich nur der nothwendigen diplomatischen Treue nnd
den Wünfchen derer gewidmet find, die gern überall mit eiges
nen Augen fehen *).
4) „ Möglichft anſchauliche und lebendige Darftellung .—
Ein Buch zu unterhaltender Lektüre wollte und Fonnte ich nicht
liefern; dazu ift der Gegenftand ein zu wichtiger und bedeus
tungsvoller; es mußte daher fchon die ernfte und würdige
*) Da, wo die drei cerften Evangelien übereinftinmen, ift der
Kürze wegen nur Matthäus citirt.
Haltımg des Styles Iebem, ber etwas. Anderes, als ruhige
und ernite Betrachtung bier zu . finden ‚vermeinte, auf: allem
Seiten bed Buches entgegensufen,.baß er fid, verrechnet habe.
Aber eben dieſe Beichaffenheit des Stoffes, der vieleicht: Füd
Manche etwas Spröded und Schwieriged haben mag, und
eben diefe durch ihm gebotene. Nottwendigkeit einer gemeſſenen
und körnigen Sprache machten es mir zur Pflicht, der Dar⸗
ſtellung zugleich eine lebendige Friſche und einen moͤglichſt
großen Farbenreichthum zu verleihen. Denn nur durch dieſe
Eigenſchaften des Styles kann es gelingen, den Leſer zu
feſſeln, den Gegenſtand ihm nahe zu bringen, ſeiner eigenen
Anſchauung in die Hände zu arbeiten und das Grmübende,
das eine im · MWefentlichen etwas gleichförmige Unterfuchung .
leicht haben könnte, entfernt zu halten. -Diefe Aufgabe: war
aber: in der That Feine leichte; dem Kenner barf idy ed nicht
erſt fagen, wie fehr bie freie, bewegliche Lebendigfeit bed
Styles gehemmt ift durch den Zwang, den das Gebot der
ſtrengſten Trene in Nachbildung ber von einem: Dritten vor⸗
gebildeten‘ Ideen unb Anfichten auferlegt; — durch die Rothe
wendigfeit, kurz und vollftinbig zugleich zu fen. Die Aufs
gabe kann nur dann ganz befriedigend gelingen, wenn es vers
gönnt ift, Die erfte Anlage des Werkes immer und immer -
wieder in größeren und Fleineren Parthien zu überarbeiten,
um alle Unebenheiten auszuglätten, alle noch matten Färbun⸗
gen aufzufrifchen, alle Eintönigfeit zu entfernen, alles Edige
abzurunden, und alle noch Klaffenden Fugen auf’ Neue zu
überfahren. Hierzu gehört eine längere Zeit, als mir zu Diefer
Arbeit vergönnt war, und ich muß daher offen geftehen, daß,
fo fehr ich mich auch bemühte, das vorgeftedte Ziel zu erreis
chen, mr doc, in Diefer Beziehung mein Werk am wenigften
genügt. Eolite e8 ftch einer zweiten Auflage zu erfreuen has
ben, fo hoffe ich dem mir vorſchwebenden Ideale um ein
Merkliches näher zu kommen.
So übergebe ich denn vertrauensvoll die erfte Abtheilung
dDiefer Schrift dem Publiftum. Sie enthält die Einleitung,
und das Leben Jeſu, fo weit es Strauß in bem erften Bande
feines Werkes geführt hat; die zweite Abtheilung, worldie
mfeplbar in wenigen Donaten erfcheinen fol, wird ven Aw -
halt des zweiten Bandes von Strauß wiebergeben; alsdann
aber noch eine Ueberſicht derjenigen Thatfachen enthalten,
weiche nach den von Strauß angeftellten Unterfuchungen als
hiſt oriſch beglaubigt ſich herausftellen: Anmerkungen und
Regiſter werden das Ganze beſchließen. —
Noch ehe ich dieſe Arbeit unternahm, wußte ich, daß den
eutſchiedenen Gegnern des Dr. Strauß dieſelbe ein Aerger⸗
niß ſein werde: ich muß dieſe daher erſuchen, ſich mit aus⸗
führlichen Verſicherungen ihres Unwillens nicht beſonders zu
bemühen, da ſie mir nur bekannte Dinge ſagen würden. Von
den Freunden des ausgezeichneten Mannes aber, und von
ihm ſelbſt wünſche ich ſehr innig, daß ihnen der Gedanke ſo⸗
wohl, von dem meine Arbeit ausging, wie die Ausführung
desſelben wohl gefallen möge. Allen aber, den Freunden wie
den Gegnern einer Sache, zu deren Weiterbildung ich etwas
beizutragen ſuchte, werde ich ſehr dankbar ſein, wenn ſie mich
auf Die Mängel meiner Schrift aufmerkſam machen, und mir
dadurch die Verbefferung derfelben erleichtern wollen. Denn
mit der Berficherung darf ich Diefe Vorrede fchließen, Daß ich
diefe Arbeit mit ber reinen, heiligen Abficht unternahm, das
wahre, ächte, tiefe Chriftenthum zu fürdern und die Wieders
* Belebung desfelben zu befchleunigen. Mögen Andere einen ans
deren Weg für ben befferen und Fürzeren halten: ich rechte
nicht mit ihnen, fo wie ich wünfchen muß, daß auch mir
mein Recht unverfümmert gelaffen werde. So wie aber Baco
von Verulam fagt: „Wer den Becher der Forfchung aus⸗
trinkt, wird, wenn auch von Anfang irre gemacht, doch auf
dem Grunde desfelben Gott wieder finden“, — fo ift es bei
mir unerfchütterliche Weberzeugung geworden: Nur der, ber
ben Becher biftorifcher Unterſuchung austrinft, wird, werm
auch von Anfang irre gemacht, auf dem Grunde desfelben
ben wahren Chriſtus, und bie lebendige Gemeinfchaft mit
ihm wieder finden! — —
Gefchrieben im Suli 1839.
Der Verfaffer.
Einleitung.
Erfter Theil.
Darftellung der verfchievenen Auslegungsweifen der bibli
fhen Geſchichte.
Erftes Kapitel,
Die Entſtehung verfchiedener Erflärungsverfuche
beiliger Gefchiypten.
Bei allen Religionen, die auf gefchriebene Urkunden fich
ftügen, wird früher oder fpäter der Fall eintreten müffen, daß
der Bildungsftufe ihrer Bekenner jene fchriftlichen Denkmale
nicht mehr genügen. Denn bdiefelben find ja mehr oder weniger
ans einer gewiſſen Entwidlungsftufe der Zeit und bes
Volkes hervorgegangen, in welcher fie entitanden: fie mußten
alfo nothwendig auch den Charakter derfelben annehmen,
Nun find aber diefe Bücher einmal abgefchloffen; fie bleiben
unverändert; der Geift der Völfer und der Zeiten aber ift in
beftändigem, wenn auch oft unterbrochenem, Borwärtsfchreiten
begriffen, und entfernt ſich alfo mehr und mehr von dem
Standpunkte jener alten Bücher. Aus dDiefem Grunde wird
ſich ein Widerftreit zwilhen ihnen und den Forderungen
der im Laufe der Zeiten gewonnenen Bildung allmählig ers
geben. Wie ift nun diefer Widerjtreit aufzulöfen? Die ges
fchriebenen Bücher find da; die veränderte Stufe des geijligen
Lebens der Bölfer ebenfalls: beide find unläugbare Thatfachen.
Der einmal gewonnenen Bildung können wir uns nicht
entfchlagen: die heiligen Urkunden wollen und dürfen wir
nicht aufgeben. Entfernen Fäßt ſich alfo Keined von
Beiden, weder die neuere Bildung, noch die alten Ackunben.
T. 1
— EEE VE U BE Sul 1 EEE DEE zu 2 nk Bid BEE BE
Es tritt daher unabweisbar das Bedürfniß einer Ver⸗
mittlung ein: dieſes führt und zu mancherlei Verfuchen, durch
die Auslegung und Deutung jener fchriftlichen Grund-
lagen der Religion den Widerfpruch zu befeitigen. Durch eine
uns befriedigende Erflärung berfelben. müffen wir unfere
eigene Welt: und Lebensanficht mit ihnen in Einklang zu brin-
gen ſuchen. Died wird vorzüglicd, der Fall fein in Bezug auf
die in ihnen enthaltene Gefchichte, welche einen wefentlichen
Theil aller Neligionsurfunden ausmacht. Dieſe Geſchichte ift
vorzugsweife eine heilige, wunderbare; db. h. ein Geſchehen,
worin das Göttliche unmittelbar in Das Menfchlichye eintritt,
ohne durch die natürlichen Gefeße von Urſache und Wir
fung vermittelt zu fein; alſo eine Unterbredyung des inneren
Zufammenhangs aller Dinge und Erfcheinungen im Weltall,
Denn überall, wo ein Wunder gefchieht, wenn 5. B. durd)
ein bloßes Wort ein Todter wieder erwedt, oder ein Kranker
- wieder geheilt wird, ftehen die Naturgefeße gleichfam ſtill und
“weichen einer fremden Macht. |
Kun führt aber die fortfchreitende Bildung den Menfchen
gerade mehr und mehr zu der Einficht, daß alles in Der
Außenwelt, wie in ung felbft, Gefchehende nur unter den in
der ganzen Natur feſt begründeten VBerhältniffen von Urſache
nnd Wirfung gefchehen könne, daß mithin aud) das Göttliche
durch diefe Berhältniffe in den Erfcheiningen der Sinnenwelt
vermittelt werden müſſe. Daher wird fich jener Wider⸗
fpruch zwifchen der neuen Bildung und dem gefchichtlichen
Inhalte der alten heiligen Schriften genauer dahin ausfprechen,
daß das wunderbare, unmittelbare Eingreifen des Göttlichen
in das Menfchliche, 3. B. wunderbare Heilungen durch götts
liche Kraft; gehörte Worte ohne einen menfchlichen Mund,
der fie ausipricht ıc., feine Wahrfcheinlichfeit verliert.
Es erjcheint und dasjenige, was den Gefegen der Natur widers
fpricht, als unmöglich; 3. B. daß ein vierfüßiges Thier fol
geredet haben.
Hier beginnt alfo nothwendig der Zweifel an der Wirflichs
keit. der erzählten wunderbaren Gefchichten: diefer wird um: fo
fkärfer, wenn das Erzählte den Character einer unentwidelten,
ja felbft rohen, Bildungsftufe an ſich trägt. Als Folge uns
vollkommener Eittwicklung muß es und 5.8. erfcheinen, wenn
erzählt wird, Gott habe in fo und fo viel Tagen die Welt
erſchaffen; als roh, wenn er ausdrücklich befohlen haben fol,
ein ganzes Bolf zu vertilgen.
Diefe Zweifel werden nun im Wefentlichen fich auf zwei
verſchiedene Weiſen ausfprechen. Entweder fagen wir:
„Das Göttliche kann nicht fo gefchehen fein,“ oder:
„Das fo Gefchehene kann nicht Göttlicheg gewefen fein.“
n
Im erftern Falle behaupten wir, daß das Erzählte nicht
wirkliche Geſchichte fei, fonbern verweifen es in das Gebiet
der Dichtung und der Sage. Wir läugnen aber damit noch
keineswegs, daß die Schriften einen göttlichen Inhalt haben,
und können eine erhabene, ewige Idee, welche fich in jenen
Sagen : offenbart, anerkennen: fie können uns erfcheinen alg
die Bilberfprache einer mit religiöfer Begeifterung erfülls
ten Zeit.
Im andern Falle geben wir zu, daß das Erzählte fo ge⸗
fhehen fei, führen es aber durch nufere Auslegung auf
natürliche Gefege zurück, ſuchen es als bie Wirkung naturs
gemäßer Urſachen zu erklären, und nehmen ihm dadurch
feinen göttlichen Gehalt, das Wunderbare; 3. B. wenn Kran:
fenheilungen aus der Anwendung natürlicher, fchnell wirfenber
Mittel erflärt werden ıc.
Es kommt hier aber noch Eine mögliche Verfchiedenheit
der Auslegung in Betracht, welche wohl zu erwägen ift. Wir
fonnen naͤmlich in beiden Fällen entweder befangen zu Werke
gehen, oder unbefangen. Befangen find wir, wenn wir
die Berfchiedenheit der -Bildungsftufen und Anfchauungsweifen
der damaligen und unferer Zeit nicht anerkennen wollen,
und behaupten, jene alten Schriftiteller haben die Sache, bie
fie erzählen, auch fo angefehen, wie wir. — Unbefangen
verfahren wir, wenn wir diefe Verfchiedenheit offen zugeben,
und geftehen, die Erzähler der Begebenheiten faßten Ddiefelben
anders auf, ald wir ed nach der veränderten Weltanficht
unferer Zeit thun müſſen. Auf diefem letzteren Standpunft
fügen wir uns jedoch keineswegs los von den alten Neligtongs
4
begriffen, fondern halten auch hier noch bas Wefetlichen feit,
indem wir das Unmwefentliche ungeſcheut Preis geben.
Es ſind alſo vier verſchiedene Auslegungsweiſen möglidy
für diejenigen, ‚welche den Widerſpruch zwifchen ihrer Bildung
und den alten Urkunden vermitteln wollen.
Erfte. Das Erzählte ift sticht wirklich fo gefchehen, die -
Berichterftatter haben .auch ſelbſt ed nicht geglaubt, fondern
im eigenen Bewußtfein, daß ed nur Sage und Dichtung fei,
es doch fo erzählt, wie fie e8 erfahren oder felbft erdichtet
haben, Befangen! Dies ift das Verfahren der Gegner
des Ghriftenthums H, welche die Erzählenden ber Tauſchung
und des Betruges beſchuldigen.
Zweite. Das Erzählte iſt nicht wirklich fo geſchehen;
es ift nur Sage: aber die Berichterftatter haben auf ihrem
- Standpunkte es doch für Wahrheit gehalten. Unbefans
gen! Bon diefem unbefangen mythifchen ®) Gefi ichtspunkte
geht gegenwärtige Unterſuchung aus.
Dritte. Das Erzählte iſt wirklich ſo geſchehen: allein
es iſt kin Wunderbares, Göttliches; es ſcheint nur ſo,
und die Berichterſtatter haben es auch nicht dafür gehalten,
ſondern entweder abſichtlich und gegen ihre eigene Anſicht es
nur für etwas Wunderbares ausgegeben; — oder ſie haben
es auch als etwas ganz Natürliches erzählen wollen. Bes
fangen! Den erfteren Fall der abfichtlichen Verfälfchung neh⸗
men bie Deiften 9 an, den Iepteren Die Rationaliften,
die Alles natürlich erflären.
>) Mir nehmen die Beifpiele, wiewohl diefe verfchiedenen Erklä—⸗
rungsarten auch im Schooße anderer Religionen vorgefommen
find, doch nur aus dem Kreife der chriftlichen Schriftaus⸗
legung.
2 Einftweilen bemerken wir nur, daß Mythe und mythiſch im
Allgemeinen fo viel ift, als Sage und fagenhaft; die nähere
Begriffsbeftimmung, fowie eine ſtrengere Unterſcheidung zwifchen
Sage und Mythe, werben fih im Verlaufe Diefer einleitenden _
Abhandlung ergeben.
> Die Erklärung dieſes, wie aller andern, nicht jedem Lefer bekann⸗
ten oder verfländlichen Namen, findet fich in den alphabetifch ges
ordneten Anmerkungen am Ende diefer Schrift.
5
Vierte. Das Erzählte ift wirklich fo gefchehen: allein
es ift fein Wunderbares, Göttliches; die Berichterftatter
haben es aber doch dafür gehalten, und es daher auch
old Wunderbares erzählen wollen. Unbefangen! Diefe
Anficht findet ſich in mancherlei Schattirungen ebenfalls bei
den Nationaliften, nämlich ba, wo fie mit der ald dritte fo
eben erwähnten nicht ausreichen.
Diejenigen aber, weldye die Forderungen ber neuen Bils
dung und Entwidelung, den heiligen Religionsurfunden gegen⸗
über, nicht anerkennen, alfo auch feinen Widerfpruch zwi⸗
ſchen beiden zugeftehen, halten feſt an ber buchftäblichen
Erflärung ber heiligen Bücher und gehen von dem Grund⸗
fabe aus: „Das Erzählte ift wirklich fo gefchehen, und iſt zu⸗
gleich ein Wunderbares und Göttliches; Die Berichterftatter
haben e8 als Solches anerkannt und dargeſtellt; wir follen
gleichfalls e8 glauben, wie fie es ung erzählen.“ Auf die
fem Standpunfte ftehen die fogenannten Drthodoren und
Supranaturaliften, die indeffen nicht felten, von ber
Vernunft unbemußt überwältigt, and) zu andern Erflärunge>
verfuchen ihre Zuflucht nehmen.
Diefe verſchiedenen Auslegungsweifen finden fich mehr oder
wertiger bei ben Befennern aller Religionen; namentlich aber
der altgriechifchen, der hebräifchen, der chriftlichen, wie aus
nachſtehender gefchichtlichen Ueberficht hervorgeht, die wir deß⸗
halb voranjchicen, un unferm Syſteme, dem unbefangen my⸗
thifchen, feine Stelle zwifchen den übrigen, fowohl in Be⸗
zug auf deffen gefchichtliche Entftehung und Ausbildung, wie
auch feiner inneren Wahrheit nach, anzımeifen, was um ſo
nothmwenbiger ift, da dasfelbe von fo vielen Seiten her ben
lebhafteften Widerfpruch erfahren hat.
Zweites Kapitel.
Berichiedene Deutungen bei Griechen, Hebräern nnd
riftlichen Kirchenvätern.
Die alten Griechen hatten zwar feine heiligen Religiong-
urfunden in Dem Sinne, wie Juden und Chriften; wohl alter
-6
eine alte reichhaltige Götterſage, welche füch theils in großen
Gefangen, wie die des Homer und Hefiod, theild in mänd«
licher Ueberlieferung aus der Zeit des -Eindlichen Glaubens
“ auf die nachfolgenden Gefchlechter forterbte. Auch fie erfuhr,
fobald die fortgefchrittene Bildung im Volke ſich nicht mehr
mit ihr befreunden Fonnte, die mannigfachiten Erklärungen.
Ernfte Weltweifen fahen in ihr entweder nur allegorifche
Hüllen fittlicher Wahrheiten, oder fie verftanden die gemaltis
gen Kämpfe ber erzürnten Götter ald Sinnbilder von dem
Ringen gährender Naturkräfte, deren Einheit ihnen das Gött⸗
liche war, nach feften Geftaltungen und organifchen Bilbuns
gen. Beide Erklärungsiweifen ließen zwar einen göttlichen
Gehalt beftehen, hoben aber die Form derfelben, Die eigent⸗
liche Geſchichte, völlig auf. (Zweiter Fall.
Andere, befonders die Maffe der mehr oberflächlich gebils
beten, vermochten in jenen Sagen gar nicht s Göttliches zu
ertennen; fie ließen die Erzählungen zwar als wirkliche Ges
fhichte gelten, aber als eine rein menſchliche — von
Helden und Tyrannen, die ſich durch auffallende Thaten ıc.
die Ehre göttlicyer Verehrung erworben oder erzwungen hatten.
(Dritter Fall) Noch Andere gingen fo weit, alle Diefe
Sefchichten für Fabeln zu erklären, bie in alten Zeiten erſon⸗
nen worden, um bie noch rohe Maſſe zu bändigen und zur
Unterwerfung unter die Gefeße der neu gegründeten Staaten
zu zwingen. (Erſter Ball.)
Die Hebräer hatten befanntlidh an dem Alten Teſta⸗
mente heilige Religionsbücher; diefe Eonnten fie allerdings
nicht mit folcher Freiheit auslegen, wie die Griechen ihre alten
Gefänge und mündlichen Ueberlieferungen. Schon aus dem
Grunde nicht, weil aus ihrem Inhalte der große Vorzug, das
. auserwählte Volk Gottes zu fein, an dem fie in ihrer Ab⸗
gefchloffenheit fo feft hielten, hervorging. Allein dennoch ente
widelte fidy auch bei ihnen das Bemühen, Anftöße, die fie in
benjelben fanden, durch allegorifche Auslegung zu entfers
*, Siehe bie oben, ©. 4 und 5, aufgezaͤhlten möglichen Bälle ber
auf alte Religeonsurfunden anzumendenden Auslegungsweiſen.
nen; dies gefchah fchon in Paläftina von der Zeit an, die un⸗
mittelbar auf das Eril folgte. In größerem Umfange und Zuſam⸗
menhange warb aber diefe Auslegungsmweife erft in Alerans
dria audgebildet, namentlich von dem gelehrten Philn.
Diefer umterfchied genan zwifchen einem „gemeinen“ unb
einem „tieferen“ Sinne der heiligen Schriften; ließ zwar
größtentheils beide neben einander beftehen; gab aber doch oft
den gemeinen, d. h. buchftäblichen Sinn bes Erzählten auf,
md ließ das Dargeftellte nur als bildliche Darftellung gels
ten, ohne an die gefchichtliche Wahrheit zu glauben. Cr
that Diefes insbefondere bei Erzählungen, welche ihm Gottes
umvürbig zu fein fohienen, oder font Widerfprüche enthielten.
Sp fagt er 3. B. über das Sechſstage⸗Werk der Schöpfung:
„Es ift ganz einfältig, zu glauben, daß in fechs Tagen, oder
überhaupt in beftinmter Zeit, die Welt erfchaffen ſei;“ —
über die Erfchaffung der Eva aus der Rippe des Adam:
„dies ift fabelhaft; dem wie fönnte doch Semand annehmen,
daß ans der Rippe eines Mannes ein Weib geworben, oder
überhaupt ein Menfch? *
Diefe allegorifcye Erflärungsweife bes alten Teitamentes
eigneten ſich auch faſt alle chriftlicyen Ausleger in den. ers
ften Jahrhunderten an: am entfchiedenften warb fie von dem
gelehrten Drigenes audgebildet. Diefer fchrieb der Schrift
einen dreifachen Sinn zu: emen buchftäblichen, moralifchen
und moyftifchen. Bei den meiiten Etellen läßt er freilich alle
drei zu; häufig aber feßt er aud) den buchftäblichen oder
Wortſinn tief herunter, 5. B. Da, wo er fagt: „die heilige
Schrift wolle ung nicht alte Mähren berichten, fondern Les
bensregeln ertheilen“, oder: „die bloß buchſtäbliche Auffafs
fung würde oft zum Berderben des Chriſtenthums gereichen.“
3a oft giebt er den buchftäblichen Sinn ganz auf, namentlidy
bei Stellen, in welcher von Männern, denen ſich Gott unmit-
telbar geoffenbaret haben fol, anjtößige Dinge erzählt werben,
wie 3. B. von Abraham, daß er fein Weib dem Könige Abis
melech preisgegeben ıc. ꝛc. Er fpricht über dieſe Auslegungs⸗
weife häufig feine Grundfäße offen aus: „nicht jeder Abfthnitt
der Schrift — jagt er — könne buchitäblik genommen wer:
-6
eine alte reichhaltige Bötterfage, welche fid, theils im großen
Gefängen, wie die des Homer ımd Hefiod, theild in muͤnd⸗
licher Ueberlieferung aus der Zeit bes -Finblichen Glaubens
auf die nachfolgenden Gefchlechter forterbte. Auch fie erfuhr
fobald die fortgefchrittene Bildung im Volke fidy nicht mehr
mit ihr befreunden Eonnte, die mannigfachiten Erflärungen.
Ernfte Weltweifen fahen in ihr entweder nur allegorifche
Hüllen fittlicher Wahrheiten, oder fie verftanden die gewaltis
gen Kämpfe der erzürnten Götter ald Sinnbilder von bem
Ringen gährender Naturkräfte, deren Einheit ihnen das Götts
liche war, nach feften Geftaltungen und organifchen Bildun⸗
gen. Beide Erklärungsweifen ließen zwar einen göttlichen
Gehalt beitehen, hoben aber die Form derfelben, die eigents
liche Geſchichte, völlig auf. (Zweiter Fall 9.
Andere, befonders die Mafle der mehr oberflächlich gebils
beten, vermochten in jenen Sagen gar nicht s Göttliched zu
erkennen; fie ließen die Erzählungen zwar als wirkliche Ges
fchichte gelten, aber als eine rein menſchliche — von
Helden und Tyrannen, die ſich durch auffallende Thaten ꝛc.
die Ehre göttlicyer Verehrung erworben ober erzwungen hatten.
(Dritter Fall.) Noch Andere gingen fo weit, alle dieſe
Geſchichten für Fabeln zu erklären, bie in alten Zeiten erfons
nen worden, um bie nody rohe Maſſe zu bändigen und zur
Unterwerfung unter die Geſetze der neu gegründeten Staaten
zu zwingen. CErfter Fall)
Die Hebräer hatten befanntlidh an dem Alten Teſta⸗
mente heilige Religionsbücher; biefe Fonnten fie allerdings
nicht mit folcyer Freiheit auslegen, wie die Griechen ihre alten
Gefänge und mündlichen Ueberlieferungen. Schon aus dem
Grunde nicht, weil aus ihrem Inhalte Der große Vorzug, das
. auserwählte Volk Gottes zu fein, an dem fie in ihrer Abr
gefchloffenheit fo feft hielten, hervorging. Allein dennoch ente
wickelte fidy auch bei ihnen das Bemühen, Anftöße, die fie in
benfelben fanden, durch allegorifche Auslegung zu entfers
„ Siehe die oben, S. 4 und 5, aufgezählten möglichen Bälle der
auf alte Religionsurfunden anzumendenden Auslegungsweiſen.
y
nen; Died gefchah ſchon in Paläftina von der Zeit an, die ws
mittelbar auf das Eril folgte. In größerem Umfange und Zufants
menhange warb aber biefe Auslegungsweife erft in Alerans
dria andgebildet, namentlih von dem gelehrten Philo.
Diefer unterſchied genan zwifchen einem „gemeinen“ und
einem „tieferen“ Sinne der heiligen Schriften; ließ zwar
größtentheils beide neben einander beftehen; gab aber doch oft
den gemeinen, d. h. buchftäblichen Sinn bes Erzählten auf,
und fieß das Dargeftellte nur als bil dliche Darftellung gels
ten, ohne an die gefchichtliche Wahrheit zu glauben. Cr
that dieſes insbefondere bei Erzählungen, welche ihm Gottes
umvürdig zu fein fchienen, oder fonft Widerfprüche enthielten.
So fagt er 3. B. über dad Sechſstage⸗Werk ber Schöpfung:
„Es ift ganz einfältig, zu glauben, daß in ſechs Tagen, ober
überhaupt in beftinnmter Zeit, bie Welt erfchaffen feis“ —
über die Erichaffung der Eva aus der Rippe des Adam:
„dies ift fabelhaftz denn wie fünnte doch Semand annehmen,
daß ans der Nippe eines Mannes ein Weib geworben, oder
äberhaupt ein Menfch?“
Diefe allegorifche Erflärungsweife bes alten Teſtamentes
eigneten ſich auch faſt alle hriftlichen Augleger in: den. er⸗
ften Ssabrhunderten an: am entfchtedenften warb fie von dem
gelehrten Drigenes audgebildet. Diefer fchrieb der Schrift
einen dreifachen Sinn zu: einen buchftäblichen, moralifchen
und myſtiſchen. Dei den meilten Stellen läßt er freilich alle
drei zu; häufig aber ſetzt er auch den buchitäblichen oder
Wortſinn tief herunter, 3. B. da, wo er fagt: „bie heilige
Scyift wolle ung nicht alte Mähren berichten, fondern Les
bensregeln ertheilen“, oder: „die bloß buchfläbliche Auffaſ⸗
fung würde oft zum Berderben bes Chriſtenthums gereichen.“
Sa oft giebt er den buchitäblichen Sinn ganz auf, namentlidy
bei Stellen, in welcher von Männern, denen fi) Gott unmits
tefbar geoffenbaret haben ſoll, anftößige Dinge erzählt werben,
wie 3. B. von Abraham, daß er fein Weib dem Könige Abis
melech preisgegeben ꝛc. ꝛc. Er fpricht über diefe Auslegungs⸗
weite häufig feine Grundfäte offen aus: „nicht jeder Abfthnitt
der Schrift — fagt er — könne buchftäblik genommen wer-
>
‚ 8
den; — oft fei Etwas in myſtiſchem (geiftigem) Sinne wahr,
was buchitählicd, genommen eine Lüge fei; Vieles fei ald ges
ſchehen bargeftellt, was nicht fo ſich ereignet habe.“ sc. ꝛc.
Auch auf das neue Teſtament wendet Drigened biefe
allegorifche Deutung an: denn weil es ein Werk „deffelben“
Geiſtes fei, von demfelben Gotte geoffenbart wie das Alte,
fo habe auch in ihm jener Gott dem wirklich Gefchehenen
Richtgefchehenes eingewebt, was nur in geiftigem Sinn zu
nehmen ſei; daher vergleicht er auch manche evangeliſche Er⸗
gählungen fogar mit halb fabelhaften Gefchichten bei heibnis
chen Schriftftellern. Er nähert ſich dadurch dem mythis
fhen Standpunkte, indem er vor blindem und grundloſem
Glauben die Einfichtsvolleren warnt und ihnen Verftand und
firenge Prüfung empfiehlt. — Es darf aber nicht umbes
merft gelaffen werden, daß Drigenes, befonders aus Furcht
vor möglihem Anftoße, bei feiner einzelnen Gefcichte bes
neuen Teſtament's fo gerade heraus fagt, daß fie nicht wirklich
fo gefchehen fein könne, wie fie erzählt werde. Bei einigen
jedoch giebt er es nicht undeutlich zu verftehen, und über bie
-Berjagung ber Käufer aus dem Tempel (Math. 21, 12.) fagt
er geradezu, „daß das Verfahren Sefu, buchitäblich gefaßt,
anmaßend und lärmend wäre.“
Nach Drigenes erflärte man zwar auch noch. Einzelned
allegorifch, jedoch fo, daß man es zugleich aud) als wirklich
gefchehen gelten ließ.
Auch die dritte der oben entwidelten Auslegungsweifen,
die nämlich, welche zwar das Erzählte ald wirklich gefchehen
gelten Täßt, nicht aber ald göttliche, fondern ald eine rein
mienſchliche Gefchichte betrachtet; — auch diefe trat fchon in -
alter Zeit hervor, jeboch nur bei den Gegnern bes Chriftens
thums. Diefe anerkannten zwar vieles Gefchichtliche im Leben
Jeſu, erflärten aber das Wunderbare für Erfindungen oder
gar für Betrügereien, womit fie auf ben erften ber von und
bezeichneten Standpunkte ſich begaben.
Drittes Kapitel.
Die Deiften, Nationaliften uud Kant.
Che wir auf die Verſuche der neueren Zeit übergehen,
muß noch ein wogfentlicher Unterſchied zwiſchen der heidnifchen
und jübifchen Neligion einers, und der chriftlichen andererfeite
in Bezug auf die Entitehung und Entwidlung jener Auslegungss
weifen hervorgehoben werben. Bei Heiden und Juden traten
fie ein, weil die fortgefchrittene Bildung in Widerſpruch ges
rieth mit den alten, ftehen gebliebenen Religionsurfunden.
Die neue Bildung vertrug ſich nicht mehr mit der alten
Religion. Anders war ed bei dem Chriftenthume : dieſes
trat in eine fchon abgefchlofiene Bildung hinein; in Die ber
Griechen und Römer und in den durch, beide vielfach bes
ftimmten und genährten jübifchen Gulturzuftand. Hier trat
alfo ein umgefehrtes Verhältniß ein: Die alte Bildung vers
trug ſich nody nicht mit der jungen Religion. Daher bes
weijen die allegorifchen Auslegungen der chriftlichen Gelehrten
(Drigened) und die Angriffe der heidnijchen, daß die Welt,
wie fie war, in den neuen, mit ihr in Widerfpruch tretenden,
Glauben fich sicht zu finden wußte.
In dem geſchichtlichen Entwicklungsgange des Chriftens
thums verſchwand aber fpäter diefer Zwiefpalt, mit ihm alfo
auch Die aus ihm hervorgehenden Berfuche einer vermittelnden
Erflärung der heil. Schriften, worauf es ſich ſtützte. Das
chriſtliche Grundelement erhob fich nämlich allmählig zu einer
unbedingten Herrfchaft, theild nad) auffen, indem das
Chriftenthum die Religion des römiſchen Weltreiches wurde )
— theild nach innen durch Die zum großen Theile gewaltfante
Unterdrüdung aller Kebereien, die dem aufftrebenden kirchlichen
Prinzipe widerftrebten und faſt ſaͤmmtlich aus den Verfuchen
der alten Bildung, mit der neuen Religion fich in Einklang
zu fegen, hervorgegangen waren. Dadurch wurde ber Wider⸗
2) Bekanntlich wurde das Chriftenthum feit dem Webertritte bes
Kaifers Eonftantin zu Anfange des vierten Jahrhunderts all:
mäplig im römiſchen Reiche die herrfchende, und ſchon am
Ende Diefes Jahrhunderts die Staats⸗Religion.
10
ftand diefer alten Bildung mehr und mehr geſchwächt und derſelbe
endlich ganz aufgehoben, da das Chriſtenthum nun auch die
Schulen, in weichen heibnifche Weisheit gelehrt wurde, vers
nichtete. So erhob ſich die allgemeine chriftliche Kirche fliege
reich auf den Trümmern der alten Welt und ihrer Bildung,
und fie hatte alle Geifter erobert und im Glauben gefangen
genommen. Fernerhin dehnte fi ſich nun das Chriſtenthum auch
Aber noch ganz rohe Nationen, zunaͤchſt über die des großen
dent ſchen Volksſtammes, aus; endlich verlor ſich im Abend»
lande die letzte Spur alt-heibnifcher Bildung unter den ges
mwaltigen Fußtritten der basfelbe erobernden und überſchwem⸗
‚ menden urfräftigen, aber noch ungebilbeten deutſchen Völker⸗
fhaften ). So konnte ſich das neue, auf die Bücher bes
NR. T. gegründete Religionsſyſtem in völliger Sicherheit
entwideln, ohne durch die Wiberfprüdhe einer nicht mehr vor
handenen Bildung geftört zu” werben. Durdy lange Jahr⸗
hunderte blieb alſo num die chriftliche Welt mit dem Chriſten⸗
thum nad) Form und Inhalt vollfommen befriedigt; fie war
mit ihm aufs innigfte verwachfen. Sebt erſt konnte eine neue
Bildung beginnen; mit ihr allmählig aud) wieder ein nener
Zwiefpalt derfelben zwifchen ihr und den unverrückt bleibenden
geihriebenen heil. Urkunden nicht ſowohl fchon anfangen, ale
vielmehr erſt vorbereitet werben.
Während diefes langen Zeitraumes durch dag ganze Mittels
alter hindurch zeigte fich alſo faft Feine Spur jener Ausles
gungsverficche, weil diefe ja eben nur aus dem erwähnten
Zwiefpalte, und auch dann erft, wenn biefer zum Bewußtſein
gekommen ift, hervorgehen.
Den erften Stoß erlitt, nach manchen vorangegangenen
fruchtloſen Berfucyen, der in dem Boden des Mittelalters feſt⸗
gewurzelte Kirchenglauben: durch die Reformation. Diefe
war das erſte folgenreiche Lebenszeichen einer neuen Bildung,
die, allmählig im Schonße des Chriſtenthums felbit aufs
gewachſen, ſich nun ſtark genug fühlte, mit Demfelben in Kampf
zu treten : fie unternahm num Achnliches, wie einft bie alte
*, Während ber fogenannten Völkerwanderung im fünften und
jechäten Jahrhnudert. |
—
\
11
Bildung durch die heidniſchen Gegner des Chriſtenthums.
Die Reformation aber erhob fi, als folche, nur gegen bie
berrfchende Kirche, und ihr Syitem. Die heil. Bücher,
auf welche fie dasfelbe aufgebaut hatte, ließ fie unangefochten.
Lange jedoch währte es nicht, fo wurden auch dieſe ans
gegriffen; und ‘damit beginnen denn wieder die verfchiebenen
AuslegungssDerfuche ; es beginnt die Zeit der auf mans
nigfache Weife angeftellten Verfuche, die neue Bildung mit
den alten Urkunden in Einklang zu bringen. Sie gehen alle
von bem Bewußtfein aus, daß der Inhalt der heil. Schrift in
vielen Punkten mit der gewonnenen Ausbildung der Bernunfte
Ideen unverträglidy fei; fie find eine folgerichtige Fortfeßung
des Neformationswerfes, durch welches. der Grundſatz Des
freien Forſchens aufgeftellt, die Rechte der Vernunft aner⸗
fannt worben, wenn auch nur bis zu einer gewiſſen Grenze.
Allein eine feſte Grenze kann es hier eben fo wenig geben,
als die Entwicelung ber Vernunft je ftille ftehen kann. Wir
wollen alle dieſe Verſuche in ihrer geſchichtlichen Aufeinandere
folge kurz betrachten und dadurch zeigen, wie das Lnbefriedis
gende aller vorhergegangenen enblicy zu dem hier vorliegenden
führte, das Wunderbare und Widerfprechende ald Mythe
und Sage zu erklären.
Die erften namhaften Verfuche diefer Art wurden von enge
liſchen Deiſten und Naturaliften gemadıt : fie müffen aber
im Allgemeinen als frivol, wüſt, gemein und des Gegenſtan⸗
des völlig unwürbig bezeichnet werden. Sie wollten nur
das Verhaßte vernichten, und verfchütteten recht eigentlic, Das
Kind fammt dem Bade: fie verftecdten ihre Unfähigkeit, auf
wiflenfchaftlichem Wege den Streit zu fchliehten, hinter tumul⸗
tuarifchem Niederreißen — freilich das gewöhnliche Loos Des
rer, bie in einem weitausfehenden Kampfe die erften Streiche
zu thun berufen find. Bald greifen fle die Aechtheit der
bibliſchen Bücher an und erflären fie für untergefihoben und
fabelhaft, bei welcher Annahme man ſich gar nicht zu bemühen
hat, deren Inhalt zu widerlegen; — bald wird von ihnen
Alles aufgebrten, um diefen Inhalt nicht fowohl ing nadte
Menichliche, als in Das Gemeine und Tächerliche herabiuichen.
12
So nem 3. B. Einer das Geſetz bes Mofes“ „ein elenbes
Spftem des Aberglaubens, ber Blindheit und ber Sclaverei“;-
— ein Anderer läugnet, baß die jüdifche Religion eine geoffen-
barte fei, darum, weil Gott fo große Parteilichfeit für das
jüdische Volk zeige, und die Kanaaniter auszurotten gebiete; —
ein Dritter verdächtigt den Charakter Jeſu umb bezeichnet bie
Denkart der Apoftel ald eigennügig und gewinnſuchtig; — ein
Bierter ſchwankt, ob er die Wunder Jeſu für „elende Poflen
und gemeine Betrügereien“, oder, ihre gefchichtliche Wahr
beit aufgebend, für bloß ſinnbildliche Erzählungen halten
ſoll.
In Deutſchland warb eine ähnliche Anſicht über bie
Bibel verbreitet durch die berühmten „Wolfenbüttel’fchen
Fragmente“. Diefe erfennen gar feinen göttlichen Ins
halt der heil. Schriften an, fonbern erflären alles Wunderbare
für Täufchung oder Betrug. In Bezug auf das alte Teſta⸗
ment behaupten fie, die Männer, welchen ein unmittelbarer
Umgang mit Gott zugefchrieben werde, feien fo fchlecht, ihre
angeblich göttlichen Lehren fo kraß und verderblich, daß jener
Umgang mit Gott nur erfonnen und vorgegeben fei, um ben
Lehren der Priefter und Herrfcher bei ber rohen Menge Eins
gang zu verfchaffen; namentlich wird Mofes geradezu ein
Betrüger genannt, der die Sehovah-Erfcheinungen erdichtet und
die fchändlichften Mittel nicht gefcheut habe, um fich zum Herr⸗
ſcher eines freien Volkes zu machen und verbrecherifche Maps
regeln zu göttlichen Befehlen zu flempeln. — Was das neue
Teftament betrifft, fo wird Yon dem Fragmentiften Jeſu nur
ein politifcher Plan zugefchrieben: derfelbe fei mit dem „kei⸗
nedwegs vorausgefehenen“ Tode feines Urhebers unerwartet
gefcheitert, und die Sünger des Getödteten haben durch das
„betrügerifche Vorgeben“ einer Auferftchung biefes Miplingen
nur zu bemänteln gefucht.
Während diefe Deiften mit ihrer Auslegungsweife dem
Ehriftenthum entfchieden feindfelig entgegentraten, und daher
mit Necht den lebhafteften Widerſpruch erfuhren, verfuchten
die ſogenannten Rationaliften, welche füch von der Kirche
13
keineswegs losſagen wollten, eimen anbern Ausweg. Sie
erfaunten zwar auch feine wunderbaren Begebenheiten in
der heil. Schrift an, und erflärten Alles für ganz natürs
liche Borgänge, für Wirkungen der gemeinen Raturgefege :
allein fie erblidten darin Feine Betrügereien, und ließen die in ber
bibliſchen Erzählung wunderbar fheinenden Handlungen doc
als fittlich untadelhafte beftehen. Damit entfleideten fie zwar
auch die betreffenden Männer, einen Mofes, Chriftus ıc. der
unmittelbaren Göttlichfeit; ließen aber ihren menfhlidhen
Charakter unangetaftet, legten ihnen nicht die Abficht, zu täuts
ſchen, bei, und erfannten felbft das Edle in vielen ihrer Zwecke
und Handlungen an.
Zuerſt entwidelte Eihhorn in feiner Beurtheilung des
Wolfenbütteffcyen Fragmentiften diefe Auficht offen und aus⸗
führlih. Er ging von dem Grundſatze aus, entweber müffe
man die Wunder und unmittelbaren göttlichen Einwirkungen
in den Erzählungen aller Völker des Alterthums anerkennen,
‚oder bei feinen, alfo auch nicht in den heil. Büchern der Ju⸗
den und Chriften. Das Eritere aber habe fehr große Schwies
rigfeiten: Denn nicht felten fei der Inhalt der von angeblich
Wunder thuenden Männern ausgefprochenen Lehren ein irris
ger; fodanıı müffe man doc, einmal an Einem Punkte der
Gefchichte dag Aufhören eines unmittelbaren göttlichen Eins
fluffes annehmen, da wir ja Alle darüber einig feien, daß ges
genwärtig feine Wunder mehr gefchehen. Eichhorn erklärt
daher alle biblifchen Erzählungen in oben (Seite 5) angegebe-
ner Weife natürlich; für Betrüger dürfe man aber deßhalb
die großen Männer, die fo außerordentliche Wirkungen hers
vorbrachten, nicht erflären. Vielmehr müffe man die „alten
Urkunden im Geifte ihrer Zeit auffaflen“. Diefe, als eine
noch durchaus findliche, leitete alles Auffallende, Bedeutfame,
Nüßliche von der Dazwiſchenkunft höherer Weſen ab; fie fah
überall Wunder, wo wir einen ganz natürlichen Hergang
erblickt haben würden. Diefe Auffaffungsweife hatte nicht nur
das Bolf, fondern auch Die Männer, durch welche Großes ges
fhah, glaubten felbft, daß fie unter dem unmittelbaren Eins
fluß der Gottheit jtünden. Sie waren alfo felbft die Getäuſch⸗
ten, nicht die Zänfchenden. So fah Mofes 3.8. den lange
8
14
gehenten Gedanken, fein Volk zu befreien, deſſen ex ſich gar
nicht mehr entfchlagen konnte, für göttliche Eingebung an; er
betrachtete Träume, Gewitter ıc., die ihn darin beftärften, aufs
fallende Naturereigniſſe, weldye die Ausführung begünftigten,
als wunderbare Zuffimmung und Hülfe Gotted. — Diefe
Erflärımgsweife wendet Eichhorn auf das neue Teftament
zwar weniger häufig, doch auch an ihm auf einzelne Erzähs
lungen an; fo fieht er in den Engelerfcheinungen „unerwartet
rettende Zufälle“, die in der bildlidyen Sprache jener Zeit
Engel genannt worben feien.
Dem berühmten Dr: Paulus blieb es vorbehalten, dieſe
natürliche Erklaͤrnngsweiſe auf die ganze evangelifche Erzähs
fing des neuen Teftaments auszudehnen. Er geht dabei übers
all von der Unterfcheidung zwifchen Factum und Urtheil aus.
Factum ift ihm das, „was den bei einer Begebenheit betheis
ligten Perfonen als äußere oder innere Erfahrung gegeben
war“, was alfo wirklich in ihnen oder vor ihren Augen vor
ging; Urtheil, „die Art, wie fie oder die evangelifchen Be⸗
richterftatter jene Erfahrung deuteten und auf ihre vermeint⸗
lichen Urfachen zurüdführten“. Beides aber vermengt ſich nach
feiner Anficht in den Betheillgten, wie in ben Evangeliften,
oft fo fehr, daß fie es nicht mehr unterfcheiden können und
an die Richtigkeit ihres Urtheiles, daß naͤmlich Die Begebens
heit eine wunderbare fei, eben fo feit glauben, als an bad
Factum felbit. Hier werde es alfo Aufgabe des Auslegerg,
diefe fo verfchiebenartigen Beſtandtheile ftreng zu fondern und
auszumitteln, was wirklich Thatfache fei und was dem
durch herrfchende VBorftellungen erzeugten Urtheile und der Aufs
fafjungsweife der betreffenden Perfonen angehöre. Gr müſſe
ſich daher ganz in den Standpunkt der Zeit verfeben, und
werde Manches durch Nebenumftände, welche felbit der Erzaͤh⸗
ler überfah, ergänzen können. Manche Thatfachen find aber;
sach Paulus, nicht einmal von den Erzählern ald wunders
bar erkannt, und alfo auch nicht als ſolche dargeftellt worden ;
erft die fpätere Zeit machte fie durch falfche Auslegung und
Mißverftand dazu: fo 3. 3. fei das Wunder von Sefu Wane
ben auf dem Meere nur durch falfche Ueberſetzung ent⸗
fanden; bie Worte heißen: neben dem Meere gehen.
\
45
Nach diefen Grundfügen verfuchte es Paulus, bie ganze
evangelifche Erzählung in einen vollftändigen gefchichtlichen
Zufanmenhang zu bringen; er entfernt durch feine Auslegung
jedes übernatürliche Einwirfen göttlicher Kräfte, und weist, fo
gut es eben gehen will, überall einen ganz natürlichen Her⸗
gang der Begebenheiten nach. Jeſus ift ihm alfo nur em
weiter, edler Mann, und was in dem Fichte feiner Zeit als
Wunder erfchien, war nur der Ausfluß feiner Menſchenliebe,
befonberer Kenntniffe und Kräfte, der natürlichen Einwirkung
auf gläubige Gemüther, oder auch wohl dee glücklichen Zufalls.
Bei diefer Auslegungsweife muß vorausgeſetzt werden, daß
die biblifchen Bücher ganz getreye und kurz nach den Begeben⸗
heiten felbft abgefaßte Berichte enthalten: denn wenn wir feis
nen treuen und urfprünglichen Bericht vor uns haben, fo
wird es unmöglich fein, Factum und Urtheil genau von einans
der zu unterjcheiden, weil ja aledann die Erzählung durch die
mündliche Weberlieferung fo fehr kann umgeftaltet worden fein,
daß fich ihre Ächte Form nicht mehr erfennen läßt. Es könnte
auch das, was wir für Factum halten, nur dem Urtheile, der
Meinung fpäterer Sage angehören. Daher nimmt auch ſchon
Eihhorn felbit von den älteften Büchern des alten Teſta⸗
ments an, daß fie kurz nach den erzählten Ereigniffen nieder«
gefchrieben worden; die Bücher Moſes 3. B. fehon in der aras
bifchen Wüfte. Bei einigen jedoch muß er zugeftehen, daß fie
wirflich erſt längere Zeit nachher gefchrieben worden, und daß
fie demnach nicht überall die ächte, fondern theilweife auch
die Durch verherrlichende Sage und den Glauben, vor Alters
fei Alles größer und beffer gemefen, ausgefhmüdte Ge,
fhichte enthalten. Bon der Schöpfungsgefchichte und der Er⸗
zählung vom Siündenfalle aber gefteht er geradezu, daß fie
feine Geſchichte enthalten, fondern nur mythifch, in das Ges
wand einer Erzählung, eingefleidete Verfuche feien, die Ents
ftehung der Welt und des Böfen zu erflären.
In den fo eben angeführten Punkten ftreift alfo Eichhorn
fhon in das Gebiet der mythifchen Auslegungsmweife hins
über. — Uebrigens ift noch zu erinnern, daß die nartiirlicye
18
Auslegungsweife ber zwei genannten Männer fehr viele Ver⸗
ehrer und Nachahmer fand, befonders gegen Ende des vorigen
Sahrhunderts und zu Anfang bed gegenwärtigen.
Einen andern Weg verfuchte der große Philoſoph Im.
Kant. Er griff nämlich die allegorifche Erklärung ber
Kirchenväter wieder auf; jedoch in der eigenthümlichen Weife,
daß er bie biblifchen Erzählungen als gefchichtliche Hüllen
moralifcher Ideen betrachtete, gefchaffen nicht von dem
Geifte Gottes unmittelbar, worin er_von den alten allegoris
fchen Auslegern abweicht, fondern von dem moralifchen Ges
fühle und Geifte der Verfaſſer der Schriften. Kant behmuptet
nicht, daß dieſe wirffich überall nur dieſe moralifche Tendenz
gehabt, daß nicht auch wirkliche Begebenheiten von ihnen
erzählt werden, fondern geht nur von der Annahme aus, wir.
müßten bei allen biblifcyen Erzählungen über den buchftäbs
lichen Sinn hinaus, einen moralifchen Gehalt, eine Beleh⸗
rung über Gegenflände der Eittenlehre, ſuchen; wobei ja.
‚recht wohl beftehen könne, daß vieles Erzählte wirkliche Chats
face ſei. Daß 3. 3. Sefus der Sohn Gottes fei, ninmt
Kant als bildliche Bezeichnung des Ideales der gottgeweihten
Menfchheit. Diefe Kantifche Erflärungsweile hat indeß wenig
Eingang gefunden.
Viertes Kapitel
Entftehung der mythifchen Auslegungsweiſe.
Je mehr man aber das Unbefriebigenbe der bisher kurz
entwidelten Erklaͤrungsweiſen erfannte (der beiftifchen, der
natürlichen und der allegorifchen), um fo bringender ward
das Bebürfuiß, viele Erzählıngen auch der Bibel eben fo als
Mythen oder Sagen zu betrachten, wie Died immer allges
meiner mit den wunderbaren Erzählungen aus dem griecdhis
ſchen Alterthume gefchah, nachdem man diefe lange Zeit nur
für leere Fabeln, von müßigen Köpfen erfunden und ohne
ieferen Gehalt, asgefehen hatte. Es traten daher Forfcher
17
af, wie Gabler, Schelling u. A., namentlich aber
Bauer, bie den Begriff des Mythus als einen allgemein
gültigen aufftellten, für alle ältefte Gefchichte, heilige wie
profane: warum follte die hebräifche Gefchichte eine Aus:
nahme machen ?
Wir befchränfen uns hier darauf, nur ganz im Allgemeis
nen anzudeuten, was unter Mythe verftanden wird, und zu
zeigen, wie früher andere Gelehrte diefen Begriff faßten und
amvenbeten. Alsdann werden wir ausführlicher zeigen, wie
von uns beides in vorliegender Prüfung der evangelifchen Er⸗
zählungen gefchieht. -
Unter Mythe oder Sage, die übrigens fpäter genauer
unterfchieden werben, verſteht man erftens eine Gefchichte,
welche nicht wirklich fo, wie fie erzählt wird, fich zus
getragen hat, fondern durch religiöfe Borftellingen und bie
leßendige Einbildimgsfraft mehr oder weniger umgeftaltet und
ausgebilbet worden ift; fodann aber auch zweitens eine folche,
weicher gar Feine Thatfache zu Grunde liegt, die vielmehr
aus dem bichtenden Geifte eines ganzen Volkes oder einer
Religionggefellfchaft hervorging, um irgend eine höhere
Id ee zu verfinnlichen und ſich anfchaulich zu machen. Beide
find aljo der Abdruc eines gewiffen geiftigen Lebens, find
nicht Erfindungen eines Einzelnen, und werben, wie fie ein
treues Abbild des allgemein herrfchenden Geiſtes einer Zeit
find, fo auch allgemein geglaubt und fir wirfliche Thats
fachen gehalten. Beide find alfo wohl zu unterfcheiden von
Fabeln, weldhe immer eine abfichtliche Erdichtung eines
Einzelnen enthalten, theild zur Belehrung, theild zu andern
Zwecken; dieje find entweder unfchuldige Erfindungen, wenn der
Urbeber vorausfest, Andere halten fie auch dafür, oder bes
trügerifche, wenn er fie Andern für wahre Gefcjichten aus⸗
geben will.
Es kam nun zunächlt darauf an, feftzuftellen, weldye Er-
sählungen im alten Teſtamente Cdenn nur von dieſem war
vorerft die Rebe) für Mythen zu halten feien. Als folche
bezeichneten jene Männer diejenigen, welche
1) aus einer Zeit heritammen, wo man ben Gebrauch, der
Schreibfunft noch nicht Fannte, wo alfo alle Seldyichte buch,
1. 2
18
mündliche Weberlieferung fortgepflanzt werben mußte; was
von Mund zu Munde geht, wird aber unvermerft und unwill⸗
führlich durch die gefchäftige Einbildungskraft fowie Durch man⸗
gelhafte Auffaffungsgabe anders geftaltet; — ober Erzaͤh⸗
Iungen, welche
2) Dinge berichten, von welchen der Menſch feine Kennt⸗
niß haben kann, theild weil fie einer überfinnlichen Belt an⸗
gehören, thelld weil Niemand Augenzeuge berfelben gewefen
fein konnte; — oder welche
3) in's Wunderbare »gezogen und in einer Sprache
vorgetragen find, die ihren finnbildlichen Character Deuts
lich genug verräth.
Zugleich wiefen fie nad), daß Diejenigen, welche nicht zu⸗
geben wollten, im alten Teſtament ſeien ſolche Sagen enthal⸗
ten, entweder von Sage überhaupt einen falſchen Begriff hat
ten, und fie mit Fabel und Erdichtung verwechfelten, oder
einer irrigen Anficht von den biblifchen Büchern folgten,” ins
dem fie biefelben ald von Gott unmittelbar eingegeben be
trachteten. Denn eben diefe Borftelung von einer göttlichen
Eingebung fei ja auch eine rein mythifche, nur burch Die
Sage felbft ausgebildet, ein Beſtandtheil derfelben : könne alſo
bei Beurtheilung und Prüfung der Bücher nicht ſchon vors
ausgeſetzt werden.
Hiermit ſtimmt im Wefentlichen auch) Wegſcheider über
ein, welcher in feiner chriftlichen Slaubenslehre behauptet, es
fei unmöglich, das ‚göttlihe Anfehen der heil. Schrift gegen
die Angriffe ihrer Feinde zu vertheidigen, wenn man in der⸗
felben nicht auch Mythen anerfenne.
Nacıdem durch diefe Männer der Umf ang feftgeftellt
worden war, in weldyem man den Begriff der Mythe auf
Das alte Teftament anzuwenden habe, unterichieden fie ferner-
hin die verfchiedenen Arten berfelben. Sie feien naͤmlich
theild
hiftorifche Mythen, d.h. Erzählungen wirklicher Bege⸗
benheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche, Göttliches
mit Menſchlichem, Natüurliches mit Uebernatürlichem vermen⸗
gende Denkart, und durch die veranſchaulichende phantaſiereiche
Redeweiſe des Alterthums; — theils
philoſophiſche, ſolche, weiche irgend einen Gedanken,
einen Lehrfat oder eine Idee in bag Gewand der Gefchichte
einfleiven und baburch gu verfinnlichen ſtreben; — theils
poetifche, in welchen durch das freie Spiel der Dich»
tung und bas Bedürfniß Fünftlerifcher Einheit und Abrundung
bie urfprüngliche, zu Grunde liegende einfache Gefchichte oder
Idee fait gänzlich verſchwunden ifl.
Bei vielen Mythen aber ift es, wie biefe Gelehrten felbft
zugeftehen, freilich ſchwierig, genau zu beitimmen, welcher:
Diefer drei Arten fie angehören, und manche fpielen offenbar
aus einer in bie andere hinüber, Nirgends jedoch fol man
das Kunftiofe und Unbefangene berfelben außer Acht laſſen,
und nie vergeffen, daß in die hiftorifchen Mythen das Une
geſchichtliche fich im Laufe der Zeit und ber Lieberlieferung
von felbft und ungefucht eingefchlichen habe; und daß in ben
philofophifchen „nicht allein zum Behufe eines finnlichen
Volkes, fondern auch zu ihrem eigenen Behufe die Alteften
Weifen das Gewand der Gefchichte für ihre Ideen gewählt
haben“. Dies liegt in der Borftellungsweile einer Zeit be«
grünbet, die noch zu fehr in der Anfchauung lebt, als daß fie
ben reinen, abftraften Gedanfen fihon ohne diefe Hülle
mit Sicherheit fefthalten Fünnte.
nen
ir haben oben gefehen, daß und warım Die natürliche
Auslegung des alten Teſtaments auf die Vorausſetzung, bie
Bücher desfelben feien fait ganz gleichzeitig mit den in ihnen
berichteten Thatfachen entitanden, ſich ſtützen mußte (ſiehe
©. 15). Diefe Ausleger fonnten aus demfelben Grunde in
dem alten Teftamente feine Mythen annehmen, weil ja diefe,
als ein Erzeugmiß längerer mundlicher Ueberlieferung, fich
nicht bilden Ffönnen, wenn die Gefchichten fehon von Augens
zeugen, oder doch von Männern, Die den Begebenheiten jehr
nahe ſtanden, niedergefchrieben wurden. Es mußte baher jene
natürliche Auslegungsweife nicht wenig eyfchüttert, und Die
mpythifche nicht wenig befeftigt werden, als fortgefeßte hiſto⸗
rifche Unterfuchungen zu dem Nefultate führten, daß gerade
die altsteftamentlichen Bücher, an welchen am meilten die na
20
türkiche Erklaͤrung verjucht wurde, 3.8. die fünf Bücher Mos
fee, das Buch Sofa ꝛc. geranme Zeit nadı den barin er⸗
zählten Begebenheiten gefchrieben worden, und daß fie viel
jünger feien, ald man bisher angenommen hatte. Indem da⸗
durch das in der Anficht über die Entftehung diefer Bücher
liegende Fundament der natürlichen Auslegung umgeftoßen
worden war, mußten Diejenigen Theologen, welche durch ihre
Korfchungen zu diefer Einficht gelangten, zugleich gur myt hi⸗
ſchen Deutung hingewiefen werden, und dieſe ald das einzige
Mittel, das Unglaubliche in den Büchern zu erklären, aners
fernen. Dies gefchah denn auch zunächft in Bezug auf bie
Mofaifhen Bücher von Vater, ber ſich dahin ausfpricht, daß
diefelben nır dann ungezwungen erklärt werben fünnen, wenn
man von der Anficht ausgehe, die in ihnen enthaltene Ges
fehichte fei erft durch Die mündliche, immer ums und fortbil
dende Weberlieferung vieler Menfchengefchlechter hindurch ges
gangen, .ehe fie durch den gefchriebenen Buchſtaben in ber
.Geftalt feftgehalten worden, in welcher fie zur Kunde bes
Schreibenden gelangt war. Ä
Weit mehr noch, als Vater, fpricht ſich de Wette, in
Folge feiner tiefer gehenden Unterfuchungen über bas Alter
der alt=teftamentlichen Schriften, für die mythifche Auffaf
ſungsweiſe gewiffer Theile des alten Teftaments ang.
Diefer macht namentlich aufmerkſam auf das patriotiſche
und ypoetifche Intereffe, welches in dee mündlichen Webers
Tieferung fich geltend mache : „je fchöner, ehrenvoller, wunder⸗
barer, defto annehmlicher; — und wo die gegebene Gefchichte
Lüden gelaffen oder dunkle, unfcheinbare Stellen habe, da trete
die Phantafie ſogleich mit ihren Ergänzungen ein.“ hr
ift es mehr um den reizenden Anbli eines Bildes zu thun,
das eine ihr theuer gewordene Idee verförpert, als um bie
gefchichtliche Wahrheit der einzelnen Züge, aus denen es zu⸗
fammengefeßt iſt; fie will ſchauen und des Anblicks fich er⸗
freuen. Die natürliche Erflärungsmeife verwirft aber be
Wette fchon darum, weil wir uns bei allen Erzählungen nur-
an den Bericht des erzählenden Schriftftellers halten können,
und daher bei wunderbaren Gefchichten den übernatürlichen
Dergang, fo wie ihn berfelbe gibt, entweder geradezu ans
2
uehmen ober einſach verwerfen muͤſſen, nicht aber einen na⸗
tärlichen willführlid; herausdeuten dürfen, für welchen uns
ein ficherer Boden abgeht. So üt es nad) de Wette z. 8.
unzuläffig, wenn man glaube, einen wirklich gefchloffenen Bund
Gottes mit Abraham Ci. 1. Mof. 12, 120.) nicht annehmen
zu können, die Erzählungen davon doc auf eine innere Bis
fion zurüczuführen; denn darüber können wir ja Nichte wifs
fen, da es und Niemand erzählt; es ift eine willführliche Deus
tung. Wie konnte auch in Abraham auf natürlichem Wege
der Gedanke auffteigen, daß fein Volk einft ganz Canaan bes
berrfchen werde? Ehe eine Bifton auf eine ſolche Hoffnung
gedeutet werben Tann, müflen doc; fchon äußere Gründe das
zu vorhanden fein, woran es aber hier ganz mangelte. Wohl
aber konnte fpäter, ald nun wirflich die Inden Canaan zu
erobern ſich anfdjidten, in dem Bolfe die Enge entftehen,
daß Gott dieſes ſchon Dem Abraham verheißen habe.
Auch Krug erklärt die Verſuche, die natürliche Möglich:
feit einer Wundergefchichte ermitteln zu wollen, für fruchtlog,
weil in der Regel die Erflärung nod) wunderbarer heraus⸗
fomme, als die Geſchichte ſelbſt; Dagegen hält er die Unter⸗
fuchung über die Frage: Wie mag wohl diefe Erzählung ent:
fanden fein? — alfo die Frage nadı dem Urfprung der
Sage — nicht nur für ſehr zuläffig, weil fie dem Terte feine
Gewalt anzuthun brauche, fondern auch für fehr fruchtbar,
„weil fie Licht über fanmtlidye Wundererzählungen verbreite“.
In ähnlicher Weife ſprachen fih aus: Gabler, Horft
und ein Ungenannter in Berthold's Fritifchem Journale. —
Alle fo eben Genannten ftimmen in folgenden gegen die na⸗
türliche Erklärung gerichteten, und die mythifche cmpfeh:
lenden Säben überein:
„Es ift unhiſtoriſch und unerlaubt, Urkunden durch Ver⸗
muthungen zu ergänzen, und eigene Spekulationen für ge-
gebenen Buchftaben zu halten; —
Es ift ein höchit gezwungenes und undanfhares Bemühen,
natürlich dDarzuftellen, was die Urkunde Doch als etwas Wun⸗
derbared geben will; —
Durch dieſes Verfahren wird die biblifche Gefchichte von
allem Seiligen und Böttlichen entleert; —
Der mythifche Geſichtspunkt dagegen laßt das Material
ber Erzählung unangefochten, wagt es nicht)! an bem Ein»
zelnen zu deuteln, nimmt aber das Ganze nicht für wahre
Geſchichte, fondern für heilige Sage; —
Durch diefe Auslegung verfchwinden die zahllofen, fonft
nie zu löfenden Schwierigkeiten in Bezug auf Harmonie (lieber
einſtimmung) und Chronologie (Zeitrechnung) der Evangelien; —
Diefelbe wird unterftügt und beftätigt biurch ben Umſtand,
baß bie Gefchichte aller Völker und Religionen mit heiligen
Sagen beginnt,“
Durch diefe Nefultate über Die Abfaffungszeit unb den In⸗
halt altsteftamentlicher Bücher wurde man, in folgerichtigem
Weiterſchreiten, gleichfam unvermerft zu der Annahme hinübers
geführt, daß man auch im neuen Teftamente viele Erzähs
lungen ald Mythen zu betrachten habe; denn viele derfelben
find ihrem ganzen Character nach den altsteilamentlichen Wun⸗
dergefchichten zu auffallend Ahnlich, als daß man nicht für fie
biefelben Grunbfäße der Auslegung, welche für bie erfteren
gelten, in Anfpruch nehmen müßte. Allein hier hatte man vor
allen Dingen Eine Schwierigkeit erſt zu befeitigen. Diefe lag
darin, daß man Mythen fonft nur in der Urzeit eines Bols
Bes, wo noch nicht gefchrieben wurde, antrifft, das Auftres
ten Jeſu aber in eine Zeit fällt, wo das jüdiſche Bolt längft
ein fchriftftellerifches gevorden war. Allein fchon mehrere ber
oben genannten Gelehrten hatten in biefer Beziehung auf fol«
gende fehr wefentliche Punkte hingewiefen :
„Auch diejenige Geſchichte kann im weitern Sinne my⸗
thifch genannt werben, welche, wenn auch in einer fchon
fchriftftellernden Zeit, doch lange fihh mer im Munde bes
Bolfes fortpflanzt; — |
Im neuen Teſtamente ift zwar nicht eine gänzlich my⸗
thifche Geſchichte zu ſuchen; wohl aber fünnen einzelne Mythen
in ihm vorkommen, mögen fie nun aus dem alten in basfelbe
übergetragen ober in. feinem eigenen Geſchichtskreiſe entſtanden
ſein; —
Nachdem Jeſus durch ſein Leben ſo berühmt, durch ſeinen
Tod ſo glaͤnzend verherrlicht worden, war es ſehr natürlich,
23
daß man, wie es in allen ähnlichen Fällen zu gefchehen pflegt,
feine im Dunfel verlebte Sugend mit ben wundervolliten Er⸗
zählungen ausfchmüdte, —
Der Begriff von alter Zeit if fehr relativ, und in einer
Zeit, wo man über die meiften Gegenftände fchon fchrift-
liche Urkunden hat, können über andere gar wohl Sagen
entftehen, wenn fie, wie es hier im Allgemeinen der Fall ift,
lange Zeit nur in mündlicher Ueberlieferung fortleben; —
Ueber Manches hatte man gar feine Ueberlieferung, war
alfo der eigenen Muthmaßung, einer reichen Quelle vielgeſtal⸗
tiger Sagen, überlafjen.“
Wenn fich dieſe Säge nicht läugnen laffen, warum fol
man die Sache nicht bei ihrem wahren Namen nennen, und
offen befennen: auch im neuen Teſtamente finden ſich Diythen?
Diefen Grundfägen zufolge wurben nunmehr einzelne Ers
sählungen des neuen Teitamentes wirklich mythifch gebeiltet,
wie 3. B. die Verfuchungsgefchichte (Matth. 4, 1 20.5 Marc-
1, 12 x; Lucas 4, 1 x.) durch Uſteri. Diefer bemerkte:
„wenn einmal eine Aufregung der Gemüther gegeben fei, zus
mal eine religiöfe, und unter einem nicht unpoetifchen Volke,
fo fei nur furze Zeit dazu nöthig, daß, nicht etwa bloß vers
borgene und geheime, fondern jelbft öffentliche und bekannte
Zhatfachen einen Schein des Wunderbaren bekommen; —
nur müſſe man fich die Sache nicht fo denken, als ob hier
eine abfichtliche und mit Einem Scjlage fertige Erdichtung
ftattgefunden; fondern nach und nad) und auf eine nicht mehr
nachweisbare Art fei der Glaube an ben wunderbaren Her⸗
gang in den Gemüthern der Gläubigen entflanden und endlich
die fo geftaltete Erzählung niedergefchrieben worden,“
Allein immerhin konnte man, wenn ed auch nach jenen
Grundfägen fehr wahrfcheinlich wurde, daß das neue Te⸗
ftament Mythen enthalte, dennoch der mythifchen Deutung in
Bezug auf dagfelbe nur eine fehr befchränfte Ausdehnung ge:
ftatten, fo lange die Anficht fefigehalten wurde, daß vwhexe
24
Evangelien theild von Augenzeugen der erzählten Begebenheiten
(den Apofteln Matthäus und Sohannes), theild von Schüs
fern und Begleitern einzelner Apoftel (Marcus, dem Doll⸗
meticyer des Petrus, und Lucas, dem Begleiter des Apoſtels
Paulus) wirklich herrühren. Denn ift dieſes der Fall, fo fällt
die Denkbarfeit mythifcher Ausmalung, und noch mehr bie einer
volftändigen Erdichtung, weg, wenn wir nicht die Berichten
ftatter der abſichtlichen Taͤuſchung befchuldigen wollen, wozu
wir, auch abgefehen von der nicht anzutaftenden Achtbarkeit
ihres Characters, durchaus feinen Grund haben.
Indeß haben die neuern gejchichtlichen Forſchungen über
bas Alter der Evangelien zu überrafchenden Refultaten geführt,
und nach den LUnterfuchungen eins Schulz, Seiffert,
Schnedenburg unterliegt es feinem Zweifel mehr, daß wer
nigſtens bie drei erſten Evangelien ungleich jünger find, als
man bisher angenommen hatte. Wir werden die Nefultate
biefer Forſchungen unten genauer angeben, und fahren in uns
ferer Darftellung‘ der Gefchichte der mythifchen Auslegung fort,
indem wir zeigen, wie Diefelbe von den Theologen nunmehr,
da die Annahme eines apoftolifchen Urfprungs der Evan
gelien wegftel und ein großes Hinderniß damit befeitigt war,
in Anwendung gebracht wurde.
Biele Gelehrte überzeugten ſich nun freilid), daß durch
unfere Evangelien nur ein dünner Baden des apoſtoliſch
beglaubigten Evangeliums ſich hindurchziehe, und daß mithin
ber mythifche Standpunkt für viele ihrer Erzählungen gels
tend gemacht werden könne, und auch werden müffe, da
wo innere Gründe dazu nöthigen. Nur das Sohanneifche
Evangelium wird jetzt noch von den Meiften, ber Anficht
Bretfchneider’s gegenüber, für authentiich, d. h. wirklich
für das Merk des Apoftels, gehalten: daher die mythifche
Auslegungsweife bei diefem nur mit großer Borficht anzus
wenden ift.
25
Fünftes Kapitel.
Mangelbaftigfeit der biäherigen mythifchen Aus⸗
legungöverfuche.
In Bezug auf die Evangelien überhaupt ift die mythifche
Auslegungsweife noch nicht in ihrer Reinheit und in ihrem
ganzen Umfange von den Theologen angewendet worben.
Zunächft ließ man fich durch die unbewußt zur Gewohns
heit gemorbene Neigung, Gefchichtliches in der heil. Schrift
möglichit feitzuhalten, beftimmen, faft nirgends philofophis
fche, fondern allzuhäufig hiftorifche Mythen Cfiehe S. 18)
anzunehmen, wobei immer noch ein gefchichtliher Kern ges
rettet werden konnte. Man beachtete zu wenig, daß bie
Ideen, welche fih in dem jüdischen Bolfe von dem fünftigen
Meffias gebildet hatten, die unbewußte Veranlaffung wurben,
von Sefus, nachdem man ihn als Meſſias anerkannt hatte,
manches Berherrlichende zu erdichten, was nad) allgemeinem
Glauben ſich zugetragen haben mußte, wenn man auch fein
gefchichtliches Zeugniß dafür hatte. Das Nähere hierüber
wird weiter unten erörtert werden.
Aus derfelben Neigung zum Gefchichtlichen ging man noch
weiter und verftel haufig wieder unvermerft in die natürs
liche Erflärungsmweife, d. h. man war nicht zufrieden damit, -
anzuerfennen, es liege der Sage irgend eine gefchichtliche
Thatfache zu Grunde, fondern man vermeinte auch, noch bes
fiimmen zu fünnen, weldyes und von welcher Art dieſelbe ges
wefen jei, da wir Doch, wenn nicht zugleich wirklich gefchichte
liche Berichte über Diefelbe vorliegen, gar nichts Sicheres
darüber wiffen können, wie ſchon ganz richtig von Gegnern
der natürlichen Erklärungen, die, wie de Wette, die mythi⸗
ſche Auslegung begründen halfen, bemerft worden war. So
legte man 3.3. der Erzählung von ben drei Weifen aus bem
Morgenlande eine zufällige Reife srientalifcher Kaufleute zu
Grunde, — die Engelerſcheinung bei Jeſu Geburt erflärte man
burch ein feuriges Phänomen, — die Berwandlung des Wafs
jers in Wein durch die Annahme, Sefus habe ſich einen men⸗
fchenfreundlichen Scherz erlaubt, u. dgl. Selbſt Männer, die,
wie Gabler, gegen diefe Verwechslung der Begrike und ar>
gen bie Abneigung davor, philofophifche Mythen anzuerkennen,
eifern, verfallen, wenn fie ſelbſt zu Auslegungen fchreiten, wies
der in die gerügten Fehler. Andere waren confequenter, dran⸗
gen darauf, man folle ſich offen befennen, es Taffe fich nicht
mehr entjcheiden, wie viel und was Geſchichtliches in ben
. uns überlieferten Sagen enthalten fei, und ſich in Bezug bars
2)
auf mit bloßer Wahrfcheinlicyfeit begnügen. | -
Die Urſache diefer mangelhaften Handhabung der mythi⸗
ſchen Erffärungsweife lag vorzüglich darin, daß man den Bes
griff der Mythe nicht rein und fcharf genug gefaßt, und
namentlich den Unterſchied zwifchen den beiden Sauptarten,
ber philsfophifchen oder reinen und der hiftorifchen
Mythe, nicht genau beftimmt hatte. Diefe Vorarbeit hat ber
geiftreihe George auf eine fehr befriedigende Weiſe durchge⸗
führt, weßhalb wir ſolche wejentliche Theile feiner Begriffebes
ſtimmungen, mit denen wir übereinftimmen, hier in Kürze wies
bergeben. — Er nennt die hiftorifche Mythe Sage, und bie
reine Mythe ausſchließlich Mythe — worin wir ihm indeſſen
nicht ganz beiſtimmen — und unterſcheidet zwiſchen beiben nun
folgendermaßen :
„Mythe ift die Bildung einer Thatfache aus einer Idee
heraus; Sage die Anſchauung der Idee in und aus der
Thatſache.“
Dieſer Unterſchied iſt von großer Wichtigkeit und erklaͤrt
ſich naͤher durch Folgendes:
Jede Religionsgemeinſchaft hat gewiſſe Außere Einrichtun⸗
gen und Zuftände, welche der Abdruck der Ideen find, die
ſich in ihrem geiftigen Leben allmählig entwidelten. Der
Urfprung jener Zuftände iſt in Dunkel gehüllt: fie ftehen
als etwas Unerflärtes da. Es ift aber ein angeborned Des
dürfniß Des menfchlichen Geiftes, Anfang und Urfprung alles
Vorhandenen ſich zu erklären, und dadurch ale ein Lebens
diges feiner Anſchauung nahe zu bringen: wo die Gefchichte.
ſchweigt, da tritt Die ſchaffende Einbildungsfraft ein und Dichtet
ſich einen erften Anfang; diefe Dichtungen werden ganz hafürlich
die Karbe der Ideen der Zeit, in welcher fie entitanden find,
am fich tragen. So verkörpern füch diefe Ideen zu Erzählıns
27
gen; bie bee geftaltet ſich zu Mythe; die in ihr erzählten
Thatfachen find nur Sinnbilder berfelben. Je mehr fich
aber bie Ideen verflüchtigen, je mehr bie Begeifterung, welche
bie Mythe fchuf, erfaltet, deito mehr hält fich der Menſch
an biefe, d. h. an bie dichteriiche Einfleidung der Idee:
er klammert ſich feft an diefe, und allmählich nimmt er als
wirkliche Thatfache, was nur Bild war, weil überall um
fo fefter an dem Aeußeren gehalten wird, je bürftiger bas
innere Leben geworben ift.
Auf anderem Wege entfleht die Sage. Hier find ges
wife Thatfachen gegeben: allein im Laufe der Ueberlieferung
haben fich „Die Gefichtöpunfte, aus welchen fie aufzufaffen
nd, die Ibeen, bie urfprünglich in denfelben lagen, verlor
ven“ ”); fie ftehen allmählich in der mündlichen Ueber⸗
lieferung, von ber bier allein bie Rebe ift, ba, wie vereinzelte,
umverfländliche Bruchflüde, Denen der Zufammenhang fehlt.
Daher fchafft fi die Einbildungskraft einen neuen Zuſam⸗
menhang; fie geftaltet Die Bruchitüde wieder zu einem lebeus
Bigen Ganzen, bildet fid, aus ihnen eme Sage und legt
biefen diejenigen Ideen unter, welche in ber Zeit leben, in
welcher die Sage entiteht. Diefe Sage tft alio ein Aborud
nicht bes Zuftandes und ber Voritellungen derjenigen Zeit,
in welcher die ihr zu Grunde liegende Thatjache fich ereignete,
fondern vielmehr derjenigen, in welcher die Sage ſich bils
dete, und namentlich der Borftellung, welche fie von den
Menfchen und den Ereigniffen der Vergangenheit hatte. " Daß
Dabei Alles ins Wunderbare gezogen wird, hat feinen
Grund in der Eigenthümlichfeit des menfchlichen Geiftes, vers
) Wenn hier und an andern Etellen von Ideen bie Nebe ik,
„weiche in gewiſſen Ereigniſſen liegen“, fo verftehe man daruns
ter den geiftigen Gehalt, die menfchliche oder göttliche Bes
deutung, weiche fie haben oder in der Mythe enthielten. Waren
z. B. viele Handlungen Jeſu Ausdrud feiner menfchenfreunde
lichen Güte und Herabtaffung , fo ift dies die Idee, die in
ihnen urfprünglich Liegt; find dieſe Handlungen in ber fpäteren
Sage zu Wundern umgeftaltet worden, fo iſt die unmittelbare
wunderbare Aeußerung ber in ihm wohnenden Göttlichkeit die
dee, weiche fie erhielten.
28
"möge welcher er alle Wirkungen, deren Urſachen ihm nicht
durch die Erfahrung gegeben find, geheimen, höheren Kräfs
ten zuſchreibt. Wie viel mehr wird dies noch ber Fall fein
müfjen, wenn die Sage fid) mit dem Leben eines Religions⸗
Stifters oder eined anderen in der Gefchichte der Religion
bedeutungsvollen Mannes, deren Handlungen man fo gerne,
fo wie fie ihrem inneren Wefen nach den Charakter bes
GBöttlichen in befonderem Grabe an fich tragen, fo auch ben
Zauber äußerer wunderbarer Göttlichfeit verleiht! So bil«
det ſich die heilige Sage, ald eine Geftaltung mangelhaft
überlieferter Thatfachen in dem Lichte ber Ideen einer ges
wiflen fpäteren Zeit.
ꝰEs ergiebt ſich aus dem nach George fo eben Entwickel⸗
ten in Bezug auf die Evangelien, daß wir da, wo wir eine
reine Mythe (was George vorzugsweiſe Mythe nennt) an⸗
erkennen müſſen, bei welcher alſo keine geſchichtliche Grund⸗
lage anzunehmen iſt, doch ‚den wahren Gehalt der Idee von
Ehriftus*, den Glauben ber Gemeinde über fein inneres
Weſen, reiner vor uns haben, als da, wo ſich und eine Er⸗
zaͤhlung als Sage Cwas wir hitorifche Mythen nennen)
darftellt. Denn dieſe hängt in ihren Bildungen immer mehr
oder weniger von dem Gehalte der überlieferten und
durch die Meberlieferung oft entftellten Thatfachen ab; es
ſpricht fich in ihnen, weil ihnen ein gewiſſer Stoff gegeben
ift, Die Hriſtlich⸗meſſi ianiſche Idee, das Urbild von CEhriſtus,
wie es in der Gemeinde lebte, nicht ſo frei und rein aus,
als in der reinen Mythe.
So wie nun aber einerſeits die Ausleger den Begriff der
Mythe nicht rein genug bisher gefaßt haben, fo konnten fie
andererfeitö ſich auch nicht dazu entichließen, ihn in feiner
vollen Ausdehnung auf das neue Teftament anzınvenden:
fie blieben immer nur-, ohne zureichenden Grund, bei wenig
einzelnen Erzählungen ftehen. Zwar geftanden fchon mehrere,
z. B. Eichhorn, Uſteri ac. ıc. zu, die Kin dheit s⸗Geſchichte
Jeſu gehoͤre der Mythe an: denn dieſe koͤnne nicht von Gleich⸗
zeitigen herrühren, weil auf das Kind Jeſu Niemand fo ges
28
nau geachtet habe; erſt nachdem fein Leben und fein Enbe
ihn auf fo außerordentliche Weiſe verherrlicht, habe man auf
jene zurüchliden können; ‚damals aber feien entweder feine
Augenzeugen mehr am Leben, oder bei den am Leben Geblier
benen fchon Die Erinnerung getrübt gewefen durch ben Anblick
der wunderbaren Berherrlichung des Heilandes. Gegen bie
geichichtlihe Wahrheit zweier Erzählungen fpricht auch fchon
bad, daß Jeſus bei feinem Auftreten als ein völlig Unbe⸗
kannter erfcheintz; wäre bied aber. denkbar, wenn wirflich
feine Kindheit von fo glänzenden Wundern umgeben geweien?
Konnten Berfündigungen, Engelerfcheinungen, Bethlehemitifcher
Kindermord fchon fo ganz vergeflen fein?
Dagegen follen, jenen Auslegern zufolge, alle Erzählungen
von dem öffentlichen Leben Jeſu durchaus beglaubigte
Geſchichte fein, weil fie von Augenzeugen ober doch Sol⸗
chen herrühren, die fie aus dem Munde von Augenzeugen
vernommen. Noch leichter machten es fich biejenigen, welche
jene Kinbheitögefchichte geradezu als fpätere Zufäße verwarfen.
Bald fahen ſich andere Ausleger (5. B. Ammon) genös
thigt, auch das Ende von Sefu Lebensgefchichte, namentlich
die Himmelfahrt, my thiſſch zu erklären, fo daß alfo nun Ans
fang und Ende der evangelifchen Erzählungen in’d Miythifche
gezogen waren, während ber in ber Mitte liegende Kern
unangefochtene Gefchichte bleiben follte. Jedoch auch dieſer
fonnte fich nicht lange jener Auffaffungsweife entziehen, indem
wert Gabler, nad ihm Bauer und Rofenfranz, aud
in dem übrigen Leben Sefu manche Wundergefchichten für
Mythen erklärten. Aber auch diefe Männer ftedten eine
durch Nichts gerechtfertigte Grenzlinie ab. Sie unterſchieden
zwifchen Wundern, die an Sefus, und folchen, die Durch ihn
gefchahen; jene erflärten fie mythiſch, Dieje natürlich wie
die Rationaliften. (Siehe Seite 14.)
Ein fo willführliches, den evangeliichen Berichten eben fo
fehr, wie den Gefetßen des Denfens, Gewalt anthuendes Ber:
fahren, fonnte aber die Billigung feiner Partei erhalten und
erfuhr mit Recht von allen Seiten her vielfachen Widerfpruch.
Wir wollen das Unhaltbare diefes Verfahrens kurz darlegen.
Erfilich find zu einem fo fcharfen Unterjcriede yoiiien der
‘
—
30
Kindheit Jeſu und ſeinem Mannesalter diejenigen Ausleger
am wenigſten befugt, welche, wie Tholuck, die Abfaflung
der Evangelien moͤglichſt nahe au den Tod Jeſu hinaufrüden: -
denn dann mußten ihre Berfafler, insbefondere Matthäus, als
fie fchrieben, noch mit folchen Perfonen in Berührung geftans
den haben, welche auch über Jeſu Geburt und Kindheit
als Augenzeugen reden konnten; man benfe nur an Maris
und die Brüder Jeſu. Mag man aber auch immerhin für bie
Kindheitögefchichte eine größere Möglichkeit des Mythiſchen
zugeben, als für Die übrigen Abfchnitte feines Lebens, fo folgt
daraus keineswegs, daß in biefen nichts Mythiſches anges
nonmmen werben bürfte, denn viele Erzählungen, aud) aus ber
Zeit nach der Taufe, mit weicher Sefu öffentliches Leben
beginnt, find denjenigen aus ber Zeit vor ber Taufe ihrer
inneren Befcaffenheit nadı fo ähnlich, — hier wie dort
Wunder, Engelerfcheinungen, Weilfagungen; — Geiſt unb
Ton ber Erzählungen it fo gleich, — daß man entweber
auf beiden Seiten, oder auf Feiner Mythifches anerkennen
muß. Die Erzählung von der Taufe felbft, welche bie
Grenze bes Mythiſchen bilden foll, ald der Anfang von
Jeſu öffentlichem Auftreten, ift ja auch noch rein mythifch
gehalten, und fo auch die auf diefelbe folgende Verſuchungs⸗
geſchichte. Eben fo auf der andern Seite! Hält man ein
mal den Endpunkt der Lebensgefchichte, die Himmelfahrt
mit ihren Engeln, für mythiſch, fo wird man ein Gleiches
von den Engelerfcheinungen am Grabe, auf Gethjemane und
bei der Berflärung befennen müſſen.
Wir fehen uns alfo zu dem Geftändniffe genöthigt, baß,
jene willführlichen Orenzmarfen feineswegs beachtend, das
Mythiſche auf allen Punkten der Lebensgefchichte Jeſu zum
Vorſchein kommt. Jedoch fteht es nicht überall gleich Dicht;
namentlich wird fic, in dem öffentlichen Leben Jeſu mehr
gefchichtlicher Boden finden laffen, ald in dem Dunkel feines
Privat⸗Lebens.
Mit der Aufſtellung des mythiſch en Geſichtspunktes
hatte man ſich wieder der alten allegoriſchen Auslegung
genäbert. (Siehe Seite 7.) Beide ſtimmen nämlich darin
31
überein, daß fie mit Aufopferung ber gefchichtlichen Wahr⸗
heit des Erzählten eine id eelle feithalten, d. b. eine gewiſſe
Summe religiöfer Vorſtellungen und Wahrheiten, bie fi in
Erzählungen abfpiegelte. Beide gehen von ber Anficht aus,
daß der Berichteritatter zwar ein fcheinbar Gefchichtliches
gebe, dieſes aber mir die Hülle einer tiefer liegenden Idee,
einer religiöfen Borftellung fe. Verſchieden aber find
beide Auslegungsweilen darin, daß nach der allegorifchen
ber den Schriftiteller leitende höhere Geiſt unmittelbar
ber göttliche felbft ift — während dies nach der mythifchen
fein anderer fein kann, als der Geift eines Volkes oder eis
nee Gemeinde, überhaupt einer gewillen von eigenthinnlis
hen religisfen Ideen und Borausfesungen geleiteten Zeit, bes
ren Einwirkungen der Schriftfteller ſich unbewußt hingiebt.
Diefe mythiice Anficht fucht daher vor allen Dingen eben
den Geift und die Ideen jener Zeit auf, 3. B. die Meſſias⸗
dee, den Ölauben an die WBunderfraft eines Propheten ıc. ıc.,
um an ihnen einen ficheren Mapftab für ihre Erklärungen zu
gewinnen.
Dbgleich demnach die mythifche Auslegung einen beſtimm⸗
teo göttlihen Gehalt des Erzählten feithält, ohne in dem⸗
jelben eme unmittelbare höhere Einwirfung anzuerkennen,
fo fand fie doch bei den beiden fich entgegenftehenden Pars
teien, in deren Mitte fie gewiſſermaßen fteht, den lebhafte
ften Widerſpruch.
Zunächſt traten gegen fie die Othodoxen auf, namentlidy
Heß, der fie mit den flacheften Gründen befämpfte; ex
ging von nachftehenden ganz willführlichen Borausfeßungen
aus: 1) Mythen find uneigentlich zu verftehenz nun wollen aber
die biblifchen Bücher eigentlich verftanden fein, alfo fönnen
feine Mythen in ihnen enthalten fein. () — 2) Mythologie
it etwas KHeidnifches, die Bibel aber ein chritliches Buch,
alfo ꝛc. ꝛc. — 3) Nicht nur die Alteften biblifchen Bücher
enthalten Wunderbares, fondern auch die fpäteren, unläug-
bar hitorifchen; folglich Fann das Wunderbare fein Kenn⸗
zeichen bes Mythiſchen fein. — Diefem Gelehrten war bie
halte natürliche Erklärung lieber, als eine woxbihHe wir
S
32
bunte gefchichtliche Hülle lieber, als ber reichſte ideelle Kern 9.
Und ein ſolcher muß doch wahrlich vorhanden fein, wenn bie
hriftliche Begeifterung fe bedeutungsvolle Mythen fchuf, wie
bie Evangelien fie darbieten; während: die natürliche And
legung Alles auf nüchterne, wenn auch moralifche, Zuftänbe
zurücdführt, und den hohen Schwung veligiöfer Dichtung nicht
anerfennt.
Befonders eifrig erhoben fich viele Gelehrte (Meyer, Fritfche,
Kelle, Steudel ıc. *) gegen de Wette's fühne Durchführung
des mythiſchen Standpunktes durch die Mofaiihen Bücher.
Mehrere fanten aber dabei unvermerkt, indem fie die mythiſche
Anficht befämpften, in die natürliche herab. Denn nur um
die Wirklichkeit der Gedichte, wenn auch ohne Wunder,
aufrecht zu halten, wodurch fie ihrem rechtgläubigen Sy
ftem unbewußt nicht wenig vergaben, begingen fie gerade die
oben gerügten (fiehe S. 21) Fehler der natürlichen Ausles
gung, werm fie 3.3. verlangten, man folle von ber Gefchichte
der Sündfluth, wolle man fie nicht als ein Wunder ans
fehen, doch wenigftens fo viel gelten laffen, daß bei einer
großen Ueberſchwemmung in Borderafien viel böfe Menfchen
umgefommen; Noah aber, ein frommer Mamm, mit den Seinen
gerettet worden. Allein bier gilt ja eben de Wette Eins
wurf gegen die natürlich Anslegenden: „Wollt ihr bie
wunderbare Gefchichte nicht gelten Laffen, woher wißt ihr denn
überhaupt Etwas über die Sadıje? «
Eben fo unbequem war die mythifche Deutung den rationalifti-
fchen Anhängern der oben (ſiehe S. 13) gefchilderten na tür⸗
lichen Auslegung; durch jene wurden die Kunftftüce ihrer
natürlichen Auslegung nun mit Einemmale für verlorne Mübe
erflärt; denn felbft bei einer hiftorifchen Mythe geben wir
ed auf, eine wirkliche Thatfache herauszuffauben, weil wir ftaft
ihrer auch eine leere Fabel erhalten fünnten, die, Des religiöfen
Inhaltes, des Wunder s Glaubens nämlich beraubt, weit
weniger werth ift, als die Mythe felbft. Ueberhaupt aber gilt
und dieſer relig iöſe Gehalt mehr, als zweifelhafte Gefchichte.
°) Wir verweifen auf die Schlußbemerfung dieſer Einleitung.
*, Siehe Note 3, Seite 4.
33
Beſonders entfchieden ſprachen Eichhorn und Paulus in
biefem Sinne ſich aus, weld, letzterem Gelchrten die mythifche
Auffaſſungsweiſe ald veine Geiftesträgheit vorfommt, welche mit
der evangelifchen Gefchichte auf dem leichteften Wege fertig
za werben wünſche⸗. Cr überfieht aber dabei, daß man durd)
imere und äußere Gründe zu diefer fogenannten Geiftesträgs
heit genöthigt ift, die, näher betrachtet, fich ale das fpürfame
Beftreben bewährt, aus den Erzählungen einen tiefern Gehalt
von Ideen und religiöfen Vorftellungen herauszufinden. Andern
Rationaliften, namentlich Greiling, begegnete es, daß fle dem
wythifchen Standpunft Vorwürfe machten, den der phantafti-
(hen Erdichtung, den der tafchenfpielerifchen Lnterfchiebung
eined andern Factums ıc., welche gerade ihre eigene Erflä-
rungsweiſe zumeift treffen (wie unten bei einzelnen Erzählungen
deutlich werben wird), während ber muthifche Ausleger gar
fein Kactum herausdeuten will,
Zweiter Theil.
Naͤhere Begründung des mythifchen Standpunftes.
Erftes Kapitel
Möglichkeit von Mythen im neuen Zeftantente nach
äußern Gründen.
Nachdem wir nun die Gefchichte (Entftehung und feitherige
Ausbildung) der mythifchen Auslegung, ihren Standpunkt zwi⸗
ſchen den verfchiedenen andern Syitemen und die Einwendun⸗
gen gegen fie kurz dargelegt haben, müſſen wir nunmehr Das
Weſen verfelben näher betrachten, und damit den Stand⸗
punkt bezeichnen, auf welchem wir bei der nachfolgenden
Prüfung der einzelnen ewangelifchen Erzählungen ung befinden.
„Dürfen und können wir im neuen Teftamente Mythen
annehmen?“
„Bas verftehen wir unter Mythen, und wie entflan-
den fie?“
— 3
34
„Woran erkennen wir, bad eine Erzählung Mythe it?“
Diefe Fragen werben hier ihre Beantwortung finben
müflen . *
Der Annahme, auch vom neuen Teflamente bürfe man
annehmen, daß in bemfelben Mythen enthalten feien, ftellt ſich
zunächft das Bewußtſein des gläubigen Chriften mit ent-
ſchiedenem Nein! entgegen. Weist man ihn auch auf andere
Peligionen hin, die unbezweifelt ja auch Mythen enthalten,
fo wird er erwiedbern: „Mas Heiden und Muhamebaner von
ihren Göttern und Propheten erzählen, it freilich größtentheils
erdichtetz nichts aber von dem, was bie Bibel von Gott und
den Propheten, — noch weniger etwas von bem, das bie
Evangelien von Jeſus erzählen, |
Diefer Glaube erfcheint ung aber als gaͤnzlich befangen m
dem dem Ehriften zur Gewohnheit anerzogenen G efichtsfreife.
Denfen wir und nun in eine andere Neligiong « Gemeinfchaft
hinein: herrjcht hier nicht derfelbe alles Fremde ausfchließende
Glauben? Der Muhamedaner, der Jude, der Ehinefe ꝛc. —
alle halten nur die Erzählung ihrer Religionsurfunden für
wahr. Würden aber die Chriften, die jegt nur ihren Glauben
für den wahren halten, nicht eben fo von dem Muhamedanis
fchen denken, wenn fie in Diefem geboren wurden wären?
Wer hat hier Recht? Alle zufammen nicht; Eins fchließt das
Andere aus; nur eine der Religionen kann göttliche Offen
barıng fein, da ihre Lehren fo verfchieden find. Welcher
% Bon hier an glaubte der Verfaſſer vorliegender N3earbeitung
des Straußifchen Werkes etwas ausführlicher fein. u müſſen,
als in dem Borangegangenen, ja zuweilen ausführlicher, als
Strauß felbft; denn es fchien ihm von befonberer Wichtigkeit
zu fein, den Standpunft, von welchem aus in der nach⸗
folgenden Prüfung die evangelifchen Berichte ausgelegt werben,
fo Elar wie möglich herauszuftellen, und damit den vielen
Mißdeutungen, die berfelbe, fei es aus Unkenntniß oder aus
welch anderm Grunde, erfahren mußte, nach Kräften zu be
geguen. Uebrigens verweife ich auf die in der Vorre de darge⸗
legten, auch hier getrenlich befolgten Grundſätze, non denen
ich bei meiner Arbeit ausgehe.
35
Einzefne hat Ned? Jeder behauptet ben göttlichen Urs
forung feiner Religion, vom Chriften bis zum Heiden herab!
Womit fann aber der Chrift die ausfchließliche Wahrheit
feiner Religion beweifen?
- Hierauf hat man die Antwort zur Hand: „Bei feiner
Religion ift der göttliche Urfprung fo urfundlich belegt, als
bei der jübiichen und chriftlichen; die biblifche Geſchichte ift
theild von wirklichen Augenzeugen, theild von Solchen,
Die mit Augenzeugen in den naäͤchſten Berhälmiffen fanden,
gefchrieben; gefchrieben von Männern, über deren Glaubs
würdigfeit Fein Zweifel walten Fanıı.“
. Mlerbings müßten wir fehr bedenklich werben, an der ges
ſchichtlichen Wahrheit der Evangelien zu zweifeln, wenn
jene Borausfegung über ihren Urfprung richtig wäre, wies
wohl auch dann noch einzelne Irrthümer denkbar wären.
Allein fie iſt eben nicht richtig; beruht vielmehr auf irrigen
Anfichten.
Es kann nämlich jene „Augenzeugenfchaft und Zeitnähe⸗
der Berichteritatter durch Nichts bewiefen werden; vielmehr
fpricht fehr viel Dagegen; — es muß demnach die Möglich⸗
lichfeit der Miythe in dem neuen Zeftamente, in fo weit
änßere Gründe, d. h. folche, die aus der Entſtehung der
Evangelien hervorgehen, darüber entfcheiden, zugegeben wers
den. Dies wird durch Nachftehendes deutlich werden.
Borerit beruft man fich zum Beweiſe dafür, daß die Bü-
cher. von Zeitgenoffen der Begebenheiten herrühren, auf deren
Ueberfchriften. Allein tragen z. B. Die Bücher, welche
den Auszug der Sfraeliten erzählen, nicht aud) den Namen
des Führers derfelben, Moſes, an der Spitze: wer aber wird
glauben, daß Moſes wirklich Alles gefchrieben, da fein eigener
Tod in ihnen erzählt iſt? Es ift überhaupt eine längft aus-
gemachte Sache, daß die Ueberfchriften der heil. Bücher an
ſich nichts mehr beweifen, ald entweder eine Angabe der Ver:
faffer felbft, oder die Anficht der alten Zeit über den Ur-
fprung derfelben. Der erſte Punkt beweist Nichts; in Betreff
des zweiten müſſen wir fragen:
36 >
1) Wie alt ift diefe in den Ueberſchriften ausgedruͤckte Ans
ficht? Welchen Gewährsmann haben wir dafür? — Welches
find alfo die äußeren Gründe für die Nechtheit des Buches,
d.h. dafür, daß es wirflich von dem Verfaſſer herrührt, Dem
es zugefchrieben wird ?
| 2) Stimmt die innere Befchaffenheit des Buches mit ber
Anficht über feinen Urfprung überein? — Frage nach den
inneren Gründen der Aechtheit.
u
Sn Bezug auf die Evangelien nun, um bie es fich hier
handelt, „haben die bisherigen Unterfuchungen ber Gelehrten
folgende Refultate geliefert.
Unfere vier biblifchen Evangelien find durchaus nicht bie
einzigen, welche über das Leben Sefu niedergefchrieben wurden;
vielmehr hatte man deren fehr viele, und fait jede der zahl
reichen Seften in der erften chriftlichen Zeit ihr eigenedg. Spaͤ⸗
ter aber, als Eine Partei im Schooße der Chriftenheit über .
die andere triumphirte, und fich zur herrſchenden Kirche
erhob, unterdrücte dieſe Kirche alle Evangelien, die fie mit
ihrer Lehre im Widerſpruch fand, und erflärte Die vier, welche
unter bie heiligen, geoffenbarten Bücher aufgenommen wur⸗
den, für Die einzig gültigen: nur in ihnen erfannten fie ächte
apoftolifche Zeugniffe über Jeſum. Wir wollen fie einzeln bes
trachten.
Das erite wırde dem Matthäus zugefchrieben, der ans
erfannt einer ber zwölf Apoftel geweſen; — das zweite dem
Markus, dem Dolmetfcher des Petrus; — das dritte Dem
Lukas, dem Begleiter des Paulus; — Das vierte dem Jo⸗
hannes, Apoftel und Lieblingsjünger Jeſu.
Ucber die Aechtheit des Evangeliums Matthäi glaubt
man das Ältefte Zeugniß in einer Stelle des Gefchichtfchreis
bers Euſebius gefunden zu haben, wo er erzählt, der Biſchof
Papias (161 — 180) bezeuge, daß der Apoftel Matthäus
„die Neden (des Herrn)“ gefchrieben habe. NHierunter mag
er, da er ein andermal, von Markus redend, die Worte
‚eine Sammlung der Neben des Herrn veranftalten“ und den
Ausdruck „die Worte und Thaten Chriſti niederichreiben “
- 37
als gleichbebentend gebraucht, allerdings ein vollftändiges
Evangelium verftanben haben. Daß er aber damit Dasjenige
meine, -welches wir befiben, ift nicht nur unmahrfcheinlich,
fondern felbft unmöglich, da er ausdrüdlich fagt, Matthäus
habe Sin hebräifcher Sprache“ gefchrieben ; daß unfer Evans
gelium eine Ueberſetzung besfelben fei, ift nur eine Vorauss
ſetzung fpäterer Kirchenväter, 3.3. ded Hieronymus. — Nun
finden wir zwar bei andern Kirchenvätern Ausfprüche und Er-
zählungen von-Sefu, die große Aehnlichkeit mit Stellen in un:
ferm Matthäus haben; allein diefe fünnen unmittelbar aus
derfelben mündlichen Ueberlieferung gefchöpft fein, aus wel⸗
her das Evangelium felbft hervorging; mithin rührte dann
die Achnlichkeit nur aus der Gleichheit der Quellen her; wo
Schriften als Quellen angegeben werden, ift nirgends ges
rabe gefagt, daß es apoftolifche feien. — Juſtin der Mär-
tyrer Ct 168) führt öfters Worte als evangelifche an, die
mit Stellen in unferm Matthäus übereinftimmen ; jedoch be-
zeichnet er auch wieder Anderes als evangelifch, was fich in
: feinem unferer Evangelien findet, und niemald nennt er feine
Duellen bei Namen, frndern nur allgemein „Denktwürdigfeis
ten der Apoftel“, oder furzweg „Evangelien“. — Auch bei
Selfus (nach 150), der öfters davon fpricht, „Daß die Schü⸗
fer Sefu deſſen Leben bejchrieben haben“, findet ſich nie ein
einzelner Berfafler angegeben.
Durch die neueften weitern Unterfuchungen eines Schul,
Seiffert und Schnedenburger ift daher die Aechtheit unfers
Matthäus jo fehr erfihüttert worden, daß fie als unrettbar
betrachtet werden fann.
In Betreff des Markus befisen wir ebenfalld von Pa⸗
pias eine, ale Zeugniß für Die Aechtheit unſers Marfus-
Evangeliums in Anfpruch genommene Angabe; er fagt näm-
lich, er wiffe e8 aus dem Munde des Presbyter Sohanneg,
daß Markus, der Dolmetfcher des Petrus, „aus der Erinne-
rung an deſſen Lehrvorträge, Die Neden und Thaten Jeſu auf:
gezeichnet habe“. Allein auch hier fünnen feine Worte, noch
weniger wie feine Angaben über Matthäus, von dem ung er-
baltenen Evangelium genommen werden. Denn unfer Morbod⸗
38
Evangelium ift, wie fchon Griesbach unmiderleglich darges
than hat, „aus dem erften und dritten Evangelium- 9%,
wenn auch nur nach der Erinnerung, die er davon hatte, zus
fammengetragen“. Auch paßt auf dasſelbe durchaus nicht,
was Papias weiter fagt: es habe nämlich Markus „nicht in
chronologiſchem Zufammenhange* gefchrieben ; benn biefer fins
bet ſich allerbings bei Markus vor.
Ueber das Evangelium Lufas haben wir ein Zeugniß
eigener Art, nicht gerade darüber, daß es von Lufas, Doc
aber, daß es von einem Begleiter des Apofteld Paulus herz
rühre. In der Einleitung zur Apoftelgefchichte (1, 1, 2.)
gibt ſich nämlich der Verfaſſer derfelben ald den zu erfennen,
der auch ein Evangelium gejchrieben habe; e8 muß damit
unſer drittes gemeint fein, weil diefes, fowie die Apoftelges
fhichte, an einen gewiffen Theophilus gerichtet ift Cvergl.
Luk. 1, 3). Nun redet aber unfer Berfaffer an mehreren
Stellen ber letztern Schrift von Paulus und von ſich mit Dem
Wörthen Wir; 3. B. Cap. 20, 5 ıc., wo von einer Reife
des Paulus erzählt wird: „Diefe gingen voraus, und eriwars
teten Uns in Troas; Wir aber fegelten ab nach den Ofters
tagen ıc.* — Gegen diefe Angabe aber, daß ber Verfaſſer
ein Begleiter Pauli gewefen, hat man mandherlei Bedenfen ers
hoben, namentlich daß fo Manches in der Apoftelgefchichte fich
mit den anerkannt ächten Paulinifchen Briefen durchaus nicht
verträgt, und daß es unbegreiflich ſcheine, warum der Verfaß
fer beider Bücher nirgends eines nähern Verhältniſſes mit
dem angefehenften der Apoſtel Erwähnung thut. Deßhalb wird
vermuthet, jene Stellen feien aus der Denfichrift eines Drits
ten eingefchoben. Allein nimmt man aud) wirflid) an, unfer
dritter Evangelift fei ein Begleiter des Apoſtels geweſen, fo
war er in feinem Falle es fehr lange, da Paulus in feinen -
Briefen deffen nie erwähnt. Es bleibt daher fehr denkbar,
daß er feine Bücher erft damals fchrieb, wo er von Paulus
20, D, h. dem des Matthäus und dem des Lukas. Die Bezeiche
nung nach der Stelle in der Reihenfolge wird auch fernerhin oft
ber andern nad den Namen vorgezogen werben.
|
39
wieder getrennt, diefer gar fchon geftorben war, und wo er
feinen Grund fand, bei feinen Berichten der ihm ſich dDarbies
tenben, in feinem Kreife herrſchend gewordenen, Lieberlieferung
nicht zu folgen. Es ergibt ſich alfo aus jenem Umftande, daß
unfer Evangelift Begleiter eines Apofteld geweſen, noch Zeiness
wegs, daß er fein Evangelium unter apoftolifchem Einfluffe
gefchrieben habe. Denn der Schluß, Lukas habe, da die Apo⸗
ftelgefchichte mit der. zweijährigen römifchen Gefangenfchaft
Pauli fchließt, feine Schriften während dieſer Zeit, von 63
bis 65, gefchrieben, entbehrt aller fichern Grundlage.
Das Evangelium des Sohannes finden wir zuerft um’s
Jahr 150 bei den beiden chriftlichen Sekten, den Balentinianern
und ben Montaniften, die es aber noch nicht ausdruͤcklich als
ein Werk des Johannes bezeichnen. AS folches wird eg
zuerft genannt, um 172, von Theophilos von Alerandrien ;
mit großem Eifer wird fobann die Hechtheit besfelben, als
einer Schrift des Apoiteld, von Srenäus gegen die Beftreiter
derſelben vertheidigt. Diefen Zeugniffen ftellen fich aber nicht
wenig bebenfliche Umſtände entgegen. Vorerſt muß es aufs
fallen, daß der eben genannte Srenäus bei feinem Kampfe
für Die Aechtheit fich nirgends — und er fchrieb fehr um:
ſtaͤndlich — auf die Autorität feines berühmten Lehrers Po⸗
lykarpus beruft, der doch, im Sahr 167 geftorben, den Evan-
geliften noch felbft gekannt und gehört hatte. Sodann fommt
hinzu der Widerfpruch, den, fobald die oben genannten Sekten
das Evangelium angenommen hatten, eine andere Sefte, Die
der Aloger, dagegen erhob, indem fie behauptete, dasfelbe fei
ein Werk Gerinth’s, eines verfegerten Mannes, und für Ddiefe
Behauptung vorzüglich den Grund geltend machte, dasfelbe
fei eine Quelle von Irrlehren, und ſtimme nicht mit den
übrigen Evangelien überein. Zu überfehen ift endlich
nicht, daß in Epheſus, neben dem Evangeliften, auch ein Press
byter Johames lebte, und Daß es mit den Zeugniffen für Die
„Sohannei’fche“ Abkunft der Dffenbarung, welche fo Viele
dem Apoſtel abzufprechen geneigt find, um Nichts ſchlechter
fteht, als mit denen über das Evangelium.
40
Wir können alfo von feinem Evangelium ein über das. ”
Jahr 135 hinaufreichendes Zeugniß feines Daſeins nachweifen ;
überdies find die früheften noch ganz unbeſtimmt. Beftimms
tere, daß nämlich dies oder jenes der nod, vorhandenen Evans
gelien wirklich von dem Berfaffer herrühre, deffen Namen es
trägt, fangen erft nadı dem Sahre 150 an. Nun waren aber
alle Apoftel, den Sohannes, über deffen Alter und Ende frühs
zeitig gefabelt worden ift, nicht ausgenommen, fchon vor bem
Sahre 100 geftorben. Wie viele Zeit blieb alfo übrig, um
ihnen Schriften beizulegen, die fie nicht gefchrieben hatten!
Die Apoftel ftarben alfo fchon in der lebten Hälfte des
erften chriftlichen Sahrhunderts dahin, nachdem fie an den vers
fehtedenften Orten des unermeßlichen römifchen Reiches das
Evangelium” verfündigt hatten. Wie verfchiedenartig mochte
diefes von den Bekennern desſelben aufgefaßt worben fein !
und wie ſchwer war e8, wenn einmal Abweichungen von ber
apoftolifchen Anficht entflanden waren, diefelben zu berichtigen,
da die noch nicht gar zahlreichen Chriften fat über alle Theile
des Reiches zerſtreut wohnten. Es darf daher nicht bes
fremden, daß die evangelifche Ueberlieferung fich fehr verfchies
denartig geftaltete, und daß fich frühzeitig fo viele und fich fo
fehr widerfprechende chriftliche Sekten bildeten. Allmählig aber
fam in diefe Ueberlieferung größere Einheit; daher fich bei
ben älteren chriftlichen Schriftftellern mancherlei Sprüche fins
den, ohne Angabe der Quellen, welche mit Stellen unferer
Evangelien gleichlautend, und, weil diefe damals fehr wahrs
ſcheinlich noch nicht gefchrieben waren, aus der mündlichen
Veberlieferung gleich ihnen gefchöpft find, Bald wurde Diefe
in Schriften niedergelegt, welche wahrfcheinlich, weil die Sage
ſelbſt ſich noch immer weiter geftaltete, noch mancherlei Um⸗
geſtaltungen zu erfahren hatten. Dieſe Schriften wurden nicht
nach den Namen der Verfaſſer, ſondern bald nach dem
Kreiſe von Chriſten, in welchem ſie entſtanden und zuerſt ge⸗
braucht wurden, genannt, bald nach dem Lehrer, Apoſtel oder
Apoſteljünger, deſſen mündliche Vorträge zu Grunde lagen.
Auf letzteres ſcheinen die Ueberſchriften zu deuten: „nad“
(den Vorträgen des) Matthäus ꝛc.; Ueberſchriften, welche un⸗
ſere Evangelien noch tragen. Je mehr Zeit aber zwiſchen
4
diefem wmünblichen Bortrage und dem Nieberichrieben der Evans
gelien verfloß, deſto mehr konnte die durch Die neue Heilslehre
jo mächtig aufgeregte Einbildungsfraft die Erzählungen unver⸗
merkt umgeſtalten. Waren bie aus ber urfprünglichen apoftos
liſchen Mittheilung entftandenen Sagen aber einmal ſchrift⸗
Lich abgefaßt, jo bildete ſich ganz natürlich die Borausfeßung
fehr bald, audy die Schrift felbft fei das Werk eines Apoſtels.
Daß aber auch fogar der Name bes befondern Apoftels, auf
den man ben Inhalt irgend eines Evangeliums zurüdführte, oft
erit fpäter, theild aus mündlicker Ueberlieferung, theild weil er
in einer Gemeinde, wo man ſich an dies Evangelium vorzuges
weife hielt, befonders in Anfehen ftand, hinzukommen fonnte,
mag das HebräersEvangelium beweifen. Dies hatte ans
fanglich Diefen Namen, dann hieß ed „Evangelium nach den
zwölf Apofteln“, endlich „Evangelium nach Matthäus“.
Zweites Kapitel.
Möglichkeit von Mythen im neuen Teftamente nach
innern Gründen,
Iſt es alfo unläugbar, Daß dem Verſuche, unfere Evanges
lien als apoftolifche Verichte, auch nur im weitern Sinne,
geltend zu machen, unbejiegbare Schwierigfeiten in den Weg
treten, fo muß aud) die Möglichkeit, daß mythifche Beftands
theile in ihnen enthalten find, infofern ſie auf äußern Grün⸗
den beruht, zugeftanden werden. Wir Dürfen alfo zu näherer
Betrachtung ber innern Gründe für diefelbe fohreiten. Hier
begegnet ung nun zunächft der Einwurf, es fei undenkbar, daß
in einer Zeit, wo fo manche Augenzeugen noch lebten, in Pas
läftina, dem Schauplat der Begebenheiten, ſich ungejchicht-
liche Sagen über Jeſus, oder gar Sammlungen von folchen, ge⸗
bildet haben follen. Indeß ift e8, was die Sammlungen
anlangt, durchaus unerweislich, daß ſolche fchon bei Lebzeiten
der Apoſtel follten entftanden, oder gar von denfelben anerkannt
worden fein. Die Entftehung der Sagen, felbft in Paläs
ftina, ift aber durchaus nicht undenkbar. Mußten fie denn ge-
rade da entftehen, wo Jeſus längere Zeit gelebt hatte? Kon
42
ten die ehemaligen beftändigen Begleiter Jeſu an allen
Drten zugegen fein, um unrichtige Erzählungen fogleich zu bes
richtigen ? Diejenigen aber, die ihn nur von Zeit zu Zeit ges.
fehen hatten, mußten biefe nicht gerade geneigt fein, durch bie
Berichte Anderer ihre eigenen Kenntniffe zu ergänzen? |
Ferner aber muß man nicht glauben, daß, weil.die Zeit,
wo Sefus lebte, im Allgemeinen fchon eine gefchichtliche
. war, beßwegen gar feine Sagen mehr hätten entitehen kön⸗
nen. Allerdings ftand der gebildete Römer und Grieche
diefer Zeit auf einer Stufe, die Died undenfbar machte; und
dennoch findet fi; in berfelben Zeit und etwas fpäter unter
dem ungebildeten Theile felbft dieſer Völker ein fo herrichens
der Wunderglaube, wie die feltfamen Sagen von dem bes
rühmten Wunderthäter Apolloniug von Thyana bezeugen,
daß mehr ald Ein Schriftfteller fich veranlaßt ſah, dieſem
Glauben entgegenzutreten. Und haben fich nicht auch in neues
rer Zeit, die doch auch eine gefchichtliche ift, im Volke vieler,
lei Sagen, wie die von einem Dr. Fauſt ꝛc. ausgebildet ?
Allerdings war auch das jüdifche Volt ſchon lange ein
fchriftftellerifches, hatte fchon lange eine Gefchichte ; allein ges
rade in ihm fand fich, feinem eigenthümlichen Character ges
mäß, fortwährend eine reiche Quelle für mythifche Erzählungen.
Dem ein rein gefchichtliches Bewußtſein ift demfelben
eigentlich niemals aufgegangen, ba felbit feine fpätern Ges
fhichtswerfe, die Bücher dee Maftabäer, und fogar bie
Schriften des gHelehrten Sofephus, nicht frei von wunder⸗
. haften und abenthenerlichen Erzählungen find. Und von wels
her Wichtigkeit find in diefer Beziehung die unter ihm herr⸗
fhenden meffianifhen Erwartungen, über welche unten
das Nähere!
Ueberhaupt aber gibt es Fein reines gefchichtliches Bewußt⸗
fein ohne die Einficht, daß die Kette endlicher Urfachen, das
in der Natur und der Menfchengefchichte feflbegründete und
von der Vernunft geforderte Verhältniß zwifchen Urfache und
Wirkung nicht zerriffen werden kann, daß alfo Wunder uns
möglich find; daß es auch mit dem Wefen Gottes unvers
einbar fei, anzunehmen, er könne in der endlichen Schöpfung
ben natürlichen Faden der Raturgefeße zerreißen, um mit dem
43
fünftlichen Weberknoten eines Wunders wieber nachzuhelfen.
Diefe unbefangene Einficht aber mangelt noch fo Vielen in
unferer, doch wohl auch gebildeten gefchichtlichen Zeit, wenigs
ſtens in Beurtheilung der jüdifchen und chriftlichen Vorzeit.
Wie viel weniger-fomnte fie im damaligen Paläftina allgemein
fen! Vielmehr war die Neigung, Wunder zu glauben, im
jübifchen Volke feitgewurzelt : und als dazu eine Begeifterung
des Glaubens trat, als diefe weithin fich verbreitete unb der
religiöfen Berarmung der Zeit neuen Stoff zuführte, da mußte
der ſchlummernde Wunderglaube zu neuer Thätigfeit ermachen,
md es wäre ein wirkliches Wunder geweſen, wenn nicht
wunberhafte Sagen fich gebildet hätten.
Wir dürfen uns alfo auch burch den Einwand, daß bie
Evangelien in einer ſchon gefchichtlichen Zeit abgefaßt feien,
richt abhalten Taffen, zu einer unbefangenen Unterfuchung
dee Evangelien felbft zu fohreiten, und die innere Beichaffens
heit jeber einzelnen in ihnen enthaltenen Erzählung beſtimmt
in's Auge zu faſſen.
Indeß könnte doch dieſer Unterſuchung, noch ehe fie ber
gonnen wird, gleichham an der Schwelle der Evangelien, fols
gende abwehrende Behauptung noch entgegentreten, und uns
von unbefangener Prüfung abhalten wollen:
„Es ift überhaupt mit dem Character des Chriftenthung
unvereinbar, in ihm Mythen auch nur zu ſuchen; unvers
einbar mit der allgemeinen Beichaffenheit der Evangelien,
einzelne ihrer Erzählungen für Mythen zu halten.“
Man ſtützt fich für dieſe Behauptung befonders auf fol
gende, der ganzen Bibel geltende Sätze:
1) „Die bibliſche Gefchichte unterfcheidet ſich wejentlich das
durch von den Götterfagen der Griechen, Indier ıc., daß in
diefen eine Menge das fittliche Gefühl beleidigender Ers
zählungen enthalten find, in jener dagegen nur Gotteswürdiges
und Belehrendes.“ — Gibt man dies auch zu, ohne jo manche
anftößigen, angeblich von Gott ſelbſt unmittelbar gebotenen,
Handlungen alt=teftamentlicher Gottesmänner in Anfchlag zu
bringen, fo folgt doch Feineswegs aus diefem Jugend,
44
daß, weil eine umnfittliche Böttergefchichte erbichtet fein muß,
eine fittlich untabelhafte Gottesgeſchichte ſchon darum es nicht
fein koönne.
2) „Die heidniſchen Erzählungen enthalten gar zu viel Uns
Hlaubliches, Abentheuerliches; dergleichen‘ findet fich in -Der
biblifchen Geſchichte Nichts, wenn man nur Die unmittelbare
Einwirfung Gottes vorausfeßt.“ — Aber eben dieſe Voraus⸗
ſetzung ift e8! was berechtigt und dazu? Wollten wir. nur
ein Gleiches auch für Die heibnifchen Sagen vorausfegen, und
annehmen, daß ihre Halbgötter wirflid Söhne ber Götter
gewefen feien, fo ftele auch bier alles Unglaubliche weg. Aller-
dings ift die heidnifche Sage viel abentheuerlicher, ale bie
biblifche ; Dies beweist aber nicht, Daß dieſe darum wahr fein
müſſe, weil jene unwahrfcheinlicher ift, fondern nur, daß ber
Glaube, aus dem fie hervorging, ein mehr geläuterter ift,
und überhaupt einen andern Character hat.
3) „Bon den meilten Perfonen in der heidnifchen Sage
ift gewiß, daß fie nie gelebt haben; die der biblifchen Ges
ſchichte, ein Abraham, Moſes ıc., find ausgemacht wirkliche
Perfonen geweſen: alſo müffen jene Sagen erdichtet fein,
was fich von Diefen nicht fagen läßt.“ — Hier ift Irrthum
auf beiden Seiten. Nicht nur haben Viele die wirflihe Eris
ſtenz eines Adam, Noah ꝛc. mit guten Gründen bezweifelt;
fondern von vielen Helden 3. B. der griedhifchen Sagens
welt ift es fehr wahrjcheinlich, jo wunderbare Sagen auch von
ihnen erzählt werden, daß fie dennoch wirklich gelebt haben.
Zugeftehen müflen wir allerdings, daß ein wefentlicher
Unterfchied ftatt findet zwiſchen heidnifchen und biblifchen Ers
zählungen. Sene ftehen in fo vielen Stüden mit unferm Glau⸗
ben und unferer Gottesidee in fo grellem Widerfpruche; ihre
Götter find fo fehr in’s Zeitliche herabgezogen, — fie wer:
den fogar geboren, wachen, verheirathen ſich und zeugen Kins
der, die gleichfalls Götter werden —, daß dieſe Sagen fchon-
von unferm religiöfen Gefühle ald pure Erdichtung vermwors
fen werden müffen: fo urtheilten fehon die Gebildeten unter
‘den Griechen felbft. In dem alten Zeftamente dagegen, um
von diefem zuerft zu reden, tritt uns erftlich ein Gott ent-
gegen, und feine Götter, wiewohl auch noch Spuren vors
45
‚kommen, daß dem Glauben an Einen Gott ber an mehrere
voranging. Zweitens erſcheint dieſer Gott zwar auch in
menfchlidyer Weile, er fpricht, befiehlt mit drohenden Wors
ten, übt Rache, begünftigt Ein Volk vor allen andern ꝛc.; als
kein er iſt Fein werdender Gott, fein Wefen ift nicht in
menfchlicher Bedürftigfeit untergegangen, während die heids -
nifchen eſſen, trinfen 2c.; alle Menfchlichkeiten erfcheinen mır
als nothwendige Einhüllungen einer noch unentwidelten Vor⸗
ftellungsweife, aus welcher aber eine tiefe, reine Idee ahn⸗
dungsreich hervorſchimmert. Berfteht man alfo unter Mythos
logie Göttergefchichte, fo hat das alte Teftament allerdings
feine. Allein damit ift noch feineswegs gefagt, Daß die Ers
zählungen von den menfchenähnlichen Handlungen Gottes, von
feinem wunderbaren Eingreifen in Die Geſetze der Natur, wels
- ches Beweiſe unvollkommener Borftellungen find, für wahre
Sefchichte zu halten feien.
Bei dem neuen Teftamente ftellt fich die Sache allers
dings etwas anders, und, ehrlich geftanden, etwas bedenfficher.
Auch hier zwar erfcheint Gott ald ein Einer, umveränderlis
her: allein Jeſus ift der Sohn Gottes, und zwar nicht in
fo weitem Sinne, wie 3. B. Könige und Patriarchen alten
Teſtaments "Söhne Gottes genannt werben ; fondern ganz
eigentlich, als erzeugt durch den göttlichen Geift: wir
fehen ein göttliches Weſen hier geboren werben, leben, leis
den: Jeſus ift weit mehr als Mofes, Elia ıc., die nur von
Gott unmittelbar geleitet find, nicht aber feines Geſchlech⸗
tes. Hier alfo ift offenbar mehr Mythifches, ale im alten
Zeftamente. Doch ift auch hier eine durchgreifende Verſchie⸗
denheit von den heidnifchen Sagen in die Augen fallend; die
Sdeen, welche den evangelifchen Erzählungen zu Grunde
liegen, ftehen in feinem Widerfpruche mit der erhabenften
Gottes⸗Idee; nur müſſen wir fragen, ob fie fi fo können
verwirflicht haben, fo körperlich geworden fein, wie bie
Evangelien berichten.
Wir find alfo weit entfernt, die heidnifchen Mythen mit
den chriftlichen auf Diefelbe Stufe ftellen zu wollen; erfennen
vielmehr den ungleich ebleren, durchaus Gottes wordiokv
n
46
‚Gehalt des letzteren volllommen an. Nur lafien wir und das
durch nicht abhalten, Diefelben eben auch für Mythen zu hals
ten, und näher auf Die inneren aus unferer BernunftsEnts
wicelung hervorgehenden Gründe dafür einzugehen. Wir wers
fen daher zunächft Die Frage auf! „Sind die wunderbaren
bibliſchen Erzählungen vereinbar mit unferen Borftellungen
von dem Zufammenhange Gottes mit der Welt?!“ Zwar
die alte Welt, befonders die der Morgenländer, war geneigt,
in taufendfältigen Erfcheinungen ein unmittelbares Eins
greifen Gottes, mit Umgehung der Naturgefeße, zu erbliden;
bei ihr herrichte das religiöüfe Gefühl vor; ihre Kenntniffe
von dem endlichen Zufammenhange der Dinge waren fo ges
ring, ihre Einfiht in die der fichtbaren Erfcheinung in der
Natur zu Grunde liegenden Urfachen fo mangelhaft, und dabei
ihre Einbildungsfraft jo lebendig und leicht entzündet, daß fie
geneigt ift, in allen, auc den natürlicdyiten, Erfcheinungen ein
Wunder, ein unmittelbares Einwirken Gottes anzunehmen.
Da wo eine auffallende, unerwartete Wirkung den Menfchen
jener Zeit entgegentritt, muß Gott unmittelbar eingefchritten
fein; befonders find Menfchen von ungewöhnlicher Kraft des
Beiftes Lieblinge des Herrn, der mit ihnen in näherem,
wunderbaren Verkehr fteht, und deſſen Eingebungen fie ihre
Weisheit und Kraft verdanfen. Auf dem Boden diefed Glaus
bens ruht die ganze ifraelitifche Gefchichte; nicht Mofes, Elias,
Jeſus felbft verrichteten fo Großes, fondern Gott auf us
mittelbare Weife Durch fie; er brachte durch fie Wirkungen
hervor, welche der ordentliche Lauf der Dinge niemals hers
beigeführt hätte.
| Die neuere Zeit Dagegen ift auf dem Wege der Wiſ⸗
fenfchaft zu der Maren Einficht gefommen, daß in der Welt
Alles durch eine ununterbrochene Kette von Urfachen und
Wirkungen hervorgebracht werden müßte Die einzelnen
Kreife des Weltalls find zwar nicht in fich abgefchloffen und
vereinzelt; fie wirken vielfältig auf einander ein, 3. B. der
Mond und die Planeten auf die Erde, der Menfc auf die
sohe Natur, die Außenwelt auf die freie Entwicklung des
Menſchen ꝛc. 2.5 allein alle diefe Kreife zufammen bilden
47
ein Ganzes, Das zwar fein Dafein einem höheren Weſen
verdankt, auf deſſen unmanbelbare Naturgefege aber feine
anderweitige Macht eimwirfen Fann: ed kann nichts Eins
zelnes von außenher in dieſelbe hineinfommen. Denn bie
Raturgefete bilden ein fo innig verfchlungenes Gewebe, daß
jeder Stoß, fei er noch fo Fein, der von Außen her kommt,
eine Erfchütterung von Einem Punfte bis zum entfernteften
verbreiten würde. Daher fünnen wir und eine Äbernatürs
liche Eimwirfung auf die Natur, als einen Widerfpruch in
ſich felbft, durchaus nicht denken; es kann, fo müflen wir
überall fchließen, Gott nicht in der Welt wirfen mit Umge⸗
hung der von ihm felbft gegründeten Weltgefebe. Diefe
Weberzeugung ift fo feſt in und gewurzelt, Daß wir unwill
Führlich Den verlachen ober für einen Betrüger halten, ber
uns etwas heut zu Tage Gefchehenes für ein Wunder aus⸗
geben will. Sollte aber, jo müflen wir dann weiter fchließen,
in früherer Zeit die Natur anders eingerichtet geweſen
fein? fo eingerichtet, daß fie eine übernatürliche Einwirkung
hätte vertragen Tünnen?
Durch diefe Betrachtungen wurde die neuere Aufflärung
bis zu der Anficht geführt, daß Gott nur in der Schös
pfung der Welt fi) wirkſam erzeigt habe, von da an aber
dieſelbe fich ganz felbft überlaffe, fo daß fie ohne feinen weis
tern Einfluß ſich mechanisch fortbewege wie ein künſtliches
Räderwerk, nachdem es der Meifter bingeftellt, von dieſem
fortan auch unabhängig ift. Allein dieſe bis zum Aeußerften
getriebene Anerkennung der Naturgefeße können wir eben fo
wenig für richtig halten, ald den Wunderglauben, dem fle
entgegentritt. Denn fie verfiel, indem fie die Unzerftörbarfeit
der Naturgefebe gegen den Wunderglauben retten wollte,
in den entgegengefeisten Fehler: fie hob die Wirkſamkeit
Gottes ganz auf, machte ihn zu einem todten Gotte,
der, wie ein menfchlicher Künftler, nachdem er fein Werk voll»
endet, müßig neben demfelben fteht. Damit ift aber der
Begriff Gottes aufgehoben und fomit die unferer Vernunft
angegebene Idee eines lebendig waltenden Gottes vernich-
tet; es ift unferm Gemüthe, das ja in und mit der Welt
lebt, jeder Troft im Aufblide zu ihm geraubt.
48
Diefer Anficht haben alfo Die neueren Supranaturalis
ften mit Recht fich entgegengeftellt, nır aber auf eine Weife,
welche die Sache eher noch fchlimmer macht: fie fchlagen
nämlich einen Mittelweg ein, mit welcdyem fie die Unmans
delbarkeit Der Naturgefebe zugleich mit der Wahrheit der be
blifchen Gefchichte gerettet zu haben glauben. Sie fagen:
„Allerdings wirft Gott in ber Negel nur mittelbar, näms
lich als Urheber, auf die Welt ein, und läßt fie nad) den
Geſetzen von natürlichen Urfachen und Wirkungen ſich fort
bewegen; allein zuweilen, wenn er befondere höhere
-3wede bat, greift er auch unmittelbar in fie ein, und
wirft aledann Wunder.“
Diefer Standpunkt jedoch vereinigt nur die Fehler ver
beiden Seiten, zwifchen die er ſich ftellt. Nicht weniger, als
Die altzorthodore Anficht, welche jenen Unterfchied nicht macht,
und fic einfach an den Buchftaben der Schrift hält, ohne.
ihn weiter erklären zu wollen, — nicht weniger verleßt und
durchlöchert dieſe modern zugefchnittene Gläubigfeit den Zus
fammenhang der Naturgefege einerfeits, und befchränft Dabei
andrerfeits, gleich den Aufklärern, die Wirkfamfeit Gottes,
indem diefer Doch in den Hauptfachen außer der‘ Schöpfung
geftellt wird. Dazu gefellt ſich aber auch noch ein neuer
Irrthum; daß nämlich, Gott hier als ein endliches Weſen
gedacht wird: denn wenn er eg für nöthig erachten muß, um ges
wifler höherer Zwede willen den doc von ihm begründeten
Gang der Natur zu unterbrechen, fo erfennt er damit fein
eigen Werk als ein unvollfommenes an, defien Einrich-
tung nicht zu Erreichung aller feiner Zwecke hinreichend fei.
Er muß nacjhelfen, und hat ſich zu dem Ende noch eine bei
der Schöpfung nicht in Anwendung gebrachte Kraft für vor
fommende Fälle zurücbehalten.
Es find alfo mit diefer Anficht Die Schwierigfeiten nur
vermehrt, und wir müſſen auf anderem Wege den Widerſpruch
löfen, der fid) folgendermaßen herausftellt. „Der Begriff der
Welt nöthige und durch Die Einheit. ihrer Naturgefebe zur
Annahme einer nur mittelbaren Einwirkung Gottes auf fie,
49
nämlich nur inſofern er als Schöpfer dieſe Gefeßmäßigfeit
feinem Werke eingehaucht; der Begriff Gottes als eines lebendis
gen, ewig gleichmäßig wirkenden und fchaffenden läßt nur Die
Annahme einer unmittelbaren, nie unterbrochenen, ftetigen
Einwirkung auf die Welt zu.“ Alle Widerſprüche und Schwie,
tigfeiten fchwinden, wenn wir und Beides, mittelbare
md unmittelbare Einwirkung, ald auf das Innigſte und
ſtets wit einander verbunden denken: Gott wirkt zu allen
Zeiten mittelbar und unmittelbar auf die Welt ein; d. h. auf
die Welt ald Ganzes wirkt Gott in jedem Momente unmits
telbar, er lebt und webt in ihm; auf jedes Einzelne aber
me mittelbar, d. h. durch Bermitteling der von ihm ges
gründeten Raturgefeße.
Die Welt, als ein Ganzes, ift ein einiges, ewi⸗
ges, unerklärbares Wunder Gottes — ein ewig
ſtrömender Ausfluß des Unendlichen; hier verſchwinden die
Begriffe des Zeitlichen. Dieſes Wunder wäre ein mangels
haftes, alfo nichtsgöttliches, wenn jein großer Zufammenhang
geftört und unterbrochen würde durch ein befonderes Eins
greifen Gottes, neben welchem ja alle andere Erfcheinungen ald
ein unvollftändiges Einwirfen desſelben erfcheinen müßten.
Durch Aunahme einzelner Wunderwird das ewige,
einige Wunder Gottes — Gott im Weltalle —
aufgehoben. '')
Bon diefem Standpunkte aus können wir alfo die Erzähl:
lungen der Bibel, welche und Wunder berichten, nicht für
wahre Gefchichte halten; denn wenn von Gott erzählt wird,
er habe an und durch Mofes, Jeſus ıc. Wunder gewirkt, fo
wären diefes feine unmittelbaren Einwirkungen Gottes auf Das
Welt Ganze, fondern auf einzelne Theile desfelben, Die
nach Obigem undenkbar, dem Begriffe Gottes nicht weniger,
wie dem der Welt widerftrebend find. Wir dürfen diefelben
22, In dieſer Anſicht, allgemein gefaßt, ſtimmen viele Theologen
zuſammen, die im Uebrigen verſchiedene Wege wandeln, z. B.
Wegſcheider, de Wette, Schleiermacher, Marhein—
ecke ꝛc.
l. 4
50 |
aber in der biblifchen &efchichte eben fo wenig als wirkliche
Geſchichte gelten laſſen, wie in allen andern alten Sagens
. denn jener Grundfag kann feine Ausnahme leiden, durch
welche ja in den Begriff Gotted wiederum die Borftellung
-siner Willkührlichkeit gelegt würde, durch die er abers
mals zu einem endlichen Weſen herabfünfe. Unſer Staud⸗
punkt verträgt feine Vorausſetzungen: darin bewährt er
die von ihm in Anfprudy genommene Borausfegungslofigkeit,
daß er feinem Bolfe und keiner Zeit, alfo auch nicht dem
jüdifchen Volke und der biblifchen Zeit irgend einen Vorzug
zuerkennt; Denn worin wäre Diefer begründet? in der Ber»
nunft doch wohl nicht; Diefe muß ihn vielmehr, wie wir ges
fehen haben, ald Gottes unwürdig, verwerfen; aus den bibli⸗
fhen Büchern kann er gleichfalls nicht ald Vorausſetzung er⸗ ’
wiefen werden, denn diefe müfjen wir erft vorher unbefangen
und ohne Vorausfegung prüfen, ehe wir aus ihnen etwas
über fie beweifen fünnen. Wir müffen das Letztere um fo
mehr fejthalten, weil wir fonft für alle Wunder-Erzählungen,
- auch benen heidnifcher und muhamedanifiher Völker, dieſelbe
Borausfeßung müßten gelten laffen; denn auch ihre Religions⸗
bücher geben die wunderbaren Einwirkungen Gottes ald wahre
Geſchichte.
Drittes Kapitel.
Entſtehungsweiſe der hiſtoriſchen und der reinen
Mythen,
Indem wir alfo auf die Behauptung wieder zurücgeführt
- werden: auch die Bibel, alten und neuen Teftaments, enthält
Mythen und Sagen, und fie in diefer Beziehung, aber
auch nur in diefer Beziehung, Da es fich hier durchaus nicht
um die Lehre und bie religiöfen VBorftellungen derfelben handelt,
mit den Urkunden aller andern Religionen. gleich ftellen, —
müſſen wir und nun zu meiterer Begründung unferes Stand⸗
punktes die Frage beantworten: Wie künnen überhaupt in
einer Religion Mythen entftehen?
So wie fi in einem Volke religiöfes Leben entwickelt,
ahndet das Gemüth ded Menfchen in den Erfcheinungen der
Si
Einnenwelt den Ausdruck, die Dffenbarmmg eier höheren,
unfichtbaren Kraft: es werben in den Gegenftäuben derfelben,
in Sonne, Mond, Gebirgen, Thieren, höhere Mächte des
Daſeins angefchaut und verehrt. Damit wird ihnen eine höhere
Bedeutung beigelegt, und je mehr biefe von ihrer Wirklich⸗
keit verſchieden iR, deſto mehr entjtcht cine Welt ber bloßen
Borftellung: es bildet ſich ein Kreis von Götterweſen,
die menfchlich handeln und Ieben, aber in höherem Maße, und
eben dadurch ſich als höhere, ald Götter⸗Weſen beurfunden.
Kur auf ſolche Weiſe vermag ber religiöfe, aber noch nicht
zum reinen Bewußtfein des Göttlichen herangebildete Menſch
bas in der Borftellung feflzuhalten und ſich nahe gu brin⸗
gen, was er als reine Idee noch nicht zu faſſen vermag.
Aber auch auf der höheren Stufe des Glaubens, wo
ſchon das Bewußtſein eined einigen Gottes beftimmt hervor-
tritt, wird dennoch Gottes Lebendigkeit und Wirkſamkeit lange
Zeit hindurch nur unter ber Form einer Reihe von Thaten
betrachtet werben fünnen. Deun ber Gedanfe des Einen, un⸗
endlichen Gottes ift ein zu erhabener, als daß die noch nicht
gereifte Bernunft-Entwidelung ihn anders, ale im Bilde er;
faffen könnte; fein unfichtbares Wirken wird in ber Bor:
ftellung zur fichtbaren That; fein allgegemmärtiges Sein zur
wahrnehmbaren Erſcheinung; feine Lenkung der Menfchen
und ihrer Schickſale zur ummittelbaren Einwirfung Co
waltet auch hier noch anfangs, und überall noch lange, lange .
Zeit, das unbewußte Beftreben vor, den an ſich Unerfaßlichen
dadurch zu erfaffen, daß man ihn unvermerft in den Kreis des
Endlichen hereinzieht, und fein unendliches Sein zu einer
zeitlichen, in wunderbaren Einwirkungen fich geitaltenden Ge-
fhichte unmvandelt.
Auf ſolche Weife entfiehen die Mythen von den burd
Gott gewirkten IBundern, und erft auf Der Stufe, wo ber
Menfc die Idee Gottes rein faflen und, wir möchten fagen,
ohne Einfleidung ertragen kaun, wird die Eelbftoffenbarung
Gottes in dem geſetzmäßigen Verlaufe der Natur und ber
Geſchichte Far erkannt, und das Wunderbare nidyt mehr als
wirk liche Gefchichte geglaubt, fonbern nur als Thatſache der
menfchlichen, befchränften Borftellungs- Reife, als ein Pro-
52
zeß der Vermirtelung zwifchen dem Göttlichen und dem zu
feiner Anfchauung aufftrebenden Menfchlichen.
Wie aber konnten folche Sagen von Nichtgefchehenem er-
funden werben ohne groben Betrug? wie Eonnten fie ge:
glaubt werben ohne bie größte Leichtgläubigfeit? wie konnte,
was doch von Einzelnen hervorgebracht worden und an einzel»
. nen Orten entitand, Eigenthum Bieler und Inhalt des Glau⸗
bens einer ganzen Nation und Religionsgefellichaft werden? '
Diefe Fragen find von Gelehrten, weldye ſich mit Erfor⸗
fhung des griechiſchen Alterthums befchäftigen, bereits auf
eine befriedigende Weife gelöst worden, namentlich von Ot⸗
fried Müller; was aber die Entitehung von Mythen bei den
Griechen erflärtih macht, muß auch diefelde Wirkung bei
den biblifchen thun, da wir, dem oben bezeichneten Stand⸗
punkte gemäß, feinen Unterjchied zwifchen beiden zugeben können,
Wir gehen alfo zur Begründung unferes Verfahrens mit den
evangelifchen Mythen ebenfalls von den Muller’fchen Anfichten
aus, welche kurz in Folgenden enthalten find.
Man konnte fich zunächit darüber wundern, daß die Sa⸗
gen,"die doch fo viel Erdichtetes enthalten und Das Gefchehene
fo vielfach ausfchmüden, allgemein für wahr gehalten worden
find. Eine folhe Dichtung kann aber doc unmöglich von
al den Vielen, welche an ihre Wahrheit glaubten, zugleich
gemacht worden fein; wie -follten viele Köpfe in dem freien
‚Spiele der Dichtung fo übereinftimmen fönnen, und in einer
einfachen Begebenheit ganz dasfelbe Wunder, das ja nicht
wirklich gefchah, fondern nur dazugedacht wurde, erbliden ?
Wenn aber mr Einer der Erfinder fein kann, wie fomnıt eg,
dag ihm das Voll, dad doc auch um den wahren Hergang
der Sache wiffen mußte, fo willig den Glauben ſchenkte?
Iſt diefer Einer etwa ein fchlauer Betrüger geweſen, der durch
allerlei Blendwerk das Volk zu täufchen wußte, fich mit andern
Betrligern in Verbindung feßte und fo feiner Erfindung Eins
gang verfchaffte? Dieß Fünnen wir unmöglich annehmen ;
denn ſolche Schlauheit und fo Fünftliche Anftalten, um das
Volk zu belügen, widerfprechen ganz dem edeln, einfachen Geifte .
| 93
jener alten Zeit, wo bie griechifchen (und biblifchen) Sagen
entitanden find. Ueberdieß wird aud) das feinfte Lügengewebe
doch früher oder fpäter durchfchaut, und es wäre ein wahres“
Wunder, größer faft, als alle andere, wenn e8 Betrügern
gelänge, dem religiüfen Glanben eines Volkes fo ausge:
dehnte Erdichtungen unterzufchieben. Oder ſollen wir uns
den Erfinder. ald einen außerordentlich reich begabten Geift
denten, als ein erhabeneres Weſen, das von allen Uebrigen
fo hoch verehrt wurde, Daß fie ihm Alles aufs Wort glaubten,
auch wenn fie felbft den Hergang einer durch die Dichtung
ansgefchmücten Thatfache beffer wiffen fonnten? Auch dich
ft undenfbar. Es würde aber endlich mit jeber der beiden
Annahmen, felbft wenn fie richtig wären, durchaus nicht-Allce
erfläst, indem ja dabei Doch immer in der Mafle des Volkes
ein Hang zum Glauben an das Wunderbare vorausgeſetzt
würde; eine Borausfeßung, für welche wir ung immer noch
nach einem Grunde umfehen müßten.
Wir werden alfo genöthigt, überhaupt den ganzen Begriff
einer Erfindung, „als einer willführlichen und abfichtlichen
Handlung“, bier ganz aufzugeben. Vielmehr müffen wir aner:
fennen, daß bei der Entſtehung der Sagen eine gewiffe Noth⸗
wendigfeit waltete, die eben in dem ganzen Charafter der
Zeit und des Bolfes lag. Das ganze Volk ficht auf eier
Stufe der Bildung, nach welcher es fich Die Einwirkung dee
Göttlichen auf den Menfchen als eine unmittelbare und wunder
bare vorftellen muß; es liegt in feinem Glauben begründet,
wenn es in der göttlichen Leitung der menfchlichen Schidfale
alle auffallenden, erfolgreichen Creigniffe ald wunderbare
betrachtet. Da, mo der gereifte Verftand und die geläuterte
religiöfe Vorftellung einer fpätern Zeit eine, vielleicht auffallende,
aber doch auf natürlihem Wege bewirkte, Thatfache er⸗
fennen, und ihren, vielleicht nicht gleich in die Augen fallenden
Urfachen, nachforfchen würde, da fieht jene ältere Zeit
unbedenklich ein Wunder und macht fi) den Hergang des⸗
felben in einer ausſchmückenden und orönenden Erzählung ans
ſchaulich Chiftorifche Miythe, fiche oben S. 27). Eine Idee,
weldye man in einer mehr denkenden, als frei Dichtenden, Zeit in
Haren überzeugenden Sägen ausfprecdyen würde, Welver Kid
54
wie von felbft in jener Zeit, Die mehr ſchaut als denkt, in
eine Erzählung, eine Gefchichte ein, weil fie nur fo von ihr
"gefaßt werben kann (reine Mythe, fiehe &. 26). Es liegt
alfo ganz in dem allgemeinen Geiſte berfelben, Thatſache und
Vorſtellung (Wirklichkeit und Idee) auf das Innigfte mit
einander zu verfchmelzen und als Eins zu benten.
—
Von diefem Geſichtspunkte aus wird und die Entſtehung
der Sagen und Mythen, fo wie der allgemeine Glauben an’
ihre Wahrheit, ohne Zwang erflärbar. Wenn nämlich Eimer
bei Erzählung einer wunderbaren Gefchichte nur den Antrie⸗
ben folgt, welche auch die Gemüther der Uebrigen beherr⸗
fchen, wenn er in feiner Anſchauung berfelben ganz in dem
Kreiſe der Ideen feiner Zeit fleht, fo it er nur „ver Mund,
durch den Alle reden; der gewandte Dariteller, ber dem,
was Alle ausfprechen möchten, zu erſt Geſtalt und Aus⸗—
druck zu geben das Geſchick hat.“ Wie natürlich alſo, daß
Alle ihm glauben, da er nur der Dollmetſch ihres eigenen-
Glaubens iſt! Diejenigen aber, durqh welche die Mythen
und Sagen entſtanden, verfuhren bei der in denſelben waltenden
Verfchmelsung von Thatfachen und Borjtellimgen durchaus nicht
willführlich, nicht mit Bewußtſein; vielmehr folgten fie
in der Auffaſſung, wie in der Darftellung des Gefchehenen
oder Gedachten, ganz und unbewußt den dunkeln Antrieben,
die eben in dem Weſen der ganzen Zeitbildung lagen. Hätte
bei ihnen eine gewiffe Abficht, anders, als fie die Sache
fannten, erzählen zu wollen, obgewaltet, fo hätten fie fich
eden als einzelne Perfonen ihrer Zeit gegenüber geftellt
und dann nimmermehr den allgemeinen Glauben gefunden. —
Es haben alfo die Fragen: „find die Sagen von Einzelnen,
von Vielen, vom ganzen Bolfe ausgegangen?“ für die Haupts
ſache gar Feine Bedeutung, weil fie fich durchaus nicht ſcharf
von einander trennen laflen: denn was der Einzelne thut, dag
thun Alle, und was Alle, Einer ; weil Ale von Einem Beifte, Einem
Zuge des Glaubens und Vorftelleng geleitet werben. Ueberdieß
haben an vielen Sagen umvermerlt Mehrere, oft Biele, ges
bildet, indem fie von Mund zu Munde gingen und, immer
55 nn
ſich fortentwidelnd, einer Lawine gleich anwuchſen, bie fie,
fei es durch Dichter, fei es durch einfach erzählende Geſchicht⸗
ſchreiber, erft fpäter felte und bleibende Geftalt gewannen.
In dieſer mündlichen, immer beweglichen, Ueberzeugung
liegt auch der Grund, weßhalb die Mythen meilt fo wenig
einfach find; denn nicht mit Einem Schlage find fie ente
ftanden, und Dürfen daher mit dev Allegorie nicht verwechfelt
werden, die, weil fie von Einem mit Abficht gedichtet ift,
größere Einheit und Einfachheit haben muß. Freilich Fönnte
man von dem Einen, der fie nun nicderfchrieb und offenbar
anch mehr oder weniger bearbeitete, behaupten, Er wenigs
ſtens habe mit Abficht und nach eigenthümlichen Anfichten
Manches umgeftaltet. Allein diefe Veränderungen können nur
von fehr untergeordneter Bedeutung gewefen fein; denn ſicher⸗
ih waren die Berfafler, 3. B. der Bücher Mofes oder ber
Evangelien felbit, jo ganz befangen in dem Glauben und ber
Borftellungsmeife, aus welcher die von ihnen niedergefch”iebenen
Sagen hervorgegangen waren, daß fie, da fie diefelben als
ausgemadhte heilige Wahrheit verehrten, höchftens nur ergänzend,
ordnend und veranfchaulichend, aber ganz im Geifte und
Sinne der Mythe felbft, verfahren konnten.
%
Daß die fo eben entwickelte Anficht für fo Viele noch
etwas Befonderes hat, daß, namentlich in Bezug auf das
Reue Teftament, dieſelbe ald unzuläßig und den chriüftlichen
Glauben verletzend erſcheint, hat vorzüglich darin feinen Grund,
daß unfere Betrachtimgsweife der Welt, der Gefchichte und
des Göttlichen eine ganz andere tft, als die jener Zeiten,
wo die religiöfen Mythen entjtanden find und wo namentlich
der. Einzelne, auch der Ausgezeichnetfte, bei weitem nod)
nicht fo fehr von allen Andern ſich unterfcheidet, als in unfern
Zeiten, wo eine weitaus höhere Bildung auch eine weitaus
fhärfere Scheidung zwifchen den einzelnen, fo verſchieden⸗
artig gebildeten, Perfonen herbeiführt. Allein das gerade iſt
eine der wichtigſten Aufgaben des Geſchichtsforſchers, ſich in
den Geiſt der Zeiten zu verſetzen, und aus ihm das uns
Fremdartige herauszufinden und in ſeinem Zuſammenhange zu
56 \
deuten. Soll aber ber Forfcher der evangelifhen Ges
fhichte, bie doch auch Geſchichte ift, anders verfahren, als
der Geſchichtsforſcher?
Wenn man alfo die Möglichkeit einer bewußtlofen Dice
tung auch für das Leben Jeſu in Bezug auf ſolche Erzaͤhlun⸗
gen zugeben muß, weldye einen, durch die Sage nur vielfach
ausgefchmücten , gefchichtlihen Kern enthalten (hiſtoriſche
Mythe), — fo feheint diefe Annahme fchwieriger bei denjeni⸗
gen, die durchaus nichts Gefchichtliches enthalten, alfo reine
Mythen find. Denn, fo wird man fragen, wie fonnten bie,
welche von Jeſu Gefchichten erdichteten, zu Denen gar feine
wirfliche Thatfache veranlaßte, denen gar Fein wirkliches Er⸗
eigniß zu Grunde liegt, — wie fonnten fie dieß thun, ohne
zu wiffen, daß fie eben nur Erdichtetes erzählten? wie
konnten ‚fie daran glauben? und wie ed Andern ale Thats
fache mittheilen, ohne den Vorwurf der Unredlichfeit auf ſich
zu laden? |
Hierauf bietet ſich als Antwort ein bei der Gefchichte Jeſu
eintretender, ganz eigenthümlicher Umſtand dar, nämlich die
zu feiner Zeit unter den Suden allgemein verbreitete Erwar⸗
tung des Meffias: ein Umftand, der von foldyer Wichtig-
keit iſt, und die Entftehung fo vieler wunderbaren Züge
in den evangelifchen Erzählungen fo erklaͤrlich macht, daß er
befonders genau in's Auge gefaßt werden muß. Erſt hieraus
wird es ganz begreiflich, Daß auch reine Mythen über Jeſus
entitehen konnten.
Schon lange vor Sefus waren die Meffianifhen Er,
wartungen im ifraelitiichen Volke erwachſen, und gerade das
mals, als Jeſus auftrat, zu ihrer höchſten Reife gediehen.
Ge größer und andauernder der Drud war, unter dem Das
Volk fchmachtete, unter fremder, damals unter römifcher
Herrfchaft 2), defto felter wurde das Vertrauen, es werde ber
22) Wir erinnern, vielleicht zum Weberfluffe, daran, daß bie Juden
damals, als Jeſus lebte, fchon feit etwa 700 Jahren, mit kurzen
= 897
Meſſias balb, bald erfcheinen, als ein Prophet Gottes, um
fein anderwähltes Volk zu retten und zu altem Glanze zurüds
zuführen. Denn nach dem feiten Glauben aller Juden war
ber Meſſias fchon in den Alteiten Zeiten den Propheten und
Ergwätern verheißen worben, und eine Menge von altteftas
mentlichen Stellen wurden als foldye Verheißungen gedeutet;
Demnach mußte er kommen, fo fchloß man, weil die Weiſſa⸗
gungen des alten Teftaments nicht trügen fünnen; er mußte
ericheinen, ald die glänzende Vollendung des Bundes Gottes
mit feinen Volle. Ganz allgemein wurde fchon die Stelle
5 Mojes 18, 15: „Einen Propheten will ich ihnen erwecken,
aus der Mitte ihrer Brüder, der Dir (dem Mofes) ähnlich
ſei; und mein Wort will ich in feinen Mund legen, und er
wird zu ihnen reden Alles, was ich ihn heißen werde“ —
vom Meffias verftanden, wie deutlich aus einer Rede des
Petrus im Tempel zu Serufalem (Apoſt. G. 3, 22) unb
eines andern des Stephanus vor dem hohen Rathe (daſ. 7, 37)
hervorgeht. Aus Diefer Deutung ergab fich aber auch, daß
man, veranlaßt durch die Worte jener Stelle: „ver Dir ähm”
lich fer“, von dem Meffias Ahnlicyhe wunderbare Thaten, wie
Die des Moſes waren, erwartete, und fchon die alten Nabbinen
ftellten den Grundfaß auf: „Gleich wie der erfte Prophet
CMofes) war, fo muß aud) der lebte fein Cder Meſſias ).“
Ferner erwartete man, der Auslegung anderer altteftamentlichen
Stellen gemäß, daß der Meffias den Thron Davids wieder
aufrichten würde (ſiehe 3. B. die Anrede des Engels an bie
Maria Luk. 1, 33, verglichen mit der altteftamentlichen Stelle
2. Eam. 7, 12. 13), — daß er zu Betlehem, dem Stamm⸗
fite des David’fchen Hauſes geboren werde (ſ. Matth. 2, 5,
vgl. mit Micha 5, Du. f. w.
Es bildete ficdy) nach diefen und vielen andern, ad Meſ⸗
fianifche Weiffagungen aufgefaßten, Stellen des alten
Teftaments nicht nur im Allgemeinen die Erwartung bes
—
Unterbrechungen und einzelnen Ausnahmen, Unterthanen frems
Der Herren waren, ber Aſſyrer, Babylonier, Perſer, Macedonier,
Syrer und Römer, bie endlich mit Zerftörung ihrer Hauptſtadt
ihre Zerftreuung in alle Welt herbeiführten.
‚ 58 |
Meſſias, fondern auch eine ſehr bejtimmte Borftellung vor
ihm aus. So und nicht ander mußte er auftreten: ale
der größte aller Propheten, fchloß man weiter, muß er auch
die herrlichiten Wunder verrichten, und in den Thaten und
Schickſalen der alten Propheten erfannte man die Borbilber
für die des Meffiad. Die Zeit feines Auftretens wurde übers
haupt als eine Zeit ber Wunder und Zeichen betrachtet Sefaias
35,5. 42, 7 ꝛc.).
Sp wurde das Bild bes Meffias ſchon vor dem Erfcheis
nen Jeſu immer mehr. in’s Einzelne gezeichnet. Es waren
alfo viele Sagen über Jeſu ſchon vorhanden, noch ehe er
aufgetreten war, nnd jo wie in feinen Süngern der Glaube
Wurzel gefaßt hatte, daß Er der verheißene Meſſias fei, fo
mußte ſich auf ihrem jüdischen Standpunkte in ihnen auch die
Ueberzeugung befeftigen, daß Alles, was im neuen Teftamente
von dem Meſſias geweilfagt worden, in ber Perfon ihres
Meifters ſich erfüllt haben müffe. Wenn nun fchon fo früh«
zeitig in der Lebensgefchichte Jeſu Lücen ſich vorfanden,
Abfchnitte, über welche felbft feine vertrauten Sünger Nichte
oder fehr Unbeftimmtes mußten, z. B. feine Geburt, Erziehung,
Jugend ꝛc., fo war es höchſt natürlich, Daß jene Lücken durch
die Anwendung der Mefjtanifchen Erwartungen und Sagen
ausgefüllt und ihnen emtfprechende Mythen, mit voller
Ueberzeugung von der Wahrheit derfelben, hinzu⸗
gedichtet worden.
Es ſind daher auch ſolche Züge in dem Leben Jeſu, denen
nichts Geſchichtliches zu Grunde liegt, keineswegs abſichtliche,
fondern in der That „bewußtlofe“ Dichtungen, die hervor⸗
gingen aus dem feften Glauben einestheils an die Wahrheit
‚der Meffianifchen Berfündigungen, und anderntheild an die
Nothwendigfeit, daß Alles von Jeſu oder mit ihm ges
fehehen fein müffe, was man von dem Meffiad erwartete;
ſonſt wäre er ja, nad) ihren Borftellungen, der Erwartete
nicht geweſen. |
Man könnte aber diefen Sal damit angreifen, daß man
fragte: Wie konnte man aber, wenn Sefus diefen Erwar⸗
tungen meffianifcher Wunder nicht wirklich entfprach, ihn doch
59
für den Meſſias halten, und erft fpäter biefe Wunder ihm
anbichten? — Allein es gibt allerdings in dem Leben Jeſu
ſolche Züge, weldye, wie unten gezeigt wirb, fehr leicht ale
Wunder betrachtet werden konnten; hierzu kommt der über
mächtige Eindrud feiner Perfönlichkeit ımdb Rede, und ans
Beiden erzeugte fich Die begeifterte Bewunderung feiner Süns
ger, die, wem fie einmal den feiten Glauben an bie Meffianis
nat Jeſu gewonnen hatten, nicht in allen Außern Stücken fo
ängfilich und Falt den Maßſtab des in der Erwartung vorge
bildeten Meſſias anlegen konnten. Ueberdieß wurde Sefus nur
fehr allmählich in weiteren Kreifen als Meſſias anerfannt.
Biele mußten alfo, wenn fie ihn nun dafür hielten, unbewußt
in die ihnen befannte Lebenszeit besfelben ihre Vorſtellungen
vom Meffias binübertragen. Schon während feines Lebens
mag man fid) mancherlei Abentheuerliched von ihm erzählt
haben: fo hielt ihm nach Marth. 14, 2 Herodes für den aufer⸗
ftandenen Johannes. Nachdem aber fpäter der Glauben ar
feine Auferftehung allgemein geworben, fo lag in diefem
eine reiche Quelle für die Annahme Meffianifcher- IBunder.
Es mögen aber allerdings auch in den evangelifchen Be⸗
richten manche Erzählungen fich finden, welche wirflih abs
ſichtliche Erdichtung find. Ganz ähnlich verhält es fich mit:
der Gefchichte Daniels, die von dem Verfaſſer diefes Buches
wohl nicht ohne Abficht in den erften Gapiteln der Gefchichte
Sofephs fo ähnlich gemacht worden ift. 7) Allein wo eine
fo unverfennbare vorherrfcht, überhaupt neuere Berhältniffe
nach dem Borbilde des geheiligten Alterthumg zu geftalten, da
ift folche Dichtung immer noch eine arglofe; — um fo mehr,
da im ganzen, auch dem heibnifchen Alterthume Poeſie und
Proſa keineswegs fo ftreng gefchieden find, als bei und, und
demnach Manches auch von einem profaifchen Schriftfteller ers
zählt werden kann, wovon er felbft weiß, daß es fich nicht
ganz fo zugetragen habe, ohne daß er die Abſicht zu täufchen
hat, weil er für die Auffaffungsweife feiner Zeit fchreibt '*).
2, Man vergleiche 3. B. Das zweite Eapitel bed Propheten Daniel
mit dem vierzigiten bes erſten Buchs Moſis.
, Wir erinnern hier an die griechifchen und römiſchen Gejchichte
60
Sind mm wirklich, wie wir zu zeigen ſuchten, fo viele
Mythen über Jeſus hervorgegangen aus den ſtehend geworbes
nen Meffianifchen Erwartungen, fo fällt auch, damit ein Ein⸗
wand weg, welchen man fo vielfältig gegen die Annahme von
Mythifchen im Leben Jeſu gemacht hat, daß nämlidy bie Zeit
von feinem Tode bis zur Zerftörung Serufaleme , innerhalb
weicher die meilten evangeliichen Erzählungen ſich gebildet
haben, zu kurz fei (etwas mehr als 30 Sahre), um die Ents
ftehung fo vieler Mythen denkbar zu machen. Die Mythen
lagen eben ald Meffianifche fchon vor, und es blieb ber
Zeit von Jeſu Tode bis zur Abfaffung der Evangelien nur
noch die Uebertragung derfelben auf Jeſum übrig und bie
Anbequemung in chriftlichem Sinne an die befonderen Ber;
haͤltniſſe Jeſu und feiner Umgebung.
* Aus allem Bisherigen 7°) ergibt fich nun der beſtimmte
Sinn, in welchem wir den Ausdruck Mythe für gewiſſe
Theile der evangeliſchen Geſchichte gebrauchen; zugleich die
ſchreiber (namentlich Livius), die mit der größten, Argloſigkeit
ihren Erzählungen lange Neben einflehten, die fie nicht aus
ihren Gefchichtäquellen geichöpft, ſondern im Geifte der Handelns
ben Perfonen Hinzugebichtet Haben. Berner befigen wir Fa,
bein von Aeſop, Lieder von Anakreon, Sprühe von Py⸗
thagoras, Sentenzen von Syrus, Hymnen von Orpheus,
Trauerfpiele von Seneca 2c., welche nicht von ben genannten
Maͤnnern herrühren, fondern von andern, die dieſe Fabein, Lie
der 2c. in dem Geifte jener Männer erfanden und ihnen unbe
deuklich deren Namen vorſehten; ohne Abficht unredlicher Täu⸗
ſchung, fondern nur darum, weil fie und ihre Zeitgenoflen bieß
nicht anders verflanden, als wie fie es meinten, nämlich:
Babeln, Lieder 2c. gebichtet, gefchrieben im Geifte und nach ber
Weiſe Aeſops, Anakreons ꝛc.
15) Die mit Sternchen eingeſchloſſenen Sähe find wörtlich aus
Strauß entichnt; ich gab fie darum wörtlich wieder, weil in
denfelben gleichfam der Maßſtab niedergelegt ift, den er an
bie evangelifche Geſchichte anlegt, und daher bie frengfte nnd
ſelbſt buchſtäbliche Treue Hier unerläßtich fchien.
Abſtufungen des Mythiſchen, welchen wir in diefer Gefchichte
begegnen werden. *
Evangelifhe Mythe ift eine folche auf Sefus fich bes
ziehende Erzählung, welche nicht als wirkliche Thatfache zu bes
trachten iſt, fondern als der Ausdrud der Vorftellung, die
feine früheften Anhänger von ihm fich gebildet hatten, gleich⸗
fam ale der „Niederjchlag ihrer Ideen von ihm, als Meffias. *
Solche Viythen find entweder
reine Mpthen, d. h. foldhe, welchen Feine beftimmten
Thatfachen zu Grunde liegen, fondern nur Ideen, die ſich
als Erzählung, Gefchicdhte verkörpert haben. Diefe fließen
aus zwei verjchiedenen Quellen, die aber bei den meiften derr
felben in verichiedenartiger Miſchung fidy vereinigen. Die
„eine diefer Quellen ift die fchon vor und unabhängig
von Jeſu unter dem jüdischen Bolfe vorhandene Meffias - Ers
wartung nad) ihren einzelnen Zügen; — die andere der
eigenthümliche Eindruck, welchen Jeſus vermöge feiner Pers
fönlichkeit, feines Wirkens und Schickſals hinterließ, und durch
welchen er die Meſſiasidee feines Volkes theilmeife umgeſtal⸗
tete. * Aus der erften Quelle floß falt ganz die Verklaͤrungs,
Gefchichte Matth. 17,1 ff.); aus der zweiten die Erzählung
vom Zerreiffen des Vorhangs im Tempel (Matth. 27, 51),
Hiftorifhe Mythen find folche, deren Grundlagen be,
ſtimmte einzelne Vorfälle find: „ihrer bemächtigte ſich aber
die Begeiterung und umſchlang fie aus der Idee von Chriſtus
heraus mit miythifchen Bildungen. * Die Thatfachen, welchen
diefe Mythen ihre Entftehung verdanfen, find bald Reden
Jeſu, wie die von den Menfchenftichern, dem unfruchtbaren
Feigenbaume, „welche jett in WWundergefchichten verwandelt
vor uns liegen * — bald wirflihe Handlungen oder Bes
gebenheiten aus feinem Leben, wie z. B. einzelnen „BBunder-
gefchichten natürliche Begebenheiten zum Grunde liegen mögen,
welche ſofort die Erzählung theils in eine übernatürliche Be⸗
leuchtung geftellt, theils mit wunderhaften Zügen ausgeſtat⸗
tet hat. *
Neben diefen eigentlichen Mythen, in denen immer eine
dee ausgeprägt ift, werden wir aber auch noch
Sagen finden: fo nennen wir folche Erzählungen, „in
62
welchen Unbeftimmtheit und Luͤckenhaftigkeit, Mißverſtand und
‚Umbeutung, wie fie beim Hindurchgange durch) längere mund⸗
Liche lleberlieferung einzutreten pflegen, fich bemerken kaflen, *
wobei haufig eine ebenfalls durch bie mündliche Leberlieferung
bewirkte Anfchaulichkeit und Ausmalung hinzufommt. Hier
wältet alfo bei der Bildung der Erzählung nicht fowohl "eine
beftimmte Idee, die Meſſias⸗Idee, ald der Zufall, welchem
alle mündlicdyen Erzählungen mehr oder weniger Preis geges
ben find.
Bon Beiden, ben Mythen und Sagen, it noch das zu
unterfcheiden, was ald Zuthat des Schriftftellere er
fcheint, dazu dienend, die Erzählımg zu veranfchaulichen, zu
verknüpfen, zu fleigern ꝛc. |
„ Mit der Aufzählung verfchiedener Arten des Unge-
fhichtlichen in den ewangelifchen Erzählungen ift dem Ge:
fhichtlichen, welches fie Daneben noch in reihem Maße
enthalten, Nichts vergeben. *
Viertes Kapitel.
Merkmale ‚ woran ſich die Mythen im neuen Zeſte-
mente erkennen laſſen.
Es bleibt uns alſo, ehe wir zur Prüfung der einzelnen
Erzählungen übergehen, nur noch übrig, die Merkmale feſtzu⸗
ftellen, an welchen fich die Mythe neben dem Geſchichtlichen
als foldye erkennen laͤßt; durch welche fie von demſelben ſich
unterfcheibet.
Diefe Merkmale find folgende zwei:
I. Mythe ift ein Bericht, wenn das Erzählte nicht fo
gefchehen fein kann; — Unmöglichkeit der Ge⸗
fhichte.)
1. Diythe ift ferner eine Erzählung, wenn ihre Inhalt,
jo wie ihre Form, verräth, daß fie eine aus der Gei-
ftesrichtung und der Ideenwelt der Zeit hervorgegans
63
gene Dichtung fein muß. — (Nothwendigkeit ber
Erdihtung ’‘)
I. Unmöglichkeit der Geſchichte. Diefe ift vorhanden:
. 1. Wenn das Erzählte „mit ben befannten und fonft
überall geltenden Gefeten bes Gefchehens unvereinbar
iſt.“ Eines der wichtigften dieſer Gefeße ift, daß, nach ver
nünftigen Begriffen und allen Erfahrungen zufolge, Gott nicht
durch einzelte willführliche Akte in den firengen und noth⸗
wendigen Zufammenhang der Naturgefeße unmittelbar, und
fomit ftörend, eingreift, fondern daß jcder Wirfung cine
nach den Naturgefegen begreifbare, aus ihnen zu erfläs
rende Urfache vorangehen muß. Wo alfo einem Bericht zus
folge Etwas unmittelbar durch Gott felbft bewirkt fein foll,
mit Umgehung der Raturgefeße, z. B. Stimmen vom Himmel,
wunderbare Berklärungen ꝛc., oder wo erzählt wird, daß von
einzelnen Menfchen in Folge der ihnen von Gott unmittelbar
verliehenen übernatürlichen Kräfte — Wunder verrichtet
worden feiern — da haben wir, wenigſtens in Betreff diefes
Uebernatürlichen, feine gefchichtlihe Wahrheit, fondern -
eine Diythe vor und. Da ferner „die Einmifhung von
Weſen einer höhern Geifterwelt in die menfchliche ſich theils
nur in unverbürgten Berichten findet, theild mit richtigen Ber
griffen unvereinbar ut *, fo können auch die Erzählungen
von Engels und Teufels = Erfcheinungen nicht als Gefchichte,
fondern nur als Mythe genommen werden.
Ein weiteres Naturgefeß, das wir bei allem Gefchehenen
beobachten können, ift Das der ftetigen Folge, welche darin
beiteht, daß auch bei den fchnellften und gewaltfamften Ber:
änderungen dennoch nirgends ein Sprung ftatt findet, fondern
Alles „in eurer gewiffen Ordnung und Folge, in allmäh-
lichem Wachsthum und Abnehmen vor ſich geht. * Wird ung
aljo von einem großen Manne gefagt, er habe fehon bei feiner
Geburt und in feiner Kindheit außerordentliches Aufjehen
) Die Ausdrücke: „Unmöglichkeit der Gefchichte“ und „Nothe
wendigfeit der Erdihtung“ nehmen fich allerdings etwas fleif
aus; allein fie find der Kürze wegen gewählt und werden wohl
nicht mißverfianden werben.
64.
erregt; — oder. feine Anhänger haben fchon bei dem erften
Anblicke ihn ale Das anerkannt, was er.war; — oder wird
„ber Aufichwung von tieffter Niedergefchlagenheit zur höchſten
Begeifterung als das Werk einer einzigen Stunde * bargeftellt,
— ſo fünnen wir auch hier feine reine Gefchichte vor uns
en. |
Enblich kommt hier auch die Gefebmäßigfeit des menſch⸗
lihen Geiſtes in Betracht, der fich gleichfalls, wenn auch
mit größerer Freiheit, innerhalb . den Grenzen feiner eigens
thümlihen Natur bewegt. Nach den Geſetzen derfelben if
es unglaublich, daß „ein Menſch gegen alle menſchliche,
oder doch gegen feine fonftige Art und Weiſe empfunden,
gedacht und gehandelt haben follte*. Daher ift ed 3. B. uns
denkbar, daß die jüdifchen Aelteften und SHohenpriefter der
Ausfage der an. Jeſu Grab geftellten Wächter, daß er aufs
eritanden fei, Glauben geſchenkt, und, ftatt ſie zu befchuls
digen, fie werden wohl im Schlafe ſich feinen Leichnam
haben ftehlen laffen, fie beftochen haben follen, um eben
dies auszu prengen. Auch das gehört hieher, daß, nach allen
Geſetzen des menfchlichen ErinnerungssDBermögend, es uns
denkbar ijt, daß ein Zuhörer Neden, wie die von Sefu im
Evangelium des Johannes, fo ganz wörtlich follte behals
ten haben, wie fie geiprochen worden. Weil jedoch bei außers
ordentlichen Menfchen oder. in ungewöhnlichen Aufregungen
Manches weit rafcher und unermwarteter gefchehen kann, ald
es gewöhnlich der, Fall zu fein pflegt, und weil die Menfchen
ja oft charafterlos und gegen ihre fonftige Gewohnheit hans
dein, fo werden die beiden letzteren Punkte ale Merkmale Des
Ungejchichtlichen nur dann in Betracht fommen fünnen, wenn
ſich außer ihnen noch andere finden. j
2. Auch dann kann ein Bericht nicht reine Gefchichte
enthalten, wenn er mit fich felbft oder mit andern Be-
richten in Widerfprudh fteht.
Am entſchiedenſten it der Widerfpruch, wenn Ein Bericht
behauptet, was der Andere Täugnet; z. B. Ein Evans
gelium erzählt, Sefus fei erſt nad) der Verhaftung Sohannes
65
bes Taufers in Galiläa aufgetreten, ein Anderes aber, daß
Sohannes noch nicht im Gefängniß geweſen fei, als Chriſtus
fon längere Zeit in Galilda und Subäa gewirkt habe.
Wenn hingegen der Eine Bericht ftatt deffen, was ber
Andere giebt, nur etwas Anderes hinftellt, ohne geradezu
zu läugnen, was dieſer behauptet, ſo betrifft der Wider⸗
ſpruch entweder nur" äußere Beziehungen und Verhältniſſe,
— wenn Zeit, Drt, Zahl ꝛc. verfchieden angegeben wers
den, wo aledann die Ausgleichung leichter möglich ift — oder
die Sache felbft. Im letzterer Hinficht erfcheinen bald Chas
ractere oder Anfichten in zwei Erzählungen ganz verfchieden,
wie 3. 3. wenn der Eine Evangelift erzählt, der Täufer habe
Jeſum als den zum Leiden beftimmten Meffias erfannt und
begrüßt, der Andere aber, er habe an deffen leidenden Ver⸗
halten Anftoß genommen; — bald aber: wird ein und berfelbe
. Vorfall auf mehrerlei Weife dargeftellt, wovon Doch nur Die
Eine der Wirklichkeit gemäß fein kann; fo 3. B., wenn nad
dem Einen Berichte Jeſus feine erften Tünger am Galiläiſchen
See zu fid) berufen, nach dem Andern in Sudäa und auf dem
Wege nad) Galiläa gewonnen haben fol. Hierher gehört auch,
wenn Neden oder Begebenheiten als zweimal vorgefommen
dargeftellt werden, die einander fo ähnlich fehen, daß wir
in den verfchiedenen Berichten die Erzählung einer und der-
felben Thatfache erblicken müffen, deren Wiederholung wir
ung nicht denfen fünnen. Endlich ift als ein Widerfpruch auch
der Umftand anzufehen, wenn der Eine etwas erzählt, wovon
der Andere ſchweigt; jedoch hat dieß nur dann Gewicht,
wenn fich beweifen läßt, daß der Schweigende die Sache,
wenn fie vorgefallen wäre, hätte wiffen, und wenn er fie
gewußt, hätte erzählen müffen.
I. Nothwendigkeit der Erdichtung. Diefe erfens
nen wir in folgenden Fällen,
1) Wenn die Form eine dichterifche ift, wenn bie
Handelnden Reden wechjeln, „die Tanger und begeifterter find,
als fic von ihrem Character, ihrer Bildung und gegemmwärtis
gen Lage erwarten läßt*, fo find wenigſtens dieſe Neden ald
nicht gefchichtlich zu betrachten.
l 5
66
2) Trifft der Inhalt einer Erzählımg auffallend zuſam⸗
men mit gewiffen Ideen und orftellungen, welche in bem
Kreife, in welchem die Erzählung entftand, herrfchend fünb,
und daher die Erwartung, daß etwas diefen Borjtellingen Ent:
forechendes gefchehen müffe, hervorrufen, fo ift es mehr oder
weniger wahrfcheinlich, daß jene Erzählung eine Wiythe ift,
- weil die herrfchende Erwartung, es müffe etwas fo oder fo
ſich zugetragen haben, gar leicht auch den Glauben und die
Annahme erwedt, es fei wirklich fo gefchehen. Wir willen
z. B., daß die Suden gar gerne große Männer zu Kindern
von Müttern machten, die lange unfruchtbar gewefen: dieß
muß und ſchon mißtranifch machen gegen die gefchichtliche
Wahrheit der Angabe, daß dieß bei Johannes dem Täufer
der Fall gewefen ſei. Zu diefen berrfchenden Vorftelluns
gen gehören aber in vorzüglichem Grade Die oben näher ent-
wickelten meffianifchen Erwartungen, nach welchen ein ganz
beftimmtes Vorbild des Meffias in den Gemüthern bes
Volkes Tebte. Finden wir alfo in den evangelifchen Berichten
wunderhafte Züge, in welchen fich auf eine auffallende Weiſe
diefe Erwartungen abfpiegeln, fo Tiegt die Vermuthung fehr
nahe, daß Ddiefe Berichte eben aus dieſen in dem Glauben
der Anhänger Jeſu fich gebildet haben. Dieß gilt 3. B. von
der Geburt Sefu in Bethlehem, dem Stammorte des David’
ſchen Gefchlechtes, dem Gefchlechtsregifter feiner Mutter Maria,
wodurd Jeſu Abftammung aus dem Kaufe Davids beurkun⸗
det werden foll, u. f. w.
Zu diefen, in I. und 11. entwidelten, mythifchen Be⸗
ftandtheilen fommt endlich noch das, was ſich ald Sage oder
als Zuthat des Schriftftellers anfündigt; hierüber ift fchon
in Obigem das Nöthige bemerft worden.
Dieß find, kurz zufammengefaßt, die Merkmale, durch
welche eine evangelifche Erzählung fich als Mythe anfündig
kann. | ”
Für die Anwendung aber muß zunächit noch folgender
Grundſatz feftgehalten und wohl beachtet werben: findet fid)
nur eines jener Merkmale an einem Berichte, fo ift es nur -
67
möglich, höchſtens wahrfcheinlich, daß berfelbe eine Mythe
enthalte; erſt dann, went fid, mehrere auffinden laſſen, iſt
ein ſiche rer Schluß auf den ungefchichtlichen Character ber.
Erzählung zuläffig. Daß z. B. die Huldigung der Weifen aus
dem Wiorgenlande auffallend übereinftimmt mit der jüdifchen
Borftellung von dem durch Bileam geweiffagten Meffias-Sterne,
ift noch fein hinreichender Grund, die Erzählung für eine
Mothe zu halten: allein es kommt dazu, daß fie den Naturs
gefeßen widerfpricht, und daß fie mit dem Berichte eines ans
dern Evangeliften ſich durchaus nicht in Uebereinftimmung
bringen läßt.
Se größer alfo die Zahl jener Merkmale ift, Die bei
einer einzigen Erzählung zufammentreffen, defto größer ift nas
türlich auch die Mahrfcheinlichfeit, daß diefelbe eine Mythe fei.
Endlich erfordert die Gewiffenhaftigfeit in Anwendung der
von uns aufgeftellten leitenden Grundfäge, daß wir noch über
nachftehende, oft vorfommende, Fälle und zuvor in's Klare
ſetzen.
1) Wenn zwei Berichte ſich entſchieden widerſprechen,
hat man alsdann Beide, oder mir Einen derſelben für um
gefchichtlich zu halten? — In der Regel wird man fi, für
das Letztere entjcheiden müſſen: denn fobald Ein Bericht als
mythifch aufgegeben ift, fo hört der Widerfpruch auf, und es
fteht, wenn nicht andere Gründe vorhanden find, dem Glaus
ben an die gefchichtlihe Wahrheit des Andern nichts mehr
im Wege. So kann man z. B. mit Lukas ohne Bedenken
Nazareth als den Wohnort der Aeltern Jeſu annehmen,
wenn man die Erzählung des Matthäus, der als folchen
Bethlehem deutlich bezeichnet, als Mythe erfannt hat. Allein
in vielen Källen diefer Art wird Doch der mythifche Charkfter
der Einen Erzählung auch die Andere verdächtig machen; denn
fo gut jene erdichtet ift, eben fo gut kann es ja auch bei
diefer der Fall fein. Ueberhaupt aber ift eine Wiythe über
irgend einen Abfchnitt in dem Leben Jeſu immer ein Beweis,
„daß die Dichtung in Bezug auf benfelben thätig war*, und
e8 werben daher auch andere Berichte über benfelben Ab-
ſchnitt mit prüfendem Auge betrachtet werden müflen.
68
2) Wenn einzelne Theile einer Erzählung fich ale my⸗
thifch herausftellen, hat man defhalb die ganze Erzählung
als mythifch zu betrachten, oder Fünnen dabei die übrigen
Theile berfelben Doch als gefchichtlich anerfannt werden? Es
gibt allerdings Fälle, wo man, wenn man von einer Erzaͤh⸗
lung das Wunderbare als den mythiſchen Beftandtheil abgelöst
hat, den noch übrigen Theil als gefchichtlichen Kern gelten
laffen muß: nur daß es dann immer zweifelhaft bleibt, wie
denn die Sache eigentlich zugegangen, da ja der wahre Her
gang derfelben durch die Mythe in der Erzählung verwiſcht iſt.
So fünnen wir bei manchen wunderbaren Kranfenheilungen
durch Sefus auch Dam, wenn wir den Hergang berfelben,
d. h. die Bewerfftelligung ‚derfelben durch ein Wunder, als
Mythe erfannt haben, Doc) eine Heilung an fich als gefchichts
liche Thatfache gelten laſſen; nur aber uns befcheiden, nict
zu wiflen, wie es dabei zugegangen.
Wenn aber, nad Entfernung des Wunderbaren und Uns
denfbaren, fi) für das noch übrig bleibende Natürliche wer
der ein Grund noch eine Urfache denken läßt, mithin auch
Diefes als ein Undenfbares erfcheint, fo müflen wir die
ganze Erzählung für unhiſtoriſch und für religiöfe Dichtung
erflären. Wollte 3. B. Semand behaupten, es fei zwar nur
Mythe, daß ein Engel der Maria verfündet, fie werde ben
Meſſias gebären, allein Maria habe dennoch ſchon vor ber.
Geburt Jeſu diefe feſte Hoffnung gehabt, fo müffen wir
erwiedern, Daß Dieß ganz undenfbar fei — denn wie follte
fie zu einer folhen Erwartung gekommen fein? — und dem-
nach jedes Vorherwiſſen der Maria in Abrede ftellen.
Eben fo wird eine Erzählıng in allen ihren Theilen,
nicht nur in den mythifchen, als gejchichtliche Thatfache nicht
Betrachtet werden Fünnen, wenn das Ganze einer meffianifchen
Borftellung der damaligen Suden auffallend ähnlich fieht, weil °
wir aledann zu der Annahme berechtigt find, daß dag Ganze
a's Dichtung in dem oben entwicelten Sinne aus dieſen Vor⸗
ftellungen entitanden fei. Könnte man 53. B. auch annchmen,
der Berflärungsgefchichte liege die Thatfache zu Grunde, daß
zwei Männer im Glanze der Morgenröthe bei Sefus fich eins
gefunden hätten, fo ift Doch auch dieß noch, abgefehen von
0 69
dem übrigbleibenden Räthfelhaften in der Perfon und dem
Benehmen der Männer, fehr unmahrfcheinlih, weil in ber
Erzählung zu auffallend das Beſtreben fichtbar ift, Sefum,
der ale Meſſias geiftig mit den alten Propheten Miofes und
Elias fo genau verbunden gedacht wurde, auch in einen fürs
perlichen, fichtbaren Zufammenhang zu bringen. Hier ift
alſo der ganze Kern der Erzählung ein rein mythifcher;
fie ift die Einfleidung einer meffianiichen Idee, ohne welche
der ganze Vorfall, wollte man ihn auch als gefcyichtlich gelten
laſſen, alle Bedeutung verliert.
Wo aber nur Einzelnes an der Form einer erzählten Bes
gebenheit Merkmale des Ungefchichtlichen an ſich trägt, ber
ganze Juhalt aber nicht, alfo nicht ale undenkbar, noch als
unverfennbarer Abdrud einer jüdiichen Meffiasidee erfcheint,
da kann immer ein gefchichtlicher Kern anerfannt werden.
Es geht aus dem Erörterten hervor, daß eine fcharfe
Sränzlinie zwifchen Gefchichtlihem und Ungefchichtlichem bei
den evangelischen Berichten fehr ſchwer zu ziehen ift; daß es
ſelbſt unmöglich bleiben wird, überall nachzuweifen, was
wirflidy gejchehen it, und was nicht. Am wenigften kann
man dieß von der nachftehenden Unterfuchung verlangen, da
fie al3 der erfte umf aſſende Berfuch zu betrachten iſt, die
Evangelien einer firengen Prüfung und Sichtung zu unter;
werfen und die miythifchen Beftandtheile in denfelben aufzu:
fuchen. Wenn aljo bei vielen einzelnen Erzählungen das offene
Befenntniß abgelegt werden muß, daß wir nicht wiffen, was
wirklich gefchehen fer, fo it damit keineswegs gejagt, Daß
überhaupt Nichts gefchehen fei, daß die ganze Erzählung
“eine erdichtete fet.
Es beruht alfo nur auf einer irrthümlichen Anficht von der
Sache, wenn man dem Berfahren des mythifchen Auslegers
vorwirft, es bleibe bei demfelben gar nichts, oder doch nur
fehr wenig Gefchichtlicyhes übrig. Dieß [cheint nur fo; denn
wir fliehen mit diefer Unterfuchung erft am Anfange des
ganzen Prozeffes, deflen erſtes Geſchäft es iſt, das Unge—⸗
ſchichtliche wegzuräumen, die blendenden Lichter zu entfernen,
Pr
70
den Schein von dem Weſen zu trennen. Sein zweites de
fhäft wird und muß fein, dieſes Weſentliche felbit und is
feiner Neinheit barzuftellen, und dadurch eine, allerdings ew
fachere, aber um fo mehr beglaubigte und in ſich ſelbſt m -
fammenhängende Gefchichte zu gewinnen. Dieß kann aber mr
durch unermüdeted Weiterforfchen und durch das vereinte der
mühen Bieler gelingen. — Es wird ſich auf unferem Gebiete
eben fo verhalten, wie auf dem der NRaturmiffenfchaften: lange
begnügte man ſich hier mit der myſtiſchen Vorſtellung, da
die Natur durch den unmittelbaren Einfluß höherer, ſowohl
guter als böfer, Geifter regiert werde, und daß derjenige, ber
fidy ihres Beiftandes erfreue, als Zauberer über ihre Kräfte
gebieten könne. Damit hatte man freilich eine befriedigend
fcheinende Erklärung des in ftiller Verborgenheit waltenden
Naturlebens und feiner äußeren Erfcheinungen; allein als die
Wiſſenſchaft mit früher nie geahnter Kraft ſich erhob, da
ftanden jene Vorftellungen, mit denen man Alles erflärt zu
haben glaubte, in ihrer Nichtigkeit da. Nun fah man fich frei
Ich, da man einen ganz neuen, noch nie betretenen Weg, ben
der natürlichen Erflärungsweife der Naturerfcheinungen,
eingefchlagen hatte, auf einmal genöthigt, zu .geftehen, daß
man von vielen dieſer Erfcheinungen eine genügende Erflärung
noch nicht geben könne. Die Wiffenfchaft aber, in dem Bes
mußtfein, daß ihre Grundfäge und Vorausfegungen die einzig
vernünftigen und notwendigen feien, in der barauf.ges
bauten Ueberzeugung, daß endlich die Erflärung und Ergrün⸗
dung aller Erfcheinungen gelingen müffe — verfolgte muthig
und unermüdet ihre Bahn. Und wie viel ift ihr fchon jebt
gelingen! Haben ſich die Naturwiffenfchaften nicht zu einer
Höhe empor gefchwungen, von welcher felbft unfere nächiten
Vorfahren noc, feine Ahnung hatten?
Die Anwendung diefes Vergleichs auf unfere Aufgabe
ergibt ſich leicht. Sind wir nur erft von der in der Vernunft
begründeten Richtigkeit des eingefchlagenen Verfahrens voll
fommen überzeugt, haben wir erft uns vollftändig gerüftet und
unfer Auge mehr gefchärft, uud graben wir in dieſem Glaus
ben unverdroſſen in dem dunkeln Schachte der Berichte weiter,
jo werden ſich und noch manche reiche Goldadern gebiegener
71
un) verbürgter Geſchichte aufthun, von denen freilich der
bier vorliegende erfte Anbau nur eine Vorftellung und bunfle
Ahnung erweden kaun. 7)
Ueber dasjenige, was nad, den nunmehr beginnenden, in
a8 Einzelne eingehenden, Unterfuchungen für ven Glauben
8 Chrijten übrig bleibt; über den unverwüftlichen Gehalt,
ee fich Durch diefelben herausftellt, wird die Schlußabhande
ıng Nechenfchaft geben. Wir glauben, darauf fchon hier
uweiſen zu müffen, um jedem vorgreifenden Urtheile zu be⸗
guen.
m Es fei uns erlaubt, noch auf zwei ähnliche Erſcheinungen auf
benachbarten wiitenfchaftlichen Gebieten aufmerkſam zu machen.
Als der berühmte 5. U. Wolf den kühnen Verfuch machte, zu
beweifen, bie Homeriſchen Gefänge feien nicht bad Werk Eines
Dichters, und ats Niebuhr bie ältere Geſchichte Roms für
eine fagenhafte erklärte, da erfchradten Biele ob bes tumultuari⸗
fchen, aller Gefchichte, wie fie vermeinten, Hohn fprechenden
Berfahrens. Gegenwärtig aber wirb wohl kein Sachkundiger
die Richtigkeit der Worffchen und Niebufr’fchen AUnfichten im
Befentlichen, beflreiten wollen, und wenigſtens in Bezug anf
die Homerifchen Gedichte haben fortgefehte Unterfuchungen zu
Refuttaten geführt, die ung Hoffen laſſen, wir werben noch eine
Geſchichte derſelben erhalten, beren Umfang und nachweisbare
Sicherheit feibft ben großen, leider! fchon verftorbenen, Meifter
überrafchen würde, wenn ihm vergbnnt wäre, bie Früchte feines
genialen Unternehmeus zu jchanen.
64
erregt; — oder. feine Anhänger haben fchon bei dem eriten
Anblide ihn ale Das anerkannt, was er.war; — oder wird
„der Auffchwung von tiefiter Niebergefchlagenheit zur höchſten
Begeiiterung als das Werk einer einzigen Stunde * bargeftellt,
— fo können wir auch hier feine reine Gefchichte vor und
haben. Ä |
Endlich kommt hier auch die Gefekmäßigfeit des menſch⸗
lihen Geiſtes in Betracht, der fich gleichfalls, wenn audi
mit größerer Freiheit, innerhalb den Grenzen feiner eigen
thümlichen Natur bewegt. Nach den Geſetzen bderfelben ik
es unglaublich, daß „ein Menſch gegen alle menfchliche,
oder doch gegen feine fonftige Art und Weife empfunden,
gedacht und gehandelt haben follte*. Daher ift ed 3. B. un⸗
denkbar, daß die jüdifchen Aelteften und Hohenprieſter der
Ausfage der an. Jeſu Grab geftellten Wächter, daß er aufs
erftanden fei, Glauben gefchenft, und, ftatt ſie zu befchuls
digen, fie werden wohl im Sclafe ſich feinen Leichnam
haben fehlen laffen, fie beftochen haben follen, um eben
dies auszu'prengen. Auch Das gehört hieher, daß, nad) allen
Sefeten des menfchlihen ErinnerungssBermögend, es uns
denkbar it, daß ein Zuhörer Neden, wie die von Sefu im
Evangelium des Johannes, fo ganz wörtlich follte behals .
ten haben, wie fie gefprochen worden. Weil jedoch bei außer
ordentlichen Menfchen oder. in ungewöhnlichen Aufregungen
Manches weit raſcher und unermwarteter gefchehen kann, ala
es gewöhnlich der, Fall zu fein pflegt, und weil die Menfchen
ja oft charafterlos und gegen ihre fonftige Gewohnheit hans
deln, fo werden die beiden leßteren Punkte als Merkmale des
Ungeichichtlichen nur dann in Betracht kommen können, wem
ſich außer ihnen noch andere finden. "
2. Auch dann kann ein Bericht nicht reine Geſchichte
enthalten, wenn er mit ſich felbft oder mit andern Be
richten in Widerfprudy fteht.
Am entichiedenften it der Widerfpruch, wenn Ein Bericht
behauptet, was der Andere läugnet; 5. B. Ein Evan
gelium erzählt, Sefus fei erit nad) ber Verhaftung Sohannes
65
es Taufers in Galilaͤa aufgetreten, ein Anberes aber, daß
vhannes noch nicht im Gefängniß geweſen fei, als Ehriftus
don längere Zeit in Galilaa und Judaäa gewirkt habe.
Wenn hingegen der Eine Bericht ftatt deffen, was ber
Inbere giebt, nur etwas Anderes hinftellt, ohne geradezu
s läugnen, was bDiefer behauptet, fo betrifft der Wider
much entweder nur äußere Beziehungen und Berhältniffe,
— wenn Zeit, Drt, Zahl ꝛc. verfchieden angegeben wers
en, wo alsdann die Ausgleichung leichter möglich ift — oder
ie Sache felbft. In letzterer Hinficht erfcheinen bald Cha⸗
actere oder Anfichten in zwei Erzählungen ganz verfchieden,
ie z. 3. wenn der Eine Evangelift erzählt, der Täufer habe
jefum als den zum Leiden beitimmten Meffias erfannt und
egrüßt, der Andere aber, er habe an beffen leidenden Ver⸗
alten Anftoß genommen, — bald aber: wird ein und berfelbe
zorfall auf mehrerlei Weife dargeftellt, wovon doc, nur die
Kine der Wirklichkeit gemäß fein kann; fo 3. B., wenn nad)
em Einen Berichte Sefus feine erften Sünger am Galiläifchen
5ee zu ſich berufen, nad) dem Andern in Judäa und auf dem
Bege nad) Galiläg gewonnen haben fol. Hierher gehört auch,
yenn Reden oder Begebenheiten ald zweimal vorgefommen
argeftellt werden, bie einander fo ähnlich fehen, daß wir
a den verfchiedenen Berichten die Erzählung einer und ders .
ben Thatfache erbliden müffen, deren Wiederholung wir
ns nicht denken fünnen. Endlich ift ald ein Widerfpruch auch
‚er Umftand anzufehen, wenn der Eine etwas erzählt, wovon
er Andere ſchweigt; jedoch hat dieß nur dann Gewicht,
venn fich beweifen läßt, daß der Schweigende die Sache,
venn fie vorgefallen wäre, hätte wiffen, und wenn er fie
jewußt, hätte erzählen müflen.
II. Nothwendigfeit der Erdichtung. Diefe erfens
nen wir in folgenden Fällen,
1) Wenn die Form eine bichterifche ift, wenn bie
Handelnden Reben wechſeln, „die länger und begeifterter find,
als fich von ihrem Character, ihrer Bildung und gegemvärtis
gen Lage erwarten laͤßt*, fo find wenigſtens biefe Neden ald
nicht gefchichtlich zu betrachten.
1. 5
86
M Xeifft der Inhalt einer Erzählımg auffallend zuſam⸗
men mit gewiffen Ideen und Vorſtellungen, welche in dem
Kreife, in welchem die Erzählung entftand, herrſchend ſind,
und daher die Erwartung, Daß etwas diefen Borftellimgen Ent-
forechendes gefchehen müſſe, hervorrufen, fo ift e8 mehr oder
weniger wahrfcheinlich, daß jene Erzählung eine Mythe if, .
- weil die herrfchende Erwartung, ed müffe etwas fo ober fo '
ſich zugetragen haben, gar leicht aud) den Glauben und die .
Annahme erwedt, es fei wirklich fo gefchehen. Wir wiſſen
z. B., daß die Juden gar gerne große Männer zu Kinden |
von Müttern machten, die lange unfruchtbar gewefen: dieß
muß und fchon mißtrauiſch machen gegen die gefchichtliche
Wahrheit der Angabe, daß dieß bei Johannes dem Täufer
der Fall gewefen fei. Zu diefen berrfchenden Vorftellun:
gen gehören aber in vorzüglichem Grade die oben näher ent-
widelten meffianifchen Erwartungen, nach welchen ein ganz
beftimmtes Borbild des Meffias in den Gemüthern bes
Bolfes Tebte. Finden wir alfo in den evangelifchen Berichten
wunderhafte Züge, in welchen fich auf eine auffallende Weiſe
diefe Erwartungen abfpiegeln, fo liegt die Vermuthung fehr
nahe, daß dieſe Berichte eben aus diefen in dem Glauben
der Anhänger Jeſu fich gebildet haben. Dieß gilt 3. 3. von
der Geburt Sefu in Bethlehem, dem Stammorte des David’
ſchen Geſchlechtes, Dem Gefchlechtsregifter feiner Mutter Maria,
wodurd Jeſu Abftammung aus dem Kaufe Davids beurfuns
det werden foll, u. f. w.
Zu diefen, in I. und I. entwidelten, mythiſchen Be
ftandtheilen kommt endlich nody das, was ſich ald Sage ober
als Zuthat des Schriftitellers ankündigt; hierüber ift ſchon
im Obigem das Nöthige bemerkt worden.
Died find, kurz zufammengefaßt, die Merkmale, durch
welche eine evangelifche Erzählung ſich als Mythe anfündig
kann.
Für die Anwendung aber. muß zunächſt noch folgender
Grundſatz feftgehalten und wohl beachtet werben: findet ſich
nur eines jener Merkmale an einem Berichte, fo tft ed mr -
67
möglich, hoͤchſtens wahrfcheinlich, daß derfelbe eine Mythe
enthalte; erſt dann, wenn ſich mehrere auffinden Iaffen, iſt
en fiherer Schluß auf den ungefchichtlichen Character ber.
Erzählung zuläffig. Daß z. B. die Huldigung der Weifen aus
dem Diorgenlande auffallend übereinftimmt mit der jübifchen
Borftellung von dem durch Bileam geweiffagten Meffias-Sterne,
it noch Fein hinreichender Grund, die Erzählung für eine
Mothe zu halten: allein es kommt dazu, daß fie den Naturs
geſetzen widerfpricht, und daß fie mit dem Berichte eines ans
dern Evangeliften ſich durchaus nicht in Uebereinftimmung
bringen läßt.
Se größer alfo die Zahl jener Merkmale ift, die bei
einer einzigen Erzählung zufammentreffen, deito größer ift nas
türlich auch Die Mahrfcheinlichkeit, daß Diefelbe eine Mythe fei.
Endlich erfordert die Gewiflenhaftigfeit in Anwendung ber
von und aufgeitellten leitenden Grundfäge, daß wir noch über
nachitehende, oft vorfommende, Fälle ung zuvor in’d Klare
ſetzen.
1) Wenn zwei Berichte ſich entſchieden widerſprechen,
bat man alsdann Beide, oder nur Einen derſelben für um
geichichtlich zu halten? — In der Regel wird man fidy für
das Lebtere enticheiden müſſen: denn fobald Ein Bericht als
mythifch aufgegeben ift, fo hört der Widerſpruch auf, und es
fieht, wenn nicht andere Gründe vorhanden find, dem Glau⸗
ben an die gefchichtliche Wahrheit des Andern nichts mehr
im Wege. So kann man 3. B. mit Lufas ohne Bedenken
Kazareth ald den Wohnort der Aeltern Sefu annehmen,
wenn man die Erzählung des Matthäus, der als foldyen
Bethlehem deutlich bezeichnet, als Miythe erfannt hat. Allein
in vielen Fällen diefer Art wird Doch der mythiſche Charukter
der Einen Erzählung auch die Andere verdächtig machen; denn
fo gut jene erdichtet ift, eben fo gut kann es ja audy bei
diefer ber Fall fein. Ueberhaupt aber ift eine Miythe über
irgend einen Abfchnitt in dem Leben Sefu immer ein Beweis,
„daß die Dichtung in Bezug auf denfelben thätig war*, und
es werben daher auch andere Berichte über benfelben Ab⸗
ſchnitt mit prüfendem Auge betrachtet werden müflen.
76
ferner muß nad den Worten des Berichtes felbit als ein
wirfliches Stunmfein, nicht als Wert des Borfaßes ange
- fehen werben; vergl. B. 20. 22. 64. Wie wunderbar aber —
ift ed nun, daß die Zungenlähmung gerade bei der Beſchnei⸗—
dung des Knaben verfchwand (B. 64)! Man fagt, die Freude —
bewirfte dieß: aber dann hätte es weit cher bei der Geburt —im
gefchehen müflen; der erite Anblid des erfehnten Sohnes wirkt —m
erfchütternder auf den Bater ein, ald ein, wenn auch noch fo —
feierlicher Akt, der erſt nach achttägigem Beſitze des Neugebor—
nen vorgenommen wird. Daß endlich der alte Zacharias dure
bie in dem Tempel über ihn gefommene Extaſe neubelebt wor
den, und fofort bei feinem Weibe mit befferem Erfolge fin
die Erfüllung des gemeinfchaftlichen Wunſches habe wirt
Tonnen, ift denn doch eine gar zu natürliche Erklärung!
Die ganze Deutung bewirkt in der That nicht mehr, al
baß wir durch fie ftatt eined Gottes Wunderd ein Wunden
des Zufalles erhalten, womit Nichts gewonnen ift; vielmehr
verlieren wir dabei, nemlich den tieferen Gehalt gewiſſer
religiöfer Vorftelungen. Wir werden und alfo darnadı ums
fehen dürfen, ob nicht befriedigender die ganze Erzählung ale
eine Mythe zu deuten fei, um fo mehr, ba feit dem Hergange
felbft bis zur Ausbildung der Erzählung davon, wie wir fie
hier vor uns haben, wenigftens 60 Sahre verflofien fein
mußten.
Dieſe mythiſche Deutung iſt ſchon früher von mehrern
Theologen verſucht worden; ſie erklärten die Erzählung für
eine verherrlichende Dichtung, wollten aber als geſchichtlich
dennoch feſthalten die lange Unfruchtbarkeit der Eliſabeth und
das plötzliche Verſchwinden und Wiederkommen der Sprache
bei Zacharias. Allein beides ohne allen Grund! Denn wird
die Wirklichkeit der Engelerſcheinung aufgegeben, ſo fällt auch
jede genügende Urſache für das plötzliche Verſtummen weg;
ſie wird auch hier ein unerklaͤrtes Wunder des Zufalles; wozu
in dieſe Verlegenheit ſich begeben, da der mythiſche Stand⸗
punkt, wenn man einmal zu demſelben im Allgemeinen ſich ge⸗
nöthigt ſieht, von dem Feſthalten an der Treue der Berichte
im Einzelnen entbindet. Die lange Kinderloſigkeit aber iſt ſo
im Geiſte der hebräifhen Sagen⸗Poeſie, daß bei dieſem
77
Zuge: der mythifche Urfprung unverkennbar ift. Wir ers
>liden alfo in ber ganzen Erzählıng eine Mythe, welche,
a8 Johannes durch fein Leben und Ende fo große Bedeutung
mewoniten hatte, entitand; wahrſcheinlich zu einer Zeit, wo es
reoch reine Johannis⸗Jünger gab, welchen: diefe Mythe
Reigen follte, daß Die eigentliche Beftimmung des Johannes
gewefen, bie Erfcheinung Jeſu vorzubereiten (f. V. 17, 76 c.).
Die Mythe ift überbieß faft in allen ihren heilen alt⸗teſta⸗
mentlichen Erzählungen nachgebilbet.
Borerit ift ed eine im alten Teitamente öfters wiederfeh-
rende Borftellung, daß große Männer Söhne fchon betagter
Aeltern feien, und baß ihre Geburt, als ein nicht mehr zu
erwartendes Ereigniß, durch Engel verfündet worben; fo
bei Sfaaf, Ismael, Samuel, Simfon. Den Grund gibt das
Evangelium von der Geburt der Maria”) an: „auf daß er
kannt werde, der Geborne fei nicht durch die Luft entftanden,
fondern eine Gabe Gottes.“ — Daher lag folgender ein-
facher Schluß fehr nahe: Johannes war ein großer Prophet,
alfo auch ein Spätgeborner.“ Die einzelnen Züge für Die
Sage wurden aus verfchiedenen alt=teftamentlichen Erzählun⸗
den einzeln entlehnt; jedoch muß man fid) Dieß nicht fo denken,
als ob man fie erſt einzeln zufammengelefen hätte; viel
mehr war aus allen einzelnen, wie fie der inneren Anfchauung
vorfchwebten, in den Gemüthern ſchon ein Geſammtbild
entitanden, aus welchem Die geeignetiten von felbft fich dar⸗
boten, um zur Ausſchmũckung unſerer Erzählung verwendet zu
werben. |
So finden wir für den Unglauben des Zachariag (B.18)
das Borbild in dem des Abraham (1 Mof. 15, 8); für bie
Engelerfcheinung, in der Verfündigung des Simfon Ride
tee 13, 3— 9. 11 20); für das dem Knaben auferlegte Ge-
bot der Enthaltfamkeit und feine Beftimmung zum Prophe⸗
ten, in dem fait wörtlich gleichen Befehl, den der Engel den
Aeltern Simfons gibt (vergl. V. 15 und 80 mit Richter 13, 14.
2) Es gehört diefes zu den fogenannten apofrnphifchen Evangelien,
worliber man die Anmerkungen am Ende biefer Schrift nachlefen
wolle.
70
den Schein von dem Weſen zu trennen. Sein zweites Ge⸗
ſchaͤft wird und muß fein, dieſes Weſentliche ſelbſt und im
feiner Reinheit darzuſtellen, und dadurch eine, allerdings ein»
fachere, aber um fo mehr beglaubigte und in fich felbft zus .
fammenhängende Gefchichte zu gewinnen. Dieß kann aber nur
durch unermüdetes Weiterforfchen und durch das vereinte Bes
mühen Bieler gelingen. — Es wird ſich auf unferem Gebiete
eben fo verhalten, wie auf dem der Naturwiſſenſchaften: lange
begnügte man fich bier mit der myftifchen Vorſtellung, daß
die Natur durch den unmittelbaren Einfluß höherer, ſowohl
- guter als böfer, Geifter regiert werde, und daß derjenige, ber
fich ihres Beiſtandes erfreue, ald Zauberer über ihre Kräfte
gebieten könne. Damit hatte man freilich eine befriedigend
fcheinende Erklärung des in ſtiller Verborgenheit waltenden
Nacturlebens ımd feiner äußeren Crfcheinungen; allein als die
Wiffenfchaft mit früher nie geahnter Kraft fich erhob, da
ftanden jene Vorftellungen, mit denen man Alles erklärt zu
haben glaubte, in ihrer Nichtigkeit da. Nun fah man ſich frei-
li, da man einen. ganz neuen, noch nie betretenen Weg, ben
ber natürlichen Erklärungsweiſe der Naturerfcheinungen,
. eingefchlagen hatte, auf einmal genöthigt, zu. geftehen, daß
‚man von vielen diefer Erfeheinungen eine genügende Erflärung
noch nicht geben könne. Die Wiffenfchaft aber, in dem Be⸗
mwußtfein, daß ihre Grundfäße und Vorausſetzungen die einzig
vernünftigen und nothmwendigen feien, in der barauf.ger
bauten Ueberzeugung , daß endlich die Erflarung und Ergrüns
bung aller Erfcheinungen gelingen müffe — verfolgte muthig _
und unermüdet ihre Bahn. Und wie viel ift ihr fchon jebt
gelungen! Haben ſich die Naturmwiffenfchaften nicht zu einer
Höhe empor gefchwungen, von welcher felbft unfere nächiten
Vorfahren noch Feine Ahnung hatten?
Die Anwendung diefes Vergleich! auf unfere Aufgabe
ergibt fich leicht. Sind wir nur erft von der in der Vernunft
begründeten Nichtigkeit des eingefchlagenen Verfahrens voll-
fommen überzeugt, haben wir erft uns vollftändig gerüſtet und
unfer Ange mehr gefchärft, uud graben wir in dieſem Glau⸗
ben umverdroffen in dent dunkeln Schachte der Berichte weiter,
jo werden fic und noch manche reiche Goldadern gediegener
⸗
71
und verbürgter Geſchichte aufthun, won deinen freilich der
hier vorliegende erfte Anbau nur eine Vorftellung und dunfle
Ahnung erweden fan. 77) _
Ueber dasjenige, was nach den nunmehr beginnenden, in
das Einzelne eingehenden, Unterſuchungen für ben Glauben
des Chriften übrig bleibt; über ben unverwüftlichen Gehalt,
der fich Durch diefelben herausftellt, wird Die Schlußabhands
lung Nechenjchaft geben. Wir glauben, darauf ſchon hier
binweilen zu müffen, um jedem vorgreifenden Urtheile zu bes
gegen.
7) Es fei und erlaubt, noch auf zwei ähnliche Erfcheinungen auf
benachbarten willenfchaftlichen Gebieten aufmerkfam zu machen.
As der berühmte F. U. Wolf ben Fühnen Verſuch machte, zu
beweifen, bie Homeriſchen Gefänge feien nicht bag Werk Eines
Dichters, und als Niebuhr bie ältere Gefchichte Roms für
eine fagenhafte erflärte, ba erfchradten Viele ob des tumultuaris
fchen, aller Gefchichte, wie fie vermeinten, Hohn fprechenden
Berfahrens. Gegenwärtig aber wird wohl Fein Sachkundiger
die Nichtigkeit der Wolf'ſchen und Niebuhr'ſchen Anfichten im
MWefentlichen, beflreiten wollen, und wentgftens in Bezug auf
die Homerifchen Gedichte haben fortgefehte Unterfuchungen zu
Reſultaten geführt, die und hoffen laffen, wir werden noch eine
Gefchichte berfelden erhalten, deren Umfang und nachweisbare
Sicherheit feibft Ben großen, leider! fehon verftorbenen, Meifter
überrafchen würbe, wenn ihm vergönnt wäre, die Krüchte feines
genialen Unternehmens zu fchanen.
Erſter Abfchnitt.
Geburt und Kindheit Jeſu.
| Erfted Kapitel.
Berkfündigung und Geburt Johannes, des Täufers.
Auf. 1, 5— 25 und 57— 80.) ”
„Dem fronmen. jüdischen Priefter Zacharias, ber m
vergeblicher Sehnfucht nach, Kindern gealtert ift, erfcheint eines
Tages, während des Räudyerns im Tempel, der Engel Gas
briel und verfündet ihm die Geburt eined Sohned. Da er
beicheidene Zweifel gegen die Verkündigung Außert, macht ihn
der Engel ftumm; erſt bei der Befchneidung des fpäter gebors
nen Sohnes, der, wie der Engel befohlen hatte, den Namen
Sohannes erhält, ehrt ihm die Sprache wieder, und er pros
phezeit in begeifterter Rede, Daß fein Sohn der Vorläufer bes
Herrn werde.“
Dieß der Inhalt der nur bei Lukas zu leſenden Gefchichte:
fie bietet und offenbar eine Reihe wunderbarer Vorgänge,
deren buchftäblicher Auffaffung, im Sinne der Orthodoxen,
fich nicht wenige Schwierigfeiten entgegenftellen. Zunächft ers
fcheint das Berfahren des Engeld, ber den Zacharias für
einen fo befcheidenen und fo begründeten Zweifel (V. 18) fos
gleich mit Stummheit ftraft CB. 20), eines Engeld unwürdig;
3, Wir geben bei jedem Kapitel die in demfelben behandelten Ab⸗
ſchnitte der Evangelien genau an, und erfuchen den Leſer, Dies
feiben jedesmal vorher nachfehen zu wollen, da ed und dei Rau⸗
mes wegen nicht möglich ift, das in ihnen Enthaltene auss
führlich zu referiren. Aus bemfelben Grunde werden auch faft
alle Beweisftellen nur angezeigt, ohne ihren Inhalt genauer ans
augeben. j
73
it um fo undenfbarer, da Abraham bei einer ganz ähnlichen
Prophezeiung eines Engeld es ungeftraft hingeht, daß er den⸗
feiben geradezu auslacht (1 Moſ. 17, 17); und ift nıcht auch
Maria bei der Verkündigung ungläubig, ohne daß Gabriel es
rügt (Luk. 1, 34) Daß aber dem Zacharias defhalb die
Sprache entzogen worden fei, damit er nicht zu frühe Durch
feine Reden auf ven Knaben Sohannes eine ihm Gefahr dros
hende allgemeine Aufmerkfamkeit hinlenfe, üt nicht nur gegen
den Wortlaut der Erzählung (V. 20), fondern wäre auch eine
ganz verkehrte Gabrieliſche Maßregel gewefen. Denn als 3.
die Sprache wieder erhielt, bezeichnete er geradezu den Kna⸗
ben als Borläufer des Herrn (V. 76 20.) und zwar fo begeis
tert, daß die Gefchichte in der ganzen Gegend ruchbar wurde
(3. 65).
Weiterhin muß fchon der Name bes Engels, hier wie
anderwärts, Bedenken erregen. Zwar ift der Glauben an
Engel im Allgemeinen ſchon den früheften altteftamentlichyen
Büchern eigen, allein die Vorftelluing von einer Nangords
nung bderfelben, einem fürmlichen Hofſtaate Gottes, in wels
chem einzelne Engel vermöge ihrer höheren Würde befondere
Namen führen (Tobias 12, 15 nennt deren fieben) wie Gas
briel, Raphael ꝛc. findet fich erit in den Büchern, Die nadı
dem Eril gefchrieben find; und alte Rabbinen bezeugen aus⸗
drücklich, daß jene Vorftellung aus Babylon ſtamme, ohne
Zweifel alfo aus der Zend-Neligion der Perfer ꝛc. Cie kann
alfo nicht ald eine geoffenbarte Vorſtellung betrachtet wers
den, oder man müßte auch nichtzifraelitiichen Völkern ben
Vorzug unmittelbar göttlicher Offenbarung einräumen; — oder
gar behaupten, eine auf gewöhnlichem Wege entitandene Mei-
nung werde zu einer geoffenbarten, fobald das jüdiſche Volk
ſich dieſelbe aneigne. Wir müffen alfo fchließen: der Engel
Gabriel wenigſtens fann jener Engel nicht geweſen fein;
der foll er ſich nur der damaligen Vorftellung, alfo auch der
des Zacharias, Gabriel fei der vornehmften Engel einer, ans
bequemt haben, um defto mehr Glauben zu finden? Dann
hätte er fich geirrt: denn 3. glaubte ihm ja Doch nicht!
Aber Engels Erfcheinungen überhaupt beruhen, wie
wir nach unferen Einfichten in Das Wefen der Natur annehmen
+.
74 '
müffen, auf irrigen Vorftellungen; fie find nur ale Dichtun
gen der Einbildungsfraft zu betradıten. Denn Engel, wie wir
‚andy über das Dafein berfelben urtheilen mögen, find Weſen,
die einer überfinnlichen Welt angehören, können als foldye
son und mit unfern Sinnens Werkzeugen nicht wahrgenoms
men werden und demnach auch feinem Menfchen wirflih ers
fheinen. Moher follte es ferner wohl kommen, daß fie in
der alten Welt aud) bei unwichtigeren Beranlaffungen ſich eins
finden, und in der neuen niemals, auch nicht bei den wichtigs
ften und verwicdeltiten Umftanden ?
Auch für dad Dafein der Engel laſſen ſich keine erheb⸗
lichen Gründe anführen; denn ſollen ſie nöthig ſein, um eine
Stufenleiter der geiſtigen Weſen zwiſchen Gott und den Men⸗
ſchen zu bilden, ſo müſſen wir einwenden, daß, wie vollkom⸗
mien wir uns auch den erhabenſten Engel denken mögen, immer
doch der Abſtand zwiſchen der endlichen Creatur und dem
unendlichen Schöpfer unermeßlich bleiben muß. Sie als Diener
Gottes nothwendig finden, würde den Allmächtigen, ben wir
uns überdieß als ftetd und unmittelbar im Weltall wirkend
denken müffen, zu einem endlichen, hülfsbebürftigen Weſen ers
niedrigen. Will man aber der Engel Vermittlung in Erfcheis
nungen ıc. fich geiftiger Denken, etwa ald vorübergehende Aus⸗
flüffe, gleichſam Lichtblike, des Göttlichen, fo zeritürt man
damit gänzlicdy die biblifchen Vorftellungen, welche in jenen
Erfcheinungen die Engel ſtets ald ganz leibhaftige pers
ſönliche Wefen hinftellen. Es wird daher nichts übrig bleis
ben, ald den Urfprung des Glaubens an Engel in dem Bes
fireben Trüherer Zeiten zu finden, das dahin ging, ſich Die
beiden ‘Seiten der menfchlichen Doppelnatur, dag Gute und
Das Böfe, als getrennte perfünliche Weſen zu denfen, ale
Engel und Teufel, und dadurch der Anfchauung näher zu
bringen. Hiermit find wir zugleich genöthigt, Die dem Zacha⸗
rias zu Theil gewordene, wie jede andere, Engelerſcheinung
nicht buchftäblich und als wirflihe Thatfache zu nehmen.
Denn zu behaupten, wie gewifle Theologen es thun, ed ges
- hören folche Erfcheinungen zur Verherrlichung einer großen
Zeit, wo der Geift Gottes fo gewaltig in die Menfchenmwelt
eingriff, ftreift Doch wohl an das Kindifche; als ob die Bers
75
herrlichung nicht gerade in der Menſchwerdung Jeſu felbrt
ſchon läge, und in der Herrlichkeit des geiftigen Lebens, das mit
ihm und durch ihn in der Menfchheit offenbar wurbe!
Es fragt fih nun, wie follen wir uns denn unfere evan⸗
gelifche Erzählung erflären, da wir fie nicht für buchſtablich
wahr halten können? |
Die natürliche Deutung, namentlich die des Dr. Paulus,
bemüht ſich, zunächft die Engelerſcheinung als das Werk einer
Ertafe des Zacharias im wachen Zuftande darzuftellen. „Er
verrichte fein Opfer im NHeiligthume, indem er ganz und gar
erfüllt fei mit dem fehnlichen, ſchon fo lange gehegten und
immer unerfüllt gebliebenen, Wunſche, einen Sohn zu erhals
ten; in der erhöhten Stimmung feines Gemüthes meint der
Priefter, in dem aufiteigendeu Opferweihrauche, der Figuren
bildet, eine himmliſche Geſtalt zu ſchauen; er glaubt darin eine
Bürgfchaft für Erfüllung feines heißen Wunfches zu erblicken;
da ſich aber doch Zweifel Dagegen regen, fo erſchrickt er über
diefen Uinglauben fo fehr, daß ihm entweder wirklich Die Zunge
durch einen Schlagfluß gelähmt wird, oder er fich felbft dazu
‚ verurtheilt, eine Seitlang zur Strafe ſich bes Redens zu ents
halten.“ Allein wird nicht hier, indem man alle Wunder ent-
fernen will, dennoch etwas Wunderbares vorausgeſetzt?
Daß nemlid 3. in einen fo ganz ungewöhnlichen Zufland ver⸗
fett wird, der ſich bei unendlich wenigen Menfchen vorfinden
wird, — daß gar ber alte Priefter Durch das ihm zur Ge⸗
wohnheit gewordene Räuchern an gewohntem Orte in Diefe
Ertafe verfeßt worden, — iſt Doch in der That mehr, als
ein halbes Wunder. Iſt es ferner denfbar, daß die Weiffaguns
gen, die er fich felbft machte und recht eigentlich and Dampf
nnd Rauch herausdeutete, fo buchftäblich eintrafen? ja, ift es
vereinbar mit der geiftigen Freiheit des Menfchen, daß die
ganze fittliche Richtung des Menfchen und die Verdienſte, die
er fich durch freie Selbſtbeſtimmung erwerben muß, fo buch⸗
ftäblich genau vorherbeftimmt werden können, wie ‚der
Gang eined- Uhrwerf8? CB. 14— 17.) Dieß gefchieht aber,
wenn dem noch nicht erzeugten Kinde fchon zuvor durch eine
MWeiffagung, woher fie aud) fomme, feine Stelle in der Stu⸗
fenleiter fittlicher Veen angewiefen wird. Das Beriinmmen
76
ferner muß nach den Worten bed Berichtes felbit als ein
wirkliches Stummfein, nicht als Werk des Vorſatzes anges
- fehen werden; vergl. V. 20. 22. 64. Wie wunderbar aber
ift es nun, baß die Zungenlähmung gerade bei ber Beſchnei⸗
bung des Knaben verſchwand (B. 64)! Man fagt, die Freude
bewirkte dieß: aber dann hätte es weit eher bei der Geburt
gefchehen müſſen; der erite Anblic des erfehnten Sohnes wirft
erfchütternder auf den Vater ein, ald ein, wenn auch nody fo
feierlicher Alt, der erft nach achttägigem Befite des Neugebor⸗
nen vorgenommen wird. Daß endlich der alte Zacharias durch
die in bem Tempel über ihn gefommene Extafe neubelebt wor⸗
den, und fofort bei feinem Weibe mit beijerem Erfolge für
die Erfüllung des gemeinfchaftlichen Wunſches habe wirken
können, ift denn Doch eine gar zu natürliche Erklärung!
Die ganze Deutung bewirkt in der That nicht mehr, ale
‚daß wir durch fie ftatt eined Gottes⸗Wunders ein Wunder
bes Zufalles erhalten, womit Nichts gewonnen iſt; vielmehr
verlieren wir Dabei, nemlich den tieferen Gehalt gewiſſer
religiöfer Vorſtellungen. Wir werden uns aljo darnach ums
fehen dürfen, ob nicht befriedigender die ganze Erzählung ale
eine Mythe zu deuten fei, um fo mehr, da feit dem Hergange
felbft bis zur Ausbildung der Erzählung davon, wie wir .fte
hier vor uns haben, wenigftens 60 Ssahre verfloffen fein
mußten.
Diefe mythiſche Deutung ift fchon früher von mehrern
Theologen verfucht worden; fie erklärten die Erzählung für
eine verherrlichende Dichtung, wollten aber als gefchichtlich
dennoch fefthalten die lange Unfruchtbarfeit der Elifabeth und
das yplößlicye Verfchwinden und Wiederfommen der Sprache
bei Zacharias. Allein beides ohne allen Grand! Denn wirb
die Wirklichkeit der Engelerfcheinung aufgegeben, fo füllt auch
jede genügende Urfache für das plötzliche Verftummen weg;
fie wird auch bier ein umerflärtes Wunder des Zufalles; wozu
in diefe Verlegenheit fich begeben, da der mythiſche Stand⸗
punkt, wenn man einmal zu demfelben im Allgemeinen fich ge⸗
nöthigt fieht, von dem Fefthalten an der Treue der Berichte
im Einzelnen entbindet. Die lange Kinderlofigfeit aber ift fo
im Geifte der hebräifhen Sagen-Poefie, daß bei dieſem
77
Zuge: der mythifche Urfprung umvertennbar if. Wir er⸗
blicken alfo. in der ganzen Erzählıng eine Mythe, weiche,
als Johannes durch fein Leben und Ende fo große Bedeutung
gewonnen hatte, entſtand; wahrſcheinlich zu einer Zeit, wo es
noch reine Johannis⸗Jünger gab, welchen diefe Mythe
zeigen follte, Daß Die eigentliche Beftimmung des Sohannes
gewefen, die Erjcheinung Sefu vorzubereiten (ſ. V. 17, 76 2). -
Die Mythe ift überdieß faft in allen ihren Theilen al tsteftas
mentlichen Erzählungen nachgebildet.
Borerjt ift es eine im alten Teſtamente öfters wiederfeh-
rende Borftellung, Daß große Männer Söhne fchon betagter
Aeltern feien, und daß ihre Geburt, als ein nicht mehr zu
erwartended Ereigniß, durch Engel verfündet worden; fo
bei Ifaaf, Ismael, Eamuel, Simfon. Den Grund gibt das
Evangelium von der Geburt der Maria”) an: „auf daß ers
fannt werde, der Geborne fei nicht Durch die Luft entitanden,
fondern eine Gabe Gottes.“ — Daher lag folgender ein-
facher Schluß fehr nahe: Sohannes war ein großer Prophet,
alfo auch ein Spätgeborner.“ Die einzelnen Züge für die
Sage wurden aus verfchiedenen alt=teftamentlichen Erzählun⸗
gen einzeln entlehnt; jedoch muß man fich dieß nicht fo denken,
als ob man fie erft einzeln zufanmmengelefen hätte; viels
mehr war aus allen einzelnen, wie fie der inneren Anfchauung
vorfchwebten, in den Gemüthern fehon ein Geſammtbild
entitanden, aus welchem die geeignetften von felbft fich dar⸗
boten, um zur Ausſchmückung unferer Erzählung verwendet zu
werden.
So finden wir für den Unglauben des Zacharias (V. 18)
das Vorbild in dem des Abraham (1 Mof. 15, 8); für Die
Engelerfheinung, in der Berfündigung des Simfon GRich⸗
ter 13, 3— 9. 11 10); für das dem Kuaben auferlegte Ge⸗
bot der Enthaltfanfeit und feine Beftimmung zum Prophe⸗
ten, in dem fait wörtlich gleichen Befehl, den der Engel den
Aeltern Simſons gibt (vergl. V. 15 und 80 mit Richter 13, 14.
2) Es gehört Diefes zu den fogenannten apofrnphifchen Evangelien,
worüber man die Annterfungen am Ende biefer Schrift nachlefen
wolle.
78
5, 24 16.); — für die begeifterte Rede des Zacharias CB. 68:1.)
in einer ähnlichen, mit welcher Samueld Wutter dieſen dem
Hohenpriefter übergibt C1 Sam. 2, 1). Und fo für andere
Züge andere Vorbilder in alt=tejtamentlichen Erzählungen!
Als gefhichtlich können wir an dem Berichte nur Das
gelten laffen, daß Johannes unter König Herodes geboren
worden, und durch feine fpätere Wirkfamfeit fo große Beden⸗
tung gewonnen hat, daß die chriftliche Sage ſich zur Verherr⸗
lichung feiner Geburt getrieben fand.
Zweites Kapitel.
Jeſu Abftammung von David, nach zwei Geſchlechts⸗
regiftern.
(Matth. 1, 1— 17. und Luk. 3, 23— 38)
Seder der beiden Evangeliften, welche die. Sugendgefchichte
Sefu behandeln, Matthäus und Lufas, fügt ein Gefchlechtes
vegüter bei, um die Davidiſche Abkunft defjelben zu beweifen.
Betrachten wir zuvörderſt jedes berfelben für ſich allein,
ohne Rückſicht auf Das andere, fo bietet das des Matthäus
einige Schwierigfeiten dar. Er rechnet B. 17 die Gefdjlechter
zufammen, und zählt 14 von Abraham bie David, 14 von
diefem bis zur babylonifchen Gefangenfchaft, 14 von da bie
auf Chriſtum: nun finden fich aber in leßterem Abfchnitte nur
13. Indeß Tapt ſich dieſer Widerſpruch dadurch befeitigen,
daß man annimmt, er habe den Jechonia (V. 11 und 12),
obgleich er noch vor der Gefangenfchaft genannt ift, body
ſchon in Die mit ihr beginnende Ickte der drei Abtheilungen
gerecdjnet, und dafür den David Doppelt, nemlich auch ale.
Anfang des zweiten gezählt, wiewohl er nur am Ende ber
eriten genannt iſt; dann find dreimal 14 da.
In wirklichem Widerfpruche aber findet ſich Matthäus
mit den Angaben des alten Teftamentes: dieſes gibt und.
nemlich, in mehrere Stellen vertheilt, eine vollftändige Ger
f&hlechtstafel des Davidiichen Haufes bis auf die Söhne Se⸗
rubabel’8 (®. 12. 13) herab; von diefen an beginnt daflelbe
in Dunkelheit fich zu verlieren. Am wichtigften ift hier Die
79
Abweichung, daß Matthäus B. 8 den Dfia zum Sohne dee
Joram macht, da er Doch nach 1. Chronik 3, 11. 12. deſſen
Urenfel ift: es fehlen alfo bei Matthäus drei Glieder, und
war bie Könige Ahasja, Goa und Amazia. Diefer Wider⸗
ſpruch läßt fich weder durch Die unerlaubte Ueberſetzung bes
griechifchen Wortes in unferm Verſe, das nur „erzeugte “
heißen fann, entfernen, noch auch als bloße Nachläßigkeit er⸗
Hären, da jene Weglaffung zu auffallend das Beftreben bes
Matthäus, drei ganz gleiche Abfchnitte des Stammbaumeg zu
erhalten, begünftigt. Diefe Gleichheit fürchte er aber nicht zur Ers
feishterung des Behaltens, fondern offenbar nach jüdischen
Borftellungen, denen gemäß außerordentliche Heimſuchungen
des Herrn nad ganz gleichen Zwifchenräumen eintretend
gedacht wurden, wie ſich aus Schriften des alten Teftamentes,
der Nabbinen und anderer jübifcher Schriftiteller beweifen
läßt. Diefe Willführlichkeit aber, nach Bedürfniß anders zu
zählen, um lebereinftimmung der Zahlen zu erhalten, Tann
fein Vertrauen zu ber Gejchlesjts- Ableitung im Ganzen ein-
flößen.
Sm Stammbaum des Lukas, für fich betrachtet, findet
fidy Fein erheblicher Anftand, vielleicht nur darum, weil er
weniger Vergleich nit dem alten Zeftamente zulaßt, indem er
von David abwärts fat nur durch unbekannte Gefchlechter
herabläuft, von deren Gliedern das alte Teftament feine Nach⸗
richten enthält.
Vergleichen wir aber nun beide Gefchlechtstafen mit
einander, fo finden wir unbefiegbare Schwierigfeiten für
jeden Verſuch, fie in Uebereinftimmung zu bringen. Die große
Berfchiedenheit, daß Lukas zwifchen David und Jeſus einund⸗
vierzig Gefchlechter zählt, Matthäus aber nur fechsundzwanzig,
fommt nicht einmal in Anfchlag, da wir offenbar zwei gan;
verfchiedene Stammbaume hier vor ung haben; denn von
Abraham bis David zwar find fie gleich; von da an weichen.
fie aber, mit Ausnahme der beiden Namen Salathiel und
Serubabel Matth. 1, 12 und Luf. 3, 27) gänzlich von ein-
ander ab. Nach Matthäus ift Salomon, nad) Lukas Nathan,
der Sohn Davids, von dem Sofeph abitammt, und nad) dem
Erfteren heißt deffen Vater Jakob, nach dem Letzteren Eli.
80
Alfo von David an zwei ganz andere Zweige bes Davidiſchen
Haufes! Jene Liebereinftimmung in zwei Namen, troß ber
fonftigen Verſchiedenheit, macht die Sache noch bedenk⸗
licher.
Dieſen Knoten ſuchte man auf mancherlei Weiſe zu löſen,
auch nach Umftänden zu zerhauen. Schon ältere Schriftſteller
fuchten fich mit der Annahme einer Adoption zu helfen, wo
denn ein Evangelift den natürlichen, der andere den Adoptiv⸗
Bater des Sofeph fefthalte, um feine Davidifche Abkunft zw
erweifen; allein wie unmwahrjcheinlich it dieß, da feiner von
beiden dieß auf irgend eine Weife bemerkbar macht Cogl:
Matth. 16 mit Luk. 23)5 da die Stammbäume in Sernbabel
und Salathiel zufammentreffen und dann wieder weit auds
einander gehen; bier müßte abermals adoptirt worden fein!
Noch unhaltbarer ift die Erklärung durch eine Leviratsehe ber
Mutter Joſephs; Denn bier fommt neben den genannten noch
die neue Schwierigfeit hinzu, daß ja ihre zwei Männer, Ci
und Jakob, dann Brüder gewvefen feien, und folglich beide
Stammbäume doc fogleic, in Einen zufammlaufen nrüßten:
Man flidt aud) bier, und zwar mit der ganz unmahrfcheinlis
chen Ausflucht, Eli und Jakob feien nur Halbbrüder von vers
fhiedenen Bätern geweſen, und wiederholt das glsiche Ers
periment bei Salathiel (ſ. oben). Da diefe Operationen doch
in der That zu halsbrechend oder tafchenfpielerifch erjcheinen
mußten, fo entichloffen ſich Neuere lieber dazu, anzunehmen,
wir haben in Einem Stammbaum den des Sofephs, in dem
Andern den der Maria vor und. Auch diefe Anshülfe können
wir nicht gelten laffen.
Zwar machte fich fchon frühe die Anficht geltend, auch
Maria müffe aus dem Haufe Davids abſtammen; allein einen
Davidifhen Stammbanm als den ihrigen zu betrachten, ift
ohne gemaltthätige Auslegung nicht möglich. Die Worte bes
eo Evangeliften lauten zu beftimmt; Matthäus: „Jakob zengte
den Sofeph“ 20.5 Lufas: Sefus war, wie man annahm,
Sohn des Joſeph, des (Sohnes) des Eli“ *) ıc. Nun könnte
*) Es iſt ein ganz gewöhnlicher griechifcher Sprachgebrauch, bei
Angabe des Baterd nach dem Artikel dad Wort Sohn auszu⸗
81
man vielleicht nad) „bes“ bei Lukas auch ergänzen: „Schwie⸗
gerfohues * ; allein wie ift bieß zufäffig, da in den 34 obern
Sliebern, die wir alle aus dem alten Teftamente fennen, zu
„des“ jedesmal „Sohnes“ hinzugedacht werden muß: — fo
wweideutig fchreibt Fein vernünftiger Schriftiteller! Ferner
legen and) hier Salathiel und Serubabel ein fehr bedenkliches
Beto ein; und überdieß fcheinen gerade bei Lukas mehrere
Stellen gegen die Davidifche Herkunft der Maria zu {pres
chen, am meilten 2, 4, wo es heißt: „er (der Joſeph) ging
nach Bethlehem, um fid) mit Maria einfchreiben zu Taffen,
weil er aus dem Haufe Davids war.“ Wie nahe hätte es
hier gelegen, „fie beide“ zu fagen!
Dieſer verwidelten Schwierigkeiten wegen haben ſich fchon
viele Theologen entfchließen müflen, den unauflösbaren Widers
ſpruch einzugeftehen; in der That find beide Stammtafeln gleich
verbächtig,. die des Matthäus aus angegebenen Gründen, bie
des Lufas, weil es fehr unmwahrfcheinlich ift, Daß des minder
bedeutenden Nathan (V. 31) Stammbaum fich erhalten haben
follte; — dazu kommen die Zerrüttungen des Erils, in welchem
die Familien fo fchr auseinander geriffen wurden, und die Duns
felheit des armen Sofeph.
Muß man. in beiden alfo mehr oder weniger freie Bildun⸗
gen erfennen, fo könnte man Doch immer noch die Davidifche
Abkunft Jeſu gelten laffen, Allein dafür bleibt, fobald Die
Sefchlechtsregifter nicht als Acht zu retten find, Fein Beweis
übrig, als bie Reife nach Bethlehem, die aber feineswegs feft
fieht. Daß Sefus oft fchlechthin „Eohn Davids“ genannt
wird, beweist nur, daß er frühzeitig für den Meffias gehalten
wurbe, ber ja von David abftammen mußte (ſ. Einleitung) .
und aus demfelben Glauben mochte fpäter das Beftreben
entftehen, dieſe Abkunft durch einen förmlichen Stammbaum
zu beurkunden. Wir können alſo als gefhichtlich Nichte
weiter feithalten, ald daß chen diefer Glauben an die Meffias
laſſen; z. B. flatt: „Joſeph, der Sohn des Eli“ zu fagen:
„Joſeph, des Eli“. Das aber in gleicher Weife auch andere
eine Berwandtfchaft bezeichnenden Worte ausgelaiten würden, läßt
fich nicht erweijen.
I. k
84-
diejenigen, welche annehmen, Maria habe bie ganze Sache
vergeffen gehabt! — Iſt man aber zu dem Geftäubniß ges
zwungen, Sofeph habe, troß der Mittheilungen ber Maria,
fie verlaffen wollen (Matth. 19), fo fällt dadurch nun auf
feinen Character ein übles Licht; zum minbeften erſcheint er
dann als -ungläubig.
Es dringt ſich uns alfo Die Enticheidung auf, nicht beide |
Engelerſcheinungen koönnen wirflih Thatfache fein, ſondern
höchftens nur Eine. Allein in Beiden haben wir Engel
erfcheinungen, die wir nad) dem, im erſten Kapitel, Entwidels
ten für mythifch halten müſſen. Abgejehen noch von Dem,
fogleich näher zu betrachtenden, Inhalte der Engelbotichaft,
nämlich von der übernatürlichen Erzeugung felbit, müflen
wir daher beide Erzählungen für reine Mythen halten,
jeden Berfuch, Einzelnes zu deuten, aufgebend. Wir den⸗
fen ung aber die Entſtehung derfelben fo: die geglaubte
Thatfache, daß Iefus durch göttliche Kraft in Maria ers
zeugt fei, genügte nicht; fie mußte feierlich und zuverläffig
ausgefprochen und darum verfündet werden durch hHimmlifche
Boten. Schon im alten Teftamente war dieß bei Geringeren
gefchehen: konnte es bei dem Meſſias fehlen! So entitanb
die Miythe der Verkündigung aus tief gemurzeltem Glauben
und an der Hand altsteftamentlicher Borbilder, die zum Theil
hier wörtlich benüßt erfcheinen (vgl. Matth. 1, 21 mit 1 Mof.
17, 19 und Richter 13, 55 fo wie Luk. 1, 30 mit 1 Mof.
16, 11 2c.). Die Verfchiedenheit der beiden Mythen tft zu
betrachten ald Variation der Sage, wie ed auch in andern
Fällen zu gefchehen pflegt; die bei Matthäus ift einfacher und
funftlofer, die bei Lukas feiner und Eunftreicher.
Der Inhalt beider Engelöverfündigungen ſtimmt darin
überein, daß Maria ein Kind durch die unmittelbare Kraft
Gottes empfangen werde, daß fie, wenn es geboren, ihm
den Namen Jeſus geben folle, und daß basfelbe ber erwar-
tete Meſſias fei. Dem Matthäus aber ift eigenthinmmlich, daß
bei ihm ber Engel eine alt=teftamentliche Weiffagung ans
führt; hinzufügt: „das Alles gefchah, damit erfüllt werbe
\ 85
das vom Herrn Gefagte ꝛc.“ CB. 22) — und demnach bie
num folgenden Worte aus Sefaias 7, 14 ald meffianifche
Weiffagung bezeichnet. Nun aber if durch die neueſten For⸗
ſchungen unwiderſprechlich dargethan, daß Jeſaias die Worte
burchaus nicht vom Meſſias meint, ſondern daß dieſelben ledig:
lich als Borausfagung politifcher Ereigniffe der nächften Zus
funft gemeint waren. *) |
Da wir bier zum eriten Male eine altsteftamentliche Weiſ⸗
fagung vor und haben, deren Eintreffen in oder Durch Jeſus
von einem &vangeliften behauptet wird, fo wollen wir bier
zugleich die verfchiedenen Anft chten über ſolche im Allgemeinen
zuſammenſtellen.
1) Orthodoxe Anſicht. „Dergleichen altsteftamentliche
Stellen hatten ſchon urſprünglich (bei den alt⸗teſtament⸗
lichen Schriftſtellern) nur die prophetiſche Beziehung auf
Chriſtus; denn Die neu⸗teſtamentlichen Schriftſteller deuten
fie fo, und dieſe müſſen Recht haben, wenn auch der Men-
fchenverftand dabei zu Grunde geht.* In der That komme.
hier die wunderlichften Deutungen zum VBorfchein, wie gerade
die bier in Frage ftehende altsteftamentliche Stelle z. 2.
Hengftenberg alfo erklärt: „Das und das nahe Ereigniß
(welches nämlich der Prophet vorausſagt) wird in eben fo
viel Zeit eintreten, als dereinft zwifchen der Geburt des
Meffias von einer Sungfrau big zu feiner erften Entwidelung
verfließen wird.“ Welche Wortquälerei, um fo viel — Nicht:
Sinn heraussupreffen! 9
2) Rationaliftifche Anfiht. „Die neu steftamentlichen
Schriftfteller geben den alt=teftamentlichen Weiſſagungen die
mefjianifche Deutung nicht, fo wenig wie wir es können.“
Auch hier wird den Worten Gewalt angethan, und zwar Den
2) Die gedrängte Kürze, welche wir ung bei unferer Bearbeitung Des
Strauß’fihen Werkes zum Gefeße machen mußten, gebietet ung,
bei diefer, wie bei manchen andern untergeordneten Unter-
fuhungen, nur bie Ergebniſſe mitzutheilen. Wir thun dieß aber
nur da, wo und Diefe Ergebniffe ald ganz unzweifelhaft
erfcheinen. ' x
2) Man fehe die angegebene Stelle, Jeſaias 7, 14 — 18.
| 86’
—neu⸗teſtamentlichen: denn der, bei Matthäus namentlich,
faft ftehend gewordene Uebergang bei Anführung folcher Weiſ⸗
fagungen fann gar nichts Anderes heißen, als: „Damit ers
füllet werde.“ Sodann leidet diefe Deutung an gänzlicyer
Verkennung des jüdifchen Geiſtes, der fo geneigt war, überall
im alten Teftamente Drafel vom Meſſias zu erblicken, und
fehiebt demfelben unfere VBernunftbildung und unfere daran
fließende Anficht von den Weiffagungen des alten Teftamentes
unter.
3) Myftifhe Anſicht. „„In den altsteftamentlichen
Stellen liegt urfprünglicy fowohl der von den neusteftaments
lichen Schriftftellern ihnen gegebene tiefere, ald auch der
durch verftändige Anficht uns aufgenöthigte nähere Sinn.“ *
Eine Bermittlung, aber eine unglüdliche! Denn welch felts
famer Doppelfinn, wenn von dieſer Anficht aus 3. B. unfere
Jeſaias⸗Stelle fo gedeutet wird: „Der Prophet weilfagte aller-
dinge ein Ereigniß der nächften Zukunft, zugleich aber auch,
Daß Sefus von einer Jungfrau geboren werden fol.“
4) Mythiſche Anficht, alfo die unferige. „Die alts
teftamentlichen Weiffagungen hatten urfprünglich fehr Häufig
mir jene nähere Beziehung auf Zeitverhältniffe; wurden aber
von den neuzsteftamentlichen Männern als wirffiche Prophes
zeiungen auf Jeſus ald den Meſſias angefehen, weil der Ver⸗
ftand in jenen Männern durch die Denfart ihres Volfes bes
schränkt war.*
Diefer ſchon in der Einleitung begründeten Anficht zufolge
müffen wir auch von dem hier in Frage fichenden Orakel
einräumen, baß ihm die Beziehung auf Jeſus vom Evangeliften
aufgebrungen worden ift. ’
Viertes Kapitel.
Jeſu übernatürliche Erzeugung.
Diejelben Stellen des Matthäus und Lukas.)
Darin ftimmen alle Ausdrüde in beiden Evangeliften voll
Iommen überein, daß Tefus in der Maria einzig durch
87.
göttliche Schöpferfraft, ohne Mitwirkung eines Mannes
(vgl. Luk. 1, 34; Matt. 1, 18), erzeugt worden fei, durch
den „heiligen Geist“ (Matth. 205 Luk. 35). Unter dem heit.
Geiſt haben wir und aber nicht, nad Firchlicher Lehre, bie
dritte Perſon der Gottheit, fondern nach jüdiicher Boritels
Img den „Geift Gottes“ in feiner unmitte:baren Einwir⸗
tung auf die Melt zu denken; ferner ift die Erzeugung ale
ene übernatürliche, nicht aber als eine natürliche, wie Die der
heidnifchen Götterföhne, zu fallen.
| Diefe Darftellung der Erzeugung Jeſu wird von ben ortho-
boren Auslegern als buchftäblich wahr angenommen; wir
wollen aber zumädıit die Einwürfe ind Auge faffen, die ſich
gegen dieſelbe machen laffen.
Betrachten wir den Hergang felbit, fo ift Die Entitehung
eined -menfchlicyen Weſens ohne Zufammenwirfen beider
Gefchlechter fo fehr gegen alle Naturgefeße, daß wir Diefelbe
geradezu für unmöglich erklären müflen, wenn wir nicht etwa
gar mit Drigines in den Worten Pfahn 22, 7: „ich bin ein
Wurm und fein Menich“ gleichfalls eine Weiffagumg auf
Jeſum erbliden wollen; denn von Würmern wiffen wir, daß
fie fi) ohne Begattung fortpflanzen. Wollte man mit dem
Engel bei Lufas CB. 37) einwenden, daß „bei Gott fein Ding
unmöglich“ fei, fo erwibern wir, daß es mit der Weisheit
Gottes unverträglic, it, ohne Zweck und gleichfam unr ans
kaune die von ihm felbit gegründeten Naturgeſetze zu umgehen.
Denn felbft der einzige Zweck, den man diefer Umgehung uns
terichieben Fan, Jeſum als Erlöfer unſündlich zu machen,
und durch Entfernung des fündhaften Vaters dem Fluche der
Erbfünde zu entnehmen, wäre ja nicht erreicht, da immer noch
die gleichfalls die Sünde fortpflanzende Mutter übrig bleibt.
Hat aber Gott diefe auf wunderbare Weiſe von ihrer Sind
haftigfeit gereinigt; was man nothwendig annehmen müßte,
warum nicht auch den Vater, ſtatt „Das Naturgefeß auf fo
unerhörte Weile zu durchbrechen*?
Aber auch aus äußeren Gründen muß jene wunderbare
Erzeugung Jeſu bezweifelt werden. Dem in feiner Stelle
irgend’ eines Evangeliums üt, außer den hier beſprochenen
Steffen, auch mir im entfernteiten won derſelben die Mede,
88
pielmehr wird Jeſus von feiner Mutter gerabezu als Joſeph—
Sohn bezeichnet (Luk. 2, 48), und alle feine Zeitgenoflen halten
ihn dafür. Wenn biefe ihm öfter einen Borwurf daraus
machten, wie 3. B. Matth. 13, 55, Luk. 4, 22, ja fogar deß⸗
wegen feine Berficherung, er fei vom Himmel herabgefons
men, verhöhnten, hätte er nicht irgend einmak auf feine wuns
derbare Erzeugung fich berufen follen? hätte ex nicht wenigs
ftens feinen Süngern, bie ihn auch nur Joſephs Sohn
nennen, fich in Diefer Beziehung entdecken müffen? Wie konnte
enblich feine eigene Mutter an ihm irre werden (Mark. 3,
21 — 31), wenn fie wußte, daß er im firengiten Sinne
bes Wortes Gottes Sohn war? — Auch in den übrigen
Schriften des neuen Teftamentes findet fich Davon keine Spur; —
wo er als Sohn Gottes bezeichnet wird, find die Worte in
geiftigem Sinne gebraucht, ohne Beziehung auf feine leib⸗
liche Abſtammung.
Den grelliten Widerſpruch aber gegen Die Annahme einer
übernatürlichen Erzeugung bilden die oben betradıteten Ges
fhlechtsregifter, die Sefum, wie fchon von Schriftitellern
der chriftlichen Vorzeit bemerft wird, offenbar ald Sohn- Jo⸗
ſephs daritellen; und zwar in der beſtimmten Abjicht, feine
Davidifche Abkunft zu beweifen (Matth. 1, 1). Es fünnen
alſo unmöglich Gefchlechtsregüter und Geburtsgefchichte von
demfelben Verfafler fein, da fie ſich entichieden widerfprer
hen. Wollte man auch eine Adoption durch Sojeph an«
nehmen, ſo Fünnte diefe nimmermehr hinreichen, um bie mefs
fianifhe Würde Jeſu, als eines leiblichen Nachkommen
Davids zu begründen, und man würde ſich in Diefem Falle
mit den Stammbänmen Joſephs eine vergeblihe Mühe ge«
macht haben. Geftehen wir vielmehr ein, daß dieſe aus einer
fehr frühen Zeit ſtammen, wo man Sefus noch für einen
wirflihen Sohn Sofephs hielt, und daß die Evangeliften,
troß ihres Glaubens an eine höhere Abftammung besfelben,
die Stammtafeln mit einer biefen Glauben bezeichnenden Wen⸗
bung (M. 1, 165 8.3, 23) dennoch in ihre Darftellung aufs
nahmen, weil fie immer noch ein Ssntereffe dabei hatten, ihm
|
ald Meſſias mit Davib auf jebe mögliche Weiſe in Verbin⸗
bung zu bringen,
Es könnte nadı dem Gefagten auffallen, daß gerabe bies
jenige chriſtliche Sefte, die der Ebioniten, welde Jeſum
für einen natürlichen Sohn Joſephs hielt, jene Stammtafeln
in ihrem Evangelium nicht hatte, wie ung einige Rirchenväter
beitimmt berichten. Allein man muß willen, daß es zwei Klaffen
von Ebioniten gab, deren eine Sefum gleichfalls, wie die herrs
fchenbe Kirche, für einen wunderbar erzeugten Gottesfohn hielt:
biefe konnte alfo Fein Sintereffe haben, das Gefchlechtsregifter
Joſe phs in ihr Evangelium aufzunehmen, ja fie mußte es
ausftoßen, weil fie zugleich eine große Abneigung gegen David
hatte, unb überhaupt alle Propheten nach Joſua verabfcheute.
Jene Zeugniffe, daß die Ebioniten Das Gefchlechtsregifter nicht
hatten, beweifen aljo nichts über die andere Klaffe der Ebios
niten, die dieſer Anficht nicht waren, und von welchen ung
in Diefer Beziehung nichts Ausdrücdliches gemeldet wird. Wir
dürfen um fo mehr annehmen, daß fie die Stammtafel wirk-
lich befaßen, da einigen Gnoftifern, die ſich des Ebionitifchen
Evangeliums bedienten, der Borwurf gemacht wird, fie haben
eben dieſe Stammtafeln Cdie fie alfo doch in ihrem Evange⸗
um vorfanden) dazu bemüst, um die menfchliche Ers
seugung Jeſn zu beweilen. Es muß demnach in der Älteften
Zeit unter den Chrilten in Paläftina der Glauben an Diefe
natürliche Herkunft Jeſu geberrfcht haben, und es find feine
Spuren vorhanden, daß die Apoftel denfelben für umchrift-
Sichh gehalten, vielmehr mag die entgegengefeßte Anficht ſich
erft fpäter ausgebildet haben.
Den aufgezählten Schwierigfeiten, die ſich der fupranatus
raliftifchen Erklärung der Empfängnißgefchichte entgegenftellen,
fuchen die Verehrer der natürlichen Auslegung in der ihnen
eigenthümlichen Weiſe zu begegnen, wobei fie aber in große
Berlegenheiten gerathen. Um früherer Verſuche diefer Art
nicht zu gedenken, wollen wir nur die Deutung des Dr. Paulus
näher. betrachten. Ten Joſeph für den Vater Sefu zu erfläs
ren, verbietet ihm freilich der Wortſinn des 18. Verſes bei
88
Matthäus; dagegen glaubt er, daß durch die Ausbrüde -„heilis
ger Geift“ und „Kraft des Höchiten“, bei Luk. 1, 35, bie
Mitwirkung eines Mamnes keineswegs geläugnet werbe; viels
mehr habe man die Verkündigung der Engel fo zu verfichen:
„vor der Verehlichung mit Sofeph werde Maria mit reiner
Begeifterung für das Heilige ihrerfeits, und durch gottgefällige
Wirkfamfeit Cverfteht fih, eines Mannes) auf der andern
Seite, Mutter eines Kindes werden, das wegen biefes heilis
gen Uriprungs ein Gottesjohn zu nennen fein werbe.“ . Wie
dieß zugegangen, dieß wird ung nicht beftimmt gefagt, jedoch
durch die Vermuthung angedeutet, ber angebliche Engel fei
ein Dann geweien, der Abends oder vielleicht gar bei Nacht ()
zur Maria gefommen. Es muß alfo, um es gerabe heraus
zu fagen, Jemand fid, für den Engel Gabriel ausgegeben
und die Maria in ımbewachter Stunde für feine unreinen
Wünfche gervonnen haben: und dag foll „gottgefällige Wirk⸗
famfeit“, „reine Begeifterung für das Heilige“, ein „heiliger
Urſprung“ fen? Mit weniger Scheu erklärt ſich in demſel⸗
ben Sinne der Berfaffer der „natürlichen Gefchichte des großen
Propheten von Nazareth“ dahin: „Maria fei als bie Ver⸗
lobte C!) des ältlichen C!) Joſeph von einem verliebten
und fchwärmeriichen Jünglinge getäufcht C!) worden“, ja
er weiß fogar, Daß dieß — Sofeph von Arimathia ges
wefen (1), der von Matthäus (27, 57 ıc.) als der Mann
genannt wird, der Jeſum ins Grab legte. Hiermit ftellen fich
diefe Callzu) natürlichen Ausleger mit den heibnifchen und
jüdischen Gegnern des Chriftenthums, die geradezu behaupten,
Jeſus fei im Ehebruche mit einem gewiflen Panthera erzeugt
worden, faft in ganz gleiche Linie. Mit Recht deutet ſchon
Drigined gegen diefe Erflärung an, daß es ein ganz willführs
liches Verfahren fei, die übernatürliche Erzeugung in der Ers
zaͤhlung we gzubemonftriren, und einen andern Zug in berfelben,
daß Maria von Sofeph unberührt geweſen fei, ftehen zu
laſſen: wir aber bringen mit der Strenge der Wiflenfchaft
darauf, daß alle Theile auch dieſer Erzählung einer gleich
firengen Prüfung unterworfen werden.
91
Bon dieſem Stanbpunfte aus werden wir genöthigt, bie
wunderbare Erzeugung Jeſu in allen ihren Theilen für mys
thifch zu erklären; die Entſtehung diefer Mythe ift unſchwer
nachzuweiſen. Jeſus nannte ſelbſt oft Gott feinen Vater,
hieß als Meſſias Gottes Sohn; beides freilich nicht in leide
lihem Sinne; aber die erite chriftliche Kirche deutete Diefe
Ausdrücke bald fo, bezog, wie Matth. 1, 22 ıc. zeigt, bie
Stelle Jeſaias 7, 14 (ſ. Matth. 1,23) auf. Sefum, und da
man nun annahm, Jeſus mußte von einer Sungfrau durch
Gottes Kraft geboren fein, fo ſchloß man, daß es wirklich
gefchehen, und es entitand die reine Mythe, die wir nun
vor uns haben.
Die Entitehung einer folchen wird fchon dann erflärlich,
wenn man -fich der Neigung ber gefammten alten Welt erins
nert, große Männer ald Söhne eines Gottes barzuftellen; fo
bei den Griechen Herkules, Alerander, Plato ꝛc. Leber diefen
Lebteren jagt Hieronymus: „Bon dem größten Weltweifen
nehmen fie an, er könne nur von einer Ssungfrau geboren
worden fein.“ Freilich wollen die Supranaturaliften dieſen
Erflärungsgrund nicht gelten laſſen; ihre Einwendungen find
aber unhaltbar. Denn wenn der ine behauptet, bei den
Heiden feien jene Sagen von göttlicher Erzeugung großer
Männer erſt Jahrhunderte nach den Lebzeiten derſelben entitans
den, was bei Jeſus fich ganz anders verhalte, fo ift Dieß 3.8.
m Bezug auf Plate unrichtig, da fchon fen Schweſter⸗
john erzählt, es fei in Athen eine allgemeine Cage, Plato
jet Apollos Sohn. Wenn ein Anderer die Sache fo dreht,
daß Die heidnifchen Eagen nur die Beweiſe einer allgemeinen
Ahnung und Sehnfucht nad einer folchen Thatfache enthielten,
die, eben wegen diefer Ahnung, bei Einem, nämlich Chriſtus,
habe in Erfüllung gehen müffen, fo iſt diefer Schluß eben
jo fall, al wenn man aus den Sagen von einem goldenen
Zeitalter fchließen wollte, es habe einit wirklich ein folches
gegeben.
Wichtiger könnte der Einwand ericheinen, daß die heidnis
ſchen Borftellungen Nichts beweilen fir das in feinen äußeren
Berhältniffen, fo wie nach feinen religiöfen Borftellungen, völlig
abgefchloffene jüdifche Vol. Allein gerade aud in dieſen
92
jadifchen Vorſtellungen liegen fruchtbare Wurzeln, aus denen
gar wohl die Mythe von einer-übernatürlichen Erzeugung Jeſu
hervorgehen konnte. Denn ftand einmal ber Glauben fe, baß
auserwaͤhlte Nüftzeuge Gottes durch einen göttlichen Beis
fand -erzeugt werben, ber nach Röm. 4, 19 bie bereits ers
korbenen Kräfte beider Aeltern wieder erneuerte, cf. &. 77)
fo war ed nur ein Schritt weiter in der Ausbildung biefer
Borftelung, von dem größten aller Propheten anzunehmen,
baß bei feiner Erzeugung die Mitwirkung des Einen Theiles, bes
männlichen, ganz gefehlt habe, bei vollkommener Fähigfeit des
weiblichen. Daher läßt Lukas ben Engel mit benfelben Wor⸗
ten: „bei Gott ift fein Ding unmöglich“ den Unglauben der
Maria niederfchlagen (V. 37), welche der Engel auf den
Zweifel der alten verehelichten Sara erwibert (1 Mof. 18, 19.
Findet fi) and, in älteren Büchern bes alten Teitamentes
nur die Vorftellung, daß der Meſſias ein menſchlich erzeugter
Mann fein werde, fo ging doch feit Daniel dieſer die andere
von ihm, als einem göttlichen Wefen, zur Seite. Eine
noch nähere Veranlaffung zu der Annahme einer übernatürlichen
Erzeugung lag in bem für den Meſſias üblich gewordenen
Titel: „Sohn Gottes“, „Tenn es ift die Natur folcher zus
nächt bildlichen Ausdrücde, daß fie mit der Zeit immer
mehr eigentlich und im firengen Sinne genommen werben,
und befonders unter den fpätern Suden war eine finnliche Aufs
faffung des früher geiftig und bildlid, Gemeinten an der Tas
gesordnung. * Mußte nun einerfeits fehon der Zufaß, welchen
in Pfalm 2, 7 das mefjtanifch gedeutete „Du bift mein Sohn“
in den Worten : „heute habe ich dich erzeugt“, erhielt, bie
Borftellung von der leiblichen Zeugung des Mefftas durch
den Geiſt Gottes unterftüßen, fo führte andererfeitd die oben
(S. 85) erwähnte gleichfalls auf den Meſſias gebeutete Weiſ⸗
fagung des Sefaind von der gebärenden Sungfrau zu der Ans
nahme der Geburt durd; eine fledenlofe Jungfrau %. Beide
65 Daher gebraucht fchon die griechifche Ueberſetzung ded alten Te⸗
ſtamentes, die man die Geptuaginte nennt, in diefer Stelle ein
Wort, welches nicht nur ein unverheirathetes, fonbern anch ein
teufches Mädchen bezeichnet; keuſch aber blieb die Jungfran,
wenn ihr Kind ein Sohn Gottes in oben bezeichnetem Sinne war.
93
Borftellungen floſſen num gleichſam von felbft in bem Begriffe
eines in einer Jungfrau von Gott felbft erzeugten Sohnes zus
fammen. — Bon gar feinem Belange aber ift endlich der .
Einwand, daß die mythiſche Auffaffung unferer Erzählımg
nothwenbig einer gottesläfterlichen Vorſtellung Eingang vers
ſchaffe, da ja alsdann Sefus als in unheiligem, unfeufchem
Wandel erzeugt betrachtet werden müſſe. Hierin fpricht fidy
ja ein völliges Verkennen des mythifchen Standpunftes aus ;
benn wer wird behaupten wollen, daß man, wenn bie über,
natürliche Erzeugung als Mythe hingeftellt wird, Doch Die Ges
burt von einem unvermählten Weibe feitzuhalten habe? Diefes
Letztere ift ja offenbar eiu Zug, der nur zur Stüße der Bor
ſtellung, daß Sejus von feinem Manne erzeugt worden, dies
nen ſoll, mithin von felbft fällt, fobald die gefchichtliche Wahrs
heit diefer wunderbaren Erzeugung aufgegeben ift. Die Angabe,
daß Sefu Mutter unverehelicht geweſen, muß alfo gleichfalls
als Theil der ganzen Mythe betrachtet werden; und vernünfe
tiger Weife können wir durch diefe mythifche Behandlung zu
feinem andern Refultate uns führen laffen, ald zu ber An-
nahme, daß Jeſus in rechtmäßiger Ehe von Sofeph und Maria
erzeugt fei. Dieß nehmen wir ale die übrig bleibende ges
ſchicht liche Wahrheit an.
Fuͤnftes Kapitel.
Verhältniß zwifchen Joſephh und Maria, und Befuch
bei der Elifabeth.
(Matth. 1, 24,25; Luk. 2,5; 1, 39—56.)
Unjere Mythe erzählt weiterhin, ganz im Geiſte jüdiſcher
Sage, daß Maria auch nad, der Empfängniß von Feinem
Manne berührt worden, bevor fie den Gottesfohn geboren
habe. Lukas läßt fie nach 2, 5 bis zu der Geburt desfelben Jo⸗
ſephs Verlobte bleiben; dem Matthäus (1, 24,25) zufolge nahm
fie Sofeph als fein Weib zwar zu fich, allein „er erfannte fie
nicht, big fie ihren erften Sohn gebar.“ (Ein Gleiches wird
auch von den Aeltern PM atos erzählt.) Mit diefer heiligen
\ . 94
Scheu vor der göttlichen Leibesfrucht begnügte man fich aber
nieht, fondern ftsigerte von Stufe zu Stufe die Verehrung
für Maria und Sofeph. . Zuerft ward die Anſicht feftgeftellt,
ſchon von Drigines, daß Maria auch nicht nach der Ge—
burt in ehelichem Umgange mit Sofeph gelebt habe, was mas
dadurch flüßte, daß man Lebteren zu einem abgelebten Greife.
und die im neuen Teftamente oft genannten „Brüder Jeſu —
zu feinen Kindern aus einer früheren Ehe machte. Weitere
hin nahm man an, Maria fei auch bei der Geburt Selm
ihrer Sungferfchaft nicht verluftig gegangen, und endlich er—
Härte fchon Hieronymus, um aud für Joſeph unverlegtem
Keufchheit zu gewinnen, es ald eine gottlofe Träumerei, daß
Joſeph von einer früheren Gattin Kinder gehabt habe, und
ed wurden „von jetzt an Die Brüder Sefu zu bloßen Better
desfelben degrabirt *. Welcher Abftand von jener, den Ges
fehlechtsregiftern (ſ. S. 78 20.) zu Grunde ‚liegenden Borftels
lung, daß Sofeph der eheliche Vater Jeſu gewefen, bis zu
dieſer letzteren myſtiſchen Anficht!
Allein dieſer kirchlichen, auch von den neueren Orthodoxen
verfochtenen, Anſicht ſteht der Wortlaut jener Matthäi'ſchen
Stelle eben ſo entgegen, als die neu⸗teſtamentliche Geſchichte,
die fo häufig der „Brüder des Herrn“ erwähnt. Denn das
Pörtlein „big“ bei Matth. 1, 25 kann, wie man auch da⸗
ran deuten mag, nur den Gedanfen ausdrüden, daß nicht
langer, ale während der Zeit der Schwangerichaft, die Ents
haltfamfeit der Aeltern Jeſu angedauert habez; und wenn man
mit dem Ausdrude „erften Sohn“ wohl auch einen einzis
gen bezeichnen kann, fo lange noch Hoffnung zu einem zwei⸗
ten vorhanden it, fo würde er doch in diefer Bedeutung
widerfinnig fein, wenn an weitere Nachfommenfchaft nicht
mehr gedacht werden kann, was doch bei Abfafjung des Evans
geliums, wo Jeſu Aeltern nicht mehr lebten, der Fall war.
Etwas weniger Gewicht hat der aus der häufigen Erwäh-
nung ber Brüder Jeſu hergenommene Einwurf gegen jene
orthodore Lehre von der unverlegten Keufchheit Joſephs nnd
der Maria. Allerdings werden gewiffe Männer und Frauen
ald Brüder und Schweftern Jeſn ganz beftimmt "aufgeführt;
vergleiche Matth. 12, 46; 13, 59. — Marl. 6, 3. —
95
&il. 8, 19. — Joh. 2, 12: — Apoſtelg. 1, 145 — und
baß diefe „Brüder Jeſu“ nach Joh. 7, 5 nicht gleich ans
fange an ihn glaubten und ihn nach Mark. 3, 21 unb
31 für einen Berrüdten zu halten ſcheinen, widerſpricht ber
Angabe, daß fie feine Brüder von ber Mutter her gewes
fen, eben fo wenig, ale der Umitand, daß nicht ihnen, fondern
Dem Johannes, Jeſus feine Mutter, che er ftarb, empfahl
CJoh. 19, 26 x). Allein das macht mit Recht Bebenfen,
Daß außer den vier Brüdern, deren Namen 3. B. bei Matt.
13, 35 zu lefen find, noch andere Männer mit ganz gleichen
Namen aufgeführt werden, nämlich im Ganzen — die Brüder
mitgerechnet — vier Jakobus, zwei Joſes Cunter ihnen
zwei Bettern Jeſu, Jakobus und Joſes), drei Judas unb
drei Simon (die Ramen der Schweſtern werben nirgends
genannt). Ferner fcheint aus den ziemlich verworrenen evans
gelifchen Berichten über die verfchiedenen Jakobus hervorzu⸗
gehen, baß der Bruder Jeſu, der jüngere Apoftel und der
Better Jeſu dieſes Namens eine und dieſelbe Perfon, und
zwar der Sohn der Maria, der Schwefter der Mutter Jeſu,
gewefen. Man könnte aljo bei Diefem das beigegebene gries
difche Wort Cadelphos), das fonft nur „Bruber“ heißt, in
dem Sinne von „Better“, „naher YBlutsverwandter“ nehmen,
worauf Denn Nichts hinderte, ihm auch in Bezug auf bie drei
andern Diefe Bedeutung zu geben. Jedoch hat dieß wiederum
anbere nicht zu löfende Schwierigfeiten. Das genannte gries
difche Wort hat jene Bedeutung „Better“ fonft nirgends,
wiewohl ed, wie unfer „Bruder“ auch den Nächſten bes
deutet; — die „Brüder des Herrn“ erfcheinen in den Evan⸗
gelien faſt überall in der Begleitung von, Jeſus und feiner
Mutter; — Apoftelg. 1, 14 werden fie, nach Aufzähs
lung aller Apoftel, noch ganz befonders genannt; —- auch
1 Kor. 9, 5 fcheinen fie von den Apoſteln gefondert zu
werden; — wie fonderbar wäre es endlich, daß gerade von
diefen Männern jene Bezeichnung ftehend geworden fein
ſollte, und nicht ein einzigesmal von ihnen wirklich das Wort
„Bettern“ gebraucht würde, ein Wort, Das im neuen Teſta⸗
mente fonft öfters verfannt, 3: B. Kol. 4, 10.
Wir werben alfo auf bie Annahme, daß jene Männer
96
allerdings Jeſu Brüder geweien, als bie wahrſcheinlichſte,
zurückgeworfen, und haben keinen Grund zu läugnen, baß,
Maria ihrem Gatten noch mehrere Kinder geboren habe;
Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf bie verfchle
denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei foldher Gleich⸗
namigkeit nicht feltene, Verwechſelung, zumal bei mänblicen
Ueberlieferung, erzeugt worben fein.
An die Verfündigungen des Johannes und Jeſus fchließe
ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifaberh an, beffen
Daritelung bei Lukas (1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen,
wit vielen wunderbaren Zügen burchwebt iſt. Zwar glauben
Die natürlichen Ausleger mit biefen feicht fertig zu werben.
„Der Unbefannte, welcher Maria befuchte (ſ. S. 90.), hatte
ihr aud) die unerwarteten Hoffnungen der Elifabeth mitgetheilt
(DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu
befjuchen. Sie thut es, kommt an, und erzählt ihr vorerſt das
ihr gu Theil gewordene Glück, wodurch Elifaberh in hobe Bes
geiſterung verfeßt wird; dieſe Gemüthsbewegung theift fich
Dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches deßhalb eine
hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bedeutfames
Zeichen erblickt und mit begeifterten Worten die Maria anres
det (B. 40 ꝛc.).“ Allein erftlicd hat ja, unferm Berichte zus
folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß
hin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend
einer Erzählung der Maria, die den Worten ber Eliſabeth
vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges
müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der
Bewegung bes Kindes, wenn man den Worten nicht Die größte
Gewalt anthun will (vgl. nach V. 44). Eben fo wenig bes
friedigt die natürliche Erklärung des Lobgefanges der Maria
&. 46 I): „Maria wird durch Elifabeth in ihren meiflanis
fihen Erwartungen beftärft, und wird Dadurch gleichfalls bes
geiftert.“ Wie ift es Doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei
einem Befuche der einen, ſtatt fich zu unterhalten, in begeifterte
Gefänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen .
Anläffen, natürlichen Gefprächsform entfagen?
\
97
Mir fönnen alfo nichtE Anderes annehmen, ale daß Elifas
beth wirklich in der ganzen Erzählımg etwas Wunderbares
hat geben wollen; und als folches faßt es auch der orthos
doxe Ausleger, und bietet und damit Näthfel anderer Art.
Es ift naͤmlich ganz unglaublich, daß die bloße „Stimme*
eines Menjchen (B. 44) auf die noch nicht ausgebildete Leibes⸗
frucht irgend einen Eindrud foll machen können. Welchen
Zwed follte auch ein fo abenteuerliches YBunder haben? Elis
faberh und Maria bedurften ja feiner Beftätigung ihrer Hoffs
nungen mehr; und das noc, nicht zur Neife gediehene, noch
unbefeelte Kind Sohannes fonnte, wie gefagt, noch keinen
Eindrud empfinden, der ihn auf feine fünftige Beftimmung
bingewiefen hätte. Soll aber die Rede der Maria Wirkung
des heiligen Geiftes geweſen fein, fo ift fchwer zu begreifen,
daß berfelbe Nichts bewirkt habe, als eine ziemlich locker zus
fanmengefügte Reihe alt⸗teſtamentlicher Sprüche, als welche
die Rede, ſelbſt nach einer flüchtigen Vergleichung nur mit
1 Sam. 2, 1 ꝛc. und andern Stellen, erſcheint.
Wir werden alfo nicht anders können, als auch diefen
legten Theil der Erzählung für rein mythifch zu erflären,
nur nicht in dem Sinne derjenigen mythifchen Ausleger, welche
immer noch einen Beſuch der Maria bei Elifaberh als That⸗
ſache fefthalten, nebſt einigen begleitenden Umftänden. Denn
eben diefer Befuch, an fid) genommen, verräth am deutlichten,
daß das Ganze nur Mythe it. Nach den bei Abfaflung
des Evangeliums herrichenden Borftelungen mußte Johannes,
als Sefu untergeordnet, zu deffen Verherrlichung beftimmt
fein; fie mußten fchon frühzeitig in der innigften Verbindung
mit einander geftanden haben; diefe aber fonnte durch Nichts
anfchanlicher gemacht werden, als wenn fchon die Mütter
der beiden Propheten in eine Berührung mit einander famen,
bei welcher fchen die Mutter des Sohannes vor der Mutter
Jeſu ihre Haupt demuthsvoll neigte. Daher der Beſuch
im Ganzen; einzelne Züge ald hiftorifch fefthalten zu wollen,
bieße den Charakter meſſianiſcher Mythen ganz verfennen; viels
mehr mußte dieſe gewiſſe Vorausſetzungen machen, deren fie
als Grundlage bedurfte. Wir müffen alfo nicht nur den Be⸗
fuch der Maria, fondern auch ihre nahe Verwandtfchaft mit
J. 7
98
Elifabeth, fo wie den Umftand, daß Sohammes um ſechs Mo⸗
nate Alter als Jeſus gewefen, für mythiſch halten. |
Sechstes Kapitel.
Die Geburt Jeſu in Bethlehem, und der Lobgefang
der Engel.
(Lufas 1, 1— 21.)
Indem wir und nun zu den Erzählungen von der Geburt
Sefu wenden, finden wir die beiden Evangeliften zwar darin
übereinftimmend, daß fie Sefum in Bethlehem geboren wer -
den Taffen; während aber Matthäus dieß, gleich, als ware —
eine befannte Sache, nur im Borübergehen (1, 25 und 2, 1), —
und zwar fo erzählt, daß man glauben muß, Sefu Aeltern —
haben in Bethlehem gewohnt, ift Lufas ſehr ausführlich über——
die einzelnen Umſtaͤnde und die Zeit der Geburt.
Die Zeit beftinmt er dahin (2, 1. 2), „ale die erſt—
Schaßung des römifchen Reiches unter Auguftus aufp |
deffen Befehl gefchah, und Quirinus Etatthalter in Syriem
war 7).
Diefe Angabe gibt und zum erften Male Anlaß, die Rad
richt eines Evangeliſten mit denen heidnifcher Schriftfteller zr —
vergleichen: für unfern Lukas fällt diefer Vergleidy jehr un ’
günftig aus. Denn ed erweist ſich, daß jene Angabe in alle
ihren Theilen unrichtig, wenigftens fehr ungenau if. DC
alle neueren Theologen hierüber mehr oder weniger einver—
ftanden find, und ſich nur durch fehr gewagte Vermuthunger —
aus der Verlegenheit zu ziehen wiffen, fo begnügen wir und ⸗
die Unrichtigkeit im Allgemeinen anzugeben, ohne in die nähe
ren Erörterungen derfelben einzugehen.
1) Bon einer Schaßung des ganzen römischen Neiches
x
7) Ueber die hier und weiter unten berührten Verhältniffe der Juden '
zu dem damaligen römifchen Reiche werden die Anmerkungen :
und Erklärungen Auskunft geben.
99
umter Auguſtus willen wir durchaus Nichte; Stellen, bie
man dahin hat deuten wollen, beziehen fich nur auf Italien.
Chen fo unzuläffig ift es, die Worte, welche das Reich bes
jeichnen (wörtlich nach dem Griechifchen: „Das ganze bewohnte
dand“) auf das jüdifche Land zu befchränfen, und unter
„Befehl“ nur eine Abficht, ein ausgedrüdtes „Beftreben“ zu
berftehen.
2 Sn Subäaa inebefondere konnte aber damals, als
Jeſus geboren wurde, Feine römifche Schagung vorgenoms
men werben; denn nad) Lukas eigenen Berichten regierte das
“ Mal noch Herodes (1, 5), worin ihm Matth. 2, 1 beis
Nimmt, und fein Sohn und Nachfolger ward erft nach zehns
X ühriger Regierung von Auguft verbannt, worauf Judäa
Cümifch wurde. Nun waren zwar die damaligen jüdifchen
Sönige, wie manche andere, den Römern fchon zinsbar:
ullein eine Schagung ftellten diefe doch nur in ihren eigenen
Drovinzen an. Daß hievon unter Herodes eine Ausnahme
DSemacht worden, läßt fid) durchaus nicht ermweifen.
3) Es war damald Quirinus gar nicht Statthalter in
Syrien, -fondern erft lange Zeit nach Herodes Tode; diefer
ſtellte in Judäa allerdings eine Schatung an, aber erft etwa,
zehn Ssahre nach Sefu Geburt.
Diefe Unrichtigkeiten Taffen fi weder durch die ganz wills
Tührliche Annahme, Vers 2 fei ein fpäterer Zuſatz, noch durch
gewaltfanie Aenderung der Worte, noch durch fprach- und
fachwidrige Erklärungen wegbringen. Wollte man auch, allen
übrigen Berichten zum Troße, annehmen, Sefus fei wirklich
nicht unter Herodes, fondern zu QDuirinus Zeiten geboren,
ſo war ja aud damals nur Judäa, wo Bethlehem lag,
nicht auch Galiläa römifche Provinz, und Sofeph von Nas
zareth, eines Königs Unterthan, hatte nichts bei der Schatzung
in einer Provinz zu thun.
Endlich mußte jeder Jude zwar bei einer jüdifhen
Schatzung in feinem Stammorte fi) einfcreiben Iaflen,
nicht aber bei einer römifchen, und es war aljo überhaupt
fein Grund vorhanden, weßhalb Joſeph, obgleich Davide,
hätte nadı Bethlehem wandern follen, wie V. 3 und 4 er
zählt wird.
\ . 94
Scheu vor der göttlichen Leibesfrucht begnügte man ſich aber
nieht, fondern fleigerte von Stufe zu Stufe die Verehrung
für Maria und Sofeph. . Zuerft ward die Anficht feftgeftellt,
fhon von Drigines, daß Maria auch nicht nach der Ger
burt in ehelichem Umgange mit Sofeph gelebt habe, was mau
dadurch ſtützte, daß man Leßteren zu einem abgelebten Greife,
und die im neuen Teftamente oft genannten „Brüder Sefu“
zu feinen Kindern aus einer früheren Ehe machte. Weiters
hin nahm man an, Maria fei andy bei der Geburt Jeſu
ihrer Sungferfchaft nicht verluftig gegangen, und endlich er⸗
Härte fchon Hieronymus, um auch für Sofeph unverlegte
Keufchheit zu gewinnen, es als eine gottlofe Träumerei, daß
Joſeph von einer früheren Gattin Kinder gehabt habe, und
ed wurden „von jeßt an die Brüder Jeſu zu bloßen Vettern
desielben degradirt *. Welcher Abftand von jener, den Ges
fchlechtsregiftern (ſ. S. 78 20.) zu Grunde liegenden Vorſtel⸗
lung, daß Sofeph der cheliche Vater Jeſu gemweien, bie zu
dieſer letzteren myftifchen Anficht !
Allein diefer Eirchlichen, aud) von den neueren Orthodoxen
verfochtenen, Anficht fteht der Wortlaut jener Matthärjchen
Stelle eben fo entgegen, als die neu=tejtamentliche Geſchichte,
bie fo häufig der „Brüder des Herrn“ erwähnt. Denn das
Wörtlein „bis“ bei Matth. 1, 25 kann, wie man auch das
ran deuteln mag, nur den Gedanken ausdrüden, daß nicht
länger, ald während der Zeit der Schwangerfchaft, die Ents
haltfamfeit der Aeltern Jeſu angedauert habe; und wenn man
mit dem Ausdrude „erften Sohn“ wohl auch einen einzis
gen bezeichnen kann, fo lange noch Hoffnung zu einem zwei⸗
ten vorhanden it, fo würde er Doch in dieſer Bedeutung
widerfinnig fein, wenn an weitere Nachfommenfchaft nicht
mehr gedacht werden kann, was doc, bei Abfaſſung des Evans
geliums, wo Jeſu Aeltern nicht mehr lebten, der Fall war.
Etwas weniger Gewicht hat der aus der häufigen Erwähr
nung der Brüder Jeſu hergenoinmene Einwurf gegen jene
orthodore Lehre von der unverleßten Keufchheit Joſephs nnd
der Maria. Allerdings werden gewifle Männer und Frauen
ald Brüder und Schwejtern Jeſu ganz beitimmt "aufgeführt;
vergleiche Matth. 12, 46; 13, 59. — Mark. 6, 3. —
95
Luk. 8, 19. — Joh. 2, 12. — Apoftelg. 1, 14; — und
daß diefe „Brüder Jeſu“ nad Joh. 7, 5 nicht gleich ans
fange an ihn glaubten und ihn nach Mark. 3, 21 und
31 für einen Berrüdten zu halten fcheinen, wiberfpricht ber
Augabe, daß fie feine Brüder von der Mutter her gewes
fen, eben fo wenig, ald der Umitand, daß nicht ihnen, fonbern
dem Johannes, Jeſus feine Mutter, che er farb, empfahl
(Soh. 19, 26 ꝛc.). Allein Das macht mit Recht Bedenken,
daß außer den vier Brüdern, deren Namen 3. B. bei Matth.
13, 55 zu leſen find, noch andere Männer mit ganz gleichen
Kamen aufgeführt werden, nämlich im Ganzen — die Brüder
mitgerechnet — vier Jakobus, zwei Joſes Cunter ihnen
wei Vettern Jeſu, Jakobus und Joſes), drei Sudas und
drei Simon (die Namen der Schweſtern werden nirgends
genannt). Ferner fcheint aus den ziemlich verworrenen evans
gelifchen Berichten über die verfchiedenen Jakobus hervorzus
gehen, daß der Bruder Jeſu, der jüngere Apoftel und ber
Better Jeſu dieſes Namens eme und biefelbe Perfon, und
war der Sohn der Maria, der 'Schwefter der Mutter Jeſu,
gewefen. Man könnte aljo bei dieſem das beigegebene gries
hifche Wort Cadelphos), das fonft nur „Bruder“ heißt, in
dem Sinne von „Better“, „naher Blutsverwandter“ nehmen,
worauf denn Nichts hinderte, ihm auch in Bezug auf die drei
andern dieſe Bedeutung zu geben. Jedoch hat dieß wiederum
andere nicht zu löfende Schwierigkeiten. Das genannte grie>
chiſche Wort hat jene Bedeutung „Better“ fonft nirgends,
wiewohl es, wie unfer „Bruder“ aud den Nächften bes
deutet; — die „Brüder des Herrn“ erfcheinen in den Evans
gelien faft überall in ber Begleitung von, Jeſus und feiner
Mutter; — Apoſtelg. 1, 14 werden fie, nad, Aufzähs
lung aller Apoftel, nody ganz bejonderd genannt; —- auch
1 Kor. 9, 5 fcheinen fie von den Apofteln gefondert zu
werden; — wie fonderbar wäre es endlich, Daß gerade von
diefen Männern jene Bezeichnung ftehend geworden fein
follte, und nicht ein einzigesmal von ihnen wirklich das Wort
„VBettern“ gebraucht würde, ein Wort, bas im neuen Teſta⸗
mente fonft öfters verkannt, 3. B. Kol. 4, 10.
Wir werden alfo auf die Annahme, daß jene Männer
96
allerdings Jeſu Brüder geweien, als die wahrfcheinfichke,
zurückgeworfen, und haben feinen Grund zu läugnen, baß,
Maria ihrem Gatten noch mehrere Kinber geboren habe;
Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf bie verfchler
denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei folcher Gleich⸗
namigkeit nicht feltene, Berwechjelung, zumal bei minblichen
Ueberlieferung, erzeugt worden fein.
An die Verkündigungen des Johannes und Jeſus fchließe
ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifabeth an, beffen
Darftellung bei Lufas (1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen,
mit vielen wunderbaren Zügen burchwebt iſt. Zwar glauben
bie natürlichen Ausleger mit biefen feicht fertig zu werben.
„Der Unbekannte, welcher Maria befuchte Ch. S. 90.), hatte
ihr auch die unerwarteten Hoffnungen der Eliſabeth mitgetheilt
(DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu
befuchen. Sie thut es, kommt an, und erzählt ihr vorerſt das
ihr gu Theil gewordene Glüd, wodurch Eliſabeth in hohe Bes
geifterung verfegt wird; dieſe Gemüthöbewegung theilt füch
dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches beßhalb eine
hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bebeutfames
Zeichen erblidt und mit begeifterten Worten die Maria anres
det (DB. 40 ꝛc.).“ Allein erftlich hat ja, unferm Berichte zus
folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß
hin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend
einer Erzählung der Maria, die den Worten der Eiifabeth
vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges
müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der
Bewegung des Kindes, wenn man den orten nicht die größte
Gewalt anthun will (vgl. nad) V. 44). Eben fo wenig bes
friedigt die natürliche Erklärung des Lobgefanges der Maria
(B. 46 10): „Maria wird durch Elifaberh in ihren mefflanis
fhen Erwartungen beftärft, und wird dadurch gleichfalls bes
geiſtert.“ Wie ift e8 doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei
einem Befuche der einen, flatt ſich zu unterhalten, in begeifterte
Geſänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen .
Anläffen, natürlichen Geſprächsform entfagen?
\
97
ir fonnen alſo nichts Anderes annehmen, als daß Elifas
beih wirflidy in der ganzen Erzählımg etwas Wunderbares
hat geben wollen; und als ſolches faßt es auch der ortho⸗
dore Außleger, und bietet und damit Näthfel anderer Art.
Es ift naͤmlich ganz unglaublich, daß die bloße „Stimme*
eines Menfchen (V. 44) auf die noch nicht ausgebildete Leibes⸗
frucht irgend einen Eindrud fol machen können. Welchen
Zweck follte auch ein fo abenteuerliches Wunder haben? Elis
fabeth und Maria bedurften ja feiner Beftätigung ihrer Hoffs
nungen mehr; und das noc) nicht zur Reife gediehene, noch
anbefeelte Kind Sohannes fonnte, wie gefagt, noch feinen
Eindrud empfinden, der ihn auf feine künftige Beſtimmung
hingewieſen hätte. Soll aber die Rede der Maria Wirkung
des heiligen Geiftes gewefen fein, fo ift fchwer zu begreifen,
daß derfelbe Nichts bewirkt habe, als eine ziemlich locker zus
fammengefügte Reihe altsteftamentlicher Sprüche, als welche
die Rede, felbit nach einer flüchtigen Vergleihung nım mit
1 Sam. 2, 1 ıc. und andern Stellen, erfcheint.
Wir werden alfo nicht anders Tonnen, als auch diefen
legten Theil der Erzählung für rein mythifch zu erflären,
nur nicht in dem Sinne derjenigen mythifchen Ausleger, welche
immer noch einen Befuch der Maria bei Elifabeth ale That⸗
fache fefthalten, nebft einigen begleitenden Umftänden. Denn
eben diefer Beſuch, an ſich genommen, verräth am beutlichften,
daß das Ganze nur Mythe if. Nach den bei Abfaffung
des Evangeliums herrfchenden Vorftellungen mußte Sohanneg,
als Sefu untergeordnet, zu deſſen Berherrlichung beftimmt
fein; fie mußten ſchon frühzeitig in der innigften Verbindung
mit einander geftanden haben; diefe aber fonnte durch Nichts
anfchaulicher gemacht werden, als wenn fchon die Mütter
der beiden Propheten in eine Berührung mit einander kamen,
bei welcher fchen die Mutter des Sohannes vor der Mutter
Jeſu ihr Haupt demuthsvoll neigte.e Daher der Beſuch
im Ganzen; einzelne Züge als hiftorifch fefthalten zu wollen,
hieße den Charafter meffianifcher Miythen ganz verfennen; viel
mehr mußte dieſe gewilfe VBorausfekungen machen, deren fie
als Grundlage bedurfte. Wir müffen alfo nicht nur den Be⸗
fuch der Maria, fondern auch ihre nahe Verwandticaft mit
J. 7
96
allerbings Jeſu Brüber geweien, als die wahrfcheinfichke,
zurückgeworfen, und haben feinen Grund zu läugnen, daß
Maria ihrem Gatten nody mehrere Kinder geboren habe;
Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf die verfchie
denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei folcher Gleich⸗
namigkeit nicht feltene, Verwechſelung, zumal bei münblicher
Ueberlieferung, erzeugt worden fein.
An die Verkündigungen des Johannes und Jeſus ſchließt
ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifabeth an, deſſer
Darftellung bei Lukas C1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen „
mit vielen wunderbaren Zügen durchwebt iſt. Zwar glauberz
bie natürlichen Ausleger mit diefen feicht fertig zu werben.
„Der linbefannte, welcher Maria befuchte (ſ. S. 90.), hatte
ihre auch die unerwarteten Hoffnungen der Elifabeth mitgetheilt
(DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu
befuchen. Sie thut es, fommt an, und erzählt ihr vorerft das
ihr zu Theil gewordene Glück, wodurch Etifabeth in hohe Bes
geifterung verjeßt wird; dieſe Gemüthsbewegung theilt ſich
dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches deßhalb eine
hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bedeutfames
Zeichen erblickt und mit begeilterten Worten die Maria anres
bet (V. 40 2c.).“ Allein erſtlich hat ja, unferm Berichte zus
folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß
bin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend
einer Erzählung der Maria, die den Worten der Eliſabeth
vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges
müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der
Bewegung des Kindes, wenn man den orten nicht Die größte
Gewalt anthun will (gl. nach V. 44). Eben fo wenig bes
friedigt die natürliche Erflärung des Tobgefanges der Maria
(BD. 46 0): „Maria wird durch Elifabeth in ihren meſſiani⸗
ſchen Erwartungen beftärft, und wird dadurch gleichfalld bes
geiftert.“ Wie ift es doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei
einem Befuche der einen, ftatt ſich zu unterhalten, in begeifterte
Gefänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen
Anläffen, natürlichen Gefprächsform entfagen?
99
unter Auguſtus willen wir durchaus Nichts; Stellen, die
man dahin hat deuten wollen, beziehen fidy nur auf Stalien.
Ehen fo unzuläffig ift eg, Die Worte, welche das Neid, bes
zeichnen (wörtlich nach dem Griechifchen: „Das ganze bewohnte
Land“) auf das jüdifche Land zu befchränfen, und unter
„Befehl“ nur eine Abficht, ein ausgedrüdtes „Beltreben“ zu
verftehen.
DD Sn Sudäaa insbefondere Fonnte aber damals) als
Jeſus geboren wurde, feine römifche Schakung vorgenoms
men werden; denn nad Lukas eigenen Berichten regierte das
mals noch Herodeg (1, 5), worin ihm Matth. 2, 1 beis
flimmt, und fein Sohn und Nachfolger ward erft nach zehn⸗
jähriger Regierung von Auguft verbannt, worauf Judäa
römiſch wurde. Nun waren zwar bie damaligen jübifchen
Könige, wie manche andere, den Römern fchon zinsbar:
allein eine Schatzung ftellten diefe doch nur in ihren eigenen
Provinzen an. Daß hievon unter Herodes eine Ausnahme
gemacht worden, läßt fid) durchaus nicht erweifen.
3) Es war damald Quirinus gar nicht Statthalter in
Syrien, -fondern erft lange Zeit nad) Herodes Tode; diefer
ftelfte in Sudaa allerdings eine Schakung an, aber erft etwa,
sehn Sahre nach Sefu Geburt.
Diefe Unrichtigfeiten laſſen fidy weder durch die ganz will
führliche Annahme, Berg 2 fer ein fpäterer Zuſatz, noch durch
gewaltfanie Aenderung der Worte, noch durch fprach- und
fachwidrige Erflärungen wegbringen. Wollte man auch, allen
übrigen Berichten zum Troße, annehmen, Jeſus fei wirflich
nicht unter Herodes, fondern zu Quirinus Zeiten geboren,
ſo war ja auch damals nur Sudäa, wo Bethlehem lag,
nicht auch Galiläa römifche Provinz, und Sofeph von Nas
zareth, eines Königs Unterthan, hatte nichts bei der Schabung
in einer Provinz zu thun.
Endlich mußte jeder Jude zwar bei einer jüdifchen
Schakung in feinem Stammorte fich einfchreiben laſſen,
nicht aber bei einer römifchen, und es war alfo überhaupt
fein Grund vorhanden, weßhalb Joſeph, obgleich Davide,
hätte nadı Bethlehem wandern follen, wie V. 3 und 4 er-
zählt wird.
100 |
Geftehen wir alfo ein, daß die Reife nad) Bethlehem ein
Erzeugniß der Mythe ift, die, der Weiffagung Micha 5, 1
zufolge, Jeſum mußte an jenem Ort geboren werden laſſen:
um eine folche Reife wahrfcheinlich zu finden, knüpfte man fle
an die berühmt gewordene Schakung des Duirinus an,
von welcher man zur Zeit der Abfaffung unferes Evangeliums
nur noch unbeftimmte Kunde im Lande hatte, und die Der
Zeit nach ohngefähr mit der Geburt Jeſu zufammentraf.
‚Finden wir alfo im weiteren Verlauf der Unterficchung feine
weiteren Beweife, fo haben wir in unferer Stelle Feine
Bürgfchaft dafür, daß Jeſus in Bethlehem geboren worden.
Unfer Evangelift indeß erzählt, ganz folgerichtig fortfah⸗
rend, in V. 6— 20 die wirfliche Geburt in Bethlehem, und
zwar ausgefchmüct mit Dem wunderbaren Zuge, daß Engel -
diefelbe den Hirten auf dem Felde angezeigt haben. Noch
weiter gehen die apofryphifchen Evangelien, Taut welchen Mas
ria ſchon auf dem Mege in der Nähe von Bethlehem unter
wunderbaren Unftänden von Geburtswehen überfallen wurde,
und in einer Höhle Cwährend unſer Lufas nur eine Krippe
in Bethlehem nennt) ohne Verletzung der Sungfraufchaft
gebar.
An der buchſtäblichen Erklärung des Berichtes von
Lukas mit den Supranaturaliften feftzuhalten, hat mancherlei
Echwierigfeiten. Abgefehen von dem, mag fihon oden ©. 73
über Engelerfcheinungen im Allgemeinen bemerkt worden, find
wir nicht im Stande, hier in unferm befondern Falle einen
gotteswürdigen Zweck dieſes Wunders heranszufinden. Sollte
dadurch die Geburt Jeſu allgemein befannt werden? Aber
Diefer Zwed wäre ja von Gott verfehlt worden; denn, um
nur das Nächite anzuführen, fchon die Magier (ſ. unten)
mußten erft in Serufalem nachfragen, wo' Jeſus geboren wor⸗
den. Sollten die Hirten in ihren meffianifchen Hoffnungen
keftärft werden? Auch davon, daß dieß wirklich erreicht wor⸗
den, eben fo wenig eine Spur, ald davon, daß gerade fie
fo befondere Erwartungen der Art gehegt hätten.
Im Gegenfatse zu diefer Auslegung erklären die Rationaliften
Alles für einen ganz natürlichen Vorfall. „Die Hirten
101
hatten der Maria gaftfreundliche Aufnahme gewährt, von ihr
erfahren, welcher feligen Hoffnung fie fich erfreute, brachten
fodann die Nacht auf dem Felde zu, bemerften hier eine im
Morgenlande nicht feltene feurige Lufterfcheinung, deuteten dieß
als eine Gottesbotichaft, daß die fremde Frau den Meſſias
wirflidy geboren, und hielten fofort die glänzenden Lichtftrah-
len für Engelfchaaren.“ — Allein wie ift e8 benfbar, daß
Maria, die früher fo fchweigfam war, und felbft ihrem Ver⸗
Iobten von ihren. Hoffnungen nichts mitteilte, daß fie dieſe
Hoffnungen nun fogleich ganz fremden Hirten eröffnet haben
ſoll? Wo ift eine Spur davon in unferer Erzählung, daß fie
überhaupt von dieſen gaftfreundlich aufgenommen worden?
feinen nicht vielmehr die Worte: „Und e8 waren Hirten
(ganz unbeftimmt gefagt!) in diefer Gegend“ diefer Annahme
ſtillſchweigend zu widerfprechen ?
Andere erklären daher die Engelerfcheinung in unferer Ers
zaͤhlung mit Recht für eine aus den Zeitvorftellungen hervors
gegangene Mythe; irren aber darin, daß fie als Thatfache
fefthalten, Maria habe wirklich in einem Hirtenftalle in Beth-
lehein gewohnt, und in einer Hirtenwohnung fei Jeſus geboren,
Denn haben wir einmal die Reiſe zur Schatzung nadı Beth
lehem als mythiſch erkannt, fo kann das Herbergen in einem
Stalle gar nicht mehr als Thatfache betrachtet werden, weil
ed fich einzig aus einem ganz ungewöhnlichen Zufammenftrömen
bon Fremden erklären laßt. Andererfeits finden fich aber in
den Zeitvorftellungen und in altsteftamentlichen Borbildern aud)
‚für dieſen Theil der Erzählung Gründe genug, welche vers
anlaffen konnten, denfelben zu erdichten. Sn Berborgenbheit
mußte der Mefftas, fo dachte man, geboren werden, um vor
den Nachftellungen der Pharifäer ficher zu fein. Kerner läßt
die alte Welt überhaupt in ihren Mythen den Hirten und
- Randleuten am liebjten göttliche Erfcheinungen zu ‘Theil wer:
den; von Hirten werden Götterfühne erzogen, 3. B. Roms
lus u. fm. Im Veiondern bot fi noch das Vorbild Dee
Mofes dar, der bei den Heerden himmlifche Erfcheinungen
hatte (2 Mof. 3, 1 ꝛc.) und David, des Meffias Ahnherr,
war von den Neerden weg zum Könige des Volkes berufen
worden (Pf. 78, 70 ꝛc.). Die Nadıt aber bildet in tem
102
dichterifchen Gemälde den dunfeln Hintergrund, von dem bie .
„Herrlichkeit des Herrn“ doppelt glanzvoll zurückſtrahlt.
Wenn man gegen diefe mythifche Auffaflung einwendet,
bie Erzählung fei zu einfach und zu wenig dichterifch ausge⸗
fhmüct, fo antworten wir darauf: „ Die mythifche Poefte
legt das Dichterifche in den Stoff der Erzählung, und kann
daher in ganz fehlichter Form, ohne allen Aufwand von Kunft,
erfcheinen. * Eben fo wenig Gewicht hat die Behauptung,
daß die ganze Erzählung doch nicht aus Nichts zufammens
gefloffen fein könne; dieß ift fie auch nicht, vielmehr aus den
Thatfachen, daß die dee, der Meffias müffe in Bethles
hem geboren worden fein, und die Borftellung, die Hirten
werben des Verkehrs mit dem Himmel befonders gewürdigt,
im jüdifchen Volke herrfchend wareu.
Die kurze Nachricht von der Befchneidung Sefu (2, 21)
rührt ohne Zweifel von Semanden her, der, ohne wirkliche
Nachricht von derfelben zu haben, fie als ſich von felbit vers
ftehend vorausfeßte; „die angebliche Beftimmung des Namens
„Jeſus“ (vgl. Luk. 1, 315 Matth. 1, 21), ſchon vor feiner
Geburt, gehört auch nur zu der mythifchen Einkleidung der
Erzählung *, wie dieß fchon ganz aͤhnlich von Iſaak, Ismael
und Sohannes erzählt worden war.
Stebentes Kapitel.
Beſuch der Magier und Bethlehbemitifcher Kinder:
mord.
(Matthäus 2.)
Auch Matthäus führt den neugebornen Meffias auf feiers
liche und wunderbare Weiſe bei den Menfchen ein, jedoch durch
eine ganz andere Erzählung, ald Lukas; nämlich durch die
von dem Befuche der Magier aus Dften (Matth. 2,
1—12.) Hier ift ed ein Stern, der fie zu dem Kinde hins
führt; und ihre Verehrung fpricht ſich durch koſtbare Ges
fhenfe aus ihrer Heimath aus. Während bei Lufas Alles
einen heiteren Ausgang gewinnt, endet dieſe Erzählung mit
|
103
dem blutigen Kindermord, dem Sefus nur durch Die Flucht
nach Aegypten entgeht. Beide Erzählungen können nicht neben
einander beitehen; denn wenn wirflidy Die Engel bei Lukas fo
laut die Geburt Jeſu verkündet hatten, fo mußte Diefelbe in
dem nur 2— 3 Stunden entfernten Serufalem fchon vor den
Magiern befannt fein, was aber nach Matth. 1, 4, 5 nicht
der Fall war. Indeß können wir, da wir bereits des Lukas
Erzählung als eine Mythe erfannt haben, umgeftört die Des
Matthäus nun blos für ſich betrachten, und fragen: „Enthält
fie vielleicht wirkliche Thatfachen oder auch nur Mythe?“
Sie ſetzt, um bei dem Allgemeinen zu beginnen, den Glau⸗
ben voraus, daß die Geburt großer Maͤnner und andere wich⸗
tige Ereigniffe in der Menfchenwelt durch Erfcheinungen am
Sternenhimmel angezeigt werden (V. 2); eine Borftellung,
die wir laͤngſt als Aberglauben anfahen. Wie Fonnte nun
hier die Deutung aus den Sternen, gegen alle fonftigen
Erfahrungen, zutreffen? Etwa durch wunderbare Beranftals
tung Gottes? Aber hätte er dann nicht für lange, lange
Zeiten jenen Aberglauben, fomit die Unmwahrheit, auf sehr
nachtheilige Weiſe unter den Menſchen felbit befördert? Oder
durch Zufall? Dann fällt aber das Wunderbare ganz weg;
die Erzählung verdiente feine Stelle im Evangelium. Hierzu
fommt noch die offenbar falſche Auslegung der Propheten-
Stelle Micha 5, 1 (V. 5 und 6), welche von den Prieftern in
Serufalem auf die Geburt des Meffiad gedeutet wird: denn
mag auch das hebräifhe Wort,in diefer Stelle, das „Herr
fher“ bedeutet, vom Mefftas zu verftchen fein, fo fagt fe
doch weiter Nichts, als daß er aus Davids Gefchlecht kom⸗
men werde, deſſen Stammort befanntlic, Bethlchem war. Hat⸗
ten e8 aber die Priefter mit ihrer falfchen Auslegung doch
getroffen, fo wäre das wieder ein Zufall.
Auffallend it es ferner, daß Herodes, als die Magier ihm
die Geburt des Meffias melden, fie fogleich nach der Zeit
fragt, in welcher der Stern erfchienen fei CB. 7): warum
dieß? Dffenbar, um des Kindes Alter zu erfahren, und zu
wiffen, welche Kinder er zu ermorden habe, wenn er des
rechten nicht verfehlen wolle; allein dieſen fcheußlichen Plan,
alle Kinder dieſes Alters zu ermorden, faßte er erſt damals,
104
- als er fah, daß die Magier nicht wieder kamen (B. 16), wie
er ihnen befohlen hatte, und er aljo Feine Kunde von dem
Neugebornen erhielt. Iſt ed nun aber nicht undenkbar,
daß er überhaupt durch einen folchen, feine Angft verrathens,
den, Auftrag, nämlic wieder zu kommen, das Mißtranen
gegen ſich rege gemacht haben follte, wodurch fein Plan ger
gen das Kind vereitelt werden mußte? Dieß gefchah auch
wirklich, und er mußte nun das entfegliche Blutbad unter fo
vielen Kindern anrichten. War es nicht einfacher und ſiche⸗
ver, fogleich vertraute Boten heimlich nach Bethlehem zu ſen⸗
den, Die das unter fo außerordentlichen Umftänden °) geborne
Kind leicht auffinden und wegräumen fonnten? Ber in dies
fer Verblendung des Herodes eine befondere göttliche Fügung
zur Rettung des Kindes erblikt, der verfündigt ſich gegen
die Weisheit Gottes, die, einmal übernatürlich eingreifend,
ein anderes Mittel gewählt haben würde, als das, beffen
Dpfer nun viele unfchuldige andere Kinder wurben: konnte
er nicht auf wunderbare Weiſe die Magier geräbezu nad)
Bethlehem führen?
Die Magier ziehen, ſo geht die Erzählung weiter fort,
nach Bethlehem; der Stern erfiheint ihnen wieder (B. 9),
geht vor ihnen her und bleibt gerade über dem Haufe ſtehen,
worin ſich Sefus befand (V. 10). — Zwar bewegt ſich der
Sternenhimmel fiheinbar um unfere Erde, aber von Oſten
nach Welten, nicht von Norden nadı Süden, welches bie
Richtung des Weges von Serufalem nad) Bethlehem ift. Aber
auch Diefe fcheindbare Bewegung kann auf einem fo kurzen
Wege gar nicht fo genau beobadıtet werden, Wie ein Stern,
aber über einem Haufe ftille ftchen könne, da vielmehr alle
ftille zu ftehen fcheinen, fobald der Wanderer Halt macht,
dieß ift auch dann noch unbegreiflihh, wenn man mit einigen
Kirchenvätern an einen ganz befonderen, von Gott eigens
zu dieſem Zwecke gefchaffenen, Stern denft. Ein Engel
kann ed auch nicht gewefen fein, fonft hätte ed Matthäus
ficherlich gefagt, und ein Meteor noch weniger, weil dieſes
8) Wie fie nämlich im zweiten Kapitel des Lukas erzählt werben.
L
ĩ
[1
103.
sicht fo Tange Zeit andauern konnte, als zwifchen bem Aufs
brauche der Magier aus ihrer Heimath und ihrer Ankunft in
Bethlehem verfloß. — Diefes Stilleftehen über einem Haufe
iR andy felbft den Supranaturaliften jo fehr im Wege, daß
fie auf mancherlei Weife fich Frümmen, um ihm zu entgehen;
da es mit verfücchten Sprachverdrehungen nicht gehen will,
fo meint 5. 3. Olshauſen, die Magier haben mur Findlich
naiv fagen wollen: „die Bewegung, in welche der Stern fie
verfeßt, habe nun aufgehört, da fie das Maus gefunden; er
fei gleidyjam ftille geſtanden!“ —
Im Hanfe angelangt, überreichen die Magier dem Kinde
föftfiche Gefchenfe, und nehmen fodann, durch einen Traum
gewarnt, den Rückweg nicht über Jeruſalem. — Wären fie
zur auch auf der Hinreife nicht dahin gekommen! denn Heros
des erläßt nun den fchändlichen Befehl zur Ermordung der
Bethlehemitiichen Knaben (8.16), und Sefus entgeht der
drohenden Gefahr nur durch die Flucht feiner Aeltern nad
Aegypten; indem dieß Matthäus erzählt, deutet er abermals
ganz fälfchlich eine altsteftamentliche Stelle auf Chriſtus (2. 15).
Nämlich die Worte im Hofea 11, 1: „aus Aegypten rief ich
. meinen Sohn“ fünnen nur von der Befreiung der Sfraelis
ten aus der Sflaverei in Aegypten verftanden werden, und
der Prophet Fann gar nicht, auch nicht einmal nebenbei, an
Jeſu Flucht in diefes Land gedacht haben, da in deflen und
der Sfraeliten Berhältniffen, außer der zufälligen Gleichheit
des Ortes, Alles verfchieden ift. Es kann demnach hier die,
Ihon an fich fpielende, Anſicht von der Doppelfinnigfeit einer
Prophetenitelle ihre Anwendung nicht finden.
In Bezug auf die Bethlehemitifche Blutjcene felbft muß es
ſehr auffallend erfcheinen, daß Fein anderer Schriftfteller ihrer
erwähnt; nicht einmal Joſephus, der fo viel von Herodes
berichtet. Nur Ein römifcher Schriftfteller aus dem vierten
Sahrhundert erzählt von einem Herodiſchen Kindermord, vers
mengt aber dabei die chriftliche Ueberlieferung mit dem Morde,
den Herodes an feinem eigenen Sohne verübte. Auch hier
wieder foll ein altes Drafel, dem Matthäus zufolge, in Er»
- füllung gegangen fein (V. 17, 18): aber auch hier wieder eine
durchaus irrige Auslegung!
104
ale er fah, daß die Magier nicht wieder kamen (B. 16), wie
er ihnen befohlen hatte, und er alfo feine Kunde von dem
Neugebornen erhielt. Iſt es nun aber nicht undenkbar,
daß er überhaupt durch einen folchen, feine Angſt verrathen-
den, Auftrag, nämlid; wieder zu fommen, das Mißtranen
gegen fich rege gemacht haben follte, wodurch fein Plan ges
gen das Kind vereitelt werden mußte? Dieß gefchah auch
wirflich, und er mußte nun das entfesliche Blutbad unter fo
vielen Kindern anrichten. War es nicht einfacher und ſiche⸗
rer, fogleich vertraute Boten heimlich nach Bethlehem zu fens
den, Die Das unter jo außerordentlichen Umftänden °) geborne
Kind leicht auffinden und wegräumen fonnten? Ber in dies
fer Berblendung des Herodes eine befondere göttliche Fügung
zur Rettung des Kindes erblidt, der verfündigt fi) gegen
die Weisheit Gottes, die, einmal übernatürlich eingreifend,
ein anderes Mittel gewählt haben würde, als das, deſſen
Dpfer nun viele unfchuldige andere Kinder wurden: konnte
er nicht auf wunderbare Weife die Magier geradezu nad
Bethlehem führen?
Die Magier ziehen, ſo geht die Erzählung weiter fort,
nad; Bethlehem; der Stern erfiheint ihnen wieder (2. 9),
geht vor ihnen her und bleibt gerade über dem Haufe ſtehen,
worin ſich Sefus befand (B. 10). — Zwar bewegt fidy der
Sternenhimmel fcheinbar um unfere Erde, aber von Oſten
nach Welten, nicht von Norden nach Süden, welches die
. Richtung des Weges von Serufalem nach Bethlehem iſt. Aber
auch dieſe fcheinbare Bewegung kann auf einem fo kurzen
Wege gar nicht fo genau beobachtet werden. Wie ein Stern.
aber über einem Hauſe ftille ftchen könne, da vielmehr alle
ftile zu ftehen fcheinen, fobald der Wanderer Halt madıt,
dieß ift auch dann noch unbegreiflih, wenn man mit einigen
Kirchenvätern an einen ganz befonderen, von Gott eigens
zu dieſem Zwecke gefchaffenen, Stern denkt. Ein Engel
kann ed auch nicht gewefen fein, fonft hätte ed Matthäus
ficherlic, gefagt, und ein Meteor noch weniger, weil dieſes
8) Wie fie nämlich im zweiten Kapitel des Lukas erzählt werben.
103.
siht fo lange Zeit andauern konnte, als zwifchen dem Aufs
bruche der Magier aus ihrer Heimath und ihrer Ankunft in
Bethlehem verfloß. — Diefes Stilleftehen über einem Haufe
iſt auch felbft den Supranaturaliften fo fehr im Wege, daß
fie auf mancherlei Weiſe fich Frümmen, um ihm zu entgehen;
ba es mit verjuchten Sprachverdrehungen nicht gehen will,
fo meint 3. B. Olshauſen, die Magier haben nur kindlich
naiv fagen wollen: „die Bewegung, in welche der Etern fie
verfegt, habe nun aufgehört, da fie das Haug gefunden; er
fei gleichſam ftille geftanden!“ —
Sm Haufe angelangt, überreichen die Magier dem Kinde
köftfiche Geſchenke, und nehmen fodanı, durch einen Traum
gewarnt, den Rückweg nicht über Serufalem. — Wären fie
wur auch auf der Hinreife nicht dahin gekommen! denn Heros
des erläßt nun den fchändlichen Befehl zur Ermordung ber
Bethlehemitiichen Knaben (B.16), und Jeſus entgeht der
drohenden Gefahr nur durch die Flucht feiner Aeltern nadı
Aegypten; indem dieß Matthäus erzählt, deutet er abermals
ganz fälfchlich eine altsteftamentliche Stelle auf Chriſtus (V. 15).
Nämlich die Worte im Hofea 11, 1: „aus Aegypten rief ich
. meinen Sohn“ fünnen nur von der Befreiung der Sfraclis
ten aus der Sflaverei in Aegnpten verftanden werden, nnd
der Prophet kann gar nicht, auch nicht einmal nebenbei, an
Jeſu Flucht in dieſes Land gedacht haben, da in deffen und
der Iſraeliten DBerhältniffen, außer der zufälligen Gleichheit
des Ortes, Alles verfchieden tft. Es kann demmach hier die,
ſchon an ſich fpielende, Anficht von der Doppelfinnigfeit einer
Prophetenitelle ihre Anwendung nicht finden.
In Bezug auf die Bethlehemitijche Blutſcene felbit muß es
ſehr auffallend erfcheinen, daß Fein anderer Schriftfteller ihrer
erwähnt; nicht einmal Sofephug, der fo viel von Herodes
berichtet. Nur Ein römischer Schriftfteller aus dem vierten
Sahrhundert erzählt von einem Herodifchen Kindermord, vers
mengt aber dabei die chriftliche Ueberlieferung mit dem Morde,
den Herodes an feinen eigenen Sohne verübte. Auch hier
wieder foll ein altes Drafel, dem Matthäus zufolge, in Ers
- füllung gegangen fein (V. 17, 18): aber auch hier wieder eine
durchaus irrige Auslegung!
106
Nach Herodes Tode Fehrt Joſeph mit dem Kinde zurück;
aber nicht nach Bethlehem, fondern nad; Nazareth in Gali⸗
län, weil über Judäa Archelaus, Herodes Sohn, herrfdhte.
Zu diefem gedoppelten Entfchluffe treiben ihn abermal zwei
Engelerſcheinungen im Traume.
Die ganze Erzählung bietet ung alſo fünf wunderbare gött⸗
liche Anordnungen, einen Stern und vier Traumgefichte, wo⸗
rin wir einen unbegreiflichen Ueberfluß erblidien müffen. Die
zwei letzten Traumorakel fonnten gar füglich in Eins zuſam⸗
mengezogen werben, und daß die Magier nicht zugleich mit
dem Sterne auch die göttliche Weifung erhielten, Sernfalem
nicht zu berühren, erfcheint und fogar ale die eigentliche Vers
anlaffung des unmenfchlichen Kindermordes, und macht es
und nur um fo fchwerer, an die Wahrheit biefer Traumge;
fi ichte zu glauben.
Endlich kann die den Schluß bildende abermalige Hinweis
fung aufleine Weiffagung, „er fol Nazarener heißen“, nicht
einmal recht verftändlich gemacht werden, fo viel Mühe man
ſich auch damit gegeben hat.
Die mancherlei Anftöße, die ein buchftäbliches Fefthalten
diefer Gefchichte, als einer wunderbaren, darbietet, wegzu⸗
räumen, haben vorzüglich die natürlichen Ausleger viek
fach verfucht, am beften Paulus. Diefer hält, um dem _
Unglaublichen, daß heidnifche Magier etwas von der Ges
burt eines jüdifchen Königs follten wiſſen können, aus dem
Wege zu gehen, — er hält die Magier für Juden, bie in
Babylon wohnten, und auf einer Handelsreife auch nad
Serufalem kamen; — „da fie im Lande von einem neugebors
nen Könige fprechen gehört, fällt ihnen eine kürzlich gehabte
himmlifche Erfcheinmg ein, und fie wünjchen, gelegentlich das
Kind auch zu fehen.“ Allein daß fie Feine Tuben waren,
fcheint doc, aus ihrer Frage: „Wo ift der junge König ber
Juden?“, daß fie feine Kaufleute waren, aus der bes
ftimmten Bezeichnung derfelben ald „Magier“, — und daß
nicht Dandelsgefchäfte ihre Neife veranlaßten, aus der Eile
hervorzugehen, mit der fie in Jerufalem fogleid) nad) dem
107
Kinde fragen, und dabei ald VBeranlaffung ihrer Reiſe den ım
Morgenlande gefehenen Stern angeben (®. 2). — Aber nım
weiter: eben dieſer wandernde und ftillftehende Stern, wie
der zu deuten? Er foll fein Stern, fondern eine Cons
fellation gewejen fein; merhvürdiger Weife fand nach
nesern aftronomifchen Berechnungen eine folche wirklich ftatt,
allein fieben Sahre vor Dem Sahre, welches als das Geburtsjahr
Jeſu angenommen wird, und ebendiefelbe fol nad) der Rech⸗
nımg eines gelehrten Juden auch drei Sahre vor Mofe Geburt
eingetreten fein, fo daß ihre Wiederkehr zu Herobes Zeiten
wohl zu meffianifchen Erwartungen benüst werden formte.
Allein aus vielen Gründen bleibt es fehr zweifelhaft, ob der
„Stern“ des Matthäus wirklich jene Conftellation gewefen;
um fo mehr, da auf eine folche Das „vorangehen“ und „ftille
ftehen über dem Haufe“ eben fo wenig ohne den größten
Zwang gedeutet werden kann, als auf einen wirklichen Stern
(f. oben ©. 10%).
Was die falfch gedeuteten altsteftamentlichen Stellen ans
langt, fo foll eine folche Auslegung dem Matthäus gar nicht
zur Laft fallen. Nicht er, fagt man, fondern nur die Schrift-
gelehrten in Serufalem, haben Micha 5, 1 auf den Meffiag
gedeutet; allein Matthäus flimmt ihnen Doch indirekt bei, ins
dem er in feiner weiteren Erzählung dieſe Deutung beftätigt
werden läßt. Die Stelle aus Hofea foll der Evangelift nur
angeführt haben (f. S. 105) um durch Hinweifung auf das
heilige Volk Gottes jedem Anftoße zu begegnen, den man da⸗
ran nchmen fonnte, daß der Meffias einft unter Heiden ges
wohnt. Davon ſteht aber in der Erzählung fein Wort, und
die Worte: „auf daß erfüllt würde“ (V. 15) heißen auch hier
nichts Anderes, ald eben das, was fie heißen! — Die
mehrfachen Traumgeſchichten endlich werden aus vorangegan⸗
genen Erfundigungen und Gedanken der Wachenden erflärt.
Allein auch dagegen fträubt ſich der Text: dieſer läßt Die
Nachrichten von der Abficht, und fpäter von dem Tode des
Heroded, fo wie den Befehl, nadı Nazareth zu ziehen, den
Betreffenden nur im Traume zufommen, und ftellt dieß offen⸗
bar ald eine wunderbare Eröffnung dar, was ja thöricht
wäre, wenn die Träumenden es fchon vorher wuften,
108 -
Ehen fo ungeihidt, als diefe natürlichen Erflärungen,
find die erften mythifchen Auslegungen, zu denen man ſich
hingetrieben fah, ausgefallen, indem fie von jenen fich kaum
unterfcheiden, und eine Reife morgenländifcher Kaufleute, eine
Blutfcene in Bethlehem und eine Flucht nach Aegypten als
wirflihe Facta ftehen laffen, zu denen die Sage fpäter das
Wunderbare hinzugedichtet. Allein nimmt man der Erzählung
einmal dieſes, alles Einzelne derfelben gar wohl verfnüpfende,
Wunderbare, fo gibt fie uns. nur eine Reihe unbegreiflicher
Zufälle, die wie zufammengewürfelt erfcheinen. Will man
Dagegen mit einem neuern Supranaturaliften Die Reife Der
Magier, die durch ihre Sterndeutungen zur Ahnung Des in
Sudaa gebornen Erlöfers gelangt waren, den Kindermorb und
bie Flucht als gefchichtlichen Kern felthalten, und das Uebrige
anf fich beruhen Taffen, fo hat man das Vertrauen auf bie
Treue des Erzähler doc fchon aufgegeben, ohne deßhalb
auch nur den kleinern Theil der Schwierigfeiten zu entfernen.
Soll aber einmal unbefangene Prüfung jtattfinden, fo muß
fie eine Richtung einfchlagen, in welcher alle Räthfel ihre
Löfung finden.
Diefe Löfung finden wir nur, wenn wir die Erzählung als
eine reine Mythe betrachten, hervorgegangen*aus den herrs
fhenden meffianifchen Erwartungen. Den erften allges
meinen Anhaltspunkt gibt und der Stern der Magier. So
wie im Alterthbum überhaupt der Glauben verbreitet war, daß
Geburt und Schickſale großer Männer mit Erfcheinungen am
Sternenhimmel, Kometen, Gonftellationen ꝛc. in engem Zufams
menhange ftünden (noch des Julius Caſar Tod ward mit einem
Kometen in Berbindung gebracht), jo war es auch indbefondere
rabbinifche Borftellung, ed werde bei der Geburt des Mefs
fiad ein Stern im Oſten erfcheinen und lange fichtbar fein.
Diefe Vorftellung fand eine ganz eigenthümliche Stüße in der
Weiſſagung des heidnifchen Propheten Bileam (4 Mof.
24, 1: „Ein Stern wird aufgehen aus Sfracl.“ Zwar
ift hier mit „Stern“ nur bildlich ein großer Fürſt bezeichnet,
und dag Drafel bezieht ſich auf irgend einen fiegreichen König
Iſraels, wie ältere jüdifche Erklärer die Stelle auch wirklich
109
nahmen. Allein fpäterhin, als ſich der Glauben an Aftrologie
inmer weiter ausbildete, nahm man jenen Ausdrnd buchftäb-
ih und bezog die ganze Stelle auf den Meffias, wie aus
Schriften der Rabbinen erhellt; und es mußte deſſen Geburt
durch einen Stern voraus verfündet werden. War num aber
Jeſus einmal von feinen Jüngern aus andermweitigen
Grümden als der Verheißene anerfannt worden, fo mußten fie
nach ihren jüdischen VBorftellungen als unzweifelbar annehmen,
daß auch Diefes Zeichen an ihm in Erfüllung gegangen; je
mehr Die Kindheit Jeſu ind Dunfel zurüctrat, um fo harm⸗
Iofer konnte diefer Glauben zur mythifchen Erzählung fich ges
‚falten. Daß der Stern aber im Dften gefehen wurde von
Magiern, mußte man um fo mehr annehmen, da hier die
Afteologie recht eigentlich zu Haufe war, und Bileam, ber
den Stern fo beftimmt prophezeit haben follte,-ja auch ein
Magier war.
Eben fo ergaben fich, nachdem einmal der erfte Keim der
Mythe gegeben war, die einzelnen Züge desfelben gleichfalls
aus andern auf den Meſſias bezogenen Stellen des alten
Teftamentse. In Sof. 60 und Pf. 72 wird bei Schilderung
der mefftanifchen Zeit hervorgehoben, daß die entfernteiten
Könige nadı Serufalem kommen werden, um dem Mefftas mit
glänzenden- Sefchenfen zu huldigen (man vgl. nur 3. B. Matth.
2, 11 mit Sof. 60, 6); hieß es num in Sof. 60, 1 und 3:
„Serufalem, dein Licht ift gekommen“, fo Tag ed nahe, anzus
nehmen, Magier feien es gewefen, die, von dem Sterne
angetrieben, mit herrlichen Gaben zum Mefftas gekommen.
Daß der Stern nun auch ihr unmittelbarer Führer wurde,
hat feinen Grund in anderweitigen Vorftellungen des Alter:
thums, das fo viel von Leitfternen zu erzählen weiß, wie 3. B.
dem Abraham ein Stern den Weg zum Moria zeigte. — Daß
die Magier aber. zunächft nach Serufalem gehen, ergab ſich
aus dem Slanze diefer Hauptftadt, und führte auf das Eins
fachfte zu Dem bethlehemitifchen Kindermorde hinüber. Denn
auch zu dieſem Theile der Mythe fand die urchriftliche Sage
Antriebe genug. |
Bon jeher hat die Sage die Kindheit großer Männer durd)
Mordverfiche verherrlihtz die wunderbare Nettung aus vet
110
Gefahr verkündete ihre künftige Größe. So war, um von
Eyrus, Romulus und Anderen zu fchweigen, auch Mofes Leben
fchon frühzeitig durch königlichen Mordbefehl bedroht. In der
einfachen altsteftamentlichen Erzählung 2 Mof. 1, 2 ift ed das
bei zwar nicht insbefondere auf Mofes abgejchen; allein
die fpätere Sage half auch in dieſem Punkte nach; denn
dem Sofephus zufolge ward Pharao durch die Erflärung feiner
Schriftdenter, e8 werde ein ifraelitifches Kind geboren werben,
tas feinen Thron gefährbe, dazu veranlaßt; gerade wie Heros
bes durch die Eröffnung der Magier. Ein ganz Aehnliches
erzählt die rabbinifche Sage von dem Kinde Abraham.
Darf es nun Wunder nehmen, dag auch die hriftliche
den größten aller Propheten aus den Händen eined anderen
Pharao wunderbarer Weife gerettet werden läßt? Weiß doch
ein apofryphifches Evangelium eine nody winderbarere Rettung
bes Knaben Sohannes zu erzählen! daß nämlich ein Berg ſich
geöffnet und vor feinen Berfolgern ihn verſteckt habe.
Daß Sefus gerade durch eine Flucht gerettet wird, mag
feinen befonderen Grund in einer wenigftens ähnlichen Flucht
des Moſes haben, nach 2 Mof. 4 Kap., deſſen V. 9 auffallend
mit Matth. 2, 20 übereinftimmt; ihn gerade nach Aegypten
fliehen zu laffen, lag nahe genug, weil diefes Land eine alte
Zufluchtsftätte bedrängter Sfraeliten war. Diefer Grumd ift
wenigftens haltbarer, als die Berufung des Matthäus auf Hoſea
11, 1, welche Stelle wohl niemals auf den Meffias gedeutet
worden ift. .
Wenn man gegen biefe mythifche Auffaffung der Erzählung
einwendet, daß Matthäus ja die Weiffagung des Bileam, aus
‚ welchem der mythifche Zug von dem Sterne erwuchs, gar
nicht erwähne und in den Magiern den Heiden eine zu große
Bedeutung beigelegt werde, fo ift damit nicht viel gefagtz mit
Letzterem nicht, weil fchon Die alt=teftamentlichen Stellen den
Heiden diefe Bedeutung beilegen, die überdieß ja eine Huldi⸗
gung gegen den jüdifchen Meſſias ift. Auf das Erftere kann
einfach erwidert werden, daß Matthäus die Mythe nicht felbft
aus der Weiffagung des Bileam herausgefponnen, fondern
fie nad) der Ueberlieferung, die diefe Wurzel abgeftreift haben
konnte, nieberfchrieb.
111
Bergleichen wir endlich unfere Erzählung mit ber bei Luk. 2
von dem Lobypreifen der Hirten cf. S. 100), fo müflen wir,
wenn wir und nicht in große Widerſprüche verwickeln wollen,
augeftehen, daß beide ganz unabhängig von einander entitanden,
beide aber ein Beweis find, wie tief der meffianifche Ein-
druck war, den Jeſus machte, da felbft der Gefchichte feiner
- Kindheit nad) mehrfachen Richtungen hin die meffianifche
Form, den vorhandenen Weiffagungen gemäß, gegeben wurde.
Wir bemerften ſchon oben CS. 103), daß, während bie
Geburtsgefchichte Jeſu bei Matthäus die fo eben betrachtete
ängftliche Wendung nimmt, fie bei Lukas ganz friedlich mit
der Darftellung im Tempel enden. Obgleich wir die Er⸗
zählungen des Meſſias als Mythen bezeichnen mußten, fo
wollen wir doch nun noch näher das Z eitverhältniß diefer
Darftelung zu dem Beſuche der Magier und der Flucht nach
Aegypten, alfo das Verhaͤltniß zwifchen beiden Erzählungen,
mmterfüchen. °)
Dem Lufas zufolge fand die Darftellung nad) der ges
feßlichen Zeit der Reinigung ftatt, alfo vierzig Tage nad) der
Geburt; Matthäus feinerfeits beginnt die Erzählung von dem
Beſuch der Magier ganz fo CB. 1), als ob zwifchen der
Geburt und ihm nichts Bedeutendes vorgefallen wäre. Es
ſetzten alfo viele Ausleger diefen Befuch vor die Darftellung;
wobei nun die Frage entfteht: gehört auch die Flucht vor
diefelbe, oder fteht diefe Darftelung im Tempel zwifchen
Beſuch und Flucht? Dieß Lebtere ift unmwahrfcheinlich; denn
auch beim Uebergange von dem Beſuche zur Flucht CB. 13)
fpricht Matthäus, gerade wie oben V. 1, fo, als ob zwifchen
Beiden gar nichts Erhebliches gefchehen wäre. Aber ganz
9. Wir ftellen gleich hier zu Teichterer Weberficht Die einzelnen Er:
eigniffe neben einander, wie fie möglicherweife als aufeinander
gefolgt, angenommen werden Eünnten:
1) Befuch der Magier, Darftellung im Tempel, Flucht.
2) Befuch der Magier, Flucht, Darftellung im Tempel.
3) Darftellung im Tempel, Beſuch der Magier, Flucht.
u 112
undenkbar ift ed deßwegen, weil alsdann Gott, nachdem durch
die Magier das Leben des Kindes der Grauſamkeit des miß⸗
tranifchen Herodes Preis gegeben worden, was ja der Grunb
der Flucht war, er ed zugelaffen hätte, daß Joſeph mit ihm
nach Serufalem zur Daritellung im Tempel ging; wie ges
fährlidy war dieß, zumal da nach Elifabeth der alte Simeon
und die Prophetin Hanna durdy begeifterte Lobgefünge (B. 29
und Ausbreiting der beglücenden Nachricht vom erfchienenen
Erlöfer (V. 38) alle Welt auf das Kind aufmerkffam machten!
Man ift alfo nothgedrungen, auch die Flucht noch vor
die Darftellung zu feßen; allein dieß geht noch weniger. Denn
unmöglich konnte fo viel, als hier vorausgefeßt wird, in vierzig
Tagen gefchehen: Befuch der Magier, Flucht nad) Aegypten,
Kindermord. in Bethlehem, Tod des Herodes, Rückkehr ans
Aegypten. Anzunehmen, daß bis zur Darftellung im Tempel
mehr, als die gefegliche Zeit verfloffen, ift gegen die Worte
Luk. 2, 22: „AB verfloffen waren Die Tage ꝛc. nad) dem
Geſetze.“ Ueberhaupt aber durfte Sofeph mit dem Kinde
nach der Flucht eben fo wenig, ald vor derfelben, nad
Serufalem gehen, da er bei feiner Rückkehr durch einen Traum
angewiefen wurde, nicht einmal das Land Judäa zu betreten
( Matth. B. 22), weil and) unter dem Nachfolger des Heros
des, feinem Sohn Archelaus, Jeſus daſelbſt nicht ficher war.
Diefer großen Schwierigkeit wegen feßen die meiften Theo⸗
Iogen Beides, den Bejuch und die Flucht, nach der Darftellung
im Tempel. Dieß ſcheint auch darum natürlicher, weil Matthäus
einen größeren Zwifchenraum zwifchen der Geburt und der
Ankunft der Magier andeutet, indem er erzählt, Herodes habe
die Kinder bis zu zwei Sahren tüdten laſſen; das Erfcheinen
des Sterns ſcheint aber gleichzeitig mit Sefu Geburt gebacht
zu fein. Dem gemäß wären Sefu Eltern mit dem neugebornen
Kinde von Bethichem zur Darjtellung nach Serufalem gereidt,
dann wieder nach Bethlehein, wo die Magier fie fanden;
hierauf Flucht, Rückkehr und Niederlaffung in Nazaret. Wie
durchaus unwahrſcheinlich es ift, daß fie nochmals nady Bethles
hem gegangen, wird weiter unten zur Sprache fommen; aber
auch jehon die Worte des Lukas CB. 39) find fo beftimmt,
DaB wir fie gar nicht anders auslegen Dürfen, als fo: „uns
113
mittelbar von Serufalem gingen fie nad) Nazaret.“ Wäre
auch Die Darftellimg dem Befuche der Magier vorangegangen,
fo fonnte Jeſu Geburt nicht fo unbekannt fein, daß die Nach⸗
frage berfelben (nach Matth. 2, 3) allgemeine Beftürzung ers
regt hätte.
Es fcheint alfo unmöglich, die hier befprochenen Ers
zählungen des Matthäus und Lukas mit einander in ins
Hang zu bringen, und Eine wenigftens muß als ungefchichtlich
aufgegeben werden. Wollte man, wie 3. B. Neanber thut,
fih nur an die Worte des Evangeliften halten, fo könnte
man fagen: „Gut; was der Eine erzählt, war allerdings dem
Andern unbekannt, was aus den Worten hervorgeht; dars
aus folgt aber nicht, daß es auch nicht gefchehen fei.“
Allein damit werben die oben dargelegten Widerfprüche, Die
in der Sache felbft liegen, nichts weniger, ald entfernt; und
wir müffen vor der Hand Dabei verbleiben: „ine der Er⸗
zäblungen muß eine Mythe fein.“ Die des Matthäus haben
wir fchon als folche erfanntz; es bleibt und nun noch eine
nähere Betrachtung der des Lukas, für fi; genommen, ohne
Rückſicht auf Matthäus, übrig, um nachzufehen, ob nicht auch
diefe als Mythe ſich herausſtellt.
Em m
Achtes Kapitel
Jeſu Darftellung im Tempel und Wohnort feiner
Eltern.
(Luk. 2, 22—405 vgl. mit Matth. 2.)
Auf den eriten Anblick fcheint diefe Erzählung eine natür-
lihe Auslegung gar wohl zuzulaffen. Durch ein zweifaches
Gefeß, das der Reinigung der Mutter und das der Loss
faufung des erfigebornen Sohnes, werden Jeſu Eltern in
den Tempel geführt. Hier treffen fie einen frommen Mann,
den Simeon, der, noch in feinem hohen Alter ganz von
meffianifchen Hoffnungen durchdrungen, das Bertrauen nährte,
vieleicht durd, einen Traum beftärft, er werde vor feinem
Ende noch den Berheißenen ſchauen; Die Schönheit des Kuoben
1. 8
AM —
mochte ihn anziehen; -er erfuhr von Maria beffen Dawibifche-
Herkunft, und diefe erzählte ihm, da fie feine Theilnahme be⸗
merfte, die außerordentlichen Ereigniffe, die fein Eintreten iw
die Welt begleitet hatten. Dieß Alles feuert die meffianifchen
Erwartungen des Greifen an, und, überzeugt, daß fie an
diefem Kinde in Erfüllung gehen werden, ergießt er ſich in
begeifterter. Rede. Auf ähnliche Weiſe könnte man fich bie
Aufregung der geiftesverwandten Hanna denfen ‚ welche ja
die Reden Simeond gehört hatte.
Allein näher betrachtet, verräth ſich und der ganze Her
gang doch ald ein wunderbarer. Daß Maria dem Simeon
irgend eine Eröffnung gemacht, davon finden wir feine Spur;
vielmehr verrathen die Worte: „ber heilige Geift war in ihm“,
deutlich genug, daß der Erzähler es fo anfah, er habe durch
deffen Kraft auf wunderbare Weiſe den Fünftigen Meffias
fogleich erkannt. Einem noch weiter ausmalenben apo⸗
kryphiſchen Evangelium zufolge war das Kind in diefem Augens
blicke fogar von himmlifchem Glanze umfloffen. Allein ein
Wunder überhaupt künnen wir, wäre ein folches auch an
ſich zuläffig, fchon deßwegen hier nicht annehmen, weil es
durchaus‘ feinen würdigen Zwed hätte. Diefer fönnte boch
nur der fein, den Glauben an den Meffias zum Voraus
zu begründen; von einem folchen Erfolge verräth aber Die
fpätere Geſchichte Nichts; und einzig um die treue Zuverficht
zweier frommen alten Leute zu belohnen, oder etwa nur ein-
fach, das Jeſuskind zu verherrlicyhen, dieſe Zwede bei einem
Wunder können wir unmöglich dem Allweifen zufchreiben.
Es wird demnach auch diefe Erzählung, zumal da fie
den Schluß einer gewiffen mythifchen Reihe bildet, für eime
Mythe zu halten fein. Diefe Anficht wird ſchon durch die
anffallende Aehnlichfeit derfelben mit der oben befprochenen
Scene bei des Taufers Befchneidung unterftüßt, hinter welchem
der Meffias felbft doch nicht zurückbleiben konnte. Es lag
aber überdieß im Intereſſe der Sage, den göttlichen, in dem
Meſſias wohnenden Geift ſchon bei dem Kinde gleichfam fo
lebhaft durchbrechen zu laffen, daß ein gottbegeifterter Mann
ihn erfanntes und wenn ein frommer Mann das Kind ſchon
ehrfurchtsvoll in den Armen gewiegt, in ihm feine hohe Bes
|
115
ſtimmung (8: 30, 31) erfannt und die Leiden vorher geahnet
hatte (V. 34, 35), die ihm berfelbe bereiten würde, fo lag
- darin ein befeligender Troſt für den Schmerz, den die fpätere
Erniedrigung ihres Meffias in feinen gläubigen Anhängern
erweckte.
Wem die Erzählung als Mythe zu einfach erſcheint, der
verfennt, was fchon früher entgegnet werden mußte, das We⸗
fen des Mythiſchen; — wer in der Beobachtung der gefeßs
mäßigen Losfaufung eine Erniedrigung erblicdt, welche bie
Mythe nicht würde habe ftehen laflen, der vergißt, welchen
Werth auch Paulus (Cal. 4, 4) darauf legt, daß Jeſus uns
ter bem Geſetze geboren worden, und daß Ssefus felbft in
der Taufe ſich demfelben unterzieht. Daß aber neben ben
prophetiichen Simeon noch die Prophetin Hanna geftellt
wird, ift ganz im Weſen der Mythe begründet, welche eine
gewiſſe Symmetrie liebt; der erfte bewillfommmnet den jungen
Meſſias, die zweite breitet die frohe Kunde unter den Gläus
bigen ang.
Die Erzählung fchließt damit, daß der Knabe unter dem
Segen Gottes im Geifte erftarfte.
*
Nachdem wir bisher die beiden Berichte über die Kindheit
Sefu geprüft, fowohl jeden für fi, wie auch beide in ihrem
Berhältniffe zu einander, wobei fich mehrfache Widerſprüche
ergaben, bleibt und noch Ein Widerfpruch, auf den wir ſchon
öfters im Vorübergehen geftoßen, noch näher zu betradhten
übrig. Er betrifft den eigentlihen Wohnort der Neltern
Jeſu.
Lukas gibt ganz beſtimmt Nazaret als ſolchen an, wie
aus 1, 26, — 1, 56, — 2, 4, — 2, 39 deutlich genug her⸗
vorgeht. Matthäus fagt mit aus drücklichen Worten darüber
Kichts. Daher erklären die Supranaturalijten fich dahin, daß
Matthäus gleichfalls Nazaret als folhen annehme, ihn aber
nicht beftimmt bezeichne, weil es ihm um foldye Dertlichfeiten
nicht zu thun fei, und er Nazaret und Bethlehem ald Wohns
und Geburtsort nur da angebe, wo ſich eine mefltanifche
Weiſſagung an denfelben knüpfe (vgl. Matth. 2, 9, 6 ums
116
2, 23). — Allerdings läge in dem bloßen Schweigen de —
Matthäus fein Grund, anzunehmen, er fei anderer Meimmm, ;
als Lukas; allein eine nähere Betrachtung wird zeigen, bau
er vielmehr einen anderen Wohnort, nämlich Bethlehem;
wenn auch nicht ausdrücklich nennt, Doch aber beſtimmt vor,
ausfegt, und daher allerdings indirect Etwas barüber |
ansfagt, und fomit dem Lukas widerfpricht.
Schon aus dem Umftande, daß er Bethlehem als ben
Drt angibt, wo Maria geboren habe, ohne irgend eine Ber«
anlafjung anzugeben, die fie dahin geführt, wird es wahr
fcheinlich, daß er denfelben für ihren Wohnort gehalten habe.
Gewiß aber wird dieß dadurch, daß er den Engel dem Jo⸗
feph bei feiner Rückkehr aus Aegypten ausdrücklich befchlen
läßt, er folle nicht nach Bethlehem gehen, fondern nach Ga⸗
liläa. Wozu diefe Weifung, wenn Sofepy fchon n Nazaret
in Galtlaa zu Haufe war? Was hatte er noch in Bethlehem
zu thun? Dffenbar fand ed Matthäus nöthig, noch einen
befonderen Grund anzugeben, weßhalb Sofeph nicht nad
Bethlehem gehen konnte. Auch lauten feine Worte B. 22 und
23: „Er ging weg in die galtläifchen Bezirke, und ald er Das
hin gekommen, fiedelte er ſich in Nazaret an“ fo, daß man
sticht verfennen kann, Joſeph wollte zunächſt nur nach Ga-
lilaa gehen, ohne den Drt zuvor zu fennen, wo er feine
Wohnung nehmen wollte. So erzählt man nur von Jeman⸗
den, der in ein ihm fremdes Land zieht.
Es laſſen fich alfo, beionders aus dem Grunde, daß eb
ſich durchaus nicht denken läßt, wie Sefu Aeltern auch nur
Neigung haben konnten, von Aegypten nach Bethlehem zurüde
zufehren, wenn dieß nicht ihr Wohnort war, Matthäus und
Lukas nicht mit einander in Lebereinftimmung bringen. Daher
hat man andere Gründe fiir den anfänglichen Plan, wieber
nad, Bethlehem zu gehen, gefucht. Juſtin der Märtyrer gibt
an, es fei Joſephs Geburtsort geweſen; allein wenn bieß
‚auch richtig ift, wie follte er auf einmal verfucht worden fein,
ed auch zu feinem Wohnorte zu machen, da er ja nur ber
Schagung wegen dorthin gegangen war? Und hätte Matthäus
nicht wenigfteng vorübergehend erwähnen follen, daß Joſeph
Jenes im Sinne hatte? — Ein apokryphiſches Evangelium
117
erzählt, Nazareth fei Wohnort der Maria, Berhichem ber
Des Joſeph geweſen: er holte feine VBerlobte nach Bethlehem
ab, und dieſe kehrte nad) der Geburt Jeſu wieder nad, Haufe
zZurück. Allein nun fommt Lukas zu kurz, indem die Schatung
als Grund der Reife wegfüllt, und es unbegreiflich bleibt, wie
feiner Erzählung zufolge Maria in einem Stalle gebären mußte,
wenn Sofeph in Bethlehem zu Haufe war. — Diefe Angabe
haben Neuere darauf befchränkt, daß Joſeph die Abficht ge:
Habt, ſich mit Maria an feinem Geburtsorte niederzulaffen,
Darum alſo von dem Engel befonderd abgemahnt werden
mußte, und diefen Plan Darauf wieder aufgegeben habe.
Allein von einem folchen Plane weiß Lukas durchaus Nichte,
und Alles, was fid, bei Matthäus auf einen Aufenthalt in
Bethlehem bezieht, gehört Erzählungen an, die wir als rein
mythifch erfannt haben, die alfo Nichts beweifen. — Unter
Allen, welche eine Vebereinftimmung beider Evangelien foviel
wie möglich zu retten fuchen, ift Neander am reblichiten,
indem er eingefteht, daß Matthäus von der Reife nach Beth⸗
Ichem nichts gewußt, und daher irrthümlich Dasfelbe für Den
Wohnort gehalten habe. Daß aber die Folgerung, die aus
dieſem Zugeftändniß gezogen wird, beide Berichte feien im
Mefentlichen, naͤmlich in dem Aufenthalte der Aeltern Jeſu
in Bethlehem zur Zeit feiner Geburt einftimmig, irrig fei,
wirb Folgendes Flar machen.
Da dem Obigen zufolge die Wohnmgsveränderung bei
Matthäus mit unhiftorifchen Angaben zuſammenhängt, und
alfo auch mit dem Aufgeben diefer von felbft fällt, fo werden
wir dem Lukas beiftimmen müſſen, der Jeſu Aeltern vor und
nach deffen Geburt in Nazaret wohnen läßt. Dagegen bietet
ung Lukas in der Schatzung ein ganz unhiftorifches Moment,
welches Jeſu eltern veranlaßt haben fell, kurz vor veffen
Geburt den Wohnort zu verlaffen, was an fich ganz unwahr⸗
fcheinlich iſt. In Diefer Beziehung ftimmen wir licher dem
Matthäus bei, der Jeſum am Wohnorte der Acltern ge-
boren werden läßt. Es ftellt ſich alfo deutlicher der Widers
fpruch fo heraus: Beide Evangeliſten nehmen Bethlehem als
Geburtsort Sefu anz danıı müffen feine Aeltern auch hier ge=
wohnt haben; — beide geben als Wohnort feiner Aeltern
118»
Razaret anz dann muß er auch hier geboren fein. Dies
fer Widerfpruch fcheint unauflöslich; wir müſſen aber nach⸗
fehen, nach welcher Richtung hin und gewichtigere Gründe
ziehen, ob nad, Nazaret oder Bethlehem: denn Geburtsort
und Wohnort dürfen wir num nicht mehr trennen 79.
Einerſeits ftimmen nicht nur Lukas und Matthäus barin
überein, daß Nazaret der Wohnort von Jeſu Neltern ges
wefen, fonbern es wird dieß auch durch eine Menge von aus
berweitigen Angaben beftätigt. ,„aliläer, Nazarener* find
ftehende Beinamen Jeſu; als Nazaretauer wird er kenntlich
gemacht (Luk. 18, 37), als folcher gering gefchäßt („Was
kann aus Nazaret Gutes kommen?“ Joh. 1, 46); als folder
noch am Kreuze bezeichnet (Joh. 19, 19); nach feiner Aufs
erftehung verfünden ihn feine Tünger als Jeſum von Nazaret,
und thun Wunder im Namen Des Nazareners; — Nazaret
wird nicht nur als der Drt, „wo er auferzogen worden“
(Luk. 4, 16), fondern geradezu als feine „Vaterſtadt“ bezeich-
net (Matth. 13, 345 Mark, 6, 1); — Nazarener endlich iſt
lange Zeit. der Namen feiner Anhänger. In Nazaret alfo
muß er fi lange Zeit aufgehalten haben; da er aber wäh.
rend feines öffentlichen Lebens hier nur vorübergehend
lebte (Luf. 4, 16), fo kann jener längere Aufenthalt nur in
in feine Sugend fallen, wo er bei feinen eltern lebte, bie
alfo bier gewohnt haben müffen: und zwar von jeher, ba
fein gefchichtlicher Grund zu einer Wohnungsveränderung da
ift. Alfo, werden wir fchließen, ift er auch hier geboren.
Andererfeits aber geben beide Evangelien ebenfalls übers
einftimmend an, daß Jeſns in Bethlehem geboren fei,
eine Angabe, welche überdieß auf die durch eine Prophetens
ftelle (Micha 5, 1) veranlaßte Erwartung geftügt iſt. Aber
eben diefe Stüße ift fehr unficher! Denn „wo der Nachricht
von einen Erfolge eine lange Erwartung deſſelben vorangeht,
20, Da obenftehende Linterfuchung zu den vermwideltften gehört, was
auch in unferer Darftellung noch fühlbar fein mag, fo mußte fie
etwas ausführlicher behandelt werden.
119
da muß fchon- ein ftarfer Verdacht entſtehen, ob nicht die Er⸗
zählung,, daß das Erwartete eingetroffen fei, nur der Voraus⸗
fekung, daß es habe eintreffen müffen, ihre Entilehung vers
danten möge. * Dieß ift um fo mehr der Fall, wenn jene
Erwartung ungegründet it, bemnad, der Erfolg eine
falfche Auslegung einer Weiffagung beftätigt haben müßte;
wie wir oben bereits fahen.
Diefe prophetiiche Grundlage benimmt alfo der Erzählung,
ftatt ſie zu beitätigen, ihre Wahrfcheinlichkeit, wenn fie nicht
durch anderweitige Zeugniffe geſtützt iſt. Dieß ift aber bei
der bethlehemitiichen Geburt Jeſu durchaus nicht der Fall.
Nirgends font im neuen Teſtament wird deren erwähnt, wir
fehen Jeſum nicht in der geringiten Berührung mit Bethlehem;
er beruft ſich niemals zum Beweife feiner Meffianität auf feine
Geburt daſelbſt; ja fogar auch damals nicht, als das Bolt
befwegen ungläubig war, weil er unicht aus Bethlehem ſtammte
ob. 7, 42)! So oft audy Johannes erzählt, daß das Volk
ihm als Nazarener gering fchäßte, jo fügt er doch nie zur
MWiderlegung diefer Anficht Etwas hinzu; auch da nicht, als
Rathanael aus demfelben Grunde Anftand nimmt, Jeſu nach⸗
folgen (Joh. 1, 46); — auch die Seinigen willen ihm kei⸗
ven andern Namen, als jenen zweidentigen des Nazareners,
zu geben. Da alfo Fein gefchichtliches Zeugniß für, ja Mans
dies gegen die Geburt in Bethlehem fpricht, — da Jeſu
Aeltern unbezweifelt in Nazaret wohnten, und wir feinen Grund
haben, anzunchmen, daß er nicht an dem Wohnorte feiner
Yeltern geboren fei, fo können wir nicht umbin, feine Geburt
in Nazaret ald gefchichtliche Thatfache anzunehmen.
Wir finden alfo bei beiden Evangeliften Richtiges und Un-
richtiges; Lukas hat darin Recht, daß er die Aeltern Sefu
vor und nach der Geburt desfelben an demfelben Orte
wohnen läßt, namlich, in Nazaret, irrt aber, daß er ihn an
einem andern ald dem Wohnorte der eltern geboren wers
den läßt; Matthäus hat darin Recht, daß er den Wohn-
ort der Aeltern auch zugleich zum Geburtsort des Kindee
macht, irrt aber, indem er als foldyen vor ber Geburt
120.
Bethlehem annimmt, und erſt nach derfelben Nazaret. Darin
aber haben beide Unrecht, baß fie ald Geburtsort Jeſu Beth⸗
lehem angeben. Diefer Irrthum ging aus den jüdifchen
Borftellungen, welchen fie nachgaben, hervor: die Wahrheit
aber, bie durch Beider Berichte dennoch durchſchimmert, daß.
Jeſus namlich feine ganze Tugend in Nazaret zugebracht, floß
aus ber feftftehenden Thatfache, daß er überall der Nazaresas
ner genannt wird. Indem Matthäus feinem ganzen Weſen
nach mehr dem Zuge altsteftamentlicher Weiffagungen folgte,
ließ er den vermeintlichen Geburtsort Bethlehem glängender
hervors, feinen Wohnort Nazaret mehr in Hintergrumb
treten; Lukas dagegen ward mehr von dem hiftorifchen
Elemente angezogen, legte das Hauptgewicht auf Razaret,
und knüpfte die Geburt in Bethlehem nur an ein zufällig
eingetretenes, vorübergehendes Ereigniß an. -
Wir fehen alfo, daß hier eine den Erzählern geftellte Auf⸗
gabe, nämlidy die hiftorifche Thatfache, daß Jeſus ein Nas
zaretaner geweſen, mit der Forderung der meffianifchen Ers
wartungen, daß er in Bethlehem geboren werden müfle,
auf zwei verfchiedene, von einander abweichende Weiſen gelöst
worden ift: ein Fall, ber öfters auch im alten Zeflamente
vorfommt, wo 3. B. in einem und bemfelben Buche, im
erfien Buch Moſis, der Name Iſaak auf dreifache Weiſe
abgeleitet wird.
Neuntes Kapitel
Erfter TZempelbefuch und Jugendverhältniſſe Jeſu.
CLuk. 2, 41— 52.)
Aus der ganzen Jugendzeit Jeſu bis zur Taufe durch Jo⸗
hannes iſt nur Ein Ereigniß zu unferer Kenntniß gefomnten,
nämlich fein Auftreten im Tempel zu Serufalem als zwölf⸗
jähriger Knabe, wovon ung Lukas eine anziehende und eins
fache Erzählung gibt. Zwar ift diefelbe in mehreren ihrer
Theile angegriffen worben, allein, wie wir bald fehen werben,
mit Unrecht.
121
Zuerft hat man ben Aeltern Jeſu ed als Eorglofigfeit
zum Borwurfe gemacht, daß fie von Serufalem abreisten, ohne
ihn bei fich zu haben (V. 43, 44). Allein einen zwölfjährigen
Knaben, ber im Driente fchon fo viel ift, als ein fünfzehnjähriger
bei ung, haben feine Aeltern nicht mehr mit unausgefetter Aengſt⸗
lichleit zu hüten, zumal wenn er von fo ernftem Wefen ift, wie
“wie uns Jeſum ſchon in diefem Alter denken müffen. War er
alfo feinen Aeltern einmal aus den Augen gefommen, fo war
es fehr natürlich, daß fie ihn bei ihren galifäifchen Freunden
glaubten, ihn in der überfüllten, Hauptſtadt — ed war ja bie
Zeit des Dfterfeftes — nicht mühfam und vergeblich ſuchten,
fondern ihrer Caravane nadhreisten.
Daß fie nach ihrer Rückkehr ihn unter den Lehrern im Tem⸗
gel „ſitzend“ fanden (V. 46), kann nicht befremden, da bie
jübifche Weberlieferung, daß damals die Schüler der Nabbinen
vor ihren Lehrern noch ftehen mußten, zweifelhaft ift. Auch
darin, baß er bdenfelben nicht nur zuhörte, fondern fie auch
„fragte“, darf man keinen Anftoß nehmen, wenn man es
me nicht fo faßt, wie die Apokryphen, welche ihn feine Leh⸗
rer meiltern und gleichfam in allen Fakultäten ihnen Unterricht
ertheilen Iaffen. Denn es war die Lehrweife ber Nabbinen,
daß fie nicht nur felbft fragten, fondern auch den Schülern
Fragen geftatteten. Ueberdieß wird, wahrfcheinlich nicht ohne
Abficht, angedeutet, daß die Lehrer fich vorzüglich über Jeſu
Antworten verwunderten (®. 47). Allein wenn auch felbft
über feine Fragen die Lehrer in Erftaunen gerathen wären,
jo wäre bieß bei einem genialen zwölf» Cfünfzehn=) jährigen
Knaben nichts Unerhörtee.
Etwas anffallender ift ed, daß Jeſus „inmitten der
Lehrer * faß (V. 46), da doch fonft die Nabbinenfchüler „zu
den Füßen“ ihrer Lehrer, d. h. auf Dem Boden faßen (Apo⸗
ttelgefh. 22, 3. Dürfen aber auch die Worte nicht andere
genommen werben, als fo, daß er in gleichem Range mit
ben Lehrern gefeffen, was indeß nicht fo ausgemacht ift, fo
wäre dieß höchſtens ein ganz unmefentlicher verherrlichender
Ausdrud.
Auf die vorwurfsvolle Frage der Mutter (®. 48) antwor⸗
tete der Knabe: „Wiffer Ihr nicht, daß ich im Hauſe „mei:
122
nes“ Vaters fein muß?“ Damit bezeichnete er. Gott nicht
im Allgemeinen als den Bater aller Menſchen, Cfonft hätte
er „unferes“ Vaters gefagt), fondern ald ben feinen in
ganz befonderem Sinne, weßhalb auch feine Aeltern ihn
nicht verftanden (V. 50). Dffenbar deutet er mit dieſem Aus⸗
drucke auf feine Beitinmung zum Meſſias hin, ber in au
zeichnendem Sinne „Sohn Gottes“ genannt wird. Daß ſchon
der Zwölfjährige diefe Beſtimmung erkannt haben foll, kann
und allerdings befremden; denn zwar kann fich das Bewußt⸗
fein eines inneren Berufes, 3. B. zum Dichter ꝛc., ber
feinen Grund in ausgezeicneten Anlagen hat, fchon frühzeitig
in manchen Knaben regen; die äußere Beftimmung aber,
z. B. zum Staatsmann ꝛc., kann fchwerlich fo frühe ſchon
auch dem reichbegabten Geifte Mar werden. Allein an eine
folhe Außere Beſtimmung, wobei Die Aufgabe bed Meffias
in allen ihren Beziehungen zu dem jüdifchen Voll, der mofais
ſchen Religion ꝛc. in Betracht kommt, bat hier Jeſus auch
wohl nicht gedacht, da ihm hierzu Kenntniſſe und Reife des
Verſtandes noch fehlten. Vielmehr verrathen jene Worte nur
ein lebendiges Gefühl ſeines inneren Berufes, mit feinem
ganzen Weſen ſich Gott zuzuwenden, und das Bewußtſein,
daß deßhalb Gott in ganz befonderem Sinne fein Bater fe:
er fpricht alfo hier als Vorgefühl aus, was fich fpäter bei
dem Manne zum klaren Bewußtfein feiner Stellung zur Welt
ale Meſſias geftaltete.
Unbegreiflich muß es für alle diejenigen fein, welche eine
andere Anficht, ald wir, von den früheren evangelifchen Er⸗
zählungen haben, daß die Acltern Sefu jene Worte ihres
Sohnes nicht verftanden (3.50). Denn der Maria nas
mentlich war durch Engelerfcheinungen, prophetifche Neden und
andere wunderbare Vorzeichen fo vielfach der meffianifche Be⸗
ruf ihres Sohnes verkündet worden, daß fie hier chen fo
wenig, als bei der Begrüßung des alten Simeons (VB. 28),
wo fie ebenfalls in Berwunderung geräth, hätte zweifelhaft
fein. follen, was die, den Meffias bezeichnenden, Worte bes
Deuten wollten. Wir können alfo in dieſem Erftaunen einen
neuen Beweis dafür finden, daß all das Außerordentliche,
was von der Geburt und früheften Kindheit Sefu erzählt wird,
123
nicht vorausgegangen fein kann. Eo denkbar nun auch für
uns, nad, unferem mythifchen Standpunkte, Die Verwun⸗
derung der XAeltern ift, fo kann Doc, die gefchichtliche Wahr⸗
heit berjelben noch bezweifelt werden, da es die Sage liebt,
ihre Perfonen nicht nur das erfte Dial, fondern auch bei jeder
Wiederholung, über das Wunderbare in Erftaunen gerathen
zu lafien, weil dadurch das Außerordentliche desſelben um fo
auffallender wird. | "
Wenn wir alfo auch in den einzelnen Theilen unferer Ers
jäblung hier und da einige verfchönernde Pinfelftricye wahrs
nennen können, fo gibt fie fi) Doch im Ganzen nicht ale
mmhiftorifch zu erkennen; wir Dürfen demnach Fein beſonderes
Gewicht darauf legen, daß ſich allerdings ein Intereſſe nachs
weifen ließe, welches bie chriftliche Sage gehabt, eine ſolche
Ecene zu erdichten. Denn bekanntlich werden fehr vielfäls
tig von großen Männern auch die Fleinften Züge aus ihrer
frühen Jugend, in denen ihr Geift fchon durchblitzte, aufges
fucht und verfchönert; ja, wo fich foldye auch nicht finden,
hinzugedichtet, wie dieß namentlich in der hebräifchen Gefchichte
oft der Fall ift, 5 2. bei Samuel (1 Sam. 3) und vorzügs
lich bei Moſes, der fchon als Kuabe weit über fein Alter
hinaus entwidelt geweſen fein fol. Da überdieß das zwölfte
Sahr, wie bei und etwa das vierzehnte, ald ber Wendepunft
betrachtet wurde, wo der Knabe von dem Kindifchen zum
männlichen Ernſte ſich hinzumenden beginnt, fo erzählt man
gerne von diefem Lebensalter auffallende Proben befonderer
Geiftesgaben, wovon bie fyätere jüdifhe Sage Beifpiele in
Menge liefert. Man fönnte alfo allerdings behaupten: wußte
man fchon in den erften Chriftengemeinden, daß bei Moſes,
Samuel, Salomon, Daniel ıc. der göttliche Geift ſchon im
zwölften Jahre jelbftthätig hervorgetreten, Eonnten fie fich ges
drungen fühlen, auch in Diefem Punkte ihren Chriftus mit gleis
chem Blanze- zu umgeben. Erinnert man fih, daß Lukas
jeden wichtigen Moment in ber früheften Lebensgefchichte Jeſu,
feine Geburt, Befchneidung, Darftellung im Tempel, mit herr:
lichen Vorzeichen feiner Fünftigen Größe ausſchmückt, fo könnte
wan dich auch von dem Endpunkte feiner Kindheit annehmen.
124- .
Allein da fo auffallende Dffenbarungen des inneren Lebens
fchon in früher Jugend bei ausgezeichneten Menfchen wirklich
nichts Seltenes find, und da es fehr denkbar ift, daß ber x
Jeſu wohnende erhabene Geift nicht plöglich und erft im Dans
nesalter zum Durcchbruche gekommen, jondern fchon frühe in
eigenthümlicher Weife fich zu erfennen geben Tonnte, fo -haben
wir fein Necht, unferer Erzählung die gefchichtliche Geltung
abzufprechen.
Diefer Tempelbefuch ift das Lebte, was wir von Jeſu
Jugend willen; von da an bis zu feinem öffentlichen Auftreten
‚ meldet ung fein Bericht Etwas. Da er nad Matth. 3, 13
und Mark. 1, 9 zur Taufe von Nazaret ber Fam, fo müffen
wir annehmen, daß er bis zu derfelben ununterbrochen, einzelne
Reiſen abgerechnet, wie zu den Faften nach Serufalem, hier
gelebt habe. Sein Vater war ein Handwerker Matth. 13,
55), wahrfcheinlich ein Zimmermann; daß auch Sefus biefes
Handwerk betrieben, können wir gleichfalld annehmen. Denn
da wir, nach unfern bisherigen Unterfuchungen, Feine gefchichts
liche Kenntniß von außerordentlichen Erwartungen haben, welche
die Aeltern von ihm hegten, fo haben fie ihn ohne Zweifel
feühzeitig zu den Gefchäften des Vaters angehalten, um fo
mehr, da es jüdiiche Sitte war, daß auch der zu einer höhern
Laufbahn Beftimmte ein Handwerk erlernte, wie ja auch Pans
lus, der Rabbinenfchüler, ein Zeltmacher war (Apoftelg. 18,
3). An einer Stelle, Mark.6, 3, wird er geradezu, wie fein
Bater, ein Zimmermann genannt, was freilich Spätere laͤug⸗
nen, weil fie glaubten, es fei diefe Befchäftigung des Meffias
unwürdig. |
Sonderbar ift es überhaupt, welches Spiel die fpätere
Sage mit dieſen Berufsverhältniffen getrieben. Bald fol
Jeſus ein Wagner gewefen fein, wobei denn gar großer Werth
baranf gelegt wird, daß er Pflüge und Wagfchalen, „Sinn
bilder der Thätigfeit und ber Gerechtigkeit“, verfertigt habe;
nach andern Nachrichten machte er Melfgefäße, Siebe und
Käften, einmal felbft: einen Königsthron. Ein apokryphiſches
Evangelium erzählt fogar, daß Jeſus feinen Bater, wenn biefer
125
an ben Drten umherging, wo er Arbeit hatte, begleitet, und
das, was etwa zu lang oder zu kurz in des Vaters Arbeit
ausgefallen war, durch bloßes Ausftreden der Hand in bie
rechte Form gebracht habe.
Ueber die Vermögens⸗Umſtände Sefu umd feiner Aeltern
haben wir Feine ganz ficheren Nachrichten; daß feine Mutter
bei der Reinigung im Tempel Tauben darbrachte (Ruf. 2,
21), das Opfer der Armen, ließe mit Gewißhbeit auf dürfe
tige Umftände fchließen, wenn wir ficher wären, daß nicht
auch diefer Zug ein mythifcher wäre. Ueberhaupt war man
bemüht, feine äußere Lage ald recht niedrig darzuftellen, weil
dadurch feine göttliche Größe in um fo helleres Licht geftellt
wurde. Daß er aber wirklich arm gemwefen, beruht auf feinem
hiftorifchen Zeugniffe: denn feine eigenen Worte: Cich habe
nicht) „mo ich mein Haupt hinlegen Fünnte* (Matth. 8, 20),
beziehen fich wohl nur auf die Beichwerden feines meffianifchen
Manberlebens. Aber auch für das Gegentheil, daß er naͤm⸗
lich wohlhabend gewefen, haben wir feine Zeugniffe.
Noch weniger, als über die früheren äußeren Lebens-
verhältniffe, wiffen wir über Sefu geiftige Entwidelung vor
feinem öffentlichen Auftreten, und wir müflen uns in diefem
Punkte nur mit Bermuthungen begnügen. Aus der fo eben
betrachteten Reife laͤßt ſich wenigſtens der Schluß machen,
daß Jeſus häufig mit feinen Achern zum Öfterfefte nad) Je⸗
rufalem gereist fein wird, wodurch er Gelegenheit erhielt,
feinen Geſichtskreis zu erweitern, mit dem Zuftande bes über
alle Länder zerftreuten jüdifchen Volkes befannt zu werden,
und frühzeitig ſchon mag er auf dieſem Wege mit defjen Leis
den und dem tiefen Berfalle feines religiöfen und fittlichen
Zuftandes befannt geworden fein.
Ob er die gelehrte Bildung eines Rabbi genoffen, läßt
fi) aus unfern Evangelien nicht ermitteln. Allerdings wird
er von feinen Süngern fehr häufig und felbit von dem vors
nehmen Phariſäer Niko demus „Rabbi“ genannt GJoh. 3, 2);
— man geitandb ihm das Recht zu, in der Synagoge Bars
126
träge zu halten (Luk. 4, 16); er felbft zeigt in feinen Neben,
z. B. Matth. 5, 6 ꝛc. und 23, eine große Kenntniß Rabbi⸗
niſcher Lehrſätze und Mißbräuce; er felbft ſtellt ſich als einen
für das Gottesreich gebildeten Schriftlehrer dar (Matth.
13, 32); — allein alles dieß konnte auch ſtattfinden, ohne
daß er fürmlich durch die Rabbiniſchen Schulen gegangen wäre-
Sm Gegentheil ift es wahrfcheinlicher, daß dieß nicht ber
Fall gewefen, da ihm feine Feinde, ohne daß er ihnen wider -
ſpraͤche, vorwerfen, er habe die (rabbiniſchen) Wiffenfchaften
nicht erlernt (Joh. 7, 15), und feine Landsleute, die Nazare⸗
taner, verwundert fragen: „Woher hat er dieſe Weisheit
(Matth. 13, 59%“ Ä
Bei ſolchem Mangel an beftimmten Nachrichten hat mar—
von den verfchiedenen Standpunkten aus verfchiedene Muth⸗
maßungen aufgeftellt. Bon Seiten des Supranaturaliftis
fhen war man fchon frühzeitig bemüht, alle äußeren Eins
flüſſe und Bildungsmittel in der Vorjtellung fern zu halten,
und feine. Erhabenheit ald das alleinige Werk feines göttlichen
nur von innen heraus fich entwidelnden Geiſtes Darzuftellen.
Damit hängt zufammen, daß man feine freie Selbitthätigkeit
als ſchon ſehr frühzeitig gereift auszumalen fuchte; nicht nur
in Bezug auf feine höheren Kenntniffe und Einfichten — den
Apokryphen zufolge überfah er fchon lange vor dem zwölften
Sahre alle feine Lehrer —; fondern mehr noch von Seiten
feiner göttlichen, wunderbaren Kräfte in apokryphiſches
Evangelium beginnt die Reihe feiner Wunder fchon mit dem
fünften Jahre; ein Anderes gar mit der Flucht nach Agypten,
auf welcher der Knabe höchit unchriftliche Strafwunder und
kindiſche, wie bie Belebung aus Koth geformier Sperlinge,
verrichten muß, und feine Mutter mit Windeln und Waſch⸗
waſſer feltiame Mirafel bewirkt.
Unngefehrt fuchte man von rein natürlichem Stand»
punkte aus die Einflüffe feiner äußern Umgebung, und feine
Abhängigkeit von der aus ihr fließenden Belehrung und Steir
gerung feiner Seelenkräfte möglichit hoch zu ftellen, Damit feis
ner eigenen Kraft möglichlt wenig Verdienſt übrig bleibe.
Dieß gefchah zunächft von den Gegnern des Chriſtenthums auf
127
eine hoͤchſt nmwürbige Weiſe in älterer Zeit. Da man inbeß
‚nach damaliger Weltanficht dem Menſchen allein ohne frem-
Den Beiftand wenig zutrauen konnte, fo mußte Jeſus feine
höheren Einfichten und Kräfte, für die man die Mitwirkung
des Goͤttlichen nicht einräumen wollte, böfen Geiftern und
Zaubereien zu verbanfen haben. In Aegypten, bem Lande
‚geheimer Weisheit, follte er fich Zauberfünfte angeeignet, und
dann mit beren Hülfe fich für einen Gott ausgegeben haben.
Erit in neuerer Zeit fonnte man ſich unbefangen nach
ben Außern Bildungsmitteln, die ſich Jeſu in der Culturſtufe
feiner Zeit und den Verhältniffen feiner Umgebung für die
Entwidlung feines großen Geiftes darboten, umfehen, was
dem auch mit mehr oder weniger Umſicht gefchehen it.
„Die Grundlage feiner Bildung waren jedenfalls Die
heiligen Bücher feines Volkes, deren eifriges und tiefbringens
des Studium die in den Evangelien und aufbewahrten Reden
Jeſu beurtunden*. Seine Erhebung über den befchränften
- Gefichtöfreis des alle andern Völker verachtenden gemeis
nen Ssudenthums und fein meffianisches Bewußtſein fcheint
fi) in ihm insbefondere an der Hand bes Jeſaias und Das
niel entwidelt zu haben.
Großen Einfluß auf feine Bildung hat man häufig auch
ben damaligen Sekten unter den Juden zugefihrieben. Von
ben Pharifäern kam dieß wohl nur in negativer Beziehung
behauptet werden, indem ihre Heuchelei und ihre fcheinheiliger
Buchftabendienft dazu beigetragen haben mögen, fein höheres,
göttliches Bewußtſein zu wecken und zu läutern, vermöge deffen
er fpäter fo entfchieden gegen fie auftrat. Den Sadducäern
bat man einen größeren Antheil an Jeſu Entwicelung zufihreis-
ben wollen, weil er fie weniger in feinen Reden angriff. Dieß
Lestere hat aber feinen Grund darin, daß dieſe Sekte nur in
den höheren Ständen ihre Anhänger hatte; überdieß konnte
ihre Kälte, ihr Unglaube an Fortdauer und - Geiſterwelt, Jeſu
wenig zuſagen.
/ 128
Eine Zeitlang war ed eine Lieblingsidee, die Effener
als die eigentliche Schule anzufehen, aus welcher Jeſus hers
‚vorgegangen; auch glaubte man manches Geheimnißvolle in
feinem [eben — feine dunkle Sugendzeit, fein Verſchwinden
nach der Auferftehung, die räthfelhaften Geftalten bei der Bew
klaͤrung ꝛc. — am natürlichften aus einem Zufammenhange mit
den Ejjenifchen Bundesbrüdern erklären zu können. Allerbinge
fimmen manche Lehren Chrifti und Gebräuche feiner erften
Jünger auffallend mit Effenifchen zufammen, 3. B. das Bers
bot des Eides; dad Dringen auf Treue und Friedfertigkeit;
Gütergemeinfchaftz Verachtung des Neichthumd und Reifen
ohne Vorräthe; gemeinfame Mahle; Verwerfung der blutigen
Dpfer, u. 4. Dagegen weicht Das Chriftliche wieder von
dent Wefen der Eſſener ab, deren gefchärfte Sabbathsfeier,
Reinigungen, vielfache abergläubifche Gebräuche, Beibehalten
der Engelnamen, Geheimthun und befchränfte Drdenseinrich-
tungen ꝛc. fo fehr dem Geifte Jeſu widerfprechen, daß mir
auch ihnen nicht mehr als mittelbaren und theilweifen Einfluß
auf Jeſum zufchreiben können.
Eben fo mag die an den hohen Feften gewonnene Bekannt⸗
fchaft mit gebildeten auswärtigen Suden, frommen Heiben-
(Joh. 12, 20) wenigftend zur Erweiterung feines jüdifchen
Gefichtsfreifes und zur Vergeiſtigung feiner Anfichten mitgewirkt
haben.
Doch alle diefe Unterfuchungen find von untergeorbnete
Bedeutung! Jeder hohe, gewaltige Genius nährt den inneren
Funken feines geiftigen Lebens an dem Stoffe, ben ihm bie
Außenwelt bietet, und zieht ihn mit unmiderftehlicher Kraft in
feinen Kreis hinein, um ihn zu eigenthümlichen Geftalten zu
verarbeiten, in benen fic doch immer nur fein Geift, fein
Weſen abdrüdt. Mag nun Sefus feiner Umgebung viel oder
wenig verdanken, dieſes oder jenes; daß er in derfelben ger
rade Das geworden, was er war, wird deßhalb nicht begreifs
licher, fo wenig wie fein Berdienft dadurch herabgefegt wird.
Der Schlüffel zu feinem Wefen liegt immer nur im ihm.
Daher follte man jenen Fragen weder ein fo großes Gewicht
129
leihen, noch fo Angftlich umgehen, wie Beides von entgegen.
geſetzten Seiten fo oft gefchieht.
« Zur Umbildung einer Welt reichte feines der in feiner
Zeit liegenden Bilbungselemente auch nur von ferne hin; den
dam erforderlichen Gaͤhrungsſtoff konnte er nur aus ber Tiefe
kmed eigenen Geiftes nehmen. * '
Eine Erfcheinung jedoch greift unferen Evangelien zufolge
bedeutend in bie Thätigfeit Jeſu ein, naͤmlich die des Taufers
Sohannes. Da indefien dieſe Einwirkung besfelben fchon
in das öffentliche Leben Jeſu hinüber reicht, fo muß mit der
‚ Betrachtung, feines Verhältniffes zw Johannes der folgende
Wſchnitt eröffnet werben.
4130
Zweiter Abſchnitt.
Das erfte Öffentlihe Auftreten Jeſu.
Erfted Kapitel,
Das Verhältniß Jeſu zu Johannes, dem Täufer,
(Matth. 3, 112; Marl. 1, 2—9; &ut. 3, 1-18; Soh 1,
19 — 31.) |
Daß Johannes, deffen Geburt and Lukas ausführlich er
zählt, als ein Täufer m der Wüſte aufgetreten, und auch
Jeſus bei ihm fich habe taufen laſſen, erzählen alle Evan
geliften; über die Zeit, wann dieß gefchah, fagen Johannes
und Markus Nichts, Matthäus hat darüber eine fehr mm
beftimmte, Lukas dagegen fehr beftimmte Angaben.
Matthäus jagt, nachdem er fo eben C2, 23) die Ueber:
fiedelung Joſephs nach Nazaret erzählt hat, ganz kurz: „Sr
jenen Tagen fam Johannes — in die Wüſte“ ıc. 3, 1)
Wollte man die bezeichneten Worte buchftäblich faffen, fi
müßte er noch während der Kindheit Sefu zu taufen angefan
gen haben, und man hätte ſich zwifchen feinem Auftreten um
2.13, wo es heißt: „Damals begab ſich Sefus —- zu Se
hannes * ꝛc. eine große Zwifchenzeit zu denken. Dieß ftreite
aber ganz gegen die Anſicht bes Evangeliſten, der dem Täufe
eine fo untergeordnete, nur auf Jeſum hinmweifende Stellun—
gibt, feine Wirkſamkeit fo beftimmt ald eine Einleitung fü
das Werf Jeſu hinftellt (V. 3 und 11), daß er ſich nur eine
furzen Zwifchenramm zwiſchen Beider öffentlichem Hervortre
ten gedacht haben kann. Es ift daher wohl am richtigften
jene Worte nicht ftreng, fondern fo allgemein zu nchmen, ba
fie, gerade wie bei Mof. 2, 11, etwas erft nach vielen Jah
ren Eingetretenes bezeichnen.
Sehr genau und auf mehrfache Weife beftimmt uf. 3,
die Zeit, wo Johannes zu taufen begann: alle feine Angabe
131
laufen auf das Jahr 28—29 unferer Zeitrechnung hinaus.
Kur Eine derſelben it mit allen übrigen völlig unvereinbar,
nämlich die: „als Cyſanias in Abilene herrichte“. Nun
fennen wir nur Einen Cyfanias als Fürjt von Abilene, und
zwar. aus. Joſephus: diefer war aber fchon 34 Sahre vor
Ehrifti Geburt ermordet worden. Man hilft fich daher, um
bes Lukas Angabe zu retten, theils mit der Annahme, daß cd
auch noch einen jüngeren Fürft Cyſanias gegeben habe, —
was aber nicht nur unerwiefen, ſondern fogar fehr unwahr⸗
fcheinlich ift, da ihn Sofephus ohne Zweifel genannt haben
würde, — theil® mit einer jener beliebten Wortverdrehungen,
bie man fo gerne überall anmendet, wo in den Worten nicht
ber Sim liegt, den man nun einmal in ihnen finden will.
Wir müffen aljo, um ehrlich zu fein, einräumen, daß Lufas
ſich hier geirrt, und, weil noch in fpätern Zeiten Abilene „Das
Land des Cyfanias * hieß, angenommen habe, es müfje audı
damals, ald Johannes auftrat, ein Eyfanias dort regiert haben.
Ueber die Zeit, wann Sefus zur Taufe an den Jordan
gefommen, wie lange vorher alfo ſchon Johannes getauft hatte,
fagt Lufas Nichts, fondern gibt nur an, er fei Damals etwa
dreißig Jahre alt gewefen. Könnten wir uns nun an Luk. 1,
26 halten, wornach Sohannes ein halbes Jahr alter ald Jeſus
war, — und wäre ed ausgemacht, daß auch ein Prophet
wie Sohannes, gleich den Leviten (4. Mof. 4, 3, 47), erft
nit dem dreißigſten Lebensjahre öffentlich, auftreten durfte, fo
müßten wir annehmen, Johannes fei höchſtens nur ein halbes
Jahr vor Jeſu Taufe als Täufer aufgetreten. Allein jenes
Altersverhältniß zwifchen Beiden haben wir ald mythifchen
Beitandtheil der Erzählung kennen gelernt, und dieje gefeßliche
Beftimmung über die Propheten ift zweifelhaft; es hindert alfo
Nichts, eine längere Wirkfamfeit des Zäufers vor Jeſu
Ankunft bei ihm anzunehmen. Diefe jedoch ſcheint nicht im
Sinne des Lukas zu liegen. Denn von ihm, der jede Zeit
fo genau beftimmt (ſ. oben bei Jeſu Geburt), läßt fich nichr
erwarten, daß er den Beginn der Wirkjamleit ded Johan⸗
nes fo forgfältig angegeben, den der weit widtigeren des
*
132
Meffias aber umbeitinnmt gelaffen haben ſollte. Er muß.
alfo Die Zeitbeftimmung jener auch auf Diefe bezogen, mithin
angenommen haben, daß fie bald nadı berfelben eingetres
ten fei.
Daß aber Johannes nur fo kurze Zeit gewirkt haben. fo,
hat man jehr unmahrfcyeinlich gefunden: Ex hatte, wie wir
aus den Evangelien (Matth. 14, 2; 21, 26) und aus Jo⸗
fephus wiflen, fidy ein großes und dauerndes Anfehen erwors
ben, hatte eine große Anzahl von Süngern (Soh. 4, 1), umb
hinterließ befonders gebildete Schüler (Luk. 11, 1), bie-
nach Jeſu Tode ald eigene Partei beftanden (Apoſtelg. 18,
25; 29, 3: — alles dieß zu bewirken, reichte doch eine
fleine Zeit, die kaum genügend war, große Aufmerkſamleit
zu erregen, nicht hin. Dean hat daher nachgefehen, ob. fidh
nicht eine längere Wirkſamkeit des Täufer nach Jeſu Aufs
treten anbringen laffe. Nun fagt zwar Joh. 3, 24, baß er
noch wirkte, ale Jeſus das erfte Paſcha während feines öffent⸗
lichen Lebens befuchte, und Luk. 7, 18 zufolge lehrte er wenig»
ſtens noch zu gleicher Zeit mit Jeſu; dagegen ftellen Matthäus
(4, 12) und Marfus (1, 14) die Sache fo, daß währenb oder
kurz nady dem Aufenthalte Sefu in der Wüſte Johannes ges
fangen genommen und Jeſus Dadurch veranlaßt worden, öffent⸗
lich, hervorzutreten. Jedenfalls it er längere Zeit vor Jeſus
hingerichtet worden (Luk. 9, 95, Matth. 14, ĩ; Mark. 1, 16),
und während des gehramtes Jeſu kann er feinen Anhang
nicht fehr vermehrt haben, da diefer ihn fo fehr verdunkelte
Goh. 3, 26 ıc., 4, D. — Ein anderer Ausweg, anzunehmen,
daß Jeſus nach feiner Taufe noch eine Zeitlang im Verborge⸗
nen gelebt, und erft fpäter öffentlich aufgetreten fei, fo daß
während dDiefer Zeit Sohannes, von jenem unverbunfelt, habe
wirken können, ift noch unzuläffiger. Denn die feine Taufe
begleitenden Wunder (vgl. 5. B. Matth. 3, 16) trugen ganz
das Gepräge der Einweihung zu feinem Berufe, die Evans
gelien geben zu bejtimmt zu erfeımen, baß er diefen fogleich,
nach der einzigen, burch das Faften in der Wüſte bewirkten,
Paufe angetreten, und Lukas laßt ihn, Apoftelg. 1, 22, von
ber Taufe an mit feinen Süngern verfehren.
Wenn aber auch jede diefer Annahmen den Darftelluns
133
gen ber Evangelien entgegen ift, fo fragt es ſich noch, ob
dieſe Darftellungen auch der wirklichen Gefchichte ganz getreu
geblieben find. Denn nachdem einmal der Täufer, wie es in
ber erften Gemeinde geſchah, nur ald Vorläufer Sefu bes
trachtet wurde, fo lag es nahe, fein Auftreten dem des Herrn
felbft, welchem es zur Einleitung dienen follte, jo nahe als
möglich zu rücken; noch mehr widerſprach es den herrfchenden
Borftellungen, anzunehmen, daß Jeſus fich an Sohannes ans
gefchloffen und fein Sünger geweſen wäre; hat es ſich auch
wirklich jo verhalten, fo hat die Sage ohne Zweifel diefen
Zug mit dem audgefireuten Glanze überdeckt.
Wir müflen alfo es unentfchieden laffen, ob Johannes
wirffich in fo kurzer Zeit, als die Evangelien anzunehmen
nöthigen, fo Großes gewirkt habe, was keineswegs, nament⸗
fich in einer fo empfänglichen Zeit, undenkbar it, — oder ob
‚eine. längere Wirkfamkeit vor oder nach Jeſu Taufe durch
die den Lebteren verherrlichende Sage verbunfelt worben ſei.
Dasfelbe gilt von dem Altersverhältniffe zwifchen beide ı
Mämern. Da die Angabe des Lufad in diefer Beziehung
c1, 26) mythifcher Natur ift, fo fönnen wir uns den So:
hannes zwar allerdings ale Alter denfen, eben fo gut aber
auch als jünger: denn ein früher Auftretender ‚muß nicht
immer der Aeltere fein, und warum follte nicht auch ein Buß⸗
prediger, der die Dreißige (Luk. 3, 23) noch nicht erreicht bat,
Eindruf machen fünnen?
Sohannes, nach allen Schilderungen ein Nafiräer (vgl.
Matth. 3, 4, 9, 145 11, 18) trat in der Wüſte als Pro⸗
phet auf und taufte im Sordan, worin Matthäus, Markus
und Lukas übereinftimmen. Johannes widerfpricht nicht. Daß
auch Lukas fich ihn in der Wüſte denft, geht, obgleich 3,
2, 3 zn widerfprechen fcheint, doch aus 7, 24 deutlich hervor.
Im Matthäus dagegen finden wir ben Fleinen Verſtoß, daß
er die Wüſte als die Judäiſche bezeichnet, welche doc; fern
vom Sordan liegt; indeß könnte die Wüfte am Sordan, ale
Fortſetzung der Judäiſchen, auch noch dieſen Namen geführt
haben.
-134
Das Taufen des Johannes war nicht and der ohne
Zweifel nachchriftlichen ProfelytensZaufe hervorgegangen, fons
dern ficherlich, wie ähnliche Wafchungen bei den Effenern,
aus der Deutung bildlicher altsteftamentlicher Ausbrüde,
in welchen vom jüdifchen Volke, wenn ihm Gott wieder gnäs
dig werben folle, „Baden und Abmwafchen der Sünden “ vers
langt wurde, 3. B. Jeſ. 1, 16: „Waſchet euch, werdet rein,
entfernt das Böſe eurer Gedanken von meinen Augen.“ Hiezu
kam noch die befondere jüdifche Vorftellung, daß die Sfraeliten
Buße thun müſſen, ehe der Meffias erfcheine.. Daher
ftimmen auch alle Evangelüten darin überein, daß bie Buße
ein wefentliches Erforberniß bei der Taufe des Johannes ges
wefen. Hiemit verbinden Lukas 3, 3 und Markus 1, 4 noch
ganz ansdrüclich die Vergebung der Sünden, indirekt auch
Matthäus, der 3, 6 an die Taufe das Betenntniß ber
Sünden knüpft; wie auch fchen im alten Zeftament, 3. B.
Ezechiel 36, 25, das Abwaſchen zugleich ald Befreiung von
den Sünden gefaßt wird, ald Vergebung.
Zugleich aber ftellte Sohannes feine Taufe in Verbindung
mit dem Eintreten des „Himmelreiches“, d. h. mit der
Erfcheinung des Meffiad. Wenn auch die Darftellumgen
ber verfchiedenen Erzähler über diefen Punkt nicht in allen
Ausdrücken ganz haarfcharf übereinitimmen, fo ift doch am Dies
fer mefflanifchen Beziehung, weldye Johannes der Tanfe ger
geben, durchaus nicht zu zweifeln, ba es ihr ohne biefe an
rechter Bedeutung und beftimmten Anhaltspunfte gefehlt has
ben würde. Daß Johannes das Eintreten bes Meffiasreiches
als fo nahe bevorftehend anfünbigt, bürfen wir nicht etwa
der fpätern chriftlichen Sage ale Erfindung zufchreiben wols
Ien, entitanden aus der damals wirflid eingetretenen
Thatſache; — vielmehr Fonnte das lebhaft ergriffene Gemäth
bes Johannes in vielen Erfcheinungen der fo vielfady beweg⸗
ten Zeit leicht Andeutungen finden, die ihm die Nähe des
Meſſiasreiches zu verkünden fchienen.
Er fpricht ſich Daher näher dahin aus, ed werde ein
Mann auftreten, ber feine Meſſiaswürde beurkfunden werde
burch ein „Taufen mit dem heiligen Geifte und mit Keuer*
Matth. 3, 115 ferner werde derfelbe „mit der IBurfichaufel
135 -
feine Zenme fegen“; —. Beides ganz um Geiſte Der meſſiani⸗
ſchen Prophezeiungen.
Hier tritt nun die wichtige Frage ein: Wen bezeichnete
er als dieſen Meſſias? Dem erſten und dritten Evangelium
zufolge, auf's Beſtimmteſte Jeſum. Wie Lukas den Johan⸗
nes ſchon vor-der Geburt Jeſu huldigen läßt, haben wir
oben geſehen; beide werden alſo wohl ſpäter in ihrem gegen⸗
ſeitigen, durch Wunder eingeleiteten Verhaͤltuiſſe einander naͤ⸗
her kennen gelernt haben. Matthäus berichtet über ſolche
frühe Familien» Verbindung Nichts; allen da nach feiner
Erzählung Sohannes Sejum fogleich erkennt, indem er fich
weigert, ihn, den Höheren, zu taufen CB. 14), fo muß er
eine frühere Befanntfchaft vorausgeſetzt haben. Markus bes
handelt Die Sache zu fur; (1, 9), als daß feine Anficht Har
würde; Sohannes dagegen fo, daß der Täufer Jeſum vor
ber Taufe gar nicht gekannt, mithin auch nicht, che die himm⸗
liichen Zeichen bei der Taufe ihn darüber belehrten, für den
Meſſias gehalten haben kann; der Täufer behauptet dieß näu⸗
lich ausdrücklich 1, 31, 33. — Beide widerfprecdyende Angaben
hat man auf mancherlei Weiſe mit einander auszugleichen vers
ſucht.
Manche Ausleger haben geradezu behauptet, Johannes und
Jeſus haben ſich zwar ſchon früher gekamt, allein vor dem
Publikum ſich fo angeftellt, als ob fie einander ganz frend
wären, um ſich einander deſto beffer in die Hände zu arbeiten.
Andere fuchten, um die beiden Männer von dem Borwurfe
ber Berftellung ven zu erhalten, durch ihre Erklärung aus dem
Worten des Taͤufers einen andern Sinn herauszubringen. Sie
legen nämlich feine Behauptung (33): „Und ich Fannte ihn
sicht “, fo aus, daß der Täufer Jeſum zwar ald Perfon
gefannt, aber nicht gewußt habe, daß er der Meſſias fei.
Wenn auch, was bezweifelt werben muß, jene Worte biefen
Einn haben können, fo füllt der Widerjprud, damit nicht weg:
denn unmöglich Fonnten ihm, went feine Familie mit deu
Achtern Jeſu auf die von Lukas erzählte Weiſe befannt war,
die Berfündigungen und Wunder unbekannt geblichen fen
136
durch welche Sefus fchon fo frühe als Meſſias bezeichnet wurde.
Wer aber möchte in ber weiten Entfernung ber beiberfeitigen
Wohnorte von einander einen Grund finden wollen, warm
"beide junge Männer nicht in nähere Berührung famen? Waͤre
dieß nicht die ftrafbarfte Bleichgültigfeit gegen die empfanges
nen göttlichen Mittheilungen, deren Zweck durch biefe kalte
Adgefchloffenheit gänzlich verfehlt worden wäre? — Deutlich
genug gibt ja auch bei Matthäns der Täufer zu erfennen,
daß ihm die Meffiaswürde Sefu befannt war, indem er 3, 14
fagt: „Mir thut Noth, von Dir getauft zu werden, und Du
kommſt zu mir?“ Man hat auch hier die Schwierigkeiten zu
ebnen gefucht, indem man biefe Worte nur als Ausdrud der
Verehrung für die hohe Vortrefflichfeit Jeſu faßte; allein war
er noch fo edel, als fündhafter Menfch konnte er der Taufe
fidy nicht entziehen, und zur Taufe berechtigt konnte Jo⸗
hannes nur einen Propheten halten, wie er felbft war, ober
den Meifias (vgl. Joh. 1, 19); da er nun Sefu einen höhe⸗
ren Rang zugefteht, als ſich, fo erflärt er damit ihn zugleich
für den Meſſias: hatte er ja doch felbft fo eben gefagt,
„der nach ihm Kommende werde mit dem heiligen Geifte tau⸗
fen!“ Es könnte, um den unläugbaren Widerfpruch wegzu⸗
raͤumen, noch die Annahme verfucht werben, Matthäus habe,
um größern Effeft zu machen, die Weigerung vor bie über
Jeſum ergoffenen himmliſchen Erfcheinungen (V. 16, 17) ges
ſetzt, da fie body wirklich erft nach denſelben erfolgte, weil
dieſe Jeſum fo deutlich als Meffias bezeichneten. Allein dafür
hat man durchaus feinen haltbaren Grund; denn ein folcher
iſt aus dem Hebräers Evangeliim, das die Sache wirklich fo
darſtellt, nicht zu entnehmen, ba dieſes offenbar einen fehr
abgeleiteten und gefünftelten Bericht enthält. Ueberdieß laͤßt
fih ja auch Lukas, von deffen früheren Erzählungen über
Maria, Elifabeth und Zacharias wir auf Augenblide ganz
abfahen, durchans nicht mit des Johannes Darftellung verein⸗
baren. — Alles erklärt fi ohne Zwang, wenn wir ben Cha⸗
racter populärer Auffaffungsweife überhaupt ins Auge faſſen,
alles Weſentliche nämlic, als von jcher Gewefenes zu denken.
Wußten alfo die erften Chriftgemeinden, in welche folgenreiche
Beziehung der Täufer durch Die Taufe zu Jeſu geftellt war,
137
fo mußte dieſe Beziehung ihnen als eine fchon Fräher beftandene
erfcheinen; Sohannes mußte ſchon früher Jeſum als Meſſias
gekannt haben: dieß drückt Matthäus einfach aus, Lukas aber
rückt dieſes geheimnißvolle Berhältniß noch bis in die Zeit vor
der Geburt der beiden Männer hinauf. |
Warum biefe frühzeitige Beziehung bei Sohannes fehlt,
müflen wir unentichieden laſſen; vielleicht darum, weil, wenn
beide Männer ſich vorher nicht kannten, Die winderbare Scene,
Durch welche Ssefus dem Täufer bei der Taufe desfelben als
Meſſtas bezeichnet wurde, um fo größeren Glanz erhielt.
Es knüpft fich hier zunächit die Frage an, was überhaupt
Johannes von der Meffianität Sefu hielt? Alle Evanges
lien ſtimmen darin überein, baß er in fich den Vorläufer
des Meſſias erkannte, daß als folcher ihm Jeſus durch bie
Berherrlichung desfelben bei der Taufe (wovon weiter unten)
bezeichnet wurde, unb baß er diefem Zeichen Glauben fchenfte:
wenn biefes Lettere von Matthäus und Lukas nicht ans⸗
drücklich erzählt wird, fo mag dieß feinen Grund darin haben,
daß fie ja, wie wir oben fahen, die Sache fo ftellen, Johan⸗
nes habe ſchon vor der Taufe Jeſum als Meſſias erkannt.
Nun muß ed allerdings befremden, daß Sohannes fpäter
an der Mefitanität Jeſu fcheint irre geworden zu fein; denn
er ſchickt Junger an ihn ab, mit der Frage: „Biſt du ber,
der da kommen fol Cder Meſſias), oder müflen wir einen
Andern erwarten?“ (Matth. 11, 2 ıc. und Luf. 7, 18 ıc.)
Wie erklären wir uns biefen Widerjpruch? hatte er feinen
feiten Glauben an Jeſu Mefftanität nicht oft genug ausge⸗
fprochen? fandte er nicht gerade Damals jene Boten ab, ale
er von den „Thaten“ Ssefu hörte, welche eben, nach dem
Zufammenhange der Erzählung bei Lukas, feine andere, ale
meſſianiſche Wunderthaten waren? Wie konnte Jeſus fpäter
auf fein Zeugniß fich berufen (Joh. 5, 33), wenn er wirfs
lich fo fehr ein Rohr im Winde war, wofür ihn aber Jeſus
nicht hält (Matth. 11, 7)?
Man bat dieß auffallende Benehmen durdy bie Anficht ers
Haren wollen, Johannes habe feine Jünger nur darum geſandt,
138
damit fie durch eigene Anſchauuug ber wunderbaren Thaten
Jeſu ſich von deffen Meffianität überzeugen follten. Allein
woher mußte er, daß fie ihn gerade mitten im Wunderthun
treffen würden? was überdieß nach Matthäus nicht einmal ges
ſchah. Konnte er ihnen alddann eine folhe Frage au Jeſum
auftragen? Denn wenn fie ihrem eigenen Meifter nicht glaubs
ten, fo wird das Zeugniß deſſen, um den es fich handelte,
noch weniger Gewicht für fie gehabt haben. Berträgt es fich
überhanpt mit ber Würde eines prophetifchen Lehrers, Zweifel
feiner Schüler in feine eigenen Worte duch fremdes
Zeugniß niederzufchlagen? Nein! die aufgetragene Frage muß
eine Frage des Tänfers felbft gewefen fein, wie fie auch Je⸗
fus wirklich nahm, indem er antwortete: „DBerfünbet dem
Johannes!“ (Matth. 11, 4), und fich indireft über deſſen
Zweifel beflagte (V. 6).
Die meiſten jeßigen Ausleger fallen Daher Die Sache fo,
daß Johannes mit feiner Frage feinen Zweifel habe ausbrüden
wollen, fondern, in feinem Kerker etwas ungeduldig geworben,
in diefelbe feine Aufforderung, Doc endlich als Meſſias
vor allem Volfe hervorzutreten, eingefleidet habe. Man findet
dieß um fo wahrfcheinlicher, da, wenn Sefus einen Haupts
ſchlag gegen feine Feinde unternahm, auch er, ber Zäufer,
Erlöfung aus feinem Kerfer hoffen konnte. Allein bann bleibt
gerade bie Farbe des Zweifels, die feine Frage, wie man auch
bie Worte drehen mag, unläugbar hat, ganz unerflärlich:
Vertrauen mußte ſich in ihnen abjpiegeln. Aber auch felbit
eine folche Aufforderung laßt ſich mit früheren Ausfprüchen
bes Täufers nicht vereinigen. Wer, wie er, fo hohe Begriffe
von Jeſus, als Meſſias, hatte (vgl. mır Matth. 3, 11), mußte
annehmen, diefer werde am beiten die rechte Zeit unb Stunbe
finden. Noch mehr hätte er feiner früheren Anficht von Jeſu,
Ben er mit den Worten: „Lamm Gottes“ (Joh. 1, 29) als
ben leidenden Meffias bezeichnete, miberfprochen, wenn er
um von ihm erwartet hätte, derfelbe folle mit einem vernich⸗
senden Schlage gegen feine Feinde auftreten,
139
Wir werben alfo auf unfern frühern Standpunkt wieber
zurückgeworfen, und müfjen bes Täuferd Frage als Ausdrud
des Zweifels gelten laſſen. Als einen vorübergehenden
Abfall Des durch die Leiden des Kerferd gebeugten Mannes,
laßt ſich derſelbe auch nicht betrachten, Denn hätte dieſer
feinen Muth gebrochen, fo würde dieß, in allen ähnlichen
Fällen, in einem Widerrufe beffen, was ihn in ben Kerfer
gebracht hatte, nämlich der gegen Herodes ausgefprochenen
Rüge Auf. 3, 18, 19), ſich fund gegeben haben, nicht aber
duch Wanken in einem Glauben, der zu feiner Einferferung
Nichts beigetragen hatte. Unverträglich fcheint alfo immer
der Zweifel des Johannes mit feinem frühern Glauben zu
fein; denn daß hier von dem Wanfen in einem fchon vors
handenen Glauben, und nicht von der Unſicherheit eines erſt
entftehenden die Rede ift, zeigen Jeſn Worte, ber in ber
Frage ein „Srrewerbden“ findet C11, 6). Diefes ift um fo
unbegreiflicher, wem es fich auf die Nachricht von Jeſu
Wunderthaten foll eingeftellt haben, die ihn gerade im
Stauden beftärken muften. Man kann aber Diefer Bedenk⸗
fichfeit ausweichen, wenn man die Darftellung des Lukas, der
ausdrüdlich, wie oben bemerft, an Wunder anknüpft, als
theifweife unrichtig bei Eeite läßt, und ſich an die Ausdrücke
des Matthäus hält, der ung fagt: „nachdem‘er von bem
Merten Jeſu gehört“ (Matth. 11, 2), worunter fein Dans
dein überhaupt gemeint fein könnte. Somit können wir es
allerdings nicht undenkbar finden, daß Johannes zwar früher
den feiten Glauben an die Mefftanität Jeſu hatte, daran aber
durch das Wirken und Verfahren deffelben irre werden fonnte,
indem er ihn anders handeln fah, als er es von dem Meir
fiad erwartet hatte. Hier ftehen wir an dem Wendepunkte
unferer Unterſuchung.
Penn, wie wir nach den brei erften Evangelien annehmen
dürfen, Sohannes von dem Mefjias „Ausgießung ber Geifteds
fülle über feine Anhänger, Sichtung des Volks und Ausrots
tung feiner unwürdigen Mitglieder erwartete, aber fchleunig
ausgeführt und nicht ohne äußere Gemwaltfamfeit *, fo Fonnte
er an Jeſu wohl irre werden. Sedoch müflen wir Dabei
zweierlei vorausſetzen: erſtens kann es füch mit den Wundern
140
der Geburt und Kindheit Jeſu nicht fo verhalten haben, wie
Matthäus und Lukas erzählen, und es kann nicht fchon vor
der Geburt beider Männer ihr inniges Zufammemvirfen in
der von Lukas berichteten wunderbaren Weiſe verkündet wors
ben fein. Beides haben wir fchon ald mythifche Züge ers
kannt; zweitens können fich bei der Taufe Jeſu die Wunder
nicht zugetragen haben, welche die Evangeliften erzählen;
hievon fpäter. .
Wenn aber Johannes von dem Meffias Die Vorftellumgen
hatte, welche ihm das vierte Evangelium beilegt (Joh. 1,
15, 27, 29, 30, 36; 3, 31), dann. freilich burfte er nicht
irre werden, benn bis jetzt hatte Jeſus ganz in Diefem
Sinne gehandelt, wenigftens Nichts gethan, was ihm widers
fprochen hätte. Wir haben daher zunaͤchſt diefe Ausfprüche
bes Taufers im vierten Evangelium näher zu unterfuchen, und
fragen: konnte er eine folche Erwartung vom Meſſias haben?
und fonnte er diefe in Jeſu verwirklicht glauben ?
Die erfte Frage betreffend, fo bezeichnet er den Meſſias
als ein höheres Weſen, „von dem Himmel herabfommend“
(3, 3D, fodann als „früher, denn er“ (1, 15, 27), womit
Die anch bei Rabbinen, und felbit bei Paulus (Kol. 1, 15)
ſich findende Vorftellung von der Präeriftenz 1) des Meſſias
ausgedrückt fein kann; wenn man nicht den einfachen Gedan⸗
ten darin finden will, ber Meſſias fei mehr, als er, ber
Täufer. Ferner wird er in 1, 29, 36 ber Meſſias ald der
für die Sünden ber Welt Leidende bargeftellt. - Diefen
letzten Augjprüchen hat man vergeblich einen allgemeineren
Sinn zu geben verfucht, das „Lamm“ als finnbilbliche Be⸗
zeichnung ber Sanftmuth genommen, und unter dem „Tragen
der Sünden der Welt“ das gebuldige Ertragen ber Bosheit
der Menfchen verftanden. Da aber biefe Erklaͤrungen nadı
ber Ausfage ber beften Erflärer unzuläßig find, und nament⸗
ich „das Lamm Gottes“ ein beitinmtes heiliges Lamm bes
zeichnen muß, fo ift es am wahrfcheinlichften, daß dieſe Worte
eine Anwendung ber Stelle Jeſaias 33, 4 und 7 find, und
Das ftellvertretende Leiden des Meffias bezeichnen.
Siehe die Erklärungen, unter dem Artikel Logos.
N
141
Aber eben das iſt auffallend, daß fchon der Täufer Jeſum
als den leidenden Meffias betrachtet haben fol, dieß ift ber
herrſchenden Anficht fo zuwider, daß fogar Jeſu Jünger an
ihm, als dem Meffias, nach feinem Tobe irre wurden (Luk.
24, 20 x). Wie follte der tiefer (Matth. 11, 11) und fers
ner ftehende Täufer eine Einficht gewonnen haben, bie en
Juͤnger noch lange Zeit fehlte? Hätte fie nicht auch auf Diefe
übergehen müfjen, die zum Theil Sohannes Schüler gewefen ?
Ueberdieß weiß feine andere Stelle bes neuen Teſtaments
Etwas davon, daß Johannes diefe Vorftellung gehabt; viel
mehr hatte er, den andern Evangelien zufolge, wie wir oben
fahen, ganz andere vom Meſſias. Wenn wir es aber auch
für unmöglich halten können, baß ein tiefer blickender Geiſt
über bie berrichende Meinung feiner Zeit fidy erhoben, fo iſt
doch die Form jened Ausdrucks fo fehr dem Evangeliften
eigenthümlich, daß wir dieſe wenigſtens als beffen Zuthat
anfehen müſſen.
Wir haben indeffen Beifpiele, daß unfer Evangelift auch
mehr als die bloße Form von dem Seinigen bei Anführung
der Worte eines Dritten binzuthut, wie fich gerade in Bezug
auf den Zäufer aus 3, 27—36 ergibt. Denn hier find die
Worte von B. 31 an ganz bdiefelben, die fonft er felbft oder
auch Jeſus in feinen Berichten über Sefum gebraucht; fie
find überdieß ein auffallender Nachflang der eben voraudges .
gangenen Unterredung mit Nikodemus; man vergleiche 3. B.
2. 11 mit 32, B. 18 mit 36; und endlich enthalten fie fo
viele dem Evangeliſten ganz eigenthümliche Ausdrüde und nur
bei ihm fich vorfindende Borftellungen über die Perfon Sefu,
daß wir ımbedenklich zugeftchen müffen, nicht der Evangelift
hat fie vom Täufer entlichen, fondern fie find Diefem von
jenem in den Mund gelegt worden.
Dieß ift fo augenfcheinlich, daß viele Theologen, um dieß
“nicht an den Evangeliften fommen zu laſſen, behaupten, von
jenem V. 31 an nehme er wieder dad Wort. Allein nirgends
findet ſich ein folcher Uebergang angezeigt, und wenn er hier
fpräche, und nicht der Täufer, fo dürfte er nicht Die Zeit:
form der Gegenwart, fondern, wie er es auch fonft thut, Die
der Vergangenheit gebrauchen. Wir fünnen alfo für Diefe,
142
im Vorübergehen befprochene, Stelle dem Geftänbnifle nicht
entgehen, daß der Evangelift feine eigenen Betrachtungen .
denen bes Täuferd beimifchte; und haben demnach auch für
jene Bezeichnung des Meſſias, als eines leidenden, feine
Bürgfchaft dafür, daß nicht auch fie vom Evangeliiten bem
Käufer, der fie fonft nirgends augfpricht, geliehen worden.
Diefe Bezeichnung des Meffiad träge nun, um auf bie
Zweite unferer Fragen („konnte er Diefe Erwartungen in
Jeſu verwirklicht glauben?“ S. 140) zu fommen, der Täufer
aud) auf Sefum über. That er biejes fo begeiftert, fo öffent,
lich, — hatte er fo geläuterte Einfichten in bie Beſtimmung
Sefu, — ftimmte er mit Sefu fo ſehr überein, fo konnte bie
fer ihn nicht aus dem Himmelreiche ausfchließen (Matth. 11,
11), während er den Petrus; der ſich jener Einfichten nicht
rühmen fonnte, einen Feld feiner Kirche nennt. — Wir
ftoßen aber bald auf noch größere Räthſel. Wenn er als
Zwed feine Taufe angibt, „Damit er (Jeſus als Meſſias) dem
Bolfe offenbar würde“ CB. 31), und ed als göttlihe Ord⸗
nung erfennt, daß Diefed zu⸗, er abnehmen müßte (3, 30),
warum feßte er noch da, wo Jeſus ſchon taufte, feine Taufe
auch noch fort (3, 23)? warum fchloß er ſich nicht vielmehr
an Jeſu an? Neander antwortet: Sohannes Fonnte nicht
über feinen altsteftamentlichen Standpunkt hinaus; er, ber
gereifte Prophet, konnte nicht in eine Schule treten, welche
bildfame Tünglinge verlangte. Wenn er aber fo viel tiefer
ftand, wie war es möglich, Daß er doch Jeſum fo richtig ers
. kannte, und laut für den Meſſias erklärte? Denn mußte er
alsdann nicht auch, fo gut wie feine Schüler, Anitoß daran
nehmen, daß Sefus die von ihm fireng beobachteten äußeren
Gebräuche des Faftens ꝛc. gering ſchätzte (Matth. 9, 19?
Wenn er aber nur Anftand nahm, Sefu Schüler zu werben,
fo mußte er, bei Der Ueberzeugung, Die unfer Evangelijt ihm
zufchreibt, ganz zurüdtreten; denn durch fortgefeßtes Taufen
binderte er deſſen Werk und hielt immer noch Viele in ben
Borhallen des Meiftagreiches; und in der That beitanden
noch zu den Zeiten des Paulus (Apoftelg. 18, 24) die Jo⸗
143
hannisjünger als eine von ben Chriften getrennte Partei, die
immer noch des Meſſias Auftreten erwartete, und fich noch
Inge Zeit forterhalten haben will. Unmoͤglich kann alfo Ios
hannes jene Anficht von Jeſu gehabt haben, wenigſtens vor
feiner Berhaftung nicht, bis zu welcher er das Taufen fort
feste. Seine Sendung aus den Kerker ſcheint freilich gu
beweifen, daß er anf andere .Gedanfen gefommen, und we
nigftend die Hoffnung hegte, Jeſus werde als Meſſias ſich
erweifen.
Allein die gefchichtliche Wahrheit auch Diefer Sendimg ließe
ſich bezweifeln; denn aus dem Kerker kamen die Johannes⸗
fchüler zu Jeſu, wie Matthäus ausdrücklich ſagt; Lukas freis
lich nicht, der aber auch hier als fpäterer Bearbeiter erfcheint,
und dieſe Drtsangabe verwilcht haben kann. Es iſt nänlich
unwahrſcheinlich, daß zu einem Manne, der, wie Sofephus
berichtet, hauptfächlich aus Furcht vor einem Aufitande ein«
geferfert wurde, feine Schüler freien Zutritt hatten, boch für
ganz undenkbar können wir es freilich nicht halten. Wann
er aber ind Gefängniß geworfen wurde, darüber fcheint ung
Matthäus den beiten Aufjchluß zu geben, der dieß Ereigniß
vor das öffentliche Auftreten Sefu fest (Matth. 4, 12). Allein
wenn auch, wie dieſer erzählt, jene Verhaftung Jeſum aller-
dings veranlaffen Fonnte, nun feine Wirkjamfeit zu beginnen,
fo it es doch chen fo möglich, daß, weil Sefus durch diefelbe
die des Johannes verdunfelte, die fpätere Sage zu dem Irr⸗
thum verleitet werden fünnte, dieſer fei fchon damals, ale
Jeſus auftrat, im Gefaͤngniſſe gewefen.
Mag fich dieß auch verhalten, wie es will, während feines
öffentlichen Wirkens Fann der Täufer Sefum nicht für Den
Meſſias gehalten haben; wie man aber dazu Fam, Dieß anzu⸗
nehmen, darüber gibt Apoſtelg. 19, 4 Auſſchluß. Hier fagt
Paulus, Johannes habe auf den, „der da kommen fol“, ge
tauft, und fett hinzu: „das heißt auf Jeſum“; dieß ift eine
Deutung aus dem Erfolge. Denn weil nun fchon Jeſus
bei fo Bielen als Meſſias anerfannt war, fo lag die Meinung
nahe genug, auch Johannes habe ihn als den, „der da kom⸗
men ſoll“, bezeichnet. Hieraus feheint fich auch zu erklären,
144
warum das Sohannes» Evangelium fo großes Gewicht auf
Diefe Anerkennung legt. Dasfelbe ijt einer alten Sage zufolge
in Ephefus gefchrieben, wenigſtens unter griechiichen Chris
ften; in biefer Stabt waren aber viele Lente, die nur auf
Johannes getauft waren, und Apoftelg. 19 zufolge von Pau⸗
Ins abermals, auf Sefum, getauft wurden. Diefe mußten
durch jenes Zeugniß des Täuferd um fo mehr mit dem Chris
ftenthume befreundet, Diejenigen unter ihnen aber, welche noch
sicht befehrt waren, zu bemfelben hinüber gezogen werben.
Ueberhaupt aber hatte der Täufer Sohannes großes Gewicht
bei den Juden, und auch das alte Teftament begünftigte bie
Annahme eined folchen Zeugniffes. Da nämlih David im
Sammel gewiflermaßen einen Vorläufer hatte, ber ihm ſtets
ergeben blieb Cl Sam. 16), fo ſchien auch ber Mefflas einen
folchen haben zu müſſen, unb diefer war in bem gleichzeitigen,
jedenfalls tiefer ſtehenden, Johannes gegeben.
Zweites Kapitel.
urtheile über den Täufer, und letzte Schickſale bei
felben.
(S. die Stellen zum eriten Kapitel, und Matth. 14, 3— 12,
Marf. 6, 16— 29.)
Gehen wir nun, um zu einem Endreſultate über das Ber
haltniß der beiden Männer zu gelangen, noch zu den Urtheis
len über, die wir von Sefn und ben Evangeliften über den -
Täufer ausgefprochen finden.
Zunächft werden mehrere altsteftamentliche Stellen anf den
Täufer angewendet; er thut dieß felbit, dem Joh. 1, 23 zus
folge, mit Sef. 40, 73: „die Stimme eined Rufenden in der
MWüfte* ꝛc., obgleich diefe Stelle ſich urfprünglich nicht auf
den Borläufer des Meſſias bezieht; in den drei erften Evans
gelien wird biefe Anwendung von den Evangeliften gemacht.
— Eine andere Stelle, Maladyia 3, 1, wird von Jeſns,
Matth. 11, 10 u. Luk. 7, 27, und fobann von Markus (1, 2),
der fle irrigerweife auch dem Jeſaias zufchreibt, auf Johannes
“a
145
bezogen; fie ift zwar meiftanifch, aber erft durch eine Worts
änderung dem Berhältuiffe des Täuferd zu Jeſu angepaßt.
— Durd die Anwendung einer britten Stelle, Malach. 4, 5:
„ich will Euch den Elias fenden“ ıc., erhielt Johannes eine
Beziehung zu Elias, bie fich fchon in der Berfündung feiner
Geburt findet. Wenn daher der Täufer die an ihn ergangene
Frage, ob er der Elias fei (Joh. 1, 21), verneint, fo ift Das
mit nur gemeint, daß er nicht der leibhaftig wiedergefoms
mene alte Prophet fei.
Asch für den Meſſias felbit ihn zu halten, war man
geneigt: nach Luk. 3, 15 20. äußert das Volk um ihn dieſe
Bermuthung, und nach Joh. 1, 19 richten Abgefandte dee
Synedriums die Frage an ihn: „Wer bit Du?“ Beibe
Malte lehnt Johannes in feiner Antwort ganz beftimmt Die
meifianifche Würde von ſich ab; da dieß beide Male faft ganz
mit denfelben Worten gefchieht, und aus beiden Erzählungen
die unverfennbare Abficht hervorgeht, Durch das eigene Zeugs
niß des Zäuferd die Meffianität Jeſu zu begründen, fo liegt
ohne Zweifel beiden nur Ein Borfall zu Grunde, und eg
fragt fidy nun, welcher Evangelit Diefen getreuer wiedergibt.
Beide Darftellungen haben gleich viel innere Wahrfcheinlichs
feit; denn es üt eben fo natürlicdy, daß das begeijterte Volk
anf jene Vermuthung kommt, wie es denkbar it, daß das
Synedrium, dem das Aufjichtsrecht über öffentliche Lehrer zus
kam (vgl. Matth. 21, 23), eine folhe Frage an Johannes
richtet. Auch kann noch eben fo gut die Daritellung des
kukas ein undeutlicher Nachhall des wirklichen Borfalles fen,
wie die des Johannes eine Ausſchmückung desfelben; fo
daß wir aljo nur aus einer allgemeinen Anficht über das
Verhältnig des vierten Evangeliums zu den drei eriten dar⸗
über entjcheiden fünnen, wer hier Necht baben mag, Sobanneg
oder Lukas.
— — — —
Auch von Jeſus ſelbſt haben wir einige Ausſprüche über
den Täufer: Joh. 5, 35 nennt er ihn ein „ſtrahlendes Licht“,
an deſſen Glanze das Volk ſich nur habe ergötzen mögen;
nach der Verklärung (Matth. 17, 12 ꝛc.) bezeugt er, daß
Johannes der als Borläufer verbeißene Elias geweienz und
l. 10
\
146
Matth. 11, 17 ꝛc. ftellt er ihn fogar wegen feines erhabenen
Ernſtes über alle Propheten des alten Teſtaments, zugleich
aber auch unter Alle, die an dem neuen Bunde Antheil
haben; — endlich klagt er noch in derfelben Stelle darüber,
“daß auch der Täufer, gleich ihm, ein veritodtes Volk gefuns
den. — Hätte nım Sohannes die Meffiass dee nicht reiner
und klarer aufgefaßt, als alle Propheten des alten Teſtaments,
fo hätte ihn Sefus nicht Aber Diefelben ftellen können; wenn
er aber auf der andern Seite ihn dem legten feine s Reiches
nachitellt, fo Fanıı dieß feinen Grund nur darın haben, Daß
derfelbe immer noch die Wirkſamkeit des Meſſias als eine
mit glänzender Wunderfraft durchgeführte Beflegung feiner
Gegner, und nicht ald ein Leiden auffaßte, durch welches
. fein Reich von innen heraus, von der Reinigung ber Herzen
and, als ein geiftiges ſich entwickeln müfle. Da nun Das
Eritere wenigſtens, die Idee des leidenden Meffias, Johan⸗
nes bei unferın vierten Evangeliften (1, 29 u. a.) deutlich
genug ausipricht, fo müſſen wir, wenn wir Jeſu LUrtheile
nicht zu nahe treten wollen, Die gefchichtliche Wahrheit dieſes
Ausſpruches verwerfen, und eingeflehen, daß diefer Evangelift
bier feine eigenen Anfichten mit denen des Taäͤufers vermengt
- babe, und können überhaupt nicht wilfen, wie viel Wahres an
deffen- Reden im vierten Evangelium ift. — Auch in Dem
Punkte, daß Sohannes noch zu viel Werth auf Faften und
andere äußerliche Werke lege, feßt ihn Jeſus den Gliedern
des Meifiasreiches nach (Matth. 11, 18; vgl. 9, 16; 17).
Wir haben nım eine Ueberficht gewonnen über den Stu—⸗
fengang, welchen die Sage in Bezug anf das Berhältniß
zwifchen beiden Männern durchmachte. Die gefchichtlicdhe
Grundlage ift die, „Daß Sefus, angezogen von der vorbereis
tenden Zaufe des Johannes, ſich ihr unterwarf; bald aber
ſelbſtſtändig als Meffias unter feinen Volksgenoſſen auftrat*.
Diefe Wirkſamkeit fcheint den Täufer noch im Kerfer auf den
Gedanken gebracht zu haben, Jeſus fei der Meſſias, ohne
daß er darüber zur Gewißheit gefommen wäre. — Der Chrifts
gemeinde aber mochte dieß unbeſtimmte und fpäte Zengniß
_
147
nicht genügen; baher im vierten Evangelium fchon, ftatt der
Frage, die feierliche Berficherung der Mefftanität Jeſu,
feines leidenden Verhaltens ımd feiner göttlichen Natur. Weiters
hin wurde die Taufe Jeſu in eine glänzende Beftätigung
diefer Meifianität, und fomit auch in eine Erhebung Jefu
über den Täufer, fchon beim Beginnen ber Wirkſamkeit
umgeftaltet, und endlich, wie es uns Lufas überliefert, bes
Zäuferd untergeordnete Stellung ſchon in bie Berfündigung
fener Geburt gelegt.
Alle früheren Ausleger, welche Das Unhiftorifche ber fo
eben als mythifche Bertandtheile aufgezählten Züge der
evangelifchen Berichte gleichfalls erkannt haben, find barin
ohne ficheren Takt bald zu weit, bald nicht weit genug ges
gangen, was hier nur im Allgemeinen angebentet wird, weil
im Borhergehenden fchon eine indirefte Beurtheilung dieſer
Verſuche enthalten ift.
Gleichſam ald Anhang möge hier noch eine kurze Betradhs
tung des traurigen Endes folgen, das Johannes nahm.
Mit unfern drei erften Evangelien (Matth. 14, ıc. 35
Mark. 6, 175 Luk. 9, 9 20.) ftimmt Joſephus darin überein,
daß der Täufer nach längerer Gefangenfchaft von Herodes
IAntipas, Fürften von Galiläa, hingerichtet worden; Dagegen
weichen fie im Angabe der Urfachen feiner Verhaftung und
Hinrichtung von einander ab. Die Evangelien nennen als
Grund der eriten den Tadel, welchen Sohannes über. die
Verheirathung des Fürften mit feines Bruderd Frau, der
Herodias, ausgefprochen, — ale Grund der Hinrichtung die
Kit Diefes Weibes während eines Hoffeſtes. Joſephus aber
erzählt, derfelbe fei verhaftet worden, weil Herodes von feinem
großen Anhange einen Aufruhr gefürchtet habe, und hinge⸗
richtet in Folge einer Niederlage in dem durch Die Heirath
der Herodias herbeigeführten Araber» Kriege. Beide laſſen
ſich aber gar wohl mit einander vereinigen, wem man nur
annimmt, Herodes habe eben feiner gefekwidrigen Heirath
und feines feandalöfen Lebens wegen, das Johannes gerügt
haben mochte, um fo mehr vor einem Aufjtande Durch die
Johannes⸗Jünger fich fürchten müſſen.
148
Auch unfere Evangeliften felbfi ftimmen untereinander nicht
ganz überein. Matthäus nämlich, um Nichts zu fagen von
der nicht ganz gleichen Form der verfchiedenen Erzählungen,
fagt, Herodes habe des Täuferd Tod gewünfcht, das Bolt
aber gefürchtet, das denfelben für einen Propheten hielt; Mars
fus dagegen, nur Herodias habe ihm Nache gefchworen,
und feinen Tod ihrem Gemahle abliften müflen, weil diefer
felbft ihn als einen heiligen Mann fcheute. Hier werben wir
die leßtere Darftellung ale ſpätere Ausmalung betrachten
müſſen, weil in ihr der Zäufer verherrlichter erfcheint, indem
felbft der Fürft, den er beleidigt hatte, ihn zu achten nicht
umbin konnte. — Wenn nun endlich die evangelifchen Erzäh⸗
lungen die Sache fo jtellen, noch während der Tafel, am
weldyer des Herodes Tochter. dad Haupt des Sohannes vers
langt habe, fei dasfelbe auf einer Schüffel gebracht worden _
(. z. B. Matth. 14, 8 und 11), ſo ſcheint Joſephus zu wider⸗
ſprechen, dem zufolge Johannes in Machärus, eine Tage⸗
reiſe weit von Tiberias, der Reſidenz des Herodes, gefangen
ſaß. Allein der Widerſpruch löst ſich, wenn wir annehmen,
der Fürſt habe damals, wo er im Kriege mit einem arabi⸗
ſchen Könige begriffen war, in Machärus, der Gränzfeſtung
gegen Arabien hin, fich aufgehalten.
Wir fehen alfo, das Leben des Taufers iſt in unfern
evangelifchen Berichten „nur an feiner Jeſu zugewenbeten
Seite von mythifchem Glanze umfloffen, während die von ber
Sache Jeſu abgefehrte Seite mehr noch die gefchichtlichen
Umriffe zeigt *.
Drittes Kapitel
-Die Taufe Jeſu.
(Matth. 3, 13—17; Mark. 1, 9—11; Luk. 3, 21-——235 Joh. 1,
32 — 34.)
Ehe wir die Taufe felbft betrachten, werben wir und erit
Die Frage zu beantworten haben: „In welchem Sinne hat
149
ſich Jeſus von Johannes taufen laſſen?“ wobei wir allerdings
auf mehrere Schwierigkeiten ftoßen.
Schon in der alten Kirche machte es Bedenken, daß
Sefus aud, „auf das Bekenntniß feiner Sünden“ (Matth.
3, 6) follte getauft worden fein, und das Hebräer= Evange:
lium erzählt, Sefus habe auf die Aufforderung feiner Mutter,
ſich taufen zu laffen, geantwortet: „Was habe ich gefündigt,
daß ich gehen fol und von ihm getauft werde?“ Sin der
That muß man bei der Boransfegung der Sündlofigfeit Jeſu
den Schluß ziehen, entweder hätte Jeſus mit diefem Bekenut—
niffe eine Unwahrheit gefprochen, oder es hätte ohne das;
felbe der Täufer ihn nicht getauft. Mußte aber auch nicht
jever ZTäufling das Siündenbefenntniß ablegen, fo hielt
doch ficherlich bei Sedem Sohannes eine auf die Buße fich
beziehende Anrede; und felbit, Daß dieß nicht immer gefchah,
gegeben, behält immer der ganze Aft, das Hinabfteigen in
den Fluß mit Geberden bes Büßenden, einen Anftrich, dag
Jeſus ohne Heuchelei und ohne die Gefahr, die Gemüther im
Glauben an feine Reinheit irre zu machen, demfelben ſich nid,t
unterziehen Fonnte.
Wollte man annehmen, Sefus habe, als er mit dem Ve⸗
wußtfein, ebenfalls der Vergebung und Reinigung zu bedürfen,
mr Taufe gefommen, fich noch nicht für den Schuldlofen ges
halten, fo müßten wir einen fo fchnellen Uebergang von dem
Büßenden zu dem felbft Sündenvergebenden, für mehr als
unwahrfcheinlich halten. Auch der Ausweg, Jeſus habe eine
folche Taufe für ſich felbft zwar nicht nöthig gehabt, fich ihr
aber Doch unterzogen, um Andere auf die Nothwendigfeit
berfelben hinzumeifen,, befreit Iefum nicht von dem Bormwu f,
eıne Unmahrheit begangen zu haben, indem er doch fcheins
bar die Handlung auch auf fich bezog: Daher entgehen wir den
Schwierigkeiten nur dadurd,, Daß wir die Simdlofigfeit Jeſu
nicht, nach orthodoxer Anficht, als eme „AUnmöglichfeit der
Sünde“, fondern natürlicyer, menfchlichyer, als eine „Möglich:
keit, nicht zu fündigen“, auffaffen, womit es fich denn recht
wohl verträgt, daß er einer Handlung fich unterzog, durch
welche er fidy in feinem heiligen Willen, dem allein er dieſe
150
Sündloſigkeit verbanfte, flärtte, und ſich fortgefette Reinheit
gelobte.
Noch aber haben wir mit einem andern Bedenken ung ab>
zufinden. Da nämlid Sohannes taufte auf den, der ba
kommen follte, wie ift es, fo müffen wir aud) hier wieder
fragen, mit der Wahrheitsliebe Jeſu verträglic,- ſich ſelbſt
den Anfchein des Erwartens zu geben, dba er doc ber Er-
wartete war? wie mit feiner Klugheit, das Volk dadurch offene
bar an einen Andern zu weifen® Daß er damals fich noch
nicht entfchieden für den Mefftas gehalten habe, Fönnen wir
nicht annehmen, da auch hier wieder ein undenfbarer Sprung
angenommen werden müßte, von dem Zweifel an ſich felbft
zu einer, allen Gefahren des Todes troßenden, Entſchieden⸗
heit. Muß nicht vielmehr ein fo ficheres, Andere unwider⸗
ftehlich mit ſich fortreißendes, Bewußtſein ſich fchon frühe ale
der ganze Inhalt und Mittelpunkt feines geiftigen Lebens in
ihm entwidelt haben? Doc finden wir eine willfommene
Auskunft in einer Nachricht Juſtins, der zufolge es jüdiſche
Erwartung war, der Meſſias müffe durd) die Salbung
des Elias bei feinem Volke eingeführt werden. Eine folche
konnte Ssefus in der Johannes⸗Taufe erbliden, und eben, weil
er ſich für den Meffias hielt, derfelben fich unterwerfen, und
die Erwartungen Anderer von ihm dadurch nicht verwirren,
fondern beftätigen. Eine gleiche Erwartung hatte der Täus
fer felbft bei Joh. 1, 32, womit fich freilich Die Weigerung
bei Matth. 3, 14 nicht verträgt.
Allen Evangelien zufolge war die Taufe von wunderbaren
Borfällen, die fich unmittelbar an fie anfchloffen, begleitet
(f. die Stellen); bei Sohannes werden fie nicht in Direkter
Erzählung berichtet, fondern der Täufer erzählt fie feinen
Schälern; von einer göttlichen Stimme wird jedod) bier
Nichts gejagt. Alte apokryphiſche Erzählungen fügen noch feus
rige Erfcheinungen hinzu.
Wem diefe Wunder eigentlihh gegolten haben follen,
wird nicht von allen Evangeliften gleid) deutlich geſagt; nach
Sohannes müſſen fie vorzugsweife für den Täufer beftimmt
151
gewejen jein, da er fie als Betätigung der Mefjtanität Jeſu
betrachtet. Auch bei Matthäus feßen wir am natürlichften
diefe Anficht voraus; wiewohl alsdann feine Worte etwas un⸗
genau find, da man unter „er“ bei „fah“ (V. 16) nicht Ses
fus, der eben genannt war, fondern den Täufer fich denken
muß; Doc, ſcheint er wirklich das Wort auf Diefen bezogen zu
haben, da er fagt: Cer fah, wie der Geift) über ihn Fam,
und nicht „über fich“ — und bei der Gottesſtimme felbft die
Worte „diefer ift“ und nicht „Du bift“ gebraucht. — Dem
Lukas zufolge muß die Scene vor allem Volke ſich ereignet
haben (3, 21), und nad) Markus war es Jeſus, der den
Geift herabfonmen fah, und zu ihm werden Die Worte ges
ſprochen: „Du dift ꝛc.“.
Die meiſten Audleger faffen mın das Erzählte ganz buch⸗
ſtaͤblich als Außere, fihtbare und hörbare, Vorfälle aufs
allein die „gebildete Neflerion * findet hierbei nicht wenige
Schwierigkeiten. Erftlich gehört es mır einer zeitlichen Vor⸗
ftellung an, wenn bei Erfiheinung eines göttlichen Weſens ber
Himmel fih aufthun muß, ald ob, was wir nicht denkbar '
finden können, Gott über dem Himmelsgewölbe wohne, dems
nach von unferer Erde getrennt feiz — wie famt ſich ferner
ber heilige Geift von einem Orte zum andern bewegen, wie
ein endliches Wefen, oder gar m die Geſtalt einer Taube
verförpern? Endlich kann man es fogar abeuteuerlich finden,
daß Gott in menfchlidyen Lauten, und in der Sprache eines
beſtimmten Volkes, geſprochen haben foll.
Es haben daher ſchon alte Kirchenlehrer ſich zu der Anficht
flüchten müffen, daß die Stimme Gottes, wo von einer folchen
die Nede ift, nicht als eine Reihe aͤußerlich hörbar er, durch
Bewegung der Luft bervorgebrachter Töne zu faffen fei, fons
dern als ein im Snueren des Menſchen bewirfter Eindrud.
Drigines namentlich nennt fie „innere Anfchauungen, nicht
Wirklichkeit“, und erflärt, nur die Einfältigen könnten an
ein wirkliches Spalten des Himmels Denfen.
Demgemäß haben denn viele neuere Theologen auch Die
Stimme bei der Taufe als eine innere, von Gott bewirkte
152
Bifion aufgefaßt. Dazu fcheinen die unbeftinmten Ausdrücke
in dem erften, zweiten und vierten Evangelium: „ihm öffnete
fi der Himmel“ — „er jah“ — „ich habe gefhaut“ x.
allerdings die Hand zu bieten, und ſich auf einen im Innern
des Sohannes, dem wir nach Marfus noch Sefum an bie
Seite geben müffen, bewirften Eindruc deuten zu laſſen. Die
Darftellung des Lukas aber bezeichnet die Sache durch bie
Worte: „es gefhah, daß der Himmel fich öffnete“, —
- „ber Geift flieg herab, in förperlicher Geſtalt“, —
„eine Stimme Fam (wörtlich: geſchah)“ — fo beftimmt ale
einen Außeren Vorfall, daß Diejenigen, welche Die Wahrs.
heit fäümmtlicher Berichte feithalten, nicht nur des Lukas
Erzählung von einem folchen verſtehen müſſen, fondern folges
richtig auch alle übrigen, wenn fie auch) nicht mit Derfelben
Beltimmtheit fi) ausdrüden. Wie aber nun Dishaufen
3. B. zugeben kann, daß alles Bolf, dem Lukas zufolge, wirk⸗
lich Etwas gehört und gefehen, aber ein Unbeftimmtes, Unvers
ftandenes, — und dabei doch behauptet, die Taube fei‘ nur
dem inneren Auge füchtbar, die Stimme nur dem inneren
Dhre hörbar geweſen, — dieje „überjinnliche Sinnlichkeit *
vermögen wir nicht zu faffen, und wenden ung lieber gu Denen,
die Alles für einen äußeren Vorgang halten, diefen aber nas
türlich erklären.
Zu diefem Behufe berufen fie fich auf die Vorſtellungsweiſe
des Alterthums, vermöge welcher man in bedeutenden Mios
menten, wo ein fühner Entjchluß gefaßt werden foll, ein gött⸗
liches Zeichen erwartet, und ganz natürliche Vorgänge ale
folche zu betrachten geneigt ift. So habe auch Sefu und Jo⸗
hannes, in der Stimmung, in weldyer fie bei der Taufe ges
wefen, „jedes zufällig eintretende Naturphänomen bedentunges
vol fein und ihnen ald Zeichen des göttlichen Willens erfcheis
‚nen müfen* Was num diefe natürliche Erfcheinung geweſen
fei, darüber find fie nicht einig. Theils nehmen fie, den drei
erften Evangelien folgend, etwas Sichtbares und Hörbares
an, theils, bei Johannes ftchen bleibend, nur etwas Sichts
bares. Diefes Sichtbare war den Einen zufolge ein plößliches
Zertheilen der Wolfen, nach andern ein Bliß; die Taube
wird als ein wirklicher Vogel dieſer Art, der gerade über
153
Jeſu Haupt hinſchwebte, feitgchalten, oder zu einem Blitze
eder einem Meteore, das mit einer Taube verglichen werde,
verflüchtigt.. Das Hörbare wird zu einem Donnerfchlage
gerhacht, oder ganz weg erklärt, und nur für cine Deutung
des Sichtbaken gehalten. Mit diefem Letteren tritt man aber
offenbar den drei eriten Evangelien zu nahe, die ganz beftinmt
auch von etwas Hörbarem, nämlid von Worten, reden;
und Diefe ald einen Donner zu fallen, geht doch auch nicht,
ohne eine Nachhilfe der Sage anzunehmen, welche Diefe
Ausleger bekanntlich nicht einräumen. Daß man ferner ein
Zertheifen der Wolfen oder einen Blitz auch ein Eichöffnen
des Himmels nennen: kürme, muß zugeftanden werden; wie
eines von beiden aber mit einer Taube verglichen werden
fnne, — und dieſe wird von allen Evangeliften fejtgehalten, —
ja, wie überhaupt mm mit einem Vogel, dieß ift fchwer zu
begreifen. Daher gehen Diejenigen, welche an eine wirffiche
Taube denfen, mit dem Terte noch am glimpflichiten um, kön⸗
nen uns aber ſchwer glaublich machen, daß eine Taube fo
firre geweien, um zu einem Menfchen heranzufliegen und „über
ihm zu verweilen“ (oh. 1, 32).
Sehen wir uns aljo Durch die buchftäbliche Cübernatürliche)
und die natürliche Erklaͤrung des Vorfall gleich wenig bes
friedigt, fo müffen wir mit den meiften neueren Theologen
zu einer füchtenden Prüfung unſerer evangelifchen Berichte
ung hinwenden. Hierbei will man denn in dem des Johannes
die reinfte Leberlieferung der Thatſache finden, von welcher
die übrigen nur getrübte Abflüffe feien, weil jener nur von
dem Herabiteigen des Geiſtes, ald einem meffianifchen Zeug⸗
nie, rede; gar wohl können ihm bloße Reden Jeſu als ein
folches gegolten haben. Allein bezeichnet nicht auch er dieſes
Herabfteigen fo: „ich fah den Geiſt herabfommen, wie eine
Taube“? und bildlich, zur Bezeichnung der Sanftmuth Jeſu,
kann er den Ausdruck auch nicht gemeint haben, fonft hätte
er eher Jeſum felbit, nicht aber das Herabfteigen des Geifteg,
mit einer Taube verglichen. Wenn man alfo den drei eriten
Evangelien Unrecht thut, indem man ihre Darjtellung als
154 /
einen trüben Ausflug der Johanneiſchen betrachtet, wobei doch
Manches hinzugefommen fein müßte, namentlidy die gehörte
Stimme, wozu ſich in Johannes gar feine Veranlaffung findet,
fo werden wir richtiger verfahren, wenn wir lieber für alle
vier nad) einer gemeinfchaftlichen Quelle und umfehen. Als
folche bietet fich ung zunächft Jeſaia 42, 1 dar, eine Stelle,
welche nach Matth. 12, 17, 18 auch fonft auf den Meſſias
angewendet wurde; in dem Berichte des Matthäus (3, 17)
find die Worte: „an dem ic; Wohlgefallen habe“, faft wört⸗
lich jener Prophetenitelle entlehnt. Hiermit find wir auf bie _
wahre Quelle der vor nnd liegenden Wunbererzählung ges
wiefen, nämlich auf das alte Zeftament mit feinen meffiani- .
fchen Weiffagungen und Vorbildern, was felbft von geiftreichen
Theologen, wie Schleiermacher, auch bei andern Theilen
der evangeliſchen Berichte, zu fehr verfannt wird.
Es lag ganz im Geifte des fpäteren Judenthums, Aus⸗
fprüche über den Meſſias, weldhe Dichter dem Sehova. in
den Mund legten, ald wirklich gehörte Stimmen zu betradh-
ten; Diefe Borftellungeweife war nicht allein auch Die ber
erften Chriftgemeinde, fondern diefe mußte auch derielben ger
mäß die Gefchichte ihres Meffias geftalten, um fich den Juden
gegenüber zu Tegitimiren. Ganz natürlich alfo war es, aus
jener jefatanifchen, auf den Meffias allgemein gebeuteten, Stelle
allmälig eine Scene abzuleiten, wie Die vorliegende; es bot
ſich aber auch noch eine andere Beranlaffung dazu dar. Die
Worte in Pf. 2, 7: „Du bift mein Sohn, heute habe ich
Dich gezeugt“, wurden gleichfalls auf den Meffiag bezogen, umd
da hier, wie man annahm, der Meffias perfönlich angerebet
wurde, fo gaben dieſe Worte eine noch beftimmtere Beranlafs
fung, einen wirflichen göttlichen Zuruf an Sefum anzunehmen;
daß Lukas und Markus dieſen wirklich als Anrede ftellen,
„Du bift“, beweist, daß in der That dieſe Pfalmftelle we⸗
nigftend mitwirfte, der Erzählung dieſen Zug beizumifchen,
wenn fie nicht gar die erfte Beranlaflung war. Denn in
einigen Apokryphen lantet die Gottesftimme ganz fo, wie jene
Pfalmmworte, und in andern ftehen dieſe wenigftens neben
den Worten, wie fie unfere Evangelien geben; ja felbft in
einigen alten Handfchriften des neuen Teftaments in dem bes
va
ee, — —— — —
155 -
treffenden Verſe bei Lukas. — Daß aber eine jolche Stimme
vom Himmel gerade mit der Taufe in Verbindung gebracht
wurbe, lag nahe genug, fobald diefe als Weihe Sefu zu
zu feinem Meffiasberufe aufgefaßt worden war. Ä
Daß aber der Geift Gottes auf Jeſu befonders ruhen
werde, mußte man annehmen, ba die Meffiagzeit überhaupt
als die der Ausgießung des Geiſtes über alles Fleiſch gefaßt
wurde, nad) Anleitung von Soel 3, 1 20.5 und daß es bei
dee Taufe gefchehen werde, lag vorgebildet in der Gefchichte
Davids, auf welchen aud) bei feiner Salbung der Geift Gottes
hernieder fam, 1 Sam. 16, 13. Diefes Herabfonmten ganz
finnlich zu faffen, als ein fichtbares Niederſinken und Bers
weilen, ging gleichfalld aus alt= teftamentlichen Vorftellungen
hervor, bei dem Meſſias aber mußte es auf ausgezeichnete,
glänzende und, wenn der Ausdruck erlanbt ift, handgreiflichere
Weiſe gefchehen. Es fragte fid) nur, unter welchem finnlichen
Bilde der Geiſt Gottes gedacht wurde, wie er fich verkörpern
fonnte. Zwar findet fich im alten wie im neuen Teſtamente
vorzugsweife das Feuer als Sinnbild des heil. Geiſtes; da⸗
mit aber. find andere nicht ausgeſchloſſen. Als fchwebend -
wird fchon 1 Mof. 1, 2 der Geift Gottes dargeitellt; dieß
führte auf den Vergleich mit dem Fluge eines Vogels; das
Bild bot ſich dar, wurde buchſtäblich genommen, und der
Borftellung noch näher gerücdt, indem Der allgemeine Begriff
des Vogels in den noch anſchaulicheren einer Taube fich zu⸗
hmmenzog. |
Dem Öriente it die Taube ein heiliger Vogel; die brü-
tende ein Sinnbild der belebenden Naturwärme; wie nahe lag
ed, wenn einmal Die Sache finnlic gefaßt wurde, den Geift
Gotted, der über den noch rohen Elementen fchwebte, fich
als Taube vor uftellen! Als daher fpäter die Erde durch Die
Sündflurh aufs Neue vom Waſſer bedeckt worden war, bringt
eine Taube die erften Zeichen des Lebens. In fpäteren jü- .
difchen Schriften wird daher wirklich der über den Waſſern
fhwebende Geift Gottes mit einer Taube verglichen, und Die
Zaube überhaupt als Sinnbild des heil, Geifteg dargeftellt; —
*
156 | \
ja es wird fogar ausdrücklich jener gleich einer Taube ſchwe⸗
bende Geift von dem Geifte des Meſſias verftanden, und
mit diefem auch die Noachiſche Taube in Verbindung "gebracht.
Die war Anlaß genug, gerade fo, wie ed gefchehen if,
die Sefchichte der Taufe auszumalen; nur muß man Die Sache
“nicht wieder verkehren durd; die Annahme, der Täufer habe
in einer wirklichen Bifion den Geift ald Taube gefehen; dieß
ift um fo unglaublicher, je mehr Gründe wir haben, den Täufer
nicht für vollfommen überzeugt von Jeſu Meffianität zu hab
ten, wie oben gezeigt worden.
Dbwohl wir alfo alle näheren Umſtände bei der Taufe
für mythifch halten müffen, fo ift doch Fein Grund vorhanden,
an der Wirklichfeit der Taufe felbft zu zweifeln; denn ed ft
nicht unwahrſcheinlich, daß Sefus, feiner meffianifchen Be
ftimmung ſich bewußt, der Taufe, ald Einweihung zu. feinem
Amte, ſich unterzogen habe.
Faſſen wir endlich noch den Zwed ind Auge, dem bag
Wunderbare bei der Taufe dienen follte, fo fan dieſer wohl
nur in der, bei der Weihe der Taufe bewirften, Ausrüftung
. mit höheren Kräften beftehen, wozu im alten Teftamente bad
Borbild gegeben war, indem auch die Könige durch die Sab
bung dem Geift Gottes erhalten (1 Sam. 10, 6; 16, 13).
Wirklich fagen die drei eriten Evangelien ausdrücklich, nach
der Taufe habe der Geiſt Jeſum in die Wüfte geführt; gleiche
fam die erſte Wirfung des nım in ihm mohnenden.
Eine ſolche Ausgießung des Geiftes will ſich aber nicht
wohl vertragen mit der Erzeugung Sefu durch den heiligen
Geiſt, wie fie bei Matthäus umd Lukas erzählt wird, noch
weniger mit der Sohanneifchen Anficht, daß der göttliche
Logos von Anfang an in ihm Fleiſch geworden (Joh. 1, 1,
14); denn wozu bedurfte ed dann noch einer befonderen Aus⸗
rüftung mit dem heil. Geifte? Mit der Annahme, durch jene
Erzeugung habe Sefus'nur die Kraft, gleichfam die Anlage,
erhalten, mit diefer Ausrüftung aber erit die Wirffamfeit, die
lebendige Thätigfeit des Geiftes in ihm, reicht man nicht
and, da ja die letztere aus der Anlage ſich von felbit entwickeln
157
mußte. Allerdings könnte man mit Lücke fagen, auch bie
gewaltigite Geiſteskraft bedarf der äußeren Anregung; allein
je größer jene üt, dejto geringer braucht Diefe zu fein, und
das größte Maaß des äußeren Anftoßes, wie wir cö hier
in dem fichtbaren SHerniederjteigen des heil. Geiftes haben,
ericheint bei dem größten Maaß der inneren Kraft immers
bin wenigftens als Weberfluß.
Es kann alfo in dem Kreife von Ehriften, in welchem
ſich unfere Erzählung von den Wundern bei der Taufe aus⸗
bildete, die Borftellung von der Erzeugung Jeſu durch den
heil. Geiſt nicht geberricht haben. Und wirklich dachten Dies
jnigen Chriften, welche nicht an diefe glaubten, fich bie
Mittheilung göttlicher Kräfte an Jeſum als erſt bei der Taufe
gefchehen; die Ebioniten nämlich, die deßhalb fo heftig vers
folgt wurden, und in ihrem Evangelium die Sache fogar fo
daritellten, daß der Geijt in Geitalt der Zaube „in ihn hinein
gegangen fei“. Auch die gemein jüdifche Vorftellung war
feine andere, ald daß ber Meffias erft bei der Salbung durch
den Borläufer Elias den heil. Geift erhalte.
Sehr wahrfcheinlic, bildete fich die Sage von der Aus⸗
gießung des heifigen Geiftes bei der Taufe ſchon damals aus,
als man anfing, Jeſum für den Meffias zu halten; denn am
ſchicklichſten ſchien es, die Mittheilung der göttlichen Kraft,
die er ale Meſſias haben mußte, an die Weihe zu diefem
Amte zu knüpfen. Später mochte, befonders als Männer mit
höheren Meffiasideen in die Gemeinde traten, diefe nicht mehr
genügen; fehon vor feiner Geburt mußte Jeſus von heil.
Beifte durchdrungen fein, und fo entftand die Miythe von feis
ner übernatürlichen Erzeugung. Vielleicht knüpft ſich auch daran
die Umbildung der Himmelsftimme, die, wie wir oben (f. ©. 154)
fahen, urfprünglich, nach Bf. 2, 7, fo gelautet haben mag:
„heute habe ich dich gezengt “; diefe Vorftellung mochte nun
unverträglich fcheinen mit der wirklichen Erzeugung durch
den heil. Geift, und fo gab ſich eine Umbildung der Worte
nach Sef. 42, 1 an die Hand, wie wir fie jet haben.
. 158 5
Es fchließen ſich alfo die ſo eben befprochenen Erzählungen
allerdings gegenfeitig aus; "Daß wir fie aber Dennoch neben
einander haben, geht aus dem Character der Sage und ber
diefelbe aufzeichnenden Schriftfteller hervor; von den einmal
gewonnenen Schäßen wollen Beide, Sage und Schriftfteller,
sicht gerne Etwas verlieren.
Viertes Kapitel.
Die Berfuchungsgefchichte.
(Matth. 4, 1-11; Marf. 1, 12, 13; Luk. 4, 1— 133 °
Betrachten wir zuerft Drt und Zeit der Verfuchung Jeſu,
fo kann es in Bezug auf den eriten auffallen, daß alle brei
Evangeliften erzählen, Sefus fei „in die“ Wüſte geführt
worden, da Doch nach der früheren Erzählung Sohannes, alfo
auch Jeſus bei der Taufe, ſchon in derfelben ſich befanden.
Indeß mochte die Erinnerung an dieſen Umſtand Teicht Durch
die fo eben erzählte Taufe im Sordan, der jedenfalls eine
Unterbrechung dev Wüfte bildet, verwiſcht worden fein, und
wir dürfen daher höchftens nur eine etwas größere Genauig⸗
keit Des Ausdruckes, etwa: „weiter in bie Müfte hinein“
vermiffen. Wichtiger ift eine Schwierigkeit in Bezug auf bie
Zeit der Verfuchung. Alle drei Synoptifer 1°) ftinnen darin
überein: daß Jeſus unmittelbar nad) der Taufe ſich in bie
Müfte, wo er verſucht ward, begab, dort vierzig Tage laug
blieb, und fodann nach Galiläa ging. Betrachtet man aber des
Johannes Bericht, fo fihmeigt dieſer nicht nur von der
Verſuchung, fondern erzählt auch fo, daß fie gänzlich aus⸗
gefchloffen erſcheint. Der Täufer nämlich autwortet, nad)
Soh. 1, 19—28 auf die Fragen des Synedriums; dann ers
wähnt er V. 29— 34 zum Erftenmale der Taufe Jeſu;
diefe müßte alfo fammt der Verfuchung nach 28 zu fliehen
»2) Unter dieſem Namen begreift man die drei erften Evangeliſten;
über die Bedeutung deöfelben vergleiche nıan die Erklärungen.
159
fommen; allein V. 29 fängt an: „am andern Tage“;
Taufe und Berfuchung aber zu trennen, geht nicht, weil dieß
den Synoptifern geradezu widerfpridht, und auch fo Fein Plaß
für- leßtere bleibt; denn noch zweimal, V. 35 und 43, heißt
ed: „am anderen Tage“, und endlich 3, 1 ift Sefus „am
dritten“ Tage auf der Hochzeit zu Cana in Galiläa, weßs
halb auch die Aushülfe die Worte „am andern Tage“ in
„bald nachher“ umzudrchen, nicht anwendbar it. Wollte man
endlich Taufe und vierzigtägigen Aufenthalt gerade vor B. 19,
d. h. an die Spite der hier beginnenden Geſchichts⸗Erzählung
des Evangeliums fegen, fo würden offenbar die Zeugniffe des
Taufers über das bei Sefu Taufe Gefchehene zu ſpät kom⸗
men, nämlich wenigſtens vierzig Tage nachher. Wenn wir alfo
vergebens in des Sohannes Darftcllung Trepp auf Trepp
ab wandern, um unſere Verſuchungs⸗-Geſchichte unterzubringen,
(0 bleibt nur die Annahme übrig, daß Sohannes für fie Feine
Stelle hat, mirhin fie nicht ſowohl verfchweigt, fondern viels
mehr gar nicht Fennt.
Es ſtimmen aber auch die drei Synoptifer nicht genau
mit einander überein: Markus erzählt nur allgemein, während
der vierzig Tage fei Jeſus verfucht worden; Matthäus giebt
drei beftimmte Verſuchungen an, die aber erft nach jenen
vierzig Tagen eintraten (4,2, 3); Lukas hat zuerft, ganz wie
Marfus, die allgemeine Angabe (4, 2) und erzählt dann, wie
Matthäus, noch die befonderen, nachher eingetretenen Ber:
ſuchungen. Hier hat Leßterer offenbar die fpätere, getrübte
Ueberlieferung; denn wie follte er dazu kommen, aus einer
vierzigtägigen Verſuchung gar Feine einzelne anzuführen, ſon⸗
dern nur die an's Ende diejer Zeit fallenden? Und dahin
gehören doch auch feine drei namentlich hervorgehobenen, da
fhon die erfte derfelben an den, erft aud langem Aufenthalt
in der Wüſte bervorgegangenen Hunger anfnüpft. Wahr⸗
fcheinfidy bildete fich die Erzählung fo aus, daß man zuerft
nur von Verſuchungen im Allgemeinen Etwas wußte Marf.),
fodann einzelne hervorhob, und diefe, weil die erfte durch
den langen Hunger Jeſu motivirt war, an’d Ende des Auf
enthaltes ftellte Matth.), endlich aber beide Darftellungen
„anf eine kaum erträglihe Weiſe* zufammenfaßte C&uf.).
160
Auch feheint die Anordnung der einzelnen Berfuchungen bei
Matthäus die urjprüngliche zu fein, da er mit ber ſtärkſten
fchließt, der Aufforderung zur Anbetung (4, 9 ꝛc.)
Pas nun weiterhin Marfus mit dem, ihm eigenthümlichen,
Veifage: „und er war unter den Thieren“, den er offenbar
mit dem „Berfuchtwerden“ in Verbindung feßt (1, 13), meint,
it ſchwer zu ſagen; wir müffen cs einftweilen bei dem Ur⸗
theife Schleiermacher's, der den Beifat einen „abens
thenerlichen“ nennt, bewenden laffen und ihn aus der Neigung
des Marfus erklären, der gern übertreibende Züge, von denen
wir, wie oft bei den Apokryphen, weder Zwed uoch Anlaß
einfehen können, beifitgt.
Endlich fchließen die beiden erſten Evangeliſten mit einer
Berficherung, in welcher liegt, daß der Teufel nun ganz von
Jeſu gewichen (Matth. 4, 115 Mark. 1, 13; Lukas laßt
ihn aber nur „bis auf eine fpätere Zeit“ ihn verlaffen, offeus
bar im SHinblide auf die Anfechtungen Jeſu während feines
Leidens; vrgl. Joh. 14, 30.
— — —
· —
Kaum hat irgend ein Theil der evangeliſchen Geſchichte fo
fehr alle möglichen Erflärungsverfuche erfahren, ald dieſer:
woran hanptfächlich der Teufel fchuld ift, deffen Teibhaftiges
Auftreten dazu einlud, die Sache mit allen Hebeln anzufaffen.
Die erfte, aus umbefangener Anficht der Worte hervor
gehende, Auffaffung ift die, daß Jeſus, nachdem der heil. Geiſt
über ihn gekommen, von dieſem in die Wüfte geführt worden,
um die Verfuchungen des Teufels zu beftehen, daß dieſer ihm
fihtbarlich erfchien, — dann, als Sefus alle feine Verfuche
vereitelt hatte, von ihm wich, und daß nun die Engel erw
fchienen, um ihm zu dienen. Wie aber fünnen wir dieß, ale
Geſchichte betrachtet, mit unferen Borftellungen und religiös
fen Ideen vereinigen ? |
Welchen Zwed fonnte zuvörderſt der Geift Gottes haben,
Sefum den Verfuchungen entgegen zu führen, wie Matth.4, 1
ausdrücklich ſagt? „ Einen ftellvertretenden, erlöfenden Werth
derjelben wird man doch wohl nicht behaupten wollen, fo wer
ig als daß Gott erſt nöthig hatte, Sejum auf die Probe
161
zu ftellen.* Fehlte es body feinem fpäteren Leben an ben
bitterften Prüfungen nicht, fo daß er ja ohnehin, wie es
Hebr. 4, 15 heißt, in allen Stücen verficht ward, wie wir. —
Auch Das vierzigtägige Falten erregt nicht geringen Anftoß:
denn. vierzig Tage ohne alle Nahrung zu leben, ift für jeden
Menſchen unmöglicy; biefe Zahl aber für eine runde zu nehs
men, geht nicht wohl an, ba immer noch, auch nach großem
Abzuge, eine zu runde, das heißt zu große Anzahl von Tagen,
übrig bleibt. Wenn Andere das „Nichteffen“ und „Faſten“
- tiche fo genau nehmen wollen, fondern damit den Genuß von
Wurzeln und Kräutern noch vereinbar, oder gar, nadı Hoff⸗
manne fcharffinniger Bemerkung, durch dasfelbe das Trinken
nicht ausgefchloffen erachten, fo ift dieß offenbar gegen bie
Vorftellung der Evangeliften. Schon ein Vergleich mit dem
eben fo langen Faften des Mofes (2 Mof. 34, 28), bes
Elias (1 Kön. 19, 8), nöthigt und, die Erzählung von ganz
buchftäblichen Kaften zu nehmen. Warum aber, fragen wir
weiter, legte der Geift eine ſolche Hebung Sefu auf, da er
wiffen konnte, Daß gerade der durch fie entitandene Hunger
dem Teufel, den auch der Sicherfte nicht herausfordern fol,
die erfte Handhabe zu feinen Verſuchungen gab?
Aber eben diefe perfönliche Erfcheinung des Teufels bildet
den größten Anftoß. Schon von dem Dafein degjelben müfs
fen wir das Nämliche behaupten, was oben von dem der
Engel gejagt worden (f. ©. 73); ja der Glauben an das⸗
felbe verträgt fi mit der Bildung des Jahrhunderts noch
weniger, als der an Engel, und wir müflen Schleiermas>
her beitreten, wenn er fagt, „die Berufung auf den Teufel
koͤnne fortan nur als Ausflucht der Unwiffenheit oder Traͤgheit
gelten“. Aber auch, felbft das Borhandenfein zugegeben, ein
perfönliches Auftreten des Teufels ift mit unfern Borftel-
fungen unvereinbar, und im alten wie im neuen Teflament
ohne Beifpiel. Shnehin hätte er, um nüht ein Dumnter
Teufel zu fein, in einer geborgten Geftalt erſcheinen müffen,
was Doch eine gar abenteuerliche Vorftellung wäre. — Aber
auch die Berf uch ungen ſelbſt find anſtößig genug. Entweder
I. 11
| 162
kannte er ſchon Jeſu höhere Natur, dann waren fie zwecklos;
oder er kannte fie nicht, Dann hatte er nicht nöthig, Jeſu aus⸗
nahmeweife perfünlich zu erfcheinen. Ferner aber hätte er feine
glücliche Auswahl getroffen; die erfte zwar, durch den Hun⸗
ger, war wohl motivirt; fonnte aber durch fie Jeſus nicht
mwanfend gemacht werden, wie war dieß von der Aufforderung,
den halsbrechenden Verfuch, ſich von der Tempelzinne herabs
zuftürzen, zu erwarten, oder von dem jeden nicht fchon abges
fallenen Ifraeliten empörenden Verlangen, ben leibhaftigen
Zeufel kniefällig zu verehren?
Nie aber kam Jeſus, da die Verfuchungen an verfchiebes
nen Orten ftatt fanden, fo fchnell mit dem Teufel von einem
zum andern? Ein einfaches Wandern Jeſu kann nicht ans
genommen werben; denn die Ausdrüde in unfern Berichten;
„der Teufel nahm ihn, führte, ftellte 2c. ihn“, deuten zu fehr
auf eine Einwirkung besjelben, und zwar, da er ihm (Lu. 4,
5) alle Reiche der Welt „in Einem Augenblicke“ zeigte, auf
eine zauberhafte Berfeßung von hier nad) dort, was doch
allzufehr gegen die Würde Jeſu verftößr, da ihn ber Teufel
offenbar in der Luft mit fidy herumgeführt haben müßte. Dieß
haben fchon alte Ausleger mit Recht anftößig gefunden. Wel⸗
ches Auffehen mußte e8 aber machen, Sefum plößlicdy auf dem
Tempeldach zu fehen, wenn audy fein Begleiter unfichtbar '
blieb! Wo ift der Berg, auf dem man „alle Reiche der
Welt“ überjchauen kann? Es müßte denn der Teufel eine
nach der damals noch gangbaren Borftellung, die Erde ſei
eine Fläche, gezeichnete Landkarte vorgelegt haben!
Daß endlich „Engel“ zu Sefu gefommen und ihm „gebient“
haben, kann nach dem Zufchnitte der Erzählung, und nadı
dem Borbilde von Elias (1 Kön. 19, 5), nur vom Darbrins-
gen erquidender Speifen genommen werden. Nun fönnen
aber ätherifche Weſen Feine irbifchen Speifen bringen, oder,
wenn ätherifche Speifen, fo konnten biefe dem irdifchen Leibe
Jeſu nicht zufagen.
Die Erwägung ber furz dargelegten Anftände in den Ver⸗
ſuchungsgeſchichten hat ſchon Kirchenväter veranlaßt, wenig⸗
163.
tens die Drtöveränderungen ber zweiten und dritten nur ale
innere Anſchauung zu nehmen, als ein vom Teufel bewirktes
Gefichte. Neuere Erflärer gingen weiter, und betrachteten
die ganze Verfuchung, — wobei denn das Falten entweder
ald Cunglaubliche) Xhatfache, oder als Cdem Wortfinne der
Erzählungen widerftreitende) Einbildung gefaßt wurde, — ale .
en inneres Vorftellen und Aufchauen. Namentlich hält
Paulus, fie für eine traumartige Bifion. In der durch bie
Taufe erzeugten begeifterten Stimmung foll Jeſus ſich in Die
Einfamfeit begeben, fich, das ſchwere Gewicht feines übers
nommenen Berufes fühlend, auch die Berfuchungen, denen er
ansgejeßt werben könne, lebhaft vorgeftellt haben; diefen_ ans
firengenden Betradytungen fei fein feinorganifirter Körper ers
legen und er fei in einen traumartigen Zuftand verfunfen, in
welchem fein Geift Die vorangegangenen Ideen zu einer wirk⸗
lichen Gejchichte umgebildet habe; wie ja die Cinbildungskraft
bei Ermattungen ded Körpers am thätigften ift.
Was nun zunähft die Worte unferer Berichte betrifft,
die man für diefe Erflärung in Anſpruch nimmt, fo ließen ſich
allenfalls einige derfelben durch Berufung auf ähnliche Aus⸗
drüde- in Offenb. Joh. 1, 105 17, 3 wohl auch auf innere
Anſchauungen bezichen; allein immerbin Tiegt bei diefen Aus⸗
drücken die Deutung auf wirklich außerlicdhe Vorgänge fo
nahe, daß fie ohne befonderen Zufas nur in fo durch und
durch vifionären Büchern, wie die angeführten find, von ins
neren Zuftänden genommen werden können; namentlich dürfte
in unferer Erzählung bei dem Uebergang zur wirklichen Ges
(hichte die Bemerkung nicht fehlen, die ſich aud) Matth. 1,
24; 14, 11 findet, daß namlich nun Jeſus wieder erwacht
ſei. Auch finden fich folche Träume und Ertafen im Leben
Jeſu fonft nirgends; nirgends legt er Werth auf fie. Wer
follte fie auch hier in ihm bewirft haben? am Ende doch wohl —
der Teufel.
Eben fo wenig wollte der Verſuch gelingen, die Gefchichte
der Verſuchung als außeren natürlidyen Vorgang zu betrady-
ten; dieſer Anficht gemäß war der Teufel ein gewöhnlicher
Menſch, und zwar ein liftiger Pharifaer, den die herrfchende
Partei von Serufalen abfandte, um zu verfuchen, ob Jeſus
“ 164 —
wirklich meſſianiſche Kräfte befüße, und, wenn es ſich fo faͤnde,
dazu zu gebrauchen wäre, im Intereſſe ber Prieiter eine Uns
ternehmung gegen die Römer zu leiten. Neben dieſem natür⸗
fichen Teufel find denn die „Engel“ nichts anderes, als eime
Karawane mit Lebensmitteln! — Es wäre überflüffig, zur
Widerlegung diefer Anficht Etwas hinzuzufügen.
Iſt nun unfere Gefchichte auf Feinerlei Weife denkbar, unbam
fcheitern alle Verfuche, fie begreiflich zu machen, drängt ſich⸗
und der Schluß auf, daß diefe nicht fo gefchehen fein fann,_
wie die Evangelien fie erzählen.
Am leichteften fommt man davon, wie es Neuere thun
anzunehmen, daß derfelben etwas Thatfächliches zu Grunde
liege, was Sefus feinen Jüngern erzählt habe, er fei nämlidy
in der Wüfte ober auch anderwärts heftigen Berfuchungen aus⸗
geſetzt geweſen; — daß er diefe bildlich als teuflifche bezeich-
net, und die Jünger dieſes letztere buchitäblich genommen
haben. Allein was müßten wir von Sefu VBerftande denken,
wenn er nur jemals ein foldyes Gelüſten, wie das in der
zweiten Verſuchung liegende, empfunden haben follte? oder
auch nur ein weniger abenteuerliches unter diefer Form dar
geftellt hätte (vgl. Matth. 4, 6)2 Ueberdieß würde feine Er-
zählung ein mit der Nedlichkeit des Lehrers unvereinbares Ges
mifch von Wahrheit und Dichtung enthalten haben; denn bes
Satans perſönliches Auftreten wäre ein Zug in dem Bilde,
von dem er wiflen konnte, daß er Mißverftand veranlaffen
mußte. |
Nach Andern fol Jeſus die Sejchichte als Parabel feinen
Jüngern erzählt haben, wobei denn diefen abermald Das Bers
dienft, die Sache mißverftanden zu haben, beigelegt wird.
Sefus wollte, fo fagt man, feine Jünger durch die Parabel
vor gewiſſen Fehlern warnen, in die fie bei ihrem Berufe
leicht verfallen fonnten. Allein dagegen ift vorzüglich das
einzuwenden, daß die Erzählung gar nicht als Parabel zu er-
fennen if, und dennoch Mißverftand veranlaffen mußte;
denn in Parabeln müſſen die Perjonen fogleih als bloß
fingirte fenntlic fein, entweder nur allgemein bezeichnet,
165
wie „der Sämann, der König ıc.“, oder wenn fie die Namen
swirklicher Perfonen tragen, fo muß durch irgend einen Zug
Das von ihnen Erzählte ald Dichtung deutlic, hingeftellt wers
Den, wie z. B. wenn dem Lazarus der „reiche Mann“ in der
Parabel gegenüber fieht. So wenig alſo Jeſus etwa den
Petrus oder Sohannes zum Träger einer Parabel machen
konnte, eben fo wenig ſich ſelbſt; unfere Parabel hat aber
nur dann rechten Sinn, wenn der Meffias der Berfuchte
ift, weßhalb auch nicht einmal eine fpätere Umbildung berfelben
anzunehmen ift.
Es haben daher fchen Andere angefangen, die Erzaͤhlung
als eine fpätere, über Jeſus gemachte Dichtung zu betrach⸗
ten, durch welche man die höhere Anficht vom Meſſias, der
gemeinen irdifchen Hoffnung gegenüber, habe begründen wollen.
St hiermit fchon der Uebergang zur mythifchen Auslegung
gegeben, jo wollen wir diefe Nichtung nun weiter verfolgen,
und nachforfchen, in welchen altzteftamentlichen Vorbildern
die Mythe ihre Quelle haben künute.
Die Juden faßtey den aus der perfifchen Religion herübers
genommenen Satan fehr bald als den befonderen Gegner
ihrer Nation, und ald Herrfcher über die heidnifchen Völker
af. Da nun in der Hand des Meffias die höchflen jüdi—⸗
ſchen Sntereffen lagen, fo mußte dieſer insbeſondere feinen
Berfolgungen ausgefetst fein. So wie Jeſus alfo erfchienen
war, des Satans Werfe zu zerftören (1. Joh. 3, 8), fo it
diefer bemüht, Unfraut unter feinen Samen zu freuen (Matth.
13, 39), fucht über ihn Herr zu werden (Joh. 14, 30) und
eben fo feine Gläubigen abzuziehen (Eph. 6, 115 1 Petr. 5, 89.
Da aber die Angriffe des Teufels auf die Frommen nichte
Anderes, ald Verſuche find, fie in feine Gewalt zu befom-
men, und zur Sünde zu verleiten, fo wurde er natürlid) ale
der „VBerfucher“ aufgefaßt: er verfucht die Menfchen mit-
telbar, durch Leiden und Plagen, wie fchon im Eingange
des Buche Hiob, und unmittelbar durch Einflüfterungen
fündlicher Gedanken, wie z. ®. der Rathſchlag, den die Schlange
den erften Menfchen gab CL Mof. 3, 1 ꝛc.), in Weish. Sal.
166
2, 24; Soh. 8, 445 Dffenb. 12, 9 aufgefaßt erſcheint. — As
Verſucher zum Böfen wird in den Älteren Büchern bes alten
Teftamentes Sehova felbft dargeftellt, theild um feine Lieblinge
“auf die Probe zu ftellen (1 Mof. 22, 15 2 Mof. 16, 4),
theils um fündhafte Menfchen zu verderben (2 Sam. 24, 1);
fpäter ward diefes Verfuchen, als Gottes unwürdig, dem Sa⸗
tan zugefchrieben; daher ganz dieſelbe Berfuchung, welche in
der zuleßt angeführten Stelle noch Werf Gottes ift, in einem
fpäteren Buche geradezu auf Rechnung des Teufels gefebt
wird (1 Chron. 22, 13. Ja felbft die gutgemeinten Verſuchun⸗
gen Abrahams und des jüdischen Bolfes (ſ. die oben angeführs
ten Stellen) find nad) fpäterer jüdifcher Anficht Werke des
perfönlich erfcheinenden Satans. |
Wenn aber fchon die Frommen des alten Bundes, ja das
Bolt felbft, den Berfuchungen des Böfen ausgeſetzt waren,
wie viel mehr mußte dieß bei dem Meſſias, „dem Haupte
aller Gerechten und Borfämpfer des Volkes Gottes *, der
Fall fein! Diefe Borftellung findet fich fchon bei Rabbinen,
deren Einer z. B. den Satan zu Gott fagen läßt: „Herr,
erlaube mir, den Meffias zu verfuchen“. Ag Ort folcher °
Berfuchungen mußte ſich aus mehrfachen Gründen die Wüfte
darbieten; hier ift der Wohnfiß der höllifchen Mächte 3 Moſ.
16, 8, 10; Tob. 8, 35 Matth. 12, 43), — bier ward auch
das Bolf Ifrael geprüft (5 Moſ. 8, BD, — in einfame Gegens
den zieht Jeſus zu ftiller Betrachtung fich gerne zurück (Matth.
14, 135 Mark. 1, 355 uf. 6, 125 Joh. 6, 15), wozu die
Aufforderung nad) feiner Taufe Doppelt groß war. Es fünnte
baher ein längerer, und nicht gerade vierzigtägiger, Aufents
halt desfelben. in der Wüfte nad). der Taufe allerdings bie
gefchichtliche Grundlage unferer Mythe bilden, wiewohl and)
ohne diefe Annahme die Verlegung der Verſuchung an diefen
Ort und dieſe Zeit fehr denkbar ift.
Das Faften Jefu, und zwar ein vierzigtägiges, lag vor⸗
gebildet in den Erzählungen von Mofes (2 Mof. 34, 38),
und Elias (1 Kön. 19, 8), die beide, und zwar jener auf
bem Berge Sinai, ebenfalls vierzig Tage fafteten. Ueberdieß
167
ſind ohne Zweifel Die vierzig Tage der Berfuchung in verfleir
nertem Maßſtabe nichts Anderes, als die vierzig Prüfungs»
jahre bes ifraelitiichen Bolfes in der Wüfte, was ſchon darin
ſich auffallend bewährt, daß alle vom Satan angeführten
Schriftſtellen aus der in 5 Mof. 6 und, 8 enthaltenen kurzen
Beichreibung des Zuges entlehnt find; auch ergibt fih aus
8 Kor. 10, 6, 11, daß man überhaupt jene über das ganze
Volt verhängten harten Prüfungen ald Vorbilder derjenigen
anjah, die über die Anhänger des Meſſias ergehen folkten.
Mußten dieſe alfo nicht ihn felbft in verflärktem Maße trefs
fen, um von ihm, im Gegenfaß zu dem anderen „Sohn Got⸗
tes“, dem iſraelitiſchen Volke, fiegreich beſtanden au wers
ben?
Diefem Vorbilde entſpricht nun zunächft bie erſte Ver⸗
ſuchung (ogl. Matth. 4, HT Hunger war ed, der das Volk
in der Würfe am häufigften zum Murren gegen Sehova vers
leitet hatte, obgleich es dabei hatte Ternen müſſen, was auch
Seins dem Teufel erwidert (B. 4), „daß man nicht vom Brode
allein lebt, fondern.2c.* (5 Mof. 8, 3). Der Ausdrud:
„Steine in Brod verwandeln“, ald Bezeichnung eigenmäd)-
tiger Hilfe, lag nahe gemig, da es ſtehende Formel war,
einen mangelnden Gegenftand aus „Steinen“ hervorgehen
zu laffen (Matth. 3, 9, und da Stein und Brod häufig als
Gegenfäte geftellt werden; ohnehin geht ja Die Verfuchung in
der fteinigen Wüfte vor ſich.
Eine Verſuchung jedoch genügte nicht, wie auch Abrahaın
deren zehm hatte beftehen müffen; fo wie aber, nach den Rabs
binen, mit diefen der Zeufel gleichſam drei Hauptgänge madıt,
fo bot fich auch für die Verfuchungen des Meſſias Drei als
heilige Zahl dar: drei Mal verfanf Sefus auf Gethjemane in
Seelenfampf, dreimal verläugnete ihn Petrus (Matth. 26),
dreimal ftellte er Petri Liebe zu ihm in Frage (Joh. 21, 15 ıc.)
u. |. w.
Auch die zweite Verſuchung Matth. 4, 5, 6) ift dem Ber
nehmen des ifraelitifchen Volkes nadıgebilder, das 5 Moſ. 6,
16 ausdrüdlich ermahnt werden mußte, feinen Gott nicht zu
verjuchen, wozu aud) Paulus, ebenfalls im Hinblick auf das
Volk m der Wüſte, die Chrijten auffordert, 1 Kor. 10, 9;
168
anch zu dieſer Sünde mußte der Mefflas angereist werben,
und zwar zu einer vecht frevelhaften der Art, Gott nämlich
“zu verfuchen, ob er auch bei dem tollfühnften Beginnen wun⸗
berbaren Beiltand Teifte. Ein folches bot fich dar in der vom
Satan angeführten Stelle Pf. 91, 11, worin verheißen fchien,
Daß der unter Sehovas Schuhe Stehende fich ungefährbet von
einer fteilen Höhe herabftürzen könne. Daß als foldhe hier
die Zinne des Tempels gefegt ift, mag feinen Grund darin
haben, daß der Meffias mit dem Tempel in befonderer, ges
heimnißvoller Verbindung ſtand.
Die britte Verfuchung ‚ die zur Anbetung des Teufels
(Matth. 4, 8, M, ging gleichfalls aus jenen mofatfchen Er⸗
sählungen, nämlich aus dem öfteren Rüdfalle der Sfraeliten
in Abgötterei, hervor. Auch dieſe wurden, nach der Lehre
ber Rabbinen, vom Teufel hierzu verfucht, und nach fpätes
ren jüdifhen Vorftelungen warb überhaupt jede Abgötterei
als Anbetung des Teufels bezeichnet (Baruch 4, 75 1 Kor.
10, 20). Der Meffias aber fonnte zu einer folchen ganz
verfucht werden, da er, ald König der Inden, zugleich
die heidnifchen Völfer, die ja, wie wir oben fahen, unter
ber Gewalt des Teufels ftanden, beflegen, mithin diefen felbft
überwältigen mußte. Konnte es alfo fir ihn nicht einladend
fein, fi) den mühevollen Kampf, durd, den er dieß erreichen
follte, zu erfparen, indem er den Teufel durch Anbetung des⸗
jelben zn freiwilliger Unterwerfung vermochte? |
Daß nun, nad) dem langen Faften und den ſchweren Ber
fuchungen, Engel ihn erquicten (Matth. 4, 11), lag in. dem
Vorbilde des Elia, dem ebenfalls Engel Speife reichen (1 Kön.
19, 5, 69; auch wird das Manna in der Wüfte „Brod der
Engel“ genannt Pf. 78, 25).
Fuͤnftes Kapitel,
Die Lokalität des öffentlichen Lebens Jeſu.
Matth. 4, 12 — 17, 23; 9, 1, 13, 54— 58; Mark. 1, 14,
15; 6, 1—6; Luk. 4, 14— 30; Joh. an vielen einzelnen
Stellen '°.)
Jeſus, in Nazaret auferzogen, wählt von der Zeit feines
öffentlichen Auftretens an, den Synoptifern zufolge, fein
Heimathland Galiläa zum vorzugsweifen Schauplatze feiner
Thaͤtigkeit. In Kapernaum, am galiläifchen Sce, läßt er
fihh nieder (Matth. 4, 12—17), von da, wie von einem Mit
telyunfte aus, macht er häufige Reifen durch ganz Galiläa,
um zu lehren (Matth. 4, 23 und 9, 35); befucht auch die
Gegend von Bethfaida, fo wie die nördlicher, gegen ben
Libanon und Phönikien hin, gelegenen jüdifchen Länder; nies
mals aber die füdlichen, Samaria und Judäa, bis zu feiner
Reife nach Serufalem (Matt. 20, 17) wo feiner Leiden und
Tod am Kreuze warteten. Demnad hat er während feiner
eigentlichen Wirkſamkeit fich faft immer in dem Gebiete des
Herodes Antipas (Galiläa), felten in dem des Philippus
(Zradyenitis), niemals aber in dem unter den Römern
ftehenden (Judaa) aufgehalten.
Hiermit fimmt aber nun Sohannes durchaus nicht übers
en. Zwar laßt ihn auch diefer nad) feiner Taufe nadı Kas
pernaum reifen, über Kana, wo er eine Hochzeit mitfeiert
(oh. 2); allein alsbald begibt er fich von da zu dem Pafchas
fefte nach Serufalem, und fodann in die Landfchaft Judäa,
von wo er nach längerer Wirkfamfeit über Samarien nad)
Galiläa zurückkehrt (2, 135 3, 22; 4, 1, 43). — Bald darauf
folgt eine neue Feitreife nach Jeruſalem, wo er viele Heiluns
gen bewirkt, längere Reden hält ıc. (5); hierauf zog er eine
Zeitlang in Galiläa umher (6, 7); dann geht er abermals zu
23 Es verfteht fi wohl von ſelbſt, daß wir im ben Lieberfchriften
nur Diejenigen evangelifchen Abſchnitte angeben können, welche
in dem vorliegenden Kapitel in ihrem ganzen Zuſammenhange
und nicht nur im Vorübergehen behandelt werben.
170
einen Fefte nadı Serufalem, wo er dießmal befonbers viele
Reden hält; auch knüpft fich hieran feine Theilnahme am Fefte
der Tempelweihe (Joh. 10, 22). Endlich zog er ſich in bie
Gegend von Peräa (10, 40) zurüd, und hielt fich fo Lange
bier auf, bis ihn des Lazarus Tod nadı Bethanien bei Serus
falem rief (11), von wo er, nach einem kurzen Aufenthalte
in der Nähe der judäifchen Wüfte (11, 54), zum lebten Pas
fchafefte nach Serufalem fich begab (12 2c.). — Demnad; hatte
er vor feiner leiten Feitreife fchon an vier Feften in Serufalem
Antheil genommen, und hatte fchon längere Zeit und verfdhies
dene Male in Judäa gewirkt, im Borübergehen auch in Sas
marien. |
Diefen großen Widerfpruc, zwifchen Sohannes und den
Spnoptifern hat man lange Zeit überfehen, neuerdings aber
fogar läugnen wollen. Man beruft fidy darauf, daß es dem
Matthäus mehr um Sachordnung, ald firenge Angabe der
Dertlichkeit zu thun fei, und daß er daher gar Manches von
Jeſu erzähle, von dem er wohl gewußt, aber nicht ausdrück⸗
lich gefagt habe, es fer in Judäa gefchehen. Allein wenn
er fo forgfältig den Anfang und das Ende der Galiläifchen
Wirkfamfeit angiebt (4 und 19), wenn er es jedes Mal ges
nau fagt, jo oft Sefus aus Galilda und auf furze Zeit und
nur in nahegelegene Drte fich begibt; — wenn er alſo in den
= allgemeinen Drtsbeftimmungen allerdings genau ift; fo kann
er fo bedeutende Reifen und längere Entfernungen nicht
ftillfchweigend übergangen haben, falls er nämlich etwas das
von wußte; mag er auch einzelne Ortäveränderungen ins
nerhalb der von ihm angegebenen Provinzen nicht ängftlich
genau berichten.
Man bat daher verfuchen müffen, den Unterfchied zwifchen
ben bargelegten zwei Berichten anerfennend, ihn aus der vers
fchiedenen Abficht der Schreibenden zu erflären. Einige fagen,
Matthäus, ein Galiläer, habe ſich nur für das in Galiläa
Gefchehene intereffirt, und daher nur dieß erzählt; altein mel:
cher Vorwurf engherziger provinzieller Beſchraͤnktheit gegen
einen Biographen, der überdieß den Helden feiner Erzählung
auch außerhalb feiner eigenen Heimath hatte wirken fehen!
Andere haben aus der Annahme, daß Matthäus in Serufalem
171
geichrieben habe, ben Plan besfelben, abgeleitet, den dafigen
Ehriften nur das zu erzählen, was in dem, ihren eigenen Bes
ebachtungen entzogenen, fernen Galilän gefchehen fei; allein
wäre auch jene Annahme erwiefen, was fie nicht ift, fo trifft
„der Gefchichtfchreiber and, hier wieder der gleiche Vorwurf
der Befchränttheit, indem er doch wenigitens mit ein paar
Worten die Ereigniffe in Subäa anerkennen mußte, wenn
er fie auch nicht erzählen wollte! Beide fünftliche Verſuche
vernichten fich aber gegenjeitig: denn der eine leitet das
Schweigen aus der Entfernung, der andere aus der Nähe
des jubäifchen Schauplates her! Ueberdieß fträuben Markus
md Lukas, die mit Matthäus im Wefentlichen übereinftimmen,
fih gegen beide Berfuche, weil bei ihnen die diefen Verſuchen
a Grunde liegenden Borausfegungen durchaus nicht anwend⸗
bar find.
Richt beſſer kommen diejenigen Theologen zurecht, welche
die Verſchiedenheit ber Berichte aus der Berfchiedenheit des
Geiftes und des Zweckes der beiderfeitigen Evangelien herz
leiten wollen. Da nämlich, fo fagen fie, die Synoptifer, als
die früheren, für Chriften fihrieben, die noch auf einer niedes
tm Stufe des chriütlichen Bewußtſeins jtanden, fo mußten fie
die für Diefelben noch) nicht verftändlichen jerufalemifchen Reden
eſu noch weglaffen, und erit Sohannes konnte fie den höher
gebildeten Chriſten Der Zeit, für welche er ſchrieb, wmittheilen.
Alein dieſe Anficht zerfällt, auch abgefehen von der ungefchichts
lihen Borausfeßung über die Entftehung der Evangelien,
worauf fie beruht, in fich felbft. Wie follte Sefus fo Fünftlich
gefpalten, und das Populäre in Galiläa, feine tieferen Ideen
in Sudäa vorgetragen haben? Wurde er hier nicht eben fo
arg mißverftanden, ald dort? Wenn er, den Synoptifern
zufolge, bei feinem fpätern Aufenthalte in Serufalem ganz po⸗
puläre Vorträge hielt, follte er dieß nicht bei dem früheren
auch gethban haben? Ueberdieß waren von dieſem Nufent-
halte ja auch Thaten zu berichten, und zwar fehr auffallende;
die Heilung des Blindgebornen, die Auferwedung des Yas
zarus ıc.
E3 mülfen alfo entweder die Synoptifer die wichtigen
Neden und Borfälle, die Sohannes berichtet, richt gemußt
haben, ober biefer bat wenigſtens an einen fallen Dri
fo bedeutende Creigniffe verlegt. Allein der Widerſpruch zwi⸗
ſchen Beiden ftellt ſich noch greller heraus. Aus Johannes
geht augenfcheinlich hervor, daß Jeſus zum Hauptfchauplag
‚feiner Thätigkeit ſich Ju däa erfehen hatte; aus den Synops
tifeern, daß dieß offenbar Galilaäg war, mit Ausnahme der
legten Reife nach Serufalem, worin Beide übereinftimmen.
Denn bei Johannes verläßt er Sudäa nur, wenn ed Die
Borficht gebietet; bei den Synoptifern ebenfo Galiläa nur,
wenn er nöthigende Gründe dafür hat. Man vergleiche aus
Sohannes: 4, 120.5 6, 1ꝛc., mit Beziehung auf 5,185 7,1;
Caudy feine Züge nach Peräa, 10, 40, und nach Ephraim,
11, 54, fcheinen durd, Verfolgungen in Judäa veranlaßt zu
fein;) — aus Matthäus: 8, 18; 14, 13; 15, 21, wo jedes
mal als Gründe feiner Entfernung Nachftellungen angeges
ben find.
Demmad; nehmen Johannes und die Synoptifer zwei ganz
verſchiedene Lofalitäten ald den Mittelpunkt der Wirkſam⸗
feit Sefu an, und hierin liegt der eigentliche Knoten, den es
gilt zu entwirren. Zwar hat man fich zu Diefem Zwede in
neuerer Zeit immer für Sohannes entfchieden, und ſelbſt
von dieſem Punfte aus die Aechtheit des Matthäus angegrif-
fen, wie 3. B. de Wette, Credner, Schnedenburger
thun. Allein die Sache bedarf einer nähern Betrachtung;
äußere Gründe koönnen hier nicht entfcheiden, da, wie in
ber Einleitung fehon gezeigt worden, die Anſprüche der Evan⸗
gelien auf Anerkennung ihrer Nechtheit ſich ziemlich gleich
ftehen. Wir müffen die Entfcheidung aus inneren Gründen
verſuchen; nämlich nachjehen, welche Darftellung mehr innere
Wahrfcheinlichfeit hat.
Hier ftellen fich zunächft zwei Fragen einander gegenüber:
„Iſt es wahrfcheinlicher, daß in der Zeit und der Gegend,
wo die fynoptifchen Evangelien entftanden, jede Kunde von
dem öfteren Aufenthalte in Sudaa fi) verloren habe?“ —
”), Die Aechtheit eines Evangeliums beficht darin, Daß es wirt:
lich von Dem Evangeliften verfaßt ift, deffen Namen es trägt.
173
oder: „mahrfcheinlicher, daß, obgleich ein folcher nicht ſtatt⸗
gefunden, doch in dem Kreife, aus dem das Johannesevange⸗
fm hervorging, Die Sage davon entſtanden fei?“
Die erftere diefer Fragen hat man aus dem Umſtande
beiahend beantworten wollen, Daß die Ueberlieferung, welche
- de Synoptifer enthalten, ſich vorzugsweile in Galiläd bils
dete: alfo, fo fchloß man, ift hier alles außer Galiläa Bors
gefallene, mit Ausnahme wichtiger Creigniffe (Geburt, Taufe,
legte Reife) unbekannt geblieben, oder wieder in Vergeffenheit
gerathen; in lesterm Falle verlegte man das anderwärts
Gefchehene, was der Erinnerung noch geblieben war, aud)
nach Galilaa. — Hingegen wenden wir ein: unbefannt
kann ein früheres Berweilen Sefu in Judäa auch in Galifän.
wicht geblieben fein, denn eben Johannes erzählt, daß er auf
der eriten Reife zum Pafcha von vielen Galiläern begleitet
gewefen fei, und bei vielen derfelden durch feine Thaten Glau⸗
ben gefunden (Joh. 4, 45); überdieß waren ja auch feine
Sünger meift Galiläer, und bei feinen Feftreifen um ihn (4,
22; 9, 23. Sollten aber ferner foldye Erinnerungen von
Sen Wirken in Judäa fich wieder verloren haben? Gewiß
nicht; denn was er dort that und wirkte, Das Auffehen, das
er in der mit Fremden angefüllten Hauptftadt erregte, trug
fo fehr zu feiner Verherrlichung bei, daß die Sage es nicht
verlieren konnte, fondern vielmehr, wäre es auch nicht dort
geichehen, fogar hinzu zu Dichten ſich veranlaßt fühlen konnte,
da ber Trieb, zu verherrlichen, einer ihrer ſtaͤrkſten iſt.
Wir müſſen alfo umgekehrt behaupten: die Sage mußte weit
mehr veranlaßt fein, das was bei Einem Aufenthalte in
Serufalem fidy ereignete, auf mehrere zu vertheilen, als die
Ereigniffe bei mehreren auf Einen zufammenzuziehen. Hieraus
ergibt ſich Fein günftiges Borurtheil für die Darjtellung des
vierten Evangeliums.
Dieß wird jedoch verfchwinden, wenn wir tiefer blicken
nach den Berhältniffen und Abfichten Sefu, und fragen:
Iſt es woahrfcheinlicher, daß er in feinem öffentlichen Leben
mehrmals oder nur einmal in Sudaa und Serufalem ges
wefen fei ?
173 |
Leicht ift ber Anftand zu heben, der darin liegen -foll, daß
wenn wir nur Eine Feftreife annehmen, ein mwefentlicyes Mits
tel zur Bildung Jeſu, wiederholter Aufenthalt in Serus
ſaalem wegfiele. Allein würde auch mit einem ſolchen bie
Größe Jeſu begreiflicher gemacht? Iſt er nicht ohne Zwei⸗
fel öfters in feinem früheren Leben in Serufalem gervefen
cf oben)? und konnte ihm nicht aud; Galiläa genug Stoff
Darbieten? — Ohne Gewicht ift ferner ein anderer Einwand
gegen die Synoptifer, es ſei undenkbar, daß Jeſus fich auf
ben kleinen Schauplatz, das entlegene Galiläa, folle befcränft,
und Serufalem, wo fo viel mehr Menfcyen lebten und gebils
detere, nur einmal betreten habe. Umgekehrt könnte man
ſagen: er mußte zuerft unter den fchlichten, fräftigen Gali⸗
läern, die vom Pharifierthum unabhängiger waren, Anhang
zu. gewinnen fuchen, ehe er e8 wagen konnte, in dem gefähr«
lichen Serujalem aufzutreten. — Mehr Bedenken fihon erre⸗
gen die Synoptifer durch den Zug in ihrer Darftellung, daß
Sefus mehrere Sahre lang kein hohes Feft in Serufalem
befichte, womit fie ihn das mofaifche Gebot ganz (2 Mof.
23, 14, ꝛc.) ganz aus den Augen ſetzen laffen, da er doch
fonft fo viel Ehrfurcht dafür ausfpricht (Matth. 5, 17, x)
und dieſe Nichtachtung den Juden⸗Chriſten, für welche nament⸗
lich Matthäus gejchrieben ift, fehr anftößig fein mußte. Doc
fönnte man aud) dieß Bedenken noch befeitigen, wenn man
antwortete, gerade weil jenen Juden⸗Chriſten, die am bes
ften willen mußten, was einen frommen Iſraeliten zufam,
bie Sache fo erzählt werden fonnte, wie 5. B. Matthäus
es thut, ohne Furcht, Aergerniß zu geben; — gerade darum
follen wir auch bier feinen Anftoß finden wollen.
Am fchwierigften aber ift der Umftand, daß man, ohne eis
nen mehrmaligen Aufenthalt Sefu in Serufalem, mit Sohan-
nes, anzunehmen, nicht begreifen kann, wie er in den wenigen
Tagen des Feftes fich fo fehr mit der herrfchenden Parthei
der Hauptitadt habe verfeinden fünnen, daß fie ihn gefangen
nahmen und hinrichteten. Ließe fich hierauf auch Manches .
erwidern, jo machen e8 ja die Spnoptifer felbft unmöglich,
- fie gegen diefen Einwand. zu fehüten, da fie felbit das Un⸗
richtige ihrer Darftellung verrathen. Denn die Worte, welche
«
175
bei Lukas und Matthäus Iefus über Jernſalem ausfpricht:
„Serufalem, Sernfalen, wie oft wollte ich Deine Kinder um
mich verfammeln — aber Ihr habt nicht gewollt!“, haben
durchaus feinen Sinn bei Luk. 13, 34, wo dieſem Evans
geliften zufolge, Sefus, ald Lehrer, Serufalem noch nie bes
treten hatte; — auch nicht einmal bei Mattb. 23, 37, wenn,
wie aus feiner Stellung diefer Worte hervorgeht, Jeſus fie
ansfprach, nachdem er erſt einige Tage in Serufalenm ges
wirft hatte. Jeſus konnte gar nicht fo reden, wenn dieß
nicht länger und .öfter gefchehen wäre. Hierfür fpricht auch
fein eigenes Berhältniß zu dem Rathsherrn Joſeph von Aris
mathia (Matth. 27, 57) und zu der Familie in Bethanien
(Lu. 10, 38 ꝛc.), denn aud) bie Annahme, Jeſus fei bei feis
nem einmaligen Feſtbeſuche längere Zeit in Serufalem ges
wefen, ift unzuläßig, da er fid wohl ſchwerlich allein, ohne
die Maffe feiner zum Feſte reifenden Galiläifchen Anhänger,
nach der feindlichen Hauptitadt begeben haben wird.
Müflen wir alfo der Daritellung des Sohannes, daß Je⸗
fus mehrmals in Serufalem geweſen, den Vorzug geben, fo
fragt fidy nur: warum fchmweigen die Synoptiker davon?
Die Sache laßt fich fo denken: Die erfte Leberlieferung bes
zeichnete Die Iteden und Thaten nur allgemein ald: „in Gas
liläa — auf der Reife — in Terufalem“ gefchehen; fpäter,
als die Evangelien niedergefchrieben wurden, ließ ſich nicht
mehr unterfcheiden, auf weldyer Reife, bei weldyem Aufs
enthalte ıc. jedes Einzelne fich zutrug, und fo begnügten füch
die Synoptifer damit, Alle in die Nubrifen: „Aufenthalt in
Galiläa“ — „Reife“ — „Aufenthalt in Serufalem“ nach
Anweifung der Ueberlieferung einzutragen.
Als eigentlicher Wohnort während feines öffentlichen Lebens
in Galiläa wird von den Synoptifern Kapernaum anges
geben; fie nennen fie „feine Stadt“ (Matth. 9, 1); und
hier war dag „Haus“, wo er fich aufzuhalten pflegte (Matth.
13, 1, 36), vielleicht das des Petrus; denn ed wird fehr oft
als das genannt, wohin ſich Jeſus begab (Mark. 1, 29,
Matth. 8, 14; 17, 25; Luk, 4, 38). Sohannes fcheint mehr
176
Kana als den gewöhnlichen "Aufenthaltsort Jeſu anzunehmen,
fo oft er in Galilän fic befand (vgl. Joh. 2,1, 125 4, 46 c.);
auch find ihm zufolge feine vorzüglichiten Sünger nicht, wie
die Synoptifer fagen, aus Kapernaum, fondern aus Kana
oder Bethfaide. j
Man fieht fich vergebens nach einem hinreichenden Grunde
um, der Sefum bewog, ftatt wie man erwarten follte, in Naza⸗
ret, feinen Wohnfis in Kapernaum zu nehmen; denn Mars
tus gibt darüber gar Nichts (1, 21), und Matthäus nur
die Erfüllung einer altsteftamentlicdien Stelle un (4, 13 ꝛe.),
was natürlich Nichts beweifen kann. Lukas dagegen ſcheint
diefen Wohnungsmwechfel wohl zu motiviren: 4, 16—30 erzählt
er fehr ausführlich, wie er zuerft in Nazaret in der Synobe
“aufgetreten fei, dort durch feinen Vortrag Bewunderung,
endlich aber durd, die Weigerung, Wunder zu thun, folche
Erbitterung erregt habe, daß er der Verfolgung feiner Landes
leute nur durch fchnelle Flucht entging. Nun freilich fonnte
er bier nicht gut mehr wohnen! Allein, genauer betrachtet,
gibt and) Lukas ung feinen befriedigenden Auffchluß.
Auch die beiden andern Synoptifer nämlich erzählen einen
Beſuch Jeſu in Nazaretz verlegen ihn aber in eine weit
fpätere Zeit, wo derfelbe fchon lange in Kapernaum gewirkt
hatte (Matth. 13, 54 20.5 Mark. 6, 1 20). Nun fehen aber
beide Erzählungen einander fo ähnlich, — beide Male derfelbe
Eindrud, den der „Zimmermanns- Sohn“ macht; — beide
Diale keine Wunder, und derfelbe Grund dafür, Daß der
Prophet in feinem Baterlande Nichts gelte; — daß Beiden
offenbar derſelbe Vorfall zu Grunde liegt. Dieß muß um
fo mehr angenommen werden, da in beiden Erzählungen ber
Beſuch auf eine Weife dargeftellt ift, daß ein früherer nicht
ftattgefunden haben fannz denn bei Matthäus und Markus
vermindern ſich die Nazaretaner, wie bei Lukas, über die
unerwartete Weisheit Jeſu; alfo kann der von Lukas ers
- zählte Beſuch nicht ftattgefunden haben; — bei Lukas eben-
falls diefe VBerwunderung und der Ausdrud: „heute ift dieſe
Schrift (vom Meſſias; f. unten) vor Eueren Ohren erfüllt
worden“; alfo kann das von Matthäus und Marfns berichtete
Auftreten in Nazaret Fein früheres gewefen fein.
177
Wenn wir nun in beiden, allerdings der Form nach nicht
ganz gleichmäßigen Erzählungen benfelben Vorfall vor und
haben, fo, ift nur Die Frage, weldye Stellung bes Vorfalles,
der Zeit nach, verdient den Vorzug? Hier müffen wir ung,
obgleich die Erzählung des Lufas, wie oben gefagt, zu erflären
fheint, warum Sefus feinen Aufenthalt nicht in Nazaret nahm,
body für die der beiden andern entfcheiden. Denn die Worte
der Razaretaner bei Lukas: „mas du, wie wir gehört, in Kas
yernaum gethan, thue auch hier in deiner Heimath, bewei⸗
fen, baß der Befuch in Nazaret gar nicht fo frühe ftatt ges
funden haben. kann, wie Lukas ihn ſetzt; er erklärt uns
alfo feineswegs, warum, doc, offenbar früher, Jeſus grabe
in Kapernaum Wunder thuend und wirfend auftrat. Es bleibt
ans nur die Vermuthung übrig, daß Sefus diefen Drt, ale
Heimathort mehrerer feiner beiten Sünger, unb ald den beleb⸗
teren, vorgezogen habe.
Was die eigentlihe Schilderung betrifft, fo ift ſchwer
m fagen, welche Die getreuere it. Zwar it Lukas in jeber
Beziehung ausführlicher: zunächft, indem er die altsteftaments
liche Stelle, über welche Sefus redet, und die Auslegung
derſelben (4, 16— 22): genau angibt; allein da diefe Stelle,
von der man nicht recht weiß, wie Jeſus gerade auf fie Fam,
sine meffianifche iſt, welche Sefus gewiß öfters auf ſich an⸗
zuwenden pflegte, fo ift es fehr möglich, daß fein Dießmas
liger Vortrag über biefelbe der fpäteren Sage angehört.
Ferner befchreibt Lufas fehr genau, wie Jeſus den wüthenden
Razaretanern entging (4, 28 — 30); allein doch fo, daß feine
Rettung ſich ganz wie eine wunderbare ausnimmt; dennoch
trägt diefer Theil der Erzählung noch mehr den Gharafter
bei verherrlihenden Sage an fi, wenn auch Verfolgung
und Rettung an fich hiftorifch fein mögen.
E
n © 178
Sechsſstes Kapitel,
Chronologiſche Anordnung ded Öffentlichen Lebens
’ ef. j
(Diele einzelne evangeliihe Stellen, namentlich aus Johannes.)
Wir haben hier zuvörderſt die intereffante Frage zu erör⸗
tern: „Wie lange dauerte die öffentliche Wirkſamkeit Jeſu?“
Zur Beantwortung dieſer Frage bieten ſich uns vorerft die
Angaben des Sohannes über die Feftreifen Jeſu nad) Je⸗
rufalem dar. Den Anfangspunft ber Zählung bildet dag erfte
Paſcha, welches Jeſus nad) feiner Taufe befuchte (2, 13),
und zwar kurze Zeit nach derfelben Cogl.. 1, 29, 35, 44 mit
3, 1, 12, 13); Kay. 6, 4 kommt das zweite Paſcha, von
dem aber nicht ausdrücdlich gefagt wird, daß Jeſus es auch
: befucht habe. So hätten wir Ein Jahr; nachdem nun nod)
die Fefte der Laubhütten und der Tempelweihe erwähnt wers
“den, kommen wir zu dem legten Paſcha (12, 1 x) Dem
nach hätte Jeſus zwei Jahre öffentlich gewirft. Irrigerweiſe
nimmt man, nad) der alten Anficht der Kirchenväter, gewöhns
lich drei Sahre an; denn ein weiteres Felt, Das ganz unbe
ftimmt „ein Felt der Suden“ (5, 1) genannt wird, kann nicht
auch für ein Pafıha gehalten werden, theils eben diefes uns
beftimmten Ausdruckes wegen, -theild weil zwifchen ihm und
dem bald nachher genannten Pafıha (6, 4 fo gut wie nichts
. erwähnt wird, denmach ein ganzes Sahr mit Stillſchweigen
übergangen worden wäre.
Durch jene Rechnung jedoch befommen wir nur das Mis
nimum der Zeit, während welcher Jeſus öffentlich wirkte;
denn es ift keineswegs gejagt, daß Sohannes alle Pafchas
fefte angeführt haben müßte, namentlich auch die von Jeſu
nicht befuchten. — Aus demfelben Grunde ift es falih, aus
den Spnoptifern zu fchließen, daß Sefus nur Ein Sahr ges
wirft habe: es kann auch ihnen zufolge mehrere Jahre lang
gefchehen fein. Wenn aber dennoch einige der Alteften Sekten
Ein Jahr annahmen, fo hatte dieß einen ganz andern Grund,
nämlich Mißverftand der auf Jeſum bezogenen SProphetenftelle
Jeſ. 61, 2, deren Worte „das dem Herrn wohlgefällige Jahr“
17%
im ftrengen Kalenderfinne genommen murben. Aus einem ans
bern Mißveritande ging eine Diefer grabe entgegengefeßte Mei⸗
nung hervor, bie fich ebenfalls fchon fehr frühe bildete, daß
naͤmlich Jeſus bei der Kreuzigung ſchon nahe an den Fünfzigen '
gewefen. Die Worte aber, aus denen man dieß fchloß, Joh.
8, 57: „Du haft noch nicht fünfzig Jahre, und Abraham nicht
geſehen“, heißen doch nur: du biſt noch viel zu jung Chaft
noch nicht das Mannesalter vollendet), um Abraham ıc., was
man recht gut auch zu einem Dreißiger fagen Eonnte.
Demmach können wir, wenn wir dem Sohannes folgen,
nur fo viel mit Beftimmtheit fagen, daß Jeſus wenigſtens
wei Sahre und etwas drüber, — Letteres nämlich die Zeit
von der Taufe bis zum nächften Pafcha verftanden —, öffente”
lich gewirkt habe. - Wenn übrigens die oben befprochenen An,
"gaben über das Jahr, in welchem Ssefus ſich taufen ließ (3,
1) richtig find, fo Fönnte feine Wirkſamkeit auch länger ans
gedauert haben, da Pontius Pilatus, unter dem Jeſus ges
kreuzigt wurde, exit fieben Ssahre nach jenem Zeitpunfte von
feiner Statthalterfchaft abberufen wurde: jedoch fol damit
Richts behauptet werden, weil wir Feine fichern Anhalte-
punkte für eine Rechnung haben.
enden wir uns zweitens zu der Frage, in welcher Zeits
folge die einzelnen Begebenheiten im Leben Jeſu fih an
einander reihen, fo bieten ſich uns mehrfache Wege zu deren
töfung dar. Wie wir oben fahen, fo gibt Johannes meh-
tere Feſte in feinem Evangelium an, welche, da wir die Zeit
derfelben genau kennen, fichere Haltpunfte zu bieten fcheinen .
für Anordnung der Zeitfolge auch der fynoptifchen Berichte,
denen, wie wir gleichfalls oben fahen, bis zur letzten Reife
Jeſu, ſolche Haltpunfte gänzlich fehlen.
Allein fo wie wir nur den erften Berfuch wagen, auf dieſe
Weiſe den Stoff der Synoptifer zwifchen die feſtſtehenden
Zeitpunfte der Fefte bei Johannes einzureihen, tritt uns auch
die Unmöglichfeit, zu irgend einem Ziele zu gelangen, auf
eine, alles angewandten Scharffinnes fpottende, Weile ents
gegen. Denn erftens findet fich nirgends in dem winumtere
180 —
brochenen Guſſe galilaͤiſcher Erzählungen ber Synoptiker
cf. oben S. 169) irgend eine Fuge, welche die Einfchiebnung
einer .Feftreife auc nur möglich machte; fie fträuben fich
gegen jede Anwendung dieſes Maßftabes der Zeitbeflimmung.
Zweitens ift auch ſchon darum jede Vereinbarung Der Synops
tifer und des Johannes unmöglich, weil beide Theile von ber
Taufe bis zu ber Leidensgefchichte nur in einer einzigen
. Erzählung zufammentreffen, fonft aber ganz verſchiedene Er⸗
eigriffe berichten. Demnach findet ſich auch umgekehrt im
Fluffe der johanneifchen Erzählungen feine Stelle, wo die ſy⸗
noptifchen einmünden könnten, weil auch jene ein in fich ges
ordnetes Ganze bilden, das Fein fremdes Einfchiebfel duldet.
Sene einzige Erzählung, worin beide Theile übereinftimmen,
ift die von der Speifung ımd dem Wandeln auf dem Meere
(Matth. 14, 14, 365%) Joh. 6, 1—21), welche Johannes
in die Zeit unmittelbar vor dem zweiten, von Sefus aber nicht
befuchten, Paſcha (ſ. oben S. 178) fest. Allein auch fie ges
währt feinen Anhalt fir eine Zeitfolge, weil beide Evangeli⸗
Fen ganz verfchiedene Anfangs» und Endpunkte haben, Nach
Matthäus kommt Jeſus zu jener Speiſung von Galiläa, nad
Sohannes von Sudaa her; während Matthäus ihn nach ders
felben in entferntere Gegenden gehen laßt (V. 34), zieht er dem
Sohannes zufolge grade in das ihm fo bekannte Kapernaum:
Ein Theil wenigftens hat alfo die Zeit biefer Begebenheit
falfch angegeben, und man kann aljo nicht willen, wie viele
ber fonoptifchen Erzählungen vor, wie viele nach jenem Paſch
zu feßen find.
Außer diefer, gleichfalls für eine Vermittlung der beiden
Evangelien unbrauhbaren Erzählung, treffen fie in feinem
Berichte vor der legten Feftreife zufammen; Denn wenn audı,
was aber von den Meiften bezweifelt wird, die Heilung eines
föniglichen Diener (oh. 4, 477 mit der eined Hauptmann
Knechtes bei Matth. 8, 5 ıc. diefelbe fein follte, fo if
auch hier die große Verfchiebenheit, baß bei Johannes Jeſus
5) Der Kürze wegen führen wir überall, wo die trei Synortiker
im Weſentlichen übereinflimmen,, immer nur den erſten derſelben,
den Matthäus, an.
—
Ä 184
fo eben vom eriten Pafchafefte kommt, bei Matthäus aber
von ber Bergprebigt, ‚neben der die Feftreife durchaus keinen
Pag findet. — Wir müffen alfo darauf verzichten, Synop⸗
titer und Sohannes in Harmonie zu bringen; beide bewegen
ſich zwifchen Zaufe und Leiden Jeſu in. ganz verſchiedenen
Sagenfreifen.
Auch. unter fich widerfprechen Die Synoptifer in fo vielen
Zeitbeftimmungen fich fo fehr, daß auf jeden Einzelnen Bers
Köße genug kommen, um in biefer Beziehung „feine Verläßs
lichfeit zu untergraben *. Ueberbieß find ihre Erzählungen
augenfcheinlich weit mehr nach Verwandtichaft des Inhaltes
und Anklang der Ideen geordnet, als nach gefchichtlicher Zeits
folge, obgleich fie auch dDiefe zu geben ſich bemüht, und ges
geben zu haben ſich gefchmeichelt haben mögen, wie aus ben
oft wiederfehrenden Uebergangsphrafen erhellt: „Als er vom
Berge herabgeftiegen, — von da weitergehend, — Damals, —
an eben dem Tage, — und fiehe ꝛc.“, welche wir als zu
allgemein und feine Zeitordnung beglaubigend betrachten müſſen.
Sohannes freilich hat weit mehr Zufammenhang und Forts
fehritt; ob er aber der richtige fei, fünnen wir, da er gang
eigenthümlicye Erzählungen bringt, nicht aus Vergleich mit
andern, fondern einzig aus der inneren Wahrheit jenes von
ihm gegebenen Zufanımenhanges in Plan und Leben Sefu bes
urtheilen, was erit im weiteren Verlauf unferer LUnterfuchung
geichehen muß.
182
Dritter Abfchnitt.
Die Meffianität Jeſu und feine Juͤnger.
Was fich fpeziell auf die Idee des leidenden, fterbenden und wiederkommen⸗
den Meffias bezieht, bleibt hier ausgefchloffen und der Leidensgefchichte
vorbehalten, *
N
Erfted Kapitel.
Jeſu eigene Anfichten über feine Perſon.
(Sehr viele einzelne Stellen aus allen Evangelien.) .
Wir betrachten zunächit, mit welchem Namen Sefus felbft
feine Perfon als den Meffiad bezeichnet.
Am’ hänfigften gebraucht er von fich den Ausdrud: „Der
Sohn des Menfchen“. Man könnte Diefen in dem Sinne
nehnten, welchen ber gleichbebeutende hebräifche hat, nämlich
„Menſch“ ganz allgemein; allein dieß paßt nur in fehr wes
nigen Stellen, 3. B. Mark. 2, 275 Matth. 12, 8, wo uns
mittelbar vorherging: „Der Sabbath ft um des Menfchen
willen da, nicht aber zc.“. Sonſt wird überall ein beſtimm⸗
ter, einzelner Menfch darunter verftanden, nämlich grade
er felbft, und fein anderer; 3. B. Matth. 8, 20 vgl. mit ®. 19.
Irrig aber ift es, den Ausdruck nur als eine der einfachen
Umfchreibungen des Ich zu nehmen, wie fie allerdings bei
den Drientalen nicht felten find: Denn wählt man dazu ein fo
allgemeines Wort, fo bedarf es noch einer hinzutretenden bes
fiimmteren Hindentung, etwa „biefer“, Die freilich der Re⸗
bende felbit durch eine Bewegung ber Hand erfeten kann, ber
Berichterftatter aber offenbar beifegen muß, wenn er nicht.
zweideutig fchreiben will.
Jeſus muß alfo mit jenen Worten ſich ale „ ‚den Sohn
des Menfchen“ in einem ganz befonderen, nur von ihm
geltenden Sinne bezeichnet haben; Einige meinen: als „Men«
- | 183
ſchen im edelften Sime des Wortes“; allein es ift durchaus
unerweislich, daß zu Jeſu Zeit die Worte jemals dieſen
Sinn gehabt hätten. Eher könnten Die Recht haben, die fie
umgekehrt ald Bezeichnung des „niedrigen, verachteten Mens
ſchen“ auffaffen; allen diefe Bedeutung paßt doch nur für
wenige Stellen, 3. B. Matt. 8, 20; Joh. 1, 52. Im ans
dern Stellen bezeichnet ſich Jeſus damit grabezu als ein höher
ces Wefen, 3. B. Soh. 3, 13, mo vom „Sohn des Menfchen“
gefagt ift, er fei zum Himmel aufgeftiegen, und 3, 13, wo
das Weltgericht abzuhalten als fein Vorrecht bezeichnet ift.
Daß er aber grade in feiner Würde ald Meſſias ſich fo
nennt, geht deutlich aus Matth. 16, 28 hervor: hier ift vom
„Kommen des Menfchenfohnes in fein Reich“ Die Rede, woruns
ter nur das des Meffias gemeint fein kann.
Woher eine folche Bezeichnung des Meſſias fomme, geht
"hervor aus Bergleichung von Matth. 26, 64, wo das Koms _
men bes Menfchenfohnes „auf den Wolfen bes Himmels“ ver:
kündet wird, mit Daniel, 7, 13 x. Hier fchildert der Pros
phet, wie er in nächtlichen Gefichten den gewaltigen Herrn,
nachdem die vier Thiere vernichtet worden, mit den Wolfen
des Himmels, „wie eines Menfchen Eohn“, habe herabfonmen
fehen. Da bier unter den vier Thieren die Neiche, deren
Unterthanen die Juden nad) einander geweſen, verftanden find,
fo ward „der vom Himmel Kommende “ in diefer Stelle als
der Meſſias gedeutet, fchon von den Rabbinen. Die Worte:
„wie ein Sohn des Menfchen“, bezeichnen ihn als den menfch-
lichen, humanen, im Gegenſatze zu der thierähnlichen Rohheit
der von ihm geftürzten Herrſcher. Diefen Nebenzug hob
man, ganz in jüdifchem Geſchmacke (der ja auch den Mefftas
einfach „dern Sprößling“ nannte) zur Bezeichnung des Meſſias
überhaupt hervor, und hielt ihn als felche feſt. — Es ift
alfo Har, daß, wenn auch mit die ſem Namen der Mefitas
bezeichnet wurde, Sefus ihn nicht fo oft hätte von fich ges
brauchen können, wenn er damit nicht hätte feine meffianifche
Würde andeuten wollen.
So verftanden ihn aud) die Juden; Sch. 12, 34 wenden
fie das, was Jeſus vom Menfchenfohne gejagt hatte, anf
den Meffins an. Allein das ut auffallend, daß außer Jeſus |
184
felöft Niemand Cden einzigen Stephanus, Apoftelg. 7, 56,
ausgenommen) ihn fo nennt; ja es fcheinen felbft feine Sänger
Biefen Ausdruck nicht recht verftanden zu haben; denn auf
feine Frage: (Matth. 16, 15) „für wen haltet Shr denn mich
(nämlich des Menfchen Sohn, wie er fih V. 13 genannt
hatte)? * antwortete Petrus: „Du bift Chriſtus“ — was,
ja feinen Sinn hätte, wenn diefer ſchon jenen erften von |
Jeſu gebrauchten Ausdruck ald Bezeichnung des Meſſias (Chris
ſtus) gefaßt hätte.
Den Namen Meffias läßt fich Jeſus zwar auch gefallen,
z. B. von der Samariterin Coh. 4, 26), von Petrus (Matth.
16, 16), und auf Fragen, ob er der Meffias fei, autwortet
er mit Sa (Soh. 10, 24 .; Matth. 26, 63 ꝛc.); allein nies
mals nennt er in feinen Reden felbft fich fo; eben fo wermeis
det er den Namen: „Sohn Davids“ Beides wohl aus
dem Grunde, weil fie zu fehr an die gewöhnlichen politis
fhen Erwartungen, an die Hoffnungen eines irdifch glänzens
den Reiches erinnerten, Die ſich an die Perfon des Meſſias
anfnüpften. Obgleich zwar auch der Name „des Meitfchen
Sohn“ bei Daniel mit der dee einer Weltherrfchaft verbuns
den erfcheint, fo ift Diefelbe doch hier weit geiftiger und höher
gefaßt, und ſchon das Ungemwöhnliche des Namens ‚war
geeignet, ungewöhnliche Vorftellungen zu erwecken. Welche
Vorſtellung er mit demfelben verband, ift ſchwer zu fagen;
daß er Damit habe erinnerlich machen wollen, wie Er, uners
achtet feiner göttlichen Natur, doc wahrer Menſch fei, iſt⸗
barum wicht benkbar, ‘weil die herrfchenden Borftellungen
eher dieſe "Seite zum Nachtheile der Göttlichleit des Meſſias
hervorhoben, als umgefehrt Die göttliche zum Nachtheile der
irdifchen. Bielmehr mochte er wohl im Gegentheil, durch dad
Anfnüpfen an jene Daniel’fche Stelle, die Borftellung von
feıner göttlichen Natur, die in diefer Stelle ſich mit dieſem
Namen verbindet, ftets lebendig erhalten wollen, wie wenn
er fagte: „Sch bin diefer Menfchenfohn, der dem Daniel
zufolge vom Himmel herabgefommen ift ꝛc.“ —
. 185
” Nichte nur „Menfchenfohn“, fondern auch „Sohn Gottes“
nennt Jeſus fich, und wird von Andern oft fo genannt, Dies
fer Ausdrud kommt in der ganz buchftäblichen Bedeutung
„von Gottes Geift unmittelbar Erzeugter“ nur bei Luk. 1, 35
vor; fonft wird er in Diefem Sinne niemald von Sefus ges
braucht. In der weiteften, moralifchen Bedeutung wird er
ſolchen Menfchen beigelegt, die durch Tugend ſich Gott ähnlich -
machen; z. B. Matth, 5, 9, 455 Luk. 6, 35.
Am häufigiten aber iſt Diefer Ausdruck Bezeichnung des
Meſſias; und in diefem Sinne wird er fo oft von Sefus
gebraucht; wie namentlich aus den mit ihn verbundenen Wors
ten erhellt, „du bift der Sohn Gottes, der König Iſraels“
(Soh. 1, 50), — „du bift Ehriftus, der Sohn des lebendigen
Sottes * (Matth. 16, 165 Soh. 6, 695 vgl. Soh. 11, 47;
Matth. 26, 63). Da nämlicdy nicht nur das Volk Sfrael
der Sohn Gottes genannt wird CHof. 11, 15 2 Mof. 4,
22), Sondern aud) vorzugsweife deffen Könige diefen Namen
führen (22 Sam. 7, 145 Pf. 2, 7), weil fie, nach menfchlicher
Weiſe, als Mitregenten Jehovas über Das auserwählte Volk
gebacht werden, fo war es fo natürlich, daß dieſer Ausdrud
Sohn Gottes in ganz befonderem Maße dem Meffias zus
fam, als dem geliebteften Eohn Gottes und dem gewaltigften
Fürften feines Volkes. Während Diefer mit den Worten
„Sohn Davids“ als der Wiederherfteller des irdifchen Reiches
der Suden bezeichnet wird, drücden dagegen die Worte Sohn
Gottes mehr feine göttliche Würde, feine Theilnahme an
der Macht und Ehre Gottes aus. — Jeſus aber, indem er
fi) diefen Namen beilegte, gab ihm eine noch tiefere, eigen-
thümliche Bedeutung, er bezeichnete damit feine Gottegjohn-
fchaft, als ein Leben und Sichverfenfen in den Angelegenheiten
des Vaters, als ein Aufgehen feiner ganzen Perfönlichkeit
in der Semeinfchaft mit Gott, die der Mittelpunft feines
ganzen Weſens war, der Breinpunft, mit dem er in ben
Seinen das göttliche Feuer entziinden wollte. Vgl. beſonders
Matth. 11, 27. Sn diefem Sinue erfcheint jener Ausdrud
jo oft im ‚vierten Evangelium, in deſſen Reden der Gedanke
vorherrfcht, daß der Sohn mit dem Vater Eins fei, und
186°
ohne ihn Nichts weder rebe, noch thue. Vgl. Joh. 5, 19;
10, 30; 12, 49; 14, 28; 17, 21.
Kein Wunder alfo, daß die Tuben fo häufig Anſtoß daran
nehmen, was ebenfalls im vierten Evangelium vorzüglich her⸗
vortritt, wenn Sefus fid) den Sohn Gottes nennt, da er
diefen Ausdruck von der jüdischen Vorftelung eines glänzenden
fichtbaren Herrſchers zu dem Begriffe eines mit Gott in um
fichtbarer Gemeinfchaft lebenden Geiftes erhoben hatte. Diefen
Anftoß ſucht er nicht nur Dadurch zu entfernen,- daß er auf
feine Würde als Meſſias, der ja „Sohn Gottes“ im alten
Zeitamente genannt wird, fich beruft, fondern auch durch bie
Bemerkung, daß im alten Teftamente Pf. 82, 6) auch andere
Menfhen, Fürjten und Obrigfeiten, „Götter“ genannt wurs
ben (Joh. 10, 34); offenbar will er alfo auch darauf bins
weilen, daß es nicht einmal der Meffianität bebürfe, um fich
in ein fo inniges VBerhältniß zu Gott und dem Göttlichen zu
feben.
Ueber feine göttliche Sendung und die ihm ertheilte Voll⸗
macht fpricht ſich Sefus in allen Evangelien auf gleiche Weiſe
aus: er ift, wie er fagt, von Gott geſendet (Matth. 10, 405.
Joh. 3, 23), im ansfchließlichen Befiße der reinen Erkenntniß
Gottes (Matth. 11, 275 Joh. 3, 13); ihm ift alle Gewalt
gegeben (Matt. 11, 27), nicht nur über fein Neich (Joh.
10, 29; 17, 6), fondern über alle Menfchen (Sch. 17, 2)
und bie ganze Welt (Matth. 28, 18); er wird die Todten
erweden (oh. 5, 28) und Gericht halten (Matth. 25, 31x;
Soh. 5, 22, 29); — Alles Befugniffe, die nach jübifchen Bors
ftellungen dem Meſſias zufamen.
Dagegen ift es dem Evangeliften Sohannes eigenthümlid,,
daß nur in ihm Jeſus von feiner Präeriftenz, feinem Dar
fein vor feiner menfchlichen Erſcheinung fpricht, und zwar in
den beftimmteften Ausdrüden. Zwar könnten die orte „vom
Himmel herabgefommen“ (Soh. 3, 13) und „ic, bin vom Bas
ter ausgegangen“ (16, 28) als nur bilbliche Bezeichnungen
feines höheren, göttlichen Urfprunges genommen werden,
und der Ausdrud: „ehe Abraham war, war ich“ (8, 38),
nur von feiner uranfänglichen Beſtimmung zum Meſſias vers
187 |
fanden werben, fo wie auch in 17, 5 biefer allgemeine Sinn
gefunden werden könnte. Wenn er aber Soh. 6, 62 von feis
nem „Auffteigen dahin, wo ich ſchon früher war“, fpricht,
fo kann dieß, in Verbindung mit den übrigen Stellen, doch
nur als eine beitimmte Bezeichnung feines früheren Seins,
ſchon vor der Geburt, genommen werden.
Vergleicht man nun die Anfichten, welche ver Evangelift
ſelbſſt zu Anfang feines Evangeliums über „den Cin Sefus) Fleifch
gewordenen Logos, der von Anfang anbei Gott war“, aus⸗
richt, mit dem, was er Jeſum über feine Präeriftenz fagen
Kt, fo könnte man freilicy verfucht werben zu der Annahme,
“er babe Jeſum in den Mund gelegt, was er, Johannes, von
hm gehalten. Allein wir müſſen Doch zuvor unterfuchen, ob
sicht auch Jeſus wirklich diefen -Slauben über fich felbit has
ben konnte? Sin einem fo innig religiöfen, in Gott verfenften
Gemüthe, wie es fic in Sefus offenbart, Fonnte fich gar
wohl, auch ohne durch Die gangbaren Borftellungen vom Mefs
fias angeregt zu fein, Das Gefühl der untrennbaren Gemeins
fchaft mit Gott zu dem Glauben an ein früheres Sein bei
Gott fteigern, — Die erregte Einbilbungsfraft geftaltete das
Gefühl des gegenwärtigen Berhältniffes zu Gott zu einer
Erinnerung an ein früheres, uranfängliches. „Lieber wes
nigftens möchte ich die Sache fo faffen, als mich auf die
göttliche Natur Chrifti int orthodoren Einne berufen, vermöge
welcher ihm eine Erinnerung eingewohnt habe, die freilich blos
ßen Menfchen nicht zukommen könne; eine Vorſtellung, welche
Sefum zu einem fremdartigen Weſen macht, dergleichen
eines weder dem Philofophen und Hiftorifer glaublich, noch
bem Gläubigen, wenn er ſich recht verfteht, tröſtlich fein
fanıt. *
Weit näher noch lag aber Jeſu eine ſolche Vorſtellung
von ſeiner Perſon, wie ſie nach unſerer Anſicht in jenem
Ausdrucke enthalten iſt, wenn er, ſobald er ſich als den Meſ⸗
ſias erkannt hätte, Anlaß zu derſelben fand in den Ideen,
die ſich zu ſeiner Zeit über den Meſſias gebildet hattten. Und
dieß iſt wirktich der Fall. Zwar beweist die oben ©. 183
befprochene Stelle aus Daniel, wo von dem Kommen Des
Menſchenſohnes mit den Wolfen die Rede ift, Nichts über
188
das Vorhandenfein einer folchen Idee. - Dagegen finden fich
ſchon in den Pfalmen, den Spridwörtern ꝛc. Stellen, wo
die Weisheit, das Wort Gottes ald eigene Perfonen gedacht
werden; hiesaus floß bie fpätere jüdifche Weife, das Wort
und die Wohnung Sehovas, anfangs bloße Umfchreibungen
feines Namens, ſich ald eigene, verfchiedene und doch mit
ihm einige Wefen vorzuftellen. Bon dieſem perfünlichen Got⸗
tesiworte gingen alle Einwirkungen und Dffenbarungen aus,
die zu Gunſten des ifraelitifchen Volkes gefchahen; wie natürs
lich war es, die leßte und glänzendfte Veranftaltung der Art,
das Erfcheinen des Meffias, in befonderem Grade bem
Gottesworte zuzufchreiben! Hierdurch kam man zu der
Borftellung, daß mit dem Meſſias auch das Wort erfcheinen
werde, und was man dieſem zufchrieb, wurde auch vom
Meſſias ausgeſagt, wie es fchon Paulus thut. Demnach
war der Meſſias ſchon in der Wüfte ber Begleiter des Volles
(1 Kor. 10, 4, 9), — ja ichon bei den erften Aeltern im
Paradiefe, bei der Weltfchöpfung wirkte er mit (Kol. 1, 16),
lebte noch vor derfelben bei Gott in herrlichem Zuſtande
Phil. 2, ©, bis er in Jeſus Menfch wurde.
Wenn diefe Borftelung von der Präeriftenz des Meffias
erweislich in der höhern jübifchen Theologie ſich vorfand, fo
ift es allerdings fehr möglich, daß Sefus Diefelbe, nachdem
er ſich als Meffias erkannt hatte, auf fich übertrug; ba er
aber dieß einzig in ben Reden des vierten Evangeliums, beffen
Verfaſſer mit jener Theologie vertraut war, thut, fo muß
immer der Zweifel -übrig bleiben, ob berfelbe ung nicht ſtatt
der Reden Jeſu feine eigenen Betrachtungen über deſſen
Weſen giöt.
Zweites Kapitel.
Jeſu meffinnifcher Wlan im Allgemeinen.
(Matth. 16, 15—20; Marl. 8, 39— 31; Luk. 9, 21 — 24:
Joh. 6, 68, 69; einzelne Stellen.
Alle Evangelien ftimmen darin überein, daß Jeſus fchon
von ber Taufe an fi als Meſſias dargeftelt, und ale
0 189.
folcher Anerkennung nicht nur bei feinen Süngern, fonbern auch
im Bolfe gefunden habe. Darin jedoch weicht Sohannes von
den übrigen bebeutenb ab, daß bei ihm Jeſus und feine Ans
hinger dem Glauben an feine Mefftanität durchaus treu bleis
ben, während jenen zufolge Volk und Sünger öfters wieber
an Sefu irre werden, ja er felbft zuweilen weniger offen für
den Meſſias fich erklärt. Bei dem Bolfe ift ein folches
Schwanfen fehr erflärlich, wie es fich 3. B. Darin ausfpricht,
daß basfelbe, nachdem er fchon ald Sohn Gottes verehrt
(Matth. 14, 33; 8, 29), ald Sohn Davids angerufen wors
den (8, 27) — doch noch ſchwankt, ob es ihn für den wies
dererftanbenen Täufer, oder für den Elias, oder den Seremias
halten ſoll; und Alle ihn nur ald Vorläufer des Meſſias
betrachten, was felbit Soh. 7, 40 durchfchimmert. Erklaͤrlich
iſt dieß Schwanfen, weil wir ja hier theils bie Urtheile vers
fhiedener Kreife Des Bolfes haben, theild auch Den Aus⸗
druck einer wieder nüchterner gewordenen Anficht, nachdem
bie durch den Eindrud von Jeſu Thaten hervorgebracdhte erfte
Begeilterung vorüber war.
-Auffallender ift das verſchiedene Benehmen feiner Juͤnger
bei Ssohannes und den Synoptifern. Während fie bei Sohans
nes fehon unmittelbar nad) der Taufe ihn als Meſſias bes
grüßen (1, 42, 46, 50), wovon das Befenntniß des Petrus
nur eine Beftätigung ift (6, 68, 69), erfcheint bei ben
Synoptikern dieß Bekenntniß fo fehr. als der erfte Ausdrud
ihres Glaubens an die Meffianität Sefu, und zwar erft nad
langem Zufammenfein und furz vor deſſen Leiden, daß Jeſus
barüber erftaunt, den Petrus glücklich preist und den Jün⸗
gern verbietet, Diefe neue Ueberzeugung weiter zu verbreiten,
(S. die oben bezeichneten Stellen.) Auch Sefus felbft benennt
fi) bei Johannes anders, als bei den Synoptikern; dort er-
Härt er glei von der Taufe an offen feine Meffianität dem
Kathanael (1, 51), den Samaritern bei dem erften Feftbefuche
(4, 26, 39 ıc.) und bei dem zweiten den Suden (5, 46).
Hier aber, bei den Synoptifern, gibt er fich zwar fchon in
der Bergpredigt Die Stellung des Meſſias, und fpäter in feis
ner Inſtruktion der Junger (Matth. 10, 23); dem widers
fpricht aber fo gänzlich fein Benehmen bei jenem Befenntniffe
400
des Petrus, daß er offenbar vor. demfelben den Juͤngern fich
nicht beftimmt als Meſſias dargeitellt haben konnte. Daher
find die neueften Ausleger darüber einig, daß alle Reben und
Thaten Jeſu, wodurch er ſich vor jenem Belenntniffe als
Meſſias zu erfennen gibt, nur durch einen Verſtoß der Berichts
eritatter in der Zeitrechnung vor dasſelbe geſetzt worden find.
Man hat alfo zwei Abfchnitte in feinem Leben zu unterfcheis
den, deren Wendepunkt eben jenes Belenntniß bildet; in dem
erften ftellte er füch nicht ale Meffias, fondern ſetzte nur die
Predigt des Täufers fort: „Thut Buße; denn das Himmels
reich it nahe“; in dem zweiten aber galt er er den Seinen
für den Meſſias. Ä
Hier entiteht nun endlich noch die Frage: Hat auch Jeſus
ſelbſt fich erit fpäter für den Mefjias gehalten? oder erfannte
er ſich als folchen fchon von Anfang feines Wirkens an, vers
mied ed aber, Diefe Ueberzeugung zu verbreiten? Das Leg»
tere müflen wir bejahen; denn vielfältige Beweife liegen dar⸗
über vor, daß er wünfchte, der Glaube an feine Meffianität
möge fich nicht zu frühe und zu fehr verbreiten; er verbies
tet den Geheilten die Ausbreitung der Sache, dem Ausfätigen
Matth. 8, 4, dem Blinden 9, 30, vielen Geheilten 12, 16,
den eltern bes wieder erwecdten Mäbchens Mark, 5, 43;
namentlich legt er den Dämonifchen Schweigen auf Mark. 1,
345 3,12 u. ſ. w.; eben fo verbietet er den Zeugen feiner
Berklärung die Bekanntmachung des Ereigniffes (Matth. 17, 9)
und den Tüngern Die Verbreitung ihrer Anficht, Daß er der
Meſſias fei (16, 20). Diefe Berbote find fo häufig, daß bie,
Formel derſelben ftehend geworben und felbit da von ben
Evangeliſten angewendet zu fein fcheint, wo fie feinen rechten
Sinn hat, wie 5. B. Matth. 8, 4, wo eine Heilung im Ges
dränge bes Volfed gefchieht. Ald Grund diefer forgfältigen
Vermeidung alles Auffehens gibt Matth. 12, 19 feine Befcheis
denheit an, indem er ihn Dem geräufchlos wirkenden Knechte
Gottes. bei Jeſ. 42, 1 vergleicht; allein dieſer Grund reicht
nicht aus. Vielmehr liegt der wahre Grund bei Soh. 6, 15
zu Tage, wo nach einer wunderbaren Speifung das Volk,
das ihn ald den Meſſias erfannt hatte, zum Könige machen
will. Er hatte alfo „von der Berbreitung jeder Rede ober
/ j 194
That, die‘ ihn als den erwarteten Meſſias zu beurfunben fchien,
eine Aufregung der fleifchlichen Mefjiashoffnungen feiner
Zeitgenoffen zu befürchten, deren Umbildung ins Geiftigegre
die Aufgabe feines Lebens war *. Daher auch‘ verbietet er
die Bekanntmachung der Verklärung, fo lange er nody lebe,
und knüpft an jenes Verbot, das Belenntniß Petri zu vers
breiten (Matth. 16, 20), ſogleich die Verkündigung feines
Leidens und Sterbens. „Sein Tod nämlich war das einzige
Mittel, durdy welche er die Mefftasidee feiner Volfsgenoffen
von ihren irdifchen Beftandtheilen zu befreien hoffte*. Jedes
entfchiedene Auftreten als Meſſias vor demfelben mußte falſche
Hoffnungen erweden; daher jene forgfamen Verbote, daher
die Zurückhaltung felbft gegen feine Junger, und feine Freude
darüber, daß fie ihn dennoch als Meſſias erkannt hatten; das
her endlich vermied er es, ſich Chriſtus zu nennen.
DObgleich aus dem Geſagten ſchon deutlich erhellt, daß
Jeſus die weltlichen Meifiashoffnungen feiner Zeit, die einen
durchaus politifchen Anſtrich hatten, und namentlich auf Bes
freiung von dem Drude der Römer und Begründung eines
unvergänglichen Reiches gerichtet waren, durchaus nicht theilte,
fo haben Doch von jeher die Gegner des Chriftenthums Jeſu
auch einen politifchen Plan beigelegt; — am Beſtimmteſten
wirft der Wolfenbüttel’fche Fragmentift ihm vor, er habe
ſich zum weltlichen Herricher erheben wollen. Die Gründe,
welche für dieſe Anficht vorgebracht werden, find folgende:
Jeſus kündigt immer nur das nahende Meffiasreich ſchlecht⸗
bin an, ohne ſich deutlicher zu erklären, was er Darunter
verftehe, billigt alfo ftillfchweigend die politifchen Hoffnungen
feiner Anhänger, die ja Feine andern, als eben dieſe hatten;
— er fendet feine Apoftel aus, das Meffiagreich zu verfünden
(Matth. 10), und doch fannte er deren Erwartungen, Die
fo weltlich waren, daß fie fid) um die oberfte Stelle im Reiche
. zanften (Matth. 18, 1), ſich Site zur Rechten und Linken Des
Thrones ausbaten (Mark. 10, 35 20), und felbft nach feiner
Auferftehung noch ein „Aufrichten der Herrichaft Iſraels“ ers
warteten; diefe Vorftelungen mußten alfo Die Abgelendeten
192
verbreiten; — er felbft verheißt in einer Nebe (Matth. 19,
28) feinen Apofteln, daß fie in der Wiedergeburt, wen er
feinen herrlichen Thron beftiegen, auf zwölf Stühlen figen und
die zwölf Stämme richten werben; ba er die Erwartungen ber
Sünger kannte, fo hat er diefe damit offenbar nähren wollen,
wenn er fich nicht bloß ihren Vorftellungen anbequemte, was
aber unreblich gewefen wäre; — er zog bei dem legten Fefte
in Serufalem feierlich ein, wie um ben zahlreich verſammelten
Juden ald Herrfcher fich zu zeigen, erinnerte durch den Eſel
an den Einzug des Königs Zacharias, ließ fich Die Begrüßung
des Volkes als König gefallen, und betrug fich mit Herrfchers
geberden im Tempel und vor dem hohen Nathe Matth. 23).
Allein alle diefe Gründe blenden nur, ohne Etwas zu bes
weißen, und fallen bei näherer Betrachtung in fich zufammen.
Daß er ftillfchweigend die irdiſchen Meffiagerwartungen ges
billigt und genährt habe, Tann Niemand behaupten, der ſich
nur der Bergpredigt ?°) erinnert, wo er „als feine Aufgabe
die Bergeiftigung des Gefeßes, die Erhöhung der fittfichen
Anforderungen an den Menfhen und die Bereblung feines
inneren und äußeren Lebens ausgefprochen*, der bedenft, daß
Sefus in feinen Gleichnißreden „Das Meſſiasreich niemals im
jüdischen Sinne, fondern immer nur als ein fittlich=religiöfes
Gemeinwefen gefchildert hatte*, und daß die Juden ohne
Zweifel nur darum an feiner Meffianität irre wurden. —
Seine ausgefandten Jünger follten nur vorbereitend wirs
fen, empfänglich machen für das Meffinsreich; die Läuterung
der Vorftellungen von demſelben blieb der eigenen Lehre Jeſu
und dem Eindrude feines nahen Todes vorbehalten. — Die
Rede von Thron und Seffel kann nur bildlich genommen
werben; denn in ihr verheißt er auch, daß in feinem Reiche
die Jünger mit ihm effen und trinfen werben, daß fie die ver-
Iaffenen Güter, Felder, Mütter, Kinder ıc. hundertfältig wieber
26, Richtiger „Bergrede“; allein da der Name Bergprebigt ein-
mal fo gewöhnfich geworden, fo haben wir ihn nicht aufgeben
wollen.
193
erhalten werben, was doch der nicht buchitäblich nehmen
tonnte, der früher erklärt hatte, man werde dort weder freien
noch ſich freien laſſen. — Sein Einzug in Serufalem beweist
am allerwenigftenz; nach allem Borausgegangenen fonnte es
nicht mehr zweifelhaft fein, in welchem Sinne er die Hub
digungen des Volkes aufnahm. Die Tempelreinigung und die
ſcharfen Reden gegen bie Schriftgelehrten deuten aber mehr
auf einen Neligionsreformator, als auf einen Herrſcher.
Nimmt man nun dazu, wie er fid) dem Volke entzog, als.
es ihn zum Könige machen wollte (Joh. 6, 15), — wie er
erflärt, das Mefftagreich komme nicht in fichtbarem Ganze,
fondern fei bereits unbemerkt erjchienen (Luk. 17, 20), — wie
er Gehorfam auch gegen die heidnifche Obrigkeit predigt
(Matth. 22, 21), — wie er nach dem Einzuge in Serufalem
der aufgeregten Menge ausweicht, — wie er vor deu Rich⸗
tern erflärt, „fein Reich fei nicht von bier, und nicht von -
diefer Welt“, — daß der römifche Landpfleger Pilatus zur
Berurtheilung Jeſu von den Suden faft gezwungen wurde,
da er doch der Erfte fein mußte, ihn zu firafen, wenn audı
nur eine Spur von politiichen Planen vorgelegen hätte, —
und daß endlich der Haß des Volkes, mit dem es ihn dem
Zode überlieferte, grade feinen Grund in getäufchten polis
tifchen Hoffnungen haben konnte; fo bleibt in der That Fein
Zweifel mehr daran übrig, daß Jeſus von jeher einen rein
geiftigen Meffiaspları gehabt habe.
Es bedarf fomit der Verſuch neuerer Theologen, Die in
den Evangelien vorliegenden widerfprechenden Anzeichen
über den Plan Jeſu durch die Annahme auszugleichen, Daß
Sefus anfangs auch einen politifchen Plan gehabt, Diefen
aber fpäter ganz aufgegeben habe; — es bedarf diefer Vers
ſuch Feiner befonderen Widerlegung, weil die Vorausſetzung,
auf der er beruht, nemlich der vermeintliche Widerfpruch,
gar nicht vorhanden ift. |
194
Ä Dritted Kapitel
Stellung Jeſu zum mofaifchen Gefege, zu den Heiden
und den Samaritern.
(Diele einzelne Stellen und Joh. 4, 5— 43.)
Daß das moſaiſche Geſetz durch die Kirche Jeſu thats
fächlich aufgehoben worden, ift befannt; es entfteht nur noch
Frage, ob Diefes auch im Plane Jeſu gelegen habe?
Diele feiner Handlungen und Ausfprüche fcheinen biefe
Frage zu bejahen. Er verlangt von feinen Anhängern nicht
Beobachten der einzeinen mofaifchen Vorſchriften, fondern Feſt⸗
halten an dem inneren Geiſte der Religioſität und Sittlich⸗
keit, ohne welchen Faften, Beten ıc. feinen Werth habe (Matth.
6, 1—18), er verwirft die mofaifchen Speifeverbote durch den
befannten Ausſpruch Matth. 15, 11, — den Opferdienſt
ftellt er hinter die Gefinnung weit zurück, indem er die Ans
ficht eines Schriftlehrers, „die Liebe fei mehr als alle Opfer“,
fehr billigt, und felbit die Worte Hoſea 6, 6: „Barmherzigkeit
will ich und nicht Opfer“, fo oft anführt (Matth. 9, 135 12,
7); — gegen die Sabbatfeier hat er öfters verftoßen, aus⸗
drücklich fi) erklärt (Matth. 12, 1 -13; Marl, 3, 1—55
Joh. 7, 22 20.), und fich, als dem „Menfchenfohn“ die Macht
über den Sabbat zuerfannt; mas auch in der jüdifchen Mefs
fiagvorftellung gelegen zu haben fcheint; — Diefer Sinn mag
auch in den Worten liegen: „Brechet dieien Tempel ab, und
in drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen“ — Worte, die
bei Soh. 2, 19 Jeſus felbit fagt, bei Marfus und Matthäus
aber ‚Zeugen ald Worte Jeſu berichten, und die ihre nähere,
Erklärung in Apoftelg. 6, 14 finden, nach welcher Stelle Ste»
phanus dasfelbe von Jeſus gefagt und hinzugefebt haben fol:
„Er wird die Gebräuche ändern, die Euch Mofes gegeben
hat“. — Ueberhaupt aber, wer, wie Jeſus, die innere
Reinheit ded Herzens über die abgeriffenen äußeren Hands
lungen und die ftarre Uebung des Geremonield gefeßt, und
die Liebe für das Wefentliche des Geſetzes erklärt hat,
der drückt eben damit das Aeußere als Unweſentliches tief
berab. Noch entfchiedener fpricht fich wenigftens die Erwars
195
tung Sefu, es werde ber mofaifche Kultus fallen, in ben
Borherfagungen aus, der Tempel, ber Mittelpunkt dieſes
Kultus, werde zerftört (Matth. 24, 2), und Gott aller Orten
„im Geift und in der Wahrheit“ verehrt werben (Joh. 4,
1— 23).
Allein auf der andern Seite muß auch Das anerfannt wers
den, wie es neuerlich befonders von Frisfche gefchehen ift,
daß fich eben fo viele Stellen auffinden laffen, die zu beiweis
fen fcheinen, daß Jeſus an einen Umflurz der mofaifchen Res
figionsverfaffung nicht gedacht habe. Er beobachtet für feine
Herfon die Hauptpunfte des Geſetzes, beſucht Die Synagoge,
an hohen Feſten den Tempel in Serufalem, und feiert dag
Paſchamahl. — Das Heilen und Aehrenlefen am Sabbat,
das VBerfaumen des Faftens und bes Waſchens vor dem Effen
waren Berftöße nicht gegen das alte mofaische Gefet, fondern
gegen fpätere rabbinifche Sabungen. — In der Bergpredigt,
wo er die ächte Neligiofttät fo hoch über die Beobachtung
äußerer Gebräuche ftellt, verfichert er doch auch, er fei nicht
gefommen, das Geſetz aufzulöfen, fondern zu erfüllen, und eg
werde basfelbe ewig beftehen (Matth. 5, 17). — Auch die
Apoſtel beobachten noch nach dem Pfingitfefte das Geſetz,
gehen zum Gebet in den Tempel, beficchen die Synagoge,
und halten fich an die mofaifchen Speifeverbote.
Demnady fcheint fich auch hier em Widerfpruch in Sefu
Reden und Handeln herauszuftellenz; ihn zu löfen, hat man
verfchiedene Wege eingefchlagen. Einige fagen, Jeſus habe
im Herzen die Aufhebung des Geſetzes gewollt, ſich aber den
jüdischen Vorftellungen anbequemt, um das Vertrauen des
Bolfes nicht zu verlieren. Daß er felbft das Geſetz beobach⸗
tete, ließe fich wohl auf diefe Weiſe erklären, wie ja auch
Panlus offen gefteht, daß er nur den Inden zu Liebe Die
Gebote des Geſetzes halte (1. Kor. 9, 20), uud wie er e8
auch nach Apoftelg. 16, 3 wirklich thut. — Allein daß Jeſus
fo feierlich die Unvergänglichfeit des Geſetzes verfichert, kann
doch nicht als bloße Anbeguemung genommen werden; ed wäre
nicht nur unredlich, fondern auch fehr unflug gewefen! —
Eben fo wenig ift die Auskunft zuläffig, daß er ftreng gefchie-
ben habe zwifchen dem Neinmoralifchen ınd bloß Aeußer⸗
196
lichen des Geſetzes; benn eine folhe Scheidung macht er
nicht einmal in der Bergpredigt, wu er fo viel für und fo
viel gegen das Geſetz redet.
Auf näherem Wege fommen wir zum Ziele, wenn wir u
zuvörderſt derjenigen Anſicht anfchließen, die zwifchen altsmos
ſaiſchen Borfchriften und fpäteren Zufäßen unterſcheidet,
und Sefum jene feithalten, dieſe verwerfen läßt. Daß fee
Berftöße gegen die Eabbatfeier nur diefe, nicht jene, betrafen,
fahen wir fchon oben. Ganz entjchieden aber unterfcheibet
Jeſus (Matth. 15, 3 ꝛc.) zwifchen dem „Gebote Gottes“ um
der „Ueberlieferung der Aelteften“, und ermahnt, Beide za
halten, wenn ed möglich fei; wo nicht, lieber dieſe Ueberliefe⸗
rung, als jene Gebote aufzugeben. Ferner bezeichnet er bie
fpäteren Satzungen ald eine „unerträgliche Bürde“ (Matth.
23, 4), während feine Gebote eine „leichte Laft“ feien (11,
29); daher müffe auch all dieß Satzungsweſen als „menfdhr
liches“ zu Grunde gehen (15, 9, 13): der göttliche Kem
aber, wie er im ächten, urjprünglichen Mojaismus liegt, gilt
ihm als ewig wahr. Wollte man nun aber die Forderung au
Sefum dahin fteigern, daß er, um ganz Fonfequent zu fein,
auch an dieſem ädıten Moſaismus das bloß Geremonielle,
defien er nicht wenig enthalt, hätte verwerfen follen, fo muß
man bedenken, wie ſchwer es hält, an dem durch hohes Alter
Geheiligten zu rütteln, zumal wenn es jeinem eigenen. Weſen
nach fo großartig iſt, und feine Außeren Gebrechen vor bem
berzlofen Pedantismus fpäterer Zufäße fo ganz verfchwinden,
wie Beides bei dem moſaiſchen Gefeße wirklich der Fall ift.
Allein bringen wir und nun die fchon oben befprochene
Erflärungen Jeſu über das Geſetz Mofid (Matth. 5, 18) nod
einmal näher vor das Auge, fo finden wir, daß cr auch bie
fem feine ewige Daner zuſchrieb, fondern fein Dafein an da
des jüdifhen Tempels fnüpfte. Denn aus Matth. 24 fehe
wir, daß dem Juden Zerftörung feines Staates nnd Tempel
(als deffen Mittelyunft) 27) und Untergang der Welt -ganı
29 Wan jehe die Anmerkung unter „Tempel“.
197
Dasfelbe war; und wenn Jeſus in obiger Stelle das Beftchen
des Geſetzes bis zum Ende der Welt verkündet, fo heißt das
eben nur, bis zum Ende ‚Eures jüdiſchen Volkslebens.
Lukas zwar gibt dieſen Ausſpruch Jeſu in einer Faffung, welche
diefe Erklärung weniger zuläßt (16, 16, 17); allein er mag
auch hier eben fo ein Spätered, Entitellted geben, wie bieß
mit dem von Sefu bezeichneten Verhältniffe des ZTäufers in
derfelben Stelle offenbar der Fall ift, wenn wir fie mit Matth.
11, 13 vergleichen.
Muß uns num fchon fo viel Har geworden fein, daß Jeſus
jedenfalls von der durch feine Lehre herbeizuführenden Erhebung
der Menfchheit zu einem „reineren Leben“ den Untergang des
. mofaifchen Geſetzes erwartetete, wie er es in dem Bilde von
dem Abbrechen und Wiederaufbauen des Tempels ausfpricht,
fo geht doch noch weiter aus anderen Aeußerungen hervor,
Daß er diefen Untergang ſchon als nächte Folge feiner Wirk
famfeit vorausſah. Denn zur Samariterin fagt er (Joh. 4,
23): „Es fommt die Stunde, und fchon jest ift fie da,
wo die wahren Unbeter Gott anbeten werden im Geifte und
in der Wahrheit calfo nicht bloß im Tempel zu Serufalem)*,
Auch in den Rorten: „Herr über den Sabbat ift des Men⸗
fhen Sohn Matth. 12, 8)“, ift deutlich genug ausgefprochen,
daß das Geſetz Mofis fchon jet nicht vor der höheren Kraft
feiner auf Reinigung des Herzens gerichteten Lehre beftehen
fünme.
Es ſtellt fi alfo ale das Wahrfcheinlichfte die heraus,
daß Jeſus, wie Paulus, das Geſetz beobachtete, um ſich von
feiner Nation nicht Togzureißen, daß er überhaupt Fein gewalts
fames Einreißen desfelben beabfichtigte, fondern, feft überzeugt
son der belebenden Wärme feiner neuen fehre, Die dag
Wefentliche desſelben heransgehoben und weiter gebildet
hatte, des feften Glaubens Iebte, ed werde die mofaifche
Hülle, welche er noch beibehalten mußte, bald von felbft
abfallen, nnd der überwältigenden Kraft des ihr eingehauchten
Geiftes meichen, ohne daß es der Zerſtörung bebürfe.
Hiernach erklärt fich Teicht, warum er im Bezug auf fein
Verhältniß zum Geſetze Moſis zurückhaltend war: „Sch habe
noch Vieles Euch zu fagen, aber Ihr könnt es jet nicht
- s ‘
198
faſſen (Joh. 16, 12). Und wenn er in ber VBergprebigt
auch dem Heinften Buchftaben des Gefeges ewigen Beſtand
verheißt, fo dürfen wir bei näherer Betrachtung dieß nur fo
verftehen, daß der Geift des Gefetes, möge er auch in dem
unbebeutendften einzelnen Gebote ſich ausfprechen, wicht
untergehen werde: wie ja auch Paulus (Röm. 3, 31) die
Kortdauer des Gefeßes nur von dem inneren Geifte und
Sinne (möge er auch nur unvollfommen in den Außeren For⸗
men fich ausfprechen) verfteht. Somit erfcheint nicht nur
erft bei Paulus, fondern auch fchon bei Sefus, das Geſetz ale
eine „verbereitende Erziehungsanftalt (Gal. 3, 24)“, die ein
weifer Erzieher nicht wegnimmt, fondern den Zöglingen fo
lange läßt, bie er felbft fie, als ein zwar entbehrlicyes, ims
mer aber ehrwürdiges Hilfsmittel auf die Seite ftellt, um es
als theure Neliquie in frommem Andenfen zu. behalten.
[4
Wenn Jeſus feine Volksgenoſſen von dem ftarr geworbdes
nen Gefege zu der geiftigeren Gemeinfchaft eines allen teis
nen Herzen zugänglichen Gottesreiches hinüberführen wollte,
fo fünnen wir kaum zweifelhaft fein darüber, ob er auch den
Heiden Antheil an demfelben geftattet habe. Es finden fidy
wirklich ausdrückliche Erklärungen des Göttlichen darüber vor.
— {in der Synagoge von Nazaret weist er darauf hin, daß
ſchon Elia und Elifa ihre Wohlthaten wegen der Unwürbigs
feit der Suden den Heiden hätten zuwenden müffen (Luk. 4,
25 ꝛc.); — Matth. 8, 11 20. verfichert er, in das Himmels
reich würden einſt Viele von Dft und von Welt kommen,
während die eigentlichen Kinder desfelben verftoßen würden; —
noch beftimmter in den Worten: „Bon Eud, wird das Reich
Gottes genommen, und den Heiden gegeben werden (Matth.
21, 43); — der Wiederfunft des Meſſias foll die Verbreis
tung des Evangeliums unter allen Völkern vorangehen (Matth.
24, 19; — enblid erhalten feine Sünger von ihm nad) ber
Auferftehung die beftimmte Weifung: „Lehret alle Bölfer,
und taufet fie 2c. (Matth. 28, 19) *.
Auffallend ift e8 daher, daß an andern Stellen Sefus die
Heiden gradezu aus dem Meffinsreiche auszufchließen fcheint.
199
So gebietet er Matth. 10, 5 feinen Jüngern bei ihrer Aus⸗
ſendung, „kommet nicht auf Die Straße der Heiden“ — ein
Bufaß, den Markus und Lukas nicht haben, weil er dem
Kreife von Chriften, für den fie fchrieben, ehemaligen Heiden,
anftößig fein konnte. Sa fogar die Wohlthat einer einfachen
Heilung verweigert er einem kananäiſchen Weibe, weil er
„nur zu den verloren Schafen Sfraels gefandt fei (Matth.
15, 24)“, obgleich doch ſchon Elia und Elifa, auf.die er ſich
früher berufen hatte, auch Nichtiuden geheilt hatten. — In
gleihem Sinne benehmen ſich auch die Apoftel noch nad
feinem Tode. Den frommen heidnifchen Hauptmann Cors
nelius in die Gemeinde aufzunehmen, Tann Petrus nur durch
Erfcheinung eines Engels, — und ihn zu taufen, nur durch
das füchtbare. Herabfommen des heil. Geiftes bewogen werden,
und er findet es nothwendig, fein Verfahren durch diefe wum
derbaren Zeichen vor der Gemeinde zu rechtfertigen (Apoſtelg.
10, 11). Jedenfalls liefert dieſe Erzählung einen Beweis,
wie ſchwer es den erjten Chriften anfam, auch Heiden aufs
zunehmen, woraus fich fchließen läßt, daß fie dieß gegen
den Willen Jeſu hielten, und weßhalb ſchon hier die Wechtheit
des oben erwähnten Taufbefehls bei Matth. 23, 19 einiger,
maßen in Zweifel gezogen werben muß.
Wie erflären wir und aber eine fo einfeitig jüdiiche Bes
fchränftheit bei einem Sefus, der dadurch ſich unter Die
Propheten des alten Teftamentes fielen würde, die der Hoff
nung leben, auch die Heiden werden in der Mefjiagzeit zur
Religion Sehovas ſich befehren (Jeſ. 2, 2 ıc.; Ser. 3, 17;
Amos 9, 12 u. A.)? Sm gleihem Sinne fpricht auch der
Täufer fih aus (Matth. 3, 9). Und Jeſus, der eine Aus
betung Gottes „im Geilte und in der Wahrheit“ verfins
dete, follte gewollt haben, daß die Segnungen diejer allein
wahren Anbetung in die engen Gränen Eines Bolfed eins
gefchloffen würden?
Wir müſſen alfo zufehen, oh jene flörenden Stellen nicht
eine mildere Auslegung zulaffen. Wenn er den Süngern vers
bot, fich an die Heiden zu wenden, fo that er dieß wohl nur,
weil er wollte, daß vor der Hand erſt unter den, jedenfalls
‚mehr vorbereiteten, Juden feine Lehre Wurzel faffe, und erſt
200
fpäter, wenn fein Tod die Borftellungen feiner Anhänger go
geläutert hätte, fi) auch weiter verbreite.e — Un i
bliebe ſeine Härte gegen das fananätfche Weib, da er —
dem gleichfalld heidniſchen Hauptmann in Kapernaum fogleid
bereitwillig half (Math. 8, 5), wenn nicht jenes Weib an der
Grenze gegen die Heiden bin ihr Anfinnen an ihn gefickt
hätte, weßhalb eine Heilung bei diejem Bolfe mehr Aufichen
machen mußte, ald er jest noch wünfchte. Ueberdieß bleibt
ja, da er ihm endlich Doch entfprach, mit den Worten: „Selb,
dein Glaube it groß!“, unmer noch die Annahme zuläßig, daß
er eben diefen Glauben des Weibes habe prüfen wollen. —
Die Bedenflichfeit der Apoſtel endlich, auch noch nach dem
Zaufbefeble, Heiden aufzunehmen, mag darin ihren Grub
haben, daß fie glaubten, dieje müßten zuvor durch die Bi \
fchmeidung den Volke Iſraels fich einverleiben laſſen; eim
Boritellung,, welche auch Die ältern Propheten hatten, mb
über die fich Jeſus niemals deutlich erflürt haben mag.
Einer näheren Unterjuchung bedarf nun noch) Die hier fih
anfchliegende Frage: In welches Berhältnip ftellte ſich Jeſus
zu den Samaritern? Sm Betracht diefes Punktes bilden
die Evangelien eine bemerfenswerthe Etufenleiter.
Bei Matthans lefen wir (10, 5), daß Sefus feinen
Schülern den Beſuch Samariens cben fo ftreng verbot, ald
den ber heidniſchen Orte; — Markus erzählt Nichts von
irgend einer Berührung mit den Samaritern; — nad) Lukas
zieht Jeſus Durch Samaria nad) Serujalem (17, 11), läßt
ſich ein andermal dert von feinen Jüngern Herberge beitellen
(9, 52); daß fie übel aufgenommen werben, bringt fie in
großen Zorn, weßwegen fie aber Sejus zurechtweist; auf fein
Urtheil über die Samariter übt dieß feinen nachtheiligen Ein⸗
fluß, vielmehr jtellt er einen folchen in der befannten Gleich—⸗
nißrede 10, 30 ꝛc. ald Mufter der Barmherzigkeit auf. —
Ein noch weit näheres Verhältniß zu den Samaritern ftellt
und Johannes bar, der Jeſus auf einer Reife mehrere Tage
in Samarien verweilen, mit einer Samariterin fich angeler
gentlih unterbalten, und fehr glücklich als Meſſias wirken
201 —
ſaßt (Kap. 4). Mit dieſer Darſtellung harmonirend, meldet
Apoſtelg. 1, 8, daß Jeſus feinen Jüngern vor ber Himmels
fahrt befohlen, auch in Samarien ihn zu verfündigen; und
nach Apoftelg. 8, 5 ꝛc. erregt der glüdfiche Erfolg, mit wel
chem der Diafonus Philipp hier wirklich ypredigte, bei der
Gemeinde. in Serufalem fo große Freude, daß fie ſogleich die
Apoſtel Sohannes und Petrus dahin fendet, um das Wert
der Bekehrung fortzujeben. |
AU diefen, den Samaritern fo günftigen, Zeugniffen fteht
um vorzüglid) jenes Verbot bei Matthäus, wie es fcheint,
ganz fchroff entgegen, um fo mehr, da es offenbar erft nadı
dem von Sohanues erzählten längeren Verweilen Jeſu in Sas
marien, welches ziemlich bald nach feiner Taufe ftattfand, ers
folgt fein muß. Betrachten wir zuerft die glänzendfte ſamari⸗
tifche Scene, die Gefchichte in Kap. 4 des Sohannes! Hier
finden ſich num freilich mancherlei Bedenklichkeiten. Es dringt
ſich zuerſt die Frage auf: Warum fordert Jeſus die Frau
auf, ſie ſolle ihren Mann rufen (V. 16), da er doch wußte,
daß fie feinen rechtmäßigen Mann hatte (V. 18)7 Etwa,
um fie zu befchämen und zur Buße zu leiten? Dann hatte er
feinen Zwed verfehlt; denn davon zeigte nachmals die Kran
feine Spur. Dder, um mit einem für feine Belehrungen
Empfänglicyeren anzufnüpfen? Dieß ftreitet gegen feine Kennt⸗
niß von des VBerhältniffen der Frau; denn fie wird nicht ges
neigt geweſen fein, Den herbeizubringen, deffen Umganges fie
fi) zu Schämen hatte. Dffenbar wollte er füch ihr ald Pros
phet zeigen, was ihm auch wirklich gelang (B. 19; und hier
müfjen wir geftehen, daß er eine folche Gelegenheit mit einer
etwas anftößigen Gewaltfamfeit herbeiführte. Eine ganz ähn⸗
liche Sewaltfamfeit müffen wir auch in der Art finden, wie
Jeſus nunmehr durch das, was er über die wahre Gotteds
verehrung fagt, ihr ben weiteren Glauben, daß er fogar ber
Meſſias fei, gewillermaßen aufbringt (20 — 26). Denn es
fonnte ibm nicht entgehen, daß das befchränfte Weib Die
Frage, ob Die Suden oder die Samariter Necht hätten (20),
nicht aus höherem Sutereffe vorbradyte, fondern nur, um von
dem ihr-empfindlichen Punfte, den Jeſus berührt hatte, abzu-
ienfen. Daher mußte auch Jeſus, feiner fonftigen Gewohnheit
202
nach, grade die Scham, bie ſich hinter der Frage verftedte,
feftzühalten und die Frau zum vollen Bekenntniß ihrer Schuib
zu bringen fuchen. Allein dem Evangeliften war es einmal
darum zu thun, daß Jeſus ale Meſſias amerfannt werben
follte; doch wollen wir deßhalb feine Erzählung noch wicht
als ungeichichtlich verdächtigen, da das uns Auffallende auch
Daher rühren fanı, daß er Mittelglieder, die die Sache em
Härlicher machen, in der Daritellung ausließ.
Eme andere Frage üt die: Woher hatte Jeſus Die Kennt⸗
niß von den Berhältniffen der Frau? Die verſuchte natür⸗
liche Erflärung, er habe aus Mittheilungen Borübergehendber
gefchöpft, hat, neben der Unmwahrfcheinlichfeit, auch die offens
bare Abficht des Evangeliſten gegen fidy; denn er will Diele
Kenntniß als eine übernatürliche darftellen, da fie ja feiner
Erzählung zufolge eben der Grund ift, weßhalb nicht nur
das Weib felbit (DB. 29), fondern auch viele der Samariter
ihn für den Meffias halten (V. 39). Allein daß Jeſus ſelbſt
die Außeren Berhältniffe der ihm begegnenden Perfonen
überall auf den eriten Blick durchſchaut haben follte, wäre
eine feiner unmürdige Alleswifferei, die man um fo weniger
annehmen kann, je höhere Borftellimgen man von feinen
Weſen hat, dem doch auch Die Orthodoxeu das menfchliche:
Bewußtſein nicht rauben wollen. Höchſtens fünnte man alfo
eine ſolche Kenntniß in einzelnen Fällen, 3. B. hier, aus ber
Gabe erflären wollen, welche fi bei Somnambülen wohl
vorfindet, nämlich auf Augenblicke in dem Inneren anmwefender
Derfonen auch ihre Beziehungen zu Abwefenden lefen zu küns
nen, wiewohl dieß in der Regel nur in franfhaften Zus
fanden der Kal iſt. Vermögen wir aber aud) an Diefem
letzten Nettungsbalfen die gefdjichtliche Glaubwürdigfeit dieſes
Zuges in der Erzählung wirklich feftzuhalten, fo ift Doch das
mit für eine höhere Natur Jeſu Nichts bewiefen.
Weniger jchwierig ift Die Beantwortung einer dritten Frage:
Wie fam Jeſus Dazu, gegen ein fo unbedeutendes Weib den
höchften Grundfag feiner Religion (B. 24) augzufprechen, ba
er damit felbft gegen feine Fünger noch zurüdhaltend war? —
Borerft konnte Sefus ganz gute Gründe haben, grade bei
den Samaritern fchon frühe ale Meſſias anerfannt zu werden,
203
weil diefe, gleihfam „ein vom Stamme der Nation abgeriffes
ser Aft, weniger flarr an politifchen jüdifchen Sntereffen
hingen, und demnach empfänglicher fein mußten für eine Um⸗
bildung der Meifiasidee ins Geiftige, als die Suden, und felbft
als bie eigerfen, mit jüdifchen Vorftellungen erfüllten Sünger *.
Sodann aber müffen wir, wenn and jene Mittheilungen an
ein famaritifches Weib vielleicht nicht ganz richtig berechnet -
waren, doch aud) bei Jeſus die „ Gewalt, welche Zeit und
Stunde, Gelegenheit und Stimmung über Eröffnung und
Verfchließung des Gemüthes hat*, mit in Anfchlag bringen.
Hiermit hängt ganz genau zufammen, was Jeſus, nachdem
die Frau ſich wieder in Die Stadt begeben, zu ben Süngern
fagt, Die ihm Speife anbieten CB. 31 ꝛc.): er fpricht darin
feine Hoffnung auf eine reiche Ernte in Samaria fo ganz der
im ihm durch Die Anerfennung des Weibes erregten Stimmung
gemäß aus, daß man dieſe Ausſprüche Feineswegs ale eine
von der Sage nach dem fpäteren Erfolge hinzugefügte Zus
gabe betrachten darf. Wenn die Jünger aber auch hier feine '
bifdfich und geiftig gemeinten Worte buchftäblicy und finnlich
auffaffen ®. 33), fo ift dieß nur Wiederholung eines nament⸗
lich bei Sohaunes hundertmal vorfommenden Falles. Ä
Wenn wir aljo, nad, näherer Betrachtung der hier ents
fcheidenden johamneischen Erzählung, an der Thatfache eine
frühen Verkehres Jeſu mit den Samaritern nicht zweifeln
dürfen, fo bleibt ung noch der Widerfpruch zu löfen, in dem
die oben ©. 200 erwähnte, feinen Süngern gegebene Bors
fhrift, Samaria nicht zu berühren, damit zu ftehen fcheint.
Er löst ſich wohl am Einfachlten Durch die Annahme, daß er
feine Jünger wegen ber ihnen noch inne wohnenden jüdifchen
Borurtbeile, noch nicht für unbefangen genug hielt, um jeßt
ſchon, ehe fein Leiden und Sterben fie auf einen höheren
Standpunkte befeftigt hatte, vecht fegensreich unter den Sa⸗
maritern zu wirfen; ein Grund, der ihn nicht abhalten Fonnte,
ſelbſt fchon, follte er aud, dadurch bei den Juden Anftoß
erregen, bei diefem Bolfe eine Saat „auszufüaen, Die Andere
(feine Sünger) einft ernten ſollten“ (Joh. 4, 37).
204
Viertes Kapitel.
Die Berufung mehrerer Sünger durch Zefum.
(Matth. 4, 18 — 22; Mark. 1, 16— 20; Luf, 5, 1—11;
Soh. 1, 35—52; ferner Matth.'9, 9—175; Mark. 2
14— 22; Luk. 5, 27—39 und 19, 1—-10.)
Sowohl Matthäus und Marfus, die in ihren Angaben
ganz übereinftimmen, wie Johannes, erzählen, daß Jeſus ſehr
bald nach feiner Zaufe mehrere Männer zu fidy berufen habe,
um ihm (als feine Sänger) nachzufolgen; allein beide Theile
weichen in wefentlihen Punkten von einander ab. Die bes
rufenen Perfonen find nicht ganz diefelben (Matthäus:
Detrus, Andreas, Sohannes, Jakobus; Johannes: ſtatt Des
Jakobus den Philippus und den Nathanael); — der Ort
der Berufung ift verfchieden angegeben (Matthäus das Ufer
des galiläifchen See's, Johannes: Peräa und der Weg von
da nach Galiläa); — eben jo die Reihenfolge (Matthäus
f. oben; Johannes: Andreas, Johannes '°), Petrus, Philips
pus, Nathanael); — endlich auch die Art der Berufung
Matthäus: vom Fifchergefchäfte hinweg, Sohannes: ganz uns
beſtimmt ald „Kommende“ und „Gefundene“, ferner nur Dem
Philippus von Sefu felbft berufen, alle Andern theils durch
den Täufer, theild durch ſchon Berufene an Jeſum gewiefen).
Diefer großen Berfchiedenheiten wegen haben daher mehs
rere Ausleger ſich dahin entjchieden, daß beide “Theile zwei
verfchiedene Berufungen erzählen, und zwar Matthäus und
Marfus eine fpätere, Sohannes eine frühere, weil er bie
feine ſchon vor der Rückkehr nad, Galiläa flattfinden läßt,
und weil ihm zufolge Andreas und Johannes grade vom Täu⸗
. fer weg Tefu nachfolgen, bei dem fie nicht mehr fein fonnten,
wenn fchon Sefus fie zu fich berufen hatte. — Allein die Ers
zählung zweier verfchiedenen Begebenheiten fönnen wir doch
nicht wohl vor uns haben: denn in beiden Erzählungen find
die Ausdrüde „folget mir nach“, „fie folgten ihm“ (Matth.
4
9, Diefer nämlich ift, wie man allgemein annimmt, der LUingenannte,
welcher mit Andreas zugleich nach V. 40 Jeſu nachfolgt.
‘
4, 19, 20) und „folge mir nah“ (Joh. 1, 43) doch einander
zu ähnlich, als daß man fie hier von einer bloß vorüber;
gehenden, dort von einer bleibenden Nachfolge verfichen,
könnte. Und dieß müßte man doc, wenn Jeſus die ſchon
(laut Sohannes) Berufenen noch einmal Claut Matthäus) zu
ſich berufen haben fol! Ueberdieß aber fpricht auch der weis.
tere Verlauf der evangelifchen Gefchichte entfcieden gegen eine
folche Trennung der Erzählungen in zwei Berufungen.
Denn nicht vorübergehende Begleiter fünnen Die nach
Johannes Berichte Berufenen geweſen fein (was fie doch,
wenn eine zweite Berufung nöthig war, geweſen fein müß«
ten), weil auch bei ihm fogleich nach der von ihm erzähle
ten Berufung Jeſus, der vorher ohne Begleitung war,
überall im Gefolge von „Süngern“ auftritt (Soh. 2, 2, 11,
12, 17; 3, 22; 4, 8, 27). Nicht als fhon früher ihm
wohl Bekannte kann Jeſus jene Männer bei Matthäus zu
fidy berufen, „weil diefer offenbar großen Werth darauf legt,
daß die Berufenen „fogleih“ (Matth. 4, 20, 22) ihm folgten,
was ihm ja ganz natürlic, erfcheinen mußte, wenn fie fchon
früher an Jeſum ſich angefchloffen hatten. -
Es können alfo Sohannes’ und die Synoptifer nur eine
und biefelbe Berufung berichten wollen, und es fragt ficy nun,
welcher Bericht, da Einer wenigftensd irrig fein muß, der
richtige fei? Hier erfcheint nun zunächit der Theil der ſynop⸗
tischen Darftellung, nach welchem Jeſus die ihm ganz fremden
Männer auf der Stelle durchfchaute und für fähig hielt, feine
Jünger zu werden, in hohem Grade unwahrſcheinlich; aber
auch der Umftand, daß Jeſus fie grade von den Netzen
weg (4, 18) berief, und fie ihm ohne Weiteres, „fogleich“,
folgten, fiheint der verfchönernden Sage anzugehören, zumal.
da ein ganz Gleiches von Elia und Elifa erzählt wird (1 Kön.
19, 19, 21). Sener berief Diefen von Stier und Pflug zu
ſich, alſo ebenfalls von niederer Arbeit zu dem geiftigften Be-
rufe. Wenn aber Elifa fich vorher noch von -feinen Aeltern
verabfchieden darf, die Fifcher aber Sefu auf der Stelle
nachfolgen, fo liegt darin eine fehr natürliche Steigerung, ins:
dem der Meſſias eine noch entfchiedenere Nachfolge mit Hin⸗
tanſetzung alles Andern verlangen mußte. Daher gewährt
—
206
Jeſus anderwaͤrts, wenn die Berufenen darum bitten, vorher
noch Etwas beſorgen zu dürfen, ben Vater zu beerdigen Euk.
9, 59), oder zu Haufe Abſchied zu nehmen (daſ. 61), dieſe
Bitten nicht. — Es bliebe ung alfo als gefchichtliche Thats
fache aus den Synoptifern nur der Umftand übrig, daß mehr
rere vorzügliche Jünger, darunter Petrus, vorher Fifcher ges
wefen, weßwegen fi e Sefus fpäter öfters „ Menſchenfiſcher“
nennt.
Aber auch die johanneiſche Erzählung leidet an vieler⸗
lei Härten und Unmwahrfcheinlichfeiten. Schon das erregt
Bedenfen, daß der Täufer felbft (1, 36) Jeſu die erften Schüs
ler zugewiefen haben ſoll, was fich mit der oben entwickelten
Stellung: desfelben I. Jeſu nicht wohl vereinigen läßt, und
nur einer unvollfommenen Erinnerung oder durch allzugroße
Kürze mangelhaft gewordenen Darftellung des - Evangeliften
zugefchrieben werden kann. Ferner widerfpricht es der glaubs
würdigen Erzählung bei den Synoptifern, daß Petrus erft
nad; langem Umgange Jeſum ald den Meſſias erfannte
(Matth. 16, 16), wenn Sohannes berichtet, fein Bruder Ans
dreas habe fehon anderen Tages ihm denfelben als den Mefs
fias bezeichnet. Wie konnte doch Sefus in jener Stelle bei
Matthäus fo fehr wegen höherer Erfenntniß den Petrus rühs
men, wenn diefer fie einer fchon fo frühen Mittheilung
feines Bruders verdanfte? Auch hier muß wenigftens eine
Verwechslung der Zeit im Gedäcdhtniffe des Evangeliften ftatts
gefunden haben. Ein Aehnliches ift man anzunehmen verfucht,
wenn nach V. 42 Jeſus dem Petrus, der eigentlih Simon
hieß, ſchon beim erften Anblicke diefen bedeutungsvollen Nas
men („Fels“) gibt: offenbar, wie es Matt. 16, 18 deutlicher
fagt, um feinen Muth und feine hohe Befähigung zum Apoftels
amte zu bezeichnen, die Jeſus doch wohl jeßt noch nicht fo
beftimmt ausſprechen konnte, wenn er fich nicht der Gefahr
ansjeßen wollte, fpäter das Bekenntniß eines Irrthums ab⸗
legen zu müſſen.
Endlich iſt es die Unterredung mit Nathanael (45—51),
welche eine genauere Betrachtung erfordert. Daß dieſer jetzt
-_
207
ſchon die Frage an Philippus gerichtet habe: „Was kann
as Nazaret Gutes fommen?“, ift nicht denkbar, weil feine
Spur vorhanden ift, daß diefe Stadt ſchon früher, ehe die
Gegner Jeſu der Heimath des von ihnen verworfenen Meſ—⸗
fiad diefen Schandflef anhängten, in fo üblen Rufe geftans
den habe. Galilän im Allgemeinen konnte aber Nathanael,
ſelbſt in Galiläa, doc nicht meinen. Wenn ferner Jeſus dem⸗
felben ſogleich fagt, er fei ein wahrer Ssfraelite, in dem feine
Falfchheit ftefe, und dem Critaunten mit geheimnißvollen
Worten (V. 48) andeutet, woher er die nähere Kenntniß
feines Wefens habe, worauf diefer ihn freudig ald den Mefs
ſias begrüßt; — fo will offenbar der Evangelift damit Jeſu
auch bier einen Bli in Das Innere des Menfchen zufchreiben,
der auf gewöhnlihem, natürlichem Wege nicht gewonnen
werden kann, zumal da er Sefum zuleßt fagen läßt, Nathanael
werbe noch viel Größeres erfahren. Es bleibt ung alfo auch
hier nur der Ausweg übrig, der ſich und oben bei der Ges
fhichte von der Samariterin (ſ. S. 201) ald den einzigen
darbot: nämlich die Annahme eines ungewöhnlichen Hellfehens.
Sm Allgemeinen fann alfo die Anfchließung der erften
Jünger an Sefu wohl fo erfolgt fein, wie fie und Johannes
meldet; obgleich, wie wir fahen, einzelne Züge wenigſtens
ihrer Stellung nach als unhijtorifche erfcheinen.
Die Berufung ded Petrus, in Verbindung wit Johannes
und Jakobus, wird aber auch von Lukas ausführlich erzählt,
und zwar auf eine fo eigenthimliche Weiſe, daß wir hier eine
ganz andere Begebenheit vor ung haben. Sie it gefnüpft an
einen ganz ungewöhnlid, glücklichen Filchzug des Petrus (Luk.
5, 1— 11), wozu ihm Jeſus verhilft. Diefen Fifchzug auf
natürliche Weife erklären zu wollen, wie es 3. B. Paulng
verficcht, muß als eine fruchtlofe Bemühung betrachtet werden.
Denn wenn Sefus den Fijchern beftehlt, tiefer in den See hineins
jufahren und die Nette auszuwerfen, fo mußte er doc, ſchon
wiffen, daß dort ein glüdlicher Fang zu machen fei, und er
nicht erft auf der Fahrt felbft durch nachträgliche Beobachtung
erfahren haben. Wie aber follte er in diefem Punfte eine
genauere Kenntniß haben, ald die Männer, bie ihr halbes
Leben lang Fifcher gewejen, die jegt an einen günftigen Erfolg
208
nicht glauben, und im Vertrauen auf fein Geheiß ben Ver⸗
fuch. wagen? Daß er wirklich gelang, muß daher ale reiner
Zufall betrachtet werden; welche Vermeflenheit aber von Je⸗
fus, wenn er ſich der Gefahr ausfegte, durch eine fehr mögs
liche Täufchung der durch feine Aufforderung erregten Enwars
tungen beſchämt zu werden! Und, da fie nun erfüllt wurben,
war es redlich, die fußfällige Verehrung des Petrus anzuneh⸗
men, wenn er nur einem Zufalle den Erfolg verdankte?
Es bleibt alfo wohl Nichts übrig, ald den ganzen Borfall
für ein durch Jeſum bewirftes Wunder zu nehmen, wie es
ber Evangelift auch gegeben hat. Run könnte man es zunaͤchſt
als ein Wunder einer höheren Kraft anſehen, vermöge wel
cher Jeſus die Fifche alle grade an den ihm beliebigen Drt
zufammengeführt hätte: allein wie it eine foldye Einwirkung
eines göttlichen Geiftes auf eine Maſſe vernunftlofer Weſen
irgend denkbar, welhen Zweck konnte Sefus bei folhem Wun⸗
ber haben? Etwa, Ueberzeugung an feine Göttlichfeit in
Petrus zu erweden? Mußte er nicht vielmehr in ihm aber»
gläubifche BVorftellungen erzeugen? deſſen Blid von ber
inneren Göttlichkeit Jeſu auf äußere Mirakel hinziehen?
Nach einer foldyen Schule fieht aber gar nicht aus, ‚was
fpater den Petrus fo eng an Jeſum fefjelte, nämlich ber
Glauben, daß Diefer Worte „des ewigen Lebens“ habe
(Joh. 6, 68)! — Will man aber nur das Wunder eines höheren
Wiffens hier finden, d. h. daß Jeſus wußte, es feien fchon
fo viele Fifche hier verfammelt? Aber befaß er eine Allwiffens
heit von folhem Umfange, daß er die Zahl der Fifche im
Meere jederzeit fannte, fo hört alles menfchliche Bewußt⸗
fein bei ihm auf; fonnte er fie aber nur wiſſen, fo oft er
wollte, fo 309 dieß feinen Geift Doch in eine gar zu niebere,
von feinem göttlichen Berufe eines Menfchenfifchere weit
abliegende, Sphäre hinab!
Vergleichen wir nun aber noch diefen Fifchzug des Petrus
mit ber fchon früher betrachteten Berufung dieſes Apoftele, fo
will er ſich damit durchaus nicht vertragen. Denn früher
kann er doch wohl nidjt ftattgefunden haben; wie follten Jeſu
Männer auf einen einfachen Wink nachfolgen, die durch ein
Wunder, das ihnen fchon früher Staunen abgenöthigt
209
hatte, nicht an ihn gefellelt werben konnten? Später, ale
jene Berufung, kann der Fiſchzug auch nicht vorgefallen fein,
denn es findet ſich bei Matthäus und Iohannes keine Spur
davon, daß Petrus und feine Begleiter nach derfelben Jeſum
wieber verlaffen hätten, und doch lockt ihn diefer Durch dem
Fiſchzug wieder auf's Neue au fich, und zwar augenfcheinlich
als einen ihm noch fremden Mann, wie der ganze Ton ber
eukas'ſchen Erzählung zu erkennen gibt. — Demnach fteht auch
hier wieder die Sache eben fo, wie oben bei ber doppelten
Berufungsgefchichte: nur Eins, entweder jene einfache Aufs
fordberung Jeſu, ihm zu folgen, oder unfer wunderbarer Fiſch⸗
zug, kann gefchichtlich wahr fein. Welches von beiden aber?
Für die Beantwortung diefer Frage bietet ſich ung ein wills
fommener Anhaltspunkt in der Sentenz dar, die Matth. 4, 19
Jeſu, als er den Petrus berief, in den Mund gelegt wird:
„Sch will Euch zu Menfchenfifchern machen“; womit der
ganz ähnliche bildliche Ausdrud Matth. 13, 47 zu vergleichen
it. Wir haben nämlidy in Lukas offenbar nicht Anderes
vor und, als die durch die Tradition zur Wunder geſchichte
umgebildete Sentenz, die man ſich von Jeſu zu erzählen wußte:
Denn das ift ja grade das eigentlihe Wefen der Sage,
daß fie bildliche Reden und Ideen in felte, ftarre Geſchichte
unmvanbelt; daß fie darauf ausgeht, „dem flüchtigen Gedans
fen einen foliden Leib zu bauen; das leicht mißverftehbare und
ſchnell verhallende Wort als allgemein verftändliche und uns
vergeßliche Begebenheit * feſtzuhalten. Daher erfcheint une
diefe Erzählung vom Fifchzuge als eine reine, aus der ans
geführten Sentenz herausgefponnene, Mythe. Es haben
aber diejenigen, welche umgefehrt die Berufungsgefchichte
für eine fpätere Abkürzung und Vergeiftigung des Fiſchzuges
anfehen, — alfo auch als ein Werf der Sage — den Chas
rafter des Mythiſchen gaänzlich mißverfianden.
Diefe Anficht von dem durchaus mythifchen Charakter uns
ferer Erzählung gewinnt noch dadurch an Gewicht, daß Jo⸗
hannes, 21, 1—13, einen wunderbaren Fiſchzug Petrus und
feiner Begleiter erzählt, der von dem eben erſt auferitans
l. 14
210
denen Jeſus angeordnet wird, und mit den bei kLukas fo
viel Aehnlichkeit hat, daß beide unverfennbar eine und biejelbe
Mythe find. Wir fehen alfo, die Erzählung ſchwebte gewiſſer⸗
maßen fo in der Luft, war fo fehr ohne hiſtoriſchen Boben,
daß die Weberlieferung fie bald hier-, bald dorthin verfegte.
Ueberdieß ift die Darftellung bei Johannes noch abgerundeter,
im Sinne der Mythe, indem er nicht nur bie Zahl_ ber ges
fangenen Fifche (153) angibt, fondern auch das Wunderbare
noch vervollftändigt, da bei ihm, troß des ungewöhnlidyen
Gewichtes, die Nebe nicht zerreißen, während bei Lukas die
Tepe, und mit ihnen das Wunder, arge Riſſe bekommen.
Wer fieht nicht in diefem Allem das Werk der an dem Stoffe
eines ‚gegebenen Gedankens gefchäftig fortbildenden Einbil⸗
dungskraft?
Es bleibt ung noch eine andere fpätere Berufungsgeſchichte
zu betrachten, die eines Zöllners unmittelbar von feinem Bes
rufe weg; das erfte Evangelium nennt ihn Matthäus, Das
zweite und dritte dagegen Levi. Daß alle drei Erzählungen
troß der Berfchiedenheit der Namen, doch dieſelbe Begebens
heit enthalten, it ihrer großen Aehnlichkeit wegen unzweifels
haft; Daher hat man annehmen wollen, aud) die Perfon bes
Berufenen fei diefelbe, und Matthäus nur ein Beiname bes
Levi gewefen. Allein dieß wiberfpricht den Evangelien Durch”
aus; denn Die Evangelien, welche den Zöllner hier Levi nen,
nen, erwähnen feiner nie mehr, führen den Matthäus ohne
weiteren Zunamen im Apoftelverzeichniffe (Mark. 3, 18; Luk.
6, 15) auf, — wo doch Zunamen fonft vorfonmen — und
laſſen hier felbft den Beifat Zöllner weg, ben bas erfte
Evangelium (10, 3) ausdrüdlich hat. — Haben wir alfo nur
Eine Berufungsgefchichte, aber zwei Berufene, fo muß irgendwo
ein Irrthum ſtecken; diefen hat man auf Seiten des Matthäus
finden wollen, weil diefer die Gefchichte nach der Bergpredigt
verlegt, während nach Lukas ſchon vor berfelben alle Apoſtel,
worunter auch Matthäus, auserwählt waren (uf. 6, 13).
Allein das wäre nur Irrthum in der Zeit, mit deſſen Ans
erennung der in der Sache liegende Widerſvruch nicht weg⸗
211
geräumt wird. Da dieß auch auf andere Weiſe nicht gelingen
will, fo wollen wir lieber die hiftorifche Glaubwürdigkeit beis
ber, bis auf die Namen fo ähnlichen, Berichte näher in's
Auge fafien.
Eben jo ylöglidy und gewaltſam, wie früher Die Fiſcher
vom Rebe (f. oben S. 205),-wird hier der Zöllner von der
Zollftätte durch ein einfaches „folge mir“ wmeggeriffen; ba
auch hier dieſer Aufforderung fogleich entiprochen wird, bieß
zwar iſt weniger unmwahrfcheinlich, da jet Jeſus fchon längere
Zeit gewirkt hatte. Um fo unerflärlicher aber ift Jeſu plötz⸗
liche Abberufung des Mannes mitten aus ber Ausübung des
‚Amtes heraus, da er ja eben jenes längeren Wirkens wegen
Gelegenheit genug haben fonnte, den Mann allmälig an ſich
zu ziehen. Es wird daher fehr wahrfcheinlich, daß hier bie
Sage geichäftig war, die Bereitwilligfeit und Hingebung,
mit welcher, der gefchichtlichen Ueberlieferung zufolge, der
Zöllner ſich wirklich Jeſu angefchloffen hatte, zu einer folchen
Scene recht anſchaulich auszumalen. Denn die natürliche
Erklärung bderfelden, daß die Worte Iefu „folge mir“ nur
eine Einladımg, zu der vom Zöllner bereiteten Mahlzeit her⸗
einzutreten, geweſen feien, verdient faum der Erwähnung, da
ja überdieß die Mahlzeit nur eine Folge der Berufung des
Zöllners war (Luk. 5, 28, 29), ein Ausdrud feiner Freude
barüber. _ |
"Auffallend muß es ferner erfcheinen, daß Matthäus,
der ja der Berfaffer des erften Evangeliums fein foll, bier
alfo- felbft die Hauptperſon wäre, die ganze Sache nicht nur
weniger anfchaulid, erzählt, als Lukas, fondern aud) fo ganz
fremb thut, indem er fagt: „ein Menfc, Namens Matthäus“ ; —
da jedoch ſchon in der Einleitung die Anficht durchgeführt wors
den ift, Daß das Evangelium nicht von ihm herrühre, fo ann
diefes Bedenken hier nur furz berührt werden.
Wichtiger ift ein anderer Zug, der fidy ganz wie ein ebene
falls fagenhafter ausnimmt, nämlicy die Art, wie die Phas
rifäer in die Scene hereingezogen werden. Diefe machen
nämlich Jeſu Vorwürfe, „da fie fahen, wie er mit Zöllnern
und Sündern aB* (Mark. 2, 16): allein wie follen fie dieß
gefehen haben, da ja die Mahlzeit „in dem Hawie“ gehalten
212
wurde? Hereingegangen werben fie wohl nicht fein, denn
font hätten fie denfelben Fehler Damit begangen, den fie Luk.
19, 7 an Sefu rügten; vor Dem Haufe gewartet haben fie
wohl auch nicht. Nun war e8 aber eine befannte Thatfache,
daß die Pharifäer fih an Jeſu Umgange mit diefer Menfchens
Haffe ärgerten; die Antwort, welche ihm bier in den Mund
gelegt wird (Matth. 10, 12), it fo körnig zugefpißt und Leicht
behaltbar, daß fie faft als thatfächlich betrachtet werben muß.
Konnte nun nicht die Sage durch Diefe zwei gegebenen Punkte
gar leicht zu dem weiteren Zuge ihres Gemäldes veranlaßt
werden: „Grabe da, wo Jeſus mit einem fo eben zum Apoſtel
erhobenen Zöllner fpeifete, traten fie mit ihrem Vorwurfe
zudringlicy hervor, und wurden mit der fAjlagenden Antwort
abgefertigt“? — Es fanden fid, aber auch noch andere Zus
fhauer ein, naͤmlich Sohannesjünger, die an Jeſu das Vers
ſaäumen des Faftens tadeln; — ift diefer Befuch während des
Eſſens fchon an fich eben fo ummahrfcheinlich, als der fo eben
kefprochene, fo wird er es Doppelt Durch das Zufanmentreffen
mit diefem, und wir dürfen auch hier die Thätigfeit der Sage
annehmen, die foldye Gruppirungen liebte, und mit einem feſt⸗
lichen Mahle einen, ebenfalls an fich gefchichtlich wahren,
weiteren Vorwurf zu Tnüpfen geneigt fein konnte. Wollte
man auch mit Schleiermacher die Darftellung des Lukas
(5, 33), der diefen Borwurf auch noch den Pharifäern in
den Mund legt, für -die richtigere halten, fo wäre damit für
bie gefhichtliche Wahrheit der ganzen Scene Nichts ges
wonnen; denn aledann hätten wir nur flatt eines felbititän,
digen fagenhaften Zuges einen Theil des früheren, ebenfalls
als fagenhaft ſich anfündigenden, von dem Hinzukommen der
Pharifäer. |
Wir können bier füglich noch einer verwandten Erzählung
gedenken, nad, welcher Jeſus bei dem Zöllner Zadyäug, der
bei feinem Einzug in Sericho auf einen Baum gefliegen war,
um ihn deutlicher fehen zu können, einkehrte. Müflen wir
auch hier annehmen, daß der Mann vorher Sefu ganz unbes
kannt war, fo berechtigt dieß Doch zu feinem Zweifel an der
Wahrheit der Erzählung, da ja der Eifer, der den feinen
Mann auf den Baum geführt hatte, in Jeſu ein günftiges
" 243
vorurtheil gar wohl erwecken konnte; auch iſt es durchaus
nicht ohne Beiſpiel, daß nur Ein Evangeliſt, hier Lukas (19,
4—10), die Geſchichte aufbewahrt hat.
—
Fuͤnftes Kapitel.
Die zwölf Apoſtel und ſiebenzig Jünger.
Matth. 10, 2—4; Mark. 3, 13—19; Luk. 6, 12— 16
und 10, 1.)
Daß Jeſus einen auserwählten engeren Kreis von Süns
gen um fich hatte, die zwölf Apoftel, wird von allen Evans
geliften berichtet, und diefe Zahl hat fich fchon während Jeſu
Leben fo feltgeitellt, daß fogleich nad, der Himmelfahrt die
Apoftel zufammentreten, um durch eine neue Wahl Cdie des
Matthias) die durch Judas Tod entitandene Lücke wieder
auszufüllen. Wir haben auch feinen Grund zu bezweifeln,
daß Sefus felbft diefe Zahl feftgeftellt habe, vielleicht ohne
daß fie gleich Anfangs in feinem Plane lag; fie ift, verglichen
mit den zwölf Stämmen des Bolfes, mit welcher Jeſus fie
auch wirklich Matth. 19, 28 in Verbindung bringt, zu bedelts
tungsvoll, ale daß er, der „ja zu den verloren Schafen
Iſraels gefandt war“, e8 nicht hätte angemeſſen finden fünnen,
grade zwölf Hirten zu den zwölf Stämmen der verlornen
Heerde zu fenden. Daß er fie aber in einem feierlichen Afte
dazu geweiht, ift unmwahrfcheinlih; Matthäus und Johannes
wiffen davon gar Nichts, fondern laſſen ohne Weiteres auf
‚einmal „die Zwölfe“ auftreten. Lukas (6, 13) und Marfus
(3, 13 fagen zwar, Sefus habe nad, einer im Gebete durchs
wachten Nacht die Zwölfe erwählt, allein fie bringen dieſen
Akt in eine fo fonderbare Verbindung mit der Bergpredigt,
bei der die Zwölfe doch eben nichts Vefonderes weder zu thun
noch mehr als Andere zu erfahren hatten, daß man bie
Slaubwürbigfeit ihrer Erzahlungen wohl in Zweiſel ziehen
darf.
218
Ten Zwed, für welchen Jeſus fie berief, gibt am ges
naueften Mark. 3, 14 an, und zwar als einen doppelten:
1) „Damit fie um ihn feien“: — nicht nur, um auf feinen
Reifen ihm Beiftand zu gewähren, 3. B. Quartier zu beftellen
(Luk. 9, 52), Lebensmittel zu verfchaffen (Joh. 4, 8), und
andere Dienfte (Matth. 21, 1 2.) zu leiten; fondern auch,
um durch den beftändigen Umgang mit ihm zu den eigentlichen
Berbreitern feiner Lehre herangebildet zu werden, weßhalb fie
ihn oft um befonderen Aufjcyluß bitten (Matth. 13, 10) und
von Jeſu felbft freundlich und ernit zurechtgewiefen werben
(Matth. 8, 26; 18, 1 u. f. wo.
2) „ Damit er fie ausfende, zu prebigen“: — von diefer
wichtigften Seite ihres Berufes erhielten fie auch den Namen
- Apoftel, das heißt Abgefandte; einen Namen, der ihnen
ohne Zweifel Sefus felbft gegeben hat, da er fchon während
. feines Lebens fie zur Verkündigung des Meſſiasreiches aus⸗
fandte (Matth. 10, 59. Daß fie auch fchon bei Sefu Lebzeiten
tauften, wie Sohannes (4, 2) berichtet, kann eben fo wenig
in Zweifel ge;ogen werden, weil ja fchon der Qäufer bie
Taufe als Vorbereitung auf das Meſſiasreich angeordnet hatte,
und diefelbe fogleich nach Jeſu Tode als Weihe für die Auf
nahme zum Chriftenthume erfcheint.
Es blieben alfo die Apoftel, mit Ausnahme der fo eben
angeführten Ausfendung, ſtets um Jeſu; wenn man aber es un⸗
wahrfcheinlich finden will, daß fo viele Mänıter haben leben
fonnen, ohne irgend ein Gewerbe zu treiben, fo hat man Das
bei mancherlei eigenthümliche Umftände außer Acht gelaffen: —
bie große Gaftfreundlichfeit des Miorgenlandes , befonders ger
gen Rabbinenz die Begleitung vermöglicher Weiber, die Sefum
mit ihrer Habe unterftüßten (Luk. 8, 35 die von Judas vers
waltete Gefellfchaftsfaffe, aus der noch Arme unterftüßt wers
den konnten (ob. 12, 6); endlich die geringen Bebdürfniffe
des Drientalen. — Ihrem Stande nach gehörten wohl alle
den niedern Volksklaſſen an, was ſich theild ans ihrer Bils
dungsftufe, theild aus. Jeſu Vorliebe für die Armen und
durch fogenannte Bildung noch nicht Verhärteten abnehmen
läßt, wie wir ja auch von Vieren wirklich wiſſen, baß fie
215
Fifher gewefen, und einen Zöltner unter ihnen fennen
gelernt haben.
In jedem der vier Namensverzeichniſſe der Apoſtel, die
wir haben (Matth. 10, 2; Mark. 3, 16; Luk. 6, 14; Apo⸗
ſtelg. 1, 13; bei Johannes fehlt es), ſtehen Petrus, An⸗
dreas, Jakobus, Johannes voran; Andreas offenbar nur
als Bruder des Petrus, die drei andern aber, weil ſie Jeſus
durch beſonderes Vertrauen auszeichnete; daß dieß aber auch
mit Andreas der Fall geweſen ſei, fünnte höchſtens aus Mar⸗
kus erwieſen werden, der alle Vier zweimal beſonders auf⸗
treten laͤßt (1, 29 und 13, 3); allein aus Vergleichung mit
mit andern Evangeliften geht hervor, daß dieß eine bloße auf
Mißverſtand beruhende Vorausſetzung if. Die übrigen drei .
aber werben allerdings bei mehreren Anläffen, gleichjam ale
engerer Ausſchuß, von Jeſu befonders zugezogen, z. B. Matth.
17, 15 Mark. 9, 2; namentlid) bei der Berflärung (Matth.
17, 1), bei dem Kampfe auf Gethjemane (Matth. 26, 36,
37) und bei der Auferwedung der Tochter des Jarrus (Mark.
3, 37), wenn nicht dieſes Keßtere ein abermaliger Irrthum
des Markus ift.
Insbeſondere ausgezeichnet werden die beiden Brüder
Sohannes und Jakobus in vielen Stellen; Jeſus nennt
fie „Söhne ded Donners“* (Marl. 3, 18), wahrjcheinlich we⸗
gen ihrer feurigen Gemüthsart (Luk. 9, 54); ja fie fanden
fo hoch, daß fie glaubten, auf die erften Stellen in Jeſu
Reiche Anfpruch machen zu könneun (Mark. 10, 355 Matth.
20, 20). Auffallend aber ift ed, daß überall, wo Beide ges
nannt werden, Jakobus voranfteht, in den Berzeichniffen
felbft und an zwölf andern Stellen, wogegen nur zweimal
Sohannes vor Safobus genannt ift, und Johannes gerne
ganz einfach, ald „Bruder des Jakobus “ bezeichnet wird.
Den entfchiedenften Vorzug aber hat Petrus, was nur
übertrieben proteftantifcher Eifer hat in Abrede ftellen können:
fein Name fteht in allen Verzeichniffen voran, und Matthäus
nennt ihn ganz beftimmt den „erften“. Ueberall ift er mit
dem Eifer feiner fenrigen Rede den Andern voran G. B. Matth.
216
16, 22; 18, 21; 26, 33) ,-wie mit entfchlofiener That (Matth.
14, 28; 26, 58; Sob. 18, 10); er üt es, der guerf die
Meffianität Jeſu erkannte. Auch in ber Apoftelgefchichte und
den Briefen bed Paulus wird ihm ein entſchiedener Vorrang
zuerkannt.
Anders aber ſtellt ſich dieſes Verhaͤltniß der von Jeſu
ausgezeichneten Apoſtel in dem Evangelium des Johannes
heraus, auf welches wir in Obigem noch Feine Rüdficht nahe
men. Zwar widerfährt auch hier an mehreren Stellen dem
Petrus fein Recht; fein ehrender Beiname (1, 43), fein
glaubensvolles Bekenntniß (6, 68) werden nicht verfchwiegen;
bei dem Gange zum Grabe Jeſu (20, 3) und bei der Erſchei⸗
nung des Auferftandenen am galiläifchen See (21) ſteht er
mit Sohannes wenigftens auf gleicher Stufe. Doc, ift in am
dern Stellen ein Borzug des Sohannes vor ihm unverfenn-
bar. Johannes muß ihm den Eintritt in den Palaft des
Hohenpriefterd verfchaffen (18, 15), und nur durch Sohannes
fann er beim letzten Mahle Jeſum nad) der Perfon des Vers
rätherd fragen (13, 23). Am entfchiedenften aber wird in
diefem Evangelium Sohannes über alle Sünger, demnach
auch über Petrus, geftellt durch Die ftehende Benennung:
„der Sünger, den Jeſus lieb hatte“; daß hiermit wirklich Sos
hannes gemeint fei, könnte zwar noch bezweifelt werben, ba
ber Evangelift niemald neben jener Bezeichnung auch den Ras
men des Johannes nennt, und die übrigen Evangelien Nichte
von diefem erzählen, was im vierten dem Lieblingsjünger zus
geichrieben wird. Allein in den Kreife, in welchem dieſes
Evangelium entitand, war außer Sohannes fein Apoſtel fo
befannt, daß er durch eine nur fo allgemeine Bezeichnung, wie
„der von Jeſus geliebte“, oder „der andere“ ımd „ein anderer
Sünger“, was ebenfalls oft vorkommt, hätte Fenntlich gemacht
werden fünnen. — Will nun aber der Evangelift mit Diefen
allgemeinen Ausdrüden auch feine, bed Berfaffers, Pers
fon, als den Apoftel Sohannes hinftellen? So fcheint es;
zwar bie Worte 21, 24: „dieß ift der Jünger, der davon
Zengniß gibt, und dieß gefchrieben hat“, beweifen Nichte,
da biefer Zufag bekanntlich, unächt iſt; dagegen lauten bie
217
Worte: „wir fahen feine Herrlichkeit“ (1, 14), und „aus
feiner Külle nahmen wir“ (1, 16), doch fo, daß fie, zufams
mengehalten mit 19, 35, wo es heißt: „der dieß gefehen,
bezeugte es, — uud er weiß, daß er die Wahrheit rebet“,
die Abficht des Berfaffers verrathen, ſich als Augenzengen,
und zwar, wie der Zufammenhang lehrt (den wir nachzufehen
bitten), grade ald den Sohannes, den vom Herrn Geliebten.
Ob der Verfaſſer aber wirklich Johannes gewefen, oder ob
er nur als ſolcher erfcheinen wollte, dieß ift damit noch nicht
entfchieden. Wir wollen zwar die fchon früher befprochenen
Unwahrfcheinlichfeiten in feinen Erzählungen von Jeſu Vers
haͤltniß zum Täufer, von beffen Unterredung mit der, Sama⸗
titerin, u. 9. gerne auf Rechnung des im hohen Alter ges
ſchwaächten Gedächtniffes feßen, — gerne die -fichtbare Umge⸗
faltung der Reden Jeſu zu eigenen Herzendergießungen und
aus ber Innigkeit des Gemüthes erflären, durch welche fein
Weſen mit Jeſu gleichjam Eins geworden war. Allein daß
biefer Sohannes, wenn er wirklich das Evangelium fchrieb,
feines Jeiblichen Bruders, des Jakobus, den alle andern
Eyangeliften zu den ausgezeichneten Süngern zählen, mit eis
ner Sylbe befonders gedacht haben follte, können wir und Doch
nicht wohl denken. Denn zu der Annahme, daß eine erſt
fpäter dem Jakobus zu Theil gewordene Bedeutfamfeit den
Anlaß zu der Sage von einem näheren Verhältniffe zu Jeſu,
wie wir es bei den Eynoptifern finden, gegeben habe, find
wir nicht berechtigt, da dieſer Jakobus ſchon frühzeitig getöd⸗
tet worden ift (Apoftelg. 12, 2). Es muß demnach diefe, -
wie wir dafür halten müffen, ungefchichtliche Zurückſetzung
desfelben im vierten Evangelium immerhin zu den Bedenken
gezählt werden, die gegen die Heberlieferung, daß Sohannes
der Berfaffer diefes Evangeliums fei, fich erheben.
Wir wenden ung nun noch zu den übrigen acht Apofteln,
ohne befonderen Werth auf die Stelle zu legen, die ihnen in
ben vier Namensverzeichniffen angewiefen wird, ba diefe hierin
nicht übereinftimmen.
Philippus war, dem Sohannes zufolge, der ihn auch
mehrmals vedend auftreten laßt, aus Bethfaida gebürtig.
218
Daß fich Juden aus griechiſchen Ländern, welche Iefum zu
ſehen wünſchen, an ihn wenden (Joh. 12, 20), ſcheint ihm
eine ſonſt nicht bemerkbare Bedeutung beizulegen.
Bartholomäus iſt und nur aus dem Apoſtelverzeichniſe
befannt: da er bei Johannes niemals genannt wird, und da
gegen der Rathanael hier in einigen Verbindungen vors
fommt, wo die Synoptifer den Bartholomäus nennen, fo hat
man geglaubt, beide Namen bezeichnen diefelbe Perfon, jedoch
ohne zureichenden Grund, wiewohl der Name Nathanael in
keinem Apoftelverzeichniffe vorkommt.
Thomas erfiheint in der Auferſtehungsgeſchichte des Las
zarus Soh. 11, 16 als treuer Günger ded Herrn; dann *
nach deſſen Auferſtehung als der Ungläubige (20, 24),
ift auch bei einer der Erfcheinungen Jeſu vor der mehr
gegenwärtig (21, 2).
Bon Matthäus kennen wir nur bie oben befprochene
Berufungsgeichichte.
Jakobus, Alphäus Sohn, wird in ber Apoſtelgeſchichte
mehrmals mit Auszeichnung erwähnt.
Simon, der Eiferer genannt, feheint früher der, erft
ſpaͤt entitandenen, jüdiſchen Sefte der Neligiondeiferer ange
hört zu haben. .
Sudas Iſcharioth, der berüchtigte Verräther, wird
weiter unten befprochen werden; er fteht in allen Verzeich⸗
niffen am Ende.
Die vorlegte Stelle nimmt bei Lukas ein Jubas, Jako⸗
bus Sohn, ein; bei Markus ein Thaddäus; bei Matthäus
ein Lebbäus; eine Berfchiedenheit, die fich, wenn man auch
bie beiden letzten Namen als Bezeichnnng derfelben Perfon
nehmen will, nicht ausgleichen, und nur aus der wahrfjcheins
lich erft fpätern Entitehung der Verzeichniſſe erklären läßt.
Der einzige Lukas erzählt und 10, 1, daß Jeſus außer
diefen Apofteln auch noch einen weitern Kreis von fiebenzig
Süngern um fich gehabt habe, die ihm beftändig nachfolg«
ten. Allein diefe Nachricht hat Vieles gegen fih. Nicht nur
werben dieſe fiebenzig fonft nirgends erwähnt, ſondern es
219
laſſen fich auch leicht Grunde finden, welche bie Sage ver
anlaffen konnten, Line ſolche Zugabe zur Gefchichte zu liefern:
fiebenzig war eine heilige Zahl; fiebenzig Aeltefte wählte Moe
fe8 (4 Moſ. 11, 16, 25), fiebenzig Mitglieder hatte das Sys
nedrium, fiebenzig griechifche Dolmeticher das alte Teftament.
Bebeutender noch iſt ed, daß nach jüdifcher Anficht es ſieben⸗
sig verfchiedene Völfer und eben fo viele Sprachen auf Erben
gab. Wußte man nun einmal, daß Sefus nach ber Zahl der
jüdifchen Stämme ſich zwölf Apoftel auserlefen hatte, wie
leicht Eonnte man dadurch zu dem Schluffe gelangen, er werde
auch für jedes der, wenn auch in einiger Ferne, auf ihn
harrenden, übrigen Völker der Erbe einen Boten aufgeftellt,
daraus einen ihm etwas ferner ftehenden Kreis gebildet, und
ſomit die Berufung aller Völker fchon bei feinen Lebzeiten
finnbüblich angedeutet haben? —
Mag nun auch Jeſus allerdings außer den Apoiteln noch _
andere Männer zu beftänbigen Begleitesn gehabt haben, wie
auch Apoftelg. 1, 21 zu beweifen fcheint, fo müflen wir doch
annehmen, er werbe wohl Wichtigeres zu thun gehabt haben,
„als alle möglichen bedeutfamen Zahlen zufammen zu fuchen,
und ſich nach Maßgabe berfelben mit verjchiedenen Süngers
freifen zu umgeben *.
Vierter Abfchnitt. |
Die Reden Zefu, und die widtigften natür:
lichen Begebenheiten aus feinem Leben,
s Wos auf Leiden, Tob und Wiederfunft ſich beziehf, bleibt auch
bier aufgefrart. *
Erfies Kapitel.
Die Bergpredigt und die Nede bei Ausfendung
der Zwölfe.
(Matth. 5—7; Luk. 6, 20—49.) 2
Indem wir zumächft zu den Reden Jeſu übergehen, feheis
ben wir nur folche für diefe abgefonberte Betrachtung aus,
weiche, ohne mit Begebenheiten in einem Zufammenhange
zu ftehen, für fich felbftftändige Ganze ausmachen. Fer
ner müffen hierbei die von den Synoptifern mitgetheilten ges
ſchieden werden von denen bei Johannes, da zwifchen Beiden
auch in dieſer Beziehung eine große DVerfchiedenheit obwaltet.
Unter ſich charafterifiren fi) Die Synoptifer wieder fo, daß
Markus fehr wenige Reden liefert, Lukas bedeutend mehr,
aber zerftreut und vereinzelt, und Matthäus gewöhnlich in
größeren Maffen; weßhalb wir am fchidlichften dieſen mit
feinen größeren Neben zu Grunde legen, und überall die beis
Den Andern da zuziehen, wo fie etwas Verwandtes und Ents
fprechendes darbieten.
19 Da in allen Kapiteln dieſes WUbfchnitted mehrere, ganz vers
fchiedbene Parthien der evangelifchen Berichte befprochen werben
müffen, fo fchien es zwedmäßig, am Anfange eines Kapitels
nme die Stellen anzugeben, welche fich auf den erften Gegen
ftand desſelben beziehen, die übrigen aber erft dann in befonberer
Ueberfchrift, wenn ihr Juhalt zur Sprache kommt.
221
Wir beginnen mit ber erſten größeren Rebe bei Matthäus,
der fogenammten Bergpredigt (5, 1 ıc.), welcher eine Rede
Jeſu bei Lukas in vielen Punkten auffallend ähnlich ift (Luk.
6, 20 2c.). Beide haben denfelben Anfang und Schluß, eine
fer verwandte Anordnung der Gedanfen, unb bei beiden
Evangeliften begibt ſich nach der Rede Jeſus nach Kapers
naum, wo er den Knecht des Hauptmauns heilt (Matth. 8,
5 x.; Luk. 7, 1 ꝛc.). Es iſt alſo unverkennbar, daß Beide
ung die ſelbe Rede geben; denn wenn namentlich ältere Aus⸗
leger dieß mit der Behauptung läugnen, Jeſus habe gar wohl
wichtige Lehren mehrmals vortragen können, fo ift dieß
mar von einzelnen furzen Sätzen gar wohl benfbar; eine
Nede aber in fo gleicher Stellung der Säge und ganz mit
demfelben Anfange und Schluſſe zu wiederholen, die ß fünnte
doch nur einem befchränften Kopfe, einem Lehrer, dem es an
mannigfachen und neuen Wendungen gebricht, begegnen. Man
hat aber auch zu Diefer Annahme nur darım feine Zuflucht
genommen, weil beide Evangeliften auch wieder in mehreren
Punkten von einander abweichen.
Zunächft nämlich könnte es fo fcheinen, ale ob, dem Lukas
folge, Jeſus feiner Nede eine befondere Beziehung zu den
fo eben erwählten Jüngern gebe, da er hier beim Beginne
derfelben feine Augen „anf fene Jünger“ richtet (6, 20),
während Matthäus Jeſum beitimmt zu den „Volksmaſſen“
(5, 1) reden laßt; allein da doch auch Lukas fagt, Jeſus habe
„zu den Ohren des Bolfes“ geredet (7, 1), fo darf auf
diefe Kleine Berfchiedenheit fein Gewicht gelegt werden. Auch
ber Widerfpruch, daß Lukas Mehrere von Jeſus vor der
Nede erzählt, was Matthäus nach derfelben gefchehen läßt,
mag als weniger bedeutend überfehen werden.
Daß aber nach Matthäus Jeſus „auf den Berg ging“,
und „fisend“ fpradı (5, 1), während er bei Lukas „herabs
ftieg und auf einem ebenen Orte ftand“ (6, 17), läßt fich
nicht fo Teicht mit einander vereinigen. Könnte man auch
fagen, Jeſus fei, laut Matthäng, erft auf eine Anhöhe ges
fliegen, dann aber, um einen bequemeren Plab zu finden,
wieder etwas herabgegangen, näher zum Volke: fo hätte doch
wenigitens Jeder Etwas ausgelaflen, Lukas das vorausgedov⸗
gene Auf⸗, Matthäus bas nachfolgende Niederſteigen. Aber
wein! Jeder nimme eine wirflih andere Stellung Jeſu an;
Denn des Matthäus „Sigen“ paßt nur zu feinem „Berg“, unb
des Lufas „Stehen“ nur zu feiner „Ebene“: was alſo der
Eine fagt, paßt nicht zu der Angabe des Andern. _
Am wichtigiten ift die Differenz, daß die Rede bei Lukas
nur den vierten Theil fo groß ift, als bei Matthäus,. und
dennoch Manches enthält, was hier fehlt. Dieß fünnte man
fi) auf zweifache Weiſe erlären.
1) „Lukas giebt nur einen Auszug“ — fo bie meiiten
Drthoboren, weil fie annehmen, Matthäus gebe ein gefchlofs
fenes, fchön georbneteds Ganze. Allein eben bieß ift fo um
wahrfcheinlich, da fi fchon von 6, 19 an mehr oder minder
vereinzelte Sentenzen finden, von denen manche ficherlich nicht
bei dDiefer Gelegenheit von Jeſu gefprochen morden find.
Daher hat man ſich neuerdings (Sieffert, Fritfche ꝛc.) der
wahrfcheinlicheren umgefehrten Anficht zugemwendet.
2) „Lukas hat die urfprüngliche, einfache Rede, und Mats
thaͤus fie mit Zufägen erweitert“, — dieß wird dadurch gewiß,
daß allerdings in der Rede bei Matthäus Stellen enthalten
find, welche bei Lukas und Markus an verfchiedenen Drten zers
fireut vorfommen. Hiemit ift nun aber zugleich auch anerfannt,
bad Matthäus im Srrthume- befangen ift und falfch bes
richtet; denn daß er Ein Ganges hat geben wollen, und
nicht mit Abficht Manches, das nicht grade jeßt gefprochen
worden, noch gelegentlich beigefügt, geht Daraus hervor, daß
er ja vor der ganzen Rede Jeſus auf den Berg und nach
ber ganzen von bemfelben herabfteigen läßt; — daß er ans
giebt, welchen Eindrud jekt das Ganze auf das Boll
machte. Indeß auch bei Lukas finden fich unverfennbar Lücken,
Zufäge und Unrichtigfeiten in der Stellung des @inzelten, fo
baß er in diefer Beziehung vor Matthäus Nichts voraus hat,
wie aus näherer Betrachtung des Einzelnen deutlicher wers
den wird.
Die Rede beginnt mit dem bekannten „Seligpreijen“ ber
und der Menfchen; bei Lukas aber find der aufgezählten Fälle
nicht nur weniger, fondern es find aud) einige anders gefärbt,
\
223:
als bei Matthäus; während bei biefem die „Armen am Geifte*
5, 3), die „nach der Gerechtigkeit Hungernden“ (®. 6)
felig gepriefen werben, nennt Lukas nur allgemein die „jest
Armen“ (6, 20) und die „jest Hungernden“. Bei Matthäus
alfo find es die jet unbefriedigten, leidenden Frommen; bei
eukas alle gegenwärtig Dürftigen überhaupt, die einft felig
werben follen. In lettterer Faärbung Des Ausdrucks tritt bie
Anficht der Ebioniten hervor, nach welcher, ohne Rückſicht
anf den innern Werth ded Menfchen, Jeder, der fich in
diefer Zeit fein Theil nimmt, in der künftigen leer ausgeht;
der Darbende aber ſchon als foldyer Anfprüche auf ewige
Seligfeit hat.
Lukas hat fodann nach den „Selig, felig“ eben fo viele
„Wehe, wehe“, die bei Markus ganz fehlen: fie bilden bie
Gegenfäte zu jenen, und fprechen als folche, indem den „Reis
hen, Gefättigten ꝛc.“ (®. 24, 25) ohne Weiteres ewiges
. Wehe zuerfannt wird, die oben berührte Ebionitifche Anficht
noch fchärfer aus. Diefe Weherufe bei Lukas find unverfenns
bar aus jüdiſchen Vorftellungen gefloffene, Jeſu fremde, Zus
füte. Denn aud) Moſes gefellte überall dem Segen auch den
Fluch bei, worauf die NRabbinen, die noch weiterhin den zwans
ig Eeligfeiten in den Pfalmen eben fo viele Wehe aus Ies
ſaias entgegenftellen, befonderen Werth legen. Es fchien alfo
der überall Parallele zwiſchen Mofes und dem Meſſias fuchen-
den chriftlichen Sage fich von felbit zu verftehen, daß auch
Jeſus feinem „Selig“ das „Wehe“ entgegenftellte.
An die Geligpreifungen fchließt ſich bei Matthäus ganz
angemefjen der Ausſpruch, die Jünger feien „das Salz der
Erde“ (V. 13) und „Das Licht der Welt“ (14). Beides fehlt
bei Lukas, der diefelben Gedanken an andern Stellen einfügt,
und zwar „das Salz ıc.“ 14, 34 ebenfalls ganz paſſend, weß⸗
halb wir annehmen dürfen, es ſei eine fo bezeichnende, eigen«
genthümliche Sentenz von Jeſu mehrmals ausgefprochen wors
den. Markus freilidy gibt fie in ganz ungehöriger Verbin⸗
dung 9, 50, wo fo eben das Feuer der Hölle, alfo etwas
ganz Anderes, mit dem Salze verglichen wurde, weßhalb wir
annehmen müſſen, daß diefer nur durch die Webereinftimmung
in dem gebrauchten Außern Worte, nicht durch die Verbin
224
dung der Gedanken geleitet worden. — Das Bilb vom
„Lichte der Welt“ aber bringt Lukas zweimal an ganz uns
fchicflicher Stelle vor. Einmal 8, 16, nad) der Parabel vor
bem Shemann, mit welcyer ed zwar einigen Zufammenhang
zu haben fcheinen könnte; jedoch wird jeder befonnene Red⸗
ner nad, einem durchgeführten Gleicyniffe nicht fogleich. wies
ber, ohne dem Zuhörer einen Ruhepunkt zu gönnen, en neues
Bild anfügen. Uebrigens folgten hier unmittelbar noch zwei
andere Sentenzen (17, 18), die vollends gar feinen inneren
Zufammenhang mit den früheren und unter ſich haben: fo
daß wir auch hier wieder ben Lukas in feiner Manier antrefs
fen, die Lücke zwifchen zwei Erzählungen durch Fleine Sentew
zen Jeſu, die ihm bekannt waren, auszufüllen, weil er an fie
durch irgend eine entfernte Beziehung erinnert wurde. Auf⸗
fallender iſt dieß noch an der zweiten Stelle, 11, 33, wo uw
fer Bild angeführt wird.
Mit Vers 17 geht Jeſus zu dem Hauptthema der Rebe
über, durch den Ausſpruch, daß er nicht zur Auflöfung, ſon⸗
dern zur Erfüllung des Geſetzes gefommen ſei; Worte,
welche Lukas (16, 17) abermals an ganz ungehöriger Stelle
zwifchen zwei größeren Parabeln hat; — fie hier gerade eim
zufügen, fonnte er fidy nur durch das im vorhergehenden Berfe,
der aber gerade das Gegentheil fagt, ebenfalls vorfonmende
Wort „Geſetz“ veranlaßt finden, |
Jeſus fahrt fodann V. 20 fort, daB er noch ftrengere
Achtung vor dem Gefeg, ald die Schriftlehrer und Pharifüer,
verlange, und zeigt in einer Reihe von Beifpielen, daß er,
ftatt der blos buchftäblichen todten Werkdienerei, eine Reinheit
des Gemüthes und ein Handeln im Geiſte und Sinne der
Gebote des Gefeßed verlange. Diefer vortreffliche Abfchnitt,
20—48, zeigt eine fehr gefchloffene und wohl geordnete Eins
heit, während die entiprechende Stelle bei Lukas, 27—36,
auffallend Tücenhaft und ohne verbindende Grundgedanfen
daftehet; einige Ausfprüche Jeſu, die Matthäus bier offenbar
an richtiger Stelle gibt, finden fich bei Lukas an andere
Drte hin verfchlagen, wie 3. DB. Das ſtrenge Verbot der Ehes
ſcheidung (Matth. 5, 32), welches Lufad wiederum in eine
225
Spalte zwifchen zwei größere Erzählungen gefchoben hat (16,
18). — Zu Anfang des Kap. 6 warnt Sefus vor pharifäifcher
Henchelei; aledann fommt das befannte „Vater unfer“, welches
enlas nicht hier in der Bergpredigt, fondern an einer ganz
andern Stelle hat. Er erzählt nämlich 11, 1, daß, als eben
Jeſus gebetet hatte, feine Tünger ihn um eine Anweifung zu
beten verfuchen, worauf er fogleich ihre Bitten erfüllt. Lukas
mußte alfo erftlich gar nichts davon willen, daß Sefus ſchon
früher feinen Süngern ein Wiuftergebet gegeben hatte, fonft
wäre ihre Bitte ja thöricht geweſen; aber er gibt zweitend
mich ficherlich Zeit und Veranlaſſung irrig an. Denn ift es
glaublich, daß die Sünger erſt bei der letzten Reife Jeſu um
ein folches Mufter gebeten, daß Jeſus überhaupt auf eine
olche Bitte gewartet haben fol, und nicht fehon oft in ihrem
Rreife gebetet habe? worauf er fie ja nad) ihrer Frage bins
veifen mußte. Lufas fcheint die Darftellung nad) bloßer Vers
nuthung gemacht, und da er eine Gelegenheit, bei der Jeſus
zas Gebet mittheilte, nicht Fannte, eine folche erfunden zu
yaben; wiewohl es nicht außer Zweifel liegt, ob nicht auch
Matthäus in einem unrichtigen Zufammenhange das Vater
mier gibt. Das aber, daß dasjelbe von Jeſu herrühre, dür⸗
ea wir nicht bezweifeln; wenn Gelehrte behaupten, ed „ſei
janz aus Gebetformeln der Hebräer zufammengefeßt“, fo mag
xeß fein, immerhin „ift ihre Auswahl und Zufammenftellung
ner durchaus eigenthümlich und ein genauer Abdruck desjenigen
eigiöfen Bewußtfeing, welches Jeſus hatte und den Seinigen
nittheilen wollte *.
B.14 und 15 find am Schluffe ganz ungehörig; 16— 18
ber fchließen fich ganz gut an den Gedanken an G. 8), der
zeſum zur Mittheilung des Gebetes veranlaßt hatte.
Dagegen beginnt mit V. 19 nun ein Abfchnitt, von dem
ie neueren Ausleger mit Recht behaupten, daß er eine Zus
mmenftellung verfchiedenzeitiger Ausſprüche Sefu fei, die
er Evangelift hier nur einer gewiffen Vollftändigfeit zu Liebe
gehängt habe. Der Spruch; von irbifchen und himmlifchen
ichätzen (19 — 21) fteht bei Luk. 12, 33 wahrfcheinlic an
⁊ richtigeren Stelle. Dann folgen ohne inneren Zufammens
mg: die Sentenz vom Auge, ale bes Leibes Lichte (22 und
1. 15
226
23), von den zwei Herren (24), Abmahnung vom irdiichen
Sorgen durch Hinweifen auf das fröhliche Gedeihen der Natur
(25 - 34). Diefe letztere fcheint Lukas 12, 22 richtiger an eine
Parabel anzufchließen. — Die nun folgende Warnung vor
dem Splitterrichter (7, 1—5) paßt zu der, wenn wir 6,
19 — 34 als Einfchiebfel betrachten, vorausgegangenen Schil⸗
derung der Scheinheiligfeit der Pharifüer gang gut; auch findet
fie fich bei Lukas in der Bergpredigt, 37, 41, aber in ſchlech⸗
ter Ordnung. — V. 6 fodanıı ift Dagegen ohne Zuſammen⸗
hang, und das über den Nußen des Gebetes 7, 11 Sefagte
fteht ebenfalls an befferer Stelle Luk. 11, 9. Und fo finden
wir bis zu Ende der Rede nur abgebrochene Säge und Ge
danken, die theild an fich, theild Durch Vergleichungen vers
rathen, daß Jeſus fie hier nicht gefprochen haben fan. —
Der Schluß ift bei beiden Evangeliften gleich (Matth. 7, 26;
Luk. 6, 49).
Wir fehen alfo, „daß die fürnigen Reden Sefu durch bie
Fluth der mündlichen Ueberlieferung zwar nicht aufgelöst wers
den fonnten, wohl aber nicht jelten aus ihrem natürlichen -Zus
fammenhange Iosgeriffen, von ihrem urfprünglichen Lager weg⸗
geſchwemmt, und ald Gerölle an Orten abgefeßt worden find,
wohin fie eigentlich nicht gehörten*. Hier hat nun Matthäus
das Verwandte finnig zufammengereiht, während Lukas mehr
zufällige, öfters in Fünftlichen Zufammenhang gebrachte, Aus
einanderfügungen gibt. —
Eine andere größere Rebe theilt Matthäus mit bei Aus⸗
fendung der Zwölfe zu Berfündigung des Meſſiasreiches
(Kap. 10)5 Markus und Lufas geben von biefer Rede bei
diefer Gelegenheit gar Nichts, ald einige wenige Vorfchriften,
wie bie Jünger reifen follen 2c.; dagegen gibt Lufas den größ⸗
ten Theil der in ihr enthaltenen Gedanken theild bei einer viel
fpätern Gelegenheit (12, 1 2c.), theild bei Ausfendung der
Siebenzig (10, 2 x.). Läßt ſich nun zunächft nicht vers
227
fennen, baß auch hier wieder Matthäus Gleichartiges aus
verfchiedenen Zeiten zufammengeftellt babe, fo muß man
alsdann audy das noch zugeftehen, daß Matthäus dennoch
die Abficht hatte, alles Zufammengeftellte ald damalige
Worte Jeſu feinen .Lefern zu geben, wie aus dem beftimmten
Anfange (V. 5): „er gebot ihnen“ — und aus dem noch bes
ſtimmteren Schluffe (11, 1): „als Jeſus feine Gebote ıc. ges
endet hatte“ — deutlich genug hervorgeht. Daß aber Sefus
Manches, was ihm hier Matthäus in den Mund legt, damals
noch nicht geiprochen haben Fann, wird eine furze Betrachtung
zeigen. — Eigenthümlich ift der Rede des Matthäus der Aufs
trag Jeſu an feine Tünger, auch Todte zu erwecken; daß
bieß zu Jeſu Lebzeiten wirklich gefchehen fei, wird nirgende
gejagt, und tt fehr unmahrfcheinlich; Daher die Sage ohne
Zweifel es war, die ſchon hier die Sünger zu dem, was fie
fpäterhin wirklich gethan haben follen, von Jeſu ermächtigt
werden ließ. Daß nun aber Die Darftellung des Lukas grade
die richtige fer, wird mit den Ausftellungen an Matthäus noch
mdyt behauptet. Zwar iſt ein großer Theil der Vorfchriften,
weiche Sefus bei Lukas den Siebenzigen gibt, eben fo wohl
geordnet und augführlich, als die entfprechenden, bei Matthäus
den Zwölfen gegebenen; allein wenn eben dieſer Lukas nun
den Zmölfen fo gar kümmerliche Aufträge geben läßt, wie
wir, oben fahen; den Giebenzigen dagegen, die doch Jeſu
ferner itanden, weit ausführlichere und zu Vielem ermächtigende,
fo ijt dieß Doch fehr wenig glaubhaft; vielmehr mag hier
Matthäus Recht haben, der das, was Lukas den Siebenzigen
gejagt werden läßt, zu Jeſu Weifungen an die Zwölfe madıt.
Anders aber verhält es ſich mit Dem Theile der Rede
bei Matthäus, den Lukas erft auf der lebten Reiſe von Jeſu
gegen die Sünger ausgefprochen werden läßt. Denn Anwei⸗
lungen an fie, wie fie vor Gericht fich zu benehmen haben
8. 19, Ermahnungen, ſich vor denen nicht zu fürchten, die
nur den Leib tödten fünnen (23), Jeſum nicht zu verläugnen
32), fondern fein Kreuz auf ſich zu nehmen (38), und Aehn⸗
liches — dieß paßt doch zu einer erften Ausfendung nicht,
die nur erfreulichen Erfolg hatte (Ruf. 9, 10). Vielmehr feßs
ten jene Worte fchon die getrübteren Verhältniſſe Seit woraus,
228
wie. fie höchſtens erſt bei der lebten Reife nach Terufalem,
wohin Lukas die Ausfprüche verlegt, fich herausſtellen moch⸗
ten; — allein ed wäre felbft das fehr möglich, daß erft nad
Seft Tode, als die Apoftel wirklich fo vieles Ungemach ers
dulden mußten, ſich dergleichen Schilderungen desſelben, als
Prophezeihungen nach dem Erfolge, allmälig geftalteten, die
ſchon von Jeſu den Seinen mitgetheilt fein ſollten; wenigftend
fieht das Auffichnehmen des „Kreuzes“ ganz darnach ans.
Eine folgende größere Rede Sefu bei Matthäus (Kap. 17)
ift ihrem größeren, auf Johannes fich beziehenden, Theile
nach ſchon früher betrachtet worden. Sie fchließt von B. 20
an mit einer Verwünfchung der Städte, die Jeſum unglänbig
von ſich geftoßen. Dieſe Berwünfchung hängt mit dem Bors
bergehenden ganz wohl zufammen; bei Lukas aber, der fie
10, 13 der Ermahnung an Die abgefendeten Siebenzig (ſ. S. 227)
einwebt, fo wenig gut, daß hier offenbar der Erzähler nr
durch die äußere Aehnlichfeit des Borausgegangen veranlaßt
wurde, die Worte hier einzufchieben. — Das hierauf fols
gende Frohlocen über die „den Unmündigen“ zu Theil gewors
dene Einficht, fteht bei Matth. 25 ꝛc. ganz ifolirt, während
es bei Lukas B. 21 durch die mit guten Nachrichten zurüds
fehrenden Siebenzig (V. 17) ganz wohl motivirt erfcheint.
Da aber freilich fchon die Auswahl diefer Siebenzig fo un
gewiß iſt (ſ. ©. 218), fo könnte man am ſchicklichſten jene
Worte an die Rückkehr der Zwölfe anfchließen.
weites Kapitel
Die Parabeln Zefn.
(Matth. 13, 1— 52; Marf. 4, 1— 34; Luk. 8, 5— 15; 13,
18 — 21.)
Wir betraditen nun die befannten Parabeln Jeſu; Mate
- thaus gibt und die erften im Kap. 13, und zwar fogleich fieben
auf einmal, Es handeln zwar alle vom „Himmelreiche“,
229
bringen aber von dieſem fo wefentlich verfchiebene Seiten zur
Anfhauung, daß Jeſus das Lob der Lehrweisheit nicht vers
dienen würbe, wenn er alle, fo ohne Ruhepunft, in Einem
Zuge vorgetragen hätte, wie Matthäus es darſtellt. Denn
baß er diefe Anficht geben und nicht bloß Gleichartiges von
ſich aus zufammenordnen will, geht aus den Anfangss und
Schlußformeln, V. 3 und 53, deutlich hervor. Die Unrich⸗
tigfeit dieſer Daritellung ergibt ſich aber noch mehr aus näher
ser Betrachtung derfelben. Nachdem Jeſus die erfte Parabel
dem Volke vorgetragen, gibt er den Süngern, auf ihr
Anſuchen, privatim eine ausführliche Erklärung derfelben
- (10— 22); wie er das begierig harrende Volt fo lange müßig
laſſen konnte, ift unbegreiflich. Sodann folgen noch drei Pas
rabeln, 24— 33, worauf Iefus mit feinen Süngern in dag
Haus geht, 36, und ihnen auch die zweite Parabel auslegt,
und endlich noch drei neue hinzufügt, 44 — 52. Diefes Letz⸗
tere ift aus doppeltem Grunde undenkbar: denn nach B. 11
redete Jeſus ja nur zu dem Bolfe, nicht zu den Jüngern in
Gleichniſſen; und wie mochte er hier für dieſelben fogleich
drei neue noch dreingeben, ftatt fich zu überzeugen, ob fie
"die alten auch recht verfianden, woran er wohl zweifeln mußte?
Alen man fieht leicht, wie die Berwirrung entftanden ift.
Matthäus wollte hier Die vielen Parabeln in Einem uffe
geben, und überbieß die Erklärung der zwei wichtigften; da
er Die der zweiten nicht much, wie die der erften, unmittelbar
nach deren Bortrage den Jüngern vor allem Bolfe wollte
geben laſſen, jo hieß er nach der vierten Jeſum nach Haufe
gehen; num war aber der Zufammenhang zerriffen, und die
noch rückſtäändigen Parabeln, Die er noch zu erzählen fich vor;
geſetzt hatte, traten nun iſolirt an’d Ende. Matthäus mag
abweichende Leberlieferungen vor ſich gehabt haben, aus denen
er ſich zurecht fand, fo gut ed gehen wollte, ohne daran zu
meifeln, daß Sefus alles dieß bei einer und derfelben Ges
legenheit gefprochen habe, worin wir aber, wie oben bemerkt,
ihm nicht beiftimmen fünnen, aus Achtung vor Jeſu Weisheit.
Markus Laßt gleichfalls (4, 1 x.) Jeſum am See dem
Volke Parabeln vortragen, allein Doc, nur drei, von welcher .
die erfte CB. 3) und dritte (B. 31) der erften und Deitten Ki
230
Matthäus entſprechen CB. 3 und 31); die mittlere aber, vom
Säen und Ernten (®. 26), iR dem Markus ganz -eigenthüm-
lich. — Lukas hat ebenfalls nur drei diefer Parabeln, fo baß
dem Matthäus die vom vergrabenen Schatze (V. 44), von
der Perle (B. 45), dem Netze (B. 47), und die vom Un⸗
traute im Ader (V. 24), eigenthümlich bleiben. Lukas aber
gibt die gemeinfchaftlichen an andern Stellen, ald Matthäus;
die vom Säemann bringt er früher an, 8, 45 bie vom
Senfforn und Sauerteige fpäter, 13, 18 ıc., unb zwar
diefe leßteren offenbar ganz zur Unzeit, da mit V. 17 bie
Scene in der Synagoge, an die er fie anreiht, auf bas Ent
fchiedenfte abgefchloffen ift.
2
(Matth. 18, 23—35; 20, 1—16; 21, 28- 323; Luk.7,
41—43; 10, 30—37; 11, 5—9; 12, 16—21; 15, 4—32;
16, 1—9 und 19—31; 18, 2—7 und 9—14.)
Weiterhin findet fidy noch bei Matthäus allein das Gleichge⸗
wicht von dem hartherzigen Knechte, welches 18, 23 ſich fehr
paſſend an die Ermahnung zur Verföhnlichfeit (V. 15 x.) an
fchließt; eben fo paflend fteht das vom Weinberge-20, 1;
dagegen hängt die ihm angefügte Sentenz: „Biele find berus
fen 2c.“, weit weniger damit zufammen, ald mit der Parabel
vom föniglihen Gaftmahle, wo fie Matthäus auch wirffich
wiederholt, 22, 14. Endlich ift noch die Parabel von den
zwei in den Weinberg gefandten Söhnen dem Matthäus
(21, 28) eigenthümlidy.
Dem Lufas allein eigen find die von den zwei Schuld»
nern (7, 41), vom barmherzigen Samariter (10, 30),
von dem im Sammeln irdifcher Schäße fterbenden Manne
(12, 16); zwei, welde in etwas auffallenden Bildern Die
Wirkſamkeit des Gebetes verfinnlichen (11, 5 und 18, 2),
und ferner die fchöne vom Pharifäer und dem Zöllner
(18, 9), die eben fo entfchieden gegen die Pharifäer gerichtet
ift, als die drei vom verlornen Schafe (15, 3), Groſchen
B. 8) und Sohne (B. 11), welche drei gar wohl hintereinans
ber gefprochen fein fünnen, Da ihr Inhalt ein fehr verwandter
.
231
iſt. Dieß iſt aber nicht der Fall mit der nun folgenden vom
ungerechten Daushalter (16, 1), die von jeher den Aus⸗
legern fo viel zu fchaffen gemacht hat. Allein fie gibt doch
bei näherer Betrachtung einen ganz einfachen Sinn, nämlich
den: „der Menfch, der Gott gegenüber doch immer „„ein
ummüßer Knecht“ ift, ann biefe ihm anklebende mangelhafte
Verwaltung der ihm anvertrauten Geiltesgaben am Beſten
durch NRachficht gegen feine Mitmenfchen wieder gut machen“ ;
— daß in der Parabel diefe Nachſicht in Form cined Betruges
ericheint, davon muß man abfehen, da die Parabel gar häufig
mr den Einen Grundgedanken, bier den der Nachſicht,
verfolgend, die daran fich knüpfenden Nebenvorftellungen außer
Acht läßt 2%. — Dieſe unfere Erflärung ift aber freilich nur
dann zuläffig, wenn wir Die Parabel als mit B. 9 abgeichloffen
betrachten. Denn was von V. 10 an noch von der Treue im
Kleinen, und von den zwei Herren, denen man nicht zugleich
dienen fünne, folgt, — das freilidy will zum Borausgegange-
nen gar nicht paffen, verwirrt vielmehr den bis dahin ganz _
flaren Sinn fo fehr, daß Ausleger, die wie Schleiermacher
md Dishaufen dasfelbe noch mit hinzunehmen, zu den felts
famften Erflärungen fich flüchten müflen. Allein it es denn
bei Lukas etwas fo Unerhörteg, daß er, durch gewifle Worte
an andere Ausfprüche Jeſu erinnert, diefe anfügt, wenn fie
auch in feinem inneren Zufammenhange mit dem fo chen
Dargeftellten ftchen? Wir fehen auch hier, welche Worte
ihn dazu verleiteten: B. 9 war von dem „ungerechten Mans
mon“ die Nede, da fiel ihm ein, daß Jeſus auch noch Ande⸗
res über den Mammon gefagt hatte, und er feßte Daher
diefes V. 10— 13 auch noch hinzu, weil er Feine ſchicklichere
Stelle dafür wußte. Zum Theil wenigſtens flimmen mit bier
22, Es mag hier die Bemerkung eine Stelle finden, daß in den Ge⸗
Dichten des alten Homer die fo zahlreichen Bilder ganz denfel-
ben Charakter haben ; viele derſelben müßten und ganz anftößig
erfheinen, wenn wir nicht wüßten, daß der Dichter nur ben
eigentlichen Bergleichungepuntt im Auge hat, unbefümmert
um andere Gigenthümlichkeiten bes zum Bilde benüsten Ges
genftandes.
232
fer Anfiht u Schnedenburger und De Wette über-
ein. Man follte überhaupt noch mehr, als ed bereits gefchehen
ift, anerkennen, daß die Evangeliften in Abfaffung ihrer Bes.
richte mehr von dem Beitreben ausgingen, das, was ihnen
die mündliche, den inneren Zufammenhang bed von Jeſu
Gefprochenen vielfältig auflöfende Ueberlieferung an die Hand
gab, möglichft getren wiederzugeben; der Verſuch, Diefen
zerriffenen Zufammenhang wieder herzuftelen, lag ber
fchlichten, von Ehrfurcht für Das Leberlieferte befeelten Mäns
nern weniger nahe. Wo aljo „der Gleichklang gewiſſer Schlag⸗
worte * dazu einlud, da gaben fie, was fie hatten, einzig.
darauf bedacht, daß Nichts verloren gehe.
Es bedarf nad) dem Gefagten Feiner befonderen Nachwei⸗
fung mehr, daß unfere Parabel vom ungerechten Hausvater
mit der unmittelbar vorhergehenden vom verlornen Sohne
(15, 11) in feinem Zufammenhange fteht, und Lukas hier
in das dem Metthäus ſchon nachgewiefene Verfehen, mehrere
nicht zu gleicher Zeit von Jeſu vorgetragene Parabeln doch
in unmittelbarem Zufammenhange zu geben, verfallen ift.
enden wir nun wieder den Blick norwärts, fo bringt
Lufas nach den fo eben, und andern früher befprochenen Eins
ſchiebſeln, Die abermals nur eine Spalte zwifchen größeren
Erzählungen ausfüllen, die befannte Parabel von Lazarus
und dem reihen Wanne (16, 19. Dffenbar fol Lazarus
als der Belohnte, der reiche Mann ald der Beſtrafte darges
ftellt werden, das Ganze alſo im Gleichniſſe Die göttliche
Strafgerechtigkeit veranſchaulichen; gerade aber in diefer aus
genfcheinlichen Tendenz liegt für unfere Begriffe die größte
Schwierigfeit. Denn weder beffer in diefem Leben, ale der
reiche Mann, erfcheint Lazarus, noch fchlechter, als Lazarus,
der Reiche; der Berdienft des Erften liegt einzig in feiner
Armuth, das Verbrechen des Andern in feinem Reichthume.
. Anzunehmen aus V. 19, daß der Neiche auch ausfchweifend
geweien, oder aus 20—21, daß er Lazarus Fieblos behandelt
habe, dazu bieten und die Worte felbit gar feinen Grund bar,
die offenbar nur beabfichtigen, uns den großen Unterſchied
233
zwiſchen ber glänzenden Lage des Neichen, und dem Jammer
des Lazarıs recht anfchaulich zu machen; von befonderen Bers
dienften. des Lazarus ift überdieß in diefer Befchreibung ihres
beiberfeitigen irbijchen Lebens gar feine Rebe. Auch weiß ja
Abraham (V. 25) dem in der Hölle ſchmachtenden Reichen
RNichts weiter zu fagen, ale er habe fein Gutes ſchon empfan⸗
gen. Wir müffen alfo anerfennen, daß fich auch hier die
Ebionitifche Vorftellung von den Anfprüchen des in Diefem
Leben Unglücklichen an Seligfeit im ewigen ausfpricıt, Die
wir oben (ſ. ©. 223) in Behandlung der Stellen Luk. 6, 20 x.
uachwiefen. Da, wie dort gezeigt worden, Lukas in dieſen
Stellen eine getrübte, Matthäus aber (5, 3) die Achte Ueber⸗
keferung ber Ausfprüche Sefu gibt, fo können wir auch bei
diefer Parabel nicht anftehen, zu behaupten, daß des Lulas
Darftellung durch Ideen getrübt ift, Die Jeſu frend waren,
und vielleicht auf Rechnung. effenifcher Anfichten zu feßen find.
Achnliches finden wir z. B. Matth. 19, 16 20.5 Mark. 10, 17 20.5
Luk. 18, 18 ıc.
Die Parabeln von den rebellifchen Weingärtnern (Matth.
21, 3—4; Mar. 12, 1—12; uf. 20, 9I—16) bedarf
feiner befonderen Behandlung, da ihr Sinn einfach und klar
ft. Mir haben nur noch zwei bisher nicht befprochene näher
zu betrachten.
(Matth. 22, 2—14; 25, 14— 30; Luk. 14, 16 — 245 19,
12 — 26.)
Zunächſt die Parabel von den anvertrauten Talenten
(Matth. 25, 14), oder wie Luk. 19, 12 fagt, Minen. Daß
beide Evangeliften, troß einiger Abweichungen, doc, im We⸗
fentlichen die ſelbe Parabel erzählen, muß nach genauer Bers
gleichung Jedem einleuchtend fein. Nur Eine wichtige Vers
fchiedenheit tritt hervor, daß naͤmlich Lukas ein Berhältniß dee
abweiſenden Herrn zu rebellifihen Bürgern einmifcht, von
dem Matthäus gar Nichts weiß; daher macht er auch den
einfachen „Menfchen“ bei Matthäus zu einem „vornehmen
(d. h. regierenden) Herrn“. Kaum aber läßt ſich eine Diiies
234
renz leichter auflöfen, als diefe; während nämlich, Matthäng
eine. ganz einfache, in fich volllommen abgerundete Parabel
giebt, hat offenbar Lukas zwei verſchiedene in einander ges
ſchoben, wozu er ober die Sage burch_ben gemeinfamen
Zug, ben beide haben, nämlich Abreiſe und Wiederkunft des
Herrn (8. 12 und 15), verleitet wurde. Die Nichtigfeit Die
fer Anficht geht Daraus hervor, daß wir, wenn wir bie Berfe
12, 14, 15, 27 herausheben, die Parabel von ben rebellr
fhen Bürgern, freilich etwas verfürzt, aber doch ganz rein
vor und haben. Daß aber nicht Jeſus felbft die beiden Pas
rabeln fo mit einander verbunden haben kann, geht eben
daraus hervor, daß fie fo loder zufammenhängen und, wie wir
faben, bei der erften Berührumg ‚wieber auseinander fallen.
Ueberdieß müßte er fie auch in ber Fünftlicheren Form, wie
fie Lulas giebt, früher, als in ber einfachen bei Watthäus
vorgetragen haben, da jener fie vor, diefer nadı dem Ein
zuge in Serufalem fett; ein ganz wunderbares Verfahren !
Ein ganz ähnliches Verhältniß findet ftatt bei ber num
noch übrig bleibenden Parabel von dem Gaftmahle und den
nicht erfcheinenden Gäften Matth. 22, 2, Luk. 14, 16); welche
indeß bei Lukas in ihrer einfachen, Achten Geftalt erfcheint,
nicht wie jene bei Matthäus. Diefer nämlich miſcht noch die
Züge bei: „ein König, deffen Sohn Hochzeit hält, ladet ein;
die Gelädenen tödten, als fie zum zweitenmale ermahnt
werden, feine Knechte (®. 6); der König fendet dann Heere
ans und zerftört ihre Städte ®. 7); endlich muftert der Kö⸗
nig die von der Straße aufgelefenen Säfte, und verftößt einen,
ber fein hochzeitlich Kleid hat, in die dichte Finſterniß“ (V
11—14). Bon dem Allem Nichts bei Lufas! — Schon ber
Zug, daß die Seladenen die Knechte erfchlagen, ift ein ganz
ummatürlicher, den Jeſus wohl nicht beifügen fonnte, wohl aber
ber Evangelift, dem ein ganz ähnlicher Zug aus der fo eben
erzählten Parabel vom Weingärtner (21, 33 20.) noch im
Sinne lag (®. 35), der aber dabei überfah, daß hier ein
ganz anderes Berhältniß obſchwebte, indem hier der Herr feine
Steuern eintreiben wollte! Daß der König num ihre Städte
235 '
zerſtörte, ergab ſich freilid, von felbft, ſobald jener erſte Zug
aufgenommen worden war. — Endlich fchemt der Zufab am
Ende, 11—14, doch gar nicht hieher zu gehören; denn, um
Anderes zu übergehen, ‚bringt er einen ganz neuen, fremden
Gedanken in die Parabel. Diefe will doch anſchaulich machen,
wie zum SHimmelreiche bie Heiden berufen werben, ba bie
Suden die Einladung verfchmäht hätten; jener Zufat gibt
aber einen ganz andern Gegenfa hinzu, den moralifchen
zwiſchen den Würdigen und Umvürdigen, wovon bie erfte Idee
der Parabel Nichts weiß; es konnte aber in der Erinnerung
fidy leicht ein folcher Zufag hier anhängen, wenn man nicht
mehr recht wußte, wohin er eigentlich gehörte.
Sonach hätten wir hier eine noch komplizirtere Parabel⸗
maſſe vor uns: 1) als Stamm die bei Lukas rein erhaltene
vom Gaſtmahle, 2) ein Streifen aus der von dem. rebellifchen
Meingärtnern, 3) den Schluß aus einer fonft nicht befannten
vom bochzeitlichen Kleide; — „eine Erfcheinung, welche ung.
einen folgereichen Bid in die Art und Weife geftattet, wie
die evangelifche Tradition mit ihrem Stoffe zu verfahren
yflegte *.
Dritte? Kapitel,
Andere Neden Zefu in den drei erften Evangelien.
Matth. 18, 1— 20; 19, 3— 12; Mark. 9, 35 — 48;
10, 2—12; Luk. 9, 46— 50.)
Die nächfte Rede, die fich uns darbietet (Matth. 18, 1),
bildet ein eben fo auffallendes Beifpiel von dieſem Berfahren
der Tradition; fie ift augenfcheinlich aus vielen einzelnen
Stüden, ganz an den Faden einer nur durch verwandte
Worte und Ausdrüde in Thätigfeit verfeßten Erinnerung
zufanımengefügt.
Nachdem Jeſus den im Nangftreit begeiterten Jüngern
ein Kind ald Mufter aufgejtellt CB. 2), knüpft er die ganz
angemeffene Ermahnung au, fich wie dieſes zu erniedrigen
(3, 4); der weitere Gedanfe aber, daß wer ein Kind ig
236
Jeſu Namen aufnehme, dieſen ſelbſt aufnehme, ſteht doch
dem Zwecke, zu welchem das Kind aufgeſtellt ward, ganz ferne,
was noch auffallender bei Mark. 9, 37 und Luk. 9, 48
it, wo Sefus nur diefe Worte über das Kind ſpricht. Doc
führen diefe beiden grade auf den richtigen Weg; da Jeſus
nämlich fonft nur von feinen Süngern fagt, daß, wer fie
aufnehme ıc. (Matth. 10, 40 u. a.), von den Kindern
aber gerne, wer das Himmelreich nicht aufnehme wie fie, ber
werde es nicht gewinnen (Mark. 10, 15), fo liegt die Bers
muthung nahe, daß hier die zwei ähnlich klingenden Redens⸗
arten verwechſelt worden.
Bei Markus und Lukas (V. 38 und 49) giebt Johan⸗
nes, als Antwort auf jene Worte, die Nachricht, daß bie
- Zünger Einem, der „in Iefü Namen“ böfe Geifter ausgetries
ben, ohne ſich an fie anzufchließen, dieß unterfagt hätten. Hier
liegt, wie Schleiermacher richtig bemerkt, das Band in den
orten „in Jeſu Namen“; allein daß ber fchlichte Jo⸗
hannes durch die Betrachtung, ed genüge alfo mır im Näs
men Sefu zu handeln, an eine ganz ferne liegende Begebens
heit erinnert worden fei, dieß fünnen wir doch nicht anneh⸗
men; „das ſetzt Schleiermacher’fche Denffertigfeit voraus.*
Bielmehr die Sage war es, bie durch jene Schlagworte „in
Jeſu Namen“ an eine andere Anekdote 29) mit bemfelben
Schlagworte, erinnerte.
Matthäus, bei dem dieſes Einfchiebfel fehlt, fährt dann
B. 6 fort mit Weheruf über den, der eines diefer Kleinen
ärgere: ganz gut! Aber wenn er nun Jeſu hinzufegen läßt,
daß der, den Auge und Hand ärgere, fie von fi werfen -
folle (8, 9), fo kann dieß doch nicht richtig fein, denn uns
möglich konnte Jeſus nun auf einmal auf eine Warnung, ſich
2), Man möge feinen Anftoß nehmen an diefem Ausdrucke, ber ges:
wählt wurde, weil wir nun einmal Feinen andern haben, um
einen charakteriftifchen, hiftorifchen Ing .zu bezeichnen, der zu
Fein ift, um Gefchichte, Erzählung 2c. genannt zu werden; von
den üblen Nebenbegriffen, bie fich allenfalls mit dem Worte ver⸗
binden ließen, fehen wir sänztie ab, und Hoffentlich auch ber
unbefangene Leſer.
237
sicht durch Sinnlichkeit verführen zu laſſen, überfpringen! Die
Brüde ift auch. hier ein Stichwort, nämlich das „Aergern“.
—. Sodann wiederholt fich die gewaltfam abgebrochene Ers
mahnung, man folle die Kieinen nicht verachten (V. 10), und
dann folgt die Sentenz, daß Jeſus gefommen, „das Verlorne
zu vetten“; zu dieſer, welche bei Luk. 19, 10 ganz am rechs
ten Drte fteht, konnte doch unjer Evangelift hier auch nur
durch eine Äußerliche Gedanfenverbindung, „Sefu Milde
wendet ſich zu dem, was Flein und verloren ift“, geführt wers
ben. Daher kann die nun (V. 12 — 14) folgende Parabel
vom verloren Schaf (die Lukas ebenfalls richtiger anbringt
15, 3), auch nicht hieher gehören. Ohne inneren Zufammens
bang mit ihr ift weiterhin ebenfalls die Anweifung zur Bers
föhnung mit dem Bruder, wenn er uns beleidigt hat (V.
15—17). Wenn hier Sefus von der „Gemeinde“ fpricht,
fo kann dieß nicht als Beweis betrachtet werben, daß er eine
Gemeinde oder Kirche habe ftiften wollen — denn wie von
einer ſchon beftehenden Einrichtung fpricht er, — vielmehr
beweist diefe Wendung nur, daß die Lieberlieferung auch
fpätere Berhältniffe in die Reden Jeſu übertrug. — End⸗
lich veranlaßte die obige Erwähnung der Gemeinde nod) das
Anfügen einiger anderer auf fie.bezüglichen Sprüdye (118—20);
und fo fichtlich ift in Diefer Rede die Gefchäjtigfeit der Sage,
Einzelnes auch ohne einen belebenden Grundgedanfen an eins
ander zu reihen, daß die Schlußworte Sefu V. 18 ganz geeigs
net fcheinen Eünnen, die hochfahrenden Gedanken, denen er im
Anfange der Rede begegnen wollte, wieder hervorzurufen,
alfo den Eindrud des Anfangs am Ende wieder zu vers
nichten ! J
Die nächſte und entgegenkommende Rebe iſt die Matth.
19, 3 Mark. 10, 2), in welcher Jeſus auf vorgelegte Fra⸗
gen der Phariſäer über Ehefcheidung und Chelofigfeit ſich
ausfpricht. Leber dieſe Rede ift nur zu erinnern, daß man
fi) vor gezwungenen Auslegungen hüten muß, mit welchen
man ihren Inhalt mit unfern Einrichtungen und Anfichten
in Uebereinftimmung hat bringen wollen. Denn daß Jeſus
nur die damals übliche willfürliche Chefcheidung vers
werfe (B. 4—6), nicht aber unfere gerichtliche, davon fins
nn 238 Ä :
det fich doch feine Spur. Eben fo wenig befchränft er bie
aledann folgende Empfehlung ber Ehelofigkeit (7 —12)
durch irgend eine Hinweiſung auf die apoftolifchen Vers
hältniffe, fondern empfiehlt fie fo allgemein, daß auch hier,
wie an andern Stellen der Synoptiker, eflenifche Grundſaͤtze
firenger Enthaltfamfeit in den Worten Jeſu durchfchimmern.
Matth. 21, 23—27; 22, 15—46; Mark. 12, 12 —44;
Luft. 10, 25— 30.)
Es folgen nun die Streitreden, welche Jeſus nad
feinem Einzuge in Serufalem zu halten veranlaßt ift, und
welche Matth. 21, 23—27; 22, 15—46 faft ganz einftimmig
mit den übrigen Synoptifern wiebergibt. Diefe „find gewiß-
vorzüglich Achte Stüde, weil fie fo ganz im Geift und Ton
damaliger rabbinifcher Disputirkunſt find*. Wir betrachten
zuerft die beiden unter ihnen, wo Jeſus alt= teftamentliche
Stellen auslegt.
Wenn er Matth, 22, 31—33 aus dem mofaifchen Aus⸗
drude: „der Bott Abrahams, Iſaaks und Jakobs“ Die Aufers
ftehung der Todten beweifen will, da ja Gott ein. „Bott der
Lebenden und nicht der Todten“ fei, fo müflen wir doch —
wollen wir unbefangen fein — einräumen, daß Jeſus hier
rabbinifch fpisfindig if. Diefe nämlich fuchten aus älteren
altsteftamentlichen Stellen, wo es nur anging, den erft fpäter
unter den Juden verbreiteten Glauben an Unfterblichfeit hers
auszulefen, mochte auch die Stelle davon Nichts enthalten;
und daß auch mit der hier vorliegenden fo verfahren wird,
muß doch wohl jeder unbeflochene Betrachter zugeſtehen. Warum
fi) deſſen weigern? Machen wir nicht Sefüm zu einem Weſen
ohne Fleifch und Blut, gleichfam zum Gejpenfte, wenn er von
der Auffafjungsweife und Bildungsftufe feiner Zeit fo gänz⸗
lich fern gewefen fein foll, daß er, ohne auf ihrem Boden zu
ftehen, nur wie in den Lüften fchwebte? Ehren wir die, eine
ganze Welt umgeftaltende, Größe und Hoheit feines inneren
Weſens nicht weit mehr, wenn wir anerkennen, daß auch er
nicht ganz frei war von den Einfeitigfeiten einer Welt, die er
239
überwinden ſollte? Iſt es ein Ruhm, ben Irrthum vernichtet
zu haben, wenn man felbft bemfelben völlig unzugänglich war?
Nicht anders können wir über die zweite oben bezeichnete
Stelle, B. 41—46, urteilen, wo Sefus den Pharifäern die "
Frage vorlegt: wie Doch der Meſſias zugleich der Sohn und
der Herr Davids fein fünne? denn beides wird im alten
Zeitament von ihm ausgefagt. Nun meint ed Paulus zwar
recht gut, wenn er annimmt, Jeſus fei der Anficht geweſen,
daß der Pfalm 110, wo der Dichter von feinem Herrn
fpricht, weder von David herrühre, noch auf den Meſſias
gehe. Allein wenn wir wiflen, daß die entgegengefette Anficht
damals die herrſchende war, — daß die Apoftel diefen Pſalm
ald einen Davidiichen anfahen und auf den Meffiad bezogen
(Apoſtelg. 2, 34), — daß Jeſus ja felbft in den Worten
V. 43 augenfcheinlich dasfelbe thut; — warım wollen wir
ihm eine.Anficht, die wir für die richtige halten müflen, aufs
dringen? warum nicht zugeftiehen, daß er die Vorftellungen
feiner Zeit getheilt habe? Das eben iſt der erite Grund⸗
fehler dieſer Art von Schriftauslegung, von der fidy auch die
Rationaliſten nicht freimachen fünnen, „zu meinen, was an
fich, oder näher für ung, wahr iſt, das müſſe bis auf das
Einzelnfte hinaus auch fehon für Sefum und die Apoftel das
Wahre gewefen fein*. Bei unferer Anficht aber gewinnt
Jeſus nur, indem er offenbar hier die Pharifäer mit ihrer
irdifchen Anficht vom Meſſias in Verwirrung bringen, und
die höhere, geiftige, wie fie oben gefchildert worden, hervors
heben wollte. Daß er e8 gerade auf Diefe Weife that, war
eine verdiente Züchtigung für die Art, wie fie früher ihn
hatten in’d Gedränge bringen wollen; weßhalb fie auch von
da an ihn Nichts mehr fragten, wie Matthäus ganz richtig
hier bemerkt. |
— — |
Diefer. Schrifterflärung geht bei Matthäus unmittelbar die
Belehrung über das „höchite Gebot“ voraus (34—40), und
zwar wird Jeſus durch die Frage eines Phariſäers, der die
fo eben erfolgte Abfertigung des Sadducäers rächen will,
dazu veranlaßt. Diefe Zufammenftellung ift fchon darum fehr
unmwahrfcheinlich, weil beide Seften keineswegs ſo befreundet
240
waren, um fich gegenfeitig zu ſekundiren; vielmehr freute fich
‚die eine über die Niederlage der andern (Apoftelg. 23, 7).
Aber es ift überhaupt fchon als ein Irrthum zu betrachten,
den auch Marfus (Kor. 12) begeht, von der Anficht auszu⸗
gehen, alle diefe Streitreden müffen eben fo in der Zeit auf
einander gefolgt fein, wie fie ihrer inneren Verwandtſchaft
nach in der Ueberlieferung zufanmengeftellt fein mochten. In⸗
deß auch in der Darftellung der Verhandlung felbft finden
ſich nicht wenige Bedenflichfeiten, wenn wir Die drei Evangelien
mit einander vergleichen. Da Lukas von den beiden andern
fhon darin abweicht, daß er (10, 25) diefen Paffus bei einer
ganz andern Gelegenheit gibt, überdieß nicht Jeſum, ſondern
den Fragefteller felbft das höchite Gebot ausfprechen, und
fodann noch eine weitere verfängliche Frage ftellen läßt; fo
hat man, faft allgemein angenommen, er erzähle einen ganz
andern Borfal. Allein mit gleichem Rechte fünnte man Dann
weiter gehen, und auch des Matthäus und Markus Berichte
von zwei verfchiedenen Verhandlungen veritehen; denn and)
fie weichen in wefentlichen Punkten von einander ab; bei
Matthäus will der Phariſäer Sefum verfuchen, bei Markus
it er ein harmlos Fragender; dort wird er verblüfft heimges
fehjieft, bier fcheidet er daufbar und von Sefu noch belobt von
ihm. Aber Drei verfchiedene Borfälle, die im Wefentlichen
fo viele Aehnlichkeit mit einander haben, anzunehmen, geht doch
auch nicht an; müffen wir alfo dabei bleiben, daß den Drei,
fo vielfach von einander abweichenden, Erzählungen doch nur
Ein Vorfall zu Grunde liegt, fo haben wir auch hier wieder
ein Beijpiel Davon, wie die Sage das gleiche Thema in freien
Bariationen zu behandeln pflegte. Welche Variation hier die
richtige fei, bleibt dahin geftellt, und nur dag Thema, daß
Jeſus die beiden Gebote der Gotted- und der Menfchenliebe
als die vornehmften des Gefebes herausgehoben habe, bleibt
uns als hiftorifch= gewiß ftehen.
Die übrigen Streitreden dieſes Abjchnittes, über Jeſu
Befugniß zu lehren (Matth. 21, 23), über die Entrichtung
des Zinſes an den Kaifer (22,16) und über das Weſen des
ewigen Lebens (V. 23), bedürfen Feiner befondern Betrachtung ;
nur muß nochmald darauf aufmerffanm gemacht werden, wie
341
unwahrfcheinlicd; es it, daß Jeſus zu ben von 22, 15 an
unmittelbar auf einander folgenden Neben über fünf verfchies
deue Gegenftände gerade an einem Tage foll veranlaßt wor⸗
den fein.
(Matth. 235 Mark. 12, 38 — 405 Luf. 11, 37—53; 14,
1—14; 20, 45—47.)
Es folgt nun auf dieſe Borfpiele der Disputationen der
HauptsAngriff Jeſu auf die Pharifüer in der großen Rede
Kap. 23 des Matthäus. Obgleich Markus und Lukas ftatt
derfelben nur einige wenige, auch bei Mattthäus mitgetheilte,
Berfe geben, fo foheint Doch dieſer wenigſtens in fo fern das
Richtige zu haben, als er Jeſum bier eine längere Rebe
halten läßt. Denn nicht nur ift es fehr wahrfcheinlich, daß
der bintigen Verfolgung durch die Pharifäer und Schriftges
Iehrten heftige Angriffe Seju auf Diefe Leute voraus gingen,
fjondern es hat auch . die vorliegende Rede einen fehr guten
Zufammenhang. Schon dieß muß und mißtrauifch gegen Lukas
machen, der einen großen Theil der in ihr enthaltenen Aus⸗
prüche Sefu bei zwei Oaftmahlen unterbringt, zu welchen
diefer von Pharifaern eingeladen war; betrachten wir feine
Erzählungen aber näher, fo erfcheinen fie aufs Beſtimmteſte
als Produkte der Sage.
Bei dem einen derfelben, Luk. 11, 37—53, antwortet er
den Pharifaern auf ihre Frage, warum er vor dem Eſſen
ſich nicht wafche, in fo foharfen Worten, fchilt nicht nur ihren
„Raub“ und ihre ‚Ruchloſigkeit“, fondern ruft auch ein Wehe
über das andere fo leidenfchaftlich aus, daß wir es für uns
möglich halten müffen, Jeſus habe gegen feine Wirthe das
Gaſtrecht fo grob verlegen fünnen. Die Auskunft der Vers
theidiger des Lukas, diefe Rede fei von Jeſu erſt nach beens
digter Mahlzeit, etwa vor der Thüre, gehalten worden, macht
die Sache nicht viel beffer, und iſt eine Gewaltthätigfeit gegen
den Haren Buchſtaben des Terted, wo die Worte: „er Geſus)
ging hinein, feste fi, — der Phariſäer vermunderte fich ıc.,
dee Herr ſprach zu ihm 20.“ eine ganz ungerreißbare Aufs
I. 16
2m
einanberfolge ohne alle Lücke bilden. Wie kam aber nun Lukas gi
einer folchen offenbar getrübten Darftellung ? Dem Matthän
zufolge (15, 1) richteten die Pharifier jene verwundernd
Frage an Jeſum, da fie „gehört“, — bei Markus (7, 1)
da fie „gefehen“ hatten, daß Jeſu Jünger das Wafche:
unterließen; — bei Lufas fehen fie es an Sefu felbft, da e
mit ihnen ißt. Hier haben wir in „Hören, Sehen, Miteſſen
ein der Eage eigenthümliches Auffteigen vom Unbeftimmte
zum Beftimmteren, vom Allgemeinen zum Anſchaulichen
and es erklärt fic gar leicht, wie auch hier einer von be
Ueberlieferung erhaltenen Rede Jeſu dadurch gewiſſermaße
ein lebendiger Leib verliehen wurde, daß man unvermerft fl
in eine Geſchichte verflocht und fomit in Scene febte. Die
Auffteigen vom Mittelbaren zum Unmittelbaren, vom bloße:
Hörenfagen zum Sehen, tft im Charakter der ausmalenbei
Sage; nicht aber das verwifchende Abfteigen zum bloßen
nadten Gedanken. Daher ift die Darftellung des Lukas
ober derjenigen Tradition, ber er folgte, bag Spätere, Un
gefchichtlichere; nicht aber die der andern Evangeliften.
Dadurch wird aber auch feine Erzählung von dem zweiten
Gaftmahle (14, 1— 14), wo Jeſus Die in unferer matthäi
fchen Nede enthaltene Warnung vor dem Obenanfigen be
Mahlzeiten ausführlich angebracht haben fol, verdächtig; zu
mal da nur bei Lufas Jeſu die Ehre einer Einladung von
Seiten der Pharifäer widerfährt.
Mag nun auch Matthäus in Die Rede Jeſu Kap. 23 manch
Ausſprüche desfelben aus früherer Zeit eingemwoben haben, ſi
ift dieß Verfahren lange nicht fo unhiftorifch, ale Die dem
Lufas (oder dem Sagenfreife, an ben er fich hielt) eigen
thümliche „Gefchäftigfeit, zu überlieferten Reden Jeſu paffen
fcheinende Rahmen zu verfertigen *.
: Somit haben wir alle bei den Synoptifern fich vorfinden
den Reben Jeſu in dem Anfangs beitimmten Umfange betrad:
tet; eben fo die Zufammenftellungen berfelben: letztere freific
nur, wie fie bei Matthäus ſich finden, was wir aber fü
5
243
zureichend hielten, ba die größeren Maflen auch bei Lukas
und Markus wenigſtens gelegentlich zur Sprache kamen. Wir
gehen alfo zu den Reben Sefu bei Sohannes über.
x
Biertes Kapitel.
Größere Neden und einzelne Ausſprüche Jeſu im
vierten Evangelium.
(Sch. 3, 1— 21.)
. Schon das erfte größere Nebeftüd, Jeſu Unterredung mit
Nikodemus, muß und davon überzeugen, daß wir in ben
Som vierten Evangelinm mitgetheilten Neben Jeſu nur zum
Yleineren Theile die wirklichen Ausſprüche und Geſpraͤchs⸗
weiſe Jeſu, zum größeren aber diejenigen haben, welche der
Evangelift ihm aus feiner Vorftellungs = und Denfweife lich.
Da, fo erzählt Johannes, Jeſus ſchon bei feinem eriten
Auftreten in Serufalem fo großen Eindruck gemacht hatte (2,
23), fo begab fidy ein angefehener Pharifäer, Nikodemus,
des Nachts heimlich zu Sefu, um fich mit ihm zu unterreben.
Diefer Nifodemus „wird von Sohannes fpäter auch als Vers
theidiger Jeſu (7, 50) und felbft ald derjenige genannt, der
Sofeph von Arimathia bei der Beftattung des Gefreuzigten
Hilfe Teiftete; bei den drei übrigen Evangeliſten wird feiner
mit feiner Silbe gedacht. Auffallend ift dieß allerdings;
um fo mehr, da alle Evangeliften den Perfonen, welche dem
.gemordeten Meifter noch bis zur legten Chrenbezeigung treu
blieben, ein wohlverdientes Denkmal in ihren Berichten feßen,
alfo ficherlich von Nifodemus, der doch bei Johannes übers
dieß als ein gewichtiger Anhänger Jeſu erfcheint, nicht ges
ſchwiegen hätten, wenn er ihnen befannt gewefen wäre. Allein
undenfbar ift ein folches Berfchwinden aus der fpätgren
Meberlieferung nicht, und wir laſſen diefen Punft auf fich bes
ruhen. Eben fo wenig wollen wir uns an einzelnen Kleinig⸗
feiten im Gefpräche felbft ftoßen; 3. B. daran, daß der Evans
gelift, ald ein Dritter, fo genaue Kenntmiß von einer ganz
244
geheimen Unterrebung gehabt; — daß ber noch ganz fremde
Nikodemus Sefum fo vertrauensvoll angeredet — und. Jeſus
ihm fo allgemein geantwortet haben fol. Wir wenden und
fieber fogleich zu den Hauptparthien bes Gefpräches ſelbſt.
B.3— 10. — Jeſus verlangt von den Tuben, welche in
das Meffiasreich eintreten wollen, daß fie „neu geboren“
werben follen; dieſen Ausdrud nimmt Nifodemus ganz buch-
ſtaͤblich und meint, fo Etwas fei ja nicht möglid. Doch
aber war das Bild der „Wiedergeburt“ ein den Juden fo ges
laufiges, um die geiftige Umwandlung eines Menfchen zu bes
zeichnen, wie 5. B. die Belehrung eines Heiden zum Jehova⸗
dienfte, daß ein „Lehrer in Iſrael“ den Sinn besfelben auf
der Stelle verftehen mußte, und höchitens fragen konnte: ‚wie
denn bei einem Juden diefe Wiedergeburt nothwendig fei?
Daß er nur fich fo angeftellt habe, wie einige Ausleger bes
haupten, ift auch nicht denkbar, da alsdann Sefus ihm, wie
einem Heuchler, antworten mußte, was er nicht thutz ja,
als ihm Jeſus die nöthige Ausfunft gegeben, fragt er .nody
mals: „Wie Fann dieß gefchehen?“ Der unbegreifliche Miß⸗
verftand ift alfo vorhanden; wir fünnen ihn und nur aus einer
gewiſſen Eigenthümlichfeit des Darftellers erklären, und
müffen in ihm demnach einen unhiftorifchen Zug -erfennen.
Liegt es nämlich fchon überhaupt in der Neigung jedes Bios
graphen, feinen Helden und in augenfälliger Erhabenheit über
feine Umgebung binzuftellen, fo ift dieß Beſtreben unferm
Evangeliften ganz beſonders eigenthümlich, wie wir bald noch
näher fehen werden. Welche Befriedigung liegt für ein chrifts
liches Gemüth damaliger Zeit fihon darin, einen hochgebildes
ten Lehrer in Sfrael fo tief unter Sefu ftehen zu fehen!
V. 11—13. — Die zweite Antwort Jeſu fieht dem
Worten des Evangeliften in feiner Einleitung (1, 18, 11)
zwar ſehr ähnlich; doch, dürfen wir darin nicht fowohl eine
Unterfchiebung des Inhaltes, da fich Aehnliches auch. bei
andern Evangeliften findet, erbliden wollen, ale vielmehr nur
eine nach gewohnter Rebeweife gemachte Umbildung der Form
und Des Ausdruckes.
245 ,
2. 14 und 15. — Jeſus eröffnet nun dem Nikodemns
feine GJeſu) eigentliche, höchfte Beſtimmung, daß er naͤmlich
müffe „erhöhet“ werden, damit Alle, die an ihn glauben,
das ewige Leben gewinnen. Mit diefem „Erhöhtwerden“ Jeſu
verbindet Johannes überall ben Doppelfinn, daß er werbe
gefreuziget umd damit eben zu feiner wahren Herrlichkeit
erhoben werben. Nun aber müffen wir fragen: Wußte
bamals Jeſus feinen Tod fchon fo gewiß zum Voraus, und
ganz fpeziell feinen Tod am Kreuze? Und wenn er biefe
Wendung feines Schickſals ſchon Fannte, warum entdect er
fie einem Fremden, einem Pharifäer, fo viel früher, ale
feinen eigenen Jingern? Und wenn er, wie man hier ante
mortet, die Erwartung feines Todes fo früh wie möglich all⸗
gemein machen wollte, um alle irdifchen Erwartungen nieders
zuhalten, warum thut er dieß in fo überaus dunkler Andeutung,
wie fie in der Anfpielung auf die eherne Schlange enthalten
it? Und wenn er burch Diefes Dımfel zum eigenen Wachs
denken reizen wollte, wie fonnte er ſich hier von diefer Mer
thode den geringften Erfolg verfprechen, da Nifodemus fi
ſelbſt in leichter faßlichen Punften, wie der einer nothwendigen
Wiedergeburt ift, fo ungelehrig gezeigt hatte? Er konnte durch
Diefen rafchen Sprung, dem der gute Mann zu folgen offen>
bar nicht im Stande war, ihn nur verwirren und entmuthigen,
nicht aber anreizen. Ueberdieß verführt Sefus in den andern
Evangelien weit gründlicher, und geht von einem Gegenſtande
der Belehrung nicht früher, als bis er gehörig erfaßt worden,
zu einem andern über. Bol. Matth. 13, 10 ꝛc.; 13, 36 ꝛe.
15, 16; 16, 8 ꝛc. Wir fehen daher auch hier den Erzähler
in dem Beftreben befangen, den Contraſt zwifchen der Weisheit
Sefu und dem Unverftande Des Schülers immer greller hervor⸗
treten zu laſſen.
Von V. 16 an nimmt die Rede eine ſolche Wendung, daß
alle Ausleger geſtehen müſſen, dieß können Jeſu eigene Worte
nicht mehr ſein. Denn alle Beziehung auf Nikodemus verſchwindet
vor den ganz allgemeinen Betrachtungen über die Beſtimmung des
Menſchenſohnes; — dieſe Gedanken haben auffallende Aehnlichkeit
246
mit den eigenen Worten des Johannes an andern. Steffen
(man vgl. B. 16 mit 1. Brief des Joh. 4, 9 und B. 19 mit
Joh. 1, 9, wo der Berfaffer fpriht); — ben Ausdruck:
„der eingeborne Sohn“, gebraucht Sefus ſonſt nirgends, wohl
aber Sohannes fehr oft; — manches ift ald vergangen
dargeſtellt, was erft weit fpäter gefchah; namentlich konnte
Jeſus jetzt noch nicht fagen: „die Menfchen liebten die Fins
ſterniß“ CB. 19), da er damit ihre Verhärtung gegen feine
Lehre meint, von welcher er am Beginn feiner Laufbahn noch
nicht reden konnte. Ueberhaupt enthält das Ganze fo viele
ruhige, gegenftändliche Betrachtungen, die Jeſus über feine
eigene Perfon, wie über eine dritte, nicht wohl felbft ans
ftellen fonnte. Kann man dieß Alles nicht läugnen, fo hilft
man fich auch hier wieder damit, daß der Evangelift audy nur
feine Betrachtungen hier habe anhangsweife geben wollen.
Allein davon feine Spur! was bei einem hiftorifchen Schrift
fteller unverzeihlich wäre; vielmehr Fündigt das „denn“ 2% zu
Anfang des 16. Verſes augenfcheinlic; die innigfte Anfnüpfung
desjelben an das Vorhergehende an. Daß endlich Johannes
recht wohl weiß, wie ein Erzähler fich auszudrücken habe,
wenn er feine eigenen Betrachtungen in die Erzählung eins
mifchen will, zeigen 3. B. 7, 39; 11, 51 ⁊c.; 12, 16.
Wir haben vielmehr in der ganzen Nede eine Probe von
der Beichaffenheit der Neben Jeſu in diefem Evangelium übers
haupt. Sie haben bie zu einem gewiffen Punfte Die Gefpräches
form, wobei gewöhnlich Sefu Ausfprüche von den Anbern ftatt
in geiftigem, vielmehr in grob irdiſchem Sinne gefaßt wers
den; dann aber verliert fich der Evangelift unvermerft in
eigene Betrachtungen, welche nicht Sefn Worte, fondern
des Erzäblers Anfichten über Jeſum enthalten.
22, Diefes wichtige „denn“ fehlt fünderbarer Weife in der Tutheri«
ſchen Ueberfesung ; vielleicht legte der Ueberſetzer deßwegen Keinen
Werth darauf, weil ihm nicht in den Sinn kam, baf fpätere
Austeger auf den Einfall gerathen würden, diefe Worte gehören
nicht mehr zur Rede Jeſu.
—
‘
nn nn 2
247
(Ssoh. 5,19 —47; 6, 26— 715 Kap. 7 und 8 an vielen
Stellen; 10, 1—18 und 26—30; 12, 44— 50.)
(
Eine weitere, größere Rede findet fich 5, 19, zu welcher
Jeſus durch die Vorwürfe über feine Sabbathheilungen vers
anlaßt wird. Obgleich er Diefe nur fehr kurz und mit gang.
andern Gründen, ale bei den Synoptikern, vertheidigt, und
fodann fogfeich auf das „ Grumdthema des Evangeliums, auf
die Perfon Chrifti und fein Verhältniß zum Vater * übergeht,
fo ift Doc der Inhalt der Rede ganz fo, daß er wohl
von Jeſu Herrühren Fünnte. Dagegen bietet Die Form bers
ſelben den größten Anftoß dar. Es kommen nämlich eine
ganze Menge von Ausfprüchen und Wendungen vor, welche
faft wörtlich theild in dem erſten Briefe des Evangeliften,
theils in feinen und Des Taͤufers Neden im Evangelium fich
wiederfinden. Wir geben. alle betreffenden Stellen dem Leſer
zu einer jedenfalld ſehr intereffanten Bergleichung hier an,
Man vergleiche:
Soh. 5,20 mit Ev. Joh. 3, 35 (der Täufer ſpricht);
— 2.24 mit 1. Br. Joh. 3, 145 — 3. 32 mit Soh. 19,
35 (der Evangelift fpriht); — 2. 34, 36 und 37 mit
1 Joh. 3, 95 — 2. 37 mit Joh. 1, 18 (der Evangelift);
— 238 mit, 1 Joh. 1, 105 — 3.40 mit 1 Joh. 5, 12;
— 8.42 mit 1 50h. 2, 15; — V. 44 mit Soh. 12, 43. —
Wie erflären wir ung diefe auffallende Erfcheinung? Sol
der Evangelift ſich die Ausdrucksweiſe Jeſu jo fehr angeeignet
haben, daß er von derfelben fich nicht mehr Iosmachen wollte
oder fonnte, fo oft er feine eigenen Tsdeen ausſprach? Dann
müßte er weniger felbftftändig und originell gewejen fein, als
er fonft fich zeigt. Soll nun auch gar der Täufer ganz wie
Jeſus ſich ausgedrüdt haben? Dieß ift bei einem Kanne,
der fchon vor der Verbindung mit Jeſu ale ein fo feharf abs
gegränzter Charakter auftritt, noch weniger denkbar. Oder
fol endlich gar Jeſus in feiner Redeweiſe ein fo Fnechtifcher
Nachahmer des Täufers gewefen fein? Am allerwenigften!
Es bleibt alfo Nichts, als die Annahme übrig, Sohannes
habe auch hier die beiden genannten Männer in dem ihm
eigenthümlichen Tone reden laffen, was ja überhaupt den Ges
248
fchichtfchreibeen, zumal älteren, fo leicht begegnet, wenn fie
ihre Perfonen redend einführen... Diefe Annahme wird Durch
die Leichtigfeit, mit welcher er den Nedeftoff beherricht, wähs
rend feine Kollegen darin ſich meift jo fchwerfällig zeigen, zur
Gewißheit erhoben. Hiermit entfteht nun aber auch ein nicht
unbedeutended Bebenfen gegen die Aechtheit des Inhaltes:
denn wie vielfach fließen in jeder Rede Inhalt und Korm fo
in einander über, daß man beide zu trennen und zu fcheiden
ſich außer Stande ſieht!
Penn, um zu den nächftfolgenden Reben, denen bes Kap. 6
überzugehen, Jeſus fich hier „das Brod des Lebens, das vom
Himmel hernieder gekommen“ nennt (V. 35), fo erflärt ſich
dieß freilich aus der jüdifchen Erwartung, daß der Meffias,
wie Moſes einft, dem Volle Manna vom Himmel bringen
werde. Wenn er aber nun von B. 51 an als das Himmels,
brod fein Fleiſch darftellt, das er der Welt zum Heile bins
geben werde, und das Eſſen feines Fleifches und das Trinfen
feines Blutes für das einzige Mittel, das ewige Leben zu ers
langen, erklärt, fo ftimmen diefe Worte auf eine zu übers
rafchenbe „Weife mit den von ihm bei Einfegung des Abends
mahles "gebrauchten überein, als daß man eine Hinweiſung
auf Dasfelbe hier verfennen dürfte Nur aber muß man ben
Gedanken ferne halten, daß Jeſus diefe Anfpielung habe
machen fünnen. Denn abgefehen von der großen Unwahr⸗
foheinlichfeit, die darin liegt, daß ihm fchon jebt jener, aus
der ficheren Erwartung feines nahen Opfertodes hervorgegans
gene Akt vorgefchwebt haben follte, fo wäre es ja gänzlich
zwecklos geweien, eine fo völlig dunkele Andeutung laut
werden zu lafien. Sa, ed wäre verkehrt geweien, da ſchon
an dem viel verftändlicheren Ausdrudfe vom Himmels brode
Diele einen Anftoß genommen hatten, den er auch wirklich
durch den noch dunflern Ausfpruc vom Fleifche in ſolchem
Grade vermehrte, daß, wie Sohannes B. 60 und 66 erzählt,
ein Theil feiner Tünger ihn verließ. Daß Jeſus aber einen
folchen, wohl vorauszufehenden Erfolg felbft herbeigeführt
habe, ift mit feiner Lehrweisheit unvereinbar; vielmehr trägt
auch hier Sohannes feine Anſicht und feine nad). dem Abends
mahl gewonnenen Borftellungen in die Rebe Jeſu über.
249
Auf unferem weiteren Wege muß uns vor Allem das
auffallen, wie oft diefelben Gedanken und Ausdrüde ſich
wieberholen; ſonach, ben bis hierher gemachten Beobach⸗
tungen zufolge, fich als Lieblingsideen des Evangeliften
berausftellen, wie dieß befonders bei ben Reden Kay. 7 und 8
der Kal if. Man vergleiche:
Kap. 7, 17, 28 1.5 8, 28 10.5 38, 40, 42 mit 5, 30,
43; 6, 385 — 8, 23 mit 3, 315 — 8, 13—19 mit 5,
31 —37; — 8, 15 ıc. mit 5, 305 — 8, 12 mit 3, 19. —
Und was nicht fchon früher da gewefen, wie oft wiederholt
es fich in dieſen Kapiteln felbit, wie 5. B. eine Bergleichung von
Kap. 7, 17 ıe. mit 8, 50—545 — 7, 28 mit 8, 14,
19, 545 — 8, 21 mit 8, 24, 51 und zugleich mit 3, 36,
6,0. —
zeigt! — Die Reden des Kap. I geben feinen Anlaß zu bes
fonderen Bemerkungen.
Die zu Anfange des zehnten Kapitels mitgetheilte bilbliche
Rebe von dem Hirten und den Schafen beweist allerdings,
daß auch unferm Evangeliften Die Gewohnheit Sefu, in Gleich
niffen zu reden, befannt war; allein er gibt uns doch fein
reines Gleichniß, weil er auch hier feine Neigung, eigene
Betrachtimgen einzuflechten, nicht verläugnen kann. Diefe,
alfo nur gleihnißartige Reden, V. 1 — 18, find von
Jeſu zur Zeit des Laubhüttenfeſtes gefprochen; hierauf folgen
andere, von B. 26 an, welche in die Zeit des Tempelweih⸗
feftes, drei Monate fpäter, fallen. Diefe fpielen wieberumt
in das Gleichniß vom Hirten hinüber, und zwar öfters in fo
wörtlichen Wiederholungen, daß man wohl fragen darf: Konnte
Jeſus das vor Monaten Gefprochene noch fo buchitäblich im
Gedächtnifie haben? Gewiß nicht; wohl aber der Evangelift;
denn er hatte wohl fo eben erſt die früheren Neden Sefu
niedergefchrieben, und mas er nod im Gedächtniſſe hatte,
floß auch in feine Feder, die ſich fehon daran gewöhnt hatte,
die Ideen ihres Meifters in Worte Sefu einzufleiden.
Dieß wird uns endlich noch in Der Rebe, mit welcher
Jeſus feine öffentliche Wirffamfeit befchließt (12, 44), recht
anfchaulich gemacht; Tiefe nämlich ift fo durchaus nur eine
Wiederholung der Kanptfächlichften,, früher fon erfreut
258
ansgefprochenen Ideen Jeſu, Daß wir unmoͤglich glauben Ihnen,
derſelbe fei mit einem bloßen Regiſter des bereits Geſagten
vom Schauplage abgetreten. Hierin find aud alle ändern
Ausleger mit und einveritanden; allein fie vermeinen babei,
Johannes Habe auch nur von ſich aus dieſe Necapitulation
für den Lefer geben wollen; und doch leitet er fie mit Den
Werten ein: „Sefus rief md fprah“ (V. 4431: Zwar
hatte er ſchon in V. 37 gejagt, Jeſus habe fich nun zurüds,
gezogen und fid; verborgen; allein da er fich bewogen fand,
son DB. 38 noch einige eigene Schlußbemerkungen. zuzufügen,
wie leicht‘ konnte es ihm einfallen, noch einmal, gleichfam als
fchlagenden Schluß des Schluffes, Jeſum felbfl. alles Ges
fagte befräftigen zu laſſen! Daß es ihm damit Ernft gemefen,
zeigt aud) der gefteigerte Ausdrud: „Jeſus rief und ſprach“.
Hatte er es ja auch feither nicht fo genau Damit genommen,
Sefu Worte und feine Anfichten und Tendenzen ſcharf von
einander zu ſcheiden!
(Joh. 4, 44; 13, 20; 14, 31.)
Alle bis hieher betrachteten längeren Reden find dem vierten
Evangelium eigenthümlich; nur einige wenige fürzere Ans⸗
fprüche Jeſu finden ſich aud) bei den übrigen Evangeliften;
wir heben nur diejenigen hervor, welche von dieſen in einen
andern Zufammenhang geftellt find, ald von jenen; es find
deren drei.
Die Worte 4, 44: „ber Prophet werde in feinem Vater⸗
Iande nicht geehrt“, finden fich bei Matth. 13, 57 in der
natürlichften Verbindung: Jeſus fpricht fie aus, als ihn bie
fchlechte Aufnahme in Nazaret veranlaßt, diefen Ort zu vers
Taffen. Bei Sohannes dagegen fcheinen fie ganz verkehrt
angebracht; denn hier fpricht fie Jeſus aus, als er im Bes
griffe fteht, von Samarien nach Galiläa zu gehen, und werben
überdieß, da es heißt: „denn Jeſus bezeugte, daß ꝛc.“, ale
der Grund hingeftellt, weßhalb er gerade dahin ging, wo er
Nichts galt, was in der That abfurd klingt. Wie zu helfen?
Zunächſt mußte Das Heine Wörtchen „Denn“ herhalten; es
251
ſoll auf einmal hier fo viel, wie „obgleich, fein; dieß heißt
aber doc weiß für fchwarz erflären. Andere verftehen unter
Vaterland nur Nazaret, und nehmen die Worte als Grund
davon, daß Jeſus nicht fpeciel in diefe Stadt, fondern allges
mein nur nad) Galiläa ging; allein war es fo gemeint, fo
mußte doch offenbar der Evangelift von diefer Unterfcheibung
und wenigitend einen Wink geben. Aber, fo fagen Andere,
er wollte ja den, Grund angeben, weßhalb Jeſus erk jest
sach Galiläa ging; auch dieß ift nicht zuläffig, ba fich die
Worte nicht an die Nachricht von Jeſu längerer Abwefens
heit anknüpfen, fondern lediglich an bie zwei Tage, die er
m Samarien zugebradyt hatte. Noch Andere Hammern ſich
an das Wort „Baterland“, und fagen: Aus Matthäus und
kukas wiſſen wir, daß ja nicht Nazaret, fondern Bethlehem
in Sudäca Jeſu eigentliche Heimath ift, und fomit haben wir
bier den Grund, weßhalb er jet dieſes Fand verließ. Auch
damit kommen wir nicht aus; denn von der bethlehemitifchen
Geburt Seju weiß, wie wir oben ſahen, Sohannes gar Nichte;
überdieß hatte Jeſus in Judad fo ftarfen Anhang gefunden,
daß die Pharifäer ihn fchon jest deßhalb verfolgten C4, 1;
vgl. mit 2, 23; 3, 26 ꝛc.); endlich geht ja Jeſus jest nicht
aus Judäa, fondern aus Samarien weg, wo er ebenfalls
ſehr günftig aufgenommen worden war. Wir fünnen, wenn
wir die johanneifche Stellung der Worte retten wollen, ung
nur durch die Annahme helfen, Johannes babe — freilich
nicht deutlich genug — den Grund angeben wollen, weßhalb
Jeſus nicht fogleich nach der Taufe nad) Oaliläa ſich ges
wandt habe: er konnte nämlid) es für nothwendig halten, vors
ber fich erft auswärts Anfehen zu verfchaffen, um in Gas
liläa Boden zu gewinnen.
Der Ausspruch Jeſu 13,20: „Wer Einen aufnimmt, ben
ich fende, der nimmt mich auf“ ꝛc., finder fi Matth. 10,
40 in der Anweifung, die Jeſus feinen Juͤngern vor ihrer
Ausfendung gibt; Sohannes aber ftellt ihn mitten in die
Borherverfündigung des Verrathes durch Judas hinein,
wohin er ficherlich nicht gehört. Denn daß Jeſus durch den⸗
252
ſelben nad) ber niederſchlagenden Nachricht von dem Berrathe
feine Sünger habe wieder aufrichten wollen, wäre nur denk⸗
bar, wenn er nicht unmittelbar nach diefen Worten wieder
in ganz gleichen Tone von jenem geſprochen hätte. Es fcheint
vielmehr, daß auch Sohannes hier einmal, wie ed den Synop⸗
tifern fo oft begegnet, einen Ausſpruch Sefn Da anbrachte, wo
ihn eine zufällige Gedanfenverbindung grade daran erinnerte:
denn ®. 16 hatte er einige Worte aus der Rebe an bie
Apoftel angeführt, in welchen ebenfalls von „Abgefanbten“
Jeſu gefprochen wurde, und fo fiel ihm nachträglich anch noch
Diefer Ausſpruch aus berfelben Rebe ein.
V. 31 des Kap. 14 ruft Jeſus feinen Süngern zu: „ers
hebet ench; laßt uns von hier weggehen“; und dennoch vers
laffen fie erft 18, 1 den Saal, wo diefe Worte gefprodgen
wurden. Daß, wie die meiften Ausleger annehmen, Jeſus nad
biefen Worten mit feinen Jüngern zwar aufgeftanden, aber
vor dem wirflihen Weggehen ihnen noch Manches habe
fagen müflen, was ihm am Herzen gelegen habe, wäre gar
wohl denkbar, wenn ber Evangelift nur den geringften Wink
von dieſem Hergange der Sache zur Erflärung eines fonft
ımbegreiflichen Verweilend gegeben hätte. Wahrfcheinlicher ‚ift
es, daß er auch hier durch die Erwähnung der feindlichen
Macht (3. 30) die Jeſum bedrohte, unb welcher er freudig
entgegenging, an jenen Ausfpruch erinnert wurde, ben die
Ueberlieferung aus den Augenbliden der Verhaftung Jeſu
erhalten hatte (Matth. 26, 46), und fo mochte er ihm auch
hier nicht ganz am unrechten Orte zu ftehen fcheinen, um
ben Muth, mit dem Jeſus der Gefahr entgegen ging, ans
ſchanlich zu machen; ohne zu bebenfen, daß die Rede dadurch
für einen Augenblid unterbrocdyen wurde.
253
Fuͤnftes Kapitel
Die Glaubwürdigkeit der Heden Zefa im vierten
Evangelium.
(Ueberblid aller bisher behandelten Stellen.)
Nach der bisherigen Prüfung aller einzelnen Neben des
Evangeliums werden wir nun im Stande fein, über die
Glaubwürdigkeit derfelben im Allgemeinen ung ein
Urtheil zu bilden und über dieſen fo vielfach befprochenen
Begenftand auch unfere Stimme abzugeben.
Es kommt biebei zunächit die innere Befchaffenheit dieſer
Reden in Betracht, aljo die Fragen nach der Wahrfcheitts
a und der Behaltbarfeit derjelben.
ahrfcheinlicd kann es doch wohl nicht genannt wers
den, daß Jeſus gegen alle Perfonen fo ganz diefelbe Sprache,
gegen den Lehrer, wie gegen den gemeinen Öaliläer, geführt;
— daß er falt nur Ein Thema, die Lehre von feiner Pers
ſon befprochen; in fo dunfeln Worten und Wendungen, als
ob er abfichtlidy feine Zuhörer irre führen wolle, ſich bewegt
habe; — wahrſcheinlich ift es endlich gewiß nicht, daß
alle Perfonen, mit denen Jeſus ſich unterredet, in dem ganz
gleichen Irrthume, feine bildlichen Reden grob buchitäblich
zu nehmen, befangen gemwefen fein follen. Daß einige Wedhs
felreden, 5. B. in Kap. 9 und 11, weniger an diefen Fehlern
leiden, darf nicht verfchwiegen werden; jedoch reichen dieſe
lange nicht hin, um die johanneifchen Reden Sefu im Allges
meinen wahrfcheinlich zu finden.
Behaltbar ferner können foldye Neden nicht genannt
- werben, die nicht, wie bei den andern Cyangeliften, aus Fürs
nigen Sinnfprüden und anfchaulichen Parabeln zufammengefegt
find, fondern vielmehr zufammenhängende, oft weitläufige Aus⸗
einanderfeßungen und völlige Gefpräche bilden; diefe fünnen,
ohne daß fie ſogleich nachgefchrieben worden find, durchaus
nicht treu wiedergegeben werden. Es war daher von Paulus
ernftlich gemeint, wiewohl es nicht darnach ausfieht, wenn er
vermuthet, man habe Damals bei dem Tempel und den Synas
gogen eine Art von Schnellichreibern gehabt, deren Protofolle
254
fpäter von ben Ehriften ausgebeutet worben -(; "Allein koͤnnte
man auch überhaupt eine augenblickliche Aufzeichnung des von
Jeſu Gefprochenen, etwa durch Johannes felbft, wahrſcheinlich
machen, fo wäre damit Nichts gewonnen. Denn daß dieſe
Reden nicht ganz friſch vom Munde weg aufgezeichnet worden
find, fondern lange im Gemüthe des Referenten geruht haben,
darüber find alle Theologen einig. Aber doc; follen 28 die
ganz Achten Neben fein; was man durch die Tiefe der erften
Jugendeindrücke, durch die Wärme und Innigfeit, mit welcher
Der Jeſu fo vertraute Sohannes alle feine Worte im Herzen
bewahrte, fich erklären will. Allein dieß zerftreut die Bedenk⸗
fichfeiten eines unbefangen Prüfenden nicht. Muß doch ſelbſt
Tholuck, einer der neueften Vertheidiger dieſer Auffaffung,
geftehen, daß die Eindliche Einfalt, die Einfürmigfeit und Zer⸗
flofjenheit diefer Reden auf Rechnung des Evangeliften zu
fegen fei: — ift aber einmal die Form fo flarf von der Eigen,
thümlichkeit des Darſtellers gefärbt, fo haben wir, abgefehen
von allem Andern, fchon feine Bürgfchaft mehr für die Aecht⸗
heit des In haltes; denn wie hundertfältig fließen Form und
Inhalt einer Rede in einander über? wer will hier eine fcharfe
Graͤnze ziehen? — Wie wenig aber endlid, die Berufung auf
den übernatürlichen Beiftand des heiligen Geiſtes ausreicht,
kraft deffen Jeſu Sünger Alles genau behalten mußten, haben
die, welche fie zu Hilfe nehmen, unmwillfürlich felbit eingeftehen
müflen, indem fie die Möglichfeit einräumen, daß manche
Reden nur durch den über bie Sünger gekommenen höheren
Geiſt des Meifterd erzeugt fein mögen: — demnach nur Jeſu
Geiſt in ihnen, wie wenn er geredet hätte, die Rede her
vorgebracht habe!
Um weiterhin das Außere Verhältniß diefer Reden zu
unterfuchen,. müffen wir fie zunächft mit den Neben Jeſu bei
den Sprioptifern, dann mit der eigenen Redeweiſe ded Evans
geliſten felbft vergleichen.
Schon der Form nad find die johanneifchen Neden-fehr
verfchieden von denen in den Synoptifern, wo Jeſu Vortrag
ſich meift in Parabeln, die bei Johannes ganz fehlen, und in
25. |
farzen, ſchlagenden Sprächen, die er nur felten gibt, bewegen;
und wer wird läugnen, daß diefe weit mehr für einen Volks⸗
iehrer paffen, ald die Fünftlichen und Dunkeln Drafelfprüche
bei SSohannes? Und follte Sohannes, felbft wenn er Die Wies
derholung des von den Andern ſchon Mitgetheilten vermeiden
- wollte, nicht eine reiche Nachlefe noch haben anftellen koͤnnen?
— Aber diefe Verfchiedenheit erſtreckt fichh auch auf den Ins
halt der Reden. Daß dieſe Berfchiedenheit Feine totale iſt,,
verfteht ſich von felbft; aber vorherrfchend ift doch unläug⸗
bar in den Synoptifern das Beltreben Jeſu, das Volk grade
aber Das Zunächitliegende zu belehren, über den wahren Ges
halt des Geſetzes, über die bösartigen Sabungen der Pharis
füer, über die wahre Beſtimmung des Meſſias m. f. w.,
während feine Neben bei Johannes ſich faft nur um feine
Perſon und fein Verhältniß in fpißfindigen und umfruchtbaren
Unterfuchungen drehen. Man fagt daher, Sohannes habe ben
beftimmten Zwed gehabt, nadyzutragen, was feine Vorgänger
übergangen hatten; aber wie fonderbar, wenn dieſe grade nur
folche Reden, wie Sohannes fie gibt, übergangen, und grabe
alle von dem Gharafter, wie die von ihnen mitgetheilten,
aufgezeichnet hätten! ebenfalls hatte unfer Johannes eine
befondere Vorliebe für dergleichen Reden, wie wir bet ihm fie
lefenz; und wenn er auch manche ganz wahrhafte Züge, welche
den Synoptikern fehlen, treu wiedergibt, fo ift doch bei ihm
eine einfeitige, aus eigenen Zuthaten verfertigte, Ausfchmüdung
der Reden Jeſu unverkennbar.
Gegen den Vorwurf diefer, freilich fehr harmlofen, Untreue
hat man ihn auf mehrfache Weife zu verwahren gefucht. Als
Beweis feiner Gewiffenhaftigfeit fieht man es an, daß er die
von ihm in der Einleitung behandelte Lehre vom Logos Sefu
fo gar nicht in den Mund legt. Allein diefe iſt fo feharf und
förmlich ausgeprägt, daß er es nie vergeffen fonnte, woher
er diefe dee habe, und daher nie in DVerfuchung fommen
fonnte, fie Sefum zu leihen. Wenn man weiterhin ald güns
ftiges Zeichen anführt, daß bei Johannes Jeſus weit unbes
ftimmter feinen Tod vorausfage, ald bei den Spynoptifern,
die offenbar Manches aus dem fpäteren Erfolge in deſſen
Reden übergetragen; fo ift Dieß höchftene nur halbwahr. Dem
L
238
feinen gewaltfamen Tod, näher ald Kreuzestod bezeichnet, ſagt
auch hier Jeſus ſehr mumwunden, und den Verrath bed Ju⸗
das weit früher, als bei den Synoptifern, voraus.
Daß, um eigentlich nod) in der eigenen Redeweiſe bes
Evangeliften die von ihm referirten Reden Jeſu zu vergleichen,
beide fo große Aehnlichkeit mit einander haben, will man durch
die Behauptung erklären, daß Sohannes ſich ganz in bie
Denkweiſe Jeſu hineingefühlt und gelebt habe. Allein dann
müßten ja die übrigen Eyangeliften den Charakter der Neden
Jeſu ganz verändert haben; dieß ift aber durchaus undenkbar.
Denn wir haben gefehen, daß der Kreis der Ueberlieferung,
aus dem Diefe fchöpften, die Neden zwar in Fleinere Stüde
zerbrödelte; diefe zerriffenen Theile lösten aber die erften
Evangeliften nicht auf, fondern fie gaben diefelben fo getreu
wieder, daß fie lieber fie fpröde und fchroff neben einander
ftellten, ald erweichten, um fie zu fließender Maffe zu ges
ftalten. Dieſes Legte ift aber ganz bei Sohannes der Fall: er
verarbeitete die auseinander gefallenen Theile der Reden fo,
daß er fie in feinem eigenen Gemüthe gleichfam aufgehen,
zerfließen ließ, nnd fie nachher in freiem Guffe zu einer neuen
Einheit umgeftaltete. An den Neben, die auf ſolche Weife zu
Tage gefördert wurden, hat er demnach felbft überwiegenden
Antheil.
Darin ftimmen jest alle forfcyenden Ausleger überein, was
Bretfchneider ausfpricht: „Sohannes Tieß Jeſum weniger
Iprechen, wie diefer jedesmal wirflih im Einzelnen gefpros
chen, als wie es jedesmal dem Eindrude, den er von Der
ganzen Erfcheinung und Lehre Jeſu hatte, gemäß war“.
Ueber die Frage aber, ob mit dieſer Anſicht die Abfaffung des
vierten Evangeliums durch den Apoftel Sohannes beftehen
könne? — „getraue ich mir nicht *, abzuurtheilen, da fich die
Geftaltung jener Reden immer noch aus der Eigenthümlichkeit
des Johannes, wie aus der Abfaffung des Evangeliums in
- feinem fpäten Alter erklären läßt.
—
257
Sechstes Kapitel,
Einige Begebenheiten aus dem Leben Jeſu, befons
ders ber Befuch feiner Verwandten. ?°)
(Matt. 9, 32—34; 12, 22—455 16, 145 ul. 8,
Ehe wir auf die einzelnen Begebenheiten eingehen, müffen
wir den allgemeinen Charakter und Ton der Gefcichtserzähs
hing in den verfchiedenen Evangelien näher betrachten.
Matthäus ift es, der in diefer Beziehung am meiften.
Borwürfe hat erfahren müflen; man wirft ihm vor, es fehle
ihm an Anfchaulichfeit, an dem lebendigen Ausmalen ins Eins
zeine und Beflimmte; dagegen verwifche er Alles ind Allgemeine
und Unbeftimmte, fo daß feine Erzählungen ſich wie trockene
Umriſſe ausnehmen, denen Farbe und Frifche fehlen. Allerdings
ift e8 fo: Zeit, Drt, Perfonen gibt er meift ganz unbeitimmt
an mit einem allgemeinen: „damals, von da weggehend, ein
Menſch“ꝛc.; — oft faßt er Alles in Baufch und Bogen zufams
men: „alle Flecken Durchzog Sefus, alle Kranke wurden gebracht
und von ihm geheilt “5 — dann aber find viele wirkliche Ers
zählungen ganz kurz und troden. Dagegen find die drei ans
dern allerdings weit lebendiger, anfchaulicher, ausmalender.
Johannes zuvörderft hat zwar aud, mehrmals nur allgemeine
Angaben; meiſt aber fpinnt er feine Darftellung ganz in's Eins
zelne aus, gibt die Namen der Perfonen, den Ort und bie
Zeit der Begebenheiten fehr genau an, und viele Erzählungen,
wie die vom Blindgebornen, der Erwedung des Lazarus ıc.,
haben eine dem Matthäus ganz fehlende Frifche und Anfchaus
lichkeit. Eben fo verhält es fich bei Marfus und Luͤkas, die
der größeren Berwandtfchaft Des Inhalte wegen eine nähere
Bergleichung zulaffen; was Matthäus nur oberflächlid,) angibt,
23, Nur natürliche, nicht wunderbare, Begebenheiten werben in den
folgenden zwei Kapiteln behandelt, da bie zahlreichen Wunder⸗
gefchichten eine gefonderte Betrachtung in Anfpruch nehmen.
J. 17
258
malen fie aus, 3. ®. die nähere Veramlaffung vieler Neben
Jeſu, Namen oder Amt der von Matthäus nur unbeitimmt _
bezeichneten Perfonen (Matth. 9, 185 Mark, 5, 22; Luk. 8,
41 u. fe w.); vor Allem aber find Lukas und Markus in den
meiften Erzählungen an anfchaulicher Schilderung dem Matthäus
weit überlegen; vgl. 3. B. Matth. 14, 3 ıc. mit Mark. 6,
17 x. — Matth. 8, 28 ıc. mit Mark. 5, 1— 20.
Aus diefer Verjchiedenheit hat man den Schluß gezogen,
es könne der fo unbeftimmt erzählende Matthäus: wohl nicht
Augenzeuge geweſen fein, fondern feine Darftelung trage
das Gepräge der das Beſtimmte verwifchenden Ueberliefe—
rung; wogegen die übrigen Evangelien, die Alles fo lebendig
anſchaulich hinftellen, ſicherlich dadurch als Augenzeugen ſich
zu erkennen geben. Dieſer Schluß iſt nur halbwahr; daß ein
Geſchichtſchreiber, der ſo trocken und farblos, wie Matthäus,
erzählt, nicht als Augenzeuge erzählen könne, iſt, wenn auch
nicht ganz ausgemacht, doch wenigſtens ſehr wahrſcheinlich;
daß aber umgekehrt Jeder, der anſchaulich erzähle, ſich daduͤrch
als Augenzeuge zu erkennen gebe, iſt ein übereilter Schluß.
Er könnte nur dann als richtig gelten, wenn wir Berichte
hätten, die ganz erwieſen von Augenzengen herrühren, an
denen wir alſo den anſchaulich Erzählenden, wie an einem
Maßſtabe, prüfen könnten; allein ſchon in der Einleitung ſahen
wir, daß wir durchaus kein Evangelium beſitzen, das erwie⸗
ſen von einem Augenzeugen herrührt, ſondern daß wir bei
allen, ehe ihre innere Beſchaffenheit uns ein ſicheres Urtheil
an die Hand gibt, das Gegentheil vorausſetzen müſſen.
—
2
Da uns alſo ein ſolcher Maßſtab fehlt, fo müſſen wir es
für eben ſo möglich halten, daß das anſchauliche Ausmalen
der drei Evangelien neben dem trockeneren Matthäus ein Werk
der ſpäteren, verſchönernden Sage ſei, die ja bekanntlich es
liebt, an die Stelle der verloren gegangenen geſchichtlichen
Farben und Bilder ſelbſtgemachte Ausmalungen zu ſetzen,
nit denen fie den matt gewordenen Grund des Gemäldes
wieder auffrifcht und die Lücken wieder ausfüllt. Ob dieß bei
/
259
den bezeichneten Evangelien fich wirklich fo verhalte, wird eine
‚nähere Betrachtung der von ihnen aufgeftellten Gemälde
zeigen.
Zuvörderſt Markus und Lukas! Schon früher ſahen wir
bei mancher Gelegenheit, daß die beſtimmteren Veranlaſſungen
u Reden Jeſu, wie fie Lukas gibt, fpätere Zuthat ſeien,
und daß Die Nennung beſtimmter Namen bei Markus nur auf
Bermuthung des veranfchaulichenden Erzähler beruhe. Noch
beftimmtere Belehrung ader muß uns der allgemeine Charakter
ihrer Ausmalungen geben. Wenn neben den ganz allgemeinen
Angaben des Matthäus (8, 16 0.) 3. B. Markus (1, 32)
erzählt, Die ganze Stadt habe vor dem Haufe Jeſu ſich vers
fammelt; oder (2, 2), die Bolfsmaffe habe das ganze Vorhaus
gefperrt; oder, das Getümmel habe Sefum nicht zum Effen
fommen laſſen (3, 20); wenn Lukas fo viel Volfes herbeiftrös
men läßt, daß fie einander niedertraten (12, 1)5 wenn Beide
felbft den Blick befchreiben können, mit dem Sefus feine
Worte begleitete (Mark, 3, 55 Luk. 6, 1095 — fo ift das
Alles freilich fehr anfchaulich, aber wir können doch auch vor
der Betrachtung des Einzelnen fihon ahnen, daß wir hier das
Merk der ausmalenden Sage haben. Wie viel davon auch
auf Nechnung des Evangeliften fomme, ift ſchwer zu entjcheis
den; das aber fcheint gewiß, daß die Sage anfangs nur Die
Hauptmomente, Neden und Thaten, fefthielt, und fomit den
Zufammenhang verlor, welchen dann Die fpätere Sage wieder
herzujtellen fichte. Demnach finde Matthäus immer noch
der Wahrheit näher, als Markus und Lufas,
Zwifchen fämmtlichen Synoptifern und Sohannes ftellt
ſich ein anderer Unterfchied in Bezug auf die Schluß formeln
ber Erzählungen heraus. Die meiften derjelben bei jenen
laufen auf eine Berherrlichung Jeſu, bei dieſem auf eine
Erbitterung gegen denfelben hinaus **). So erzählen jene,
wiewohl fie von manchen Anfchlägen der Feinde Sefu ummittels
>, Die hierher gehörigen Etellen laffen wir weg, da nur durch
ihre große Maſſe, zu welcher und der Raum gebricht, etwas
bewieſen werden ann.
\
200
bar nach deſſen Thaten berichten, doch fo fehr oft, wie Jeſu
Ruf weit und breit erfchollen fei, wie das Volk feine Lehre
bewundert, feine Wunderthaten angeftaunt. und ihm deßhalb
überall nachgezogen ſei. Bei Johannes dagegen finden ſich
eben fo häufig die Bemerfungen, die Juden haben Jeſu nad)
dem Leben getrachtet; die Pharifäer haben ihn greifen wollen ;
Steine feien gegen ihn aufgehoben worden; und wenn auch
einmal von günftiger Stimmung des Volkes die Rede ift,
fo gilt dieß meift nur von einem Theile desfelben, während
der andere voll Erbitterung if. Welche Idee den Berfaffer
dabei leitete, ift daraus Far, daß er-Sefum allen diefen Nach⸗
ftellungen ungekraͤnkt, oft wunderbarer Weife, entgehen läßt,
„weil feine Stunde noch nicht gekommen ſei“; dadurch entfteht
|
ein ähnlicher Contraft zwifchen Sefu-und ber Welt, wie er
bei feinen Reden ſich herausftellt. Wie hier fein hoher Geift
hoch über dem rohen Unverftande fchwebt, der ihn überall
mißverfteht, fo geht bei jenen Verfolgungen die wunderbare
Kraft feines Weſens fiegreid) durch alle Anfchläge der Bosheit
hindurch, neben welcher feine Güte nur um fo rührender er
foheint, und ‚welcher er erit dann erliegt, als er felbft es
will. Die Synoptifer dagegen halten die Sache natürlicher,
indem fie öfters erzählen, die Pharifüer hätten gerne Hand an
Sefum gelegt, haben fich aber vor dem Volfe, das ihm ans
hing, gefürchtet.
Es fommen nun die einzelnen Erzählungen in Betracht,
jedoch nur folche, bei denen ein Einfluß der Sage ſich nad’
weifen läßt; und zwar, da und eine chronologiſche Drdnung
fehlt, nach ihrer inneren Verwandtichaft.
Matthäus erzählt, 9, 32—34, daß die Pharifäer Jeſu,
nachdem er aus einem ſtummen Befeffenen ?°) einen Teufel
auggetrieben, den Vorwurf machten, er treibe Teufel durch
den oberjten ber Teufel aus; Sefus fcheint den Vorwurf
29 Man fehe die Anmerkungen am Ende der zweiten Abtheilung.
— ob | —
\
| 281 .
ganz unbeachtet zu laſſen. Derſelbe Vorwurf aber wird ihm
12, 22 ꝛc., nachdem er einen Beſeſſenen, der ſtumm und
blind war, geheilt hatte, abermals gemacht; worauf er dieß⸗
‚mal eine ſcharfe Strafpredigt hält. Dieſe Wiederholung des
Vorwurfs iſt an ſich gar wohl denkbar: bedenklich iſt aber ſchon,
daß es beide Male nach der Heilung eines Stummen ge⸗
ſchehen ſein ſoll, und nach keiner andern, da doch die Juden
alle Arten von Krankheiten dem Einfluſſe böſer Geiſter zus
ſchrieben, alfo faft jede Heilung als eine Augtreibung erfcheis
nen konnte. Das Bedenken wächst, wenn wir des Lukas
Darftellung der Sache vergleichen, 11, 14 ꝛc.: Diefer erzählt
sämtlich diefelbe ganz fo, wie Matthäus den erften Vorfall
diefer Art, fügt aber Diefelben Reden bei, welche Sefus in
der zweiten Erzählung des Matthäus hielt (vgl. Matth. 12,
22 —25 mit Luk. 11, 17— 26). Alfo müßte Sefus bei zwei
Gelegenheiten faft ganz dasfelbe gejagt haben; das Unwahrs
fcheinlichfte von Allem. Wir dürfen alfo nur Einen Vorfall
annehmen, der aber in der Sage ſich verdoppelt hatz und
wie? darüber gibt Matthäus Auffchluß. Auffallend war jene
Heilung gewiß geweſen; der Sage mochte aber die einfache
Stummheit des Kranken nicht genügen, fie machte ihn auch
noch zu einem Blinden, und nun hatte man zwei Variationen
Eines Borfalls; beide fannte Matthäus, und mehr um ges
wiffenhafte Treue, als prüfende Sichtung, befümmert, gab
er beide, ließ aber, um Wiederholungen zu vermeiden, das
eine Mal die Reden Jeſu weg.
In der zweiten Stelle fügt. Matthäus noch eine weitere
Rede bei, welche Jeſus auf die Aufforderung, „ein Zeichen“
Wunder, das fein Prophetenthum beftätige) zu thun, in eben-
falls fcharfem Zone hält (12, 383 — 45); Lukas hat diefelbe
(11, 29 — 36) in der Hauptfache ganz eben fo. Doch findet
der weſentliche Unterfchied ftatt, daß bei Matthäus die Pha-
rifäer erft nachdem fie Jeſus wegen ihres Vorwurfes fo heftig
abgewiefen hatte, ein Zeichen von ihm fordern (2. 38), bei
Lukas aber diefe Forderung fchon mit jenem Vorwurfe vor
Sefu Strafrede verbinden. Wer das Rechte hat, tft fehmwer -
zu enticheiden; bei Matthäus erfcheint das Benehmen ber fo
s
262
derb abgewiefenen Pharifaer unmahrfcheinlich, bei Lukas
die Ruhe, mit der Jeſu nad, der Strafrede noch auf Das Bes
gehren eines Zeichens eingehen Fonnte.
Matthäus aber erzählt eine zweite Zeichenforderung der
Pharifaer, und zwar nad) der zweiten wunderbaren Spei⸗
fung (16, 1—4), an welcher Stelle fie auch Marfus hat
(8, 11, 12); Jeſus ertheilt dieſes Mal eine Antwort, die
faft ganz buchftäblich Worte enthält, die er fchon in der ers
ften gefprochen hatte, namentlich wieder die dunkle Anfpielung
auf Sonas (vgl. 12, 39 mit 16, 4); überdieß find Die beiden
erften Verſe derjelben (2, 3) an diefer Stelle ganz ohne
Sinn; an einer etwas geeigneteren theilt diefe beiden Berfe
Luk. 12, 54 —56 mit. Wie aber fam Matthäus zu diefer
offenbar verfälfchten Darftelung? Auch hier mochte eine Bas
riation durch die Sage gegeben fein; eine, daß die Pharifüer
nur einfach ein Zeichen begehrt (12, 38), die andere, daß
fie ein folched vom Himmel verlangt hätten (16, 1). Hatte
er nun die erfte fchon bei der Erzählung von dem Befeffenen
angebracht, fo ward er an Die zweite erinnert durch die Rede
Jeſu von der Unterfcheidung der Zeihen am Himmel und
der auf der Erde; er beging hier den, dem Lukas fonft eigens
thbümlichen Fehler, gewiffe Ausfprüche nur nad) der außeren
Gleichheit der Worte aneinander zu fnüpfen; fo daß fich hier
Sieffert's Sab bewährt, ed liege in der Natur ber tradis
tionellen Berichte, Daß der eine Zug von. biefem Erzähler,
der andere von jenem beffer erhalten fei, und feiner fehr
viel vor dem andern voraus habe.
(Matth. 12, 46— 50; Mark. 3, 31—35; Luk. 8, 19—21.)
„ Ale drei Synoptifer erzählen von einem Befuche ber
Mutter uud der Brüder Sefu bei ihm, und alle flimmen darin
überein, daß diefer, als man fie ihm anmeldete, fie mit hars
ten, barfchen Worten abgewiefen habe. Se unbegreiflicher
diefe abftoßende Härte Jeſu fein mußte, befto willfommener
war der Grund, den Markus, 3, 21, dafür darzubieten fchien,
| 263. —
Hier erzählt er, Jeſu Verwandte ſeien auf die Nachricht,
er fei verrüdt geworden, gefommen, um ihn in Familiens
Gewahrſam zu nehmen °%); nachdem er noch, etwas berich-
tet, woran er hier leicht erinnert werden konnte CB. 22—30,,
meldet er die wirkliche Anfunft der Verwandten. Allein nüher
betrachtet, müſſen wir jene Notiz des Markus fehr bezweifeln,
fie fteht Dicht neben der augenfcheinlichiten Uebertreibung (B. 20);
fieht ganz abgebrochen da, ganz ohne im Borhergehenden zu
wurzeln; und dem Markus ift ed eigen, zu Erklärung uner-
flärlicher Vorfälle — hier der Beſuch der Verwandten — aus
eigenen Mitteln veranjchaulichende Schilderungen beizufügen.
leberdieß ward ſchon früher bemerkt, daß nad) den Erzähluns
gen von Jeſu übernatürlicher Geburt es fehr undenkbar it,
wie feine Mutter in jo hohem Grade au ihm irre werben
fonnte.
Gehen wir alfo von des Markus Löſungsverſuch ab, und
wenden ung wieder zur Sache ſelbſt. Matthäus und Marku
laffen den Befuch grade nach der Vertheidigung Jeſu gegen
ben Vorwurf wegen ded Zeufelg folgen; Lukas Dagegen ftellt
den Befuch ziemlich lange vor diefe Bertheidigung. Merk
mwürdiger Weife aber knüpft aud) er an dieſelbe eine ähnliche
Anekdote anz einer Frau, welche feine Mutter felig preist,
gibt er eine Antwort, die dem fehr ähnlich it, wag er bei .
Anmeldung des Befuches fagt: „Nein; ſelig find die, welche
Gottes Wort hören und bewahren“ (Luk. 11, 23). Daß
bieß zur Stelle beſſer paſſe, ald der beiden Andern Erzählung.
vom Beſuche, muß deßhalb in Abrede geftellt werden, weil
gar fein Grund gefunden werden kann, weßhalb die Frau ihre
Seligpreifung grade an jene Neden über Austreibung der
Zeufel gefnüpft haben fol. Vieimehr mag die Sache fo zu⸗
famntenhängen:- Die Ueberlieferung hatte den fchönen Ausſpruch
Jeſu, „daß feine geiftigen Verwandten ihm näher ſtehen, als
feine leiblichen“, aufbewahrt; dieſen umfleidete Die Sage, viel:
leicht durch einen wirklich hijtorifchen Zug veranlaßt, auf
26, &p nämlich muß diefer Vers verftanden werden, was aus der
Intherifchen Ueberſetzung ‚freilich nicht herauszufinden ift:
264
doppelte Weiſe mit dem Rahmen einer Gedichte: „Sefus
fpradı die Worte, als feine Verwandte ꝛc.“; „er ſprach fie,
als jene Frau feine Mutter 20.*). Matthäus und Markus
feinen nur die eine diefer Anekdoten gefannt zu haben; Lukas
aber, dem fie beide befannt waren, hatte den Befuch einmal
ſchon früher gemeldet, fügte alſo hier die zweite Einfleibung
bes Ausipruches Jeſu ein.
Siebentes Kapitel.
Fortfekung: Die Nangftreitigfeiten unter den Tüngern
die Tempelreinigung und die Salbung durch ein
Weib.
(Matth. 18, 1—11; 20, 20- 28; Mark. 9, 33 - 37;
Wir kennen mehrere Rangſtreitigkeiten unter den Jüngern
welche Jeſus ſchlichten mußte. Eine derſelben iſt allen dreẽ
Synoptikern gemein; ſie brach unter ihnen kurz nach der Ver⸗
klaͤrung und der Verkündigung des Leidens aus, und bei dieſer
ftellte Sejus den Süngern ein Kind als Muſter (Matth. 18;
Mark. 9; Luk. N; eine andere, durch die etwas unbefcheidene
Bitte der beiden Brüder Sohannes und Jakobus, um bie
erſten Stellen im Neiche angeregte, erzählen Matth. 20,
Mark. 105 eine dritte läßt Luk. 22 noch nad) dem Iettten Abends .
mahle ausbrechen. Die Gründe, mit welchen Sefus ihre Zäntes
reien niederfchlägt , find jedesmal im Wefentlichen fich fehr
ähnlich; bemerfenswerth ift e8 befonders, daß der Spruch:
„wer unter euch der Größte fein will, fei Aller Diener“ bei
allen drei Beranlaffungen in feinen Reden vorkommt, überdieß
auch noch von Matthäus (23, 11) in eine große Rede einges
flochten if. Daß nun Sefus viermal ganz Dasfelbe mit faft
ganz gleichen Worten gefagt haben fol, wird wohl Niemand
glauben fünnen. Vielmehr ift hier eine Verwirrung durch die
Sage anzuerfennen; entweder hat fie Diefelben Worte mehreren
205
wirklich en Borfällen beigemifcht,, ober aber mehrere Anläffe
erdichtet, um fie als Rahmen für diefe Worte zu benußen.
Welches von Beiden das Wahre fei, muß fich aus einer Bes
teachtung der genannten Facta herausftellen. Nun ift aber
Das Aufitellen eines Kindes etwas fo Treffendes und Eigens
thũmliches; — Die Bitte der beiden Brüder Jakobus und
Sohannes fo characteriftifch, daß wir Beides als rein hiftos
rifche Facta anerkennen müffen, wenn auch nur Ein Theil
des von Sefu dabei Gefprochenen- ganz zu demifelben yaßt.
Dagegen nimmt fidy der Rangftreit bei Lukas nad) dem Abends
mahle ganz ald eine grundlos eingelegte Scene aus; fie fteht
nicht nur ganz ohne Verbindung, fondern uͤnmittelbar nach der
niederbeugenden Mittheilung, daß ein Verräther unter den
Jüngern ſei, fogar als ſehr unwahrſcheinlich da. Vielmehr
verleitete der (22, 23) erzählte Streit unter den Jüngern,
wer wohl der Verräther fein möge, aud) hier unfern Lufas
dazu, an einen andern Streit zu denken, und biefen ohne
Meiteres hier einzufchieben; hatte er ja bei der früheren Ers
wähnung des Rangftreites noch nicht alle ihm befannten Antworts
reden Sefu erfchöpft, demnach eine feiner Manier zufagende
Gelegenheit, Etwas, das er noch im Gedädhtniß hatte, anzu⸗
bringen. — Aber auch die Stellung der beiden andern
Rangftreitigkeiten ift ohne Zweifel ungefchichtlich, da beide
gerade nach einer Leidensverkündung Jeſu, die doch am wenigiten
geeignet fein Fonnte, in den Süngern Hochmuthsgedanfen zu
erweden, vorgefallen fein ſollen. Vielmehr foheint auch hier
Die Verknüpfung der Ideen eine falfche Stellung der Begeben⸗
heit veranlaßt zu haben: weil nämlich das Einemal Jeſu in
feiner Antwort an die beiden Brüder Coder nach Matthäus
ihre Mutter) auf fein Leiden hingewiefen hatte, jo fiel dem
-&vangeliften diefe Anekdote gerade da ein, wo er eben von
einer Berfündigung des Leidens gefprochen hatte (Miatth. 20,
18, 21). Eine ähnlicye Sdeenverbindung erzeugte auch die
unrichtige Einordnung der andern Begebenheit (Mark. 9,
32—39.
Das Aufftellen Des Kindes ale Diuiter der Demuth erinnert
uns an die Erzählung, daß Jeſus einft Kinder, obwohl die
Sänger fie abweifen wollten, zu fich rief CMatth. 19, 13 u. A.);
obgleich diefe Erzählung mit der vorigen mehrfache Achnlichkeit
bat, namentlich darin, daß auch hier die Kinder als Muſter
aufgeftellt werben, fo hat fie doch wieder fo viel Eigenthüms
liches, und es it das, was Jeſus dabei fpricht, fo ganz in
feinem Geiſte, daß an ihrer Aechtheit nicht zu zweifeln ift,
wenn aud) die Sage thätig geweien fein mag, beiden etwas
verwandten Erzählungen noch mehr Aehnlichkeit zu geben, ale
fie urfprünglicy mit einander hatten.
(Matth. 21, 12, 135 Mark. 12, 15—17; Luk. 19, 45, 36;
Bon einer gewaltfamen Tempelreinigung Sefu erzählen
und die Synoptifer ſowohl wie Sohannes: jedoch weichen ihre,
Erzählungen bedeutend von einander ab; nicht nur in Bezug
auf die Zeit, da Johames die Sache bei dem erften, bie
. Spnoptifer bei dem legten Aufenthalte in Serufalem gefchehen
laſſen, fondern auch in einzelnen Umftänden, wie in den Reden
- Sefu und dem Erfolge feines Verfahrens (vgl. Soh. 2, 18
mit Matth. 21, 23). Manche Ausleger nehmen daher hier
wirklich zwei verfchiedene Begebenheiten an, was ihnen um
jo. fichyerer erfcheint, da, wie fie fagen, auf die erjte Vertreibung
der Krämer zc. der Unfug wohl noch nicht werde aufgehört
haben.
Diefe Verjchiedenheiten werden indeß überwogen durd, Die
unverkenubare Aehnlichkeit, die andere Züge mit einander
haben; Züge, theild der Begebenheit felbft, theild der Neben
Jeſu. Wir Dürfen daher au zwei Vorfälle dieſer Art um fo
weniger denfen, da offenbar jeder Evangelift nur von Einem
etwas weiß, und da die allerdings ftarfe Abweichung in der
Zeitbeftimmung bei einer durch, die mündliche Ueberlieferung
erhaltenen Gefchichte nicht entfcheidet. In Bezug auf das
J
207
Factum ſelbſt geben die meiften Ausleger der Darftellung des
Johannes, ald der anfchaulicheren, den Vorzug; alleius
folche Anfchaulichkeit finder fich dei Markus z. B. nicht minder;
will man ihn befchuldigen, er habe diefelbe aus eigenen Mits
ten zugethan, fo muß auch gegen Sohannes ftrenges Necht
geübt werden, deſſen Augenzeugenfchaft nicht vorausgefegt
werden darf, und hier befonders zweifelhaft erfcheint. Denn
der nur von ihm beigebradıte Zug, Jeſus habe mit einer
Peitfche Alle zum Tempel hinausgetrieben, erfcheint doch fo
gewaltthätig und felbft unfchicklich, daß fchon Drigenes daran
Anſtoß genommen hat.
Auch was Die Zeit der Handlung betrifft, fo hat die Aus
gabe des Johannes (ſ. oben) fehr viel gegen fich, indem es
doc wohl gar nicht denkbar ift, daß Jeſus ſchon fo frühe,
wo er fonft nur in Güte zu wirfen fucht, auf. einmal fo ges
waltfam eingefchritten fein follte. Daß er aber nach feinem
meſſianiſchen Einzuge in Serufalem dieß gethan, ift weit wahrs
fcheinlicher: demm damals mußte er es darauf anlegen, feinen
Feinden zum Troße, fich in Allem als Meffias zu zeigen; „das
mals ftand Alles ſchon fo fehr auf der Spitze, daß durch einen
folhen Schritt nichts mehr zu verlieren war* Doc, fünnen
wir über diefen Punkt nicht beftinunt entfcheiden, da genau
genommen die Synoptifer gar feine Zeitbejtimmung enthalten,
indem fie weder von einer erften, noch von einer letzten, fons
dern nur von Einer Reife Sefu nach Serufalem etwas willen,
wie wir fchon früher fahen.
Kann aber-das ganze Factum, daß Ein Mann, fo ohne
äußere Macht, wie Jeſus, eine ganze Maffe in Schreden ge⸗
jaat habe, glaubhaft gefunden werden? Man erklärt Die Sache
einfach für ein Wunder; wir auch, „nämlich für ein Wun⸗
Der der religiöfen Begeifterung, gewirkt durch die umwiders
ftehliche Macht, mit welcher das lange verlete Heilige fich oft
‚mit Einem Male gegen feine Verächter Eehrt. *
— — —
⁊
208
‘oh. 12, 1—8.)
Sämmtliche Evangeliſten erzählen von einer Salbung
Jeſu durch ein Weib, jedoch mit bedeutenden Variationen, die
ung aber doc, nicht abhalten dürfen, auch hier die verſchieden
geftalteten Erzählungen nur Eines Kreigniffes zu erbliden.
— Weil beſonders Lukas von allen übrigen bedeutend abs
weicht, namentlich in der Zeitbeftimmung, indem er Die Bes
gebenheit weit früher ftellt, und in der falbenden Perjon,
da nur er fie eine „Sünderin“ nennt, während fie bei den -
andern eine ganz unbejcholtene Perfon ift, fo nehmen Die meis =
ften Exflärer zwei Salbungen an; eine von Lukas, die zweite —
von den andern Evangeliften erzählt.
Allein will man einmal fcheiden, fo muß man weiter gehen,
und auch in den Berichten der brei andern zwei verfchiedene —
= Begebenheiten annehmen, da zwifchen dem Des Sohannes, einer—
und denen des Markus und Matthäus andererfeitö eine eben-
fo große Differenz ftattfindet, als zwifchen allen dreien zufam-
men und dem Lukas. Nach Matthäus und Markus geht die
Sache im Haufe eined ausfäsigen Simons vor, — höchſtens
zwei Tage vor dem Pafcha, — ferner wird die Frau nur
allgemein ald „ein Weib“ bezeichnet; — fie gehört nicht zum
Haufe; — fie gießt ihre Salbe über das Haupt Jeſu aus;
und allgemein die Sünger find es, die fie tadeln. Alles ans
ders bei Johannes! hier ift das Haus des Lazarus deutlich
als Schauplaß bezeichnet; — der Zeit nach gefchieht Die Sache
wenigftend ſechs Tage vor dem Paſcha; — die Salbende
ift Die bethanifhe Maria; — fie gehört zur Familie; —
fie ſalbt Jeſu die Füße; — und Sfchariot it es, der ihre
Verſchwendung tabelt.
Sehen wir und alfo durch die Gonfequenz genöthigt, nicht
zwei, wenn wir einmal trennen wollen, fondern Drei verfchies
dene Salbungen anzunehmen, fo werden wir beffer thun, ums
. gekehrt ung zu bemühen, das Factum, das allen, wenn auch
fehr abweichenden, Erzählungen zu Grunde liegt, als eins und
260
daſſelbe herzuftellen. Denn es it doch ſehr unwahrſcheinlich,
daß Jeſus dreimal ſoll geſalbt worden ſein, und zwar ſo,
daß jedesmal bei allen Verſchiedenheiten doch auch wieder
viele Umſtände ganz dieſelben waren; wie konnten beſonders
bie Sünger Jeſu noch zweimal an der Salbung der Frau
Anftoß nehmen, wenn er fie ſchon einmal ſo ernſt zurecht⸗
gewieſen hatte?
Zu einer Ausgleichung zeigen ſich Matthäus und Markus
zunächit mit Johannes am geneigteften, ba fie beiberfeits
Bethanien, als den Drt, die letzte Woche ald die Zeit der
Handlung angeben. Ueberrafchend ift aber befonders dag, daß
der ferner fichende Lukas hier ben Vermittler machen muß,
indem er in vielen Stüden mit Matthäus und Markus, in
vielen mit Sohannes übereinftimmt; mit Matthäus und Markus
darin, Daß der Saftgeber Simon geheißen, daß die Salbenbe
nicht zum Haufe gehörte, ein Foftbares alabafternes Gefäß
hatte 20.5 — mit Sohannes in der Art, wie die Frau Sefu
Füße falbt, was beide faft mit den gleichen Worten erzählen.
Da alfo die Varietäten fo fehr aus allen Erzählungen in
alle hinüberfließen, fo haben wir ohne Zweifel nur Ein Factum
vor uns, das in mehrfache Formen von der bildenden Sage
umgeftaltet wurde. Es fragt ſich nun nody, ob die verfchiedenen
Evangeliften in ihren Abweichungen einander wirklich oder nur
fcheinbar widerfprechen? Das Lebtere haben viele Theologen
umſonſt zu erweifen gefuchtz zunädyft in Bezug auf Johannes
und die beiden erften Evangeliſten. Denn erſtens läßt ſich
die chronologifche Differenz nicht dadurch wegdemionftriren,
Daß man annimmt, obgleich Matthäus, ehe er 26, 6 die Ers
zählung beginnt, fchon V. 2 fage, es fei noch zwei Tage bie
zum Pafcha, fo behaupte er gar nicht, daß erft jeßt Die
Salbung gefchehe, fondern trage fie lediglich nach, um Die
Urfache des nun zu erzählenden Verrathes von Judas ans
ſchaulich zu machen; allein dann hätte er Sefum viel ftärfer
und ganz beftimmt den Judas müſſen tadeln laffen, nicht aber
alle feine Sünger, und zwar fehr fanft und milde. — Noch
‚270 \ '
ungfücficher ift der .Berfuch ausgefallen, Die Angaben über die
Derfon des Gaftgebers in Lebereinftimmung zu bringen;
dem von Matthäus und Marfus genannten Simon fol nur
das Haus gehört haben, in welchem der eigentliche Gaftgeber
Lazarıd zur Miethe gewohnt habe! Seit wann bezeichnet man
ein Gaftmahl durch den Namen des Hauseigenthümers? Eben
fo hinkt die Annahme, Martha fei des verftorbenen Simon
Fran gewefen, und bei ihr habe fich ihr Bruder Lazarus auch
: aufgehalten; dann aber mußte doc, wohl Martha ale Wirthin _
bezeichnet werden. — Die Ausgleichung der verfchiedenen =
Arten der Salbung, bald des Fußes, bald des Haupted —
ftreift gar in's Komifche, indem man, die ältere Anficht, es S
fei beides gefchehen, aufgebend, annimmt, die Frau habe
zwar nur die Füße falben wollen, allein da fie das Gefaäͤß—
gebrochen habe, fei ein Theil der Salbe auch an das Haupt
Jeſu gefo.nmenz; nun mußte diefe Salbe, wenn wir die Frau -
nicht gar zu ungeſchickt denfen wollen, wie ein ſchäumendes —
Getränk nach oben zu gefprigt fein! — Daß bei Matthäus und -
Markus die Sünger im Allgemeinen die Frau tadeln, nicht
aber Judas allein, wie bei Johannes, will man dahin be=
richtigen, daß alle durch Gebärden, Judas allein aber durch
Worte Unwillen auggefprochen haben; wenn aber die beiden
erften, die unmittelbar darauf den Berrath des Sudag ers
zählen, irgend etwas von einem folchen Dervorbrängen des⸗
felben gewußt hätten, fie hätten es ficher gefagt. Eben fo
wenig hätten fie den Namen ber falbenden Frau verfchwiegen,
wenn er ihnen — befannt gewefen wäre; denn gerade bei.
ihnen ftellt Jefus ihre That in rühmenden Worten fo hoch
(Matth. 26, 13). —
Nicht minder fehwierig ift eine Vereinigung des Lukas mit
den übrigen; namentlicy macht, um Anderes zu übergehen,
der Umftand, daß Lukas allein die Frau eine Sünderin
nennt, da e8 bei Johannes fogar die edle Maria von Bethanien
gewefen, es unmöglich, Frieden zu ftiften. Mit der Behaups
tung, weil Jeſus der Frau gefagt: „dir find deine Sünder-
vergeben (Luf. 7, 48)“, was fich auf eine ung unbekannte
leichte Verſchuldung beziehe, fo habe dieß der Berichterftatter
mißverſtanden, und bie Frau für eine Sünberkt in gemeinem
Sinne gehalten, reichen wir nicht aus. Denn alebann hat er
geradezu Alles entſtellt; duch Jeſus fpricht ja von vielen
Sünden (®. 47) und feine ganze Rede dreht ſich um ben
Gedanken, „wer viel liebe, dem werde viel vergeben“.
- Rein, es müfjen alle oder mehrere unferer Erzählungen
in det Sage bedeutende Umbildungen erfahren haben, und es
fragt ſich nur, welche berfelben fteht der Wahrheit noch am
nächften? Die neueren Ausleger geben faft fänmtlich dem
vierten Evangelium in diefer Hinficyt den Vorzug, weil fie
vonder — erft zu erweifenden — Vorausſetzung aus⸗
gehen, fein Berfaffer fei der Apoftel, demnad, ein Augenzeuge.
Damit reicht man eben fo wenig aus, ald mit der gerühmten
Anfchaulichfeit feiner Darftelung; denn dieſe zeigt ſich öfters
als baare Unmwahrfcheinlichfeit, Die man einem andern nicht
hingehen laffen würde; wie übertrieben ift fein „Pfund
Narden“ — die Schätung des Werthed auf 300 Denare —
und auch die Fußfalbung mit foftbaren Salben ift gegen bie
gewöhnliche Eitte.
Schon oben fahen wir, daß den Synoptifern die Namen
weder der falbenden Frau, noch bes tadelnden Jüngers bes
kannt gewefen fein fünnen, weil fie dann allen Grund hatten,
diefelben anzugeben; find es aber dem Johannes zufolge
Maria und Judas gewefen, fo muß man es fehr auffallend
finden, daß fie in der Ueberlieferung fick fo ganz follen vers
Ioren haben. Denn beide Perfonen find auch fonft befannt
genug; was fie hier thun, ift fo ganz in ihrem Charafter,
daß man fchwer begreift, wie Die Sage ihre Namen nicht aud)
hier feitgehalten hat. Man fünnte daher verfucht fein, ums
gefehrt die Namensbezeichnung des Sohannes als ausjchmücens
den Zufab zu betrachten, gemacht nach innerer Wahrfcheinlichkeit,
und auf feiner Seite die geringere hiftorifche Wahrheit
zu finden. Dieß ift jedody, wenigſtens in Bezug auf die ber
thanifhe Maria nicht rathfam; denn aus dem ganzen vierten
Evangelium geht hervor, daß feinem Verfafler das Berhältniß
u
Jeſu zur bethanifchen Familie des Lazarus gang befonbers be-
fannt war. Auch überliefern uns die andern Evangeliten ges _
wiffe Züge aus dieſem Verhältmffe (3. B. Matth. 21, 175
Mark. 11, 112.5 Luk. 10, 38 ꝛc. u. A.), die ung eine Hul⸗
Digung, wie die hier erzählte, grade von jener Maria fehr
glaublich machen. Unerflärlich bleibt es freilich, wie Die Ueber—
lieferung in unſerer Erzählung die Namen verlieren Fonnte
Daß aber Lufas die Salbende zur Sünderin macht, kan—
nur aus einer Bermenguug zweier, ganz getrennter, Be—
gebenheiten erklärt werden; vielleicht daß hier die, Soh. 8__
1 x. erzählte, Gefihichte von der Ehebrecherii zu Grunde
liegt.
Drucfebler und Verbefferungen.
Da der Verfaffer die Correctur nicht felbft beforgen Fonnte,
fo haben ſich, troß der fehr danfenswerthen Sorgfalt, welche die
Berlagshandlung auf den Druck diefer Schrift verwendet bat,
dennoch mehrere Fehler eingefhlichen, was bei der fehwierigen Bes
ſchaffenheit des Manuferiptes kaum anderd zu erwarten war. Ich
bebe für jebt nur aus den erſten eilf Bogen, mit Uebergehung
Heinerer Verftöße, nachfolgende Drudfebler heraus, die zum Theile
. zugleich auch Schreibfehler fein mögen, und die ich vor dem Ges
brauche zu verbeffern bitte. Die etwa noch übrigen werden am
Ende der zweiten Abtheilung verzeichnet werden.
6. 13, 3. 18 lies: Beinem, flatt: Beinen.
» 27 u Tv u. l. erhielten, fl. enthielten.
„ 239 „ TI diefer, fl. zweier.
34 ,, 4 1. Behanptung, fl. Annahme.
vr 36 ,, 37 1. andern, ft. andere.
„36 ,, 21 1. erkannte, ft. erkannten.
» 42 ,, 44 1. Iyana, fl. Ihyäna.
I. der, fl. des.
v
l
v
v
v
„ 46 ,„ 1
» 846 „ 6v. u. l. müſſe, ft. müßte.
„ 47,, 41. basfelbe, ft. diefelbe.
» 47 m 3». u. l. angeborne, fl. angegebene.
»„ 52 „ Tv. u. if „den“ vor „Glauben“ zu tilgen.
„ 55 „ 44 v. u. I. Befrembdendes, ft. Befonderes.
‚59 ,, 12 von unten iſt nach „unverkennbare“ einzufchalten:
„ Neigung “.
„ 80 „ sv u. l. der, fl. de.
„ 83 „ TE Empfängniß, ft. Schwangerfchaft.
» 95 „ 2». m. I. vorkommt, fl. verkannt.
„ 97m 11. Lukas, ft. Elifabeth.
„, 403 ,, 4% I. anfehen, fl. anfahen.
11 ,, 42 1. endet, fl. enden.
„ ML ,, iſt „er“ zu tilgen.
‚„ 115 ,, 21. dieſelbe, ft. derfelbe.
„ 115 ,„, iv. n. l. diefelben, fl. denſelben.
S. 124, 8. 14 1. Feſten, ft. Faſten.
„ 128 ,, 16 v. u. ift an die Etelle des , dad Wort „uni
zn feßen.
vr A 7, 3 und fonft l. Lyſanias, ft. Eyfanias.
„ 432 „ 7» u. l. tragen, fl. trugen. .
„» 339 ,, 6 if vor „in“ noch „wie“ zu feben.
„» 4140 ,„, 413 dv. u. iſt „er“ zu tilgen.
„ 140 „ 5» u. 1. Heiliges Lamm, fl. heilige Lam
o» 142 ,, ATI. feiner, ft. feine. |
„143 „ 31 fol, ft. will.
„343 ,, 18 v. u. l. Eonnte, ft. könnte.
„164 ,, 8 iſt vor „drängt“ noch „fo“ zu fepen.
„ 16% ,„ 39. u. l. demnach, ft. dennoch.
„4166, IL nur, fl. und.
2
„ 168 ,, 12 ift vpr „verfucht“ noch „beſonders “ zu ſetzen.
„171, 7v. u. l. den, fl. dem.
„» 473 , 121. Hiegegen, ſt. Hingegen.
„» 17% ,, 49 ift „ganz“ nach „Gebot“ zu tilgen.
„» 376 ,, 43 1. „Jeſus zuerft“, ft. „er zuerft“.
[3
Strang und die Coangelien,
3weite Abtheilung.
— Dein - Zen
,
. i *
j,
—_—.
D
“u
®
v
»
m.
283
ver Engel, des Meffias ıc.), biefelben aus dem Körper des
keidenden zu entfernen; hierfür hatte man gewilfe ftehende
Sormeln, die von Salomon herrühren follten. Da auch der
Rranfe in der Regel einen feiten Glauben an die Wirkfamfeit
tiefer Heilmethode hatte, und da die Urfachen folcher Kranfs
yeiten oft im Nervenſyſteme lag, auf welches Vorftellungen
md Stimmungen unverfennbaren Einfluß haben, fo wurden
ohne Zweifel viele derfelben, ohne alles Wunder, auf folchem
Wege wirklich geheilt. — Auch Jeſus fol durch fein bloßes
Wort böſe Geiſter ausgetrieben haben; wir wollen bie bes
merfenswertheften Heilungen diefer Art furz in Betrachtung
iehen.
@inzelne Heilungen.
(Mark. 1, 23—28;5 Luk. 4, 33 — 37; fodann Matth. 8,
28 — 34; Marf. 5, 1—10; Luk. 8, 26— 39; endlic)
Matth. 17, 14— 215 Mark. 9, 14— 29; Luk. 9,
37— 44.)
Die erfte der Art, welcher wir begegnen, ift zugleidy, dem
kukas und Markus zufolge, das erfte Wunder überhaupt,
das Jeſus nach feiner Taufe verrichtet: die Heilung eines
Befeffenen in der Synagoge zu Kapernaum. Bei diefer ift
das Auffallendfte, daß der im Kranken wohnende böfe Geift
(sder Dämon) Iefum fogleich nad) Deffen gewaltiger Predigt
als den Meſſias erfennt und vor ihm, ale feinem Verderber,
nsittern beginnt. Mit den natürlichen Auslegern anzunehmen,
er Kranfe habe von den Anmefenden vernommen, daß Jeſus
er Meſſias fei, und habe nun diefe Kunde mit feiner Vor⸗
tellung in Zufammenhang gebracht ꝛc., — dieß iſt unftatthaft,
ndem es nicht nur den Worten bed Tertes widerfpricht, fondern
uch fogar unmöglich ift, da gewiß nod Niemand damals
jefum für den Meffias hielt. Vielmehr geht aus der Antwort
jefir deutlich hervor, daß er jene Kenntniß des Leidenden von
ner Mefftanität einzig auf Rechnung des in ihm wohnenden
Yamon feßte; denn er gebietet Diefem zu fchmweigen, wie
r and) anderwärts die böfen Geifter, die er austrieb, bes
‚ 276 F u 42* ur Per)
biefes verhärtete, verderbte Gefchlecht, das neben der ganzen,
eine Mahnung an alles Volk enthaltenden, Erfcheinung Sefu,
wie eimft Jona den Niniviten war, noch einzelne Wunder
verlangte, oder gar Zeichen vom Himmel herab (Ruf. 11, 16).
Daß er aber dennoch unaufgefordert vielfache Wunder vers
“ richtete, dieß muß als unzweifelhaft angenommen werben.
Wenn aud, in der Apoftelgefchichte und in den apoftolifchen
Briefen fehr wenig von ihnen die Rebe ift, und nur auf die
Auferftehung überall das größte Gewicht gelegt wird, fo bes
weist dieß nichts gegen die Fülle von Wundererzählungen
in der evangelifchen Ueberlieferung; und waren fie durch
diefe einmal der Vergeſſenheit entzogen, wozu ihrer noch häufig
gedenfen? Hierzu kommt, daß die Apoftel Doch wenigftens
in der erften Zeit nad, Jeſu Tode das Volk an alle „Thaten,
Zeichen und Wunder“ erinnerten, die ed von ibm gefehen
hatte (Apoftelg. 2, 22). Endlich ſchreibt ja der Apoftel Pau⸗
lus ſich felbft eine von Chriſtus verliehene Wunderkraft zu
(GRöm. 15, 19; 2 Kor. 12, 12) und rechnet die Kraft, Wun⸗
der zu thun, unter die verfchiedenen in der Gemeinde ver-
theilten Gaben. Wie viel mehr mußte von Chriſtus der
Glauben feftftehen, daß er viele und große Wunder verrichtet
habe:
Es entfteht aber, ehe wir die einzelnen Nachrichten über
diejelben näher prüfen, ſchon im Allgemeinen hier die Frage:
Widerfprechen dieſe Wundererzählungen nicht geradezu den in
der Einleitung (ſ. ©. 49 der erften Abtheilung) entwickelten
Grundfägen? Allerdings, infofern man nämlich unter Wun⸗
dern folche Eimwirfungen auf Menfchen und finnliche Gegens
fände verfteht,, bei Denen alle natürlichen Gefeße von Urfache
und Wirfung umgangen werden, die nur durch den einfachen
Willen Jeſu hervorgebradjt worden; wir müffen daher ſchon
bier folche wirkliche, reine Wunder, wie die Erwedung eines
Todten, bie Vermehrung der Brode, Verwandlung des Waſ⸗
fers ꝛc. für fchlehthin undenfbar erflären. Viele andere
Wunder aber find von Der Art, daß fie bei genauer Betrach⸗
tung vielleicht gar nicht ald wirkliche Wunder erfcheinen,
vielmehr nur Ausflüffe folcher ganz natürlichen Kräfte find,
bie in tiefer DBerborgenheit wirten, daher im gewöhnlidyen
HT |
Leben weit weniger beobachtet, und berem Wirkungen, weil
fie .fo überrafchenbe fi find, gar gerne ald Wunder betrachtet
werden. So hat in neuerer Zeit ber thieriihe Magnetis⸗
mus ums wirkende Kräfte in dem Menfchen kennen lehren,
Die wir vorher nicht geahnet hatten; im magnetifchen Zuftande
vermag das bloße Auflegen der Hand zu heilen, ja das Wort
und felbft auch nur der bloße Wille des Magnetifivenden reis
‚hen bin, um eine Wirkung in dem Andern Made:
— ebenfalld bewirkt der Magnetismus in dem Hells und
Fernſehen eine uns noch unbegreifliche Steigerung des Er⸗
Tenntnißvermögeng,
Dieß Alles halten wir aber, auch wenn wir ed und nicht
erflären können, doch für nichts Uebernatürliches; ja, je mehr
wir in fonft verborgene Naturkraͤfte eindringen, befto weniger
find wir geneigt, am eigenfliche Wunder zu glauben: dem
immer mehr erfcheint ung dann die Natur als ein unendlich
fein gegliederte Ganze, in welches Gott von außen her nicht
ſtörend eingreifen wird, weil ed dadurch wirklich zerflört
würde. — Inwiefern nım aus diefen neueren Beobachtungen
ſich manche für Wunder gehaltene Thaten Jeſu erflären
Iaffen, wird bei der nun beginnenden Betrachtung der einzelnen
zur Sprache fommenz für jest haben wir nur folgende allge⸗
meine Bemerkung voranzuſchicken.
Sollten wir auch viele der Wunder Jeſu als Ausflüſſe
ſolcher tiefer liegenden natürlichen Fähigkeiten uns denken und
ſomit als wirklich geſchehen annehmen können, ſo würde uns
dies doch fein Beweis für das Alleinwahre feiner Lehre
und das Göttliche feines Charakters fein, denn die Kraft
magnetifcher Einwirkung ift, wie die Erfahrung lehrt, keines⸗
wegs eine Folge befonderer Froͤmmigkeit oder nothwendig mit
höherer fittlicher Kraft verbunden; das fogenannte Hellſehen
ift fogar immer Folge einer gewiffen Bemwußtlofigfeit. Auch
dba, wo folche Erfcheinungen fonft noch vorkommen, wie in
Zuftänden ungewöhnlicher, z. B. religiöfer Begeifterung, find
fie niemals Kennzeichen höherer Wahrheit, fondern hoͤchſtens
nur der lebhafteren Bewegung aller Seelenkraͤfte.
Wenn es alſo auch nahe liegt, zu erwarten, Jeſus, der
ſo Außerordentliches in dem geiſtigen Leben der Meinen
s
278
bewirfte, werde auch einer ungewöhnlichen Einwirfung auf
das leibliche fähig geweſen jein, fo kann doch weder das
Borhandenfein einer folchen Wirfungsfraft großen Werth für
uns haben, noch auch könnte das Mangeln berfelben unfern
fonftigen Glauben an Jeſum ftören oder beeinträchtigen.
nn nenn — —
Zweites Kapitel.
Die Austreibungen böſer Geiſter.
Wir eröffnen die Betrachtung der einzelnen Wunderthaten
mit den Heilungen der Dämoniſchen oder Beſeſſenen, welche
in den drei erſten Evangelien eine ſo wichtige Rolle ſpielen,
und daher da, wo von vielen Heilungen ſchlechthin die Rede
iſt (Matth. 8, 16; Mark. 1, 39; Luk. 6, 18 u. A.), gewiß
niemals fehlen.
Ad Beſeſſene werden vorzüglich ſolche Leidende bezeichs
net, welche wahnſinnig oder mondſüchtig geworden ſind; die
gadareniſchen Beſeſſenen ſind es bis zur wüthenden Tobſucht,
und bei Andern tritt noch Fallſucht mit wildem Geſchrei hinzu.
Seltener iſt es, daß auch Stumme (Matth. 9, 32 u. A.) und
durch Gicht Gekrümmte (Luk. 13, 11) Beſeſſene genannt
werden.
Nach der herrſchenden Vorſtellung beſteht das Leiden dieſer
Unglücklichen darin, daß ein unreiner Geiſt ſich ihrer bemädh-
tigt hat, «daher der Ausdrud „fie haben den böfen Geift“)
und nun aus ihnen redet (Matth. 8, 31) und ihre Glieds
maßen in Bewegung ſetzt; wenn daher der Kranfe geheilt
wird, fo heißt ed: „der böfe Geift wird ausgetrieben und
verläßt den Menfchen.“ — Diefe Anficht ift auch die der
Evangeliten, und, wie fich nicht augen läßt, die von Jeſu
felöft; denn er felbft fordert feine Fünger auf, „böſe Geifter
auszınreiben (Matth. 10, 8)* — ohne ihnen auch nur einen
Wink zu geben, daß er dad uneigentlich meine; ja Matth.
12, 43 — 45, um von andern Stellen zu fchweigen, gibt er
eine fo genaue und buchftäbliche Befchreibung von dem „Aug
fahren böfer Seifter“, daB man durch Feine der Windungen,
279
die mit dieſer entfcheidenden Stelle verfucht worden find, Der
Röthigung entgehen kann, auch Jeſu bie zu feiner Zeit herrs
fhenden Borftellungen zuzufchreiben. Denn als bloß bildlich
kann man dieſe Ausfprüche Jeſu fchon dem Wortfinne nadı
nicht nehmen; noch weniger aber, wenn man bedenkt, daß fie
in der Darftellung des Lukas (11, 24) in unmittelbare Vers
bindung wit wirklichen Geijteraustreibungen gefeßt find.
leberhaupt aber bejchreibt Jeſus mehrmals das Reich des
Teufels und die ihm dienenden Geifter fehr beftimmt und
deutlich (Matth. 12, 25 u. A.), und bezeichnet das Austreis
ben böfer Geifter durch feine Tünger ald einen Sieg über die
>» Macht des Feindes“ (Luk. 10, 19; vgl. mit V. 17). Es
iſt alfo wohl nicht zu bezweifeln, daß Sefus ebenfalls, wie
feine Zeitgenoffen, gewiffe leidende Zuftände als ein wirkliches
Weſeſſenſein des Menfchen von irgend einem freindartigen,
& öfen Geifte betrachtete, der im Dienfte des Satans ftehe.
Barum aber auch daran Anftoß nehmen, daß Jeſus diefe,
Mmach unferer Anfiht irrige, Borftellung hatte? Es be-
merkt ja ſchon Paulus ganz richtig, daß auch der ausge⸗
Zeichnetſte Geift dieſe und jene unrichtige Zeitborftellung gar
»zvohl theilen fünne, wenn er fie nicht zum befondern Gegens
ſtande feined Nachdenfend gemacht habe. —
Fragen wir nun nach dem Urfprunge diefer Vorftellung,
Daß böfe Geifter von dem Leibe des Menfchen fürmlich Bes
fig nehmen, fo werden wir, wie früher bei Der Lehre von
den Engeln Ci. ©. 73), auf den Einfluß gewiefen, den das
perfiiche Religionsſyſtem auch auf das der Hebraer ausübte.
Dort fand ſich die Vorftelung von gemiffen, fchon vor ber
Menfchenwelt entftandenen, von Haufe aus böfen Geiftern;
ein Glauben, den auch die Suden annahmen, jedoch mit der
Befchranfung, daß fie diefe Geifter nicht als urfprünglich
böfe, fondern als anfänglich gute, dann aber gefallene Engel
betrachteten; — dieſes find die böfen Geifter, die dem ober
ften derfelben, dem Satane, dienen, und eine Freude daran
haben, von dem Körper irgend eines Menfchen Beſitz zu neh⸗
men, um ihn zu plagen. Die jüdifche Voritellung fügte ihnen
ferner noch die Seelen der, mit den Töchtern der Menfchen
erzeugten, Söhne jener gefallenen Engel, ſo wie Die Ver
280
großen Verbrecher vor ber Eunbdfinth bei. Anch bie nen⸗te⸗
flamentlichen Schriftfteller werden wohl dieſe Anficht von den
böfen Geiftern gehabt haben; dem überall, wo fein Grund
zum Gegentheil vorliegt, müflen wir annehmen, daß die jüdis
ſche Denkweiſe ihrer Zeit auch die ihrige war. Deßhalb ift
es auch ohne Zweifel falih, was einige Theologen behaup⸗
ten, daß nämlid im neuen Zeitament die böfen Geifter für
Seelen verftorbener böjer Menſchen überbaupt gehalten
werden. Erſtlich findet fid) dafür im neuen Teſtament felbit
fein Beweis; denn die Erzählung, dag Herodes „Sefum für
den (doch wohl leiblich!) wieder auferitandenen (wir wollen
hoffen, guten!) Täufer gehalten habe (Matth. 14, 2)“ be;
weist doch wohl fait weniger, ald Nichts. Zweitens treffen
wir dieſe Anficht allerdings bei fpäteren jüdiichen und
chriſtlichen Schriftitellern (Joſephus, Juſtin 20.35 fo wie fie
bie gewöhnliche der Heiden iſt, die auch bafe Geiſter ald Plage⸗
geifter der Menichen annahmen, fie aber nur für die Seelen
abgeftorbener böjer Menſchen fchon darım halten mußten,
weil ihren religiöfen Vorftellungen der Teufel nebft fammtlis
hem Hofſtaate von gefallenen Engeln ꝛc. des Gänzlichen
mangelte, Allein, um zu unjerer Behauptung zurüdzufehren,
zu der Zeit, in welche die Begebenheiten des neuen Teitamen;
tes fallen, war den Juden, und demnach auch Sefu und
den erften Chriften, nur jene frühere Vorſtellung geläufig,
nicht dieſe fpätere jüdiſch-heidniſche.
Sp betraditete aud) die ältere Theologie die Sache;
fchlicht und einfach machte fie jene Vorftellung Jeſu und des
neuen Teftamentes überhaupt auch zu der ihrigen; aus Scheu,
biefen zu widerfprechen, und zu ehrlich, um an den Worten
bes Evangeliums heimlich zu drehen. Neuere Theologen jes
doch, die ihre Drthodorie retten, und fie aber auch wit ben
durch die Wiffenfchaften gewonnenen Wahrheiten in Einklang
bringen möchten, fehen, wie dieß namentlich bei Olshauſen
der Fall it, ſich zu den feltfamften Onerzügen genöthigt, wie
ſich fogleich zeigen wird.
=
289
aben, leicht die Sage bilden, fie ſeien wieber in andere Kör⸗
ne gefahren, und zwar, ihrem Gefchmade entfprechend, in
he unveiner Thiere. Ferner aber war es nichts Seltenes,
8 jüdifche und heidniſche Befchwörer den anszutreibenden .
Beiftern befahlen, bei ihrem Ausfahren nahe ftehende Gegen-
linde, 3. B. Waflergefäffe, Standbilder ıc. umzumwerfen,
m die Zufchauer durch die That zu überzeugen, daß fie aus
em Körper des Kranken in die weite Welt hinausgefahren
en. — Ein folcher Beweis der wirklich vollführten Austreis
ung konnte nun gar leicht auch bei Jeſus nothwendig erſchei⸗
en, und da einmal von der Sage die Schweine in fo nahe
jerbindung mit dem Alte gebracht waren, fo lag ja nichte
über, als fie auch zum Zeugniß der wirklich erfolgten Aus⸗
reibung zu benugen. Dieß gaben fie aber dadurch am aufs
alendften ab, wenn fie durch die Gewalt der ausgetriebenen,
ſinſauſenden, böfen Geifter in das ihnen fonft verhaßte Ele-
went Des Waſſers hinabgefchleudert wurden. —
Wir kommen alfo zu dem Refultate, daß zwar die Heilung
eines oder zweier Befeflenen von bejonders fchmwieriger Krank:
beitsforın nicht bezweifelt werden kann, daß aber viele einzelne
Züge in der Erzählung als Zuthaten der Sage zu betrachten
ſind.
Die dritte umſtändliche Austreibungsgeſchichte (Matth.
17, 14 u.f.w.) hat das Beſondere, daß vorher die Sünger
Jeſu vergeblich die Heilung des Kranken verfucht hatten. In
en wesentlichen Punkten ftimmen allerdings die drei Synop⸗
ifer überein; in Einzelnheiten aber weichen fie von einander
b, und zwar in der Art, daß Matthäus den einfachften,
Rarfus aber den ausführlichften und anfchaulichften, — alfo
ich ohne Zweifel den von fpäterer Sage am meiften gefärbe-
n Bericht hat. Dieß zeigt fich nantentlich in dem verfchie-
nartigen Verhalten des Volkes: nach Matthäus (DB. 14) tritt
Jeſu nur zufällig in den Weg, ald er vom Verklärungs⸗
xg herabfam; nach Lufas (DB. 37) fam es ihm abfichtlich
itgegen; bei Markus (VB. 15) flürzt es ihm entgegen und
egrüßt ihn, nachdem es fich vor ihm „entfeßt“ hatte.
Jieß Letztere kann wohl nur fo erklärt werben, daß Jeſus
11, 19
282
erften Aderlaffe noch die beklemmende Schwierigkeit übrig, glaub:
lich zu machen, daß wirflicy ein fremder böfer Geift, wenn
auch nur bei Wenigen, zwifchen Seele und Körper hineinges
fchlüpft fein fole. Daher hilft man nun weiter damit ang,
daß der böfe Geift, der in die Menfchen fahre, nicht als- ein
beftimmter, einzelner Geift, ald abgefchloffenes Weſen, fon:
dern nur allgemein als Ausflug und Wirkung des böfen Prin-
zips zu betrachten, demnach ganz unperſönlich fei. Allein
Damit wird Die Sache nur noch fchlunmer. Denn nicht nur
fteht Diefe Erklärung im geraden Miderfpruche mit dem
neuen ZTeftamente Corgl. 3. B. Marf. 3, 9; fondern fie führt
auch zu wahren Ungereimtheiten. Es müßte ihr zufolge ja
der Schlechtefte am meiften von böfen Geiftern befeffen fein,
wenn diefe nur Ausflüffe des Böſen fein follen; dem ift aber
nicht fo, und ein Judas Sfcharioth geht ganz frei Durch, wäh-
rend er gewiß fchlechter war, als alle Befeffene im neuen
Teftamente zufammengenommen. Soll aber nur etwa der vom
böfen Geifte ergriffen werden, der zmifchen Gut und Bös noch
ſchwankt? Dann müßten Alle, die diefen Kampf durchmach⸗
ten, einmal beſeſſen geweſen fein! Soll ein geſchwächtes Ners
venſyſtem erforderlich fein, um diefen Zuftand hervorzubringen?
allein Leute mit ſchwachen Nerven find doch wohl nicht auch
immer fchlechter, als folche, die ftarfe haben? Es müßte aber
doch das böfe Prinzip, wenn man es fidy einmal als eine
felbitftändige Kraft denfen will, entweder mit feinen Ausflüf-
fen nothwendig bei Den Menfchen am meilten ausrichten, Die
am empfänglichiten dafür, d. h. fehon an fich fihlechter als
Andere find; — und dieß ift, wie wir fahen, nicht der Fall;
— oder es muß bier eine Willfür und Zufälligfeit anges
nommen werden, die unferen Gefühlen eben fo fehr, wie Dem
Verſtande Hohn fpricht. — Erkennen wir vielmehr an, daß
wir num einmal die neusteftamentlichen Borftelungen in diefem
Punkte nicht zu den unfrigen machen können; daß fie aber
dennoch vorhanden find !
Diefen Vorftellungen gemäß war auch das Heilverfahren,
das man einzufchlagen pflegte; man fuchte duch Worte,
durch Beſchwörungen bei dem Namen derjenigen Wefen, denen
man Gewalt über die böfen Geifter zufchrieb (3. B. Gottes,
— *
Bu ⁊* vu.
D -
"5" — —F —
.. F
\ u 285 j
1
‚der Eugel, des Meſſias 1.) :biefelben end. dem ‚Körper bes
Beibenben zu entfernen; hierfür hatte-:mam gewiſſe -ftehenbe
Formeln, die von Salomon herrühren follten. Da auch ber
Kreauke in der, Regel einen fefteri Glauben an die Wirkfamteit
biefer Heilmethode hatte, und ba die. Urſachen ſolcher Krank⸗
heiten oft im Nervenſyſteme lag, auf welches Vorſtellungen
und Stimmungen unverkennbaren Einfluß haben, ſo wurden
ohne Zweifel viele derſelben, ohne alles Wunder, auf ſolchem
Wege wirklich geheilt. — Auch Jeſus ſoll durch ſein bloßes
Wort böſe Geiſter ausgetrieben haben; wir wollen bie bes
mertenswertheften Deilungen Diele | Art t kurz in Betrachtung
ram. nn ;
| Einzelne Heilungen.
Hart. 1, 23—28; Luk. 4, 33 — 37; ſodann Matth. 8,
83; Mark. 5, 1—10; Luk. 8, 6 39; endlich
Matth. 17, 14—21; Mark, 9, 14—29; Eur. d,
3744.) J
Die erſte der Art, welcher wir begegnen, iſt zugleich, dem
Lukas und Markus zufolge, das erfte Wunder überhaupt,
das Jeſus nach feiner Taufe verrichtet: die Heilung eines
Befeffenen in der Synagoge zu Kapernaum. Bei diefer iſt
das Auffallendite, daß der im Kranken wohnende böfe Geiſt
{sder Dämon) Jeſum fogleich nach deffen gewaltiger Predigt
als den Meſſias erkennt und vor ihm, als feinem Verberber,
zu zittern beginnt. Mit den natürlichen Auslegern anzunehmen;
der Kranke habe von den Anmefenden: vernommen, daß Jeſus
ber Meſſias fei, und habe nun diefe Kımde mit feiner Bors
ſtellung in Zufammenhang gebracht ꝛc., — dieß iſt unftatthaft,
indem es nicht nur den Worten bes Tertes widerfpricht, ſondern
auch fogar unmöglich ift, da gewiß noch Niemand damals
Sefum für den Meffias hielt. Vielmehr geht aus der Antwort
Jeſn deutlich hervor, daß. er jene Kenntniß des Leidenden von
feiner Meffianität einzig auf Rechnung des in ihm wohnenden
Dämon ſetzte; denn er gebietet Diefem zu ſchweigen, wie
er auch auberwärts: Die böfen Geiſter, die. er austeiwb , de⸗
281
drohete, daß „fie ihn nicht offenbar machten (Mark. 3, 12
u. A)“: — „denn, feßt Marfus (1, 39 hinzu, fie fannten
ihn.“ |
Daß nun aber wirklich der böfe Geift hier, oder anders
wärts, die Mefftanität Jeſu erfannt haben follte, dieß können
wir natürlicy nicht glauben, da wir ja weder ein Beſeſſen⸗
fein, noch überhaupt die Eriftenz böfer Geifter annehmen können.
Wohl aber ift es denkbar, daß ein in krankhafter Ertafe ſich
befindender Menfch auf eine Weife, wie fie an. Magnetifchen
und Somnambülen oft betrachtet worden ift, an den Empfins
dungen und Gedanken eined Andern durch lebhaftes Hineins
fühlen in deffen Inneres Theil nehmen fünnen; und auf folchem
Wege mag denn auch in unferm Falle, wo Ief fo chen aus
dem vollen Gefühle feiner Mefftanität gefprochen hatte, ber
Kranfe eine Wahrnehmung von berfelben erhalten haben.
War aber diefed der Fall, „fo ging auch Wort und Wille
Jeſu, den Dämon anszutreiben, in unmittelbarer Stärfe und
Wirkſamkeit auf den NHellfehenden über*. — Man ift alfo
nicht zu der Annahme genöthigt, daß jene auffallende Kenntniß
des Kranfen reine Zuthat der den Mefftad nad) jüdiichen
Borftellungen verherrlichenden chriltlichen Leberlieferung fei.
Eine andere Heilung Befelfener, die der beiden Gadare⸗
ner, deren böfe Geifter in Die Schweine fahren (f. die Stellen),
bietet fchon darum größere Schwierigfeiten dar, weil die
einzelnen evangelifchen Berichte fo jehr von einander abweichen,
namentlich die des Markus und Lufas von dem ded Matthäus,
dag nur einer von beiden der richtige fein fan. Nach Matthäus
waren ed zwei Beſeſſene; nad) Lukas und Markus nur Einer,
diefee Eine aber von vielen Dämonen befeffen; — wer hier
Precht hat, ift kaum zu entfcheiden. Wenn es auch felten der
Kal ift, daß zwei Nafende, bejonders fo mwüthende, wie die
Gadarener, mit einander Ichen, fo beweist dieß doch noch
nicht, daß Matthäus das Faliche hat; es Fonnte aus der
urfprünglichen Ueberlieferung von mehreren böfen Geiftern
in Einem Menfchen allerdings Leicht die fpätere Annahme, es
feien audy mehrere Beſeſſene geweſen, ſich bilden; eben fo
. möglich aber ift ed, daß bie ſpaͤtere Umbiſdung ber Sage aus
\ zwei Befeflenen einen machte, um bad Ungewoͤhnliche bes
Zuſtandes, viele Damönen naͤmlich in Einem Menichen,. um
fo mehr hervorzuheben. Gleichfalls muͤſſen wir es unentichieben
laſſen, 06 bie einfache und kurze Schilberung ber ober bes
Befeffenen bei Matthäus (8, 28) oder bie weit ausführlichere
in Mark. 5, 3—5 und Lu. 8, 27, 29 die urfprüngliche fei:
denn Ausmalung gegebener kurzer Züge: it eben fo Geichäft
ber Sage, ald ungenaue Zufammenziehung ausgeführter Er⸗
Ablungen; eritered jebody das gemöhnlichere, weil die Sage .
“ wehr im Dienite der verjchwenberiichen Phantafle, ale des
frarfamen Berftanbes ſteht.
Auch hier, wie bei der erften Erzählung, wird Jeſus fogleich
von ben böfen Geiltern erfaunt; allein ba wohl Riemanb den
oder dem Kafenden, melden Niemand zu nahen wagte, gejagt
hahen wird, wer ber eben an's Land Geftiegene (Matth. 8, 28)
war; und da ferner an einen magnetifchen Rapport aus fo
weiter Ferne (denn ſogleich nad, Jeſu Ankunft wird er von
den Dämonen Meffiad genannt ) nicht gedacht werden Tann,
fo wird man hier diefen Zug als fpäteren, aus jüdifchen
Borftellungen entnommenen, Zuſatz anerfennen müffen. Ueber:
dieß weichen die Berichte in Bezug auf denfelben fehr von
einander ab; und die Öteigerung, bie fie bilden, verräth
deutlich den Trieb der Sage, zu verherrlichen. Bei Matthäus
entfeßen die -böfen Geifter ſich vor der Nähe des fie vers
zichtenden Meſſias (V. 29), bei Lukas fleht ihn der Beſeſſene
fußfallig an, ihm nicht zu plagen (V. 28), und bei Markus
laͤnſt er ihm gar fchon von Weiten entgegen (B. 6). Daß
tegteres bei dem menfchenfcheuen Wahnfinnigen das Unmwahrs
ſcheinlichſte ift, leuchtet von felbft ein; davon aber, was Einige
in des Markus Erzählung finden wollten, daß nämlich der
Arme einige lichte Augenblide gehabt und in diefen ſich Jeſu
genähert habe, kann feine Nede fein, da des Evangeliſten
Worte V. 6 zu enge zufanmmenhängen, als daß man Etwas
hinein fchieben fünnte, ohne es ihm aufzuzwingen. Am
natürlichiten und einfachſten klingt noch die Darftellung des
Matthäus, die den Schreden der böfen Geiſter recht lebhaft
und ſcharf zeichnet,
286
Noch anitößiger und wahrhaft ftorend it in den Berichten
ded Markus und Lukas der nachträgliche Zuſatz, Seins
habe dem böfen Geiſte jchon vor der Anrede geboten, auszu⸗
fahren (f. Marf. B. 8, wo Luther jtatt des „denn“ im
Terte ein unrichtiges, die Eache entitellendes „aber“ ſetzte;
und Luf. V. 23, wo cd heifen muß: „er hatte geboten“).
Schon das Nachträgliche iſt bier verdächtig, und man fieht
feinen Punkt in der früheren Erzählung, wo es eingefchoben
werden könnte; überdies müßte ja nach Marfus (B. 6) Jeſus
fchon aus weiter Ferne dem böjen Geilte zugerufen haben.
Bielmehr fcheint ed ganz fo, daß dem Erzähler (denn das
Evangelium Markus ift bekanntlich Auszug aus Lufas oder
Matthäus) erſt hinterher einftel, die flchentliche Bitte dei
böfen Geiites fei Folge einer harten Drohung Sefu gewefenz
er fügte diefe aljo noch bei, gab aber damit feiner eigener
Darftelung, die offenbar auf ein wunderbares, Seju vers
herrlichendes, Erkennen desſelben durch die Dämonen angeleg 1
war, eine ganz andere Wendung, die nur dazu dienen kann,
unfer Mißtranen gegen dieſe ganze Parthie in der Gefchichte
zu fchärfen.
Dad Unglaubliche aber häuft ſich bei jedem Schritte
Den beiden mittleren Evangelien zufolge antworten die böfer
Geifter auf Sefu Frage: „Welchen Namen trägit du?“ mi
den Worten: „Mein Name ift Legion (d. h. eine große
Menge)“ Diefer, bei Matthäus fehlende, Zufag hat fcher
an fich viel Unwahrfcheinliches, und feheint den folgenden, wc
erzählt wird, daß die Geifter in eine ganze Heerde vor
Schweinen gefahren, zur Einleitung dienen zu follen, Damis
wir ſchon zum Voraus mwiffen, daß etwa eben fo viel böfe
Seifter in dem Menfchen, ald Schweine in der Heerde vor
handen gewefen feien. Aber abgejehen von diefer Antwort.
fo iſt die Sache felbft, daß nämlich viele Geilter von Einen
Menſchen Beſitz genommen haben follen, ganz undenkbar.
Denn da der Wittelpunft des Geiftes, oder beffer, die Spitze
desfelben doc, immer das Bewußtfein ift und die daraus her⸗
vorgehende Einheit des Denfend und Handelns, — da im
Einem Körper nicht mehrere Berftande, nicht mehrere Willen,
nicht getrennte Perfönlicykeiten ſtecken können, fo ift eine ſolche
‚287
Lielheit einzelner, vollftändiger Geiſter in Einem Leibe etwas
sein Unmögliches, wenn wir auch nicht, wie oben: gezeigt;
das Eindringen eines fremben Geifted in einen: menfchlichen
Körper fchon an fi unglaublich finden müßten — —
Das Bedenklichite it aber der Schluß ber Erzählung,
Imt welchem Jeſus die böfen. Geiſter auf ihre Bitte in eine
Heerde Schweine fahren läßt, worauf diefe dann fammt und
ſeuders im See umgelommen: fein follen (Matth. V. 30 ꝛc.;
Nark. 2. 11; Luk. 3. 32). Eine ſolche Bitte könnte allens
falls ein jübifcher MWahnfinniger thun,. bem aus feinem ger -
Auben Zuftande die jüdiſche Borftellung geblieben, daß böfe
Geiſter nothwendig in einem Leibe wohnen müflen, weil fie
shne denſelben ‚ihre finnlichen Lüfte nicht befriedigen können;
wie aber Dämonen, angenommen auch, fie wohnen in einem
Menſchen und werden daraus vertrieben, den gaͤnzlich unver
Rünftigen Wunſch hegen können, in Thiere zu fahren, bieß
iſt ſchwer zu begreifen. Und daß es nun gar wirflich ale
gefchehen fei, wie die Evangelien berichten, ift doch wohl
als ganz unmöglic, zu betrachten: Geifter in Schweine fahren!
Selbft orthodore Theologen nennen fo Etwas. Skandal und
Aergerniß“; durch gezwungene Erflärung es zu entfernen,
will ihnen aber nicht gelingen; die Worte lauten zu beſtimmt
Dahin, daß die Geifter aus dem Menfchen und in die Schweine
gefahren feien G. B. Luf. 8, 33). Eben fo wenig befriedigt
Die natürliche Erklärung, welche die Sache fo faßt, daß
wicht Die Dämonen, fondern die Befeffenen auf die Schweine
Yosgerannt feien und diefe in fo heillofe Verwirrung gebracht
haben; auch hier ftoßen wir an ber fatalen harten Wand des .
unläugbaren Wortfinnes an! Mit einem Neueren an eine
magifche Ableitung der Krankheit in die Schweineheerde zu
denfen, geht auch nicht an, da wir noch gar Feine Beifpiele
dafür aufweifen Fünnen, daß krankhafte Seelen» Zuftände
eined Menfchen auf magifche Weile in Thierfürper übergehen
konnen. Doc, gefebt, ed wäre möglich, wie anftößig wäre in
unferem Falle die Wirkung eines folchen Uebergehens ges
weien! alle Schweine nämlih ertrinfen! Was half es
um bie böfen Geifter, in Schweine gefahzen zu fein, wenn
fie ſelb ſt dieſelben ins Waſſer jagten, wid Ienadıy ide ol:
De. \
“
L_ 7 en
288
balb der eben erft gewonnenen eblen leiblichen Hülle wieder
beraubten ? Die Ausflucht, daß der mit Gefchrei auf die
Schweine losſtürzende Bejeflene diefelben nur ſchen gemacht,
und daß nur ein Theil ertrunken fei, it ganz gegen die Worte
des Tertes (3. B. Mark. V. 13). — Wie anflößig iſt es
ferner, daß Jeſus durch diefen Ausgang ber Heilung bie
Eigenthümer der Schweine in fo großen Schaden gebracht
haben fol! Wenn die Orthodoxen fagen, Sefus habe wohl;
um die Menfchen zu retten, Thiere opfern dürfen, fo bedenken
fie nicht, daß fie Damit die von ihnen behauptete unbegrängte
Macht Jeſu über die böfen Geiiter wieder beichränfen, indem
fie ung zur Frage nöthigen: Konnte. denn Jeſus feine andere
Herberge für die Dämonen finden, ald die Schweine, bie
num durch feine Schuld den Eigenthümern entzogen wurden?
Daß er aber, wie Andere darauf entgegnen, als ein göttliches
Weſen nicht verantwortlich fein folle für die Mittel, die er zu
feinem Zwede gebraucht, dag heißt ihn, gegen die apoitolifche
Lehre (Sal. 4, 4; Phil. 2, 7), gänzlic, dem Kreife Des Menſch⸗
lihyen entheben und ung entfremden. Eben fo fehr widers
fireitet der biblifchen Anficht ein anderer Ausweg, den man
hat ergreifen wollen, daß nämlidh für Jeſu der Erfolg feiner
Heilung unerwartet geweſen fei.
Diefe vielfachen Anjtöße und die Unmöglichfeit, durch
ftichhaltige Erklärungen fie zu entfernen, bat fchon frühe
manche Theologen genöthigt, an der gefchichtlichen Treue der
Erzählung zu zweifeln, und namentlich den Untergang ber
Schweine aus andern, mit der Geiiteraustreibung nicht im
Verbindung ftehenden Urfachen abzuleiten. Hingegen ijt aber
mit Recht ‘erinnert worden, dieſer Zug hänge fo genau mit
der ganzen Erzählung zufammen, daß man entweder ihm dieſen
Zufammenhang laſſen, oder ihn für ganz erdichter erklären
müffe. Diefes Lestere, mas wir nad) allem Dbigen noths
wendig anzınchmen genöthigt find, wird durch folgende Er⸗
wägungen fehr wahrjcheinlich.
Da, wie wir oben fahen, die böſen Geiſter nad) jüdifcher
Borftellung eines Leibes zu ihrem unbeiligen Leben bedürfen,
jo konnte ſich ans der Boranefekung, auch hier werden bie
vertriebenen Dämonen wieder eine neue Wohnung gefucht
haben, leicht Die Sage bilden, fie ſeien wieder in andere wir
yer gefahren, und zwar, ihrem Gefchmade entfprechend,
bie unreiner Thiere, Ferner aber war es nichts Seltenes,
daß jüdifche und heidnifche Beſchwörer den auszutreibenden .
Geiſtern befahlen, bei ihrem Ansfahren nahe ftehende Gegen»
Rinde, 3. B. Waffergefälle, Standbilder sc. umzumwerfen,
mm die Zufchauer durch Die That zu überzeugen, daß fie aus
dem Körper des Kranfen in die weite Welt hinausgefahren
fin. — Ein folcher Beweis der wirklich vollführten Austreis
bung konnte nun gar leicht auch bei Jeſus nothwendig erfchei-
wen, und da einmal von der Sage die Schweine in fo nahe
Berbindung mit dem Akte gebracht waren, fo lag ja nichts
söher, ald fie auch zum Zeugniß der wirflich erfolgten Auss
teibung zu benugen. Dieß gaben fie aber dadurch am aufs
fallendſten ab, wenn fie durd) die Gewalt der ausgetriebenen,
hinfaufenden, böfen Geifter in das ihnen fonft verhaßte Ele⸗
ment des Waſſers hinabgefchleudert wurden. —
Wir kommen alfo zu dem Refultate, daß zwar die Heilung.
eined oder zweier Befeflenen von befonders fchmieriger Krank⸗
heitsform nicht bezweifelt werben kann, daß aber viele einzelne
Züge in der Erzählung als Zuthaten der Sage zu betrachten
iind.
Die dritte umſtändliche Austreibungsgefchichte (Matth.
1 17, 14 u. ſ. w.) hat das Befondere, daß vorher die Sünger
Jeſu vergeblich die Heilung des Kranken verfucht hatten. In
den wefentlichen Punkten ſtimmen allerdings die drei Synop⸗
tifer überein; in Einzelnheiten aber weichen fie von einander
ab, und zwar in der Art, daß Matthäus den einfachiten,
Markus aber den ansführlichften und anfchanlichften, — alfo
auch ohne Zweifel den von fpäterer Sage am meilten gefärb-
ten Bericht hat. Dieß zeigt fich namentlich in Dem verfchies
denartigen Verhalten des Volkes: nach Matthäus (B. 14) tritt
8 Jeſu nur zufällig in den Weg, ale er vom Verklärungs-
berg herabkam; nadı Lukas (V. 37) kam es ihm abfichtlid,
entgegen; bei Markus (V. 15) ftürzt es ihm entgegen und
begrüßt ihn, nachdem es fich vor ihm „entfeßt“ hatte.
Dieß Letztere kann wohl mur fo erklärt. werden, DAR Send
’ u. 49 -
noch eben jo von dem Glanze der Verklärung, von weicher eı
fo eben zurückkehrte, umleuchtet war, wie Mofes nach feinem:
Herabfteigen vom Sinai, und ift daher als reine Zuthat der
Sage zu betrachten, was gleicfalld von dem, auch nur dem
Markus eigenthümlichen Zuge, daß Schriftgelehrte, ald Je⸗
fus anfam, grade befchäftigt waren, die Jünger über das
Mißlingen ihrer Heilungeverfuche „auszufragen ®. 1, au
genommen werden muß, da er. eine offenbare.. Rachbilbung
deffen ift, was Markus an anderer Stelle (8, 11) Jeſu ſelbſt
begegnen läßt. — Dagegen mögen andere Ausmalungen deö
Markus, die ebenfalls bei den Andern fehlen, daß z. B. der
Knabe ftumm und taub gewefen (®: 17 u. 25), daß er nad
ber Heilung wie todt bagelegen und Sefus ihn aufgerichtet
babe (V. 26 u. 27), ganz gefchichtlich und wahr fein.
0 Eine .befondere Betrachtung. verdienen noch die Worte
Sefu, die er ausfprach, als er von. der verunglücten Kur
feiner Zünger hörte: „OD du ungläubiges und verfchrtes Ges
ſchlecht!“ (Matth. 17, 170.4.) — Diefe Worte bezieht
Markus offenbar auf das Volk, namentlich die Schriftgelehrs
ten, und ganz bejonders auf den Bater des Kranfen, ber
fpäter Sefum feinen Unglauben unter Thränen gefteht. Daß
der Unglauben des Kranfen oder auch des Heilenden der Heis
lung ftörend entgegentreten Fünne, müffen wir zugeben; wie
aber der eines Dritten in diefer Beziehung nachtheilig fein
fünnte, ift doch in der That unbegreiflih. Daher verdient
auch hier Matthäus den Borzug, dem zufolge Jeſus mit jenen
Morten ohne Zweifel feine Sünger meint, deren fchwacher
Glauben ihnen folcye. Heilungen unmöglich mache; denn als
fie ihn fpäter um’ die Urfache des Mißlingens befragen, gibt
er ihnen als folche ganz beftimmt ihren Unglauben an und
preist die Kraft. des Glaubens (17, 19, 20): und grade diefe
orte fehlen in der Antwort Sefu bei Marfus und Lukas
“ganz. Darin aber fimmt wenigftens Markus mit Matthäus
überein, daß Sefus feinen Süngern gefagt habe, durch Beten
und Faſten müſſe die Kraft des Glaubens geftärkt werben
(Mattb. B. 21, Mark. B. 29): was Jeſus gewiß and) von
den Heilenden verftcht. Denn diefen Ausfpruch mit Paus
Ins fo zu deuten, daß Jeſus dem Gcheilten noch Beten
| en 291 =
amd Faſten empfohlen habe, damit bie Kur volkftändig werde,
verftößt nicht mur ‚gegen den Wortlaut biefed Ausſpruches und
der ganzen Erzählung C vergl. Matth. V. 18), fondern auch
gegen ben.Charafter aller evangelifchen Berichte von ben
Heilungen Jeſu, die fanmtlich plögliche und augenblidliche,
nicht aber allmaͤlige find,
Die übrigen, nur ganz kurz erzählten, Heilungen Beſeſſener
bedürfen nach dem, was oben über ſolche Geiſteraustreibungen
im Allgemeinen ſchon gefagt ift,. feiner befondern Beſprechung.
Dagegen: mögen noch zwei, die Dämonenaustreibungen
überhaupt betreffenden Fragen hier kurz ‚behandelt werben.
„Iſt es denkbar, daß Jeſus im Stande war, folche Hei⸗
lungen ohne alle Heilmittel, nur durch die Kraft feines Geis
ſtes, zu bewirken?“ — Allerdings; bei foldyen Fällen nämlich,
wo die Krankheit einzig oder doch überwiegend Geiſtes⸗
kanfheit, alfo reine Verrücktheit, war, wie bei Dem Befeffenen
in Der Synagoge zu Kapernaum (ſ. ©. 283); denn .Sefug
hatte als Prophet und fpäterhin als Meffias fo großes Ans
fehen, und feine großartige Perfünlichkeit mochte oft einen fo
- überwältigenden Eindruck bewirken, daß dieſer Eindrud bei
Geijtesfranfen wohl eine Heilung herbeiführen konnte. In
Fällen aber, wo. in Folge der Geiſteskrankheit fchon eine bes
deutende Zerrüttung des Nervenfyitemd eingetreten und mit
rein körperlichen Gebrechen (Fallfucht, Stummheit ıc.) vers
bunden war, wie in den beiden andern Erzählungen: — in
ſolchen Fällen können wir eine fihnelle Heilung nur Durch
. geiftigen Einfluß und durch die bloßen Worte Sefu nicht
wohl annehmen; um fo weniger, da bier nicht einmal eine
Berührung mit der Hand jtattfand, alfo auch nicht von
. Einwirkung magnetijcher Kraft die Nede fein kann. Auch der
Umftand, daß Jeſu alle Heilverfuche der Art gelungen fein
follen, führt und darauf, daß, wie in fo. vielen Stüden, ſo
auch bei den Erzählungen von Oeiteraustreibungen die Sage
nicht müßig war; daß fie verherrlichte und vergrößerte, und
das dem Wunderglauben Auftößige in der Geſchichte allmälig
verwiſchte. Bei manchem Kranfen mochte wieleicht au wu
202
ein augenblidlicher Stillſtand, eine vorübergehende Nüdfehr —
zum Berfiande eingetreten fein, ohne daß er dadurch vor ſpaͤ⸗
teren Rüdfällen bewahrt worden wäre. —
„Barum berichtet Sohannes fo gar nichtd von irgend
einer Geifteraustreibung?* — Ein Zeichen größerer Aufklaͤ⸗
rung des Evangeliften follte man, wie Einige es thun, doch
nicht darin erbliden wollen; denn woher follte er fie haben,
da die Anficht, daß die von uns befprochenen Krankheiten Wir:
‚hungen böfee Geifter feien, ganz allgemein in Paläftina, und
auch die von Sefu, des Sohannes Vorbild, war? Hatte er
aber wirflidy eine ricdjtigere, fo war es ja Pflicht, den ges
teübteren Darftellungen der Synoptifer durch die ächtere ents
gegen zu treten. — Wenn Andere fein Schweigen dadurch
erklären, daß er feinem Zwede gemäß nur die noch nicht aus
‘den andern Evangelien bekannten Ereigniſſe erzähle, jo muß -
man eine folche Ausflucht eine rein veraltete nennen; denn—
wie Vieles erzählt Sohannes, was auch die Andern haben, —
und ſchon die bedeutenden Abweichungen der Synoptifer im
diefen Heilungsgefchichten mußten ihn veranlaflen, den eigente=
lichen Hergang berichtigend zu erzählen. — Sol Johannes ⸗
wie Andere fagen, diefe Gefchichten verfchwiegen haben, un
bei den griechifchen Chriſten, für die er vorzüglich ſchrieb⸗—
feinen Anftoß zu erregen? Damit hätte er offenbar gegen—
feine apoftolifchhe Pflicht gehandelt. Wenn wir alfo jene
Frage auf Leine befriedigende Weife löfen, und aud die
Berichte der Synoptifer nicht als ganz ungefcyichtlich verwers=
fen fönnen, fo muß das Schweigen ded Evangeliums gegen -
die Aechtheit desfelben bedeutende Zweifel in und erregen;
felbft Neander gefteht: „daß auf den Gründen dieſer Aus⸗
laffung ein gewiſſes Dunfel ruhe“, und „für mid) gehört
fein Stillfchweigen zu den bedenflichiten Eigenthümlichfeiten
des vierten Evangeliums *.
— —
203 ,
Drittes Kapitel
Seilungen yon Gelähmten, Ansfäkigen und
Blinden.
Nach den Geiſteraustreibungen nehmen die nächte Stelle
isr den wunderbaren Heilungen Jeſu die ber Gliederfrans
E en ein, ber Lahmen, Verdörrten und Gichtbrüchigen; denn
eruf foldye beruft ſich Jeſus ganz namentlich (Matth. 11, 5),
aund fie erregen ganz befonders das Staunen bei dem Volke
C Matth. 15, 31). Unter Gichtbrüchigen, Die von Lahmen
rusdrüdlich unterfchieden werden, verftehen die Evangeliften
maberhaupt Kranfe, die durch gichtifche Zufälle gelähmt
Kind, wenn auch nur theilweife, und zwar fowohl ſchmerzlos
¶ Matth. 9, 2), ald unter quälenden Schmerzen (Matth. 8, 6)
Selähmte 7).
Die Heilung Eines berfelben (von ben übrigen wird bei
anderer Gelegenheit die Rede fein) wird von allen drei Sys
noptifern erzählt, und zwar fo, daß auch hier wieder M. die
einfachite, Markus die anfchaulichite, — und, wie wir auch
hier ung enticheiden müffen, M. die glaubwürdigfte, Markus
die fagenhaftefte — Darftellung gibt. Laut des M. fchlichtem
Berichte bringt man den Kranken auf einem Tragbette zu
Jeſu und er heilt ihn; Lufas aber läßt fchon dieſes Tragbett
„durch die Ziegel“ des Hauſes, worin Sefus fich befand,
zu Diefem gelangen, weil der Andrang der ihm nachflrömenden
Menge zu groß war, ald daß man dem gewöhnlichen Ein⸗
gange ſich hätte nähern fünnen. Die Häufer im Morgenlande
hatten nämlich auch in dem platten Dache eine Thüre, und
durch dieſe ließ man, dem Lufas zufolge, den Kranken auf
dem Bette, wahrfcheinlich mit Striden, in das Haus hinab. —
Sn Markus indeffen fteigert fich die Darftellung noch höher,
indem hier fogar das Dach eingefchlagen wird, um den
Kranken zu Sefu hinab zu bringen (®. 4). Ein foldyes Vers
fahren, das ſich durch gezwungene Deutung der Worte nicht
7, Der fo oft citirte Matthäus möge fortan einfad) ı mit M. be
zeichnet werden,
—
| | 284 N
wegerklaren läßt, iſt nun doch wohl gewagt. unb abentenerlich
genug, um zu dem Urtheile zu berechtigen, daß, wie oben
ſchon angedentet worden, des Markus Bericht ein von der
Sage theilweife umgeftalteter ſei. Dazu konnte fie veranlaßt
werden durch das Beftreben, den ſchon in des Lukas Dar
—
| ſtellung fichtbaren Eifer des Volkes, durch alle Hinderniſſe
hindurch zu Jeſu zu gelangen, in’ das hellſte Licht zu ſetzen.
‚Aber eben deßwegen erfcheint ung auch ſchon des Lukas Dars
ſtellung als eine durch das gleiche Beftreben getrübte, wenn
wir fie mit dem fchlichten M. vergleichen, der ganz einfach
erzählt, Sefus habe den „Glauben“ der Leite gefehen.
In der Erzählung von ber eigentlichen. Heilung weichen
die Evangeliften nicht von einander ab, und es fragt ſich ums
nur, wie wie. und dei Erfolg, den Jeſu Verfahren hatte .
(M. 9, 6 u. 7), zu erflären haben. Da Jeſus gar wohl
„eine der magnetiſchen ähnliche Heilfraft *, der Kranfe das
gegen eine Glaubenskraft befeffen haben kann, die ihn ber
höchſten Gemüthserregung fähig machte, fo find wir „nicht bes
vechtigt, diefe Erzählung ohne Weiteres aus dem Kreife bes
Sefchichtlichen auszufchließen +. Das aber die, ſchon in Je⸗
faia 35, 6 enthaltene, Erwartung von der meffianifchen Zeit,
es werbe in berfelben eine Menge von Wundern gefchehen,
und namentlich „der’Lahme fpringen wie ein Hirfch“ — Daß
biefe fo beftimmt misgeprägte Borftelung wenigftens auf Die
Geftaltung unferer Erzählung eingewirkt habe, bieß anzu⸗
nehmen, liegt allerdings nahe genug. —
Noch Ein Zug unferer Gefchichte bedarf einer näheren
Betrachtung. - Sefus fagt nämlidy dem Kranken: „Deine Süns
den find Dir vergeben!“ und als. die Pharifäer fich daran
ärgern, beweist er ihnen feine Macht, Sünden zu vergeben,
durch Die noch höhere Heilkraft, die er fofort an dem Krans
fen bewährt. Dadurch gibt Jeſus offenbar zu erfennen, daß
er die ſchon im alten Teſtamente angedeutete und fpäter fehr
ausgebildete jüdifche Vorſtellung, Uebel und Krankheiten feien
überall Folge von Sünden, — daß er dieje Borftelling
auch zu der feinigen gemadht hat. Denn daß er fih. nur
ber Anficht des Kranfen anbequemt habe, um. die Heilung zu
fördern, dürften wir höchſtens nur dann annehmen, wenn
=
— 293
wir ans andern Stellen wüßten, daß es Jeſu mit dieſer
Meinung nicht Ernft war; allein dieß läßt fich durchaus nicht
erweiſen. Zwar erflärt er Luk. 13, 1 2c., die Unfälle, weld;e
gewiffe Galiläer ‚betroffen hätten, feien Fein Beweis, daß dieſe
größere Sünder geweſen, als die andern; allein, wenn er -
num hinzufegt: „Auch Euch, wenn She Euch nicht beffert,
wird gleiches Unglück treffen“, fo beffätigt er ja grade bie.
berrfchende Meinung, daß Sünde unfehlbar äußeres Unglüd
berbeiführe, nur bei dem Einen früher, als bei dem Andern.
— Eben. fo wenig beweist die Stelle, Soh. 9, 1—3, no
‚er, über einen Blindgebornen befragt, antwortet, deffen Leiden
rühre weder von feinen Sünden (denn nad) der Lehre dır
Rabbinen konnte man fchon im Mutterleibe. fündigen), noch
von denen feiner Aeltern her; denn nur über dieſen einzelnen
Fall ſpricht er fich hier aus, und hätte er jene. jüdifche Ans
ficht überhaupt beftreiten wollen, fo würde er ohne Zweifel .
ſich ganz anderd ausgedrüdt haben. . Aber Sohannes felbit,
. der und dieſen Borfall- erzählt, beftätigt e&, daß Jeſus diefe-
Vorſtellung wirflich hatte; denn 5, 14 läßt er ihn zu einem
fo eben geheilten Kranken fagen: „Sündige fernerhin nicht
mehr, damit es Die nicht noch fchlimmer ergehe!“ "Da die
verfuchte Deutung diefer Worte, ale habe Jeſus gewußt, des
Mannes Krankheit fei Folge gewiffer Ausfchweifungen, in’
der Erzählung nicht den geringiten Haltpunft hat, fo ift doch
wohl die natürlichite Auslegung audy hier Die, anzuerkennen,
Sefus habe ebenfalls Krankheiten für unmittelbare Folge der
Sünden gehalten. Denn eine unbefangene und redliche Erfläs .
rungsweiſe darf. feinen Anftoß daran nehmen, wenn fie zu
Tage bringt, daß Sefus BVorftellungen gehabt habt, die wir
nicht zu den unferigen machen können; Wahrheit geht auch
bier über Alles. Daher dürfen wir endlich auch Das -ung
nicht bergen, daß diefe Anficht von Krankheit und Uebel mit
der 3. B. im Eingange der Bergpredigt ausgefprochenen ebio⸗
nitiſchen: der Gerechte müffe auf Erden viel leiden Cfiche
Th. 1, ©. 223), im Widerfprud, ficht. „Aber wir können
ja doch nicht wiffen, ob er den Widerſtreit zweter ihm von
verfchiedenen Seiten der damaligen jüdischen Bildung her gebotes
nen Weltanfchauungen nicht irgendwie in-fic, geloſt hatte *.
— tt
2906
(M. 8, 1243 Mark. 1, 40 — 45; Luk. 5, 12— 15; ſodann
, 17, 1219.)
Auch die Ausfägigen fpielen unter den von Jeſu Ge⸗
heilten eine nicht unbedeutende Rolle; außer allgemeinen Er⸗
waͤhnungen ſolcher Heilungen werden zwei derſelben ausführ⸗
lich erwähnt.
Die erite diefer Erzählungen CM. 8, 1) gibt uns Anlaß,
das Verfahren der natürlichen Erflärungsweife recht genau
fennen zu lernen. Die Evangeliften erzählen: „ein Kranker
habe Jeſum angefleht, ihn vom Ausfage zu reinigen; Darauf
habe diefer ihn berührt, und gefagt: „„Ich will ed; werbe
gereinigt! *“ — und fogleich fei der Ausfägige gereinigt wors
den“ (M.8, 2,3). Dieß erklärt Paulus fo: „Der Kranke,
der fchon auf dem Wege der Genefung war, bat Sefum, ihn
für rein zu erflären °9). Jeſus fagte: „„Sch will es““ —
befühlte dann zu genauer Unterfuchung, jedoch vorfichtig, Den
Ausſätzigen, fand, daB er nicht mehr. anfteddend fei, und
ſprach dann weiter: „„Du bit für rein erflärt““; wirklich
ward der Ausfägige bald und leicht ganz rein.“ Vergleichen
wir dieſe wirklich unnatürliche natürliche Erklärung mit dem
fo eben dargelegten ganz buchftäblicyen Inhalte der evangelis
fhen Berichte, fo ergeben ſich folgende nicht unbedeutende
Berftöße gegen den Wortlaut: — 1) Davon, daß der Kranfe
fhon der Heilung entgegen ging, findet ſich nirgends eine
Spur; — 2) das Wort, das wir mit „reinigen“ überfeßten,
fönnte zwar auch wohl „für rein erklären“ heißen; allein
dann müßte ed in dem ganzen Abfchnitte diefe Bedeutung beis
behalten, oder die verfchiedene Bedeutung bier Fenntlich ges
macht fein; — 3) daß zwifchen die fo innig verbundenen Worte:
„Sch will e8; werde rein“ die umfländliche Handlung des
Befühlens u. A. hineingezwängt wird, iſt fehr gewaltfam;
überdieß wird das Wort „berühren“ ftets nur von der heis
lenden, nicht von der unterfuchenden Hand gebraucht; —
22, Dem Gefebe gemäß (3 Mof. 14, 2) durfte Fein Ausfähiger in
die Gefellichaft zurückehren, ehe er von einem Priefter oder
Rabbi Für rein erklärt worden war.
305
Viertes Kapitel
Nnwilltürliche Seilungen, SDeilungen in bie
Gerne und Sabbat: Seilungen.
CM. 9, 20—22; Marl. 5, 33—34; Put. 8, 4348.)
Es bleiben uns zunäcft noch zwei merhvürdige :Arten
son Heilungen zu betrachten übrig: Die unmillfürlichen
und die aus der Kerne. Die erfteren, deren Jeſus eine
große Menge bewirkt haben fol (Matth. 14, 35, 36. u. 4.)
beftehen darin, daß Kranfe jeder Art nur durch die, Berühs
tung von Sefu Leib oder Gewand gefund wurden; ohne: feinen
Willen, oft ohne fein Vorherwiſſen, ſtrömt eine heilende Kraft
von ihm aus; er gibt fie nicht, fondern fie wird ihm abge⸗
onmen; denn fie liegt nicht in feinem Willen, fonbern in
ſeinem Leibe und deſſen Umhüllung.
Eine dieſer Heilungen wird uns von allen Synoptikein
wöihrlich erzählt, Die einer blutflüſſigen Frau; jedoch wei⸗
dm fie von einander,. namentlich M. von den beiden andern,
bedeutend ab; ihre Erzählungen für die zwei verfchiedener
Borfalle zu halten, geht aber ſchon darum nicht an, weil bei
allen dreien diefe Heilung in unmittelbare Verbindung mit ber
Wiedererweckung von des Jairus Tochter gefebt if. Vielmehr
if die Darftellung des M. unverkennbar die ältere und eins
fahere, und bie Abweichungen der beiden andern erfcheinen
als fpätere Ausfchmücdungen. Laut M. war die Frau 12 Jahre
lang krank (V. 20); Lukas (V. 43) läßt fie all ihre Gut an
Aerzte wenden, ohne daß es geholfen, und Markus gar läßt
fe Vieles von vielen Aerzten erleiden (B.26); — bei M.
iR Jeſus nur von feinen Süngern umgeben, als die Frau ihn
rührt, er ſchaut ſich um, erkennt fie nnd rühmt ihren Glau⸗
en; in ben beiden anbern fteht die Frau mitten im Gedränge
es Bolfes, er fühlt, daß bei dem Berühren der Frau eine
eraft von ihm aueftrömt, und ſucht Daher die, welche durch
zerührung ihm dieſelbe entloct hat. Hier ift doch wohl ein
erjchönerndes Ausmalen unverfennbar; bei Markus und vnlas
t Alles ſeltſamer, grandioſer, wunderbarer.
Halten wir aber nun aber den Allen gemeinſamen Inhalt
1l. 20
208
(2 Moſ. 4, 6, 7; 4 Mof. 12, 10) und‘ Euſa (2 Kin. : 5;
vgl. Luk. 4, 27) erzählt werben, fo fchien ‚hinter Diefen ber
größte aller Propheten wicht zuruckbleiben zu dürfen.
Die zw eite der. ausfthelcher erzählten Seilungen von
Ausfägigen findet. ſich nur bei Lukas (17, 12); da bier nicht
ausdtücklich gefagt wird, daß Jeſus die Kranken -geheilt habe,
fondern er nur zu ihnen fagt: „ Zeiget Euch den Prieftern*,
fo hat man. hier. mit aller .Sicherheit annehmen zu fönnen
geglaubt, es ſei nur von einer Reinerflärung die Rede. Allein
dein wiberfpricht das fußfältige Danfen B. 16, mehr noch
die Worte V. 15: „Da er fah, daß er rein geworden“, am
meiften aber ®. 14: „Und es geſchah, daß fie im Weggehen
gefund wurden“. Wir haben alfo aud) hier eine wunderbare
Heilung, über welche wir dasfelbe behaupten müfjen, wie über
bie erſte. Da indeß als die Hauptfache die Danfbarfeit bes
Samariters &. 15—19) hervorgehoben. wird, fo fünnte es
auch wohl möglich fein, daß mit der Sage von irgend einer
wunderbaren Heilung fich eine ähnliche Parabel, wie bie
ebenfall® nur dem Lufas eigenthümliche vom barmherzigen
Samariter, verſchmolzen haͤtte.
(WM. 20, 29-34; Mark. 10, 46—52; Luk. 18, 35 —43;
fobann Mark. 8, 22—26 u. 7, 32—37; endlich Joh. 9.)
Nicht minder wichtig find die Blindenheilungen; auch
‚von bdiefen ift theils öfters im Allgemeinen die Rede (Matth.
11, 5, 15, 30), theils werden einzelne derfelben ausführlicher
erzählt; dieſe legtern haben wir nachher zu betrachten. |
Alle Synoptifer berichten : eine folche in der Nähe von
Jericho vorgenommene, weichen aber in ſo weſentlichen
Punkten von einander ab, daß es unmöglich iſt, ſie in Ueber⸗
einſtimmung zu bringen; — dem M. zufolge wurden Cum -
des Unwichtigeren nicht zu gedenken) zwei Blinde (B. 30)
geheilt; Markus (®. 46) und Lukas (®. 35) wiffen nur von
Einem; Lukas läßt die Sache vor, dem Einzuge Sefu in
oo: 200 | |
bie Stabt gefchehen.; die beiden andern (M. V. 29, Marf.
V. 29) erzählen, daß die Heilung erft nach der Abreife von
Sericho ftattgefunden habe. Da reichen num alle Berfuche,
zu vermitteln, wie 3. B.: wer nur von Einer vede, laͤugne
"damit nicht, daß es zwei geweſen, — ober: M..habe wohl
den Begleiter des Blinden für einen zweiten Blinden gehal⸗
ten 2c., gar nicht ans, um von ber unheilbaren Berjdjieden«
heit -der Ortsangabe nicht zu reden. Es haben ſich Daher
ſchon ältere Theologen dazu verftehen müflen, zwei Heilungen
anzunehmen, ‚die eine bei'm Einzuge in, die andere bei'm
Auszuge aus Jericho. Allein damit ift die Differenz zwi⸗
ſchen einem. und zwei Blinden nicht gehoben, und will: man
einmal ſcheiden, fo muß man folgerichtig drei Heilungen ans
nehmen: Ein Blinder bei'm Einzuge, Einer beim Auszuge,
Zwei beim Auszuge. Wer. aber wird es für wahrſcheinlich
halten können, daß. auch nur zweis, gefchweige breimal. fo viele
einzelne Umftände ?°) bei einer Heilung ganz auf die gleiche
Weiſe eingetreten fein ſollen? Konnten insbeſondere die Bes
gleiter Jeſu bilfefuchende Kranfe noch eins ober gar zweimal
abweifen (M. V. 31), nachdem fie aus Jeſu Benehmen ers
Fannt hatten, daß er eine ſolche Zurüdweifung mißbillige ?
Es bleibt alfo nur der Ausweg übrig, auch hier die Thätige
keit der Sage anzuerfennen, und anzunchmen, entweder, daß
biefe mehreren Vorfällen allmälig eine ganz ähnliche Geftalt
gegeben, oder, daß fie aus Einem Borfalle mehrere Varias
tionen gebildet habe. Diefes Letztere ift offenbar das Natürlich,
fte, weil es auch fonft jo häufig gefchieht. Ob nun aber die
Heilung vor.oder hinter Jericho ftatt hatte, müffen wir unents
fehieden laffen; dagegen ift es mwahrfcheinlich, daß nur Einer
geheilt wurde. Dem M., der allein von Zweien redet, konnte
leicht durd, die Erinnerung an eine nur ihm eigenthümliche
Heilung von zwei Blinden (9, 27—31) veranlaßt werden,
auch bei Sericho zwei anzunehmen; überhaupt fehen diefe beiden
Erzählungen des M. (Kap. 9 und 20) einander jo ähnlich, daß
unverlennbar Züge der einen in die andere übergegangen find:
> Wir müffen den Lefer erfuchen, bie betreffenden Stellen in den .
Evangelien nachzulefen.
Treten wir nun näher zu der Sache felbfl, der plößlichen
Heilung, heran, fo wird uns eine folche noch unglaublicher,
ald die des Ausſatzes. Denn ein fo rein fürperfiches Uebel,
wie die Blindheit iſt, kann fo wenig dem Glauben an einen
großen Mann und rein geiftigen Anregungen weichen, daß
wir defien Heilung durch bloßes Berühren mit ber Hand nur
magnetifchen Einflüffen zufchreiben könnten. Allen ba fid
bisher von einer folchen Kraft bes Magnetismus, auch Blinds
beit zu heilen, noch fein Beifpiel ergeben hat, jo muß es ers
laubt fein, auch diefe Blindenheilung einzig auf Rechnung der
Mythe zu feßen. Denn die Verfuche der Rationaliſten, Die
Sache natürlich zu erflären, durch Amvendnng eines fcharfen
Waſſers ıc. find zu gewaltfam, ald daß fie hier näher bes
fprochen werben dürften. Daß aber bie gefchäftige Sage
folch wunderbare Heilungen erbichten konnte, wird dadurch
fehr glaublich, daß, wie aus M. 11, 5 und befonders aus
Jeſaia 35, 5, welche Stelle bekanntlich als meffianifche Weiſſa⸗
gung gebeutet wurde, hervorgeht, vorzüglich Blin de nheilun⸗
gen vom Meiftad erwartet wurben, um fo mehr, da folche auch
dem Propheten Elifa zugefchrieben wurden (2 Kön. 17—20).
Fa, was merkwürdig ift, wunderbare Blindenheilungen galten
dem Alterthume überhaupt als Zeichen, daß ein Mann Lieb⸗
ling der Gottheit feiz fo wird von einem der größten römifchen
Geſchichtſchreiber, Tacitus, großer Werth darauf gelegt,
daß der Kaiſer Bespafian einen Blinden nur durch Benetzung
der Augen mit feinem Speichel wieder fehend gemacht habe.
Eine andere, nur von Marfus erzählte Blindenheilung
ift, fo wie eine ebenfalld nur bei diefem Evangeliſten fich
findende Heilung eines Taubſtummen, ein eigentlicyes Labfal
für die natürlichen Crflärer; in beiden Erzählungen geht
nämlich die Kur nicht fo plößlich von Statten, wie in ben
übrigen, fondern faft ſucceſſive, und it von näheren Umftänden
begleitet, die einen ganz natürlichen Hergang wie von felbft
anzudenten fcheinen. Sefus nimmt die Kranken auf die Seite
(8, 235; 7, 33) — „ohne Zweifel, fagen jene rationaliftifchen
Ausleger, um zu unterfuchen, ob fie heilbar ſeien“ —; dem
en - 801
Tauben ſteckt er die Finger in die Ohren und rührt an feine
Zunge. (7, 33); den Augen des Blinden legt er die Hände:
auf (8, 23); — „augenfcheinlich alfo chirurgiſche Opera⸗
tionen“; — bei beiden wendet er Speichel an; — „unter .
den Speichel, der an fich fchon heilende Kraft hat, mifchte
Jeſus ficherlich irgend ein Medifament, ohne daß die Kranfen
es bemerften“; — endlid; wird der Blinde nicht mit Einem⸗
male ganz fehend, fondern erft nach abermaligem Auflegen der
Hände (8, 24 2c.); — „offenbar war die Operation bei dem
erften Verſuche noch nicht vollftändig gelungen, und es mußte
noch in Etwas nachgeholfen werden“. — Die Leichtigkeit, mit
der fich die beigefügten natürlichen Erklärungen aus den Ans
gaben des Evangeliften zu ergeben fcheinen, erregt in den _
Berehrern diefer Erflärungsweife den Wunſch, daß doch alle
Berichte von Heilungen fo in’d Einzelne gehen möchten; dann
würde es von felbit, glauben ‚fie, um die Wunderkuren im
neuen Zeftamente geſchehen fein. Aber leider! haben die Ers
flärer ſelbſt gerade das in die Erzählung hineingetragen,
was die Erklärung fo leicht macht; das in den Speichel ges
mifchte Heilmittel ift ihr Werk; fie machen aus dem einfachen
„Händeauflegen, Berühren ꝛc.“ eine „chirurgifche Operation“
— und fie fchieben dem Beifeitnehmen der Kranfen die Abs
ficht, fie zu unterfuchen, unter, da doch Jeſus offenbar Feine
andere hat, ald die, — Aufjehen zu vermeiden (7, 365 8, 26).
Die orthodore Anfiht hat alfo infofern Recht, ale fie,
um das Wunder in diefer Gefchichte feitzuhalten, alle Anwen⸗
dung natürlicher Mittel in Abrede flellt; wenn fie nur
nicht ebenfalls, um den Schein eines folchen natürlichen -
Heilverfahrens wegzuläugnen, auf etwas unerlaubte Weiſe
verführe! Denn den Gebrauch des Speichels für bloße Hers
ablaffung, und das Allmälige des Heilens für eine bloße
Glaubensprobe des Kranfen zu erklären, heißt doch auch wie-
der den Tert durch Einfchiebfel verfälfchen. Wenn aber Die
Drthodoren (3. B. Olshauſen) diefe fucceffive Heilung gar
damit erflären wollen, daß eine plößliche dem Kranken hätte
ſchädlich fein können, fo widerfprechen fie ſich felbft: ein
Wunderthaͤter, wie Sefus nad) ihrer Anficht ift, wäre ja nur
ein halber Wunderthaͤter, wenn ee nicht mit feiner wunets
302
vollen Heilung auch alle möglichen ſchädlichen Folgen derſelben
hinwegränmen fünnte. — Wir- fürmen aljo in dieſem Zuge
der Markus'ſchen Erzählung, da ung die beiden genannten
.. Erflärungsverfuche nicht befriedigen, nur das Qeitreben des
Evangeliiten nach größerer Anfchaulichfeit erbliden; denn „ein
fohneller Erfolg wird nur dann recht vorjtellbar, wenn ihn
der Erzähler durch alle Momente hindurchfübrt*, und auch
an dem plößlichen Effekte die verfihiedenen Stadien nady
weist. Ald etwas Wunderbares hat alfo Markus die Heilung
fiherlich jich vorgeitellt, wie er fich überhaupt zum Wunder⸗
glauben durchaus hinneigt, und auf das Lob der rationalijtis
ſchen Ausleger feinen Anſpruch macht.
Diep zeigt ſich bei näherer Betrachtung auch in ben Theis
fen 'unjerer beiden Erzählungen, worin Marfus Händeauflegen
und Speichel als Anwendung natürlicher Mittel darzuſtellen
fheint (&, 23 x). Man fünnte allerdings in Beidem eine
Art von Feitern (Eondufteren) magnetiſcher Kraft erblicken
wollen, welche bekanntlich vielfach mittelſt ſolcher äͤußerer Bes
rührungen ausſtroͤmt; allein aus der Farbe der ganzen Er⸗
zählung gebt unverkennbar hervor, daß auch mit dieſen Zi
gen Marfus (d. b. die Cage, welcher er folgt) Die Geſchichte
nur in's Gebeimnißvolle, Myſteriöſe zu ziehen jrrebt. Denn
Speichel galt den Alten nicht als natürlich, ſondern als zaus
berhaft, magisch wirfendes Mittel; Kandauflegen und Berüb⸗
ren war myſtiſches Zeichen übernarärlicer Cimwirfungen;
alles dieß konnte Daher nur bei Wunderthätern wirfen und
diente dazu, ihre Kraft den Zuſchauern anſchaulich zu machen.
Eomit erhebt der Evangeliſt Die Sache nur in ein bellered
. Licht des Wunderbaren, ſtatt fie in den Kreis natürlicher
Birfungen berabzuzieben. Nehmen wir dazu noch Die übrigen
grellen, wmoiterisien Zuge der Erzäblungen — das Beſonder⸗
nehmen der Kranken; die übermärige Verwunderung Des Volkes
(7, 37), das ſtrenge Gebet des Schweigens (8, 26), Die
ausdrückliche Anführung des bebräiſchen Worte, womit Jeſus
ten Zaubitummen heilt (7, 34), — Te jehen wir Die ganze
Regebenbeit jo ſehr ur das Gebiet Des Zauberbaften gezogen,
das wir nicht umbin kennen, in ihr ein Erzengniß der Sage
zu erblifen, die nicht mide wurde, der jeſaia ſchen Weijſagung
*
®
303 ht "
. von ben Wunderheilungen des Meſſias Seſeias 35, 5 und
11, ” getuhrend. nachzutoumen.
Die einig von n Sohannes erzählte Heilung eineg Blind»
gebornen trägt fo fehr ben Charakter des Wunberbaren an
fi), daß man nur mit einem gewiffen Erſtaunen den kühnen
Verſuchen der Rationaliften, auch fie natürlich zu erflären, ”
ſchauen kann. — Da fid, nicht läugnen läßt, daß es V. 1
heißt: „blind von Geburt an“, fo muß das griechifche Wort,
welches „blind“ bedeutet, für dieſes Mal fo viel, als „ beis
mahe blind“ fein; eine baare Wilfür! — Wenn Jeſus 2. 4
tagt, er müffe wirken, „fo lange es Tag iſt 2c.“, ſo will Je⸗
Bus, meinen fie, damit ſagen, er dürfe bie vorhabenbe Ope⸗
ration nicht bis zur Nacht verſchieben; als ob. nicht V. 5 auf
Das Deutlichite bewiefe,. daß Jeſus hier von feinem ganzen
irdischen Wirken ſpricht! — Da nad) V. 6 Tefus mit feinem
- Speichel einen Ffeinen Lehm bereitet, fo muß auch hier -ein
Medikament eingemifcht worden fein, was ber faft Blinde
nicht bemerfte; aber ed maren ja Sünger zugegen W. ! .
Wenn erzählt wird, der Kranfe fei auf Jeſu Befehl zum Teiche
Siloam gegangen und geheilt zurücgefommen, fo kann ja das
mit auch gemeint ſein, er habe dort eine längere Badekur
gemacht; allein wer die Worte V. 7: „Er ging.weg, wuſch
ſich und Fam fehend wieder“, fo erklärt, der muß auch die
berühmten Worte des Julius Cäfar, in denen er fo fchlagend
die Gefchichte eines ganzen Feldzuges zuſammenfaßt: „Ich kam,
ſah (den Feind) und ſiegte“, fo wiedergeben: „Nach meiner
Ankunft rekognoszirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in
gehörigen Zwiſchenzeiten unterſchiedliche Schlachten und blieb
endlich Sieger“! —
Alſo — es bleibt dabei, daß wir hier eine wund erbare
Heilung vor uns haben. Wenn wir aber fchon oben geftehen .
mußten, daß uns Heilungen einfacher Blindheit ohne Ans
. wendung äußerer Mittel unglaublich feien, fo ift dieß noch
weit mehr dei der eines Blind gebornen der Fall. Vielmehr
ſcheint die ganze Erzählung aus dem Beftrebeu, das überhaupt
. in biefem Evaygelium fihtbar ft, zwar wevige, aber deheo
\
303
färfere Wunder zu erzählen, hervorgegangen zu fein. So
wie nur dieſes Evangelium von der Heilung eines feit 33
Fahren Gelähmten und von der Auferwedung eines fchon vier
Zage im Grabe gelegenen Todten etwas weiß, fo ift auch
nur in ihm diefe Heilung eines Blindgebornen ald das größte
under diefer Art zu lejen. Grabe diefer Umftaud, daß
fein anderer Evangelift derfelben Erwähnung thut, muß dop⸗
pelt mißtrauifh machen. Denn fann auch nicht erwartet
werben, daß irgend ein Evangelift alle Wunder, die ihm
befannt geworden, auch erzähle, fo darf doch Feiner, wenn er
nicht ganz ohne Verſtand ausmwählt, eines der auffallendften
und von fo merfwürdigen Reden ımd Verhandlungen begleites
ten Wunder, zu weldyen das vorliegende offenbar gehört,
ganz mit Stillſchweigen übergehen; überdieß ging dasſelbe,
wie Sohannes berichtet, mitten in Serufalem vor, und erregte
felbit bet der Obrigfeit großes. Auffehen !
Müffen wir alfo nothwendig auf die Bermuthung kommen,
dasſelbe fei gar nicht vorgefallen, und die Erzählung davon
vieleicht nur Ausfchmüdung einer andern und auch fonft bes
fannten, fo fann ung der Einwand, daß ja Doch der Apoftel
Johannes ber Gewährsmann fei, nicht zurücchreden. Denn
nicht nur ift ja, wie wir oben fahen, dieß fchon im Allgemeis
nen wenigitens noch zweifelhaft, fondern es findet fich insbes
fondere in unferer Erzählung etwas, was wir dem Sohannes
kaum zutrauen fünnen. Es wird nämlid) der Name des Tei-
ches Silvam (V. 7), der „Wafferguß “ bedeutet, mit „ges
fandt* verdollmetſcht; eine offenbare Anfpielung auf den dahin
„Hefandten“ Blinden; zugleich aber eine Spielerei, die wir
eines von dem eigenen Anfchauen des Wunders ergriffenen
Apoftels wohl nicht würdig halten können; ed mag daher
auch diefer Punkt zu den Merkmalen des nicht apoftolifchen
Urfprungs dieſes Evangeliums gezählt werden.
313 j
dem Sinne der erften, noch ganz von, jüdiſchen Borftellungen
geträntten Chriſten. Co wurde fehr wahrfcheinlich jene alts
teftamentliche Erzählung Vorbild unferer neusteftamentlichen.
Ein Gleiches gilt von einer weiteren und überlieferten
Fernheilung, nämlich von ber Heilung eined Madchens, deſſen
Mutter, ein fananäifches Weib, Jeſum um Hüfe angegangen
hatte; wir haben dieſe Erzählung ſchon anderwärts in’d Auge
gefaßt; nämlich Th. I, S. 199, wo die Frage erörtert wurde,
ob Jeſus den Heiden feine Hilfe verweigert habe.
(M. 12, 1— 14; Mark. 3, 1—6; Luk. 6, 6— 115 fodann
Luft. 14, 1—5; 13, 10— 17; endlid Soh. 5, 1— 16.)
Ein befonderes Intereffe nehmen noch die Heilungen in
Anſpruch, welche Jeſus am Sabbat verrichtete, weil er da⸗
wit jedesmal bei Pharifäern u. dgl. Anſtoß erregt. Eine ders
felben wird von den drei Synoptifern erzählt; bei Allen ſteht
fie mit dem ebenfalld ärgerlichen Aehrenausraufen der Sünger
im Verbindung; während aber M. und Markus Beides an
demſelben Sabbat gefchehen laffen (M. 12, 95; Marf.3, 1)
verlegt Lukas ausdrücklich die Heilung auf einen andern (6, 6)
und hat darin gewiß das Nichtige, indem offenbar beide Ers
zjahlungen urfprünglich nur des verwandten Suhaltes wegen
neben einander geftellt wurden. Die fonfligen Abweichungen
in den verjchiedenen Erzählungen find fehr unbedeutend. Im
‚allen leidet der Kranfe an einer „vertrockneten“‘ Hand; damit
iſt nun feineswegs, wie Rationaliften, um mit der natürlichen
Erflärung defto leichtere Spiel zu haben, annchmen, eine
nur verftauchte, fondern, wie aus Vergleich mit 1 Kön. 13,
4 hervorgeht, eine völlig gelähmte und erftarrte Hand gemeint.
Ehe wir darnach fragen, wie es möglich fei, ein ſolches
Uebel durch ein bloßes Wort (M. 12, 13) zu heilen, wollen
wir, da die Spige der Erzählung doch in dem Umſtande liegt,
daß es am Sabbat gefchehen, noch zwei andere Heilungen der -
Art in unfere Betrachtung ziehen, die beide nur bei Lukas zu
lefen find. Die erfte ift die eines Waſſerſüchtigen (14, 1);
die andere die einer feit 18 Jahren gefrümmten Frau (13,
\ 308
feſt, nämlid) die unwillfürliche Heilung durd) bloßes Berüher- .
werden, fo fehen wir beide theologiſchen Haupipartheien glei —
abgeneigt, benjelben. anzuerkennen; es fheint ihnen Jeſus
zu fehr in ein rein körperliches Gebiet herabgezogen, und di
einer Art von Magnetiſeur gemacht, der durch elektriſche E wer
ladungen wirke. Allein beide find gleich unglüdlich it Den
Berfuche, dieſes Anftößige aus der Erzählung‘ herauszubringen,
weil fie beiberjeitd den Worten die größte Gewalt anthun
mal
„Senn erftlich die: Dethodoren,. 3 B. Dishaufen, ber
haunten, das chriftliche: Bewußtſein verbiete, fo etwas von
Jeſu anzunehmen, jo muß.sparauf ermidert werden, daß dieſes
fügenandte -,, chriſtliche Beruußtfein “ Doch eigentlich .nichte. Anz
deres iſt, als das Bekenntniß ber vorgeſchrittenen religiöſen
Bildimg::unferer Zeit,. Daß fie fich nicht niehr mit:allen Vor⸗
ftellungen befreunden fan, die num. einmal doch in den Evan
gelien wirklich enthalten find. Denn:um diefe Borftellungen -
in unſerem Falle wegzuerflären, werden von dem chriftlichen -
Bewußtſein die gezwungenſten Auslegungen. verfucht. So re
z. B. Jeſus die Frage: „Wer hat mid berührt?“ mr zum —
Scheine gethan haben, um die Fran nicht zu beſchämen; und =
doch geht felbit aus M. Deutlich‘ genug hervor, daß.er dieſelbe
var ber Heilung wirklich nicht gekannt, noch je gefehen hatte;
— Jeſus ſoll wohlbedacht feine heilende Kraft. ın fie haben
überſtrömen laſſen; daß aber davon gar keine Rede ſei, fons
dern das Ueberſtrömen als ein ganz unwillkürliches, rein ma⸗
terielles dargeſtellt wird, dafür bedarf es keines weitern Be⸗
weites, als einfach auf Dark. V. 30 md Luk. V. 46 zu ver⸗
weiſen.
Nicht beſſer ergryt es ferner den Rationaliten, die gleich—
falls mit dem Erzählten ſich nicht vertragen können und daher
gleichfalls Das Anſtößige durch Erklärung. zu entfernen firchen,
Dieſer ‚zufolge fragte Jeſus: „wer hat mich berührt 2: darum,
mei er fi) im Gehen Aufgeljalten fühlte; — die franfe, der
müthige Frau hätte Jefum fo herzhaft gezupft;. daß: er am
chen: verhindert wurde?! — Die: Frau. foll ‚nicht wunders
barer Weife, fondern. durch: dad .eraltirte Bertrauten, das ſie
bei ver Berührung Yan; Sefwi$tletbung, . ufammenfchauern
RN
307
machte, geheilt worden fein: welch' zügellofes Vertrauen zur
Macht des Vertrauens, anzunehmen, durch dasfelbe habe ein
zwölfjähriger Blutfluß geheilt werden fünnen! — Da aber
äberbieß dieſe Erflärer felbft die Angabe einer plöglichen Hei⸗
Img in Abrede ftellen, und fogar. bie Worte Jeſu, Luk. 8, 46
fir eine Erfindung des Evangeliften halten, fo fieht. man nicht
en, warum fie nicht lieber die gefchichtliche Wahrheit ber
ganzen. Erzählung in Abrede ſtellen.
Zu dieſem Refultate fühlen auch wir und geneigt, allein
mt aus dem Grunde, weil ein fo ganz Tinnliches Ausſtrö⸗
men von Kräften aus dem Körper Sefu- ung deſſen unwürdig
erfheint, wodurch wir und auf den Standpunkt der Supra⸗
naturaliſten fielen würden: fondern weil die Sache an ſich
mmvahrfcheinlich if. Denn faffen wir bie zahllvfek Wunder
firen durch die Neliquien und Heiligen der Katholiken, —
duch bie Windeln des Jeſukindes in einem. apofryphifchen
Erangelium, — durch den: Schatten und die Schweißtücher
des Apoſtels Paulus in der Apoftelgefchichte (19, 11) in's Auge,
fe it doc; von dieſen bis zu unferer Heilung durch den Saum
von Jeſu Kleide kaum ein halber Schritt; wer alfo jene .
läugnet, wird auch diefe verwerfen müffen. Inzwiſchen bürfen
wir dieß Dennoch nicht unbedingt thun, indem ' mmläugbare
Beiſpiele vorhanden find, daß wirklich theils - magnetifche
Kräfte von der einen, theils unbegrängter Glauben von ber
andern Seite foldye wunderbar fcheinenden Handlungen hers
vorgebracht haben. Wir laſſen es alfo auch hier dahin geftellt,
ob nur Einzelneg oder das Ganze unferer Erzählung das Wert
der Sage ki.
M. 8, 5—13; Luk. 7, 1—10; Joh. 4, 46 —54.).
Die Heilungen aus der Ferne find eigentlich Das Gegen:
theil von den umwillfürlichen, indem dieſe ganz förperlic, ohne
allen. Willensaft, jene nur durch den Willen ohne leibliche
Nähe gefchehen; — fo fehr das Gegentheil, daß mar fchon
um Voraus zu der Behauptung verfucht iſt, es haben beide
rc) denfelben Marin unmöglic, ftatthaben können. Betrach⸗
en wir aber die Sache näher. -
308
Eine ſolche Fernheilung finden wir bei M., Lufas und
Sohannes, wo Jeſus von einem Manne angegangen wird,
einen ihm Angehörigen zu heilen; die Berichterftatter weichen
aber fo fehr von einander ab, daß man in große Berlegenheit
geräth. Die größte VBerfchiedenheit findet ſich allerdings zwi⸗
fchen Sohannes und den beiden Eynoptifern; verſchieden
geben fie an: den Drt, mo Jeſus fid befand, Sohannes
(B. 46) Kana, M. (V. 5) Kapernaum; — die Zeit, Joh.
(8: 43) nad) der Rückkehr aus Samarien, M. (B. 1) nad
der Heimfehr ‚von der Bergpredigt; — die Perfon des Ger
heilten, Joh. (47) ein Sohn, M. (6) ein Sklave; — bie
Perfon. des Bittenden, Joh. (46) ein Hofbeamteter Calfo
wahrfcheinlich Jude) und von ſchwachem Glauben (48), M. (5)
ein Hauptmann Calfo wahrfcheinlich Heide) °9) und voll bins
gebenden Vertrauens. — Allerdings ftarfe Differenzen! Deß⸗
halb haben viele Gelehrten auch angenommen, es feien zwei
verfchiedene Vorfälle zu unterfcheiden; den einen erzähle os
hannes, den andern M. und Lufas, Allein dieß geht nicht
anz denn eritend weichen die Synoptifer auch unter fich wies =
der in manchen Stüden von einander ab; zweitens flimmt =
Johames bald mit diefem, bald mit jenem überein. Wir —
wollen dieß an wenigen Beifpielen zeigen. — 1. Bei Lufas
(B. 2) iſt ein Sklave der Kranfe, bei M. (B. 6) wahr:
fcheinlidh der Sohn des Bittenden °’); hier ftimmt Johannes
(47) mit M. überein. — 2. Nach M. (6) leidet der Kranfe
an Lähmung, nad Lukas (2) ift er am Sterben, was
bei bloßen Lähmungen nicht einzutreten pflegt; Sohannes (47)
ftimmt zu Lukas. — 3. Bei M. (5) fommt der Hauptmann
felbft zu Jeſu, nad Lukas (3) ſchickt er Boten an ihn;
Sohannes (47) ſtimmt zu M. — 4. Dem Lukas (6) zufolge
fommen Sefu aus dem Haufe des Hauptmanng Freunde des⸗
>, War es ein Hofbeamteter, fo war er Diener des jüdiſchen Für-
ften von Galiläa; war e3 ein Hauptmann, fo fland er wahr:
(heintih in Dienften der SZudäa beherrichenden heidnijchen
Römer.
2, Das griechifhe Wort des Terted nämlich bedeutet zwar eigent-
sh „Kind, Sohn“; jedoch werden auch Eflaven, bie zur
näheren Umgebung des Seren gehirten, G genanut. °
Welten entgegen wevon M. wide ‚meißinüuh. CHR; Finnas
—— darin, daß air 'zulegentng Teile aus
dem Haufe treten 51 ticdB) zB Tefus und |
Witterhen nerfichert,ider: Kranke feiraehelie, Js Yutde par
Khneigag: oh :(50) fun eich ln nl dan
Ra; alfo: alle dyei Erzahluugen fo m —— —— |
Kuh, daR -jebei berfelben baldizir einen / bald site anbern hin⸗
iüberneigt, ſo muͤſſen wir bri ver Scheibnug in uch Vorfaͤli⸗
nicht ſteher bleiben ;;: ſondern entweber Adein annchinen, ober
bei. allen Variationen nus:seimem?: Das: Erftebe: wird” ung
Riemand znvnthen; denw wer kann es glanben, daß Jeſus
Rreimak-in: Eapernaum den Angehörigenneines vornehmen
Mannes auf deſſen Bitten aus. ber Kerne: I: Einem Magens
Blicke geſund genricht /habelr Wir neffen daher!r bei: Einem
MWorfalle ſtehen bieiben, Dürfen: über dabei nicht; wie manche
Theologen ſehr gewaltthaͤtig · es vrrſuchen, in Abrehe ſtellen /
"maß die Erzählungen awirllith ſehr: bedeutend. 00H Rhaunder ab⸗
Weichen; wir: mitſſen une vielmehrdie Frage verlegen: Wee
unier den Berichtenbenchak: nun Recht ud : "0
Eine unbefangene Prüfung ergibt, daß auch hier wieber
M. Das: Einfachere und Urfprünglichere hat, und. daß bie
abweichenden Schilderungen: der beiden Andern meiſt verjchd«
nernpe, übertreibende. Zufäge find. Faſſen wir zuerſt Lukas
im’ 8 Auge. Der: arg geplägte Kranke des M. wird’ bei ihm
ſchon ein dem Tode Raher, wodurch das Wunder der DE
lung um ſo größer wird;: während bei M. der Hauptmamii
ſelbſſt zu Jeſus kommt, ‚aber wohl erfennt, ex fei nicht werth⸗
daß Jeſus unter ſein Dach komme (V. 8), wird dieſe Demuth
bei Lukas fo weit gefteigert, daß er jüdiſche Aelteſte (V. 3)
an Jeſum abſchickt, Die ihm ein gutes Zeugniß geben müffen
5). Durch die zweite Gefandtfchaft aber. (6). geräth Lukas
gar in Widerfpruch mit fich felbft: denn durch dieſe laͤßt nun
der Hauptmann Sefum erfuchen, nicht in fein Haus zu foms
men! Als ein fo verfehrter wanfelmüthiger Mann erfcheint
aber diefer Hauptmann fonft gar nicht, vielmehr als ein wades
rer und verfländiger. Hier ift wohl die -Ausfchmüdung der
Sage unverfennbar! — Ein Gleiches bei Johannes anzu⸗
erfenuen, duͤrfen wir und durch Die Furcht, einen veoxeoxeo.
310
den Apoſtel, angugreifen, nicht abhalten laſſen; dem "eben
diefe Augenzeugenfchaft ſteht ja noch dahin, und Fam nur
durch unbefangene Prüfung ermittelt werden.
Schon feine :.beffimmte Angabe, daß ber Kranfe ber
Sohn gewefen, fieht nicht Danach aus, das Urfprängliche
zu fein; vielmehr iſt es weit wahrfcheinlicher, daß des M.
unbeftimmtes Wort (f. oben Anmerf. 31) nad) zwei Seiten
hin beftimmmt gedeutet wurde, nadı der des Lukas als Sflave,
und von Johannes ad Sohn. Wem nun ferner bei Sohanr
nes die Fernheilimg von Kana, und nicht von dem Wohnorte
des Kranken aus geſchieht, fo iſt Dieß Doch wohl auch ſagen⸗
hafte Verherrlichung; denn je größer Die Entfernung, deſto
größer das Wunder. Wie ängftlidy genau ift weiterhin bie
beitimmte Angabe, grabe in berfelben: Stunde, wo Jeſus bag
teöftende Wort (B. 50) gefprochen, fei der Kranke genefen
(52 u. 53)! Auch bier fehen wir das Bemühen diefes Evans
geliums, alle Wunder als vecht glänzend und .beglaubigt hins
zuftellen. Endlich muß auch Charakter und Benehmen bes.
Bittftellerd dazu dienen, Jeſum in um fo herrlicherem Fichte
zu zeigen. Er ift von ſchwachem Glauben, während dieß
bei M. und Lufas fich anders verhält; es tritt in diefem Ges
genfaße die Herrlichkeit Set um fo mehr hervor, wie es ja
Sohannes überhaupt befonders licht, denfelben als weit ers
haben über feine Umgebung ung erfcheinen zu laffen. Er
bittet Sefum augdrüdlich darum, in fein Haus zu kommen,
und Diefer ift bei den beiden andern: Evangeliften anfangs auch
entfchloffen, ihm zu entfprechen; Sohannes aber ftellt die Sache
fo, daß Jeſus auf jene Bitte gar nicht eingeht, fondern fos
gleich die aus der, Ferne ſchon bewirkte Heilung anfindigt;
daburd entgeht Jeſus dem Verdachte, fidy in feinen Entfchlüfs
fen von Andern beftimmen zu laſſen. — Alles doch wohl
Spuren einer an der einfachen Thatſache geſchäftig umarbei⸗
tenden Sage!
| Halten wir uns nun aber an die Hauptfache, die in allen
Berichten und überliefert wird, nämlich an die Fernheilung
ſelbſt; — iſt eine ſoldhe denkbar? Ehe wir auf Diefe Frage
a
su
eher, müflen wir die Verſuche ber Rational, die Fern⸗
ung wegzuerflären, kurz beleuchten. .::- -
Am bereitwilligften feheint für Diefe: natürliche Erlärung
ſannes ſich herzugeben; zwar merkt: biefer felbfl. das
e Ereigniß das zweite it Balilia von Sefu errichtete
ichen“; dieß ſoll -aber nichts Weiteres heißen; als: zum
ten Male (vergl. 2,11) gab Jeſus den Beweis von einer
er nicht offenbar gewordenen Kraft“; — durchaus gegen
neu = teftamentlichen Gebrauch dieſes Wortes, verntöge
nes mit „Wunder“ gleicybedeutend ift. Ferner fol Jeſus
ar nicht geheilt, fondern nur gefagt haben, derfelbe bes
» fich wieder außer Gefahr CB. 50), weil er aus ber
men Erzählung des Bittenden erfannt: hatte, die Krankheit
chon im Abnehmen. Abgefehen von dem wahrhaften Ein
uggeln einer folhen, nirgends angedeuteten,- "Erzählung,
dadurch Jeſus zu einem, man verzeihe ben Ausdruck,
tfinnigen Gharlatan gemacht, ber feinen. ganzen Kredit auf
Spiel fett, indem er auf den Bericht eines gewiß nicht
hfundigen bin ein fo beſtimmtes Verfprechen gibt. Ein
ıe8 ließe fich nur rechtfertigen, wenn man, wie es von
ren Auslegern auch wirklich gefchteht, aber gleichfalls ohne
nd, es als Ausflug einer höheren Erkenntniß Jeſu bes
ten, alfo darin ein Wunder des Wiffeng erbliden will.
awiderſpricht ja aber fehon das, daß gerade in bemfelben
enblide, als Jeſus jene Worte ſprach, der Kranke gefund
de; das it Doch ficherlich ein Wunder der That, das heißt,
wunderbaren Kraft des gejprochenen Wortes.
Bei den Synoptifern it jo beftimmt von der Bitte um
lung (M. 3. 8) und von deren Gewährung (3. 13)
Rede, daß man zu einem. andern Mittel feine Zuflucht
nen muß; dieß finden die ftets rüftigen Erflärer in dem,
bei M. (V. 9) der Hauptmann gleichnißmweife von den
imtergebenen Dienern fagt, natürlidy um daran zu erins
|, welche Kräfte und höhere Geilter Jeſu zu Gebote ſtün⸗
‚ am auch ohne perjünliche Gegenwart wirfen zu tönen.
ı aber fol er Jeſu verblümt zu verftchen gegeben haben,
ürfe ja nur einen feiner Jünger abfenden, was Jeſus
rt auch that. Wenu nur von dieſer Abfendung auch nur
812
mr eine Silbe in dem Terte flünde! Wenn wirnur andere
- Beifpiele davon hätten, daß Jeſus feine Juͤnger ald wunder⸗
verrichtende Ordonnanz abordnetel Wenn nur nicht die
Freunde des Hauptmanns ſogleich bei ihrer Ankunft ſchon den
Kranfen. wieder gefund gefunden hätten! Aber, fagt man, fie
hatten ja noch bei Jeſu ſich verweilt, während Die Sünger
ſchon weggeeilt waren.. Wenn wir nur nicht auch hier fagen
müßten, daß bavon- abermals kein Wörtchen im Texte zu
leſen iſt!
Es muß alſo wohl doch fein Verbleiben dabei haben, daß
uns hier eine wunderbare Heilung aus der Ferne geboten 2
wird, beren Glaubwürdigkeit wir nun fchließlich zu unterfuchen =
haben. Sp ganz abweichend von allen andern mwohlthätigen m
Aeußerungen der Heilkraft Jeſu ift dieſes Fernheilen, daß wir =
ung wohl darnadı umfehen bürfen, ob wir fonft wo ähnliche —
Erfcheinungen finden. Nun ift ed zwar erwiefen, daB auf
Somnambülen von Magnetifeuren oder anderen in magneti—
fchem Rapport mit ihnen flehenden Perfonen auch in die Ferne—
hin gewirkt werden kann, aber doch nur nad) vorausgega⸗—
gener unmittelbarer Berührung. Eine folhe nun hat in Denwmm
vorliegenden Fall nicht flattgefunden, ‘und wir reichen mi
diefem Erklaͤrungsgrunde nicht aus. Es bliebe uns nichts
übrig, ale Jeſum für ein übernatürliches Wefen zu halten,
deffen Wirklichfeit wir uns aber nicht denfen können. Allein
wir dürfen um fo mehr die Frage aufmwerfen: Iſt auch das
erzählte Factum gegründet? da wir ja fchon früher im Eins
zelnen unjerer Erzählung unverfennbare Spuren von dem Ein:
fluß der Sage fanden.
Erinnern wir uns, wie Sefus Kranke durch bloßes Bes
rühren (Matth. 8, 3), dann wieder einzig durch ein Wort
(Cuk. 17, 19 geheilt haben fol, fo liegt die Steigerung, daß
fein Wort auch in die Ferne gewirkt habe, der Sage wohl
nicht allzu ferne. Hierzu fommt noch, daß fchon der Prophet
Eliſa den Syrer Naeman durch fein bloßes Wort heilte,
was allerdings ald Zeichen ausgezeichneter Prophetengabe ers
jcheint (2 Kön. 5, 9 ꝛc.); allein, war nun einmal durch eine
folche Elifa berühmt geworden, durfte der größte Prophet,
ber Meffias, hinter ihm. zurüdbleiben? Gewiß nicht, in
are Clan — aan noch Hans var Bühl orkilkungen N
Detrantten Cheiten, So wurhe fehr. wahuiheinlicksäeme, alle
Erſtawemtliche Zrzählng Vorbild unferer meusellameuluken,, > /
re Gleiches :pilk.;nonneinen: write: und übenlieferuen °
Suberuheilung,, winslich non. ben. Heilung: aines Mäbihend , Arkien
AMaotbe, ‚ein! kaunniſches Waibeſinn wu Sulfe: ARSCH
Maotte;: wir hahe dieſe; Crzaͤhlung ſche Mderwara ive Yyge
ee namlich Th. I, ©1199 ;:wo: —— ——
ee ben „Heiden, ſene Die verweinen habe. a
u u! KR Fe | u 33* 2.
= oo. Er . . F en le
- a i . 5 N J es, Ss —W 1,7 sic
- ‚AR: 12, — Mär. 3; T 6; ii. 17 113 fobani
Euf. 14, 1- 5; 13, 10,173, enbii Ih. 5, I), |
> ‚: Ein befonberes- Inereſe nehmen. ach bie Hrilungen in
> Ynfprucy, welche Jeſns am Sab bat verrichtetg, weiß;er. hau
weit jedesmal bei Phariſaern :n. dgl. Anſtoß erregt, ‚Eingibep .
ſechen wird von den drei Synoptikern erzählt; bei Allen Sicht
Be mis dem ebenfalls aͤrgerlichen Achrenausraufen Dee. Iüngen
in Verbindung; ‚während aber. M. und Markus Beides
demſelben Sabbat geſchehen laſſen (M. 12, 95 Mark. 3, 1.
verlegt Lukas ausdrücklich die Heilung auf einen andern (6,.6)
und hat darin ‚gewiß das Nichtige, indem offenbar heibe Er⸗
zählungen urfprünglich nur des, verwandten Inhalts: wegen
neben - einander geftellt wurben.. Die ſonſtigen Abweichungen
in den verjchiedenen Erzählungen: find fehr unbedeutend, : JM,
‚allen leidet bey, Kranke an einer „vertrodueten“ Hand; damit
ift. nun keineswegs, wie Rationaliften, um mit ber. natürlichen
Erklärung defto leichteres Spiel zu haben, annehmen, eine
nur verſtauchte, fonbern, wie aug Vergleich mit 1 Kön. 13,
4 hervorgeht, eine völlig gelähmte und erftarrte Hand gemeint,
Ehe wir darnach fragen, wie ed möglich fei, ein ſolches
Uebel durch ein bloßes Wort (M. 12, 13) zu heilen, wollen
wir, da die Spitze der Erzaͤhlung doch in dem Umſtande liegt/
daß es am Sabbat geſchehen, noch zwei andere Heilungen der
Art. ia unſere Betrachtung ziehen, die beide nur bei Lukas N.
leſen find. Die. erite üft die eines Wafferfücjtigen (14, i da
big, andere. bie. einer feit 18 Jahren gelriemwten Kun
314
19). Hier iſt nun zmächft.die große Achnlichkeit Diefer beiden
mit einander auffallend, und zwar ift fie jo groß, daß ſchon
Schleiermacher behauptet, wenn biefelben von Einem Ver⸗
faſſer zum erften Male aufgezeichnet worden wären, fo habe
berfelbe nothwendig ſich wegen Wiederholung -entfchufdigen
müſſen; nun aber müſſe man annehmen, Lukas habe: fie aus
zwei verfchiedenen fchriftlichen Quellen eingefügt. Indeß fehen
beide auch jener erften in manchen Stüden gar ähnlich; auf
beiden Seiten diefelbe fchöne und bezeichnende Eentenz vom
Thiere, dad in den Brunnen gefallen CM. 12, 115 Luk. 14,
3); das Anflauern der Pharifüer Mark. 3, 2; uf. 14, 1);
die Fragen Sefu, ob man am Sabbat ein Leben retten (Mark.
3, 4) oder heilen bürfe (Luk. 14, 3); endlich, das Verſtummen
der Pharifaer (Mark. 3, 45 Luk. 14, 4).
* Da min, wie gefagt, in allen Erzählungen dag Sabbat⸗
heilet die Hauptfache ift, fo wird es, trotz der Verfchiedenheit
- in Angabe der Krankheiten, wohl erlaubt fein, zu fragen, ob
ihnen nicht etwa nur Ein Vorfall zu Grunde liege? Zmar
ift e8 bei den vielen Heilungen Sefu wohl denfbar, daß er
mehr ald Eine am Sabbat vorgenommen, — mehr ald eins
mal Gelegenheit fand, jenes ſchöne Gleichniß anzuwenden;
Aber eben fo denkbar, daß dieſem, ficherlich aächten, Gleich:
niffe mehr ale eine, an fich ſchon befannte Heilung zum Rah⸗
men dienen, und Daß jenes Aergerniß am Sabbat bald bei
biefer, bald bei jener gegeben und abgemiefen worden fein
mußte, fo daß man bald eine verfrümmte Frau, bald eitten
MWafferfüchtigen, bald einen Menfchen mit gelähmter Hand
als die Veranlaffıng angab. Diefe VBermuthung gewinnt an
Gewicht, wenn es fich ergibt, daß eine oder die andere diefer
Heilungen ſich als unglaublich herausftellt. Dieß ift zunächft
der Fall mit der des Wafferfühtigen; denn ein fo mates
rieller Rranfheitsftoff, wie das unter der Haut angefammelte
MWaffer, läßt fich unmöglich durch ein bloßes Zauberwort ent-
fernen. Die Heilung eines 18 Sahre lang gefrümmten Weis
bes durch dieſes Mittel it ebenfalls wenigftens ſehr nmwahr-
fheinlih. Einer nähern Betrachtung bedarf in diefer Beziehung
die erfte Erzählung, die von der geheilten Hand.
Die Rationaliften freilicdy ind andy hier bold fertig. Bald
as
Tagen. fie, das Wort, weiches nur heißen kann: „Ste wurde
zeheilt“, ‚heiße: „fie war ſchon geheilt“, umb Jeſus heilte
alfo nicht am Sabbat, fondern erfannte nur, daß früher an⸗
gewandte Mittel guten Erfolg gehabt hatten (1). Bald fagen
fie: Da die Pharifäer an der Sabbatheilung Anftoß nahmen,
ſo muß damit: eme Merkthätigfeit, etwas Geräufcwolles ıc.
berbumben geweſen fein; alſo eine natürliche Kur! Aber es
it befammt, daß die"bamaligen Rabbinen nody fehr ſtreng im
Yunfte des Sabbats waren, baß fie felbit Befchwörungeit, ja
viele fogar Trdjtungen in Krankheiten an demfelben für
nnerlaubt hielten. Da alſo das Heilen durch bloße Worte
siht in Abrede geftellt werden darf, fo könnte man allenfalls
ach: hier eine Art magnetifcher Kır annehmen. Natürlicher
aber ſcheint es, bie: ganze Ezählung als Mythe zu fallen.
Denn ed findet fich in einer oben angeführten altsteftaments
lichen Stelle, 1 Kön. 13, die eine unverfennbare Mythe ent
hält, ein zu einlabendes Vorbild, ald daß man es nicht für
Wahrfcheinlich halten müßte, die Sefus nach folchen Prophe-
teworbildern verherrlichende Sage habe auch dieſes Wunder
als ein Gegenſtück felbft gebildet und zu einer Einfleidung fin
cs mehrmals ermühnte Gleichniß von den Sabbatheilungen
enutzt.
Auch das johanneif he Evangelium erzählt zwei Sabs
Atheilungen; die ſchon früher befprochene des Blindgebornen,
Ind die noch näher zu betrachtende des am Teiche Bethesda
Arch bloße Worte: von Jeſu geheilten feit 38 Jahren Ges
Shmten (Joh. 5, 1—18). Der Evangelift fpricht fo bes
Ammt aus, der Menfch -fei wirklich lange krank gewefen
V. 5); ſo beftimmt, Jeſus habe ihn geheilt (V. 14), daß
sie. Behauptung der rationaliftifchen Erftärer, Jeſus habe mit
einen Worten V. 8 nur einen Betrüger, der fich krank anges
tellt, entlarven wollen, in Nichts zufammenfällt; wir haben
yier vielmehr wirklich ein Wunder vor und, und zwar ein
recht auffallendes; 38 Sahre ift Jemand gelähmt,' und mit
an paar Worten wird er wieder frifch und gefund!
Gegen bie geſchichtliche Wahrheit der Erzählung muß
ſchon der Umftand etwas mißtrauiſch machen, daß kein gleich⸗
a
zeitiger. jübifchey. Schriftſteller der "som unſerem Evangeliſten
als fo bedeutend geſchilderten Heilanſtalt ( V. 2—4) erwähnt.
Entſcheidend aber iſt das, daß das Wunder dieſer Heilung
über: alle. andern hinausgeht, da hier ein fo tief eingewurzel⸗
tes Hebel nur durch. das Wort eines Unbelannten (®. 13)
plöglich ‚entfernt wird. .. Wir, haben. nämlicdyıier eine abermas
fige- @peigerung des MWunderbaren, wie wir fie bei Johannes
fo, oft im Gegenſatze zu den Synoptikern finden (man vergl.
die Heilung des Blindgebornen,. die Erweckung des Lazarus 2c.); 5
— mir ſehen auch hier das Wunder auf einen glänzenden =
Schauplag verlegt; fo Daß wir annehmen dürfen, es liege —
unferer Erzählung eine dunkle Kunde irgend einer von den —
Synoptikern erzählten Heilung (etwa Mark. 2, 3) zu Orunde
die dann weiter ausgefchmüct und zu einer Sabbatheilungggenn
gemacht wurde, weil mit dem DBettwegtragen B. 9. ein at
ftößiges Geräufch verurfacht zu fein fcheinen komme, welches
die Jeſu gemachten Vorwürfe veranlaßte.
Fuͤnftes Kapitel.
Todtenerwedungen.
EM. 9, 185 23—26; Marf. 5, 22—43; Luk. 8, 41—56=- 5
ſodann &uf. 7, 11—17, und Soh. 11, 1—46.)
Sm Ganzen finden fid, drei Todtenerweckungen in bee!
Evangeliften; wir betrachten zuerit den befonderen Inhalt einer
jeden Erzählung, um fodann alle drei in Bezug uf Wahr—
fheinlichfeit und Möglichfeit des Erzählten in's Ange
faffen.
Die Erwedung von des Jairus Töchterlein findet fich
bei allen Synoptifern (M. 9 ⁊c.). Zwar weichen Diefelben
in mehreren Umftänden von einander ab, namentlich in Dem
fehr wichtigen, daß nad) Marfus und Lukas das Mädchen
noch lebte, als der Bater Sefum um Hilfe anflehte, und es ;
erft ftarb, als Jeſus auf den Wege nach dem Haufe fi für |
die Sterbende befand (Mark. DB. 23 u. 35), während bei M.
der Vater gleich Anfangs fein Kind als geitorben bezeichnet
317
(B. 18); — allein dennoch haben bie neueren Ausleger gegen
sıanche ältere Recht, wenn fie daran feſthalten, daß wir in
zIlen Berichten fur Einer Begebenheit Erzählung vor une
yaben. Denn wie wunderbar wäre fchon das, daß mit allen
seiben, an fich fehon fo ähnlichen, Ermedungen die Heilung
einer blutflüffigen Frau in Verbindung geflanden haben ſoll,
wie: bei allen drei Evangeliſten zu Iefen iſt. Wir mälfen Das
yer auch hier, mit Befeitigung aller weichlichen Berfuche, Durch
Berbrehung der Worte Einftinmigfeit erzielen zu wollen, ſo⸗
Deich zu der Frage und wenden: Welcher Evängelift hat das
Richtigere, Urfprünglichere? Wir entfcheiden und, wie in fo
wielen früheren Fällen, zu Gunften des M., da die beiden
Andern unverfennbare Spuren fpäterer, ausfchmüdender Sage
aur Schau tragen. Dahin zählen wir, daß fie den Namen
Des Bittftellers (Mar. B. 22) angeben, den M. (V. 18) nicht
ennt; denn Namen find auch fonft Zuthaten der .Sage, wid
3.2. erft weit fpätere Schriften die Namen der blutflüffigen
Frau, der beiden mit Sefu Gekreuzigten 2c. vorzubringen wifs
fen; — ferner andere genauere Angaben, daß das Mädchen
eine zwölfiährige einzige Tochter gewefen fei (Kuk. V. 12); —
befonders aber die oben ſchon hervorgehobene Abweichung. in
Bezug auf den Zuftand des Mädchens. In der Erzählung
des Markus und Lukas liegt nämlich eine fichtliche Steiges
rung des Wunders: ihr gemäß leiſtet Jeſus nicht nur mehr
als von ihm erbeten wird, ja mehr, ald man für möglid)
hält; Luk. B. 49 fagen die Todesboten: „bemühe. ben Meifter
nicht Cumjonft) *, während das Wunder bei M. weit weniger
frappant erfcheint, da man gleich Anfangs nichts. Anderes von
Sefu erwartete. Endlich wird auch in’d Myſteriöſe bei jenen
Beiden die Sache dadurch gezogen, daß fie die erwedenden
Morte Sefu in der Urfprache,. die er redete ?°),: gleichfam
als Zauberworte wiedergeben (Mark. B. 41), daß Jeſus bei
ihnen nur drei erlefene Sünger zum Schauſpiele herbeizieht
(®. 37), und daß er den eltern das firengfte Stillſchweigen
auferlegt (B. 43); — Mles Dinge, von welchen der fihlichtere
M. nichts weiß: Ä Ä ae Ä
. . . 0. o. ef
223Siehe Anmerkung HOT 6250
318
Schreiten wir num zu den bisherigen :Erflärungsum 1°
fuchen,- fo finden wir. Diefed Mal Rationaliften und Drthodere |"
im Ganzen einig: Beide nehmen an, es babe gar: feine Tod
tenerwecung ftatt gehabt; Sefus fage ja felbft: „Das Maͤd⸗
chen ift nicht geftorben, fondern fchläft“, (das heißt, if.nr
fcheintodt) (M. V. 39). Vergleichen wir aber Joh. 11,11, |"
wo Jeſus ganz basfelbe -von dem doch wirklich gefforbenen 1
Lazarus (B. 39) fagt, und. erwägen wir den ganzen Zufchnikt
der Srzählungen, namentlich das außerordentliche Auflehen,
das die Sache! erregte (M. V. 26), fo können jene. Worte
gar feinen andern Sinn haben, ald: „Sehet das "Mäbihen
nicht als todt, fondern nur als ſchlafend an, da eg bald ins
Leben zurückkehren wird“, wie auch fchon Frigfche die Stelle
richtig. erflärt. Ueberdieß, wie leichtfinnig und. vermefien "hätte
Jeſus gehandelt, wenn er auf die bloße Erzählung der Leute
bin, auch wenn der Vater ihm die Kranfheitsumftände nech
fo genau erzählt hatte, fogleich das Mädchen für nur ſchein⸗
tobt erklärte! Wie leicht konnte er fich irren, wenn er nicht
ein übernatürliches Wiffen befaß, das ihm doch die Ratio⸗
naliften wenigſtens nicht einräumen wollen! Auch der Text
ber Erzählung muß fchließlih noch herhalten: denn, obgleich
die Worte „er berührte das Mädchen ıc. und fogleich ıc-
(Mark. V. 41, 42) fo freng zufammenhängen, daß fie feirt |
Einfchiebfel vertragen, fo foll doch zwiſchen den Zeilen zu Iefert |
fein, Sefus habe erſt Mittel angewandt, um das Mädhert |
aus dem Scheintode zu erwecken. Unbefangener Weite
müffen wir vielmehr anerkennen, daß die Evangeliſten uns das
Wund er einer Todtenerwecung geben wollten. —
in
Wir gehen zur ‚weiten | der und > erhaltenen Todtener- =
wedungen, die nur bei Lukas EXap. 7) zu Iefen ift, über” —
Wiewohl die Umftände hier etwas ſchwieriger find, fo ver
zweifeln die Rationaliſten doch nicht an einer natürlichen Er"
Härung.. „Jeſus mit feinen Begleitern, fagen fie, ſtieß unter
dem Thore auf einen Leichenzug, und da die Träger
ftanden, fo ließ er fich in ein Geſpräch mit ihnen ein Callein
Das GStilffteben erfolgte ja erft fpäter, ald Jeſus den Sarg
8919
enfaßte, V. 14) 5: gerührt: durch - bie,» Erzählung derſelben,
#röftete er die Mutter (8. 13); ex erfannte Lebenszeichen an
Mem Ssünglinge (noch ehe der Surg geöffnet warb? !); ließ Den,
<DBarg öffnen, wandte zweckmäßige Mittel an (von dem. Allem
Steht ‚natürlich fein Wort im Texte); und der Süngling;genag;
= oDt kann er nicht geweſen fein, da Sefus ihn anredet (V. 14),
=vas min. doc, gegen Todte. nicht: thut Cdamm müſſen aber:
Ile, die. Sefus am jüngften- Tage erwecken wird, auch. num
<5 chyeintodte fein, da fie ja nady Joh. 5, 28 „feine Stimme
Myören werben“). Abgeſehen von den in Diefer Aus deutung,
Der Erzählung zu Tage liegenden puren: Erbichtungen,. wirb:
Durch diefelbe Sefus in ein zweideutiges Licht geftellt, indem.
Er die lauten Lobfprüche B. 16 ohne nähere Belehrung hinnahın,
vbgleich er fie nicht verdient hatte, wenn er nur als’ Arzt
einem : Scheintodten wieber :Bemußtfein verfchafft hatte. —
Wir haben auch hier eine wunbexbare — Todte nmerweckung. —
Die dritte, nämlich die des Lazarus bei Joh. Kap. 11.
iſt die wunderbarſte von allen. Dennoch hat man verfucht,
ſie entweder ganz oder theilweiſe als geſchichtliches Ereigniß
feſtzuhalten. Zwar den Vorderſatz: Lazarus könne, da die
Juden ſo ſchnell beerdigten, nur ſcheintodt geweſen, er könne
in der kühlen Gruft (V. 17) wieder zum Leben gekommen
ſein, muß man zugeben; allein die nachfolgenden Beweiſe
dafür, daß es wirklich fo geſchehen ſei, ſind durchaus une
ſtichhaltig. Jeſu Worte: „dieſe Krankheit iſt nicht zum Tode“
ſollen beweiſen, daß er die Krankheit nach der erhaltenen
Nachricht V. 3 nicht für tödtlich gehalten habe, weßhalb er
auch noch zwei Tage in Peräa blieb CB. 6). Gut; woher
aber plötzlich die beftimmte. Verfiherung, Lazarus ſei tobt
(V. 14) und der daraus abgeleitete Entfchluß, zu- ihm hinzu⸗
gehen DB. HI? Man weiß fich zu helfen; „es Fam ein zweiten,
Bote, der des Lazarus Tod meldete, worauf aber Jeſus
fogleich erkannte, daß er nur fiheintgdt fei* CB. 11) — alfein
von. jenem zweiten Boten ijt nirgends eine Spur zu finden,
und auch hier wäre Seju Zuverſicht: „ich will ihn erweden“,
eine wahre Bermefjenheit; überdieß bezeichnet jert (don Sein
320
bie befchloffene Wiebererwedung ald ein willfommenes Mittel,
die Jünger in ihrem Glauben zu flärfen (V. 15). — As
er nun in Bethanien angelommen, fpricht ihm bes Lazarus
Schweſter Martha zwar befcheiden, aber unzweibentig die Er⸗
wartung and, dap er ihren Bruder erwedfen werde (B. 21, 22)
und Jeſus verbeißt es ihr; Daß dieß in dem etwas. ımbe-
flimmten Ausdrude: „er fol auferftehen* (23) gefchieht, daß
Martha darauf wieber in ihrem Vertrauen wanfend wird (2,
und daß Jeſus fodann nur allgemein von dem Lohne des
Glanbens fpricht (25); dieß Alles greifen nun abermals die
natürlichen Erflärer zur Stüge ihrer Anjicht auf, Sefus denfe
an feine wirkliche Erwedung. Allein offenbar beruft ſich
V. 40 Sefus auf fein Verſprechen DB. 23; offenbar hatte re —
V. 11 ſchon zuverfichtlich von der Wiederermedung gefprochen er
und wäre alfo jebt irre geworden; und daß Martha fo bald —
wieder ſchwankt, fann bei einem Weibe fo beweglicher Natur —
nicht auffallen. Eben fo wenig will ed gelingen, die hierauf”
erzählte Rührung Jeſn CP. 35) für jene Erklärungsweiſe zu —
benügen; denn nicht fowohl der Schmerz über den vermeint—
lihen Tod des Lazarus fpricht fich in feinen Thränen aus —
fondern vielmehr die Wehmuth über den Unglauben der—
Weiber. Denn nur diefer fann den innern „Grimm“ (ein—t
Wort, welches man fprachmidrig von Unterdrüdung des —
Schmerzedö hat nehmen wollen), von dem V. 33 die Rede —
war, und der ſich nun zur Wehmuth herabſtimmt, in ihm et
erregt haben. Daß die Juden (V. 36) die Thränen See -
feiner Liebe zum Scheintodten, deffen Wiederbelebung ihm noch EI
nicht gewiß gewefen fein foll, zufchreiben, beweist Nichte, da —
Nichts bei Johannes gewöhnlicher iſt, als daß dieſe Juden ihn
gaänzlich mißverſtanden. Endlich darf man ſich auch über die
Härte, die in dem Unwillen über die Glaubensfchwäche der
jammernden Weiber liegt, in der Erzählung eines Evangeliſten
Klum, u 5
nicht wundern, ber Jeſum einen Wunderſuchenden (4, 48), ,;
feine Zünger (6, 61), ja feine eigene Mutter (2, 4) hart ;;,
anfahren, überhaupt jedesmal entrüftet werden läßt, wenn :n
oder begehrlich zeigen.
Menfchen, fein höheres Wefen verfennend, ſich kleinmüthig x
Hat ſonach Jeſus unbeitreitbor, wacı ber Darſtellung bes
321
vangeliften, fchon ehe er nach Bethanien fam, bie Abficht
habt, Lazarus zu erweden, fo fragt fi nun, wie die Er⸗
ihlung von der Ausführung derfelben fich der rationafiftis
ben Annahme eines von Jeſu geheilten Scheintodes fügt.
war geben wir zu, daß die Berficherung, Lazarus rieche
hon, Nichts beweist, da fie nur Anficht der Martha fein
iochte (39); aber daß Sefus, als auf fein Verlangen das
zrab geöffnet wurde (41), fo beftimmt verfichert: „du ſollſt
ir Herrlichkeit Gottes fchauen“ (40), dieß kann doch nur von
er Auferftehung des Lazarus gemeint fein. Wie matt
vaͤren die Worte, wenn fie, der natürlichen Erklärung zufolge,
mr ganz flach hießen, man werde eine herrliche Aeußerung
wer Gottheit erleben! wie matt gerade nad) der Berficherung
von dem Beginne der Verwefung! ja, wie verfehrt wäre es,
a diefelben Worte B. 4 offenbar auf eine Wiebererwedung
ſindeuten, fie. hier in anderem Sinne zu wiederholen! —
Daß Jeſus ferner dem Zodten erit dann das „komme heraus
43) zugerufen, nachdem er Gott gebanft für die Erhörung
41), fol ein deutlicher Beweis fein, daß nicht erft dieſe Worte
a8 Wunder bewirkt, fondern daß Jeſus fehon vorher bemerft
abe, der Scheintodte fei wieder erwacht. Allein einestheils
cheinen diefe Erflärer nicht zu wilfen, wie oft bei Sohanneg
olche feierliche Dankfagungen noch vor dem fichtbar ausges
ührten Wunder vorfommen; anderntheils ftreitet ihre Annahme
jegen den ganzen Zufammenhang. Waren die Zeichen bes
ebens ſo auffallend, fo mußten ja auch andere Zufchauer es
jewahr werden; waren fie fo unfcheinbar, daß nur Sefus fie
emerkte, wie vermeflen abermals die fefte Zufage, die in ber
ufforderung an Lazarus lag: „Eomme heraus“! Endlich. war
8 aber auch Jeſu ganz unwürdig, die Huldigungen des Bols
e8 anzunehmen (45), wenn er nichts .gethan, als die Wieder⸗
rwachung des Scheintodten zuerft bemerkt hatte! — Der Ans
08, der in jenem Vorherfagen Jeſu liegt, it fo groß, daß
elbft unfere natürlichen Erflärer ihn zu entfernen fuchen.
Raulus behauptet daher, die Verkündung V. 11 fei erft
ad) dem Erfolge von dem Erzähler zugefegt worden; bie-
:lbe Behauptimg dehnt Gabler auch über V. 4, 15, 22
us, und ein Anderer erklärt diefe Stellen gar fire. Inltere
N, a
322
Einſchiebſel von einer fremden Kant. Mollte man aber
eben fo mit allen andern Stellen verfahren, welche nad un
ferer Audeinanderiekung als der natürlichen Erflärungsweile=
ungünſtig fich erwieien haben, fo bliebe am Ende fein Steir
auf dem andern; überhaupt darf ein Ausleger fich nie erlan—
ben, ohne andere Grunde, einzelne Stellen nır darum übe
Bord zu werfen, weil fie feiner Erflärungsweife nicht zufagerz
Es haben aljo jtillicdiweigend die Rationaliiten hier zugeltare-
den, was wir zu beweiſen fuchten, daß auch dieſe Erweckungs⸗
gefchichte ald eine wunderbare geglaubt, oder ihre gejchicht-
liche Wahrheit gelaugnet werden muß.
Hiermit find wir an Der oben angefundigten Frage ange
langt: Sind bie erzählten Todtenerweckungen glaublich, oder
nicht? Schauen wir zurüd! Daß Geitesfranfe oder ſolche
Kranke, bei denen nur das. dem Geilte zunächit angehörige
Nervenfpitem fich angegriffen zeigte, „auch theils »*2) auf
bem geütigen Wege des bloßen Wortes, Anblidd, Eindrucks
Jeſu, theils durch magnetifhe Ginwirfung auf die Franken
Nerven, gebeilt worden fein mochten, auch Die Heilung ven
Lähmungen, Blutfluß, auf demjelben Wege, fanden mir weder
an ſich undenkbar, noch ohne Beilpiel; zweifelhafter waren
wir fchon in Bezug auf die Blindenheilungen; bei Ausjägigen,
Waſſerſüchtigen, fonnten wir die Heilung ung wenigftend nicht
als eine plöbliche denken; die Geichichten von Heilungen Ents
fernter mußten ‘wir geradezu abweiien. Und doch war hier
immer nody Etwas vorhanden, woran die Wunderfraft Jeſu
fich wenden konnte; es war doch noch ein Bewußtfen ın den
Menfchen, auf welches Eindrud zu machen, ein Nervenleben,
welches anzuregen war. Run aber bei Todten it das
anders. Der Geftorbene, welchem Leben und Bewußtſein ents
flohen ift, hat den legten Anfnüpfungspunft für die Eumvirkung
des Wunderthäters verloren: ee nimmt ihn nicht mchr wahr,
3, Ich Bann nicht umhin, dieſe ganze höchit charakteriftifche Stelle
aus Strauß (5. 166) wörtlich hier einzuſchieben, da Berrũrzung
derſelben faſt unmöglich if.
323
befommt keinen Eindrud mehr von ihm, da ihm felbit die Faͤ⸗
higkeit, Eindrüde zu befommen, aufs Neue verliehen werben
muß. Diefe aber zu verleihen, oder beleben im eigentlichen
Eine, it. eine ſchöpferiſche Thaͤtigkeit, welche von
einem Menſchen ausgeübt zu benfen, wir unfere Unfähigkeit
befennen müffen. *
Bilden ſonach alle jene Wunder mit diefen Todtenerweckun⸗
gen eine leicht bemerkbare Stufenleiter, fo iſt dieſes zugleich
auch der Fall mit den drei einzelnen Todtenerweckungen:
jede derfelben fügt noch etwas Wunderbares hinzu. Der Tob
der Jairuss Tochter wirb nur mit einem Worte angezeigt;
auf dem Bette wird der noch warme Leichnam wieder belebt;
— der Tüngling von Nain, fchon gänzlich erfaltet, wird im
Sarge wieder erwedt; — Lazarus liegt fchon Tage lang in
der Gruft, ift der Verweſung ſchon anheim gefallen, und auch
. er kehrt durch einfachen Machtipruch in’s Leben zurüd. Alſo
immer Eins undenfbarer, ald das Andere, wenn es überhaupt |
im Undentbaren Stufen geben kann.
Aber auch ganz von dem Wunderbaren abgefehen, fo iſt
von den drei Gefchichten jede folgende theild in fi unwahrs
fheinficher, theild äußerlih unverbürgter. -
Unwahrfcheinlich it bei allen dreien die Wahl der auf
erweckten Perfonen: warum gerade dieſe Drei, an ſich doch
fü unbedeutende? warum nicht Männer, die, wie 5. B. Sohans
nes der Täufer, der Welt noch fo viel hätten nüsen können?
War vielleicht ihr Seelenzuftand von der Art geweien, daß
grade für fie ein längeres Leben wünfchbar war? Davon
feine Spur! Das einfache Mitleiden, das bei der zweiten,
Freundfchaft, die bei der dritten Erzählung deutlich) als Grund
hervortreten, find doc; gewiß feine hinreichenden Gründe.
Wie Biele mögen damals geftorben fein, die vielleicht noch
größere Anfprüce daranf hatten, wieder erwedt zu werben!
In hohem Maße aber häuft fich das Unwahrſcheinliche
befonders in der dritten Erzählung, der von Lazarus. Un⸗
begreiflich ift zunächft das Benehmen von Jeſus in mehreren
Stüden. Warum bleibt er auf die Nachricht von Logoxvð
324
Krankheit nody zwei Tage fern von ihm? und body fah er
den Tod (DB. 11) des geliebten Freundes (5) voraus. Wollte
er vielleicht einen fruchtbaren Wirkungskreis nicht fogleich ver
laffen? Aber dann durfte ey ja nur einige feiner Sünger zus
rüdlafflen, oder mit feiner Wunderfraft den Krauken aus der
Ferne heilen. Aber nein! Der Evangeliſt gibt ja felbit den
Grund deutlich genug an; abfichtlich ließ er ihn fterben,
Damit feine Erwedung die Sünger im Glauben jtärfe (15)
und er, Sefus, in feiner Glorie ale Meſſias um fo mehr ver
herrlicht werde (4). Ein ſolches willfürliches Verfahren, eine
foihe Freude an dem Prunfen mit Wundern verträgt ſich
aber doch mit dem edlen, großartigen Tharafter eines Jeſu
nicht! Dieß haben auch andere Theologen eingefehen; nur
hätten fie deßhalb nicht läugnen follen, daß Sohannes die
Sache fo darftelle, was fich doch nicht Täugnen läßt, fondern
eingeftehen müſſen, derfelbe erzähle und wirflid, Unglaubliches.
— Befremdend ift gleichfalls das Gebet Sefu vor der Er⸗
weckung des Lazarus: denn kaum hat er ed V. 41 gefprochen,
fo fegt er wie entfchuldigend V. 42 hinzu, nur um des Volkes
willen bete er, da fein Verhältnig zum Vater keines Gebetes
bebürfe. Wer aber auch nur vorzugsweije zur Erbauung Anz
derer betet, ſoll doch und wird ganz in Mitgefühl und in
der Stimmung dieſer aufgeben, oder fein Gebet entbehrt
der inneren Wahrheit; follte er e8 für nöthig halten, durch
Ueberlegung fich den Gedanken nahe zu bringen, daß er fo
zu beten nicht nöthig habe, fo wird er dieß wenigftens leife
thun, weil er fonft Die Andacht der Zuhörer gänzlich vernich⸗
ten würde. Gewiß kann aljo jener erfältende Zuſatz (V. 42)
nicht von Jeſu felbft fein; vielmehr ift er demfelben nur von
dem Cvangeliften geliehen worden. Warum ? ift leicht einzus
fehen: die Lefer, für welche er ſchrieb, fonnten an dem Ges
bete Jeſu Anftoß nehmen, da fie fchon, bei weiterer Ent»
wicelung des chriftlichen Glaubens, ſich ein ftetiges, gleiches
Berhältniß des Sohnes zum Vater dachten, und daher an
einem folchen Gebete Anſtoß nehmen konnten; diefen Anftoß
zu vermeiden, fchien der Zuſatz nöthig. Vielleicht ift aber
auch fchon das Gebet Erfindung des Evangeliften, da ders
325
Felbe, wie wir bereits Th. I, ©. 243 ıc. fahen, es liebt,
ganze Neben Sefu’in den Mund zu legen.
Befremdend ift endlich auch das Benehmen der Jünger
und der Juden. Gene fonnten, da ihnen ja fchon früher
Sefus den Tod der Sairustochter unter dem Bilde des Schla⸗
fes vorgeftellt hatte, Sefu Worte V. 12 „er ift entichlafen“,
unmöglich buchftäblich nehmen: aber es ift ja des Evangeliſten
Keblingsmanier, überall die Sache fo zu ftelen, daß Sefus
von feiner Umgebung ganz oberflächlid) mißverftanden wird! —
Diefe, die Suden, fügen ®. 37 ihre Erwartung, Jeſu babe
des Lazarus Tod hindern fünnen, auf die Heilung bes Blinds
gebornen; lag es ihnen nicht viel näher, aus ben „durch's
ganze Land befannt gewordenen * (M. 9, 26) galilätfchen
Todtenerwedungen die Hoffnung zu fchöpfen, Sefus werde
auch den Lazarus wieder auferweden? Aber auch bier
verräth ſich die einfchiebende Hand des Evangeliften: ihm lag
die fo eben (Kap. 9 erit erzählte Heilung des Blindgebornen
noch im Sinne, darum führt er diefe an und von jenen Tods
tenerwedtungen fcheint er nichts gewußt zu haben.
Unverbürgt ferner it jede der drei Erzählungen in
dem Grade, in welchem fie wunderbarer ift. Die einfachfte,
die von bes Jairus Töchterlein, findet fich in drei Evangelien;
jede der andern nur bei Einem. Daß die Gefchichte vom
Süngling von Nain nicht auch von M. und Markus erzählt
wird, ift unbegreiflih. War fie ihnen befannt, fo mußten
fie felbige aud) erzählen, denn fie enthält ein weit auffallens
deres Wunder, ald die von ihnen berichtete Erweckung des
eben erit geftorbenen Mädchens. Wollten fie diefe aber
nicht gerne weglaffen, fo hatte jene eben fo gut noch Plaß,
wie 3. 3. bei M. noch zwei Blindenheilungen neben einem
fchon erzählten Wunder der Art. Wir müffen aljo fchließeu,
daß wenigftens M. die Gefchichte des Sünglinge von Nain nicht
fannte, was und cben fo undenfbar erfcheint; denn viele
Jünger jollen ja hier zugegen geweſen fein (uf. 7, 11) und
Die Kunde des Gefchehenen durch's ganze Land fich verbreitet
häben (3. 17). Diefe räthjelhafte Unkenntniß erxregt voWroeo⸗
326
dig großes Mißtrauen gegen das wirkliche Vorgefallenfein ber
Sache. Denn Schleiermacher's Bemerkung, die Evanges
lüften haben wohl alle von ihnen erzählten Begebenheiten an
Drt und Stelle aufgezeichnet, und da feien M. und Markus
nicht grabe in das weniger bekannte Nain gekommen, beruht
auf der ganz irrigen Anficht, daß folche Gefchichten an dem
Drte, wo fie fich zugetragen, gleichfam wie todte Klumpen
zu Boden gefallen, fo daß man fie nur grade da auflefen
könne; während fie doch leicht und lebendig von Ort zu Drt
fliegen, nach allen Richtungen hin fo flüchtig umherfchmeifen,
und.das Band mit Dem Orte, wo fie vorgefallen, fo zerreißt,
Daß fie von der Sage oft an einen ganz andern verlegt werben,
wie wir das auch täglich erleben können.
Noch weit auffallender aber ift ed, daß die Erweckung bes
Lazarus von feinem Synoptifer erzählt wird. Auch hier
müffen wir behaupten, wenn diefe fie wußten, fo mußten fie
fie auch erzählen; denn ihre Auswahl wäre ja ganz verftands
[08 gewefen, wenn fie das größte aller Wunder übergangen
hätten: ein Wunder, das überdieß fo genau mıt der Entwides
lung des Schickſales Jeſu zufanmenhing, indem es CSoh. 11 ,
47) den erften Anlaß zu den blutigen Anfchlägen auf ihn gab,
was doch ebenfalld den übrigen Evangeliten fein Geheimniß
fein konnte. — Doch wiffen die Theologen auch diefes Schwei⸗
gen auf mancherlei Weife zu erflären. Die Einen fagen, der
Borfall fei noch zu befannt gewefen, ald daß die Synoptifer
nöthig gehabt, ihm aufzuzeichnen; allein aledann durften fie
noch weit weniger die allbefannten Vorfälle, Taufe, Tod und Aufs
erftehung, aufzeichnen; ift es denn überhaupt die einzige Aufs
gabe des Sefchichtfchreibers, nur Unbekanntes zu erzählen ?
und nicht auch die, Bekanntes der Vergeffenheit zu entreißen?
— Andere vermeinen dagegen, die Evangeliften haben die
Sache nicht zu fehr befannt machen wollen, um dem Lazarus,
der wegen derfelben fchon ſtark genug angefochten worden
(Joh. 12, 10), nicht zu fchaden: allen, wenn auch Lazarus
bei Abfaffung der Evangelien noch lebte, wie konnte ihm, der
ohne Zweifel Chrijt geworden, die fehriftliche Erzählung eines
ohnehin fehon allgemein befannten Ereigniffes ſchaden?! und
gefest auch, durfte man ihm wicht gatranen, ex werde gerne
327
den wöllen um ber allgemeineren Verherrlichung Jeſu willen?
Koch fonderbarer ift die Bemerfung, daß die Syuoptifer die
sertrauten Verhaͤltniſſe Sefu zur bethanifchen Familie (das heißt
m Lazarus md feinen Schweftern!) nicht haben in bie
gemeine Tradition bringen wollen: eine bedenklich feine
Bemerkung ! Am fonderbarften nimmt es ſich aus, Daß nas
aentlich M. die Gefchichte darum nicht vorgetragen haben
ſoll, weil er fich außer Stand gefehen, fie fo rührend zu er-
fühlen, -ald fie es verdiente!
Nein! wir müffen ehrlich geftehen , ba die Synoptifer
bie Gefchichte nicht berichten, fo können fie unmöglich fie ges
kannt haben. Aber auch dieſes Nichtwiſſen erfcheint uns nun
unerklaͤrlich. Manche erklären es daraus, daß ja die. Synop⸗
er feine Apoftel gewefen: wenn wir auch Diefe zugeben,
ſo folgt daraus noch nichts; denn das Ereigniß war zu aufs
fallend, ale daß es nicht hätte in bie allgemeine Zrabition
übergehen müffen. Auch der Einwand, daß die Synoptifer
wr das in Galiläa Bekannte aufseichneten ‚ ift gehaltlos; wie
kemte hier die Erwedung des Lazarus unbefannt bleiben,
dabei ihr die, meift galiläifchen, Jünger zugegen waren, und
fehr bald nach ihr das Pafchafeft eintrat, zu welchem fo viele
Galiläer zur Hauptftadt famen, wo die Sache allgemein bes
kannt war! —
Kir können daher nicht umhin, das Schweigen der Sy⸗
noptiker, trotz der Bannſtrahlen mancher Theologen, zu Un⸗
gunſten des Johannes zu deuten, und dieſe Erweckungsge⸗
chichte für Die wie innerlich unwahrſcheinlichſte, fo äußerlich
im wenigiten beglaubigte * zu halten. — |
Um nun das Endrefultat auszufprechen, fo erfcheinen ung
le drei Todtenerweckungen als reine Mythen, deren Ents
tehung wir und fo erklären. Vom Meffiad wurde die Aufs
rweckung ber Todten erwartet (Joh. 5, 28 ıc.; 1 Kor. 155
Theſſ. 4,.16): nun war aber die Erfcheinung Sefu als Mefs
as nach der Anficht der erften Gemeinde in zwei Hälften
ebrochen durch Zod und. Auferftehung; er mußte Dereinft
am zweiten Male wiederfommen, und zwar in aller feiner
Blorie, und alsdann die Todten erweden. Allein für dieſe
Ugenieine Todfenerwedung mußte er ſchon bei feinem eriten
_
328
Erſcheinen durch einzelne eine gewiffe Bürgfchaft gegeben ha⸗
ben, als Borfpiel davon, daß einft Alle in ben Gräbern
feine Stimme hören werden (Joh. 5, 28 ıc.). Ueberdieß
lagen dafür auch im alten Teftamente Vorbilder vor. Wie
Sefus die Sairustochter, fo hatten auch Elias (1 Kön. 17, 17)
und Elifa (2 Kön. 4, 18) Kinder erweckt; fogar ein bereite
im Grabe Liegender wurde, wie Lazarus von Sefu, durch
Elifa erwedt (2 Kön. 13, 21). Endlich dürfen wir nicht uns
bemerft laffen, daß auch von Ayollonius von Tyana eine ber
Erzählung vom nainitifchen Sünglinge auffallend ähnliche Tod⸗
‚tenerwedung erzählt wird. Erklären wir dieſe ganz unbebents
lich für eine Nachbildung der evangelifchen, wie es ja Jeder⸗
mann thut, fo wäre ed ja Die größte Befangenheit, nicht auch
die evangelifche für Nachbildung der alt-teftamentlichen zu hals
ten, die in letzter inftanz ihren Urfprung in dem, dem ganzen
Alterthum gemeinfamen Glauben an die den Tod bezwingende
Kraft gottgeliebter Männer, (wie bei den Griechen Herfuleg,
Aeskulap 2.) haben.
Sechstes Kapitel,
Seewunder.
(M. 8, 23 — 27; Mark. 4, 35 - 41; Luk. 8, 22 — 26;
ſodann M.14, 22—33; Mark. 6, 45—51; Joh. 6,
16 — 26.)
Da die Umgebung des galiläifchen See’s, den Synoptifern
zufolge, der gewöhnliche Aufenthalt Jeſu war, fo kann es
nicht befremden, daß mehrere feiner Wunder auf diefem See
fi) ereignen. Eines derfelben, den Fiſchzug Petri, haben wir
fchon Th. I, ©. 207 betrachtet; e8 folgen noch mehrere andere.
Das erfte, die wunderbare Befänftigung dedg Sturmes,
wird von allen Synoptifern erzählt (M. 8, 23 u. a). Die
natürlichen Erflärer fuchen umfonft das Wunder wegzufchaffen,
wenn fie behaupten, die Worte (M. 8, 26): „er drohete ben
Stürmen * hießen nur: „er fprad) zuverfichtlichh aus, daß fie
fofort aufhören würden“. Wein dos eigen Te wicht; und
329
wie follte auch Jeſus größere Kenntniffe von Wind und Wet⸗
ter haben, als die auf dem See gleichfam aufgewachfenen
Petrus, Johannes u. A.? Ueberdieß hätte Sefus auch ımrebs
lich gehandelt, wenn er Die Meinung, weldye das Aufhören
des Sturmed in den Degleitern erregte, daß nämlic, Jeſu
„Wind und Meer gehorchen“ (®. 27), nicht berichtigt hätte.
Müffen wir alfo daran fefthalten, daß ung die Evange⸗
litten ein Wunder erzählen, fo find wir damit auf einer noch
höheren Sproffe der Wunderftufenleiter angelommen, als bei
der Todtenerwedungen (f. ©. 322). Denn wir fehen bier,
daß Jeſus nicht nur auf Seele und Leib der Mienfchen, fons
dern auch auf Die leblofe Natur unmittelbar eingewirft
haben fol: hier reißt der Faden der Möglichkeit gänzlich ent⸗
zwei; „hier ſpaͤteſtens Cfofern bei Todtenerweckungen immer
noch die Annahme des Scheintodes an fich möglich bleibt)
hören die Wunder in dem früher bezeichneten Sinne auf und
fangen die Mirafel an*. — Da eine ſolche Gewalt Sefu
über die äußere Natur mit feinem Erlöfungswerfe unmittelbar
nichts gemein hat, fo haben ihr die Supranatüraliften auf
anderm Wege eine Beziehung zu demfelben zu geben verfucht,
indem fie die Stürme in der Ratur ale Folgen ver — Sünde
anfahen. Sind fie denn aber nicht, wie Gewitter u. dergl.,
wenn man fle im Zufammenhange des Ganzen betrachtet,
wieder von den wohlthätigften Wirfungen? „und eine- Welt
anficht, welche im Ernſte der Meinung ift, vor und ohne den
Sündenfall würde es feine Stürme und Gewitter gegeben
haben, ftreift — man weiß nicht, fol man fagen, an das
Schwärmeriſche oder an das Kindifhe* Wozu aber fonft
ſoll Sefu folhe Macht über die Natur gehabt haben? etwa
um allgemeinen Glauben zu finden? dieſen fand er aber ja
doch nicht! Soll fie Sinnbild der äußeren Herrfchaft
fein, die der Menſch über die Natur auszuüben berufen ift?
Aber ift nicht eine ſolche um fo größer, je mehr fie durch Nach⸗
denfen und Anftrengung vermittelt ift? fo daß Kompaß und
Dampfſchiff diefelbe weit mehr beurfunden, als eine magifche
Bändigung durch ein paar Worte. Und weiter: ift nicht jene
innere Herrichaft, welche der allen Gefahren trotzende Muth
über die Natur ausübt, iſt fie nicht die ebelite wor allen one
330
dern? und wirb grabe biefe nicht ganz unmöglich und zu einem
bloßen Gaufelipiel herabgewürbigt bei einem Weſen, das die
wunderbare Kraft in ſich trägt, der Natur mit Zauberworten
zu gebieten? Kür ein folches gibt es feine Gefahr!
Halten wir von Jeſu derlei Dinge fern und fragen viel
mehr, wie entitand wohl unfere ganz fiher fagenhafte Ers
zählung? Möglicher Weife kann Jeſus - allerdings einmal
während eines Sturmes gefchlafen, und, nachdem er. geweckt
worden, feine Sünger ermuthigt haben, jo Daß dann die Sage,
getrieben durch die Vorftellung von Jeſu Weſen, und durch
das Vorbild, welches in der von Moſes über dag (rothe) Meer
ausgeübten Herrfchaft (2 Moſ. 14, 16, 21) lag, noch die
folgenden Züge von dem Bedrohen des Sturmes.ıc. (die Mark.
V. 39 am genaueften ausmalt) binzudichtete. Allein es: ift
ohne Beifpiel, Daß die Sage, wenn fie einmal einer Erzählung
ſich bemächtigte, den Stamm bderfelben fo ganz unverändert
ließe; ‚daher liegt e8 näher, nur Das, daß Jeſus einmal bei
dem Toben der Wellen den Glaubensmuth feiner Jünger aufs
gerichtet habe, als Faktum feflzuhalten, woraus denn bie
Sage das fchöne Bild des in Sturmesnötben fchlummernden
Jeſu ſchuf. Am nächſten aber ſcheint ed und zu liegen, Die
ganze Erzählung ald eine zur Mythe ausgefponnene Gleichs
nißrede Sefu zu nehmen. So wie er dem Glauben’ finnbilds
lich die Kraft zufchrieb, Berge zu verfegen (M. 21, 21) oder
Bäume in den Meeresgrund zu pflanzen (Ruf. 17, 6), eben
fo fonnte er einmal im gleichen Sinne gefagt haben: „durch '
den Glauben vermögt ihr den Stürmen zu gebieten“. Dieß
mochte zu unferer Erzählung umgedichtet worden fein; um
fo mehr, da man gerne die Kämpfe des Gottesreiches mit
der Welt einer Fahrt durch den flurmbewegten See verglich,
wobei Jeſus als der Lenker des fturmbewegten Schiffleing, als
der, ber Wind und Wellen bändigte, gedacht wurde.
Die zweite hierher gehörige Erzählung gibt und ein eben
fo wunberbared Wandeln Jeſa auf dem See, um in bas
- 331
gefährdete Schiff, worin feine Tünger faßen, zu gelangen
AM.14, 22 u 2%.) Paulus macht den kühnen Verſuch,
bie Worte B. 25: „und Jeſus ging auf dem Meer“ zu ers
klaͤren: „ging über dem Meer“, das heißt, an dem erhabes
sen Ufer desfelben. Den Worten nach wäre dieſe Erflärung
allenfalls zuläffig; dem Zufammenhange nach aber durchaus
nicht. Zefus kam ja dem Schiffe fo nahe, daß er mit dem
- Süngern redete (V. 27), und doch befand fich jenes mitten
auf dem See, oder, wie Joh. 6, 19 genauer fagt, gegen
1%, Stunden vom Ufer entfernt; wie fonnte da-Sefus von
diefem aus mit den Jüngern reden? Und tritt nicht. auch
Petrus zu Sefu auf das Waffer hinaus (V. 29)? kam er
nicht in Gefahr, unterzufinfen (V. 30)2 was doch wohl auf:
dem Ufer nicjt möglich war. Andere benfen bei dem Wan⸗
dein ıc. an Schwimmen; allein bei'm Sturme 1%, Stunden
weit zu ſchwimmen, iſt Doch gewiß unmöglich, und ein Schwim⸗
mer kann nicht. wohl wie ein Geſpenſt (V. 26) ausſehen!
Paulus entſchuldigt feine gezwungene Deutung dadurch, daß
ein ungewöhnlicher oder falfcher Gebrauch von Worten immer
moch denfbarer fei, als ein fo unerhörtes Wunder. Ganz
recht! allein diefer Gegenſatz ift falfch geſtellt; denn Daraus,
Dad ein Wunder erzählt wird, folgt nod) nicht, daß es
auc gefchehen fei. Richtiger ohne Zweifel fehren wir den
Sat um, und fagen: „Es ift weit denkbarer, daß Menfchen,
wie fo fehr zum Wunderglauben geneigt find, in einem Fake.
tum ein Wunder erbliden, ale daß ſie ganz widerſi nnig ſich
ausgedrückt haben ſollen“. —
Ehe wir nun die ganze Erzählung beurtheilen , müffen
wir in jedem einzelnen Berichte die Unwahrſcheinlichkeiten auf⸗
ſuchen. Eine ſehr auffallende findet ſich bei Markus, indem
er ſagt, Jeſus habe auf dem Meere „an dem Schiffe vor⸗
übergehen wollen“ (6, 49): alfo wollte er den Bebrängten
nicht helfen, fondern nur vermöge feiner göttlichen Kraft über
den See gehen, wie über’ feften Boden. Gibt es, fagt fchon
Paulus, etwas Zweckloſeres und Abenteuerlicheres, als ein
folches Wunder zu thun, ohne gefehen zu werden? In der
That fchimmert hier Die Vorftellung hindurch, daß Jeſus, auch
‘ohne weiteren Zwed, fchon gewohnt war, der Kocye wegen
332
über Wafler, wie über feften Boden hin, feinen Weg zu ne»
men: doch wohl eine der ftärfften Uebertreibungen, die in
diefem Epangelium ſich finden! — Nicht minder ſeltſam it
bei M. der Zug, daß auch Petrus auf Jeſu Geheiß einm
ähnlichen, -nicdyt gut gerathenen Verſuch macht, im Glauben
an Jeſu Hilfe (V. 29, 30). Konnte Sefus auch Andern de
‚nur ihm inmohnende Kraft ohne Weiteres mittheilen, fo hört
er auf, Menſch zu fein; unterbrach er aber Die Naturgefee
fo ganz unnüß, nur um ein Gelüften ;u befriedigen, fo flimmt
dieß zur Weisheit Gottes fehr wenig. Doch können wir
leicht auffinden, wie diefer offenbar mythifche Zufaß entſtand.
Bekannt war ed, daß Petrus vor der Verläugnung fich eine
größere Glaubensſtärke zutraute, ale er wirklich befaß, daß
er ganz gefunfen wäre, hätte Jeſus feinem Glauben nicht
aufgeholfen uf. 22, 31 ꝛc.); wie leicht konnte die Erzählung
von diefer Glaubensprobe in das Bild vom muthigen, gläubis
gen Wandeln auf der See, welche ja, wie wir oben fahen,
ein Sinnbild der argen Welt war, fich einfleiden; — wie
leicht dieſes Bild wieder zur Erzählung eines wirklichen Fak⸗
tums verfnöchern !
Auch des Tohannes Bericht bietet ung einige unbegreifs
liche Eigenthümlichfeiten dar. : Statt daß bei den andern
Evangelien Jeſus wirklich in das Schiff fteigt, wollten ihn
bei Sohannes die Sünger zwar hereinnehmen, allein es unters
blieb, weil dag Schiff ſchon zu nahe dem Lande war (6, 21).
Man hätte diefe Wendung durch falfche Worterflärung wegzu⸗
deuten nicht verfuchen, vielmehr anerkennen follen, daß hier
Sohannes das Wunder noch mehr fteigerte, ald Markus; denn
während diefer ſchon Sefu die Abficht zufchreibt, daß Schiff
nicht zu befteigen, läßt Johannes dieß wirklich auch fo ge:
ſchehen! — Weiterhin fucht er das Wunder noch mehr zu
beglaubigen, indem er es vor allem Volke gefchehen läßt (22).
Das Bolf nämlich, welches von Sefu an dem einen Tage
diesfeitd des Sees gefpeist worden war (26), fand ihn ander
Tages ſchon jenfeits des Sees, und konnte nicht begreifen (V. 25),
wie er dahin gefommen; denn in das Yahrzeug der Jünger
war er nicht gefliegen, ein anderes war nicht da gewefen (8. 22)
und zu Lande konnte er in der kurzen Zeit nicht an's jenfeitige
|
833
Ufer gekommen fein.: Wir unfererfeits koͤnnen nicht begreifen,
wie das Bolt dahin gekommen; denn wäre von dem Volke,
das aus fünftaufend Menfchen beftand CB. 10), auch nur ber
fünfte Theil über den See gefahren, fo hätte es, falls es ſich
gewöhnlicher Fifcherfühne bediente, eine ganze Flotte ‚nöthig
gehabt, oder wenn es größere Fahrzeuge benuße;: fb mußten
dieſe ſaͤmmtlich, was undenkbar ift, ihre Richtung nad) Ka⸗
pernaum (17) genommen haben. Es ift daher kaum zweifel⸗
haft, daß dieſe Volksüberfahrt nur hinzugedichtet wurde, um
eine bedeutende Controle zu gewinnen, bie das Wunder dee
Seewandelns beglaubigen ſollte. —
Geben wir aber auch alle dieſe einzelnen Auswüchſe bes
Wunderhaften auf, fo bleibt immer der Stamm ſelbſt übrig,
das Gehen auf dem Meere. Sit ein folches irgend denkbar?
Dem Olshaufen darauf antwortet, „an einer höheren
tehlichfeit, gefchwängert mit Kräften einer höhern Welt, bürfe
ine ſolche Erfcheinung nicht auffallen“, fo find das Worte,
bei denen man fic Nichts denken farm. Daß die Alles ver-
Märende Kraft eines höheren Geiftes fich an dem Körper nur
ſo äußere, daß derfelbe den natürlichen Gefeßen der Schwere
entzogen werde, und nicht vielmehr durch völlige Herrſchaft
über irdiſche Begierden, iſt eine offenbar viel zu ſumliche, um
Richt zu fagen unwürdige, Vorftellung. Wenn aber Jefu Körs
Per dieſe Eigenfchaft wirklich befaß, warum zeigte er fie noch
licht bei der Taufe im Jordan, wo er untertauchte, wie ein ge
Döhnlicher Menſch? Wie Vieles ließe fich noch frägen , um
as Berfehrte jener abenteuerlichen Anficht in's Licht zu fegen!
Es ift indeß nicht ſchwer einzufehen, wie unfere Mythe —
enn etwas Anderes ift ed doch wohl nicht — entitehen Eonnte.
Bir haben darin nur eine andere Variation des beliebten
zildes, daß die Gewalt, die Gott-und die mit ihm Einigen
ber die Welt ausüben, . gleich fei der Uebermacht über ‚die
ſenden Meeregwellen. Daher das Verjagen des rothen
Reeres durch einen: Winf des Mofes bei dem Durchzuge der
fraeliten; daher das noch größere YBunder des Meerwandelns
uch Sefum, mag es num aus einem zur Geſchichte, umge⸗
33%
Iniseer Merunrie. e7 ze : srenDwrzer aftsteiiomentliher
Passemeer erizter nr mu were? Sim 2, lin
2 ie. mer Aeemes SOFer uch andere morgen
ituee Zur e zZ wichlen, Die über das
law 2.1: T. —27.
22 27:7: Zee Te 12 mu dem merk
mern ! m >= me = dus nach der Aufn
ee mer em Ze mom Moe ice; je iſ
ur = ur m rote m D zen Serracrem
Pam mi Ye um me Dem YTıam KNGnmmerigeiegt,
ze Teezen 32 ser mod Jon
m zumlipen It oe Zr ze m RR H, und wie
am ar. — mar Footer m ID. — em Ünrgegen
same Ion "© . — m ccʒug desſelbe
® 2. me !ıtzm mir (22 Zu nee Suge nunirlice,
ze u 2a meomı Fewurzs 22 mmn Rrochitüde wi
de sezunm: ler ve Smermmentelimg um je
mehr I re Im sem on XMachtang des
air mas me Biretzmum. —
#..2 zuier German Farmer deribreen wueifältig,
se lee Eerautamer > Staunen. ie m einzelmen
Zs13eI, me zetizger mν Imre, daß ſie fer
parsenid 2 Irermg germier Nmbıldlichen Reden
serie, zareı ler >= Serarz zu Srande lag, daß der
Flırıı kr ee Smü ee lurer me die Made ber
ten Herde Seces nierertender Zell der Sieg davon trage-
Es bliebe u md utrz die Geikichte ven dem Fiſch
wir tem Stater (TR 17): dieeibe bar ibre eigentbümlicher
Echwier gketcen. — ih Tich Meralle x. in dem Mager⸗
eines Fries iher werıermter baben, jo iſt dech ein Geh
ſtück in tem Munde des Faches, zmul wem er nach der
Augel ſchucevt V. 77), enmas Unerhoertes; uw jo wunderbarer”
baber, daß eins es voraus mußte. Und Dame wozu dieſes
jehfame Wunder? War auch vielleicht Damals Bein Gelb in
335
3er gemeinfchaftlichen Kaffe, fo hatte ja Jeſus grade im
zrapernaum fo viele Freunde. Daher find die natürlichen Aus⸗
‚eger eifrig bemüht, das: Wunder zu entfernen; fie verfuchen
auch hier ihre Kunft in Verdrehung der Worte. Dadurch
bringen fle ftatt des fonnenklaren Sinnes von V. 27, wo es
heißt: „wenn du ihm (dem Fifche) den Mund geöffnet, wirft
du einen Stater finden“, heraus: „öffnen ihm fogleidy Das
Maul, nachdem du ihn aus. der Angel genommen, bamit er
om Leben bleibe, und dann wirft du einen Stater für ihn
loͤſen“; — gleich als hätte der Fiſcher Petrus ſolche An⸗
weiſung nöthig gehabt!. Da es nun ferner unglaublich iſt,
daß in dem fifchreichen Kapernaum Ein Fifch um fo hohen
Preis follte verkauft werden können, fo werden die Worte:
„den erften Fisch, den du aufhebit, nimm heraus“, fo ges
wendet: „nimm allemal den Fifch, der dir zuerſt aufſtößt, und
fo fort, bis du genug haft“!
Es muß alfo beim — Wunder bleiben! da es aber fo
chenteuerlich ift, fo fönnen wir um fo weniger baran glauben.
Bahrfcheinlich ift es ein Ausfluß des beliebten Themas von
Petri Fifchzug: Petrus war in der Sage einmal der Fifcher;
manch’ glücklichen Yang that er, manchen, in bildlihem
Einne, follte er noch thun; in unferer Erzählung verkörpert
bie, diefe Vorftellung umfpielende, Sage die erhafchte Koftbars
tet zu baarem Gelbe, und zwar als leichte Beute in dem
Munde des Fiſches. Daß es gerade eine jur Tempelfteuer
othwenbige Münze war (B. 24), mag feinen Grund vielleicht
in irgend einer Aeußerung Jeſu haben. — „In dieſen mährs
Senhaften Ausläufer endigen die Seeaneldoten*. —
Siebentes Kapitel
Die Speifung der Tauſende.
M. 14, 13— 21; Mark. 6, 30 —44; Luk. 9, 10— 17;
Joh. 6, 1—15; fodann M. 15, 3239; Mark. 8,
1140.)
In den nun. folgenden Erzählungen wirkt Jeſus nicht nur
Tuf die lebloſe Natur, ſondern fogar auf künſtlich verarbei⸗
wie Raturprobufte ein: alſo eine abermalige Steigerung!
2‘
336
„Jeſus vermehrt zubereitete Nahrungsmittel auf wunder,
bare Weife, um eine übergroße Menſchenmenge fättigen u
fünnen“: — fo erzählen alle Evangeliiten „mit feltener &w |
ftimmigfeit * (f. oben); und zwar gefchah es nach dem.Zeuguiß |
der beiden erſten zweimal (f. oben). Diefe letztere Erzählung
weicht aber von der eriten in vielen einzelnen Zügen ab, na
mentlich in dem Verhältniß zwifchen dem Speifevorrath und
der gefpeifeten .Menfchenmenge, das erfte Dial werden 5000
. mit I Broden und 2 Fifchen CM. 14, 17, 21), das zweite
Mat 4000 mit 7 Broden und wenigen Fifchen (15, 34, 38)
gefpeist; jedoch flimmen beide Erzählungen nicht nur im Ve
fentlichen, .fondern auch in fo vielen einzelnen Zügen mit eins
ander. überein, Daß fie offenbar Darftellungen nur Eines
Faktums find. Beide Male dasfelbe Lokal, dieſelbe Veran
laffung des Wunderg, diefelben Speifenz beide Dale ift Sefus
troß der Einrede der Tünger zur Speifung geneigt; gleich it
endlich der Hergang und das Nefultat, daß weit mehr übrig
bleibt, als Anfangs da war. Hierzu kommt, daß cs, wen
zwei wunderbare Speifungen vorgefallen wären, unbegreiflid
fein würde, wie auch dad zweite Mal die Sünger an ber
Möglichkeit derfelben zweifeln konnten (15, 33), mochte auch
fchon lange Zeit feit der erften verfloffen fein. Man Eönnte
etwa einwenden, es feien in der Ueberlieferung manche Züge
aus der einen in Die andere. übergegangen, wodurch fie denn
einander fo ähnlich geworden; allein auch bei diefer, noch
unerwiefenen, Annahme bleibt die Aehnlichkeit zu groß, um
eine zweimalige Speifung wahrfcheinlich zu finden, zumal da
von einer zweiten nur M. und Marfus etwas. wiffen.
Daß fie aber dennoch fo beſtimmt von zweien erzählen,
erflärt ficy) am einfachften fo. Don dieſer Einen Speifung
waren einmal abweichende Erzählungen im Umlaufe; beide fand
M. (denn ‚von Marfus kann nicht weiter die Rede fein, dA
er befanntlic das Meifte aus M. und Lukas fchöpfte) vor;
bemüht, fein ihm befannt gewordene Wunder verloren gehen
zu laffen, nahm er beide Erzählungen auf, ohne eine firenge
vergleichende Prüfung vorzunehmen. Bei dieſer Annahme
fällt auch der wiederholte Zweifel der Sünger nicht mehr auf,
da jede Ueberlieferung diefen Zug ‚beibehalten hatte. Wert
337
dagegen Olshauſen einwendet, die zweite Erzählung fei ja
nicht wunderbarer und ausgefchmüdter, als Die erfte, während
doch dieß fonft überall bei einer fpäteren Sage ber Fall
fii; der Evangelift wäre ja aud) unredlich geweſen, wenn er
Eine Gefchichte für zwei ausgegeben hätte: fo beweist dieß
mr, Daß jener Theolog das Wefen der mythiichen Auslegung
wicht begriffen hat. Wer behauptet denn, die zweite Erzähr
lung fei auch Die fpätere Sage, weil M. fie erft nadı der
erften vorbringt? Konnte ihn nicht die in der Ueberlieferung
gegebene Berbindung mit andern Borfällen beftimmen;, : fie
grade dahin zu ftellen, wohin er fie ftellte? Der Evangelift
mredlich? Ald wenn Er Die Doppelte Daritelling Eines
Borfalles gemacht, und nicht vielmehr mit fchlichter Gewiffen«
baftigkeit nur darum zwei Erzählungen gegeben hätte, weil er
fie eben in der Sage vorfand und fchon wegen der abwei⸗
chenden Zahlenverhältniffe ganz ehrlidy glauben mochte, es
haben wirklich, zwei Speifungen ftattgefimden! Kommt doch
ch im alten Teſtamente der Fall vor; daß z. 3. die Ges
ſchihte von der Tränfung aus dem Felfen zweimal erzählt
wird (2 Mof. 17 und 4 Mof. 20), nur mit einigen Berändes
rungen.
Wir ſchreiten nun zu der Unterſuchung, ob die wunderbare
Speiſung nach den in beiden Darſtellungen wiederkehrenden
Zügen möglich und denkbar ſei? Um dieß bejahen zu kön⸗
um, behaupten die Supranaturaliften, es ſei dieſes Wunder
ch, wie Kranfenheilungen, „vermittelt“ worden durch den
Slauben ber Gefpeistenz; das fönnte doch wohl nur fo- viel
reißen: wie Die Kranken durch den Glauben gefund, fo wur⸗
en hier die Hungrigen durch denfelben gefättigt.. Demnach
mißte alſo Jeſus auch ohne Äußere Mittel, nur durch un⸗
tittelbare Einwirkung auf den Magen der Hungrigen das
Bunber der Speifung verrichtet. haben! Allein es wurden ja
irklich Speifen vertheilt; Jeder genoß, fo viel er wollte,
nd es blieb noch mehr übrig, ald vor dem Eſſen vorhanden
ar. Iſt dieſe Vermehrung auch durch den Glauben der
'efättigten bewirkt oder „vermittelt“ worden? Solche nebels
ufloffene Sprache kann ung nicht hindern, in der ganzen
eichichte ein Wunder: zu erbliclen, durch welches unmittelbar
11. 272
338
auf die vernunftlofe Natur eingewirft worden fen fell; 1. _
Dieß üt aber befouberd darum jo unbenfbar, weil bavurh |" Iete
eine Dermebrung von tedten Gegenitänden bis in's Unge⸗
beure bewirft worden ware. Zwar jeben wir eine ſolche and
in der Natur vor jich geben, aber nur in Folge eines regel⸗
mäßigen Naturprozeiled von Keimen, Blüthen und Früchte
tragen.
Ein jolcher Naturprozeß ſoll nun auch vorliegendes Wun⸗
der jein, nur ein jehr beichleunigter, mas ja nicht zum Un⸗
denkbaren gehöre. Allein nur dann konnte von einem beſchlen⸗
nigten Raturprozefle Die Rede jein, wenn in Stein Hand em
Korn ſchnell taujendfültige Fruchte getragen hätte, und dieſe
tchnell gereift wären; wenn er mit immer vollen Händen bie
Koörner den Hungrigen zu weiterer Zubereitung bingejchüttet
hätte: oder wenn eben fo in jeinen Händen die Eier in Dem
Xeibe eines lebenden Fiſches plotzlich ausgegangen umd de
Heinen Fiſchchen ſchnell herangewachſen wären. Allein was
hier vermehrt wurde, war ja nicht mehr reined Natur pres
Duft, kein lebendiges, jondern ein tedtes, zu einem Kunfls
produkt umgewandeltes! Wenn alje ein beichleimigter wirkli⸗
ıher Naturprozeß bier hätte vorgeben jellen, was mußte
Alles geſchehen? Zuerit mußte Jeſus Das unerhörte Mirakel
verrichten, und aus dem Brode wieder Komer machen, dam
in aller Eile aus ihnen Halm und nene Körner hervorwachſen
laſſen und endlich die getrennten mechanifchen Berrichtungert
des Muller und Bäders in einen Ru verrichten! Das ware
etwa theilweije „befchleunigter Naturprozeß * geweſen. Wie
man doch fo mit den Morten jpielen mag! — Und nım wei⸗
ter: in weiten. Hand ſoll denn diejer Bermehrungsprozeß vor
ſich gegangen fein? In der Hand des empfangenden Bolfe €
Pit welcher, fait fomijcher, Behutſamkeit hätten dann Jeſue
und jeine Sünger Brod und Füche in die allerfleiniten Krim
chen und Bröckchen tbeilen müſſen, Damit ja Seder eins erhielt ⸗
um es in feiner Hand zu großen Stüden anſchwellen zu laſ⸗
fen! — In der Hand Sein? um von den Süngern zu fchweigen =
dann könnte es auf zwiefache Weiſe zugegangen jein. Ent
weder theilte er ganze Brode und Fiſche aus, wobei ſogleich⸗
wieder andere nachwuchſen; dem it aber der Tert entgeger®
339
(Joh. 6, 13). Ober er brach Stüde von beiden ab, die
ſich fofort wieder ergänzten; ‚wer vermöchte fich aber Brode
su denken, die wie Schwänme immer wieder aufichwellen, ober
Bratfiiche, denen, wie den Krebfen die Scheeren, die Fleiſch⸗ |
ſtücke wieder nachwachſen? — —
Wir wollen nun ſehen, ob wir uns mit den Rationaliſten
beſſer vertragen können. Dieſe faſſen die Sache fo: „Aus
Joh. 6, 4 wird es wahrſcheinlich, daß der größere Theil der
Menge aus einer Feſtkarawane beftand und Daher Speifevor-
väthe bei fich hatte; viele Andere aber hatten nichts, und
darum fing Jeſus an, von dem Seinen dag Entbehrliche. zu
sertheilen; fein Beifpiel fand Nachahmung, und fo war er
‚mit dem Wenigen, was er hatte, die Urfache, daß Alle fatt
wurden. * Allein diefer Erklärung fehlen doch gar zu viele
Vittelglieder, die man fich geradezu hinzudenfen muß: nicht
Feſus allein vertheilt damı, auch Leute des Volkes; nicht nur
ku, auch Anderer Borrath füttigt die Bedürftigen, wovon
der Tert nichts weiß. Zwar wird auch die wunderbare Ver⸗
mehrung nicht ausdrücklich gemeldet, aber fie ergibt ſich doch
aus dem Erfolge, dem großen Ueberrefte, von felbft. Aber
eben dieſen Leberreft erklärt diefe Erklärung auch hinweg durch
gewaltiame Behandlung der Worte. Es wird genügen, in
diefer Beziehung nur anzuführen, daß die Worte Soh. 6, 13,
die aufs allerunzweideutigfte ausfprechen, man habe das, was
don den fünf Broden übrig geblieben fei, gefammelt, damit
nichts umfonıme, fo gedreht werden, als ob das Sammeln
dor der Mahlzeit gefchehen wäre! ben fo fträuben fich die
Worte der andern Evangelien, 3. B. M. 14, 20, gegen ſolche
Sewaltthat.. — Nein, das Wunder bleibt!
Für Die gefchichtliche Wahrheit der ganzen Erzählung,‘ wo-
Ion wir nun reden müffen, führt man man zunächft die feltene
Ichereinftimmung aller vier Evangelien an; allein dieſer
Srund iſt fehr ſchwach. Denn, um von Geringerem zu ſchwei⸗
Jen, das ‚vierte Evangelium ftellt einen wichtigen Punft ganz
widerd dar, als die übrigen. Es ift bei ihm Jeſus fihon
Alsbald bei dem Anblicke des Volkes entfchloffen, eine wun⸗
332
über Waſſer, wie über feften Boden hin, feinen Weg zu nehs
men: body wohl eine der flärffien Lebertreibungen, die in
diefem Evangelium ſich finden! — Nicht minder ſeltſam ift
bei M. der Zug, daß aud Petrus auf Sefu Geheiß einen
ähnlichen, nicht gut gerathenen Verſuch macht, im Glauben
an Sefu Hilfe (V. 29, 30). Konnte Sefus auch Andern bie
‚nur ihm inwohnende Kraft ohne Weiteres mittheilen, fo hört
er auf, Menſch zu fein; unterbrad, er aber die Naturgefeße
fo ganz unnütz, nur um ein Öelüften ‚u befriedigen, fo ftimmt
dieß zur Weisheit Gottes fehr wenig. Doc, können wir
leicht auffinden, wie diefer offenbar mythifche Zufaß entitand.
Bekannt war ed, daß Petrus vor der Verläugmung ſich eine
größere Glaubensſtärke zutraute, als er wirklich befaß, daß
er ganz gefunfen wäre, hätte Jeſus feinem Glauben nicht
aufgeholfen Auf. 22, 31 ꝛc.); wie leicht konnte die Erzählung
von diefer Glaubensprobe in Das Bild vom muthigen, gläubis
gen Wandeln auf der See, welche ja, wie wir oben fahen,
ein Sinnbild der argen Welt war, ſich einfleiven; — wie
leicht diejes Bild wieder zur Erzählung eines wirklichen Fak⸗
tums verfnöchern !
Auch des Sohannes Bericht bietet und einige unbegreifs
lihe igenthümlichfeiten dar. Statt daß bei den andern
Evangelien Sefus wirklich in das Schiff fteigt, wollten ihn
bei Sohannes die Jünger zwar hereinnehmen, allein ed unters
blieb, weil das Schiff ichen zu nahe dem Lande war (6, 21).
Man hätte dieſe Wendung durch faliche Worterflärung wegzus
deuten nicht verjuchen, vielmehr anerkennen jollen, daß bier
Johannes das Wunder noch mehr jteigerte, ald Markus; denn
während biefer jchon Jeſu die Abjicht zujchreibt, daß Schiff
nicht zu beiteigen, lüßt Sohannes dieß wirklich audı jo ges
ſchehen! — Weiterhin jucht er das Wunder noch mehr zu
beglaubigen, indem er es vor allem Bolfe gejchehen lapt (22).
Das Volk nämlich, weldyes von Seju an dem einen Tage
diegjeitd Des Sees geipeist worden war (26), fand ibn andern
Tages fchon jenjeits des Sees, und konnte nicht begreifen (V. 25),
wie er babin gefommen; denn in das fahrzeug der Jünger
war er nicht geftiegen, ein anderes war nicht Da geweien (B. 22)
und zu Lande konnte er in der turen Zex vicht au's jenjeitige
833
Ufer gefommen fein. Wir unfererfeits können nicht begreifen,
wie das Bolt dahin gefommen; denn wäre von dem Bolfe,
das aus fünftaufend Menfchen beftand V. 10), audy nur ber
fünfte Theil über den See gefahren, fo hätte es, falls es ſich
gewöhnlicher Fiicherfähne bediente, eine ganze Flotte nöthig
gehabt, oder wenn es größere Fahrzeuge benuße;: ſo mußten
diefe fümmtlih, was undenkbar ift, ihre Richtung nach Ka⸗
pernaum (17) genommen haben. Es ift daher kaum zweifel-
haft, daß dieſe Volksüberfahrt nur hinzugedichtet wurde, um
eine bedeutende Gontrofe zu gewinnen, bie das Wunder des
Seewandelns beglaubigen follte. —
Geben wir aber auch alle dieſe einzelnen Auswüchſe bes
Wunderhaften auf, fo bleibt immer der Stamm ſelbſt übrig,
das Gehen auf dem Meere. ft ein folches irgend denkbar?
Wenn Dishaufen darauf antwortet, „an einer höheren
Leiblichfeit, gefchwängert mit Kräften einer höhern Welt, dürfe
eine ſolche Erſcheinung nicht auffallen“, fo find das Worte,
bei denen man fich Nichts denken kann. Daß die Alles ver
flärende Kraft eines höheren Geiltes fi an dem Körper nur
fo äußere, daß derfelbe den natürlichen Gefeßen ber Schwere
entzogen werde, und nicht vielmehr Durch völlige Herrſchaft
über irdiſche Begierden, iſt eine offenbar viel zu ſinnliche, um
nicht zu ſagen unwürdige, Vorſtellung. Wenn aber Jefu Körs
per diefe Eigenfchaft wirflic, befaß, warum zeigte er fie noch
sicht bei der Taufe im Jordan, wo er untertauchte, wie ein ges
wöhnlicher Menfh? Wie Vieles ließe ſich noch fragen, um
das Berfehrte jener abenteuerlichen Anſicht in's Licht zu fegen!
Es ift indeß nicht fchwer einzufehen, wie unfere Miythe —
denn etwas Anderes ift ed doc; wohl nicht — entitehen Eonnte.
Wir haben darin nur eine andere Variation des beliebten
Bildes, daß die Gewalt, die Gott und die mit ihm Einigen
über die Welt ausüben, gleich fei der Uebermacht über ‚Die
tofenden Meeregwellen. Daher das Berjagen des rothen
Meeres durch einen Winf des Mofes bei dem Durchzuge der
Sfraeliten; daher Das nod) größere Wunder des Meerwandeind
durch Jeſum, mag ed nun aus einem zur Geidiigte ware
*
334
ftalteten Gleicjniffe, oder aus Nachbildungen altsteftamentlicher
Erzählungen entftanden fein; etwa der in 2 Kim. 2, 14 u.
.2 Kön. 6, 6 enthaltenen. Ueberdieß willen auch andere morgens
laͤndiſche Sagen von Wunderthätern zu erzählen, die über das
Waſſer fchritten, wovon griechiſche Schrifiſteller mehrere Bei⸗
ſpiele anführen.
(Joh. 21. u. M. 17, 24—27.)
Die dritte Seeanekdote findet fi in dem anerkannt
unächten 21 Kap. bed Johannes, wo Jeſus nach ber Aufers
ftehung feinen Süngern zum dritten Male erfcheint; fie ift
unverkennbar nur aus Bruchſtücken der fo eben betrachteten
Erzählungen und der von dem Fifchzuge Petri zufammengefegt,
aber in abenteuerlicyer Verwirrung. Auch hier wird Sefus
in nächtlihem Dunkel vom See aus erblidt (®. 4), und zwar
am Ufer; — eben fo Furcht vor ihm (12); — ein Entgegen
fommen Petri (7); — ein wunderbarer Fifchzug Desfelben
(8 x.) und Anderes. Zwar find alle diefe Züge natürlicher,
wie in den größeren Gefchichten, als deren Bruchftüce mir
fie betrachten; allein dafür ift die Zufammenftellung um fo
räthfelhafter, und das Ganze überdieß ein Nachklang des
größten Wunders, der Auferftehung. —
Alle bisher behandelten Erzählungen berühren vielfältig,
bei aller Verfchiedenheit der Handlungen, fi in einzelnen
Zügen, und beftätigen dadurch unfere Anficht, daß fie fehr
wahrfcheinlich ihren Urfprung gewiffen finnbildlichen Neben
verbanfen, denen allen der Gedanke zu Grunde lag, daß ber
Glauben über die Gewalt der Natur und die Macht der
dem Reiche Gottes widerfirebenben Welt den Sieg davon trage.
Es bleibt und noch übrig die Gefchichte von dem Fiſch
mit dem Stater CM. 17): dieſelbe hat ihre eigenthümlichen
Schwierigkeiten. Wenn ſich auch Metalle 2c. in dem Magen
eines Fifches fchon vorgefunden haben, fo iſt doch ein Geld»
ſtück in dem Munde bes Fifches, zumal wenn er nach .der
Angel ſchnappt V. 27), etwas Unerhörtes; um fo wunderbarer
baher, daß Jeſus es voraus wußte. Und dann wozu dieſes
feltfame Wunder? War auch wieleict bamals kein Gelb in
335
der gemeinfchaftlicyhen Kaffe, fo hatte ja Jeſus grabe in
Kapernaum fo viele Freunde. Daher find die natürlichen Auss
leger eifrig bemüht, das: Wunder zu entfernen; fie verjuchen
auch hier ihre Kunft in Berbrehung der Worte. Daburd)
bringen fie ftatt des fonnenflaren Sinne von V. 27, wo es
heißt: „wenn bu ihm (dem Fifche) den Mund geöffnet, wirft
. du einen Stater finden“, heraus: „öffnen ihm fogleich das
Maul, nachdem du ihn aus: ber Angel genommen, bamit er
am Leben bleibe, und dann wirft bu einen Stater für ihn
löfen“; — gleich ald hätte der Fifcher Petrus ſolche Ans
weifung nöthig gehabt!. Da es nun ferner unglaublich iſt,
daß in dem fijchreichen Stapernaum Ein Fiſch um fo hohen
Preis follte verkauft werben können, fo werben die Worte:
„den eriten Fifch, den du aufhebſt, nimm heraus“, fo ges
menbet: „nimm allemal den Fifch, der bir zuerft aufftößt;, und
fo fort, bis du genug haft“! |
Es muß alfo beim — Wunder bleiben! da es aber fo
abenteuerlich ift, fo fünnen wir um fo weniger baran glauben.
MWahrfcheinlich ift es ein Ausfluß des beliebter Themas von
Petri Fiſchzug: Petrus war in der Sage einmal der Fifcher;
manch’ glücdlichen Fang that er, manchen, in bildlihem
Sinne, follte er noch thunz in unferer Erzählung verförpert
die, dieſe Vorftellung umfpielende, Sage die erhafchte Koftbars
teit zu baarem Gelde, und zwar als Teichte Beute in dem
Munde bes Fiſches. Daß es gerade eine zur QTempelfteuer
nothwendige Münze war (B. 24), mag feinen Grund vieleicht
Un irgend einer Aeußerung Jeſu haben. — „In dieſen mährs
<henhaften Ausläufer endigen Die Seeanefdoten*. —
Siebentes Kapitel.
Die Speifung der Tanfende,
AM. 14, 13— 21; Mark, 6, 30 — 44; Luk. 9, 10— 17;
oh. 6, 1—15; fodann M. 15, 3239; Mark, 8,
1— 10.)
In den nun folgenden Erzaͤhlungen wirkt Jeſus nicht nur
auf die lebloſe Natur, ſondern ſogar auf künſtlich verarbei⸗
tete Raturprobufte ein: alſo eine abermalige Steigeruna. °
—
336
„Jeſus vermehrt zubereitete Rabrungsmirtel auf wınder;
bare Weiſe, um eine übergroße Menichenmenge jattigen zu
können“: — fo erzählen alle Evangelüten „mit jeltener Eins
flinmmigfeit * (f. oben); und zwar geichab es nach bem Zeugniß
der beiden erſten zweimal (ij. oben). Dieſe legtere Erzählung
weicht aber von ber eriten in vielen einzelnen Zügen ab, nas
mentlid in dem Berhältmiß zwiſchen dem Speiſevorrath und
der geipeileten Menjchenmenge; das erjie Dial werden 5000
mit 5 Broden und 2 Fiichen CM. 14, 17, 21), das zweite
Mal 4000 mit 7 Broden und wenigen Füchen (15, 34, 38)
gefpeist; jedoch flimmen beide Erzählungen nicht nur im We⸗
fentlichen, fondern auch in fo vielen einzelnen Zügen mit eins
ander überein, daß fie offenbar Daritellungen nır Eines
Zaftums find. Beide Male dasjelbe Lokal, diejelbe Veran⸗
lafjung des Wunderg, diefelben Speiſen; beide Male it Jeſus
troß der Einrede der Jünger zur Speijung geneigt; gleich iſt
endlich der Hergang und das Reſultat, daß weit mehr übrig
bleibt, als Anfangs da war. Hierzu fommt, daß cd, wenn
zwei wunderbare Epeifungen vorgefallen mären, unbegreiflich
fein würde, wie aud) das zweite Mal die Sünger an der
Möglichkeit derfelben zweifeln konnten (15, 33), mochte auch
ſchon lange Zeit feit der erjien verflojien fein. Man Fönnte
etwa einwenden, es feien in der Lieberlieferung manche Züge
aus der einen in Die andere. übergegangen, wodurch fie denn
einander fo ähnlich geworden; allein auch bei diefer, noch
unerwiefenen, Annahme bleibt die Achnlichkeit zu groß, um
eine zweimalige Speifung wahrſcheinlich zu finden, zumal Da
von einer zweiten nur M. und Marfud etwas. willen.
Daß fie aber dennoch fo beftimmt von zweien erzählen,
erflärt fi) am einfachften fo. Don Diefer Einen Speifung
waren einmal abweichende Erzählungen im Umlaufe; beide fand
M. (denn von Marfus kann nicht weiter die Nede fein, da
er befanntlic das Meifte aus M. und Lukas fchöpfte) vor;
bemüht, Fein ihm befannt gewordenes Wunder verloren gehen
zu lafien, nahm er beide Erzählungen auf, ohne eine firenge
vergleihende Prüfung vorzunehmen. Bei biefer Annahme
fällt aud) der wiederholte Zweifel der Sünger nicht mehr auf,
da jebe Ueberlieferung diefen Zug beibehalten hatte. Wenn
337
dagegen Olshauſen einmendet, ‚Die zweite Erzählung fei ja
nicht wunderbarer und ausgeſchmückter, als die erfte, während
doch dieß fonft überall bei einer fpäteren Sage ber Fall
fei; der Evangelift wäre ja auch unreblich geweſen, wenn er
Eine Gefcichte für zwei ausgegeben hätte: fo beweist dieß
nur, daß jener Theolog das Wefen der mythiſchen Auslegung
nicht begriffen hat. Wer behauptet denn, die zweite Erzähs
lung fei auch die fpätere Sage, weil M. fie erft nach der
erften vorbringt? Konnte ihn nicht die in der Ueberlieferung
gegebene Berbindung mit andern Borfällen beftimmen;, : fie
grade dahin zu ftellen, wohin er fie ſtellte? Der Evangelift
umredlich? Als wenn Er die doppelte Darftelling Eines
Borfalles gemacht, und nicht vielmehr mit fchlichter Gewiſſen⸗
haftigfeit nur darum zwei Erzählungen gegeben hätte, weil er
fie eben in der Sage vorfand und fchon wegen der abmeis
chenden Zahlenverhältniffe ganz ehrlich glauben mochte, «8
haben wirklich zwei Speifungen flattgefunden! Kommt doch
auc im alten Zejtamente der Fall vor; daß z. B. die Ges
fehichte von der Tränfung aus dem Felfen zweimal erzählt
wird (2 Mof. 17 und 4 Mof. 20), nur mit einigen Verändes
rungen.
Wir fchreiten nun zu der Unterfuchung, ob die wunderbare
Speifung nach den in beiden Darftellungen wiederkehrenden
Zügen möglich und denkbar ſei? Um dieß bejahen zu füns
nen, behaupten die Supranaturaliften, es fei diefes Wunder
auch, wie Kranfenheilungen, „vermittelt“ worden durch den
Glauben der Gefpeisten; das könnte doch wohl nur fo- viel
heißen: wie die Kranken durch den Glauben gefund, fo wur⸗
ben bier die Hungrigen durch denfelben gefättigt.- Demnach
müßte alfo Sefus auch ohne Außere Mittel, nur durch un⸗
mittelbare Einwirkung auf den Magen der Hungrigen das
under der Speifung verrichtet. haben! Allein es wurden ja
wirklich Speifen vertheilt; Jeder genoß, fo viel er wollte,
und es blieb noch mehr übrig, als vor dem Eifen vorhanden
war. Iſt diefe Vermehrung auch durch den Glauben der
Sefättigten bewirkt oder „vermittelt“ worden? Colche nebels
aımflofjene Sprache fann ung nicht hindern, in ber ganzen
Geſchichte ein Wunder zu erbliclen, durch) weldyed vmmittelber
Jı. 22
338
auf Die vernunftlofe Natur eingewirft. worden’ fein fol.
Dieß ift aber beſonders darum fo ımdenfbar, weil dadurdy
eine Bermehrung von todten Gegenitänden bis in’d Unge⸗
heure bewirkt worden wäre. Zwar fehen wir eine ſolche anch
in der Natur vor fid) gehen, aber nur in. Folge eines regel-
mäßigen Naturprozefles von Keimen, Blüthen und Früdıtes
fragen. - . Zr
Ein ſolcher Naturprogeß fol nun auch vorfiegendes Wun-
der fein, nur ein fehr befchleunigter, was ja nicht zum Un⸗
denfbaren gehöre. Allein nur dann fönnte von einem befchleu-
nigten Naturprozeſſe die Rede fein, wenn in Jeſu Hand ein
Korn ſchnell taufendfältige Früchte getragen hätte, und Diefe
ſchnell gereift wären; wenn er mit immer vollen Händen bie
Sörner den Hungrigen zu weiterer Zubereitung bingefchüttet
hätte: oder wenn eben fo in feinen Händen die Eier in dem
Leibe eines lebenden Fiſches yplöklicyh ausgegangen und die
Beinen Filchchen fchnell herangewachfen wären. Allein was
bier vermehrt wurde, war ja nicht mehr reines Natur pro⸗
dukt, fein lebendiges, fondern ein todtes, zu einem Kunfts
produkt umgewandeltes! Wenn aljo ein beſchleunigter wirflis
cher Naturprozeß bier hätte vorgehen follen, was "mußte
Altes geſchehen? Zuerft mußte Jeſus das unerhörte Mirakel
verrichten, und aus dem Brode wieder Körner machen, bann
in alter Eile aus ihnen Halm und neue Körner hervorwachſen
laſſen und endlich die getrennten mechanifchen Verrichtungen
des. Müllers und Bäderd in einem Nu verrichten! Das wäre
etwa theilweife „befchleuntgter Naturprozeß * gemwefen. Wie
man doch fp mit den Worten fpielen mag! — Und num weis
ter: in weſſen Hand fol denn diefer Bermehrungsprozeß vor
ſich gegangen fein? Im der Hand. des empfangenden Volkes?
Mit welcher, faft Fomifcher, Behutfamfeit hätten dann Jeſus
und feine Jünger Brod und Fifche in die allerkleinften Kruüm⸗
en und Bröddyen theilen müſſeu, damit ja Jeder eins erhielt,
um es in. feiner Hand zu großen Stüden anfchwellen zu lafs
fen! — In der Hand Sefu? um von den Jüngern zu ſchweigen:
dann könnte es auf.zwiefache Weiſe zugegangen fein. Ent—⸗
weder theilte er ganze Brode und. Fiihe aus, wobei ſogleich
wieber andere nachwuchſen; dem it ober ber Tert entgegen
Aa Tu m u u We u
350
(Soh. 6, 13). Ober er brach Stüde von beiben ab, die
ſich fofort wieder ergänzten; ‚wer vermöchte fid) aber Brode
zu. denken, die wie Schwänme immer wieder aufichwellen, oder
Bratfiiche, denen, wie den Krebfen die Scheeren, die Fleiſch⸗
ftücfe wieder nachmachen?! — —
Wir wollen nın fehen, ob wir ung mit den Rationaliſten
beffer vertragen können. Diefe faffen die Sache fo: „Aus
oh. 6, 4 wird es mahrfcheinlich, daß der größere Theil ber
Menge aus einer Feftfaramane beftand und daher Speiſevor⸗
räthe bei fid) ‚hatte; viele Andere aber hatten nichts, und
darum fing Sefus an, von dem Seinen das Entbehrliche:. zu
vertheilen; fein Beilpiel fand Nachahmung, und fo war er
mit dem Menigen, was er hatte, die Urfache, daß Alle fatt
wurden. * Allein diefer Erklärung fehlen doch gar zu viele
Mittelglieder, die man ſich geradezu hinzudenfen muß: nicht
Jeſus allein vertheilt dann, auch Leute des Volkes; nicht nur
fein, auch Anderer Borrath füttigt die Bedürftigen, wovon
der Tert nichts weiß. Zwar wird auch Die wunderbare Ver⸗
wmehrung nicht ausdrüdlich gemeldet, aber fie ergibt fid) Doc
aus dem Erfolge, dem großen Leberrefte, von felbft. Aber
eben diefen Ueberreſt erklärt diefe Erklärung auch himveg durd)
gewaltjame Behandlung der Worte. Es wird genügen, in
Diefer Beziehung nur anzuführen, daß die Worte Joh. 6, 13,
die auf's allerunzweideutigfte ausfprechen, man habe das, mag
von ben fünf Broden übrig geblieben fei, gefammelt, damit
nichtd umkomme, fo gedreht werden, als ob das Sammeln
vor der Mahlzeit gefchehen wäre! Eben fo fträuben fich die
Worte der andern Evangelien, 3. B. M. 14, 20, gegen folchye
Gewaltthat. — Nein, das Wunder bleibt!
Für Die gefchichtliche Wahrheit der ganzen Erzählung,’ wo⸗
von wir nun reden müfjen, führt man man zunäcdhft die feltene
Uebereinjtimmung aller vier Evangelien anz allein dieſer
Grund ift ſehr ſchwach. Denn, um von Geringerem zu ſchwei⸗
gen, das vierte Evangelium ftellt einen wichtigen Punkt ganz
andere dar, ald die übrigen. Es ift bei ihm Jeſus fihon
alebald bei dem Anblide des Volkes ent{cyloffen, cur wu
340
derbare Speifung vorzunehmen (Joh. 6, 5 1c.); die andern
' geben ald weit natürlichern Grund die Verfpätung des Volles
an. Wie abenteuerlic nämlich, wenn Sefus fo ohme alle
Roth ein Wunder thun wollte, nur. um es zu thun! „sch
fann es nicht ftarf genug ausjprechen, wie unmöglich hier dag
Eſſen Sefu erfter Gedanke fein, wie unmöglich er dem Bolfe
- fein Speifungswunder in diefer Weife aufbringen fonnte!* —
Ueberhaupt aber müflen wir nachfehen, da ung feine Erflärung
irgend befriedigen fann, ob nicht eine unhiftorifche Entfiehung
unferer Erzählung denkbar fer.
Zunächſt könnten die finnbildlichen Reden vom Himmels⸗
brode, welche bei Joh. 6, 26 ꝛc. unmittelbar durch die Spei—
ſung veranlaßt werden, zu der Vermuthung führen, daß um⸗
gekehrt die Reden ſich zu einer wunderbaren Speiſungsgeſchichte
verkörpert hätten; allein dem widerſprechen die Synoptiker,
die zwar auch bildliche Reden dieſer Art, z. B. vom Sauer⸗
teige der Phariſaer, haben, dieſe jedoch in fo beſtimmte Ver⸗
bindung mit einer ſchon vergangenen Speiſung bringen,
daß man nicht zweifeln kann, von jenen Reden iſt dieſe Ges
ſchichte ganz unabhängig. Weit näher liegt es, dieſelbe als
Nachbildung alt⸗teſtamentlicher Erzaͤhlungen zu betrachten. —
Die bekannte Geſchichte von dem Manna in der Wüſte
(2 Moſ. 16), die wunderbare Sendung der Wachteln (4 Moſ.
4) führten leicht zu dem Glauben, auch der Meſſias werde
ſich durch Aehnliches und Größeres als ſolcher erweiſen: wirk⸗
lich war es rabbiniſche Vorſtellung, daß auch dieſer Himmels⸗
brod verleihen werde. Selbſt in einzelnen Zügen treffen die
alt⸗ teſtamentliche und neu⸗teſtamentliche Speiſung zuſammen:
beide in der Wüſte, beide Folgen des Mangels; beide werden
dort von dem Volke, hier von den Jüngern, für unmöglich
gehalten. Allein die nächſten Vorbilder liegen doch wohl in
den prophetifchen Erzählungen, wo gleichfall8 von Bermehs
rung des Speifevorrathed die Rede it: fo vermehrt Elias
wunderbarer Weife den Delvorrath der Wittwe (1 Kön. 17,
8 ıc.); Elifa fpeist mit wenigen Broden 100 Menfchen, wo:
bei auch noch viel übrig bleibt (2 Kön. 4, 42 20.) — nur
daß, wie dieß ſich fait von felbft veriteht, das Speifewunder
Sefu ungleich auffallender it, als die genannten. Endlich
34.
erzählten auch jüdische Schriftteller fpäterer Zeit von heiligen .
Männern, die mit wenigen Schaubroden zur Sättigung der
Priefter bis zum Ueberfluß ausreichten: betrachtet man aber
ſolche Erzählungen einftimnig als Miythen, warum. nicht auch
die evangeliſche ? |
Achtes Kapitel,
Die Verwandlung des Waſſers und die Berwänfchung
des Feigenbauntes.
(Joh. 2, 1—11,)
Jener Speifungsgefchichte fehließt fich die Verwandlung
des Waſſers als ein wieder um einen Grab höher ftehendes
under an. Dem es ift immer noch denkbarer, daß ein
Borhandenes auch bis in's Ungeheure vermehrt, ale daß es
in eine anz anbere Subſtanz verwanbelt werde, wie bieß
in unferm Wunder der Fall ift. Denn hätte Sefus urplötzlich
aus Most Wein gemacht, fo fünnte dieß noch der Vorftellung
nahe gebracht werden, weil die Verwandlung nur Befchleunis
gung des natürlichen Ganges, nicht, aber gänzliche Umwand⸗
Jung des Stoffes wäre: wie aber Waffer zu Wein werden
Tonne, der einem ganz andern Naturreiche angehört, Dieß
überfteigt alle Gränzen des Denkbaren. Demohngeachtet neh«
men auch hier die Supranaturaliften. einen „befchleunigten Nas
turprozeß“ an. — Sa, wenn: Sefus ‚einer Nebe geboten hätte,
fchnell zu blühen und Trauben zur Reife zu bringen, dann
wohl; und aud, dann müßte noch eine unfichtbare Fünftliche
Berrichtung, das Keltern, hinzukommen: allein hier wird aus
Waſſer Wein entwidell. Wohl, fagt man, fo ift ed ja auf
langfamerem Wege in der Natur auch; denn Waſſer, das ale
Regen, Than, Feuchtigkeit der Erde ıc. auf die Nebe einwirft,
ift es, was die Traube, aljo den Wein, zur ‚Entwidelung
bringt. Hier aber ftedt eine arge, arge Verwechslung von
Urfache und Beranlaffung im Hintergründe. Allerdings
fann die Zraube ohne den Einfluß des Waſſers und anderer
Elemente fid) nicht entwideln, dieſe find die bewegende Ber:
anlafjung, welche die Bildung hervorruft; allen in der dan
312
thümlichen Natur ber Rebe liegt die eigentliche, nethwendige
Urfache, daß durch jenen Einfluß grade die Traube und nichts
Anderes zum Borfchein fommt: in der Rebe ift die Traube
gleihfam ſchon als Keim vorhanden, — daher fann das Waſ⸗
fer, je nad) dem Gegenitand, auf welchen es günftig einwirkt,
unendlich Vielerlei zur Entwidelung und Reife bringen, die
Rebe aber fann, wenn alle Einflüffe günftig einwirken, nur
Trauben ald Frucht and fich erzeugen. Wer alſo bloß aus
Waſſer Wein madıt, läßt, mit Umgehung der nothwendi⸗
gen Urſache, nur aus der Beranlaffung die Wirfung bervors
gehen, was anzunehmen widerfinnig wäre, da es ohne Urfache
feine Wirkung geben kann; eben fo widerfinnig, wie wenn
man behauptete, and bloßer Erde Brod machen zu fünnen.
Sollen aljo die Worte „befchleunigter Raturproseß “ eints
gen Sinn haben, will man ſich die Sache einigermaßen zurecht
legen, fo müßte man folgende Turchgangsftufen annehmen:
1. Jeſus muß außer Wafler auch die übrigen einwirfender
‚Elemente (alle Beranlaffungen), 2. er muß unfihtbar Rebe
Cals nothwendige Urfache) herbeigefchafftz fedann 3. den na—
türlichen Entwidelungsprozeß der Traube ımgemein befchleunigt —
4. die Fünftliche Verrichtung des Kelterns ſchnell vorgenom —
men, und endlich 5. abermals einen Naturprozeß, das Gaͤh—
ren, befchleunigt haben: dann erjt hätten wir den Wunder—
wein! — Wer aber könnte fih einen folchen Prozeß audi
nur dunkel denfen! —
Zu dieſer totalen Undenfbarfeit kommen noch mehrere ein
zelne, die wir fofort kurz betrachten. — Erſtlich hatte Dag—
under feinen Sefu würdigen Zweck: wenn auch der Vor⸗—
wurf, daß er der Trunfenheit damit Vorſchub gethan, unbes=
gründet ift, fo bleibt doch immer der Anftoß, daß fein PBuns—
der nur der finnlichen Luft diente, gleichſam ein Luxuswunder
war. Dadurdy aber den Glauben feiner Sünger befördern
zu wollen, kann nicht als zureichender Zweck betrachtet werden,
da fich dieſer fo vielfältig, ohne etwas zu verlieren, auch
mit einem wohlthätigen verbinden ließ. Hatte ja doch Jeſus
eben erft den Satan (bei der Verfuchung) zürnend abgewmiefen,
als er ein bloßes STanzmunder von ihm verlangte! Um die,
fen Vorwurf abzulehnen, haben dohee wonde Theologen
343
behauptet, Jeſus habe einen Zweck gehabt, den er chen mır
durch Diefes Wander erreichen konnte; nämlich ſinnbildlich
durch Waſſer und Wein den Gegenfaß feiner Taufe, derZaufe
des Geiſtes, zu ber: Waflertaufe des Täufers anfchaulich zu
machen :und.zugleidy feinen neuen Süngern, die zum Theil. von
Sohannes herfamen, zeigen wollen, daß er die alle Lebens-
freuden verdammenden Anfichten desfelben nicht theile. Allein
dann hätte er dieß mit einigen Worten andeuten und. erläutern
müſſen; wie nothwendig dieß war, geht ſchon daraus’ hervor,
daß der Evangelift. gar nichts daven gemerft hat, fonbern dag
Wunder einfach ale „Offenbarung feiner Herrlichkeit“ (V. 11)
>etrachtet. — Zweitens war. mif diefer Bermandlung doch des
Buten etwas zu viel gefchehen: denn die 2—.3 Maaß, bie
ieber der 6 Krüge enthielt (V. 6), betragen zufammen ‚wenn
man das griechifche Wort „Metrete“, in feiner wahren Bes
Deutung nimmt, etwa 250 — 375 unferer Maaß: und zudem
war die Gejellfchaft.nicht mehr beim erften Glas.(®B. 10). —
Auch das Verhältniß zwifchen Jeſus und feiner Mutter
hat, wie es fich hier zeigt, manches Anffallende. Die erftewe
zählt augenfcheinlich darauf, daß ihr Sohn. hier ein Wunder
werrichten werde (B. 3, 5), und Doch war e8 das erfte, wo⸗
zmit er öffentlich auftrat (11). Woher diefe Erwartung?
Hatte Jeſus ſchon im Stillen, vor der Taufe, under ger
han? Dieſe Annahme könnte uns leicht in bie mißlichen
Kindeswunder der apofryphifchen Evangelien verwideln. Ober
Hatte Maria von den bei Sefu Geburt gefchehenen Zeichen
her die Ueberzeugung, er fei der Mefitas, und müſſe demnad;
auch Wunder thun? Allein eben Diefe .Zeichen find ja, wie
wir früher fahen, jo wenig verbürgt. Oder hatte Jeſus der
Mutter fchon vorher verfprochen, dieß Wunder zu verrichten ?
Aber auf dem Wege nach dem Felte kann dieß nicht gefchehen
fein, weil er da noch nicht willen fonnte, daß Mangel an
ein eintreten werde. Auf dem Feſte ebenfalls nicht, da er
ja vielmehr der Mutter auf ihre leife Aufforderung (V. 3)
eine ablehnende Antwort gibt; oder fol er neben dieſer laut
gefprochenen eine andere, grade entgegengefeßte, ihr in's Chr
gefagt haben? Es bleibt ‚demnach unerflärt, wie beharrlich
(5) Maria bier ein Wunder erwarten Tonnte. — Aufallend
.344
hart ift endlich Ssefu Antwort (4): wie mochte er doch ber
liebevollen, leifen Anfrage der Mutter ſo begegnen, dba er fo -
oft felbft zubringliche Anfpracdyen um wunderbare Heilung x. _
freundlicy aufnahm? Er durfte ed hier um fo weniger, Dom
er ja wirklich alsbald der Bitte der Mutter entfprady!
Um allen diefen Anftänden zu entgehen, fucht die natür =
liche Deutung alles Wunderbare wegzufchaffen: „Nach her⸗
gebradhter Sitte, fagt fie, brachte and) Jeſus zur Hochzeit ein
Geſchenk an Wein; dieß will er zum Scherze auf geheimnißs
volle Reife anbringen; die Mutter wußte darum, mahnt ihn,
er aber erinnert fie fcherzend, ihm den Spaß nicht zu ver-
derben (!). Das Waflereingießen (V. 7) mochte zum Scherz
gehört haben; wie nun aber auf einmal der Wein zum Bors
ſchein fam, läßt fich nicht genau mehr fagen, aber in fpäter
-Radıtftunde, wo fchon viel getrunfen worden, mochte eine
folchye Ueberraichung leicht zu machen fein; die Herrlichkeit
und der Glaube, den er fich Dadurch verfchaffte C 11), find
nichts Anderes, ald die bewundernde Anerfennung feiner harm⸗
Iofen Menſchenfreundlichkeit; wie er aber die Sache angeftellt,
durfte er, um bie fcherzhafte Täuſchung beftehen zu laſſen,
nicht jagen.“ — Aber grade hier liegt die verwundbare Stelle
der artigen natürlichen Gefchichte! Seinen Süngern doch we⸗
nigfteng mußte er die Täuſchung benehmen! und Dieß geichah
nicht, denn unfer Evangelift ftellt die Sache ganz wie ein
Wunder hin, nennt fie ein Zeichen, das Jeſu Herrlichkeit
a8 heißt in feiner Sprache feine meffianifche Würde) offens
barte, und wiederholt nody gar 4, 46 ganz beftimmt, in Kana
habe Sefus „Wafler zu Wein gemacht“. Wie es aber eigents
lich mit dem fogenannten Scherze zugegangen, willen die nas
türlichen Erflärer felbft nicht zu fagen, und derjenige, ber
vermuthet, Jeſus habe heimlich eine Art Liqueur in’s Waſſer
gegoffen, erklärt den Spaß noch am fpaßhafteften!
Beiderlei Erflärungsverfuche löfen alfo das Raͤthſel nichts
der einzige Ausweg bleibt, die Erzählung für eine Mytbe
zu halten, wozu wir um fo mehr veranlaßt find, da fidy nur
bei Johannes diefelbe findet, deun enthielte fie wirklich das
erſte Wunder Sein, fo bleibt es .unbegreiflich, wie ſie ben
andern: unbelannt geblieben fein kann. Weit erflärlicher ift
ihr Urfprung als Mythe. Wafferverwandlungen finden fidy
auch in ber altshebräifchen Sage von Moſes (2 Wof: 17, 120.35
7, 17 x.; 14, 23), von Simfon (Richt. 15, 18), von Elia
(2 Kön. 2, 19 ıc.), und wurden aud) ganz beftimmt vom
Meſſias erwartet, wie aus rabbinifchen Schriften hervorgeht.
Daß nun daraus grade eine Verwandlung des Waſſers in
Wein fid) herausbildete, mag daher kommen, daß man dem
Meiftas zwar aud) eine totale Veränderung der Subſtanz,
aber doc zum Guten, zufchreiben mußte, wo fich dann
Wein von felbft darbot. Diefe Miythe nun erzählt Johannes
ganz in feinem Geiſte; ihm ift es eigen, wie er es auch
hier thut, Jeſu Erhabenheit über alle Bittenden (B. 3, vergl.
4, 48) recht grell hinzuftellen, fo wie den unerfchütterlichen
Glauben derfelben an feine Wunderfraft (V. 5). |
(M. 21, 18 - 22; Mark. 11, 12 —14 u. 20 — 23.)
Die Geſchichte vom unfruchtbaren Feigenbaume wird
von M. und Marfus (ſ. oben) erzählt, jedoch mit manchen
Abweichungen, wobei die Darftellung des Markus einer
natürlichen Erflärung befonderd günftig zu fein ſcheint.
Während nämlih M. den Feigenbaum ,fogleich" nach Jeſu
Berwünfchung CB. 19) verdorren läßt, ift dieß bei Marfus
erft am andern Morgen gefchehen (®. 2075 daher halten fich
die rationaliftiihen Ausleger mit vorzüglicher Zuneigung an
ihn, und erklären alſo: „Jeſus fah, daß der Baum bald abr
fterben müffe, fagte daher, von Dem werde auch wohl Niemand
mehr Früchte leſen; 5i8 zum andern Tage war er wirklich
durch Einfluß der Hige ıc. verdorrt; die Sünger, bieß bes
merfend, erinnern ſich der Worte Sefu und deuten diefe nuns
mehr ald Verwünſchung (21), was übrigens diefer nicht
billige, wielmehr gebe er der Sache eine andere Wendung (22).*
Aber diefe Auslegung ift, auch wenn wir den Markus allein
im Auge behalten, unzuläßig. Sefu Worte laffen fich gar nicht
anders, wie als Befehl faffen, demnad als Berwünfchung
(nody ftärker bei M. V. 19), was auch ſchon Das geraitiar
346
„in Ewigkeit* anbeutet. Ueberbieß fagt er ja andy zu feinen
Süngern, er habe Etwas an dem Baume „gethan“, und vers
gleicht fein Thum: mit dem Bergeverfeten (MM. B. 21); hätte
er ihn: aber nicht verflücht, fo mußte er, falls er nicht täufchen
wollte ;’ nothwendig feine Sünger, die die Sache boch fo
nahmen (Mark. V. 21), eines Befjeren ‚belehren, oder er hätte
die Täufchung der Sünger mißbraucht.
Es bleibt und alfo nichts übrig, als den Hergang als
ein wirkliches Wunder feſtzuhalten, deſſen äußere Unmöglich⸗
keit wir gar nicht beſonders herausheben dürfen, da es auch
von einer andern Seite her, von Seiten des Charakters
Jeſu, durchaus undenkbar if. Er hätte hier nämlich ein
Strafmwunder verrichtet, wie wir fie fo häufig in den apos
kryphiſchen Evangelien finden; in unfern aber findet. ſich
hicht- nur nirgends ein foldyes, fondern es fpricht fich auch
Sefus Luk. 9, 55 auf das Bellimmtefle Dagegen aus; da
nämlicy, als feine Jünger von ihm verlangen, er möge auf
das Dorf, das ihnen Aufnahme verweigerte, Feuer herabregnen
laffen. Und nun follte er an einem Baume Rache nehmen!
Strafen können ja bei leblofen Gegenftänden nicht allein einen
moralifchen, den der Beflerung, fondern nicht einmal den
niederen Zwed, den der Vergeltung, haben, da diefe Gegen:
fände nicht zurecdinungsfähig find; gegen ſolche, wenn fie und
nicht befriedigen, zu eifern, oder gar im Zorn fie zu zerftören,
wird mit Necht für roh und unmürdig gehalten. Sind fie
gänzlich unbraudhbar, fo fchafft man fie zwar hinweg, um
Befleren Platz zu machen; allein nur, wenn Nichts mehr von
ihnen. zu hoffen ift, was ja bei einem Baume, der Ein Jahr
ohne .Früchte bleibt, nicht der Fall iſt; und überdieß fommt
dieß nur dem Eigenthümer zu. — Noch mißlicher wird die
Sache durch den Zufab bei Marf. B. 13: „denn ed war nod)
nicht die Zeit der Feigen“ (d. h. ihrer Reife); aljo wäre der
Baum ganz unfchuldig gemefen, und wir müffen uns nur
mundern, wie Sefus über das Fehlichlagen einer widerfinnigen
Erwartung fich fo fehr ereifern fonnte. Diefen Anftoß haben
alle Ausleger gefühlt, und daher die mannichfachiten Berfuche
gemacht, denfelben durch Fünftliche Wendungen zu entfernen.
Einige fagen, die Worte ſeien (päterer, unächter Zuſatz; Das
——&& nunerlaubieſtr · Afitlel No See Rey
venfen:Wefelben ſo Kite, bisnſle vem Sut hercncbriutraiſ
ho er ( Jeſus) ſich damals befand, ba waren die Feigen
“| ober machen aus den Worten eine Frage „Barum
EP Wiederum Andere nehmen bie" Warte, EN
Meifer” Cf’obeit) in dem Simme Zeit der Ernte,
%, rben weil die Ernte noch nicht’ Horüber War!
w aim Baume Feigen erwaren Allxin dieſe Worte werden
richt ale: Grund ſeiner Erwartung angeführt, föhbetrt feiner
uſch ang, und der’ Satz enthlete min“ nach dieſet Ertla⸗
K den‘ Bnfim: Et · fand Nächte, als Slätter denn die
mer Erilte war nöd richt vorüber· 1 Beer —
æere ibs zu machen /· iwenn fie. das griechiſche Wort, d
Wer bedeutet, tm Sinne von ——— ei nehmen —
% 98h" günfliger Boden’ da“ "piep Epic" wi
rr viel beſſer endlich die ae, es war kein F
h? gürfkiger Tahrgärge,) Märe Lestere‘ (CHEIAHIHE
$; fo Kitnte man wicht begreifen, wie dieß Jeſus nicht
vbiwiſſen follen, oder wie er, benn er 68 mußte, jtch über
Bdum' ereifern konnte "5 "Allein wir "bitfen, ſtatt
e: ‚geidaltfämen ' Erklaͤrimgen nur daran erihnehn, ‚dag
irkus diefen Zufag hat, der in’ ſeinem Beſtreben zu vers
Yanfichen bekanntlich nicht immer glucklich ift, So fest er
Vans dieTem Beftreben hier die fraglichen Morte ir,
6:zu bebenfen‘, wie ſchwierig es "andererfeits dadurch Das
ſtaͤndniß von Jeſu Benehmen 'mbcht. Und daher werden
"nicht umhin können, auch die oben beſprochene Eigenthumi
feit, daß er den Baum erſt über Kacıt verborten Taßt;
"eben fo zu erflärett:‘ babe; "baß’'er. Die Sidje weht
aälig geſche hen Täßt, / macht er fie” fahriäher hub "einge fe
Anſchauung näher." -Uebrigend’ bat e “darin daß bea "hart
an Hatte," grade uur feine Xufi —* in den
Wetu finden zu wollen. NEN
348
Ganzen Recht; wiewohl nach Sofephus zehn Monate lang in
Daläftina reife Feigen an den Bäumen gefunden wurden.
Kehren wir num zur Hauptfache, dem aud; dem M. zum
folge unbegreiflihen Benehmen Jeſu zurüf, um die richtiges
Erklärung der ganzen Erzählung zu finden. Schon ältere
Ausleger glaubten den Anftoß am leichteften zu entfernen,
wenn fie Jeſu Handlung als eine fymbolifche faßtenz; als
ein Sinnbild, in welchem feine Jünger gleichfam mit eigenen
Augen fchauen, und deutlicher, ale aus Worten, ed erfennen
follten, daß. ein von guten Werfen entblößter Menſch gleich
diefem Baume dem Strafgerichte Gottes nicht entgehen werbe;
— vielleicht follte auch insbefondere die Wahrheit verfinnlicht
werden, „daß das jüdifche Boll, welches fo beharrlich Feine
Gott und Meſſias wohlgefälligen Früchte bringe, zu Grunde
gehen müfje*. Indeß iſt gegen diefe Auffaffung mit Necht
erinnert worden, daß aledann Jeſus nothwendig mit einigen
Morten auf diefen Zwed feines Wunderd hinmweifen mußte,
um nicht mißverftanden zu werben; davon fagen und aber Die
Evangeliften gar nichts. Hätten fie nun gar feine an die
Handlung ſich anfnüpfenden Worte Sefu gemeldet, fo fünnte
man annehmen, fie haben das, was er gefprochen, nur weg⸗
gelaffen; allein fie Iaffen Jeſum allerdings über fein Wunder
fidy näher erklären, aber auf eine Weife, die deutlich zeigt,
daß er jenen Zwed dabei nicht hatte. Sm Gegentheil hebt
er M. 2. 21) fein Thun, als folches, gerade dad Wunder
an fich, recht hervor, und verfichert, wer den rechten Glauben
habe, könne noch größere, als diefes verrichten. Die Auss
flucht, die hier Einige. anbringen, Jeſus werde wohl vor der
Handlung den beabfichtigten Gefichtspunft auseinandergefegt
haben, reicht nicht hin, da er wohl wiflen fonnte, daß er bei
der Borliebe der Sünger für alles Mirakulöfe jenen erften
Eindrud durch Die lebte Nede wieder ganz verwilchen würde. -
Wir müffen daher dabei bleiben, daß die Evangeliften nur die
Anficht hatten, Sefus habe ganz einfach feinen Unmwillen zur
Berrichtung eines Wunders benußt, um ſich abermals in feinem
Glanze ald Meffias zu zeigen. IK dieß nun auch unzweifels
349
haft die Anficht der Evangeliften, fo folgt daraus noch
nicht, daß auch wir biefe Anficht hinnehmen müßten, da eine
folche Wunderthuerei, wie wir fie hier hätten, Jeſu fonftigem
Weſen ganz widerfpricht. Wir müſſen alfo das wirklich Ges
fchehenfein eines Jeſu unwürdigen Wunders in Abrede fellen,
und die Entftehung der Erzählung, auf anderem, als gefchichts
lichem, Wege ung zu erflären fuchen.
Dhne Zweifel floß diefelbe aus einer Sentenz, der vom
Baume, welcher niedergehauen wird, weil er nicht gute Früchte
trug; einer Sentenz, die wir in des Täufers (M. 3, 10), fo
wie in Sefu eigenem Munde (7, 19 finden. Weiterhin ward
dieſe Sentenz zu einer ganzen Parabel, der vom Herrn,
welcher den unnügen Feigenbaum niederhauen wollte, fortges
bildet, und endlich verförperte fie fich zu einer fürmlichen Ges
fhichte, der vom verfluchten Feigenbaume. Daß dabei die
Art der Vernichtung eine andere wurde, ald in der urfprängs
lichen Sentenz, darf nicht befremden, da ja die Vernichtung,
wenn die Geſchichte überhaupt Bedeutung haben follte, noths
wendig eine wunderbare werden mußte, bewirkt durch em paar
Worte Sefu. Eher könnte ed auffallen, daß fic hier Reden ans
Mmüpfen (Mark. 10, 22 ıc.), welche Feine Spur mehr von
dem urfprünglichen finnbildlichen Kern, aus dem bie Gefchichte
erwachjen, an ſich tragen; allein da einmal durch bie fo eben
entwidelte Berförperung der Sentenz das Gefchehenfein eines
Wunders zur Hauptfache wurde, jo mußte ganz naturgemäß
in den daran gefnüpften Neden diefes auch als die Hauptfache
hervorgehoben werden. Und zwar geſchah dieß m einem Gleichs
niffe, dem vom Bergeverfegen, an welches man bei der Ers
zählung vom verfluchten Feigenbaume um fo eher erinnert
werden fonnte, ald man ein anderes ihm fehr ähnliches hatte,
das von dem durch den Glauben in das Meer verfeßten Fei⸗
genbaume, welches Lufas (17, 6) ung erhalten hat.
Sechster Abfchnitt. |
Die lebten Zage Jeſu, fein Leiden und Sterben,
Erfted Kapitel.
Zefu-Berflärung und legte Reife nach Jeruſalem.
CM. 17, 1—13; Marl. 9, 2—13; Luk. 9, 28— 36.)
Faft unmittelbar vor dem Beginne feines Leidens wird Se
fus noch. auf wunderbare Weife verflärt, wie ung Die drei
Synoptifer einftimmig berichten, . Es gehört dieſes Wunder
zu den hellften Glanzpunkten in dem irdijchen Leben Sefn.
Die evangelifchen Berichte erregen aber fo viele Bedenfen,
daß ung der gefcjichtliche Hergang fo, wie fie ihn ung erzäh-
len, ganz unglaublid) wird; wir fönnen von den Haupt:
punften desfelben: Glanz, Zodtenerfcheinung, Stimme, une
weder Möglichfeit, noch Zweck denken. — Der Glanz
rührte von einer Verwandlung Jeſu her (M. V. 2), war alfo
ein Leuchten von innen heraus; dieſes Durchleuchten der
Göttlichkeit- enthebt aber Jeſum völlig aus dem Gebiete des
Menfchlichen in's Zauberhafte, und wie war es möglich, daß
auch feine Kleider von demfelben erfüllt wurden? An ein
Beleuchten von außen zu. denken, verbietet die Darftellung
der Evangeliften. War aber jenes Berflärtwerden auch mög:
lich, ſo fragt fich weiter, wozu follte es dienen? Einer Ber:
berrlihung bedurfte Jeſus, der duch Rede und Thal
fo fehr verherrlichte, nicht; war fie Andern zu Stärfung
des Glaubens nöthig, fo mußte fie vor Vielen, nicht in dem
engen Kreife vertrauter Schüler gefcheben (M. V. 1). —
Undenfbar ift weiterhin die Erfcheinung der Berftorbener
(3): woher nahmen fie, wenigftens Miofes, der im Grabı
ruhte, den verklärten Leib vor der allgemeinen Auferftehung‘
351
Ind zw welchem: Zwecke? Moſes ımb Elias: ſprachen mit
zeſu: was hatten fie ihm mitzutheilen ? ‚dem Lukas zufolge
8; 31) feinen nahen Tod. Aber diefen kannte ja Jeſus ſchon
orher und zwar mit falt allen einzelnen Nebenumftänden
Matth. 16, 21 ꝛc.). Sollte er zu feinem bevorſtehenden Lei⸗
en durch jene Unterrebung geftärft werden? Jeſu Stim⸗
ung verräth. aber nicht, Daß er jetzt ſolches Troftes beburft
ftte; für Fünftige Tage wäre er ohnehin: wirkungslos ger
weien, da fpäter auf Gethfemane ein.abermaliger:näthig. wurde.
Anf die Beftärfung der Sünger im Glauben kann die Er⸗—
ſcheinung auch nicht berechnet gewefen fein, da Jeſus in ber
Parabel vom reichen Manne ausbrüdlich fagt, Gott werbe
feine Todten für Die erwecken, welche den Propheten. nicht
ten; wie viel weniger für. die, welche dem lebendigen
Ekriftus nicht glauben wollen! — Ueber die Stimme endlidy,
de aus den Wolfen kam, gilt ganz basfelbe, was früher
über die ganz ähnliche, bei ber Taufe gehörte ‚ geſagt w wor⸗
ben it. (©. Th. I, &. 144.1.) °
Es ift daher nicht zu verwimbern, daß bie natürliche. Er⸗
Mrung vielfache Verfuche gemacht hat, das Wunderbare: zu
entfernen. Zu dieſem Zwede. nehmen Einige ein inneres
Wunder an, eine Bifion, in welder die drei: Apoftel.und
auch wohl Jeſus felbit bis zur Extafe, und durch fie zur Ans
ſchauung einer höhern Welt, gefteigert: wurden.. Allein. es ift
beiſpiellos, daß. drei oder vier Perfonen an demſelben, fehr
ausführlichen Gefichte Antheil gehabt hätten; an einem Ges
Kchte,, für welches man überdieß feinen Gottes wärbigen
zweck. auffinden. kann.
Daher benfen Andere lieber an einen andern Hergang im
Imern, den natürlichen eines Traumes. Dieſer ſoll in den
chlafenden .Süngern entſtanden fein, nachdem vor demſelben
jefus mit ihnen gebetet,. wobei des Mofes und Elias, ale
einer. Borläufer, gedacht wurde: e8 mochten dieſe Ramen noch
n: ihre fchlaftrimkenen Ohren hineintönen, und als fie erwach⸗
en, ſchwebten ilmen noch die Beitalten der beiden Propheten
or Augen. — Diefe Erflärung lehnt: ſich befonders an Lukas
352
an, der fagt, bie Tünger feien voll Schlaf gewefen unb wies -
der aufgewacht CB. 32): man fieht dephalb feine Darſtelluug
wie ald die natürlichere, fo auch ale die urſprüngliche anr—
allein mit Unrecht. Denn diefer Zug vom Schlafe der Jin—
ger findet ſich in der allgemeinen Tradition auch bei Deu
Todeskampfe Jeſn auf Gethfemane CM. 26, 40); und aus
diefer Scene ift er von Lukas offenbar in unfere hinüber
getragen, weil audy hier, wie dort, das Schlafen der Jünger
während eines für den Meifter fo bebeutungsvollen Momentes
recht dazu geeignet ift, den großen Abfland zwiſchen Diefem
und jenen hervorzuheben. Sonach hat Lufas durch Beimifchung
Diefes Zuges die Sache nicht ſowohl in dad Natürlichere, ale
in das Myſtiſche hinübergefpielt: der große Prophet erjcheint
unter gewöhnlichen Menjchen, wie der Wachende unter Schlafs
trunfenen. — Aber auch ganz hiervon abgefehen, fo hat bie
Annahme eines Traumed auch noch viele andere Schwierigs
keiten. Es follen Doch nur die Jünger geträumt haben, und
doch läßt die Erzählung aud) Sefum diefelbe Erfcheinung, wie
diefe, haben. Träumten aber audy nur fie allein, wie wun⸗
berbar, daß alle drei den ganz gleichen Traum hatten! Das
gegen wird gejagt, nur Petrus allein habe ihn gehabt, weil
nur er fpricht: allein das ift ja fo oft der Fall, daß der feu⸗
rige Mann für Alle redet, und ihn allein zum Sofeph der
Gefchichte zu machen, dafür laßt fich nicht der mindeite Grund
in der Erzählung finden. Indeß befennt diefer ganze Erfläs
rungsverfuch noch deutlicher feine Blößen. Um die Täufchung °
der träumenden und wiedererwachenden Sünger zu erflären,
wird nämlich noch weiter angenommen, Jeſus habe die Namen
Mofes ınd Elias mehrere Male laut ausgerufen, es habe Donner
laut gerollt, und DBlige weit geleuchtet, es feien wirklich im
Nebel zwei Männer zu Sefu herangetreten. Aber das Alles
konnten die Jünger nur in vollem Wachen wahrnehmen; und
wenn mit diefer Erklärung das Ganze ſchon fehr ſtark ın das
Gebiet äußerer Erfcheinungen beraustritt, fo thun offenbar
die noch am beften, welcdye die Traumhülle gradezu abitreis
fen und das Ganze zu einer bloß Außeren Erſcheinung mas
chen; fo erflärt fich wenigftens das, daß alle Sünger basfelbe
fahen. Im Uebrigen bringt uns diefer Ausweg nicht weiter,
353
als die andern. Es foll nämlic, Jeſus auf dem Berge eine
geheime Zufammenkunft gehabt haben, entweder mit Effenern
oder andern geheimen Anhängern; während der Verhandlung
fchlafen die Sünger, beim Erwachen fehen fie Sefum in uns
gewöhnlichem Glanze, der von den erften Morgenftrahlen bers
rührte; fie erbliden zwei Männer, die fie für Mofes und
Elias halten; mit Stumen fehen fie Ddiefelben in leichtem
Morgennebel verfchwinden und hören noch die.lauten Worte
des Einen: „Diefer it ıc.* — Die Stüße, welche diefe Ans
ſicht gleichfalls in Lukas findet, weil er zuerft allgemein fagt:
„Zwei Männer ꝛc.“ und dann erft genauer: „welche waren
Mofes und Elias ꝛc.“ ift zu ſchwach, um eine Widerlegung
zu verdienen, ba überdieß die ganze Anficht fehr viel gegen
fih hat. Die grelle Morgenbeleuchtung der Berge fonnte die
damit lange bekannten Sünger nicht täufchen; für die Vers
muthung derfelben, die Männer feien Mofes und Elias, kann
gar fein Grund angegeben werden; die Annahme geheimer
Verbündeten von Jeſu iſt mit Recht Fängft verfchollen; und
ba Petrus in feinem Staunen über das Wunder augrief:
„Hier laß ung drei Hütten bauen ıc.“ (Auf. V. 33), fo durfte
Jeſus redlicher Weife ihn nicht in feinem Wahne laffen, wenn
ganz andere Leute, ald Moſes und Elias, da geweien waren.
Da und demnach feine Auslegungsweije genügen fann, fo
haben wir nun, wie überall, wo diefer Fall eintritt, die ge⸗
fchichtliche Glaubwürdigkeit der Erzählung zu unterfuchen.
Zwar ftimmen die drei Synoptifer in zwei wichtigen Punkten,
in der Zeitbeftimmung „feche Tage nachher“ (M. V. 1, Mark.
V. 2), fo wie darin, daß bei allen die Heilung des dämoniſchen
Knaben unmittelbar auf die Verklärung folgt (M. 14 u. A.),
ganz überein; allein dieß darf nicht auffallen, da gewiß bei
Abfaffung der Evangelien nicht wenige Punkte der Ueberliefes
zung fchon ganz ftehend geworden waren. Sm Gegentheile ift
der Umſtand weit wichtiger, daß Johannes von der ganzen
Gefchichte nichts erzählt. Warum er fie nicht erzählte, wenn
er fie fannte, iſt um fo weniger einzufehen, da fie ſo ſehr
zur Beftätigung feiner Anficht von Jeſu gaöttlihem Keen
II. 23
354
(1, 14) dienen konnte; der abgenukte Einwand, daß er Be
kanntes nicht wieder erzählen wolle, paßt hier um fo weniger,
da er ja Augenzeuge geweien. Man fagt aber, er. habe bie
Verflärung nicht erzählen wollen, um den von ihm in ben
Briefen befämpften Dofeten, die Sefu nur einen Scheins
förper liehen, feinen Vorſchub zu leiſten; allein alsdann durfte
er auch das Mandeln Sein auf dem Meere hicht erzählen,
was er weit cher hätte weglaffen können, ald die in jeder
Beziehung fo bedeutungsvolle Verklärung. Uebrigens ſtreitet
ein fo partheiifches Auslaffen gegen die apoftolifche Redlichkeit.
Wir müffen alfo zu feiner Ehre annchmen, daß er die Ge=
fehichte nicht Fannte, und ſchon darin einen Grund zu Zwei—
feln an ihrer geichichtlichen Wahtheit herleiten. Das angeb=
liche Zeugniß des Petrus, in 2 Petr. 1, 17, entfcheidet hiewe
nichts, Da diefer Brief anerfanntermaßen unächt ift.
Fin ebenfalls wichtiges Bedenken liegt in der Unterredung „
die Jeſus unmittelbar nad) der Verklärung mit den Süngerzt
gehabt haben fol CM. 8.10). Es fällt nämlidy fehr auf ,
daß dieſe, als fie eben von einer Ericheinung bes Elias zar-
rücfehrten, noch fragen fonnten, ob denn wirklich Elias wies
der erfcheinen müffe? „Hätten fie nur das vermißt, ware
Seins von dem wieder erfcheinenden Elias ihnen verfihert, .
daß er Alles zuvor auch ordnen (DB. 11) müffe, was Fir
allerdings an feiner Erjcheinung vermiffen Fonnten, ſo durften
fie audy nur dieß in Frage flellen. Nuffallender noch iſt
Jeſu Antwort, indem er das Auftreten des Täufers als Die
Erſcheinung des (zweiten) Elias bezeichnet, gleich als wilfe er
felbft nichts von dem fo eben gefehenen (wahren) Elias! —
Die Anknüpfung diefer Rede an die Verklärung kann alfo nır
äußerlich durch den Namen des Eliad bewirft worden fein;
oder vielmehr, beide vertragen fich gar nicht miteinander!
Denn nicht nur unmittelbar nach der Erſcheinung des Elias
fonnten die Sünger diefe Frage nicht thun, fondern überhaupt
gar nicht, weil fie fich jener ja ftets erinnern mußten; audı
nicht vorher kann ihnen Jeſus die oben genannte Antwort
gegeben haben; denn er erflärt darin ja ausdrücklich, daß
Johannes der Elias fer, deffen Ericheinung man erwarte,
und dann hätte die Vertlürungdaddndte iin tes Terthume
355
überwiefen. Eins von beiden, die Verklärung oder jene Us
Berredung, Fann nicht flattgefunden haben; und hier nehmen
wir fein Bedenken, uns für die Unterredung zu entfcheis
ben. Der Suhalt derfelben ift durch M. 11, 14 und Luk. 1,
17 ganz beftätige, während Die Perflärungsgefdjichte Alles
gegen fih hat. Es find alfo zwei ganz verfihiedene Erzähs
lungsſtücke, und zwar aus verfchiedenen Zeiten, hier unges
ſchickt an einander gereiht worden: bag frühere, die Unters
zebung enthaltende, und das fpätere, Die Verflärungsgefchichte.
Die frühere Anficht nämlich begnügte ſich damit, Die Verfüns
Digung von dem Wiederaufftchen des Eliad vor dem Wirken
bes Meſſias in dem Täufer erfüllt zu ſehen; der fpäteren ges
nügte dieß nicht; er mußte auch perfünlich und eigentlich
erfchienen fein, und fo entftand unfere Erzählung, die ſchon
mit dem Gefagten ald Mythe bezeichnet ift.
Wie aber konnte eine folche Mythe entftehen? Hier bietet
ſich ung als nächite Erklärung der fonnenartige Glanz dar:
dem Drientalen ift nämlicdy das Leuchten Sinnbild alles Gros
fen. und Herrlichen; DBeifpiele: die Frommen werden der
Sonne verglihen (Richt. 5, 31), das Loos der Gerechten
it gleich dem Glanze der Sterne (Dan. 12, 3); Gott ers
fcheint in ftrahlendem Lichte (Pf. 50, 2, 3); die Engel mit
glänzendem Angeficht und leuchtenden Gewanden (Dan. 7,9;
Dffenb. 1, 13); felbft in fpäteren Sagen erfcheinen Rabbinen
von überirdifchem Glanze umfloffen. Zunächſt aber lag für
unfere Mythe das leuchtende Antlig des Mofes vor, nnd
es war rabbinifche Borftellung, die auch 2 Kor. 3, 7 ꝛc. ans
gedeutet ift, daß auch der Meſſias in folhem Ganze fid,
zeigen müffe; wenn mın gar von fpäteren jüdifchen Schrift⸗
ftellern der Mangel desfelben bei Jeſu ald ein Beweis dafür
angeführt wurde, Daß er der Meſſias nicht geweſen fein Fönne,
wie nahe lag es da der chriftlihen Sage, nach jenem Bor:
bilde auch Jeſu eine erhöhten Außeren Glanz zu leihen? einen
Glanz, der ſich ſelbſt über fein Gewand erftredte! Aber
felbft die einzelnen Züge unferer Mythe fanden ſich in der
Sage von Moſes vorgebildet: dieſer ward ebenfalls auf
einem Berge, dem Sinai, von Glanz umleuchtetz auch ihm
folgen drei Bertraute (2 Miof. 24,1, - 1V, vn anypheren‘,
356
auch hier ein leichtes Gewölle und eine Stimme des
Herm (2.15 — 18). Der Inhalt übrigene der über Jeſum
ergangenen Stimme iſt theils, wie bei ber Taufe, aus
Pi. 2, 8, theild aus 5 Mof. 18, 15 entiehnt.
Ehen fo lag in uralten Vorftellungen das Erfcheinen des
Moſes und Elias begründet: mehrere Vorläufer ſollte fchen
nach Sef. 52, 9 20. der Meffias haben, namentlich den Elias
Dial. 3, 23), und nad) fpäteren Deutungen auch den Moſes:
wo aber konnten fie fchicflicher erfcheinen, als bei der höchſten
Berherrlichung des Meſſias? Daß fie ſich mit demjelben uns
terredeten, verſtand fich nun von ſelbſt; und worüber wohl
eher, als über das eigentliche meifianiihe Geheimniß des
neuen Teftamentes, das Leiden und Sterben Jeſu? — Es
hatte alfo unfer Mythus — und dafür halten die meiften
jetigen Theologen unfere Erzählung — einen gedoppelten
Zwed: Jeſum aufs Höchfte zu verflüren, ihn mit feinen bei
den Borläufern, dem Gründer und dem Wiederheriteller des
Sottesreiches, zujammen zu bringen, und dadurch ale den
Bollender diejes Reiches Darzuitellen.
An unjerem Beifpiele laßt fich recht deutlich nachweifen,
wie fehr die natürliche Erklärung den höheren Inhalt
der Erzählungen aufopfert, um eine äußere gefchichtliche Form
feftzuhalten: wie bedeutungslos wäre doch das Ganze, wenn
der Glanz nur optiſche Täuſchung war, wenn die Erfchienes
nen unbekannte Menjchen waren, wie wenig des Erzählend
werth! Faffen wir die Sache aber mythifch, fo retten wir
eine höhere Idee, die ſich und als mwefentlichen Inhalt der
altschriftlihen Borftellungen offenbart, und erft dann Fünnen
wir begreifen, warum die Evangelien diefer Erzählung eine
fo wichtige Stelle einräumen. Ä
(M. 19, 15 Mark. 10, 1; Luk. 9, 51, 525 17, 11;
Soh. 12, 1 und andere Stellen.)
Ueber Sefu lebte, verhängnißvolle Reife nadı Serufalem,
welche bald auf die Verklärung folgte, fimmen die Synoptiker
zunächft unter ſich, und fodann ale uiammen genommen mit
357
Johannes nicht überein, und zwar fo wenig, daß alle Vers
sche einer Ausgleihung fcheitern mußten. Darin find die
Spnoptifer einftimmig, daß Sefus von Galiläa aus nad
terufalem reiste; allein mährend aus des M. freilich fehr
vunkler, von Markus aber deutlicher wiedergegebener Dar⸗
tellung unverkennbar hervorgeht, daß er feinen Weg durch
ie Randfchaft Peraͤa nahm, läßt ihn Lukas den Tängeren
urch Samarien emfchlagen (9, 52), wiewohl auch Diefer,
B. 51, die Sache nicht ganz Far und ausdrücklich hinftellt.
Erft gegen Ende des Weges ftimmen fie wieder überein, ins
yem alle. Jeſum nach Serufalem von Jericho her (M. 20,
29) kommen laffen; einer Stadt, die mehr nad) Peräa, als
nach Samarien hin lag. — Ganz abweichend von diefer Dars
ſtellung ift die des Johannes; ihm zufolge hat Jeſus fchon
por dem Laubhüttenfefte des vorigen Sahres Galiläa vers
faffen (7, 1—10); nadı dem Fefte der Tempelweihe diefes
Jahres war er nadı Peräa gegangen, von wo ihn der Tod
des Lazarus nach Bethanien, in die Nähe Serufalems, rief
(11, 8); aus Furcht vor den Nachſtellungen der Pharifäer
entwich er nad; Ephraim, nahe der Wüſte; und von hier aus
ging er, ohne Sericho zu berühren, auf das Felt nad, Jeru⸗
ſalem, und zwar ebenfalls über Bethanien.
Dieſe Widerfprüche verſuchte man, obgleich, Lukas aus⸗
drücklich ſagt, Jeſus ſei abgereist, um feinem Leiden entges
gen (9, 51), demnach zum letzten Paſcha, zu gehen, durch
die Annahme aufzulöfen, fein Aufbruch aus Galiläa habe dem
von Sohannes erwähnten Tempelfeſte gegolten: Allein dann
müßten die Eynoptifer alles zwifchen dieſer Abreife und der
legten Ankunft in Ierufalem Liegende, — Jeſu erfte Anwefens
heit in diefer Stadt, das Feſt felbft, die Reife nach Peräa,
dag Hineilen nad) Bethanien und die Flucht nach Ephraim,
gradezu überfprungen haben. Diefe gewaltfame, halsbrechende
Erflärung findet nicht einmal einen Anhalt in der allerdings
feltfamen Notiz des Lukas, der, nachdem er 9, 51 ganz bes
ftinemt die Abreife ans Galilda zum Pafcha gemeldet hatte,
Sefum 17, 11 abermals nach Serufalem reifen und „mitten
durch Samaria und Galiläa“ ziehen läßt. Diefe vereinzelte
Angabe, ohne allen Zufammenhang, beweist nur, daß Lukas
358
feine firenge Zeitfolge And Anordnung ber. Begebenheiten ein⸗
hält; höchftend, daß er zwei verfchiedene Neifeberichte vor ſich
hatte, die er ‚beide beuugen zu müffen meinte, ohne den Wi—
berfpruch zu bedenfen, in den er ſich dadurch verwidelte
Aus der Beichaffenheit aller dieſer Berichte aber geht unzivei=
beutig hervor, daß ſich ſchon frühe abweichende. Nachrichten
über jene letzte Reife bildeten, weßhalb auch ihre Ausgleichung
zu einem ficheren Nefultate als unmöglid) aufzugeben it...
AM. 21, 1—115 Mark. 11, 1—10; ul. 19, 29 — 40;
Joh. 12, 1, 12— 19; ſodann M. 26, 6, 7; Marl.
14, 35; Joh. 12, 1.)
Aber auch über den Ausgangspunft der Reife, über bie
legte Station vor Serufalem, find die Synoptiker mit
Tohannes nicht einig; den eriteren zufolge jcheint ed, Daß
Jeſus in Einem Zage von Jericho nadı Serufalen reiste; bei
Johannes übernachtet er vorher noch in Bethanien. Man
nimmt nun gewöhnlich an, die Synoptifer haben zwar von
jenem Nachtlager auch gewußt, die Erzählung. jedocd) durch
Angabe desjelben nicht unterbrechen wollen; allein fo lautet
ihre Darftellung doch nicht, daß fich ein Nachtlager dazwiſchen
ſchieben ließe; ja, fie fchließt es fogar gänzlich aus. Denn
fie erzählen, Jeſus habe noch vor jeiner Ankunft in Berhanien
zwei Jünger voraus gejchict, un einen Eſel zu holen, den er
zum Reiten nad) Serufalem gebrauchen wollte (M. 21, 1;
Mark 11, 1 20); hatte er aber im Sinne, in jenem Dorfe
zu übernachten, ſo war das Beſchicken des Ejels für jest nod)
fehr überflüffig; ed war fogar widerfinnig, wenn er denfelben,
wie ed nach M. allen Aufchein hat, gar aus dem noch jen⸗
ſeits Bethanien gelegenen Bethphage holen liep. . Ferner
erzählt Markus wenigftens, daß Jeſus erit gegen Abend nadı
Serufalem kam, und daher einitweilen Tempel und Anderes
nur befeben fonnte (Mark. 11, 12), worauf er nad) Bethanien
wieder zurüdging. Ein fo fpäted Kommen wäre ja unerflärs
lich, wenn er in diefem fo nahen Dorfe übernachtet hätte;
ſcheint auch M., der Jeſum an demjelben Tage noch vielerlei
in ber Stadt verrichten laßt C21, 12), ihn früher dajelbit
aufemmen. zu laſſen, ſo hangt doch bei allen Dreien bie‘ Dans
ſtellnug fo euge zufammen,. daß in Der fortlaufenden -Exjähs
Aung von dem Hinkommen ‚gegen, jenes Dorf, ber Sendung
der. Jünger, der Ankunft des Eſels uud dem Einzuge in. Jeru⸗
falem ein dazwiſchenliegendes Nachtlager nixgends Platz ſir der
Da. alſo dieſe bedeutende Differenz zwiſchen Spnoptikern und
Zohannes nicht auszugleichen iſt, ſo nehmen Andere einen.
dDoppelten. Einzug Jeſu an, und ſtellen bie Sache fo: Jeſus
zog zuerſt mit der Feſtkarawane durch Bethanien gerade nach -
Serufalem und wurde mit Jubel empfangen; am Abende ging
er nach Bethanien zurück (Spnoptifer), und ed erfolgte nın
anderen Tages ber zweite Einzug, wobei ihm viel Volkes
entgegen.tam (Johannes)“. Aber warum erzählt doch jeder
Evangelift nur Einen. Einzug ?.- „Es mag wehl, fagt man
dem Johannes. zu Liebe, dieſ er waͤhrend des erſten Einzuges
iigendwohin verſchickt worden ſein allein alsdann en
wir für M. biefelbe Ehrenrettung - in Anfpruc; nehmen, bes
men aber damit ein fehr mißliches Verdoppeln eines ſchou
in ſeinem einmaligen Eintreffen ganz unwahrſcheinlichen Um⸗
ſtandes. Doch es iſt ja mit des Johannes Erzählung wenig⸗
ſtens ein dem ſeinigen vorausgegangener Einzug ganz unver⸗
traglich. Er ſagt nämlich, Tage zuvor, alſo an dem Tage,
an welchem der ſynoptiſche Einzug erfolgt ſein müßte, ſeien
viele Juden aus der Stadt nach Bethanien heransgekommen,
um Jeſum zu ſehen (12, 11); wenn er ſchon in Serufalem
eingezogen war — fo.wäre dieß ganz unnöthig, .ja es wäre
Fogar .thöricht geweſen, da Jeſus erſt in der Nacht nach
Bethanien wieder. zurückgekehrt ſein konnte. Ferner hat ein
weiter ſeierlicher Empfang gar keinen rechten Sinn nach
einem erſten; Jeſus würde ihn ficher abgelehnt oder vermieden
Haben; und wie unwahrſcheinlich, daß beide ‚unter fo ganz
gleichen Umftänden .flatt. gehabt: haben follen! — Lie
Scywierigfeit wächst, wenn wir die Mahlzeit in Bethaniin
bedenfen, bei welcher Jeſus gefalbt wurde, und wovon alle
Evangeliften erzählen (Stellen |. oben); Johannes verfegt fie
vor den Einzug (11, 2 ıc.), die Synoptifer nach demielben
EN. 26, 6). Kun könnte man freilich fagen, ‚gerade das be⸗
ſtatigt hen doppelten Einzug; bie Mahlzeit fiel:zwiihen mn
360
der Synoptifer und den des Iohannes; allein die johanneifche
Mahlzeit fällt fech8, die fynoptifhe nur zwei Tage vor
bas Pafcha, und es mußte alfo diefe Doch, dem Johannes
ganz entgegen, auch nad dem johanneifchen Einzuge ge
halten worden fein. Soll man nun gar auch zwei Mahlzeiten,
ebenfalls unter ganz gleichen Umitänden, annehmen? Dieß
wird und Niemand zumuthen, und es bleibt dabei, Daß auch
in Bezug auf den Einzug, wie bei der Reife, die gefchichtliche
Wahrheit durch die Sage verwifcht, getrübt oder verwirrt
wurde.
Indem wir nun den näheren Hergang bes Einzuges felbft
betrachten, haben wir zunaͤchſt bei einem charafterifchen Zuge,
bem Reiten Jeſu auf einem Efel, zu verweilen. Die Synops
tifer erzählen ganz aueführlid), wie und woher dag Thier
herbeigefchafft worden (ſ. oben). Am auffallendften ift die
Angabe des M., daß Jeſus zwei, eine Efelin mit ihrem Füllen,
habe holen laffen, und zwar in der Abficht, um auf beiden
zu reiten. Wenn es ſchon fehr zweifelhaft ift, daß ein Eigens
thümer ein nod) an der Mutter faugendes Thier zum Iteiten
hergeben follte, fo fünnen wir ung gar nicht denfen, wie Jeſus
bei dem kurzen Wege zwei Efel nöthig hatte, um auf beiden
abwechfelnd reiten. Manche fuchen daher diefe Sonderbarfeit
zu entfernen, theild durch unerlaubte Aenderung der Worte,
theils durch unzuläßige Erklärungen, womit ung überdieß dag
noch nicht erflärt wird, wozu zwei Thiere beftellt wurden,
wenn nur Eins zum Reiten dienen follte. Allein man erfennt
leicht, wie M. zu diefer irrthümlichen Angabe fam. Er
fah nämlich das Reiten auf einem Efel als Erfüllung einer
WWeiffagung (Zach. 9, 9) anz nun wird in diefer Stelle nur
Ein Thier, aber mit zwei Namen genannt; das beide vers
bindende Wörtchen, Das fo viel heißt, als „näntlich“*, nahm
M. in der Bedeutung von „und“, glaubte aber in der Pros
phetenitelle zwei Thiere zu finden, und hielt es nun für Pflicht,
auch in feiner Erzählung ſtets von zweien zu ſprechen. —
Andere Eigenheiten finden füch bei Marfus und Lukas; naments
lich, um von ihren fchleppenden Wiederholungen zu fchweigen,
Se eitten' Wiek‘ Wenige „ai Bei Ai
geriten hatte (V. DH "Bi woche oa
noch nicht zugerittenes Thier verlangen, das ihm die "größte
Mühe machen, und unfehlbar ben ganzen Feſtzug ſtoͤren uußtet?
Her min ſieht wohl, woher diefer Ing in ber Erzähhintg Ä
ſtammt; es war jüdifche Verftellung, daß Thiere, die von
Menſchen noch nicht gebraucht worden, heilig waren. Dip
aber Jeſus darauf, als etwas Eitles, Aeußerliches, von den
Begleitern überdieß ſchwerlich Wahrgenommenes Werth gelegt
haben ſollte, iſt undenkbar, weil feiner unwuͤrdig; feht bes
greiflich aber, daß ſchon frühe die chriſtliche Sage ihn’ ai
verherrlichen glaubte, wenn fie, wie er ja auch fpäter in ein
noch nie gebrauchtes Grab gelegt worden ſein ſollte, ihm ein
ſolches Thier lieh; die Evangeliften ſchrieben dieß ohne Be -
benfen ‚nach, „weil ihnen freilich bei'm Schreiben der nicht
zigerittene Eſel nicht die Unbequemlichkeit verurfachte, ; welche
er Sefu bei'm Reiten verurfacht haben müßte*. — Eine andere
Bedenflichkeit erregt der Allen gemeinfame Zug, daß Jeſus
fo genau vorherfagt, wo die Jünger das Thier finden, "und
daß ber Eigenthümer es ohne Weigerung hergeben wůrde
AM. V. 2, 3). Auf eine Verabredung konnte fich bieß nicht
gründen, da ja Jeſus eben erft aus den fernen Galilän fam; "
andy nicht auf feine Vermuthung, daß des Feſtes wegen ba
und da Laftthiere zu finden fein werden, weil ber Auftrag
auf ein ganz beftimmtes lautet. Nein! es wollte daburdy bie
Sage einestheild die magiſche Gewalt, welche der Namen dei
„Herrn“ überall ausübte, anderntheils fein wunderbares Vorher⸗
wiſſen abermals ſchlagend herausheben, wie z. B. früher bei
Berufung der Juͤnger ꝛc.
Warum aber die Sage gerade ſo dieſes Vorherwiſſen ge⸗
ſtaltete, davon finden wir den Grund in einer alt⸗ teſtament⸗
lichen Stelle, nämlich 1 Moſ. 49, 11, wo von dem anger
bundenen &fel des „Friedensfürften *: die Rede ift; ſchon
frühe wurde nicht nur diefer Friedensfürſt auf den Meiftag,
fondern auch die ganze Stelle meffianifch gedeutet. Daß fie
von unfern Evangeliſten nicht auch angeführt wird, erflärt
fih nur dadurch „daß fie, obgleich fie den Grund der Sage
bildete, doch allmälig wieder aus der wmnitteluoxren Srumes
362
gung verſchwunden war, wie dieß ofters gu geſcheben pfleat;
auch verräth fi) die mehrfache Umbildung ber Erzählung
ſchon dadurdı, daß bie Umitände hier ſchon etwas anders bau
geftellt find, als in ber altsteitamentlichen Stelle jelbit fie ſich
verhalten. — Jobannes übrigens weiß von dieſem Allem
nichts, und erzählt ganz einfach, Jeſus habe einen Eſel ge
funden und jei Darauf geritten.
Alle Berichte erzählen ferner von einer lauten, Jeſu dar:
gebrachten, Huldigung beim Einzuge (CM. 8 2c.). Zwar
die Worte: „Gelobt fei der ıc.“, und „Hoſianna“ waren
auch fonft gewöhnliche Feſtgrüße, Dagegen bemeist das: „dem
Sohne Davids, dem Könige in Ssjrael“, dag man Jeſum bier
in ganz bejonderem Sinne willfommen bie. Und zwar ges
ſchah dieß nad M. und Marfus von einem großen Bolfes
haufen, womit ſich Lukas leicht vereinigen läßt mit jeinen
Worten: „die ganze Menge feiner Sünger“, weil damit eben
in weiterem Sinne feine Anhänger gemeint find. Dagegen
wird des Johannes Angabe, daß viele aus Jeruſalem ihm
Entgegenfommende ®. 12, 13) in den Willkomm eingejtimmt
haben, dadurch verdächtig, daß fich dieſes Entgegenfommen
auf die Erweckung des Lazarus jtügt, die, wie wir jahen, ale
ungefchichtlichh zu betrachten ijt.. — Endlich jtimmen alle
Evangelien darin überein, daß die Pharijäer großes Aerger:
niß an diefem feitlichen Empfange nahmen, was fie bei Jo—⸗
hannes (B. 19) unter einander, bei Lufas (V. 39) gegen
Sefum fogleih, nad) M. (3. 15, 16) erit im Tempel aus:
fpredhen.
Was nun ſchließlich den Anlaß zur Ausbildung unſerer
Erzählung "gab, "wird und hinfänglich durch die Evangeliſten
feloft fund gethan, die darin die Erfüllung einer altsteffament-
lichen Weifjagung CM. V. 5) erbliden. Wenn übrigens
auch Jeſus in der angezogenen Stelle eine meifianijche Weil
fagung erblidte, fo hat er geirrt; denn dieſe Stelle bezieht
ſich, wenn auch nicht auf einen geſchichtlichen Fürſten, doch
wenigſtens auf einen Fürſten, der in friedlichem Beſitze von
Jeruſalem gedacht werden muß. Er konnte aber doch nicht
| Zweites aepitel
Im Nieten son. feinem: Tode, feiner inferkehung oo
Bu und Wiederkuuft zu Gerichte. Rus
D 5 Schr viele pereinzelte Stellen. —
"g Evangelien berichten, daß Jeſus ſein Leiden und ſeinen
Tod nicht nur allgemein, ſondern in allen ‚näheren Umſtaͤnden
noransgefagt ‚habe; ben Dxt, bie Zeit, bie Urheber, ‚die
Art und Weile (nämlid, Kreuzigung in Folge. eines fürmlichen
Nrtheild) und die‘ vielen Damit. ‚verbundenen Schmaͤhungen
(M..16, 21; 20, 18, 19). Es findet auch in dieſer Bezie
hung wiſchen den Synoptikern und Johannes ein mehrfacher
Unterſchied ſtatt. Letzterer laßt Jeſum Alles. nur. unbeſtimmt
zund in dunkler Bilderrede vortragen und ‚gefteht felöft,. daß
Dieles deu Juͤngern erſt nach Jeſu Tode. deutlich geworden
fti (2, 22); befonders. oft. kommt. der bildfiche Ausdrud „ers
Höht: werden “ vor, der ſowohl von Verherrlichung, wie vom
Kreuzestod verſtanden wird; gerne vergleicht daher hier
Jeſus dieſen Tod mit ber Erhöhung. der Schlange in der 3—
Wüuͤſte; oder ſpricht von einem Weggehen, , wohin man. ihm
nicht folgen fünne (7, 33 16). Ferner gehen ſolche Vorauss
fagungen bei Sohannes durch das ganze ‚öffentliche Leben
Sefu, während fie‘ bei den Synoptikern ſich nur in den letzten
Zeiten desſelben finden; endlich ſpricht er ſie dort‘ por ‚allen
Volle, hier nur.gegen vertraute Jünger aus. — Mir müflen
nun, in nähere . Unterſuchung eintretend, zunaͤchſt die Glaub⸗
wuͤrdigkeit der ganz ſpeziellen Vorausſagungen, und alsdann
die Denkbarkeit ſolcher FVoraucſagungen im "gemeinen, väter
veifen.,
a !
.,% En une
364
Jeſus konnte bie einzelnen Umftände feines Leidens entweber,
wie die Supranaturaliiten annehmen, vermöge feines götts
lichen, prophetifchen Geiſtes vorherwiffen, oder, den Ratio⸗
naliften zufolge, diefe Kenntniß auf dem Wege natürlicher,
menfchlicher ‚Berechnung erlangt haben. Belennt man fid
zur eriteren Anficht, fo muß man zugleich annehmen, daß Ges
fus fein göttliches Wiffen vorzüglich aus Prophezeihungen des
alten Teſtamentes, auf die er ſich fo oft beruft, fchöpfte.
Die Zeit ded Todes könnte er aledann nach Daniel beredıs
net, den Drt, naͤmlich Jeruſalem, durdy die Betrachtung, daß
bier fo viele Propheten fchon geblutet hatten (Luk. 13, 33),
gefunden haben; auf eine förmlich Verurtheilung konnte
ihn Sef. 53, 8, auf eine foldye durch die Priefter des eiges
nen Volkes das Gleichniß vom verworfenen Baufteine (Pfalm
118, 22; Apoftelg. 4, 11) geführt haben; — daß Heiden
ihn plagen würden, fchien aus manchen altsteftamentlichen
Stellen hervorzugehen; und die Kreuzigung könnte er von
der Schlange in der Wüfte (4 Mof. 21, 8 ıc.), fo wie von
dem Durchbohren der Hände in Pf. 22, 17 hergenommen
haben. Allein auf folche Deutungen konnte ihn der göttliche
Geiſt nicht geführt haben, da nad) neueren Forfchungen alle
jene Stellen durchaus nicht auf den Mefftas zu beziehen find:
fo ift 3.8. Sef. 50, 6 nur von den am Propheten felbft vers
übten Mißhandlungen die Rede; ef. 53 von den Drangfalen
des Prophetenitandes; Pf. 118 handelt von der unerwarteten
Rettung des Volkes; Pf. 22 enthält die Klagen eines bedräng-
ten Berbannten; — und fo ift durchweg in allen jenen und
andern früher für mefftanifch gehaltenen Stellen von etwas
Anderem die Rede. Jeſus muß alfo, da doc; unmöglich der
göttliche Geift in ihm ein „Lügengeift * geweſen fein fann,
auf anderem, alfo auf natürlihem Wege zu jener Kennts
niß feines Fünftigen Schickſals gelangt fein. — Er fünnte
nämlich durch Nachdenken die Heberzeugung erlangt haben, Die
Priefter werden ihn flürzen, weil diefe Neigung und Madıt
genug dazu hatten, und zwar m Serufalem, wo fie am
mächtigften waren; daß er den Römern überantwortet, daß
er arg mißhandelt werden, daß er am Kreuze den Tod bes
‚Dochveerräthers fierben würde, ging leicht aus den damaligen
Berhäktnigen mb Gebränden, wie and. bem barbariſchen Ver⸗
fahren bei. Kriminalverhandlungen hervor. — Jedoch auch dieſe
Gelfärungämeife - hat die größten. Schwierigkeiten Woher
konnte Jeſus denn willen, daß nicht fein Landesherr, Herodes
der. ben Täufer ‚getödtet hatte, auch ihn verderben, ober daß
sicht einer von ben vielen. Mordverſuchen des. Volkes auf
ihn. (3 2. oh. 8, 59) einmal gelingen werde? und endlich;
wie. mochte er: fo zuverläßig behaupten, daß gerabe bei feiner
Jetzten Reife nach Jeruſalem die Aufıhläge feiner Feinde .zus
Ausfuhrung kommen werben? - Eine Berufung auf eine it.
teftamentliche Stelle iſt diefer natürlichen Auslegung noch un⸗
günftiger als der eriten, weil es fehr zweifelhaft:üt, ob übers
haupt das alte: Zeftament die bee eines leidenden unb Ken
benden Meſſias fennt.
v Muß man, alfo alle angeblichen VBorherfagungen Jeſu von
den beſonderen Umſtänden ſeines Todes als Weiſſagungen
nach dem Erfolge betrachten, fo verdient. Johannes allerdings
Rob, daß er Jeſu Ausdrücke über dieſen Punkt fo allgemein,
ubeitimmt hält, und die fpätere Deutung davon ſcheidet,
wiewohl er doch an Einer Stelle, 8, 28, zu beflimmt. den .
Tod durch feine Feinde vorherfagt, um. hier einen großen
Vorzug in Anſpruch nehmen zu können. Ueberhaupt aber liebt
Der Evangelift ja das Dunfle, Räthfelhafte und Myſterioͤſe.
Wie die urchriſtliche Sage auf folche Vorherfagumgen nad
bem Erfolge kommen konnte, fieht man bald: Die Krenzigung
Des Meſſias erregte bei allen Gegnern des Chriftentkums den
größten Anftoß (1 Kor. 1, 233: diefer wurde zwar glänzend
befeitigt durch die Auferfiehung; aber. ed fchien doch auch fchon
eine dem Tode vorausgegangene Aufhebung besfelben
nöthig. Wodurch anders konnte dieſe bewirkt werben, . ald
durch Bas ausgeſprochene Vorherwiſſen des Leidenden felbft?
Dadurch erſchien der Tod als ein nothwendiges Glied der
großen Heilsordnung, dem ſich der Erzähler nicht nur mit
vollem Bewußtſeiu, fondern auch mit freiem Willen fügte,
da er, im Befige jenes. Vorherwiſſens (Joh. 10, 17 .; M:
26, 53), ihn auch hätte umgehen Tonnen. So wurde das
ſcheinbar Sohmachvoue zum größten wre. 3
u
366
Sehen wir num aber and) von allen in Jeſn Reden liegen,
ben Borausfagungen über die einzelnen Umftänbe feines
Todes ab, fo bleiben noch viele über denfelben im Allges
meinen übrig. Da er auch diefe aus alt=teftamentlichen
Stellen ableitet, welche durchaus feine foldye Vorherverkün⸗
digung enthalten, fo müjfen wir auch hier von vornherein
laugnen, daß feine hierher gehörigen Reden Ausflüffe eines
göttlichen Geiltes fein. Durch eine natürlich verftändige
Berechnung aber Tonnte er allerdings feinen gemaltfamen Tod
mit großer Wahrfcheinlichfeit vorherfehen: die herrfchende Pries
fterparthei hatte. er fich zur unverföhnlichen Feindin gemacht
(Joh. 10, 11 ꝛc) und das Beiſpiel früherer Propheten mußte
ihn ahnen laffen, was auch er zu fürchten habe (M. 5, 12;
21, 33 ꝛc.)
Dennoch müffen wir die Frage aufwerfen, ob er feinen
Tod wirklich aucd voraus gefagt haben fünme, weil diefer
Annahme das Benehmen feiner Jünger gänzlich widerftreitet.
Denn nit nur fonnten fie ihn, wenn er von feinem Tode
fprach, gar nicht begreifen (M. 16, 22); fondern öfters vers
ftanden fie ihm nicht einmal (Mark. 9, 32; Luk. 9, 45; 18,
34): — und ald er num wirflich am Kreuze endete, da was
ren alle ihre Hoffnungen wie vernichtet (Ruf. 24, 20 x. ), ihr
Glaube an Sefu Mefftanität erfehüttert; was ja nicht hätte
fein fünnen, wenn Jeſus, namentlih an der Hand altsteftas
mentlicher Stellen, ihnen diefes Ende fo beftimmt. verfündet
hatte. Entweder alfo hat Jeſus dieß nicht gethan, oder die
Jünger wurden nicht fo muthlos, wie uns erzählt wird
Beides konnte von der Sage erdichtet werden, die Vorherver—
fündung aus fchon oben angeführten Gründen, die Muthlofiger
feit, um den Abftand der Tünger (vor Ausgießung des heil
Geiftes) von Jeſu recht‘ grell herworzuheben. Melches aber”
iſt nun das Wahrfcheinlichere® Um darüber zu entfcheiden —
müffen wir die Frage in Betracht ziehen: lag die Erwartung
von dem Leiden und Sterben des Meſſias fchon in den das
maligen Zeitvorftelungen? War dieß der Fall, fo mußten
die Jünger um fo mehr Jeſu Borherfagungen verftehen, und
um fo weniger fpäter an ihm irre werden.
Allein kaum ift eine andere thenlogiiche Frage (0 ſchwer m
entfcheibeii;,: als biefe, well 68 "und: am genanen RNachrichten Ä
über biefen Punkt durchaus. fehlt. - Dem alten Teſtamente iſt
die Anſicht von des Meſſias gewaltſamem Tode fremd, wen
ſich auch darin bie Lehre von einer in ber meſſianiſchen Zeit
vorzunehmenden Sühne des Volkes findet (Ezech. 36,255 -
Sach. 13,15 1 Dan. 9,24). Aus den apokryphiſchen Bir
chern des alten Teftanientes, ſo wie aus den fpäteren jäbifchen
Schriftitellern Philo und Joſephus [&ßt ſich nichts entnehs
men; wir find alſo nur auf Bas nene Teitament und anf bie
fPäteren Rabbinen verwiefen. — Aus dem neuen Teſtamente
fcheint mit Gewißheit hervorzugehen, daß damals Niemand an .
einen leidenden und fterbenden Meſſias dachte; den meiften
Iuden war derfelbe ein Aergerniß, ſie hatten and bem Geſetze
‚gelernt, „daß der Meſſias (Ehrifins) in alle Ewigkeit bleibe“
Gob. 12, 34); und wie hätten fonft die Sänger fo fchwer in beit
Kreuzestod ihres Jeſu fich finden Fönnen ?- Daß aber einzelne
erleuchtete und höher gebildete Juden dennoch jene Anficht hats
ten, wi man and zwei Stellen: beweifen: aus Luk. 2, 35,
mo der begeifterte Simeon dem Jeſuskinde bittere geiben vers
findet, und aus. oh. 1, 29, wo ber Täufer Jeſus als „das
Lamm Gottes, dad ꝛc.“ bezeichnet: allein beide Stellen bewei⸗
fen nichts, ba fie, wie wir. fhon früher geſehen haben, der
Mythe angehören. Eben fo wenig Gewicht haben die Auss
fprüche der Apoftel, durch welche fie lange nach Jeſu Tode
die Nothwendigkeit desſelben aus dem alten Teſtamente zu be⸗
weiſen ſuchen, wie Petrus: (Apoſtelg. 3, 18; 1Petr. 1, 11 ꝛc) |
Paulus (1 Kor. 15, 3). und Philippus (&tpoftelg. :8, 35):
denn wie. leicht können folche Deutungen erſt aus dem Erfolge
heraus gemacht worden fen!
Auch in den fpäteren Rabbinen laͤßt fi. die Idee des
fterbenden Meſſias ſchwerlich nachweiſen. Zwar bezieht Hillel
ber Aeltere Jeſ. 52, 13— 53, wo von Leiden und Tode die
Rede ift, auf den Meffias, it aber überall geneigt, dieſe
Ausſprüche der Stelle wieder vom Volke Iſrael zu verftchen:
eben fo ungewiß ift ed, ob Rabbinen jemals im Ernfte Jeſ. 53,
wo eine leidende Perfon geſchildert wird, vom Meſſias ver⸗
ſtanden haben. Allerdings finden ſich bei. dieſen Rabbinen
Hinweiſungen auf große Drangſale, welche det metiiiiteen
368
Zeit vorausgehen würden; allein eben dieſe jollte der Meſſias
vernidhten, fammt dem lirheber berjelben, dem Antichriſt:
wenn auch hier und da von einem Leiden des Meſſias bie
Rede it, fo iſt dieß nody fein Sterben, und trifft ibn höch⸗
ftiene vor feinem meifianifchen Auftreten. Endlich ſprechen
bedeutend fpätere Rabbinen zwar auch von einem ſterbenden
Meſſias, aber dieß ift nicht der eigentliche, der Eohn Davids;
fondern der ihm untergeordnete, der Sohn Sojephs, der in
der Schlacht fallen follte. — Es iſt alſo jehr wahrjcheinlich,
daß ſich vor Jeſu Auftreten nirgends jene Vorſtellung vom
fterbenden Meifias vorfand. Su Seju jelbit aber fonnte jie
fi gar wohl entwidelt haben, nidyt nur aus Betrachtung
bes alten Teſtamentes, fondern weit mehr noch aus dem Bes
wußtjein jeines erhabenen, den Bolfsideen vom Meſſias nicht
entiprechenden Planes: ja, ed mußte fait die Ueberzeugung
in ihm fich befeitigen, daß die fonft unuberwindlichen finnlichen
Borilellungen feiner Sünger vom dem Meſſiasreiche, ald einem
irdiichen, nur durch feinen Tod zu vernichten jeien. Allein
wohl mag er denjelben jparjum und nur dunfel angedeutet
haben (wie 5.8. M. 9, 155 Luk. 13, 32), weil fie ihn doch
nicht verjtanden. Daher erklärt fid) denn das Erſtaunen der
Jünger nad) jeiner Kreuzigung: daher aber auch dag Bemühen
ber fpäteren Sage, die unbejtimmten Andeutungen Jeſu zu
bejtimnieren Borausjagungen umzubilden, wie wir fie nun
in den Evangelien vor und haben.
Auch über Zweck und Wirkungen feines Todes foll es
fus öfters ficy geäußert haben. Bon der moralijchen Noth⸗
wendigfeit desjelben handelt dad Gleichniß vom guten Hirten
(Joh. 10, 11, 15); die moraliihe Wirkjamfeit, ald Stärkung
der Giemüther, madıt das vom Samenforn, das in Der Erde eriters
ben mine Goh. 12, 24, anfchaulich, und wenn er bei Johannes fo
oft fagt, er müffe zum Vater geben, um den Seinen den „Zröjter“
zu fenden, jo beißt das eben, ohne jeinen Tod werden bie
grob finnlichen Meifiasideen fih nicht vergeiſtigen fonnen.
Bei dem legten Abendmahle nennt er jein Blur das Blut Des
„neuen Bundes“, Das heißt, die Bejiegelung des böheren, geis
ffigeren Vereines mit Gott, wie blutige Opfer am Sinai einft
einen äußeren Bund wit Jebovo befcäftiat hatten. Dieß
369
Alles. kann und mag Jeſus gar wohl’ aus ber Fülle. feines
tiefen, begeifterten Gemüthes gejprochen haben haben; was. er
aber von einem :Tode:ald Sühnopfer „zur Vergebung ber
Sünden“ (Luf. 26, 285 vergl. M. 20, 28) gejagt haben fol,
dieß mag wohl „mehr bem nach Jeſu Tode ausgebülberen Ey:
ſteme. angehören.
—IEEZ re r 1
| Auch feine Auferſtehung ſoll Jeſus nicht minder: deutlich
feinen SZüngern vorausgefagt haben: fo oft er von: feinem
Kreuzestod fpricht, laffen die Evangelien ihn hinzufegen: „und
am dritten Tage wird. er (des Menſchen Sohn) wieder. aufs
erftehen“ (M. 16, 21; 17, 23 u. 4)... .Diefe Vorherverkün⸗
digung müfjen aber feine Sünger uoch weniger gefaßt habeu,
als die feines Todes, wie nicht nur ihr Streiten über. folche
Worte (Mark. 9, 10), ſondern weit mehr noch ihr Benehmen
nach feinem Tode beweist. Nach der .Grablegung beginnen
Goh. 19, 40) oder befchliegen fie wenigftens (Marf. 16,1)
die Einbalſamirung des. Leichnam, wie wenn er der Berwes
fung anheim gefallen wäre, — die Weiber, die am dritten
Zage, wo aljo die Auferftehung gefchehen fein mußte, ‚zum
Grabe gehen, find um die Wegwälzung des Steines beforgt
(Mark. 16, 3); ald Maria den Leichnam nicht findet, tt ihr
eriter Gedanfe, er möge geitohlen worden fein (Sob. 20, 2);
— die Kunde von der Auferftehung erregt großen Schreden
(Luk. 24, 21 20.), ober wird gar für leeres Geſchwaͤtz der
Weiber gehalten (Luk, 24, 11); — der Verficherung felbit .der
Apoſtel ſchenkt Thomas feinen Glauben (Joh. 20, 25); —
endlich zweifeln die Sünger fogar noch bei des Auferfiandenen
Erſcheinung in Oalilia daran, daß er wirklich Jeſus ſei
¶ Mark. 25, 17). Wie reimt ſich das Alles mit einer klaren
Borausgerfündigung? Eins von beiden aljo, dad Benehmen
der Jünger oder die Vorherfagungen, muß erdichtet fein. —
Um dieſem firengen Schluffe zu entgehen, nehmen nun
Mandye an, Sefus habe nicht buchitäblich von feiner leiblichen
Auferftehung gefprochen, fondern nur bildlich von dem neuen
Aufſchwunge feiner unterdrücdten Lehre, was nachmald Die
Jünger eigentlich genommen hätten. Allerbingd Wi. im
Hl. 2A
370
alten Teſtamente die Wieberheritellung des ifraelitifchen Volles
unter dem. Bilde einer Auferfiehung ber Todten bargeftellt
Geſ. 26, 19); allerdings find die Worte „drei Tage“ aud
allgemeine Bezeichnung .einer furzen Zeit (Hof. 6, 2; Luk. 13,
32): — aber in jo bildlihem Sinne fünmen Worte überhaupt
doch nur in einer Rede gebraudyt werden, die in ihren gans
zen Zujammenbange einen ſinnbildlichen Anitrichh hat. Wen
fie aber in gleicher Reihe mit ganz buchftäblichen Nedeweifen,
wie in umjerm Falle, „überantwortet, verurtbeilt, gefreuzigt,
getödtet werden“, ftchen, fo müſſen ſie nothwendig auch buch⸗
ſtäblich gefaßt werden: und fagt nicht Jeſus ganz unzweidens
tig M. 26, 32: „Nach meinem Wiedererwachen gebe ich vor
euch her nach Galiläa“? — Will fidy aber eine fo buchſtäb⸗
liche Propbezeihbung mit dem fpäteren Betragen der Jünger
durchaus nicht vereinigen lajfen, fo müllen wir den, von Anbern
eingefchlagenen Ausweg ergreifen, daß die in ihrer achten
Geftalt ganz bildlichen oder Dunklen Aeußerungen Jeſu fpäter
von den Anhängern desſelben nad dem Erfolge fo umges
formt worden, dap fie, wie fie und nun die Evangelien
geben, ſich allerdings als ganz eigentliche Verfündigungen auss
nehmen. — Wir betrachten zu dieſem Zwede die vorzüglid»
jten bierher gehörigen Reden Sefu.
Als die Suden einft Jeſum, nachdem er den Tempel vom
Marktunfuge gereinigt hatte, um ein Zeichen angingen, - wos
burch er jene Befugniß zu folchem Handelt beweiien könnte,
ſprach er die befannten Worte: „Brechet diefen Tempel ab,
nach drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen“ (Joh. 2, 19 ıc.).
Die Juden verftauden dieß von dem wirflicyen Tempel und
nahmen großen Anitog an den Worten; der Evangelift aber
belehrt und, Jeſus habe hier von feiner Auferftebung ges
ſprochen (3. 21). Indeß dieſe Deutung Fünnen wir nicht
annehmen: wenn es auch denkbar jein mag, daß Jeſus das
Volk auf jene umwiderlegliche Berherrlichung zu ſeiner Legiti⸗
mation einitweilen binwies, fo mußte er dieß doch weit Deuts
licher thun, und jo, daß man ibn andy begriff. Anzunchmen,
er. babe den Worten duch Hindeutung auf feinen Leib nach-
1
371
geholfen, Klingt faft lächerlich, und dann konnten ihn ja auch
die Juden nicht mißverfiehen, und feine Jünger noch weniger!
Daher wird neuerdings jene Auslegung der Worte durch Jos
hannes mit Recht verworfen, und man nimmt gewiß weit
richtiger dieſelben als finnbildliche Bezeichnung feines höheren
Berufes an, vermöge deſſen der alte mofaifche Geremonialdienft,
deffen Mittelpunkt der Tempel war, fallen müſſe, um einer
geläuterten Gottesverehrung Plab zu machen. Diefe Auffafs
fung der Worte wird beftätigt durch Marf. 14, 57 ıc., wo
die Zeugen gegen Jeſu diejelben Morte, ald von ihm gefpros
hen, und mit dem Zufaße, er habe gejagt, fein Tempel werde
„nicht mit Händen gemacht fein“, wiederholen; — beftätigt
durch die Erflärung, welche ihnen Stephanus gegeben haben
fol (Apoſtelg. 6, 14); und endlich durch Sefu Aeußerungen
gegen die Samariterin (Soh, 4, 21 ꝛc.). — Dennoch hat man
Bedenken getragen, den Ausſpruch wirklich fo zu fallen, weil
die Worte „am dritten Tage“ nur in Zufammenftellung mit
dem erften und zweiten Tage (Luk. 13, 32) eine allgemeine
Zeitbeitimmung zu enthalten fcheinen. Daher ziehen andere
Theologen ed vor, der Stelle einen Dopyelfinn zu leihen,
und entweder anzunehmen, Jeſus deute zmar auf eine freilich
unmögliche Zerftörung des Tempels hin, denfe aber zugleic
auch an den Untergang des alten Kultus; oder er ſpreche
zwar von der Vernichtung und Wiederbelebung feines Leibes,
habe aber auch die höheren Ideen eines auf den Trümmern
Des alten zu erwedenden neuen Lebens im Auge. Allein ſolch'
fchielender Doppelfinn geziemt feinem verftändigen und redlis
hen Menfchen, gefchweige Jeſu. — Bretfchneider vers
zweifelt fogar ganz an jeder möglichen Erklärung, und hält
eine folche überbieß für überflüffig, da die Zeugen, welche
Jeſu vorwerfen, diefe Worte gefprochen zu haben, als falſche
bezeichnet werden, weßhalb die Worte ald von den Feinden
erdichtet zu betrachten feien. Allein dieß folgt daraus gar
nicht, fondern nur, daß bdiefelben von den Zeugen verdreht
wurden, wie wir deutlich bei Stephanus fehen, dem gleichfallg
falfche Zeugen nachfagten, er habe, indem er jene Worte Jeſu
wiederholte, von einer gewaltfamen Aufhebung der Reli-
372
gionsverfaſſung gefprochen. — Nein! wir haben feinen Grund,
jene finnbildliche Auffaffıng der Worte, ald Bezeichnung einer
Reformation des Judenthums, nicht feftzuhalten: das Allein
ftcehen der Zahl Drei ift Fein weſentliches Hinderniß. Dem
war fie einmal in Verbindung mit Eins und Zwei Ausdrud
einer unbejtimmten Anzahl geworden, fo fonnte fie ed aud
obne dieſe Verbindung bleiben, wie fie aud) wirklich Sirach
25, 1, 3, gebraucht iſt; und zwar bald um eine verhäftmißs
mäßig lange, bald, wie bier, eine verhaͤltnißmaßig kurze Zeit
zu bezeichnen.
Noch weniger, als der fo eben beſprochene Ansſpruch Jeſu,
kann ein anderer, M. 12, 39 u. A., wo Jeſus ſagt, dem
verdorbenen Geſchlechte werde Fein andered Zeichen gegeben
werben, als dad des Jon as, anf Jeſu Auferitebung bezogen
werden, wie es freilich M. thut, wenn er binzujeßt, „wie
Jonas drei Tage und drei Nächte im Wallfiſche zugebract
babe, fo werde auch Jeſus eben fo lange im Grabe verwei-
Ion“. An der ungenauen Zeitbeitimmung in Bezug auf Jeſu
Aufenthalt im Grabe dürfen wir nun wohl. feinen Anſtoß
nchmen, da eimmal „Drei Tage“ ſtehende Bezeichnung dieſer
Zeit geworden war, und deßhalb „Drei Nächte“ leicht das
zugejest werden fonnte. Weit wichtiger it Die Erwägung,
daß mit eier jo ausdrüdlichen Berfündigung der Anferſte⸗
hung Das jpürere Benehmen der Jünger durchaus unverein⸗
bar it; jo wie, daß Jeſus, wenn er wirflich jenen Sum
mit den Worten verband, ſie ganz gewiß den Seinen noch
näher ‘erflärt haben würde. Mit Recht -fieht man Daher
auch dieſe evangeliiche Deutung als eine aus dem Cr-
folge. beransgeiponnene Erflärung an, und hält ſich Tieber
an den Winf, den Lukas gibt, indem er Jeſu nach dieſen
orten noch hinzufügen läßt, Jeſus werde Diefem Gejchlechte
fein, was Sonas den Niniviten (11, 29 2c.), das beißt: „ie
wie Diejen die. bloße Gegenwart des Propheten gemügte,
auch ohne Wunder, jo follen auch die Anden, obne nach
Wundern zu baichen, Seht Lehre und Perſon alauben“. ‚Se
richtig diefe Deutung üt, jo beweist ung doch wenigſtens M.
jo .viel, daß ſchon frühzeitig dem Schdjale des Jonas eine
-
a — —
Beziehung, wenn auch eine irrige, auf. Jeſu Tod und. Auf⸗
erſtehung gegeben wurde.
Auch in den Abſchiedsreden Jeſu bei Johannes finden
ſich viele Ausdrücke, welche auf ſeine Auferſtehung gedeutet
worden ſind; wenn Jeſus ſagt: „ich werde euch nicht ver⸗
waist laſſen“, — „über ein Kleines werdet. ihr mich nicht
fehen, und über ein Kleines wieder fehen“ u. A. (Joh. 14;
185.16, 16), fo ſcheint dieß allerdings jene Deutung zu
rechtfertigen. Allein es finden fich wieder fo viele andere
Stellen in diefen Reden, die ſich dagegen fträuben, daß wir |
eine Erflärung vorerft noch verjchieben müffen, um fpäter
darauf zurücdzufommen; einſtweilen aber mag daran erinnert
werben, daß jene Abfchiedsreden Seju mehr, als alle andern
Reden, mit eigenen Zuthaten bes Evangelijten durchwebt
ſind.
Sind wir ſomit an dem Reſultate angelangt, daß Jeſus
feine Auferſtehung niemals vorausgeſagt bat, ſo fünnte man
immer noch daran feſthalten, daß er ſie doch für ſich vorher
gewußt habe. Allein auch dafür fehlt alle Stütze. Zwar
ſoll er nach Luk. 18, 31 dieſelbe aus dem alten Teſtamente
vermöge feines göttlichen Geiſtes abgeleitet haben; vergleichen
wir aber die Stellen, welche die Apoftel fpäter als Vorher⸗
fagungen der Auferitehung anführten (Pf. 16, 85 Jeſ. 53,
55; 3 Hof. 6, 2 u. A.), fo müflen wir, wenn wir nicht be>
fangen find, geitehen, daß dieſe nody weit weniger die ihnen
gelichene Beziehung enthalten, als die auf den Tod Jeſu bes
zogenen diefen wirklich vorherfagten. Daß aber Sefus nur
nad einfach menſchlicher Vorausſicht feine Auferſtehung
vorher gewußt haben ſoll, überſteigt vollends allen Glauben.
Nachdem aber einmal die Auferſtehung ein ſo wichtiger.
Glaubensſatz der erſten Sünger geworden war, deutete hin⸗
tennach die Sage viele feiner Ausſprüche, die eine ſolche Deu—
tung zuzulaffen fchienen, auf dieſes wunderbare Ereigniß; und
fo fanden die erften Ehriften denn auch leicht in dem alten
Teftamente vielfache Berfündigungen derjelben. Dieß geichah
nicht mit fchlauer Abfichtlichkeit,. fondern lag ganz m Dem
Geifte und Glauben der erſten Gemeinde. „ie es dem,
der in die Sonne gefehen, ergeht, Daß er noch linarte Zt,
m
373
wo er hinfieht, ihr Bild erblidt, fo fahen die Tünger, durch
ihre Begeijterung für den neuen Meſſias geblendet, in dem
einzigen Buche, das fie lafen, dem alten Teitamente, ihn überall,
und ihre, in. dem wahren Gefühle der Befriedigung tieffter
Bedürfniffe gegründete Ueberzeugung, weldye aud wir noch
ehren, griff nach Stüßen, die längft gebrochen find, und ſelbſt
durch das eifrigfte Bemühen einer hinter der Zeit zurückgeblie⸗
benen Schrifterflärung nicht mehr haltbar gemacht werben
Fonnen. *
Außer den vielfachen vereinzelten VBorherfagungen Jeſu von
feinem Tode und feiner Auferftehung befißen wir in den Evan
gelien noch einige fehr bedeutungsnolle Neben, worin er fein
Wiederfommen zum Weltgerichte vorherverfündet. Als er,
fo erzählt wenigftend M. Cf. oben), zum lebten Male ben
Tempel befucht hatte, veranlaßte ihn die von feinen Jüngern
ausgefprocdyene Bewunderung des prachtvollen Gebäudes zu
einer langen prophetifchen Rede, worin er fie darüber befehrte,
daß in fehwerer Drangfalgzeit diefer herrliche Tempel ſammt
der ganzen Stabt zerflört werben, daß aledann er, der Me
ſias, in den Wolfen bed Himmels fommen würde, um bie
jegige Weltperiode zu fchließen, und die neue mit dem allge
meinen Berichte zu eröffnen: dieß Alles folle das gegenwärtige
Menfchengefchleht noch erleben. Am ausführlichiten gibt M-
diefe Nede wieder, und es Täßt fich, wenn wir an ihn md
halten, der Inhalt derfelben am einfachften in folgender Lieber
fiht darftellen::
1. Vorzeichen des Weltendes, 24, 4—14;
2. Das Weltende felbft:
a. defien Beginn mit der Zerftörung Serufalems,
15 — 28;
b. deffen Mitte mit der Ankunft des Meſſias, 24,
29; 25, 30;
c. defien Ende mit dem Weltgericht, 31— 46.
Es find alſo drei Hauptpunfte, an weldyen die Darftels
lung ſich hinzieht: Zerftörung Terufalems, Ankunft
373
des. Meffiad, Weltgericht;z und feltgehalten wird
überall, daß bag Lebende Geſchlecht das Alles noch
erleben werde (M. 24, 34). Br
. "Diefe merfwürbige Prophezeihung fpielt in der ganzen. es
ſchichte des chriſtlichen Glaubens eine ſehr wichtige Rolle: —
Der eine Theil, die Zerſtörung Jeruſalems, iſt ſchon lange
in Erfüllung gegangen; der andere aber, Ankunft des Meſ—
fias und Weltgericht, ift bis jett noch, nach 1800 Jahren,
nnerfüllt geblieben, wiewohl die Zeitgenoffen bes Pros
pheten es noch erleben follten. Schon in der früheften Zeit
haben daher Feinde des Chriſtenthums nicht ermangelt, über
die verunglüdte MWeiffagung zu fpotten: in neuerer Zeit hat
beſonders der in der. Einleitung erwähnte Wolfenbüttler Frag⸗
mentiſt Daraus den Bormurf abfichtlichen Betruges, ben fidy ‘bie
Apoſtel erlaubt hätten, hergeleitet. . Soldye Vorwürfe muß⸗
ten natürlich alle Freunde des. Chriftenthung zur Abwehr in
Bewegung feßen: e8 wurde Alles verfucht, um bie: vorliegende
Weiffagung in bürgerlichen Ehren zu erhalten; es. wurden
alle Federn der ErHärungsfunft in Bewegung gefekt, und man
fand zunächſt drei. Auswege aus dem Labyrinthe. — Mau
firchte zu beweifen, 1) daß Jeſus nur etwas jest noch Zus
künftiges, das Weltgericht; 2) daß er nur etwas fchon
Eingetroffenes, bie Zerftörung Jeruſalems; oder 3) daß er
Beides, jedoch mit genauer Sonderung der Zeiten, prophe-
zeiht habe. Wir wollen allen drei Heildwegen folgen!.
Anf das Weltgericht allein bezogen die älteren Kirchens
väter die Weiſſagung; da fie aber felbft zugefichen, daß Jeſus
in Schilderung derfelben feine Bilder von der Zerftörung Ie-
rufalems entlehnt habe, fo geben fe ftillfchweigend oder uns
bewußt zu, daß diefelben ganz auf diefe Zerftörung paſſen,
mithin, da diefe, als. fie fehrieben, fehon vorüber war, daß
man die Weiffagung weit natürlicher gradezu auch auf ſie
beziehe.
Dagegen faſſen die neueren Rationaliſten die ganze Rede
als Vorherſagung der Zerſtörung Jeruſalems: was als
Weltende bezeichnet iſt, fol ihnen zufolge von dem Ende des
jübifchen Staates, die Erfcheinung des Meffias von fiegreicher
Berbreitung feiner Lehre zu verftchen fein x. Wein olauoma
376
hätte Iefus ſich eine Freiheit im Gebrauche der Bilder erlaubt,
die :an fid) ſchon unerhört,- den Juden aber gegenüber wirfs
lich unerlaubt gewefen wäre, da er wußte, wie geneigt fie
waren, das von der Anfunft des Meffias in den Wolken
Gefagte buchſtäblich zu nehmen.
Da 'alfo die fragliche Rede ald Ganzes weder allein
von dem Weltgerichte, nody allein von Jeruſalem verftanden
werden kann, fondern einzelne Ausdrüde unzmweidentig auf
das erite (3.8. M. 25, 31), andere eben fo ungmweibentig
auf das zweite (24, 2, 3) gehen, fo haben diejenigen noch
das beffere Theil erwählt, welche zu beweifen fuchen, daß Ses
fus beide Ereigniffe vorausverfünde, jedoch fo, daß der eine
Theil feiner Weiffagung nur dem Einen, ber andere nur
dem Andern gelte. Dieß fchien um fo einladender, weil in
dee: That gegen das Ende der Nede die Verkündigung des
MWeltgerichtes, zu Anfange die des Untergangs von Serufalem
vorherrfchend if. Bei diefer Annahme muß nun aber vor
allen Dingen die Fuge nachgewiefen werden, wo beide Theile
der Weiffagung follen an einander geftoßen worden fein; und
eben über dieſe Fuge find die Ausleger, Die wir auf Diefer
Straße antreffen, fehr verfchiedener Anficht, was fchon von
vornherein fein gutes Borurtheil erwedt. — Die Einen finden
nämlich, die Fuge M. 25, 30, und verftehen Alles bis dahın
von der Zerftörung Jeruſalems, das Folgende von dem Welt⸗
gericht. Allein abgefehen von dem leichtfinnigen „aber“, B.31,
welches unmöglidy) zwei der Zeit nad) fo weit aus einander
liegende Creigniffe verbinden fann, fo werden nad) diefer
Trennung fo viele Ausdrücke auf die blos Serufalem betreffende
Geite, das heißt die vordere, gefchoben, die nur mit großer Ges
waltfamfeit für bildliche erklärt werden fünnen (3. B. M. 24,
31). — Nicht glüdlicher find diejenigen Ausleger, welche einen
Einfchnitt möglichft bald nad) dem Anfange fuchen: die meis
ften finden denfelben nach M. 24, 28, fo daß alfo mit V. 29
die Schilderung des Weltgerichted anfinge. Allein diefe würde
dann mit dem verdächtigen Wörtchen „fogleich“ beginnen, was
zufammen gehalten mit der Uebergangsformel des Markus „in
jenen: Zagen“ (13, 24), auf einen unmittelbaren Anſchluß
des Weltgerichts an Jeruſalems Zerftörung, der befanntlich
877
nicht erfolgt ift, hinwieſe. Ueberdieß fällt ja nun V. 34 des
M., der, wie oben bemerft, verkündet, das „jetzt lebende .
Menſchengeſchlecht“ werde noch Alles erleben, aud in bie
Prophezeihung vom Weltgerichte hinein, und macht diefe ges
rabezu zu einer. falſchen: denn alle Berfuche, den Worten,
welche wir mit „jett lebendes Menfchengefchleche * überſetzen,
einen andern Sinn: unterzufcjieben, fcheitern fchon an dem
vorhergehenden V. 33, wo in: gang gleicher Verbindung: „Ihr“
fteht. Daher helfen .fich wieder Andere mit der Ausrede,
Jeſus meine im B. 34 nur den Anfang.des durch Jahrhun⸗
derte fich durchziehenden WWeltgerichtes; allein zu beſtimmt ift
B. 8 ſchon der Anfang, und fodann B. 34 das völlige Ges
fchehen verkündet. — Ein anderer Verſuch, den Einfchnitt
zwifchen Zerftörung Serufalems und Weltende etivad weiter
unten zu feben, etwa V. 35 ober 42, ift eben fo unfeuchtbar,
weil dann wieder vor diefe Bere Schilderungen fallen, die
nur von dem Weltgerichte verftanden werden können. —
Das Berzmeifeltfte von Allem iſt endlich die Annahme noch
Anderer, daß Jeſus zwar V. 26 auf das Weltgericht über»
gegangen, dann aber B. 32 wieder auf die Zerflörung Serus
falems gefommen fei: das heißt den Tert zerhaden und Jeſu
zumuthen, er habe fpringend und unordentlich geredet.
. Weil man nun der Rede, fo wie fie vor ung liegt, auf
feine Weiſe beifommen kann, fo hat man von andern Seiten
her den Evangeliften die Schuld beigemeffen und ihnen
vorgeworfen, fie haben die Ausfprüche Jeſu fo regellos durchs
einander geworfen. Namentlich glaubt Schleiermader
gefunden zu haben, daß zwar Lufas an verfchiedenen Stellen
die wirklichen Reden Jeſu, die vom Meltgerichte (17, 22 ıc.)
und die von Zerftörung des Tempeld (21, 5 ıc.), recht gut
auseinander gehalten, M. aber in feinem Beftreben, zu ver-
binden, fie ungehörig an einander, gereiht habe: allein dieſer
Ruhm des Lukas ſchwindet, wenn wir auch in feiner Schils
derung des Unterganges von Serufalem lefen (21, 27), daß
man „alsdann des Menfchen Sohn in den Wolfen werde
kommen fehen“. Wir werben vielmehr geftchen wien, wu
378
feinem der Evangeliften Unrecht zu thım, daß zwar vielleicht
auch in diefer Rede Jeſu, wie in andern, die fie mittheilen,
manches zu verfchiebenen Zeiten Gefprochene zuſammengeſtellt
fen mag; aber zu der Annahme hat man fein Recht, daß
grade das auf jene beiden nach unferer Borftellung fo weit
auseinander liegenden Begebenheiten fich Beziehende das Nichts
zufammengehörige fei, zumal wir aus der übereinftimmenden
Darſtellung ber übrigen nensteftamentlichen Schriften erfehen,
baß die erfte Gemeinde die Wiederkunft Ehrifti fammt dem
Ende der gegemwärtigen Weltperiode als nahe bevorftehend
erwartete (1 Kor. 10, 115 15, 31; 1 Joh. 2, 185 Offenb.
1,1, 35 3, 110. 9.)
Es haben endlich noch die Supranaturaliften der Sache
dadurch aufzuhelfen gefucht, daß fie die modernen Borftelluns
gen, bie fit) aus Schiller's berühmten Ausfpruche: „bie
Meltgefchichte ift das Weltgericht“ ergeben, auch in's neue
Teftament übertragen, indem fic behaupten, es fei hier von
einem, durch die Zerflörung von Serufalem eingeleiteten
immerwährenden Weltgerichte die Nede; von einem Durch bie
ganze chriftliche Gefchichte fortlaufenden Wiederfommen Jeſu.
Allein dieſe Vorftelung ift der fchärffte Gegenfat gegen bie
Anfchauungsweife ded neuen Teftamentes überhaupt, und wis
berfpricht namentlid, einer Menge von Ausdrüden in der vors
liegenden Rebe, aus welchen wir nur hervorheben wollen,
daß Sefus fein Kommen mit einem Blite CM. 24, 27) nnd
mit dem Hereinbrechen des Diebes in der Nacht (M. V. 43)
vergleicht, demnach als ein einmaliges und ylößliches bes
zeichnet.
Wir können alfo dem Geftändniffe nicht ausweichen, da
auch die von Mehreren verfuchte, allegorifche Auslegung
im fich felbft zufammenfällt, — daß Jeſus allerdings bag,
was durch eine Kluft von Sahrtaufenden getrennt ift, die
Zerftörung Jeruſalems und das Weltende, ſich ald eng vers
bunden gedadıt hat, indem er nad) jüdiicher Vorftellung das
Heiligthum des Tempeld als den Mittelpunkt der jeßigen
Welt betrachtete, die mit dem Einfturze diefes Mittelpunftes
gleichfalls in Trümmer zufammenftürzen müffe.
379
Diefes Nefultat aber, daß Jeſus, wie uns bie Erfahrung
lehrt, geirrt habe, — ein Nefultat, zu weldyem eine unbe⸗
fangene Auslegung nothwendig gelangen muß, ift ben foges
nannten Rechtgläubigen ein fo großes Aergerniß, daß fie ihm
auf jede Weife auszuweichen fuchen. Hengftenberg nimmt
an, baß ſich hier dem -geiftigen Auge Jeſu, wie der Prophe⸗
tem überhaupt, die Zufunft wie ein Gemälde bargeftellt habe,
im welchem der ferne Hintergrund mit. dem nahen Borders
grunde troß des großen Zwifchenraumes doch in der .engften
Verbindung zu ftehen fcheine: allein dann hat Sefus "grade
eben fo, wie Semand, der bei einem wirklichen Gemälde jene
optifche Täufchung für Wahrheit hält, offenbar- auch fich ges
iert. — Dishaufen will uns überreden, theild habe es bie
moralifche Bedeutſamkeit der Wiederkunft Jeſu erfordert, Dies
felbe als jeden Augenblick bevorftehend darzuftellen, theils ſei
wirklich die ganze Weltgefchichte ein Kommen Chrifti: aber da
ja das leibhaftige Wiederfommmen Sefu, welches er doch fo
ganz beftimmt als ein baldiges verfündete, erwiefenermaßen
noch nicht erfolgt ift, fo hat er auch nach diefer Auffaſſungs⸗
weife entweder geirrt, oder einen „frommen Betrug“ fich ers
laubt. — Sieffert gefteht nun gradezu, Jeſu einen Irrthum
zuzuſchreiben, ſtreite gegen das „chriftfiche Bewußtſein“, und
es bleibe daher, wenn wir eine Rede, die Irrthümer enthalte,
als von ihm ausgegangen im neuen Teſtamente leſen, nichts
übrig, als dieſelbe für unächt zu erflären. Dieſer Anſicht je⸗
doch muß der Orthodoxe entgegnen, nicht das ſei die Frage,
„was einem heutigen chriſtlichen Bewußtſein beliebe, von Chriſto
anzunehmen oder nicht, ſondern was von Chriſto geſchrieben
ſtehe, worein ſich dann das Bewußtſein wird zu ſchicken ſuchen
müſſen, ſo gut es geht*; die Sache aber vom Standpunkte
der unbefangenen vernünftigen Betrachtung aus gefaßt,
müffen wir erklären, daß ein „folches auf Vorausſetzungen
ruhendes Gefühl, wie das fogenannte chriftliche Bewußtſein
it, in wiffenfhaftlichen Verhandlungen feine Stimme
habe, und fo oft es ſich in folche mifchen will, durch ein eins
faches: „das Weib fchweige in der Verfummlung * zur Ord⸗
nung zu weifen fei*.
380
Andere Theologen find Darum, weil Jefus unmöglich fo
viele außerordentliche Begebenheiten, wie 3. B. die bis zur
Raferei getriebene Widerfeglicyfeit der Iuden gegen die Rö⸗
mer; die vielen wirflid, eingetroffenen Umſtaͤnde bei der Zer⸗
ſtörung Serufaleme, Seuchen, Erbbeben, das Auftreten falfcher
Propheten, das Einſchließen der Stadt durch eine Wagens
burg ꝛc.; — weil er, fage ich, ſolche Dinge habe unmöglich
vorausfehen koͤnnen, find andere Theologen geneigt, die ganze
Weiſſagung als eine nach dem Erfolge gemachte zu betrach⸗
trachten,. und ihre Abfaffımg in die nächite Zeit nach Der Zers
ſtörung Serufalems, wo man nun auch das Weltende als nahe
bevorſtehend anfehen konnte, zu verlegen. Allerdings Tonnte
auf übernatürliciem Wege Jeſus zu einer. foldhen Vorauss
fagung nicht gelangen, weil er alddann nicht nur die alt⸗teſta⸗
mentlichen Stellen Dan. 9, 27; 11, 31. ıc., auf die er fidy
ausdrücklich M. 24, 15 beruft, falfch gedeutet hätte, ins
dem: fie nicht auf Jeruſalems Untergang, fondern auf bie
Entweihung des Heiligthums durch Antiochus fich bes
ziehen, — fondern weil auch feine Prophezeihung bis jett
nur zur Hälfte eingetroffen iſt. Ob er aber nicht auf nas
türlichem Wege, durch rein menfchliche Berechnungen, wos
bei etwaiger Irrthum immer vorbehalten bleibt, zu jenen
Borausfagungen habe gelangen können, ift eine andere Frage,
die wir vorerft noch zu erwägen haben, ehe wir unſer Ends
urtheil ausiprechen. Hier fällt und -zunäcft in die Augen,
daß in der That -vieles in der Weiffagung Enthaltene bei
Sernfalemd Vernichtung nicht eingetroffen ift; die Stadt wurde
nicht ringsum eingefchloffen, falſche Meſſiaſſe find nicht aufs
getreten und Die Naturerfcheinungen diefer Zeit waren lange
nicht. fo bedeutend, als die prophezeiten. Was aber wirk⸗
Lich zugesroffen it, Fonnte Jeſus gar wohl aus Betrachtung
der Vergangenheit und Ermägung alt stejtamentlicher. Vorftels
lungen vorausfehen. Zu den le&teren gehören namentlidy die
Erwartungen gräßlicher Ereigniffe, die der Ankunft des Mefs
ſias vorangehen follten, Krieg, Theurung, Seuchen, Erdbes
ben ꝛc. (Jeſ. 13, 95 Joel 1, 15 u. v. A.); Erwartungen,
die in fpäteren jüdifchen Schriften auf eine unferer Weiffagung
sl
auffallend ähnliche Weife -ausgemalt find. Es fonnte felbft
Die Danielifche Weiffagung, wiewohl fle, wie oben bemerkt,
einem andern Ereigniffe galt, doch auf die Zerftörung Serur
falems bezogen werden, da Vieles, was fie verkündete, noch
nicht wirklich eingetroffen war; um fo mehr, da ja ſchon ein⸗
mal, vor dem babylonifchen Eril, das Heiligthum Des Tem⸗
peld umgeſtürzt worden war: „es konnte mithin von da an
jeder begeijterte Iſraelite, dem der religiöfe und ſittliche Zus
ftand feiner Landsleute verwerflich und unverbefferlich erſchien,
die Wiederholung jenes früheren Strafgerichtes erwarten und
sorherverfündigen*. Der einzige Zug, der. ald Zuthat Jeſn
ericheint, die Erwartung, ed werbe Das gegenmärtige. Gefchlecht
Dieß Alles noch .erleben,. war ebenfalls in Zeitvorftellungen
begründet: denn fobald er fich einmal für den Meſſias hielt,
mupte er auch zu dem Glauben gelangen, er werbe bereinft,
wie Daniel und andere Propheten es verkündet hatten: Tach
feinem Tode) in den Wolfen des Himmels erfcheinen., :und
wie. nahe bevorftehend. diefe Erfcheinung gedacht wurde, : geht
fchon daraus hervor, daß die Apoſtel dieſelbe noch zu erleben
hofften a Kor. 15, 51 u.
Wir find alſo durch das fo eben Ausgeführte zu der Ber
hauptung wieder zurüdgeführt, daß wir feinen Grund haben,
jene Weiſſagungen von dem naben, an Jeruſalems Untergang
ſich anfchließenden Weltgerihte Jeſu abzuſprechen, und: es
fragt fich nur, woher es komme, daß das vierte Evangelium
von demfelben nichts meldet. Die Grundgedanken derſelben
finden ficg, allerdings auch hier; dereinftige Auferwedung der
Todten durch Jeſus (5, 2130), Eröffnung des Weltger
gerichted (9, 39), welches durch Jeſu Berficherung, er fei
nicht gefommen, um zu richten, nicht geläugnet wird, indem
er dabei nur fein erſtes Erfcheinen ald Lehrer des Heils im
Auge hat,. Jeden, der nad, dem Weltende gerichtet werde,
ſchon als durch ſich ſelbſt (3, 18) gerichtet betrachtet, und
überhaupt das Abhalten des feierlichen Weltgerichtes nicht ſo⸗
wohl als einen Aft feiner Perfon, wie als einen des in ihm
382
wohnenden göttlichen Wortes Cd. i. Geiftes) (12, 48) anfieht.
Allein von feiner bevorfiehenden perfünlidhen Wiederkunft
fpricht er doch nirgends bei Johannes; denn wo er hier von
feinem Wiederfommen redet, Tann dieß nur in rein geiftis
gem Einne verftanden werben, da er ausdrüdlich hinzufügt,
er werde alsdann nur feinen Süngern, nicht der Welt ſich ofr
fenbaren (14, 19): von einer ausführlichen finnlihen Schil⸗
berung des äußeren Herganges bei feiner Wiederfunft, wie
wir fie in den Eynoptifern Iefen, findet fidy vollends nichte
bei Sohanned. Die gewöhnliche Ausflucht, er habe auch hier
das ſchon Bekannte nicht wieder erzählen wollen, paßt grade
bier am allerwenigiten, indem theils die Sache viel zu wichtig
ift, theild der Eoangelift, wenn er wirflidy der Apoftel Sohan,
nes ift, allen Grund hatte, genau zu berichten, weil Sohannes
von Dark. 13, 3 als derjenige Sünger hervorgehoben wird,
der bei Jeſu Reden über diefen Gegenftand zugegen war: —
da aber überdieß das Evangelium erft nach Serufalems Zer⸗
flörung gefchrieben wurbe, fo war die Aufforderung, Sefu
PWeiffagungen von diefer Begebenheit, deren Nichteintreffen in
vielen Punkten nothwendig Anftand erregen mußte, berichtigend
mitzutheilen, doppelt groß und dringend. Wenn dagegen mandye
Theologen fagen, Sohannes habe Ddiefelben nicht mittheilen
wollen, weil fie bei den nichtindifchen Chriften, für die er
vorzugsweife fhrieb, und die Jeſu Wirkfamfeit weit geiſtiger
auffaßten, als fie in feiner perfünlichen Wiederkunft zum Ge
richte ſich darftellt, Leicht hätten Anftoß erregen können, for
muß dieſen ‘Theologen erwidert werden, daß „ grade folder
Lefern gegenüber es eine pflichtwidrige Nachgiebigfeit gerwefere
wäre, eine Beftärfung in ihrer alle äußere Gefchichte verflüch⸗
tigenden Richtung, wenn Sohannes ihnen zulieb die pofitive
Ceite an der Wiederkunft Chrifti hätte zurüdtreten Laffen *-
Ueberdieß enthält das befprochene Evangelium Stellen genug,
in welchen dieſe äußere Seite des Wirkens Jeſu hinreichend
hervorgehoben iſt. Es kann daher das Mangeln der frag⸗
lichen Weiſſagung bei Johannes nicht als Grund, an ihrer
Aechtheit zu zweifeln, geltend gemacht, es muß vielmehr zu
den Gründen gezählt werden, die. und zu Zweifeln an ber
383
lechtheit des Evangeliums, ale einer Schrift bes Apoſtels,
exechtigen ?°).
Drittes Kapitel.
Die Feinde Jeſu, der Verräther Judas und das
legte Abendmahl.
(Viele zerftreute Stellen.)
Don den drei Synoptifern werden einflimmmig als Die
einde Jeſu bezeichnet zunächft die „Pharifaer und Schriftges
ehrten“, neben diefen die „Priefter und Yelteften“ ; dann wohl
uch die Sadduzäer (M. 16, 15 22, 23) und. die Parthei
es Heroded (Mark. 3, 6): — das vierte Evangelium benennt
ewoöhnlich alle diefe Gegner mit dem allgemeinen Namen
die Juden“, was vom fpäteren chriftlichen Standpunkt aus
efprochen if. Als erften Anlaß zur Feindfchaft gegen Sefum
jeben alle Evangelien feine Sabbatheilungen an CM. 12,
4; Soh. 4, 16), womit er gegen die herrfchenden engherzigen
Infichten verftieß. . Ueber die weitere Entwidelung dieſes
Yaffes aber berichten die Synoptifer Anderes, als Sohannes:
yährend jene die harten Reden. Sefu über den Heinlichen
Saßungsgeift der Pharifäer, die er ihrem Tadel wegen. der
3ernadhläffigung des Waſchens vor der Mahlzeit entgegens
tellte (Luk. 11, 37), als den Anlaß zu Berfolgungen im Als
jemeinen, und den Nerger über die vom Bolfe beim Einzuge
u Serufalem dargebrachten Huldigungen ald Grund zu bes
timmteren Nacheplanen angeben, find es bei Sohannes feine
Ausſagen über feine göttliche Natur (5, 18), welche die größte
Srbitterung in feinen Feinden erregen, und die vom Volfe bes
vunderte Auferweckung des Lazarus bringt den Entſchluß, ihn
a.verderben, hier zur Reife.
ss, Ich habe diefen Abfchnitt, den Strauß S. 362—8397 des zweiten
Theiles behandelt, mit größerer Ausführlichkeit wiedergegeben,
theils weil er an ſich von befonderer Wichtigkeit ift, theils weil
fih in der Behandlung desſelben die Unbefangenheit und Schärfe
der Straußiſchen Forſchungen ganz befonderd beurtuntet.
384
Semöhnlich gibt man der Tarftellung bes. Sohannes ben
Borzug, weil nur er „einen Blid in die ſtufenweiſe Steiges
rung der Spannung zwifchen ber hierarchiichen Partei und
Jeſu eröffne*; allein diefes Lob iſt unbegründet, da fehon
zu Anfang des Evangeliums der höchfte Grad des Haſſes
und die gefährlichften Plane (5, 18) berichtet werden.
Eher noch läßt ſich eine ſtufenweiſe Entwickelung bes feindfeligen
Verhältniffesg aus den Synoptikern nachweijen, die uns das⸗
felbe Anfangs hinter der Anhänglichfeit des Volkes in Galiläa
veriteden, dann von allgemeinen Anfchlägen auf fein Leben
(Mark: 3, 6) und endlich von dem beftinmten Plane, ihn mit
Lift nach dem Pafchafefte zu verderben (M. 26, 4, berichten;
wogegen im Sohannes bie bitteren Verfolgungen der „Suben“
fchon gleich nach feinem erften Auftreten beginnen. Auffallender
noch iſt ‚bei Johannes die falfche Angabe über Kaiphas,
daß berfelbe in „jenem Sahre* (in welchem Jeſus getötet
wurde) Hohepriefter gemejen C11, 49); falſch deßwegen,
weil fie ganz fo Tautet, ale ob er eben nur in diefem Einen
Sahre jene Würde beffeider hätte, da er doch befanntlich viele
Sahre hintereinander Hohepriefter, und überhaupt diefes Amt
nicht einem Wechjel von Sahr zu Jahr unterworfen war.
Denjenigen Theologen, welche die Worte „in jenem Jahre“
in den. Ausdrud „zu jener Zeit“ umdeuten, mißgönnen wir
diefen derben Sprachfehler durchaus nicht; müſſen vielmehr
geitehen, daß jene falfche Angabe dem Johannes, der nodı
überdieß als ein „Bekannter des Hohenpriefterd“ (18, 15)
bezeichnet wird, kaum zugetraut werden kann, und daher bie
Zweifel an dem johanneiichen Urfprung des Evangeliums be
färkt. Eben fo befremdend iſt es, daß bei Johannes Die bes
rathenden Priefter Jeſu eine politifche, revolutionäre Tendenz
unterfchieben (11, 48), an welche wicht einmal der römifce
Landoogt Pilatus glauben kann. — Somit hätten wir‘ über
diefen Einen, die Gegner Jeſu betreffenden, Punkt drei wrige
Angaben in Johannes entdeckt: ben frühzeitigen Beginn offen:
barer Feindfeligkeit gegen "Sejum, das Aergerniß durch bie
Erwedung des Lazarıd (die, wie wir weiter oben fühen, eine
reine Mythe it!) und die Furcht vor politiſchen Plauen Jeſu;
— drei bedenkliche Irrthümer! —
—
7 HE . ı ’
47 “ .. Pu . 1
ara .
. 2 *
J ·N *
R,%6, 41416, 1 —2355- Marl. 14,10, 11,825
Ruf, 22, 4—6,.21 3; Joh. 13, 26-315: fodamn
| ‘oh. 6, 70, 71.)
‚De Untergang Sefu wurde dadurch beſchlennigt ‚ daR ein
Anger „Judas Ifchariot, den Synoptikern zufolge wenige Tage
ve dem Paſcha zu ben Borftchern ber Priefterichaft: ging,
nd gegen einen veriprochenen Lohn ihnen feinen Meiſter ds
lliefern verſprach. Johannes Dagegen läßt:ihn dieſen Entfchluß .-
of :bei-ber lebten Mahlzeit .faffen, indem er fagt, „der Satan
4 jet. in ihn gefahren“ (43, 27). Bei dieſem Widerſpruche
E.die Wahrfcheinlichteit durchaus mehr auf Stiten.ber Synop⸗
Ber, da die Sache bei Johannes doch? gar. zu. ehr Knall und
uf geht.und Judas wie befeffen davon rennt. Wenn übrigend .
phames ſchon B. 2, alſo vor jenem. Mahle fagt; „ber Teufel
abe dem Judas in's Herz gegeben, Jeſum zu .verratken“,
v.Täßt fich dieß nur fo erflären,. daß jet zum :eriten Male
m böfe Gedanfe in ihm aufſtieg, wenn er r auch noch nicht
* feſten Entſchluß faßte.
Auch in dem Vorherwiſſen Jeſu von des Indes Ber,
—* weichen die Evangeliſten/ von einander ab; bei ben
zynoptikern ſpricht er dieſes Wiſſen erſt am lebten Mahle
ns, und ſcheint früher Feine Ahnung davon gehabt zu haben
M. 19, 28); bei Sohannes kennt er fchon länger, als ein
ahr vorher, feinen Verräther (6, 64, 70), und mußte bems
sch als Herzensfundiger (2, 25) auch wiſſen, daß Habſucht
e Quelle des Verrathes fein würde. Damit .aber fteht num
5 höchſten Widerfpruch, daß Jeſus den Judas doch zum
'affeführer gemacht haben foll; wer vertraut dem Habfüchtigiten
m Gefellfchaft eine Kaffe an? wer ftellt den Schwachen an
ne Stelle, wo er jeden Augenblid ‚dem Reiz zur Sünde ers
gen kann? Hätte dann Jeſus nicht grade das Gegentheil
m dem gethan, was er ung felbit beten lehrte: „führe ung
cht in Verſuchung“? — Aber aud, abgefehen von dem
affenamte, ift jenes Vorherwiſſen für ſich ſchon unwahrſchein⸗
4; eritlich hätte ja Jeſus, wenn er bei diefem Vorherwiſſen
n Judas noc unter den Jüngern behielt, ihn .abfichtlich in
se Sünde des Verrathes hineingezogen; und daß er fich
eat beffern würde, wußte er ja auch cyan nocher, won ch
IL 25
v
336
wäre daher eine Graufamfeit gewefen, ihn auf dem Wege
zum ſchändlichſten Verbrechen fortwandeln zu Laffen. — Wie
fonnte ferner Sefus es nur in feinem Gemüthe ertragen,
im Kreie der Seinen Jahre lang einen ſchwarzen Verräther
zu wiffen? Nothwendig zur Erfüllung feines Schickſals war-
e8 aber, was Einige behaupten wollen, nicht; denn nur feinem
Tod konnte er ald nothwendig anfehen,. keineswegs aber grade
den auf Dem Wiege des Berrathed. Endlich kann auch Die
Ausflucht nicht gelten, daß Jeſus feine Sünger mehr habe
freiwillig fich ihm anfchließen laſſen, ald daß er fie förmlich
gewählt habe; denn wenn er auch nicht bei Sohannes felbit
das grade Gegentheil davon ausfpräche (15, 16), fo müßten
wir fchon das als ganz natürlic, vorausſetzen, daß er ſich
doc; wenigſtens Erlaubniß und Beftätigung des Eintretend in
den Kreis. feiner Apoſtel vorbehielt. |
Müffen wir alſo jenes Vorherwiffen Jeſu als ein undenfs
bares durchaus in Abrede ftellen, fo können wir zugleich leicht
einfehen, wie die Erzählung von einem folchen fich bildete,
Schon frühzeitig wirde der an Jeſu durch einen Sünger
begangene Berrath von feinen Gegnern zu Spott und Hohn
auf ihn benutzt; diefer konnte durch Nichts fo Leicht unterdrüdt
werden, als durch die Angabe: Jeſus babe jchon Tange feinen
Verräther durchſchaut, allein aus höheren Rüdfichten habe er
fich freiwillig feiner Treulofigfeit blog geftellt. Dadurch verlor
der Verrath alles, was Jeſu etwa zum Vorwurfe gemacht
werden fonnte, wie fein gewaltfamer Tod alles Demütbigende
durch ein gleiches Vorherwiſſen; ja es wurde dadurch jene
höbere Natur in um fo jtärferes Licht geſetzt, je länger vorher
Seins ſchon den Frevel vorausſah; daher erzählt ein apo⸗
fryphifches Evangelium, daß Judas fchon ald Knabe den
kleinen Jeſus mipbandelt habe. — Noch Fünnte man fragen,
ob nicht Jeſus auf ganz natürlihem Wege, aus Beobachtung
des Judas, fein Verbrechen vorber willen fonnte? Beftimmt
gewiß nicht, da er fonft den Böjewicht unmöglidy um fich
dulden konnte; wohl aber fünnte er ein gewiffes allgemeines
Mißtrauen gegen ibn aejchöpft, dieſes bier und Da geäußert
haben, woranf denn fpäter, nad) wirklich ausgeführtem Bere
rathe, jeine allgemeinen Aengerungen in beitimmte Borherfa-
gungen umgebildet wurden. Aber and. mit einem nur noch
unbeſtimmten Mißtrauen vertrug es ſich nicht, Judas Die Kaffe
zu. laſſen, was wir denmaqh as ganz ange chictuis verwerfen
mäffen: en. es %. . Be! to.
Dogleich te newteftamenttichen Scriftflefier ein. entfcier
denes Verdammungsurtheil über die That des Judas, als
einen and: Habſucht begangenen.Berrath, ausfprechen, fo haben
body - viele. ältere und nenere Theologen weit milber über. ihn
geurtheilt.. Orthodoxe behaupten, Indas habe nur deu goͤtt⸗
lichen Rathichluß, die :Menfchen. durch Jeſn Tod zu exlöfen,
befördern wollen, da er ein hoͤheres Wilfen um denſelben ger
habt habe; Andere räumen. zwar: ein, daß Habſucht ihn vers
feitet, glauben aber, er fei zugleich.der Erwartung geweſen,
. Gefus werde vermöge feiner göttlichen Wunderkraft ſich allen
Befahren wieder entziehen koͤnnen. Andere, als biefe-äbers
trieben fupranaturaliftifchen Grünbe: find es, welche neueren
Rationaliften, die überhaupt fo gerne die in der: Bibel tief
‚geftellten Perfonen zu erheben ſuchen, das Beſtreben eingeben,
ben Judas zu entfchuldigen. .: Während einige derfelben feine
That aus dem Aerger über den. beim bethanifchen Mahle ers
baltenen Verweis (Soh. 12; 4 ıc.) herleiten, fchreiben. Andere
Deu Judas, der die finnlichen Meſſiaserwartungen aller Jünger
getheilt habe, einen burchbachten politifchen Plan zu. Er habe,
fagt man, ficher darauf gerechnet, die Verhaftung Jeſu werde
in der überfüllten Hauptftanb ‘einen Aufftand des Bolfes vers
anlaffen, Sefus befreit, und dadurch genöthigt. werden, fich
endlich den Bolfe in die Arme zu werfen und fein neues
‚Reich wirklich aufzurichten; Geld habe er für die Leberliefe-
rung feines Meifterd angenommen, weil man es ihm ange:
boten, und er durch Annahme desfelben feine Plane habe vers
decken wollen; diefe aber feien gefcheitert, weil Jeſus fchneller,
als er es habe denken können, ben Römern übergeben worden
fei. Daß er. feine böfe Abficht gehabt habe, gehe fchon ang
feiner Verzweiflung nach der Uebergabe Sefu an die Römer
hervor u. ſ. w. — So fchön dieß Alles Mingt, fo fteht es
Body rein in ber Luft, weil unfere Evangelien nicht Die ges
riugſte Andentung davdn geben; mit Ausnahme de& Veroocked
388
auf den man ſich beruft, ber aber, befonders im Pergleiche
mit dem ungleich härteren, dem Petrus CM. 16, 23) zu _
Theil gewordenen, feinen Verrath begründen kamm. Die vr
zweifelnde Neue nach der That beweist ebenfalls Nichte
denn wie mancher Mörder it fchon durch den Anblid dee
Gemordeten in einen ähnlichen entſetzlichen Zuftand verfeßt
worden !
Mir werden alfo doch wieder auf die evangelifche Bor;
ftellung, daß Habfucht die Triebfeder des Judas geweſen,
zurüdgeführt; die weitere Eimmwendung, der Lohn des Berris
thers, 30 Silberlinge (etwa 20—25 Thaler) fei doch zu
gering, ald daß er zu foldyem Verbrechen habe reizen können,
macht und nicht irre. Denn vorerft iſt es der einzige M.,
ber von dieſen 30 Silberlingen etwas weiß; alle Anden
reden nur allgemein von „Geld, Lohn“ ıc.; und auch M.
fheint die Summe nur einer Weiffagung (Zac. 11, 12) zu
Liebe grade auf 30 zu ftellen. Auch der Umftand, daß für
den Sündenlohn ein Kleiner Ader gekauft worden (M. 27,7 xc.),
beweist für die Geringfügigfeit desfelben gewiß nichts, zumal
da dieſer Acer, feiner Beftimmung wegen, nicht Fein gewefen
jein kann. — Räumen wir endlidy noch den Borwand, Sohan-
nes habe feinen Vorwurf der Habjucht (12, 6) mehr nad
dem Erfolge, ald der Wahrheit gemäß gemacht, mit der Ber
merfung hinweg, daß alsdann Johannes verläumder haben
müßte, jo werden wir gezwungen, Gewinnfucht bei Sudas
ald die einzige beglaubigte Zriebfeder feftzuhalten, wenn
auch damit allein die fchwarze That nicht ganz erklärt it. —
AM. 26, 17— 19; Mark. 14, 12 —16; Luk. 22, 7—13;
ſodann Soh. 13, 1, 2.)
Am Tage des Pafchafeites fendet Sefus einige Sünger ab,
um für die Feſtmahlzeit ein Lokal zu beftellen: und zwar nemt
Lukas den Petrus und Sohannes ald die Abgefandten; Mars
fus und Lukas geben ferner genau an, welches Zimmer bie
Sünger in Anſpruch nehmen follen, fo wie auch, daß fie das
Daus durdy einen ihnen begegnenden Waflerträger finden
wi a Let 27 Se . - .
würdeng: +-' ales / natere Umfbände,,r wache bei M. mangeln.
Miher. auch von dieſer Verſchiadenheit abgeſehen, ſo erregt hie
ganze Erzählung vielfache Anſtͤße. Wie konunte, fragt mon
Sefug weit. Anordnung des nothwendigen Poſchamahles ſo lange
ſaͤumen? erſt durch. feine Juͤnger ſich daran erinnern. Iafien?
Ar wußte ja wohl, welch' nageheure Menſchemnenge in: bp
Hegel vr dyei Millionen) zur Feſtzeit in Jeruſalem zuſammen⸗
ſedmnte; — und. nun weiter: cz. ſoll Dennoch ſogleich ein paſ⸗
ſendes botal gefunden, und dieß ſchon vorher gewußt haben
‚sublich das faſt abenteuerliche Merkgeichen,: ein grade . in: bag
gefuchte Haus eingehender Waſſertraͤger! Freilich Die watiwp
fichen Erflärer find bald im Reinen, indem ſſe auch hien-zime
Sorausgegangene Verabredung annehmen; allein darnach ſicht
doch Die ganze Darſtellung gar nicht aus; vielmehr dentet
Alles, hier noch. mehr, als bei dem ſonſt ähnlichen Falle van
dem abgeholten Reitthiere, auf ein munderbares. ‚göttlicheg
Vorherwiſſen Jeſu hin. Es ift daher unbegreiflich, wie ſupra⸗
naturaliſtiſche Ausleger ihren Vortheil verkennen, und. hier
«ine natürliche Verabredung aunehmen moͤgen, da doch: vffen⸗
bar die vorliegende Erzählung mit der fo eben erwähnten vom
Meitthiere in-ganz gleiche Kategorie. fällt, und eben ſo beſtiinmt
um ein Wunder ſich dreht. in: folches ift aber quch in un⸗
feem Falle, ſchon als ein eines würdigen Zwedes -ermangelns
des, ‚ganz undenkbar, und ficherlich nur aus Vorbildern. des
alten Teftamentes erwachſen, wo Propheten hänfig.:ihr. Pros
phetenthum durch Vorausſagen Heinlicher- Umftände beurfunden,
wie z. B. Samuel. dem Saul vorherſagt, wer ihm auf feinem
Rückwege begegnen werde (1 Sam. 10, 1 3c.). — Uebrigens
müffen wir, fchließlich noch die drei verfchiedenen Berichte. in’s
Auge faffend, auch hier dem des M., ald dem einfacyern und
Daher ohne Zweifel älteren, den Vorzug geben, während die
der beiden andern, mit ihren. fpezielen Angaben, 3.8, ‚der
zwei Ssünger, bes oberen Saales, des IBafferträgers, — ganz
Bas. Sepräge fpäterer Ausfchmüdung an fic tragen,
Its. j u u tn *
p In der Erzählung vom letzten Mahle ſelbſt finden ſich nicht
wenige unaufloösbare Schwierigkeiten; zunächſt va Bererk, Ver
390
Zeit. Daß es zwei Tage vor dem Sabbat, alfo am Dons
nerftage unferer Woche, gehalten worden: darin flimmen alle -
Evangelien überein; allein den Synoptifern zufolge war dieſer —
Tag der „erfte der ungefänerten Brode, an dem man dac—
Paſchalamm opfern mußte“ (M. 26, 17 u. U), mithin wax=
dieſes legte Mahl eben das feſtliche Paſcha mahl: — Johan —
nes dagegen gibt den Tag „als einen vor dem Fefte“ art
(13, 1); bei ihm ift alfo jenes legte Mahl nicht. das Paſcha⸗
mahl, vielmehr fand diefes erft am folgenden Tage, d. h. am
Todestage Sefu ftatt (18, 28), der daher aud, der „Nüfttag
des Paſchafeſtes“ (19, 14) genannt wird, fo daß der af
diefen Todestag folgende Tag nicht nur der erfte Felttag,
fondern auch zugleicy ein Sabbat war, oder wie Sohanned
fagt: „es war der Tag jenes Sabbats ein großer“ (19, 31):
nach den Synoptifern dagegen ftel fchon auf diefen erften
Fefttag die Kreuzigung Jeſu.
Diefer Widerfpruch ift fo ftarf und fo beftimmt ausgedrüdt,
daß alle Verfuche, ihn hinwegzuräumen, fcheitern mußten; wir
wollen fie ung zu einer kurzen Betrachtung der Reihe nad
vorführen. —
„Die Cvangeliften erzählen von zwei verfchiedenen
Mahlzeiten“, fo Heß, Venturini ꝛc. — Allein alle Erzäh:
lungen ftimmen in einzelnen Punften fo fehr überein, und
Sohannes bezeichnet auch fein Mahl ald das lekte, Das
Sefus mit den Jüngern hielt, und fchließt fo unmittelbar den
Gang nad; Gethfemane an dasfelbe an (18, 1), daß offenbar
beide Theile das lebte Mahl Jeſu fchildern, und demnach
der Widerſpruch bleibt. —
„Auch Sohannes bezeichnet dieſes letzte Mahl als das
Pafhamahl “; eine fehr unbegründete Behauptung! Sein
Ausdruck „vor dem Feſte“ (13, 1) fol im Sinne der Gries
chen, die den Tag mit Aufgang, nicht wie die Suden mit
Untergang der Sonne, anfingen, gemeint fein: dann mußte
aber Johannes vielmehr jagen: „am Feſte felbft*, weil ja
doc), wenn er vom Pafcha redet, fchon der Abend Diefeg
Tages ein feftlicher war. Ueberdieß fagt er vom folgenden
Tage zu beftimmt (ſ. oben), daß hier das Paſcha genoffen
wurbe, was eben: mur::som Paſcha lamm des Bonabends ner -
landen werden kann. > mi Aa sr moin
ji Das Paſchalamm wurde allgewein-nicht. aut: 44. Rifan,
fondern am Donnerflage unſerer Rechmung: (13. Niſaudige⸗
geſſen, fo. daß Spnoptiker und Johannes einig find“; a die
Zuden haben damals dad Paſchamahl Eif. den Freitag ver⸗
legt; daher des Johannes Angabe, daß ‚fie. am Todestag ieh
das Paſcholanmm effen wollten (18,.28): Jeſus aber. blichıder
ten. Sitte ‚treu; daher mr ber fcheinbare Widerſpruch "3
zn Jeſus hat das Paſchamahl auf. einen frühern Tag, als
es eigentlich fiel, verlegt“. — ‚Drei fich unter. einander felbR
Yernichtende, ‚gleich ‚grundlofe Behatiptungen! indem ſie ſanunt⸗
Hich: gegen ganz erwieſene geſchichtliche Thatſachen amd feſt⸗
ſtehende jüdiſche Einrichtungen verſtoßen; — Gdaher nur u
Borübergeben angeführt werben bürfen..:: . ::-
. Mit Recht. haben,. diefen verfehlten Verſuchen Gegenüber,
neuere Forſcher nachdruckſamſt hervorgehoben, daß es ſich
‚hier nicht darum handele, bei ſonſtiger Uebereinſtimmung cine
zelne Widerfprüche auszugleichen, fondern „alle Zeitbeftisununs
gen der Synoptifer find von der Art, daß nach ihnen Jeſus
noch das Pafcha mitgefeiert haben müßtez alle johanneiſchen
dagegen: ſo, daß er ed nicht mitgefeiert haben kann*“. Es
muß alfo eingeflanden werden, daß nur Ein Theil Recht ha⸗
ben fann, und ber andere Theil eine irrthümliche Angabe ent-
halt; ed fragt ſich nur noch, welcher? — Hier ftellt fich nun
‚ollerdings die Sache für die Synoptifer am wenigſten günftig
heraus: ihnen zufolge war der erfte. Tag, an welchen Sefus
gefreuzigt wurde, der erfte Paſchatag und daher ein hoher
Feſttag; und doc, ‚nimmt ſich Alles an Demfelben fo werfel-
täglich aus: Jeſus verläßt am Abende vorher gegen das Ge⸗
fe die Stadt; feine Freunde beſtatten ihn eilig, und lafen
Die Beitattung nur aus Furcht vor dem anbrechenden:. Sab⸗
. bat unvollendet; die Mitglieder :ded Synedriums feiern den
Feſttag gar nicht, indem fie Gerichtefigung mit Verhör' und
Urtheil abhalten, ihre Diener zur Verhaftung ausfenden ıc. —
"Zwar gefchah es nicht :felten, daß anf die Zeit. eines hoben
Feſtes ſogar fchon befchloffene Hinrichtungen verſchoben wur⸗
den; daß aber etwas der Art am edſten. vnd: Leuten αÑ
Burn
392
tage, welche beide einem Sabbat gleich geachtet wurden, ges
fchehen fei, ift ohne alles Beifpiel.
Allerdings aber konnte die urdhriftlihe Sage leicht beſtimmt
werben, die Krenzigung Sefu auf den hoben Feſttag zu vers
legen, da fein Tod und das darauf vorbereitende Abendmahl
in geheimnißvolle Beziehung zu dem jüdifchen Pafcha geſetzt
wurden: ed lag eine folche Berlegung der Einſetzung des
Abendmahles auf den Paſchaabend um fo näher, weil in ben
judenchriftlichen Gemeinden noch lange Zeit das Pajchamahl
nach jüdiſcher Weiſe gefeiert wurde, und dasfelbe nun durdy
jene Sage eine chriftliche Bedeutung erhielt. — Es hätte aber
freilich auch dad vierte Evangelium zu der irrigen Anſicht,
Jeſus fei am Tage des Pafchamahles gefrenzigt worden,
fommen können, da es in dem Umſtande, daß ihm die Beine
nicht zerfchlagen wurden, die Erfüllung einer Weiffagung (2
Mof. 12, 46) erblidt: diefe Stelle jedoch bezieht fich einzig
auf das Schlachten ber Pafchalänmmer, und die Beziehung
auf Jeſu Tod feheint nur mit der irrigen Anficht, Jeſus fei
um biefelbe Stunde getödtet worden, wo man die Pafchaläms
mer fchlachtete, entitanden zu fein.
Indeſſen ift „vor der Hand nur der unauflösliche Widers
ftreit der beiderfeitigen Darftellungen anzuerfennen, eine Ents
ſcheidung aber, welche die richtige fei, noch nicht zu wagen*.
(M. 26, 20— 305 Marf. 14, 17— 31; uf. 22, 14— 38;
‘oh. 13.)
Aber auch in Bezug auf die einzelnen Borgänge bei’m
legten Mahle find die Berichte fehr verjchieden; und zwar in
der Art, daß im Ganzen die Synoptifer unter ſich genauer
übereinftimmen, als mit Sohannes; Lukas jedoch auch wieder
von den zwei erften Evangeliten in Manchem abweicht; Diefe
legteren Berfchiedenheiten, die Berfündigung des Verrathe,
die Anordnung der einzelnen Stüde, den NRangftreit u. 9.
betreffend, find von geringer Erheblichfeit. Dagegen ift ber
MWiderfpruch, in welchen Sohannes mit allen Synoptis
fern ſteht, darin fchr auffallend, daß ihm zufolge Jeſus eine
393
Sußwafchung bei jenem letzten Mahle vornimmt, nach ben
Synoptifern aber das Abendmahl einfeßt, wovon Johannes
jar nichts erzählt.
Diefes gänzliche Schweigen hat man vergebens zu erklären
gefucht. Zuvörderſt kommt auch hier der nichtige Grund wies
der, Sohannes wolle nur die übrigen Evangeliften ergänzen,
md könne daher recht gut über das fchon von diefen erzählte
Abendmahl fchweigen; allein wäre Senes fein Zweck, fo mußte
ee auch 3. B. über das weit unmwichtigere Speifungswunder, das
bereits erzählt war, ſchweigen; das Abendmahl durfte er aber
nicht übergehen, weil in deſſen Darftellung ſich Manches fanb,
was er für falfch halten mußte, 3. B. die Angabe der Zeit.
— Andere meinen, er habe für unnöthig gehalten, daß nies
derzufchreiben, was ſchon in der gewöhnlichen mündlichen
Ueberlieferung verbreitet genug gewefen fei; allein das wäre
fehr unverftändig; denn fchriftliche Aufzeichnung wird ja überall
defwegen vorgenommen, weil man der Zuverläßigfeit münd-
licher Meberlieferung nicht traut, und wo follte man jene für
nothwendiger halten, als bei der fo feierlichen Stiftung eines
lirchlichen Gebrauches, über deffen Einfegungsworte man ſchon
damals Cf. unten) verfchiedene Angaben hatte? Und gab es
überhaupt eine Handlung Sefu, die fo deutlich ihn als den
göttlichen Stifter eines „neuen Bundes“ bezeichnete, wie
diefe ? welche Reden Jeſu find ergreifender, tiefer und eigens
thümlicher, als jene Einfeßungsworte? und tieffinnige Reden
find es ja gerade, die Johannes mit Vorliebe gefammelt hat!
Am ungünftigften für alle diefe Verſuche ift es aber, daß
die Ausleger, die fie anftellen, nirgends in der Darftelung
des Johannes eine Fuge finden können, wo fich die, nadı
ihrer Anficht, auch ihm befannte Einfegung des Abendmahs
leg unterbringen ließe, weßhalb man vieler Orten im Kap. 13,
wo vom legten Mahle die Rede ift, angeklopft hat. — Einige
Rüden die Fuge am Ende des Kapitels; allein deffen letzte
Worte vom Hingange Jeſu hängen mit dem Kap. 14, wo
Sefus die bewegten Jünger deßhalb tröftet, auf's engfte zu-
ſaumen. Eben fo wenig paßt eine fo ernfte Handlung zwi:
Ihen V. 30 und 31: denn die Worte des leßteren Verſes be-
jiehen ſich unverkennbar noch auf den fo eben erzählten Weggang
._ “
394
des Verräthers. Nach B. 33 laͤßt fich gleichfalls nichts hinein⸗
denfen: denn bes Petrus Frage B. 36 bezicht fih auf B. 33,
und hätte inzwifchen die Einſetzung ftattgefunden, fo hätte
ficherlicd; Diefe des Petrus, wie aller Andern, Gemüth ganz
allein befchäftigt. Gleichfalls zerreißt den Zufammenhang,
wer bie fragliche Sache. nach V. 32 einfchieben will. — Das
her glaubte ein. nenerer Ausleger, nach V. 1 die fehicklichfte
Stelle zu finden, da ja V.2 fage: „ald das Mahl vorüber
war 2c.“, fo erkläre damit Sohannes, daß er von dem wähs
rend des Mahles Vorgefallenen, alfo auch von der Ein,
fegungsfcene, die er wohl gefannt habe, nichts berichten
wollte Allein wenn eg nım V. 12 von Sefus heißt:
„er. feßte fi, wieder nieder“, fo war doch bei V. 2, wo
die Fußwaſchung begann, die Mahlzeit noch nicht vorüber;
‘und wirklich heißen die angeführten Worte diefes Verſes nad)
richtiger Ueberſetzung °°) nichts Anderes, als: „nachdem
Das Mahl angefangen hatte“. — Johannes wollte alfo
"auch dag während bdegfelben Gefchehene erzählen, und
mußte die Einfekung erzählen, wenn er fie kannte.
Daß Sohannes fie aber nicht fannte, müffen wir ale
Ergebniß der fo eben angeftellten Prüfung beftimmt ausfpre
chen: nur. muß man ung nicht vorwerfen, daß wir damit be;
haupten, er habe das Abendmahl felbft, ald allgemeinen fird;
lichen Ritus nicht gekannt; dieß wäre ſinnlos. Allein gar
‘wohl tonnten ihm entweder die einzelnen Umftände der Eir
fesung desſelben unbekannt geblieben fein; oder er konnte and
es vorziehen, feiner Vorliebe gemäß für myfteriöfe, erſt fpäter
klar gewordene Ausfprüche Sefu, nur foldye über die Entfte
hung des Abendmahles feinem Evangelium einzuverleiben,
wie ſich wirflicy viele zerftreute Andeutungen bei ihm vor
‚finden von der Nothwendigfeit, Jeſu Leib zu offen und fein
"Blut zu trinken.
Andererfeitd könnte es ums nun auch befremden, Daß die
Synoptifer von der bei Johannes zu lefenden Fußwaſchung
3) Die freilich au Auther wicht aikt.
nichts —* dieſe iſt jrvoch "as" ſo Antergtrvrdtietes, "DAR
jene vrei Evcingeliſten / die auf Vollſtandigkeit keinen: Anſpruch
machen,/ ſie leicht, auch wenn fie irren befanne war, übers -
eben: konnten. Näher aber liegt die Annahme⸗ daß die
ganze Erzaͤhlung des Johannes eine reine Mythe: ſei, die
ſich ans beridet M. (20, 26) mir allgemein, bei. Lukas (27,
27) ſchon finnbilbficher durch Hirweiſung auf: Das Verhaltniß
zwiſchen Jeſu und feinen ärgern ausgeſprochenen Ermahnling
zur Demuth zu einer Parabel, — und von der Parabel” zu
. nee: Gefchichtserzählung Tönwte entwickelt haben, die men
ſodann grade auf das Atſchledemahr Jeſu ans guten Gründeh
Ä verlegt hätte. :ı 5”. i
"Die Rede “über die wolf· Throue, auf welchen die
west Apoftel als: ſolche, dis⸗bei ihrem Meifter': ausgeharrt
Haben, einft die zwoͤlf Stannme Iſraels richten ſollen; — ſo
wie die über die Nothwendigkeit/ fi ſich ein Schwert zu kaufenʒ
Reden, die ſich nur bei Lukas finden CB: 28—30,:36),
paffen zur ganzen Scene fo wenig, daß fie Lukas mir nach
einer ganz äußeren Gedankenverknupfung hierher verlegt haben
kann; wie ihm’ dieß auch‘ mit andern einmal überlieferten Aus⸗ |
. ſprũchen Jeſu begegnet if. |
Eine andere wichtige Frage i in Betreff des letzten Mahles
iſt die, welche die Verkündigung des: Verrathes betrifft.
M. und Marks laffen fie vor, Lukas nach der Stiftung
des Abendmahles, Johannes während der Fußwaſchung aus⸗
geſprochen werben. Hier nun haben fi. die Drihodoren fehr
beeilt,; fih an M. und Markus anzufchließen und dazu aus
dem Johannes zu beweifen, daß der BVerräther bei Stiftung
des Abendmahles fchon fortgegangen war; es fchien nämlich
mit der Barmherzigkeit des Heren :unverträglich, daß er den
Verbrecher durch Zuziehung zum Abendmahle noch ſchuldiger
machen’ follte. Aber die Abweſenheit des Judas während des⸗
felben läßt fich, wenn auch M. und Markus Recht haben,
durchaus nicht beweiſen; denn fie wiflen nichts davon, daß
er nad} Verkündung bed Verrathes ſich fogleich entfernt habe;
nur Johannes ſagt es; md: Dafür, we vei. einer TON,
396
zugegen gewefen und wer nicht, wird man doch den nicht
zum Zeugen nehmen wollen, der von der ganzen Handlung
Nichts weiß? — Auch in Erzählung der Art und Weiſe,
wie der Berräther bezeichnet wurbe, ftimmen die Evangelien
nicht überein; bei Lukas nennt Jeſus deſſen Name gar nicht
(22, 21); bei M. und Markus fpricht er ebenfalls erft im
Allgemeinen von einem Verräther und bezeichnet ihn Dann ale
den, der mit ihm in die Schüffel tauche, worauf M. nod
ben Judas felbft fragen läßt (M. 26, 21 2.3; auf ähnliche
Meife fteigt bei Sohannes (13, 18 ꝛc.) die Bezeichnung vom
Unbeftimmten zum Beltimmteren auf.
Diefe verfchiedenen Berichte Iaffen fich durchaus nicht vers
einigen; man müßte denn, wie Einige wollen, annehmen, Jeſus
habe erft auf die leifen Fragen des Sohannes (Soh. 13, 25)
und bes Judas leife geantwortet, und dann laut zu Allen
gefprochen; eine wahre Spielerei! Und dann müßte ja aud
der Berräther dicht neben Jeſu gefeffen haben, gleich dem
Lieblinge Johannes! Es find daher alle befonnenen Theologen
genöthigt, die Berfchiedenheit der Berichte anzuerkennen, nur
darin nicht einig, welcher ald der zuverläßigere zu betrachten
ſei; unfere Anficht ift diefe. Urſprünglich mochte man nur
willen, daß Jeſus überhaupt nur Einen der am Tiſche Sitzenden
als Berräther bezeichnet habe (Luk.); fpäter bildete ſich dafür
der, das Schwarze der That mehr ausmalende Ausdrud:
„einer, der mit mir in die Schüffel taucht“ CM. u. Mark),
was man nun fofort im engften Sinne nahm: „der, der eben
jest mit und ꝛc.“, dieß mußte denn dem Erfolge nach der
Judas geweſen fein; und endlich follte Jeſus ihm fogar den
Biffen felbit gereicht haben (Joh.). Nach diefer Anficht hätte
alfo Jeſus den Verräther gar nicht bei Namen genannt, was
fchon darum fehr wahrjcheinlich ift, weil die übrigen Sünger
den Judas fo ganz ruhig ziehen und das Verbrechen voll
führen lafien.
Ob aber Jeſus den Judas als feinen Verrather auch
nicht gefannt habe? kann immer nod) gefragt werden. Zwar
aus Pfalm 41, 10, wie Joh. B. 18 ihn behanpten läßt, kann
er dieſe Kenntniß ficherlicy nicht gefchöpft haben, da diefer
Berd auf nichts weniger, als auf den Meſſias ſich bezicht,
397
und gewiß auch por dem Berrathe von Niemanden auf ihn
bezogen wurde. Dagegen könnte Jeſus gar wohl durch ents
fernter ftehende Freunde unbeftimmte Kunde von einem im
Kreife der Sünger brütenden Berrathe erhalten haben; in
welchem Falle er aber Fein Menſchenkenner hätte fein müffen,
wenn fein Verdacht nicht auf Judas gefallen wäre.
Auffallend hat man es ferner gefunden, daß die, gleichfalls
bei jenem Mahle (bei M. jedoch erft auf dem Wege nady
Gethfemane) ausgefprochene Verfündigung von des Petrus
Berläugnung fo genau eingetroffen fein fol; man könnte
baher geneigt fein, fie, als eine Weiffagung nach dem Er-
folge, Jeſu abzufprechen. Allein wahrfcheinlicher ift es Doch,
daß Jeſus etwas der Art vorausfagte, was aber fpäter buch⸗
ftäblicher gedeutet wurde, ald er es gemeint hatte. Denn
wenn er, was alle Berichte einftimmig angeben, wirflich einen
Angriff in der eingebrochenen Nacht erwartete, fo fonnte er
bei dem aufmwallenden Feuereifer (M. 26, 33) des Petrus,
Den er gewiß genau fannte, wohl ein augenblidliches Straucheln
voraugfehen; wenn er dann fagt: „ehe der Hahn kräht“, fo
heißt es in der Sprache jener Zeit nichts weiter, als: „vor
Anbruch des Tages“; — „dreimal“ ift unbeftimmter Ausdruck
für etwas Wiederholtes; — „verlängnen“ kann leicht aus
einen etwas allgemeineren Ausdrud: „ftraucheln, an mir irre
werden ꝛc.“, umgebildet worden fein. Es hat alfo eher den
Anfchein, daß die Erzählung von dem wirklichen Benchmen
Des Petrus der zu enge gedeuteten Warnung Jeſu nachges
bildet, als daß eine folhe Warnung nie gefprochen worden.
Wir haben nun nod) die Einfeßung des Abendmahles,
als eines Firchlichen Gebrauches, näher in's Auge zu ſaſſen;
die feierlichen Worte, mit welchen dieß gefchah, werden von
ben Synoptifern (M. 26, 26; Mark. 14, 22; Luk. 22,19, 9)
und von Paulus, der fie 1 Kor. 11, 23 wiederholt, nicht
ganz gleichförmig gemeldet, wie wir fogleich fehen werben.
Die Eonfeffionellen Streitigfeiten über die Bedeutung Ver:
398
felben berühren und hier nicht; nur bemerfen wir, daß in
denfelben die Worte: „das ift mein Leib ıc.“, von allen
Partheien nicht im Sinne des phantaftereichen Morgenländers
genommen werden, der noch nicht fo haaricharf fpaltete, wie
der fältere, mehr denfende Abendländer der neuen Zeit. Bu
dürfen behaupten, mit feiner Konfeffion wären bie Evange Üi
litten zufrieden; die einen würden ihnen zu viel, die andern
zu wenig in ben geheimnißreichen Wörtchen: „das ijt“ m
lefen fcheinen.
Doch kehren wir von den Konfeffionen zu unfern Evangelin
zurüd! In allen Berichten ftellt Jeſus feinen Tod als Bundes |
opfer dar, demnach ale höheres Gegenbild der blutigen Thier
opfer des alten moſaiſchen Bundes; bei dem einzigen M. fügt
er noch hinzu: „zur Vergebung der Sünden“, wodurch fein
Sterben zugleich ald ein Sühnopfer bezeichnet wird. Bei
Vorſtellungen vertragen ſich wohl mit einander, wie fie aud
ſchon im Hebräerbrief (9, 15) in einander fliegen. — Yerne
haben nur Lufas und Paulus die Anweifung Jeſu, dieſes Mahl
fortwährend als „Gedächtnißmahl“ zu wiederholen (Xuf. 22, 19.
In Bezug auf dDieje Anordnung haben freilich Drthodore ei
übertriebened Gewicht auf die Worte des Paulus (V. 23):
„Sch habe ed vom Herrn empfangen“, gelegt, als beziehen
ſich diefelben auf eine unmittelbare Offenbarung aus Jeſu
Munde, da fie doch nichts Weiteres, als eine unmittelbare
Ueberlieferung bedeuten. Dagegen follte man aber auch jene
Anordnung Jeſu nicht bezweifeln, „weil fie gegen die Demuth
verftoße (1)*; — vielmehr fünnen wir diefelbe fehr denkbar
finden, obgleid, M. und Marfus davon nichts erzählen.
Weiterhin hat man die Frage aufgeworfen: ob Jeſus von
jeher den Plan gehabt, eine ſolche Gedächtnißfeier für feine
Kirche zu ftiften? oder ob erft fur; vor feinem Ende biefer
Plan in ihm entitanden ſei? — Das Eritere mit den Ortho⸗
doren anzunehmen, fünnen wir und nicht entfchließen, da fid
davon feine fichere Spur in den Evangelien findet, und da
e3 „überhaupt die Wahrheit der menfchlihen Natur in Sefu
aufzuheben fcheint, in ihm von jeher, oder wenigſtens vom
Anfange des reifen Alters an, Alles fchon fertig und vorge
jehen fich zu denfen*. Wenn er auch, fehon einige Zeit vorher
ie.. der Borahnang feined.gewaltfamen: Kobes:.at -ein ſolches
Gedaͤchtnißmahl gedacht haben mag, - fo iſt doch wohl. der bes
ſtimmte Entſchluß dazu an jenem Abende, erft, wo nach allen
Aeichen: er ſeine Leiden als ſehr uahe bevorſtehend anfah,;
und wo er völlig emtichloffen war, denſelben auf: feine: Weiſe
ſich zu entziehen, — und wo ihm das gebrochene Brod und
der. ausgegoſſene Wein. als Sinnbilder feines . bad hinzurich⸗
tenden Körpers: erſchienen, — an jenem Abende. erft feik- tm
hm gewurzelt; üft:cdfo theild eine Erzeugniß des verhängnißs
sollen Augenblickes, theils einer Icon: länger aubauernben
Derracnung | B
. 3 . „
J — Viertes Kapitel‘ \
Bern. Weclenfampf ‚feine: Ab ſchiedsreden und feine
— BE VBerbaftung:
ew. 26, 30—46; Mart. 14, 32—42; eut. 29, ai
| Sob. 14— 18,, 2...
Nach den. Spnoptifern ging Jeſus ſogleich nach Einſetzung
Ses Abendmahles nach Gethſemane (M. 26, 36); dort
Segann die Scene, welche man den Seelenkampf Jeſu
rrennt (V. 37), worauf er denn verhaftet wurde (V. 47).
Bei Sohannes folgen auf die. Mahlzeit noch die großen: Ab-
Kchiebsreden Kay. 14—17, wogegen aber der Seelentampf
ganz fehlt.
In Schilderung Dief es weichen die drei Spnoptifer in |
Den wefentlichen Punkten von einander ab, dag M. und Markus
wir Drei Sünger mitgehen (M. 3. 37), und Sefum drei
Mal in Zagen gerathen (®. 44) laſſen; Lufas aber von biefen
beiden Dreijahlen nidyts hat, wogegen von ihm allein noch
eine Engelerfcheinung (V. 43) und ein Schweiß von Bluts⸗
tropfen (DB. 44) erzählt wird. — An diefem Geelenfampfe
bat man von. jeher großen Anftoß genommen; Feinde des
Ehrütenthums benugen ihn zu Angriffen auf Jeſu Perſon;
falfche Evangelien hielten ihn nur für Berftellung, um ben
Teufel u. täufshen; Kirchenvater fahen ihn wur. 0% TR
\
400
der menfchlichen Natur in Sefu an, während feine ‚göttliche
Davon ungerührt geblieben; Spätere betrachten fein Zagen
nur als mitfühlenden Schmerz über die feinen Süngern und
dem Volke bevorſtehenden Leiden; die Kirchenlehre endlich
faßt die Sache fo, „daß Jeſus in das Mitgefühl der Süns
denfchuld der ganzen Menfchheit verfeßt geweſen fei, und
Gottes Zorn über diefelbe ftellvertretend empfunden habe“.
Bon diefem leßteren Grunde findet ſich nun gar nichts in
der Erzählung jener Scene, vielmehr widerjpricht er der ganzen
evangelifchen Vorftellung, vermöge welcher Jeſus allerdings
auch für die Sünden der Welt leidet, aber ganz unmittel-
bar; demnach, fo wie er am Kreuze wirklich litt und
fchmachtete, jo beherrfchte in Gethfemane ihn dag wirkliche
qualvolle Borgefühl diefes Leidens.
Man griff alfo zu andern, zum Theile grobfinnlichen Er-
Härungen, wie 3. B., daß man Sefu eine körperliche Webelfeit
zuftoßen ließ; oder zu überfpannt empfindfamen, wie, daß es
nur der Schmerz um die nahe Trennung gemwefen u. dgl.
Andere nehmen daher weit richtiger an, daß hier wirflich die
Schauer der finnlihen Natur vor ihrer Vernichtung fich
zeigen; bie fchleunige Unterdrüdung derfelben aber jeden Schein
der Sündhaftigfeit entferne; daß übrigens das Leben der
finnlihen Natur vor ihrer Vernichtung zu ihren wefentlichen
Lebensäußerungen gehöre; ja daß, je reiner die menfchliche
Natur in Jemand fei, defto empfindlicher fie gegen Schmerz
nnd Vernichtung ſich verhalte, und daß die Heberwindung eines
ſolchen durchempfundenen Schmerzes größer fei, ald eine ftarre
Unempfindlichfeit gegen benfelben.
Betrachten wir num die von den Synoptifern verfchieden
erzählten Einzelnheiten, fo fällt ung zunächft die Engelerfcheis
nung bei Lufas auf: die Orthodoxen wiſſen fich die Stärkung
Sefu, als des Gottmenfchen, nur dadurch annehmbar zu
machen, daß fie auf den noch andauernden Stand feiner Ers
niedrigung hinweiſen; Rationalijten dagegen durch Die Annahme,
der Engel werde wohl ein Sefum tröftender, unbefannter Mann
geweſen fein. Allein diefe Bemühungen find unnöthig, weil
401
Die ganze Engelerfcheinung, auch abgefehen davon, daß fie nur
von Lukas erwähnt wird, ganz ıumbeglaubigt ift; denn wer
follte fie bemerft haben, da ja alle Begleiter Jeſu fchlaftrunfen
waren? Daß aber Jeſus fie feinen Süngern noch foll- erzählt
haben, ift wegen des unmittelbar darauf folgenden Leidens fehr
umvahrfcheinlich, wo nicht unmöglich. Bielmehr haben wir
Darin einen mythifchen Zug zu erfennen, durch welchen ber
fehnelle Uebergang Jeſu von tiefem Schmerze zu hoher Seelen⸗
ftärfe Ddichterifch verflärt wurde. — Auf ähnliche Weife mag
es fih mit den, auch nur von Lufas angeführten blutigen
Schweißtropfen, die Sefus vergoffen Haben foll, verhalten. Daß
fo etwas möglid, fei, Tann nicht geläugnet werden; allein es
ereignet fich doch nur in fehr feltenen Fällen und bei ganz
befonderen frankhaften Zuftänden. Könnte man aber auch die
falfche Erklärung gelten laffen, daß hier nur von Schweiß⸗
tropfen, die fo fchwer und Dicht gewefen, wie Blutstropfen,
Die Rede fer, fo Fehrt doch auch hier die Frage wieder: wer
konnte, da Alle, außer Sefu, fchieden, fie bemerkt haben? Denn
Daß fie nicht bloß auf feiner Stirne ftanden, fondern „zur
Erde herab fielen“, wird doch deutlich genug gefagt. Nehmen
wir aljo doch auch diefen Zug ale einen mythifchen, der Daher
entflanden fein mag, daß man jenes Borfpiel bes blutigen
Keidens Jeſu am Kreuze nicht nur geiftig, fondern auch ganz
leiblich und finnlich in fchon jetzt wirklich vergoffene Bluts⸗
tropfen ausmalte.
Andere Eigenthümlichfeiten finden fich hinmwiederum, im
Gegenfage zu Lukas, nur bei M. und Marfus. Daß grade
nur die drei befannten Jünger zugegen gewefen, dieß läßt
ſich nach Früherem wohl denfen; auch daß Sefus drei Mal
bei feinen Süngern Troſt gefucht, könnte in dem bewegten
Seelenzujtande degfelben auch feine Erflärung zu finden fcheinen.
Allein theils ift doc das Hafchen nach der geheimnißvollen
Dreizahl hier eben fo unverkennbar, wie bei der Verſuchungs⸗
geſchichte; theild vwerräth der Umftand, daß Sefus drei Mal
faft ganz dasfelbe betet (M. V. 39, 42, 44), deutlich genug
auch hier die Nachhilfe der Sage, — Denken wir ung nun
aber diefe undenkbaren einzelnen Züge hinweg, fo bleiben uns
als gefchichtlicher Kern die Thatfachen ‚eines heftigen Ser
IL. Ä %
402
ſchmerzes in Sen, des inbrünftigen Gebete und der wieder⸗
gewonmenen Stärfe zurüd; jedoch haben wir noch den auf:
fallenden Umftand, daß Johannes nichts von Diefer Scene
erzählt, wogegen er Reden mittheilt, die mit berfelben in
Widerfpruch ſtehen, näher zu betrachten.
Was das Erftere, fen Schweigen von dem Seelen:
fampfe, betrifft, fo ift dieß fchwer zu begreifen, wenn ber
Berfafler des vierten Evangeliums wirklich der Johannes ift,
der ja doch auch zugegen war, und wohl nicht fchlaftrunfener
geweſen fein wird, als die übrigen Jünger. Daß er bie
Sahe übergangen habe, weil ſchon die andern Evangelien
fie berichtet hätten, oder wenigſtens Die allgemeine Ueberliefe-
rung fie enthielte; dieß Fann hier bei fo großen Abweichungen
in jenen Evangelien, die auch in dieſer Ueberlieferung, als der
Duelle der Evangelien, nicht gefehlt haben werden, — man
denfe nur an die Engelerfcheinung bei Lufas! — gewiß nicht
angenommen werden. Nein, fagen Andere, er wollte eine
Engelerſcheinung nicht erzählen, um gewiſſen Geften, bie
das Höhere in Chrifto für einen Engel hielten, feinen Bor:
ſchub zu thun; aber, um das fchon oben über einen ähnlichen
Auslegungsverfuc Bemerkte nicht zu wiederholen, mußte er
denn darum Die ganze Gefchichte weglaffen? und warım
redet er denn doch 1, 52 von den über Jeſu aufs und ab-
fteigenden Engeln?
Schwieriger aber wird die Sache, wenn wir bedenken,
welch” greller Unterfchied zwifchen den Abfchiedsreden bei
Sohannes, von denen weg Jeſus unmittelbar zu der befpro-
chenen Ecene in Gethſemane abgeht (Joh. 14— 17), md
zwifchen feiner Stimmung bei diefer flattfindet. Nachdem er
in jenen Reden den Schmerz über feinen Tod völlig über:
wunden und mit göftlicher Ruhe gefprochen, feine zagenden
Freunde voll Heiterkeit beruhigt, die Nothwendigkeit feines
Todes Far und feſt dargelegt hatz — welch' ganz andere
Stimmung dann ſogleich Darauf in Gethfemane! Hier bie
vollefte, zagendite Todesbetrübniß! der frühere Tröſter fucht
ſeinerſeits Troſt bei den fchlafenden Süngern; er zweifelt, ob
403
fein Tod des Vaters Wille fei und nur mit bitterm Schmeize
fügt er ſich demfelben! Das ift mehr, als MWechfel der Stim⸗
mung; es ift ein bebenflicher Rückfall, zumal wenn man das
Gebet Kap. 17 in's Auge faßt. Hier hat er.fein eigenes Lei-
den ganz in Hintergrund geftellt, feine Rechnung mit dem
- Bater völlig abgefchloffen, und die Herrlichkeit, in welche er
fofort eingehen werde, und die Geligfeit, die er den Seinen
erworben habe, bildet den Hauptgegenftand feiner Rede mit
Gott: — er ift-Steger über fein fchon überwundenes Leiden!
Auf Gethfemane finft er dagegen wieder in den heißeften
Kampf zurüd! Darf man da nicht fragen: „warum haft
du Triumph gerufen, ehe du gekämpft hatteft, um dann bei
Annäherung des Kampfes mit Befchämung um Hilfe zu rufen? *
Eine folche voreilige hohe Meinung von feinem inneren. Zus
ftande, Die an Vermeffenheit gränzt, ift aber mit bem groß-
artigen und befonnenen Charafter Jeſu ganz unverträglic.
Es ift daher die auch fonft verwerfliche Auskunft hier unzu⸗
laͤßig, daß im Leben gläubiger Perfonen nicht felten ein Zu⸗
ftand völliger Gottverlaffenheit eintrete, in welchem ihre
ſchwache menfchliche Natur rathlos zufammenfinfe: dieß heißt
Das Leben des Menſchen in und mit Gott fehr ſinnlich und
oder auffaflen, als ob Gott nur äußerlich in den Menfchen
und aus dem Menfchen herausgehe! Wie demüthigend bliebe
es ferner für Jeſum, daß nur ein Engel feine ſchwache
Kraft wieder aufrichten Eonnte !
Wir fühlen uns alfo aud) hier zu dem Ausfpruche gezwun⸗
gen, daß nur Eins von Beiden, Seelenfampf oder Abfchiedes
reden, gefchichtlich wahr fein kann: welches? darüber fünnen
wir, um nicht in die Befangenheit anderer Theologen in Dies
fer Frage zu verfallen, und erft nach folgenden Betrachtungen
entfcheiden. — Eine ganz ähnliche Scene, wie die in Geth-
femane, hat auch Sohannes, nur bei ganz anderer Gelegen-
heit: als nämlich einige griechiſche Juden mit Jeſu zu reden
wünfchten (12, 20), brach er ebenfalls in ein heftiges Zagen
aus (B.27 ıc.), wobei zum Theile diefelben Worte vorkom⸗
men. Deßhalb. glauben einige Theologen, Synoptifer und
Johannes erzählen einen und denfelben Vorfall; nur habe ein
Theil ihn am die unrechte Stelle geſetzt, auch Iier wort der
404 "
Irrthum den Synoptifern aufgebürdet »7). Man hat nämlid)
die Veranlaffung zu jenem Seclenfampfe aus Johannes Ers
zählung fehr fein herausgewittert. Sene Juden follen Jeſum
aufgefordert haben, Paläftina zu verlaffen und unter den aud-
wärtigen Juden zu wirken; Jeſus fei verfucht geweſen, dem
Antrage nachzugeben, um der drohenden Gefahr zu entgehen;
der Gedanfe an diefelbe habe ihn Denn bis zu inneren Käm⸗
pfen erfchüttert. Dieß heißt aber mit den Evangelien fpielen;
denn, um von Anderem zu fchweigen, von einem foldyen Ans
trage findet ſich in unferer Stelle auch nicht die leifefte An-
deutung; ja ed hat an diefer Stelle dad Zagen Jeſu etwas
wirklich Unmwürdigee. Hier fteht fein Tod in dem Hinter
grunde noch ferner Zeiten; er redet am hellen Tage, vor vies
len Zuhörern: wie viel erflärlicher dagegen ift alles in Geth⸗
femane! Hier fleht er an der Schwelle feiner Leiden; ſchauer⸗
liche Nacht umgibt und nur wenige: Sünger begleiten ihn!
Es wird daher das Nichtigere fein, von dem vierten Evans
gelium zu behaupten, daß es, vielleicht verleitet durch eine vers
wandte Aeußerung in jener Unterredung Jeſu über die grie-
chifchen Suden (etwa 12, 23 ıc.) hier irriger Weife den auch
ihm befannten Seelenfampf einfügte. Nur muß man alsdann
auch befennen, daß der Verfaſſer wohl faum der bei Diefer
Scene gegenwärtig gewefene Johannes fein fannz denn
war ihm einmal diefelbe noch erinnerlic,, fo fonnte fich feine
Erinnerung, troß feiner damaligen Schlaftrunfenheit, nicht fo
verwifcht haben, daß er die Sache von dunkler Nacht in
den hellen Tag, und von den letzten Tagen Sefu in das Sahr
vorher verlegte. Es wollen Daher Andere lieber annehmen,
daß das Evangelium eine ganz andere, nur verwandte Scene
>, Es mag hier die Bemerfung nachgetragen werden, daß fo viele
Theologen nur darum fo geneigt find, überall den Berichten des
vierten Evangeliums den Vorzug zu geben, weil jie an der
Anficht fefthalten, Dasfelbe fei wirklich das Werk des Johannes,
alfo eines Augenzeugen. Ueber die Anfiht von Strauß
vergl. man Ih. I, ©. 39. '
fchildere. Allerdings hat es mehrere Züge, die den Synop⸗
tifern fehlen, namentlich das Gebet Sefu um Verflärung, und ,
bie diefelbe verheißende Himmelsſtimme (V. 28); während ans
dere ganz mit der Schilderung ber Begebenheit in Gethjemane
übereinflimmen. Da nun das ihm Eigenthümliche in ber oben
ſchon betrachteten Berflärungsgefchichte vorkommt, fo tft
es fehr wahrfcheinlich, daß unfer Sohannes beide, dieſe Vers
klaͤrung und bie Scene in Gethfemane, aus ungenauer Kennts
niß in Eins verfchmolen, und Alles, was ihm die fchon
ziemlich unficher gewordene Sage davon zugeführt hatte, an
ähnliche Erinnerungen aus der Gefchichte von den griechiichen
Juden angefnüpft hat, fo daß Jenes bei ihm nun mit biefer
zuſammengefloſſen iſt. Daß er nicht Das Urfprüngfiche, ſon⸗
dern nur zufammengefchwenmte Theile aufgelöster Sagen has
ben kann, geht ſchon aus dem fehr Iodern Sufammenhange
derfelben hervor. .
Wir kehren mın aber zu der Frage zurück: welches Stüg,
die Erzählung des Seelenfampfes bei den Synoptifern, oder
Die langen Abfchiedsreden bei Johannes, ift, da beide fich nicht
mit einander vertragen, ungeſchichtlich? Dffenbar die leg
teren. Schon das: follte ein Apoflel im Stande geweſen
fein, fie fogleich aufzuzeichnen? in den Tagen bes tiefftem .
Schmerzes? nachdem die von Jeſu erwecdten Hoffnungen in
feiner Sünger Augen fo ganz vernichtet waren? Längere Zeit
aber im Gebächtniffe behalten Tieß fich fo etwas nicht. Und
wie wenig paßt der Inhalt jener Neben zu der Stimmung
- Sefu in der Zeit, wo er fie gefprochen haben fol! Biel na⸗
türlicher erflärt fich der gan,e Ton berfelben, „wenn fie das
Wert eines Solchen find, welchem der Tod Jeſu bereits ein .
Vergangenes war, deſſen Schredlichkeit in den fegensreichen
Folgen und der andächtigen Betrachtungsweife der Gemeinde
fi, gelind aufgelöst hatte +. Auch find manche Verkündigun⸗
gen, 3. 3. die von der Sendung bes heil. Geiftes (14, 16
u. A.) fo beftimmt, daß fie wie nach dem Erfolge gemacht
ausfehen. Borzüglich aber ift das Schlußgebet, Kap. 17, ges
wiß weit mehr eine Nede über Sefum, als von Jeſu felbft,
der auf unerflärliche Weife in den letzten Momenten nod
mit Gott weitläuftg von feiner Perfon und feinen biäherigen Ar
. 406
ftungen fich unterhalten hätte: gemacht fcheinen die Reden das
für, um über das Hinfcheiden Sefu eine göttliche Glorie zu
verbreiten, und damit die Sdeen über ihn, als das fleilch-
gewordene „Wort“ (Joh. 1), weldye ſich allmälig in der Ge-
meinde gebildet hatten, auch ſchon von ihm, ald dem Gründer
derfelben, ausgefprochen würden. —
Aber audy bei den Synoptifern findet ſich ein Borausfagen
Jeſu, näamlicy neben Anderem das über Stunde und Augens
bli der Ankunft des DVerrätherd (M. 26, 45 ıc.), das wir
fo, wie die Evangelien ed und geben, nämlich ald ein wun⸗
derbares, aus früher ſchon entwicelten Gründen, .nicht für
geſchichtlich wahr halten können. Ein natürliches Vorher
wiffen des ihn in den nächlten Stunden Bebrohenden: mochte
er. allerdings haben; fei e8 num durch Schlüffe aus Außeren
Beobachtungen hervorgerufen, oder, was mwahrfcheinlicher. ift,
durch eine unmittelbare Ahnung, und ein in folchen Verhält
niffen nicht feltenes, ummwiderftehlich fich aufdrängendes Bor:
gefühl.
(M. 26, 47— 56; Mark. 14, 43—52; uf. 22, 47— 54;
Eobald Jeſus im Gebete auf Gethfemane ſich wieder ge
ftärft ‚hatte, trat Sudas mit den Bewaffneten herein, um ihn
gefangen zu nehmen M. V. 47): an die Hauptfchaar, wahr:
ſcheinlich Tempelfoldaten (Luk. 22, 52), ſchloß ſich noch ſchlecht⸗
bewaffnetes Volk (M.) und dem Johannes (V. 12) zufolge
auch eine Abtheilung römiſcher Soldaten an. Ueber die Art
der Verhaftung hat Johannes das Eigenthümliche, daß Je ſus
dem Haufen entgegentritt, und ſich felbft mit den Worten:
„Sch bin’s“ ihm überliefert (B. 5), während bei den Synop⸗
tifern Sudas ihn durch einen Kuß ald den zu Fangenden be
seichnet. Beide Angaben laffen ſich nicht miteinander vereinis
gen: denn hatte ſich Jeſus felbft ſchon als den Gefuchten
feuntlich gemacht, fo war der Kuß unnöthig; oder hatte ums
gekehrt ſchon Diefer VBerrätherfuß ihn bezeichnet, fo. durfte Jeſus
nicht erft feierlich fich zu erfennen geben, wenn man nicht etwa
die ungereimte Aushilfe nehmen will, Judas fei, ald er jenes
Zeichen gab, der Wache weit voran geweſen. lieberbieß wäre
Zeſu Benehmen bei Johannes eine ihm .übel anftehende Eil⸗
fertigkeit. Aber leicht ſieht man, wie Die Sage dazu kommen
fonnte, eine folche ihm zuzuſchreiben. Fruhe fchon hatten Geg⸗
ner ihm feinen Weggang aus ber Stadt als fchimpfliche Flucht
vorgeworfen; durch des Johannes Erzaͤhlung wird dieſer Vor⸗
wurf aber vernichtet, indem Jeſus in ihr als ein ſich ſelbſt
Ueberliefernder erſcheint, der aus höherem , freiem Willen
fein Leiden auf fich ninmt. ..
Eben fo fonderbar ift ein anderer Zug bei Johannes daß
nämlich, als Jeſus vor die. Schaar hintrat, dieſelbe vor feinem
Machtworte zurückwich und. zu Boden fiel (V. 6). Läßt ſich
“aud) aus der ſouſtigen Geſchichte bier und da ein Beiſpiel
nachweiſen, daß bie ergreifende Perſonlichkeit eines Yon allge⸗
meiner Scheu umgebenen Mannes die mörderiſchen Haͤnde
Einzelner gelaͤhmt hat, ſo klingt es doch ganz unglaublich, daß
eine ganze Schaar durch den Anblick eines den Meiſten wenig
bekannten Mannes ſoll zu Boden geworfen. worden fein. Auch
hier haben wir nicht den hiftorifchen, fondern ben Chriſtus ver
urchriftlichen Einbildungskraft, den die Sage fo gern in Alles
überwältigender Hoheit hinftellte, und hier namentlidy ald den
Mann verherrlicht, der. Macht genug hatte, feinen Feinden
zu entgehen, und ihnen daher nur. mit voller Freiheit des
Willens felbft ſich hingibs, indem er unterliegt. Ä
Alle Evangelien. flimmen nody am "Ende ber Erzählung
darin überein, daß ein Juünger einem Knechte das Ohr abs
gehauen habe (M. V. 51); Johannes fagt genauer, Pes
teus habe es gethan, und jener Knecht habe Malchus, ger
heißen CB. 10), was ohne Zweifel fpätere Ausmalımg ift;
Lukas ſetzt noch hinzu, Jeſus habe das Ohr fogleicy wieder
angeheilt (V. 51). Dieß Lebtere hätte man nicht natürlich
erklären follen; namlich fo, daß Jeſus die Winde umterfischt
babe u. |. w.: denn, abgefehen von dem völligen Alleinftehen
des Lukas, ging biefer lettte Zug wohl nur aus dem Gebans
fen hesoor, Jeſus, der fo viele Leiden wunderbar geheilt hatte,
werbe wohl ein von ihm, wenigſtens mittelbar, veranlaßtes
nicht ungeheilt gelaffen haben. .
"Endlich. macht noch Jeſns den teinden den: Weriist, —X
408
fie ihn heimlich fangen, da er doch alle Tage öffentlich unter
fie getreten fei (M. V. 53); was aber Johannes ihn nicht
bier, fondern erft fpäter (18, 20 2c.) zum Hohenprieiter fagen
laßt. — Hierauf fliehen, wie die beiden eriten &vangeliften
erzählen, alle Sünger, wobei Markus den abenteuerlichen Zu
fag hat, ein mit Leinwand umhüllter Süngling fei mit Zurüd
lafjung derfelben nackt geflohen ®. 51); ein fagenhafter Pins
ſelſtrich, mit dem die große Eile der allgemeinen Flucht recht
anſchaulich gemacht werden follte.
Fünftes Rapitel.
Jeſu Berurtheilung, VBerläugnung des Petrus und
Tod des Verräthers.
(M. 26, 57—75;5 Mark. 14, 53—72; Luk. 22, 54—71;
Joh. 18, 12—27.) ,
Sogleich nad) feiner Verhaftung, alfo noch in der Nadıt,
wird Jeſus, laut dem Berichte der Synoptifer, zum Hohen
priefter Kaiphas gebracht; Johannes aber läßt ihn vorher
zu deflen Schwiegervater Annas geführt werden (2. 13),
worauf er ſogleich, V. 15, das mit ihm aufgenommene Vers
hör anfnüpft: es ſcheint alfo hier ganz, daß Annas dasfelbe
anftellte, was den Synoptifern gradezu widerfpräde. Es ift
dieg um fo auffallender, da hier gar fein Urtheil gefällt
wird, und von einem weiteren Berhöre vor Kaiphas Feine
Rede mehr ift; daß Johannes dieſes, als bereits hinlänglich
befannt, foll übergangen haben, ift rein undenkbar, da es ja
den eigentlichen Wendepunkt von Jeſu Schidfal bildet, und
die von und fchon oft befämpfte Ausflucht, Johannes trage
vorzüglich nur weniger Befanntes nach, hier, wenn irgendwo,
unftatthaft if. Daher liegt der Verfuch fehr nahe, genauer
nachzufehen, ob nicht auch, bei aller Verfchiedenheit im Eins
zelnen, Johannes dag Verhör bei Kaiphas berichten wolle,
und in der That ift dieß der Fall. Schon der Umftand führt
uns darauf, daß auch bei Sohannes, wie bei den Synoptifern,
die Berläugnung des Petrus aufs engfle mit dem Berhöre
verfchlungen. iſt (V. 15— 18) und daß auch er einfach ben
„ Hohenpriefter*, was Annas nicht war, als: den Berhörens
Ben neitnt: V. 19)5 — im Wege zu ſtehen fcheint nur B;24;
wo ed heißt: „Annas alfo fandte Jefum gebunden zu Katphas“}
und doch iſt das Verhör ſchon erzählt. Allein wir muͤſſen
bedenken, baß wir einen Schriftfteller vor uns haben, ber
keineswegs ganz regelmäßig griechifch fchreibt, and daher
mit einer im neuen Teſtamente ohnehin nicht -feltenen Unger
nauigfeit „fandte* ftatt „hatte gefanbt* geſchrieben, und ſtatt
des deutlichen „Denn“ in jenem Satze ein zweideutigeres
„alfo * gefegt haben mag. Demnach verhält ſich mun bie
Sache fo, daß die nähere Bezeichnung des Kaiphas B. 14
ihn’ verleitete, nachdem er von ber erften Verlaͤugnung bes
Petrus geiprochen, fogleich das Verhör des Hohenprieſters zu
erzählen, wie wenn er fchon gefagt hätte, daß Jeſus von
Annas zu diefem geführt worden feiz was er ſodann V. 24,
freilid; etwas ungenau, nachholt. Das bleibt immer übrig,
Daß fein Bericht, namentlich weil ihm jede Nachricht von den
Urtheile fehlt, unvollſtaͤndig iſt. —
An den Angaben ber Synoptiker findet ſich die Berichtes
denheit, daß laut M. und Mark. dag Synedrium noch im der
Nacht zu Gerichte fist und das Urtheil fällt (M. 8.57),
während es bei Lufas (22, 66) erft mit Tagesanbruch ſich
verfammelt. Hier liegt eine Verwechslung zu Grunde; denn
auch in jenen erften Evangelien wird am Morgen eine Sigung,
alfo eine zweite, gehalten CM. 27, 1) um Jeſum den Rös
mern zu überliefern (ſ. unten); und dieſe fcheint Lukas für
die einzige gehalten zu haben. Eben fo hat er darin Unrecht,
daß .er von den falfchen Zeugen gegen Iefum nichts fagt
(M. 26, 60): denn da der von biefen vorgebradjte, aber.
bögwillig verdrehte Ausſpruch Jeſu vom Abbrechen des Tems
pels gewiß von ihm einmal gethan worden, fo ift wohl fein
Zweifel daran, daß man ihn vor Gericht benubte ‚und Zeu⸗
gen bafür brachte.
&
“ Die einzelnen Vorfälle vor Gericht fünnen wir kurz .an
uns worüber führen. Jeſus wirb vorzüglic, deſſen heikpiiing,
410
daß er der Meſſias zu fein behaupte, was er fofort mit aller
Ruhe eingefteht, und wobei er verfichert, daß er alsbald nad)
feinem Tode „zur Rechten Gottes figen werde“ — und, was aber
nur M, erzählt, „Cbald) auf den Wolken des Himmels kommen“.
Darauf wird er verurtheilt, des Todes fchuldig erfannt, und
muß die gröbften Mißhandlungen, Badkenftreiche, Schläge auf
den Kopf und Spuden in das Angeficht erdulden: als die
Mißhandelnden werden von M. und Markus gewiß ungenan
die Mitglieder des Synedriums felbft, richtiger ohne Zweifel
von Lukas und Sohannes (Joh. B. 22 u. A.) die Diener des
Gerichte angegeben. Dbgleich nun alle diefe Rohheiten ge
gen einen Berurtheilten in jener Zeit nicht befremben bürfen,
fo find fie doch offenbar in der fpäteren Sage wohl noch ges
fleigert worden, weil man bald viele altsteftamentlicye Stellen
auf fein Leiden ganz fpeziell bezog, und nach diefen Weiſſagun⸗
gen die wirflich überlieferten Tihatfachen allmälig umbildete.
Eben fo, wie angemeflen aud) dem Charakter Sefu feine ruhige
Haltung und das würbevolle Schweigen ift, jo wird Doch na
mentlich dieſes Ießtere von den Evangeliften darum fo oft
wiederholt, weil‘ fie auch Darin Erfüllung altsteitamentlicher
Drafel fahen. |
Obgleich nad, Jeſu Verhaftung alle Sünger auseinander
ftoben,, fo folgte ihm doch Petrus von ferne und drang in
den Hof des Hohenpriefters, um ungekannt den Ausgang ber
Sache zu beobadjten; nad) dem vierten Evangelium verjchaffte
ihm Sohannes den Zutritt dahin. In diefem Borhofe nun
war ed, wo Petrus feinen Herrn dreimal verläugnete (ſ. die
Stellen). Daß ed nur fo fcheint, ald ob in dem johannei-
ſchen Evangelium diefe Scene in den Palaft des Annas
verlegt würde, geht aus der fo eben angeftellten Unterfuchung
über das Verhör Sefu hervor, mit welchem die Berläugnung
enge verfnüpft it; denn, wie wir fahen, audy von Johannes
wird jenes Berhör in das Haus bes Kaiphas verlegt, und
fomit auch die Berläugnung. Wir können alfo über dieſen
ſcheinbaren Widerſpruch Fur; hinweg gehen.
- Dagegen: finden fich in Bezug auf die einzelnen Alte der
FR _ 4 ..ı, . .
3 * » 4
41 rt
Berläugnung viele wirkliche Verſchiedenheiten in ben Berichten —
ia Bezug auf den Drt (vor dem Palafte, am Feuer, im Bors
hofe), auf die. Perfonen. (eine. Pförtuerin, eine Magd, ein
Mann, mehrere Männer‘ ıc.), auf Anreden an Petrus, feine
Antworten, Betheuerungen ıc. Will man jebe diefer ber
fonderen Angaben fo genau: feſthalten, daß kein Evangeliſt ir⸗
gend eine Unrichtigkeit habe, ſo erhaͤlt man nicht nur drei,
ſondern 8—9 Verlaͤugnungen, welche auch wirflih. Paulus
berausgerechnet hat. Indem man auf folche Weiſe die Glaubs
wärdigfeit der Evangeliften fireng fefthält, muß man aber,
um bie. von Jeſu nicht in Verdacht zu bringen, annehmen,
daß fein „dreimal“ in der Weiſſagung jener Verlängnung nur
eine runde Zahl für eine mehrmalige fei, und. glaubt mım im _
Ernfte, während der. furzen Zeit habe Petrus Serum SI Male
verläugnet! Aber welch' verworrenes Durcheinander von Fras
gen ‚und Antworten ans allen Eden. und nad allen Eden "
bin müßte das geweien fein!. Wenn daher die. Erklaͤrer bie
Stimmung ded Petrus als eine völlige Betäubung bezeichnen,
fo könnte man vielmehr damit die Stimmung des Leſers ber
zeichnet glauben, „der in ein ſolches Gebränge von immer
ſich wiederholenden Fragen und Antworten gleichen Inhaltes,
dem finns und endlofen Kortfchlagen einer in Unordnung: ges
rathenen Uhr vergleichbar, ſich hineinverfegen foll*. — Wir
können zwar nur annehmen, daß Petrus die Verlängnung
mehrmals wiederholte,. aber nur nicht 8-9 Male; daß bie
Zahl drei feitgeftellt wurde, damit Jeſu buchftäblich verftans
bene Weiſſagung ganz in Erfüllung, ginge, und daß die Heinen
Abweichungen in den Eingelnheiten eine ganz natürliche Folge
der von Mund zu Mund gehenden Veberlieferung find.
Ald Ends und Wendepunkt des Ganzen. geben alle Evans
gelien das Krähen des Hahnes, welches den Petrus ſchnell
zur Befinnung bringt; Lukas fügt noch hinzu, bei diefem Krä-
ben habe Jeſus ſich umgewandt und den Petrus angefehen,
worauf biefer tief erfchüttert worden. Könnte min auch Jeſus
nach des Lukas Darftellung ſich gleichfalls im Hofe. befunden
haben, da diefer das Verhör erft am Morgen beginnen läßt,
fo. findet. fi) doch andy bei. ihm Feine Spur davon, daß Jeſus
bisher in.der Naͤhe des Petrus geweſen; überbieß haben ui
\
412 |
ja fchon oben gefehen, daß Luk. über die Zeit des Verhöres
irrigen Bericht hat, und Sefus alfo nicht im Hofe fein konnte,
Doc, wer kann hier den mythifchen Zug verfennen? War
durch das Krähen bes Hahnes plötzlich der verläugnete Mei: -
fter mit feiner Vorherfagung (ſ. oben) vor das innere Auge
des Gefallenen getreten, fo ſchuf allmälig daraus die Sage
ein leibliches Hervortreten Sefu aus dem dunfeln Hinter:
grunde der Scene, deſſen Bli den Petrus doppelt erfchüttern
mußte.
(M. 27, 3—10; Apoftelg. 1, 15 — 21.)
- Nur das erfte Evangelium berichtet den fchauerlichen Tod
bed Verräthers; neben ihm aber auch Petrus in ber Apos
ftelgefchichte, ald an Jenes Stelle ein anderer Apoftel gewählt
werden follte. Beide flimmen darin überein, daß für das
Geld, welches Judas erhalten, ein Grundſtück, der Blutader,
angefauft worden; — daß er eined gewaltfamen Todes ges
ſtorben; — daß durch dieß Alles alt-teftamentliche Weiffaguns
gen in Erfüllung gegangen: — in allem Einzelnen Diefer drei '
Punkte gehen fie dagegen fehr weit auseinander.
Der gewaltfame Tod des Verräthers ift bei M. (27, 5)
Selbftmord durch den Strick; in der Apoftelgefchichte (1, 18)
trifft ihn die Strafe des Himmels , indem er von einer Höhe
herabftürzte und fein Leib auseinander barft. — Biel hat man
es verfucht,, die beiden Ausdrüde „er erhängte ſich“ und „er
flürzte herab“ gleichbedeutend zu finden: am erträglichften ift
noch die Deutung, das „Herabſtürzen“ fei fo viel ald (nach
dem Aufhängen) „Herabhängen“; immer aber fehr gewaltfam !
Andere laſſen die Worte unangetaftet, und wollen die Gas
hen mit einander verfchmelzen, indem fie 3.2. fagen, Judas
habe fidy auf einer Höhe an einem Baume erhängt, und,
da der Strid zerriffen, fei er in den Abgrund herabgeftürzt.
Aber jeder Unbefangene merkt doch leicht den Berichterftattern
an, daß jeder den ganzen Tod erzählen will, und nicht etwa
bloß die eine Hälfte, fo daß er die andere für fich behielte. —
Der Ankauf des Grundftüdes gefchieht bei M. fo, daß
Judas voll Reue den Hohenprieftern das Sündengeld wieder
413
binwirft, worauf dieſe den Ader kaufen; in der Apoſtelge⸗
fchichte aber fo, daß Judas ſelbſt ſich einen Adler Fauft, dort
wohnt und fpäter auch feinen gewaltfamen Tod findet; daher
denn der Name „Blutader“ nach der beiderfeitigen Darftellung
einen ganz verfchiedenen Urfprung hätte. — Auch hier fol
aus den Worten Uebereinftimmumg erpreßt werden, und in
der Nede bed Petrus das Wort „(er) erwarb“ (nämlich für
ſich) &. 18) fo viel heißen, ald „erwarb“ (nämlich, für einen
* Andern); fo daß er dasfelbe fagte, was M.; aber dann müßte
allem Sprachgebrauche zufolge nothwendig die Perfon, für
welche erworben wird, dabei ftehen.
Mupte alfo jeder Verſuch einer Vereinbarung aufgegeben
werden, fo blieb andern Theologen nichts übrig, ale eine Vers
fchiedenheit zuzugeben; jedoch fo, daß bei einem ber Referenten
ein fehr leicht erflärlicher Kleiner Verſtoß ftattgehabt. Andere
gingen weiter, und erkannten einen Bericht, und zwar den des
M., als den entjchieden unrichtigen an, um an dem andern,
dem der Apoftelgeichichte, um fo ficherer feitzuhalten. „Doch
wie es immer ift bei zwei ſich widerfprechenden Berichten, daß
ber eine den andern nicht nur durch fein Stehen ausſchließt,
jondern auch durch fein Ballen miterfchüttert*5 fo haben wir
auch bier nachzufehen, ob nicht vielleicht beide mythiſchen
Urſprunges ſind.
Als hiſtoriſche Grundlage bieten ſich in der Erzählung ung
zwei Thatfachen an. Es muß bei Serufalem ein ödes Feld
gewefen fein, das den Namen „Blutader“ — man mochte
wohl nicht mehr wiffen, woher? — führte, und welchem die
altchriftliche Sage frühzeitig eine Beziehung auf den Berräther
gab. Zweitens wurden ſchon fehr bald nach Sefu Tode viele
altsteftamentlichen Stellen auf den für die Gemeinde fo ers
fchütternden Verrath des Judas gedeutet. Aus beiden Ele⸗
menten floffen die zwei mythifchen vor uns liegenden Ers
zählungen zufammen, deren Entftehung wir nur mit leijen
Zügen andeuten wollen.
Petrus ftüst fi) auf zwei Pfalmen, Pf. 69 und 109;
beide, namentlich der leßtere, waren wie Dazu gemacht, vW
414
als Judaspſalmen von den Iudenchriften aufgefaßt zu werden;
in Apoftelg. 1, 20 wird vorzüglich der Fluch der Pf. 69 ger
weiffagten „Deröbung des Befisthums“* hervorgehoben. Einmal
den Pfalm auf Judas bezogen, mußte dieſem ebenfalls ein
Beſitzthum zugefchrieben werben; daß er dieß aus dem Lohne
bes Verrathes erworben, lag nahe genug; daß er verödet
worden, fagte die. Prophetenftelle; und daß es grade jener
„Blutacker“ fei, fonnte man um fo eher annehmen, je weniger
der Urfprung feines Namens befannt war. So bildete ſich
bie Mythe, wie fie die Apoftelgefchichte und gibt.
M. dagegen ftellt Die von ihm gegebene Erzählung als
Erfüllung einer Prophetenftelle dar; er nennt Jeremias,
meint aber, im Namen irrend, Zach. 11, 12. Es muß alfo
biefe Stelle gleichfalls fehr frühe auf Judas gedeutet worden
fein. Hier ift ebenfalls von einem ſchmaͤhlich geringen Preife,
um welchen Semand angefchlagen wird, naͤmlich von 30 Silbers
Iingen die Rede; waren diefe Worte einmal auf den Verrath
des Judas bezogen worden, wie wir fchon oben fahen, fo
wurden auch alle andern Züge der Stelle fo gedeutet, und
aus ihnen das weitere Schickſal des Judas mythifch entwickelt.
Bei Zacharias wurde das Geld in den Tempel geworfen
(2. 13); es wird, wenn aud) nach falfcher Erklärung, Er⸗
wähnung eines Töpfers gethan; — an Diefen Zügen wurde
fo lange gerüttelt, bis das Werfen des Geldes in den Tempel
und ein Töpfer auch in die fpäteren Schidfale des Verräthers
hineingebracht waren: Sollte nın einmal Judas das Geld
weggeworfen haben, fo mußte er es wohl den Prieftern hin-
geworfen haben, wofür diefe denn von bem Töpfer ein Grund⸗
ſtück erhandelten ıc. Das Zurückgeben des Geldes fonnte nun
Folge der Reue fein; diefe Fonnte aber bei einem Judas fich nur
als Verzweiflung zeigen, und fo war denn als Schlußftein des
Mythus der Selbftmord von felbft gegeben. So mag bie
ganze matthäifche Erzählung aus einer alt» »teftamentlichen
Stelle herausgefponnen worden fein ?°).
Soviel ift gewiß, daß bes Judas Ende in der fpäteren ,
Sage vielfady ausgemalt wurde. Der Apoftelgefchichte folgend,
„22 | Ä 0)
415
wo erzählt wird, daß fein Leib geborften fei, fagt eine weitere
Ueberlieferung, .er fei fo ungeheuer angefchwollen, daß er breiter
wurde, ald ein Wagen; — andere, er fei von entfeblicher
Waſſerſucht geplagt worden; ja fogar, er habe wegen unges
heuern Anſchwellens der Augen das Tageslicht nicht mehr
fehen können ıc. — Miöglidy wäre es allerdings, daß Judas
eines gewaltfamen Todes geftorben, allein wiffen können wir
darüber nichts: denn gewiß ift er nach feinem Austritte aus
dem Kreife der Sünger für dieſe fo fehr in die Dunkelheit
zurüdgetreten, daß ihnen Feine fi ichere Kunde von ſeinem Ende
zukommen konnte.
Sechstes Kapitel
Jeſus vor Pilatus und Serodes und die
Kreuzigung.
(M. 27, 1, 2, 11— 30; Marf. 15, 1—19; &uf. 23,
1— 25; Joh. 18, 29; 19, 15.)
Jeſus ward, nachdem er von dem jüdifchen Gerichte ver⸗
urtheilt worden war, fogleidy zum römifchen Landpfleger Pi-
latus geführt, weil ohne deffen Beftätigung Fein Sude hin⸗
gerichtet werden burfte, wie wenigftens Johannes (18, 31)
angibt. Pilatus tritt fofort auf den Richterftuhl (M. 27, 9);
da diejer, wie wir wiffen, im Freien ftand, fo muß die ganze
Verhandlung in dem Borhofe des Palaftes, den der Landpfles
ger bewohnte, vor fidy gegangen fein. Bei den Synoptifern
find ſowohl Jeſus, wie die ihn verflagenden Hohenprieiter
und Aelteften zugegen; Johannes aber läßt Jeſum in dag
Innere des Gebäudes gebracht werden, fo daß hier Pilatus
jedesmal, wenn. er ihn befragen wollte, ſich entfernen mußte.
— Seine erfte Frage an ihn ift die, „ob er der Juden König
(der Meffias) ſei?“ — bei M., Markus und Johannes muß
dieß auffallen, da gar Feine Anflage über diefen Punkt von
Seiten der Juden vorausgegangen ift CM. V. 11): erflärlich
macht und nur Lukas diefe Frage, bei welchem die Ankläger -
Sefum fogleich befchuldigen, daß er, als angebliher Kunig, Od
416
Bolf gegen die Römer aufwiegle. — Da Sefus auch bei
Lufas, wie in den übrigen Evangelien, jene Frage ganz eins
fach bejaht, fo ift es unerflärlih, wie Lukas hinzuſetzen
fan, Pilatus habe, ohne die geringfte Unterfuchung anzuftels
len, den fo hart Berflagten unfchuldig befunden. Eine ähn-
liche Anficht laͤßt auch bei M. und Marfus Pilatus, ebenfalld
ohne vorausgegangene nähere Befragung, bliden, indem er
fidy erbietet, Sefum ftatt ded Barrabas (. unten) Ioszugeben.
Hier gibt und nun Johannes den Schlüffel zum Näthfel,
indem er ein genaues Verhör des Landpflegers mit Jeſu bes
richtet (B. 33 20.): in dieſem erflärt Sefus, er fei allerdings
ein König, fein Reich aber nicht von diefer Welt, und er fei
nur zum Zeugniß der Wahrheit geboren, weßhalb auch feine
Jünger ihn nicht gegen Die Gewalt feiner Feinde vertheidigt
hätten. Dieß konnte nun allerdings den Pilatus von Sefu
Unfchuld überzeugen. Wenn man über diefes Verhör das Be-
benfen aufgeworfen hat, woher denn der Evangeliſt feinen
Bericht darüber gefchöpft habe, da ihm zufolge Sefus ja im
Inneren des Palaftes, gefondert von den Klägern und Zus
fchauern, ſich befand? fo ift unter allen Antworten die die
annehmbarfte, daß Die nähere Umgebung des Pilatus fpäter-
hin Mittheilungen darüber gemacht haben kann. „Leicht könm⸗
ten wir indeß hier ein Gefpräch haben, das nur der eigenen
Bermuthung des Evangeliften feinen Urfprung verdanfte *.
In dem weiteren Verlauf der Verhandlung fchiebt num der
einzige Lufas ein eigenthümliches Zwifchenipiel ein: Pilatus
fendet nämlidy Jeſum, da er von den Suden gehört hatte,
er fei ein Salilier (V. 5— 12), zu dem Damals gerade an⸗
weſenden Fürſten Galtläa’s, Dem Herodes, damit diefer ihn richte.
Hier angekommen und befragt, gibt Sefus gar Feine Antwort,
und wird fofort unter fchmählichen Mißhandlungen zu Pilatus
zurücgefandt. Diefe vereinzelte Erzählung des Lufas hat aber
manches Bedenklihe. Daß Sefus feinem Fürften nicht, wie
er doc follte, Nede ftand, darf man nicht daraus erflären
wollen, daß er ja, als in Bethlehem geboren, fein Galiläer
geweſen; denn wäre auch diefe bethlehemitische Geburt mehr
als hriftliche Sage, fo bliebe Jeſus, dort nur auf der Muts
ter Reife geboren, immer ein Galiläer. Biel eher könnte man
| 417
»en Grund feines Schweigens in dem eined Richters unwür⸗
digen Benehmen des Herodes (V. 8) finden; und feine Zu⸗
rücfendung an Pilatus daraus erflären, daß er doch auch
anf römifchsjüdifchem Gebiete viel gewirkt hatte, und hier ers
griffen worden war. Unerklärlicher ift es, weßhalb Fein ans
derer Evangeliſt von dieſer Zwifchenfcene ung etwas meldet,
namentlich. der vierte nicht, der doch der Apoftel Johannes
fein foll; denn die Behauptung, diefer habe die Wegführung
Jeſu wohl darum nicht bemerkt, weil fie durch eine Hinter⸗
" thüre gefchehen, ift eben aud; — eine Hinterthüre. Wenn
nun aud) Schriftfteller, die bald nad) den Evangeliften lebten,
3 B. Juſtin, dieſes Abführeng gedenfen, fo ift doch das
Schweigen der übrigen Evangelien bedenklich genug, um zu
der Bermuthung zu berechtigen, die Erzählung gehöre dem
Gebiete der Sage an. Es fonnte in ihrem Beftreben liegen,
Jeſum vor allen. möglichen Richterftühlen in Sernfalem aufs- -
treten und vor allen feine unerfchütterte Würde und Haltung
behaupten zu laſſen. — —
Da nun Pilatus ſieht, daß die Juden ihm die Verurthei⸗
lung des von ihm unſchuldig Befundenen nicht erlaſſen wollen,
bietet er ihnen an, er wolle Jeſum ſtatt des Barrabas (M.
V. 17) ihnen losgeben, weil ed Sitte war, während des
Feſtes einen Berurtheilten frei zu laffen (Luf. B. 17). Einen
folhen konnte das Volk ſich erbitten; daher mochte Pilatus
hoffen, diefes werde Jeſum verlangen, weßhalb er auch abs
fichtlich ihn ihren König nannte, um fie anzureizen; er hoffte
es um fo mehr, weil er wußte, daß ihn nur der Neid der
herrfchenden Priefter verfolgte CM. V. 17, 18), und weil
Barrabas ein gemeiner Verbrecher war. Allein das wüthend
gemachte Volf verlangte lieber dieſen!
M. erzählt, daß Pilatus zw feinen Verſuchen, Sefum zu
retten, ganz vorzüglich noch ermuntert wurde durch einen bes
ängftigenden Traum, den fein Weib gehabt hatte (27, 19).
Diefer Traum könnte allerdings gar wohl durdy die Ereig-
niffe der Nacht in der Frau auf ganz natürliche Weiſe her-
vorgerufen worden fein, allein da namentlich im M. Träume
II. 97
418
als wunderbare Erfcheinungen betrachtet werben, fo wird andı
wohl diefen der Evangelift für eine folche angefehen haben.
Wir aber müflen fragen: wozu follte dieſes Wunder dienen?
Für Pilatus konnte es nur eine um fo größere Strafbarteit
bewirfen, da er nicht mehr zurüd konnte; .auf die Fran konnte
ed auch nicht berechnet fein; denn Daß fie fpäter zum Chriften-
thum übergetreten fei, ift eine reine Sage; — mit ben alten
Orthodoxen aber, die den Traum für einen Verſuch Des Teu⸗
feld halten, das Erlöfungswerf Jeſu, wozu defien Tod noth-
wendig war, zu hintertreiben, werden wir wohl nicht gemein
fchaftliche Sache machen wollen. Vielmehr ift diefer bei M.
vereinzelt ftehende Zug gewiß nur ein Werk der Sage, die
ſich, ganz im Geifte des Alterthums, bemühte, bintigen Ereig-
niſſen auch hier einen warnenden Traum vorausgehen zu kaffen;
auch hier dem vom eigenen Volke vermorfenen Heilande ein
Zengniß aus dem Munde der Ungläubigen und Schwachen
zu bereiten. Eben fo fagenhaft lautet eine andere, gleichfalle
dem M. eigenthümliche Nachricht, daß Pilatus, nachdem er
Alles vergebens verfücht, feine Hände wufch, zum Zeichen
feiner Unfchuld (V. 24). Ein ſolches Händemwafchen ift ein
rein jüdifcher Gebrauch, den ein Römer ſchwerlich nachgemacht
haben wird; vollende unmahrfcheinlich ift es, daß ein Land:
pfleger einen Mann, den er Doc zum Tode führen ließ, feier
lid) einen Gerechten genannt haben fol. Die chriftliche Sage
aber mochte leicht fich bewogen finden, ein ganz feierliches
Zeugniß über die Unfchuld des Meffias feinem gezmungenen
Bertheidiger felbft in den Mund zu legen. Und wenn nun bie
Suden ihm erwidern, „Sefu Blut möge über fie und ihre
Kinder fommen“, fo Klingt dieß doc ganz wie vom Stand:
punkte der fpäteren Chriften aus gefprochen, die das alsbald
über das jüdifche Wolf hereinbrechende Unglück ald eine Strafe
für den an Jeſu begangenen Mord betrachteten.
Pilatus läßt nun Sefum geißeln; bei M. und Marfus ger
ſchieht dieß als Einleitung zur Kreuzigung, dem bei den Rös
mern gewöhnlichen barbarifchen Gebrauche gemäß (M. B. 26);
— Lukas und Sohannes ftellen Die Sache andere. Der er;
ftere läßt den Pilatus die Geißelung den Suden uur anbies
ten, um ihn dann frei zu geben (®. 16), ohne daß es wirklich
419.
geichieht, weil fie fich Damit nicht begnügen wollen. Bei
Johannes wirb dieſes Vorhaben. wirffich von Pilatus audges
führt, ofme daß der Pöbel durch den Anbli des Mißhandel⸗
ten fich rühren läßt (19, 5). Ohne Zweifel haben die beiden
Ießteren eine fagenhafte Umbildung des von den erfteren Evans
geliften getreu berichteten Faktums, um das Beftreben des
Pilatus, Iefum zu -retten, auf das Höchite zu fteigern. —
Weiterhin wird Jeſus von den Kriegsfnechten verfpottet, ins
dem fie ihn mit Purpurmantel und Dornenkrone ſchmücken
AM. B. 28, 29): der Moment, in welchem dieß gefchah, wird
verfchieden angegeben; bei M. und Markus gefchieht es nach
der DBerurtheilung, bei Lukas beim Wegführen von Herodes
3. 11), bei Sohanned vor dem nachgebenden Urtheile des
Pilatus (19, 5). Diefe verfchiedenen Angaben laſſen fich nicht
mit einander vereinbaren, und man fieht, daß die Ueberliefe⸗
rung die fihere Kunde von dem Zufammenhange diefer Miß⸗
handlung mit allen übrigen - Vorgängen verloren hatte. —
Johannes berichtet und endlich noch den wahrfcheinlic, ganz
richtigen Schluß diefer tumultwarifchen Gerichtöfeene: da Pis |
latus flandhaft darauf beharren will, Sefum frei zu fprecdhen,
fo laffen die Juden die Drohung bliden, ihn bei dem Kaifer
verflagen zu wollen (19, 12 ıc.); und dieſer gewaltfame Be⸗
weisgrund mochte allerdings bei dem offenbar ſchwachen und
charafterlofen Pilatus am fchlagenöften wirfen.
CM. 27, 31 —56; Mark. 15, 20—41; Luk. 233, 1649;
Joh. 19, 16—37.)
| Indem wir zur Gefchichte der KRreuzigung felbft übers
gehen, faffen wir uur diejenigen Punkte in’d Auge, worin Die
Evangeliften nicht übereinftimmen. Schon über den Hingang
zum Orte der Hinrichtung weichen die Synoptifer von Jo⸗
hannes ab: während jene berichten, daß ein gewiffer Simon
aus Kyrene (nach Mark. V. 21 war er der Bater ded Rufus
und Alerander, zweier in der fpäteren Chriftengemeinde ges
achteter Männer) Jeſu das Kreuz tragen mußte M. V. 32),
läßt Sohannes es ihn felbft tragen, und zwar bis er nach Gols
_
‚420
gatha kam (B. 17), demnach auf dem ganzen Wege. Dies
fer offenbare Widerſpruch erklärt füh am einfachften fo, Daß
die Synoptifer das Richtige haben, dem Johannes aber
diefer bejondere Zug unbefannt blieb, und er alfo annahm,
eg werde auch Jeſu nach "dem herfümmlichen Brauche fein
Kreuz felbit getragen haben. — Nur Lukas erzählt, Daß eine
wehlflagende Volksmaſſe Jeſu nachgefolgt fei, welder er
ihr eigenes Fünftiges Elend verfündet (23, 27 ꝛc.); und zwar
in Worten, die offenbar aus feinen früheren Reden über das
Weltende CM. 24 u. 25) entlehnt, und wohl irriger Weiſe
hierher verfegt find. — Der Drt ber Hinrichtung wird von
allen Evangeliften „Solgatha“, d. h. Schäbdelftätte (M. V. 33),
genannt: ohne Zweifel ftammt der Name von der traurigen
Beſtimmung des Ortes her. — Die Folge der einzelnen
Handlungen auf dem Richtplatze erzählt M. offenbar unrich⸗
tiger, als die andern, indem er die Verloofung der Kleider
von Sefu der Kreuzigung der beiden Mifjethäter vorausgehen
läßt, da doc, ohne Zweifel jene Handlung der Soldaten erft
nach Vollendung der ganzen Henferarbeit gefchehen konnte. —
In Bezug auf die Art der Kreuzigung kann man zweifels'
haft fein, ob Sefus nur an den Händen, oder auch an ben
Füßen angenagelt worden fei: für beide Anfichten laſſen ſich
gute Gründe aufbringen; nur muß man fid) bei der Entfcheis
dung nicht von vorgefaßten Meinungen leiten laffen, wie die
Drthodoren und die Rationaliften.. Jene beftehen auf der
Durchbohrung der Füße, weil fie darin die Erfüllung einer
Weiffagung, Pf. 22, 17, die ſich Doch gar nicht auf den Meſ⸗
ſias bezieht, erbliden; Diefe protefliren gegen dad Annageln
der Füße, weil der nad) ihrer Borausfeßung nur [cheintodte
Jeſus (ſ. unten) dann unmöglich fo bald wieder hätte einher
gehen künnen. Gegen bie Fußannagelung kann man anfühs
ren, daß die Evangeliften nirgends. jene Pfalmftelle auf Jeſum
anwenden, was ihnen fonft fo nahe gelegen hätte; und daß
nach der Auferftehung nur den Wunden an den Händen umd .
in der Seite, nirgends einer foldyen an den Füßen gedacht
wird. Für die Durchbohrung der Füße läßt fich aber Ge⸗
wichtigere anführen, weßhalb Diefelbe als wirklich erfolgt
zu betrachten ift: — denn wie follte ſonſt Jeſus dazu kommen,
4231
Lut. 24, 39 zu fagen: „fehet meine Hände und meine Füße
an“? Da ferner die Krengigung eine eigenthümlich römis
ſche Strafe ift, fo muß als entfcheidend angefehen werben,
daß die gewöhnliche Kreuzigung von einem alten römiſchen
Dichter nach der vwahrfcheinlichften Erklärung als eine an
Händen und Füßen bezeichnet if. Wenn nun Kirchenväter
von der „ungewöhnlichen Bitterfeit der Kreuzigung “ reden,
fo. muß man dieß alfo nicht von einer ungewöhnlichen Art
derjelben, fondern nur einfach von Diefer Strafe überhaupt,
die im alten Teſtamente unerhört ift, verftehen. —
Allen Evangeliften zufolge wird Sefu, ald er am Kreuze
hing, ein Getränfe angeboten; bei M. und Markus gefchieht
dieß auch ſchon vor der Kreuzigung, fo daß Diefe von zwei⸗
‚maligem Tränfen reden (CM. V. 34, 48). Alle die verfchie-
denen Angaben weichen aber fehr von einander ab; fchon
jene erfte Tränfung ift bei Markus (V. 23) eine mit Myrr⸗
henwein, bei M. mit Effig und Galle (V. 34), worin dieſer
Evangelift ohne Zweifel die Erfüllung einer Weiffagung,
Pſ. 69, 22, erblidt. Die fpätere Tränfung gejchieht zwar
bei Allen mit bloßem Effig, in den befonderen Umftänden herrfcht
‘aber große Verfchiedenheit: nad, Lukas war fie eine Verhöh⸗
nung durch die Soldaten (V. 36); nad) Marfus Verfpottung
eines anderen Menfchen, und viel fpäter, als bei Lukas (®. 36) 5
bei M. gefchieht es in guter Abficht (®. 48); bei Johannes
geht ein ansdrüdliches Begehren Jeſu voran CB. 29). Man
erhält alfo, will man alle diefe Darftellungen als vollfommen
richtig ftehen Taffen, etwa 5—6 verfchiedene Tränfungen, was
doch eine zu große Unmahrfcheinlichfeit wäre. Wahricheinlich
iſt Vielmehr nur das gefchichtlich, daß Sefu am Kreuze Myrr⸗
henmwein gereicht wurde, den man nach jüdifcher Sitte den
Hinzurichtenden zur Betäubung des Schmerzes zu geben pflegte;
nun bezog man aber fchon frühe jene Pfalmftelle auf Jeſum
(vergl. Joh. V. 28), wonach die Sage diefe Tränfung frühs
zeitig in eine mit Effig, dann wohl, um die Weiffagung ganz
in Erfüllung gehen zu laffen, noch buchftäblicher in eine mit
untermifchter Galle umdichtete. So entitanden die verfchiedes
nen Variationen, wie wir fie jegt noch leſen; die beiden erften
Evangelien melden von zwei Zränfungen, weil fie die weist
422
Formen derfelben Erzählung für zwei verfchiedene Tihatfachen
hielten. Sedoch könnte es auch.wohl der Fall gewefen fein,
dag man nach jenem Myrrhenwein Jeſu auch noch Eifig ges
reicht hätte.
ü Mit der Angabe, daß Sefus am Kreuze gerufen habe:
„Bater, vergib ihnen, denn fie wiffen nicht, was fie thun“,
ſteht Lukas ganz allein (V. 34); aus diefem Grunde darf
derſelbe, obgleidy er ganz der edlen Feindedliebe Jeſu anges
meſſen ift, in Zweifel geftellt werden; um fo mehr, ba er gar
leicht aus den für meffianifch gehaltenen Kay. 52 des Jeſaias,
beflen letzter Vers ganz ähnliche Worte enthält, fommen konnte.
Allen Evangelien zufolge wurden mit Sefu auch zwei
„Miſſethäter“ gefreuzigt; ein Umftand, ber an ſich nicht
bezweifelt werden darf: dagegen verdienen die -verfchiebenen
Darftellungen desfelben nähere Erwägung. Bei Johannes
&. 18) verhalten dieſe Miffethäter fi) ganz tumm; bei.
und Markus (M. B. 44) läftern fie beide Jeſum; bei Lukas
CB. 39) nur der Eine, der dafür von dem andern zurecht
gewiefen wird.; leßterem verheißt Sefus, daß er noch heute
mit ihm in's Paradies kommen werde. Diefe Widerfprüche
laffen fid) nicht ausgleichen; es entſteht daher die Frage, wer
am richtigften die Sache erzähle? Daß jene Unglücdlichen
Sefum, wie die drei Synoptifer berichten, für den Meffias
gehalten haben, ift durchaus unmöglich; denn die ganze Idee
eines fterbenden Meffias war, wie wir früher fahen, ben
Juden ganz fremd; und da felbft die Sünger diefe Idee erft
nach Jeſu Auferftehung zu faffen vermochten, fo müßte ein
Ränber, oder, wie Andere wollen, ein Aufrührer, der fichers
lich doch nur irdifche Hoffnungen von einem Meffiagreiche
hegte, den Apoſteln in Erfenntniß vorangeeilt fein. Wir
können daher als Thatfache nur den einfachen Umftand, daß
Sefus zwei Leidensgenoſſen hatte, feithalten: die Sage war
‚8, die diefe in die Schmähungen auf Jeſum einftimmen ließ.
+ Doc, die Mitgefreuzigten ließen ſich von diefer noch beffer
benügen*: es mußte weiterhin ihn wenigftens Einer, wie früs
her Pilatus, und fpäter ein heidnifcher Hauptmann (f. unten)
N) |
Zeugniß für Iefum ablegen, unb dafür von dieſem eine
Zufidyerung erhalten, die. ganz den jüdifchen Borftellungen
anpemeffen war, vermöge welcher bie Frommen von ihrem
Tode an bis zur Auferftehung in dem Paradiefe verweilten,
und. nach welcher in dieſes Paradies auch die bei bem Tode
eines Frommen Anwefenden gelangen fonnten. — Nach der
Krenzigung warb über Jeſu eine ſeine Schuld mit den Wor⸗
ten „Jeſus, der Suden König“ ansfprechende Ueberſchrift auf⸗
gehängt, der römischen Sitte gemäß; nur Sohannes G. 21)
meldet, daß . die jüdifchen Dbern darin einen Spott über ihr
Volk erblickten. —
Hierauf ſollen die Kriegsknechte die Gewande Jeſu unter
ſich vertheilt haben; auch dieſes iſt ganz dem Gebrauche der
Römer entſprechend, der den Vollſtreckern des Urtheils Die
. Kleider des Getödteten überließ. Bedenklich ift- inzwiichen ſchon
das, daß bie Evangeliften auch hierin. Die Erfüllung einer
Weiffagung, Pf. 22, 19, erblicdten (M. B. 35), die-fie wohl
nad) ihren jüdischen Vorftellungen -für mefftanifch halten konn⸗
ten, die aber die Gelehrten der neueren Zeit doch endlich als
ſolche aufgeben follten. Bedenklicher noch ift es, daß bie
Evangeliften in ihren befonderen Angaben von einander abs
weichen;. bei den drei erften loofen die Soldaten um alle
Kleivungsftüde, was namentlid Markus ®. 24 mit unzwei⸗
fefhafter Deutlichfeit fagt, während Sohannes fie nur um
das Linterffeid looſen läßt (V. 23 ıc.). Nun darf man aber:
nicht annehmen, daß bie eriteren die Sache nur unbeftimmt,
der leßtere dagegen beftimmter angebe; fondern diefer hat die
Pfalmftelle, welche erfüllt worden fein fol, falfch verftanden;
bier nämlidy ift von einem „DBertheilen und Berloofen “
der Kleider die Nede, was aber im Geifte der poetifchen
Sprache der Hebräer ?% nichts anderes ift, ald doppelter
Ansdrad für eine und Diefelbe Handlung. Der Berfafler des
vierten Evangeliums fah jedoch hierin auch eine doppelte
Handkung geweiffagt, nahm alfo an, es müffe nur ein Theil,
der Gewande verloost worden fein, und theilte dieſes Loos
dem Linterfleide zu; mahrfcheinlich weil er in dem Umſtande,
3) Siehe die Anmerkung.
Daß dasfelbe aus Einem Stüde ohne Nath beſtand, einen be,
fondern Grund dafür zu finden glaubte. Diefe an fich unbe-
bentende Barietät iſt doch darum von Gewicht, weil: fie den
Verdacht erregt, die ganze Berloofungsgefchichte möge ans
dem Beftreben entſtanden fein, alle Züge des für meſſiauiſch
gehaltenen Pfalms in Erfüllung gehen zu laſſen. —
Bon. dem Benehmen ber bei'm Kreuze anweſenden Juden
weiß Johannes nichts: bei den übrigen Dreien verſpotten ſie,
namentlich die Volksobern (Luk. V. 35), Jeſum auf mannig⸗
fache Weiſe. Dieß mag von dem haßerfüllten vornehmen
Poͤbel wohl geſchehen fein; nur nicht mit den Worten, wie
- ed und berichtet wird. Denn andy dieſe find zu fichtlich einer
Stelle jenes Pfalmed 22 (V. 8) nachgebildet, und biefe
Stelle war den Suden fo heilig, daß die Schriftgelehrten fie
nicht hätten fpottweife in ben Mund nehmen fünnen, ohne
ſich als Gottloſe darzuftellen, wovor ſich ein Pharifäer wohl
wird gehütet haben; fie ihnen aber in den Mund zu legen,
mußte der chrütlichen Sage nahe genug liegen.
. Daß einer der Zwölfe bei Jeſu Kreuze gegemmwärtig ges
weien, davon melden M. und Markus nichts; vielmehr fcheis
nen fie bier von ihrer Flucht bei Sefu -Gefangennehmung fich
noch nicht wieder gefammelt zu haben; bei Lufas find fie zu⸗
gegen (V. 49), und das vierte Evangelium nennt ald gegens
wärtig ausdrüdlich den Sohannes, dem Jeſus noch vom
Kreuze herab feine Mutter empftehlt (B. 25). Daß dieſe
rührende Scene in allen andern Evangelien fehlt, ift unbes
greiflich; wie konnte eine folche in der Leberlieferung, welcher
diefe folgten, fo ganz verloren gehen? oder wie konnte fie von
ihnen, wenn fie ihnen befannt war, fo ganz übergangen wers
den? Weit begreiflicher ift e8, wie eine folche in dem Kreife,
woraus das vierte Evangelium hervorging, erdichtet wer
den konnte: hier genoß Johannes ganz befondere Verehrung;
hier galt er vorzugsweiſe ald der „Liebling des Herrn“, und
wie konnte dieſes beffer bethätigt werden, ald wenn ihm Jeſus
die theuerſte Hinterlaffenfchaft, feine Mutter, übergab und ihn
dadurch gleichjam zum Stellvertreter Chrifti machte? —
| I a
Dagegen haben nur M. und Markus den fchmerzlichen -
Ansruf Ten: am Kreuzer: „Eli, Eli, lama ıc. (M. V. 36):
Dieſer, der den Gegnern bes Chriſtenthums ähnliche: Waffen
in.bie Hand gab, wie der Seelenkampf auf. Gethfemane, wird
von ‚der. Kirchenlehre. ald Ausbrud eines inneren Zuftandes
betrachtet, der zu dem ftellvertretenden Leiden Jeſu ges
bört. habe:. fein Schmerz fei entſtanden aus dem Zurückweichen
Gottes von feinem Innern, wobei er den, von den Mens.
fchen verdienten, göttlihen Zorn empfimben habe. : Aber,
ſelbſt die kirchliche Anficht von Jeſu Perfon feftgehälten, ift
ein folched „Zurudweicdhen Gottes“ ganz undenkbar; betraf.
es Jeſu menfchliche Natur? fo. wäre fie von der göttlichen.
Iosgeriffien worden; feine göttliche? fo wären die Perfonen
Gottes in fich entzweit geweſen; ihn, den Gottmenſchen?
dann :wäre bie Unzertrennlichkeit des Gottinenfchlichen aufger
“hoben worben.. Man hat daher die Sache milder genommen:
Sefus habe in feinem Leiden fic, jenes Pfalmes erinnert, bei
. auch er auf den Meffias, d. h. auf ſich bezog, und nun befs
fen Anfangsworte (Pf. 22, 1) laut ausgefprochen, wobei
ihm die weiteshin folgenden (V. 10, 12) freudig erhabenen
Stellen desfelben im Sinne gelegen. Allein dann mußte er
auch nur diefe laut ausfprechen, wenn er nicht feine Umge⸗
sung über feine innere Stimmung irre führen wollte. Indeſ⸗
fen eben der Umftand, daß jene Worte den Anfang eines
Pfalmes Hilden, den man als die klarſte Vorherverfündigung
von dem leidenden Meffias betrachtete, führt und von felbft
zur richtigen Erklärung. Grade diefe Anfangsworte mußten,
wenn fie auch nicht von Jeſus gefprochen worben,; „Dem ges
freuzigten Meſſias in den Mund gelegt werben*: denn fie
drücken die tiefite Tiefe Des mefjianifchen Leidens aus.
Die legten Worte, welche Sefus vor feinem Ende ſprach,
werben von M. und Markus (M. B. 50) nur eine „Tante
Stimme“ genannt; bei Lukas fagt er: „Vater, in Deine Häns
de ıc.“ (V. 46); bei Johannes: „es ift vollbradıt* (V. 30).
Beide Ausrufe kann Jeſus nicht nacheinander gethan haben,
da jeder der zwei Evangeliften Anfpruch darauf macht, den
vollen lebten Ruf Jeſu zu melden. Vielmehr hat wahrs
ſcheinlich Johannes das Richtige, und Lukas hat nur den von
| Ä are
Schi Hintritt gebräuchlichen Ausdruck: „er befahl Gott feine
Seele“ zu einem unmittelbaren Stoßgebete Jeſu ungewandelt.
Halten wir überhaupt alle Ausſprüche, welche und bie
Eomgeliften von dem: Gefrezigten angeben, bie fogenannten
Sieben Worte, prüfehd- neben einander, fo finden wir, baß
er fie unmoͤglich alle gethan haben kann; ſondern nur einige
berfelben, und daß Jeder eben nur das melbet, was ihm bie
Sage oder feine eigenen Schlüffe aus ben vorliegenden Weiſ⸗
fagungen an die Hand gaben... et us
Endlich hat noch die Zeitbeſt immung ber Kreuzigung
einige Schwierigkeit. Nach den brei Synoptikern verſchied
Jeſus um die „neunte“ Stunde, d. i. um drei. Uhr Nach⸗
mittags; nach Markus ward er um die „dritte“ (alſo 9 Uhr
Vormittags) gekreuzigt (V. 25); nach Johannes aber faß
Pilatus noch um die „ſechsſste“ (12 Uhr Mittags) zu Ges
richt; ein Widerfpruch, bee fic nur durch die Annahme Löfen
laäßt, daß Johannes von einer andern Stundenzählung aus⸗
gegangen fei.
| Siebentes Kapitel.
Naturwunder bei Iefu Tude, der Lanzenftih in -
Jeſu Seite und fein Begräbniß.
Siehe die zuletzt angegebenen Stellen. )
Von anßerordentlihen Naturerfcheinungen, die bei Jeſu
Tode fich ereignet haben follen, erzählt Sohannes durchaus
nichts; Markus und Lukas berichten von einer plößlich ein;
getretenen Finfterniß und bem Zerreißen ded Tempelvors
hanges; wozu M. noch ein Erdbeben und die Auferftehung
ber Leiber vieler Frommen fügt. — Was zuerft die Berfins
ſterung der Sonne betrifft, fo kann dieß feine gewöhnliche
Sonnenfinſterniß gewefen fein, da eine folhe am Paſcha,
d. h. zur Zeit des Vollmonds, unmöglich if. Man müßte
alſo an eine Verdunkelung durch Lufterfcheinungen denken, Die
allerdings, namentlich bei Erdbeben, ftattfinden kann; jedoch
nicht fo, ‘daß fie ſich „über die ganze Erde" erſtreckt (MR.
. 8. 45): und überbieß acht aus dem gangen Zufeumenhane
‚hervor, daß bie Evangeliften bie Erſcheinung als ein. Wunder
betrachten, beiten Zwechnäßigfeit wir aber nicht einfehen kon⸗
nen. Allein wenn wir und erinnern, wie in faſt allen Theilen
der alten Geſchichte Finfterniffe beim Tode berühmter Männer
(Romulus, Julius Caͤſar ıc.) eintreten, wie in altsteflaments
lichen Stellen ef. 50, 3 u. A.) die Verfinfterung des Tages⸗
lichtes als Zeichen göttlicher Trauer betrachtet. wird; wie nach
Rabbinen die Sonne. fi verfinftert bei dem Tode: hoheprie⸗
ſterlicher Perfonen: — können wir da wohl zweifelhaft. barüber
fein, daß wir auch bier mur eine aus Zeitworftellungen her⸗
vorgegangene chriftliche Sage haben, welche die ganze Natur
bei dem Tode bes Meſſias mittrauern ließ? — .
Ganz dasfelbe muß nun auch, im Zufammenhange mit - der
Finſterniß, von dem Erdbeben gelten. —
Vollends undenkbar iſt das Zerreißen des Tempeloorr
hanges, (ohne Zweifel it es der das Allerheiligfie abſon⸗
dernde gemeint); denn fest man auch, was bie Evangeliften
aber nirgends thun (vergl. Mark. B. 38), damit das Erdbeben
in Berbindung, fo ift doch das Zerbrechen eines vielfach nach⸗
gebenden Gegenftandes bei einer Erberfchütterung etwas Ins
erhörtes, was nicht einmal durch willfürliche Annahmen, 5. B.
der Vorhang. fei auf beiden Seiten befeftigt, er fei fchon
mürbe geweſen 2c., glaulbich gemacht werben fann. Als Wun⸗
Der fünnen wir den Borfall fchon darum nicht gelten laſſen,
weil der einzig denkbare Zweck besfelben, ben Glauben an
Jeſum zu befördern, nicht erreicht worden wäre, indem nirs
gende mehr von ihm die Rede ift:. — alfo kann die Sache
gar nicht gefchehen fein. Wohl aber ift die Entſtehung
eines folhen Mythus vom zerriffenen Vorhange leicht nach-
zuweiſen. Schon im Hebräerbriefe G. B, 6, 19; 9, 6-19
heißt es, Chriftus fei ald ewiger Hoherpriefter „in das Ins
nere bed Vorhanges“, in das Allerheiligfte bes Himmels, eins
gegangen, und habe auch ben Ghriften den Eingang bahin
eröffnet, während vor ihm nur ber Hohepriefter es einmal
im Sahre betreten durfte. Wie Leicht konnten folche finnbilbs
liche Reden noch weiter dahin ausgeführt werden: „Jeſus hat-
durch feinen Tod den Vorhang bes Tempels zerriſſen“! und
2
28
wie bald mußte: ſich in ‚dem Geifie ber Zeit dieſes Sild
einer Erklaͤrung verförpern, wie wir fie hier vor une haben!
um fo mehr, da eine folche den ehemaligen Heiden recht au⸗
ſchaulich machen konnte, daß fie nicht nöthig hatten, in das
Judenthum einzutreten, bevor fie Chriſten wurden!
Am fchwierigften it Das nur von M. berichtete Wunder⸗
zeichen, baß die Gräber fich öffneten, viele Todte hervor⸗
fliegen und fich nach Jeſu Auferftehung (warum nicht fogleich?)
in Serufalem oͤffentlich zeigten; ein begrünbeter. Zweck läßt
fih andy von diefem Wunder nicht nachweifen, ba basfelbe
feinen Eindruck gemacht zu haben fcheint, und man ſich nir⸗
gende im neuen Teftamente auf basjelbe beruft. Die natürs
liche Erklärung kann und auch nicht befriedigen: daß naͤmlich
durch das Erdbeben mehrere Grabmäler verfchüttet, Daß bie
Leichname in denſelben nicht mehr vorgefunden worben; daß
dieſe Thatfache, verbunden wit ben nach Jeſn Auferftehung
erregten Auferweckungsgedanken, Bifionen und Träume erzengt
habe, in denen man die Tobten aus den Gräbern hervorſtei⸗
gen zu fehen glaubte ꝛc. — Weit natürlicher ift es, biefe Er⸗
zählıng als eine Sage, hervorgegangen aus der verbreiteten
jüdifchen Erwartung, der Meſſias werde die verftorbenen
frommen Siraeliten auferweden, zu betrachten: wobei wir
denn weder Träume noch Ieergeworbene Gräber, Beides gleich
umwahrfcheinlich, in Anfpruc, zu nehmen haben.
Mit der Entitehung diefes Mythus mochte es fich aber
fo verhalten haben: die. Chriften freilich hatten jene jüdifche
Erwartung dahin. umgebildet, daß ihr Meffias, Jeſus, bei
feiner erſten Wiederkimft mm die Frommen erweden, mit
ihnen tanfend Jahre herrfchen, und aledann aud) alle Todten
aus den Gräbern rufen werde. Diefe von Paulus (1 Ker.
15, 22 0.) mehrmals audgefprochene Anficht liegt aber unferm
Mythus noch ferne, der, wahrfcheinlich unter Subenchriften ent
ftanden, fich noch enger an die jübifche Borftellung anfchließt,
and bie Auferftehung der Frommen noch in die erfte Ans
weſenheit Iefu auf Erden verlegt. Sie grade mit feinem
Tode in Verbindung zu bringen, dazu Fonnte ihn theils ber
m
äußere Grund, daß in der Ueberkieferung von einem damals
eingetretenen Erdbeben, Tas auch die Gräber erichütterte, bie
Rede war; — theild der innere Grund veranlaflen,. baß
grade der Tod Jeſu "ald der eigentlich ‚entfcheidende Augen _
blick der Erlöfung betrachtet wurde, weßhalb Jeſu ja nach
1 Petr. 3, 19 fogleich nach demfelben in die Unterwelt gehen
mußte, um bie früher Verftorbenen zu befreien. — Ä
:Den Schluß ber Krenzigungsgefchichte macht ‚bei deu: Sy,
noptifern der bewundernde Ausruf des römifhen Haupt
manns; daß er. dazu durch bas laute Schreien Jeſu, wie
Marl: B. 29 fagt, bewogen worden fein fol, it fehr un⸗
PO ‚da dieß fein Zeichen ruhiger, göttlicher Faſſung
— wahrfcheinliher ift der Zufammenhang bei Lukas
= 47), wo die Bewunderung bes Hauptmanns ſich nah
dem lebten Gebete Jeſu ausfpricht; — am meiften begründet
wäre fie bei M. (®. 54), wo fie durch das Erbbeben unb
Anderes bei Jeſn Tode hervorgerufen wird, wenn nur nicht
dieſe Erzählungen ſo wenig gefcichtlichen Boden hätten!
Auch das ift bei M. fehr unwahrſcheinlich, daß der heibnis
ſche Hauptmann Zefum als Meffias („Sohn Gottes“) er⸗
kannt haben foll; eher könnte er ihn nad) Lukas einen „ges
rechten Mann “ genannt haben: aber auch diefer Zug muß, -
als Schlußftein einer Reihe ſagenhafter Büge, in Zweifel
geftellt werben.
Der einzige Sohannes ift ed, der ung erzählt, baß die:
Juden, um nicht durdy das Hängenbleiben "der Gefreuzigten
den bevorftehenden hohen Sabbat entmeiht zu fehen, den Pilas.
tus baten, denfelben die Beine zerfchlagen und fie dann herabs
nehmen zu laſſen; ben beiden Mitgefreuzigten gefchah dieß;
Jeſu aber, den man fchon für todt hielt, gab ein Soldat nur
einen Tanzenftic in die Seite, worauf Blut und Waſſer
floß (Soh. 19, 31 - 37). |
.. Sn diefem Lanzenſtiche fieht ‚man. gewöhnlich den Haupt⸗
beweis für den wirklichen Tod Jeſu, den man ſonſt be⸗
zweifeln könne, da er nur kurze Zeit am Kreuze hing;
nach Markus ſechs Stunden, von 9 bis 3 Uhr, nach M. und:
430
Lakas wahrfcheinlich mr drei, von 12 bis 3 Uhr, mad
Johames gar (|. oben) nır 2—3 Stunden. So fdmell
tödtet fonft Die Kreuzigung nicht; Manche lebten nach derſelben
noch mehrere Tage. Während daher alte Kirdyemoäter in
dem fihnellen Ende Jeſu ein Wunder fehen, leiten Neuere es
von den großen vorausgegangenen Leiden Jeſu ber, wobei fie
zum Theile es umbeflimmt laſſen, ob nicht erft jener Lanzen⸗
Rich den nur Ohmmächtigen vollends getöbtet habe. — Aber
eben diefer Lanzenſtich war von jeher ein Krenz für die Aus
leger; weder das Werkzeug ift und genau befaunt; denn bie
„Lanze“ kann eben fo gut die große, ſchwere geweſen fein,
wie der leichte Wurfipieß; — das von Luther mit „öffnen“
überfette Wort kann eben fowohl von einem bloßen Riten
oder unblutigen Stoßen, ald vou tieferem Einbohren gebraucht
werben; — als Stelle der Verwundung ift allgemein ur bie
Seite angegeben, worunter die rechte, wie bie linfe, von ber
Schulter bis zur Hüfte, verftanden: fein kann. Dürfte man
freilich annehmen, der Soldat habe Jeſum vollends tödten
“wollen, fo wäre man leichter im Reinen; allein dieſe Abficht
hatte der Soldat gewiß nicht; fonft hätte er Jeſu andy bie
Beine zerfchlagen, und ſich nidıt mit dem Beweife für Set
Tod begnügt, den er in dem Waſſer und Blut, das aus ber
Wunde floß, erblidte.
Daß aber Blut und Wafler herausflog, muß nach dem
Urtheile berühmter Aerzte durchaus in Abrede geftellt werben;
denn daß, wie Einige glauben, das Waſſer aus dem Herz
beutel gefommen fei, in welchem bei manchen Zodesarten fich
(namlich fehr wenig) Waſſer anfammle, bedarf femer Wider;
legung. Nun verhält fich aber Die Sache bei den Leichnamen
fo: höchftens eine Stunde nad) dem Tode fließt noch aus
einer gemachten Wunde Blut; außer nach befonderen Krank
heiten, Exitiden, Rervenfiebern ıc., in welchem Falle das But
länger flüffig bleibt. Iſt es aber einmal gerommen, fo fließt
Nichts mehr aus der Wunde, weder Blut noh Waffer.
Demmach fünnte nach dem Lanzenftiche höchſtens nur Blut
geflofien fein; nämlich wenn entweder Jeſus erfticht wäre, was
aber bei Iemanden, der noch bis zum fetten Augenblicke redet,
nicht gefchehen fein kann, oder wenn er erft vor einer Stunde
geſtorben war, was gegen alle. Berichte ‚geht, nach welchen
die Kreuzabnahme um 6, der. Tod um.3 Uhr: erfolgte —
„Schwerlich alfo hat der Urheber dieſes Zuges. im vierten
Evangelium Blut und Waffer felbft aus ber Seite Sefu ale
Zeichen bed erfolgten Todes kommen ſehen; fonbern weil er
bei Blutlaͤſſen fchon jene Scheidung im erfterbenden Blute
gefehen hatte, und ihm anlag, eine fichere Probe für den Tob
Jeſu zu bekommen, ließ er aus deſſen verwundetem keichname
jene geſchiedenen Beſtandtheile fließen*. — —
Dennoch verſichert der Verfaſſer bes Evangeliums auf
Angelegentlichite (V. 35), daß fich dieß wirklich mit Jeſu
jugetragen habe; ohne Zweifel, um dadurch den wirklichen
Tod Jeſu zu bezeugen, der gewiß fchon damals von Vielen
bezweifelt wurde. Eine ähnliche Todesprobe gibt, fehr wahrs
fcheinlich aus -Demfelben Grunde, auch Markus, indem er den
Pilatus ſich wundern laßt, daß Jeſus ſchon geftorben fein
folle, worauf ein Hauptmann Die Sache unterſuchen mußte,
und meldete: „ber Gekreuzigte fei längft fchon todt“ (V. 44,45).
— Als Schluß feiner Erzählung führt Sohannes noch zwei
ultsteftamentliche Weiffagungen an, die an Sefu in Erfüllung
gegangen fein follen, die eine (2 Mof. 12, 42) dadurch, daß
ihm nicht die Beine zerfchlagen worden; bie andere (Zach.
12, 10) durdy den Lanzenſtich (V. 36, 37); Stellen, welche
von nichts weniger reden, ald vom Meſſias, aber allerdings
fehon frühe von den Chriften, wie fo mancher Unglückspſalm,
auf Jeſum gedeutet worden fein mögen.
Fragen wir nun nach der Glaubwürdigkeit diefer ganzen
johammeifchen Erzählung, fo beruht zunächft grade das, worauf
ber Erzähler am meilten Werth legt, das Blut und Waffer,
auf einer Tänfchung, Die doch auch der Soldat getheilt haben
müßte; denn hätte er nur Blut zu fehen geglaubt, fo würde
er, dieß als Zeichen bes noch nicht erfolgten Todes betrach⸗
tend, auch Jeſu die Beine zerfchlagen haben. Ueberdieß tft
dieſes Beinezerfchlagen bei Gefrenzigten fonft ganz ohne Bei⸗
fpiel; und es bleibt daher unfere Erzählung, wenn auch nicht
gradezu erdichtet, doch immer fehr unficher; nur das Fam
als ausgemacht angefehen werben, daß wirklich die Leichname
2
noch vor Eonnuenmntergang herabgenonnnen wurben, weil dieß
dem jũdiſchen Geſetze (5 Mof. 21, 22) ganz gemäß ift.
M. 9, 57-61; Mark. 15, 42, 16, 2; Lut. 23, 50-56;
" | Soh. 19, 38 — 42.) ”
Nach jüdifchem Brauche hätte num Jeſu Leichnam auf ber
Kichtftätte felbft verfcharrt werben follen; allein Sofeph von
Arimathäa, ein angefehener Dann (Ratheherr, Luf.) und
heimlicher Anhänger Sefu, erbat fich die Leiche von Pilatus,
erhielt diefelbe, und beftattete fie fofort noch am Abende in
einem anftändigen Grabe, wobei ihm mehrere galiläifche Weiber,
und nach Sohannes auch Nifodemus, hüffreiche Hand Teilteten,
Ueber die Art dieſes Begräbniß gehen aber mın die Evan
geliſten fo fehr auseinander, daß es bei allen angeftellten
Berfuchen unmöglidy erfcheint, fie zu vereinigen. Laut M.
(f. die Stellen) wird der Leichnam ohne Weiteres nur in
Linnen gewicelt in die Gruft gelegt; nach Sohannes zugleich
einbalfamirt, und zwar von Nifodemus mit hundert Pfund
Spezereien, was eine unerhörte, übertriebene Maffe ift; —
bei Lufas faufen die Weiber Spegereien, verſchieben aber
das Einbalfamiren bis nach dem Sabbat; — bei Markus
wird von ihnen auch noch der Einfauf bie dahin verfchoben. —
Vorerſt wollte man bie beiden letteren Evangeliften mit
einander ausgleichen, indem Einige des Marfus Worte
(16, 9: „Da der Sabbat vorüber war, Fauften Markus ıe.,
— auf daß fie ihn falbten“, umdrehen wollten in: „ba ber
Sabbat ıc., hatten Markus — gefauft (nämlich ſchon vors
her!), auf daß fie ꝛc.“, — andere dagegen dem Lukas feine
Angabe (B. 56): „fie Fehrten heim, und bereiteten Speges
rei ıc., und über den Sabbat waren fie fille ꝛc.“, gleichfam
im Munde umwandeln in: „fie Eehrten heim und befchloffen,
Spezereien zu Faufen; thaten es aber erft nad) dem Sabbat“.
Seder fühlt, wie unerlaubt diefe Gewaltthätigfeiten find! —
Nicht glüdlicher ift eine andere Auslegung, dahin gehend:
„die vor dem Sabbat bereiteten Spezereien waren nicht hins
reichend, und die Frauen lieferten noch weitere nach dem
483
Sabbate Hi“ Will man’ aber einmal allgemeinen” Frieden
Kiften, fo .muß man baun auch ben Johannes mit feinen
hundert Pfund. binzunehmen, und biefe Maffe hätte roch nicht
bingereicht? — Daher fagen Andere, es fehlte nur. noch an
ber rechten. Zubereitung des Leichnams; dieſe ſollte nach
dem Sabbat noch vollendet werden; aber fagt denn nicht
Johannes auodrücklich V. 40: „fie nahmen. den Leichnam
und banden ihn in Tücher mit Spezerein, wie bie-Inben
m beſtatten pflegen“! alfo war fchon Alles in befter Ord⸗
nung! — Am übeliten ift noch eine letzte Austumfe: . die
Weiber haben von der Einbalfamirung nichts gewußt“; —
als wenn fie nicht mit Augen angefehen hätten, „wo? * (Mark.
DB. 47) und „wie?“ Ruf. V. 55) man ben Leichnam hins
gelegt hatte!
ft demnach das Zugeftäandniß unvermeidlich, daß die Bes
richte fehr verſchieden find, fo erflärt man fich die Verichies
denheit vielleicht am beiten fo. In allen Evangelien lefen
wir von einer Salbung am bethanifchen Mahle (Th. I,
S. 268), wobei Jeſus ausdrücklich bemerft (M. 26, 12), .
das Weib habe ihn zum Tode gejalbt.e Daraus fcheint hers
vorzugehen, daß die ältefte Sage von einer Einbalfamirung
(Salbung) des geftorbenen Jeſu nidyts wußte; und daher,
weil ihrem Meifter die letzte Ehre mangelte, mit befonderem
Wohlgefallen auf jeder gleichfam vorgreifenden Ehrenbezeugung
verweilte. M. kannte auch nur fie, und erzählt deßwegen
von einer folchen, dem Todten widerfahrenen, nichts: fpätere
Sage (Marfus und Lukas) weiß gleichfalld von diefer legten
Salbung noch nichts, Fennt aber ſchon den Vorſatz frommer
Weiber, fie zu vollbringen; bis endlich die legte Stufe dieſer
Sage auch den Leichnam aus vollen Händen mit der Aug.
zeichnung eines anftändigen, der Sitte vollig genugthuenden
Begräbniffes befchenft. —
Darin find alle Evangeliften einig, daß Jeſu Leichnam
in einer noch ungebrauchten Felfengruft beftattet wird, bie.
man mit einem großen Steine verfchloß. Bei M. (2. 60)
wird es beftimmt ausgefprochen; bei Markus und Lukas
(8. 46 und V. 53) aber, wie es. fcheint, als befannt- vors
Il. | 28
434
ansgefebt, daß diefes Grab dem Sofeph von Arimathaa ge
hörte: nach Johannes Darftellung kann dieß nicht der Fall
gewefen fein, da es hier heißt, Sofeph habe den Leichnam in
ein Grab gelegt, das fidy in einem Garten in der Nähe
Des Nichtplages befunden habe: — damit kann nicht das
Grab bes Eigenthümers gemeint fein, weil er in ein fol
des jedenfalls den ihm anvertrauten Leichnam gelegt
hätte, mochte «8 nahe ober ferne fein. Diefen unbedeuten⸗
den Widerfpruch in ben Berichten bermögen wir nicht mehr
zu löſen.
85
Siebenter Abfchnitt.
Auferftehung und Himmelfahrt Jeſu.
3
Erfted Kapitel.
Die Wache am Grabe und erfte Kunde von der
Auferftehung.
(M. 27, 62-66.)
Der Auferftehungsgefchichte geht bei M. eine‘ merhvlrdige
und gleichfam einleitende Erzählung voraus; die von der an
Sefu Grabe aufgeftellten Wache (ſ. die Stellen M. 27, 62 ꝛc.),
welche die Suden, aus Beforgniß, daß Sefu Leichnam entwens
det werden möge, von Pilatus fich ansgebeten hatten. Im -
diefer Erzählung hat man von jeher die vielfältigften Bedenfen
gefunden; fowohl in Bezug auf das Ganze, wie auf bie
Einzelnheiten derfelben,
Unbegreiflich erfcheint in erfterer Beziehmg, woher die
Spnebdriften wußten, daß Jeſus nach drei Tagen auferftehen
wolle (27, 63)? Selbſt gefagt wird er es feinen Feinden
nicht haben, da er nicht einmal feinen Süngern ſich beftimmt
darüber ausſprach; bildliche Andeutungen darüber hätten aber
jene ficherlich noch weniger verftanden, als biefe: die Sünger
können die Erwartung der Auferftehung auch nicht verbreiter
haben, da fie ihnen, wie wir oben ſchon fahen, höchſt uner⸗
wartet fam. — Eben fo unerflärlidy ift, wie von Diefer That⸗
fache, die ein fchlagender Beweis für die wirfliche Auferftehung
fein mußte, ſich alle Kunde aus der ewangelifchen Ueberlieſe⸗
rung fo. ganz verlieren fonnte, daß wir nirgends, außer bei
M., auch nur eine leiſe Andeutung derſelben finden. Die
groben, vermittelt der beftöchenen Wächter (28, 13) ausges
fireuten Lügen würden die Sünger nicht abgehalten haben
436
auf die Wache am Grabe fich zu berufen, und fobalb fie von
dDiefer etwas erfuhren, fo mußten fie nadı ihren Erfahrungen
zu jehr wiffen, was hinter dem Mährchen von ber entwende:
ten Leiche verftekt lag und ſich kühn auf die beftochenen
Pächter berufen. — Sehr auffallend ift ferner, daß die am
frühen Morgen des Sonntage zum Grabe gehenden Frauen
von der Wache an demfelben nichts willen: denn wußten
fie davon, fo durften fie nicht fo beforgt Darum fein, wer
ihnen wohl den Stein.vom Grabe wälzen werde (Mark. 16,
3), fondern ihre einzige Sorge mußte die fein, ob die Wade
dieß wohl erlauben würde, die ihnen fofort ficherlich auch gehols
fen hätte. Shre Unmiffenheit ift aber darum fo auffallend,
weil ganz Serufalem von den Ereigniffen ber lebten Tage
vol war (Ruf. 24, 8).
Aber auch im Einzelnen häufen fich Die Schwierigkeiten
fo jehr, daß man das Benehmen vieler Perfonen bei der
Sache nicht begreift. Mußte nicht Pilatus fich zum Spotte
verfucht fühlen, wenn heute Cam Sabbat, 27, 62) diefelben
Männer vol Angſt find, der von ihnen geftern als Miffethä-
ter Verurtheilte werde ald Sohn Gottes auferitanden zu fein
fcheinen können? — War e8 nicht im höchften Grade verwe⸗
gen von den Soldaten, die am Grabe Wache gehalten,
fich zu einem Geftändniffe, daß fie gefchlafen, alfo den Dienft
gröblich verfäumt hätten: (28, 13), was ihnen bei der firengen
Kriegszucht der Römer übel befommen fonnte, verleiten zu .
laſſen? — Am räthfelhafteften ift das Benehmen der Synes
driften: zwar daß fie am Sabbat fi) Durch Betreten der
beidnifchen Statthalterwohnung und des Grabes verunreinigen
mochten, kann man fich aus ihrem Eifer erklären. Unerklaͤr⸗
lich aber ift es, daß fie den zitternden Soldaten fogleich: auf's
Wort glaubten, Sefus fei auferftanden, da fie doch zum
Theile (die Sadducäer) an gar feine Auferfichiug glaubten,
und Alle eine fo geringe Meinung von Sefu hatten, daß fie
an feine Auferftehung nicht denfen konnten! Statt daß fie
alſo den Soldaten erwidern mußten: Ihr lügt, ihr habt euch
ben Leichnam ftehlen laſſen! geben fie ihnen noch Geld, um
Das als eine Lüge auszubreiten, was fie von ihrem Stand»
punkte aus fir den wahren Hergang der Sache halten muß⸗
| LE) Zu
ten! Unglaublich endlich iſt es, daß ein ganzes Kollegium
fih fo fehr vergeflen könnte, um in Gefammtheit eine fo nie⸗
dertraͤchtige Beftechung zu befchließen: dieß konnte doch wohl
nur die Erbitterung der erften Chriften, nnter welchen diefe
Erzählung entitand, für möglich halten! zu
Diefen großen Schwierigkeiten hat man auf mancherfet
Weile aus dem Wege zır gehen gefucht: eine unerlaubte Weife
ift die Annahme, die ganze Erzählung fei fpäter in das Evan⸗
gelium hineingefchoben, oder wenigſtens von dem griechifchen
Ueberfeßer zugefügt worden: — eine umzulängliche, nur Eins
jenes, 3. B. den Befchluß des Synedriums, für unächt zu
halten, weil damit nur Ein Anftand gehoben wird. — Den rich:
tigen Weg gibt und M. felbft an, wenn er 28, 15 fagt,
„dieſes Gerücht fei allgemein verbreitet big auf feine Zeit“:
Damit meint er nur das von Jeſu Gegnern ausgefprengte Ges
rücht von dem entwendeten Leichnam. Dem die Sage
von einer Wache am Grabe werden fie wohl nicht erfunden
haben, weil dieſe ja wieder fehr den Glauben an jene vors
gebliche Entwendung fchwächen mußte. Vielmehr „bildete ſich
unter den Ehriften die Sage von einer am Grabe Jeſu
aufgeſtellten Wache, und nun fonnten fie jener Verläumdung
dreift durch Die Frage entgegentreten: wie kann der Leichnam
geftohlen worben fein, da ihr ja eine Wade am Grabe
aufgeftelt und den Stein verfiegelt habt *? Daß num aber
troß bdiefer Wache die Lüge von der Entwendung habe ent>
ftehen können, fuchte man dadurch erflärlich zu machen, daß
man fie aus eimer von dem Synedrium vorgenommenen Be:
ftechung herleitete.
CM. 285 Marf. 16, 1—18; Lut. 24, 1— 49; Joh. 20
Ä | und 21.) Ä
Darin ftimmen alle Evangelien überein, daß durch Franvn
die erfte Kunde von der Auferftchung zu den Jüngern gelangt
fei; allein in allen näheren Umftänden weichen fie auf bes
denfliche Weife von einander ab. Wir wollen die bemerkens⸗
wertheften Berfchiedenheiten der Berichte kurz in's Auge faſſen.
438
Die Zahl der zum Grabe wandelnden und Dasfelbe leer
“ findenden Weiber ift bei Lufas CB. 10) unbeſtimmt; bei Mars
tus (B. 1.) find es deren drei; .M. (V. 1) nennt nur die
beiden Marien; Sohannes (B. 1) nur Maria Magdalena. —
Als Zeit ihres Bejuches geben Johannes und Lukas (B. 1)
die frühefte Morgendämmerung, Marfus (V. 2) Sonmen⸗
anfgang an; M. (V. 1) iſt unflar. — Den Stein finden
fie bei den drei letzten Evangelien (B. 4, 2, 1) fehon abges
waͤlzt; nad) M. (2) fcheint Dieß noch vor ihren Augen zu
gefchehen. — Sm Grabe, das fie ſaͤmmtlich leer antreffen,
erblicken fie bei Lufas (4) zwei Männer in glänzenden Ger
wanden; bei Markus (5) nur Einen Jüngling in weißem
Kleide, nicht ftehen, ſondern fißen; bei M. (2) finden fie einen
Engel vor dem Grabe auf dem Steine figend; nad) Johan⸗
nes (1) findet Maria Magdalena bei'm erften Befuche (demn
bier geht fie bald nachher zum zweiten Male an das Grab,
B. 11) nur die Schweißtücher in dem leeren Grabe. — Die
Jünger erfahren bei Markus (8) von den Frauen, die vor
Schrecken fchweigen, gar nichts; nach Sohannes (2) Petrus
und Sohannes nur, daß Jeſus nicht mehr im Grabe ſei; bei
Lukas (9) erzählen die Weiber allen Süngern die gehabte
Erfcheinung; bei M. (9) können fie ihnen auch noch berichten,
daß Sefus felbft ihnen erjchienen fei. — Bon einem Gange
der Sünger nad) dem Grabe auf die erhaltene Kunde wiſſen
Markus und M. nichts; bei Lukas (12) begibt ſich Petrus
und mit ihm mehrere andere Jünger (24) dahin; bei Johan⸗
ned (3) ift er nur von Sohannes begleitet. Diefen Gang
macht Petrus bei Lukas, nachdem er bereits die Engelerfcheis
nung erfahren hatte; laut dem vierten Evangelium gingen
jene beiden SGünger nach dem Grabe, ehe fie etwas von der
Engelerfcheinung wiffen konnten, weil Maria Magdalena, bie
fie dahin gerufen, erft nad) ihrem zweiten Gange, nachdem
die Jünger fich fehon wieder entfernt hatten, zwei Engel und
Jeſum fah (V. 10— 17).
Hier finden fich fo viele widerſprechende Angaben, daß
jeder unbefangene Leſer ſelbſt einen Verſuch, ſie mit einan⸗
der zu vereinigen, für unmöglich halten ſollte. Allein dennoch
find von jeher viele ſolcher Berfuche gemacht worden: wie fie
438
ausfallen mußten, laßt. fi errathen. Nicht nur mußte die
Sprache vielfach mißhandelt werben, fondern es famen auch
die feltfamften, oft unwürdigen Spielereien zum Borfcheine.
Sp müßten nad) diefen Nefultaten Petrus und Andere
mehrmals zum Grabe gerannt fein (Joh., Luk.); — es müßte
zuerft Ein Engel dem Einen Trupp der Weiber fich gezeigt
haben (Mark); dann deren zwei andern Weibern (Luf.); vor
den Süngern hätten fie hierauf fich verborgen, um nachher
beide wieder zum Borfchein zu kommen (Joh.); — Jeſus wäre
dann zuerit der Maria Magdalena allein hart am Grabe (Joh.),
hierauf ihr wiederum in Gefellfchaft einer andern Frau auf
dem Wege erſchienen (M.) u. ſ. w.
Um diefem, einen leeren Spiele gleichfehenden Kommen
und Gehen auszumweichen, muß jeder Evangelift für fich bes
tradhtet werben, um jeden für fich zu prüfen, nicht um fie
in einander zu fihieben. „Dann befommen wir von jedem
ein ruhiges Bild in einfachen, würdigen Zügen: Einen Gang °
ber Frauen oder nad, Sohannes zwei: Eine Engelerfcheinung:
Eine Eſcheinung Jeſu (Joh., M.), and Einen Gang Eines
oder zweier Jünger (Luk., Joh.) *.
Zu den ſo eben berührten Schwierigkeiten kommt noch die,
daß man nicht begreifen kann, warum fein Evangeliſt dag
ganze ſich wiederholende Kommen und Gehen erzählt, fons
dern jeder aus diefer Fülle des Gefchehenen nı:r einzelne
Stücke hervorhebt? Man fagt, jeder melde die erfte Kunde
von ber Auferftehung grade fo, wie er fie zuerft erfahrem
habe: Johannes alfo, wie fie ihm Maria Magdalena, M.,
wie fie ihm die heimfehrenden Weiber erzählt haben ıc. Allein
hier deckt fich fchon das Unrichtige dieſer Erklärung von felkft
auf; denn unter den Weibern bei M. ift ja cben jene Mage
dalena auch CB. 1); folglich mußte aud) er Alles ſogleich
erfahren haben, mas Sohannes weiß. Weberhaupt aber ift
es unbegreiflich, wie jeder der Evangeliften fo zähe grade an
bem Ffleben mochte, was er zuerft gehört hatte, da dech
über die fo bedeutungsoolle Auferſtehung gewiß jeder Sün,er
Den andern mittheilte, was er nur davon wußte. Das Tes
mühen, Durch felbft aus erfter Quelle Gchörtes ficheren
Beweis für die Wahrheit der Thatfache zu gebeny konnte fie
440
auch nicht leiten, da, nachdem einmal Jeſus allen Jüngern ers
fchienen war, es einen folchen Beweiſes nicht mehr bedurfte.
enden wir uns nun zu ben einzelnen Cvangelien,
den Verſuch, fie zu vereinbaren, aufgebend, und vielmehr
unterfuchend, welcher unter ihnen die glaubwürdigfte Dars
ſtellung der erſten Kunde von der Auferftehung gebe! Den
apoftolifchen Urfprung dürfen wir bei feinem vorausfeßen, ba
wir wiffen, daß überhaupt nur aus dem Inhalte der Berichte
über benjelben entfchieden werben fann. _ |
Matthäus, bei dem wir in vielen früheren Källen die Altes
ften und ächteften Berichte fanden, hat grade hier unverfeunbar
fpätere Zufäte. Daß der Engel felbft vor den Frauen deu
Stein weggewälzt habe (V. 2), konnte, wenn einmal gegeben,
aus ber Ueberlieferung fich nicht fo leicht verlieren, daß Fein
anderer Evangelift ed mehr wußte; vielmehr fieht ed ganz
einem fpäter gemachten Berfuche, die Art des Wegmwälzeng
ſich zu erflären und anſchaulich zu machen, ähnlich. — Das
Erdbeben ift ebenfalls fpäteren Urſprungs. Endlich müſſen
wir die Erfcheinung Jeſu CB. 9) für einen Ueberfluß des
Wunderbaren halten, da er den Frauen ganz biefelben Aufs
träge ertheilt, die ihnen ſchon der Engel ertheilt hatte: einer
Stärkung des Glaubens bedurften jene nicht, da fie ſchon
den Worten des Engeld vertrauten (V. 8), und bei den Jün⸗
gern erweckte nicht einmal die Erzählung von Jeſu perfünlicher
Erfcheinung Glauben (Lauf. B. 11), war für diefe alfo unnütz.
Wahrfcheinlich Tiefen zwei verſchiedene Ueberlieferungen um,
die M. hier vereinigt: fein Zuſatz von Jeſu Reden ift offens
bar die fpätere. B
Auch dem vierten Evangelium kann man das Lob, nur
die unverfälfchten Thatſachen zu geben, nicht zugeſtehen. Es
tritt naͤmlich auch in feiner Erzählung das fichtbare Beftreben
hervor, den Johannes dem Petrus mwenigftens gleich, wenn
nicht voran zu ftellen, wie ein Vergleich mit Lufas lehrt. Hier
it es Petrus allein, der fogleich zum Grabe eilt und fid) von
der Leere desfelben überzeugt (®. 12); im vierten Evangelium,
läuft nicht nur Johannes mit, fondern kommt ihm auch zuvor
PT
(3, 4), ſchaut zuerſt in das leere Grab (5), und glaubt
zu er ſt an die Auferftehung. Daß: es fich wirklich ſo vers
halten habe, fünnte man deßwegen ‚anzunehmen geneigt fein,
weil fein Name fpäter von dem alle Andern überragenden
Anfehen des Petrus bier verdrängt fein fonnte. Allein eben
jene Eigenheit des vierten Evangeliums muß Bedenken erregen,
und wenn fpäter in Emaus (Luk. 24, 24) davon die Rebe
ift, daß mehrere Jünger, alfo auch Sohannes, zum Grabe
gegangen, fo ift bier fiher em fpäterer Gang gemeint.
Ja felbft, daß gleich Anfangs nur Petrus Kufas) zum Grabe
geeift, kann bezweifelt werden, da Markus und M. ganz das
von fchweigen. Wir vermuthen, daß auch hier bie Sage
eine allmälige Steigerung. madıte; Anfangs waren für bie
Entfernung des Leichnams aus dem Grabe nur die Frauen
M., Mark.) ald Zeugen befannt; fpäter auch Jünger (Zuf.),
dann genauer Petrus (Luf.) und Sohannes Goh.): ımb
Diefer war ed nun, der zuerft den Glauben an die Aufers
ftehung gewann, was im vierten Evangelium noch dadurch
glänzend hervorgehoben wird, daß erft nachher die überzen⸗
genden Engelerjcheinungen eintraten. — Gegen bie fchöne und
rührende Ecene zwifchen Magdalena und den Engeln und
Jeſu (V. 11— 18) laßt fich nur das bemerfen, daß, wie bei
M. (. oben) Sefug, fo bier die Engel eine müßige Noe |
fpielen, indem fie nur die Erfcheinung Sefu einleiten und dann
ganz verfchwinden.
Der Bericht des Markus ermeist ſich vollends als aus
ungehörigen Beſtandtheilen zuſammengeſetzt; nachdem er die
Auferſtehung V. 1— 8 ausführlich erzählt hat, fährt er, wie
wenn er nichts gefagt hätte, V. 9 fort: „Als Sefus in der
Frühe nad) dem Eabbat auferfianden war, erſchien er zuerſt
der Maria Magdalena“. Dießt paßt fchon darum nicht zu
der erften Erzählung, weil hier die Magdalena nicht allein
war, und überdieß eine Erfiheinung Sefu nicht ftattfand.
Man hat daher angenommen, der Schluß des Markus von
B. 9 an fei fpäterer Zuſatz; allein dafür fehlen alle Grünbe.
Bielmehr haben. wir hier einen Bericht, den der Verfaſſer aus
verfchiedenartigen Ueberlieferungen zufammenfebte, ohne fi
zu bemühen, fie gehörig mit einander zu verfchmelzen.
442
Sn der Erzählung des Lukas it nichts Verbächtiges, als
- Die, auch bei den andern Evangeliften vorfommende Engelerichei-
nung, von der wir uns, wie fchon früher bemerkt, feinen
rechten Zweck denken fünnen; denn ber einzige, den fie zu. has
ben fcheint, nämlich Jeſu Aufträge an die Tünger gelangen
zu laſſen, fällt ja dadurch weg, daß Ssefus felbft dieſelben
alsbald wiederholt.
. Man hat ſich aus diefem Grunde bemüht, überhaupt bie
Engelerfcheinung aus der Erzählung durch natürliche Ers
klaͤrung hinwegzubringen. Einige Theologen fehen darin eine
Raturerfcheinung; entweder einen glänzenden, mit heftigem
Schlage den Stein wegwälzenden Blig (f. M.), oder: ein mit
Flammen verbundenes Erdbeben. Allein die Bemerkung: in
den Berichten, daß der Engel auf dem Steine gefeffen, und
Daß Er geredet, ftößt diefe Erflärung um. — Andere glauben,
die Weiber haben den hohen, ihre Zweifel plöglich befiegens
den Gedanken: „Sefus ift auferftanden *, nach orientalifcher
Weiſe für einen Engel gehalten: allein fo orientalifch ift auch
der Drientale nicht, baß er einem folden, nur in inneren
Wirkungen erfannten Engel fofort auch „weiße, frahlende
Gewande * Leihen follte. — Wieder Andere nehmen an, die
Weiber haben die weißen Leintücher im Grabe bei ihrem er:
ften Scyreden für überirdifche Wefen gehalten; waren aber
die Weiber nicht fchon auf den Anblick eines in weiße Tücher
gehüllten Leichnames gefaßt? — Noch Andere endlich glauben
in den Bezeichnungen der Engel ald eines „Sünglings“ (Marf.)
und ald „zwei Männer“ (Luk.) den ſicheren Fingerzeig dahin
zu fehen, daß die vermeintlichen Engel wirkliche Menfchen ges
weſen feien; natürlicy geheime Anhänger Jeſu, etwa Effes
ner, welche weiße Gewande trugen, ober die Männer, bie
bei der Berflärung gegenwärtig waren!
Alle diefe verfehlten Deutungen führen und vielmehr dahin,
zu fagen: „Die Engel gehörten zur Verherrlichung der großen
Scene, als Dienerfchaft, welche dem Meffias die Thüre zu
öffnen hatte, durch welche er ausgehen wollte; als Ehren,
wache an der Stelle, welche ber Getöbtete jo eben lebendig
verlaffen hatte *. 5
Da wir. nun ſolche Engelerfcheinungen durchaus für mythiſ ch
443
halten müſſen, ſo ergibt es ſich, daß wir in den Evangelien,
andy. jedes für ſich betrachtet, über die erſte Kunde. von: der
Auferftehung durchaus feine Acht dei chichtlichen Verichte
haben.
Zweites Kapitel.
Die Erſcheinungen Jeſu und die Beſchaffenheit
ſeines Leibes nach der Auferſtehung.
(Die Stellen fiehe ©. 437.)
Die ſtärkſten Widerfprüche in der Auferficehungegefchichte
finden ſich in Bezug auf den Drt, welchen Jeſus zum Haupt⸗
ſchauplatz ſeiner Erfceheinungen nad) der Auferfiehung bes
fiimmte. Nah M. und Markus befcjied er fie noch vor
feinem Tode (M. 26, 32) und nad) der Auferfiehung (M. 28,
7; Mark. 16, 7) nadı Galiläa: — bei M. findet hier auch
wirklich die Erfcheinung Jeſu ftatt (V. 16 ꝛc.); Markus aber
ſcheint dieſen Befehl jo ganz vergeffen zu haben, daß er. nad)
der eriten Erfcheinung, die unmittelbar nach der Auferftehung, _
alfo noch in Jeruſalem erfolgte (V. 9), ohne irgendeine Orts⸗
veränderung zu melden, fofort die übrigen anreiht (V. 12, 14).
— Johannes fagt von einem Befehle, nach Galiläa zu ziehen,
nichts, und läßt Jeſum den Süngern zweimal in Serufalem
erfcheinen (20, 19, 26), und nur anhangsweife fpäter in Gas
Iläa (21, 1). — Lukas endlich erzählt in völligem- Widers
fpruche mit M., daß Jeſus den Jüngern befohlen habe, vor
Empfang des heil. Geiftes Serufalem, wo er ihnen erfchien
(24, 13),. nicht zu verlaflen (2.49). Wir fragen alſo:
1) wie konnte Jeſus den Süngern den Befehl geben, nadı
Galiläa zu reifen, und zugleich auch, in Serufalem zu blei-
ben? 2) Wie fonnte er fie darauf verweifen, in Galiläa
feiner Erfcheinung zu harren, wenn er im Sinne hatte, nod)
an demfelben Tage ihnen in Serufalem fi) zu zeigen?
Die erfte Frage beantworten die Drthodoren dahin: „Die
Weiſung, feinen Wohnort nicht zu verändern, fließt Spa⸗
ziergänge und Nebenreifen nicht aus“. Allein von ſolchen
Dingen ift hier nicht die Rede, fondern es handelte fich hier
4
um die Rädreife nad, ber Heimath Galiläa, md die Sache
fieht fo, daß Jeſus dieſe Rüdreife befohlen und zugleich
verboten haben fol: bag ift ein reiner Widerfpruch, der noch
dadurch um fo auffallender wird, daß jeber Berichterftatter
nur Einen Befehl Jeſu meldet, ohne auch nur anzubenten,
berfelbe widerfpreche einem andermweitigen nicht. — Cinen
Ausweg aus dieſer VBerlegenheit fchien die Apoftelgefchichte
(1, 4, 9) darzubieten, die beridıtet, daß Jeſus die Weiſung,
in Serufalem zu bleiben, erft 40 Tage nach feiner Anferftehung
gab; inzwifchen fönnen, fagt man, die Jünger gar wohl in
Galilaͤa gewefen fein, und erft, ald fie wiederum in Sern-
falem waren, erbielten fie den Befehl, Serufalem nicht zu
verlafien. Da nun der Evangelift Lukas zugleich audy der
Verfaſſer der Apoftelgefchichte ift, fo wird er — fo ſchloß man
weiter — auch in feinem Evangelium fagen wollen, Daß
Jeſus diefen Befehl erft nach 40 Tagen erlaffen habe. Allein
davon fleht nun hier feine Silbe, und die Annahme, daß
zwifchen 43: „er aß“, und 44: „und er fprady“, eine Panfe
von 40 Tagen einzufchieben fei, ift eine baare Willkür.
Indeß, wenn auch Lukas gar feinen Befehl Sefu hätte,
fo widerfprechen fchon die Thatfachen, die er erzählt, der
galtläifchen Weifung des M. entfchieden. Denn wie mochte
Doch Jeſus, wenn er, wie Lufas erzählt, am Abende feinen
Süngern in Serufalem felbft zu zwei Malen erfcheinen wollte,
(®. 23, 36), ihnen am Morgen (M.) fagen, fie werden ihn
in Galiläa fehen? oder gar ihnen dieß durch Engel fagen
koffen? Wer weist auf ein Fernes, wenn das Gleiche in
der Nähe liegt? Mer beftellt Freunde an einen entfernten
Ort durch eine dritte Perfon, wenn er fie an demfelben,
wo er ift, heute noch ſelbſt zu fehen hofft? Aber, erwidert
man, Jefus war allerdings entichloffen, nach Galiläa fogleid,
zu gehen; jeboch der Uinglaube, den er bei den Süngern auf dem
- Wege nadı Emaus fand (V. 13), änderte feinen Plan. Allein
nicht im Unglauben, fendern im frifch und Ichendig aufglimmenden
Glauben (B. 31, 32) verließ er fie, und er durfte ihnen
ruhig nach Salilaa vorangehen. Ueberdieß findet ſich Feine
Spur von verändertem Plane angegeben, des gänzlichen
Widerſpruches zwifchen dem Befehle und den Erſcheinungen,
445
wie fie bei Markus, der theild dem M., theild dem Lukas
folgt, neben einander ſtehen, nicht zu gedenken.
Steht alfo ein unauflösbarer Widerftreit zwifchen M. und
Lukas über die Dertlichfeit der Erfcheinungen Jeſu feft, fo
fragt ſich nun: wer gibt den urfprünglicheren, ächteren Bes
richt? Hier fällt uns vorerft ein Eleines, nidyt unbedeutendes
Zufammentreffen Beider in die Augen. Auch bei Lukas er⸗
wähnen die Sefu Auftrag ausrichtenden Engel Galiläa’s,
aber nur fo, daß Sefus dort feine Auferftehung verkündet
habe. Nun iſt e8 aber Doch weit natürlicher, daß ein Drt
als Ort der Zufammenfunft nach der Auferftehimg genannt,
als daß feiner ald eines, wo Etwas vorhergefagt worden,
erwähnt werde. Daher fcheint. die Engelsrede bei M. Die
urfprüngliche zu fein, und erſt fpäter, ald die Kunde von den
galtläischen Erfcheinungen mehr und mehr in Hintergrumd trat,
mochte das „Gallän“ in jener Rede nur noch als Drt, wo
die Auferfiehung verfündet wurde, ftehen geblieben fein. —
Doch wichtiger ift die Betrachtung der Sache ſelbſt. Daß
die Kunde von den jerufalemifchen Erfheinungen (Luk), wenn
fie einmal vorhanden war, ſich in gewiſſen Kreifen der Ueber⸗
lieferung (M.) ganz foll verloren haben, ift fehr unwahrs
ſcheinlich; theils waren diefe Erfcheinungen fehr wichtig, theils
waren fie fchon durch des Thomas Befehrung die ficherften
Zeugniffe für die Auferſtehung, theils erſtreckte ſich der Ein-
fluß der Gemeinde in Serufalen fehr weit. Wahrfcheinlicher
iſt es, daß umgekehrt mehr und mehr jerufalemifche Erſchei⸗
nungen in der Lieberlieferung hinzutraten; je näher der Aufer«
ſtehung, deſto überzeugender waren die Erfcheinungen; je näher
‚den Zodfeinden Jeſu in der Hanptftadt, deſto fchlagender ihre
Beweiskraft. Traten aber einmal Diefe fo glänzend hervor,
fo mochten fie allmälig die galiläifchen verbunfeln; — und
fomit fonnten fie, wie bei Sohannes, nur noch als Nachklange
erſcheinen, oder gar, wie bei Lukas, ſich ganz verlieren. Da⸗
ber erkennen wir des M. Nachrichten, der nur von galiläis
fhen Erfcheinungen weiß, als die älteften an, wofür auch
ihre Einfachheit ſpricht; die des Lukas für die ſpateren, und
des Marfus fir die verworrenſten.
446
Nach diefem allgemeinen Nefultate fann das Verhältniß
der einzelnen, in ben verfchiebenen Berichten ung übers.
lieferten Erfcheinungen zu einander und nur von untergeord>
neter Bedeutung fein. M. hat deren zwei: 28,9; 28, 16. —
Markus drei: 16, 95 16, 12; 16, 14. — Lukas zwei:
24, 13; 24, 36, erwähnt aber noch einer im Vorübergehen
24, 34; im Ganzen alfo drei; — Iohannes erzählt von
vieren: 20, 145 20, 19; 20, 26; 21, 1. — Dazu fommen
noch fünf, deren Paulus .1 Kor. 15, 5 Erwähnung thut;
eine vor Petrus, Die zweite vor den Zwölfen, die dritte vor
fünfhunbert Brüdern, die vierte vor Jakobus, die fünfte vor
den Apoiteln. —
.Demnad hätten wir im Ganzen ficbenzehn Erſcheinumgen |
Jeſu nach feiner Auferftehung. Wenn wir nun audy offenbar
- manche derfelben, auch troß der abweichenden Darftellung, ald
eine und diefelbe zu betrachten haben, fo bleiben immer noch
genug übrig; und immer noch find die Verſchiedenheiten und
Widerfprüche in den Berichten zu groß, um es möglich zu
machen, fie alle neben und nad, einander ſich denfen zu fünnen.
Wir heben nur Einiges hervor.
Bei M. V. 9 wird einigen Weibern, unter denen auch
Magdalena ift, eine Erfcheinung zu Theil, ohne eine Spur
davon, daß diefe Magdalena ſchon Mark. B. 9 eine foldhe
allein gehabt hatte. — Dffenbar müffen, die Berichte feftges
halten, die von Joh. 20, 19 unb die von Ruf. 24, 36 er
zählten eine und diefelbe gewefen fein; und doch läßt Sohannes
Einiges, 3. DB. das Betaften, Fifcheeflen 2c., was Lukas ers
wähnt (V. 39, 43), erſt fpäter gefchehen (V. 27 u. 21, 13).
— Markus legt dem in Serufalem erfchienenen Sefus ganz
Diefelben Worte in den Mund, die er bei M. erft in Galiläa
ſprach (28, 19. — Da ferner bei M. Jeſus die Jünger nad
Galilaͤa befcheidet (B. 10), fo könnten ihm zufolge die früheren
jerufalemifchen Erſcheinungen des Sohannes (20, 19, 26) gar
nicht flattgehabt haben. — Eben fo wenig fünnte Paulus
Recht haben, wenn er die Erfcheinung vor den Fünfhundert
der vor den Zwölf vorangehen läßt, weil jene in Galiläa, dieſe
in Serufalem gefchehen fein müßte, was der Zeitfolge bei den
Evangeliften widerftreitet. — Ferner geben alle Evangeliften
447
ine von ihnen erzählte als die legte an, wie wenn Die ber
indern gar nicht gefchähen wären; Markus (®. 19) und Lufas
V. 51), indem jeder die feine, jo verfchieben fie find, an die Him⸗
nelfahrt anfchließt; M. (B. 18) und Sohannes (21, 22) ebens
als, da bei ihnen Jeſus von feinen Jüngern Abfchied nimmt;
ben fo behauptet die Apoftelgefchichte (1, 3), bie lebte zu
zählen. Und doch kann nur Eine bie legte gewefen fein!
— Sohannes zählt nur drei. Erfcheinungen (21, 14), weil
r nur drei berichtet; alle andern fcheint er alfo nicht zu
ennen. — Am allerwenigften laffen- fich die verfchiedenen Ers
ahlungen in Bezug Auf die Dertlichfeiten vereinigen;
yollte man dieß gewaltfamer Weife thun, fo müßte Die bes
iohannes (20, 19) in Serufalem, die des M. fodann in Galis
ta; hierauf die bei Joh. 20, 26 wieder in Serufalem, ferner
ie don ihm Kap. 21 erzählte abermals in Galiläa, und ends
ch die legte, worauf die Himmelfahrt erfolgte, wieder in Jeru⸗
Uem fich ereignet haben! Daran wird doc, Niemand denfen
Innen!
Daher müßte man „abfichtlich blind fein wollen, wenn man
icht anerfennen würde, daß feiner der Berichterftatter dag,
a8 der andere berichtete, Fannte und vorausſetzte; daß jeder
ie Sache wieder anders gehört hatte; daß fomit über die.
rſcheinungen des auferftandenen Sefus frühzeitig nur ſchwan⸗
mde und vielfach variirte Gerüchte im Umlauf waren*. So⸗
iel bleibt indeß gewiß, daß viele Glieder der erften Gemeinde,
amentlich die Apoftel, überzeugt waren, "Erfcheinungen
iefir gehabt zu haben. Ob daraus auch die Wirklichkeit
er Auferftehung folge, wird fpäter zur Sprache kommen; fos
iel bleibt für jegt gewiß, daß fich über die Dertlichkeit
er Erfcheinungen des Anferftandenen nichts Gewiſſes ſa⸗
en laͤßt.
Ehe wir jedoch zur Beantwortung jener wichtigen Frage:
»Jeſus wirklich auferſtanden ſei, ſchreiten, müſſen wir zus
se unterſuchen, wie wir ung das Leben und den Leib Jeſu
ach der Auferftehung zu denken hätten. — Es können dar⸗
yer nur zweierlei Vorftellungsweifen möglich, fein. Entweder
>
448
war fein Leben ein ganz natürliches, rein menſchliches, umb
fein Leib .alfo ein finnlicher, allen Gefeßen der. Kürperwelt
unterworfener und mit allen ihren Beſchraͤnkungen behafteter;
oder fein Leben war ſchon ein höheres, übermenfchlicheg,
und demgemäß auch fein Leib ein verflärter, den Geſetzen bet
Simnmenwelt bereits entrückter.
Es entfteht nun aber die Frage, in welcher diefer beiben
Werfen haben die Evangeliften den Leib Jeſu ſich gedacht?
als ganz menfchlichen, oder als verflärten? Für beide Bor
ſtellungsweiſen finden fidy in ihren Berichten Belege, die wir
kurz zuſammenſtellen wollen, wobei wir den Lefer bitten, fic
nochmals alle Einzeluheiten der bereits beleuchteten Erzähluns
gen wieder zu vergegenmwärtigen.
Daß ſich die chriftliche Ueberlieferung den Leib des Aufer⸗
ftandenen als einen ganz. natürlichen dachte, dafür fcheinen
siele Züge zu fprechen. Sein Ausfehen ift ein ganz menſch⸗
liches; man erkennt ihn an feinen Bewegungen (Luk: V. 31)
an feiner Stimme (Joh. 2. 16), feinen Wundmalen (V. 20);
er redet, geht wie ein Menſch; ja, er läßt fich betaften (®. 27)
und genießt Speife (Luk. V. 42); Alles Dinge, die ſich min
bei einem rein wmenfchlichen Weſen finden. Daher erklären
auch viele Ausleger beider Partheien, daß man fid) Jeſu Leib
und Leben auch, nach der Auferftehung als durchaus natürlich
and menfchlich denken müſſe.
- Dagegen finden fich nicht wenige Züge, welche nur einen
ſchon verflärten, überfinnlichen Leibe zufommen fönnen;
was ſchon die oft gebrauchten unbeftimmten Ausdrüde: „er
erfchien, ward offenbar“, anzudenten feheinen. Beſtimmter aber
fpricht für Sefu übernatürliched Leben nad) der Auferftehung
die ausdrückliche Erwähnung, daß er „eine andere Geftalt“
gehabt (Mark. B. 12) und öfters nicht erfannt wurde (ob:
B. 14); fein plötzliches Erfcheinen und Wiederverfchwinden
(Luk. V. 15, 16, 31); am meilten aber, Daß er bei ver
fchloffenen Thüren plöglicy in der Mitte der Anweſenden fteht
(Joh. V. 19, 26). — Iene Ausleger, ‚welche ein durchaus
leibliche Sein des Auferftandenen annehmen, find daher fehr
bemüht gewefen, dieſe Beweife für das übermenfchliche Leben
Jeſu zu entfräften; wir wollen fehen, wie es ihnen gelungen it! —
X
j 249
Daß die nadı Emaus Waudernden Sefum nicht erfannten,
obgleich er neben ihnen ging, und ihn auch nicht Fannten,
als er bei ihnen am Tiſche faß (Luk. V. 13 ıc.), will mai
aus dem ſtummen Brüten der Sünger und Jeſu, von den
Qualen des Todes noch entiteltem Angefichte deuten; allein
die ganze Erzählung hat den unverfennbaren Anftrich des’
Wunderbaren. Eben fo verhält es fich mit der Magdalena
Goh.), die ihn nicht darum für den Gärtner hielt, weil er,
wie. man meint, wahrſcheinlich nach der Auferftehung- deffen
Kleider angezogen hatte; ſondern weil fie ihn feiner wunderbar
veränderten Geftalt wegen nicht fannte, lag ihr nichts näher,
als zu glauben, er werde eben der Befiter des Gartens fein.
— Daß er den Süngern zn Emaus fo plößlich verſchwand
Ruf. V. 31), fol daher fommen, daß die von freudiger -Bes-
ſtürtzung Ueberrafchten fein ſchnelles Weggehen nicht bemerften ;
allein wie Einer von nur zwei Andern fo unbemerkt fol
entfchlüpfen können, ift nicht zu begreifen. — Auch der Um⸗
fand, daß Sefus bei verfchloffenen Thüren plößlich inmitten
ber Schüler ftand, fol nichts Uebernatürliches enthalten; das
überrafchende Erfcheinen Jeſu fei die plögliche Ankunft Eines,
von dem man fo eben gejprochen, und den man für ein Ges
fpenft hielt, weil man an fein wirfliches Wiedererwachen nicht
glauben kann. Das Kommen bei verſchloſſenen Thüren heiße
nichts weiter, als daß die Jünger grade bei aus Furcht ver:
fchloffener Thüren verfammelt gewefen feien; und daß Sefu,
ehe er eingetreten, vorher von Semanden die Thüre geöffnet
worden, verftehe ſich fo von felbft, Daß man nicht nöthig ges
habt, es befonders zu erzählen.
Allein auffallend iſt ſchon, daß beide Male, wo Jeſus
fo eintritt (V. 19, 26), die verſchloſſenen Thüren erwähnt
werden; beide Male ift fein Kommen mit denfelben in genaue
Verbindung geſetzt; beide Male heißt ed, daß er plötzlich „in
Die Mitte getreten ſei‘. Darans geht Doch wohl deutlich
genug hervor, daß der Erzähler fich dad unerwartete Kommen
als .ein unvermitteltes, mithin wunderbares, gedadıt hat.
Es fragt ſich nur, wie er fich den wunderbaren Hergang
dachte; daß vor Jeſu wunderbarer Weife die verfchloffenen
Thüren, wie vor Paulus im Gefängniffe (Avoſtelg. 12,58),
IL. : XR
ſich geöffnet haben, wird er. eben fo wenig geglaubt haben,
als daß deffen Leib zwifchen den feinen Fafern des Holzes an
der Thüre hindurch gebrungen ſei; Dieſes wäre abenteuerlich,
und Senes hätte er ficher nicht verfchweigen, weil das plötzliche
Auffahren der Thüre Allen bemerkbar werden mußte und die
fhönfte Anfchauung und Erflärung des Wunderd abgegeben
haben würde. Des Evangeliften Meinung ift offenbar die,
daß dem verflärten Leibe Sefu Thüre und Wände, und was
fonft noch, fein Hinderniß gewefen, plötzlich bereinzutreten.
. Für das rein körperliche Leben Jeſu nach dem Tode fügen
die Erflärer noch das ald Beweiſe hinzu, daß in allen Zügen
fih -ein allmäliges Fortſchreiten zu vollem Erftarfen nad
fo großen Qualen zeige. „Anfangs hielt. er fich nahe bei, dem
Grabe, dann wagte er einen Gang nach Emaus, endlich bie
Reife nach Galiläa“. Diefer Schluß ift rein aus der Luft
gegriffen. — „Am Auferflehungsmorgen darf ihn Magdalena
noch nicht berühren (Joh. B. 17), weil fein Leib noch zu
leidend war; nach adıt Tagen legt er felbft des Thomas Hand
in feine Wunden (Joh.)“. Woher jenes Verbot Sefu rührte,
wiffen wir freilidy nichtz ficherlich aber nicht von feiner Körper
ſchwäche; denn an demfelben Morgen erlaubt er, daß die
Weiber bei M. CB. 9) feine Füße berühren, und am Abende
fordert er gar feine Sünger auf, ihn zu befühlen (Cuk. B. 39).
— Auch das feltene Auftreten Jeſu unter feinen Jüngeren muß
Zeichen feiner Schwäche fein, die ihm längeres Ausruhen- in
ftiller Zurücdgezogenheit nothwendig mache. Diefe Behauptung
jedoch ift die wunderlichſte Verfehrtheit. Wenn Jeſus der Ruhe
bedurfte, wo konnte: er fie beffer finden, als im Schooße feiner :
treuen Sünger? "und wo follte er inzwifchen geblieben fein?
in der Wüfte? auf Bergen?! Etwa bei geheimen Verbündeten,
von denen felbit die Sünger nichts wußten? Das wäre aber
ein Sefu durchaus unwürdiges Verfteckipielen gewefen! „Die
Anficht der Evangeliften ift Feine andere, ald daß Der Aufer-
ftandene nad) jenen Furzen Erfcheinungen unter den Seinigen
ſich wie ein höheres Wefen in die Unfichtbarfeit zurückge,ogen
babe, und aus diefer, wo und wann er es zwedmäßig fand,
hervorgetreten fei*. —
451
Endlich bleibt noch zu fragen, wie hat man fidy Jeſu
Lebensende zu denfen, wenn er einen wirklich natürlichen
Leib hatte? Er müßte dann auch eines natürlichen Todes
geftorben: fein; wie denn wirklich Paulus annimmt, er fei
in Folge der Krenzigung an einem fchleichenden Fieber ge--
ftorben, und ein Anderer ihn noch fiebenundzmanzig Sahre
zum Wohle der Menfchen im Stillen fortleben läßt. Dieß ift
aber bekanntlich gradezu gegen die Anficht der Evangeliften,
die ihn fichtbar zum Himmel aufiteigen laffen. Allein alsdann
müßte fein natürlicher Leib exit verflärt worden, er müßte die
Schaden des Sinnlichen abgeftreift und nur einen unend-
lich feinen Anhauch des Körperlichen beibehalten haben. Da⸗
son wird aber nichts gemeldet; man müßte denn mit jenen
wuuderlichen Theologen annehmen, die Wolfe, die ihn bei der
Himmelfahrt umgab, fei eine Auflöfung der von ihm abge⸗
ftreiften Leiblichkeit geweſen!
Wir werden alſo durch Alles darauf geführt, daß die
Evangeliſten Jeſu Leib und Leben nach der Auferſtehung ſich
nicht als körperlich und natürlich, ſondern als verklärt und
übernatürlich gedacht haben. — Dieſer Vorſtellung widerſprechen
aber auf dem Standpunkte der Evangeliften die oben be-
rührten natürlichen Züge in dem Leben Jeſu keineswegs. Sein
Effen war eben fo wenig ein Effenmüffen und Bedürfniß,
als bei Jehova, der 1 Moſ. 18, 8 mit zwei Engeln bei Abra-
ham fpeiste; und betaftbar war ebenfalls der Gott, der einft
wit Safob rang (1 Mof. 32, 24 2c.). Es wurden fogar folche
an's Natürliche freifende Züge für wefentlich gehalten, um
göttliche Perfonen von bloßen Gefpenftern zu unterfcheiden.
Es ift aber eine andere Frage, ab auch wir auf uns
fern gebildeten Standpunfte eine folche Bereinbarfeit von
Natürlichem und Uebernatürlichem annehmen fönnen ? Dieß
müfjen wir dahin beantworten:
Ein Leib, der fihtbare Speife genießt, muß
ſelbſt fihtbar fein; der Genuß von Speifen febt
einen Körper voraus; jeder Körper ift Stoff, der
nicht in beliebigem Wechfel verfchwinden und wie-
der fihtbar werden kann. — Ferner: Jeder Körper,
der ſich betaften läßt, und Fleifch und Kuoken wu
452
fühlen gibt, befigt die Widerftandefraft, wie jeder
andere fefte Stoff; und ein folder Körper kann
wegen dDiefer Kraft nicht ungehindert durch Wände
nnd verfchloffene Thüren hindurch bringen.
Demnach müſſen wir nun geftehen: „ES zeigt fich die
evangelifche Darftellung der FeiblichFeit Jeſu nad
der Auferftehung als eine in fich widerfprechende*.
Und zwar läßt ſich eine Steigerung diefes Widerſpruchs
in den verfchiedenen Evangelien nachweifen. Bei M. zeigt
fi) Sefns noch am natürlichften; er wird gefehen und betaftet;
— bei Martus tritt mit der „andern Geftaft“ CD. 12)
ſchon das Webernatürliche hinzu; — bei Lukas fteht das
natürliche Betaftetwwerden und Effen neben dem übernatürlichen
Erfcheinen und Verſchwinden; — bei Sohannes fteht beides
in- grellem Gegenſatze, indem der oben wunderbar in Das vers
fchlofiene Gemach Getretene von Thomas betaftet wird.
Drittes KRapitel
Endurtheit über Sein Tod und Auferftehing.
(Die Stellen fiehe voriges Kapitel.)
„Ser Sap: ein Zodter ift wieder belebt worden, it ans
zwei jo widerfprechenden Beftandtheilen zufammengefeßt, daß
immer, wenn man ben einen fejthalten will, der andere zu
verjchwinden droht. Iſt er wirklich wieder zum Leben gekom⸗
men, fo liegt es nahe, zu denfen, er werde nicht ganz todt
gewefen fein; war er aber wirklich tobt, fo hält es ſchwer,
zu glauben, daß er wirklich lebendig geworden fei*.
Es fommt hiebei Alles auf eine richtige Anficht von Dem
Berhältniffe zwifchen Seele und Leib an. Man muß nämlich
beide in ihrer Tebendigen gegemfeitigen Durchdringung aufs
faffen, Die Seele als die Sunerlichfeit des Leibes und den
Leib als die Aenßerlichfeit der Seele. Bei dieſer Anffaffung
kann man ſich denn die Wiederbelebung eines Todten durch⸗
aus nicht vorftellen, denn haben die Kräfte des Leibes ein⸗
mal aufgehört, . in denjenigen regierenden Mittelpunkt zuſam⸗
453
menzulaufen, welchen wir -Seele nennen und welcher fie zur
Einheit zufammenhält; dann treten alle Theile des Körpers
auseinander, es entſteht eine Auflöfung, Die weiterhin zur
Berwefung wird. In dieſe aufgelösten Theile kann fodann
die Seele nicht wieder zurückehren, weil fie, abgefehen von
der Unfterblichfeit des Geiftes, mit diefer Auflöfung aufges
hört hat, zu fein: ed müßte daher bei Wiederbelebung des
Leibes doch wenigftend erft eine nene Seele gefchaffen wers
den; dann iſt e8 aber der vorige Menfch nicht mehr, der
wieder lebt. |
Aber auch bei der niedern Auficht von dem Verhältniffe
bed Leibe und der Seele, nad) welcher fie nur fo äußerlich
mit einander verbunden fein follen, .daß Die Seele in dem
Leibe gleich einem Vogel im Käfige wohne, kann man fi)
eine Wiederbelebung des geftorbenen Leibes nicht wohl vor-
ftellen. Denn im Leibe bringt doch die Seele gewiffe Wir-
ungen hervor, und zwar burch befondere Werkzeuge, die fie
in Thätigfeit verfeht, Gehirn, Blut ıc.: diefe müffen, fobald
die Seele den Körper verlaffen hat, ftillftehen und erftarren.
Wollte oder müßte fie in denfelben zurückfehren, fo würde fie
daher die edelften Theile desſelben für fich unbewohnbar fins
ben; herftellen könnte fie dieſelben nicht, da fie eben nur
burch diefe Theile etwas im Körper zu wirfen vermag: es
. müßte alfo mit bem Wunder ihrer Zurücführung zugleich and
das einer Wiederherftellung ihrer abgeftorbenen Werkzeuge
im Körper. eintreten; dieß wäre „ein unmittelbares Eingreifen
Gottes in den gefeglichen Berlauf des Naturlebeng, wie
es geläuterten Anfichten von Gottes Verhältniß zur Welt
widerfpricht *.
Die Bildung unferer Zeit hat fich daher fehr beftimmt da⸗
hin ausgefprochen: entweder war Sefus wirklich todt, der
er ift nicht wieder auferftanden.
Das Erftere anzunehmen, find befonders die Rationa⸗
liften geneigt; fie ftüßen fich auf die furze Zeit, die Jeſus
am Kreuze hing, und auf bie zweidentige Wirkung des Tanz
zenftiches; daß Jeſu Freunde und die Diener des Gerichtes
ihn dennoch für todt hielten, „erkläre fich, glauben (le, ans
—
451
der bei dem mangelhaften medizinifchen Kenntniffen bamafiger
Zeit doppelt große Schwierigkeit, tiefe Ohnmachten vom Tobe
zu unterfcheiden. Ferner wird zum Beweiſe der Möglichkeit
eines folchen Wiedererwachens ein Beifpiel aus Sofephne
angeführt, wo ein vom Kreuze Genommener wieder genas;
dieß Beifpiel beweist indeß nicht viel; denn der Wiederbelebte
ding wenigſtens nicht längere Zeit, ald Sefus, am Kreuze,
und war unter dreien der einzige, deſſen Herftellung nach
den forgfältigiten ärztlichen Bemühungen gelang. — Daß
noch nicht alles Leben in Jeſu erlofchen war, fucht man auf
mancherlei Art zu beweifen: fehr verwerflich ift zuvörderſt die
Annahme, Sefus habe Alles mit feinen geheimen Anhängern
Cabermald Geheimnißkrämerei!) verabredet gehabt, und dem⸗
“gemäß fein Haupt fchon vor dem Tobe geneigt. Andere be
haupten, feine Sünger haben ihn abfichtlich mit betaubendem
Teanke fcheintodt gemacht, um ihn zu frühe vom Kreuze nehs
men und "fofort wiederbeleben zu können. Von allem bem
wiffen die Evangelien rein Nichte. Berftändiger find Diejenigen,
welche annehmen, auch nach dem Schwinden des Bewußtfeind
fei in Jeſu Fräftigem Körper noch nicht alle Lebenskraft er⸗
Iofchen, und fpäter durch die flärfenden, gewürzhaften Spes
zereien, die zugleich wohlthtig auf feine Wunden gemirft
hätten, durch die Fühle Luft des Grabes und die Erfchütterung
des Bligftrahles wieder hervorgerufen worden. Allein biefer
Blitz iſt ja fehr unbeglaubigt, die Kühle des Grabes hätte
eher erflarrend, und die Spezereien eher betäubend, als bes
lebend auf einen Scheintodten wirfen müffen !
- Dennoch würden wim mit Abweilung jedoch aller beſtimm⸗
teren Vermuthungen, diefer Anficht, Daß Jeſus fcheintodt ges
wefen, beitreten, wenn nur die Wiederbelebung desfelben ficher
verbürgt wäre. Gie wäre ed, wenn wir von unpartheiis
fhen Zeugen beftimmte und widerſpruchsloſe Nadıs
richten hätten. Für unpartheiifch müffen wir nun die Sünger,
obgleich nur ihnen, und, was freilich auffallen muß, nicht
aud) feinen Gegnern und dem Volke, Jeſus erfchienen fein
fol, allerdings halten; denn fie waren nadı Jeſu Tode völlig
hoffnungslos, erwarteten nichts weniger, als deffen Auferſte⸗
"Yung, und find daher von dem Berdachte abfichtlicher oder
455
auch unmwillfürlicher Selbfttäufchung frei zu fprechen. . Allein
widerſpruchslos ift unter allen Zeugniffen nur dag gewichtige
Des Apoſtels Paulus, zugleich aber auch das unbeftimmtefte
von allen, indem es und. nur Die Thatfache gibt, daß die
Sünger von der Auferftehung Jeſu überzeugt, waren, ohne
deren äußere Wirklichkeit zu vwerbürgen. Dagegen find. bie
beitimmten Zeugnife der Evangeliften fo voller Widerfprüche,
daß fie und mehr eine Reihe von Vifionen, als eine fortlaus.
fende Gefchichte darbieten. Weil mın aber neben allen Diefen
unſichern Berichten über die Auferftehung die über Sefu Tod
fo einftimmig und beftimmt find, müflen wir ung auf die
Seite derjenigen jtellen, welche die Wirklichfeit der Aufer⸗
ſtehung in Zweifel ziehen.
Schon die älteſten Gegner des Chriſtenthums thaten
dieß, indem ſie die Auferſtehung theils als eine Träumerei der
Anhänger Jeſu, namentlich der Weiber, betrachteten, theils
als abſichtlichen Betrug; das letztere ſuchten Neuere dadurch
zu begründen, daß ſie an das von M. (28, 15) überlieferte
Gerücht, Jeſu Leichnam ſei geſtohlen worden, erinnerten.
Allein dieſe Anſchuldigung wird durch die Begeiſterung, mit
welcher die Jünger, aus tiefer Niedergeſchlagenheit ſich em⸗
porhebend, die Auferſtehung Jeſu aller Welt verkündeten,
ſiegreich widerlegt: eine ſelbſterfundene Lüge predigt niemand
mit ſolcher Standhaftigkeit, daß er ſich dafür kreuzigen oder
ſteinigen ließe. — Die Auferſtehung Jeſu muß alſo wahrhafte
Ueberzeugung geweſen fein: daß fie aber auch eine äußere
Thatſache geweſen, ift damit noch, keineswegs bewiefen.
Man könnte fie zunächſt für eine im Innern der Sünger
- anf wunderbare Weife bewirkte Viſion halten, weldhe den
Zweck gehabt hätte, ihnen anfchaulich zu machen, daß Jeſus
durch fein tugendhaftes Leben vom geiftigen Tode auferſtan⸗
den ſei; — oder man könnte auf Diefem Standpunkte aud)
annehmen, ber abgefchiedene Geift Jeſu habe, etwa ald eine
Art Geiftererfcheinung, wirflic auf die zurücgebliebenen Jün⸗
ger gewirft. Andere, die diefe Erflärung zu unnatürlich fins
den, nehmen eine äußere Veranlaffung an, welche die Mei⸗
a6.
nung erregt habe, Jeſus fei auferftanden: da fell denn das
Grab leer gefunden worden fein, man wußte nicht, wo der
Leichnam hingefommen, oder der Eigenthümer des Grabes
hatte ihn entfernen laffen, und was. dergleichen Spielereien
mehr find.
Auf näherem Wege gelangt man zum Ziele, wenn ‚man
die Erſcheinung Sefu, welche dem Apoſtel Paulus zu Theil
wurde, zur Srundlage macht: Paulus nämlich ftellt dieſelbe
in ganz gleiche Reihe mit allen andern Erfcheinungen des
Auferftandenen (1 Kor. 15, 9. Nun wird fie aber Apoftelg. 9
1 x; 22, 3 ꝛc. auf eine Weile erzählt, die feinen Zweifel
darüber läßt, daß fie Feine äußere, fondern nur eine innere,
im Gemüthe des Apofteld vorgegangene Bifion war. Er
hatte bei feinen heftigen Berfolgungen der Ehriften ohne Zweifel
oft Gelegenheit gehabt, ihren ftandhaften Glauben zu bewun⸗
dern; nad) und nad) mußte fich in feinem Gemüthe eine An⸗
ficht über den Gefreuzigten, von feinen Anhängern fo begeiftert
Berkündigten, bilden, welche er durch verdoppeltes Eifern ges
gen die neue Sekte vergeblich zu unterdrüden ftrebte, bis fie
endlich in einem entfcheidenden Momente zur fiegreichen Herr⸗
fchaft in ihm gelangte: daß diefer Moment ficy zu einer
Erfcheinung des Auferftandenen geftaltete, darf ung bei
einem feurigen, phantafiereichen Morgenländer nicht wundern.
Konnte aber zu einer folchen Bifion das Gemüth eines Geg⸗
ners Jeſu entzündet werden, „fo wird wohl auch der gewals
tige Eindrud der großartigen Perfünlichfeit Sefu im Stande
geweien fein, feine unmittelbaren Schüler im Kampfe mit
den Zweifel an feiner Meffianität, welche fein Tod in ihnen
erregt hatte, zu ähnlichen Gefichten zu begeiftern +. Daß in
den evangelifchen Erzählungen Jeſus ganz leiblich wieder ers
fcheint, daß er redet, ißt, fich betaften und Proben feiner
Leiblichkeit anftellen läßt, darf und in diefer Auffaffung der
Sache nicht irre machen, weil einestheils folche grob finnliche
Züge nur bei den beiden legten Eoangeliften vorfommen, ans
derntheils aber es fehr natürlich ift, daß in der Leberlieferung
die rein geiftigen Erfcheinungen ſich mehr und mehr verförper:
ten und gleichfam verfnöcherten; Daß der ſtumm Erfchienene
—⸗
487
zu einem Redenden, der Geiſterhafte zu einem Eſſenden, ‚ber
Sichtbäre zum Handgreiflichen wurde.
Man könnte ums min aber entgegenhalten, dem Apoſtel
Paulus fei durch den Glauben der von ihm Berfolgten bie
Idee der Auferitehung Jeſu fchon gegeben gewefen, weßhalb
er leichter zu einer an Diefe Idee ſich anfnüpfenden Viſion
des Auferfiandenen habe kommen fönnen, ald die älteren
Sünger, in welchen ſich Die Idee der Auferftehung erft er⸗
zeugen mußte, ehe fie glauben Fonnten, daß der Auferftans
dene ihnen wirklich erfchienen fei. Allein wir Dürfen nur. den
"Standpunkt und die Berhältniffe diefer Jünger Har in's Auge
faffen, um es fehr erflärlich zu finden, wie jener Glauben in
ihnen fich erzeugen Fonnte, ja mußte. Sefu Tod hatte das
bei ihnen fo tief gewurzelte Vertrauen, er fei wirklich ber
Meffias, für den Augenblid vernichtet: als fich aber ihr
verwirrted Gemüth wieder gefammelt hatte, mußte in ihnen
das Bedürfniß entitehen, die frühern Eindrüde mit den fpäs.
tern erjchütternden Erfahrungen in Einklang zu bringen; ihr
Nachdenfen mußte fie zu dem Begriffe eines leidenden unb
fterbenden Meſſias erheben. „Da aber Begreifen- bei ben
Juden jener Zeit eben nur hieß, etwas aus den heil. Schrifs
ten ableiten, fo waren fie an diefe gewiefen, ob nicht in ihnen
vielleicht Andeutungen eines leidenden und fterbenden Meſſias
fich fänden*. Diefe mußten fie nun faſt ungefucht in Stellen
finden, die, wie Sef. 53, Pf. 22, die Männer Gottes ale
verfolgt und bis zum Tode niedergebeugt darftellen. Daher
erzählt uns auch Lukas, daß Jeſus nach feiner Auferftehung
nichts Angelegentlicheres zu thun hatte, als den Jüngern die
gefammte Schrift auszulegen (24, 26; 44 ı0.). Nun war
ihnen der ſchmachvoll getödtete Jeſus nicht verloren, fondern
geblieben: er war nur wieder eingegangen in feine uran⸗
fänglichye Herrlichkeit; er blieb unfichtbar bei ihnen bis an der
Welt Ende (M. 28, 20). Aus diefer Herrlichkeit mußte er
ja den Seimigen, die ihm fo innig verbunden waren, Kunde
zufommen laffen: und diefe Kunde erhielten fie eben durch die
Begeifterung, die das wahre Verftändniß der Schrift, ber
458
Glauben an den nicht verlornen, fondern jetzt erft umverlierbar
gewordenen Sefus in ihnen erwedt hatte. In ſolcher Begei⸗
fterung mußten fie nicht mir den in ihnen lebendig geworde -
nen Geiſt Jeſu erfennen; fie erfchien ihrem bewegten Gemüthe
als ein ummittelbares Neden,. als eine Stimme des fie un
fihtbar Lmfchwebenden. Solche Gefühle mochten denn, na
mentlich bei einzelnen Frauen, fich bis zu wirflichen Bifionen
fteigern; fie fonnten ganze Berfammlungen fo ergreifen und
erfchüttern, daß Jeder glaubte, wenn überbieß noch irgend
eine unerwartete Erfcheinung der Einbildimgsfraft zu Hilfe
fam, den Gefreuzigten wirklich vor fich zu fehen: folche Er:
tafen find bei Neligionsgefellfchaften, befonders bei verfolgten,
nichts Seltenes: Wenn aber, fo mußten die Sünger weiter
fchließen, ihrem Meffias die reinfte Eeligfeit zu Theil gewors
den war, fo konnte fein Leib nicht im Grab geblieben fein;
eine Borftellung, welche auch in alt=teftamentlichen Stellen,
48. Pf. 16, 10; ef. 53, 10, eine Stüße fand. Nunmehr
gewann ihr früherer, noch jüdischer Glauben, „Chriftus bleibt
im alle Ewigkeit“ (Joh. 12, 34) einen höhern Gehalt: der
leiblich Getödtete war auch Feiblich wieder auferfianden. Wie
konnte es auch anders fein, da ja eine der dem Meſſias zus
fommenden Wunderfräfte in der Auferweckung der Todten
beſtand?
Gegen dieſe Anſicht ließe ſich nun einwenden: wie war
es möglich, daß die Jünger ſchon wenige Tage nach Jeſu
Tode und an demſelben Orte, wo er beerdigt worden war,
- an feine Auferſtehung glauben und fie verkünden konnten, ba
doch der Augenfchein am Grabe fie zu jeder Stunde wibders
legen fonnte? Auf diefen Einwand gibt und M. eine befries
Digende Antwort. Zwar erzählt auch er eine Erſcheinung
Jeſu in Serufalem; aber er erfchien nur den Weibern, und
bereitete damit nur eine Zufammenfunft in Saliläa vor: zudem
ift dieſe Erfcheinung neben der des Engels eine fo überflüffige,
daß wir ſchon oben die Erzählung davon ald eine durch die
Sage hervorgerufene Umgeftaltung bezweifeln mußten. Es
verbirgt fich dahinter offenbar nur die Thatfache, daß die eins
gejchüichterten Sünger eiligft nach Galiläa zurückkehrten; hier
450
erſt fonnten fie wieder freier, aufathmen, hier ihre Gedanken
zu dem Gekreuzigten ungeftört erheben. Hier aber war es
ihnen erft möglich, ſich allmälig die Vorſtellung von der Aufs
erftehung besfelben zu bilden, ohne daß der im Grabe nach⸗
zumweifende Leichnam ihre kühnen Vorausfegungen widerlegte:
„und bis diefe Ueberzengung den Muth und Die Begeifterung
feiner Anhänger fo weit gehoben hatte, daß fie es wagten,
in der Hanptitadt mit derfelben aufzutreten, war es nicht
mehr möglich, durch den Leichnam Jeſu fich felbft zu überfühs
ren, oder von andern überführt zu werden *.
Diefe Anficht wird durch Die Erzählung der Apoftelgefchichte,
die Jünger feien ſchon am nächſten Pfingfifefte in Jeruſalem
öffentlich hervorgetreten, nicht widerlegt: denn dieſe Nachricht
iſt ſchon längft aus vielen Gründen, namentlich auch wegen
des Umſtandes, daß dieſes Auftreten mit der Verkündigung
der neuen Lehre grade auf das Feſt der Berfündigung des
alten Gefeßes verlegt ift, mit Recht in Zweifel gezogen wors
den. Daß aber Sefus ſchon am dritten Tage nach feinem _
Tode als der Auferftandene erfchienen fei, ift als eine gang
ungefchichtliche Sage zu betrachten, Die nur in der Vorftellung
ihren Grund hat, er werde wohl nur furze Zeit im Grabe
zugebracht haben, und mit dem Beftreben zufammenhängt,
überall die feierliche, bedeutungsvolle Dreizahl anzubringen.
Hatte ſich nun einmal die Vorftellung von der Auferftehumg
gebildet, fo lag es nahe genug, Diefelbe mit allenı Gepränge
aus dem Borrathe jüdischer Ideen zu umgeben: Engel waren
es vor Allem, die das Grab Jeſu eröffner, an demſelben
Pace gehalten und den Weibern die erfte Kunde gebracht -
haben mußten: — da Jeſus fpäter den Seinen zuerft in Gas
liläa erfchien, fo mußte die eilige Reife der Singer dahin von
den Engeln, ja von Jeſus felbft geboten worden fein. Je
weiter ſich diefe Erzählungen entwickelten, defto mehr mußte
es auffallen, daß Jeſus nicht auch da erſchienen fei, wo er
auferftanden fein follte; die Sage fügte mın auch noch Ers
fcheinungen in Serufalem felbft hinzu, welches überdicß „ale
Der glänzendere Schauplas und als Sitz der erften chriftlichen
Gemeinde befonders dazu geeignet war *.
————
460
Bierted Kapitel
Jeſu legte Anordnungen.
(Biele zerftreute Stellen.)
Den drei Synoptifern zufolge ertheifte Jeſus bei feiner
fetten (M. 28, 18), nad) Johannes bei feiner erften Zu
ſammenkunft nad; der Auferftehung (20, 21), den Süngern
feine letztwilligen Verordnungen. Bemerfenswerth ift hier be:
fonderd die Anweifung, die fich bei dem einzigen M. findet
(V. 19, fie follen alle Völfer „im Namen des Vaters, des
Sohnes und des heil. Geiftes taufen“. Dieſe Zufammen-
ftelung ber brei Perfonen in Gott fommt in apoftolifchen
Schriften fonft nur als Grußesformel vor (2 Kor. 13, 13);
Die Taufe dagegen wird überall einfach nur als ein Taufen
„auf Chriftus Jeſus“, — „auf den Namen des Herrn Sefu“
Göm. 6, 3; Salat. 3, 27 u. U.) bezeichnet, und erft fpäter,
3. B. bei Juſtin, erfcheint jene dreifache Bezeichnung der Taufe
auf Gott. Daher ift nicht daran zu zweifeln, daß jene An:
weifung nicht von Jeſus fo ausgefprochen wurde, wie wir
fie bei M. leſen; deßwegen aber zu erflären, fie fei fpäter
in unfer Evangelium eingefchoben, fteht uns nicht zu; denn
wie Vieles müßten wir and den Evangelien verbannen, wenn
Alles, was Jeſus nicht gefagt haben kann, für eingefchoben
gehalten werden follte! —
- Die Berheißungen, welche Sefus. feinen Juͤngern nod)
ertheilt, lauten ebenfalld nicht ganz gleich bei den verfchiebe-
nen Svangeliften. Bei M. verfichert er fie, Daß er unfichtbar
bei ihnen fein werde, bis an der Welt Ende (28, 20): Worte,
weldye ganz aus der Stimmung heraus gefprochen find, vie
erſt Dann unter den Jüngern zu herrfchen begaun, als der
Glauben an Jeſu Auferftehung allgemein geworden war. —
Merktwürdig find die bei Markus (16, 17) den Süngern ges
gebenen Verheißungen: denn es find in ihnen die befondern
Gaben, welche die Chriften vor Andern wirklich hatten, aber
auch folche enthalten, die ihnen nur eine abergläubifche Volks⸗
meinung zufchreiben Tonnte, wie Das Schlangenvertreiben n. A.,
461
was Jeſus feinen Sängern gewiß nicht als befondere Aus:
zeichnung verheißen hat! — Bei Lukas verſichert Sefus feine
Sünger, fie werden bald den heil. Geift empfangen (24, 49):
hier widerfpricht Sufas dem Sohannes, nach deffen Erzählung
fhon bei der erften Zufammenkunft mit den Jüngern Jeſus
. biefen den heil, Geiſt mittheilt (20, 22); und zwar gefdjieht
dieß fo beftimmt mit der finnbildlichen Handlung des Anblafeng,
daß die Meinung mancher Theologen, Sefus verheiße auch
bier nur das zufünftige Austheilen des @eiftes, in fich
felbft zufammenfällt. Allein wir treffen Lukas hier auch im
Widerſpruche mit M., bei dem ſchon vor feinem Tode Jeſus
den Apofteln den. heil. Geift .fpendet (10, 20). Diefe drei
verfchiedenen Angaben laſſen ſich durch die ganz woillfürliche
Behauptung, Jeſus habe wirklich zu drei Malen den heil.
Geiſt feinen Süngern mitgetheilt, jedesmal in höherem Maße,
nicht vereinigen : denn was follten fie doch die früheren Mits
theilungen genügt haben, wenn fie noch unmittelbar vor der
Himmelfahrt wähnen fonnten, mit der Geiftesmittheilung werde
auch Das Reich Iſrael wieder hergeftellt werden (Apoſtelg. 1,
6)? DVielmehr ift anzunehmen, nur von einer Mittheilung
des Geiſtes habe die Ueberlieferung zu erzählen gewußt, diefe
aber in verfihiedene Zeiten verlegt, fo daß jeder Evangelift
der ihm grade befannt gewordenen Sage in diefer Beziehung
folgt. |
Zwifchen diefen dreifachen Angaben findet ein eigenes Vers
hältniß ftatt. Sehen wir auf die Zeit, in welcher die Apo⸗
ftel den Geift empfangen: haben follen, fo verdient Lukas,
der diefe Mittheilung erft längere Zeit nach der Auferftehung
fett, offenbar den Borzug. Denn etwas Anderes, ald die bes
geifternde Kraft des geläuterten, von irdiſchen Erwartun⸗
gen gereinigten Meffiasglaubens kann doch der heil. Geiſt
nicht gewefen fein; und diefen Fonnten fie erft einige Zeit nach
Sefu Tode erlangen; überdieß willen wir ja, daß fie wirflich
noch bis in die lebten Lebenstage ihres Meifterd hinein an
ihren jüdifchen Vorftellungen Flebten. — Sehen wir aber auf
die Art der Mittheilung, fo hat Lukas offenbar das Spätere
und Sagenhaftere, da bei ihm der Geift mit Sturmeswehen
hereinbricht, während bei M. zu feinem Erfcheinen die Worte
462
Jeſu hinreichen. Se finnlicher nämlich und mirafulöfer die
Mittheilung einer geiftigen Kraft und je plößlicher die Ent
ftehung einer Tüchtigkeit, die ſich nur allmälig entwicdelt haben -
fan, uns bargeftellt wird, defto weiter liegt eine foldye Dar:
ftellung von der Wahrheit entfernt: und diefer Vorwurf trifft -
bier eben ben Lukas. Wenn er alfo in Bezug auf die Zeit
doch das Nichtigere hat, fo ift dieß ohne feine Schuld gefche
- den: denn auch hierin mochte ihn nur die Sage leiten, bie
es für angemefien fand, Diefen Aft in den Stand der Ber
berrlichung Sefu zu verlegen. — Werfen wir fchließlich noch
einen Blick auf Sohannes, fo finden wir Darin, daß er jene
Seiftesmittheilung an die erfte Erfcheinung Sefu nach der
Auferitehung Mnüpft, einen genauen Zufammenhang mit den
Abfchiedsreden Jeſu, in welchen die Verfündigung ber Wie⸗
derfunft und Die des mitzutheilenden heiligen Geiſtes vielfad
in einander verfchlungen find.
suauftes Kapitel.
Die Himmelfahrt Sen.
(Mark. 16, 14—20; Luf. 24, 50 - 53; Apoftelg. 1, 1—12.)
Die Himmelfahrt Jeſn wird und von Marfus (16, 19)
und Lukas (24, 50) ganz einfach und kurz als ein Aufgehoben:
werden zum Himmel erzählt; wir Die Apoftelg. (1, 1 —12)
weiß dieſelbe mit anfchaulichen Zügen, einer Wolfe und zwei
Männern in weißen Gewanden, auszumalen. Dieje Tettere
Erzählung ift ee befonders, welche ganz den Charalter bes
Wunderbaren trägt, und Dadurch unfer Bedenfen erregen
muß. Iſt es nämlich denfbar, daß Jeſu Leib mit Kleifch und
Kochen in überirdifche Regionen eingehen? daß er dem Ges
fege der Schwere fich bis zum Auffliegen entziehen Fonnte?
Hätte er vorher erft allen irdifch groben Stoff abgelegt, was
Einige annehmen, fo mußten doch feine Sünger auch etwas
davon merken; und war, wie Neuere behaupten wollen, ber
Laͤuterungsprozeß feines Körpers grade fo weit gediehen, daß
er in die Lüfte aufſchweben Fonnte, fo müßten wir ung Darüber
463
wundern; wie derfelbe in dem getränmten Lauterungsprozeſe
ſolche Ruͤckfälle haben konnte, daß er z. B., nachdem er eben
erſt ganz wie aͤtheriſch durch verſchloſſene Thuren eingedrungen
iſt, wieder plößlich fo ganz ſtoffartig wurde, daß Thomas ihn
befühlen Fonnte (Joh. 20). — Eine weitere Schwierigkeit
liegt darin, daß der obere Himmel nur nach der befchränften
kindlichen Weltanficht der alten Weit, feineswegs aber in
Wahrheit der Sig Gotted und der Seligen iftz fo daß der,
ber in den Kreis der Eeligen eingehen will, einen Lmmeg
- macht, wenn er zum Himmel auffteigt. Soll aber Jeſus
fidy nur jener unvollfonmenen Borftellungsweife gefügt haben,
um feine Jünger von feinem Nüdgange zu überzeugen, fo
wäre dieß ein Gottes völlig unwürdiges Speftatelftüd ger
weſen. —
Nicht mindere Schwierigkeiten ftellen der natürlichen
Erflärungeweife fi) entgegen. Denn befonders in der Apo⸗
ftelgefchichte find die Ausdrüde: er ward aufgehoben vor
ihren Augen, und eine Wolfe nahm ihn auf“ (V. 9), fo
beftunmt und deutlich, daß von einem Erheben auf_eine Fleine
Anhöhe, moran die natürlichen Augleger denken, feine Rebe
fein kann. Die weitere Erklärung ftreift vollends in's Laͤch er⸗
liche; eine Wolfe foll Sefum nur, mit Hilfe der vielen Del
bäume, den Jüngern unfichtbar gemacht haben, worauf zwei
- Männer hervorgetreten feien, natürlicy wieder geheime An⸗
hänger, und den Süngern verfichert haben, Jeſus fei zum
Hinmel eingegangen. Bon dba an gehen die Erflärungsweifen
auseinander: die Einen fagen, Sefus fei wirflich alsbald ges
florben, was aber ganz unglaublidy iſt; die Andern, er habe
fih in die Einfamfeit zu einer geheimen Gefellfehaft zurückge⸗
zogen, deren Mitglieder den Jüngern, um ihn verftedt zu
halten, eingerebet haben, er fei gen Himmel gefahren. Dieß
iſt nun gar „eine Vorftellung, von welcher fich auch hier,
wie immer, der gefunde Sinn mit Widerwillen abwendet *.
Allein grade hier hätte man fich diefe Künfteleien der Aus⸗
legung erfparen können, da kaum eine andere Wundererzählung
des neuen Teftamentes jo wenig beglaubigt ift, ald Die Himmels
j 464
fahrt; denn außer von Markus und Lukas wird ihrer von
feinem andern Schriftfteller Erwähnung gethan. Zwar wollen
die orthodoren Ausleger in vielen Stellen Hinweifungen auf
diefelbe erblidlen: allein wenn auch Sejus fagt: man werde
ihn zur. Rechten Gottes fisen ‚fehen CM. 26, 64); oder, Kei⸗
ner fei in den Himmel geftiegen, außer dem vom Himmel ge
fommenen Menfchenfohne (Soh. 3, 13)5 — wenn er audy die
Sünger darauf verweist, fie werben ihn einft dahin aufiteigen
fehen, wo er vorher geweſen (Joh. 6, 62); fo ift in Dielen,
wie in andern Stellen (Soh. 20, 17; Apoftelg. 2, 33; Eph.
4, 10; 2 Petri 3, 22), doc, immer nur überhaupt von
der Erhebung Sefu in den Himmel die Rede, ohne daß fie
als eine äußere, fihtbare Thatfache dargeftellt würde. Fer:
ner ift es nach der Erzählung des Paulus, 1 Kor. 15, 5,
mehr als wahrfcheinlich, daß er nicht nur die ihm zu Theil
gewordene, fondern alle Erfcheinungen des Anferftandenen
nad der Himmelfahrt fett; d. h. alfo, Daß er von eier
folchen, als einer wirklich den irdiichen Wandel Sefu be=
fchließenden Thatfache nichts wußte. Wenn alfo Johannes
von einem wirflichen Gefchautwerden des Auffteigens Tem
zum Himmel zu fprechen fcheint, fo haben wir hierin lediglich
“eine, Diefem Evangelium eigenthümfiche, Bilderſprache zu ers
fennen.
Es haben daher andere Ausleger fich alle Mühe geben
müffen, das Schweigen des M. und Sohamies über die Him—⸗
melfahrt erflärlich zu machen; jedoch ohne Erfolg. Wenn M.
und Johannes diefelbe Fannten, fo mußten fie, war fie and
ſchon ohne fie befannt genug, Ddiefelbe doch erzählen, damit
ihre Evangelien, wie es nun wirflich der Fall iſt, nicht das
ftünden, wie ein Haus ohne Dach: denn fie ift ein nothwen⸗
diger Schlußpunft für das rärhfelhafte Leben, das Sefus nad)
ber Rückkehr ans bem Grabe geführt haben fol. Was Ans
dere annehmen, es fei jenen Evangelien nicht möglich ges
weien, die Himmelfahrt zu erzählen, da alle Augenzcugen
Ja doch nur das Auffahren in einer Wolfe fehen konnten:
bieß beurfundet eine Verfennung der morgenländifchen Vorſtel⸗
lungsweife, der ein Auffteigen in die Wolfen und eine Him⸗
melfahrt ganz gleichbedeutend war.
465
Zu dieſem unlaͤugbaren Nichtwiſſen zweier Evangelien fome
men nun noch die Widerſprüche in den Nachrichten der ans
bern.. Während Markus (V. 14 und 19) die Himmielfahrt
in dem Zimmer gefchehen läßt, wo Iefus zum legten Male
den Elfen erſchien, verlegt Lukas fie natürlicher in's Freie,
nad) Bethanien (B. 50). Bedeutender ift der Widerfpruch,
in dem Lukas mit ſich ſelbſt feht: im Evangelium fleigt Jeſus
fhon am Tage der Auferftehung gen Himmel; in ber Apo⸗
ſtelgeſchichte erft vierzig Tage nachher. Offenbar hat Lukas
keßtere Nachricht erſt fpäter, nachdem fein Evangelium fchon
geichrieben war, erhalten: denn biefe Geftalt mußte die Sage
annehmen, nachdem fo viele Erfcheinungen des Auferftandenen -
erzählt. wurden, daß man fie unmöglidy in dem furzen Zeit
raum weniger Tage unterbringen konnte. Daß diefer aber
grade auf vierzig Tage ausgebehnt wurde, hatte feinen Grund
in der Heiligfeit, die in jüdifchen und chriftlichen Sagen der
Zahl 40 beigelegt wurde; 40 Tage war Mofes auf dein Sir
nai, 40 Jahre war das Volt Sfrael in der Wüfte, und 40
Tage hatten Moſes, Elias und Jeſus gefaftet. — Bemerkens⸗
werth ift ferner noch, daß Lufas auch nur in der Apoftelge-
fhichte den mit Wolfe und Engeln ausgefchmückten Bericht gibt,
der ebenfalls fpätere Zuthaten enthält. Diefe bildeten ſich aus,
„um auch diefem letzten Punkte des Lebens Sefu feine Ehre
anzuthun, und das unzulängliche menfchliche Zengniß über
feine Erhebung in den Himmel durch zweier himmlischen Zeus
gen Mund befräftigt werden zu laffen *.
Wir find alfo bei dem Nefultate angelangt, daß es über
das Ende zwei verfchiedene Vorftellungsweifen gab. Diejenige,
nach welcher man fich die Himmelfahrt nicht als eine fichts
bare, feierliche dachte, findet fich noch am reinften bei M.;
hier fagt Jeſus zwar feine Erhebung zur Rechten Gottes vor:
aus (26, 64); er verfichert, nach der Auferftehung, es fei
ihm alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben (28, 18),
und verheißt, ohne daß vorher etwas von feiner fichtbaren
Himmelfahrt gefagt worden wäre, ben Seinen, „er werde
bei ihnen fein alle Tage bis an der Welt Ende“ CR, AU).
IL 30
466 ur
Hier liegt offenbar die Borftellung zu Grunde, „daß Jeſus,
ohne. Zweifel fchon bei feiner Auferſtehung unſichtbar zum
Bater aufgeftiegen, zugleich unfichfbar immer um die Seinigen
fei, und aus dieſer Berborgenheit heraus fich, fo oft er es
nöthig finde, feinen Anhängern offenbare*. In ähnlicher All⸗
gemeinheit halten fich Die oben befprochenen Darftellungen des
"Paulus und Johannes. — Der Einbildungsfraft der Chriſten
mußte es jedoch fehr nahe liegen, allmälig das Aufſteigen
Jeſu zum Vater auch zum glänzenden Schaufpiel auszumalen:
beſonders feitdem man, nadı Daniel, feine Wiederkunft vom.
Himmel als fichtbares Herabfommen in den Wolfen fich vor-
ftellte, mußte man von felbft zu dem Schluffe gelangen: „wie
Jeſus bdereinft vom Himmel wieder fommen wird, eben ſo
wird er wohl auch dahin gegangen ſein*.
Endlidy mögen auch noch altsteftamentliche Vorbilder zur
beftinmteren Geftaltung diefer chriftlichen Mythe mitgewirkt
haben; die Hinwegnahme des Henoch (1 Mof. 5, 24), mehr.
noch die Himmelfahrt des Elias (2 Kön. 2, 11), der eben
fo, wie Jeſus CApoftelg. 1,9 den Jüngern, dem Elifa feinen
Geift zurückließ, in dem Augenblicke, wo biefer ihn mit eiges
nen Augen zum Himmel aufiteigen fah (2 Kön. 2, 9).
167.
Schluß⸗Abhandlung.
Das Verhaͤltniß Der verſtaͤndigen Geſchichts—
Forſchung zum chriſtlichen Glauben.
Erſtes Kapitel,
Glauben und Wiſſen.
„ Durch die Ergebniſſe der bisherigen Unterſuchung iſt num,
vie es ſcheint, der größte und wichtigfte Theil von dem,
a8 der Chrift von feinem Jeſu glaubt, vernichtet; alle Er-
aunterungen, die er ans dieſem Glauben fchöpft, find ihm
ntzogen, alle Tröſtungen geraubt. Der unendliche Schaß
on Wahrheit und Leben, an welchem feit achtzehn Jahrhun⸗
erten die Menfchheit ſich groß genährt, fcheint Damit ver:
gäftet, das Erhabenfte in den Staub geftürzt; Gott feine
Snade, dem Menfchen feine Würde genommen, das Band
wifhen Himmel und Erde zerriffen zu fein. Mit Abſcheu
dendet ſich von fo ungeheurem Frevel die Frömmigfeit ab,
md aus der unendlichen Gelbftgewißheit ihres Glaubens her⸗
ms thut fie den Machtfpruch: eine freche Forfchung möge
rerfuchen, was fie wolle, dennoch bleibe Alles, was von Chrifto
ie Schrift ausfage und die Kirche glaube, ewig wahr, und
8 Dürfe fein Jota Davon fallen gelaffen werden. *
Diefe Vorwürfe fcheinen aus vorliegender ftreng wiſſen⸗
haftlichen Prüfung der evangelifchen Berichte auf den eriten
inblick ſich ergeben zu müffen, und wirklich find fie vielfach
ber diefelbe audgefprochen worden, jedoch mit Unrecht. Es
t baher nun noch unfere legte Aufgabe, nachzumeifen, wie
ih auch mit dieſer wiffenfchaftlichen Auficht ein, Glauben
erträgt, dem ber innere, unfterbliche Gehalt des Chriſtenthums
x
468
heilig iſt: wie durch diefelbe die. hriftlichen Ideen, welde
mit ihrer belebenden Kraft eine ganze Welt erfchütterten, wer
der bedroht noch angegriffen find *%. Ausführlich könnte dieſer
Beweis nur in einem eigenen Werke geführt werden, daher
müffen wir uns hier darauf befchränfen, anzubeuten, daß auch
anf dem von uns eingefchlagenen Weg des Zweifeld an den
Veberlieferungen der Gefchichtsbücher die Brücke zum chriftlichen
Glauben uns offen geblieben it.
Glauben und Wiffen find zwei Gebiete im menfchlichen
Geifte, gleich heilig und ehrwürdig; durchaus verfchieden, aber
nicht entgegengefeßt: was dem Glauben gehört, fol dem
Wiſſen unantaſtbar fein, und das Wiffen vom Glauben nid
geſtört werden; je freier, ungehemmter beide in der menſch⸗
lichen Seele gedeihen, defto befreundeter werden fie neben
einander wohnen: wer dem unerbittlichen Feinde aller Einmis
‚fchung des Glaubens in das Gebiet des Wiſſens vorwirft, er
achte den Glauben nicht, der Fennt beide nicht, und kann
fie Daher auch nicht wahrhaft Tieben und umfaffen.
Unfere Unterfuchung ber evangelifchen Gefchichte ging nicht
von einem Standpunfte aus, den fie außerhalb des chriſt⸗
lichen Glaubens genommen hatte, wie die feindfeligen Angriffe
des vorigen Sahrhunderts (f. S. 11 ꝛc.) auf das Chriften
thum; fondern von dem Mittelpunfte degfelben, in welchem
unfer Glauben unvermwüftlich wurzelt. Auch wir haben die
heilbringenden Ideen der Erlöfung, der durch Sefum bewirften
Berfühnung des Menfchlichen mit dem Göttlichen in unfer
Bermußtfein aufgenommen; der Gottmenfch, der in der ganzen
chriftlichen Gefchichte lebt, muß in jedem Gemüthe Ieben,
) Ich halte es hier am Orte, basjenige wiebergugeben, was Strank
fhon in der Vorrede zur erften Ausgabe feines Werkes ©. VIL
ausfprach (dritte Aufl. S. IX): „Den inneren Kern bes dhrifl
lichen Glaubens weiß der Verf. von feinen Linterfuchungen völlig
unabhängig. Chrifti übernatürlihe Geburt, feine Wunder,
feine Auferftehung und Himmelfahrt bleiben ewige Wahrbeiten,
fo fehr ihre Wirklichkeit als hiftorifche Thatſachen angezweifelt
werden mag.“
| . 469
das in der neuen, d. h. in der hriftlichen Zeit mit feinen
ebleren Kräften wurzelt. Aber fo wie wir aus diefer Weit
des Glaubens, des in ung Iebendigen Chriftenthums, in das
Gebiet der Außenwelt, der äußeren Erfcheinung, in die ges
wordene Gefchichte Sefu hinüber getreten waren, fo ſtanden
wir auf Dem Gebiete der Wiffenfchaft, wo nur der ſcharfe,
Klare, an. der Hand der Vernunft vorwärts fchreitende Vers
ftand uns. den richtigen Weg zeigen kann. Wir haben urs
im vorliegenden Kalle feiner Leitung ganz überlaffen, und fird
Dadurch zu Nefultaten gelangt, die den Anfchein haben, dın
chriſtlichen Glauben an Sefum ganz zu vernichten, weil die
Zhatfachen feiner äußeren Sefchichte in den meiften Fällen
in Zweifel oder gar in Abrede geftellt wurden. Es ift. alfo,
nunmehr genauer gefaßt, unfere Aufgabe, nadızumweifen, daß
auch mit. Diefen Nefultaten der chriftlihe Glauben fi
friedlich und ungeftört verträgt. — |
ir müffen, um die Lehre von der Perfon Jeſu, wie
fie ſich nach vorliegender Unterfuchung berausftellt, vers
ftändlich zu machen, vorher die von der unfrigen abweichenden
in kurzer Ueberficht darftellen: es wird dadurch zugleich Har
werben, welche Stellung die gegenwärtige Wiffenfchaft zum
chriftlichen Glauben einnimmt.
Zweites Kapitel,
Die Lehre der Kirche über Chrifti Perfon und
Wirken.
Indem die erften Chriften an der buchftäblichen Walrs
heit der evangelifchen Ueberlieferungen fefthielten, bildete ſich
die orthodoxe Lehre von Chriftus, deren Grundzüge fehon
im neuen Teftamente ſich finden. Die Wurzel derfelben if
der Slaube an die Auferftehung Jeſu: diefe war ber Bes
weis feiner Meffianitätz fie hatte ihn über die. Schranfen
“der Menfchheit und zur unmittelbaren Gemeinfchaft mit dem
himmlifchen Vater erhoben (Apoſtelg. 2, 32 2c.; 3, 15 ı.. u. A.).
Nun erfchien fein Tod als Hanpttheil feiner meſſianiſchen
Beſtimmung; Jeſus batte ihm erlitten für bie Sünden ber
470
Welt &poftelg. 8, 32 ꝛc.; 1 Joh. 2, 2),. durch ihn war er
der ewige, fündlofe Hoheprieiter geworden, deffen Blut mit
Einem Male bewirkte, was der Jüdiſche mit allen Thieropfern
nicht vermocht hatte CHebr. 10, 10 ꝛc.); er war das reine
Lamm, durch deffen Blut die Gläubigen losgefauft find (1 Petr.
1,18 ꝛc.). — Es mußte aber weiterhin der zur Rechten
Gottes Erhöhte von jeher mit göttlihem Geifte gefalbt
(Apoftelg. 4, 27), mit der Gabe des Wunderthuns ausgerä-
ftet (Apoftelg. 2, 22), er mußte fogar übernatürlich durch den
heil. Geift erzeugt worden fein (M. 1). Da er alfo fchon
"vor feinem menfchlichen Dafein in göttlicher Majeftät gewer
fen, fo war fein Herabfommen unter die Menfchen und fein
Zod eine Erniedrigung, welcher er freiwillig zum Beften
derfelben fich unterzogen hätte Phil. 2, 5). So wie er aber
nach feiner Wiedererhöhung einft zur Auferweckung der
Todten wiederkommen wird (Apoftelg. 1, 11), fo nimmt er
auch fchon jeßt an der Weltregierung Antheil (M. 28, 18),
und fhügt unfichtbar feine Gemeinde (Röm. 8, 34); ja er
bat auch ſchon an der Weltfhöpfung Theil genommen
(Soh. 1, 35 Kol. 1, 16 ꝛc.). —
ie unendlic, viel befeligende und beruhigende Gedanken
fhöpfte die erſte Chriftengemeinde aus dieſem Glauben an
ihren Chriftus! Durch fein Hingeben in den Tod für die
Menfchen ward Himmel und Erde verfühnt (2 Kor. 5,
18 2c.); die Liebe Gottes den Menfchen verbürgt (Röm. 5,
8 2c.); Die Menfchen, deren Bruder der Sohn Gottes gewors
den, find nun gleichfalld Kinder Gotted und Miterben
Chriſti (Rom. 8, 16 ıc.). Das fnechtifche Verhältniß unter
dem Gefete hat aufgehört; an die Stelle der Furcht ift die
Liebe getreten (Röm. 8, 15): denn nicht mehr haben die
Menſchen das Unmögliche, welches das Geſetz verkıngt
(Sal. 30, 10 ꝛc., Röm. 5, 12 ꝛc.), zu erfüllen; fondern wer
an Ehriftum glanbt, der verfühnenden Kraft feines Todes
vertraut, der ift von Gott begnadigt, nicht durch eigenes
Berdienft, fondern durch die freie Gnade Gottes (Nöm. 3,
31 10). Nunmehr ift dad mofaifche Gefeß nicht mehr bindend
(Röm. 7, 1.2x0.); auch die Heiden find zum Reiche Gottes
berufen, und die Scheidewand, welche die Menſchheit feind-
479
wideln läßt,. ald .Außere Thatfachen, die überall dem prü-
fenden Zmeifel anheim fallen. Wir faſſen fein intereffantes
Lehrgebäude über Jeſu Perfon in Folgendem kurz zufammien.
„As Glied der chriftlichen Gemeinde bin ich mir der
Aufhebung meiner Sündhaftigfeit bewußt; id, fühle die Eins
flüffe eines heiligen von Sünden reinigenden Elementes, dag‘
in diefer Gemeinfchaft als der chriftliche Mittelpunkt lebt und
wirft. Aus der Gemeinde an fich kann dieſes Clement nicht
hervorgegangen fein, da fie aus fiindhaften Menjchen beſteht;
ed muß der Einfluß eines Höhern fein, ber in ſich ſelbſt
ſündlos, in einem folchen Verhältniffe mit der Gemeinde fteht,
daß er ihr Diefe Eigenſchaft mittheilen kann; diefer Höhere
muß der Stifter derjelben fein, aus deſſen Geifte fie hervors'
ging. Seine Wirkung alfo ift der von mir gefühlte Geift
der Sündiofigfeit; die Urfache diefer Wirkung kann nur beffen
eigene Heiligfeit fein; Ehriftus, der ohne Sünde war,
lebt in der Gemeinde. — Er ift eg, ber in mir durch jene
Eindrüde die ftete Gemeinfchaft mit Gott erhält, und dadurch
mich fähig macht, die Uebermacht der Sinnlichkeit zu brechen,
fo daß ich Alles auf das Iebendige Bewußtſein Gottes, der
in und mit mir lebt, beziehen fannı. Darum hat Ehriftus
mich von der Kuechtfchaft-der Sünde erlöst. Diefe Erlöfung
bewirft aber auch in mir, daß die Störungen des äußeren’
Lebens nicht die Seligfeit meines Gottesbemußtfeins unters
brechen; Uebel und göttliche Strafen gibt es für mich nicht
mehr. Darum hat Chriftus mic auch mit Gott verfühnt.
In diefen Gefühlen erhalten die drei Aemter Sefu erſt ihre:
innere wahre Bedeutung: er ift Prophet, weil er durd
fein lebendiges Wort die Menfchheit an fi} 309; Hohes
priefter und Opfer, da er, der Sündlofe und darum Selige,
in Die Niedrigfeit des fündlichen Lebens der Menfchheit herabs
ftieg, um ihre Uebel zu theilen, damit er ung zu Neiligfeit
und Seligfeit in feine Gemeinfchaft aufnehme; — König ift-
er als Stifter und Lenker diefer Gemeinde“.
„Aus diefen Wirkungen Chriſti erfennen wir, was er ges:
wefen.. Sn ihm muß als ungetrübtes, unmandelbared Bes
wußtfein Gott gelebt: haben; daher fagt die Kirche, in Chriftus
fei Gott Menfch geworden. Er muß die Sinnlichkeit fo ganz
’
. 72
Abrede geftellt. Sekten, welche, wie die Ebioniten, die Gott
heit, oder umgekehrt, wie die Doketen, die Menfchheit durch⸗
- aus aufhoben, mußten von ber chriftlihen Gemeinfchaft, die
zur Dermittlung die Gottmenfchheit für unerlaͤßlich hielt, ganz
- ausgefchloffen werben. Aber man mußte auch fchon die Bolls
ftändigfeit beider Naturen durch fehärfere Bekenntniſſe feſt⸗
halten, wenn nicht ihre Bereinigung gefährdet werben follte:
daher wurde Arius verdammt, weil er ein zwar göttliche,
aber gefchaffenes und dem höchften Gotte untergeorbnetes
Weſen in Sefu für Menſch geworden hielt; denn auf biefe
Weiſe wäre Jeſus nicht vollftändiger Gott geweſen. Andere
wurden als Srriehrer verftoßen, weil fie annahmen, daß in
Jeſu das göttliche Weſen die menſchliche Seele vertreten habe ;
hiernach wäre er nicht vollftändiger Menfch geweien. —
Andererfeitd fonnte auch durch abweichende Borftellungen über
die Art der Bereinigung beider Naturen gefehlt werben.
Einige unterfchieden diefe Naturen in Chrifto gar nicht mehr,
und erfannten in ihm, wie er ald Eine Perſon erſchienen
war, fo auch nur Eine Natur, die bes fleifchgewordenen
Gottesſohnes an: hier war eine Vermifchung, aber nicht
eine Bereinigung felbitftändiger Weſen geſetzt. Andere ers
Härten, e8 feien in Chrifto zwei Naturen zwar der Verehrung
nad) verfnüpft, aber dem Wefen nach noch immer verfchies
den, und nicht vollfommen Cine Perſon; damit fchien der
Lebenspunft des Chriftenthums, die Bereinigung des Gött—
Iihen und Menfchlichen zerftört. Daher fügte die Kirche,
biefen beiderlei Ketereien gegenüber, noch hinzu: „wir lehren,
daß Sefus wahrer Gott und wahrer Menſch gewefen, —
von gleichem Wefen mit dem Vater vermöge feiner Gottheit,
und von gleichem Weſen mit und vermöge feiner Menſchheit; —
daß Feineswegs der Unterfchied der Naturen durch ihre
Einheit aufgehoben, daß vielmehr die Eigenthümlichfeit beider
Naturen beibehalten worden ſei; — daß beide aber ein und
berfelbe Ehriflus feien, aus zwei Naturen untrennbar, ums
theilbar zu Einer Perfon verbunden ſeien“. Weiterhin wurde
auch noch feltgefeßt, er habe zwei Willen gehabt, aber nicht
uneins, fondern der menfchlicye dem göttlichen untergeordnet.
473
Ohne durch Streitigkeiten beunruhigt zu werben, entwickelte
fidy Die Lehre von Gefu Thun und Wirken ebenfalld weiter.
Im Allgemeinen ftellte man ſich dasfelbe fü vor: der Cohn
Gottes habe durch Annahme der Menfchennatur Diefe geheiligt
und vergöttlicht, namentlich unfterblich gemacht: Dabei wurbe
auch noch auf feine heilfame Lehre, fein erhabenes Beifpiel
hingewiefen, und auf feinen verfühnenden Tod. Ten ſchon
im neuen Teftamente enthaltenen Begriff der Stellvertres
tung,. wodurch; von der Menfchheit die Strafen der Sünde
genommen wurden, führte man mehr und mehr aus, bie
Anfelm daraus die fünftliche Lehre von der ftellvertretenden
Genugthuung fchuf, die fich durch folgende Säge hinzieht :
„Der Sünder (und alle Menfhen find Sünder) entzieht Gott
die fchuldige Ehre; — diefe Beleidigung kann Gott nicht duls
den: — freiwillig kann der Menfch Gott nicht wiedergeben, -
was er ihm entzogen hat; denn dba er alles Gute, was er
thun kann, Gott ſchuldig ift, fo kann er nichts Gutes übrig
haben, um durch dieſen Ueberfchuß die begangene Sünde zu
deden: — alfo muß Gott dem Menfchen zur Strafe bie ihm
verliehene Glückſeligkeit entziehen, und fich Genugthuung vers
ſchaffen; dieß aber widerftreitet feiner Güte: — nun aber
muß doch feine Gerechtigkeit Genugthuung haben; ed muß
ihm nach Maßgabe deffen, was ihm entzogen worden, Etwas
gegeben werden, das größer ift, als Alles, außer Gott: —
bieß aber ift nur Gott felbft, und da andrerfeits für den Mens
fehen nur der Menſch felbft genug thun kann, fo muß ein
Gottmenſch diefe Genugthuung leiften: — dieſe Fann aber
nicht in thätigem Gehorfame, in fündlofem Leben beftehen,
weil dieß jedes vernünftige Wefen Gott ohnehin ſchuldig iſt;
aber den Tod, der Sünden Sold, auf fich zu nehmen, tft
ber Schuldloſe nicht fehuldig: — alfo befteht, da der Gotts
menſch Dennoc dem Tode fidy unterzogen hat, eben die Ges
nugthuung Gottes in dieſem Tode des Gottmenfchen, deſſen
Belohnung, weil er als Eins mit Gott nicht belohnt werden
fann, der Menfchheit zu Gute kommt. “
Diefe alten Kirchenlehren gingen auch in die Intherifche
Konfeffion über, wo fie noch feiner ausgebildet wurden.
Hier wird namentlich noch hinzugefügt, Daß der menfchlichen
474
Natur in Chriſto vermöge ihrer Verbindung mit der göttlichen
gewiſſe eigenthümliche Vorzüge zufommen; zumädt Sündlofig-
feit. und die Möglicyfeit, nicht zu fterben. Außerdem aber
erhielt die menſchliche Ratur noch gewiffe andere Vorzüge,
Die ihre von der göttlichen gelichen wurden: denn da die
Bereinigung beider nicht eine äußere, todte, fondern eine in⸗
nere, lebendige ift, wie 3. B. im glühenden Eifen euer und
Metall ſich durchdringen, fo gehen auch die Eigenthümlichkeiten
beider in einander über: Daher nimmt die menfchliche Natur
Antheil an den Vorzügen der göttlichen, Die göttliche an den
die Erlöfung betreffenden Thätigfeiten der menfchlichen.
‚Die alſo gedachte Perfon des Gottmenfchen trat auf Erden
zuerft in den Zuftand der Erniedrigung, indem feine
menfchliche Natur troß ihrer Vereinigung mit der göttlichen
bei der Empfängniß, doc bis zum Tode feinen fortwähren-
den Gebrauch von den erhaltenen göttlichen Cigenfchaften
machte: mit der Auferftehung aber begann der Stand der
Erhöhung, der mit dem Sitzen zur Rechten Gottes feine
Vollendung gewann.
In Bezug auf ſein Werk ſchreibt dieſe Kirche Jeſu ein
dreifaches Amt zu; das des Propheten, inſofern er die
höchſte Wahrheit verkündete und durch Wunder bekräftigte; —
als Hoheprieſter hat er an unſerer Statt das Geſetz er
füllt und unſerer Sünden Strafen getragen: und als König
zegiert er die Kirche, deren NHerrfchaft über alle Welt er
durch Auferfiehung und WWeltgericht vollenden wird.
Diefe, ferenge, ſtarre Kirchenlehre fand frühzeitig mehr
fachen Widerfpruch. Schon die Reformirten konnten ſich zu
Dem Theile derfelben, demgemäß die beiden Naturen in Sefus
ihre Eigenfchaften ſich gegenjeitig mitgetheitt haben follen,
nicht bequemen. Denn fie behaupteten mit Recht, daß eine
‚unendliche Natur gar keine Eigenfchaft einer endlichen in ſich
aufnehmen könne, ohne in ihrem Weſen aufgehoben zu werden;
und fo umgefehrt auch die endliche. Diefe Lehre ift daher
heut zu Tage felbft von ftreng lutheriſchen NRechtgläubigen auf:
gegeben worden. — Aber: auch der zu Grunde liegende Haupt:
475
fag von der Bereinigung der beiden Naturen zu Einer
Perſon komte nicht unangetaftet bleiben: ſchon die Socinianer
erklaͤrten, daß zwei Naturen, deren jede ja ſchon eine Per⸗
ſon ausmache, unmöglich zu Einer Perſon vereinigt werden
könnten, zumal wenn ſie einander entgegengeſetzte, eine ſterb⸗
liche und eine unſterbliche, ſeien. Mit Recht ſchloſſen die
Rationaliſten ſich dieſen an, mit den Bemerkungen, felbft die
fcharffinnigften Theologen haben nie diefe Lehre dem gefunden
Berftande anſchaulich machen Fünnen: und ferner, wenn
Chriftug mit Hilfe einer göttlichen Natur das Böfe überwunden
habe, fo fei er für den ſolcher Hilfe entbehrenden Menſchen
kein Vorbild.
Mit ausgezeichnetem Scharfſinne hat Schleiermacher
in neuerer Zeit dieſe Kirchenlehre angegriffen und vernichtet,
etwa in folgenden Sägen: „Ein Göttliches kann nie Natur
genannt werden, weil „Natur“ nur ein befchränftes, abgeſchloſ⸗
fenes Sein. bedeutet: — überall im Weltalle ift Eine Natur
als Ssubegriff gewiſſer Gefeße (z. B. die menſchliche, vegetas
bilifche 2c.) mehreren Perfonen oder Engelnweſen gemeinfam
(allen Menfchen, Pflanzen zc.); nirgends aber fchließt Cine
Derfon mehrere Naturen (die der Menſchen und bie ber
Pflanzen) in ſich ein: ja dieß kann nicht geſchehen; denn
eine Perfon als eine beftimmte Einheit des Dafeins kann
nicht zwei Naturen, als Inbegriffe verfchtedenartiger Gefeke,
zu Einem Mittelpinfte in ſich veremen. — Zwei Willen
cf. ©. 472) in Einer Perfon find. nun vollends undenkbar;
denn -aledann müßte diefe auch einen doppelten VBerftand
haben, und darum in zwei Perfonen zerfallen; endlich Tann
ein götilicher Wille, der ſtets auf das mnendliche Ganze ges
richtet ift, nie Dasfelbe wollen, was ein immer. nur auf. ein
Endliches, Einzelnes gerichteter menfchlicher ‚will; fo wenig
wie menfchlicher Verſtand göttliche Gedanken faſſen kann.“
Nicht mindere Widerjprüche mußte die Lehre von dem drei⸗
fachen Amte Jeſu erfahren (ſ. S. 474), Gegen. fein prophe⸗
rl —
tiſches wurde vorzüglich das ‚geltenb gemacht, was wir ſchon
in der Einleitung (5.46 ıc.) über die Wunder auseinander
gefetst haben. Es muß hier aber namentlich noch der Punkt
beroorgehoben werden, ob nämlid, under zur Grundlage
einer Glaubenslehre gemacht werden fünnen. Da ein Wun⸗
der doch nichts Anderes ift, als etwas. durch Unterbrechung
der Naturgefete Bewirktes, fo kann man ein foldyes erft dann
mit Sicherheit annehmen, wenn man die Raturgefeße fchon
nach allen Seiten bin kennt, wovon wir bekanntlich noch weit
entfernt find: ein Glauben alfo, der. fi, auf Wunder gründet,
ruht auf einer fchwachen Stüge. — Nicht nur ſchwach bes
gründet, fondern in der That anftößig erfchien aber Vielen
die Lehre von ber ftellvertretenden Genugthuung (S. 473),
Wenn es nämlicd, fchon Menfchen wohl anfteht, mit Verzicht:
leiftung auf Rache, Beleidigungen zu verzeihen, wie viel mehr
müflen wir dieß von Gott vorausfegen! Daß es mit der re
gierenden Gerechtigkeit desſelben unverträglich fei, die
Sünden ohne Genugthuung zu verzeihen, hätten die Bertheis
diger dieſer Lehre gar nicht einmal behaupten follen: denn
eine vollftändige Genugthuung hat Gott ja doch nicht erhals
ten. Diefe konnte er nicht in dem leiblichen Tode eines Eins
zigen, ber überdieß nad) demfelben zur ewigen Herrlichkeit
eingingz nicht in dem Tode einer menfchlichen Natur (denn
nur dieſe litt in Jeſu, nach der Lehre felbft, den Tod)
finden: — eben fo viele Stellvertreter, ald Sünder, muß⸗
ten fterben, oder, wo nicht, alddann das Göttliche in Sen
Natur. Hatte aber, wie man erwidert, Gott aus freier
Gnade die unzureichende Genugthuung für zureichend anges
nommen, fo folgt ja daraus von felbft, daß Gott auch alle
Genugthunng erlaffen konnte. Doch, abgefehen von dem Allem,
fhon die Grundvorſtellung, auf welcher diefe ganze Lehre
ruht, ift eine befchränfte, Gottes unwürdige; eine rohe Ueber;
tragung niederer VBerhältniffe auf die höchften. -Bei Geld» und
anderen Schulden kann es dem Gläubiger am Ende einerlei
fein, wer ihn bezahlt, wenn ihm nur genug gefchieht; Süns
denftrafen für moralifche Verſchuldungen kann fein Vers
nünftiger, gefchweige Gott, auf einen Unfchuldigen übertragen
wollen. Rod) weniger kann Jeſus durch thätigen Gehors
U | 47 |
fam, buch Sündloſigkeit, ben Menfchen Berbienfte ers
worben haben, da er für fich fchon dazu verbunden war,
und fittliches Verdienſt nicht wie äußered Eigenthum auf Ans
dere übergehen kann.
Dritte Rapitel
Die Lehren der Nationaliften und Schleier;
macher’8 über Chriftus.
Nachdem die Ratiovnaliften die Kirchenlehre von. der
Perſon Sefu verworfen hatten, ald unbegründet und ber fitts
Iihen Bildung nachtheilig, ftellten fie eine andere auf, von
welcher fie Gedeihlicheres verfprachen. Sie erfennen Jeſum
als göttlichen Gefandten an, der ſich als einen befonderen
Liebling Gottes beurfunde, indem er, mit den herrlichiten Gaben
ausgerüftet, in Verhältniffe verjeßt wurde, die der Entwidlung
derfelben fo überaus günftig waren; namentlich wurde eine
Todesart über ihn verhängt, die eine Wiederbelebung, von
ber das ganze Gedeihen feines Werkes abhing, möglich machte.
Auch nach ihrer Lehre ift Jeſus der erhabenfte Menfch, der
auf Erden wandelte; er fteht, wie fie glauben, in ihrer Lehre
höher da, als in der. Kirchenlehre, wo er nur ein willenlofes
Werkzeug des Göttlichen fei, ohne fittliches, durch freie Thätigs _
feit erworbenes, Verdienſt; während in diefer rationaliftifchen
Lehre Alles, was er war, er durch fich felbft wurde; feine
Weisheit war Folge unermüdeten Strebens nad) der Wahrheit;
feine fittliche Größe hatte er fich Durch angeftrengten. Kampf
mit der auch ihn bedrohenden Sinnlichfeit errungen. — Sein
Yauptverdienft um bie Menfchheit befteht demgemäß in der
Mittheilung einer reinen Lehre vol göttlicher Kraft und
Würde; — in dem leuchtenden Borbilde, das feine erhabene
Sittlichkeit für und bildet; — in dem Tode, den er. für die
Menfchheit ftarb, um fie zur Todesverachtung zu begeiftern,
und ihr den ermunterndften Beweis ber göttlichen Liebe zu geben.
478 j
Gegen dieſe Lehre von Jeſu Perfon iſt mit Recht einge
wendet worden, daß fie nicht mehr in die chriftliche Glaubens:
Ichre gehöre; denn fie ftellt ung Jeſum dar, zwar als würdig
ften Gegenftand menfchlicher Verehrung und Bewunderung,
aber er hört auf, Segenftand des Glaubeng zu fein. Jeſus
wird uns allerdings durch diefe Darftelung begreiflid;
aber er ift ans aller lebendigen Beziehung zu der frommen
Verehrung der Gemeinde... gebradyt, wenn fie feinen Namen
auch mit Verehrung nennt. Vom Chriftus, der mit dem
Glauben der Ehriften auf's Engfte verflochten fein muß, wenn
er ein chriftlicher fein fol, it Nichte mehr geblieben; der
Ehrift aber kann Beides, Chriftum und chriftlichen Glauben,
nicht von einander trennen. Es haben daher befonnene Rationas
liſten auch zugeftanden, daß ihre Chriſtuslehre nicht mehr Sadıe
des Glaubens, fondern der Neligionsgefchichte fei; Dieß tt
vollkommen richtig. Denn wenn ich 3. B. das Syſtem eines
Kant oder Schelling darftelle, fo gehört ed gar nicht hieher,
audeihander zu feßen, was wir von der Perfönlichfeit Diefer
Männer zu halten haben; fie ftehen ganz außer demfelben,
abgelöst von ihrer Lehre, und gehören nur der Gefchichte
der Wilfenfchaft an, wie Sefus nach jener Lehre von ihm
einzig der Gefchichte der Religion, fo gut, wie Mofes und
Mahomed, anheim gefallen ift.
— ER
——— — — — —
Dieſer ungenügenden rationaliſtiſchen Glaubenslehre trat in
nenerer Zeit Schleiermacher mit einer Lehre von Chriſtus
entgegen, in welcher er ed verſuchte, die Anſprüche der Wiffen-
fhaft fo mit ‘dem eigenthümlich chriftlichen Glauben in Ueber:
einftimmung zu bringen, daß beide friedlich neben einander
beftehen könnten. Er ging dabei weder von der Kirchenlehre,
noch der gefchichtlichen Weberlieferung aus, die beide den Wider⸗
ſpruch der Wiffenfchaft zu fürchten hatten und den Zweifel
rege machen mußten; — fordern von dem „chriftlichen Be:
wußtfein“, von der inneren Erfahrung, die Jedem fagt,
was ihm das Chriftenthum iſt. Die Grundlage feiner Lehre
ift alfo ein Gefühltes, das fih, da ed aus inneren, unbe:
zweifelten Thatſachen hervorgeht, . immer unangefochtener ent:
479
wickeln laͤßt, als aä;ußere Thatſachen, D’e überall dem prü⸗
fenden Zweifel anheim fallen. Wir faſſen fein intereſſantes
Lehrgebäude über Jeſu Perſon in Folgendem kurz zuſammen.
„Als Glied der chriſtlichen Gemeinde bin ich mir der
Aufhebung meiner Sündhaftigkeit bewußt; ich fühle die Ein⸗
flüſſe eines heiligen von Sünden reinigenden Elementes, das
in dieſer Gemeinſchaft als der chriſtliche Mittelpunkt lebt und
wirkt. Aus der Gemeinde an ſich kann dieſes Element nicht
hervorgegangen ſein, da ſie aus ſündhaften Menſchen beſteht;
es muß der Einfluß eines Höhern ſein, der in ſich ſelbſt
ſündlos, in einem ſolchen Verhältniſſe mit der Gemeinde ſteht,
daß er ihr dieſe Eigenſchaft mittheilen kann; dieſer Höhere
muß der Stifter derſelben ſein, aus deſſen Geiſte ſie hervor⸗
ging. Seine Wirkung alſo iſt der von mir gefühlte Geiſt
der Sündloſigkeit; die Urſache dieſer Wirkung kann nur deſſen
eigene Heiligkeit fein; Chriſtus, der ohne Sünde war,
lebt in der Gemeinde. — Er ift es, der in mir Durch jene
Eindrüde die ftete Gemeinfchaft mit Gott erhält, und Dadurch
mich fähig macht, die Uebermacht der Sinnlichkeit zu brechen,
fo daß ich Alles auf das lebendige Bewußtſein Gottes, der
in und mit mir lebt, beziehen fann. Darum hat Ehriftus
mich von der Kuechtichaft der Sünde erlöst. Diefe Erlöfung
bewirft aber auch in mir, daß die Störungen Des Äußeren
Lebens nicht die Seligfeit meines Gottesbewußtſeins unters
brechen; Uebel und göttliche Strafen gibt es für mich nicht
mehr. Darum hat Chriftus mich auch mit Gott verfühnt.
Sn diefen Gefühlen erhalten die drei Aemter Jeſu erft ihre:
innere wahre Bedeutung: er ift Prophet, weil er durch
fein lebendiges Wort die. Menfchheit an ſich 309; Hohes
priefter und Opfer, da er, der Sündlofe und darum Selige,
in die Niebrigfeit des fündlichen Lebens der Menjchheit herabs
ftieg, um ihre Uebel zu theilen, damit er ung zu Heiligkeit
und Geligfeit in feine Gemeinfchaft aufnehme; — König iſt
er als Stifter und Lenfer diefer Gemeinde“.
„Aus diefen Wirkungen Ehrifti erfennen wir, wag er ges-
wefen.. In ihm muß als ungetrübtes, unmandelbares Bes
wußtfein Gott gelebt haben; daher fagt Die Kirche, in Chriftus
jet Gott Menfch geworden. Er muß die Sinnlichfeit fo ganz
480.
überwunden haben, daß nie ein Kampf mehr in ihm ftattfand,
daß er nicht mehr- fündigen fonnte; dadurch warb er das
Urbild feiner Gemeinde. Sollte er aber als folches auch
nnfer Vorbild fein, fo muß er ganz unter den gewöhnlichen
Bedingungen des Lebens zu jener heiligen Höhe ſich erhoben
haben; er muß alle Verfuchungen, die und drohen, wirklich
überwunden, alle Stufen bid zur höchften durchlaufen haben;
daher fagt die Kirche, in ihm fei die göttliche und Die menſch⸗
liche Natur vereint gewefen. Alles biefes leitet ber Chrift
nur aus feinem inneren Bewußtfein her; die äußere Ger
fchichte, welche von der Wiffenfhaft angefochten werben
kann, beftimmt und flört feinen Glauben nicht. Derjenige,
ber Solches in mir wirken fann, muß Chriſtus geweſen
fein, mag er übernatürlich erzeugt, auferftanden fein x.
oder nicht; wir glauben dieſe außeren Thatſachen, wenn
wir fie glauben, nur darum, weil die Gefchichte, nicht unfer
Bewußtſein, fie uns lehrt.“ —
So ſchon und eigenthümlich auch diefe Entwickelung ift,
fo kann doch auch fie weder der Wiflenfchaft, noch dem Glaus
ben vollitändig genügen. Die erftere fann es nicht zugeben,
daß in Chriftus das Vollkommene, Heilige wirflich, oder,
wie Schleiermacher fagt, „das Urbildliche gefchichtlich“ ges
wefen fei: denn vollfommen Tann Fein einzelnes Wefen,
heilig fein Menſch fein; beides kann ſich nur in unferm Geifte
zum Sdeale eines folchen Einzelweſens geftalten, von dem
wir aber wohl willen, daß es wirklich niemals fein wird.
Auch wenn wir abfehen von allen andern Beziehungen, von
MWiffenfchaft, Kunft, und ung nur, wie Schl., an die Res
ligion halten, fo fünnen wir ung feinen Menfchen ale wirt
Lich denken, in weldem das Gottesbemußtfein ganz volls
kommen gelebt hätte; ed wäre dieß immerhin, wenn aud) nur
auf Einem Gebiete, ein Bollfommened, was dem Begriffe
des Menfchlichen widerfpricht. Daher muß Sch!. wirklich
einlenfen und es für das einzige Wunder, das die Glaubends
Ichre annehmen dürfe, erflären, daß ein ſolcher, rein fünds
Iofer Chriftus entftehen konnte. Allein felbft mit diefem eins
zigen Wunder ift, wenn auch in feinem eigentlichen Leben
\ 484
Reine weiteren anerkannt werden, ein Riß in bie wiſſenſchaft⸗
liche Weltanficht gemacht worden, der nicht wieder geheilt
werben fann, und von dem man mir nicht begreift, warum
er fo allein ficht.
Ferner ift es den Geſetzen aller menfchlichen Entwide,
lung, die, wie die der Natur, vom Kleinen zum Großen,
vom Keime zur reifen Frucht aufiteigt, zuwider, daß in der
chriftlichen Gemeinde mit Chriftus das Größte fogleich,
als Anfang dageftanden habe, von weldyem Das fpätere Leben
ber Gemeinde nur ein ſchwacher Nachklang war, der in -
fi) das als unentwicelt darftellt, was in Chriftus vollkom⸗
men entwicelt daftand. Nun fagt zwar Schl., das Zeitliche
und Aeußerliche an Chriftus, feine Redeweiſe, feine einzelnen
Borftellungen und Anfichten 2c., feien allerdings einer Vervoll⸗
fommnung im Leben der Gemeinde fähig; nur nicht deffen
inneres Wefen, der Kern. feines Lebende. Allein wenn wir
jenes Zeitliche von Sefu trennen wollen, fo behalten wir nicht
ben Kern feines Lebens und feiner Perſon; wir haben den
Chriftus nicht mehr, der da lebte, dachte, wirkte, Denn alle
jene Aeußerlichfeiten gehören ja auch zur Perfon, ja, fie mas
chen fie erft zu einer befonderen und eigenthümlichen.
Wir behalten vielmehr mit jener Scheidung nur ein allgemein
Menfchliches, eine Idee, ein Ideal, und nicht, worauf Doch
Schl. fo viel Gewicht legt, einen. Menfchen, in welchem
vollfommenes Gottbewußtfein wirkliche, bie in's Kleinfte herab
vollendete Thatfache war. — Faſſen wir die Sache noch
näher in's Auge, fo ift die Unmöglichkeit, zu fündigen, eine
mit der menfchlichen Natur, die ja nicht nur aus vernünftigen,
fondern auch aus finnlichen Antrieben zufammengefegt ift, un⸗
vereinbare Eigenſchaft; — und vollends ein Weſen, das nicht
einmal im Guten fchmwanfte, feinen Kampf beitand, war
fein Menfch, weil e8 feine Freiheit des Willens hatte.
Aber auch dem chriftlichen Glauben thut die Lehre Schl.
nicht genug, indem er behauptet, Auferftchung und Himmel⸗
fahrt feien für denfelben unmefentlich: es ift ja ber Glauben
an biefe der eigentliche Grundſtein, anf welchen die Gemeinde
11. — 34
462
errichtet wurde; ohne fie könnte der geſtorbene Chriſtus
ihe nicht Quelle der Seligfeit fein, und endlich würde bie
äußere Daritellung des chriftlichen Glaubens, welche im der
Reihe der Kirchenfefte liegt, durd) Entfernung des Ofter
feftes tödtlich verlegt werden.
Doch es muß die ganze Grundlage, auf welche Sl.
feine Lehre von ber Perfon Jeſu baut, für ungenügend gehal-
ten werden; er fchließt nämlich, wie wir fahen, von der Wir
tung, die ſich in dem chriftlichen Bewußtſein der Gemeinde
vorfinder, auf die Perfon Jeſu, ald deren Urfache. Allein es
kann nicht bewiefen werden, daß jene Wirfung ohne Die ges
fhichtliche Wirklichkeit - eines ſolchen Chriftus unmöglich gewe⸗
fen wäre: feine hohe Bortrefflichfeit fonnte gar wohl Anlaß
fein, feine Perfon zu einem bloßen Ideale zu fleigern, deſſen
Unfündlichfeit man nur auf den gefchichtlichen Chriftus über:
trug. Wenn Sch!. dagegen bemerkt, die fündhafte Menfch«
heit habe ein folches Ideal, ein fleckenloſes Urbild, nicht für
fich erzeugen können, fo iſt dieß unrichtig: denn fo gut wir
als unvollkommene Wefen und dennoch die Vorftellung eines
Bolfommenen, ald endlidye die eines Unendlichen bilden füns
nen; eben fo gut erheben wir uns als fündhafte Menfchen
anch zur Vorftellung "eines unfündlichen Ideals: ja wir würs
den von unvollfommen und findhaft gar nicht reden, wenn
wir nicht die Idee des Vollkommenen und Heiligen in ung
trugen. Wenn wir aber auch aus ung das Ideal bes fünd«
lofen Chriftus nicht bilden Fonnten, warum bewirfte Gott nicht
das viel geiftigere Wunder, es in der Menfchheit überna-
türlich zu erzeugen, ald das von Schl. angenommene weit
feiblichere eines wirflich lebendig gewordenen übermenfchlichen
Ideales, wie feiner Lehre nach Sefus war?
Obgleich nun Schl. für feine Perfon feft überzeugt war,
daß der Chrütus, den er ſich in feiner Vorftellung gebildet
hatte, wirklich auch gelebt habe, fo bleibt ed Doch gewiß, daß
nach dem vorliegenden gefchichtlichen Thatbeftand ein ſolcher
nie gelebt hat; — daß fein Chriftus nicht wirklich geweſen
fein fann, fondern nur Ideal iftz — und daß ein folcher
ISdeal-Ehriftus gar nicht nöthig war, um dad in der Ge
meinde zu bewirfen, was er chrütliches Bewußtſein nennt.
483
Schl. hat allerdings in feiner Lehre ein hohes, feltenes Ges
mütly bewährt; aber was, wie dieſe, nur Ergebniß der innes
ren Erfahrung eines Einzelnen ift, kann niemald allgemeine
Grundlage für Glauben und Wiffen Aller werden: am wer
nigften koͤnnen wir einem Chriſtus, wie er in dem Ideale
eines Einzelnen lebt, gefchichtliche Wirklichkeit zugeftehen.
Viertes Kapitel
Die Kehren Kant's, (de Wette’s, Sort 8),
und Hegel's über Chriſtus.
Wir fehen ung alfo dahin wieder zurüdgeführt,. daß „ges
ſchichtlich Jeſus nichts Anderes gewefen fein fann, als eine
zwar fehr ausgezeichnete, aber darum der Befchränftheit alles
Endlichen unterworfene Perfönlichfeit: vermöge Diefer ansge⸗
zeichneten Perfönlichfeit aber regte er das religiöfe Gefühl fo
mächtig an, daß biefes in ihm eig Ideal der Frömmigfeit
anerfannte*. — Als ſolches Ideal allein konnte er fähig fein,
Stifter einer pofitiven Neligion zu werden. Daher haben
Andere es verfucht, Chriftus als Ideal, ald Sinnbild hös.
herer Wahrheiten, mit dem Chriftus der Kirchenlehre, ale
einem gefchichtlichen wunderbaren Wefen. in Einklang zu brin-
gen: dieß geſchah zunächſt ausführlich von Kant. Er geht
von dem Sabe aus: „Es ift nicht Bedingung zur Seligkeit,
zu glauben, ed habe einmal ein Menfch gelebt, deffen Heilig:
feit und Verdienft für fich und Andere genug gethan habe;
wohl aber ift es Pflicht, ſich zu dem in der Vernunft liegen-
den Ideale fittlicher Bollfommenheit zu erheben.“ Auf dieſes
Ideal num bezieht Kant die Lehre von Chriftus in ihren ein-
zelnen Zügen, und verfährt dabei folgendermaßen :
„Die Idee fittlicher Vollkommenheit ift das Höchfte, zu
dem der endliche Menfch füch zu erheben vermag: fie wohnt
in Gott von Ewigfeit ber: von. ihm geht fie ewig aus, und
kann Daher der eingeborne Sohn Gottes genannt werben,
Dad Wort, durch weldyes und Daher auch für welches die _
Welt gemacht ift. Diefe Idee hat alfo der Menſch nicht ſelbſt
484
erzeugt;. fie iſt ald ein göttliches Lrbild in den Menfchen ge
kommen, hat fomit gleichfam die Menfchheit angenommen; und
in der Vereinigung mit und ift fie in den Stand der Ernie:
drigung bes Gottesfohnes getreten. — Da aber das Ideal
fittlicher Bollfommenheit in der Umhüllung menfchlicher Bedürf-
niffe und Neigungen nur durch Kampf verwirklicht werben
fann, fo müffen wir fie in dem Bilde eines Menfchen un
denken, der, verſucht durch finnliche Antriebe, mit dieſen ringt,
fie überwindet, in fich das Ideal der Vollfommenheit in mög.
lichfter Reinheit darftellt, und dennoch bereit ift, obgleich ohne
Schuld, zum Beften der Menfchheit in Leiden und Tod zu
gehen. “
„Diefe Idee trägt ihre Wirklichkeit und Wahrheit in ſich
felbft, und um fie zum perpflichtenden Vorbilde zu machen,
bedarf fie Feines Beifpieles in einem einzelnen Menfchen:
auch wird ſich unferer Erfahrung nie ein Einzelnwefen als der
vollfommene Abdruck diefes Urbildes darftellen fünnen, da wir
immer nur das Aeußere des Menfchen unmittelbar, fein Inne⸗
res aber nur durch dieſes erfennen. Indeß foll Doch der
Menfc dem Urbilde entfprechen; folglich muß es auch mög:
lich fein, und es ift daher wohl denfbar, daß dieß durch
Einen gefchehen fei: aber auch alsdann würde diefer Eine nur
dadurch, daß wir in ihm das Ideal fittlicher Bollfommenheit
erblictten, Gegenftand unferes befeligenden Glaubens werben;
was er fonft erlebt oder gethan, läge ganz außer demfelben.
Weil aber alle Menfchen dazu berufen find, folche Beifpiele
zu werden, fo haben wir feinen Grund, jenen, der es gewor⸗
den, für einen übernatürlich Erzeugten zu halten: eben
fo wenig bedarf er zu feiner Beglaubigung der Wunder, da
unſer Glauben an feine reine Gottwohlgefälligfeit zu unferer
Berehrung hinreicht. “
„Mit dieſer in ihm zur Erfcheinung gefommenen Idee fitt-
cher Bollfommenheit ift der alte Menſch in ihm erftorben;
fein Fleifch ift gefreuzigt, und was der alte, fündhafte Menſch
verſchuldet, hat der neue in ihm gelitten, der aus der Sünde
zum Urbilde aufftrebende.“ —
Auf diefe Weife nimmt Kant in feine finnbildlich und
ideal gewendete Lehre von der Perfon Chrifti die alte
485
Kircheniehre auch nur, wie Schleiermader, bis zum
Tode Sefu auf, woran er noch auf allzu fpibfindige Weile
die Lehre von der Stellvertretung anzufchließen verfucht hat.
Die Auferftehung und Himmelfahrt ſchließt auch er aus, ale
nicht zu feiner Entwidelung eines Ideales fittlicher Volllom⸗
menheit gehörig: doc, laßt er fie ald Sinnbilder von Vermunft⸗
ideen, ald Bilder. des Eingangs in den Sitz der Seligfeit,
d. h. in die Gemeinfchaft mit allen Guten, gelten.
- Sin anderer Weiſe hat de Wette die evangelifche Gefchichte
von Jeſu, feiner Perfon und feinen Schidfalen, in eine finns
bildliche, in eine Gefchichte des Idealen umzuwandeln vers
ſucht. Nach ihm ſtellt die Gefchichte von der wunderbaren
Erzeugung Jeſu den göttlichen Urfprung der Religion dar;
feine Wunderthaten die felbftftändige Kraft des Menfchengeis
ftes; feine Auferftehung ift das Bild des Sieges der Wahrs
heit, das Vorzeichen eines künftigen Triumphes des Guten
über das Böſe; feine Himmelfahrt das Sinnbild ewiger Herrs
lichkeit der Religion. Was Jeſus gelehrt, das fpricht ſich
eben fo Elar in feiner Gefchichte aus, vorzüglich in feinem
Tode: Chriftus am Kreuze ift das Sinnbild der durd, Aufs
opferung geläuterten Menjchheit.
Klarer und fehöner noch hat Horft diefe ideale, finnbild-
liche Auffaffung des Chriftenthums entwicdelt.
„Ob Alles, was von Sefu erzählt wird, wirflich fich fo ers
eignet habe, läßt fich nicht mehr ganz ermitteln, und kann une
auch jetzt ziemlidy gleichgültig fen: ja Vieles müſſen wir von
dem Standpunkte unferer Bildung aus als fabelhaft und
den Gefeten unferes Denkens widerfpredyend verwerfen. Faſ⸗
fen wir Dagegen diefe Erzählungen nicht ſowohl ald Gefchichte,
wie als Dichtung auf, fo wird ſich uns ein Schab bedeus
tungsvoller Dffenbarungen aus der geheimnißvollen Tiefe des
religiöfen Gemüthes darftellen: Alles fnüpft ſich dann an bie
shriftliche Gefchichte an, was für unfer Gottvertrauen wichtig,
für den reinen Sinn befebend, für das zarte Gefühl anziehend
486
iſt. Jene Gefchichte ift eine heilig fchöne Dichtung des Men-
fchengefchlechtes, die Gefchichte der höheren Menfchennatur;
fie zeigt und in dem Leben des Einzigen, was alle Die
ſchen follen, und werden können: darin eben liege Die höchſte
Ehre und der ftärkite Beweis für die allgemeine Gültigkeit
bes Ghriftenthums. — Allerdings haben die Evangeliften bag,
was fie erzählen, für wirkliche Gefchichte gehalten: aber fie
fanden auf einem andern Standpunkte, ald wir, bei gleichem
innerem Bebürfniffe; denn die menfchliche Natur, namentlic
der ihr inwohnende religiöfe Trieb, bleibt immer derfelbe.* —
Gegen diefe Umwandlung der Gefchichte in bloße Sinn:
bilder des Göttlichen erhob fich zunächft der kirchliche Glau⸗
den mit allem Eifer. Sie raube, warf ihr Diefer vor, dem
Menfchen allen Troft, der in den Thatjachen ber Auferftehung,
Himmelfahrt ıc. liegt; — für die Gewißheit, daß Gott wirt
fich einmal Menfch geworden, biete fie in der Anmahnung,
daß der Menfch göttlichen Sinnes werben folle, ſchlechten
Erſatz; — and ber verfühnten Welt werde der Menfch in
ine unverföhnte zurücigeworfen, um die verlorne aus eigenen
Kräften wieder zu erringen; — es könne aber ber Menſch
durch fich allein nie zur Verführung mit dem Unendlichen fd
erheben.
Auch die nenefte Wiffenfchaft hat jene Anſicht verworfen,
indem fie behauptet, das Endliche dürfe nicht nur als Sinn
bild des Unendlichen aufgefaßt werden, weil dadurch beide ale
getrennt auseinander gehalten würden; vielmehr feien beide fo
ungertrennlich verbunden, daß das Endliche als die ewige
Verwirklichung des Unendlichen, das zeitliche Leben als eine
unmmterbrochene Offenbarung des ewigen betrachtet werden müſſe.
Bon diefem Standpunkte aus, den ſchon Schelling am
wies, indem er fagte: „Die Menſchwerdung Gottes ift eine
Menſchwerdung von Ewigkeit her“, hat neneftens Hegel
die Grundlage zu einer neuen, von manchen Theologen in’s
Einzelne ausgebildeten Lehre von Chriftus gelegt: wir geben
feine Lehrfäte fo allgemein verftändlich, wie möglich, wieber.
Der oberfte Satz diefer Entwideling if: „Alles Ber;
487
nünftige Cin ber Vernunft Begründete) muß auch wirklich
fein.“ Daraus wird folgendes abgeleitet:
„Da Gott ein Geift, und aud der Menſch Geift it, fo
folgt daraus, daß beide an fidy nicht verfchieden fein Fonnen:
denn es iſt das Wefentliche des Geiftes, ein Einiges und _
Untheilbares zu fein. Es darf daher Gott nicht als ein ſtarr
in ſich felbft abgefchloffenes Weſen gedacht werden, foudern
als das Unendliche geht er ewig in das Endliche ein, und
ewig fehrt er in fich felbft wieder zurüd: in Diefer fletigen
Selbftoffenbarung Gottes befteht alles Leben; in ihr liegt Die
lebendige, innerfie Gemeinfchaft des Menſchen mit Gott.
Daher ift der unendliche Gott nur darin wirflicd, daß er
in den endlichen Geiftern lebt; und der endliche Menſchengeiſt
iſt nur dann wahrer Geiſt, wenn er in dem unendlichen
Gotte lebt. Der Geift ale folder ift alfo weder allein Bett,
noch allein Menſch, fondern er lebt nur ald Gottmenfch:
Gott in dem Menfchen und der Menſch in Gott. Dieß ewige
Wechſelverhaͤltniß ift von Seiten Gottes verwirklicht durch. feine
Dffenbarung, durch die er fi) dem Menfchen ewig Funp
gibt; von Seiten des Menfchen durch feinen Glauben, dur
den er ungertrennbar mit Gott verbunden if, “
„Die Einheit Gottes und des Menfchen kann alſo von
dem Menfchen verwirklicht werden nur durch ädhte Religion;
d. h. nur durch den Glauben, in welchen er fid) wahrhaft
als Eins mit Gott fühlt: er in Gott und Gott in ihm.
Eine tiefer ftehende Religion faßt Gott entweder nur als Na-
turkraft, die unter dem Geiſte, alfo aud) unter den Mens
(chen ſteht; oder als tedten Gefeggeber auf, der über
dem Menfchen fteht: in beiden Fällen fteht Gott außer dem
Menfhen. So wie aber die Menfchheit dieß erkennt, daß
weder der unter ihr ftehende Naturgott, noch der über ihr
fiehende Geſetzesgott ihrem religiöfen Verlangen genug tbut,
fo muß fie erfennen, daß Gott im Menfchen leben muß, daß
Gott und Menſch Eins fein müffen. Diefe Erfenntniß kann
ihr aber nach ihrer Entzweiung mit Gott nur dadurch zu Theil
werden, daß eine menſchliche Perfon auftritt, in der wir
beides, Gott und Menfch, als finnliche, wirkliche, wahrnehns
bare Einheit fchauen. Ssufofern nun dieſer Gottmenfc das
288 -
göttliche und wmenfchliche Weſen zugleich in r ich einſchließt,
iſt Gott fein Vater und feine Mutter eine menſchliche: —
da er nur für Gott lebt, in welchem er ganz aufgeht, fo ift
er der Sündlofe; — ald Menſch von göttlichen Weſen hat
er Gewalt über die Natur und it Wunderthäter; — e
lebt im Stande der Erniedrigung, weil er Gott in menſch⸗
lichem Weſen ift; ja er muß bis zu den lebten Tiefen ber
Enbdlichkeit, bis zu dem Tode hinabfteigen, weil er auch im
der änßerften Entäußerung Gott im Menfchen bleibt. Auf
diefer lebten Gränze der Einheit mit dem Endlichen mußte
aber das Linendliche im Sottmenfchen wieder zu fich felbft ben
eg finden; die Auferftehung und Himmelfahrt mußte
offenbar machen, daß fein Tod nur Rückkehr zu Gott war,
und daß durch die völlige Abftreifung der Natürlichkeit ewig
die VBerföhnung zu Stande gebracht wird.“ — „Nachdem
diefer Gottmenſch durch den Tod der finnlichen Anfchauung
des Menfchen entrüdt worden, ging er in ihre Erinnerung
und Borftellung über; die in ihm enthaltene Einheit des Götts
lichen und Menfchlicyen wird allgemeines Bewußtfein, und
ewig muß die Gemeinde fein Leben innerlich wiederholen:
wie er äußerlich, muß der Gläubige fich geiftig tüdten, damit
durch die geiftige Auferftehung Gott und Menfch in feinem
Geiſte völlig Eins werden.“ *')
An der Hand diefer neuen Heilslehre find nun viele Theos
logen wieder zur alten Rechtgläubigfeit zurückgekehrt, aber auf
umgefehrtem Wege. Während nämlich die Kirche aus ber
Richtigkeit der Geſchichte das Gebäude ihrer Lehre hers
. leitete, beweist dieſe neusorthodore Schule die Richtigfeit der
Geſchichte aus der Wahrheit ber aufgeftellten Begriffe:
2, Wenn der Lefer in Obigem Leinen rechten Sinn finden kann,
fo möge er fi mit dem Verfaſſer tröften, dem es eben fo er:
geht. Obgleich von fehr wahren Sätzen ausgehend, läuft Doc
dieſe Lehre von Chriftus in einen Punkt aus, daß man glau⸗
ben möchte, Sefus habe Leben, Tod und Anferftehung nur fo
durchgemacht, um der Welt auf prattifchem Wege — Heerſqhe
Philoſophie beizubringen! -
2%
denn in dieſen Satz laͤuft ihre Lehre wieder zurüd: „alles
Bernünftige muß ja wirklich fen“! — Daher 5. 8. folgende
Säte: Jeſus konnte nicht andere, als wunderbar wirken,
weil ihm das Wunderthun natürlic, war; die Auferſtehung
ift fo wenig befrembdend, daß es befremben müßte, wenn Chriftus
nicht auferftanden wäre; u. f. w.
Allein Niemand wird fich überreden laffen, daß durch Diefe
kuͤnſtlich verfchlungenen Säte die Wirklichkeit der von der
Kirchenlehre vorausgefegten Wundergeſchichten bewiefen fei.
Denn wenn auch Göttliches und Menfchliches Eins find, folgt
daraus, daß diefe Einheit in einem einzelnen Menfchen ſich
verkörperte? daß göttliche und menfchliche Natur in Einer ges
fchichtlihen Perfon vereinigt geweſen? Wenn fid, der götts
fiche Geift in der Menfchheit durch immer größere Herrfchaft
Aber die endliche Natur offenbart, muß deßwegen ein einzelner
Menſch dieſe Herrichaft im vollften Maße ausgeübt haben?
Endlich — wer wird aus dem Satze, baß die Ertöbtung des
Sinnlichen im Menſchen eine Auferftehung des Geiftes fei, bie
leibliche Auferftehung eines Menfchen beweifen wollen!
Nein! halten wir die hohe Idee einer Einheit.des Götts
lichen und Menfchlichen feſt; fuchen wir aber ihre Verwirkli⸗
chung nicht in Einem endlichen Weſen, wobei alle andern leer
ausgingen, fondern in ber ganzen Menfchheit: in der Mans
nigfaltigfeit von Einzelweſen, die ſich gegenfeitig‘ ergänzen,
und zufammen ein Ganzes bilden, — hier wird jene Eins
heit auf eine unendlic, höhere Weife wirflich, als. wenn wir
fie in Einem eingefchloffen und ab gefchloffen denfen: in ber
Menfchheit ift Gott nicht einmal, fondern von Ewigfeit her
Menfch geworden; in ihr lebt er in der reichiten Fülle feiner
Kraft.
Fünfted Kapitel.
VBermittlungsverfuch und Schluß.
Hierin haben wir den Schlüffel zur ganzen Lehre von
Chriftus gefunden, daß wir das, was die Kirche von Dem
Einen Jeſus ausfagt, als Wefen und Eigenfchaften der ganzen
808
Menfchheit uichteiben: Die Menſchheit iR Chriſtus. Zu
dam einzelnen Menſchen wärben Menichliches und Goͤttliches
nie zur vollen Einheit gelangen: in ber ganzen Gattung ver
ſchelzen fie zur innigſten Bereinigung. Die Menfchheit iR
die Bereinigung der beiben NRaturen, des unendlichen Geiftes,
der fic feiner Unendlichkeit ewig bewußt bleibt; fie ift ber
i - menfihgewordene Gott, das Kind ber fihtbaren Mutter,
der Natur, und bed unfichtbaren Vaters, bed göttlichen
Seiſtes. — Sie ift der Wunderthäter, indem Durch bie
Menſchengeſchichte hindurch ber Geift immer vollftändiger ber
Natur in und außer dem Menfchen ſich bemächtigt und fie
überwindet: — fie ift ber Unſündliche, infofern ihr Eut
wicklungsgang ein tabellofer it, und das Unreine immer wmır
an dem Einzelnen haftet; — fie ift der Sterbende, Aufs
srfichende, gen Himmel fahrende, indem durch bie
ſteigende Vernichtung ber Raturgewalt, burch bie Ueberwindung
aller Trennungen in Perfonen, Bölfer und Zeiten ber umend»
liche Geiſt des Himmels fich ſtets höher erhebt. Durch dies
fen Glauben wird der Menſch gerecht vor Gott, indem er
dadurch fich feiner Abgefchloffenheit entäußert, in und für
die Menfchheit Lebt und Eins mit dieſer zu dem Anſchauen
"der ewigen Liebe ſich aufſchwingt: — ber Menfc is ber
Menfchheit lebend, ift der Erlögte,: ber mit dem himm⸗
Dicen Bater Berföhnte: in dieſer lebendigen Gemeinfchaft
- in der Hingebung au die Menfchheit wird der Menfch
in Ehrift.
- Daß diefe allein wahre Lehre von Ehriftus an die Perfon
eines Einzelnen, an Jeſum, angefnüpft worden, gehört
nur zu ihrer äußeren Form, ift unmefentlich, und bat nur
dazu gedient, den Menfchen. diefelbe anfchaulidy zu machen.
Denn der noch unmündige Glauben des Menſchen hält fich
überall an äußere Thatfachen, an finnliche Sefchichte: er klam⸗
mert fich an diefelben an, weil er noch nicht zur Reife, zur
inneren Stärfe und Freiheit gelangt ifl. Sobald dieſes ges
ſchehen it, ſobald die äußere Geſchichte in Dem Gemüthe das
Bewußtſein ber mit Gott einigen Menichheit entwidelt bet,
muß auch Der Glauben im Menichen eine audere Gral
491
annehmen: er flreift die Hülle .der äußeren Geſchichte ale eine
unweſentliche, ihm überfläffig gewordene ab, und lebt und
webt nun mit mündig gewordener Freiheit und Selbftftändigs
keit in dem feligen Befiße der Ideen, welche die Gefchichte
in ihm groß gezogen hat. Diefe Gefchichte Iebt in ihm aber
als theure Erinnerung fort, wie auch der gereifte Mann
ſtets die Lehrer feiner noch nicht erftarften Jugend verehrt,
obgleich er ihrem nicht mehr bedarf. Wenden wir. dieß auf
die Lehre von Chriftus an, fo zeigt. und fchon der alte Luther
den richtigen Weg, wenn er fagt, die geiſtlichen Mirakel
feien die rechten hohen: follten wir nun, nach 300 Sahren,
ein größeres Gewicht auf einige Kranfenheilungen in Galilaͤa
legen, als auf die Wunder, durch welche die Welt der Geis -
fer erfchüttert wird, — die in der Weltgefchichte zu
Tage liegen, die täglich in der hohen Gewalt, mit welcher
der Menſch die Natur bemeiftert, offenbar werden? Es foll
ten einzelne, in unbeftimmtes Onnfel gehüllte, und. darum wig
Mirakel ausfehende Ereigniffe unfern Glauben an die Einheit
Gottes mit der Welt auf eine folche Weiſe in Anfpruch nehs
men fünnen, daß wir darum das einzig hohe, ewig Flare und
doc, geheimnißuolle Wunder, Gott in der Welt, in Schats
ten fiellen wollten? Bielmehr hat Schleiermadjer hierin
ganz das Rechte, wenn er behauptet, unfere Zeit fünne nie
mehr das Bedürfniß empfinden, einzelne Thatſachen ald wuns
berbare aufzufaffen, weil fie auf einem Standpunkte ftehe,
auf dem ihr der ewige Kreislauf des göttlichen Lebens, in
feinem ewigen Sterben und Wiederauferftehen mehr gelte,
ald äußere Begebenheiten, die ung der Spürfinn prüfender
Belehrfamfeit jeden Augenblid ans den Händen winden Fann.
‘
Muß alfo eine wiffenfchaftliche Ehriftuslehre über die Pers
fon Sefu hinausgehen, fo wird fie dennoch in Einer Hinfücht
immer wieder auf diefelbe zurüdgeführt. Denn alles Große
in Leben, Kunft und Wiflenfchaft, am meiſten aber in ber
Religion ift von Einzelnen, als einer überfchwenglich reichen
Duelle, ausgegangen; erhält daher die Perfon eines Einzelnen
in unfterblicher Wirkung ftetö lebendig: follte es mit der ge-
oo. 108
waltigſten geifligen Schöpfung, dem Ehriſtenthume, ſich am
ders verhalten kͤnmen? Auch dieſe muß das unſterbliche Wert
eines Einzelnen fein: fie iſt Die Schöpfung Jefu Chriſti.
Dieſe Betrachtung verſetzt uns Jeſum in die Reihe der hoch⸗
begabten Geiſter, die berufen waren, die Entwickelung des
Geiſtes zu höheren Stufen zu erheben; der Geiſter, welche
in andern Gebieten als Genie's bezeichnet werden. Scheint
es, als wenn Jeſus, der neben einem Mofedp Homer, Alexan⸗
Der, Raphael, Mozart, nach dieſer Anſicht zu ſtehen kommt,
nicht hoch genng geſtellt ſei, ſo muß man folgendes wohl er⸗
waͤgen. Erſtens iſt das Gebiet, auf welchem Jeſus fo ſtrah⸗
lend emporragt, nicht nur das höchſte aller Gebiete des gei⸗
ſtigen Lebens, ſondern vielmehr der eigentliche Mittelpunkt,
das Herz aller andern, das alle andern mit Lebensfriſche durch⸗
dringt; Religion ift bie. Seele der Seele. Zweitens fteht
grade auf dieſem erhabenften Gebiete Jeſus fo zinzig und
merreicht da, daß er mit vollem Rechte der Erſte unter ben
Erften genannt werben kann.
Jedoch kann dieß nur mil einer gewiffen, durch wiffens
fhaftlihe Erwägung gebotenen Beſchraͤnkung behauptet werben:
Menn auch Sefus auf eben erörterte Weife auf die höchfte
- Stufe menfchlicher Größe geftellt werden muß, fo kann bieß
nur von ber Vergangenheit gelten: für die Zukunft bürs
fen wir die Möglichkeit nicht in Abrede ftellen, daß fie einen
noch Srößeren hervorbringen könne. Er felbft war ja nad
fo vielen Großen auf dem Gebiete der Religion der Größere:
Jeſus trat nach Mofes auf. Wenn auch von einzelnen Böls
tern mit Gewißheit behauptet werden fan, baß fie ihren
Höhepunkt bereit erreicht haben, fo wird dieß nie von der
gefammten Menfchheit, am wenigiten von dem höchiten
Gemeingute berfelben, der Religion, gefagt werben konnen.
Allerdings wird ein nachfolgender höher ftehender Genius gar
oft darum der Höhere fein, nicht weil er feinem inneren Werthe,
feinem reinen Gehalte nach größer ift, fondern weil er, ges
tragen durch die Errungenfchaft langer Zeiten, mehr Ieiftet,
Größeres thut; weil er auf den Schultern der Borgänger
ſteht. Immer aber ſteht er doch Höher, er ſteht der Ents
widelungeftufe feiner Zeit näher, als ein: früherer, wenn
. 403 |
auch eben fo großer Mann. So fünnte es alfo um fo mehr
möglich fein, daß auch nach Jeſus auf dem Gebiete der Res
ligion ein Mann aufftünde, der mit höherer Einfidyt begabt,
der Bildungeftufe feiner Zeit näher verwandt, eine größere
Anziehungskraft auf deren Religion ausübte, als der, nicht
minder große Jeſus von Nazaret. Könnte es. auch fo fcheis-
nen, ald ob der in neuerer. Zeit fo hoch hervorragende Vers
ftand die freie und fruchtbare Beweglichfeit des Gefühle und
der Einbildimgsfraft, aus deren feurigem Zuſammenwirken
alle Religion hervorblüht, in ſolchem Grade hemme, daß ein
zweiter Chriftus nicht wieder erftehen könne, fo müflen wir
ung doch fehr hüten, über das eigentliche Lebenselement ber
Menfchheit durch eine aus diefer Erfahrung abgeleitete Behaup⸗
tung abzufprechen.
Bielmehr müffen wir die beunruhigende Möglichkeit, daß
ein Größerer, als Sefus, erfcheinen könne, dadurd, in Zweifel.
zu feßen fuchen, daß wir nachweifen, theild aus der Perfüns
lichkeit Sefu, theild aus der Natur der Sache, daß dieß nicht
denkbar fei.
Weil die Religion wefentlich in der vollendeten Einheit
bes Gemüthes mit Gott, alfo in der vollendeten Vernichtung
des Zwiefpaltes zwifchen dem Endlichen nnd Unendlichen, dem
Menſchlichen und Göttlichen befteht, fo kann, wenn auch in
entwidelter Einſicht, doch niemals in religiöfer Beziehung
Jemand fich über Sefum erheben. Denn er war fich bewußt,
den Bater im Himmel vollfommen zu erfennen; er ließ voll«
fommen feinen Willen in dem Willen Gottes aufgehen: ‚nach
Johannes fprach er ausdrüdlic feine Einheit mit dem Bater
aus, und ftellte fich als die fichtbare Dffenbarung desſelben
bar *. Und zwar war biefe Stimmung nicht ein vorübers
gehender Auffchwung feines Gemüthes, fondern der in allen
feinen Reden, Handlungen, in Thun und Leiden gleichmäßig
und immer rein burchflingende Grundton feines ganzen Weſens.
Es ließe fic) dagegen einwenden, daß Doc, auch die durch
das Denken ausgebildeten Borftellungen nicht unwichtigen
Einfuß anf dad Gefühl, als eigentliche Quelle der Religion,
ausüben; und baß alſo, je reiner bie religiöfen Vorſtellungen
werden, je gelätiterfer durch, die ſtets fortichreitende Verſtan⸗
desbildung bie Begriffe werden, auch die Kraft umd Fälle
des Glaubens ſich um fo freier und ungehemmter bewegen
möüfle. Aus die ſem Grunde, fo fcheint es, könne gar wohl
mich nach Jeſu ein noch Höherer auf dem Felde der Religion
erwartet werden. Allein da. doch das vollendete Bewußtſein
der Einheit ded Gemüthes Die eigentliche Seele der ——
keit ift, über welche fie ſich nicht weiter erheben kann; da
dieſe Einheit erſt durch Jeſus errungen worden ift, fo fönnen
von nım an bie religiöfen Kortfchritte immer nur Einzelnes
und Aeußeres betreffen, niemals aber ſich wieder Dem Rie⸗
fenfchritte- an die Seite ftellen, um welchen Jeſus bie Menſch⸗
beit auf der Bahn ihrer religidfen Entwidelung vorwärts ges
bracht hat. „Auch ift feitdem die Einheit Gottes und des
Menſchen in feinem menfcjlichen Bewußtſein mehr in folder .
fhöpferifchen Urfräftigfeit aufgetreten, daß fie, wie bei ihm,
fein ganzes Leben gleichmäßig und ohne bemerfbare Trübung
durchdrimgen und verflärt hätte *.
Sollte aber, wenn auch fein Höherer nach Sefu zu er
warten fteht, nicht Doch ein ihm Gleicher auftreten können;
ihm darum gleich, weil er fich zu derfelben Höhe der Fröm⸗
migkeit erhoben hätte, wie er? Allerdings; und was man
gegen diefe Behauptung vorbringt, beruht auf ZTäufchung
oder umnflaren Begriffen: jedoch „Angftigt man ſich hier mit
Träumen ab und ſchlaͤgt fi) mit Schatten herum, fofern ja
üserall von Feiner wirklich gegebenen Erfahrung, fondern nur
von gedachten Möglichkeiten die Nebe ift. Auf dergleichen
Grübeleien des Berftandes braucht die Religion fich fo wenig
einzniefien, ale em vernünftiger Mann durch die Möglichkeit
eines Zuſammenſtoßens ber Erde mit einem vorüberwanbelnden
Kometen ſich ſchrecken Täßt *.
Wir faffen alſo unfere kehre von Chriſtus in folgende
. &Säte zuſammen:
495
Chrifius ift derjenige, „in beffen Selbfibetunfsts
fein die Einheit des Göttlichen und Menfchlichen
zuerft und mit einer Kraft aufgetreten ift, welche in
des ganzen Umfange feines Gemüthes und Lebens
alle Senmungen diefer Einbeit bis zum verſchwin⸗
denden Eleinften Neſte zurückdrängte; obne daß jes
boch das von ihm zuerft errungene religidfe Bewußt⸗
fein fi im Einzelnen der Läuterung und Weiter⸗
bildung durch die fortichreitende Entwidelunug des
menfchlichen Geiftes entziehen dürfte *.
496
Beilagen.
I. Die evangelifche Gefchichte.
Es ift den Forfchungen von Dr. Strauß häufig der Vor⸗
wurf gemacht worden, daß fie Die ganze evangelifche Gefchichte
zu vernichten bemüht ſeien; es haben fogar Viele, ich will
nicht entfcheiden, aus weldyen Gründen, ‚mit Entrüftung der
Melt verfündet, Strauß laſſe nicht einmal die einfache Eris
ftenz eines Jefu unangefochten, und ihm zufolge zerfließe felbft
der Stifter des Chriftenthums in das Nebelgebilde unbeglau-
bigtee Sage. Aus einer aufmerffamen Betrachtung der vors
liegenden Forſchungen muß fich zwar das Grundloſe folcher
unverftändigen Vorwürfe von felbft ergeben: indeffen mag ee
doch nicht überflüffig fein, aus den vielfachen Windungen
wiffenfchaftlicher Prüfung Die gewonnenen Ergebniffe gefchicht-
licher Wahrheit zu einfacher und beruhigender Weberficht
zufammenzuftellen, und dadurch den unlängbaren Beweis zu
liefern, Daß auch bei der tief einfchneidenden, zum erften Male
mit aller Schärfe angewandten mythifchen Auslegungsweiſe
ein feiter, unangefochtener gefchichtliher Kern übrig bleibt.
Wir müffen zu diefem Zwede vorerft Die Hauptgrundfäße,
von welcher diefe Unterfuchung ausging, in aller Kürze zus
fammenjtellen.
Die Welt, ald ein Ganzes, ift ein einiges, ewiges, uns
erflärbares Wunder Gottes: dieſes Wunder wäre ein mans
gelhaftes, alfo nicht» göttliched, wenn fein großer Zufammens
bang geftört und unterbrochen würde durch ein befonderes
Eingreifen Gotted. Daher können Erzählungen, welche ein-
zelne abgeriffene Wunder, wodurch die von Gott gegründeten
Naturgeſetze zerftört werden, keine wahre Gefchichte enthalten
497
(S. 49); fie fünnen nur ald Mythen oder Sagen (©. 26)
betrachtet werden. Diefen Grundfaß müflen wir auf die evan⸗
geliſchen Berichte mit derfelben Strenge und Unbefangenheit
anwenden (©. 34), wie wir es ſchon fängft in Bezug auf
alle andern WVeberlieferungen ans der Vergangenheit zu thun
gewohnt find CS. 523. Dabei aber vergeffen wir niemals,
daß Mythen, da ſie aus der BVorftellungsweife einer ganzen
Zeit hervorgehen, da fie Dichtungen gläubiger Gemüther
find CS. 53), durchaus nicht mit Fabeln, weldye immer ab-
fichtliche Erdichtungen eines Einzelnen find (S. 17), verwech⸗
felt werden dürfen. Wir vergeffen niemals, daß die Mythen
der Ehriften einen ungleich edleren, der Frömmigkeit ungleich
mehr zufagenden Gehalt haben, als die heidnifchen (©. 45):
— ganz vorzüglich ift es die im alten Zeftamente begründete
Erwartung eines das jüdifche Volt wieder anfrichtenden Mefs
fias, welche die einfache Gefchichte Jeſn mit fo vielen my⸗
thiſchen Zuthaten durchwebte (S. 56). Wir nennen alfo
evangelifche Mythe jede auf Jeſum fich beziehende Erzählung,
welche nicht als wirkliche Thatfache zu betrachten ift, fonts
dern als der Ausdrud der. Borftellung, die feine früheften
Anhänger von ihm fich gebildet hatten, gleichſam ale ber
Niederichlag ihrer Ideen von ihm, ald Meffias (©. 61):
zu biefen mythifchen Beftandtheilen fommt ferner noch mans
cherlei, was fi) ald Sage oder als Zuthat des Schriftftel-
lers anfündigt CS. 66). Hiermit aber ift dem Geſchicht⸗
lichen in ben Evangelien, welches fie noch in reichem Maße
enithalten, nichts vergeben (S. 62): — ferner ift, wenn bei
vielen einzelnen Erzählungen das Befenntniß abgelegt werben
muß, daß wir nicht wiffen, was wirklich gefchehen ift, damit
feineswegs gefagt, daß überhaupt Nichts gefchehen, daß die
ganze Erzählung eine erdichtete fei (©. 69).
Zu diefem Berfahren find wir auch ans dem äußeren
Grunde berechtigt, daß von feinem unferer Evangelien erwie⸗
fen werden fann, es fei Werk eines Apoftels oder auch nur
eines unmittelbaren Schülers der Apoftel (S. 36): vielmehr
gehen die beftimmten Zeugniffe, welche wir über das Vorhan⸗
benfein Diefer Evangelien haben, nicht über das Jahr 150
nach. Ehriſti hinauf (S. 40). |
11. 32
| 298
Aus genauer Erwägung aller Verhaͤltniſſe geht hervor,
daß eine fcharfe Gränzlinie ziwifchen Gefchichtlichem und Uns
‚gefchichtlihem bei den. evangelifchen Berichten fehr ſchwer zu
‘ziehen iſt; daß es felbft unmöglich bleiben wird, überall
nachzuweiſen, was wirklich gefchehen ift, und was nicht (S. 69).
Als gefchichtlich beglaubigte Ereigniffe glauben wir nach
angeftellter forgfältiger Präfung Nachſte hendes feſthalten zu
ſollen. .
— —
Die Geſchlecht sregiſter, die wir von Jeſu beſitzen,
und die es ſich zur Aufgabe gemacht haben, ſeine Abkunft
yon David gu beweiſen, haben ihren alleinigen Werth Darin,
daß fie bie fefte Veberzeugung beurfunden, Jeſus fei wirklich
der Meſſias, ber nach allgemeinem Glauben von Davib ab-
ftammen mußte, geweien (©. 81). Sie find eben. fo gewiß
bloß erdichtet, ald die Erzählungen von feiner wunderbaren
Erzeugung und feiner von Wundern verherrlichten Geburt in
Bethlehem (S. 91, 100, 101, 108); vielmehr war er ein
Sohn Joſephs und der Maria, erzeugt in rechtmäßiger Che
(©. 93) und geboren in Nazaret, wo feine Aeltern wohn
ten (S. 117): — ohne Zweifel hatte er auch Brüder und
Schweſtern, die theild älter, theild jünger als er gewefen
fein mögen (S. 96). Alle Sagen, durch weldye Jeſu Geburt
verherrlicht wurde, beweilen nur, wie tief der meffianifche
Eindruck war, den er machte, weil man fo. frühe bemüht war,
nachzuweifen, daß alle auf den Meffias bezogenen Weiffagune
gen an ihm in Erfüllung gegangen feien (S. 111). Aus
der Erzählung von den bei feiner Darftellung im Tempel vors
gefallenen Ereigniffen (S.. 114) fünnen wir nur das fefthals
ten, daß von da an fein Geift unter dem Segen Gottes er
ftarfte (CS. 115). Seine Sugendzeit brachte er in Nazaret,
dem Wohnorte feiner Neltern, zu: Nazaret wirb öfters feine
Baterftadt genannt (S. 118). Sein Bater war ein Hands
werfer, wahrfcheinlich ein Zimmermann; daß auch Jeſus das
Handwerk betrieben, fünnen wir gleichfall8 annehmen (S. 129:
in welchen Bermögensumftänden er- lebte, läßt fich nicht mit
Sicherheit ermitteln (S. 125). Schon frühzeitig begleitete er
feine Aeltern bei ihren Reifen nach Serufalem zur Feier der
409
jüdifchen Feſte: die früheite fiel in fein zwölftes Sahr, und
gab ihm Gelegenheit, die Schriftgelehrten im Tempel durch
die ungewöhnliche Neife feines Geiftes ın Erftaunen zu ſetzen
(S. 121); bei diefer Gelegenheit fam er feinen eltern: aug
den Augen (S. 121); fie mußten wieder umfehren, um ihn
zu fiihen, und fanden ihn mitten unter den Lehrern; feine
Antwort auf ihre Vorwürfe verrathen, daß ſchon damald das
Bewußtfein von feiner innigen Gemeinfchaft mit Gott in ihm '
aufzublühen begann (S. 122).
Wiederholte Feftreifen nach Serufalem trugen nicht wenig -
dazu bei, ihn zu feiner künftigen Beſtimmung vorzubereiten,
feinen Gefichtöfreis zu erweitern und mit dem Zuftande des
über alle Länder zerftreuten jüdifchen Volkes ihn befannt zu
wachen; frühzeitig ſchon mag er auf dieſem Wege mit deffen
Leiden und dem ‘tiefen Berfalle des religiöfen und fittlichen
Lebens befannt geworben fein (S. 125). Ob er die gelehrte,
Bildung eines Rabbi genoffen, Täßt fich aus unfern Evange-
lien nicht ermitteln (©. 125): obgleich er tiefe-Kenntniß der
heil. Schriften häufig beurfundet, fo ift es doch wahrfchein-
lich, daß er die Nabbinenfchulen nicht förmlich durchgemacht
bat, da man ſich mehrmals über feine ‘Weisheit vermunderte
(S. 126). Seine Erhebung über den befchränften Gefichte-
kreis des alle andern Völker verachtenden gemeinen Juden⸗
thums und fein meſſianiſches Bewußtfein ſcheint ſich in ihm
insbefondere an der Hand bes Jeſaias und Daniel entwidelt
zu haben. Die Heuchelei und der fcheinheilige Buchftabendienft
der Pharifäer mag fchon frühe dazu beigetragen haben,
frin höheres Bewußtfein zu weden und. zu läutern, vermöge
defien er fpäter fo entfchieden gegen diefe auftrat (CS. 127);
den Effenern können wir ebenfalls einen nicht unbedeutens
den, aber doch wohl nur mittelbaren Einfluß auf feine Bildung
zufchreiben (S. 128): weitaus das Meifte hatte er ſich ſelbſt
zu verdanken (S. 129).
—
—
Seine öffentliche Wirkſamkeit begann er damit, daß
er von Johannes ſich taufen ließ (S. 130). Dieſer Mann
war unter Herodes geboren, und gewann durch feine (näs
500
tere Wirkſamkeit fo große Bedeutung, daß bie chriftliche Sage
zur Berherrlichung feiner Geburt fich angetrieben fand (S. 78).
Db er mit Sefu verwandt, ob er älter war, als diefer, oder
nicht, muß unentfchieben gelaffen werden. Wahrfcheinlich
wirfte er als Prophet ſchon längere Zeit vor dem öffentlichen
Auftreten Jeſu (S. 131) und gehörte zu der Selte der Naſi⸗
vier (S. 133): er hatte fich ein großes Anfehen erworben
und hinterließ eine große Anzahl von Schülern. Dem Fürften
von Galilän, Herodes Antipas, machte er fid) durch die Freis
müthigfeit, mit welcher er defien unerlaubte Heirath getabelt
hatte, verhaßt; diefer ließ ihn einferfern und, überliftet durch
- fein ränfevolled Weib, hinrichten (147), und zwar lange vor
Jeſu Tode (S. 132). Jeſus ſcheint einige Zeit lang auch
- fein Sünger gewefen, und erſt nadı deſſen Hinrichtung öffent
- Lich aufgetreten zu fein (S. 143).
Das Taufen des Johannes war nicht aus ber ohne
Zweifel fpäter erft entitandenen. Profelytentaufe hervorgegatis
gen, fondern ficherlich, wie ähnliche Wafchungen bei den Ele
nern, aus der Deutung bildlicher, altsteftamentlicher Ausdrüde,
in welchen vom jüdifchen Bolfe, wenn ihm Gott wieder gnäs
dig werden folle, Baden und Abwaſchen der Sünden verlangt
wurde. Denn Sohannes wollte auf die mefftanifche Zeit vors
bereiten, und ſah fich als Borläufer des bald zu envartenden
Meifias an (S. 134); daß Jeſus dieſer Meſſias fei, Davon
hatte er bei feinem Auftreten wohl noch Feine Ahnung (S. 13735
allerdings aber muß aus näherer Befanntfchaft mit Jeſu diefer
Gedanke allmälig ſich in ihm entwidelt haben (S. 143). Je⸗
doch wurde er, da er noch ganz jüdiſche Meſſſashoffnungen
hatte, fpäter im Gefängniffe wieder an ihm irre; Denn ale
leidenden und durch -den Tod erlöfenden Meſſias vermochte
er ihn nad) feinen Borftellungen nicht aufzufaflen (S. 139). —
Uebrigens wurde der Täufer felbit von Vielen für den Meſ⸗
ſias gehalten, von Andern für Elias (S. 145) x. : Jeſus ſtellt
ihn zwar über die Propheten des alten Teſtamentes, doch
aber den Gliedern des Meifiasreiches nicht glei (S. 116).
u Jeſus unterzog fid) der Taufe, weil er darin Die Erfüllung
einer altsteitamentlichen Weifung, daß der Meffias bar
501
Salbung und. Weihe in feinen Beruf eingeführt werden. müffe,
rblicte (S. 150): für den Sündlofen aber kann er fi
yamals noch nicht gehalten haben (S.149). Nach der Taufe,
yon welcher wir nur mythiſche Erzählungen befiten, zog er
ich eine Zeit lang zu flillen Betrachtungen in bie Einfamfeit
mrüd (©. 166), wo er fidy für feinen hohen und: fchweren
Beruf vorbereitete (S. 159). Denn mit der Ueberzeugung,
aß er der Meffias fei, trat er auf; allein er hatte Feine pos
itifchen Plane, wie aus vielen Umftänden und Neben hers
orgeht; vielmehr erklärte er fehr beftimmt, daß fein Reich
zicht von diefer Welt fei (S. 193). Den Namen „Meffias“
Aßt er fich zwar öfterd gefallen, er felbft nennt fich aber
aiemals fo, eben fo wenig „Sohn Davids“, weil er beforgte,
yadurc die ihm fremden Erwartungen eines mit irdifchem
Glanze umgebenen Meffiagreiches zu nähren CS. 184). : Ges
möhnlich bezeichnete er ferne Perfon mit dem Namen „Mens
[chenfohn“ (S. 182), oder ald „Sottesfohn“ (S. 184); zwei
Bezeichnungen, weldye ganz dazu geeignet waren, die Vorftels
ungen von der auf das Weberfinnliche gerichteten Beſtimmung
des Meſſias zu nähren: er wollte damit fagen, daß er in ber
innigften Gemeinfchaft mit Gott ftehe, in welche der Menfch
ſich verfeken fünne (S. 185); daß er von Gott zu den Men:
ſchen gefandt fei (S. 186); daß er von Anfang an mit ihm
in der innigften Gemeinfchaft geftanden habe (S. 187). Nur
darum, weil er feinen meffianifchen Beruf weit über die herr-
fchenden finnlichen Erwartungen des jüdifchen Volkes hinaus
erweiterte, wurde er ſo oft von diefem Volke verläftert und
verfolgt (S. 186).
Auch feine nächften Schüler und Freunde, die Apoftel,
waren nicht fähig, fidy zu der Höhe des mefftanifchen Bewußt⸗
feins, auf der Sefus ftand, zu erheben: fie konnten ſich, fo
lange ihr Herr und Meifter lebte, von ihren irdifchen Erwar⸗
tungen nicht losreißen (S. 189. Daher erkannte Jeſus frühe
ſchon die Nothwendigkeit feines Todes: dieſer war bas eins
ige Mittel, durch welche er die Meffinsidee femer Volksge⸗
noffen von ihren irdifchen Beftandtheilen zu reinigen vermochte
(S. 191). Aus diefem Grunde wies er auch feine Junger
nicht fogleich und nicht mit ganz beſtimmten Worten auf feine
5
2
Peifianität hin; er if von dem Bekenntniſſe des Petrus, daß
er der Meſſias ſei, überrafcht (S. 189), und verbietet ſehr
häufig den von ihm Geheilten, etwad von ber Heilung be⸗
kaunt werben zu laflen (S. 190).
Seins wirkte zuerft und wahrſcheinlich andy die laͤngſte Zeit
in Saliläa (S. 169), und zwar fcheint das volfreiche Ras
yernaum am See vorzugsweife fein Wohnort gewefen zu fein
(S. 175). Jedoch iſt er ohne Zweifel mehrmald and, in
Judäa, und namentlich in Serufalem, bei den hohen Feſten
lehrend aufgetreten (S. 174), wofür fchon feine genauen Ber
hältniffe zu Mehreren, die in oder bei der Hauptſtadt wohns
ten, Beweife find (S. 175). Wie lange er wirkte, von der
Taufe bis zum Tode, ift nicht mit Sicherheit zu ermitteln
(S. 179), wahrfjcheinlic, jedoch zwei bis drei Sahre (S. 178)
lang. Auch ift es nicht möglich, Die genaue gefchichtliche Zeits
folge der Begebenheiten mit Sicherheit zu ermitteln (S. 181);
woran befonderd die Eigenthümlichfeit der drei eriten Evans
gelien Schuld ift, die ihre Erzählungen weit mehr nad, innes
rer Verwandtſchaft (S. 181) und nad) der Dertlichkeit (S. 175),
ale nad) der Zeitfolge ordneten.
Belanntlidy it das mofaifche Geſetz durch bie Etiftung
Jeſu thatfächlich aufgehoben worden, und ohne Zweifel war
das auch fein Plan (S. 194). Zwar beobachtet er für feine
Perſon die Hauptpunfte des Geſetzes; eben fo feine Sünger
(S. 195); allein er that dieß wohl nur deßwegen, weil er
ſich von feinem Volke nicht losreißen, dag Geſetz nicht gewalt⸗
ſam umftoßen wollte, vielmehr die Ueberzeugung hatte, vor-
ber belebenden Wärme feiner Lehre werde die Hülle des In⸗
denthums von felbft verſchwinden (S. 197). Zwar verfichert
er, er wolle das Geſetz nicht auflöfen, fonbern erfüllen (S. 195);
allein dieß verftcht er nur von dem reinen, ewig wahren
Kern der alten Moſeslehre CS. 196); dem häufig ſpricht
er aus, daß die Form des Judenthums nicht beftchen könne
(S. 197)5 daß der Tempel, der Mittelpunkt derfelben, werde
3083;
jeeftort „werben, und daß ſchon jetzt bie Zeit erſchienen fei,
wo man Gott im Geiſte und in der Wahrheit aubete (&. 196), -
. Daher ift auch nicht Daran zu zweifeln, daß Jeſus auch
den_Heiden in fein neues Gottesreich den Zutritt öffnen
wollte (S. 198), wenn er auch im Anfange feiner Wirkfams
feit diefelben noch ferne hielt CS. 199); dieß Lebtere that er .
offenbar nur darum, weil er wollte, daß vor. der Hand erft
unter den, jedenfall mehr vorbereiteten, Tuben feine Lehre
Wurzel faffe, und erft fpäter, wenn fein Tod bie Vorftelluns
gen feiner Anhänger geläutert hätte, fich auch - weiter verbreite.
Die. Bedenflichkeit der Apoſtel, Heiben aufzunehmen, mag
darin ihren Grund haben, daß fie glaubten, dieſe müßten zus
vor durch die Beſchneidung dem Bolfe Iſraels ſich einverlei,
ben laſſen; eine Vorſtellung, welche auch die aͤlteren Propheten
hatten, und über bie ſich Jeſus niemals Deutlich erklärt haben
mag (S. 200).
Gewiß iſt es ferner, daß Jeſus mehrfachen Verkehr mit
den Samaritern hatte; ja fie ganz beſonders fähig hielt
für Auffaflung feiner reineren Meffiasidee, weil fie nicht fo
ftarr an den politifchen jüdifchen Intereſſen hingen, als
die übrigen Juden (5.203): er felbft verkündete feine Heils⸗
Ichre mehrmals unter denfelben, wie z. B. die Unterrebung
mit dem famaritifchen Weibe zeigt (S. 200), welches in ihm
freudige Hoffnung auf eine reiche Ernte in Samarien erregte
( S. 203); eine Hoffnung, die auch fpäter wirklich in Erfüls
ung ging (S. 201). Wenn er dennoc, feinen Süngern eitt-
mal gebot, Samarien nicht zu berühren, fo mag dieß feinen
Grund darin haben, daß er fie, wegen der ihnen noch innes
wohnenden jüdifchen Vorurtheile, noch nicht für unbefangen
genug hielt, um jett fihon, ehe fein Leiden und Sterben fie
auf einem höheren Standpunkte befeftigt hatte, recht ſegens⸗
reich unter den Samaritern zu wirken (©. 203).
Schon fehr bald nach dem erften Auftreten Sefu fchloffen
ſich zu ungertrennlicher Gemeinfchaft einzelne Männer ale
Schüler und Jünger an ihn an (S. 209; fie waren fänmts
lich Leute niederen Standes, einige unter ihnen z. B. Fiſcher
504
(S. 206): — daher der ſchöne Ausſpruch Jeſu: „sch will
euch zu Menfchenfifchern machen“ (S. 209). Auch ein Zölls
ner befand ſich unter ihnen, der ihm mit großer Bereitwillig⸗
keit nachfolgte (S. 211); überhaupt näherte er fich Diefer vers
achteten Menſchenklaſſe zum Aerger feiner Feinde mit unbefans
gener Herzlichkeit, wovon wir mehrfache Beweife in einzelnen
Ausſprüchen (S. 212) und. Erzählungen, 3. B. von dem Sol
ser Zahäaus (daf.), haben.
Aus der Mitte feiner Jünger wählte er als engeren Kreis
die zwölf Apoftel aus; dieſe Zahl, wahrfcheinlicd, eine. Hins
weifung auf die zwölf Stämme des Volkes, hatte ſich fo feſt⸗
geftelt, daß fogleich nach der Himmelfahrt- durch die Wahl
des Matthias die mit dem Verrathe des Judas entftandene
Lücke wieder ausgefüllt wurde (S. 213). Die Beftimmung,
welche er diefen zwölf Männern gab, war im Weſentlichen
folgende: fie follten in unzertrennlichem Umgange mit ihm zu
Berbreitern feiner Lehre herangebildet werben, und vorzuges
weife durch Taufe neue Jünger aufnehmen (©. 214). Sie
hatten alfo die früheren Gewerbe ganz aufgegeben; daß fie
dennoch ſich ernähren konnten, erflärt ſich aus der großen
Saftfreundfchaft im Morgenlande, aus der Begieitung vers
möglicher Weiber, die Jeſum und die Seinen mit ihrer Habe
unterftüßten; endlich hatte die Geſellſchaft eine eigene Kaffe,
aus welcher man noch Arme unterftüßen konnte (S. 214).
Unter diefen Zwölfen werden Einige mit befonderer Aus⸗
zeichnung genannt; Jakobus, Sohannes und Petrus biß
ben gewiffermaßen einen engeren Ausfchuß, den bei manchen
Gelegenheiten Sefus insbefondere um fich verfanmelte. Den
entfchiedenften Borzug hatte Petrus, wegen feines klaren Geis
fies, der ihn zuerft unter Allen Sefum ald den Mefflad er;
fennen ließ, und wegen feines feurigen Gemüthes, mit welchem
er ſtets zu muthiger That entfchloffen it CS. 215). Bon
den Uebrigen ift ung nicht viel mehr als ihre Namen, deren
Verzeichniß und die Evangelien geben (S. 217), bekannt.
—— — —
Diele Reden und einzelne Ausſprüche Jeſu haben. uns
feine Lebensbefchreiber überliefert; die föftlichfte Hinterlaſſen⸗
03
fchaft, deren Werth den der erzählten Begebenheiten aus feinem
Leben weit überwiegt. Wenn auch Vieles, was Jens gefpros
- chen, nicht immer in dem wahren. Zufammenhange und an
der rechten Stelle von den Evangeliften erzählt wirb, fo ift
doch, namentlich das von den drei erften Leberlieferte, zum
allergrößten Theile aͤcht und von Jeſu wirklich fo geſprochen
worden. Die herrlichſten Schäge find enthalten in der foges
nannten Bergpredigt (S. 220) und in den unvergleichlichen
Parabeln (©. 228). Die erftere gibt ung Lukas wohl am
richtigften wieder, während Matthäus nad) feiner Weiſe Vie⸗
lerlei in fie eingeftreut hat, was Jeſus bei andern Gelegens
heiten geiprochen haben muß (S. 222): — am meiften ale
ächte Reden Jeſu find die kurzen Sentenzen, Bilder und leicht⸗
behaltbaren inhaltfchweren Stüde, wie z. 3. die Seligfeiten
‚im Anfange der Bergprebigt und das Baterımfer, zu betrach⸗
ten (S. 223, 225). Wir denfen und die Sache am einfach
ſten fo, daß die fürnigen Reben Jeſu durch die Fluth der
mündlichen Ueberlieferung zwar nicht aufgelöst werden konn⸗
ten, wohl aber nicht felten aus ihrem natürlichen Zufanmens
hange losgeriſſen, von ihrem urfprünglichen Lager wegges
ſchwemmt, und als Gerölle an Orten abgefeßt worden find,
wohin fie eigentlich nicht gehörten (©. 226). — Vorzüglich
ächte Stüde find auch die Streitreden, welche Sefus nadh
feinem Einzuge in Serufalem zu halten veranlaßt ift: denn
fie find ganz im Geiſte und Zone damaliger rabbinifcher Dies
putirfunft (S. 238). Wenn wir darin auch Manches finden,
was wir nicht für vollflommen richtig halten können, fo
fcheuen wir und nicht, dieß offen zu befennen. Denn chren
wir Die, eine ganze Welt umgeftaltende Größe und Hoheit
feines inneren Wefens nicht weit mehr, wenn wir anerfennen,
daß auch er nicht ganz frei war von den Einfeitigfeiten einer
Welt, die er überwinden follte? Bewundernswürdig ift nas
mentlich der Muth, mit welchem er in diefen Reben die mächs
tigen und gefährlichen Pharifäer angriff (S. 241).
Weit weniger verbürgt find viele Neben Jeſu im Johan⸗
nes⸗Evangelium, weil deſſen Verfaſſer unverkennbar Vieles
aus feinen eigenen Betrachtungen über Sefum in das von
ihm. Gefprochene eingeflochten hat (©. 243). Sie haben meift
bis zu einem gewiffen Punkte die Geſpraͤchsform, wobei ges
wöhnlich. Jeſu Ausſpruͤche von den Andern ftatt in geifligem,
viehnehe in grob. irdiſchem Sinne gefaßt werden; Dann ‚aber
verliert fi der Evangeliſt unvermerft in eigene Betrachtun⸗
gen CS. 246); gewöhnlicd über das bei ihm vorherrſchende
Grundthema von dem -Verhältniffe Jeſu zum Bater (©. 247):
daher „wiederholen ſich hier diefelben Gedanken fo oft (©. 249):
- Bon eigentlihen Begebenheiten aus. bem Leben Jeſu,
welche nicht wunderbare find, und nicht. in Die Tage. feines Leidens
und Sterben fallen, find nur wenige von den Evangeliften aufbes
wahrt worben: feine Lehren, feine Wunder umd fein aufopfernder
Tod waren ihnen. das Wichtigfte. Einzelnes hat fich allerdings ers
halten, an deſſen Wahrheit wir nicht zweifeln dürfen; 3. B.
bie Rangftreitigleiten der Sünger, wobei Iefus ein. Kind
ihnen ald Mufter aufftelt (S. 265); die Freundlichkeit, mit
welcher. er bie Kinder zu. ſich rief (S. 266); — die Reinigung
bes Tempels von dem Unfuge ber Berfäufer, wobei ſich der
- überwältigende. Eindrud, den Jeſus hervorzubringen wußte,
befonders deutlich zeigte (S. 267); — die Huldigung, weldye
eine fromme Fran ihm darbrachte, indem fie während eines
Mahles ihn falbte (S. 269); und Anderes, was zu unbebeus
tend ift, um hervorgehoben zu werben. —
—— — —
Viele Wunder ſoll Jeſus verrichtet haben, obgleich; er
die Sucht nach Wundern oft tadelte, und ſo oft er ausdrück⸗
lich um ein ſolches angegangen wurde, ablehnend antwortete,
und zwar aus Wehmuth über das verhärtete Geſchlecht, das
neben feinem geiftigen Wirken noch Wunder zur Beglaus
bigung feines meffianifchen Berufes verlangte (5.275). Den
uoch verrichtete er auch unaufgefordert viele wunderbare Heis
lungen; nämlich folche, die bei genauer Betrachtung nicht
als wirkliche Wunder erjcheinen, vielmehr nur Ausflüffe folcher
ganz natürlichen Kräfte find, die in tiefer Verborgenheit wirs
fen, daher im gewöhnlichen Leben weit weniger beobadys
tet, und beren Wirkungen, weil fie fo überrafchende find,
507
gar gerne ale Wunder betrachtet, werden (S. 276). Eins
wirfungen Jeſu, die fich aus folhen tief waltenden Kräften,
3. B. magnetifcher Kraft, erflären laffen, haben wir zu bes
zweifeln feinen Grund: folche aber, bei denen alle Naturs
gefete hätten ftille ftehen müfjen, können wir nicht ald wahr
und wirflich gefchehen annehmen. Wie viel oder wie wenig
ans den Wundererzählungen wir für wahr halten können, ift
übrigens fir den Glauben an Jeſu Lehre von keiner Bedeu⸗
tung (5. 277).
Nach obiger Scheidung halten wir auf diefem Gebiete
Folgendes für wahr und im Allgemeinen beglaubigt: Geiſtes⸗
franfe, die Sefus, wie feine Zeitgenoffen, auch. für Befeffene
hielt (CS. 278), hat er öfters durch den mächtigen Eindruck
feiner Perfon und feiner Rede wieder geheilt, da die Kranken .
den feiten Glauben an die von Jeſu angewandte Methode,
die böfen Geifter zu befchmwören, hatten (S. 283). Dahin ges
hört die Heilung eines Befeffenen in der Synagoge zu Kapers
naum nach einer erfchütternden Nede Jeſu (S. 283); — die
eines oder zweier beſonders ſtark affizirter Kranfen der Art,
des oder der Gadarener, am galiläifchen See (©. 239; —
die eines geiftesfranfen ftmmen Knaben (S. 290), und vieler
anderen (S. 291): jedoch nur folcher, wo die Kranfheit eins
jig oder doch überwiegend Geiftesfrankfheit war. — Wo
aber ſchon eine bedeutende Zerrüttung des Nervenfyftemes
eingetreten war und mit rein fürperlichen Gebrechen verbunden
war, da läßt fich eine Heilung durch bloße Worte Jeſu nicht
annehmen (S. 291). — Ein Gliederfranfer wurde von
ihm, wahrfcheinlich durch eine ber magnetifchen ähnliche Heils
fraft, wieder hergeftellt (S. 299. —
Die Heilungen von Ausſätzigen durch bloße Worte
(S. 297, 298); — die von Blinden (S. 300), oder gar
die eines Blindgebornen (S. 303) ſind als Sagen zu betrach⸗
ten. — Möglich iſt es allerdings, daß Kranke auch nur durch
feine Berührung geheilt wurden, wenn fie unbedingten Glau⸗
ben an feine Heilkraft befaßen CS. 307); baß er aber auch
and der Ferne durch bloßen Befehl Kranfe wieder gefund
gemacht habe, kann nicht für möglich gehalten werden (S. 312);
308
eben fe wenig bie lie Wieberferfeiung eines feit 38 Jah⸗
ren Gelähmten (S. 315).
Ohne Zweifel hat Sefus mehrmals auch am Sabbat
Heilungen vorgenommen und ſich dadurch Borwürfe zugezogen,
die er durch fchlagende Gründe widerlegte (S. 314).
Todtenerwedungen, wie die der Tochter des Jairus
(S. 316), des Tünglings zu Rain (S. 318) und des Lazarıd
(5. 319), find meffianifche Mythen (S. 322): die Erzählungen
von allen dreien find auch fonft vol Unwahrfcheinlichkeiten und
wenig verbürgt (S. 323).
Die Seewunder: die Beichwichtigung eines _Sturmes
(S. 328), das Wandeln auf dem See (S. 330), das Fangen
eines Fifches mit einem Geldſtücke im Munde (S. 334), find
gleichfalls Miythen, die vieleicht finnbilblichen Neden ihren
Urſprung verbanfen.
Bon. den wunderbaren Speifungen mit wenigen Broben
(©. 335) gilt dasfelbe (S. 340); fo wie von der Verwand-
lung des Waffers in Wein (S. 341) und von der Bers
wänfhung bes Feigenbaumes (©. 345).
- Bei feinem lebten Feltbefuche in Serufalem ward Jeſus
von feinen Feinden gefangen und zum Tode verurtheilt. Wels
hen Weg er aus Galilaͤa dahin einfchlug, laͤßt fich nicht mehr
mit Sicherheit ermitteln (CS. 358). Bei feinem Cinzuge in
die Hauptitabt wurde er von vielem Bolfe mit Subel begrüßt
(S. 360), und zwar ald Meſſias, woran feine Keinde, bes
fonders die Pharifäer, großes Aergerniß nahmen (S. 362).
Es entfteht zuwörderft die Frage, ob Sefus vorher wußte,
daß er jest feinen Tod durch die Hände feiner Feinde finden
- würde? und zwar den Tod am Kreuze (S. 383)? Durd
-eine verfländige Berechnung konnte er allerdings feinen ges
‚waltfamen Tod mit großer Wahrfcheinfichkeit vorherfehen: die
berrichende Priefterpartei hatte er ſich zur unverfühnlichen
Feindin gemacht, und das Beifpiel früherer Propheten mußte
ihn ahnen laffen, was auch er zu fürchten habe (S. 366): er
509
erkannte benfelben ald eine Nothwendigkeit, weil ohne .ihn feine
Ideen von einem rein geiftigen Gottesreiche nie erfaßt. worden
wären (©. 368). Borausgefagt hat er ihn aber audy feinen
Süngern nicht, weil Diefen fein Kreuzestob fo völlig unerwartet
fam (daf.); überhaupt glaubte außer Jeſus damals wahrfcheins
lidy Niemand an einen leidenden und fterbenden Meffias
(S. 367). Daß er aber mit Beftimmtheit habe wiffen können,
er werde grade jest und auf Diefe Weife enden, muß vers
neint werden (S. 365); noch weniger fanıı er feine Aufers
ftehung vorhergewußt, oder gar vorhergefagt haben (©. 369,
373). —
Dagegen unterliegt es Feinem Zweifel, daß er den Unters Ä
gang des jüdifchen Staates, fo wie des Tempels in Jeru⸗
ſalem mit feierlicher Beſtimmtheit vorausgeſagt hat, und zwar
als nahe bevorſtehend; — ferner glaubte er, daß die Zerſtö⸗
rung Jeruſalems auch das Weltende herbeiführen werde,
indem er nach jüdiſcher Vorſtellung das Heiligthum des Tem⸗
pels als den Mittelpunkt der jetigen Welt betrachtete, die
mit dem Einfturze dieſes Mittelpunftes gleichfalls in Trümmer
zufammenftürzen müfle (S. 378). Zu diefer Vorausfagung
fonnte er gar wohl durd, Betrachtung der Vergangenheit fos
wohl, wie des damaligen unverbefferlichen Zuftandes der ftarren
Juden in religiöfer und fittlicher Beziehung gelangen (S. 381).
Als erbitterte Feinde Jeſu erfcheinen in allen evangelis
fchen Berichten die Pharifäer und Schriftgelehrten: neben ihnen
die Priefter und Aelteften des Volkes (S. 383). Am frühes
ften gaben feine Sabbatheilungen Anftoß; der Haß wuchs,
je mehr er dem falten Geremoniendienft entgegenwirfte, und
fi) als den zur Erlöfung des Volkes aus biefen Fefjeln Bes
rufenen darftellte; der Plan zu feinem Sturze reifte, ald dag
Volk bei feinem letzten Einzuge in Sernfalem ihn mit fo laus
tem Subel begrüßte (S. 383). Sein Untergang ward befchleus
nigt durch den ſchwarzen Verrath eines feiner Jünger, des
Judas Ifchariot (S. 385), der ihn wenige Tage vor dem
Pafcha feinen Feinden überantwortete; Gewinnſucht ‚fcheint
die Hanpttriebfeber zu biefer fchändlichen Handlung gewejen
510 -
m fein (S. 388). "Lange vorher kann Jeſns bie ſchwarze
. That des Judas nicht gewußt, höchſtens ein gewiſſes Miß⸗
trauen gegen ihn gehabt haben, weil ex ihn ſonſt in dem Kreiſe
feiner Jünger nicht geduldet hätte (S. 386). —
Unmittelbar vor feiner Verhaftung nahm Jeſus bei ber
letzten Abendmahlzeit von feinen Süngern Abſchied: wahr,
fcheinlich war Diefe aber nicht das jüdifche Paſchamahl,
ſondern fand am Abende vorher, jedenfalls aber am Donners⸗
tage unſerer Woche, zwei Tage vor dem Sabbat, ſtatt
(S. 392). Hier war es, wo er das Abendmahl als ein von
feinen Süngern fortwährend zu feierndes Gedächtnißmahl
einfeßte, wobei er feinen Tod als Bunbesopfer, als höheres
Gegenbild der blutigen Thieropfer des alten mofaifchen Bundes
darſtellte (S. 398). Wahrfcheinlich fchwebte ihm in der. Bors
ahnung feines gewaltfamen Todes fchon längere Zeit eine
ſolche Gedächtnißfeier vor der Seele; der beftimmte Entfchluß
zur Stiftung derfelben aber mag erft an jenem Abende, wo
er feinen Tod als ganz nahe bevorftchend anfah, zur Neife
gefommen fein (S. 399). Daß Judas ihn verrathen, und
Detrus in feiner Treue wanken werde, hat er an dieſem feier
lichen Abende in allgemeinen Ausdrüden feinen Jüngern vors
hergefagt (S. 397).
Bon dem Mahle weg, das in einem Haufe in Jeruſalem
gehalten wurde, begab er ſich noch in ber Nacht nadı Geth⸗
femane, einem Garten in der Nähe der Stadt (S. 399).
Hier war ed, wo er, erfchüttert durch die Vorausſicht feines
nahen martervollen Todes, auf Augenblide zu zagen begann,
feine Angft aber im Gebete fchnell überwand, und nun mit
heiterer Seelenruhe feinem Schidfale entgegenging (S. 400).
Bald nachher Fam, was Jeſus richtig vorausgefehen hatte
(S. 406), Iudas in Begleitung von bewaffneten Schaaren,
um Sefum zu verhaften; diefer gab ſich ohne Gegenwehr feis
nen Feinden hin; einer feiner Sünger aber zog das Schwert
und verwundete einen Knecht (S. 407). Als Sefus gefangen
genommen und hierauf hinweg geführt wurde, flohen feine
Jünger vol Angſt davon. Bon den fpäteren Scyidfalen des
Verräthers haben wir Feine zuverläßige Kunde (S. 415). _
Iefus ward zum Hobenpriefter Kaiphas gebracht und
| | 611 |
daſelbſt fogleich von dem verfanmelten Synedrium in Verhoͤr
genommen, wobei ihm vorzüglicy zum Vorwurfe gemacht wurde,
er behaupte der Meſſias zu fein: dieß -gefteht er: mit aller
Ruhe ein (S. 410); zu feiner Verurtheilung, die nach kurzer
Zeit über ihn ausgefprochen wurde, trugen am meiften falfche
Zeugen bei, welche behaupteten, Jeſus habe ben Vorſatz ges
äußert: das Heiligthum des Tempeld gewaltfant. zu zerftören
(S. 409). Nach feiner Verurtheilung wird er von den Dies
nern des Gerichted auf das Schmählichite mißhandelt, was .
er mit würdevollem Schweigen erbuldet (S. 410). — Inzwis
fhen hatte Petrus, begierig den Ausgang der traurigen
Angelegenheit zu erfahren, fich heimlich in den Hof des Ho:
henpriefterö begeben, wo man ihn als einen Anhänger Jeſu
erfannte, was er aber mehrmals entjchieden abläugnete; bald -
jeboch bereute er feine augenblickliche Schwäche (©. 411).
Am frühen Morgen fam das jüdifche Gericht nochmals
zufammen, um über die Vollziehung des Urtheild zu berath:
fchlagen (S. 409): Jeſus wird hierauf zu dem Landpfleger
Pontius Pilatus mit dem Begehren geführt, an. ihm .die
- Hinrichtung zu vollziehen. Nachdem Pilatus die von den Sur
den vorgebradhte Anklage, Jeſus gebe ſich für den König ber
Suden ans (S. 415), vernommen hat, befragt er Jeſum dars
über und erflärt denfelben fodann für unfchuldig, da er erfahs
ren, in welchem rein geiftigen Sinne Jeſus jene Benennung
feiner Perfon verftehe. Daher -erbietet er fich, Jeſum frei
zu laffen; allein der wüthende Haufen der Suden will davon
nichts. wiffen (S. 417), und droht fogar dem Statthalter, ihn
bei'm Kaifer zu verflagen (S. 419). Dieß wirkte, und Pilatus
übergibt nun Sefum den Soldaten, um ihn zu kreuzigen; vors
her aber wird er noch nach römifcher Unfitte gegeißelt (S. 418),
und fodann auf empörende Weife verfpottet, indem man ihn
mit Krone und Königsmantel ausſchmückt (S. 419). Das
Kreuz muß ein Anderer, ein gewifler Simon, tragen, da
Jeſus zu fchwach dazu ift CS. 420); auf Golgatha anges
fommen, wird er gefreizigt, und mit ihm noch zwei andere;
fehr wahrfcheinlich wurden auch feine Füße mit Nägeln durch⸗
bohrt: — darauf verloofen die Kriegsknechte feine Kleider
unter ſich (S. 420), und man heftet am Kreuze eine Snfchrift
sı2
an, worauf fein vermeintliches Vergehen bezeichnet war (©. 423).
‚Während er am Kreuze fhmachtete, ward ihm
gereicht, den man nad jüdifcher Sitte den Hinzurichtenden
zur Betäubung des Schmerzes zu geben pflegte; Jeſus ver⸗
fchmähte ihn (S. 421). Im feinen Schmerzen mußte er noch
die Spottreben roher Feinde vernehmen (S. 424). Er ver
ſchied mit. ftiller Ruhe, die felbft ein römiſcher Mi
bewundern mußte (S. 429), nachdem er Gott- feinen Geift im
Gebete empfohlen hatte; feine legten Worte waren: „Es if
vollbracht!“ (S. 425). — Wahrfcheinlic, war er um 9 Uhr
Vormittags gefrenzigt worden, ftarb um 3 Uhr bes Nachmit⸗
tags, und warb um 6 Uhr vom Kreuze ‚herabgenomnten
(S. 426). Daß man ihm vorher die Seite mit einer Lanze
durchſtoßen, kann nicht mit Gewißheit ‚behauptet werden
(8.431.
Nach jüdiſchem Gebrauche Hätte nun Jeſu veichnam auf
der Richtſtaͤtte ſelbſt verſcharrt werden ſollen; allein Joſeph
von Arimathaͤa, ein angeſehener Mann und geheimer Anhaͤn⸗
ger Jeſu, erbat ſich die Leiche von Pilatus, erhielt dieſelbe
und beftattete fie ſofort noch am Abende in einem anftändigen
Grabe, wobei ihm mehrere galiläifche Weiber behilflich waren
(S. 432).
Alle Evangelien berichten, daß Jeſus aus dem Grabe
wieder auferſtanden (S. 437), und vielen feiner Anhaͤn⸗
ger erfchienen fei CS. 443). Da wir aber ed für durch⸗
aus unmöglic; halten müffen, daß die Seele eined wirklich
Seftorbenen in den Leichnam wieder zurückkehren könne (S.452), _
fo müffen wir eind von Beiden, den Tod oder die Aufers
ftehung, in Abrede ftellen: d. h. wenn Sefus wirklich tobt
war, fo fann er nicht auferftanden fein, ober wenn er
wieder aus dem Grabe fih erhob, fo kann er nicht wirklich
todt geweien. fein (S. 453) *2). Obgleich man in neuerer
Zeit mehr dahin neigt, den Tod Sefu zu läugnen und einen
bloßen Scheintod anzunehmen (S. 453), fo halten wir es
Ich muß den geneigten Leſer dringend erfuchen, ©. 453,
8.720. u. durch Einfchiebung des Wörtchens „nicht“ vor
„wirklich“ einen ganz ſinnſtörenden Druckfehler zu verbeſſern.
513
boch für wahrfcheinlicher, daß er wirklich geftorben, aber
nicht wieder auferftanden fei. Denn die Zeugniffe für feinen
Tod find zu beftimmt; die für feine Auferſtehnng bagegen fehr
unbeſtimmt und voller Widerſprüche (S. 454); namentlich
Iaffen fich die Nachrichten über die einzelnen Erfcheinungen
Jeſu nadı dem Tode durchaus nicht mit einander vereinigen
(S. 446) und die evangelifchen Vorftellungen von der Be-
Ichaffenheit des Leibes Jeſu nach der Auferftehung find mit
den Geſetzen eined vernünftigen Denfens durchaus umver-
träglich (S. 451). Das aber bleibt unläugbare Thatfache,
daß die Jünger Jeſu die vollfommene Ueberzeugung von
feiner Auferftehung gewonnen hatten (S. 455), daß dieſe
Ueberzeugung ſich erft einige Zeit nach feinem Tode unter
ihnen entwidelte, und daß nur fie ihnen den unbezwinglichen
Muth, einflößte, mit welchem fie aller Welt verfündeten, ihr
Sefus, der Gefreuzigte, fei der Welterlöfer Meffias
(©. 458). Auf welche Weife diefe Ueberzengung ſich allınälig
gebildet und befeftigt haben mag, ift ©. 456 ıc. auseinander
gefebt worden.
Es verſteht ſich hernach von felbft, daß aud) die Himmels
fahrt Jeſu, die überdieß nur von Markus und Lukas erzählt
wird (©. 462), in das Gebiet der chriftlichen Sage gehört
(S. 465).
Indem wir nad) dieſem, eine gebrängte Darſtellung des
geſchichtlichen Inhaltes der evangeliſchen Berichte enthal⸗
tenden, Auszuge wieder bei der Frage nach dem Verhältniß
der Geſchichts forſchung zum Glauben, welche den Inhalt
der Schlußabhandlung bildet, angelangt ſind, können wir nicht
umhin, das Endreſultat derſelben als beruhigenden Schluß-
ſtein mit den eigenen Worten des Dr. Strauß auszuſprechen.
Sein Aufſatz: „Vergängliches und Bleibendes im Chriſtenthum“,
der in der kleinen Schrift: „Zwei friedliche Blätter von Dr.
D. F. Strauß, Altona 1839“ enthalten ift, und den wir dem
Lefer nicht genug empfehlen fünnen, fchließt mit den Worten:
„So wenig alfo die Menfchheit jemals ohne Religion fein
„wird, fo wenig wird fie je ohne Chriftum fein; denn Religion
haben wollen ohne Chriftun, wäre nicht minder wide Kwhd
II. - 33
5143
als der Poefie ſich erfreuen wollen ohne Bezugnahme anf
Homer, Shakespeare u. f. f. Und diefer Chriſtus, fofern er
unzertrennlich ift von der höchſten Geftaltung der Religion, ift
ein hiftorifcher, Fein mythifcher; ein Individnum, fein bloßes
Symbol. Zu diefem gefchichtlich perjönlichen Chriftus gehört
nur dasjenige aus feinem Leben, worin ſich feine religiöfe
Bollendung darftellte: feine Reden, fein fittlicheg Handeln und
Dulden. Was in feinem Handeln mit dem Sittlichen nicht
unmittelbar zufammenhängt, wie feine Wunder; noch mehr,
was, flatt aus feinem Innern hervorgegangen zu fein, nur
aͤußerlich an ihn herantrat, wie fein Tod als äußere Chats
fache und abgefehen von der an demfelben erprobten Geſinnung
Jeſu; wie ferner feine Auferftehung, Himmelfahrt, kann einen
relisiöfen Werth nur durch fombolifche Deutung gewinnen,
weldye auf verfchiedenen Entwidlungsftufen der Arömmigfeit
und des Denfend verfchieden ausfallen wird. — Alfo feine
Furcht, ed möchte Chriftus uns verloren gehen, wenn wir
Manche von dem, was man bisher Chriftenthum nannte,
preiszugeben uns genöthigt finden! Es bleibt ung und Allen
um fo ficherer, je weniger wir Lehren und Meinungen ängftlich
feithalten, welche dem Denfer ein Anftoß zum Abfall von
Ehrifto werden können. Bleibt uns aber Chriſtus, und bleibt
er und ald das Höchſte, was 'wir in religiöfer Beziehung
fennen und zu denfen vermögen, ald derjenige, ohne deſſen
Gegenwart im Gemüthe feine vollfommene Frömmigkeit möglich
it; nun, fo bleibt ung in ihm doch wohl das Wefentlice
des Chriſtenthums!“ — — |
515
II. Anmerkungen in olphabetifcher Orb:
nung. |
Borbemerfungen.
Es fcheint mir nöthig, einige Bemerkungen voranzuſchicken,
Damit der Lefer zum Voraus wiffe, was und wie viel er in
Diefen Aumerfungen zu erwarten habe. |
Sch mußte mich einzig darauf befchränfen, über Punkte,
welche in das Gebiet der Theologie einfchlagen, gang furze
und gedrängte Nacweifungen und Belehrungen zu geben, weil
ich mich fonft zu weit hätte ausbreiten müflen. Innerhalb
diefer Begränzung meines Planes aber wird man hoffentlich
feinen Artifel vermiffen. In Bezug auf neutsteftamentliche Ge⸗
genftände machte ich mir zum Gefeße, alles dasjenige aus⸗
zufchließen, was aus dem Werfe felbft, wenn auch an ver-
fehiedenen Stellen, ſchon hinlänglich erfannt und erklärt wer-
‚den kann: daher bficben auch die Namen foldyer Sachen und
Perſonen ansgefchkoffen, über welche wir, außer der zufälligen
Erwähnung im neuen Teſtamente, nichts Weiteres wiffen.
Wenn alfo der Lefer 3. B. die im Borübergehen genapkıten
Rufus und Alerander u. A. unter den Anmerkungen nicht fin⸗
det, fo möge er dieß nicht für ein Verſehen halten, fondern
den Grund davon eben darin finden, daß und von Diefen
Männern nichts al& ihre Namen befannt find. Alle übrigen
Artifel, 3. B. altsteftamentliche Gegenftände betreffende, muß-
ten mit möglichfter Kürze, und zwar immer nur mit fleter.
Berüdfichtigung des einzigen Zwedes diefer Anmerfungen
behandelt werden, der darin beftand, Nichttheologen mit dem:
jenigen befannt zu machen, was zum Berftändniffe nur des
vorliegenden Buches nöthig if. Eine eigentliche, abfolute
Volftändigkeit wird man alfo hier nicht erwarten dürfen. Das
her find auch von den angeführten Gelehrten nur Veen
‚516
Schriften genannt, welche von dem Strauß’fchen Werke be-
rückfichtigt worden find.
Uebrigend bedarf ed der Erinnerung wohl nicht, Daß ich
feinen Anfpruch Darauf mache, hier Neues geliefert zu haben:
aus den beiten Hilfsmitteln das Bekannte einfach und faßlich
zufammenzuftellen, Tag einzig in meiner Abficht. Mit befons
derem Danke anerfenne ich Die wefentlichen Dienfte, Die mir
Winer's vortreffliches „ biblifches Realwoͤrterbuch “ Dabei ge
leiftet hat.
Abendmahl. Sn der Lehre vom Abendmahle weichen
die drei Hanptkonfeffionen in der Art von einander ab, baß
die Fatholifche Kirche Iehrt, Brod und Wein werde in den Leib
und das Blut Chrifti verwandelt; die Intherifche, Leib und
Blut Chrifti feien mit und unter jenen Elementen vorhans
den; die reformirte Dagegen, daß Brod und Wein den Leib
und das Blut Ehrifti bedeuten follen.
Abilene, eine Eleine Landfchaft, nördlich von Paläftina,
in der Gegend des Libanon: ihre Gefchichte ift fehr dunkel;
zu Sefn Zeiten muß fie noch eigene Fürften gehabt haben,
‚fpäter ward fie Eigenthum der römischen Kaifer.
Abraham C1800 vor Chrifti [%]) wird in der altshe
bräifchen Ueberlieferung ald Stammvater des Volkes und ale
Begründer des Sehovadienftes dDargeftellt: er war aus öftlichen
Gegenden nach Kanaan eingewandert, wo er ein Nomabens
leben führte. Die Erzählungen aus feinem Leben find zwar
aͤußerſt fagenhaft; jedoch gehen diejenigen zu weit, welche
felbft feine Eriftenz in Zweifel ziehen.
Aegypten, das bekannte Land ſüdöſtlich von Paläftina,
wird hier nur Darum genannt, um zu bemerfen, Daß es durch
die ganze jüdiſche Gefchichte hindurd, häufig einzelnen in ihrem
Baterlande bedrängten Juden zur Zufluchtsftätte diente.
Aehrenleſen. Während das reife Getreide noch auf
dem Halme ftand, durfte jeder Vorübergehende fo viel. aus⸗
raufen, ald er wollte; dieß hatten Jeſu Zünger auch einmal
am Sabbate gethan.
Ahasja (885 v. Ehr.), ein Jahr lang König in Juda;
Sohn des Joram und Vater des Joa.
+ 817
Aeltefte. - Unter den jüdischen Königen beftand cin Kol
legium verfaffungsmäßiger Bolfsvertreter, welche „Die Aclteften“
genammt wurden, wenn fie Dieß auch nicht immer den Jahren
nad) waren. Im neuen Teftamente erfcheinen fie als Beiſitzer
des großen Synedriums (ſ. d. Anm.).
Alexandria, die von Alexander di Gr. gegründete Re⸗
ſidenz der fpäteren aͤgyptiſchen Könige: fie war von ſehr vielen
Juden bewohnt, die hier. volle Religionsfreiheit genoffen. Das
durch, daß Die gebildeten Juden hier auch mit. griechifcher
Sprache und Wiffenfchaft vertraut wurden, hat dieſe Stadt
auf die Entwicelung der jüdifchen, und fomit auch der chrift-
lichen Religionsbegriffe bedeutenden Einfluß gervonnen. |
Aloger, eine nicht bedeutende altchriftliche Sekte, welche
den Ebioniten verwandt, bie schre vom Logos (|. d. Anm.)
in Chriftus verwarf.-
Amazia (838 —809 9. Ch.), König in Juda, des Joa Sohn;
er führte fehr unglückliche Kriege mit dem Könige von Sfrael.
Annas, ein fehr angefehener Mann, ward von den Rös
mern zum Hohenpriefter eingefegt, mußte fpäter aber dieſe
Würde an feinen Sohn, dem bald wieder ein Anderer nach⸗
folgte, abtreten, behielt jedoch fortwährend großes Anfehen;
als Sefus hingerichtet wurde, war fein Schwiegerfohn Kaiphas
Hoherpriefter.
Anfelm, Erzbifhoff von Eanterbury, einer der berühmteften
Scholajtifer, deren Weisheit in den legten Sahrhunderten des
Mittelalters blühte.
Antichrift, — nad) jüdischer Darftellung ein boͤſer Geiſt,
der zugleich mit dem Meſſias auftreten und deſſen ſegensreiches
Wirken ſtören werde; — im neuen Teſtament werden die
falſchen Propheten ſo genannt, die vor der Wiederkunft Jeſu
(S. d. A.) auftreten und für den Meſſias ſich ausgeben
werden. Was fpäterhin vielfach von einem Antichriſt geträumt
. wurde, gehört nicht hierher.
Antiochus Epiphanes (175 v. Chr.), König von Sys
rien, und als folcher Dberherr der Juden cf. d. Anm.), iſt
berüchtigt durch die Mißhandlungen derſelben; er wollte fie
zur Annahme der griechifchen Religion zwingen, plünderte den
518
Tempel, verbot den mofaiichen Kultus. und flellte im’ Tempel
heidnifche Götterbilder auf. Die Wuth, mit welcher er dieſe
Maßregeln durchführte, begeifterte das Volk zum muthigften
Miderftande, in welchem es fi die Freiheit erfämpfte.
Antipas, ſ. Herobes.
Apokryphen nennt man diejenigen bibliſchen Bücher,
welchen man keinen goͤttlichen Urſprung beilegt, obwohl ſie
einen heilſamen Inhalt haben mögen: die jüdiſchen ſtehen in
unſerer Bibel hinter den ächten, die chriſtlichen aber, nämlich
die von der Kirche. verworfenen, meift fpäteren Evangelien
werben gar nicht der Bibel beigegeben. Viele derjelben find
ganz verloren gegangen.
Apollonins von Tyana, ein griechifcher, durch feine
firengen Kaſteiungen und unzählige Wunderkuren befannter
Philoſoph, der kurz nach Jeſu geboren wurde; fogar fol er
in Nom eine todte Frau wieder erwedt, den Tod bes Kaiſers
Lomitian in großer Entfernung fogleicy gewußt haben. Cr
galt noch lange Zeit nach feinem Tode für einen Gott.
Apoftel, d. h. Gefandte. Zu dem im Buche ſelbſt fchon
Enthaltenen nur noch Folgendes: Sie waren zum Theil mit
Jeſu verwandt und feine Sugendgenoffen, einige fchon Schüler
Sohannes geweſen; mehrere waren verheirathet und haben
ihre Berufsgeſchaͤfte nie ganz aufgegeben; — alle aber folg—
ten öfters Jeſu in. die Einſamkeit nach zu ungeflörter Beleh—
rung. Sie hatten jedoch Die hohen Zwecke Jeſu während
feines Lebens nie recht begriffen; feir Tod hatte fie völlig zu
Boden gefchlagen, und erſt der tief wurzelnde Glauben an
feine Auferftehung ihre Einficht und ihren Muth in die Höhe
erhoben, auf welcher fie fo Großes für Jeſu Lehre wirkten.
Ihre weitere Gefchichte gehört nicht hierher.
Apoftolifches Bekenntniß, das ältefte der chriftlichen
Kirche, das feinen Namen davon trägt, daß es fchon in ber
apoftolifchen Zeit entworfen wurde; fpäter wurde ed mehr und
mehr erweitert, zur Abwehr fegerifcher Lehren.
Araberfrieg, f. Heroded Antipas.
Arius, Presbyter in Alerandria, veranlaßte um's Jahr
320 nach Chriſtus durch feine Lehre, Chriſtus fei zwar göttlicher
Natur, aber nicht gleichen Weſens mit Gott, eine Reihe der
519
‚bitterften Streitigkeiten in der Rica, die fo leidenfchaftlich
betrieben wurden, daß die Heiden ihrer in den Theatern fpotteten.
Als Artus, der für einen Keber erflärt worden war, durch
Gonftantin wieder in bie Kirche aufgenommen werben follte,
ftarb er ylößlich, wahrfcheinlich Feines natürlichen Todes.
Archelaus, Sohn Herodes db. Gr., wurde nach feines
Baterd Tode Fürft von Sudäa, Sdumda und Samaria, wurbe
im Sahr 6 n. Chr. wegen feiner Tirannei von dem römijchen
Kaifer abgeſetzt, worauf feine Länder dem römifchen Reiche
einverleibt wurden (ſ. Römer).
Auguſtus, römifcher Kaifer zur Zeit, ald Chriſtus gebos
ven ward; nämlich von etwa 30 v. Chr. bie 14 n. Ehr.
Ausſatz, eine fürchterlicye Landplage der Juden; eine
Krankheit; welche zunächft die Dberhaut, dann aber auch den
ganzen Körper ergriff, oft völlige Auflöfung herbeiführte,
fehr anſteckend war und felbit bis auf die Nachkommen bes
vierten Gliedes forterbte. Daher hatte das mofaifche Gefek
fehr fcharfe Beftimmungen über die Ausfägigen feftgeftellt: fie
wurden alsbald für unrein erklärt, vom allem Umgange mit
reinen Menfchen ausgefchloffen, und durften zu. diefen erft
dann wieder zurücfehren, wenn ein Priefter fie auf feierliche
Weiſe für rein erflärt hatte,
Babylon, die ungeheure Hauptſtadt des babylonifchen
Reiches, öftlihh von Paläftina, das um 8—600 v. Chr.
blühte; die Juden lebten hier lange im Exile (f. d. Anm.);
die Sprache der Babylonier war der der Juden nahe ver-
wandt, nnd dieſe entlehnten Manches aus den religiöfen Vor⸗
ſtellungen Jener.
Barabbas, der berüchtigte Raubmörder, den die Juden
am Paſcha ſtatt Jeſu von Pilatus losbaten; er ſoll gleichfalls
den Namen Jeſus geführt haben.
Bartholomäus, Apoſtel, ſoll ſpaͤter das Chriſtenthum
in Indien gepredigt und ein Evangelium geſchrieben haben,
das wir noch beſitzen.
Baur, Profeſſor der Theologie in Tübingen; ſchrieb:
1) Symbolik und Mythologie, oder die Naturreligion des Al⸗
terthums. — 2) Hebräiſche Mythologie des alten und neuen
Teſtamentes. — 3) Geſchichte der hebräiſchen Nation. —
520.
4) Die hriftliche Gnoſis, oder. Die chriſtliche Religionsphiloſo⸗
phie in ihrer gefchichtlichen Entwidelung. — 5) Eine Regen
ſion der Schriften über Strauß in-den Berliner Sahrbüchern ıc.;
1837, März.
Befhneidung, die Wegfchneidung der Vorhaut, womit
alle neugebornen iſraelitiſchen Knaben 8 Tage nach ihrer Ge⸗
burt, eben fo alle Heiden, die zum Judenthume übertraten,
dem Sehova geweiht und zu Sfraeliten erhoben wurden; mit
der Befchneidung war die Namengebung verbunden. Zwar
ſoll ſchon Abrahanı fie angeorönet haben; allgemein eingeführt
wurde fie erft durch Joſua: feitdem waren alle Unbefchnittene
tief verabfcheut.
Befeffene (S. 278). Es mag noch erinnert werben,
daß mit den evangeliſchen Schilderungen des Zuſtandes der
Beſeſſenen die anderen Schriftſteller, griechiſcher wie orientas
lifcher, ganz übereinftimmen.
Bethanien, ein Fleden, eine halbe Stunde firböftlich
von Sserufalem, am Delberge: hier wohnte die Jeſu fehr bes
freundete Familie des Lazarus.
Bethesda, ein mit Hallen umgebener Teich vor einem
Thore Serufalems, deffen Becken noch jett zu fehen ift. Sein
Waſſer hatte eine bei Lähmungen ꝛc. fehr bedeutende Heilkraft,
weßhalb er viel befucht wurde.
Bethlehem, ein Kleden im Stamme Suda, 2 Stunden
füblich von Serufalem, auf felfiger Anhöhe in fehr fruchtbarer
Gegend; Stammort Davids, übrigens ganz unbedeutend.
Bethphage, am Delberge, zwifchen Serufalem und Bes
thanien.
Bileam, ein Prophet aus dem oberen Chaldäa, öſtlich
von Paläftina, der von einem heidnifchen Fürften zur Verflu⸗
hung der in Paläftina eindringenden Sfraeliten abgefenbet
wurde: auf Befehl Jehova's aber mußte er, auch wider feinen
Willen, fie ſegnen; auf Diefen Segen eines ausländifchen Ses
hers Tegten die fpäteren Inden großen Werth.
Bretſchneider, 8. G., Öeneralfuperintendent in Gotha;
er fchrieb: 1) in Tateinifcher Sprache: Vermuthungen über
Charakter und Urfprung des Evangeliums und der Briefe des
Johannes. — 2) Erflärung über die mythiſche Auffaſſung des
Ä 521:
hiftorifchen Chriſtus Cin der allgemeinen Kirchenzeitung, Juli
1837). — 3) Handbuch der Dogmatil. — 4) Ueber den ans
geblichen Scheintod Jeſu (in dem Journal von Ullmann).
Brod. Die Juden kannten fo gut, wie wir, den Gebrauch
des Sauerteiged; wenn man aber eilig baden mußte, fo blieb
diefer weg. Da dieß vor dem Auszuge aus Aegypten geſche⸗
ben fein follte, fo durften die Suden am Pafcha, als ber
Feier. dieſes Auszuges, auch nur ungefänerted Brod genießen:
ed war rund und platt, daher es gebrochen, nicht gefchnitten
wurde.
Bund, der alte, fo heißt das mofaifche Geſetz, weil in
ihm das Verhäftniß des jüdiſchen Volkes als ein unauflösbarer
Bund dargeſtellt iſt, der jährlich durch feierliche Sühnopfer
(f. d. A.) erneuert werben mußte. Ihm gegenüber nannten
ſchon die Apoftel das Ehriftenthum den neuen Bund, weil
Chriſtus ald das einzige ſtellvertretende Bundesopfer betrach⸗
tet wurde.
Celſus (um 125 n. Chr.), ein heibnifcher Philofoph aus
der Schule der Epifuräer, fchrieb ein verloren gegangenes
Perf gegen die Chriften, defjen Inhalt wir durch eine Ges
genfchrift des Drigenes kennen.
Seremoniendienft wird das fpätere Judenthum im Ge
genfaß zu dem alten, reinen Moſaismus (|. d. Anm.) genannt,
weil ſich in ihm alle Religion in äußere Gebräudye vollkom⸗
men aufgelöst hatte.
Gerinth, ein Ketzer, ber noch Zeitgenoffe des Johannes
geweſen fein ſoll: er lehrte, daß Jeſus ein natürlich erzeugter
Menſch gewefen, mit dem fic aber bei der Taufe ein höheres
Weſen, Chriftus genannt, verbunden habe; auch foll er ein
taufendjähriged Neich (f. d. Anm.) erwartet haben, weßhalb
ihn Manche als Berfaffer der Offenbarung Johannis anfahen.
Ehriftus, der „Geſalbte“, das griechifche Wort für Meffi a6 -
cf. d. A).
Cornelius, ein heidnifcher Hauptmann, deſſen von
Wunderun begleitete Bekehrung und merkwürdige Taufe durch
Petrus, Apoſtelg. 10, erzählt wird.
Erebuer, Profeffor der Theologie in Gießen; ſchrieb:
622
1) Sinteiing in's neue Teſtament. — 2) Ueber ‚Eifener und
Ebioniten (in Winer's Zeitfchrift). .
Cyrus (540 v. Chr.) erhob feinen Stamm, bie Perſer,
zur Herrſchaft über ganz Aſien bis an den Indus, eroberte
auch Babylonien, und geſtattete den dort im Exile lebenden
Juden, wieder in ihre Heimath zurückzukehren und den zerſtör⸗
ten Tempel wieder anfzubauen.
Daniel, Prophet, wurde mit feinen Lanbeleuten, den
Juden, in’s Eril (f. d. Anm.) gefchleppt, unb gelangte hier,
ald ein durch Talent und vornehme Geburt ausgezeichneter
Mann, zu den höchften Staatswürden; feine Gefchichte iſt je⸗
doch fehr mit Sagen durchwebt, und das nad) ihm benannte
Prophetenbuch nicht von ihm verfaßt.
-David Cum 1050 v. Chr.). Die Gefchichte dieſes bes
rühmten Königs ift befannt genug; da unter feiner Regierung
Das Reich auf der hödhften Stufe der Madıt ftand, fo Enüpfte
an feinen Namen fich die Vorftellung des herrlichiten Ganzes,
und als fich die Idee des Meſſias (ſ. d. Anm.) ausbildete,
verftand es fi) von felbft, daß dieſer aus dem Gefchlechte
Davids fein müffe.
Dämon, ein griechifches Wort, das urfprünglich „Gott,
göttliches Weſen, Geift“ bedeutet, dann aber befonderd zur
Bezeichnung der Seelen abgefchiedener Menfchen, und vorzuges
weife der gefpenftifch böfen Geilter gebraucht wurde.
Dämonifche, die von einem böfen Geifte Befeffenen.
Deift ift derjenige, der zwar an das Dafein Gottes
glaubt, aber alle unmittelbare Dffenbarung desfelben verwirft,
und die Vernunft als die einzige Duelle des Glaubens be⸗
trachtet.
Denar, eine römiſche Münze, welche zu Jeſu Zeiten etwa
22°, Kreuzer galt.
De Wette, -Profeffor in Bafel, einer der gelehrteften und
freifinnigften Theologen unferer Zeit, deffen Forfchungen vor-
züglich in Bezug auf das alte Teſtament von großer Bedeu⸗
tung find. Er fehrieb: 1) Kommentar über den Pentateudh.
— 2) Einleitung in die Bibel alten und neuen Teſtamentes.
— 3) Biblifche Dogmatif. — 4) Archäologie. — 5) Ueber
Religion und Theologie. — 6) Kommentar zu den Pfalmen.
523
— 7) Eregetifches Handbuch. — 8 Viele einzelne "hand:
lungen. \
Diakonus, Diener. In der einfachen Kirchenverfaffung
der erften Chriften hatte man neben den Presbytern (f. d. Anm.)
auch Diakont, welche urfprünglic, die Sorge für bie Armen, ,
ſpaͤter aber auch ähnliche Gefchäfte u verrichten hatten, wie
bie Diener in den jüdifchen Synagogen; ein befouberes Sehr:
amt befaßen fie urfprünglich. nicht.
Diener, königliche. Wo in der Krbensgefchichte Jeſu
von folchen die Rede ift, find immer Beamtete bes jübifchen
Fürſten in Galilia, demnach $uden gemeint.
Doketen, eine alte chriftliche Sekte, welche glaubte,
daß Jeſus nur einen Scheinkörper gehabt habe, demnach
nicht wirklicher Menſch geweſen fei: gegen fle fcheint ber erite
Brief des Tohannes gerichtet zu fein. '
Dreieinigfeit Gottes; fie iſt nach kirchlicher Lehre die
Eigenſchaft Gottes, daß er gwar ein einziges Weſen ifſt, aber
aus drei in verfchiedenen Richtungen wirkffamen Perfonen bes
fteht. |
Ebioniten, eine hriftfiche Sekte, welche aus den Suse -
denchriften (f. d. Anm.) hervorging und lehrte, daß Jeſus
ein bloßer, wiewohl mit Wunderfraft ausgerüfteter Menfch
geweſen ſei: in Bezug auf deſſen Erzeugung waren ſie nicht
einig unter einander.
Eheloſigkeit galt im Allgemeinen bei den Juden als
etwas Schimpfliches; nur die Eſſener (ſ. d. Anm.) legten
einen beſondern Werth daranf.
Ehefheidung war den Männern bei den Juden geftats
tet, wenn fie mit der Fran unzufrieden waren; nur mußten
fie ihr einen Scheidebrief geben; indeß wurden die betreffen, '
den Geſetzesſtellen verfchieden auögelegt; Jeſus erklärte ſich
für ſtrenge Heilighaltung der Ehe.
Eichhorn, ein berühmter Theologe und Geſchichtsforſcher,
der als Profeſſor in Göttingen 1833 ſtarb. Er ſchrieb:
1) Allgemeine Bibliothe k(1788 — 1801). — 2) Einleitung in
Das alte Zeftament.. — 3) Urgefchichte, herausgegeben von
Gabler. — 4) Einleitung in das neue Teftament. — 5) Viele
zerſtreute Aufjäße.
524 j
Eli, Eli Lamah ꝛc.; der Anfang des berühmten, auf das
Reiden Jeſu bezogenen 2. Dfalmes: „Mein Gott, mein Gott,
warum haft du mich verlaffen?“
Elias, einer der berühmteften Propheten, um 900 v. Chr.,
der mit außerorbentlicher Freimüthigfeit den Abfall vom reinen.
Jehovadienſt rügte; deßhalb häufigen Verfolgungen ausgefegt
war, fpäter aber nur um fo mehr verehrt wurbe, weßhalb
feine Gefchichte mehr, als die aller andern Propheten, wit
Wandern ausgefchmücdt ift.
Elifa, der Schüler und Nachfolger bes Elias, weit mil
det und humaner, ale dieſer, jedoch nicht minder geehrt, weßs
wegen auch feine -Lebensgefchichte reich an Wundern ift, Die
zum Theil eine große Aehnlichkeit mit denen des Elias haben,
Emaus (Emmaus), ein zwei und eine halbe Stunde von
Serufalem entfernter Flecken in norbweftlicher Richtung; heuts
zutage Cubeibi genannt.
Engel, d. h. Bote (Gottes), waren nadı dem Glauben
der Suden höhere, von Gott erfchaffene, durch Weisheit und
Gerechtigkeit ausgezeichnete Wefen, welche in großer „Zahl
ben Thron Jehova's umgaben, und von ihm als Verkündi⸗
ger und Vollftrecker feines Willens, vorzüglich aber zum Beis
ftande der Frommen oder des auserwählten Volkes häufig
auf die Erde gefandt wurden: daher Die vielen Engelerfchei-
nungen im alten Zeftamente. Während des Erild wurde
diefe einfache Lehre mehr in's Bilderreiche und Phantaftifche
umgeftaltet, und namentlich eine Rangordnung der Engel, ger
fchaffen.
Ephefus, Hanptitadt Kleinafiend, am griechifchen Meere
gelegen; da hier viele Suden wohnten, fo bildete ſchon Pau⸗
Ins in diefer Stadt eine Chriftengemeinde, welche fpäter an
Sohannes, der hier ganz befonders verehrt wurde, eine bes
deutende Stüße fand.
Ephraim, eine Stadt, 3—4 Stunden (?) norböftlid
von Serufalem.
Effener, eine Sefte unter den Suden, die einen förm⸗
lichen, fchon etwa 100 Sahre v. Chr. geftifteten Bund bildeten;
einfames Leben, Gütergemeinfchaft , vielfältige Kajteiungen
- amd einfach ſtreuger Gottesdienft zeichneten fie aus.
525
Enfebiws, feit 314 n. Chr. Biſchof zu Säfarea in Pa⸗
laͤſtina; er ift Verfaffer der älteften Kirchengefchichte, die wir
befigen.
Evangelium- heißt fo viel, ald „frohe Borfhaft: jo
sannten die Chriften die ihnen zugekommene Nachricht von
Jeſu Tod und Auferftehung; fpäter auch das, was fidy baran
knüpfte, die Gefchichte feined Lebens und feiner Lehren.
| Eril, Verbannung; fo nennt man den Aufenthalt in-frems
den Ländern, zu welchen die Sfraeliten und Tuben zu verfchies
denen. Zeiten genöthigt wurden. Seit 741 v. Chr. wurden
die meiften Einwohner Iſraels durch affyrifche Könige nach
Medien tief im Inneren Aſiens) verfeßtz; die Juden aber
vom Jahre 606 an zu verfchiedenen Malen durch babylonifche
Könige nad) Babylon, von wo fie 536, ohne Zweifel in Ver,
bindung mit vielen Sfraeliten, wieder in ihre Heimath zurück⸗
fehrten.
Fäſten, ein uralter orientaliſcher Religionsgebrauch. Die
allgemeinen Faften waren theild regelmäßige, theils außerors
dentlicye, bei eingetretenen Landesplagen; außerdem wurben
befonders in fpäterer Zeit häufiges Privatfaften angefteht, als
Bußübungen, mit ‚denen namentlich die Pharifäer prunften.
Auch die Apoftel beobachteten noch die jüdifchen Fafttage. |
Fritzſche, Profeffor der Theologie in Roſtock. Er ſchrieb,
in lateinifcher Sprahe: Kommentare über Matthäus und
Markus. | |
Fußwafchung war in dem Morgenlande, wo man ges
wöhnlich nur Eohlen, feine Schuhe trug, allgemeiner Gebrauch,
befonders mußten einem anfommenden Gafte die Diener bed
Hauſes vor allem Andern diefen Dienft erweifen.
Gabler, Soh. Phil., ein Außerft verbienftvoller Gelehrter,
der 1826 in hohem Alter als Profeffor der Theologie in Sena
geftorben ift. Werfe: 1) Einleitung zu Eichhorns Urgefchichte.
— 2) Sehr viele vortreffliche Aufſätze in feinem theologifchen
Ssonrnale von 1796 — 1811.
Gabriel, einer der fieben Erzengel, namentlich der To⸗
desengel der Sfraeliten, deren Seelen nach dem Tode alle an
ihn abgeliefert werden mußten; beſonders thätig iſt er im Buch
Tobia und in Daniel.
526
Gadarener, Bewohner der Stadt Gadara, der Haupt:
ſtadt von Peräa (ſ. d. Anm.), weiche ohmmeit des galilätichen
See's lag.
Galiläa, die nördlichite Landichaft Paläſtina's, ein Alpen:
land, von vielen Bergen durchichnitten und fehr gut bevölkert.
Die Galilaer werden ale fleißige und tapfere Leute gerühmt,
wurden aber von ben übrigen Juden verachtet, weil fie wenis
ger rechtgläubig waren und einen ſchlechtern Dialekt fprachen.
Galiläifher Eee, auch See Genezareth genannt, ein
2 Stunden breiter und 7 Stunden langer Landfee in der füd-
lichen Hälfte Galtlän’s, deſſen Ufer fehr- bevölkert waren.
George, ein junger Gelehrter in Berlin, der fchrieb:
Mythus und Sage, Berfuch einer wiffenfchaftlichen Entwides
lung diefer Begriffe und ihres Verhältniſſes zum chriftlichen
Glauben.
Geſetz, das mofaifche; eine politifchsreligiöfe Verfaſſung,
"die in den Büchern Mofis enthalten, und deren Grundidee
ift: „Sehova ift ald der alleinige Gott und zugleich ald König
des Volkes zu verehren, dieſes Volk alfo fein Eigenthum. *
Unftreitig rührt die Grundlage, die manches Aegyptiſche ent-
hält, von Moſes her; vieles Einzelue.aber ift fpäteren Urfprunge.
Gethfemane, ein Garten bei Iernfalem, der jet Dſches⸗
manije heißt, und durch äußerft alte Delbäume ſich bemerkbar
macht.
Gnoſtiker, eine verfeßerte chriftliche Sefte der erften
Sahrhunderte, welche griechifche und morgenländiiche Lehrfäße
mit Dem Chriftenthume in Harmonie zu bringen fürchten, und Daher
jehr abenteuerliche Sätze aufftellten, mit welchen fie befonders
den Urſprung des Böfen und Die Art, wie Sefug, der ihnen fein
wirflidyer Menfch war, dasſelbe vernichtet habe, zu erflären ſuchten.
Götterfohn it nach griechifcher Mythologie ein Mann,
der von einem Gotte mit einem menfchlichen Weibe auf fleifch-
liche Weife erzeugt if.
Golgatha, der Richtplag außerhalb Serufalem. Irriger⸗
weife hält man den, jet den Kalvarienberg genannten, inners
halb der Stadt gelegenen Hügel für denfelben.
Greiling, ein mir nicht weiter befannter Gelehrter, der
ein Leben Jeſu gefchrieben hat.
527
Grieche uch riſten find foldye Glieder in Jernſalem, welche,
weil fie fremde Suden waren, griechiſch rebeten: fyäter
nannte man diejenigen fo, welche zugleich auch früherhin Hei⸗
den geweſen waren.
Griechiſche Sprade: fie ift die, in welcher alle Büs
‚cher des nenen Teſtamentes gefchrieben find, weil feit Alexan⸗
ders Eroberungen (330 v. Ehr.) diefelbe in ganz Vorberafien
die Umgangsſprache war.
Griesbach, ob. Saf., ein berühmter, in Jena 1812
verfiorbener Theologe, der ſich durch die Textesreinigung des
neuen Teſtamentes unſterbliche Verdienſte erworben hat.
Hanna, eine Prophetin; der Name iſt kananäiſch.
Hafe, Profefior in Jena, fchried „das Leben Sefu“.
Hanptmannz wo im neuen Teflamente eines ſolchen
Erwähnung gefchieht, hat man fich immer einen römiſchen,
alfo heidnifchen, zu denken. (S. Römer.)
Hebräer, — fo nannten fid) die Juden im alter Zeit,
fo oft fie von fi) im Gegenfage zu andern Völkern fprachen;
fpäter, wo der Name „Jude“ ganz allgemein Bezeichnung
des Volkes wurde, blieb „Hebräer" der befondere Namen der
in Paläftina wohnenden Suden. Daher nannte man denn
in der erften chriftlichen Zeit diejenigen Judenchriſten, die in
Paläftina wohnten, und hebräifch fprachen, ebenfalls Hebraͤer;
an dieſe ift der Hebräerbrief im neuen Teſtamente gerichtet;
und „Sebräerevangelium“ nennt man dasjenige apofcyphifche
Evangelium, an welches diefe, mit mannigfachen Borurtheilen
behafteten Chriften fich hielten.
Hegel (8. W. F.), der in Berlin 1831 veritorbene be-
rühmte Begründer der nach ihm benannten Hegelifchen Philos
fophie, die als eine weitere Durchführung der Schelling’jchen
Raturphilofophie betrachtet werden kann. Schrieb (außer
vielem Andern) 1). „Phänomenologie des Geiftes“, 2) „Vor⸗
lefungen über die Philofophie der Religion“; 3) „Rechts⸗
philoſophie“.
Heide; Jeder, der weder Chriſt, noch Jude, noch Muſel⸗
mann iſt; das Wort iſt Ueberſetzung des Lateiniſchen pagonus,
d. h. Dorfbewohner; ſo nannte man naͤmlich die Nichtchriſten,
ſeitdem Conſtantin fie aus den Städten verbannt hatte. Die
328
Inden nannten die Heiden fchlechthin „die Völfer“, in dem
ſtolzen Glauben, daß nur ſie das eigentliche, einzige Bolt
Gottes feien.
Heilige Thiere waren den Juden folche, welche, 3. 8.
als erfigeborne, dem Herrn geweiht waren, und baher zu
feinerlei Dienften gebraucht werden durften.
Hengftenberg, Profeflor der Theologie in Berlin, ein
bekannter Wortführer der überfpannten orthoboren Parthei: —
„Ehriftologie (Meffinslehre) des alten Teftamentes“.
Henoch, Vater des durch fein hohes Alter berühmten
Methufaleme, wurde wegen feiner hohen Frömmigkeit lebendig
in den Himmel zu Gott erhoben:
Her odes, aus Sdumda, wurde von Dem Römer Antonius
zum Fürſten, und nachmals (40 v. Chr.) vom Kaiſer Auguſtus
Fam Könige der Suden ernamt. Er ftarb, von Allen wegen
feiner Grauſamkeit gehaßt, kurz nach der. Geburt Sefu.
Herodes Antipas, des vorigen Sohn, erhielt nach beö
Vaters Tode die Herrfchaft über Galilia und Peräa, wurde
aber von dem römifchen Kaifer im Sahre 38 nach Chriftug ents
fett und in die Verbannung gefchidt. Er ließ den Täufer
Johannes hinrichten, der ihn wegen feiner ungefeglicdyen Vers
heirathung mit Herodias, feines Bruders Kran, ſcharf ge
tabelt hatte. Dieſe Heirath war auch der Anlaß zu dem
Kriege mit dem arabifchen Fürjten Aretad, dem Vater feiner
früheren, verftoßenen Fran.
Herodias, f. den vorhergehenden Artifel.
Heß, ein im Zürich 1819 in hohem Alter verſtorbener,
fehr ehrmwürdiger Theologe, ſchrieb 1) „das Leben Jeſu“;
— 2) „Bibliothek der heil. Geſchichte“. —
Hieronymus, ein Außerit gelehrter Kirchenvater,, Der
331 in Dalmatien geboren, in reifem Mannesalter zu Rom
getauft wurde, und 420 in einem von ihm geftifteten Kloſter
zu Bethlehem ftarb.
Hillel, ein berühmter Rabbine der pharifäifchen Secte,
der nicht lange vor Jeſu lebte, und eine eigene Schule fliftete.
Himmelsbrod, f. Manna.
Nofbeamte, f. Diener, Föniglicher.
Hoherprieſter, der oberfte Prieiter der Juden, ımd fo
529
inge das Volk feine Körige hatte, der. erite Mann im State,
e mußte vom Gefchlechte Aarons fein, und. gewöhnlich folgte
er Sohn dem Bater nach. Er. war in der Regel Borfiger
ed Synedriums, und Daher auch unter den Römern eine
olitifch wichtige Perfon (ſ. jedoch „Priefter“).
Hoher Rath, dasfelbe, was Synebrium. (S. d. A.)
Horſt, ein ſchon vor längerer Zeit verfiorbener Geiſtlicher
n Heflens Darmftädtifchen. — 1) „Ueber die beiden erften
kapitel des Lukas“ Cin Henke's Muſeum). 2) Ideen über
Rpthologie“ (Daſ.).
Jairus, ein Synagogenvorſteher, deſſen Tochter Zeſus
jieberbelebt haben ſoll.
Jakobus der Ältere, Apoftel, Bruder des Johannes,
zurde im Sahre 44 in Serufalem hingerichtet.
Jakobus der jüngere, Bruder Jeſu, wurde 62 n. Chr.
a Serufalem durch den Hohenpriefter Ananus gefteinigt.
Sdpumäa, eine füdöftlich von Paläftina nach Arabien
in fehr bergige Landfchaft, deren Bewohner, die Ebomiten,
on Eſau abſtammen ſollten.
Jehova, d. h. „der Unveraͤnderliche“, der Namen des
udiſchen Nationalgotteg, größer und gewaltiger als alle andern.
Jeremias, ein augdgezeichneter Prophet, der im fiebenten
sahrh. v. Chr. ange in Serufalem auf's fräftigfte wirfte, bie
g durch die Siege Nebukadnezard, des babylonifchen Könige,
egwungen wurde, nach Aegypten zu flieben, wo er wahr
heinlich auch geitorben iſt.
Jericho, eine Stadt in Sudäa, an der Grenze gegen
Jeräa bin, norböftlid von Serufalen, und etwa 7 Stunden
on diefer Stadt entfernt.
Serufalem, „die Stadt Gottes“, faft in der Mitte
Jalaftina’s; erft David fonute fie erobern, und madıte fie zur
Yauptftadtz Salomon erbaute fodann den prachtvollen Tempel,
yodurdy fie Mittelpunft des Sehovadienftes wurde. In der
eften Zeit betrug ihr Umfang 1%, Stunden, und ihre Eins
yohnerzahl 120,000. Nachdem fon früher mand)e Stürme
ber fie ergangen waren, wurde fie 70 n. Chr. von den
tömern gänzlich zerſtört; erſt 136 baute an der Stelle der
II. 3x
530
verödeten Stadt Kater Hadrian eine neue, bie er Aelia
Capitolina nannte.
Jeſaias trat im Sahre-759 v. hr als jübifcher Prophet
aufs; feine weiteren Lebensſchickſale find fehr in Dunkel gehült;
auch find nicht .alle Theile der unter feinem Namen erhaltenen
Weiffagungen von ihm.
Jeſus, die griechiſche Form des Namens Sofua, d. h.
„Jehovas Hülfe“.
Joa, jüdiſcher König um WO v. Chr., Sohn des Apasja
und Vater des Amazia.
Johannes, der Apoſtel, war nach Jeſu Tode für das
Chriſtenthum thätig zuerſt in Jeruſalem, dann in Kleinaſien,
wo er ſich in Epheſus niederließ. Er ward in ſchon hohem
Alter auf die Inſel Patmos verwieſen, ſpäter aber wieder
befreit; er kam nach Epheſus zurück, wo er auch ſtarb.
Johannes jünger, Anhänger des Täufers, Die ſich noch
lange nach deſſen Tode als beſondere Secte erhielten, bis
fie allmaͤlig unter den Chriſten ſich verloren.
Jonas, ein bekannter israelitifcher Prophet, um 800 v.
Chr., deffen Gefchichte fehr durch Sagen entſtellt ift; er fol
den Einwohnern der großen aſſyriſchen. Stadt Ninive Bekeh—⸗
rungsreden gehalten und vielen Glauben gefunden haben.
Sordan, der Hauptfluß Paläftina’s, entipringt an ber
Kordgränze Galiläa's, durchftrömt das ganze Fand von Norden
nad; Süden, und ergießt fid) in das todte Meer, einen Land
fee, der die Dftgränze von Judäa bildet.
Joſeph von Arimathäa, der befannte heimliche Anhänger
Sefu, fol fpäter offen zum Chrijtenthume übergetreten fein;
daher zählt ihn die Sage zu den fiebenzig Süngern, und weiß
fogar, daß er dad Evangelium in England gepredigt habe.
Joſephus, ein jüdifcher Schriftiteller des eriten Jahr⸗
hunderts, der ſich der Gunft mehrerer römiſcher Kaifer ers
freute, unter Titus bei der Belagerung Jeruſalems thätig war,
und nad) der Eroberung feinen befiegten Landsleuten fehr große
Dienfte erwies. Späterhin fchrieb er in Nom mehrere Ge
fhichtöwerke, von denen die „Gefchichte der Zerfiörung Jeruſa⸗
lems“ und die .„jüdifche Gefchichte “ von befonderer Wichtig.
feit find. |
Iſaak, der befannte Sohn Abraham's, deſſen Geſchichte, mit
Ausnahme der Verkündigung feiner, Geburt., auffallend wenig
Wunderbares enthält. .
Ismael, des Abrahams und der Hagar Sohn, fol
durch feine zwölf Söhne Stammvater mehrerer arabiſchen
Volkerſchaften geworben fein. .
Israel, der alte heilige Namen bes jüdifchen Bolfes.
Später, als das Reich fich theilte, ging dieſer Namen vors
zugsweife auf die zehn Stämme über, welche ſich vom Davidi⸗
fchen Haufe trennten; Sauptitadt des Reiches Jsrael war
Samaria. (5. „Suden“.)
Sudbäa, bie ſüdlichſte Provinz Paläftna’s, in welcher
Jeruſalem lag, norböftlid, ftieß fie an Samaria. Der Namen
rührt daher, daß hier die eigentlichen Juden (S. d. U.) wohnten,
weßwegen wohl auch ganz Paläftina fo genannt wurde. Ä
Subäifche Wüſte, ein felfiger Strid, Landes im Dften,
der Provinz Sudäa, länge des todten Meeres; hier trat
Johannes, der Täufer, auf.
Judas, des Safobug Bruder, ein Apoſtel, deſſen fpätere
Lebensgefchichte ganz im Dunkel liegt.
Judas, der Berräther, hatte den Beinamen „Iſcharioth“
von feinem Geburtsorte Karioth; mit Unrecht wird er ges -
wöhnlich als ein vollendeter Böſewicht betrachtet.
Suden. Es möge hier eine kurze Ueberſicht der jüdifchen
Geſchichte Plas finden. Das Volk Israel, nachdem es von
Mofes aus Aegypten weggeführt worden, und unter Sofua
(1500 — 1400) Paläftina erobert hatte, lebte mehrere Sahr-
hunderte lang, ohne feite Einheit, unter feinen Prieftern, bie
es auf fein Verlangen in Saul den eriten König erhielt, deſſen
Nachfolger, David, das Reich zur Blüthe feiner Macht erhob.
Aber fchon unter Davids Enkel, Nehabeam, zerftel dasſelbe,
indem zehn Stämme fich Tostrennten, und unter dem Namen
Jsrael ein eigenes Reich bildeten; die zwei andern, Juda und
Benjamin, nannten fich nun das Neid) Juda. Beide Reiche
wurben ein Raub fremder Bölfer; Serael, 722 v. Chr., warb
durch Aſſyrien, Inda, 987 v. Chr., durch Babylonien vers-
nichtet, und die Mehrzahl des Volkes in's innere Aſiens ge⸗
ſchleppt (ſ. Exil.). Nachdem 536 die meiſten Verbannten
532
wieder zurücgefehrt waren, nnd auf's Neue ihren Tempel in
Jeruſalem aufgebaut hatten, erhielt das Volk den allgemeinen
Namen „Suden“, weil die KHeimgefehrten vorzugsweife dem
ehemaligen Neiche Juda angehörten. Sie waren von da an
Untertbanen der Perjer, nad) dem Sturze derfelben der Mate
donier (333 v. Ehr.), und als das riefenhafte Reich diefer ſich
in einzelne Staaten auflöste, der Syrer. Die (um 290 v.
Shr.) Bedrückungen des fyrifchen Königs Antiochus (ſ. d. %.)
veranlaßten eine Empörung, in welcer das Bolt fich frei
machte (160) und eine Zeit lang unter Hohenprieftern aus
dem Gefchlechte der Maffabaer glücklich lebte, bie innere
Zwifte fle allmälig in die Hände der Römer brachten; von
etwa 50 v. Chr. an. (S. Römer.)
JIndenchriſten find folche Chriften, welche, ber befonders
von Paulus eingeleiteten Aufnahme der Heiden in's Chriſten⸗
thum entgegentretend, die Beobachtung des mofaifchen Geſetzes
für nothwendig hielten; fie treten von der Zerftörung Serufas
lems an jehr in's Dunkel zurüd und verfchwinden allmälig.
(5. Ebioniten.)
Suftin, der Märtyrer, um die Mitte des zweiten Jahr
hunderts; ein Schriftiteller, der zu den erften gehört, welde
mit gelehrten Kenntniſſen zur Vertheidigung des Chriften
thums auftreten Fonnten.
Kaiphas, Hoberpriefter während der ganzen öffentlichen
Wirkſamkeit Jeſu; wurde im Jahre 36 diefer Würde entfegt;
Daß er fpäter Chriſt geworden, ift ein Mährchen.
Kana, kleiner Flecken in Galiläa, etwa in der Mitte
zwifchen Kapernaum und Nazaret.
Kanaan, ein ſchönes, meiſt ſehr fruchtbares Land Border:
aſiens, dag ſich in nicht ganz feit beflimmten Gränzen zwifchen
Arabien, Babylonien, Syrien nud dem mittelländifchen Meere
angbreitete.
Kanaaniter, die alten beidnifchen Einwohner des Landes
Kanaan, von welchen Paläftina einen Theil bildete, aus welchem
fie indeß nie völlig verdrängt wurden; mit den nordweſtlich
von Bälilia Wohnenden ſtanden die Juden in vielfachem
Verkehre.
Kant, Im., der große Schöpfer Der neueren Philoſophie,
"533
in Königeberg 1804 geſtorben. Hieher gehört feine „Religion
innerhalb der Gränzen der bloßen Vernunft“.
"Kapernaum, eine fehr volfreiche Stadt am galiläifchen
See und an der großen aus Syrien zum mittellänbifchen Meere
führenden Handelsftraße; Heimath des Petrus und Andreas,
in deren Haufe. Jefus ſich oft und lange aufzuhalten pflegte.
Ketzer, ober Häretifer Cd. h. einer, der eigener Wahl
folgt), ift nad) der Kirchenfpradje derjenige, der in chriftlichen
Dingen anders denkt und lehrt, ald bie herrfchende Kirche
will, und daher von dieſer verdammt wird. Berfeßerungen
fiengen unter den Chriften an, fobald man nad) herrfchender
: Einheit des Glaubens ſtrebte.
. Kirhenväter find Diejenigen Schriftteller der alten '
Kirche, welche an die Apoftel und-deren unmittelbare Schüler
Capoftolifche Väter) ſich anfchließen; Diejenigen, welche erft
. nad bem fechsten Sahrhundert blühten, werden gewöhnlich
nicht mehr fo genannt.
König, der, der Suden hieß „ der Geſalbte“, weil nach
alter Sitte derſelbe von den Prieſtern durch Salbung geweiht
werden mußte; der Namen blieb, obgleich die Sitte fich verlor.
(S. Meſſias.)
Kreuzigung, eine höchſt qualvolle Todesſtrafe, welche
von den Römern früherhin nur gegen Sklaven und fchwere
Verbrecher, fpäterhin aber auch gegen aufrührerifche Unter⸗
thanen in Anwendung ‚gebracht wurde, weßhalb fi fie in Paläftina
häufig vorfam.
Krug fchrieb: „Verſuch über die genetifche oder formelle |
Erflärungsart der Wunder“ (in Henke's Mufeum).
.. Kyrene, eine wichtige Stadt in Afrifa, weftlicd von
Aegypten; zu Sefu Zeiten beftand faft ein Viertel der Eins
wohner aus Juden; die Fyreneifchen Juden hatten in Serufas
lem eine eigene Synode.
Laubhüttenfeft, eins der drei hohen Feſte, zu deren
Feier man nach Jerufalem reiſen mußte; gewidmet dem An⸗
denken an dad Wohnen der Seraeliten in den Hütten auf
‚dem Zuge durch die Wüfte; zugleich auch Erntefeſt; denn es
fiel in die erften Tage des Oktobers.
Lazarus, der Bruder der bethanifchen Maria, foll nadı
534
feiner Auferwedung noch dreißig Jahre gelebt haben; feine
Gebeine will man auf der Inſel Kypern gefunden haben.
Legion, eine Abtheilung des roͤmiſchen Fußvolkes, etwa
4 — 6000 Mann ſtark; fpridywörtlich, wie unfer „Regiment“,
von einer großen Zahl.
Levirathsehe. Wenn ein verheiratheter Seraelite ſtarb
ohne männliche Nachkommen, fo mußte fein älterer Bruder
(Levi) die Wittwe heirathen, und den mit ihr erzeugten Erſt⸗
gebornen ald Sohn des Berftorbenen m das Gefdjlechteregifter
einfchreiben laſſen. Diefes Geſetz, von dem ed inbeß auch
Befreiungen gab, hatte feinen Grund in dem Wunfche, fein
Geſchlecht und den Güterbefit desfelben fortzuerben.
Leviten, Nachkommen Lewis, eined Sohnes’ Jakobs,
ein israelitiicher Stamm; im engeren gewöhnliden Sinne
hießen aber nur die fo, welche nicht vom Geſchlechte Aarons,
das ja Diefem Stamme gehörte, ber eigentlichen Priefterkafte
waren, und diefen bei ihren Berrichtungen Dienfte leiften mußten.
Libanon, ein großes Gebirge, das nörblid, von Paläftina
ſich Tänge des mittelländifchen Meeres hinzieht, und eigentlich
aus zwei parallel laufenden Zügen befteht, deren öftlicher ben
befonderen Namen Antilibanon trägt.
Logos, Wort, nennt das Evangelium Johannes den
in Jeſu fleifchgewordenen göttlichen Geift, wie fehon die Juden
die von Gott ausftrömenden Wirkungen das „Wort Gottes“
nannten. Ob man ficd, diefen Logos in Sefus ald Wirkung
bes ewigen Gottes (rein göttlich) oder als ein Wefen göttlis
her Art (rein perfünlich) zu denfen habe, darüber warb viel
geftritten, bis die Kirche entfchied, er fei göttlich und perſon⸗
ih. (CS. Präeriftenz.)
Lücke, Pr. d. Theol. in Göttingen, fchrieb: „Commentar
zu den Evangelien des Johannes“.
Lukas, Evangelift, wahrfcheinlich Arzt und fein geborner
Sude, fol als Martyrer umgelommen fein.
Machärus, Feftung am nördlichen Ufer des todten Meeres.
Magier nannte man zunächft bei den Medern und Pers
fern, dann aber auch bei den Babyloniern den Drden, welchem
die Ausübung der heiligen Gebräuche und die Bewahrung
ber Wiflenfchaften anvertraut war; die babylonifchen Magier
535
waren bejonderd in der Sternkunde- und Aſtrologie fehr bes
wandert. Daher nannte man zu. Jeſu Zeiten alle Diejenigen,
welche als Sterndeuter, Wahrſager, Zauberer ꝛc. umherzogen,
Magier: folhe waren es wohl, von denen Matthäus erzählt.
Manna, ein füßes, weißlihes Harz, das befonders im
Drient von mehreren Sträucdyen und Bäumen gewonnen, und
ganz fo gefammelt wird, wie es im alten Teftamente erzählt
iſt; naͤmlich wie eine Art Mehlthan findet man es am früheften
Morgen auf Blättern und Zweigen. Da es häufig die Israe⸗
liten in der Wüſte aus großer DVerlegenheit rettete, fo bildeten
ſich wunderhafte Sagen über dasſelbe; es fei vom Himmel
gefallen ıc., daher es and, „Himmelsbrod“ genannt wurde.
- Marbeinede, ber Theol. Prof. in Berlin, ift Schüler
Hegels, deſſen Lehre über Ehriftus er weiter ausbildete. —
„Chriftliche Dogmatif*. —
Maria — 1) Die bekannte Mutter Sefu, fol in dem
Haufe des Apofteld Johannes in Serufalem geftorben fein;
ihr Leben warb fpäter durch die bunteften Sagen verherrlicht,
die großentheils in dem apofryphifchen Evangelium der Maria
enthalten find. Schade, daß wir gar nicht wiffen, welchen
Einfluß fie von früh an auf Sefum ausübte! — 2) Die Mutter
des jüngeren Jakobus, des Klepas Frau, Schweiter der Mutter.
Jeſu. — 3) Maria (v. Magdala) Magdalena, folgte Jeſu
nah, nachdem er fie geheilt hatte; die Erzählungen von ihren
Sünden und ihrer Neue find reine Sagen. — 4 Die bethas
nifche Maria, Schweſter des Lazarus; man hat Andeutungen
- finden wollen, fie habe zu Sefu in befonders nahem Verhaͤlt⸗
niffe geftanden.
Marfus, mwahrfceinlic; durch Petrus befehrt, begleitete
den Paulus auf mehreren Reifen; aus den Sagen über fein
fpäteres Leben ſcheint als gewiß hervorzugehen, daß er in
Alerandria eine chriftliche Gemeinde ftiftete.
Martha, Schwefter der Maria 9.
-Martyrer, nennt die ältere chriftliche Sefchichte diejeni-
gen, welche wegen ihres jtandhaften Bekenntniffes Jeſu Ehrifti
den Tod fanden, und daher ald „Zeugen“ für die Wahrheit -
dieſes Glaubens verehrt wurden.
536
Marıhäus, weder das neue Tekament, nech die jpätere
Geſchichte weiß irgend etwas Zwerlaͤßiges über ibn.
Meſſias, ber „Sefalbte*, alfo der „König“ (f. d. A.)
vorzugsweife. Unter dem Drucke fremder Despoten ſah
das jüdiiche Volk mehr und mehr feine alte Derrlidykeit ſchwin⸗
den, und da ed von Jehova verlajjen zu jein nicht glauben
fonnte, jo entwickelte jich in ihm allmälig die Hoffumg, es
werbe bereinjt ein König unter ibm anfiieben, der ein König
aller Könige, ein anderer David (ſ. d. A), fein, und alle
Heiden unterwerfen werde. An diefe Erwartung eines Rett ers
fnüpfte Jeſu an, faßte aber die Aufgabe desſelben ganz anders,
als bie im Drucde am meiſten ftolgen Tuben. (S. Wiederkunft.)
Metrete, das gewöhnliche griechiiche Trap für Flüſſig⸗
feiten — 33 Berliner Quart.
Mine, urſprünglich ein Gewicht, dann eingebildete Münze,
an Werth etwa GO rhein. Gulden.
Montaniiten, eine feit 150 fehr bedeutende Secte unter
den Chriſten, Anhänger eines gewiffen Montans, der behaups
tete, der von Jeſu verheißene Tröſter zu fein; durch eine fehr
firenge Eittenlehre wußte er ſich Glauben zu verichaffen, und
hielt, wie die Sudenchrijten, ftreng am Buchſtaben feit.
Moria, der Hügel in Serujalem, auf welchem der Ca
Iomonijche Tempel ftand, jchon in der frühften Sage geheiligt,
weil hier Abraham den Iſaak opfern wollte.
Mofes, der unfterblidye Gefetgeber und Begründer bed
judiichen Staates; da er der größte Prophet war, fo war
fein Leben auch das wunderbarftes da er der erfte „Netter“
bed Volkes war, der Meffias aber der noch geößer zweite
fein follte, fo erwartete man von die ſem noch größere Wunder,
aber Wunder nad) dem Borbilde der Mofaifchen.
Moſais mus, die Verfaffung, das Geſetz Moſes. (S. d A.)
Müller, Profeſſor der alten Sprachen in Göttingen,
machte in feinem Buche „Prolegomena zu einer wiſſenſchaftlichen
Mythologie“ einen fehr glücklichen Verſuch, die alten Miythen
nach wiffenfchaftlichen Prinzipien zu erklären. |
Nain, ein galilätfches Städtchen unweit Kapernaum.
Narde, die Salbe, weldhe aus den Wurzeln der in
Dftindien wachfenden Nardenpflanze gewonnen wurde, gehörte
937
zu den foftbariten im Alterthume, und war recht eigentlich Ge⸗
genſtand des Luxus.
Naſiräer hieß derjenige Israelite, der, entweder ſchon
vor der Geburt auf Lebenszeit durch Gelübde der Eltern, oder
ſpaͤter auf eine beſtimmte Zeit durch eigenen Entſchluß, Jehova
geweiht war; er war zur Enthaltſamkeit, namentlich von allen
berauſchenden Getraͤnken, ‚verpflichtet, und fein Haar durfte
von feinem Scheermeifer berührt werden.
Nazaret, galiläifche Stadt, acht Stunden weſtlich von
dem galiläifchen See, und drei Tagereifen von Jeruſalem
entfernt; fie ift noch heutzutage eine artige, beliebte Stadt
‚mit 3000 Einwohnern. |
Keander, f. VBorrede ©. V. '
Kifodemus fol nad Jeſu Tode von. Petrus getauft
und hierauf aus Jeruſalem verwieſen worden ſein.
Niniviten, die, Einwohner der ſehr großen Hauptſtadt
des aſſyriſchen Reiches; ſeit dee Zerſtörung im Jahre 625
durch den König der Meder blühte fie nie wieder auf.
Niſan, der erfte Monat der Hebräer; März — April.
Delberg, ein bedeutend hoher Berg, eine Biertelftunde
nordöftlich von Serufalem, mit großen Delpflanzungen; Jeſus
Hhielt ſich auf und an demfelben gerne auf.
Olshauſen, Profeffor der Theologie in Königsberg; —
1) „Gommentar über fänmtliche Schriften bes neuen Teſta⸗
ments“. — „Ein Wort über tieferen Schriftfinn“.
. - Drigened, einer der gelehrteften Kirchenväter, wegen
feines. Fleißes „der Diamantene“ genannt, lebte im zweiten und
dritten Sahrhundert in Alerandria, und zog ſich durch feinen
glühenden Eifer für Ausbreitung und Ausbildung des Chriſten⸗
thums große Verfolgungen zu.
Drthodor wird derjenige genannt, der fich einfach und
fireng an den Lehrbegriff feiner Kirche hält. Vgl. „Supras
naturalijt“.
Dfia, König in Suda, Sohn des Amazia, um 850 v. Shr.
Paläftina, der von den Israeliten bewohnte Theil
Kanaans (f. d. A.); der Flächeninhalt kann, obgleich bie
Gränzen öfters wechfelten, auf 450 Quadratmeilen angegeben
‚werben... Es beftand aus den Landfchaften Galilda, Samaria,
538
Subaa, Peraa, woran fid, onlich ech einige Diftricte
ſchloſſen, die, obgleich nicht eigentlich judijch, doch im
Regel mit Palajiina gleiches Schichſal hatten.
Papias, Biſchoff von Hierapelis (160 m. 3 ),
meite in vielen Schriſten Rachrichten uber Jeſu und
Apoſtel, wobei ihn großes Mißtrauen gegen die ſchon vor⸗
handenen fchriftlichen Rachrichten leitete.
Paradies (Hebr. Eden) heißt in der in 1 Moſ. 2 ent
holtenen, wahrſcheinlich während ber babylouiſchen Periede
entſtandenen, Mythe die herrliche Gegend, worin die erſten
Menſchen wohnten; wan glaubt in der Schilderung die Hoch⸗
ebene Rorbindiens, Kajchemir, zu erfennen. Spüter war
der Rame Bezeichnung des Aufenthaltes der Frommen nadı
Dem Tode bis zur Auferftehung.
Paſcha, eins der drei hohen judifchen Fefle, bie nur im
Jeruſalem ſelhſt gefeiert werben konnten; geweiht dem Audenken
an den fegenbringenden Auszug aus Aegypten: ed dauerte
fieben Tage lang; der erite Tag war befonders heilig, mehr
noch, wenn er, wie es bei Jeſu Tode der Fall war, zugleich
auf einen Sabbat fiel. Am Borabende diejed erften Felttages
wußte jeder Bater mit den Seinen oder andern Gäften em
männliches Lamm (Paſchalamm) verzehren, wozu ungefäuertee
Brod genoſſen wurde, und wobei Alle in Reifefleidern waren;
beides zum Andenfen an ben ſchnellen Abzug der Sseraeliten,
vor welchem ebenfalls jede Familie ein Lamm fchlachten mußte,
am auf den erfien Ruf zur Reiſe die Iette Mahlzeit fchon
bereit zu halten.
Paſchalamm, f. Pafcha.
Paſchamahl, ſ. Paſcha.
Paulus, Apoſtel, ein in Tarſus (Cilicien in Kleinaſien
geborner Jude, und römiſcher Bürger; trat in Jeruſalem nach
vollendeten Studien in Die Secte ber Phariſäer ein, verfolgte
dort mit glühendem Eifer die auffeimende chriftliche Gemeinde,
und reiste felbft nach Damask, um fie auch Dort zu erbrüden.
Auf der Neife dahin war ed, wo ein himmlifches Geſichte
ihn zum Ghriftenthume befehrte, von wo an er der feurigfte
Anhänger, der muthuollfte Verbreiter besfelben und der geiſt⸗
sollte Fortbildner des chriftlichen "Glaubens wurde, bie er
639
nach vielen und weiten Reifen in Rom Sahre lang im Kerler
ſchmachtete; hier fol er auch hingerichtet worben fein.
Paulus, Profeffor der Theologie in Heidelberg, bag
Haupt ber Rationaliften, ein faſt 8Ojähriger Greis; Werke:
1) „ Eregetifhes Handbuch über die drei erften Evangelien “.
— 2) „Ueber das Leben Jeſu“. — 3). „ Eommentar zum
Evangelium Sohannes“.
Perferz fie wurden durch den gewaltigen Cyrus zur
Herrfchaft über faft das ganze befannte Aften erhoben. Ihre
Religion, ein reiner Fenercultus, wurde fpäter zu Der Lehre
von einem höchften guten und einem böfen Wefen, die beide
eine Menge von Dienern, Enge und Teufel ‚ hatten, aus⸗
‚gebildet.
Peträa, „fteiniged Land“, eine Provinz Palaͤſtina's, noͤrd⸗
lich vom todten Meere, zwiſchen Judäa und Galiläa.
Petrus, der berühmte Apoſtel, ſteht alsbald nach Jeſu
Tode an der Spitze der Gemeinde Jeruſalem, wo er mit der
größten Unerſchrockenheit lehrt; nach mehreren Reiſen wird
er gefangen und wieder befreit. Ueber feine fpäteren Reiſen
and fein Ende fehlen ganz zuverläßige Nadjrichten; in Nom
foll er hingerichtet worden fein.
Pfingiten, dasjenige der drei Hauptfefte (ſ. Paſcha),
‚welches fünfzig Tage nad) dem Pafcha als Erntedanffeit und
zur Erinnerung an die auf dem Sinai gefchehene Mittheilung
des Geſetzes gefeiert wurde; es beftand vorzüglich in einem
großen Brands und Sündopfer.
Pfund; im neuen Teftamente ift immer das römische zu
verftehen, das etwa 22 unferer Loth fchwer war.
Pharao, der gemeinfchaftliche Namen aller früheren
:Agyptifchen Könige.
Pharifäer, „Abgefonderte, Fromme“, eine politiſch-
religiöſe Secte, welche wahrſcheinlich erſt hundert Jahre v.
Ehr. entſtanden; fie machte ſich zur Aufgabe, Das ſeit der
Rückkehr aus dem Exile ſich immer mehr ausbreitende, ſtarre,
abgeſchloſſene Judenthum zu befeſtigen und weiter zu bilden,
weßhalb ſie an allen Satzungen (ſ. d. A.) feſthielten. Durch
dieſes Streben und durch ihre ſtrenge, aber heuchleriſche Be⸗
vbachtung der aͤußeren Religionspflichten erwarben fie ſich
540
aid nur großes Anfchen, fondern auch ein bebeutendes poli⸗
tiſches Gewicht, befonders feit dem fie den größten Tbeil des
Synebriums ausmachten. Sie erfannten außer den altsteitas
meutlichen Urkunden auch die mündliche Weberlieferung ale
bindende Rorm an, und lehrten eine Vergeltung nach dem Tode.
Philippus, der Apoitel, foll in Phrygien (Kleinaſien)
das Evangelium gepredigt haben, und verheiratbet gewefen fein.
Philippus, der Diakon, foll ald Biſchoff von Cäſarea
m Samaria geitorben fein.
Philo, ein fehr gelehrter Jude, der im erften Sahrhundert
m. Ehr. in Alerandria lehrte, und ein genauer Kenner der
platoniſchen Philofophie war, aus welcher er viele VBorftellun
gen in fein ideal-jübiiches Syftem übertrug, welches er in
vielen Schriften entwickelte.
Phönikien, derjenige Theil Kanaans, der ſich nördlich
von Samaria und Galiläa an der Küfte des mittelländifchen
Meeres hin als eine fhmale Ebene ausbreitete.
Pilatus, Pontius, zehn Jahre lang Landpfleger in
Sudäa, unter dem Statthalter von Eyrien, warb wenig Jahre
nad, Jeſu Tode wegen angeblidyer Bedrüdungen abgefett;
fol fpäterhin hingerichtet worben fein.
Doefie der Hebräerz fie hat weder Reims noch Bere
maß, fondern den fogenannten Parallelismus, der darin bes
fieht, daß derfelbe Grundgedanfen in zwei aufeinander
folgenden Sägen, mit etwas verfdjiedener Wendung, auds
gedrüdt ift.
Polikarpus, Biihoff von Smyrna, Schüler des Apoſtel
Johannes, ftarb als Martyrer 167.
Präeriftenz, d. h. Dafein vor ber Geburt, mußte Jeſu
zugefchrieben werden, fobald man in ihm ben menfchgerwordenen
Logos, der von Anfang an bei Gott war, erfannte.
Presbyter, „Aeltefte“, hießen in der apoftolifchen Zeit
die Borfteher der Gemeinden, welche die Aufficht über Lehre
und Sitten führten, daher auch Epiffopen, Bifchöffe, „Wächter“
genannt wurden; fie leiteten den Gottesdienft und ware meiſt
aud) Lehrer. . Späterhin wurde dieſes Verhaͤltniß ein - ganz
anderes, und von Presbyter ſtammt unfer „Priefter“ !
Priefter, Vollzieher der gottesdienſtlichen Gebräudye; Die
541
jüdifchen mußten aus dem Gefchlechte Aarons, des Bruders
Mojes, fein. Sie waren in vierumndzwanzig Claſſen getheilt,
deren jede ihren Oberprieiter hatte. Diefe find auch ge
meint, wenn im neuen Zeflamente von mehreren Hohen
prieftern die Stede ift. -
Propheten, von Saul bis zu den nädhften Zeiten nah
dem Erile, gottbegeifterte Männer, welche, ohne einen befonberen
Drden zu bilden, zu allen Zeiten öffentlich warnend und lehrend
auftraten, wo e3 galt, Abgötterei und Sittenlofigfeit des
Bolfes, oder falfche Politif der Könige zu befämpfen. Se
drohender die Gegenwart ward, defto mehr richtete fich ihre
Blick in die Zukunft, die fie häufig mit dei lebhafteften Farben
malen (daher ihr Name — „Vorherfager“), meift Unheil vers
fündend, oft aber auch hinweifend auf den rettenden Glanz
des Meſſias.
Profelyten, diejenigen Heiden, welche zum Sudenthume
übergegangen waren; fie wurden natürlich befchnitten; ſpaͤter
kam auch noch eine einweihende Taufe hinzu.
Quirinus, wurde römifcher Statthalter in Syrien, nicht
vor dem Sahre 4 n. Chr., und hielt fpäter eine Schatzung in
Sudäa, weil biefe Landichaft inzwiſchen römiſch geworden war.
(S. Römer.)
Rabbi, Ehrentitel der jüdiſchen Geſetzlehrer (ſ. Schrift⸗
gelehrte), womit man fie ſtets anredete, weil man es für
unſchicklich hielt, fie bei ihrem Eigennamen zu nennen.
Raphael, einer der fieben Erzengel, der im Buche To⸗
bias vorfommt.
Rationaliſt ift der, welcher als Anhänger der Vernunfts
religion, des Nationalismus, die Vernunft ald einzige Quelle
und Richtſchnur des Glaubens betrachtet; daher müfjen ftreng
genommen ſchon die heidnifchen Philofophen, namentlich feit
Sofrateds, fo genannt werden. Allein man verſteht unter
Rationalismus nur die Richtung der Vernunftreligion, Die
im Schooße der chriftlichen Kirche fich dem Glauben an uns_
mittelbare, poſitive Dffenbarung, dem Supranaturaliemug,
entgegenftellt.. Diefe Richtung war von je unter. einzelnen
Chriften bemerkbar, bildete ſich jedoch erſt feit Dem vorigen
Sahrhundert ald eigene Schule, die daher: vorzugsweife Den
542
Namen „Rationaliften“ führt, aus. Es ift von felbft Mar,
daß diefelbe alle Wunder in der bibliſchen Gefchichte laͤugnen muß.
Rüſttag heiß bei den Tuben der Tag, der einem Sabbate
oder einem hohen Fefktage, z. B. dem Pafcha, voranging;
der Tag alfo, an deffen Abende das Pafchalamm verzehrt wurde,
war der Rüfltag des Pafcha.
Römer. Die Römer kamen dadurch mit den Juden zw
exit in nähere Verbindung, daß fie während ihren Eroberungen
in Aflen von ſchwachen jüdifchen Königen um Schuß, und
bald ald Schiedsrichter in ihren Zwiftigfeiten angerufen wurden
von 64 v. Ehr. an); dadurch bradıten fie Paläftina unter
ihre Vormundſchaft. Anfangs gab man dem Hohenprieſter
Gmb Kürften) einen Ausländer zum Gehülfen, bald aber machte
won einen andern, Herodes (ſ. d. A.), gar zum Könige,
Nach defien Tode ward das Reich von den Römern zwifchen
feine zwei Söhne getheilt; ſchon im Sahre 6 n. Chr. wurde
der eine, Archelaug, der Judäa, Samaria ıc. beherrichte,-
entfernt, und feine Ränder zur Provinz Syrien gefchlagen;
ein Gleiches gefchah 38 n. Ehr. dem zweiten Sohne, H. Antis
pas. Hierauf erhielt zwar ein Enfel des Herodes, H.Agrippa,
noch einmal eine Art Scheinherrfchaft über Paläftina; allein
feit 44 ward dasfelbe auf immer ganz römifd).
Roſenkranz, Profeflor in Königsberg: — „Encykläpodie
der theologiſchen Wiſſenſchaften“.
Sabbat, ber ſiebente Tag ber Woche, Ruhe» umd
Freudentag, den man durch Brandopfer und Gebete feierte;
Arbeit jeder Art war fireng verboten, am meiften in ben
fpäteren Zeiten.
Sadducäer, eine jüdifhe Secte, deren Urfprung dunkel
iſt. Im Oegenfage zu dem immer greller überwiegenden Say
zungsweſen legten die Sabducäer das größte Gewicht auf-
Tugend und innere Bereblung, und hielten fid) daher nur an
‚bie gefchriebenen Geſetze; dabei verläugneten fie eine Vergel⸗
tung nach dem Tode, und fomit auch die Auferftehung. Dbs
gleich fie in allen diefen Punkten den mächtigen Pharifäern
(f. d. A.) entfcjieden entgegen traten, fo waren fie Doc, nicht
ohne Anfehen, befonderd bei den Gebildeten, faßen auch im
Synedrium, und gelangten felbft zur Hohenpriefterwürde.
543
Salathiel, der fonft unbekannte Sater Sernbabels.
S. d. A.)
- Salbungen waren im Morgenlaude ſehr haͤufig, theils
us Gewohnheit des täglichen Lebens, theils als Ceremonie bei
zewiſſen Alten. «S. König.)
Samaria, eine große und fefle Stadt in Mittelpaläfkina,
dauptſtadt der israelitifchen Könige, gab der Landſchaft dem
Ramen, die fich, in der Mitte zwifchen Judäa und Perän ger
egen, bis an das mittelländifche Meer hin erftreckte.
" Samariter, die Einwohner Samariad nach dem Exile;
fe waren eine Mifchung zurüctgebliebener Israeliten und einges
wangener heibnifcher Eoloniften, und wurden daher, obgleich
ie das moſaiſche Geſetz befolgten, von den zurückgekehrten
Juden fo verachtet, daß diefe ihnen die Theilnahme an dem
Tempeldienſt zu Serufalem verweigerten. Sie errichteten daher
men eigenen auf dem Berge Garizim, und wurden von dem
suden mehr, ale bie Heiden, veradhtet. |
Samuel, der bekannte Prophet, um 1100 v. Chr., ber
en Juden ben erſten König geben mußte, Saul, gegen ben
r die Rechte der Priefterichaft mit Bitterfeit vertheidigte.
Fr war zum Nafträer cf. d. A.) beftimmt gewefen, und feine
Seburt fchon ift durch Mythen verherrlicht.
Sara, Frau des Abraham, gebahr erft im hohen Alter,
a neunzigſten Sahre (9), den Iſaak.
Saßungen nennt man alle diejenigen religiöfen Vor⸗
chriften und Lehren der Juden, die nicht im geſchriebenen
Heſetze enthalten find, ſondern auf mündlicher Ueberlieferung
eruhen.
Saul, erſter König der Juden, nach 1100 v. Chr.; ſein
eben iſt bekannt, ſo wie ſein unglückliches Ende.
Schatzung. Wenn von einer jüdiſchen die Rede iſt,
kann dabei nur an Einſchreibung in die Geſchlechtsregiſter,
am Stammorte geſchehen mußte, gedacht werben.
Schatzung, römiſche; m den Kaiferzeiten (das
rühere gehört nicht hierher) wurden zuweilen in den Pros
inzen genaue VBerzeichniffe aller Unterthanen nach Kopfzahl,
ermögen und Gewerbe aufgenommen, was die Römer Eenfus
343
nannten; Luther überſetzte das griechifche Wort dafür nicht
ganz richtig mit „Schabung“.
Schaubrode nannte man die zwölf ungefäuerten Brode,
weiche, mit Weihrauch und Salz beftreut, im Heiligen bes
Tempels auf einem Tiſche lagen, ald Sinnbild der täglıchen
Speife Sehova’s; fie wurden an jedem Sabbat erneuert. Die
alten Echaubrode wurden von den Prieftern im Heiligthume
felbft verzehrt. "
Scelling, Fr. Wilh., der berühmte Begründer der
fogenannten Naturphilofophie. Hierher gehören: 1) „Ueber
Mythen, hiftorifche Sagen und Philofophen der älteften Belt“.
— 2) DBorlefungen über die Methode des afademifchen
Studiums“.
Schlange; im Driente gibt ed viele giftige Schlangen:
ale in der Wüfte Viele, die von ſolchen gebiffen worden,
ftarben, hieng Mofes eine eherne Schlange an einer Stange
anf, bei deren Anblicke jeder Gebiffene genas.
Schleiermacher, Fried., einer der größten Theologen
neuerer Zeit, ftarb 1834 in Berlin als Profeſſor der Thee⸗
logie: — 1) „Reden über die Religion“. — 2) „Chriftliche
Slaubenslehre“. — 3) „Ueber die Schriften des Lukas“. —
4) „Zwei Sendfchreiben an Lücke über feine Glaubenslehre“.
— Strauß hat ihm in feiner neuften Schrift: „Charafteriftifen
und Kritifen“ ein fchönes Denkmal geſetzt.
w Schnedenburger, Profeffor der Theologie in Bern.
— 1) „Ueber den Urjprung des’ erften Fanonifchen Evans
geliums“. — 2) „Ueber Das Evangelium der Aegypter“. —
3) „Beiträge zur Einleitung in’d neue Teftament“. — 4) „Leber
das Alter der jüdifchen Proſelytentaufe“. — |
Schriftgelehrte; die eigentlich gelehrte Kafte unter
den Juden, und, da das Geſetz (die Schrift) den Mittel
punkt aller Gelehrſamkeit bildete, Die zünftigen Ausleger des⸗
felben. Sie waren über das ganze Land verbreitet, übten
eine Art von Polizei in Tempel und Synagogen aus, und
theilten ſich wahrſcheinlich in drei Claſſen: privatifirende (denn
jeder mußte noch ein anderes Gewerbe treiben), die gelegent⸗
lich Rath ertheilten, — lehrende — und Beifiter des Syne⸗
driums. (©. A)
| 545 |
Schulz, Profeflor in Breslau. — „Die chriftliche Lehre _
- vom heiligen Abendmahle“.,
- Serubabel, aus David's Gefchlechte, der Anführer der
eriten aus dem Erile heimfehrenden Schaar der Suden
(536 v. Ehr.); er betrieb eifrigft den Wiederaufbau des
Tempels.
Semler, ein berühmter Theologe des vorigen Sahrhuns °
dertg, eigentlicher Bahnbrecher; ſtarb 1791 als Profeſſor der
Theologie in Halle. — 1) „Von freier Unterſuchung des
Kanon“. — 2) „Umſtändliche Unterſuchung der daͤmoniſchen
Leute“.
Sieffert (9. — „Ueber den Urfprung des erften Evans
geliums“.
Silberling, auch Sedel genannt, eine jüdifche Münze,
im Werthe von etwa 19— 20 Basen.
Silvam, eine Duelle in einem Thale, nahe bei Serufas
lem, deren Waffer in einem beträchtlichen Teiche gefammelt war.
| Simon, ber Apoftel, fol fpäter Bifchoff in Serufalem
gewefen, und unter Trajan gefreuzigt worden fein.
Simfon, der große Heros der israelitifchen Heldenzeit
(12 — 1100), deffen Leben und Thaten von der Sage bie
in's Abenthenerliche gefteigert wurden; erhielt ald Sohn einer
fange unfruchtbar gewefenen Mutter die Weihe eines Nafis
raͤers. (©. d. A.)
Sinai, der durch die Gefeßgebung berühmt gewordene
Berg, liegt faft in der Mitte der beiden Meerbufen, welche
Das rothe Meer an feinem nördlichen Ende bildet; er theilt
ſich in zwei Spigen, deren eine 7047, bie andere 8092 Fuß
hoch if.
Spcinianer, eine in ber Reformationszeit entſtandene
chriſtliche Secte, die ihren Namen von zwei merkwürdigen
italieniſchen Gelehrten, Laͤlius und Fauſtus Socin, erhielt,
anfangs weit verbreitet war, jetzt aber unter dem Namen
„Unitarier“ nur noch in Siebenbürgen beſteht. Sie glauben
nicht an die Göttlichfeit Chrifti, und fomit auch nicht an die
Dreieinigfeit.
Speichel. Die Rabbinen zu Jeſu Zeit bedienten ſ ich
desſelben häufig bei Augenkrankheiten.
II. | 35
546
Stater, eine griechiiche Münze, nach umferm Gelbe etwa
23 Baken.
Stephanug, einer ber erften ſieben Dialonen (S. d. A.)
in Jeruſalem, wurde bei dem Synebrimm verklagt, wahrſchein⸗
lich 37 n. Chr., und ehe er noch feine Vertheidigung geendigt
hatte, von dem Bolfe gefteinigt; daher der erſte Martyrer
(S. d. 9.) genannt.
Steudel, ein kürzlich in Tübingen verftorbener Profeflor
der Theologie; fchrieb mit großer Leidenfchaftlichkeit gegen
Strauß, ohne irgend Etwas zu widerlegen.
Stunde, f. Tag.
Sündfluth. Die Sagen vieler alten Völker wiflen von
einer großen allverheerenden Waflerfluth zu erzählen, daher
die-Wirffichfeit einer folchen nicht zu bezweifeln iſt; eben fo
gewiß aber ift es, daß fich Die Ueberlieferung davon, wie fie
im alten Teftamente zu leſen ift, nadı eigenthuͤmlich jüdifchen
Vorſtellungen geftaltet hat.
Sündopfer, Sühnopfer, fpielen in dem mofaifchen
Cultus eine große Rolle; ed gab deren fehr viele; alle waren
blutige Thieropfer; das wichtigfte war Das an den Neumonden ıc.
für das ganze Volk dargebrachte. Solche Opfer follten den
. Zorn Sehova’s über die Sünden des Volkes verfühnen, und
fehienen nöthig, da das ganze Gefeg (S. d. U.) ald ein Bund
Jehova's mit dem Bolfe betrachtet wurde, und jede Sünde
desſelben dieſen verletzte.
Supranaturaliſten ſind diejenigen, welche Religion
ohne den Glauben an eine höhere, unmittelbare Offenbarung
Gottes durch Wunder für unmöglich, und Die Offenbarung
Gottes, wie fie die heil. Schrift enthält, für die einzig
wahre halten. Sie ftehen den Nationaliften (f. d. U.) fchroff
entgegen; von den Drthodoren unterfcheiden fie ſich dadurch,
daß fie nicht einfach bei dem WWunderglauben der Kirche
fchlecht und recht ftehen bleiben, fondern denfelben durch myſti⸗
fche Ideen und fogenannte wiſſenſchaftliche Beweiſe zu ftügen
und mit der Bildung der Zeit in Einklang zu bringen fuchen.
Synagogen waren Berjammlungshäufer zu gemeinfchaft-
licher, an jedem Sabbat vorgenommener- Andacht, zu Gebet
und zum Anhören religiöfer Vorträge, jedoch ohne allen Opfers
537
dienft, der allein im Tempel ci. d. A.) ftatthaben konnte. Zu
Jeſu Zeit hatte faft jede Stadt eine Synagoge.
Synedrium, der oberfte Gerichtshof der Juden in Jeru⸗
falem, beftehend aus eimmmbfiebenzig Mitgliedern, theild Ober:
prieftern CHohenprieftern), theild Aelteſten, theild Schriftges
Ichrten (Pharifäern und Sabducäern), unter dem Vorfike des
Hohenpriefterd. Es urtheilte in erfter und letzter Inſtanz ab
über Stammangelegenheiten, über falfche Propheten, über
Vergehen gegen die Religion und Cwahrfcheinlich) auch über
Die gegen den Staat. ©. die betr. Art.
Synode, jede Berfammlung in firchlichen Angelegenheiten;
in den früheren chriftlichen Sahrhunderten dienten die Synoden
aller Bifchöffe ꝛc. befonders zur Entfcheidung über ftreitige
Punkte der Kirchenlehre.
| Synoptifer nennt man die drei erften Evangelien; der
Name heißt „Ueberfichtliche“, und wird ihnen Darum beigelegt,
weil fie im WWefentlichen fo übereinftimmen, daß fich der Ins
halt fammtlicher zu faßlicher Ueberficht zufammenftellen läßt,
während Sohannes für fich weit mehr allein fteht.
Tag. Der bürgerliche Tag (von 24 Stunden) fteng bei
den Juden mit Sonnenuntergang anz der wirkliche Tag (von
Anfang bis Untergang der Sonne) war das’ ganze Sahr über
in 12 Stunden eingetheilt, weßhalb natürlich die Stunden
im Sommer beträchtlich größer waren, als im Winter; Die
fechste Stunde ift alfo immer Mittag 12 Uhr nad) unferer
Rechnung.
Talent, griechiſche Bezeichnung einer gewiffen Summe,
deren Größe aber nad) Zeit und Ort fehr verfchieden war;
von 2000 bis 800° rhein. Gulden.
Zanfendjähriges Neid; von Cerinth Cf. d. A.) bis
auf die neuere Zeit herab träumten chriſtliche Schwärmer
Davon, daß Sefus nach feiner Wiederfunft (ſ. d. A.) zunächft
die auserwählten Frommen auferweden, mit Diefen taufend
Sahre in Herrlichkeit leben, und fodann auch alle Andern zum
Weltgerichte auferftehen laffen werde.
Tempel, das eigentliche Nationalheiligthum der Juden,
in welchem allein dem Jehova Dpfer gebracht werden durften,
weil er im Tempel unfichtbar wohnte unter feinem auser⸗
548
wählten Bolfe. In früherer Zeit hatten die Juden flatt dee
Tempels bie fogenannte Stiftshütte, eine Reliquie ihres Romas
denlebens; David zuerft faßte den von Salomon ausgeführten
Pan, ein feſtes, prachtvolles Zempelgebäude zu errichten,
Bor dem Erile ward dieſes zerftört; nach bemfelben noch
prachtooller wieder aufgebaut; und diefen zweiten Tempel
ließ Herobes zu noch größerem Glanze erweitern und ums
bauen. Der Tempel beitand aus Borhalle, Tempelhaus,
Heiliges, Allerheiligftes.
Tempelweihe; das Feft der Tempel, zur Erinnerung
an die durch Salomon vollgogene Einweihung des eriten
Tempels.
Teufel. Obgleich ſchon der früheſte Glauben der Juden
böfe Geiſter, als abgefallene Engel, kannte, fo warb doch bie
Borftellung von einem mächtigen, Jehova gegenüberfichenden,
Zürften derfelben, „Zeufel, Satan“, dem perfonifizirten
böfen Prinzipe, erft nach dem Exile allmälig unter den
Juden herrfchend.
Theophilos, Bifhoff von Antiochien (nicht von „Ale
xandria“, wie ed S. 39 irrigerweife heißt), ein bedeutender
hriftlicher Schriftiteller, der, ald würdiger Nachfolger Juſtin's
(S. d. A.), mit Waffen der Gelehrfamfeit das Chriſtenthum
zu vertheidigen fuchte.
Tholuck, Profeffor der Theokogie in Halle: — 1) „Eom-
mentar zu dem Evangelium Johannes“. — 2) „Die Lehre
von der Simde und vom Berfühner“.
Tiberias, eine der wichtigften Städte Galilän’s, am
weftlichen Ufer des See's gelegen, und auch noch in ber
chriftlichen Zeit von Bedeutung.
Trachantis, eine Heine, Landfchaft, welche an das nord:
öftliche Galiläa angränzend, zu Paläftina in weiterem Sinne
gezählt wird.
Troas, Stadt am Hellespont (den heutigen Dardanelien),
welche von Paulus zweimal befucht wurde.
Unterfleid; ein fehr einfaches, siemlich eng anfchließendes
Kleidungsftüd, unter welchem VBornehmere noch ein feines
Hemd trugen; ed war gewöhnlich ohne Aermel. Das darüber
549
geworfene Oberkleid war fowohl nach den Völkern, wie nach
den Geſchlechtern verſchieden.
Vater, als Profeſſor der Theologie in Koͤnigsberg 1826
geſtorben; ein ſehr gelehrter Sprachforfcher! Commentar
über den Pentateuch“.
Valentinianer, eine ber vielen Fractionen. der Gno⸗
ftifer (f. d. A.); fie tragen ihren Namen von einem gewiffen
Balentin, deffen Syſtem und wenig befannt ift.
Venturini, ein Hiftorifer, der unter Anderm fchrieb,
ohne feinen Namen zu nennen: 1) „Die Wunder des neuen
Teftamentes in ihrer wahren Seftalt“. — 2) „Die natürliche
Gefchichte des Propheten von Nazaret“. — Er ift ein gläubiger
Kachbeter des denfgläubigen Dr. Paulus.
Borläufer des Meſſias; als folcher wird Johannes der
Täufer bezeichnet, der allerdings viel dazu beitrug, das Volk
für die höheren Ideen Jeſu empfänglich zu machen; ihn dafür
zu halten, war man um fo eher geneigt, weil nach gemeinem
Glauben dem Meſſias der wieder erwachte Elias voranges
hen follte.
Waſchungen waren im Morgenlande ungleich häufiger
als bei ung; im Allgemeinen ſchon wegen der durch die grös
Bere Hitze bewirkten größeren Ausbünftung; im Befonderen
wegen eigenthümlicher Gewohnheiten. Die Füße mußte man
öfters waſchen, weil man feine gefchloffene Schuhe trug; die
Hände, weil man ohne Werkzeuge mit bloßer Hand die Spei⸗
fen aus der Schäffel nahm.
MWegfcheider, Profeffor der Theologie in Halle, berühmt
geworben durch feinen Verſuch, in einer chriftlichen Glaubens:
lehre den Nationalismus zu einem gefcjloffenen Syftem zu er-
heben : 1) ‚‚Institutiones theol.“ ıc. (der Iateinifche Titel
feiner Slaubenslehre). — 2) „Einleitung in das Evangelium
Johannes.“ —
MWeltgericht, f. Wiederkunft.
Wiedergeburt, f. Wiederkunft.
Wiederkunft. Nach Jeſu Tode, der alle irdifchen Mef-
fiaghoffnungen feiner Sünger vernichtet hatte, bildete fich fehr
bald der Glaube unter ihnen, daß des Meffias Beitimmung
nur durch Leiden und Sterben habe erreicht werden können.
550
Da fie jedoch die Vorftellung von einem Alles übertreffenden
Glanze deffelben nicht aufgeben konnten, fo wurbe zugleich der
Glauben herrſchend, er werbe, nachdem er bei feinem erften
Kommen ſich felbft erniedrigt hatte, bereinft in all feiner eins
gebornen Herrlichkeit wieberfommen, und alsdann -ein
Gottesreich gründen, defien Glanz alle denkbare irdifche Größe
übertreffe und in alle Ewigfeit fortdaure.
MWolfenbüttler Fragmentift. Unter diefem Namen
gab der berühmte ©. E. Leſſing eine Reihe von Abhands
lungen heraus, die er auf der Bibliothek in Wolfenbüttel,
welcher er damals, von 1769 an, vorftand, aufgefunden zu
haben verficherte. Diefe Fragmente erregten durch die Kühn⸗
‚heit, mit weldyer fie im Sinne der englifchen Deiften (f. d. A.)
die Wahrheit der evangelifchen Erzählungen befämpften, uns
glaubliches Auffehen. Lange Zeit kannte man den Berfaffer
derfelben nicht; jebt ift ed ausgemacht, daß es der 1768 in '
Hamburg verftorbene Profeffor Neimarus war.
Wort Gottes, |. Logos.
Wüſte; nach biblifhem Sprachgebrauche nicht eine völlig
wüfte, fondern nur eine nicht regelmäßig angebaute Gegend,
die deßhalb Doch gar wohl der Viehzucht dienen konnten. Des
ren gab ed mehrere in Paläftina, nämlich: 1) die Sudäifche;
2) die von Jericho, zwifchen dieſer Stadt und Bethanien;
3 die Wüfte bei Bethfaida am Galiläifchen See (f. d. betrefs
fenden Artife), u. U.
Zacharias, ifraelitifcher König, 772 vor Chriſtus, ber
nur ſechs Monate regierte.
Zachäus, der aus Lukas bekannte Meine Oberzöllner, ein
geborner Jude, der ald Bifchof von Cäfaren geftorben fein fol.
Zeichen; dieſes Wort wird im Neuen Teſtamente fehr
oft als gleichbedeutend mit „Wunder“ gebraucht, weil nadı
jüdifchen Vorftelungen Wunder ald ein nothmwendiges und
untrügliches Zeichen betrachtet wurden, an welchen man
gottgefandte Propheten erfannte,
. Zendreligion, die Religion der Perſer (ſ. d. 4),
deren heilige Bücher den Namen: „Senbeätbefta”, d.h. „leben
diges Wort“ trugen.
. Zöllner, die Lintereinnehmer der indireften Abgaben.
551 .
, Die Römer hatten das Syſtem, die indireften Einfünfte in
den Provinzen an einzelne Unternehmer zu verpachten,, dieſe
gaben fie wieder an einzelne Eingieher ıc. in Pacht. Bei Die:
fem Spyfteme mußten die Unterbeamten durch das VBeftreben,
aus ihrem Pacht den möglichften Vortheil zu ziehen, zu viel-
fältigen Bedrüdungen verleitet werben, die den ganzen Stand
dem zahlenden Volke verhaßt machten.
Zollifofer, ein berühmter, in Leipzig 1788 verftorbener
Kanzelredner; geboren in St. allen.
77}
Nachwort.
Die Erſcheinung dieſer zweiten Abtheilung hat ſich etwas
laͤnger verzögert, als ich bei Abfaſſung der Vorrede voraus⸗
ſehen konnte, und ich halte es für Pflicht, zu erklaͤren, daß
mein werther Herr Verleger nicht im Mindeften daran fchuld
ift. Unerwartete Störungen, welche durch meine amtlichen
Berhältniffe herbeigeführt wurden, raubten mir nur zu oft bie
zu einer folchen Arbeit erforderliche Ruhe und Muße. Sch
wollte aber lieber dieſe Abtheilung etwas fpäter an's Licht
treten laffen, als ihr ben Stempel der Eile aufbrüden; in
der That darf ich auch verfichern, daß fie hinter der erften
auch nicht zurücteht, vielmehr, wenn mir darüber ein Urtheil
vergönnt ift, es verdienen wird, derjelben in Bezug auf Ges
biegenheit und Klarheit vorgezogen zu werden, weil bei fort
gefeter Bemühung die Methode einer folchen Bearbeitung ſich
mit zuwachjender Sicherheit wie von felbft entwideln mußte.
Daher darf ich hoffen, daß fie den Beifall, welchen zu meiner
Freude die erfte Abtheilung bereits gefunden hat, wenigſtens
nicht fchwächen werde. —
Während ich an dieſer Abtheilung arbeitete, erfchienen die
„Charakteriftifen und Kritifen von Dr. D. F. Strauß“. Ich
erfehe aus der Vorrede zu Denfelben, daß Strauß es bedauert,
in dem erften Theile der dritten Auflage feines Lebens Jeſu,
welche meiner Bearbeitung zu Grunde liegt, zu viel Gewicht
auf die neuerlich wieder vorgebrachten Beweife für Die Aecht⸗
heit des Tohannes-Evangeliumsd gelegt zu haben, und darum
in der Kritif der in ihm enthaltenen Berichte und Erzähluns
gen zu lar und nachfichtig gewefen zu fein. - Dieß beurfundet
. fich allerdings in einigen Abfchnitten, 3. B. über Die Samaris
terin (S. 200), über die Reden Jeſu (S. 243) u. A. bemerf:
553: |
bar genng, und ich freue mich deßhalb, daß Strauß zu feiner
firengen Gonfequenz zurüdgelehrt if. —
* Mit derfelben Zuverficht, die ich in der Vorrede ausſprach,
ſchließe ich dieſes Nachwort: daß nämlich die, unbefangene
Prüfung der Geſchichte dem wahren Glauben keinen Eintrag
thun Tonne, fo wie fie es nicht thun will. In ben inzwi⸗
fchen über den Kanton Zürich. herangebrochenen Stürnen,
die als eine Fortſetzung (Endpunkt wage ich nicht zu fagen!)
der Strauß’jchen VBerufungsgefchichte zu betrachten. find, hat
fi) die ganze Maffe des im Inneren des Fanatismus gähs -
renden vultanifchen Stoffes entladen. Kaum beginnt aber
der Lavaſtrom fi abzufühlen, fo fangen auch fchon aller
Drter die Unbefangenen an, ſich wieder zu befinnen, und Iefen
aus den rauchenden Trünimern die ewige Wahrheit heraus:
„jo wie das blinde Eifern gegen ächte Wiffenichaftlichfeit nicht
von Gott fommt, fo kam es auch nicht zu Gott führen!“
— Die Zukunft wird richten!
Im November 1839.
Der Verfaſſer.
Borrede
554
Inbaltsverzeichniß.
Cinleitung (S. 1—17).
Grfter Theil. Darftellung ber verfchiedenen Aus⸗
legungsweifen ber biblifchen Gefchichte (1— 33).
Die Entftehung verfchiedener Erklärnugsverſuche
heiliger Geſchichten
Berfchiebene Deutungenbei®riehen, Hebräern
und chriftlichen Kirchenvätern
Die Deiften, Rationaliften und Kant
Entftehung der mythiſchen Auslegungsweife
Mangelhaftigkeit dee bisherigen mythiſchen
Auslegungsverfuche
Zweiter Theil. Nähere Begründung des mythifchen
Standpunktes (33 — 71).
Möglichkeit von Mythen im neuen Teſtamente nach
außeren Gründen
Möglichkeit von Mythen im neuen Teſtamente nach
inneren Gründen
Entftehungsweife der Hiftorifchen und ber reinen
Mythen
Merkmale, woran fih die Mythen im neuen
Zeftamente erkennen laffen
Erfter Abſchnitt. Geburt und Kindheit Jeſu [72
bis 129).
Verkündigung und Geburt Johannes, bed Täufers
Jeſu Abflammung von David, nach zwei Ge⸗
fhledtsregiftern
Jeſu Verkündigung
Jeſu übernatürliche Erzeugung
Seite
25
88
41
50
62
72
78
82
86
Kay. V.
— IX
68
Berhaͤltniß zwiſchen Jofeph und Ma⸗
ria und Beſuch bei der Eliſabeth
Die Geburt Jeſu in Bethlehem und
ber Lobgeſang der Engel - .
Befuch der Magier und Bethlehemi«
tifher Kindermord
Jeſu Darftellung im Tempel und
Wohnort feiner Eltern
Erfter Temperbefuch und Jugend:
verhältniffe Jeſu
Zweiter Abfchnitt. Das erfte öffentliche
Auftreten Jeſu (S. 130 — 181).
Kar. 1.
Das Verhältnig Jeſu zu Johannes,
dem Täufer
Urtheileüber den Täufer, und lebte
Schickſale beöfelben
Die Taufe Jeſu
Die Berfuchungsgefchichte
Die Lokalität des Öffentlichen Lebens
Jeſu |
Chronologiſche Anordnung bes dfe
fentlichen Lebens Jeſu
Dritter Abſchnitt. Die Meffianität Jeſu
und feiner Sünger (©. 182 — 219).
Kap. I.
Jeſu eigene Anfichten über feine
Perſon
. Sefu meſſianiſcher Plan im Allge⸗
meinen
Stellung Jeſu zum moſaiſchen Geſetz,
zu den Heiden und den Samaritern
Die Berufung mehrerer Jünger durch
Jeſum
Die zwoͤlf Apoſtel und bie ſiebenzig
Sünger
Vierter Abichnitt. Die Reden Jeſu und
die wichtigften natürlichen Begebenheiten
aus feinem Leben CS. 220 — 272).
Kay. IL
Die Bergpredigt und bie Rebe bei
Ausfendung ber Swölfe
Seite
23. *
98. 100
108
418. 145
1230. 124
194. 198. 200
2230. 226
— V.
— VI.
— VIE
— VIII.
556
Die Parabeln Jeſu
Andere Reben Jeſu in den drei erften
. Evangelien
Größere Reden und einzelne Ausfprüche
Sefu im vierten Evangelium
Die Staubwürbigfeit der Reben
Sefu im vierten Evangelium
Einige Begebenheiten aus dem Le
ben Jeſu, befonders ber Befuch feiner
Berwandten
Die Rangſtreitigkeiten unter den
Jüngern, die Tempelreinigung und
die Satbung durch ein Weib
Abſchnitt. Die Wunder Jeſu
Die Wunder im Allgemeinen be
trachtet
Die Austreibung böſer Beifter
Heilungnvon®elähmten, Ausſäz⸗
zigen und Blinden
Unwillkürliche Heilungen, Heilun- -
gen in die Ferne und Sabbatheili«
gung
Todtenerwedungen
Seewunder
Die Speifung der Tauſende
Die Berwandlung bes Waffers und
bie Berwünfchung des Feigenbaumes
Schdter Abfchnitt. Die letzten Tage Jeſu,
fein Leiden und Sterben (S. 350 — 434).
Kay. IL
- u
- m.
- W.,
Jeſu Berflärung und lebte Reife
nach Jeruſalem
Jeſu Reden von feinem Tode, feiner
Auferſtehung und Wiederkunft
zum Gerichte
Die Feinde Jefu, der Berräther
Judas und das lebte Abendmahl
Jeſu Seelentampf, feine Ab:
fhiedsreden und feine Verhaf:
tung -
2357. 262
264. 266. 268
275
278, 283
293. 2396. 298
305. 307. 313
316
328
3335
341. 345
350. 356
363. 369, 374
983. 385. 388
899, 402. 406
557
Kay. V. Jeſu Berurtheilung, Verläugnung
des Petrns u. Tod ded Verräthers 408,
— VI. Jeſus vor Pilatus und Herodes; bie
Krenzigung 415.
— VO. NRaturmwunder bei Jeſu Tode, ber
Lanzeuſtich in Jeſu Seite und ſein
Begräbniß 436.
Siebenter Mbfchnitt. Auferſtehung und
Himmelfahrt Jefu (S. 435 — 466).
Kap. I Die Wache am Grabe und erfte
Kunde von der Auferftehung 485,
— DI. Die Erfheinungen Jeſu und bie
Beichaffenheit feines Leibes nah ber
Auferflehung 443,
— I Endurtheil über Jeſu Tod und
Auferſtehung 452
— IV. Jeſu letzte Anoroͤnungen 460
— V. Die Himmelfahrt Jen 462
Schluß-⸗Abhandlung.
Das Verhaͤltniß der verſtaͤndigen Geſchichts⸗
Forſchung zum chriſtlichen Glauben
(S. 467— 495).
Kap J. Glauben und Wiffen . 467
— 1. Die Lehre der Kirche über Chriſti
Derfon und Wirken 469
— IN. Die Lehre der Nationaliften und
Schleiermacher's über Chriftus 477.
— IV. Die Lehren Kants (de Wette's,
Horſt's), Hegel's über Ehriſtus 488.
— V. Vermittlungsverfuh und Schluß 489
Beilagen.
1. Die evangeliſche Geſchichte 496
II. Anmerkungen in alphabetiſcher Ordnung 515
Nachwort 552
— ——— 7 ___ —
437
447
478
485. 486
var
Schluß des Drudfehlerverzeichnifies.
"177,
178
187
187
190
8. 4 v. u. lies: demnach, ft. dennoch.
”
„
DD
n
15 1. worden, ft. werden.
91. an bei, ft. anbei.
5 v. u. 1. hatte, ft. hätte. .
9.ift nach „Meſſlas“ einzufchalten : „bar“.
91. welches, ff. welche.
6 iſt nach „nach“ einzufchalten: „die“.
42 1, dem Zöglinge, ft. den Söglingen.
43 v. u. l. lebten, ft. leben.
10 iſt nach „habe“ einzuſchalten: „ie“.
7 1. ein Gatifäer, ft. in. Galilda.
Sv.ml. es, fl. er
44 I. ben, ff. der,
44 I. Matthäus, ft. Markus.
5 1. Splitterrichten, ft. Spiitterrichter.
16 1. Gleichniß, ft. Gleichgewicht.
4 v. u. I. abreifenden, ft. abweifenden.
43 v. u. l. ber, fl. dem.
50.0. 1. Jeſu, ft. Jeſum.
41. endlich, ft. eigentlich.
18 iſt nach „Mufter“ einzufchalten: „vor“,
50. u. 1. Jeſus, ft. Jeſu.
5». u. if „und“ zu tilgen.
6 1. Tagen, ft. lag.
-10 1. beobachtet, ft. betrachtet.
42 ift nad) „Inneres“ einzufcalten: „habe“.
11 0. u. I. Hiergegen, ft. Hingegen.
10 v. u. l. Haben, ft. habt.
8. u. I. näher, ft. nachher.
4 1. Einem, ſt. Einer.
44 1. der Kranke, ft. derfelbe.
8 v. u. 1. ber Sterbenden ſich, ft. fih für die Gtı
bende.
1 v. u iſt ganz zu tilgen.
14 1. dieſes, ft. dieſe.
12 1. jegt, ſt. ja-
449
450
!
„20
3. 4 v. u. iſt ſturmbewegten? zu tilgen.
iſt vor „verknbchern“ einzuſchalten „li“.
„» TI. Öffne, fl. Öffnen. °
„13
l. keinen, ſt. einen.
v. u. l. er, fl. es.
v. u. I. einen, ft. eine.
v. u. ift vor „weiten“ einzufchalten „au“.
v. u. l. daher, fl. aber.
v. u. l. Hauptftadt, ft. Hauptſtand.
v. u. 1. mittelbare, fl. unmittelbare.
v. u. I. benusten, ft. benugen.
v. u. I. Beben, fl. Leben,
\ ſchliefen, ft. ſchieden.
v. u. l. der, ſt. den.
l. dieſer Ausruf, ſt. derſelbe.
v. u. iſt „ihn“ zu tilgen.
iſt „es“ zu tilgen.
l. Erzählung, ſt. Erklärung.
T. erſtarrenden, ft. erſterbenden.
v. u. l. jener, ft. jeder.
„14 v. u. l. verſchloſſenen, fl. verſchloſſener.
„12
v. u. l. machte, ſt. mache.
—— S. 453 3. 7 v. u. iſt vor „wirklich“ einzuſchalten „nicht“.
S.
2
454
460
463
475
480
486
486
3. 2
„16
„12
„16
‚4
„ 45
„ 2
-
I. großen, fl. große.
I. Beziehung, ft. Bezeichnung.
l. Hingange, ft. Rüdgange.
v. u. I. Einzelnwefen, ft. Engelnwefen.
I. mußte, fl. muß.
l. liege, fl. liegt.
v. u. ift nach „Wunder“ einzufchalten: „berichten“,
Einzelne Bleinere Verfehen wolle der geneigte Leſer gefälligit felbft
verbeſſern.
",%
nr “u. . ' .
PP; ° D
u “
re Rn . j
5 ’ *
+
5 r 4
.
.
” pP} *
8 \
. . ” ” . t
* 2
⸗
’ , ’
} . . - .
4 ’
’ y
B , D . - ’
- x * ’
“ ® ” ”
> -
‘ . ‘ \
\ .
B
x _ J
X ‘ “ * r
r ' ' r =
2. J
mr .
in, .
N} . . . .
, . . ,
’ s - . i -
- * *
*
' *
. -
. . B
, .
x
. %
- pi -
. .
B D -
.
’
' * x
“ ’ , -
N
®
, J
’ ' '
*» | ’
“
.
D ’ \
. j .
x ‚
> . . N
.
\ 1 -
‘ ' r ‘ ’
D \ ‘ ’
2 [2
v J
⸗
⸗ FR
- J
Pr - , SF: , . ,
B ‘ ' £ ev on
. . » .. ¶ J tl \ ‚a R ot, ⸗
” * . va - Pan
. nd - . .. D
De I *
®. R vo ri . ‘ ®
t . “+ RR \ “oe ’
u Di
Ka: “ — La —
* Ri * Pay * ar m
...
‘ a u F . x .
re ern A Ga —X = a eilt on —ã
Dr. Strauß
D EM;
Sürcher Sirhe.
Stimme aus Norddeutſchland.
Mit einer Vorrede
von
Dr. W. M. 8 de Wette.
Druck und Verlag der Schweighauſer'ſchen Buchhandlung.
1839.
Anklam:
IE
Borwort.
Obgleich ein naher und nichts weniger ale
gleichgültiger Zufchauer der Eirchlichen Bewegung
in unferer Nachbarfchaft, hielt. ich mich Doch nicht
für berufen, dabei irgendwie thätigen Antheil zu
nehmen; und auch Diefe „Stimme aus Nord—⸗
deutfchland“ Hätte ich Fieber unter dem bei allen
Barteien mohlflingenden Namen ihres Verfaffers
als unter dem meinigen erfcheinen fehen; indeffen,
da mein Freund einmal die Anonymität vorge-
zogen und meine Einführung gemwünfcht Hatte,
fo wollte ich meinen Dienft nicht verfagen. Ge
wig verdienen diefe Worte der DVerftändigung
Gehör und Beherzigung, und die Wiſſenſchaft,
die in der fo lärmenden Abweifung der Straußi-
fchen Kritik vom theologifchen Lehrftuhle einen
Widerſpruch von Seiten des Firchlichen Volkes
und feiner Führer erfahren hat, wodurch Teicht
ein Verdacht auf fie feldft geworfen werden könnte,
bedarf eines ſchützenden Fürwortes. Beſonders
iſt zu wünſchen, daß das junge theologiſche Ge⸗
ſchlecht, aus welchem die künftigen Führer der
Gemeinde und die Pfleger der theologiſchen Wiſ⸗
fenfchaft hervorgehen, vor leidenfchaftlicher Bartei-
A
nahme bewahrt bleibe, und nicht die Beute einer
Reaction werde, welche uns um die. Früchte lang-
wieriger, ernfter und gründlicher Studien zu brin⸗
gen droht. Die fchlimmften Feinde der Miffen-
fchaft, die Cwie mein Freund gezeigt hat) der
. Kirche nicht fremd bleiben darf, deren Ergebniffe
nach und nach ins Volk eingeführt werden ſollen,
find ihre unfähigen, faulen oder verftodten Jün⸗
ger,. die fich den ächten Geift derfelben nicht an-
eignen können oder wollen, und die, wenn fie
ins praftifche Leben treten, fich auf die ©eite der
Unwiffenfchaftlichkeit fchlagen und in der Gemeinde
den Verdacht gegen die Miffenfchaft ausftreuen
und unterhalten. Die wahre Vermittelung zwifchen
ihr und der Kirche follte durch die Geiftlichen
gefchehen, welche der Natur der Sache nad mit-
ten inne ftehen, und die das in der Schule aus-
gebeutete reine Gold in umlaufende Münze aus-
prägen follten. Es ift wahr, nicht immer und
überall ift in theologifchen Hörfälen reines Gold
geboten worden; aber wer felbftftändigen Geift und
das Vermögen felbftftändiger Denfarbeit gewon⸗
nen hat, kann es, wenigftens in reifern Jahren,
felbft finden. Aus der tiefften, heiligften Sehn-
fucht meines Herzens fpreche ich den Wunfch aus,
daß der Herr der Kirche ihr mehr und mehr folche
Arbeiter, wie fie bedarf, fenden möge!
Bafel, am 15 April 1839,
Dr. De Wette.
Die Berufung des Dr. Strauß ald Profeffor der Theologie
sach Zürich, noch mehr aber die Entwicklung des damit
begonnenen Drama’s, bat auch in Deutfchland überall die
größte Aufmerkſamkeit erregt: Wer könnte auch gleichgültig
breiben bei Erfcheinungen, welche den Anfang zu den er⸗
fchütterndften Lebensentfcheidungen enthalten! Bei Zürich
wie bei Coln möchte man gleichermweife ausrufen: Sehet auf
und Ihebet eure Häupter empor! aber nicht, mie es dort
heißt, weil die Erlöfung nahet, fondern der heiße Kampf
einer ſchweren Zeit.
Die Urtheile des augenblicklichen Eindrucks, auch das
Parteigeſchrei zur linken und zur rechten, abgerechnet, —
ſind wohl alle ruhigen Beobachter darin einverſtanden, daß
in Zürich ein längſt in der evangeliſchen Kirche bald heim-
fich, bald offen fortgeführter Streit zwiſchen der freien
MWiffenfchaft und der Kirche ald chriftlicher Glaubensgemeinde
zu einem Fritifchen Ausbruch gefommen ift, deffen erfchüt«
ternde Macht noch Niemand berechnen Tann. Die Bewegung
wird nicht auf Zürich befchränft breiben, fie wird unauf-
haltſam ihren Lauf durch die ganze evangelifche Kirche
nehmen, und früher oder fpäter entweder in einer neuen
Firchlichen Spaltung oder einer neuen Fräftigern Einigung.
ihr Ende finden. Gott mende jenes und ſchaffe dieſes!
6
Die Zürcher Wirren geben zunächſt einen Maaßſtab, bis
zu welchem Grade die neuere Theologie mit der Kirche in
Widerfpruch geratben iſt. Das Erfreufiche ift, daß doch noch
MWiderfpruch da ift von Seiten der Kirche, daß dieſe wirk
lich noch vorhanden, ia im neuer Lebenskraft erfianden if.
Denken wir und unter Strauß und feiner Partei die then-
logische Wiffenfchaft in der reinen Form der Bewegung, der
negativen Kritik, fo haben wir das Schaufpiel, daß die
Kirche von derfelben angegriffen: auf Leben und Tod ſich
entfchieden wehrt, die Wiffenfchaft aber zurückgefchlagen mit
fchmer verhaltenem Groll zu neuem troßigem Angriff fich
augenblicklich zurückzieht. Wenn nun jene Wiſſenſchaftlichen
fagen, fie gehörten felbft zur Kirche, und, was ihnen entgegen
ftebe, fen nicht die Kirche, fondern eine Partei in derſelben,
die fogenannten Frommen, die Kirchlichen aber fich mit glei-
chem Nechte gar nicht der Wiffenfchaft als folcher feindlich
gegenüber geitellt denken, fondern nur einer wiffenfchaftlichen
Sekte, der fogenannten abfolut Liberalen, fo ficht man frei-
lich, daß der Streit im Bewußtfeyn der Gtreitenden noch
fein allgemeiner Krieg zwifchen der Kirche und der Wiſſen⸗
fchaft überhaupt ift, fondern ein Parteiftreit, mehr ein
etwas ausgedehntes Duell, als ein ordentlicher Krieg. Allein
im Hintergrumde des Schlachtfeldes flieht man deutlich genug
den Anfang jenes univerfelleren Kampfes, in welchem fich
Kirche und Wiſſenſchaft gegenfeitig meſſen und beide auf
die letzte Frage mit einander losgehen, ob und wie weit die
eine die Grenze der andern ſey. Wir find der feiten Weber-
zeugung, daß wirflich die eine das Maag der andern iſt und.
ſeyn fol, und daß in ihrer wahren Allgemeinheit jede an der
andern ihre Wahrheit und ihr Leben bat. Dieß wird Das
7
Ende ſeyn und der wahre Friede in Zürich, wie überall,
wo der Kampf fich erheben wird, Wir behaupten dieß um
ſo zupverfichtlicher, da mir in dem erften Aft des Zürcher
Drama’s Fein anderes Nefultat finden, als dieß, daß die
Kirche, wenn fie in ihrem innerfien Herzen und Gewiſſen
angegriffen ift, von Gottes und Nechts wegen die Wiſſen⸗
fchaft in ihre Grenzen zurüdmeist.
Die Abficht diefer Zeilen iſt nicht, die Sache bis zu
ihren legten Gründen zu verfolgen, fondern nur, von dem
bezeichneten Standpunft aus auf einiges aufmerffam zu ma⸗
chen, mas in und außer Zürich zur Verfländigung und zum
Srieden dienen Tann. In weiter Ferne von dem Schauplatze
des Streites, find wir auch ohne alle perfünlichen Verhält⸗
niffe zu den handelnden Perfonen, und Tonnen Taum anders
parteiifch ſeyn, als für die Sache. Es fehlt und allerdings
die anfchauliche Kenntnig des Einzelnen und Perfönlichen;
wir wiſſen nicht, wie viel politifches Parteiweſen ſich einge-
mifcht hat, nur daß wir es auf beiden Seiten gefchäftig finden.
Aber indem die bunten Farben und Nüancen für den fernen
Beobachter erblaffen, treten die allgemeineren Momente und
Grundzüge des Streites Flarer und einfacher hervor, und
unfer Urtheil kann um fo ruhiger und unparteiifcher werden,
Wir wollen nicht unterfuchen, was zur Berufung des
Dr. Strauß beivogen hat, ob fein ausgezeichnetes Talent
feine geiftreiche Eritifche Gabe, die Kunft der Darſtellung',
die umfaſſende, fertige, reinliche Gelehrſamkeit, — oder die
befondere Art feiner theologischen Richtung, fein ſpekula⸗
tiver fritifcher Nationalismus, oder eben beides zugleich.
In der That würde fein Ruf in der vollen Blüthe der Ju⸗
gend und der Publicität jeder Univerfität einen bedeutenden
Glanz verleihen, und es mag fich ihn ſchon manche alte und
neue Hochfchufe als neue Zierde gewünicht haben. Die Ta-
delloſigkeit feines Wandels, feine liebenswürdige Perſönlich-
feit, von der man hört, wären dabei feine geringe Zugabe.
Und wenn er eben fo fchon zu reden und zu Ichren weiß,
wie er fchreibt, fo möchte es fchmwerlich einen vollkommneren
Profeſſor geben. Auch ſteht ed einem Freiſtaate, der fich
eben von Neuem frei gemacht bat, wohl an, einmal zu ver-
fuchen, was in dem alten Europa bei der modernen Nord-
amerifanifchen Lehrfreiheit auf Kathedern und Kanzeln für
Staat und Kirche herauskomme. Iſt die. evangelifche Kirche
auch wirklich nichts weiter, ald der Gemeinde der abfoluten
individuellen Freiheit, fo Tann man ihr noch mehr zumuthen,
als die Lehre von Strauß, Wer nun vollends diefe Lehre
für ausgemachte Wahrheit hält, für die längſt im Stillen
gehegte Ueberzeugung aller Bebildeten, dem Tann es kaum
anders ald ein Verrath der evangelifchen Kirche an fich felber -
erfcheinen, wenn fie iene Wahrheit zumal in fo goldenen
Gefäſſen nicht annehmen will, Von diefen Gefichtspunften
mögen die Bolitifer, meinetiwegen auch die Philologen und
Philoſophen, welche auf Straußend Berufung antrugen, aus⸗
gegangen fenn. Allein wenn nun doch die Kirche von Zürich
etwas anders zu fenn erflärte, als jene reine Negation aller
Gebundenheit durch einen gemeinfamen pofitiven Glauben,
wenn fich fand, daß die religiöfe Gemeinde in Zürich chem
fo entfchieden glaubt, was die neue Lehre entfchieden Fäug-
net, ſo mußten die Berufenden Anftand nehmen. Nachdem
dann die Kirche durch die theologifche Fakultät, — denn
an diefer bat die Kirche ein unveräußerliches Recht, — ent⸗
fchiedener noch durch das eigentliche Kirchenresiment in edler
Befcheidenheit auf die Gefahren aufmerkſam gemacht hatte,
welche für die chriftliche Gemeinde daraus entiichen müßten,
wenn die theslogifche Tugend auf das urfprüngliche Straufi-
fche Dilemma geftellt würde, entweder den Glauben der Ge
meinde gradesu aufzuheben, und flatt des einigen hiltorifchen
Chriſtus einen halb mythiſchen, halb fpefulativen offen zu
predigen, oder vor der Gemeinde Verſteck und Heuchelei zu
treiben, — mar es durchaus Pflicht in eine genauere Debatte
mit der Kirche einzugeben. Die Kirche als religiöfe Ge
meinde hatte ein unbedingtes Recht gegen eine Lehre der
Art zu protefliren, — es ift das Recht der Selbfterhaltung,
nicht der Herrfchaft. Oder hätte chen mur der Staat das
Recht, fich Theorien zu verbitten, welche ihn von Grund
ans zu zerfiören drohen? Oder ift der Staat fo fehr der
einige Vormund der Kirche, daß fie nur von ihm fchweigend
und gehorfam zu erfahren und zu empfangen bat, mas ihr
heilfam ift? Oder denken wir die miffenfchaftliche Schufe
außer der Kirche wie dem Staate, find diefe beiden fo fehr
nichts von fich felber weder miffend, noch habend, daß fie
nur von jener ald einer abfoluten Herrin Wahrheit, Leben
und Tod, Wiſſen und Gewiſſen empfangen ? Die Wilfenfchaft
ift uns ein hohes But, wir Finnen fie nur mit dem Leben
ferbft aufgeben. Aber das höchſte Gut ift fie nicht, ſelbſt wenn
fie irgendwo vollender wäre und die Wahrheit vollfommen
erfannt hätte. Als weſentlicher Theil des höchſten Gutes
hat fie an der Religion, an der Kunft, am Staate, an der
Kirche, an der Familie ihre nothwendige Ergänzung, und
am Leben wie an der Natur nicht ihr Produft oder ihre
Erfindung, fondern ihren Grund und Inhalt. Hätte die
Wiſſenſchaft, und zwar vorzugsmweife bie abſolute/ die Phi-
40
Yofophie, den chriftlichen Glauben erzeugt, erfunden, fo
möchte fie mit ihm fchalten und malten, zerſtören oder be-
wahren. Aber dieß wird ſelbſt Dr. Strauß nicht behaupten,
And fo bleibt's dabei, daß Kirche und Wiſſenſchaft menig-
fiens zu gleichen TIheilen gehen und aneinander ihre Grenze,
ihre Wahrheit, ihr Leben haben. Wir verwerfen und ver
abfchenen alles Pabſtthum und Pfaffenthum, allen Fanatis-
mus, aber nicht bloß in der Kirche, Es giebt ein Pabll-
und Pfaffenthum der Gelehrſamkeit und Wiffenfchaft, eine
fanatifche Tyrannei der Wiffenden. Ihr Motto iſt, fiat
scientia et pereat mundus! Wir verwerfen und verabfchenen
auch diefe Tyrannei. Iſt davon im Zürcher Handel Feine
Spur? Wir wollen nicht richten, aber das wiffen wir, jene
Unholde find gleich verderblich in der Willenfchaft wie in
der Kirche,
Hatte die Kirche ein angebornes echt, eine genauere
Debatte über ihr Verhältniß zur Straußifchen Lehre zu ver-
langen, fo hatte fie auch ihrerfeits die Pflicht, anzuerkennen,
daß Dr. Strauß nach feinen neueſten Erflärungen nicht mehr
in jenem Dilemma zmifchen offener Vernichtung und Heuchelei
des Firchlichen Glaubens -fiehe,, fondern einen mittlern Punkt
ausfindig gemacht habe, mo jene entfesliche Wahl aufhöre.
Mag die file Macht der Kirche, der fih Niemand ganz
entziehen kann, oder die wiffenfchaftliche Verhandlung, oder
beides zugleich, den ftrebfamen Dann genstbigt haben, genug,
in der dritten Ausgabe feined Lebens Fein giebt er der hi—
ftorifchen Wirflichfeit Chrifti wieder mehr Umfang und Ehre;
Chriſtus, zwar nicht der fündlofe und fchlechthin vollfommene,
aber das ausgezeichnete religiöfe Genie habe die Kirche wir.
lich geftifter, nicht mehr bloß als mythiſcher Exponens einer
411
fpefnlativen Idee; die Spekulation geftatte zwar, fich einen
noch vollfommenern zu denken, aber wie die Gefchichte Feinen
böhern wife und die Kirche fich in dem biftorifchen befrie-
digt finde, fo Fonne man darüber unbefümmert feyn. Nach
diefen Erflärungen fragt fich nun, iſt dieß der richtige Sinn
und Ausdruck des Glaubens der Kirche? Es Tönnte ſeyn,
daß die Kirche darin die wahre Subſtanz ihres Glaubens
ausgedrüdt fände, nur moderner, heller und beflimmter in
der Art der neuern Bildung. In diefem Falle wäre der
Friede gefchloffen. Die ariftofratifche Gemeinde der foge-
nannten Geiftreichen möchte vielleicht fo urtheilen, obwohl
ein Hauptpresbyter derfelben, der Verftorbene und nachherige
Semilaſſo, und die vielgefeierte jüdifche oder vielmehr uni-
verfelle Brophetin in Berlin kaum damit einverflanden fenn
würden. Diefer Fraction nämlich der neuen Kirche fcheint
die Macht des religiöfen Genies Chriftus nicht weniger er⸗
loſchen zu ſeyn, ald die des Mofes und Muhammed, fo
daß entweder ein neues Genie der Art zuferwarten ifl, oder
eben Feines weiter. Aber die Kirche ſowohl im Durchfchnitt
als in ihrem tiefften Grunde wird fich Doch diefen chrift-
lichen Geniekultus in allem Ernft verbitten müffen, fchon
deßwegen, meil vderfelbe eben nur ein interimiftifcher ſeyn
fol, der ihrige aber dad ewige Evangelium zum Inhalt hat,
noch mehr aber deßhalb, weil jenes religiöfe Genie im Zu—
fammenhang der neuen Lehre Doch nichts anderes ift, als
eine von den vielen Perſönlichkeiten, durch welche der ewig
werdende Welt- und Menfchengeift hindurchgegangen, und
die er auf die Schädelflätte der Gefchichte niedergelegt hat
als ein Moment feines Selbſtbewußtſeyns und feiner Selbft-
verfühnung. Zn diefem unendlichen Prozeß laſſen fich noch
12
unzählige Chriftus denfen, und Niemand kann willen, ob
nicht allernächft ein neuer, höherer erfieht. Die Kirche aber
weiß nicht anders, als daß die ewige, perfönliche Liebe
und Weisheit Gottes, die ewig felbitbewußte Providenz über
der Welt, einmal für immer jenen Mann aus Nazareth mit
feinem Kreuz gefendet hat, nicht ald Produft der natura
naturans, fondern ald Werf freier, fchöpferifcher Gnade,
als wahrhaft Heiligen, als wirklichen zweiten Adam ohne
Sünde, nicht ald einen von den Biclen, von denen die
unvermeidliche Sünde ald Durchgangspunft abfällt, wie der
Wagen der Weltgefchichte meiterrollt, und die Exemplare
des allgemeinen Geiſtes in ihrer Vollfommenheit und Unvoll-
fommenheit einander ergänzen. Hier find einfache Verglei—
chungspunfte, und fo Fann die Entfcheidung, felbft dem
Volke verftändlich und fehr einfach, Feine andere als die
feun, daß die Lehre von Dr. Strauß auch in diefer neuen
Ausgabe, und der Glaube der Ehriftenheit auf dem Grunde
der Schrift und in allen Ausgaben des Firchlichen Lchrbe-
griffs wefentlich verfchieden find und einander aufheben.
Wir geben zu, daß die freie evangelifche Kirche einer un—
endlichen Expanſion fähig ift, und ihr Glaube ſelbſt auf
verfchiedenen Stufen und in den mannigfaltigften Formen
feine fubitantielle Einheit behalten Fann. Aber dieſe Er-
yanfion hat ihre Grenzen, und wenn man der Kirche zu-
muthen wollte, das Widerfprechendfle ald Momente ihrer
Wahrheit anzırerfennen, fo würde fie freilich eine fehr al
gemeine, Atberifche werden, aber-auch in diefer Iuftigen
Allgemeinheit als chriftliche Kirche ihren Tod finden; und
es wäre nicht abzufehen, warum fie nicht neben dem pofitiv
chriftfichen Lehrfiupt auch einen muhammedaniſchen, jüdi—
413
fchen, meinetwegen auch indifchen, zu gegenfeitiger Ergän-
zung aufrichten ſollte.
‚Die evangelifche Kirche verdammt und verbannt einen,
auf welcher Stufe der Erkenntniß im Glauben er fteht.
Und wer der Kirche riethe, den Verfaffer des Lebens Fein
auszuſchließen, wäre ihr ärgfter Feind und ich fein ent-
fchiedenfter Gegner. Sie hat Kraft genug, um auch die
fen muthigen und fcharfen Geiſt in fich zu halten und mis
fich zu verfühnen in Liebe und Geduld. Sie bat fchon fchär-
fere ertragen und bewahrt. Aber ein anderes ift, in der
Kirche feyn mit freier, gelehrter Debatte, mit Zweifeln und
Fragen der Schule, und ein anderes, die künftigen Prediger
des Evangeliums im Glauben und im Wiſſen zu unterrichten.
So war es nicht gut gethan, wider Willen der Kirche
Dr. Strauß zu berufen, und die warnende Stimme des all⸗
gemeinen chriftlichen Glaubens nur für das felbitfüchtige
Angfigeichrei einiger Frömmlinge zu halten.
Die evangelifche Kirche hat zu ihrem unmandelbaren
Prinzip die fortfchreitende Neformation, Sie hat dasfelbe
nie verläugnet, fo oft es auch verdunfelt, aefchmälert zu
feyn ſchien; recht darauf angewendet, hat fie fich immer
wieder darauf befonnen und jede wahre Neformation aufge-
nommen. Aber ed gicht auch eine falfche, eine Schein-
reformation, es ift eben die, welche rein negativ den pofi-
tiven Glaubensgrund der Kirche aufhebt. Niemand wird
verlangen, daß die Kirche ungeprüft jeden reformatorifchen
Geiſt, der fich dafür ausgiebt, aufnehme, und die unberufe-
nen wie die wohlberufenen, die englifchen Deiften z. B. und
Luther und Spener, mit gleicher Bereitwilligfeit über fich
fchalten und walten Taffe.
44
Aber man bat in Zürich wiederholt gefagt; Strauß fen
eben ein wahrer Neformator, wie einſt Meifter Huldreich.
Man bat im Namen von diefem die Zulaffung von jenem
unbedingt gefordert. Und damit die Parallele vollſtändig
fen, bat man den widerfircbenden Kirchlichen die fanatifchen
Dunkler des fechszehnten Jahrhunderts als Ebenbild und
Schredbild vorgehalten. Es find wohl Manche erfchroden,
als Bürgermeifter Hirzel die großen Schatten der Reforma-
toren beraufbefchwor, ihm zu beiten. Aber cd war mebr
als unerwartet und traurig, daß Dr. Strauß, der es doch
befier verfteben mußte, nicht befcheiden genug war, fich jene
Barallele zu verbitten. So wird er ed auch nicht übel
nehmen, wenn man nun in allem Ernfte fragt, ob wohl
Luther und Zwingli, Melanchtbon und Calvin, wenn fie,
auch verflärt durch die Cultur und Milde des neunzehnten
Jahrhunderts, wieder erfchienen, Dr. Strauß als ihren
Benoffen und wahren Nachfolger anerfennen würden? Gewiß
würden fie ihn als einen ehrlichen und cifrigen Sorfcher
ehren und ſchätzen, aber auch bei der dritten Ausgabe ſeines
Lebens Jeſu wohl mehr als den Kopf fehütteln. Luthers
namentlich und auch Zwingli's Nede würde fcharf und ſchwer
ſeyn. Nach ihren befondern Lehrformeln würden fie ihn
nicht fragen, aber nach dem Chriflus, der ihre ganze Seele
durchdrang, und nach der Glaubensſubſtanz, worauf fie ihre
Gemeinden baueten. Oder follte die Reformation des ſechs⸗
zehnten Jahrhunderts wirklich und mwefentlich Feinen andern
Inhalt haben, als die Zerſtörung alles deſſen, was den
Helden jener Zeit als unzerſtörbarer Fels galt? Oder wäre
ihr Weſen eben kein anderes, als die formelle Negation jeder
gegenwärtigen Kirche? Denn eine jede wirkliche Kirche hat
15
an Ehrifto mehr, ald Strauß gelten läßt. Es gab damals
Geifter, in ihrer Art edle Beifter, welche ſelbſt an der erften
Ausgabe des Lebens Jeſu ihre Freude und Wahrheit ge-
funden haben würden. Aber wir finden fie nicht unter den
Reformatoren, fondern theild unter den Scholaftifern, welche
einen ſpekulativen Chrifius hatten, ohne den entfprechenden
biftorifchen , theild unter jenen italienifchen Männern, welche
von der Fabel von Chriſto fprachen und denen Plato am
Ende mehr mar, als Chriftus fammt den Apofieln. Die
Lestern würde ſich Dr. Strauß felbft verbitten ald Genoſſen.
Er bat und weiß mehr von Chriſto. Aber es follte von
ihm und feinen Freunden wohl bedacht werden, daß die
Reformation zugleich die Zerfiörung jener Scholaftif war,
welche den biftorifchen Chriftus verdunfelte., Diejenigen,
welche wirklich und bleibend reformirten, waren überall folche,
welche fich Fieber verbrennen ließen, als fich den biftoriichen
Chrifius, den ewigen Erlöfer und Heiland aller Zeiten und
Gefchlechter, nehmen. Diefen Männern war es gegeben,
als die römifche Kirche fie ausfchloß, eine neue chriftliche
Gemeinde zu gründen, eine bleibende, aber auf das Wort
Gottes, worin fie ihr Recht und ihre Kraft hatten. Wir
wünfchen nicht, daß über die neue Reformation jene ſchwere
Probe verhängt werde, durch eine neue Gemeinde oder Kirche
ihr Recht gegen die alte cvangelifche Kirche zu bewahren.
Der Zulauf würde anfangs bie und da nicht gering fenn,
aber der Verlauf? Wir haben weiffagende Vorbilder genug,
alte und neue, Wohlan, es werde verfucht, Dad Gottes.
urtheil der Erfahrung wird nicht ausbleiben! —
Die Geſchichte ſowohl der Stiftungsreformation ald der
fortfchreitenden in unferer Kirche lehrt, daß obwohl die
16
Schule der Wiſſenſchaft immer ihren Theil daran bat, dic
Schule des chrifllichen Glaubens, des rcligisfen Lebens,
doch die eigentliche pofitive Krafı umd Macht derſelben if.
Diefeb Leben aber bat von jcher Feinen andern Grund ge- -
babt und gewußt, als Chrikum den eingebornen, der wicht
wiederfommt, als zum Gericht.
Wäre es im Zürcher Streit wirklich nur um einige
Lehrformeln der Kirche zu thun, ob fe bleiben oder der
einfichtigern Wiffenfchaft weichen follten, fo wäre es eben
fo frevelbaft als laͤcherlich zu widerſtreben. Die Kirche,
welche dagegen proteftirt, iR Feine wahrhaft proteftantifche.
Aber die Hand auf's Herz! gilt es nur dieß? Die Rede
it von dem inneren Kern des chriflichen Glanbens, und
die Frage iſt, ob auch diefer zur Schaale werden foll, die
man auffchlägt und wegwirft. Was man dann als weißen
Kern finder, ich weiß nicht, ob es nicht ein Stein ill, den
man den Leuten giebt, welche nach Brod verlangen. Gott,
Unfterblichfeit und Freiheit, viele beilige Trias, das fei,
fast man, der wahre Kern, der ewige, unvergängliche. Das
find allerdings die Schemata der chriftlichen Wahrheit. Aber
ihr Inhalt, auf den ed anfommt? Es wird, bis beſſere Beweife
vom Gegentheil kommen, erlaubt fenn immer von Neuem miß-
trauiſch zu fragen, lehrt die Kirche denfelbigen Bott und die
felbige Freiheit und Unfterblichkeit, wie die neue Lehre? Wer
tiefer blickt, fan die Frage nicht beiaben. Wie nun, foll
die Kirche der neuern Biffenfchaft, ald wäre fie die Wahr-
beit fchlechtbin, unbedingt und unbewußt nachgeben, bis fie
in der endlofen Bewegung zu jener feinen neuen Welt gelangt,
von der Lichtenberg einft weiffagte, wo dem Glauben der Athem
ausgeht in der höchſten Gletſcherluft des abſoluten Wiſſens?
17
Die Straußifche Lehre ift Fein Sprung, Fein abfolnter
Anfang. Ihre Anfangsgründe, ihre Grundfäden Tiegen in
der Gefchichte der mächften Vergangenheit klar genug vor,
Und wenn man in Zürich gefagt hat, fie fei eben nur die
Spitze, die Vollendung des neuern Rationalidmus, der doch
überall auf den Kathedern und Kanzeln geduldet, ja gefor-
dert werde, fo hat man nicht ganz Unrecht. Allein jener
frühere Nationalismus, der den Supranaturalismus gegen-
über hatte, nicht bloß als Gegenſatz, fondern auch ald Cor-
reftur und Ergänzung, ift doch genauer betrachtet ein an-
derer, ald derjenige, welcher diefen Gegenſatz, kraft der
abfoluten Philoſophie, in fich aufgehoben hat, Der Haupt-
unterfchied Liegt weniger in der hiftorifchen Kritif, als in
dem philofophifchen Hintergrunde. Der frühere Rationa-
lismus hatte zu feinem Hintergrumde immer die entfchieden
antipantheiſtiſche, chriftliche Glaubensſubſtanz, wenn auch
vielfach geſchwächt, und ſo oft er bis an die äußerſte Grenze
kam, wo dieſe zu verſchwinden drohete, hat er ſich immer
von Neuem darauf beſonnen und ſich von Neuem überzeugt,
dag Chriſtus einmal für immer die Kirche, als die Gemein.
fchaft der fchlechthin wahren Religion, wirklich geftiftet
habe. Wir können dahin geitellt ſeyn Taffen, ob diefer Ra-
tionalismus confequent auf Strauß führe. Es fey, was
folgt daraus? Doch nur dich, daß Dad Necht, welches der
Nationalismus in feiner erften Geſtalt und als Eorreftur
des Supranaturalismus gehabt, mit dem Eintritt in Das
Straußifche Stadium erlifcht, dag er, um fein Recht zu
behalten, umfchren muß, und daß die wahre Auflöfung des
Gegenſatzes, welche die Wiffenfchaft und Kirche verlangen,
nicht da liegt, mo Strauß fie gefunden, fondern darüber hinaus.
18
Kurz, wie wir es auch betrachten mögen, die Kirche
von Zürich har nicht fanatifch, nicht als frömmelnde Bar-
thei, fondern wirklich ald ewangelifche Kirche gehandelt, als
fie ich anf dem theofogifchen Katheder die Straußifche Lehre
verbat. Sie kann und wird die wiflenichaftliche Debatte
nicht aufheben. Es wäre ein Unglück auch für die Kirche, fe
gewaltfam abzubrechen. Aber eine andere Frage if, ob die
felbe auf dem theologiſchen Katheder vor der theologifchen
Jugend zu führen if? Auch die gebildetſte Jugend if Feine
berufene Kampfrichterin in diefem Streit; fie it nicht ein-
mal jene Zubörerin, welche aufmerffam alles prüft und das
beſte behält. Wir haben einen guten Glauben an die Ju⸗
gend, wir Ichen darin und werden ibn nie Taffen; aber
den unbedingten Glauben halten wir für Aberglauben, für
ein Stüd aus Tiecks verfchrter Welt. Nur vor einem Senat,
einer Fury erfahrener Häupter der Wiffenfchaft und des
religiöfen Lebens werde die Sache in voller Freiheit verban-
delt und zum Spruch gebracht. Diefe Jury iſt vorhanden,
nur zerfirent durch die ganze Kirche, aber fie ift längſt zu-
fammengetreten in dem Titterarifchen Sprechfaal, und ihr
Spruch wird nicht allzufang ausbleiben. Es ift freilich un-
möglich vor der afademifchen Tugend den Streit zu verber-
gen. Aber ein anderes ift, fie vom Katheder herab zur
Bartei machen, zum Nath der Fungen dem Rath der Alten
zur abſoluten Oppofition, — ein anderes, ihr davon Kunde
geben ans einer ruhigen Mitte, im Intereſſe für die Kirche,
und ihr dabei einprägen gleiche Ehrfurcht vor der Kirche,
wie vor der Wiflenfchaft, daß fie Yerne befcheiden und de-
müthig fenn in diefer, und frifch und auten Muthes in jener.
Hat die Kirche von Zürich eben nur dieß gemollt, — wer
419
kann ihr Unrecht geben? Aber ihr Recht würde fich in iin.
recht verfehren, wenn fie den erregten Streit fich zu etwas
anderm dienen ließe, als dazu, das Verhältniß zwifchen
Kirche, Schule und Staat Flarer zu fallen, und friedlicher
zu ordnen, Wehe ihr, wenn die Flägliche Leidenfchaft fich
einmifcht, und der Streit nicht eher ruhet, als bis die Hoch-
fchufe von Zürich von ihr Fnechtifch gebunden wäre, oder,
was andere verſchuldet haben, ihr mit ihrem Untergang be-
zahlen müßte! die Nache würde nicht ausbleiben. Es if
gleich fanatifch, die wiffenfchaftliche Schule der Kirche, wie
diefe jener zum Opfer bringen.- Vor beiderlei Fanatismus
bewahre dad edle Zürich die Gnade Gottes! —
/
Laienworte
Hans Georg Nägeli |
Dr. Strauß Schen Feſu
j | und 0 ’ :
Anfichten gegen deffen Berufung
an die Nniverfität Zürich.
Zweite Auflage.
3 ür i_ eb N
Drell, Füßli und Sompagnie.
1839.
Wie der Laie feine Stellung anfieht.
„Die Religion ift feine Wiffenfchaft,” wohl aber gift
die Theologie dafür. Die Theologen find ihre berufenen Be⸗
rather und Pfleger... Wie fie aber oft ducch ihre Berathun⸗
gen die Religion bevormundend zur Pflegetochter dev Theologie
machen wollen, gerathen fie in Streit; und wo fie unter fich
den Streit nicht fchlichten können, da mag etwa auch einmal
die Einfprache eines Laien nicht Überfläffig fein. - Sie kann
nach Umftänden zuläffig, nach Umſtänden fogar nothwendig
werden — zuläffig, wenn die Theologen die Philofophie zu
Hülfe nehmen, um ihr Pofitives oder ihre Porirtes mit dem
Abfoluten zu beleuchten, indem fie ihre Dogmen durch Philo⸗
fopbeme zu behaupten oder zu beftreiten verfuchen ; wo dann
jeder der Philofophie befliffene Laie, weil die. Philofophie,
als folche an kein Fach gebunden, über allen flieht, auch
mitfprechen darf — nothwendig, wenn die Theologen fich ſo
hoch verfiiegen haben, daß fie eine Sprache fprechen, die als
Schriftauslegung dem Volke, felbft ben Sprachgebilbeten im
Volke, unverftändlich ift, und .fo feinen anderen Eindrud
machen kann, als einen verderblichen, indem fie die Volks—⸗
fprache verwirrt und den Volksbegriffen andere dem Wolle
fremde Begriffe täufchend ünterfchiebt; wo dann der Laie als
Dann des Volkes im Namen des Volkes dag Sprachrecht
als Dienfchenrecht vollends gegen die praftifchen Theologen:
zu behaupten bat, welche durch ſolcherlei Sprachmißbrauch
fogar ihre amtliche Stellung, fei ed mittelbar, vom- Ka-
theder aus, oder unmittelbar, von der Kanzel aus, miß
brauchen.
4 ⸗
Wie der Laie zum Worte kommt. |
Der Laie bat im Volke Freunde, gemwichtige; es jind
Volksfreunde. Die famen, kommen wiederholt, und fpredyen
ihm von einer Bollsbewegung, nicht zwar von einer vorban-
denen, aber von einer nahe bevorfiehenten, die fich von oben
herab mitzutheilen drobe. Die über dem Volke Stehenten
feien uneins, die einen froßig, die andern beſtürzt. Cs
handle fi) darum, unfern, auch wiſſenſchaftlich vegenerirten,
durch die Regeneration höher potenzirten Zürcherifchen Grei-
ſtaat an feiner höchften Stelle, an der Hochfchule, mit einem
neuen Lichte zu beglüden,, das wirklich nach den Einen Alles
überftrablen werde, nach den Andern ein trügliches Irrlicht
ſei. Es handle ſich um die Berufung des durch fein neues
Bud, „Leben Sefu” in kurzer Zeit nach den Einen ſehr be
rühmt, nad) den Undern fehr berüchtigt gewordenen Strauß.
Deſſen Berufung würde Folgen haben für die Landeskirche.
Das Volk könne nicht gleichgüffig bleiben, die Landgeiftlichen
feien es ſchon jekt nicht.
Man dringt in den Laien, das Bud) zu lefen. Er ſträubt
fih; er bedarf für feine Perfon feiner Schriftausfegung,
weil die Darlegung in den Evangelien ihm fo Elar vorliegt,
daß die Kenntnißnahme einer neuverfuchten Zurechtlegung ihn
nur zerſtreuen würde. — Da fommt aber ein Brief aus
Württemberg, worin beiläufig gefchrieben ſteht: Der Neffe
des großen Philofophen S—g, ein hoffnungsvoller Süngling,
ift wahnfinnig geworden, und ruft in feinem Wahnfinn aus:
„Hegel und Strauß haben mir meinen Gott geftohlen,
„erbarme dich meiner, Jehovah Zebaoth!“ — Das ftimmt
den Laien ernfihaft. Er ift geneigt, da den Zufall am aller:
mwenigften für bloßen Zufall zu halten, wo ihm etwas fo ganz
Eigenes unter fo ganz eigenen Umſtänden zufällt, und muß
fo das Faktiſche faktifch nehmen, als eines der vielen Zeichen
der Zeit, auf die man zu merken hat. Er merkt auf, und
geht ein.
Wie der Laie den Autor auffaßt.
Es giebt eine Kunft, zu lefen, wie e8 eine Kunft giebt,
fidy lesbar zu machen. Sene ift der Laie auf folgende Weiſt
zu praktiziren gewohnt:
Indem er einen Autow zur Hand nimmt, trachtet er
vorerſt die Individualität aufzufaſſen, dann die Leiſtung
darnach zu bemeffen, mithin zu prüfen, wie das Subiekt
fich fchriftftellerifch objeftivire. Oft giebt ſich fchon im Vor:
mort oder in der Einfeitung die Individualität nach ihren -
Hauptzügen kund, oft abfichtlich, oft unabfichtlih. Manch⸗
mal auch fpricht der Autor eine Abſicht aus, um eine andere,
die er nebenbei bat, hinter: die ausgefpeochene zu verftecden.
Gewöhnlich beabfichtigt ee mit der Bevorwortung zweierlei, .
erfteng zu feinem Vortheil den Leſer zu orientiren, zweitens -
ihn_gut zu ſtimmen, ihn menigftens lefebegierig zu machen,
und bemüht fi, ihn mit gefchmeidigen Wendungen als einen
„geneigten“ zu begrüßen. Mitunter giebt es auch Judas»
küſſe. Häufig bedient fi der Autor auch eines erlaubten
pſychologiſchen Kunftgriffs: Er läßt aus den Prämiffen,
die er ‘fo einleuchtend und einladend ale möglich darftellt,
die Refultate ahnen.
Nachdem der Laie jo den Autor individuell in’8 Auge
gefaßt, prüft er ihn im Verhältnig zu den andern, bauptfäch--
lich den zeitgenoffenfchaftlichen Autoren feines Faches. Er
prüft deffen Selbftftändigfeit oder Mitftändigkeit, prüft, ob-
der Autor fid) an fremde Autorfchaft oder Autorität anlehne,
oder, ob ihm eigenthümliche zuzufprechen fei vermöge der-
Eigenthümlichfeit feiner fchriftftelerifchen Leiftung.
- Hier fommt nunmehr noch die-befondere Prüfungsauf-
gabe hinzu, ob diefer Autor zum Hochſchullehrer fi
eignen möge. Ergäbe ſich bald, daß er fich dazu nicht eignet,
fo hätte die Prüfung ihr nächftes Intereſſe für ung verloren,
und das weiter liegende wire dann mehr ein bloß litteratis
fches. Weil nun jenes Nächfte und auch für die Prüfung
6
am nächfien liegen muß, jo muß auch Der Laie von born
berein bei aller ihm inmwohnenden Laienbeicheidenheit ſich
molens volens fo body ſtellen, als erforderlich iR, um die
Sequifite, wo möglich das Hauptrequiſit eines Hochſchul
lehrers, ald die conditio sine qua, non, ind Wort zu faflen.
Des Laien Anſicht von der Hochſchule.
Es liegt Shen im Begriff dev Dochichule, daB fie, we
. nicht eine erhabene, doc) eine erhobene fei, daß fie gehörige
Höhe gewonnen haben müſſe, fich nicht blog in die Breite
ausbreite. Die Ausbreitung nach vier Geiten genügt, auch
noch fo weit und breit, nicht; die DBierzahl, wornach das
Hochſchulgebäude konftruirt iſt, giebt hier ein unvofllomme
nes Symbol der Vollkommenheit. Es entfpricht der Idee
um fo minder, ald das Regiment der darin baufenden vier
fürftlihen Mächte nicht gehörig, ja nach einem unzureichen⸗
den Drganifationg » Princip vertheilt if. Schon Kant bat
bemerkt, und richtig, wie unbillig es fei, dag die Philofophie
der Theologie ald der gnädigen Frau bloß die Gchleppe
nadyzutragen, flatt den Leuchter vorzutragen babe. Noch
ganz anders muß der Laie der Philofopbie das Wort reden.
Sie, fie allein, gebört ins obere Stockwerk; die drei
andern Fakultäten haben das untere einzunehmen; und wo
ſich's bei diefen um die Anftellung eines Minifters, oder bloß
eined untergeordneten Kammerheren handelt, da bat Gie
vorerſt das Ereditiv zu ertbeilen, bat überhaupt Alles,
was in den drei Departementen des untern Stockwerks vor»
geht, zu vigiliven und zu controlliven. Sie hat das Wefen,
den wefentlihen Beftand — es fei erlaubt zu fagen, die Fakul⸗
tätität jeder Fakultät zu gewährleiften. Dieſer GSprachge
brauch fol gleich am Sachverhalt gerechtfertigt werden.
Der Scyhulmann potenzirt fi) dadurch, allein dadurch
zum Hochſchulmann, daß er über fein Fach fich erhebt, und
er erhebte fich fo, indem er über dasfelbe philofopbhirt.
7
So, nur fo, verfährt er fakultätiſch. Die bloße Ver⸗
mittlung, Mittheilung der im Entwidelungsgang der Cultur
objektiv gewordenen Fachwiſſenſchaft geht im Gymnaſium vor,
und voraus. Die Ergänzung bes Fachwiſſens if auf der
Ssochfchule das Untergeordnete. SHE Werfen unterfcheidet
fi) dom Wefen des Gymnaſiums fo: Der Gyhmnäaſial⸗Lehrer
geht ad hominem, der Hochſchullehrer hingegen geht ad Femi;
jener unterrichtet berichtend über den Thatbeſtand, diefer Be
feuchtet erweiſend den Sachverhalt. Er fragt nach ber urſprͤng⸗
lichen Natur der Sache, und antwortet dus. dein urſptung⸗
lichen Wefen der Mienfchennatur, dem Organismus des Men⸗
ſchen. Er erklärt die Wiflenfchaft aus ihrem Urſprung,
die Cultur aus der ratur. Indem er dieß thut, ſtellt er dir
Entwidelangsgang der Eultur als einer naturnothwendigen
dar. So ericheint dem LKehtling, wenn der Lehrer eonſequent
verfährt,, das Natürliche eulturgemäß, das Cultürliche na-
turgemäß; und fo gelangt die Vernunft des Hochſchülers zur
Erkenntniß, er lernt das im Gymnafluni bloß faktiſch Ver⸗
nommene auf der Hochſchule wiſſenſchaftlich erkennen.
"Der Laie proteftirt gegen die Unphilofopbie.
Dad Hauptrequifitdes Hochſchulmannes beſteht mithin dariıt;
daß er über feine Fachwiffenfchaft (wenn .er an der philoſophi—
ſchen Fakultät ſteht, Über jeden gewählten Gegenftand) zu
. philofophiren vermöge. Dadurch ift er ein theoretif ch⸗
tüchtiger Fakultäts Mann. Dem Vermögen muß aber die
Kraft beiwohnen, bier die Sprach kraft, und dieſe Sprach⸗
kraft muß als Spradykunft ausgeübt werden. Erſt dadurch
wird der Fakultäts-Mann ein praktiſch- tüchtiger. Die
Sprach kunſt muß hinwiederum ihre @efege haben; diefe
find nur durch Wiffenfchaft auszumitteln. Die Ausmit⸗
telung führte auf eine Logik und Dialektik: beide zuſam⸗
men find ald Sprachphiloſophie die Halfewiſſenſchaften
der allgemeinen MPiloſophie.
—
- MWeil alle Philofophie eine gedachte, eine durch das
Wort vermittelte ift,-fo gerieth, feit man philoſophirt, die
allgemeine Pbilofophie mit dee Sprachpbilofophie immer in
Conflikt. Die allgemeine Philofopbie umfaßt die Weſen⸗
beit, umfaßt den Gefimmtorganismus des Menfchen. . Die
Sprach philoſophie fert das bloße Drgan an die Stelle
des Sefammtorganismus,-und ſetzt fich fo an die Stelle der
allgemeinen Philofopbie.
- Unter den deutfchen Philofopben, feit Kant durch Aus⸗
mittfung der Grenzen des Erfenntnißvermögens die Denker
frei gemacht und fo in erhöhte und geregelte Thätigkeit gefegt
bat, feit der Periode des „Eriticismus”, wurde jener Con⸗
flilt bis auf's Höchfte gefteigert, und erfcheint heut zu Tage
fo, daß die Sprachphilofophie über die Weſensphiloſophie
beinahe zu triumphiren fcheint. Hegel hat duch feine eben
fo £unftreiche als trugvolle Logik und Dialektik den Entwide
lungsproceß der Philofophie fo geführt, daß der Lehrling den
Gegenſtand des Procefies, die Wahrheit, als eine ob»
jeftive, aus den Augen verliert, und ſubjektiv den formellen
Gewinn für einen realen hält. Die bloße Geiftesthätigkeit
ift ihm der Beift felbft, und das in feinem Geifte durch den
Gedanken vefleftirte Bewußtfein des. Lebens ift ihm das Leben
ſelbſt. Weil diefer Philofophie diefes ihr Bewußtſein Alles
ift, fo erfcheint fie wirklich als eine befonnene. Sie verfteigt
ih nicht. Statt zu transcendiren zieht fie das Göttliche,
die Gottheit felbft, in. ihren Iogifchen Begriff berab. Um
das Wefen der Gottheit fo zu erkennen, mußte fie zuvor das
Ebenbild Gottes, den Menfchen felbft, verfennen, und damit
auch fein Dafein in einer Iebenvollen Schöpfung.
Gegen dieſe Unphilofophie, das heißt bier, gegen deren
Einfhmärzung in unfere von jener Verderbniß bisher freige:
bliebene Schweiz, muß nun der Laie, ſchon als Schweizer,
proteftiven und feine Proteftation gehörig durchführen. Un⸗
fere Schmweizerjünglinge follen, fo Gott will, nicht in der
9
Einbildung, fie feien Philoſpphen, verdummen. Hat Hegel
eine von Haus aus fo gefunde, Träftige Natur, mie den
jungen Strauß, zuc Verdummung in philoſophiſchen Din-
gen gebradht, fo find wir nicht fiher, daß nicht unfern
Schweizerjünglingen gleich Arges wiederführe,
J Der verunglüdte Hegelianer.
Ehe der Laie das Buch zur Hand nahm, hörte er von
verſchiedenen Seiten die Wiſſenſchaftlichkeit des Autors und
feines Buches rühmen; ſtreng wiſſenſchaftlich, rein wiſſen⸗
ſchaftlich ſei es gehalten; dabei durchaus würdig, gar nicht
frivol. Auch Letzteres werden wir ſehen. Daß es rein - wif-
fenfchaftlich fei, konnte der Laie freilich nicht erwarten,
wohlwiſſend, daß die Fachmänner, zumal die Eregeten, ſchon
das Fach mwiffenfchaftliche, ſo bald es fie, von Fachgelehrfam-
keit zeugend, befriediget, vein wiffenfchaftlich zu nennen pflegen.-
Rein-wiflenfchaftlich ift dem Laien nur die Philofophie, und
auch fie nur, fo lange fie eine theorvetifche bleibt; wie fie.
aber von der Theorie aus- und übergeht in's Praktifche und
Saktifche,. ift fie angewandt - wiffenfchaftlich. Seder fchrift-
fteleende Fachmann , der fich einer gemwiffen Vollſtaͤndigkeit
feiner Fachbikdung bemußt ift, meint, er fei als ein Mann
der Wiflenfchaft auch ein wiffenfchaftlicher Mann, Philofoph,
verniengt daher auch beliebig. die Philofophie mit feiner Fach»
wiffenfchäft; und wo vollends die Fachwiffenfchaft zugleich
Sach wiſſenſchaft iſt, das heißt, wo fie im Hiftorifchen
wurzelt, da wird ‚häufig das Sadı > und Sachwiſſenſchaftliche
mit Philofophemen fo bunt vermengt, daß der Schriftfteller,
als ein philofophirender, muß verunglüden. Denn fo wie
der Fachmann philofophiren will, entrückt er fich- feinem
Standpunft, Ddesorientirt fih, wird ungründiich, weil er
weder zu ergründen, noch zu begründen vermag. Er nimmt
feine Zuflucht zu VBorausfeßungen. Weil er nichts von
Innen herauszuholen hat, fo holt er von Außen herein, fett
40
fo irgendwie Gefchichtlihhes voraus, und damit zugleich
(bei'm Leſer) Einverſtändniß über dieſes Geſchichtliche
oder Glauben an dasſelbe, weil er, der Autor, es ſagt.
Unter allen ſolchen Vorausſetzern erſcheint Strauß als
der allerkühnſte, er ſetzt in ſeiner Vorrede feine perfönkiche
Vorausſetzungsloſigkeit ſelbſt voraus, und zwar als Philo⸗
ſoph, dem die Vorausſetzungsloſigkeit ſchon frühe durch ſeine
philoſophiſchen Studien zu Theil geworden.
Der Vorausſetzungsloſe ſetzt zuvörderſt in der „Vor—
rede” als hiſtoriſch ausgemacht voraus:
Die zweifache, ſowohl die ſupranaturaliſtiſche als die natür⸗
liche Betrachtungsweiſe der Geſchichte Jeſu iſt veraltet: —
Schon früher als die naturaliſtiſche Anſicht hat die orthobere
ſich überlebt. — Die gelefenften Evangelien » Comntentare find
jegt diejenigen, welche die fupranaturaliftifche Auffaffung der
heiligen Gefchichte für den neuern Geſchmack zuzubereiten
wiffen. (Die Auffaffung der heiligen Geſchichte wäre mithin
Geſchmacksſache geworden.) — Die neueren Verſuche, mit
Hülfe einer myſtiſchen Philoſophie ſich in die fupranaturali»
ftifhe Anfchauungsmeife zurückzuverfegen, find letzte verjmei-
felte Unternehmungen, das DBergangene gegenwärtig, das
Undenkbare denkbar zu machen. (Es hätten alfo die Supra
naturuliften unferer Zeit lauter Undenkbares gedacht; hät
ten lauter Undenkbares gedanfenlos. denfbar zu machen
gefucht.) j
In der „Einleitung“ ſetzt der Verfaffer von vorn
herein voraus: Jede auf fehriftliche Denkmale ſich ftügende
Religion treffe das unvermeidliche Loos, früher oder fpäte
zu veralten; fie Fönne ſich nur fo lange halten, als die Bil
dung und Entwicdelung noch nicht fo weit gedieben fei, um
eine völlige Losfagung (von ihren Urkunden als. heiligen)
herbeizuführen. Damit läugnet er, daß es im Gebiet der
Religion etwas Abfolutes, unmittelbar Böttliches, Geoffen⸗
- bartes gebe; was früher für folches gegeben oder hingenom⸗
44
men wurde, wird nach feiner Behauptung Durch die fleigende
Bildung und dadurch nothwendig -eintretende Vermittelungs⸗
proceſſe modifiziet, verändert, und zuletzt befeitigt. So ift
ihm nur der Bermittlungsproceh das Nothwendige, hin»
gegen das Urfprünglichgegebene, die fchriftlichen Dentmale,
das Zufälige und Hinfällige. Diefe feine Unficht und Dar»
ſtellung nennt er genetifch, will fogar damit feine „Geneſis
„des mythiſchen Standpunkts für die ebangeliſche Geſchichte
„ begründen.”
Nun folgt (&. 2) eine andere Begeündung. Jene ging
vom biftorifchen Standpunkt aus, diefe verlegt nunmehr dag
hiſtoriſch Gefundene, und von ihm gefchichterflärend Vorge—
brachte auf den pfychologifchen: „Ein Hauptbeftandtheil aller
„Religionsurkunden ift heilige Gefchichte, ein Gefchehen, in
„ welchen das Göttliche unvermittelt in das Menfchliche herein-
„teitt, die Ideen unmittelbar fidy verkörpert zeigen.” Vermöge
diefeu neuen Vorausſetzung will er wiffen, beftimmt wiffen,
wie, auf welche beftimmte Weife, das Göttliche unvermittelt
in das Menfchliche hereintritt, nämlich fo, daß die Ideen
fich verkörpert zeigen: Hier haben wir zugleich ein Müfter-
chen von’ feiner Logik. Das. Göttliche bedarf der Verkör⸗
perung, mithin der Bermittelung, um unvermittelt ein-
zutreten.. Das wäre aljo eine unmittelbare Vermittelung oder
vermittelte Unmittelbarkeit! Iſt es mit einem Schriftſteller
fo weit gekommen, daß er mit einer folchen Logik eine folche
Pbilofophie geltend zu machen fucht, fo darf ihn wenigſtens
Niemand der GSophifterei befchuldigen; wohl aber mag man
errathen, wie diefer auf eine ſolche Begriffsverwirrung ges
rathen if. Das Wort Idee ift das bequeme Wort, das in
feiner. vieldeutigen Unbeftimmtbeit Jedem dienen muß, mo
ihm die Philoſophie ausgeht.
Heidenthum und Chriſtenthum.
Das Wort Idee ſpielt in der Mythologie, ſeit Plato,
42
bie Hauptrolle, und fol fie auch hier fpielen. Dadurch wird
aber Straußens „Genefis des mythiſchen Standpunkte für
„die evangeliſche Gefchichte” zu einem Teichtfertigen Spiel,
das nicht bloß ein Sprach - und Begriffsfpiel bleibt. Strauß
fpielt fo den Standpunkt, aus welchem die evangelifche Ge-
fchichte erklärt werden fol, aus dem jüdifchen auf den griech:
fchen hinüber; verfekt und, vorausfekend, daß die Unmittel:
barfeit des Böttlidyen in Verkörperung von Sdeen beftehe,
aus dem Chriftenthum in's Heidenthbum. Dort fprach man
wirklich von verförperten Ideen, und man ſprach fprachrid-
tig: Ohne der Sprache die mindefte Gewalt anzuthun konnte
man die Gottheiten der griechifhen Mythologie verkörperte
Sdeen, ja den ganzen griechifchen Bötterfreis einen verkörper⸗
ten Sdeenfreis nennen. Auch wir können-obne Sprachaus:
ſchweifung füglich fagen, Minerva, die aus dem Haupte
Jupiters entfprang, fei, zumal plaſtiſch dargeſtellt, die
verkörperte Idee der Weisheit. Solche Sdeologie Hat fid
auch) für ung durch die griechifche Eulturgefchichte vollſtandig |
und verftändlich beurfundet.
Dennoch ift diefe Urkunde feineswegs eine allgemein
menfchlich-genetifche, ift nicht aus dem Menfchen als dem
Ebenbilde Gottes abgeleitet; fie ift auch feine menfchheitlich
genetifche Urkunde ,- fondern nur die Urkunde von den religiö—
fen Grundanfihten und Borftelungsweifen Eines Volkes,
des griechifhen. Die Hebräer haben eine andere Urkunde,
die nicht bloß aus Sagen und Sagendeutungen, nicht blof
aus Mythen und Mythendeutungen befteht, woraus nunmehr
wir verkörperte Sdeen berauszudeuten hätten, fondern wirt
ih Geſchichte, Gefhichtsbegründung enthält, und fi
daher mit Recht Genefis nennt, mit vollem Recht, denn es
ift die mwefentliche Ururfunde für die gefammte Menfchheit.
Der Urkundsmann ift Mofes. -
Man mird im Mofaismus fo wenig eine Sdeenverkör-
perung, als in Mofes bloß eine mythifche Figur finden kün-
45
nen; eben fo wenig wird man finden können, der Stamm:
vater Abraham fei ald Stammbalter der Gläubigen von
Mofes fo figurirt; um „vermittelnd” eine Idee zu verkör⸗
pern. Um ſolcherlei Umdeutung zu Stande zu bringen, muß
man fo lange an der Geſchichte, ſelbſt wo fie thatſächlich
"Sndividualifivtes enthält, drehen und .verdrehen, bis man
als Sprachdrehlünftler ein Kunftftüd zurechtgedreht bat,
dag, von flüchtigen Leſern hingenommen, den Schein der
Sründlichkeit und Conſequenz trägt. Solche Confequenz-
macherei ift das eigentliche Gewerbe diefes Schriftftelers. Wie
überfchmenglich er darin ift, und mit dem Leſer, fo bald er
ibn aufgegriffen, davon Täuft, ergiebt fich gleich aus den
Säßen, die er auf den ſchon angeführten folgen läßt. Wir
führen diefen zur Verdeutlichung noch einmal, mit den folgen-
den im Zufammenhang an.
„ Ein Hauptbeftandtheil aller- Refigionsurtunden it heilige
„Geſchichte, ein Geſchehen, in welchem das Göttliche unver-
„mittelt in das Menſchliche hereintritt, die Ideen unmittelbar
„fich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung überhaupt Ver—⸗
„mittlung ift: fo wird die fortfchreitende Bildung der Völker
„auch der VBermittlungen fich immer deutlicher bewußt, welche
„die Idee zu ihrer Vermittlung bedarf, und fo erfcheint jene
„Differenz der neuen Bildung und der alten Religionsurkun:
„den in Bezug auf deren .gefchichtartigen Theil namentlich
- „fo, daß jenes unmittelbare Eingreifen des Göttlichen in °
„das Menfchliche feine Wahrfäyeinlichfeit- verliert. Wozu,
„da das Menfchliche jener Urkunden ein Menfchliches der
„Borzeit, alfo ein relativ Unentwiceltes, nad) Umftänden
„felbft Rohes ift, auch ein unbehagliches Sichabwenden von
„diefem insbefondere fich ‚gefellen kann. Das Göttliche
„ann nicht fo (theils überhaupt unmittelbar, theild noch
„dazu roh) gefchehen fein, oder das fo Geſchehene kann
„nicht Göttliches geweſen fein.”
Jedem Leſer muß auffallen, welch einen gewaltigen Sprung
44
der Eonfequenzenmacher vom erfken Perioden zum zeiten
macht. Hier ſchiebt er den Begriff „Bildung” willkürlich
ein , und definirt das Wort fcheinbar mit dem Wort „Ber
mittlung.” Daran hängt er ein eben jo willfärliches Phre
fengefpinnfi, woraus er das Refultat zieht, daß in und wit
der fortfchreitenden Bildung der Bölfer das unmittelbare
Eingreifen des Göttlichen in dag Menſchliche feine Wahr⸗
fcheinfichkeit verliere. Daraus würde folgen, daß das Bölt-
liche den Bölfern nur fo lange wahrfcheinlich bleibt, als fe
ungebildet find, und immer unmwahrfcheinlicher wird, je ge
bildeter fie werden. Das Böttlihe wäre alfo nur Gchein
(Scheinwabrheit) und wäre es nur für die LUngebildeten.
Weldyen Bortbeil ziehen dagegen die Gebildeten aus ihren
Bildungsfortfchritten? Strauß fagt’d: Sie kommen endlich
zuc vollen Weberzeugung, jenes Göttliche könne in ber Vor⸗
zeit nicht fo gefcheben fein, oder fo Gefchehenes fünne nicht
göttlich fein. Daraus ergiebt ſich weiter, welches Refultat
Etrauß für fi gewonnen hat: Er verfieht, fennt die
nothwendigen Bedingungen der Geſchehbarkeit des
Böttlihen; er will willen, wie das Göttliche befchaffen fein
mußte, um gefcheben fein zu fönnen.
Griehen und Hebräer.
Nachdem der Verf. im zweiten $. darthat, wie der „ernfien
„griehifchen Phifofophie frühzeitig das Bewußtſein aufging,
„daß das Göttliche ſich nicht in ſolcher menfdhlichen Ummit-
„telbarkeit und Rohheit verwirklichen könne”, wie ed z. 3.
beim Homer vortomme, daher denn „ verfchiedene Deutun-
„gen der Völkerſagen“ entftehen mußten, beginnt er den:
dritten $. mit folgenden Worten: „Die Gtabilität des
„bebräifchen Volkes, fein ſtarres Feſthalten am fupranatu-
„taliftifchen Standpunft” — und will diefer Stabilität bei-
meſſen, daB eine. ähnliche „Interpretationd- Methode” , wie
bei den Griechen, fih nur da „ausbilden konnte, wo am
| 45
„entfchiedenften die jüdifche Bildung, durch Berührung na-
„mentlid mit der griechifchen, über fich ſelbſt hinausgegan-·
„an war, in Ulerandrien”, und zwar hauptfächlich ducch
Philo. Hier kann er aber nur fo viel hiftorifch nachweifen,
daß „nicht felten die Form des hiftorifchen Geſchehenſeins
„aufgegeben wurde”, daß hingegen, „nicht auch die entgegen-
„gefebte (ich ausbildete, die Gefchichte zwar ftehen zu Laffen,
„fie aber zu einer gemein-menfchlichen zu entgöttern”, erkläre
fi) eben „aus dem fupranaturaliftifchen Stantpunft, welchen‘
„die Suden immer feftgehalten haben.” |
Wirklich haben die Hebräer an ihrem fupranaturaliftifchen
Standpyntt (wie Strauß findet, „flarr”) feftgehalten.
Hielten die Griechen an dem ihrigen nicht feft, fo rührt ee
ohne Zweifel daher, daß fie einen anderen hatten. Suprqna⸗
turaliſtiſch war indeß der ihrige auch; Fein Volk der Erde
tonnte je einen anderen haben, denn es ift ja alle Religion
im Begriff fuprangturaliftifch , fie veiht über die
Natur hinaus Kind dennoch die Standpunkte verfchie-
den, fo muß aus den verfchiedenen Standpunften (Religionen)
einerfeits die Mobilität der Griechen, anderfeits die. Stabilität
der Hebräer erklärt werden. Der Standpunft felpft liegt bei -
den Einen und bei den Andern ganz offen vor: Das Wanken
und Wechfelg erklärt fich bei-den Griechen aus ihrem Poly⸗
theismus, das Sefthalten bei den Hebräern aus ihren Mo >
nofbeismus: Dort ein fagen= und mythenreicher Götter:
Eyclug, verwoben in eine Gefchichte, wornach die Bötter unter
ſich und mit den Dienfchen, felbft mit den Schidfalen der
Völker, ein buntes Spiel treiben, fo bunt, als die ausſchwei⸗
fendfte, Phantafie, fowohl die vohe als die Fünftlerifche, es zu
gefalten vermag. . Hier der „Einige Bott”, bier die Unmit-
telbarkeit des Göttlichen, nicht etwa durch einen Gedanken,
durch keinerlei Lehre vermittelt, fondern intuitiv, als
eingewurzelter,, unverwüftlich,, durch keinerlei Irrthum oder
Serfal zu vertilgender Glaube, welcher, in feinem Ur
J
416
fprunge keineswegs „Dentglaube”, feine Beſtätigung jeboch
fand in der Erfahrung, und zum allgemeinen fich bemwußten
Volksglauben wurde in einem Volke, welches in feinen wun-
derbaren Schickſalen eben die Unmittelbarkeit des Göttlichen
(das Walten der Borfehung) erkennen lernte, fich dasſelbe
immer von neuem beurfundet, fich immer näher gelegt fand,
die zunehmende Herannäherung immer lebendiger ahnte, bis
es endlich in dem Sahrhunderte lang geahnten Meſſias das
"Göttliche vor feine Anfchauung, in feine Mitte treten fah.
Will der Rationalift, oder auch der Pantheift, hier zwar
zugeben, wie er unftreitig nicht anders kann, eine folde
Blaubens» und Denkweiſe fei zwar bei den Hebräern aller:
dings gefchichtlich, jedoch fortbehaupten, fie berube nichts
defto minder auf Irrthum (einem Irrthum, den Strauf
als Starrfinn bezeichnet): fo bleibt dennoh, rein bifterifd
genommen, der Gegenfak zwifchen den Griechen und de
Hebräern gleich unverrüct, unausgeglichen ſtehen. Wer dir
Erfcheinungen der Eulturgefchichte fo auffaßt, mer die fo fehr
und fo wefenhaft verfchiedenen Gefchichten jener zwei Völker
paralleliftrend auszugleichen unternimmt, verrätb nicht den
„Scharfſinn“, den man hin und wieder Strau fen hat bei
meffen wollen, fondern einen Blödſinn, welcher in der Aus
führung zum völligen Unfinn wird, indem er ein völlig ver:
kehrtes Endrefultat herausbringt. .
Und fo ſtellt fich wirklich das Endrefultat heraus. Was
bei Strauß vefultirt, ift gerade das Gegentheil, das fich dem
fhlichten Verſtande, der nur auch Hiftorifches einfach auf
zufaffen vermag, wie ed gegeben ift, als die allgemeine cultur-
gefhichtliche Tchatfache darftelt. Der fchlichte Verſtand findet
in der Fabelhaftigkeit des Polytheismugs und in der Wahr:
baftigkeit des Monotheismus den Grund von der Unhaltbarkeit.
des erftern und der Haltbarkeit des Iektern ; der fchlichte Der:
ftand findet ed daher ganz natürlich, daß im Lauf der Zeil
die griechifchen Philofophen in ihrem Polytheismus immer
47
‚ mehr Widerfprüche entdecken mußten, während die hebräifchan
Philoſophen (Propheten) ihren Monotheismus in immer
vollerer Harmonie erlannten; und nebenbei findet der fchlichte
Berfiand, der Geſchichtsphiloſohh Strauß habe, indem er
den Monstheismus der. Hebräer ald Grund ihrer Erftarrung
angiebt, von feiner Seite die Eukturgefchichte ebeu fo unge:
ſchickt aufgefaßt ale grob verfälfht.
Des Laien &oleranz.
Es giebt bekanntlich unter den allerlei menfchlichen In⸗
dividualitäten negative Naturen. Unter diefen giebt’s
ſolche, die, weil ihnen ſo vieles anftößig ift, erſt abftöfig,
dann angriffig werden. Auch folche find zu Etwas gut. Obme
ſchöpferiſche Kraft, find fie manchmal noch ziemlich kräftig.
Sie bringen Leben in’d Leben hinein, der, Stoß provoeitt
den Gegenftof. Iſt der Widerftand hartnädig, fo wird am
Ende das Zurückſtoßen vecht und rechtlich. Jedoch verſtoßen
darf man Keinen. Wohl aber darf man ihn hinausſtoßen
aus einer guten Gefellfchaft, wenn er zuvor das hochzeitliche
Kleid der Humanität ausgezogen bat. So ganz entblößt er-
fcheint dieſer Gaſt dem Laien zwar nicht, jedoch in einem
rohen, theilweife gefleckten, theilweife geflickten Kittel; auch
ift er nicht ganz ohne Haltung, fchlägt jedoch bisweilen mit
bengelartigen Waffen um fih. Das alles hinderte den Laien
nicht, Toleranz zu üben. Er übt fie bier fogar auf Unkoſten
des Concepts diefer feiner Laienſchrift, und will lieber Die
ſchlimmſten Blößen erft dann aufdecken, nachdem er an diefer
Erfcheinung als Zeiterfheinung nachgewiefen haben wird, daß
umd wie fie, durch die Zeitcultur felbft herbeigeführt, fommen |
mußte und kommen durfte.
Der Laie nimmt feine Toleranzgründe für Heren Strang
. nicht zunächft von deflen Perfon ber, an welcher er zwar
auch welche findet, fondern von der Sache felbft.
Das Evangelium ift ein unmittelbarer Ausflug und eine
2
48
mittelbare Veranftaltung des großen Dienfchenerzieberd. Wie
er verfönlich die Mienfchen anzog und anziehen wollte, fo
will er fie binfort geiftig erziehen durch fein Wort, das,
urfprünglich ein geiftiger Ausfluß, nunmehr als ein gefchrie:
benes auf und gekommen if. Immerfort hat er zweierlei
Zöglinge, bat nebft denjenigen, die als Unerzogene, als Rin-
der von Ehriftenfamilien,, in die chriftliche Schule und Kirche
- gebracht werden, auch Berzogene, die ald Kinder der Welt
in der Zerfireuung der Welt vom Chriſtenthum abgezogen
wurden, oder denen ſchon zur Zeit ihrer Unmündigfeit durch
Serlebrer das Ehriftenthum entzogen wurde. Alle aber, bie
im Chriftenglauben erzogen wurden, und Alle, denen er
entzogen wurde, wofern diefen nur auch nody Etwas bon reli-
giöſem Sinne blieb, haben nebft dem eingebornen Blan-
benselement ein eben fo eingebornes Beglaubigungk-
bedürfniß defien, des bier Weſentlichen, dag ihnen im
Wort von Außen dargeboten wird, ein Beglaubigungsbedürf:
niß, das bei den erſtern zwar leicht, bei den Iektern oft
ſchwer zu befriedigen iſt. Neben diefen gemeinfamen menſch⸗
lichen Anlagen hat jeder Menfch feine befondern individuellen;
Dabei hat jeder feine äußere Lage; feiner hat fie fo wie der
andere, jedem wird fein Verhältniß zu feinen Mitmenfchen,
die auf ihn abfichtlich oder zufällig einwirken, auf eigene Weife
individualifirt.
Sol nun das Chriftenthum die Univerfal- Religion fein,
und ift es fie wirklich, fo muß die Urkunde im Wort (das
Evangelium) fo befchaffen fein, daß fie für jederlei Indivi—
dualität Anziehendes, mithin das Wort des Evangeliums
für Jeden etwas Anfprechendes hat. Und hat diefes Wort
einen veichen Inhalt, fo muß es nicht allein feine Anziehungs
kraft am menfchlichen Gemüthe immer neu bewähren, fon-
dern es muß, als Wort, audy den Sprachverftand immerfort
veigen. Es muß unzählige Glaubens » und Beglaubigungs:
49
worte, dazwifchen auch Bezweifelungs - und Beftceitungswortg,
erzeugen, und das um fo kaufendfacher, als die. Darlegung
und die Auslegung des Evangeliums einen Stand, einen
Theologen» und Predigerftand, längft hervorgerufen bat, deffen
Berufes ift, das Wort Gottes in feiner ganzen Fülle zu be⸗
fprechen, und öffentlich fo auszufprechen (zu predigen), daß
es in's Leben übergetragen,, praktifches Ehriftenthun werde.
Während nun Diele ihe Beglaubigungsbedürfniß ſchon
durch die Perſon Chriſti, durch das geſchichtlich von ihr
und über ſie Vorliegende, mithin durch die Dar legung völlig
befriedigt finden, und daher in wiederholten Darlegungen (der
Predigt) nicht eigentlich Belehrung, ſondern Erbauung
ſuchen, bedürfen Andere der Aus legung; fie wollen durch
das Mittel der Spracherörterung und einer logiſchen Beweis⸗
führung überzeugt fein; nur die Beglaubigung durch. Leber-
jeugung genügt ihnen. Diefe Anforderung ift der menfch-
lichen Natur, auch dem veligiöfen Sinn, keineswegs unange-
meſſen. Das Wort Gottes bietet fich felbft dem Sprachgeift
‚des Dienfchen zur Kraftübung, dem Sprachverftand zur Ver⸗
ftändigung dat; das Evangelium felbft verſchreibt fich fo
an den Menfchen, es verbeißt unmittelbar „den Beift, ber
„da lebendig macht,” verfpricht mittelbar vertraut zu machen
mit „dem Geift, der in alle Wahrheit leitet.”
Dergeftalt ift jeder hier Sprachfähige auch ſprachberech⸗
tigt; der Ruf, „prüfet Alles, behaltet das Gute,” will offen⸗
bar zur Prüfung ermuntern, läßt ſogar dem Prüfungsgeiſt
und der Urtheilskraft noch Wahl offen. Indem nun aber
der Schriftausleger, aus dem Wort Gottes ſchöpfend, es
beſpricht, kann er nicht anders als „menfchlich reden von
„göttlichen Dingen”, und fo wird feine Rede, auch die be⸗
redtefte, das Gepräge menfchlicher Unvollkommenheit, mithin
auch fprachlicher Unzulänglichkeit tragen, und er wird bei
‚dem veinften Willen, das Wort Gottes klar vorzutragen und
‚
90
wahr auszulegen, es nie ganz vermeiden können dazu oder
„davon zu thun.”,
Sf nun unter den unzähligen Prüfeen und Befprechern,
‚ von den Kirchenvätern bis auf die jüngften Söhne unferer
proteftantifchen Kirche, deren überſchwengliche Redfeligkeit in
den theologifchen Zeitſchriften u. a. namentlich die Kunft der
Exegetik fo weit treibt, und fo überlaut wird, daß die ein-
fache Stimme des Hirten kaum noch ihren natürlichen Wie
derhalt findet, fo mancher Dreifte aufgetreten, deffen Hinzu:
thun oft nur ein Hinwegthun war: fo haben wir uns in der
That weder zu wundern noch ju ärgern, daß jeht Einer ge
kommen iſt, deffen- Dreiftigkeit im Hinzuthun und Hinweg
thun die Vorgänger und Mitläufer ale überbietet. Nur
baben wir um fo genauer in's Auge zu faſſen, was er uns
nehmen, und was er und dafür geben will.
Zuvor aber hat der Laie noch einen weitern Toleranz
grund in Unfchlag zu bringen. Wer heut zu Lage unter
ung Deutfchen in irgend einer Wiffenfchaft Eigenthümfliches
leiften will, der muß philofophiren können; er muß es wollen.
Iſt der Schriftftellee noch jung, als Philofoph noch unreif,
unfeldftftändig, fo fchließt er fi an eins der vorhandenen
philofophifchen Syſteme an, und gewöhnlich am liebſten an
das newefte. Nur allzuleicht büßt er dabei feine ſchriftſtelle⸗
rifche Eigenthümlichkeit ein. Iſt das neue Syſtem ein fal-
fhes, fo wird er ihm irrthümlich und ungeſchickt nachphi⸗
Tofophiren. SA die falfhe Philoſophie noch dazu eine vor-
herrſchend dialektifche, und nimmt fie fo feinen Sprachver⸗
Rand gefangen, fo wird ihm fein philofophifches Willen ‘zu
eifiem leeren Formalismus. Auf Formalismus führt jede
Philoſophie (auch die fogenannte mathematifhe, fo meit fie
nur dieß ift), welche die bloße Beiftesthätigkeit zu ihrem
Princip (zum Grundprineip) macht. Soll das Princip
durchgeführt, bis zum Syſtem ausgeführt werden, fo erhebt
fi) die Philofophie auf ihrem Gipfel zue Religion sphilo—
‘
* 24
fophie. Und worin beftebt diefe ihre Erhebung? Darin, daß
fie ihr Princip auf die Gottheit überträgt — und fiehe
da den Hegelfchen Begriffsgott, deſſen Bolllommenheit in
einem vollkommenen Selbſtbewußtſein beſteht. Solchergeſtalt
bat aber der Philoſoph nicht einmal vollſtändig fein Menſch⸗
liches an die Stelle des Böttlichen gefeßt; er hat das „Eben-
„bild Gottes,” das Ab bild zum Trugbild gemacht, hat fo das
Trugbild trüglich auf dag Urbild übergetragen; indem er
den menfchlihen Organismus unvollfiändig auffaßte, bat er
den Menfchen, den Normalmenfchen, desorganifirt. Wie follte
ein folder die Offenbarungsreligion begreifen können? Hie⸗
für fehlt ihm das Organ gänzlich. Die ganze „heilige Schrift”
ift ihm ein Objekt feiner Geiftesthätigkeit, und was ſich ihm
in und mit diefer auf das Wort Gottes gerichteten Geiſtes⸗
thätigfeit offenbart, das macht er zu feinem eigenen Selbſt⸗
offenbarungsproceß, den Proceß aber, feine Dialektik, zur
Wiſſenſchaft felbft, wo nicht gar .zur Religiongurlunde. Die
Auslegung eines jeden Theils der heiligen Schrift muß ibm.
mißlingen, weil er zur culturgefchichtlichen Auffaſſung bes
Drientalismus überhaupt untüchtig, weil ihm der eigen⸗
thümliche Sprach geift und Sprach aus druck der Orientalen
gänzlich fremd if. Wie dennoch die Hegelianer mit jener
Dialektit auf eine Chriftologie kommen Bönnen, ift allein aus
der Zügellofigkeit ihres philofophifchen Sprachgebrauhs zu .
erklären. So fprechen fie viel vom „fleifchgewordenen Wort”,
das fie in der That zuerſt zerfleifchen, dann entfleifchen,
gleichmwie ſie die menfchliche Natur, das Ebenbild Gottes ſelbſt,
entfleifchen. Im Hebräismus (Mofaismus) bietet ſich das
Göttliche nicht zunächft dem Dentvermögen dar, (mern auch
das und nunmehr in Schrift dargebotene ſprachlich heraus;
gelefen, und infoweit durch Denken vermittelt werden muß),
fondern der Anfchauung, und au dem Gefühl („mi
„fillen fanften Säufeln kommt Sehevah”), und vollends der
Logos des Evangeliums wird Fleifch, indem er vor die An⸗
fhauung tritt, („wir haben es gefehen voller Bnade und
Wahrheit”). |
So hat der Menſch, wie ihn die Bibel auffaßt und dar⸗
ftelit, nicht bloß Ein Drgan für das Göttliche (viel weniger
ein bioßes Vehikel, wie der Hegeliche Sprachverfiand), er
bat deren mehrere; im Compiler diefee mehreren befteht erſt
der Organismus; in diefem wurzelt die Empfängfichkeit für
das Göttliche, dad Glaubens element; aus diefer Wurzel
wächst der Glaube als ein lebendiger hervor, und daraus
gefaltet fih der Charakter des Chriſtgläubigen, der
ſich das Göttliche, auch für fein Individualleben concretirt,
fü nahe als möglich gelegt findet („er ift nabe allen denen,
„die ihn anrufen”), fo daß er diefes Göttliche in feiner Un⸗
mittelbarkeit gleichwefenhaft und gleichzeitig zu denken, zu
[hauen und zu fühlen vermag (dad „dreifache Leben”
Satob Böhme). . |
Wer diefe organifche Kebensfülle mißfennt, der kann, wenn
er philofophiren will, nur negiren. Diefe Negativität bes
ftebt im Hegelianismus darin, daß er an die Stelle des voll:
ftändig Organologiſchen nur das Rogifche, das Denkvermögen,
feßt, in dasfelbe eine befchräntte und befchräntende Denk⸗
weife bineinlegt, und fo die bloße Disfurfivität des
Sprachgeiftes zum Wefen madht, in dieſem Wefen aber
weder eine abfolute Immanenz nocy eine abfolute Transcen⸗
denz zu unterfcheiden vermag; daher er auch durchaus umd
durchein nur Relativität hat, und darin feinen Forma-
lismus vollendet, daß er aus lauter Relationen, Denkfor-
men, das Wefen erfennen und erkennbar machen will.
Diefem Formalismus anheimgefallen, befikt Strauß in
nicht geringem Grade, was man dabei noch haben kann.
Seine Discurfivität des Geiftes ift eine lebendige zu nennen.
Sein Spiel mit Verhältnigbegriffen ift ein Eunftreiches, ift
meiftens ein mebrfaches zugleich; er miſcht Wort - und Sach⸗
begriffe (Formelles und Faktifches) gewandt unter einander,
23
und weiß im Eonereten bald das Faktum durch das Diktum,
bald diefes durch jenes in's Licht oder in Schatten zu ſtellen.
Peſtalozzi pflegte ſich über eine folche_Indivibualität
fo nuszufprechen: „Der hat einen guten Bickerli⸗Ver⸗
fand.” Was mit einem guten Bickerli⸗Verſtand geleifiet.
werden kann, mag er wirklich geleiftet haben. Geine bis⸗
berigen Gegner, Efhenmayer, Hoffmann, Klaiber
und Steüdel, nebft mehreren Recenfenten in den Zeitfchriften, |
feßen zwar auch dieß, und zwar aus dem eregetifchen Stand-
punkt, in Zweifel, und ‚mehrere treffen in dem Vorwurf zu⸗
ſammen, wie culturgefchichtlich ungereimt die Annahme, wie
unerweislich es fei, daß in einem Zeitraum von dreißig Jah»
ren ſich nach dem Tod einer gefchichtlichen Perfon, in wel-
hen Strauß die Niederfchreibung der Evangelien febt, ein
Sagen » und Mythenkreis, wozu derfelbe den Inhalt der Evans.
gelien ftempelt, in folcher Reichhaltigkeit um diefelbe habe herum:
fpinnen können, während das Wenige, was Strauß im Leben
Sefu als gefchichtlich wahr fteben läßt, auf einer Oetavſeite Raum
fände. Wenn aber auch fo das Hauptrefultat Straußeng,
daß die nicht von den Evangeliften gefchriebenen Evangelien
eine lange nach Sefu Tod zufammengetragene Sagen- und
Mothenfammlung feien, in ihr Nichts zerfällt, fo muß man
dennoch anerkennen, Strauß hat in und mit feiner miß-
Iungenen Ausführung wenigftens in zwei Richtungen ein nega⸗
tived Verdienſt fih erworben: er hat dem Unverſtand bem.
Garaus gemacht; einerfeits dem Unverftand des Stocdortho-
doren, welche bibliolatrifch die freie Unterfuchung abfchneiden
wollen, und fo den Beift als Forfchungsgeift tödten; ander⸗
feitö dem Unverftand der Rationaliften, welche mit ihrer er-
bärmlichen Definition des Wunders, es fei etwas den Natur⸗
gefegen Zumwiderlaufendes, (ald ob fie die Naturgefege voll-
ftändig kennten), an die Stelle einer idealen Naturanſchauung
eine mechanifche Auffaffung und Anwendung einzelner ihnen
befannten Naturfräfte feßen; woneben er jedoch jene läppiſche
DR.
negative Teleologie mit den Rationalifien gemein bat, die ein
Wunder unglaubli findet, weil fie basdfelbe „unnsthig”
oder „unwürtig” ſindet.
Immerhin bat alfe Strauß, wenn er auch Böſes be
wirkte, doch auch Böſes unwirkſam gemacht. Wir haben ibn
zu tolericen, denn er bat auf eigene Weiſe unfer Schweiger-
fprichevort wahrgemacht: „ Bittered muß Bitteres vertreiben.”
Des Laien Intoleranz.
Mag ſolch ein Berfiandesmenfch auch noch fo ſehr fich in
Berhättnißbegriffen reutiniren, vermag er auch noch fo ſprach⸗
gewandt ſich auszufprechen, ec taugt damit um fein Haar
befier, taugt nur um fo minder zum Philofopben, taugt: am
allerwenigfien zum fpeculativen; ja es if merkwürdig, wie
bettelarm diefer Schriftfieller, bei feiner Sucht, wo es fich
immer thun läßt, in feine Schriftauslegung Philoſopheme
einzuſtreuen, an philofopbifchen Gedanken if. Sucht man
unter diefen die Hauptgedanten heraus, fo find es eigentlich
bloß zwei oder drei, und es find die nämlichen, womit die
Hegelianer ihren Hauptſpuck treiben.
Der Eine (bei Hegel felbft ein Hauptunfug) befteht
darin, daß fie den Hiftorifchen Wahrheiten yfyhologifche
unterfcbieben, und zwar concvet= biftorifchen allgemein⸗pſycho⸗
logiſche. So behandelt Strauß dag Leben Sefu und führt
es fo duch. Dasfelbe foll in feinen gefchichtlichen Haupt:
momenten (Mienfchwerdung, Wunderwirkung, Opfertod, Auf⸗
erſtehung, Himmelfahrt) bloß fumbolifch den Entwickelungs⸗
gang der Mienfchheit darftellen, und fo als Mythe aller
dings objective Wahrheit enthalten, nicht aber als Reihen:
folge concreter Ereigniffe und Ergebniſſe eines fubjectiven
Lebenslaufs, ſoll mithin nicht Perfönlichkeit eines Individual⸗
lebend, fondern nur Perfonifilation einer Idee enthalten,
deren Verwirklichung im Geſammtleben der Menſchheit all⸗
maͤhlig vor ſich gehe.
—
23
Wenn fo die neuen Mythiker, was fchon die alten My⸗
ſtiker thaten, die zuäleich auch Mythiker waren, aus den
wichtigſten, und gefchichtlich überlieferten Erſcheinungen des
Lebens Sefu vielfach mythifche Bedeutung herausfinden, fo
iR dagegen an ſich nichts einzuwenden; wir, die wir die Ge⸗
fchichte für Geſchichte nehmen, finden folcherlei Bedeutung
auch heraus; nur künnen wir nicht finden, daß die Mythe
(die mythiſche Bedeutſamkeit des Gefchichtlichen) die Gefchichte
aufbebe. Hegel bebt diefe vermittelft jener wirklich auf.
Strauß hingegen will vermittelt der verfuchten Beweisfüh⸗
rung der Lüdenhaftigleit und Unzuverläffigkeit der Gefchichte
(aus den Widerfprüchen, welche in den Evangelien enthalten
‚ feien), ihre Unwabrhaftigleit darthun, jedoch darin mythiſche
Wahrbaftigleit finden. Mit den Zheologen fpricht ev zwar
als Schriftausleger die übliche Eregetenfprache, vermengt
diefe aber mit Hegelfchen Philofophemen -fo, daß die Exegetik
in eine ganz neue Hermeneutik, und durch diefe die Gefchichte
in Mythe verwandelt, dadurch aber das Evangelium zu einer
traditionellen Scription geftempelt wird, die völlig fo unzu⸗
verläffig wäre, wie eine nichtniedergefchriebene Tradition.
Ein zweiter Sprachunfug der Hegelianer befteht darin,
daß fie relative Wahrheiten für abfolute geben. Diefe
Seeiheit, welche den Poeten zufteht, haben die modernen
Philoſophen in ihr. Gebiet hinübergezogen. Wenn Jean
Paul, nicht bloß da, mo er Humor treibt, oder wo der
Humor ihn treibt, fogar in der Aeſthetik und Pädagogik
(„Borfchule” und „Levana”) es ſo macht, fo weiß jeder
Lefer, wie er's zu nehmen bat; und wenn Göthe fagt „Bes
„fühl ift Alles, Name it Schall und Rau,” fo ift er
als Dichter dazu völig befugt. Wenn aber Hegel als Phi-
loſoph fagt „Begriff it Alles”, alles Wefenhafte, ſo
können wir andern menfchlichen Wefen unfere Wefenhaftig-
feit, wie wir fie uns in den Augen Hegels bloß träu«
26
men, an feine Philofophie unmöglich verfaufchen; denn wir
würden gerade für unfer Abfolutes bloß Relatives eintaufchen.
Einen folhen Tauſch muthet uns Strauß wirkich m,
und zwar in der allerwichtigfien religiöfen Beziehung; er
mißt dem inmwohnenden Glaubenselement bloße Relativität
bei, er fagt: „Mit dem Glauben ift auch der Zweifel ge
„ſetzt.“ Wirklich! In der Eulturgefchichte kommen häufig
Zweiflee vor, ſogar foldye, Die ganze Zweifelſyſteme aufm:
ftellen verfuchten, die Skeptiker; und im menfchlichen &e
müthe fieigen überhaupt allerlei Zweifel auf. Was Strauf
fagt, ift alſo eine pfuchologifche Wahrheit, die fich gefchicht
lich herausgeftellt, erwahrt bat, aber nur eine velative,
feineswegs eine abfolute, die fih an jedem Individuum, in
jedem Sndividualleben, erwahren müßte. In Millionen Chri⸗
fienfeelen flieg während ihres ganzen Lebenslaufs, vom erſten
Zag an, wo fie beten lernten, bis zum Sterbebette, fein
Zweifel auf an der Unmittelbarkeit des Göttlichen, noch an
den Hauptwahrheiten der Dffenbarungsreligion. Der Menſch,
das Ebenbild Gottes, muß zuvor einer falfchen Cultur an
beimgefallen fein, ehe er, was Strauß auch für abfolut
ausgibt, einer „NRegeneration’’ feines Glaubens bedarf.
Ein dritter Unfug befteht darin, daß fie Wahrheiten, die
fie als allgemeine felbft anerkennen, nicht als conerete
gelten laffen wollen. Strauß fagt (B. J. S. 175.): „As
„lerdings muß einer allgemeinen Ahnung und Vorſtellung
„Wahrheit zum Grunde liegen, nur daß diefe nicht in einer
„einzelnen, jener Vorftelung genau entfprechenden Thatfache
„beftehen wird, fondern in einer Sdee, welche fich in einer
„Reihe jener Vorſtellung oft fehr unähnlichen Thatſachen
„verwirklicht.“ ine einfältigere und anmaßlichere Behaup⸗
tung wird man noch kaum bei einem Philofophen gelefen
haben. Das Ahnungsvermögen fol zwar in dev menfchlichen
Natur liegen, Allgemeines fol geahnt werden können, Con
eretes aber nicht. Er gibt hier zugleich ein Müfterchen von
27
feiner Pſychologie. Die Erfahrung lehrt, daß den Ahnenden
ihre Ahnungen gemöhnlidy als concrete (nady der Bibelſprache
als „Befichte”) zum Bewußtſein kommen; und wie oft hätte die
Geſchichte gelogen, mo fie von Ahnungen fpricht, die völlig
eoncret, nach Perfon, Drt und Zeit, in Erfüllung gingen ?:
Kür feine tolle Behauptung hatte Strauß feinen geringes
ren Grund, als, die Weisfagungen auf den Meffiad zu ents
träften; und fo fol diefe allgemeine Ahnung, ja die uni-
verfelle Ahnung der Erlöfung des gefallenen Menſchenge⸗
ſchlechts, nur deshalb wegphilofophict werden, weil fie einen
conereten Anhaltspunkt, den perfünlichen Meſſias, hat; es
fott alfo felbft nach dee Hegel - Straußifchen Philofophie die
Eriöfung zwar geahnt werden (geahnt worden fein) können, _
der Erlöfer aber nicht. Bei foldyerlei Beiftesvericrungen
und Verwirrungen, wo die Sprache duch die Philofophie
und die Philofophie durch die Sprache verhunzt wird, muß:
wirklich jedem vernünftigen Menſchen die Geduld ausgehen,
und hier hat denn auch die Toleranz der Laien ein Ende. Soldy
eine philofophifche Sprache — 0 ihr armen Sünglinge auf den
Hegelianifhen Hochfchulen! — verwirrt nicht allein den
Sprachgeift,, fie verwüftet mehr oder minder den ganzen
innern Menfchen. Wo in einem willtürlichen und ſchwanken⸗
den Begriffsfpiel feine ontologifchen Wahrheiten Wurzel
faffen können, da iftauch an ein ethiſches und an ein äfthe-
tiſches Fundament gar nicht zu denken; mit dem Sinne für
das Wahre wird. auch der Sinn für das Gute und für das
Schöne getrübt, und es wird vollends in höchfter Beziehung
der Sinn für das Heilige erflidt.
Als fol ein Unheiliger, der den Sinn für das Heilige.
auch an feinen Mitmenfchen nicht achtet, der mit dem von feinen
Mitmenfchen Heiliggeachteten und zugleich mit dem Heiligen
ſelbſt ein Spiel treibt, wie es mit der Miene des Exnftes noch
Keiner trieb, erfcheint Strauß. Er, der die. Ebendürtigkeit
des „Eingebornen” mit einer Fäfterlichen Ausführlichkeit in
28
Zweifel ftellt; ee, der die „@ebenebdeite” ald eine Gefallene dar⸗
ſtellt, und den hierfür zufammengetragenen Eitaten der vatio-
nafiftifchen Schriftausieger von fi aus keineswegs wider⸗
ſpricht, fondern nur hintennach eine mythifche Auffaffung be
liebt; er, der Wunderläugner,, der in den Wundern Cbhrifi
nichts als eine „Stufenleiter ded Undenkbaren“ erblidt —
diefer freche Menſch darf in der Vorrede dennoch fagen:
„Ehrifti übernatürlihe Geburt ift eine ewige Wahrheit.”
So fehr fonft allerdings in vielen langen Stellen der Ernft des
Critikers vorherrſcht — hinter diefen noch fo weiten und breiten
Mantel den eingefleifchten Satyr zu verfteden, gelang ihm
ſchlecht. Man müßte jedem Leſer, der diefen nicht 3.9.
aus dem: durch acht volle Seiten bindurchgefponnenen eregeti«
ſchen Gaukelſpiel über die Zubereitungen zum Einzug Sefu
in Serufalem berausfände, alle Menfchentenntniß,, alle Fähig-
feit, am Schriftfteler den Menfchen zu prüfen, abfprechen.
Aber auch viele einzelne Wendungen und Ausdrücke verrathen
den Heiligtbumsfchänder. Mit Widerwillen fertigt der Laie
ſolch ein Sündenregifter an, dabei mit dem Wunfche, daf der
hriftliche Xefer es überfchlage, hingegen diejenigen, welche ein
ſolches Subjekt zur Berufung an die Hochfchule haben empfeh-
fen wollen, e8 leſen — und fich fchämen”).
*) Band IL. S.70 Bei der Heilung eines Blinden: „Es wird ver:
„muthet, Jeſus babe den Speichel nur gebraucht,
„um ein Arzneimittel, wahrſcheinlich ein äßendes
„Pulver, anzufeuchten, wovon der Blinde nur das
„Ausſ puden gehört, von den „eingemifhten Mes
„dikamenten aber nichts gefehen !”
— S. 95 Bei der Heilung der blutflüßigen Frau: „Jeſus
„erſcheine wie ein Magnetiſeur, welcher bei der hei⸗
„lenden Berührung nervenſchwacher Perſonen einen
„Abgang von Kraft verſpürt; wie eine geladene
„elektriſche Batterie, die beim Betaſten ſich
„entladet.“
— S.172 Bei der Todtenerweckung: „— nur brauchte wie
„billig der Meffias die mühfemen Manipulationen
„nicht vorzunehmen, durch welche die Propheten zu
„ihrem Zweck zu M ngen fuchten.”
— 6.195 Bei der zuletzt erflärten „Fifchgefhichte”» „In
29
Wie der fromme, ehrwürdige Neander, von ber Preufi-
ſchen EenfursBehörde befragt, ob das Buch zu verbieten fei,
von „mwiffenfchaftlichem Ernft” zeugen fonnte, weiß der Laie
ſich nur fo zu erklären: Neander hält vieleicht dad moderne
Band II. S. 230
— S. 349
— ©. 464
— S. 569
— S. 688
‚„dieſen märchenhaften Ausläufer endigen die See:
„und Fiſch-Anekdoten.“
Bei der Verwandlung des Waſſers in Wein: —
„iſt hiernach nur ſeine Humanität, welche gehörigen
„Ortes auch einen Spaß zu machen nicht ver:
„ſchmähte — — er aber erinnerte ſie ſcherzend, ihm
„nicht durch Vorſchnelligkeit den Spaß zu ver:
„erben — — daß, als auf Einmal Waffer flatt.
„des Meines in den Krügen fich fand, dieß für eine
„tmunderbare Verwandlung gehalten wurde, ift leicht
3 begreiflich in einee fpäten Nachtfiunde, wo
„man fhon ziemlich gerennfen hatte — —
„warum richtete er die Darbringung des Geſchenks
„mit raffinirtem Fleiße fo ein, daß fie als
„munderbare Befcherung erfcheinen mußte?”
Bei der Verklärung: „— fo ift in keinem Fall zu
„begreifen, wie an einem folden Berflärungs:
„prozeß auch feine Kleider Theil nehmen Ponnten.”
Beim Einzug in Ierufalem: „das Auffallendfte iſt,
„daß Jeſus nicht bloß, da doch nur er allein rei:
„ten wollte, zwei Efel requirirt, fondern daß
„er auch wirklich auf beide ſich geſetzt haben
„fol. — — Den Efel konnte man ed nicht anfehen,
„daß er noch nicht geritten war, außer an der Un
„gebärdigkeit, mit welcher er den ruhigen Fort-
a AN des feierlichen Zuges geftört haben
„, würde.’
Bei der Vorherfagung der Wiederkunft: „— die
„ale Völker Zufammentrompetenden follen
„die predigenden Apoftel ſein.“
Bei der Verſuchungsgeſchichte: „— daß die drei⸗
„malige Wiederholung des Angriffs ihren objektiven
» Grund in einer verborgenen Geſetzmäßigkeit des
„„Öeifterreiche gehabt habe, wie etwa Mephiſto⸗
„pheles dreimal Elopfen und hereingerufen
„werden muß.”
Bei dem Lanzenflih: „Ohne Zweifel geht vielmehr
„der Evangelift von der Hei jeder Aderläffe zu
„ machenden Erfahrung aus.”
Dei der „fogenannten” Himmelfahrt: „ Freilich
„iſt eine Himmelfahrt vom Zimmer aus
„nicht gut ſich vorzuftelen, daher läßt fie Lucas
„im Zreien vor fich gehen.”
30
Inſtitut der Cenſur nicht durchaus für ein chriſtliches; vielleicht
ſteht nach feinem chriſtlichen Begriff von der „Freiheit der
„Kinder Gottes” den ausgearteten Kindern der Welt ned
imnier dag freie Wort zu. Go mußte ihn die Abforderung des
Gutachtens ernfthaft ſtimmen, und fo trug er den Ernft in dag
Buch über, und las ihn wieder heraus. .
Der unfhuldige VBerratb.
Kaum war Straufens Buch bier in Zürich im Bud)
bandel verbreitet, und ohne Zweifel noch von Wenigen gele-
fen, fo erfchien ſchon in unfern Zeitungen jenes Neander-
ſche Gutachten. Man hielt dasſelbe mit der Wegweiſung
Straußens von der Tübinger-Hochſchule zuſammen,
und ſo entſtand ein gewiſſes Intereſſe für den in Deutſchland
von der einen Seite tolerirten, von der andern nicht tolerirten
Verfaſſer. Es entſtand gerade in den Tagen, wo ein durch
Todesfall erledigter Lehrſtuhl an der theologiſchen Fakultät
neu beſetzt werden ſollte. So war natürlich auch von Strauß
die Rede. Mehr als das Buch wurde die Perſon hin und her
beſprochen, und man fand es recht und billig, einem Gelehrten,
dem ſein freies Wort in Königreichen verkümmert werden ſollte,
in einem cenſurfreien Freiſtaat dasſelbe zu ſichern. Und weil
es hier in unſerm Zürcheriſchen Freiſtaate, wie allwärts,
Orthodoxen und Rationaliſten, Gläubige und Freidenker giebt,
die Freidenker aber auch frei wollen, mehr Freiheit, mehr
Spielraum für dieſelbe wollen, als die Gläubigen, die ihr
Wichtigſtes ſchon haben; weil ferner die Freiheitsbeftrebun-
gen zum Handeln antreiben, fo wurde auch Straußens An-
ftelung von jenen um fo eifriger betrieben, deſſen Perfon
vorzüglich hervorgehoben und ausdrücklich dag „eminente
„Lehrtalent.“ So glaubte man fich einer genauen Prüfung
des Buches um fo eher überhoben, Daß es . von feinem
einzigen der vielen Stimmgeber in unfern verfchiedenen kirch⸗
lihen und politifchen Zeitungen eigentlich gelefen, das beißt,
31
kritiſch geprüft wurde (ed mwenigftens von den Eregeten
bloß eregetifch wurde), macht fhon die Oberflächlichkeit aller
jener Beitungsartitel wahrfcheinlich.. Der Laie kennt die
Mehrzahl der Stimmgeber hinlänglich, um verfichern zu
können, daß fie genug Lnbefangenheit, Urtheilskraft und
MWiffenfchaftlichleit befiken, um das Buch, wenn fie’d recht
gelefen,, nicht bloß darin herumgeblättert hätten, als ein zwar
reichlich von Erudition und Spracdhgewandtheit zeugendes,
aber ärmlich und mißlich mit Pbilofophie ausgeftatteted, im
Ganzen unmwiffenfchaftliches qualifijiven, und vollends
die Darftellungsweife, was man den Ton zu nennen pflegt,
an vielen Stellen verwerflich finden müßten.
Daß übrigens diefe Erfcheinung im Allgemeinen auch
bei unferm Publilum bin und wieder Anklang findet-, ift aus
der. allgemeinen Zeit: Eultur zu erklären, worin wir Zür-
her eben auch mitleben und mitfchweben. Vom Strudel
diefer Zeit⸗Cultur mitfortgeriffen, der Zerftreuung der Welt
mitpreisgegeben,, die durch unfere nach allen Seiten aus-
geartete Zageslitteratur tagtäglich genäbrt und gemehrt wird,
find den Zerſtreuten diejenigen Cultur- und Lebensanfichten
vorzüglich willfommen, welche von jeder Art Autorität, auch
der Autorität der. Weltgefchichte, möglichft freimachen, den
Ernſt binwegfpielen, und im „flott Teben” beftärken. Es
find daher im Gebiet des Religiöfen die pantheiftifchen
Anfichten die willkommenſten. Weil dem Zoͤgling einer fal-
fhen Eultur, dem die Offenbarungsreligion und mit ihr.der
Dffenbarungsglaube verloren gegangen ift, noch immer etwas
von einem gewiffen veligiöfen Gemeingefühl übrig bleibt,
fo ift ihm der Pantheismus dasjenige, mas ihn am wenigften
genirt; weil ihm die „AUnmittelbarkeit des Böttlichen” Tand
und Wahn ift, fo hat er -den „Born Gottes” (ein göttliches
Strafverhängniß) fo mwenig zu fürchten, als fih um die
»Gnadenwirkung des Erlöfers’’ zu kümmern. Ja es find.
einen folchen veligiöfen Gemeingefühl,,. wo e8 noch regſam
ift, gerade die mittelbaren Anklänge an etwas Ideelles noch
lieber, als die unmittelbaren. So fprechen die pantheifl-
fen Idealiſten die Ideale der griechifchen Mythologie , ald
„verkörperte Ideen,” gerade wie Strauß fie auftifcht, weit
mehr an, als die heilige Befhichte in ihrer Unmittd-
barkeit. Sie gewinnen damit wenigftens einen griechtfchen
"Himmel; nur ift diefer nicht fo ſchön und gang, wie der umd
in der Eufturgefchichte der Griedjen überlieferte. Es fehlt
namentlich dem gräcificenden Hegelianismus, der höchfiens
an die Phantafie gelangt, um das Gemüth zu negiren,
das Hauptideal: die Liebe. Eolchergeftalt bilden die dürcm
Hegelianer in unſerer Beit-Eultur ein merkwürdiges Seiten-
füd zu den brünftigen Gutzkovianern: Sene haben den
- Himmel ohne die Venus, diefe die Venus ohne den Himmel.
An fidy betrachtet, ift der Antrag auf Berufung eines
„eminenten Lehrtalents” nicht nur zu entfchuldigen,, er tft
recht und Löblich, ift auch fihon durch die Klugheit geboten.
Man weiß, dag alle florivenden Hochfchulen nur durch große
Sndividualitäten in Flor gelommen find, und nur durch ſolche
fich darin erhalten. Damit ift auch die Aufgabe für eine neu⸗
gegründete, ſich erft noch vollftändig geftaltende, geftellt.
Große Sndividualitäten find aber nicht bloß die Stützen und
3ierden einer Hochfchule. Sft der unmittelbare Einbrud,
den fie machen, ſchon wichtig, fo ift ihr mittelbarer Einfluß
kaum zu berechnen. An einer großen Individualität richtet der
Süngling fiy auf; indem er Großes perfonifizirt anfchaut, lernt
er großartig denken, fühlen und wollen; er wird geneigt, die
Menfchengröße und Menſchenwürde, welche ſich ihm in einer
Derfon rvepräfentirt, in der Menſchheit, feinem Zeitalter,
feiner Nation überall und in jeder Beftalt zu fuchen und zu
fhäßen, fie auch individuell mir eigener Kraftanftrengung zu
‚erfteeben, und eben fo in feinen Umgebungen verwirklichen zu
helfen. So nützt ein großer Lehrer feinem Lehrling nicht
:allein durch das, was er ihn lehrt, ſondern durch das,
|
|
| 33
was er ihm iſt, wie er ihm erfcheint, wie feine. Erfchei-
nung auf ihn einwirkt. Darum — Heil unfern Schweizer:
jünglingen! Die Menſchengröße erfcheint ihnen wirklich und
wahrhaft auf unferer Hochfchule. Unter einem ehrenmwertben,
vielfach ausgezeichneten Perfonal. von würdigen Hochfchufs
lehrern, die zugleich faft alle Schriftfteler find, und fo duch
das doppelte Mittel der Lehre und Schrift unfere vaterländi«
fhe Bildung befördern, haben wir hervorragend große In—
dividualitäten, ja wirflich große Männer, wie Keller, Oken,
‚Drelli, Schönlein; wir können wirklich von „eminenten
„Talenten“ fprechen; yperfönlich und litterarifch, in der
Wiffenfchaft und im Leben, ift Kellers organifatori-
fhe8:Zalent, Okens ſchöpferiſches Talent, Drellig
cultui-vermittelndes Talent, Schoͤnleins conſer⸗
vatives Talent beurkundet.
Haben wir wirklich die Hülfsmittel, und gerade jetzt die Ge⸗
legenheit, mit noch eine m fo entſchiedenen Talent das Inſtitut
unſerer Hochſchule zu vervollkommnen, ſo wäre das Talent
Straußens, auch wenn kein Mackel an der Perſon haftete, noch
unreif, und auch fo noch unbewährt; vollends von „Eminenz”
kann nicht die Rede fein, die Wißlofigkeit, welche Strauß
mit den Philologen von gewöhnlichem Schlag gemein bat,
zeugt eher von Zalentlofigkeit; wer, wißelnd, ftatt Witzge⸗
danken nur Witzworte, meiftens ftatt Wigworten nur Witz⸗
wörter vorzubringen hat, die eigentlich. nur Wortfpäffe
find, der erfcheint damit als ein ganz ordinärer Menich.
Iſt gegenwärtig die Gewinnung eines entfchiedenen Talents
für unfere Hochſchule auch nur möglich, fo ift die leichtfer-
tige Verfcherzung diefes Gewinns ein Qulturverbrechen. Die
Hochſchule ift dem Laien unter allen menſchlich⸗geſellſchaftli⸗
chen. Stiftungen das höchſte Heilighum der Eultur.
Shre Beftimmung ift nicht bloß auf icdifche, nicht bloß auf
weltliche Dinge beſchränkt. Sft die sheologifche Fakultät mit
ächten Theologen beſetzt, fo heißt es von diefen: „Ihr aber feid
3
34
„nicht weltlich, fondern geiſtlich!“ ift die pbilofophifche mit
äckten Philoſophen befekt, fo bieten diefe jenen die Hand,
lehren das Weltliche geiſtig auffaffen, dag Irdiſche himmliſch
beziehen; ihre Pbilofopbie wird Religionsphilofophie, ver
schmilzt fich fo mit der Theologie und lehrt himmliſche
Weisheit, fo weit dem Erdenfohne ein Wiffen um göttliche
Dinge vergömnt ift.
Der ſchudige Verrath.
Daß ebenfowobl als die Schreib: und Lefefreibeit auch
die Lehr» und Hörfreiheit bei uns ungefchmälert fein fol,
verfiebt fi. Keineswegs aber verfteht ſich's, daß, wie ges
wifle zudringliche Leute dem Erziehbungsrathe haben infinuiren
wollen, der Staat berufen fei, den Strauß zu berufen,
weil diefer eine eigentbümlihe Richtung genommm
babe, die durch feinen unferer jetzigen Sochfchullehrer reprä-
fentirt fei. Die Richtung könnte eine verkehrte, ja gerade
nur in der Verkehrtheit eine eigenthümtliche fein; der junge
Mann könnte erft neulich begonnen haben, feine Kräfte in
diefer Richtung zu verfuchen; er könnte, fie an Studenten ver-
ſuchend, diefelben nur irveleiten, ja wirklich in Berfuchung
führen. Inzwiſchen müßte der Staat das fehlgefchlagene
Erperiment nody bezahlen, und hätte bintendrein « einen Irr⸗
lehrer bleibend auf dem Hals.
Will man hier von Richtung fprechen, fo ift es paffend,
dag man’s im Plural thue. Der Staat hat wirklich bei An-
flelung eines Profeffors der Theologie zwei Richtungen zu⸗
gleich in's Auge zu faffen, die fpekulative und die praßtifche.
Nach der erfiern follen die Hochichüler Herren der Wiſ—
fenfhaft, nach der lehtern Diener der Kirche werden.
Handelt ed fidy aber um die Anftellung eines Mannes, der
mit feiner Religionsanficht,, und wäre fie auch noch fo begrün-
det, gegen die Landeskirche in den Kampf träte, würde
er mit feinem Efoterifhen das vorhandene Eproterifche aus
36
dem Wege räumen wollen, oder würde ſeine Lehre auch ohne
ſeine Abſicht auf die Hinwegräumung führen, ſo wäre die
Anſtellung eines ſolchen ein offenbarer Verrath, zwar kei—
neswegs vaterlandsverrätheriſch, aber ein Mißrath, der,
ohne Böſes zu beabſichtigen, unvermeidlich und unabſehbar
Boͤſes bewirken müßte.
Jedoch iſt unter den Rathgebern noch eine Unterſcheidung
zu machen. Die bisher lautgewordenen find einerſeits Ges
lehrte, anderfeits Politiker. Unter den erſtern haben manche
in unfern beiden Kirchenzeitungen fich ausgefprochen, und einer
von diefen bat den Strauß ald Hegelianer in.Schuß ges
nommen, bat defjen Berufung an diephilofophifche Fakultät
gewünfcht, „indem die bisherige Abfperrung unſers Baterlandes
„vom Studium diefer tieffinnigen Philofophie nicht in Ewigkeit
„fortbeftehen könne.” Abgefeben von der Vorausſetzung, wie
die Hegelianifhen Großſprecher fich folche erlauben, daß jene
Philofopbie in Ewigkeit dauern werde, müffen wir bemerken,
daß der troßige Kivchenzeitungsfchreiber fich in der Seit, und
zwar an der Zeit, an unferer Zürcherifchen Zeiteultur, ivrt, -
daß er fich fo ziwar feines Verrathes fchuldig macht, aber einer
Unmwahrheit. Eine Unmahrbeit ifts, daß, „vor kurzer Zeit
„noc eine mit Unkenntniß dieſer Philoſophie verbundene, alfo
„borurtheifende Berdammung derfelben herrſchende Marime
„war.” Der Laie ftehtden Zürcherifchen Schul: und. Rittera-
turverhältniffen nabe genug, um bezeugen zu fünnen, daß
einerfeits in dem feit fünf Sahren beftehenden Erziehungs»
rathe feine fo unwürdige Maxime berrfchte, vielmehr alle herr-
fchenden (oder concurrirenden) pbilofophifchen Syfteme in diefer
Behörde ihre angemeffene Würdigung finden, und anderfeits
auf unferer Stadtbibliothek richtig auch Hegels fämmtliche
Werke aufgeftellt find — und fo ift am Vorgeben einer Sperre,
die von jenem Kirchenzeitunggfchreiber ſogar, dreiſt genug,
als eine unfittliche bezeichnet wurde, fein wahres Wort. —
Uebrigens .ift von diefer Seite wohl feine weitere Zudringlich-
feit zu befürchten. Kaum bat jener Kivchenzeitungsfchreiber
36
ſich fo ausgefprochen, fo fommt von Berlin her (Jahrbücher
für wiffenfchaftliche Eritit Nro. 86, 87, 88) alfo vom eigentfi«
chen Forum des Hegelianigmus aus, ein Ausfpruch als Endur-
theil, in welchem durch einen capitelfeften Hegelianer der arme
Strauß fo unbarmherzig durchgebechelt und durchgehegelt
wird, daß nun er faum mehr für einen Hegelianer paffiren
fann; der unreife „.Sürihegel” aber, betroffen, ſich ſelbſt fa-
gen dürfte: si tacuisses„ hegelianus mansisses.
Anders als mit den gelehrten Rathgebern verhäft es ſich
mit den politifchen. Hier ift wirklicher VBerrath (Mißrath in
obigem Sinne), jedoch fein heimlicher, fondern ein offen aus-
gefprochener, ein Rath, zu dem die Rathgeber ftehen. Seit
Sahren her ward in den politifchen Zeitungen oft und unter
allerlei Wendungen und Anwendungen dem Staat der Rath
ertheilt, fich von der Landeskirche loszufagen, den Gemeinden
die Befoldung der Pfarrherren zu überlaffen, deren „perio
„difche Erneuerung” ihnen anheimzuftellen ꝛc. 20.5; wobei
man nicht ermangelte, Nordamerika ald Mufterftaat und
Muftervolt anzuführen. So dringt man nun confequent
auf die Unftelung eines Religionslehrers, der da lehrt: Die
heilige Gefchichte fei keine Geſchichte, - die Evangelien feien
nicht von den Evangeliften, fie feien nur ein zufanmenge:
tragener Sagen: und Mythenkfreis; jeder aufgeflärte Pre:
diger, welcher den Inhalt der Evangelien für biftorifche
Wahrheit ausgebe, fei ein Lügner, dem fein Gewiffen eigent-
li) gebiete, feine Stelle niederzulegen — und fo ift aud)
das confequent, dag man folcher Lehre durch ein „eminentes
„Lehrtalent“ Eingang zu verfchaffen fich getraut.
Es treten aber hiermit gemwiffe Inconſequenzen hervor,
wodurch die Verrätber an der Kirche in einer andern Be
jiehung zu Selbftverräthern werden, indem fie ihr wahres
Inneres verratben, nämlicdy ihren zweideutigen Liberalismus,
gerade indem fie deffen Eindeutigkeit und Confequenz zu be»
haupten vermeinen. Sie wollen aus lauter Sreifinnigfeit
ihrer Ueberzeugung folgen, wollen dad Volk, wie fie meinen,
87
vom Aberglauben, und daber von der Kirche, frei machen.
Zu diefem Behufe wollen fie, daß das Chriſtenthum an der
Hochſchule nicht bloß pofitiv, fondern auch negativ vorgetra—⸗
gen werde, wollen ihr daher, politifch Tieberal, aber kirchlich
ufurpatorifch — und dag ift eben der zweideutige Liberalismus —
einen Lehrer aufdringen, der da lehrt, daß die Evangelien als
Urkunden nichtig, daß fie unhiſtoriſch ſeien, daß fomit die auf
unbiftorifchen, daher unhaltbaren Grund gebaute Landeskirche
für vernünftige Leute nicht länger tauge. Zwar bevormundet
‚ wücden dadurch die Theologie:Studierenden nicht, würden viel⸗
mehr ermuntert, zur Beit ihrer vollen Mündigkeit vecht frei zu
fprechen. Sie würden aber planmäßig zum Boraus mit fich felbft
fo in Widerfpruch geſetzt, , daß fie dereinft, als angeftellte Prediger
der Landeskirche, entweder heuchlerifch für, oder rebellifch -ge= .
gen diefelbe predigen müßten, in jedem Sallaber der „Mißbrauch
„der-Zunge” fo verderblich wäre, wie Jacobus ihn ſchildert.
Daß auf folhe Weife die Liberalen Reformatoren ihre
Ueberzeugung unberechtigt- in einem ihnen fremden Gebiet
würden geltend machen wollen, fann, ihnen freilich nicht zu
Sinne fommen. Sie glauben alled zu thun und alles ein
zurdumen, wenn fie die Gewiſſens freiheit eines Seden ans
erfennen, worunter fie die fubjective Glaubens freiheit eines
Seden verfiehben. Daß aber der Glaube, der Ehriftenglaube,
ein Objekt fei, worüber man übereinfommen fünne, daß es
einen Volksglauben gebe, daß die darin Übereingefömmene
Mehrheit des Volks ſich eines freien Rechts bewußt fei,
diefes fein Glaubensobjekt fih objektiv zu fihern, das
heißt hier, in ebendemfelben Glauben fein kirchliches Leben
fortzuleben, in ebendemfelben Glauben feine Kinder zu erzie⸗
ben, und zu diefem Behuf die Gewährleiftung der Firchlichen
Einrichtungen, gleichwie der damit übereinftimmenden Schul:
einrichtungen, vom Staat zu fordern — dad alles fann
ihnen nicht beifallen; es widerfpricht ihrer Ueberzeugung,
und diefe ift abgefchloffen. Hier aber iſt jedoch die aa
ſchloſſene Ueberzeugtheit noch naͤher zu prüfen.
Das Bolt und feine Repräfentanten.
Die Repräfentanten-im Volke find von den Repräfentanten
des Volkes zuvörderſt zu unterfcheiden. Unter ketztern find
bei uns die vom Wolke hingeftellten Großräthe, unter den
erftern theils die Schriftfteller, welche fich felbft hinſtellen,
theild die vom Staat angeftellten Beamten zu verfiehen. An
diefen allen haben wir vielerlei Wortführer und Sachwalter,
fowohl für die Aufgaben der Wiffenfchaft, als für die Ange
legenheiten des Lebens.
Sollen nun von der Willenfchaft Aufgahen gelöfet wer⸗
den, die fir die Angelegenheiten des Lebens von vorzüglicher
Wichtigkeit find, fo it es nicht genug, daß Einer, in öffent
licher Stellung auftretend, feiner Weberzeugung folge, und
nicht genug, daß er ſich deffen bewußt fei, fondern er muß
fih bewußt fein, eine vollſtändige Kunde und Kenntniß von
dem Begenftande feiner Ueberzeugung gewonnen zu haben;
und ift vollends diefer Gegenftand der wichtigfie, der allge:
meinfte, ift er nämlich das Volk felbft, fo entftehen daraus
ecnfte und ſtrenge Anforderungen, zumal in einem Freiſtaat.
Der Volkswille iſt zu reſpektiren — nicht nur dieß, es
ift dem Bollswillen zu entfprechen in allem, was nicht
unrechtlich und nicht unfittlich if. Was das Volk in feiner
Mehrbeit wollen würde, wenn e8 in feiner Mehrheit die er-
forderliche Einficht hätte, das haben feine amtlichen Wort-
führer und Sachwalter, denen es feine Intereflen anvertraut
bat, zu verwirklichen, felbft wo fie e8 auch nicht gerade für
das Beſte hielten. Will daher Einer ein rechter Volksmann
fein, fo muß er ſich's zur ernften Aufgabe machen, den Volks⸗
willen allfeitig zu erforfchen; er muß fich in das Volk hin:
einleben, um fo vom Bolt aus für das Wolf zu wirken.
Wie fteht es nun um eure Stellung und um eure Ueber:
geugung, ihr unvolfsthümlichen Volksmänner, die ihr euch
in das religiöfe und kirchliche Leben des Volkes folche Ein⸗
griffe erlaubt? — She mögt wirklich glauben, aus voller
Ueberzeugung, ja fogar als von der Ueberzeugung des Volks
39
überzeugt , deffen Intereffen zu wahren und zu fördern —
aber welcdyerlei Intereffen? — -offenbar die materiellen!
Euer eigener Materialismus ift’s, der euch glauben macht,
die materiellen Interefien feien, wie euch, fo auch dem Volke
die höchften. Nein! fo iſt's nicht! Ihr entehrt hierin das Volt,
indem ihr eure niedrige Gefinnung auf die feinige überträgt.
Unfer Bolt ift, Gottlob! in feiner großen Mehrheit — ihr
babt das weibliche Gefchlecht auch dazu zu zählen — ein reli-
giöfed, ein hriftgläubiges Volk, dem feine Kirche fein
höchftes Erdenheiligthum ift und bleibt. Als ein folches könnt
ihre es freilich weder in den Wirtbshäufern, noch auf den
Märkten, noch auf den Schüßenpläßen,, nody auch vor den
Gerichtsfchranten kennen lernen. So dringt der Volksmund
nicht ale cin chriftlicher zu euern Ohren, und dennoch ift er
es in That und Wahrheit. Unfer Volk if ein Voll, dag
beten kann, ein Volk, das da glaubt, „alle guten Gaben kom⸗
„men von Dben”; der Landmann ift gewohnt, dem Geber.
für die guten Gaben, wie auch für das Gelingen feiner Ars
beit, zu danfen, und fo ift feine Arbeitſamkeit mit Frömmig⸗
feit verbunden, und mit beiden ‚die Genügſamkeit. Zaufend
Familien finden in einem befcheidenen Familienglüc auch fchon
ihe Lebensglück. Was aber die Religiofität unferes Volkes
am fchönften beurfundet, das ift dag gangbarſte Sprichwort,
oder vielmehr Lofungswort, welches die Stillen im Lande,
und die Armen im Lande, und die Frommen im Lande am
liebſten im Munde führen: „Wenn ich nur mit Gott und
„Ehren durch die Welt fommen kann!” Das ift ein vrühren-
des Wort, denn es ift ein heiliges Wort, ein Wort, nad
deſſen Inhalt das Volk in liebenswürdiger Demuth bemeifet,
wie es feine irdifche und feine himmlifche Beftimmung erkennt,
und zu erfüllen trachtet. She aber, ihre Uebermüthigen!
kommt nicht mit Gott und Ehren durch die Welt, wenn ihr
nicht ablaßt von dem fo übel berechneten Wagniß. Erkennet
endlich eure Selbftbetbörung! Ihr habt das Volk, Viele im
Volk, ſchon genug beunruhigt; ihr habt die ehrwürdigen Geift-
lichen fhon genug geärgert; ihr habt manchem ehrbaren Land-
mann, manchem frommen Vater und mancher frommen Mutter
ihre fehönfte Lebenshoffnung zerftöct, die mit Verzichtung ak
40
Lebensgenuß, durch vieljähriges „Haufen und Sparen” es dahin
gebracht hätten, und fo gern als ihr höchſtes Erdenglück hätten
erleben mögen, wie ihr Sohn por allem Volk von heiliger Stätte
aus „den Herrn befenne”; und aus manchem hoffnungsvollen
Sohn des Landes, den der Vater für den Beruf des Geiftlichen
nicht. zu beftimmen wagen darf, weil durch euch die Landes:
firche gefährdet ift, wird vielleicht, wenn er einem induftriellen
Beruf anheimfällt, ftatt eines Gottbegeifterten — eine Krämer:
feele. Soldye Dinge habt ihr ſchon verfchuldet, und es ift nicht
zu früh, daß man's euch öffentlich fage!
Schlußwort.
Iſt dem Laien wenigſtens die Beweisführung gelungen, daß
man fidy in Beurtheilung jenes Buches und der Würdigung des
Autors fehr übereilt hat, und fehr unüberlegt ihn an unfere
Hochſchule hat berufen wollen, fo ergibt fidh leicht, was nun
vernünftiger Weife zu thun und zu laffen fei. Rettig, durch
deffen Tod die Stelle erledigt war, hat befriedigt... Seine Rich.
tung war, der fehr prononcirten rationaliftifchen wenigſtens
zweier andern Profefforen gegenüber, die fupranaturaliftifce.
Empfand man Rettigs Verluſt fo fchmerzlich, fo ift der
Schmerz ganz natürlich zu heilen durch einen Nachfolger in
feinem Sinn und Geiſt, einen Nachfolger, der fein Glaubens»
befenntnig im einfachen Sinne des Ehriftenvolfed in die ein:
fahen Worte faßt, die Rettig feinem Schriftwerk „die freie
„proteſtantiſche Kirche” vorfeßte: „Ich glaube an den
„Sohn Gottes.”
Ferner find bei Orell Füßli und Comp. in Zürich zu haben:
Doftor Strauß- und feine Lehre. in freies Wort an die
freien Zürcher. „Prüfet Alles, und das Gute behaltet“. 8.
geheftet hf.
If Strauß uns zum Heil oder Unheil berufen? DBeant:
wortet aus deffen Leben und Lehre. 8. geb. 38.
Strauß ift ein Chriſt. Sendſchreiben eines Geifklichen an einen
Laien. 8. geh. 28.
[3
— — “Rn ——
ur
Yoh. Raspar Orelli’s
YAurede
an die
Studirenden der Hochichule
Bürid
über die Berufung des Hrn. Profeflor Strauß.
Den 17. März 1839.
Nebſt der Adreſſe der Studirenden an den Profeſſor Orelli.
en 2 nn nn an nn nn nn —
Züri,
bei Drell, Füßli und Compagnie
1889.
Meine Serren!
Mi inniger Rührung hat mid Ihr Gedanke erfüllt, es Taut
zu bezeugen, daß mein neuliches Wirken als Mitglied des Er-
ziehungsrathes Ihnen nicht unſinnig oder ketzeriſch, meine Beharr-
Fichfeit im Behaupten einer beftimmten Weberzeugung nicht als
unbegreifliher Starrfinn erfcheint.
Aus Gründen, deren Gewicht ohne Zweifel von Ihnen allen
gefühlt wird, mußte ic) nothwendig jede öffentliche Anerfennung
meines Strebend von Ihrer Seite ablehnen. Aber falfches Zart-
gefühl, ja Zeighelt wäre es gewefen, Hätte ichs nicht gewagt,
Shnen in diefen Hallen der Wiffenfchaft für Ihren mich für viel
Widriges tröftenden, ja neu ermuthigenden Beichluß zu banfen.
Hiezu erfah ich diefe Stunde. An einem Feiertage darf Feine
Leibenfchaft ihre tobende Stimme erheben, um in der Kirche bie
Maffe zur Verkeherung anders Denfender, zur Verlegung der
Geiche Anfzufordern, hier in der Aula, irgend einen disharmoni⸗
ſchen Wiederhall aus der Zünglinge Bruſt hervorzulocken; wohl
&ber darf ruhige ernſte Wahrheit dort iind hier ſich eben fo ruhiges
Gehör erbitten.
Damit wir und weihfelfeitig über ben eigentlichen Grand
der unfeligen Wirren verftäubigeh, in welche Die bedauernswurdige
4
Mehrzahl unferd vor kurzem noch fo glüdfichen Volkes fich hat |
hineinführen lafjen; damit wir uns in diefer Feierftunde in Got⸗
tes Gegenwart wahrhaft erbauen, fo theile ich mit MWeglaffung
einer einzigen mich perfönlich betreffenden Stelle, ein Eendfchreiben
des Hrn. Profeffor Strauß an Hirzel, Hitig und mich mit, wel-
ches erſt morgen ausgegeben werden darf.
Zu weiterer Verftändigung muß ich Ihnen mit zwei Worten
meine Anficht über die Schule an fidy darlegen.
Nämlich die Schule von den erften Glementen an bis zur
Mittheilung der abftracteften Wiffenfchaft ift durchaus Feine eigene,
eben fo in fich abgefchloffene, ihre eigenthümlichen Zwecke verfol-
gende Intelligenz oder Potenz, oder wenn man will, myſtiſche
Berfon, wie es der Staat und die Kirche find. Denn welches
wäre doch ihr Zweck? Wiffenfchaft und Kunft find einmal Thätig-
feiten des Menfchengeiftes, welche ihren Wirkungsfreis weit über
die Sphäre der Schule ausdehnen, ja ihre genialften Schöpfungen
‚gehen nicht aus der Schule hervor, wirfen meift nicht unmittelbar
auf Diefelbe ein.
| An ſich Fönnte der von Staat und Kirdye abgefonderten
Schule Zweck am Ende nur der fein, bloß um des Lehrend
und Lernens felbft willen an einem fort zu lehren und zu lernen;
etwa auch der, fih neue Lehrer nachzubilden, die wiederum
raſtlos fortlehrten bi8 and Ende der Tage.
Nein, meine Herren, in dem idealen Leben eined wahrhaft
gefitteten Volkes iſt Die Schule vielmehr eine aus dem innern
Pflichtgefühl und nothwendigen Erhaktungstrieb diefes Volkes her-
-sorgehende, von ihm feſt begründete Volksanſtalt. Ihre Aufgabe
iſt es, mit klarem Bewußtſein des Erforderlichen und Zwedmäßigen,
‚mit den geeignetften Mitteln, jede nächſte Generation für gefeb-
liche Ordnung, Wiffenfhaft, Kunft, Religion zu bilden, damit
Staat und Kirche in völliger Einheit fich forterhalten zum irdifchen
und ewigen Heil jedes Bürgers, jedes Gläubigen, und dieſe
Harmonie das Reich Gottes auf Erden ald eine Wahrheit darſtelle.
5
Allerdings iſt es eine unerläßliche Bedingung der heilfamen
Wirkſamkeit der idealen Schule, daß Staat und Kirche fie ver-
nunftgemäß geftalten, mit den nothwendigen Kräften fie freigebig.
ansftatten, aber fie dann nicht ſtets hemmen und ftören, fondern unter
dem Grziehungsgefege zutrauensvoll mit geiftiger Freiheit walten
und wirfen laffen; dieß heiße ich Die ideale, die freie Schule. _
Sn die arme Wirklichkeit freilich tritt Die erhabene, heilige
Idee der Schule wegen der Beichränftheit und der Leidenfchaften.
der Maſſe meiſt nur getrübt und beengt ein.
Seit dem Mittelalter bis 1830 war es bei uns ausſchließlich
die Kirche, welche die Schule gründete und erhielt, deßhalb natür⸗
lich auch ihr Gefege vorfchrieb, fie leitete, und zur Dienerin ihrer,
der Kirche, Zwecke machte.
Die Folge hievon war im Ganzen genommen wie allenthalben,
fo aud) bei und mechanifche Geiftesabrichtung, todted Auswendigs
lernen der fogenannten Hauptftüde der Religion, das heißt,
nicht verftandener Formeln und Slaubensfäge, jüdifcher und chriſt⸗
licher Mythen und Gefchichten, unpoetifcher Lieder. Kurz, alles
vereinte fich in der frühern Volksſchule, um Geiftesträgheit und
Verdumpfung des Volkes methodisch zu erzielen. Etwas Rechnen,
etwas bdeutfche Grammatif wurde auch getrieben, alles jedoch
nur fpärlic und oberfläcdhlid) ; höchft geringen Gewinn, felbit fürs
Berufsleben, zog der Schüler aus feiner Kirchenfchule; der Schul-
meifter aber war der folgfame Diener des Pfarrers.
Bor allem Fonnten die Bewohner unferer Landfchaft, wel:
chen mit Ausnahme der Medizin alles übrige Studiren unterfagt
war, zu eigentliher Bildung nur durch ganz fonderbare, ja
abenteuerliche Lebensſchickſale gelangen, wie die beiden berühmten
Hope, andere nur, wenn fie nächtliher Weiſe und gleichfam ver-
ftohlen ſich etwas von menfchlicher Cultur aneigneten. Manchmal,
borgte ihnen irgend ein wohlwollender Landvogt oder Pfarrer
gute Bücher; geiftiger no wurden fie gehoben, wenn edle Män-
ner, wie Hirzel, Lavater, Beftalozzi, Nägeli, Schultheß
gleich Apofteln der Cultur die Gauen unferd Landes, namentlich,
6
die Seegegend, durchwanderten und fih den Untertbanen ber
Stadı ald Menfchenfreunde mittheilten.
Wenn nun aud) der eine oder andere Sohn der Landſchaft
fpäterhin die Aargauiſche Kantonsſchule oder unfre ſtädtiſchen An-
ftalten befuchte, jo wollte Doch der Grziehungsrath von 1831 nicht
länger jenem Zammerzuftande des Volkes zufehn: darum
ſchuf er die freie Staatsſchule. Hauptfächlich durch des talentreichen
Scherr’sKEinficht, raftlofe Anftrengung, Ausdauer gegen alle Op⸗
pofition erhielt fie eine Geſtaltung, die ſich ruhig mit jeder andern
Guropäifchen meſſen darf, Allerdings harrte fie von 1832 an auf
immer weitere Entwidelung durch die Bildung neuer Lehrer, durch
neue Lehrmittel, Durch allmälige Srhebung und Begeifterung des
Volkes für Achte Bildung. Vor allem aber bedurfte dieſe neue zarte
Schöpfung harmoniſcher Mitwirkung von Seite des Staates und
ber Kirche. Jede Hemmung, jeder rohe Angriff von ber Ieptern
ber, mußte ihr, wie wir es jegt leider nur allzu deutlich ſehn,
nachtheilig, vielleicht ſogar verderblich werden. Aber ſie wird den⸗
noch nicht untergehn die dem Volke wohlthätige, einem Theile
des Klerus ohne Grund fo verhaßte freie Staatsſchule.
Als höhere Anftalt ftand wiederum ein kirchlicher Bau da,
aber eine traurig verwitterte Ruine, das Carolinum. Wir muß-
ten es bis auf den Grund abtragen und eine neue unfrer Zeit
und unfern Bedürfnifien genügende Anftalt gründen.
Eine Kantonsfchule in zwiefacher Richtung für Wiffenfchaft
und Snduftrie verftand ſich von felbft, und ich will Sie Damit
nicht länger aufhalten,
Aber fo genügend diefe Schule für ihren Zwed mochte ge-
flaltet fein, wahrhaftig es lag doch in dem alten Garolinum,
dem jungen politifchen Smftitute, eben fo in dem mebizinifchen,
der wiewohl fehr verfümmerte Keim einer dee, welche unfern,
Vätern dunkel vorfchwebte, aber von taufend Bedenklichkeiten
zurüdgedrängt, nie ſich organifch entwideln Tonnte.
Hier nun erhob fich die wichtige Frage, follen wir noch einen
Schritt weiter gehn als fie und eine Hochſchule ftiften ?
7.
Meine Herren, von bier an Tann ich nur meine individuellen
Anfichten ausfprechen, da ich mich nicht mehr erinnere, ob ale
meine Collegen in der Behörde damit einverftanden waren, nicht
weiß, ob ſie Diefelben ‚gegenwärtig noch billigen Der Menfchen.
Sinn ift fo wandelbar. &leichviel, dad Grgebniß, an dem mir
alles lag, die Thatfache, unfre Hochfchule ſteht da,
Meine finnmtlichen Anträge gingen aus folgenden Erwägungen.
hervor und fehrten ftets auf die nämlihen Anſichten zurüch; fie
bleiben noch jest diefelben und fönnen mir nicht entriffen werden,
ſo lange ich noch athme.
Ja, der Freiſtaat Zürich bedarf einer Hochſchule zur Sicherung
feiner innerften Sdeen, feines höhern Selbftbewußtfeing. Ohne
eine Hochfchule wird Die Wiffenichaft eingefchürhtert; fie entweicht,
unferer Heimath fehneller vielleicht ald wir Denfen, eine andere
Sreiftätte fuchend vor all dem raftlofen Geld- und Genußtreihen
diefer Zeit, gleichwie nad dem finnnollen helleniſchen Mythos,
Afträa, von ber frevelbefledten Erde zu ihren ewigen Genoflen,
den Herrfchern. des Olympos, entfloh. Führwahr ein Staat ohne
alle Wiffenfchaft ift ein höchft trauriges Mifigebilde, etwag wahr«
haft unmenfchlicyes, die Utopia irgend einer Thierart. Selbſt der
Kirhenftaat, felht Spanien und Bortugal, wie entfeglih auch
diefer beiden Staaten Elend fein mag, fie befigen Doch noch Unis
. verfitäten, fie haben wohl Klöfter vernichtet, auf eine graufame
ſcheußliche Weife, aber noch Feine Hochſchule. — An dieſe reine
ee, der Rothwendigfeit einer höhern wiſſenſchaftlichen Anflakk
für Die Ehre, die Würde, das geiftige Wohl Zuͤrichs reihten ſich
auch andere. Oft dachte ich in den feligen Momenten des Schafs
fens an die urfprüngliche, der äußern Form nach bis 1648, fogar-
politifch bewahrten, Einheit des fhweizerifchen und. des. beutfchen,
Volkes. Geiftig beſtand fie immerfort und fie bleibt Durch Die.
gemeinfame Rationalliteratur unvertilglich, bis entweder wir, ober
aber die Deutfchen Barbaren werden ohne Poefie, ohne Philofophie
ohne — doch wozu follte ich Ihnen, die ührigen Richtungen des
göttlichen Gedankens in der Meufchheit anfzählen, welche alle
8
ſich organifch gliedern und deren belebenden Mittelpunft bie dee
der Wiſſenſchaft bildet. |
-Zerner wußte ich, wie im fechzehnten Sahrhundert Züri
eine Freiftätte war für fo manchen von den Brieftern verfolgten
Denker und Glaubensheld; und ich fah im Geiſte diefelbe Erfchei-
nung wiederfehren, wenn ich auch damals nicht ahnen Tonnte,
wie weit es hierin noch Fommen könne. Allein das Unerhörte if
gefchehen, in Göttingen.
Dagegen lag das Grundübel unferer frühern Anſtalten feit
dem fiebzehnten Jahrhundert darin, daß Fein anderer Lehrer als
Züricher und in immer mehr verengerten ‚Kreifen Feine andere als
Stadtbürger, feine andere als Geiſtliche angeftellt wurden. Sa hätten
wir je durch irgend einen Wunderfall Herven, wie Galilei,
Leibnig, Newton, Bentley, Boerhave, Haller, Lin
neus, Sant, Zeffing, Herder gewinnen können — nein dieſer
erhabene Geifterhor wäre aus unfern engen Mauern fehleunigft
weggemiefen worden. Bon dem göttlihen Denker Spinoza,
der fein irdiſches Dafein fo erhaben rührend durch mechanifche
Arbeit friftete, Darf ich vollends gar nicht fpredjen.
Alfo um die Würde der Wiffenfhaft auch nur anftreben zu
fönnen, um und aus dem frühern Zuftande der geiftigen Lähmung
herauszureißen, beburften wir nothwendig der thatfräftigen Bei-
hülfe deutfcher Männer der Wiffenfchaft.
Wir fanden fie, und ich freute mich fo innig, fie unter unfäglichen
Anftrengungen zu Mitftreitern gegen Unwiſſenheit und Finfterniß,
zu Mitverbreitern höherer Ideen und pofitiven Wiffend gefunden
zu haben,
Run, meine Herren, hat die Gefammtheit Diefer meiner neuen
Collegen unferm Yreiftaate irgend einen Nachtheil, irgend eine
Unehre gebracht? Hat diefe Gefammthelt, hat irgend ein einzelnes
Mitglied derfelben uns in politifhe oder Firchliche Wirren hinein
geführt?
Sch will hier feinen Lebenden nennen: aber ein deutfcher Leh⸗
rer tft allzufrühe für uns in Die Wohnungen des ewigen Friedens
$
hingegangen; deiner darf ich wohl an diefer Stätte gedenken,
du freifinniger, edler Rettig, du mein geliebter Freund in alle
Ewigkeit, bätteft du es je verdient, wieder von beinem Süric
angegriffen und ausgeftoßen zu werden?
| Fürwahr jeder irgendwie Gebildete unter ung ſollte doch im
Zahr 1839 unumwunden eingeftehen, daß e8 nichts. engherzigeres,
unverftändigeres und zugleich traurigeres giebt, ald den von Uns-
fundigen angeregten, blinden Haß gegen Denfer, Borfcher, Förderer
der Willenfchaft, bloß weil fie nicht Landesfinder find.
Meine Herren, ich fhäme mid, wahrhaftig Diefes neulich wieder:
gebrauchten, niedrigen Ausdruds, von dem ich wähnte, er ſei fchon
(ängft aus unferm Sprachgebraudhe verbannt. Sch Ferne nur
einen noch verwerflicheren, wenn mitten unter und Broteftanten
der Bräfident des Kirchenrathes unglaublicher Weife das Ober-
haupt der Landesfirche genannt wird, und fich fo nennen
läßt. —
Rein, wir find zürcherifche Bürger, nicht Landeskinder!
Nur noch einige Worte über den zunächft Tiegenden Fall:
Sie alle kennen jett den Mann, durch deffen angefeindeten
Namen unfer Volf in eine fo unerhörte Bewegung gebracht wor⸗
den ift, gewiß weit befier als vor Einer Stunde und begreifen
es auch nun weit eher, warım die Majorität des Erziehungs⸗—
rathes, unzugänglich für alle Drohungen und Berlodungen fo feft
auf feiner Berufung beharrte.
Keiner von allen unfern Geiſtlichen, fo viele derfelben auch
wiffenichaftlihe Theologie hier, in Berlin oder anderswo mehrere
Jahre hindurch ftudirt haben, meldete fidy für dieſen Lehrſtuhl.
Alfo war ed allgemein anerkannt, ed müfje entweder ein Fremder
gewählt werden oder die Stelle unbeſetzt bleiben.
Deutfche Bewerber traten fieben auf: einflimmig urtheilte
unfre theologifhe Facultät, Feiner derfelben fei geeignet unfern -
Bedürfniffen volles Genüge zu leiften; eben fo verhielt es fich
mit einem und von Tübingen her empfohlenen, gewiß wadern,
2
40
aber noch durch Feine wißlenfchaftliche Leiſtungen dazu befähigten
Repetenten.
Dagegen begte ich Die moralifche Ueberzeugung, ‘Doktor Strauf
fei ein eminenter Denker, ein wahrhaft gründliher Theologe, ein
durch feine Meiſterſchaſt über die Sprache und die Anmuth- feines
Vortrages höchft ausgezeichneter Lehrer; er befige alfo drei felten in
folhem Grade vereinte Eigenjchaften eines vorzüglichen Brofeflors
an einer Hochichule,
In kirchlicher Hinficht trug ich nicht das. geringfte Bebenfen,
weil ih aus der ganzen Haltung feiner Schriften Die völlige
Sicherheit geichöpft hatte, er fei Feiner Frivolitaͤt fähig, fondern
er werde als gewifienhafter Mann die Dogmatik wirflich fo lehren,
wie er fich felbft Darüber ausgeſprochen hat:
„Es bildete ſich in mir und meinen gleichftrebenden Freunden
der Gedanfe einer Dogmatif. — Es follte, meinten wir, zuerſt
die biblifhe Vorftellung dargelegt werden; dieſe hierauf Durch Die
häretiihen Einjeitigfeiten hindurd. fi zum kirchlichen Dogma fort
beftimmen; das Dogma fofort in der Polemif des Deismus und
Rationalismus ſich auflöfen, um, geläutert, durch den Begriff
fich wieder herzuftellen.” Nun dieß, Dächte ich, ift Doch des Poſitiven
genug, nicht rein negativ, wie gewiſſe Sacultäten vermeint haben,
Jh fagte: „feine Fritifche Methode felbft fteht dem Autori⸗
tätöglauben an die Worte des Lehrers fehnurftrads entgegen und
muß in den Zuhörern den Geilt der Prüfung werden; fürchtet doch
nicht, daß fie unbedingt auf des Meifterd Worte ſchwören werden:
im Gegentheil eben fo gute Drthodoren werden aus feiner Schule
hervorgehen, als aus derjenigen unjerd ehrwürdigen, allerfrei-
finnigften Schultheß vor euern Augen herummwandeln.”
Doc, der übrige Verlauf dieſes Trauerfpiels ift Ihnen allzu
befannt, ald daß ich weiter Dabei verweilen möchte.
Nur einen Grundirrthum vieler unferer Mitbürger möchte ich
beſeitigen. Mancher wirklich redlihe Mann fpricht etwa: „wie
edel wäre ed doch geweien, wenn Strauß zu rechter Zeit ein Ent⸗
Iaffungsbegehren eingefandt; wie Hug und zeitgemäß, wenn ir-
gend einer feiner Zürichercollegen ihn dafür beichworen hätte!”
44
Meine Freunde, wer diefe Meinung. begt, hat offenbar feinen
richtigen Begriff von wiſſenſchaftlicher Ehre. Strauß iſt geſetz⸗
maͤßig berufener Profeſſor an einer Hochſchule ; er iſt zugleich der.
Träger einer heiligen Idee; diefe darf er nicht verrathen, er muß
fein guted Recht und feine Idee um jeden Preis verfechten.
Oder glauben Sie, wenn eine Rotte flarentiniſchen Stadt-
poͤbels einſt dem fuͤrſtlichen Kaufmann Lorenzo de' Medici zugemu⸗
thet hätte, er ſolle ſich ihr zu Gefallen zahlungsunfaͤhig erflären;.
wenn eine Rebellenſchaar Bayard, den Ritter ohne Furcht und ohne
Tadel, erfucht hätte, ihr eine von ihn befehfigte Feſtung unver⸗
zuͤglich zu übergeben, Lorenzo und Bayard hätten der Bande, der
Rotte alſobald entſprochen?
Wie mancher Züricher mag unſern Zwingli fußfällig gebeten
haben, er ſolle doch. mit feiner Predigt Des göttlichen Wortes inne:
halten und verftummen; bann, von jenem kurz abgewieſen, ſich
nachher gewaltig verwundert haben, wie doch der gelehrte Meiſter
Ulrich ſo „ſtarrſinnig,“ ja fo „unedel” fein könne, ein. ſo nar-
türliches Geſuch nicht auf der Stelle zu erfüllen.
Durch den letzten Beichluß des hohen Regierungsrathes iſt
nun, die Sache der Entſcheidung der oberſten Landeshehörde an—
heimgeſtelli worden.
Nicht wahr, meine Freunde, Sie theilen mit mir die Anſicht,
daß mit dem Augenblicke der Abſtimmung des großen Rathes,
ſie mag ausfallen wie ſie will, aller Streit über die Stellung
des Herrn Profeſſor Strauß zu unſerer Hochſchule aufhören,
muß, daß die weitere Fortſetzung derfelben eitel, ja gefegmwidrig,
wäre? Uns aber, den Lehrern wie den Studirenden, kommt es
vor allen übrigen Buͤrgern zu, dem ſchlimmen, von Andern gege⸗
benen Beiſpiele der Verletzung des Geſetzes, des Ungehorſams
gegen Die Kundmachungen der Regierung nimmermehr zu folgen,
jondern unferer heiligen Bürgerpflicht Genüge zu leiſten. Unfere,
individuellen Anfichten, Meinungen, Leidenſchaften, muͤſſen wir
der Willenserklaͤrung des großen Rathes unbedingt unterwerfen.
Natürlich aber Tann über die von Strauß ausgefprochenen Ideen
ſelbſt keine menſchliche Behörde zu Gericht figen, noch weniger
42
ein Endurtheil darüber fällen. Nein, ein Tangwieriger, auf Tod
und Leben (wohlverftanden im geiftigen Sinne) durchgeführter
Kampf dazu befähigter Geiſter, ein Kampf, deſſen Aus-
gang - die jeßt von irdiſchen Gewalten unterftügten Theologen
nody nicht abzufehn vermögen, wird es entfcheiden, ob die religiö-
fen Ideen, zu welchen auch ich mich frei und offen befenne, ber-
einft das unveräußerlihe Eigenthum des fortfchreitenden Pro-
teftantismus, der wahrhaft freien Kirche fein und bleiben werden,
ober ob fie der rüdfchreitende Proteftantismus (wenn er dann
noch diefen Namen verdient) verwerfen wird, fo daB man ihrer
dereinft nur als einer biftorifchen Sonderbarfeit, einer Heinen Hä-
tefis, in der Kirchengefchichte kurze Erwähnung thun wird?
Den thatfächlichen Entfcheid diefer geiftigen Lebensfrage und
defien Einwirfung auf ein veredeltes, wahrhaft religiöfes Dafein
der Menfchheit, werde ich ficherlich nicht erleben, wahrfcheinlic
felbft Sie nicht, meine Freunde, obgleich fo begabt mit aller Fülle
jugendlicher Lebenskraft. Allein mit ruhigem Blicke fehe ich in bie
ferne Zufunft hinaus. Der Geiſt ift frei von den Feffeln der Zeit
und des Raumes.
Sch gedachte noch, mich über Die theologische Lehrfreiheit auszu—
ſprechen. Allein ich wüßte in der That nichts bündigeres hierüber
zu fagen, ald Sie nächſtens in einem ganz trefflihen Send:
fchreiben des ehrwürdigen Paulus finden werden. Möchte dieſe
Zufchrift Hauptfächlich auch von unferm Klerus beherzigt werden
und ihm zu einiger Belehrung dienen. — Bei uns handelt es ſich
nun um dieſe Frage: |
Sol die theofogifhe Fakultät wie bisanhiu, wie an den
deutfchen Univerfttäten, Lehrfreiheit behalten? oder foll fie unter
die Vormundſchaft eines, abgerechnet eine rühmliche Ausnahme,
mit der Wiſſenſchaft und ihrem jetzigen Standpunfte nicht fonderlich
vertrauten Kirchenrathes gefeßt werden? Mit andern Worten, foll
fie eine theologifche Facultät bleiben, oder zum bloßen Prediger-
feninar werden ?
Glaubt die Kirche, durch die Facultät in der Predigerbildung
43
gefährdet zu werden (was aber ein eitler Wahn, wohl eigentlich
‚nur ein hierarchiſcher Vorwand ift) nun, fo gründe fie aus ihren
‚Mitteln noch ein theologifches Seminar ; ja fie faffe den Beſchluß,
feiner könne fernerhin Diener des „Oberhauptes der Landeskirche?
werden, welcher nicht dieſe Firchliche Anftalt ein oder zwei Jahre
befucht habe.
Doch eine noch wichtigere Frage beängſtigt jetzt unſer aller
Gemüth, meine Freunde, unſre geſammte Hochſchule; ihr Sein
oder Nichtſein. Schon vorher habe ich zu zeigen verſucht, daß
Zürich einer Hochſchule bedürfe: gerne ſetzte ich noch Hinzu, fo
lange bis feine freie Eidgenöffifche begründet wird. Doch damit
hat es noch gute Weile. Ganz überflüffig wäre es offenbar, Ih—
nen al das DBerfehrte und Unfinnige, das Schändliche, das
Gräßliche einer Zerftörung der Hochjchule vor Augen zu legen.
Meiner Anficht nach wäre dieß nichts anderes als ein geis
ftiger Selbſtmord.
Alles zwar ift möglich geworden: denn wer vermag es Der ſcheuß⸗
Tichften aller Erinnyen, der Wuth des Fanatismus, Zaum und
Gebiß anzulegen? Nicht einmal Der, welcher fie unbefonnen und
ruchlos aus den düftern Tiefen des Tartarus emporbeſchworen
und auf unfre früher fo glüdliche Heimath losgelaſſen hat.
Geſchieht das Unglaubliche, fo werden wir und wiederum
‚dem Ausſpruche der oberften Landesbehörde, mit Trauer zwar,
aber der Bürgerpflicht gemäß, unterziehen. Lehrer und Schüler
gehen auseinander: die Wiffenfhaft wandert aus; die Hörfäle
ftehen einfam und verödet da; eine traurige Ruine nicht Der Vor-
zeit, fondern einer im Toben aller geiftigen Kräfte jammervoll wo⸗
genden, ſchiffbruchigen Gegenwart.
Doc wie würde ſich eine ſolche Verlegung, ja Bernichtung
der Staatsehre vor der Eidgenoffenfchaft, vor dem gefammten
gefitteten Guropa, in den fünftigen Fahrbüchern unferer Gefchichte
ausnehmen? Denkt denn feiner der Gegner unferer Hochfchule
mehr an die Nachwelt? an den inhaltsfchweren Denkſpruch: Die
MWeltgefhichte ift das Weltgericht. Fürchtet Feiner mehr
43
einen zweiten Johannes von Müller? Zn diefem Kalle der
Zerftörung ber höchſten Zierde unſers Kantond, bliebe mir außer
der Frefftätte der Religion imd der Wiffenfchaft, fürwahr m
Ein Troft: Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor! Daß heift,
meine Frennde: Vielleicht find unter Ihnen ſetzt ſchon einer oder meh⸗
tere, oder ed kommen nach Ihnen ſolche Zünglinge, welche es fi
‚mit reiner Begeifterung zur ernften Lebensaufgabe machen werben,
die ungehenre Schmach barbarifcher Zerſtörungswuth wieder von '
unferm Sreiftante abzuwälzen, und eine neue, noch vollfomimnere,
jedenfalls dauerhaftere Hochfchule zu ftiften. — In der Hoffnung,
das Unglaubliche werde nicht gefchehen, wollen wir heute von
‘einander fcheiden. Meine Freunde, ich danfe Ihnen noch einmal
herzlich für alle Ihre Liebe!
Da das folgende Schreiben ver Stuventenichaft mir unmittelbar
vor dem Vortrage überreicht wurde, jo lautete in demſelben ©. 3. 9. 8.
folgendermaßen:
„ber falfches Zartgefühl wäre es geivefen, hätte ich nicht
von Ihnen ein Schreiben angenommen, deſſen Inhalt und Form
mich gleich fehr erfreut, für viel Widriges tröftet, ja neu ermu⸗
thigt, von meiner bald zurüdgelegten Bahn nimmermehr abzu⸗
irren. ”
Sochgeachteter Serr Profeſſor!
Zurichs freie Studierende glaubten ſchon mit feſter Zuverſicht,
daß ſie in unſerm freien Lande bald den Tag ſehen, an dem
unſere Hochſchule endlich dem Wahne trotzen fönnte, daß in Re-
publiken fein Boden zu finden ſei, auf welchem die Wiſſenſchaften
gedeihen, und ihre Tempel errichten können. |
Sie freuten ſich als ächte, geiftig geftärfte Republifaner, unferer
Anftalt als einer Stätte des reinften, höchften, freiften Allkampfes,
wo Wahrheit gegen Wahrheit zieht, und fich aneinander erprobt,
wo Jeder ohne Schen und Furcht Zeugniß gibt von dem, was
in ihm lebt, utid wenn er and) neu und bfigend ift, doch Den
Funken fprüben läßt.
Unfer Vaterland vermag und zu begeiftern für die Idee des
Sreiftaats, und was wir in und felbft erlebt, und Männer, bie
ſich⸗ der Wiffenfchaft geweiht, fie weifen uns Hin, wo die freie
Wiſſenſchaft blüht; aber hier in Zürich follte e8 eine Wahr-
heit werden, wie diefe von jenem getragen, jener durch dieſe ge⸗
krönt wird, wie eine republifanifche Hochfchnfe die Stimmen Des
freien Geiſtes alle zum freien Kampfe in fich emporziehen, das
Leben des freien Volkes nad) feinem geiftigen Gehalte noch ein-
mal erzeugen foll.
Aber es iR eine Zeit gefommien, wo dieſer Anſtalt die fchärf-
ften Angriffe drohen, wo ihr Lebensprincip, ja geradezu ihre
Exiſtenz wieder in die Frage kömmt, eine Zeit, die ihr um fo
gefährlicher ift, da Alles feine Bahnen zu verlaflen und in Ge-
biete überzugreifen fcheint, Die der anderd gewöhnte Geift nicht
zu umfaffen, nicht zu begreifen vermag.
16
In folder Zeit der Verwirrung, da wirb es heilige Pflicht,
feft zu ftehen in der reinen Idee des zu erhaltenden Gutes; wer
für die Hochſchule Fämpft, muß für die freie Wiſſenſchaft kaͤm⸗
pfen, und wer für fie mit Begeiflerung lämpft, wird nicht von
Zweden der Parteien gefpornt.
In dieſem Sinne hat ſich die Studentenfchaft gegen unfere
vberfte Landesbehörde ausgefprochen, in dieſem Sinne, Herr Pros
feffor, haben wir auch Ihre Stimme im Erziehungsrathe gehört;
und wir hielten Shre Stimme für eine der erften, die mit Diefer
Begeifterung in der obfchwebenden Frage gegeben worden, und
wir fönnen Sie feierlich verfichern, wir glaubten uns nicht mehr
ehren zu können, ald wenn wir ebenfo republifanifch, ebenfo rein
wiſſenſchaftlich uns ausfprächen.
Empfangen Sie alfo unfern innigften Danf, es fpricht zu:
gleich das Vaterland, die Wiſſenſchaft, fo wie fie in uns leben⸗
‚dig geworden. Nicht weil Sie für den Herrn Profeffor Strauß
Ihre Stimme gegeben, — denn darüber wären auch die Stubie-
renden nicht einig — fondern weil Sie ihn rein um der Willen-
fchaft willen berufen, empfangen Sie ihn! Denn ed bat den
Süngling gefreut, daß Sie ihm freie Wahrheit bieten wollen,
und faft noch mehr, daß Sie ihm felbft zugetraut haben, eben-
falls frei zu fein, fo daß er zu prüfen und auch zu verwerfen
vermöge.
Verehrter Herr Profefior, die Studentenfchaft erkennt Ihren
Sinn; möge dieß Ihnen ein geringer Erſatz dafür fein, daß Die mei-
fien Andern ihn nicht begreifen; wir wollen fuchen, in unferm
Streben Ihnen zu folgen, und Sie und uns dadurch zu ehren.
Die allgemeine Berfammlung der Studenten.
— — — — — —— — — — —
Bwingli
vordem Örofen Rathe
in dem Jahre 1522.
Dramatifche Scenen aus dem Leben des Reformators.
+
Mit einem Nacdhfpiele:
Zwingli vor dem Großen Natbe
en indem Sabre 1839.
1839.
Vorwort.
„Ich übergebe hier einige Scenen aus Zwingli's Leben
dem leſenden Publikum. Für Behörden find fie beſonders
beſtimmt, denen in dieſen ſtürmiſchen Tagen das Steuer der
öffentlichen Ordnung und der gemeinfamen Intereſſen anver⸗
traut if. Mögen fie in dem Spiegel' der Vergangenheit die
Gegenwart erbliden! Die Gefchichte gibt den Völkern und
ihren Führern ernfte Lehren. Wer die Ereigniffe der jüngften
Zeit in unferem Vaterlande beobachtet bat und zu würdigen
verfieht, weiß, mad auf dem Spiele ftebt. Volk, laß. dich be-
lehren, laß dich warnen und führen! Führer, geht uner—
fhroden die Bahn der Pflicht und Ehre voran. Mit Weig-
heit und begeifterter Kraft leitet ein freies Volk! —
Meine Leſer werden frappante Aehnlichkeit zwifchen
Zwingli’s Zeit und der unfrigen finden. Sch babe fie nicht:
gefucht, fie hat fih von felbft dargeboten. Ich ging mit
Ausnahme der Scene des Bolksauflaufes, der eigentlich in
Luzern ftattfand, vein gefchichtlich zu Werke. Selbft die Na⸗
men der handelnden Perfonen find faft ſämmtlich hiſtoriſch
und nicht ohne Abficht beibehalten worden. Diejenigen, welche
immer die Gefahr der Landestirhe im Munde führen und
Straußens Lehre mit Abfcheu betrachten, bitte ich, wenn fie
noch Vernunft hören können, doch mit ruhiger Befonnenheit
Zwingli’s eigene Ausfprüche, befonders feine Predigt im Grof-
münfter zu lefen. Sch babe fie hauptfächlich zu ihrer Beru⸗
4
higung bier aufgenommen. Dadurch hat zwar die Lebhaftig-
keit der Darftelung gelitten, doch will ich gerne das Lob des
Schriftſtellers hingeben, wenn ich einige von ihnen für die
Wahrheit gewinnen kann. Sie müſſen ſich daraus über—
zeugen, daß Zwingli nie eine Landeskirche in dem Sinne grün:
den wollte, in welchem ſie dieſelben verſtanden wiſſen wollen.
Sie werden ferner einſehen, mit welchem Abſcheu Zwingli
jede Auflehnung des Volkes und beſonders der Geiſtlichen gegen
rechtmäßige wackere Regierungen betrachtet habe. Auf meine
Treue in der Mittheilung feiner Lehre dürfen fie ſich verlaffen;
Äh war infoferne nur Kopiſt, Hottingers Reformationgge-
fhichte meine Duelle. Der vollftändige. Titel jenes Werkes
ift: Geſchichte der Eidgenoffen während der Zeiten der Kicchen:
trennung, erfle Abtheilung, Zürich, bei Orell, Füßli und
Compagnie, 1825.
Möge auch dieſer dramatiſche Verſuch beitragen, die Ruhe,
die ſeit dem 29. Jenner aus ſo mancher Bruſt dahin geſchwun⸗
den, wieder in fie zurück zu führen! Möge er unter unſern
Stellvertretern im Großen Rathe die Läffigen fpornen, die
Wankenden befeftigen, die Unerfchütterlichen mit froher Zuver⸗
ficht begeiftern! Mitbürger, wir ‚haben .eine gute Sache!
ſie muß ſiegen, wenn wir es werth ſind.
J
|
Zwingli
vor dem Großen Rathe
im Jahr 1522.
Berfonen:
Felix Schmied, erſter Bürgermeifter.
Marfus Rönſt, zweiter Bürgermeifter.
Diethelm Röuſt,
Grebel,
Edlibach,
Schweizer,
Hürlimaun, Laudvogt.
Eſcher, Statthalter.
Faber, Geueralbikar des Bischofs von Konſtanz.
Wagner, Seſaudter von Schaffhauſen.
Vadian, Geſandter von St. Gallen.
Ufteri, Prob uud Ehorherr.
Hofmaun,
Göldli, Chorherren.
Myfonius,
Zmwingli.
Leo Judä—.
"Schmied, Komthur der Johanniter.
Jakob von Shwerzenbadh, Pfarrer.
Wilhelm Röubli, Vikar von Wiedifon.
Adelheid Lemann, feine Braut.
Haller von Bern, , un
Bernhard Weiß, | ihre Beiftände.
Mutter der Braut. et
Ein Zleifcher. Gerichfsperfonen. Bürger. Landleute.
Die Handlung fpielt im Kanton Zürich.
2 Zeit der Handlung: 1519 bie 1524.
Räthe.
Erſte Scene.
(Shorheren in Zurich.)
uſteri, Probſt, Hofmann, Göldli, Myfonius, Die übrigen
Chorherrn.
Probſt. Hochehrwürdige Väter! Cs kann Euch nicht mehr un⸗
bekannt ſein, in welcher Abſicht wir uns in dieſer Stunde hier verfam⸗
melt Haben. Es handelt fh um bie Wahl eines neuen Leutprieſters
am Sroßmünfſter. Mehrere achtbare Kompetenten haben ſich für die
Stelle gemeldet. Ihe kennet ihre Namen amd die Verdienſte der Ein⸗
zelnen. Wir wollen nun den Würdigften aus ihnen waͤhlen. Euch,
Hochehrwürdiger Peter Konrad, will ich zuerft in Anfrage feßen: wen
- fhlaget Ihr uns vor ?
Hofmann. Pater Fabula! Er iſt zivar ein Fremder, betet aber
fleißig das Brevier, iſt dabei ein. eifriger Anhänger des Papfies und hat
durch feinen frommen Eifer ſchon drei Ketzer auf den Scheiterhaufen
gebradht.
Mykonius. Entſetzlicher Eifer, der mit Tigergrimm gegen
Schulölofe wüthe. Ich. trage. auf: Wermerfung hei. Unmenſchen am.
Mir bedürfen in unferer freien Stadt Peiner Inquiſitoren. Ich empfehle
dagegen. einen andern. fehr würdigen Mann: Huldreich Srolngf von
Wildhaus.
Göldli. Wie, den Heterodoxen, der den Nonnen zu heirathen
und Fleiſch zu genießen erlaubt?
Mykonius. Eden darum. Uns fehle ein, fedfinniger Heildenn
kender Daun as unferer Kirche. und: der ift Zwingli. „Dabei fi er
ein ei gebildeter Tchesloge, welcher den alten: Sprachen
mädtig ift.
Hofmann. Er liest den heidniſchen Pindar.
Mykonius. Was ihm nur zur Ehre gereicht. Bon: den hohen
Muſtern der Humanitat, die wie. in, den altem Griechen aufgeſtellt fin:
den, mülfen wir lernen.
Hofmann, Auch gegen den Ablaß und die Ohrenbeichte had ®
von r der Kanzel in Einſiedeln geſprochen.
Mykonius. Hat er Unrecht getan, warum wies man ihn nicht
zurecht? Im Gegentheil, er genoß an jenem MWallfahrtsorte der ausge:
zeihnetfien Achtung; fein Ruf verbreitete fih in und außer dem
Baterlande.
Göldli. Wird er für unfere Stiftseinkünfte Sorge tragen?
Mykonius Das weiß ich nicht, allein, daß er in feiner Amts:
führung gewiffenhaft fein wird, davon bin ich überzeugt. Hört ihn nur
erft fprechen, den begeifterten Redner. Gr ift Feine tönende Schelle; fein
Vortrag ſchwebt nicht in den Wolfen; er ift klar, wohl geordnet, dem
Volke durchaus verftändlich, vol Kraft und Salbung. Was den andern
betrifft, der zuerft in Vorſchlag kam, fo weiß ich nichts anders von
ihm zu urtHeilen, ale: ich Fenne den Mann nicht, Ich trage darauf
an, daß man Zwingli zum Leutpriefter wähle. (Paufe.)
Prälat. Wenn Niemand weiter das Wort verlangt, fo laſſet
uns abfiimmen. Denket Eures Eides, dem Wägſten und Beſten gebe
jeder feine Stimme.
F (Stimmen werden abgefammelt und gezählt.)
. Hochehrwürdige Väter, es ergibt fich aus der Zählung der Stim⸗
men, daß von 24 — 17 auf Zwingli gefallen (ind. Huldreich Zwingli
ift alfo unfer Zeutpriefter. Cr lebe!
Zweite Scene.
(Sroßmünfter.)
Z wingli auf der Kanzel. Zwei Bürger.
Erſter Bürger (im Hintergrunde der Kirche, halblaut). Horche
mit mir auf Alles, was der Ketzer predigt, damit wir dem. Pater Sam:
fon recht viel erzählen Fönnen. Gr fpendet uns dafür reichlich Ablaß.
Zweiter Bürger. Führt dir gar wunderfame Reden. Erfi
‚ließ er fich „ganz deutlicy merken, die Päpfte könnten auch irren, wie
andre Menfchen, ja fie Hätten fchon oft in den wichtigftien Dingen geirrt.
Zwingli (predigt). Zum Schluffe unferer heutigen Betrachtung
Iaffet uns noch die Hauptpuntte derfelben zufammen faffen.
Ich ſprach zuerfi von der wahren Religion, dann von der wahren
Kirche, endlich vom theuren WBaterlande.
Erfier Bürger. Was will uns der Fremdling vom Daterlande
ſchwätzen? u
Zweiter Bürger. Horch!
Zwingli. Gott ſpricht nicht nur durch die heiligen Schriften zu
uns, fondeen auch durch die Wunder und Gefeke der Natur, durch die
Erfahrungen des. chend, durch die Schriften der gricchifchen und romi⸗
’ E J
ſchen Weiſen, denn auch Plato, Pythagoras und Seneka haben aus
göttlichen Quellen getrunfen; und wir werden jenfeits neben Moſes und
Johannes auch Sokrates, Ariſtides, Kamillus, die Katone und
Scipionen finden.
Erſter Bürger. Hörſt du, er läßt die Heiden ſelig werden.
Durch Abgöttrer, ſagt er, hätte ſich Gott den Menſchen offenbart.
Wollen wir länger ſchweigen?
Zweiter Bürger. Geduld!
Zwingli. Was iſt die Kirche? Sie iſt die ächte Gemein⸗
fame aller Frommen, von Gott allein gekannt. Unter allem
Volke, wer ihn verehrt, yehört zu derfelben als Mitglied.
Exrſter Bürger. Er glaubt an feine Fatholifche Kirche. Die
Landeskirche ſchwebt in Gefahr!
Zwingli. Daß keiner fpreche: der einfältige Menfch mag das
göttliche Wort nicht verfichen. Der Meifter, der ihn ſolches lehrt, Heißt
weder Papft, noch Koncilium, noch Doktores, noch Väter. Es iſt der
Vater Jeſu EhHrifti feld. Er gibt die Weisheit denen, die ihn bitten.
Erfier Bürger. - Pater Samfon lehrt es anders. Cr fagt,
Niemand als die Gelftlichen verfichen die Bibel auszulegen; darum hät:
ten fie Audirt. Der Unverfchämte !
Zwingli. Der Beruf des Predigers fordert vielfache Sorge,
Wachſamkeit, Entſagung; auch alle Süßigkeit des Herrſchens, ſelbſt in
geiſt lichen Dingen muß den Geiſtlichen fremd bleiben. Sie aber find
größtentheile dem Miüffiggang und der Sinnenluſt ergeben. Ihre
Serefchfucht kennt keine Grenzen. Ich rede befonders von den Mönchen.
—Erſter Bürger. Länger Halt ich nicht zurüd. Unſere feommen,
wohlehrwürdigen Väter öffentlich beſchimpfen! Ä
Beide (rufen laut). Der Zwingenmacher, fchlagt ihn todt,
den Keper !
(Unwille unter dem Volk; die nähft Stehenden ergreifen bie Beiden unb
führen fie hinaus. Es berrfcht wieder Ruhe.)
Zwingli. Laſſet Euch in Eure Andacht nicht ſtören. Die
Wahrheit kann ohne Kampf und Widerſpruch nicht ſiegen. — Noch ein
Wort Über die Liche zum Waterlande. Sie fordert vor allen
Dingen Gehorſam gegen dieLandesohrigfeit, denn iſt fie
niht von Gott geordnet? So fällt ihr denn auch über
- die Landeskirche die Auffiht zu. Ich kann nirgends finden,
daß je bei den Alten zweierlei Herrfchaft gewefen, eine weltliche und eine
geiftliche. Sie hätten auch nie fich vertragen können. Chriſtliche Lehe
ver, laſſet es Euch daher nicht verdrießen, wenn eine Gewalt, die Ihr
mit Unrecht befeffen, von Euch genommen wird. Geht voran mit
dem Beifpiel der Bürgertugenden, des Schorfams gegen
2
40 -
die Obrigkeit! Gefühle ein Jeber aus und feine Pflichten, mb |
das Wohl des. MWaterlandes wird feft wie die Felſen unferer Ulpen
ſtehen. Amen.
Dritte Scene.
(Marftplas in Wädenfchweil.)
Hürlimann. Fleiſcher. Ein Bürger. Bolt.
(Wildes Gefcbrei.)
Bürger. Wen fchleppen fie dort einher ?
Landvogt. Einen Popanz, der den Zwingli vorfiellt. Den
rechten aber haben fie nicht. Sie führen ihn zum Gcheiterhaufen.
(Tumult nähert fich.)
Bürger: Was bat aber Zwingli verbrochen, daß man ibm an
das Leben wii?
Landvogt. Er iſt ein Ketzer. Er iſt Schuld, daß meine beiden
Wchter das- Kloſter verlaffen Haben. Er hat auch ‚gepredigt, daß der
Bauer nicht fehuldig fei,_ den Jehnten zu geben. Jetzt hat er wider:
rufen, darum, weil er ein Chorherr ift werden, und werm ich es- thäte,
hätte man midy ſchon längft ertränft. Ich weiß, er wird einft neh
meiner Serren von Zürich und der Gidgenofienfchaft Leib und Seele
verführen. Wenn man ihn längft verbrannt hätte, wäre ihm Recht
voideffahren.
Fleiſcher. Er widerfeht fich aud) dem Bündniſſe unferer Stadt
mit dem Könige von Franfreich, was unferer Zunft Nachtheil bringt.
Bürger: Ihe folltet ihm vielmehr Dank wiffen‘, weil er gegen
die Fafttage eifert. Die Leute effen nun öfter Fleiſch.
(Der Arfgug ift bei den Sprechenden angelangt. Man errichtet in Haſt
einen Scheiterhaufen, zündet ihn an, und wirft den Popanz in die
Slammen.)
Bürger. Was für eine feltfame Mütze das Bild auf dem Kopfe
trägt, roth mit Feuerflammen und mit: Teufen, welche die ‚Zunge her:
vorſtrecken, bemablt.
Zandvogt. Go bringt es die Sitte der Religion mit fich.
Bürger. in folches Treiben nennt Ihe Religion ?
Landvogt. Welt Ihr ſchweigen? Ihr feid auch einer von der
neuen Lehre.
Bürger. Darf man für Rede und Wahrheit feine Stimme
sticht erheben ?
Zandvogt. Ihr feid ein Schelm! Kin. Lutheramer !
Mehrere. Schlagt ihn todt! Ins Feuer mit. ihm!
Bürger. Daß Ihr es nur wiſſet, Herr Landvogt, Euch Achte es
4
- Befonderd übel an, alſo gegen einen Maun zu wüthen, der vechtmäßig,
mit Vorwiſſen und Einwilligung unfereer Regierung zum Prediger if
geroählt worden.
(Volk ruft: Greift ihn, in die Flammen mie ihm! Mehrere wollen fich
feiner bemächfigen. Er entflieht.)
Vierte Scene.
Saal im Rathhaus.
Felix Schmied, erſter Bürgermeifter. Marfusföuf, zweiter Bür⸗
germeiſter. Diethelm Röuſt. Grebel. Edlibach. Schweizer.
Andere Räthe.
Erſter Bürgermeiſter. Es iſt euch, hochgeachtete Hemen, be⸗
kannt, was für eine Zweiung über die Lehre unſers Zwingli Stadt
und Land ergriffen hat. Der Biſchof von Konſtanz hat über die Ver⸗
letzung der Kirchengebräuche Klage erhoben, und die Geſandten, die er
in Folge derſelben abgeordnet hat, vernahmen bereits Zwingli. Allein
vergebens. Zwingli macht ſie verſtummen. Sie brachten ihre Beſchwerde
vor den Kleinen Rath, und da ſie auch hier nicht durchdringen konnten,
wollen ſie heute in unſerer Verſammlung vor der höchſten Behörde ihre
Klage zum letztenmal erheben. Der heutige Tag iſt entſcheidend; Sieg
oder Niederlage iſt fein Loos. Zwingli ſammt dem ganzen Klerus iſt
einberufen. Obſchon die Hifchöflichen Geſandten allein vernommen fein
wollten, Eonnte ich doch nicht dazu eimwilligen : dem Beflagten werde
fein Kläger gegenüber geftellt. Bedenket nun und überlegt mit allem
Ernſte, was Ihe zu thım gefonnen feld. Wollt Ihr den Huldreich
fahren laffen oder ihn gegen feine Widerfacher nach beften Kräften fchligen :
dieß ift die große Frage, dieß der Gegenſtand unferer heutigen außeror⸗
dentlichen Berathung, die ich hiemit für eröffnet erkläre. |
Diethelm Röufl. Mir haben Zwingli mit weifem Vorbedacht
in unſere Stadt berufen. Daß Mißbräuche im unſerer Kirche vorhanden
ſeien, leidet keinen Zweifel. Dieſe Ohrenbeichte, dieſe Meſſen, dieſes
Wallfahrten, Faſten, und fo viele Auswüchſe an dem lebendigen Baume
des Chriſtenthums, können wir ſie länger dulden? Von unſern Mönchen
erwartet kein Heil, fie Eennen ihr Antereffe zu gut, um fi zu einer
Öurchgreifenden Religionsverbefferung hergeben zu wollen. Sie zittern
für ihre Klöfter und Pfründen. Sie haben auch den Muth, den das
Bewußtſein der Tugend gibt, nicht. Der Papft ift ihe Abgott. Zwingli
dagegen ift freifinnig, Bat uns fchon Beweiſe von feiner Entichloffenheit,
für die Wahrheit Alles zu opfern, gegeben, und wird fürder zue gutem
Sache fiehen, Dabei verbindet er Klugheit und Borfiht mit Muth und
423
Eutſchloſſenheit. Wenn ihn aber etwas mir teuer gemacht bat, fe iſt
es fein unbefcheltener Lebenswandel und feine .Befcheldene Sitte. Bir
haben ihn gerufen, er hat feine Verbindlichkeiten erfüllt, wir ' Können wicht
anders, wir müffen ihn aufrecht halten. .
Grebel. Die Menge ift gegen ihn eingenommen ; fie iſt taub gegen
die Stimme der Bernunft.
Diethelm Röuft. Die Menge ift verführt. Sie fürchte ich nicht.
Die Geiftlichen follen die Herzen des Volkes umflinimen.
Grebel. Eben die Geiſtlichen find Zwingli's gefährlichſten Feinde.
Diethelm Röufl: Nicht ale. Würdige Amtsbrüder, wie Les
Judä und Bullinger ſtehn ihm helfend zur Seite. Nur die dummen
Möõnche und einige liederliche Chorherrn find feine Feinde darum, weil
er fie Lügner, Müßiggänger, Schlemmer, und zwar mit Recht fehalt;
weit er ihre Falkenjagden und Kurtifanen nicht dulden will.
Zweiter Bürgermeifter. Aud von uns find einige, daß ich
es offen ‚geftehe, an diefem großen Zwiefpalt Schuld, diejenigen näm:
lich, die fletd Abends und Morgens in den Klöftern effen und trinken.
Diefe ſtärken die Bonzen und ermuntern fie zum Widerfland gegen uns.
Solche find es ferner, die ihe Blut fire franzöfifche Jahresgelder ver:
kauft haben. Wahren fie aber ihres Hauptes! Das Geſetz iſt für al
Mitglieder des Staates gegeben! In keinem Falle fürchten wir die träge
Mönchsarmee. Eind wir niht Männer ? Haben wir nicht in Schlachten
unfee Blut verfprißt ?
Edlibach. Die Gedichte wird mit ehernem Griffel unfere Thaten
aufzeichnen; Ruhm oder Verachtung erwartet und vor der Nachwelt.
Schweizer. Ich will licher mein Leben ald von Meifter Zwingli
lafien *).
Erſter Bürgermeifter. Uebereilen wir au nichts! Hören wir
ion zuerfi, und Finnen ihn feine Ankläger nicht überführen, dann ifl
Mahrheit in dem Manne. Dann ifl es aber auch unfere Pflicht, für ihn
entfchloffen einzuftehn. Hochgeachtete Herrn! as ift nun Euer letzter
Entſchluß?
Die Räthe. Wenn er Wahrheit ſpricht, wollen wir, müſſen
wir ihn in feinem Rechte ſchützen.
Erſter Bürgermeifter. So bolet ihn denn herbei!
(Rathediener ab.)
*) Der Edle hielt Wert. Er fiel bei Kappel.
43
Fünfte Scene.
Generalvifar Faber. Wagner. Badian. Zwingli. Leo Zudd.
"Hofmann. Komthur Schmid. Prälaten. Achte. Doftoren.
N
Der Übrige Klerus.
Erſter Bürgermeifter. Es ift euch bekannt, Hochgelehrte, edle und
würdige Herren! welche Zwietracht fich in neuern Zeiten bei und in
geiftlichen Dingen erhoben hat. Bon Vielen wird unfer, bier anweſende
Prediger, Huloͤreich Zwingli, ein Ketzer gefcholten. Oft Hat er uns um '
Veranftaltung eines öffentlichen Geſpräches mit feinen Gegnern gebeten,
der Rath ihm durch Ginberufung diefer Verſammlung willfahrt. Wer
ihn von fchriftwidrigee Lehre überzeugen kann, ift eingeladen, diefes un⸗
verholen und furchtlos zu thun; denn wir wünſchen einmal auf ben
Grund der Wahrheit zu fommen, und find der Unruhe müde.
Zwingli. Wehlan denn,-in dem Namen Gottes, bier bin ich!
(Allgemeines Stifffchtveigen.)
Bürgermeiſter. Wer etwas anzubringen weiß oder wünſcht, der
trete hervor!
(Stillſchweigen.)
Zwingli. Um der chriſtlichen Liebe willen bitte ich Jeden, der
meine Lehre für irrig hält, ſeine Bedenken auszuſprechen. Ich weiß, daß
mehrere hier ſind, die mich der Ketzerei beſchuldigt haben; ich wäre ge⸗
zwungen, ſie mit Namen aufzurufen.
(Need Slillſchweigen, endlich)
Sine Stimme aus dem hinterſten Raum. Wo find nun
die Helden, die auf den Straßen und beim Wein tapfer pochen? Hier
iſt ihr Mann!
(Allgemeines Gelächter.)
General vikar. Ihr verwerfet die Anrufung der Mutter Gottes
und der Heiligen.
Zwingli. Ich beſchwore Euch, die Schriftftellen anzuführen, welche
für ſie ſprechen.
Generalvikar. Ich bin nicht hergekommen mit Euch zu freiten ,
ſondern Zeuge eueres Widerrufs zu ſein.
Zwingli. Wenn Ihr mich meines Jrrthums überführet.
Hofmann. Papft Leo und Kaiſer Karl haben jüngſt Lehren, wie
die Eurigen find, verdammt, und fo follten dieſelben auch nicht ge:
‚predigt werden. Warten wir die Entfcheidung über diefelben von einer
fünftigen Kirchenverſammlung ab. Ich bin zehn Jahre zu Heidelberg
geweſen, oder dreizehn, und babe bei einem feommen, fiudirten Mann
gewohnt, ‚mit ihm gegeflen und getzunfen fo manches mal aber nie gehoͤrt,
44
daß man von ſolchen Sachen disputiren fol. Darum will ich wicht
disputiren, fondeen gehorfam fein, erſt dem Bifchof, dann dem Probſt,
dies ſollt auch Ihr als Leutpriefler thun.
(Gelächter.)
Zwingli. Daß unſere Lehre falſch und verführeriſch ſei, das ſoll
Meiſter Konrad beweiſen; wenn er aber ſagt, daß keine Irrthümer ſollen
abgethan werden bis auf Verordnung einer Kirchenverſammlung, ſo er⸗
Höre ich öffentlich: Nicht der jüngſtgeborne Sohn eines der Anweſenden
wird. ein Konzilium erleben, wo das Wort Gottes Recht behält.
Hofmann. Ich werde Öffentlich gegen Euch predigen.
Zwingli. Und ih wid Euch öffentlich darein reden, fo gewiß
Ihr mir einen einzigen Satz bringet, der mir das Wolf verführen Eönnte.
-Deffentlih müßt Ihe mir Mechenfchaft geben, oder aus der Kirche ent:
rinnen.
Hofmann. In alten Zeiten hat man es fo gehalten: — — —
Erſter Bürgermeiſter (ihn unterbrechend). Ihr kommet von der
Sache ab.
Komthur. Wir ſollen die Bilder und Statuen jetzt nicht anfechten,
fondern fo lange mit ihrer Abfchaffung warten, bis fein Aergerniß da: .
durch mehr entfiände. |
Zwingli. Wollte man fo lange damit warten, fo fäme man gar
nie dazu. - | .
Komthur. No bleibt ein wichtiger Punkt übrig, die Meſſe.
Zwingli. Es ift wahr, ich habe mie gegen fie harte Ausdrüde
erlaubt, getraue mir aber dies zu verantworten, Diele find, die allein
das Bittere van mir auffaffen; wer mich näher Fennt, weiß auch, daß
ih nachgeben kann. So Habe ich von Anrufung der Heiligen gefagt:
Klaget das Gurige wen Ihr wollt; ich will das Meinige Gott Flagen.
Meine Pflicht aber Heifcht nach meiner Weberzeugung zu reden. Es ge:
falle oder nicht. . -
Komthur. Mit diefer Erklärung bin ich wohl zufrieden.
Bürgermeifter. Wünſcht weiter Niemand mehr das Wort zu
ergreifen ?
(Paufe. Er fährt forf.)
Da Meifter Huldreich Zwingli von Niemand ift widerlegt worden,
fo haben Bürgermeifter, Räthe und der Große Rath für diefen Fall be:
ſchloſſen, und iſt ihre ernftliche Meinung, daß Huldreich fortfahren folle, -
wie bisher, das Evangelium zu verfünden.
Zwingli. Der Allmächtige fei gelobet! Er will, daß fein heiliges
ort herriche. Euch, meine Herren von Zürich, bitte ich dringend feft
daran zu halten. Wohl mag auf Euch, wohl aucd auf mich noch viel
Ditteres warten ; aber wir follen nicht zaghaft werden. Gott wird Guch,
45
darauf vertrauet, Keaft geben, fein Evangelium im eurer Landſchaft zu
handhaben, und was Ihr je darum erleiden moͤchtet, das wird ce durch
andere Gaben Euch reichlich vergelten. Amen.
Schste Scene.
Kirche in Wiedikon. Man ſieht den Altar mit Blumengewinden geziert.
Darauf liege. ziwei goldene Ringe.
Jakob von Schwerzenbadh, Pfarrer. Wilhelm Nöubli. Adel:
heid Leemann. Haller von Bern. Bernhard Weiß. Die
Mutter dee Braut. Zwei Bürger. Volk.
Erſter Bürger. Kür wen ift der Traualtar feſtlich geſchmückt ?
Zweiter Bürger. Du weißt nicht, daß der Bilar von Wiedlkon
ſich heute verehlicht?
Erſter Bürger. Was, gegen das päpſtliche Verbot? Segen uns
auffösfiche Gelübde?
Zweiter Bürger. Hat ſich was zu löſen! Was Menſchen knupfen,
können Menſchen auch wieder löſen. Iſt dee Papſt ein Herrgott? Der
Kaplan ſhut nach meiner Anſicht recht daran, daß er heirathet. Haben
doch andere fchon vor ihm das Nämliche gethan. So diefer Haller von
Bern, der heute ald DBeiftand erfcheinen wird. So andere mehr, nur
heimlich, mas ich nicht billigen kann. Offen gehandelt, wenn man vor
Gott und der Welt das Hecht auf feiner Seite Hat.
(Zug nahf, voran die Braufleute, dann ihre Beiſtände und Freunde, das Volk
befchließt ihn.)
Da kommen fi!
Erfter Bürger. Schon ift die Braut.
Zweiter Bürger. Und ehrbar. Der hat gut gewählt.
Erfier Bürger. Woher ift das Mädchen, und wie heißt fie?
Zweiter Bürger. Adelheid Leemann von Hirslanden.
Erfter Bürger. Ein muthiges Mädchen !
Zweiter Bürger. Ihr Name fol verewigt werden.
(Pfarrer tritt zum Altar und winkt dem Paare; fie fiellen fich vor ihn.)
Pfarrer. Tretet herbei, ihe Liebenden, zum Zraualtar. Ihr dürfet
es, sie ungleich aud die Welt von eurem Schritte denken mag. Seit
Jahrhunderten feid ihr das erfie Paar, das in der Eidgenoffenfchaft bes
geht, was den Prieftern von Päpften und Biſchöfen verhalten geweſen.
Doch unfere Religion verwirft nieht die füßeften Triebe der Nutur, fie
heiligt ſie nur. Hat fie doch Gott in das Menſchenweſen gepflanzt:
⸗
“
46
ein ift auch das Gebot des Liebenden : „Water und Mutter foll ver
Loffen der Menſch, daB Mann und Weib fich vereinen.“ Hinweg mit
den Sakungen paäpſtlicher, Willkühr! — Geh’ denn in Frieden,
Blühende Tochter. Sei dem Manne ein fruchtbarer Weinftod um fein
Haus; die Kinder um Guern Tifch wie des Delbaums Sprößlinge. —
So wird gefegnet ein Mann, der dem Herrn vertraut! — Lieblid und
ſchön fein ift nichts; ein gottesfürdhtiges Ehweib bringet Lob und
Segen! denn bauet der Herr das Haus nicht, dann arbeiten umfonft
die Bauenden! — So laffet und denn den Bund der Ehe würdig
fchliegen! Wilhelm Roubli, ich frage vor Gott und diefer Verfammlung :
Wählt Ihr mit ernſtem Bedacht zur chlihen Gattin die Jungfrau
Adelpeid Leemann! Verſprecht Ihr als chriftliher Ehmann Freude mit
ihr und Kummer, wie Gott in diefen Zeiten es fügt, zu ertragen, und
fie troß Papft und Bannſtrahl nicht zu verlaffen, bis Gott Euch väter:
lich fcheidet ?
Vikar. Ja!
Pfarrer. Adelheid Lemann, ich frage Euch auch vor Gott und dieſer
Berfammlung : Wählt Ihe mit ernſtem Bedacht zum ehlichen Gatten den
Vikar Wilhelm Röoͤubli? Verſprecht Ihr als chriflliched Ehweib Freude
und Kummer, wie Gott es fügt, zu erfragen und ihn nicht zu verlaffen,
was auch die Welt davon urtheile, bis Gott Euch väterlich fcheidet ?
Adelheid (weinend). Ja! |
Pfarrer. So gebt Euch die Hände und wechfelt die Ringe, fie
binden Euch jtärker als Papft und Kloftee! — Ich fegne hiemit als
Diener des göttlichen Wortes fo gut ald Bifchof und Papft, fegne mit
allem Segen des allbarmherzigen Gottes Euren ehlichen Bund! Euch hat
der Vater im Himmel beide zufammengefügt; Fein Kaifer noch Papſt
vermag Euch zu fcheiden. Segn’ und behüt' Euch der Herr! der Herr
laß Leuchten fein Antlitz gnädig über Euch; es erhebe ‚der Here fein
Antlig und geb’ Euch feinen Frieden allhier und dort in Ewigkeit!
Amen.
Erfter Bürger. Schön war die Handlung! Hat fie mich alten
Mann doch faft zu Thränen gerührt.
Zweiter Bürger. Noch unfere Kindeskinder werden davon
reden.
Erfier Bürger. Warum heirathet doch auch der Urheber aller
diefer Reformen, unfer Zwingli, nicht ?
‚Zweiter Bürger. Das wird fich finden. Die Klugheit hat es
Bisher noch nicht geftattet. Doch weiß ich von fücherer Hand, daß er
im Stillen um Anna Reinhard wirbt.
Erſter Bürger. Um die fchöne, reiche Reinhard, die junge
Witwe?
47
Zweiter Bürger. Eben diefe meine ich. Und fie fol ihm bes
reits recht gut fein.
Erfter Bürger. Wer Fönnte den Mann baffen, der uns allen
zum Segen ins Land gekommen iſt. — Wohin geht nun der Zug?.
Zweiter Bürger. Dorthin in den blühenden Baumgarten. Dort
in Gottes freiem, heiteren Tempel, wo die Bäume ihre Aeſte zum grü⸗
nenden Dome wölben, dort werden die Liebenden mit ihren theuern
Angehörigen ein fröhliches Mahl halten.
Erſter Bürger. Glück und Segen dem ſeltenen Hunde!
(Sie frennen fich.)
Letzte Scene.
Kirche zu Wädenfchiveit. " .
Eſcher, Statthalter. Aktuar. Zwei Bürger. Doll.
Statthalter. Mitbürger! Ich Habe Euch im Namen der Re:
gierung eine Verordnung vorzutragen. Ihr wiſſet, daß zu wiederholten .
Malen die Lehre Zwingli's von Geiftlihen und Weltlihen im Angefichte
der Megierung ift geprüft und nichts als Wahrheit darin erfunden
worden. Der Rath der Zweihunderte bat Hierauf Wereinfachung des
Kultus befchloffen. Er Bat aber zugleich verheißen, diefelbe noch ein
halbes Jahr anftehen zu. laffen, damit in der Zwifchenzeit von Jeder:
mann, der dazu Beruf fände, Gegengründe eingefendet werden Fönnten.
Dies Alles it Euch bekannt. Seitdem ift die gefammte Geifilichkeit-
nochmals einberufen worden, doch Eonnte ſich auch da Niemand ale
Gegner erheben. Nun iſt die anberaumte Friſt abgelaufen, ohne daß
von irgend einer Seite her Gegengründe wären geltend gemacht worden.
Darum hat der Große Rath am Pfingfitage folgende Verordnung ges
teoffen, die Hiemit verlefen werden fol.
Aftuar (liest). „Mir Bürgermeifter, Klein und große Räthe zu
‚Zürich verorönen wie folgt : Der ganzen Gemeinde fol der entzogene
Gebrauch des Kelches wieder geftattet fein. Täglich foll Morgens eine '
Predigt flattfinden. Die Sakramente follen von nun an in der Mutter:
fprache gefpendet werden. Wir haben uns ferner entfchloffen die Bilder
abzufchaffen. Was bisher für Zierrathen derfelden verwendet worden ift,
fol den Armen zum Beften kommen. Die Lehrer dürfen nichts anders
als das göttliche Wort, frei von päpfilihen Zuſätzen, predigen. Indeß
ift nicht unfere Abfiht Jemanden mit Gewalt in Slaubensfachen zu
zivingen. Darum Hat Zwingli den Auftrag empfangen, eine kurze Ans
leitung der gereinigten Glaubensichre zu verfaffen, welche euch wird be⸗
fannt gemacht werden. Endlich follen ale Schimpfreden aufhören, denn
48
wie find zum Frieden berufen. So fei denn das Werk im Namen
Gottes und mit der Hoffnung begonnen, ee werde mit feiner Hand das
Schiff felder führen.“
Statthalter. Ihr feht, daß die Regierung jedem billigen Wunſche
Remung trägt. Seid Ihr es nun zufrieden ?
Bolt. Mir find es! wir find es!
Erfter Bürger. Wir haben vernommen, - daß fich mit verfdie
denen Kantonen feindliche Verhältniffe angefponnen Haben. Wir wünfchen,
daß diefelben ausgeglichen werden.
Statthalter. Zweifelt nicht, daß die Regierung ihre Pflichten
erfüllen werde. Bereits find Bern, Schaffhaufen und einige andere Kan:
tone gewonnen, den übrigen follen zweckmäßige Borftellungen gemacht
werden. _
Erfter Bürger. Beſonders mit Schwyz und Zug wollen wir
nachbarliche Freundſchaft erhalten wiffen. Wir wären dem Anfall diefer
Kantone zuerſt ausgefckt.
Statthalter. Die Regierung wird Euch fehügen.
Zweiter Bürger. Mir mwünfchten auch, daß die fetten Kloſter⸗
mahlzeiten abgefchafft würden. Mancher Müßiggänger findet dadurch
Vorſchub. Beſſer, die Gemeindearmen werden dafür gefpeist. Gefchähe
dies nicht, fo würden auch wir kommen, um von ſolchem Sen und
Trinken unfern Theil zu nehmen.
Mehrere. Mir danken der Megierung für ihr freundliches Gehör,
für ihre Rathsbotſchaften und für die zur veligiöfen Belehrung uns zu:
“ gefendeten Druckſchriften.
Statthalter. Freuen wird es die Behörden, «ure geänderten Ge⸗
finnungen Eennen zu lernen. Und fo fei uns ihre Verordnung willfommen,
wofür fie noch den Segen fpäter Jahrhunderte empfangen werden. Ruhm
und Ehre folge ihren Befchlüffen nad.
Nahfpiel
Zwingli vor dem Großen NHathe
im Jahr 1839.
Perfonen.
Erſter Bürgermeiſter.
Zweiter Bürgermeiſter.
H......
S...... Regierungsräthe.
St... )
H...... Präfident bed Glaubenskomites.
E...... Aftuar desſelben.
Regierungerätpe. Kantonsräthe. Kirchenräthe. Deputirte der Gemeinden.
Volk.
Schauplatz: Kantou Zürich. Zeit: 1839.
Erfte Scene.
®
Humanitäfögebäude.
Zwingli (anfangs unter dem Volke). H., Präfident des Glaubens:
fomite's. Aktuar E. Pfarrer 3. Abgeordnete der Gemeinden. Volk.
Präfident. Eo find wir denn einig diefe Adreſſe an den Re
gierungsrath zu überreichen? Herr Altuar, leſen Sie diefelbe den An:
wefenden vor.
Aktuar. Das Glaubensfomite des Kantons Zürich hat im Namen
des Volkes befchloffen, folgende Adreſſe an den Regierungsrath zu er:
laſſen: „Dr. Strauß von Ludwigsburg darf und ſoll nicht kommen.
Ja er darf niemals an irgend einer Xchranftalt unfers
Kantons eine Anftellung erhalten. Bisher hat das Wolf die
Stellung feiner Stellvertreter gefhont, länger aber prüfe
man feine Geduld nicht mehr, es befindet fihb im höchſten Grade
der Kraft und in der höchſten Spannung. Gefährlich wäre
der Widerftand der Regierung. Sie hat ihren Pakt mit
uns gebrodhen. Sie Hat den Artikel der Verfaffung, wel:
cher den Beſtand der Landeskirche garantirt, verlest. Sie muß
nachgeben. Und wenn der Große Rath nicht willig ift, fo werden wir
auf einer Landesgemeinde unfere Forderungen erzwingen. “
Präfident. Sind Sie mit diefer Adreffe einverfkanden ?
Deputirte Mir find ee.
Präfident. So wollen wir fie noch heute der hohen Behörde be:
bändigen. Noch heute muß uns Antwort werden. (Leife zu Pfarrer 3.)
Wir Haben gewonnen. Die bisherige Stellung Ihrer Heren Amtsbrüder
ift gefichert.
- Pfarrer. 3. (eben fo zum Präfidenten). Ich wünſche Glück zum
Miniſterſtuhl.
Präſident (laut). So laſſet uns denn Gott danken, daß er uns
dieſen Weg geleitet Hat, um feine heilige Religion zu beſchützen.
Bwingl i friff hervor. Schrecken und Staunen ift auf allen Gefihfern zu
fefen.)
21
Zwingli (ergreift, zum Zifche teetend, die Adreſſe). Dieß die
Urkunde eurer fchändlichen Umtriebe! Eure Regierung foll und muß
euerer Glaubenswuth weichen? (zerreißt das Blatt und wirft es bei
Seite.) Da liege, Infteument des Aufruhrs, Denkmal der Verführung
eines guten, doc, leicht zu bethörenden Volkes. Gehorſam feid Ihr
Eurer höchſten Behörde fchuldig.
Pröfident. Sie Hat ihre Vollmacht überfchritten, indem fie die
Landeskirche angriff.
Zwingli. Das lügft Du in Deine Eeele. Die Landesficche ſteht
feft, und wird beſtehen, fo lange es Gott gefällt. Was hat die Wiſ—
fenfchaft bei der Kirche anzufeagen, wenn es fih um Anſichten und
Lehrmeinungen handelt? Glaubensfreiheit ift gewährleiſtet; ihrer darf der
Lehrer an der Hochſchule um ſo weniger beraubt werden, da Ih mit
derfelben einen fo argen Mißbraud) treibt.
Pfarrer 3. Wir gedachten nur Deiner Worte, wenn wir für "die
Kirche firitten.
Zmwingli. Leſet meine Schriften : wo babe ich einer flabilen Kirche
das Wort geredet; wo die Ausſprüche der Vernunft verhöhnt; wo Aufs
ruhe gegen die Obrigkeit gepredigt? Binnen drei Stunden fordert Ihr
Antwort auf Eure revolutionäre Adreſſe! Go ehret Ahr die Behörde,
die Euch Gott nah Eurem Willen gegeben hat ?
Präfident. Die Gemeinden verlangen nad) ſchneller Entfcheidung.
Zwingli. Die Gemeinden haben Euch den Auftrag gegeben, ihnen
die DBefchlüffe eures Winkelkonziliums früher zur Einficht vorzulegen.
Ihr betrüget fie fhbändlih und Euch ſelbſt. Solche Willkühr wird den
Getäuſchten zuerft die Augen öffnen. _
Pfarrer 3. Wir Haben die Gemeinden redfich ermahnt zu wachen
und zu beten, und übrigens Alles dem Heren anheim zu
ftellen.
Zwingli. Nein! Ihr Geiſtlichen habt das Feuer der Zwietracht
zu Stadt und Land angefacht. Ihr ſeid noch jetzt geſchäftig, Oel in
die Flammen zu gießen. Auf Euch fällt die ſchwerſte Verantwortung
zurück. Hinweg mit Euch Barbaren von dieſer Stätte, wo einſt Huma⸗
nität gelehrt wurde. Hinweg, im Namen des Herrn befehl' ich Euch,
oder Ihr ſollt Zwingli's Grimm erfahren — hinweg!
(Oas Comite zerſtreut ſich.)
Zweite Bceme.
(Rathefaal.)
Beide Blrgermeifter. Regierungsräthe. D.... Sch.....
Re... G.... Kirchenrath. F..... Kantonsräthe.
Erfter Bürgermeifter. Hochgeachtete Herren! Der heutige
Tag tuft uns auf eime außerordentliche Weiſe hieher. Die Straußiſche
Sache ift es, die uns befchäftigen ſoll. Schon der Umftand ihrer Voll:
zaͤhligkeit beweist das Intereſſe welches Sit daran. nehmen. ie fol
heute zur Entſcheidung! Gteauß iſt zum Profeffor an der Hochſchule
gewählt. Das Volk will ihn nicht. Was iſt nun unter folchen Um⸗
Ränden zu: befchliegen? Dieß Die Frage, deren Beantwortung und
nun obliegt.
Zweiter Bürgermeifter. Das Boll will Doktor Stranß
niht? Das Wolf ift getheilt. Gin Theil, ich Hoffe, der beffere, der
gebildetere, will Doktor Strauß Haben; ein anderer will ihn nidyt, ein
deittee iſt unentfchieden. Zu weldhem Theile gehören wir? Auch zu
Zwingli’s Zeiten, war Parteiung zwiſchen Stadt und Land. Dennod
fhüßte ihn die Behörde mit Nahdrud. Ich trage darauf an: Doktor
Strauß foll kommen und lehren.
R. R. 9. Meine Anfiht geht dahin, man fol Doltor Strauß
ſeinen Ruhegehalt ausſetzen.
R. R. Sch. Einem rüſtigen Manne von 32 Fahren?
Doftor K. Man möchte fih Billig wundern, wie ganz andere
die Sprache einiger Volksmänner Hier, als einft auf den Gefilden Uftere
lautet.
RR. H. Tempora mutantur, et nos mulamur in ipsis.
F. Ih finde es nöthig, daß die Landesbehörde dem Glaubens:
Fomite aufrichtiges Bedauern ihrer bisherigen Uebereilung bezeuge, denn,
geftehen wir es uns offen, die Souveränetät des Volkes ift verletzt wor⸗
den: wie find ihm Genugthuung ſchuldig.
(unwillen und Gelächter in der WBerfammlang.)
Doktor 8. Wenn man Recht und Verfaffung nicht mehr reſpek⸗
tiven will, wenn unferer Hochfchule ihre fchönfte ‚Zierde fehlen foll: fo
falle mit Strauß auch fie: ih trage auf die Aufbebung der Hoch⸗
fhule an.
(Lebhafte Bewegung unfer den Anivefenden.)
Zweiter Bürgermeifter. Here Präfident! Hochgeachtete
Herren! Wohin follen alle diefe Ertreme führen? In unfere Mitte
ſelbſt herrſcht Uneinigkeit. O daß nun Zwingli's Geiſt Euch beſeelte!
Daß der Treffliche ſelbſt unter Euch ſtünde!
23
Dritte Scene.
Zwingli. Die Vorigen.
Zwingli (tritt plötzlich ein). Hier ſteht er und wird nicht wei⸗
chen, bis er der Wahrheit Zeugniß gegeben. Soll Strauß kommen oder
nicht, dieß ift die Frage. Nichts Hat Eure Vorgänger im Amte gehin⸗
Bert, meine Perfon gegen Papft und Reich zu fehlten. Wen fürchtet
Ihr jeht? Ihr Habt den Mann gewählt: könnet Ihr nod zurück?
Die ganze Schweiz ſieht in dieſer Stunde auf Eure Entſcheidung, die
Geſchichte iſt bereit, ſie in ihre Annalen aufzuzeichnen. Ihr wollt
Strauß mit einer Penſion abfertigen? Iſt es dem begeiſterten Religions⸗
freunde um klingend Gold zu thun?- Er hat Eure Wahl angenommen ;
er will ihe gemäß dem Rufe der Vorfehung folgen, feine eigenthlimliche
Lebensbeftimmung erfüllen: und Ihr wollt zurück? Sind Euch Verttäge
nicht Heiliger? Ihe wolltet ernöten, allein die Ausfaat koſtet einige.
Müpe: darum Habt Ihr die Hände in den Schooß gelegt. Noch ift
nicht Alles verloren! Aber nur Entjchloffenheit, Kraft, Beharrlichkeit
führt zum ſchönen Ziele.
Erſter Bürgermeiſter. Dieſer Rath ſcheint denn doch be⸗
denklich. u
Zwingli. WBor drei "Jahrhunderten waren die Vorſtände des
Rathes nicht fo bedenfenvol. Sie traten entfchieden feft auf.”
R. R. S. Damald war eine Reformation nöthig; nicht aber in
unfer® Tagen.
Zwingli. Der Mißbräuche gibt es auch unter Euch vollauf.
Kaum erkenne ich meine Kirche mehr. Klagt ja das Glaubenskomite
über religiöſe Leerheit, über vorherrſchende Sinnlichkeit und Ueppigkeit.
F. Wir wollen ſelbſt die nöthigen Reformen einleiten, haben auch
damit bereits begonnen. |
Zwingli. Wohl hat Euch die Landesbehörde lange genug die
Initiative gelaffen. Allein was iſt gefchehen? Die Laufe Habt Ihe
feei gegeben, ein neues Chorhemd verfertigt, und den Teufel aus dem
Katechismus gefirichen. Die Reformen aber, die Ihr weiter im Sinne
haben möget, drohen der geiftig = religiöfen Freiheit neue Gefahren und
flimmen durchaus nicht zu dem Begriffe meiner Kirche.
% Wir glauben doch eben die Landeskirche, wie du fie gefchaffen,
verbiete uns die Berufung des Doktor Strauß.
Zwingli. Meine Kiecche ift eine mit der „Zeit fortfchreitende,
Ihr aber Habt fie fiabil gemacht, fie ift feit drei hundert Jahren
Stilftänderin.
Zweiter Bürgermeifter. Was ratheft du uns alfo?
Te a —
Z wingli. Strauß ſoll kommen, doch nicht in dieſen Tagen der
Unruhe. Den Schwachen im Glauben Rechnung zu fragen, ſtellt ihm
einen zweiten Lehrer an die Seite. Im Uebrigen nehmt das Verfahren
Eurer Vorgänger zum Vorbilde. Wahret die Glaubensfreiheit! In
Betreff der Landeskirche ſpreche ich heute wie vor drei hundert Jahren:
„Euch fällt die Aufſicht über ſie zu. Ich kann nirgends finden, daß je
bei den Alten zweierlei Herrſchaft iſt geweſen, eine geiſtliche und eine
weltliche. Sie hätten auch nie ſich vertragen können. Ihr aber, theure
Amtsbrüder in Chriſto, geht voran mit dem Beiſpiele aller Bürger⸗
tugenden, des Gehorſams gegen die Obrigkeit!“ So ſprach ich im
Jahre 1519. Nicht anders kann ich heute reden.
Zweiter Bürgermeiſter. Es iſt alſo unſere heiligſte Amts-
pflicht, zu kräftigen Maßregeln zu ſchreiten. Recht, Verfaſſung und
Freiheit ſtehen auf dem Spiel.
Rathsdiener (mit Depeſchen, tritt fehnel ein). Die Vorigen.
Erxfter Bürgermeifter (nachdem er gelefen). So eben meldet
man vom rechten Seeufer, ein Gewalthaufen Habe fi) gegen das Ge:
minar in Bewegung gefeßt.
Augemeine Unruhe.)
Unter ſolchen Umftänden erkläre ich die Sitzung für aufgehoben.
Meine Herren, Sie ſind entlaſſen.
Zweiter Bürgermeiſter. Vergeſſen Sie nicht, Hochgeachtete,
meines letzten Wortes. Alles für Recht und Verfaſſung!
(Verſammlung geht raſch auseinander.)
Druck von Orell, Füßli u. Comp
[|
THE NEW YORK PUBLIC LIBRARY
REFERENCE DEPARTMENT
"his book is under no ciroumstances to be
taken from the Building