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A R T K t SCIENTIA VERITAt
f ^
KARL LIEBKNECHT
STUDIEN
ÜBER DEE BEWEGUNGSGESETZE
DER GESELLSCHAFTLICHEN
ENTWICKLUNG
•
KURT WOLFF VERLAG MÜNCHEN
HM
57
L7a
Copyright 1922 by Kurt Wolff Verlag A,-G. München
Dnick Yon G. Ereysing in Leipzig
1922
iU^o ^0^2
Alis dem wissenschaftlichen Nachlaß
im Auftrage der Erben Liebknechts
herausgegeben von
Dr. MORRIS
1
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
I. Im Nachlaß Karl Liebknechts fand sich das umfangreiche Ma-
nuskript einer wissenschaftlichen Arbeit. Geschrieben war es 1 9 1 6 bis
igi8 im Zuchthaus zu Luckau. Gedanklich durchgearbeitet war
der Pröblemkreis durch 3o Jahre hindurch. Wie sich aus der „Vor-
bemerkung'' ergibt, war die Arbeit während einer Festungshaft
1907 bis 1909 schon einmal -- wenn auch nur „in Apergus und
Essais, in rasch hingeworfenen, lockeren Entwürfen'* — zu Papier
gebracht. Zehn Jahre später wurde die Arbeit dann noch einmal,
jetzt in mehr zusammenhängender Form, niedergeschrieben. Ober
die Beschaffenheit des Manuskriptes orientiert ein mit Bleistift ge-
schriebener Zettel, der lautet:
I. Entwurf.
Versuch über das gesellschaftliche Bewegungsgesetz. (K. Lieb-
knecht, 1916 — 18, Luckau.)
Manuskript bestehend aus
a) zwei Quartheften
und zahlreichen
b) separat einzelnen Seiten.
Jedes „Kapitel" auf besonderes Blatt schreiben! (Hinzu kommen
vier Quarthefte „Beispiele zur gesellschaftlichen Kausalität"
und viele kleine Notizzettel.)
Der Inhalt der beiden Quarthefte gibt einen systematisch fortlau-
fenden Gedankengang, endend mit dem „Ausblick" betitelten Ab-
schluß. Es existiert auch hierzu ein Inhaltsverzeichnis. Diese Hefte
enthalten auf fast jeder Seite Zwischenbemerkungen und Einschie-
bungen und sehr viel eingelegte Blätter und Zettelchen. Die losen
Blätter stehen nur zum Teil in Zusanunenhang untereinander;
größtenteils sind es in sich abgeschlossene kurze Einzelunter-
suchungen, die sich gedanklich allerdings in den Gesamtplan ein-
fügen. Wie aus der ,, Vorbemerkung" hervorgeht, war die Arbeit
als allgemeine Unterlage historischer Einzeluntersuchungen gedacht.
Es findet sich auch auf einem Zettel der Untertitel: „A. Grund-
lagen". Zur Vorbereitung von Einzeluntersüchungen dienten ein-
mal die oben genannten vier Quarthefte „Beispiele zur gesellschaft-
lichen Kausalität", sodann 1 4 Oktavhefte Exzerpte. Es sind Heft-
chen, die mit winzig kleiner Schrift genaue Auszüge aus allen von
Liebknecht im Zuchthaus gelesenen Büchern enthalten; Randbe-
merkungen geben die im allgemeinen Teil des Hauptwerks auf-
gestellten Kategorien an, unter welche das jeweils Gelesene fällt.
Es handelt sich dabei um Exzerpte aus Goethe: Wilhelm Meister,
Dichtung und Wahrheit, Egmont, Faust, Natürliche Tochter, Ly-
rik usw. Femer aus Lenau, Hebbel, Dickens, Washington-Irving,
Otto Ludwig, Kleist, Tieck, Grillparzer, Fontane, W. Alexis, Gogol,
Dostojewski, Homer, Schiller und sehr viel Lessing: Laokoon und
Hamburgische Dramaturgie.
In dieser Gestalt war das vorliegende Manuskript natürlich nicht
druckreif. Es war des Autors Absicht gewesen, das Werk gründ-
lich auszuarbeiten. Das ist nun nicht mehr möglich gewesen. Doch
in dem voriiandenen Manuskript ist der Kreis der Gedanken, welche
für den Autor entscheidend waren, vollständig umrissen. Und dieses
gibt die Möglichkeit, das vom Autor unfertig hinterlassene Werk
auch nach seinem Tode und ohne Durcharbeitung durch ihn selber
herauszugeben. Zu dieser Herausgabe scheint aber auch durchaus
ein Recht vorzuli^en. Bei aller UnvoUständigkeit tritt es dem Leser
entgegen als totaler Ausdruck eines lebendigen Geistes.
II. Zur Beurteilung des Geistes der Arbeit mag die Selbstcharak-
terisierung, welche Liebknecht von sich gegeben hat, als Ausgangs-
punkt dienen. Auf Seite i6!2, wo er den Geist einer bestimmten
Geschichtsperiode schildert, hat er am Rande notiert: „egol" Das
bezieht sich auf folgende Stelle: „Verwandtschaft wie mit klassi-
scher Antike so mit Renaissance und Humanismus und der Periode
der Reformation, Städterevolution usw." Und in der Tat — es ver-
binden sich in ihm die Ströme, die ausgehen von dem Drange nach
Harmonie und in sich ruhender, geschlossener Gestalt, mit jenen,
die eben nichts anderes sinfd als der ewige Strom des Lebens selbst,
8
das Fließende, das Ineinander, das »«Infinitesimale". Absolutheit
des Glaubens und Eindeutigkeit des Schauens zeichnen Liebknecht
aus. Aber das, was ihm seine Schau in Klarheit und Evidenz zeigt,
ist die Relativität alles Lebens, sein organischer, irrationeller Kern,
das Leben nicht als Aneinanderkettung einzelner in sich gerundeter
Abschnitte, sondern als Prozeß. Das Liebknechtsche Denken ist
durchaus modern, mag sein Urteil im einzelnen Fall mitunter selbst
fast bürgerlich und der gewohnheitsmäßigen Einstellung ent-
sprungen erscheinen, seine Gesamthaltung ist aUer Erstarrung ra-
dikal abgewandt, ist dynamisch, funktionell. Wenn man will, so
kann man ihn Vitalisten nennen. Seine Natur ist irgendwie leib-
nizisch. Wie dieser sucht er bei voller Erkenntnis des mechanisch-
energetischen Naturzusammenhangs eine organische Erklärung, die
das Prinzip der Stetigkeit vertritt, eben dem letztlich irrationellen
Grunde des Lebens einigermaßen gerecht wird. So war klassisch
seine Gesamthaltung, die Einheit seiner Schau, nicht das Was, son-
dern das Wie seiner Konzeption; wogegen sein eigentliches Wirken
selbst, seine konkrete, geistige Produktion, also auch sein Werk
im einzelnen — jeder affektierten und posierten Transzendenz fern
— als Leben im Leben steht. Damit ist aber auch erklärt die
zehrende Ungenügsamkeit, die den glühenden Geist Liebknechts
erfüllte. Über sich selbst hinauswollen, nie einen Abschluß finden,
die stete Selbststeigerung von sich und der Welt fordern — hier
liegt der Urgrund des Revolutionären dieses Mannes. In ihm war
— wie nur in wenigen — das Revolutionäre Lebenselement.
Es ist daher ganz selbstverständlich, daß diese elementare Kraft
auch die Einsichten, die wissenschaftliche Anschauung Liebknechts
formte und bestimmte. Die Dynamik des Lebens, sein „Infinitesi-
malcharakter" der „dialektische Prozeß" (Sinunel nennt diese Er-
scheinung die „Transzendenz des Lebens") — das ist das Urphä-
nomen, mit dem Liebknecht Jahre hindurch gerungen und das er
wissenschaftlich zu fassen suchte. Alle Gebiete des sozialen Lebens
durchstreifend, alle Kulturerscheinungen durchprüfend — dabei
immer von der Grundidee seines eigenen Seins getragen — , hat er
schließlich das vorliegende Werk geschaffen.
III. „In meiner Hauptarbeit (,Bewegungsgesetze') stocke ich. Die
Grundlagen sind im ersten Entwurf längst fertig — aber chaotisch.
Jetzt gilt's ordnen, gliedern, ausbauen. Das reizt mich stets weniger
als das erste Produzieren, das Heraussprudeln, das eigentliche Zeu-
gen und Gebären und im G^iensatz zu jenem Ordnen, das ich als
ein Erziehen bezeichnen mochte." So schrieb Liebknecht am lo. Juni
1917 aus dem Zuchthaus an seine Frau. Nichts kennzeichnet seine
Arbeitsweise und den äußeren Zustand des Werkes besser als dieser
Ausspruch. Nur daß dieses „Chaos** gewaltiges Erzeugnis einer
zur Klarheit durchbrechenden genialen Weltanschauung ist und so
für den Leser bei und gerade wegen aller formalen Unfertigkeit
ein tieferes Verstehen schafft, als derselbe Gedanke es vermöchte,
wenn er erst durch die seine Ursprünglichkeit ihm raubenden Klär-
wässer formaler Ausarbeitung gezogen wäre.
Ein Zeugnis für die wunderbare Elastizität dieses Mannes, zu-
gleich für die Unmittelbarkeit, mit der das Werk geschrieben ist,
mit der jede Erfahrung sogleich für die tragende Idee verwendet
wurde, bietet folgende andere Stelle eines Briefes aus dem Zucht-
haus vom 16. Juni 1918:
„Das Tütenkleben gibt mir mehr Interesse als Du ahnst. Ich
studiere daran systematisch das Wesen der Technik, die Psychologie
des Erfindens, den Begriff der Geschicklichkeit. Du magst lächeln
und sicherlich sind ähnliche experimental psychische Unter-
suchungen schon oft gemacht und wohl auch wissenschaftlich ver-
wertet. Nur genaue Selbstbeobachtung kann volle Klarheit geben.
Jede kleinste Bewegung des ganzen Körpers und der einzelnen Glie-
der, ihre Haltung, die geringsten Modifikationen in der Verwen-
dung der Sinne, besonders der Augen und des Gefühls, die Rolle
der geistigen Funktionen und des Stimmungszustandes, der Art und
Ordnung des Materials, der fortgesetzten Repetition gleichartiger
Bewegungen, des Tempos und Rhythmus der Handgriffe und der
Beobachtung anderer und der Belehrung durch sie und der eigenen
praktischen Erfahrungen — unzählige Einzelheiten und Kleinig-
keiten sinds, aus denen sich schließlich eins der wichtigsten Be-
wegungsgesetze der menschlichen Entwicklung ergibt, das im Klein-
sten dasselbe ist wie im Größten."
Schließlich ist noch als kennzeichnend die Bleistiftnotiz zu er-
wähnen, die sich auf der ersten Seite des Manuskriptes findet:
„Mehr Selbstverständigung als Abschluß.'*
10
IV. Die vorstehenden Charakteristika bestimmen von selbst die
Art der Bearbeitung, welche der Herausgeber einzuhalten trachten
mußte. Der Grundcharakter des Werkes durfte durch die Bearbei-
tung nicht angetastet, mußte vielmehr gerade so deutlich wie mög-
lich hervorgehoben werden. Es verbot sich daher für den Heraus-
geber nach genauer Prüfung, etwa die fehlenden und nur durch
Überschriften angedeuteten Abschnitte seinerseits auszuführen. Des-
gleichen empfahl es sich nicht, erläuternde Anmerkungen hinzu-
zufügen oder weitere Literatur anzuführen. Die Versuchung dazu
lag manchmal nahe — besonders an solchen Stellen, wo Liebknecht
kurze Behauptungen aufstellt, diese aus der Literatur zu rechtfer-
tigen und zu erklären. Doch selbst solche Hinzufügungen hätten
der ursprünglichen Frische Abbruch getan, ohne dafür anderweitig
wesentlich entschädigen zu können. So beschränkte sich die Arbeit
des Herausgebers hauptsächlich auf die Stoffanordnung und die
Stilisierung. Was das erstere anlangt, so handelte es sich darum,
dem Ganzen eine einheitliche Disposition zu geben, ohne fremde
Gedanken hineinzutragen und das Werk zu vergewaltigen. Der
Herausgeber glaubt, daß dies mit der vorliegenden Stoffanordnung
zweckmäßig geschehen ist. Vor allem mußte auch auf eine Ver-
meidung zu häufiger Wiederholungen und ermüdender Breite ge-
sehen werden. Stilistisch macht sich der Charakter der „Selbst-
verständigung'' in dem Manuskript recht bemerkbar. Vor allem
liebte es der Autor, zur Verdeutlichung mehrere Ausdrücke, ja oft
ganze Satzformulierungen in verschiedenen Abwandlungen nieder-
zuschreiben. Der Herausgeber hatte darauf zu achten, daß die Klar-
heit des Gedankens nicht unter einer Überdeutlichkeit verloren ging.
Weiter wiirden nur solche Stiländerungen vorgenommen, wie sie
zur Druckreifmachung eines in der fliegenden Hast des quellenden
Gedankens entstandenen Manuskripts nötig sind. Die Grenze für
Eingriffe stilistischer Art war klar gezogen; der charakteristische
Stil des Autors, der sich durch große Nüchternheit der Sprache
und Vermeidung jeglichen überflüssigen und schwärmenden Bei-
werks sowie allerdings auch durch eine etwas schwerfällige Art
auszeichnet, mußte gewahrt bleiben. Schließlich ist noch zu be-
merken, daß starke Kürzungen des vorliegenden Manuskripts vor-
genonunen worden sind. Zahllose Schemata und Versuche zu sol-
II
chen, Hilfsaufzeichnungen des Autors« für sich selber als Richt-
linien für seine Gedanken«« unausgeführte Hinweise usw., die das
Manuskript durchzogen« sind im folgenden fortgelassen worden. —
Der Herausgeber glaubte sich die Freiheit nehmen zu dürfen« auf
jegliche philologische Akribie zu verzichten. Er hat also nicht ein
gewissenhaftes Verzeichnis aller gemachten Kürzungen« Konjek-
turen oder dergl. angelegt. Es hätte dies das Werk mit einem zwar
sehr gelehrten« aber seiner Bedeutung widersprechenden und seine
Lektüre störenden Ballast versehen. Bei der Herausgabe eines un-
vollendeten Manuskripts« das überdies nicht ein Werk in äußerlich
irgendeiner wissenschaftlich üblichen Form, sondern mehr ein Werk
freien schöpferischen Geistes darstellt« wäre eine solche Art der
Herausgabe keineswegs am Platze gewesen.
V. Die Charakterisierung des Werkes wäre nicht vollständig«
wenn nicht noch der fürchterlichen Umstände Erwähnung getan
würde« unter denen es entstand. Es ist im Zuchthaus geschrieben«
in schwer errungenen Abendstunden« nachdem erst die Erlaubnis
der Verwaltung eingeholt war« einige wenige Stunden Licht brennen
zu dürfen. Am Tage die öde und schwere Zwangsarbeit. Unfd
schließlich auch der bitter gefühlte Mangel an freier Auswahl und
Benutzung von Büchern. Nur der zähe Wille« durchzuhalten« eine
energisch durchgeführte Körperpflege und als Untergrund von all
diesen Hilfsmitteln der unerschütterliche Glaube an die eigene Sache
vermochten das Unwahrscheinliche, unter diesen Umständen dieses
Werk niederzuschreiben.
VL Das Werk erscheint so bewußt in unvollständiger Gestalt. An
zahllosen Stellen finden sich offene Probleme« Hinweise darauf« wie
diese oder jene Frage zu behandeln« nach welchen Prinzipien sie
zu untersuchen sei. Man möge diese Unvollständigkeit des Werkes
als Anregung betrachten. Nichts entspricht wohl dem Geiste seines
Autors mehr« als daß es den Leser nicht restlos sättige« sondern
ihn mit Verlangen und Sehnsucht erfülle zu eigener Tätigkeit.
Liebknecht selber wollte nichts anderes sein als ein ««revolutio-
närer« internationaler Soldat im Befreiungskampfe der Arbeiter-
klasse". Das vorliegende Werk stellt gleichsam die tiefere meta-
physische Einordnung dieses Kampfes in den Zusanunenhang der
Welt und des Geschehens dar. Der soziale Kampf der Arbeiter-
in
klasse, dem Liebknecht diente und dem er sich opferte, ist ihm
nichts anderes als der Weg zu einem neuen Humanismus. Er-
weckung der lebendigen Kräfte im Menschen, Auswirkung des
Lebens in höchster Intensität — so erschien Liebknecht der Sinn
des Lel>ens, so die Aufgabe des Menschen. Und wenn in dieser
Richtung sein Werk, das ihm so sehr am Herzen lag und das nun
nur als Torso herauskommen kann, wirkt, dann mag die Heraus-
gabe in der unvollkommenen Gestalt doch auch einigermaßen seiner
Absicht entsprechen, seiner ersten und letzten Forderung, für die
er lebte und staib, alle Kräfte zu konzentrieren auf den Sozialismus
als „die soziale Bewegung des Proletariats", die „Entstehungs- und
Kampf form des neuen allumspannenden Humanismus".
M.
VORBEMERKUNG DES VERFASSERS
Wir schicken unseren geschichtlichen Einzeluntersuchungen all-
gemeine Betrachtungen, Definitionen und Kombinationen voraus.
Die dabei innegehaltenen Gesichtspunkte sind aber, wenn sie auch
nun in der Darstellung so erscheinen, keineswegs deduktiv, speku-
lativ, synthetisch, konstitutiv gewonnen, sondern durchaus das Er-
gebnis der induktiven Methode, das Ergebnis der aus geschichtlichen
Untersuchungen kritisch-zergliedernd, empirisch gewonnenen Er-
kenntnis. Die Darstellung kehrt insofern den Weg der Forschung
um, um sich ein höheres Maß von Klariieit, Deutlichkeit, geschlos-
sener Gedrängtheit, systematischer Einheitlichkeit zu sichern. So
kann sie auch mit einer ausgebildeten Terminologie, mit abgegrenz-
ten festen Begriffen an eine Materie gehen, in der die Verworrenheit
der Wissenschaft in außergewöhnlichem Grade durch Verschwom-
menheit, Buntscheckigkeit, proteische Wandelbarkeit, Vieldeutigkeit
der Worte und Begriffe erleichtert und gesteigert worden ist und
wird. Die Beibringung vieler scheinbarer und wirklicher Synonyma
in diesem ersten Entwurf erklärt sich daraus, daß der Verfasser die
geeignetste und festeste Terminologie noch erst in der und durch
die schriftliche Ausarbeitung zu gewinnen sucht. Die vielfach sehr
spitze und tunständliche begriffliche Distinktion, Zergliederung
(Zerlegung) in den Grundlagen ist keine Spielerei, sondern nützlich,
ja notwendig: sie ist methodologischen Charakters — weist der em-
pirisch praktischen Geschichtsforschung möglichst deutliche Wege,
gibt wenigstens Orientienmgslinien, ein formales, wissenschaftlich-
theoretisches Orientierungsmittel für die Disposition praktischer
Einzeluntersuchung.
Diese Schrift sucht eine mehr konstitutive, konstruktive Theorie,
ein System zu entwickeln — im Unterschied von der Marxschen
i4
Theorie, die nur einen Zeitgedanken, wenn auch einen ungemein
fruchtbaren gibt. Wenn der folgende Versuch systematischer Dar-
stellung und DtiTchfühning, wie ich wohl weiß, gegenüber der
Aufstellung eines bloßen Zeitgedankens mit allen Nachteilen eines
Systems, vor allem mit einer viel breiteren Angriffsfläche (Fläche
für die Kritik) behaftet ist, so sei doch wiederholt mit Nachdruck
betont, daß sie nicht mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit und Ab-
geschlossenheit auftritt, daß sie nicht im entferntesten ein Dogma zu
geben denkt, sondern nur ein freilich mehr ausgeführtes, ausgebau-
tes methodisches Hilfsmittel für die Forschung, ein System von
Fingerzeigen, Richtlinien, Zeitgedanken — eine Zergliederungs-
methode vor allem.
Erkenntnistheoretisch geht der Verfasser — skeptischer als Hu-
mes Skeptizismus, kritischer als Kants Kritizismus, solipsistischer
selbst als Fichtes Solipsismus — geradeswegs auf dem Boden der
Agnosis.
Das Folgende ist jedoch von jenseits des Abgrundes gesehen, über
den Fichte in rettendem Salto mortale hinwegsetzte, d. h. vom Boden
des „unmittelbaren Wissens", des „praktischen", „gesunden Men-
schenverstandes", d. h. eines naiven Anthropozentrismus, ja Ego-
zentrismus unter bewußtem Verzicht auf eine erkenntnistheoretische
Verankerung des menschlichen Wissens, die schlechterdings un-
tnoglich, deren Erstreben ein vollkommener Widersinn ist; vom
Boden einer Auffassung, die die Dinge der Erfahrung, die Erschei-
nungen, den Stoff nimmt, wie sie sich dem empirisch und kritisch
geschulten Blicke bieten. Man möge den Verfasser um alles in der
Welt nicht für einen Eklektiker ansehen. Eklektizismus, wenn er
sich als Abschluß gibt, war ihm in der Tat seit je als tragikomische,
ja traurige Halbheit und Unselbständigkeit ein Gegenstand recht
eigentlichen geistigen Widerwillens. Nur als ein Stück kritisch-
analytischer und kritisch-konstruktiver Vorbereitung ist Eklektizis-
mus erträglich, ja in gewissem Sinne praktisch für ein solches Sta-
dium der Arbeit unentbehrlich. Nicht Eklektizismus, sondern Uni-
versalismus ist die Betrachtungsart, von der das Folgende beherrscht
wird. Nicht Eklektizismus, sondern Universalismus ist die Lebens-
losung und das psychisch-geistige Lebenselement des Verfassers,
außerhalb dessen er schlechterdings nicht existieren kann, in dem
i5
er atmet und nach seinen Kräften wirkt — schon unbewußt-halb be-
wußt von seiner frühen Jugend an; schon längst, ehe ihm noch
die Sterne Plotin, Cusanus, Bruno, Spinoza, Leibniz, Goethe auf-
gegangen waren.
Die im folgenden skizzierten Gedankengänge sind im großen und
allgemeinen die nämlichen, wie sie der Verfasser seit rund a5 Jahren
verfolgt, ohne jedoch bisher zu einer zusanunenhängenden und ab-
geschlossenen schriftlichen Sedimentierung gekommen zu sein.
Während einer anderthalbjährigen Festungshaft, die der Verfasser
wegen Hochverrats 1907 — 09 in Glatz verbüßte, konzentrierte er
seine Studien auf das hier behandelte Thema und brachte seine An-
schauungen in Apercus und Essais, in rasch hingeworfenen, in locke-
ren Entwürfen zu Papier. Das ungemein umfangreiche Material,
das so entstand und seit 1909 in meinem Pulte ruht, ist mir in
meiner gegenwärtigen Lage nicht zur Hand. Ich schreite daher zu
einer nochmaligen literarischen Schöpfung, zu einer Neuformu-
lierung, von der ich hoffe, daß sie nicht hinter der früheren zu-
rückbleiben wird.
ERSTER ABSCHNITT
GRUNDBEGRIFFE
UND EINTEILUNGEN
1
\
1. KAPITEL
DAS ORGANISCHE GESCHEHEN
VORLÄUFIGE AUFSTELLUNG UND UMSCHREIBUNG
EINIGER GRUNDBEGRIFFE
Das natürliche Sein und Werden ist in seinem Grund und Wesen
der menschlichen Erkenntnis (und Erkenntnis heißt: eine Erschei«-
nung nach ihrem Grund und Wesen kennen) völlig rätselhaft. Rätsel-
haft trotz des Fichteschen Verz weif lungs- undTodessprungs von der ab-
soluten Ungewißheit zur unmittelbaren Gewißheit, aber auch trotz
jener, teils laboratoriumsmäßig beschränkten (z. B. ,,Machismus'*),
teils nebelhaft verschwommenen, verworrenen (Dietzgen usw.)
neueren „Weltanschauungen", deren Wunderlichkeit und Abson-
derlichkeit nicht so sehr darin besteht, daß sie das ignoramus et
ignorabimus unbewußt zum System erheben, sondern darin, daß
sie in einem absurden Mißverständnis meinen, das Nichtwissen und
Nichtwissenkönnen durch Systematisierung (d. h. indem sie es zum
Prinzip erheben) in ein Alleswissen oder doch AUeswissenkönnen
verwandelt zu haben, eine schwarzkünstlerische Irrläuferei, die in
der Tat den eigentlichen und tiefsten philosophischen (besonders
den metaphysischen und Grenz-) Problemen ausweicht, ja sie nicht
einmal zu sehen, geschweige denn zu verstehen -scheint.
Inunerhin wird die Beschreibung, die gerne der Erkenntnis ge-
nonunen wird, wenigstens bei der anorganischen Natur von Tag zu
Tag vervoUkonunnet, so daß es schwer fällt, der Naturbeobachtung
(nicht: Erkenntnis) auf diesem Gebiete eine notwendige Begrenzt-
heit zu prognostizieren — wenn bisher freilich auch alle Ent-
2« 19
deckungen und Erfindungen auch in diesem Bereiche das Gebiet
des Unbekannten, menschlicher Beobachtung Entzogenen nur immer
größer und unübersehbarer haben erscheinen lassen.
Alles Erfahrungsmaterial, auch die Entwicklungsvorgänge und
die Geschichte als ein Teil davon, muß zuvörderst absolut, abstrakt,
logisch betrachtet werden. Diese Betrachtungsweise führt allent-
halben an die Grenzen zum Transzendenten, weist ins Gebiet des
Metaphysischen; ihr Ergebnis ist: eine große Zahl von Fragezeichen
und Feststellung der Bedingtheit aller danach gewonnenen empi-
rischen Forschungsergebnisse, Klarlegung der Vorbehalte, unter
denen alle dennoch unternommenen Formulierungen zu verstehen
sind; Abgrenzung der Möglichkeiten, Fähigkeiten menschlicher Er-
fahrungswissenschaft; die Beantwortung der einen Frage: in wel-
chen Grenzen ist Erfahrungswissenschaft möglich?
Alles Erfahrungsmaterial kann innerhalb dieser Grenzen betrach-
tet werden; mit dem Ziele, es der menschlichen Aufnahmefähigkeit,
seinem geistig-psychischen Vermögen möglichst nahe zu bringen
und nutzbar zu machen; in höchstmöglicher Approximation an das
allumfassend und absolut Richtige. Diese Betrachtungsweise ist eine
nur praktische, relative. Nur in ihrem Sinne sind alle positiven Er-
gebnisse, alle positiven Formulierungen auch im folgenden zu ver-
stehen.
Beide Betrachtungsweisen sind geboten. Sie werden in folgendem
nebeneinander angewandt. Doch sind sie stets scharf auseinander
zu halten. Sie stellen ganz verschiedene Aspekte dar. Sie vermischen
und durcheinanderwirren bedeutet Verdunkelung.
Der logisch-transzendenten Betrachtung der Dinge entspricht eine
logisch-transzendente Terminologie, die die über die Grenzen der
Erfahrung hinausgehenden Begriffe bezeichnet (z. B. die absoluten,
reinen Wirksamkeitselemente).
Der unbedingt empirischen, erfahrungswissenschaftlichen Be-
trachtung entspricht eine Erfahrungsterminologie, die die inner-
halb der Erfahrung liegenden, die aus der erfahrungswissenschaft-
lich vollständigen Anwendung ihrer Möglichkeiten sich ergebenden
Begriffssonderungen bezeichnet (z. B. Wirksamkeitselement in er-
fahrungsmäßig erreichbarem Sinn).
Der praktischen Betrachtung entspricht eine praktische Termi*
20
nologie, die die Begriffe so bezeichnet, wie sie für den jeweiligen
praktischen Untersuchungszweck am geeignetsten sind — die Er-
fahrung vereinfachend — als Werkzeuge und Mittel der je-
weiligen praktischen Untersuchung (vgl. z. B. Wirksamkeitsein-
heit im Sinne des gesellschaftlichen Energiegesetzes).
Die organische Natur, die allen Konjekturen zum Trotz für unsere
Erkenntnis und Beobachtung von der anorganischen durch eine bisher
nirgends überbrückte Kluft getrennt ist, ist selbst für die Beobach-
tung und Beschreibung im Kern noch immer schlechthin problema-
tisch, sich selbst ein Geheimnis: ein Geheimnis unter Geheimnissen.
Sic enthält noch immer ein durchaus irrationelles Element. Daß
sie eb^iso wie die anorganische Welt der Kausalität unterliegt, ist
allerdings selbstverständlich, sofern das Kausalgesetz im Gninde
nichts als eine Tautologie ist, ein tautologischer Notbehelf, eine
Denkform. Aber der Weg, auf dem sich das „Kausalgesetz" in der
organischen Natur durchsetzt, ist komplizierter als in der anorga-
nischen.
Auch in der letzteren ist das Verhältnis von Ursache und Wir-
kung ein wechselseitiges Funktionsverhältnis. Bei der organischen
Kausalität tritt zu der objektiven Naturgesetzlichkeit noch die in
der organischen Gliederung und Zielstr^igkeit beruhende subjek-
tive Eigeng^etzlichkeit des Organismus. Indem eine Kausalitäts-
kette durch einen Organismus läuft, trifft sie mit einer nie rasten-
den, jederzeit reaktionsbereiten (= lebendigen) Zielstrebigkeit zusam-
men und wird von dieser gewandelt und in dieser Verwandlung wei-
tergegeben — sei es zu weiterer organischer, sei es zu weiterer an-
organischer Kausalität. Das „teleologische" Element in der orga-
nischen Kausalität kann auch als das subjektive Element bezeichnet
werden. Die Eigengesetzlichkeit des Organismus ist keine ruhende,
passive, sondern eine stets aktive, tätige. Die Bewegung des Orga-
nismus, die Auswirkung seiner Kräfte ist nicht die Wirkung nur
äußerer Anstöße und Veränderungen (wie er, der Organismus, es
allerdings in seiner Entstehung, der Ursache seiner Existenz nach,
ist). Er trägt einen Grund für seine Wirksamkeit dauernd in sich
selbst. So ist seine Einbeziehung in eine gegebene Kausalitätsreihe
stets die Verknüpfung einer neuen, der eigenorganischen Kausali-
tätsreibe, mit der gegebenen, fremden, ibm äußeren; die Verschmel-
zung zweier Kausalitäten.
Der Organismus besteht aus Materie; aber aus Materie besonderer
Art. Diese ihre besondere Qualifikation nennen wir das organische
Wesen. Das organische Wesen kann nicht ohne Materie auftreten,
deren eigenartige Modifikation sie ist. Materie ohne organisches
Wesen aber ist kein Organismus. Das organische Wesen ist
1. Energie (Kraft),
2. Eigengesetzlichkeit, und zwar im doppelten Sinne, als initia-
tive Eigengesetzlichkeit (die die Energie in Bewegung setzt) und als
formgebende Eigengesetzlichkeit (die ihr Richtung und Wirkungs-
art gibt). Das organische Wesen ist eigengesetzliche Energie, ist
das energetische Prinzip in seiner Eigengesetzlichkeit.
Wie das organische Wesen untrennbar an die Materie gebunden
ist, so die Eigengesetzlichkeit (beider Arten) als deren Eigenschaft
oder Modalität an die Energie, sofern sie organisch ist.
Energie, sofern sie organisch ist, ist eigeogesetzliche Energie, so
daß das organische Wesen auch organische Energie genannt werden
kann.
Der Organismus wird nicht entwickelt, passiv, sondern entwickelt
sich, reflexiv; er entwickelt sich unter äußeren Einflüssen, aber er
entwickelt sich eigengesetzlich, selbst wo die äußeren Einflüsse nicht
nur bedingend, sondern bestimmend (vgl. S. 24) auf ihn wirken:
insoweit liegt dann eben keine Entwicklung vor, sondern Wirkung
von Fremdursachen auf die Entwicklung, richtiger: auf den sich
entwickelnden Organismus im Verlauf seiner und in bezug auf seine
Entwicklung. Diese Eigengesetzlichkeit ist nicht nur formgebend,
bedeutet nicht nur, daß sich der Organismus so und nicht anders
gestaltet oder zu gestalten sucht; sondern auch initiativ, zur Ent-
wicklung antreibend, sei es infolge des primitiven Entwicklungs-
triebes, der in der Fortentwicklung der Art (der Gesellschaft usw.)
als primitiver Höherentwicklungstrieb auftritt, sei es als eigengesetz-
liche Reaktion auf äußere Einflüsse (Anregungen).
Entwicklung ist die organische Energie in Bewegung — aber die
formgebende Eigengesetzlichkeit ist nicht Ursache der Bewegung
der organischen Energie, sondern Ursache der Art des Verlaufs der
22
vorhandenen Bewegung. Ursache der Bewegung selbst, der organi-
schen Energie, ist die initiative Eigengesetzlichkeit, das initiative
Prinzip des organischen Wesens. Das Wesen dieses Prinzips fest-
zustellen, ist ebenso unmöglich, wde die Ergründung des organischen
Wesens überhaupt und wie die Feststellung des Wesens irgendeiner
Naturkraft, der Gravitation, der chemischen Äff initaten usw. Es ist
eine Naturkraft v^e die physikalischen und chemischen Naturkräfte,
vielleicht nur eine eigentümliche Erscheinungsweise und Kombina-
tion auch sonst bekannter physikalischer und chemischer Natur-
kräfte. Sein Wesen aber würde selbst dann völlig unbekannt blei-
ben, wenn es auf diese anderen in ihrem Wesen nicht minder un-
bekannten Naturkräfte zurückgeführt werden sollte. Wie vnr ge-
nötigt sind, jene mechanischen Naturkräfte als Tatsache hinzu-
nehmen, so nicht minder die organische Naturkraft und damit das
zum organischen Wesen gehörende initiative (bewegende) Prinzip.
Die andere Seite des organischen Wesens als des energischen
Prinzips in seiner Eigengesetzlichkeit, ist die formgebende Eigen-
gesetzlichkeit. Sie bestimmt die Richtung und Art, in der die vom
initiativen Prinzip in Bewegimg gesetzte organische Energie wirkt.
Die initiative Eigengesetzlichkeit geht der formgebenden nur in
der logischen Beurteilung voran, nicht im tatsächlichen Verlauf
der Entwicklung. Keineswegs yard erst die organische Energie vom
initiativen Prinzip in Bewegung gesetzt und dann erst vom form-
gebenden Prinzip gerichtet und gelenkt; vielmehr ist die organbche
Energie, die sie in Bewegung setzt, bereits Energie von formgeben-
der Eigengesetzlichkeit. Es handelt sich in beiden Prinzipien nicht
um besondere außerhalb des organischen Wesens liegende, sondern
notwendig zu ihm gehörige Eigenschaften, die stets nur verbunden
und an die organische Energie gebunden auftreten können — als
Qualitäten, als Modalitäten der organischen Energie, mit der zu-
sammen, v^e schon gesagt, sie das organische Wesen bilden, das
wiedenun mit der Materie verknüpft den Organismus darstellt.
Die organische Kausalität ist genau durch das Prinzip der Ziel-
strebigkeit, der Eigengesetzlichkeit, der Eigenwilligkeit allgemein
charakterisiert; aber dßr Weg dieser Kausalität, die Länge, Mannig-
faltigkeit, Yerschlungenheit der Kette ist in den verschiedenen Or-
ganismen von ungemein verschiedener Kompliziertheit; ebenso wie
23
der Energiegrad der Eigenwilligkeit, Zielstrebigkeit, d. h. wie die
Aktivität der zielstrebigen Kraft gewaltige Gradunterschiede auf-
weist.
Man muß ferner bei der Analyse der kausalen Verhältnisse unter-
scheiden Bedingungen und Bestimmungsgründe. j^Bestinunend" be-
deutet: leitend, beherrschend, das Prinzip der Bewegung selbst
entscheidend, beeinflussend; „Bedingend'* bedeutet: das an sich vor-
handene und charakterisierte Prinzip der Bewegung, die an sich ge-
gebene und von ihren Regeln beherrschte Bewegung nur in ihrer
Modalität beeinflussend, in ihrer Richtung und Art modifizierend,
ihr Grenzen setzend von außen — nicht von innen heraus sie schöp-
ferisch, positiv beherrschend und treibend. — Mit einem Bilde:
„Bedingen" heißt, den fließenden Strom in seiner Richtung und
Art in gewisse Grenzen setzen; nicht die Strömung des Stromes
selbst erzeugen und nach Kraft und innerer Tendenz aus sich selbst
heraus gestalten.
Der Begriff „bestimmen" ist also der intensivere. Intensiver als
er ist wiederum der Begriff des ersten Antriebs, der ersten Ursache,
des primum movens.
Ganz allgemein gilt aber: der Unterschied zwischen beiden Be-
griffen ist insofern nur ein relativer, als das für einen größeren
Komplex niu* Bedingende in bezug auf die beeinflußte Modalität
selbst, überhaupt in bezug auf das beeinflußte Detail bestinunend
ist; so daß alles Bestimmende durch Erweiterung des betrachteten
Komplexes bis zu einem nur Bedingenden abgeschwächt werden
kann; daß also kein absoluter Gegensatz vorliegt, sondern ein Ge-
gensatz nur jeweils von einem gegebenen Quantitäts- oder Quali-
täts- oder Intensitätsmaß aus; nur von jedem fixierten Punkt aus
gesehen, scheiden sich die beiden Begriffe, nicht an und für sich,
nicht absolut, nur in Beziehung auf eine gegebene Größe, einen fi-
xierten Maßstab, und also relativ.
Beispiel für diese Relativität: Aus den Bedingungen, Begren-
zungen, z. B. der gedrückten sozialen Lage fließen Antriebe. So
werden die Bedingungen psychisch, nach der psychischen Eigenart
organischer Reaktion zu Bestimmimgenl
34
Es gibt positive (günstige, fördernde, bejahende) und negative
(ungünstige, hemmende, verneinende) Bedingungen.
Positive und negative Bedingungen können in jeder Mannigfaltig-
keit zugleich auftreten; aus ihrem Zusanunen- und Gegeneinander-
wirken ergibt sich dann, ob etwas und was und wie es und wann es
geschieht. Positive und negative Entwicklungsbedingungen sind
Entwicklungsfaktoren .
Solche Tatsachen, Vorgänge usw., die weder positiv noch negativ
wirken, sondern sich schlechthin gleichgültig gegenüber dem Be*
trachtungsobjekt verhalten, sind neutrale Bedingungen; sofern sie
sich auf einen Entwicklungsprozeß beziehen: neutrale Entwick-
lungsbedingungen .
Jeder positive Bestimmgrund ist ein Schöpfungsfaktor, der allein
zur Schöpfung hinreicht, jeder negative ein Verhinderungsfaktor,
der allein zur Verhinderung hinreicht. Doch können mehrere po-
sitive und mehrere negative Bestimmgründe je zugleich auftreten.
Unmöglich ist dagegen ein Nebeneinanderauftreten von positiven
und negativen Bestimmgründen, weil kein Ding oder Geschehen
zugleich sein und nicht sein kann.
N eutrale Bestimmgründe kann es b^riffsgemäß nicht geben;
durch neutrales Verhalten kann zwar ein Objekt, ein Vorgang be-
dingt, aber nicht bestimmt, nicht gestaltet werden.
Wenn der Organismus nun auch den Grund seiner Impulse stets
allein oder zugleich in sich selbst findet, so doch nicht die Objekte
seiner Tätigkeit. Er bedarf zur Erreichung seines Selbstzweckes
(seines „Zieles"), er bedarf zur Existenz als Organismus, er bedarf
zum Leben in seinen verschiedenen Aggregatzuständen (Stadien,
Formen — wie Entstehen, Sein, Wachsen, Vergehen) der Umwelt
— teils nur als Existenzbedingung im engsten Sinne (z. B. als
Raum), teils als Rohstoff für seine Erhaltung, seinen Aufbau, teils
als Werkzeug für seine Tätigkeit, für das Leben.
Diese Umwelt sich nach seinem Bedürfnis zu assimilieren, sich
nach seinem Bedürfnisse dienstbar zu machen, sie in den Grenzen
und mit den Mitteln seiner Assimilationskraft seinen eigenen Zwecken
einzuverleiben, ist die Eigenart der Richtung der Aktivität, die der
Organismus auf die Umwelt ausübt; ist das Charakteristische der
Beziehung, in die er sich aus eigenem Impuls zur Umwelt setzt.
Aber die mannigfaltige Umgebung, in der er sich befindet und
z. T. befinden muß, um sein Ziel zu erreichen, steht ihm, zumal sie
nicht nur aus Unorganischem, sondern auch aus Organismen be-
steht, keineswegs nur passiv gegenüber, sondern wirkt ständig und
mannigfach auf ihn ein. Diese Einwirkungen unterstützen — z. T.
symbiotisch (eubiotisch) — seine Bedürfnisse, seine Zielstrebig-
keit; z. T. stellen sie sich — antibiotisch (dysbiotisch) — seinen
Bedürfnissen und Zielen entgegen. Solche symbiotischen Wir-
kungen in sich aufzunehmen; solche antibiotischen (lebensfeind-
iichen, widerstrebenden) Wirkungen von sich abzuweisen, ist der
Organismus ununterbrochen genötigt.
Die Eigenkraft des Organismus in ihrer Eigengesetzlichkeit und
Zielstrebigkeit sei In weit, alles außerhalb seiner Befindliche —
gleichviel ob organischer oder unorganischer Art — Umwelt ge-
nannt.
In dem Funktionsverhältnis zwischen In- und Umwelt wirken —
summarisch gefaßt — zwei Ejräfteverbindungen (Systeme); und
zwiar bald die eine, bald die andre die Initiative ergreifend, bald
einander symbiotisch unterstützend, bald einander antibiotisch be-
fehdend. Während der Organismus in diesem Verhältnis, gleich-
viel ob er oder die Umwelt initiativ auftritt, sich stets aktiv verhält,
ist die Umwelt bei Initiative der Inweit, je nachdem sie anorganische
oder organische Teile der Umwelt betrifft, bald objektiv-passiv,
bald subjektiv-aktiv; bei eigener (der Umwelt) Initiative, je nach-
dem diese Initiative von unorganischen oder organischen Teilen
ausgeht, objektiv-aktiv oder subjektiv-aktiv. In diesem Funktions-
verhältnis werden unter den wechselseitigen Einflüssen sowohl Um-
welt wie Inweit umgestaltet. —
Der Organismus besitzt erfahrungsgemäß die Fähigkeit, sich we-
sentlich zu verändern; die für unsere Betrachtung wichtigste dieser
Veränderungen wird als Entwicklung bezeichnet.
Es fragt sich, ob die Entwicklung durch die Eigengesetzlichkeit
des Organismus, durch seine Zielstrebigkeit verursacht oder doch
mitverursacht ist, d. h. ob die Initiative zur Entwicklung im Or-
a6
ganismus selbst^) oder in den Einwirkungen der Umwelt oder im
Zusammenwirken und Auf einanderwirken von In- und Umwelt liegt.
Das letztere ist der Fall — es ist an anderer Stelle näher darzulegen
(Kapitel 3). —
Was macht nun das Wesen des organischen Prinzips aus? Wel-
ches ist sein „Telos", worauf geht sein „Wille", seine „Zielstrebig-
keit", seine Kraft, seine „Eigengesetzlichkeit"? Auf das „Leben";
d. h. auf eine bestinmite Form des Seins, die uns erfahrungsgemäß
in charakteristischen Zügen, wenn auch nicht in ihrem Wesen und
Grunde bekannt ist.
Die Form des Seins ist kein einförmig-gleichmäßiger Dauer-
zustand, sondern das dauernd, laufend neuerzielte, stets erneuerte
Produkt laufender chemischer und physikalischer (physiologischer)
Prozesse. Diese Prozesse laufend, ununterbrochen zu vollziehen, ist
der Organismus genötigt, um zu leben. Sie bilden keineswegs das
Leben selbst. Ihre Vollziehung bildet jedoch einen Teil der Tätig-
keit des Organismus, der an Umfang — im Verhältnis zur Gesamt-
heit des Lebens — wechselt, aber stets sehr groß ist, so daß er oft
als „das Leben" betrachtet wird, während er doch recht eigentlich
nur das Mittel zum Zweck des Lebens darstellt.
.Noch gröberem Irrtum verfällt die übliche Anschauung, wenn
sie den Sinn des Lebens (oder des Organismus) in der „Selbsterhal-
tung" erblickt; die Erhaltung des Lebens oder die auf diese Erhal-
tung gerichtete Lebensäußerung ist nicht das Leben selbst, sondern
— schon dem Wortsinn nach — nur ein Mittel für die Ermög-
lichung des Lebens, eine Lebensäußerung, die den Zweck verfolgt,
die Bedingungen des Lebens zu erhalten und zu bereiten. Aber doch
eben nur erst, um das Leben selbst als den Zweck dieser Tätigkeit
zu ermöglichen.
Da das Leben jedoch dauernd neuproduziert wird und werden
imuß, und zwar vom Organismus, dem Träger des Lebens, selbst
und da weiter der Organismus, der Träger des Lebens, dauernd
sich selbst die Bedingungen des Lebens bereiten und erhalten muß,
da also der Organismus nicht nur Träger des Lebens, sondern auch
^) Das Wort ^Entwicklang" würde darauf am genauesten passen, sofern
es besagt, daß die späteren Stadien des Organismas bereits in den
früheren enthalten sind.
27
Selbstproduzent, Selbsterhalter des Lebens ist und diese Produktion
und Erhaltung eine Funktion des Lebens selber ist, so ist in der Tat
das nackte „Leben" nicht isoliert, nicht losgelöst von diesen Be-
tätigungen der Selbstproduktion und Selbsterhaltung des Lebens zu
finden. Sie bilden aber nicht „das Leben" oder einen Teil des
„Lebens", sondern Funktionen des Lebens, notwendige Funktionen,
die das Leben schaffen und erhalten, so wie das Leben sie trägt
und übt: die Selbstproduktion des Lebens durch das Leben.^) Kei-
neswegs sind diese Lebensproduktions- und Erhaltungsfunktionen
aber die einzigen Funktionen des Lebens, ja sie sind die Funktionen,
die am wenigsten den Lebens zweck selbst berühren — so paradox
es klingt — ; sie betreffen nur die Voraussetzungen des Le-
bens. Freilich muß das Leben in der laufenden Selbstproduktion
und -Erhaltung so starke Kräfte einsetzen, und diese Kraftverwen-
dung ist eine so unablässige, regelmäßige, daß sich das Leben in
diesen Funktionen am energischsten und augenfälligsten zeigt.
Doch unverkennbar ist ein Trieb bei den Organismen vorhanden,
der über die Selbsterhaltung hinausgeht, eine Tendenz der Orga-
nismen, sich zu vermehren, den Bereich des Lebens, das Organische
zu verarbeiten, auf Kosten des Unorganischen Unorganisches in
Organisches zu wandeln — absolut und relativ (für die einzelnen
Arten von Organismen); kurz: ein „Eroberungstrieb" gegenüber der
unorganischen Welt, ein Lebenserweiterungstrieb.
Ist diese Fortentwicklung nun wesentlich die Wirkung der Le-
bensproduktions- und Erhaltungsfunktionen? Das annehmen, hieße
die Eigenart der organischen Entwicklung verkennen und die Eigen-
art der organischen Kausalität, durch die sich die organische Ent-
wicklung doch notwendig allein vollziehen kann. Jene Funktionen
mögen — in ihrem Flusse — die Entwicklung ermöglichen, sie
mögen sie fördern, ja sie mögen sie provozieren. Aber ohne die
^) Hier steht am Band des Ms.: .Leben — Lebenskraft — scheiden?!"
Nach den gesamten AasfÜfarangen und der hieraus ersichtlichen Art
seiner Einstellong überhaupt ist zu vermuten, daß Liebknecht sich für
die Annahme einer besonderen Lebenskraft entschieden hfttte. Freilich
nicht im Sinne einer dem alteren Vitalismos entsprechenden mechanischen
Kraft, sondern höchst modern, neovitalistisch die Lebenskraft dynamisch,
als funktionelles Prinzip nehmend. [Anm. d. Hrsg.]
a8
Entwicklungsfähigkeit des Organismus wäre diese Entwicklung
nicht möglich.
Es fragt sich, ob über diese, die notwendige Voraussetzung der
Entwickhing bildende Entwicklungsfähigkeit hinaus im Organis-
mus eine Entwicklungstriebkraft enthalten ist. Daß dies für die
individuelle Entfaltung des einzelnen Organismus in seinen verschie-
denen Existenzstadien gilt, deren Zusammenfassung wohl sein ge-
samtes Ld)en ausmacht, ist offenbar. Hier handelt es sich aber um
die Fortentwicklung, Höherentwicklung der „Art". Die Frage ist
mit Sicherheit nicht wohl zu entscheiden; sie ist um so schwieriger,
als die höhere Entwicklungsform stets in der Richtung erhöhter
Sicherung der Lebenserhaltung liegt, als eine Vervollkommnung
der Lebenserhaltung, aus der Lebenserhaltung also gar nicht würde
erklärt werden können. Aber es ist nicht ersichtlich, warum nur die
Lebenserhaltungsfunktion zur Höherentwicklung treiben sollte,
wenn nicht das Leben im ganzen diesen Trieb der Vervollkomm-
nung umfaßte und einschlösse: nicht nur zur besseren Erhaltung
des Lebens, sondern zur Höher- und Bessergestaltung des Lebens
selbst, des ganzen Lebens in allen seinen Eigenschaften, Kräften,
Funktionen; des Lebens in seinem ganzen Wesen, seiner Totalität.
Jedenfalls sind hier die verschiedensten, wundersamsten, rätsel-
haftesten Triebe, Kräfte, Erscheinungen unlöslich verbunden, mit-
einander verflossen, in dauernder wechselseitiger Bedingtheit; und
mindestens im Zusanunenhang mit und im Hinblick auf den L«-
benserhaltungstrieb ist es erlaubt — ja geboten, dem Organismus
im ganzen den Höherentwicklungstrieb zuzuschreiben.
Wir stellen fest: Das Leben ist lunfassender als die Lebens-
erhaltung. Es gibt Lebensfunktionen, die nicht unter die Lebens-
erhaltungs- oder -produktionsfunktionen fallen und die wir ein-
fach Lebensfunktionen i. e. S. nennen wollen, z. B. das bloße
Wohlbehagen, die Ausübung der Kräfte rein um ihrer selbst willen ;
das Harmoniegefühl usw. Und weiter: zum organischen Prinzip
gehört nicht nur die Höherentwicklungsfähigkeit, sondern der
Höherentwicklungstrieb. (Ausführliches über Lebenserweite-
rungs- und Höherentwicklungstrieb: Abschnitt IL)
29
Unser Thema ist der Organismus „Mensch": der komplizierteste
der uns bekannten Organismen. In dauernder Funktionsbeziehung
zwischen der organischen Inweit und der organischen und unorga-
nischen Umwelt hat sich der Mensch herausgebildet« ist der Mensch
entstanden.
Die Bestimmung des Begriffs „Mensch'' ist nicht einfach. Neh-
men wir einen gewissen körperlichen und psychischen Habitus als
das Wesentliche. Dieser Habitus hat sich als Ergebnis bestimmter
Wechselwirkungen zwischen In- und Umwelt herausgebildet, in
denen sich In- und Umwelt gegenseitig umgestaltet haben: so daß
es unzulässig ist, den Organismus neu, primitiv, plötzlich in eine
bisher von ihm unbeeinflußte, ganz nach eigenen Gesetzen gebil-
dete Umwelt versetzt zu konstruieren; es gibt keine Umwelt, in
der sich ein Organismus befände, die nicht durch diesen mitbe-
stimmt wäre; und es gibt keinen Organismus (Inweit), der seine
Umwelt nicht mitbestimmt hätte. In- und Umwelt gehören un-
trennbar in ihrer besonderen Form und Art zusammen — eins als
die Bedingung des andern — (vgl. den Gedankengang der Leibniz-
schen Monadenlehre). Wenn also der Mensch die Schwelle von der
„Tierheit** überschreitet, „bringt" er in seine „Menschheit** be-
reits eine Umwelt mit „ein", die entsprechend seinem menschlichen
Lebensbedürfnisse durch ihn gestaltet ist; sein Habitus entspricht
einer bestimmten Art Umwelt.
Wenn wir das Einzelindividuum betrachten, so springt in die
Augen, daß sowohl seine Körper-, wie seine seelische Konstruk-
tion nur existenzfähig ist unter der Bedingung nicht nur gewisser
Eigenschaften der natürlichen Umwelt, sondern auch gewisser
Eigenarten seiner menschlichen Umwelt, speziell unter der Be-
dingung einer gewissen Vergesellschaftung, wie wir sie auch schon
bei allen Tier- und selbst Pflanzenarten finden; einer Vergesell-
schaftung sowohl zum Zweck des „Lebensgenusses", wie der Le-
benserhaltung. Nahrungserwerb, Schutz, Sprache usw. sind z. B.
nur als gesellschaftliches Produkt möglich.
Die primitivste der Vergesellschaftungen, d. h. der Ergänzungs-
und Unterstützungsbeziehungen zwischen verschiedenen Individuen
sind die geschlechtlichen zu Fortpflanzungszwecken, zum Zwecke
der Produktion von neuen Individuen, zur Erhaltung und Ent-
3o
Wicklung der Art (im Gegensatz zu den übrigen Arterhaltungs-
und Arten twicklungs - Tätigkeiten und Beziehungen, die nicht
der Produktion neuer, sondern der Erhaltung der vorhandenen
Individuen gelten). Wie die körperliche und seelische Entwick-
lung der einzelnen Individuen, so bildet auch die Entwicklung der
Ergänzungs- und Unterstützungsbeziehungen zwischen mehreren
Individuen von der Pflanzenwelt durch die Tierwelt bis zur Mensch-
heit eine fortlaufende Reihe.
Die begriffliche oder beschreibende Abgrenzung der verschie-
denen „Reiche" voneinander ist mehr oder weniger willkürlich und
nur ein Konstruktionsbehelf. Was wir „Mensch" nennen, ist be-
reits sowohl körperlich und seelisch (darunter auch technisch) wie
in bezug auf die Methode der Lebensmittel- und sonstigen wirt-
schaftlichen Produktion und des Schutzes usw., rein gesellschaft-
lich, d. h. in bezug auf Vergesellschaftung (zur Ergänzung und
Unterstützung) in einem bestimmten hohen Stadium der Entwick-
lung (also gesellschaftlich so wenig wde körperlich vor aller Ent-
wicklung). Es ist ein Nonsens, anzunehmen, daß die soziale und
kulturelle Entwicklung erst mit der „Menschwerdung" begonnen
hätte.
Wir wollen jedoch zur Vereinfachung der Darstellung bei der
Betrachtung und Systematisierung der einzelnen Kultur- und ins-
besondere Gesellschaftserscheinungen jetzt vom Menschen kurz-
weg ausgehen. Man muß sich stets vor Augen halten, daß, was wir
hierbei „Mensch" nennen, bald Mensch, bald noch „Tier", bald
sogar Pflanze bedeutet.
Aber nicht nur nach außen steht der „Mensch" in einer stetig
laufenden Entwicklungsreihe, so daß er schwierig zu identifizieren
ist. Auch nach innen ist er eine schwankende Größe. Hier soll
nach dieser Richtung nur die Schwankung in der physischen und
psychischen Leistungsfähigkeit des Menschen betrachtet werden,
die unter den durch verschiedenartige äußere und innere Be-
dingungen bewirkten verschiedenen psychisch-geistigen Aggregat-
zuständen wechselt.
3i
nur die physische Leistungsfähigkeit, auch die psychisch-
geistige Leistungsfihigkeit, die Urteils-, Entschluß- und Dand-
longikfihigkeit, die Beeindruckbarkeit und Reaktionsfähigkeit des
Orgaoismiis» deren Schnelligkeit, Intensität und Nachhalligkeit
/'Dauer) ist keine konstante Größe. Daß die versdiiedenen Artai
and Gattungen Ton Organismen hierin weit voneinander abweichen,
auch die verschiedenen Individuen derselben Art und Gattung nicht
Gbereinstinunen, lehrt die begrenzteste Erfahrung, ebenso, daß sich
im gleichen Individuum im Verlauf seiner Entwicklung starke Ver-
inderungen vollziehen. Aber auch im gleichen Entwicklungszu-
stand des gleichen Individuums wechselt der Zustand unausgesetzt;
das gleiche Individuum ist nicht einen Moment das gleiche wie im
anderen. Die physischen und damit die psychisch-geistigen „Zu-
stände" aller seiner einzelnen Teile — von den Zellen, ja von den
Bestandteilen der Zellen angefangen — sind nicht eine feste ge-
gebene Gleichung, sondern fortlaufende Prozesse, Prozesse der Ar-
beit, des Kampfes zwischen Inweit und Umwelt oder das fortwäh-
rend oszillierende Ergebnis solcher Prozesse. Und das fortwährend
oszillierende Ergebnis solcher zahllosen, endlosen, ewig wech-
selnden Prozesse ist das, was wir zusammenfassend als Zustand
des Individuums (des Organismus) bezeichnen, das aber ebensogut
einen Komplex verschiedener, nur intensiverer Funktionsgliederung
und äußerlich enger verbundener Organismen (Individuen) bildet,
wie die Art und schließlich das ganze Reich des organischen Lebens.
Die Ursache der Schwankungen liegt im Organismus selbst, im
Prozeß des Lebens, der Entwicklung selbst, soweit er durch die
gegebenen Bestandteile des Organismus und ihres gegebenen Zu-
standes bestimmt ist; oder in der Umwelt, mit der sich der Organis-
mus in dauernder Wechselwirkung befindet, die zum Wesen des
Lebensprozesses gehört, oder — und das ist die Regel — in beiden
zugleich: weder Inweit noch Um well sind zwei Augenblicke hin-
durch dieselben, noch weniger das Ergebnis ihrer Auseinander-
setzung, der Gesamtzustand des Organismus, des Individuums. Je
komplizierter, verwickelter ein Organismus ist, um so mannigfal-
tiger sind diese Schwankungen, diese Oszillationen, am mannig-
faltigsten also — soweit unsere Erfahrung reicht — beim Men-
schen. Und das gilt, obgleich auch hier neben der Differenziation
33
mch &:f
iioflsfiic!
SCÜftfe'
i L
die Integration steht, die die Schwankungen auszugleichen sucht
— wie in einer Art Clearing-System — und im Persönlichkeits-,
im Ich-Gefühl und -bewußtsein ein besonders vervoUkonunnetes
'" «f^ Mittel besitzt, die Vielheit zu einer großen Einheit und den Wechsel
zu einer gewissen Gleichmäßigkeit zu ordnen
ander £► Wird der Organismus — z. D. von der Umwelt — in seinen
idG^lt Grundlagen, seinem Dasein bedroht, so steigert sich — aufgerüt-
sbeDSö.i jeit — die Tätigkeit aller seiner Bestandteile aufs äußerste: in De-
ui?^«M* fensive und Offensive. Je größer die Schnelligkeit, Stärke, Dauer
ahtico. Jer Perzeption, des Urteils und Entschlusses, um so besser gerüstet
^}m^ ist der Organismus gegen die Bedrohung, um so aussichtsreicher
\tvk'\ der Existenzkampf. Intellektuell entsteht unter solchen Umstän-
?i5l^ den in einfachen und stumpfen Individuen oft geradezu eine ge-
, ]i t" niale Clairvoyance; in sonst trägen Individuen eine bewundernswerte
oe /c^' Aktivität und Ausdauer, in sonst feigen Individuen ein heroischer
e55eu Mut. Die zur Selbsterhaltung dienenden Kräfte des Organismus
ts- for erscheinen aufs höchste entfaltet, die widersprechenden kraftlos,
ri^'c die neutralen treten zurück.
I
■'vi 1" So entsteht in den Krisen der Gesellschaftsentwicklung die Er-
U hebung der Massen-Einsicht bis zur Erkenntnis des Gesellschaf ts-
)ätiy- Bedürfnisses, der Massenethik bis zur Preisgabe ihrer individuellen
fdr.'^ Sonderinteressen für das Allgemeininteresse, bis zur Bereitschaft,
h sein ganzes Selbst dafür aufzuopfern, die Erhebung des Massen-
^r xnutes zum Heroismus, der Massenkraft und Zähigkeit bis zum
it^t Gigantischen, zur Unüberwindlichkeit.
j) Daß und inwiefern all dies auch entsprechend für die physische
Leistungsfähigkeit zutrifft, bedarf hier keiner näheren Dar-
legung.
Trotz dieser ständigen Schwankungen mag es gestattet sein, ter«
minologisch eine gewisse konstante Einheit anzunehmen und dem-
gemäß die Gesamtheit der tiefsten, ursprünglichsten, triebhaften
Bestandteile des geistig-psychischen Wesens des Menschen kurz-
weg das Urwesen zu nennen. Dessen Bestandteile sind zahlreich
und verschiedenartig — allen Sphären angehörig, allen geistig-psy-
chischen Fähigkeitsgebieten und Kräftearten von den intellek-
tuellen bis zu den sinnlichsten in der üblichen Bedeutung. Sie sind
nicht „ewig", sondern im organischen Evolutionsprozeß nach dessen
3 Liebkneohtk Studien 33
Gesetzen entstanden. Sie sind nicht unwandelbar: jede neue Verände-
rung des physischen oder geistig-psychischen Wesens der Menschen,
die sich im laufenden Evolutionsprozeß vollzieht, vdrkt auch auf sie,
in ihre Tiefe. Aber diese Wirkung in der Tiefe ist im Vergleich
zu der Oberflächenveränderung gering. Das gebtig-psychische Ur-
wesen des Menschen ist der verhältnismäßig konstanteste Teil sei-
nes geistig-psychischen Gesamtweeens.
2. KAPITEL
DIE BEDÜRFNISSE, TRIEBE UND fflRE SPHÄREN
Man kann unterscheiden:
I. Die auf die Betätigung (Ausübung) des Lebens an und für
sich selbst, ohne weiteren Zweck, gerichteten Triebe. Sie werden
von der Kraft getragen, die nach Abzug der für die laufende Er-
haltung des Lebens (des Individuums und der Art) aufzuwenden-
den Kraft von der Gesamtlebenskraft, von der Kraft des Organis-
mus übrig bleibt. Die Kraft sei Überschußkraft genannt. Diese
Triebe, obwohl sie die allerureigensten, die wahrhaft grundlegen-
den, ersten, nächsten, elementaren, primitiven sind, mögen Ober-
schußtriebe heißen — ein Name, der immerhin eine gerade für
die Entwicklung wichtige Eigenschaft dieser Triebe ausdrückt.
Hierher gehört
a) jede Lebensbetätigung, die rein um des Lebensgenusses, der
Lebensfreude willen geschieht, dem Lebensgefühl dient;
alles, was körperlich und geistig-seelisch Glück und Genuß
als Selbstzweck, ohne praktischen Endzweck bietet; auch so-
weit es indirekt tatsächlich auch andere Wirkungen übt, z. B.
durch Übung der Kräfte, Kräftigung des Lebensgefühls und
damit des Erhaltungstriebs usw. „Des Lebens Pulse schla-
gen frisch l^ndig",
b) die Lebenserweiterung, soweit sie dem Lebenserweiterungs-
trieb als Überschußtrieb entspringt. Auch der Sympathie- imd
Solidaritätstrieb gehört hierher — ,
3« 35
c) die Höherentwicklung, soweit sie dem organischen Höherent-
wicklungstrieb als Überschußtrieb entspringt.^)
II. Die auf Erhaltung des Lebens gerichteten Triebe (Not-
triebe) :
a) die auch der Erhaltung des vorhandenen Individuums dienen-
den Triebe — und zwar:
1. solche auf Nutzbarmachung der Umwelt (Nahrung usw.\
2. solche auf Abwehr schädlicher Einflüsse der Umwelt
(Schutz) gerichteten Triebe.
b) die der Schaffung neuer Individuen zur Erhaltung der Art
dienenden Triebe (Sexualtriebe):
1. Begattungs- (Erzeugungs-, Gebär-) Trieb,
2. Kindererhaltungstrieb, der auf Erhaltung, Ernährung^
Pflege, Schutz usw. des geborenen Kindes geht.
Im weiteren Sinn dienen natürlich auch die Triebe zu IIa der
Arterhaltung.
„Erhaltung" heißt hier (zu II) allenthalben auch Reproduktion,
und weiter auch „Lebenserweiterung*' sowie Höherentwicklung,
nämlich, sofern diese Erweiterung und Entwicklung eine Besser-
und Sicherer-Erhaltung bedeutet und zum Zwecke einer Besser- und
Sicherer-Erhaltung angestachelt wird und stattfindet.
Auch die Ausübung der Triebe zu II ist Lebensbetätigung und
-Bedürfnis und bereitet gewiß, sogar meist intensivsten Genuß.
Selbst- und Arterhaltung ist dem Organismus unter günstigen Be-
dingungen keine Last, sondern meist eine Lust, die Befriedigung
eines elementaren Bedürfnisses (vgl. Essen, Geschlechtstrieb). Daß
dieser Befriedigung im Wege stehende Hindernisse durch Mühe-
waltung (Arbeit) beseitigt werden müssen, hat die Ausübung dieser
Triebe mit der Ausübung der Triebe zu I gemein: per aspera ad
astra gilt von allen Trieben; und Tf^t; ipeir^ls 6BpÖTa &eol wpOTca-
peü&ev l&i)xav^) nicht minder. Sowohl die Betätigung der Triebe
^) Über den Charakter der Überschuß-Empfindung vgl. Wilhelm Meisters
Lehrj. I, 19: .Werner bemerkte seit einiger Zeit, daß Wilhelm sich
nicht mehr in lebhafte Ausbildung seltsamer Vorstellungen vertiefte,
an welchen sich freilich ein freies, in der Gegenwart des Freundes
Ruhe und Zufriedenheit findendes Gemüt am sichersten erkennen läßt*.
^ Vor die Arbeit setzten die Götter den Schweiß.
36
zu I wie der zu II mündet für den Organismus unter normalen
Umstanden in Lustgefühle.
Die Triebe verschlingen sich^und verbinden sich; sie unterstützen
und hemmen sich; sie vertreten einander (vikariierend). Sie un-
terstützen sich: Die Übung der Triebe zu I macht den Organismus
fähiger, auch den Trieben zu II erfolgreich nachzukommen. Der
Befriedigung der Triebe zu II a 2 dient auch die Befriedigung der
Triebe zu IIa i, z. B. ist Kleidung und Wärme in gewissen Gren-
zen Äquivalent für Nahrung und umgekehrt. Und eine ruhige ge-
schützte Lebensweise ist minder aufreibend, weniger Arbeit- und
Kraf t-raubend und also Nahrung sparend.
Alle diese Triebe (Urtriebe) sind engst, ja untrennbar verknüpft;
auch die zu II dienen dem Lebensgenuß, auch die zu I der Erhal-
tung des Lebens usw.
Sie sind nicht nur methodisch zu trennen, sie sind ihrem Wesen
nach, nach Art, Ursprung, Zweck, Funktion verschieden, aber or-
ganisch verwachsen.
Den Trieben entsprechen die aus ihnen entspringenden Bedürf-
nisse. 'Die individuellen und sozialen Betätigungen und Einrich-
tungen zu deren Befriedigung gehören danach in die verschiedenen
Sphären, wovon die Lebens- (Überschuß-), Ernährungs-, Schutz-
(Abwehr-) und Sexualsphäre die hauptsächlichsten sind.
Die Ernährungs-, Schutz- und Sexualsphäre bilden die drei den
Nottrieben gewidmeten Notsphären, im Gegensatz zu der Über-
schußsphäre.
Jede Sphäre kann nach den verschiedensten Gesichtspunkten zer-
gliedert werden. Zum Beispiel die Schutzsphäre:
I. Zergliederung des Bereiches der Sphäre in verschiedene Be-
zirke verschiedenen Umfangs: Schutz der verschiedenen
„Kreise" vom weitesten bis zum engsten des Einzelindividuums
imd noch enger: der einzelnen psychisch-geistigen Kräfte,
Eigenschaften, Vorstellungen, Empfindungen und sonstigen
Inhalte wie der einzelnen körperlichen Bestandteile und Kräfte,
Eigenschaften des Einzelindividuums.
37
II. Zergliederung je nach der verschiedenen Art der zu
schützenden Objekte:
a) Schutz des körperlichen Wq^ns des Menschen; Schutz des
geistig-psychischen Wesens des Menschen; Schutz der für
den Menschen (Individuum und alle weiteren Kreise quoad
Menschen) nötigen^ natürlichen, angenehmen Teile der Um-
welt,
b) wobei sowohl jenes körperliche und geistig-psychische We-
sen des Menschen, wie diese Teile der Umwelt wiederum
den verschiedenen Sphären, bald dieser, bald jener, bald
mehreren zugleich angehören (z. B. Acker, Vieh, Berg-
werke — der Ernährungs- usw. Sphäre; das ist die Ver-
schlingung der Sphären!). Daraus ergibt sich dann die be-
sondere Einteilung nach den verschiedenen Sphären, denen
jeweils der zu schützende Gegenstand angehört.
III. Zergliederung je nachdem, wovor zu schützen: z. B.
a) vor schädlichen Naturwirkungen, elementaren Gefahren
(Gewitter, Sturm, Erdbeben, Überschwenmiung, Hitze,
Kälte, Trockenheit, Nässe),
b) vor Krankheiten usw.,
c) vor schädlichen Einflüssen der vegetabilischen Umwelt,
d) vor schädlichen Einflüssen der tierischen Umwelt,
e) vor schädlichen Einflüssen der menschlichen Umwelt,
f) vor sozialen oder außersozialen Gefahren; (innergesell-
schaftlichen),
g) vor Gefahren aus den verschiedenen „Kreisen";
wiederum zu trennen — je nachdem diese Gefahren innerhalb der
einzelnen Kreise auftreten, oder von außerhalb an die einzelnen
Kreise, in denen die Schutzaufgabe entsteht, aus anderen Kreisen
herantreten.
h) Soweit die Gefahren aus menschlichen Sphären selbst v^e-
derum herrühren, ihnen angehören, Einteilung nach diesen
Sphären.
IV. Zergliederung Je nach der Intensität des Schutzbedürf-
nisses und der dafür einsetzenden Tätigkeit.
V. Zergliederung je nach der Art dieser Tätigkeit.
38
Bei dem Ineinandergreifen der verschiedenen Triebe und Be-
dürfnisse« bei ihrem vielfach vikariierenden Verhältnis (z. B. von
Wärme wid Nahrung), bei der ziemlich grob empirischen Eintei-
lung der einzelnen Trid^e und Bedürfnisse, die gleichwohl aus prak-
tischen Gründen nicht umgangen werden kann, ist die Frage der
Rangordnung der Triebe und Bedürfnisse an sich bedenklich und
jedenfalls nicht einfach zu beantworten. Das Kriterium ist im all-
gemeinen der Grad der Lebensnotwendigkeit, und dieser Grad kann,
je nach der Intensität der verschiedenen Bedürfnisse, im Einzel-
fall bald bei diesem, bald bei jenem höher sein; auch vollzieht sich
in der Kulturentwicklung, wie auch in den Einzelnen nach ihren
verschiedenen Ausbildungen und Anlagen größte Unterschiede in
der Rangordnung der Triebe bestehen, eine vielfältige Wandlung
und Verschiebung in den Einflüssen der verschiedenen Triebe, eben-
so in den verschiedenen sozialen Schichten, wie in den Individuen;
besonders die Rolle des Überschuß-Triebes in der Überschuß-
Sphäre ist sehr verschieden bedeutsam; er kann, wie er sich bei
gewissen Individuen selbst über die drei Notsphären erhaben zeigt,
auch als Massenerscheinung so stark auftreten, daß die Nottriebe
und -Sphären demgegenüber weit zurückgedrängt werden, wenig-
stens zeitweilig in Perioden der Ekstase usw. Jedenfalls kann, wenn
die Not-Triebe (Hunger, Liebe, Schutzbedürfnis) infolge der teil-
weisen Befriedigung oder gar völligen Befriedigimg oder Abstump-
fung nicht intensiv wirken oder sich gar nicht geltend machen, der
Überschußtrieb in weitestem Maße vorherrschen.
Die Frage ist: die Rangordnung i. unter der Voraussetzung der
intensivsten Erregung der verschiedenen Triebe, ihres voll entfessel-
ten Kampfes, und 2. im großen Durchschnitt, im großen Zuge der
Menschheitsentvricklung (der Geschichte), d. h. als Massenerschei-
nung.
Der Schutztrieb, wo es sich um den Schutz von Leib und Leben
handelt, ist dem Ernährungs- und dem Sexualtrieb, als ein Lebens-
(Selbst-)erhaltungstrieb wie sie, jedenfalls durchaus gleichgestellt;
er kann ihnen je nachdem sogar vorgehen — alles kommt auf den
Einzelfall an. Der Verhungernde, den ein reißendes Tier anfällt,
ynrd sich mit seinen letzten Kräften dagegen wehren und vorüber-
gehend selbst den Hunger vergessen. Die Heinesche „Suppenlogik
39
mit Knödelgründen" ist aller anderen Logik sicher elementar über-
legen.
Es erhebt sich z. B. die Frage: Ist die ,«Liebe" ein gleich
mächtiger Rivale des Hungers wie der SchutztriAP^) — Zu-
weilen, vorübergehend, in Zustanden der Ekstase, der erotischen
Manie ^) mag die Liebe, die erotische Raserei selbst den stärk-
sten Hunger und alle anderen Empfindungen und Bedürfnisse,
auch die des Schutzes gegen eminenteste Gefahr übertönen —
bis zur Vernichtung des Lebens, zur Selbstzerstörung, Selbst-
hingabe, vgl. auch Mutterliebe usw. Auf die Dauer und in der
Regel unterwühlt und entwurzelt der Hunger und Durst, d. h. das
Ernährungsbedürfnis die sinnlich-körperliche Sexualempfindungs-
kraft wie alle sinnlich körperlichen Kräfte und nicht minder die
geistig-rpsychischen Kräfte, auch die höchsten ethischen. Das führt
bis zur Anthropophagie (Kannibalismus, vgl. die bekannten Fälle
Gestrandeter oder Schiffbrüchiger auf See). Die Ranggleichheit be-
steht jedenfalls nur bis zu einer gewissen Grenze, jenseits dann
die „Liebe" für die Regel aufhört, der Hunger (und der Schutz-
trieb) unbeschränkt, in ungeteiltem Regiment, absolut despotisch,
herrscht, an der Grenze alle Liebesgefühle, die etwa passieren
möchten, konfiszierend, abschlachtend, aufzehrend.
Wie sich die Triebe und Bedürfnisse im Menschen physisch und
geistig-psychisch verketten und verschlingen, wurde gezeigt. In allen
menschlichen Einrichtungen und Hilfsmitteln, Produkten, Leistun-
gen aller Art gilt das gleiche; sie lassen sich nicht schlechthin zur
einen oder anderen Sphäre schlagen.
Die Familie ist in ihrer Entstehung, ihrer primitiven Existenzgrund-
lage gewiß der Sexualsphäre angehörig; in ihren Formen und als ge-
formte Familie auch in ihrer EntstehuDg bestimmt durch und dienstbar
auch für die Emährangs-, Schutz- und selbst Überschuß-Sphäre. Staat,
Eigentum, Erziehung, Recht, Religion, Kunst, Wissenschaft sogar ge-
Vgl. Goethe: , Solange nicht den Lauf der Welt Philosophie zu-
sammenhält, erhält sich das Getriebe durch Hunger und durch Liebe*.
') Vgl. Balzzustand; vgl. die außerordentlichen Fälle, die Zola zu
schildern liebt: ^Germinal", «Rom* : Liebe, aufs höchste, krankhafte
gereizt, gepeitscht, gerade durch Gewißheit des Todes!
hören allen Sphären an ; in verschiedenen Bücksichten and mannigfachen
Funktionen — bald dieser, bald jener, bald mehreren. Wohnung,
Kleidung, Heizung gehören gewiß am augenfälligsten zur Schutzsphäre,
aber bei näherer Betrachtung auch zur Ernährungssphäre, sofern sie
die Emahrungsarbeit ermöglichen, ihr den Baum geben, die äußeren
Bedingungen, soweit Heizung zum Kochen und zur Produktion dient, usw.
Aber auch ganz allgemein, sofern sie die Arbeitskraft reproduzieren
und produzieren usw. Sie gehören femer sogar zur Sexual- und Über-
schuß-Sphäre. Z. B. Ästhetik der Kleidung, der Wohnung, des Kamins
(fire side).
Das Werkzeug kann allen Sphären dienen (der wirtschaftlichen Basis
aller Sphären; jede Sphäre hat eine solche). Waffen, Heerwesen, Krieg
(Kriegskunst = ein Stück der Ideologie des Kriegs), Jagdwaffe
= wirtschaftliches Emährungs- Werkzeug ; Abwehrwaffe = Schutz-
mittel 7 Angriffswaffe für fiaub (Kannibalismus) usw. = wirtschaftliches
Emährungswerkzeug.
Die Waffe, soweit Schutzmittel, ist wie das zu Schützende und mit
ihm den yerschiedenen Sphären angehörig. Heerwesen, Krieg dient
zugleich dem Schutz und dem Angriff, wofür wirtschaftliche Ursachen
aller Art in Betracht kommen, die wiederum allen Sphären angehören
können. So gehören Heerwesen und Krieg zu allen Sphären, — auch
der Emährungs-, der Sexual- (ihre wirtschaftliche Basis! aber auch
Frauenraub als Kriegszweck usw.) und Überschuß-Sphäre.
Auch zum Wesen und Sinn aller materiellen wirtschaftlichen
Unternehmung, aller Arbeit überhaupt, allen Kampfes gehört als
Wirkung und Zweck Befriedigung des Lebens an und für sich, Le-
bensgenuß, iiicht nur Erwerbszwecke, so daß auch diese Betä-
tigungen und sozialen Erscheinungen, mag ihr unmittelbares An-
sehen auch noch so plump materiell sein, zugleich der Überschuß-
Sphäre angehören, i)
So verschlingen sich die Sphären ineinander zu einer geschlos-
senen Einheit, zu einer organischen Totalitat, jede die Voraussetzung
^) Vgl. über den Handel Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, 10, die
lebhafte Schilderung Werners: «Nicht der Verwandte, der Bekannte,
der Teilnehmer allein, ein jeder fremde Zuschauer wird hingerissen,
wenn er die Freude sieht, mit welcher der eingesperrte Schiffer ans
Land springt, noch ehe sein Fahrzeug es ganz berührt, sich wieder
frei f&hlt und nunmehr das, was er dem falschen Wasser entzogen,
der getreuen £rde anvertrauen kann. Nicht in Zahlen allein,
mein Freund, erscheint uns der Gewinn; das Glück ist
die Göttin des lebendigen Menschen, und um ihre Gunst
wahrhaft zu empfinden, muß man leben und Menschen sehen, die sich
recht lebendig bemühen und recht sinnlich genießen*.
4i
der anderen, das direkt zur einen Gehörige indirekt auch zu allen
cmderen gehörig — ein. Ausdruck der organischen Totalität, der
geschlossenen untrennbaren Einheit des ganzen menschlichen We-
sens. Ein Gesamtgefühl des LAena, aller seiner Triebe und
Bedürfnisse und Kräfte zugleich erwächst und wird physisch-psy-
chisch-geistig ein einheitliches Ganzes. Und die Lebenserhaltung
selbst in allen ihren Variationen, diese erfolgreiche Betätigung der
Kräfte wird zum größten und eindringlichsten Genuß auch des
Lebens selbst, ein Erzeugnis der Not, aber ein Erzeuger tiefster
Beglückung.
Aus methodischen Gründen zur Ermöglichung systematischer, er-
sprießlicher Forschung ist die scharfe Scheidung und getrennte
Betrachtung der verschiedenen Triebe, Bedürfnisse und Sphären
nötig. Aber bei dieser Zergliederung darf die Zusammengehörig-
keit des künstlich G^esonderten nie vergessen werden, und dieser
Differentiation muß, sie stets wieder ablösend, in dauerndem Wech-
sel die Integration folgen.
•Es gehören z. B. Religion, Kunst, Wissenschaft am ehesten in die
Oberschuß-Sphäre. Aber keineswegs vollständig, ja nicht einmal
überwiegend.
Die Religion ^) ist im Beginn der Kulturentwicklung beinahe der
Inbegriff alles geistigen und psychischen Wesens, umfaßt die
Hauptvorstellungen, -Empfindungen, -Impulse, sowohl wissen-
schaftlich-verstandesmäßigen, wie phantastischen, wie enthusiasti-
schen, gemütlichen, exzitativen, postulatorischen Charakters des
Menschen über sich selbst und seine Umgebung, über In- und Um-
welt. All diese Vorstellungen, Empfindungen und Impulse tragen
in dieser Epoche eine religiöse Prägung.
So ist die Religion zugleich primitive Wissenschaft, theoretische
Wissenschaft, Medizin, Recht, selbst Technik in der Form allge-
mein intuitiver Vorstellungen; auch angewandte Wissenschaft; beide
konsequent in den Händen der Priester, Schamanen, Medizinmänner
usw. und unter religiösem rituellen Gewand. Ihre Gegenstände sind:
die Ergebnisse der gewöhnlichen Erfahrung und der Forschung;
nicht minder die Postulate an die künftige weitere Gestaltung der
^) Vgl. u. in. Abschnitt, Kap. I.
4!>
irdischen In- und Umwelt; schließlich die psychischen Zustande
(Empfindungen, Ekstasen, phantastische Vorstellungen, Phantasie-
bilder), die als Komplementärerscheinungen durch die Unbilden des
Lebens zur Stärkung, Tröstung erweckt werden und das Leben
durch psychische Annehmlichkeiten, Hoffnung usw. erträglicher zu
machen bestinunt sind (suppletorische Schutzvorstellungen, Schutz-
empfindungen usw.) und die dem reinen Lebensgenuß dienen, aus
dem Fortentwicklungstrieb elementar hervorquellen. Ihr Gegen-
stand ist also: Wissens-, Wahn-, Willens-, Wunsch- und Wert-
welt, und zwar all dies von vornherein, wenn auch in wechseln-
der Mischung und Betonung „natürlich" und „sozial" und
„individuell", d. h. sowohl in bezug auf das Individuum, das
„religiöse" selbst, in bezug auf seine Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft, auch vor Geburt und über den Tod hinaus; wie in
bezug auf seine Vorfahren und Nachkommen, den Ursprung und
Ausgang seines Geschlechts; wie in bezug auf seine ganze Art, ihren
Ursprung und Ausgang; wie in bezug auf die sozialen Gestaltungen
und Verhältnisse, wie in bezug auf die natürliche Umwelt aller Art,
sowohl die der menschlichen Aktivität zugängliche gestaltete oder zu
gestaltende, yne die, zu der sich der jeweilige „religiöse" Mensch
nur passiv verhält.
Sie dient sowohl dem Leben für sich selbst — Überschußsphäre
— wie der Lebens- (Individual- und Art-) Erhaltung und zwar in
allen Sphären; alle, auch Wissenschaft und Kunst umfassend.
In den verschiedenen Stadien der Kulturentwicklung wechselt
ihr Inhalt bedeutend. Wissenschaft und Kunst sondern sich immer
reiner von ihr aus; besonders ihr Wissenschaftsgehalt verringert,
verflüchtigt sich immer mehr; sie tritt sogar in Gegensatz zur Wis-
senschaft, nur ein Stückchen mystisch verschwommener, intuitiver
„Wissenschaft" bleibt ihr Bereich.
Und selbst dies wird immer mehr und mehr beschränkt dadurch,
daß allerhand phantastische Philosopheme auftauchen und wuchernd
um sich greifen. Man denke an die jeder Mystik innewohnende
Neigung zu Mystizismus und üppig rankenden Abstrusitäten, z .B.
im Gefolge des Py thagoräismus, der Neuplatoniker usw. Das Sekten-
wesen. Das Aufleben der Astrologie gerade in Verbindung mit reli-
giös stark lebendigen Zeiten. Letztlich bleibt die Wunsch- und
43
Wunderwelt die Domäne des religiösen Gefühlsüberschwangs; so
beim Chiliasmus, in der Wiedertäuferbewegung u. a. So auch heut
als Reaktionserscheinung in den dekadenten Schichten; vgl. die Ent-
wicklung der Christian science, der Theosophie u. a. gerade auch
in den gebildeten Kreisen.
Aber auch in diesem Zustande und gerade in diesem Zustande
dient die Religion im höchsten Maße den praktischen Lebensbe-
dürfnissen, wenigstens in der Tendenz: der Erhaltung und För-
denmg des körperlichen und seelischen Wohlbefindens, der Stei-
gerimg der Sicherheit, und zwar auch der Entschlossenheit und Tat-
kraft, des Zielbewußtseins, der Orientierung nach einem Sehnsuchts-
ziel des Enthusiasmus usw.; sowohl in der Ernährungs-, wie der
Schutz-, wie der Sexualsphäre (z. B. Reglementierung der Ge-
schlechtsbeziehungen zum Zwecke der Fortpflanzung) ; daneben ist
sie auch dem bloßen Wohlgefühl und G^nuß des Lebens dienst-
bar. — Freilich ist sie so leicht zu mißbrauchen und ist in der Tat
unendlich viel mißbraucht worden, um andere Menschen als Werk-
zeug gegen ihre eigentlichen Interessen zu lenken; und zwar in
solchem Maß, daß es schier unmöglich ist, aus dem Wust des
Mißbrauchs das ursprünglich und notw^idig und nützlich-allgemein
Menschliche herauszuschälen.
Den Wandel im Inhalt der Religion zu untersuchen, ist von höch-
stem Reiz. „Natürliche" und „soziale ' Religion — je nachdem die
religiösen Hauptvorstellungen und Maximen mehr durch die natür-
liche oder durch die soziale Umwelt bestinunt sind, je nachdem sie die
Beziehungen zur einen oder anderen überwiegend normieren usw. —
Die Kunst ^) hat den stärksten Anteil an der Überschußsphäre,
ist aber auch Mittel zu sonstigen Zwecken der Lebens- imd Art-
Erhaltung. —
Ebenso ist die Wissenschaft auch zur Überschußsphäre gehörig
— aber höchst intensiv Mittel zum Zweck der Erhaltung, und zwar
nicht nur als angewandte, sondern auch als theoretische Wissen-
schaft, ist sie das vornehmste Mittel zur Orientierung über Nütz-
liches und Schädliches und die Wegbahnerin der angewandten
Wissenschaft.
1) Vgl unter IIL Abschnitt, Kap. II.
44
3. KAPITEL
DAS SCHEMA DER MENSCHLICHEN FUNKTIONS-
BEZIEHUNGEN
S I. Kreis und Gliederungsteil
Nehmen wir das einzelne menschliche Individuum trotz seiner
unendlichen Zusammengesetztheit hier als eine Einheit,^) so steht
— von ihm aus betrachtet — ihm als der Inweit die ganze
übrige unorganische und organische Welt als Umwelt gegenüber;
zu dieser Umwelt gehören auch alle übrigen Menschen, auch die
nächsten Verwandten, Kinder, Gatten und alle sonstigen lebenden
und toten Dinge, ob sie auch in der engsten Verbindung mit dem
Individuum stehen (z. B. Kleidung, Nahrungsmittel, Werkzeug,
Waffe, Wohnung usw.)
Nun steht der Mensch in den mannigfaltigsten Ergänzungs- und
Hilfsbeziehungen zu anderen Menschen und zu verschiedensten Sa-
chen — organischen und unorganischen — (als Produzent, als An-
eigner, zum Verzehr, zur Beschützung usw.), mit denen er, in Hin-
sicht auf die Art dieser Hilfsbeziehungen, der übrigen Welt gegen-
über eine besondere Umwelt bildet: eine Entelechie, eine Monade,
einen Kreis.
So entstehen und bestehen Inweiten verschiedenen Inhalts, ver-
schiedener Dichtigkeit oder Lockerkeit, verschiedenen Grades, ver-
^) Aber stets im Ange behaltend, daß, was wir hier über das Individuum
hinaus und von ihm, dem Zentrum als Anhang ausgehend, konstruieren,
ebenso rückwärts ins Individuum hinein gilt, in vielleicht endloser Kette,
die selbst bei den Zellen noch nicht endet.
45
schiedener Zentripetalkraft, verschiedener Intensität und Intimitat»
verschiedener Dauer, verschiedenen Umfangs mit Gegensätzen ver-
schiedenen Inhalts, verschiedenen Grades, verschiedener Intensität,
verschiedener Zentrifugalkraft zur übrigen Welt. Diese verschie-
denen Inwelt-Kreise stellen gleichzeitig die Kreise der verschiedenen
Modalitäten und Intensitäten von Einwirkungen dar, denen der
Mensch als Individuum und als Glied der Gesellschaft und denen
die verschiedenen menschlichen Handlungen und Organisationen
unterworfen sind.
Sic stehen — vom Individuum in bezug auf den Umfang aus be-
trachtet — konzentrisch zueinander oder kreuzen und schneiden
sich, decken sich ganz oder teilweise in den zugehörigen Personen
und Sachen oder in der Art und dem Gegenstand der Beziehung
oder in der Art der Einwirkung.
Es ist mindestens simplistisch, sich bei Darlegung der dialekti-
schen Entwicklungsform auf Anwendung des Schemas: Mensch imd
Umwelt zu beschränken, wobei dann unter Umwelt — verschwom-
men — bald die ganze Welt außerhalb des Individuums, bald die
außerhalb der ganzen Menschheit, bald die außerhalb einer bestimm-
ten menschlichen Organisation verstanden wird. In Wahrheit ist
das Schema grenzenlos kompliziert, geradewegs eine Tycho de
Brahesche Figur. Die Beziehungen und Einwirkungen mit ihren
Interferenzen, Neutralisierungen, Steigerungen, Schwächungen mag
man sich für das Auge den Chladnyschen Klangfiguren ähnlich
vorstellen.
Die letzte Sphäre umfassen: die ganze Menschheit nebst ihrem
„Reichtum" gegenüber der übrigen Welt, die Mensch- und Tierheit
zusammefi, die ganze organische Welt (gegenüber der unorgani-
schen) ; die irdische, terrestrische im Gegensatz zu der meteorologi-
schen; die gesamte Erde im Gegensatz zur siderischen Welt (Kos-
mos), unser Sonnensystem usw. im Gegensatz zu allen übrigen Son-
nensystemen usf. Wobei nie zu vergessen ist, daß solche Entgegen-
setzungen noch nicht bedeuten, daß nicht auch wiederum andere
Identitäten und Beziehungen, nützliche Hilfszusanunenhänge in an-
deren Kreisen bestehen, intensiver als selbst die Zusammenhänge mit
den Personen und Gegenständen, mit denen man in anderer Be-
ziehung in einem Kreis verbunden ist.
&6
Die Kreise sind vom Standpunkt des organischen Subjekts auß
erfaßte Beziehungen^ Gemeinsamkeiten. Sie stellen die für die Bil-
dung, Formung, Gestaltung des Organismus in Betracht kommen-
den Gemeinsamkeiten und damit zugleich die daraus resultierenden
Gegensätze dar.
Der Begriff ist subjektiv und funktionell von innen heraus ge-
sehen. Stets: Kreis = Inweit und Entelechie (Monade); ,,Umwelt-
kreis" wäre ein widersinniger Begriff.
Im Gegensatz dazu steht der Gliederungs teil.
Die Gliederung ist objektiv, von außen oder besser: von der or-
ganischen Welt, Menschheit, Gesellschaft, dem Gesamtobjekt, aus,
dieses stets ins Auge gefaßt; die Gliederungsteile sind stets Teile
des größeren Ganzen; während der Kreis stets als eine Monade, eine
Entelechie für sich betrachtet ist, auf die die übrige Welt von
außen wirkt, von der aus sie von innen beeinflußt wird.
Die Gliederung steht zur Um- oder Inwelt-Beziehung neutral
— oder besser: faßt stets beide Beziehungen.
Die Kreise umfassen alle Beziehungen zwischen verschiedenen
organischen Entelechien von den kleinsten — der Zelle, dem ele-
imentarsten Teil des empirisched Einzelorganismus — bis zu der
Gesamtheit aller Organismen gleicher Art und schließlich aller Or-
ganismen überhaupt, und nicht nur die Beziehungen zwischen diesen
Organismen und Organismenteilen und Organismengemeinschaften
allein, sondern auch die zu Teilen der a u ß e r organischen Um-
welt, die als Bestandteile der Kreise in Frage kommen, sofern sie
mit den Organismen von diesem oder jenem Gesichtspunkt aus
zu Einheiten (verschiedener Hinsichten und Grade) verbunden sind,
so daß als letzter, höchster, umspannendster Kreis das Universum,
die monas monadum erscheint. Der Begriff ist also weiter als der
des gesellschaftlichen Gliederungsteils — sofern er sowohl unter
den empirischen Einzelorganismus, unter das Molekül oder Element
der Gesellschaft ins Kleinere als auch über die Gesellschaft, den
Kulturkreis, selbst die Gesamtmenschheit und die organische Welt
hinaus geht, das Unorganische, und zwar im kleinen und im Uni-
versum, mit umfaßt.
Die Kreise umfassen alle Gliederungsteile, und zwar sowohl die
der menschheitlichen Gliederung wie die der gesellschaftlichen Glie-
47
derung, da jede solcher Gliederungen — sei es nach menschlichen,
sei es nach außermenschlichen Umständen, sei es sozialen, sei es
außersozialen Charakters — irgendwelche Gemeinsamkeit der Lage,
der Art usw. bedeutet, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, gleich-
viel ob daraus eine äußerlich in die Erscheinung tretende Verbin-
dung hervorgeht oder nicht.
Die verschiedenen „Kreise" sind nicht zweidimensional, nicht als
in der gleichen Ebene liegend vorzustellen, sondern dreidimensio-
nal; die Kreise können in allen Ebenen liegen, mehrere in der glei-
chen, aber auch jeder in einer anderen, so daß sie sich in keinem
weiteren Pimkte als in dem des jeweils betrachteten Subjekts zu
berühren brauchen. Die Konstruktion ist auch nur subjektiv zu
verstehen; vom Standpunkt derjenigen „Inweit", deren Kausali-
tätsbeziehungen jeweils untersucht werden; sie ist nur ein Bild zur
Darstellung ihrer Abhängigkeiten, ihrer Bedingungen, so wie sie
in bezug auf diese Inweit erscheinen und wirken — ohne Rücksicht
darauf, ob die sich geometrisch zeigenden gegenseitigen Berüh-
rungs-, Schneidungs- und Deckungsverhältnisse der verschiedenen
Kreise untereinander auch abgesehen von dem betrachteten Subjekt
Realität besitzen. Dabei steht das Subjekt bald im Zentrum, bald
in anderen Teilen des einzelnen Kreises; je nach den objektiven
Verhältnissen.
Von dem notwendigen Egozentrismus im Standpunkte des Sub-
jekts (Individuums) ist hier nicht gehandelt. Das ist ein Kapitel
für sich, das nicht zur Gesellschaftswissenschaft gehört. —
Kreise sind auch die durch einen gemeinsamen stofflichen oder
sonstigen (geistigen, psychischen) Kulturbesitz tatsächlich — wenn
auch ohne besondere förmliche Organisation — verbundenen Men-
schen: z. B. Sprach-, Religions- usw. Gemeinschaften.
Jeder Kreis hat neben seinem geistig-psychischen Wesen auch
ein körperliches Wiesen, einen Körper, bestehend aus i. den Orga-
nismen (Menschen), die den Kreis zusammensetzen; 2. dem stoff-
lichen Feudum des Kreises, das aus der Gesamtheit des „Reich-
tums" des betreffenden Kreises besteht, der keineswegs gleich der
Summe der Reichtümer (Güter) der zugehörigen Monaden engerer
Ordnung, sondern nur gleich der Summe derer ist, die jeweils den
Zwecken des betreffenden Kreises dienen. Ferner eventuell — aber
48
nicht notwendig — aus 3. Organisationen und 4- Institutionen (2
und 3 und 4 evtl. zum geistig-psychischen Wesen zu rechnen).
Organisationen und Institutionen sind aber für die Kreise sowenig
essentiell wie irgendein Bewußtsein der Gemeinschaftlichkeit.
Die verschiedenen Inweiten, die sich um ein Individuum grup-
pieren, es zusammensetzend als engere Kreise, es einschließend, um-
fassend als weitere Kreise, bilden ein System von Kreisen in bezug
auf die zugehörigen Personen — verschiedenen Umfangs, verschie-
dener Dichtigkeit, verschiedener Zeitdauer, verschiedener Intensität,
verschiedener Zentripetalkraft, zu denen verschiedene und verschie-
den zahlreiche und verschieden qualifizierte Kreise niederer Ord-
nung gehören und die sich auf verschiedene, verschieden zahlreiche
und verschieden qualifizierte Gegenstände der Gemeinsamkeit er-
strecken. Das jeweilig betrachtete Individuum gehört zu ihnen allen,
soweit sie weiter sind (es gehört natürlich als Ganzes nicht zu den
engeren Kreisen, d. h. den Bestandteilen, aus denen es sich zusam-
mensetzt). Es bietet einen Punkt jedes dieser Kreise — bald Zen-
trum, bald Peripherie. Aber die den engeren Kreis eines Indivi-
duums mitbildenden, ihm insofern zugehörigen Individuen gehören
keineswegs alle auch zu den weiteren Kreisen dieses Individuums.
Keines gehört zu allen übrigen Kreisen desselben. So z. B. in
der Ehe die Gatten untereinander, Kinder und Eltern zueinander.
Selbst die strengste Definition der Ehe schließt z. B. nicht aus, daß
die Ehegatten durch ihren Beruf zu gegenseitig verschiedenen Krei-
sen gehören.
Schließlich ist hinzuweisen auf den Kreiszusammenhang der gan-
zen organischen Welt, wobei als den Kreis bestimmendes Subjekt
das Leben selber anzusehen wäre. Dieser Zusammenhang stellt sich
dar als Solidarität des Menschen mit Tier- und Pflanzenwelt. Als
Beispiele vgl. man die Ergänzung des Stoffwechsels, Atmung der
Pflanzen, Abhängigkeit der Lebensbedingungen überhaupt (Sym-
biose), die Ernährung im besonderen. Aber anderseits auch das
Lernen des Menschen aus der Natur, z. B. in der Baukunst, wie
überhaupt Tier und Pflanze trotz allem die wichtigsten Lehrer der
Menschen sind. —
Für die Teilung in Gliederungsteile ist zu unterscheiden die Glie-
derung nach dem verschiedenen Umfang des gegliederten Objektes:
4 Liebknecht, Studien 49
je nachdem man die gesamte organische Welt oder die Gesamt-
menschheit oder die einzelne Gesellschaft (Kulturkreis) in ihrer
Gliederung betrachtet. Wir sprechen im allgemeinen von Gliede-
rung im Sinne der Gesellschaftsgliederung, doch auch der Mensch-
heitsgliederung.
Die Gliederung betrifft alle Differenziation nach allen außer-
menschlichen imd menschlichen, außerorganischen und organischen
Kriterien — also innerhalb des betrachteten Gebiets, sei es der
organischen Welt, der Menschheit oder der Gesellschaft, auch alle
Beziehungen und Gemeinsamkeiten, die Kreise darstellen. Wenn
auch die Kreise darüber hinausgehen, indem sie auch das Unor-
ganische umfassen, und zwar im kleinen und im Universum, so
gehören doch zu den Gliederungsteilen alle entwicklungsgeschicht-
lich, überhaupt geschichtlich und sozialpsychologisch wesentlichen
Beziehungen unter Organismen, Menschen, Gesellschaftsmitgliedern.
Zur Bezeichnung von Teilen der Menschheit, der Gesellschaft ist nur
der Begriff des Gliederungsteils, nicht aber der des Kreises zulässig.
Die Verwendung des Kreis-Begriffs in solchem Sinne bedeutet
eine Verschiebung seines Sinns, des Kerns seines Wesens, ein Durch-
einanderwerfen, eine Verwirrung der Standpunkte — des objektiven
und des subjektiven.
Der Kreis-Begriff hat seine Domäne bei Betrachtung der So-
zialpsychologie usw., die vom Subjekt aus dem inneren Entwick-
lungswandel des Subjekts zu konstruieren und zu begreifen sucht.
Die Klassen usw. sind freilich sowohl Gliederungsteile, wie
Kreise; bei der objektiven Betrachtung vom gesellschaftlichen
(nicht Monaden-) Standpunkt, der doch die Regel in diesen Unter-
suchungen bildet, erscheinen sie aber nicht als Kreise, sondern als
Gliederungsteil.
Einige Beispiele:
Kreise der Sexualsphäre.
a) Kreise der Konsanguinität.
I. Kreis: Individuum; 2. Kreis: Familie i. e. S.; 3. Kreis: wei-
tere Blutsverwandtschaft usw.
b) Kreise der Konfinität (Schwägerschaft).
5o
I>abei richten sich diese Kreise, wenigstens wenn man die so-
ziologisch wichtigen Beziehungen betrachtet, durchaus nach der
Form der Ehe und Familie, sind also in den verschiedenen Kultur-
kreisen und -Stufen wechselnd in Umfang und in den Personen.
Die physiologisch-biologische Verwandtschaftsbeziehung tritt ge-
genüber der sozialen an Bedeutung für die Entwicklung des Or|ga-
nismus in seinen Beziehungen zur Gesellschaft völlig zurück.
Diese Kreise gehören darum nicht nur der Sexualsphäre an: Die
Familie übt ihre wichtigsten sozialen Funktionen in der Ernäh-
rungs- und Schutzsphäre.
Oder Kreise, die der Entfaltung des individuellen Wohles die-
nen, insbesondere der Erziehung.
Auch hier spielen die Kreise der Konsanguinität und Konfinität,
die Kreise der Sexualsphäre eine bedeutsame Rolle. Die engsten
Kreise dieser Sphäre sind in der Regel auch die Kreise der inten-
sivsten Beziehungen zur Entfaltung der individuellen Kräfte. Dazu
treten dann. die Beziehungen zu einzelnen außerhalb des Sexual-
kreises stehenden Personen: Lehrern, Freunden usw. mit lockereren
oder festeren Verbindungen von verschiedener Dauer; dann Ver-
einigungen,. Schulen, Lehranstalten usw. und schließlich das ganze
öffentliche Wesen, der ganze Umkreis des Lebens, der Erfahrung
unter den Menschen und den Dingen, an denen der Mensch lernt,
sich „bildet".
Kreise der Schutzsphäre. Von der Familie bis zum Staat, über
allerhand öffentliche und private Verbindungen, Organisationen,
Institutionen hinweg.
Neben diesen persönlichen Kreisen stehen die sächlichen
Kreise — die Kreise der Sachbeziehungen, von den Gegen-
ständen des unmittelbarsten Gebrauchs bis zum gesamten Feudum
der Menschheit und zu den überhaupt noch nicht in menschlichen
Besitz imd Dienstbarkeit gelangten, ihm aber zugänglichen und
dazu erstrebten oder sonst auf sie einwirkenden Dingen.
Auch diese Kreise sind allen Sphären angehörig, von der Ober-
schuß- bis zur Schutz-, Ernährungs- und Sexualsphäre.
So umgibt sich der Mensch, wie seinen Körper mit Kleidung und
anderen sächlichen Schutzmitteln, mit Werkzeugen und einem
inrnier wachsenden Reichtum an Gegenständen und Einrichtungen
4* 5i
zur Bedürfnisbefriedigung, wie seinen örtlichen Aufenthalt mit
Veränderungen und Gestaltungen der natürlichen und sächlichen
Umgebung, seinen Bedürfnissen in möglichster VoUkonunenheit
entsprechend, auch mit Beziehungen — wie mit Pflanzen und Tie-
ren — so mit anderen Menschen, mit Organisationen, Zweckver-
bindungen aller Art für die Bedürfnisbefriedigung. Und wenn auch
die so mit ihm verbundenen anderen Menschen ihm — seiner nack-
ten Individualität gegenüber — durchaus als Umwelt gegenüber-
stehen, so werden sie doch durch diese Zweckverbindungen in be-
zug auf die gemeinsamen Zwecke zu einer Einheit und treten in-
sofern mit ihm verbunden als eine neue Inweit der übrigen Welt
gegenüber.
Dieselben Personen treten bald als In-, bald als Umwelt auf.
Zwischen In- und Umwelt bestehen die Funktionsbeziehungen:
symbiotisch, antibiotisch usw., eine dialektische Kette, antagoni-
stisch wirkend auf gegenseitige Veränderungen, so daß sowohl In-
wie Umwelt jeweils das Produkt der inneren und äußeren Kräfte,
der wechselseitigen Funktionsbeziehungen sind.
Die Organisationen sind z. B. Systematisierungen und Zusam-
menfassungen symbiotischer Beziehungen — Interessengemein-
schaften. Wenigstens, soweit frdwillig. Anders, soweit Zwangs-
organisation, in der die Zugehörigkeit nur oder auch bedeutet: sy-
stematisierte Dienstbarmachung für fremde Zwecke.
Gliederung der Menschheit
Unter Zugrundelegung des Begriffs der Gliederungsteile ist die
Gliederung vorzunehmen:
I. nach außermenschlichen Kriterien,
II. nach menschlichen Kriterien (Eigenschaften).
I. Gliederung nach außermenschlichen Kriterien.
Dazu gehört die örtliche und zeitliche Gliederung.
Die örtliche Gliederung i) wiederum zerfällt in
a) räumliche GUederung nach der Einheit oder Trennung des
Siedlungsgebiets,
^) Gruppierung genannt; Gruppe in räumlichen Zusammenhang ge-
gliederter Teil der Menschheit.
52
b) nach der Beschaffenheit des Siedlungsgebiets, besser: der
topophysikalischen oder geophysikalischen Gliederung —
eben, gebirgig, Meer, Binnengewässer, Wald, Norden, Sü-
den, Klima, neblig, trocken, sturmisch, fruchtbar — Wei-
deland, Ackerland, Wiesenland, Jagd, Fischerei, Frucht-
reich tum — unfruchtbar usw.,
c) außerdem noch andere außermenschliche ICriterien.
IL Gliederung nach menschlichen Kriterien.
Sie zerfällt wiederum in
a) Natürliche Gliederung (Gliederung nach natürlichen Eigen-
schaften des Menschen),
b) Soziale Gliederung (Gliederung nach sozialen Tatsachen,
zu sozialen Zwecken).
Zu a: Geschlechts-, Altersstufen-, Rassen-, Nationalitätengliede-
rung — auch Gliederung nach den Verschiedenheiten der natür-
lichen Anlagen, geistigen und körperlichen Kräften usw.
Zu b: Kasten-, Stände-, Klassen-, Berufsgliederung. Politische,
wirtschaftliche, Schutzgliederung usw. für alle Sphären.
Dazu auch die Gliederung nach Kulturstufen (Kulturgliederung,
geistige Gliederung).
Eine Unterabteilung dazu bildet die soziale Funktions-
gliederung, d. h. die Gliederung nach den Funktionen der
Menschen in einer gegebenen Gesellschaft und — verallgemeinert —
Gesellschaftsordnung, in einem gegebenen Komplex, System mit-
einander in Funktionsverhältnis stehender Gesellschaften und —
verallgemeinert — Gesellschaftsordnungen (vgl. i 2),
Wie in einem gewissen Sinn die soziale auf die natürliche Glie-
derung einwirkt, aus sozialen Funktionen natürliche Eigenschaf-
ten erwachsen, so werden in höchstem Grade gewisse natürliche
Gliederungen zu sozialen Zwecken genutzt und so — aus natür-
licher Zweckmäßigkeit geboren — natürliche Gliederungen zu so-
zialer Gliederung (Arbeitsteilung usw.) gestaltet, ja zu grund-
legend sozialen; vgl. Geschlechts- und Altersstufen usw., auch
— aber nur sehr durchbrochen und bedingt — die Gliederung nach
den sonstigen natürlichen Anlagen und Kräften des Körpers und
Geistes (besonders in „höheren'' Gesellschaftsordnungen durch erb-
liche Funktionsgliederungen stark eliminiert).
53
Die Gliederung, insbesondere auch die gesellschaftliche Gliede-
rung, ist nicht notwendig entwicklungs- und kulturfördernd, nicht
notwendig vor allem nützliche oder gar notwendige Funktionsglie-
derung (wie z. B. die Arbeitsteilung usw.), sondern unter Um-
standen (besonders häufig, wenn zu Unterdrückungs- oder Aus-
beutungszwecken) der Gesamtkulturentwicklung schädlich. Vgl.
später. — Jeder Fall ist für sich zu prüfen. Nicht „alles, was ist"
ist im Sinne der Entwicklung, der Kulturförderung, im Sinne des
wirklichen Gemeinwohls „vernünftig". Alle kritischen Vorbehalte
sind in jedem einzelnen Fall am Platze und geboten.
$2. Soziale Funktionsgliederung^)
In den Anfängen des gesellschaftlichen Lebens herrscht Un-
differenziertheit sowohl hinsichtlich der Ausbildung der sozialen
Funktionen als auch ihrer Verteilung auf einzelne Funktionsträger.
Zunächst scheiden sich die Funktionen. Entsprechend der Ver-
mehrung und Vermannigfaltigung der Bedürfnisse und ihrer Be-
friedigungsmittel differenzieren und spezialisieren sie sich — ein
langsamer, stetiger, andauernder Prozeß. Der wesentlichste Diffe-
renziations Vorgang in der Kulturentwicklung I
Auch soweit und nachdem die Funktionen sich differenzieren,
sind ihre^ Träger noch keineswegs sofort differenziert. Es werden
vielmehr zunächst noch alle oder doch die meisten Funktionen von
jedem oder den meisten zugleich nebeneinander ausgeübt.
Als spezielle Fragen wären hier im einzelnen zu behandeln u. a.:
Die Funktion der Herausbildung (Entstehung) und Entwicklung
der einzelnen Funktionen der verschiedenen Sphären.
Die Funktionen der Ausbildung (Entstehung und Entwicklung)
und Tragung der Ideologien insgesamt und jeder einzelnen von
ihnen.
Die Funktionen der Aufstapelung, Konservierung, Pflege und
Mehrung de& geistig-psychischen Feudums (auch über Perioden des
Verfalls, der Rückbildung usw. hinweg).
^) Die folgenden Ausführungen sind leider nur thematische Andeutungen,
als solche aber der Veröffentlichung wohl wert. [Anm. d. Hrsg.]
54
Funktion der dauernden Bereithaltung und der laufenden, im
geeigneten Moment zu vollziehenden Wiedereinführung, Wieder-
ausstreuung des Stoffs und der sonstigen Mittel zur posthumen
Rezeption und Resorption (vgl. Abschnitt II, Kap. 4)-
Wenigstens für die Hauptfunktionen und die sozial-, kulturell-
und entwicklungsgeschichtlich wichtigsten Glieder, (Kasten, Stände,
Klassen, Geschlechter, Altersstufen, Rassen, Nationen usw.) ist die
Verteilung der Funktionen der verschiedenen Sphären auf die ver-
schiedenen Glieder im Verlauf der Geschichte zu skizzieren.
Diese Funktionen machen das soziale Wesen dieser Glieder aus.
Soweit es sich um natürliche Gliederung handelt (Rassen, Ge-
schlechter, Alter usw.), besteht diese selbstverständlich auch ohne
Rücksicht auf die Funktionen. Soweit die Funktionen selbst das
Gliederungsprinzip darstellen, hören die betreffenden Gliederungs-
teile als solche auf zu existieren, wenn eine Aufhebung der be-
treffenden Funktion oder ihre Verschiebung auf andere Träger
slaltfindet.
Die Geschichte ist zum großen Teil eine Geschichte von Kämpfen
um die Verteilung der sozialen Funktionen — um die Abschütte-
lung drückender und einflußloser, und die Erwerbung angenehmer,
erfreulicher und einflußverschaffender Funktionen.
Die Annehmlichkeit und Beliebtheit, sowie das soziale Ansehen
und die Eigenschaft sozialer Machtverleihung bleibt bei den Funk-
tionen* keineswegs unverändert, ist vielmehr lebhaftestem Wandel
unterworfen und mit allen Konsequenzen für die gesellschaftlichen
Kämpfe.
Neue Funktionen entstehen beständig und werden verteilt je nach
den Machtverhältnissen.
Die Verteilung der Funktionen und die Verschiebung in der Ver-
teilung, sowie die Entstehung und Verteilung neuer Funktionen
ist im besonderen Teil dieser Arbeit sorgfältig zu verfolgen.
Als besonderer Fall ist zu behandeln die Verteilung der Funk-
tionen der Überschußsphäre auf die verschiedenen Kreise und Glie-
der im Verlauf der Geschichte.
Die Leistungen der Überschußsphäre als soziale Überschußlei-
stungen sind abhängig vom Vorhandensein sozialer Überschuß-
55
fähigkeit in der G^samtgesellschaft und ihrem besonderen Teil,
dem die Funktion obliegt.
Die herrschenden, privilegierten, ausbeutenden und unterdrücken-
den Schichten sind keineswegs, wenn sie auch am ehesten die äußere
Möglichkeit dazu haben, die einzigen Träger, ja nicht einmal die
wesentlichsten Träger der Überschußsphäre. Nur soweit>der Genuß
in Frage konunt, sind sie diese wesentlichsten Träger; nicht hin-
sichtlich der idealen Produktion (z. B. Kunst usw.).
Immerhin setzt die Ausübung auch der Produktivitätsfunktionen
(übrigens auch des Genusses!) in der Cberschußsphäre vielfach
eine gewisse Ausbildung und Bewegungsfreiheit (Zeit usw.) vor-
aus, die die niedrigsten Schichten meist nicht besitzen, (vgl. Man-
deville, die „Bienenfabel") so daß dafür die mittleren und höheren
in erster Linie in Frage konunen.
Für gewisse primitive Überschußfunktionen in Produktion, Re-
produktion und Genuß kommen die Gesamtheit und gerade auch
die Massen der niedrigsten Schichten wesentlich in Betracht (Volks-
kunst).
Die Klassen- (Kasten- usw.) Scheidung ist Voraussetzung und
jedenfalls förderndes Vehikel für die Überschußleistungen.
Besonders zu behandeln wäre die Verteilimg der oben behandel-
ten Funktionen und der Ideologien auf die verschiedenen Kreise
und Glieder im Laufe der Geschichte.
Dieser stellt einen dauernden Kampf um die Verteüung der eo-
zialen Funktionen dar. —
Welche Faktoren den Ausgang des Kampfes entscheiden — diese
hier grundlegende Frage ist für folgende drei Phasen gesondert zu
beantworten:
a) für die erstmalige primitive Verteüung. die aus der anfäng-
lichen Undifferenziertheit der Funktionen sowohl wie der
Funktionsträger. wo jeder alle oder doch die meisten Funk-
tionen zugleich übt, hervorgeht,
b) für die Zeit der Konsolidation der Hauptfmiktionsträger zu
festen Gliedenmgsteilen (Schichten, Stände usw.).
v"latf Neuverteilung der Funktionen im Geschichts-
Zu a: die elementarsten, direkt, unmittelbar wirkenden Eigen-
56
Schäften, die Macht gewähren oder nicht, entscheiden (Körper-
kraft, geistig-psychische Kräfte usw.).
Zu b und c: hier spielen die bereits eroberten Machtpositionen,
die der Besitz der Funktionen zu a) gewährt, wesentlich mit. Zu
den elementaren treten zunehmend soziale Faktoren, die indirekt,
mittelbar machtgebend wirken; mindestens im Hintergrund er-
scheint als Regulator allenthalben „potentielle" Gewalt, aber frei-
lich basiert zum großen Teil auf psychisch-geistiger Beherrschung,
Dienstbarkeit anderer Menschen — ein untrennbares Funktions-
verhältnis zwischen geistig-psychischen und physischen Zwangs-
einwirkungen, wobei die Priorität der einen oder anderen nicht
feststellbar ist (Ei oder Henne).
Hier kann die Bemerkung angefügt werden, daß überhaupt erst
die geistig-psychische Dienstbarkeit anderer Menschen, ihre Bereit-
willigkeit, sich beherrschen zu lassen, die Machtausübung weniger
über viele ermöglicht. Erst dadurch, daß andere Menschen sich
als Gewaltwerkzeuge gebrauchen lassen, haben die Herrschenden
genügende Gewalt. Aber daß diese anderen sich als Gewaltwerk-
zeuge gebrauchen lassen, ist doch nicht nur die Folge geistig-psy-
chischer Überlegenheit, sondern am Ende ihrer materiellen Hilfs-
losigkeit — des divide et impera — und der organisatorischen
und technischen Macht. Eben eine elementar-untrennbare Funk-
tionsbeziehung zwischen geistig-psychischen und physischen Ein-
flüssen. —
Es gibt eine ungleiche soziale Machtverteilung in thesi schon vor
der Verteilung der sozialen Funktionen, ja sogar ohne Rücksicht
auf individuelle Differenzierung der sozial noch undifferenzierten
Gcsellschaf tsf unktionen infolge besonderer Herrschafts - Eigen-
schaften, d. h. Eigenschaften, die — ohne Rücksicht auf soziale
Funktion, unter Umständen sozial höchst schädlich, hemmend, also
das Gegenteil einer Gesellschaftsfunktion darstellend und nur dem
betreffenden Individuum dienlich — andere Menschen zu beherr-
schen befähigen:
1. Zum Teil sind es besondere physische oder psychische
Kräfte; auch sehr verwerfliche Kräfte gehören hierher, Kräfte von
verhängnisvollem Einfluß auf die Gesellschaft und speziell die so-
zial Beherrschten: Betrug, Täuschung usw.
57
3. Derartig besondere Herrschafts-Eigenschaften wirken an-
dauernd mit auf die Machtverteilung, auch nach Herausbildung
der Funktionsgliederung greifen sie neben dieser modifizierend und
nuancierend ein.
3. Nach Herausbildung der sozialen Funktionsdifferenzierung,
der sozialen Funktionsgliederung bildet diese freilich die wichtigste
und am regelmäßigsten und allgemeinsten wirkende Quelle für
die Verteilung der sozialen Macht.
Die zu I und a erwähnten Faktoren treten mehr individuell und
sporadisch auf.
Allerdings werden die besonderen Herrschaftseigenschaften durch
die aus der sozialen Funktion (der Klasse wie des Individuums) sich
ergebende soziale Lage und ihre Möglichkeiten oder Notwendig-
keiten vielfach besonders erzeugt, entfaltet, gezüchtet. So ergibt
sich die Synthese von i und 3. —
Die Geschichte und die tägliche Erfahrung bieten eine Fülle von
Beispielen, wie aus sozialen Funktionen, die ursprünglich niedrig
eingeschätzt werden, auf tiefer Stufe der sozialen Wertschätzung
stehen und aller Macht entbehren, ja die Urbilder untergeordnetster,
' unterwürfigster Abhängigkeit und Hilfslosigkeit darstellen, doch in-
folge der tatsächlichen (bes. organisatorischen) Bedeutung der
Funktion, infolge ihres Hebel-Charakters, infolge der faktischen
Einflußmöglichkeiten, die sie bei geschickter Ausnutzung gewähren,
allmählich Machtpositionen erwachsen sind — zunächst tatsächlich,
dann stillschweigend anerkannt, dann rechtlich fixiert, zunächst in
Einzelfällen, dann verallgemeinernd, sich konsolidierend, mit der
Funktion als solcher sich verbindend.
In zweiter Linie vollzieht sich die Machtentwicklung der Klassen,
überhaupt der Gesellschaft regelmäßig so, daß sie aus den ausge-
nutzten, realisierten Einflußmöglichkeiten erwächst, die die Funk-
tion bietet: vgl. z. B. die Machtsteigerung der Priester- und Krieger-
kaste, des Hofadels, des Feudal-Adels, der Städte, der Offizierkaste,
der kapitalistischen Bourgeoisie, des Proletariats.
Das gleiche gilt natürlich von dem Spezialfall der historischen
Machtverschiebung zwischen Klassen der Gesellschaft: vgl. die schon
erwähnten Beispiele der Bourgeoisie und des Proletariats.
Freilich müssen zu den Möglichkeiten des Einflusses, die
58
die Funktion gibt, die Wirkliohkeiten treten, d. h. die Eigen-
schaften in wirklicher Ausübung des möglichen Einflusses und die
Anwendung dieser Eigenschaften (z. B. Schulung, Klassenbewußt-
sein, Organisation, Yermögenserwerb, Erwerb anderen realen Macht-
wallens — im Lassalleschen Sinne). Aber diese Eigenschaften lie-
gen Yoraussetzungsgemäß im Durchschnittswesen der Menschen re-
gelmäßig vor; und ihre Anwendung folgt nicht minder aus diesem
Durchschnittswesen als die Regel, so daß im großen Zug der Ent-
wicklung, des Geschichtsverlaufs mit der Realisierung jener Mög-
lichkeiten als dem Normalfall zu rechnen ist.
Beispiele (aus allen Zeiten und Klassen) : die römischen Sklaven
(einerseits ihre z. T. selbständige Stellung als Wirtschafter und
Verwalter; andererseits ihre Macht in den Sklavenkriegen); Leib-
eigene und Hörige der deutschen Fürsten, aus denen z. T. der Hof-
adel entsteht; die Stellung und Bedeutung der Eunuchen, Söldner,
Prätorianer, Landsknechte, Kondottieri, türkische Leibwache, Stre-
litzen des Zaren; der Subalternbeamten, der Faktoten, Vertrauten,
Günstlinge, Mätressen, selbst der Kalfaktoren in Strafanstalten; der
Spitzel und Geheimpolizei, deren Funktion mit weitestgehender dis-
kretionärer Vollmacht schlecht erforschbar und kontrollierbar ist.
Anmerkung zu diesem Paragraphen
Die Wirkung der verschiedenen Verteilung der sozialen Macht
auf die soziale Gesamtlage (Lebenshaltung, Vermögen, Bildung
usw.) der verschiedenen Macht-Träger und Funktionäre wäre nach
folgendem Schema zu untersuchen:
L Proportion zwischen der Bedeutung, d. i.: Größe und Ak-
tualität (Bereitschaft, Schlagfertigkeit) der sozialen Macht und
a) der wirtschaftlichen Lage
b) der geistig-psychischen Lage
c) der sozialen Funktionsstellung
d) der repräsentativen Lage?
Und welche Proportion?
IL Welches ist der Maßstab für die Bedeutung (Größiß und
Schlagfertigkeit) der sozialen Macht?
59
Sofern die soziale Machtstellung durch andere Ursachen als die
soziale Funktion bestimmt sein kann (vgl. oben), ergibt sich die
Möglichkeit, daß aus dieser anderweit erworbenen Machtstellung
der Vorteil gezogen wird oder jedenfalls das Ergebnis fließt, daß
der betreffende Macht-Träger eine bestimmte, seiner Machtstellung
adäquate, sie erleichternde, befestigende, sichernde, erhaltende
Funktion überninmit, an sich reißt oder übertragen erhält.
Auch soweit die soziale Machtstellung selbst erst die Wirkung
einer sozialen Funktion oder mehrerer ist, kann sie, nachdem sie
einmal erworben, wiederum zur Ursache der Übernahme weiterer,
vorteilhafterer sozialer Funktionen werden: „wo Tauben sind«
fliegen Tauben zu" gilt auch hier, und zwar erfahrungsgemäß
höchst energisch 1
Die soziale Machtstellung (politische Unterdrückung, wirtschaft-
liche Ausbeutung der Massen, dadurch erworbener Reichtum usw.)
ist Voraussetzung und Bedingung für die soziale Funktion in ge-
wissen Kulturstadien, d. h. zu solcher Zeit, wo der Ertrag der Arbeit
noch nicht hinreicht, um bei gleicher wirtschaftlicher und sozialer
Verteilung (ohne Ausbeutung und Unterdrückung) dennoch die
Möglichkeiten zu gewähren für Ausübung von Regierungsfunk-
tionen sowie allem, was eine Ausbildung verlangt, die nur mit Hilfe
von Rechten usw. gewonnen werden kanix; auch von Pflege der
Kunst und Wissenschaft.
Die Gesellschaft ist eine organische soziale Einheit (ein einheit-
licher Organismus), auch in der Stände- und Klassenord-
nung trotz der ungleichen Verteilung der gesellschaftlichen l\Iacht,
des gesellschaftlichen Reichtums, des Ertrags der laufenden gesell-
schaftlichen Arbeit — kurz: trotz aller „Ungerechtigkeit."
Die jeweilige Gesellschafts-Kultur ist das Ergebnis der Gesamt-
leistung der Gesamtgesellschaft (aller ihrer Glieder) — trotz ihrer
Zerspaltung in verschiedene soziale Schichten (Klassen usw.). Ins-
besondere: die Produktivität der Arbeit (der gesellschaftliche Ar-
beits-Ertrag) in den verschiedenen Kulturzuständen ist das Ergebnis
der Gesamtleistung der Gesamtgesellschaft, unter den Auspizien
ihrer jeweiligen Gesamtkultur.
Dasselbe gilt von dem Tauschwert der verschiedenen Arbeitspro-
dukte. Die Verteilung des gesellschaftlichen Arbeitsertrags in na-
60
Iura und original (oder seines Tauschwerts) stellt sich dar als Er-
gebnis der jeweiligen gesellschaftlichen Machtverteilung, ist also
eine Machtfrage (vgl. Abschnitt II Exkurs zu Kap. VII).
Es erhebt sich hier die Frage, inwiefern und inwieweit eben-
deswegen die Art der Verteilung durch die gesamtgesellschaftlichen
Kultur- (Entwicklungs- und Erhaltungs-) bedürfnisse bestimmt
wird, m. a. W.: inwieweit Geltendmachung sozialer
Obermacht, also „Ungerechtigkeit" trotz alledem
ein gesellschaftliches Gesamtbedürfnis ist.
Hier ist nach der Epoche, nach den Stadien der Entwicklung zu
unterscheiden. Das heute Nützliche ist morgen Henunschuh oder
entwicklungsfeindlich statt -freundlich.
Sehr verschieden mag das Urteil hier oft ausfallen, je nach dem
Tempo der Entwicklung, das man für richtig hält; ob man damit
einverstanden ist, daß Opfer, „Spesen" an Menschen und Glück
und auch ideellen Gütern (stofflichen und geistigen) gebracht wer-
den, oder ob man Sparsamkeit an solchen Opfern und Spesen dem
Tempo gegenüber bevorzugt.
4. KAPITEL
DIE SCHÖPFUNGSKRÄFTE
DAS GESELLSCHAFTLICHE FEUDUM
S I. Die vier Hauptarten der menschlichen Schöp-
fungskräfte und ihre Einheit
A. I . Menschliche Schöpfungskräfte nennen wir die Mittel, durch
die der Mensch seine Lebensbedürfnisse (Notwendigkeiten, Nütz-
lichkeiten, Annehmlichkeiten) aller Sphären befriedigt und die
menschliche Kultur herausbildet.
3. Wir teilen sie in vier Hauptkategorien:
a) physische, die wiederum zerfallen in
a) natürlich physische
b) künstlich physische (Waffen, Werkzeuge usw.)
b) geistig-psychische
c) stoffliche
d) organisatorische,
die aber, engstens verschlungen, empirisch eine untrennbare Einheit
bilden.
3. In jedem Fall sind zu unterscheiden realisierte und nur reali-
sierbare (potentielle) Kräfte.
B. Im Besonderen:
I. Die natürlich- und die künstlich-physischen Kräfte;
speziell Waffen
Dazu gehört das physische Feudum^) und sonstige Zwangswerk-
zeuge und Werkzeuge anderer Art.
*) Begriff Feudum: vgl. u. §§ 3 ff.
6a
Die natürlich-physischen Kräfte greifen in die organisatorischen
(zu lY) über. Die künstlich-physischen umfassen bereits einen Teil
der stofflichen und organisatorischen (zu III und IV).
II. Die geistig-psychischen Kräfte
Dazu gehört das geistig - psychische Feudum. Diese Kräfte
(II) greifen besonders auch ins Organisatorische über (zu IV) —
aber auch mit I und III engstens verschlungen.
Zu lund II: Das Verhältnis zwischen denphysischen
und den psychischen Kräften.
Die Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Kräf-
ten ist stets mit allem Vorbehalt zu verstehen. Denn die physi-
schen (rein körperlichen) Kräfte im gewöhnlichen Sprachsinn des
Lebens, soweit der Körper sich zur Außenwelt nicht gleich einer
leblosen, anorganischen Sache (Ding) verhält, sondern aktiv, reak-
tiv, d. h. eben als ein Organismus, als ein Lebendiges, bilden eine
L e b e n s f unktion des Organismus; d. h. aber, da das Leben eine
untrennbare Einheit von Physischem und Psychischem ist, da sich
im Lebensprozeß das Psychische und Physische nicht auseinander-
reißen und ebensowenig sich das Physische als eine Unterkategorie
des Psychischen, wie das Psychische als eine Unterkategorie des
Physischen kategorisieren und definieren lassen, sie sind minde-
stens nicht nur physisch — auch, wenn im Sinne des gewöhn-
lichen Lebens, nur „körperlich". Die Begriffe: physisch - psy-
chisch sind hier also im praktisch-empirischen Sinn des alltäglichen
Sprachgebrauchs gemeint und nur aus praktischer Zweckmäßig-
keit beibehalten.
III. Die stofflichen Kräfte
umfassen
a) die — sei es im Rohzustande, sei es spezifiziert — auf gehäuf-
' ten stofflichen (sachlichen) Güter und außerdem
b) diejenigen stofflichen Güter, die noch nicht angeeignet und
aufgehäuft, sondern potentiell, realisierbar sind, disponibel
für individuelle und gesellschaftliche Zwecke
a) vermöge der Aufhäufung zu a) und der Aufhäufung der
Kräfte der drei anderen Arten;
6a
ß) vermöge der sozialen und privaten Kräfte, die infolge der
organischen Elastizität gemäß dem jeweib gegdenen Kul-
turzustand in der Potenz vorhanden sind.
G. Die notwendige Verflechtung der vier Kräftekategorien zur
Einheit
In der Entstehung, Erhaltung, Anwendung sind die vier Arten
Kräfte aneinander gebunden, miteinander verflochten — wenn
nicht in jedem besonderen Einzelfall, so doch im Gresamtbilde. Sie
stehen durchaus in funktioneller Abhängigkeit voneinander.
S 3. Die sozialen Schopfungskräf te des Menschen
Ihre vier Hauptarten
Die menschlichen Schöpfungskräfte dienen individuellen
Zwecken oder den Zwecken menschlicher Gemeinschaften verschie-
dener Art. Diese „Gemeinschaften" tragen, vom Standpunkt der
„Gesellschaft" als Ganzen aus, z. T. einen nicht minder individuellen
Charakter als das Einzel-Individuum.
. Gesellschaftlichen Zwecken dienen die menschlichen Schöpfungs-
kräfte, wenn sie — sei es im formellen Dienst der Gesamtgesell-
6cihaft, sei es im Dienst einer anderen (engeren oder weiteren)
Gemeinschaft, sei es auch im rein einzel-individualistischen Dienst
— verwendet werden in einer den gesellschaftlichen In-
teressen notwendigen, nützlichen oder angenehmen Richtung; zu
einer gesellschaftlichen Funktion, zu einer Funktion, die der Er-
haltung, Stärkung, Entfaltung, dem Wohlbefinden usw. der Ge-
sellschaft als solcher dient; mit anderen Worten: wenn
sie in die gesellschaftliche Zirkulation eingehen, und zwar gleichviel
ob mit Bewußtsein oder ohne Bewußtsein, ja sogar ob gegen den
Willen des oder der betreffenden Menschen.
Es konunt also für die Charakteristik der gesellschaftlichen
Schöpfungskräfte nicht auf ihre formelle, äußere, rechtliche usw.
Art an; z. B. nicht darauf, ob sie unter privat- oder öffentlich-
rechtlicher Flagge und in irgendwelchen illusionären Vorstellungen
und Selbsttäuschungen segeln.
Die sozialen Schöpfungskräfte sind also in den allgemeinen
64
menschlichen Schöpfungskräften als das Engere, das Minus ein-
geschlossen, ein Teil der menschlichen Schöpfungskräfte.
Wie die Schöpfungskräfte im allgemeinen elastisch sind, in
Quantität und Intensität kontraktions- und ausdehnungsfähig je
nach den Umständen, so ist die Grenze zwischen den individuellen
und sozialen Schöpfungskräften keine starre, sondern eine elasti-
sche, sogar hochgradig elastische: es hängt vom jeweiligen — pro-
teusartig wechselnden — Gesamtzustand der Gesellschaft und der
Individuen, besonders auch ihrem psychisch-geistigen Zustand ab,
was an potentiellen Kräften überhaupt entfaltet wird oder was la-
tent bleibt, und was davon in soziale Dienste eingeht oder in indivi-
duelle; eine fortwährende Fluktuation.
Diese sozialen Kräfte, d. h. die Kräfte, die jeweils wirklich
gesellschaftlich verwendet werden, die in die gesellschaftliche Zir-
kulation, Produktion, Distribution und Konsumtion aller Art ein-
gehen, sind also keineswegs
a) die für gesellschaftliche Zwecke aufgehäuften, gesammelten,
akkumulierten Kräfte aller vier Arten, sondern darüber
hinaus
b) die infolge besonderer neuer Umstände tatsächlich für ge-
sellschaftliche Zwecke aufgewendeten tätigen Kräfte; gleich-
viel ob diese Umstände dauernd oder vorübergehend sind;
gleichviel ob die nun tatsächlich für gesellschaftliche Zwecke
tätigen Kräfte künftig sozial gebunden bleiben, d. h. aufge-
häuft, akkumuliert werden (als neues Feudum) oder ob sie
wieder in das Bereich der individuellen Kräfte zurück-
fluten.
Und c) gehören auch die nach dem Habitus der Gesellschaft und
der Individuen und ihrer Psychologie der Gesellschaft jeweils für
ihre innerhalb vernünftig-empirischer Grenzen möglichen beson-
deren Bedürfnisse (Ausnahmefälle, Notfälle) weiter in der Potenz
disponiblen, unter normalen Verhältnissen aber völlig latent oder
doch individuell bleibenden Kräfte als potentiell soziale
Schöpfungskräfte hierher.
Die nicht gesellschaftlich aufgehäuften, sei es individuellen,
sei es völlig latenten, sei es potentiell sozialen oder auch nicht po-
tentiell sozialen, sondern nur potentiell individuellen Kräfte seien
5 Liebknecht, Studieu 65
freie Schöpf üngakräfte (freie Kräfte) genannt — im Ge-
gensatz zum Feudum (vgl. SS 3ff.).
Die menschlichen Schöpfungskräfte zerfallen also in
a) gebundene (Feudum) und freie,
b) in soziale und individuelle.
S 3. Das gesellschaftliche Feudum
Die gesellschaftlich angehäuften, ,,ersparten"i gebundenen,
realisierten (nicht nur potentiellen und nicht nur latenten), laufend
für die gesellschaftlichen Zwecke verwendeten, laufend in den ge-
sellschaftlichen Gesamt-Zirkulationsprozeß eingehenden Kräfte aller
vier Arten seien das gesellscb af tliche Feudum (der auf-
gehäufte gesellschaftliche Reichtum) genannt.
Sein Gegensatz sind also: die freien Schöpfungskräfte (vgl.
o. S 2). Mit Rücksicht auf die Eigenschaft des Feudums als einer
gesellschaftlichen Tatsache und Erscheinung sind auch die indi-
viduellen Schöpfungskräfte ein weiterer Gegensatz zu ihm.
Die natürlich - physischen und geistig - psychischen Kräfte be-
stehen stets in individueller Form; die stofflichen zuweilen indivi-
duell, zuweilen gesellschaftlich; die organisatorischen begrifflich
stets gemeinschaftlich, aber darum nicht notwendig gesellschaftlich,
da die Gemeinschaft bald privaten, bald gesellschaftlichen Charak-
ter tragen kann. Die künstlich-physischen ganz wie die stofflichen
und organisatorischen, mit denen sie komplex sind.
Welche natürlich - physischen und geistig - psychischen Kräfte
und welche sonstigen künstlich-physischen, stofflichen, organisa-
torischen Kräfte sind nun Feudum, welche nicht?
Es ist etwa nach den gleichen Kriterien zu unterscheiden, wie in
Bezug auf die stofflichen Güter (Sachgüter) von Marx geschieht
bei der Einreihung in den „gesellschaftlichen Reichtum" einerseits,
das akkumulierte „Kapital" andererseits.
Entspricht das stoffliche Feudum dem gesellschaftlichen Reich-
tum oder dem Kapital im Marxschen Sinne?
Dem ersterenl Das gesellschaftliche Kapital im Marxschen Sinne
ist wiederum ein engerer Begriff (=der kapitalistisch ange-
wandte Teil des gesellschaftlichen Reichtums).
66
Von den erwähnten Kräften sind Feudum diejenigen, die
in die gesellschaftliche Zirkulation (Produktion, Distribution,
Konsumtion) laufend eingehen; vielfach, ja zumeist für die soziale
Funktion modalisiert, spezifiziert, was letzteres jedoch begrifflich
nicht wesentlich, nur historische Tatsache ist. Als solche aber in-
sofern wichtig für die Beurteilung der Zugehörigkeit einer Kraft
zum Feudum, als es darauf ankommt, ob sie noch ganz im Natur-
zustand, ursprünglich oder schon für die gesellschaftliche Zirkula-
tion bereitet ist. Nur im letzteren Fall ist sie Feudum.
Das „potentielle Feudum" gehört nicht zum Feudum —
sondern ist nur eben mögliches, künftiges Feudum; das gilt sowohl
von den latenten Kräften, wie den realisierten, aber privaten (in-
dividuellen) Kräften, die nur potentielles Feudum sind.
Zum Wesen des Feudums gehört die Eigenschaft des Reali-
siertseins für die gesellschaftlichen Zwecke; wobei jedoch die äußere
(Rechts-) Form gleichgültig ist (ob privat- oder öffentlichrecht-
lich usw.).
Zum Feudum gehört auch das variable Kapital im Marxschen
Sinne, soweit es eben gesellschaftlichen Zwecken dient — genau
wie das konstante und fixe Kapital, wie überhaupt alles zirkulie-
rende Kapital. Und der Produktionsfonds genau so wie der Kon-
sumtionsfonds, der gesellschaftlichen Zwecken dient.
„Feudum werden'' heißt:
a) für bisher freie ICräfte gesellschaftlich gebunden und spe-
zifiziert werden,
b) für bisher latente Kräfte realisiert und gesellschaftlich ge-
bunden und spezifiziert werden.
Viel enger und spezieller ist der Begriff der Kapitalsakkumulation.
Das Feudum hat also drei notwendige Modalitäten. Es ist die
a) angesammelte (angehäufte),
b) realisierte,
c) gesellschaftlich (wenn auch in privater Form) gebundene
oder doch dienende menschliche Schöpfungskraft.
Dazu die vierte nicht begrifflich notwendige, aber historisch wirk-
liche Modalität:
d) der Spezifizierung (Formung) nach dem gesellschaftlichen
Interesse (Bedürfnis, Funktion).
5» 67
Auch das Feudnm ist nicht starr abg^renzt, sondern ela-
stisch, es strömt unausgesetzt aus den ,,freien Kräften", den laten-
ten und individuellen Kräften usw. dem Feudum zuj und von ihm
dorthin ab.
Besonders elastisch ist das geistig-psychische und physische Feu-
dum, am meisten das geistig-psychische, das vermöge der Elastizi-
tät der menschlichen Kräfte und Bedürfnisse je nach den Umstän-
den, Anreizen, Notwendigkeiten, Nützlichkeiten, Annehmlichkeiten
sich zusammenziehend oder ausdehnend verschiedene Grade der
Kontraktion und Expansion anninunt.
Was von diesen latenten und potentiellen sozialen Kräften jeweils
realisiert wird, hängt in höchstem Maße von den gesellschaftlichen
Bedingungen, Bedürfnissen, Lebenshaltung, Gewohnheiten usw. ab
(vgl. das historische Moment bei Marx). Ganz wie das, was vom
Individuum realisiert wird, von dessen Bedürfnissen, Zwangslage
(Not, Notwehr in Lebensgefahr, Hunger usw.) abhängt.
So ist zu unterscheiden:
1. zwischen den Gesamtkräften in der Gesellschaft und dem
Gesamtfeudum.
Diese Gesamtkräfte sind größer als das Gesamtfeudum; selbst
größer als das realisierte Feudum und das potentielle Feudum zu-
sammen; da zu den Gesamtkräften in der Gesellschaft auch die
freien Kräfte gehören (realisierte und latente), die nicht poten-
tielles Feudum, selbst ihrer Anlage nach nicht gesellschaftlich sind.
2. Zwischen den Gesamtkräften der Gesellschaft und dem Ge-
samtfeudum: diese Gesamtkräfte sind = realisiertes Gesamtfeudum
plus potentielles Gesamtfeudum.
Das potentielle Feudum, d. h. die freien Kräfte, soweit sie
Feudum werden können, der Gesellschaft nach Bedarf zur Dispo-
sition stehen, steigert die Schöpfungskraft der Gesellschaft, erhöht
die Kontraktions- und Ausdehnungsfähigkeit und damit die Elasti-
zität des gesellschaftlichen Wesens, als eine Art Reservoir — (vgl.
die industrielle Reservearmee als ein Stück des politischen Feudums;
und ebenso der ungenutzt liegende Schatz, ungenutzt liegende Ma-
schinen, Werkzeuge, Bodenflächen, Gewässer usw.).
Das ist für die einzelnen Arten des Feudums entsprechend
durchzuführen: z. B.
68
menschliche
Schöpfungs-
kräfte organisa-
torischer Art
Es ist zu unterscheiden zwischen organisatorischem Feudum und
organisatorischen Schöpfungskräften (menschlichen und sozialen) ;
letzteres sind die weiteren Begriffe; sie umfassen:
a) Feudum (realisiertes), | soziale Schöpfungs-
b) werdendes Feudum, > kräf te organisato-
c) Feudum in der Potenz, j rischer Art
d) freibleibende organisatorische Kräfte
Die ursprünglich -natürliche physische Kraft wie die ur-
sprünglich-natürliche geistig - psychische Kraft gehören ebenso-
wenig wie alles Organisatorische und alles Stoffliche an sich zum
Feudum, oder auch nur zu den sozialen Schöpfimgskräften.
Zum Feudum gehört nur die besonders auf das Gesellschaftliche
gerichtete, durch die und in der Kulturarbeit nach' und nach heran-
gezüchtete und angehäufte besondere Form physischer und geistig-
psychischer Kräfte — z. B. besondere Geschicklichkeit, Gewandt-
heit, Zähigkeit usw.
S k: Einige Einzelheiten
A. Im Besonderen: Das organisatorische Feudum
Die Organisatioq kann allen Zwecken in allen Sphären dienen,
auch geistig - psychischen, physischen, stofflichen, kurz Zwecken
auch der drei anderen Arten Feuden und freien Kräfte, als Werk-
zeug für sie. Die Organisationen für das Gebiet des Geistig-Psy-
chischen dienen u. a. zur Gestaltung, Erhaltung, Anwendung eines
bestimmten gewünschten geistig-psychischen Zustands in den ver-
schiedenen Kreisen und Schichten (Klassen, Berufen, Ständen, Ge-
schlechtem, Altersklassen usw.). Und zwar in Klassen-Gesellschafts-
ordnungen: wie er gewünscht wird von den Herrschenden für sich
und die Beherrschten; oder dem entgegengesetzt im sozialen Kampfe:
wie die Beherrschten ihn für sich wünschen und anstreben.
Zum Bereich der Organisation für das Stoffliche gehört die stoff-
liche Produktion und Reproduktion, Distribution und Konsumtion
usw. resp. Akkumulation.
Zu dem der Organisation für das Physische: die „Bevölkerungs-
politik" in allen ihren Zweigen, physischer Produktion und Re-
produktion, Ausbildung, Erhaltung, Schulung (auch Gesundheits-
69
pflege) — auch die Produktion usw. der Waffen- und sonstiger
Gewaltwerkzeuge.
Allenthalben beeinflußt, kontrolliert, regelt die Organisation die
Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Und darüber hinaus:
der sozialen und menschlichen Schöpfungskräfte überhaupt (auch
der freien), soweit sie dem organisatorischen Zugriff und Einfluß
eben zugänglich sind.
B. Insbesondere: Das physische Feudum
(und zwar das natürlich- und das künstlich-physische)
Das Physische zerfällt in natürlich - physisches und künstlich-
physisches^ Feudum — letzteres insbesondere die Waffen und an-
deren Gewaltswerkzeuge und auch sonstige Werkzeuge, auch Orga-
nisationen zu physischen Zwecken umfassend.
Das Physische ist seiner Entstehung, Gestaltung, Erhaltung, An-
wendung nach von den übrigen Arten von Kräften und Feuden ab-
hängig — vielfach auch ihnen entsprossen. In besonderem Maße
gilt das vom künstlich-physischen Feudum und Kräften.
Ins Gebiet des physischen Kräfte - Feudums gehört auch die
Ge w al t als Herrschaftsmittel (auch über die Natur usw.), speziell
als Mittel der Beherrschung des Menschen durch den Menschen.
Sie ist aber keine besondere Kraft, sondern nur eine Form der An-
wendung der Kraft.
C. Die Gewalt und Gewaltwerkzeuge (Waffen usw.)
In erster Linie zu den physischen Kräften und Feuden gehörig,
aber auch zu allen anderen Arten Kräften und Feudum zugleich;
oft eine Kombination aller vier Arten in recht mannigfacher Mi-
schung, oft nur von drei Arten (das Organisatorische fehlt) oder
von zwei Arten (auch das Stoffliche fehlt) oder, wenn auch das
geistig-psychische, im Sinn des gewöhnlichen Lebens, fehlt, sogar
in gewissem Sinn (cum grano salis) nur „physisch*'.
Zum künstlich - physischen Feudum, besonders der künstlich-
physischen Kräfte im allgemeinen, gehören die Gewaltwerkzeuge
aller Art (Waffen, Ketten, Kerker usw., Folterinstrumente), alle
Werkzeuge, die zum Bezwingen, Niederhalten, Gefügigmachen und
70
-erhalten dienen. Diese Werkzeuge verschaffen eine Vervielfälti-
gung oder doch Steigerung der natürlich-physischen Kräfte.
Vor allein die künstlich-physischen Kräfte sind in ihrer Ent-
stehungy Erhaltung, Anwendung an die anderen Arten Kräfte (Feu-
den) noch viel näher gebunden als die natürlich-physischen (vgl.
Waffenerzeugung) .
P. Die notwendige Verflechtung der vier Arten des
Feudums zu einer Einheit
Die verschiedenen Arten des Feudums greifen allenthalben —
und wenn nicht in jedem geringen Spezialfall, so im Gesamtbild —
ganz yne die Schdpfungskräfte überhaupt — gleich den Rädern
einer Maschinerie ineinander ein, einander so erst die Entstehung,
Erhaltung, Steigerung, Anwendung ermöglichend.
$5. Vom Streite der vier Kategorien
Hier ist der kulturgeschichtliche Rang der vier Feuden zu be-
trachten, Vergleichung des Grades der kulturellen Bedeutung der
verschiedenen Arten Feudum und freien Schdpfungskräfte vorzu-
nehmen.
Welches Feudum ist das wesentlichste, bedeutsamste, unentbehr-
lichste für die Kulturentwicklung — das kennzeichnendste für den
Kulturzustand?
Das Stoffliche! Wenigstens von dem für die kulturelle Repro-
duktion und eventuelle Neuproduktion und das Zeitmoment ent-
scheidenden Gesichtspunkt aus. Alle anderen Arten Feudum kön-
nen, wenn das Stoffliche vorhanden ist, zu dem ja auch Maschinen,
Werkzeuge, Rohstoffe, Bücher, Grebäude, kultiviertes Land, Trans-
portmittel, Wege usw. gehören, nicht minder alle Experimentier-
instrumente und Lehrmittel, Kunstwerke usw., Kunstwerkzeuge
(Musikinstrumente), kurz das Stoffliche aller Sphären — und
mag auch nur ein Lehrer und Wegweiser vorhanden sein, selbst falls
niemand sonst z. B. auch nur lesen könnte! — sehr rasch erzeugt
werden: das geistig - psychische, das physisch - modalisierte (Ge-
schicklichkeit) und das organisatorische. Die Elastizität und leichte
Beeinflußbarkeit, Wandlungsfähigkeit, Bildsamkeit der mensch-
7»
liehen Seele, des menschlichen Geistes und Körpers ermöglichen
dies.
Das Stoffliche jedoch, wenn auch alle anderen Feuden überreich
vorhanden, könnte nicht in gleicher Weise rasch neu erzeugt wer-
den, und wäre eine Million Lehrmeister am Werk, wäre jeder ein-
zelne selbst ein Meister: das fremde Stoffliche ist widerspenstiger
und schwerfälliger als das menschlich-psychische und physische.
Hier könnte nicht gesprungen und nicht geflogen werden; nicht
Kunst und Wissenschaften allein — Geduld will bei dem Werke
dieser Produktion sein, die, wie sie jetzt von zahllosen Generationen
herrührt, auch künftig nur in Generationen neu produziert werden
könnte.
Pas stoffliche Feudum verkörpert zudem in praktisch vollendeter
Weise für die Anschauung den ganzen Inhalt, die ganze Art und
Richtung, die das geistig-psychische und physische und selbst or-
ganisatorische Feudum nehmen muß; es bietet vollendeten An-
schauungsunterricht und ist so selbst Lehrmeister, ja ein Nürn-
berger Trichter für den Erwerb der erforderlichen physischen, gei-
stig-psychischen und organisatorischen Kräfte. Alles theoretische
und selbst praktische Wissen ohne solche Demonstrationsobjekte ist
im Vergleich zur Hebelkraft solcher Lehrmittel unendlich kraftlos.
Vom Standpunkt der Kausalität, der Notwendigkeit für die An-
wendung der einzelnen Feuden, für das Funktionieren der Gesell-
schaft überhaupt sind die vers<;hiedenen Arten Feuden gleich wichtig
und unentbehrlich. Hier ist nur der Standpunkt der Neu Produk-
tion — und des Zeitmoments (der Bew^lichkeit und Elastizität)
behandelt.
$6. Weiteres zum gesellschaftlichen Feudum
Zur Betätigung und Befriedigung seiner Bedürfnisse in jeder
Sphäre bedarf der Mensch — und zwar mit zunehmender Kultur
in zunehmendem Maße — eines überlieferten (traditionellen) Kul-
turbestandes — und zwar an stofflichen Gütern, menschlichen (ge-
sellschaftlichen) Einrichtungen und menschlichen (körperlichen und
geistigen) Kräften und Eigenschaften (Geschicklichkeiten, Fertig-
keiten usw.), eines Bestandes, der also zu jeder Sphäre gehört. AU
7a
dies vermehrt und verändert sich ununterbrochen im normalen Lauf
der Kulturentwicklung — ja diese Vermehrung und dieser Quali-
fikationswandel ist das augenfälligste und bedeutsamste Substrat,
der sicherste, bedeutsamste Index der Kulturentwicklung selbst.
Die stofflichen Güter — durch Akkumulation allmählich von
Generation zu Greneration angehäuft — machen den ,,gesellschaf t-
liehen Reichtum" in materiellem Sinn aus. Sie seien das stoffliche
Feudum der Gesellschaft bzw. auf die gesamte Menschheit bezogen:
das stoffliche Feudum der Menschheit genannt.
Neben diesem stofflichen Feudum, dem materiellen Substrat der
Kultur, steht als seine notwendige Ergänzung das organisatorische
Feudum, das physische und das psychisch-geistige Feudum.
Das Feudum in seiner Gesamtheit ist die wesentliche Grundlage
der schöpferischen Kraft der Gesellschaft auf einer gegebenen Kul-
turstufe; es bestimmt diese schöpferische Kraft, es ist gewisser-
maßen die Kulturmaschine und die Betriebskraft dieser Maschine
zusammengenonunen.
Jede Sphäre hat ihre wirtschaftliche Seite, ihre ökonomische
Grundlage, deren Vorhandensein die Voraussetzung, Bedingung für
die gesellschaftliche Wirksamkeit in ihr bildet. Das gilt von der
Schutz-, der Nahrungserwerbs-, der Überschuß-Sphäre in gleicher
Weise. Auch die letztere, bei aller Idealität ihrer Zwecke, kann
diese Zwecke nur mit wirtschaftlichen Mitteln erfüllen, der Maler
mit Leinewand, Ol, Pinsel und Staffelei, der Bildhauer mit Stein,
Meißel usw. ; Wohnung, E^eidung und Nahrung braucht der Prie-
ster, der Dichter; Tempel, Weihrauch und Altäre die Götter; Lor-
beeren und Bildsäulen der Ruhm; Instrumente die Musik usw. Da-
bei ist Ernährung, Schutz usw. der in der Oberschuß-Sphäre auf-
gewandten Kräfte nicht der Ernährungs- usw., sondern der Über-
schuß-Sphäre zuzurechnen — wenigstens gesellschaftlich betrach-
tet, kulturell angesehen (unabhängig von der individuellen Betrach-
tung).
So gehört zu jeder Sphäre ein an Umfang und Qualität wechseln-
des, stoffliches, organisatorisches, physisches und psychisches Feu-
dum.
Die Verwaltung dieses Feudums, die Verfügungsgewalt darüber
hegt bald in den Händen der Individuen, die — meist unbewußt —
73
insoweit gesellschaftliche Funktionäre sind, bald in der Hand von
Organisationen aller Art — öffentlichen und privaten, bald — sym-
bolisch — in den Händen von göttlichen Mächten.
Dieses Feudum muß dauernd erhalten, d. h. auch im Flusse der
Abnutzung laufend reproduziert, und mit der Wandlung der Kultur
vermehrt produziert und akkumuliert werden.
Akkumulation findet freilich absolut auch statt ohne Steige-
rung der Kultur; bei Vermehrung der Bevölkerung, wofern wenig-
stens die Kultur dabei nicht sinken soll. Das kulturell Wesentliche,
d. h. als Kennzeichen den Kulturgrad Signierende, der Quantität
des Feudums (bei gleicher produktiver Qualität) ist aber nicht die
absolute, sondern die relative Akkumulation — relativ im
Verhältnis zur Menschenzahl. Auch dies ist allerdings wieder ein-
zuschränken. Es gibt Kulturepochen, in denen der Fortschritt der
materiellen Kultur nicht durch relative Vermehrung von materiellem
Reichtum ermöglicht und herbeigeführt wird — sondern durch
bloße Verschiebung im Besitz des vorhandenen materiellen
Reichtums — sei es, daß er von einer Schicht auf die andere, sei
es, daß er von einem Volke auf das andere (verschiedene Kultur)
„übertragen" wird, z. B. durch mehr oder weniger offenen Raub
und Gewalt, Betrug (= ursprüngliche Akkumulation).
Dazu konunt aber die wichtige Einschränkung des nächsten Pa-
ragraphen.
Aber mit dieser Verschiebung ist nur dann eine Erhöhung der
materiellen Kultur (des materiellen Reichtums, der wirtschaftlichen
Schöpferkraft) der Gesellschaft als Ganzen verbunden, wenn die
verschobenen Güter durch die Besitz- und Nutzungsverschiebung
in die Disposition von Personen, Kreisen gelangen, die sie durch
höheres organisatorisches, physisches, geistig-psychisches Feudum
erfolgreicher verwenden können, d. h. wenn sie infolge der Be-
sitzverschiebung produktiver werden.
Wenn z. B. der Personenkreis, dem die Güter entzogen werden,
ein niederes, bereits abseits der .Kulturentwicklung liegendes, aus
dem allgemeinen Geschichtstrom ausgeschiedenes Volk oder dergl.
ist, das für die Gewinnung gesellschaftlichen Reichtums, wde er
für unsere auf die Kulturentwicklung gerichtete Betrachtung allein
in Frage steht, gar nicht mitrechnet, so kann diese Verschiebung
74
des Reichtumsbesitzes innerhalb der Menschheit eine Vermehrung
des Reichtums bedeuten. — Doch ist hierzu eine wichtige Ein-
schränkung nötig, da diese Sätze dem Moment des Zeitablaufs
(Teanpo) ein viel zu absolutes Grewicht beimessen.
S 7. Das Zeitmoment in der Entwicklung
Bei der obigen Beschreibung der eventuellen kulturerhöhenden
Wirkung der Besitzverschiebung ist dem Moment des Zeitablaufs,
des Tempos ein ausschlaggebendes Gewicht beig^nessen. ^- Da
aber ist ein Fragezeichen zu machen. Richtig ist, daß für die bei
der Besitzverschiebung (durch „ursprüngliche Akkumulation") den
Mehrbesitz erwerbende Gruppe (ev. Kulturkreis) damit eine Stei-
gerung des materiellen Reichtums und damit der ökonomischen
Basb für eine höhere Kultur im allgemeinen und ganzen gegeben
ist. Aber
1. ist fraglich, ob diese Erhöhung der Gesamtkultur wirklich
eintritt und nicht vielmehr durch andere Eigenschaften solcher
„Kultur"art und ihrer Methoden verhindert wird — selbst bei der
(vorausgesetzten!) gesellschaftlichen Resorption und überlegen tech-
nisch-organisatorischen Anwendung des erworbenen Mehr.
2. werden die beraubten Menschengruppen jedenfalls kulturell
herabgedrückt, oft ganz vernichtet, ausgerottet. Der Nachteil, der
dadurch der menschlichen Gesamtentwicklung, ihrer Gesamtschöp-
ferkraft, ihrer Gesamtkultur erwächst, kann selbst für die Gegen-
wart größer sein als der Vorteil, den die raubende Kultur erwirbt.
Der Maßstab ist sehr kompliziert, fast inkommensurabel. Aber
jedenfalls ist gar nicht abzusehen, wie sich die Rechnung — nach
einem in späterer Zeit zu ziehenden Fazit — stellt,
welche Schöpfungskraft und Kulturwerte die zerstörte Gruppe
künftig, wenn auch erst in später Zeit, zum Heil der gesamten
Menschheit (jedenfalls aber für sich, und das ist inkommensurabel)
hätte entfalten können, wenn diese Störung nicht eingetreten wäre.
Und es ist durch nichts gerechtfertigt, dem Tempo der Entwick-
lung solche objektive, ja absolute Bedeutung — für den Maßstab —
beizulegen, und alles, was die heute blühende, an der Spitze mar-
schierende, unsere „Kultur" fördert, dem, was erst Keime (mög-
75
licherweise höchst fruchtbare) späterer Entwicklung in sich birgt,
vorzuziehen sei. Es ist nicht abzusehen, was so der Zukunft der
Menschheit verloren geht, — und wenn die Gegenwart von einem
braven Knaben schon etwas wert ist, so auch gewiß die Zukunft
der Menschheit, nicht bloß ihre Gegenwart und nicht bloß unsere
„Kultur". Diese Oberschätzung der Gegenwart und des Tempos
der Entwicklung und gerade unserer Kultur ist objektiv ganz un-
gerechtfertigt, unbegründet, willkürlich, egozentrisch, ja solipsi-
stisch.
Es ist einseitig, unkritisch, willkürlich und eine Verkennung des
Zeitmoments im Kulturverlauf, es ist egozentrisch, das Interesse
der Entwicklung unserer heutigen Kultur, und gar das Interesse
einer schnellen Steigerung imd absoluten Herrschaft unserer heu-
tigen materiellen Kultur (des „Reichtums") mit dem Interesse der
gesamten menschlichen Kulturentwicklung, der Entwicklung der
möglichst höchsten Kulturkräfte und -guter für alle Menschen vom
Standpunkt aller aus gemessen, derart schlechthin gleichzusetzen.
In Wirklichkeit ist das nur eine retrospektive Rechtfertigung der
Ausübung des Rechts des Stärkeren.
ZWEITER ABSCHNITT
ZUSAMMENHANGE
UND GESETZE
1. KAPITEL
OBJEKTIVE UND SUBJEKTIVE VORAUSSETZUNGEN
DER KULTUR
Gewiß mag die psychische und physische Konstitution des Men-
schen, auf den letztlich alle Kultur zurückgeht und sich bezieht,
sich „abwandeln" im Verlauf der Kulturentwicklung.
In der Hauptsache aber sind die bestimmenden Momente der
Kulturentwicklung, ihre Bedingungen, ihre Voraussetzungen, ihre
äußere Form
a) äußerlich ein gewisses materielles Feudum — ein gesellschaft-
licher Reichtum an Gütern; sowohl solchen, die als Mittel (Werk-
zeuge, Waffe) der Wirtschaft und sonstigen Zwecken dienen,
wie solchen, die dem Genuß, der Konsumtion (Verzehr) dienen;
b) ein psychisches Feudum (Überlieferung, Tradition), ein über-
kommener Bestand an Erfahrungen und Erkenntnissen, Erfin-
dungen, Entdeckungen, Fertigkeiten — wissenschaftlichen und tech-
nischen Fähigkeiten usw., der es ermöglicht, das materielle Feudum
zweckentsprechend anzuwenden, zu erhalten, zu erneuern, fortzu-
bilden, zu verbessern;
c) ein physisches Feudum;
d) ein Bestand an Organisation — Hilfs- und Ergänzungs-
beziehungen unter den Menschen, die auch eine Art technischen
Apparat darstellen (Arbeitsteilung usw.) — am besten als ein Teil
zu b) zu rubrizieren.
79
-B^
Wesen und Maßstab der „Kultur'
Kultur ist ein aus mehreren Faktoren, und zwar in sehr wech-
selnder, mannigfacher Mischung zusammengesetzter Zustand. Sie
bedeutet
a) als „materielle" Kultur — Grad und Umfang der Be-
herrschung der Naturkräfte für die wirtschaftlichen Be-
dürfnisse der Menschen; und zwar die wirtschaftlichen Be-
dürfnisse, wie sie die Basis für die menschliche Leistung
in allen Sphären ist.
Diese „materielle" Kultur kann sich mit einer Intensität
verschiedenen verhältnismäßigen Grades auf die Nahrungs-,'
Schutz- oder Oberschußsphäre erstrecken.
b) als g e i s t i g e (intellektuelle) Kultur — Grad und Umfang
der Einsicht in das Geschehen der Um- und In weit; als
solche im weitesten Maße die Voraussetzung für die mate-
rielle Kultur;
c) als psychische Kultur — Grad, Kraft und Umfang
der mannigfaltigen seelischen Empfindungsfähigkeit (nicht
schlechthin ihre Differenzierung, sofern diese mit Ab-
schwächung der Sunune verbunden ist). Entscheidend für
den Grad der Kultur dieser Art ist auch die Schlußsumme
aus Zahl, Art, Kraft aller psychischen Empfindungen, das
Maß, in dem diese Summe den Zweck und Sinn des Lebens
realisiert, kurz: der Grad der Lebenskraft, die Fülle des
inneren Lebens.
Auch hier ist für unsere Untersuchung nicht ein individueller,
subjektiver Gesichtspunkt, sondern der objektiv-gesellschaftliche
entscheidend.
Hierunter wird die Gesamtheit aller jeweils wesentlich für
menschheitliche (Kultur-) Zwecke zusammen- und wechselwirken-
den Gruppen von Menschen mitsamt ihrem Feudum verstanden.
Die verschiedenen Gruppen zerfallen wieder in verschiedene
Schichten (Kasten, Stände, Klassen, Berufe usw.), die miteinander
in verschiedenen Ergänzungsbeziehungen stehen — entsprechend
den Beziehungen der verschiedenen Gruppen zueinander. Diese ört-
lich getrennten Gruppen können auf verschiedenen Kulturstufen
80
stehen; mindestens wird der Habitus der Kultur ein verschiedenes
Gepräge haben, so daß sie sich ergänzen (industrieller und agrikoler
Typ; innerhalb des industriellen wieder verschieden je nach Art des
Produzierten und nach der Form der Produktion usw.).
So kann es in thesi gleichzeitig mehrere „Gesellschaften" geben;
in der Epoche der Weltwirtschaft, des Weltverkehrs, der alle Zei-
ten, Erdteile, Rassen und Kulturformen umspannenden Kultur sind
alle etwa noch vorhandenen, von dereinen hochkapitalistischen Welt-
gesellschaft vorläufig noch getrennten Kulturkreise, wovon höch-
stens nur sehr unwichtige existieren, mindestens nach dem kapita-
listischen Postulat bereits destiniert, verfallene und verschriebene
Nutzungsgebiete, deren Einbeziehung in das weltumspannende Ge-
sellschaftsgewebe nur eine Frage kürzester Zeit ist.
Zu der Gesellschaft rechnen auch die rein passiven, der Ausbeu-
tung anderer Personen, Schichten oder Völker verfallenen Gruppen,
Schichten und Personen, auch der Bodensatz der Gesellschaft und
ihres Lebensprozesses.
Gesellschaftsordnung
Unter Gesellschaftsordnung wird keine konkrete oder hyposta-
siertc Gesellschaft selbst verstanden, sondern die „Idee", nach der
eine gegebene Gesellschaft gestaltet ist, die Art und Form ihrer Ge-
staltung — und zwar charakterisiert nach dem wesentlich beherr-
schenden, entscheidend gestaltenden Prinzip, dem Formprinzip.
Nach dem Vorgang Morgans werden als große bisher in Erschei-
nung getretene Hauptstufen der Gesellschaftskulturgestaltung ge-
nannt: Wildheit, Barbarei, Zivilisation. Jede dieser Stufen weist
zahlreiche Zwischenstufen (z. B. Zivilisation: feudale, ständische,
zünftlerische, kapitalistische Gesellschaftsordnung) und auch Pa-
rallelformen von gleicher Höhe auf (Wildheit: Fischfang, Jagd,
Wurzel- und Früchtesuchen, denen als höhere Unterstufen von unter
sich gleicher Höhe zwei Typen der primitiven Domestikation fol-
gen: primitiver Ackerbau und Viehzucht — nomadisierend, exten-
sivst, ohne systematische Kultur, mit Wechsel der Wohnsitze; jähr-
lich oder seltener und dann den Obergang zur intensiven höheren
Domestikation bildend).
Die Differentiation zwischen den verschiedenen Gesellschafts-
6 Liebknecht» Stadien 8l
Ordnungen kann grundsätzlich ins Unendliche getrieben werden;
denn alle die Ordnungen wie auch großen Kulturstufen sind nichts
Festes, Versteinertes, sondern dauernd im Flusse, im Wandel und
Wechsel der Entwicklung und gehen in einem im einzelnen fast un-
merklichen Infinitesimalprozeß allmählich ineinander über. Die
Zweckmäßigkeit gebietet jedoch, die Bezeichnung für gewisse,
durch ein großes gewaltig wirksames, alles durchdringendes und
in höchstem Grade charakteristisches Prinzip eigenartig und unter-
schieden gestaltete Haupttypen, Grundformen der Gesellschafts-
bildung vorzubehalten.
Kulturelle Niveau-, Ausgleichungs- und Vervoll-
ständigungstendenz als Entwicklungsmoment
(Vgl. auch: II. Abschnitt, Kapitel IX)
Ist, wie die Regel, die Kultur einer Gesellschaft nicht in allen
Teilen der Gesellschaft und nicht auf allen Gebieten der Kultur
völlig adäquat und harmonisch, nicht organisch-zusammenpassend,
nicht gleichstufig-ausgeglichen und gleichartig und vollständig, so
besteht das Bedürfnis nach und die Tendenz zur Herstellung der
Harmonie, der kulturellen Kohärenz, Konkordanz, Homogenität,
d. h. der Gleichartigkeit, Gleichstufigkeit, Ausgeglichenheit und
Vollständigkeit der Übereinstimmung. Ein Ausgleichungs- und Er-
gänzungswachstum macht sich geltend.
Dieses Bedürfnis, diese Tendenz, im Kampf sich auswirkend,
kann sowohl zur Rückbildung, ja zur Wiederausscheidung der wei-
ter fortgeschrittenen Kulturelemente führen wie auch zur Fortbil-
dung, Höherentwicklung der zurückgebliebenen, rückständigen Kul-
turelemente: je nach den Umständen, nach dem Verhältnis der für
die verschiedenen Kulturelemente eintretenden Machtfaktoren.
In der Regel: Durch Kompromiß zum Fortschritt
— dialektisch in Thesis, Antithesis und Synthesis.
Dies Bedürfnis und diese Tendenz besteht:
a) in den Individuen,
b) in den verschiedenen Kreisen, Gruppen, Schichten, Klas-
sen der Gesellschaft,
c) in der Gesellschaft als Ganzem,
d) im Kulturkreis,
e) im Verhältnis aller in irgendeiner Beziehung zueinander
stehenden verschiedenen Kulturkreise (Gesellschaften
usw.), bis endlich
f ) zur Gesamtmenschheit.
Das «»Ziel" ist dabei diejenige Gleichartigkeit, Gleichmäßigkeit«
Ausgeglichenheit und Vollständigkeit, die durch das Wesen des
Menschen und der Gesellschaft (Individuum, Gruppe, Gesellschaft,
Kulturkreis usw.) postuliert wird.
Das Wesen des Menschen als eine Einheit, eine Entelechie re-
präsentiert und fordert für die Befriedigung seiner Bedürfnisse
zwar Gleichartigkeit usw., aber einen verschiedenen Grad von
Gleichartigkeit, Gleichmäßigkeit, Ausgeglichenheit und Vollstän-
digkeit, und zwar verschieden sowohl in den Individuen, wie den
Schichten usw., wie den verschiedenen Kulturstufen und den je-
weiligen gesellschaftlichen Reizzuständen, Stimmungen, Empfäng-
lichkeiten, Empfindlichkeiten für Reaktionen und Aktionen aller
Art.
Die Kapazität des Gesellschaftsgedächtnisses
Was vom Individuum gilt, gilt auch von der Gesellschaft, vom
Kulturkreis: der Umfang, die Kapazität des Gedächtnisses ist be-
grenzt. Nicht alles einmal ins Bewußtsein der Gesellschaft, ins Kul-
turbewußtsein Eingegangene bleibt unabänderlich, dauernd darin.
Es wird von anderem Gedächtnisstoff verdrängt oder versinkt ohne-
dies infolge Zeitablaufs in Vergessenheit.
Die Frage ist sehr kompliziert, weil das Gesellschaftsgedächt-
nis von einem sehr verwickelten Organismus getragen wird, der
aus den mannigfaltigsten ungleichartigen, oft gegensätzlichen Tei-
len besteht, die sich wiederum aus zahlreichen sehr verschiedenen
Individuen zusammensetzen, den eigentlichen Trägern auch des Ge-
sellschaftsgedächtnisses.
Diese Träger mit der ungeheuren natürlichen und sozialen
Verschiedenheit und Vielfältigkeit ihres Wesens, ihrer Fähigkeiten,
ihrer Interessen überhaupt als eine psychisch-geistige Einheit zu
fassen, ist weit schwieriger als der entsprechende Akt in der Indi-
vidual-PsychoIogie. Weder die gleichen Regungen des Seelenlebens
noch die gleichen intellektuellen Regungen finden sich in jedem
6* 83
Individuum. Keineswegs umfaßt das Gedächtnis eines jeden den
gleichen Inhalt. Es gibt jedoch gewisse Stoffe, die dem Gedächtnis
zwar nicht aller Individuen einer Gesellschaft, aber doch einer so
großen Anzahl voll entwickelter Mitglieder angehören, daß von
einem allgemeinen gesellschaftlichen Gedächtnis (Bewußtsein) ge-
sprochen werden darf — wenn auch stets mit den Vorbehalten, die
in allen Dingen der Massenpsychologie geboten sind. Nicht nur die
Gesamtgesellschaft hat in diesem Sinn ein gemeinsames Gedächtnis
(Bewußtsein), sondern auch jeder eine charakterisierte Gemein-
schaft darstellende Gesellschafts teil. Der Inhalt seines Gedächt-
nisses ist verschieden von dem der Gesamtgesellschaft; er umfaßt
den des Gresellschaftsgedächtnisses mit, aber hat außerdem seinen
besonderen Stoff — und zwar jeder solcher Gesellschaftsteil seinen
eigentümlichen. Die Inhalte des Gedächtnisses dieser sozialen Ge-
dächtnisgemeinschaften schachteln sich ebenso ineinander, kreuzen
sich ebenso wie die Gesellschaftsteile selbst, die eben diese Gedächt-
nisgemeinschaft darstellen. Die letzten Glieder der einzelnen Gesell-
schaftsteile, die eine ganze Stufenleiter bilden, sind die Individuen,
von denen wieder jedes (cum grano salis) neben dem allgemein-
gesellschaftlichen Gedächtnisinhalt und den Gedächtnisinhalten der
verschiedenen Gesellschaftsteile (sozialen Gedächtnisgemeinschaf-
ten), dem es angehört, seinen ganz besonderen eigenen Gedächtnis-
inhalt besitzt.
Inhalt und Umfang des Gedächtnisses der einzelnen Gesell-
schaf tsteile und Individuen ist stärkstem Wandel und Schwankungen
unterworfen.
Die Frage wird noch mehr verwickelt durch die Tatsache,
daß die Frage des gesellschaftlichen Gedächtnisses einem unaus-
gesetzten Wechsel und Wandel unterworfen ist.
Für das Gesellschaftsgedächtnis im Entwicklungsprozeß ist
nicht nur der allgemein gesellschaftliche Inhalt in eben definiertem
Sinne von Bedeutung, sondern nicht minder das Gedächtnis der
Gesellschaftsteile und der Individuen, die als Neuerwerber künftiger
Gesellschafts-Gedächtnisstoffe, als seine Verwahrer und künftige
Verbreiter in Frage kommen, in deren unausgesetztem wechselnden
Weben und Wirken alle Befruchtung und Erneuerung, kurz die
laufende Aktualisierung des Gesellschaftsgedächtnisses erfolgt.
84
Das Gesellschaftsgedächtnis — wie schon das der Gesellschafts-
teile und Individuen — ist danach ungemein elastisch, sein Inhalt
fortwährendem Wandel unterworfen. Je nach dem Bedürfnis, den
Interessen, der Stimmung, dem gesamten psychischen Zustand
wächst oder sinkt die Gedächtniskapazität; je nachdem strömen
dem Gesellschaftsgedächtnis aus den Gesellschaftsteilen und Indi-
viduen neue Inhalte zu, werden neue Stoffe von ihm aus den ein-
zelnen Trägern herausgesogen und der Allgemeinheit zugeführt.
Dennoch bleibt die Fülle dessen, was sowohl aus dem Gesell-
schaftsgedächtnis wie aus dem seiner Treuhänder, „Lagerhalter"
und der geistigen „Testamentsvollstrecker" der Vergangenheit und
aller Gesellschaftsmitglieder überhaupt verschwunden ist und lau-
fend verschwindet, ganz ungeheuer; unendlich viel mehr, als was
im Gedächtnis erhalten bleibt.
Der Grund des Yerschwindens ist Wechsel des Interesses
oder Ersatz durch aktuellere, neuere, dasselbe Interesse befriedi-
gende Tatsachen oder ganz allgemein Unmöglichkeit, alles zugleich
festzuhalten, bei der Fülle andrängenden Stoffs oder, wie oben er-
wähnt, bloßes Vergessen durch Zeitablauf.
Dieser Grund kann ein dauernder oder nur vorübergehen-
der sein: Es kann z. B. später wieder ein Interesse an dem Inhalt
entstehen. Es gibt ein gesellschaftliches Wiedererinnern. Wenn
z. B. außerhalb der Gesellschaft in einem anderen Kulturkreis sich
das Gedächtnis an etwas doch Vergessenes erhalten hat und eine
entsprechende Influation stattfindet (Reisen usw.) oder wenn das
Vergessene, Versunkene, Verschüttete, Abgestoßene, Untergegangene
in petrefiziertem Zustande, stofflich verkörpert (z. B. Werkzeuge,
Kunstdenkmäler, Bücher usw.) erhalten ist, so kann das schon Ver-
lorene wieder ins Gesellschaftsbewußtsein überführt werden (Aus-
grabungen, „Wiederauferstehen**, Taucherarbeiten, auch Verstei-
nerungen usw.). Gerade in unserer Zeit der Generalrezeption und
-Resorption findet das in höchstem Maße statt. Vgl. posthume Re-
zeption, Resorption. Im übrigen u. Kapitel 4*
Es gibt auch ein bloßes Verschwinden ins gesellschaftliche
Unterbewußtsein, wobei der betreffende Gedächtnisinhalt, wenn
auch unter der Bewußtseinsschwelle, fortwirkt, instinktiv, wenn
man will, darum oft nicht weniger einflußreich.
85
Und es gibt ein nur scheinbares Verschwinden von Gedächtnis-
stoff — in dem Fall, daß ein früheres Beschränkteres, Engeres,
Schwächeres in einem gegenwärtigen Umfassenderen, Größeren«
Stärkeren eingeschlossen, eingekapselt, aufgegangen und somit er*
halten geblieben ist — nur eben nicht isoliert erhalten.
So kann ein späteres, größeres Vorstellen, Fühlen, Wissen,
Wollen ein früheres kleineres eingesogen haben (in majore minus)
und umspannen.
Bedeutungswandel des einzelnen Gedächtnisgegenstandes im
Laufe der Entwicklung — besonders nach Vergessen beim Wieder-
aufnehmen sehr häufig: was z. B. früher praktisches Wissen des
täglichen Lebens (Wirtschaft) war, ist später von wissenschaft-
lichem kulturhistorischem Interesse.
Auch Wechsel in den Trägern des Gedächtnisses — früher
Individuen, später Gesellschaftsteile oder Gesamtgesell^chaft oder
umgekehrt — und wechselnde Gesellschaftsteile.
Die gesellschaftliche Besitzkapazität
überhaupt
Was von dem gesellschaftlichen Besitz an Gedächtnismaterial
gilt, gilt auch mutatis mutandis vom gesellschaftlichen Besitz an
anderen Dingen, an stofflichen Gütern, Kräften usw., an Feudum
aller Art überhaupt.
Auch er ist „gesellschaftlich" in dem im vorigen Abschnitt
gezeigten Sinn; gegliedert in allerhand Gesellschaftsteile und
schließlich Individuen als letzte Träger des Besitzes. Doch ist hier,
soweit es sich um stoffliche Güter handelt, mindestens der Rechts-
form nach auch die Gesellschaft als Ganzes zum Teil unmittelbar
Besitzträger; ebenso andere Gesellschaftsteile darstellende Gemein-
schaften. Da der Besitz an stofflichen Gütern an und für sich eine
rechtliche, trotz der Tatsächlichkeit des Besitzverhältnisses doch
wesentlich gedankliche oder rechtsähnliche Beziehung bildet und
nicht eine natürliche physische oder psychisch-geistige, also eine
außerhalb des Individuums sich vollziehende Tatsache und nicht
eine innerhalb des Individuums sich abspielende wie das Gedächtnis,
das Wissen, so ist hier die gedanklich-rechtliche Beziehung und
die äußerliche Beziehung der stofflichen Besitzgegenstande zu dem
86
rechtlichen oder rechtsähnlichen Gedankenwesen, das wir Gesell-
schaft nennen, unmittelbar möglich.
Anch das organisatorische Feudum wird nicht nur von Indivi-
duen, sondern auch von Personenmehrheiten unmittelbar getragen.
Neben dem unmittelbar von der Gesellschaft als Ganzem be-
sessenen Feudum steht das von einzelnen Gesellschaftsteilen aller
Art und das von Individuen besessene; das aber „gesellschaftlich"
in unserem Sinne ist, soweit es der Gesellschaft, ihrem Gesamtleben
dient — wenn auch in der Form eines Individualbesitzes.
Der .gesellschaftliche Besitz in diesem Sinne ist elastisch — das
^U allgemein in dem Sinn, wie im vorigen Abschnitt dargelegt*
Anziehung und Ausstoßung aus der Sphäre des Nichtgesellschaft-
licfaen je nach Intensität des Gesellschaftslebens, der Gesellschaf ts-
aktivität und ihrer Energie.
Nicht alles einmal Erworibene kann gesellschaftlich dauernd
besessen bleiben. Auch nicht das an sich Unverbrauchte, Nicht-
abgenutzte. Vieles wird unbrauchbar, vieles überflussig, vieles
durch anderes ersetzt; vieles wird zweckmäßiger wieder zerstört,
um zu anderem, nützlicherem verwendet zu werden oder um an-
derem Platz zu machen. Es fehlt auch für vieles der Raum, die
Unterbringungs-, Yerwahrungs- und Erhaltungsmöglichkeit. Oder
dieser Raum, diese Verwahrung und Erhaltung würde mehr Auf-
wand an Mühe und Kosten machen, als das Betreffende nach dem
nunmehrigen Kulturzustand (nach Technik und Wirtschaftsformen)
wert erscheint. So wird vieles einfach zerstört oder weggeworfen,
oder liegengelassen, derelinquiert.
Vom verlorenen und wiedergefundenen Gesell-
schaftsbesitz
Ein Kapitel der Tragik und der Auf erweckungs-, Auferstehungs-
und Wunderfreude.
Ein Kapitel der Vergänglichkeit und Unsterblichkeit.
Ein Kapitel der menschlichen Begrenztheit, Enge, Beschränkt-
heit, Dumpfheit und der menschlichen Entwicklungsbreite und
-Kraft; der Endlichkeit und der UnendUchkeit.
Ein Kapitel der Dunkelheit und des Lichts — des Sonnenunter-
gangs und des Sonnenaufgangs.
87
Ein Kapitel von der Verwesung, von der Rumpelkammer, dem
Kehrichtsfaß und dem Grab und ein Kapitel des aus Verwesung
neu sprießenden Lebens.
Quantitäts- und Qualitätswandel des Feudums in
der Kulturentwicklung
Ist mit der fortschreitenden Kulturentwicklung eine proportio-
nale Steigerung von Quantität und Qualität des Feudums aller Art
verbunden? Die Frage ist gestellt und zu beantworten nach dem
Maßstab der Kulturentwicklung; nicht von irgendeinem abso-
luten oder sonstigen Standpunkt.
r. Betreffend Quantität:
I. Physisches Feudum:
a) im Individuum scheint die Quantität der physischen Kraft
in der Kulturentwicklung eher zu sinken als zu steigen;
b) in der Gesellschaft, im Kulturkreis aber steigt die Quantität
laufend, entsprechend dem Kulturfortschritt. Das ist bei-
nahe eine Tautologie, folgt jedenfalls aus dem begrifflichen
Wesen der Kulturentwicklung, aus dem Maßstab, der bei
Bemessung ihrer Höhe (Stufe) zugrunde gelegt ist:
a) die höhere Kultur bedarf einer größeren Menschenzahl
(Kräfte), um sich gesellschaftlich zu verwirklichen, mit
anderen Worten die Gesellschaft, der Kulturkreis, in
denen eine höhere Kultur realisiert werden soll, bedürfen
dazu einer größeren Menschenzahl, als die, in denen eine
niedere Kultur realisiert werden soll;
ß) andererseits ermöglicht erst die höhere Kultur die ge-
sellschaftlich-organische Verbindung einer wachsenden
Zahl von Menschen. Und die zunehmende Zahl der Mit-
glieder einer Gesellschaft, eines Kulturkreises bedeutet
eine Steigerung der Summe des physischen Feudums
dieser Gesellschaft;
c) diese Steigerung der gesellschaftlichen Gesamtsumme an
physischem Feudum kann die einzelnen Teile der Gesell-
schaft sehr verschieden berühren: ihre Mitgliederzahl kann
rascher oder langsamer steigen als die Gesamtsunune, sie
88
kann sogar fallen; ja ganz verschwinden — beim Verschwin-
den der betreffenden Gliederungstelle, wie sich denn auch
völlig neue Gesellschaftsteile im Verlaufe der Entwicklung
bilden.
a. Psychisch-geistiges Feudum:
a) Hier ist der Quantitatsmaßstab besonders schwer und vom
Qualitätsmaßstab nicht wohl zu trennen. Beim Empfin-
dungs-, Gefühls-r Gemütsinhalt ist Intensität viel gewich-
tiger als Mannigfaltigkeit. Und multum non multa bezeich-
net beim intellektuellen Können und Wissen auch einen
Quantitätsmaßstab.
b) Eine Steigerung der Quantität des intellektuellen Feudums
auf den Gebieten, in denen sich der Kulturfortschritt voll-
zieht, des Wissens und der Denkkraft (Forschungskraft)
ist sowohl im Sinn des multum, wie dem des multa, der
Intensität wie der Mannigfaltigkeit mit diesem Fortschritt
notwendig verbunden. Diese Steigerung ist der intellektuelle,
der geistige Ausdruck der Kultursteigerung; sie ist ihre
Voraussetzung, ihr Hebel, ihr Werkzeug, ihre geistige
Grundlage.
Auf anderen, die jeweilige Kulturentwicklung nicht cha-
rakterisierenden Gebieten kann auf (im Sinne der jeweili-
gen Entwicklung) höherer Kulturstufe sogar ein Nieder-
gang eintreten — vgl. z. B. hinsichtlich des abstrakten,
spekulativen, philosophischen Denkens das klassische Al-
tertum im Verhältnis zur kapitalistischen Periode des en-
richessez-vous.
c) Und ähnlich, wie hier, steht's mit dem gesamten psychischen
Feudum; auch da ist kein notwendiger Parallelismus. Vgl.
wiederum — in bezug.auf Kunst z. B. das klassische Alter-
tum und die kapitalistische Barbarei.
d) Freilich wird, wie beim psychischen, so beim intellektuellen
(geistigen) Feudum im einzelnen zu unterscheiden sein nach
jedem einzelnen Gebiet.
e) Ferner ist zu scheiden nach den einzelnen Gesellschafts-
teilen: in ihnen vollzieht sich der Quantitätswandel sehr
89
ungleichartig. Desgleichen sind die Variationsmöglichkeiten
der Individuen zu beachten.
f) Mit der Kultursteigerung ist eine Vermehrung und Ver-
mannigfaltigung der Kreise und Gliederung verbunden.
Daraus ergibt sich eine Tendenz zur Vermannigfaltigung
(Differenzierung) der psychischen und geistigen Struktur;
aber innerhalb der einzelnen Gesellschaftsteile wirken wie-
derum neuformierende, applanierende Gegentendenzen: vgl.
vnederum die V^alze des Kapitalismus, die Individualität
in hohem Grade zerquetschend. So kann auch die Differen-
zierung nicht für die ganze Gesellschaft als allgemeine,
dauernde, gleichmäßig laufende Entwicklungstendenz an-
genonunen werden; sie ergreift oft nur diesen oder jenen
Teil; zuweilen mag sie auch und in besserer Zukunft wird
sie auch die ganze Gesellschaft ergreifen.
g) Die quantitative Vermehrung des Gedächtnisstoffes der Ge-
sellschaft und ihrer intellektuellen (Forschungs-, Denk-)
Kraft (durch Schulung, Übung usw.) kann auch dadurch
eintreten, daß umfassendere, höhere Tatsachen ins Gedächt-
nis treten, die intellektuelle Kraft zu umfassenderen höhe-
ren Leistungen befähigt wird — im Sinne des „in majore
minus". — Auch die quantitative Vermehrung in diesem
Sinne bleibt als eine allgemeine regelmäßige Tendenz zwei-
felhaft.
h) Es erhebt sich die Frage, ob nicht insofern mit der Kultur-
entwicklung eine laufende quantitative Steigerung des gei-
stig-psychischen Feudums stattfindet, als immer breitere
Schichten innerhalb der Gesellschaft am höheren psychi-
schen und geistigen Leben teilnehmen. Aber das ist gar
nicht einmal der Fall. Die Entwicklung bedeutet keine re-
gelmäßige, laufende Vermehrung des Anteils breiter Massen
oder immer breiterer Massen am höheren geistig-psychi-
schen Leben; im Gegenteil stehen im Beginn der Entwick-
lung sehr demokratische Zustände mit starkerGIeichförmig-
keit der geistig-psychischen Stufe aller Gesellschaftsmit-
glieder (vgl. die Pueblos in Mexiko — Morgan).
i) Nur in einem Sinne freilich steigert sich die Gesamtsunune
90
des geistig-psychischen Feudums der Gesellschaft mit dem
Kulturfortschritt: sofern mit diesem Fortschritt eine Ver-
größerung der Zahl der Mitglieder der Ge-
sellschaft, des Kulturkreises verbunden ist und also der
geistig-psychischen Kräfte, die je nach dem gesellschaft-
lichen Gesamtbedürfnis ausgenutzt werden können und
werden.
3. Das organisatorische Feudum vermehrt sich. Ist
es doch eine der wichtigsten Voraussetzungen, Werkzeuge und
Kennzeichen der Kulturentwicklung.
4. Das stoffliche Feudum vermehrt sich gleichfalls ent-
sprechend der Entwicklung — als deren wichtigstes Substrat (Stei-
gerung des gesellschaftlichen Reichtums mit der Kulturentwick-
lung).
II. Betreffend Qualität.
I. Physisches Feudum:
Die Qualität ynrd hier — durch Steigerung der Geschicklichkeit,
Erziehung, Ausbildung, Schulung — im Gesamtdurchschnitt ge-
steigert.
2. Das geistig-psychische Feudum vgl. I, a.
3. Beim organisatorischen findet Steigerung statt.
4* Desgleichen beim stofflichen.
III. Höhere Qualifikation braucht nicht mit Quantitätssteige-
rung verbunden zu sein, ist es auch oft nicht, vielmehr alsdann deren
Ersatz (Äquivalent).
'Wertwandel des Feudums in der Kultur-
entwicklung^)
Die einzelnen Bestandteile des Feudums aller Arten verlieren
oder wachsen mit dem Wandel der Kulturaufgaben an Wichtigkeit
und damit an Wert. Manches wird völlig überflüssig, obsolet, und
zwar Stoffliches, Organisatorisches, Geistiges, auch psychologische
Eigenschaften; neue Bedürfnisse führen zur Erzeugung neuer Be-
standteile der Feuden. Das ist der Wertwandel infolge des Wan-
') Vgl. Schluß des Exkurses zu IL Abschnitt, Kapitel VII: Marxkritik.
91
dels des gesellschaftlich-Notwendigen an Bestandteilen des gesell-
schaftlichen Reichtums.
Weiterer Wertwandel infolge Veränderung der Technik usw.,
die es ermöglicht, mit weniger Aufwand gleiche oder bessere Güter
zu schaffen. Dies der Wertwandel infolge Veränderung des Maßes
der gesellschaftlich notwendigen Arbeitskraft für eine Leistung.
Raum und Zeit in der Entwicklung
„Die Zeit ist die gewaltigste Kraft" — läßt Tieck den Kar-
dinal Farnese sagen (Vittoria Accorombona IV. Akt). ,,Die Zeit
hat eine heiligende Kraft", sagt Schiller. Beides sind poetische,
bildliche Wendungen. Die Zeit ist weder Kraft, noch hat sie Kraft.
Die Zeit ist so wenig wie der Raum selbst ein Entwicklungs-
faktor, so tief das Wort greift: „Die Zeit erst macht die holde Gä-
rung kräftig". Zelt und Raum sind nur die Medien, innerhalb
deren die Entwicklungsfaktoren sind und wirken.
Aber von der Beschaffenheit dieser Medien nach Umfang
und Art ist die Wirksamkeit der Entwicklungsfaktoren nach Art,
Grad und Umfang abhängig. Jene Beschaffenheit ist eben die
Form, in der die Faktoren allein wirken.
So ist zu untersuchen:
A. In bezug auf den Raum, innerhalb dessen sich eine Ent-
wicklung vollzieht:
I. die Rolle, die der
a) absolute (z. B. Einfluß der Größe eines Gebiets auf Klima,
Tier- und Pflanzenwelt, wirtschaftliche und überhaupt kul-
turelle Möglichkeiten, Naturerscheinungen — z. B. Asien
im Gegensatz zu Europa — Stiller Ozean im Gegensatz zu
Mittelländischem Meer, Kontinentalklima usw.),
b) relative (im Verhältnis zur Größe der Gesellschaft, ihrer
Bedürfnisse usw.)
Umfang dieses Raumes in der Entwicklung spielt, und zwar auf
Individuen, Gliederungsteile aller Art, Gesamtgesellschaft. Dabei
ist der Raum für jede Entelechie besonders zu betrachten; der
Gesamtraiun steht nicht allen und nicht allen Partizipanten gleich-
mäßig zu Gebote.
9»
a. die Rolle, die die
a) absolute (Einfluß in allgemein menschlicher Hinsicht, ohne
Rücksicht auf Art der Gesellschaft, Kulturstufe),
b) relative (in bezug auf die besonderen Kulturbedurfnisse
einer oder mehrerer Gesellschaftsformen: z. B. Küste,
Flüsse, Gebirge, Wüste usw.)
Art des Raumes in der Entwicklung spielt.
Zu a): z. B. Einfluß des Gebirges, der Küste auf Charakter,
Gesundheit usw. Natürlich ist dieser Einfluß je nach Kulturstufe
und Art der Gesellschaft stärkstens modifiziert, wobei zu be-
achten ist, daß dennoch ein von diesen Einflüssen nur eben modi-
fiziertes Anderes und sogar ein z. T. nicht modifiziertes (modifi-
zierbares) gleichbleibendes Anderes bleibt. Der Raum allein be-
stimmt eben die Entwicklung im einzelnen durchaus nicht.
B, In bezug auf die Zeit:
1 . die Rolle, die ihr Umfang (ihre Dauer) für die Auswirkung,
Entfaltung, Wirksamkeit der Entwicklungsfaktoren spielt: phy-
sisch, psychisch-geistig (in bezug auf den Menschen selbst — aber
auch in bezug auf die außermenschlichen Vorgänge [Umwelt]) z. B.
Reifen der Frucht, Wachstum der Wälder, der Tiere usw.; che-
mische und physikalische Prozesse; den gesamten Arbeitsprozeß.
2. die Rolle, die ihre Art für die Auswirkung, Entfaltung, Wirkr
samkeit der Entwicklungsfaktoren spielt — z. B. die allgemeinen
und besonderen Zeitumstände, in die die Wirksamkeit des Ent-
wicklungsfaktors fällt, und zwar für das Individuum, den einzel-
nen Kreis oder die Gesamtgesellschaft (z. B. der soziale [kulturelle]
Zustand, in den ein Krieg, eine Entdeckung, eine Erfindung, eine
elementare Katastrophe, eine außerordentliche Tat — z. B. Atten-
tat — fällt; die „Stimmung", Empfindlichkeit, Höhe der Reiz-
schwelle usw.).
Die Rolle der Reizschwelle in der Entwicklung
Es handelt sich um die Reizschwelle für die Auslösung aller
Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen, Handlungen, kurz für
alle Arten des menschlichen Verhaltens, inneres wie äußeres, und
zwar von Individuum, Gesellschaftsteil, Gruppe, Gesellschaft, Ge-
03
samtmenschhelt. Es handelt sich um eine Relativität, die durch
Umstände und Zustände aller Art bestimmt ist.
Die Höhe der Reizschwelle ist insofern ,,niveaubedingt", als sie
in den verschiedenen Kulturzuständen, besonders auf den verschie-
denen unvergleichlichen Kulturstufen und für viele Seiten des
menschlichen Verhaltens eine verschiedene normale Durchschnitts*
höhe besitzt, von der aus in den einzelnen Fällen, unter den spezielleb
Umständen und für die einzelnen Teile der Gesellschaft sich die
Abweichungen, Schwankungen, Sonderfälle ergeben, beurteilen und
berechnen lassen.
Solches Durchschnitts - Normalniveau und die daraus folgende
Niveau-Bedingtheit gibt es sowohl für die Gesamtgesellschaft wie
für jeden ihrer einzelnen Teile für sich. Es gibt für jeden Fall
und Augenblick ein besonderes Niveau des labilen Gleichgewichts,
der fiktiven Neutralität.
2. KAPITEL
WIRTSCHAFTLICHE
VERHÄLTrNllSSE UND IDEOLOGIEN
Nach dem Marxschen Schema (schief «»materialistische Ge-
schichtsauffassung'' genannt) besteht die Gesellschaft auf einem
wirtschaftlichen Unterbau : den .«wirtschaftlichen Ver-
hältnissen"; darauf beruhend (und mit seinen Wandlungen sich
wandelnd) ein ««ideologischer überbau" (Staatsverfassung,
Politik« Recht« Familienform« Sitte« Religion« Wissenschaft« Kunst
usw.); der Entwicklungsanstoß geht von den ökonomischen Ver-
hältnissen aus.
Das ist zu untersuchen.
Fragen:
I. Was sind wirtschaftliche Verhältnisse?
II. Was sind Ideologien?
III. Welche Kausalität in der Kulturentwicklung
a) zwischen den ««wirtschaftlichen Verhältnissen" und den
««Ideologien"; und zwar differenziert zwischen den ver-
schiedenen ««wirtschaftlichen Verhältnissen" und den ver-
schiedenen ««Ideologien"«
b) zwischen den ««Ideologien" untereinander.
Was sind wirtschaftliche Verhältnisse?
Im Wortsinn betrachtet gehören dazu bereits ««Ideologien"! Die
««wirtschaftlichen Verhältnisse" in der Tat = stoffliches Feudum
tJ- physisches Feudum -{-; organisatorisches Feudum -|- psychisch-
95
geistiges Feudum. Worin besteht das organisatorische und psy-
chische Feudum? Auch aus „Ideologien"! Aus dem gesamten gei-
stigen (psychischen usw.) Zustand, soweit für die ökonomische Ka-
pazität und überhaupt wirtschaftlich von Bedeutung.
Wirtschaftliche Verhältnisse sind n i c h t = Zustände, Einrich-
tungen, Feudum (stoffliches, psychisches, organisatorisches) in der
Ernährungs-Sphäre; vielmehr in allen Sphären (Ernäh-
rungs-, Schutz-, Sexual- und selbst Überschußsphäre), das wirt-
schaftliche Fundament, das die materielle^) Voraussetzung für die
menschliche Betätigung in a 1 1 e n Sphären bildet — auch in Wissen-
schaft und Kunst (Werkzeuge, Bücher, Stein, Leinewand, Papier
usw.; Lebensmittel für die tätigen Personen, Wissenschaftler,
Künstler usw.).
a) das stoffliche Feudum, an dessen Vorhandensein die ganze
wirtschaftliche Betätigung — gleichviel zu welchen Zwecken
(ob zu idealen oder materialistischen) und gleichviel in wel-
chen Sphären — gebunden ist;
b) das dazugehörige organisatorische Feudum (Einrichtungen,
Verfassungen, Gliederung, „Arbeitsteilung");
c) das dazugehörige physische Feudum;
d) das dazugehörige psychisch-geistige Feudum.
Die ökonomische Basis in M a r x ' Sinn umfaßt — wie es scheint
— nicht alle wirtschaftlichen Verhältnisse in diesem hier ent-
wickelten Sinne, nicht die gesamte ökonomische Grundlage der Ge-
sellschaft. Er läßt z. B. nicht nur die Ideologien, die ihrer Pro-
duktion dienen, sondern auch das stoffliche Feudum (alle Produk-
tions- und Beschaffungsmittel und Voraussetzungen für die stoff-
lichen Bedingungen) der Überschußsphäre, die ihre wirtschaftliche
Grundlage bilden, darunter auch organisatorisches und psychisch-
geistiges Feudum, außer acht, darüber hinaus das organisatorische
und psychisch-geistige Feudum auch der Ernährungs-, Schutz-,
Sexualsphäre, also einen ganz wesentlichen Teil, den nicht-stoff-
lichen Teil auch der materiellen Bedürfnissphären, und damit einen
v^chtigsten Teil der „ökonomischen Verhältnisse" auch außerhalb
der Grenzen der Überschußsphäre.
') Nicht im Sinne des Stoffes, sondern im Sinne der Erzeugung und
Beschaffong des Stoffs.
96
Was sind Ideologien?
Die Ideologien Marx' sind ganz unklar abgegrenzt.
Zum Teil sind dazugerechnet solche geistig - psychischen Er-
scheinungen, Vorstellungen, Gebilde, die die Ursachen der jewei-
ligen Gestalt der „wirtschaftlichen Verhältnisse" sind; die Be-
dingungen, die Formen, unter denen sich die „wirtschaftlichen Ver-
hältnisse" entwickeln und laufend betätigen und allein laufend
funktionieren können (z. B. die gesellschaftliche Organisation,
„Recht", Technik usw.).
Zum Teil sind sie schlechthin das organisatorische und psy-
chisch-geistige Feudum sämtlicher Sphären und damit ein wesent-
lichstes Stück eben der wirtschaftlichen Verhältnisse in allein mög-
lichem Sinn.
Zum Teil sind sie allerdings das Produkt der ökonomischen
Basis — etwa im Marxschen Sinne — , aber nicht, um über dieser
als luftige, passive Gebilde, Luftspiegelungen ohne reale Kraft und
Wirklichkeit zu schweben, sondern um rückwirkend, in ständiger
Wechselwirkung, in dauerndem Funktionsverhältnis mit dieser Basis
sie wieder umzugestalten (eine höchst reale Emanation wie Himmel
— im meteorologischen und kosmischen Sinn — und Erde; ein
unvollständiges, aber anschauliches Bild: „Vom Himmel kommt
es, zum Himmel geht es, und wieder nieder zur Erde muß es —
ewig wechselnd").
Sie lösen sich nur ab, um in Funktionsteilung zurückzuwirken:
in unaufhörlicher, infinitesimaler Differentiation und Integration
und so fort. Sie sind also insoweit nicht nur Wirkung, sondern
auch Ursache der ökonomischen Verhältnisse. So ist in Marx'
Schema das Verhältnis der meisten (oder aller?) Ideologien zur
„ökonomischen Basis" schief, nämlich viel zu sekundär, zu passiv,
zu einseitig-abhängig und unselbständig erfaßt.
Welches ist nun der Begriff und das Wesen der „Ideologie"?
Bildet sie den Gegensatz oder auch nur einen Gegensatz
zu den „wirtschaftlichen Verhältnissen"? — Nein, die Ideologien
haben ja durchweg selbst „vnrtschaftliche Verhältnisse".
Oder einen Gegensatz zur „ökonomischen Basis" der Gesell-
schaft, sofern dieser Begriff von dem der „wirtschaftlichen Ver-
7 Llebkneoht, Stadien Q'J
hältnisse'* abweicht? — Nein! Eine solche Grundlage haben die
Ideologien auch.
Oder einen Gegensatz zu den lebensnotwendigen Sphären (Not-
sphären; den Sphären außer der Überschußsphäre)? — Nein! Denn
auch diese besitzen ihre Ideologien, nicht nur die Überschußsphäre.
Alle Sphären I Auch die Ernährungs-» Schutz-, Sexualsphäre I
Die Ideologien sind die psychisch - geistigen Vorstellungs-,
Wissens-, Stinunungs-, Gefühls-, WoUens-Gebilde, die in jeder
Sphäre entstehen, sich über dem praktisch-materiellen Betätigungs-
gebiet in einer Art besonderer Region^) erheben, von ihm ausge-
strahlt, ausgedunstet — und sind der gleichzeitig jenes Betätigungs-
gebiet wiederum befruchtende Dunstkreis, ohne den keine Kultur
möglich wäre, wie ohne Atmosphäre kein Leben. ^)
Zugleich zur sozialen Kausalität^ zum Bewegungs-
gesetz selbst, folgendes (vgl. II. Abschnitt, Kapitel VIII):
a) Die „Idee'' eines bestimmten Gesamtkulturzustandes entsteht
und lebt, bald zuerst in den „wirtschaftlichen Verhältnissen'* resp.
einem Teil von ihnen, bald in den „Ideologien" oder einer von
ihnen, d. h. in der „über * den wirtschaftlichen Verhältnissen schwe-
benden Vorstellungs-, Wissens-, Stimmungs-, Gefühls- und Wil-
lens-Atmosphäre, und wirkt dann jeweils im Sinne dieser „Idee"
gestaltend auf die anderen Gebiete des gesellschaftlichen Wesens.
b) Das vorantreibende Prinzip, das „höhere" Stadium ist bald
in den einen, bald in den anderen, ja stets z. T. hier, z. T,. dort in
bunter, wechselnder Gewebeverwirkung vorhanden und tätig, bald
und z. T. von hier, bald und z. T. von dort auf das übrige wirkend.
Die Initiative liegt also im Detail betrachtet bald hier, bald dort;
im G a n z e n betrachtet stets z. T. hier, z. T. dort (aber wechselnd
an den einzelnen Punkten), sich wechselweise ablösend.
c) Dieser Wechsel und Wandel ist nicht im ganzen Bereich der
Kultur gleichmäßig und gleichzeitig, ist nicht parallel, sondern in
den verschiedenen Kulturgebieten bis ins kleinste verästelt verschie-
den.
*) Wenn man will — aber mit Voraichtl Verirrungsgefahr I
^) Diese Bilder mit Vorsicht nehmen ! Sie geben keine präzise Lösung t
Diese wird an anderer Stelle gesucht.
98
d) Noch ein Bild: „Die Himmelskräfte auf und nieder steigen
und sich die goldnen Eimer reichen''.
e) Beispiel: Eine Erfindung schafft Umgestaltung der wirt-
schaftlichen Basis — diese (umgestaltete) dann wieder neue Ge-
danken, Anregungen, Impulse, Antriebe für Vorstellungen, For-
schungen, Willen, die dann wieder auf wirtschaftliche Basis um-
gestaltend wirken und so fort in endloser Verkettung — in kleinsten
Schritten und zugleich großen und größten Schritten — Infinite-
simalprozeß I Infinitesimal nach Größe und Kleinheit der
einzelnen „Schritte", nach Zahl, nach Dauer des Prozesses.
Mit alledem ist Begriff und Wesen der „Ideologie**, wie wir
ihn suchen und gebrauchen wollen, noch nicht gefunden. Dazu
vorläufig noch folgendes — keineswegs erschöpfende Feststel-
lungen, Ergebnisse, sondern nur Apergus, Andeutungen (nicht
Marx-Ausdeutungen, sondern eigene Definition):
Ideologie im Gegensatz zu „wirtschaftlichen Verhältnissen** —
wenn denn diese Termini beibehalten und nicht über Bord gewor-
fen werden sollen — :
a) = die jeweils noch nicht zu einem Teil der „wirtschaftlichen
Verhältnisse** gewordenen, in ihnen manifestierten geistig-psychi-
schen Zustände (Vorstellungen usw.), die teils angeregt und her-
vorgerufen sind von den wirtschaftlichen Verhältnissen, teils aus
der originären Triebkraft des organischen Prinzips elementar er-
wachsen und meist, wenn nicht allgemein, fähig und „prädestiniert"
sind, künftig auf die wirtschaftlichen Verhältnisse zu wirken, sich
in ihnen zu manifestieren und so von ihnen absorbiert zu werden.
Ist diese Absorption vollzogen, resp. soweit sie vollzogen ist, hören
sie dann auf, „Ideologien** im Gegensatz zu „wirtschaftlichen Ver-
hältnissen** zu sein.
Alle Wissenschaft, alle Ideologie überhaupt ist indirekt „öko-
nomisch**, d. h. wirkt indirekt auf den ökonomischen Zustand der
Gresellschaft. Alle Nutzbarmachung von Errungenschaften gehört
bereits direkt zum ökonomischen Zustand der Gesellschaft.
Beispiel: Die „Technik**, soweit schon angewandt: Teil der „wirt-
schaftlichen Verhältnisse**; soweit noch Theorie, Forschungsgebiet,
im Werden begriffen: Ideologie.
Physiologie, Biologie des Menschen, überhaupt die Wissenschaft
7* 99
vom menschlichen Körper und seiner Pathologie, von den Ursachen
der pathologischen Zustände, dem Mittel zu ihrer Heilung usw.,
ist „reine Ideologie"; und nur indirekt praktisch „ökonomisch'*.
Ihre Anwendung zur Heilung von Menschen, die „praktische Me-
dizin", die angewandte Wissenschaft, ist ohne weiteres direkt „öko-
nomisch". Trotz der kapitalistischen Systematisierung I So wären
alle angewandten Wissenschaften als Teile der „wirtschaft-
lichen Verhältnisse" zu bezeichnen.
b) Gibt es auch Ideologien ohne Funktionsbeziehung zu den wirt-
schaftlichen Verhältnissen?
a) Gibt es von den „wirtschaftlichen Verhältnissen" völlig ge-
trennte, eigengeborene, nur eigenen besonderen Antrieben un-
terworfene, nur in einer eigenen Kausalitätsreihe ganz selb-
ständig, unabhängig verlaufende Ideologien? Das dürfte zu
verneinen sein nach dem empirischen Charakter des Menschen,
ß) Solche, die aus dem organischen Prinzip elementar
geboren, also nicht verursacht, erzeugt sind durch die
„wirtschaftlichen Verhältnisse", nahmen wir bereits oben (zu a)
an; sie können immerhin, wenn sie originär, autochthon ent-
standen sind, nunmehr auf die „wirtschaftlichen Verhältnisse"
wirken; und die Wirkung kann zur Wechselwirkung und zum
Funktionsverhältnis werden. Immerhin sind es in der Ent-
stehung einseitige, unabhängige, selbständige Ideologien.
y) Gibt es den — etwa umgekehrten — Fall: Ideologien, die in
einseitiger Abhängigkeit, Unselbständigkeit von den „wirt-
schaftlichen Verhältnissen" sind, nicht auf sie zurückwirkend
und „nur" von ihnen „erzeugt"? „Erzeugt" — ist sicher zu-
viel gesagt. Das meint selbst Marx nicht; nur in ihrer Art
und Form jeweils bestimmt, bedingt — nicht aber ihrer
Existenz nach. — Also: von ihnen bestimmt und bedingt,
aber nicht rück- und wechselwirkend, auch die wirtschaftlichen
Verhältnisse bestinunend, bedingend, beeinflussend? — Ab-
solut genommen: neini Überall Wechselwirkung; stets ist die
Abhängigkeit keine einseitige, sondern eine wechselseitige,
zweiseitige, nein, vielseitige, allseitige — in infinitesimalem
Sinne.
Am ehesten könnte von solcher einseitigen Abhängigkeit die
lOO
Rede sein bei der Form (nicht Entstehung) von Religion,
Kunst, Weltanschauungswissenschaft und Ethik. Aber auch
da ist die Wechselwirkung evident; und die bedingende, be-
stimmende Wirkung der „wdrtschaftlichen Verhältnisse** auf
diese „reinsten** „Ideologien" ist im höchsten Grade einein-
direkte, in stärkstem Maße wiederum durch die Ganz- oder
Halb-Ideologien der Ökonomie (vgl. a) vermittelt,
c) Anregungen, Anreize, Bestinmiungen, Bedingungen usw., die
die wirtschaftlichen Verhältnisse und die zu ihnen gehörigen Ideolo-
gien (organisatorisches und geistig-psychisches Feudum usw.) für
die Bildung neuer oder die Umgestaltung vorhandener Ideologien
bilden und geben, sind aber nicht die einzigen, die dahin wirken.
Es treten hinzu als Anreger und bestinunende, bedingende Faktoren:
a) die Ideologien, die nicht oder noch nicht zu den wirtschaft-
lichen Verhältnissen gehören; d. h. die reinen Ideologien be-
einflussen, bedingen und bestimmen sich auch untereinander;
abgesehen von den „wirtschaftlichen Verhältnissen". Das be-
sondere Eigenleben der Ideologien darf nicht übersehen wer-
den;
ß) die natürliche Umwelt, die freilich zum großen Teil durch
die menschliche Einwirkung (und das ist zum überwiegenden
Teil die Einwirkung durch die und im Sinne der „wirtschaft-
lichen Verhältnisse**) gewandelt, gestaltet, spezifiziert, be-
stimmt ist. Insoweit treten dann die „wirtschaftlichen Ver-
hältnisse** wiederum als Form und Art bestimmender Modus
der natürlichen Umwelt hervor.
Im Grunde genommen, ist die ganze Trennung von Ideologie und
Ökonomie unhaltbar. Jede Ideologie hat ihre ökonomische Basis
und Wirkung; jede Zelle der Ökonomie hat ihre ideologische Seele.
Ideologie gehört zu allen Sphären, Ökonomie gehört zu allen Sphären.
Zu unterscheiden sind ferner reine und praktische Ideo-
logien:
a) Reine Ideologien sind diejenigen, die als geistig-psychische
Komplementärerscheinungen dem VoUkonmienheitsbedürfnis (dem
intellektuellen VoUständigkeits- und dem ästhetischen und ethischen
Harmoniebedürfnis) entstammen und zur Befriedigung dienen, so*
weit sie Vorstellungen und Empfindungen enthalten. Ihre Funk-
lOI
tion ist die Gewinnung und Erhaltung dieser Komplementärvor-
Stellungen und Empfindungen. Beispiele: z. T. Religion, Kunst,
Moral, Weltanschauung.
b) Praktische Ideologien sind i. diejenigen, die aus den von den
reinön Ideologien gewonnenen und gewahrten Vorstellungen und
Empfindungen die praktischen Folgerungen ziehen (z. B. Politik,
Recht), die Inhalte dieser Vorstellungen und Empfindungen im
Leben zu gestalten suchen; das praktische Leben, die Erfahrungs-
welt dem idealen Leben und der Komplementär-Idealwelt der reinen
Ideologien anzugleichen und nachzubilden suchen, die Erfahrungs-
welt zu vervollkommnen trachten; 2. diejenigen, die der Befriedi-
gung des physischen Vollendungsbedurfnisses dienen, z. B. Erfah-
rungswissenschaft, Technik.
Mit dieser Unterscheidung in Verbindung steht folgende:
a) Ideologien, die mehr auf das praktische Leben einwirken als
andere;
b) solche, die mehr Wirkungen des praktischen Lebens sind als
andere (d. h. je nach dem Grad ihrer Aktivität und Passivität).
Auch Distinktionen je nach den Seelenkräften, denen die ein-
zelne Ideologie allein oder in verschiedener Mischung vorzüglich
entstammt.
Je nach den Stoffen und Methoden, deren sie zur Realisation
bedürfen.
Passiver Komplementärcharakter oder aktiver Ergänzungscharak-
ter, Motorcharakter; und
je nach der Sphäre, zu der sie gehören.
Weitere Distinktionen (Unterkategorien und Ideologien):
a) Es gibt „Ideologien** des Angriffs (aggressive) und der Ver-
teidigung (defensive); „Ideologien** der List und der Selbsttäu-
schung und der Flucht (des Vergessens, Versteckens usw.) — aktive
und passive Ideologien;
b) es gibt egoistische und altruistische Ideologien — soziale und
antisoziale und auch sozial-neutrale;
c) „Ideologien** der Kraft und der Schwäche;
d) „Ideologien** des Unterliegens (Leidens) und der Freude, des
Glücks und Unglücks;
e) des Reichtums (der Fülle) und der Not; des Überflusses, des
loa
Behagens, des Genügens, des Ungenügens, des Elends, der Verzweif-
lung; des Hungers, der Sättigung, der Überfülle, der Schwelgerei
und Ausschweifung;
f) des Müßiggangs, der frei gewählten Beschäftigung aus eige-
nem, inneren Antrieb, ohne äußere Notwendigkeit („liberale" „Be-
rufe**) usw. z. B. Ideologie als Objekt der Pflege; der notwendigen
Verdienstarbeit; der niederdrückenden, wesensfeindlichen und
-fremden und der wesensangemessenen und der beglückenden, er-
hebenden Arbeit; der Überarbeit (Überanstrengung);
g) des „Lasters" und der „Tugend";
h) der Zufriedenheit und Unzufriedenheit;
i) der Ruhe und der Unruhe, der Sicherheit und der Unsicher-
heit; der Niedergeschlagenheit, des Gleichmuts und Gleichgewichts;
der Ekstase und Depression, der Hoffnung und Verzweiflung
(Selbstverlorenheit) ;
k) psychopathisch-betonte Ideologien und gesund-kräftige;
1) richtunggebende, wegweisende, arbeitanreizende und einschlä-
fernde, einlullende; kurzum:
die Ideologien sind auch Spiegel aller Geistes- und Seelen-
regungen, aller Charakterarten, aller Arten des praktischen und
idealen Verhaltens, deren der Mensch unter allen möglichen ver-
schiedensten Umständen fähig ist.
Dabei gilt in höchstem Maße das Kontrastgesetzl!
Ferner: die einzelnen Ideologien (Künste und Wissenschaf-
ten usw.) sind systematisch zu durchleuchten:
a) nach ihren Zwecken (Funktionen);
b) nach ihren Daseins-(Entstehungs-)bedingungen;
c) nach den Bedingungen ihrer sozialen Wirksamkeit;
d) nach ihren Werkzeugen (Mitteln);
e) nach ihren Wirkungen (materiellen — psychischen).
Sie lassen sich untersuchen unter den Gesichtspunkten der
einzelnen Sphären (Triebe, Bedürfnisse) und Inweit und Umwelt-
kreise (öXy) xal TpÖTCotc) usw.
Auch soweit gleiche Objekte behandelt, unterscheiden sich
die verschiedenen Ideologien (Religion, Kunst, Wissenschaft usw.)
durch das Niveau der Stimmung, den psychischen Betrachtungs-
zustand, die Intensität, Gebrochenheit der Seele (Simmel).
io3
Anmerkung zu diesem Abschnitt. Die obigen vorläu-
figen Bemerkungen bieten nichts Abgeschlossenes, sondern geben
die kritischen Gedankengänge in lockerer Form wieder, wie sie in
kurzen Momenten auf kleinen Zetteln fluchtig notiert werden
konnten.
Bei alledem ist wohl zu beachten und beachtet, daß Marx' Schema
nicht für das Detail, für die SubtUitäten, nicht für das Individuelle
und Zufällige, sondern für den großen groben Durchschnitt, für
die Hauptzüge der Kulturbewegung der Gesellschaftals Gan-
zes und in ihren großen Gliederungen, gedacht ist; und von vielen
seiner Anhänger als nur eine Untersuchungsmethode ge-
deutet wird, wozu es denn, als e i n e von mehreren Untersuchungs-
methoden allerdings, aber als eine ungemein wichtige, anregende,
fruchtbare, aufschlußreiche zweifellos vorzüglich geeignet ist.
Ideologien und Gesellschaf tsgliederung
Innerhalb einer gegebenen Gesellschaft in einem gegebenen Kul-
turzustand gibt es für die einzelnen Teile der Gesellschaft
a) eigene, d. h. eigengeborene, eigenerzeugte, selbstgeübte Ideo-
logien; kurz: klasseneigene genannt;
b) von anderen Gesellschaftsteilen auf sie übertragene, ihnen auf-
gedrängte, eingeflößte Ideologien, die in den anderen Klassen ge-
schaffen oder „bestinmit" sind. Darunter wiederum
a) solche, die dem Interesse der anderen beeinflussenden Klassen
dienen, dem Interesse der eigenen Klassen abträglich sind:
klassenfeindliche Ideologien; und zwar sei es durch
ihre die Passivität fördernde, sei es durch ihre die positive
Aktivität für die fremde Klasse fordernde Art;
ß) solche, die dem Interesse der beeinflussenden und der beein-
flußten Klasse zugleich dienen (allgemein nützliche),
solche, die nur dem Interesse der beeinflußten Klasse dienen.^) ^)
^) Höchst seltener, wohl gar nicht realisierter Fall — Aspiration des
aufgeklärten Despotismns, religiöser Beeinflussung, zuweilen Wohltätig-
keits- und Selbsttäuschung, Humanität — aber stets im eigenen
Interesse mindestens auch der beeinflussenden Klasse 1
') Die in thesi mögliche dritte Kategorie: neutrale Ideologien gibt
es in Wirklichkeit nicht. Der Fall allgemein kultureller, geistiger Be-
io4
Diese Ideologien zu b) mögen ,,k lassenfremde" genannt
sein.
Sie zerfallen nach anderem Einteilungs-Gesichtspunkt auch
a^) in solche, die von der oberen Klasse der unteren aufgedrängt,
in Schule, Kirche, Presse usw., in öffentlichen und privaten Ein-
richtungen, Veranstaltungen eingeflößt werden,
ß^) in solche, die von unten nach oben dringen — was bei wich-
tigeren lebensnotwendigen Ideologien nur in kritisch-revolutionären
Perioden eine gewisse Rolle zu spielen pflegt; im übrigen nur in
den „reinen" Ideologien, z. B. Einflüsse der Volkskunst, wohl auch
in der Wissenschaft die Erfahrung des gesunden Menschenverstan-
des, „Rückkehr zur Natur** usw.
Sie sind ferner
a') bald systematisch und bewußt aufgedrängt — zu überlegtem
Zweck, vorbedacht und oft gegen den Willen der Beeinflußten;
ß^) bald ohne Absicht, ja ohne Bewußtsein instinktiv übertragen
und übernonunen — freiwillig aufgesogen, infolge der durch das
faktische. Zusammenleben und gegenseitige Beobachten, durch die
wechselseitige Berührung verursachten unvermeidlichen Einflüsse
— Eindrücke, für deren Richtung, Art und Intensität das gegen-
seitige Verhältnis der fraglichen Gesellschaftsteile an Macht, gei-
stiger Schulung usw. eine große Rolle spielt.
Die Verschiedenheit der Bedingungen für Ent-
stehung, Gestaltung und Übung der Ideologien in
den verschiedenen Gesellschaftsteilen
Die verschiedenen Teile einer gegebenen Gesellschaft in einem
gegebenen Kulturzustand — sagen mr z. B. die verschiedenen
Stände oder Klassen — leben unter sehr verschiedenen, voneinander
abweichenden Bedingungen der Umwelt und der Inweit.
a)-der Umwelt — der sozialen Umwelt: voraussetzungs- und be-
griffsgemäß; und der natürlichen, sofern z. B. die sozialen Schutz-
und Abwehreinrichtungen gegen nachteilige Wirkungen der natür-
einflussung, Übertragong der «Bildung* darch Akkulturation von einer
anf die andere Klasse z. B. gehört nicht hierher. Das ist nicht neutral,
sondern zamindest « allgemein nützlich*.
io5
liehen Umwelt (Kälte, Nässe, Unwetter aller Art, tierische und
pflanzliche Attacken, Krankheiten usw.) nicht gleichmäßig zu ihren
Gunsten wirken und sofern die sozialen Funktionen sie in verschie-
denem Maße und Art den Einwirkungen der Natur aussetzen, ihnen
naheBringen oder fernhalten.
b) der Inweit — sofern sie verschieden geistig und seelisch ge-
bildet sind an Wissen, Vorstellungen, Gefühlen, Phantasien, Stim-
mungen, Tatbereitschaft, Schlagfertigkeit, Entschlußkraft, Willen,
Aktionskraft usw. — und zwar in bezug auf die Objekte, die In-
tensität, die Beweglichkeit, die Empfindlichkeit, Reaktionsfeinheit
und -Kraft usw.
Auch in bezug auf die für die Ausbildung der Ideologien er-
forderlichen, zur Verfügung stehenden materiellen Mittel und die
Zeit zeigen sich größte Differenzen: das ist eine soziale Wir-
kung — aus a) fließend, zugleich im Sinn von b) wirkend.
Sie repräsentieren also gewissermaßen verschiedene Kulturtypen
in der gleichen gegebenen Gesellschaft, die nur im Gesamthabitus
als einer Kulturstufe angehörig bezeichnet werden kann ; in die-
sem Sinn gehört zu einem gegebenen Kulturzustand der Gesellschaft
eine bunte Mannigfaltigkeit von Kulturhöhe und -art in den ein-
zelnen Gliedern der Gesellschaft.
Auch verschiedene Grade, Intensitäten und Varietäten der psy-
sisch-geistigen Abhängigkeit oder Beeinflußbarkeit^) ergeben sich
aus den verschiedenen Bedingungen der verschiedenen Klassen und
damit die Zugänglichkeit für klassenfremde Ideologieformen.
Insofern unter diesen verschiedenen Klassenbedingungen das, was
Marx unter „wirtschaftlichen Verhältnissen" versteht, eine sehr ge-
wichtige Rolle spielt, sehen wir hier einen Fall, in dem sich der
Marxsche Grundgedanke als wertvolles Orientierungsmittel für la-
pidare gesellschaftliche Erscheinungen erweist.
Das gilt es näher zu untersuchen. In ähnlicher Weise ist auf
anderen Gebieten bei den Klassengegensätzen anzusetzen zur Prü-
^) Infolge psychischer und materieller UnselbstäDdigkeit; und aas anderen
Gründen, z. B. wegen der psychischen Eigenart, die die Lebensweise
ergibt: Indolenz, Antorit&tsgläubigkeit, Kritiklosigkeit oder das Gegenteil;
Wundergläabigkeit, Aberglauben usw.
io6
fang, inwieweit und unter welchem Mechanismus in Marx* Sinne
eine Abhängigkeit
a) zwischen .»wirtschaftlichen Verhältnissen" und Ideologie und
b) zwischen ..wirtschaftlichen Verhältnissen" und Gesamtkultur-
gestaltung
besteht; denn dieses beides sagt die Marxsche These aus.
Weiteres zu den Bedingungen der Ideologien
Soweit die Ideologien Komplementärvorstellungen und -empfin-
dungen sind, psychische Schutzmaßnahmen des Organismus gegen
Unbilden und Lebens Widrigkeiten der Um- und In weit, z. B. vor
allem in Religion, aber auch in Kunst, Politik, Weltanschauungs-
wissenschaft usw., ist zu bemerken: sie sind zu vergleichen mit
anderen Erscheinungen: so wie dem Hungernden und Dürstenden
im Traum und Phantasie und krankhafter Ekstase Speise und Trank
vorgaukelt, nicht nur verlockend, sondern auch durch wahnhaften,
eingebildeten, erträumten Genuß in gewissem Maß vorübergehend
befriedigend (man „träumt sich satt"), ja bis zur dauernden eksta-
tischen Halluzination und Illusion, bis zu mechanischem Kontrast,
zu Wollustempfindungen.
Es liegt vor Augen, daß sie auch insofern, gerade insofern in
höchstem Maße sehr oft durch die „wirtschaftlichen Verhältnisse",
durch die Misere von Um- und Inweit, d. h. außer den wirtschaft-
lichen Verhältnissen und aller sozialen Misere auch durch die Misere
der natürlichen Umwelt und der Inweit (Krankheit usw.) nicht nur
bestimmt und bedingt, sondern sogar erzeugt, provoziert sind.
Ebenso, daß sie fähig und geeignet sind, in bedeutsamer Weise auf
die wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuwirken, z. B. indem sie
das Verhalten zu den realen Zuständen durch Förderung von Aktivi-
tät oder Passivität wesentlich beeinflussen.
Dies gilt auch für den Bereich der Politik. Der typische Fall:
Land Kanaan, in dem Milch und Honig fließt — auch da berau-
schen und befriedigen sich die Menschen mit tatenlosem Harren
und Hoffen, mit Gaukeleien, Träumereien, Hirngespinsten; nicht
für eine zu erkämpfende, zu erringende Zukunft — das gehört
in die Kategorie der Ideale, die zur Tätigkeit antreiben und als
107
Richtschnur orientieren — sondern für eine wahnhafte Gegenwart.
Vgl. die Anbetung des „Gottesgnadentums" — alles höfischen und
überhaupt höheren und behördlichen Glanzes und Prunkes (ganz
wie in der Kirche).
Aller Autoritätsglaube gehört in einer gewissen Hinsicht,
unter einem gewissen Gesichtspunkt hierher.
Die Bedingungen für die Entstehung, Grestaltung und Wandlung
der Ideologien sind ganz verschieden je nach der Sphäre, der
sie angehören, und den Bedingungen, unter denen diese Sphäre je-
weils steht; ferner: je nach dem stofflichen Substrat und den prak-
tischen Methoden und Mitteln, deren sie zu ihrer Realisation be-
dürfen; ferner: je nach den Seelenkräften, denen sie allein oder in
verschiedener Mischung entspringen.
Beispiele: Ganz verschieden sind z. B. die Bedingungen für
das weltliche und das religiöse, kirchliche Lied und überhaupt für
weltliche und kirchliche Kunst — wenigstens, soweit religiös =
weltflüchtig und tröstend (nicht soweit weltfreudig, k la Renais-
sance, wo die Kirche so weltlich war wie je ein Staat).
Vergleiche die Wirkung des Dreißigjährigen Kriegs I Geistliche
Lieder und soziale Dichtung (z. B. Grimmeishausen) gefördert —
im übrigen Rückgang, tiefer Verfall der Kunst in Deutschland. In
der Wissenschaft die Impulse und Keime des Skeptizismus in ba-
rocker Form, in einem Wust von Phantasterei und Spuk und gro-
tesker Charlatanerie, trotz alledem vorangetrieben. Und dann die
Flucht der deutschen Kunst und Wissenschaft aus der Misere der
sozialen und politischen Zustände in die Ätherhöhen der transzen-
dentalen Spekulation und reinen Vernunft, in die blauen Fernen
des humanistischen Klassizismus und zu den blauen Blumen der
Romantik. Dabei freilich wesentlich die Einflüsse aus dem po-
litisch und sozial höher und günstiger entwickelten Ausland, die
von den intellektuellen Schichten Deutschlands in eigentümlicher
Art rezipiert werden. Zu den Bedingungen ihrer Entstehung, Ent-
faltung, kräftigen Ausbreitung und Einflußnahme gehört nicht
unter allen Umständen, nicht bei allen Ideologien und allen ihren
Nuancen notwendig eine Blüte der materiellen Kultur; unter Um-
ständen gerade das Gegenteil — vgl. die weltflüchtigen und Trost-
Ideologien. Hier ist gründlichstes distinguol bis ins einzelnste nötig.
io8
Entscheidend ist, welchen Seelenregungen die betreffende Ideologie
vorzugsweise entspringt und welches ihre wesentlichen materiellen
Voraussetzungen sind und ob diese Voraussetzungen durch den Ver-
fall der materiellen Kultur in den für die Kunstproduktion und in
den fOr den Kunstgenuß jeweils in Frage kommenden Schichten
geschwächt oder gestärkt werden. Dazu gehört auch die Existenz-
frage für den Künstler. Doch sind Berufskünste nicht stets we-
sentliche Voraussetzung — vgl. die Antike (wo die Kunst als Er-
werb schimpflich), die Künstler-Handwerksmeister zur Zeit der
Städteblüte (Sachs, Vischer, Krafft usw.) und die Schauspieler-
Dichter (Shakespeare, Moliire usw.) usw. In bezug auf die Ab-
hängigkeit vom materiellen Reichtum vergleiche besonders Archi-
tektur — am meisten die Architektur großen Stils. Doch tritt
hier sofort die soziale Seite, die Klassen Verteilung des Reich-
tums in Frage: Wohnungen der Bürger blühen unter anderen Vor-
aussetzungen als Kirchen, Schlösser, Burgen, Pyramiden — diese
letzteren können zur Zeit des Massenelends blühen, ja geradezu das
Massenelend, die Ausbeutung der Arbeitskraft der Massen in der
Disposition der Herrschenden zur Voraussetzung haben und
steigern.
Und auch hier bleibt wichtig, welchen Seelenregungen und der
Befriedigung welcher Zwecke das Bauwerk dienen soll: Kirchen-
bauten oft ähnliche Voraussetzungen wie Poesie.
Also: Fetischistischer Charakter des gesellschaft-
lichenReichtums, doch stets nach Klassen und Gesellschafts-
gliederung differenzieren I
Die Reaktions-Besonderheiten der verschiedenen
Ideologien unter den verschiedenen Bedingungen
Die Reaktions- oder Reiz-Zeit, d. i. die Dauer der für die Erzeu-
gung der ideologischen Reaktion erforderlichen Zeit, ist verschieden
bei den einzelnen Ideologien, unter den verschiedenen Umständen,
in den verschiedenen Klassen und nach dem verschiedenen beson-
deren Charakter der Ideologie in jedem besonderen Fall.
Grewisse Ideologien sind — sei es infolge der Erdbegrenztheit und
des praktischen Charakters ihrer Aufgabe, sei es infolge ihres stets
beweglichen Gemüts- und Phantasieinhalts und ihrer größeren reak-
109
tiven Empfindlichkeit in der Wellenbewegung der Kultur — den
einzelnen Wellenschwankungen laufend enger angepaßt als andere
Ideologien, die den Bewegungen aus größerer Entfernung folgen,
sie summarischer begleiten und die größeren Bewegungen stärker
widerspiegeln und dazu noch in mehr oder weniger nachträglichem
Konunentar. Das ergibt das Distinktionsmoment des höheren oder
geringeren Grades der praktischen Angelehntheit, der größe-
ren oder geringeren praktischen Aktualität der Ideologien. Da-
mit steht in engerem Konnex die Fälligkeit der verschiedenen Ideo-
logien, auf ihre „Ursache ', auf die sie erzeugenden, bildenden, be-
dingenden, bestimmenden Faktoren („wirtschaftliche Verhältnisse"
usw.) aktuell, anregend, vorwärtsstoßend zurückzuwirken; unter
Umständen können sie geradezu als ein Hemmschuh wirken, als ein
Bleigewicht nachschleppen. Doch ist jeder besondere Fall genau
zu prüfen.
Die Höhe des Standpunktes und die Tiefe der Einsicht einer Ideo-
logie ist natürlich im allgemeinen kein Hindernis, sondern unter
Umständen geradezu die entscheidende Voraussetzung, die eine Ideo-
logie erst zur Fähigkeit, die Kultur praktisch mächtig zu fördern,
qualifiziert. Innerhalb der einzelnen großen Kategorien von Ideo-
logien ist wiederum sorgfältig zu unterscheiden. Selbst z. B. in der
Philosophie, Religion, Architektur usw. gibt es laufend und
gleichzeitig mehr oder weniger eng angelehnte Strömungen. Der
G<egensatz zwischen der exoterischen und esoterischen Art einer
Ideologie (Religion, Wissenschaft, Weltanschauung) ist ein Bei-
spiel dieser klassen- und schichtenweise sehr verschieden engen An-
lehnung.
Die heutige Zeit (vor dem Weltkrieg). In Kunst, Ethik,
Religion, Weltanschauung, Wissenschaft, auch im Kunsthandwerk:
mimosenhafte Reaktionsfähigkeit und -bereitschaft der verschie-
denen, selbst nur im kleinen unterschiedenen Gruppen, Schichten
und Individuen auf die verschiedenen Zustände und Vorgänge, selbst
nur momentaner Einwirkung. Die rasche, blitzartige, rastlos ner-
vöse Produktion fortgesetzt neuer differenzierter, angepaßter Kunst-
vorstellungen und -formen; Weltanschauungsnuancen, ethischer
Auffassungen, Axiome und Postulate, individueller religiöser Bil-
dungen usw. — ein Brodeln und Gären — bis zu den „Launen"
iio
der ,,Mode", den Wirkungen an den feinsten Verästelungen des
sozialen Nervensystems. Sehr bezeichnend ist die wechselnde,
schwankende, unsicher tastende „Mode" in der Schätzung früherer
Kunst.i)
Starke, kaum steigerungsfähige Nervosität in Beziehung auf Re-
zeption und Wiederabstoßung, Aufsaugung und Wiederausschei-
dung von ideologischen Gestaltungen früherer 24eit, nicht minder
in bezug auf Resorption moderner, neu geschaffener ideologischer
Gestaltungen — ganz entsprechend den kapriziösen Schwankungen
bei Bildung neuer ideologischer Gestaltungen. Auch die kapriziös-
eigenwillige, anarchisch-individualistische Originalitätssucht gehört
hierher und der Spielraum, den diese Zeitstimmung für Pose, Bluff,
Humbug gibt. Symbolismus, Naturalismus, Realismus, Verismus,
Impressionismus, Pleinairismus, Kubismus, Futurismus, Koloris-
mus, Expressionismus usw.
Dabei ist bedeutsam und besonders zu untersuchen und heraus-
zuschälen die systematische Einwirkung der Geld- und Machtfak-
toren auf Produktion, Gestaltung und Ausbreitung ideologischer
Erscheinungen und Nuancen! Einwirkung der „wirtschaftlichen
Verhältnisse** im gröbsten Sinn: des Kapitals, der Polizei, der Ge-
setze. Des Kapitals: Produktionsinteressen der Industrie, Vertriebs-
und Profitinteressen des Handels, Propaganda von Industrie und
Handel und natürlich Finanzkapital. Das Kapital produziert Stim-
mung, Mode usw. wie Stiefelwichse, freilich nur in engen Grenzen;
im Schlußresultat doch mehr Strömungen höherer oder tieferer
Macht ausschlachtend als neue Strömungen schöpfend: nur Ober-
flächennüancen beeinflussend. Auch die Tracht, die Kleider- und
Schmuckmode gehört hierher, wo besonders eine stets erneuerte,
nicht abgestumpfte Anstachelung der sexuellen Instinkte angestrebt
wird.
^) Vgl. Murillo, Rubens, Goya, Raffael, Rembrandt, Barock, Trecento,
Präraffaeliten. die Berliner JahrhuDdert-Ausstellnng (19. Jabrh.). In
Plastik, Architektur, Musik, Poesie verwandt: Negerplastik, Buschmänner-
Reliefs and Zeichnungen, überhaupt die , Primitiven*. Das Tasten nach
der Kinderkunst, das Sachen nach dem Primitiven. Mensch- Kultus
van Gogh. Auch das Interesse am Stoff des Dargestellten trotz alledem
höchst einflußreich ; vgl. z. B. Meunier's Popularität usw. (Parallel der
, Arme Leut * - Begeisterung.)
III
Wirkung des jetzigen Kriegs: sowohl infolge der eigen-
artigen wirtschaftlichen Verhältnisse (Verarmung der Massen;
Kriegslieferanten-Parvenüs; Mittelstands - Zerquetschung) wie der
eigenartigen psychischen Zustande (Ekstase, Enthusiasmus, Ab-
stumpfung, höchste Aktivität, höchste Passivität, höchste Fessel-
losigkeit und Eigenmacht, höchste „Disziplin", Versklavung, Ab-
hängigkeit): Anarchie im Großen; Drill und Vergewaltigung gegen
die Kleinen, Einzelnen; höchste Eigensucht, höchste Selbstlosigkeit,
Aufopferung; höchster Genuß — höchstes Leiden und Dulden usw.
— kurz die krassesten Kontraste — wie in der französischen Re-
volution.
Das „Allgemein-Menschliche", das „Allgemein-
Gesellschaftliche"
Es gibt auch innerhalb einer gegebenen Gesellschaft in einem ge-
gebenen Kulturzustand neben der sozial bedingten und bestinmiten
Ethik, Ästhetik, Weltanschauung und allen Ideologieformen, einen
tieferen gemeinsamen Untergrund dieser Formen und Nuancen bil-
dend: eine öberklassenmäßige, allgemein - gesellschaftliche Ethik,
Ästhetik, Weltanschauung für alle Gliederungsteile, insofern sie
doch gewissen allgemeinen gleichartigen äußeren und inneren Be-
dingungen unterworfen sind. Natürlich in sehr verschiedenem Grad
und Umfang, der von Fall zu Fall zu prüfen. — Das ist die ergän-
zende Integration zu der Klassen-Differentiation.
Für alle Kulturen gibt es neben dem verschiedenen, abweichenden
„Bestimmten", „Bedingten" auch Gemeinsames, Allgemeines —
das Allgemein-Menschliche, das durch die allen Men-
schen und Kulturen gemeinsamen Umstände der Um- und Inweit
Bestimmte und Bedingte.
Dazu ist zu bemerken:
Die menschliche Seele ist unendlich mannigfaltiger Variationen
und Nuancen von Verstandesregungen und Auffassungen, von Ge-
fühlen, Stimmungen, von Schwingungen der Phantasie fähig, die
unter den verschiedenen inneren und äußeren Umständen entstehen
können. Die Bedingungen für die Entstehung der einzelnen Varia-
tionen und Nuancen treten im Kulturverlauf nicht immerzu, son-
dern in den verschiedenen Stadien, bei den wechselnden Schick-
iia
salen nur zuweilen so intensiv für ein geeignetes produktives In-
dividuum oder für mehrere geeignet zusammenwirkende auf, daß
daraus adäquate, hochwertige, reine, abgeklärte, typische, das Tiefste
vnrklich fassende Gedanken, Kunstwerke, Phantasien, religiöse Vor-
stellungen und Stimmungen fließen und in dauerhafter Gestalt pro-
duziert werden. Dabei sind auch die Voraussetzungen der Tradition
nicht zu vergessen, die zumeist, soweit nicht Erz und Stein Dauer
bis zur späteren sozialen Resorption verbürgen, sofortige soziale
Resorption voraussetzt, also einen größeren Kreis, der gleicher Ge-
danken und Regungen fähig und geneigt ist. Diese Kunstwerke
oder was es nun ist, sind der Potenz nach ein gemeinsamer Dauer-
besitz der geistigen Kultur, trotz aller das dauernde Verständnis er-
schwerenden, durch Zeitbedingtheit veranlaßten absonderlichen
äußeren Nuancen, wozu auch schon Sprache und Schrift gehört.
So ergänzen sich die verschiedenen Kulturen und Kulturstufen und
auch die verschiedenen Gliederungsteile desselben „Kulturzustandes"
gegenseitig zur Produktion eines viel umfassenderen ideologischen
Oberbaues, zu einer viel erschöpfenderen vollständigen ideologischen
Verarbeitung und Gestaltung der möglichen menschlichen Regungen,
als sie bei isolierter Entfaltung, bei mangelnder gegenseitiger Re-
sorptions- und Rezeptionsfähigkeit erfolgen würde. Sie wirken alle
gemeinsam dieser Gottheit „lebendiges Kleid", so daß heute ein Lie-
bender seine Seele im Genuß lappländischer, griechischer, chinesi-
scher, Buschmann-, Papua- usw. Kunstwerke in Schwingung ver-
setzen kann; so daß die Negerplastiken das ao. Jahrhundert ent-
zücken; die Baukunst der Primitiven uns noch heute befruchtet,
uicht minder der Tiefsinn ihrer religiösen und V^eltanschauungs-
begriffe. So ist den späteren Kulturen ein gewaltiger Reichtum
überliefert, so daß mehr und mehr, für alle möglichen ästhetischen
und Stinunungsbedürfnisse das adäquate Befriedigungsmittel der
Zukunft überliefert wird: das ideologische Feudum. Es
steht hier ganz ähnlich mit der Anhäufung dieses geselkchaf tlichen
psychisch-ideologischen Reichtums, wie mit der des materiellen ge-
selkchaftlichen Reichtums. Insofern ist auch eine „absolute", „ab-
strakte", nicht entwicklungsgeschichtliche, nicht kultumiveaube-
dingte, allgemein-menschliche Ästhetik und Ethik als normatives
und postulatorisches Wissenschaftssystem, d. h. als eine die Normen
8 Liebknecht, Studien Il3
feststellende, allgemein-menschliche Normen suchende und die Mög-
lichkeiten und Formen ihrer Förderung behandelnde Wissenschaft,
im Gegensatz zu Kunstgenuß und Sitte selbst, wohl begründet und
notwendig.
Diese obigen Gesichtspunkte sind überhaupt die glänzende und
indisputable Rechtfertigung des „Allgemein-Menschlichen", das
eine Wirklichkeit ist, ja die dauernde, bleibende, eigentlichste
Wirklichkeit, der Kern und Urgrund aller Wirklichkeit in allen
schwankenden Zeit-Bedingtheiten und Augenblicks-Bestinuntheiten;
der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Das erweist auch
die höhere Realität des Humanismus (der Humanität, der Mensch-
lichkeit).
Was oben von den verschiedenen Kulturstufen gesagt, gilt, wie
schon angedeutet, auch von den sonstigen verschiedenen Gliede-
rungsteilen (Rassen, Nationen, Geschlechtern, Altersstufen; auch
Funktionsgliederungen). Auch diese Unterscheidungen dienen so
der Produktion von Variationen des Allgemein-Menschlichen, der
Vermehrung des psychischen Feudums an Ideologiegestaltungen,
an ideologischer Tradition.
Nicht alles ideologische Produkt ist Feudum, traditioneller psy-
chischer Gemeinbesitz der Menschheit („AUgemein-Menschheit"),
sondern nur das Typische, in den Menschen im allgemeinen als „All-
gemein-Menschliches" Lebende, nicht das Ausnahmsweise, Gelegent-
liche, Zufällige, nicht das, was durch vorübergehende Umstände,
durch besondere kulturelle menschliche und individuelle Absonder-
lichkeiten und Eigenheiten erzeugt wird und mit diesen vergeht, was
nach dem dauernden Verschwinden dieser äußerlichen Oberflächen-
Umstände dauernd mitverschwindet und wofür infolgedessen die
allgemein-menschliche Resonanz fehlt. Auch dieses Zufällige, Ge-
legentliche, Vorübergehende, Besonders-Menschliche ist
ein Produkt zur Erbauung auch künftiger und anderer Gene-
rationen und Kulturen, aber nur in begrenztem Maße; zudem ist
seine Überlieferbarkeit imd traditionelle Haltbarkeit sehr be-
schränkt.
Alle erdenklichen Grade und Übergänge vom Besonders- zum
Allgemein-Menschlichen bestehen — welch letzteres also einen so-
genannten Grenzbegriff darstellt.
ii4
Nochmals: Die Rolle der «^wirtschaf tlichen Ver-
hältnisse" in der Gesellschaftsentwicklung und
innerhalb eines gegebenen Kulturzustandes
Dazu ist zu bemerken:
Die Rolle der »»wirtschaftlichen Verhältnisse" in der sozialen Ent-
wicklung ist n i c h t » daß sie den Anstoß zur Entwicklung geben,
sondern daß die gesamte gesellschaftliche Entwicklung, soweit von
dauerndem Bestand und von allgemeinem Belang, stets — auf die
Dauer und im großen ganzen — in einer gewissen Proportion zu
ihnen stehen muß; daß auch der jeweilige Zustand aller fürs große
ganze im Durchschnitt wesentlichen Seiten der Kultur nur dann
auf die Dauer eine gewisse Höhe und Art erreichen und halten kann,
wenn die gehörige materielle, wirtschaftliche Basis vorhanden ist,
wenn die äußeren (stofflichen) und inneren (technischen und psy-
chischen) Mittel für die Übung dieses Kulturzustandes existieren
und angewendet werden.
Die „wirtschaftlichen Veihältnisse" sind also nicht kausal für
die Bewegung — der Anstoß kann höchst mannigfaltig sein — ,
sondern für die Universalität und Dauerhaftigkeit des
Bewegungsf ortschritts: ohne sie würde ein Entwicklungs-
ansatz in der Luft schweben, eine nur vorübergehende Einzelerschei-
nung bleiben.
Die „wirtschaftlichen Verhältnisse" prägen allem Wesentlichen
in den Hauptzügen ihren charakteristischen Stempel auf und sind
damit durch diese Richtkraft schließlich auch für die Art, Form
und Richtung der Fortbewegung bestimmend. Sie bestimmen außer
der stofflich-materiellen Voraussetzung auch mit die psychische
Atmosphäre, in der die Antriebe entstehen. Immer mehr geistig-
psychische Antriebe erwachsen aus den wirtschaftlichen Verhält-
nissen selbst und der in immer höherem Grad imd Umfang durch
sie spezifizierten Umwelt. In stets höherem Maße geben sie auch
dem psychisch-geistigen V^esen den Inhalt. Die in erster Reihe
von ihnen geschaffene oder spezifizierte materielle Umwelt spielt,
im Vergleich zur ursprünglich-natürlichen Umwelt, eine ünmer be-
deutsamere Rolle.
Die „wirtschaftlichen Verhältnisse" bestinunen damit und inso-
%• iiS
fern, and zwar stets erhöht« die Atmosphäre auch der übrigen Gre-
biete, in der alle Impulse erwachsen, und sind also in stärkstem Maße
Antriebe der Antriebe, moventia moventium. Ferner erzeugten
sie selbst fortlaufend auch neue wirtschaftliche Bedürfnisse,
bringen sie zum Bewußtsein und drängen auf ihre Befriedigung,
stellen neue Aufgaben und drängen auf ihre Lösung; und spannen
dazu alle übrigen Kräfte, auch die Ideologien, ein.
Nur von diesem Baugrund aus ist eine festfundierte, klar und
wohlgefügte, durchgegliederte Konstruktion der Kulturentwicklung
möglich; nur eine Konstruktion von diesem Fundament aus ergibt
deutlich greifbare, feste, sichere Resultate. Wenn auch nicht
erschöpfend, so doch eine Forschungsmethode, ein Gesichtspunkt,
der die fruchtbarsten Einsichten eröffnet, aber freilich der ständigen
Kritik und Selbstkontrolle und der dauernden Ergänzung durch
Betrachtung von anderen Standpunkten bedarf.
Um sozial wirksam sein zu können, bedarf es für alle mensch-
lichen Leistungen ihrer Äußerung, ihrer Manifestation; es genügt
nicht, daß der Gedanke, das Gefühl, die Vorstellung, das Wissen,
die Phantasie, der Wille nur eben im Innern des Menschen ent-
steht, und auch nicht, daß ihm diese Regungen und Zustände be-
wußt werden. Die Äußerung wiederum muß je nach dem Charak-
ter der betreffenden seelischen Produktion verschieden geartet sein»
In vielen Fällen genügt das gesprochene Wort, die Sprache — sie,
wenn auch in primitivster Form, muß dann mindestens vorhanden
sein. Bei den wichtigsten Dingen, um die es sich für das gesell-
schaftliche Wesen und Werden handelt, kommt aber viel weniger
die Übermittelung von Wortbildern, Sprachformeln, die Anregung
von Gedanken usw. durch die Sprache in Betracht, sondern ein Tun,
ein Vormachen zur Anschauung, zum Vorbild. Eine Verkörperung
findet statt oder wird wenigstens zur vollen Wirksamkeit erfordert.
Eine Verkörperung bedeutet auch die Dauergestaltung bloßer Ge-
danken- und Gefühlsübermittelung durch die Sprache: die Schrift,
den Druck. Bis sie geschaffen sind, bildet die Gebundenheit der
Rede (sakrale Formeln usw.) und eventuell künstlerisch-symbolische
Einkleidung (Musik, religiöse, liturgische Handlungen usw.) ein
Mittel der Konservierung. Einer Verkörperung bedürfen allgemein
die bildenden Künste, die technischen Erfindungen (Werkzeuge
ii6
usw.). Hier ist die Manifestation durch Materialisation (Verstoff-
lichung) die einzig mögliche Form der Manifestation imd die Vor-
aussetzung, Grimdbedingung für die soziale Existenz der betreffen-
den ideologischen Leistung überhaupt, d. h. für die mehr als bloß
subjektiv innerliche im Sinn eines Raffael ohne Hände; insofern
für die objektive Existenz, für die Objektivierung.^) Die Materia-
lisation ist hier die Form der sozialen (objektiven) Realisation.
Dazu bedarf es also:
a) stoffliche Mittel,
b) eine bestimmte Mindesttechnik, kulturell, sozial entwickelt;
c) den Erwerb dieser bestinunten geeigneten Technik durch den
produktiven Ideologen;
d) die Übertragung des innerlich, subjektiv vorhandenen psychi-
schen Gd^ildes mit Hilfe der angeeigneten Technik auf die stoff-
lichen Mittel: d. h. die Ausführung.
Auch hier also für diesen ersten Akt — die objektive Realisa-
tion der Ideologie — sind die „wirtschaftlichen Verhältnisse", ist
das stoffliche, organisatorische, psychische Feudum von entschei-
dender Bedeutung, die Grundvoraussetzung.
Die materialistische Geschichtsauffassung —
kritische Zusammenfassung
Sie ist nicht „materialistisch", hat keinen materialistischen Fa-
den an sich, wenigstens nicht im eigentlichen, im philosophischen
Sinn; höchstens einen Anklang an den Materialismus in vulgär-
moralisierendem Sinn. Nicht einmal das II Denn auch die Ideolo-
gien aller Sphären und die Überschußsphäre haben ihre „vnrtschaf t-
lichen Verhältnisse", „ökonomische Basis", „soziale Struktur",
„Feudum".
Auch die „materialistische Geschichtsauffassung" ist in der
Hauptsache eine psychisch-intellektuelle; d. h. die Faktoren, die
sie als wesentlich betrachtet, sind in der Hauptsache psychisch-
intellektuelle.
Sie ist nicht „ökonomisch".
^) Bei Erfindungen würde ev. die Beschreibung genügen??
117
Sie gehl nur von der Ernährung und Fortpflanzung als Basis
aus, läßt die Schutz- und Oberschußsphäre außer acht.
Ernährung setzt sie = Arbdt« obwohl auch Schutz-« Sexual-
und Cberschußsphäre Arbeit (Produktion usw.) benötigen.
Das Wirtschaftliche ist zu eng und schief gefaßt.
Der «»ideologische Überbau" ist ungenügend« ja falsch definiert.
Die Beziehung zwischen Ideologie und ««wirtschaftlichen Ver-
hältnissen" ist mißverstanden.
Die Ideologien sind falsch abgegrenzt« da sie auch das zu
««wirtschaftlichen Verhältnissen"« ökonomischer Basis und sozialer
Struktur und selbst zu Feudum, selbst zu Emährungs- und Sexual-
sphäre Gewordene noch als ««Ideologie" betrachtet« obwohl das so
Definierte nur das psychisch-geistige Element der wirtschaftlichen
Verhältnisse ist« das psychisch-geistige Element« das mit dem nackt-
stofflichen zusammengehört« sei es dualistisch« sei es monistisch«
wie ««Körper" und ««Seele"; den so geistig-psychischen Inhalt« das
geistig-psychische Wesen der sozial regulativen Faktoren darstellend.
Was ist ««materialistisch" selbst an diesen sozial - regulativen
Faktoren« an den wirtschaftlichen Verhältnissen? Sie haben durch-
weg neben dem stofflichen ein geistig-psychisches Wesen« durch
das sie erst auf die menschliche Gesellschaft bezogen werden« durch
das allein sie soziale Erscheinungen sind.
Im Wesen des ««Sozialen" liegt bereits das nichtmaterialistische
Element eingeschlossen.
In ihren letzten Modifikationen (durch Engels) ist die Theorie
wiederum so unbestinunt« so allgemein geworden« daß sie ihr cha-
rakteristisches Gepräge verliert — ganz wie in der Definition meines
Vaters.
3. KAPITEL
VOM KONTRAST UND VOLLENDUNGS- UND
VOLLKOMMENHEITSBEDÜRFNIS
Im sozialen Leben machen sich gewisse Kontraste geltend, welche
die eigentlichen Antriebe des gesellschaftlichen Handelns sind. Sie
gehen zm'ück auf einen Urantagonismus. Sein Wirken finden wir
dann in den verschiedensten Formen überall in der Natur: in phy-
sikalischen Erscheinungen, im organischen Leben, in der mensch-
lichen Psyche — und zwar individual- und sozialpsychologisch.
Der Generalkontrast oder Urantagonismus
Der Gegensatz zwischen dem elementaren physischen Yollendungs-
bedürf nis sowie dem elementaren geistig-psychischen Vollkonmien-
heits- (speziell: Vollständigkeits- und Harmonie-) Bedürfnis einer-
seits und der Unvollkommenheits- Wirklichkeit in Inweit und Um-
welt andrerseits umfaßt alle Gegensätze, die in der Dialektik der
Entwicklung wirken. Er ist der allgemeine Urantagonismus, der
allgemeine äußere und innere Antrieb der organischen Entwick-
lung; in ihm erschöpft sich auch der elementare organische Höher-
entwicklungstrieb (vgl. über Vollkonunenheits-, Yollendungsbedürf-
ms und Höherentwicklungstrieb teils L Abschnitt, Kap. i, teils
weiter unten).
Der physische und physiologische Kontrast
Der immanente physische und physiologische Kontrast ist die
ewige Ursache alles Geschehens, aller Bewegung, aller Verände-
"9
rung, aller Entwicklung von der Kosmogonie bis zur Gesellschafts-
entwicklung.
Im folgenden soll die notwendige immanente Disharmonie spe«
ziell der Klangwellen behandelt werden, aber nur als Exempel zur
Darlegung der Immanenz von Unruhe, Kampf, Reibung, d. h. vir-
tualisierter Entwicklungskräfte im Universum überhaupt, in den
Naturgesetzen und allem Naturgeschehen; zur Demonstration einer
Seite des „energischen Prinzips", das der Kosmogonie und allem un-
organischen und organischen Werden und Verändern zugrunde liegt
— gleichwie bei der Bewegung, beim Fall der Atome, wie Epikur
sie hypothesierte, die Deklination von der Senkrechten als Erklä-
rungsgrundlage gilt. Unterliegen die andern Gattungen von Wellen-
bewegungen nicht ähnlichen Gesetzen, die notwendig zu Reibung,
zu Kampf führen? Und nicht auch andere Natur Vorgänge — außer
den Wellenbewegungen? Die Evidenz spricht dafür. Wo immer
nicht voUkonunene Ruhe oder allgemeine vollkommen gleichmäßige
(harmonische) Bewegung ist, da ist Reibung. Nicht nur innerhalb
einer in sich disharmonischen Bewegung, sondern auch zwischen
der Bewegung überhaupt und dem außerhalb der Bewegung Be-
findlichen. Neben der immanenten Disharmonie der Bewegungen
selbst steht die Disharmonie zwischen allen den verschiedenen Be-
wegungen des Alls und die Disharmonie zwischen Bewegung und
Ruhe.
Von den Klangwellen gilt nun folgendes:^)
In jedem Klang sind neben dem Hauptton zahllose, infinitesi-
male Ober- und Untertone enthalten, darunter notwendig stets:
halbe und ganze Dissonanzen^ die Lösung fordern und doch nie
gelöst werden können; es gibt keinen Akkord-Schluß. „Kein Akkord
kann sich auf die Dauer selbst angehören." Der Schluß-Akkord
der Kadenz ist „ein überharmonisches Gebilde". (Halm, Harmonie-
lehre, S. 64*)
Das ist noch zu ergänzen: Da die halben und ganzen Dissonanzen
bereits im empirischen Grundton, nicht erst im Dreiklang liegen,
und überhaupt in jedem Ton, der, wie alle empirischen Töne, kein
1) Vgl. auch Halm, Harmonielehre S. 14, 85, 128; Schäfer, Akustik
S. 59, 65, 120ff. (über das Wesen der Gonsonan^ ond Dissonanz).
lao
absolut einfacher ist, so folgt« daß auch kein Ton sich auf die
Dauer selbst genügen kann; und daß es einen rein harmonischen
Abschluß irgendeines Tones nicht gibt. Also auch kein Einzelklang
kann sich auf die Dauer selbst angehören. — Die Tonwellen treffen
und decken sich nicht wieder vollständig, wenigstens nicht in der
Endlichkeit. Damit ist in der Natur der Klangwellen selbst ein
endloser Antagonismus (Kontrast) enthalten, jeder Ton ist Thesis,
Antithesis, Synthesis usw. Und das zwar in strengstem mathemati-
schem Sinne.
In jedem Klang, in den Klangwellen selbst liegt so ein Moment
der Divergenz, der endlosen Unruhe, ein vorantreibendes, stimulie-
rendes Moment, das zur Erklärung der kosmischen Veränderungen
nach begonnener Bewegung dient und selbst für die Notwendigkeit
uranfänglicher Bewegung spricht, dafür, daß kein Anfang der Dinge
zu setzen ist, der Ruhe war, sondern — wenn auch durch Phasen
relativer Harmonie und Ruhe niederer Stufen hindurch — Bewegung
den Urzustand alles Seins bildet. AUe Töne dauern nicht nur in
(eine endlose Zukunft, sondern sie kommen auch aus einer endlosen,
anfangslosen Vergangenheit; ihr Anfang für unsere Wahrnehmung,
unsere Erfahrung, ist nur scheinbar. Die Töne, deren Entstehung
wir zu beobachten meinen, sind in dem, was wir als ihre Ursache
zu betrachten pflegen, bereits vorher enthalten; was für unsere
Wahrnehmimg ihre Entstehung erscheint, ist nur ihre Weiter-
leitung.
Die beim Studium der Klangwellen zu beobachtende Disharmonie
besteht nach mehrfacher Richtung:
A. Objektiv.
I. Im Verhältnis der Ton wellen untereinander; und zwar:
a) infolge des fortwährenden sich laufend erneuernden Nebenein-
anderbestehens und Zugleichklingens zahlreicher untereinander
dissonierender Klänge; d. h. der diese Klänge bildenden, sich gegen-
seitig nicht deckenden und unterstützenden, sondern reibenden, be-
kämpfenden Tonwellen;
b) infolge der Tatsache, daß in jedem Klang neben dem Gnmd-
ton noch Neben töne schwingen, die mit dem Grundton dissonieren:
die objektive immanente Dissonanz aller Klänge und Akkorde; die
xii
Disharmonie aller Harmonie: das ist's« wovon oben im besonderen
die Rede ist (vgl. auch Schäfer« Akustik S. 65 usw.).
c) Hierzu kommen noch die sicher nicht nur subjektiven Diffe-
renz- und Kombinationstone, die von den bestehenden Tönen fort-
laufend gebildet werden — ins Unendliche, infinitesimal, wie ohne
weiteres deutlich ist (nach Helmhol tz; vgl. Schäfer, Akustik S. 57).
II. Das Universum — als Ganzes und sub specie aetemitatis,
also zeitlich und räumlich, körperlich und in allen Qualitäten als
Einheit betrachtet — mag freilich Sphärenharmonie ausströmen.
Hier ist nur von empirischen Tatsachen die Rede; von dem unserer
Wahrnehmung zugänglichen Bereiche.
B^ Subjektiv; im Verhältnis der Tonwellen zum menschlichen
Organismus:
a) das objektiv Disharmonische wirkt auch subjektiv disharmo-
nisch, beschränkt durch das menschliche Empfindungs-(Wahr-
nehmungs) vermögen ;
b) aber auch objektiv, im physikalischen Sinne; harmonische
Tonwellenverhältnisse können infolge der menschlichen B^renzt-
heit (zeitlich, örtlich und im Empfindungsvermögen) subjektiv dis-
harmonisch vm'ken. In den reinen einzelnen Tönen sind an sich
keine anderen, also auch keine dissonanten Töne enthalten. Doch
gibt es empirisch solche reine absolut einzelne Töne nicht. Alle
empirischen Töne sind Tonkomplexe, sind Klänge.
. Was durchweg von den Tönen unserer Musikinstrumente gilt,
gilt in noch höherem Maße von den Naturlauten. Und stets findet
jeder Laut Resonanzen ins Unendliche — Resonanzen, die wiederum
auch dissonieren. Und stets treten Kombinations- und Differenz-
töne hinzu.
Und so bleibt es richtig — gleichviel von welcher Ton- und Ge-
hörshypothese man ausgeht — , daß Dissonanz von Anb^inn das
Universum erfüllt, beunruhigend, stimulierend, verändernd, und daß
Dissonanz zum Wesen der menschlichen Um- und Inweit gehört,
Dissonanz auch das Verhältnis zwischen menschlichem Harmonie-
bedürfnis und der Disharmonie von Um- und Inweit kennzeichnet,
vorantreibende, entwicklungsfördernde Dissonanz. Diese Dissonanz
ist in sich selbst Differenziertheit; und sie v^rkt differenzierend.
auch auf den Menschen und die Gesellschaft. Sie tendiert/ durch
Ausbreitung und Verallgemeinerung der in ihr liegenden Unruhe
und Bewegung die ICräfte zu mobilisieren, aus potentiellen zu vir-
tualisieren, bis zur Erschöpfung der letzten Möglichkeiten ihrer
Entwicklungswirksamkeit: Förderung der Entwicklung durch Diffe-
rentiation. Wenn sie gleichzeitig durch Steigerung der Reibung,
d. i. gesteigerte Differentiation, den Verbrauch der dissonierenden
Kräfte fördert und damit zur Harmonisierung des Universums
wirkt, aus der wiederum immer neue Differentiationen auf höherer
Stufenleiter und inmier neue Integrationen auf höherer Stufen-
leiter hervorgehen mögen, so liegt dieses Ziel in der Unendlichkeit.
Ist Disharmonie ein Weg zur höheren Stufe von Harmonie, so
ist sie für den Menschen Beunruhigung und Antrieb, durch Kampf
um Harmonie an seinem Teile diesem Ziele zu dienen. Und ein
Stück dieses Kampfes ist die Kunst, und im Bereich der Töne die
Musik.
Das gleiche, wie das Wesen der Klangwellen, zeigt — präsumptiv
— das Wesen der anderen Wellenbewegungen; und zeigen sonstige
physikalische Vorgänge und Tatsachen. —
Wie Wellenbewegung Fortpflanzung, Verallgemeinerung einer
Bewegung ist, so die unharmonische (bei Tonwellen: dissonante)
Wellenbewegung Reibung, virtualisierte Kraft; bei den einzelnen
physikalischen Vorgängen: Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetis-
mus; überhaupt: alle Entwicklungskräfte.
Und nun der menschliche Organismus. Er fordert Harmonie,
sie ist sein Bedürfnis, als das eines endlichen Wesens. So ergibt
sich für ihn — neben den übrigen Gegensätzen und Reibungen —
noch ein endloser ganz allgemeiner, unausgesetzter Ek>nti:ast zur
natürlichen Außenwelt, deren Wesen Disharmonie, Unruhe ist.
Aber nicht nur in den äußeren Naturvorgängen besteht dieser be-
unruhigende Kontrast, nicht nur innerhalb der äußeren Vorgänge
selbst imd in Beziehung auf den Menschen wirkend, sondern auch
im physiologischen imd psychisch-geistigen Wesen des Menschen
selbst, das ja den gleichen Gesetzen unterworfen ist wie die natür-
liche Umwelt, deren Teil es nur bildet.
So wird der Mensch — von allen übrigen Antagonismen abge-
sehen — durch die physikalische Unruhe der Umwelt und die phy-
123
sikalische Unruhe der Inweit an und für sich und zudem durch
den Gegensatz seines Hannoniebedürfnisses zur notwendigen phy«
sikalischen Disharmonie der Umwelt und Inweit in ganz besonderer
Weise stimuliert, vorangetrieben« zur ewigen Veränderung, zur Ent-
wicklung gedrängt. Dazu tritt noch die durch die Organisation des
Ohres (der Membran als das nach Helmholtz: den Klang empfangen-
den Organes) verursachte, also menschlich-physiologisch notwendige
Disharmonieempfindung infolge des Mitschwingens der unmittel-
bar benachbarten und ev. noch anderer Teile der Membran, außer
ihrem dem andringenden. Ton jeweils rein entsprechenden Teil;
und ev. andere UnvoUkommenheiten des menschlichen Organismus.
Im Gegensatz aber zwischen dem menschlichen Harmoniebedürfnis
und der allgemeinen physikalischen Disharmonie liegt zugleich der
Gegensatz zwischen der raumlichen und zeitlichen Endlichkeit des
Menschen zur räumlichen und zeitlichen Endlosigkeit des Univer-
sums. Im letzteren mag sich die Disharmonie in der Unendlichkeit
des Raumes und der Zeit schließlich auflösen, selbst eine Rückkehr
zur Ruhe mag erfolgen — wenn für unsere Vorstellung auch ein
Ende der Ruhe so wenig faßlich ist wie ein Anfang der Ruhe. Der
Mensch in seiner Begrenztheit fordert und sucht die Hannonie für
das Stoff-, Raum- und Zeitatom seines Daseins; begehrt für einen
Teil, was nur — vielleicht — das Ganze bieten mag. Sein Harmonie-
bedürfnis brandet vergeblich gegen die Harmonie des Alls, um sie
in sich zu schließen oder sich zu ihm zu erweitern, um das Un-
endliche in Endlichkeit zu pressen oder das Endliche zur Unend-
lichkeit zu dehnen; ihm bietet die unendUche Harmonie nur die end-
lichen Disharmonien, aus denen sie sich zusammensetzt. Das Er-
gebnis ist — wenn nicht Selbstvernichtung, so Kompromiß, Re-
signation, ein relatives Sichabfinden mit der eignen UnvoUkommen-
heit, mit der immanenten Gegensätzlichkeit: so wie in der Musik die
Kadenz, der Schlußakkord ein Kompromiß, eine Resignation bildet
(vgl. Halm, S. 64)- Dies aber nur das Fazit für absterbende Ge-
sellschaft und Gesellschaftsteile. Für die Menschheit als Ganzes,
für lebenskräftige Gesellschaften und Gesellschaftsteile, für alle
entwicklungskräftigen Faktoren dagegen: unermüdlicher Kampf
ums Unermeßliche, ums Unermeßliche zwar, aber doch unermüd-
licher Kampf — in dem allein sich alle Entwicklung vollzieht.
124
„Die Natur gibt uns nicht eine Tonika, sondern die Dominante
in doppelter Form; nicht Ziel ukid Ruhe, sondern die Bewegung
Eum Ziel: d. h. nicht die Konsonanz, sondern die Dissonanz. Er-
stere wird auf künstliche (oder künstlerische) Weise gewonnen,
durch die Kadenz und ihre Verwertung, welche die abschließende
Tonika als solche erst schafft, indem sie deren natürliche Bewegung
unwirksam macht. Die Tonika hat ihre Ruhe nur in der Einheit
ihrer beiden Dominantgegensätze. Die Konsonanz lebt nicht —
denn als Forderung. . . . Die Geschichte der Musik ist die Ge-
schichte der Dissonanz." (Halm, Harmonielehre, S. 128.) Richti-
ger: Die Musik ist die Kunst, durch die der Mensch die ihm so
erscheinende, für ihn subjektiv bestehende Disharmonie seiner Um-
und Inweit in Harmonie zu verwandeln sucht. Sie ist der Kampf
um Auflösung der natürlichen Disharmonien, wie sie der mensch- -
liehen Wahrnehmung erscheinen. Ein Teil der Mithilfe des Men-
schen an der allgemeinen Entwicklung des Universimis zur Harmonie
auf höherer Stufe, aus der immer neue Differentiationen mit immer
erneuten Integrationen auf immer höherer Stufenleiter hervor-
gehen mögen.
Der Urantagonismus im Menschen überhaupt
Dieser liegt dem Wesen der organischen Entwicklung zugrunde
als Beharrungs- und Veränderungstendenz. Sodann äußert er sich
im Menschen, sofern er organisches Wesen ist, das zur Einheit
strebt, mehr: Einheit ist, in Formen, die auf seine Oberwindung
hinzielen, also korrelativ. So entspringt aus ihm das physische Voll-
endungsbedürfnis (bzw. -trieb), das geistig-psychische Vollkommen-
heitsbedürfnis (bzw. -trieb) und als ihre Zusanunenfassung, ihr
Ergebnis der Höherentwicklungstrieb.
Die primitive Beharrungs- und Veränderungs-
tendenz des organischen Wesens
Die Kontraste der Beharrungs- und Veränderungstendenz liegen
dem antagonistischen Charakter der organischen Entwicklung zu-
grunde. Sie bilden die primitiven Bestandteile dieses Charakters,
seine zwei ständig miteinander in Streit liegenden Seiten; in ihrem
Gegensatz wirkt sich ein Hauptstück des Kontrastgesetzes aus. Die
ia5
Beharrungstendenz Ist einmal die besondere Form, die das allge-
meine Trägheitsgesetz im organischen Leben zeigt; sie hängt aber
auch mit dem besonderen Wesen des organischen Wesens zusammen
— mit der Gewöhnung (,/die Gewohnheit nennt er seine Amme"),
Anpassung, die, so revolutionär sie in ihrer Vollziehung ist, wenn
sie vollzogen ist, als Angepaßtheit durchaus konservativ wirkt.
Die Veränderungstendenz ist keine Einzelerscheinung aus per*
sonlicher, innerer oder besonderer äußerer Ursache. Sie ist viel-
mehr ein Ausfluß des organischen Wesens an und für sich. Das
physische und das psychisch-geistige Wesen wird durch ununter-
brochene Fortdauer des gleichen Zustandes abgestumpft, in allen
Empfindungen und Kräften — eine Wirkung der organischen Or-
ganisation, der Art, wie sie ihre Funktionen ausübt; mag sich's nun
um magnetische, elektrische, chemische oder sonstige Prozesse han-
deln, die zum Lebensprozeß gehören und zu ihrem Ablauf, zu ihrer
Fortdauer wechselnde Einwirkungen und erneuernde Einflüsse
brauchen; mögen physikalische oder andere Erscheinungen und Na-
turgesetze zugrunde liegen. Eigenentwicklung heißt Veränderung.
Aber auch ein Beharren im gleichen Eigenzustand, soweit es mög-
lich wäre, könnte nur durch Veränderung ermöglicht werden, durch
ein der Veränderung der Umwelteinwirkungen entsprechend verän-
dertes Eigenverhalten. Veränderung ist die Signatur der auf den
Organismus einwirkenden Umwelt. So ist die Veränderungsfähig-
keit, von der die Veränderungstendenz nicht weit entfernt steht,
eine elementare Existenzvoraussetzung für den Organismus. Nicht
auf Veränderung an und für sich geht die Tendenz, sondern auf
Existenz erleichternde, entwicklungsf ordernde Veränderung; und
nur auf solche, die vom Organismus ertragen, vorteilhaft ausge-
nutzt werden kann. Solchen Veränderungen, die der Organismus
nicht oder noch nicht zu seinem Vorteil auszunutzen fähig ist, wider-
setzt er sich, mögen sie noch so sehr in der Richtung seiner Fort-
entwicklung liegen. Aus dem Widerstreben gegen Veränderungen,
die diesen Bedingimgen nicht entsprechen, auf allgemeine oder über-
wiegende Beharrungstendenz zu folgern, ist daher falsch. Nur die
Bedingtheit der Veränderungstendenz, nur die Tatsache, daß sie
keine absolute ist, zeigt sich darin.
Das „variatio delectat" ist nicht bloß eine Erscheinung raffi-
ia6
niert übersättigter und blasierter Überkultur, sondern eine allge-
meine Tatsache des organischen Lebens überhaupt. Die Verände-
rung vollzieht sich zum Teil im Gleichmaß periodischer Wieder-
holungen, deren Ergebnis unverändert bleibt; dann ist sie ein Kreis-
lauf, nur für die innerhalb eines Umlaufs sich abspielenden Pro-
zesse Entwicklung, nicht für das Ganze. Solche konstante Verände-
rung, solcher regelmäßiger periodischer Wechsel befriedigt das or-
ganische Veränderungsbedürfnis in weitem. Maße; aber nicht völlig.
Was darüber hinausgeht, wirkt als elementarer Entwicklungsantrieb.
Beim Menschen gehört „Abenteurerlust" und ähnliches in diese Ka^
tegorie elementarer Entwicklungstriebe. In den verschiedenen Le-
bensaltern ist die Veränderungstendenz verschieden stark. Am in-
tensivsten im Jünglingsalter, dem dadurch für die Fortentwicklung
eine besonders wichtige Rolle zufällt — gegenüber der stärkeren
Beharrungstendenz im hohen Alter, das sich hier der Jugend ähn-
lich ergänzend zur Seite stellt, wie die Integrationstendenz gegenüber
der auch jugendlichen Differentiationstendenz.
Vollendungs- und Vollkommenheitsbedürfnis
A. Das elementare physische Vollendungsbedürfnis
des org^anischen Wesens.
Das physische Korrelat zu dem geistig-psychisqhen VoUkonunen-
heits-(Vollständigkeits- und Harmonie-)bedürfnis ist das elementar
physische Vollendungsbedürfnis, das auf vollendete physische Ge-
staltung des Organismus selbst, eine entsprechende Gestaltung sei-
ner Umwelt und seines Verhältnisses zu ihr durch vollendete An-
passung hinstrebt. Dieses Ziel wird, soweit es der Erfahrung zu-
gänglich ist, auch von dem geistig-psychischen Vollkommenheits-
bedürfnis erstrebt, das Aufhebung aller erfahrungsmäßigen Un-
vollkommenheiten begehrt, während sich das physische Vollendungs-.
bedürfnis nur auf das G^iet des Physischen erstreckt. Es ist in-
stinktiven Charakters, sein Ursprung ist dem des geistig-psychi-
schen Vollkommenheitsbedürfnisses verwandt. Es ist der phy-
sische Teil des elementaren organischen Höherentwicklungstriebs
(vgl. u.).
Ein typisches Beispiel hierzu: die subjektiv-physische in der Kon-
"7
stitution des menschlichen Ohrs liegende Ursache der Disharmonie-
empfindung bei den Tönen und Klängen (vgl. o.).
B. Das elementare geistig-psychische Yollkommen-
heits-Bedürf nis (der Vollkommenheitstrieb)
Das geistig-psychische Vollkommenheitsbedürfnis besteht
I. aus dem Vollständigkeits-(Abschluß-)bedürfnis,
3. aus dem Harmoniebedürfnis. .
Das erste fordert Vollständigkeit der Vorstellung von allen phy-
sischen und geistig-psychischen Erscheinungen, von denen die Er-
fahrung weiß, und drängt zur Ergänzung der unvollständigen Vor-
stellungen des unvollständig Bekannten, zur Ausfüllung der Lücken
in der Erfahrung. Es strebt ins räumlich, zeitlich, kausal Grenzen-
lose, stößt über die Schranken der Erfahrung und des Erkenntnis-
vermögens hinaus ins Transzendente. Es ist im wesentlichen in-
tellektualistisch; es schafft neben der Erfahrungs- die spekulative
Ober-Erfahrungswelt.
Das zweite fordert ein bestimmtes, dem menschlichen Wesen ent-
sprechendes „harmonisches" Verhältnis zwischen den verschiedenen
Teilen der — körperlichen und unkörperlichen, organischen und
unorganischen, physischen und psychisch-geistigen — In- und Um-
welt, der Erfahrungs- und Ober-Erfahrungswelt. Es drängt zur
Harmonisierung der disharmonischen Erfahrungswelt. Es strebt
zum qualitativ Unerreichbaren — durch die gestaltende Tat im Be-
reich des Handelns, durch phantastische Vorstellungen und Forde^
Hingen im Bereich des Transzendenten. Es ist intellektualistisch,
ästhetisch, ethisch und praktisch und schafft neben der Erfahrungs-
welt die komplementäre Idealwelt. Es äußert sich spekulativ und
phantastisch; vorstellend und empfindend in der projektiven Seite
der Religion, in der Kunst und metaphysischen Weltanschauung;
phantastisch-metaphysische Wirkung erstrebend durch den Versuch
aktiver Beeinflussung des Transzendenten, die aktive Seite der Re-
ligion; praktisch wirkend durch die reflexive Seite der Religion
und der metaphysisch - spekulativen Ethik (Moral;, Weltan-
schauung und Kunst; sowie durch Arbeit im realen Leben.
Es ist einmal eine Wurzel der Religion, der Kunst und der Welt-
anschauungslehre; dann aber auch und vor allem der geistig-psy-
chische Teil des elementaren organischen Höherentwicklungstriebs.
Ihm entspringt der Trieb des Organismus nach Höherentwicklung
— VervoUkonunnung seines Selbst im Diesseits und durch das
Diesseits; im Diesseits und durch das Jenseits; im Jenseits und durch
das Jenseits.
Das Yollständigkeitsbedürfnis ist Ausdruck eines von dem ele-
mentaren Wesen des Intellekts- und Vorstellungsvermögens erho-
benen Postulats.
Das Harmoniebedürfnis ist eine wesentliche Eigenschaft des Or-
ganismus, der Ausdruck eines vom elementaren Wesen des Orga-
nismus erhobenen Postulats, ein Ausfluß seines Selbstbehauptungs-
(Erhaltungs-)triebs, eine Ausstrahlung der Tatsache, daß der Or-
ganismus in der Tendenz, nach dem Postulat seines „intelligiblen"
Ichs eine in sich geschlossene, vollkonunene Einheit von bestimm-
ter Proportion seiner Teile bildet und das Sein aller Art nicht an-
ders als mit dieser ihm immanenten Einheits- und Ganzheitstendenz
und -forderung auffassen kann, alles Sein sich, dem Subjekt gegen-
über, als sein nach ihm, nach seinen Ansprüchen zu gestaltendes
Objekt erblickt und empfindet; weiter der Tatsache, daß aber weder
der Organismus selbst noch auch seine Umwelt noch auch das Ver-
hältnis zwischen In- und Umwelt den Ansprüchen genügt, die das
bewußte, vorstellende, denkende, empfindende „intelligible" Ich als
das auch die Unvollkonunenheiten und Widersprüche im Organis-
mus selbst einschließende Fazit aller Bestandteile des organischen
Wesens an den Organismus selbst und an die Umwelt erhebt. Die
Funktion des Harmoniebedürfnisses zielt dahin, dem Organismus
die Existenz zu erleichtem, ja überhaupt zu ermöglichen, indem
es die postulierte Harmonie durchzusetzen sucht; in der anorgani-
schen und der organischen, körperlichen und unkörperlichen, phy-
sischen und psychisch-geistigen Erfahrungswelt, in seinem eigenen
Innern und in der in vielfachem Gegensatz zu seinen Anforderungen
stehenden Umwelt und in bezug auf das Verhältnis zwischen In-
und Umwelt (harmonische Anpassung), und zwar im Bereich des
praktischen Handelns durch die Tat, außerhalb dieses Bereichs
durch geistig-psychische Schöpfungen, Komplementärvorstellungen
und -empfindungen.
9 Liebknecht. Studien 129
Def spontane organische Höherentwicklungstrieb
als physischer Vollendungs- und geistig-psychi-
scher Vollkommenhe!tstrieb
Das elementare geistig-psychische Yollkonmienheitsbedürf nis, das
Bedürfnis des Organismus nach Harmonie in sich und in der Um-
welt und zwischen sich und der Umwelt ist die geistig-psychische
Seite des elementaren organischen Höherentwicklungstriebs. Ihm
entspringt der Trieb des Organismus nach Höherentwicklung —
Vervollkommnung — seines Selbst im Diesseits und durch das Dies-
seits in praktischer Wirksamkeit; ebensowohl, wie das phanta-
stische Bemühen, das Diesseits durch das Jenseits und sich selbst
im Jenseits durch das Jenseits zu vervollkommnen.
Die physische Seite des Höherentwicklungstriebs bildet der phy-
sische Vollendungstrieb, der im Gebiet des Instinktiven, der uner-
gründeten Tiefe des organischen Wesens, in die keine Erfahrung
und keine bewußte Einwirkung dringt, im dialektischen Prozeß
durch Aufhebung der Antagonismen und Dissonanzen die postu-
lierte harmonische Vollendung herzustellen strebt.
Der kosmische Urgrund des elementaren Voll-
endungs- und Vollkommenheitsbedürfnisses
Dot Organismus ist physisch und geistig-psychisch ein Produkt
des Universums; durchaus im Sinn der Leibnizschen Monadologie
ist er Mikrokosmos. Alles Sein (Körper, Kräfte), alles Geschehen
der Vergangenheit und Gegenwart hat auf ihn gewirkt, wirkt auf
ihn und in ihm fort. Und nicht minder strahlen seine Wirkungen
auf alles Sein und Geschehen zurück. Er steht physisch und geistig-
psychisch im zeitlich, räumlich, kausal infinitesimalen Wechsel-
zusammenhang mit dem gesamten Inhalt des Universums. Das
Vollendungsbedürfnis ist der physische Ausdruck dieses Zusanunen-
hangs, das Vollkommenheitsbedürfnis der geistig-psychische, der
Reflex jener universalen Wirkung auf den Organismus und die Be-
gleiterscheinung jener Rückwirkung des Organismus auf das Uni-
versum.
In beiden Bedürfnissen äußert sich in Form einer Tendenz das
Bestreben nach Aufhebung der Vereinzelung, der Instinkt, die
i3o
Ahnung, das Gefühl, das Bewußtsein, daß objektiv eine solche Ver-r
einzelung gar nicht besteht, sondern die Einheit des Alls.
Das physische Vollendungsbedürfnis wirkt einerseits auf die auf
Höherentwicklung (Fortsclu'itt) gehenden Ideologien ein, insofern
diese durch Disharmonie der Sinnlichkeit (nicht der Geistigkeit
und des Gefühlslebens), durch physische Disharmonien des Orga-
nismus angeregt sind und deren Beseitigung anstreben. Außerdem
äußert es sich — und das ist seine Hauptfunktion — im instinktiven,
physisch-organischen Höherentwicklungs(Fortschritts-)prozeß.
Die Erzeugnisse des psychisch-geistigen Vollkommenheitsbedürf-
nisses — zum Zwecke seiner Befriedigung — sind
1. Religion, Kunst, z. T. Moral, W^eltanschauung: die idealen
„Ideologien" ;
2. Politik, Recht, z. T. Moral, Er fahrungs Wissenschaft, Technik
(angewandte Wissenschaft): die unmittelbar praktischen „Ideolo-
gien*;'
überhaupt alle „Ideologien", soweit sie auf Höherentwicklung aus-
gehen (höherentwickelnde „Ideologien"). Freilich sind die Ideo-
logien, sofern sie durch physische Disharmonien des Organismus
in geistig-psychischen Wesen angeregt sind und deren Aufhebung
anstreben, zugleich Erzeugnisse des physischen Vollendungsbedürf-
nisses. Daß die Ideologien nicht nur der Höherentwicklung, son-
dern auch der Erhaltung dienen (erhaltende Ideologien) und inso-
weit nicht dem VoUkommenheits- und Vollendungsbedürfnis ent-
fließen, ist anderwärts (o. Kap. II) gezeigt; mit dieser ihrer Seite
hat das Vollkommenheitsbedürfnis nichts zu tun.
Das Vollkbmmenheitsbedürfnis erstreckt sich nicht nur darauf,
irgendeinen Zustand im Subjekt und für das Subjekt selbst zu er-
halten oder herzustellen, der von irgendeinem Standpunkt aus das
Subjekt befriedigt. Stets, auch wo es durch phantastisch-illusionäre
Befriedigung entwicklungsfeindlich wirkt, erstrebt es — wenigstens
in der Vorstellung und Empfindung — einen vollkommenen Zu-
stand des ganzen Universums, mit dem sich das Subjekt eins fühlt,
ohne dessen — wenigstens vorgestellte — Vollkommenheit es auch
in sich selbst nicht vollkommen sein kann; also auch der übrigen
Menschen und der Gesellschaft.
Alle Äußerungen des Vollkommenheitsbedürfnisses müssen also
9»
i3i
auch auf die Gesellschaft, auf die anderen Menschen gehen; sonst
sind sie, sonst ist das Vollkommenheitsbedürfnis verkrüppelt.
Daher sind die reinen Ideologien: Kunst usw. prinzipiell uni-
versale und also auch gesellschaftliche Erscheinungen. Anderer-
seits ist Tart pour l'art, die nur der inneren Befriedigung des Kunst-
Iotb dienende Kunst, keine Kunst. Ein Kunstwerk, das nicht wenig-
stens der Potenz nach von anderen empfangen würde, kein Kunst-
werk. Und Analoges gilt von den übrigen reinen, d. h. dem Voll-
kommenheitsbedürfnis entsprossenen Ideologien. Diese Ideologien
sind also nicht nur in dem Bestimmpunkt und Bedingungen ihres
Entstehens und Seins, sondern auch in ihrer Aufgabe gesellschaft-
liche Erscheinungen.
So sind Ästhetik, Ethik, Religion und alle reinen Ideologien,
überhaupt alle geistig-psychischen Komplementärerscheinungen als
Utilitarismus, das „Schöne", das „Gute" ab das Nützliche aufzu-
fassen. Denn alle geistig-psychischen Komplementarerscheinungen
sind — wie gezeigt — Ausflüsse des Selbst- und Art-Erhaltungs-
und Höherentwicklungstriebes, der sich im Vervollkonunnungsbe-
dürfnis ausdrückt. Sie dienen der Tendenz nach diesem Triebe,
der Stärkung der Individuen und der Gesellschaft im Kampf ums
Dasein und um den Fortschritt. Ihre Aufgabe ist also rein utili-
tarisch, aber utili tarisch höchsten Stils: diese Nützlichkeit ist zu-
gleich reiner Idealismus. Sie erfüUen ihre Aufgabe auf verschie-
dene Wdse, mit verschiedenen Mitteln, die wir als mehr oder we-
niger ideal anzusetzen gewöhnt sind und nach denen ihr Verhältnis
zum Utilitarismus oft beurteilt wird, obwohl sie dafür belanglos
sind.
Wenn z. B. Lessing als Endzweck der Kunst „Vergnügen" be-
trachtet (Laokoon II), so drückt dies in anderer Weise die en-
biotische, komplementäre, harmonisierende, idealutilitaris tische Auf-
gabe aus.
Der Urantagonismus im sozialen Leben
Die drei Kontrastgesetze.
I. Ahnlich der Tatsache, die in den individual- und sozialpsy-
chologischen Komplementärerscheinungen (vgl. Wunsch- und Wer-
dewelt der Religion und Kunst, I. Abschnitt, Kap. III und
i3a
yorigen Unterabschnitt) ihren Ausdruck findet, tritt die Gesamt-
stimmung und Geistesverfassung einer Gesellschaftsschicht, die als
psychologisch-kulturelle Einheit gelten kann, meist nicht in einer
einheitlichen Stimmung, Gesinnung und Geistesverfassung aller da-
zugehörigen Individuen hervor, sondern in verschiedenen Rich-
tungen verschiedenen Charakters, oft in denselben Personen zwie-
spältig, zerrissen, auseinandergezogen, differenziert. So wie das
weiße Sonnenlicht aus Strahlen verschiedener Farbe und Art sich
zusammensetzt: sie ergänzen sich zum Gesamtcharakter. — Vgl. z. B.
die Schwärmerei und den Kritizismus als ergänzenden Widerpart,
kontrastierendes Korrelat; ironischen Skeptizismus der Rousseau,
Werther, Voltaire, Young, Hume und der romantischen Periode;
die amerikanische Sentimentalität.
Diese Erscheinung, die sich wie auf individuell-psychologischem,
so — mit typisch-allgemeiner Bedeutung — auf sozialpsychologi-
schem GdMete zeigt, möge als die Erscheinung, ja als das Ge-
setz der sozialpsychologischen Supplementär-
strömungen (Ergänzungsströmungen) bezeichnet werden.
Es liegt hier eine Differenzierungs- und Spezialisierungserschei-
nung vor, die die Intensität der gesellschaftlichen Kräfteentvnck-
lung steigert und die verhältnismäßig reinste Ausv^rkung jeder
Entvncklungs„idee" bis zum Eintreten der Integration ermöglicht.
II. Bei der Betrachtung dieser Ergänzungsströmungen und vor
ihrer Konstatierung ist stets vorab genau zu prüfen, ob sie nicht
verschiedenen Schichten unter verschiedenen äußeren und inneren
Lebensbedingungen der Um- und Inweit angehören — in welchem
Falle sie keine Supplementärströmungen, sondern Klassen- usw.
Strömungen sind.
Den Erscheinungen zu I und II liegt eine Tendenz zur Entfaltung
von Kontrasten — Antithese zum Zweck der Ergänzung und Syn-
these — zugrunde; von gleichzeitigen und parallelen Ergänzungs-
kontrasten (Thesen-Antithesen- Verzweigung), wie sie in bezug auf
eine Gesamtgesellschaft auch die äußeren und inneren Lebenskon-
traste der verschiedenen Schichten darstellen (Klassengegensätze).
Von dieser Differentiation beim Beharren auf
gleicher Stufe ist zu unterscheiden
III. das eigentliche psychische Kontrastgesetz im Wundtschen
i33
Sinne: dieses handelt von der Differentiation im Fort-
schreiten, dem gegensätzlichen Nacheinander« der Fortbewegung
in Gegensätzen; dem zeitlichen Aufeinanderfolgen von Thesis und
Antithesis (und Synthesis), von deren zeitlicher Ablösung, vom Um-
schlagen einer Thesis in die Antithese.
Auch dieses von Wundt für die Individualpsychologie ermittelte
(auch physiologisch fundierte) Gesetz gilt nicht minder sozial-
physiologisch und -psychologisch.
Der dreifache Kontrast und das Kompromiß
Die drei sozialpsychischen Kontrastgesetze zusanunen ergeben die
Totalität der dialektischen Gesellschaftsentwicklung; denn alle drei:
a) die Schichtenkontraste,
b) die supplementären, synchronistischen, innerschichtenmäßigen
Kontraste,
c) die Nacheinander-(sich ablösenden)Kontraste
sind wesentlich für die Fortentwicklung der Gesellschaft, der Kultur.
Wie sich diese Kontraste jeweils empirisch im einzelnen gestal-
ten, auswirken, auflösen und in neuen Kontrasten auf anderer Stu-
fenleiter erneuern, das ist an der Hand sorgfältiger Geschichts-
betrachtung im besonderen Teil zu prüfen und darzustellen.
Hier nur das eine — über die psychologisch-subjektive Spiege-
lung, den psychologisch-subjektiven Ausdruck des objektiven an-
tagonistischen Geschichtsprozesses (These, Antithese, Synthese):
I. Im Re s u 1 1 a t kennt die organische (individuelle wie soziale)
Entwicklung nur das
Sowohl als auch,
nur die Kombination im Kompromiß (Verschmelzung, Zwei- oder
Vieleinigkeit), den, wenn nicht Mittel-, so Zwischenweg zwischen
den Kontrasten.
II. Den WegzumResultat bildet der Kampf nach den Kon-
trastgesetzen, die Auseinandersetzung in Kontrasten — als das Mittel
zur Herstellung des möglichst vollkommenen Schlußergebnisses, des
synthetischen Zustands — und zwar nicht nur
a) der soziale Kampf, sondern auch
b) der individuelle (zwischen einzelnen) und
i34
c) der subjektive — im einzelnen — , als die Unterlage, der
ständig funktionierende Vorprozeß des sozialen Kampfes
(i. e. S.).
III. Der Kampf der sich einander widersprechenden und
schließlich doch zur Synthese ergänzenden Prinzipien wird hin-
gegen, im Gegensatz zum integralen Resultat, nach der Eigenart des
organischen Wesens und speziell der psychischen Eigenart des
Menschen — unter der Aspiration des
Entweder — Oder,
unter der Behauptung und Forderung der ausschließlichen Geltung
jedes Prinzips geführt — eine Notwendigkeit eben auch
I. für die der Entwicklung unentbehrliche entschiedene Austra-
gung des Kampfes bis zur klaren Abgrenzung der „Rechte", der
Geltungsgebiete, des Einflußfeldes eines jeden und
a. für die volle Entfaltung ihrer Kräfte und damit der aus ihnen
zusammengesetzten Kräfte des Gesamtorganismus, der Gesellschaft.
Das ist der polare und doch nur formale, subjektiv scheinende
und doch auch objektiv reale Gegensatz zwischen der Form und
dem Schlußsinn (Wesen, Ziel) der Entwicklung — ihr dialektisches,
antagonistisches Element in seinem Gesamtumfang.
Ist dies =Marx? der vom Kopf auf die Füße gestellte Hegel?
Es ist beides, Hegel und Marx; ihre neue Synthese.
Das psychogenetische Grundgesetz
Gewiß mag das Häckelsche „biogenetische Grundgesetz" der ge-
nauen Prüfung nicht standhalten. Aber es ist eine jener geist-
reichen Spekulationen und Halbwahrheiten, die der Forschung und
Betrachtung einen wertvollen Fingerzeig, anregende Perspektiven
eröffnet und fruchtbare Kombinationen nahelegt; eine jener Rich-
tung weisenden, zum Nachdenken und Aufsuchen neuer Wege an-
regenden Hypothesen, die schon, indem sie die für den großen Zug
und Flug der Wissenschaft und Kultur so fundamental wichtige
wissenschaftliche Phantasie anreizen, für die Fortbildung von Wis-
senschaft und Kultur im höchsten Sinne gar oft nützlicher sind
als manche kleine und enge Ganz-Wahrheiten. Und mich deucht,
daß alle Bemängelungen und Kritiken es nicht widerlegt haben,
i35
daß das Gesetz in der Tiefe einen bedeutsamen, auch exakt richtigen
Kern birgt.
Als Analogen auf — zunächst wenigstens nur individual — psy-
chischem Gebiete, auf dem Gebiete der psychischen Entwicklung
darf ein psychogenetisches Grundgesetz aufgestellt
werden. Es soll hier nicht näher untersucht werden, inwieweit ^n
solches Gesetz für die Wiederholung aller organischen Psychologie
— vom Uranfang des organischen Lebens niederster Art beginnend
— behauptet werden mag (das wäre ein genaues Analogon von
Häckels biogenetischem Gesetz). Das psychogenetische Grundgesetz
wird hier nur in der Beschränkung auf die menschliche Kultur-
entwicklung — jedenfalls ein großes Stück davon — behauptet,
wenn es auch zweifellos bis in die Tierheit, die tierische Psycho-
logie zurückreicht.
In der Tat liegt eis so, daß die entwickelte Psyche die durch-
laufenen Zustände bis zur gänzlich unbewußten triebhaften Pflan-
zenart dauernd in sich bewahrt und mitumfaßt, wenn auch nur
im Unterbewußtsein, im Instinkt- und Triebleben.
Sehr interessant sind dazu Goethes Bemerkungen, in Wilhelm Mei-
sters Wanderjahren I, ii, die er Lenardo und Wilhelm in den
Mund legt:
Lenardo spricht von einer allgemeinen „Eigenheit des Menschen,
von vorn anfangen zu wollen", worauf Wilhelm bemerkt: „Kann
man es ihm verdenken, weil doch genau genonunen jeder wirklich
von vorn anfängt. Sind doch keinem die Leiden erlassen, von denen
seine Vorfahren gepeinigt wurden."
Mittel un.d Formen der sozialpsychischen Um-
wälzungen überhaupt
Kampf ist auch hier die allgemeine Form der Entwicklung,
und zwar:
Kampf gegen die Umwelt und Kampf innerhalb der Inweit, als
besonderer und für uns wichtigster Fall der soziale Kampf, der
Kampf zwischen den einzelnen Kreisen, Schichten, Klassen inner-
halb der „Gesellschaft".
Alle Kampf methoden finden auch hier Anwendung; d. h. alle
Methoden für „äußeren" (physischen und psychisch-geistigen) und
i36
.^inneren" Kampf: Gewalt, List, Betrug, Selbsttäuschung usw.,
Überzeugung, Überredung, Belehrung, Forschung usw. — auch alle
Mittel der Beherrschung des Menschen durch den Menschen.
Meist findet sich Mischung von allem oder vielem davon zu-
gleich. Besonders interessant ist als Fall der List, kombiniert mit
Selbsttäuschung: die Methode der inhaltlichen Entwöhnung von
einer überkonmienen Anschauung, bis nur die leere, sinnlose Hülle
bleibt, die dann schließlich weggeworfen wird — vgl. z. B. die
Befreiung von den aristotelischen Einheiten (Ort, Zeit, Handlung)
in Frankreich (Corneille, Voltaire) oder bis der Rest sogar drückend,
unerträglich, verhaßt, feindlich empfunden wird — in Verkehrung
des ursprünglichen Sinnes: der Fall Shylock-Porzia (vgl. Koh-
ler: Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz).
Materielle Not als Motor der Entwicklung
Hunger hat von allen Faktoren das gewaltigste Stück Welt-
geschichte gemacht. Die materielle Not ist Entwicklungsantrieb ein-
mal in den drei Notsphären. Doch spielt die Ernährungs- und
Schutzsphäre die Hauptrolle, die Sexualsphäre kommt nur unter
besonderen Umständen in Betracht, z. B. Frauenmangel — beson-
ders bei Exogamie; Not der Deszendenten usw. Ferner wirkt an-
treibend Stoffnot, Mangel an nötiger Materie für die Befriedigung
der Notbedürfnisse. Schließlich ist sie Motor für die Entwicklung
im ganzen, und zwar durch Anspornen, Aufpeitschen aller Kräfte
zur Beseitigung oder Minderung der Not.
Welch gewaltiger Motor für den wissenschaftlichen, jedenfalls
angewandt-wissenschaftlichen, praktischen, technischen Fortschritt
die harte materielle Not bildet — vgl. den jetzigen Krieg und die
organisatorischen, technischen Errungenschaften; von letzteren z.B.
Luftstickstoff, Anwendung der Heiz- und Leuchtstoffe; Ersatz-
mittel; Papierausnutzung usw.
4- KAPITEL
KULTURBEEINFLUSSUNG
RESORPTION UND REZEPTION
L Unterabschnitt: Besorpiion.
S I. Soziale Resorption im allgemeinen
Was individuell erkannt, gewußt, erfahren, erfunden, entdeckt
und genutzt wird oder werden kann, ist darum allein noch keia
Faktor der gesellsch^tlichen Kultur, der gesellschaftlichen Ent-
wicklung. Um das zu werden, bedarf es der Aufsaugung, Aneig-
nung, Obernahme, kurz: der Resorption der individuellen Er-
rungenschaft durch die „Gesellschaft", d. h. durch die Gesamtheit
der Gesellschaft oder der für ihren Gesamtzustand und ihre Ent-
wicklung wesentlichen Teile.
Von der Resorption ist die später zu behandelnde Rezeption zu
unterscheiden. Darunter wird die soziale Obernahme bereits so-
zialisierter Kulturproduktionen, die Ü b e r nähme im Gr^ensatz zur
Auf nähme verstanden.
Es gibt eine gewaltige Menge von Erkenntnissen und Erfindungen,
die vor alters schon von einzelnen gemacht wurden, aber nicht in
den Entwicklungsprozeß eingingen, z. B. weil die Gesellschaft noch
nicht „reif" dafür war oder weil sie ihr nicht bekannt wurden,
so daß die gleiche Entdeckung oder Erfindung gar oft im Verlauf
der Entwicklung mehrfach hat gemacht werden müssen. Gerade
die erstaunlichsten, weil zeitlos, ohne gesellschaftliche Impulse und
mit einem Minimum von Vorbereitungsarbeiten aus individuellen
Antrieben und Kräften .gewonnenen Erfindungen und sonstigen
i38
Leistungen sind verlorengegangen und verklungen. Nur wer zur
rechten Zeit für die Gesellschaft kam« ward und wird erhört und
gewürdigt.
Ohne soziale Resorption (Sozialisierung) wird keine menschliche
Errungenschaft, die doch stets zuerst als individuelle auftritt und
gewonnen wird« keine mögliche Erfahrungstatsache für die Ge-
sellschaft und ihre Entwicklung überhaupt existent.
Die soziale Resorption ist also eine Grundvoraussetzung alles so-
zialen Fortschritts« d. h. aller Einwirkung solcher Errungenschaf-
ten und Tatsachen auf die gesellschaftliche Entwicklung und aller
überhaupt möglichen Einwirkungen auf diese Entwicklung — we-
nigstens soweit sie organisch« intersozial erfolgt; gewaltsame Ein-
wirkungen von außen gibt es natürlich auch; diese sind anderer Art.
So ist die Resorption ganz allgemein eine Unterart der Entwick-
lung überhaupt.
Die ungeheure Kluft zwischen dem Individuum und seiner so-
cialen Greltung« zwischen der individuellen Leistung und ihrem
Wert und der sozialen Leistung und ihrem Wert tut sich auf bei
der völlig unterbliebenen Resorption (wie in geringerem Grade bei
aller unvollkommenen Resorption) : der Blick auf die Namenlosen«
Genialsten aller Menschen« die aUe Kräfte in sich bargen« um voll-
bringen zu können, und die — soweit sie und ihre Mitwirkung in
Frage — alles in Überfülle vollbrachten« was die Gesellschaft« die
Menschheit hätte s^nen und sie selbst unter die leuchtendsten
Sterne hätte versetzen können und sollen und denen im Bewußtsein
der Menschen nicht einmal das Schicksal von Meteoren zuteil wurde;
denen das unglückseligste Fatum« zu früh geboren zu werden oder
am falschen Ort außer Berührung mit der Gesellschaft abgetrennt
zu bleiben« beschied« daß sie nicht nur im Dunkel und ohne Nach-
wirkung (im sozialen Sinne) verschwanden« sondern auch im Dunkel
und ohne Gegenwartswirkung — verkannt« oder ungekannt — leb-
ten; denen« obwohl zum Allerhöchsten und Strahlendsten befähigt
und vollendet« nicht einmal die Würdigung zum Kulturdünger zu-
teil wurde. Es tut sich auf der Blick auf diese zu früh oder am
falschen Ort Geborenen« Namenlosen« Ungekannten und Verkann-
ten« deren es gab und gibt und die auch künftig unter den Men-
schen wandeln werden. Denn diese Fälle tiefster Tragik sind mit
189
den UnvoUkommenheiten der menschlichen Natur, mit der Art und
dem Wesen der menschlichen Kultur und ihren Entwicklungs-
bedingungen untrennbar verbunden — ja fast eine logische Folge
aus dem Begriff der Entwicklung selbst.
S 2. Einteilungen
1. Die Resorption kann sein dem zeitlichen Zusammenhang nach
a) I. entweder eine relativ gleichzeitige, Zug um Zug mit der in-
dividuellen "Produktion oder
2. eine nachträgliche (posthume).
Die letztere kann auftreten, wenn die individuelle Produktion
in einer dauernden Manifestation erhalten (z. B. als Manuskript,
Bild, Modell usw.), später wiedergefunden und beachtet und nun
resorptionsgeeignet ist in resorptionsfähiger Zeit, während sie vor-
her unsozialisiert blieb. Dies ist nicht etwa als Grenzfall zur Re-
zeption zu klassifizieren, sondern ist reine Resorption, weil die be-
treffende individuelle Produktion früher noch nicht sozial resor-
biert war.
Posthume Resorption gilt nicht etwa in Beziehung auf das Er-
rungene, ist also nicht gleichbedeutend mit: nach dem Tode des
Erringers, sondern in Beziehung auf die Errungenschaft. Posthum
also = nach dem gesellschaftlichen Untergang der Errungenschaft;
d. h. nachdem die Resorption infolge Resorptionsunfähigkeit oder
Resorptionsträgheit unterblieben ist und später infolge neuer Im-
pulse stattfindet.
b) Wenn der Resorptionsprozeß sich nur verzögert, verschleppt,
und zwar infolge Resorptionsträgheit, d. h. wenn die Verzögerung
nur durch den Prozeß der schließlich erfolgreichen Überwindung
der Resorptionsträgheit verursacht ist, so liegt nichtsofortip^e
(verlangsamte, verschleppte, verzögerte) Resorption vor. Sofor-
tige dagegen, wenn keine durch Resorptionsträgheit bewirkte Ver-
schleppung der Resorption stattfindet. Der Unterschied zwischen
sofortiger und nichtsofortiger Resorption liegt also im Tempo und
der Dauer des Resorptionsprozesses selbst.
II. Man muß scheiden: die aktive gesellschaftliche Fähigkeit,
zu resorbieren (Resorptionsfähigkeit) und die Eignung des frag-
lichen Elements, resorbiert zu werden (Resorptionseignung).
i4o
III. Die Frage der Resorption wirft sich nicht nur für Erkennt-
nisse und andere Errungenschaften von individuellen Gesellschafts-
mitgliedern, sondern laufend für das gesamte in thesi der Be-
obachtung und Erfahrung zugängliche Tatsachenmaterial auf.
So sind zwei Fragen zu unterscheiden:
a) das Problem der sozialen Resorption des allgemeinen der Be-
obachtimg zugänglichen Erfahrungsmaterials aus Um- und Inweit,
b) die Frage der sozialen Resorption individueller Leistungen.
Die erstere Frage ist die Frage des menschlichen Erfahrungs-
fortschritts überhaupt; die letztere die Frage des Verhältnisses zwi-
schen dem individuellen und dem sozialen Erfahrungsfortschritt,
zwischen individueller Leistung und sozialer Verwertbarkeit.^)
IV. Zu unterscheiden ist ferner als für die Kulturentwicklung
besonders wichtig:
I. die Wissensresorption (ohne praktische soziale Ausnutzung);
3. die Nutzungs-(Anwendungs-)resorption. Die letztere (aber
auch die erstere vgl. V.) weist wieder verschiedene Grade auf, je
nach Qualität und Intensität der Anwendung und je nach Umfang
des Personenkreises der Resorbierenden: in der Steigerung von Qua-
lität, Intensität, Umfang der Anwendung liegt eines der wesent-
lichsten Merkmale des Fortschritts der Kultur.
„Anwendung** (Nutzung) ist hier im weiten Sinn, auch als rein
geistige, ideologische Ausnutzung, als Baustein, Stoff, Werkzeug,
der Kunst, Wissenschaft, Religion, soweit kulturförderlich, gemeint.
Beispiele für den Unterschied zwischen Wissens- und Nutzungs-
resorption: Die Entwicklungslehre und Kosmologie bei den Alten.
Das Pulver bei den Chinesen. Primitive Tier- und Pflanzenkunde
und Kenntnis der Lebensart und Biologie (Lebensbedingungen) von
Tier- und Pflanzenwelt. Erfindung von Glas, Porzellan. Es handelt
sich zumeist nur um verschiedene Grade der Nutzung.
^) Ein klassisches Beispiel fQr volle Koinzidenz zwischen beiden: Goethes
Werther I Vgl. Dichtung und Wahrheit 13: ^^Die Wirkung dieses Büch-
leins war groß, ja angeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in
die rechte Zeit traf*. Mit der Entfesselung der Weltschmerzlerei ging
es: ,wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige
Mine zu entschleudem*.
i4i
y. Aber auch innerhalb der Wissensresorption gibt es ver-
schiedene Grade — je nach den aus einer bekannt gewordenen
Tatsache gezogenen Konsequenzen, je nachdem sie mehr oder we-
niger in der Tiefe ihres Wesens und Sinnes im Zusammenhang
mit dem gesamten sonstigen Wissen und Vorstellen verstanden
werden.
VI. Im ganzen ist zu unterscheiden folgende Stufenleiter der
Fälle:
Die soziale Resorption kann
a) ganz ausbleiben;
b) verschiedenen Grades sein;
c) sie kann verschiedene Kreise, Gruppen und (jliederungen
betreffen;
d) sie kann verschiedener Art sein, unter verschiedenen Gesichts-
punkten, zu verschiedenen Zwecken usw. erfolgen; b — d:
unvollkonunene (unvollständige) Resorption;
e) sie kann voUkonunen (vollständig) sein.
VII. Es sind die Bedingungen zu suchen, unter denen die ver-
schiedenen Grade der Resorption auftreten.
Diese Bedingungen sind:
a) solche der Kulturstufe, des gesamten kulturellen Zusammen-
hangs; z. B. die ganze Zeit ist nicht reif zur Manifestation oder
zur Resorption;
b) besondere soziale Bedingungen innerhalb der gegebenen Ge-
sellschaft und ihres gegebenen Zustandes, und zwar entweder
a) soziale Bedingungen des als Resorptionsempfänger wesent-
lich in Frage konunenden Gesellschaftsteils; z. B. die dem
Produzenten allein zugängliche Klasse,
ß) soziale Bedingungen des Produzenten (Resorptionsgebers);
z. B. der Erfinder ist durch seine soziale Lage nicht im-
stande, sie weiterzutragen oder auch nur zu manifestieren;
c) besondere individuelle und sonstige sozial zufällige Be-
dingungen; z. B. der Erfinder besitzt nicht die Geschicklichkeit,
Mangel an Wiedergabefähigkeit, seinen Erf ahrungsgewinnst zu ma-
nifestieren oder an die richtige Stelle zu tragen und zu verbreiten.
VIII. Die Bedingungen sind weiter entweder in dem Inhalt
der Erfindung usw. gelegen (der Gedanke kann noch nicht gefaßt
i4a
oder wenigstens genutzt werden) oder in der Form, in der sie
erstlich auftritt und die die Verbreitung hindert (z. B. Isoliertheit;
unverstandene Schrift, Sprache usw. oder in dem Mangel an Mani-
festation überhaupt: was nur subjektiver Wissenbesitz geblieben,
nicht objektiviert, äußerlich realisiert, materialisiert ist, ist damit
nach außen und auch also sozial nicht existent und also auch nicht
geeignet, resori>iert zu werden [„Raffael ohne Hände'']).
IX. Soweit der Inhalt das Hindernis bildet, kann dies wieder
seinen Grund haben
a) darin, daß der Gedanke überhaupt nach der Kulturstufe kei-
nesfalls gefaßt und verwertet werden könnte;
b) darin, daß, obwohl diese Kapazität in thesi vorhanden ist, na-
türliche Hindemisse bestehen; z. B. ein Stoff ist nicht vorhanden
und die technische Entwicklung, die Beschaffung -des Nötigen
durch Transport, Erzeugung, Verarbeitung, Urproduktion, Förde-
rung aus der Erde usw. daher ausgeschlossen.
X. W^eitere Einteilungen sind:
1. reine einheitliche Resorption gegenüber der vermischenden;
2. nicht verändernde gegenüber der verändernden, wandelnden;
3. isolierte nur einer Errungenschaft gegenüber gleichzeitiger
mehrerer Errungenschaften (sei es vermischend oder sonst ver-
bunden) ;
4. unmittelbare gegenüber mittelbarer.
S3. Die verschiedenen Funktionäre der
Resorption
Hauptfunktionäre:
Der Produzent der Errimgenschaf t und die resorbierende (jesell-
schaft.
Notwendige vertretende Funktionäre:
Iii der resorbierenden Gesellschaft der bei der fraglichen Re-
sorption in concreto mitwirkende Gesellschaftsteil.
Nicht-notwendige vertretende Funktionäre bei der nur von einem
Teil der G^ellschaft getragenen Resorption:
Der gesellschaftsorganisch jeweils als Träger einer resorbierten
Errungenschaft bestinunte Gesellschaftsteil (der Resorptlonser-
i43
rungenschaf tsträger als Gesellschaftsfunktionär — wichtige Kate-
goriel).
Zwischenfunktionäre bei mittelbarer Resorption:
Der Vermittler (der nie eine ganze Gesellschaft sein kann, da sonst
Rezeption vorliegen würde).
Bei nachträglicher (posthumer) Resorption: der Verwahrer des
gesellschaftlich Toten.
S4- Die Arten des Resorptionswandels
Der bei der Resorption einer Errungenschaft sich vollziehende
Wandel in Form und Inhalt der Errungenschaft kann
1. durch besondere gesellschaftlich nicht notwendige Umstände
des Einzelfalls veranlaßt sein — nicht-notwendiger, besonderer Re-
sorptionswandel.
2. a) gesellschaftlich notwendig sein: d. h. unausweichlich vom
Wesen der in Frage stehenden Gesellschaft diktiert sein — aber
natürlich im einzelnen sehr verschieden nach der Art der Resorption
der Errungenschaft.
b) resorptions-notwendig sein: d. h. aus dem Wesen der Re-
sorption selbst fließen: als Wirkung, Ausdruck der Tatsache, daß
die Errungenschaft aus den Händen des Erringers in die Hände der
Gesellschaft gegangen ist, als Charakteristikum des Sozialisierungs-
prozesses, den die Resorption darstellt.
Dieser resorptions-notwendige Resorptionswandel kann je nach
der Art der Errungenschaft und der Resorption sehr verschieden
sein; er richtet sich vor allem nach dem Verhältnis zwischen dem
Wesen des Erringers (auch Aufbewahrers usw.), der resorbieren-
den Gesellschaft und ihres Resorptionsträgers. Aber jedenfalls er-
hält die Errungenschaft mit der Resorption stets eine andere Be-
deutung, als sie für den Produzenten besitzt.
Zu a a) und b) : unbedingt notwendiger Resorptionswandel.
Die verschmelzende Resorption ist in gewissem Sinne ein eigen-
artiger Fall des Resorptionswandels.
S 5. Die zwei Stadien der Resorption
Die Resorption ist im Stadium ihrer Vollziehung, während des
Aufsaugungsprozesses: Resorbiertwerden.
i44
Im Stadium ihres VoUendetseins, ihres Vollzogenseins» nach Ab-
schluß des Aufsaugungsprozesses, ist sie: Resorbiert s e i n.
Bildet die Vollziehung der Resorption einen einzigen Akt, wird
sie mit einem Schlage vollständig vollzogen und abgeschlossen, so
daß alles vom Resorptionsobjekt in dem betreffenden Resorptions-
prozeß gesellschaftlich Verwendbare von der Gesellschaft sogleich
gänzlich ausgeschöpft ist, wenn auch die als Träger des Resorp-
tionsobjekts fungierenden Errungenschaftsträger sich noch ändern
können, so fallen beide Stadien für die praktische Betrachtung zu-
sanunen. Theoretisch besteht der Unterschied aber in jedem Falle.
Augenfällig unterscheiden sich die beiden Stadien bei allmäh-
licher Resorption.
Bisher ist der Terminus Resorption unterschiedslos für beide
Stadien gebraucht; es dürfte sich empfehlen, zu distinguieren.
S 6. Zur Abgrenzung von Gegenstand und aktivem
Funktionär der Resorption in den Einzelfällen
Um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Resorption, die Ur-
sache der Resorption oder Nichtresorption im einzelnen Falle zu
erforschen, bedarf es vorerst der genauen Feststellung dessen, was
zu resorbieren ist, und des Exponenten, der bei der Resorption als
Funktionär der Gesellschaft auftritt.
„Das Dampfschiff" ist von Blasko de Garez oder von Papin er-
funden — „das Dampfschiff" wurde in beiden Fällen nicht resor-
biert. Was heißt das? Was war erfunden? Was von der Erfindung
war resorptionsgeeignet? Nicht das Dampfschiff als Ganzes; offen-
bar nur eine noch nicht zur praktischen Verwertung für die Ge-
sellschaft geeignete Errungenschaft technischer oder wissenschaft-
licher Art: die Idee der Kolben dampf maschine. Ist diese zur Re-
sorption geeignete Errimgenschaft resorbiert? Man sagt: Nein!
Denn die Dampfschiffe k la Papin wurden nicht eingeführt. Das
ist aber ein Trugschluß, da es sich eben gar nicht um Dampfschiffe
k la Papui handelte, sondern um eine spezielle Errungenschaft,
die nur beispielsweise auch in gewissen Bestandteilen von Papins
Dampfschiff verkörpert war. Man sagt: NeinI Denn Papins Er-
findung wurde vergessen. Aber gemach: von wem vergessen? Von
der „Öffentlichkeit", „Allgemeinheit"! Ja, kam diese denn nach
10 Liebknecht, Studien 1^5
Beschaffenheit des Objekts für die Resorption in Frage? Oder
nidit viehnehr nor derjenige Teil der Gesdischaft, der die Errungen-
schaft Papins im Sinne der Entwicklung für die Gesellschaft ver-
werten, weiter for&ilden konnte? Die Wissenschaftler, die Tech-
niker, die Staatsbeamten and sonstige Faktor», die auf Fortschritt
von Wissenschaft and Technik Einfluß zu Oben in der Lage waren?
Nur insoweit auch bei diesen die Errungenschaft unbeachtet bleibt,
nur insoweit bei diesen die Resorption nicht erfolgt, und zwar die
Resorption der als Resorptionsobjekt in Frage kommenden Er-
rungenschaft, nur insoweit liegt gesellschaftliche Nichtresorption
vor.
So werden viele Fälle von prima-f acie Nichtresorption sich völlig
auflösen oder unter Präzisierung einschränken.
Daß aber echte Nichtresorption auch dann vorli^, wenn das
Objekt anderen als den jeweils als Exponenten für die Resorption
in Frage kommenden Gesellschaf tsgliedem bekannt wird und nicht
resorbiert wird, ist an anderer Stelle (S 1 1) gezeigt; die Niditresorp-
tion ist dann nur keine gesellschaftsschädliche, sondern eine ge-
sellschaftlich-notwendige, unvermeidliche.
Es handelt sich dann um eine Nichtresorption, die der durch
Nichtgewährung von Gelegenheit zur Resorption veranlaßten Nicht-
resorption eng verwandt ist, ja eine Unterart von ihr bildet, wenn
sie in weiterem Sinn aufgefaßt wird.
S 7. Resorptionsfähigkeit und Resorptions-
unfähig^keit der Gesellschaft
I. Gibt es eine absolute Resorptionsfähigkeit oder -Unfähigkeit?
Eine absolute Resorptionsfähigkeit der Gesellschaft gegenüber
Errungenschaften würde vorli^en, wenn sie auf jeder oder auf
irgendeiner besonderen gegebenen Entwicklungsstufe imstande wäre,
jede für irgendeine Entwicklungsstufe der Gesellschaft geeignete
Errungenschaft zu resorbieren. Das ist nicht der Fall, kann sogar
nach dem Wesen der Entwicklung, das in der Verschiedenheit der
resorbierten Errungenschaften besteht, nicht der Fall sein. Doch
erweitert sich mit der Kulturhöhe die relative Resorptionsfähigkeit
der Gesellschaft.
Absolute Resorptionsunfähigkeit der Gesellschaft würde vor-
liegen, wenn sie auf jeder oder auf einer gegebenen Entwicklungs*
stufe außerstande wäre, irgendeine Errungenschaft zu resorbieren.
Auch das ist nicht der Fall.
Eine Gesellschaft mit absoluter Resorptionsunfähigkeit wäre keine
Gesellschaft, sondern höchstens die Leiche» die Versteinerung einer
einstmals lebenden Gesellschaft. «
Alle Resorptionsfähigkeit und -Unfähigkeit der Gesellschaft ist
relativ; sie besteht oder besteht nicht je nach der Beschaffenheit
des Objekts, je nachdem dieses relativ, d. h. für die gegebene Ent-
wicklungsstufe der Gesellschaft resorptionsgeeignet oder resorp-
tionsungeeignet ist — als Kehrseite der relativen Resorptionseig-
nung oder -uneignung; als anderer Ausdruck der Tatsache, daß
das Verhältnis zwischen Objekt und Gesellschaft ein negatives ist.
Jede Gesellschaft ist jederzeit resorptionsfähig und resorptions-
unfähig, nur in bezug auf verschiedene Objekte.
II. Das Wesen der gesellschaftlichen Resorptionsfähigkeit.
Resorptionsfähigkeit ist nicht rein pragmatisch und fatalistisch
zu verstehen — nicht dahin, daß z. B. allein schon die Tatsache der
Nichtresorption, obgleich keine äußeren Umstände der Resorption
erkennbar im Wege ständen, beweist, daß sie nicht vorhanden ge-
wesen sei. Vielmehr kommt es auf die tieferen, wesentlichen Fähig-
keiten und Interessen der Gesellschaft an; nicht darauf, ob der
Teil der Gesellschaft, der als Funktionär für die Resorption befähigt
wäre, diese Funktion aus entwicklungswidrigen gesellschaftlichen
Gründen nicht ausübt und der Teil der Gesellschaft, der die Re-
sorption will, dazu nicht die Kraft besitzt. Vielfach wird der Fall
der ganz unterbliebenen oder nicht genügenden Gewöhnung oder
Gelegenheit zur Resorption vorliegen (vgl. u. S n)* Vielfach eine
gesellschaftlich nicht notwendige Widerwilligkeit, Einsichtslosig-
keit oder Inaktivität, die nicht fatalistisch in Kauf zu nehmen ist:
= Resorptionsträgheit (vgl. u. $8).
Resorptionsfähig ist die Gesellschaft nur, wenn die Resorption
ihrer Entwicklung nützlich sein v^rde. Das heißt aber nicht, daß
alle Teile der Gesellschaft darum den Willen zur Resorption, die
Einsicht in ihre Nützlichkeit und Möglichkeit und die Fähigkeit zu
ihrer Durchführung haben. Im Gegenteil weichen gerade darin
beim antagonistischen Charakter der Gesellschaftsordnung und der
10* l^^
Dialektik der Entwicklung die verschiedenen Gesellschaftsteile weit
voneinander ab< Vielfach besteht die Einsicht und die materielle
Fähigkeit zur Durchführung gerade dort, wo der Wille und das
Interesse fehlt, ja entgegengesetzt ist und umgekehrt. Alles hangt
davon ab, ob die Errungenschaft in die Disposition eines solchen
Kreises gelangt, der die Resorption will, ihre Möglichkeit begreift,
ihre Durchführung vermag. Sonst ist die Errungenschaft trotz ob-
jektiver Resorptionsfähigkeit der Gesellschaft verloren,, ist nicht
resorbiert infolge von subjektiver Resorptionsunfähigkeit oder
-trägheit. Es heißt auch nicht einmal, daß die Einsicht in die Nütz-
lichkeit imd Möglichkeit der Resorption irgendwo in der Gesell-
schaft sofort bestehen muß. Diese Einsicht kann vielmehr überall
in der Gesellschaft zunächst vollständig fehlen.
III. Es gibt eine objektive und eine subjektive Seite der gesell-
schaftlichen Resorptionsfähigkeit.
I . Objektive Resorptionsfähigkeit, objektive Reife liegt vor, wenn
die zur Resorption erforderlichen äußeren Bedingungen vorhanden
sind: die erforderlichen Sachgüter und Einrichtungen im allge-
meinen und besonders auf dem Gebiet, dem die zu resorbierende
Errungenschaft angehört. Dabei ist nicht gemeint, daß alles zur Re-
sorption voUkonunen und aufs bequemste präpariert sein muß, so
daß sie mühelos durchzuführen ist; vielmehr nur, daß diejenigen
äußeren Bedingungen vorliegen, die unter der Voraussetzung des
jeweils gesellschaftlich möglichen und fortschrittlich, entwicklungs-
mäßig zu postulierenden Höchstmaßes von subjektiver Resorptions-
fähigkeit und Anstrengung die Resorption ermöglichen. Schon die
objektive Resorptionsfähigkeit enthält also ein teleologisches, po-
stulatorisches, „moralisches" Element.
a. Subjektive Resorptionsfähigkeit, subjektive Reife liegt vor,
wenn die inneren Bedingungen, die geistig-psychischen Voraus-
setzungen,^) wenn die erforderliche Stufe der geistig-psychischen
Entwicklung nicht nur im allgemeinen, sondern speziell auf dem
Gebiet, dem die zu resorbierende Errungenschaft angehört, er-
reicht ist — sowohl in bezug auf die reine Ideologie (Wissenschaft,
^) Die physischen Qualitäten treten bei ihrer relativen Eonstanz em-
pirisch weit zurück, von ihnen wird daher abgesehen.
i48
Kunst usw.), wie die angewandte praktische Ideologie (angewandte
Wissenschaft in Technik, Wirtschaft usw.)
Auch hier ist nicht gemeint, daß diese Voraussetzungen der-
maßen bestehen müssen, daß die für die Resorption in Frage kom-
menden Kreise sofort mit beiden Händen zufassen, sondern nur,
daß diejenigen inneren Bedingungen vorliegen, unter denen die
Resorption möglich ist, falls das gesellschaftlich-mögliche und ent-
wicklungsmäßig zu postulierende Höchstmaß von Anstrengung auf-
gewendet wird, Anstrengung zur Überwindung von Mängeln der
Einsicht in Nützlichkeit und Möglichkeit der Resorption, von
Mängeln des Willens und der Aktivität zu ihrer Durchführung.
Auch die subjektive Resorptionsfähigkeit enthält danach ein po-
stulatorisches, „moralisches" Element.
Es fragt sich, ob sich in diesem Element die dem antagonistischen
Charakter der Gesellschaft entfließenden subjektiven Hindernisse
gegen die Resorption auflösen. Sind z. B. die aus den Klassengegen-
sätzen resultierenden Hindernisse der Einsicht und des Willens ab
Umstände zu betrachten, die die subjektive Resorptionsfähigkeit
der Gesellschaft aufheben? Jawohl — aber nur dann, wenn sie
auch durch das gesellschaftlich-mögliche und entwicklungsmäßig
zu postulierende Höchstmaß von Anstrengung nicht überwunden
werden können; andernfalls liegt nur Resorptionsträgheit der Ge-
sellschaft vor.
IV. Objektive und subjektive Resorptionsunfähigkeit der Gesell-
schaft.
Es gibt eine objektive und eine subjektive Seite der Resorptions-
unfähigkeit, d. h. eine Resorptionsunfähigkeit aus objektiven und
subjektiven Ursachen. Objektive Resorptionsunfähigkeit der Ge-
sellschaft besteht, wenn die äußeren Bedingungen für die Resorp-
tion fehlen — auch bei Aufwendung der gesellschaftlich möglichen
und postulierten Anstrengungen, d. h. auch bei Oberwindung der
objektiven Resorptionsträgheit.
Subjektive Resorptionsunfähigkeit dann, wenn die inneren, gei-
stig-psychischen und auch physischen Bedingungen fehlen — auch
bei Oberwindung der subjektiven Resorptionsträgheit, von der die
subjektive Resorptionsunfähigkeit wohl zu scheiden ist.
1^9
$8. Resorptionsträgheit
Resorptionsträgheit liegt vor, wenn die der Resorption entgegen-
stehenden Hindemisse wenigstens insoweit durch Kampf überwun-
den werden können, daß die Resorption stattfinden kann, d. h. wenn
wenigstens insoweit diese Hindernisse nicht gesellschaftlich not-
wendige sind. Sie steht also im Gegensatz zur Resorptionsunfähig-
keit, die dann vorliegt, wenn die Hindemisse gesellschaftlich not-
wendige sind.
Es ist zu scheiden objektive und subjektive Resorptionsträgheit.
Objektive Resorptionsträgheit entsteht, wenn die gesellschaftliche
Entwicklung den widerstrebenden Gesellschaftskreisen eine größere
Kraft des Verstandes, den auf Resorption dringenden Geselkchafts-
teilen eine geringere Kraft des Angriffs gewährt als gesellschaftlich
möglich ist.
Die Möglichkeit der subjektiven Resorptionsträgheit — und zwar
gleichfalls sowohl auf der negativen wie auf der positiven Seite —
ergibt sich aus der Tatsache, daß es in der Gesellschaft Kreise sehr
verschiedener Interessen gegenüber der Entwicklung gibt, solche,
die ihr ablehnend, solche, die ihr passiv oder gleichgültig, und
solche, die ihr bejahend gegenüberstehen; von denen die letzteren
die Träger des Fortschritts sind. Wenn nun ein resorptionsgeeig-
netes Objekt in einer resorptionsfähigen Gesellschaft in die Dis-
position eines Teiles der Gesellschaft gelangt, die in dem fraglichen
Punkt entwicklungsfeindlich oder entwicklungsgleichgültig ist, so
wird es nicht beachtet oder gar nach Kräften dauernd „unschäd-
lich'* gemacht, jedenfalls nicht resorbiert werden.
Die objektive wie subjektive Resorptionsträgheit kann liegen so-
wohl auf der negativen Seite (Widerstands-Faktoren) v^e bei den
auf Resorption drängenden Faktoren auf der positiven Seite, so daß
zu unterscheiden ist: objektive Entwicklungsträgheit und subjek-
tive Entwicklungsträgheit auf der positiven Seite; objektive und
subjektive Entwicklungsträgheit auf der negativen Seite.
Schließlich sind noch die Wirkungen der Resorptionsträgheit
zu untersuchen.
Sie können sein: Nichtresorption; d. h. die Resorptionsträgheit
kann die Resorption ohne gesellschaftliche Notwendigkeit verhln-
i5o
dem; so zwar, daß nur noch infolge etwaiger neuer Impulse nach-
trägliche Resorption möglich ist. Oder: Nichtsofortige, verlang-
samte, verzögerte Resorption, d. h. die Resorptionsträgheit kann
ihre Wirkung auch darauf beschränken, daß sie die Resorption nur
verschleppt und zeitweilig henunt; dann ist sie nicht die Ursache
der Nichtresorption, sondern nur der nichtsofortigen Resorption.
$9. Absolu^te und relative Resorptionseignung des
Objekts
Es gibt eine absolute und eine relative Resorptionsuneignung.
Die absolute Resorptionsuneignung liegt vor, wenn, unabhängig
von der Entwicklungsstufe der Gesellschaft, das Objekt gesellschaft-
lich nicht verwertbar ist; relative Resorptionsuneignung liegt vor,
wenn das Objekt nur eben auf gewissen Entwicklungsstufen der
Gesellschaft gesellschaftlich nicht verwertbar ist, wohl aber auf
anderen, wenn also die Resorptionsuneignung des Objekts nur die
Kehrseite der Resorptionsunfähigkeit der Gesellschaft ist.
Eine — in thesi konstruierbare — absolute Resorptions^gnung,
wonach Errungenschaften, unabhängig von der Entwicklungsstufe
der Gesellschaft, auf jeder überhaupt möglichen Kulturhöhe ge-
sellschaftlich verwertbar sind, gibt es kaum. Nur die allerprimi-
tivsten und allgemeinsten Eigentümlichkeiten des organischen We-
sens könnten dafür in Frage kommen, aber auch sie sind entweder
nicht gesellschaftlichen Giarakters oder setzen doch auch ein ge-
wisses Niveau der Entwicklung voraus. Die Resorptionseignung
dürfte praktisch-empirisch stets nur relativ sein.
Relative Resorptionsuneignung ist stets relativer Resorptionseig-
nung gleich, wobei sich jeweilig die Eignung oder Uneignung nur
auf verschiedene Gesellschaf tszustände bezieht.
Das Verhältnis von Resorptionsuneignung und
Resorptionsunfähigkeit.
Gegenüber der absoluten Resorptionsuneignung kommt keine Re-
sorptionsunfähigkeit in Betracht.
Die relative Resorptionsuneignung dagegen, die zugleich rela-
tive Resorptionseignung ist, ist relativ, ebensofern sie zur Resorp-
tionsfähigkeit oder -Unfähigkeit der Gesellschaft im Verhältnis
i5i
steht. Sie ist die Kehrseite von dieser, ja nur ein anderer Ausdruck
für die Tatsache, daß das Verhältnis zwischen der Resorptionseig-
nung des Objekts und der Resorptionsunfähigkeit der Gesellschaft
ein negatives ist.
S IG. Gesellschaftlich nötige und nichtnötige
Nichtresorption
Das Unterbleiben der Resorption kann gesellschaftlich nötig sein
und gesellschaftlich unnötig. Gesellschaftlich nötig ist es bei ab-
soluter Resorptionsuneignung des Objekts oder bei relativer Re-
sorptionsunfähigkeit der Gesellschaft bzw. als Kehrseite davon: bei
relativer Resorptionsuneignung des Objekts.
Gesellschaftlich unnötig ist es, wenn es durch ganz fehlende oder
ungenügende Gelegenheit zur Resorption veranlaßt ist, oder wenn die
Resorption trotz vorhandener Resorptionseignung des Objekts und
Resorptionsfähigkeit der Gesellschaft unterbleibt infolge objek-
tiver oder subjektiver Resorptionsträgheit (vgl. o. S 8).
Die erste Nichtresorption ist nicht entwicklungsschädlich, wohl
aber die zweite Art.
S II. Die Aussicht für Resorption
Die Aussicht für Resorption und die persönliche Leistung bei
Produktion einer Errungenschaft stehen in einem wesentlichen
Punkte im umgekehrten Verhältnis. Die Aussicht für Resorption
einer Errungenschaft ist um so größer, je weniger sie vom Zustande
der Gesellschaft abweicht, je weniger sie sich über deren bisheriges
Niveau erhebt, je mehr sie Anknüpfung im bisherigen Zustande
findet, je mehr die Zeit reif ist, je mehr der Produzent nur das
schafft, was viele fühlten, je mehr er nur einem verbreiteten Ge-
fühl, Gedanken, Wunsch oder Bedürfnis entsprechenden Ausdruck
verleiht, je mehr seine Leistung nur der Punkt über ein bereits
vorgeschriebenes I ist.
Die historische „Größe" der erfolgreichen Helden besteht ^u
einem großen Teil gerade darin, daß sie eine mäßige, temperierte
Größe ist, in einer verständigen Proportion zur Aufnahmefähigkeit
steht. Setzt man sie in den Kreis ihrer Zeitgenossen, so ergibt sich
leicht die Geringfügigkeit ihrer Leistung. Natürlich kann ihre
i5a
Leistung trotz leichter Resorptionseignung bedeutend sein; durch
die Energie» mit der sie auftritt« die Menschen ergreift, durch die
Yollkommenheit, mit der sie dem Zeitgeiste Ausdruck verleiht; und
sie kann außer den zeitgemäßen Qualitäten auch allgemein mensch-
liche und Zukunftsgualitäten besitzen, die sie erheben. Das zeigt
sich dann an der Dauer ihrer Wirkung (Nachwirkung, posthumen
Resorption), ihrer Erhaltung als Bestandteils der Kultur, an der
Dauer ihrer Resorption, des Zustandes der Resorbiertheit.
Posthume Resorption ist die schönste Sühne, die die Geschichte
begehen kann: vgl. Beethoven, Bach usw. — Doch ist es zu dieser
Sühne meist zu spät — völlige Vergessenheit macht sie un-
möglich.
Aber die persönliche Leistung desjenigen, dessen Leistung im
übrigen dieselben Qualitäten aufweist, aber nicht resorbiert wird,
weil sie der Zeit vorausgeeilt ist, ist weit größer; ihre persönliche
Dberlegenheit zeigt sich historisch gerade darin, daß sie nicht re-
sorbiert wird, daß ihr Produzent in seiner Zeit nicht erfolgreich
war, keine historische „Größe" wurde.
Das „Wer den Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für
alle Zeiten" hat sich zwar gegen den Vorwurf der Philisterverherr-
lichung durch die Berufung auf die „Besten seiner Zeit" gedeckt,
bietet aber dennoch nur eben einen wohltemperierten Maßstab. Die
wahrhaft tragischen Helden der Geschichte sind die Unbekannten
oder Unbeachteten, die nur darum unbekannt und unbeachtet
blieben, weil die Zeit nicht reif war, sie zu verstehen oder zu wür-
digen.
Man nehme die Leistung eines Luther: warum fand sie Anklang?
Weil sie nichts Neues enthielt I Weil sie zahllose viel größere Vor-
gänger und Zeitgenossen hatte I Weil sie dem Verständnis und dem
Interesse weiter Volksmassen entgegenkam und von mächtigen In-
teressenten gefördert wurde. Man vergleiche damit die Arnold von
Brescia, Petrus Waldus, Franz von Assisi; die Wicliffe und Hus,
den kleinsten jener Katharer, Albigenser usw. Auch noch die Sa-
vonarolal Wie viel höher steht die persönliche Leistung!
Aber der historische Maßstab kann das nicht sein; muß vielmehr
sein der Grad der Wirksamkeit auf die Gesellschaft.
i53
II. Unterabschnitt: Rezeption
S 12. Soziale Rezeption im allgemeinen
Im Verlauf der Kulturentwicklung entstehen zu ganz verschiede-
nen Zeiten unter ähnlichen (oder selbst sehr verschiedenartigen)
Einzelbedingungen — für ganze Völker kaum, aber für einzelne
Teile davon — im ganzen oder in einzelnen Zügen ähnliche Erschei-
jQungen, bzw. Erscheinungen, die auch einem unter anderen Be-
dingungen erwachsenen gleichzeitigen oder späteren Bedürfnis ganz
oder teilweise Befriedigung zu geben vermögen.
Wenn sie dann bekannt, werden sie übernommen — rezipiert — ,
statt nochmals geschaffen zu werden. Natürlich findet die Über-
nahme statt nach subjektiver Auffassung, die durch ihre Zeit,
ihre Kultur bestinunt ist und bei der Übernahme das zu Rezipie-
rende nach ihrem Bedürfnis spezifiziert und umgestaltet.
Das Übernommene ist also stets etwas — freilich in wechselndem
Maße — anderes bei dem Rezipienten (Übemehmer) als bei dem
Übertrager (Translator).
So ist die Rezeption eine Vereinfachung, Verbequemlichung, Er-
leichterung der Kulturarbeit, eine Art generationsmäßiger, inter-
kultureller, frühester und allgemeinster, umfassendster Kultur-
arbeitsteilung. Rezeption heißt insoweit auch: unselbständige
Entwicklung, Entwicklung auf fremden Krücken, da Über-
nahme (cum grano salis) bequemer erscheint und daher an Stelle
neuer Eigenproduktion tritt. Sie heißt auch: Ökonomie, Kräfte-
ersparnis.
Das Rezipierte geht ins Feudum ein (vgl. überhaupt I. Abschnitt,
Kap. III).
Die objektive Bedeutung der Rezeption und damit die objektive
Bedeutung der Rolle des Übertragers ist eine ganz andere, als vne der
letztere zumeist vermeint. Das wird deutlich an einigen Beispielen.
Die Übertragerrolle der Kirche und Klöster im Mittelalter als
Sammler, Aufstapler, Erhalter, Schützer, Pfleger, Mehrer; als
Wiederausstreuer und Interpreten für neue Zeiten und Geschlechter.
Wie vieles ist durch sie über Perioden des Verfalls und der Rd>ar-
barisierung hinübergerettet worden. Ohne sie wären die Rezeptionen
des Mittelalters: griechisch-römischer Kulturkreis, Renaissance, Hu-
i54
manismus» vor allem in bezug auf Wissenschaft und Kunst, nicht
gewesen; ohne sie nicht einmal Minnesang, höfische Kunst, Meister-
gesang; ohne sie hätte die ganze Ideologie des Mittelalters ein an-
deres Gesicht gehabt. — Es ist aber zu beachten, daß die Ober-
trager nicht aktivierende, vorantreibende Kräfte, sondern nur Mög-
lichkeit-bereitend, Gelegenheit-machend sind. Als die eigentlichen
historischen Antriebe für die Rezeption (also auch für die hier als
Beispiel gewählte Renaissance) kommen andere Faktoren in Betracht
(vgl. Kap. III, VI, VIII).
S i3. Einteilungen
Wir unterscheiden folgende Arten der Rezeption:
I. Nach dem rezipierten Gegenstand (Objekt der Rezeption):
1. a) materielle (stoffliche),
b), psychisch-geistige,
je nachdem der Gegenstand ein körperlicher oder ein Wissen, Kön-
nen, Fühlen, Vorstellen usw., also ideologisch ist.
Unterarten: Arbeits- (Werk-) und Genußrezeption.
Die letztere spielt die Hauptrolle.
2. Nach der Zugehörigkeit des rezipierten Gegenstands zu den
verschiedenen Sphären.
II. Nach dem „örtlich'' gesellschaftlichen Verhältnis zwischen
dem rezipierenden und dem abgä)enden, dem Quellkreise:
1. außergesellschaftliche Rezeption,
2. innergesellschaftliche Rezeption,
je nachdem Quell und Rezipient derselben Gesellschaft angehören.
Dabei ist das „innerhalb einer gegebenen Gesellschaft" stets re-
lativ zu nehmen, da absolut geschlossene Kulturkreise kaum je vor-
handen waren, sind oder sein werden. (Hierbei ist genau zu defi-
nieren, was „Gesellschaft**, „Kulturkreis" usw. hier bedeutet. Nicht=
,, Gesellschaf tsor dnung', nicht =i Formprinzip, sondern realisiert,
konkret, also eine nach einer gewissen Ordnung gestaltete reale
Gesellschaft in dem Umfange, wie sie für sich als Repräsentantin
der Gesellschaftsordnung, der Kulturstufe gelten kann.)
Zur innergesellschaftlichen gehört u. a. die Rezeption einer
Schicht von der anderen derselben Gesellschaft. Sie ist ein so-
zialer Prozeß im eigentlichen Sinn.
i55
III. I.' Je nachdem, ob die Rezeption durch die ganze Gesell-
schaft oder nur durch einen Teil erfolgt. Letztere ist die Regd;
eine solche Rezeption sei klassenmäßige Rezeption ge-
nannt.
a. Jegliche Rezeption vollzieht sich, auch wenn sie durch die
ganze Gesellschaft erfolgt, in den einzelnen Klassen verschieden.
So ist stets zu prüfen, zu distinguierenl
Vgl. z. B. die Wirkung der französischen Revolution auf gewisse
Schichten im sonst weit zurückgebliebenen und jeder Rezeption noch
unzugänglichen Rußland (Dekabristen usw.). Die verschiedenen
Klassen entwickeln sich eben verschieden, wirtschaftlich, geistig
usw. in wohl meist allen Sphären; und wenn sie auch miteinander
in Zusammenhang, und zwar in sozial-organischem Zusanmienhang
stehen, so findet doch jede iüasse oft mehr oder weniger Anklänge
in dieser oder jener anderen, gleichzeitigen oder früheren Kultur.
Auch wenn die Gesamtheit aller Klassen ein sozialorganisches Gan-
zes, eine sozial organische Einheit bildet, sich ztun Einheitlichen
ergänzt und so zusammengehört, repräsentieren in jenem Sinne die
verschiedenen Klassen verschiedene Kulturstufen und rezipieren
daher verschieden.
IV. Je nach dem sozialen Charakter des Rezeptionsvorganges
und seiner sozialen Wirkung, seines sozialen Sinnes ist an Mög-
lichkeiten zu scheiden, und zwar sowohl für die außergesellschaft-
Uche wie für die innergesellschaftliche, d. h. für jede von diesen
Kategorien:
1. freiwillige Rezeption; instinktiv-natürlich, eventuell auch plan-
mäßig bewußt. Entweder nur
a) freiwillig von dem Rezipienten, oder
b) nur freiwillig von dem Rezeptionsgeber, oder
c) freiwillig von beiden vollzogen.
Sie kann schädlich und nützlich sein (vgl. V.).
2. Unfreiwillige Rezeption; entweder
a) aufgedrängte Rezeption — vom Rezeptionsgeber dem Rezi-
pienten aktiv-„egoistisch" oktroyiert — zu Unterdrückungs- und
Ausbeutungszwecken (aktive Schmarotzerrezeption), oder
b) aufgedrängte Rezeption zum Nutzen des Rezipienten, vom
Quellkreis dem widerstrebenden Rezipienten oktroyiert: Aspiration
i56
des ,,aufgeklärtenDespotismus"; Zwangskiiltivierung: ..altruistisch''
— aber doch nicht als reiner Fall sozial denkbar (höchstens indivi-
duell);
c) aufgedrängte Rezeption — zu beiderseitigem Nutzen. Neu-
trale, z. B. arbeitsteilende Rezeption (vgl. zu b).
d) Gegenstück zu a: Vom Rezipienten passiv-,,egoistisch'V ge-
wollt; planmäßig, ev. auch instinktiv für sich, zu seinem, des Re-
zipienten, Vorteil erzwungene Rezeption: ausbeuterische Schma-
rotzerrezeption, passive Schmarotzerrezeption; dem Quell gleich-
zeitig entzogen oder verschränkt — z. B. bei Technik, Handel,
Verkehrswegen; z. B. Peru, Mexiko. Kampf um Kolonien usw.
V. Je nach der Wirkung auf die Kulturentwicklung und Existenz
des Rezipienten und nach der Modalität ihres Objekts:
a) symbiotische (kulturförderliche, -nützliche) Rezeption;
b) dysbiotische (kultur- und kraftschädigende) Rezeption (z. B.
Narkotika, Alkohol, Tabak).
Sie kann freiwillig oder unfreiwillig sein (vgl. IV).
VI. Je nach der Opportunität der Rezeption für das Entwick-
lungsstadium, in dem sie sich vollzieht:
a) Rezeption inopportuner, disharmonischer, disproportionaler,
inadäquater, fremdartiger, für die Entwicklung des Rezipienten
nicht verwertbarer Elemente: unzeitgemäße Rezeption.
Diese Inopportunität für die organische Kulturentwicklung kann
sein
1. Verfrühung,
2. Verspätung.
Beide Fälle treten verbunden auf z. B. bei der modernen Kolo-
nialpolitik — der zweite (viel unwichtigere) für die „Kolonisa-
toren", der erste für die Objekte der Kolonialpolitik.
b) Rezeption opportuner, harmonischer^ proportionaler, adä-
quater, für die organische Fortentwicklung der gegebenen Kultur
des Rezipienten verwertbarer Elemente: zeitgemäße Rezeption.
Der Fall zu a) ist keineswegs notwendig erzwungene Rezeption.
Sie kann im Gegenteil instinktiv und sehr freiwillig erfolgen: ge-
blendet, verführt, getäuscht I vgl. z. B. Schnaps! Kleidung und son-
stige wirkliche Kulturerrungenschaften, die die „Wilden" ihren
Lebensverhältnissen gegenüber minder widerstandsfähig machen
167
usw.; degenerative Wirkung statt regenerativer! Die ,|FreiwiUig-
keit" spielt eine sogar wohl weit überwiegende Rolle. Die Motte
flattert freiwillig in die tödliche Flamme.
VII. Je nach dem Verhältnis des Quellkreises zu dem Objekt der
Rezeption:
a) Übertragung resp. Übernahme eines kulturellen Produkts, das
auch der Übertrager, der Verleiher, Abgeber, von dem rezipiert
wird, für sich selbst benutzt oder benützt hat (z. B. eine Ideologie,
eine zerrüttende Gewohnheit: Opiumrauchen, Alkohol usw.): dies
ist Rezeption im eigentlichen engeren Sinne.
b) Übertragung eines kulturellen Produktes, das der Übertrager
nicht auch für sich verwendet, sondern speziell nur für den Über-
nehmer — „ad usum Delphini", „fürs Volk" — zurechtgeformt
und bestimmt hat, um es ihm aufzudrängen oder einzuflößen, auf-
zulisten, zu suggerieren zu seinem, des Übertragers, Vorteil — z. B.
eine besondere Ideologie für die Unterdrückten (Klassen, Völker);
z. B. Sklavenmoral, Religion, „dem Volke soll die Religion erhalten
bleiben", zwei Arten Christentum. Dies ist Rezeption im uneigent-
lichen, nur im weiteren Sinne.
c) Fall der Benutzung auch durch Überträger, aber der anders-
artigen Benutzung (vgl. Römisches Recht usw.).
VIII. Je nach dem inneren Intensitätsgrad und dem äußeren
Umfang der Rezeption:
a) vollkommene (vollständige) Rezeption,
b) unvollkommene (unvollständige) Rezeption.
Die erstere kann es — selbst bei Parallelrezeption — nur sehr vor-
behaltlich und im eigentlichen Sinne nie gd3en.
In der Tat handelt es sich nur um ein höheres oder geringeres
Maß von Vollkommenheit, wobei alle Übergänge vorkomtmen.^)
Der Grenzfall nach unten ist: Rezeption einzelner geringer, ganz
aus dem Zusammenhang gerissener Stücke, Splitter, Fetzen aus an-
deren (niederen oder höheren), im übrigen völlig fremd gearteten
^) Alle Rezeption ist nur relativ; besonders die nachtr^liche und
wiederaaflebende oder gar die aus anderen — früheren oder sonst
fremdartigen oder gleichzeitigen — Kulturen. Schon als Teilrezeption
ist sie mehr formal äußerlich. Mit der Dauerrezeption ist auch ein
dauernd inhaltlicher Wandel des Rezipierten verbunden.
i58
und fremd bleibenden Kulturen (nicht-homogene, ..zufällige", , .un-
organische" Rezeption). — Eine Rezeption ganz äußerlicher Art,
ohne Notwendigkeit und ernsteren Einfluß — höchstens „dekora-
tiv": Tänze. Kakewalk — von Wilden her übernommen; der ..iso-
lierte" Zylinder des nackten Negers usw.
Diese Splitterrezeption bleibt aber doch symptomatisch, kultur-
psychologisch interessant.
IX. Je nach dem Verhältnis zwischen den aufeinanderwirkenden
Teilen:
a) einseitige Rezeption.
b) wechselseitige Rezeption.
Die letztere ist bei gleichzeitigem Bestehen beider Teile die Regel.
Doch ist die Starke des Einflusses bei den verschiedenen Teilen
«oft so ungeheuer verschieden, daß der eine weit überwiegend als
Übertrager, der andere fast ausschließlich als Übernehmer in Be-
tracht kommt. Bei Rezeption aus vergangener Kultur liegt natürlich
der Fall a vor.
X. Je nach dem Mechanismus der Rezeption und ihrem Wege —
nach der Form ihrer Vollziehung — :
a) mittelbare Massenrezeption;
d. h. Rezeption durch das Mediiun des Individuums; sozial bedeut-
sam, sofern das Individuum der Durchgangspunkt für die Soziali-
sierung des vom Individuum Rezipierten ist; z. B. der Reisende —
Kolumbus. Marco Polo usw. — . der die Kunde erfährt und bringt;
der Altertumsforscher: Winckelmann usw.
Dies ist der normale, jedenfalls häufigste Weg.
b) Unmittelbare (direkte) Massenrezeption.
Freilich kann die Übernahme auch von einer ganzen Menge an-
nähernd so gut wie gleichzeitig erfolgen. — Vgl. den Fall der großen
Massenwanderungen im ..Frieden" und Krieg — von den ältesten
Zeiten bis zum modernen Verkehrswesen.
XL Je nach dem koltoreUen VerhäÜnis zwischen Übemehmer- und
^ertrager-Kreis :
1. Rezeption
a) von niederer zu höherer
b) von höherer vol niederer Kultur.
c) wechselweise von höherer und niederer Kultur,
d) zum Teil höhere und niedere auf beiden Seiten.
169
2. Rezeption
a) gleichartiger oder auch verwandter (nahestehender)
b) ungleichartiger, einander im Habitus fremdartiger Kulturen
einseitig oder wechselweise.
c) zum Teil gleich-, zum Teil fremdartiger.
Dies der BegelfalL
XII. Je nach dem organischen Verhältnis des rezipierten Objekts
zum Verlauf des Entwicklungsprozesses im übernehmenden Kreise:
1. Rezeption aus eigener (oder fremder) Vergangenheit nach
einer Periode des Verfalls, bei Wiederauf sti^ wieder anknüpfend an
die Vergangenheit, die Fäden wieder aufnehmend und fortsetzend:
Fortsetzende, wieder anknüpfende Rezeption.
2. Rezeption aus eigener (oder fremder) Vergangenheit oder
fremder Gegenwart mit Rücksicht auf dort hervortretende Anklänge
und verwertbare Leistungen der Vergangenheit, die für die gegen-
wärtige Kulturentwicklung des Rezipienten nutzbringend und be-
quem zu verwerten sind:
Hinzufügende, vermehrende Rezeption.
XIII. Je nach der Zeitfolge:
a) gleichzeitige Rezeption (dies cum grano salis zu verstehen),
Parallelrezeption. Diese liegt vor bei annähernder allge-
meiner oder teilweiser Parallelentwicklung ganzer Gesellschaften
oder einzelner Teile eines Volkes mit einem anderen Volke oder
einzelner Klassen verschiedener Völker miteinander oder gar nur
einzelner Personen, die ev. sozial wichtig, falls die soziale Kau-
salitätsreihe vorübergehend durch sie in ihrer Isoliertheit läuft. Vgl.
Rousseau, Diderot, Voltaire, englische Literatur (Young usw.), zu
Goethes Jugendzeit usw.
b) Nachträgliche, zeitlich verschobene, Nachrezeption. — Infolge
eines neuen Anstoßes und entsprechender Bedürfnisse wird auf
frühere Perioden zurückgegriffen — vgl. Römisches Recht; Re-
naissance, Humanismus; i8. Jahrhundert (Winckelmann) — auch
Shakespeare im i8. Jahrhundert, Tasso, Cervantes usw.^ — heute
in Masse.^)
Falls das , versteinerte" Produkt der Vergangenheit nicht sozial
resorbiert worden, sondern individuell geblieben war, so liegt, falls
nachträglich (posthum) sozial resorbiert, kein Orenzfall zur Rezeption
vor, sondern reine echte Resorption.
i6o
c) Rezeption aus eigener Vergangenheit (Wiederaufnahme äl-
terer Kulturfäden aus demselben Volke) — vgl. zu XII.
d) Besonders bedeutsam — in gewissem Sinne aber meist mit a)
und b) und c) verbunden: Dauerrezeption — vgl. Antike,
Dante, Shakespeare — und aller dauernde Kulturbesitz, der nicht
bei der laufenden Verarbeitung von der Entwicklung völlig auf-
gezehrt wird, sondern für sich noch selbständig bestehen bleibt —
fähig und wirksam zu dauernder Anregung und Befruchtung,
dauernder Quell; sie ist mit dauerndem selbständigem Wachstum,
dauerndem Wandel des Inhalts und der Auffassung verbunden.
XIV. Je nach dem Lebenszustand der Obertragergesellschaft und
der dadurch hervorgerufenen Verschiedenartigkeit der Wirkung der
Rezeption:
a) entweder Übernahme aus einer noch vorhandenen lebendigen
— wenn auch zurückgebliebenen, langsam fortgeschrittenen oder
zurückgegangenen Kultur,
b) oder Übernahme aus einer bereits vergangenen, abgestorbenen,
nur in gewissen Produktionen mumifizierten Kultur.
Beispiele zu a):
I. Übernahme der chinesischen, peruanischen Kultur zur Zeit
Pizarros. Mexiko zur Zeit Cortez'. Russische, persische, türkische
usw. Kultur und selbst die der Wilden.
a. Erst zeitgenössische^) französische, dann besonders zeitgenös-
sische englische Literatur (Philosophie usw. und besonders Kunst,
Poesie) im i8. Jahrhundert in Deutschland;
zu b) stellt die Übernahme dar z. B. aus altgriechischer, alt-
römischer, altgermanischer, schließlich aller geschichtlichen Ver-
gangenheit.
Es ist dies die wiederauferweckende, wiedererneuernde, wieder-
belebende Rezeption; deren Wirkung ist die Reaktivierung früher
„sozial" gewesener, jetzt aber für den lebendigen sozialen Prozeß
der Kulturentwicklung wieder abgestorbener Kulturproduktionen,
die nur in versteinertem Zustande, nur formal (in der äußeren
^) Zeitgenössisch a) zum guten Teil der Produktion nacb; b) zum
Teil zwar die rezipierten Produkte älteren Ursprungs, aber zeitgenössisch
in bezug auf ihr gegenwärtiges Fortleben in Tradition, Reproduktion,
laufender Aufnahme (Lesen) und Verarbeitung.
11 Liebknecht, Stndien l6l
Hülle) ohne lebendiges soziales Leben der späteren rezipierenden
Nachwelt überkommen sind.
Beispiele solcher wiederbelebenden Rezeption: vgl. Goethe:
Dichtung und Wahrheit, 17.: ,,zü dieser Zeit (um 1770) war denn
überhaupt die Richtung nach der Epoche zwischen dem i5. und
16. Jahrhundert eröffnet und lebendig" (Huttens Werke, Götz usw.).
»»Ähnliche Vorgänge wiederholten sich" (wie zu Huttens Zeiten)
— das „Bestreben, sich selbst einen persönlichen Adel zu verdie-
nen"; Geringschätzung der Standesvorzüge; Hochschätzung der
persönlichen Tüchtigkeit, gleichviel welches Standes usw. Kurz:
Verwandtschaft, wie mit klassischer Antike, so mit Renaissance und
Humanismus und der Periode der Reformation, Städterevolution
usw. — als der Ideologie einer gleichfalls wirtschaftlich, politisch,
religiös, ethisch, künstlerisch-revolutionären Epoche.^)
Vgl. ferner Dichtung und Wahrheit 18. Buch: Von Hans Sachs, dem
9 wirklich meisterlichen Dichter* — .ein schlichter Bürger, wie wir
uns auch za sein rühmten*' — von ihm der Knittelvers und viele An-
regung aufgenommen.
Vgl. Shakespeare ; auch das elisabethische Zeitalter war revolutionär ;
besonders interessant; die damalige ungeheure Wirkung des fast 200 Jahre
alten Hamlet (zeitlich verschobene nachträgliche Rezeption).
Vgl. weiter: die Wiederbelebung auch der altgermanischen Mythologie
und Kultur neben der griechischen und römischen Antike durch Klopstock,
Hainbund, Romantik (Tieck usw.).
Auch eine Art Renaissance des Christentums, besonders in der Ro-
mantik usw.
Ferner Spinoza, Tasso usw.
Femer — gleichzeitig fast — um 1800: die Renaissance der persisch-
indisch-türkischen Kultur (aber auch Aufnahme der lebenden orienta-
lischen Kultur) — westöstlicher Divan usw.
Buddhismus und Neuplatonismus — auch in Schopenhauer — (erste
Hälfte Anfang des 19. Jahrhunderts).
S i/i. Umfang der kulturellen Rezeptibilität
Es soll dies an einem Beispiel erläutert werden: Der Handel kann
durch Anregung auch neue Bedürfnisse erwecken, nicht bloß be-
reits vorhandene befriedigen. Die Frage ist: unter welchen Vor-
aussetzungen vermag er dies? In welchem Verhältnis muß ein Be-
^) Vor diesem Satz ist im Ms. beigefügt: ego! So erschien Liebknecht
selbst sich charakterisiert. [Anm. d. Hrsg.]
163
dürfnis zu der bisherigen inneren und äußeren Lage einer Gesell-
schaft stehen, um in dieser Gesellschaft durch Anregung von außen
erzeugt und erweckt werden zu können? Die Gesellschaft muß
,,reif*' dafür sein, so lautet im allgemeinen die Antwort. Das ist
aber niir eine bildliche Umschreibung der Frage, keine wirkliche
Antwort. Worin besteht die „Reife", die nichts anderes als die
zu ergründende Rezeptibilität, nicht aber ihre Ursache ist? Der
bisherige äußere und innere Zustand (die natürlichen und sozialen
Lebensbedingungen) muß so beschaffen sein, daß durch die Auf-
nahme des neuen Bedürfnisses nach der Empfindung bzw. der Mei-
nung der für die Aufnahme in Betracht kommenden Gesellschafts-
teile die Lage dieser Gesellschaftsteile verbessert wird.
Voraussetzung ist also
1. ein objektives Moment: ein bestimmtes Verhältnis zwischen
den bisherigen äußeren und inneren Lebensbedingungen der Ge-
sellschaft oder eines Teiles von ihr und dem neuen Bedürfnis;
2. ein subjektives Moment: eine der äußeren Anregung ent-
sprechende Reaktionsfähigkeit der betreffenden Gesellschaft oder
ihres Teiles; ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Reizbarkeit
auf der einen Seite und der Reizungskraft auf der anderen Seite;
die letztere muß genügen, um die Reizschwelle zu überwinden.
Es lassen sich auch laufend probeweise Rezeptionen zur laufen-
den Prüfung der Rezeptibilität feststellen. —
Im vorstehenden ist nicht die Rede von bloß vorübergehenden,
für die soziale Entwicklung und überhaupt sozial unerheblichen
Aufnahmen, die infolge falscher Empfindung oder Meinung der
Aufnehmenden, infolge Instinktverirrung, Täuschung usw. ein-
treten können.
S i5. Rückrezeption ins Ursprungsland
In der Kulturentwicklung sind die Fälle, in denen die rezipierte
Errungenschaft — nach Wandlung und Fortbildung versteht sich
zumeist — ins Ursprungsland zurückrezipierend wirkt, nicht selten.
Allerdings ist dabei das Rückrezipierte oft nur scheinbar das Re-
zipierte — nämlich dann, wenn das Rezipierte im Ursprungsland
zur Zeit der Rückrezeption noch lebt — , in Wirklichkeit aber das,
!!• i63
worin das Rezipierte im Aufnahmeland verändert, fortgebildet bt:
das Neue also, d. h. gerade das Nichtrezipierte. Das ist der Fall der
uneigentlichen Rückrezeption. Vgl. z. B. die Rückrezeption des
in den gotischen verwandelten romanischen Baustils vom Norden
nach Italien; desgleichen der niederländisch-umgestalteten mittel-
alterlich-italienischen Musik nach Italien.^)
Voraussetzung der eigentlichen, echten Rückrezeption ist, daß
das Rezipierte im Ursprungsland zwischen Rezeption und Rück-
rezeption obsolet geworden, abgestorben, untergegangen ist, so daß
es neu geschaffen werden muß.
III. Unterabschnitt: Verhältnis von Resorption und Rezeption
zueinander
S i6. Die Abgrenzung des einzelnen Resorptions-
und Rezeptionsprozesses
Mehrere aufeinanderfolgende, selbständige, in sich abgeschlossene
Resorptions- oder Rezeptionsprozesse können eine und dieselbe Er-
rungenschaft betreffen, von der in jedem dieser mehreren selb-
ständigen Prozesse je ein Stück erfaßt und resorbiert oder rezipiert
wird: stückweise nacheinanderf olgende Rezeption oder Resorption.
Ebenso kann dieselbe Errungenschaft oder derselbe Teil von ihr
von derselben Gesellschaft wiederholt resorbiert oder rezipiert wer-
den — nur jeweilig in verschiedenen Entwicklungszuständen der
Gesellschaft und also unter verschiedener Resorptions- und Rezep-
tionswandlung. Die Errungenschaft wird in diesen mehreren Fällen
infolge des verschiedenen Gesellschaftszustandes verschieden „auf-
gefaßt" im eigentlichen und im übertragenen Sinne: wiederholte
Resorption und Rezeption.
Hierbei handelt es sich nicht um ein und dieselbe in mehreren
Teilakten vollführte Resorption oder Rezeption, sondern um meh-
rere selbständige Resorptions- und Rezeptionsprozesse; der Unter-
schied von einer sich in mehreren Abschnitten abspielenden Re-
sorption oder Rezeption besteht darin, daß in letzterem Fall die
mehreren Teilakte aufeinander- und auseinanderfolgen, in ersterem
') Vgl. Merian, Geschichte der Musik S. 184.
i64
Falle die einzelnen Prozesse in sich völlig abgeschlossen und in
ihrem Beginn von besonderer Ursache hervorgerufen, in ihrem Ver-
lauf und Ende von besonderen Umstanden bestimmt sind.
Si7. Verhältnis von Resorption und Rezeption
Jede Rezeption ist zugleich Resorption. Nur soweit sie bloß Über-
nahme einer bereits früher in einem Kulturkreis oder relativ gleich-
zeitig in einer anderen Gesellschaft resorbiert gewesenen oder noch
resorbierten Errungenschaft ist, ist sie reine Rezeption. Soweit
aber — und das ist stets in größerem oder geringerem Maße der
Fall — die Errungenschaft bei der Übernahme stärker und anders-
artig wirkt als zur früheren Zeit und am anderen Orte, aus denen
sie rezipiert ward, liegt außerdem eine neue Resorption vor: vgl.
die Renaissance: Rezeption und doch zugleich gewaltige Umschmel-
zung; Bachs Wiederausgrabung durch Mendelssohn 182 g (Mat-
thäuspassion) wirkt natürlich ganz anders (vgl. Merian a. a. 0.
S. 460) als zu Bachs Zeiten selbst auf produktive Künstler, auf
reproduktive und auf die Kunstempfänger.
Es gibt also wohl Resorption — auch posthume, falls früher
nicht resorbiert — ohne Rezeption; aber keine Rezeption ohne
Resorption.
S 18. Die Bedeutung der Erfahrung als Resorp-
tions- und Rezeptionsanregung
Wie überhaupt kulturelle (geistig-psychische) Befruchtung, so
wird im besonderen die Resorptions- sowie Rezeptionsanregung ge-
fördert durch Extensierung und Intensierung der gesellschaft-
lichen Erfahrung — mag diese nun zunächst individuell oder un-
mittelbar durch die Massen oder sonst durch ganze Gesellschafts-
teile gemacht sein. Diese Förderung ist um so ausgeprägter, jei
größer und je plötzlicher, katastrophaler die Ex- und Intensierung
erfolgt.
Es ist gleichgültig, ob es sich handelt um die Erfahrung ganzer
Völker bzw. der ganzen „Gesellschaft" oder einzelner wesentlicher
Schichten der Gesellschaft oder einzelner Individuen, die ihre in-
dividuelle Erfahrung zur gesellschaftlichen verbreitern. Wesen t-
i65
lieh Ist nur, daß schließlich die Erfahrung sozialen Charakter
erwirbt, zur gesellschaftlichen Erfahrung wird.
Dabei Ist die ,,Erfahrung" regelmäßig sozial differenziert, da die
verschiedenen Schichten trotz Identität des Erfahrungsobjekts im
ganzen Verschiedenes davon unter verschiedenem Aspekt „erfah-
ren" und auch Infolge Ihrer eigenen psychisch-kulturellen Ver-
schiedenheit In verschiedener Art wahrnehmen und verwenden.
Am mächtigsten erfahrungsfördernd wirken große Kriegszüge
und Wanderungen, Entdeckungen usw.
Welche Wirkung wird In dieser Hinsicht der jetzige Krieg üben?
Eine viel unbedeutendere, nichtigere als In früheren Zelten (Völker-
wanderung, Araber, Normannen, WIckInger, Kreuzzüge). Das in
seinem Verlauf Neuerfahrene ist nicht entfernt so neu und so be-
fruchtend wie das In jenen anderen Völkerbewegungen Erfahrene.
Und bei weitem nicht so umfangreich und mannigfach. Viel mehr
mechanische Blutarbeit und atavistische „Erfahrungen" als je.
Fremde Kultur kaum irgendwo gesehen; meist nur TnUnmer und
Verwüstung und Verzweiflung. Jedenfalls^ wo Berührung mit
fremder Kultur, ihr nicht näher getreten. Im Gegenteil I Fast nur
das Abstoßende, die Unkultur, die Nachtseiten, das elendest-, er-
bärmlichst-. Allgemein- und Primitiv-Menschliche „erfahren"!
S 19. Völlig*e oder teilweise Wiederausscheidung
von Errungenschaften als Gegenstück der Resorp-
tion und Rezeption
Eine Errungenschaft kann wie resorbiert, so nach Resorption
wieder ganz oder teilweise ausgeschieden werden. Wie die Re-
sorption sich steigern kann, so kann sie sich mindern. Eine Er-
rungenschaft wird obsolet. Der Regel nach ist das — bei norma-
lem Verlauf der Kulturentwicklung — nur scheinbar, äußerlich.
Die Errungenschaft ist obsolet und stirbt ab, weil sie in andere Er-
rungenschaften aufgenommen und in der gesamten Kulturentwick-
lung fortgebildet Ist — im Stoffwechsel des gesellschaftlichen Fort-
schritts. Indessen kommen auch andere Fälle vor: wo Errungen-
schaften nur Hilfsfunktion übten und wirklich überflüssig wurden;
wo sie nicht der Entwicklung dienten, sondern abseits von ihr stan-
den, ja ihr entgegenwirkten und ihre Abstreifung die Entwicklung
166
förderte; solche Errungenschaften sind freilich nicht Errungen-
schaften im gesellschaftlichen Entwicklungssinne. Vor allem: bei
Rückgang der Kultur, bei Dekulturation, Rebarbarisierung.
IV. Unterdbsehnitt :
S ao. Die Totalresorption und die Generalrezep-
tion der heutigen Zeit und ihre Bestimmungsgründe
In der heutigen Kultur verbindet und häuft sich Resorption und
Rezeption, eine Gesamtaufsaugung aller bisherigen, sozial gewor-
denen oder individuell gebliebenen und, soweit erhalten, der For-
schung zugänglichen menschlichen Kulturleistungen — der sozial
resorbiert gewesenen (Rezeption) und der noch nicht resorbiert ge-
wesenen (Resorption).
Jedenfalls finden wir: alle Arten und Kategorien von Rezeption
und Resorption gleichzeitig intensivst betätigt, selbst die paläonto-
logische, prähistorische, ferner: geographische, geologische, me-
teorologische, kosmische Rezeption. Die ganze bisherige und jetzige
menschliche Kultur, von den niedersten zu den höchsten Stufen,
von Urzeiten bis zur Gegenwart, im eigenen Volk und bei den frem-
desten Völkern, aller Nationen, aller Rassen, in nächster Nähe und
in fernster Ferne, über den Erdball hinweg zugleich vergegen-
wärtigt, sei es in lebendiger Gegenwart, sei es von der Wissenschaft
aus dem Tode oder der Verborgenheit unter und über der Erde
und im Meere erweckt und gerufen, und was irgend für die heutige
Kulturmenschheit resorbierbar und rezipierbar, gierig aufgesogen,
^ngeschlürf t und ausgenutzt.
So wird eine Allgegenwart nach Ort und Zeit, eine Allumfassung,
ein Überallsein und ein Allgleichzeitigsein und ein Alleszugleichsein
nach Art und Entwicklungsgrad, eine Gesamtprojektion aller bis-
herigen Kulturleistungen auf die Fläche der heutigen Kultur in
europäischem Sinne, des geschichtlichen und ethnologischen Zeit-
alters der Weltwirtschaft und Welteroberung, zur erstaunlichen
und hochgradigen Realität.
Dieser geschichtliche, geographische, geologische, ethnolo-
gische, prähistorische, paläontologische, chemisch - physikalische,
meteorologische, kosmologische, allwissenschaftliche, allideo-
m
logische, allinteressierte Charakter des Zeitalters wird wesent-
lich gefördert, ja bestinunt durch das Bedürfnis, alle Schätze
der bisherigen Menschenarbeit, wie alle Schätze der Natur
und alle Kräfte der heutigen Menschheit für die Gegenwart
der herrschenden Klassen dieses Zeitalters als des kapitalistischen
wirtschaftlich dienstbar zu machen und überhaupt für die mög-
lichste Reichtums-, Produktivitäts- und materielle und psychische
Genußsteigerung zugleich den adäquatesten, umfassendsten ideo-
logischen Überbau, die entsprechende Welt -Gesamtideologie zu
schaffen. Dazu nicht nur bisher ungehobene auch stoffliche Schätze
— Reste früherer Kulturleistungen (Ausgrabungen usw.) — zu
heben und zum Feudum oder Verbrauch zu rezipieren, sondern
auch die geistig-psychischen Schätze; und überdies auch noch aus
der Geschichte systematisch-praktisch zu lernen.
Das ist die wissenschaftliche, ideologische Spiegelung des im-
perialistischen Zeitalters. Nicht etwa Synthese, sondern Häufung.
Gewiß spielen auch. rein geistige Interessen mit. Aber die sub-
jektive Meinung, das persönliche Gefühl darüber, welche Motive
und Triebe zugrunde liegen, ist sehr trügerisch. Denn die in letz-
ter Instanz ökonomisch-politischen Antriebe werden subjektiv meist
ganz anders (z. B. als rein wis^nschaf tlich zu ideologischem Selbst-
zweck) empfunden und gewähnt.
F. Unterabschnitt: Wechselseitige Kulturheeinflussung überhaupt
S 21. Akkulturation — Dekulturation — Influation
I. Akkulturation ist gegenüber der „Rezeption" der wei-
tere, umfassendere Begriff und ein zugleich aktiv und passiv an-
wendbarer Begriff: die Gesellschaft, die hinauf gefördert wird, ak-
kulturiert sich und wird akkulturiert; die Gesellschaft, die jene
hinauf fördert, akkulturiert sie. Er bedeutet — aktiv genommen • —
ganz allgemein die Förderung, Hebung der Kultur einer anderen
Gesellschaft, eventuell bis zum eigenen Niveau, eventuell in den
Wirkungen sogar darüber hinaus, meist aber dahinter zurück-
bleibend.
Der Mittelwege der Akkulturation sind zahllöse; alle einseitigen
und wechselseitigen Beeinflussungsarten, die unter menschlichen
i68
Gemeinschaften möglich sind; die Beziehungen und Verflechtungen
aller Art.
Ein Mittel dazu ist die ^.Rezeption"; ein anderes z. B. die wirt-
schaftliche Förderung, selbst unter Umständen die militaristische
Zwangseinwirkung; vgl. Türkei. D^r finanzielle Aussaugungsdruck,
der den Obergang von der Natural- zur Geldwirtschaft — unter
ungeheuren Gebärleiden allerdings — rapide erzwingt; vgl. wie-
derum Türkei.
II. Der Gegensatz zur Akkulturation istdieDekulturation:
z. B. Vernichtung der römischen Kultur durch die Germanen; auch
Zerstörung des Aztekenreiches, Mexikos, Perus, des Inkareiches,
der indischen und anderer asiatischen Reiche ohne jede die be-
treffenden Völker akkulturierende, vielmehr nur mit sie vernich-
tender Behandlung.
III. Wie Akkulturation und Dekulturation die Rezeption in sich
begreifen, so ist der über ihnen stehende allgemeinere Begriff der
der Influation, Kulturbeeinflussung. Beeinflussung der Kul-
tur einer Gemeinschaft durch eine oder mehrere andere, umfassend
außer der Akkulturation auch die kulturell schädliche, vernichtende
Beeinflussung.
S 22. Abhängigkeits- und Selbständigkeitsgrade
der Kulturen
Je nachdem eine Gesellschaft, ein Volk oder sonst eine wesent-
liche Gemeinschaft von Menschen ihre Kultur aus sich selbst ent-
wickelt oder von anderen Gesellschaften, Völkern oder sonstigen
Gemeinschaften übertragen erhalten hat, ist ihre Kultur eine auto-
chthone (endogene) oder rezipierte (exogene).
Rein autochthone gibt es ebensowenig wie rein rezipierte; nur
ein mehr oder weniger kommt in Frage; auch hier die Unterschiede
nur relative — in dem bunten unentwirrbaren Gesamtgeflecht der
Menschheitskultur.
Je nachdem eine Gesellschaft, ein Volk oder sonst eine wesent-
liche menschliche Gemeinschaft in ihrem bestehenden (gleichviel
wie entstandenen) Kulturzustand den Schwer- und Vegetations-
punkt weiterer Entfaltung in sich trägt oder nicht, je nachdem diese
169
Punkte in einem oder mehreren anderen Völkern, Gesellschaften,
Gemeinschaften liegen, ist von selbständiger oder ange-
lehnter Kultur zu sprechen.
Die Anlehnung resp. Selbständigkeit kann sich auf alle Seiten
des kulturellen Lebens erstrecken: psychisch-geistige, ideologische,
materielle; stoffliche, technische, politische usw.; z. B. auch reine
Verkehrsabhängigkeit; sie kann allen Sphären angehören. Aber
Mischung ist in allen Sphären vorhanden: stets auch auf dem Ge-
biet der Anlehnung: z. T. Unabhängigkeit; und auch auf dem Ge-
biet der Unabhängigkeit z. T. Anlehnung. Hochgradige Anleh-
nung mag Abhängigkeit genannt werden. Beispiele angelehnter,
abhängiger Kultur bieten heute auf wirtschaftlichem Gebiet die Ge-
meinschaften zumeist in um so höherem Grade, je kleiner sie sind,
falls gleichzeitig kapitalistisch; denn kapitalistisch heißt: weltwirt-
schaftlich; heißt: teilhaft des V\^eltwirtschaftswillens; heißt: ein
Stück Weltwirtschaft. Vgl. heute z. B. Schweiz, Belgien usw.
Schweiz im Verhältnis zu Frankreich, Deutschland, Italien; Bel-
gien im Verhältnis zu Frankreich und Deutschland.
Diese Betrachtung über die kleinen Staaten ist freilich für die
imperialistische weltwirtschaftliche Zeit nichts weniger als tief,
sondern ungemein oberflächlich, da sie gegenüber der Weltwirt-
schaft, dem Imperialismus und der ganzen Weltkultur an die in
ihrer Bedeutung gerade kulturell sehr ausgehöhlten Staatengebilde
anknüpft, die fast nur noch technisch-wirtschaftliche Mittel sind,
nur noch Mechanismen, nicht mehr Gebilde zur Kulturabgrenzung,
nicht mehr Kulturindividuen, wie einst, wo sie viel mehr waren
(z. B. zur Zeit der Naturalwirtschaft). Heute vor allem handelt es
sich bei diesen kleinen formell separierten staatlichen Gebilden
tnehr als je einfach um etwas abseits liegende und in staatlicher
Beziehung separat konstruierte Kulturprovinzen, die, im ganzen
großen betrachtet, — abgesehen von der staatlichen Form — ge-
nau so selbständig und angelehnt sind wie andere Kulturprovinzen;
in bezug auf die staatliche Form aber und die daraus hervor-
gehenden Wirkungen gerade selbständiger sind, als die staatlich
nicht separat organisierten Kulturprovinzen, die in der größeren
Gemeinschaft auch staatlich aufgehen. Der politische Partikula-
rismus und das Kantönlitum birgt also auch ein Mon^nt gerade
170
größerer Selbständigkeit, selbständiger Differenzierung zur Eigen-
art in den möglichen Grenzen.
S 23. Die Verschwendung von „Stoff* und „Kraft"
in der menschlichen Kulturentwicklung; Involu-
tion und Atavismus
Rezeption wurde oben auch als Ökonomie bezeichnet. Und in der
Tat stellt Kulturbeeinflussung „Arbeitsteilung'', Kraftersparnis dar.
Aber gerade im Hinblick auf sie erkennt man, wieviel Kraft „ver-
schwendet" wird; andererseits auch — und dies löst die Tragik
wieder — verschwendet werden muß, damit die gegenseitige Be-
einflussung in dem Maße, wie sie geschieht, auch tatsächlich statt-
finden kann. Wie viele Erkenntnis, Erfahrung, Geschicklichkeit,
Technik, Ideologie, die einzelne Individuen erwarben, gehen mit
ihnen zugrunde, da sie für Dritte nicht erkennbar oder nach-
ahmungsfähig nach außen manifestiert sindl Wie viele solcher Er-
kenntnisse werden nach außen manifestiert, aber nicht sozial re-
sorbiert, sei es, weil die „Zeit" nicht „reif", also nicht resorptions-
fähig ist, sei es aus Gründen, die im Produzenten und seinen Um-
ständen liegen, sei es aus Zufälligkeiten. So bleiben sie individuell
und gehen sozial verloren, auf die Dauer oder wenigstens vorläufig,
bis zu einem Glückszufall, der die versteinerten Zeugnisse in gün-
stigerer Zeit zur posthumen Rezeption bzw. Resorption auferweckt.
Die Erfindung muß ein zweites oder mehreres Mal gemacht werden,
und zwar unter Resorptionsfähigkeit und -geeignetheit begründen-
den Umständen in resorptionsfähiger Zeit. Wie viele solcher Er-
kenntnis geht nur in beschränkte Schichten ein und verloren, ehe
sie allgemein resorbiert und nutzbar wird; oder wird erst später,
unter geeigneten Umständen in allgemein resorptionsfähiger Zeit,
verallgemeinert. Wie viele schon sozial resorbierte Erkenntnis geht
verloren im Niedergang der Kultur -^ im dauernden oder vorüber-
gehenden, der Gesamt- oder der besonderen Kultur des resorbiert-
habenden Kreises, im Auf und Ab der Gesamt- oder Teilentwick-
lung, auf die Dauer oder auf lange Zeit. Wie viele Kulturansätze
in einzelnen Teilen der Menschheit gehen verloren für die Gesamt-
entwicklung! Wie viele ganze große gewaltige Kulturen mit stau-
nenswerten Vollkommenheiten sind in Schutt und Asche versunken
171
— zertrümmert von außen, ohne Verständnis und Resorption — oder
zerfallen aus sich selbst, ohne daß auch nur der schwächste Nach-
hall einer Kunde zu uns drang, ohne daß auch nur Steine zeugten 1
Die erschütternde Betrachtung eines Chasseboeuf, Comte de
Yolney (Les ruines — Ende des i8. Jahrhunderts) gibt nur eine
schwache Ahnung von der ungeheuren Vergeudung erhaben-wun-
derbarster und im kleinen aufgeriebener und produktiv gewesener
Menschenkraft und Leistung, deren verwesende, verwesene Reste
nicht einmal als Kulturdünger zur Ernährung und Befruchtung der
Gesamtkultur beigetragen haben, sondern verkommen sind, wie
Samen, der auf Steine fiel. —
Von diesen Tragödien des Menschengeschlechts, ganzer Völker
und Kulturen, können selbst alle Ausgrabungen nur ein geringes
Teilchen andeutungsweise für ein ahnendes Verständnis zeigen. Das
ist für menschliche Gemeinschaften bis zu ganzen Völkern, Rassen,
Kulturen die gleiche Tragödie — nur auf riesenhaft erhöhter Stu-
fenleiter, eine Symphonie der tiefsten Tragik wie die oben für die
unerkannt gebliebenen und vergessenen, verlorenen Individuen ge-
schilderte.
Es gibt neben der Evolution auch die Involution, Rück-
bildungen neben Fortbildung, Rückfälle, Rückgänge, Rückschläge,
Zerstörungen, Rebarbarisierungen bereits erreichter Kulturstufen,
und zwar dauernde und mehr oder weniger vorübergehende —
kürzere, engere mit Wiederbesinnung, Wiederaufstieg.
Innerhalb der erreichten Kulturen — als ein Begriff ganz an-
derer Art, auch von vorübergehendem Rückgang verschieden: Ata-
vismen , die nur verborgen, unter der Oberfläche tatsächlich zu
der betreffenden Kultur gehören. Ihre partie honteusel Ihre ver-
borgene Wahrheit und Schwäche! Die Atavismen treten nur hervor,
ihre Manifestation ist nur eben eine Offenbarung von einem vor-
handenen, aber im gewöhnlichen Verlauf verborgen, versteckt, ver-
hüllt gewesenen Zustand; eine Offenbarung, hervorgerufen durch
besondere Umstände, Enthüllungen, Aufdeckungen dessen, was ist;
Zerstörung falschen äußeren Scheins, Klarlegung der Relativität
aller Kulturprinzipien und Kulturpostulate; jedenfalls der Rela-
tivität ihrer prätendierten Verwirklichung, ihrer inneren Vorbehalte,
Bedingtheiten, Bloßlegung der elementaren Basis, der primitiven
173
Instinktgrundlagen alles kulturellen Seins, aller Kulturformen, -ge-
bildet -anspruche und -Vorstellungen der Menschen.
S 24. Das Mäzenatentum
Im Mäzenatentum treten die in der Gesellschaft herrschenden
Kreise oder die zwischengesellschaftlich — wenigstens auf dem
betreffenden Gebiet — überlegenen anderen Völker nicht selbst-
schöpferisch auf, sondern als Unterstützer, Förderer von schöpfe-
rischen Faktoren, in anderen Kreisen derselben Gesellschaft (inner-
gesellschaftliches Mäzenatentum) oder in anderen Gesellschaften
(zwischengesellschaftliches Mäzenatentum) ; als Förderer von schöp-
ferischen Faktoren, die ohne solche Unterstützung nicht oder nicht
in gleichem Maße schaffen könnten; diese erfolgt vermöge der
besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten, die dem fördernden
Teile seine innergesellschaftlich privilegierte oder zwischengesell-
schaftlich überlegene Stellung verleihen, und zwar begriffsgemäß
der Form nach auf beiden Seiten freiwillig.
Die Mäzene sind Gesellschaftsfunktionäre und Entwicklungs-
faktoren; nur besonderer Art. Ihre Funktion besteht eben in der
Förderung der Produktion von Errungenschaften durch andere,
und zwar durch Gesellschaftsteile, deren Kräfte sonst nicht oder
doch nicht voll ausgenützt würden; also in der Entfaltung und der
Ausnutzung fremder Kräfte.
Die Frage ist, wofür diese Ausnutzung stattfindet.
In der Regel wird es das persönliche Interesse des Mäzens und
das Interesse seiner Klasse, seines Gesellschaftskreises sein. Wenn
aber dieses Interesse, wie in gewissen Entwicklungsstadien der Fall,
mit dem Interesse der Gesamtgesellschaft, d. h. dem Interesse der
Gesellschaftsentwicklung, zusammenfällt, so ist die Ausnutzung ge-
sellschaftsfördernd. Die Unterstützung kann jedoch auch gesell-
schaf tsschädigend wirken, wenn sie die schöpferischen Kräfte nicht
im Sinne der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung entfalten hilft
und in ihrer Produktion fördert, sondern korrumpiert, ablenkt,
ja gegen die Entwicklung kehrt. Nur gesellschaftsfördernde Un-
terstützung ist begrifflich Mäzenatentum; jede andere Unterstützung
zur Entfaltung und Ausnutzung fremder Kräfte ist antisoziale Ver-
gewaltigung.
173
Mäzenatentum in diesem Sinn ist eine regelmäßige und sogar
gesellschaftlich notwendige Erscheinung. Nicht bloß, aber beson-
ders in sozialen Übergangszeiten bedeutsam, unentbehrlich zur Aus-
nutzung der gesellschaftlichen Entwicklungskräfte und in Ober-
gangsperioden, besonders als Beginn und Mittel sozialer Emanzi-
pationen von revolutionärem Einfluß. Kurz: ein wesentliches Glied
in der gesellschaftlichen Entwicklungskausalität.
Die Ausnutzung des Mäzenatentums kann trotz ihres gesellschaf ts-
fördernden und freiwilligen Charakters im sozialen Sinne ausbeu-
terisch sein. Ausbeutung ist in gewissen Entwicklungsstadien ge-
sellschaftlich notwendig. Ausbeutungsverhältnisse sind so wenig wie
Unterdrückungsverhältnisse an und für sich schon unbedingt auch
antisoziale Vergewaltigungsverhältnisse.
So schließt das Mäzenatentum völlige, selbst der Form nach un-
geschminkte Klassenabhängigkeit keineswegs aus — vgl. noch
Haydn, Mozart und ihre Mäzene.
Zwischen dem entwicklungsfördemden Mäzenatentum und dem
entwicklungsschädigenden antisozialen Vergewaltigungsverhältnis
liegen zahllose Übergangsglieder; ebenso zwischen der friedlichen
und der gewaltsamen Form.
Ähnlich dem innergesellschaftlichen, unterstützenden, fördern-
den Mäzenatentum einzelner Gesellschaftsteile gegen andere gibt es
ein Mäzenatentum ganzer Gesellschaften gegenüber anderen Ge-
sellschaften — ein zwischengesellschaftliches Mäzenatentum.
Das Verhältnis, das natürlich keiner phantastisch-idealistischen
Selbstlosigkeit, sondern den allgemein menschlichen und auch kul-
turellen Antrieben entwächst, bildet auch insofern eine Parallele
zu dem innergesellschaftlichen Mäzenatentum, als es das Erzeugnis
eines ähnlichen kulturellen Verhältnisses zwischen mehreren Ge-
sellschaften ist, wie es dasjenige zwischen mehreren Teilen der-
selben Gesellschaft ist, auf dem das innergesellschaftliche Mäzena-
tentum beruht. Das Verhältnis zwischen mehreren Gesellschafts-
teilen in letzterem Falle entspricht dem Verhältnis zwischen meh-
reren Gesellschaften im ersten Falle. Das zwischengesellschaftliche
Mäzenatentum erstreckt sich zunächst — nach dem geschichtlichen
Sinne des Worts — auf Kunst und Wissenschaft. Doch fassen
wir den Begriff weiter — alle Sphären, auch politische, soziale und
174
wirtschaftliche Verhältnisse der Gesellschaft umfassend. In con-
creto kann es sich auf eines oder mehrere obiger Gebiete zugleich
erstrecken.
Ein Beispiel zwischengesellschaftlichen Kunst-Mäzenatentums ist
das Verhältnis zwischen dem England (z. T. auch Frankreich) des
i7. — 19. Jahrhunderts gegenüber Deutschland (z. T. auch Italien)
auf dem Gebiet der Musik — vgl. Händel, Haydn, Mozart, Beethoven
usw. (vgl. Merian a. a. O. S. 386).
Heute spielt Amerika in mancher Hinsicht eine verwandte Rolle
— wenn auch entsprechend der höheren v^tschaf tlichen Entwick-
lung der übrigen Länder, sehr geschwächt.
S a5. Die zwei Phasen der zwischengesellschaft-
lichen Akkulturation
In der Zeit der Beeinflussung — sei es durch Rezeption oder
durch kulturelle Beeinflussung im engeren Sinne, wozu auch zwi-
schengesellschaftliches Mäzenatentum gehört — besteht ein Ab-
hängigkeitsverhältnis der beeinflußten Gesellschaft gegenüber der
beeinflussenden.
Vgl. auf wirtschaftlichen! Gebiete: die Durchdringung Dentscblands
durch den englischen Eapitalismas bis fast zum Schlüsse des 1 9. Jabr-
bunderts; der deutsche Kapitalismus war auf vielen Gebieten eine
Dependance des englischen.
Die Beieinflussung erweckt aber auch Selbsttätigkeit; und ist der
mögliche Einfluß geübt und abgeschlossen, so vollzieht sich die
Verselbständigung, die Abstreifung der Abhängigkeit, unter Um-
ständen die Oberflügelung des früheren Beeinflussers und Umkeh-
rung des einstigen Verhältnisses: vgl. auch hier das Beispiel des
wirtschaftlichen Verhältnisses zwischen Deutschland und England.
Das englisch-deutsche Beispiel ist typisch — für die bisherige
regelmäßige zwischengesellschaftliche Akkulturation; und wird ty-
pisch bleiben für die Akkulturationsverhältnisse, die im Zeitalter
des Imperialismus angeknüpft sind und angeknüpft werden.
Aus Dienern werden Herren, aus Geschöpfen Schöpfer, aus Aus-
nutzungsobjekten Konkurrenten.
175
VI. Unterabschnitt: Einschränkungen
S 26. Von der Gleichartigkeit aller menschlichen
Kultur und ihren Ursachen
Die menschliche Inweit engeren und weiteren Grades unterliegt,
wo immer sie in die Erscheinung tritt, in ihrem physischen und
psychisch-geistigen Wesen, d. h. in allem Wesentlichen, gleichen
Gesetzen. Das gilt besonders von den Trieben und Bedürfnissen,
von der Art, auf die Umwelt zu reagieren, sich mit ihr in Funk-
tionsverhältnis zu setzen, sich unter ihren Einwirkungen zu formen
und auf sie, wie in sich selbst, zu wirken und tätig zu werden.
Die Inweit tritt jedoch schon in den frühesten der Beobachtung
zugänglichen Stadien in zahllosen Variationen verschiedener Stärke
auf. Nicht eine Inweit ist der anderen vollständig gleich. Das gilt
von jedem zugänglichen Zeitpunkt und Falle. Die Ursache liegt
von vornherein in den inneren Zuständen der Organismen (Keim-
Verschiedenheiten) und in den von vornherein wirkenden Variatio-
nen der Umwelt: wieder ein infinitesimaler Prozeß der Wechsel-
wirkung, ohne daß unsere Erkenntnis einen Anfang oder ein Ende
setzen oder konstruieren könnte.
Die Umwelt ist gleichfalls allgemeinen Gesetzen unterworfen,
die allenthalben gleichmäßig gelten. Sie ist jedoch sehr mannig-
faltig, ein Mosaik von unendlich vielen verschiedenartigen organi-
schen und unorganischen Stoffen, Kräften, Gebieten — von denen
jeder und jede und jedes ehernen Gesetzen gehorcht, die jedoch
in end- und zahllos variierenden, sich für keine zwei Inweiten völlig
gleich wiederholenden Zusammenstellungen an den verschiedenen
Orten und den verschiedenen Inweiten gegenübertreten. Wenn auch
schließlich die gesamte Umwelt in allen ihren verschiedenen Stof-
fen, Kräften, Schichten, die kosmisch siderische eingeschlossen,
jederzeit und überall hin (im Leibnizschen Sinne) wirkt, so doch
mit verschiedener Intensität und Modalität, je nachdem die ein-
zelnen Stoffe, Kräfte, Gebilde näher oder ferner und so oder anders
kombiniert der einzelnen Inweit gegenüberstehen.
Ist danach die Umwelt, obwohl sie allgemeinen Gesetzen gehorcht
und ihre gleichartigen Bestandteile unter gleichartigen Bedingungen
überall und stets gleichartig wirken und leiden, infolge der zahl-
176
losen Variationen an Stoffen, Kräften, Gebilden, die in den ver-
schiedenen Intensitätsbereichen zu, und in den verschiedenen Ent-
fernungen von den einzelnen In weiten sich befinden, für jede In-
weit verschieden, so variieren damit die äußeren Bestimmungen,
Bedingungen der Organismen, speziell der Menschen ungemein.
Daraus und aus den empirisch-ursprünglichen Variationen, mit
denen die Inweiten in jedem der menschlichen Betrachtung zu-
gänglichen Zeitpunkt und Falle von vornherein auftreten und deren
Ursache hier dahingestellt bleiben mag, folgen die zahllosen Varia-
tionen in den Funktionsverhältnissen, die die Inweiten mit den Um-
welten eingehen. Daraus wiederum folgen zahllose weitere Varia-
tionen der Inweiten, sofern und soweit sie das Produkt solcher
Funktionsverhältnisse sind: ein infinitesimaler Prozeß der Wechsel-
wirkung. Indessen handelt es sich nur um Variationen. Es handelt
sich nur um Variationen — freilich sehr mannigfaltigen Grades;
Variationen, die gegenüber den Obereinstimmungen weit zurück-
treten, wenn und soweit die Inweiten dem Einflüsse verschieden-
artiger Umwelten, unter denen sie sich verschieden gestalteten, wie-
der entzogen und gleichartigen Bedingungen ausgesetzt werden.
Dabei ist zu beachten, daß keineswegs jede Variation der Umwelt,
jede ihrer verschiedenen Kombinationen von Stoffen, Kräften, Ge-
bilden schlechthin entsprechend ihrer objektiven Eigenart stets
• gleichartig auf alle Inweiten wirkt. Vielmehr ergibt die Verschie-
denartigkeit der verschiedenen Inweiten verschiedenartige Wir-
kungen selbst in thesi gleicher Umwelten. Im Besonderen kommt
es darauf an, welche Bedeutung jeder Stoff, jede Kraft, jedes Ge-
N^ilde für die verschiedenen Inweiten besitzt.
^JDanach sind die Stoffe, Kräfte, Gebilde der verschiedenen Um-
Hen jeweils zu scheiden: Zum Teil besitzen sie negative konträre
itung; insoweit greift das reaktive Abwehrfunktionsverhältnis
Platz. Zum Teil sind sie neutral; insoweit verhält sich die In weit
gleichgültig, passiv, neutral. Zum Teil positive Bedeutung als Mittel
für die Bedürfnisbefriedigung, sei es unmittelbar, sei es als Werk-
zeug, Hilfsstoff usw.: mittelbar. Insoweit verhält sich die Inweit
aktiv. Die Gleichartigkeit der menschlichen Natur uniformiert, ver-
ringert danach in gewissem Umfang die Variationsfülle der Um-
welt, die Funktionsverhältnisse weisen keineswegs die gleiche Va-
12 Liebknecht« Stndien 177
riatioDsfüUe auf wie die Umwelt für sich betrachtet. Besonders
suchen sich bei der Gleichartigkeit der Trid[>e und Bedürfnisse die
„Inweiten" (Menschen usw.) aus allen Variationen der Umwelt,
unter den mannigfaltigsten Umständen möglichst das Identische
heraus — zur schöpferischen Betätigung. Die Differenzen treten
also mehr in den passiven Ausscheidungs- und Abwehrfunktions-
beziehungen hervor als in der Aktivität, der positiv schöpferischen
Betätigung.
In letzterer herrscht größere Gleichförmigkeit unter den mannig-
faltigsten Bedingungen der Umwelt.
Aus diesem Umstand erklärt sich, daß die menschlichen Varia-
tionen, mindestens soweit sie durch die Einwirkungen der Umwelt
entstehen, geringer sind, als sie nach den Variationen der Umwelt
sein müßten, wenn diese Einwirkungen schlechthin objektiv be-
stimmend entscheidend wären, und daß die Ausgleichung der
.menschlichen Kultur, wo immer sie im wesentlichen gleichen Um-
weltsbedingungen unterworfen vnrd, im großen ganzen erstaunlich
prompt und leicht erfolgt, selbst wenn vorher bei den betreffenden
Völkern (Gesellschaften, In weiten usw.) infolge sehr verschiedener
Umweltbedingungen große Kulturverschiedenheiten und auch We-
sensvariationen bestanden.
$27. Die Um weit als Gesetzgeber
Jeder Stoff, sei es als Arbeitsmaterial, Arbeitsobjekt, sei es als
Werkzeug verwandt, hat seine besonderen eigenen Gesetze, nach
denen er auf Einwirkungen reagiert. Jede Kraft desgleichen ihre
besonderen eigenen Gesetze, nach denen sie sich ohne oder auf
Einwirkung von außen verhält. Zur Erreichung eines Arbeits-
zwecks wie des Ziels jeglicher Aktivität muß diesen objektiven Ge-
setzen, den Gesetzen der Stoffe und Kräfte, gehorcht werden. Die
Stoffe und Kräfte diktieren durch diese ihnen immanenten Gesetze
das Wesentliche der Arbeitsmethoden. Die Arbeitsmethoden haben
und diktieren vnederum dem Arbeiter je ihre besonderen Gresetze
für die Ausführung im einzelnen.
Daß in bezug auf die Arbeitsziele im wesentlichen Übereinstim-
mung unter den Menschen aller Kulturkreise besteht, daß möglichst
die gleichen Stoffe und Kräfte, wenn erreichbar, gewählt werden,
178
(laß auf die Umwelt und ihre Möglichkeiten in annähernd gleicher
Weise allenthalben erkennend und wollend und tätig reagiert wird,
erklärt sich aus der wesentlichen subjektiven (physischen und psy-
chischen) Gleichartigkeit der Menschen.
So erklärt sich, daß der Charakter der „Gesetze" („Regeln"),
die von den Arbeitern aller Zeiten und Kulturen tatsächlich em-
pirisch befolgt werden, als objektiv^) begründet, als durch die Ob-
jekte, die Umwelt aufgenötigt, in den Hauptzügen so eng verwandt
ist: als Diktat des Stoffes und der Naturkräfte, — die Umwelt als
Gesetzgeber!
Die Influation, Akkulturation, gegenseitige Belehrung usw. der
Menschen untereinander oder sonst der Organismen gleicher Arten
innerhalb der Arten tritt weit zurück in eine sekundäre, nur ergän-
zende Rolle gegenüber diesen Bestinmiungsgründen, die zum Teil
als „Rezeption" aus der nicht-artgleichen, organischen und unor-
ganischen Umwelt bezeichnet werden könnten.
S a8. Zusammenfassung
Aus dem Gesagten ergibt sich einmal das verhältnismäßige Zu-
rücktreten der objektiven (Umwelt-) Faktoren in ihrer Wirkung
auf die Kultur und zum andern aus der trotz aller Variabilität im
Grunde gleichartigen Natur des Menschen die wesentliche Gleich-
artigkeit der Kulturgestaltung, der Grund für den wesentlichen
Parallelismus in der Kulturentwicklung aller Völker.
*) Nicht bloß in der natürlich auch wesentlich gleichartigen oder doch
eng verwandten menschlichen Subjektivität.
12'
5. KAPITEL
GESELLSCHAFTLICHE
KAUSALITÄT UND ENERGETIK
$ I. Einleitung
I. Tatsachen — Interessen — Antriebe — Zwecke — Handeln.
Wir gehen aus von dem proteusartig-ver wirrenden Sinn der Worte
,>niaterieir' und ».materialistisch". Nehmen wir eine grob-, mate-
rielle" Tatsache: die Eisenbahn als Verkehrsanstalt. Als Verkehrs-
mittel berührt sie auch wiederum materielle Zwischenglieder und
Interessen; aber diese Interessen brauchen nicht „materiell" zu
sein, sie können rein intellektuell, kontemplativ sein. Durch die
Berührung dieser inunateriellen Interessen werden Antriebe erzeugt
und Handlungen ausgelöst, die in die „materielle" Welt eingreifen
können, obwohl sie nicht von „materiellen" Interessen bestimmt
sind und nicht „materiellen" Zwecken dienen.
Nehmen wir andererseits eine „inmiaterielle" Tatsache: die wis-
senschaftliche Erkenntnis vom Wesen der Röntgenstrahlen. Die
Interessen, die sie berührt, können sehr „materiell" sein: das In-
teresse am Geldverdienen durch praktische Verwertung der Er-
kenntnis. Durch die Berührung dieser „materiellen" Interessen
können Antriebe erzeugt und Handlungen ausgelöst werden, die in
die „immaterielle" Welt eingreifen, obwohl von materiellen Inter-
essen bestimmt und materiellen Interessen dienend: Z.B.Anregungen
zu weiterer wissenschaftlicher Forschung.
Der Endzweck und das Schlußfazit des Handelns wird freilich
dem „materiellen" Interesse entsprechen. Es ist der „materielle"
i8o
oder ».immaterielle'' Charakter des Interesses, der bestimmt, ob
Antrieb, Zweck mid Handeln „materiell" oder „inmiateriell" ist.
Hierbei ist das Wort materiell bald in stofflichem Sinne einer
Qualität des Seins, bald im psychologischen, ethischen, ästhetischen
Sinn einer Qualität des Denkens, Empfindens und Wollens ge-
braucht. Daher die Verwirrung, die sich sofort entwirrt, wenn man
diese beiden völlig differenten Begriffe auseinanderhält; wo sich
dann sofort zeigt, daß auch hier nur gleiches gleiches erzeugt.
Es empfiehlt sich, den Terminus „materiell" zu vermeiden.
II. Interessen, Antriebe und Handlungen nach ihren verschie-
denen Intensitätsgraden und ihrer verschiedenen Bedeutung für die
Entwicklung und deren mögliche Bewegung.
Bei der großen Masse der Menschen ist die Durchschnittspsycho-
logie derart, daß in der Mehrzahl der Fälle unter durchschnittlichen,
gewöhnlichen Voraussetzungen nur sog. „materielle" Interessen als
so lebenswichtig empfunden werden und so intensiv sind, daß sie
Antriebe erzeugen, die Handlungen von kritischer Bedeutung, von
hohem Risiko, großer Beschwernis auslösen.
Während andere Interessen zwar auch zu Antrieben und Hand-
lungen führen, aber nur zu solchen geringerer Beschwernis, ge-
ringerer Intensität, die darum aber doch von höchster Bedeutung
für solche Entwicklung werden können, aber im Durchschnitt
der Fälle es weniger sind, als die von materiellen Interessen aus-
gelösten.
Auch dies ist ein richtiger Kern der materialistischen Geschichts-
auffassung.
III. Die mögliche Diskrepanz zwischen Intensitätsgrad von In-
teresse, Antrieb, Handeln und Entwicklungsbedeutung.
Ein Interesse, Antrieb, Handeln hoher Intensität kann an Ge-
samtwirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung zurückbleiben
hinter einem solchen geringer Intensität: ein „Zufall", eine Spie-
lerei, die mäßigste Kraftanwendung kann zu einer fundamentalen
wissenschaftlichen Entdeckung, technischen Erfindung usw. führen.
Für den großen Gang der Geschichte fallen solche Diskrepanzen
jedoch nicht entscheidend ins Gewicht, sondern steht Intensität von
Interesse, Antrieb, Handeln in direktem Verhältnis zur Bedeutung
für die Gesellschaftsentwicklung. Die materialistische Geschichts-
i8i
auf f assung bleibt als Fundierung der großen Durchschnittstendenz
auch trotz dieser Divergenzen im Grundzug unangefochten.
IV. Die subjektive Perversion (Umkehrung) des objektiven In-
teresses.
Das objektive Interesse kann durch falsche Einsicht in der Vor^
Stellung des Interessenten so völlig verkehrt werden, daß es subjek-
tiv als schädlich und sein Gegenteil als Interesse erscheint, und zwar
mit solcher Intensität, daß das perverse Pseudointeresse Wirkungen
an Aktivierung und Ausnutzung der verfügbaren Machtmittel aus-
zulösen vermag, die den höchsten Wirkungen objektiver und als
solcher erkannter Interessen gleichkommen.
V. Motive: „Gold".
Nicht nur Hoffnung nach Gewinn überhaupt ist die Haupttrid>-
feder der menschlichen Handlungen, sondern die Gier nach Gold
im eigentlichsten Sinne war es, was zu den wichtigsten Länder-
entdeckungen (Amerika) und zu den wichtigsten chemischen
und physikalischen Entdeckungen (durch die Alchymie: Stein der
Weisen) und damit zu den gewichtigsten Umwälzungen der neueren
Geschichte führt. Darin konzentriert und symbolisiert sich der
Sinn der materialistischen Geschichtsauffassung.
L Unterabschnitt: Kausalität im allgemeinen
S 2. Logische und teleologische Kausalität
Soweit menschliche Erfahrung, menschliches Wissen reicht, ist
nichts außer der Kausalität; menschliches Vorstellungs- und Denk-
vermögen ist in sich selbst wie dem Raum und der Zeit, so der
Kausalität unterworfen, vermag sich so wenig wie außerhalb von
Raum und Zeit, so wenig außerhalb der Kausalität abzuspielen;
und diese Bedingungen ihrer eigenen Existenz manifestieren sich
beim Funktionieren der psychisch-geistigen Kräfte als Formen ihrer
Wirksamkeit, an die sie schlechthin gebunden sind. Formen, die
hiernach Reflexe ihrer eigenen Existenzbedingungen sind und deren
Notwendigkeit für das geistig-psychische Wesen des Menschen nur
der Ausdruck der Tatsache ist, daß sie — wie der Mensch über-
haupt — außerhalb ihrer Existenzbedingungen nicht existieren
können.
182
Auch „Teleologie'' liegt nicht außerhalb der Kausalität. Sie ist
nicht einmal eine besondere Art der Kausalität, sondern nur eine
besondere Betrachtungsform, in der Ursache und Wirkung als Mittel
und Zweck erscheinen. Sie betrachtet den Kausalzusammenhang
nicht objektiv und absolut, sondern subjektiv und relativ; nicht
dem immer gleichen Flusse der Kausalität gleichmäßig folgend
und ihn im ganzen als ein gleiches Unendliches auffassend, son-
dern nur ein begrenztes Stück des Unendlichen herausgreifend und
auch dies von einem bestinmiten Gesichtswinkel, vom Standpunkte
eines bestimmten Subjekts betrachtend. Was vom objektiven Stand-
punkte aus bloße Wirkung, erscheint vom subjektiven Standpunkt
als Zweck des Subjekts selbst. Das Subjekt ist ein Stück des Ge-
samtseins, für das dieses Stück einen besonderen Sinn besitzt, weil
es eben sein EXasein ist. Diese Besonderheit des Sinnes macht das
Besondere des „Zweckes" im Verhältnis zur bloßen „Wirkung'' aus.
Die teleologische Betrachtungsform der Kausalität ist mit dem
Wesen des Subjekts untrennbar verknüpft. Aus dem organbchen
geistig-psychischen Wesen folgt das Subjektsgefühl (auch bei Tie-
ren und Pflanzen) und auf höherer Stufe das Ich-Bewußtsein. Wie
aus diesem sich die Illusion der Freiheit, der Indeterminiertheit er-
gibt, so die Vorstellung des Zwecks, die auch nur eine subjektive
Illusion ist. Beide Illusionen, die der Freiheit und die der teleolo-
gischen Kausalität, gehören zusammen. Die Illusion des Zwecks
setzt die Illusion der Freiheit voraus und folgt aus ihr.
S 3. Organische und mechanische Kausalität
Während „Teleologie" — wie eben dargestellt — keinen Gegen-
satz zu Kausalität bildet, ist allerdings ein Unterschied zwischen me-
chanischer und organischer Kausalität. Aber nicht wegen eines be-
sonderen teleologischen Elements in der organischen Kausalität:
die teleologische Eigentümlichkeit der organischen Kausalität ist
ja objektiv nicht vorhanden; sondern wegen der besonderen Ak-
tivität des Organismus, seiner eigentümlichen Kraft, die ihn zu
einer dauernden Quelle von Wirkungen macht, die alles mit ihr
in Kausalitätsbeziehung Tretende mit besonderer Energie in einem
besonderen Sinn zu gestalten, zu beeinflussen, sich anzupassen sucht
und die auf sie geübten Wirkungen nicht einfach weitergibt, son-
i83
dem verändert, eben indem sie sich selbst in die Kausalitatsreihe ein-
drängt.
Zwar findet auch bei anderen mechanischen Körpern das gleiche
statt — eine bloße unveränderte Weitergabe einer Wirkung ist un-
möglich. Aber der Unterschied von organischer und mechanischer
Kausalität liegt eben in der besonderen Art von Kraf tj die sich beim
Durchgang eine Ursachenkette durch einen Organismus in diese
Ursachenkette einschiebt. Es ist dies das spezifisch organische Prin-
zip, welches — an sich nicht weiter analysierbar — verschiedentlich
(bes. I. Abschnitt, Kap. I) behandelt ist. Seine Wirkung ist teils
Wechselwirkung untereinander (zwischen den verschiedenen Ele-
menten); teils Gegen- und Gemeinschaftswirkung der verschiede-
nen Elemente nach außen (auf Dritte). Die Gesamtwirkung be-
steht in alledem zusanunen.
S k' Universal- und Spezialkausalität
In der Universalkausalität hängt alles in allen Beziehungen: zeit-
lich, sachlich, räumlich, qualitativ zusanunen, bildet alles eine
Einheit. Doch ist aus praktischen Gründen für Forschungszwecke
eine Sonderbetrachtung einzelner Stücke, Teile, Schichten, Glieder,
Wellenreihen der Kausalität, die durch vereinfachende Konstruk-
tion aus der Gesamtheit ausgesondert werden, vielfache Notwendig-
keit. Diese Spezialkausalität ist eine Konstruktion, eine Fiktion —
und doch methodologisch ein wertvollstes, ja unentbehrliches Hilfs-
mittel.
Als besondere Art der Spezialkausalität mag die Generalkausalität
terminologisiert werden, als diejenige Kausalität, die alle innerhalb
einer Gesellschaft verlaufenden Ursachketten zusammenfaßt.
S 5. Kausalität und Urteil
Eine objektive, absolute Kausalität kann subjektiv, relativ, teleo-
logisch beurteilt werden. Sie ist dann vom Standpunkt dieses Ur-
teils aus teleologisch.
Eine subjektive, relative, teleologische Kausalität kann objektiv,
absolut, logisch beurteilt werden; sie ist dann für dieses Urteil lo-
gisch.
Ob es „an sich" eine logische und eine teleologische Kausalität
i84
gibt, ob ein Sein und Geschehen „sji sich" dieser oder jener unter-
liegt, das gehört und fällt ins Gebiet des Transzendentalen. Für
den Menschen fällt die objektive absolute Kausalität mit der lo-
gischen zusammen und die subjektive, relative mit der teleologischen,
d. h. die Form des Urteils entscheidet darüber, ob eine Kausalität
objektiv und absolut oder subjektiv und relativ ist.
S 6. Das Verhältnis zwischen dem logischen und
dem teleologischen Urteil
Was dem logischen Urteil gleichartig ist, sofern es jedes Sein
(Ding) und jedes Geschehen (Vorgang) aus sich selbst heraus be-
urteilt, ist dem teleologischen Urteil verschiedenartig, sofern es in
jedem einzelnen Falle alles Sein und Geschehen vom Standpunkt
und unter dem Gesichtsvsrinkel nur eines bestimmten Seins oder
Geschehens aus betrachtet. Auch das logische Urteil gebraucht
Worte wie Ursache, Wirkung usw. nicht nur als exoterische, prak-
tische Behelfe; es bleibt sich bewußt, daß im Gesamtbild alles zu-
gleich Ursache und Wirkung ist, aber es bezeichnet mit jenen Wor-
ten jeweils eine bestimmte Seite, eine einzelne Eigenschaft eines
Vorganges, von dem es nie außer acht läßt, daß er auch noch an-
dere Seiten, andere Eigenschaften hat. Für das teleologische Ur-
teil wird Ursache und Wirkung zu Mittel (in weiterem Sinn) und
Zweck, die in ihrem Wesen durchaus verschieden sind und für
sich ein abgeschlossenes Ganzes bilden, dessen Abschluß der Zweck
ist und über das hinaus nur ein Verlassen des eingenommenen Stand-
punkts, nur ein neues anderes teleologisches Urteil möglich ist.
Das logische Urteil gebraucht die Ausdrücke Ursache und Wir-
kung bewußt zur Bezeichnung eines Komplexes von Ursachen und
Wirkungen, insoweit nur als praktischen, exoterischen Behelf. Das
logische Urteil sieht nur die fließend immer gleiche Reihe und
sucht das, was aus dieser Reihe zu fallen scheint, in sie einzuord-
nen. Das teleologische Urteil „teilt die fließend immer gleiche Reihe
belebend ab".
Die Prinzipien der teleologischen Kausalität sind Mittel und
Zweck — Bedingung und Bestimmung — Möglichkeit und Ver-
wirklichung und deren Wechselwirkungsverhältnis.
Die vorhandenen Mittel sind die Bedingungen und die Möglich-
i85
keiten, unter denen der Zweck durch Bestimmung, d. h. Auswahl,
verwirklicht wird. Der Zweck wird durch Bestinunung (Wahl)
einer Möglichkeit aus mehreren verwirklicht. Der Zweck ist also
Grund und Ziel der Bestinunung — causa efficiens und causa
Hnalis. Bestimmung einer Möglichkeit aus mehreren ist Verwirk-
lichung des Zwecks. Die Bestimmung (Wahl) ist Mittel und Be-
dingung der Verwirklichung des Zwecks. Die Verwirklichung ist
Mittel zum Zweck. Der Zweck kann vor den Mitteln, Bedingungen,
Möglichkeiten sein; aber die Mittel, Bedingungen, Möglichkeiten
können auch vor dem Zweck sein, wenn auch nicht als Mittel, Be-
dingungen, Möglichkeiten für ihn. Zu Mitteln, Bedingungen, Mög-
lichkeiten werden sie erst durch seine, des Zwecks, Existenz. So ist
zwar nicht in der Reihe der objektiven Erscheinungen und Vor-
gänge (nicht für das logische Urteil), wohl aber vom subjektiven
Standpunkt ihrer teleologischen Charakteristik aus der Zweck das
Primäre. Die Reihe lautet:
Zweck (causa f inalis efficiens) — Mittel — Bedingung — Mög-
lichkeit — Bestinunung (Wahl) — Verwirklichung — Zweck (causa
f inalis effecta). — Die ersten sechs Glieder der Reihe sind — lo-
gisch betrachtet — Ursache (Mittel im weiteren Sinn) ; der Zweck
als causa f inalis effecta Wirkung.
Bedingung und Bestimmung sowie Möglichkeit und Wirklich-
keit können je praktisch, in der Erscheinung zusammenfallen.
Wenn nämlich die Bedingungen so gestaltet sind, daß keine Wahl
bleibt, sondern das Ergebnis ohne weiteres, durch die Bedingungen
selbst bereits determiniert ist, d. h. wenn die Bestimmung bereits
in den Bedingungen enthalten ist; wenn nur eine, nicht mehrere
Möglichkeiten bestehen und damit diese Möglichkeit ohne weiteres
Wirklichkeit ist. Auch dann besteht der Unterschied in der teleo-
logischen Charakteristik fort, nur treffen beide Qualifikationen
denselben konkreten Vorgang. Der Unterschied bleibt als Unter-
schied des teleologischen Urteils.
Der Zweck schafft Mittel, nicht bloß, daß er objektive, prak-
tische Erscheinungen als Mittel zum Zweck charakterisiert; die
Mittel schaffen Zwecke usw. Objektiv und absolut betrachtet, ist
der Unterschied zwischen Mittel und Zweck, Bedingung und Be-
stimmung, Möglichkeit und Verwirklichung in der Erscheinungs-
i86
weit nicht vorhanden. Er ist nur durch das teleologische Urteil in
die Erscheinungswelt hineingetragen^ 9,teilt — wie gesagt — die
fließend immer gleiche Reihe belebend ab". Er besteht und dauert
trotz jener Wechselwirkung begrenzt — subjektiv und relativ, d. h.
vom besonderen Standpunkt eines begrenzten Subjektes aus, d. h.
für das einzelne bestimmte teleologische Urteil. Aber durch Ver-
schiebung, Erweiterung, Verengung des Standpunkts wird der Ge-
sichtswinkel jeweils ein anderer; was bisher Mittel war, kann da-
mit Zweck werden oder umgekehrt; Bedingung kann Bestimmung
werden usw.
Für das teleologische Urteil hat sich mit Veränderung seines
Standpunkts das Wesen des einzelnen Seins oder Geschehens durch-
aus geändert, ist das einzelne Sein oder Geschehen ein in seinem
Wesen durchaus anderes geworden.
S 7. Die immanente Transzendenz von Raum, Zeit
und Kausalität
Zeit und Raum sind nicht bloße Anschauungsformen, sondern
auch Vorstellungsobjekte und — als aufgenommene Objekte —
Vorstellungen.^) Die Kausalität ist keine bloße Kategorie für das
Verhältnis von Begriffen und Vorstellungen, sondern auch selbst
Begriff und Vorstellung.
Den Vorstellungen bzw. dem Begriff von Zeit und Raum und
Kausalität ist „a priori" die Endlosigkeit immanent. Zeit, Raum
und Kausalkette sind für den menschlichen Intellekt, sein Denken
und Vorstellen von immanenter Endlosigkeit. Sie sind im Menschen
vorhanden, in ihm entstanden und doch — obgleich seine Schöp-
fungen — von ihm nicht voll zu fassen, zu verstehen. Andererseits
folgt aus ihnen selbst ihre immanente Unendlichkeit und Unfaß-
barkeit in Verbindung mit dem intellektuellen Vollständigkeits-
bedürfnis, der Trieb, sie abschließend zu fassen im Denken und
in der Vorstellung. Dieses Abschlußbedürfnis, das sich in Religion
und spekulativer Wissenschaft auswirkt, ist an anderen Stellen näher
erörtert.
^) Verwirrender Terminus, weil zagleich das Vorstellen nnd das Vor-
gestellte bezeichnend.
187
//. Unterabschnitt: Menschliche Kausalität
S 8. Die teleologischen Kausalitätsprinzipieo im
Wechsel des teleologischen Urteilsstandpunkts
Je nach dem eingenonmienen teleologischen Urteilsstandpunkt
ist zu unterscheiden:
Individuelle und Gemeinschafts-, speziell gesellschaftliche Kau-
salität, je nachdem der Ablauf des Seins und Geschehens betrach-
tet wird vom Standpunkt des Individuums oder einer Gemeinschaft
von Individuen. Je nach dem Standpunkt verändert sich das „prin-
zipielle" Wesen der einzelnen Kausalitätsfaktoren.
Die gleiche Tatsache, die vom Standpunkt des Individuums aus
Zweck ist, kann vom Standpunkt der Gesellschaft aus Mittel sein;
was hier Bedingung, kann dort Bestimmung sein usw. Die indi-
viduelle Kausalität ist ein Bestandteil der gesellschaftlichen — ein
Satz, den man nicht ohne weiteres umkehren kann. Die gesell-
schaftliche setzt sich aus unzähligen individuellen Kausalitäten zu-
sanmien; aber sie betrachtet sie unter einem anderen Gesichts-
winkel — eben vom Standpunkt der Gesellschaft. Beide Stand-
punkte haben ihre Berechtigung. Für uns, die wir die gesellschaft-
liche Kausalität betrachten, ist der gesellschaftliche Standpunkt vor-
geschrieben.
Ein Beispiel: Gesellschaftliche Resorptionsfähigkeit. Ihre Stel-
lung unter den teleologischen Kausalitätsprinzipien wechselt je
nach dem teleologischen Urteilsstandpunkt z. B. im Falle einer Er-
findung, Entdeckung, überhaupt Errungenschaft; für die indivi-
duelle Kausalität bei Entstehung der Errungenschaft kommt sie
nicht in Frage, wenn auch die Annahme ihres Vorhandenseins als
Motiv (d. h. Mittel) mitwirken kann. Für die gesellschaftliche Kau-
salität bei Aufsaugung, Einverleibung der Errungenschaft in die
Gesellschaft ist sie eine wesentliche Bedingung.
Es gibt verschiedene Typen der gesellschaftlichen Kausalität z. B.
je nach der verschiedenen Mischung der Antriebe aus den verschie-
denen Sphären, und zwar nach Zahl, Art, Dauer, Intensität, Reihen-
folge und Form ihrer Verflechtung.
Aber überall herrscht dasselbe Bewegungsgesetz, dieselbe Kau-
salität — nur in verschiedenen konkreten Erscheinungsformen.
i88
S g. Schema für die spezielle Untersuchung
Wie ist die Kausalität eines konkreten geschichtlichen Vorgangs zu
untersuchen?
Zunächst ist die Entwicklung der wichtigen einzelnen Seiten des
gesellschaftlichen Seins, soweit möglich, gesondert zu verfolgen, z. B.
Zeitalter der Entdeckungen:
1. Wirtschaftliche Entwicklang (Landwirtschaft, Industrie, Handel,
Verkehr), Beschaffang (Produktion oder Handel, Rauh oder Tausch)
und Verteilung (Handel usw.) der gesellschaftlichen Bedarfsmittel;
ihre Formen; ihre Träger.
2. Politische Entwicklung (die politischen Oehilde ; Staaten usw.; ihre
Beziehungen; ihre inneren Verhältnisse).
3. Soziale Entwicklung (die Gesellschaften, ihre Beziehungen, ihre
inneren Verhältnisse, Gliederung im Kreise, besonders Geschlechter,
Ehe usw<).
4. Entwicklung des Kriegswesens.
5. Entwicklung der Wissenschaft.
6. Entwicklung der Technik (angewandte Wissenschaft).
7. Entstehung der einzelnen «Errungenschaften", ihre natürlichen
sozialen und persönlichen Bedingungen (besonders Erkenntnisse,
Erfindungen, Entdeckungen).
8. Die Resorption («Nutzbarmachung" usw.) der «Errungenschaften"
(die natürlichen, sozialen, persönlichen Bedingungen dieser Re-
sorption).
9. Entwicklung der Weltanschauungswissenschaft (Philosophie).
10. Entwicklung der Religion.
11. Entwicklung der Kunst.
12. Überschuß-Entwicklung (im unterschied zur Notsphäre).
Dann sind die Verknüpfungen zwischen diesen einzelnen Seiten zu
untersuchen.
Dann ist das Gresamtbild zu erfassen — eine Zusammenfassung, ein
Pazii
S lo. Ursache im praktischen und theoretischen
Sinn. Begriff und Wesen der Ursache in der Er-
fahrungswissenschaft
I. Die erste Ursache.
Nur die transzendentale Hypothese, die metaphysische Spekula-
tion mag eine erste Ursache zu konstruieren versuchen. Für die
Erfahrung gibt es keine erste Ursache; die Kausalitätskette verliert
sich allenthalben nach rückwärts ins Endlose sowie auch nach vor-
wärts, so daß es für die Erfahrung keine Endwirkung gibt.
189
Nur zum praktischen Behelf kann bei Untersuchung eines Ein-
zelfalles von Kausalität — je nach dessen Abgrenzung — eine Ur-
sache, von der man der Vereinfachung halber seinen Ausgang
nimmt, als erste bezeichnet werden.
II. Die Elemente der Kausalität; einfache und zu-
sammengesetzte Ursachen.
Was ist eine „Ursache*'? Jedes Glied einer Kausalkette, das zu-
nächst als eine Individualität erscheint, entpuppt sich bei näherer
Prüfung als ein unendlich Zusammengesetztes, dessen Zergliede-
rung auch menschliche Analyse ins Unendliche fortsetzen kann,
als eine endlose Kausalreihe und sogar ein Komplex aus zahllosen
Kausalreihen, von denen jede endlos ist.
Die „einfache" Ursache ist ein transzendenter Begriff. Wer
darauf bestände, nur „elementare'' Ursachen, nur die Elemente der
Kausalität als Ursachen zu bezeichnen und zu behandeln, käme zu
keiner Untersuchung, wäre zur Unfruchtbarkeit verdanunt. So ist
jede Erfahrungswissenschaft genötigt, als Behelf mit „Ursachen"
zu operieren, die keine Elemente der Kausalität, sondern Zusammen-
fassungen zahlloser solcher Elemente sind. Sie bezeichnet und be-
handelt als „Ursache" solche Erfahrungstatsachen, die nach der
jeweiligen Aufgabe der Untersuchung zweckmäßig als Einheiten
behandelt werden, so daß dieselbe Erfahrungstatsache bei Wechsel
der Aufgabe (z. B. des Umfangs des untersuchten Erfahrungs-
vorgangs) bald als eine Ursache erscheint, bald in eine Anzahl von
Ursachen zerfällt. — „Ursache" ist also für die Erfahrungswissen-
schaft nur ein praktischer Terminus, kein theoretischer Begriff.
Wie mit der Ursache, verhält es sich auch mit der Wirkung.
S II. Kategorien der Wirkungen
Erste (unmittelbare) Wirkung, Zwischenwirkung und Schluß-
(End-)wirkung sind zu unterscheiden, aber jeweils nur vom Stand-
punkt eines bestimmten Planes oder sonstigen Untersuchungs-
objekts, je nach dem Umfang des betrachteten Erfahrungsvor-
ganges. Denn theoretisch gibt es keine Endwirkung, ist die Kau-
salkette unendlich und jede Wirkung nur eine neue Ursache, ein
neues Glied in ihr. Für die praktische Betrachtung aber kann je
190
nach dem Umfang des Untersuchungsobjekts dieselbe Wirkung so-
wohl die Endwirkung wie nur eine Zwischen- oder die erste Wir-
kung sein. .\lle Wirkungen bis zu der Endwirkung sind Ursachen
für diese Endwirkung, Glieder in der Kausalkette. Sie sind nur
Wirkungen, sofern sie von anderen Faktoren bestimmt sind, Ur-
sachen, sofern sie andere Faktoren bestimmen. Jede Tatsache ist
zugleich Wirkung und Ursache — zwei Seiten der gleichen Er-
scheinung. Die Endwirkung wird von der praktischen Betrachtung
der Erfahrungswissenschaft aus dem weiteren Zusammenhang ge-
löst; von ihrem Ursachencharakter wird abstrahiert; auch dies ist
nur ein praktischer Terminus.
S la. Kategorien der gesellschaftlichen Ursachen
A. Übersicht über die Einteilung:
Kategorien der Qualität,
Kategorien der Zahl,
Kategorien der Yertretbarkeit und Ersetzbarkeit,
Kategorien des Ursprungs,
Kategorien des Verhältnisses zum menschlichen Wissen, Wollen
und Können,
Kategorien der Intensität,
Kategorien der Funktion,
Kategorien der Reihenfolge,
Kategorien der Komplexität.
B. Im Besonderen:
I. Kategorien der Komplexität der Ursachen nach der Ver-
bindung mehrerer Ursachen, je nachdem dieselbe Ursache in meh-
reren Kausalreihen zugleich oder nur in einer wirkt,
Kategorien der Komplexität mehrerer Kausalreihen je nach dem
Grad der „Ausschließlichkeit''.
II. Kategorien der Funktion.
Je nach der funktionellen Rolle, die eine Ursache jeweils in einem
konkreten Kausalprozeß spielt, ist sie die entscheidende oder eine
unterstützende.
Die Unterscheidung ist wertbeurteilend, nicht objektiv rein ana-
lytisch.
Das Kriterium ist weder die Reihenfolge: Die Ursache, die als
letztes Glied der Kaosalkette unmittelbar vor der Wirkung steht
und die Wirkung unmittelbar auslöst (die unmittelbare Ursache),
ist zwar als Verbindungsglied im Zusammenhang der Kausalkette
ebenso notwendig, unentbehrlich wie alle anderen Ursachen, kann
aber eine ganz untergeordnete Rolle — als nur unmittelbare Ver-
anlassung — spielen, sie kann natürlich auch zugleich die ent-
scheidende sein. Noch ist das Kriterium die Intensität: eine Ur-
sache kann, in ihrer erfahrungsmäßigen Erscheinung für sich be-
trachtet, eine Tatsache höchster Eindringlichkeit, Auffälligkeit und
Kraft darstellen und kann doch in der betrachteten Kausalkette
eine nebensächliche Rolle spielen, während sie unter Umständen
in vielen anderen Kausalketten außerdem wirkt. Wenn die Be-
trachtung auf ein größeres Objekt ausgedehnt wird, das auch noch
andere Kausalketten umfaßt, in denen die betreffende Ursache
wirkt, so kann sie in diesem umfassenderen Komplex nunmehr ent-
scheidend sein.
Das Kriterium ist vielmehr ein solches des Werturteiles:
es kommt darauf an, welche Ursache im Entwicklungsprozeß von
dem Gesichtspunkt aus, von dem, und in dem Bereich, in dem er
jeweils untersucht wird, dem Geschehen das charakteristische Ge-
präge aufdrückt, das Schlußergebnis, die Wirkung in ihrem We-
sen nach diesem Gesichtspunkt hauptsächlich bestimmt.
Von allen Ursachen gilt, was oben von den mehrfach wirkenden
gesagt ist: Je nach der Abgrenzung des Vorgangs, dessen Kausa-
lität untersucht wird, kann dieselbe Ursache nur unterstützend oder
entscheidend sein.
Eine ähnlich geartete funktionelle Unterscheidung ist diejenige
in mehr oder minder wichtige, in die man die unterstützenden Ur-
sachen unterscheiden kann — auch hier ein subjektives Werturteil
je nach der Aufgabe.
III. „Notwendige** Ursachen im Verhältnis zu wichtigen und ent-
scheidenden Ursachen.
Es liegt im Wesen der Kausalkette, daß jedes Glied in ihr, auch
das unscheinbarste, notwendig ist; daß beim Fehlen irgendeines
Gliedes — auch des unscheinbarsten — die große Kausalkette zer-
fällt, die sonst eintretende Wirkung nicht eintritt. Alle Ursachen
192
#^
sind notwendig, unentbehrlich für die Wirkung. In diesem Sinn
sind alle Ursachen gleichwertig, gleichwesentlich für den Erfolg.
Wenn die Ursachen in mehr oder minder wichtige und in entschei-
dende und unterstützende unterschieden werden, so ist das Kri-
terium ein durch die jeweilige Aufgabe (Zweck) der Untersuchung
bestinuntes werteinteilendes.
lY. Kategorien der Reihenfolge.
Je nach der Reihenfolge in der Kausalkette sind zu unterscheiden:
die erste Ursache, die Zwischenursache, die unmittelbare Ursache,
welch letztere, wenn sie nicht auch die entscheidende Ursache ist,
als unmittelbarer Anlaß bezeichnet wird, der vor anderen nur unter-
stützenden Ursachen sich nur durch seine Stellung in der Reihen-
folge der Kausalkette hervorhebt, dadurch, daß er am augenfällig-
sten mit der Wirkung, die er unmittelbar auslöst, verknüpft ist.
V. Die Umstände und Tatsachen, die als gesellschaftliche Ur-
sachen wirken, sind:
I. entweder
a) allgemeine und dauernde oder
b) allgemeine und nicht dauernde;
a. entweder
a) besondere und dauernde oder
b) besondere und nichtdauemde.
Von der absoluten Allgemeinheit und Dauer zur absoluten Beson-
derheit und Nichtdauer gibt es zahllose Obergänge. Wir müssen
alle Erfahrungstatsachen in dieses Übergangsbereich rubrizieren.
Für unsere Erfahrung kommen als Extreme der Allgemeinheit und
Dauer solche Tatsachen in Betracht, die vom Standpunkt des
menschlichen Fassungsvermögens approximativ: allgemein oder be-
sonders, und approximativ: dauernd oder nichtdauernd sind.
Ein Beispiel zu i a) ist: daß die Menschen atmen und essen
müssen.
Und zwischen diesen Extremen wiederum liegt die große Über-
zahl aller Tatsachen. Für die wissenschaftliche Betrachtung von
Erfahrungsvorgängen darf diejenige Tatsache als in concreto und
relativ allgemein und dauernd bezeichnet werden, die für diesen
Vorgang selbst, d. h. für die dabei in Betracht kommenden Faktoren
und für den dabei in Betracht kommenden Zeitraum praktisch all-
18 Ii«bkn«ebt, Stadien IQS
gemein und dauernd sind; und entsprechend andere als in concreto
und relativ nicht-allgemein und nicht>dauernd. Auch bei dieser
relativen Betrachtung konkreter Erfahrungsvorgänge liegt dieMehr-
zahl der wirkenden Tatsachen zwischen diesen relativen Extremen»
werden sie auch von diesem Standpunkt aus nur in höherem oder
geringerem Grade allgemein oder besonders, dauernd oder nicht-
dauernd sein.
VI. Unwesentliche und wesentliche Ursachen.
I. Betrachten wir Entwicklungsvorgänge (z. B. gesellschaftlich
wesentliche Ursachen) und suchen nach der Ursache der Entwick-
lung, d. h. der Veränderung, so erscheinen zunächst gerade Tat*
Sachen, die in der kritischen Zeit allgemein sind oder je mehr sie
allgemein, um so mehr unwesentlich für die Kausalität zu sein; ge-
rade sie können vermöge ihrer Allgemeinheit und Dauer beliebig
ersetzt werden. Diese Paradoxie löst sich jedoch bei genauerer
Untersuchung. Unwesentlich (zuweilen auch „zufällig" genannt)
ist auch dann m'cht die betreffende Tatsache, sondern nur die Er-
scheinungsform, in der sie in concreto auftritt. Es ist zwar un-
wesentlich, daß Müller den Mobilmachungsbefehl ausfertigt, aber
doch nur darum, weil und sofern es andere ebenso geeignete Hilfs-
organe in Fülle gibt, die ihn beim Fehlen Müllers ausgefertigt hätten
und. weil und sofern es überhaupt andere Mittel gibt, den Mobil-
machungsbefehl in Wirksamkeit zu setzen. Nur die Erscheinungs-
form der Inwirksamkeitsetzung ist nebensächlich; das Inwirksam*
keitsetzen selbst ist wesentlich. Das heißt also: Nicht, wie es zu-
nächst schien, das Allgemeine ist unwesentlich, sondern das „Zu-
fällige" (Nebensächliche) in der Erscheinungsform des Allgemeinen
ist unwesentlich, das Allgemeine dagegen wesentlich. Auch jeder
gesellschaftlichen Kausalität liegen die allgemeinen Naturgesetze,
die allgemeinen Eigenschaften des organischen Wesens, des Men-
schen und jeder menschlichen Gesellschaft zugrunde; und der ge-
sellschaftlichen Kausalität bei einem concreten Vorgang die all-
gemeinen, natürlichen, gesellschaftlichen und psychisch-geistigen
Bedingungen, unter denen er sich abspielt.
Nebensächlich (unwesentlich) ist dasjenige Glied in der Kau-
salitätskette oder die Eigenschaft eines solchen Gliedes, die belie-
big vertretbar sind (fungible Tatsachen), für die, wenn sie ausfielen»
mit approximativer Gewißheit ein approximativ gleichwertiger und
gleichartiger Ersatz approximativ zu gleicher Zeit vorhanden ge-
wesen wäre (ersetzbare Tatsache) i und nur^ sofern und soweit dies
der Fall. Unwesentlich ist also eine Ursache, ein Glied in der Kau-
salitätsreihe, sofern es kein Glied in der Kausalitätsreihe, keine
Ursache ist: dieses Paradoxon, das zugleich Tautologie ist, macht
den Schluß.
Der Grade dieser Unwesentlichkeit sind unzählige — wie der
Grade der Allgemeinheit und der Dauer.
2. Die allgemeinen imd besonderen Ursachen und ihr Verhältnis
zu den unwesentlichen.
Indessen bleibt die Frage, inwiefern das Allgemeine, Dauernde,
Unveränderte Veränderungen (Entwicklungen) verursachen kann?
Sofern dieses Allgemeine, Dauernde und Unveränderte gerade das
Gesetz der Veränderung, der organischen Höherentwicklungstriebe
ist, beantwortet sich die Frage von selbst. Dieses Allgemeine,
Dauernde, Unveränderte ist das Prinzip der Entwicklung selbst,
ohne das diese nicht bestehen würde und in dem sie allein besteht.
Die besonderen Vorgänge der Entwicklung in ihren verschiedenen
Formen und Phasen sind notwendig durch besondere Ursachen be-
stinunt. Die Abweichung der äußeren und inneren Entwicklungs-
bedingungen in den verschiedenen Fällen ist die Ursache der Ab-
weichung dieser Vorgänge und ihrer Ergebnisse. Wie jede Ent-
wicklung ist die gesellschaftliche Entwicklung eine ununterbrochene
Folge solcher besonderen Vorgänge. Sofern man nicht die Ur-
sache der Entwicklung an und für sich, den Grund, inwiefern über-
haupt irgendeine Entwicklung möglich ist, sucht, sondern den kon-
kreten Entwicklungsgang, die besondere Eigentümlichkeit des Pro-
zesses und die Verschiedenheit der Formen, die in der Entwicklung
aufeinander folgen, erklären will, muß man also die Abweichungen
der äußeren und inneren Entwicklungsbedingungen betrachten.
Wie das Allgemeine der Entwicklung aus der Allgemeinheit der
organischen und anorganischen Grundgesetze zu erklären ist, so
das Besondere der einzelnen Entwicklungsprozesse, -formen und
-ergebnisse aus der Besonderheit der jeweiligen Bedingungen.
Hieraus folgt, daß z. B. das „Allgemein-Menschliche" nicht die
entscheidende Ursache für die Verschiedenheit der Gresellschafts-
18* ig5
formen ist| sondern Fortsetzung einer der allg<»neinen Entwick-
lungsantriebe und Gestaltungskräfte; während die Besonderheit, die
es unter den besonderen äußeren und inneren Bedingungen ange-
nommen hat, jene Verschiedenheit erklärt.
YII. Zufällige und nicht-zufällige Ursachen.
Kategorisiert nach ihrem Verhältnis zur menschlichen Erkenntnis
zerfallen die Ursachen in:
a) vorhergesehene und unvorhergesehene (tatsächlich zufällige),
b) berechnete und unberechnete (tatsächlich zufällige),
c) berechenbare und unberechenbare (notwendig zufällige) Ur-
sachen.
Unberechenbar (notwendig zufällig) ist hier im Verhältnis zu dem
jeweils gesellschaftlich Möglichen und entwicklungsmäßig Postu-
lierten gem^t, nicht im absoluten Sinne für jede erreichbare
menschliche Entwicklungsstufe. Man kann vollkommene und un-
vollkommene Berechenbarkeit unterscheiden, je nachdem das Ob,
Wie, Wo, Wann usw. genau oder nur approximativ, mit Wahr-
scheinlichkeit vorausberechnet werden kann, wobei es alle Grade
der Wahrscheinlichkeit — relative Berechenbarkeit oder relative
Unberechenbarkeit — gibt bis zur Grenze der Unberechenbarkeit.
Im übrigen bedarf der Unterschied dieser Unterkategorien keine
Erläuterung.
Die unvorhergesehenen, tatsächlich und notwendig zufälligen Ur-
sachen können unwesentlich, aber auch wesentlich, sie können vei^
tretbar und ersetzbar oder unvertretbar, unersetzbar sein; sie kön-
nen entscheidend und unterstützend sein usw. Häufig war der Zu-
fall eine entscheidende und — wenigstens mehr oder weniger —
relative und für mehr oder weniger lange Zeit oder großes Gebiet
unvertretbare, unersetzbare Ursache gesellschaftlich wichtiger Wir-
kungen (z. B. Erfindungen, Entdeckungen).
Je größer die wissenschaftlichen Erkenntnisse, je bewußter die
menschliche Lebensführung, je klarer erkannt die Möglichkeiten
und Richtlinien der menschlichen Entwicklung werden, je berech-
neter der menschliche Daseinskampf, lun so weiter treten die un-
berechenbaren und unberechneten, unvorhergesehenen Ursachen
hinter den berechenbaren, berechneten, vorhergesehenen Ursachen
zurück, um so höher steigt der Grad der Berechenbarkeit zu immer
196
größerer Vollkommenheit; das Gebiet des Zufalls wird durch. das
des Bewußtseins und der Berechnung eingeschränkt, kein Sprung
zwar aus dem Reich des Zufalls in das der Einsicht, aber eine all-
mähliche Eroberung des ersteren durch das letztere.
VII a. „Zufall" auch im Wesen des Experimentierens. Ist doch
Experimentieren nichts anderes als planmäßiges Absuchen eines ge-
wissen Bereiches auf bisher Unbekanntes, auf „Zufall". Das Ex-
perimentieren kann Nichtgesuchtes finden lassen, dann ist der zu-
fällige Charakter evident. Aber auch, wenn es das Gesuchte ergibt,
greift der Zufall ein — nur eingeschränkter, spezieller. Im Wesen
des Versuchens liegt, daß ein Moment, dessen Kenntnis erheblich
ist, noch unbekannt ist; dessen Kenntnis wird eben im Experiment
gesucht. Es wird gesucht in einem Bereich, der nach dem Gesichts-
punkt der Gewißheit oder größter Wahrscheinlichkeit, daß sich
in ihm das gesuchte Unbekannte befinde, abgegrenzt ist, und zwar
auf eine Weise, von der nach dem gleichen Gesichtspunkt die beste
Aussicht des Erfolges besteht. In der Anwendung dieses Gesichts-
punkts liegt das Planmäßige, Systematische des Versuchs. Aber
es kann gefunden werden nur, indem eine Möglichkeit, mit der man
nach dem Plane gerechnet hat, durch Umstände, die man nicht
kannte und nicht berechnete, zur Wirklichkeit wird. Das Ein-
greifen, das Gegenübertreten dieser Zustände ist eben der Zufall —
als notwendiges Element des Experiments. Alles Finden, auch das
planmäßigste, führt nur durch einen — und wenn noch so einge-
schränkten, begrenzten und erwarteten — Zufall zum Finden.
VIII. Kategorisiert nach ihrem Verhältnis zum menschlichen
Wollen zerfallen die Ursachen in gewollte und ungewollte und
willenswidrige Ursachen, sowie in erstrebte und nicht erstrebte.
I. Die ungewollten können doch erwünscht sein, sind jedenfalls
nicht notwendig dem Willen entgegen. Aber sie können auch das
sein.
Die ungewollten können wichtige, entscheidende sein, oder un-
wichtige, nur unterstützende. Sie können vorhergesehene oder un-
vorhergesehene sein, berechnete oder unberechnete, berechenbare
oder unberechenbare.
3. Erstrebte sind solche gewollte Ursachen, in bezug auf die steh
das Wollen aktiviert. Streben ist aktiviertes Wollen. Ein vernünf-
197
tiges Streben ist nur möglich bei Beeinflußbarkeit« die wiederum
praktisch eine — wenn auch nur unvollkommene — Berechenbar-
keit voraussetzt.
IX. Kategorisiert nach ihrem Verhältnis zum menschlich^i
Können zerfallen die Ursachen in beeinflußbare und unbeein-
flußbare.
1 . Unbeeinflußbar ist hier im Verhältnis zu dem jeweils gesell-
schaftlich Möglichen und entwicklungsmäßig Postulierten gemeint«
nicht absolut im Verhältnis zu jeder erreichbaren menschlichen Ent-
wicklungsstufe. Es gibt vollkommene und unvoUkommene Beein-
flußbarkeit der verschiedensten Stufen, je nach dem Maße und
Wahrscheinlichkeitsgrade, in dem das Ob, Wie, Wann, Wo einer
Ursache beeinflußt werden kann.
2. Beeinflußbarkeit setzt nicht Berechenbarkeit voraus; auch das
absolut Unberechenbare kann theoretisch beeinflußbar sein. Jedoch
kann die Beeinflußbarkeit des absolut Unberechenbaren praktisch
nicht zielstrebig ausgenutzt werden. Zielstrebige Ausnutzung der
Beeinflußbarkeit setzt Voraussicht, Berechenbarkeit voraus, wenn
auch nur relative, nur unvollkommene Wahrscheinlichkeitsberechen-
barkeit. Eine dauernde — k tout prix — Wirksamkeit muß auch
auf das relativ Unberechenbare, das nur mit Wahrscheinlichkeit
Berechenbare, wenn es kommt, Einfluß üben: vgl. Blitzgefahr —
Blitzableiter. Die Kultur besteht zum großen Teil in Dauer-
einrichtungen zur Beeinflussung des relativ Unberechenbaren (neben
der Erweiterung des Bereiches der Berechenbarkeit und der Ver-
größerung der Beeinflussungsmacht, das heißt der Einschränkung
des Bereichs des Unbeeinflußbaren, der „höheren Gewalt").
3. Das Voraussetzbare, Berechenbare braucht keineswegs beein-
flußbar zu sein. Man denke an das Werden und Vergehen der Or-
ganismen, an die kosmischen Vorgänge. Das dem menschlichen
Willen gegenüber unbedingt Berechenbare ist unbedingt nicht-
beeinflußbar. Es bedarf näherer Abgrenzung der Begriffe, schär-
ferer Beleuchtung des Begriffsinhalts, um das Verhältnis beider
Kategorien festzustellen.
4. Im voraus berechenbar ist ein künftiges Ereignis, sofern alle
Faktoren der Kausalität, die zu ihm führt, im voraus bekannt sind,
wobei es sich um eine einzige Kausalreihe oder um mehrere irgend-
198
wie zusammenwirkende handeln kann; das zu berechnende Ereignis,
das in der zunächst den Gegenstand unserer Untersuchung bilden-
den Kausalkette als eine praktisch-empirische einfache Tatsache
erscheint, löst sich also bei dieser näheren Prüfung in einen Kom-
plex verwickelter Ursächlichkeit auf. Die allgemeine Ursächlichkeit
tritt uns, je näher wir den Einzelfall betrachten, um so deutlicher
in ihrem Infinitesimalcharakter entgegen; jeder jener Kausalitäts-
faktoren, die zu dem zu berechnenden künftigen Ereignis führen,
ist wiederum ein Komplex; wir fassen ihn jedoch aus praktischen
Gründen im Erfahrungssinne oder doch terminologisch als eine
Einheit, der wir erfahrungsmäßig-praktisch-zusammenfassend im
ganzen die Eigenschaft des Bekanntseins oder Unbekanntseins bei-
legen, mit dem Vorbehalt einer weiteren Zergliederung auch jedes
dieser Faktoren, falls es unser Zweck, unsere Aufgabe erfordert.
Diese Faktoren oder irgendeiner ihrer Unterfaktoren, deren Er-
gebnis sie ihrerseits sind, können außerhalb des menschUchen Macht-
bereichs liegen oder innerhalb desselben, sie können geradezu
menschliche Faktoren sein.. Sie können durch ein menschliches Ein-
greifen aus der berechneten Kausalitätsreihe entfernt oder in ihr
verändert werden, so daß ein anderes Ergebnis als das berechnete
eintritt: dann ist das Ereignis, das die Ursache ist, beeinflußbar.
Beeinflußbarkeit li^t also vor, wenn die bekannte, zu dem Ereignis
hinführende Kausalitätskette durch menschliches Eingreifen derart
umgeändert werden kann, daß das Ereignis nicht in der vorher-
berechneten Art eintritt. Dabei ist die Berechenbarkeit zunächst
unter einem Vorbehalt, bedingt verstanden: nur in bezug auf die
Faktoren, die, abgesehen vom eigenen Eingreifen, in Frage konunen;
unter Außerachtlassung der durch eigenes Eingreifen gegebenen-
falls hervorzurufenden Wirkungen, unter dem Vorbehalt der spä-
teren Prüfung, ob und ev. wie auf die mit dieser Ausschaltung be-
rechnete, vorauserkannte Kausalitätsreihe durch eigenes Eingreifen
eine das Ergebnis ändernde Einwirkung geübt werden kann. Auch
dieses Eingreifen wird sodann berechnet. Das Einschalten dieses
berechneten eigenen Eingreifens in die auch im übrigen berechnete
Kausalitätsreihe ist die Beeinflussung der beeinflußbaren Ursache.
Die praktisch-empirisch beeinflußbare Tatsache ist also mehr oder
weniger vollkommen oder unvollkommen berechenbar, ganz wie die
199
unbeeinflußbare Tatsache. Das Unterscheidende liegt darin, daß
bei der beeinflußbaren Tatsache einer oder mehrere der gestalten-
den Faktoren Willensentschließungen und Handlungen (oder Un-
terlassungen) des menschlichen Subjekts sind, in bezug auf das
die Frage der Beeinflußbarkeit gestellt ist, und daß also das illu-
sionäre Element der scheinbaren Willens- und Handlungsfreiheit
in die Berechnung eingreift.
5. Gewolltsein und Beeinflußbarkeit verhalten sich neutral gegen-
einander: das Gewollte kann beeinflußbar oder unbeeinflußbar
sein — d)enso das Nichtgewollte.
Nur im Bereich der Beeinflußbarkeit ist Raum für ein Streben,
d. h. für ein aktiviertes Wollen; nur in diesem Bereich kann sich
das Wollen aktivieren, in Streben gestalten, weil nur insoweit vor-
aussetzungs- und begriffsgemäß zielstrebige Aktivität möglich ist.
Beeinflußbarkeit heißt: dem aktivierten menschlichen Wollen, der
zielstrebigen Einwirkung des in Frage konmienden menschlichen
Subjekts zugänglich.
X. Fungible (vertretbare) und ersetzbare Ursachen.
1. Die Tatsachen der gesellschaftlichen Kausalitätsreihe sind
fungibel, sofern die approximativ gleiche Wirkung, die sie üben,
auch von anderen Tatsachen geübt werden kann; sie sind ersetzbar,
sofern ein solcher Ersatz für die vertretbare Tatsache in concreto
mit approximativer Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit am glei-
chen Orte tatsächlich vorhanden ist. Eine ersetzbare Tatsache muß
stets auch vertretbar sein, dagegen kann eine Tatsache vertretbar
sein, ohne daß doch in concreto Ersatz vorhanden ist.
2. Die Yertretbarkeit wie die Ersetzbarkeit kann die verschieden-
sten Grade aufweisen. Die Unvertretbarkeit und Unersetzbarkeit
kann relativ verschiedenen Grades oder absolut sein, je nachdem
sie nie und nirgends oder nur gerade im einzelnen gegebenen Fall
unvertretbar oder unersetzbar ist. — Im großen Durchschnitt und
in den großen Linien dei Gesellschaftsentwicklung spielen absolut
unvertretbare und unersetzbare Ursachen, soweit unser Urteil reicht,
nur eine unbeachtliche Rolle; in der Regel ist das hier und heute
nicht Vertretbare oder nicht Ersetzbare wenigstens dort und morgen
vertretbar oder ersetzbar.
XL Typische oder individualisierte Ursachen.
200
I. Die Tatsachen der gesellschaftlichen Kausalitatsreihe sind ty-
pisch, sofern sie nicht bloß in einem einzelnen, individuellen Fall
in dem ihnen für die Kausalität wesentlichen Charakter auftreten,
sondern in einer in diesem Sinne gleichartigen Mehrzahl, in einer
ganzen Art von Fällen. Wie groß die Zahl ist, hängt ab von dem
Charakteristikum. Sie kann von der kleinsten bis zur größten rei-
chen. Dieselbe Erscheinung der Erfahrung kann je nach der Enge
und Spezialität jenes Charakteristikums für die jew^eils betrachtete
Kausalitätsreihe typisch oder individuell sein, typisch in den ver-
schiedensten Graden der Häufigkeit.
a. Alle fungiblen und alle ersetzbaren Ursachen müssen auch ty-
pisch sein, keineswegs aber sind alle typischen Tatsachen notwendig
vertretbar, ersetzbar, da die mehreren gleichartigen Fälle nicht
gleichzeitig und am gleichen Ort zu sein brauchen. Nur die zeitlich
und örtlich koexistierenden typischen Tatsachen sind auch in der
Kausalitätsreihe vertretbar und ersetzbar; die übrigen — allerdings
nur relativ — unvertretbar oder doch unersetzbar.
3. Diejenigen typischen Tatsachen der gesellschaftlichen Kau-
salität, die so häufig sind, daß sie für die praktische Beurteilung,
d. h. für den großen Durchschnitt der Fälle mit approximativer
Sicherheit vertretbar und ersetzbar sind, seien Massenerscheinungen
genannt. Diese Massenerscheinungen zerfallen in außergesellschaft-
liche und gesellschaftliche.
XII. Einzel- und Kollektivursachen.
Sofern mehrere Erfahrungstatsachen (z. B. Menschen) zusammen
als eine Ursache, ein Glied in einer Kausalkette wirken, sind sie
eine Kollektivursache. Dieser Kollektivcharakter ist stets relativ;
er erscheint nur von einem bestimmten Gesichtspunkt aus, je nach
der betrachteten besonderen Kausalitätskette; eine andere Betrach-
tung zerlegt die Kollektivursache in ihre Bestandteile, faßt sie als
eine Reihe von kausal verknüpften Einzelursachen. Die Kollektiv-
ursachen sind entweder homogene oder homoiogene (gleichartige)
oder ungleichartige Kollektivursachen, je nachdem ihre Bestandteile
in gleichartiger Weise wirken, d. h. ihre Gesamtwirkung nur eine
einfache Summierung bzw. Multiplikation von gleichartigen Ein-
zelwirkungen ist oder eine Kooperation aus ungleichartigen Einzel-
wirkungen stattfindet.
aoi
Die KoUektivursache ist eine zusammengesetzte Ursache — eine
Ursache höherer Instanz, höherer Einheit; eine Zusammenfassung
verschiedener Einzelursachen; eine Zusammenfassung zur Erleich-
terung des Überblicks, zur Gliederung und Vereinfachung des Ge-
samtbildes der betrachteten Kausalkette; eine wissenschaftliche
HilfsYorstellung. Fast alle Erscheinungen, die wir praktische Ur-
sachen zu nennen pflegen, sind solche zusammengesetzte, sind Kol-
lektivursachen. Aber nicht nur die auf den ersten Blick einfach
erscheinende ist regelmäßig ein Komplex, eine Kollektivursache;
wir müssen nach den bisherigen Erfahrungen wissenschaftlich an-
nehmen, daß auch die Tatsache, die heute selbst dem Auge der
wissenschaftlichen Forschung einfach erscheint, von ihm nicht wei-
ter zergliedert werden kann, unendlich kompliziert, daß sie zusam-
mengesetzte, Kollektivursache ist — gleichfalls eine infinitesimale
Erscheinung.
IIL Unterabschnitt: Soziale Kausalität
Si3. Von den allgemeinen und besonderen Ursachen
in der sozialen Kausalität
I. Die Tatsachen, die allgemein oder doch so häufig sind, daß
sie zur kritischen Zeit am kritischen Ort mit approximativer Ge-
wißheit in approximativ gleicher Art vorhanden sind und wirken,
sind die wesentlichsten der sozialen Kausalität.
Die besonderen, individualisierten, nicht vertretbaren und nicht
ersetzbaren Tatsachen spielen nur in Ausnahmefällen bei Stabilität
des gesellschaftlichen Gleichgewichts eine größere Rolle in der ge-
sellschaftlichen Entwicklung. Die „Helden" — vgl. z. B. Car-
lyle — gehören nicht notwendig hierher; können vielmehr sehr
wohl in hohem Grade allgemeine und ersetzbare Erscheinungen
sein, deren Wirksamkeit nur nach dem Gang der Entwicklung eine
besonders ostentative ist, in besonders helle Beleuchtung tritt, be-
sonders repräsentativen Charakter gewinnt; die Funktion, die sie
üben, mag dann für die Entwicklung, für die Gesellschaft inner-
halb dieser Kausalität eine besonders hervorragende sein, ohne daß
ihre Leistung eine besonders hervorragende zu sein braucht und
durch die Leistung jedes anderen oder doch sehr vieler anderer
3oa
hätte ersetzt werden können und ersetzt worden wäre, wenn sie
nicht zufällig gerade ihnen zugefallen wäre.
II. Das relativ Allgemeine im Sinne der gesellschaftlichen Kau*
salität.
Das relativ Allgemeine heißt allgemein, wenn es in dem nach
seiner gesellschaftlichen Funktion für die fragliche Einwirkung
als Glied der Kausalkette in Betracht kommenden Kreis der Gesell-
schaft entweder in jedem einzelnen vorhanden ist oder doch in so
vielen, daß nach aller praktischen Erfahrung die Ausübung der
Punktion, also das fragliche Eingreifen in die Kausalität in der
postulierten Weise nach einer an praktische Sicherheit grenzenden
Wahrscheinlichkeit nicht unterbleiben wird.
III. Gesamtzusammenhang und Einzelfall der gesellschaftlichen
Kausalität.
Alles Sein ist kausal verknüpft; „Zufall*', Unwesentliches gibt
es nicht im Gesamtzusammenhang der Dinge, in der „fließend
inomer gleichen Reihe'*. Für die praktische Betrachtung des Men-
schen, für die Untersuchung im Gebiet der menschlichen Erfah-
rung, für die wissenschaftliche Erforschung einzelner aus dem
Gesamtzusammenhang genommener Teile des Geschehens liegt es
anders. Jede Loslosung aus dem Zusammenhang ist eine Kon*
struktion, die zur Vereinfachung, zur Erleichterung des Überblicks
und der Ergründung eines speziellen Punktes dient; sie zerreißt
eine Menge Fäden der allgemeinen Kausalität. Die Reste dieser
Fäden gilt es dann aus dem losgelösten Teil der Gesamtheit zu
eliminieren, so daß er den bei der Loslösung verfolgten Zweck
durch die zweckmäßigste Konstruktion so vollkommen wie mög-
lich erfüllt: das ist die Fertigstellung, der Abschluß der unternom-
menen Vereinfachung.
„Zufällig" ist danach dasjenige, was nach dem Prinzip, nach
dem ein Teil der Gesamtheit aus dem Gesamtzusammenhang ge-
danklich isoliert ist, nicht in die Konstruktion gehört, dessen Eli-
minierung nicht nur zulässig, sondern notwendig ist. Erst nach
Beseitigung alles „Zufälligen" ist die Konstruktion rein und da-
mit das Forschungsobjekt vollkommen hergestellt.
IV. Wie aus den bisherigen Untersuchungen dieses Kapitels her-
vorgeht, ist bei der Erörterung der Kausalität das Approximativ-
2Ö3
Prinzip neben dem Infinitesimal-Prinzip ein Hauptelement der
Forschungsmethode.
Si4- Der Motiven- und Wirkungswandel
I. Auch dieser Wandel vollzieht sich in infinitesimalem Pro-
zeß der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft.
Die Gesellschaft besteht nur durch die Individuen, die Individuen
nur durch die Gesellschaft. Das Individuum ist das Molekül der
Gesellschaft, die Gesellschaft eine Anzahl miteinander in Verbin-
dung gesetzter Individuen. Es existiert keine Gesellschaft außer-
halb der Individuen.
Motivenwandel heißt: Spiegelung des gesellschaftlichen Inter-
esses im sozialen Funktionär als individuelles Interesse; sekundäre
Spiegelung, Reflex dieses Spiegelbildes im Individuum selbst; zur
Vorstellung eines allgemeinen Interesses.
II. Motivenwandel und Objektswandel im Mechanismus der so-
zialen Kausalität, d. h. Wandel des erstrebten Objekts, des Be-
dürfnisobjekts, ein Wandel, der zum Motivwandel gehört als ein
Wesenszug von ihm. Auf dem Weg der sozialen Kausalität von
der Gesellschaft zum Individuiun als ihrem Funktionär und zu-
rück vom Individuum zur Gesellschaft wandelt sich mit dem Mo-
tiv als ein Bestandteil, ein Wesenszug von ihm das Objekt des
Interesses, dessen Befriedigung das Motiv des betreffenden Vor-
gangs ist. Man kann sagen, daß sich der Motivwandel als Wandel
im Bedürfnisobjekt, im erstrebten Objekt kennzeichnet, daß die
Auffassung als Objektswandel nur eine Auffassung derselben Er-
scheinung ist, wie die als Motivenwandel gekennzeichnete — nur
unter einem etwas veränderten Gesichtswinkel: jene ist präziser
als diese, sofern sie das Charakteristikum, an dem sich der Wandel
vollzieht, isoliert nimmt.
Beispiel: Die Gesellschaft braucht Pfeffer, Indigo usw. Der
Entdecker = Unternehmer und seine Leute brauchen es nicht oder
nur ganz verschwindend. Sie würden dafür keinen Finger rühren.
Sie wollen Geld gewinnen, um sich dafür kaufen zu können, was
beliebt, Macht und Einfluß und die daraus fließenden Vorteile da-
vonzutragen — auch Ruhm und Ehre, die wiederum Einfluß geben,
während die unmaterielle Ruhmbegier und ideale Motive hinter den
90/|
materiellen im Durchschnitt weit zurücktreten. Sie bringen aber
Pfeffer, Indigo usw. Die Gesellschaft ninunt sie ihnen ab, be-
friedigt damit ihr, der Gesellschaft, Bedürfnis. Das Ergebnis: Be-
friedigung sowohl des gesellschaftlichen wie des individuellen Be-
dürfnisses; das Motiv von Gesellschaft und Individuum wird zu-
gleich zum Ziel geführt: das Objekt beider zugleich erreicht.
III. Eine andere spezielle Betrachtungsweise: Nicht Wandel,
sondern vielfach Doppelheit und Verschiedenheit. Motiven-, Ob-
jekts-, Wirkungswandel wirkt nicht illusionär oder alternativ, son-
dern kumulativ sowohl im Sinne der Gesellschaft wie des Indivi-
duums. Das Motiv und Wirken des Individuums kommt zum Ziel
und damit zugleich und dadurch das Motiv und Wirken der Ge-
sellschaft. Das Motiv des Individuums ist nicht nur eine andere
Vorstellung wie das der Gesellschaft, es ist wirklich verschieden
von ihm, hat ein anderes Objekt (z. B. nicht Pfeffer, sondern Geld).
Es ist das Mittel der Gesellschaft, um ihre Bedürfnisse zu befrie-
digen.
Vom Motiven-, Objekts-, Wirkungswandel kann nur vom Stand-
punkt des gesellschaftlichen Gesamtprozesses gesprochen werden,
nur zusammenfassend und im Schlußresultat. Im Verlauf des
Kausalitätsprozesses, ihn in seinen einzelnen Stadien unterschieden
betrachtet, liegt kein Wandel, sondern Verschiedenheit. Nicht im
individuellen Wollen und Handeln, sondern mit Hilfe des indivi-
duellen WoUens und Handelns, das vom gesellschaftlichen ver-
schieden und nur sein Werkzeug ist, erfüllt sich insofern, von
diesem Standpunkt betrachtet, das gesellschaftliche Wollen und
Handeln.
IV. Kant und der Motivenwandel in der sozialen Kausalität.
„D|er Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner
Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Denn er mißbraucht gewiß
seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen und ob er gleich
als vernünftiges Geschöpf ein Gesetz v^nscht, welches der Frei-
heit Aller Schranken setzt, so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige
tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er be-
darf also eines Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und
ihn nötige, einem allgemein gültigen Willen, dabei jeder frei sein
kann, zu gehorchen." (Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte
2o5
in weltbürgerlicher Absicht, 6. Satz.) So folgert Kant aus der
«»Trennung der geistigen Gewalten" und kommt mit Montesquieu
zur Forderung der Trennung der öffentlichen Gewalten: gesetz-
gebende (souveräne Vernunftgewalt) zugleich als Kontrolle und
Gegengewicht der Exekutive; neben der Exekutive die richter-
liche Gewalt usw.
Hierin sucht Kant den Antagonismus des Individuums zur Ge-
sellschaft zu charakterisieren. Dieser Antagonismus ist aber nur
ein scheinbarer, und damit entfallen die eigenartigen politischen
Konsequenzen, die Kant zieht; in Wirklichkeit besteht nur ein An-
tagonismus der einzelnen Teile der Gesellschaft (auch der Indi-
viduen) untereinander, dessen Resultat der jeweilige Zustand der
Gesamtgesellschaft ist. Dies ist im Grunde auch Kants Meinung,
wenn er a. a. O. als zweiten Satz aufstellt: „Am Menschen sollten
sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Ver-
nunft abzielen, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum voll-
ständig entwickeln"; und als vierten — : „Das Mittel, dessen sich
die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu
bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern
diese doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung der-
selben wird", wobei er einen „Plan der Natur" anninunt, der auf
die „vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung
abzielt" (in einer „innerlich und dazu auch äußerlich vollkomme-
nen Staatsverfassung").
S i5. Die Dialektik in der Gesellschaftspsychologie
I. Sozialfunktionäre verschiedener Grade und Arten.
Bei der Verwirklichung eines einzelnen Gesellschaftsinteresses
wirkt nur ein Teil der Gesellschaftsmitglieder mit. Aber auch dieser
in verschiedenem Grade und in verschiedener Weise; und in ver-
schiedener Richtung wollend und wirkend, wobei sich erst aus den
verschiedenen, einander ergänzenden und in Interferenzen kreuzen-
den, neutralisierenden, schwächenden, verschiebenden Wirkungen
dialektisch der gesellschaftliche Effekt ergibt. Parallellaufend da-
mit sind auch die Motive in den verschiedenen Funktionären ver-
schieden, einander ergänzend, kreuzend — kurz: dialektisch
beeinflussend, gestaltend. Die Gesellschaftsinteressen werden in
ao6
dialektischer Form verwirklicht — dialektisch im Handeln, dia-
lektisch in den Motiven der vollziehenden Individuen.
IL Die dialektische Form der gesellschaftlichen Bedürfnis-
befriedigung.
„Das größte, was den Menschen begegnen kann, ist es wohl,
in der eigenen Sache die allgemeine zu verteidigen. Dann erwei-
tert sich das persönliche Dasein zu einem welthistorischen Moment",
meinte Ranke in seiner Englischen Geschichte. Nun wohl: Dieses
„Größte" begegnet in verschiedener Potenz allen Mitgliedern der
Gesellschaft. Es ist das Alltägliche, Normale, Allgemeine der so-
zialen Kausalität, der historischen Entwicklung.
Mitglied der Gesellschaft sein heißt aber keineswegs: die Zwecke
der Gesellschaft bewußt fördern.
Die Wirksamkeit der Individuen für die Gesellschaft vollzieht
sich mit Hilfe des Motivenwandels, im W^e des Wirkungs-
wandels.
Verschiedene individuelle Gesellschaftsfunktionäre ergänzen ein-
ander hierbei — unmittelbar oder indirekt — dialektisch. Die dia-
lektische Form der Ergänzung ist die charakteristische, allgemeinste,
erfolgreichste.
Antagonistisch, im Widerstreit der verschiedenen Funktionäre,
die ihre gesellschaftliche Rolle zudem gar nicht oder nur unvoll-
koamien erkennen, im Widerstreit ihrer Motive und ihrer Arbeit,
ihres Handelns und ihrer Vorstellungen, ihres physischen und psy-
chischen Verhaltens wird das gesellschaftliche Resultat geboren.
Auch der, wie „man" meint, gegen die Gesellschaft Wirkende wirkt
der Regel nach dialektisch-antagonistisch für sie — wertvoller oft
für ihre Entwicklung, die nur das Ergebnis eines Kampfes sein
kann, als die, wie „man" meint, allein für sie Wirkenden. Auch
der „das Böse" will, schafft auch hier zumeist das Gute. Die Art
und der Wert der Wirksamkeit des Individuums in dem bunten
Gewebe und Flechtwerk der gesellschaftlichen Interferenzen weicht
in der Regel sehr ab von der eigenen Ansicht des Individuums und
von der Einschätzung durch die zeitgenössische öffentKche Mei-
nung; voUkonunen klare Einsicht ist schon wegen der zeitlichen,
räumlichen, ursächlichen, quantitativen und qualitativen Unendlich-
207
kelt und Unübersehbarkeit aller kausalen Ausstrahlungen un-
möglich.
III. Von den direkten und indirekten Wirkungen und Aktionen
in der Gesellschaftsentwicklung.
Es ist hier die Rede von Erscheinungen in der gesellschaftlichen
Kausalität, wie sie in der Politik täglich drastisch vor Auge treten
infolge der Gegensätze zwischen verschiedenen Teilen derselben Ge-
sellschaft oder, bei zwischengesellschaftlichen Beziehungen, infolge
der Gegensätze zwischen den verschiedenen Gesellschaften und ihren
Teilen.
Beispiele: Befestigung der Stellung eines politischen Faktors
durch Angriff auf ihn; — weiter: die Kausalität der inter-
nationalen Propaganda: Angriff gegen auswär-
tige Regierung bewirkt deren Festigung; Angriff
auf eigene Regierung lost auch Angriffe auf aus-
wärtige Regierung in deren Lande aus usw. — Der
Fall der trügerischen Einlullung der Massen, ihrer Beruhigung
durch Scheinaktionen, der Erschleichung ihres Vertrauens, um sie
unter dem Schein der Aktion aktionsunfähig zu machen, gehört z.T.
auch hierher.
Actio per reactionem — Reactio per actionem.
Das Aktive und das Reaktive in der Politik.
Die Wirkungsperversion (= Umkehrung).
Alle Paradoxie der gesellschaftlichen Kausalität infolge der Kom-
pliziertheit der Gesellschaftsstruktur gehört hierher.
S i6. Abschwächung des Wirkungswandels durch
Integration
L Nachteile des Motiven-, Objekts- und Wirkungswandels.
Die Vorzüge des verwickelten Weges, den die soziale Kausalität
im Motivenwandel geht, liegen zutage: Die Ausnützung der An-
sporne, in denen sich im Individuum, durch die organische Dif-
ferentiation aufs höchste zugespitzt, die elementarsten organischen
Artbedürfnisse ausprägen und zur Befriedigung drängen, die Dif-
ferentiation der Bedürfnisse und damit deren Konzentration und
stärkere Triebkraft; der technische Sinn der organischen Entwick-
208
lung in der Differentiation zeigt sich auch hier. Und doch stehen
diesen Vorzügen Nachteile gegenüber, sofern in den Kämpfen und
Gegensätzen in fortgesetzter Reibung Kräfte aufgezehrt werden,
die zum Vorteil der Gesamtentwicklung gespart werden können,
wenn und soweit es möglich ist, diese krafthemmende, kraftver-
zehrende Wirkung der Reibung aufzuheben, ohne zugleich ihre
kraftsteigernde Wirkung in gleichem Maße zu beseitigen. Die In-
tegration in ihren mannigfaltigen Formen dient dem Zwecke, diese
Möglichkeit zu realisieren.
II. Es ist die Ersetzung der indirekten durch die direkte Wir-
kungsweise, des indirekten durch den direkten Weg der Kau-
salität.
Zu Zeiten tritt das gesellschaftliche Bedürfnis so deutlich zu-
tage, daß die Individuen befähigt sind, es auch zu erkennen; deckt
es sich so sehr mit den individuellen Interessen und sind die Indi-
viduen so befähigt, auch diese Identität zu erkennen, daß z. B. die
Individuen, die noch soeben (der Umschwung kann ganz plötzlich
kommen) nur ihre individuellen Hungerbedürfnisse erkannt und
vertreten hatten, nun plötzlich erkennen, daß ihrer Not nur durch
Abänderungen gesellschaftlicher Einrichtungen, durch soziale, wirt-
schaftliche, politische Neuorganisation oder andere gesellschaftliche
Maßnahmen — z. B. Beendigung eines Krieges — gesteuert werden
kann. Das materielle Interesse des Individuums wird zur Idee, in
der das individuelle und soziale Interesse zur Einheit verschmolzen
sind. Und sie handeln danach: Aus dem Schrei nach Brot wird
die Revolution. Auch sonst ist der Motiven- und Wirkungswandel,
die Abweichung zwischen allgemeinem und Sonderinteresse nicht
in allen Fällen und nicht bei allen Individuen als gesellschaftlichen
Funktionären gleich stark.
Und die Entwicklung geht in der Richtung auf eine allmähliche
allgemeine Abschwächung der Wandlung, auf Verringerung des
Unterschieds der Abweichung: die Einsicht in Wesen und Bedürf-
nisse der Gesellschaft wächst, der Entwicklungsprozeß wird (wenn
auch viel weniger und viel langsamer als zumeist gemeint — trotz
aller Literatur, Parlamente, Versammlungen, Kooperationen und
sonstigen sehr unvollkommenen psychisch - geistigen Clearing-
Institute) inuner mehr ein bewußter. Was aber viel mehr als dieses
14 Xa«t>kn60ht, Stadien 209
wesentlich intellektuelle Moment bedeutet: das gesellschaftliche In-
teresse deckt sich mehr und mehr und immer unverkennbarer mit
dem individuellen, mit dem eines immer größeren Kreises und
schließlich aller Individuen, soweit sie Gesellschaftsmitglieder sind.
Das ist die Haupttatsache, aus der die Möglichkeit der sozialistischen
Gesellschaft und die Wirklichkeit der sozialistischen Bewegung zur
Verwirklichung dieser Gesellschaftsordnung erwächst. Die Inte-
gration ist Aufhebung eines großen Teiles der Nachteile, die aus
der Reibung im dialektischen Wandlungsprozeß hervorgehen, eines
großen Teiles dieser Nachteile, nämlich desjenigen, der ohne Schwä-
chung der sozialen Gesamtkraft entbehrt werden kann.
S 17. Individuen und Gesellschaft
Wir sehen, wie das Individuum der Gesellschaft für ihre Zwecke
dient, als Werkzeug der Gesellschaft. Heißt das: das Individuum
ist für die Gesellschaft da? Ist nicht vielmehr die Gesellschaft für
das Individuum da? Ist nicht, wenn das Individuum den Zwecken
der Gesellschaft dient, der Zweck der Gesellschaft wiederum das
Wohl des Individuums? Wird das Wesen des Individuums durch
seine gesellschaftliche Funktion erschöpft?
Diese Kontrastierung löst sich letzten Endes in eine Illusion auf.
Individuum und Gesellschaft sind nicht zu trennen. Sie sind nichts
Verschiedenes, nicht zweierlei, sondern das gleiche, eine — nur unter
verschiedenem Gesichtswinkel angesehen.
Die Menschen sind nur in der äußeren Erscheinungsform von-
einander getrennt, als eine Anzahl verschiedener Individuen. Wür-
den sie auch körperlich zu einem einzigen Gesamtorganismus ver-
bunden sein — nach der Art des Einzelorganismus selbst, der ja
eine Zusammenfassung zahlloser kleiner Einzelorganismen ist — ,
so wäre das evident. Die physische und psychische Individualisie-
rung der Menschen ist nur ein Differentiationsvorgang, der den
Lebensprozeß des ganzen Einen erleichtert, vervollkommnet. Die
äußere Trennung bedeutet aber nicht, daß der äußerlich scheinbar
verselbständigte Teil vnrklich selbständig ist mit eigenen vom Gan-
zen lostgelösten Zwecken, Kräften, Möglichkeiten. Selbst der kör-
perliche Zusammenhang ist nur scheinbar, äußerlich aufgehoben.
Chemische Affinität, magnetische Beziehungen und Ähnliches wir-
aio
ken experimentell nachweislich. In den Gesellschaftsbeziehungen
und Blutsverwandtschaften und anderen Instinkten, ja im ganzen
Triebleben offenbart sich die Fortdauer auch der physischen Ver-
bindung. Jener platonisch-sokratische Erklärungsversuch der Liebe
ist gewiß nur exoterisch oder symbolisch gemeint — und birgt
doch eine tiefe Wahrheit. Die Intensität dieses physischen und
psychischen Zusanunenhangs der Individuen zur Gesamtheit können
wir nur ahnen.
Er beschränkt sich nicht auf die Nation oder Rasse oder Mensch-
heit — er umfaßt die gesamte organische Welt. Das Ganze, die
Gesamtheit, so sehr sie als Einheit begonnen und sich allmählich
in eine Vielheit gestaltet und entfaltet hat, ist das eine Ganze ge-
blieben; es ist vor dem Individuum dagewesen, als das Ursprüng-
liche; Individuum ist nur eines seiner Teile. Die Gesamtheit der
Individuen erst macht ein Ganzes aus. Spinoza hat trotz alledem
recht gegen Leibniz. Das heißt, um aus der Geschichte der Phi-
losophie zu demonstrieren: die Individuen als einen Teil, die In-
dividualisierung als eine Erscheinungsform des einen großen Gan-
zen erkennen und in allem betrachten und beurteilen, das ist der
Schlüssel für das Verhältnis zwischen Individuum und Gesell-
schaft.
Das menschliche Individuum ist nur ein Teil der organischen
Gesamtheit, der Tierwelt, der Menschheit, der Rasse usw. Sofern
auch die Gesellschaft eine der vielen Integrationserscheinungen ist,
die Zusanmienhänge, die Verbindung des Ganzen ausdrückend und
betätigend, ist auch die Gesellschaft vor dem Individuum dage-
wesen und das Individuum nur eine Erscheinungsform der Gesell-
schaft.
Der Zweck und das Ergebnis der organischen Entwicklungsart in
Differentiation und Integration ist technisch betrachtet: höchst-
mögliche Steigerung der Kraft und Wirksamkeit durch Konzen-
tration, Spezialisation, Kooperation. Differentiation wie Integra-
tion dienen nur diesem Zwecke des Ganzen.
Der Weg der gesellschaftlichen Kausalität durch das Individuum
geht also etwa folgendermaßen:
a) Das Individuum als Subjekt, Träger, Werkzeug, Vollstrecker
der gesellschaftlichen Kausalität.
14» 211
b) Das Individuum als Objekt, Stoff, Werk, Gestaltung, Schöp-
fung der gesellschaftlichen Kausalität.
c) Dieses Objekt wiederum zum Subjekt der Kausalität gewan-
delt — das
d) wiederum Objekte schafft und selbst Objekt, auch sein eigenes
Objekt wird: Subjekt-Objekt.
Eine unendliche Reihe; Infinitesimalprinzip.
6. KAPITEL
GRUNDBEGRIFFE SOZIALER ENTWICKLUNG.
DARWINISMUS
Si. Allgemeines über Entwicklung; Darwins Lehre
Die Beziehung der Darwinschen Lehre zu den Buffon-Goethe-
sehen, auch Kant- und Schellingschen Anschauungen und der La-
marckschen Lehre, die Beziehung auch zu der Wallaceschen Lei-
stung soll hier ebensowenig erörtert werden, wie ihre Beziehung
zu früheren Vorgängern bis zurück zu der griechisch-römischen
Antike. Das gehörte in einen besonderen Teil als hervorragendes
Exempel für die Entwicklung der Ideologien. Jedenfalls ist die
Darwinsche Leistung weniger die des Entdeckers bislang unbekann«
ter Zusanunenhänge, als die des SystematUcers, Sammlers und Ord-
ners des empirischen Beweismaterials.
Trotz aller Angriffe ist die Hauptbasis dieser Lehre — zum Un-
terschied von der Kant-Laplaceschen Kosmogonie, der Atom- und
Elementenlehre, dem Gesetze von der Erhaltung der Energie usw.,
Hypothesen, die dennoch als Forsdiungswerkzeuge von unermeß-
lichem Wert waren und z. T. noch unentbehrlich sind — noch
im wesentlichen unerschüttert. Aber auch sie fordert die rück-
sichtslose Kritik heraus; die allerdings weniger Darwin selbst trifft
als seine Nachfolger — ungleich Darwin vielfach ganz echte Dog-
matiker im engen Sinne, dazu mechanisch-beschränkte Deuter der
Darwinschen, von ihm selbst stets mit allem Vorbehalt ausgespro-
chenen Ideen. Den „materialistischen" \uid monistischen Unfug
allerdings, der seit Moleschott, Büchner, Voigt bis Häckel mit seiner
ai3
Lehre getrieben wurde und wird» können wir nachgerade sich selbst
überlassen. Alle Ansprüche gewisser Darwinisten auf ,,Materialis-
mus", Monismus u. dgl. beruhen auf grober Selbsttäuschung in-
folge ungenauer begrifflicher Klarheit und Differenzierung. Der
Darwinismus ist in der Tat vitalistisch bis ins Mark, und das macht
nicht seine Schwäche, sondern seine Stärke aus, wie denn der Mo-
nismus u. dgl. gedankliche Plumpheiten sind, und zwar — abge-
sehen von einem gewissen populären Schlagwort-Auf kläricht- Wert
— ohne Kulturförderungswert, wie ihn falsche oder halbwahre
Hypothesen dennoch besitzen können und oft besitzen. Der Begriff
der organischen Entwicklung, der Gedanke der dialektisch-antago-
nistischen Fortbildung des Einzelwesens wie der Gesellschaft — sei
es im Hegeischen, Jung-Hegelschen oder Heraklit - Lassalleschen
oder Marxschen Sinne — sind Teleologie von reinstem Wasser,
mögen sich ihre Adepten auch mit Händen und Füßen gegen diese
Feststellung sträuben und stemmen und reine mechanische „Kau-
salität" im engeren Sinn behaupten.
Das Schema der Darwinschen Lehre ist von Darwin selbst nir-
gends ganz deutlich und einfach aufgestellt. Man kann sogar in
betreff des inneren Zusammenhangs der einzelnen Faktoren und
Momente in seinem Entwicklungsschema beträchtliche auffällige
Widersprüche bei ihm finden. Er ist Systematiker, aber der wenigst
dogmatische, der elastischste Systematiker.
Das Schema ist: Die Höherentwicklung der Organismen i) er-
folgt:
I. durch natürliche Zuchtwahl.
Diese vollzieht sich als natürliche Auslese im Kampf ums Da-
sein, und zwar
a) im Kampf der Arten gegeneinander,
b) innerhalb der Arten,
und zwar dieser letzte speziell: in der geschlechtlichen Aus-
lese, also nicht nur Kampf ums Dasein der konkurrieren-
den Organismen untereinander, wenn auch die bessere Rü-
stung im Kampf mit der unorganischen Umwelt auf den Aus-
^) Anpassung und Kampf ums Dasein je nachdem auch zur Tiefer-
entwicklung (Bückbildung) fahrend ; vgl. Contraselektion, z. B. im Krieg.
3l4
trag des Kampfes der Organismen untereinander von Bedeut-
samkeit;
c) gegenüber der unorganischen terrestrischen, meteorologischen,
kosmischen Umwelt.
2. Durch Anpassung.
Diese vollzieht sich durch Gebrauch und Nichtgebrauch. Sie er-
folgt
a) für die Bedingungen des Kampfes der Arten gegeneinander;
b) füi die Bedingungen des Kampfes innerhalb der Arten;
c) für die Bedingungen des Kampfes in der und mit der sonstigen
Umwelt.
Die Anpassung ist zugleich eine der Voraussetzungen und eins
der Mittel der natürlichen Zuchtwahl. Ihre Voraussetzung, sofern
sie (wenigstens zum Teil) erklärt, wie es möglich ist, daß im Kampf
ums Dasein die eine Art, das eine Individuum dem anderen über-
legen oder unterlegen ist; ihr Mittel, das den Kampf entscheidet,
sofern eben die bessere oder schlechter^ Anpassung die größere
oder geringere Kraft und den größeren oder geringeren Erfolg im
Kampf ums Dasein herbeiführt, demgemäß die Selektion bestinmit.
Sie ist in gewissem Sinn fundamental, und jedenfalls ist es falsch,
die Anpassung irgendwie dem Kampf ums Dasein als eine Unter-
kategorie, ein Mittel oder dgl. unterzugliedern. Sie ist dreierlei:
a) fundamental für die Zuchtwahl durch den Kampf ums Dasein,
b) selbständig neben der Zuchtwahl durch Kampf ums Dasein,
— als ein besonderer Weg der Höherentwicklung und
c) eines der Mittel der Zuchtwahl.
Die Anpassung vrirkt ebenfalls
a) in der Zuchtwahl durch Kampf der Arten gegeneinander,
b) in der Zuchtwahl durch Kampf innerhalb der Arten (dar-
unter geschlechtliche Auslese),
c) in der Zuchtwahl durch Kampf mit der übrigen — unorga-
nischen — Umwelt.
Also nicht nur Anpassung im Verhältnis zur übrigen konkur-
rierenden organischen Weltl
All diese Entwicklungsgesetze gelten für Pflanzen-, Tier- und
Menschenwelt — und zwar einzeln und zusammengefaßt. Und nicht
3i5
nur von den abgeschlossenen Einzelorganismen im empirisch-
üblichen Sinn, sondern sowohl darüber hinaus von höheren orga-
nischen Einheiten (sozialen Charakters, Vergesellschaftungen), wie
darunter hinab bis zu den Zellen, Blutkörperchen usw., aus denen
das empirische Individuum zusammengesetzt ist. Das bedarf der
Hervorhebung so wenig wie die Einschränkung, daß die Gleich-
artigkeit dieser Fälle eine sehr relative ist und die Anwendung des
Schemas mit allem Vorbehalt entsprechend den besonderen Be-
dingungen der Organismen jener höheren oder niederen Kategorien
zu erfolgen hat.
Darwin hat diese Seite der Entwicklungslehre, insbesondere ihre
soziale Anwendung kaum gestreift; seine Schüler — z. B. Häckel —
haben sie z. T. sehr plump und schief behandelt.
Die alsbald zu betrachtende soziale Zuchtwahl, Anpassung usw.
— auch des Menschen, als gesellschaftlichen Wesens, in seinen
gesellschaftlichen Bedingungen — kann im Darwinschen Geiste
nicht als ein Gegensatz zur natürlichen Zuchtwahl und Auslese
gelten. Künstliche Zuchtwahl im Darwinschen Sinn ist die von
einer höheren, äußeren Macht bevnißt regulierte, z. B. bei den
Haustieren und Pflanzen durch den Menschen.
Wenn von Kontra-Selektion gesprochen wird, so vielfach ohne
Berücksichtigung, daß oft oder zumeist Selektion und Kontra-
Selektion zugleich, nur in bezug auf verschiedene Qualitäten er-
folgt, weiter ohne, klare Unterscheidung, in bezug worauf die Gegen-
auslese stattfindet und inwiefern es darauf oder auf die selektorische
Wirkung für die Entv\dcklung ankommt, wie sich für die Ent-
wicklung die Schlußsumme aller Wirkungen gestaltet. In einem
Krieg z. B., wie auch bei Epidemien (Brand, Überschwemmung und
anderen elementaren Katastrophen) in kräftigeren, aber hygienisch
und gegen andere Katastrophen nicht geschützten unkultivierten
Völkern, gehen sicher an sich die kräftigsten Individuen zu-
grunde; aber die für die Zwecke dieses besonderen Kampfes kräf-
tigere Gemeinschaft besteht unter Umständen; es handelt sich
bei diesen Kämpfen imi Kämpfe menschlicher Gemeinwesen und
nicht Individuen; das Kontra-Selektorische liegt im Falle eines
Krieges z. B. unter Umständen schon in der Zusanmiensetzung
und dem Charakter der Gemeinwesen, die sich messen.
ai6
Daß die Änderung der Organismen sich nicht nur in der Form
der Anpassung der durch Gebrauch und Nichtgebrauch bewirkten
allmählichen Änderung vollzieht, sondern auch in sprunghaften
Übergängen, lehrt einmal die Mutation (de Vries) — wenn sie wirk-
lich isl — , sodann das Mendelsche Gesetz (über Vererbung). Diese
und die Weismannschen Theorien — wenn sie einen richtigen Kern
enthalten — bilden jedoch nicht so sehr Widersprüche als Er-
gänzungen zur Anpassungslehre.
Die Kritik der Anpassungslehre, sofern sie eine Veränderung der
Arten, die Gesamtentwicklung der organischen Welt durch An-
passung für ausgeschlossen erachtet — damit zugleich die Grund-
lage, Voraussetzung der Eignung des Kampfes ums Dasein (der
Zuchtwahl) zur Erklärung des organischen Aufstiegs anfechtend — ,
mag hier vorläufig auf sich beruhen.
Selbst- u,nd Arterhaltung im besonderen.
Das Vollkommenheitsbedürfnis, so sehr es ein Ausdruck des
Höherentwicklungstriebes ist, kann nicht nur der Höherentwicklung
entgegenwirken (u. Kap. VIII), sondern auch die Selbst- und Art-
erhaltung beeinträchtigen; dann nämlich, wenn es durch Verschaf-
fung illusionärer Befriedigungen das Be- und Entstehen selbst-
und arterhaltungsfeindlicher negativer Momente fördert. So kann
es auch, vom Fall der Instinktverwirrimg abgesehen, geradeswegs
dysbiotisch wirken.
Als auf ein Mittel der Selbst- und Arterhaltung sei hier hinge-
wiesen auf die Eigen- und Fremdanpassungsfähigkeit des Menschen.
Die Anpassungsfähigkeit des Menschen ist eine doppelte: Einmal
die Fähigkeit, sich der Umwelt (Eigen- oder Selbstanpassung), so-
dann die Fähigkeit, die Umwelt sich anzupassen (Fremdanpassung).
Beides findet sich bereits in der Tier- und selbst in der Pflanzen-
welt, ist bei den Menschen jedoch weit mehr entfaltet: das ist ihre
eine Besonderheit.
Die Eigenanpassung geht beim Menschen weit weniger durch
physiologische Umänderungen, überhaupt Umwandlungen seines
natürlichen Wesens, vor sich als bei den übrigen Lebewesen. Sie
vollzieht sich in der Hauptsache durch geistig-psychische Anpas-
sung, durch Sammlung von Erfahrung und Erkenntnissen und
217
deren planmäßige Ausnutzung zur Erzeugung von künstlichen An-
passungsmitteln, die an Stelle sonst nötiger natürlicher Verände-
rungen die erforderliche Gleichung mit der Umwelt herstellen: das
ist ihre zweite Besonderheit.
Zu diesen künstlichen Anpassungsmitteln gehört auch das Zu-
sanunenwirken, die Kräf tevereinigung mehrerer Individuen — sei
es in Form der einfachen Kräfteanhäufung (Summierung gleich-
artiger Kräfte), sei es in der qualifizierten Kräfteverbindung (Sum-
mierung differenzierter Kräfte durch Arbeitsteilung), sei es in
Form von Organisationen oder in anderer Weise. Die Eigenanpas-
sung kann gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt ge-
schehen; und die Bewußt- und GrewoUtheit kann alle Grade an-
nehmen. Sie kann mehr durch die eigene Tätigkeit oder mehr durch
die äußere Einwirkung erfolgen — als mehr aktive oder als mehr
passive Anpassung.
Die Fremdanpassung, von der im ganzen das gleiche gilt wie von
der Eigenanpassung, ist von vornherein im ganzen an ein höheres
Maß von Bewußt- und Gewolltheit und Planmäßigkeit gebunden.
In den höheren Stadien läßt sich in dieser Hinsicht kaum mehr
ein Unterschied zwischen der Eigen- und der Fremdanpassung
machen. Die ungemein gesteigerte Anpassungsfähigkeit des Men-
schen ist es, die ihm im Kampf ums Dasein das Obergewicht über
alle anderen Lebewesen gibt. Die gesamte Menschheitskultur ist
Anpassung.
Ein weiteres Mittel der Selbst- und Arterhaltung ist der psychische
Selbstschutz durch Selbstabstumpfung.
Wie es eine Grenze der physischen Empfindlichkeit gibt und
diese Empfindlichkeit auch innerhalb dieser Grenze mehr oder we-
niger wie gesteigert, so auch aufgehoben werden kann und der Or-
ganismus, um sich leichter zum Ertragen großer Schmerzen zu
befähigen, mehr oder weniger unbewußt die Empfindlichkeit herab-
setzende Mittel ergreift (Zähneaufeinanderbeißen usw., Ohnmacht,
Bewußtlosigkeit), so gibt es eine Grenze der psychischen Empfind-
lichkeit und Mittel, diese Empfindlichkeit mehr oder weniger wie
auch zu steigern, so aufzuheben. Der Organismus des Menschen
hilft sich gegenüber allzu großen Ansprüchen an die Fähigkeit,
psychische Schmerzen, Erschütterungen usw. zu ertragen, indem
ai8
er mehr oder weniger bewußt ausweicht, die psychische Empfind-
lichkeit herabsetzt. Ein solches und besonders häufig angewandtes
psychisches Selbstschutzmittel ist die Ekstase, ja schon die ,,Be^
geisterung" höheren Grades. Die Kriegsraserei, die Kriegspsychose,
die Verrücktheit, in die sich ein Volk, wenn es dem Krieg als einer
unausweichlichen Tatsache gegenübersteht, mit mehr oder weniger
offizieller Nachhilfe hineinzuarbeiten pflegt, ist ein ausgeprägtes
psychisches Selbstbetäubungs-, Selbstabstumpfungsmittel, um sich
durch Ekstase fähig zu machen, das fürchterliche Kriegswerk zu
verrichten.
S a. Die Artioin des Kampfes ums — natürliche und
soziale — Dasein
Der Kampf der Organismen hat zum Gegenstand entweder die
Erhaltung des Daseins selbst; und zwar wiederum entweder
des Daseins des Individuums oder des Daseins der Art — im Sinn
der Fortpflanzung — oder des Daseins einer Gemeinschaft von In-
dividuen.
Oder der Kampf der Organismen hat zum Gegenstand die A r t
des Daseins; d. h. die günstigeren oder ungünstigeren Lebens-
bedingungen des Individuums oder der ganzen Art überhaupt oder
der einzelnen Schichten einer Art.
Zum letzteren gehört auch der Kampf um die soziale Funktions-
gliederung — je nach der größeren oder geringeren AnnehmUch-
keit der verschiedenen sozialen Funktionen.
Der Kampf der Organismen richtet sich
entweder gegen die unorganische (terrestrische, meteorologische,
kosmisch-siderische) Umwelt,
hier steht im Kampf entweder eine ganze Art oder Gemeinschaften
einer Art oder Individuen.
Oder gegen andere Arten von Organismen — sei es Tier, sei es
Pflanze ; .
hier stehen im Kampf entweder auf beiden oder auf einer Seite
ganze Arten oder nur Teile davon.
Oder gegen dieselbe Art von Organismen, aber in anderer Ver-
gesellschaftang,
und hier stehen entweder auf beiden oder auf einer Seite sei es
die ganze Gemeinschaft sei es nur Individuen.
Oder gegen dieselbe Art von Organismen innerhalb derselben Ge-
sellschaft;
219
und hier stehen im Kampfe entweder Unterabteilungen derselben
Gesellscbaft (Klassen, Stände usw.) gegeneinander oder gegen Unter-
Unterabteilungen bis schließlich Individuen; oder aber Individuen
gegen Individuen.
Die M Gesamtorganisation " einer Gesellschaft ist hierbei meist mehr
oder weniger nur wirklicher Repräsentant einer oder mehrerer Unter-
abteilungen, nicht der wirklichen Gesamtheit.
Soweit es sich um einen Kampf der Organismen untereinander
handelt, sei dieser Kampf Konkurrenzkampf genannt, und
zwar gleichviel, ob er ums Dasein an sich oder um die Art des Da-
seins geht, und vveiter gleichviel, ob er innerhalb derselben Art bzw.
ob er innerhalb derselben Gesellschaft geführt wird, — oder mit
Organismen außerhalb derselben Art oder Gesellschaft und gleich-
viel ob er individuell oder sozial geführt wird.
Sozialer Kampf heißt: '
I. Der Kampf ums Dasein überhaupt,
IL Der Kampf um die Art des gesellschaftlichen Daseins;
was für die Individuen, nicht die Klassen und Funktionsgliede-
rungen sehr oft freilich identisch ist. Und zwar
1 . soweit er innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft geführt
wird — gleichviel welcher Ausdehnung; selbst der Kampf der
Rassen, Nationen, auch Geschlechter, Altersstufen kommt hierbei
in Betracht — , sofern es sich um soziale Zusanunenhänge handelt
(z. B. Ausbeutungs-, Unterdrückungs-, Tributpflicht, wirtschaft-
liche Beziehungen, Naturschätze, Frauenraub, neue Ländereien usw.) ;
im präzisesten Sinne aber nur, sofern es sich um eine Gemeinschaft
in dem Sinne einer bestimmten abgeschlossenen repräsentativen Ge-
sellschaftsform handelt, wie mehrfach definiert;
2. gleichviel, ob Individuen oder Schichten im Kampfe stehen —
aber im präzisesten Sinne nur, soweit Schichten im Kampfe und
soweit der Kampf sozial repräsentativ;
3. gleichviel, ob das Objekt, Ziel des Kampfes das Dasein oder
die Art des Daseins von Rassen, Gesellschaften oder Gesellschafts-
teilen oder Individuen bildet.
Sozialer Konkurrenzkampf heißt:
Der Kampf um die soziale Funktionsstellung, um die Stellung
220
innerhalb der sozialen Funktionsgliederung, sei er von Schichten,
sei er von Individuen geführt.
Der soziale Konkurrenzkampf ist im sozialen Kampf enthalten;
überhaupt bezeichnet jeder spätere Terminus gegenüber dem vor-
hergehenden eine Einschränkung, er ist im vorhergehenden mit
enthalten.
S 3. Der soziale Kampf im besonderen
Wir gehen von dem für die soziale Entwicklung weitaus Be-
deutsamsten und für die sozialen Zustände Charakteristischsten des
sozialen Kampfes aus: dem Kampf um die Stellung in der sozialen
Funktionsgliederung (dem sozialen Konkurrenzkampf), der auch
in der Pflanzen- und Tierwelt bereits von höchster Bedeutung. Und
wir wollen speziell vom sozialen Kampf des Menschen sprechen
und seine Eigenheiten, die ihn im allgemeinen Kampf luns Dasein
besonders kennzeichnen, kurz registrieren:
Die sozialen Funktionen, um deren Erlangung oder Behauptung
es sich handelt, die in verschiedenem Maße annehmlich, vorteil-
haft, lebenserleichternd, lebensermöglichend sind und deren Besitz
im sozialen Kampfe und im allgemeinen Kampf ums Dasein wieder
besondere Kraft verleiht, also für die Fortsetzung des Kampfes
nach ihrer Erlangung besondere Vorteile sichert, sind bald dauern-
dere, bald nur sehr vorübergehende Erscheinungen, oft Erschei-
nungen ohne dauernden sozialen, noch weniger von dauerndem na-
türlichen Wert, ja oft ist selbst ihre vorübergehende soziale Nütz-
lichkeit mehr als zweifelhaft, und es handelt sich nur um Gelegen-
heitserscheinungen, „Auswüchse" usw.
Die Eigenschaften, die in der Konkurrenz um diese Funktionen
den Ausschlag geben, besitzen ebenso wie diese Funktionen einen
sehr wechselnden verschiedenartigen Entwicklungswert, der bei
ihnen schlechthin Selektionswert heißen soll und in sozialen und
natürlichen Selektionswert zerfällt; sie sind von dauernderem, oft
nur von sehr vorübergehendem, zufälligem sozialem Selektionswert,
von ihrem natürlichon Selektionswert ganz zu schweigen. Oft geben
— vom höheren Gesichtspunkt des dauernden sozialen Nutzens ge-
messen — höchst kontraselektorische, schädliche, verwerfliche, be-
denkliche Eigenschaften und Kräfte das Übergewicht.
Wodurch sind diese das Übergewicht versprechenden Eigen-
schaften bedingt?
a) durch die Art der Funktion, um die der Wettbewerb erfolgt;
b) durch das Gewicht, den Einfluß, die Macht, die die gegebene
jeweilige Struktur der Gesellschaft den einzelnen Eigenschaften und
Kräften gewährleistet oder doch ermöglicht.
Die Voraussetzungen dafür, ob jemand diese Eigenschaften be-
sitzt oder nicht, hängen von Umstanden ab, die je nach der Art
der in Frage kommenden Eigenschaften verschieden sind.
I. Soweit natürliche körperliche oder geistige Eigenschaften in
Frage kommen, sind sie an sich angeboren, wenigstens in der An-
lage.
Aber ihre Entwicklung und die Möglichkeit ihrer Übung und
Ausübung ist in den komplizierteren, den Klassengesellschaften,
in so hohem Grade durch die soziale Lage des Betreffenden be-
dingt, daß im Schlußresultat die natürliche Anlage fast ganz aus-
geschaltet erscheint.
d. Daneben kommen rein soziale Eigenschaften in Betracht; z. B.
der Besitz von Vermögen, Wissen, von Kenntnissen und Geschick-
lichkeiten, d. h. von einem größeren oder geringeren Anteil am stoff-
lichen, psychisch-geistigen, physischen und organisatorischen Feu-
dum und am gesellschaftlichen Produkt. Und dieser Anteil wie-
derum ist — besonders in den höher organisierten Gesellschaften —
in höchstem Maße, wenn nicht ausschließlich bestimmt durch die
Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, in die man hineingeboren
wird und in der man zeitlebens verbleibt, gleichviel, welche natür-
lichen Eigenschaften und Kräfte man besitzt.
3. Schließlich sind Eigenschaften zu beachten, die vermöge na-
türlicher und sozialer Eigenschaften innerhalb des gebliebenen ge-
sellschaftlichen Spielraums durch Besitz oder Erwerb von mehr
oder weniger Anteil am Feudum erworben werden können.
Also sind für unseren jetzigen Untersuchungszweck zu unter-
scheiden:
I. natürliche — aber sozial-bedingte Eigenschaften,
3. rein soziale, sozial bestinunte Eigenschaften,
3. gemischte Eigenschaften.
232
\i
Voraussetzungen ihres Besitzes sind in allen drei Fällen im we-
sentlichen soziale.
Welche Wirkung übt dieser soziale Konkurrenzkampf?
Er geht an sich nur um die sozialen Funktionen; dennoch ist sein
Ergebnis
1. entweder nur die Entscheidung über den Besitz der sozialen
Funktion,
2. oder die Entscheidung über Dasein oder Vernichtung. Das
letztere nicht nur in dem Sinne, daß im Kampfe selbst viele zu-
grunde gehen, sondern vor allem in dem Sinne, daß die dem sozial
Schwächeren zufallende soziale Funktion und die dem im sozialen
Konkurrenzkampf Siegreichen zufallende wieder verschiedene
Chancen für die individuelle Erhaltung des Daseins bietet: Not-
lage, Wohlhabenheit usw.
3. Danach besteht auch im Falle a ein grundsätzlicher Unter-
schied vom Kampf ums Dasein im engeren Sinne selbst. Beim
Kampf ums Dasein im engeren Sinne ist das Ziel, der Zweck des
Kampfes: Sein oder Nichtsein; und wenn der Unterliegende dennoch
existent bleibt, so ist dies eine „zufällige" Tatsache.
Beim sozialen Konkurrenzkampf um die sozialen Funktionen
sind im Gegensatz dazu die Ausüber der Funktionen (d. h. die
Klassen, Berufspersonen usw.) nicht entbehrlich; auch nicht, wenn
die betreffende Funktion die bösesten individuellen und klassen-
mäßigen Daseinschancen bietet. Sie sind sozial nicht entbehrlich
— nicht für die, die sie ausüben, nicht für die, die ihre Ausüber
ausbeuten, unterdrücken (im Gegenteil: Erhaltung zur Ausbeutung
liegt gerade in deren Interesse — Schmarotzer- Verhältnis usw.);
nicht für die Gesellschaft als Ganzes. Sie müssen sofort ersetzt
oder ergänzt werden, soweit sie ausscheiden. Nur die Individuen
gehen leichter vor die Hunde; aber hier ist dies das „Zufällige".
Der Kampf der sozialen Schichten im eigentlichsten Sinn geht
nicht um die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Schicht — diese
ist gegeben — , sondern entweder um den sozialen Einfluß, d. h.
um die Einschätzung des sozialen Gewichts, der Funktionen und
Leistungen der verschiedenen Schichten und um ihre soziale Lage,
d. h. um ihren Anteil am Feudum aller Art, oder der Kampf geht
um dio Aufhebung oder grundsätzliche Änderung der sozialen Glie-
derung überhaupt.
Der soziale Kampf ums Dasein im engeren Sinn.
Während der soziale Konkurrenzkampf nicht ums Dasein selbst
geht, sondern um die Lage im Dasein, um die Art des Daseins,
und während dieser soziale Konkurrenzkampf nur für — im Prin-
zip — einzelne, wenn auch ungemein häufige individuelle Fälle
zum Kampf ums Dasein selbst wird, weil in ihm tatsächlich die
Kräfte einzelner Individuen aufgerieben und so ihr Dasein selbst
zerstört wird oder weil die dem Unterlegenen zugefallene Funktion
infolge ihrer dysbiotischen Verhältnisse seine Kräfte übersteigt und
sein Dasein vernichtet, gibt es auch einen echten sozialen Kampf
ums Dasein — einen Kampf um Sein oder Nichtsein, einen Aus-
rottungskampf.
Dieser Kampf richtet sich aber nicht gegen eine Klasse oder
sonstige Ausüber einer sozialen Funktion — in bezug auf diese gibt
es nur Konkurrenzkampf — , sondern gegen die Individuen, die zu
sozialen Funktionen im Sinne der herrschenden Klassen oder sonst
maßgebender Faktoren ungeeignet, unfähig sind — soziales Strand-
gut, Strandgut des sozialen Meeres, ausgeworfen von der Brandung,
das keinen sozialen Funktionswert mehr hat (z. B. Verbrecher),
oder die überflüssig, überzählig sind — sozialer Ballast, z. B.
Kranke, Alte usw.
Hier herrscht in der Grundtendenz nackter Kampf ums Dasein
selbst, um die Ausschaltung der betreffenden Individuen, jedoch
greift mildernd oder neutralisierend Humanität, Wohltätigkeit usw.
ein. Übrigens ist wohl zu' prüfen, inwieweit letztere z. B. Kranken
und Alten gegenüber sich nicht als weitsichtigeres soziales Eigen-
I^teresse der Maßgeblichen darstellt, weil sonst den Unentbehr-
lichen, noch nicht Verworfenen, aber davon Bedrohten, ein ge-
fährlichster, aufreizendster Impuls zur sozialen Auflehnung ge^
geben und das eigene Dasein und die Erfüllung der den Herrschen-
den wichtigen sozialen Funktion geradenwegs verunmöglicht würde;
vielleicht auch und weil die Maßgeblichen gewissen Eindrücken
gern aas dem Wege gehen — um der Annehmlichkeit des Lebens
willen. Und in bezug auf die Überzähligen ist zu beachten: das
Auf und Ab im Bedarf von Arbeitskräften und die Notwendig-
aa4
keit, für den Wechsel von Prosperitat und Krise ein Reservoir zu
haben.
S 4- Soziale Zuchtwahl im allgemeinen und so-*
zialeAnpassung
Wie es nicht nur im Verhältnis der Arten zueinander oder zur
unorganischen Umwelt eine Zuchtwahl durch Kampf ums Dasein
gibt, sondern auch innerhalb der Arten, innerhalb der einzelnen
Gesellschaften und ihrer weiteren Unterabteilungen, d. h. eine so-
ziale Zuchtwahl durch sozialen Kampf ums Dasein, so gibt es auch
eine soziale Anpassung.
Die soziale Zuchtwahl bleibt eine natürliche Zuchtwahl, wenn
auch im Orenzfall: das züchtende und das gezüchtete Wesen ist
identischer Art. Und wie die Zuchtwahl, so vollzieht sich die so-
ziale Anpassung im höchstqualifizierten Falle bewußt, systematisch
— ganz wie die künstliche Zuchtwahl und Anpassung, von der
sie sich nur dadurch unterscheidet, daß der Züchtende und auf die
Anpassung Hinwirkende keine fremde Art, wenngleich unter Um-
ständen eine fremde, andere Rasse oder sonstige Schicht ist. Aber
diese Differenz liegt im Rahmen des Sozialen.
Es handelt sich dabei um alle Art Anpassung und Zuchtwahl.
Und Anpassung wie Zuchtwahl erstreckt sich auf alle Eigenschaf-
ten und Kräfte, die für den sozialen Kampf, d. h. für den Kampf
ums Dasein überhaupt wie für den sozialen Konkurrenzkampf er-
heblich sind. Je nach ihrer größeren Erheblichkeit für jenen oder
diesen läßt sich die Anpassung gliedern.
I. Anpassung in bezug auf Eigenschaften, die primär für den
Kampf ums Dasein und nur sekundär für den sozialen Konkurrenz-
kampf bedeutsam sind. Es sind dies die natürlichen, wenn auch
sozial bedingten und bestimmten physischen und psychisch-geisti-
gen Eigenschaften.
a) Ab Klassenerscheinung von sozialer Entwicklungsbedeutung
kann Anpassung, soweit physisch und psychisch-geistig — beson-
ders soweit physisch — , nur auftreten bei lange andauernder Son-
derexistenz der betreffenden Schichten, die sie ihren besonderen
schichtenmäßigen Daseinsbedingungen aussetzt.
b) Als individuelle und Familienerscheinung tritt sie in geringe-
15 Liebknecht, Stadien 2^5*
cem Maße auf. Doch auch diese spielt eine entwicklungsgeschicht-
liehe Rolle (Musiker-, Maler-, Gelehrten-, Herrscherfamilien).
Die Anpassung kann, vom Standpunkt des natürlichen oder ge-
schichtlich weiter ausschauenden Selektionswerts oder von sonst
höherer Perspektive betrachtet, sowohl eine degenerative, drückende,
dysbiotische wie eine enbiotische sein.
Zuchtwahl und Anpassung können sowohl Individuen wie ganze
Schichten ergreifen (vgl. a und b), ja ganze Völker, die in Ab-
hängigkeit schmarotzerhaft ausgesogen werden oder aussaugen.
Und zwar
I. physisch (an Kraft, Gesundheit, Geschicklichkeit usw.).
ü. psychisch-geistig — in mannigfaltigstem Sinn: Moral, Cha-
rakter (auch Disponieren, Regieren und — degenerativ — Sklaven-
moral usw., Depravierung verschiedenster Art) ; auch im wirtschaft-
lichen Sinn; vgl. z. B. die Juden.
Z u a: Ein Beispiel ist der Adel in gewissen Perioden — jetzt ob-
solet — : weltmännisch, auf Staatskunst, Diplomatie, Hof dienst und
Kommandieren, Offizierstand (Krieg, Verwaltung, Diplomatie, Re-
präsentation) geradezu dressiert und zeitweilig auch, — wenn auch
nur in gewissen Zweigen und nicht in der Form des ostpreußischen
Kraut Junkertums — Repräsentant des Mäzenatentums, Träger höhe-
rer Bildung.
Zu b: vgl. Groethes Bemerkungen in Wilhelm Meisters V^ander-
jahre II, 12 über die Familienzuchtwahl, besonders Malerfamilien,
Musikerfamilien (vgl. Bach), und ganzer Ortschaften (vgl. Mitten-
wald: Oberbayern Geiger-Dörfer), ja ganzer Nationen (Italien — '■
Bildhauerei). Hier bereits Übergang wieder zu a). In früheren
Jahrhunderten besonders häufig, als noch enge Verbindung zwi-
schen Handwerk, das fast wie ein erblicher Stand war, und Kunst
(vgl. Nürnberg, Augsburg usw. im i5. und 16. Jahrhundert) be-
stand, selbst in Dichtkunst — vgl. Meistersingerei, und nicht minder
Wissenschaft und Religion : Gelehrten- und evangelische Pastoren-
familien.
II. Anpassung in bezug auf Eigenschaften, die im wesentlichen
für den sozialen Konkurrenzkampf bedeutsam sind und nur, so-
weit dieser selbst zum Kampf ums Dasein auswächst, auch sekundär
für diesen; Eigenschaften, die rein sozialen, nicht natürlichen Cha-
aa6
rakters und Ursprungs sind; Eigenschaften» die in dem verschie-
denen Anteil am organisatorischen und stofflichen Feudum und
Gesellschaftsprodukt bestehen. Wie sich die zu I behandelten Yor-
gfänge und Erscheinungen als Anhäufung und Sicherung eines mög-
lichst großen Anteils am physischen und psychisch-geistigen Feu-
dum charakterisieren, so bildet andererseits die Anhäufung und
Sicherung größeren materiellen Besitzes und sozial organisatori-
schen Einflusses als eines möglichst großen Anteils am stofflichen
und organisatorischen Feudum und stofflichem Produkt der Ge-
sellschaft nicht minder eine Form der sozialen Anpassung und
Zuchtwahl; und zwar der Anpassung und Zuchtwahl für die so-
ziale Funktionsgliederung.
Vgl. z. B.: förmliche Erblichkeit der Kronen, Kasten, Stände-
zugehörigkeit; der „Fideikommisse" und Ämter, der Berufe (Zunft-
verfassung!) usw., auch die Sicherung eines möglichst großen or-
ganisatorischen Einflusses, eines möglichst großen Anteils (Privi-
legien) auch am stofflichen und psychisch-geistigen Feudum (durch
das Medium des Anteils am organisatorischen Feudum) für gewisse
usurpierte, erblich in Besitz genommene, Funktionen — z. B. des
Feudal-, Hof-, Amts-Adels, Bureaukratie, Militär; auch die rein
faktische Erblichkeit der Klassenstellung (z. B. in der heutigen
Gesellschaft) gehört dahin.
Dieser Besitzanteil gehört zu denen, die ihn besitzen oder lau-
fend beziehen, sozial betrachtet wie das Gespinst zur Chrysalide
— eine Projektion ihrer Persönlichkeit nach außen, die aber nicht
eine Entäußerung, Lostrennung bedeutet, sondern der Persönlich-
keit anhaftet und wesentlich zugehört wie der Schatten zum na-
türlichen Körper.
Diese Zuchtwahl und Anpassung ergibt sich meist instinktiv,
triebhaft — durch Gewohnheit, Tradition, Sitte, Mode, Gebrauch,
Geschmack, allgemeine Erziehung zu gewissen Epochen und ist
in gewissen Schichten als eine bewußte besonders ausgeprägt. Aber
die physische und psychische Zuchtwahl und Anpassung, und zwar
auch gerade, soweit sie zu Abwandelung natürlicher Eigenschaften
tendiert (vgl. I), verträgt sich mit der rein sozialen Anpassung und
Zuchtwahl (vgl. zu II) vielfach gar nicht.
Die Tendenz zur physischen und psychischen Zuchtwahl und An-
lö* 227
passung z. B. des Adels, der Bauern, der Kapitalisten, auch der
Dynastien (vgl. selbst den sozialen Streber 1) wird stark beeinträck-^
tigt und selbst aufgehoben durch die soziale im engeren Sinnen
durch das Streben nach Reichtum (größeren individuellen Anteil
am stofflichen Feudum — aber auch am organisatorischen, vgl.
bei Adel, Bureaukratie, Militär Geldheiraten; Heirat und Grund-
besitz usw.). Und selbst gerade das starre Erbrecht bildet nicht nur
eineii Träger der sozialen Zuchtwahl in engerem Sinne, sondern
auch eines Zerstörers, ein Hindernis der physisch-psychischen Enge-
nie (Zuchtwahl) (vgl. geisteskranke Monarchen) und damit auch
einen Zersetzungskeim für die rein soziale Position.
In diesen Zusammenhang gehört die Rolle des Self-made-man,
des Einklassierten, des Deklassierten.
Verschiebung der Eigenschaften tritt ein bei Verschiebung im
sozialen Gewichtsverhältnis der Gesellschaftsteile in ihrer sozialen
Stellung, in ihrem Anteil am Feudum aller Art und bei völliger
Umgestaltung der betreffenden Gesellschaftsteilung und ihrer Auf-
hebung überhaupt. Daß die Verschiebung in der Gesellschaf tsglie^
derung eine Verschiebung auch in den Eigenschaften, und zwar
den natürlichen, im Sinne von I und den sozialen im engeren Sinne
zu II zur Folge haben muß, ergibt das Vorhergehende genugsam.
Diese Verschiebung in der sozialen Gliederung ist jedoch regel-
mäßig ein allmählicher — infinitesimaler — Prozeß, bei dem die
Verschiebung der Gliederung und der Eigenschaften in laufendem,
dauerndem Funktionsverhältnis stehen. So erwirbt eine aufstre-
bende Schicht sich einen größeren Anteil am Feudum der ver-
schiedenen Art, und eine untergehende oder doch in ihrer Privile-
gienstellung nachlassende Schicht büßt von ihrem Anteil am Feu-
dum der verschiedenen Art ein — schon längst, bevor die Ver-
schiebung in der sozialen Gliederung sich äußerlich-formell aus-
prägt. Das geschieht mit den verschiedenen Arten des Feudumsi
In den verschiedenen sozialen Verschiebungen verschieden, in ver-
schiedener Reihenfolge und verschiedenem Maße; je nach dem We-
sen des „Prinzips**, der „Idee" der betreffenden Umgestaltung.
Beispiele: Der deutsche Hofadel entwickelt sich aus Hörigen,
Leibeigenen, die sich durch Geschicklichkeit in der Verwaltung,
Gelehrsamkeit usw. nach und nach ein immer größeres Stück des
228
organisatorischen und des geistig-psychischen Feudums angeeignet
hatten, daneben auch stoffliches Feudum und — durch Eignung
zum Kriegsdienst und Bewaffnung — auch physisches, vgl. ähn-
lich die Entwicklung der Plebejer und Sklaven in Rom.
Die Bourgeoisie erwirbt vor allem stoffliches und wirtschaft-
lich, auch staatlich-organisatorisches und geistiges Feudum, wäh-
rend der Adel und die Monarchie verhältnismäßig davon einbüßt
und die Fuhrung verliert — vgl. englische und besonders franzö-
sische Revolution.
Die Arbeiterklasse erwirbt geistig-psychisches Feudum („Wissen
ist Macht"), aber auch organisatorisches, selbst stoffliches und phy-
sisches (Sozialfürsorge, Krankenkasse usw.) in gewissem Umfang.
So wird ein Teil der Verschiebung im Anteil am Feudum, die
den Zweck der Verschiebung der sozialen Gliederung bildet, lau-
fend im Kampf um diese letztere antizipiert und bildet so, im Ver-
lauf des Kampfes um diese Verschiebung, ein an Macht und Wir-
kung inuner mehr zunehmendes Werkzeug für diesen Kampf selbst,
seine erfolgreiche Durchführung in der Tat erst ermöglichend.
Fußbreit um Fußbreit wird so das Terrain erobert, und jeder kleine
Fortschritt gibt neue Kraft und Ansporn zum weiteren Kampf.
Das — diese lawinenmäßige Art des Anwachsens im Fortschreiten —
ist's, was das Wesen des Infinitesimalen der Funktionsbeziehung
ausmacht.
S 5. Soziale Solidarität^)
Die natürliche Gliederung der organischen Welt ist z. T. die
Wirkung von Obereinstimmung und Gegensatz, von Anziehung und
Abstoßung, primitiver Sympathie und Antipathie. Dabei bedeu-
tet zwar Obereinstinunung zumeist eine begrenzte Sympathie, und
beide, Übereinstimmung wie Sympathie, zugleich Anziehung. Kei-
neswegs aber heißt Gegensatz auch Antipathie und noch weniger
Ab&toßung; ja, selbst Antipathie heißt für die Gliederung der or-
ganischen Welt noch keineswegs notwendig Abstoßung. Die ört'^
liehe Gliederung z. B. kann, soweit Annäherung, beiden — der
Übereinstimmung, wie dem Gegensatz, der Sympathie wie der An-
^).Vgl, Krapotkin, Gegenseitige Hilfe bei Menschen und Tieren.
tipathie — entfließen, sofern die Nähe auch zum Zweck der Unter-
drückung und Ausbeutung, ja der Vernichtung, UnschädEch-
machung, aber auch der besseren gegenseitigen oder einseitigen Un-
terstützung, dem beiderseitigen oder einseitigen Nutzen dienen kann.
Die natürliche Gliederung vermindert die Reibungsfläche für den
Kampf ums Dasein, sofern sie die Grundlage für die soziale Glie-
derung und die sozialen Organisationen und damit für die Aus-
übung der Sympathie (Solidarität) entsprechend den Funktionen
der Gliederungsteile und Organisationen bietet; sie vermehrt die
Reibungsflächen für den Kampf ums Dasein, sofern sie die ört-
lichen Voraussetzungen für diesen Kampf liefert und nicht nur
das Solidarische, sondern auch das Widerstrebende zusammenfügt
oder doch in Berührung, wenigstens Annäherung bringt, und wei-
ter, sofern sie die Grundlage der sozialen Organisationen wie der
sozialen Gliederung und der darin manifestierten Gegensätze bildet.
Die Solidarität innerhalb der organischen Lebewesen bildet eine
Ergänzung zum Kampf ums Dasein im weiteren Sinne; Ergänzung
in doppeltem Sinne:
a) sie dient dem Zweck des Kampfes ums Dasein; indem sie in
zweckmäßiger Weise die zersplitterten Kräfte der Individuen, sei
es nur zur Summierung, sei es zur Arbeitsteilung, zusammenfaßt,
um so diesen Kampf wirksamer und minder opferreich zu gestalten;
b) sie hebt den Kampf in einem gewissen Umkreise in gewissen
Beziehungen unter den Individuen, die sie zusammenfaßt, auf oder
schwächt ihn doch ab. Sie ist also zugleich Mittel zum Kampf
und gegen den Kampf. Sie kann sich als Mittel zum Kampf nur
realisieren, indem sie sich als Mittel g^en den Kampf betätigt.
Den Ausgangspunkt bildet zwar — so darf gesagt werden — der
Zweck wirksamerer Gestaltung des Kampfes. Indessen bildet wie-
der die Voraussetzung für die Auswahl, für das Zusammenströmen
der solidarischen Individuen das Vorhandensein einer Gemein-
samkeit des Interesses am Kampf, überhaupt eine Interessen-
gemeinsamkeit — wenigstens im Sinne des kleineren Übels, d. h.
eine geringere Interessengegensätzlichkeit untereinander als gegen
das gemeinsame Feindselige, gegen das der solidarische Zusanunen-
schluß erfolgt. Wogegen der allgemeinste Gegensatz der organi-
schen Welt vorli^t, dagegen besteht auch das allgemeinste ge-
23o
meiiisame Interesse und insoweit die primitivste Solidarität alles
Organischen, z. B. gegen absolut dysbiotische Einwirkungen der
unorganischen Welt. Vgl. auch die Symbiose — in bezug auf At*
mang und sonstige Ernährung — zwischen Tier- und Pflanzenwelt.
Gegenstück und Ergänzung zum sozialen Kampf — dem ums
Dasein und dem Konkurrenzkampf — innerhalb einer Gesellschaft
bildet die soziale Solidarität: Gemeinschaftshilfe. Mag sie nun
einem primitiven Sympathietrieb oder einer sozial erworbenen Sym-
pathie entsprungen, von der Tatsache geringerer Interessengegen-
sätze unter gewissen Individuen als gegenüber anderen und von der
Tatsache größerer Interessenübereinstimmung unter gewissen In-
dividuen als unter anderen getragen sein — ihre Voraussetzung ist
im allgemeinen nicht absolute Interessenidentität, sondern nur:
Oberwiegen der Interessenübereinstimmung gegenüber den Inter-
essengegensätzen wenigstens in dem Bereiche, in dem Solidarität
empfunden und geübt wird. Sie schaltet den Kampf in gewissen
Grenzen aus und ersetzt ihn, wenn auch zum Zweck des gemein-
samen Kampfes nach außen, durch Hilfe, Unterstützung. Sie ist,
soweit nicht primitiver, organischer Sympathietrieb, durchaus egoi-
stischen Nützlichkeits-Charakters.
Die Leistungen der Solidarität erwecken im allgemeinen das
höchste Maß in dem engsten Kreise (Familie usw.), d. h. in dem
Kreise mit den engsten und umfassendsten Beziehungen: unter Um-
ständen ist die Solidarität hier in Umfang und Intensität völlig
unbegrenzt, bis zur Hintansetzung und Opferung seiner selbst.
Z. B. Mutterliebe. Hierhin gehört auch die „goldene Regel" —
das Prinzip der Nächstenliebe, des Tat wam Asi („Das bist du")
und des „Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst".
Dem Grad und Umfang der Solidarität entspricht Grad und Um-
fang der Ausschaltung, Neutralisierung des egoistischen Sonder-
interesses; richtiger: nicht „Ausschaltung", sondern Verfeinerung,
Modifizierung, Erhebung zum Gemeininteresse. Jene Solidarität
und diese Erhebung sind vielmehr Synonyma.
Objektives Bestehen solidarischer Interessen heißt noch keines-
wegs auch Ausübung entsprechender Solidarität! Diese Ausübung
fehlt oft ganz und bleibt hinter Intensität und Umfang des Gemeln-
Interesses zurück.
Es gibt auch subjektive Solidarität (Solidaritatsgef ühl, Solidari-
tätsglaube, Solidaritätswahn) ohne tatsächliche objektive Inter-
essengemeinschaft, ja bei objektivem Interessengegensatz, vgl. z. B.
vor Entstehung des Klassenbewußtseins und des Klassenkampf-
willens in den ausgebeuteten und unterdrückten Gesellschaftsteilen:
Wahn einer Solidarität mit der herrschenden Klasse — vgl. im jetzi-
gen Krieg den Bui^friedenl
S 6. Das Verhältnis zwischen „Kampf ums Dasein''
i. w. S. und „Solidarität"
Es handelt sich — wie oben gezeigt — um zwei verschiedene,
aber nicht gegensätzliche, einander nur vom engeren Gesichtspunkt
der Solidaritätskreise selbst und für diese Kreise im Bereich ihrer
Solidaritätsfunktion ausschließende, dagegen vom höheren Gesichts-
punkt für den weiteren Gesichtskreis der umfassenderen Teile der
Gesellschaft und Menschheit einander ergänzende, ja einschließende
Begriffe und Prinzipien. Der Kampf ums Dasein erfolgt — vom
primitiven Antipathie-Triebproblem abgesehen — nicht um seiner
selbst willen und auch nicht nur um des ihn kämpfenden Indivi-
duums willen, sondern, auch wenn ihn das Individuum jeweilen
allein kämpft, zugleich um der solidarisch-Interessierten willen,
jedenfalls objektiv auch zu deren Vorteil.
Die Solidarität wiederum wird ebensowenig um ihrer selbst willen
geübt. Sic wird betätigt durch Aufhebung des Kampfes in ge-
wissen Bereichen, um den Kampf in anderen Bereichen um so er-
folgreicher führen zu können, — den Kampf, der nicht nur den
Interessen der einzelnen kämpfenden Individuen, sondern den In-
teressen der solidarisch verbundenen Gemeinschaft gilt. Sowohl
Kampf wie Solidarität sind im dialektischen Prozeß jeweils sich
abwechselnde Thesen, Antithesen und Synthesen.
S 7. Tendenz zur Steigerung der natürlichen und
der sozialen Solidarität
Mit der Zunahme der menschlichen Kultur, mit der Vervoll-
kommnung in der Beherrschung der Naturkräfte und der Regu-
lierung der Umwelt über einen gewissen Grad wächst, wenn nicht
2S2
der Anschein trügt, die Kraft und Fähigkeit des Menschen, auch
sich selbst und seine Kultur in die Natur wiederum einzugliedern^
die übrige Natur, organische und unorganische, um sich zu dulden,
an ihr teilzunehmen, sich als ein Teil des Alls zu fühlen.
Die Notwendigkeit und das Bedürfnis zu vernichtenden, zerstö-
renden Eingriffen in die Umwelt verringert sich von einem ge-
wissen Grade der Steigerung der Technik ab wiederum; sowie bis
dahin Steigerung der Technik Zunahme des Bedürfnisses zu sol-
chen Eingriffen bedeutete. Von einem gewissen Punkte treten Ge-
gentendenzen gegen diese zerstörenden Tendenzen der Technik auf.
Hand in Hand mit dieser technisch-kulturellen Entwicklungs-
tendenz läuft eine geistig-psychische verschiedenen Sphären — auch
der Überschußsphäre — angehörige; die Bedeutung der Über-
schußsphäre wächst mit der Kultur, ihr Wachstum ist sogar als
das tiefste Kennzeichen der eigentliche Gradmesser und Maßstab
der Kulturhöhe. Sie ist Entwicklungstendenz in bezug auf die so-
lidarische Gestaltung des Verhältnisses der Menschheit zur organi-
schen, auch unorganischen Natur — eine Tendenz, in Wald und
Busch und Fels „Brüder" zu erkennen — ein pantheistisches Alleins-
Empfinden und Bewußtsein (vgl. u. Kap. VIII).
Mit der Stufe der sozialen Entwicklung des Menschen wächst
nicht nur die Möglichkeit und Tendenz zur sozialen Solidarität,
zu ihrer Erweiterung und Intensierung, sondern diese Erweiterung
und Intensierung ist von einer gewissen Stufe ab die Voraussetzung,
ein wesentlicher Faktor der weiteren Kultur- und sozialen Entwick-
lung;
Die Beziehungen werden immer zahlreicher und wichtiger; die
Verknüpfungen immer mannigfaltiger, bedeutsamer, intensiver,
enger. Die Vermannigfaltigung, Vermehrung, Umfassungs- und
Inhalts - Wichtigkeitssteigerung (Differentiation und Integration,
Extensierung und Intensierung aller Kreise nach Quantität und Qua-
lität) zeigt sich als Tendenz der Entwicklung.
Aus alledem ergibt sich eine Tendenz zur Erweiterung der So-
lidarität und zwar sowohl der natürlichen, wie der sozialen. Die
Steigerung der mutual aid, der tätigen Sympathie und Solidarität
ist so eine wesentliche Tendenz der menschlichen, der ganzen orga-
nischen, ja der gesamten Natur- und Weltentwicklui^.
:i33
Dio Fähigkeit der Menschheit, mit der Natur, so wie sie ist, in
ihrer Totalität ohne Zerstörung, ohne Ausrottung zusammen zu
leben, wächst mit der Steigerung der Kultur, mit der Technik, mit
der zunehmenden Möglichkeit planmäßigen Verhaltens zu allen Er-
scheinungen der natürlichen Umwelt, auch ihren — isoliert be-
trachtet — den Menschen feindseligen Erscheinungen und Kräften.
Damit ist dio Grundlage geschaffen, auf der das Gefühl, Bewußt-
sein und Verständnis für die Zusammengehörigkeit, die Solidarität
aller Natur, für das All-Eins-Sein rein erwachsen kann und sich
entfaltet und ausbreiten wird — ein gewaltiger Baum, die wahre
Weltesche der Edda-Mythe, deren V^ipf el die Menschheit beschatten
und beschirmen wird — in neuer paradiesischer Glückseligkeit ver-
bunden und verschmolzen mit der gesamten übrigen Natur: Das
„tausendjährige Reich". Auch zur Höhe dieses Ausblicks führt
die Menschheit jener „Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in
das Reich der Freiheit!"
S 8. Das Darwinsche Schema und der Höherent-
wicklungstrieb
Daß das Darwinsche Schema teleologisch bis auf die Knodien
und vitalistisch ist, wurde oben bemerkt. Wie steht es zur Frage
des Höherentwicklungstriebs?
Indem Darwin als Zweck der Zuchtwahl und der Anpassung die
Art-Erhaltung faßt, sucht er mit einem Minimum an Zweck-
streben in der Entwicklung auszukommen. Die Frage ist, ob das
Bemühen erfolgreich, ob seine Lösung begründet ist.
An dio Spitze ist der Zweifel zu stellen,
I. warum überhaupt durch Gebrauch und Nichtgebrauch eine
physisch-psychische Änderung, Wandelung erfolgt, sodann
ü. warum diese Änderung zweckmäßig erfolgt, d. h. als
Anpassung.
Insofern die Höherentwicklung auch eine Sicherung der
Selbst- und Arterhaltung darstellt, könnte die Anpassung, obgleich
Höherentwicklung, in der Tat aus der Selbst- und Arterhaltung er-
klärt werden. Es bleibt aber die Tatsache, daß bei bloßem Erhal-
tungstrieb im Sinne eines Beharrungstriebs nicht erklärlich wird,
ik34
woher der OrganismüSj vor das Dilemma der Selbst- und Artgefähr-
dung gestellt — im Gesamtverlauf, Gesamtdurchschnitt betrachtet
— den Ausweg der Höherentwicklung wählt und findet. Der Zu-
fall genügt nicht zur Erklärung. Das setzt, so muß in Modifikation
des früher Gesagten bemerkt werden, ein weiteres, als ein bloßes
Beharrungs- und Erhaltungsstreben voraus. Mindestens steht das
Darwinsche Schema der Annahme eines elementaren organischen
Höherentwicklungstriebes nicht im Wege.
S 9. Evolution und Revolution
sind keine Gegensätze. Vielmehr ist der Revolutionsbegriff ein Un-
terbegriff des Evolutionsbegriffes.
Die Revolution ist die konzentrierte, intensive Form, in der sich
die Evolution unter gewissen kritischen Umständen in dem Moment
der Peripethie vollzieht oder vielmehr ostentativ in Erscheinung
tritt. — Analogie aus der Biologie: der Geburtsakt, Auskriechen
aus dem Ei, die Metamorphose der Insekten, Häutung der Schlangen
usw.
In einem anderen Sinne bedeutet Revolution eine gewisse große
Summe von Evolution, eine gewisse Periode der Evolution zusam-
menfassend, eine Periode, innerhalb deren sich eine hochgradige,
wesentliche Umgestaltung — Umwälzung — vollzieht, gleichviel
in welcher Form.
Beiden Bedeutungen des Begriffs ist gemeinsam : die Tendenz zu
und das Ergebnis einer radikalen Umgestaltung.
7. KAPITEL
SOZIALE HERRSCH AFTSVERHÄLTMSSE
DIE ROLLE DER GEWALT
S I. Bedingungen uBd Mittel der Beherrschung
des Menschen durch den Menschen
Es handelt sich hier um die Abhängigkeitsverhältnisse
1. von Rassen und Nationen^
2. von Völkern und ^.Gesellschaften''^
3. innerhalb der Gesellschaften um die Abhängigkeitsverhältnisse
der Kasten, Stände, Klassen, Berufe, Geschlechter, Altersklassen,
Individuen.
Es handelt sich um Abhängigkeitsverhältnisse, die nach Grund
und Zweck allen Sphären angehören können. Beisj^iele für Schutz-
sphäre: Rekrutierung; für Sexualsphäre: Frauenraub; auch Liebe
im edelsten Sinne — in der Familie: Gatten-, Elternliebe.
Es handelt sich lun unmittelbare oder mittelbare Beherr-
schung — und zwar gleichviel in welcher Form.
Der Bedingungen sind zwei:
a) der Beherrschende muß ein wirkliches oder vermeintes In-
teresse an der Beherrschung besitzen.
1. Dies Interesse kann allen Sphären angehören.
2. Es darf nicht auch — nach Ansicht der Beherrschenden —
in beiderseitigem Einvernehmen „solidarisch" für die Beherrschen-
den ebensogut zu befriedigen sein.
b) der Interessent muß die Mittel zur Durchführung und Auf-
rechtcrhaltung der Beherrschung besitzen.
236
Die Mittel sind u. a. :
physische Gewalt,
wirtschaftliche Macht,
organisatorische Macht,
soziale Blendung (durch Glanz, Pomp, GeheimnisumhüUung,
Dupierung, Bluff, „Distance", fremde Sprachen (z. B. in Kirche),
Einwirkung auf Intellekt besonders durch seine völlige oder teil-
weise Ausschaltung),
bewußte oder unbewußte Stimmungsbeeinflussung (Religion,
Aberglauben, Begeisterung),
geistige intellektuelle Beeinflussung, geistige Überlegenheit (Be-
einflussung des Intellekts mit Hilfe und auf dem Wege des In-
tellekts),
körperliche Geschicklichkeit.
Hierher gehört auch die D e m a g o g i e , die wiederum zerfällt in
1. direkte, gradlinige: drastisch-derbe Agitation mit Spekulation
auf niedere Masseninstinkte und Augenblickswirkungen; ev. auch
Skrupellosigkeit im Punkte Wahrhaftigkeit usw.,
2. indirekte, krummlinige: ä la Fraktionsmehrheit, besonders
Scheidemann-David während des Krieges: Regierung in einzelnen
besonders populären Fragen (Zensur, Nahrungsmittel, Wahlrecht
usw.) demagogisch bekämpfend (im geheimen, wenn auch ev. nicht
ausdrücklichen Einverständnis mit ihrl), um die Massen in den
entscheidenden politischen Fragen und Aktionen desto gewisser an
dieselbe Regierung zu fesseln und so zu betrügen — „Spiel mit
verteilten Rollen**!
Die Beherrschung kann sein
a) für die Kulturentwicklung
nützlich oder nachteilig,
und zwar nützlich unter Umständen selbst, wenn sie dem Be-
herrschten schädlich ist oder scheint; operative Eingriffe gewisser-
maßen der Entwicklung;
b) für defn Beherrschten
nützlich oder schädlich,
und zwar beides (nützlich oder schädlich) objektiv ganz unab-
hängig davon, wie er subjektiv die Beherrschung empfindet;
a37
c) für den Beherrscher
nützlich oder schädlich (z. B. verweichlichender Einfluß, Luxus
usw., Gapua in Hannibals Händen; die Germanen in Rom).
Wo geistige Überlegenheit in einer gegebenen Epoche das
unmittelbare Werkzeug der Beherrschung ist, kann diese wie-
derum ihren Ursprung in den andern Mitteln haben, die vorher
dem Beherrschenden allein zur Verfügung standen und nunmehr
entweder auf g^eben oder verloren sind oder neben dem Mittel der
geistigen Oberl^enheit noch zur Verfügung stehen. So z. B. in
der physischen oder wirtschaftlichen Macht, die den Erwerb der
geistigen Überlegenheit zur Folge hatten.
Genau so steht es mit den übrigen Mitteln — auch sie
können, wie sie in einer gegebenen Epoche den Ausschlag geben
oder zu geben scheinen, aus den andern Mitteln nur oder auch mit
entstanden sein.
Was entscheidet in letzter Instanz? Welches Mittel? oder
welche Kombinationen der verschiedenen Mittel? Eine generelle
Antwort gibt es nicht, die eines der Mittel ausschließlich und
absolut benennen könnte. Es konunt auf den Grund und Zweck
des Herrschaftsverhältnisses anl
Hat es einen wirklichen sozialen Funktionswert, ja entspricht
es sozialer Notwendigkeit, so ist das Bestehen und die Intensität
dieses Funktionswertes das letzten Endes Entscheidende, alles
übrige ist nur unwesentliche Empfindungsreaktion, nur subjektive
Vorstellung, Auffassung, Wahn.
Doch kommt es darauf an, ob eine Beseitigung des an sich
zunächst in der gegebenen Lage bestehenden funktionellen Ab-
hängigkeitsverhältnisses bei Aufhebung des beherrschenden Zwangs
möglich wäre, z. B. durch wirtschaftliche, geistige Besserstellung
der Beherrschten, die sie des bisher vom sozialen Gesamtstandpunkt
aus bestehenden Bedürfnisses, geführt zu werden, für die Zukunft
entledigen würde. Dann steht im Hintergrunde wirklicher, sozial
nicht fundierter Zwang: Gewalt.
Vom Fall der wirklichen sozialen Funktionsverhältnisse ab-
gesehen, steht hinter allen oben erwähnten Mitteln in letzter
Instanz entscheidend: wirkliche oder vermeintliche, mögliche oder
für möglich gehaltene, gegenwärtig-vorhandene dauernde oder
338
künftig disponible oder für disponibel gehaltene physische Gewalt;
physische Gewalt oder die bereite Fähigkeit zu ihr.
S a. Im besonderen: Organisatorische Beherrschung
Die Organisation von einzelnen Kräften zu ihrer zweckmäßigen
gemeinsamen Anwendung kann durch Systematik, Arbeitsteilung,
Arbeitsökonomie, zielsichere Konzentration, Zusammenfassung und
Zuspitzung auf den gewollten Effekt eine gewaltige Vermehrung,
Vervielfältigung der Kraft und Macht bedeuten gegenüber der in-
dividualistisch-zersplitterten, nur zufällig zweckmäßig zusammen-
wirkenden Anwendung der einzelnen Kräfte. Dabei handelt es sich
um Organisationen zu allen erdenklichen Zwecken.
Sie ist das Ergebnis geistig-psychischer Faktoren — aber nur
einseitiger, und keineswegs notwendig der edelsten — und stoff-
licher Faktoren, sofern die Organisation durch Besitz an sächlichem
Reichtum erleichtert wird, der auch die geistig-psychischen Fak-
toren auszubilden ermöglicht; schließlich auch physischer Fak-
toren.
Die Organisationsmonopolisierung ist eines der wichtigsten und
wirksamsten Mittel der Beherrschung. Sie besteht aus der monopo-
listischen Usurpierung des organisatorischen Feudums und der Or-
ganisationstechnik und -Möglichkeit über das organisatorische Feu-
dym hinaus.
Die organisatorische Macht oder wenigstens Machtpotenz besteht
nicht nur im Anteil am organisatorischen Feudum, d. h. an über-
kommenen sozialorganisatorischen Einrichtungen öffentlicher oder
privater Form; sie ist vielmehr beweglich, elastisch, kann rasch neu
erzeugt werden, wachsen, sinken, zumal nicht die Organisation als
bloße Form ihre Kraftwirkung definitiv und fest bestimmt, son-
dern das lebendige Zusammenwirken der Einzelkräfte in der Or-
ganisation, ihre Anpassung, ihr Elan, ihre Stimmung — kurz ihr
„Geist** von höchstem Gewicht ist.
Organisatorische Kraft kann rasch neu entstehen — nur eben
die erforderliche Einsicht, Geschicklichkeit, äußere Möglichkeit vor-
ausgesetzt Diese Einsicht, Geschicklichkeit, Möglichkeit vor-
zuenthalten, bildet eines der wichtigsten und wirksamsten Mittel
289
zur Stabilisierung der Herrschaft. Dazu dient u. a. die künstliche
Atomisierung der Unterdrückten, der anderen Schichten, ihre Er-
ziehung (Verdummung, Sklavenmoral usw.) und sonstige Methoden
der geistig-psychischen Unfähigmachung — auch durch gesetz-
liche und ungesetzliche, politische, wirtschaftliche Mittel, durch
sozialen Zwang, Druck, Einschüchterung, Bedrohung, Vergewalti-
gung.
Zum Wesen der sozialen Entwicklung — Evolution wie Revolu-
tion — gehört, wie die Verschiebung des sonstigen Feudums und
der sonstigen Schöpfungskräfte und Machtpositionen, so auch die
W^andlung der organisatorischen Zustände, die Verschiebung der
organisatorischen Kräfte, und zwar sowohl des Feudums, wie der
freien Kräfte, auch durch Neubildung von Organisationen. Diese
Neubildung wiederum beruht zugleich auf der Verschiebung und
Neubildung psychisch-geistiger Kräfte. Sie kann sich in den ver-
schiedensten Stadien der Evolution vollziehen, bevor die Ausein-
andersetzungen und Kämpfe darüber manifest werden und während
dieser manifesten politisch-sozialen Kämpfe; zum Teil als das Er-
gebnis des Ausgangs dieser Kämpfe.
Stets ist die Verschiebung eines Teils der Macht die Voraussetzung
für die Ausfechtung der manifesten Kämpfe; welcherlei Macht,
welcher Art Feudum und freier Kräfte angehörig, hängt von dem
Wesen des einzelnen Falles und seinen historischen Bedingungen ab.
S 3. Grade und Formen der Beherrschung des
Menschen durch den Menschen
Alle vorstellbaren, erdenklichen Grade — von der beiderseits un-
bewußten und den Beherrschten vorzugsweise nützlichen (z. B. El-
tern und Kinder) bis zu der beiderseits bewußten, klar empfun-
denen, mit offener brutaler Gewalt laufend gegründeten und auf-
rechterhaltenen Beherrschung, die nur dem ausbeuterischen Inter-
esse des Beherrschers dient und den Beherrschten aussaugt und
zerstört — vom höchsten Grad der Embiotik bis zum höchsten Grad
der Dysbiotik für den Beherrschten — bis zur Tributpflicht, Aus-
plünderung und Sklaverei aller Grade.
2^0
S 4* Von der Gewalt, speziell den Waffen und an-
deren Zwangswerkzeugen, als Mittel der Beherrschung
Die Gewalt gehört an sich ins Gebiet der physischen Kräfte —
und zwar der natürlichen und künstlich-physischen Kräfte. Sie
gehört aber auch zu den anderen Arten Feudum und freien Kräften,
jedenfalls sofern sie mit ihnen vielfach, ja meist untrennbar ver*
bunden ist, in ihrer Anwendung von ihnen abhängt.
Soferji Waffen angewandt werden, gehört die Gewalt natürlich
stets zum stofflichen und geistig-psychischen Feudum.
Die Gewalt — auch soweit rein physisch — ist oft, ja in der
Regel, erwachsen auf dem Boden aller vier Arten von Kräften oder
wenigstens mehrerer als nur der natürlich physischen; auch inso-
fern liegt das Gewaltproblem komplizierter als denen träumt, die
ihm durch Konstruktion aus einer Art Kraft beikommen möchten.
Waffen und Werkzeuge (Ketten, Gefängnisse usw. zur Unter-
drückung, Festhaltung) bedeuten — ähnlich der Organisation —
eine Vervielfältigung der physischen Kraft. Zu ihrer Entstehung
setzen sie geistig-psychische, stoffliche und meist organisatorische
Kräfte neben den physischen voraus; von dem Stofflichen begriff-
lich untrennbar.
In Zeiten, die objektiv reif für „Umwälzung" in den Herrschafts-
verhältnissen sind oder auch nur so empfunden werden, ist objektiv
oder nach der Oberzeugung das entscheidende Beherrschungsmittel
wirklich nur noch die Gewalt; alles andere ist zerfetzt und zerstoben,
d. h. aber eben in solchen Zeiten, für die die Frage, welches Be-
herrschungsmittel entscheidend sei, praktisch-politisch am aktuell-
sten, ja eigentlich allein aktuell ist.
Es gibt zwei Arten von Gewalt: gesellschaftlich-dysbiotische und
gesellschaf tlich - enbiotische. Dient die Gewalt der Gesellschafts-
entwicklung, ist sie gesellschaf tlich - notwendig, so ist sie gesell-
schaftlich-enbiotisch. Wirkt sie der Gesellschaftsentwicklung ent-
gegen, so ist sie gesellschaf ts-schädlich (gesellschaf tlich - dysbio-
tisch).
16 IitobkBMht, 8tadi«a 2^1
S 5. Die Gew^alt als bildendes Prinzip und Regula-
tor der sozialen Gestaltungen
Ein Hauptergebnis der Betrachtung aller natürlichen und spe-
ziell menscUichen Zustände, ein Hauptergebnis auch der vorlie-
genden Untersuchung ist dieses:
Die Grundlage, die Wurzel, das bildende, formende Prinzip aller
Verhältnisse, wie in der unorganischen Welt, wie in den Beziehungen
der organischen zur unorganischen Welt und unter den organischen
Wesen überhaupt, so auch unter den Menschen, und die Grund-
lage aller sozialen Gestaltungen ihrer bisherigen Geschichte im be-
sonderen, ist M ac h t ; und deren ultima ratio, deren tiefste Grund-
lage im bisherigen Geschichtsverlauf wiederum Gewalt, Gewalt im
gröbsten, materiellen, körperlichsten Sinn, Gewalt, die als drohende
Potenz selbst hinter den scheinbar idealsten Beziehungen im Ver-
borgenen lauert: als letzter Regulator auch der zartesten duftigsten
Verbindungen. Es gibt auch eine psychische Grewalt (Macht), und
sie spielt eine höchst bedeutende Rolle in der organischen Welt,
in den sozialen Beziehungen der Menschheit — aber auch ihr letz-
ter Regulator ist die potentielle physische Gewalt.^)
S 6. Solidarität und Dissolidarität*)
Das Gesellschaftsinteresse deckt sich niemals vollständig mit dem
Einzelinteresse, so wie es sich aus der Besonderheit des Individuums
ergibt. Das Individuum wird insofern der Art geopfert, ist inso^
fem Mittel zum Zweck der Gesellschaft. Das gesellschaftlich nütz-
liche oder notwendige Herrschaftsverhältnis kann mit dem Einzel-
interesse der beherrschten Individuen im Einklang oder im Wider-
spruch stehen. Im ersteren Falle liegt objektive Solidarität, im
zweiten objektive Dissolidarität zwischen dem Beherrscher und dem
Beherrschten vor. Der Einklang oder Widerspruch kann erkannt
^) Daß die Justiz nichts anderes als eine systematisierte Grewalt-
anwendung ist, vgl. meine Bede über Verwaltung (Preußentag 1909)
und mein Referat für Internationalen Kongreß 1914 über die politischen
Gefangenen Rußlands.
^ Unter den Gesichtspunkten dieses Kapitels ist noch einiges Nene
über die bereits im vorigen Kapitel abgehandelten Begriffe «Solidarität*
und «Dissolidarität* zu sagen.
2^2
bzw. empfunden werden oder nicht. Im ersteren Fall deckt sich
die subjektive Solidarität oder Dissolidarität mit der objektiven,
im zweiten Falle divergieren sie.
Es gibt zwei Arten von Solidarität und Dissolidarität: gesell-
schaftlich-enbiotische und gesellschaftlich-dysbiotische. Die Soli-
darität zwischen Teilen der Gesellschaft kann sich auf Einzelinter-
essen dieser Teile beziehen, die mit dem Gesellschaf tsintenesse im
Widerspruch stehen: sie ist dann gesellschaf tlich-dysbio tisch i be-
steht Einklang zwischen ihnen, so ist sie gesellschaf tlich-enbiotisch.
Ebenso steht es mit der Dissolidarität.
Gewalt und Einsicht sind die Ursachen letzter In-
stanz, die tiefste Grundlage aller gesellschaf tlich-enbio-
ti sehen Herrschaftsverhältnisse.
Vorausgesetzt ist: gesellschaf tlich-enbio tischer Charakter, d.h.,
daß das Herrschaftsverhältnis für die Entwicklung der Gesellschaft
nützlich, ja unentbehrlich ist; dabei kann das Herrschaftsverhältnis
entweder dem Einzelinteresse der Beherrschten entsprechen oder
widerstreiten; im ersteren Falle liegt objektive Solidarität, im zwei-
ten objektive Dissolidarität zwischen Herrscher und Beherrschten
vor. Die Tatsache des gesellschaf tlich-enbiotischen Charakters und
die daraus folgende gesellschaftliche Entwicklungsnotwendigkeit
des Herrschaftsverhältnisses kann von den danach zu beherrschen-
den Gesellschaftsfaktoren anerkannt bzw. empfunden werden oder
nicht. Auch wenn sie anerkannt bzw. empfunden wird, bleibt —
bei objektiver Dissolidarität — in bezug auf die Beherrschten der
etwaige Widerspruch zwischen Einzel- und Gesellschaftsinteresse
in der Regel bestehen; er kann durch diese Einsicht nur bei solchen
Gesellschaftsfaktoren aufgehoben werden,, die von dem Bedürfnis
nach Förderung der Gesellschaftsentwicklung maßgebend bestinunt
werden, deren Einzelinteresse also durch diese Einsicht identisch
mit dem Gesellschaftsinteresse wird, bei denen sich durch diese
Einsicht objektive Dissolidarität in objektive Solidarität wandelt.
Liegt subjektive Solidarität bei den Beherrschten vor, so bleibt
das Herrschaftsverhältnis nach ihrem übereinstimmenden Willen
bestehen.
Gewalt ist die Ursache letzter Instanz, die letzte tiefste Grundlage
16* 2^3
bei objektiver Dissolidarität, die in diesem Falle beim herrschenden
Teile gesellschaf tlich-enbiotische Dissolidarität, beim beherrschten
gesellschaftlich-dysbiotische Dissolidarität ist: selbst bei subjektiver
Solidarität in Veriiindung mit objektiver Dissolidarität bleibt sie
die letzte Instanz.
Ebenso entscheidet sie bei objektiver Solidarität im Falle sub-
jektiver Dissolidarität; doch ist nicht Gewalt, sondern Einsicht hier
die letzte Instanz. Ist die Einsicht in die objektive Solidarität ge-
wonnen, so fällt die Notwendigkeit der Gewalt fort. Das Herr-
schaftsverhältnis beruht auf objektiver und subjektiver Solidarität
von Herrschenden und Beherrschten.
Einsicht entscheidet auch bei objektiver Dissolidarität im Falle
subjektiver Solidarität; doch ist letzte Instanz hier nicht Einsicht,
sondern Gewalt. Ist die objektive Dissolidarität erkannt, so ist einzig
mögliche Grundlage (gesellschaf tlich-enbiotische) Gewalt.
Die Einsicht entsteht in den Faktoren entweder spontan, infolge
eigener Erfahrung, Urteilsfähigkeit — oder nicht spontan, infolge
von Einflüssen anderer Faktoren — z. B. der herrschenden: Be-
lehrung, Erziehung.
Gewalt ist tiefste Grundlage und Ursache letzter Instanz,
Irrtum Ursache vorletzter Instanz bei gesellschaf t-
lich-dysbiotischen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhält-
nissen.
Vorausgesetzt ist: gesellschaf tlich - dysbiotischer Charakter des
Herrschaftsverhältnisses, d. h. daß es für die Entwicklung der Ge-
sellschaft schädlich ist; ein solches Herrschaftsverhältnis kann ent-
weder dem Einzelinteresse der Herrscher widersprechen oder ent-
sprechen; in letzterem Falle liegt objektive Dissolidarität, im erste-
ren objektive Solidarität zwischen Herrscher und Beherrschten vor
— nämlich solidarisches Interesse an Beseitigung des Herrschafts-
verhältnisses.
Die Tatsache des gesellschaf tlich-dysbiotischen Charakters kann
von den herrschenden Faktoren erkannt bzw. empfunden werden
oder nicht. Aber auch in jenem Fall bleibt — bei objektiver Dis-
solidarität — in bezug auf den Herrschenden der Widerspruch zwi-
schen Einzel- und Gesellschaftsinteresse in der Regel bestehen; er
344
kann durch diese Einsicht nur bei solchen Faktoren aufgehoben
werden, die vom Bedürfnis nach Förderung der Gesellschaft so
stark bestimmt werden, daß durch diese Einsicht ihr Einzelinter-
esse mit dem Gesellschaftsinteresse identisch und die bisherige ob-
jektive Dissolidarität in objektive Solidarität verwandelt wird —
mit dem Ergebnis, daß die Herrscher und Beherrschten zur Auf-
hebung des dysbiotischen Herrschaftsverhältnisses zusanunenwirken.
Gewalt (als dysbiotische Gewalt) ist die Ursache letzter Instanz,
die letzte tiefste Grundlage aller gesellschaf tlich-dysbiotischen Herr-
schaftsverhältnisse.
Bei ihnen ist das Interesse der Gesellschaft identisch mit dem
objektiven Interesse der Beherrschten. Bei subjektiver Solidarität
der Beherrschten mit den Herrschenden ist Irrtum das bestimmende
Moment; aber nicht als letzte Instanz. Wird der Irrtum zerstört,
so bleibt nur Gewalt, die als Reserve im Hintergrunde auch des Irr-
tums steht.
So ist Irrtum nur Ursache vorletzter Instanz, und zwar nur in dem
Falle subjektiver Solidarität.
Irrtum entsteht spontan im Irrenden durch unzureichende Er-
fahrung, unzureichendes Urteil, unzureichende Einsicht des Irren-
den; oder nicht-spontan, durch Einflüsse anderer Faktoren, z. B.
der Herrschenden (Überredung, Betrug usw.), hinter denen weiter
unterinstanzliche Mittel folgen.
Ebenso gehören zur Gewalt zahlreiche untere Instanzen von
Mitteln.
S 7. Solidaritätsmittel der verschiedenen Instanzen
Solidaritätsmittel sind die Mittel, die der Solidarität dienen, sei
es der aus dem elementaren Sympathietrieb, sei es der aus prak-
tischer Interessenübereinstinmiung erwachsenen, deren Anwen-
dungszweck die Erfüllung der aus der Solidarität fließenden Auf-
gaben ist — wobei zunächst nur objektive Solidarität gemeint ist.
Die Anwendung dieser Mittel erstreckt sich einmal auf die außer-
menschliche Umwelt, auf Sachgüter usw.; andererseits auf andere
a45
Menschen, und zwar als Solldaritatsmittel auf die anderen solidari-
schen Menschen. Dabei kann jedoch dasselbe Mittel, vom anderen
Standpunkt betrachtet, Dissolidaritätsmittel sein, sofern das Soli-
daritatsverhältnis mit gewissen Menschen die Kehrseite eines Dis-
solidaritätsverhältnisses mit anderen Menschen ist. Nur von den
Beziehungen zu anderen solidarischen Menschen wird hier gehan-
delt. Das Solidaritätsverhältnis kann auch ein Abhängigkeitsver-
hältnis, ein enbiotisches Herrschaftsverhältnis sein. Die Solidari-
tätsmittel sind auch gegenüber den Solidaritätsgenossen nicht not-
wendig friedlich; nicht ihre Form, sondern ihr Zweck und ihr Er-
folg kennzeichnet sie als nützlich für den solidarischen Faktor (So-
lidaritätsgenossen). Auch Kampf und Kampfmittel, Gewalt und
Gewaltmittel können also Solidaritätsmittel sein (Kombination von
objektiver Solidarität und subjektiver Dissolidarität).
Falls objektive und subjektive Solidarität zusammenfallen, so
gilt folgender Instanzenzug:
1. Das höchste, letztinstanzliche Mittel der objektiven Solidarität
ist die subjektive Solidarität, d. h. das Bewußtsein oder Empfunden-
werden der objektiven Solidarität;
2. vorhergehende Instanzen sind: Hilfsbereitschaft und Hilfs-
mächtigkeit;
3. deren Mittel sind wiederum Naturkräfte aller Art;
4. deren Mittel
a) Sachgüter,
b) Menschen, darunter auch die — aktiven und passiven —
solidarischen Faktoren selbst, und zwar
a) in ihren körperlichen Eigenschaften,
ß) in ihren geistig-psychischen Eigenschaften
als unmittelbare, erstinstanzlich wirkende Mittel.
Tritt subjektive Solidarität nicht ein, so fällt I, i w^, das übrige
bleibt unverändert, auch in 1, 2 die Hilfsbereitschaft, die auch ohne
subjektive Solidarität bestehen kann und unentbehrlich ist.
Entsprechendes, wie vorstehend ausgeführt, gilt von der Dissoli-
darität.
3/I6
Exkurs : Orundzüge einer Marxkritik ^) *)
• ^<<
A. Begriffe „Arbeitskraft" und „Arbeit*
1. Arbeit = Akt der Ausgabe (Verausgabung) der Arbeitskraft;
also nicht ein Faktor, eine Potenz neben, außer der Arbeitskraft,
sondern ein Schicksal der Arbeitskraft, ein Vorgang, ein Geschehen
mit der Arbeitskraft. Arbeit ist nicht nur kein selbständiger, be-
sonderer Faktor neben (außer) der Arbeitskraft, sie ist vielmehr
überhaupt kein Faktor, sondern ein facere, ein agere; auch in ge-
leisteter Arbeit ist Arbeit enthalten als ein Akt, nicht als Kraft, son-
dern als das Ausgeben einer Kraft, der Arbeitskraft, die den Faktor
darstellt.
2. Geleistete „Arbeit" = die investierte, verausgabte, in den
Produktionsprozeß eingeführte (geleistete) Arbeitskraft; = die
durch den vollzogenen Akt (vgl. zu i) verausgabte Arbeitskraft.
Also nichts Wesensanderes als Arbeitskraft, sondern = Arbeits-
kraft selbst, nur im Stadium des Entaußertseins, im entäußer-
ten Stadium, vom menschlichen Träger der Arbeitskraft losgelöst,
entäußert, objektiviert. „Geleistete Arbeit" also ein wenig präziser
Ausdruck für verausgabte Arbeitskraft.
B. Formel des Gegensatzes zur Marxschen VV^ert-
theorie
I. Marx bemißt den Wert der Arbeitskraft nach deren klassen-
mäßig, sozial - bedingten, in praxi aufgewandten Durchschnitts-
produktionskosten, nach den klassenmäßigen Durchschnitts-
produktionsbedingungen — ein klassenmäßig, nicht all-
gemein-gesellschaftlich bestimmter Wert.
Richtig dagegen ist: Die gesamtgesellschaftlichen Durch-
schnittsproduktionsbedingungen bestimmen wie den Wert aller
andren Güter, so auch den Wert der Arbeitskraft; auch der Wert
der Arbeitskraft ist kein klassenmäßig-, sondern ein allgemein-ge-
^) Erg&Dzt durch eine Abhandlung «Notizen zur politischen Ökonomie',
geschrieben in der Untersuchungshaft 1916 — im Folgenden Ms. A
genannt.
<) Dieser Exkurs (bis E XXXVI) bereits veröffentlicht im .Archiv för
Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik*, Bd. 46, S. 605 ff.
a47
sellschaftlich bestimmter Wert. Der gesamtgesellschaftlich bemes-
sene Durchschnittswert der Arbeitskraft gilt im Produktions- und
Zirkulationsprozeß, geht in das Produkt ein usw. Das kapitalistische
Tauschobjekt aber (Lohn) wird nicht nach diesem gesamt-gesell-
schaftlichen Durchschnittswert bemessen, sondern nach dem klassen-
mäßigen „Wert", nach den klassenmäßig empirischen Produktions-
bedingungen, nach den in praxi konkret klassenmäßig (sozial)
durchschnittlich aufgewendeten Produktionskosten; ist also kein
Wertäquivalent, sondern ein Minderwert.
II. Marx behandelt die Arbeit als den wertschopfenden Faktor
— als einen besonderen Faktor außer (neben) der Arbeitskraft — ;
während sie richtig gar kein Faktor ist — nur die Forai, der Vor-
gang der Verausgabung der Arbeitskraft, die den alleinigen mensch-
lichen wertschöpferischen Faktor darstellt.
III. Marx zerreißt den Kreislauf des Werts, der richtig in end-
loser Kette — Spirale I — zu erkennen und in theoretischer For-
mulierung zu fassen ist.
IV. Marx macht die „Arbeit" zu einem u r schöpf erischen Fak-
tor; der aus dem Nichts oder einer phantastischen transzenden-
talen Wunderquelle Wert schafft; Wert über den Wert der Ar-
beitskraft, deren Verausgabung doch die Arbeit darstellt; den sog.
Mehrwert, der aber richtig nur ist der Teil des Werts der veraus-
gabten Arbeitskraft, der über den Wert des kapitalistischen
„Äquivalents", des Lohns hinausgeht, der kein Äquivalent ist.
C. Die inneren Widersprüche der Marxschen
Werttheorie
I. a) Marx zerstört den Kreislauf des Werts, indem er ganz will-
kürlich und rein dialektisch-grammatikalisch Arbeitskraft und Ar-
beit auseinanderreißt, das Verhältnis zwischen un verausgabter imd
verausgabter Kraft wegdisputiert, um ihre daraus folgende Wert-
identität zu verdecken und der Arbeitskraft so die Fähigkeit zur
Erzeugung von mehr Wert, als sie selbst besitzt (Neu-Mehr-Wert,
Schöpfungskraft oder -Fähigkeit) zuzusprechen.
b) Unklar, jedenfalls unausgeführt bleibt bei Marx das historisch-
moralische Moment der wechselnden Lebenshaltung der Arbeiter,
des wechselnden tatsächlichen Aufwands für die Erzeugung
a/i8
der Arbeitskraft, dieser tatsächlichen Produktionskosten der
Arbeitskraft« die darum doch nicht notwendig ihren Wert bestim-
men: es sei denn, daß man die allzu bequeme Tarnkappe der viel-
deutigen Definitionsworte ,,geseIlschaftlich-notwendig" (was hier
hieße: ««klassenmäßig - notwendig") auch zur Verdeckung dieser
Schwierigkeit benutzen will.
c) In der Stellung zum Problem der Durchschnittsprofitrate
knickt die Marxsche Theorie ein zweites Mal (wie zu a) und zer-
bricht ihren eignen Zusammenhang« ihre eigne logische Kpnsequenz«
ihre Geschlossenheit; sie muß eine rein praktisch-empirische Deu-
tung ergreifen.
II. Zu a ist das wesentlichste in meinen ««Bemerkungen zur polit.
Ökonomie'* (aus Moabiter Arrest) gesagt — im Anschluß an Aus-
führungen aus 1891 und aus Glatz — desgleichen ist dort meine
Auffassung« wenn auch nur flüchtig und andeutungsweise«
skizziert.^)
^) Aas Ms. A. : Die Marxsche Werttheorie ist unbefriedigend. Zwischen
Arbeitskraft und Arbeit wird der Kreislauf auseinaodergerisseo — der
Wert der ^Arbeitskraft* wird aus der .Arbeit* geDommen. Der Wert
der Arbeit aber nicht aus der Arbeitskraft. Jede klare wesentliche
Relation zwischen dem Wert der Arbeitskraft und dem Wert ihrer
Arbeitsleistung fehlt. Der Mehrwert wird aus der Fähigkeit der Arbeits-
kraft, über ihren eigenen Wert hinaus Wert zu schaffen, erklärt. Der
Mehrwert ist Produkt einer ökonomischen Uneugung.
Der Wert der Arbeits^kraft ist eine gesellschaftliche Tatsache, und aus
der Gesamtheit der Gesellschaftswirtschaft zu entnehmen. Marx ent-
nimmt ihn aus der Klassenlage des Proletariats und gibt damit auf
eine ökonomische Frage eine soziale Antwort. Der Gesamtzusammen-
hang der Gesellschaftswirtschaft bestimmt die Produktivität der Arbeit
— als eine Durchschnittstatsache; derselbe Gesamtzusammenhang be-
stimmt auch den Wert der Arbeitskraft — als eine Durchschnitts-
tatsache. Dieser Wert ist unabhängig von den besonderen Produktions-
kosten der Arbeitskraft, wie sie durch die besondere soziale Lage des
Trägers der Arbeitskraft, des Arbeiters, abweichend vom gesellschaft-
lichen Durchschnitt, bedingt werden. Diese sozial bedingten Produk-
tionskosten ergeben nur den Preis der wahren Arbeitskraft, der bei
der proletarischen Arbeitskraft dauernd unter ihrem Werte steht.
Der bei Marx unterbrochene Kreis ist zu schließen.
Der Wert der Arbeit = Wert der Arbeitskraft.
Die Arbeitskraft geht in das Produkt ein und zwar in ihrem Werte.
Dieser Wert ist bestimmt durch die gesellschaftliche Durchschnitts-
2&9
III. a) Die Produktivität der Arbeit ist der Ausdruck
(das Ergebnis, Produkt) der gesellschaftlichen Kräfte»
der Kräfte (Leistungsfähigkeit) der Gesellschaft als Gan-
zes; nicht des Arbeiters» auch nicht der Arbeiterklasse.
b) Vom Wert der Arbeitskraft, der Arbeit (Arbeitslei-
stung), des Arbeitsprodukts gilt das gleiche.
lY. Aus der Sphäre und dem Aspekt der Gesellschaft als Ganzes,
der Gesamtgesellschaft muß in die Sphäre der einzelnen Klassen
gestiegen werden, der einzelnen Klassen und ihres Verhältnisses
(speziell: Machtverhältnisses) zueinander, wenn man zur Betrach-
prodaktivität der Arbeit, d. h. durch das Produkt, das die Arbeitskraft
nach dem Stand der gesellschaftlichen Darchscbnittsprodaktiyität zu
erzeugen berufen ist. Der Wert des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
= dem Wert der dafür aufgewandten gesellschaftlichen Gesamtarbeits-
kraft ; und der Wert des Gesamtprodukts der proletarischen Arbeit =
dem Wert der gesamten dafCLr aufgewandten Arbeitskraft. Der hierbei
gemeinte Wert des Gesamtprodukts ist der Wert des Bruttoprodukts
abzüglich der darin aufgegangenen Werte an konstantem Kapital,
abzüglich auch des gesellschaftlich notwendig jeweils zu akkumulieren-
den Produktteils.
Wenn das Proletariat für seine Arbeit, d. h. für seine verausgabte
Arbeitskraft, nicht den äquivalenten im Gesellschaftsdurchschnitt darauf
entfallenden Teil des Gesamtprodukts erhalt, so erhält es eben weniger
als den Wert seiner verausgabten Arbeitskraft. Nicht urerzeugter
Neuwert ist's, was der Kapitalist ans dem Proletarier zieht, sondern
ein Teil des Werts der proletarischen Arbeitskraft selbst; es handelt
sich bei der Ausbeutung nicht um unbezahlte Arbeit, sondern um un-
bezahlte Arbeitskraft selbst. Der «Mehrwert* ist kein «Mehr* an Wert
gegenüber dem Wert der Arbeitskraft, er ist ein Abzug von dem der
aufgewandten Arbeitskraft gleichwertigen Arbeitsprodukt dieser Arbeits-
kraft. Kein «Mehrwert*' liegt vor, sondern ein Mehranteil. Das Problem
der Ausbeutung ist ein reines Verteilnngsproblem, nicht ein
Produktionsproblem, wie Marx konstruiert Der Proletarier erh< einen
Minderanteil, einen Minderlohn Die Reproduktion seiner Arbeitskraft
vollzieht sich vom alleinentscheidenden Maßstab des gesellschaftlichen
Durchschnitts aus in UnterkonsumtioD. (Auch die Begriffe konstantes
und variables Kapital im Marz'schen Sinne werden damit eliminiert.)
Die soziale Lage der Arbeiterklasse tritt bei dieser Konstruktion nicht
in der Sphäre der Produktion, sondern in der Sphäre der Verteilung
des gesellschaftlichen Produkts bestimmend auf. Der Charakter der
Ausbeutung als einer Wirkung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse
erscheint in voller Klarheit.
aSo
tung des Yerteilungsproblems schreitet, und zwar des
Produkts- und Wertverteilungsproblems.
Die „Lohnfrage", die Frage, was jeweils zur Erhaltung des Ar-
beiters und der Arbeiterklasse als Ganzes und zur Reproduktion der
Arbeitskraft tatsächlich von der Gesellschaft aufgewendet wird, ist
durchaus eine Machtfrage; liegt im Gebiete der sozialen Macht-
verteilung (freilich im Sinne früherer Kapitel u. U. — in ge-
wissen Perioden — als gesamtgesellschaftliches Bedürfnis!).
y. Nach diesen jeweils tatsächlichen Produktionskosten den Wert
der Arbeltskraft bemessen zu wollen, bleibt eine um so wunderlichere
Antinomie und Inkonsequenz der Marxschen Lehre, jemehr diese
Lehre in der Konstruktion von Mehrwert und Profit ganz rück-
sichtslos von der empirischen Erscheinung der
Durchschnittsprofitrate abstrahiert hat. Die Abstrak-
tion von der ungleichen Verteilung des Arbeitsprodukts an die ver-
schiedenen Klassen wäre für die Werttheorie nicht auffälliger, noch
radikaler gewesen.
Aber je mehr Marx in der Profitratenfrage zunächst radikal ab-
strahiert von den empirischen Erscheinungen, während er in der
Lohnfrage die Empirie in die Konstruktion hineinzugeheimnissen
versucht hat, um so schwerer konnte man sich in die Vorstellung
bequemen, daß das Problem der Durchschnittsprofitrate von Marx
durch diese einfache praktisch-empirische Lösung erledigt werden
würde, die in der Tat ein Wiederumbiegen, Wiederzurückbiegen
der zunächst so abstrakten Konstruktion bedeutet.^)
Auch in der Frage der Profitrate ist die Marxsche Theorie ge-
brochen — nur gerade umgekehrt, als zu a (in Frage des
Verhältnisses von Wert der Arbeitskraft und Neuwert-Schöpfungs-
fähigkeit der Arbeit): während hier die Erscheinung der Empirie
einfach in das Konstruktionsschema der Theorie eingefügt und
durch Zuhilfenahme eines irrationalen (metaphysischen, transzen-
dentalen) Moments (der Urwert-Schöpfungskraf t der Arbeit) un-
schädlich gemacht, neutralisiert wird, ist in der Durchschnitts-
^) Es ist dies der berühmte Widerspruch zwischen dem 1. Band des
«Kapital* (Werttheorie) und dem 3. Band (Durchschnittsprofitrate,
Produktionskosten, Preis); vgl. Engels, Vorwort zum 3. Band vom
»Kapital* 8. Xff. [Anm. d. Hrsg.]
profitfrage die Empirie zunächst völlig — bis zur Irrealität der Lö-
sung — ausgeschaltet, um dann am Schluß in fast gewaltsamer
Weise und vom Standpunkt des Marxschen Wesens sehr äußerlich
zur Geltung gebracht zu werden.
VI. In beiden Fragen li^t „Tycho de Brahismus" vor — ein Be-
mühen einer Wiederausschaltung (Eliminierung) eines erst durch
eine falsche Theorie in das Schema hineinkonstruierten Fehlers.
VII. Die Marxsche Theorie hat zwar nicht ihre Dreispältigkeit
(denn die Profitratenfrage liegt anders), wohl aber — in der Mehr-
wertsf rage — ihre Zweispältigkeit von der klassischen bürgerlichen
Theorie empfangen — eine echte Erbsünde, wenn auch keine un-
tilgbar-ewige Todsünde.
Smith und Ricardo hatten die Vorstellung und den Begriff von
„Ausbeutung'' nicht. Nach ihnen entstand der Profit als Handels-
profit durch einen Zuschlag, den der Kapitalist als Verkäufer sei-
nes Produkts auf den Kostpreis der Ware (Unkosten an Roh- und
Hilfsstoffen und Verschleiß des konstanten Kapitals plus Ari^eits-
lohn) nahm. (Vgl. Smith, Wealth of Nations, I, c VI am Anfang.)
Die Arbeit des Arbeiters wird demnach in ihrem vollen Wert be-
zahlt. Der Profit wird also von einem anderen Punkte her abge-
leitet. Das entlarvende Verteilungsproblem in seiner wichtigsten
Rolle, beruhend auf der sozialen Lage, wird also von ihnen nicht
betrachtet. Auf dieser falschen Fährte folgt ihnen Marx, bei dem
die Arbeitskraft des Arbeiters voll entlohnt wird und die Entstehung
des Profits, des Mehrwerts auch an einen anderen Ort verlegt wird,
nämlich in das rätselvolle Vermögen der Arbeitskraft, mehr Wert
zu produzieren, als sie selbst hat. Jedenfalls ist Marx in diesen
Punkten insofern nur ein Tycho de Brahe der Nationalökonomie.
VIII. In einem anderen Punkt, und zwar einem Angelpunkt
der Marxschen Konstruktion wird die Gesamtgesellschaft als
entscheidender Faktor verwendet: das Wertmaß ist das Quantum
an gesellschaftlich-notwendiger Aii)eit, d. h. das nach dem
kulturellen und besonders wirtschaftlichen Gesamthabitus der Ge-
samtgesellschaft einmal bei derProduktion (entsprechend dem
Stand der Technik usw.), sodann für den Bedarf (die Konsum-
tion) notwendige Quantum an Arbeit.
25a
Also sowohl für die Produktion wie für die Konsumtion ist
hier die Gesamtgesellschaft das Dauernde, Allgemeine, die kul-
turelle Totalität als geschlossene Einheit in die Wertkonstruktion
eingeführt.
Warum bei Bemessung des Werts der Arbeitskraft den
Maßslab der Klasse, nicht der Gesellschaft, den Maßstab der je-
weiligen sozialen Einzel- und Teilerscheinung, nicht der Gesamtheit
(Totalität), der Vielheit, nicht der Einheit, des Wechselnden, em-
pirisch-historisch Vorübergehenden, nicht des Dauernden«zugrunde
legen? Wo doch der Wert der Leistung dieser selben Arbeitskraft,
nämlich die Arbeit, nach gesamtgesellschaftlichem Maß gemessen
wird? Erfordert nicht die Konsequenz, die Gesamtgesellschaft auch
in die Konstruktion des Werts der Arbeitskraft einzuführen, statt
der Zufälligkeit (des Details) des sozialen Klassenniveaus in der
Lebenshaltung?
IX. Weitere innere Anomalie und Inkohärenz (Inhomogenität)
der Marxschen Werttheorie:
Auch nach Marx ist der Wert eine gesamtgesellschaft-
liche, keine Klassentatsache, eine Tatsache, die von der gesamten
Gesellschaft in allen ihren Klassen anerkannt und verwirklicht, von
der gesamten Gesellschaft, in allen ihren Klassen, zur Grundlage
ihres wirtschaftlichen Verhaltens genommen wird und werden muß,
eine Tatsache, die die Ökonomie der gesamten Gresellschaf t, in allen
ihren Klassen, beherrscht. Als eine solche Tatsache muß der Wert
folgerichtig auch aus den Bedingungen der Gesamtgesellschaft er-
klärt, konstruiert werden; seine Bestimmungsgründe müssen in dem
Gesamtzustand der Gesamtgesellschaft als einer Totalität (einem
Fazit, einer Summe) gefunden werden.
Sie — wie Marx tut — wenn auch in doppelter Inkonsequenz
(vgl. oben) — in den sozialen Bedingungen nur eines Teils der Ge-
sellschaft, nur einer Klasse, der Arbeiterklasse (nämlich ihrer
jeweils historisch gegebenen Lebenslage, Lebenshaltung) suchen, ist,
so scheint mir, ein arger Widerspruch.
X. Trügerisch ist der scheinbare Vorteil der Marxschen Lehre,
als ermögliche sie — im Gegensatz zu meiner Konstruktion — eine
arithmetisch bestimmte Bemessung des Werts aus dem Wert der
für die Erzeugung der Arbeitskraft aufgewandten Waren: denn
a53
a) in diesem letzteren Wert steckt nach Marx das arithmetisch
nicht faßbare Moment des .»gesellschaftlich notwendig" (in be-
zug auf die zur Produktion dieser Ware nötige Arbeit) ;
b) auch das Moment des „gesellschaftlich notwendig" in bezug
auf die bei der jeweils betrachteten Produktion selbst aufgewandte
Arbeit ist arithmetisch nicht faßbar;
c) das historisch -moralische Moment, das in der jeweiligen
{historisch gegebenen Lebenshaltung steckt, der Wechsel und
Wandel der Lebenshaltung ist arithmetisch nicht faßbar; indem
Marx hier dies historisch-moralische Moment ausdrücklich in seine
Theorie aufnimmt, nunmt er ein soziales Moment aus dem Bereich der
Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, ein Moment aus
dem Bereich des Machtkampfes der Klassen auf, das
seiner sonstigen Theorie ein fremdartiger Bestandteil ist.
XL Die Aufnahme dieses fremdartigen Bestandteils (des histo-
risch-moralischen Elements) bildet eine weitere Inkonsequenz der
Marxschen Lehre. Dieser Bestandteil ist denn auch stets bei den
Untersuchungen Marx' und seiner Anhänger am Katzentisch der
Theorie gesessen; er enthält in Wahrheit das Sprengpulver zur Zer-
sprengung der Marxschen Wertkonstruktion.
'XII. Nur trügerisch ist auch der angebliche Vorteil einer Konkre-
tisierung der Marxschen Theorie auf die besonderen Bedingungen
der kapitalistischen Gresellschaftsordnung, der angebliche Vorzug
einer bewußten Beschränkung, Spezialisierung auf die Untersuchimg
des kapitalistischen Tauschwerts. Ganz abgesehen von dem — über
die kapitalistische Gesellschaftsordnung hinausreichenden oder doch
hinausweisenden — historisch-moralischen Momente (vgl. zu XI):
laller Vorteil, der aus dieser historischen Spezialisierung bei der
Wertkonstruktion erwachsen kann, wird durch eine allgemeine, die
verschiedenen Gesellschaftsordnungen insgesamt umfassende Wert-
konstruktion keineswegs preisgegeben; nur findet diese Spezialisie-
rung nicht in der Wertkonstruktion selbst statt, sie wird in das
Bereich der Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts ver-
legt. Hier kann dieser Vorteil sogar in weit gründlicherer Weise und
viel reichlicher gewonnen werden (durch Konkretisierung der so-
zialen Vorgänge, Prozesse, Kämpfe, Machtverhältnisse, Machtver-
schiebungen und ihrer Wirkungen), als bei der gewaltsamen und
254
künstlichen Einpressung des Verteilungsproblems in das Wert-
problem.
XIII. Während meine Konstruktion keinen Vorteil der Marxschen
preisgibt, sie vielmehr durchweg und wohl gar verstärkt festhält,
weist sie gerade in der die verschiedenen Gesellschaftsordnungen,
die Gesamtentwicklung der menschlichen Kultur über(um-)span-
nenden Allgemeingültigkeit einen, wie mich dünkt, beträchtlichen
Vorzug auf.
Die Trennung der Wertkonstruktion für die verschiedenen Ge-
sellschaftsordnungen ist gewaltsam, ja unmöglich. Sie bedeutet
einen Versuch, die verschiedenen Formen der Gesellschaft, die doch
nur verschiedene Stadien ihrer Entwicklung sind, radikal und prin-
zipiell auseinanderzuschneiden. Der Wert ist nicht eine nur ka-
pitalistisch-gesellschaftliche Tatsache; er existiert vor und nach der
kapitalistischen Gesellschaft; nur in verschiedener Form, in ver-
schiedenen Händen. Wie soll beim Übergang zu einer andren Ge-
sellschaftsform die Übernahme des (akkumulierten) gesellschaft-
lichen Reichtums (des materiellen, stofflichen Feudums) kon-
struiert werden, wie speziell ein Wertmaß für diesen Reichtum im
ganzen und im einzelnen gewonnen werden, wenn der Wert nicht
„über -einzelgesellschaftliche" (d. h. über eine besondere Gesell-
schaftsordnung hinausgehende) Realität und Konstitution besitzt?
So wahr das Feudum, der gesellschaftliche Reichtum, als kon-
kreter Wertträger, über-einzdlgesellschaftliche Realität und Kon-
stitution besitzt, von einer Form der Gesellschaft in die andre über-
nonmien wird, so wahr muß der Wert über-einzelgesellschaf tlich
erfaßt, konstruiert werden, nämlich als eine allgemein kulturelle,
allgemein sozial-entwicklungsgeschichtliche Tatsache.
XIV. Auch das propagandistische Erfordernis der einleuchtenden
Deutlichkeit und der Handgreiflichkeit der sozialen Exploitation
wird durch diese Konstruktion mindestens so befriedigt wie durch
die Marxsche.
XV. Reinliche Scheidung von Wert- und Verteilungsproblem ist
geboten; die Marxsche Einschachtelung, Einzwängung, Einpres-
sung des Verteilungsproblems in die Wertkonstruktion schädigt
beide Probleme.
Das Wertproblem liegt in der über - einzelgesellschaftlichen
255
Sphäre; das Verteilungsproblem (und damit das Ausbeutungs-
problem) in der einzelgesellschaftlichen Sphäre, in der Sphäre des
Verhältnisses zwischen den einzelnen Schichten einer gegebenen Ge-
sellschaftsform.
XVI. Von Marx ist die „Arbeit** durch ihre willkürlich gewalt-
same Losreißung von der „Arbeitskraft** zu einem mystischen Et-
was, einem transzendental-okkultistischen Wiesen gemacht oder auch
zu einem deus ex machina, zu einer im Bachofenschen Sinne „sumpf-
zeugenden**, geheimnisvollen Macht, mit der Fähigkeit der Urzeu-
gung, Urschöpfung, ursachlosen Hervorbringung von Wert, ja so-
gar von Produkten (als konkreten Wertträgern) ausgestattet; zu
einem Faktor neben der Arbeitskraft, während sie doch
nichts ist als die Funktion der Arbeitskraft, also gar kein be-
sonderer Faktor, sondern ganz eigentlich das „Faktum", oder „Fa-
ciendum*' oder „quod fit** (je nachdem Vergangenheit, Zukunft
oder Gegenwart). Diese Lostrennung und Erhebung zu einem be-
sonderen Faktor, einem besonderen Glied in der Kausalkette des
Wertgesetzes (der sozialen Wertbildung) zerreißt diese Kausalkette
in Wirklichkeit und führt dazu, einen mystisch-nebelhaften Winkel
zu schaffen, in den das Problematische des Wertmaßstabs, der
Wertbildung und der Ausbeutung, in den eine scheinbare Ldsung
der durch die Verkoppelung von Wert- und Verteilungsproblem
entstandenen Schwierigkeiten hineingeheimnißt werden kann.
Hier steht in der Tat nur ein Wort statt eines Begriffs; ein dia-
lektisches Wortkunststück statt einer Losung.
Es gibt keine Produktivität und keinen Wert der „Arbeit**, son-
dern der Arbeitskraft (oder doch nur in dem unklaren Sinn, in
dem von der Produktionsfähigkeit und dem Wert einer Maschinen-
umdrehung gesprochen werden mag — eine Redensart, die nur die
Produktionsfähigkeit und den Wert der bei der Maschinenum-
drehung aufgewandten Stoffe, Abnutzung usw. meinen kann). In
der Form der Arbeit entlädt sich die Arbeitskraft, wie die elektrische
Kraft, die Wärme, der Schall in der Form der Wellenbewegung;
die Arbeit als besonderes Glied in die Wertkonstruktion einführen
wollen, ist einem Versuch zu vergleichen, die Wellenbewegungs-
f o r m als einen besonderen Kraft- Faktor neben der elektrischen,
Wärme- und Schallkraft in die Physik einzuführen.
256
»^Arbeit'' als besonderer Faktor bei der Wertbildung und damit
der ganze Marxsche Wert schwebt in der Luft — löst sich in
blauen Dunst.
XVII. Bei Marx ist der Ausgangspunkt für die Konstruktion der
Exploitation: die faktische jeweilige soziale Lage (Lebenshaltung)
des Arbeiters.
Danach wird der Wert der Arbeitskraft bemessen (dieser Wert
wird voll bezahlt!; vgl. untenl); die Exploitation besteht darin, daß
aus dieser so bewerteten Arbeitskraft mehr Arbeit herausgeholt
wird, als zur Reproduktion der Arbeitskraft nach der jeweiligen
faktischen sozialen Lage (Lebenshaltung) des Arbeiters nötig ist.
Marx' Ausgangspunkt ist also der jeweils historisch - konkrete
Stand der sozialen Klassenlage; und zwar für die Fest-
stellung des wirklichen gesellschaftlichen Wertes der
Arbeitskraft; aus einer Klassen tatsache sucht er eine gesamt-
gesellschaftliche Tatsache herzuleiten.
Meine Konstruktion geht von der kulturellen Gesamtlage der Ge-
samtgesellschaft (in ihrer wirtschaftlichen Wirkung) aus für die
Bestinunung der gesellschaftlichen Durchschnittsproduktivität, ge-
winnt daraus das Maß des wirklichen Werts, der Arbeitskraft, und
zeigt, daß der Arbeiter nicht mehr Wert produziert, als seine Ar-
beitskraft wert ist (außer der Erweiterung der Stufenleiter, Akku-
mulation, Aufhäufung, gesellschaftlichen Reichtums), aber ein zu
geringes Entgelt erhält, einen Lohn, einen Anteil am gesellschaft-
lichen Gesamtprodukt, der kein Äquivalent der verausgabten Ar-
beitskraft ist.
XVIII. Bei Marx erhält der Arbeiter seine Arbeitskraft an sich
voll bezahlt; nur wird im Arbeitsprozeß eine angeblich mystische
Eigenschaft (Fähigkeit) dieser Arbeitskraft ausgenutzt, nämlich die:
mehr produzieren zu können, als zu ihrer Reproduktion nötig.
Diese Konstruktion der Exploitation leidet an großer Unklar-
heit, ja einem schweren inneren Widerspruch: denn wenn die Ar-
. beitskraf t wirklich die Fähigkeit besitzt, mehr zu produzieren, als
zu ihrer Reproduktion nötig — hat der Arbeitgeber, der die Arbeits-
kraft erwirbt, dann nur den Teil von ihr erworben und bezahlt, der
zu ihrer Reproduktion nötig, oder nicht vielmehr auch das übrige,
den Rest von ihr, ihre okkultistische Macht, das mystische Etwas,
17 LlebknMlit, Stadien 207
die wert-urzeugende Fähigkeit, die über die Selbst-Reproduktioas-
kraf t hinausgeht? Was berechtigt, eine Relation irgendwelcher Art
zwischen dem Wert des Lohns (Kaufpreises der Arbeitskraft) und
der Selbst-Reproduktionskraft der Arbeitskraft herstellen, behaup-
ten zu wollen? Die Arbeitskraft, wie sie ist, teile quelle, mit all
ihren Eigenheiten ist erworben und voll bezahlt, so wie mit dem
Kaufpreis einer Blume nicht nur deren Stengel, Blätter usw., son-
dern auch ihre Fähigkeit zu duften und durch Farbe und Form
zu erfreuen. Wie könnte ein solcher beschränkter Erwerb d^ Ar-
beitskraft in praxi abgegrenzt werden? Welchen Sinn hätte die
Beschränkung auf den nur reproduktiven Teil der Arbeitskraft?
Wo liegt, was heißt „Exploitation", wenn wirklich die ganze Ar-
beitskraft bezahlt ist, ein volles Äquivalent für den Wert der Ar-
beitskraft gegeben ist?
Daraus, daß, wie andere Eigenschaften, so auch eine gewisse
angeblich mystische Eigenschaft der vollbezahlten, durch völliges
Äquivalent^) ganz erworbenen Arbeitskraft, nändich die angebliche
Eigenschaft, mehr produzieren zu können, als zur (eignen) Selbst-
reproduktion nötig, vom Unternehmer ausgenutzt wird, kann keine
Exploitation konstruiert werden. Selbstreproduktionskraft und Wert
sind ganz inkonmiensurable Tatsachen, die Marx nur willkürlich
in eine künstliche Relation zu setzen sucht.
Nur der kontinuierliche Kreislauf (Spirallauf) der Wertgröße
ist wesentlich; die Werturzeugung durch „Arbeit" ist unerträglich.
Warum sollte gerade die angebliche Eigenschaft (Fähigkeit)
der Arbeitskraft, Arbeit über die (eigne) Selbstreproduktion
hinaus zu leisten, durch das — nach Marx — volle und wirkliche
Äquivalent des Lohnes nicht mit „erworben" sein, nicht ebenso
„reell" eingetauscht sein, wie die anderen Fähigkeiten, über die
kein Wort verloren wird, insbesondere die Fähigkeit, Arbeit im
Wert der eignen Reproduktion zu leisten! Man mag den ganzen
kapitalistischen Arbeitsvertrag verwerfen oder akzeptieren oder be-
urteilen, wie man mag — aber diese eine angebliche Eigenschaft
^) Äquivalent ist nicht Gleich art, sondern Gleich wert, der auch
anders geartete ood im gewöbnlicben Sinne scheinbar, ja im moralischen
Sinne wirklich iDkommensurable Eigenschaften im Kreislauf des
sozial -ökonomischen Wertes mit aufwiegt.
358
der Arbeitskraft so absonderlich behandeln und beurteilen zu wol-
len, fehlt jeder Sinn. Welcher zureichende Grund besteht, aus der
Ausnützung gerade dieser einen angeblichen Eigenschaft so weit-
gehende Folgerungen zu ziehen wie Marx? so bedeutsame Konstruk-
tionen und sonstige wissenschaftliche Gebilde darauf zu gründen,
wie die der Exploitation und schließlich die des ganzen Wesens der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung?
XIX. Konstruktion der Exploitation:
Bei Marx: Lohn = wirkliches Äquivalent der Arbeitskraft —
nur die Anwendung der mystischen Werturzeugungs-Fähigkeit, der
Über - Selbstreproduktionsfähigkeit der Arbeitskraft stempelt die
Anwendung des Arbeiters (der Arbeitskraft) zur Exploitation.
Bei mir: Lohn nicht = wirkliches Äquivalent der Arbeitskraft,
sondern weniger.
D. Eigene Konstruktion
XX. Der Wert ist aus dem Bereich der Gesamtgesellschaft,
und zwai ohne Rücksicht auf die Gesellschafts form (die Entwick-
lungsstadien), nur aus ihrem wirtschaftlichen, nicht aus ihrem so-
zialen Wesen (Klassen, Machtverteilung, Reichtumsverteilung) zu
konstruieren; die Exploitation aus der sozialen Lage der einzelnen
Gesellschaftsteile (Klassen), ihrer Lebenshaltung, ihrem Anteil am
gesellschaftlichen Gesamtprodukt.
Der Maßstab der Exploitation ist das Verhältnis zwischen der
gesellschaftlichen Durchschnittsproduktivkraft der Arbeitskraft un-
ter Abzug des im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu Akkumu-
lierenden und dem für ihre Verausgabung wirklich gewährten An-
teil am gesellschaftlichen Gesamtprodukt; die Spannung zwischen
der gesellschaftlichen Durchschnittslebenshaltung und der konkre-
ten jeweils historisch gegebenen Lebenshaltung des Arbeiters, der
Arbeiterklasse.
Die Frage der verschiedenen Grade der Ausbeutung einzelner
Sorten von Arbeit und die Frage der Durchschnittsprofitrate ent-
stehen nach meiner Konstruktion im Marxschen oder einem ähn-
lichen Sinne überhaupt nicht, d. h. nicht als ein Problem. Die bei
Marx entstehenden Schwierigkeiten reduzieren sich nach meiner
17* a5g
Auffassung auf die Feststellung, daß Wert und Ausbeutung in
ganz verschiedenen Sphären liegen, konstruktioneil gar nicht ver-
knüpft sind und für jede dieser beiden Erscheinungen ein eigner,
besonderer Maßstab besteht, jede ihr Maß in sich trägt, mit sich
selbst führt.
XXL Ohne Rücksicht auf den Grad der Produktivität der ein-
zelnen Arbeitsart, ohne Rücksicht auf die Fähigkeit der Arbeits-
kraft, durch die eine oder andere Art ihrer Verausgabung im Marx-
scheu Sinn^ sich in dieser oder jener Zeitdauer, durch dieses oder
jenes Quantum zu selbstreproduzieren, erhält Jiach meiner Kon-
struktion die Arbeiterklasse einerseits, die Kapitalistenklasse an-
dererseits denjenigen Anteil am Gesamtprodukt der Gesellschaft,
der ihrer gesellschaftlichen Machtstellung entspricht.
Die Exploitation ist: Vergev^altigung, Benachteiligung bei der
Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts.
XXI J. Ist dies auch für jeden einzelnen Fall die einzige
Quelle des Profits? NeinI Dies gilt nur für den gesellschaftlichen
Gesamtdurchschnitt als das Normale und Wesentliche. Daneben
sind noch individuelle, gesellschaftsdurchschnittlich zufällige andre
Quellen möglich: überdurchschnittliche, anormale Vergewaltigung
und Auspressung der Arbeiter. Mit solchen Anomalien, die begrif fs-
und voraussetzungsgemäß nichts als Anomalien sind, rechnet auch
die Marxsche Theorie allenthalben. Sie können außer acht gelassen
werden. Hier handelt sich's um die Massenerscheinungen, um
die großen Durchschnittsgrundzüge der gesellschaftlichen Gesamt-
entwicklung, des Geschichtsverlaufs.
XXIII. [Aus Ms. A]. Kapitalzusammensetzung.
a) Der Wert des fixen, aber auch des übrigen „konstanten" Ka-
pitals — im ganzen und in den einzelnen Stücken — ist keineswegs
koastanl, sondern im Fluß:
a) Durch Akkumulation oder Destruktion verschiebt sich der
Gesamtwert.
ß) Durch Änderung in der Produktivität der Arbeit, Änderung
der Arbeitsmethoden, Ortsveränderungen der Produktion usw. än-
dert sich der Wert der einzelnen, gegebenen, überlieferten, „ge-
ronnene Arbeit'* der Vergangenheit verkörpernden Gebrauchsstücke,
wie des gesamten überlieferten konstanten Kapitals (des Feudums)
260
der Gesellschaft. Gesteigerte Produktivität der Arbeit führt dazu,
daß zum Feudum gehörige Güter, die nach wie vor von der Ge-
sellschaft in unveränderter Gestalt konsumiert werden, an Wert
verlieren; die Änderung der Arbeitsmethoden kann nicht nur zu
solcher Wertminderung, sondern auch zur völligen Aufhebung bis-
heriger Werte des Feudums führen.
Der Wert des Feudums, der jeweils in die Produktion eingeht«
ist der Wert, den es bei Neuherstellung zur Zeit der Verwendung
haben würde, nicht der, den es bei seiner Herstellung verkörperte.
Was hier vom konstanten Kapital (c) gesagt ist, gilt auch von
den zum variablen (v) gehörigen überkonunenen Produkten des
Konsums (den Vorräten an Lebensmitteln), die auch zum Feudum,
d. h. zu dem überlieferten gesellschaftlichen Sachreichtum gehören,
xnit dem die Gesellschaftswirtschaft jeweils für ihre Fortsetzung
ausgerüstet ist.
b) Das „variable" Kapital besteht aus der jeweils vorhandenen
noch nicht verausgabten Arbeitskraft plus den Konsumwaren, die
im gleichen Zeitpunkt — fertig oder unfertig — zur Reproduktion
der in diesem Zeitpunkt verausgabten Arbeitskraft vorhanden sind.
Sein Wert ist nicht gleich dem Wert der jeweils angewandten
(verausgabten oder noch nicht verausgabten) Arbeitskraft. Der
Wert der Arbeitskraft ist größer, nämlich gleich dem Werte des
„variablen Kapitals" plus dem Werte des von der Arbeitskraft pro-
duzierten (re- oder neuproduzierten) oder noch zu produzierenden
„konstanten Kapitals".
Der Wert der jeweils zur Reproduktion der Arbeitskraft des
Proletariats dienenden Lebensmittel (TeU von v) ist nicht
gleich dem Wert der jeweils angewandten (verausgabten oder noch
nicht verausgabten) Arbeitskraft des Proletariats, sondern niedri-
ger, da diese Arbeitskraft eben unter ihrem Werte bezahlt und
durch unterwertigen Konsum reproduziert v^rd.
c ist nur Mittel zum Zweck von v, die Produktion auch von
Produktionsmitteln nur Mittel zur Produktion von Konsumtions*
mittein, in die alles c laufend einfließt.
m („Mehrwert") ist der dem Proletariat entzogene Teil seines
Produkts (bemessen nach der gesellschaftlichen Durchschnittspro-
duktivität). Es dient dem kapitalistischen Überkonsum. Die ge-
261
selkchaftlich notwendige Akkumulation erfolgt nicht aus m; das
EU Akkumulierende wird als gesellschaftliche Funktion bei Berech-
nung der gesellschaftlichen Durchschnittsproduktivität von vorn-
herein dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt entnonunen.
Nach Marx ist m ein Teil des zu reproduzierenden ge-
sellschaftlichen Gesamtprodukts, sofern auch der kapitali-
stische Mehrwertkonsum kapitalistisch -gesellschaftlich notwendig
und daher ständig zu reproduzieren ist; hingegen ist m nach ihm
nicht ein Teil des zu reproduzierenden Gesamtkapitals, da
es — von der Akkumulation abgesehen — konsumiert wird, ohne
wieder in die Produktion einzugehen, wie v. Nach der obigen Kon-
struktion ist m ein Teil des Produkts der proletarischen Arbeits-
kraft, der dem Proletariat von den herrschenden Klassen entzogen
ist — sei es zu überdurchschnittlichem Konsum nichtproletarischer
Arbeitskräfte, sei es für den Konsum nichtarbeitender Schmarotzer,
m plus dem Teil von v, den das Proletariat tatsächlich erhält, ist
gleich dem auf das Proletariat im Gesellschaftsdurchschnitt ent-
fallenden Arbeitsprodukt. Es ist ein Teil von v (im <^n definierten
Sinn).
Das gesellschaftliche Gesamtkapital umfaßt nicht nur die Ge-
samtheit der tatsächlich in der gesellschaftlichen Gesamtproduktion
tätiged Güter („Produktion" im weiteren Sinne gleich Wirtschaft).
Die praktisch dem Schmarotzer-Konsum (nicht der Reproduktion
von Arbeitskraft) dienenden Güter, die — als m — dem Proletariat
entzogen sind, gehören gleichfalls dazu, da sie potentiell zur
Reproduktion der Arbeitskraft dienen.
c -{- V stellt das gesellschaftliche Gesamtkapital (= Feudum)
dar, das zu reproduzieren ist.
c) Die Smithsche Formel: Der Wert des Gesamtprodukts sei
gleich v-|-m, das heißt alle menschlichen Arbeitsprodukte seien
— vom Stofflichen abgesehen — letzten Endes nichts als geronnene
menschliche Arbeit — auch soweit der Verschleiß von Arbeits-
mitteln (c) in Frage kommt; ihr Wert sei zwar=c-f-v-j-m, aber
das c löse sich in unendlicher Kette wieder in c^-X-y^~\- m^, c^ in
c2_Lv2-|- m^ usw.
Diese Smithsche Formel ist „absolut" — unter Loslösung von
der kapitalistischen Produktionsweise — kulturhistorisch, „klas-
262
sisch- philosophisch'', «»allgemein- menschlich" betrachtet richtig
(natürlich ist es ein grober historischer Schnitzer, den Wert des
Arbeitsprodukts bis in die Anfänge der menschlichen Produktion
im kapitalistischen Sinne auf die endlose Kette von v-|-ni
zu reduzieren). Nationalökonomisch-konkret (für die Perlustration
der besonderen Bedingtheiten der kapitalistischen Gesellschafts-
ordnung, für jede Betrachtung, die nicht in die Uranfänge mensch-
licher Entwicklung zurückgeht, sondern die gesellschaftliche Öko-
nomie untersucht, wie sie sich auf der überlieferten Basis eines
gegebenen Feudums vollzieht, für die Erkenntnis der spezifi-
schen Struktur und Bewegungsgesetze einer bestimmten Ge-
sellschaftsordnung) ist sie unbrauchbar. Aber nur in bezug auf
die einfache Reproduktion.
Für die Akkumulation gilt sie ganz konkret-kapitalistisch. Wenn
Smith den akkumulierten Teil von m als in v verwandelt bezeich-
net, so hat er recht. Dies v produziert aber zunächst neues c, das
die Voraussetzung für die Produktion auf höherer Stufenleiter ist,
und zwar neues c vom Rohstoff angefangen durch die ganze Kette
der mittelbaren Produktionsmittel bis zu den unmittelbarsten suk-
zessiv, von unten auf die Voraussetzungen für eine erweiterte Pro-
duktion im jeweils nächsten Glied der Kette schaffend, bis der
jieue Ring geschlossen ist. Die für die Erweiterung von c verwen-
deten Arbeitskräfte werden dann ganz oder zum Teil in der durch
diese Erweiterung ermöglichten erweiterten Reproduktion verwen-
det. G\anz oder nur zum Teil: denn die laufende Reproduktion
kann je nachdem auch weniger Arbeitskräfte beanspruchen, als
die Herstellung von Neu-c, so daß ein Teil der dazu verwendeten
Arbeitskräfte nach Fertigstellung des Neu-c freigesetzt wird — in
die Reservearmee: eine im Hochkapitalismus alltägliche Erschei-
nung (besonders in der Schwerindustrie, im Rüstungskapital usw.).
Auch das c, das für die Produktion desjenigen Neu-c erforderlich
war, das schließlich bei der Reproduktion laufend verwendet wird,
kann dauernd oder vorübergehend überflüssig werden (vgl. das
Beispiel neuer großer Eisenbahnbauten, Kriegsschiffe — bei plötz-
lichem Eindringen des Hochkapitalismus in bisher rückständige Ge-
biete besonders ausgeprägt — vgl. z. B. Vereinigte Staaten). Dann
entsteht die leidenschaftliche Tendenz des durch die Gefahr der
a63
Ausschiffung bedrohten Kapitals, sich durch Expansion, ^eu-
rüstungen, Waffenänderung, Erzwingung neuer Anlagen usw. das
Feld weiterer profitlicher Beschäftigung zu erkämpfen. Dieser Fall
ti*itt bei der Akkumulation so häufig auf, daß er die Regel bildet,
während der Fall, daß die laufende Reproduktion mehr Arbeits-
kräfte erfordert als die Produktion des Neu-c zwar theoretisch
denkbar, praktisch aber jedenfalls unerheblich ist. Daraus ergibt
sich eine Art wechselnden Pulsschlages der Produktion; Saug- und
Stoßbewegungen wechselnder Kraft; und ein fortschreitender, in
seiner Stärke schwankender besonderer Impuls zur kapitalistischen
Expansion.
Der Vorgang der Akkumulation vollzieht sich zunächst im Einzel-
kapitalisten, aber in der Regel in zahlreichen Einzelkapitalisten.
Wenn er sich nicht gleichzeitig in den verschiedenen Gliedern der
Produktionskette, sondern mit einiger Gleichmäßigkeit verteilt und
in den einander ergänzenden und technisch in die Hände arbeiten-
den Gliedern der Produktionskette in der geeigneten Reihenfolge
abspielen würde, könnte sich schließlich insgesamt eine relative
Stetigkeit, Gleichförmigkeit des Erweiterungsprozesses ergeben.
Gerade diese Voraussetzungen aber liegen in der kapitalistischen
Ökonomie nicht oder nur so unvollkommen vor, daß die Produk-
tionskriseu zu einer konstitutionellen Erscheinung werden.
Die Vorgänge in der Schwer- und Maschinenindustrie, diesen
Neu-Produzenten des neu zu akkumulierenden c (wie sie die Re-
produzenten des bisherigen c sind), sind hier charakteristisch.
XXIV. Akkumulation bedeutet dreierlei — je nach dem
S ach kreis, um deren Akkumulation es sich handelt:
1. Im weiteren Sinn: Wachstum, Steigerung, Neu- Aufhäufung
des gesellschaftlichen Reichtums der in der Gesamtgesellschaft,
wenn auch in individuellen Händen vorhandenen Güter, gleichviel
welcher ökonomischer Art, welcher sozialen oder auch individuellen
Funktion (ob Vorräte zum Luxusverzehr, zur Verschwendung, oder
ob Werkzeuge zur Steigerung der Produktion).
2. Im engeren Sinne: Wachstum (Steigerung, Neu- Aufhäufung)
der für die Zwecke der gesellschaftlichen Produktion und Distri-
bution und für sonstige gesellschaftliche Funktionen dienenden
Güter.
264
3. Im engsten Sinne: Wachstum (Steigerung, Neu-Aufhäufung)
von Gütern gesellschaf ts - wirtschaftlicher (sozialökonomischer)
Funktion.
XXIVa. Es gibt i. absolute, 2. relative Akkumula-
tion — je nachdem das Wachstum stattfindet in absolut quan-
titativer Hinsicht oder im Verhältnis zur in Frage kommenden Men-
schenzahl (in Gesellschaft, Kulturkreis usw.).
XXV. Akkumulation kann dreierlei bedeuten, je nach der öko-
nomischen Kategorie, je nach der Sphäre, in bezug auf die sich
die Akkumulation vollzieht:
1. entweder Steigerung der Quantität (der Gütermenge) des ge-
sellschaftlichen Reichtums;
2. oder Steigerung der ökonomischen Qualität, d. h. des Wer-
tes des gesellschaftlichen Reichtums (bei gleicher oder gar gemin-
derter Quantität — vgl. z. B.: Fall bei Massenvernichtung von ge-
sellschaftlichem Gut — wie im jetzigen Kriegl);
3. oder beides.
XXVI. Die Akkumulation ist zu betrachten:
I. einmal unter dem Gesichtspunkt des Einzelfalls — sofern
beim Umschlag eines Teils des gesellschaftlichen Reichtums in
Produktion, Distribution, Konsumtion im Einzelfall Aufhäufung
zur Vermehrung der ökonomischen Betriebsmittel stattfindet; solche
Einzelakkumulation kann erfolgen auch bei Stagnation oder Rück-
zug des Reichtums der Gesamtgesellschaft in seiner Totalität be-
trachtet,
a. sodann unter dem Gesichtspunkt der Gesamtgesellschaft: in-
sofern wird der Reichtum der Gesamtgesellschaft gestei-
gert (vgl. XXIV und XXV).
XXVII. Erfolgt Akkumulation, und zwar sowohl im Sinne des
Wertqualitäts-, wie im Sinne des Quantitäts- Wachstums, nur und
absolut ausschließlich durch Steigerung der gesellschaftlichen
Durchschnitts-(Normal)Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit?
Nein! Auch durch eventuelle übernormale Ausnutzung der Ar-
beitskräfte im Einzelfall.
Aber solche Anomalien oder doch — voraussetzungs- und be-
griffsgemäß — Einzelerscheinungen sind für die theoretischen
265
Grundprinzipien, für die Hauptzüge der gesamtgesellschaftlichen
Vorgänge nicht beachtlich, jedenfalls nicht wesentlich.
XXVIII. Wie fügt sich Akkumulation in die Bewegung
des Werts, in den Kreislauf (Spirallauf) endloser Kette?
Trotz Akkumulation kein Hiatus in der Bewegung des Werts,
keine Cäsur, vielmehr Kontinuität (kontinuierlicher Zusanunenhang
in endloser Kettet).
Der Wert desjenigen, was nach dem gesamtgesellschaftlichen
Durchschnitt zur laufenden Produktion des gesellschaftlich not-
wendigen Quantums an Arbeitskraft und des gesellschaft-
lichen Reichtums (Feudums), materiellen Substrates der Arbeit der
Gesamtkultur erforderlich ist, geht in das Arbeitsprodukt dieser
Arbeitskraft ein; zu dieser laufenden Produktion gehört nicht nur
die Reproduktion der konkret bereits angewandten Arbeitskräfte
in gleicher Qualität und Quantität, auch nicht nur die Reproduk-
tion des materiellen gesellschaftlichen Reichtums in gleicher Quan-
tität und Qualität, sondern auch die laufend, durch Wandel der
Technik, der Bedürfnisse, der Bevölkerungszahl, den Höherentwick-
lungstrieb usw. gebotene und in diesem Sinne gesellschaftlich-not-
wendige Steigerung an Quantität und Qualität; Steigerung der Ar-
beitskräfte und des materiellen gesellschaftlichen Reichtums (stoff-
lichen Feudums), aber auch des ideellen Feudums aller Art, für
dessen Erhaltung und Steigerung, wie für Erhaltung und Steige-
rung auch aller sonstigen ideellen Qualitäten nicht minder als für
die Erhaltung und Steigerung des stofflichen Substrats des gesell-
schaftlichen Reichtmns Arbeit, Produktion (z. B. von Lebens-
und Ausbildungs-, Lehrmitteln) nötig ist. Kurz: auch das für die
Hebung der gesamten Gesellschaft auf ein höheres Kulturniveau
(höhere Lebenshaltung, bessere „Lage" der eigenen Zukunft
und der künftigen Generationen) und zu größerer Ausdehnung (Be-
völkerungsvermehrung usw.), d. h. für Hebung der Gesellschaft
in Quantität und Qualität Nötige. Auch für Steigerung der
Produktivität ist eine solche Steigerung in Quantität und
Qualität sowohl der Arbeitskräfte wie des stofflichen Reich tiuns
wie der Gesamtkultur in Quantität und Qualität nötig.
Diese laufend sich erweiternde, erweiterte Reproduktion (auf
erhöhter Stufenleiter; steigend durchlaufende Akkumulation) ist
a66
die gesellschaftlich notwendige Reproduktion; sie ergibt den Um-
fang der Reproduktion, der durch die gesellschaftliche Entwick-
lung, durch den organisch-sozialen Fortschritt geboten ist. Die
Pxx)duktion, das Mittel für diese Erweiterung, gehört zu den in-
dividuellen Lebenserfordernissen, zu den gesellschaftlichen Bedürf-
nissen, wie das Essen und Trinken, Kleiden usw., wie das Bereit-
stellen von Vorräten für Perioden, da der Neuzufluß von Bedarfs-
mitteln ausbleibt, und überhaupt für Perioden, in denen „auf Vor-
schuß" gelebt werden muß (während der Umschlagsperioden usw.) ;
es gehört zu den Lebensnotwendigkeiten wie die Fortpflanzung,
zu deren Ergänzung (soweit Bevölkerungswachstum) es auch un-
umgänglich ist; es gehört zur Selbst- und Arterhaltung.
Ist die Konsequenz dieser Auffassung ewige, endlose Gleich-
heit, starres unveränderliches Gleichbleiben der gesellschaftlichen
Wertsunune?
Nein! Denn^)
XXIX. die gesellschaftliche Durchschnittsproduktivität der Ar-
beitskraft ergibt den Maßstab für den Wert der Arbeitskraft. Aber
der entsprechende Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
braucht von dem Arbeiter zur Reproduktion seiner Arbeitskraft
nicht faktisch aufgezehrt zu werden, um dieser Arbeitskraft einen
solchen Wert zu verschaffen. In der Tat wird dieser Teil schon
darum vom Proletarier nicht aufgezehrt, weil er ihn infolge der
Exploitation nicht erhält. Aber auch dem Arbeiter zur Verfügung
stehende Güter können, ja müssen unter Umständen von ihm un-
verbraucht bleiben — für Aufzug der neuen Generation, und zwar
einer vermehrten Generation verwahrt und verwendet werden;
desgl. „Ersparnis" für qualitativen Aufstieg der eignen und der
kommenden Generationen. Und ein wichtigster Teil der gesellschaft-
lichen Gesamtproduktion, der aber dem Arbeiter nicht durch Ex-
ploitation vorenthalten (entzogen) ist, wird und muß — im Inter-
esse der Gesamtgesellschaft und ihrer Entwicklung — von den herr-
schenden Klassen (Unternehmern usw.) aufgespeichert (der Kon-
sumtion entzogen) werden, um die erweiterte und höher qualifi-
zierte Produktion zu ermöglichen: Akkumulation.
^) Zum Wachstam der gesellschaftlichen Gesamtwertsamme vgl. die
nnter XXXIV b und c bezeichneten Stellen.
267
Dieses so akkumulierte, laufend dem gesellschaftlichen Reich-
tum Zugefügte hat natürlich seinen bestimmten Wert; es geht in
die Wirtschaft laufend ein (als Werkzeug, Rohstoff, Lebensmittel,
für Bevölkerungsvermehrung, zufällige Arbeitskraft) und erhöht
so den Wert des gesellschaftlichen Gesamtprodukts.
XXX. Findet auch eine Steigerung des Werts der einzelnen Ar-
beitskräfte im Kulturverlauf statt (mit Steigerung der Produktivi-
tät)? Vollzieht sich auch insofern kein ewig gleicher Kreislauf,
sondern ein Spirallauf? Mit ständig sich vergrößerndem Radius?
Diese Frage ist ein Irrwisch für Unbesonnenheit und Unvorsicht,
ein Fußelsen, Fangeisen, Schlinge. Der Wert ist ein R e 1 a t i v e s ,
eine Relation, eine Proportion zwischen verschiedenen Quantitäten
Arbeitskraft; eine Proportion, für die die Arbeitskraft sich als das
Gegebene, nicht seinerseits erst wieder an einem Absoluten zu Mes-
sende darstellt. Das Quantum Arbeitskraft kann wechseln, die Pro-
duktivität der Arbeitskraft kann steigen und fallen: die Qualität
der Arbeitskraft als Maßstab bleibt davon unberührt.
Aber die Arbeitskraft wird doch auch mit anderen Dingen in
Proportion gesetzt: im Wertkreislauf I Sie ist doch nach meiner
Auffassung gleich wert wie diejenigen Güter, die sie nach der ge-
sellschaftlichen Durchschnittsproduktivität zu erzeugen vermag.
Aber diese Güter sind eben darum gleichwert dem sie erzeugenden
Quantum Arbeitskraft, weil dieses Quantum Arbeitskraft in ihnen
enthalten, kristallisiert, sedimentiert ist.
Wenn zur Reproduktion der Arbeitskraft faktisch nicht das ge-
samte Arbeitsprodukt verwendet wird, teils wegen der Ausbeutung,
teils wegen der — auch zu den Lebensbedürfnissen gehörenden
— Aufspeicherung (bes. Akkumulation), so ändert dies nichts daran,
daß virtuell, potentiell, nach dem Gesellschafts-
durchschnitt, das gesamte Arbeitsprodukt in die Reproduk-
tion der Arbeitskraft eingeht; dieses Potentielle, Virtuelle wird eben
nur infolge des Eingreifens besonderer sozialer Momente (Ausbeu-
tung, Akkumulation) nicht realisiert, und zwar teils nicht reali-
siert für eine Klasse (die Arbeiterklasse) wegen der Exploitation,
teils nicht realisiert für die Gesamtgesellschaft (im gesellschaft-
lichen Durchschnitt) wegen der Akkumulation.
Gesamtquantum an Arbeitskraft kann größer werden und wird
a68
es mit der Vermehrung der Menschenzahl; dies bedeutet eine Stei-
gerung der gesamten Wertsumme, des Gesamtquantums am Wert;
der Wert besteht ja eben im Quantum Arbeitskraft. Die Steigerung
der Produktivität der Arbeitskraft bedeutet keine Steigerung des
Quantums an Arbeitskraft, also keine Steigerung des Wertquan-
tums; es sei denn, daß man die bei der gesteigerten Produktivität
in der Regel stattfindende Vergrößerung des verwendeten konstan-
ten, bes. fixen Kapitals, das in die Zirkulation eingeht, zu einer
solchen Konstruktion ausnutzen möchte, weil ja dieses konstante
resp. fixe Kapital früher geleistete Arbeit, kristallisierte Arbeits-
kraft der Vergangenheit darstellt; damit würde aber die Grenze
zwischen gesellschaftlichem Reichtum (Feudum) und Arbeitskraft
verwischt, ja der Unterschied zwischen ihnen aufgehoben, dessen
Aufrechterhaltung notwendig ist, soll nicht alle feste Gliederung
der Theorie verloren gehen.
Eine Steigerung des Werts der einzelnen Arbeitskräfte ist nur
— und auch da nur im uneigentlichen Sinne — denkbar, konstruier-
bar im Verhältnis verschiedener Produktivitätsstadien zueinander,
d. h. wenn man von einem bestimmten Produktivitätsgrad der Ar-
beitskraft als gegeben ausgeht und prüft, wie man eine in thesi
produktivere oder minder produktive Arbeitskraft werten würde
im Verhältnis zu dem gegebenen Produktivitätsstadium. Solche Be-
trachtung mag beim Nebeneinanderbestehen verschiedener Gesell-
schaf ts(Kultur-)kreise in verschiedenen Produktivitätsstadien recht
aktuell und kulturgeschichtlich, ja kulturpolitisch bedeutsam sein.
Mit der Werttheorie hat sie nichts zu tun.
XXXI. Tauschwert, d. h. Relation, nach der die Waren ausge-
tauscht werden (der Tendenz nach) — nach meiner Konstruktion
durch Quantum Arbeitskraft, nicht durch Quantum Ar-
beit bestimmt; das gesamte Arbeitsprodukt enthält die gesamte Ar-
beitskraft — nicht aber mehr (an „Arbeit"), nicht a) Arbeits-
kraft (d. h. Arbeit bis zum Betrage der Reproduktion), b) Über-
arbeit (d. h. Arbeit über den Betrag der Reproduktion), sondern
einfach Arbeitskraft.
XXX la. Nach welchem Maßstab ist die Arbeitskraft quantitativ
abzumessen? Nach der Dauer und Intensität der Arbeit, als der
269
Form, in der die Arbeitskraft wirtschaftlich verausgabt wird,, in
die Zirkulation eingeht.
XXXII. Preis — im Unterschiede von Wert. Konstruktionelles
Verhältnis ähnlich wie bei Marx, doch tritt der Unterschied bei
meiner Konstruktion an Bedeutung zurück — (vgl. oben über Durch-
schnittsprofl träte) .
XXXIII. Hohe, qualifizierte Arbeitskraft hat höhere ge-
sellschaftliche Durchschnittsproduktivität, virtuell im gesellschaft-
lichen Gesamtdurchschnitt höhere Produktions - Reproduktions-
kosten (also höheren Wert potentiell verbrauchend und damit
repräsentierend). Der höhere Wert der virtuell für ihre Repro-
duktion (Erstproduktion) aufzuwendenden Lebensmittel bilden
nicht minder als die höhere Produktivität im Kreis (Spiral'-)lauf
Maß und Grund ihres hohen Wertes; diese letztere Betrachtungs-
art nähert sich der Marxschen.
E. Wachstum der gesellschaftlichen Wertsumme
XXXIV. Kontinuität des Werts — kein Hiatus, keine Cäsur.
a) Ein Auseinanderfallen von Wert der Arbeitskraft und Wert
ihres Produkts (quoad Spezifikation durch die Arbeitskraft) ist
begriff lich-konstruktionell ausgeschlossen; ihre Gleichsetzung ist
ja der Ausgangspunkt meiner Auffassung, der Punkt der Abwei-
chung von Marx (denn dies ist der präzise werttheoretische Aus-
druck des Satzes: der Wert der Arbeitskraft bestimmt durch die
gesellschaftliche durchschnittliche Produktivität der Arbeitskraft!).
b) Ein Auseinanderfallen des Werts der zur Produktion der Ar-
beitskraft im gesellschaftlichen Durchschnitt zur Verfügung stehen-
den (wenn auch nicht praktisch, tatsächlich verwendeten) Güter
und des Werts der Arbeitskraft ist gleichfalls nach meiner Auf-
fassung konstruktionell und begrifflich ausgeschlossen. Allerdings
umfaßt die Kategorie der zur Produktion der Arbeitskraft im ge-
sellschaftlichen Durchschnitt zur Verfügung stehenden Güter da-
bei, wie oben dargelegt, nicht nur auch die durch Exploitation un-
gleichmäßige Verteilung der Konsumgüter, klassenmäßig ent-
zogenen Güter, sondern auch die für Zwecke der Bevölkerungs-
vermehrung, für Zwecke der Steigerung des gesellschaftlichen
370
Reichtums (stofflichen Feudums usw.) und für Zwecke der Er-
höhung der Qualifikation der Arbeitskräfte wie sonstige kulturelle
Zwecke (Oberschußsphäre) tatsächlich aufgespeicherten, akkumu-
lierten und nicht konsumierten Güter, durch deren* Akkumulation
(akkumulative Erhaltung) die gesamtgesellschaftliche Wertsiunme
laufend tatsächlich erhöht wird, auch der Gesamtwert der gesell-
schaftlichen Gesamtarbeitskraft (durch Vermehrung der Arbeits-
kräfte): darin liegt die laufende konstruktionelle, konstitutionelle
Berücksichtigung des von Marx nur streifend und episodisch er-
wähnten, konstruktionell aber nicht berücksichtigten, sondern als
Fremdkörper behandelten, dauernd wirkenden und sich wandeln-
den historisch-moralischen Moments.
c) Auch ein Auseinanderfallen vom Wert des Arbeitsprodukts
und Wert der zur Reproduktion der Arbeitskraft im gesellschaft-
lichen Durchschnitt virtuell zur Verfügung stehenden Güter findet
darnach nicht statt (Unter „Reproduktion" ist dabei nicht auch
alles auch zur Höherentwicklung, Vermehrung von Arbeitskraft
und gesellschaftlichem Reichtum usw. Erforderliche — vgl. zu b
— zu verstehen: diese Höherentwicklung erfolgt auf Grund der
Aufspeicherung nicht verzehrter, aber zum Verbrauch zur Verfü-
gung stehender Güter; das Elastische liegt in dem „zur Verfügung
stehen" und der Möglichkeit des Nichtverbrauchs, der Aufspeiche-
rung zur Verfügung stehender Güter).
Allerdings findet die Akkumulation z. T. laufend statt durch
Spezifikation der zu akkumulierenden Güter für die anderweitige
Verwendung, d. h. die zu akkumulierenden Güter werden schon
vor der Verausgabung der dafür in Aussicht genommenen Arbeits-
kraft bestimmt und dann sofort produziert, d. h. die zu akkumu-
lierenden Güter treten z. T. überhaupt nicht in einer Form in die
Wirklichkeit, in der sie an sich auch konsumiert werden könnten
und nur faktisch nicht konsumiert werden. Das ändert jedoch nichts
an der Beurteilung des Problems und der Konstruktion. Das gleiche
gilt ja von den durch Exploitation einer Klasse von der anderen
entzogenen Gütern, die wirklich konsumiert werden, nur aber von
einer anderen Klasse. Diese Konsumverschiebung vollzieht sich
durchlaufend während der Produktion, während des Umschlags
der Arbeitskraft, und zwar vollzieht sie sich auch in der Art der
371
hergestellt werdenden Güter, die in ihrer Art den Bedürfnissen der
sie tatsächlich verbrauchenden Schicht angepaßt werden und zum
großen Teil nie in einer Grestalt zutage treten, in der sie von der
exploitierten Schicht verwendet werden könnten oder doch würden,
falls keine Exploitation stattfände.
Diese eben betrachtete Eigenart in der praktisch - empirischen
Durchführung der Akkumulation bedeutet nur ihre voraussichtliche
Systematisierung und lehrt, daß es falsch ist, eine einzelne Um-
schlagsperiodc der Arbeitskraft isoliert zu untersuchen, und daß
planmäßige Gestaltung, Zukunftsberechnung keineswegs durch ir-
gendeine sozialökonomische Konstruktion oder Lehre ausgeschlos-
sen werden kann und soll.
d) Wenn sich im Verlauf der Umschlagszeit Arbeitskraft —
Produkt — Arbeitskraft usw., überhaupt im Kreis(Spiral-)lauf die
Produktivität der Arbeitskraft verändert (steigt oder sinkt), so sinkt
oder steigt (in umgekehrter Proportion) der Wert der von dieser
Änderung betroffenen Güter, und zwar nicht nur der neuprodu-
zierten, sondern auch der früher produzierten, akkumu-
lierten (gespeicherten); d. h. des stofflichen Feudums (gesell-
schaftlichen Reichtums) usw. D. h. jene Änderung trifft auch
die Höhe des in der Arbeitskraft und den aufgehäuften Produkten
verkörperten Wertes laufend: das historische Moment greift auch
hier laufend ein.
Also: a (Wert der Arbeitskraft zur Zeit ihrer Produktion, be-
messen nach dem damaligen Wert der Produktionserfordernisse
oder vielmehr der für diese Produktion durchschnittlich verfüg-
baren Gütermasse) = p (Wert der Arbeitsprodukts, gleichviel ob
es — infolge Produktivitätsverschiebung — mehr oder weniger an
Quantität oder Qualität der produzierten Güter ist, als die Produk-
tionserfordernisse, resp. die disponiblen Güter) = a' (selbst wenn
mehr oder weniger an Güterquantität oder Qualität als bei al) usw.
Kurz: die laufende Verschiebung im Wert der vorhandenen Pro-
dukte (gesellschaftlichen Reichtums, Feudums) durch Änderung
der Produktivität ist in diese Wertkonstruktion ebenso organisch
aufgenommen, wie die Akkumulation.
XXXV. Aus alldem ergibt sich, daß diese meine Auffassung in
die Wertkonstruktion trägt: das Entwicklungsprinzip und die zu
27a
seiner Auswirkung erforderliche Elastizität, die auch die Umspan-
nung aller noch so divergierenden Entwicklungsstadien, also die
Gesamtentwicklung in allen ihren Epochen ermöglicht; die kul-
turelle Relativität des Wertes.
XXXVI. Art der Wertbewegung:
a) an Dauer: endlose Kette (Kausalkette);
b) an innerer Qualität: Kontinuität, kontinuierlicher Zusammen-
hang ohne Hiatus, ohne Cäsur;
c) Form der Bewegung im Kulturverlauf (Entwicklung, Evo-
lution) «und Rückwirkung (Involution, Inversion): Kreislauf —
aber mit Radius von laufend wechselnder (bald größerer, bald ge-
ringerer, im Gesamtbild aber sich vergrößernder), aber nicht
gleichmäßig, also unregelmäßig, sich ändernder Länge; d. h. bald
auswärts, bald einwärts, im Gesamtbilde: auswärts gerichteter
Spirallauf.
a-f-h -f- c: unregelmäßiger Spirallauf, endlose Kette, kontinuier-
licher Zusammenhang.
F. Wertwandel und Produktivität
XXXVII. Der laufende Prozeß des Wertwandels.
Ein fortwährender infinitesimaler Wertänderungsprozeß vollzieht
sich laufend in der Gresellschaf t,
I. sofern sich das gesellschaftlich Notwendige an Bedarf fort-
während ändert, und zwar
a) wegen der Änderung in der Quantität der Konsumenten (der
Zahl und der für die Quantität des Bedürfnisses wesentlichen, na-
türlichen Zusammensetzung der Bevölkerung),
b) wegen Änderung in der Qualität der Konsumenten — in ihrer
Lebenshaltung, in dem moralischen Element oder dem historbchen
Faktor nach Marx' Terminologie; eine Änderung, die sowohl
a) das Maß des Bedarfs beeinflußt, wie
ß) die Beschaffenheit des Bedarfs — wobei zu ß) wie zur Ent-
wertung so zur Wertsteigerung von Bestandteilen des gesellschaft-
lichen Reichtums führen kann;
a. sofern sich das gesellschaftlich Notwendige an Arbeit zur Her-
18 LiebkiiMlit, Stadien a']3
Stellung des Bedarfs fortwährend ändert — durch Änderung der
Technik und überhaupt der Produktivität der Arbeit.
Kurz, alle Komponenten des Wertes: Konsumentenzahl und na-
türliche Zusammensetzung und „moralischer Faktor" (als die zwei
Bestimmgründe des gesellschaftlich Notwendigen an Bedarf), sowie
Produktivität der Arbeit (als Bestimmgrund des gesellschaftlich
Notwendigen an Arbeit) sind in fortwährender Änderung begriffen ;
und zwar einer doppelten Änderung:
a) einem Schwanken um einen gegebenen Punkt oder eine ge-
gebene Gerade — eine Wellenbewegung bei im großen ganzen
gleichbleibendem Durchschnittsniveau, die sich aus den unzähligen
Mannigfaltigkeiten in der natürlichen Um- und Inweit, ihren wech-
selnden Kombinationen und Varia tiooen ergibt: das ist die Ver-
änderung in der Konstanz, im Beharren;
b) einer fortschreitenden Niveauveränderung in Auf- oder Ab-
stieg einzelner oder mehrerer oder aller Wertkomponenten: das
ist die Veränderung in der Entwicklung.
Diese letztere ist die bei weitem bedeutsamere; und für die Kau-
salität der gesellschaftlichen Entwicklung zumal tritt die erstere
weit in den Hintergrund, da sie sich im großen Durchschnitt, mit
dem es diese Kausalität besonders zu tun hat, ausgleicht.
XXXVIII. Der laufende Wertwandel des gesellschaftlichen Feu-
dums.
Diese Wertänderungen — wir wollen hier nur von der Wert-
veränderung in der Entwicklung reden — treffen nicht nur das je-
weils noch zu Produzierende oder im Produktionsprozeß Begriffene,
sondern ergreifen rückwirkend und umwertend auch alles bereits
unter anderen Bedingungen Produzierte, dessen gesellschaftliche
Notwendigkeit an Bedarf und an Arbeitsaufwand fortlaufend neu
nachgeprüft wird: eine fortlaufende Umwertung aller Werte in
ökonomischem Sinne. Eine ununterbrochene laufende Revision der
gesellschaftlichen Notwendigkeit an Bedarf und Arbeitsaufwand,
und zwar nach dem Obüberhaupt und dem Inwieweit in bezug
auf alle Komponenten des Werts, alle Produkte der Vergangenheit
findet statt. Der gesamte überkommene gesellschaftliche Reich-
tum (Feudum) v^d dieser Revision und Neufestsetzung unablässig
274
unterworfen. Der Wert des Feudums verschiebt sich fortgesetzt
nicht nur durch Veränderung seiner Zusammensetzung und seines
ümfangs, sondern auch durch den Wandel des Wertes der gleich-
bleibenden unverändert übernommenen erhaltenden Bestandteile.
XXXIX. Tendenz und Grenzen der' laufenden Wertrevision in
bezug auf die Produkte der Vergangenheit.
Die fortlaufende Revision des Wertes der Produkte der Ver-
gangenheit tendiert dahin, die Möglichkeiten der jeweiligen Ge-
genwart auf die Vergangenheit anzuwenden, die Vergangenheit
nach der Gegenwart zu messen. Diese Tendenz vermag sich jedoch
nur mit wichtigen Einschränkungen durchzusetzen, die erst das
für die Wertrevision maßgebende Prinzip ergeben. Die jeweils
gegenwärtigen Produktionsbedingungen geben (in Verbindung mit
den anderen Wertkomponenten in ihrem jeweilig gegenwärtigen
Zustand) den Wertmaßstab auch für noch vorhandene Produkte
anderer Produktionsbedingungen der Vergangenheit — aber doch
nur in dem Sinn, daß die gesellschaftliche Notwendigkeit der auf
sie verwandten Arbeit vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart
aus beurteilt und entschieden wird.
Die jeweilige Gegenwart fragt prinzipiell: wieviel Arbeit würde
es kosten, heute dieses Produkt der Vergangenheit neu zu produ-
zieren? Aber das Produkt der Vergangenheit, soweit es die Gegen-
wart bereits braucht, kann nicht erst in der Gegenwart, d. h. der
Zukunft produziert werden; es muß sofort bereits da sein. Stets
muß der überwiegende Teil des gegenwärtigen gesellschaftlichen
Reichtums bereits in der Vergangenheit produziert sein, damit die
Gegenwart leben und nach ihrer erhöhten Befähigung produzieren
kann. Nie könnte die Gegenwart den gesellschaftlichen Reichtum,
auf dem sie in ihrer ganzen Wirtschaft beruht, der das materielle
Substrat ihrer ganzen Ökonomie bildet, erst selbst neu produzieren.
Nie könnte sie — von der „Un Wirtschaftlichkeit" aller Verschwen-
dung ganz abgesehen — die zu jenem Teil gehörigen Produkte der
Vergangenheit zurückweisen unter Hinweis auf die Möglichkeit,
sie heute jederzeit billiger herzustellen. Dieser Teil der Produkte
der Vergangenheit mußte auch vom Standpunkt der Gegenwart aus
in der Vergangenheit und unter den damals notwendigen gesell-
schaftlichen Bedingungen hergestellt werden; das gesellschaftlich
18» 275
Notwendige der Vergangenheit ist insoweit gesellschaftlich not-
wendig auch noch für die Gegenwart. So greift stets ein großes
Stück der Vergangenheit, ihrer Produktionsbedingungen für die
Wertbestimmung in die Gegenwart hinein.
Für die W^ertbestimmung des größten Teils des gesellschaftlichen
Reichtums ist nicht der Maßstab der Gegenwartsproduktivitat
schlechthin maßgebend, diese Produktivität nötigt nur, in der Ge-
genwart mehr Arbeit aufzuwenden, als danach notwendig.^) Sie
ist kein Wertmaßstab schlechthin, sondern ein Postulat. Für die
Wertbestimmung des weitaus größten Teils des gesellschaftlichen
Reichtums ist maßgebend: Welches Arbeitsquantum war nach den
bisherigen geschichtlichen Produktionsbedingungen im Flusse ihrer
Veränderung notwendig, um diese heute vorhandenen und heute
notwendigen Produkte für heute zu erzeugen? Ein objektives
Problem, das einen objektiven Wertbestinunungsgrund ergibt und
das sich subjektiv in der Frage spiegelt: Wie groß ist der Nach-
teil, den ich erleide, wenn ich die Nutzung des Produkts der Ver-
gangenheit ablehne, bis mir ein entsprechendes in der Gegenwart
(Zukunft) hergestellt werden könnte, in Vergleich zu dem höheren
Preis, der mir gegenüber den aus den vollkommensten Produktions-
bedingungen der Gegenwart sich rechtfertigenden abgefordert wird?
XL. Definition der Produktivität in einem gegebenen Gesell-
schaftszustande.
Die gegenwärtige Produktivität der gegenwärtigen Gesamtwirt-
schaft ist nicht identisch mit der Produktivität, die eine Wirtschaft
besäße, welche nach den jeweils vollkommensten Produktions-
methoden, nach den letzten Errungenschaften der Wissenschaft und
Technik aufgebaut wäre. Denn eine solche Wirtschaft kann nie
in der Gegenwart bereits existieren; die Gegenwart kann sich nur
bemühen, jene Errungenschaften in möglichst weitem Umfange
und möglichst schnell auf die aus der Vergangenheit überkommenen
unvollkommenen Bestandteile anzuwenden, das Gebäude der Wirt-
schaft laufend möglichst rasch und vollständig zu „modernisieren".
Sie muß aber stets weit hinter den höchsten Möglichkeiten zurück-
bleiben; ihre Tätigkeit beruht stets und unausweichlich auf Ein-
1) Vgl. XL.
276
richtungen, die der Vergangenheit entnommen sind: der näheren
oder ferneren Vergangenheit« von den Errungenschaften der Gegen-
wart mehr oder weniger entfernt. Sie schleppt stets, und muß stets
mit sich schleppen eine Unmasse von Residuen früherer Entwick-
lungsphasen.
XLI. Produktionsbedingungen der Vergangenheit als Bestim-
mungsgründe für den Wert der Gegenwartsprodukte.
Die Spannung zwischen den mit gesellschaftlicher Notwendig-
keit in die Gegenwart übergreifenden Produktionsbedingungen der
Vergangenheit und denen der Gegenwart wirkt auch auf den Wert
der Gegenwartsprodukte. Denn nicht diejenigen Produktions-
bedingungen, die die jeweils günstigsten sind, bestimmen den Wert
der Produkte, ebensowenig wie jedes individuelle Produkt nach
seinen individuellen Produktionsbedingungen bewertet wird, son-
dern bestimmend ist die Gesamtheit aller derjenigen Produktions-
bedingungen, die in concreto zur Herstellung des gesellschaftlich
Notwendigen für die Gegenwart gesellschaftlich notwendig waren;
d.h.
a) der tatsächlich vorhandenen gegenwärtigen Produktionsbe-
dingungen mit all ihren UnvoUkommenheiten und ihrem Ballast
aus zurückgebliebener Vergangenheit, durch die die gegenwärtigen
Produktionsbedingungen stets unendlich tief unter das nach den
wissenschaftlich-technischen Errungenschaften mögliche Höchst-
maß an Vollkommenheit herabgedrückt werden;
b) der Produktionsbedingungen der Vergangenheit, nach denen
für die heutige Produktion notwendige Teile des heutigen gesell-
schaftlichen Reichtums hergestellt sind.
Das Maß ergibt nicht den Durchschnitt dieser Bedingungen, son-
dern — ä la Grundrente — deren untere Grenze der noch notwen-
digen ungünstigsten Bedingungen (woraus sich auch eine Kapital-
rente ergibt — außer dem Profit aus Mehrwert).
Der so in die Gegenwart übergreifenden Produktionsbedingungen
der Vergangenheit sind unzählige und den verschiedensten Ent-
vncklungsphasen angehörige, die bis in die weiteste Vergangenheit
zurückgehen. Wie wir in den gegenwärtigen Gütern allenthalben
377
Teile der in den früheren Perioden erzeugten Güter — Stücke der
Arbeit der früheren Gesellschaftsepochen — besitzen und gebrau-
chen, so stecken im Werte unserer heutigen Güter, ob sie nun in
der Vergangenheit oder der Gegenwart hergestellt sind, die Produk-
tionsbedingungen der Vergangenheit als Bestimmungsgründe, als
Elemente der Bemessung, als wesentliche Komponenten des Wertes
dieser heutigen Güter.
XLII. Absoluter und relativer Wertmaßstab. Wert des gesamten
Menschheits-Reichtums .
Der Wert eines Teiles des Menschenreichtumes (Güter) läßt sich
messen an dem eines anderen Teiles — z. B. des Geldes. Das ergibt
einen relativen Wertmaßstab; relativ im Verhältnis der Güter un-
tereinander. Einen absoluten Wertmaßstab gibt es nicht. So kann
auch der Gesamtwert des gesamten Menschheitsreichtumes (aller
Güter) nicht gemessen werden; es fehlt das absolute Maß, das außer-
halb der Menschheit stehende Maß.
Wohl aber gibt es ein Maß, das außerhalb der Menschheits-
güter steht, wenn auch nicht außerhalb der Menschheit: die mensch-
liche Arbeitskraft.
Sie ist auch ein menschliches „Gebrauchs-, Wirtschaf Isgut", eine
„Ware" sogar in gewissen Gesellschaftsordnungen; aber sie ist zu-
gleich ein Stück des Menschen, ein Teil des menschlichen Wesens,
eine Seite der menschlichen Natur selbst. Durch diesen Doppel-
charakter, in dem sich Güterwert und Menschenwesen verknüpfen,
ist die Arbeitskraft der vollkommenste Wertmaßstab; kein abso-
luter, aber ein von dem gesellschaftlichen Sachreichtum selbst los-
gelöster, außerhalb der von Menschen besessenen Wirtschaftsgüter,
außerhalb des zu Messenden befestigter Maßstab; ein relativer Maß-
stab, aber relativ nicht im Verhältnis der verschiedenen zu messen-
den Güter untereinander, sondern nur durch seine Beschränktheit
auf die menschliche Natur; ja man könnte ihn sogar absolut nennen,
sofern die menschliche Natur eine kosmische Tatsache, eine ge-
gebene Größe des Universums ist. Sie ist der vollkommenste Wert-
maßstab auch durch ihren organischen Charakter, durch die Tat-
sache, daß ihre Leistungsfähigkeit sich verändert, daß sie sich in
ihrer wirtschaftlichen Qualifikation entwickelt; ja daß die Entwick-
378
lung ihrer Qualifikation die grundlegende Tatsache der gesamten
menschlichen Wirtschaftsentwicklung, damit die grundlegende Tat-
sache auch des Wertwandels bildet; so ist sie der gegebene und na-
türliche Maßstab für den laufenden Wertwandel. Nur aus ihr ist
der qualifizierte Reproduktionswert, der jeweils den Gesamtwert
des gesamten menschlichen Reichtums darstellt, zu entnehmen, zu
konstruieren; nur an ihr zu messen.
r
8. KAPITEL
DER ENTWICKLUNGS-PROZESS
S I. Der Höherentwicklungstrieb
Entwicklungsfähigkeit heißt: Fähigkeit zur Höherentwicklung,
zur Vervollkommnung; heißt: Besitz der Anlagen zur Höherent-
wicklung. Darin liegt bereits alles, wenn man will, „Irrationale"
des organischen Prinzips eingeschlossen. Es umfaßt aber nicht nur
die Fähigkeit, sondern auch die Tendenz zur für den Organismus
zweckmäßigen Reaktion auf Einwirkungen der Umwelt, und dar-
über hinaus: zur zweckmäßigen eigen-angetriebenen, spontanen Ein-
wirkung auf die Umwelt, woraus sich wiederum deren Reaktion er-
gibt, kurzum: es umfaßt die Fähigkeit und Tendenz zu zweck-
mäßigem Verhalten in dem dauernden infinitesimalen Funktions-
verhältnis zwischen Organismus und Umwelt. Aber schon die Fähig-
keit und Tendenz zur dauernden, zweckmäßigen Reaktion auf die
Einwirkungen der Umwelt heißt — bei dem dauernden Andrängen
der Umwelt gegen den Organismus (Kampf ums Dasein usw.) — :
Fähigkeit und Tendenz zur Höherentwicklung. Denn jede höhere
Entwicklungsstufe charakterisiert sich durch ihre stärkere Siche-
rungskraft für den Organismus; dies allerdings nur im großen
ganzen genommen, nicht für jedes Individuum und nicht einzeln
für jede Schicht — da ist bei Höherentwicklung der Gesell-
schaft oder der sonstigen Höheres zusammenfassenden Einheit eine
Verschlechterung der Lage, eine Schwächung der Position, ja eine
Vernichtung möglich.
380
Also ist Höherentwicklung in der Tat mit Notwendigkeit das
Totale der organischen Reaktion auf das Totale der Einwirkung der
Umwelt. Doch tritt, wie bemerkt, noch die eigen-bestimmte, spon-
tane — auch zweckmäßige — Einwirkung (Aktivität, nicht Re-
aktivität) hinzu.
Der Selbst- und Arterhaltungstrieb führt zu demselben Resultat
— es gilt nur sein Wesen konsequent durchzudenken. Der Höher-
entwicklungstrieb schließt den Erhaltungstrieb insofern ein, als er
auf Höherentwicklung des Vorhandenen, Erhaltenen geht. Nur er-
streckt sich sein Erhaltungsbestreben nicht auf Selbst und Art
schlechthin, sondern auf dasjenige, was erhalten werden muß, da-
mit die Höherentwicklung erfolgen kann, und speziell auf die
Höherentwicklungsfähigkeit und -Kraft des Bestehenden. Dieses
im Höherentwicklungstrieb enthaltene Erhaltungsbedürfnis ist ein
eigenartig qualifiziertes, sublimiertes.
Die Frage: Gibt es einen elementaren, spontanen organischen
Höherentwicklungstrieb? führt in das Gebiet der metaphysischen
Spekulation, des Transzendentalen, des Unbeweisbaren, aber auch
des Unwiderleglichen, das jeder mit Folgerungen aus seinem Er-
f ahiningsbereich, aus der Region des Beweisbaren im normalen Sinn
ausfüllen wird, die zugleich seiner Erfahrungssumme und der Ge-
samtheit seiner Weltanschauung, seines Wesens am ehesten ent-
sprechen. Empirie liegt dieser Spekulation danach inunerhin zu-
grunde, sofern die Erfahrungssumme für sie ein wesentlicher Stoff
und ein maßgebliches Richtinstrument bildet, aber auch sofern die
Weltanschauung aus Empirie geschöpft, jedenfalls von ihr ent-
scheidend beeinflußt ist und die Anknüpfungspunkte und Fäden
zu den gezogenen spekulativen Folgerungen nach Überzeugung des
einzelnen von ihm oft, ja meist empirisch beobachtet sind und seine
Spekulation nur in konsequenter Fortsetzung dieser empirischen
Ansatzlinien besteht.
Verhältnis zwischen Höherentwicklungstrieb und geistig-psychi-
schem VoUkonunenheitsbedürfnis. Das Vollkommenheitsbedürfnis
wurzelt in der geistig-psychischen Konstitution des Menschen; es
ist ein geistig-psychischer Ausdruck des Höherentwicklungstriebes.
Aber es dient tatsächlich in seinen Äußerungen und Betätigungen
nicht notwendig der Höherentwicklung, kann sie im Gegenteil ge-
a8i
radezu hemmen. Dann nämlich, wenn es durch phantastische Vor-
stellungen und Gefühle illusionäre Befriedigungen schafft und so
die Neigung zum Verharren im gegebenen Zustande, die Entwick-
lungsträgheit stärkt. Instinktverwirrung kann zum ähnlichen Er-
gebnis führen.
Das gleiche gilt für das physische Vollendungsbedürfnis.
Das System der Fortschrittsbewegung ergibt sich nach
Vorstehendem und den Ausführungen in Kap. III aus
a) der Systematik der Fortschrittswege, die dem geistig-psychi-
schen Vollkonunenheitsbedürfnis entspringen;
b) der Systematik der physischen Höherentwicklungsprozesse;
c) der Systematik der hoherentwickelnden Ideologien.
1. Entsprechend den verschiedenen Seiten des Vollkommenheits-
bedürfnisses zerfallen die Höherentwicklungswege, die dieses Be-
dürfnis bahnt und geht, in solche des (intellektuellen) VoUständig-
keits- imd in solche des Harmoniebedürfnisses; und letztere wie-
derum in solche des ästhetischen, ethischen und praktischen Har-
moniebedürfnisses .
2. Die physischen Prozesse des organischen Lebens dienen zum
Teil der Erhaltung des Organismus, zum Teil seiner Höherentwick-
lung. Soweit das letztere der Fall ist, entspringt die Höherentwick-
lung dein physischen Vollendungsbedürfnis.
3. Die Ideologien dienen zum Teil der bloßen Erhaltung des or-
ganischen Wesens; zum Teil aber seiner Höherentwicklung (er-
haltende und höherentwickelnde Ideologien).
Die höherentwickelnden Ideologien sind zum Teil Erzeugnisse
des geistig-psychischen Vollkommenheitsbedürfnisses, zum Teil des
physischen Vollendungsbedürfnisses, je nachdem sie, durch die gei-
stig-psychisch wahrgenommenen Unvollkommenheiten hervorgeru-
fen, deren Beseitigung dienen oder durch physische Unvollkommen-
heiten im geistig-psychischen Wesen angeregt sind.
S 2. Wirklichkeit oder Wahrhaftigkeit des
menschlichen Fortschritts
Ist der Fortschritt der menschlichen Entwicklung nur ein Wahn
oder eine objektive Tatsache? D. h. : Ist die Entwicklung auf den-
282
jenigen Stufen, die wir als die höheren zu bezeichnen pflegen und
die nach dem vorgestellten regelmäßigen Entwicklungsgang die spä-
teren sind, auch die wirklich vollkommenere?
Es handelt sich um ein Werturteil, zu dem uns ein absoluter
Maßstab fehlt und metaphysische Spekulationen nicht helfen kön-
nen. Wollen wir im Gebiet der Erfahrung bleiben, so müssen wir
ims an das menschliche Wesen als Grundlage und Maßstab halten
und mit einem Werturteil begnügen, das zwar allgemein-mensch-
lich = subjektiv ist (im Verhältnis des menschlichen Wesens zum
Universum, zum Absoluten), aber, die menschliche Psychologie und
Art als eine objektive Tatsache voraus- und in Rechnung gesetzt,
innerhalb dieser selbst objektiv und real ist.
Die Frage lautet also: Ist „Fortschritt" vom Standpunkt des
menschlichen Empfindens und Vorstellens, vom Standpunkt des
menschlichen Wesens als einer objektiven und realen Tatsache aus
selbst auch eine objektive und reale Tatsache? Oder ist er — auch
von diesem allgemein-menschlichen Standpunkt aus, auch für den
Menschen und im Verhältnis zu ihm — nur eine Illusion, eine Ein-
bildung, ein Wahn, entweder aus der Unmöglichkeit eines Ver-
gleichs geboren, da das Selbsterlebte ganz anders erfaßt wird als
das Bloß-Vorgestellte und kein Einzelmensch die ganze Kulturent-
wicklung selbst erleben kann, oder als eine die objektiven Verän-
derungen der menschlichen Lebensbedingungen und Zustände nach
der psychisch-geistigen Konstitution des Menschen notwendig be-
gleitende Zwangsvorstellung (wie etwa diejenige der Willensfrei-
heit, des „Ich" usw.)? Die letztere Auffassung würde die mensch-
lichen Vorstellungen und Empfindungen zu bloßen Begleiterschei-
nungen des realen Entwicklungsprozesses ohne wirkende Kraft
herabdrücken. Das hieße das — erfahrungsmäßige — menschliche
Wesen und seine Entwicklung, die Einheitlichkeit der menschlichen
Totalität, die Untrennbarkeit aller ihrer Seiten, der physischen und
geistig-psychischen, verkennen, verkennen, daß die geistig-psychi-
schen Erscheinungen als solche keine geringere Realität besitzen als
die physischen. Jene Vorstellungen und Empfindungen sind auch,
wie die Erfahrung lehrt, selbst wirkende Momente des Fortschritts.
Die Entwicklung des Menschen ist kein unbewußter, sich fata-
listisch-mechanisch vollziehender Naturprozeß, dessen Bedingungen
a83
außerhalb des Menschen selbst liegen. Sie ist allerdings ein not-
wendiger Naturprozeß, durchaus determiniert. Aber der in sich
freilich wiederum determinierte Mensch ist selbst ein Faktor dieser
Determination. Sie ist ein Prozeß, der sich i m Menschen und durch
den Menschen vollzieht (in Wechselwirkung mit der Umwelt), und
zw«r im Menschen, wie er jeweils ist, physisch und psychisch.
Wobei alle Eigenschaften des Menschen zusammenwirken, alle zu-
gleich Ursache und Wirkung in infinitesimaler wechselseitiger Yer-
schlingung. Die Vorstellung von der größeren Vollkommenheit des
Erstrebten, der Wertmaßstab, wirkt im Entwicklungsprozeß ent-
scheidend mit als ein Faktor, als eine Potenz. Für den Menschen
ist die gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung eine Notwendigkeit;
er kann ohne sie ebensowenig sein wie ohne organische Entwick-
lung der Individuen. Er schreitet zur neuen Entwicklung fort, weil
er den bisherigen Zustand nicht mehr erträgt und den neuen als
eine relative Verbesserung seiner Lage empfindet und auffaßt. Es
ist eine objektive Tatsache, daß für Empfindung und Vorstellung
des Menschen der spätere Zustand dem früheren gegenüber den
Vorzug hat. Das ist so sehr objektive Tatsache, daß ohne sie eine
Entwicklung überhaupt nicht stattfinden vnirde.
Vom Standpunkt der menschlichen Art aus, ihrer psycho-phy-
sischen Beschaffenheit, vom Standpunkt der menschlichen Sub-
jektivität als einer objektiven Tatsache aus, ist also der Fortschritt
eine wirkliche Tatsache, wobei unter „Menschen" überall „mensch-
liche Gesellschaft" verstanden ist.
Geht man von einer bestimmten Theorie über das Wes^i des
Fortschritts aus, so ergeben sich allerdings objektive, sachliche
Maßstäbe. Definiert man als Fortschritt z. B. die Zunahme, Ver*
feinerung und Intensierung einander ergänzender Differenzierung
und Integrierung oder die Zunahme der Produktivität der mensch-
lichen Arbeit, überhaupt die Erweiterung der Herrschaft des Men-
schen über die Naturkräfte, die Verbesserung seiner Position im
Kampf ums Dasein, Verschiebung im Machtverhältnis zwischen der
Gesellschaft und ihrer Umwelt zugunsten der ersteren, so ergibt
sich eine objektive Fortschrittslinie. Doch handelt es sich bei sol-
chen Konstruktionen zumeist um versteckte Tautologien.
384
S3. Sind in sich vollkommene, absolut harmonische,
abgeschlossene Kulturzustände wirklich oder
möglich?
Jeder menschliche Zustand steht unter einem Druck. Er ist nicht
das Produkt des menschlichen Wesens allein, sondern seiner Aus-
einandersetzung, seines dauernden Kampfes mit der Umwelt; ja
selbst seines dauernden Kampfes in sich selbst — der einzelnen
Bestandteile des menschlichen Organismus als einer höchst kom-
plizierten, millionenfach aus kleineren Entelechien zusammenge-
setzten Konstitution.
Schon daß er im Einzelorganismus wie im sozialen Organismus,
in der Gesellschaft wie im Individuum dem „Entstehen", Werden
und Vergehen unterliegt, von denen jedes das Ergebnis einer Aus-
einandersetzung mit Um- und Inweit ist, bedeutet ein ununter-
brochen aktives und passiv reaktives Verhalten. Ganz irrig, ja tö-
richt, aus dem „Fatalismus" gewisser Völker zu schließen, daß sie
sich wirklich völlig wunschlos und apathisch in die „Schickungen"
gefügt und mit ihnen abgefunden hätten. Sie könnten dann nicht
existieren. Vielmehr müssen alle Menschen in allen Kulturen un-
ablässig gegen all die von außen und innen andrängenden Gefahren
auf der Wacht und in Wehr und Kampf stehen; und sie tuen so.
All dies gilt für alle Sphären, auf denen allen dieser Druck stän-
dig lastet.
a) Natürlicher äußerer und natürlicher innerer Druck auf die
Gesamtgeselbchaft, den Gesamtkulturkreis.
1. Äußerer:
Kampf mit unorganischen Naturgewalten (Kälte, Hitze, Dunkel-
heit, Sturm usw.); erschreckenden außergewöhnlichen Naturerschei-
nungen (Kometen, Fata morgana usw.); und mit der außermensch-
lichen organischen Umwelt (Pflanzen, Tieren).
2. Innerer:
Kampf mit Krankheit, Tod.
b) Der menschliche außersoziale Druck auf den Gesamtkultur-
kreis, die gesamte Gesellschaft von sozial-fremden menschlichen
Gruppen und Personen, die ohne gesellschaftlich-organische lie-
ziehung mit dem jeweils fraglichen Kulturkreis fremd von außen
!i85
auf ihn wirken in Raub, Krieg usw. Nicht hierher gehört der Fall
dauernder „geregelter" Gewaltverbindung (Unterwerfung, Verskla-
vung, Tributpflicht u. dgl.) — diese rechnen zu den sozialen Bil-
dungen.
c) Der menschliche soziale, aber auch der natürliche und mensch-
lich-außersoziale Druck — auf einzelne Teile oder verschiedener
Teile der gleichen Gesellschaft gegeneinander.
d) Der besondere natürlich-außersoziale und soziale Druck auf
die einzelnen Individuen infolge ihrer besonderen Stellung und Auf-
gabe, ihrer besonderen Ziele, Pflichten: das unausweichliche Er-
gebnis des besonderen Lebenskampfes, den jeder einzelne als engere
Entelechie auch innerhalb „seiner" Gesellschaft, seines Kulturzu-
standes notwendig führen muß, um werden, sich behaupten, sich
entfalten, seine Art erhalten, sich fortpflanzen zu können.
Dazu tritt als eigenartiger Druck noch hinzu:
e) der durch die dauernde Spannung zwischen den VervoUkonun-
nungstrieben (vgl. u. S 5) und dem gegebenen Zustande hervor-
gerufene psychisch - geistige Druck, der z. T. Wirkung der zu
a — d beschriebenen Arten des Druckes ist, z. T. aber auch diese
Arten des Druckes erst zum Bewußtsein bringt, ganz unabhängig
davon entstanden. Dieser Druck ist unter allen Umständen der
Tendenz nach schöpferisch. Soweit der Druck zu a — d sich in
schöpferische Reaktion umsetzt, geschieht dies auf dem Wege der
Umwandlung in den Druck letzterer Art (e).
Schon danach ist ein Zustand der kulturellen Sättigung (Sa-
turierung) im Sinne der Stagnation, der vollkommenen „Zufrieden-
heit", unmöglich. Eine vollkommene „Harmonie" eines Gesell-
schaftszustandes mit den äußeren und inneren Bedingungen dieser
Gesellschaft ist aber auch darum unmöglich, weil sich die Umwelt
in Art und Kräften nicht absolut gleich bleibt — weder die unor-
ganische noch die organische, sei es infolge außergewöhnlicher Ein-
zelereignisse (Überschwemmung, Erdbeben, Heuschrecken usw.),
sei es infolge laufender allmählicher Veränderungen in Erdbeschaf-
fenheit, Wasserverhältnissen, Tier- und Pflanzenwelt. Die laufend
umgestaltende Einwirkung der menschlichen Arbeit auf die natür-
liche Umwelt greift hier auch ein — als ein bewegendes, (nicht
wie es scheinen mag) stabilisierendes Moment. Nicht minder sind
386
die Kräfte eines Kulturkreises unmöglich auf die Dauer oder auch
nur vorübergehend so völlig stabil, wie es für eine vollkommene
Harmonie der betreffenden Kultur mit ihrer Umwelt nötig wäre:
die Menschenzahl wechselt (trotz aller gewalttätigen Mittel — Kin-
destötung, Greistötung, Raub zur Versklavung). Gerade solche ge-
walttätigen Mittel — wie Menschenraub, Krieg, — bergen in sich
wieder starke Anstöße zur Störung oder Verhinderung des Gleich-
gewichts. Eine völlige Abschließung eines Kulturkreises nach außen
— gegen andere Kulturkreise — ist in thesi möglich, aber histo-
risch-ethnologisch schwerlich nachgewiesen. Und ein solcher Aus-
nahmefall, wenn er sich ereignet haben sollte, würde gerade durch
diese seine Eigen- und Einzigart außerhalb der menschlichen Ge-
eamtkulturentwicklung gestellt sein. Für das Zeitalter der kapita-
listischen Weltwirtschaft ist es absurd, diese Frage auch nur auf-
zuwerfen. So sind der Stimulantien, der Anreize und Impulse zur
Änderung des gegebenen Kulturzustandes jederzeit in jeglichem
Stadium die Hülle und Fülle, und die Meinung vom Bestehen selbst-
genügsamer Kulturen ist eine Täuschung, unter Umständen sogar
Selbsttäuschung, geboren aus unklarer Betrachtung von Ober-
flächenerscheinungen. Ein solcher Zustand ist weder wirklich noch
wirklich gewesen noch auch möglich.
Das Vorhandensein der Religion — als Wahn-, Wunsch-, Werde-
Weltschöpferin und -Schöpfung — und der Kunst — als Produkt
und Bildnerin der Ideale — tmd der Philosophie und aller wissen-
schaftlichen Spekulationen in allen, gerade den scheinbar voll-
kommensten Kulturen ist der wundersamste, tiefgründigste, feinste,
zarteste, erhabenste Ausdruck dieser Tatsache. Religion, Kunst,
Wissenschaften legen das heilige Zeugnis, das unwiderleglichste
ab von jenem dauernden Druck, jener dauernden Spannung.
S A- Hinkende Kulturzustände und nochmals
Wesen der Entwicklung
Der bald aus diesem, bald aus jenem ideologischen oder wirt-
schaftlichen Antrieb, bald in dieser, bald in jener Sphäre einsetzende
„Fortschritt" zieht von dort aus die anderen Sphären und Kultur-
bereiche meist nach sich — wenigstens innerhalb eines gewissen
normalen zeitlichen Entwicklungsspielraumes.
287
Jedoch nicht immer! Vor allem nicht« wenn der Antrieb ein un-
organischer, von außen gewaltsam drängend an die Gesellschaft,
den Kultiu*kreis herantritt — als fremdes äußeres Schicksal — ,
nicht aus ihrem eigenen inneren Zustand und Wesen nach dessen
Gesetzen geboren; und wenn der betreffende Kulturkreis demakkul-
turierenden Einfluß sehr wesensverschiedener, sehr viel höher-
stehender anderer ausgesetzt ist, die ihn z. B. auch räumlich
umlagern. So gibt es auch heute s^r häufig unausgeglichene
hinkende Zustände der Kultur.
Schließlich wird natürlich, soweit nicht ein Fall jener Vergeu-
dung in der Entwicklung eintritt, alles in den Strom des „Fort-
schritts'' gezogen, aber oft nur unter fortwährend erneuten äuße-
ren Anstößen, unter konvulsivischen inneren Zuckungen infolge
des unorganischen Charakters der Einflüsse und Störungen des nor-
malen Kreislaufs und in sehr verschiedenem Tempo.
Die hinkenden Kulturen sind nur besonders ausgeprägte Erfah-
rungsbeispiele für das im vorigen S Ausgeführte. Sie stellen ex-
treme Fälle dar. Die Gesamtheit der Geschichte weist die Stufen-
leiter aller möglichen Grade unausgeglichener Kulturen auf, wäh-
rend es völlig ausgeglichene, solange die Entwicklung währt, nicht
geben kann. Denn zum Wesen des Entwicklungsprozesses gehört,
ja sein entscheidendes Kriterium bildet: das ständige Vorhanden-
sein kultureller Niveauunterschiede, die zur Ausgleichung — eben
durch Entwicklung — treiben, die nicht wie das Wasser, nach
unten, sondern wie die Pflanzen zu Licht und Luft, nach oben
streben.
In diesem Sinn ist Entwicklung: fortgesetzte Ausgleichung von
Niveauunterschieden, die sich fortgesetzt verändernd und wechselnd
erneuern.
Vgl. dazu: o. Kap. I, S 5.
S 5. Vervollkommnungstriebe
a) Der Vorstellungs(Phantasie-) trieb mit Beobachtungstrieb,
b) der Wissen«(Forschungs-, Denk-)trieb,
c) das Begehren („Erwerbs* 'trieb im weitesten Sinne — außer
dem Begehren nach Vorstellung und Wissen).
Alle drei: der Erfahrungstrieb.
a88
In der Kausalkette wechselt die Reihenfolge dieser Triebe. Bald
tritt das Begehren zuerst auf und erweckt die anderen; bald zeigen
die beiden ersten oder einer von ihnen ein neues mögliches Ziel,
dem sich das Begehren dann zuwendet. Der Vorstellungstrieb macht
mit den tatsächlichen Bedingungen der Um- und Inweit bekannt;
der Denktrieb verarbeitet diese Bedingungen systematisch, ermittelt
die Möglichkeiten ihrer zweckmäßigen Benutzung und Verwertung
— er ist die Brechstange, der Mauerbrecher, der Bohrer der Ent-
wicklung. Keineswegs wirken Vorstellungs- und Wissenstrieb nur
auf Anstoß und im Dienste des Begehrens, sie schweifen für sich
selbst umher und sind dauernd tätig, da die Kräfte zu ihnen im
Organismus an und für sich einmal vorhanden sind und organische
Kräfte ihrem Wesen nach aktive Kräfte sind, einfach ein Stück
des Lebens selbst. Religion und Kunst — als Ausdrücke aller drei
Vervollkommnungsantriebe — legen in ihrer Allgegenwart dauernd
Zeugnis ab für die Wirksamkeit dieser Triebe, selbst in den schein-
bar harmonischsten, geschlossensten, in sich vollkommensten Kul-
turzuständen. Das Begehren gibt dem Streben den heftigsten und
bestinuntest gerichteten Druck. Wenn es auch nicht notwendig
im Beginn der psychischen Kausalitätskette steht, so tritt es doch
jedenfalls später wirksam ein und gibt mächtigste Impulse für die
rein geistigen Triebe (a und b). Das Begehren kann allen „Sphären"
angehören. Die Triebe zu a und b gehören in ihren ersten Grund-
lagen, ihren elementaren Wurzeln der Überschußsphäre an. Das
Denken und Vorstellen (nicht der elementare Trieb, von dem hier
die Rede) dagegen allen Sphären als wichtigstes, unentbehrliches
Mittel.
Vorstellung (Beobachten) und Denken (Forschen usw.) wirken
und weben aus eigenem unablässig; sie erkennen aus eigenem, wie
dies oder jenes besser sein könnte als es ist — auch wenn ein be-
sonderes Begehren und Bedürfnis in diesem Punkt noch nicht zum
Bewußtsein gelangt ist. So werden durch Beobachtung der Vor-
gänge in der unbelebten Natur die „Naturgesetze" gefunden; durch
Beobachtung der Tier- und Pflanzenwelt wird an Methoden der
Ernährung, des Schutzes (Wohnung, Sicherung usw.), der Abwehr
usw. gelernt; ebenso durch Experiment und sonstige systematisierte
Erfahrung viele Verwendungsmöglichkeit für Kräfte und Stoffe
19 U«bkneoht, Studien 289
gefunden. Das wirkt als Druck zur Fortentwicklung — vgl. oben
S 3 den Druck zu e.
Dazu treten nun laufend die Bedürfnisse. Das Beehren spornt
die Beobachtung und die Vorstellung an, die Beobachtung und Vor-
stellung sammelt« das Denken systematisiert und bohrt, sucht das
Passende, Beste zur möglichst vollkommenen Befriedigung des Be-
dürfnisses aus dem ganzen Erfahrungskreis, dessen Erweiterung
unermüdlich angestrebt wird.
Beispiel: Die Wirkung der Entdeckung Amerikas.
Wie kam die Entdeckung Amerikas zustande? Die Beichtümer
des Orients, Indiens (Pfeffer, andere Gewürze; Edelsteine, Gold
usw.) waren im Abendlande bekannt: Antrieb von außen — Be-
dürfnis erregt. Sie zu erwerben oder — soweit sie schon auf an-
derem Wege zugänglich — billiger, rascher, reichlicher zu finden
als auf diesem bisherigen Wege, war das Beehren. Auf welchem
Weg das möglich sei, lehrte Beobachtung, Vorstellung, Denken
(Erde = Kugel). Erfahrungen der Schiffahrt waren gegeben imd
Technik. Der Unternehmer (Kolumbus) findet sich und der Fi-
nanzier des Unternehmens (Spanien). Ein anderer Unternehmer
(Vasco de Gamo) und Finanzier (Portugal) für den östlichen See-
weg. Die zum großen Teil zufälligen Entdeckungen üben dann
ihre wirtschaftlichen usw. Wirkungen zu gewaltigen Umwälzungen.
Man sieht, wie aus der Ferne einer fremden Kultur eine Anregung
kam, welche die ungeheuren Handlungen auslöste; und wie dabei
die Wissenschaft (das Denken) Geburtshilfe leistete — Richtung
weisend; und die Technik — selbst Produkt früheren Denkens —
die Mittel bot. Ähnlich natürlich im kleinen mit Erfahrungen (Beo-
bachtung) aus Tier- und Pflanzenwelt usw. — der alltägliche Vor-
gang. Wir sind jedoch mit der Betrachtung des obigen Beispiels
noch nicht zu Ende. Es bietet noch weitere Lehren — wenn es
aus seiner Isolierung wieder in den historischen Gesamtzusammen-
hang gesetzt wird. „Wie konnte die Kenntnis von den Schätzen
des Orients: Zipangus (Japans), Indiens, des Pfefferlandes usw.
nach Europa gelangen?" Das setzte eine lange Entwicklungskette
von Kenntnissen, Reisebeziehungen, technischen Errungenschaften
voraus. Wie konnte diese Kenntnis einen solchen Anreiz für solche
historische Taten (Entdeckungsreisen) geben? Das setzte voraus»
290
daß diese Kenntnis sozial (wenigstens von den herrschenden Klassen
oder einem wichtigen Teil von ihnen, jedenfalls von maßgebenden
gesellschaftlichen Faktoren) resorbiert werden konnte und wurde,
daß der Kulturzustand wenigstens dieses Teils der europäischen Ge-
sellschaft für diese Kenntnis im Sinne dieses Anreizes resorptions-
fähig war. Das setzt wiederum voraus, daß die Schätze des Orients
für diesen Teil der europäischen Gesellschaft von starkem Wert
waren, was wiederum einen bestinunten Kulturzustand (besonders:
wirtschaftlichen) erforderte. Wie konnte der Anreiz zur Ausfüh-
rung der Tat führen? Das setzte eine bestimmte Höhe des gesell-
schaftlichen Reichtums, der die Mittel zu dem Unternehmen bieten
konnte, der gesellschaftlichen Organisation, die den Unternehmer
und Finanzier lieferte, der wissenschaftlichen Bildung und der
Technik, die die Schiffe und sonstigen Mittel der Seefahrt lieferte,
voraus. —
So sieht man die ununterbrochene Kette von wirtschaftlichen
und geistig-psychischen, technischen, materiellen und „ideologi-
schen" Zusammenhängen, bei denen es unmöglich ist oder ganz
willkürlich, einen Scheidestrich zu ziehen und sei es von einer öko-
nomischen, sei es einer „ideologischen" causa aus das weitere Ge-
schehen zu konstruieren. Es gibt kein primum movens im ununter-
brochenen Flusse der Entwicklung; die endlos laufenden, lücken-
losen, unzähligen Glieder der Kette sind wechselnd ökonomisch
und „ideologisch". Die für uns gänzlich irrationale, problematische
Entstehung des Organischen könnte da nur als primum movens
in Frage kommen, wenn man nicht gar in die vor-organische Periode
zurückgeht. Die Frage nach dem primum movens im Kulturver-
laufe löst sich durch ihre Eliminierung.
Die bestimmende Kraft der materiellen Kultur, im Sinne der
Gewährung der festen Basis für jeden dauernden, auch psychi-
schen, ideologischen sozialen Zustand, für allgemeine Verhältnisse
(nicht individuelle I) in der Gesellschaft tritt aber deutlich hervor.
„Materielle" Kultur heißt jedoch: materielle Bedingungen, materielles
— stoffliches und organisatorisches — Feudum für den Kultur-
zustand in allen Sphären; und von diesen materiellen Bedingungen
unlöslich — notwendige Voraussetzung ihrer sozialen Nutzbar-
machung — ist auch das psychisch traditionelle Feudum, dessen
10»
agi
es für die zweckmäßige Anwendung des stofflichen und organisa-
torischen Feudums bedarf, so daß auch hier wieder fast alles aufs
Psychisch-Geistige reduziert ist — außer dem nackten stofflichen
Feudum.
S 6. Der Mechanismus der Entwicklung, die
Bewegungsgesetze
Wir unterscheiden:
a) Primum movens = das erste Bewegende und das erste sich
Bewegende (das TcpöTov xivoüv des Aristoteles), was beides iden-
tisch, sofern das erste sich Bewegende beim allgemeinen und be-
sonders beim organischen Zusammenhang notwendig das Übrige
in Bewegung setzt. Movens hier also auch = Motor! primum mo-
vens also auch „Erster Antrieb", der die Initiative gibt.
b) Die Innervation der Bewegung — ihre Übertragung auf die
übrigen Teile des Organismus oder wenigstens zunächst einen an-
deren Teil, der sie dann weiter fortpflanzt; die Ausübung der Ini-
tiative.
c) Die Bewegung, ihre Stadien, ihre Formen.
Zu a) bis c): Primär, schöpferisch.
d) Akkulturation (wovon eine Spe^alform: Rezeption): sekun-
däre, nicht-schöpferische Nachahmungsentwicklung.
Aber d) ist nur insoweit nicht- schöpferisch, wie es wirklich
und unveränderlich von außen aufgenommen, was rein niemals
der Fall. Soweit modifiziert, umgeformt, assimiliert, was stets zu-
gleich der Fall, natürlich durchaus schöpferisch; diese Kombination
von primär-schöpferischen und Nachahmungsentwicklung ist die
ausnahmslose Regel, nur der Prozentsatz der beiden Faktoren in der
Mischung wechselt ungemein.
Was ist das Primum movens?
Absolut ist es nicht zu bestimmen, da ja alles im Flusse der Ent-
wicklung sich befindet. Der große erste allgemeine, heute noch
in der Gesamtentwicklung fortwirkende Antrieb besteht von „Ur-
anfang", ist unergründbar — als ein Teil der Entstehung des Kos-
mos selbst, des organischen Lebens im besonderen.
Hier handelt es sich um den Anfang im empirisch-praktischen
Sinn; das, was wir den konkreten historischen Einzelfall nennen.
292
Der Anstoß in diesem Sinne energisiert, innerviert diese oder jene
geistig-psychischen, organisatorischen, physischem Faktoren sozial-
gestaltenden Charakters — also auch Teile des geistig-psychischen,
organisatorischen und physischen Feudums. Welche dieser Fak-
toren, hängt völlig vom Einzelfall ab — kein Schema, unendliche
Variationen möglich, aber meist oder stets Kombinationen von allen
drei Arten.
Diese Faktoren der drei Arten ergreifen das Stoffliche, („Reich-
tum" im engeren Sinne), das stoffliche Feudum und benutzen es
als Material und Werkzeug für ihre Wirksamkeit.
Ein laufendes, mehr oder weniger andauerndes Funktionsverhält-
nis zwischen allen sozial-gestaltenden, durch die Innervation ergrif-
fenen und in Bewegung gesetzten Faktoren setzt damit ein — wech-
selseitig, allseitig, aktiv und reaktiv weiter wirkend und webend,
treibend, schiebend, drängend.
Diese Funktionsbeziehungen spielen sich als ein — nach ver-
schiedenen Gesichtspunkten hin — infinitesimaler Prozeß ab.
Nicht: die „wirtschaftlichen Verhältnisse", sondern das Feudum,
und davon wiederum am stärksten: das wirtschaftliche Feudimi als
die „ökonomische Basis", und davon wiederum am stärksten: das
wirtschaftliche Feudum der drei ersten Sphären, und davon vne-
derum am stärksten: das stoffliche wirtschaftliche Feudum der
drei ersten Sphären bildet das auf die Dauer und für den Durch-
schnitt und den großen Grundzug der Entwicklung und den Ge-
samt-Habitus der Gesellschaft Regulative Prinzip.
S 7. Die Hierarchie der Entwicklungsfaktoren --
das relative Primum movens
Ist in der Tat die Zahl der gesellschaftlichen Entwicklungsfak-
toren so mannigfaltig wie die menschlichen Eigenschaften und die
Eigenschaften, vor allem Kräfte und Bestandteile der natürlichen
Umwelt des Menschen, ist ihr Zusanunenwirken bei Gestaltung der
Entwicklung so kompliziert wie das menschliche Wesen und seine
natürliche Umwelt, so ist es doch möglich und aus Gründen der
Methodik zur Erleichterung von Orientierung und Forschung ge-
boten, sie nach dem Grade ihrer empirischen Wichtigkeit, nach der
praktischen, erfahrungsgemäßen Intensität ihrer Wirksamkeit,
nach dem Maßo ihrer relativen Bedeutung zu werten.^) Und
zwar ihrer relativen Bedeutung
a) in jedem einzelnen Falle und Moment,
b) im Gesamtdurchschnitt der bisherigen bekannten Mensch-
heitsgeschichte.
a) ist in den einzelnen Fällen und Momenten je nach Reizschwelle,
Kulturzustand, je nach der Lage der einzelnen Gesellschaftsteile
und Individuen stark wechselnd, sehr verschieden; und so im Ein-
zelfall oft abweichend vom Durchschnitt zu b).
Das zwar nicht schlechthin, absolut Entscheidende, aber Haupt-
sächlichste, Wichtigste, Stärkstvnrkende festzustellen, ist des
Schweißes wert — für Erkenntnis und Forschung, ist zur Ermög-
lichung oder doch Erleichterung einer methodischen Untersuchung
von höchster Bedeutung.
In diesem Sinne die Marxsche Theorie einschränken, heißt zu-
gleich, sie in ihrem Kern erhalten.
Wir unterscheiden hierbei zunächst in jedem einzelnen Fall und
im Durchschnitt
die (relativ) a) Zustands- 1 , ,. , t^ , .
A r^ } bedinffenden Faktoren,
b) Bewegungs- J °
Wir unterscheiden ferner für jeden einzelnen Fall und im Durch-
schnitt
a) die bedingenden Faktoren,
b) die bestinunenden Faktoren,
c) das relative „Primum movens", d. h. die relativ letztinstanz-
lich und entscheidend verursachenden (d. i. mehr als „bestimmen-
den**) Faktoren.
Onindsatz für die Methode der Forschung nach dem Antrieb (primum
movens) und den Gesetzen einer empirischen gesellschaftlichen Ent-
wicklungsbeweguDg :
1. Räumliche, zeitliche, persönliche, sächliche, ideologische Abgren-
zung des Untersuchungsobjektes.
2. Wenn der Anstoß für die Fortentwicklung an einen bestimmten
, Kreis* von außen herantritt, so ist für die Ermittelung der Bewe-
^) In diesem Sinne kann man sagen: die Menschheitsgeschichte ist die
Geschichte der Arbeit, die Geschichte der Werkzeuge — von der
Steinaxt bis zur Dampfmaschine und darüber hinaus.
394
gUBgsgesetze der größere Bezirk zugrunde zu legen, der den jeweiligen
Vegetationspunkt örtlich umfaßt. Eine endgültige und yollkommene
Abgrenzung nach außen ist natürlich beim endlosen und allgemeinen
Zusammenhang aller Dinge und der ganzen menschlichen Entwicklung
im besonderen, bei der endlos ewigen Verkettung von , Ursache und
Wirkung* nicht möglich. Hier handelt es sich um den Abschluß bis
Umfassung des jeweils fär die Erkenntnis der konkreten Zusammen-
hänge und Bewegungsgründe wesentlichen Initiativpunkts. Wenn der
Anstoß in einer anderen Zeit liegt, so ist für Ermittelung des Bewe-
gungsgesetzes das üntersuehungsobjekt zeitlich bis zur Umfassung des
zeitlichen Vegetationspunkts auszudehnen.
Freilich wird sich da oft nur eine gedanklich formale Verbindung
ergeben und zeigen, daß die vermeinte Initiative der früheren Zeit
nur eine sekundäre, äußerliche Erscheinung — ein Schein — ist.
, Zeitlich'' und .örtlich' ist hier beides
a) absolut,
b) relativ (im Verhältnis zu dem betrachteten , Kreis* je nach
Kulturhöhe und -Art) zu verstehen.
Die Prüfung in beiden Sinnen ist zur Erschöpfung der möglichen
Resultate nötig. Was hier von «Ort* und .Zeit* gesagt ist, gilt ent-
sprechend von den übrigen in Frage kommenden Modi und Attributen
— von der persönlichen, sächlichen, ideologischen Ausdehnung ; natür-
lich decken sich diese Attribute und Modi zum Teil, sie sind keine
Gegensätze, schließen sich nicht aus.
Einige Beispiele für Entwicklungszusammenhänge
und Kausalketten
I. Die Reformation, speziell Luther.
Das Religiöse, das in Luthers Gedanken, speziell in seinen Thesen
oppositionell, ketzerisch war, war weder neu, noch original, noch
tief, noch sonst etwas Bedeutsames; es war von fronmien, ortho-
doxen Anhängern der Kirche viel früher, tiefsinniger und minde-
stens nicht weniger religiös-inbrünstig geäußert worden.
Das Besondere war nur, daß Luthers Auftreten in eine Zeit und
ein Land fiel, in denen mächtige politische und soziale wirtschaft-
liche Interessen emporgewachsen waren, die zum Bruch mit Rom,
zur Loslösung aus der katholischen Kirche drängten: besonders im
Landesfürstentum, in dem von Klöstern und Kirchen ausgesogenen
und beraubten Bauerntum und auch breiten Bevölkerungsschichten
in den Städten. Die Vertreter dieser Interessen, vor allem die Für-
sten, nahmen die Gelegenheit von Luthers Auftreten wahr; sie scho-
295
ben ihn vor, hoben ihn hoch, gaben ihm Resonanz, nutzten ihn
aus, um die ihnen erwünschte und nützliche Bewegung zu ent-
fesseln und zu fördern. Und so sehr war Luther ihr Werkzeug,
daß er z. B., wenn die Bewegung aus den edelsten religiösen (z. B.
Karlstadt usw.) oder den gerechtesten sozialen Gründen (Bauern-
krieg) eine den Fürsten und sonst Herrschenden unter den Pro-
testanten unbequeme Gestalt oder Richtung nahm, er in rücksichts-
losester Weise gegen sie in die Schranken trat.
In Frankreich war kein gleich starker Anlaß zu einer Reforma-
tion — wenigstens damals noch nicht; das Landesfürstentum war
schon fast beseitigt, der Adel sehr geschwächt, die Zentralgewalt
schon stärkstens entwickelt, das Papsttum dieser Zentralgewalt nicht
abtraglich, sondern eher ihr Verbündeter oder zeitweilig ihre De-
pendance, ihr Lehnssasse (Päpste in Avignon). Die Hugenotten spä-
ter die ersten Vertreter eines modernen Kapitalismus, die sich gegen
den Absolutismus und Feudalismus erhoben, — erster Versuch einer
bürgerlich - kapitalistischen Revolution, wenn auch unter starker,
aber nicht sozial wesentlicher Beteiligung des Adels, der hier nicht
als Feudaladel, sondern als Beteiligter des bürgerlichen Kapitalismus
auftritt.
In England Losreißung und Verselbständigung der Staatskirche:
ein zugleich politischer (Königtum) Verselbständigungs- und Be-
reicherungsakt und ein sozial-wirtschaftlicher (kapitalistisches Bür-
gertum) Bef reiungs- und Bereicherungsakt.
Charakteristisch ist die Ergebnislosigkeit der bloß zum Sekten-
dasein verurteilten früheren Reformationsbewegungen der Wicliff ,
Franz von Assisi, Savonarola, Huß, Albigenser, Katharer usw., die
aber selbst diesen Umfang nur annahmen, weil auch in ihnen po-
litische, soziale, wirtschaftliche Interessen, nur eben beschränkterer
Kreise und geringeren Einflusses ihre Auswirkung, ihren ideolo-
gisch-phantastischen Ausdruck fanden.
2. Kultureller Wert, Entwicklungswert des ideo-
logischen Feudums.
Das ideologische Feudum, d. h. die dauernden, objektivierten
Manifestationen von Wissenschaft, Kunst, Religion, zeigt sich be-
sonders in Riten, Liturgien, Sakralformeln, Gewohnheiten, Gebräu-
chen (ihrem Sinne nach konservierend) der Religion, des Pomps
296
der repräsentativen Stände, des Rechts, staatlicher, parlamentarischer,
obrigl^eitlicher Akte, Berufshandlungen und Repräsentationen, Ge-
pränge, Trachten, Gefäße, Kavalkaden (vgl. Zünfte, Gilden^ In-
nungen, Handwerke); der Sexualbeziehungen; medizinische, hygie-
nische Akte (Beschneidung usw.); der Künste und Wissenschaften
(auf Schulen, Universitäten, Gilden, Akademien); femer in der
Form dieser Riten; in den Kunstdenkmälern — besonders der
öffentlichen Plastik, Architektur, Kunsthandwerk (Kirchen-Innen-
einrichtung, Gefäße, Trachten usw.) — Malerei; Musikdarbietungen
traditionellen Charakters; sehr stark auch in der dauernd lebenden
Volkskunst.
Das ideologische Feudum (sei es geistig-psychisch überliefert und
erhalten; sei es stofflich verkörpert) als ein fester Kulturbestand
bildet:
a) eine dauernde Stütze, einen beständigen Wegweiser — selbst
in Zeiten des tiefsten Verfalls, der Änderung aller Orientierung der
kulturellen Wellenschwankung und -Senkung;
b) damit sowohl Damm, Barriere gegen tieferen oder völligen
' Verfall und Untergang wie Mittel, die Wiederanknüpfung und Re-
generation, den Wiederaufstieg und die befruchtende Wiederauf-
nahme der Einwirkungen früherer Kultur auch nach Umorientie-
rung zu erleichtem.
Vgl. wie die kirchlichen Liturgien, Baukunst, Malerei, Musik,
Poesie (Heilige Bücher, Kirchenlieder, Passionen usw.) der Kunst
selbst über Perioden tiefsten Verfalls einen objektiven und sub-
jektiven Halt geben, sie rettend hinübertragen — ebenso das pro-
fane Kunstfeudum. Freilich in Zeiten lebendiger kultureller Be-
weglichkeit und frischer, ursprünglich eigener und eigenwilliger
Schöpferkraft wirken sie hemmend, konservativ, selbst reaktionär.
Das ist die Kehrseite.
3. Die Bedingtheit der „Großen" in Wissenschaft,
Kunst, Politik, Religion.
In Kunst: Die Bedingtheit durch gleichzeitige und frühere und
deren Leistungen und Anregungen. Innerhalb ihrer sind sie nur
eben höchste Gipfel eines vielgipfeligen Gebirges — vgl. Shake-
speare und seine Zeitgenossen und Vorläufer: Chaucer, Marlowe,
297
Green, Spencer und Nash usw.; vgl. die Großen der griechisch-
römischen Kunst aller Gattungen und der Philosophie.
Ab höchste Gipfel, die sich in der Ferne zuwinken, treten die
Großen mit Zunahme der Entfernung und des Zeitverlaufs für das
Auge immer isolierter aus der Umgebung der Zeitgenossen hervor,
scheinen vielfach und rascher in die Höhe zu wachsen und bald
allein zu existieren — gleich den Kirchtürmen, zu denen, je ko-
lossaler sie sind, um so mehr auch ein machtvolles Schiff und eine
respektable Stadt zu gehören pflegt, die in der Entfernung dem
Auge nur versinken, verschwinden; dem „Großen" selbst hingegen
pflegen sie und ihre Leistungen sehr gegenwärtig und der Beach-
tung und Anerkennung wert zu sein.
S8. Der Infinitesimalcharakter des Entwicklungs-
prozesses
Die Entwicklung vollzieht sich als Infinitesimalprozeß, als in-
finitesimaler Dauerprozeß, Prozeß endloser Reihe von einander fol-
genden, durchkreuzenden, sich häufenden, steigernden, schwächen-
den, ergänzenden, neutralisierenden, wechselwirkenden Verände-
rungen — höchstens vorübergehend in „labilem" Gleichgewicht,
nur zuweilen und äußerlich in scheinbarem Beharrungszustand, im
Zustand der Ruhe, der Entwicklungslosigkeit.
Von aller organischen Entwicklung — auch von der sozialen
der Menschheit — gilt: die organische Höherentwicklungsbewegung
bildet einen infinitesimalen Prozeß, und zwar in mannigfacher Be-
ziehung — ein allmähliches, wechselweises, gegenseitiges Vorwärts-
schieben, -ziehen und -drängen der verschiedenen Sphären, der so-
zial-regulativen Faktoren und Prinzipien aller Art — ein wechsel-
weises, verflochtenes Ineinander, infinitesimal verflochten, infini-
tesimal wechselnd, von infinitesimalen Faktoren im infinitesimalen
Dauerprozeß mit infinitesimal wechselnder Initiative, in einzelnen,
unmerklichen, unendlich kleinen „Etappen", und zwar gleichviel
in welchem Tempo; bei rascherem Tempo folgen sich die Etappen
nur schneller, wechseln die Initiativen nur schneller.
Schließlich verknüpfen, verwirken, verbinden sich alle sozial-
regulativen und gestaltenden inneren und äußeren Faktoren und
Prinzipien, Kräfte und Stoffe, Aktivitäten, Reaktivitäten, Passivi-
298
täten zu der Symphonie von Akkorden und Diskorden, die das
wechselseitige, allseitige Funktionsverhältnis darstellen; zu dem all-
seitigen und allgemeinen Funktionsverhältnis, in dem alles bestimmt
und bestimmend, alles bedingt und bedingend ist, zu einem Gewebe
grenzenloser — dben organischer — Mannigfaltigkeit, in dem weder
der Anfang noch das Ende des Fadens zu erkennen, zu unterschei-
den ist.
Das Telos des organischen Prinzips.
Höher - Organisation, Feiner - Differenzierung, Veredelung von
„Kräften" und „Stoffen" des organischen Lebens, der organischen
Welt und jeder ihrer Kreise und Arten und Individuen in sich selbst
und in der Umwelt durch Einwirkung der organischen Welt —
das ist der kosmische, objektive Gesichtspunkt.
Vergrößerung des „Überschusses" an Kraft und Möglichkeiten,
Steigerung des sozialen Überschusses, Erweiterung der Überschuß-
sphäre — das ist der Gesichtspunkt vom Organismus aus, der sub-
jektive Gesichtspunkt.
Die Erweiterung der Überschußsphäre, die Zunahme der Fähig-
keit der Gesellschaft zur sozialen Überschußleistung ist das beson-
dere Kriterium der Kulturhöhe, des Kulturfortschritts.
AUSBLICK
Das Telos der Kulturentwicklung;
Der neue Humanismus.
Der kosmische Universalismus der Zukunft.
Eine künftige Menschheit wird — frei in allen ihren Gliedern:
gleichviel welcher Rasse, welcher Farbe, welchen Geschlechtes —
in überzeugter und fröhlich-starker Solidarität einander in allen
ihren Gliedern unterstützend als eine einige und unteilbare Gesell-
schaft des äußeren Reichtums, der inneren Wohlfahrt, des Wohl-
wollens, der Menschenliebe, des Glückes, in ernster Arbeit und in
»99
heiterem Genuß ihre Bahn ziehen. Indem die Kulturen twicklung
durch immer tiefere Einsicht in die Naturkräfte und -gesetze die
äußere Natur immer vollkommener der Menschheit unterwirft, d.h.
sie ihr in den Grenzen der höheren überlegenen Notwendigkeit
immer vollständiger zur Verfügung stellt und ihr damit die Fähig-
keit und Kraft gewährt, ihre Macht zugleich im Sinne einer Be-
friedigung unserer höchsten moralischen und ästhetischen Bedürf-
nisse zu üben: im Geiste des sich dann übermächtig manifestie-
renden universalen Solidaritätsgefühls und All-Eins-Bewußtseins;
indem dann die Entwicklung sie befähigt und antreibt, diese Macht
zu benutzen, um die Natur, das Universum im Größten und im
Kleinsten immer mehr und mehr in ihrer Art zu achten, ehrerbietig
(in jenem Goetheschen Sinn) zu behandeln, zu schützen, zu er-
halten; statt sie zu bekämpfen oder gar zu zerstören, wie auf dem
Domenwege zu dieser Vollendung, zu dieser „Freiheit", zu dieser
höchsten Kulturstufe als Not und Zwang der Menschheit gesetzt
ist — als Not und Zwang, die ihr dann verwerflich erscheinen
werden, — indem die Entwicklung so wirkt, wird sie die Mensch-
heit dahin bringen, sich in allesumfassendem Verständnis und Ge-
meingefühl, voll Schonung ins Ganze sich einzugliedern und in
Anerkennung, Duldung und Würdigung einen jeden Teil in seinen
Grenzen, seiner Art, wenn nicht z& lieben, so voll Achtung, ja Ehr-
furcht gewähren zu lassen.
Nicht ferner, wie heute, die Natur feindlich zu hassen, zu ent-
stalten, zu zerstören, ist die künftige Menschheit da, sondern sie
zu erhalten, sie zu lieben. Nicht Kampf und Haß, sondern Har-
monie und Friede winkt am Ziele des steilen, domigen Sturm-
weges der strebenden Menschheit.
Und sie wird sich als ein Bruder, ein Geschwister auch der Tier-
und Pflanzenwelt, aller lebenden Natur fühlen und wissen; und als
ein durch die Fähigkeit bewußter Betrachtung ausgezeichneter Teil
des Universums den ganzen Bereich ihrer Beobachtung, alles von
ihren Sinnen Wahrgenommene nicht nur menschlich, sondern —
in den Schranken des menschlichen Erkennens, Ahnens, Empfin-
dens — nach jenem erhabenen Spinozischem Sinne erfassen.
Eine Vollendung auch der größten Goetheschen Visionen und
eine Erfüllung seiner letzten Prophetien.
3oo
Und am Sternenhimmel dieser beglückteren Geschlechter wird
in Sirius-leuchtenden Lettern stehen — jenes
,,sub specie aeternitatis".
Und das andere Wort endloser Tiefe
„Das bist Du!'*
,,Tat twam asil"
Der Sozialismus aber — die soziale Bewegung des Proletariats —
ist die Entstehungs- und Kampf form dieses neuen allumspannen-
den Humanismus.
DRITTER ABSCHNITT
EINZELNE
KULTURERSCHEINUNGEN
1. KAPITEL
RELIGION
S I. Allgemeines zur Psychologie und Logik des
religiösen Bewußtseins
Die religiösen Vorstellungen und Empfindungen sind Ergebnisse
elementarer geistig-psychischer Eigenschaften des Menschen» die
sich im Vollkonmienheitsbedürf nis äußern. Sie sind Postulate seiner
Denkkonstitution, seiner Vorstellungsweise, seiner Sinneswahrneh-
mungsform, seines ästhetischen und moralischen Bewußtseins, seines
Selbsterhaltungstriebs. Aber vertretbare Postulate: die aus den ele-
mentaren Eigenschaften erwachsenen Bedürfnisse können auch in
anderer Weise als durch religiöse Vorstellungen befriedigt werden.
Aus diesem ihrem elementaren Charakter erklärt sich der apo-
diktische Anspruch auf Gültigkeit, mit dem der religiöse Glaube
auftritt; seine Nichtweiter-Reduzierbarkeit, seine prinzipielle Unbe-
weisbarkeit.
Die religiösen Vorstellungen können als religiöse nicht anders
gewonnen werden denn durch „Intuition", „Schauen", „unmittel-
bares Wissen", „Empfinden" usw. (vgl. Jacobi, Hamann, Herren-
huter, Zinzendorf, Frl. v. Klettenberg). Dies ist der einzige psy-
chisch-geistige Quell religiösen Bewußtseins. Aber dieses Bewußt-
sein vermag seinen religiösen Inhalt nicht anders konkret zu for-
men als unter Benutzung des erfahrungsmäßigen Vorstellungs-
materials. Insofern wird die religiöse Welt aufgebaut aus dem
Stoff und nach den Regeln des Diesseits; daher die anthropomorphe
Form der religiösen Vorstellungen, die sie äußerlich als Abbilder
20 Liebknecht, Stadien 3o5
und Spiegelungen des Diesseits erscheinen lassen, während sie in
Wahrheit Komplementarerscheinungen, d. h. in den wesentlichsten
Beziehungen gerade einen Gegensatz zum Diesseits bilden. Die For-
men der religiösen Vorstellungen, die einerseits als Mittel zur Ein-
wirkung auf das Diesseits dienen, sind so andrerseits auch Erzeugnis
des Diesseits, der gegebenen Zustände.
Es besteht ein Verhältnis infinitesimaler Wechselwirkung zwi-
schen Inhalt und Form des religiösen Seins und Erfahrungswelt.
Das religiöse „Bewußtsein" (im weitesten Sinne, auch das Unbe-
wußte umfassend) ist Erzeugnis des allgemein-menschlichen Voll-
kommenheitsbedürf nisses, das aus dem Vollständigkeits-, Universa-
litäts- und Harmonie-Bedürfnis besteht. Alle geistig-psychischen
Kräfte wirken zu seiner Entstehung zusammen. Seine Funktion
ist, die Begrenztheiten und Mängel der äußeren und inneren Er-
fahrungswelt aufzuheben bzw. durch Schöpfung einer komplemen-
tären Idealwelt zur Harmonie auszugleichen und zu harmonisieren.
Religion bedeutet Herstellung einer imaginären, aber subjektiv be-
friedigenden Verbindung mit dem Transzendenten: einer intellek-
tuellen Verbindung (im spekulativen Teil des projektiven Elements
der Religion s. u. S 3), einer ästhetischen Verbindung (im ästhe-
tischen Teil des projektiven Elements), einer vom Menschen auf
das Transzendente gerichteten ethischen Verbindung (im postula-
torischen Teil des projektiven Elements). Und zwar eine vom Trans-
zendenten auf den Menschen, Individuum und Gesellschaft, ge-
richtete reaktive, ethische (überhaupt normgebende) Verbindung
(im reflexiven Element), eine vom Menschen auf das Transzendente
gerichtete Kausalitätsverbindung (im aktiven Element).
$a. Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich
der Religion
I. Die Religion als gesellschaftliche und als in-
dividuelle Erscheinung.
Die Religion bildet zunächst eine ausgeprägt gesellschaftliche Er-
scheinung; die religiöse Anschauungsweise beherrscht uneinge-
schränkt alle Gesellschaftsmitglieder. Ein derartiger Zustand tritt
auch noch auf relativ hohen Kulturstufen auf — vielfach nach
3o6
mehr oder weniger irreligiösen Epochen. Der Umfang des persön>
liehen Geltungsbereiches der Religion steht in keinem festen Ver-
hältnis zu den gesellschaftlichen Entwicklungsphasen und in keiner
gleichmäßigen Proportion zur Höhe der Gesellschaftskultur. Er
wird durch Momente bestinunt, die wir an anderer Stelle erörtern.
Unter gewissen Umständen hört die Religion auf« gesellschaftliche
Erscheinung zu sein und wird zu einer bloß individuellen Angelegen-
heit.
Als gesellschaftliche und als individuelle Erscheinung kann sie
auch in ihrem sachlichen Geltungsbereich eingeschränkt werden;
z. B. in bezug auf ^ihre normensetzende Eigenschaft. Doch ist ihr
der gezeigte, sachliche Geltungsbereich in allen seinen Teilen we-
sentlich, nur Inkonsequenz kann eine Einschränkung vollziehen,
der die Tendenz zur Herstellung des Gesamtbereichs dauernd und
notwendig entgegentritt.
Die gesellschaftlichen Gestaltungen, die zunächst religiösen Cha-
rakter tragen, als Erzeugnisse der Religion auftreten, bleiben —
abgesehen von denen, die speziell der Religion dienen (Kirche usw.),
— in ihrer Existenz nicht notwendig an die Religion geknüpft,
können laisiert, säkularisiert werden. >
Die Religion aber heischt innerhalb ihres personellen Geltungs-
bereichs auch volle sachliche Geltung.
II. Von der äußeren Form der Religion.
Dabei muß man das Ganze der Religion ins Auge fassen. Es be-
steht zumeist aus mehreren Teilen, von denen vielfach nur einzelne
als Religion, andere gar nicht als zu ihr gehörig betrachtet werden.
Wäre z. B. die griechische Religion nur die bekannte Lehre von
den olympischen Göttern, die in der Tat keine das ganze Wesen der
Religion erschöpfenden „höheren Wesen" sind, sondern in der
Hauptsache „auf verklärten physischen Eigenschaften ruhen'"
(Goethe, Dichtimg und Wahrheit XV), so wurde sie allerdings un-
sere Auffassung der Religion, wenigstens ihre AUgemeingültigkeit
widerlegen. In der Tat ist diese Lehre nur ein kleines populäres
Stück der Gesamtreligion, noch dazu in exotischer Gestalt, auf der
Grenze von Sage und Religion stehend.
ao*
3o7
S 3. Wesen der Religion — seine Zergliederung
Das auf dem VoUkonunenheitsbedürfnis beruhende Sein des Men-
schen ist dem Charakter seiner Betätigung nach:
I. Projektiv, — Ausfluß z. T. des Vollständigkeits-, z. T. des
Harmoniebedürfnisses.
IL Reflexiv, — Ausfluß des Harmoniebedürfnisses.
III. Aktiv, — Ausfluß des Harmoniebedürfnisses.
S 4* Das projektive Element der Religion
A. Das projektive Element des religiösen Bewußtseins ist
a) teils intellektuell — spekulatives, konstruktives, kontemplatives
Denken und Vorstellen, und zwar nicht nur metaphysisches, auf
das der Erfahrung grundsätzlich Unzugängliche, sondern auch auf
das noch nicht Erfahrene, wissenschaftlich noch nicht Ergrün-
dete bezüglich als Antizipation der Wissenschaft, als ihr Platz-
halter und Vorläufer.
Ausfluß des Vollständigkeitsbedürfnisses.
b) teils ästhetisches Empfinden,
c) teils postulatorisches Wollen.
Ausfluß des Harmoniebedürfnisses.
b) und c) sind psychisch-komplementären Charakters (ästhetisch-
postulatorische Komplementärerscheinungen) .
a) dient der Befriedigung des intellektuellen Bedürfnisses; sein
Ziel ist das „Wahre", es produziert die Vorstellung der religiösen
Wahnwelt als Vorwegnahme von Erfahrungswissen.
b) dient dem ästhetischen Bedürfnis; sein Ziel ist das „Schöne";
es produziert die Vorstellung der religiösen Wunschwelt.
c) dient dem moralischen und praktischen Bedürfnis; sein Ziel
ist das „Gute", d. h. das ideal Nützliche und praktisch Erstrebte;
es produziert die Vorstellung der religiösen Werdewelt.
a) der Wissenschaft verwandt, dem intellektuellen Vollständig-
keitsbedürfnis entfließend, umfaßt nicht nur das Transzendente,
sondern auch das der Erfahrung in thesi Zugängliche, solange es
praktisch noch nicht erfahren ist. Die religiöse Vorstellung ist dann
ein erster Versuch spekulativer Kombination und Erklärung, imter
3o8
phantastischer Ergänzung des Erfahrungsmaterials; auch dies gilt
analog von b) und c).
Das Große an dieser Seite der Religion ist ihre Tendenz zur Kon-
struktion eines vollständigen^ abgeschlossenen und einheitlichen
Weltbildes^ das sich mit den Problemen von Raum, Zeit und Kau-
salität — wenn auch nur mit Worten — abzufinden, dem Denk-
und Yorstellungstrieb des Menschen ein — wenn auch nur wahn-
haftes — Endziel von oft naiver Sinnlosigkeit zu setzen sucht. In-
sofern ist Religion Weltanschauung, ein Gegenstück zur metaphy-
sischen Weltanschauungs„wissenschaft''. Sodann: daß sie Gedanken
und Gefühle auf das Transzendente, die metaphysischen Probleme,
auf die Relativität aller Erfahrung und alles sinnlich faßbaren Seins
hinlenkt. „Doch liegt in ihr so viel verlorenes Gift" — nicht bloß
die Bequemlichkeit des Mißbrauchs durch andere Personen, son-
dern auch in sich selbst: Quietismus, Abstumpfung, Abschwächung
und Hemmung des Strebens nach Erweiterung der exakten Erfah-
rung, Irreführung der Erfahrungsforschung; Übertragung der dem
Transzendenten gegenüber gebotenen Sinnesart auf das Diesseitige
aller Art, inneres und äußeres. Und auch von diesem Gift gilt, daß
es von der Arznei kaum zu scheiden ist.
b) — der Kunst verwandt, dem Harmoniebedürfnis entfließend —
schafft Komplementärvorstellungen und Ergänzungsempfindungen,
dem Elementarsten des organischen Wesens entsprossen, zum Schutze
in den Wirrnissen des Lebens, zu seiner Verschönerung (z. B. die
griechischen Götter). Es sucht aus eigener Schöpfungskraft der
Phantasie und des Gefühls das gegenwärtige Leben erträglich, ja
glücklich zu machen, es sucht über die Misere hinwegzuhelfen, in-
dem es wenigstens in der Vorstellung und Empfindung den Zustand
der Welt dem ästhetischen Bedürfnis des organischen Wesens an-
zupassen strebt. Es enthält auch ein postulatorisches Element, aber
ein sich sogleich selbst befriedigendes. Es gestaltet das, was ist,
in Vorstellung und Empfindung so, wie es sein sollte. Es fordert
nicht für die Zukunft, sondern möchte subjektiv bereits die Er-
füllung der idealen Wünsche für die Gegenwart bieten.
c) — der Ethik verwandt, ein Moralisieren und Normensetzen
über und gegen die Welt, gegen das andere, Nichtmenschliche
(gleich b) dem Harmoniebedürfnis entfließend) — schafft postu-
3o9
latorische Komplemeotärvorstellungen von Möglichkeit, Kräften
usw., durch die die als solche erkannten und empfundenen Mängel
des Lebens durch Gegenwirkung ausgeglichen werden: Unsterblich-
keit, Vergeltung im Jenseits, Jüngstes Gericht.
In diesem Teil des religiösen Wesens liegt ein dialektisch-anta-
gonistisches Prinzip. Es stellt der Erfahrungswelt die religiöse Welt
als Gegensatz gegenüber. Die ästhetisch und postulatorisch geschaf-
fene Idealwelt der Religion bildet eine Komplementärwelt zur Er-
fahrungswelt, nicht, wie oft gemeint, ein Abbild, ein Spiegelbild von
ihr, sondern einen Gegensatz zu ihr, wenn auch unvermeidlich in
Formen gekleidet, die der Erfahrung entlehnt sind.
Auch in ihrem ästhetischen und postulatoiischen TeUe ist Religion
Weltanschauung und ein großer, elementarer bestinmiter Versuch,
sich auch des Transzendenten psychisch-geistig in einer dem mensch-
lichen Wesen entsprechenden Weise zu bemächtigen.
Im Wesen des religiösen „Trostes" zeigt sich der Komplem^itär-
charakter des religiösen Empfindens und WoUens am elementarsten.
Auch, ja vorzüglich in größter Not und Quälerei wird krampfhaft
unterstellt, daß Gott gnädig und hilfreich sei und helfen werde und
wird ihm für alle Fälle unser Dank gesagt. Es handelt sich hier um
eine in besondere (religiöse) Form gebrachte Zwangsvorstellung,
die den Rest von Optimismus und Hoffnung ausdrückt, ohne die ein
Weiterleben nicht möglich wäre, um eine Vorstellung, die jeder
nicht zur Selbstvernichtung schreitende Mensch in irgendeiner Form
hegt und die allein das gegenwärtige Dasein und die Aussicht auf
die Zukunft erträglich macht.
Ganz allgemein füllt religiöses Empfinden und Wollen die Glücks-
mängel und Lücken des Schicksals aus; ihre Funktion ist phanta-
stische Glücksergänzung und Schicksalsreparatur.
B. Die gesellschaftlichen Gestaltungen des projektiven Elements
der Religion.
Die Religion ist vorläufige Vertretung von Wissenschaft, ihre
Vorwegnahme in bezug auf solche Gegenstände, von denen ein zur
wissenschaftlichen Erfassung ausreichendes Wissen noch nicht vor-
liegt, aber eine zweckmäßige Auffassung durch das praktisch- oder
geistig-psychische Bedürfnis geboten ist. Vor den Anfängen der
Wissenschaft trug das gesamte Denken und Vorstellen religiösen
3io
Charakter, — im Sinne der anderwärts erörterten spekulativ-kon-
templativen Seiten der Religion. Alle Vorstellungen und Auffas-
sungen von den äußeren Naturdingen und Kräften und Vorgängen
und von dem eigenen inneren Wesen und seinen Prozessen waren
religiös. Allmählich sedimentiert sich dieses Chaos, dieser Urwelt-
nebel. Die wissenschaftliche Betrachtungs- und Auffassungsweise
verdrängt die religiöse und schüttelt dann auch die religiöse Ein-
kleidung ab. Auch innerhalb jedes einzelnen Denk- und Auffas-
sungsgebiets geschieht diese Differenzierung und Loslösung nur all-
mählich; religiöse und wissenschaftliche Betrachtungsweise be-
stehen gemischt n^neinander auch bis heute noch auf wohl allen
Gebieten; rein wissenschaftliche Betrachtung ist auch heute noch
kaum irgendwo möglich. Schon daraus erklärt sich, daß bis auf
hohe Kulturstufen nicht nur Naturerkenntnis im allgemeinen: Ge-
sundheitslehre usw. Kapitel der Religion, ihre Praxis angewandte
Religion war und zum Teil noch ist, sondern auch die einzelnen
menschlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen und Erschei-
nungen, Kunst, Staat, Beziehung der Geschlechter und Generationen,
Tod und Leben, Moral, Arbeit, Eigentum und überhaupt alles Recht,
die Beziehungen zu anderen Gesellschaften (Krieg wie Frieden)
usw. religiös betrachtet werden.
Der ästhetische Charakter der Religion ist ein weiterer Grund
für die religiöse Betonung alles Wissens, Vorstellens, WoUens, Han-
delns, aller Einrichtungen und Vorgänge, die mit Zeremonien ge-
schmückt und in anderer Weise verschönt und symbolisch an das
Obernatürliche angeknüpft werden.
Das tritt naturgemäß bei der Kunst am stärksten hervor, die sich
in engster Verschmelzung mit der Religion entwickelt, nur mühsam
sich von ihr zur Selbständigkeit lösend.
Die postulatorische Seite der Religion kommt ihrem ins außer-
menschliche wirkenden Wesen nach hier nicht in Betracht.
S5. Das reflexive Element der Religion
A. Reflexiv ist die Religion, sofern sie das Verhalten des Menschen
selbst zu regulieren sucht, indem sie die regulativen Grundsätze in
ein höheres Wesen verlegt und von dort auf die Menschen zurück-
3ii
wirken läßt; sofern sie ins Transzendente projizierte und von da
flektierte Ethik ist. Auch diese Seite der Religion entfließt dem
Harmoniebedürfnis. Sie ist postulatorisch, und zwar prinzipal dem
Zweck nach in bezug auf den Menschen; nur sekundär als Mittel
in bezug auf das höhere Wesen, auf den Menschenpflichten setzen-
den, Menschengesetz gebenden Gott. Ein Moralisieren und Normen-
setzen des Menschen für sich selbst, für den Menschen auf dem Um-
weg über das Transzendente, in einer Form, in der sich die elemen-
tare Ernstlichkeit und Kraft des auf die — ethischen und recht-
lichen — Normen drängenden Bedürfnisses ausdrückt, also gleich-
falls elementaren Charakters wie die andern Elemente der Religion.
Das Wesen der Religion ist hier Sublimierung, Betonung, Ver-
stärkung des menschlichen Willens durch Heiligung; Verklärung,
Stabilisierung des menschlichen Willens durch Verankerung im Fe-
steren, Dauernden, Unveränderlichen oder minder Veränderlichen.
Das Gebiet der Normensetzung ist einerseits die rechtliche Gestal-
tung der Gesellschaft, andererseits die Moral.
B. Die gesellschaftlichen Gestaltungen des reflexiven Elementes
der Religion.
I. Die menschliche normensetzende Eigenschaft der Religion —
ihre normgebende Aspiration — wirkt naturgemäß am intensivsten
auf gesellschaftliche Einrichtungen und Vorgänge: die Wirkung
ist neben der Moralsatzung der Zweck dieser Eigenschaft. Damit
diese Wirkung geübt werde, projizieren die Menschen ihren normen-
setzenden Willen ins Jenseits, um ihn von dort reflektiert in reli-
giöser Verklärung und Heiligung zurückzuempfangen.
Dies gilt von Familie, Staat und Recht, von den Beziehungen zu
anderen Gesellschaften usw. Diese Wirkung ist zuweilen so über-
ragend, daß sie der Religion und dem Staat das entscheidende Ge-
präge gibt. Vgl. die Hierarchien. Treffend nennt Herder die Re-
ligion der Römer eine Staats- und Kriegsreligion. Die religiöse Ver-
stärkung und Stabilisierung der gesellschaftlichen Einrichtungen
dient den Interessen derjenigen Gesellschaftsteile, die aus einem
gegebenen Zustand der Gesellschaft Vorteile ziehen, d. h. in diesem
Zustande die Gesellschaft beherrschen; d. h. den Interessen der je-
weiligen Machthaber. Dies erklärt, warum jene Wirkung der Re-
ligion besonders stark und lang andauert bis in die heutige Zeit.
3ia
Die Religion ist offiziell in den meisten modernen Staaten heute
noch nicht vom Gebiet der Gesellschaftseinrichtungen verdrängt;
im Gebiet der Moral ist ihr Einflußbereich noch umfassender.
2. Die Religion als Mittel zu politischen und sozialen Zwecken.
Wie die Religion zu allen Zwecken dienen, ge- und mißbraucht
werden kann, so auch — erleichtert durch ihre normgebende Aspi-
ration — zu politischen und sozialen Zwecken. Sei es zur Förderung,
sei es zur Hemmung der Entwicklung, sei es zur Unterstützung,
Niederhaltung, sei es zur Unterdrückung, Ausbeutung, Hemmung,
Schwächung, Bekämpfung von Gesellschaftsmitgliedern. Von einer
gewissen Kulturstufe an kommt sie nur noch als Unterdrückungs-,
als Herrschaftsmittel in Betracht, wenigstens soweit sie gesell-
schaftliche Erscheinung ist.
Sie wirkt entweder durch Gestaltung ihrer Lehre, d. h. der Gottes-
gebote !I oder durch ihr organisatorisches Substrat (Priesterkaste,
Kirche; vgl. das patrizische Privileg auf die religiösen Würden in
Rom) oder, was die Regel, durch beides.
Und in der Lehre wiederum entweder durch Beeinflussung der
allgemeinen Gesinnungen, Fähigkeiten, Willens- und Tatkraft, Mo-
ral, Denkweise, Einsicht, Auffassungsweise, Urteilsfähigkeit, Emp-
findungen, Phantasie, so zwar, daß die betreffenden Gesellschafts-
mitglieder für den verfolgten Zweck geistig-psychisch möglichst ge-
eignet werden; oder durch Aus- und Einprägung einer speziellen
Vorstellungs- und Auffassungsweise, die auf eine Apologie, eine
Glorifizierung des Staats, der Regierung, der sozialen Verhältnisse,
kurz der bestehenden Ordnung, d. h. der eigenen Machstellung hin-
ausläuft. In höchster Vollendung findet sich diese Ausnutzung der
Religion in den Hierarchien vom Lamaismus bis zum Papsttiun,
aber kaum minder in den evangelischen Staatskirchen.
Die religiösen Formen sind bei den Hierarchien nicht nur Werk-
zeuge, sondern auch Wirkung der gegebenen Gesellschaftsordnung,
deren erlebtes und geschautes Bild es erleichtert, der Religion —
insoweit Spiegel der Wirklichkeit — diese Form zu geben. Diese
Ausnutzung kann bösgläubig oder naiv-gutgläubig betrieben wer-
den. Die Religionsstifter können „Betrüger" — vrie Voltaire und
die Enzyklopädisten sie nannten — gewesen sein; die Religionen
3i3
aber sind, gesellschaftlich betrachtet, kein Betrug, solange und so-
weit sie die Entwicklung fördern und gesellschaftlich oder mensch-
lich-individuell notwendig oder doch nicht schädlich sind.
S 6. Das aktive Element der Religion
Die Religion ist auch ein mehr oder weniger verzweifelter Versuch
des Menschen, auf das Transzendente, seine Gestaltung und sein
Verhältnis zum vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Men-
schen zu seinem Vorteil durch Opfer, Gebet, bestimmte Handlungen
oder Unterlassungen einzuwirken. Auch dieses Element entfließt
dem Harmoniebedürfnis.
Voraussetzung für die Annahme solcher Einwirkungsmöglich-
keit ist die Vorstellung eines dafür geeigneten Zustandes des Trans-
zendenten, eines der erstrebten Einwirkung zugänglichen höheren
Wesens. Dafür zu sorgen, daß die Vorstellung diesem Zwecke
entspreche, das ist die Funktion, die das aktive Moment bei dem
von der Gesamtheit des religiösen Seins vollzogenen Akte der Schöp-
fung der Vorstellung verrichtet. Der Wunsch versteigt sich bis zu
der Möglichkeit (Fähigkeit), die Hilfe der Götter herbei zwingen
zu können.
Die höheren Wesen werden durch eine rabulistische Phantastik
in dienende Wesen verwandelt; denn das elementare Bedürfnis, das
sie schuf, ist laufend am Werke, um sie stets so zu gestalten, daß
sie ihm, dem Bedürfnis, wirklich genügen; der Mensch übt seine
Schöpf erstellung gegenüber den höheren Wesen dauernd rücksichts-
los aus. So sehen wir den teils naiven, teils ekstatischen Wahn der
Geisterbeschwörung, der Verträge und Bünde zwischen Mensch und
Geistern und Göttern selbst noch in den höchsten Formen der Re-
ligionen, im Judentum, im Christentum.
In der Vorstellung vom „Allierten im Himmel" drückt sich ein
ganz elementares Bedürfnis in grotesker Weise aus.
S 7. Religion und Erfahrungswelt
Die Religion ist nach Inhalt und Form in der Tendenz prinzipiell
bestimmt durch ihre Funktion, ihren Zweck, die wiederum durch
die elementaren Eigenschaften des Menschen bestimmt sind. Dies
ist das bestinunende, religiös-schöpferische Prinzip.
3i4
Konkretisiert werden Inhalt und Form durch die konkrete Gestalt,
die das elementar-religiöse Bedürfnis und seine Kräfte unter den
konkreten Lebensbedingungen der Menschen anninunt, zu denen
naturlich auch die geistig-psychischen Einflüsse gehören, also die
Religionspropaganda, die jedoch besonders gegenüber den in den
Notsphären gesetzten Bedingungen weit zurücktritt und auf die
Dauer im großen ganzen ohnmächtig ist. So wird die Art und
Weise bestimmt, in der sich jene Tendenz durchsetzt. Dies ist das
bedingende, spezifizierende Moment in der Religionsbildung.
Aus dem elementaren Charakter der Religion folgt Allgemeinheit
und Beständigkeit ihrer Wesensgeltung und die Unabhängigkeit
ihres Wesens von ihrer konkreten Form und Inhalt. In diesem Sinne
trifft zu: Beim Glauben konunt es darauf an, daß man glaubt,
was man glaubt, ist „völlig gleichgültig" (Goethe, Dichtung und
Wahrheit XIV).
Daraus wiederum folgt die elementare Rücksichtslosigkeit des re-
ligiösen Bedürfnisses gegen ihre konkrete Beschaffenheit, wenn sie
seiner Befriedigung im Wege steht.
Das religiöse Bedürfnis ist konkretisiert durch die konkreten
Lebensbedingungen des Menschen, es heischt die Übereinstimmung
der konkreten Beschaffenheit der Religion mit diesen Bedingungen.
Hieraus folgt die hochgradige Variabilität und Wandelbarkeit
der Religion. Jeder Unterschied in den Lebensbedingungen drückt
sich in ihr aus. Jeder Mensch, jeder Kulturtyp, jedes Volk, jedes
Land, jedes Geschlecht hat in der Tat seine eigene Religion.
Jede Veränderung in den Lebensbedingungen verändert auch sie;
jede Stufe, ja jeder Augenblick der Gesellschaftsentwicklung und
im Individuum, jedes Lebensalter, ja jeder Augenblick des Lebens
hat seine besondere Religion.
Nichts paßt sich, trotz oder auch wegen der Unveränderlichkeit
und Kraft seines Wesens, in seiner konkreten Beschaffenheit so
elastisch und plastisch an die Lebensbedingungen an wie die Reli-
gion, gleichviel welchen Bekenntnisses.
Aus dem elementaren Charakter des religiösen Bedürfnisses
folgt nicht, daß dieses Bedürfnis in allen Menschen völlig gleich
sei und also bei gleichen Lebensbedingungen in allen Menschen eine
Religion von gleicher konkreter Beschaffenheit erzeugen werde.
3i5
Vielmehr variieren die Menschen auch in ihren elementaren Anlagen
so allgemein und beträchtlich^ daß darin, neben den Einflüssen der
Umwelt, die entscheidende Ursache der Verschiedenheit der Men-
schen liegt. Hierin liegt eine weitere und zwar eine elementare
Ursache für die Verschiedenheit der Religion bei den verschiedenen
Teilen der Menschheit, Völkern wie Individuen — unabhängig von
den Unterschieden ihrer Lebensbedingungen.
Anhang:
S 8. Was macht die Größe der Bibel aus?
Was erklärt ihre unvergleichliche Wirkung?
Sie schildert wichtigste und größte Schicksale von Völkern und
Individuen; vgl. Jeremias 38, i ff., bes. Jeremias als Antimilitarist
und Kriegsverächter. Vielfach höchst revolutionär! Vgl. auch
Makkabäer.
Die Schilderung ist voll Macht und Beweglichkeit, aller Stim-
mungen und Töne fähig, dem Gegenstand stets vollkommen ange-
paßt, ihn mit künstlerischer Elementarkraft verlebendigend, ver-
gegenständlichend. Sie erhebt die konkreten Schicksale auf die Höhe
des Typischen, des Allgemein-Menschlichen, so daß sie als mög-
liche Schicksale jedes Volkes, jedes Individuums erscheinen. Sie
ist vom Geiste einer relativ-einheitlichen Weltanschauung getragen.
Und diese Weltanschauung ist groß, eine Weltanschauung der Über-
windung. Diese Weltanschauung ist aber nicht nur eine solche
des Dichters, nicht nur ein von außen in das Geschilderte gelegter
Maßstab, sondern in den Schicksalen der Völker und Individuen
selbst verwirklicht, Leben und Tat geworden.
Die Bibel bietet einen Spiegel jeden einzelnen Lebens« eine Fülle
von Beispielen menschlichen Irrens, Fehlens, Wünschens, Hoffens,
Zweifeins, Leidens, Handelns, Oberwindens, vorbildlichen Verhal-
tens in allen erdenklichen äußern und innern Nöten und Anfech-
tungen; eine Fundgrube der Lebensweisheit und Erhebung; keine
abstrakten Regeln (wenigstens treten diese ganz zurück), keine
Moralpaukerei, sondern Anschauungsunterricht an Menschen von
Fleisch und Blut und Lebenskraft und Schwäche. Beispiele aus
strotzender Wirklichkeit in vollendeter Darstellung, bei der auch
3i6
allgemeine Lehren in eindringlicher, proverbial-bildhaf ter Fassung
wie Ströme eines fruchtbaren Regens ohne Ende ausgegossen wer-
den. Sie bietet einen leuchtenden Blütenteppich lyrischer Zartheit,
alle phantastischen Wünsche des Orients, den hynmischen Schwung
entzückter Begeisterung, die dunkle Tiefe prophetischer Verkündi-
gung und ekstatischen Schauens. So ist sie ein poetisches Werk
ohnegleichen — das Buch der Bücher. Wenn sie einst dem re-
ligiösen Mißbrauch entzogen sein wird, wird sie der Menschheit
die Fülle ihrer Herrlichkeit spenden.
2. KAPITEL
KUNST
Si. Wesen undAufgabeder Kunst
A. Ihre drei Komponenten. Die zwei Hauptteile der Ästhetik.
Der Kunst als menschlich - gesellschaftlicher Erscheinung sind
drei Komponenten wesentlich. Zwei menschliche Faktoren: der
Künstler (Kunstschaffende) und der Kunstempfangende, zwischen
denen das Kunstwerk als Medium steht; als Mittel, durch das der
Künstler auf den Empfangenden wirkt; das Kunstwerk, das dem
Künstler als Geschöpf, dem Empfangenden als Schöpfer gegen-
übertritt, ein Verhältnis, in dem der Künstler Schöpfer, der Emp-
fangende Geschöpf ist; das Kunstwerk, die objektivierte, entäußerte,
verselbständigte Schöpfungskraft des Künstlers.
Das Zusammenwirken der beiden menschlichen Faktoren, ge-
nauer: das Wirken des Künstlers auf den Empfangenden durch das
Kunstwerk, wenigstens der Tendenz und Potenz nach, ist wesentlich
für die Kunst, gleichviel ob dies Wirken bewußt oder unbewußt
oder selbst wider Meinung und Willen erfolgt. Der Künstler mag
meinen und wollen, nur für sich selbst zur Befriedigung seines
inneren Schöpfungstriebes ohne jeden äußeren Zweck, ohne jede
Rücksicht auf andere Menschen zu schaffen, sein Inneres zu mani-
festieren, im Kunstwerk nach außen zu projizieren — soweit der
objektive Charakter seiner Leistung dieser Meinung und diesem
Willen entspricht, ist er kein Künstler, sondern ein Genießer eigener
Art. Das Kunstwerk ist das Produkt des Künstlers, das die künstle-
rische Schöpfungskraft auf den Empfangenden übermittelnde In-
3i8
strument; das Medium zwischen Künstler und Empfangendem.
Beide Beziehungen des Kunstwerks, die zum Künstler und wenig-
stens in der Potenz auch die zum Empfangenden, machen das Er-
zeugnis des Künstlers erst zum Kunstwerk. Die Psychologie des
Künstlers und des Empfangenden ist so verschieden, wie die des
Lehrers und des Schülers, des Schöpfers und des Geschöpfs.
Jedes Kunstwerk muß je besonders und getrennt vom Standpunkt
des Künstlers und vom Standpunkt des Empfangenden betrachtet
werden; das sind die zwei Hauptteile der ästhetischen Psychologie:
Die Psychologie des ästhetischen Schaffens (produktive, aktive
Ästhetik), und die Psychologie des ästhetischen Genießens (kon-
sumtive, passive Ästhetik).
B. Wesen der Kunst.
Die Kunst als Kraft, die schaffende Kunst ist — gleich der Re-
ligion — eine Äußerung des elementaren YoUkommenheitsbedürf-
nisses, dieses Ausschnitts des Höherentwicklungstriebes, und zwar
seiner ästhetischen Seite. Sie erstrebt enbiotische Wirkung durch
Erfüllung des ästhetischen Postulats; VoUkonmienheit, Harmonie
im Sinne des Schönen. Wenn Lessing „Vergnügen" als Zweck
der Kunst bezeichnet, so ist das nur ein unklares vieldeutiges Wort
für eben dies.
Sie fordert ästhetische Vollkommenheit von der Wirklichkeit und
sucht diese durch ästhetische Korrektur und Ergänzung der Wirk-
lichkeit herzustellen. Sie fordert folgerichtig und notwendig auch
von sich selbst, von ihrem Werk, ihrem Mittel ästhetische VoU-
konunenheit; aber ihre Hauptaufgabe ist nicht Herstellung voll-
kommener Kunstwerke, sondern Herstellung einer vollkommenen
Welt. Ihre Aufgabe ist nicht Nachbildung oder Spiegelung des
Wirklichen, sondern Gestaltung des Unwirklichen. Die ästhetische
Vollkommenheit wird nicht bloß in der äußeren Form gefordert,
sondern auch im innem Wesen alles Seins.
Die Kunst als Erzeugnis, Wirkung, Schöpfung jener schaffen-
den Kraft ist ein Komplex von Komplementärvorstellungen und
-empfindungen, die dem ästhetischen Vollkommenheitsbedürfnis
dauernd neu entfließen.
Nicht l'art pour Tart: weder das Kunstwerk, noch das künst-
3i9
lerische Schaffen ist Selbstzweck; die Kunst ist gesellschaftliche
Erscheinung nicht nur in ihrer Entstehung, ihren Bestimmgründen
und Bedingungen, sondern auch in ihren Zwecken und Aufgaben.
C. Kunst und Ethik.
Die postulierte ästhetische Vollkommenheit verlangt inunerfort
auch die ethische. Die ethische UnvoUkommenheit wird als Störung
auch der ästhetischen Harmonie, als unschön, das „Gute" als schön
empfunden. Die ethischen Probleme sind nicht bloß — neben zahl-
losem anderen — Stoff, Vorwurf für die Kunst, sondern auch —
neben zahllosem anderen — ästhetische Probleme. Die Kunst er-
strebt auf ihre Weise {luch die Beseitigung der ethischen Unvoll-
kommenheiten, vgl. die Aufgabe der Tragödie, in der sich das
höchste ästhetische mit dem höchsten ethischen Postulate ver-
schmilzt. Sie erstrebt die Aufhebung auch der ethischen Mängel
durch ihre projektive, reflexive und aktive Wirksamkeit in ihrer
spezifisch künstlerischen Art und Weise. Aber auch aller anderen
Disharmonien. Das ästhetische und das ethische Postulat fallen
zimi Teil zusammen — aber das Reich des ästhetischen Postulats
greift weit darüber hinaus. Nicht alles Schöne ist also gut, während
alles Gute auch schön ist.
Das Streben nach Erfüllung des ästhetischen wie des ethischen
Postulats, nach Herstellung der ästhetischen wie der ethischen Har-
monie (Vollkommenheit) ist im Prinzip enbiotisch. Kunst und Ethik
stehen der Tendenz nach dem Entwicklungsschädlichen grundsätz-
lich feindlich gegenüber. Das vom Standpunkt der Höherentwick-
lung Dysbiotische wird nicht nur als schädlich, sondern als mora-
lisch böse und ästhetisch häßlich empfunden und aufgefaßt. Das
ästhetisch Schöne wie das moralisch Gute ist letztlich das — we-
nigstens der Illusion nach — für die Höherentwicklung Nützliche;
nur verschieden betont, von verschiedenen Standpunkten und in
verschiedener Beleuchtung gesehen, nach verschiedenen Kriterien
beurteilt, in verschiedenen psychisch-geistigen Aggregatzuständen
empfunden und aufgefaßt.
D. Aufgabe der Kunst.
Nicht die Wirklichkeit des dargestellten Dinges (Körpers), auch
nicht Farbe, Licht, Raum ist das Thema der Kunst, sondern die
320
Wii .lichkeit des Schaffenden und Empfangenden, ihrer Psychologie.
Nicht Schilderung von Erscheinungen ist ihre Aufgabe, sondern
Einwirkung auf den seelischen Zustand des Empfangenden, dem
der schaffende Künstler als Schöpfer, Gestalter, Erzieher, Erwecker
gegenübersteht. Ihr Ziel ist nicht Einwirkung auf den Intellekt,
sondern Erhebung des Empfangenden in höhere Sphären, und zwar
intellektuell, ästhetisch, moralisch, im Denken, Vorstellen und Füh-*
len, in seinem ganzen inneren Wesen, seine Versetzung in einen an-
deren geistig-psychischen Aggregatzustand. Die äußere Wirklich-
keit, die Zergliederung, Darlegung der Gesetzmäßigkeiten von In-
und Umwelt, überhaupt irgendwelche Darstellung irgendwelcher
Form oder irgendwelcher Erhaltung ist ihm weder Ziel noch wesent-
liches Objekt, und zwar der bildenden Kunst so wenig wie der an-
deren Kunstgattimgen, sondern nur ein Stoff aus vielen; nur ein
Mittel zum Zweck, ein Mittel aus vielen zur psychischen Gesamt-
beeinflussung des Empfangenden.
Zu diesem Zwecke dienen ihr verschiedene Mittel, darunter auch
Schilderung, Darstellung von Erfahrungstatsachen der Um- und
Inwelt, aber auch von Ausgeburten der Phantasie und des Gefühk,
der Wirklichkeit und der Unwirklichkeit. Auch die Einwirkung
auf den Intellekt gehört zu den Methoden der Kunst, aber nur als
eine ihrer vielen Methoden. Das Symbolische, das Phantastische,
auch das sinnlich Elementare, durch die Sinnlichkeit in die Tiefe
der Seele Hineinwirkende wie Größe, Form, Farbe, Licht, Klang,
Rhythmus, Tempo, selbst Geruch und — auf dem Umwege über Asso-
ziationen — Tastsinn und Geschmack; auch dies sind Mittel und
Methoden, durch die die Kunst wirkt, Mittel und Methoden sehr ver-
schiedenen Ranges, sehr verschiedener Kraft und Verbreitung.
Den geistig-psychischen Zustand des Empfangenden insbeson-
dere durch Erweckung einer eigenartigen Resonanz und Reaktion
in bestinunter Art zu beeinflussen, ist ihr Ziel, wobei nicht ausge-
schlossen ist, daß die verschiedenen Kunstgattungen, für die ver-
schiedenen Teile des geistig-psychischen Wesens die speziellen Ein-
flußsphären sind. Die Realität ihres diesbezüglichen Erfolges ist
ihr einziger Realismus. In diesem Erfolg manifestiert sich ihre
grundsätzliche Beziehung zur Wirklichkeit.
Darin, mit welchen Mitteln diese Resonanz und Reaktion erzielt
81 Liebkneoht, Städten 32 1
wird und in welchem Verhältnis diese Mittel zur Wirklichkeit stehen,
nach welchem Verhältnis mit Vorliebe der künstlerische Realismus
banessen zu werden pflegt, bleibt die Kunst grundsätzlich ganz neu-
tral. Einzig die Realität jenes Erfolgs ist ihr wesentlich.
Der psychologische Weg, auf dem die künstlerische Wirkung
erreicht wird, kann gleichfalls sehr verschieden sein. Der W^
der Tragödie ist Erregung von Furcht (für sich selbst) und Mit-
leid (mit den anderen) im Empfangenden, es ist der Weg, der zu
dem besonderen Ziel der Tragödie führt, diese „Leidenschaften"
— die menschlichen Ui^Richtgefühle zu vervoUkonunnen. Dies ist
das besondere psychische Grebiet, auf dem die Tragödie dem Ver-
vollkonminungsbedürf nis reflexiv-praktisch zu dienen sucht. Außer-
dem hat die Tragödie jedoch wie alle Kunstgattungen auch ihre
projektive Seite.
S 2. „Form" und „Formung**
Form ohne Inhalt ist begrifflich unmöglich. Form ist begriff-
lich nur eine Eigenschaft des Inhalts und von diesem nicht löslich,
richtiger: sie ist der Inhalt selbst, nur in einer bestinunten Art,
unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet.
Ist Kunst nur Formung, so ist sie Formung eines Inhalts; denn
Formung ohne Inhalt ist ein Begriff ohne Sinn, Widersinn. Der
Inhalt ist ihr Stoff, seine Formung das Werk der Kunst. Der In-
halt ist unentbehrlich für das Kunstwerk. Zum Wesen der Kunst
aber gehört er nicht; zur Kunst im Stadium der Produktion gehört
nur die Formung und zu ihr im Stadium der Vollendung die Form.
So wie das Wesen des Organischen in einer besonderen Struktur
der Materie liegt, ohne daß darum aber Organisches ohne Materie
möglich wäre. Wie jedoch andererseits nicht jede Materie orga-
nischer Gestaltung fähig und nicht jede fähige gleich gut geeignet,
so auch nicht jeder Stoff gleich geeignet für die künstlerische
Formung. Lessing, Laokoon II fordert mit Nachdruck, daß auch
der Gegenstand, nicht bloß die Form „schön" sei.
Es ist jedoch falsch, das Wesen der Kunst nur in der Formung
zu erblicken. Die Frage: Kann auch der Inhalt, der Stoff selbst,
abgesehen von seiner künstlerischen Formung, komplementär im
Sinne des ästhetischen Postulats wirken? muß bejaht werden. Vgl.
3:22
gewisse Shakespeare-Dramen mangelhafter Ausführung (z. B. Pe-
rikles), wo das Stoffliche z. T. noch überwiegt — welchen Eindruck
macht allein die Fabel I Dem Stoff liegt die Form eben latent in
sich; er ist auch und in der Potenz Form; und wirkt auch durch
diese latente ,^Form".
Das Wesen der ästhetischen Empfindung ist ein geistig-psychi-
scher Zustand eigenartiger Getragenheit, Erhobenheit, Ekstatisie-
rung, Harmonisierung, ist das Gefühl der Befriedigung des Voll-
kommenheitsbedürfnisses in der Richtung des Schönen. Dieser Zu-
stand kann auch durch das Stoffliche des Kunstwerkes wenigstens
mitherbeigeführt werden, der Stoff selbst kann Assoziationen, Stim-
mungen, Vorstellungen, Gefühle, Erregung aller Art erwecken und
auslösen, die für sich selbst, ganz abgesehen vom Eindruck der
künstlerischen Formung, also vom geistig-psychischen Gesamteffekt
eine ästhetische Harmonisierung ergeben.
Überdies kann man das Stoffliche Form nennen — es besitzt eine
innere Formpotenz, die man als seinen Wirkungsgrad konstruieren
muß.
Die Erfindung eines solchen Stoffes ist künstlerische Schöpfung,
nicht minder wie seihe Formung. Freilich bedarf es solcher Er-
findung nicht zum Kunstwerk. Der Stoff kann gegeben sein. Die
künstlerische Formkraft gestaltet ihn und schafft ihn um zu einem
Neuen, Niedagewesenen. Auch das ist künstlerische Erfindung, nur
anderer Art. So kann das Kunstwerk ohne Erfindung jener Art ent-
stehen und bestehen. Aber es kann nicht ohne Formung entstehen
und bestehen; denn das ästhetische Postulat, das ästhetische Voll-
kommenheit in allen Beziehungen fordert, kann von diesem An-
spruch gegenüber der Form nicht ablassen.
S 3. Eigenart der künstlerischen Wirklichkeits-
gestaltung
Wenn die Kunst einen Ausschnitt der Wirklichkeit zum Vorwurf
wählt, so hat sie ihn nicht objektiv wiederzugeben, nicht photogra-
phisch abzubilden. Schon weil es sich nur um einen Ausschnitt
aus der Gesamtwirklichkeit handelt, in dem Fäden aus allen Zeiten
und allen Welten fließen, der weder räumlich, noch zeitlich, noch
kausal abgeschlossen ist, sondern ins Grenzenlose weist.
»•
333
Es gibt nur eine abgeschlossene Wirklichkeit: das All, und auch
dieses ist nicht Wirklichkeit, sondern metaphysischer Begriff, trans>
zendente Vorstellung. Die Kunst aber als Äußerung des YoUkom-
menheitsbedürfnisses fordert Geschlossenheit, Ganzheit auch von
ihrem Werk. So muß sie alle von außen in den darzustellenden
Ausschnitt hineinreichenden Fäden, die nur unwesentlich, zufällig
erscheinen, ausscheiden. Diese Fäden sind es aber auch, die die
Elemente des Wirklichkeitsausschnittes zusammenhalten; bei ihrer
Beseitigung fällt alles auseinander, wenn nicht ein neues Band, ein '
neuer Zusammenhalt eingefügt wird. Auch ein so präparierter,
schon völlig veränderter Wirklichkeitstorso würde den ästhetischen
Anforderungen, dem Postulat des Schönen, natürlich keineswegs
genügen.
Aber abgesehen von diesen Veränderungen der objektiven Wirk-
lichkeit, die aus der Notwendigkeit der Herauslösung des Wirklich-
keitsausschnittes aus dem Kausalzusammenhang des Universums
folgen, ergeben sich aus dem Wesen der Kunst Notwendigkeiten
zu grundsätzlicher Umgestaltung der Wirklichkeit. Gerade die Ent-
fernung von der Wirklichkeit, die Erhebung über sie, ihre Vertie-
fung, Steigerung, Intensierung, ihre Konzentration z. B. auf einzelne
spezielle psychische Erscheinungen, ihre Symbolisierung usw., kurz:
gerade das Entwirklichungswerk der Kunst verleiht ihr die Macht,
den Menschen ins Reich der höchsten Leidenschaften, in die Welt
der kühnsten Phantasie, in die Sphäre des Wahren, Guten und
Schönen zu tragen, zu zwingen; gerade in ihrer Suggestiv- und Ek-
statisierungskraf t, die auf den Empfangenden höchst real wirkt, ja,
bis zu einer gewissen Grenze sein Inneres um so realer zu gestalten
vermag, je irrealer die Darstellung des Kunstwerkes ist, liegt die
Größe und Bedeutung der Kunst und ihr einziger Maßstab.
S 4. Das Tragikomische
Die Extreme des Tragischen und des Komischen vereinigen sich
in ihrem Scheitelpunkt. Beide haben in ihrer reinsten Form das
Allgemein-Menschliche zum Vorwurf. Beide existieren nur in der
Abstraktion von der verworrenen, widerspruchsvollen Mannigfaltig-
keit und den zahl- und endlosen Beziehungen der Wirklichkeit, nur
mit Hilfe der „Absonderung", von der Lessing (Hamb. Dram. 70)
3a4
redet. In nicht reduziertem, nicht vereinfachtem empirischem Sein
offenbart sich allenthalben in Symptomen und Ansätzen das Un-
endliche, die Totalität des Alls, d. h. eine Tatsache, der gegenüber
die einzelnen Menschen stäubchenhafte Geringfügigkeiten sind.
In diesem Zusammenhang gesehen, am Gang des ungeheuren
kosmischen Geschehens gemessen, auf den Hintergrund des Uni-
versums projiziert, erscheinen die ernstesten Menschenschicksale,
die größten Menschenkräfte und -Taten, die bei Produktion der
Wirklichkeit als tragisch empfunden werden, tragisch und komisch
zugleich — tragikomisch. Tragisch vom Standpunkt des Menschen,
komisch sub specie universi infolge des grellen Kontrastes zv^ischen
dem Menschen mit seinen Aspirationen und Empfindungen und dem
All mit seiner Gleichgültigkeit und alles zermalmenden Macht. Wo-
bei nur die Frage ist, ob die Riesengröße des Gegensatzes bei Vielen
dieser Wirkung im Wege steht. Z. B.: die objektive Wahrheit ist
das objektiv Tragikomische. Ist sie nicht völlig gleichgültig? NeinI
Zur objektiven Wahrheit gehören auch alle menschlichen Emp-
findungen. Und deren Mischung mit dem Empfindungslosen ergibt
das objektiv Tragikomische.
Das subjektiv Tragikomische, die intellektuell -sentimental -ge-
mischte, zugleich objektive und subjektive alles verstehende, alles
verzeihende Betrachtungsweise, bei der geistige Beurteilung und
Auffassung, yne seelische Stimmung tragikomisch ist, stellt die
höchste Stufe der Objektivität dar, die dem Menschen zugänglich
ist. Es bildet den tiefsten Grundton des „Humors", ist der Ironie
verwandt, berührt sich in der ruhigen Unbeirrtheit mit der Apathie
und Ataraxie, ist aber von der ewigen, kühlen, teilnahmslosen Un-
bewegtheit, die man dem griechischen Zeus zuschrieb, durch eine
Kluft getrennt.
Dieses große Tragikomische künstlerisch zu gestalten, ist eine
kaum lösliche Aufgabe, weil die vollendete Darstellung des kos-
mischen Hintergrundes, der kontrastierenden Unendlichkeit über
menschliches Vermögen geht. Den Menschen inmitten einer wirren,
unreduzierten Buntheit und widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit
von Dingen und Ereignissen zu zeichnen, ist ein Notbehelf, um
eine resigniert überlegene Behandlung des Menschen und seiner
Schicksale zu erleichtern. Cervantes' Leistung ist außerordentlich.
325
Dtirch viele Shakespeareschen Dramen geht ein Zug des Tragi-
komischen, von Byron und Thackeray, Le Sage zu schweigen.
Das Tragikomische ist in gewissem Sinne die höchste Form des
Tragischen und zugleich des Komischen und die höhere Einheit der
beiden Gegensätze. In ihm kommt prinzipiell ein intellektuell über-
legener Standpunkt und eine erhabenere Gemütsstinmiung und see-
lische Haltimg zum Ausdruck als im Tragischen. Aber eben da-
durch versagt sie sich die stärksten Wirkungen, die das rein Tra-
gische gerade dadurch übt, daß es sich auf den Boden des f risch^a,
blutwarmen, normal-menschlichen Lebens, auf einen entschlossenen
anthropozentrischen Standpunkt stellt und die elementaren Re-
gungen des Mitleids und der Furcht, der Ur-Richtgefühle unver-
mischt für seine Zwecke nutzt. Das Tragische fördert innere und
äußere Aktivität — in der Richtimg des Vollkommenheitsbedürf-
nisses. Das Tragikomische wirkt minder intensiv und neigt eher
zu einer Förderung der Passivität, wenn es auch in seiner reinen
Form alles eher als weichlich-empfindsam, mit weiblicher Emp-
findsamkeit ganz und gar nichts gemein hat.
Das Tragikomische k la Don Quichotte mag in mancher Hinsicht
als die höchste Kunstgattung erscheinen, sofern sie sich am weitesten
über die menschliche Schwäche erhebt. Aber eben darin liegt seine
künstlerische Schwäche, sofern die Stärke der Kunst zum beträcht-
lichen Teil gerade in ihrer psychologisch vertieften und begründeten
engen Anschmiegung an die moralische Eigenart, das Bedürfnis
nach reiner Furcht und reinem Mitleid besteht und sofern die Auf-
gabe der Kunst in der Beeinflussung der Kunstempfangenden im
Sinne des VoUkonunenheitsbedürfnisses besteht, und diese Beein-
flussung weit erfolgreicher durch das rein Tragische als durch das
Tragikomische geschieht — schon darum, weil des großen Tragi-
komischen nur wenige Menschen fähig sind und keineswegs die
lebenskräftigsten.
S 5. Das Tragische und das Komische
In ihren höchsten Steigerungen berühren sich diese Extreme auch,
sofern sie die gleichen Themen, die gleichen Objekte der Gestaltung
haben: die stärksten menschlichen Eigenschaften und Leidenschaf-
ten. Von der Verschiedenheit der Kombination, der Umstände, des
326
Zusammenhanges der Dinge» der Beleuchtung, in die das gleiche
Objekt gesetzt wird, hängt es ab, ob es tragisch oder lächerlich
wirkt.
Das Komische ist nicht in den besonderen Eigenschaften dieses
oder jenes Individuums, dieser oder jener Menschensorte, sondern
in den allen Menschen wesentlichen Eigenschaften enthalten; und
zwar am vollkommensten und konzentriertesten in den Eigenschaft
ten, die den tiefsten Grund des Allgemein-Menschlichen bilden, die
zugleich die größten Eigenschaften des Menschen sind — fähig,
auch die stärksten tragischen Wirkungen zu erzeugen.
Die Aufgabe der Komödie und überhaupt des Komischen in der
Kunst ist nach der reflexiv-praktischen — aktiven — Seite: Aus-
bildung der Fähigkeit, das Lächerliche zu erkennen und sich von
ihm zu befreien, indem man sich darüber erhebt, Macht und Herr-
schaft darüber gewinnt. Das göttliche, heilige Lachen ist der Aus-
druck dieser Erhebung.
$6. Drama und Roman
Zu Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre V, 7 sei bemerkt:
Das Drama stellt die Handlung unmittelbar sinnlich dar, läßt
sie sich vor unseren Sinnen leibhaftig abspielen, der Roman (Prosa-
Epos) schildert sie nur. Das Blut der Aktivität pulsiert im Drama
schon darum lebendiger als im Roman.
Der Roman von der Art, die Goethe meint, hat zum Gegenstand
ein Stück des Gewebes der menschlichen Begebenheiten in ihrem
Flusse, in ihrem Entstehen,* Verknüpfen, Lösen, Vergehen. Der
Mensch ydrd in Zusanmienhang mit der Umwelt geschildert, han-
delnd und leidend, er ist Objekt wie seine Umwelt und die Begeben-
heiten. Die Bedingungen seines Entstehens, Seins, Handelns, Lei-
dens, Vergehens sind ebenso Objekte der Schilderung, v^e das Sein,
Handeln, Leiden selbst. So tritt die Bedingtheit seines Wesens und
Verhaltens scharf zutage, ja ihre Klarlegung ist eine Hauptaufgabe
des Dichters. So konunt es, daß der Romanheld minder aktiv er-
scheint; seine schicksalsmäßige Unselbständigkeit ist enthüllt, selbst
wenn er sich noch so aktiv-selbständig geriert.
Anders im Drama, in dessen Worten alles auf dem subjektiven
327
Standpunkt steht, von ihm aus sieht und gesehen wird, die Umwelt
und die äußeren Begebenheiten als fremd und die Handlungen als
eigene Taten von den Personen subjektiv .erfaßt und von den Han- '
delnden selbst uns in ihrem Lichte geschildert und auch körperlich
gezeigt werden. Hier ist Vorwurf der Darstellung: nicht Abhängig-
keit, Bedingtheit des Menschen von der Umwelt, sondern Kampf mit
ihr, wie er vom Menschen geführt und ^npfunden wird. Die tra-
gische Schuld liegt im Versuch, sich gegen die notwendigen Be-
dingungen des menschlichen Seins einseitig und eigenwillig durch-
zusetzen.
Die Eigenart des Dramas ist die Kombination einer unmittelbaren
Objektivität in der sinnlichen Vorführung der Handlung und einer
unmittelbaren unbedingten Subjektivität im V^orte, in der Sprache.
Anders ausgedrückt: In den Worten des Dramas wird zu allen
Dingen und Geschehnissen aus der Seele der einzelnen Personen
heraus, von ihrem subjektiven Standpunkt aus Stellung genommen,
die Dinge und Geschehnisse werden in diesem subjektiven Spiegel
gezeigt. So erscheint die Subjektivität der einzelnen Menschen als
Zentrum der Weltbetrachtung. Und nach der Mentalität, Aktivität
und den Aspirationen der Personen richtet sich, wie ihre Außenwelt
auch dem Hörer oder Leser erscheint — ob für sie oder wider sie
oder neutral. Das Drama zeigt alles subjektiv, parteiisch empfun-
den und aufgefaßt: das Innere der Personen wie ihre Umwelt. Im
Roman wird auch das Innere der Personen von außen, objektiv be-
trachtet, im Drama von innen heraus. Im Roman die Welt objektiv
und von dort aus und in ihrem Zusammenhang die Menschen als
Objekte auf gleicher Stufe, in gleichem Brechungswinkel wie alle
andern Dinge und Geschehnisse.
Es gibt aber auch andere Arten des Prosa-Epos, in denen alles
vom prinzipiell anderen Standpunkt aus gesehen ist: aus der Seele
des Helden selbst heraus. Vom älteren Ich-Roman bis ziun moder-
nen Expressionismus zeigen sich sehr verschiedene Grade der Kon-
sequenz und Intensität in Durchführung dieses subjektivistischen
Standpunkts. Für die Frage der Aktivität der Personen wird da-
durch im Ergebnis nicht viel geändert; auch die subjektive Dar-
stellungsweise des Epos schildert In- und Umwelt in ihrer endlosen
Verknüpfung und Bedingtheit, ja läßt die Unfreiheit des mensch-
3a8
liehen Handelns infolge der energischen Hervorhebung und Be-
tonung der psychisch-geistigen Zusammenhänge oft noch deutlicher
hervortreten als die objektive.
Der Dichter kann offen als Schilderer auftreten — in der Er-
Form, oder er kann den Handelnden (Helden) als Schilderer auf-
treten lassen — in der Ich-Form. Und die Handlung wird entweder
in ihrer unmittelbaren Gegenwärtigkeit dargestellt: ein unmittelbar
gegenwärtiges Geschehen, dem der Kunstempfänger beiwohnt; oder
als ein vergangenes Geschehen, von dem als von etwas Vergangenem
nachträglich berichtet wird. Die Er-Form ist in ihrem Wesen nach-
träglicher Bericht vergangenen Geschehens. Auch in der Ich-Form
ist diese Darstellungsweise möglich: der Handelnde selbst kann
nachträglich über eigene vergangene Handlungen berichten. Sofern
die Ich-Form nur dazu dient, die darin liegenden technisch-virtuosen
Möglichkeiten auszunutzen, unterscheidet sie sich prinzipiell kaum
von der Er-Form. Im konsequent durchgeführten expressionisti-
schen Epos aber — das im Wesen stets Ich-Form ist, auch wenn
das „Ich" „Er" genannt wird — kann auch eigenes vergangenes
Handeln des sich selbst schildernden „Helden" nur im subjektiven
Eindruck wiedergegeben werden, der im Helden zurückgeblieben ist
und der nur selten Einzelheiten der äußeren Vorgänge umfaßt, meist
nur in einer das Gegenständliche daher höchstens verschwommen
spiegelnden summarischen Stimmung besteht. Will die subjektive
Darstellungsform ihre Eigenart rechtfertigen, so kann sie dies nur
durch Ausnutzung der besonderen Möglichkeiten, die sie bietet. Die
Autorität ihrer Schilderung ist der Held selbst. Die Besonderheit
des Helden ist seine unmittelbare Wissenschaft von sich selbst,
von den psychisch-geistigen Vorgängen in seinem Innern, während
sein äußeres Verhalten, sein Handeln auch andern wahrnehmbar
ist. So drängt die subjektive Darstellungsform an sich zur Bevor-
zugung der Schilderung psychisch-geistiger Vorgänge, nicht äußeren
Handelns. Und diese Schilderung wird mit innerer Notwendigkeit
eine zergliedernde, das Handeln in seiner inneren Verkettung und
Gebundenheit erweisende. Sie läßt also zur Darstellung des Han-
delns an sich wenig Raum und, wo sie ihn läßt, zerstört sie die Illu-
sion der Willensfreiheit, charakterisiert selbst den äußerlich han-
delnden Helden als passiv. Die Tendenz determinierender Schilde-
829
rung tritt im expressionistischen Epos nach alledem noch starker
hervor als im objektiven.
Beide Arten des Epos aber neigen dazu, die Kausalverstrickung
weiter aufzudecken, als mit der Auffassung freier Aktivität verein-
bar ist.
Die Darstellung der Handlung in ihrer unmittelbaren G^en-
wSrtigkeit kann in der Ich-Form des Epos nur selten und unvoll-
kommen erfolgen, da dem Epos dafür nur die Sprache, das Wort
zur Verfügung steht. Bas Handeln kann von unmittelbar charak-
terisierenden Worten des Handelnden begleitet sein, deren Wieder-
gabe also zur unmittelbaren Wiedergabe der Handlung selbst vnrd.
Doch ist dies nur Ausnahme und aus anderen Gründen auch nur
gelegentlich benutzbar. Der Expressionismus wählt einen andern
Weg, der die weitesten Möglichkeiten bietet: er schildert die Hand-
lung nicht durch Worte, wie sie empirisch Handlungen charakteri-
sierend begleiten, sondern durch Worte des Handelnden, des „Ich",
die seine Stinunungen, Empfindungen, Vorstellungen, kurz seine
psychisch-geistigen Zustände während des Handelns wiedergeben.
Er gibt also keine nachträglich untersuchende, berichtende psycho-
logbche Darstellung und Zergliederung, sondern eine unmittelbar
gegenwärtige. Er gibt keine das Handeln begleitenden Worte, son-
dern die das Handeln empirisch begleitenden Gefühle und Vorstel-
lungen durch Worte, die durchaus unwirklich gemeint sind. Er
öffnet das Uhrwerk der menschlichen Seele, er läßt es während des
Handelns unmittelbar in seinem Gang beobachten. Diese Eigenart
ist ein weiterer Grund der besonders starken Tendenz des Expressio-
nismus zur psycho-analytischen Darstellung passiver Helden.
Die Tat läßt sich in ihrer unmittelbaren Gegenwärtigkeit durch
ihre unmittelbar sinnliche Darstellung und meist überhaupt nicht
anders schildern, sie läßt sich am besten zeigen.
Daher das Drama ihr Hauptglied. Die Illusion der Freiheit des
Handelns läßt sich am ehesten bei seiner unmittelbaren Darstellung
wahren. Daher das Drama die für die Darstellung schein-f reier Ak-
tivität geeignetste Kunstgattung. Der eigenartig-subjektive Stand-
punkt des dramatischen Wortes ermöglicht es außer dem objektiven
Freiheitsschein auch, die subjektive Freiheitsillusion des Helden,
überhaupt aller dramatischen Personen zum Ausdruck zu bringen.
33o
Also: die unmittelbare Objektivität in der sinnlichen Vorführung
der Handlung und die unmittelbare Subjektivität im Worte, deren
Kombination die Eigenart des Dramas ist, wirken zum gleichen Er*
gebnis. Aus alledem folgt die besondere Eignung des Dramas ziur
Darstellung aktiver Helden, zur Darstellung von Taten in ihrer
Scheinfreiheit; aber keineswegs, daß der Held des Dramas not-
wendig aktiver sein müsse als der des Romans, und noch weniger,
daß das Drama nicht auch die innere und äußere Gebundenheit
seiner Helden und überhaupt Personen bloßlegen kann.
Im Gegenteil kann das Drama die Kausalverstrickung, die innere
und äußere Unfreiheit und auch das Bewußtsein des Handelnden
von ihr — nur mit anderen Mitteln auf anderen Wegen — in höch-
ster Klarheit und Eindringlichkeit darstellen, ja man kann den
Grad der hierin erreichten Klarheit und Eindringlichkeit als einen
Maßstab für die Tiefe der dichterischen Schöpfung bezeichnen.
In der Moderne (Ibsen usw.) ist die Aufdeckung der Kausalver-
strickung vielfach geradeswegs zum eigentlichen dramatischen
Thema geworden. Daß das Drama auch äußerlich passive Helden
kennt, und schon seit je, zeigt die griechische Tragödie, Hamlet,
Wallenstein.
Fazit: Der Roman drängt zur Schilderung der Bedingtheit, das
Drama läßt sie zu. Und alle oben vorgenommenen Distinktionen
gelten nicht unbedingt — die exogenen Grenzen verschwimmen,
um so mehr, je mehr man* in die Tiefe sieht. Jede Kunstgattung
loann im Prinzip alles — nur mit verschiedenen Mitteln und
wenn sie sich an die aus ihrer besonderen technischen Eigenart und
der menschlichen Psychologie ergebenden elementaren Gesetze hält.
Die heut oft vertretene Meinung, der Roman sei die höhere Kunst-
form, weil er allein die technischen Mittel besitze, um die Ereig-
nisse und Charaktere, ihre Entstehung, Art, ihr Fühlen, Denken,
Handeln, kurz alles innere und äußere Geschehen genau und um-
fassend zu schildern und zu motivieren, diese Meinung ist charak-
teristisch für eine Zeit der Wissenschaft, der experimentellen Psy-
chologie, der Soziologie.
Ihr erster Fehler liegt in dem falschen Urteil über das Wesen
des Romans selbst: der Roman, das Prosa-Epos, ist bei aller Be-
weglichkeit und Mannigfaltigkeit der Mittel, die sowohl direkte wie
33i
indirekte Darstellung umfassen, weit davon entfernt, eine wissen-
schaftlich erschöpfende Beschreibung und Erklärung bieten zu
können, wenigstens als Roman zu dürfen; auch der Roman ist, we-
nigstens der ästhetischen Forderung nach, von wissenschaftlicher
Abhandlung so weit entfernt und verschieden wie das Gemälde von
Photographie.
Sodann ist es eine absolute Verkennimg des Wesens der Kunst,
eine Verzerrung, den Rang einer Kunstgattung nach dem Grad zu
bemessen, in dem sie in ihren Produkten der objektiven Wirklich-
keit nahekommt. Das ist kein ästhetischer Maßstab. Man ver-
gleiche Shakespeare, den größten Realisten, ja Naturalisten: eine
ungeheure Vereinfachung der psychischen Probleme, ihre Isolie-
rung, Herausschälung aus dem Vielerlei der Wirklichkeit, eine ti-
tanische Intensierung der Kräfte, der Ereignisse, alles Seins, das
ist seine Größe. Und so sehr das Drama in seiner technischen Art
die Wirklichkeit unmittelbarer nachahmt als jede andere Kunst-
gattung: diese Eigenschaft benutzt es nicht, um die Wirklichkeit
nachzubilden, sondern um sie um so energischer zu verändern, es
benutzt seine Fähigkeit, die stärksten Illusionen zu erwecken, um
die Hörer in den Bann seines Wirklichkeits- Veränderungswillens
zu zwingen. Durch die höchste Kunst die Wirklichkeit am inten-
sivsten zu steigern, um so auf den Empfangenden die mächtigsten
Wirkungen zu üben, das ist Aufgabe und Wesen des Dramas.
S 7. Apologie der Tendenzkunst
Der Begriff Tendenzkunst tritt in drei verschiedenen Bedeutungen
auf.
1. Bald bezeichnet er die Kunst aller Gattungen, die eine Ein-
wirkung auf öffentliche Angelegenheiten anstrebt und so im Dienst
öffentlicher Angelegenheiten, kunstfremder Interessen steht.
2. Bald: Darüber hinaus alle Kunst, die sich mit öffentlichen
Angelegenheiten in einem gewissen Gefühle, mit einer wenn auch
nur rein menschlich-sympathischen oder antipathischen Betonung
befaßt.
3. Bald — vom Standpunkt der herrschenden Klasse — : spe-
ziell solche Kunstäußerungen, die „revolutionär*' oppositionelle,
33a
nicht burgfriedliche Auffassungen, Gedankengänge oder Stim-
mungen wiedergeben, darum den abstempelnden Gewalthabern un-
bequem und peinlich sind und also verschrien werden, während
erwünschte Tendenzen — patriotische, religiöse, kriegerische usw.
— ganz anders gewürdigt werden.
Eine verbreitete ästhetische Lehre verbannt die „Tendenzkunst''
(bald dieses, bald jenes Sinnes) auf das Armsünderbänkchen der
Kunst oder gar in die Hölle der Afterkunst. Das ist völlig verkehrt.
Die „Tendenzlosigkeit" der „wahren" Kunst ist historisch (man
vergleiche vor allem die innige Verbindung der Urkunst mit Po-
litik, Religion usw.) und ästhetisch eine Fabel. Auch die aristo-
telischen Prinzipien stellen ihr eine pädagogische oder sonstige Ten-
denz. Gesellschafts-, Gemeinwohl fördernde Tendenzen werden ihr
von den idealsten ästhetischen Systemen zur heiligen Aufgabe ge-
macht. Die Losgelöstheit der Kunst vom praktischen Leben ist
eine Fabel. Man muß die Beziehung nur richtig verstehen. Hi-
storisch vergleiche man die Einheit der Urkunst mit Politik, Re-
ligion usw., die innige Verbindung der entwickelteren Kunst mit
dem religiösen, staatlichen Leben der Völker (Griechen, Römer,
christliche Kirchen usw.). Cervantes, Lessing und Goethe stimmen
überein in der Billigung staatlicher Kontrolle der Kunst im staat-
lichen Interesse. Vgl. auch Walther von der Vogelweide. Und Dante,
selbst ein Dante — wie war er in Politik befangen, welche leiden-
schaftlichen politischen und religiösen Kundgebungen sind seine
größten Werke I Gerade die lautesten Anti-Tendenzschreier möch-
ten die Kunst am meisten zur Magd des Bestehenden machen I
Jeder große Dichter legt mindestens seinen Gestalten politische,
religiöse u. ä. Auffassungen, Forderungen, Pläne in den Mund.
Was kann mehr politische Tendenz sein als — Teil! Als Brutus'
und Antonius' Reden in Julius Cäsar I Diese Reden gelten als Kunst,
höchste Kunst. Nehme man den Rahmen forti Es bleiben isolierte
Tendenzpoesien, die aber durch die Isolierung nicht aufhören Kunst
zu sein, auch nicht dadurch, daß sie der Dichter selbst in den Mund
ninunt.
Warum sollen die politischen, sozialen Stimmungen, Gefühle,
Phantasien, Vorstellungen weniger geeignete, gute und würdige Ob-
jekte der künstlerischen Gestaltung sein als die religiösen? Warum
333
weniger als die persönlichen Gefühle der Liebe, Naturfreude usw.?
Diese Unterscheidung ist ganz willkürlich.
Die Verwerfung der Tendenzkunst irrt aber nicht nur durch die
Willkürlichkeit, mit der sie künstlerisch zulässige und künstlerisch
unzulässige Themen scheidet, sondern vor allem darin, daß sie das
Urteil über Kunst oder Nichtkunst vom Gegenstand der künst-
lerischen Gestaltung abhängig macht, die Grenze der Kunst mit
der Beschaffenheit des dargestellten Inhalts zieht, während der
Kunst jedes Thema zugänglich ist, nur eben ein jedes Thema nach
seinen inneren Gesetzen behandelt sein will.
Äußerliche, dem Wesen der Kunst fremde Nebenzwecke dürfen
das Werk nicht von seiner künstlerischen komplementären, dem
Vollkonunenheitsbedürfnis entspringenden Bestimmung ablenken.
Soweit dies geschieht, liegt freilich keine reine Kunst vor. Danach
ist auch die Grenze zur didaktischen Kunst zu ziehen.
S 8. Das „Volk" und die Kunst .
A. Das Volk, d. h. die beherrschten Massenschichten der Gesell-
schaft, die auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der Gesell-
schaft sehr verschieden sind, kommt, wie übrigens jeder andere
Gesellschaftsteil auch, für die Kunst in drei verschiedenen Rollen
in Betracht, die aber verbunden sein können:
a) als Subjekt — als Selbst-Künstler (Kunst-Schöpfer), vgl. u. B,
b) als Objekt, als der im Kunstwerk dargestellte. G^nstand,
vgl. u. G,
c) als Destinat, als Kunst-Konsument, vgl. „Kunst fürs Volk",
Volksbühne usw.
B. Das Volk als Künstler (Volkskunst).
Es ist die Tendenz, ja Notwendigkeit der Kunst, den Rohstoff
unter Aussonderung des Zufälligen zu stilisieren, zu verallgemei-
nern, vom Individuellen auf das Typische zu reduzieren und zu-
gleich zu erheben, auf wenige große Linien zu vereinfachen und
gegebenenfalls nach den eigenen Regeln das so Gewonnene neu aus-
zuschmücken und all dies nach den Gesetzen und Bedürfnissen der
lebendigen Gegenwart des Schöpfers. Diese Tendenz, ja Notwendig-
keit ist in der „Volkskunst" besonders gesteigert; in den ursprüng-
lichen, aus den Massen für die Massen geschaffenen und in den
334
nachträglich adaptierten, den nicht von den Massen produzierten,
aber nachtrfiglich von ihnen als ihr Eigen aufgenommenen und an-
gepaßten Kunstwerken. Bei den ursprünglichen schon infolge der
Mitwirkung vieler bei der Schöpfung, die sich gegenseitig ausglei-
chen; bei den aufgenonmienen, weil die nachträgliche Anpassung in
ähnlicher Weise wirkt. Am stärksten in solchen Werken, die von
Massen des verschiedensten Charakters für die verschiedensten Ge-
sellschaf tsteile, die verschiedensten Kulturtypen und die verschie-
densten Entwicklungsperioden aufgenommen werden. Auch daraus
und nicht nur aus der Schwerfälligkeit ihrer Technik* erklärt sich
die Intensität der Stilisierung in der Architektur, deren Werke für
die breiteste Öffentlichkeit und viele Generationen bestimmt zu sein
pflegen. Von diesem Trieb zur Verallgemeinerung, zur Typisierung
sind die Werke der Volkskunst dermaßen beherrscht, daß selbst
ihre individuellen Züge davon ergriffen sind; so daß sie jedem aus
dem Volke sofort als Bekanntes einleuchten.
Die Tendenz zum al Fresko, zu lapidarer Auffassung und Um-
gestaltung der Wirklichkeit ist eine Seite jenes allgemein mensch-
lichen Zuges, dem auch die sagen- und legendenbildende Vorstel-
lungsweise angehört, die in bezug auf die historischen Ereignisse
im Kriegswesen Delbrücks „Geschichte der Kriegskunst" vortreff-
lich nachweist und auf die auch Le Bons Charakteristik der Massen-
psychologie zutrifft. Diese unermüdliche und mit elementarer
Zwangsläufigkeit umgestaltende Volksphantasie ist in Mythologie,
Heldenepos, Nationalepos, Märchen, Volksballaden zu verfolgen.
Das „volkstümliche" Element, das ein Kunstwerk dem Volke ver-
bindet, kann bald dies, bald jenes sein: nicht z. B. notwendig der
dargestellte Gregenstand im ganzen, sondern nur ein Zug von ihm,
nicht notwendig der Sinn oder Ton des Ganzen, sondern nur ein
Stück, eine Episode, ein Wort, ein Klang, eine Gebärde (drastische
Geste usw.).
Ober die Eigenart in der Entstehung und in der Kraft laufend
aktueller Beziehung zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft
und ihren Wellenbewegungen und einzelnen Tagesströmungen in
der Volkskunst ist besondere Untersuchung geboten. Die Volks-
kunst ist volkstümlich und aktuell, obwohl sie gerade vielfach
„zeitlos" ist, gar nicht aktuell im üblichen Sinne, weil sie sich
335
zumeist mit dem Elementaren befaßt, das sich nicht oder nur sehr
langsam ändert und doch zu allen Zeiten alle Menschen im tiefsten
ergreift. Sie liebt das Anekdotische sehr, aber nur dasjenige, wel-
ches typisch ist. Das Bedürfnis nach laufend aktueller Kunst wird
vom Volke natürlich auch gedeckt: in den Chansons, Gassenhauern
usw., in der Volkstageskunst, die von jenem Elementaren, Typi-
sierten weit entfernt sein kann und nicht nur zeitlich, sondern auch
örtlich und in bezug auf den Gesellschaftsteil, für den sie gilt, weit
begrenzter zu gelten pflegt als die „Volkskunst" im bedeutenderen
Sinne. Es gibt jedoch auch Volkskunst der letzteren Art, die auf
bestimmte engere Kreise (einzelne Berufe usw.) beschränkt ist. Sie
kann die Bedeutung, die ihr in der Breite des Geltungsbereiches
abgeht, durch die Länge der Geltungsdauer ausgleichen. Ihre viel-
fach enge Verbindung mit der Religion tritt in der Mythologie, in
den liturgischen Schöpfungen (lyrisch, hymnisch, dramatisch), in
der Ausgestaltung des Gottesdienstes, in der Poesie, Musik und in
den bildenden Künsten: Malerei, Plastik und Architektur zutage.
Sie beschäftigt sich mit Liebe, Natur, Geburt und Tod, Wandern,
Krieg usw. Aber auch den sozialen, familiären, Haushalts- u. ä. An-
gelegenheiten. Sie können phantastisch, lyrisch, erzählend, lehrhaft
sein. Je detaillierter die Form einer bestimmten Zeit angepaßt, um
so weniger pflegt sie zeitlos zu sein.
Die verschiedenen Kulturstufen und Typen sind in bezug auf die
verschiedenen Gattungen der Volkskunst sehr verschieden fruchtbar,
und jede Kulturstufe und Type ist in bezug auf die verschiedenen
Kunstbildungen verschieden: diese Bedingungen sind festzustellen
(soziale und kulturelle Bedingungen).
Sehr verschieden ist auch die Teilnahme der verschiedenen Ge-
sellschafts teile und Ortlichkeiten. Natürliche Bedingungen wirken,
sofern sie das Leben jedes einzelnen Gesellschaftsmitgliedes eigen-
artig betonen. Diese örtlichen Bedingungen, die natürliche Umwelt
wirken für die verschiedenen Kunstarten sehr verschieden.
C. Das Volk als Darstellungsobjekt der Kunst.
Die beherrschten Massenschichten der Gesellschaft, die in den
verschiedenen Gesellschaftsordnungen verschieden sind, können vom
Kunstwerke dargestellt werden:
336
I. als Staffage, Füllsel, Dekoration,
a. als ernsthafter Hintergrund des eigentlichen Themas,
3. als das nicht näher gestaltete, aber in seiner Bedeutung dunkel
erkannte, in der Tiefe waltende Schicksal (entscheidender Faktor),
4. als Hauptvorwurf, als eigentliches Thema, und zwar
a) entweder in ihrer Zustandlichkeit, zur Schilderung ihrer ge-
gebenen Lage und Eigenart,
b) oder in ihrer Aktivität, ihrer Wirksamkeit in der Gesellschaf ts-
entwicklung, als handelnder Held im engeren Sinn.
Je nach dem Grade der Einsicht in ihr Wesen und ihre Rolle,
die die Darstellung zeigt, ist zu unterscheiden, ob sie
I. als unterschiedslose, undifferenzierte, niederqualifizierte Masse
(Haufen),
a. in einzelnen, in den Gesamtrahmen passenden charakteristi-
schen Zufallstypen,
3. in ihrer sozialen Gliederung (nach Ständen, Klassen) und ihren
verschiedenen Teilen in ihren besonderen gesellschaftlichen Funk-
tionen und Wesensarten aufgefaßt und geschildert werden.
Je nach der sozialen und persönlich gefühlsmäßigen Stellung,
die der Dichter im Stück zu ihnen einnimmt, werden sie
I. entweder von innen heraus, vom Standpunkt der Massen selbst
aus,
a. oder von außen, von oben herab, vom Standpunkt der herr-
schenden Klassen behandelt; und letzteres wieder je nachdem
a) in herablassendem Interesse, Wohlwollen, Mitgefühl mit ihren
Leiden, ehrlich oder verlogen, gekünstelt oder echt, süßlich-rühr-
selig oder ernst ergriffen — in den verschiedensten Nuancen (Arme-
leut-Kunst und dgl.)^),
b) in feindseliger, höhnender Verzerrung, Herabsetzung, B^
kämpfung^),
c) in verschönernder Verzerrung ihres Zustandes — um das
^) Vgl. z. B. Haubenlerche! und ähnliche rührselige, unwahre .Volks-
stücke*.
*) Vgl. z. B. die , höfische Dorfpoesie' des Neidhart von Ranenthal
(zirka 1250), der das Bauernleben spöttisch karikierte zur Belustigung
der Ritter und Fürsten und dem die Bauern mit Trutzstrophen ant-
worteten.
92 Llebknaoht, Stadien 337
y^Yolk" selbst zufrieden zu halten, zu benebeln, die herrschenden
Klassen zu unterhalten und eventuell zu beruhigen,
d) in Verherrlichung guter „Gesinnungen" und „erwünschter"
und „rühmlicher" Taten der Massen — um so auf sie einzuwirken,
daß sie im Bann der herrschenden Klasse bleiben ^),
e) zu sonstigen sittlichen und erziehlichen Beeinflussungszwecken
(Kriegslieder, patriotische, religiöse Gedichte usw., bildende Kunst,
Kriegerdenkmäler) .
Hier ist ein Gebiet der Tendenzkunst.
Wechselt die Stellung der behandelten Schicht in der sozialen
Struktur, so wechselt die Problemstellung. Z. B. in bezug auf das
Bürgertum.
Im ,J[>ürgerlichen Trauerspiel" des i8. Jahrhunderts handelt es
sich um den Gegensatz zwischen dem Bürgertum und den herr-
schenden Klassen; um die sich aus diesem Gegensatze und aus dem
Aufstieg, dem revolutionären Aufwärtsdrängen des Bürgertums er-
gebenden Probleme und Konflikte („Sittenstück", „Kabale und
Liebe", Revolutionäre gegen die Gesellschaftsordnung im Ganzen:
„Räuber" usw.).
In der Dichtung aus der Zeit nach Emanzipation des Bürgertums
handelt es sich um die wirtschaftlichen, sittlichen, kulturellen In-
teressen des Bürgertums selbst, wie sie sich in der bürgerlichen Ge-
sellschaftsordnung entwickelt haben. Die „hohen Stände" treten —
im gleichen Maße wie ihre Privilegien — als Kontrast zurück,
werden Staffage oder kulturell romantisches Sehnsuchtsziel des Par-
venu-Bürgers.
In der bürgerlichen Dichtung des Hochkapitalismus ist die Front-
stellung im Vergleich zur bürgerlichen Dichtung alter Observanz
völlig umgekehrt. An Stelle des revolutionären Verhältnisses zu
den „höheren", den Geburtsständen, die keine Rolle mehr spielen,
da das Bürgertum selbst herrscht, und der aus diesem Verhältnis
fließenden Probleme ist das antirevolutionäre Verhältnis zum Pro-
letariat getreten, das Problem der sich ankündigenden sozialen Re-
volution, das aus der Tiefe der gesellschaftlichen Abgründe herauf-
brodelt.
') Vgl. das antirevolationäre, knechtische »Volk*, Lumpenproletariat usw.
338
S 9. Vom Traum
I. Wesen mid Funktionen der Träume des Schlafes.
Wie Religion« Kunst, Ethik, spekulative Weltanschauung, so ist
der Traum des Schlafes, wenigstens zu einem großen Teil, der Ten-
denz nach eine Komplementärerscheinung. Krankhafte Träume sind
nur scheinbar anders; übrigens gibt's auch krankhafte Religion,
Kunst, Ethik, Weltanschauung. Das gesamte — geistig-psychische
und physische — Trieb- und Bedürfnisleben sucht sich in ihnen
auszugleichen. Das Unabgeschlossene findet oder erstrebt einen ^Vb-
Schluß; das Zurückgedrängte bricht hervor und tummelt sich aus;
das Unbefriedigte schafft sich seine illusionäre Befriedigung. Die
Erlebnisse und Regungen des Wachens klingen nach — nicht nur,
daß sie das Baumaterial der Traumvorstellungenund-empfindungen
liefern, sondern auch als Impulse in assoziativen Vorstellungen und
Empfindungen — Abklingen der im Wachen angeschlagenen und
tönenden Saiten. Auch in dieser Hinsicht den übrigen Komplemen-
tärerscheinungen gleichend. Das geistig-psychische Vollkommen-
heitsbedürfnis tritt sowohl als VoUständigkeits- wie als Harmonie-
bedürfnis auf, sowohl intellektuell wie phantastisch und gefühls-
mäßig. Dem physischen Vollendungsbedürfnis bietet der Traum
ein weites Bereich. Physiologische Zustände und das Bedürfnis,
sie abzugleichen, zu harmonisieren, spielt im Traumleben eine
größere und elementarere Rolle als bei den übrigen Komplementär-
erscheinungen. Traum ist kein Spiegel der Wirklichkeit. Der
Traum — ein Ergänzungsleben I
II. Die „Träume des Wachens".
Wie die Träume des Schlafes, so sind die Träume des Wachens
zu einem wesentlichen Teile geistig-psychische und auch physische
Komplementärerscheinungen, Ausflüsse des Vollkonmienheits- und
Vollendungsbedürfnisses, des Intellekts, der Phantasie, des Gefühls-
lebens, der Sinnlichkeit; der intellektuellen, ästhetischen, ethischen,
der spekulativen und praktischen Postulate. Auch die physisch-
sinnlichen Komplementärzustände gehören hierher. Sie sind be-
wußt oder unbewußt (unteri[>ewußt), „willkürlich" oder unwillkür-
lich, widerwillkürlich bis zur Zwangsmäßigkeit. Das „Wünschen",
„Sehnen", „Hoffen", „Schwärmen", das nicht religiöse „Clau-
sa* 33g
ben", der ,,Optimisinus" usw. gehören dazu. Sie begleiten den Men-
echen durch das ganze wachende Leben. In ihnen wie in den Träu-
men des Schlafs ist jeder Mensch schöpferisch. Sie sind der Bro-
dem, aus dem sich die reinen Ideologien gestalten. Sie bilden das
Meer des religiösen und künstlerischen, des ästhetischen, sittlichen,
spekulativen Lebens der Menschheit, auf dem sich die ausgebildeten
Komplementärerscheinungen als die Wogen der Oberfläche er-
heben.
3. KAPITEL
MORAL; BESONDERS: IN DER POLITIK
S I, Der gesellschaftliche Primat des Willens und
des Handelns
Das Handeln ist die Form, in der sich der Organismus jeden
Grades mit der Umwelt auseinandersetzt, in der sich die Kontrast-
gesetzc auswirken, in der die Antagonismen entschieden werden,
in der sich die organische Selbsterhaltung und Entwicklung dia-
lektisch vollzieht. Der Wille ist der Träger des Handelns und da-
mit der Selbsterhaltung und Entwicklung. Wille und Handeln sind
das Motorische im psychophysischen Wesen, im organischen Leben.
Für die Gesellschaftsentwicklung im besonderen gilt nicht der
Primat des Willens, sondern der Primat des Handelns, der Aktivität.
Die Aktivität steht in der Hierarchie der Kräfte über dem Willen.
Das Handeln ist, wenn auch auf ihm beruhend, aus ihm erwachsend,
doch ihn krönend; seinen Zweck bildend, in Vergleich zu dem der
Wille nur Mittel ist. Es ist der Zweck des Willens, aber nicht
nur des Willens, sondern auch alles übrigen geistig-psychischen
Wesens: des Denkens, Fühlens, der Phantasie und selbst des phy-
sischen Wesens; die Auswirkung aller initiativen und formgebenden
Eigengesetzlichkeit des organischen Prinzips der Gesellschaft.
Primat des Handelns gilt auch, sofern es den Ausgangspunkt aller
äußeren Entwicklung bildet — die Manifestation, durch die alle
Triebe erst Bedeutung für die Entwicklung gewinnen; durch die
das UrprinzIp der Urenergie erst nach außen, gesellschaftlich wirkt.
Für die Gesellschaft steht fürwahr am Anfang die Tat — initiativ
und formgebend.
34i
Primat des Handelns auch, sofern es im Verlauf der Entwick-
lung in allen geistig-psychischen und auch physischen Leistungen
die energischsten Wirkungen übt — wenigstens für die GeseUschaf t,
von der hier gehandelt wird.
Freilich gilt all das nur für die praktische Betrachtung, nicht
für die transzendentale der infinitesimalen allumfassenden Kau-
salität.
Die Schicksalsfrage jedes Menschen und jeder Menschenorgani-
sation lautet: Was willst du und was tust du? Das: „Was denkst
du, was empfindest du, was träumst und hoffst du?" spielt im
Verhältnis dazu die Rolle von Bedingungen und Bestimmgründen
für Wille und Tat; bedingendes und bestimmendes Material für
sie, aber doch nur Mittel zum Zweck, dem menschlichen Wollen
und Tat Inhalt und Richtung zu geben.
Denken, Fühlen, Träumen, Hoffen, das nicht zu Willen und Tat
führt, ist in Hinsicht auf die organische Erhaltung und Entwick-
lung des einzelnen, der Gesellschaft, der Menschheit, der ganzen
Natur verloren und wertlos. Ihre Umsetzung in Wille und Tal,
d. h. in das Motorische, braucht nicht, ja kann nicht sofort er-
folgen; sie ist ein verwickelter Prozeß, der Zeit beansprucht; sie
braucht auch nicht unmittelbar aus jeder einzelnen Regung des
Denkens usw. zu erfolgen, ja kann dies auch nur unter ganz be-
sonderen Umständen. Es genügt, daß sie sich, wenn auch auf Um-
wegen, durch Zwischenglieder und in späterer Zeit in Wille und
Tat manifestieren. Aber es genügt nicht, wenn sie irgendwie auf
das Motorische einwirken: das vnrd angesichts der allgemeinen in-
finitesimalen Wechselwirkung alles Seins und Geschehens letzten
Endes stets der Fall sein. Wir haben speziell die menschliche Ge-
sellschaft und ihre Teile bis zum Einzelmenschen im Auge und be-
trachten und bemessen hier alles Sein und Geschehen bewußt te-
leologisch nach deren Erhaltungs- und Entwicklungsinteresse. Nur
soweit jene Regungen in dem nach den jeweiligen gesellschaftlichen
Umständen möglichen Höchstmaß in Wille und Tat umgesetzt wer-
den, erfüllen sie ihren Zweck; im übrigen sind sie — von diesem
Standpunkte gesehen — wertlose, sinnlose Verschwendung.
Bilden sie aber nicht gerade dann den Inhalt der Überschuß*
Sphäre? Keineswegs.
Das Wesen des wertvollen Oberschusses besteht nicht in gesell-
schaftlicher Oberfliissigkeit, im Gegenteil in höchster gesellschaft-
licher Nützlichkeit; 2um Wesen des Überschusses, der allein be-
achtlich« wertvoll und anzustreben ist, gehört, daß er stets laufend
in die Notsphären eingeführt wird, aus Überschuß zur Notwendig-
keit wird. Darin besteht das Wesen der Steigerung der Lebens-
haltung: aus Luxus wird Bedürfnis, aus Überschuß Notdurft.
S a. Moral
Moral ist die im Urteil der geistig-psychischen Totalität des Men-
schen (= „moralisches Urteil") gebildete Auffassung über „Gut"
und „Böse".
„Gut" ist das Nützliche, schlecht das Schädliche, wobei weder
nützlich noch schädlich in kurzsichtigem Sinne, sondern eben im
Sinn der geistig-psychischen Totalität des Menschen gemeint ist.
Die Moral ist bis in die letzte Phase utilitaristisch — auch die ver-
fcinertste, idealste, selbstloseste, verstiegenste, weltflüchtigste, phi-
losophischste, utopistischste. Ihre Grundsätze sind insofern ganz
allgemein, ja absolut gültig.
Das gilt von einzelnen und von Personenmehrheiten aller Art;
innerhalb jeder Personenmehrheit und in bezug auf sie bilden sich
Moralauffassungen nach eben dem gleichen Gesetz. Wo inmier ge-
meinsame Interessen sind, ist ein gemeinsames Nützliches und
Schädliches, d. h. ein gemeinsames Gutes und Böses, d. h. eine ge-
meinsame Moral — eben im Bereich der gemeinsamen Interessen.
So gibt es neben dem Bereich der individuellen Moral spezifische
Moralanschauungen der verschiedenen Kreise, der Gesellschafts-
teile, der Gesamtgeselkchaften, ja der Gesamtmenschheit — in den
Schranken des Allgemein-Menschlichen.
Diese gemeinsame Moral besteht zunächst nur in der Tendenz,
im Postulat. Ob und inwieweit sie sich wirklich bildet, hängt erst-
lich davon ab, ob und inwieweit die gemeinsamen Interessen als
solche vom moralischen Urteil erfaßt werden, zweitens davon, ob
und inwieweit das danach gemeinsam Nützliche und Schädliche als
solches von ihm erfaßt wird.
„Moralanschauungen", die auf eine falsche Auffassung von den
Interessen und dem dafür Nützlichen und Schädlichen beruhen,
343
die also der postulierten Moral widersprechen, sind Pseudomoral.
Sie können unabsichtlich, naiv entstehen, oder systematisch vod
interessierter Seite erzeugt werden. Ihre Einflußkraft kann ebenso-
groß sein wie die der moralischen Anschauung,
S 3. Das moralische Urteil
Das moralische Urteil ist weder ein Verstandesurteil noch ein
Grefühlsurteil noch überhaupt das Produkt einer einzelnen von
mehreren unterschiedenen Geistes- und Seelenkräften, sondern das
Produkt aller dieser Kräfte zusanmien. Es wird von der geistig-
psychischen Totalität des Menschen gefällt, auch ihren triebhaften
instinktiven Bestandteilen, und trägt daher zumal in wichtigen
Fällen, wenn es sich um grundlegende Interessen handelt, ein^i
elementaren Charakter, der ihm die ungeheuersten Kräfte verleiht.
Das Verstandesurteil, das — in sehr verschiedener Vollkommenheit
— stets ein Element des moralischen Urteils bildet, bestimmt je
nach dem Grad seiner Vollkonunenheit dessen Deutlichkeit, Sicher-
heit, Zielklarheit, Beharrlichkeit und Energie sehr erheblich. Es
gibt auch ein bloßes Verstandesurteil über Nützlichkeit und Schäd-
lichkeit, das sich von dem moralischen Urteil dadurch unterscheidet»
daß es kein Ausfluß der Gesamtheit des menschlichen Wesens bil-
det und weit geringere Kräfte in Bewegung setzen kann.
Die moralischen Kräfte, die Energien, die durch das moralische
Urteil, durch die moralischen Impulse entfacht werden, können ge-
waltig sein. Ihre Macht erklärt sich dann aus der Tatsache, daß
sie der Ausfluß elementarer Interessen sind, und aus dem die To-
talität des menschlichen Wesens ausdrückenden Wesen des mora-
lischen Urteils, das sie in Bewegung setzt.
S 4- Von moralischer Beurteilung und Argumen-
tation in innergesellschaftlichen Gegensätzen und
Kämpfen
Die wirkliche Herausbildung der postulierten adäquaten Moral-
anschauungen in jedem Kreise ist ein Bedürfnis für ihn; sie ist
ihm, seinem Dasein und der Durchsetzung seiner Zwecke nütz-
lich, sie ist selbst ein moralisches Gebot, Die Herausbildung z. B.
344
der adäquaten Klassenmoral ist ein wesentliches, unentbehrliches
Stück der Herausbildung des Klassenbewußtseins und der Klassen-
aktionsfähigkeit. Dazu dient u. a. die moralische Argumentation
in der Propaganda; sie ist insoweit eine Art Moralunterricht am
konkreten Beispiel, Unterweisung in der Klassenmoral.
Solche Unterweisung hat mit „Moralpaukerei" usw. gar nichts
zu tun. Sie bemüht sich nicht, leere, wirklichkeitsfremde, den Be-
dürfnissen nicht oder widersprechende Pseudomoralanschauungen
aufzudrängen, sondern die „natürliche'', d. h. aus der Natur des
Menschen oder der Klasse postulierte, wirkliche Moral in ihrer na-
türlichen Entwicklung zu fördern.
Zur vollen Herausbildung und Verwirklichung der Moral gehört
auch die Entfaltung der moralischen Urteilskraft; von ihr hängt
ab, ob und inwieweit die Klassenmoral zweckmäßig wirkt.
Die Entfaltung von Moralanschauungen und moralischer Urteils-
kraft geht vom höchsten Grade primitiver Undifferenziertheit zu
immer höherer Differenzierung. Gerade diese Differenzierung kann
sich nur vollziehen an der Erfahrung, an konkreten Beispielen; die
moralische Argumentation der Propaganda ist also ein vorzügliches
Mittel dafür.
Die Fällung des moralischen Urteils kann schneller oder lang-
samer vonstatten gehen, die Wirkung des Urteils auf den Gesamt-
zustand, auf das Verhalten des Urteilenden, der Eindruck des Urteils
auf ihn kann sehr verschieden stark sein. Die moralische Reaktions-
fähigkeit möglichst zu beschleunigen und die moralischen Kräfte
möglichst zu verstärken; das heißt die moralische Impulsivität mög-
lichst zu steigern, d. h. die Empfindlichkeit, Empfänglichkeit für
moralische Impulse, die Fähigkeit, aus moralischen Impulsen die
schnellste und kräftigste Wirkung in der erforderlichen Richtung
zu erreichen, ist ein Ziel, dem wiederum die moralische Argumenta-
tion in der Propaganda dient.
Der Wert der moralischen Argumentation in der Propaganda be-
steht aber weiter in der Ausnutzung der moralischen Kräfte für den
erstrebten Zweck, für die Bekämpfung des Schädlichen und die
Unterstützung des Nützlichen, für die Durchsetzung des gemein-
samen Interesses, das die Grundlage der betreffenden Personen-
mehrheit bildet.
345
Die moralische Argumentation ist danach keine bloße oberfläch-
liche Stimmungsbeeinflussung, sondern eine den innersten Kern der
menschlichen Leistungsfähigkeit und Tüchtigkeit gestaltende Ar-
beit, zu der je nachdem alle wissenschaftlichen Argumentationen ge-
hören können und müssen.
Die Gefahr der moralischen Argumentation liegt hauptsächlich
in der Versuchung zu undifferenzierter, simplistischer Behandlung
der Wirklichkeit; in der Vertuschung von — wenn auch erkannten —
Gegensätzen, die nicht ohne Schaden vertuscht werden können, in
einer Vogel-Strauß-Politik, in der Zurückdrängung verstandesmäßi-
ger Überlegung und wissenschaftlicher Prüfung, in der Verlockung
zur ErzeuguAg leidenschaftlicher Wallungen, die weder tief noch
dauernd sind. So kann sie verflachend und nachteilig wirken. Eine
Propaganda, die diesen Anfechtungen unterliegt, ist jedoch keine
solche der moralischen Argumentation in unserem Sinne. Zu deren
Wesen gehört, daß sie die moralischen Auffassungen und die mo-
ralische Impulsivität, welch letztere die moralische Reaktionsfähig-
keit und die moralischen Kräfte umfaßt, höher entfaltet oder, ohne
sie rückbildend oder hemmend zu beeinflussen, in gemeinsamem In-
teresse ausnutzt.
Wie sich die moralische Argiunentation zu verhalten hat, um den
höchstmöglichen Vorteil für die Gemeinschaft zu erzeugen, wie weit
sie differenziert oder undifferenziert, wissenschaftlich oder mit Ar-
gumenten ad hominem sein muß, hängt durchaus von den Um-
ständen jedes einzelnen Falles ab, besonders vom Grad der Schulung
derer, an die sie sich richtet, von ihrer gesamten Psychologie und
von dem konkreten Zweck, der verfolgt wird. Tiefe moralische
Stufe kann zu undifferenzierter Argumentation nötigen, hohe mora-
lische Stufe kann sie statthaft machen. Träge moralische Reaktions-
fähigkeit, geringe moralische Kräfte bei klarem moralischem Urteil,
Aktionsfähigkeit bei vortrefflichster wissenschaftlicher Schulung
können Argumente der elementaren Aufpeitschung, Aufrüttelung
wichtiger machen als subtile verstandesmäßige Erörterung. Vorbe-
reitung zu sofortiger entscheidender Aktion heischt andere Argu-
mentation als Erziehung zu den Pflichten des Alltags.
Nichts ist verkehrter als den Grad wissenschaftlicher Einsicht in
den Zusammenhang der Dinge aus der propagandistischen Argu-
346
<^\
mentation einer Person zu entnehmen — sei sie schriftlich oder
mündlich. Aus ihr kann man nur entnehmen, durch welche Mittel
sie ihren propagandistischen Zweck am besten erreichen zu können
glaubt. Bis zum Beweis des Gegenteils aber erfordert die Loyalität,
bei jedem Propagandisten anzunehmen, daß er neben diesen exo-
terischen auch recht subtile und gelehrte esoterische Gründe habe.
Nur allzu leicht ist der Propagandist einer falschen Beurteilung
auch von selten gewissenhaftester Historiker ausgesetzt.
4. KAPITEL
POLITIK
S !• Definition des Begriffs Politik
Politik ist die Verfolgung von erhaltenden oder verändernden
Zielen in bezug auf den Zustand der Gesellschaft, und zwar im Wege
der Einwirkung auf die gesellschaftlichen Kräfte, sei es im mensch-
lichen Faktor, sei es im außermenschlichen Substrat der Gesell-
schaft. Sie ist eine Form der sei es fördernden, sei es hindernden
menschlichen Einwirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung.
Sie ist Wille und Tat, mit Handeln nach vorgesetzten Zielen,
deren Setzung selbst nicht zur Politik gehört, sondern vor ihr liegt
als ihre Voraussetzung.
Es gehören zu ihr eine große Anzahl von Gedankenoperationen usw.
(vgl. u. S 8)- Aber sie ist keine Wissenschaft. Ihre intellektuellen
Bestandteile dienen der — vor der eigentlichen Politik liegenden —
Zielsetzung, der Mittel- und Wegweisung, ja auch der Ausführung;
aber sie dienen nur dem politischen Willen, der politischen Ak-
tivität; und Witz, der nicht dienen, sondern regieren will, ist nur
von Übel. Das klar erkannte Ziel fest im Auge halten, unbeirrt und
zähe verfolgen: das — so primitiv es ist — macht den Politiker.
Selbst irriges, fehlsames Handeln ist ihm eher erlaubt als Willens-
schwäche und Untätigkeit.
S a. Politische Willensbildung
Die Entwicklungslinie der Gesellschaft ist die Diagonale eines
Parallelogramms der virtuellen gesellschaftlichen Kräfte, der je-
348
weils wirkenden gesellschaftlichen Kräfte. Jede der gesellschaft-
lichen Kräfte verändert sich fortwährend in Qualität und Intensität.
Bisherige Kräfte scheiden aus, neue Kräfte treten auf. Für die ver-
schiedenen gesellschaftlichen Interessen und Aufgaben wirken ver-
schiedene Kräf tekombinationen> denen verschiedene Kräfte und die
gleichen Kräfte in verschiedener Intensität und Qualität angehören
können. Keineswegs v^rken für jedes einzelne gesellschaftliche In-
teresse und Ziel jeweils alle überhaupt in der Gesellschaftsentwick-
lung wirkenden Kräfte. Zu den verschiedenen Kräftekombinationen»
die die verschiedenen Aufgaben betreffen, bilden sich Resultanten
— Diagonalen der unterinstanzlichen Kräfteparallelogramme, als
die sich diese Kombinationen darstellen.
Kräfteparallelogramme und Diagonalen vieler Instanzen bilden
sich übereinander, wobei in den höheren Instanzen jedesmal die in
den vorhergehend gewonnenen Diagonalen als die einzelnen Ele-
mente der höherinstanzlichen Kräftekombinationen auftreten. Die
Kräftekombination höchster Instanz führt nach dem Gesetz des
Kräfteparallelogramms zu der Diagonale, auf der sich die Gesamt-
entwicklung der Gesamtgesellschaft vollzieht, zu einer Resultante,
die den Willen der Gesamtgesellschaft darstellt.
Der konkrete Wille der Gesamtgesellschaft ist also keine originär
ursprüngliche selbständige Kraft, kein Element neben jenen Kräf-
ten, sondern das Produkt der verschiedenartigen und verschieden
gerichteten Gesellschaftskräfte, die in jedem konkreten Falle das
konkrete Objekt des Willens betreffen. Jede Verschiebung dieser
Kräfte verändert ihn, weil sie die Diagonale verschiebt, die ihn
darstellt. Und es gibt kein anderes Mittel ihn zu verändern, zu be-
einflussen als durch Veränderung, Verschiebung, Beeinflussung der
ihn bildenden Kräfte.
Die Bildung des gesellschaftlichen Gesamtwillens ist kein episo-
discher, kein abgegrenzter Einzelakt, sondern ein Dauerprozeß, der
sich, ununterbrochen laufend, in der fortwährenden Auseinander-
setzung der gesellschaftlichen Kräfte vollzieht.
Der gesellschaftliche Gesamtwille ist daher unausgesetzten Än-
derungen unterworfen, je nach seinen Komponenten, ihrer Kraft
und Richtimg und ihrem Verhältnisse.
349
S 3. Innere und äußere Politik
Während es sich in der inneren Politik um die innere Struktur
der Gesellschaft, den innergesellschaftlichen Zustand handelt, ist
Gegenstand der äußeren Politik das Verhältnis der Gesellschaft als
solcher zur außergesellschaftlichen menschlichen Umwelt, speziell
zu anderen Gesellschaften als solchen: der zwischengesellschaftliche
Zustand. Die innere Politik der Gesamtgesellschaft zielt auf Her-
stellung oder Erhaltung des den herrschenden Klassen günstigsten
innerpolitischen Zustandes, der erreichbar ist. Die äußere Politik
der Gesamtgesellschaft auf das den herrschenden Klassen günstigste
Verhältnis zu den andern Gesellschaften. Die innere oder äußere
Politik der einzelnen Gesellschaftsteile bezweckt, die innere und
äußere Politik der Gesamtgesellschaft zu beeinflussen; aus ihr er-
gibt sich die innere und äußere Politik der Gesamtgesellschaft als
Fazit. Jener angestrebte innergesellschaftliche Zustand und diese
äußeren gesellschaftlichen Verhältnisse stehen in engster Wechsd-
beziehung und bestinunen einander. Die innere und die äußere Po-
litik sind eine Einheit, sofern sie das gleiche Ziel verfolgen. Ihr
Unterschied besteht in ihrem Bereich und in den Mitteln und Me-
thoden, durch die sie das gleiche Ziel verfolgen. Die innere wie
die äußere Politik werden nach den Regeln des Kräfteparallelo-
gramms bestimmt durch inner- und außergesellschaftliche, mensch-
liche und außermenschliche Entwicklungsmomente. In der inneren
und äußeren Politik der verschiedenen Gesellschaftsteile setzen sich
die Kräfte dieser Gesellschaftsteile innergesellschaftlich auseinander
zur Herstellung des inner- wie außenpolitischen Gesamtwillens der
Gesamtgesellschaft.
Ob die außenpolitischen Tendenzen der Gesellschaftsteile — wo-
hin die entschiedene Tendenz geht — in dieser Auseinandersetzung
konsumiert werden, ob sie nur als Komponenten zur Bildung des
außenpolitischen Gesamtwillens der Gesellschaft oder auch noch
neben diesem Gesamtwillen als besondere außenpolitische, unmit-
telbar nach außen wirkende in Betracht kommen, hängt vom Ein-
zelfall ab, von dem Grade der Vollkonunenheit und Ausschließlich-
keit des gesellschaftlichen Gesamtwillens, der sehr verschieden sein
kann (vgl. die relativ selbständige äußere Politik der verschiedenen
Klassen und Nationen einzelner Staaten im jetzigen Krieg — bes.
35o
Österreich-Ungarn!). Doch kommen für uns nicht die Erschei-
nungen der Staatenpolitik, sondern die der Gesellschafts-
politik in Betracht, die es sorgfältig zu unterscheiden gilt.
Wenn es so auch eine unmittelbare außergesellschaftlich wirkende
selbständige aktive äußere Politik einzelner Gesellschaftsteile neben
der gesamtgesellschaftlichen Außenpolitik» die die Politik der herr-
schenden Klassen ist, geben kann, so ist die Außenpolitik doch im
allgemeinen und der Tendenz nach durchaus dadurch gekennzeich-
net, daß in ihr Gesellschaften als Ganzes auftreten, und zwar —
das ist der alles weit überragende Hauptfall — anderen Gesell-
schaften als Ganzen gegenüber; daß also in der Ausübung der äuße-
ren Politik die innergesellschaftlichen Kräfte, aus deren Ausein-
andersetzung sich der außenpolitische Wille gebildet hat und ständig
neu bildet, nicht mehr selbständig auftreten.
Die äußere Politik ist eine Auseinandersetzung zwischen mehreren
Gesellschaften; die Kräfte dieser Gesellschaften und ihre Rich-
tungen bestinunen das Ergebnis der Auseinandersetzung gleichfalls
nach den Regeln des üjräfteparallelogranuns. Da aber die Gesamt-
kräfte jeder Geselbchaft und ihre Richtung wiederum das Ergebnis
der unaufhörlichen laufenden Auseinandersetzung zwischen den
Einzelkräften der Gesellschaft darstellen, so ist sie und mit ihr das
Resultat der auswärtigen Politik in dauernder Abhängigkeit von den
Einzelkräften und ihrem Verhältnis; jede Verschiebung dieses Ver-
hältnisses verändert die Gesamtkraft der Gesellschaft und ihre Wir-
kungen.
Im einzelnen sind die Ziele der äußeren Politik ganz analog
denen der inneren Politik: direkte oder indirekte wirtschaftliche
Vorteile usw. Aber zum Unterschiede von der inneren werden diese
Vorteile außerhalb der Gesellschaft durch Einwirkung auf andere
Gesellschaften gesucht. Doch auch dieser Unterschied ist nicht not-
wendig: die äußere Politik kann auch innergesellschaftliche Vor-
teile für die herrschenden Klassen erstreben — also ein Mittel der
inneren Politik sein. (Bes. — aber nicht neul — durch das Mittel
des Kriegs-Bonapartismus! Krieg als Klassenkampf, als präven-
tive Gegenrevolution usw.) In den Klassengesellschaftsordnungen
ist der Bonapartismus ungemein häufig, liegt er sogar, wenn auch
mit dem Streben nach außergesellschaftlichen Vorteilen verbunden,
35i
stets vor — nur in verschiedenem Maße. Andererseits dient die
innere Politik auch außenpolitischen Zwecken: vgl. z. B. Verfas-
sungsgestaltungen nüt Rücksicht auf das Ausland usw., vor allem
aber die dauernde Rücksicht darauf, welchen Einfluß innerpoli-
tische Maßregeln auf die außenpolitische Leistungsfähigkeit der
Gesellschaft üben.
So sind innere und äußere Politik auch notwendig wechselseitig
Mittel und Zweck. In ihren Mitteln und Methoden unterscheiden
sich innere und äußere Politik in den Klassengesellschaftsordnungen
nicht wesentlich; nur nehmen die Mittel je nach den Umständen
eine verschiedene Gestalt an. Das gilt am augenfälligsten von der
physischen Gewalt, die in der inneren wie der äußeren Politik die
bestimmende Macht letzter Instanz ist. Doch ist gerade in bezug
auf die brutalste Art der Gewalt, die Waffengewalt, selbst der Unter-
schied in der Form verschwindend und nur insofern groß, als die
Waffengewalt innerpoUtisch fast immer einseitig von der herr-
schenden Klasse gegen Wehrlose angewandt wird. Zwar steht nd>en
dem zwischengesellschaftlichen außenpolitischen Krieg der Bürger-
krieg, doch ist letzterer den aufstrebenden Gesellschaftsteilen regel-
mäßig aufs äußerste erschwert, da die herrschenden Klassen die
wirksamsten Gewaltmittel, ihren Besitz und die Fähigkeit ihrer iVn-
wendung erfolgreich genug zu ihrem Monopol zu machen suchen.
Ein Krieg, in dem die Unterdrückten von den herrschenden Klassen
bewaffnet werden müssen, bietet die günstigsten Chancen und kann
das Blatt wenden. Aufgabe des Krieges ist: durch negative Ein-
wirkung auf den Feind das gesetzte außen- (auch innen-) politische
Ziel zu erreichen. Wie die äußere Politik von der inneren nicht
wesensverschieden, sondern nach Zweck und Mitteln und zum
großen Teil sogar nach Objekt wesensgleich und nur ihre Fort-
setzung außerhalb der Gesellschaft ist, so sind Frieden und Krieg
nur verschiedene Aggregatzustände, verschiedene Erscheinungsfor-
men zwischengesellscbaftlicher Verhältnisse; verschiedene Metho-
den der Politik. Der Krieg ist nicht Fortsetzung der Politik mit
anderen Mitteln, sondern Fortsetzung des Friedens mit anderen Mit-
teln, als eine andere Methode der Politik — so, wie der Friede in der
Politik der Klassenstaaten eine Fortsetzung des Kriegs mit andern
Mitteln ist.
35a
S 4- Politik der Gesamtgesellschaft und der ein-
zelnen Gesellschaftsteile
Die Politik der Gesamtgesellschaft ist die Resultante der Politik
der verschiedenen Gesellschaftsteile — nach dem Gesetze des Kräfte-
parallelogramms. Die herrschenden Klassen sind es, die ihr den
entscheidenden Stempel aufdrücken; ihr Einsatz wirkt im Kräfte-
parallelogramm so überwiegend, daß sie die Richtung der Diago-
nale wesentlich bestimmen: das ist es, worin ihre Klassenherrschaft
zum Ausdruck kommt.
Die Politik der einzelnen Gesellschaftsteile sucht deren wirkliche
oder vermeintliche politische Interessen mit ihren virtuellen Kräften
zur Geltung zu bringen; sie bildet die Komponente der Gresamt-
gesellschaftspolitik.
Das politische Ziel der Gesellschaftsteile wird durch ihre Auf f as-
sung über ihre politischen Interessen bestinunt; d. h. über diejenigen
Interessen, deren Befriedigung das politische Ziel: der Gesellschafts-
zustand, dessen Erhaltung oder Erreichung erstrebt wird, dienen
soll. Dabei spielen die entscheidende Rolle die Interessen der Not-
sphären. Einmal weil die Notsphärenbedürfnisse die bei weitem
energischsten Antriebe für das Verhalten der Menschen geben; so-
dann weil sie, vor allem das Emährungs- und das Schutzbedürfnis,
durch den Gesellschaftszustand, also den Gegenstand der Politik
am augenfälligsten und unmittelbarsten beeinflußt werden. Aber
nicht die objektiven Interessen, sondern die subjektive Auffassung
von den Interessen, hauptsächlich denen der Notsphären, bestimmen
das politische Ziel. Und gewählt wird nicht dasjenige politische
Ziel, das objektiv für das vorgestellte Interesse das geeignetste ist,
sondern dasjenige, das es nach subjektiver Auffassung ist. In bei-
den Beziehungen kann die subjektive Auffassung von der objektiven
Tatsächlichkeit weit abweichen. Diese Abweichung wird in erster
Reihe durch die soziale Lage des betreffenden Gesellschaftsteils,
durch seine aus dieser Lage erwachsene Mentalität, seinen geistig-
psychischen Zustand, den Grad seiner objektiven Tatsachenorien-
tiertheit, seiner Auf fassungsf ähigkeit, seiner Erfahrung, seiner Ein-
sicht, seines Urteilsvermögens, seiner Willens- und Tatkraft, seiner
inneren Selbständigkeit oder Abhängigkeit von anders interessierten
88 Liebk]i6«ht, Stadien 353
Gesellschaftsteilen bestimmt. Sowohl für das objektive Interesse
wie für die Abweichung der subjektiven Auffassung vom objektiven
Interesse» für die Mangelhaftigkeit, mit der das objektive Interesse
zur Geltung kommt, ist somit in erster Linie die soziale Lage des
betreffenden Gesellschaftsteils maßgebend.
Die politischen Wege und Mittel, deren sich die Gesellschaftsteile
zur Erreichung ihres politischen Zieles bedienen, werden bestimmt
. a) durch die ihnen potentiell zugänglichen verfügbaren Wege und
Mittel,
b) durch ihre verstandesmäßige oder gefühlsmäßige Einsicht in
deren Zugänglichkeit und Zweckmäßigkeit, die wiederum abhangt
von ihrer geistig-psychischen Beschaffenheit,
c) durch ihre Fähigkeit (in Willen und Aktionen), sie in concreto
zum fraglichen Ziele zu benutzen.
a, b und c hängen wesentlich ab von der gesellschaftlichen Lage
der betreffenden Gesellschaftsteile, von ihrer Stellung innerhalb
der Gesellschaft; das gilt um so mehr, je zahlreicher die Gruppen
von Gesellschaftsmitgliedern sind, je mehr also in ihnen ein für die
betreffende gesellschaftliche Lage charakteristischer geistig-psychi-
scher und auch physischer Durchschnittshabitus zur Geltung konunt.
Allenthalben — d. h. in bezug auf die „politische Haltung" der
einzelnen Gesellschaftsteile ist also die gesellschaftliche Lage in
erster Reihe bestimmend. Die gleiche gesellschaftliche Lage wirkt
jedoch nicht uniform gleichmäßig auf alle in ihr Befindlichen.
Zunächst, weil die gleiche gesellschaftliche Lage nicht Gleichheit
in allen Beziehungen bedeutet, sondern nur in den großen Zügen
der sozialen Gesamtfunktionen, zu denen in jedem Einzelfall Be-
sonderheiten hinzutreten, so daß also die gleiche gesellschaftliche
Lage doch in den verschiedenen Fällen verschieden wirkt. Ferner
sind die Individuen, auf die sie wirkt, verschieden nach ursprüng-
licher Veranlagung und späterer Ausbildung. Gleiche Einflüsse auf
ungleiche Individuen ergeben ungleiche Resultate.
Je größer aber die Zahl der in Betracht kommenden, eine poli-
tische Gemeinschaft bildenden Individuen, um so mehr setzt sich
ein gesellschaftlicher Durchschnitt, ein Normalmaß durch, sowohl
in bezug auf die gesellschaftliche Lage wie in bezug auf die Beschaf-
fenheit der Individuen. Die individuellen Abstufungen und Beson-
354
l^jAJ
derheiten neutralisieren sich gegenseitig. Bei politischen Massen-
erscheinungen, bei der Politik ganzer Klassen gewinnt so die Be-
Stimmungsmacht der gesellschaftlichen Lage einen objektiv allge-
meinen Charakter — berechnet auf den allgemeinen Durchschnitts-
charakter der gesellschaftlichen Lage und der in ihr befindlichen
Individuen.
Die individuellen Eigentüirüohkeiten, Fähigkeiten, Auffassungen,
Stinunungen werden so im Durchschnitt aufgehoben, neutralisiert.
Die Einflüsse der .Oberschußsphäre, die besonderen geistig-psychi-
schen Zustände, Ideologien usw. sind nicht ohne Wirkung auf die
politische Haltung. Aber diese Wirkung kann sich an Intensität
nur selten mit der der sozialen Lage, der Notsphärenbedürfnisse
messen; auch sie werden im Durchschnitt der Massenerscheinungen
untereinander neutralisiert. Und vor allem: ihre Wirkung ist, so-
weit sie nicht mit derjenigen der sozialen Lage, der Notsphärenein-
flüsse übereinstimmt, im Vergleich zu dieser zufällig und vergäng-
lich, jedenfalls bei weitem nicht von gleicher Allgemeinheit und
Dauer.
Die soziale Lage in bezug auf die Notsphärenbedürfnisse ist da-
her für das Ergebnis der Politik der Gesellschaftsteile vor allen an-
dern Bestimmungsgründen entscheidend.
Die wichtigsten Bestimmgründe wirken elementar und zumeist
unbewußt, wie sie denn der großen Mehrzahl unbekannt bleiben,
die sich den phantastischsten Illusionen über die sie bestimmenden
Gründe hinzugeben pflegt. Selbst die Gedankenoperationen — vgl.
unten S 7 i (Feststellung des Ziels) und a (Feststellung der Mittel
und Methoden) — können sich unbewußt vollziehen, und je schnel-
ler sie sich vollziehen, um so mehr ist dies der Fall. Unbewußt für
sich selbst und unbewußt in Hinsicht auf ihren Charakter als po-
litische Bestimmgründe.
Aus den Möglichkeiten, die darnach in bezug auf die politische
Haltung der verschiedenen Gesellschaftsteile bestehen, ergeben sich
jeweils die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Gesamtpolitik.
Aber auch die Möglichkeiten der politischen Beeinflussung einzel-
ner Gesellschaftsteile durch andere (darunter auch der „Regierung"
als Ausschuß der herrschenden Klassen) : die Grenzen des Wirkungs-
spielraums von Propaganda, Agitation usw. Diese anderen GeseU-
88« 355
schaftsteile können im Verhältnis zu jenen objektiv und subjektiv
solidarisch oder dissolidafisch sein.
Soweit die Propaganda und Agitation dem Zwecke dient, die
für die einzelnen Gesellschaftsteile bestehenden potentiellen politi-
schen Möglichkeiten in virtuelle zu verwandeln, den Virtualisations-
grad zu steigern, ist sie Kampf gegen die Entwicklungsträgheit,
die sich in der Divergenz zwischen den potentiellen und virtueUen
Möglichkeiten darstellt. Die politische Trägheit ist ein Spezialfall
der Entwicklungsträgheit.
Freilich können Propaganda und Agitation auch entwicklungs-
und gesellschaftsschädlich der Erhöhung der Entwicklungsträgheit
(politischen Trägheit) dienen. —
Die Mittel und Methoden der Politik sind friedliche oder ge-
waltsame. Zu den ersteren gehören auch Betrug, Überredung, gei-
stig-psychische Beeinflussung usw. Aber soweit sie zu dysbiotischen
Zwecken verwandt werden, sind sie nur Mittel unterer Instanz, über
denen als höchste Instanz die Gewalt steht. Der Krieg ist das ener-
gischste Gewaltmittel gegen andere Gesellschaften — als Bürger-
krieg: gegen andere Teile derselben Gesellschaft. Seine Mittel sind
Menschen (als Soldaten, Arbeiter usw.), Waffen und Güter aller
Art. Deren Mittel wiederum sind diejenigen Menschen, Dinge, Na-
turkräfte, die ihrer Herstellung, Erhaltung, Beschaffung dienen —
ein endloser Instanzenzug von Mitteln, die aber in infinitesimaler
Wechselwirkung zueinander stehen. —
Durch Einwirkung auf die sei es positiven, sei es negativen ge-
sellschaftlichen Kräfte wird die PoUtik ausgeübt. D. h. diu^ Ein-
wirkung auf diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, die für diese Bil-
dung des gesellschaftlichen Willens in bezug auf das gesetzte po-
litische Ziel in Betracht konunen.
Eine «olche Einwirkung kann sowohl in Schwächung und Stär-
kung wie in Qualitäts- und Richtungsänderungen von Kräften be-
stehen und auch durch Beseitigung bisheriger Kräfte und durch
Schöpfung oder Heranziehung neuer, bisher in der Gesellschaft
nicht wirksam gewesener Kräfte oder durch Virtualisierung bisher
nur potentieller und unwirksamer Kräfte erfolgen.
Diese zu beeinflussenden oder auszumerzenden oder neu zu schaf-
fenden Kräfte können sein Menschen als Kraftträger oder außer-
356
menschliche Entwicklungselemente: das sind die unmittelbaren
Mittel der Politik. Mittel der Beeinflussung, also Mittel der Mittel,
können wieder sowohl Gesellschaftsfaktoren (Menschen) wie Ge-
sellschaftselemente sein. Notwendig gehört dazu: der Politiker
selbst, der gleichzeitig das Subjekt der Politik ist: Subjekt — Me-
dium. Und sofern seine Lage in der Gesellschaft auch Gegenstand
der Politik ist: Subjekt — Medium — Objekt zugleich. Es folgen
weitere Mittel noch niedrigerer Instanzen, deren Zahl je nach der
Subtilität der Zergliederung begrenzt oder vergrößert werden kann.
Alle diese Mittel können sein positive (Hilfsmittel) oder negative
(Hindernisse, Hemmnisse, Schwierigkeiten). In allen Instanzen
spielen die Hauptrolle die menschlichen Faktoren; insofern kann
man die Politik auch als Einwirkung auf andre Menschen zur Er-
haltung oder Erweiterung eines gewissen Gesellschaftszustandes be-
zeichnen.
S5. Kompromiß und Radikalismus, Majorität und
Minorität
Die gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich hiernach auf der
Linie des Kompromisses, unter scheinbarer Führung von Kompro-
mißfaktoren. Oft wird daraus gefolgert: Der Radikalismus sei sinn-
los, wirkungslos, eine zwecklose Kraftvergeudung. Aber weit ge-
fehlt!
Jene scheinbare Führung ist keine wirkliche. Die Entwicklung
ist nicht ihr Werk, sondern das Fazit der divergierenden Gesell-
schaftskräfte. Diese aber vdrken — bei gleicher Größe — um so
stärker auf die Richtung der Diagonale des Kräfteparallelogramms,
je extremer sie gerichtet, d. h. je radikaler sie sind. Wären die ra-
dikalen Kräfte nicht am Werk, so würden sich die Kompromiß-
fakioren auf einer anderen Linie bewegen; denn sie haben keine
eigene Linie. Sie werden auf der Kräftediagonale entlang geschleppt
und nennen das „führen", „regieren". Sie sind immer die Etiketts
des Durchschnitts der Gesellschaftskräfte. Sie hängen am Draht
des Radikalismus und fallen vollends um, wenn dieser Draht fehlt
oder reißt, außerstande, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie sind nur
scheinbare Führer, in Wirklichkeit Geführte, Gehaltene, Gescho-
357
bene, nur scheinbar Kräfte^ in Wirklichkeit Produkte der Kräfte,
Produkte ohne Eigenkraft, an die Oberfläche geworfene Blasen,
Schaumkronen in der Brandung der Entwicklung. Der Radikalis-
mus ist's auch, der am meisten zur Entfaltung aller gesellschaft-
lichen Kräfte im Entwicklungsprozeß beiträgt. Er ist das dialek-
tische Prinzip in energischster Verkörperung.
Analog gilt auch von inaktiven Kompromißmajoritäten, daß sie
ernten, was die radikalen Minoritäten gesät und zur Reife gebracht
haben. Auch solche Majoritäten sind nur aller Eigenkraft ledige
Produkte der wirkenden Kräfte.
S6. Schöpferische und repräsentative Politik
Neue Kräfte schaffen oder heranziehen helfen, die im gesell-
schaftlichen Kräfteparallelogramm bestimmend mitvm'ken, solche
bereits vorhandenen Kräfte nach Möglichkeit steigernd, ziel- und
richtunggebend zu beeinflussen: das ist schöpferische konstitutive
Politik.
Die Diagonale ziehen, auf der Diagonale herumtanzen, ob sie
sich auf der Diagonale entlang schleifen lassen, kurz, die Staats-
männerei, die dem oberflächlichen Blick als Politik schlechthin er-
scheint, ist bestenfalls deklaratorische, repräsentative und nur, wenn
sie mit organisatorisch-technischer Leistung einhergeht, mehr ala
bloße Scheinpolitik.
Die Politik als Kunst des Unmöglichen:
Das Gehabe derer, die so zu schieben glauben oder glauben machen
und tatsächlich geschoben werden, ist die Politik als „Kunst des
Möglichen''. Wer die Entwicklung jeden Augenblicks bis zur Rea-
lisierung der äußersten Möglichkeit zu treiben bestrebt ist, muß sich
anders verhalten. Er muß Ziel und Richtung seiner Politik weit
jenseits auch der äußersten praktischen Möglichkeit nehmen. Das
äußerste Mögliche ist nur erreichbar durch das Greifen nach dem
Unmöglichen. Die verwirklichte Möglichkeit ist die Resultante aus
erstrebten Unmöglichkeiten. Das objektiv Unmögliche wollen, be-
deutet also nicht sinnlose Phantasterei und Verblendung, sondern
praktische Politik im tiefsten Sinne. Die Unmöglichkeit der Ver-
wirklichung eines politischen Ziels aufzeigen heißt mit Nichten seine
358
Unsinnigkeit beweisen, höchstens die Einsichtslosigkeit der Kriti-
kaster in die gesellschaftlichen Bewegungsgesetze, besonders in die
Gesetze der gesellschaftlichen Willensbildung. Die eigentlichste und
stärkste Politik, das ist die Kunst des Unmöglichen.
S 7. Die drei Aufgaben des Politikers
1. Zielsetzung,
2. Orientierung über die Wege und Mittel zum Ziel,
3. Ausführung: Entschluß, Aktion, Willensbildung in weiterem
und engerem Sinn (die unter Umstanden auch zeitweilige Passivität
sein kann).
Wobei I . der politischen Tätigkeit als Voraussetzung vorausgeht,
aus ihrem Rahmen fallend; während 2. und 3. die Politik bilden.
S 8. Die Gedankenoperationen des Politikers
Der Politiker muß sich fortwährend gegenüber den gesellschaft-
lichen Vorgängen orientieren, sie laufend gedanklich verarbeiten
und geistig bewältigen. Die dazu nötigen Gedankenoperationen las-
sen sich wie folgt einteilen:
1. Tatsachenfeststellung: Was ist geschehen?
2. Kausalerklärende Analyse des Geschehenen: Wie ist das Ge-
schehene entstanden? Wodurch ist es verursacht?
3. Sozial-psychologische Kritik:
a) Vergleichung der formulierten (exoterischen) Theorien, Prin-
zipien usw. mit der wirklichen (esoterischen) Tendenz und den lii-
storischen Funktionen und dieser beiden mit dem praktischen Ver-
halten, der konkreten Wirkung, dem tatsächlichen Erfolge der ge-
sellschaftlichen Faktoren.
b) Vergleichung der in den verschiedenen Gesellschaftskreisen
herrschenden traditionellen Vorstellungen und überhaupt exoteri-
schen Auffassungen von historisch wichtigen Tatsachen mit ihrem
^wirklichen Wesen und beider mit dem konkreten Verhalten der ge-
selbchaftlichen Faktoren.
c) Ermittlung der Ursachen der Divergenzen.
4. Werturteilende Kritik des Geschehenen (auch Selbstkritik):
Was sage ich vom Standpunkt meines politischen Ziels, meines po-
litischen Strebens aus über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit,
359
Zweckmäßigkeif oder Unzweckmäßigkeit, Nützlichkeit oder Schäd>
lichkeit der Haltung und Wirksamkeit der in meinem Sinne wirk-
lich oder potentiell wirkenden Faktoren ,, meiner Richtung" und zu
meiner eigenen Leistung dabei? Haben die Meinigen und ich dabei
richtig gehandelt?
5. Betrachtend und auch für die Zukunft folgernd (politische
Prognose) :
Wie werden die Bedingungen für meine Politik in Zukunft sein?
Wie werden sich die übrigen positiven und negativen, übereinstim-
menden und abweichenden Faktoren künftig in bezug auf meine
Politik verhalten? Über welche Kräfte werden sie verfügen?
6. Das praktisch-politische Fazit, die praktisch-politische Kon-
sequenz für die Zukunft ziehend:
Was ergibt sich aus alledem für mich als Pflicht für Gregen-
Wart und Zukunft? Welche Richtlinie und Aufgabe ergibt sich
daraus für mich? Wie habe ich, wie haben wir uns demgemäß
nunmehr zu verhalten?
Diese Gedankenoperationen können blitzschnell vollführt werden,
und natürlich, ohne daß sie nach obiger Systematik bewußt ge-
trennt würden. Es liegt bei dieser politischen Orientierung ähnlich
wie bei der strategisch-taktischen Orientierung, die in mancher Hin-
sicht nur ein Spezialfall von ihr ist.
Die Qualifikation des Politikers richtet sich zum guten Teil nach
der Schnelligkeit und Treffsicherheit, mit der diese Operationen
ausgeführt werden. Nicht minder, ja noch mehr jedoch nach Cha-
rakterfestigkeit, Willens- und Tatkraft.
Die Gedankenoperationen des Historiker« im
Verhältnis zu denen des Politikers.
Die Gedankenoperationen des Historikers decken sich mit denen
zu I, a, 3 des Politikers.
Hinzu tritt als Gegenstück zu 5 des .Politikers die historische
Prognose, die sich von der des Politikers durch ihre Objektivität
unterscheidet, durch ihre Losgelöstheit vom politischen Zwecke^ von
der aktiven Tendenz, vom Willen des Politikers.
Die zu 4 und 6 des Politikers fallen beim Historiker, der mit
Aktivität nichts zu tun hat, sondern nur mit Kontemplation, be-
griffsgemäß fort.
36o
S 9. Exoterische Formen und esoterisches Wesen
der politischen Tätigkeit
Politik ist Handehi, Wirken. Ihr weitaus wichtigstes und Haupt-
stück ist: Wirken auf andere Menschen, so daß sie den gewollten
Gesellschaftszustand erhalten oder herstellen helfen. Um diese Wir-
kung zu erzielen, um die Menschen so zu beeinflussen, wie es dem
politischen Zweck am nutzlichsten ist, bedarf es je nach der Be-
schaffenheit der Menschen verschiedener Mittel und Methoden.
Der Sinn der Sprache, der Worte, einzelner Vorstellungen, Bil-
der usw. und ihr Wert und Gewicht ist unter verschiedenen Um-
ständen durchaus verschieden, verschieden bei denselben Menschen
zu anderen Zeiten und bei anderen Menschen und Gesellschafts-
teileu zur gleichen Zeit; je nach der Stimmung der Zeit, der Art
des Lebens, den herrschenden Gedankenrichtungen. Was bei die-
sen ausgesprochen werden muß, ist bei jenen überflüssig, weil
selbstverständlich; was literarisch einen bestimmten Sinn und Wert
hat, kann unter Umständen in der politischen Praxis Schall und
Rauch sein, während der gleiche Gedanke, den jene literarische
Formulierung für den Literaten und Wissenschaftler ausdrückt,
in der politischen Praxis, um erfaßt zu werden, so dargestellt werden
muß, daß der Literat und Wissenschaftler überlegen den Kopf
schütteln. Vgl. das Beispiel des — der literarischen Form nach —
„marxistischen'' Schweizer und der — der literarischen Form nach
— viel weniger „marxistischen" Eisenacher, die doch die wesent-
lichen Prinzipien des Marxismus den Massen, auf die sie wirken
wollten und mußten, viel besser beizubringen wußten als die
Schweizer usw.; und zwar gerade, indem sie die wissenschaftlich
inkorrekte, anfechtbare Ausdrucksweise wählten, die den Marx und
Engels die Haare sträuben machte, aber nm*, weil sie einen andern
Zweck ins Auge faßten, während die, auf die die Eisenacher wirken
wollten, in dieser wissenschaftlich anfechtbaren Form die wissen-
schaftlich richtigen Begriffe beigebracht bekamen.
In dem Verkennen der Relativität der Sprache, der verschiedenen
Wirksamkeit der Worte und Handlungen in verschiedenen Zeiten^
unter verschiedenen Bevölkerungsschichten usw. liegt eine Haupt-
fehlerquelle der Kritik von politischen Leistungen aus andern Ver-
hältnissen, die als Unterlage die literarisch und sonst sprachlich
36i
formulierten Emanationen wählt und diesen Stoff literarisch be-
urteilt. Die exoterische Form, die der praktische Politiker anwen-
den mußte, um wirksam zu sein, hat in solchen Fällen nicht die-
jenigen, für die sie bestimmt war, sondern nur die literarischen Kri-
tiker irregeführt und getäuscht. Den Arbeitern war sie die adä-
quate Ausdrucksweise der esoterischen Wahrheit. Kurz die Form
scheint nur der literarischen Kritik aus ortlicher oder zeitlicher
Ferne exoterisch; in Wahrheit ist sie esoterisch — nur eben nach
der Auf fassungs- und Ausdrucksweise derer, denen sie in concreto
galt.
S lo. Dialektische Umwege der politischen Psycho-
logie. Direkte und indirekte Wirkungsweise der
Politik
Politische Handlungen haben in der internationalen Politik keine
absolute Bedeutung, nicht diejenige Bedeutung, die sich aus dem
bloßen Wortsinn, dem alltäglich einfachen Sinn der sonstigen Hand-
lung ergibt. Ihre Bedeutung hängt ab vom Zeitpunkt und den Um-
ständen, von der Stellung dessen, der sie vollzieht, vor allem aber
vom Ort, wo sie geschieht. Die absolut gleiche Handlung (Rede usw.)
wirkt ganz verschieden, je nachdem sie im eigenen oder im feind-
lichen oder im neutralen Lande, ob sie von einem Angehörigen
dieser oder jener Partei oder eines neutralen Landes vollzogen wird.
Der Angriff eines Deutschen in Deutschland gegen die deutsche
Regierung hat einen ganz andern Kausalsinn als derselbe Angriff
eines Deutschen in England oder in der Schweiz oder eines Neu-
tralen in Neutralien oder England oder Deutschland oder eines
Engländers in England oder Deutschland oder Neutralien gegen
die deutsche Regierung.
Im Inland, ins Angesicht der Angegriffenen hinein geübt, wirkt
ein Angriff direkt, d. h. schädigend; ein aus dem Inland gegen
das feindliche Ausland oder aus dem feindlichen Ausland gegen
das Inland gerichteter Angriff kehrt sich auf diesem Wege um,
vnrkt entgegengesetzt, als seinem einfachen Sinn entspricht; statt
schädigend fördernd. Durch einen Angriff gegen die eigene Re-
gierung kann ich die feindliche Regierung schädigen und dem eige-
nen Lande nützen; durch eine Unterstützung der eigenen Regierung
36a
die feindliche Regierung unterstützen, damit eigenes Land schä-
digen.
Das gilt von der Wirkung auf das Proletariat der verschiedenen
Länder« als Dialektik des internationalen proletarischen Klassen-
kampfes im Kriege; es gilt aber auch, nur minder aufdringlich, im
Frieden; und es gilt nicht nur von der Wirkung auf das Proletariat,
Bondem auch von andern Klassen; aber es gilt überall nur,
sofern dem Auslande mißtraut, auf das von dort
Kommende widerspruchsvoll, opponierend rea-
giert wird.
Die Ursache der Wirkungsumkehrung ist eben die widerspre-
chende, opponierende Reaktion des Mißtrauens, der Feindschaft.
Wo und soweit Vertrauen in Angehörige eines feindlichen Landes
besteht, ist direkte Wirkung möglich. Doch kann sie nur sehr
schwach sein, weil z. B. der Angriff (um diesen Hauptfall hervor-
zuheben) gegen Feindesland bzw. die feindliche Regierung stets nur
allzu bequem ist, weder Kraft noch andre starke Eigenschaften
zeigt, die starke Wirkungen auslösen könnten.
Die Wirkungsumkehr in der zwischenstaatlichen Politik findet
ihr innergesellschaftliches Gegenstück in der politischen Ausein-
andersetzung zwischen einander feindlichen Teilen derselben Ge-
sellschaft. Ein sozialdemokratischer Angriff gegen einen Konser-
vativen z. B. wirkt, soweit die Widerspruchsreaktion des Mißtrauens,
der Feindseligkeit geht, unter den Konservativen nicht schädigend,
sondern rühmlich; ebenso ein konservativer Angriff gegen einen
Sozialdemokraten unter den letzteren. Dagegen wirkt ein sozial-
demokratischer Angriff gegen einen Sozialdemokraten — das Fehlen
innerer Gegensätze unter diesen vorausgesetzt — ebenso direkt wie
ein konservativer Angriff gegen einen Konservativen.
Wirkungsumkehr tritt überall ein, wo die Kausalität ein wider-
sprechend reagierendes Objekt trifft, so wie Strahlenbrechung beim
Übergang der Strahlen in ein Medium von abweichendem Brechungs-
winkel.
INHALT
Saite
Einleitung des Herausgebers 7
Vorbemerkung des Verfassers 14
Erster Abschnitt. Grundbegriffe und Einteilungen • • 17
1. Kapitel. Das organische Geschehen. Vorläufige Aufstellung
und Umschreibung einiger Grundbegriffe 19
2. Kapitel. Die Bedür^sse, Triebe und ihre Sphären .... 55
5. Kapitel. Das Schema der menschlichen Funktionsbeziehungen 45
§ 1. Kreis und Gliederungsteil 45
§ 2. Soziale Funktionsgliederung 54
4. Kapitel. Die Schöpfungskräfte. Das gesellschaftliche Feudmn 62
§ 1 . Die vier Hauptarten der menschlichen Schöpfungskräfte
und ihre Einheit 62
§ 2. Die sozialen Schöpfimgskräfte des Menschen. Ihre vier
Hauptarten 64
§ 5. Das gesellschaftliche Feudum 66
§ 4. Einige Einzelheiten 69
§ 5. Vom Streite der vier Kategorien 71
§ 6. Weiteres zum gesellschaftlichen Feudum 72
§ 7. Das Zeitmoment in der Entwicklung 75
Zweiter Abschnitt. Zusammenhänge und Gesetze- • • • 77
I.Kapitel. Objektive und subjektive Voraussetzungen der Kiütor 79
2. Kapitel. Wirtschaftliche Verhältnisse und Ideologien. ... 95
5. Kapitel. Vom Kontrast und VoUendimgs- und Vollkonunen-
heits-Bedürfnis 119
4. Kapitel. Kulturheeinflussimg, Resorption imd Rezeption 15S
§ 1. Soziale Resorption im allgemeinen 158
§ 2. Einteilungen 1^
§ 5. Die verschiedenen Funktionäre der Resorption .... 145
§ 4. Die Arten des Resorptions wandeis 144
§ 5. Die zwei Stadien der Resorption 144
§ 6. Zur Abgrenzung von Gegenstand und aktivem Funktionär
der Resorption in den Einzelfallen 145
§ 7. Resprptionsfähigkeit und -Unfähigkeit der Gesellschaft 146
364
Seit«
§ 8. ResorptioMtragheit ' 150
§ 9. Absolute und relative Resorptionseigniuig des Objekts 151
§ 10. Gesellschaftlich nötige und nichtnötige Nichtresorption 152
§ 11. Die Aussicht für Resorption 152
§ 12. Soziale Rezeption im allgemeinen 154
§ 15. Einteilungen 155
§ 14. Umfang der kulturellen Rezeptibilität 162
§ 15. Rückrezeption ins Ursprungsland 165
§ 16. Die Abgrenzung des einzelnen Resorptions- imd Rezep-
tionsprozesses 164
§ 17. Verhältnis von Resorption und Rezeption 165
§ 18. Die Bedeutung der Erfahrung als Resorptions- und
Rezeptionsanregung 165
§ 19. Völlige oder teilweise Wiederausscheidung von Er-
rungenschaften als Gegenstück der Resorption und
Rezeption 166
§ 20. Die Totalresorption und die Generalrezeption der
heutigen Zeit und ihre Bestimmungsgründe .... 167
§ 21. Akkulturation — Dekulturation — InQuation .... 168
§ 22. Abhängigkeits- und Selbständigkeitsgrade der Kulturen 169
§ 25. Die Verschwendung von „StofT* und „Kraft^* in der
menschliehen Kulturentwicklu;>g; Involution und
Atavismus 171
§ 24. Das Mäzenatentum 175
§ 25. Die zwei Phasen der zwischengesellschaftlichen Ak-
kulturation 175
§ 26. Von der Gleichartigkeit aller menschlichen Kultur und
ihren Ursachen 176
§ 27. Die Umwelt als Gesetzgeber 178
§ 28. Zusammenfassung 179
5. Kapitel. Gesellschaftliche Kausalität und Energetik .... 180
§ 1. Einleitung 180
§ 2. Logische und teleologische Kausalität 182
§ 5. Organische und mechanische Kausalität 185
4. Universal- und Spezialkausalität 184
5. Kausalität und Urteil 184
§ 6. Das Verhältnis zwischen dem logischan und dem teleo-
logischen Urteil 185
§ 7. Die immanente Transzendenz von Raum, Zeit und
Kausalität 187
§ 8. Die teleologischen Kausalitätsprinzipien im Wechsel
des teleologischen Urteilsstandpunkts 188
§ 9. Schema für die spezielle Untersuchung 189
365
Seite
§ 10. Ursache im praktischen und theoretischen Sinn, Be-
griff und Wesen der Ursache in der Erfahrungs-
wissenschaft 189
§ 11. Kategorien der Wirkungen 190
§ 12. Kategorien der gesellschaftlichen Ursachen 191
§ 13. Von den allgemeinen und besonderen Ursachen in der
sozialen Kausalität 90a
§ 14. Der Motiven- und Wirkungswandel 204
§ 15. Die Dialektik in der Gesellschaftspsychologie .... 206
§ 16. Abschwächung des Wirkungswandels durch Integration 208
§ 17. Individuen und Gesellschaft 210
6. Kapitel. Grundbegriffe sozialer Entwicklung. Darwinismus 215
§ 1. Allgemeines über Entwicklung; Darwins Lehre ... 215
§ 2. Die Arten des Kampfes ums natürliche und soziale Dasein 219
§ 5. Der soziale Kampf im besonderen 221
§ 4. Soziale Zuchtwahl im allgemeinen und soziale Anpassung . 225
§ 5. Soziale Solidarität 229
§ 6. Das Verhältnis zwischen „Kampf ums Dasein" i. w. S.
und „Solidarität" 252
§ 7. Tendenz zur Steigerung der natürlichen und der sozialen
Solidarität 259
§ 8. Das Darwinsche Schema und der Höherentwicklungs-
tneb 234
§ 9. Evolution und Revolution 235
7. Kapitel. Soziale Herrschaftsverhältnisse. Die Rolle der Gewalt 236
§ 1 . Bedingungen und Mittel der Beherrschung des Menschen
durch den Menschen 236
§ 2. Organisatorische Beherrschimg 239
§ 3. Grade und Formen der Beherrschung des Menschen
durch den Menschen 240
§ 4. Von der Gewalt, speziell den Waffen und anderen
Zwangswerkzeugen, als Mittel der Beherrschung . . 241
§ 5. Die Gewalt als bildendes Prinzip und Regulator der '
sozialen Gestaltimgen 242
§ 6. Solidarität und Dissolidarität 242
§ 7. Solidaritätsmittel der verschiedenen Instanten .... 245
Exkurs: Gnmdzüge einer Marxkritik 247
8. Kapitel. Der Entwicklungs-Prozeß 280
§ 1. Der Höherentwicklungstrieb 280
2. Wirklichkeit oder Wahrhaftigkeit des menschlichen
Fortschritts 282
3. Sind in sich vollkommene, absolut harmonische, abge-
schlossene Kulturzustände wirklich oder möglich? . . 285
366
Seite
§ 4. Hinkende Kultiirzustände und nochmals Wesen der
Entwicklung »87
§ 5. Vervollkommnungstriebe 288
§ 6. Der Mechanismus der Entwicklung, die Bewegungsge-
setze 292
§ 7. Die Hierachie der Entwicklungsfaktoren — das relative
Primum movens 295
§ 8. Der Infinitesimalcharakter des Entwicklungsprozesses . 298
Ausblick. Das Telos der Kulturentwicklung. Der neue Huma-
nismus. Der kosmische Universalismus der Zukunft . 299
Dritter Abschnitt. Einzelne Kulturerscheinungen .... 505
1. Kapitel. Religion 505
§ 1. Allgemeines zur Psychologie und Logik des religiösen
Bewußtseins 305
§ 2. Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich der Religion 506
§ 5. Wesen der Religion — seine Zergliederung 508
§ 4. Das projektive Element der Religion 508
§ 5. Das reflexive Element der Religion 511
§ 6. Das aktive Element der Religion 514
§ 7. Religion und Erfahrungswelt 514
§ 8. Was macht die Größe der Bibel aus? Was erklärt
ihre unvergleichliche Wirkimg? 316
2. Kapitel. Kunst 318
§ 1. Wesen und Aufgabe der Kunst 318
§ 2. „Form" und „Formung*' 322
§ 3. Eigenart der künstlerischen Wirklichkeitsgestaltung . . 323
§ 4. Das Tragikomische 324
§ 5. Das Tragische und das Komische 326
§ 6. Drama imd Roman 327
§ 7. Apologie der Tendenzkunst 332
§ 8. Das „Volk" und die Kunst 334
§ 9. Vom Traum 339
3. Kapitel. Moral; besonders: in der Politik 341
§ 1. Der gesellschaftliche Primat des Willens und des Handelns 341
§ 2. Moral 343
§ 3. Das moralische Urteil 344
§ 4. Von moralischer Beurteilung imd Argumentation in
innergesellschaftlichen Gegensätzen und Kämpfen . . 344
4. Kapitel. Politik 348
§ 1. Definition des Begriffs Politik 348
§ 2. Politische Willensbildung 348
§ 3. Innere und äußere Politik 350
367