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Full text of "Studien zur Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus"

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HANDBOUND 
AT  THE 


UNINERSITV  OF 
TORONTO  PRESS 


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Werner  Sombart 

Studien 
zur  Entwicklung  sgesdiidite 
des  modernen  Kapitalismus 


Erster  Band 

Luxus  und  Kapitalismus 


Verlag  von  Duncker  &  Humblot 
Mündien    und   Leipzig    1913 


Eil 


Werner  Sombart 


Luxus  und 

Kapitalismus 


Verlag  von  Duncker  &  Humblot     \  '^  ^    \  %■ 
Mündien    und  Leipzig    1913    ^^^y- 


Alle  Rechte  vorbehalten 


Copyright  by  Duncker  &  Humblot 
München  und  Leipzig  1913 


Altenburg 

Pierersche  Hofbuchdruckerei 

Stephan  Geibel  &  Co. 


Vorwort 

Die  Studien,  die  ich  mit  diesem  Bande  zu  veröffentlichen 
beginne,  sind  Ergebnisse  meiner  wirtschaftsgeschichtlichen 
Untersuchungen,  die  ich  für  eine  Neubearbeitung  meines 
„Modernen  Kapitalismus"  anstellen  mußte.  Ich  lasse  sie  hier 
gesondert  erscheinen,  aus  dem  äußeren  Grunde:  weil  sie  zu 
umfangreich  geworden  sind,  um  sich  in  den  Kahmen  einer 
allgemeinen  Darstellung  einfügen  zu  lassen ;  aus  dem  inneren 
Grunde:  weil  sie  sachlich  die  Probleme  über  das  Gebiet  der 
Wirtschaftsgeschichte  hinaus  viel  weiter  verfolgen,  als  es  eine 
strenge  wirtschaftsgeschichtliche  Gedankenführung  zulassen 
darf,  weil  sie  auf  der  anderen  Seite  als  in  sich  geschlossene 
Einheiten  erscheinen,  die  besser  in  abgesonderter  Behandlung 
zur  Geltung  kommen,  weil  sie  alsdann  von  ihrem  eigenen 
Konstruktionszentrum  aus  angesehen  werden  können. 


Mit  meinem  (voriges  Jahr  erschienenen)  Buche  „Die 
Juden  und  das  Wirtschaftsleben"  habe  ich  im  Grunde  den 
Anfang  mit  der  Veröffentlichung  dieser  Studien  gemacht. 
Denn  dort  habe  ich,  ähnlich  wie  es  hier  geschieht,  ein  be- 
stimmtes Problem  in  der  Entwicklungsgeschichte  des  modernen 
Kapitalismus  in  allen  seinen  Verzweigungen  der  Prüfung 
unterworfen.  Lag  mir  damals  daran,  zu  zeigen:  welche  über- 
ragende Bedeutung  für  das  Wirtschaftsleben  der  europäischen 
Völker  der  alte  Judengott  Jehova  gehabt  hat,  so  möchte  ich 
in  den  zwei  Bänden,  die  ich  jetzt  der  Öffentlichkeit  preisgebe. 


YI  Vorwort 

den   Auteil   zweier  anderer  Gottheiten  am  Aufbau  des  mo- 
dernen Kapitalismus  nachweisen. 


Der  zweite  Band  dieser  „Studien"  behandelt  den  Zu- 
sammenhang zwischen  Krieg  und  Kapitalismus.  Dieser 
erste  Band,  der  den  Titel  „Luxus  und  Kapitalismus" 
führt,  sollte  aber  eigentlich  „Liebe,  Luxus  und  Kapi- 
talismus" heißen,  weil  sein  Grundgedanke  der  ist:  nach- 
zuweisen, daß  durch  die  Umwälzungen,  die  die  europäische 
Gesellschaft  seit  den  Kreuzzügen  erfährt,  sich  das  Verhältnis 
der  Geschlechter  zueinander  wandelt;  daß  infolge  dieses 
Wandels  die  gesamte  Lebensführung  der  herrschenden  Klassen 
sich  neugestaltet ;  und  daß  diese  Neugestaltung  einen  wesent- 
lichen Einfluß  auf  die  Herausbildung  des  modernen  Wirt- 
schaftssystems ausübt. 

M  i  1 1  e  1  -  S  c  h  r  e  i  b  e  r  h  a  u  im  Riesengebirge, 
den  12.  November  1912. 

Werner  Sombart. 


VII 


Inhaltsverzeidinis 


Seite 

Ersfes  Kapitel :   Die  neue  Gesellschaft i 

I.  Der  Hof 2 

U.  Der  bürgerliche  Reichtum 5 

III.  Der  neue  Adel 10 

Zweites  Kapitel:   Die  Großstadt 25 

I.  Die  Großstädte  des  16.,  17.  und  18.  Jahrhunderts 25 

II.  Die  Entstehung  und  die  innere  Gliederung  der  Großstädte     .    .  28 

III.  Die  Städtetheorien  des  18.  Jahrhunderts 41 

Drittes  Kapitel:   Die  Säkularisation  der  Liebe 45 

I.  Der  Sieg  des  Illegitimitätspriuzips  in  der  Liebe 48 

II.  Die  Kurtisane 59 

Viertes  Kapitel:   Die  Entfaltung  des  Luxus 70 

I.  Begriff  und  Wesen  des  Luxus 71 

II.  Die  P'ürstenhöfe 77 

ni.  Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen 94 

IV.  Der  Sieg  des  Weibchens 111 

1.  Die  allgemeinen  Entwicklungstendenzen  des  Luxus 111 

2.  Der  Luxus  zu  Hause 116 

a)  Der  Eßluxus  —  b)  Der  Wohnluxus 

3.  Der  Luxus  iu  der  Stadt 126 

Fünftes  Kapitel :  Die  Geburt  des  Kapitalismus  aus  dem  Luxus  133 

1.  nichtige  und  falsche  Problemstellung 133 

II.  Der  Luxus  und  der  Handel 141 

1.  Der  Großhandel 141 

2.  Der  Detailhandel 152 

III.  Der  Luxus  und  die  Landwirtschaft 161 

1.  In  Eurojia 161 

2.  In  den  Kolonien 169 


Yjjj  Inhaltsverzeichnis 

Seite 

IV.  Der  Luxus  und  die  Industrie 172 

1.  Die  Bedeutung  der  Luxusindustrie 172 

2.  Die  reinen  Luxusgewerbe 177 

a)  Die  Seidenindustrie  —  b)  Die  Spitzenindustrie  —  c)  Die 
Spiegelfabrikation  —  d)  Die  Porzellanindustrie  —  ej  Ver- 
schiedene Industrien 

3.  Die  gemischten  Gewerbe 185 

a)  Die  Wollindustrie  —  b)  Die  Leinenindustrie  —  c)  Die 
Schneiderei  —  d)  Lederarbeiter  (Schuhmacher,  Sattler, 
Gerber)  —  e)  Hutmacherei  —  f)  Baugewerbe  —  g)  Stell- 
macherei,  Tapeziererei  —  h)  Tischlerei 

4.  Die  revolutionierende  Kraft  des  Luxuskonsums 202 

Quellen  und  Literaturnachweise 207 


Erstes  Kapitel:   Die  neue  Gesellschaft 


Quellen  und  Literatur 

Die  Geschichte  des  Hofes  (I)  ist  die  Geschichte  der  Staaten.  Be- 
sondere Darstellungen  sind  mir  nicht  bekannt.  Eigens  hervorhelien 
will  ich  nur  Heinrich  Laubes  Französische  Königschlösser.  Dieses 
ziemlich  unbekannte  kleine  Buch  (3  Bde.  1840)  gehört  zu  den  lebendigsten 
Geschichtsdar&tellungen.  Man  lernt  aus  ihm  die  Verhältnisse  am  fran- 
zösichen  Hofe  besser  kennen,  als  aus  den  meisten  dickleibigen  Geschichts- 
büchern (Ranke  nicht  ausgenommen).  L.  versucht,  je  aus  einem  der  be- 
rühmten Königschlösser  die  ganze  Zeit  lebendig  erstehen  zu  lassen  und 
liefert  damit  für  Frankreich  ein  Seitenstück  (im  kleinen)  zu  G.  Frey- 
tags Bildern  aus  der  deutschen  Vergangenheit.  Die  „Historiker"  werden 
ihn  mit  Fug  gering  achten. 

Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums  (II)  habe  ich  zum  ersten 
Male  zu  schildern  versucht  in  meinem  „Modernen  Kapitalismus". 

Die  in  diesem  Kapitel  abgehandelte  Geschichte  der  Umbildung 
der  oberen  Klassen  während  der  frühkapitalistischen  Epoche  (111) 
hat  ein  äußeres  und  ein  inneres  Gesicht:  das  äußere  Gesicht  zeigt  uns 
nur  die  genealogischen  Ereignisse,  und  für  diese  gibt  es  eine  umfang- 
reiche Spezialliteratur  in  den  familiengeschichtlichen 
Werken,  deren  Zahl  namentlich  für  England  Legion  ist.  Die  um- 
fassendsten Darstellungen  sind  die  von  G.  E.  C.  in  neuster  Zeit  heraus- 
gegebenen: Complete  Baronetage  1611-^1880.  6  Vols.  1901—1909;  und: 
Complete  Peerage.  12  Vols.  New  edit.  1910  begonnen.  Von  älteren 
Werken,  die  uns  hier  besonders  angehen,  nenne  ich  Arthur  Collins 
Peerage  of  England.  3  Vols.  173.5;  9  Vols.  1812;  idem,  English 
Baronetage.  1727.  Catalogue  of  Knights  from  1660  to  1760  compiled 
by  Francis  Townsend.  1833.  Peerage  of  England  etc.  3  Vols.  1790. 
W(alkley)  (T[homas]),  New  Catalogue  1652. 

Für  die  Rangverhältnisse:  C  h.  R,  Dodd,  Manual  of  Dignities  etc. 
1842;  für  die  staatsrechtlich-politischen  Probleme:  R.  Gneist,  Adel  und 
Ritterschaft  in  England.     1853,  und  die  dort  genannten  Werke. 

Soinbart,  Luxus  und  Kapitalismus  1 


2  Erstes  Kapitel:   Die  neue  Gesellschaft 

Längst  nicht  so  ergiebig  ist  die  französische  genealogische 
Literatur.  liier  kommt  von  Werken  allgemeiner  Natur  vor  allem  in 
Betracht  das  Dictionnaire  de  la  noblesse  von  D' Ho  zier. 

Dafür  ist  die  sozialgeschichtlich-monographische  Literatur  um  so 
reicher:  Werke  wie  die  von  Norm  and,  Thirion,  Bonn  äffe,  die 
ich  noch  oft  nennen  werde,  besitzt  kein  anderes  Land. 

In  diesen  Arbeiten  ist  auch  schon  die  andere  Seite  des  Problems: 
die  sozialpsychologische,  wie  man  sie  nennen  kann,  mit  berührt. 
Eine  zusammenfassende  Darstellung  der  inneren  Wandlungen,  die 
sich  in  den  oberen  Klassen  während  der  letzten  Jahrhunderte  vollzogen 
hat,  ist  mir  aber  nicht  bekannt.  Hierfür  sind  wir  also  noch  darauf  an- 
gewiesen, aus  allen  Gebieten  der  Literatur  uns  das  Beweismaterial  zu- 
sammenzutragen. Besondere  Literaturangaben  erübrigen  sich  demnach. 
Der  Leser  findet  in  den  Zitaten  eine  Anzahl  Bücher  vermerkt,  die  ihm 
weiteren  Aufschluß  zu  geben  vermögen. 


I.   Der  Hof 

hi'me  wichtige  Folgeerscheinung  und  dann  auch  wieder 
eine  entscheidende  Ursache  der  Wandlungen,  die  die  Staats- 
verfassung und  das  Heerwesen  am  Ausgange  des  Mittelalters 
durchmachen,  ist  die  Entstehung  größerer  Fürstenhöfe  in  dem 
Sinne,  den  wir  dem  Worte  heute  unterlegen. 

Vorgänger  und  Vorbilder  der  späteren  Entwicklung  sind 
auch  hier,  wie  auf  so  vielen  Gebieten,  die  Kirchenfürsten  ge- 
wesen. Vielleicht  war  Avignon  der  erste  „moderne"  Hof,  weil 
hier  zuerst  die  beiden  Gruppen  von  Personen  dauernd  sich 
zusammenfanden  und  den  Ton  angaben,  die  in  den  folgenden 
Jahrhunderten  das  bildeten,  was  man  die  Hofgesellschaft 
nannte :  Edelleute  ohne  einen  andern  Beruf,  als  den  Inter- 
essen des  Hofes  zu  dienen,  und  schöne  Frauen,  „souvent 
distinguöes  par  les  mani^res  et  l'esprit",  die  recht  eigentlich 
(wie  wir  in  anderem  Zusammenhange  noch  genauer  verfolgen 
werden)  dem  Leben  und  Treiben  ihr  Gepräge  aufdrückten. 
Die  Bedeutung  der  Avignoneser  Episode  lag  vor  allem  darin, 
daß  sich  hier  zum  ersten  Male  um  das  Oberhaupt  der  Kirche 
die    geistlichen    Grands    Seigneurs    fast   ganz    Europas    ver- 


Der  Hof  3 

sammelten  und  ihren  Glanz  entfalteten,  wie  uns  das  Johann  XX II. 
in  dem  Dekret  Etsi  deceat  anschaulich  vor  Augen  geführt  hat. 

Daß  während  des  15.  und  in  den  ersten  Jahren  des 
16.  Jahrhunderts  der  Hof  der  römischen  Päpste  mitsamt  den 
päpstlichen  Kipoten  der  glanzvollste  war  und  als  ein  Muster 
des  freien  Tons  (der  einen  Erasmus  zur  Begeisterung  fortriß), 
der  Pracht  und  der  höfischen  Sitten  galt,  wissen  wir:  der 
cortegiano  Romano  näherte  sich  am  ehesten  dem  Idealbilde, 
das  Cabtiglioue  vom  Höfling  seiner  Zeit  entwarf.  Wir  werden 
noch  sehen ,  wie  der  weltliche  Glanz  gerade  hier  in  Rom 
während  der  Herrschaft  der  großen  Renaissancepäpste  seine 
höchste  Entfaltung  erlebte. 

Mit  den  Höfen  der  Päpste  wetteiferten  die  der  übrigen 
Fürsten  Italiens.  Einer  der  frühesten  Fürstenhöfe,  der  mo- 
dernes Gepräge  trug,  war  der  des  Alphons  von  Neapel,  von 
dem  man  gesagt  hat,  daß  er  „den  Ruhm,  die  Pracht  und  das 
schöne  Geschlecht"  über  alles  liebte.  Auch  die  Höfe  zu  Mai- 
land, zu  Ferrara  und  in  andern  kleinen  Residenzen  entfalten 
schon  im  15.  Jahrhundert  ein  ganz  und  gar  modernes  Leben. 
Begreiflicherweise  entwickelten  sich  gerade  in  Italien  die 
Gruudzüge  dieses  Lebens  am  frühesten,  weil  hier  die  Be- 
dingungen am  frühesten  erfüllt  waren:  Niedergang  des  Ritter- 
tums, „Verstadtlichung"  des  Adels,  Ausbildung  des  absoluten 
Staates,  Wiedergeburt  der  Künste  und  Wissenschaften,  gesell- 
schaftliche Talente,  größerer  Reichtum  usw. 

Aber  für  die  Geschichte  des  Hofwesens  von  entscheidender 
Bedeutung  wurde  doch  die  Herausbildung  eines  modernen 
Hofes  in  dem  so  viel  größeren  und  mächtigeren  Frankreich, 
das  ja  dann  seit  dem  Ende  des  16.  und  während  der  beiden 
folgenden  Jahrhunderte  der  unbestrittene  Lehrmeister  in  allen 
Angelegenheiten  wurde,  die  das  höfische  Leben  betraf. 

Der  Begründer  des  französischen  Hofes  ist  Franz  I.  Zwar 
hatte  Ludwig  XL  schon  eine  große  Wendung  dadurch  herbei- 
geführt, daß  er  seinen  officiers  de  la  maison  den  Titel  officiers 


4  Erstes  Kapitel :    Die  neue  Gesellschaft 

de  France  gab  und  damit  das  Königshaus  mit  Frankreich 
identifizierte.  Er  bereitete  mit  diesem  Schritte  den  Hof  vor, 
der  früher  nur  als  Privatgesellschaft  vorhanden  sein  konnte. 
Aber  erst  Franz  I.  schuf  den  Hof,  und  er  schuf  ihn  dadurch, 
daß  er  die  Frauen  zur  Herrschaft  brachte.  Er  soll  den  Aus- 
spruch getan  haben:  daß  ein  Hof  ohne  Frauen  einem  Jahr 
ohne  Frühling,  einem  Frühling  ohne  Rosen  gleiche.  Darum 
rief  er  die  Edeldamen  herbei,  die  früher  ihr  Leben  in  den 
alten,  grauen  Donjons  ihrer  Burgen  vertrauert  hatten.  Er 
schuf  den  Hof  mit  allem  klugen  Despotismus,  mit  allem  Reize, 
so  daß  alles  Leben  und  alle  Welt  des  Landes  nur  um  den 
König  her  zu  finden  war.  „Seine  Mutter  führte  diesen  großen 
Reigen  an,  sie  suchte  die  schönen  Mädchen  aus,  die  Schwester 
Margaretha  gab  eine  andere  Würze,  das  Spiel  der  Phantasie 
und  d(  s  witzigen  Geistes,  und  Franz  breitete  über  alles  den 
Glanz  der  Formen  im  Raum  und  Feste  und  brachte  die  Be- 
wegung mit  dem  Begehren  und  Wechseln  ^"  So  entstand  mit 
den  Weibern  die  Intrige  und  die  Galanterie  und  (was  wir 
später  genauer  verfolgen  werden)  der  Luxus.  Was  Franz  I. 
begründet  hatte,  bauten  dann  die  großen  Ludwige  nur  ins 
Gigantische  weiter  aus. 

Wie  sehr  es  die  Herrschaft  der  Frau  war,  auf  die  diese 
ganze  Welt  sich  gründete,  lehrt  uns  ihr  Anblick,  und  die 
Zeitgenossen  bestätigen  es. 

Ich  führe  die  Aussprüche  zweier  Männer  an:  einen  aus  dem  Anfang, 
einen  aus  der  letzten  Zeit  dieser  höfisch-weibischen  Zeit,  die,  ganz  und 
gar  verschieden  voneinander,  das  eine  gemeinsam  haben,  daß  sie  in  diesen 
Fragen  zweifellos  ein  sachverständiges  Urteil  abzugeben  sehr  wohl  in 
der  Lage  sind:  Sully  und  Mercier. 

„11  ne  faut  que  jeter  les  yeux  sur  tant  de  Gentilhommes  metifs, 
dont  la  Cour  et  la  Ville  sont  pleins,  vous  n'y  voyez  plus  rien  de  cette 
vertu  simple,  male  et  nerveuse  de  leurs  Ancetres;  nuls  sentiments;  nulle 
solidite  dans  l'esprit;  air  etourdie  et  evapore;  passion  pour  le  jeu  et  la 
debauche;  soin  de  leur  parure;  raffinements  sur  les  parfums  et  sur 
toutes  les  autres  parties  de  la  mollesse:  vous  diriez  qu'ils  cher- 
chent  ä  l'emporter  sur  les  femmes."     Sully,  Mem.  4,  16. 


Der  bürgerliche  Reichtum  5 

„On  les  a  etourdies  ( —  les  nobles  — )  avec  tonte  la  pompe  qui  en- 
vironne  les  cours;  on  a  institut-  des  fetes  poiir  les  amollir;  les  femmes, 
qui  vivoient  dans  la  solitude  et  dans  les  devoirs  de  l'^conomie  domcstique, 
se  trouvent  flattees  d'attirer  les  regards;  lour  coquetterie.  Icur  ambition 
naturelle  y  ont  trouv«'  leur  compte;  elles  ont  brille  pres  du  tröne,  ä. 
raison  de  leurs  charmes.  II  a  fallu  que  leurs  esclaves  ne  s'öloignassent 
point  du  sejour  de  leur  puissance;  elles  sont  devenues  les  reines 
de  la  societe  et  les  arbitres  du  goüt  et  des  plaisirs...  elles 
ont  transforme  de  pures  bagatelles  eu  importantes  affaires;  elles  ont 
cree  le  costume,  l'i'tiquette,  les  modes,  les  parures,  les  prt'tVrences,  les 
Conventions  pueriles  ...     Mercier,  Tableau  de  Paris  (1783),  1,  21  f. 

Die  übrigen  Höfe  Europas  hatten  entweder  keine  Be- 
deutung für  den  Gang  des  Kulturlebens,  oder  sie  waren  Ab- 
klatsche des  französischen  Hofes,  Das  gilt  insbesondere  auch 
von  dem  englischen  Hofe,  dessen  Begründung  recht  eigentlich 
erst  in  die  Zeit  der  Stuarts  fällt.  Noch  in  der  Zeit  Hein- 
richs VIII.  schrieb  ein  Zeitgenosse:  „Every  gentleman  Hyeth 
into  the  country.  Few  that  inhabit  eitles  or  towns;  few 
that  have  any  regard  of  them^."  Auch  der  Hof  der  Elisabeth 
war  nicht  das,  was  wir  unter  einem  modernen  Hofe,  wie  ihn 
iu  klassischer  Form  der  französische  darstellt,  verstehen:  es 
fehlte  ihm  das  wichtigste:  die  Herrschaft  der  Frau.  Was 
paradox  klingt,  da  ja  doch  eine  Frau  auf  dem  Throne  saß. 
"Was  aber  sofort  verstanden  wird,  sobald  wir  uns  klar  machen, 
daß  die  Herrschaft  der  Frau  vor  allem  begründet  wurde  durch 
die  Herrschaft  der  illegitimen  Frau.  Worüber  weiter  unten 
gehandelt  werden  soll. 

IL   Der  bürgerlidie  Reiditum 

Ausführlich  habe  ich  anderswo  zur  Darstellung  gebracht, 
wie  aus  tausend  Quellen  während  des  Mittelalters  und  den 
darauf  folgenden  Jahrhunderten  ein  neuer  Reichtum  hervor- 
bricht, den  wir  im  Gegensatz  zu  dem  feudalen  Reichtum  den 
bürgerlichen  nennen  können.  Die  dort  gewonnenen  Einsichten 
verwenden  wir  hier,  um  aus  ihnen  zu  lernen,  wie  sich  infolge 
dieser  Reichtumsbildungen  die  Struktur  der  alten  Gesellschaft 


Q  Erstes  Kapitel:    Die  neue  Gesellschaft 

voD  Grund  aus  ändert,  weil  die  unter  den  Fürsten  gelagerte 
Obei-schicht  der  Bevölkerung,  die  die  Spitzen  von  der  misera 
contribuens  plebs  trennt,  eine  völlig  andere  Zusammensetzung 
bekommt.  Zu  diesem  Behufe  brauchen  wir  nur  die  früher  • 
systematisch  geordneten  Tatsachen  in  eine  chronologisch- 
historische Ordnung  zu  bringen;  brauchen  wir  nur  die  uns 
bekannten  abstrakten  Möglichkeiten  der  Vermögensbildung 
in  ihrer  sozialen  Konkretheit  uns  zu  vergegenwärtigen.  Wir 
empfangen  von  jener  Neubildung  der  gesellschaftlichen  Ober- 
schicht dann  ungefähr  folgendes  Bild. 

Aller  Reichtum  des  früheren  Mittelalters  besteht  fast 
ausschließlich  aus  Grundbesitz;  jedenfalls  sind  alle  reichen 
Leute  Grundbesitzer;  und  die  großen  Grundbesitzer  bilden 
(soweit  nicht  die  Kirche  in  Betracht  kommt)  den  Adel. 
Reiche  „Bürger"  gibt  es  während  jener  Zeit  so  gut  wie  gar 
nicht;  sie  bilden,  wie  jener  Poinlane,  von  dem  wir  immer 
wieder  hören,  die  verschwindende  Ausnahme. 

Das  ändert  sich  seit  dem  13.  und  14.  Jahrhundert:  da- 
mals mehren  sich  offenbar  die  großen  Vermögen,  die  nicht 
im  feudalen  Nexus  entstanden  sind,  also  sagen  wir:  die 
großen  Geldvermögen  rasch  und  zwar  vornehmlich  in  Italien. 
Es  ist  die  Zeit,  in  der  die  Ausplünderung  des  Orients  be- 
ginnt, in  der  wahrscheinlich  reiche  Edelmetallager  in  Afrika 
erschlossen  werden,  in  der  die  Auswucherung  der  Großgrund- 
besitzer und  namentlich  der  reichen  Fürsten  einen  größeren 
Umfang  angenommen  hat. 

Was  Italien  im  13.  und  14.  Jahrhundert  erlebt,  erfährt 
Deutschland  im  15.  und  16.  Jahrhundert:  Damals  ent- 
steht der  große  Reichtum  in  den  oberdeutschen  Städten :  eine 
Folge  der  Erschließung  der  böhmisch-ungarischen  Gold-  und 
Silbergruben,  dann  auch  der  amerikanischen  Silberschätze, 
und  der  an  diese  beiden  Ereignisse  sich  anschließenden  großen 
Finanzgeschäfte:    „Zeitalter  der  Fugger". 

Holland   folgt  im  17.  Jahrhundert:    es  nimmt  teil  an 


Der  bürgerliche  Reichtum  7 

der  Ausplünderung  Spaniens  und  Portugals  und  schließt  neue 
Quellen  des  Reichtums  im  fernen  Osten  auf,  dessen  Völker 
es  mittels  Zwangshandel,  Raub  und  Sklaverei  tributpflichtig 
macht. 

Im  17.  Jahrhundert  setzt  auch  die  Reichtumsbildung  in 
Frankreich  und  England  ein.  Doch  bleibt  der  „bürger- 
liche" Reichtum  in  diesen  beiden  Ländern  bis  zum  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  offenbar  noch  in  verhältnismäßig  engen 
Grenzen.  Die  Finanzgeschäfte,  aus  denen  hier  fast  aus- 
schließlich die  großen  Geldvermögen  hervorgegangen  sind, 
nehmen  doch  erst  gegen  Ende  der  Regierungszeit  Ludwigs  XIV. 
und  nach  der  Glorious-Revolution  einen  beträchtlichen  Um- 
fang an. 

Dieser  Tatbestand  tritt  deutlich  hervor,  wenn  wir  die 
einzige  Einkommensschätzung  überblicken ,  die  wir  aus  jener 
Zeit  besitzen:  die  bekannte  Berechnung  Gregory  Kings^ 
für  das  Jahr  1688.  Danach  belief  sich  das  „Durchschnitts- 
einkommen" eines  „großen  Kaufmanns  und  Händlers  über 
See"  auf  nur  4U0  £,  das  eines  „großen  Kaufmanns  und 
Händlers  über  Land"  auf  nur  200  £\  die  Zahl  jener  schätzt 
King  auf  20ü0,  die  dieser  auf  8000.  Diesen  „bürgerlichen" 
Elementen  stehen  nun  aber  folgende  Vertreter  des  Grund- 
besitzes gegenüber: 

160  weltliche  Lords  mit  einem  durchschnittl.  Jahreseinkommen  von  2800^ 

26  geistliche    „       „        „  „  „  „    1300  „ 

800  Baronets  „        „  „  »  „     880  „ 

600  Ritter  „        „  „  „  „      650  „ 

3000  Esquires  n        n  »  »  »     ^'^0  „ 

12000  Gentleman  „        „  „  „  »     280  „ 

Unter  diesen  werden  allerdings  schon  manche  Vertreter 
des  neuen  Reichtums  gewesen  sein.  Aber  ich  bin  sicher, 
daß,  wenn  Gregory  King  auch  nur  30  Jahre  später  seine 
Schätzung  vorgenommen  hätte,  würde  er  der  rasch  erworbenen 
Reichtümer  der  Börsenspekulanten  und  Südseeschwindier  Er- 
wähnung getan  haben,   die  während   des   zweiten  Jahrzehnts 


8  Erstem  Kapitel:   Die  neue  Gesellschaft 

des  neuen  Jahrhunderts  einen  ganz  neuen  Reichtumstyp  ge- 
schaffen hatten:  unter  den  Direktoren  der  Südseegesellschaft, 
deren  Vermögen  konfisziert  wurde,  besaßen* 

2  ein  Vermögen  über  200  000  £  (je  243  000  £) 
5     „  „  zwischen  100  und  200  000  £ 

5     „  „  „  50     „     100  000    „ 

10    „  „  „  25     „      50000    „ 

Die  Einkommens-  und  Vermögensziffern ,  die  wir  bei 
Defoe  finden,  haben  schon  ein  ganz  anderes  Gesicht,  Im 
Miege-Bolton  von  1745  wird  das  Durchschnittseinkommen  des 
Gentleman  bereits  auf  500  ^  angesetzt  (p.  157). 

Was  den  großen  Umschwung  herbeigeführt  hatte,  ver- 
mögen wir  deutlich  zu  erkennen:  das  brasilianische  Gold 
und  die  Kriege  Ludwigs  XIV.,  aus  denen  zusammen  die 
großen  Finanz  und  Lieferungsgeschäfte  und  die  Spekulation 
hervorgegangen  waren :  diese  drei  wichtigsten  Quellen  großen 
Vermögens  in  der  neueren  Zeit. 

(Was  mußten  für  Reichtümer  erworben  werden  bei  der 
Aktienausgabe  solcher  Gesellschaften,  wie  der  Hudson  Bay  Co. 
oder  der  Afrikanischen  Gesellschaft,  deren  Aktien  binnen 
kurzem  von  100  auf  480  stiegen,  um  dann  auf  zwei  zu  sinken  — 
von  den  am  Südseerummel  gemachten  „Verdiensten"  gar  nicht 
zu  reden.) 

Nun  erst  tauchen  bürgerliche,  also  Mobiliarvermögen  in 
größeren  Mengen  auf,  die  sich  mit  denen  unserer  Tage  in 
Vergleich  stellen  lassen:  mit  dem  Auftauchen  des  bra- 
silianischen Goldes  endigt  die  silberne  Periode  des  modernen 
Kapitalismus  und  hebt  seine  goldene  an. 

Ebenso  wie  in  England  beobachten  wir,  wie  in  Frank- 
reich sich  um  die  Wende  des  17.  Jahrhunderts  der  Sprung 
in  den  Reichtum  vollzieht.  Hier  können  wir  die  Wandlung 
sogar  noch  deutlicher  verfolgen,  da  uns  genauere  Ziffern  zur 
Verfügung    stehen.     Ich    mache   stichprobeweise   eine   Reihe 


Der  bürgerliche  Reichtum  9 

von  Angaben  über  den  Reichtum  der  französischen  Financiers 
(also  der  Träger  der  neuen  Vermögen)  und  füge  zur  Er- 
gänzung einige  andere  Ziffern  hinzu : 

Ein  Landedelmann  hat  folgende  Aufstellung  der  Beträge  gemacht, 
über  die  in  seiner  Familie  Ileirats vertrage  abgeschlossen  worden  sind: 

1433 300  florins 

1477 1000 

1534 1200       „ 

1582 1  200  ecus  d'or 

1613 7  500  livres 

1644 16  000      „ 

1677 15  000      „ 


1707 44  0U0 

1734 360  000 

1765 150  000 


(Aus  einem  Livre  de  raison  mitgeteilt  bei  Ch.  de  Ribbe,  Les 
familles  etc.  2  [1874],  125.) 

Was  die  reichen  Turcarets  ihren  Töchtern  im  18.  Jahrhundert  an 
Aussteuerbeträgen  auszusetzen  pflegten,  erfährt  man  aus  folgenden 
Ziffern : 

La  Live  de  Bellegarde:  jede   Tochter  300  000  1.   in  bar  und   für 

10  000  1.  Brillanten; 
La  Mosson:    1700  000  1.; 
Antoine  Crozat:    1500  000  1.  (außerdem   50  000  1.   „Trinkgeld"   für 

die  Schwiegermutter:  die  Duchesse  de  Bouillon); 
Sam.  Bernard:    800  000  1.; 
Ollivier,  Comte  de  Senoza  (hatte  selbst  aber  noch  mit  Hasenfellen 

gehandelt):    1  100  000  1.  in  bar  und  100  000  1.  in  Möbeln; 
Haudry:    400  000  1.; 
La  ßeyniere:    600  000  1,  sofort,  200  000  1.  in  kurzen  Raten. 

Diese  Ziffern  setzen  uns  nicht  in  Erstaunen,  wenn  wir  von  der  Höhe 
der  Gewinne  und  Vermögen  jener  nouveaux  riches  Kenntnis  erhalten: 


Vincent  Le  Blanc  gewinnt    . 

...     17 

Hill. 

livres, 

M.  de  Saint-Fargeau    „ 

...    28 

J7 

n 

Marquis  de  la  Faye     „ 

...    20 

n 

n 

M«  de  Chaumont          „ 

.     .    .127 

n 

» 

S.  Bernard                    „ 

.  über  100 

n 

n 

Crozat                            _ 

.      „      100 

n 

n 

Fillon  de  Villenur  (f  1753)  hinterläßt    40 


]^Q  Erstes  Kapitel:   Die  neue  Gesellschaft 

Peirenc  de  Moras  hinterläßt  12—15  Mill.  livres, 
Dang(?                               „  13      „  „ 

Tournehem  (der  Adoptivvater 

der  Pompadour)  hinterläßt  20     „  „ 

Die  Paris  verdienen  bei  einem  einzigen  Emissionsgeschäft 
63  Mill.  1.  usw. 

(Ich  habe  diese  Ziffern  aus  dem  Material  zusammengetragen,  das 
T  h  i  r  i  0  n  in  seinem  bereits  erwähnten  Buche  mitteilt.) 

Gewiß  sind  die  meisten  dieser  Summen  übertrieben  (wie  ja  auch 
heute  die  meisten  Angaben  beispielsweise  über  den  Reichtum  der  amerika- 
nischen Milliardäre  übertrieben  sind).  Immerhin:  sie  lassen  keinen 
Zweifel  darüber,  daß  hier  sich  Riesenvermögen  zu  bilden  angefangen 
hatten.  Diese  Tatsache  finden  wir  durch  zahlreiche  andere  Anzeichen 
(von  denen  noch  die  Rede  sein  wird)  bestätigt.  Wir  lesen  sie  aber  auch 
aus  den  Urteilen  der  bestunterrichteten  Zeitgenossen  heraus. 

„On  parle  aujourdhui  d'un  Million  comme  on  parloit  il  y  a  cent 

ans,  de  mille  Louis  d'oi-.    On  compte  par  millions;  on  n'entend  parier 

que   de   millions   pour  toutes  les  entreprises.    Les  millions  dansent 

sous   vos   regards,    lorsqu'il   s'agit  d'un   edifice,    d'un   voyage(!),    d'un 

camp  .  .  ." 

(Mercier)  Tabl.  de  Par.    Ch.  824.    10  (1788),  248  f. 

III.   Der  neue  Adel 

Wie  nun,  so  fragen  wir  mit  lebhafter  Teilnahme,  hat  sich 
der  Aufstieg  dieser  neuen  Männer  (und  —  vor  allem!  — 
ihrer  Frauen,  ihrer  Töchter  und  Söhne!)  nicht  nur  auf  der 
geschäftlichen,  sondern  auf  der  gesellschaftlichen  Stufenleiter 
vollzogen;  wie  hat  sich  der  Adel,  der  bis  dahin  allein  die 
Oberschicht  bildete,  zu  ihnen  gestellt;  wie  sind  sie  (wenn 
überhaupt)  in  die  „herrschende  Klasse"  eingeordnet  worden? 

Auf  diese  Fragen  wird  die  richtige  Antwort  lauten 
müssen:  aus  altem  Adel  und  neuem  Geldreichtum  hat  sich 
im  Laufe  namentlich  der  beiden  Jahrhunderte  zwischen 
IGOO  und  1800  eine  völlig  neue  Gesellschaftsschicht  gebildet, 
deren  Kern  ein  neuer  Reichtum,  deren  Schale  zunächst  noch 
der  feudale  Lebensstil  ist.  Das  heißt  mit  andern  Worten: 
aus  den  Nouveaux  riches  wird  ein  großer  Teil  in  den  Adels- 


Der  neue  Adel  11 

Stand    erhoben.     Dieser   Aufstieg   konnte  auf  verschiedenen 
Wegen  erfolgen: 

1.  durch  Verleihung  des  Adels:  sei  es  daß  Verdienste 
irgendwelcher  Art,  sei  es  daß  die  Erlegung  einer  ent- 
sprechenden Geldsumme  den  Anlaß  zu  der  Nobilitierung 
boten ; 

2.  durch  Verleihung  von  Orden  und  Ämtern,  mit  denen 
der  erbliche  Adel  verknüpft  war; 

3.  durch  Erwerb  von  Grundbesitz,  an  dem  gleichfalls  der 
erbliche  Adel  haftete. 

Auf  der  andern  Seite  steigen  die  Mitglieder  der  alten 
Adelsgeschlechter  in  die  Niederungen  der  Turcarets  herab 
und  holen  sich  durch  Heirat  aus  den  Tiefen  die  nötigen 
Millionen,  die  sie  brauchen,  um  ihren  Familien  wieder  den 
alten  Glanz  zurückzugeben.  (Es  sind  im  Grunde  dieselben 
Vorgänge,  die  sich  heute  noch  immer  vor  unseren  Augen  ab- 
spielen.) 

Diese  Verschmelzung  von  Adelsvornehmheit  und  Bürger- 
geld vollzieht  sich  während  der  letzten  Jahrhunderte  in  allen 
Ländern  mit  kapitalistischer  Kultur  gleichmäßig:  in  Italien 
wie  in  Deutschland,  in  England  wie  in  Frankreich.  Es  wird 
genügen ,  wenn  ich  den  Prozeß  der  gesellschaftlichen  Neu- 
bildung an  einigen  Beispielen  aus  der  Geschichte  der  beiden, 
für  alle  Geschehnisse  während  der  frühkapitalistischen  Epoche 
repräsentativen  Länder:  Frankreich  und  England,  verdeutliche, 
die  —  trotz  der  Grundverschiedenheit  ihrer  sozialen  Schich- 
tungsverhältnisse —  doch  in  diesen  entscheidenden  Punkten 
ganz  dieselbe  Entwicklung  durchmachen. 

In  England  bildete  (und  bildet  noch  heute)  den  Adel 
im  engeren  Sinne  nur  die  Nobility.  Diese  ist  im  wesent- 
lichen neu  geboren  worden  mit  dem  Regierungsantritt  der 
Tudors,  genauer  mit  Heinrich  VIII.  Nach  dem  Krieg  der 
beiden  Rosen  waren  die  alten  Geschlechter  bis  auf  29  ver- 
schwunden;   auch  die,  die  übrig  geblieben  waren,  waren  zum 


\o  Erstes  Kapitel:   Die  neue  Gesellschaft 

Teil  noch  geächtet,  geschwächt,  verarmt.  Heinrich  VIII.  er- 
hob zunächst  diese  alten  Geschlechter  wieder  zu  Macht  und 
Reichtum  (und  unterwarf  sie  dadurch  der  Krone,  die  von 
jetzt  ab  ihre  unbestrittene  Vorherrschaft  bewahrte).  Die 
Mittel  zur  Ausstattung  boten  sich  dem  Könige  in  den  kon- 
fiszierten Kirchengütern  dar  (die  —  eine  für  unsere  Unter- 
suchungen besonders  wichtige  Tatsache!  —  wie  H.  Ha  IIa  m 
sehr  richtig  hervorhebt,  damit  einer  „weltlichen"  Verwendung 
zugeführt  wurden).  Die  Reihen  der  alten  Geschlechter  werden 
nun  aber  seit  Heinrich  VII.  und  VIII.  immer  wieder  durch  Neu- 
ernennungen ergänzt.  Und  diese  neuen  Peers,  die  dem  alten 
Grundadel  durchaus  gleichgestellt  wurden,  wählte  sich  der 
König  unter  allen  Notabein,  vor  allem  auch  unter  den  reichen 
Bürgern  aus.  Jakob  I.  hat  sogar  Pairien  verkauft.  Die 
Ziffern  sind  folgende: 

Heinrich  VII.  kreierte  resp.  erhöhte 

Heinrich  VIII.  „  „  „ 

Eduard  VI.  »  »  » 

Mary  „ 

Elisabeth  „  „  „ 

Jakob  I.  «  „  n 

Karl  I.  »  »  « 

Karl  II.  „  »  « 

Jakob  II.  „  „  „  8       „ 

Nachdem  unter  den  Stuarts  99  Pairien  erloschen  waren, 
sind  von  1700 — 1800  neu  kreiert  worden: 

34  Herzöge, 
29  Marquis, 
109  Earls, 
85  Viscounts. 

Natürlich  sind  diese  Erhebungen  nicht  immer  von  ganz 
unten  auf,  d.  h.  aus  den  Tiefen  des  Volkes  erfolgt  wie  bei 
den    Russell    und    Cavendishes,    die    Heinrich    VIII.    „from 


20 

Peers, 

m 

n 

22 

n 

9 

n 

29 

n 

62 

» 

59 

)) 

64 

n 

Der  neue  Adel  13 

obscurity  through  the  grant  of  church  lands"  (Green)  empor- 
hob: oft  (vielleicht  meist)  haben  diese  Peers  erst  verschiedene 
Vorstufen :  die  des  Esquire,  des  Ritters,  des  Baronets  durch- 
laufen. Aber  wir  wissen  doch,  daß  in  zahlreichen  Fällen 
der  Stammbaum  auf  einen  reich  gewordenen  Homo  novus  der 
City  zurückgeht.  Zum  Belege  führe  ich  nur  folgende  Bei- 
spiele an: 

Die  Herzöge  von  Leeds  stammen  ab  von  Edward  Osborne,  der  als 
armer  Kaufniannslehrling  nach  London  kam;  die  Herzöge  von  Northumber- 
land  führen  auf  Hugh  Smithson  zurück,  der  Koiiimis  in  einer  Drogen- 
handlung war  und  von  Lady  Elizabeth  Seymour  geheiratet  wurde;  ebenso 
haben  bürgerliche  Stammväter:  die  Russell,  die  Marquis  von  Salisbury, 
die  Marquis  von  Bath,  die  Grafen  Brownlow,  die  Grafen  von  Warwick, 
die  Grafen  von  Carrington,  die  Grafen  von  Dudley,  die  Grafen  von 
Spencer,  Grafen  von  Tilnry  (der  erste  Earl  of  Tilney  ist  niemand  anders 
als  der  Sohn  von  Josiah  Child !),  die  Grafen  von  Essex,  die  Grafen  von 
Coventry,  die  Grafen  von  Dartmouth,  die  Grafen  von  Uxbridge,  die  Grafen 
Tankerville,  die  Grafen  von  Harborough,  die  Grafen  von  Pontefract,  die 
Grafen  Fitzwater,  die  Viscounts  Devereux,  die  Viscounts  Weymouth,  die 
Grafen  Clifton,  die  Grafen  Leigh,  die  Grafen  Haversham,  die  Grafen 
Masham,  die  Grafen  Bathurst,  die  Grafen  Romney,  die  Grafen  Dormer, 
die  Herzöge  von  Dorset  und  die  von  Bedford;  Geschlechter,  deren  Pair- 
würde  heute  zum  Teil  längst  erloschen  ist,  die  aber  (soweit  sie  nicht 
jüngeren  Datums  sind)  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  blühten. 
(Die  Beispiele  sind  den  bereits  genannten  Quellenwerken  entnommen.) 

Aber  was  der  sozialen  Gliederung  Englands  vor  allem 
ihr  eigentümliches  Gepräge  gibt  und  vor  allem  in  der  Zeit 
gab,  die  uns  interessiert,  ist  die  Gentry:  d.  h.  eine  Gruppe 
von  Personen,  die  nicht  eigentlich  zum  Adel  gehört  und  doch 
Adel  ist;  eine  Art  von  „niederem  Adel",  die  aber  nach  dem 
Gesetz  nicht  adelig  ist.  Die  oberste  Schicht  der  Gentry 
bilden  die  Ritter,  unter  denen  wiederum  die  Baronets  den 
höchsten  Rang  einnehmen:  ein  Ritter  und  Baronet  erhält  das 
Prädikat  Herr  (Sir)  vor  den  Vornamen  gesetzt.  Zu  den 
Rittern  gehören  die  Inhaber  der  Ritterlehen,  die  ursprüng- 
lich die  einzigen  Ritter  waren;  dann  die  Inhaber  bestimmter 
Orden,  des  Hosenband-  und  Bathordens  (seit  Eduard  III.  und 


14  Erstes  Kapitel :    Die  neue  Gesellschaft 

Heinrich  IV.)  und  einiger  Ämter;  endlich  diejenigen,  die  sich 
die  Ritterwürde  gekauft  haben:  die  Käuflichkeit  der  Ritter- 
würde (sie  wurde  gegen  Zahlung  von  1095  £  erworben)  hat 
Jakob  I.  im  Jahre  1611  eingeführt.  Diese  Ritter  von  Geld- 
sacksgnaden hießen  Baronets:  sie  sollten  den  Vorrang  vor 
den  alten  haben  und  gleich  hinter  dem  Adel  rangieren. 
Solcher  Baronets  sind  während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
viele  Hunderte  entstanden:  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  be- 
trug ihre  Zahl  700.  Es  versteht  sich,  daß  schon  auf  diesem 
Wege  ein  großer  Teil  der  reich  gewordenen  Roture  in  den 
Adel  (was  die  Ritter  gesellschaftlich  unzweifelhaft  waren) 
emporgestiegen  ist.  Das  ganz  besonders  Seltsame  an  der 
englischen  Gentry  ist  nun  aber  dieses :  daß  sie  überhaupt 
nicht  und  jedenfalls  nach  unten  hin  nicht  abgrenzbar  ist: 
„Kein  Historiker  und  kein  Jurist  weiß  sie  zu  definieren. 
Diese  Unbestimmtheit  des  Begriffs  ist  nun  aber  kein  zufälliger 
Mangel,  sondern  ein  Erzeugnis  der  ganzen  Geschichte  und 
Gesetzgebung  Englands"  (Gneist). 

Esquire  und  Gentleman  bezeichnete  (heute  ist  das  alles 
natürlich,  selbst  in  England,  verwischt  und  im  Begriffe  zu 
verschwinden)  im  allgemeinen  den  selbständigen  Mann,  der 
von  seinen  Renten  oder  einer  „respektabeln"  Beschäftigung 
lebt.  Dabei  war  früher  stets  anerkannt  (noch  in  der  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts),  daß  jemand  über  ein  gewisses  Ein- 
kommen verfügen  mußte,  um  zur  Gentry  zu  gehören.  Der 
„öffentlichen  Meinung"  war  es  aber  in  jeder  Zeitepoche  über- 
lassen, zu  entscheiden,  was  eine  „respektable"  Beschäftigung 
und  wie  hoch  das  Mindesteinkommen  zu  bemessen  sei. 

Mit  dieser  eigentümlichen  Auffassung  war  es  aber  ge- 
geben, daß  die  Zugehörigkeit  zum  Adel  in  England 
gleichsam  automatisch  durch  die  Umbildung  der 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  bestimmt  wurde, 
die  emporstrebenden  Geldmänner  immer  in  dem  Maße  Zutritt 
zum  Adel  erhielten,  wie  ihre  Bedeutung  im  gesellschaftlichen 


Der  neue  Adel  15 

Leben  anwuchs.  Zunächst  gilt  es  als  selbstverständlich,  daß 
nur  der  Rittergutsbesitzer  vornehmer  Abstammung  oder 
höchstens  der  Vertreter  eines  liberalen  Berufes  (wie  der 
Advokatur)  ein  „Gentleman"  sein  kann.  Das  ist  durchaus 
noch  die  Auffassung  zur  Zeit  der  Elisabeth,  von  der  uns 
Thomas  Smith  ein  anschauliches  Bild  entwirft.  Höchstens 
konnte  man  ein  Mitglied  der  Gentry  werden  durch  den  Er- 
werb eines  adligen  Gutes,  wenn  man  in  diesem  Sinne  die  Worte 
Harrisons  auffassen  will:  „Citizens  and  burgesses  have 
next  place  to  gentlemen"  ^,  yet  „they  often  change  estate 
with  gentlemen  as  gentlemen  do  with  them,  by  a  mutual 
conversion  of  oue  into  the  other".  Diese  Auffassung  hat  sich 
schon  wesentlich  bis  gegen  das  Ende  des  17.  und  den  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts  umgebildet;  da  gilt  es  nicht  mehr  als 
ausgeschlossen,  daß  die  Kinder  eines  Geschäftsmannes,  nur 
weil  er  zu  Reichtum  gelangt  ist,  nach  ein  oder  zwei 
Generationen  Gentlemen  werden.  Das  ist  die  Meinung, 
die  Defoe  etwa  vertritt: 

„Trade  is  so  far  here  from  being  iuconsistent  with  a 
Gentleman  that  in  short  trade  in  England  makes  Gentlemen, 
and  has  peopled  this  nation  with  Gentlemen;  for  after  a 
gener ation  or  two  the  trades  men's  children,  or  at 
least  their  grand  children,  come  to  be  as  good  Gentlemen: 
as  those  of  the  highest  birth  and  the  most  ancient 
families^" 

Aber  doch  erst  die  Söhne  oder  Enkel  eines  zu  Reichtum 
gelangten  Kaufmanns  (Tradesman  bezeichnet  bei  Defoe  sowohl 
den  Engros-  wie  den  Endetail-Kaufmann).  Der  bloße  Reichtum 
macht  aber  allein  den  Gentleman  noch  nicht:  Defoe  selbst 
unterscheidet  scharf  den  Kaufmann,  auch  den  reichen,  der 
ein  viel  besseres  Auskommen  hat,  als  der  vielfach  in  gedrückten 
Verhältnissen  lebende  Gentleman,  von  diesem. 

Der  Tradesman,  solange  er  das  Geschäft  innehat,  lebt 
unter  seinen   „fellows" :   hat  er  sich  vom   Geschäft  zurück- 


2(j  Erstes  Kapitel:    Die  neue  Gesellschaft 

gezogen,  so  kann  er  unter  Umständen  Verkehr  mit  Gentlemen 
ptiegeu,  selbst  „commencing  a  Gentleman" ''. 

Er  erwähnt  auch,  daß  viele  Mitglieder  der  Gentry  keines- 
wegs damit  einverstanden  seien ,  die  Söhne  oder  Enkel  der 
reichgewordenen  Roturiers,  erst  gar  diese  selbst  in  ihre 
Reihen  aufzunehmen^.  Die  Geldmacht  fängt  also  offenbar 
in  jener  Zeit  an,  sich  durchzusetzen :  während  des  18.  Jahr- 
hunderts gelangt  sie  dann  zu  vollem  Siege. 

Postlethwayt,  Miege-Bolton^  und  andere ,  die  um 
die  Mitte  des  Jahrhunderts  schreiben,  haben  schon  eine  etwas 
freiere  Auffassung:  Zwar  der  Trading  Man  (auch  der  Grossist 
ohne  offenen  Laden)  kann  erst  Gentleman  werden,  wenn  er 
sich  zur  Ruhe  gesetzt  hat.  Aber:  „As  to  Merchants  (das  sind 
Überseekaufleute)  .  .  .  they  deserves  indeed  to  be  ranked 
among  Gentleman,"  während  Gregory  King  in  seiner  oben 
mitgeteilten  Übersicht  über  die  Einkomraensverhältnisse  Eng- 
lands im  Jahre  1688  auch  den  Überseegroßkaufmann  vom 
Gentleman  unterscheidet.  Die  Schriftsteller  dann,  die  im  An- 
fang des  19.  Jahrhunderts  ihre  Ansicht  über  die  „gemeine 
Meinung"  äußern,  erklären  zwar  noch  die  Ausübung  eines 
Handwerks  oder  das  Halten  eines  offenen  Ladens  als  unver- 
einbar mit  einem  Gentleman,  nicht  aber  die  Stellung  als 
Fabrikherr  oder  Kaufmann  (schlechthin)  *°. 

Was  aber  das  wichtige  ist:  während  der  ganzen  früh- 
kapitalistischen Epoche  bleibt  die  Vorstellung  bestehen:  daß 
das  Ziel  des  reichen  Mannes  doch  schließlich  die  Aufnahme 
in  eine  gesellschaftlich  vornehmere  Kaste,  eben  den  „Adel", 
die  Gentry  sein  müsse;  bleibt  aber  auch  der  Feudalcharakter 
dieser  Adelskaste  insofern  gewahrt,  als  Reichtum  nicht  allein 
berechtigt,  ihr  anzugehören,  sondern  Eigenschaften,  die  als 
durchaus  unbürgerliche  zu  gelten  haben:  eine  gewisse  Distanz 
vom  Geschäftsleben,  Pflege  der  Familientradition  usw.,  was 
alles  seinen  Ausdruck  findet  in  den  selbstverständlichen  Ge- 
pflogenheiten des  Gentleman,  ein  Wappen  zu  führen.    Daher 


Der  neue  Adel  17 

UDS  Defoe  wieder  berichten  kann  von  den  reich  gewordenen 
Krämern,  die  das  Heroldsamt  um  Wappen  bestürmen,  und  die 
ihre  Ahnenreihe  verfolgen,  um  vielleicht  einen  „vornehmen" 
Stammvater  ausfindig  zu  machen:  „we  see  the  tradesmen  of 
England,  as  they  grow  wealthy,  Coming  every  day  to  the 
herald's  office,  to  search  for  the  coats  of  arms  of  their 
ancestors,  in  order  to  paint  them  upon  their  coaches,  and 
ingrave  them  upon  their  plate,  embroider  them  upon  their 
furuiture,  or  carve  them  upon  the  pediments  of  their  new 
houses  ...  In  this  search  we  find  them  often  qualified  to 
raise  new  families,  if  they  do  not  descend  from  old;  as  was 
Said  of  a  certain  tradesman  of  London,  that  if  he  could  not  find 
the  ancient  race  of  gentlemen,  from  which  he  came,  he  would 
begin  a  new  race,  who  should  be  as  good  gentlemen  as  any 
that  want  before  bim."  ^^  (Was  aber  offenbar  nur  aus  der  Not 
eine  Tugend  machen  bedeutete.) 

Noch  fester  aber  wird  das  Band  zwischen  Adel  und  Reich- 
tum geknüpft,  wenn  die  Söhne  und  Töchter  aus  den  beiden 
Gruppen  sich  heiraten  und  Kinder  zeugen.  Solcher  Art  Ver- 
bindungen zwischen  Adligen  und  Emporkömmlingen  gehören 
in  England  mindestens  seit  den  Stuarts  zu  den  alltäglichen 
Erscheinungen.  Wenn  Sir  W  i  1 1  i  a  m  T  e  m  p  1  e  tatsächlich  die 
Feststellung  gemacht  hat  ^^,  daß  es  seiner  Erinnerung  nach 
etwa  50  Jahre  her  sei,  seit  die  adligen  Familien  in  die  City 
hineingeheiratet  hätten,  „und  zwar  bloß  um  des  Geldes  willen" 
(for  downright  money),  so  könnten  wir  angesichts  der  großen 
Autorität  dieses  ganz  hervorragenden  Beobachters  den  Anfang 
dieser  Blutsvermischung  ziemlich  sicher  in  die  Regierungszeit 
Jakobs  I.  verlegen.  Jedenfalls  ist  100  Jahre  später,  in  der 
Zeit,  als  Defoe  schreibt,  die  Zahl  der  adlig-bürgerlichen 
Mischehen  offenbar  bereits  recht  beträchtlich,  denn  Defoe 
spricht  von  ihnen  wie  von  selbstverständlichen  Erscheinungen. 
Natürlich  waren  es  vornehmlich  Edelmänner,  die  reiche 
Erbinnen    aus    dem    Kaufmannsstande    heirateten,    um    ihre 

Sombart,  Luxus  und  Kapitalismus  2 


18  Erstes  Kapitel:    Die  neue  Gesellschaft 

Wappen  neu  zu  vergolden.  Defoe  führt  solcher  Heiraten  allein 
hoher  Adliger  mit  Krämerstöchtern  78  namentlich  auf  ^^  die 
hier  einzeln  zu  nennen  keinen  Sinn  hat;  es  ist  ja  im  Grunde 
gleichgültig,  ob  der  Lord  Griffin  Mary  Weldon,  eine  Kaufmanns- 
tochter aus  Well  in  Lincolnshire ,  oder  Lord  Cobham  Anne 
Halsey,  eine  Brauerstoehter  aus  Southwark,  heiratet;  uns 
interessieren  diese  Heiraten  lediglich  als  Massenerscheinungen, 
die  sie  (in  Vergleich  gesetzt  zu  der  Anzahl  der  Adligen)  sicher 
im  18.  Jahrhundert  in  England  bereits  geworden  waren. 

Stärker  noch  als  in  England  ist  in  allen  früheren  Zeiten 
in  Frankreich  das  Gefühl  lebendig  gewesen:  daß  Vornehm- 
heit und  Geschäftstum  einander  ausschließen.  „Wenn  es  Ver- 
achtung auf  der  Welt  gibt,  so  gilt  sie  dem  Kaufmann"  („s'il 
y  a  m^pris  au  monde  il  est  sur  le  marchant"):  so  kennzeichnet 
noch  zu  Heinrichs  IV.  Zeit  ein  guter  Kenner  die  Stimmung 
in  den  oberen  Klassen ^^  Man  beteiligte  sich  zwar,  auch 
wenn  man  dem  Adel  angehörte,  gern  an  gewinnbringenden 
Unternehmungen ;  man  heiratete,  auch  wenn  man  dem  ältesten, 
vornehmsten  Geschlechte  angehörte,  die  Töchter  reich  ge- 
wordener Krämer;  man  verschmähte  es  nicht,  die  Stellung 
als  Geheimrat  aufzugeben  und  den  einträglichen  Posten  (wir 
würden  heute  sagen :  eines  Bankdirektors,  damals  war  es  der) 
eines  Finanzbeamten  anzunehmen;  aber  man  verachtete 
die  Roture.  Höchstens  gewann  während  des  18.  Jahrhunderts 
die  Haute  finance  etwas  an  Ansehen;  schon  im  17.  Jahrhundert 
finden  wir  Turcarets  vom  Range  der  Cotteblanche  oder  der 
Du  Plessis  Rambouillet  in  die  aristokratische  Gesellschaft  ein- 
gesprengt. Der  große  Reichtum  söhnte  mit  dem  Gesindel  aus, 
was  LaBruyöre  sehr  hübsch  so  ausdrückt:  „si  le  financier 
manque  son  coup ,  les  courtisans  disent  de  lui :  c'est  un 
bourgeois,  un  homme  de  rien,  un  malotru;  s'il  reussit,  ils  lui 
demandent  sa  fille!"  Aber  völlig  kam  man  von  der  Empfindung 
nicht  los,  die  aller  vorkapitalistischen  und  frühkapitalistischen 
Kultur  innewohnt:  daß  es  eines  vornehmen  Mannes  zwar 
würdig   sei,   Geld   auszugeben,   aber  nicht,   es  zu  verdienen. 


Der  neue  Adel  19 

Noch  Montesquieu  bat  die  ewig  denkwürdigen  Worte  ge- 
sprochen: „Alles  ist  verloren,  wenn  der  einträgliche  Beruf 
des  Finanzmanns  schließlich  auch  ein  geachteter  Beruf  zu 
werden  verspricht!  Dann  erfaßt  ein  Ekel  alle  übrigen  Stände, 
die  Ehre  verliert  alle  ihre  Bedeutung,  die  langsamen  und 
natürlichen  Mittel,  sich  auszuzeichnen,  verfangen  nicht  mehr, 
und  die  Regierung  ist  in  ihrem  innersten  Wesen  erschüttert" 
(frapp^  dans  son  priucijje). 

Diese  Empfindung  hegten  nicht  etwa  nur  die  Mitglieder 
der  feudalen  Gesellschaft:  sie  war  allgemein  in  denjenigen 
Schichten  der  Bevölkerung  verbreitet,  die  anfingen,  sich  über 
die  große  ]\Ienge  der  misera  contribuens  plebs  zu  erheben. 
Ihr  entsprang  das  Bestreben  der  besseren,  d.  h.  reicheren  Kauf- 
leute und  kapitalistischen  Unternehmer,  sich  als  „bourgeois" 
von  den  übrigen  Angehörigen  der  Erwerbstände  abzuheben 
(von  welchen  Bestrebungen  wir  in  anderem  Zusammenhange 
noch  Kenntnis  nehmen  werden) ;  ihr  entsprang  aber  vor  allem 
die  Sehnsucht  aller  reich  gewordenen  Roturiers  nach  dem 
Adel.  Möglich,  daß  hier  in  Frankreich  diese  Sehnsucht  noch 
stärker  war  als  in  anderen  Ländern,  weil  ja  der  Adel  auch 
politisch  ein  so  sehr  bevorrechteter  Stand  war,  ihm  anzu- 
gehören also  nicht  nur  gesellschaftliche,  sondern  auch  recht 
ansehnliche  materielle  Vorteile  bot. 

Seit  jeher  beobachten  wir,  wie  der  Adel  Zuzug  aus  den 
Schichten  der  reich  gewordenen  Geschäftsleute  erhält.  Das 
ist,  wie  ich  hier  einflechten  will,  eine  ganz  allgemeine  Er- 
scheinung, die  in  allen  Ländern  seit  dem  frühesten  Mittelalter 
sich  beobachten  läßt.  Ich  möchte  fast  sagen :  in  ganz  frühen 
Zeiten  mehr  als  später.  Wir  wissen  jetzt,  daß  die  Geschlechter 
in  den  deutschen  Städten  sich  beständig  von  unten  er- 
gänzen, das  heißt  die  Sonntagskinder,  die  aus  Handel  und 
Handwerk  aufstiegen,  in  ihren  Kreis  aufgenommen  haben  ^^; 
wir  wissen  dasselbe  von  den  Adelsfamilien  der  italienischen 
Städte,  die  schon  im  Frühmittelalter  vielfach  aus  reich  ge- 

2* 


20  Erstes  Kapitel:    Die  neue  Gesellschaft 

wordenen  Händlern  sich  bildeten^**;  wir  wissen  es  ebenso  von 
der  englischen  Aristokratie,  daß  sie  von  jeher  Zuzug  aus 
den  Kiederungen  der  Artes  sordidae  erhalten  hat:  ich  möchte 
an  eine  wenig  beachtete,  aber,  wie  mir  scheint,  wichtige  Stelle 
aus  den  angelsächsischen  Rechtsquellen,  an  eine  Bestimmung 
des  Königs  Athelstan  von  England  erinnern,  die  also  lautet  ^^ : 
„And  if  a  merchant  thrived  (=  Glück  hat,  in  die  Höhe  kommt) 
so  that  he  fared  thrice  over  the  wide  sea  by  his  own  means 
(craft),  then  was  he  thence  forth  of  thane-right  worthy." 
Und  daß  es  bei  der  Bildung  des  französischen  Adels 
nicht  anders  hergegangen  ist,  versteht  sich  von  selbst  ^^. 

Aber  ich  glaube  doch,  man  sollte  folgende  Erwägung  nicht 
unterdrücken :  es  macht  einen  grundsätzlichen  Unterschied  aus, 
ob  ein  reicher  Kaufmann  oder  Finanzmann  im  13.  oder  im 
17.  Jahrhundert  in  den  Adelstand  erhoben  wird.  Damals 
herrscht  der  Feudalismus  noch  so  gut  wie  unbeschränkt :  der 
Adel  besteht  fast  ausschließlich  aus  ritterbürtigen  Grund- 
besitzern ;  der  Roturier,  der  in  ihn  hineingeschoben  wird,  ver- 
ändert nicht  im  geringsten  den  Lebensstil  der  feudalen  Welt, 
an  die  er  sich  innerlich  und  äußerlich  binnen  ganz  kurzem 
anpaßt,  die  ihn  gleichsam  einsaugt  wie  ein  Schwamm  eine 
kleine  Menge  Flüssigkeit:  das  alles  folgt  aus  dem  Kräfte- 
verhältnis zwischen  dem  Vorhandenen  und  dem  Zugesetzten: 
dieses  ist  im  Vergleich  mit  jenen  eine  Winzigkeit.  Nach  einem 
Jahrhundert  erscheint  dieser  Zusatz  zum  alten  Feudaladel  mit 
diesem  zu  einer  einzigen,  einförmigen  Masse  verschmolzen  und 
was  etwa  an  „alten  Familien"  um  1550  in  Genua  oder  Florenz, 
in  England  oder  Frankreich  noch  übrig  ist,  das  heißt  aus 
Familien,  deren  Stammbaum  200  Jahre  und  länger  zurück- 
reicht: an  denen  kann  man  beim  besten  Willen  nicht  mehr 
unterscheiden,  ob  ihre  Stammväter  dereinst  einmal  Gemein- 
freie, Grundbesitzer  oder  Ministerialen  oder  Packenträger  ge- 
wesen sind:  sie  gehören  allesamt  dem  „Feudaladel"  an  und 
treten   in  Gegensatz  zu  den   nunmehr,  namentlich   seit  dem 


Der  neue  Adel  21 

17.  Jahrhundert,  in  Massen  neu  begründeten  Adelsfamilien, 
die  fast  alle  den  Erwerbsstilnden  entstammen  und  die  nun 
natürlich ,  dank  der  Zeit  und  dank  ihrer  großen  Zahl ,  be- 
stimmend auf  die  ganze  Struktur  des  Adels  einwirken. 

Ich  meine  also :  wenn  man  die  Umbildung  der  Gesellschaft 
durch  die  Verschmelzung  des  Adels  mit  den  Geldmächten  ver- 
folgen will,  so  hat  es  wenig  Sinn,  die  paar  Nobilitierungen 
reich  gewordener  Bürger  aus  dem  Mittelalter  aufzuzählen  und 
sie  in  einem  Atem  mit  dem  Hineinströmen  der  Roture  in  die 
Reihen  des  Adels  seit  Beginn  der  neuen  Zeit  zu  nennen. 
Das  Unterscheidungsvermögen ,  das  Flair  für  die  Besonder- 
heiten der  verschiedenen  Geschichtsepochen  macht  den  guten 
Historiker. 

Für  Frankreich  tritt  der  Wendepunkt  gegen  Ende  des 
16.,  zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  etwa  ein:  damals  springen 
mit  einem  Male  mächtige  Quellen  auf,  aus  denen  neuer  Adel 
hervorgeht : 

1.  beginnt  seit  Heinrich  IV.  die  Erteilung  des  Adels 
namentlich  an  Industrielle  als  eine  Form  der  Privilegierung 
für  die  Errichtung  neuer  Industrien  häufig  zu  werden  ^^; 

2.  werden  durch  das  Edikt  de  la  Paulette  vom  Jahre  1684 
die  Kaufämter  erblich  gemacht,  das  bedeutete  einen  System- 
wechsel, da  seitdem  sich  die  Grande  robe,  mit  der  meistens 
der  Adel  verbunden  war,  recht  eigentlich  aus  der  Finanzwelt, 
den  reichen  Leuten,  rekrutierte ^^ ; 

3.  wurde  1614  der  Übergang  auch  feudalen  Grundbesitzes 
in  die  Hände  der  Roture,  der  seit  jeher  sich  vollzogen  hatte  2\ 
ausdrücklich  als  gesetzlich  erlaubt  anerkannt.  Diese  Form 
des  Adelerwerbs  hat  für  Frankreich  eine  ganz  besonders 
große  Bedeutung  gehabt:  im  18.  Jahrhundert  wimmelt  es  von 
neugebackenen  Seigneurs,  die  zu  ihrer  Würde  einfach  durch 
den  Ankauf  eines  adligen  Gutes  gelangt  waren.  Die  Reichen 
schmücken  sich  mit  Seigneurien  wie  heute  etwa  mit  exotisclien 
Orden.    Paris  Montmatre,  der  Sohn  eines  kleinen  Schankwirts 


22  Erstes  Kapitel:   Die  neue  Gesellschaft 

iu  Moiraus,  unterzeichnet  sich  bei  einer  Taufe  als  Comte  de 
Sampigny,  Baron  de  Dagouville,  Seigneur  de  Brunoy,  Seigneur 
de  Villers,  S.  de  Foucy,  S.  de  Fontaine,  S.  de  Chateauneuf  etc. 

Zu  diesen  drei  Wegen,  zum  Adel  zu  gelangen,  kam  gegen 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  noch 

4.  der  Kauf:  1696  wurden  500,  1702  200,  1711  100  Adels- 
briefe verkauft. 

Kein  Wunder,  wenn  schließlich  der  französische  Adel  fast 
nur  aus  nobilitierten  Turcarets  bestand.  Es  ist  keine  Über- 
treibung, wenn  Cherrin  sagt,  daß  das,  was  man  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  in  Frankreich  „Noblesse"  nannte,  im  wesent- 
lichen „du  tiers  etat  eurichi,  elev6,  decor6,  possessionnö"  sei; 
wenn  der  Marquis  d'Argenson  um  die  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts schreibt,  daß  bei  der  Leichtigkeit,  den  Adel  für  Geld 
zu  erwerben,  es  keinen  Reichtum  gebe,  der  nicht  alsbald 
adlig  würde. 

Die  ziemlich  genaue  Statistik,  die  wir  von  dem  Bestände 
des  Adels  beim  Ausgang  der  Französischen  Revolution  be- 
sitzen, bestätigt  die  Richtigkeit  dieser  Urteile:  man  zählte 
damals  26  600  adlige  Familien;  unter  diesen  gehörten  aber 
nur  13 — 1400  dem  Uradel  (der  „noblesse  immämoriale  ou  de 
race")  an,  während  von  den  übrigen  allein  4000  Beamtenadel 
waren.  Der  Anteil,  den  die  Haute  finance  an  der  Zusammen- 
setzung des  französischen  Adels  hatte,  ist  nun  aber  noch 
weit  größer,  als  jene  Ziffern  zum  Ausdruck  bringen ,' wenn 
wir  auch  hier  wieder  die  außerordentlich  zahlreichen  Ver- 
heiratungen Adliger  mit  reichen  Erbinnen  der  Roture  in  Be- 
tracht ziehen. 

Dieser  Verschmelzungsprozeß  ist  im  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts offenbar  schon  in  vollem  Gange,  wenn  wir  dem  alten 
Polterer,  dem  Marquis  de  Sully,  Glauben  schenken  wollen, 
der  darüber  bittere  Klage  führt:  „que  les  idöes  sont  chang6es 
et  que  l'or  met  le  prix  ä  tout.  Et  comment  cela  n'arriverait-il 
pas,   puis   qu'on   voit  la  Noblesse   elle-meme   penser  sur  cet 


Der  neue  Adel  23 

article  pr6cis6ment  comme  le  peuple  et  ne  pas  se  soucier  de 
meler,  par  une  honteuse  alliance,  avec  un  sang  pur 
et  illustre  celui  d'un  Roturier,  qui  ne  connatt  que  le  change, 
la  boutique,  le  comptoir  ou  la  chicane?"  „Ce  renversement 
est  d^plorable"  schließt  der  Herzog  dieses  Klagelied.  150  Jahre 
später  dachte  man  auch  in  Adelskreisen  erheblich  anders: 
der  Herausgeber  der  M^morien^^^  ^  ^e  TEcluse  (1752),  kann 
sich  nicht  versagen,  den  Vorwürfen  des  Herzogs  "Worte  der 
Entschuldigung  in  einer  Anmerkung  hinzuzufügen.  Und  als 
um  dieselbe  Zeit  der  Herzog  von  Pecquigny  die  Schwester 
des  Finanzmannes  La  Mosson  Montmartre  mit  der  wohltuenden 
Mitgift  von  1700000  L.  heimführt,  sagt  die  Herzogin  von 
Chaulnes  zu  ihrem  Sohn:  „Mon  fils,  ce  mariage  est  bon;  il 
faut  bien  que  vous  preniez  du  fumier  pour  engraisser  vos  terres". 

Die  Schilderung,  die  Mercier,  der  immer  klar  Sehende, 
von  den  Zuständen  entwirft ,  entsprach  ganz  gewiß  den  Tat- 
sachen-^: la  finance  est  alli6e  aujourd'hui  ä  la  noblesse  et 
voilä  ce  qui  fait  la  base  de  sa  force  reelle.  La  dot  de 
presque  toutes  lesöpousesdes  seigneurs  estsortie 
de  la  caisse  des  fermes.  l\  est  assez  plaisant  de  voir  un 
comte  ou  un  vicomte,  qui  n'a  qu'un  beau  nom,  rechercher  la 
fille  opulente  d'un  financier;  et  le  financier  qui  regorge  de 
richesses,  aller  demander  la  fille  de  qualit^ ,  nue,  mais  qui 
tient  ä  une  illustre  famille  ..." 

Wiederum  versage  ich  es  mir,  die  zahllosen  Fälle  dieser 
Mischehen  mit  Nennung  der  Namen  hier  aufzuzählen,  obgleich 
es  ein  Leichtes  wäre,  ganze  Listen  aufzustellen.  Nur  einige 
besonders  lustige  Beispiele  will  ich  hersetzen,  an  denen  man 
so  recht  deutlich  die  eigenartigen  gesellschaftlichen  Zustände 
des  18.  Jahrhunderts  (das  in  dieser  Hinsicht  dem  neunzehnten 
und  zwanzigsten  schon  recht  ähnlich  ist)  zu  erkennen  vermag: 

Der  eine  Sohn  des  Samuel  Bernard ,  der  allgemein  „le 
Juif  Beruard"  heißt,  ist  der  Comte  de  Coubert:  er  heiratet 
Mme  Frottier  de  la  Coste  Messeliöre,   Tochter   des  Marquis 


24  Erstes  Kapitel:   Die  neue  Gesellschaft 

de  la  Coste;  der  andere  kauft  eine  Charge  als  Präsident  beim 
Parlament  in  Paris  und  nennt  sich  Comte  de  Rieur:  er  heiratet 
M»"«  de  Boulainvilliers.  Durch  diese  Ehe  wird  „der  Jude 
Bernard"  Großvater  der  Gräfinnen  d'Entraygues,  de  Saint-Simon, 
Courtorner,  d'Apchon,  der  künftigen  Marquise  de  Mirepoix. 

Antoine  Grozat,  dessen  Großvater  noch  Dienstbote  v^ar, 
verheiratet  seine  Tochter  an  den  Comte  d'Evreux  aus  dem 
prinzlichen  Hause  Boullon.  Sein  zweiter  Sohn ,  Baron  de 
Thiers,  heiratet  M^^  de  Laval-Montmorency,  und  die  Töchter 
dieser  Ehe  heiraten  den  Marquis  de  Bethune  und  den 
Marschall  de  Broglie. 

Der  Bruder  Crozat  verheiratet  seine  Tochter  an  den 
Marquis  de  Montsampöre,  Seigneur  de  Glöves. 

Eine  Verwandte  des  Herzogs  de  la  Vrilliäre  heiratet 
den  Emporkömmling  Panier. 

Der  Marquis  d'Oise  heiratet  die  zwei  Jahre  alte  Tochter 
des  Mississipien  Andrö  (gegen  20000  1.  Rente  bis  zur  Heirat 
und  4  Mill.  Mitgift). 

Die  Tochter  des  Berth61ot  de  Pleneuf  heiratet  den  Mar- 
quis de  Prie:  es  ist  die  bekannte  Geliebte  des  Regenten; 

die  des  Prondre  wird  M^e  de  la  Rochefoucauld; 

Le  Bas  de  Montargis  wird  Schwiegervater  des  Marquis 
d'Arpajon,  Großvater  des  Grafen  von  Noailles  und  des  Herzogs 
von  Duras; 

Olivier-Senozan,  dessen  Vater  noch  mit  alten  Hosen  ge- 
handelt hatte,  gibt  seine  Tochter  dem  Grafen  von  Luc6, 
späteren  Prinzen  von  Tingry; 

Villemorien  die  seine  dem  Marquis  von  Beranger; 

die  Grafen  von  Erreux,  von  Ivry,  die  Herzöge  von  Brissac, 
von  Pecquigny :  alle,  alle  gehen  denselben  schweren  Gang  zu 
den  Geldschränken  der  Turcarets. 

Ist  es  nicht,  als  ob  man  über  die  Heiratsgeschichten  der 
amerikanischen  Schweinezüchtertöchter  der  letzten  zwanzig 
Jahre  berichtete? 


25 


Zweites  Kapitel:   Die  Großstadt 


Quellen  und  Literatur 

Eine  irgendwie  verwertbare  Literatur  zur  Geschichte  der 
Großstadt  ist  mir  nicht  bekannt.  Die  außerordentlich  zahlreichen 
Schriften,  die  die  Geschichte  der  einzelnen  Großstädte  behandeln,  sind 
meist  nur  Stautrechtsgeschichten  oder  Baugeschichten.  Die  ökonomisch- 
kulturellen Gesichtspunkte  bleiben  meist  fast  ganz  außer  acht.  Es  hat 
deshalb  gar  keinen  Zweck,  einzelne  dieser  Bücher  hier  namhaft  zu 
machen. 

Was  im  folgenden  über  die  Entstehung  und  das  Wesen  der  früh- 
kapitalistischen Großstadt  gesagt  ist,  habe  ich  fast  ganz  aus  ersten 
Quellen  zusammentragen  müssen.  Unter  diesen  nehmen  die  Reise- und 
andere  Beschreibungen  die  erste  Stelle  ein.  Unnötig,  zu  sagen,  daß 
Merciers  Tableau  de  Paris,  12  Vol.,  1781,  für  keine  andere  Stadt 
seinesgleichen  hat.  Das  London  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  lernt  man 
immerhin  leidlich  genau  kennen  aus  den  Schilderungen  bei  Defoe- 
Richardson,  Miege-Bolton,  Archenholtz  u.  a. 

Für  das  Neapel  des  16.  Jahrhunderts  sind  die  Quellen  zu  linden 
bei  Gothein,  Kulturentwicklung  Süd-Italiens,  1885;  für  das  des  18. 
siehe  etwa  die  Schilderungen  in  dem  Essai  sur  la  societe  et  les  mceurs 
des  Italiens,  1782,  Lettre  LV  suiv. 

Für  Madrid  im  17.  Jahrhundert  die  (für  diese  Zwecke  brauchbaren) 
Reiseberichte  und  Memoiren  der  M^e  d'Aulnay.  Vgl.  Justi,  Velasquez 
und  sein  Zeitalter. 


I.  Die  Großstädte  des  16.,  17.  und  18.  Jahrhunderts 

jLines  der  für  die  gesamte  Kulturentwicklung  bedeut- 
samsten Ereignisse,  das  sich  im  wesentlichen  als  eine  Folge- 
erscheinung der  in  dem  vorhergehenden  Kapitel  geschilderten 
Vorgänge  darstellt,  ist  die  Tatsache,  daß  seit  dem  16.  Jahr- 
hundert eine  Reihe  von  Städten  rasch  an  Einwohnerzahl  zu- 


26  Zweites  Kapitel:    Die  Großstadt 

nimmt,  daß  damit  ein  neuer  Städtetyp :  die  Stadt  mit  mehreren 
hunderttausend  Einwohnern,  die  „Großstadt",  geschaffen  wird, 
die  sich  in  der  Gestalt  von  London  und  Paris  gegen  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  der  modernen  Millionenstadt  nähert. 

Während  des  16.  Jahrhunderts  wächst  die  Zahl  der  Städte 
mit  100000  Einwohnern  und  mehr  bereits  auf  13  bis  14  2*. 

Es  sind  zunächst  die  italienischen  Städte:  Venedig  {1563: 
168627,  1575177:  195  863),  Neapel  (240000),  Mailand  (gegen 
200000),  Palermo  {1600:  gegen  100000),  Rom  {1600:  gegen 
100000),  während  Florenz  1530  erst  60000  Einwohner  zählte. 

Sodann  die  spanisch -portugiesischen  Städte:  Lissabon 
{1629:  110800),  Sevilla  (Ende  des  16.  Jahrhunderts  18000 
Feuerstellen,  also  gegen  100  000  Einwohner);  und  die  nieder- 
ländischen Städte:  Antwerpen  {1560:  104972),  Amsterdam 
{1622:  104961). 

Endlich  Paris  und  London. 

Paris,  gegen  dessen  Ausdehnung  schon  Mitte  des  Jahr- 
hunderts königliche  Edikte  erlassen  worden  waren  (ich  komme 
gleich  darauf  zu  sprechen),  geht  infolge  der  Religionskriege 
offenbar  an  Einwohnerzahl  zurück ,  die  im  Jahre  1594  etwa 
180000  beträgt. 

London  wächst  rasch  an  und  weist  Ende  des  Jahrhunderts 
alle  Anzeichen  der  übervölkerten  Großstadt  auf,  wie  wir  aus 
einem  Erlaß  der  Elisabeth  vom  Jahre  1602  deutlich  zu  er- 
kennen vermögen  ^^  Seine  Einwohnerzahl  müssen  wir  zur 
Zeit  der  Elisabeth  auf  etwa  250  000  ansetzen. 

Im  Verlaufe  des  17.  Jahrhunderts  gehen  nun  einige  der 
früheren  Großstädte  an  Einwohnerzahl  zurück:  Lissabon, 
Antwerpen  sinken  unter  die  100  000;  Mailand,  Venedig  eben- 
falls beträchtlich. 

Dagegen  steigen  neu  zu  Großstädten  empor:  Wien  {1720: 
130000)  und  Madrid. 

Rasch  wachsen  an :  Rom,  Amsterdam,  Paris  und  London. 


Die  Großstädte  des  16.,  17.  und  18.  Jahrhunderts  27 

Rom  hat  Ende  des  Jahrhunderts  140000,  Amsterdam  200  000 
Einwohner;  Paris  erreicht  die  halbe  Million,  London  über- 
schreitet sie  {1700:  G74350). 

Während  London  allmählicli  an  Größe  während  dieses 
Jahrhunderts  zunimmt,  schnellt  Paris  offenbar  in  die  Höhe. 
Es  nimmt  insbesondere  während  der  Regierungszeit  der  beiden 
ersten  Bourbons  einen  raschen  Aufschwung.  Wir  begegnen 
jetzt  häutiger  jenen  seltsamen  Edikten ,  von  denen  ich  schon 
sprach :  die  das  Erbauen  neuer  Häuser  verbieten ,  um  dem 
Wachstum  der  Stadt  Einhalt  zu  tun:  „Reconnaissant  que 
l'augmentation  de  notre  bonne  ville  de  Paris  est  grandement 
prejudiciable."  „Attendu  que  l'inteution  de  Sa  Majest6  a  6t6 
que  sa  ville  de  Paris  füt  d'une  6tendue  certaine  et  limit6e  .  .  ." 
(In  diesen  Verboten  äußert  sich,  könnte  man  sagen,  ein  ähn- 
licher Wille,  wie  er  in  den  Zunftordnungen  zur  Anerkenntnis 
kommt:  das  Widerstreben,  ein  organisches  Gebilde  ins  Maß- 
lose wachsen  zu  lassen;  das  Widerstreben  gegen  die  rück- 
sichtslose Vergrößerungs-  und  Quantifizierungstendenz  des 
kapitalistischen  Wesens ;  das  Widerstreben  des  alten  Nahrungs- 
mäßigen, Ständischen  gegen  die  schrankenlose  Ausdehnungs- 
sucht des  Erwerbstriebes.) 

Die  Verbote  fruchteten  natürlich  nichts;  trotzdem  sie 
wiederholt  werden  (1627,  1637),  wächst  Paris  gerade  in  diesen 
Jahrzehnten  mächtig  an.  Zwischen  dem  Paris  Ludwigs  XIIL 
und  dem  der  Liga,  meint  ein  urteilsfähiger  Geschichtschreiber 
(Baudrill  art),  sei  ein  größerer  Unterschied,  als  zwischen 
diesem  und  dem  Paris  der  dritten  Republik.  Wie  stark  die 
Zeitgenossen  den  Wandel  empfinden,  spricht  Corneille  in 
seinem  1642  geschriebenen  Lustspiel  „Le  Menteur"  (Acte  II, 
sc^ne  V)  aus: 

„Toute  une  ville  entifere,  avec  pompe  bätie 
Semble  d'un  vieux  fosse  par  miracle  sortie 
Et  nous  fait  presumer,  ä  ses  süperbes  toits, 
Que  tous  ses  habitants  sont  des  dieux  ou  des  rois." 


28  Zweites  Kapitel:    Die  Großstadt 

r)as  18.  Jahrhundert  bringt  folgende  Verschiebungen: 

Die  Zahl  200000  überschreiten  die  Einwohner  von 
Moskau,  Petersburg,  Wien,  *Palermo  (1795:  200162).  Nicht 
weit  davon  bleibt  Dublin  (1798:  182370,  1753:  128870, 
1644:  8159). 

An  die  100000  kommen  heran:  Hamburg,  Kopenhagen, 
Warschau.  Berlin  steigt  auf  141 283  (1783),  *Lyon  auf  135207 
(1787). 

♦Neapel  nähert  sich  der  halben  Million  (1796:  435930), 
London  der  Million  (864845  nach  dem  Zensus  von  1801), 
*Paris  hat  beim  Ausbruch  der  Revolution  640 — 670000  Ein- 
wohner. 

IL    Die  Entstehung   und  die  innere  Gliederung 
der  Großstädte 

Schauen  wir  uns  aber  um,  was  diese  Städte  so  groß  ge- 
macht hatte,  so  finden  wir  im  wesentlichen  noch  dieselben 
Städtebildner  am  Werke  wie  während  des  Mittelalters. 
Auch  (und  gerade!)  die  Großstädte  der  frühkapitalistischen 
Epoche  sind  Konsumentenstädte  in  hervorragendem  Sinne. 
Die  Großkonsumenten  sind  die  uns  bekannten:  die  Fürsten, 
die  Geistlichkeit,  die  Granden,  zu  denen  sich  nun  eine  neue, 
wichtige  Gruppe  gesellt:  die  Haute  finance  (die  man  füglich 
als  „Konsumenten"  einsetzen  darf,  ohne  beileibe!  ihrer  „pro- 
duktiven" Funktion  im  volkswirtschaftlichen  Organismus  Ab- 
bruch tun  zu  wollen).  Die  größten  Städte  sind  darum  so 
groß,  weil  sie  Sitze  der  größten  (und  meisten)  Konsumenten 
sind;  die  Ausbreitung  der  Stadtkörper  ist  also  im  wesent- 
lichen einer  Konzentration  des  Konsums  in  den  städtischen 
Mittelpunkten  des  Landes  geschuldet. 

Die  Richtigkeit  dieser  Ansicht  läßt  sich  zunächst  e  con- 
trario erweisen:  mit  dem  Hinweis  darauf,  daß  die  „Pro- 
duzenten", Handel  und  Industrie,  noch  immer  nicht  die  Sitze, 


Die  Entstehung  und  die  innere  Gliederung  der  Großstädte         29 

WO  sie  recht  eigentlich  zu  Hause  sind,  über  den  Um- 
fang kleiner  Mittelstädte  hinaus  zu  entwickeln  imstande  ge- 
wesen sind. 

Reine  Handelsstädte ,  wie  beispielsweise  Bristol ,  das  ein 
Reisebeschreiber  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  „the 
largest,  most  populous  and  Hourishing  place  in  the  Island 
and  one  of  the  priucipal  eitles  of  Europe"  nennt  ^",  oder  die 
anderen  blühenden  Handelsstädte  Englands  in  jener  Zeit, 
Exeter ,  Lynn ,  Norwich ,  Yarmouth  usw.,  zählen  nicht  mehr 
als  30 — 40000  Einwohner,  als  London  längst  die  halbe  Million 
überschritten  hatte.  Aber  auch  der  Industrie  wohnt  im  all- 
gemeinen noch  keine  großstadtbildende  Kraft  inne.  Die  In- 
dustriezentren noch  des  18.  Jahrhunderts,  die  Bergwerksstädte 
oder  die  Zentralen  der  Hausindustrie,  wie  New  Castle,  Glas- 
gow, Leeds,  Manchester,  Birmingham  in  England,  Iserlohn, 
Paderborn,  Jauer,  Hirschberg  in  Deutsehland,  sind  Mittel-, 
meist  Kleinstädte.  Weder  Großbritannien  noch  Deutschland 
weisen  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  außer  ihren  Haupt- 
städten eine  Stadt  von  100000  Einwohnern  auf. 

Wo  „Handelsstädte"  wie  Amsterdam  oder  auch  Hamburg 
den  Charakter  von  Großstädten  in  jener  Zeit,  die  uns  be- 
seliäftigt,  annehmen,  lehrt  eine  genauere  Untersuchung  sehr 
bald,  daß  die  Größe  der  Stadt  ganz  anderen  Kräften  ge- 
schuldet ist  als  dem  Warenhandel. 

So  daß  ich  nur  eine  einzige  Stadt  namhaft  zu  machen 
wüßte,  die  vor  dem  19.  Jahrhundert  als  Produktionsstadt  in 
die  Reihe  der  Großstädte  aufgerückt  ist:  Lyon,  den  Sitz  der 
größten  Luxusindustrie  der  frühkapitalistischen  Epoche  (ob- 
wohl selbst  bei  Lyon  der  Kreditverkehr  sicher  auch  einen 
wesentlichen  Anteil  an  der  Ausbreitung  der  Stadt  gehabt 
haben  mag). 

Ebenso  leicht  läßt  sich  nun  aber  auch  der  bejahende 
Nachweis  erbringen ,  daß  die  Zusammenballung  des  Konsums 
es  in  der  Tat  ist,  der  die  ersten  Großstädte  entstehen  läßt, 


30  Zweites  Kapitel:    Die  Großstadt 

in  ziemlich  gleichförmiger  Weise  entstehen  läßt,  ohne  viele 
Rücksicht  auf  Landeseigentümlichkeiten,  unter  dem  Druck 
der  allgemein-kapitalistischen  Entwicklung. 

Ich  will  an  den  wichtigsten  Großstädten  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  die  Probe  aufs  Exempel  machen. 

1.  Berlin.  Der  Typus  der  reinen  Residenzstadt  ist 
Berlin,  wo  im  wesentlichen  nur  der  Hof,  die  Beamten  und 
das  Militär  als  Städtebildner  auftreten.  Berlin  beginnt  erst 
in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  etwas  rascher  zu 
wachsen:  erst  Anfang  der  1760er  Jahre  überschreitet  die  Be- 
völkerungsziffer das  erste  Hunderttausend.  Aber  auch  noch 
am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  ist  Berlin  fast  ausschließlich 
eine  —  darum  gewiß  arme  —  Soldaten-  und  Beamtenstadt. 
Im  Jahre  1783  zählte  die  Garnison  mit  ihren  Weibern  und 
Kindern  nicht  weniger  als  33088  Personen,  das  sind  23% 
der  141 283  betragenden  Gesamtbevölkerung  (gegen  29448  Per- 
sonen oder  1,8  %  im  Jahre  1895).  Die  staatlichen  und  städti- 
schen Beamten  bezifferten  sich  auf  3433,  also  mit  ihren  An- 
gehörigen auf  rund  13000.  Dazu  kam  noch  ein  unglaublich 
großer  Haufen  von  Bedienten  (10  074),  so  daß  diese  drei  mit 
dem  Hofe  zusammenhängenden  Bestandteile  der  Bevölkerung 
über  56000  Personen,  also  über  zwei  Fünftel  der  Gesamt- 
bevölkerung ausmachten  2'.  Wie  arm  diese  Stipendiaten  des 
armen  Preußenkönigs  waren,  zeigt  der  Umstand,  daß  sie  nur 
etwa  ebenso  vielen  Menschen  Wohnung  und  Beschäftigung 
geben  konnten.  In  dem  London  oder  Paris  der  damaligen 
Zeit  hätten  dieselben  50000  Söldlinge  eine  Stadt  von  min- 
destens 2—300000  Seelen  gebildet. 

2.  Amsterdam.  Auch  Amsterdam  ist  zunächst  Residenz- 
stadt. Wir  ersehen  das  daraus,  daß  der  Wegzug  des  Hofes 
gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  große  Schädigungen  auf 
allen  Gebieten  im  Gefolge  hat^^.  Die  Lücke,  die  hierdurch 
gerissen  wird,  wird  aber  bald  ausgefüllt:  Amsterdam  wird 
Sitz   der   Staatsgläubiger  von   ganz   Europa;    in   Amsterdam 


Die  Entstehung  und  die  innere  Gliederung  der  Großstädte        31 

kommen  die  Überschüsse  des   reichsten  Kolonialbesitzes  der 
Welt  zum  Verzehr. 

3.  Venedig  trägt  einen  ähnliehen  Charakter  wie  Amster- 
dam. Der  frühe  und  beträchtliche  Kolonialbesitz  erzeugt  bald 
ein  gesättigtes,  überreiches  Rentnertum,  das  die  schon  zahl- 
reichen Grundbesitzer  der  terra  forma  vermehrt.  Von  den 
Kolonistenfamilien  Kretas  erfahren  wir  schon  im  15.  Jahr- 
hundert: „Eine  Anzahl  hatte  große  Vermögen  erworben;  sie 
lebten  jetzt  in  Venedig  und  verzehrten  ihre  Zinsen  2^."  Man 
darf  auch  nie  vergessen,  daß  Venedig  bis  zum  Verlust  seiner 
Kolonien  die  Hauptstadt  des  drittgrößten  Reiches  Europas 
war.  Der  große  Reichtum,  der  in  Venedig  zum  Verzehr  kam, 
führte  zu  einem  reichen,  luxuriösen  Genußlebeu,  das  wiederum 
zahlreiche  Fremde  anlockte,  so  daß  Venedig  im  16.  Jahr- 
hundert neben  Rom  die  berühmteste  Stadt  war:  sede  prin- 
cipalissima  del  piacere,  wie  es  ein  Briefschreiber  im  Jahre 
1565  nennt;  paradisus  delitiarum,  wie  es  in  Hentzners  Iti- 
nerarium  (1617)  heißt  ^^    Feste  und  Frauen  lockten  vor  allem. 

4.  Rom,  von  dem  Gregor  ovius  meint ,  daß  es  im 
16.  Jahrhundert,  vor  allem  auch  wegen  seiner  räumlichen 
Ausdehnung,  „die  einzige  Weltstadt"  gewesen  sei,  vereinigt 
eine  Menge  verschiedener,  starker  Verzehrer: 

erstens  den  Papst,  der  vom  Peterspfennig  und  seinen 
meist  recht  beträchtlichen  Familieneinkünften  lebt,  nebst  dem 
stattlichen  Hofgesinde ; 

zweitens  die  Pilger,  deren  beispielsweise  im  Jahre  1500 
200000  in  Rom  gewesen  sein  sollen; 

drittens  die  Kardinäle  und  Monsignori :  Cartesius,  de  Car- 
dinalatu,  urteilt ^^  daß  (schon  im  15.  Jahrhundert)  ein  Kar- 
dinal 12  000  Goldgulden  Einkünfte  haben  und  etwa  140  Per- 
sonen in  seinem  Hause  halten  müsse;  manche  von  ihnen 
hatten  30000  Dukaten  und  mehr  Einkommen  ^^; 

viertens  die  Nepoten  der  Päpste,  die  mit  Schätzen  über- 


32  Zweites  Kapitel:   Die  Großstadt 

häuft  wurden:  Pietro  Riario,  der  Sohn  Sixtus  IV.,  hat 
60000  Goldgulden  Rente; 

fünftens  die  großen  Adelsgeschlechter,  die  Orsini,  Co- 
lonna  usw.,  die  noch  über  riesige  Ländereien  und  dem- 
entsprechend hohe  Grundrenten  verfügten. 

Während  die  Päpste  in  Avignon  residierten,  drohte  Rom 
zu  veröden:  Kardinal  Napoleone  Orsini  versichert  nach  dem 
Tode  Clemens  V.  dem  französischen  Könige,  daß  durch  den 
Wegzug  der  Päpste  Rom  an  den  Rand  des  Verderbens  ge- 
bracht sei.  1347  meint  Cola  di  Rienzi,  Rom  gleiche  mehr 
einer  Räuberhöhle  als  einem  Wohnort  gesitteter  Menschen  ^^ 

5.  Madrid.  Was  Rom  und  Venedig  im  15.  und  16.  Jahr- 
hundert gewesen  waren,  das  wurde  Madrid  im  17.  Jahrhundert: 
die  Weltstadt.  Hier  hielt  der  mächtigste  König  der  Erde 
Hof;  hier  war  der  Mittelpunkt  des  größten  Weltreiches;  hier- 
hin strömten  die  Silberschätze  Amerikas.  Kein  Wunder,  daß 
Madrid  zum  Anziehungspunkt  für  alles  wurde,  was  in  Spanien 
Macht  und  Reichtum  besaß.  Nichts  war  so  lebhaft  als  der 
Wunsch,  in  „den  Haushalt  des  Königs"  aufgenommen  zu 
werden.  Die  Hofämter,  die  der  König  verschenkte,  waren  das 
Ziel,  nach  dem  vor  allem  die  jüngeren  Söhne  des  Adels 
strebten.  Es  läßt  sich  ziemlich  genau  verfolgen,  wie  Madrid 
durch  das  Zusammenströmen  der  Granden  namentlich  seit 
Philipp  III.  rasch  an  Bedeutung  gewinnt:  „Los  lugares  parti- 
culares,"  urteilt  ein  Zeitgenosse,  „se  van  depoblando  de  los 
vecinos  vicos  e  poderosos^*."  Es  scheint  auch  fast,  als  ob 
Madrid  neben  Rom  die  erste  moderne  Großstadt  gewesen 
wäre,  die  einen  starken  Zustrom  fremder  Besucher,  die  sich 
hier  vergnügen  wollten,  gehabt  hat.  „Das  edle  Gasthaus  der 
Fremden"  hieß  Madrid  ^^. 

6.  Neapel.  War  Madrid  im  17.  Jahrhundert  die  dritte, 
vielleicht  die  zweitgrößte  Stadt  Europas  gewesen  (es  soll  zur 
Zeit  seiner  höchsten  Blüte  400000  Einwohner  gehabt  haben), 
so  wuchs  jetzt  Neapel  so  sehr  an,  daß  es  während  des  folgen- 


Die  Entstehung  und  die  innere  Gliederung  der  Großstädte        3o 

den  Jahrhunderts  die  Stelle  unmittelbar  hinter  London  und 
Paris  einnahm. 

Neapel  ist  ein  Schulbeispiel,  um  an  ihm  die  Richtigkeit 
der  hier  verfochtenen  These  (daß  alles  frühe  firoßstadtwesen 
auf  Konsumkonzentration  beruht)  zu  erweisen.  Neapel  ist 
nie  etwas  anderes  als  Residenz  gewesen ,  und  diesem  Um- 
stände, der  sich  mit  dem  anderen  verband,  daß  es  die  Haupt- 
stadt eines  frühzeitig  geeinten  Ländertums  mit  zentralisiertem 
Verwaltungs-  und  Gerichtswesen  war,  verdankt  es  zu  einer 
Zeit  schon  sein  Großstadttum,  als  keine  der  anderen  italieni- 
schen Städte  dieses  Ziel  erreicht  hatte. 

Neapels  Größe  und  Neapels  Reichtum  flössen  aus  zwei 
Quellen:  dem  Königtum  und  der  Kirche.  Das  wußten  auch 
die  Zeitgenossen  schon.  Des  Königs  Dienst  ist  unser  Handel : 
-regis  servitium  nostra  mercatura  est",  urteilt  Caraccioli,  in 
dessen  Schriften  wir  Neapels  soziale  Struktur  wie  in  einem 
Spiegel  wahrnehmen.  In  der  Tat:  unendlich  groß  war  die 
Zahl  der  Ämter  in  Neapel ,  denn  die  Zentralisation  führte 
zur  Vielregiererei :  ungemein  fein  ausgebildet  war  das  System 
der  Sportein,  die  als  eine  wesentliche  Einnahmequelle  eben- 
falls schon  von  den  Zeitgenossen  erkannt  wurden.  Dem,  der 
sich  in  der  gebildeten  Welt  Neapels  bewegte,  schien  es  kaum 
etwas  anderes  dort  zu  geben  als  diese  „unbegrenzte  Zahl 
von  Rechtsgelehrten,  Advokaten  und  Schreibern"  (Folieta). 
Als  dann  die  Herrschaft  der  Spanier  dauernd  entschieden 
war,  trat  eine  Verringerung  des  Hofeinflusses  zunächst  ein, 
die  von  Caraccioli  deutlich  wahrgenommen  wurde :  jetzt  sei 
der  König  fern :  die  Stadt  verfalle  immer  mehr :  die  Barone 
hielten  keine  großen  Gefolge  mehr;  damit  verliere  auch  das 
öffentliche  Leben  Schwung  und  Glanz :  man  sehe  niemand 
mehr  mit  fürstlichem  Prunk  einherziehen.  Die  Stadt  ent- 
völkere; die  Mieten  sinken:  alles  nur,  weil  Neapel  aufgehört 
habe,  Königsstadt  zu  sein.  Er  wiederholt:  „Das  war  unser 
Handel,  der  unserem  Adel  Reichtum  brachte." 

Sombart,  Laxii!;  und  Kapitalismus  3 


34  Zweites  Kapitel:    Die  Großstadt 

Alles  änderte  sich  ja  dann :  Neapel  blühte  gerade  unter 
der  spanischen  Herrschaft  mächtig  empor;  weil  die  Großen 
wieder  stattliche  Gefolge  hielten,  so  war  des  Prunks  mehr 
als  zuvor,  und  die  Bevölkerung  wuchs  rasch ^*'. 

7.  Paris.  Als  der  Begründer  der  modernen  Chemie  seine 
immerhin  schätzbaren  Kräfte  dem  „Wohle  des  Volkes"  weihte, 
und  sich  in  der  Nationalversammlung  um  die  Reform  des 
Finanzwesens  mühte,  hat  er  eine  überaus  interessante  Be- 
rechnung ausgeführt,  um  festzustellen,  wie  groß  die  Menge 
und  der  Wert  der  von  den  Parisern  von  außen  her  bezogenen 
Waren  sei.  Seine  sehr  genauen  Aufstellungen  gipfeln  in  dem 
Ergebnis,  daß  für  250  Mill.  Livres  von  den  Menschen,  für 
10  Mill.  Livres  von  den  Pferden  in  Paris  jährlich  Gebrauchs- 
gegenstände verzehrt  würden ,  die  bezahlt  werden  müssen. 
Uns  interessiert  hier  die  Antwort,  die  Lavoisier  auf  die 
Frage  erteilt:  wovon  die  250  Millionen  bezahlt  wurden,  weil 
in  ihr  ein  außerordentlich  frappantes  Urteil  über  die  Zu- 
sammensetzung der  Pariser  Bevölkerung  beim  Ausbruch  der 
Revolution  enthalten  ist.  Die  Antwort  lautet  nämlich  (wenn 
wir  sie  von  den  offenbaren  Irrtümern  reinigen,  die  Lavoisier 
untergelaufen  sind  ^'') : 

Etwa   20   Millionen   bringen   Exportgewerbe   und   Handel 
ein ;  140  Millionen  werden  mit  Hilfe  von  Staatsschulden- 
renten und  Gehältern   bezahlt   (revenu  des  intörets  et 
d^penses  pay6  par  le  tresor  public); 
100  Millionen  decken  die  Grundrenten-  und  Unternehmer- 
protite  (von  auswärtigen  Unternehmungen),  die  in  Paris 
zum  Verzehr  gelangen  (revenu  des  propri^taires  de  terre, 
de  biens  ruraux  et  de  manufactures). 
Glänzend,  glänzend!    Welche  Tiefe  der  Einsicht  und  der  Er- 
kenntnis:  Paris  —  bis  auf  eine  quantitö  n^gligeable  —  eine 
reine  Konsumstadt,  die  vom  Hof,  von  den  Beamten,  von  den 
Staatsgläubigern  und  den  Grundrentenbeziehern  lebt. 

Dieselbe  Auffassung   sehen  wir  bei   allen   urteilsfähigen 


Die  Entstehung  und  die  innere  Gliederung  der  Großstädte        35 

Zeitgenossen  wiederkehren  (auf  deren  Zeugnisse  wir  leider 
angewiesen  sind,  solange  kein  zifternmäßiger  Nachweis  für 
die  Richtigkeit  der  hier  vertretenen  Meinung  erbracht  ist). 
Der  Verfasser  des  Ami  des  Hommes,  der  ältere  Mira- 
beau,  berechnete,  daß  etwa  200  000  Personen  aus  Paris  aus- 
wandern müßten,  wenn  man  seinem  Vorschlag  gemäß 

1.  tous  les  Officiers  Royaux  qui  en  tirent  de  grands  appoin- 
tements : 

2.  tous  ceux  des  grands  Propriötaires,  qui  certains  d6sor- 
mais  de  ne  pouvoir  traiter  leurs  affaires  conteutieuses 
que  lä  et  assurös  d'y  jouir  eu  meme  temps  de  la  con- 
sideration  et  de  l'aisance  .  .  .  voudraient  bien  aller  jouir 
de  la  terre  natale; 

3.  tous  les  plaideurs  forc6s 

in  die  Provinz  zurückbeförderte  ^*. 

Seiner  und  aller  Physiokraten  Meinung  nach  herrschte 
nämlich  zur  Zeit  „une  mauvaise  distribution  des  hommes  et 
des  richesses",  denn  .,tous  les  seigneurs,  tous  les  gens  riches, 
tous  ceux  qui  ont  des  rentes  ou  des  pensions  süffisantes  pour 
vi  vre  commodöment  fixent  leur  söjour  ä  Paris  ou  dans  quelqu'- 
autre  grande  ville  oü  ils  depensent  presque  tous  les  revenus 
des  fonds  du  royaume.  Ces  d^penses  attirent  une  multitude 
de  marchands,  d'artisans,  de  domestiques  et  de  manouvriers"  ^^. 
Um  diese  reichen  Pventiers,  zu  denen  sich  die  „financiers, 
dont  les  caisses  ,  .  ont  .  .  trait  directement  au  Tresor 
Royal"  *"  und  andere  gesellen,  gruppiert  sich  eine  hochent- 
wickelte (nach  Meinung  der  Physiokraten  überfeinerte)  Luxus- 
industrie; denn  der  „Propri6taire,  rustique  dans  la  terre,  devient 
ä  Paris  un  arbiter  elegantiarum  et  donne  des  idees  ä  un 
ouvrier,  qui  s'ölevant  ainsi  au  dessus  de  sa  sphöre  mechanique 
devient  un  homme  illustre  dans  son  Art"  **  .  .  . 

Wie  alles  Gewerbe  und  aller  Handel  nur  von  den  Re- 
venuen der  Reichen  lebt,  die  also  hier  die  Städtegründer  in 

3* 


3g  Zweites  Kapitel:   Die  Großstadt 

dem  von  mir  festgestellten  Sinne  sind,  schildert  in  seiner  be- 
kannten eindringlichen  Art  wieder  Mercier*^: 

„Comment  trouver  le  nioyen  de  remedier  ä  cette  foule  de  necessiteux 
qui  n'ont  d'autre  gage  de  leur  subsistance  que  dans  le  luxe  deprave  des 
grands  .  .  . 

On  voit  daus  cette  capitale  des  hommes  qui  usent  toute  leur  via  ä 
faire  des  joujous  d'enfants;  les  vernis,  les  dorures,  les  pompons  occupent 
une  annöe  d'ouvriers;  cent  mille  hras  y  sout  exerces  nuit  et  jour  ä 
fondre  des  sucreries  et  ii  ^difier  des  desserts.  Cinquante  mille  autres, 
le  peigne  en  main,  attendant  le  reveil  de  tous  ces  oisifs  qui  vegetent  en 
croyant  vivre  et  qui  pour  se  dedommager  de  l'ennui  qui  les  accable, 
fönt  deux  fois  toilettes  par  jour." 

Daß  ein  nicht  unbeträchtlicher  Teil  der  Pariser  Be- 
völkerung von  den  Einkünften  der  Kirche  und  ihren  Dienern 
lebten,  vergessen  die  Physiokraten  in  ihren  Darstellungen 
meist  besonders  zu  erwähnen.  Mercier  dient  uns  auch  in 
diesem  Punkte  wieder  als  wertvollste  Quelle,  wenn  er  schreibt : 

„Paris  est  rempli  d'abbes,  clers  tonsures,  qui  ne  servent  ni  l'eglise 
ni  l'ötat,  qui  vivant  dans  l'oisivete  la  plus  suivie  et  qui  ne  fönt  que  des 
inutilites  et  fadaises  .  .  . 

Dans  plusieurs  maisons  on  trouve  un  abbe  ä  qui  l'on  donne  le  nom 
d'ami,  et  qui  n'est  qu'un  honnete  valet  qui  commande  la  livree  .  .  . 

Ensuite  viennent  les  pröcepteurs,  qui  sont  aussi  des  abbes  .  .  ." 
(M|ercier)  Tabl.  de  Par.  (1783)  Gh.  XC. 

„Les  eveques  violent  facilement  et  sans  reraords  la  loi  de  la  re- 
sidence  en  quittant  le  poste  qui  leur  est  assignö  par  les  saints  canons. 
L'ennui  les  chasse  de  leurs  dioceses  qu'ils  regardent  comme  unexil:  ils 
viennent  presque  tous  ä  Paris  pour  y  jouir  de  leurs  richesses" :  ibid. 
Ch.  XCL 

Wie  wir  denn  demselben  Gewährsmann  den  einzigen  zu- 
verlässigen Überblick  über  die  verschiedenen  Gruppen  der 
Pariser  Bevölkerung  verdanken,  die  diese  am  Ende  der  früh- 
kapitalistischen Periode  zusammensetzten.  Ich  will  die  Über- 
sicht, um  das  Bild  noch  deutlicher  hervortreten  zu  lassen, 
schließlich  hier  noch  mitteilen  und  zwar,  weil  es  sich  besser 
dem  Auge  einprägt,  in  schematisierter  Form. 

II  y  a  dans  P.  8  classes  d'habitans  bien  distinctes: 

1.  les  princes  et  les  grands  seigneurs; 

2.  les  gens  de  robe: 


Die  Entstehung  und  die  innere  Gliederung  der  Großstädte         37 

a)  le  barreau, 

b)  l'eglise, 

c)  la  medecine; 

3.  les  tinanciers: 

depuis  le  fermier-general  jusqu'au  preteur  ix  la  petite  domaine. 
Les  agens  de  change,  ces  nouveaux  crocodiles,  occupent  le  milieu 
de  ce  Corps  devorant,  meprisable  et  bientöt  meprisä: 

4.  les  u^gocians  on  marchauds: 

sie  leben  nur  von  den  Gi'oßen :  comme  les  grands  n'achetent  rien 
comptant  les  marchands  sont  Obligos  d'aller  s'humilier  tous  les 
jours  devant  eux  ou  devant  leurs  domestiques; 

5.  les  artisies : 

les  peiuires,       \ 

.,    architectes,  >  niedrigster  Rang, 
.,    statuaires,     f 

.,    compositeur  en  musique,  hoher  Rang, 
.,    hommes  de  lettres,  höchster  Rang,  nobilitas  literata; 

6.  les  artisans : 

wohlhäbige  Handwerksmeister,  leben  ausschließlich  von  der  Arbeit 
für  die  Reichen  (wie  an  anderer  Stelle  gezeigt  wurde); 

7.  les  manouvriers; 

8.  les  laquais; 

9.  le  bas  peuple. 

Also  9?! 

Vor   allein   gibt  es  eine   Unmenge   „unproduktive"   Menschen:   les 
nombreuses  colonies  de  meines  chapelains; 
tant  de  nobles, 
.,       ^    greffiers, 
„       .,    huissiers, 
.,      .,    sergents, 
^       .,    clercs, 

„       ^    milliers  d'estaffiers, 
.,       -,    hommes  ä  bandouli^res, 
-,    rentiers, 
puis  les  cochers, 
y,    postillons, 
^    palelreniers. 
Und  dazu  die  Fremden,  die  in  Scharen  nach  P.  kommen. 

(Mercier)  Tabl.  de  Par.  II  (1788),  39  ff.,  44  ff . 

8.  London.  Ein  mächtiger  Königshof,  um  ihn  herum 
seit  dem  Ende  des  1(J.  Jahrhunderts  ein  Kreis  reicher  Grund- 
besitzer,  die   hier   ihre  Renten  verzehren :   das   ist  der  Kern 


38  Zweites  Kapitel:   Die  Großstadt 

Londons  noch  im  17.  Jahrhundert.  Wie  stark  die  Anziehungs- 
kraft war,  die  die  Hauptstadt  auf  Nobility  und  Gentry  im 
17.  Jahrhundert  schon  ausübte,  ersehen  wir  aus  den  zahl- 
reichen Erlassen,  die  —  seltsamerweise!  —  gerade  die  beiden 
ersten  Stuarts  gegen  diese  Neigung  der  gruudbesitzenden 
Familien,  in  London  zu  residieren,  richten.  So  heißt  es  in 
einem  dieser  Erlasse  aus  dem  Jahre  1632 : 

„That  by  residing  in  London  with  their  families  a  great  part  oi' 
their  money  and  substance  is  drawn  from  the  several  counties  whence 
it  ariseth  and  spend  in  the  city  on  excess  of  appeal,  provided  from 
foreign  parts  .  .  .  that  this  also  draws  great  numbers  of  loose  and  idle 
people  to  London  and  West  Minster"  etc.    Foed.  19,  374. 

(Bei  Anderson,  Org.  2,  849.) 

Aber:  was  das  Schicksal  aller  solcher  Erlasse  ist,  die 
einen  Strom  zu  seiner  Quelle  zurückleiten  wollen,  das  war  auch 
das  Schicksal  dieser  Wohnverbote :  sie  wurden  nicht  beachtet. 
Gerade  während  des  17.  Jahrhunderts  muß  die  Übersiedlung 
der  Landeigner  nach  London  besonders  häufig  stattgefunden 
haben  (wodurch  im  wesentlichen  also  das  rasche  Wachstum 
Londons  in  diesem  Jahrhundert  bewirkt  wurde).  Denn  am 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  wird  uns  London  als  „the  mighty 
Rendez-vous  of  Nobilty,  Gentry,  Courtiers,  Divines,  Lawyes, 
Physicians,  Merchants,  Seamen  and  all  kind  of  excellent  Arti- 
ficers,  of  the  most  refined  W' its  and  most  excellent  Beauties"  *^ 
geschildert. 

Seit  dem  Ende  des  17.  und  während  des  18.  Jahrhunderts 
kommt  nun  zu  den  schon  ansässigen  Städtegründern  ein  neuer, 
überaus  wichtiger  hinzu:  der  Staatsgläubiger  und  der  Groß- 
finanzmann. Im  London  des  17.  Jahrhunderts  herrschte  schon 
ein  reger  Kreditverkehr.  Welche  Barsummen  flüssig  gemacht 
werden  konnten  in  kurzer  Zeit,  beweist  die  Tatsache  z.  B., 
daß  das  Aktienkapital  der  Bank  of  England  (1200900  ^) 
vom  21.  Juni  bis  2.  Juli  1694  vollgezeichnet  wurde.  Die 
stadtbildende  Kraft  der  Staatsschulden  hat  mit  großer  Treff- 
sicherheit  D.  Hume   betont:    „our   national   debts   cause  a 


Die  Entstehung  und  die  innere  Gliederung  der  Großstädte         39 

mighty  confluence  of  people  and  riches  to  the  capital,  by  the 
great  sums  levied  in  the  ])rovinces  to  pay  the  interest  of 
these  debts"**. 

In  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  finden  wir  die  feine 
Welt  noch  in  der  City.  Wir  entnehmen  das  z.  B.  aus  den 
Klagen  der  „feinnasigen  City-Damen'"  über  den  sie  belästigenden 
Kohlenrauch  (damals  fing  man  an,  Steinkohle  zu  brennen): 
„0  Husband  wee  shall  never  bee  well,  wee  nor  our  children 
while  we  live  in  the  smell  of  this  Cities  Seacoale  smoke"  *®. 

Von  da  ab  beginnt  der  Adel  seino  Paläste  in  die  Vor- 
städte zu  verlegen.  Der  Fortsetzer  des  M i e g e ,  Mr.  B o  1 1 o n , 
gibt  uns  ein  anschauliches  Bild  von  diesem  Umgestaltungs- 
prozeß, den  die  Stadt  London  um  die  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts erfährt.  „The  Nobilty  and  chief  among  the  Gentry 
are  at  this  tinie  much  better  aecomodated  in  tine  Squares  or 
Streats,  where  they  breathe  a  good  Air  and  have  Houses  built 
after  the  modern  way."  Er  führt  dann  eine  große  Anzahl 
solcher  Neubauten  namentlich  auf,  und  wir  empfangen  auch 
aus  seiner  Schilderung  durchaus  den  Eindruck ,  daß  der 
Charakter  des  vornehmen  London  seiner  Zeit  noch  durchaus 
durch  die  Niederlassung  des  Landadels  bestimmt  wird*^ 
Daneben  finden  wir  dann  den  Adel  in  der  unmittelbaren 
Nachbarschaft  Londons.  Defoe  zählt  17  Nachbarorte  Lon- 
dons auf,  ..all  crowded  and  surrounded  with  fine  houses  or 
rather  palaces  of  the  nobilty  and  gentry  of  England"*". 

Ich  habe  nun,  ähnlich  wie  Lavoisier  für  Paris  (wenn 
auch  nach  einer  ganz  anderen  Methode),  so  für  das  London 
des  18.  Jahrhunderts  den  Versuch  gemacht,  den  Anteil  der 
städtebildeuden  Bevölkerungsgruppen  an  dem  Aufbau  Lon- 
dons ziffernmäßig  festzustellen,  und  bin  dabei  zu  folgendem 
Ergebnis  gelangt,  das  natürlich  keinerlei  Anspruch  auf  Ge- 
nauigkeit macht,  das  aber  an  Glaubwürdigkeit  zweifellos 
durch  die  Tatsache  nicht  unbeträchtlich  gewinnt,  daß  die  be- 
rechneten Anteile  denen  von  Lavoisier  für  Paris  angesetzten 


40  Zweites  Kapitel:    Die  Großstadt 

Verhältuiszahleu  sieh  stark  nähern  (und  eigentlich  nur  soweit 
voneinander  abweichen,  als  Londons  Handel  dem  Pariser 
überlegen  war). 

Daß  der  Handel  bei  einer  Beschreibung  Londons  stets  vor  allem 
als  das  städtebildende  Element  hervorgehoben  wird ,  z.  B.  auch  von 
C  h  a  m  b  e  r  1  a  y  n  e ,  ist  begreiflich ;  er  stach  jedem  Beschauer  in  die 
Augen.  Die  zifl'ermäßige  Feststellung  dagegen  ergibt  auf  das  deutlichste, 
daß  der  „Handel"  gewiß  nur  den  kleineren  Teil  der  Londoner  Bevölke- 
rung hätte  ernähren  können.  Die  Ein-  und  Ausfuhr  Gesamtenglands 
bezifferte  sich  im  Jahre  1700  auf  einen  Wert  von  214  Mill.  Mk.,  eine 
Summe,  wie  sie  der  Handel  der  Stadt  Bremen  allein  etwa  um  die  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts  erreichte.  Der  Tonneugehalt  der  in  sämtlichen 
Häfen  Englands  im  Jahre  1688  ein-  und  ausgelaufenen  Schifle  betrug 
285  000  t,  soviel  wie  Hamburgs  Schiffahrt  etwa  im  Jahre  1800,  das  ist 
etwa  der  fünfzigste  Teil  ihres  jetzigen  Umfangs.  Siehe  die  Ziflfern  bei 
Goldstein,  143  (nach  C halmers  und  Price  Williams).  Man  kann 
allen  Respekt  vor  der  Handelsgröße  Londons  in  jener  Zeit  haben,  muß 
sich  aber  doch  hüten,  die  Phrasen  der  zeitgenössischen  Schriftsteller  von 
dem  „infinite  number  of  ships,  which  by  their  masts  resemble  a  Forest, 
as  they  lie  along  this  Stream"  (Themse),  dem  „infinite  number  of  great 
wellfurnished  Shops"  (Chamberlayne)  zum  Anlaß  übertriebener  Vor- 
stellungen zu  nehmen,  sondern  muß,  wenn  man  den  Anteil  des  „Handels" 
an  der  Größe  Londons  ermessen  will,  etwa  folgendes  Rechenexempel 
anstellen : 

Ein-  und  Ausfuhrwert  ganz  Englands  betragen  1700  nicht  ganz 
11  Mill.  £\  rechnen  wir  einen  auch  für  jene  Zeit  wohl  reichlichen  reinen 
Durchnittsprofit  von  10  "/o  an  dieser  Summe,  so  ergibt  dies  1 100000  j^-, 
veranschlagen  wir  weiter  den  auf  London  vom  Gesamthandel  Englands 
entfallenden  Anteil  auf  -/a,  was  gewiß  auch  hoch  genug  ist,  so  wäre  dies 
eine  Summe  von  rund  750  000  £  Handelsgewinn  Londoner  Kaufleute. 
Nun  nimmt  King  für  das  Jahr  1688  das  Durchschnittseinkommen  einer 
Handwerkerfamilie  mit  40  äf ,  einer  Arbeiterfamilie  mit  15  £  an.  Von 
jener  Summe  würden  also  etwa  7000  Handwerkerfamilien  und  24  000 
Arbeiterfamilien  oder  12  000  Familien  von  jeder  Kategorie  haben  leben 
können.  King  will  die  Kopfzahl  jeder  dieser  Familien  auf  3^2  bzw.  4 
bemessen  sehen.  Auf  keinen  Fall  würden  also  viel  über  100  000  Seelen, 
d.  h.  Vi — Ve  des  damaligen  London  herauskommen,  die  vom  „Handel" 
gelebt  hätten. 

Nun  muß  aber  weiter  bedacht  werden,  daß  der  in  London 
sieh  abwickelnde  Handel  natürlich  nur  insoweit  städtebildende 
Kraft  haben  konnte,  als  er  nicht  den  Warenaustausch  für  die 


Die  Städtetheorien  des  18.  Jahrhunderts  41 

Londoner  Bevölkerung  selbst  vermittelte.     Zieht  man  diesen 
ab,  so  verringert  sich  der  Anteil  noch  beträchtlich. 

Zum  Vergleich  nehme  man  etwa  die  Zivillisten  der  damaligen  eng- 
lischen Könige.  Im  Jahre  1696  bewilligte  das  Parlament  Wilhelm  III. 
eine  Zivilliste  in  Höhe  von  700000^.  Königin  Anna  bezog  dieselbe 
Summe.  Unter  Georg  I.  wurde  sie  auf  800  000  ^fe",  unter  Georg  II.  auf 
900000  c^  (100  000  £  for  the  Queens  separate  House  hold)  erhöht;  außer- 
dem hatte  der  Prinz  von  Wales  noch  sein  eigenes  Einkommen  in  Höhe 
von  100  000  £.  König,  Königin  Mutter  und  Kronprinz  hatten  also  an- 
nähernd soviel  Einkommen  zu  verzehren  und  Menschen  leben  zu  lassen 
die  Möglichkeit  wie  die  gesamte  Kaufmannschaft  zusammen.  Die  mit- 
geteilten Ziffern  sind  dem  Werke  von  Miege  and  P  olton  (S.  236)  ent- 
nommen. Dort  findet  sich  auch  in  einem  Beibande  (A  regulär  Collection 
or  series  of  lists  containing  all  the  offices  and  whole  establishment  civil, 
military  and  ecclesiastical  in  Great  Britain  and  Ireland)  eine  fast  voll- 
ständige Übersicht  über  die  Gehälter  der  Militär-  und  Zivil- 
beamten des  Königreichs,  aus  der  die  zum  Teil  unglaubliche  Höhe 
namentlich  der  Gehälter  der  obersten  Beamten  ersichtlich  ist.  Es  finden 
sich  Beträge  von  1000,  1500  und  sogar  2000  ^'  gar  nicht  selten.  Man 
ermesse:  wenn  2000  £  als  Handelsprofit  verdient  werden  sollten,  selbst 
die  Profitrate  von  20  "/o  und  nur  einen  zweimaligen  Kapitalumschlag  im 
Jahre  angenommen,  so  bedeutete  das  einen  Umsatz  von  200000  ^,  d.  h. 
den  vierzigsten  Teil  des  gesamten  Warenumsatzes  Londons !  Verteilt  man 
die  Anteile  der  Bevölkerung  des  damaligen  Londons  auf  die  einzelnen 
städtebildenden  Faktoren,  so  ei'gibt  sich  in  meiner  Vorstellung  etwa 
dieses  Verhältnis:  zwei  Sechstel  lebten  vom  König  und  seinem  Hof,  ein 
Sechstel  von  der  Beamtenschaft,  zwei  Sechstel  von  den  Grundrentnern  und 
indirekten  Staatsrentnern  (Haute  Finance),  ein  Sechstel  vom  Handel  und 
von  gewerblicher  Tätigkeit. 


III.   Die  Städtetheorien  des  18.  Jahrhunderts 

Daß  nun  aber  wirklich  die  soziale  Struktur  der  Groß- 
stadt in  der  frühkapitalistischen  Epoche  so  war,  wie  ich  sie 
in  den  voraufgehenden  Blättern  zu  zeichnen  versucht  habe, 
das  ersehen  wir  schließlich  noch  mit  aller  nur  wünschens- 
werten Deutlichkeit  aus  den  zahlreichen  „Städtetheorien" 
des  18.  Jahrhunderts,  aus  denen  wir,  denke  ich,  ohne  weiteres 
Rückschlüsse  auf  die  Natur  der  Großstädte  jener  Zeit  machen 
dürfen.    Denn  wenn  die  meisten  Autoren  auch  wähnten,  ,die" 


42  Zweites  Kapitel:    Die  Großstadt 

Stadt  oder  „die"  Großstadt  schlechthin  in  ihren  Entstehungs- 
uüd  Daseinsbedingungen  zu  schildern,  so  sind  ihre  Lehren 
doch  nichts  anderes  als  Verallgemeinerungen  der  von  ihnen 
beobachteten  tatsilchlichen  Gestaltungen  in  ihrer  Umgebung. 
Darum  teile  ich  hier  zu  guter  Letzt  noch  ein  paar  Auszüge 
mit  aus  den  am  meisten  gelesenen  und  geachteten  Schrift- 
stellern jener  Tage,  die  sich  über  das  Stcädteproblem  geäußert 
haben. 

Soviel  ich  sehe ,  ist  in  der  theoretischen  Konstruktion  der  Stadt 
^ie  auf  so  vielen  anderen  Gebieten  der  nationalökouomischen  Wissen- 
schaft im  18.  Jahrhundert  Cantillon  wegweisend.  Er  läßt  die  Stadt 
wie  folgt  entstehen:  „Si  un  Prince  ou  Seigneur  .  . .  fixe  sa  derueure  dans 
quelque  lieu  agröable  et  si  plusieurs  autres  Seigneurs  y  viennent  faire 
leur  residence  pour  etre  ä  portee  de  se  voir  souvent  et  jouir  d'uue  soci^te 
agreable,  ce  lieu  deviendra  une  Ville,  on  y  bätira  de  grandes 
Maisons  pour  la  demeure  des  Seigneurs  en  question;  on  y  en  bätira  une 
infinite  d'autres  pour  les  Marchands,  les  Artisans,  et  Gens  de  toutes 
sortes  de  professions  que  la  residence  de  ces  Seigneurs  attirera  dans  ce 
lieu.  II  faudra  pour  le  service  de  ces  Seigneurs  des  Boulangers,  des 
Bouchers,  des  Brasseurs,  des  Marchands  de  vins,  des  fabriquants  de 
toutes  especes :  ces  Entrepreneurs  bätiront  des  Maisons  dans  le  lieu 
de  question  ou  loueront  des  Maisons  bäties  par  d'autres  Entrepreneurs; 
.  .  .  toutes  les  petites  Maisons  dans  une  Ville,  teile  qu'on  la  decrit  ici, 
dependent  et  subsistent  de  la  depense  des  grandes  Maisons  ...  La  ville 
en  question  s'agrandira  encore,  si  le  Roi  ou  le  Gouvernement  y  ätablit 
des  Cours  de  Justice  .  .  .  Une  Capitale  se  forme  de  la  meme  maniere 
qu'une  Ville  de  Province  .  .  .  toutes  les  terres  de  l'Etat  contribuent  plus 
ou  moius  k  la  subsistance  des  Habitans  de  la  Capitale.'" 

Cantillon,  Essay  sur  la  natui-e  du  Commerce  17.55,  p.  17  ff. 

Dieser  Gedankengang  findet  sich  mit  unwesentlichen  Abweichungen 
in  fast  allen  die  Städtebildung  behandelnden  Abhandlungen  der  Zeit 
wieder;  er  ist  allerdings  von  den  Physiokraten  besonders  scharf  heraus- 
gearbeitet, weil  er  ihrer  Theorie  als  Stütze  dienen  soll,  wird  aber  auch 
von  so  vielen  nicht  orthodox-physiokratischen  Schriftstellern  übernommen. 

Ein  großer  Teil  der  Erörterungen  in  der  volkswirtschaftlichen  Lite- 
ratur des  18.  Jahrhunderts  ist  der  Diskussion  über  die  volkswirtschaft- 
lich zweckmäßigste  Art,  die  Grundrente  zu  verausgaben,  gewidmet.  Denn 
das  vor  allem  haben  doch  wohl  die  zahllosen  Schriften  und  Kapitel  über 
den  „Luxus"  zum  Inhalt,  die,  wie  bekannt,  die  nationalökonomische 
Literatur  des  18.  Jahrhunderts  ebenso  charakterisieren  wie  die  Traktate 
über  die  Bevölkerung. 


Die  Städtetheorien  des  18.  Jahrhunderts  43 

Da  nun  aber  die  Verausgabung  jener  volkswirtschaftlich  so  wich- 
tigen Quote  des  Nationaleinkomincvs  in  den  Städten,  vornehmlich  in  den 
Großstädten  erfolgte,  so  verquickt  sich  die  Luxusfrage  mit  der  Groß- 
stadtfrage: fast  alle  Luxusschriftstellor  dehnen  ihre  Untersuchung  auf 
die  Erörterung  des  Problems  aus:  was  macht  die  Städte  so  volkreich? 
was  lebt  in  den  Städten?  wofür  weiden  die  Einkommen  der  Reichen  da- 
selbst verausgabt?  wie  wirkt  die  Art  der  Verausgabung  auf  den  Gang 
der  Volkswirtschaft? 

Um  diesen  Zusammenhang  zwischen  Luxus-  u  n  d  S  t  ä  d  t  e  - 
theorie  in  der  Literatur  jener  Zeit  nachzuweisen,  mag  es  genügen,  an 
Quesnays  Questions  interessantes  sur  la  populatinn ,  l'agriculture  et 
le  commerce  zu  erinnern  (in  der  Edit.  Oncken  ]).  250  ü'.))  wo  die  zwanzig 
Fragen  im  Kapitel  „Ville"  jenes  Problem  des  Zusammenhangs  zwischen 
Städtebildung  und  volkswirtschaftlicher  Zirkulation  behandeln.  Siehe  z.B. 
question  XV  d.  c.  p.  297):  „si  les  grandes  fortunes  qui  se  forment  dans 
les  grandes  villes  ne  sont  pas  prejudiciables  ä  l'agriculture  .  .  .  ces 
grandes  fortunes,  ne  prouvent-elles  pas  que  les  richesses  s'accumulent 
dans  les  villes,  qu'elles  ne  retournent  pas  dans  les  campagnes?"  oder 
qu.  XVIII  (p.  298):  ,,si  le  retablissement  des  revenus  des  biens-fonds 
exige  que  les  proprietaires  et  ceux  qui  peuvent  faire  des  grandes  de- 
penses,  resident  dans  les  campagnes?  La  consommation  qu'ils  fönt  dans 
les  villes  n'est-elle  pas  aussi  profitable  aux  campagnes,  que  si  eile  se 
faisait  dans  les  campagnes  memes?"  usw.  Oder  im  Kapitel  „Richesse" 
art.  VI  (1.  c.  ]).  302):  „Depuis  que  les  grands  et  les  riches  se  sont  retires 
dans  la  capitale,  leurs  d^penses  u'en  sont-elles  pas  devenues  plus  re- 
marquables  et  ne  jugerait-on  pas  de  lä,  que  le  luxe  serait  augmente? 
le  luxe  n'a-t-il  pas  toujours  6te  proportioune  aux  richesses  de  la  nation?" 
usw.  usw.  Quesnay  fußt  auch  in  diesen  Gedankengängen  auf  Can- 
tillon,  dessen  glänzender  Essay  im  ersten  Teil  vielfach  dieselben  Pro- 
bleme behandelt.  Siehe  z.  B.  das  Ch.  XIV,  dessen  Überschrift  ein  ganzes 
Programm  enthält. 

Zum  Vergleiche  mit  der  Theorie  Cantillons  führe  ich  noch 
folgende  Stellen  an:  „les  richesses  de  cette  ville  y  attirent  les  plaisirs. 
Pour  en  jouir  et  les  partager,  les  riches  proprietaires  quittont  leur  cam- 
pagnes, passeront  quelque  mois  dans  cette  ville,  y  construieront  des 
hoteis.  La  ville  s'agrandira  de  jour  en  jour  .  .  .  Cette  ville  portera 
enfin  le  nom  de  Capitale."  Helvetius,  De  l'homrae  Lect.  VI.  Ch.  VII 
((Euvres  2,  860).  Über  die  ähnlichen  Gedankengänge  Quesnays  wurde 
schon  berichtet.  Ganz  in  seinem  Geiste  gehalten  sind  die  Ausführungen 
des  Grafen  Mirabeau,  De  la  monarchie  prussienne  sous  Frederic  le 
Grand  1  (1788),  403  f. 

Von  Italienern  sind  u.  a.  Beccaria  und  Filangieri  zu  nennen: 
„i  piü  grandi  proprietari  delle  terre,  i  quali  un  maggior  numero  di  bisogni 
ed   una   vita  piü   raffinata   e   remota  dagli   umili  e   rozzi  usi  del   volgo 


44  Zweites  Kapitel:   Die  Großstadt 

gettava  in  braccio  alla  noia  compensatrice  delle  diverse  condizioni  degli 
uomini,  per  Tambizione  di  distinguersi  a  gara  e  di  sovrastare  alle  classi 
laboriose  di  loro  simili,  dovettero  riunirsi  a  poco  a  poco  insieme  e  rlsie- 
dere  vicino  alla  sorgente  delle  leggi,  vicino  alle  supreme  magistrature, 
onde  occuparsi  del  comando  ed  estender  la  sfera  dei  loro  piaceri  esten- 
dendo  il  loro  potere.  Ecco  l'origine  delle  cittä  grandi  e  per 
conseguenza  o  attualmeute  o  una  volta  capitali."  C.  Beccaria,  Eco- 
nomia  pubblica  (1771)  §30.  Custodi,  P.M.  11,  58/59.  Vgl.  auch  p.  86, 
wo  von  der  Entstehuag  der  Luxusindustrien  in  den  Großstädten  gehandelt 
wird.  Ganz  ebenso  macht  Filangieri  den  Grundherrn  für  das  Ent- 
stehen der  Großstädte  verantwortlich.  „Ivi  per  palesare  il  suo  lusso  e 
le  sue  ricchezze  egli  occupa,  abusa  e  profana  il  pennello  del  pittore,  lo 
scalpello  dello  statuario  e  dello  scultore,  il  genio  dell'  architetto,  la  fan- 
tasia  del  poeta  e  tutti  gli  ordigni  delle  mauifatture  e  delle  arti.  Ivi  egli 
mantiene  uno  stuolo  prodigioso  di  oziosi,  che  servono  piü  al  suo  feste 
che  al  suo  commodo.  Ivi  finalmente  egli  consuma  le  sue  rendite  e  quelle 
della  sua  posteritä."  G.  Filangieri,  Leggi  pol.  e  leggi  economiche 
(1780).     Custodi  P.  M.  32,  185/86. 

In  England  gibt  die  Stewart  sehe  Städtetheorie  im  Grunde  auch 
nur  den  Gedankengang  Cantillons  wieder,  nur  mit  der  Modifikation,  daß 
Stewart  neben  den  Landlords  (the  proprietors  of  the  surplus  of  food)  aus- 
drücklich die  Vertreter  des  „monied  interest",  Leute  mit  irgendwelchem 
„schon  erworbenen"  Bezugsrecht  auf  Teile  des  Nationaleinkommens 
(„with  a  revenue  already  acquired"  Inquiry  ed.  cit.  1,  203)  als  die  frei 
städtebildenden  Elemente  bezeichnet,  um  die  sich  dann  die  handel-  und 
gewerbetreibende  Bevölkerung  („those  who  purchase  it  with  their  daily 
labour  or  personal  service")  erst  gruppiert. 


45 


Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der 

Liebe 

Quellen  und  Literatur 

Ältere  (Quellen-) Literatur.  Für  die  Renaissance:  die  Werke  von 
Cappeilanus,  Petrarca,  Boccaccio,  L.  Valla,  Bembo,  Castiglione,  Becca- 
delli,  Firenzuola,  Aretino,  Bellay,  Montaigne,  Rabelais. 

Für  das  17.  Jahrhundert:  die  Sammlung  Cabinet  satyrique  ou  re- 
cueil  parfait  des  vers  piquants  et  galliards  de  ce  temps.  Öfters  gedruckt, 
u.  a.  Paris  1632.  Die  Werke  von  Auvray,  von  P.  de  Brantöme 
(Vie  des  dames  illustres,  Vie  des  dames  galantes  u.  a.,  neuerdings  deutsch 
erschienen  1905  im  Insel-Verlag  und  1907)  und  ungezählte  andere,  die 
man  leicht  aus  den  Bibliographien  entnimmt. 

Für  das  18.  Jahrhundert:  die  Werke  des  Restif  de  la  Bre- 
tonne,  namentlich  Le  Palais  Royal.  3  Vol.  1790.  Nouv.  Ed.  in  der 
Sammlung:  Les  moeurs  legeres  au  XVIII  siecle;  Introd.  et  notes  par 
Henri  d'Almeras  und  vor  allem  die  umfangreiche  Memoirenliteratur. 

Neuere  Literatur.  Für  das  Mittelalter:  A.  Schultz,  Das  höfische 
Leben  zur  Zeit  der  Minnesänger.  2.  Aufl.  1889.  Für  die  Renaissancezeit 
kommen  zunächst  alle  die  bekannten  allgemein  geschichtlichen  Werke 
von  Burckhardt,  Gregor ovius,  Grimm  u.  a.  in  Betracht,  zu  denen 
sich  neuerdings  ein  schönes  Buch  gesellt  hat  von  Gas.  Chledowski 
Rom:  Die  Menschen  der  Renaissance.  1912.  (Aus  dem  Polnischen  über- 
setzt.) Besonders  reich  ist  die  neuere  Literatur  über  das  Leben  der  großen 
Kurtisanen  der  Renaissance.  Ich  nenne:  C.  Biagi,  Un  Etera  romana 
Tullia  d'Aragoua.  1897.  P.  L.  Bruzzone,  Imperia  e  i  suoi  ammiratori. 
Nuova  Antologia  1906.  Fase.  828.  Sogar  die  Briefe  dieser  Damen  hat 
man  zu  edieren  für  nötig  befunden:  L.  A.  Ferrari,  Lettere  die  corte- 
giane  del  sec.  XVI.  1884.  Lothar  Schmidt,  Renaissancebriefe  o.  J. 
(Band  9  der  „Kultur").  Für  das  17.  und  18.  Jahrhundert  außer  den  all- 
gemeinen Werken  kulturhistorischen  Inhalts:  Inibert  de  Saint-Amand, 
Femmes  de  Versailles:  Les  femmes  de  la  Cour  de  Louis  XV.  2  Vol.  1876; 
Les  femmes  de  la  Cour  de  Louis  XVI.  2  Vol.  1876.  —  Arseneiloussaye, 
Galerie  du  XVIII«  siäle.   6e  ed.   Deuxiöme  serie:  Princesses  de  Comedies 


^g  Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

et  deesses  d'opera.  Qnatrieme  serie :  Hommes  et  femmes  de  Cour.  1858. 
(Sehr  witzig  und  geistvoll.) 

Theodor  G  r  i  c  s  i  n  g  e  r ,  Das  Damenregiment  an  den  verschie- 
denen Höfen  Europas  in  den  zwei  letztvergangenen  Jahrhunderten.  Erste 
Reihe:  Die  großen  französischen  Vorbilder.  2  Bde.  1866.  1867.  Zweite 
Reihe:  Versailles  in  Deutschland  (Dresden  und  Hannover).  2  Bde.  1869. 
1870.  (Reiches  Material,  aber  anekdotisch  zusammengetragen  und  ohne 
Quellenangabe.)  Albert  Savine,  La  Cour  galante  de  Charles  II.  1908. 
(Gute,  quellenmäßige  Arbeit.) 

In  die  Welt  der  Theaterprinzessinnen  führen  gut  ein  die  Souvenirs 
de  Miie  Duthe  de  l'opera  1748 — 1830  (apokryph),  mit  einer  sehr  lehr- 
reichen Einleitung  neu  herausgegeben  von  Paul  Ginist y. 

Eine  Klasse  für  sich  bilden  die  prächtigen  und  sehr  instruktiven 
Bücher  der  Gebrüder  Goncourt,  die  sich  mit  unserm  Problem  be- 
schäftigen: Portraits  intimes  du  XVIII  sc.  Nouv.  Ed.  2  Vol.  1873; 
Les  maitresses  de  Louis  XV.  1860;  La  femme  au  XVIII  sc.  1862; 
L'amour  au  XVIII  sc.  1875;  vor  allem  die  beiden  Schriften  über  „La 
Pompadour"  und  „La  Dubarry". 

Natürlich  hat  jede  der  „großen"  Maitressen,  namentlich  die  der 
Könige,  eine  eigene  umfangreiche  Literatur  hervorgerufen.  Die  wich- 
tigsten Werke  sind  die  über  die  Pompadour:  von  Capefigue,  Cam- 
pardon,  Goncourt  u.  a.,  die  über  die  Montespan:  von  Arsene 
Houssaye,  Clement,  Bonassieux(Le  chateau  de  Clagny  et  M^e 
de  M.  1881)  u.  a.  Umgekehrt  kommt  natürlich  auch  die  Literatur  zur 
Geschichte  der  einzelnen  Herrscher  in  Betracht,  die  hier  ebensowenig 
aufgeführt  werden  kann  wie  die  Literatur  zur  Geschichte  der  einzelnen 
Höfe,  unter  der  ja  seinem  Umfang  nach  das  berüchtigte  Werk  Vehses, 
Geschichte  der  deutschen  Höfe  seit  der  Reformation  1851—1858,  48  Bde., 
den  ersten  Platz  einnimmt.  Für  Frankreich  ist  noch  besonders  zu  nennen: 
Saval,  Les  galanteries  des  rois  fran^ais  sous  plusieurs  races. 

Die  Maitresseuwirtschaft  der  französischen  Haute  finance  schil- 
dert sehr  eingehend:  H.  Thirion,  La  vie  privee  des  financiers  au 
XVIII.  sc.  1895. 

Eine  Spezialliteratur  bezieht  sich  auf  die  Schilderung  der 
S  alon  s  in  den  verschiedenen  Ländern  und  zu  den  verschiedenen  Zeiten. 

Selbst  der  Cocu  hat  eine  ziemlich  umfangreiche  Literatur  ins 
Leben  gerufen.  Man  findet  sie  zusammengestellt  bei  G.  Klemm,  Die 
Frauen,  Bd.  2  (1859),  355. 

Hierher  gehören  auch  die  (freilich  sehr  wenig  ergiebigen)  all- 
gemeinen Werke  über  die  Geschichte  der  Frauen:  Comte 
de  S e g u r ,  Les  femmes.  3  Vol.  1803.  G.  K 1  e m m ,  Die  Frauen.  Kultur- 
geschichtliche Schilderungen  des  Zustandes  und  Einflusses  der  Frauen 
in  den  verschiedenen  Zonen  und  Zeitaltern.  6  Bde.  1859.  (Der  Titel  ist 
das  beste  an  dem  Buch;  in  Betracht  kommt  nur  Band  2.)   H.  Scheu be, 


Quellen  und  Literatur  47 

Die   Frauen   des   achtzehnten   Jahrhunderts.    2  Bde.     1876.     Ferner  die 
bekannten  Bücher  von  Scherr,  Henne  am  Rhyn  usw. 

Auch  in  den  allgemeinen  „Sittengeschichten"  findet  sich 
mancherlei.  So  in  den  Büchern  von  R.Günther  z.B.  Kulturgeschichte 
der  liiebe.  1899;  von  Eduard  Fuchs,  Illustrierte  Sittengeschichte  vom 
Mittelalter  bis  zur  Gegenwart;  Renaissance  1909;  Die  galante  Zeit  1910 
(dazu  P^rgiinzungsbände,  die  die  Obszönitäten  enthalten),  wertvoll  wegen 
der  Abbildungen;  von  E.  Dühren,  Sittengeschichte  Englands.  2.  Aufl. 
2  Bde.     1912  u.  a. 

Selbstverständlich  gehört  auch  hierher  ein  großer  Teil  der  kunst- 
historischen Literatur,  die  ich  aber  unmöglich  im  einzelnen  auf- 
zählen kann.  Nur  auf  ein  Buch  will  ich  hinweisen,  weil  es  einem 
Zwischengebiet  angehört  und  darum  besonders  lehrreich  ist:  Virgile 
Josz,  Fragonard:  Mceurs  du  XVIII.  siecle.     1901. 

Geringe  Ausbeute  gewähren,  weil  des  historischen,  hier  allein 
interessierenden  Gesichtspunkts  meist  ganz  entratend,  die  zahlreichen 
Schriften  der  Gegenwart  über  „Die  Liebe",  über  „Sexualprobleme",  über 
„Die  Ehe"  usw.  Eine  gute  Einführung  in  diese  Literatur  bietet  jetzt 
das  Buch  von  Max  Rosenthal,  Die  Liebe,  ihr  Wesen  und  ihr 
Wert.    1912. 

Endlich  sei  auch  noch  auf  die  Werke  über  die  Geschichte  der 
Prostitution  verwiesen,  unter  denen  das  des  Franzosen  Dufour  das 
bekannteste  ist.  Deutsch  von  Adolf  Stille  und  Bruno  Schweiger 
und  bis  zur  Neuzeit  ergänzt  von  Franz  Helbing.  5.  Aufl.  1910. 
6  Bände.  Dank  der  sittenstrengen  Auffassung  ihrer  Verfasser,  nach 
der  alle  nicht  standesamtlich  beglaubigten  oder  kirchlich  eingesegneten 
Liebesbeziehungen  „Prostitution"  sind,  so  daß  also  Lucrezia  Borgia 
ebenso  wie  die  Madame  d'Etoiles  unter  die  „Prostituierten"  rubriziert 
werden,  erstreckt  sich  diese  Geschichte  sachlich  recht  weit.  Leider  ist 
die  Darstellung  dafür  im  einzelnen  meist  sehr  flüchtig  und  nicht  durch- 
weg quellenmäßig. 

BibHographien  der  „galanten"  und  obszönen  Literatur:  Hugo 
H  a  y  n  ,  Bibliotheca  Germanorum  erotica.  Verzeichnis  der  gesamten 
deutschen  erotischen  Literatur  usw.  2.  Aufl.  1885  und  (wichtiger) 
Bibliotheca  erotica  et  curiosa  Monacensis,  Verzeichnis  französischer, 
italienischer,  spanischer,  englischer,  holländischer  und  neulateinischer 
Erotica  und  Curiosa.  1887.  Bibliographie  des  ouvrages  relatifs  ä 
l'amour,  aux  femmes,  au  mariage  et  des  livre  sfacetieux,  pantagru^liques, 
scatalogiques ,  satyriques  etc.  p.  M.  le  Cte.  D'l***.  4  ed.,  p.  J.  Le- 
monnyer.  4  vols.  Paris  1894—1900.  Das  Hauptwerk:  4595  Spalten 
Lexikonformat  umfassend ! 


i 


4g  Drittes  Kapitel:   Die  Säkularisation  der  Liebe 

I.  Der  Sieg  des  Illegitimitätsprinzips  in  der  Liebe 

Ich  wüßte  nicht,  welches  Ereignis  für  die  gesamte  Lebens- 
gestaltung der  alten  und  neuen  Gesellschaft  wichtiger  gewesen 
wäre  als  die  Wandlungen,  die  die  Beziehung  der  Geschlechter 
zueinander  seit  dem  Mittelalter  bis  in  die  Zeit  des  Rokoko 
hinein  durchmachen.  Insbesondere  das  Verständnis  für  die 
Genesis  des  modernen  Kapitalismus  ist  engstens  gebunden  an 
eine  richtige  Würdigung  jener  grundstürzenden  Veränderungen, 
die   die   Erledigung  dieser  wichtigsten  Angelegenheit  erfährt. 

Um  einen  solchen  zunächst  inneren  Prozeß,  wie  es  die 
Wandlungen  in  den  Anschauungen  über  Liebe  und  Liebes- 
beziehungen sind,  zu  erfassen,  stehen  uns  zwei  Wege  der 
Erkenntnis  offen:  Äußerungen  repräsentativer  Männer  (und 
in  diesem  besonderen  Falle  auch  ebensolcher  Frauen)  und 
konkludente  Handlungen  Beteiligter.  Die  „Äußerungen'' 
können  sehr  mannigfaltiger  Art  sein:  sie  können  ex  professo 
in  Traktaten  gemacht  sein,  die  von  der  Liebe  handeln, 
„ne'quali  si  ragiona  d'amore",  wie  es  in  den  Asolani  heißt; 
es  können  aber  auch  Dichtungen  oder  Werke  der  bildenden 
Kunst  sein,  in  denen  sich  der  „Geist  der  Zeit"  widerspiegelt. 
Daß  dieser  „Geist  der  Zeit"  auch  (und  gerade)  in  diesem 
Falle  immer  nur  der  „Geist"  einer  ganz  bestimmten  Gesellschafts- 
schicht ist,  hier  also  der  Hof-  und  Adelsgesellschaft  und  derer, 
die  ihr  nacheiferten,  versteht  sich  von  selbst.  Das  Liebes- 
leben der  Bürger  entwickelt  sich  in  grundsätzlich  entgegen- 
gesetzter Richtung  als  das  der  Kavaliere  (und  gebiert  den 
kapitalistischen  Unternehmer  am  Ende). 

Wie  Wellen  im  Meere  löst  eine  Lebensgestaltung  die 
andere  ab.  Die  Welle,  die  uns  jetzt  trägt,  hat  mit  der, 
deren  Emporsteigen  und  Niederfallen  wir  hier  verfolgen  wollen, 
nichts  zu  tun:  sie  kommt  aus  den  Zunftstuben  und  aus  den 
Predigten  Calvins  und  John  Knoxens  her.  dorther,  wo  alle 
Begriffe  von  bürgerlicher  Wohlanständigkeit  ihren  Ursprung 


Der  Sieg  des  Illegitimitätspiinzii)s  in  der  Liebe  40 

haben.  Aber  selbst  innerhalb  eines  und  desselben  Kulturkreises 
verläuft  die  Entwicklung  nicht  in  einer  völlig  geraden  Linie: 
die  Richtung  wird  hier  und  da  abgelenkt  durch  Gegen- 
tendenzeu.  Und  nur  im  ganz  großen  Überblick  können  wir 
von  einer  grundsätzlich  einheitlichen  und  gradlinigen  Ent- 
wicklung sprechen,  die  die  Auffassung  von  der  Liebe  und 
ihre  Betätigung  in  unserer  Epoche  (immer:  seit  den  Kreuz- 
ziigen  bis  zu  den  drei  Walzen  Pauls  oder  der  Einbürgerung 
des  Kokesverfahrens)  durchlebt  haben. 

Das  europäische  Mittelalter  hatte  das  kosmische  Phänomen 
der  Liebe  zwischen  den  beiden  Geschlechtern  wie  alles  mensch- 
liche Tun  in  den  Dienst  eines  Höheren :  Gottes  gestellt.  Sei  es 
in  der  Weise,  daß  die  irdischen  Liebesgefühle  unmittelbar  ihre 
religiösen  Weihen  empfingen  und  auf  überirdische  Ziele  abgelenkt 
wurden  (wie  im  Mariakultus),  sei  es,  daß  die  Liebe  institutionell 
gebunden  und  die  sie  bindende  Institution  (die  Ehe)  als  gott- 
gewollte und  gottgesegnete  Einrichtung  (das  heißt  also  als 
Sakrament)  anerkannt  wurde.  Alle  nicht  gottgeweihte  oder 
institutionell  gebundene  Geschlechtsliebe  war  mit  dem 
Stigma  der  „Sünde"  gebrandmarkt  worden. 

Eine  grundsätzlich  andere  Auffassung  vom  Wesen  der 
Liebe  dringt  in  weitere  Kreise  wohl  zuerst  in  den  Jahr- 
hunderten des  „Minnesangs"  ein;  das  heißt  also  etwa  seit 
dem  11.  Jahrhundert,  das  ja  für  die  Verweltlichung  der 
Lebensführung  in  jeder  Hinsicht  den  Anfang  bildet:  das 
Schreckensjahr  1000  war  überstanden,  neue  Silbergruben 
wurden  erschlossen,  und  die  Beziehungen  zum  Orient  fingen 
an ,  breiter  und  enger  zu  werden.  In  der  Provence ,  die  im 
11.  und  12.  Jahrhundert,  wie  man  es  ausgedrückt  hat,  einem 
„mitten  im  stürmischen  Meere  ruhig  und  heiter  blühenden 
Eilande"  glich,  erklangen  zuerst  wieder  die  Töne  einer  freien, 
irdischen  Liebe  in  den  Liedern  der  Troubadours,  die  seit 
etwa  1090  ihren  Anfang  nahmen,  um  von  der  Mitte  des  12. 
bis   um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  ihre  Blütezeit  zu  er- 

Sonibart,  Luxus  und  Kapitalisuius  4 


50  Drittes  Kapitel:   Die  Säkularisation  der  Liebe 

leben.  Auf  sie  folgen  die  deutschen  Minnesänger,  folgt  vor 
allem  in  Italien  eine  große  Schar  von  lyrischen  Dichtern,  die 
von  nichts  als  von  der  Liebe  singen:  nicht  weniger  als  126 
solcher  Liebessänger  aus  dem  Jahrhundert  vor  Dante  begegnet 
man  in  einer  der  Sammlungen,  die  ich  gerade  zur  Hand 
habe  ^^ 

Uns  erscheint  heute  der  ganze  Minnesang  unwahr,  ge- 
drechselt, verkünstelt.  Aber  gerade  darin  erweist  er  sich  als 
der  natürliche  erste  Anfang  moderner  Liebe.  Es  ist  aus- 
gesprochene Pubertätserotik,  die  in  der  Verhimmelung  der 
Geliebten,  im  Schmachten  und  Stöhnen,  im  Schwärmen  und 
Anbeten  sich  erschöpft.  Den  festen  Boden  natürlicher  Sinn- 
lichkeit betreten  wir  erst  im  Trecento,  und  wir  vermögen 
nicht  einmal  mit  Bestimmtheit  zu  sagen,  ob  die  Lebenskreise 
der  Minnesänger  sich  unmittelbar  fortsetzen  in  der  Gesell- 
schaft, die  wir  etwa  um  den  päpstlichen  Hof  in  Avignon  oder 
um  Boccaccios  Fiametta  versammelt  finden.  Will  man  einem 
Gewährsmann  wie  Ulrich  von  Lichtenstein  Glauben  schenken, 
so  wäre  die  liebesfreudige  Zeit  des  Minnesangs  eine  Episode 
gewesen,  die  im  13.  Jahrhundert  ihr  Ende  erreicht  hätte.  In 
seinem  Vrouwenbuch  (1257)  klagt  er,  daß  die  Frauen  nicht 
mehr  so  unbefangen  wie  früher  mit  den  Männern  verkehrten: 
sie  trügen  keine  schönen  Kleider  mehr,  verdeckten  das  An- 
gesicht mit  dichten  Schleiern  und  hängten  sich  Rosenkränze 
frömmelnd  um  den  Hals.  Es  ist  ihnen,  meint  Ulrich  von 
Lichtenstein,  der  frohe  Lebensgenuß,  der  die  frühere  Zeit  so 
liebenswürdig  machte,  schon  fremd  geworden.  Die  Männer 
haben  allein  an  der  Jagd  ihre  Freude,  brechen  frühmorgens 
mit  ihren  Hunden  auf,  kommen  müde  am  Abend  heim,  und 
statt  sich  ihren  Frauen  oder  Damen  zu  widmen ,  verbringen 
sie  ihre  Zeit  am  Würfelbrett  und  trinken  mit  ihren  Ge- 
sellen *^ 

Vielleicht  gilt  das  aber  auch  nur  für  Deutschland,  das 
ja  (bis  auf  wenige  Ausnahmen)  für  die  Geschichte  der  Liebe 


Der  Sieg  des  Illegitimitätsprinzips  in  der  Liebe  51 

überhaupt  erst  wieder  in  einer  ganz  anderen  Epoche  (Weimar!) 
in    Betracht   kommt.     In    den   südlichen   Ländern   wird  man 
eher  an  eine  Kontinuität  der  Entwicklung  von  den  Troubadours 
an  glauben  dürfen.     Jedenfalls  erscheint  uns  eine  Stimmung, 
wie  sie  etwa  den  ,,Dekameron"  beseelt,  als  die  unmittelbare 
Fortsetzung     der    Schwärmerei    in    den    vergangenen    Jahr- 
hunderten:   es    ist   die   Reaktion    der  gesunden   Sinnlichkeit 
gegen  einen  überspannten  Idealismus,  die  sich  aber  zunächst 
auch  noch   in  kindlichen  Formen  äußert:   die  Reize  des  Ge- 
schlechtsgenusses  werden   gleichsam   neu  entdeckt,  und  das 
Lüften    von    Schleiern    und    Gewändern    bereitet    ungeahnte 
Seligkeiten.    Der  Grundton,  auf  den  alles  gestimmt  ist,  klingt 
etwa   aus  diesen   Worten   der  frommen  und  lüsternen  Nonne 
bei  Boccaccio   heraus:    „ed   io   ho  piü  volte  a  piü  donne  che 
a  noi  son   venute  udito  dire ,  che  tutte  1'  altre  dolcezze  del 
mondo  sono  una  beffe  a  rispetto  di  quelhi  quando  la  femmina 
usa  con  V  uomo".     Das  Weib  erscheint  in  der  Vorstellung 
des  Mannes  noch   immer  bekleidet:   wir  wollen  uns  erinnern, 
daß  der  „Dekamerone"  in  der  Zeit  Giottos  entstanden  ist. 

Gleichsam  Vorboten  der  neuen  Auffassung  sind  in  der 
Kunst  die  wieder  lebenswahren  Darstellungen  des  nackten 
Menschen  im  Rahmen  der  religiösen  Mythe,  also  namentlich 
Adams  und  Evas  ^^ :  hier  zeigen  uns  die  Bilder  und  Bildnisse 
aus  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  schon  deutlich, 
daß  die  Augen  wieder  Fleisch  und  Blut  zu  sehen  angefangen 
haben.  Jan  und  Hubert  van  Eycks  Adam  und  Eva  auf  den 
Flügeln  des  Altars  in  der  S.  Bavokirche  in  Gent  (jetzt  im 
Museum  in  Brüssel),  Jacopo  della  Quercias  Reliefs  an  den 
Türpfosten  von  S.  Petronio  in  Bologna  (um  1425  entstanden), 
Masaccios  Fresken  in  der  Capella  Brancacci  der  Kirche  Santa 
Maria  del  Carniine  zu  Florenz,  vor  allem  aber  Ghibertis 
(1378 — 1458)    Reliefs    an   den   Erztüren   am  Baptisterium  in 

Florenz  sind  wie  die  Morgenröte  einer  neuen  Zeit. 

4* 


r^2  Piittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

Aber  erst  das  spätere  Quattrocento  sieht  die  Frau  nackt 
als  Weib  und  entdeckt  die  intimen  Schönheiten  des  weiblichen 
Körpers  und  schöpft  die  Heize  der  sinnlichen  Liebe  ganz 
aus.  Man  kämpft  um  die  Liebe  und  um  die  Frau :  die  Maler 
malen  mit  Vorliebe  den  „Kampf  der  Liebe  und  der  Keusch- 
heit" (Pietro  Perugino,  Sandro  Botticelli),  aber  der  Ausgang 
ist  nicht  zweifelhaft:  in  den  Fresken,  die  im  Palazzo  Schifanoia 
Francesco  Cossa  malt,  im  Frühling  Botticellis,  in  seiner  Ge- 
burt der  Venus  bricht  die  Liebe  zum  Weibe  und  seiner 
Schönheit  siegreich  durch. 

Was  Laurentius  Valla  in  seinem  Traktat  über  die 
Lust  (1431)  theoretisch  gleichsam  ausgesprochen  hatte,  das 
tritt  uns  nun  als  Empfindung  des  wirklichen  Lebens  aus  den 
Werken  der  Maler  und  Dichter  bildhaft  entgegen :  „Was  gibt 
es  Süßeres,  was  Ergötzlicheres,  was  Liebenswerteres  als  ein 
schönes  Gesicht?  Sicherlieh  kann  auch  der  Eingang  zum 
Himmel  nicht  lieblicher  ausschauen."  („Quid  suavius  quid 
delectabilius,  quid  amabilius  venusta  facie?  Adeo  vix  ipse 
in  coelum  intuitus  iucundius  esse  videatur.")^^  Valla  ent- 
rüstet sich,  daß  die  Frauen  ihre  schönsten  Körperteile  nicht 
nackt  zur  Schau  tragen:  wie  er  den  Frauenkörper  schildert, 
mutet  an  wie  die  schönsten  Strophen  im  „Hohen  Lied"  — 
von  Heinrich  Heine.  (Hundert  Jahre  später  hätte  übrigens 
Valla  schon  erheblich  mehr  von  seinen  Forderungen  erfüllt 
gefunden.)  Firenzuola  hat  dann  im  Cinquecento  das  Schön- 
heitsideal der  neuen  Zeit  gleichsam  kanonisiert^^.  Lieben  aber 
heißt,  diese  Schönheiten  genießen:  „Nichts  anderes  ist  die 
Liebe  als  Genuß ;  wie  ich  den  Wein ,  das  Spiel ,  die  Wissen- 
schaft liebe,  so  liebe  ich  die  Frauen;  das  heißt:  ich  werde 
durch  Wein,  Spiel,  Wissenschaft  und  Frauen  ergötzt.  Ge- 
nießen ist  aber  der  letzte  Sinn  des  Lebens:  man  genießt 
nicht  nur  irgendeines  dahinterliegenden  Zweckes  willen:  der 
Genuß  selbst  ist  der  Zweck."  („Neque  aliud  est  amor  quam 
delectatio:   ut  amo  vinum,  amo  ludos,  amo  scientiam,  amo 


Der  Sieg  des  Illegitiinitiitsprinzips  in  der  Liebe  53 

mulieres:  hoc  idem  est  quod  delectari  vino  ludis,  scientia, 
mulieribus.  Delectatio  autem  ultima  rerum  est  omnium: 
neque  quis  ob  aliquein  tinem  delectatur,  sed  ipsa  delectatio 
est  finis  ..."  ^^)  Die  Liebe  wird  zum  Inhalt  des  Lebens. 
Die  Dichter  widmen  ihre  Werke  alle  der  Liebe  und  den 
Frauen :  Boiardo,  Poliziano,  Ariosto : 

„Le  doune,  i  Cavalier,  l'arme,  gli  amori 
Le  cortesie,  raudaci  imprese  io  canto" 

könnte  über  der  Eingangspforte  zu  dieser  Zeit  stehen,  die 
(wie  wiederum  Ariosto  singt): 

„ .  .  .  Sino  agli  occhi  ben  nuota  nel  golfo 
Delle  delizie,  e  delle  cose  belle"  .  .  . 

„bis  zu  den  Augen  in  einem  Meer  von  Wonnen  und  schönen 
Dingen  schwimmt  ..." 

Die  Liebe  peitscht  die  Menschen  durchs  Leben ,  wie  es 
uns  ein  Holzschnitt  im  Poliphilo  (1490)  symbolisch  vor  Augen 
stellt. 

Eines  der  farbigsten  Bilder  von  dem  verliebten  Wesen  jener  Zeiten 
zeichnet  uns  Thomaso  Garzoni  im  97.  Discorso  seiner  „Piazza  uni- 
versale", die  Alfonso  II  von  Este  gewidmet  ist:  ...  „Non  sanno  i  miseri 
quante  calamitä  si  coprono  sotto  quel  nome  d'  amiche  e  di  signore,  le 
quali  non  dirö  ch'  amino  ne  che  riveriscono,  ma  ch'  adorano  come  lor 
dive  principali,  sopra  le  quali  formano  tanti  caprici,  fabricano  tante 
chimere,  disegnano  tante  vanitä,  che  al  fine  co'  mal  posti  fondamenti 
tutta  la  macchina  d'  amore  ruina  in  un  pelago  di  miseria  e  di  sciagura. 
.  .  .  Queste  sono  pur  gl'  Idoli  loro,  i  lor  numi  celesti,  le  dee  del  terzo 
cielo,  le  gratie  dal  ciel  dicese,  le  belle  ninfe  leggiadre,  il  choro  virgineo 
di  Diana,  alle  quali  per  sacro  incenso  offeriscono  lagrime  cooenti,  per 
thuriboli  cori  afflitti,  per  hostie  e  per  vittime  1'  alme  accovate,  per 
orationi  pietosi  scongiuri,  per  hinni  gli  amorosi  sonetti  e  madrigali,  per 
simulacri  1'  imagini  de'  volti  pallide  e  smarrite,  per  oblationi  una  servitü 
da  caue,  che  non  teme  il  freddo,  non  ha  paura  del  caldo,  non  si  sbi- 
gottisce  di  notte,  non  si  smarisce  il  giorno,  non  si  attrista  per  pena,  non 
si  dispera  per  cruccio,  non  manca  per  ripulsa,  non  resta  per  schemo, 
non  fa  conto  de'  torti,  non  riguurda  ä  gli  oltraggi,  non  stima  i  danni, 
non  cura  le  vendette  essendo  cieca  et  mutola  nel  jiroprio  interesse  come 
un  morto  .  .  .  vogliono  seguir  queste  fiere,  darsi  in  preda  a  queste  orse, 


g^  Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  läebe 

servitü  a  queste  panthiere,  amare  queste  tigri"  ec.  ec.  Das  glitzert  und 
glänzt  so  seitenlang  weiter,  wie  ein  Sturzbacb,  daß  man  versucht  ist,  das 
ganze  Kapitel  abzuschreiben.  Übrigens  sieht  man,  wie  sehr  sich  der 
brave  Garzoni  die  Flügel  verbrannt  haben  muß,  wenn  er  soviel  Weisheit 
in  Liebessachen  aufgehäuft  hatte. 

Das  Jahrhundert  Tizians  bricht  an,  in  dem  die  Seele  und 
die  Sinne  zu  nie  gekannter  Harmonie  zusammenfließen,  in 
dem  die  Frauen  lieben  —  die  Schönheit  lieben  und  die  Schön- 
heit lieben  —  leben  bedeutete.  Zu  welcher  unerhörten  Feinheit 
das  Liebesleben  ausgebildet  war,  sehen  wir  noch  besser  fast 
als  aus  den  Werken  der  Dichter  und  Maler  und  Bildhauer 
aus  dem  „theoretischen  Traktat"  von  der  Liebe,  den  diese  Zeit 
hervorgebracht  hat:  aus  den  Asolani  Pietro  Benihos.  „Ursach 
aller  Dinge  ist  die  Liebe",  lesen  wir  da;  „das  Süßeste  über 
alle  süßesten  Dinge  hinaus  ist  die  Liebe"  (giovevolissimo  e 
Amore  sopra  tutte  le  giovevolissime  cose)  ^*.  Und  was  ist  die 
Liebe:  alle  Weisen  stimmen  dahin  überein,  daß  Liebe  nichts 
anderes  sei  als  die  Sehnsucht  nach  dem  Schönen  (di  bellezza 
desio).  Die  Schönheit  aber  ist  nichts  anderes  als  die  Grazie, 
die  aus  der  Wohlgestalt  und  Übereinstimmung  und  Harmonie 
in  den  Dingen  erwächst  (una  gratia  che  di  proportione  e  di 
convencnza  nasce  et  d'  harmonia  nelle  cose).  Für  Körper  und 
Geist  gilt  dasselbe:  „So  wie  der  Körper  schön  ist,  dessen 
Glieder  in  gutem  Verhältnis  zueinander  stehen,  so  ist  jener 
Geist  schön,  dessen  Tugenden  unter  sich  harmonieren  .  .  ." 
„Die  Liebe  streckt  die  Flügel  aus  nach  der  Schönheit  ..." 
„Und  zwei  Fenster  öffnen  sich  ihr  bei  diesem  Fluge:  das  Ohr, 
durch  das  sie  zur  Seele  fliegt,  das  Auge,  das  sie  zum  Körper 
trägt"  (A  quäl  volo  egli  due  finestre  ha ;  1'  una  che  a  quella 
deir  animo  lo  manda  e  questa  6  V  udire :  V  altra  che  a  quella 
del  corpo  lo  porta  et  questa  6  il  vedere"  ^^. 

Damals  war  wohl  Italien  das  einzige  Land,  in  dem  der 
Kultus  der  Liebe  und  der  Schönheit  eine  Stätte  gefunden 
hatte:  Frankreich  war  noch  im  Puppenstande.  Montaigne 
beklagt  sich  bitter  über  das  Ungeschick  der  Franzosen  in  der 


Der  Sieg  des  Illegitimitätsprinzips  in  der  Liebe  55 

Gestaltung  des  Liebeslebens :  „II  y  a  tousiours  de  l'imp6tuosite 
frangoise" :  das  jüngere  Frankreich  war  noch  zu  stürmisch, 
um  alle  Freuden  der  Liebe,  wie  es  Montaigne  gerne  sieht, 
auskosten  zu  können.  Er  rühmt  neben  den  Italienern  die 
Spanier  als  Meister  des  Liebesgenusses:  „pour  arrester  sa 
fuyte  et  Testendre  en  pröambules  entre  eulx,  tout  sert  de 
faveur  et  de  röcompense:  une  oeillade,  une  inclination,  une 
parole,  un  signe  ..." 

Aber  das  sollte  sich  gründlich  ändern.  Mit  den  Valois 
kommt  italienische  Kultur  nach  Frankreich  und  mit  dieser 
der  Frauendienst.  Schon  Brantome  rühmt  die  französische 
Liebeskunst.  Unnötig  zu  sagen,  daß  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert Frankreich  die  hohe  Schule  der  Liebe  wird,  die  es 
bis  heute  geblieben  ist.  Daß  in  Frankreich  aber  erst  das 
Liebesleben  seine  letzte  Verfeinerung  bis  zur  Perversität  er- 
hält, und  daß  das  Leben  um  der  Liebe  willen  ja  recht  eigent- 
lich der  Sinn  des  18.  Jahrhunderts  wurde,  das  in  Paris  seinen 
Geist  zu  höchster  Vollendung  entwickelt  hat.  In  den  Fragonard, 
Boucher.  Grenze  kulminiert  die  Zeitepoche,  die  mit  Boccaccio 
und  Pietro  Perugiuo  begonnen  hatte;  oder  richtiger:  lebt  sie 
sich  aus,  denn  den  Höhepunkt  bezeichnen  doch  vielleicht  die 
Tintoretto,  Rabelais,  Ariost  und  Rubens.  Die  Theoretiker 
der  Liebe,  die  zurzeit  der  Minnesänger  Cappellanus,  dann 
Laur.  Valla,  dann  Bembo  gewesen  waren,  werden  Brantome 
und  R6tif  de  la  Bretonne  und  schließlich  wohl  der  Marquis 
von  Sade. 

(Das  scheint  ja  eine  notwendige  Entwicklung  zu  sein,  die 
sich  nun  schon  in  zahlreichen  Kulturen  fast  gleichmäßig  ab- 
gespielt hat:  die  „Emanzipation  des  Fleisches"  beginnt  mit 
schüchternen  Tastversuchen:  dann  folgt  eine  Epoche  starker, 
natürlicher  Sinnlichkeit,  in  der  ein  freies,  naives  Liebesleben 
zu  voller  Entfaltung  gelangt.  Dann  kommt  die  Verfeinerung, 
dann  die  Ausschweifung,  dann  die  Unnatur.  Auch  in  diesem 
notwendigen  Kreislauf  scheint  die  tiefste  Tragik  des  Menschen- 


56  Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

Schicksals  eingeschlossen  zu  sein:  daß  alle  Kultur,  weil  sie 
Abkehr  vom  Natürlichen  ist,  auch  Auflösung,  Zerstörung, 
Tod  bedeutet. 

„Ein  wenig  besser  würd'  er  leben, 

Hätt'st  du  ihm  nicht  den  Schein  des  Himmelslichts  gegeben; 

Er  nennt's  Vernunft  und  braucht's  allein, 

Um  tierischer  als  jedes  Tier  zu  sein.") 

Offenbar  stand  nun  aber  diese  rein  hedonistisch-ästhetische 
Auffassung  vom  Weibe  und  der  Liebe  zu  ihm,  wie  sie  seit 
dem  Trecento  allmählich  zum  Durchbruch  kam,  in  einem  un- 
versöhnlichen Gegensatze  zu  der  religiösen  oder  institutionellen 
Bindung,  in  die  man  ehedem  die  Liebe  eingeschlossen  hatte. 
Allenfalls  verträgt  sich  mit  einer  degagierten  Ansicht  von  der 
Liebe  noch  der  religiöse  Wahn.  Das  wundervolle  Gedicht, 
das  man  dem  heiligen  Franz  von  Assisi  zuschreibt  und  das 
mit  den  Worten  beginnt: 

In  foco  r  Amor  mi  mise: 
in  foco  1'  Amor  mi  mise: 
in  foco  d'  amor  mi  mise 
II  mio  Sposo  novello  .  .  . 

könnte  von  jedem  menschlich  Liebenden  geschrieben  sein.  Und 
die  Ekstasen  der  Mariaanbetung  sind  sicherlich  der  „freien 
Liebe"  jener  Zeit  nicht  fern  gewesen.  Aber  womit  diese 
sich  nie  und  nimmer  abfinden  konnte,  war  die  institutionelle 
Einkleidung  des  Liebeslebens  in  die  Ehe.  Der  kosmische 
Liebesinstinkt  bindet  sich  ebensowenig  wie  der  raffinierte 
Liebesgenuß  an  eine  von  dem  Gesetze  gezogene  Schranke: 
er  ist  seiner  Natur  nach  illegitim  oder,  richtiger,  a-legitim. 
Und  die  Eigenschaft  einer  Frau,  Weib  zu  sein  und  schön  und 
liebenswert  zu  sein,  gewinnt  weder  noch  verliert  sie  an  ein- 
dringlicher Kraft  durch  irgendeine  menschliche  soziale  Ein- 
richtung, wie  es  die  Ehe  ist. 

Diese  Erwägung,  daß  in  der  Ehe  zwei  vollständig  hetero- 
gene   Dinge   zusammengebracht   seien:    Liebe    und   Ordnung, 


Der  Sieg  des  Illegitimitätsprinzips  in  der  Liebe  57 

mußte  sich  den  Männern ,  die  über  das  Liebesproblem  ihrer 
Zeit  nachdachten,  alsbald  aufdrängen.  Und  wir  finden  denn 
auch  bei  allen  „Theoretikern"  der  Liebe  dieses  Problem  ein- 
gehend behandelt.  Einer  der  ersten,  der  aus  seiner  natiir- 
lichen  Auffassung  von  der  Liebe  die  Konsequenz  zog  und  die 
Beziehungen  der  Geschlechter  für  a-legitim  erklärte,  war  wohl 
LaurentiusValla.  Er  spricht  es  unumwunden  aus,  daß 
es  keinem  ^leuschen  etwas  angehe,  wenn  zwei  sieh  lieben 
wollen:  „si  mulier  mihi  et  ego  mulieri  placeo,  quod  tu  tan- 
quam  raedius  nos  dirimere  conaberis^^»?"  Folgeweise  kann  es 
aber  auch  keinen  Unterschied  machen,  meint  Valla,  ob  eine 
Frau  mit  ihrem  Manne  oder  mit  dem  Geliebten  Umgang  pflege : 
„omnino  nihil  interest,  utram  cum  marito  coeat  mulier  aut 
cum  amatore." 

Diese  Auffassung  tritt  dann  am  deutlichsten  in  der  schönen 
Literatur,  namentlich  in  dem  leichten  Genre,  zutage :  hatte 
Boccaccio  doch  noch  immer  einen  gewissen  Respekt  vor  der 
Ehe  zur  Schau  getragen,  so  gilt  nun  die  Verspottung  der 
Ehe,  gilt  die  Lächerlichmachuug  des  betrogenen  Ehemannes 
nicht  nur  als  erlaubt,  sondern  gehört  geradezu  zum  guten 
Ton.  Selbst  in  den  minder  lasziven  Novellen,  deren  Reihe 
Piccolomini  mit  dem  Euryalus  begann,  und  in  den  minder 
obszönen  Komödien  ist  der  Ehebruch  doch  immer  „das  herr- 
schende Motiv"  ^^. 

Einen  Schritt  weiter,  den  letzten  in  dieser  Gedanken- 
richtung, tat  dann  Montaigne:  wenn  Liebe  Genuß  ist  und 
die  Ehe  eine  soziale  oder  kirchliche  Einrichtung,  die  viele  sehr 
edle  Zwecke  verfolgt  (Montaigne  spricht  nur  mit  größter  Ehr- 
erbietung von  der  Ehe  und  kommt  gerade  wegen  der  hohen 
Meinung,  die  er  von  der  Ehe  hat,  zu  seiner  radikalen  Ansicht 
von  dem  Verhältnis  der  Liebe  zur  Ehe),  so  ist  die  Verwirk- 
lichung der  Liebessehnsucht  nicht  nur  nicht  unabhängig  von  de;- 
vorhergegangenen  Ehelichung;  die  beiden  Dinge:  Liebe  und  Ehe 
schließen  sich  vielmehr  aus.     Er  begründet  seine  Auffassung 


^g  Drittes  Kapitel:   Die  Siikularisatiou  der  Liebe 

■wie  folgt :  Die  Liebe  haßt  es,  daß  man  sich  an  etwas  anderes 
hält  als  an  sie,  und  hat  nicht  gern  etwas  gemein  mit  Be- 
ziehungen, die  aus  einem  ganz  anderen  Grunde  geknüpft  sind 
wie  es  die  Ehe  ist,  bei  deren  Eingehung  Verbindung  und 
Vermögen  mindestens  so  schwer  ins  Gewicht  fallen  wie  Reize 
und  Schönheit.  Mau  heiratet  nicht  seinetwegen,  sondern 
ebensosehr,  wenn  nicht  mehr,  um  der  Nachkommenschaft,  um 
der  Familie  willen.  So  heißt  es  denn  eine  Art  von  Incest 
begehen,  wenn  man  in  diesem  ehrwürdigen  und  heiligen  Bunde, 
der  die  Ehe  ist,  den  Extravaganzen  der  Liebesleidenschaft 
eine  Stätte  bereitet.  Eine  gute  Ehe  weist  die  Gesellschaft 
der  Liebe  zurück  und  will  die  Freuden  der  Freundschaft  ge- 
nießen. Lieben  und  sich  binden  sind  zwei  grundverschiedene 
Dinge,  die  einander  ausschließen. 

Die  Hauptstellen,  in  denen  Montaigne  diese  Ansichten 
ausspricht  und  die  ich  dem  Sinne  nach  wiederzugeben  ver- 
sucht habe,  lauten  im  Original  folgendermaßen^^:  „L'amour 
hait  qu'on  se  tienne  par  ailleurs  que  par  luy,  et  se  mesle 
lascheraent  aux  accointances  qui  sont  dressees  et  entretenues 
sous  aultre  tittre  comme  est  le  mariage :  l'alliance,  les  moyens 
y  poisent  par  raison,  autant  ou  plus  que  les  graces  et  la 
beaut6.  On  ue  se  marie  pas  pour  soy  quoiqu'on  die;  on  se 
marie  autant,  ou  plus,  pour  sa  posterit6,  pour  sa  famille. 
Aussi  est  ce  uue  espece  d'inceste,  d'aller  employer,  ä  ce 
parentage  venera ble  et  sacre,  les  eiforts  et  les  extravagances 
de  la  liceuce  amoureuse  ...  Un  bon  mariage  .  .  .  refuse  sa 
compaignie  et  couditions  de  Tamour :  il  tasche  ä  se  presenter 
Celles  de  l'amitie  .  .  ."  „Nous  airaous  sans  nous  empescher 
deux  choses  diverses  et  qui  se  contrarient." 

Was  Tizian  und  Giorgione  malten,  was  Ariost  und 
Rabelais  dichteten,  das  war  in  diesen  Ansichten  zur  Theorie 
gestaltet  worden :  die  Liebe,  die  in  sich  selbst  ihren  höchsten, 
ja  einzigen  Sinn  fand,  mußte  mit  Notwendigkeit  außerhalb 
und  jenseits  aller  Einrichtungen  hausen,  die  von  Menschen 


Die  Kurtisane  59 

ZU  irgendwelcheu  sozialen  oder  moralisclien  Zwecken  ins 
Leben  gerufen  waren,  mochten  sie  auch  die  Weihe  der  Kirche 
emi)fangen  liaben. 

Wichtiger  aber  und  entscheidend  für  den  Kulturgang  war 
es,  daß  die  Gesellschaft  jahrhundertelang  dieser  Auffassung 
gemäß  gelebt  hat,  daß  jahrhundertelang  in  bestimmten 
Schichten  sich  wie  selbstverständlich  Ehe  und  Liebe  trennten 
und  jede  für  sich  mit  gleicher  Berechtigung  nebeneinander 
bestanden ,  womit  ja  im  Grunde  nur  die  Lebensgewohnheiten 
des  griechischen  (und  spätrömischen)  Altertums  wieder  auf- 
genommen wurden.  Das  müssen  wir  im  folgenden  noch  etwas 
genauer  verfolgen,  insbesondere  insoweit  es  der  europäischen 
Gesellschaft  das  Hetärentum  brachte. 

II.   Die  Kurtisane 

Wenn  in  einer  Gesellschaft  die  freie  Liebe  sich  neben 
der  gebundenen  Liebe  einzunisten  beginnt,  so  sind  die  Frauen, 
die  dieser  neuen  Liebe  dienen,  entweder  verführte  Mädchen 
anständiger  Familien  und  Ehebrecherinnen  oder  Huren.  Wie 
sehr  in  den  Oberschichten  der  europäischen  Völker  seit  den 
Minnesängern  die  rein  erotisch  orientierte  Liebe  an  Bedeutung 
zugenommen  hat,  müssen  wir  also  aus  der  Zunahme  der  Ver- 
führungen,  des  Ehebruchs  und  der  Prostitution  entnehmen. 

Ziffern  für  die  beiden  ersten  Formen  der  freien  Liebe 
stehen  uns  nicht  zur  Verfügung.  Aber  wir  können  aus  den 
Urteilen  der  Zeitgenossen  wie  auch  aus  mancherlei  Anzeichen 
recht  wohl  schließen,  daß  sie  in  der  Tat  all  die  Jahrhunderte 
hindurch  eine  wichtige  Rolle  gespielt  haben.  Petrarca  meint, 
daß  zu  seiner  Zeit  die  Pest  des  Ehebruchs  recht  eigentlich 
erst  zum  Ausbruch  gekommen  sei.  Jetzt  gehöre  es  zum 
guten  Ton,  daß  ein  junger  Mann  eine  verheiratete  Frau  ver- 
führe :  vorher  sei  er  nicht  glücklich,  weil  er  von  seinen  Alters- 
genossen verachtet  werde.  Daher  komme  dann  jener  fieber- 
hafte   Hunger    nach    galanten    Abenteuern    bei    den    jungen 


(30  Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

Mänuern,  der  gar  nicht  eigentlich  dem  sinnlichen  Bedürfnis 
als  vielmehr  dem  Ehrgeiz  entspringe.  Meist  lohne  auch  der 
Erfolg  gar  nicht  den  großen  Aufwand  an  Mühe. 

Ich  setze  die  denkwürdigen  Worte  hier  im  Originaltext  her,  ^eil 
sie  den  Geist  der  Zeit  vortrefflich  widerspiegeln  und  meines  Wissens 
noch  von  niemandem  verwertet  worden  sind: 

„Quae  tunc  pestis  incipiens  nunc  adeo  certa  est,  ut  adolescens  cui 
non  feliciter  adulterium  successerit,  quamvis  dives,  quamvis  formosus 
ac  nobilis,  coaevorum  iudicio  inter  miseros  habeatur,  quasi  abiectus  ac 
repulsus  non  pudicitia  sed  contemptu;  et  quasi  dilectio  castitatis  con- 
vicium  sit  amantis.  Hinc  ille  iuvenum  fervor  et  sollicitudo  improba, 
tanquam  non  de  libidine  sed  de  gloria  sit  certamen:  hinc  labores,  hinc 
suspiria,  hinc  repentinae  repulsae  amarissimae:  saepe  tamen  successus 
amarior." 

Petrarca,  Ep.  de  reb.  fam.  ed.  Fracassetti  L.  IX,  op.  IV,  2  (1862),  10. 

Das  ist  dieselbe  Zeit,  in  der  man  in  Fürstenkreisen  sich 
der  illegitimen  Geburt  nicht  mehr  schämt,  sondern  anfängt, 
sich  ihrer  gar  noch  zu  rühmen,  wie  uns  das  Burckhardt 
und  C  i  b  r  a  r  i  0  an  zahlreichen  Beispielen  nachgewiesen 
haben. 

Von  da  ab  bis  zum  Ende  unserer  Epoche  blieb  dann 
der  voreheliche  oder  zwischeneheliche  Geschlechtsverkehr  eine 
ständige  Ergänzung  des  ehelichen  in  allen  Kreisen,  die  etwas 
auf  sich  hielten.  Unnötig,  Belege  aus  zeitgenössischen  Lebens- 
schilderungen anzuführen:  jede  gewöhnliche  „Sittengeschichte" 
ist  voll  davon.  Auf  ein  wichtiges  Symptom  will  ich  nur  hin- 
weisen, das  uns  den  Ehebruch  schon  wieder  —  möchte  man 
sprechen  —  als  soziale  Institution  erscheinen  läßt:  die 
Legitimisierung  des  Hahnreis ,  wie  sie  etwa  in  Italien  im 
Quattrocento,  in  Frankreich  seit  Franz  I.  sich  ereignet. 

Auch  daß  die  Prostitution  seit  dem  Mittelaitsr  an  Um- 
fang und  Bedeutung  zunimmt,  ist  eine  bekannte  Tatsache. 
Vor  allem  werden  natürlich  die  Großstädte  ihr  Sitz.  Von 
Avignon  angefangen,  bis  sie  in  London  und  Paris  kulminiert: 
Avignon  wird  von  einer  wahren  Flut  von  Dirnen  überschwemmt, 
klagt  wieder  Petrarca  in  seinem  herrlichen  Lateinisch.  Und 


Die  Kurtisane  (jl 

dann  ist  lange  Zeit  Rom  berühmt  wegen  der  Fülle  von 
Puellae  publicae,  die  sich  in  seinen  Mauern  aufhielten:  1490 
weist  eine  ziemlich  zuverlässige  Statistik  6800  Meretrices 
nach.  Das  wären  verhältnismäßig  noch  mehr  (Rom  hatte  da- 
mals noch  nicht  100000  Einwohner),  als  uns  für  London  und 
Paris  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  angegeben  werden : 
50000  und  30000. 

Aber  wichtiger  für  die  Gestaltung  namentlich  der  äußeren 
Kultur  ist  die  Tatsache  geworden,  daß  sich  in  dem  Maße, 
wie  die  illegitime  Liebe,  das  heißt  die  Liebe  als  Selbst- 
zweck, sich  ausbreitet,  zwischen  die  Femme  honnete  und 
die  Putaine  eine  neue  Schicht  von  Frauen  schiebt,  für 
die  wir  die  verschiedensten  Bezeichnungen  in  den  roma- 
nischen Sprachen  haben  (die  deutsche  und  wohl  auch  eng- 
lische Sprache  hat  dafür  keinen  einzigen  Ausdruck,  wenn 
man  nicht  den  unbestimmten  Ausdruck  „Buhlerin"  gelten 
lassen  will,  ein  Zeichen,  daß  die  Sache  selbst  entweder  ganz 
auf  die  Länder  romanischer  Zunge  beschränkt  geblieben  oder 
von  dort  zu  uns  hereingebracht  ist):  Cortegiana,  Kurtisane, 
Konkubine ,  Maitresse ,  Grande  Amoureuse ,  Grande  Cocotte, 
Femme  entretenue  usw. 

Mit  diesen  Frauen  tritt  die  Liebe ,  die  zu  einer  freien 
Kunst  geworden  ist,  wieder  aus  dem  Stadium  des  Dilettan- 
tismus heraus  und  wird  der  Pflege  Berufener  überantwortet. 
Wie  zu  jeder  Kunst  Talent  und  Übung  gehören,  so  in  ganz 
hervorragendem  Maße  zur  Liebeskunst,  weshalb  diese  erst 
zu  ihrer  vollen  Entfaltung  gelangen  konnte,  nachdem  durch 
einen  natürlichen  Ausleseprozeß  die  talentvollen  Frauen  aus 
der  Masse  herausgehoben  und  diesen  Gelegenheit  geboten 
worden  war,  durch  ausschließliche  Beschäftigung  mit  dieser 
Kunst  sieh  zu  Meisterinnen  in  ihr  auszubilden. 

Kurtisane,  Cortegiana  bedeutet  zunächst  nichts  anderes 
als  Hofdame.  Es  gab  Hofdamen  mit  lediglich  legitimen  Liebes- 
beziehungen auch.    In  dem  dritten  Briefe  seines  Buches  über 


(52  Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

den  Hofmaun,  das  Castiglione  der  Cortegiana  gewidmet 
hat,  wird  von  Magnifico  sogar  die  Ansicht  vertreten:  die  Liebes- 
beziehungen  der  Hofmänner  und  der  Hofdamen  sollten  nur 
legitime  sein.  Freilich,  „lächelnd",  „ridendo"  widersprachen 
ihm  die  meisten  aus  seinem  Kreise :  sie  werden  gewußt  haben, 
weshalb:  daß  die  Forderung  Magnificos  recht  weit  von  der 
Wirklichkeit  entfernt  sei.  Frühzeitig  aber  muß  die  illegitime 
Liebesbeziehung  feinerer  Frauen  und  der  Verkehr  bei  Hofe 
identifiziert  worden  sein.  Ich  vermute,  daß  bei  der  Heraus- 
bildung dieser  Vorstellung  das  Hofleben  an  den  päpst- 
lichen Residenzen  starken  Einfluß  gehabt  hat.  In  Avignon 
(wo  vielleicht  die  moderne  Kurtisane  entstanden  ist)  lebte 
ein  Kreis  geistvoller  und  schöner  Frauen  am  Hofe  des  Papstes 
und  der  hohen  Kirchenfürsten.  Man  hat  geradezu  von  „aca- 
dömies  de  femmes  aimables"  gesprochen ,  und  man  braucht 
nur  an  Namen  wie  Mabille  de  Villeneuve,  Briaude  d'Agoult, 
Huguette  de  Forcalquier,  Beatrix  de  Sault,  Laure  de  Noves, 
Blanche  de  Flassans ,  Isnarde  de  Roquefeuille,  Doucette  de 
Moustiers,  Antoinette  deCadenet,  Magdeleine  de  Salon,  Blanche- 
fleur  de  Pertais,  Stöphanette  de  Gantelme,  die  schöne  Adelise 
von  Avignon ,  die  Cousine  der  Laura ,  zu  erinnern ,  um  den 
Ausdruck  gerechtfertigt  zu  finden. 

Nun  konnte  aber  die  Frau  in  der  Umgebung  eines 
Kirchenfürsten  immer  nur  eine  Maitresse  sein ,  sobald  sie 
(was  doch  gewiß  nicht  selten  vorkam)  mehr  als  rein  geistige 
Beziehungen  mit  den  hohen  Herren  unterhielt.  Also  mußte 
hier  schon  aus  einem  rein  äußerlichen  Grunde  die  Cortegiana 
eine  Kurtisane  werden. 

Was  in  Avignon  begonnen  war,  wurde  in  Rom  fortgesetzt: 
auch  hier  war  die  Dame  am  Hofe  von  Natur  „illegitim". 

An  den  Höfen  der  weltlichen  Fürsten  bestand  dieser 
äußere  Zwang  zur  Illegitimität  nicht:  der  innere  Drang  er- 
setzte ihn  aber  reichlich.  Das  Neue  der  Renaissancezeit  war 
nicht  einmal,  daß  die  Fürsten  sich  Kebsinnen  erkoren:  das 


Die  Kurtisane  63 

hatten  sie  wohl  iininer  getan.  Aber  die  Bürgermädchen,  die 
Ludwig  XI.  von  Frankreich  sich  in  sein  Bett  bestellte,  waren 
noch  längst  keine  „Kurtisanen":  das  wurden  sie  erst,  wenn 
sie  in  die  Hofgesellschaft  aufgenommen  worden  und  als  Mai- 
tressen des  Herrschers  offiziell  anerkannt  waren.  Die  ersten 
Tyrannen,  die  ihre  Konkubinen  zum  Range  von  Fürstinnen 
erhoben,  sollen  Bernabö  und  Giangeleazzo  Visconti  gewesen 
sein.  Aber  das  Reich  der  Cortegiana  bricht  doch  erst  an  etwa 
um  die  Zeit,  als  wir  Cossa  die  Fresken  im  Palazzo  Schifanoia 
malen  sehen :  als  der  Hof  im  modernen  Sinne  mit  Frauen  und 
durch  Frauen  entstand :  von  da  ab  wurde  die  Galanterie  der 
Inhalt  und  der  Schmuck  des  Iloflebens.  Kein  Hof,  so  groß 
er  sein  mag,  kann  Glanz  entfalten  oder  Fröhlichkeit  ohne 
Frauen,  noch  kann  ein  Hofmann  etwas  von  Bedeutung  sein 
oder  tun,  ohne  von  der  Frauenliebe  erfüllt  und  angetrieben 
zu  werden  ,  meint  C  a  s  t  i  g  1  i  o  n  e  in  seinem  Buche  über 
den  Cortegiano  („Corte  alcuna,  per  grande  che  ella  sia,  non 
puö  aver'  ornamento  o  splendore  in  se,  nb  allegria,  seuza  donne ; 
ne  Cortegiano  alcun'  essere  aggraziato,  piacevole  o  ardito,  ne 
far  mai  opera  leggiadra  di  cavalleria  se  non  mosso  dalla  pra- 
tica,  e  deir  amore  e  piacere  di  donne"). 

Und  daß  dabei  nicht  an  eheliche  Bündnisse  gedacht  wurde, 
versteht  sich  bei  dem  Geist  der  Zeit  wohl  von  selbst:  so 
wurde  eine  Cortegiana  nach  der  anderen  zur  Maitresse  eines 
Cortegiano,  vom  Fürsten  angefangen,  bis  Cortegiana  und 
Kurtisane  (im  heutigen  Sinne)  gleichbedeutend  geworden 
waren. 

Nun  beginnt  die  Zeit  der  „Maitressenwirtschaft",  die  also 
nach  dem  Gesagten  eine  notwendige  Begleiterscheinung  der 
Fürstenherrsehaft,  wie  nun  einmal  die  Auffassung  von  der 
Beziehung  der  Geschlechter  zueinander  sich  gestaltet  hatte, 
war.  Großzügig  wird  das  System  in  dem  Maße,  wie  die  kleinen 
Höfe  von  den  großen  abgelöst  werden.  Man  weiß,  daß  auch 
in   diesem   wichtigsten  Punkte   seit   der  Reformation  Frank- 


(34  Drittes  Kaintel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

reich  die  Führung  übernimmt:  die  Geliebten  Franz  I.  sind 
die  ersten  Königsmaitressen,  die  wir  lebendig  vor  uns  sehen. 
Dieser  König  war  es  ja,  der,  wie  wir  sahen,  in  der  Galanterie 
den  Sinn  des  Hoflebens  erblickte,  und  „der  wichtige  Schritt 
der  Galanterie  bestand  darin,  daß  er  seine  Maitresse  ohne 
Blödigkeit  zur  ersten  Person  des  Hofes  machte"  (Hein- 
rich Laube). 

In  diesen  ötfeutlich  anerkannten  Königsliebchen,  die  nun 
die  Welt  zu  beherrschen  anfingen,  wurde  die  ganze  Zunft  der 
berufsmäßigen  Venuspriesterinnen  gleichsam  geadelt.  Von  der 
illegitimen  Liebesbeziehung,  wenigstens  soweit  sie  bei  Hofe 
geknüpft  wurde,  war  dadurch  auch  äußerlich  der  Makel  ge- 
nommen. 

Aber  der  Einfluß  des  Hofes  auf  alles,  was  sich  zur  Ge- 
sellschaft rechnete,  war  während  unserer  Epoche  zu  groß, 
als  daß  sich  diese  Legitimierung  der  Hlegitimität  nicht  all- 
mählich auch  auf  die  freien  Liebesbeziehungen  außerhalb  des 
Hofes  hätte  ausdehnen  sollen. 

Frauen  fingen  an  (so  könnte  man  sagen),  in  den  sich 
entwickelnden  Großstädten  auch  außerhalb  des  Hofes  wie 
Hofdamen  zu  leben ;  so  kam  die  Kurtisane  zur  Welt,  die  gar 
nichts  mit  dem  Hofe  zu  tun  hatte:  als  Femme  entretenue, 
so  lange  sie  (offiziell)  nur  einem,  als  Kokotte,  wenn  sie  gleich- 
zeitig mehreren  Männern  ihre  Gunst  schenkte.  Mit  dem  Be- 
griff „käufliche  Liebe"  kann  man  innerhalb  der  Oberschicht 
der  Puttanen  keinerlei  Grenzen  ziehen. 

Auch  die  Kurtisane,  die  gar  keine  war,  ist  un- 
gefähr um  dieselbe  Zeit  geboren,  wie  ihre  höfische  Schwester, 
die  ihr  den  Namen  gab.  Und  an  demselben  Orte :  in  den  Groß- 
städten Italiens,  unter  denen  namentlich  Venedig  und  Rom 
Anteil  genommen  haben.  Die  Sterne  standen  hier  besonders 
günstig,  um  einen  neuen  Frauentyp  zu  schaffen:  der  Reich- 
tum; die  Freude  an  der  Wiederbelebung  des  Altertums, 
dessen  Hetären   man   sieh  einbildete ,   wieder  erstehen  lassen 


Die  Kurtisane  65 

ZU  können;  die  Größe  der  Stadt  wirkte  zusammen  mit  der 
allgemeinen  Weitherzigkeit  der  Zeit  (d.  h.  immer,  wohl  ge- 
merkt: der  oberen  Gesellschaftsschicht:  denn  in  der  Zeit 
lebten  auch  die  braven  Färbermeister  und  die  ehrsamen 
Handelsherren,  die  sicher  den  eleganten  Kurtisanen  mit  eben- 
solchem Entsetzen  in  weitem  Bogen  aus  dem  Wege  gegangen 
sind  wie  heute  irgendein  Oberlehrer  oder  ein  Geheimer 
Rat),  um  einen  Teil  der  Dirnen,  eine  kleine  Oberschicht,  mit 
dem  Nimbus  auserlesener  Menschenkinder  zu  umgeben:  das 
waren  die  „ehrenwerten  Buhlerinnen",  die  „honeste  corti- 
giane",  oder  „cortesane  famose'*,  wie  sie  ein  (fragmen- 
tarisches) Verzeichnis  der  römischen  Dirnen  aus  der  Zeit 
um  das  Jahr  1500  bezeichnet.  Es  waren  ihrer  200  an 
der  Zahl,  und  sie  werden  den  cortesane  puttane  oder  de  la 
minor  sorte  gegenübergestellt^^. 

Hier  ist  also  mit  aller  nur  wünschenwerten  Deutlichkeit 
gesagt,  daß  der  Differenzierungsprozeß,  von  dem  ich  hier 
spreche,  sieh  vollzogen  habe. 

Man  hat  in  letzter  Zeit  viel  über  die  „Cortesane  famose" 
des  Renaissance-Jahrhunderts  geschrieben.  Eine  Menge 
Quellen  sind  neu  erschlossen.  Man  kennt  alle  berühmten 
Kokotten,  die  damals  in  Rom,  Florenz  oder  Venedig  gelebt 
haben,  als  Sixtus  IV.  und  Alexander  VI.  und  Leo  X.  regierten, 
mit  Namen.  Man  streitet  sich  sogar  über  den  Grad  ihrer 
„Bildung",  mit  der  sie  prunkten,  und  über  die  Güte  ihrer 
Gedichte,  die  sie  mit  mehr  oder  weniger  fremder  Hilfe  ver- 
fertigten. Du  lieber  Gott  —  als  ob  das  das  Wichtige  bei  der 
Sache  wäre.  Gewiß  war  die  Bildung  nur  „Büldung".  gewiß 
waren  die  Verse  schlecht  (wie  heute  noch).  Das  mag  sein. 
Aber  darin  lag  auch  nicht  die  Bedeutung  dieser  neuen 
Menschenspezies,  sondern  darin,  daß  eine  Tullia  d'Aragona 
jahrelang  einen  Filippo  Strozzi  an  der  Nase  führen  konnte, 
und  daß  eine  Imperia  es  verstand,  sich  jahrelang  vom  reichsten 
Manne   Italiens .    Agostino   Chigi ,   aushalten  zu  lassen.     Das 

Sombart,  Luxus  und  Kapitalismus  5 


QQ  Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

vermocliten  sie  gewiß  nicht  kraft  ihrer  Verse,  sondern  dazu 
bedurfte  es.  wie  Maupassant  es  nennt,  anderer  „qualit^s 
rares",  über  die  sie  gewiß  in  reichem  Maße  verfügten.  Und 
damit  wurden  sie  zu  einer  Macht,  die  auf  den  Gang  der 
Kultur  gewaltigen  Einfluß  ausgeübt  hat.  Nicht,  daß  ein  ver- 
liebter Nebenhergeher  auf  die  schöne  Imperia  eine  rühmende 
Grabinschrift  dichtete:  „Imperia,  Cortesana  Romana,  quae 
digna  tanto  nomine,  rarae  inter  homines  formae  speciraen 
dedit",  —  nicht  darin  und  in  ähnlichen  Galanterien,  sage  ich, 
tritt  die  hohe  Bedeutung  zutage,  die  die  Grandes  Amoureuses 
zu  jener  Zeit  in  Italien  offenbar  gehabt  haben ,  wohl  aber 
darin  etwa,  daß  der  Kirchenvorstand  dieselbe  Imperia  in  der 
Kapelle  der  heiligen  Gregoria  begraben  ließ,  oder  daß  die 
Taufe  des  ersten  Sohnes,  der  Agostino  Chigi  von  seiner  neuen 
Maitresse,  der  Yenetianerin  Francesca  Andreosia,  geboren 
wurde,  der  Papst  in  eigener  Person,  umgeben  von  14  Kardi- 
nälen, vollzog.' 

Ebenso  wie  die  Hof-  und  Fürstenmaitresse  gelangte  auch 
die  Stadtmaitresse  erst  in  Frankreich  zu  voller  Entwicklung : 
in  der  Gestalt,  die  sie  dort  annahm,  wurde  sie  dann  Gemein- 
gut aller  europäischen  Länder. 

Bedeutsam  für  die  Plerausbildung  des  Typs  der  modernen 
Kurtisane  wurde  der  Umstand,  daß  seit  dem  Ende  des  16.  und 
dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  auf  den  Pariser  Theatern 
Frauen  erschienen:  eine  Sitte,  die  in  England  unter  Karl  II. 
eingeführt  wurde.  Damit  war  Ersatz  geschaffen  für  die  antiki- 
sierende Aufmachung  der  Renaissance-Kokotten:  den  „Nimbus", 
ohne  den  nun  einmal  die  freie  Liebesbeziehung  höherer  Art 
nichtauskommen  kann,  schuf  jetzt  das  Theater.  Die  Theaterdame, 
der  Theaterstar,  die  Tänzerin  an  der  großen  Oper :  sie  lösten 
die  dichtenden  und  malenden  Kurtisanen  des  Cinquecento  ab. 

Während  [des  17.  und  18.  Jahrhunderts  vermehrte  sich 
dann  die  Zahl  der  Stadtmaitressen  in  den  Zentren  der  Kultur, 
vor  allem   natürlich    in  Paris  und  London,  immer  mehr,   in 


Die  Kurtisane  67 

dem  Maße,  wie  sich  die  Sitte  verallgemeinerte,  eine  elegante 
Frau  statt  oder  neben  der  Ehefrau  auszuhalten.  Wenn  uns 
aus  dem  Ende  des  18.  Jahrhunderts  berichtet  wird,  daß  von 
zwanzig  der  großen  Herren  am  Hofe  mindestens  fünfzehn  nicht 
mit  ihren  Frauen,  sondern  mit  ihren  Maitressen  lebten  •'^^,  so 
wird  diese  Schätzung  der  Wahrheit  gewiß  recht  nahe  ge- 
kommen sein.  Aber  nicht  nur  der  Kavalier  bei  Hofe  hält 
sich  eine  Maitresse:  auch  bei  den  Turcarets  gehörte  es  bald 
zum  guten  Ton,  sich  bei  den  Dämchen  mit  der  mittelmäßigen 
Tugend,  wie  man  sie  nannte  (demoiselles  de  moyenne  vertu), 
einzuschmeicheln.  Die  Ausgaben,  die  diese  Liaisons  ver- 
ursachten (ich  komme  noch  darauf  zu  sprechen) ,  bildeten 
den  größten  Posten  im  Etat  der  großen  Geldmänner,  berichtet 
uns  auf  Grund  sehr  genauer  Studien  der  beste  Kenner  dieser 
„Verhältnisse"  (Thirion).  Die  Annalen  der  Galanterie  des 
18.  Jahrhunderts  verknüpfen  auf  das  engste  Liebesabenteuer 
und  Generalpächtertum ''". 

Dasselbe  wird  uns  von  London  berichtet:  daß  hier  ein 
unverheirateter  Engländer,  der  über  2000  £  Einkünfte  ver- 
fügt, für  seine  Bedürfnisse  kaum  200  £  ausgibt :  „alles  übrige 
ist  seinen  Vergnügungen  gewidmet,  worunter  die  Mädchen 
der  erste  und  letzte  Artikel"  sind  (A  rchenholzj. 

Angesichts  solcher  Urteile  werden  wir  auch  die  Ziffer- 
angabe glaubhaft  finden ,  die  uns  gute  Beobachter  von  der 
Zahl  der  Stadtmaitressen  in  Paris  und  London  machen : 
Mereier  z.B.  nimmt  an,  daß  zu  seiner  Zeit  lOOdO  Frauen 
in  Paris  „ausgehalten"  wurden.  In  London  lebten  um  die- 
selbe Zeit  in  einem  einzigen  Kirchspiel  (Marybonne)  1700 
Kurtisanen  in  eigenen  Häusern. 

Welchen  breiten  Ptaum  die  „käuflichen"  Geliebten  im 
Leben  der  damaligen  Gesellschaft  einnahmen,  läßt  auch  die 
Sitte  erkennen ,  die  in  den  großen  Städten  bestand ,  Adreß- 
bücher der  besseren  Kokotten  jährlich  herauszugeben ,  in 
denen  jede   einzelne   mit  ISamen  genannt  und  nach  Gesichts- 


ßg  Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

bildung,  Manieren.  Talenten  usw.  genau  beschrieben  war.  Das 
war  in  London  Harrys  List  of  Covent-Gardens  Ladies,  die  in 
einer  Auflage  von  SOOO  (!)  reißend  abging;  in  Paris  der 
Almanac  des  adresses  des  demoiselles  de  Paris  de  tout  genre 
et  de  toutes  les   elasses.    Galen drier  du  Plaisir.     A  Paplios. 

Ganz  besonders  wichtig  erseheint  mir  nun  aber  der  Um- 
stand, daß  durch  das  Emporkommen  der  eleganten  Kurtisane 
auch  die  Geschmaeksbildung  der  anständigen  Frau, 
d.  h.  also :  der  Frau  von  Stande  in  der  Richtung  des  Kokotten- 
haften beeinflußt  wird. 

Zunächst  ist  es  die  Hofgesellschaft,  die  die  Lebensgewohn- 
heiten aller  guten  Gesellschaft  bestimmt:  Paris  —  „singe  de 
la  eour" ,  sagt  kurz  und  bündig  La  Bruy^re.  Die  Hof- 
gesellschaft selber  aber  steht  unter  dem  beherrschenden  Einfluß 
der  jedesmaligen  amante  en  titre  des  Fürsten.  So  zieht  also 
die  Königsmaitresse  tiefe  Furchen  in  den  Acker. 

Sie  ist  aber  vor  allem  wieder  das  Vorbild  der  Stadt- 
maitresse, der  Grande  Cocotte.  Diese  erscheint  in  ihren  An- 
fängen geradezu  als  ein  Konkurrenzunternehmen  gegen  den  Hof. 

Ninon  de  TEnclos  tritt  geradezu  die  Erbschaft  der  M®  de 
Maintenon  an :  sie  pflegt,  als  diese  alt  und  fromm  wird ,  die 
alten  Traditionen  der  Lebensfreude:  die  Rue  de  Tournelles 
nimmt  den  Kampf  mit  St.  Gyr  auf. 

So  muß  nun  aber  auch  die  anständige  Frau  der  Gesell- 
schaft, will  sie  nicht  völlig  ausgeschaltet  werden,  sich  dazu 
bequemen,  wiederum  mit  der  Maitresse  in  Konkurrenz  zu 
treten.  Diese  schafft  gewisse  Miudestbedingungeu  der  Kultur, 
die  jede  Dame  der  Gesellschaft,  t^ei  sie  so  anständig  wie  sie 
wolle,  dann  erfüllen  muß. 

So  wird  die  feuinie  honnete  offenbar  erst  durch  die 
Kurtisane  dazu  veranlaßt,  sich  zu  waschen.  Marien  de  Romieu 
rät  in  ihren  Instructions  pour  les  jeunes  filles  (16.  Jahrhundert) 
den  Frauen,  sich  sauber  zu  halten  -.  sei  es  auch  nur  für  sich 
selbst  oder  für  —  den  Gatten. 


Die  Kurtisane  69 

Der  „Salon",  mit  dem  im  17.  uud  18.  Jahrhundert  die 
mondäne  Frau  ihre  größte  Macht  ausübt,  ist  wahrscheinlich 
doch  nur  eine  Fortsetzung  der  Zusanmienkünfte  geistreicher 
Leute,  wie  wir  sie  bei  den  großen  Kurtisanen  im  Cinquecento 
zuerst  in  Italien  finden. 

Aber  das  (für  uns  in  diesem  Zusammenhange)  Wichtigste  : 
die  Lebensführung  der  Demi-Mondäne  wird  auch  äußerlich 
bestimmend  für  den  Lebenszuschnitt  der  Mondäne  (was  damals 
alle  Frauen  der  Gesellschaft  waren).  Wie  selbst  heute  noch  in 
unserer  verbürgerlichten  Welt  die  Dame  (ich  spreche  nicht  von 
den  „famosen  Menschen"  in  Reformtracht,  die  in  einer  Drei- 
Zimmerwohnung  ihr  Dasein  entfalten)  Ausschau  hält  nach 
den  Toiletten ,  die  die  Grandes  Cocottes  auf  dem  Frühjahrs- 
rennen in  Paris  trägt,  und  wie  alle  Tollheiten  der  Mode  und 
des  Luxus,  der  Pracht  uud  der  Verschwendung  zuerst  von 
den  Maitressen  durchprobiert  werden ,  ehe  sie  in  abgetönter 
Färbung  von  den  Damen  der  Gesellschaft  aufgenommen  werden  : 
so  hat  in  einer  degagierten  Zeit,  wie  der,  von  der  hier  die 
Rede  ist,  in  der  der  Bürger  noch  ganz  abseits  von  der  „Ge- 
sellschaft" stand,  die  Kurtisane  natürlich  in  noch  viel  höherem 
Grade  den  Ton  angegeben,  auf  den  das  Leben  gestimmt  war. 

Das  für  die  äußere  Lebensgestaltung  der  neuen  Gesell- 
schaft im  einzelnen  nachzuweisen,  ist  der  Zweck  des  folgen- 
den Kapitels. 


70 


Viertes  Kapitel:  Die  Entfaltung  des  Luxus 


Quellen  und  Literatur 

Es  ist  fast  nicht  angängig,  von  besonderen  Quellen  für  die  Ge- 
schichte des  Luxus  zu  sprechen,  da  fast  jede  Geschichtsquelle  dabei  in 
Betracht  kommen  kann.  Hauptsächlich  wird  man  zu  Rate  ziehen:  die 
überlieferten  Gegenständlichkeiten,  ob  Bauwerk,  ob  Kleidungsstück,  ob 
Gerät;  die  Haushaltungsbücher  und  Baurechnungen;  die  Reiseberichte 
und  Zustandsschilderungen  der  Zeitgenossen,  unter  denen  eine  be- 
sonders wichtige  (mit  großer  Vorsicht  zu  benutzende!)  Gruppe  die  morali- 
sierenden Schriften  bilden;  für  das  16.,  17.  und  18.  Jahrhundert  bietet 
die  umfangreiche  Memoirenliteratur  viel  Stoff.  Ich  werde  je  an  der 
passenden  Stelle  auf  die  wichtigsten  Quellen  hinweisen. 

Das  Standardwerk  der  Literatur  über  die  Geschichte  des  Luxus 
ist  H.  Baudrillart,  Histoire  du  luxe  prive  et  public,  2.  ed.  4  Vol. 
1881.  Von  ihm  gilt,  was  von  so  vielen  Geschichtswerken  zu  sagen  ist; 
eine  bewundernswerte  Leistung,  aber  man  lernt  fast  gar  nichts  aus  dem 
Buche.  Daneben  behalten  die  Studien  Wilhelm  Roschers,  Über 
den  Luxus  (in  den  „Ansichten  der  Volkswirtschaft")  und  Emanuel 
Herrmanns,  Die  Launen  der  Pracht  (in  den  „Miniaturbildern  des 
Wirtschaftslebens",  1872)  faute  de  mieux  ihre  Bedeutung.  Vgl.  auch  noch 
den  Artikel  „Luxus"  im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften,  3.  Aufl. 
(Theo.  S 0 m m e r  1  a d)  und   die   daselbst  angeführte  Literatur. 

Einen  geistreichen  Versuch,  den  Luxus  und  seine  Wandlungen 
psychologisch-soziologisch  zu  deuten,  enthält  das  Buch  von  Thor  stein 
Veblen,  The  Theorie  of  the  Leisure  Class.  1899  (dann  öfters  auf- 
gelegt). 

Neben  diesen  Werken  allgemeinen  Inhalts  über  den  Luxus  und 
seine  Geschichte  hat  man  die  gesamte  Spezialliteratur  über  einzelne 
Gebiete  der  Luxusgestaltung  zu  Rate  zu  ziehen. 

Über  den  Eßluxus  unterrichten  die  zahlreichen  (namentlich  natür- 
lich in  Frankreich  erschienenen)  gastronomischen  „Almanachs",  deren 
erster  aus  dem  Jahre  1530  stammt.  Der  zweite,  den  man  kennt,  rührt 
her  vom  Abbe  Claude  Cherrier  und  erschien  unter  dem  Titel  „Almanach 
de  la  Table   ä  Paris".     Die  meiste  Verbreitung  hat  der  „Almanach  du 


Begrill"  und  Wesen  des  Luxus  71 

Comestible"  gefunden,  der  zuerst  1778  erschien:  siehe  den  Almanach 
des  Gourmands  für  das  Jahr  1904. 

Für  die  Oeschichte  des  Hauluxus  kommen  alle  Werke  zur  Ge- 
schichte der  Baustile  und  des  Möbels  in  Betracht;  ferner  Reisebeschrei- 
bungen, Beschreibung  einzelner  Paläste  u.  dgl.  Eine  Zusammenstellung 
solcher  Schilderungen  enthalten  die  Dictionnaires  des  amateurs  von 
P.  Bonnaffe.     1884  seg. 

Für  den  Kleiderluxus:  die  Bücher  zur  Geschichte  der  Trachten, 
der  Mode;  zur  Geschichte  der  Fabrikation  und  kunstgewerblichen  Ge- 
staltung einzelner  Kleidungsgegenstände:  der  Stoffe  (Seide!),  der  Spitzen, 
des  Schmuckes  usw.  Die  wirtschaftliche  Seite  wird  hell  beleuchtet  in 
Schriften  wie  der  von  Em.  Langlade,  La  marchande  de  Modes  de  Marie 
Antoinette  Rose  Bertin  (s.  a.). 

Viel  interessantes  Material  enthalten  die  Bücher  von  H  umbert 
de  Gallier,  Les  moeurs  et  la  vie  privee  d'autrefois.  1911.  Usages  et 
moeurs  d'autrefois.     1912. 


L   Begriff  und  Wesen  des  Luxus 

Luxus  ist  jeder  Aufwand,  der  über  das  Notwendige  hin- 
ausgeht. Der  Begriff  ist  offenbar  ein  Relationsbegriflf.  der 
erst  einen  greifbaren  Inhalt  bekommt,  wenn  man  weiß,  was 
„das  Notwendige"  sei.  Um  dieses  festzustellen,  gibt  es  zwei 
Möglichkeiten:  man  kann  es  subjektiv  in  einem  Werturteile 
(ethischer,  ästhetischer  oder  welcher  Art  immer)  verankern. 
Oder  man  kann  einen  irgendwelchen  objektiven  Maßstab  aus- 
findig zu  machen  suchen,  an  dem  man  es  ausmessen  kann.  Als 
solcher  bietet  sieh  entweder  die  physiologische  Notdurft  des 
Menschen  oder  dessen  dar,  was  man  die  Kulturnotdurft  nennen 
kann.  Jene  ist  nur  je  nach  den  Klimaten,  diese  je  nach  der 
historischen  Epoche  verschieden.  Man  hat  es  in  der  Hand, 
die  Grenze  der  Kulturnotdurft  oder  des  Kulturnotwendigen 
beliebig  zu  ziehen  (wird  aber  gebeten,  diesen  Willkürsakt 
nicht  mit  der  oben  erwähnten  subjektiven  Wertung  zu  ver- 
wechseln). 

Luxus  hat  dann  aber  einen  doppelten  Sinn :  er  kann 
quantitativ  oder  qualitativ  ausgerichtet  sein. 


72  Viertes  Kapitel:  Die  Entfaltung  des  Luxus 

Luxus  in  quantitativem  Sinne  ist  gleichbedeutend  mit 
„Vergeudung"  von  Gütern:  wenn  man  hundert  Dienstboten 
hält,  wo  einer  „genügt",  oder  wenn  man  drei  Schwefelhölzer 
auf  einmal  ansteckt,  um  sich  die  Zigarre  anzuzünden.  Luxus 
in  qualitativem  Sinne  heißt  Verwendung  besserer  Güter. 
Luxus  in  quantitativem  und  Luxus  in  qualitativem  Sinne 
können  sich  vereinigen  (und  sind  in  Wirklichkeit  meist  ver- 
einigt). 

Von  dem  Begriffe  des  qualitativen  Luxus  leiten  wir  den 
des  Luxusgutes  ab,  das  also  soviel  wie  ein  verfeinertes  Gut 
ist.  Verfeinerung  ist  alle  Zurichtung  der  Güter,  die  für  die 
notdürftige  Zweckerfüllung  überflüssig  ist.  Die  Verfeinerung 
kann  grundsätzlich  in  zwei  Richtungen  sich  betätigen:  in  der 
Richtung  des  Stoifes  oder  der  Form. 

Wie  wir  beim  Luxus  oder  Luxusaufwand  einen  absoluten 
und  einen  relativen  Sinn  unterscheiden  konnten,  so  müssen 
wir  dieselbe  Unterscheidung  für  die  Substrate  des  qualitativen 
Luxus,  die  Feingüter,  treffen. 

Faßt  man  die  Verfeinerung  in  absolutem  Sinne,  so  ge- 
hört die  große  Mehrzahl  aller  unserer  Gebrauchsgüter  zu  den 
verfeinerten  Gütern:  denn  fast  alle  befriedigen  mehr  als  die 
(animalische)  Notdurft.  Man  wird  deshalb  auch  von  einem 
Feinbedarf  in  einem  relativen  Sinne  sprechen  müssen,  indem 
man  die  bei  einem  gegebenen  Stande  der  Güterkultur  über  das 
Durchschnittsmaß  hinausgehende  Verfeinerung  erst  als  Ver- 
feinerung im  engeren  Verstände  bezeichnet.  Den  solcher- 
maßen enger  umschriebenen  Feinbedarf  nennen  wir  dann  wohl 
Luxusbedarf;  die  Güter,  die  zu  seiner  Deckung  dienen,  Luxus- 
güter im  engeren  Sinne. 

Luxus  in  dem  nunmehr  umschriebenen  Sinne  von  Fein- 
bedarf und  seiner  Befriedigung  dient  sehr  verschiedenen 
Zwecken  und  kann  deshalb  auch  sehr  verschiedenen  Beweg- 
gründen sein  Dasein  verdanken :  ob  ich  meinem  Gott  einen 
goldgeschmückten  Altar  weihe   oder  mir  ein  seidenes  Hemd 


Begriif  und  Wesen  des  Luxus  73 

kaufe :  beide  Male  treibe  ich  Luxus ,  aber  man  empfindet 
also  gleich,  daß  diese  beiden  Akte  weltenverschieden 
sind.  Man  kann  vielleicht  jene  Weihe  einen  idealistischen 
oder  auch  altruistisclien  Luxus,  diese  Anschaffung  einen 
materialistischen  oder  auch  egoistischen  Luxus  nennen,  indem 
man  damit  Bestimmung  und  Beweggrund  gleichermaßen  unter- 
scheidet. 

Wenn  hier  von  einer  Luxusentfaltung  gesprochen  wird, 
so  ist  nur  an  die  zweite  Art  von  Luxus  gedacht:  an  jenen 
also,  der  dazu  dient,  das  persönliche  Leben  aus  selbstsüchtigen 
Motiven  mit  „eitlem  Tand"  auszustatten.  Denn  nur  diese  Art 
von  Luxus  ist  es,  die  in  der  Epoche  der  Renaissance  in  weiter 
Fassung,  also  in  der  Zeitspanne  zwischen  Giotto  und  Tiepolo, 
besonders  stark  zur  Entwicklung  gelangt.  Jedenfalls  will  ich 
nur  die  Entfaltung  dieses  persönlichen  Luxus  hier  verfolgen, 
will  ich  nur  seiner  Entstehung  nachspüren. 

Aller  persönliche  Luxus  entspringt  zunächst  aus  einer  rein 
sinnlichen  Freude  am  Genuß:  was  Auge,  Ohr,  Nase,  Gaumen 
und  Tastsinn  reizt,  wird  in  immer  vollkommenerer  Weise  in 
Gebrauchsdingen  irgendwelcher  Art  vergegenständlicht.  Und 
diese  Gebrauchsdinge  machen  den  Luxusaufwand  aus.  Aller 
Wunsch  nach  Verfeinerung  und  Vermehrung  der  Sinnenreiz- 
mittel wird  nun  aber  letzten  Endes  in  unserm  Geschlechts- 
leben seinen  Grund  haben :  Sinnenlust  und  Erotik  sind  letzten 
Endes  ein  und  dasselbe.  Sodaß  der  erste  Antrieb  zu  etwelcher 
Luxusentfaltung  in  der  großen  Mehrzahl  aller  Fälle  gewiß  auf 
irgendwelches  bewußt  oder  unbewußt  wirkende  Liebesempfinden 
zurückzuführen  ist. 

Deshalb  wird  überall  dort,  wo  Reichtum  sich  entwickelt,  und 
wo  das  Liebesleben  naturgemäß  und  frei  (oder  frech)  sich  ge- 
staltet, auch  Luxus  herrschen.  Während  der  Reichtum  dort, 
wo  das  Liebesleben  aus  irgendwelchem  Grunde  verkümmert  ist, 
nicht  zur  Verausgabung,  sondern  nur  zur  Vereinnahmung  von 
Gütern:  zur  Häufung  also  der  Güter  und  zwar  möglichst  in  ihrer 


74  Viertes  Kapitel:  Die  Entfaltung  des  Luxus 

abstraktesten  Form :  eleu  ungeformten  Edelmetallen  und  dann 
dem  Gelde  führen  muß.  (Was  an  andrer  Stelle,  wo  ich 
der  Genesis  des  kapitalistischen  Geistes  nachspüre,  der 
aus  diesem  andern  Strome  gesi)eist  wird,  näher  darzu- 
legen ist). 

Ist  aber  erst  einmal  zu  irgendeiner  Zeit  Luxus  da,  so 
werden  nun  auch  zahlreiche  andere  Motive  rege,  die  auf  seine 
Steigerung  hindrängen  :  Ehrgeiz,  Prunksucht,  Protzerei,  Macht- 
trieb, mit  einem  Wort :  der  Trieb,  es  dem  andern  zuvorzutun, 
stellen  sich  als  wichtige  Beweggründe  ein.  Veblen  in  seinem 
geistvollen  Buche  über  die  „nichtstuenden"  Klassen  möchte 
alle  Luxus-  wie  alle  Besitzeswertung  auf  diesen  Antrieb:  vor 
dem  andern  etwas  voraushaben  zu  wollen,  zurückführen.  Auch 
einmal  zugegeben,  dieser  Trieb  gehöre  zu  den  elementaren 
Trieben  der  Menschennatur  wie  Hunger  und  Liebe,  so  be- 
darf es  doch  immer  noch  des  Zusammentreffens  besonderer 
Umstände,  damit  er  sich  gerade  in  der  Richtung  der  Luxus- 
entfaltung äußere.  Das  hat  offenbar  zur  Voraussetzung,  daß 
ein  luxuriöses  Leben  schon  da  ist,  daß  also  in  der 
Entfaltung  von  gleichem  oder  größerem  Luxus  ein  Mittel, 
jenes  Sichzuvortunwollen  zu  befriedigen,  gefunden  werden 
kann.  W'ährend  in  andern  Fällen  die  reine  quantitative  Über- 
bietung des  andern:  an  Zahl  der  Sklaven,  Größe  des  Land- 
besitzes oder  des  Geldvermögens,  Höhe  des  Ranges  oder  ähn- 
lichem sich  als  die  geeignete  Form,  sich  hervorzutun,  dar- 
bietet. Damit  aber  Luxus  als  persönlicher,  materialistischer 
Luxus  da  sei,  muß  die  Sinnenlust  rege  gewesen  sein,  muß 
vor  allem  also  Erotik  auf  die  Gestaltung  des  Lebens  ihren 
entscheidenden  Einfluß  ausgeübt  haben. 

Auf  unsere  Epoche  angewandt:  alle  Bedingungen  waren 
erfüllt ,  um  großen  Luxus  zu  erzeugen :  der  Reichtum ,  die 
freie  Gestaltung  des  Liebeslebens,  das  Streben  einzelner 
Gruppen  der  Bevölkerung,  sich  andern  gegenüber  zur  Geltung 
zu  bringen,  das  Leben  in  der  Großstadt,  die,  wie  wir  sahen, 


Begrift'  und  Wesen  des  Luxus  75 

vor  dem  19.  Jahrhundert  immer  nur  ein  Zentrum  des  Ge- 
nusses war. 

Aber  eine  solche  Deduktion  wäre  doch  ein  wenig  blutleer 
und  möchte  auch  von  manchem  nicht  als  beweiskräftig  ge- 
nug angesehen  werden.  Deshalb  will  ich  in  der  folgenden 
Darstellung  die  Sache  umkehren:  ich  will  von  der  Tatsache 
ausgehen,  daß  in  den  Jahrhunderten  seit  dem  Ausgang  des 
Mittelalters  ein  großer  Luxus  geherrscht  hat,  der  sich  gegen 
Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  ins  Maßlose  steigerte,  und  will  sie 
dann  erklären.  Es  gilt  also  zunächst,  diesen  Tatbestand 
einer  großen  starken  Luxusentfaltung  aufzuweisen. 

Dazu  werden  wir  uns  erst  einmal  der  häutig  wiederkehren- 
den Aussagen  von  Zeitgenossen  erinnern,  in  denen  meist  geklagt 
wird  über  den  unerträglich  gewordenen  Luxus:  „Tout  le  monde 
est  fol ,  le  luxe  est  pousse  ä  l'extreme  et  Ton  assure  que  la 
moitiö  de  Paris  est  ruin6  et  Tautre  moiti6  fait  mutier  de 
filouter" ,  schreibt  1787  ein  Provinzler  aus  Paris  au  seine 
Frau.  „Une  des  manies  les  plus  tranchöes  de  ce  temps-ci,"  meint 
Me  d'Oberkirk,  die  alte  Tante,  „est  de  se  ruiner  eu  tout  et 
sur  tout."  Am  packendsten  hat  uns  Mercier  den  trostlosen 
Zustand  geschildert,  in  den  die  Gesellschaft  zu  seiner  Zeit  ge- 
raten war^^  Er  nennt  den  Luxus  den  „Henker  der  Eeichen"  : 
Luxe,  bouneau  des  riches,  und  zeigt  uns  nun  mit  eindring- 
lichen Worten,  wie  der  Reiche  vor  lauter  Übertreibung  gar 
nicht  mehr  zu  einem  Genüsse  komme:  „Die  Reize  sind  nicht 
mehr  befriedigt,  sondern  abgestumpft,  und  an  Stelle  einer 
pikanten  Abwechslung  treten  bizarre  Aufwendungen,  die  nur 
den  dögoüt  mit  sich  führen;  das  ist  der  Grund,  warum  alles 
wechselt,  die  Moden,  die  Trachten,  die  Sitten,  die  Sprache, 
ohne  Sinn  und  immerfort.  Die  reichen  Leute  sind  bald  an 
dem  Punkte  angelangt,  nichts  mehr  zu  fühlen.  Ihre  Ein- 
richtungen sind  eine  Wechseldekoration;  ihre  Kleidung  eine 
tägliche  Fron,  ihre  Mahlzeiten  eine  Parade.  Und  der  Luxus 
quält  sie,  glaube  ich,  wie  die  Not  den  Armen  quält:  das  hat 


yg  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

sich  wirklich  gelohnt ,  ihm  alles  zu  opfern :  c'6tait  bien  la 
peine  de  liii  tout  sacrifier!  Was  die  Reichen  in  Paris  quält, 
ist  vielleicht  die  Verkettung  ihrer  tollen  Ausgaben :  sie  gehen 
immer  weiter  als  sie  wollen.  Der  Luxus  hat  so  entsetzlieh 
kostspielige  Formen  —  des  formes  si  horriblement  coüteuses  — 
angenommen,  daß  es  schließlich  iiberhaupt  kein  Vermögen 
gibt,  sozusagen,  das  er  nicht  untergräbt.  „Jamais  si^cle  n'a 
6t6  plus  prodigue  que  le  notre."  Man  zehrt  seine  Einkünfte 
ganz  auf,  man  verschlingt  sein  Vermögen,  on  6tale  une  sur- 
abondance  scandaleuse,  on  veut  effacer  son  voisin:  man 
sucht  es  seinem  Nachbar  mit  skandalöser  Übertreibung  zuvor- 
zutun ..." 

Und  überall  dasselbe  Bild;  fast  dieselben  Worte:  Nie 
war  ein  Zeitalter  üppiger  als  das  unsere,  meint  der  „Voll- 
kommene englische  Handelsmann"^^:  es  grenzt  an  das  Un- 
glaubliche, was  für  einen  Raum  der  Luxus  in  unserer  Zeit  ein- 
nimmt: „it  is  next  to  incredible,  what  a  share  the  luxury  of 
the  age  has  .  .  ."  „Vainity,  gaiety  and  luxury"  beherrschen  uns 
—  die  „exeesses",  die  Ausschweifungen,  nehmen  überhand. 

„Der  Luxus  verschlingt  alles  wie  ein  Meer,"  urteilt 
Kochanowski  in  Warschau,  wo  ja  der  Luxus  die  höchste 
Vollendung  erlebte.  „Wenn  der  allmächtige  Gott  solchen 
Regen  auf  uns  herniederfallen  ließe,  daß,  wie  viele  Tropfen, 
so  viele  Dukaten  herabfielen  und  Polen  bis  an  die  Knöchel 
mit  ihnen  bedeckt  wäre,  dennoch  würde  all  dieses  Geld  nicht 
lange  bei  uns  vorhalten,  sondern  so,  wie  Wasser  von  den 
Hügeln  und  Bergen  zu  den  Strömen  und  Niederungen  ihren 
Fall  haben,  nach  Breslau,  Leipzig,  Frankfurt,  Berlin,  Danzig, 
Riga  und  Königsberg  für  Silbergeschirr,  Wagen,  Möbel  u.  dgl. 
rasch  abfließen'*^." 

Aber  wir  werden  uns  mit  solcherart  Zeugenaussagen  nicht 
begnügen ,  sondern  werden  versuchen ,  wirkliche  Tatsachen, 
das  heißt  also  reale  Fälle  von  Luxusgestaltung  beizubringen. 
Ich    könnte   bei   meinen   Lesern    dieses   Wissen    voraussetzen 


Die  Fürstenhöfe  77 

und  setze  es  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  voraus.  Was 
ich  aber  nicht  für  überfiüssig  lialte,  ist  der  Versuch,  nach 
Möglichkeit  eine  ziffernmäßig  bestimmte  Größenvorstellung 
von  der  Luxusentfaltung  zu  geben,  da  erst  die  Ziffer  hinter 
dem  einzelnen  Luxuspliänomen  und  insbesondere  hinter  einer 
Masse  solcher  Eiuzelphänomene  die  Bedeutung  erkennen  läßt, 
die  der  Luxusbedarf  für  die  Ausbildung  des  Marktes  gehabt 
hat  (was  wir  doch  vor  allem  erfahren  möchten). 

Und  dann  wäre  das  zweite  zu  leisten:  Nachdem  die 
Tatsache  einer  großen  Luxuseutfaltung  außer  Zweifel  gestellt 
ist,  ist  nachzuprüfen,  in  welchem  Zusammenhange  diese  Luxus- 
entfaltung mit  den  gesellschaftsbildenden  Faktoren  steht,  die 
ich  in  den  voraufgehenden  Kapiteln  geschildert  habe:  inwiefern 
insbesondere  (das  ist  ja  der  Grundgedanke  dieses  Buches)  die 
Frau,  zumal  die  von  Unrechts  wegen  geliebte  Frau,  wir  können 
auch  sagen:  das  Weibchen  Anteil  an  der  Ausgestaltung  des 
äußeren  Lebens  in  unserer  Epoche  genommen  hat. 

IL    Die  Fürstenhöfe 

Wie  alles  Leben,  so  ging  auch  alles  Wohlleben  in  jener 
Zeit  von  den  FürvStenliöfen  aus:  sie  sind  recht  eigentlich  die 
Quelle  aller  Energien. 

Und  wiederum,  wenn  wir  in  die  Vergangenheit  zurück- 
schauen, um  zu  sehen,  wo  zuerst  ein  üppig  weltliches  Treiben 
aufsprang,  bleibt  unser  Blick  auf  Avignon  haften. 

L'avaia  Babilonia  .  .  . 

.  .  .  di  vizi  empi  e  lei 
Tanto  che  scoppia;  ed  ha  fatti  suoi  dei 
Non  Giove,  e  Palla,  ma  Veiiere  e  Bacco  .  .  . 
Gia  Roma,  or  Babilonia  falsa  e  ria 
Per  cui  tanto  si  piague  e  si  sospira  ... 
Fondata  in  casta  ed  umil  povertate 
Contra  tuoi  fondatori  alzi  le  corna 
Putta  sfacciata;  e  dov'  hai  posto  spene? 
Negli  adulteri  tuoi,  neue  mal  iiate 
Kicchezze  taute?  .  .  .  (Son.  CVI,  CVII.) 


73  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

Gewiß  war  Petrarca,  der  uns  diese  und  viele  ähnliche 
Schilderungen  vom  Avignoneser  Hofe  hinterlassen  hat,  ein 
nicht  ganz  uni)arteiischer ,  ein  nicht  ganz  „vorurteilsloser" 
Beurteiler;  aber  daß  er  im  Kern  die  Sache  richtig  dargestellt 
hat,  lehren  uns  andere  einwandsfreie  Zeugnisse.  „Perversos 
mores  in  nostram  Galliam  invexit"  —  das  Papsttum  nämlich, 
klagt  Nicol.  de  Clamenges,  de  statu  eccl.  corrupt.  c.  27^*. 
Aber  das  besagt  auch  noch  nicht  allzuviel. 

Ich  denke  vielmehr  z.  B.  an  die  zeitgenössische  Schilde- 
rung ^^  der  Feste,  die  man  zu  Ehren  des  Papstes  Clemens  V. 
veranstaltete,  die  mit  den  prachtvollen  Worten  schließt :  ^Gli 
ocehi  di  Nostro  Signore  si  spandeano  sopra  queste  eose  (das 
Bacchanale,  in  das  die  üppigen  Mahlzeiten  auslaufen:  die 
ganze  Gesellschaft  tanzte  durch  die  Gärten)  dilettandosi  ne 
la  diversitä  de'  uobili  solazzi,  con  quello  modo  temperato  e 
maturo,  che  si  conviene  a  tanta  santitä  .  .  ."  „Die  Augen 
unseres  Herrn  schweiften  über  alle  diese  Dinge  hin,  voll  Freude 
über  ihre  Buntheit  und  Vergnüglichkeit,  mit  jenei'  Milde  und 
Reife,  wie  sie  sieh  für  so  viel  Heiligkeit  ziemt." 

Oder  ich  denke  an  die  Inventarien  des  päpstlichen  Palastes, 
mit  denen  uns  E.  Müntz  bekannt  gemacht  hat **''.  Und  finde 
das  Urteil  Petrarcas  sachlich  doch  bestätigt.  Freilich,  um 
uns  eine  richtige  Vorstellung  vom  Treiben  in  Avignon  zu 
machen,  müssen  wir  vor  allem  auch  die  zahlreichen  Satelliten- 
höfe der  Kirchenfürsten,  die  neben  dem  Papste  dort  resi- 
dierten, in  Rücksicht  ziehen :  erst  die  Gesamtheit  aller  geist- 
lichen Höfe  hat  wohl  den  Glanz  hervorgerufen,  der  uns  aus 
den  Schilderungen  jener  Zeit  entgegenleuchtet.  Denn  die 
Ausgaben  des  päpstlichen  Haushalts  selber  waren,  wie  neue 
Forschungen  ergeben  haben,  gar  nicht  so  übertrieben  große: 
vom  24.  Juni  1305  bis  24.  April  1307  (beispielsweise,  aller- 
dings es  ist  der  Anfang!  Aber  für  die  spätere  Zeit  sind  meines 
Wissens  die  Ausgabenetats  noch  nicht  publiziert)  wurden  nur 
175317  Goldgulden  für  Beamte  und  Dienstpersonal  ausgegeben ; 


Die  Fürstenhöfe  79 

eine  Wocheuausgabe  für  Küche,  Hofbäckerei,  Keller  und 
Marstall  beträgt  826  H.  8  den.  tur.  parv.  Im  Marstall  stehen 
135  Pferde  «^ 

An  die  hellbelichtete  Avignouer  Episode  reiht  sich  in 
unserer  Vorstellung  unmittelbar  an  die  Glanzzeit  des  Papst- 
tums in  Rom  unter  der  Herrschaft  der  großen  Renaissance- 
päpste von  Paul  II.  bis  Leo  X.,  die,  je  einer  den  anderen 
überbietend,  ein  Leben  voller  Glut  und  Glimmer  entfalten. 
„Ein  heidnisches  Wesen  überzog  die  Stadt  mit  theatralischem 
Glänze  wie  in  der  alten  Kaiserzeit.  Weltlicher  Pomp  wurde 
zum  Bedürfnis  der  päpstlichen  Regierung,  der  verwöhnte 
Pöbel  schrie  nach  Festen,  und  man  gab  sie  ihm  reichlich." 
(G  r  e  g  0  r  0  V  i  u  s.) 

Mit  Paul  II.  (1404 — 1471)  beginnt  das  Bacchanale.  „Sein 
Hof  war  üppig;  er  selbst  sinnlichen  Genüssen  ganz  ergeben." 
Gleichsam  als  ein  Symbol  seines  eigenen  Lebens  betrachtete 
er  den  Karneval,  den  er  im  weltlichen  Sinne  ausgestaltete. 
Er  führte  erst  diesen  neuen  heidnischen  Charakter  des 
Karnevals  in  Rom  ein. 

Sixtus  IV.  eiferte  seinem  Vorgänger  nach.  Unter  ihm 
sind  es  vor  allem  die  Nepoten,  die  ihr  Leben  hier  ausleben: 
sein  Sohn  Pietro  Riario ,  der  über  ein  Einkommen  von 
60000  fl.  verfügt,  verschwendet  seinen  Reichtum  in  zwei 
Jahren.  Als  die  natürliche  Tochter  des  Königs  von  Neapel 
im  Jahre  1473  nach  Rom  kam,  überstiegen  die  Feste  „an 
wahnsinniger  Verschwendung  alles,  was  bisher  in  dieser  Weise 
erlebt  worden  war"  ^^.  Madame  Leonara  konnte  Rom  mit 
der  Überzeugung  verlassen,  daß  die  Welt  nichts  besitze,  was 
an  Schwelgerei  dem  Hofe  eines  römischen  Nepoten  auch  nur 
von  fern  nahe  käme. 

Vor  allem  in  Festen,  öffentlichen  Schaustellungen,  Emp- 
fängen, feierlichen  Einzügen  kommt  der  Luxus  dieser  Zeit 
zur  Entfaltung :  10(»  OOU  Menschen  versammelten  sich  am 
Tage  S.  Marco  des  Jahres  1476  auf  der  Navona,  wo  Girolamo 


30  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

Riario  ein  Turnier  gab.  Im  Jahre  1478  wurde  die  Vermählung 
der  Prinzessin  v.  Urbino  und  Giovanni  Roverez  „persico  ap- 
paratu"  gefeiert  ^^.  Den  glanzvollen  Einzug  des  Prinzen  Fede- 
rigo  von  Neapel  beschreibt  uns  ausführlich  Burcardus'". 
Den  Höhepunkt  aber  des  weltlichen  Glanzes  erklomm  das 
Papsttum  in  dem  ewigberühmten  Lateranischen  Festzug 
Leos  X.  am  11.  April  1513:  100000  Dukaten  hatte  der  eine 
Tag  gekostet,  an  dem  Hunderte  von  Künstlern  ihr  bestes 
Können  opferten".  Es  war  ja  die  Zeit,  in  der  Ptaphael  Santi 
wie  ein  gekrönter  Fürst  durch  die  Straßen  Roms  ritt:  von 
einem  stattlichen  Gefolge  begleitet,  das  von  nie  weniger  als 
fünfzig  seiner  Verehrer,  Freunde  und  Schüler  gebildet  wurde. 

Die  weltlichen  Höfe  Italiens,  vor  allem  die  von  Mailand 
und  Neapel,  wetteiferten,  wie  man  weiß,  in  der  Entfaltung 
weltlichen  Glanzes  mit  denen  von  Rom.  Über  den  Luxus, 
der  an  diesen  Höfen  damals  getrieben  wurde,  unterrichtet 
das  Tagebuch,  das  Andr6  de  la  Vigne,  der  Sekretär  Annas 
von  Bretagne,  auf  der  Reise  mit  Karl  VIII.  durch  Italien 
aufgezeichnet  hat:  Le  Vergier  d'Honneur^^. 

Aber  für  die  Geschichte  des  höfischen  Luxus  (ebenso  wie 
für  die  Geschichte  der  Höfe  überhaupt)  wurde  doch  recht 
eigentlich  die  Tatsache  bedeutsam,  daß  die  französischen 
Könige  die  Erbschaft  der  italienischen  Fürsten  auch  in 
allem  autraten,  was  Lebensauffassung  und  Lebensführung  be- 
traf: Catharine  von  Medici  war  die  Mittlerin,  nachdem  schon 
vor  ihr  das  Haus  der  Valois  in  Karl  VIII.  und  Ludwig  XII. 
seine  starke  Hinneigung  zur  italienischen  Kultur  in  ihrer 
ganzen  Politik,  wie  man  weiß,  betätigt  hatte. 

Denn  damit  —  das  ist  das  Entscheidende  —  wuchsen 
die  äußeren  Möglichkeiten  einer  Luxusentfaltung  in  dem 
Verhältnisse,  wie  Frankreich  größer  war  als  die  italienischen 
Fürstentümer.  Die  letzten  Valois  verausgabten  für  ihren 
Haushalt  doch  schon  erheblich  mehr  als  selbst  die  reicheren 
Staaten  Italiens  an  öffentlichen  Gesamteinnahmen  hatten.   Für 


Die  Fürstenhöfe  81 

das  Ende  des  15.  Jahrhunderts  veranschlagte  man^^  die  Ein- 
künfte von 


Venedig  auf  höchstens 
Neapel       „  „ 

Mailand     „  „ 

Florenz      „  „ 

Kirche 


1000000  Goldtiorin 
ÖOÜOOO 
600000 
300000 
200-260000  „ 


Diesen  Ziftern  stehen  gegenüber  die  IV2  Mill.  Scudi,  die 
Franz  I.  (oder  Heinrich  II.)  für  ihre  Hofhaltung  aufwenden 
konnten.  Der  venetianische  Gesandte  (Marino  Cavalli),  dem 
wir  diese  Schätzung  verdanken  '*,  fügt  der  Ziffer  die  Bemerkung 
hinzu :  „Wenn  Ihr  den  Hof  von  Frankreich  sähet,  würdet  Ihr 
Euch  über  eine  so  hohe  Ausgabesumme  nicht  wundern.  Er 
unterhält  für  gewöhnlich  6,  8,  10  bis  12000  Pferde.  Seine 
Verschwendung  (prodigalitä)  kennt  keine  Grenzen.  Die  Reisen 
vermehren  die  Ausgaben  mindestens  um  ein  Drittel,  wegen  der 
Menge  Maulesel,  Karren,  Sänften,  Pferde,  Diener,  die  er  dazu 
benötigt,  und  die  das  Doppelte  wie  gewöhnlich  kosten.*'  Ein 
anderer  Gesandter  schätzte  die  Suite,  die  dem  König  folgte, 
auf  8000  Pferde  ^^  Die  Verteilung  der  IV2  Mill.  Scudi  (die 
etwa  10  Mill.  Fr.  heutiger  Währung  entsprechen)  auf  die 
einzelnen  Ausgaben  war  (nach  derselben  Quelle)  die  folgende: 
100000  für  Wohnungszwecke,  150  000  für  Jagd,  100000  für 
Feste,  100  000  für  Kleidung  und  Geschenke,  200  000  für 
den  Hofstaat  des  Königs,  300  000  für  den  Hof  halt  der 
Königin. 

Da  es  lehrreich  ist,  die  Entwicklung  der  einzelnen  Aus- 
gaben zu  verfolgen,  so  teile  ich  noch  eine  Aufstellung  aus 
einem  andern  Gesandtsehaftsbericht  mit,  die,  soviel  ich  sehe, 
bisher  nicht  beachtet  worden  isf^^.  Im  Jahre  1542  belief  sich 
die  Gesamtausgabe  des  Königs  von  Frankreich  auf  5  788000  1. 
(das  Livre  turn,  hat  von  1541  — 1560  den  Metallwert  von 
3,34  Fr.  heutiger  Währung). 

Sombart,  Luxus  und  Kapitalismus  6 


g2  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

Davon  sind  Luxusausgaben: 

Haushalt  (niangiare)  des  Königs Liv.  85  000 

Marstall „     80000 

Goldene  und  seidene  Gewänder  zu  Geschenkzwecken     .  „     50  000 

Hofstaat  (Camerieri  etc.) „190  000 

Haushalt  (vivere)  der  Königin „   140  000 

Falkenjagd „     60000 

Schloß  in  Chambord  (das  bis  jetzt  400000  1.  gekostet  hat)  „     30  000 

Schloß  in  Fontainebleau „     50  000 

Taschengeld   des  Königs   (AI  re  in   contanti   quanto   gli 

pare  e  place) „  500  000 

Geschenke „  500000 

Einkäufe  des  Königs  zu  seinem  Vergnügen,  wie  Schmuck- 
sachen u.  a „160  000 

Außerordentliche  Ausgaben,  deren  Bestimmung  man  nicht 

kennt  (Spese  extraordinarie  che  non  si  sanno)  .    .     .  „   400  000 

Menüs  plaisirs „   750  000 


Liv.  2  995  000 


In  den  Menüs  plaisirs,  fügt  der  Gesandte  hinzu,  stecken 
die  Ausgaben,  von  denen  der  König  nicht  wünscht,  daß  man 
sie  weiß,  wie  die  für  Weiber  usw. 

Unter  Heinrich  IV.  gehen  die  Ausgaben  für  Luxuszwecke 
eher  zurück.  Er  gibt  dafür  im  letzten  Jahre  seiner  Regierung 
folgende  Beträge  aus"  (wobei  das  Livre  turn,  auf  etwa  den 
doppelten  Metallwert  des  heutigen  Frank  anzusetzen  ist): 

für  Stallungen Liv.  261  590 

„  Hofstaat  des  Königs  ....  „  485  538 

„  Silbergeschirr „  197  334 

„  kleine  Ausgaben „  162 180 

„  Jagd „  88  670 

„  Hofstaat  der  Königin      ...  „  541 439 

„  Bauten „633  298 

„  Reisen „  107  185 

„  Geschenke „  85  "(98 

„  Einkäufe „  71  575 

Liv.  2  584  607 
(also  etwa  5—6  Mill.  Fr.  heutiger  Währung). 


Die  Fürstenböfe  83 

Von  da  ab  steigen  die  Ausgaben  Jahr  für  Jahr:  in  der  letzten 
Regierungszeit  Ludwigs  XIV.  kulminiert  die  Entwicklung. 
Die  Etats  für  die  Jahre  von  1680  bis  1715  zeigen  annähernd 
dasselbe  Bild.  Ich  greife  beliebig  ein  Jahr  (1085)  heraus '^ 
(Das  Livre  gilt  von  167G— 1700  1,48  Fr.  heutiger  Währung.) 

Hofstaat  des  Königs Liv.    606  999 

Chambre  au  denier „1618  042 

Argenterie  (darunter  wurden  im  wesentlichen  die  Aus- 
gaben für  die  kgl.  Toilette,  Preziosen  usw.  verstanden)  „     2  274  253 

Kleine  Vergnügungen  (menus  plaisir) „       400  850 

Ankauf  von  Pferden „          12  000 

Marstall „1045  958 

Geschenke „        31:^  028 

Ilausbofmeisterei  (Prevote  de  l'Hotel) „         61 050 

Jagd  (Venerie,  Fauconerie,  Louveterie) „        888  319 

Hofhaltung  von  Monsieur „1  230  000 

Hofhaltung  von  Madame „        252000 

Belohnungen „        160  437 

„Taschengeld"  des  Königs  (Comptant  du  Roi)    ...  „2  186  748 

Bauten  des  Königs „15  340  901 

Geheimfonds  (Affaires  secretes) n     2  365  134 

Reisen 558  236 

Liv.  28  813  955 

Also:  rund  29  Mill.  Fr.  für  die  persönlichen,  das  heißt 
überwiegend  Luxusausgaben  des  Königs  bei  einem  Gesamt- 
etat (Brutto)  von  100()40  257  Liv. 

"Was  für  Riesensummen  unter  solchen  Umständen  den 
Luxusgewerben  zuflössen,  tritt  noch  deutlicher  in  die  Er- 
scheinung, wenn  man  einzelne  Ausgaben  für  sich  betrachtet. 

Obenan  steht  natürlich  der  Bauluxus.  Über  die  Aus- 
gaben für  die  königlichen  Bauten  sind  wir  aber  auch  auf  das 
beste  unterrichtet:  wir  besitzen  die  genauen  und  vollständigen 
Baurechnungen  der  französischen  Könige  von  1664  bis  1779, 
in  denen  jede  Ausgabe  auf  Heller  und  Pfennig  gebucht  ist. 
Das  in  diesen  Registern  enthaltene  Material  ist  eine  unglaub- 
lich wertvolle  Quelle  für  die  Wirtschaftsgeschichte,  die  bisher, 

soviel  ich  sehe,  überhaupt  noch  nicht  benutzt,  geschweige  denn 

6* 


34  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

ausgescliöpft  ist,  obwohl  wir  eine  musterhafte  Ausgabe  der  Rech- 
nungen von  1664  bis  1775  besitzen".  Levasseur  und  andere 
französische  Wirtschaftshistoriker  kennen  und  zitieren  diese 
Publikation  zwar,  scheinen  aber  gar  nicht  zu  ahnen,  was 
sich  alles  aus  ihr  lernen  läßt.  Ich  kann  in  diesem  Zusammen- 
hange natürlich  auch  nur  ganz  wenig  von  dem  überreichen 
Stoffe  verwerten,  der  eine  gründliche  Bearbeitung  verdiente: 
für  eine  Geschichte  wichtiger  Zweige  des  Handwerks  und  des 
gewerblichen  Kapitalismus  im  17.  und  18.  Jahrhundert  kann 
mau  bei  geschickter  Benützung  aus  dieser  Quelle  allein  das 
nötige  Rohmaterial  entnehmen.  Trotzdem  in  den  ganzen  fünf 
Großquartbänden  das  Wort  „Zunftordnung"  nicht  vorkommt. 
Oder  vielleicht  gerade  deswegen. 

Hier  teile  ich  zunächst  die  Gesamtziffern  der  Ausgaben 
für  die  königlichen  Bauten  und  der  einzelnen  Hauptposten 
mit,  um  von  der  Größe  des  Konsums  eine  Vorstellung  zu  geben. 

Insgesamt  wurden  für  die  königlichen  Bauten  während 
der  Regierungszeit  Ludwigs  XIV.  ausgegeben: 

198957  579  1.  14  s.  11  d. 

(Das  sind,  da  in  dieser  Zeit  das  Liv.  tur.  zwischen  1,22 
und  1,63  stand,  rund  300  Mill.  Fr.  heutiger  Währung.) 

Weit  mehr  als  die  Hälfte  dieser  Summe  wurde  in  den 
ersten  27  Regierungsjahren  verausgabt,  nämlich: 

1664—1680    73977269  1.  14  s.  5  d. 
1681—1687     57657478  „     6  „  2  „ 

Der  Löwenanteil  der  ganzen  Summe  entfällt  natürlich  auf 
Versailles,  das  mit  den  Gärten  und  Wasserkünsten  etwa 
100  Mill.  Fr.  gekostet  hat  (die  früher  angenommenen  Ziffern 
von  6 — 700  Mill.  Fr.  sind  also  stark  nach  oben  abgerundet). 
Wie  sich  die  Ausgaben  auf  die  einzelnen  Posten  ver- 
teilen, können  wir  aus  den  Zusammenstellungen  entnehmen, 
die  der  Herausgeber  in  dankenswerter  Weise  gemacht  hat. 


Die  Fürstenhöfe  85 

Von  der  Gesamtsumme  wurdeu  z.  B.  verwandt: 

für  Ankäufe   in  den  Manufakturen  und  von 

Händlern 1  730  20G  1.  10  s.  2  d. 

„    Ankäufe  in  der  Man.  des  Gobelins  (Möbel)  4  041068  ,,     2  „  7   „ 

„    große  Silberschmuckstücke 2  245  289  „  14  „  10   „ 

„    Ankauf  von  Marmor,  Blei  und  Zinn.    .  3  790  446  „  16  „  2   „ 

Die  eigentlichen  Bauarbeiten  sind  für  die  erste  P^poehe 
(1664—1680)  im  einzelnen  in  der  Gesamtsumme  angegeben 
und  weisen  folgende  Beträge  auf  (für  die  Schlösser  Versailles, 
Louvre  und  Tuilerien,  St.  Germain,  Foutainebleau,  Vincennes, 
Trianon,  Clagny  und  Marly): 

Maurerarbeiten 17  300  995  1.    8  s,  Id.' 

Zimmerarbeiten 2  334  108  .,  11   „  2   „ 

Dachdeckerarbeiten 826 148  „  10   .,  5   „ 

Bleiarbeiten  (Plomberie) 2  268  087  „  19   „  7   „ 

Schlosseraibeiten 1878  242  „     8   „  4   „ 

Tischlerarbeiten 2  087  541  „     5   „  10   „ 

Malerarbeiten 2  877  875  „  16   „  3   „ 

Bildhauerarbeiten 2  041321  „  11    „  6   „ 

Glaserarbeiten 289  524  „  11   „  11    „ 

Fußbodenarbeit  (Pave) 729  738  „  16   „  10   „ 

Gartenarbeit 2  306  003  „  19   „  1   „ 

Erdarbeiten  (fouilles) 3  791  064  „  18  „  9   „ 

Verschiedenes 350 104  „  12   „  —   „ 

Außerordentliche  Ausgaben  (Parties  extra- 

ordinaires) 4  456  733  „    6   „  9  „ 

Insgesamt  1664—1680    43  537  491  1.  16  s.  6  d. 

Das  Silbergeschirr,  das  der  französische  Hof  besaß ^'^, 
wurde  1689  und  1709  größtenteils  eingeschmolzen:  1689  ergab 
es  82322  Mark  5  unz.  9  gr. ,  was  einem  Münzwert  von 
2505  637  1.  4  s.  9  d.  gleichkommt. 

Welcher  Reichtum  und  welche  Pracht  in  den  Möbeln  der 
königlichen  Schlösser  zur  Entfaltung  kamen,  ersehen  wir  jetzt 
aus  den  Veröffentlichungen  der  Inventare,  die  auch  mit  Ab- 
bildungen reichlich  geschmückt  sind^^  Eine  Auszählung 
ergibt  beispielsweise,  daß  allein  an  vollständigen  großen  ge- 
webten    Wandbehängen     (tentures     compl^tes)    334    in    den 


gß  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

Schlössern  Ludwigs  XIV.  vorhanden  waren,  die  aus  2600 
Teppichen  und  140  Einzelstücken  bestanden,  daß  aus  der 
Mauufactures  des  Gobelins  822  Stücke  oder  101  Wandbehänge 
(tenture)  dorthin  geliefert  waren. 

Einige   Aufträge    aus  dem   Jahre  1669   zeigen   den   Luxus,    der  in 
Möbelstoffen  getrieben  wurde  ^^a: 
An  die  Herren  Duc  &  Marsollier,  Kaufleute,  für 

64  Ellen  Gold-  und  Silberbrokat,  zu  138  1.  10  s. 

die  Elle,  und  für  44  Ellen  Gold-  und  Silber- 
Silberbrokat  ponceau  und  grün,  die  Elle  zu  133 1. 

5  s.,  die  sie  Sr.  Majestät  geliefert  haben  .    .     .    16  545  1.  5  s. 

An  dieselben  für  Brokate  aus  Lyon 22  155  „ 

An  dieselben  70701.,  nämlich:  4090  1.  für  62  Ellen 

Gold-  und  Silberbrokat,  violetter  Fond,  lyoneser 

Fabrikat,  zu  66  1.  die  Elle,  und  2979  1.  10  s,  für 

259  Ellen   karmoisinroten  Damast,    touroneser 

Fabrikat,  die  Elle  zu  11  1.  10  s. 
An  Herrn  Reynon  für  Gold-  und  Silberbrokat  .     .    70  716  1.  18  s.  11  d. 
AnHerrnMarcelinCharlier  für  Samte  und  Brokatelle      5  572  „     5  „ 

Den  Einrichtungen  der  Schlösser  entsprach  der  Glanz 
der  Gewänder,  die  in  diesen  zur  Schau  getragen  wurden. 
Man  lese  die  Schilderungen  der  Feste  im  „Mercure  galante", 
wo  ein  L.  P.  des  17.  Jahrhunderts  jede  einzelne  Toilette  der 
Hofgesellschaft  ausführlich  beschreibt  1^^  Ludwig  selbst  trug 
ein  Gewand,  das  für  14  Millionen  Fr.  Brillanten  enthielt. 

Als  Ludwig  XIV.  eines  Tages  die  in  Paris  angelegte  Spitzen- 
manufaktur besichtigte,  kaufte  er  für  22000  1.  Spitzen  ein^^ 

Der  Kleiderluxus  am  französischen  Hofe  steigerte  sieh 
während  des  18.  Jahrhunderts  unausgesetzt  weiter  und  er- 
reichte einige  Jahre  vor  der  Revolution  seinen  Höhepunkt. 
Wir  sind  genau  unterrichtet  über  den  Kleideretat  der  Marie 
Antoinette^^a; 

Im  Jahre  1773  betrug  das  Garderobengeld  der  damaligen 
Kronprinzessin  120000  1.  Diese  Summe  blieb  wohl  auch 
später  gleichsam  das  Ordinarium,  das  aber  Jahr  für  Jahr 
durch  größere  Summen  überschritten  wurde.  Die  Ausgabe 
für  Toiletten  beträgt: 


Die  Fürstenhöfe 

1780    . 

.     .     .     194118  1.  17  s 

1781    . 

.     .     .     151290  „     3  „ 

1782    . 

.     .     .     199509  „     4  „ 

1787     . 

.    .     .    217187  „  -  „ 

87 


Vou  da  ab  gehen  die  Ausgaben  zurück. 


Und  das  Weibeben?  Hat  es  Anteil  —  und  welchen?  — 
an  dieser  raschen  Steigerung  der  Luxusausgaben?  Bei  den 
italienischen  Fürsten ,  bei  den  französischen  Valois  braucht 
man  nicht  lange  zu  fragen:  man  weiß,  daß  sie  nur  den  Frauen 
zu  Liebe  lebten.  Aber  Ludwig  XIV.,  der  doch  recht  eigentlich 
erst  den  Luxus  ganz  großen  Stiles  schafft:  ist  es  bei  ihm 
nicht  viel  eher  Machtdünkel  und  Prunksucht,  die  ihn  beherrschen 
und  zur  Luxusentfaltung  Anlaß  geben?  Nein:  gerade  bei 
Ludwig  XIV.  können  wir,  ich  möchte  sagen,  aktenmäßig  den 
Einfluß  seiner  Geliebten  auf  die  Gestaltung  seines  äußeren 
Lebens  verfolgen :  die  Liebe  zur  La  Valliöre  hat  Ludwig  XIV. 
zur  Erbauung  von  Versailles  getrieben:  auf  seines  Vaters 
kleinem  Jagdschloß  von  Versailles  hatte  er  die  ersten  Rendez- 
vous mit  ihr  gehabt:  „Dort  auf  dem  Waldhügel  sollte  die 
Geliebte  ihres  Herrn  Zauberschloß  aufsteigen  sehen."  Mit 
der  Liebe  zur  La  Valliere  beginnen  die  großen  Feste  am  Hofe : 
die  Aufführungen  von  Ariosts  Zaubergeschichten,  les  plaisirs 
de  rtle  enchantöe,  worin  der  König  den  Roger  spielte.  Von 
1674—1680  wird  das  Schloß  von  Clagny,  das  2  Mill.  Fr. 
kostet,  errichtet:  die  Caprice  einer  Favoritin.  Und  immer, 
wenn  eine  neue  Geliebte  Ludwigs  Herz  gefangen  nimmt,  bricht 
eine  neue  Flut  von  Luxus  hervor:  eine  ist  immer  verschwen- 
derischer als  die  andere  bis  zu  der  M^le  Fontanges,  die  die 
Goldstücke  durch  alle  Fenster  schleuderte,  die  monatlich 
100000  6cus  verbrauchte  und  sich  wunderte,  als  man  dies 
Verschwendung  nannte.  Daß  der  französische  Hof  im  18.  Jahr- 
hundert  ganz   von   den   Maitressen   beherrscht  und  das  Hof- 


38  Viertes  Kaiptel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

leben  vou  ilmen  bestimmt  wird,  ist  bekannt.  M^e  de  Pompadour 
wird  mit  ihrem  Geschmack  zur  Beherrscherin  der  gesamten 
Lebensgestaltung:  „Nous  ne  vivons  plus  que  par  M™^  de  P. 
Carosses  k  la  P.,  habits  en  drap  couleur  ä  la  P.,  ragoüts  ä  la 
P.,  chemin6es,  miroirs,  tables,  sophas,  chaises  ä  la  P.,  even- 
tails,  6tuis,  curedents  ä  la  P."  schreibt  ein  Zeitgenosse. 

]\Ime  de  Pompadour  ist  die  Vertreterin  der  gesamten  Kultur 
des  Ancien  regime,  sie  ist  vor  allem  auch  die  Vertreterin  des 
Geschmacks  und  der  äußeren  Lebensgestaltung.  Sie  greift 
persönlich  in  den  Gang  des  "Wirtschaftslebens  ein,  um  dieses 
in  ihrem  Sinne  zu  gestalten.  Sie  ernennt  ihren  jungen  Bruder, 
den  sie  zum  Marquis  de  Marigny  gemacht  hat,  zum  General- 
direktor aller  Bauten,  Gärten,  Künste  und  Manufakturen, 
nachdem  sie  ihn  zum  Studium  vorher  nach  Rom  geschickt 
hatte.  M™e  de  Pompadour  baut  Schlösser  nach  ihrem  Willen: 
das  Petit-Chäteau,  das  von  Bellevue,  dem  sie  le  Taudis 
(Brimborion)  anfügte.  Sie  verschönerte  Choisy.  Sie  zeichnet 
selbst  den  Plan  der  Galerie  des  Schlosses  von  Bellevue,  das 
Vanloo,  Boucher,  Brunetti  mit  ihrem  Pinsel  ausschmücken 
und  für  das  Couston  das  Standbild  Ludwigs  XV.  meißelt. 
Dort  gibt  sie  prächtige  Feste,  für  die  sie  die  Kostüme  vor- 
schreibt, die  ihre  Gäste  tragen  sollen,  und  die  sie  ihnen  zum 
Geschenk  macht.  Ein  solches  Kostüm  kostete  14000  1.  Sie 
gab  600452  1.  für  die  Gästewäsche  im  Schlosse  von  Choisy 
aus.  Und  ihr  gesamter  Verbrauch  erreichte  Summen,  über 
die  niemals  eine  Königin  verfügt  hat.  Sie  gibt  in  den 
19  Jahren  ihrer  Herrschaft  für  ihre  persönlichen  Bedürfnisse 
nachweislich  36327  268  1.  aus^*. 

Der  Marquise  de  Pompadour  steht  die  Comtesse  Du  Barry 
nicht  nach.  Nach  der  gewissenhaften  Berechnung  Le  Rois 
verzehrt  sie  seit  dem  Augenblicke  ihres  Emporstiegs 
12481803  1.  11  d.  Davon  entfallen  6427  803  1.  11  d.  auf 
die  Zahlungsanweisungen ,  die  sie  während  der  Jahre  ihrer 
Herrschaft  (1769 — 1774)  für  den  Bankier  Baujon  ausschreibt: 


Die  Fürstenhöfe  89 

der  Abb6  Terray  hatte  bekanntlich  durchgesetzt,  daß  die 
Schecks  der  Favoritin  als  „bous  du  Roi"  von  dem  Hofbankier 
jederzeit  honoriert  würden. 

Marie  Antoiuette  ist  dann  die  letzte  Grande  Cocotte,  die 
über  den  französischen  Hof  herrscht  und  für  die  weitere 
Steigerung  der  Luxusausgaben  (bis  in  den  Anfang  der  1780er 
Jahre  hinein)  Sorge  trägt;  die  Ziffern,  die  ich  oben  mitteilte, 
legen  deutlich  Zeugnis  dafür  ab,  daß  man  auch  als  legitime 
Königin  sehr  wohl  in  den  Bahnen  der  großen  Maitressen 
wandeln  kann.  Man  darf  auch  nicht  vergessen,  daß  Marie 
Antoinette  in  ihren  glücklichsten  Jahren  (als  Kronprinzessin) 
die  gefährliche  Konkurrenz  der  Du  Barry  und  ihres  Anhangs 
zu  bestehen  gehabt  hat. 

Eine  unschätzbare,  wertvolle  Quelle,  um  die  Liixusentfaltung  durch 
das  Weibchen  im  ausgehenden  Zeitalter  des  Frühkapitalismus  sich  zum 
Verständnis  zu  bringen,  sind  die  vollständig  erhaltenen  Rechnungen  der 
M™e  (iu  Barry  (aus  denen  wieder  mehr  nationalökonomische  Erkenntnis 
zu  srhöpfen  ist  als  aus  einem  Dutzend  ewig  gleicher  Publikationen  von 
Zunftordnungen  oder  Regierungserlassen!). 

Hier  sind  einige  Stellen  daraus: 

Die  Summen,  die  Baujon  auf  die  Anweisungen  der  Favoritin  aus- 
zahlte, fanden  folgende  Verwendung: 

I 

Goldschmiede 313  328  1.  4  s. 

Juweliere  (Jouailliers)     ...  1  808  635  „  9  „ 

dgl.       (Bijoutiers)   .     .     .     .  158  800  „  —  „ 

2  280  763  1.  13  s. 
II 

Seidenwaren 389  810  1.  15  s. 

Spitzen 215  988  „  6  „ 

Modes 116  818  „  5  „ 

Kurzwaren .  35  443  „  14  ., 

758  061  1.  —  s.  3  d. 
III 

Möbel 24  398  1.  18  s. 

Gemälde,  Vasen ....    .    .       91519  „  19  „ 

115  918  1.  17  d. 


90  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

IV 

Schmiede 60  322  I.  10  s. 

Sticker  (brodeurs)    .    .     .    .     .    471  178  „  —  „ 

531  500  1.  10  s. 

V 

Equipagen 67  470  1.     1  s. 

Pferde 57  347  „  —  „ 

Fourrages .        6  810  „  —  „ 

131627  1.    1  s. 

VI 

Vergolder 78  026  1.  —  s. 

Bildhauer 95  426  „  —  „ 

Vergolder  (nochmals)  ....      48875  „  12  „    6  d. 

Gießer  (fondeurs) 98  000  „  —  „  —  „ 

Marmorarbeiter 17  540  „     8  „  10  „ 

Tischler  und  Schlosser    .     .     .      32  240  „     8  „  —   „ 

370  108  1.    9  s.    4  d. 

VII 
Frühere  Arbeiten  in  Luciennes     111475  1.    6  s.    9  d. 

Gartenanlagen 3  739  „  19  „  —  „ 

Neue  Arbeiten 205  638  „  16  „    8   „ 

Gartenanlagen     .     .    .    .    .     .        3  000  „  —  „  —   „ 

323  854  1.     2  s.    5  d. 

(Die  übrigen  Ausgabeposten  sind  persönlicher  Natur:  Geschenke 
usw.,  und  interessieren  uns  hier  nicht.) 

Einzelne  besonders  kostbare  Luxusgegenstäude  weisen  folgende 
Preise  auf: 

eine  Staatstoilette  aus  weißem  Samt  kostet.     .    .    12  000  1., 

die  Garnierung  einer  andern 10  500  „ 

andere  Toiletten  kosten  9000  1.,  5840  1.,  2400  1.,  7600  1.  usw. 

Ein  Ameublement  von  12  Fauteuils  kostet  7200  1.,  eine  Ottomane 
dazu  2400  1.  Das  Bett  in  Luciennes  kostet  5945  1.  Eine  Uhr  kostet 
5400  1.,  eine  Tabaksdose  576  1.,  15  Kaffeeservietten  aus  Mousselin  2251.; 
ein  Goldrahmen  um  ein  Porträt  der  Frau  Gräfin  (es  ist  das  bekannte, 
das  sie  als  Muse  darstellt)  kostet  2250  1. 

Besonders  kostspielig  sind  auch  in  diesem  Haushalt  die  Porzellan- 
sachen: ein  Sevresservice  kostet  21438  1.,  ein  anderes,  das  die  Komtesse 
ihrem  Schwager  schenkt,  4856  1. 

Ein  Gobelin,  erfahren  wir,  kostete  die  Geviertelle  488  1.  5  s.,  also 
beispielsweise  Vanloos  Neptun  und  Amimonne  3534  1.  14  s.  5  d.,  Bouchers 
Venus  und  Vulkan  ebensoviel. 


Die  Fürstenhöfe  91 

Die  Origiiiiilrcchnungen  findet  man  nnter  den  Mss.  der  National- 
bibliothek Suppl.  franc-.  8157,  8158.  Sie  sind  in  der  Hauptsache  ver- 
öffentlicht von   den  üoncourts  im  Anhang  zu  ihrem  Buche   über  die 

Du  Barry. 

*  * 

* 

Eine  kurze  Zeitspanne  hindurch  hat  der  Glanz  am 
spanischen  Hofe  vielleicht  den  der  französischen  Hofhaltung 
in  den  Scliatten  gestellt:  sagen  wir  von  der  Erschließung  der 
Silberminen  Potosis  und  Guanaxuatos  an  bis  in  die  Regierungs- 
zeit Philipps  IV.  hinein  war  Madrid  der  Schauplatz  einer 
unerhörten  Prachtentfaltung,  und  der  spanische  Stil  wurde, 
wie  man  weiß,  seitdem  vielfach  zum  herrschenden.  Die  Ein- 
nahmen ,  auf  denen  diese  jjompöse  Lebensgestaltung  ruhte, 
waren  noch  unter  Philipp  III.  bedeutend.  Nach  den  Schätzungen 
des  venetianischen  Gesandten  Tomaso  Contarinis  betrugen  sie 
16  Mill.  Duk.  (also  etwa  150  Mill.  Fr.).  Die  Richtigkeit 
dieser  Schätzung  wird  bestätigt  durch  die  Ergebnisse  einer 
Untersuchung,  die  Heinrich  IV.  anstellen  ließ  (um  die  Hilfs- 
quellen seines  Gegners  zu  erforschen);  diese  ergab  eine 
(Netto-)Einnahme  von  15  658000  Duk.,  während  noch  etwa 
5  Millionen  bei  den  Vizekönigen,  Steuereinnehmern  usw.  hängen 
blieben.  Freilich:  ein  recht  erheblicher  Teil  dieser  Summe 
diente  zur  Verzinsung  der  Staatsschuld  (die  aber  natürlich 
auch  im  wesentlichen  der  Luxusentfaltung  zugute  kam,  wie 
wir  noch  sehen  werden).  So  daß  nach  einer  Aufstellung  des 
Grafen  Lerma  vom  Jahre  1610  nur  4487  350  Duk.  zur  Ver- 
fügung des  Königs  blieben,  von  denen  nicht  ganz  eine  Million 
für  die  Hofhaltung  verwandt  wurde  **^. 


Hinter  Frankreich  und  Spanien  folgt  (in  Westeuropa)  un- 
mittelbar England.  Hier  bildet  den  Höhepunkt  des  höfischen 
Glanzes  die  Regierungszeit  der  Stuarts,  die  ja  in  den  fran- 
zösischen Königen  ihr  Vorbild  sahen.  Wir  haben  einen  Ab- 
glanz von  der  Pracht  des  Hofes  unter  diesen  Fürsten  in  den 


92  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

Bildern  Vau  Dyks,  Peter  Lelys,  Huysmans,  die  uns  die  gecken- 
haften Männer  und  die  schönen  stolzen  Frauen  in  den  herr- 
lichen Brokat-  und  Atlasgewändern  mit  den  schweren  Barock- 
falten gemalt  haben.  Die  Schilderungen  der  Zeitgenossen, 
wie  sie  etwa  das  Journal  von  Pepys  enthält,  entsprechen  sehr 
wohl  dem  Bilde  satter  Lebensfreudigkeit,  das  die  Gemälde  dieser 
Künstler  in  uns  wachrufen.  Es  gemahnt  uns  an  den  großen 
Ludwig,  wenn  wir  von  Karl  L  hören,  der  24  Schlösser  so 
vollständig  ausstattete,  daß  er  aus  einem  in  das  andere  reisen 
konnte,  ohne  sich  mit  Gepäck  zu  belasten,  oder  von  Jakob  L, 
der  für  die  Hochzeit  seiner  Tochter  93278  SS  ausgibt, 
während  wir  dann  wieder  den  Abstand  gegen  Frankreich  ge- 
wahr werden,  wenn  wir  von  Karl  IL  erfahren,  wie  er  weh-  und 
demütig  dem  Hause  der  Gemeinen  das  Versprechen  ablegt, 
in  Zukunft  weniger  verschwenderisch  zu  sein  als  bisher,  da- 
mit er  mit  seiner  Zivilliste  endlich  einmal  reichen  möge. 
Der  respektable  Bürger  mag  in  solchen  Augenblicken  Morgen- 
luft gewittert  haben:  eine  neue  Welt,  die  Welt,  in  der  der 
Geist  der  auskömmlichen  Wohlanständigkeit  herrschen  sollte, 
kündigte  sich  an.  Aber  auch  der  Oranier  liebte  den  Glanz 
an  seinem  Hofe®^,  und  das  Haus  Hannover  hat  in  seinen 
beiden  ersten  Vertretern  ihnen  nachgeeifert. 

Die  Summen,  über  die  die  englischen  Könige  verfügten, 
reichen  nicht  an  diejenigen  heran ,  die  Ludwig  XIV.  dem 
Lande  abpreßte ;  sie  waren  immerhin  für  jene  Zeiten  ansehn- 
lich genug  und  stellen  eine  recht  erhebliche  Nachfrage  nach 
Luxusartikeln  dar. 

Im  Jahre  1549  betrugen  die  Ausgaben  für  den  könig- 
lichen Haushalt  100000  £ ,  schon  fünfmal  soviel  als  unter 
Heinrich  VII.  In  den  nächsten  beiden  Menscheualtern  ver- 
fünffachten sich  diese  Ausgaben  noch  einmal.  Nach  der 
Restauration  erhielten  die  Könige  eine  Zivilliste  bewilligt, 
und  seitdem  können  wir  ihren  Aufwand  ziffernmäßig  genau 
verfolgen".     Die   1200  000  ^,    die   für   Karl  IL   ausgesetzt 


Die  Fürstenhöfe  93 

wurden,  sind  freilich  nie  ganz  bezahlt  worden,  so  daß  der 
arme  Karl,  der  soviel  brauchte,  immerfort  in  Geldnöten  lebte. 
Sein  Etat  für  1675/76  war  auf  462115  £  in  der  Ausgabe 
bemessen  worden. 

Wilhelm  III.  hat  während  seiner  Regierungszeit  vom 
5.  November  1688  bis  25.  März  1702  insgesamt  £  8880506 
—  2  —  9  für  seinen  und  seines  Hofes  Bedarf  verausgabt; 
Queen  Anne  in  den  folgenden  12  Jahren  7  604848  £  im  Jahres- 
durchschnitt also  586  000  £  (während  ihre  Zivilliste  700000  £ 
betrug,  von  einem  (lesamt-[Friedens-]Budget  von  1965  605  £,). 
Die  Zivilliste  unter  den  beiden  ersten  Georgs  schwankt 
zwischen  8  und  900  000  ,^,  sie  steigt  mit  Georg  III.  auf 
923196  £, 

Daß  auch  in  England  der  Luxus  am  Hofe  ein  Luxus  der 
Maitressen  und  für  die  Maitresseu  war,  lehrt  die  intime  Ge- 
schichte dieses  Hofes.  Seit  es  einen  Hof  in  England  gibt, 
gibt  es  auch  Königslieben,  von  deren  Neigung  zur  Pracht- 
entfaltung und  zum  Wohlleben  wir  sehr  gut  unterrichtet  sind. 
Wir  erinnern  uns  der  Barbara  Palmer,  der  Keroualle  (der 
Ludwig  XIV.  selbst  den  Hof  macht,  als  sie  nach  Paris  kam, 
so  daß  man  von  ihr  wohl  mit  Recht  gesagt  hat,  ihr  seidenes 
Taillenband  habe  15  Jahre  lang  England  und  Frankreich  zu- 
sammengehalten); wir  erinnern  uns  der  Gatherina  Sedley, 
der  Baronin  von  Darlington,  der  Gräfin  von  Dorchester  und 
so  mancher  anderen  Amante  en  titre  der  Stuarts ;  wissen  aber 
auch,  daß  sich  der  zum  Könige  gewählte  Kurfürst  von  Han- 
nover Georg  Ludwig  seine  Geliebten  gleich  mitbrachte,  die 
er  dann  in  England  zur  Grätin  von  Arlington  und  Herzogin 
von  Kendel  machte;  daß  selbst  Georg  IL  seinen  Bedarf  an  Mai- 
tressen aus  Anhänglichkeit  an  die  alte  Heimat  noch  in  Han- 
nover deckte,  und  daß  er  eine  Frau  von  Wallmoden  in  eine 
Gräfin  von  Yarmouth  umwandelte. 


94  Viertes  Kapitel:   Die  Entfaltung  des  Luxus 

Die  ganz  ähnlichen  Verhältnisse  an  den  deutschen  Fürsten- 
höfen, unter  denen  Sachsen,  Hannover,  Württemberg  die 
luxuriösesten  waren ,  oder  auch  in  den  östlichen  Ländern  zu 
schildern,  hat  keinen  Zweck,  da  diese  Höfe  für  den  Gang  der 
wirtschaftlichen  Entwicklung  längst  nicht  die  entscheidende 
Bedeutung  erlangt  haben  wie  die  der  westlichen  Staaten. 

Besonders  hervorheben  will  ich  nur  die  Aufwendungen  für 
Porzellan,  dessen  Herstellung  seit  Anfang  des  18.  Jahrhunderts 
auch  in  Europa  gelang  und  Veranlassung  zu  einer  der  ersten 
großen  Industrien  wurde:  dank  vor  allem  der  massenhaften 
Bestellungen,  zu  denen  geradezu  ein  Wahnsinn  die  Fürsten 
trieb.  Man  lese  etwa  die  folgende  Bestelliste  des  sächsischen 
Hofes  vom  25.  Februar  1732  88: 

„Specificatio,    was   in    dem   kgl.    holl.   Palais   zu  der  neuen 
forderen  Gallerie  in  der  Oberen  Etage  von  Porcellain  erfordert 

wird  .  .  ." 
30  Aufsätze  Stücken  von  6  Garniduren 
266  einzelne  Vasen  differenter  Facon 
198  Stück  allerhand  groß  und  kleine  Thiere 
198  dgl.  .  .  .  Vögel 
48  Terrinen  mit  Deckel 
170  Stück  Schüsseln 
910  Stück. 
Aber  auch  der  arme  Preußenkönig  bestellt  für  283679  Tlr. 
4  Gr.  Porzellan  bei  der  Meißener  Manufaktur. 

III.  Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen 

Der  Luxus,  den  der  Hof  trieb,  verbreitete  sich  allmählich 
über  alle  die  Kreise,  die  ihr  Ideal  im  Hofe  erblickten  oder 
mit  dem  Hofe  irgendwie  in  Beziehung  standen;  das  waren 
aber,  wie  wir  getrost  sagen  können,  alle  reichen  Leute,  die 
nun  von  demselben  Streben  nach  weltlichem  Glänze  ergriffen 
wurden,  wie  es  die  höfischen  Kreise  beherrschte.    Wir  können 


Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen  95 

genau  verfolgen ,  wie  geradezu  ein  Zwang  zum  Luxus  vom 
Könige  ausging,  namentlich  von  Ludwig  XIV.,  von  dessen 
Einfluß  auf  die  Gesellscliaft  uns  ein  in  diesen  Fragen 
gewiß  einwandfreier  Augenzeuge  wie  folgt  berichtet:  „II 
aima  en  tout  la  si)lendeur,  la  magnificence,  la  profusion ,  il 
la  tourna  en  maxime  par  politique  et  il  l'inspira  ä  toute  sa 
cour.  C'^tait  lui  plaire  que  de  s'y  jeter  en  tables,  en  habits, 
en  ^quipages,  en  batiments,  en  jeu  .  .  .  C'est  une  plaie  qui, 
une  fois  introduite,  est  devenu  le  Cancer  Interieur  qui  ronge 
tous  les  particuliers,  parce  que  de  la  cour  il  s'est 
promptement  communiqu^  k  Paris,  dans  les  provinces  et  les 
arm6es,  oü  les  gens  en  place  ne  sont  contös  qu'  en  proportion 
de  leur  table  et  de  leurs  magnificences  .  .  ,  Par  la  folie  des 
gens,  eile  va  toujours  croissant;  les  suites  en  sont  infinies, 
et  ne  vont  ä  rien  qu'  ä  la  ruine  et  au  renversement  gönöral." 
Saint   Simon,  M6m.   t.  VIII  de  l'öd.  Hachette,  p.  125/26. 

Man  schaute,  zumal  in  Frankreich,  zu  dem  Könige  auf 
wie  zu  einem  Gotte:  Ludwig  wurde  zum  arbitre  du  goüt  für 
Paris:  —  „Paris  —  pour  l'ordinaire  singe  de  la  cour"  meint 
La  Bruyere  — ;  für  die  Provinz;  für  Europa.  W^ie  Man- 
sart  baute,  wie  Le  Notre  die  Gärten  anlegte,  wie  Lebrun  die 
Möbel  zeichnete,  wie  Rigaud  malte:  so  wollte  jeder,  dem  die 
Mittel  es  erlaubten,  seine  Häuser  bauen,  seine  Gärten  anlegen, 
seine  Einrichtung  gestalten,  sich  malen  lassen.  Man  weiß  es  ja. 

Aber  der  Prozeß  der  Verweltlichung  hätte  sich  gewiß 
nicht  so  schnell  vollzogen,  die  Entfaltung  des  Luxus  wäre 
nicht  in  so  kurzer  Zeit  ins  Unermeßliche  gewachsen,  wenn 
neben  dem  Hofe  nicht  ein  anderer  wichtiger  Quell  auf- 
gesprungen wäre,  aus  dem  in  breitem  Strom  Genußsucht, 
Lebensfreudigkeit  und  eitler  Pruuksinn  sich  über  die  W^elt 
ergossen  hätten :  wenn  nicht  ein  ganz  intensives  Luxus- 
bedürfnis bei  den  Nouveaux  riches,  deren  Werdegang  wir 
kennen  gelernt  haben ,  wie  eine  verheerende  Krankheit  aus- 
gebrochen  wäre.      Ihren   Eintluß   auf  die   Umgestaltung   des 


90  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

Lebensstils,  vor  allem  ilire  Mitwirkung  bei  der  quantitativen 
Ausweitung  des  Luxusbedarfs,  müssen  wir  nun  verfolgen. 


Es  ist  eine  Erscheinung,  die  in  unserm  Kulturkreise 
immer  wiederkehrt,  daß  Leute  aus  dem  Volke,  die  schnell 
zu  Reichtum  kommen,  diesen  Reichtum  vorwiegend  zu  Luxus- 
zwecken verwenden.  Und  die  Zusammenhänge,  die  dieser 
Erscheinung  zugrunde  liegen,  lassen  sich  unschwer  feststellen: 
es  ist  auf  der  einen  Seite  die  Unfähigkeit  der  natürlichen 
und  rohen  Menschen,  dem  Leben  andere  Freuden  als  materielle 
abzugewinnen,  wie  sie  vor  allem  aus  einer  reichen  Aus- 
stattung mit  Genußgütern  fließen;  sie  ist  auf  der  andern  Seite 
der  brennende  Wunsch,  sich  neben  der  durch  Vornehmheit 
abgeschiedenen  Gesellschaft  eine  geachtete  Stellung  zu  er- 
obern, was  den  reich  gewordenen  Krämer  oder  Lakaien  zur 
Luxusentfaltung  antreibt.  (Wenn  er  nicht  den  entgegengesetzten 
Weg,  auf  dem  wir  ihn  ein  anderes  Mal  verfolgen  werden, 
einschlägt  und  „geizig"  wird.)  Die  beiden  Triebkräfte,  die 
allen  Luxus  erzeugen:  Ehrgeiz  und  Sinnenfreude  sind  hier 
gemeinsam   am  Werke,    um  den  Protzenluxus  zu  entwickeln. 

Und  deshalb  wird  in  der  Geschichte  der  Weg  des  Reich- 
tums durch  ebensoviele  Etappen  der  Luxusentfaltung  be- 
zeichnet: von  dem  ersten  Auftauchen  bürgerlicher  Empor- 
kömmlinge an. 

Diderot  hat  sicher  nicht  richtig  beobachtet,  wenn  er 
die  Meinung  äußerte,  daß  die  reichgewordenen  Knoten  früher 
bescheiden  im  Verborgenen  gelebt  und  erst  zu  seiner  Zeit 
ihre  Reichtümer  zur  Schau  gestellt  hätten;  wenn  er  sogar 
denjenigen  glaubt  mit  Namen  nennen  zu  können,  der  als 
einer  der  ersten  mit  seinem  Reichtum  durch  Luxusentfaltung 
geprotzt  habe:   Bonnier. 

Zu  Dantes  Zeit  begegnen  wir  schon  den  verschwenderi- 
schen Knallprotzen :  wie  jenem  Giacomo  da  Sant  Andrea,  der 


Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen  97 

silberne  und  goldene  Geräte  in  den  Fluß  warf  oder  Gebäude 
in  Brand  setzte,  um  die  festliche  Stimmung  zu  erhöhen,  gab 
es  eine  Menge,  die  ähnlich  lebten  und  eine  ganze  Gesell- 
schaft von  Verschwendern  bildeten^'':  die  brigata  godericcia 
oder  spendericcia. 

„La  geute  nuova  e  i  subiti  guadagni 
Orgoglio  e  dismisura  han  generato 
Fiorenza  in  te,  &i  che  tu  giä  ten  piangi" 

(Inf.  16,  73—75) 

zitiert  ja  schon  jeder  „Historiker"  von  Florenz. 

Nicht  einmal  für  Frankreich  hatte  Diderot  recht. 
Oder  sollen  wir  den  Jacques  Coeur  im  15.  Jahrhundert,  den 
reich  gewordenen  Geldgeber,  der  Palais  in  Paris,  Lyon,  Tours  und 
sieben  anderen  Orten  besaß,  sollen  wir  die  Semblangay,  sollen 
wir  Thomas  Bohier,  den  Erbauer  von  Chenonceaux  im  16.  Jahr- 
hundert nicht  zu  den  Protzen  rechnen?  Wollen  wir  vor  allem 
die  reichgewordene  Kanaille  des  17.  Jahrhunderts,  die,  wie 
Ludwig  XIV.  selbst  sagte,  einen  „frechen  Luxus"  trieb, 
vergessen?  Die  Ludwig  in  den  Mund  gelegten  Worte  sind 
außerordentlich  lehrreich;  er  spricht^"  von  „Gens  d'affaires, 
qui  d'un  cöt6  couvraient  leurs  malversations  par  toutes  sortes 
d'artifices  et  les  decouvraieut  de  l'autre  par  uu  luxe  in- 
solent et  audacieux.  comme  s'ils  eussent  craint  de  me  les 
laisser  iguorer  (!)". 

Schließlich  gehört  doch  auch  Fouquet,  der  Obergauner,  zu 
dieser  Sorte;  er,  der  20 — 30  Millionen  Francs  für  Luxus- 
zwecke vergeudete  (davon  allein  18  Millionen  Francs  für  sein 
Schloß  in  Vaux),  wie  uns  Colbert  (der  übrigens  selbst  keines- 
wegs den  Aufwand  großen  Stils  verschmähte)  mit  Entrüstung 
in  seiner  Denkschrift  über  Fouquet  vorrechnet. 

Den  innigen  Zusammenhang,  der  zwischen  dem  Empor- 
kommen der  Roture  und  der  Ausweitung  des  Luxusbedarfs 
besteht,  können  wir  ganz  genau  verfolgen,  wenn  wir  uns  die 
Etappen  gegenwärtig  halten,  in  denen  die  Leute,  „quos  virtus 

Sombart,  Luxus  und  Kapitalismus  7 


9g  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

aut  Fortuna  e  faece  hominum  extulit**^",  in  größeren  Mengen 
auftauchen.  Diese  Etappen  bilden  ebensoviele  Schichten  in 
dem  Aufbau  des  modernen  Luxus:  in  dem  wir  also  ebenso 
wie  in  der  Geschichte  des  Reichtums  die  italienische  Epoche 
des  14.  und  15.  Jahrhunderts,  die  deutsehe  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts, die  spanisch-holländische  des  17.  Jahrhunderts  und 
die  französisch-englische  des  18.  Jahrhunderts  unterscheiden 
können. 

Für  unsere  Betrachtung  hat  die  größte  Bedeutung  immer 
der  ungeheure  Ruck,  den  die  europäischen  Völker  seit  dem 
Beginne  des  18.  Jahrhunderts  in  der  Richtung  des  „Wohl- 
standes" und  vor  allem  des  Wohllebens  vorwärts  tun:  in  dieser 
Periode  spielen  die  Richards  schon  eine  sehr  wichtige  Rolle. 
Die  entscheidende  Wandlung  bestand  wohl  eben  darin,  daß  in 
jener  Zeit,  namentlich  seit  1720,  der  Luxus  immer  weitere 
Kreise  ergriff.  Wir  können  das  aus  den  Haushaltungsbüchern 
ersehen,  deren  viele  aus  jener  Zeit  uns  erhalten  sind:  man 
empfindet  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  den  oberen 
Schichten  den  Abstand  gegen  das  17.  Jahrhundert  ebenso 
deutlich  in  den  reichen  Ländern,  wie  wir  Deutsche  etwa  den 
der  heutigen  Zeit  gegen  die  Jahre  vor  1870:  „on  a  bien  de 
la  peine  ä  s'entretenir  aujourd'hui  avec  ce  qui  reste"^^: 
solche  Klagen  (deren  ich  in  einem  anderen  Zusammenhange 
schon  mehrere  angeführt  habe)  begegnen  uns  häufig.  Und 
wir  werden  uns  über  die  darin  zutage  tretenden  Ansichten 
nicht  wundern,  wenn  wir  erfahren,  daß  ein  großer  Teil  der 
großen  Vermögen,  die  in  jener  Zeit  erworben  wurden  (ich  habe- 
einige Proben  von  den  Einkommensverhältnissen  im  18.  Jahr- 
hundert gegeben:  siehe  den  2.  Abschnitt  des  1.  Kapitels),  in 
Luxusausgaben  vertan  wurden.  D'Epinay  gibt  von  1751 — 1755 
1500000  1.  aus.  Roussel  verputzt  12  Millionen,  Dupin  de  Che- 
nonceaux  7 — 8,  Savalette  10,  Bouret  40.  Der  Graf  von  Artois, 
der  Nachbar  des  reichen  Faventen^s,  meinte:  „Je  voudrais  bien 
faire  passer  chez  moi  un  bras  de  ruisseau  d'or  qui  coule  de  son 


Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen  99 

rocher."  „Onnetitplusdecapitaux,"  Man  trieb  vielmehr  „Luxus": 
in  Möbeln,  Bauten,  Kleidern.  Die  Magazine  der  Rue  St.  Honor6, 
die  damals  mit  den  schönsten  Stoffen  Frankreich  und  das 
Ausland  versorgten,  waren  im  Jahre  1720,  als  der  Goldregen 
über  Paris  niederging,  in  wenigen  Tagen  geleert.  „On  n'y 
trouve  plus  de  velours,  d't'toffes  d'or;  mais  on  fabrique  par- 
tout." Duhautchamp,  dem  wir  diese  Schilderungen  ver- 
danken ,  beschreibt  uns  den  Anblick  der  Straßen ,  die  von 
Toiletten  in  den  verschiedensten  Farben,  mit  herrlichen 
Stickereien  geschmückt,  aus  goldenen  und  silbernen  Geweben 
hergestellt,  angefüllt  waren. 


Ein  Punkt,   der  mir  für  die  Entwicklung  der  modernen 
Gesellschaft  von   großer  und  allgemeiner  Bedeutung  zu  sein 
scheint,  ist  nun  die  Tatsache,  daß  die  reichen  Emporkömmlinge, 
die  nichts  besitzen  als  ihren  Mammon,  und  die  keine  andere 
Eigenart  haben,  die  sie  auszeichnen  könnte,  als  die  Fähigkeit, 
mit  ihren  großen  Mitteln  ein  üppiges  Leben  zu  führen;  daß 
diese  Parvenüs  ihre  materialistische  und  mammonistische  Welt- 
auffassung auch  den  alten  vornehmen  Familien  mitteilen,  die 
sie  dadurch  in  den  Strudel  des  Wohllebens  mit  hineinreißen.  Ich 
habe  in  dem  Kapitel  meines  „Modernen  Kapitalismus",  das  von 
der  Vermögensbildung  handelt,  die  Verarmung  des  Adels  als  eine 
der  Quellen  der  Bereicherung   für  die  bürgerliehen  Geldgeber 
angeführt  und  habe  dort  gezeigt,  wie  dieser  Prozeß  der  Verwand- 
lung feudaler  Vermögen  in  bürgerliche  seit  den  Kreuzzügen  un- 
ausgesetzt in  allen  Ländern  Europas  sich  vollzieht.    Hier  muß 
nun  ergänzend  hinzugefügt  werden,  daß  einer  der  häufigsten 
Gründe,  weshalb  die  alten  Geschlechter  verarmen  und  homines, 
quos  fortuna  e  faece  extulit  an  ihre  Stelle  treten,  der  Drang 
gewesen  ist,  jenen  bürgerlichen  Protzen  es  an  Luxusaufwand 
gleichzutun:  diese  Verleugnung  der  alten,  vornehmen  Tradi- 
tionen führte   entweder  zum  wirtschaftlichen  Untergang  der 


IQQ  Viertes  Kapitel:   Die  Entfaltung  des  Luxus 

alteil  Familieu  oder  zu  den  .lionteuses  alliances'  mit  den  reich 
gewordeneu  Finanzbaronen ,  von  denen  wir  ebenfalls  schon 
Kenntnis  genommen  haben :  das  Zwischenglied  in  dieser  Ent- 
wicklung, das  uns  an  dieser  Stelle  interessiert,  war  meist 
die  Verweltlichung,  die  Vermaterialisierung  der  adligen  Ge- 
schlechter. Daß  die  ,Subiti  guadagni'  der  Turcarets  diese 
Wirkung  hervorgebracht  haben  —  und  sie  sind  vor  allem  an 
dieser  Wandlung  schuld,  die  freilich  durch  den  Einfluß  des 
Hofes,  wie  wir  schon  sahen,  unterstützt  wurde  —  das  scheint 
mir.  wie  gesagt,  ein  Ereignis  von  ganz  besonderer  Tragweite 
zu  sein. 

Dieser  verhängnisvollen  Neigung  des  Adels,  mit  den 
Pfeffersäcken  in  der  Luxusentfaltung  Schritt  zu  tun,  begegnen 
wir  in  allen  Ländern  zu  allen  Zeiten,  in  denen  plötzlich  der 
bürgerliche  Reichtum  an  Umfang  zunimmt. 

So  hören  wir  von  Deutschland  im  15.  Jahrhundert  schon : 
„Stutzertum  und  Brutalität  zugleich  wurden  Kennzeichen  des 
Ritters."  Der  Kleiderprunk  wurde  ein  Hauptgrund  seiner 
Verschuldung.  „Von  der  Costlichkeit  der  Cleider  kommt  es 
vil  her,"  äußert  ein  Sittenprediger,  „daß  es  abwärts  get  mit 
dem  Adel  in  deutschen  Landen;  sie  wollen  prunken  als  die 
riehen  Kaufleute  in  den  Städten  tun  .  .  .  aber  sie  haut  das 
Geld  nit,  was  jhene  han  ...  So  kommen  sie  in  große  schulden 
und  verfallen  dem  Wucher  der  Juden  und  Christenjuden  und 
müssen  ihr  Gut  verkaufen  ganz  oder  zum  Teil."  So  verkaufte 
eine  Witwe  von  Heudorf  für  ein  geringes  Geld  das  Dorf 
Göppingen  an  der  Ablach,  um  sich  bei  Gelegenheit  eines 
Turniers  einen  blauen  Sammetrock  anschaffen  zu  können. 

(Wir  erleben  ja  bei  uns  jetzt  erst  das  Ende  dieser  Ent- 
wicklung, durch  die  der  Adel  den  materialistischen  An- 
schauungen der  Roture  unterworfen  ist:  heute  sind  es  die 
letzten  schwächlichen  Versuche  der  paar  letzten  vornehmen, 
alten  Familien,  dem  allgemeinen  mammonistischeu  Zuge  der 
Zeit   zu   entgehen:    es   erscheint    uns   heute   fast  schon   wie 


Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen  101 

Donquichotterie,  wenn  wohlmeinende  Wortführer  des  armen 
Adels  ihre  Standesgenossen  vor  den  Gefahren  des  Luxus 
warnen,  der  die  alte  Anschauung  von  Vornehmheit  wie  Motten 
ein  wollenes  Gewebe  bis  auf  wenige  Fetzen  aufgezehrt  hat.) 
In  Frankreich  beginnt  der  Zersetzungspiozeß  des  Adels 
offenbar  etwas  später.  SuUy,  der,  selbst  ein  Edelmann  von 
altem  Schrot  und  Korn,  seine  Zeit  immer  etwas  zu  schwarz 
sieht,  klagt,  daß  während  der  letzten  Menschenalter  die  rasch 
erworbenen  Vermögen  der  Finanzpächter  und  Geldgeber  ihren 
verheerenden  Einfluß  auf  die  herrschenden  Klassen  zu  üben 
angefangen  hätten.  Seine  denkwürdigen  Worto  mögen  hier 
ihren  Platz  finden,  weil  sie  eine  der  wichtigsten  Wendungen 
der  neueren  Geschichte  in  klassischer  Form  uns  vor  Augen 
stellen  ^^ : 

.,Rien  u"a  plus  contribue  ä  pervertir  parmi  nous  l'idee  de  la  pro- 
Inte,  de  la  simplicitö  et  du  desinteressement  ou  ä  touruer  ces  vertus  ea 
ridicule;  rien  n'a  plus  fortifie  ce  panchant  raalheureux  au  luxe  et  ü  la 
mollesse,  naturel  ä  tous  les  hommes  ,  mais  qui  devient  chez  nous  une 
seconde  natura  par  le  caractere  de  vivacitc,  qui  fait  que  nous  attachons 
tout  d'abord  avec  fureur  ä  tous  les  objets  qu'on  offre  ä  notre  plaisir, 
rien  en  particulier  ne  üegrade  si  fort  la  Noblesse  Francaise  que  ces 
fortunes  si  rapides  et  si  brillantes  des  Traitans  et  autres  geus  d'atfaire; 
par  l'oppinion  trop  bien  fondee ,  qu'elles  ont  repandae,  qu'il  n'y  a 
presque  plus  eu  France  que  cette  voie  pour  parvenir  aux  honneurs  et 
aux  premieres  places,  et  qu'alors  tout  est  oublie,  tout  est  permis." 

Daß  es  im  17.  und  18.  Jahrhundert  mit  der  alten  vor- 
nehmen Gesinnung  in  allen  Ländern  rasch  bergab  ging,  haben 
uns  die  Vorgänge  zur  Genüge  deutlich  gezeigt,  die  ich  im 
3.  Abschnitt  des  1,  Kapitels  dargestellt  habe.  Was  hier  nur 
hervorgehoben  werden  sollte,  war  die  Tatsache,  daß  dieser 
Gesinnungswechsel  dem  großen  Luxusstrome,  den  wir  bis  zu 
seinen  Quellen  verfolgen  wollten,  neue  Wasser  zuführen  mußte. 

* 
Ist    nun    auch    der   Seigneur    vielleicht    erst   durch   den 
Tarvenu   oder  den  Hof  zu  einem  luxuriösen  Leben  verleitet 


102  Viertes  Kapitel:   Die  Entfaltung  des  Luxus 

worden,  so  ist  er  es  doch,  der  dem  Luxus  in  unserer  Periode 
den  Stempel  aufdrückt,  wodurch  jene  Zeit  allen  reich  ge- 
wordeneu Schweinemetzgern  und  Geldmenschen  zum  Trotz 
sich  als  eine  aristokratische  von  unserer  Zeit  deutlich  abhebt. 
Während  der  ganzen  Zeit:  von  der  Eroberung  Kon- 
stantinopels durch  die  Venetianer  bis  zur  Erfindung  der  drei 
Walzen  Pauls,  trägt  der  Luxus,  können  wir  getrost  sagen,  in- 
sofern ein  einheitliches  Grundgepräge,  als  seine  Natur  höfisch- 
aristokratisch ist.  Vom  Hofe  oder  von  der  Aristokratie 
(die  eine  solche  bleibt  trotz  der  Zufuhr  von  Plebejerblut)  wird 
der  Ton  angegeben:  bald  mehr  vom  Hofe,  wie  im  17.  Jahr- 
hundert (Frankreich),  bald  mehr  von  der  „Gesellschaft",  wie 
im  16.  und  18.  Jahrhundert  (Italien -England).  Aber  immer 
bleiben  diese  beiden  Elemente  die  einzigen  Träger  der  Luxus- 
kultur. Diese  Kreise,  in  denen  aller  Luxus  zur  Entfaltung 
kommt,  heben  sich  —  in  ihrer  eigenen  Vorstellung  und  in  der 
der  anderen  —  scharf  ab  gegen  die  bürgerliche  Welt,  gegen 
das  Pack,  auch  wenn  in  diesem  etwa  schon  recht  ansehnliche 
Vermögen  sich  angesammelt  hatten.  Aber  der  Westender  und 
der  Cityman:  der  Kavalier  und  der  Rundkopf,  wenn  auch 
nicht  mehr  im  alten  politischen,  so  doch  in  einem  scharf  ge- 
prägten sozialen  Sinne,  unterscheiden  sich  selbst  in  England 
bis  gegen  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  So  urteilen  alle 
guten  Beobachter. 

„Die  Westlondoner  weiden  von  den  City-Bewohnern  wegen  ihres 
Müßigganges,  ihrer  Üppigkeit,  unordentlichen  Lebensart  und  ihrem  Hange 
zu  französischen  Sitten  durchgezogen,  die  diesen  Spott  aber  in  reichem 
Maße  erwidern  und  einen  City-Engländer  als  ein  unhöfliches  plumpes 
Tier  schildern,  das  sein  Verdienst  bloß  im  Gelde  sieht." 

Archenholtz  1,  164. 

„When  I  consider  this  great  city  in  its  several  Quarters  and 
Divisions,  I  lock  upon  it  as  an  Agregate  of  various  Nations  distinguished 
from  each  other  by  their  respective  Customs,  Manners  and  luterests. 
The  Courts  of  two  Countries  do  not  so  much  differ  from  one  another, 
as  the  Court  and  City  in  their  peculiar  ways  of  Life  and  Conversation. 
In  Short,  the  inhabitants  of  St.  James,  notwithstanding  they  live  under 


Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen  103 

the  same  Laws  and  speak  the  sanie  language,  are  a  distinct  People 
from  those  of  Cheapside,  who  are  likewise  removed  from  those  of  th'- 
Temple  on  the  on  side  and  those  of  Smithfield  on  the  other,  by  several 
Climates  and  Degrees  in  their  way  of  Thinking  and  Conversing  together." 

The  Spectator  No.  483.     12.  Juni  1712. 

Wenn  also  Chateaubriand  von  seiner  Zeit  sagt:  „la 
cour  et  la  ville ,  les  gens  de  lettres ,  les  öconomistes  et  les 
encyclopödistes,  les  grands  seigneurs  et  les  gentilshonimes,  les 
financiers  et  les  bourgeois,  se  ressemblent:  t^nioin  les  m^moires 
qu'ils  nous  ont  laisses"  —  so  kann  das  immer  nur  richtig 
gewesen  sein  für  die  „saure  Cream"  der  Gesellschaft:  die 
„Schlippermilch",  wie  Goethe  den  „Mittelstand"  nennt,  zählte 
noch  nicht  mit:  der  „Bürger",  ob  Klein-  ob  Großbürger,  stand 
abseits.  Seigneurial  bleibt  vor  allem  der  ganze  Zuschnitt 
des  Lebens,  Alles,  was  Geld  heißt  und  Geldeswert  hat, 
wird  verachtet.  Wirtschaft  führen ,  Ausgabe  und  Einnahme 
in  ein  richtiges  Verhältnis  bringen,  gilt  als  bürgerlich  und 
wird  angestellten  Haushofmeistern  überlassen.  Wozu  hat  man 
Leute,  wenn  man  sich  selbst  um  den  Haushalt  kümmern  soll. 
Das  Leben  macht  keine  Freude  mehr,  wenn  man  sich  mit 
den  Vorbereitungen  abquälen  muß.  Das  und  das  braucht  man, 
man  weist  die  Summen  dem  Rendanten  an :  mag  der  sehen, 
wie  er  sie  beitreibt.  Ob  er  sie  den  Lieferanten  schuldig  bleibt : 
was  macht  es.  Krämergesiunung  ist  es,  zu  wähnen,  daß  die 
Rechnungen  da  sind,  um  bezahlt  zu  werden.  Krämergesinnung 
ist  es  nicht  minder,  bei  irgendeiner  Ausgabe  zu  erwägen,  ob 
man  sie  sich  gestatten  dürfe  oder  nicht. 

Diese  seigneuriale  Verachtung  jeder  geordneten  Wirtschaft 
ist  nun  aber  auch  allen  Spekulanten  eigen:  die  Hautefinance 
zumal  berührt  sich  in  diesem  Punkte  mit  dem  allen  Adel : 
sie  führt  auch  eine  Ausgabe-,  keine  Einnahmewirtschaft  wie 
dieser.  Ihr  fallen  große  Summen  über  Nacht  in  den  Schoß 
und  machen  es  ihr  möglich ,  spielerisch  in  den  Tag  hinein- 
zuleben. Man  wird  am  nächsten  Mittag  schon  durch  einen 
glücklichen  Coup  all  das  wiedergewinnen ,   was  man  in  einer 


104  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

Nacht  verpraßt  hat.  Die  Hautefinance  steht  in  ihrer  Wirt- 
schaltsfülirung  dem  Krämer,  der  die  Pfennige  berechnet,  ebenso 
fern  wie  die  Feudalaristokratie.  Sie  kennt  auch  ebensowenig 
wie  diese  den  Begriff  des  „Sparens".  Alle  diese  spezifisch 
kleinbürgerlichen  Anschauungen ,  die  sich  dann  auch  in  der 
Bourgeoisie  verbreiten,  sind  den  reichen  Schichten  der  früh- 
kapitalistischen Epoche  noch  fremd.  Wenigstens  jenen 
Schichten ,  die  wir  für  den  Luxuskonsum  dieser  Tage  ver- 
antwortlich machen  können.  Dieser  also  ist,  das  wollte  ich 
sagen,  durchgehends,  auch  wo  er  von  den  Turcarets  getragen 
wird,  seigneurial.  Ein  paar  Beispiele  werden  verdeutlichen, 
was  ich  meine. 

Da  steht  vor  uns,  wie  er  leibt  und  lebt,  der  famose 
Bassompiäre,  geradezu  ein  Typus  seiner  ganzen  Kaste,  von 
dem  wir  folgendes  Geschichtchen  erfahren  ^* :  auf  einem  Feste 
trägt  er  ein  Kostüm  in  drap  d'or,  geschmückt  mit  Palmen, 
bedeckt  mit  Perlen ,  deren  Gewicht  er  selbst  auf  50  Pfund 
angibt  (seigneurial:  das  Repräsentativ-Pomphafte:  siehe  die 
Darstellung  weiter  unten  S.  107).  Dies  Kostüm  kostete 
14000  6cus,  davon  700  für  die  Fa^ou  (Macherlohn).  Als 
Bassompiöre  es  bestellte,  verlangte  sein  Schneider  4000  6cus 
Angeld,  die  B.  ihm  —  verspricht.  Darauf  geht  er  soupieren 
und  spielen  (mit  700  6cus  in  der  Tasche).  Er  gewinnt 
5000  Taler,  mit  denen  er  am  nächsten  Morgen  (in  einer 
Anwandlung  von  Schwäche)  seinen  Schneider  bezahlt.  Dann 
spielt  er  weiter  und  gewinnt  in  den  nächsten  Tagen  den  ganzen 
Rest  der  Schneiderrechnung  zusammen  und  11000  Taler  dazu. 
Von  diesen  kaufte  er  sich  für  die  Hälfte  (5500)  einen  Degen 
mit  Diamanten  besetzt,  das  andere  verwendet  er  für  seine 
menus  plaisirs. 

Spieler :^^  Orry  de  Falvy  verliert  an  einem  Abend 
600000  1.,  Dapin  de  Chenonceaux  an  einem  Abend  700000  1., 
de  la  Haye  au  einem  Abend  800000  1.  (bei  M^e  de  Genlis 
gegen  M.  de  F6nelon !) ;  ein  Sohn  von  Paris  La  Montagne  bei 


Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzeu  105 

einer  Partie  Quinze  80000  Taler;  der  Graf  Jean  Du  Barry  (der 
Typus  des  verlumpten  Grand  Seigneurs  im  18.  Jahrhun<lerts) 
verliert  in  einer  Sitzung  7000  Louis  und  rühmt  sich,  bei  der 
fünften  Million  angelangt  zu  sein.  1717  gab  es  62  „Spielhöllen" 
in  Paris. 

Verachtung  des  Geldes  und  alles  Gelduerten^^ :  Der  Mar- 
schall Richelieu  wirft  eine  volle  Börse  zum  Fenster  hinaus, 
weil  sein  Pinkel,  dem  er  sie  geschenkt  hatte,  sie  voll  zurück- 
braclite:  draußen  wird  sie  wenigstens  ein  Straßenkehrer  finden. 
Der  Prinz  von  Conti  zerstampft  einen  Brillanten,  den  ihm 
seine  Geliebte  (weil  ein  Geschenk  ganz  einfach  ausbedungen 
war)  zurückschickte,  und  streut  den  Staub  über  die  Tinte, 
mit  der  er  die  Antwort  niederschreibt  (der  Brillant  war  4 
bis  5000  1.  Geldes  wert). 

Der  Marschall  von  Soubise  gibt  200  000  fr.  aus  für  einen 
Tag,  den  der  König  bei  ihm  verbringt. 

Mme  de  Matiguon  zahlt  jährlich  24000  l,  um  täglich  eine 
neue  Coiffure  zu  haben. 

Derselbe  Prinz  von  Conti,  den  wir  den  Staub  eines  kost- 
baren Edelsteins  über  ein  Billet  doux  schütten  sahen,  litt 
schließlich  Not  an  Brot  und  Holz  bei  einer  Rente  von 
600000  1.,  weil  er  für  allerlei  Luxusgegenstände  sein  Geld 
auszugeben  für  richtiger  fand. 

Schäden  iverden  gemacht:  M'ne  de  Guemeuee  schuldet 
60000  1.  ihrem  Schuster.  Der  Herzog  von  Lauzun,  nachdem 
er  das  Vermögen,  das  ihm  100000  Taler  Rente  brachte,  auf- 
gezehrt hat,  macht  2  Millionen  Lire  Schulden. 

Einen  sehr  hübschen  Einblick  in  die  Wirtschaftsführung 
der  vornehmen  Leute  jener  Zeit  eröifnen  die  Rechnungs- 
bücher der  Rose  Bertin.  die  uns  Emile  Langlade  jetzt 
erschlossen  hat^^  Als  sie  Anfang  der  1790er  Jahre  ihre  Außen- 
stände einziehen  ließ ,  ergaben  sich  folgende  Forderungen : 
an  die  ^larquise  de  Bouille  für  die  Jahre  1774 — 86  6701  1. 
„   Gräfin  de  Salles  .    .    .    „     ,       „       1778—81  1148  „ 


\QQ  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

an  Graf  und  Gräfin  Duras  für  die  Jahre  1774—89  7386  1. 
„    den    Grafen    Aug.    de 

Laraarek „     „       „       1774—75  1558  „ 

„    den  Chev.  de  Saint  Paul    „     „       „       1778  1343  „ 

Außerdem  schuldeten  (seit  langen  Jahren) :  die  Vikomtesse 
de  Polastron  19960  1.,  die  Prinzessin  von  Rocliefort  109041., 
die  Marquise  de  Tonnerre  10946  1.  usw.  usw. 

Insgesamt  betrugen  die  Außenstände  der  großen  Schneide- 
rin ,  die  ihre  Kundschaft  nur  in  den  ersten  Kreisen  hatte, 
490  000  fr. 

* 

Aber  auch  die  Richtung,  in  der  sich  der  Luxus- 
aufwand bewegte,  wurde  durch  den  Seigneur  bestimmt. 

Wir  lernten  schon  den  Kleiderluxus  bei  Hofe  kennen: 
er  ist  aber  ein  echtes  Kennzeichen  seigneurialer  Lebensführung 
überhaupt.  Nichts  unterschied  so  sehr  den  Kavalier  von  dem 
Rundkopf  als  die  elegante  Kleidung,  die  der  Zeit  entsprechend 
aus  Samt,  Seide,  Goldstickerei  und  Spitzen  bestand  und  dem- 
entsprechend sehr  kostbar  war,  und  zwar  gleichermaßen  für 
Mann  wie  Frau. 

Über  den  Kleiderluxus  im  15.  und  16.  Jahrhundert  unterrichten 
uns  am  besten  die  Garderobeninventare,  deren  uns  eine  ganze  Reihe  er- 
halten ist:  so  von  der  Valentina  und  Elisabetta  Visconti,  der  Bianca 
Maria  Sforza,  der  Lucrezia  Borgia  u.  a.  Lucrezia  beispielsweise  hatte 
in  ihrer  Aussteuer  50  Kleider  in  Brokat,  Samt  mit  Stickerei  und 
Spitzen:  150  Maultiere  trugen  ihre  Kleidung  und  Wäsche,  als  sie  aus 
Rom  auszog*^. 

Für  alle  Zeit  bieten  uns  die  Kunstwerke  eine  gute  Quelle  dar,  um 
den  Kleiderluxus  zu  ermessen,  ebenso  Schilderungen  von  Festen,  Auf- 
zügen usw.  So  entwirft  z.B.  Burcardus  in  seinem  Tagebuch  (worauf 
ich  schon  hinwies)  von  dem  Einzug  des  Prinzen  Federigo  von  Neapel 
in  Rom  (1492)  folgendes  Bild:  „Die  einzelnen  ritten  überaus  prächtige 
Pferde,  alle  in  Goldbrokat  gekleidet,  Kleinodien  von  großem  Wert  auf 
der  Brust,  auf  den  Baretten  und  Hüten.  Der  Prinz  trug  ein  Gewand 
von  violettem  Samt,  die  Halskette  aus  Perlen  und  Edelsteinen  im  Wert 
von  6000  Dukaten,  einen  Gürtel  nebst  Schwert  im  gleichen  Wert,  der  ganze 
Zügel  mit  Perlen  und  Edelsteinen  besetzt  im  Werte  von  3000  Dukaten 
und  das  ganze  Pferdegeschirr  vorn  und  hinten  vergoldet." 


Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen  107 

Die  Reuaissancetracht  steigert  sich  in  die  Barocktracht,  diese  ver- 
feinert sich  zum  Rokoko.  Wir  wissen,  wie  beispielsweise  in  England 
im  17.  Jahrhundert  die  elegante  Kleidung  des  Kavaliers  geradezu  als 
ein  Standesabzeichen  angeschen  wurde.  Damals  brachte  die  herrschende 
Mode  eine  besonders  ausgesprochene  Eleganz  mit  sich:  die  hohen  Reiter- 
stiefeln werden  mit  kostbarem  Stoff  gefüttert  und  mit  Spitzen  besetzt. 
Auch  die  Kleider  des  Mannes  bestehen  zum  großen  Teil  aus  schweren 
Seiden-  und  Samtstoffen.    Van  Dyck! 

Und  welch  ein  Aufwand  wurde  getrieben!  Der  Herzog  von 
Buckingham  besaß  (1625)  27  kostbare  Anzüge  aus  Samt,  Seide,  Spitzen, 
Perlon  usw..  von  denen  jeder  etwa  35000  Francs  gekostet  hatte.  Der 
Festanzug,  in  dem  er  auf  der  Hochzeit  Karls  I.  erschien,  hatte  die 
Summe  von  500000  Francs  verschlungen  (Weiß).  Ein  Edelmann  und  seine 
Frau  gaben  im  17.  Jahrhundert  in  Frankreich  ein  ganzes  Drittel  ihres 
Einkommens  für  Kleidung  aus;  für  Toilette  und  Equipage  fast  die  Hälfte: 
5000  Livres  von  1200099. 

Im  18.  Jahrhundert  steigerte  sich  der  Kleiderluxus  eher  noch: 
er  ging  mehr  ins  Feine,  ins  Raffinierte.  Der  Durchschnittspreis  des 
eleganten  Herrenanzugs  war  1200 — 1500  1.  Wer  auf  sich  hielt,  hatte 
6  Sommer-,  6  Winteranzüge.  Festkleider  der  Männer  kosteten  bis 
15  000  1.    Feines  graues  Tuch;  70—80  1.  die  Elle  (Barbier). 

Auch  der  Luxus  in  feiner  Wäsche  —  dieser  spezifisch 
erotische  Luxus  —  entfaltete  sich  jetzt  erst  recht.  Der  biedere 
Verfasser  des  Complete  English  Tradesman  entrüstet  sich  sehr 
darüber,  daß  der  gewöhnliche  „beau"  seiner  Zeit,  ,,our  nicer 
gentleman",  „the  ordinary  beau"  Hemden  aus  Leinen  die  Elle 
zu  10  oder  12  sh.  trüge  und  sie  zweimal  am  Tage  wechsele! 
Zu  Großvaters  Zeiten  habe  man  sich  mit  halb  so  teuerem 
holländischem  Leinen  begnügt  und  habe  das  Hemd  vielleicht 
zweimal  in  der  Woche  gewechselt.  Der  Stutzer  heutzutage, 
setzt  unser  Gewährsmann  boshaft  hinzu,  wird  wohl  so  viel 
schmutziger  am  Körper  sein  als  die  Vorfahren,  deshalb  muß 
er  die  Wäsche  so  oft  wechseln:  „we  may  suppose  their  unclearer 
bodies  require  it  more  than  those  of  their  ancestors  did  ^®®." 

Das  Repräsentative,  das  Prunkhafte  ist  das  Seigneuriale 
in  der  Luxusentfaltung :  pompöse  Kleidung,  vergoldete  Staats- 
karossen, betreßte  Dienerschaft,  die  in  großen  Mengen  ge- 
halten wird:  diese  außerordentlich  zahlreiche  Bedientenschar 


JQ8  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

ist  aherraals  ein  Zug  von  seigneurialem  Luxus.  Sie  ist  der 
Rest  der  alten  Gefolgschaft:  in  ihr  tritt  uns  die  personale 
Natur  des  seigneurialen  Luxus  entgegen,  die  wir  bei  allem 
früheren  Luxus  überwiegen  finden.  "Wir  kennen  die  Klagen, 
die  Adam  Smith  gegen  diese  „Unsitte"  seiner  Zeitgenossen 
erhebt,  so  viele  „unproduktive"  „Hände"  zu  beschäftigen,  die 
doch  alle  so  schön  Garn  spinnen  könnten. 

Die  Zustandsschilderungen,  die  wir  aus  jener  Zeit  be- 
sitzen, bestätigen  die  Richtigkeit  der  Tatsache,  die  Ad.  Smith 
zu  seinen  Klagen  Anlaß  gaben.  D  e  f  o  e ,  dem  diese  seigneuriale 
Art  auch  ganz  und  gar  zuwider  war,  erzählt  uns,  daß  ganz 
gewöhnliche  Londoner  Kaufleute,  very  ordinary  tradesmen, 
mindestens  zwei ,  oft  mehr  weibliche  Dienstboten ,  manche 
sogar  einen  Diener,  auch  deren  zwei  halten;  in  einem  be- 
sonderen Falle  hat  die  Kaufmannsfrau  fünf  Dienstmädchen 
und  einen  Diener.  Die  blauen  Livreen  dieser  Krämerdienst- 
boten seien  so  häufig  geworden,  daß  man  sie  „tradesmen 
liveries"  nenne  und  daß  „the  gentlemen"  die  Farbe  bei  ihren 
Dienern  vermieden  ^°^  So  allgemein  war  dieser  seigneuriale 
Luxus  geworden,  daß  er  bei  der  Roture  an  der  Tagesordnung 
war ;  wie  stark  mußte  er  bei  den  Kavalieren  entwickelt  sein ! 
Wir  werden  uns  nicht  wundern,  wenn  wir  von  einem  engli- 
schen Lord  hören,  der  100  Stallknechte  hatte '"2. 

Manchmal  allerdings  setzen  uns  die  Riesenziflfern  der 
Dienstboten  doch  in  Erstaunen :  der  Duc  de  Nevers  hält  146, 
die  Pontchartrain  113,  der  Duc  de  Choiseul  400  (davon  54 
in  Livree)  ^°3,  M^e  de  Sevign6*<'*  30—40.  Natürlich  ahmten 
die  Protzen  diesen  Herrenluxus  geflissentlich  nach :  bei  einem 
reich  gewordenen  Landschaftsmaler,  einem  „Mississipien", 
finden  wir  90  Diener  ^°^  und  Mercier  berichtet  uns  ganz 
allgemein  ^"^  'i :  „Dans  teile  maison  de  fermier-g^neral  vous 
trouverez  24  domestiques  portant  livröe,  sans  compter  les 
marmitons,  aides-cuisines  et  G  femmes  de  chambre  poui 
madame  .  .  ." 


Die  Nachfolge  der  Kavaliere  und  der  Protzen  109 

Von   einem   Turcaiet   erzählt    er   uns,    den    vier   Diener 
umgeben,  wenn  er  seine  Schokolade  einnimmt. 


Endlich  ist  nun  aber  auch  inhaltlich  das  Wesen 
des  Luxus  dieser  ganzen  Periode  aristokratisch,  und  zwar 
nicht  nur  in  dem  negativen  Sinne,  daß  er  der  großen  Masse 
nicht  zugänglich ,  daß  er  beschränkt  ist  auf  einen  kleinen 
Kreis  Auserwählter.  Positiv  aristokratisch  (wie  man  sprechen 
möchte)  ist  der  Luxus  jener  Tage  durch  die  Vornehmheit  der 
Gestalt,  die  er  überall  annimmt,  selbst  bei  dem  letzten  Knall- 
protzen, weil  er  eben  unter  das  Joch  des  guten  Geschmacks, 
der  immer  nur  bei  den  wenigen  ist,  gezwungen  wird.  Er  ist 
„distinguiert",  jener  Luxus:  immer  rein  ästhetisch,  rein  formal 
orientiert.  Die  Periode  umspannt  ja  vier  Stilarten:  Gotik, 
Renaissance,  Barock  und  Rokoko.  Aber  alle  diese  Stile  sind 
vornehme  Stile,  sind  Herrenstile,  sind  vor  allem  „Stile"  und 
unterscheiden  sich  dadurch  scharf  von  dem  Stil  unserer  Zeit, 
der  die  Stillosigkeit  ist,  und  der  damit  das  Merkmal  des 
Plebejischen  an  der  Stirn  trägt. 

In  das  England  des  18.  Jahrhunderts  ragt  so  etwas  wie 
ein  „bürgerlicher"  Stil  hinein,  hie  und  da  klingt  schon  ein 
plebejischer  Ton  an:  Muther  will  in  den  Porträts  von 
Reynolds  und  Gainsborough  schon  diese  neue  Note  entdecken 
und  glaubt  damit  England  von  Frankreich  unterscheiden  zu 
können;  aber  mir  scheint  doch,  daß  gerade  in  diesen  beiden 
Porträtisten  die  durchaus  aristokratische  Natur  jener  Zeit 
zum  deutlichen  Ausdruck  kommt.  Gewiß  ist  M»"»  Siddon  auf 
dem  Bilde  von  Gainsborough  in  Straßentoilette  dargestellt: 
„einen  großen  Hut  auf  dem  Kopfe,  den  Muff  in  der  Hand, 
keinen  Perlenschmuck,  sondern  ein  einfaches  Seidenband  um 
den  Hals.''  Gewiß.  Aber  doch!  Eine  Welt  trennt  sie  von  jeder 
Dame  unserer  Zeit  und  trennte  sie  von  den  Frauen  der  City-Men 
ihrer  Tage  ganz  gewiß.    Ist  der  Blue  Boy  nicht  recht  eigentlich 


WQ  Viertes  Kapitel:   Die  Entfaltung  des  Luxus 

das  Sinnbild  jener  letzten  Stunden  der  aristokratischen  Kultur? 
Hogarth  ja:  da  kommt  das  „unhöfliche  plumpe  Tier*  zum 
ersten  Male  (seit  der  kurzen  holländischen  Plebejerepisode) 
zu  Worte.  Aber  zu  der  Welt,  die  für  die  Entfaltung  von 
Luxus  allein  in  Betracht  kam,  gehörte  er  noch  nicht. 


Und  das  Weibchen  ?  Wir  wissen,  daß  die  Maitressenwirt- 
schaft namentlich  im  18.  Jahrhundert  durchaus  allgemein 
innerhalb  der  guten  Gesellschaft  war:  „Quel  est  Thomme  qui 
n'a  pas  de  maltresses?"  ruft  ein  Philosoph  jener  Zeit  ganz 
naiv  aus:  da  können  wir  ohne  weiteres,  wenn  wir  jetzt 
von  der  Verschwendung  dieser  selben  Kreise  hören,  dar- 
auf schließen,  daß  ein  gut  Teil  davon  auf  das  Konto  der 
illegitimen  Liebe  zu  setzen  ist  und  daß  der  Rest  von  den 
legitimen  Gattinnen  verschuldet  war. 

Von  einigen  der  großen  Kurtisanen  haben  wir  ziffern- 
mäßige Belege  für  ihre  Verschwendungssucht. 

Von  der  „liebenswürdigen  Deschamps"  sagt  der  Advokat 
Carsillier  in  einem  Plaidoyer:  „Ihr  Luxus  setzt  ganz  Paris 
in  Erstaunen.  Die  Bergwerke  von  Golconda  sind  für  sie  er- 
schöpft worden.     Das  Geld   sproßt  unter  ihren  Tritten  auf." 

Viele  und  gerade  die  Geliebten  der  großen  Finanzleute 
(wie  z.  B.  die  M^e  Petitpas  und  Mme  Dufresne,  die  Maitressen 
des  steinreichen  La  Mosson)  waren  durch  ihren  frechen  Luxus, 
ihren  „luxe  insolent"  in  Paris  bekannt.  Und  in  der  Tat: 
enorme  Summen  glitten  durch  ihre  Händchen.  Die  Geliebte 
eines  anderen  Granden  der  Finanzwelt,  Maison  rouge,  eine 
Tänzerin  der  großen  Oper,  preßt  aus  ihrem  Geliebten  her- 
aus i"«:  210000  1.  für  Gebäude  und  Einrichtungen,  150000  1. 
für  Schmuck,  50000  Taler  für  Gemälde  und  Silbergeschirr. 
Der  junge  Chauvelin  macht  für  die  Tänzerin  W^^  Minos 
Schulden  in  Höhe  von  1600140  1.  19  s.  11  d. ;  St.  James, 
Schatzmeister  der   Marine,   schenkt  der  M}^^  de  Beauvoisin 


Der  Sieg  des  Weilxhens  Hl 

für  1500000  bis  1800000  1.  Schmuck  und  andere  Wert- 
gegenstände und  setzt  ihr  eine  Jahresrente  von  20000  Tal ern 
aus.  10000  1.  (2000  6cus)  ist  eine  „normale"  Monatsgage  für 
die  „besseren"  Kurtisanen^"". 

Aber  ich  möchte  den  engen  Zusammenhang,  der  zwischen 
der  Luxusentfaltung  jener  Zeit  und  der  Vorherrschaft  des 
Weibchens  (ob  es  verheiratet  war  oder  nicht,  l)leibt  sich  gleich, 
wenn  es  nur  Weibchen  war)  obwaltet,  noch  deutlicher  auf- 
weisen, als  es  die  allgemeinen  Erwägungen  und  der  Hinweis 
auf  die  Verschwendung  einzelner  Huldinnen  gestatten,  indem 
ich  mehr  ins  einzelne  gehe  und  die  Luxusentfaltung  nach 
ihrem  wichtigsten  Inhalte  verfolge:  so  gewinnen  wir  auch 
einen  klareren  Einblick  noch  in  die  mannigfachen  Möglich- 
keiten des  Luxus  unter  dem  Ancien  regime  und  können 
deutlicher  noch  erkennen,  wie  von  den  einzelnen  Luxus- 
ausgaben oder  besser  von  der  Häufung  der  einzelnen  Fälle 
der  Luxusbetätigung  die  Fäden  hinüberreiehen  nach  den 
ersten  Gebilden  kapitalistischer  Organisation  auf  dem  Gebiete 
des  Handels  und  der  Industrie. 

IV.   Der  Sieg  des  Weibdiens 

Ich  habe  vorhin  die  gemeinsamen  Züge,  die  aller  Luxus 
der  frühkapitalistischen  Epoche  trägt,  aufgewiesen.  Jetzt 
möchte  ich  darauf  aufmerksam  machen,  daß  der  Luxus  in 
diesen  fünf  bis  sechs  Jahrhunderten  auch  Wandlungen  erlebt, 
und  möchte  zeigen,  wie  sehr  an  diesen  Wandlungen  die 
Frauen  (wie  wir  sie  nun  kennen  gelernt  haben)  schuld  sind. 
Wir  betrachten  zunächst: 

/.  Die  allgemeinen  Entwicklung stendensen  des  Luxus 
(wohlgemerkt:  des  Luxus  in  dieser  ganz  bestimmten  historischen 
Periode,  sage  von  1200  bis  1800,  die  es  nur  ein  einziges  Mal 
in  der  Weltgeschichte  gegeben  hat.  Alle  Bemühungen,  all- 
gemeine Epochen  des  Luxus  zu  bilden,  wie  es  etwa  Röscher 


\12  Viertes  Kapitel :    Die  Entfaltung  des  Luxus 

versucht  hat,  sind  eitel:  von  deu  Tolpatschen  ganz  zu  schweigen, 
die  mit  der  schlechtverstandenen  „materialistischen  Geschichts- 
auffassung" in  so  delikate  Zusammenhänge,  wie  es  die  Er- 
scheinungen des  Luxus  sind,  hineingreifen). 

Solcher  Entwicklungstendenzen  unterscheide  ich  folgende : 

a)  Tendenz  zur  Verhäuslichung.  Der  meiste 
mittelalterliche  Luxus  war  öffentlicher,  nun  wird  er  privater; 
er  wurde  aber  auch  als  privater  weit  mehr  außerhalb  des 
Hauses  entfaltet  wie  in  dem  Hause :  jetzt  wird  er  immer 
mehr  in  das  Haus,  in  die  Häuslichkeit  verlegt:  die  Frau  holt 
ihn  zu  sich  herein. 

Ehedem  (noch  zur  Zeit  der  Renaissance)  Turniere,  Schau- 
gepränge, Aufzüge,  öffentliche  Gastereien:  nun  Luxus  im  Hause. 
Damit  verliert  der  Luxus  seinen  periodischen  Charakter,  den  er 
früher  hatte,  und  wird  ständig.  Unnütz  zu  sagen,  wie  sehr  mit 
dieser  Wandlung  eine  Steigerung  des  Luxusbedarfs  verbunden  ist. 

b)  Tendenz  zur  Versachlichung.  Wir  sahen,  daß 
der  Luxus  unserer  Periode  noch  immer  einen  stark  personalen 
und  damit  quantitativ  gerichteten  Charakter  trägt,  und  stellten 
fest,  daß  hierin  sich  sein  seigneurialer  Ursprung  zu  erkennen 
gäbe,  da  diese  starke  Bewertung  zahlreicher  Dienerschaft  ein 
Überbleibsel  der  alten  Gefolgschaft  sei.  Zweifellos  wird  nun 
aber  seit  dem  Mittelalter  der  personale  Zug  in  der  Luxus- 
entfaltung unausgesetzt  schwächer.  Ehedem  erschöpfte  sich 
der  Luxus  vielfach  im  Aufgebot  zahlreicher  Trabanten,  in 
deren  Beköstigung  und  Belustigung  bei  Festen  usw.  Jetzt  ist 
die  zahlreiche  Dienerschaft  nur  noch  eine  Begleiterscheinung 
der  immer  mehr  wachsenden  Verwendung  von  Sachgütern  zu 
Luxuszweckeu.  An  dieser  Versachlichung,  wie  ich  den  Prozeß 
nenne,  hatte  nun  das  Weibchen  abermals  ein  Interesse.  Denn 
die  Aufbietung  zahlreicher  Gefolgsmannen  kommt  ihr  wenig 
zugute,  wie  es  die  prächtigere  Kleidung,  die  behaglichere 
Wohnung,  der  kostbarere  Schmuck  tun.  Ökonomisch  ist  diese 
Wandlung   wieder   äußerst  relevant:    Adam   Smith   würde 


Der  Sieg  des  Weibchens  113 

sagen:  man  geht  von  „unproduktivem"  zu  „produktivem" 
Luxus  über,  weil  jener  personale  Luxus  „unproduktive", 
der  versachlichte  Luxus  dagegen  „produktive"  Hände  (im 
kapitalistischen  Sinne:  das  heißt  Lohnarbeiter  in  einer 
kapitalistischen  Unternehmung)  beschäftigt.  In  der  Tat  ist 
die  Versachlichung  des  Luxusbedarfs  für  die  Entwicklung  des 
Kapitalismus  von  grundlegender  Bedeutung. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  Versachlichung  des  Luxus  geht 
aber  die  vom  Weibchen  mit  besonderer  Energie  geförderte 

e)  Tendenz  zur  Versinnlichung  und  Verfeinerung. 

Als  Tendenz  zur  Versinnlichung  sehe  ich  jene  Entwicklung 
an,  die  dahin  führt,  daß  der  Luxus  immer  weniger  irgend- 
welchen idealen  Lebenswerten  (wie  namentlich  der  Kunst) 
und  immer  mehr  den  niedrigen  Instinkten  der  Animalität 
dient.  Wenn  jener  Prozeß  sich  vollzieht,  den  die  Goncourts 
einmal  so  bezeichnen :  „la  protection  de  Tart  tombe  aux 
ciseleurs  de  bronzes,  aux  sculpteurs  ou  bois,  aux  brodeurs, 
aux  couturi^res"  usw.  Sie  wollen  damit  den  Unterschied 
der  Du-Barry-Epoche  gegenüber  der  Pompadour-Zeit  kenn- 
zeichnen. Mir  scheint  diese  —  unnütz  zu  sagen :  ökonomisch 
wiederum  ganz  hervorragend  wichtige  —  Wandlung  charakteri- 
siert mehr  den  Übergang  vom  17.  ins  18.  Jahrhundert,  also 
den  Sieg  des  Rokoko  über  das  Barock.  Dieser  Sieg  aber 
bedeutet  nichts  anderes  als  den  endgültigen  und  vollständigen 
Triumph  des  Weibchens.  Die  Durchsetzung  dieses  eminent 
weiblichen  Stiles  auf  allen  Gebieten  der  Kultur  ist  allein 
genügender  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  hier  verfochtenen 
These.  Das  siegreiche  Weibchen  strahlt  uns  in  der  Tat  aus 
allen  Schöpfungen  der  Kunst  und  des  Kunstgewerbes  dieser 
Zeit  entgegen :  aus  Pfeilerspiegeln  und  Lyoner  Kissen,  himmel- 
blauseidenen Betten  mit  weißen  Tüllgardinen,  aus  zartblauen 
Jupons,  grauseidenen  Strümpfen  und  rosigen  Seidenkleidern, 
aus  koketten  mit  Schwanendaunen  besetzten  Peignoirs.  aus 
Straußenfedern  und  Bra])anter  Spitzen,  was  dann  alles  ein  Pater, 

Sombart,  Luxus  und  Kapitalismus  8 


]^14  Viertes  Kapitel:    Die  p]ntfaltung  des  Luxus 

wie  Muther,  dieser  unvergleichliche  Schilderer  des  Rokoko, 
dem  auch  die  vorhergehenden  Worte  entnommen  sind,  es  aus- 
drückt, zu  einer  „Symphonie  des  Salons"  zusammengedichtet  hat. 

Mit  der  Tendenz  zur  Versinnlichung  des  Luxus  im  engsten 
Zusammenhange  steht  die  Tendenz  zu  seiner  Verfeinerung. 
Verfeinerung  heißt  Vermehrung  des  Aufwandes  an  lebendigei* 
Arbeit  bei  der  Herstellung  eines  Sachgutes,  heißt  Durch- 
dringung, Vollsaugung  des  Stoffes  mit  mehr  Arbeit  (soweit 
nicht  die  Verfeinerung  in  der  Verwendung  nur  seltener  Stoffe 
besteht).  Damit  wird  aber  auch^der  Spielraum  namentlich  für 
die  kapitalistische  Industrie,  aber  auch  für  den  kapitalistischen 
Handel  (Beschaffung  ortsferner  Stoffe !)  wesentlich  ausgeweitet. 

d)  Tendenz  zur  Zusammendrängung  —  in  der  Zeit 
nämlich.  Sei  es,  daß  viel  Luxus  innerhalb  einer  gegebenen 
Zeit  entfaltet  wird:  viele  Gegenstände  genutzt  werden,  viele 
Genüsse  durchgekostet  werden ;  sei  es,  daß  früher  periodische 
Luxusveranstaltungen  nun  zu  ständigen  Einrichtungen  werden: 
aus  Jahresfesten  werden  regelmäßig  wiederkehrende  Feste, 
aus  Aufzügen  an  Jubeltagen  werden  tägliche  Maskeraden, 
aus  Schmausereien  an  Weihetagen  und  Quartalssaufereien 
werden  Diners  und  Soupers  des  Alltags;  sei  es  (worauf  ich 
besondern  Nachdruck  legen  möchte),  daß  in  kürzerer  Zeit  die 
„Luxusgüter"  hergestellt  werden,  um  rascher  ihrem  Besitzer 
dienen  zu  können. 

Die  Regel  im  Mittelalter  war  die  lange  Produktionszeit: 
Jahre  und  Jahrzehnte  wurde  an  Einem  Stück,  an  Einem  Werk 
gearbeitet:  man  hatte  keine  Eile,  es  vollendet  zu  sehen.  Man 
lebte  ja  auch  so  lange,  weil  man  in  einem  Ganzen  lebte:  die  Kirche, 
das  Kloster,  die  Stadtgemeinde,  das  Geschlecht  würden  die  Voll- 
endung sicher  erleben,  wenn  auch  der  einzelne  Mensch,  der  die 
Arbeit  in  Auftrag  gegeben  hatte,  längst  vermodert  war.  Wie 
viele  Geschlechter  haben  an  der  Certosa  von  Pavia  gebaut !  Die 
Mailänder  Familie  Sacchi  hat  während  dreier  Jahrhunderte, 
durch  acht  Generationen  hindurch,    an  den  Inkrustierungen 


Der  Sieg  des  Weibchens  115 

und  Intarsien  der  Altarplatten  gearbeitet.  Jeder  Dom,  jedes 
Kloster,  jedes  Rathaus,  jede  Burg  des  Mittelalters  legt  Zeugnis 
ab  von  dieser  Überbrückung  der  Lebensalter  des  einzelnen 
Menschen:  ihre  Entstehung  zieht  sich  durch  Geschlechter 
hindurch,  die  ewig  zu  leben  glaubten. 

Seitdem  das  Individuum  sich  herausgerissen  hatte  aus 
der  es  überdauernden  Gemeinschaft,  wird  seine  Lebensdauer 
zum  Maßstab  seines  Genießens.  Der  Einzelmensch  will  als  er 
selbst  möglichst  viel  von  dem  Wandel  der  Dinge  erleben.  Selbst 
ein  König  ist  zu  sehr  er  selbst  geworden :  er  will  das  Schloß 
noch  selbst  bewohnen,  das  er  zu  bauen  anfängt.  Und  als 
nun  gar  die  Herrschaft  dieser  Welt  auf  das  Weibchen  über- 
ging, da  wurde  das  Tempo,  in  dem  die  Mittel  zur  Befriedigung 
des  Luxusbedarfs  herbeigeschafft  wurden,  abermals  beschleunigt. 
Die  Frau  kann  nicht  warten.  Der  verliebte  Mann  aber  erst 
gar  nicht.    Welch  ein  Wandel  in   dem  Zuschnitt  des  Lebens : 

Maria  von  Medici  ließ  den  Luxemburg-Palast  in  der  uner- 
hört kurzen  Zeit  von  fünf  Jahren  vollenden  ^"'^a. 

Am  Versailler  Schloß  wurde  Tag  und  Nacht  gearbeitet: 
„Pour  Versailles,  il  y  a  deux  ateliers  de  charpentiers,  dont 
Tun  travaille  le  jour  et  l'autre  la  nuit,'"  hat  uns  Colbert  selbst 
erzählt  ^o'b. 

Der  Graf  von  Artois  läßt  Bagatelle  von  Grund  aus  neu 
bauen,  damit  er  der  Königin  dort  ein  Fest  gebe,  und  be- 
schäftigt 900  Arbeiter  bei  Tag  und  bei  Nacht:  als  es  ihm 
nicht  schnell  genug  geht,  schickt  er  seine  Huissiers  auf  die 
Landstraße,  um  Stein-  und  Kalkwagen  abzufangen. 

Alle  diese  W^andlungen  werden  wir  nun  aber  noch  viel 
plastischer  vor  uns  sehen,  wenn  ich  jetzt  versuche,  im  folgenden 
auf  einigen  der  wichtigeren  Gebiete  den  Luxus  im  einzelnen 
zu  verfolgen.  Wir  bekommen  damit  auch  erst  wieder  recht  eine 
Vorstellung  von  der  ökonomisch  ja  immer  vor  allem  wichtigen 
quantitativen  Bedeutung,  die  den  Veränderungen  in  der  Ge- 
staltung des  Luxus  innewohnt. 

8* 


j|(3  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

2.  Der  Luxus  mi  Hause 

a)  Der  Eßluxus  ist  in  Italien  während  des  15.  und 
16.  Jahrhunderts  ausgebildet  worden,  als  dort  eine  „Koch- 
kunst" neben  den  andern  Künsten  entstand.  Vorher  hatte 
es  nur  Freßluxus  gegeben:  nun  verfeinerte  man  auch  diesen 
Genuß  und  setzte  auch  hier  die  Qualität  an  Stelle  der  Quantität. 

Auch  der  Eßluxus  wandert  von  Italien  nach  Frankreich, 
wo  er  seit  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts  seine  eigentliche 
Pflege  erhält.  Ihn  in  seiner  Entwicklung  zu  verfolgen  ist 
kaum  möglich,  ohne  eine  lange  Abhandlung  über  Speisen- 
zubereitung zu  schreiben,  wie  sie  in  den  Rahmen  dieser  Unter- 
suchung doch  nicht  passen  würde.  Nur  die  eine  Frage  will 
ich  hier  doch  wenigstens  ebenso  stellen  wie  in  den  andern 
Fällen:  verdanken  wir  die  Verfeinerung  der  Kochkunst  und 
somit  die  Entfaltung  des  Eßluxus  abermals   dem  Weibchen? 

Psychologisch-physiologisch  ist  die  Sache  „strittig" :  wie 
nahe  Kochkunst  und  Liebeskunst  miteinander  verwandt  sind. 
Man  ist  geneigt,  Erotik  und  Gourmandise  in  einen  gewissen 
Gegensatz  zueinander  zu  stellen,  wenn  man  etwa  als  die 
Lebensalter  des  Mannes:  die  Liebe,  den  Ehrgeiz  und  das 
Diner  bezeichnet.  Schlimme  Nicht-Erotiker  wie  Kant  waren 
große  Gourmes.  Aber  mir  will  doch  scheinen,  als  ob  wir  ohne 
die  allgemeine  Verfeinerung  und  Versinnlichung  unseres  Ge- 
schmackslebens, wie  wir  es  dem  Einfluß  der  Frau  verdanken, 
auch  niemals  zu  einer  Höherentwicklung  der  Eßkunst  gelangt 
wären.  Liegt  bei  der  leidenschaftlichen  Gourmandise,  wie  wir 
sie  bei  alten  Hagestolzen  finden,  eine  „Verdrängung"  erotischer 
Triebe  vor?  So  daß  die  Gourmandise  beim  Mann  etwa  der 
Katzenliebe  alter  Jungfern  entspräche?  Auch  das  wäre  zu 
prüfen. 

Nur  in  einem  Punkte  scheint  mir  schon  heute  Klarheit 
zu  herrschen :  das  ist  der  Zusammenhang  zwischen  Süßigkeits- 
konsum und  Weiberherrschaft.    Wir  können  deutlich  die  Linie 


Der  Sieg  des  Weibchens  117 

wahrnehmen,  die  heute  noch  die  Zone  des  Weibchens  abgrenzt: 
es  ist  dieselbe  Linie,  die  die  Länder  mit  guten  und  die  mit 
schlechten  Küchen  und  Mehlspeisen  voneinander  trennt:  in 
Italien,  in  Österreich,  in  Frankreich,  in  Polen  die  vortreff- 
lichen Süßigkeiten,  in  Norddeutschland  der  Flammeri,  in 
England  der  Albert-Cake, 

Diese  Verknüpfung  des  Feminismus  (alten  Stils)  mit 
dem  Zucker  ist  nun  aber  wirtschaftshistorisch  von  allergrößter 
Bedeutung  geworden :  weil  in  der  frühkapitalistischeu  Epoche 
das  Weibchen  vorherrschte,  wurde  der  Zucker  so  rasch  ein 
beliebtes  Genußmittel,  und  nur  weil  der  Zucker  da  war,  fanden 
die  Reizmittel  Kakao,  Kaff'ee  und  Tee  in  Europa  so  rasch  und 
allgemein  Anklang.  Der  Handel  in  diesen  vier  Artikeln  aber 
und  die  Produktion  von  Kakao,  Kaffee  und  Zucker  in  den 
europäischen  Kolonien  sowie  die  Verarbeitung  des  Kakaos 
und  die  Raffinierung  des  Ptohzuckers  in  Europa  nahmen  in  der 
Entwicklung  des  Kapitalismus  einen   sehr  breiten  Raum  ein. 

Was  wir  von  der  Geschichte  dieser  Genußmittel  und  ihrer 
Einbürgerung  in  Europa  wissen ,  bestätigt  durchaus  die 
Richtigkeit  dieser  allgemeinen  Schlüsse.  Soweit  diese  Ge- 
schichte mit  der  des  Zuckers  zusammenfällt  (und  das  ist  in 
weitem  Umfang  der  Fall),  sind  wir  gut  unterrichtet  durch 
das  Buch  von  Edmund  0.  von  Lippmann  ^*'^,  dem  auch 
die  folgenden  Angaben  im  wesentlichen  entnommen  sind. 

Erwähnt  finden  wir  den  Zucker  zuerst  im  14.  Jahrhundert;  ein- 
gebürgert als  beliebtes  Genußmittel  ist  er  in  Italien  im  15.  Jahrhundert. 
Heutzutage,  schreibt  Pancirollus,  gibt  es  kein  festliches  Gastmahl, 
bei  dem  nicht  eine  Fülle  von  Zucker  in  vielerlei  Art  verwendet  wird; 
Figuren  und  Gruppen ,  Vögel  und  Vierlüßler  und  die  wunderschönsten 
Früchte  in  den  natürlichen  Farben  werden  daraus  nachgebildet,  Rha- 
barber, Pignolien,  Cinnamomen  und  andere  Gewürze  darin  gemacht  und 
damit  kandiert,  zum  Entzücken  der  Menschheit;  ohne  Zucker  wird  fast 
nichts  mehr  verzehrt,  Zucker  kommt  an  die  Kuchen,  Zucker  in  den 
Wein,  statt  Wasser  trinkt  man  Zuckerwasser,  Fleisch,  Fische  und  Eier 
bereitet  man  mit  Zucker,  kurz,  man  gebraucht  Salz  nicht  mehr  häufiger 
als  Zuckerl 


\\^  Viertes  Kapitel:   Die  Entfaltung  des  Luxus 

Wiederum  erscheint  Katharina  von  Medici  als  die  Mittlerin,  die 
den  Zuckerkonsum  in  der  französischen  Gesellschaft  verbreitet.  Unter 
anderem  soll  das  italienische  Gefolge  dieser  Fürstin  zuerst  den  Gebrauch 
der  Liköre  in  Paris  bekannt  gemacht  haben,  die  dann  von  den  Franzosen 
selbst  zu  hoher  Vollendung  gebracht  wurden.  Eine  der  beliebtesten 
Marken  jener  Zeit  war  das  aus  Alkohol,  Zucker  und  Safran  gewonnene 
Venusöl  (Huile  de  Venus).  Estienne  versichert  uns  in  seinem  Ti'aktat 
über  die  Landwirtschaft  bereits,  daß  der  Zuckerkonsum  sehr  verbreitet 
sei.  La  Bruy^re  Champier,  der  Leibarzt  Franz  L,  nennt  (1560)  Zucker 
schon  ein  unentbehrliches  Genußmittel,  natürlich  nur  innerhalb  der  oberen 
Schichten  der  Gesellschaft,  denn  er  erläutert  seinen  Ausspruch  mit 
der  Erklärung:  „weil  Leute  von  feiner  Lebensart  nichts  verzehren,  was 
nicht  mit  Zuckerpulver  bestreut  ist".  Ebenso  galten  in  England  auch 
schon  im  16.  Jahrhundert  Zuckerwerk,  Gelees,  Marmelade,  kandierte 
Zitronen,  Orangen  und  Ingwer,  sowie  Schlösser,  Schiffe  und  Figuren 
aus  Zucker  bei  jeder  feineren  Mahlzeit  als  unentbehrlich. 

Seit  dem  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  bürgern  sich  dann  mit 
Hilfe  des  Zuckers  Kakao,  Kaffee  und  Tee  in  Europa  ein:  sie  alle  zu- 
erst in  der  vornehmsten  Gesellschaft,  insbesondere  an  den  Höfen  beliebt. 
So  kam  der  Kaffee  beispielsweise  in  Frankreich  erst  in  Aufnahme, 
nachdem  Ludwig  XIV.  beim  Empfange  der  Gesandtschaft  Sultan 
Mohammeds  IV.  (1670)  Kaffee  genossen  und  ihn  daraufhin  in  Hofkreisen 
eingeführt  hatte.  Um  diese  Genußmittel  gruppiert  sich  dann  in  den 
öffentlichen  Kaffeehäusern  ein  neuer  großstädtischer  Luxus,  auf  den  ich 
noch  zu  sprechen  komme. 

b)  Der  Wohnluxus.  Die  Entfaltung  des  Wohnluxus 
steht  im  engsten  Zusammenhange  mit  der  von  uns  ausführlich 
gewürdigten  Entwicklung  der  Großstadt,  Diese  ist  es,  die 
den  Luxus  der  Wohnungen  und  Einrichtungen ,  wie  er  seit 
der  Renaissance,  namentlich  aber  seit  dem  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts mehr  und  mehr  beliebt  wird,  wesentlich  gefördert 
hat.  Sie  tat  es  durch  die  Einschränkung  des  Lebens- 
spielraums, die  notwendig  im  Gefolge  der  Zusammenballung 
großer  Menschenmassen  auf  einem  Flecke  sich  einstellen 
mußte,  einerseits;  durch  die  Einschränkung  des  personal 
gefärbten  Luxus  anderseits,  die  ebenfalls  eintreten  mußte, 
sobald  der  Seigneur  seinen  Wohnsitz  in  der  Stadt  aufschlug. 
Diese  inneren  und  äußeren  Beschränkungen,  die  die  Lebens- 
haltung der  reichen  Leute  in  der  Stadt  erlebte,  führten  nun 


Der  Sieg  des  AVeibchens  119 

aber,  wenn  ich  mich  so  ausdiückeu  darf,  zu  einer  Intensivierung 
des  Luxus,  der,  wie  wir  sahen,  einerseits  versachlicht,  ander- 
seits verfeinert  wurde.  Was  der  Eßluxus  erlebte :  die  Einpor- 
hebung durch  Vervollkommnung  der  Kochteclmik,  das  erfuhr 
der  Wohnluxus  in  der  Großstadt  ebenfalls:  an  Stelle  riesiger, 
leerer  Burgen  traten  kleinere,  aber  mit  einer  wachsenden 
Menge  von  Kostbarkeiten  ausgefüllte  Stadtwohnungen:  der 
Palast  wurde  vom  Palais  abgelöst. 

Diese,  sagen  wir,  städtische  Wohnweise  wird  dann  nun 
aber  auf  das  Land  übertragen:  die  mit  städtischer  Eleganz 
ausgestatteten  Landhäuser  entstehen:  die  „Villen",  die  also 
(just  wie  im  Altertum)  die  unmittelbare  Folge  des  Stadt- 
lebens sind.  Damit  dringt  der  Luxus  bis  in  die  entferntesten 
Teile  des  Landes,  das  auch  in  diesem  Punkte  der  Großstadt 
und  ihren  Lebensbedingungen  unterworfen  wird. 

Wenn  wir  die  Schilderungen  von  den  Stadt-  und  Land- 
häusern der  reichen  Leute  etwa  Frankreichs  und  Englands 
lesen,  die  uns  die  Zeitgenossen  beim  Ausgang  des  17.  und  im 
18.  Jahrhundert  entwerfen,  so  denken  wir  zunächst,  daß  es 
sich  um  Übertreibungen  handelt.  Bis  wir  gewahr  werden, 
durch  die  Häufung  von  zahlreichen,  immer  gleichen  Urteilen, 
daß  der  Wohnluxus  in  jener  Zeit  tatsächlich  eine  Höhe 
erreicht  haben  muß,  die,  selbst  von  dem  Standpunkt  unserer 
protzigen  Zeit  aus  gesehen,  ganz  ungeheuer  gewesen  ist.  Wir 
erinnern  uns  dann  der  Pteste  des  herrlichen  Barock-  und 
Rokokomobiliars ,  die  wir  heute  bei  den  Altwarenhändlern 
zum  Verkaufe  stehen  sehen,  erinnern  uns  der  Abbildungen 
von  Einrichtungsgegenständen  aus  jener  Zeit  in  den  Kunst- 
geschichten und  bedenken,  daß  all  das,  was  wir  jetzt  nur  als 
Einzelstiicke  vor  Augen  haben:  abgebildet  oder  in  Wirklich- 
keit, daß  das  alles  einst  zusammenstand  und  die  Räume  der 
Marquis  und  der  Finanzbarone  des  Ancien  regime  erfüllt  hat. 
Aber  wir  erinnern  uns  auch  der  Riesensummen,  die  wir  die 
Turcarets  für  Wohnzwecke  verausgaben  sahen. 


220  Viertes  Kapitel:   Die   Entfaltung  des  Luxus 

AVer  aber  trieb  die  Männer  an,  so  viel  Herrlichkeiten 
zu  scbaffeu?  Wir  brauchen  nicht  lange  zu  fragen:  die  "Woh- 
nung, in  der  die  vornehme  Gesellschaft  des  Ancien  regime 
lebte,  ist  das  Nest,  das  sich  mit  vieler  Mühe  und  vielem 
Bedacht  das  Weibchen  gebaut  hat,  um  das  Männchen  an  sich 
zu  fesseln  -.  das  zeigt  die  Geschichte  der  Wohnungseinrichtungen 
mit  alier  nur  zu  wünschenden  Deutlichkeit. 

Wenn  man  so  viel  von  der  Erotik  der  Minnesängerzeit 
zu  reden  weiß :  wo  hätte  sich  denn  das  Liebesleben  abspielen 
sollen?  In  den  W^äklern  allenfalls.  Denn  die  Burgen  waren 
doch  ganz  gewiß  kein  Ort,  um  Schäferstündchen  zu  feiern. 
Jedenfalls  müßte  dann  unter  Liebesleben  etwas  ganz  anderes 
zu  verstehen  sein,  als  wir  heute  darunter  verstehen.  Gotik 
und  Erotik  reimen  sich  zwar,  passen  aber  doch  nicht  zu- 
einander. Nein:  auch  hier  schuf  die  Renaissance  erst  wieder 
die  äußeren  Bedingungen  für  die  von  Grund  aus  neugestaltete 
Lebensführung. 

Alles,  was  wir  heute  unter  einer  eleganten  oder  behaglichen 
Wohnungseinrichtung  verstehen,  wird  zuerst  im  15.  und 
16.  Jahrhundert  in  Italien  geschaffen:  durch  die  Renaissance, 
die  ihrem  ganzen  Wesen  nach  sich  den  Anforderungen  des 
täglichen  Lebens  besser  anpaßte,  als  es  der  „einseitige,  un- 
freie" Dekorationsstil  der  Gotik  vermocht  hatte:  weiche, 
elastische  Betten  tauchen  auf ;  kostbare  Bodenteppiche  werden 
in  Gebrauch  genommen;  ;,Toiletteugeräte,  von  welchen  sonst 
noch  nirgends  die  Rede  ist,  lernt  man  besonders  bei  den 
Novellisten  kennen.  Die  Menge  und  Zierlichkeit  des  Weiß- 
zeugs wird  öfter  ganz  besonders  hervorgehobon  .  .  ."  ^°"  usw. 
Frauenwerk!  Mehr:  Kurtisanenwerk!  Vielleicht  das  erste 
Wohnhaus  im  modernen  Sinne,  in  dem  Kunstsinn  und  Be- 
haglichkeit gleichermaßen  heimisch  waren,  war  die  Farnesina : 
das  Landhaus  des  reichen  Agostino  Chigi:  gebaut  für  die 
Maitresse  dieses  Finanzmannes,  die  schöne  Venetianerin  Moro- 
sina.   Welch  ein  Abstand:   der  Luxus  in  diesem  Heim  einer 


Der  Sieg  des  Weibchens  121 

Kurtisane  noch  gegen  den  Palast  Pauls  II.,  mit  dem  die  neue 
Architektur  in  Rom  begonnen  hatte:  „dem  neuen  Geschlechte 
waren  Grazie  und  heitere  Sinnlichkeit  Bedürfnis  geworden" 
(Gregorovius),  weil  es  in  den  Banden  der  Frauen  lag. 
Dort,  im  Rom  des  IG.  Jahrhunderts,  wird  die  moderne  Wohn- 
einrichtuug  geboren.  Von  dem  Palais  einer  anderen  Kurtisane, 
der  uns  schon  bekannten  Imperia,  erfahren  wir:  „Teppiche, 
Gemälde,  Vasen  und  Kippsachen,  auserle^^ene  Bücher,  schöne 
Reuaissancemöbel  verbreiteten  in  ihrem  Zimmer  solchen  Glanz, 
daß  der  edle  spanische  Botschafter  eines  Tages  dort  einem 
Bedienten  ins  Gesicht  spie,  weil  er  keine  andere  Stelle  für 
dies  Bedürfnis  entdecken  konnte"  ^^'^. 

Die  Einrichtungen  der  großen  Kurtisanen  wurden  in 
jener  Zeit  vorbildlich  für  die  Wohnungseinrichtungen  über- 
haupt und  blieben  es  dann,  wie  wir  sehen  werden,  alle  die 
folgenden  Jahrhunderte  hindurch.  So  galt  in  Venedig  die 
Wohnung  der  Angela  Zatietta  als  Sehenswürdigkeit:  „Angela 
wohnte  in  dem  wahrhaft  königlich  eingerichteten  Palazzo 
Loredan.  Flandrische  Teppiche,  Brokat,  vergoldetes  Leder 
deckten  die  Wände,  in  einigen  Sälen  hatten  sogar  die  be- 
rühmtesten Maler  al  fresco  gemalt.  Auf  den  Fußböden  lagen 
türkische  Teppiche,  auf  den  Tischen  goldgestickte  Saratdecken. 
Geschnitzte  und  mit  Litarsien  versehene  Möbel  füllten  die 
zahlreichen  Salons,  auf  den  Kredenztischen  standen  silberne 
Gefäße ,  Majoliken  aus  Faenza ,  Cafaggiolo ,  Urbino  und  die 
kostbarsten,  venetianischen  Gläser.  Die  Besitzerin,  die  für 
ihren  guten  Geschmack  bekannt  war,  hatte  im  ganzen 
Haus  Bilder,  kostbare  Waffen,  schön  gebundene  Bücher, 
Mandolinen  und  kostbare  Werke  der  Kleinkunst  ver- 
streut" "°=i. 

Im  Barock  sucht  sich  der  Stil  von  dem  allbeherrschenden 
Eintiuß  der  Frau  vielleicht  zu  befreien ,  möchte  man  sagen. 
Aber  sie  zwingt  selbst  jenen  herrischen  Stil  unter  ihr  Joch : 
sie  verleibt  ihm  den  Spiegel  ein,  von  dem  bei  seiner 


loo  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

ersten  Verwendung  als  Zimraerschmuck  ein  begeisterter  Barde 
die  folgende  richtige  Beobachtung  in  Verse  brachte  ^^^: 

„Dans  leuts  cabinets  encbantes 
L'etoffe  ne  trouve  plus  place; 
Tous  les  murs  des  quatre  cotes 
En  sont  de  glaces  incrustes; 
CLaque  cötd  n'est  qu'une  glace. 
Pour  Yoir  partout  leur  bonne  gräce 
Partout  elles  veulent  avoir 
La  perspective  d'un  miroir." 

„Um  überall  ihre  Reize  zu  sehen,  wollen  sie  überall  die 
weite  Perspektive  eines  Spiegels  haben." 

Oder  sie  ersinnen  andere  Reizmittel,  um  die  Wohnräume 
behaglich  zu  macheu  und  die  Männer  darin  zu  fesseln:  sie 
parfümieren  die  Zimmer  uud  schmücken  sie  mit  Blumen.  Man 
stellt  sich  das  Palais  der  M"^«  de  Rambouillet  sehr  mit  Un- 
recht frostig  und  steif  vor.  Eine  Besucherin,  das  freundliche 
Fräulein  von  Scudery,  entwirft  uns  folgende  Schilderung 
davon : 

„Tout  est  magnifique  chez  eile  et  meme  particulier;  les 
lampes  y  sont  diff6rentes  des  autres  lieux.  Les  cabinets  sont 
pleius  de  mille  raretes  ,  .  .  l'air  est  toujours  parfumö  dans 
son  palais;  diverses  corbeilles  magnifiques,  pleines  de  fleurs, 
fönt  uu  printems  continuel  dans  sa  chambre." 

Und  immer  ist  das  Bett  der  kostbarste  Gegenstand  der 
Einrichtung:  M^e  de  Montespan  schenkt  M.  de  Maine  ein  Bett 
für  40000  livres  „et  trois  autres  encore  tres  magnifiques"  "^ 

Zu  welchem  Grade  der  Vollendung  eine  Zeit  den  Wohn- 
luxus entwickelt  hat,  zeigt  uns  immer  die  Ausstattung  des 
Heims  der  jeweils  herrschenden  Königsmaitresse:  als  Höhe- 
punkt dieser  Entwicklung  während  des  Barock  steht  ja  Ver- 
sailles vor  aller  Augen,  obwohl  hier  natürlich  viel  andere 
Beweggründe  neben  der  Frauenliebe  am  Werke  gewesen 
sind,  um  das  Schönste  zu  schaffen,  was  aus  Menschenhänden 
je    hervorgegangen    ist.     Aber  völlig   der   Ausfiuß   verliebter 


Der  Sieg  des  Weibchens  123 

Launen  sind  die  Privatpalais  der  Königsliebchen ,  in  denen 
auch  während  des  Barock  die  wundervollsten  Blüten  des 
Wohnluxus  aufgesprungen  sind.  Ich  denke  etwa  an  das  Palais 
der  Herzogin  von  Portsmouth  (einer  der  letzten  Maitressen 
Karls  IL),  von  dem  ein  Augenzeuge  berichtet:  „Was  meine 
Verwunderung  erregte,  war  die  Schönheit  und  der  Reichtum 
dieser  Wohnung,  die  mehrmals  eingerissen  und  zerstört  war, 
um  den  Launen  und  der  Verschwendungssucht  dieser  Frau 
zu  genügen,  während  Ihre  Majestät  die  Königin  für  ihren 
Haushalt  nicht  mehr  ausgibt  als  manche  Damen  von  Adel. . . . 
Da  sah  ich  die  neuesten  Erzeugnisse  der  französischen 
Teppichweberei,  deren  Dessins,  Feinheit  der  Arbeit,  unvergleich- 
liche Reproduktionskraft  alles  übertrifft,  was  ich  gesehen 
habe.  .  .  .  Dann  folgte  ein  Kabinett  mit  japanischen  Lack- 
sachen, Schirmen,  Uhren,  silbernen  Vasen,  Tischchen,  Etageren, 
Kamingarnituren,  braseros,  alles  in  massivem  Silber  in  un- 
gezählten Mengen  und  endlich  einige  vorzügliche  Bildnisse 
Sr.  Majestät  11^" 

Daß  dann  das  Rokoko,  dieser  schlechthin  erotische  Stil, 
sich  ganz  besonders  in  der  Ausgestaltung  des  Wohnluxus 
erschöpft,  ist  bekannt.  Das  letzte  Wort,  das  uns  jene  Zeit 
zu  sagen  hatte,  heißt  Luciennes:  das  Nest,  das  Ludwig  XV. 
der  Dubarry  bereitete,  und  angesichts  dessen  die  Goncourts 
ausrufen:  „Luciennes!  ne  dirait  on  pas  le  palais  d'une  de 
ces  souverainet^s  falotes,  comnie  nous  en  montrent  les  livres 
du  dix  huiti^me  siecle  en  ces  turqueries  oü  r^gne  soumis 
aux  caprices  d'une  odalisque  favorite  le  bon  plaisir  baroque 
d'un  Sultan  fantoche  ^^■*?" 

Jeder  Mann  von  Stande  aber,  dessen  Mittel  es  erlaubten, 
schuf  seiner  Geliebten  ein  solches  Luciennes  im  kleinen: 
Ein  typisches  Schlößchen  dieser  Art  ist  „Bagatelle"  im  Bois 
de  Boulogne,  das  die  Marschallin  von  Estr^es  Anfang  des 
18.  Jahrhunders  von  ihrem  Marschall  und  spanischen  Granden 
zum  Geschenk  erhielt,  und  das  dann  in  die  Hände  der  M">e  de 


124  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

Mouconseil  kam,  deren  Liebe  mit  dem  Polenkönig  Stanislaus 
hier  ihre  Stätte  fand.  Die  zahlreichen  Heime  der  gewöhn- 
lichen Maitresseu  waren,  wie  bekannt,  die  „petites  maisons", 
in  denen  allen  die  gleiche  Kunst  die  Ausstattung  zum  höchsten 
Grade  der  Verfeinerung  und  des  Raffinements  ausgebildet 
hatte  "5. 

Die  unerhörte  Steigerung,  die  der  Wohnluxus  während 
des  18.  Jahrhunderts  erfahren  hatte,  wurde  von  den  Zeit- 
genossen als  etwas  Außerordentliches  empfunden:  „man  hat 
den  Zimmereinrichtungen  eine  übertriebene  und  deplazierte 
Pracht  verliehen",  meint  Mercier,  der  seine  Schilderung 
des  Bautenluxus  seiner  Zeit  mit  den  Worten  beschließt: 
„Die  Größe  der  Nation  liegt  ganz  im  Innern  der  Häuser" 
(la  magnificence  de  la  nation  est  toute  dans  l'intörieur  des 
maisons). 

Ein  anderer  Zeitgenosse  äußert  sich  mit  Mercier  über- 
einstimmend folgendermaßen:  „Die  Möbel  sind  das  größte 
Luxusobjekt  und  die  größte  Ausgabe  geworden.  Alle  sechs 
Jahre  richtet  man  sich  neu  ein,  um  von  allem  zu  profitieren, 
was  die  Eleganz  des  Tages  Schönes  ausgesonnen  hat." 

In  England  war  der  Wohnluxus  eher  nocH  stärker  ent- 
wickelt wie  in  Frankreich  (obwohl  ihm  vielleicht  das  rein 
feminine  Gepräge  der  Pariser  Petites  maisons  fehlte).  Ein 
guter  Beobachter  entwirft  uns  von  den  Häusern  der  reichen 
Engländer  folgendes  Bild: 

„Die  Pracht,  mit  welcher  die  vornehmen  Engländer  ihre  Zimmer 
auszieren,  läßt  alles  hinter  sich  zurück,  was  man  in  dieser  Art  in  ganz 
Europa  sucht.  Trei)pen  mit  bunten  Tapeten  belegt,  das  Geländer  .  .  von 
Mahagoniholz  in  den  niedlichsten  Formen  geschnitzt,  worauf  große 
kristallene,  mit  metallenem  Laubwerk  bedeckte  Lampen  paradieren;  bei 
den  Absätzen  der  Treppen  Büsten,  Gemälde  und  Medaillons;  lackierte 
und  vergoldete  Zimmer  mit  kostbaren  Schilderungen  und  kleinen  Statuen 
geziert;  Kamine  aus  den  seltensten  Marmorarten  zusammengesetzt,  mit 
prächtigen  Aufsätzen  von  herrlichen  Figuren,  Vasen  u.  dgl. ;  der  Kohlen- 
rost .  .  von  hell  poliertem  Stahl,  mit  Verzierungen  von  Bronze  .  .  . 
Schlösser  an   den  Türen   von  Stahl  mit  Gold  sehr  künstlich  ausgelegt: 


Der  Sieg  des  Weibchens  125 

Fußtapeten,  die  in  einem  Saal  oft  einige  hundert  Pfund  Sterling  kosten  . .  . 
Fenstergardiuen  von  kostbaren,  ostindischen  Zeugen;  prächtige  Uhren 
aller  Art,  wobei  alle  Kunst  der  Mechanik  verschwendet  ist"  usw. 

J.  W.  von  Archenholtz,  Engl.  u.  Ital.  1  (1787),  170. 

Und  von  den  Landhäusern  der  reichen  Leute  berichtet 
uns  derselbe  Gewährsmann  ähnliches,  dessen  Kichtigkeit  uns 
zahlreiche  andere  Beschreibungen  bestäti'2:en. 


Wenn  man  sich  in  die  Literatur  des  18.  Jahrhunderts 
hineinliest ,  die  von  der  luxuriösen  Lebensweise  der  reichen 
Leute  handelt ;  wenn  man  die  Abbildungen  von  Palästen  und 
Wohnungseinrichtungen  aus  der  Zeit  sieht;  wenn  man  sich 
in  den  Straßen  des  alten  Wiens,  des  alten  London,  des  alten 
Paris  nach  den  monumentalen  Privatbauten,  die  aus  der  Zeit 
vor  1800  stammen,  umschaut,  so  bekommt  mau  die  Größe 
und  Mächtigkeit  des  damaligen  Wohnluxus  wohl  in  das  Ge- 
fühl. Aber  man  möchte  gern  sich  von  seiner  Ausdehnung 
ziffernmäßig  bestimmte  Vorstellungen  machen,  und  das  hält 
außerordentlich  schwer. 

Vor  mir  liegt  eine  Sammlung  von  Abbildungen  berühmter 
Landsitze"*'  der  englischen  Nobility  und  Gentry,  die  im 
Jahre  1779  veranstaltet  und  in  zwei  stattliche  Bände  zu- 
sammengefügt ist.  Sie  enthält  die  Abbildungen  von  84  Schlössern 
und  deren  Beschreibung.  Ich  muß  sagen ,  daß  der  Anblick 
dieser  84  Herrensitze  einen  ganz  großen  Eindruck  macht,  und 
daß  die  Ziffer  auch  schon  ein  gewisses  Urteil  über  die  Masse 
von  Luxus,  der  darin  aufgestapelt  ist,  zuläßt.  Zumal  wenn 
man  die  Beschreibungen  der  einzelnen  Schlösser  in  Rücksicht 
zieht.  Ich  greife  das  Schloß  des  Earl  von  Oxford  (Houghton 
in  Norfolk)  als  Beispiel  heraus:  Der  Bau  wurde  1722  von 
Sir  Robert  Walpole  begonnen  und  1735  vollendet.  Mit  den 
Flügeln  hat  er  eine  Länge  von  500  Fuß;  der  Mittelbau  ist 
165  Fuß  lang.  Die  Haupträume  sind  folgende:  der  Salon 
40  Fuß  lang,   40  Fuß  hoch,   30  Fuß   breit:   die   Tapeten    von 


]^2(5  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

rosengeblümten  Velvet;  die  Decke  gemalt  von  Kent;  der 
Kamin,  ebenso  wie  die  Tische,  sind  aus  schwarzem  und  gelbem 
Marmor;  die  Halle  ist  ein  Raum  von  40  Fuß  im  Kubus  mit 
einer  Steingalerie  auf  drei  Seiten;  Decke  und  Fries  von 
Altari;  der  Drawing  Room  30  zu  32  Fuß,  behangen  mit 
gelbem  Caffoy,  geschmückt  mit  Schnitzereien  von  Gibbons  usw. 
usw.;  endlich  wird  noch  aufgezählt  eine  Galerie:  71  Fuß 
lang,  21  Fuß  breit,  21  Fuß  hoch:  die  Tapeten  aus  Nor- 
wicher  Damast. 

Über  den  Umfang  der  Bautätigkeit  in  Paris  während 
des  18.  Jahrhunderts  gibt  uns  Mereier  einigen  Aufschluß: 
es  seien ,  meint  er ,  in  den  letzten  Jahrzehnten  600  Palais 
erbaut,  „deren  Inneres  das  Werk  von  Feen  zu  sein  scheint, 
denn  die  Einbildung  kann  einen  so  ausgesuchten  Luxus 
nicht  mehr  überbieten".  Die  drei  Stände,  die  zu  seiner  Zeit 
ihr  Glück  in  Paris  machten,  seien  die  Bankiers,  die  Notare 
und  die  Bauunternehmer  (entrepreneurs  de  bätiment).  Ganze 
neue  Viertel  seien  entstanden  mit  nur  prächtigen  Palais^". 

Auch  diese  Angaben  geben  uns  einen  Anhalt,  wenn  wir 
auch  hier  die  Opulenz  in  Betracht  ziehen,  mit  der,  wie  wir 
sahen,  die  einzelnen  Häuser  gebaut  und  die  Wohnungen  aus- 
gestattet wurden. 

3.  Der  Luxus  in  der  Stadt 
Die  Großstadt  steigerte  den  Hang  zum  Luxus:  aus  Gründen, 
die  ich  schon  angedeutet  habe;  deren  Wirksamkeit  uns  die 
besten  Beobachter  jener  Tage,  wie  Montesquieu  in  Frank- 
reich, Mandeville  in  England,  für  ihre  Zeit  ausdrücklich 
bestätigen,  und  wirkt  dadurch  auf  eine  Vermehrung  des  Luxus- 
bedarfs hin.  Wie  die  Großstadt  mit  ihren  Luxusansprüchen 
die  Leute  in  der  Provinz  damals  anfing,  in  ihrer  Lebens- 
gewohnheit ganz  entscheidend  zu  beeinflussen,  sie  an  Luxusaus- 
gaben zu  gewöhnen,  ihren  Lebensstandard  „hinaufzuschrauben", 
weiß  uns   ein  Landedelmann ,   Pierre  de  Cadet ,  anschaulich 


Der  Sieg  des  Weibchens  127 

vor  Augen  zu  führeu  durch  folgende   Erzählung,    die   er  in 
seinem  Haushaltungsbuche  niedergeschrieben  hat^'^ 

„Älon  grand-pöre  voulut  aller  ä  Paris  et  dans  im  an  il  di'pensa 
14  000  livres,  ce  qui  fit  dire  ä  son  pere  qu'nne  paire  de  lunettes,  qn'il 
luy  apporta  en  present,  lui  coiltait  14000  livres.  II  y  avoit  dejä  un  ('quipage 
dans  la  maison  et  quatre  chevaux  blancs;  mon  grand  pere  vint  de  Paris 
avec  un  grand  goüt  pour  les  clievaux  de  main  ...  II  avoit  amene  de 
Paris  un  valet  de  chanibre,  du  quel  son  pere  disoit,  en  badinant,  qu'il 
n'asoit  lui  demander  k  boire,  le  voyant  mieux  vetu  que  luy." 

Aber  bedeutsam  für  die  Entfaltung  des  Luxus  wird 
die  Großstadt  vor  allem  dadurch,  daß  sie  ganz  neue  Möglich- 
keiten heiterer  und  üppiger  Lebensführung  und  damit  neue 
Formen  des  Luxus  schaift.  Sie  überträgt  die  Feste,  die  bis 
dahin  die  Höflinge  im  Schlosse  des  Fürsten  allein  gefeiert 
hatten,  auf  breite  Schichten  der  Bevölkerung,  die  nun  eben- 
falls sich  ihre  Stätten  schaffen ,  wo  sie  ihren  Vergnügungen 
regelmäßig  nachgehen.  Als  Ende  des  18.  Jahrhunderts  der 
Fürst  von  Monaco  nach  dem  Tode  des  bei  ihm  verstorbenen 
Herzogs  von  York  auf  die  Einladung  des  Königs  nach  Eng- 
land kam  und  am  Abend  die  vielen  Lichter  auf  den  Straßen 
und  in  den  Schaufenstern  der  bis  10  Uhr  geöffneten  Läden 
erblickte,  bildete  er  sich  ein,  die  ganze  Beleuchtung  sei  ihm 
zu  Ehren  veranstaltet  worden :  in  dieser  Anekdote  spiegelt 
sich  wunderhübsch  die  grundsätzliche  Umwandlung  wider, 
die  sich  um  jene  Zeit  zu  vollziehen  freilich  erst  eben  anfing: 
an  die  Stelle  streng  privater  Luxusentfaltung  tritt  eine  Art 
von  kollektiver  Luxusgestaltung.  Die  Kommunisierung  der 
Lebensführung,  die  dann  recht  eigentümlich  erst  für  die 
folgende  Periode  der  Volkswirtschaft  ist,  beginnt:  wir  nehmen 
hier  kurz  davon  Kenntnis  und  stellen  fest,  daß  diese  bedeut- 
same Wirkung  der  Großstadt  —  darum  gehört  ihre  Er- 
wähnung an  diese  Stelle  —  einstweilen  sich  durchaus  in  den 
Grenzen  des  Luxusbedarfs  bewegt,  daß  nur  die  obersten 
Spitzen   der  Gesellschaft   von  der  Neuerung  berührt  werden. 


128  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

An  dieser    Entstehung   eines   großstädtischen    Luxus   nimmt 
nun  abermals  überragend  großen  Anteil  —  das  Weibchen. 
Was   hier   in  Betracht  kommt,  ist  namentlich  folgendes: 

1.  Die  Theater,  vor  allem  die  eleganten  Opernhäuser, 
die  zuerst  in  Italien  mit  großer  Prachtentfaltung  gebaut 
werden  und  dann  in  den  übrigen  Großstädten  Europas  eben- 
falls eine  Stätte  finden:  Epoche  in  der  Geschichte  des  Theater- 
baues macht  das  1737  erbaute  Theater  S.  Carlo  in  Neapel. 
In  Paris  bestehen  seit  1673:  die  Oper,  unter  dem  Namen 
Academie  royale  de  Musique,  die  seit  dem  Tode  Molieres  im 
Palais  royale  ihre  Vorstellungen  gibt;  die  Com6die  frangaise, 
die  ihr  neues  Haus  in  der  rue  S.  Germain  des  Pr6s  am 
18.  April  1689  eröffnet ;  und  die  Comedie  italienne ,  die  im 
Hotel  de  Bourgogne  spielt  (mit  einer  Unterbrechung  von  1697 
bis  1716)  11^ 

Zunächst  sind  es  meist  nur  Hoftheater,  zu  denen  außer 
dem  Hofe  selbst  nur  geladenes  Publikum  Zutritt  hat;  all- 
mählich werden  die  Häuser  jedermann  geöffnet,  der  sein  Ein- 
trittsgeld bezahlt.  Aber  auch  dann  sind  die  besseren  Theater 
lange  Zeit  noch  der  Rendezvousplatz  ausschließlich  der  oberen 
Schichten  der  Gesellschaft,  denen  hier  eine  neue  Gelegenheit 
geboten  wird,  zu  flirten  und  ihren  Staat  zu  entfalten  ^^°. 

Von  Paris  urteilt  Capon:  die  Königliche  Akademie  der 
Musik  und  des  Tanzes,  respektive  die  Oper,  sei  nichts  anderes 
als  eine  „maison  publique  pour  gentilhommes". 

2.  Die  öffentlichen  Musik  hallen  und  Ballhäuser 
(würden  wir  heute  sagen),  die  zuerst  (scheint  es)  in  London 
mit  allem  Aufwand  errichtet  wurden  und  wegen  ihrer  Eleganz 
von  allen  Londonern  und  namentlich  von  den  Fremden  be- 
wundert wurden. 

Defoe  gibt  uns  von  dem  größten  und  wichtigsten  dieser 
Gebäude,  dem  Pantheon,  folgende  Beschreibung  ^^^: 

„Nor  should  the  Pantheon  be  forgotten,  which  in  taste, 
magnificence  and  novelty   of  design  and  decoration   may  be 


Der  Sieg  des  Weibchens  129 

prouounced  superior  to  any  thing  of  the  kind  in  Europe. 
Its  principal  room  is  truly  magnificent :  it  is  lighted  by  a 
centrical  dorne  of  a  cousiderable  magnitude  .  .  .  The  circum- 
jacent  apartments  are  also  fiuely  ornamented  with  whatever 
the  inventioii  of  modern  luxury  can  suggest  ..."  In  diesem 
Pantheon  wurde  regelmäßig  alle  14  Tage  ein  Konzert  gegeben 
„mit  daranschließendem  Ball,  zu  dem  jedermann  zugelassen 
ist",  fügt  Defoe  eigens  hinzu,  weil  diese  Einrichtung  gewiß  neu 
zu  seiner  Zeit  war,  „der  sich  die  erforderlichen  Eintrittskarten 
verschafft".    Neben  den  Theatern  und  Konzertsälen  liegen 

3.  die  feinen  Restaurants,  die  Tavernen:  im  18.  Jahr- 
hundert ebenfalls  noch  eine  Spezialität  Londons,  das  z.  B. 
von   den  Parisern   um  diese   Einrichtungen  beneidet   wurde. 

Von  den  Londoneru  Tavernen  entwirft  uns  Archen- 
holtz  folgende  reizvolle  Schilderung  ^^2.  j^  diesen  Tavernen 
soupiert  man  nach  Gefallen  in  Zimmern,  wo  sich  große  oder 
kleine  Gesellschaft  befindet,  mit  oder  ohne  Frauenzimmer. 
Diese  muß  man  jedoch  selbst  mitbringen ,  auch  sind  keine 
Nachtherbergen  hier  üblich,  da  diese  nur  zu  den  Bagnios- 
gebräucheu  gehören."  Bagnios,  abermals  eine  Sehens- 
würdigkeit Londons,  waren  eigentlich  Bäder;  „ihre  wahre 
Bestimmung  aber  ist,  Personen  beiderlei  Gesclilechts  Ver- 
gnügungen zu  verschaffen.  Diese  Häuser  sind  prächtig, 
ja  manchmal  fürstlich  möbliert.  Alles,  was  die 
Sinne  nur  reizen  kann,  ist  entweder  vorhanden  oder  wird 
verschafft"  (durch  Vermittlung  des  Oberkellners).  „Die  Eng- 
länder behalten  ihr  ernsthaftes  Wesen  auch  bei  ihren  Ver- 
gnügungen bei,  daher  denn  auch  die  Geschäfte  in  einem 
solchen  Hause  durchaus  mit  einer  Ernsthaftigkeit  und  An- 
ständigkeit betrieben  werden,  die  man  sich  kaum  vorstellen 
kann." 

In  den  vornehmen  Restaurants  und  in  den  Salons  parti- 
culiers,  die  damit  verbunden  waren,  war  der  Aufwand  so 
groß,  „daß   er  das  Bonmot  des  berühmten  Beaumarchais  ge- 

Sombart,  Luxus  und  Kapitalismus  9 


J30  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

wissermaßen  rechtfertigt,  der,  so  bekannt  er  auch  mit  den 
Schwelgereien  von  Paris  war,  dennoch  über  die  Londoner 
Wollüste  erstaunte  und  behauptete,  daß  in  einem  Winter- 
abende in  den  Bagnios  und  Tavernen  in  London  mehr  ver- 
zehrt würde,  als  die  sieben  vereinigten  Provinzen  in  sechs 
Monaten  zu  ihrem  Unterhalt  brauchten."  (Archenholtz.) 
Übrigens  fehlten  auch  in  Paris  die  feinen  Restaurants 
im  18.  Jahrhundert  keineswegs:  die  „schicksten"  waren  die 
des  Palais  Royal,  wie  Beauvilliers ,  Hur6  oder  die  Taverne 
anglaise  ^23_  Die  Lage  im  Palais  royale,  dem  Treffpunkt  der 
„Lebewelt",  läßt  auf  ihren  Charakter  schließen. 

4.  Die  Hotels  sind  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
ebenfalls  Luxushotels;  ihre  Zahl  ist  daher  beschränkt. 

In  London  war  das  Savoy-Hotel  berühmt,  das  auf  dem- 
selben Platze  stand,  wo  sich  heute  das  bekannte  Hotel  gleichen 
Namens  erhebt.  Was  es  für  ein  Ding  war,  solch  ein  Hotel 
in  einer  aristokratischen  Welt,  zeigt  uns  heute  noch  das 
Hotel  des  Reservoirs  in  Versailles.  Das  älteste  Luxushotel 
in  Europa  war  wohl  der  seit  Sixtus  IV.  bestehende  „Gasthof 
zum  Bären"  (Locanda  dell'  Orso)  in  Rom. 

Es  gab  nun  aber  noch  einen  Ort,  wo  die  wachsende 
Großstadt  einen  öffentlichen,  allen  zugänglichen  Luxus  zur 
Entfaltung  kommen  ließ,  das  war  die  Stelle,  wo  die  elegante 
Welt,  lies:  die  Damenwelt  und  namentlich  wieder  Halbwelt 
ihre  Luxuswaren  einzukaufen  pflegte;  wir  müssen  deshalb 

5.  die  L  ä  d  e  n  erwähnen,  denen  seit  der  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts mehr  und  mehr  Sorgfalt  zugewendet  wurde,  die 
man  seit  jeuer  Zeit  auszuschmücken  begann :  eine  Tatsache, 
die  das  Kopfschütteln  so  biederer  Leute  wie  Daniel  Defoe 
hervorrief  *^*. 

In  seinem  „Vollkommenen  Handelsmann"  widmet  er  ein 
eigenes  Kapitel  diesem  Unfug  der  „eleganten  Läden"  (of 
fine  Shops  and  fine  shows) ,  den  eine  vernünftig  gewordene 
Nachwelt  gar  nicht  mehr  für  möglich  halten  wird.    Deshalb 


Der  Sieg  des  Weibchens  131 

will  er,  zum  Zeugnis,  bis  zu  welchem  Unverstand  seine  Zeit- 
genossen sieh  verstiegen  haben ,  eine  Beschreibung  einer 
Pasteteubäckerei  (Pastry-Cooks  shop,  wir  würden  wohl  sagen : 
Konditorei)  und  ihrer  Einrichtung  geben ,  die  —  sage  und 
schreibe  —  300  ^  gekostet  hat:  .,Anno  Domini  1710":  „be- 
halten wir  das  Jahr  in  Erinnerung" :  let  the  year  be  recorded ! 
„Die  Ausstattung  einer  Kuchenbäckerei  hat  in  London 
damals  aus  folgenden  Teilen  bestanden: 

1.  Schiebefenster,  alle  von  Spiegelglas,  12  zu  IG  Zoll 
groß ; 

2.  alle  Gänge  mit  glasierten  Kacheln  belegt;  im  Hinter- 
stübchen  ein  Paneel  glasierter  Kacheln  mit  Landschafts-  und 
Figurenmalerei ; 

3.  2  große  Pfeilerspiegel  und  ein  Kaminspiegel  im  Laden, 
ein  sehr  großer  Pfeilerspiegel  —  7  Fuß  hoch  —  im  Hinter- 
stübchen ; 

4.  2  große  Armleuchter,  einer  im  Laden,  einer  im  Hinter- 
stübchen ; 

5.  3  große  Glaslaternen  im  Laden  und  8  kleinere; 

6.  25  Wandleuchter,  mit  einem  Paar  großer  silberner 
Leuchter  im  Hinterstübchen:    Wert  25  ^£\ 

7.  6  feine  große  silberne  Präsentierteller  für  Zuckerwerk ; 

8.  12  große  Tafelaufsätze,  wovon  drei  aus  Silber,  um 
kleine  Kuchen  usw.  bei  Festen  darauf  zu  tun; 

9.  Malerei  der  Decke,  Vergoldung  der  Laternen,  der 
Fensterrahmen  und  des  Schnitzwerkes:    55  '£. 

All  das  zusammen  mit  einigen  Dekorationsstücken,  außer 
den  kleinen  Tellern  und  außer  den  chinesischen  Schalen  und 
Tassen,  kostet,  wie  ich  aus  sicherer  Quelle  erfahren  habe, 
die  obigen  300  ^." 

Wer  einen  besonders  wichtigen  Bestandteil  der  Kund- 
schaft in  diesen  Läden  bildete,  können  wir  uns  —  angesichts 
der  Zusammensetzung  der  Londoner  Gesellschaft  —   leicht 

denken:   es  waren  dieselben  Leute,  die,  wie  wir  hören,  auch 

9* 


132  Viertes  Kapitel:    Die  Entfaltung  des  Luxus 

die  Schauspielhäuser  füllten:  „Eine  Keuschheitskommission, 
wie  ehedem  zu  Wien  war,  wenn  solche  in  London  möglich 
wäre,  würde  diese  Stadt  entvölkern  .  .  .  unzählige  Nahrungs- 
zweige, denen  die  Hälfte  der  Einwohner  ihren  Unterhalt, 
ja  ihr  Dasein  zu  verdanken  hat,  würden  ganz  vernichtet  und 
London  in  eine  Einöde  verwandelt  werden.  Will  man  mehr 
Beweise,  so  frage  man  in  den  Tausenden  von  Kramläden  in 
der  City,  wer  die  meisten  Käufer  und  die  besten  Kunden 
sind.  Der  Gewinst  einer  Nacht  bei  dieser  zahllosen  Menschen- 
klasse wird  den  folgenden  Tag  sogleich  zu  den  Krämern  ge- 
bracht, da  diese  Unglücklichen  für  eigene  Rechnung  gar  nicht 
unmäßig  sind,  vielmehr  darben,  um  alles  auf  den  Putz  zu 
wenden.  Ohne  sie  würden  die  Schauspielhäuser  leer  sein  ^^s.« 
Irgendwo  mußten  ja  die  50  Millionen  Frank  bleiben,  die 
nach  der  Meinung  M  e  r  c  i  e  r  s  jährlich  den  Venuspriesterinnen 
in  den  Schoß  flössen  ^26_ 


Alles  in  allem  seheint  mir  Godard  d'Aucourt,  der 
bekannte  Generalpächter,  den  Nagel  auf  den  Kopf  zu  treffen, 
wenn  er  die  Widmung  seiner  „Mömoires  turcs"  (an  M^e  Duthe, 
die  große  Schauspielerkurtisane)  mit  den  folgenden  Worten 
schließt,  die  auch  am  Ende  dieses  Traktates  füglich  stehen: 

„Jawohl,  meine  kleinen  Fräuleins:  ihr  seid  der  wahre 
Luxus,  der  für  jeden  großen  Staat  eine  Lebensbedingung  ist; 
ihr  seid  der  reizende  Köder,  der  ihm  die  Fremden  und  ihre 
Guineen  herbeilockt:  20  bescheidene  Bürgerinnen  haben  für 
die  Staatsfinanzen  weniger  Wert  als  eine  einzige  unter  euch." 

(Oui,  mes  demoiselles,  vous  etes  le  vöritable  luxe,  essentiel 
ä  un  grand  Etat,  l'appät  enviable  qui  lui  attire  les  6trangers 
et  leurs  guin^es;  vingt  modestes  citoyennes  valent  moins 
au  tresor  royal  qu'une  seule  d'entre  vous.)  ^^' 


133 


Fünftes  Kapitel :  Die  Geburt  des  Kapitalis- 
mus aus  dem  Luxus 


Literatur:  vakat 

I.    Richtige  und  falsche  Problemstellung 

Das  Problem,  das  ich  hier  aufrolle:  welche  Bedeutung 
der  Luxus  für  die  Entfaltung  des  Kapitalismus  habe,  die  Frage, 
ob  und  wodurch  der  Luxus  den  Kapitalismus  zu  fördern  im- 
stande sei,  hat  die  Ökonomisten  des  17.  und  18.  Jahrhunderts, 
die  Praktiker  wie  die  Theoretiker,  auf  das  lebhafteste  beschäftigt. 
Es  war  in  gewissem  Sinne  die  Kernfrage,  um  die  sich  alle 
anderen  wirtschaftspolitischen  Fragen  gruppierten ,  wie  heute 
etwa  die  Frage:  Agrar- oder  Industriestaat?  Man  sprach  da- 
mals zwar  noch  nicht  von  Kapitalismus,  sondern  nannte  das, 
was  man  meinte :  Industrie  oder  Manufakturen  oder  Reichtum 
oder  sonstwie.  Aber  man  war  sich  über  die  Sache  einig;  man 
erkannte,  daß  der  Luxus  diejenigen  Wirtschaftsformen,  die  da- 
mals im  Entstehen  begriffen  waren,  eben  die  kapitalistischen, 
zur  Entfaltung  bringe,  und  deshalb  waren  alle  Freunde  des 
ökonomischen  „Fortschritts"  auch  warme  Fürsprecher  des 
Luxus.  Sie  fürchteten  höchstens,  ein  großer  Luxuskonsum 
könnte  der  Kapitalbildung  Abbruch  tun,  trösteten  sich  aber 
wie  Adam  Smith  mit  der  Überzeugung,  daß  schon  genug 
sparsame  Leute  da  sein  würden,  um  die  nötige  Reproduktion 
und  Akkumulation  des  Kapitals  zu  sichern. 

Die  Regierungen  richteten  ihre  Politik  in  einem  luxus- 
freundlichen Sinne  ein. 


234  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Während  des  17.  Jahrhunderts  verschwinden  in  den 
Ländern  mit  rasch  fortschreitender  kapitalistischer  Entwick- 
lung die  Aufwandsverbote;  die  letzte  „Kleiderordnung",  die 
aber  auch  Verbote  bestimmter  Luxusaufwendungen,  bestimmter 
Leckerbissen  usw.  enthält,  fällt  in  England  in  das  Jahr  1621^^8; 
in  Frankreich  ^^^  datiert  das  letzte  Edikt  über  den  Tafelluxus 
aus  dem  Jahre  1629;  1644  und  1672  wurde  noch  die  über- 
mäßige Verwendung  der  Edelmetalle  zu  Luxuszwecken  ver- 
boten (aus  wesentlich  müuzpolitischen  Erwägungen);  1656  be- 
gegnen wir  noch  einem  Verbot  der  (Kastor-)  Hüte  über  50  1., 
und  1708  wird  die  letzte  Kleiderordnung  in  Frankreich  er- 
lassen. Seitdem  sind  auch  die  regierenden  Kreise  von  der 
„Notwendigkeit"  des  Luxusaufwandes  (im  Interesse  der  kapi- 
talistischen Industrie)  überzeugt,  und  die  führenden  Geister 
der  Literatur  nahmen  für  den  Luxus  Partei  (bis  dann  später 
die  Gegenbewegung  der  Jean-Jacquisten  einsetzt).  Was  sie 
vor  allem  am  Luxus  schätzten,  war  seine  marktbildende  Kraft. 

„II  faut  bien,"  meint  Montesquieu^^'',  „qu'il  y  ait  du 
luxe  (NB.  in  den  Monarchien!).  Si  les  riches  n'y  döpensent 
pas  beaucoup,  les  pauvres  mourront  de  faim." 

Einige  sehr  feine  Bemerkungen  über  die  Bedeutung  des 
Luxus  für  die  (früh-)kapitalistische  Entwicklung  finden  wir  in 
der  zweiten  Schrift  des  geistreichen  Abbe  Coyer  über  den 
„handeltreibenden  Adel"^^^:  „Le  luxe  tient  de  la  nature  du 
feu  qui  echauffe  et  qui  peut  brüler.  S'il  consume  des  mai- 
sons  opulentes,  il  soutient  nos  manufactures.  S'il  absorbe  le 
patrimoine  d'un  dissipateur,  il  nourrit  nos  ouvriers.  SMl  dimi- 
nue  les  facultas  du  petit  nombre,  il  multiplie  les  subsistances 
publiques.  Qu'on  proscrive  nos  Stoffes  de  Lyon,  nos  dorures, 
nos  tapisseries,  nos  dentelles,  nos  glaces,  nos  bijoux,  nos 
6quipages,  l'ölögance  de  nos  meubles,  les  delices  de  nos 
tables,  je  vois  tout  ä  coup  des  millions  de  bras  tomber  dans 
Tengourdissement :  et  j'entens  autant  de  voix  demander  du 
pain  ..." 


Richtige  und  falsche  Prohlemstellung  I35 

Aus  der  reichen  französischen  „Luxusliteratur"  ragt 
unter  den  luxusfreundlichen  Schriften  hervor  die 

„Theorie  du  Luxe  ou  Traite  dans  lequel  on  entreprend 
d'etablir  que  le  Luxe  est  un  ressort  non  seuleraent  utile, 
mais  meme  indispensablement  nöcessaire  ä  la  prosperitö  des 
Etats."  2  Vol.  1771.  Sie  trägt  als  Motto  den  Ausspruch  Vol- 
taires im  Mondain:  „Le  supertlu,  chose  tr^s-nöcessaire."  Sie 
hat  den  klugen  Juden  Pinto  zum  Verfasser. 

Diese  selbe  Auffassung,  daß  der  „Luxus"  zwar  ein  „Übel", 
ein  Laster  sei,  aber  der  Gesamtheit  Nutzen  bringe  durch  die 
Beförderung  der  Industrie,  war  auch  in  England  verbreitet: 
„Prodigality  is  a  Vice  that  is  prejudicial  to  the  man  but 
not  to  Tradelia,"  g^ibst  D.  Hume^^a  ^rotz  seiner  stark 
„ethischen"  Färbung,  kommt  zu  dem  Ergebnis:  „guter" 
Luxus  ist  gut,  „schlechter"  Luxus  ist  zwar  ein  Laster,  ist 
aber  immer  noch  besser  als  Faulheit,  die  wahrscheinlich  an 
seine  Stelle  treten  würde,  wenn  er  wegfiele.  Förmlich  zu 
einem  System  der  Sozial philosophie  ist  diese  Auffassung  dann 
von  B  e  r  n  a  r  d  M  a  n  d  e  v  i  1 1  e  in  seiner  Bienenfabel  aus- 
gebildet worden.  Die  Verse,  in  denen  er  den  „Luxus"  be- 
singt, lauten  folgendermaßen  ^^^ : 

„The  Root  of  Evil,  Avarice 

That  damu'd  ill  natur'd  baneful  Vice, 

Was  Slave  to  Prodigality 

That  noble  Sin;  whilst  Luxury 

Emidoy'd  a  Million  of  the  Poor, 

And  odioiis  Pride  a  Million  more: 

Envy  itself  and  Vanity, 

Were  Ministers  of  ludustry; 

Their  darling  Folly,  Fickleness, 

In  diet,  Furniture  and  Dress, 

That  Strange  ridic'lous  Vice,  was  made 

The  verv  Wheel  that  turn'd  the  Trade." 


„Der  Geiz,  dies  scheußlich  böse  Laster, 
Keins  fluchwürdiger  und  verhaßter, 


136  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

War  Sklave  jener  noblen  Sünde 
Verschwendung;  während  Luxus  diente, 
Millionen  Arme  zu  erhalten; 
Stolz  gleichfalls,  den  so  viele  schalten. 
Die  Eitelkeit,  der  Neid  selbst,  sie 
Begünstigten  die  Industrie, 
Die  Sucht,  die  Mode  mitzumachen 
In  Kleidung,  Wohnung  und  andern  Sachen 
—  Belacht  stets  und  bewundert  zwar  — , 
Des  Handels  wahre  Treibkraft  war  . . ." 
(Ungedruckte  Übersetzung  des  (f)  Malers  Graetzer.) 

Ganz  besonders  lehrreich  sind  die  Kapitel,  die  Defoe 
in  seinem  „Complete  English  Tradesman"  der  Erörterung 
dieses  Problems  widmet.  Es  ist  ein  sehr  drolliger  Eiertanz, 
den  unser  braver  Non-Conformist  hier  aufführt;  eigentlich 
verabscheut  er  den  Luxus  und  bewundert  jene  Quäker,  die  mit 
eitlem  Tand  zwar  handeln,  von  sich  selbst  aber  ihn  fernhalten; 
aber  als  Lobredner  des  Handels  kann  er  sich  doch  nicht  zur 
Verdammung  des  luxuriösen  Lebenswandels  entschließen,  von 
dem  er  einsieht  —  das  ist  für  uns  das  Wichtige  — ,  daß  er 
die  Quelle  alles  wachsenden  Reichtums  ist:  „The  extravagant 
pride  of  the  age  feeds  trade  and  consequently  the  poor." 
Defoe  gibt  uns  eine  Menge  Aufschlüsse  über  den  wirklichen 
Zusammenhang  zwischen  Luxus  und  Kapitalismus,  von  denen 
ich  an  anderer  Stelle  den  Leser  noch  unterrichten  werde. 

Auch  unter  den  deutschen  Schriftstellern  ist  die  Luxus- 
frage viel  besprochen  und  ist  die  Bedeutung  des  Luxus  für 
die  kapitalistische  Entwicklung  erkannt  worden ;  so  meint 
Schröder ^^^:  „Ich  wolte  lieber,  daß  der  pracht  im  lande 
noch  größer  wäre  .  .  .  denn  der  pracht  des  reichen  ernehret 
viel  handwercksleute  und  arme  ..." 

Man  hätte  nun  denken  sollen:  als  man  in  unserer  Zeit 
daran  ging,  der  Entstehung  des  modernen  Kapitalismus  nach- 
zuspüren, hätte  man  diese  Beobachtungen  kluger  und  kenntnis- 
reicher Männer  sich  zunutze  gemacht. 

Aber  das  hat  man  nicht  getan.    Man  liat  zwar  über  den 


Richtige  und  falsche  Problemstellung  137 

Luxus  viel  geredet  und  hat  über  die  Bedeutung  des  Marktes 
für  die  kapitalistische  Industrie  viel  theoretisiert ;  aber  über 
die  Beziehungen  zwischen  Luxus  und  Markt  hat  man  nichts 
zu  sagen  gewußt.  Offenbar  weil  man  sowohl  in  der  Luxus- 
frage wie  in  der  Marktfrage  auf  ein  totes  Geleis  gefahren  war. 

Dem  Luxusproblem  ist  man  mit  dem  ganzen  ethischen 
Pathos  des  braven  und  genügsamen  Bürgers  zuleibe  gegangen 
und  hat  es  mit  Hilfe  moralisierender  Raisonnements  kurz 
und  klein  erörtert.  Selbst  die  Studien  Bosch ers,  die  viel- 
leicht das  Beste  sind,  was  in  unserer  Zeit  über  den  Luxus 
geschrieben  ist,  laufen  doch  im  Grunde  auf  ethische  Senti- 
ments  hinaus :  was  guter  und  was  schlechter  Luxus  sei.  Und 
Werke  wie  Baudrillarts  „Geschichte  des  Luxus"  sind 
Materialsammlun  gen. 

In  der  Lehre  vom  Markte  und  seiner  Bedeutung  für  die 
Entstehung  des  Kapitals  hat  sieh  aber  seit  Marx  die  un- 
glückliche Idee  festgesetzt:  der  Kapitalismus  sei  durch  die 
geographische  Ausweitung  der  Absatzbeziehungen,  insbesondere 
durch  die  Erschließung  der  Kolonien  im  16.  Jahrhundert 
wesentlich  gefördert  worden.  Oder  wie  der  Gedanke  in  der 
mehr  teleologisch  orientierten  Auffassung  der  historischen 
Schule  der  Nationalökonomie,  dem  sich  dann  fast  alle  Wirt- 
schafts-„Historiker"  anschlössen,  gemodelt  wurde:  die  räum- 
liche Ausweitung  des  Absatzes,  der  „Fernabsatz",  der  „Ex- 
port" habe  die  kapitalistische  Organisation  „nötig"  gemacht. 
Diese  Ansicht  hat  im  letzten  Menschenalter  eine  starke  Stütze 
gefunden  in  der  Theorie  Karl  Büchers,  dieses  ausgezeich- 
neten Forschers  und  wahrhaft  produktiven  Denkers:  Hand- 
werk =  Kundenproduktion;  Kapitalismus  =  Produktion  für 
einen  unbekannten  Abnehmerkreis ;  Handwerk  =  lokaler  Ab- 
satz; Kapitalismus  =  interlokaler  Absatz. 

Ich  halte  diese  Richtung,  die  die  Gedanken  jetzt  wohl 
aller  "Wirtschaftshistoriker  genommen  haben,  für  höchst  ver- 
hängnisvoll.    Denn,  wie  ich  schon  sagte,   in  ihr  ist  die  For- 


138  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

schling  auf  ein  totes  Geleis  gefahren.  Man  hat  ganz  an  der 
falschen  Stelle  den  Gründen  für  den  Übergang  zur  kapita- 
listischen Wirtschaftsverfassung  nachgespürt.  Kundeuproduk- 
tion  und  Fernabsatz  bezeichnen  nicht  im  mindesten  den  Gegen- 
satz zwischen  Handwerk  und  Kapitalismus,  wenn  wir  ihren 
Absatzbedingungen  nachgehen.  Es  gibt  Kapitalismus  bei  strik- 
tester Kundenproduktion  (Maßschneiderei)  und  hat  jahr- 
hundertelang zahllose  blühende  Handwerke  ohne  jede  kapi- 
talistische Nuance  gegeben,  deren  Absatzgebiet  der  ganze 
bewohnte  Erdkreis  war. 

Den  verfahrenen  Wagen  wieder  auf  das  richtige  Geleis 
zu  bringen,  wollen  die  folgenden  Ausführungen  ihr  Teil  bei- 
tragen. Sie  nehmen  den  Faden  da  auf,  wo  die  Denker  des 
18.  Jahrhunderts  ihn  haben  fallen  lassen;  sie  wollen  den 
Luxus  großenteils  verantwortlich  machen  für  die  kapitalisti- 
sche Entwicklung  bis  zum  Ende  der  frühkapitalistischen 
Epoche,  indem  sie  dabei  von  folgenden  Grundgedanken  ge- 
tragen werden. 

Der  Luxus  hat  bei  der  Entstehung  des  modernen  Kapi- 
talismus auf  sehr  verschiedene  Weisen  mitgeholfen;  er  hat 
z.  B.  bei  der  Überführung  des  feudalen  in  den  bürgerlichen 
Reichtum  (Verschuldung!)  eine  wesentliche  Rolle  gespielt. 
Hier  soll  jedoch  nur  seine  marktbildende  Kraft  in  Rück- 
sicht gezogen  werden,  die  man  sich  im  allgemeinen  etwa  so 
klar  machen  kann. 

Die  kapitalistische  Unternehmung  braucht,  wie  wir  wissen, 
um  leben  zu  können,  einen  Mindestabsatz  von  Tauschwerten. 
Die  Höhe  dieses  Absatzes  ist  von  zwei  verschiedenen  Um- 
ständen abhängig:  von  der  Häufigkeit  des  Güterumsatzes  und 
von  der  Höhe  des  Tauschwertes  der  umgesetzten  Güter. 

Die  Höhe  des  Tauschwertes  der  umgesetzten  Güter  wird 
wiederum  durch  zwei  Faktoren  bestimmt :  durch  die  Höhe  des 
Tauschwertes  des  einzelnen  Gutes  und  durch  die  Menge  der 
Güter. 


nichtige  und  falsche  Problemstellung  139 

Somit  kann  ein  Mindestabsatz  erzielt  werden  entweder 
durch  den  Absatz  hochwertiger  oder  durch  den  Absatz  vieler 
Güter:  Einzelabsatz  —  Massenabsatz. 

Die  Hochwertigkeit  eines  Gutes  kann  auf  zwei  ver- 
schiedene Weisen  entstehen:  durch  Häufung  oder  durch  Ver- 
feinerung. Die  Verfeinerung  kann ,  wie  wir  sahen ,  mannig- 
fache Formen  annehmen.  Häufung  findet  bei  denjenigen 
Gütern  statt,  die  man  zusammengesetzte  Güter  oder  kom- 
plexe Güter  nennen  kann:  Lokomotiven,  Schiffe,  Kranken- 
häuser. Hier  handelt  es  sich  um  eine  große  Menge  ordinärer 
Güter,  die  aber  zu  einer  Einheit  verbunden  werden  und  durch 
ihre  Summierung  dieser  Einheit  einen  großen  Wert  verleihen. 
Absatz  solcher  Güter  ist  (genau  genommen)  Massenabsatz  in 
der  Form  des  Einzelabsatzes. 

In  der  Geschichte  der  europäischen  Völker  läuft,  seit 
wir  sie  kennen,  Grobbedarf  und  Feinbedarf  nebeneinander 
her;  beide  haben  zunächst  einen  bescheidenen  Umfang,  so 
daß  beide  lange  Zeit  im  Rahmen  der  handwerksmäßig-bäuer- 
lichen oder  der  fronwirtschaftlichen  Organisation  befriedigt 
werden  konnten.  Und  zwar  erfolgte  (der  Regel  nach)  die 
Deckung  des  Grobbedarfs  innerhalb  der  Grenzen  des  Dorfes 
oder  des  Fronhofes  oder  der  Stadt  (und  ihrer  Landschaft), 
ruhte  also  auf  lokalwirtschaftlicher  Grundlage,  während  der 
Feinbedarf,  soweit  er  nicht  durch  die  Produktion  auf  den 
Herrenhöfen  in  eigenwirtschaftlicher  Form  befriedigt  wurde 
oder  der  Fernhandel  für  Herbeischaffung  der  hochwertigen 
Güter  sorgte,  von  Handwerkern  gedeckt  wurde,  die  von  jeher 
für  einen  interlokalen  oder  internationalen  Markt  arbeiteten. 

Die  Entwicklung  während  des  Mittelalters  und  der  nächsten 
Jahrhunderte  erfolgt  nun  so,  daß  der  Grobbedarf  im  wesent- 
lichen unverändert  bleibt,  also  für  den  Kapitalismus  zunächst 
gar  nicht  in  Frage  kommt:  der  Bedarf  an  Gebrauchsgegen- 
ständen für  die  große  Masse  der  Bevölkerung,  ebenso  aber 
auch    der   Bedarf   an   Arbeitsmitteln    (Geräten,  Werkzeugen, 


140  Fünftes  Kapitel:  Die  Gehurt  des  Kapitalismus 

Maschinen)  wird  bis  zum  Ende  der  frühkapitalistischen  Epoche 
(bis  auf  zwei  Ausnahmen,  von  denen  sogleich  die  Rede  sein 
wird)  in  der  Eigenwirtschaft  oder  vom  Handwerk  befriedigt. 
Der  Grund  dieser  Erscheinung  ist  einleuchtend:  weil  weder 
die  Bevölkerung  sich  vermehrte,  noch  sich  wesentlich  mehr 
agglomerierte,  noch  sich  die  Transportfähigkeit  der  Waren 
steigerte,  so  entstand  kein  Massenbedarf  an  individuellen  Ge- 
brauchsgtitern ;  weil  sich  die  Technik  der  Gütererzeugung  und 
des  Gütertransports  nicht  grundsätzlich  änderte,  entstand  kein 
Bedarf  an  zusammengesetzten  Gütern,  also  auch  kein  Markt 
für  kapitalistische  Produktion  oder  kapitalistischen  Waren- 
absatz. 

Die  Ausnahmen,  von  denen  ich  sprach,  in  denen  also 
schon  vor  dem  Anbruch  der  hoehkapitalistischen  Epoche,  also 
vor  dem  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  ein  Massenabsatz  vieler 
minderwertiger  oder  ein  Absatz  zusammengesetzter  Güter  ent- 
stand, sind:  1.  die  Kolonien,  die  also  gewiß  auch  zur  Ent- 
wicklung des  Marktes  für  die  kapitalistische  Industrie  bei- 
getragen haben,  und  vor  allem  2.  die  modernen  Heere.  Die 
überragende  Bedeutung  des  Armeebedarfs  für  die  Ausbildung 
des  Kapitalismus  weise  ich  in  dem  2.  Bande  dieser  „Studien" 
nach.  Hier  also  gilt  es,  zunächst  die  andere  Seite  des  Pro- 
blems zu  beleuchten;  will  sagen,  gilt  es,  den  Nachweis  zu 
führen,  welchen  ganz  großen  Anteil  die  Entfaltung  des  Luxus, 
also  die  Entstehung  eines  Luxusbedarfs,  für  die  Entstehung 
des  modernen  Kapitalismus  hat. 

Wenn  ich  sage:  ich  will  den  Nachweis  führen  für  die 
Bedeutung,  die  der  wachsende  Luxuskonsum  für  die  kapi- 
talistische Entwicklung  besitzt,  so  heißt  das  natürlich  bei  der 
heutigen  wissenschaftlichen  Mode:  den  historisch-empirischen 
Nachweis  führen  für  die  Beziehungen  zwischen  den  beiden 
Erscheinungskomplexen.  Das  ist  nun  nicht  so  einfach  und 
kann  beim  allerersten  Versuche  auch  nur  sehr  unvollkommen 
gelingen.     Wie   das  bei  meiner  Art  zu  arbeiten  nicht  anders 


Der  Luxus  uud  der  Handel  141 

seiu  kann,  wird  die  Hauptarbeit  der  Einzelbeweisführung 
die  nächste  Generation  der  Wirtschaftshistoriker  zu  leisten 
haben. 

Was  die  Aufgabe  so  besonders  schwierig  macht,  ist  die 
saloppe  Art,  in  der  bisher  in  der  Regel  über  wirtschaftliche 
Tatsachen  berichtet  wird:  wo  von  „wirtschaftlichem  Auf- 
schwung", „Ausdehnung  der  Produktion",  „Erweiterung  des 
Absatzgebietes"  und  dergleichen  die  Rede  ist  und  man  nicht 
weiß:  ist  Handwerk  oder  Kapitalismus  die  Wirtschaftsform, 
also  überhaupt  nichts.  W^esentlich  mehr,  als  ich  im  folgen- 
den an  Belegen  zusammengestellt  habe  für  die  Beziehungen 
zwischen  Luxus  und  Kapitalismus,  wird  sich  daher  im  Augen- 
blick au  der  Hand  des  gedruckten  Materials  über  das  Pro- 
blem nicht  aussagen  lassen. 

II.    Der  Luxus  und  der  Handel 

1.  Der  Großhandel 

Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  der  Warenhandel 
früher  kapitalistische  Formen  angenommen  hat  als  die  Güter- 
erzeugung. Ich  habe  zwar  schwerwiegende  Bedenken  gegen 
die  Annahme,  daß  während  des  Mittelalters  die  großen  Häuser 
der  italienischen  oder  südfranzösischen  oder  spanischen  oder 
süddeutschen  Städte  vornehmlich  durch  den  Warenhandel  zu 
ihrem  Reichtum  gelangt  seien,  glaube  vielmehr,  daß  andere 
Momente  hier  wesentlicher  gewesen  sind,  jene  wenigen  Groß- 
geschäfte aus  der  Masse  der  kleinen  Händler  herauszuheben, 
will  aber  doch  die  Möglichkeit  nicht  ausschließen,  daß  auch 
reine  W^arenhandlungen  sich  zu  kapitalistischen  Unternehmungen 
entwickelt  haben.  Dann  aber  —  und  das  ist  das,  was  uns 
hier  interessiert  —  ist  es  ganz  sicher  ein  Handel  mit  Luxus- 
waren gewesen,  der  ihre  Größe  verursacht  hat. 

Aller  irgendwie  belangreiche  Handel,  bei  dem  allein  eine 
kapitalistische    Organisation   in    Frage   kommen   kann,   hat 


142  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

während  des  Mittelalters  Italien  zum  Mittelpunkt,  besteht 
also  entweder  in  der  Ausfuhr  italienischer  Erzeugnisse  (oder 
der  Einfuhr  der  für  ihre  Herstellung  erforderlichen  Rohstoffe 
und  Halbfabrikate)  oder  in  der  Herbeischaffung  und  Zer- 
streuung der  Waren,  die  der  Orient  lieferte. 

Italiens  Einfuhr  aus  den  nordischen  Ländern  bestand  vor- 
nehmlich in  Wolle  (für  die  Florentiner  Luxusindustrie,  von 
der  wir  noch  näheres  erfahren  werden),  in  Pelzwerk  und 
feinem  Leinenzeug.  Die  Hauptmasse  des  italienischen  Exports 
mußte  wahrscheinlich  bar  bezahlt  werden  (mit  den  Erträg- 
nissen namentlich  der  deutsehen  Silberminen). 

Dagegen  führte  Italien  nach  Norden  aus:  Seide  und 
Seidenwaren;  feinste  Tücher;  feinste  Glaswaren;  Baumwolle 
und  Baumwollwaren,  die  (wie  wir  noch  sehen  werden)  bis 
in  die  Neuzeit  hinein  durchaus  als  Luxusgüter  gelten;  Wein; 
Waffen. 

Ebenso  dienten  alle  Waren,  die  man  über  Italien  oder  in 
Italien  aus  dem  Orient  bezog,  dem  Luxusbedürfnis  der  Reichen, 
wenn  man  etwa  die  von  der  Kirche  nachgefragten  Güter,  wie 
den  Weihrauch ,  ausnimmt ,  obwohl  natürlich  auch  hier  ein 
durch  Vermögenskonzentration  ermöglichter  Luxusaufwand 
vorlag.  Dabei  rechne  ich  für  jene  Jahrhunderte  des  Mittel- 
alters und  selbst  der  neueren  Zeit  bis  in  unsere  menschen- 
freundlich-massenfürsorgliche  Epoche  hinein  den  Bedarf  von 
ausländischen  Medikamenten  zum  Luxusbedarf:  das  Volk  und 
der  Bürger  kurierten  sich  noch  mit  den  Kräutern  aus,  die 
der  Wald  und  das  Feld  ihrer  Heimat  darboten. 

Die  Warenliste,  die  Wilhelm  Heyd  für  den  Levante- 
handel aufstellt  ^2",  ist  folgende  (ich  ordne  die  Gegenstände 
nach  dem  Gebrauchszweck): 

1.  Medikamente,  die  auch  als  Würze  für  Speisen  dienten: 
Aloe,  Aloeholz  (das  nebenbei  auch  als  Parfüm  oder  als 
Material  bei  feinerem  Schreinwerk  genutzt  wurde),  Balsam, 
Costus,  Galanga,  Galläpfel,  Ingwer,  Kampfer,  Kardamom, 


Der  Luxus  und  der  Handel  143 

Laudamim,  Manna,  Mumia,  Myrobalanen,  Rhabarber, 
Röhrencassie,  Safran  (auch  Farbstoff),  Scammonium, 
Traganth  (auch  Farbstoff),  Tutia,  Zedvar. 

2.  Geivürze  usw. :  Pfeffer  vor  allem :  aber  Pfeffer  gilt  bis  in 
die  neuere  Zeit  hinein,  jedenfalls  das  ganze  Mittelalter 
hindurch  als  Luxusgegenstand,  der  nur  in  der  Küche  der 
Reichen  Verwendung  findet,  und  den  Potentaten  sich 
untereinander  zum  Geschenk  machen;  Gewürznelken: 
waren  noch  zwei-  bis  dreimal  so  teuer  wie  Pfeffer;  Muskat- 
nüsse; Zimt;  Zucker,  der  ebenfalls  bis  ins  10.  Jahrhundert 
hinein  als  ein  Leckerbissen  der  Reichen  gilt. 

3.  Parfüms,  Räucherstoffe:  Benzoe,  Mastix,  Moschus,  Sandel- 
holz, Weihrauch,  Ambra,  aus  der  man  auch  allerhand 
Gegenstände  schnitzte. 

4.  Farbstoffe:  Alaun,  Brasilianisches  Holz,  Färberröte, 
Indigo,  Kermes,  Lacca:  alles  Stoffe  für  Edelfärbung; 
Mastix  (für  Firnisse). 

5.  Rohstoffe  für  Getvehe:  Seide  und  allerfeinsten  ägyptischen 
Flachs. 

6.  Schmucligegenstände :  Edelsteine,  Korallen,  Perlen,  Elfen- 
bein, Porzellan,  Glas,  Gold-  und  Silberfäden. 

7.  Bekleidimgsstoffe :  Seidengewebe,  Brokat,  Samt  und  aller- 
feinste  Stoffe  aus  Linnen,  Wolle  oder  Baumwolle,  wie 
Boccasino,  Buckeram,  Kamelotte,  die  alle  an  Aussehen 
den  Seidenstoffen  glichen  und  ebenso  teuer  wie  diese 
waren. 

Diese  Stoffe  wurden  teils  aus  dem  Orient  nach  Europa, 
dann  aber  auch  aus  Italien  nach  dem  Orient  ebensowie  in 
die  europäischen  Staaten  verführt. 

Wie  hochwertig  die  Waren  sein  mußten,  mit  denen  man 
im  Mittelalter  handelte,  können  wir  ungefähr  aus  den  Zoll- 
erträgnissen, zum  Beispiel  an  der  Zollstelle  in  Como,  ent- 
nehmen. Nach  den  Berechnungen  Schultes^^''  schwankte 
der  Wert  der  über  den  Gotthard  gebrachten  Waren  im  15.  Jahr- 


144  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

hundert  zwischen  320  000  und  518  000  U,  von  dem  53  Sol.  auf 
1  Mailänder  Goldgulden  kamen.  Das  Gewicht  dieser  Waren 
soll  um  etwa  25  000  Ztr.  geschwankt  haben,  so  daß  der  Wert 
eines  Zentners  etwa  50  fl.,  eines  Pfundes  V2  fl.  (etwa  4  Mk.  h.  W.) 
gewesen  wäre. 

Auch  nach  den  großen  Entdeckungen  des  15.  Jahrhunderts 
änderte  sich  an  dem  Inhalt  des  Handelsverkehrs  insofern  nur 
wenig,  als  es  bis  in  das  19.  Jahrhundert  im  wesentlichen  doch 
hochwertige  Luxusgüter  waren,  die  zwischen  dem  Osten  und 
Westen  und  zwischen  Amerika  und  Europa  ausgetauscht 
wurden.  Die  Mengen  wuchsen  nur,  und  einige  neue  Artikel 
treten  zu  den  alten  hinzu :  vor  allem  die  vier  großen  Genuß- 
mittel: Tabak,  Kaffee,  Tee  und  Kakao,  die  wir  aber  (den 
Tabak  vielleicht  ausgenommen)  bis  zum  Schlüsse  der  früh- 
kapitalistischen  Periode  ebenfalls  nur  auf  dem  Tische  des 
Reichen  uns  vorstellen  dürfen,  die  wir  also  durchaus  noch 
zu  den  Luxusgütern  rechnen  müssen. 

folgende  Ziffern  geben  eine  annäberungsweise  richtige  Vorstellung 
von  der  Ausdehnung  des  Konsums  der  wichtigsten  Genußmittel  in  den 
vergangenen  Jahrhunderten. 

Tee  führte  die  Ostindische  Kompagnie  nach  England  ein: 

1668 .    .    • 100  /iJ 

1710 1420  Ztr. 

1731 8168    „ 

1761 26192    „ 

1784 86083     „ 

Nehmen  wir  an,  die  Hälfte  davon  sei  in  England  verblieben  und 
dort  verzehrt,  so  würde  sich  (die  Bevölkerung  bezifferte  sich  nach  den 
Ermittlungen  Finlaisons  1700  auf  rund  5,  1750  auf  rund  6,  1800  auf 
9,187  Millionen)  ein  Verbrauch  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung 

1700  von  rund 0,01  U 

1730    ,,         „ 0,08   „ 

1760     „        „ 0,2     „ 

1784    „        „ 0,5     „ 

ergeben,  während  1906  im  Vereinigten  Königreich  270  Millionen  U  Tee 
verzehrt  wurden,  also  rund  6V2  U  auf  den  Kopf,  30—35  U  auf  die 
Familie.    Deutlicher  noch  wird  das  Bild,  wenn  wir  folgende  Berechnung 


Der  Luxus  und  dcv  Iliuidt'l  145 

anstellen;  einen  Teekonsum,  wie  er  heute  als  Durchschnitt  sich  für 
jede  englische  Familie  ergibt,  konnten  sich  erlauben: 

1668 3  Familien 

1710  .  .  .  etwa  2000 
1730  ...  „  12000 
1760  ...  „  40000 
1780  ...       „      140000 

Der  Kaffeekonsum  Europas  betrug  (nach  AI.  v.  Humboldt!)  um 
das  Jahr  1800  etwa  1400000  Ztr.;  die  Bevölkerung  Europas  belief  sich 
(nach  Beloch)  um  dieselbe  Zeit  auf  etwa  120000000,  also  wäre  damals 
schon  etwa  1  ü  Kaffee  im  Jahr  auf  jeden  lebendigen  Europäer  ent- 
fallen; man  wird  sagen  können,  daß  damit  dieses  Genußmittel  anfing, 
Massengebrauchsgut  zu  werden.  Im  Jahre  1910  konsumierte  jeder  Reichs- 
deutsche auch  erst  etwa  6  ^  Kaffee  im  Jahre. 

Zucker  soll  (ebenfalls  nach  Humboldt)  damals  4500000  Ztr.  in 
Europa  verbraucht  sein,  3 — 4  €6  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung;  heute 
in  Deutschland  beträgt  der  Durchschnittsverzehr  auf  den  Kopf  der  Be- 
völkerung 38  ^.  Daß  der  Zucker  noch  im  18.  Jahrhundert  keineswegs 
allgemein  gebräuchlich  als  Süßmittel  war,  geht  aus  der  Stellung  des 
Honigs  hervor,  die  dieser  noch  immer  besaß.  In  Deutschland  wandte 
man  ihn  noch  um  das  Jahr  1750  mit  Vorliebe  zum  Versüßen,  zum  Ein- 
machen der  Früchte  und  als  Zusatz  beim  Bierbrauen  an.  Man  wird  an- 
nehmen dürfen,  daß  der  Zucker  in  den  reichen  westeuropäischen  Ländern 
um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  im  übrigen  Europa  aber  vielleicht 
erst  im  19.  Jahrhundert  aufgehört  hat,  ein  ausgesprochener  Eeservat- 
konsumartikel  der  Reichen  zu  sein. 

Ein  Luxusartikel  blieb  aber  auch  ein  Gegenstand  der 
indischen  Einfuhr,  der  im  17.  und  18.  Jahrhundert  einen  sehr 
wichtigen  Bestandteil  dieses  Handels  ausmachte  und  heute 
von  jeder  Postsekretärsfrau  getragen  wird:  der  Kattun  oder 
richtiger:  die  bedruckten  indischen  Baumwollstoffe,  sowie  die 
baumwollenen  Waren  anderer  Art,  die  Asien  nach  Europa 
sandte.  Ende  des  17.,  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  kam  die 
Mode  der  indischen  Cotons  in  den  reichen  Kreisen  in  Auf- 
nahme und  drohte  den  einheimischen  Produzenten  Konkurrenz 
zu  machen.  Daß  diejenigen ,  die  sich  in  ihrer  Existenz  ge- 
fährdet glaubten,  die  Fabrikanten  feiner  Tücher  und  seidener 

Sombart,  Luxus  uiul  Kapitalismus  10 


24(3  Fünftes  Kapitel;  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Stoffe  waren,  bestätigt  uns  die  Richtigkeit  unserer  Annahme, 
daß  die  reichen  Klassen  als  Käufer  auftreten.  Dasselbe  lehren 
uns  die  Kämpfe,  die  der  Staat  (z.  B.  in  Frankreich)  gegen 
die  indischen  Kattune  (die  von  M™^  Pompadour  sanktioniert 
waren,  aber  ja  erst  in  Trianon  ihre  rechte  Modeblüte  erlebten !) 
führte:  seit  1700  verbot  er  ihren  Gebrauch.  Aber  natürlich 
blieben  die  Verbote  erfolglos:  wir  sehen  sich  die  eleganten 
Damen  mit  den  Cotons  kleiden,  wenn  sie  von  Paris  auf  ihrem 
Landgut  waren.  Wir  erfahren  von  folgenden  hübschen  Epi- 
soden : 

Die  Frau  Marschallin  de  Villars  schmuggelte  indische 
Stoffe  ein.  Am  17.  Juli  1715  erscheint  die  Frau  Marquise 
de  Nesle  ganz  öffentlich  im  Tuilerien-Garten  mit  einer  „robe 
de  chambre  brodee  de  fleurs  de  soie  et  fa^on  des  Indes  sur 
une  toile  du  meme  pays".  Allgemeine  Verwunderung  und 
Entrüstung  bei  der  Kleiderpolizei:  der  Polizeipräsident  eilt 
zum  Herrn  Marquis  und  macht  ihm  Vorstellungen.  Dieser 
verspricht,  seine  Frau  veranlassen  zu  wollen,  daß  sie  in  Zu- 
kunft usw.^^^  (Über  den  Ausgang  der  häuslichen  Szene,  die 
daraus  entstand ,  berichtet  uns  das  amtliche  Schriftstück 
leider  nichts.) 

Dies  vorausgeschickt,  werden  wir  imstande  sein,  uns  ein 
richtiges  Bild  von  der  überseeischen  Einfuhr  nach 
Europa  im  17.  und  18.  Jahrhundert  zu  machen,  wenn  wir 
die  Einfuhrstatistiken  jener  Zeit  überblicken;  immer  dasselbe 
Bild:  in  England,  Holland,  Frankreich.  Die  indischen  Kom- 
pagnien bringen  1,  Gewürze,  2.  Arzneimittel,  3.  Farbstoffe, 
4.  Seide  und  seidene  Stoffe,  5.  Baumwolle  und  baumwollene 
Stoffe,  6.  Edelsteine,  Porzellane  usw.  und  dann  je  nachdem 
7.  Kaffee,  Tabak,  Zucker,  Tee,  Kakao.  Es  genügt,  wenn  ich 
Ein  solches  Eiufuhrschema  mitteile. 

Die  Einfuhr  nach  Frankreich  aus  Ostindien  betrug  im 
Jahre  1776^39. 


Der  Luxus  und  der  Handel  147 

KafTee 3248000  fr. 

Pfeffer  und  Zimt 2449000  „ 

Mousselines 12000000  „ 

Indische  Linnen 10183  000  „ 

Porzellan 200000  „ 

Seide 1382000  „ 

Tee       3399000  „ 

Div.,    wie    Seidenstofife,    Muscheln, 

spanische  Rohre  (rotins),  Salpeter  3  380  OOO  „ 

36241000  fr. 
Bezahlt   wurden   diese  Waren  entweder   mit  dem  Gelds 
der  amerikanischen  Silber-  und  Goldminen  (die  Hauptmasse) 
oder  mit  einheimischen  Erzeugnissen,  namentlich  Textilwaren. 
Unter  diesen  waren  gewiß  schon  minderwertige  Massenartikel, 
namentlich    zur   Bekleidung    der  Neger   und   Malaien,    wohl 
auch  der  Mittelschichten   in   den   von   Europäern  besiedelten 
Kolonien,    wie   denen   Nordamerikas    (weil   in   ihnen   die   Er- 
zeugung  gewerblicher  Produkte   größtenteils    verboten    war). 
Aber  für  die  Gesamtbewertung  des  überseeischen  Handels  in 
jener  Zeit  ist  das  belanglos:   dieser  bleibt  trotzdem  ein  Kind 
des  Luxuskonsums,  bleibt  eine  exklusive  Privatangelegenheit 
der  reichen  Leute,   durch  deren  Luxusaufwand  er  allein  sein 
Dasein  fristet.    Denn  wenn  die  hereingebrachten  Waren,  wie 
wir  gesehen  haben,  Luxusgüter  waren,  so  bleibt  es  sich  gleich, 
welcher  Art  die  hinausgeführten  waren :   sie  sind  ja  nur  die 
zufällige  Form  der  Bezahlung.    Der  ganze  Handel  wäre  nicht 
da  ohne  die  Einfuhr  der  Luxusgüter,   da  ohne  sie  die  Leute 
drüben  auch   die   europäischen  Waren   nicht  kaufen  könnten. 
(Eine    Ausnahme  hiervon   machen   nur  die   Edelmetalländer : 
nach   den  von   Alexander  von   Humboldt   mitgeteilten 
handelsstatistischen  Ausweisen  ""  führte  Mexiko  im  Jahre  1802 
von  Spanien   ein   für   20  390  859  Piaster,   dagegen  an  Waren 
aus  nur  für  8410  930  Piaster;  den  Rest  bezahlte  es  mit  seinem 

Silber.) 

10* 


14g  Fünftos  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Eines  selir  wichtigen  Zweiges  des  internationalen  Über- 
seehandels, von  dem  wir  wissen,  daß  er  fast  nur  in  kapita- 
listischen Formen  betrieben  wurde,  müssen  wir  nun  aber  noch 
besonders  gedenken:  des  Sklavenhandels.  Zwar  waren 
seine  Gegenstände  nicht  selbst  Luxusgüter  (oder  doch?),  aber 
sie  dienten  doch  unmittelbar  dazu,  Luxusgüter  zu  erzeugen, 
wie  wir  das  noch  genauer  sehen  werden. 

Über  den  Umfang  des  Sklavenhandels  besitzen  wir  eine 
Menge,  zum  Teil  recht  sehr  voneinander  abweichender  An- 
gaben. Die  bekannteste  und  vielleicht  glaubhafteste  Rech- 
nung, die,  die  Buxton  anstellt,  ist  die  folgende^*': 

Jährlich  wurden  aus  Afrika  weggeholt 

durch  den  christlichen  Sklavenhandel  rund  400  000  Neger 
durch    den     mohammedanischen    Sklaven- 
handel rund  100000  Neger 

500  000  Neger 

Von  den  400000  Objekten  des  christlichen  Sklavenhandels 
gehen  280000  beim  Fang,  auf  dem  Transport  und  im  ersten 
Jahre  zugrunde,  so  daß  nur  120000  Sklaven  schließlich  zur 
Verfügung  bleiben.  Diese  Ziffer  erscheint  angesichts  des  Ge- 
samtbedarfs an  Sklaven  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  kaum 
zu  hoch  und  wird  durch  die  in  neuerer  Zeit  bekannt  ge- 
wordenen amtlichen  Ziffern  in  ihrer  Richtigkeit  bestätigt. 
So  erfahren  wir  z.  B.,  daß  in  die  französischen  Antillen 
während  der  Jahre  1780 — 1789  durchschnittlich  im  Jahre 
30 — 35000  Neger  eingeführt  worden  sind.  Setzen  wir  die 
Gesamtzahl  der  Sklaven,  die  damals  in  den  französischen 
Antillen  gehalten  wurden,  auf  240 — 260000  an,  so  würde  die 
Jahreszufuhr  Vt — Vs  betragen  haben.  Wenn  aber  schließlich 
6 — 7  Millionen  Sklaven  im  ganzen  da  waren,  so  erscheinen 
als  iährlicher  Gesamtersatz  120 — 150000  Sklaven  eher  zu 
niedrig  als  zu  hoch. 

Aber  es  kommt  auf  eine  genaue  ziffernmäßige  Erfassung 


I 


Der  Luxus  und  der  Handel  149 

der  geliaiKlelten  Sklaveiiware  gar  nicht  so  sehr  an.  Es  genügt 
für  unseren  Zweck  vollständig  die  Feststellung,  daß  es  sich 
dabei  schließlich  um  viele  Zehntausende  im  Jahre  und  wäh- 
rend der  ganzen  Periode,  während  welcher  der  Sklavenhandel 
betrieben  worden  ist,  um  Millionen  Menschen  gehandelt  hat, 
die  (das  ist  das  einzige,  was  uns  hier  interessiert)  Anlaß  zu 
guten  Geschäften  boten. 

Über  die  Ausdehnung  des  Sklavenhandels  während  des 
Mittelalters  fehlen  uns  zuverlässige  Angaben  durchaus.  Daß  es 
sich  aber  auch  damals  schon  um  beträchtliche  Menschenmassen 
handelte,  können  wir  aus  den  Schilderungen  des  arabischen 
Sklavenhandels  sowie  aus  gelegentlichen  Mitteilungen  ent- 
nehmen, deron  Zifferuangaben  freilich  einen  abenteuerlichen 
Anstrich  trugen.  So  hören  wir,  daß  1310  die  sizilische  Flotte 
im  tiefsten  Frieden  die  Insel  Gerba  an  der  tunesischen  Küste 
überfiel,  und  daß  bei  dieser  Gelegenheit  12000  Weiber  und 
Kinder  zu  Sklaven  gemacht  wurden;  daß  1355  ein  genuesischer 
Admiral  ohne  jede  Veranlassung  Tripolis  überrumpelte  und 
plünderte  und  daliei  7000  Männer,  Frauen  und  Kinder  in  die 
Knechtschaft  schleppte  ^*^. 

Die  Nationen,  die  nacheinander  die  führende  Rolle  im 
Sklavenhandel  gespielt  haben,  ohne  daß  darum  die  anderen 
Nationen  ausgeschlossen  gewesen  wären ,  sind  die  Juden  *^", 
die  Yenetianer'^'*,  die  Genuesen,  die  Portugiesen,  die  Fran- 
zosen und  die  Engländer.  Diese  letzten  vier  Nationen  sind 
es,  die  nacheinander  das  Monopol  des  Negerhandels  in  ihren 
Händen  haben.  Der  Anteil  der  verschiedenen  Händlerschaften 
am  Sklavenhandel  in  seiner  Blütezeit  ist  aus  folgenden  Ziffern 
zu  ersehen. 

Im  Jahre  1709  wurden  von  der  Küste  Afrikas  (vom 
Kap  Blanco   bis  zum  Kongo-Flusse)  Neger  fortgeholt  von  "-^ 

Großbritannien 53100 

Frankreich 23  520 

Holland 11300 


.    .    38000  Neger 

.     .     20  000      „ 

.     .     10000      „ 

.     .      4000      „ 

.     .      2000      „ 

25Q  Fiinftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Britisch- Amerika 6300 

Portugal       1700 

Dänemark 1200 

Kacli  Bryan  Edwards  gab  es  im  Jahre  1791  an  den 
Küsten  Afrikas  40  europäische  Faktoreien  für  den  Sklaven- 
handel, darunter  waren  14  englische,  3  französische,  15  hol- 
ländische, 4  portugiesische,  4  dänische.  Aber  ausgeführt 
wurden  in  jenem  Jahre 

von  den  Briten  .    . 

„  „     Franzosen . 

„  „     Portugiesen 

„  „     Holländern 

.,  „     Dänen  .     . 

Zweifellos  war  Großbritannien  während  des  ganzen  18.  Jahr- 
hunderts, also  in  der  wichtigsten  Epoche,  der  Mittelpunkt 
des  Sklavenhandels,  und  in  Großbritannien  selbst  war  der 
Mittelpunkt  wiederum  Liverpool :  von  192  englischen  Sklaven- 
schiffen liefen  im  Jahre  1771  aus^^^:  von  Liverpool  107,  von 
London  58,  von  Bristol  23,  von  Lancaster  4.  Postlethwayt 
hat  uns  ein  Verzeichnis  sämtlicher  Sklavenschiffe  mitgeteilt, 
die  Liverpooler  Kauf leuten  gehörten ;  es  waren  zu  seiner  Zeit 
88  mit  je  60  bis  550,  meist  3—400  Sklaven  als  Ladung  i*'. 
Der  Sklavenhandel  hatte  sich  in  Liverpool  rasch  entwickelt; 
1729  besaß  die  Händlerschaft  dieser  Stadt  erst  eine  Schaluppe 
von  30  t,  die  diesen  Handel  betrieb,  während  1751  schon 
53  Fahrzeuge  mit  einer  Ladefähigkeit  von  5334  t  von  Mersey 
nach  der  Sklavenküste  aussegelten. 

Der  Übersee-,  insonderheit  der  Kolonialhandel  war  nun 
aber,  wie  außer  Zweifel  steht,  im  17.  und  18.  Jahrhundert 
das  Feld,  auf  dem  sich  der  kommerzielle  Kapitalismus  vor 
allem  entfaltete.  Neben  ihm  verschwindet  der  internationale 
europäische  Handel  und  noch  mehr  der  iuterlokale  Handel  in 
den    einzelnen    Ländern.      Immerhin:    auch   in    ihm    werden 


Der  Luxus  uml  der  Handel  151 

kapitalistische  Formen  sich  hier  und  da  ausgebildet  haben, 
und  da  ist  es  wichtig  zu  wissen,  daß  auch  dieser  Handel 
innerhalb  Europas  im  wesentlichen  ein  Handel  mit 
Luxuswaren  war.  Ein  großer  internationaler  und  doch  kapi- 
talistisch betriebener  Handel,  der  nicht  ein  Handel  mit  Luxus- 
gütern war,  bestand,  soviel  ich  sehe,  nur  für  zwei  Artikel: 
Getreide  und  Kupfer,  ein  Handel,  der  in  beiden  Fällen  durch 
den  Bedarf  der  modernen  Heere  erzeugt  worden  war,  wie  in 
dem  zweiten  Bande  dieser  Studien  nachgewiesen  werden  wird. 
Was  für  Waren  im  17.  und  18.  Jahrhundert  von  einem 
europäischen  Lande  in  das  andere  gingen,  lehrt  uns  (als 
Beispiel  unter  vielen)  eine  Aufstellung  der  von  Frankreich 
nach  Holland  ausgeführten  Waren,  die  im  Jahre  1658  die 
Pariser  Handelskammer  machte,  und  die  der  kundige  Ver- 
fasser der  Batavia  illustrata  für  seine  Zeit  (Anfang  des 
18.  Jahrhunderts)  in  vielen  Punkten  noch  für  gültig  erklärt, 
obwohl  in  der  Zwischenzeit  sich,  wie  wir  noch  sehen  werden, 
in  Holland  eine  nationale  Luxusindustrie  entwickelt  hatte. 
Dieser  Verlauf  ist  typisch  in  jenen  Jahrhunderten  des  er- 
starkenden Kai)italismus :  daß  ein  Land  nach  dem  anderen 
die  Güter  selbst  herstellt,  die  es  vordem  von  dem  kapitalistisch 
fortgeschrittenen  Lande  auf  dem  Wege  des  Handels  eingeführt 
hatte :  erst  ist  Italien ,  dann  ist  Frankreich  das  führende 
Industrieland,  bis  ihm  England,  Holland,  Deutschland  usw. 
folgen. 

Die  Aufstellung  aber,  von  der  ich  eben  sprach,  ist  diese  **^: 
Frankreich   führt   nach  Holland    ein   (nicht    nur    zum    Konsum    in 
Holland  selbst,  sondern  auch  zur  Wiederausfuhr): 

1.  an  Samten,  Plüschen,  Satins,  Gold-  und  Silberstotfen, 
Taffet  und  anderen  Silberstoffen  aus  Tours  und  Lion 

für  mehr  als 6  000  000  Fr. 

2.  an  Bändern,  seidenen  und  gedrehten  Borten,  Knöpfen, 
Knöpfen  und  Schnüren  (taggs),  die  in  Paris,  Ronen 
und   in  den  benachbarten  Stiidten  gemacht  werden, 

für ■    ■    ■    2  000  000    „ 

8  000  000  Fr. 


152  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Transport    8  000  000  Fr. 
8.    an  Seidenhüten  und  anderen  Sorten  Hüten,  in  Paris 

und  Reuen  gemacht,  für 1  500  000    „ 

4.  ;m  Federn,  Gürteln,  Schirmen,  Masken,  Kopfputz 
(head-dresses),  Spiegeln,  goldenen  Rahmen,  Uhren 
und  allerhand  Kleinkram ,  was   die  Franzosen  „bi- 

joux"  nennen,  für 2  000  000    „ 

5.  an  Handschuhen,  gemacht  in  Paris,  Clermont,  Ven- 
dome und  Ronen,  für 1 500  000    „ 

6.  an  Wollengarn,  in  der  Picardie  gesponnen,  für    .    .       500  000    ., 

7.  an  Papier  aller  Art,  in  Poitou,  Champagne,  Limousin, 
Auvergne  und  Normandie  gemacht,  für 2  000  000    „ 

8.  an  Nähnadeln  und  anderen  Nadeln  und  Elfenbein-, 
Ebenholz-,  Buchsbaum-  und  Hornkämmen,  in  Paris 

und  der  Normandie  verfertigt,  für 500  000    ., 

9.  an  Kurzwaren  in  Eisen  und  Stahl,  in  der  Auvergne 

gemacht,  für 500  000    ., 

10.  an  Segeltuch  von  der  Normandie  und  Britannien  für 

mehr  als 5  000  000  ., 

11.  an  Zimmereinrichtungen  aller  Art:  Betten,  Matratzen, 
Steppdecken,  Laken,  Fransen  usw.,  für  mehr  als.    .  5  000  000  „ 

12.  an  Weinen  verschiedenster  Herkunft  für  mehr  als  .  9  000  000  „ 

13.  Brandy,  Essig  und  Cider  für  mehr  als 2  000  000  ,, 

14.  an  Saffran,   Seife,  Honig,  Mandeln,  Oliven,  Kapern, 

Pflaumen  und  anderen  Früchten  für 2  000  000    „ 

39  500  000  Fr. 
Also   alles  Luxuswaren  bis  auf  Nr.  10  und  vielleicht  Nr.  13,   denn 
der  Brandy  und  Cider  können  möglicherweise  für  das  Schiflfsvolk  oder 
die  Soldaten  bestimmt  gewesen  sein. 

Nach  der  Schätzung,  die  Moreau  de  Jonnes  anstellt, 
wurde  weit  über  die  Hälfte  des  Wertes  der  französischen 
Einfuhr  zur  Zeit  Ludwigs  XIV.  gebildet  durch  folgende 
Artikel,  die  Italien,  England  und  die  Niederlande  lieferten: 
Seiden  waren,  feine  Tücher,  Tapeten  (tentures),  Battiste,  Spitzen, 
feine  Eisen-  und  Stahlwaren  (coutellerie)  und  Kurzwaren 
(mercerie)  ^*^. 

2.  Der  Detailhandel 

Tiefer  und  nachhaltiger  und  ausschließlicher  als  den 
Großhandel  hat  der  Luxus  den  Kleinhandel  in  seiner  Ent- 
wicklung beeinflußt.   Gab  es  in  der  frühkapitalistischen  Epoche 


1 


i 


Der  Luxus  und  der  Handel  153 

immerhin  einige  wichtige  Großliandelszweige,  die  kapitalistisch 
waren  und  doch  sicli  nicht  mit  Luxuswaren  befaßten  (der 
Kupferhandel  im  IC,  der  Getreidehandel  im  17.  Jahrhundert), 
so  wird  sich,  glaube  ich,  kein  einziges  auch  nur  kapitalistisch 
gefärbtes  Detailhandelsgeschäft  vor  dem  19.  Jahrhundert  nach- 
weisen lassen,  in  dem  nicht  Luxusgüter  feilgeboten  wären. 
Ganz  deutlich  können  wir  dagegen  wahrnehmen,  wie  der 
Luxusbedarf  und  die  Notwendigkeit  oder  die  Gier  des  Händ- 
lers, ihn  zu  befriedigen,  gerade  in  jenen  Jahrzehnten,  in 
denen  wir  die  Neigung  zur  verschwenderischen  Lebensführung 
unter  den  wohlhabenden  Leuten  plötzlich  sich  zu  ganz  großem 
Aufschwünge  erheben  sahen:  in  den  Jahrzehnten  um  das 
Jahr  1700,  als  das  brasilianische  Gold  die  Taschen  der  Pariser 
und  Amsterdamer  und  Londoner  Spekulanten  zu  füllen  be- 
gann, wie  damals,  sage  ich,  die  Fürsorge  für  den  Luxusbedarf 
des  reichen  iNIannes  den  Händler  aus  seinem  handwerkerlichen 
Schlendrian  aufrüttelt  und  die  Bahn  der  kapitalistischen  Ent- 
wicklung hinauftreibt. 

Vielleicht  würden  wir  den  innigen  kausalen  Zusammen- 
hang zwischen  Luxusentfaltuug  und  kapitalistischem  Detail- 
handel nicht  so  mit  Händen  greifen  können,  wenn  uns  nicht 
ein  glücklicher  Zufall  eine  Quelle  erhalten  hätte,  wie  sie  in 
gleicher  Zuverlässigkeit  und  Ausgiebigkeit  uns  leider  nur  in 
den  seltensten  Fällen  geboten  wird,  eine  Quelle,  aus  der  wir 
die  Wandlungen  bis  ins  einzelnste  genau  verfolgen  können, 
die  der  englische  Seidenwarenhandel  in  der  Zeit  seit 
der  Restauration  bis  in  die  1730  er  Jahre  hinein  durchgemacht 
hat.  Die  Quelle  ist  die  Erzählung,  die  der  kundige  Verfassei- 
des „English  Tradesman"  aus  seiner  eigenen  Erfahrung  von 
den  Vorgängen  macht  ^^°;  ein  Mann  also,  der  mit  berechtigtem 
Selbstgefühl  von  sich  sagen  konnte,  daß  keiner  zu  seiner  Zeit 
eher  dazu  befähigt  gewesen  sei  —  by  years  and  experience  — 
über  diese  Episode  zu  berichten: 

Der  Seidenwarenhändler,   der  Mercer,   der  Mercier,   ist 


154  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

aber  gewiß  der  typische  Vertreter  des  Luxuswarenhaudels  in 
jenen  Jahrhunderten  des  übermütigen  Reichtums.  Hier  herrscht 
die  Lady  unumschränkt.  Aller  Handel  ist  auf  sie  zugeschnitten. 
Die  kostbarsten  Stücke  des  Luxusbedarfs  werden  hier  um- 
gesetzt ,  denn  der  Seidenwarenhandel  umfaßt  natürlich  alle 
Gold-  und  Silberstoffe,  Brokate,  Samte  und  wohl  auch  Spitzen. 

Der  Seidenwarenhändler  alten  Stils,  wie  er  uns  noch  in 
London  unter  den  jüngeren  Stuarts  begegnet,  und  wie  er  wohl 
auch  noch  ein  paar  Jahrzehute  später  die  Regel  bildete  (ich 
denke  mir,  daß  die  größten  Verschiebungen  doch  erst  gegen 
das  Ende  des  17.  Jahrhunderts  einsetzen),  war  Grossist  und 
Detaillist  in  eigner  Person ;  es  gab  mit  andern  Worten  noch 
keine  selbstäudigen  Detailhäudler  in  Seidenwaren:  die  die 
Stoffe  beim  Produzenten  aufkauften,  verkauften  sie  auch  ellen- 
weise an  die  Kundschaft.  Das  hatten  ja  selbst  ganz  große 
Kaufherren  in  aller  früheren  Zeit  getan.  So  sehen  wir  beispiels- 
weise die  Fugger,  als  sie  beinahe  auf  dem  Zenitli  ihrer  Macht 
und  ihres  Reichtums  angelangt  waren,  Seide  und  Samt  aus- 
schneiden ;  wenn  es  freilich  auch  königliche  Hofhaltungen 
waren,  denen  sie  „gülden  Tuch",  die  Elle  zu  36  11.,  oder 
Florentiner  und  Mailänder  Damast,  die  Elle  zu  8  bis  10  fl., 
oder  Seidensamt,  die  Elle  zu  4  fl.,  lieferten  ^^^  Immerhin! 
Königliche  Kaufkute,  die  sonst  mit  Kupfer  und  mit  Kaisern 
handelten.  Herr  Arnold  oder  Herr  Friedländer-Fould  würden 
heute  doch  nicht  unserm  Kaiser  ein  paar  Meter  Band  ver- 
kaufen wollen. 

Unsere  Londoner  Mercers  zur  Zeit  des  großen  Brandes 
und  noch  zwanzig  Jahre  danach  saßen  alle  in  der  City,  wo 
sie  wohl  seit  den  Plantagenets  gesessen  hatten,  in  der  engen, 
düsteren  Pater-noster  Row,  die  eigens  für  sie  gebaut  war, 
und  hielten  dort  ihre  Stoffe  in  hohen,  dunkeln  Gewölben,  die 
von  einem  spärlich  hereinfallenden  Oberliciit  beleuchtet  waren, 
feil:  The  spacious  shops,  backware  houses,  sky-lights,  and 
other  eonveniencies.  made  on  purpose  for  their  trade,  are  still 


Der  J.uxus  tiiul  clor  Handel  155 

to  be  Seen,  heißt  es  noch  in  der  fünften  Auflage  des  Complete 
English  Tradesniau  (1745).  Ihre  Lager  waren  unermeßlich 
groß:  „prodigiously  great".  Und  sie  verkauften  sie,  wie  ihre 
Voreltern  sie  zur  Zeit  der  Plantagenets  gewiß  auch  schon  ver- 
kauft hatten.  Die  beste  Kundschaft  suchte  sie  hier  in  der 
engen  Pater-noster  Row  auf:  der  Hof  an  der  Spitze.  In  zwei 
Ixeihen  standen  die  Wagen:  auf  der  einen  Seite  fuhren  sie 
hinein,  auf  der  andern  hinaus,  so  war  es  Vorschrift,  denn  die 
Straße  war  zu  eng  zum  Wenden :  die  Mercers  hatten  selbst 
zwei  Büttel  angestellt,  die  die  Ordnung  aufrechterhalten 
mußten.  Solche  Gewölbe  gab  es  etwa  50,  in  denen  die  großen 
Kaufleute  saßen.  Der  Rest  waren  die  Trabanten  dieses  stolzen 
Handels:  die  Bortenleute  (lace-man)  in  der  Mitte  der  Ive- 
lane;  die  Knopf  laden  (button-shops)  am  Ende  der  Straße  bei 
Cheapside;  die  Garnläden  (crewel-shops)  und  Fransenläden 
(fringe-shops)  nahebei  in  Blow-bladder  street. 

Das  wurde  nun  von  Grund  auf  anders,  als  die  lustige 
Zeit  begann:  „as  the  gay  humour  came  up",  (Unser  Gewährs- 
mann läßt  die  genaue  Grenzbestimmung  der  Zeit,  die  er  meint, 
vermissen,  er  sagt:  da  saßen  sie,  die  alten  Großmercers, 
„about  twenty  years  after  the  fire",  „and  even  in  that  time  . . . 
as  the  gay  humour  came  on  .  .  .",  das  wäre  also,  da  das  Feuer 
1<)(36  war,  schon  die  Regierungszeit  Karls  IL,  für  die  ja  die 
Bezeichnung  einer  fröhlichen  Zeit  gewiß  paßt).  Damals  näm- 
lich wuchs  zunächst  die  Zahl  der  detaillierenden  Mercers  un- 
geheuer rasch  an :  sie  fingen,  da  die  Pater-noster  Row  zu  eng 
wurde,  an,  sich  an  der  Peripherie  Londons  anzusiedeln :  in  Ald- 
gate,  Lombard-Street  und  Covent-Garden,  der  bald  einen  Namen 
bekam.  Da  hier  die  Straßen  breiter  waren,  so  zog  die  Kund- 
schaft, die  ja  nur  in  Kutschen  kam,  es  vor,  in  den  neuen 
Läden  zu  kaufen,  auch  der  Hof  kam  nicht  mehr  in  die  City ; 
Pater-noster  Row  verödete,  und  in  wenig  mehr  als  zwei  Jahren 
wurden  die  alten  Mercers  gezwungen ,  ihre  Gewölbe  zu  ver- 
lassen  und   dem   Strome   der  Kundschaft   nachzuziehen:   wie 


150  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

auf  dem  Meere,  meint  der  Verfasser,  die  Fischer  den  Fischen 
nachziehen,  wenn  diese  ihren  Standort  ändern.  (Waren  die 
neuen  „out  lying  mercers",  die  solcherweise  den  alten  Seiden- 
warenhandel  revolutionierten,  Juden,  die  mit  Karls  IL  Frau 
oder  mit  dem  Orauier  nach  London  kamen?  Es  kann  kaum 
anders  sein.)  Nochmals  zehn  Jahre  und  Covent-Garden  wurde 
verlassen:  die  Mercers  suchten  eine  neue  Stätte,  wie  ein  schwär- 
mendes Bienenvolk ,  und  ließen  sich  endlich  in  Ludgate-hill 
nieder:  the  swarm  settled  on  Ludgate-hill,  wo  er  nun  dauernd 
blieb.  Die  Zahl  der  Seidenhandlungen,  die  1663  50  bis  60 
betragen  hatte,  war  unterdessen  auf  300  oder  400  angewachsen. 

Um  dieselbe  Zeit,  als  die  Mercers  aus  ihrem  Standort 
wegzogen,  auf  dem  sie  jahrhundertelang  gesessen  hatten,  und 
sieh  über  weite  Teile  von  London  verbreiteten,  lösten  sich 
auch  viele  andere  Händler  (und  Handwerke)  von  ihren  alten 
Straßen  los,  die  sie  das  ganze  Mittelalter  über  innegehabt 
hatten.  Manche  unter  ihnen,  z.  B.  die  Linen-drapers,  auch 
ein  ausgesprochener  Luxuswarenhandel,  vermehrten  sich  eben- 
falls erstaunlich:  „monstrously  increased".  Die  feine  Leib- 
wäsche wurde ,  wie  wir  an  anderer  Stelle  schon  sahen ,  um 
diese  Zeit  ein  Luxus  des  reichen  Mannes  und  seines  Weibchens. 

Was  uns  diese  Erzählung  lehrt,  ist  also  dieses:  daß  die 
Luxuswarenhandlungeu  wegen  der  rasch  steigenden  Nachfrage 
sich  in  kurzer  Zeit  stark  vermehren  und  ihren  alten  Standort 
verlassen.  Damit  aber  war  die  Tür  aufgestoßen,  durch  die 
der  moderne  kaufmännische  Geist  in  die  stillen  Räume  des 
Detailhandels  eindringen  konnte;  damit  wurde  die  Umwandlung 
der  mittelalterlichen  Detailhandelsgeschäfte  in  kapitalistische 
Unternehmungen  nur  eine  Frage  der  Zeit.  Denn  mit  diesen 
Veränderungen:  steter  und  plötzlicher  Vermehrung  und  Orts- 
veränderung, wurde  das  Detailhandelsgeschäft  auf  den  Boden 
der  ökonomischen  Ratio  gestellt,  wurde  die  Notwendigkeit  er- 
zeugt, den  Konkurrenzkampf  mit  den  Nachbarn  aufzunehmen, 
die  zweckmäßigsten  Methoden  zur  Herbeiholung  der  Kunden 


Der  Luxus  und  der  Handel  157 

auszusinnen  und  anzuwenden.  Und  das  bedeutete  eben  den 
Einzug  des  kapitalistischen  Geistes.  Wie  dieser  im  Laufe  des 
nächsten  Jahrhunderts  sich  in  den  Luxusgeschiiften  der  Groß- 
städte (und  nur  in  diesen)  einnistet,  können  wir  aber  genau 
verfolgen ,  wenn  wir  die  wenigen  Angalien ,  die  wir  gerade 
über  die  Detailhandelsorganisation  aus  jener  Zeit  besitzen, 
richtig  zu  deuten  verstehen. 

Was  sich  in  dem  folgenden  Jahrhundert,  nachdem  die 
alten  Mercers  aus  Pater-uoster  Row  ausgewandert  waren,  er- 
eignete, war  vornehmlich  folgendes: 

1.  Detailhandel  und  Engroshandel  differenzieren 
sich:  jene  300 — 400  Mercers  konnten  nur  zum  kleinen  Teil 
noch  Grossisten  sein. 

2.  Die  Ladeuinhaber  fangen  au,  ihre  Läden  eleganter 
auszustatten,  um  die  Kundschaft  anzulocken  oder  den  feineu 
Leuten,  die  die  Kundschaft  bildeten,  den  Aufenthalt  angenehm 
zu  machen.  Es  wird  uns  ausdrücklich  bestätigt,  daß  diese 
Verfeinerung  der  Ladenausstattuug  bei  den  Toy-men  anfing, 
also  bei  den  Galanteriewarenhändlern  würden  wir  vielleicht 
sagen,  wobei  wir  aber  immer  nur  an  Luxusgalauteriewaren 
höchsten  Raffinements,  Nippes  usw.,  denken  müssen.  lu  den 
Toys  kulminierte  in  gewissem  Sinne  der  Luxus  der  Zeit. 
Französisch  heißen  diese  kostbaren  Nichtigkeiten  „bijoux", 
was  nicht  nur  Schmuck  im  engeren  Sinne  damals  bedeutete, 
sondern  Colifichets,  Spielereien,  Kleinigkeiten  aus  kostbarem 
Metall  und  mit  kostbarer  Arbeit  überhaupt.  In  diesen  Läden 
traf  sich  die  elegante  Welt,  vor  allem  die  Herrenwelt,  die 
hier  ihre  Einkäufe  für  ihre  Geliebten  macht.  Denn  hier 
kaufte  man  die  „bijoux  frivoles",  „die  man  den  anständigen 
Frauen  schenkt,  die  kein  Geld  nehmen"  (que  Ton  donne  aux 
femmes  honnetes  qui  n'acceptent  de  l'argent,  mais  bien  des 
colifichets  en  or,  parcequ'ils  ont  un  air  de  döcence!),  meint 
Mercier,  der  uns  den  „Petit  Dunkerque"  beschreibt  ^^2,  den 
Luxusladen  ä  la  mode  zu  seiner  Zeit,   in  dem  sich  nament- 


158  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

lieh   iu   den   ersten  Tagen   des  Jahres   die  „petits  seigneurs" 
drängen ,   so   daß   man   eine  Garde   aufstellen  muß.     „Nichts 
Glänzenderes    gibt    es    als    diesen   Laden" :    rien    n'est   plus 
brillant  ä   Fcbü   que   cette  boutique,   die  Voltaire,   als   er 
das   letzte   Mal   in   Paris   war,   mit   seinem  Besuch   beehrte: 
.,Er  lächelte  über  alle  diese  Schöpfungen  des  Luxus;  er  be- 
merkte, glaube  ich,  eine  gewisse  Ähnlichkeit  zwischen  diesen 
glitzernden  Bijoux   und   seinem  Stil",   fügt  Mercier  hinzu. 
3.    Die  Form   des  modernen  Detailhandelsgeschäfts,   das 
Bedarfsartikelgeschäft,   wie   ich   es   genannt  habe  ^^^   in 
dem  die  Waren  nach  dem  Bedarfszweck  zusammengestellt  sind, 
beginnt  sich  aus  dem  alten  Branchengeschäft  herauszubilden. 
In  gewissem  Sinne  vertritt  der  Toy-Man,  der  Marchand  bijoutier 
schon  dieses  neue  Prinzip ;   auch  in  der  Beschaffung  der  Zu- 
taten  zur   weiblichen   Toilette   finden   sich  Ansätze   zu  einer 
Neugruppierung   der  Waren   im   Laden.     Scheinbar  ist  auch 
der  Mercer  im  Begriffe,  ein  Bekleidungsgeschäft  zu  werden: 
„Der  Mercer  handelt  mit  Seiden,  Samten,  Brokaten  und  einer 
unzähligen  Menge  teurer  Kleinigkeiten,  die  zur  Ausschmückung 
des   schönen  Geschlechts  gehören"   (an  innumerable  Train  of 
expensive  Trifles  for  the  Ornament  of  the  Fair-Sex)^^^    Das 
erste  wirkliche  Bedarfsartikelgeschäft  ist  aber,  soviel  ich  sehe, 
das  Wohnungseinrichtungsgeschäft,  in  dem  sich  alles  bereits  zu- 
sammenfindet :  selbstverständlich  nur  in  allerbesten  Qualitäten, 
was   zur   Ausschmückung   einer   Wohnung   dient.     Teilweise 
scheinen  es  die  Tapezierer  gewesen  zu  sein,  die  sich  zu  solchen 
Möbelausstattungsgeschäften   umwandelten,   in  denen  Tische, 
Kommoden,  alle  Arten  von  Kunsttischlerei  (tous  les  ouvrages 
d'^benisterie),   Spiegel,  Kronleuchter  usw.   neben  den  Betten 
und   Polstern ,   den   Vorhängen   und  Wandteppichen ,   die   sie 
selber   anfertigten ,   zu   finden  waren  ^^^.     Teilweise  waren  es 
bloße   Händler  in   diesen  Dingen,   die   sie   aber  ebenfalls  in 
einem  Laden   vereinigten.     Sie  verkaufen:   Gemälde,   Stiche, 
Kandelaber,  Armleuchter,  Kronleuchter,  Figuren  aus  Bronze, 


Der  Luxus  und  der  Handel  159 

Marmor,  Holz  und  anderen  Stoffen,  Stutzuliren  und  Taschen- 
uhren, Cabinets,  Schränke,  Scliubladen,  Tisclie,  Gueridons  aus 
Holz  und  vergoldet,  Marmortische  und  andere  Waren  und  Kurio- 
sitäten, die  zur  Ausschmückung  der  Wohnung  dienen:  „marchan- 
dises  et  curiositez  propres  pour  l'ornement  des  appartemens"^^". 
In  London  finden  wir  ganz  ähnliche  Geschäfte  um  dieselbe 
Zeit.  Hier  sind  es  die  Luxusmöbeltischler  (Cabinet-Makers), 
die  in  einem  Laden  allerhand  PMurichtungsgegenstände  feil- 
halten, die  sie  nur  zum  Teil  selbst  gefertigt  haben:  manche 
dieser  Läden  sind  so  reich  ausgestattet,  daß  sie  eher  wie 
Paläste  ausschauen  (they  look  more  like  Palaces),  und  ihr 
Anlagekapital  ist  ausnehmend  groß  (their  Stocks  are  of  ex- 
ceeding  great  Value)  ^■'''.  Daneben  gibt  es  aber  auch  Aus- 
stattungsmagazine der  Tapeziere  gerade  wie  in  Paris:  manche 
von  ihnen,  die  Upholders,  sind  große  Ladeninhaber,  die  stets 
eine  Fülle  fertiger  Waren  zum  Verkauf  daliegen  haben  ^^^. 

4.  Die  Versach  Hebung  des  Verhältnisses  zwischen 
Händler  und  Kundschaft,  die  alle  spätere  kapitalistische  Ent- 
wicklung vor  allem  kennzeichnet,  beginnt  in  diesen  großen  Luxus- 
warengescliäften  :  der  Petit  Dunkerque  ist  meines  Wissens  das 
erste  Detailhandelsgeschäft,   in  dem  „feste  Preise"  galten  ^^^ 

5.  In  diesen  großen  Luxuswarenläden:  damit  habe  ich 
den  letzten  und  wichtigsten  Punkt  berührt.  Offenbar  nämlich 
weitete  sich  in  dem  Maße,  wie  alle  die  genannten  Geschäfts- 
prinzipieu  zur  Anwendung  kamen,  mußte  sie  es  infolgedessen, 
die  kapitalistische  Basis  aus,  auf  der  diese  Geschäfte  ruhten. 

Insbesondere  wird  uns  von  den  Seidenwarenhaudlungen 
berichtet,  daß  sie  zum  Teil  recht  umfänglich  waren.  Vou 
einem  Pariser  Detailgeschäft  (Galpin)  erfahren  wir  aus  dem 
Anfange  des  18.  Jahrhunderts,  daß  in  ihm  an  einem  ein- 
zigen Tage  für  80000  livres  Stoffe  verkauft  wurden  ^^^^ 
Der  „Vollkommene  englische  Handelsmann"  erzählt  uns  1727 
von  einem  Mercer,  der  eine  große  Menge  Angestellte  und 
Arbeiter  „a  great  many  servants  and  journeymen"  in  seinem 


1(30  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Laden  beschäftigt.  Einer  Dame,  die  er  bedient,  und  die 
sich  absichtlich  zwei  Stunden  lang  bei  ihm  aufhält  ohne  zu 
kaufen,  legt  er  für  etwa  3000  ^  Ware  vor.  Einen  andern 
Mercer  hat  er  gekannt,  der  einen  Umsatz  von  40  000  '£  im 
Jahre  hatte.  Das  Kapital ,  mit  dem  man  um  die  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  einen  Seidenwarenladen  aufmachen  konnte, 
wird  von  einem  Gewährsmann  auf  500—2000  '£ ,  von  einem 
andern  auf  1000—10  000  £  angegeben:  „10000  £,  wenn  sie 
nicht  gut  angewandt  werden,  machen  nur  eine  kleine  Figur 
in  dieser  Branche.^ 

Die  Bücher,  denen  ich  diese  Angaben  entnehme,  sind  zwei 
interessante  und  wichtige  Quellen  ^*^",  um  den  Grad  der  Kapital- 
konzentratiou  in  den  einzelnen  Detailhandelsbrauchen  in 
London  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  festzustellen. 

In  diesen  Schriften  sind  nämlich  sämtliche,  in  London 
betriebene  Gewerbe,  alphabetisch  aufgezählt,  und  bei  jedem 
ist  (als  Anhalt  für  denjenigen  Lehrling  oder  die  Eltern  des 
Lehrlings,  der  sich  einen  Beruf  wählen  will)  die  Mindest- 
summe angegeben,  die  für  die  Etablierung  erforderlich  ist. 

Da  können  wir  denn  nun  die  Richtigkeit  der  hier  ver- 
tretenen Ansicht  bestätigt  finden:  daß  es  fast  nur  Luxus- 
warenhandlungen sind,  die  höhere  Ansprüche  stellen:  sage 
über  500  £  Anlagekapital  erheischen.    Es  sind  die  folgenden : 

Buchhändler 500—5000  ^ 

Chinaladen 500—2000  „ 

Drogist 500—2000  „ 

Grocer 500—2000  „ 

Lace-man  (Borten,  Tressen  usw.) .     .  500 — 2000  „ 
Hosiers    shop   (Wirkwaren,   also  vor 

allem  seidene  Trikots)   ....  500 — 5000  „ 

Nursery-man  (Blumen- u.Sträucher-H.)  500—1000  „ 

Thread-man  (Faden?) 500—1000  „ 

Toy-man ,    .  2000  „ 


Der  Luxus  und  die  Landwirtschaft  161 

Händler,  die  man  nicht  als  Luxuswarenhändler  ansprechen 
kann,  wenigstens  nicht  direkt  (obwohl  auch  sie  letztenfalls 
von  den  reichen  Leuten  der  Stadt  lebten)  und  nicht  aus- 
schließlich, mit  einem  Anlagekapital  von  mehr  als  500  ^  sind 
nur  die  Kohlen-,  Eisen-  und  Holzhändler. 

Die  überragende  Bedeutung  des  Luxuswarenhandels  geht 
auch  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  Kompagniegeschäfte  nur 
üblich  waren  bei  den  Seidenhändlern,  den  Leinenhäudlern  und 
den  Goldschmieden  —  Bankiers  ^^'^. 

Also  auch  (und  gerade)  im  Detailhandel  dringt  der  Kapi- 
talismus durch  die  Verbreitung  des  Luxus  vor.  Die  Gründe 
liegen  nahe;  sie  sind  in  der  voraufgehenden  Darstellung  schon 
stillschweigend  eingeschlossen.  Ich  stelle  sie  hier  noch  ein- 
mal zusammen : 

1.  die  Eigenart  der  Waren  drängt  zur  kapitalistischen 
Organisation ;  sie  sind  die  hochwertigsten  und  kamen  am 
frühesten  in  größeren  Mengen  in  den  Handel; 

2.  die  Eigenart  der  Kundschaft  befördert  diese  Entwick- 
lung zum  Kapitalismus;  sie  stellt  die  höchsten  Ansprüche  an 
Eleganz  und  Kulanz,  und  (ein  Grund,  der  scheinbar  in  jenen 
glücklichen  Zeiten  sehr  ins  Gewicht  gefallen  zu  sein  scheint, 
denn  alle  Ratgeber  in  Handelssachen  machen  ihn  geltend) 
diese  vornehme  Kundschaft  bezahlt  nie  bar  oder  überhaupt 
nicht;  der  Kaufmann,  der  in  Luxuswaren  handelt,  muß  also 
—  die  übrigen  Umstände  als  gleich  angenommen  —  immer 
ein  größeres  Kapital  zur  Verfügung  haben,  weil  sein  Um- 
sehlag (infolge  des  Borgsystems)  langsamer  ist. 

III.    Der  Luxus  und  die  Landwirtschaft 
1.  In  Europa 

Unmittelbar  ist  der  Kapitalismus  in  der  Landwirtschaft 
gefördert  worden ,  als  und  insoweit  Land ,  das  vordem  von 
Bauern    angebaut    worden    war,    in    Schafweide    verwandelt 

Somburt,  Luxus  und  Kapitalismus  11 


162  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

wurde,  um  dem  wachsenden  Bedarf  au  Wolle  Genüge  zu 
tun.  Das  war  der  Fall  während  des  Mittelalters  und  später 
namentlich  in  Süditalien,  Spanien  und  England.  In  England 
soll  die  Ausdehnung  der  herrschaftlichen  Schafwirtschaft  auf 
Kosten  der  alten  Bauernwirtschaft,  wie  bekannt,  unter  den 
Tudors  so  weit  und  so  rasch  erfolgt  sein,  daß  sie  Thomas  Morus 
zu  dem  Ausspruch  hinriß,  das  Schaf  fresse  den  Menschen  auf. 
Ich  glaube  nun  zwar,  daß  man  den  Umfang  der  damals  schon 
„eingehegten",  das  heißt  wesentlich  in  Schafweide  verwandelten 
Flächen  überschätzt;  immerhin  ist  die  Bewegung  in  der  Rich- 
tung eines  kapitalistischen  Großbetriebes  in  der  Landwirt- 
schaft vorhanden  gewesen  und  bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein 
nicht  zur  Ruhe  gekommen.  Und  diese  Bewegung  ist  für  die 
Entstehung  des  modernen  Kapitalismus  zwiefach  von  Be- 
deutung: sofern  sie  Formen  der  kapitalistischen  Organisation 
selbst  schaft't  und  sofern  sie  die  Ausbildung  der  kapitalisti- 
schen Industrie  beförderte  durch  Verminderung  des  Nahrungs- 
spielraums für  selbständige  kleine  Landwirte  auf  dem  Lande. 

Und  wiederum  ist  diese  ganze  Bewegung  ein  Werk  des 
Luxus,  denn  die  Wollen,  die  man  in  den  neueröffneten  Schaf- 
wirtschaften erzeugte,  lieferten  das  Material  für  die  aller- 
feinsten  Gewebe,  die  die  hochentwickelte  Luxusweberei  in 
Flandern,  Brabant  und  Florenz  für  den  Konsum  der  Reichsten 
herstellte,  wie  im  weiteren  Verlauf  dieser  Darstellung  noch 
gezeigt  werden  wird. 

Sonst  ist  die  Einwirkung  des  Luxus  auf  die  Landwirt- 
schaft derart,  daß  durch  ihn  die  Produktion  verbessert  und 
verfeinert  wird;  und  das  wiederum  steigert  die  Erträge  und 
damit  die  Bodenwerte  und  drängt  die  Eigentümer,  wenn  auch 
nicht  zur  Anlage  kapitalistischer  Gutswirtschaften,  so  doch 
zu  einer  Durchdringung  der  Landwirtschaft  mit  kapitalisti- 
schem Geiste,  der  dann  die  alten  Formen  der  feudalen  Land- 
wirtschaft sprengt  und  indirekt  wieder  der  allgemeinen  kapi- 
talistischen Entwicklung   die  Bahn   frei   macht   (wie   ich   das 


Der  Luxus  und  die  Landwirtschaft  163 

in  meinem  „Modernen  Kapitalismus"  darzustellen  versucht 
habe). 

Die  meisten  technischen  und  ökonomischen  Umwälzungen, 
die  wir  in  der  europäischen  Landwirtschaft  wahrnehmen,  sind 
bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  in  diesem  Sinne  durch  den 
zunehmenden  Luxusbedarf  der  reichen  Bevölkerung  hervor- 
gerufen worden.  Neben  diesem  Einfluß  des  Luxusbedarfs  auf 
die  Landwirtschaft  tritt  der  Einfluß  des  Massenbedarfs  (also 
der  Nachfrage  nach  Getreide)  zweifellos  zurück.  Dieser  Massen- 
bedarf äußert  sich  nur  an  einer  Stelle  revolutionär,  wie  in 
dem  2.  Band  dieser  Studien  nachgewiesen  wird,  wo  die 
Armeen  seit  dem  16.  Jahrhundert  plötzlich  mit  ihren  großen 
Anforderungen  auftreten.  Sonst  wird  die  Getreideproduktion 
für  die  allmählich  anwachsende  städtische  Bevölkerung  sich 
im  Rahmen  der  mittelalterlich-feudalen  Landwirtschaft  ab- 
gespielt haben.  Wollte  man  mir  das  aber  bestreiten,  und 
wollte  man  die  Behauptung  aufstellen:  der  große  Getreide- 
konsum der  Weltstädte  wie  London,  Paris,  xVmsterdam,  Mai- 
land, Venedig  sei  es  gewesen,  der  die  Landwirtschaft  stärker 
angeregt  habe,  so  würde  ich  mich  mit  dem  Hinweis  revan- 
chieren, daß  ja  diese  Städte  in  ihrer  Totalität  eine  Ausgeburt 
des  Luxus  seien.  Aber  ich  glaube,  daß  wir  solcher  Konstruk- 
tionen nicht  bedürfen,  um  die  Veränderungen,  die  die  Land- 
wirtschaft bis  ins  18.  Jahrhundert  durchmacht ,  dem  Luxus 
im  wesentlichen  zugute  zu  halten. 

Der  rasche  Aufschwung  der  italienischen  Kommunen 
während  der  letzten  Zeiten  des  Mittelalters  hatte  es  bewirkt, 
daß  fast  überall  in  Italien  die  Landwirtschaft  modernes  Ge- 
präge angenommen  hatte:  „L'abbondanza  dei  capitali  aveva 
posto  il  paese  in  grado  di  dare  ampio  svolgimento  alle  opere 
d'irrigazione,  di  prosciugamento,  di  dissodamento  ed  ad  altre 
migliorfe.  La  ricchezza  diffusasi  in  tutti  i  ceti  della  popo- 
lazione  aveva  .  .  .  promosso  Taumento  e  il  raffinamento 

della  produzione  agraria.   La  prosperitä  delle  Industrie 

11* 


](54  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

tessili  aveva  offerto  il  modo  di  allargare  considerevolmente 
la  coltivazioiie  di  varie  plante  industriali  ec  .  .  ."  So  faßt 
einer  der  besten  Kenner  der  Geschichte  der  italienischen 
Landwirtschaft  das  Ergebnis  seiner  Studien  zusammen  ^^2. 
Und  daß  es  kapitalistischer  Geist  war,  der  auf  den  Äckern 
und  in  den  Weinbergen  des  damaligen  Italiens  wehte,  kann 
uns  ein  Studium  der  meisten  Stadtrechte  lehren,  die  fast 
immer  auch  von  der  Landwirtschaft  handeln;  was  sie  an- 
streben, ist  Schutz  des  Eigentümers  gegenüber  den  Betrüge- 
reien und  der  Faulheit  des  Pächters  oder  Kolonen,  Ausbildung 
des  Instituts  der  Feldhüter  (saltari),  Bestrafung  des  Feld- 
diebstahls usw. 

Ähnliche  Vorgänge  wie  in  Italien  spielen  sich  während 
des  Mittelalters  schon  in  der  belgischen  Landwirtschaft 
ab,  hier  und  da  natürlich  auch  in  der  deutschen,  franzö- 
sischen und  englischen  Landwirtschaft,  ohne  daß  in  diesen 
Ländern  die  Einwirkung  der  städtischen  kapitalistischen  Ent- 
wicklung nachhaltig  genug  gewesen  wäre,  um  eine  Umgestal- 
tung der  agrarischen  Zustände  schon  während  des  Mittelalters 
zu  bewirken. 

Die  einzige  Blüte  der  kapitalistischen  Landwirtschaft  in 
Spanien  dagegen,  darf  man  sagen,  fällt  in  das  16.  Jahr- 
hundert: sie  wurde  erzeugt  durch  den  rasch  und  intensiv  ge- 
steigerten Bedarf  insbesondere  der  plötzlich  reich  gewordenen 
Conquistadores,  aber  auch  der  Handels-  und  Geldmänner  der 
spanischen  Städte.  Im  Süden  des  Landes  hatte  der  Weinbau 
große  Dimensionen  angenommen.  Cadiz  und  Sevilla  führten 
allein  140000  Ztr.  Wein  nach  Amerika  aus.  „Damals  war 
es,  daß  die  großen  Herren  von  der  Kaufmannschaft  Sevillas 
ihren  Geschäften  einen  noch  glänzenderen  Aufschwung  zu  geben 
gedachten,  indem  sie  selbst  die  Kultur  der  begehrtesten  Ar- 
tikel in  die  Hand  nahmen.  Da  ihnen  enorme  Kapitalien  zur 
Verfügung  standen,  bedurfte  es  nur  ihres  Wollens,  und  wie 
von   einem  Zauberstabe   berührt,   bedeckte   sich   das  Tal  des 


Der  Luxus  und  die  Landwirtschaft  165 

Guadalquivir  bis  hinauf  an  die  Sierra  Morena  mit  wogenden 
Getreidefeldern,  mit  üppigen  Obst-  und  Ölgärten  und  mit  Wein- 
bergen, deren  Ertrag  allein  ganze  Schirtsladungen  füllte."**^ 

Die  Kortes  klagen  im  16.  Jahrhundert,  daß  der  Wein, 
dessen  Anbau  rentabler  war,  dem  Brote  den  Boden  weg- 
nehme. Man  suchte  daher  zu  verhindern,  daß  das  Getreide- 
land durch  Wein  eingeschränkt  würde  ^**. 

Besonders  deutlich  aber  lassen  sich  die  Zusammenhänge 
zwischen  „Hebung  der  Landwirtschaft"  und  zunehmendem 
Luxusbedarf  in  England  während  des  17.  und  namentlich 
während  des  18.  Jahrhunderts  verfolgen.  W^as  hier  die  Land- 
wirtschaft revolutionierte,  war  ganz  sieher  die  wachsende  Be- 
deutung Londons  als  Luxuskonsumzentrum.  Wenn  wir  die 
Anfänge  der  modernen  rationellen  Landwirtschaft  in  England 
zu  suchen  haben,  so  hat  das  ebensosehr  seinen  Grund  in  der 
eigenartigen  Stellung  Londons,  wie  Columella  und  Genossen 
dem  alten  Rom  ihr  Dasein  verdanken. 

Noch  die  Schriftsteller,  die  uns  über  das  ländliche  Eng- 
land im  letzten  Viertel  des  18.  Jahrhunderts  unterrichten, 
Arthur  Young  ^^^,  die  Bearbeiter  Defoes,  der  1788  in  achter 
Auflage  erschien  ^^"j  und  noch  Eden  ^'^^,  hinterlassen  uns  den 
Eindruck,  als  ob  die  Landwirtschaft  Englands,  soweit  sie  neue 
Bahnen  wandelt,  ausschließlich  London  ihre  Anregung  ver- 
dankt, und  ebenso  erscheint  in  den  Grafschaftsberichten,  die 
auf  Veranlassung  des  Board  of  Trade  gegen  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts erstattet  wurden,  die  Hauptstadt  als  die  Zeutral- 
sonne,  von  der  allein  die  Provinzen  Licht  empfangen.  Überall, 
wo  für  London  produziert  wird,  macht  die  Landwirtschaft 
Fortschritte:  es  bildeten  sich  theoretisch  regelmäßige  Kreise 
der  Intensität  um  „die  Stadt".  Die  Grafschaften  Essex  („the 
whole  face  of  the  country  like  a  garden")  ^^^,  Sussex  "^, 
Kent^'",  Surreyi^i,  Hertfort^^^^  Norfolk  "^^  SuflFolk  "*  sind 
die  namentlich  bevorzugten,  in  denen  die  „improvements  of 
husbandry"    ganz    besonders    gerühmt    werden.      Stößt    ein 


1(3(3  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Reisender  in  größerer  Entfernung  von  London  auf  intensiven 
Landwirtschaftsbetrieb,  so  ist  er  erstaunt,  „so  far  from  London" 
ähnliches  zu  finden  ^'''\  während  er  sieh  umgekehrt  entrüstet, 
wenn  ein  nahe  der  Stadt  gelegenes  Gebiet  von  den  Vorteilen 
seiner  Lage  keinen  Nutzen  gezogen  und  in  den  alten  Geleisen 
der  extensiven  Landwirtschaft  stecken  bleibt"*^. 

Die  Preise  der  meisten  Agrarprodukte  nehmen  regelmäßig 
von  der  Peripherie  bis  London  an  Höhe  zu^^';  die  Bewohner 
der  Provinz  machen  die  richtige  Beobachtung,  daß  die  Chausseen 
ihren  Lebensunterhalt  verteuern  "^,  die  Chausseen,  die  näm- 
lich fast  alle  radial  von  London  aus  sich  über  das  Land  ver- 
breiteten ^''',  oder  daß  ihnen  die  Londoner  die  besten  Lebens- 
mittel vor  der  Nase  wegschnappten  und  ihnen  das  Nachsehen 
ließen  ^««. 

Fragen  wir  aber,  wodurch  London  diesen  großen  Einfluß 
auf  den  Preisstand  der  Agrarprodukte  und  damit  auf  die 
Gestaltung  des  Landwirtschaftsbetriebes  auszuüben  vermochte, 
so  muß  die  Antwort  lauten,  daß  es  nicht  eigentlich  die  Be- 
völkerungszunahme sein  konnte,  die  revolutionierend  wirkte. 
Denn  diese  war  gar  nicht  so  übermäßig  groß  während  des 
18.  Jahrhunderts.  London  hatte,  wenn  wir  den  Berechnungen 
Pettys  und  Kings  Vertrauen  schenken  wollen,  schon  in 
den  aclitziger  Jahren  des  17.  Jahrhunderts  etwa  700000  Ein- 
wohner ^^^  hundert  Jahre  später  kaum  mehr*^^  und  am  Be- 
ginn des  19.  Jahrhunderts,  im  Jahre  1801,  dem  jedoch  einige 
Jahrzehnte  ganz  ungewohnten  Zustroms  voraufgegangen  waren, 
864845  Einwohner. 

Es  muß  vielmehr  in  hervorragendem  Maße  die  Ver- 
feinerung des  Konsums  der  wohlhabenden  Bevölkerung 
gewesen  sein,  die  eine  so  beträchtliche  Steigerung  der  Nach- 
frage nach  Erzeugnissen  der  Landwirtschaft  hervorrief.  Zu 
demselben  Schlüsse  kommen  wir,  wenn  wir  die  Preisbewegung 
bei  den  verschiedenen  Agrarprodukten  während  des  18.  Jahr- 
hunderts beobachten;   wir  finden  nämlich,   daß   die  Getreide- 


Der  Luxus  uud  die  Landwirtschaft  167 

preise  in  England  wenigstens  während  der  ersten  Hälfte  des 
Jahrhunderts  keinerlei  Tendenz  zum  Steigen  aufweisen,  wäh- 
rend die  Preise  der  meisten  anderen  Erzeugnisse,  vor  allem 
des  Fleisches,  in  die  Höhe  gehen  ^^^,  Und  was  wir  an  Tat- 
sachen über  die  wirkliche  Gestaltung  des  Konsums  besitzen, 
bestätigt  dann  jene  Hypothese  auch  durchaus.  Vor  allem 
muß  der  Fleischverzehr  in  London  sowohl  absolut  ein 
sehr  beträchtlicher  während  des  18.  Jahrhunderts  gewesen 
sein,  als  auch  vor  allem  eine  erhebliche  Steigerung  in  dieser 
Zeit  erfahren  haben.  Wenn  wir  auch  den  ziffernmäßigen  An- 
gaben, wie  sie  z.  B.  Eden  macht ^^*,  keine  allzugroße  Bedeutung 
beilegen  dürfen ,  —  danach  würde  der  Fleischkonsum  (ohne 
Schweine-  und  Kalbfleisch)  gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
90  Pfund  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  erreicht  haben,  d.  h. 
eine  Höhe,  wie  sie  die  heutigen  Großstädte  keineswegs  alle 
erreichen,  und  würde  zudem  in  60  Jahren  um  50  *^lo  pro  Kopf 
der  Bevölkerung  gewachsen  sein ,  wenn  wir  diese  sich  um 
100000  Seelen  vermehren  lassen  —  immerhin  ist  ein  außer- 
gewöhnlich starker  Fleischkonsum  unzweifelhaft.  Wir  ersehen 
das  beispielsweise  aus  den  Schilderungen,  die  wir  von  dem 
berühmten  Viehmarkt  von  Smithfield  besitzen  ^^^,  der  zweimal 
wöchentlich  abgehalten  wurde  und  der  größte  der  Erde  war, 
oder  von  dem  nicht  minder  berühmten  Fleischmarkt  Leaden- 
Hall,  auf  dem,  wie  ein  spanischer  Gesandter  bemerkte  ^^^,  in 
einem  Monat  soviel  Fleisch  verkauft  wurde,  um  ganz  Spanien 
während  eines  Jahres  zu  versorgen. 

Es  sollen  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  London 
nicht  weniger  als  17  „große  Fleischmärkte"  „for  all  sorts  of 
fine  meats"  bestanden  haben,  auf  denen  auch  Geflügel  und 
Wild  verkauft  wurde,  „beside  many  Street  butchers",  für 
die  in  größerer  Entfernung  von  einem  Markte  wohnenden 
Familien  ^^\ 

Wir  dürfen  es  aber  auch  aus  den  Berichten  schließen, 
die   uns    über    die   ausgedehnte   und    zum   Teil    schon    hoch- 


1(58  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

entwickelte  englische  Viehzucht  im  18.  Jahrhundert  überliefert 
sind.  Sie  alle  stimmen  dahin  überein,  daß  es  vor  allem  die 
Anlage  von  Futterweide  und  die  intensive  Viehzucht  ist,  auf 
die  die  entwickelte  Landwirtschaft  zugeschnitten  wurde:  in 
Kent  wie  in  Norfolk,  in  Essex  wie  in  Somersetshire.  Viel- 
fach war  schon  eine  weitgehende  Spezialisierung  der  Vieh- 
wirtschaft eingetreten:  selbstverständlich  zwischen  Schaf-  und 
Rindviehzucht,  aber  auch  noch  weitergehend  in  der  Weise,  daß 
schon  die  Bergländer,  wie  Devonshire,  die  eigentliche  Zucht 
übernahmen  und  fruchtbare  Niederungen,  wie  Somersetshire, 
die  Mästung  ^^^. 

Die  rasche  Vervollkommnung  der  Viehwirtschaft  ergibt 
sich  aus  der  erstaunlichen  Zunahme  des  Durchschnittsgewichts 
des  einzelnen  Stücks  Vieh.    Dieses  betrug  auf  dem  Smithfield- 

Markt  bei 

Ochsen  Kälbern        Schafen      Lämmern 

1710    370  Ibs.        50  Ibs.       28  Ibs.      18  Ibs. 
1795     800  Ibs.      148  Ibs.       80  Ibs.      50  Ibs. 

Dieselbe  Tendenz  zur  Spezialisierung,  die  uns  einen  Schluß 
ebensosehr  auf  die  Verfeinerung  des  Konsums  wie  auf  die 
hohe  Technik  der  landwirtschaftlichen  Produktion  gestattet, 
beobachten  wir  bei  den  übrigen  Erzeugnissen  der  Landwirt- 
schaft. Man  fühlt  sich  ganz  lebhaft  an  die  Schilderungen 
römischer  Agrarschriftsteller  erinnert,  wenn  man  etwa  die 
Bände  der  Defoeschen  Landesbeschreibung  durchblättert.  Da 
hören  wir  von  Gegenden,  deren  Spezialität  die  Lieferung  von 
Drinkcorn  (Gerste  bzw.  Malz)  ^^^  ist,  während  andere  den 
dazu  gehörigen  Hopfen  produzieren  ^^^.  Hier  ist  der  Hafer*'*, 
dort  sind  die  Kartoffeln  *^^  das  vornehmlich  gezüchtete  Pro- 
dukt. Das  beste  Geflügel  kommt  aus  der  Umgegend  von 
Dorking  (Surrey)  ^^^,  der  beste  Käse  aus  Oxfordshire  und 
Gloucestershire  *^*,  der  beste  Speck  aus  Wiltshire  und  Hamp- 
shire *^^,  während  die  Gegenden  längs  der  Themse  programm- 
gemäß  die  Holzlieferanten  sind  *^^   und  in  der  nächsten  Um- 


Der  Luxus  und  die  Landwirtschaft  169 

gebung    der    Stadt    in    gartenmilßigeni    Anbau    (iemüse    pro- 
duziert wird. 

Die  Kitchen-garden  erstrecken  sich  bis  nach  Gravesend, 
wo  die  besten  Spargel  gezogen  werden  ^^\ 

2.  In  den  Kolonien 

Auf  die  Landwirtschaft  in  den  Kolonien  hat  die  Steige- 
rung des  europäischen  Luxusbedarfs  ganz  anders  gewirkt: 
hier  hat  sie  kapitalistische  Unternehmungen  großen  Stils, 
vielleicht  die  ersten  ihrer  Art,  unmittelbar  ins  Leben  gerufen. 

Zunächst,  daß  die  Produktion  in  fast  allen  europäischen 
Kolonien  eine  Produktion  hochwertiger  Luxusgüter  war,  haben 
uns  die  Übersichten  über  die  Gegenstände  des  kolonialen 
Handels  gelehrt.  Denn  diese  Luxuswaren  wurden  ja  zum 
größten  Teil  in  der  überseeischen  Landwirtschaft  erzeugt. 
Die  Artikel,  die  hier  vornehmlich  in  Betracht  kommen,  sind: 
der  Zucker,  der  Kakao,  die  Baumwolle  (bis  in  die  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  ein  Luxusartikel)  und  der  Kaffee,  die  sämt- 
lich in  den  amerikanischen  Kolonien  erzeugt  wurden,  und  die 
Gewürze,  das  Hauptprodukt  der  ostasiatischen  Kolonien; 
während  ich  den  Tabak  ausscheide,  weil  er  ein  Genußmittel 
war,  das  in  den  unteren  Schichten  ebenfalls  verbreitet  war 
(von  den  feineren  Sorten  abgesehen):  „dans  les  colonies  on 
ne  travaille  que  pour  le  luxe"  urteilt  also  durchaus  sach- 
gemäß ein  Schriftsteller  im  Anfang  des   18.  Jahrhunderts  *^^ 

Sehen  wir  von  der  Arbeitsverfassung  ab,  die  in  den 
holländischen  Gewürzkolonien  herrschte  und  die  in  einem 
komplizierten  System  von  Zwangsproduktion  der  P^ingeborenen 
gipfelte,  so  wurden  alle  die  genannten  Luxusgüter  in  den 
Kolonien  der  Europäer  in  großen  Plantagenwirtschaften  er- 
zeugt, die  einen  durchaus  kapitalistischen  Charakter  tragen. 
Man  hat  vielleicht  mit  Recht  gesagt,  daß  sich  hier,  fern  von 
den  Traditionen  der  europäischen  Kultur,  zuerst  rein  kapi- 
talistische Gebilde  entfaltet  haben.     Freilich  muß   man   dann 


170  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

den  Begriff  des  Kapitalismus  weiter  fassen :  man  muß  kapi- 
talistisch auch  diejenige  Organisation  nennen,  die  auf  unfreier 
Arbeit  beruht,  wenigstens  wenn  diese  Arbeit  von  gekauften 
Sklaven  verrichtet  wird.  Denn  daß  der  Sklavenbetrieb  in  den 
europäischen  Kolonien  auf  der  Sklavenarbeit  aufgebaut  war, 
ist  bekannt.  Alle  Requisite,  die  sonst  zu  einer  kapitalistischen 
Unternehmung  gehören,  waren  aber  gewiß  vorhanden:  die 
Herrschaft  des  Erwerbsprinzips,  die  Herrschaft  des  ökono- 
mischen Rationalismus,  die  Größe,  die  soziale  Trennung 
zwischen  Produktionsleiter  und  Arbeiterschaft:  „die  Er- 
scheinung eines  Standes  von  Handarbeitern,  die  gar  nichts 
weiter  als  dies  sind,  tritt  hier  in  der  Form  der  Negersklaven- 
schaft in   völliger  Nacktheit  und  Schwärze  auf."     (Knapp.) 

Einen  großkapitalistischen  Charakter  trägt  die  Plantagen- 
wirtschaft schon  in  den  Kolonien  der  italienischen  Städte 
im  Ägäischen  Meer  während  des  Mittelalters.  Hier  wurden 
auf  den  fruchtbaren  Inseln  (Kreta,  Chios,  Cypern)  Wein,  Baum- 
wolle, Indigo,  Mastix,  Oliven,  Maulbeerbäume,  Feigen,  Lau- 
danumharz,  Koloquinten,  Karuben,  vor  allem  aber  Zucker 
gewonnen.  Im  Gebiet  von  Limisso  zum  Beispiel  besaßen  die 
Cornaro  eine  ausgedehnte  Zuckerplantage,  welche  Ghistele 
den  rechten  Stapel  von  ganz  Cypern  nannte.  Als  der  Italiener 
Ca  sola  die  Gegend  bereiste,  im  Jahre  1494,  wurden  hier 
400  Personen  beschäftigt. 

Alle  Verhältnisse  wuchsen  sich  dann  in  den  amerika- 
nischen Kolonien  ins  gigantische  aus,  wo  nach  der 
kurzen  Episode  der  roten  die  schwarze  Sklaverei  die  Lage 
beherrschte. 

Einer  der  besten  Theoretiker  der  Sklavenwirtschaft, 
Cairnes,  hat  die  Gründe  dargelegt,  weshalb  zu  allen  Zeiten 
Negersklaverei  und  großbetriebliche  Gestaltung  der  Produktion 
zusammengehört  haben,  die  wir  denn  auch  ganz  überein- 
stimmend in  den  englisch-westindischen  Kolonien,  in  Kuba,  in 
Brasilien   wie   in  den   nordamerikanischen  Südstaaten  finden: 


Der  Luxus  und  die  Landwirschaft  171 

Unsere  reichen  PHanzer,  meint  M''  Clay,  kaufen  ihre 
ärmeren  Nachharn  aus,  erweitern  ihre  Plantagen  und  dehnen 
ihren  Sklavenbestand  aus.  Die  wenigen  Reichen,  die  bei 
kleinerer  Profitrate  bestehen  können,  und  die  imstande  sind, 
ihren  verbrannten  Feldern  einige  Ruhe  zu  geben,  treiben  so 
die  vielen  unabhängigen  Besitzer  davon  ^^^. 

Die  Zahlenangaben,  die  wir  über  die  Ausdehnung  einzelner 
Plantagen  besitzen,  bestätigen  die  Richtigkeit  dieser  all- 
gemeinen Urteile. 

Nach  Labat,  der  ein  guter  Beobachter  war,  wurde  gegen 
das  Jahr  1700  eine  Plantage  auf  den  französischen  Antillen 
auf  350—400000  fr.  geschätzt  ^o".  Eine  Zuckerplantage,  die 
Alexander  von  Humboldt  beschreibt 2°^,  erstreckt  sich 
über  050  ha  Land,  auf  dem  300  Neger  beschäftigt  sind,  und 
hat  2  000000  Fr.  als  Anlage  gekostet.  Eine  andere  mit  220 
Sklaven  wird  auf  35  000  £  veranschlagt  202.  im  Jahre  1791 
gab  es  im  französischen  Haiti  792  Plantagen,  von  denen  341 
im  Mittel  auf  180  000  Fr.,  451  auf  230000  Fr.  geschätzt  wurden, 
und  die  mindestens  750000  Meterzentner  Zucker  im  Werte 
von  mehr  als  100  Millionen  Frank  jährlich  ausführten;  die 
ganze  Insel  war  in  den  Händen  einer  kleinen  Anzahl  von 
Plantagenbesitzern,  les  gros  habitans  genannt,  welche  eine 
fest  zusammenhaltende  Herrschaftskaste  bildeten  2"^. 

Von  der  Ausdehnung  der  Plantagenwirtschaft  selbst  und 
ihrer  Massenbedeutung  machen  wir  uns  am  ehesten  eine  richtige 
Vorstellung,  wenn  wir  die  Menge  der  in  ihr  verbrauchten 
Sklaven  in  Erfahrung  zu  bringen  suchen.  Das  ist  nicht  allzu 
schwer,  da  eine  annähernd  genaue  Statistik  der  Sklaven- 
bevölkeruug  wenigstens  für  das  19.  und  zum  Teil  schon  für 
das  18.  Jahrhundert  vorhanden  ist.  Seinen  Höhepunkt  er- 
reicht der  Sklavenbetrieb  erst  kurz  vor  der  Aufhebung  der 
Sklaverei,  als  schon  nicht  alle  Plantagenwirtschaft  mehr  der 
Produktion  von  Luxusgütern  diente,  als  namentlich  die  Baum- 
wollsklaven  schon  für   ihre  Brüder   in  Europa  den  Gespinst- 


172  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kaiiitalismus 

Stoff  erzeugten.  Die  notwendigen  Abzüge  wird  man  aber 
leicht  machen  können. 

In  den  englisch-westindischen  Besitzungen  gab  es  1778 
6(J3899  Negersklaven  204. 

In  einigen  Kolonien,  für  die  wir  genauere  Ziffern  be- 
sitzendes, verläuft  die  Entwicklung  der  Sklaverei  wie  folgt 
(ich  gebe  die  erste  zuverlässige  Zahl  an  und  diejenige,  die 
den  Höhepunkt  bezeichnet). 

Martinique 1700:     14  566 

1831:    86  299 

Guadeloupe 1700:   6  725 

1831:  99  039 

Französ.-Guiana 1695:       1047 

1831 :     19  102 

Bourbon 1776:     26175 

1834:     70425 

Jamaica 1658:      1400 

1817 :  343  145 

Barbados 1722:    69  870 

1829:    81500 

Antigua 1774:    37  808  (Höhepunkt) 

Mauritius 1776:     25  154 

1826:     63  432 

Cuba 1774:  44  333 

1827:  286  942 

Portorico 1778:      6  530 

1836:    41818 
Der  Gesamtbestand   aller   Sklavenländer  an   Sklaven   in 
den  1830er  Jahren  bezifferte  sich  auf  6822  759. 

Daß  die  kleinen  Fräuleins  in  Paris  und  London  diese 
riesige  schwarze  Armee  auf  die  Beine  gebracht  hatten,  um 
ihre  Launen  zu  befriedigen,  ist  ein  Gedanke,  der  nicht  des 
Reizes  entbehrt. 

IV.   Der  Luxus  und  die  Industrie 

/.  Die  Bedeutung  der  Luxusindustrien 

Hier  in  der  Sphäre  der  gewerblichen  Produktion  ist  das 
Feld,   auf  dem   sich   recht   eigentlich  der  Einfluß   des  Luxus 


Der  Luxus  und  die  Industrie  173 

fühlbar  macht :  hier  ist  der  ZusaramenhaDg  zwischen  der  Ent- 
faltung des  Luxusbedarfs  und  der  Entwicklung  des  Kapitalis- 
mus auch  für  die  blödesten  Augen  deutlich,  hier  ist  er  mit 
Händen  zu  greifen. 

Wenn  wir  nun  aber  ohne  weiteres  auf  Grund  auch  ganz 
oberHächlicher  Erfahrung  feststellen  können,  daß  zahlreiche 
Industrien  zur  Befriedigung  des  Luxusbedarfs  ins  Leben  ge- 
rufen sind,  daß  also  viele  Industrien  „Luxusindustrien"  ge- 
nannt werden  müssen,  so  drängt  sich  uns  doch,  sobald  wir 
näher  auf  die  Sache  eingehen,  die  Frage  auf:  ob  denn  der 
Begriff  der  Luxusindustrie  nicht  ein  sehr  ver- 
schwommener sei,  und  ob  wir  uns  nicht  zuvörderst  verstän- 
digen müssen,  was  wir  hier  darunter  verstehen  sollen. 

Luxusindustrien,  wird  man  sagen,  seien  Industrien,  die 
Luxusgüter  herstellen:  kostbare  Gewänder,  elegante  Möbel, 
Schmuckgegenstände  usw.  Aber  was  sind  denn,  wenn  wir 
genauer  hinsehen,  Luxusgüter?  Zweifellos  zum  Beispiel  die 
ebengenannten,  denen  gemeinsam  ist,  daß  sie  einem  Luxus- 
bedürfnis unmittelbar  dienen ,  individuelle  Gebrauchsgüter, 
Güter  erster  Ordnung  sind.  Wir  werden  also  gewiß  ohne  Be- 
denken Betriebe,  in  denen  jene  Güter  erzeugt  werden,  Luxus- 
industrien nennen  dürfen.  Ist  aber  eine  Brokat-  oder  Samt- 
weberei nicht  auch  eine  Luxusindustrie?  Und  sie  stellt  doch 
kein  individuelles  Gebrauchsgut,  sondern  ein  Produktionsmittel 

—  den  Stoff  für  die  Kleider  —  her,  also  ein  Gut  zweiter 
Ordnung.  Wenn  aber  eine  Seidenweberei  eine  Luxusindustrie 
ist  (und  es  hieße  dem  Sprachgebrauch  Gewalt  antun,  hieße 
auch  Zusammengehöriges  trennen ,  wollte  man  sie  nicht  so 
nennen),  ist  dann  eine  Seidenspinnerei  nicht  auch  eine  Luxus- 
industrie, dieweil   sie   den  Eohstoff  für  die  seidenen  Gewebe 

—  ein  Gut,  sagen  wir  Luxusgut  dritter  Ordnung  —  fertigt? 

Wie  aber:  ist  der  Webstuhl,  auf  dem  die  Seide  gewebt 
wird,  auch  ein  Luxusgut,  und  sollen  wir  die  Fabrikation  von 
Seidenwebstühlen  eine  Luxusindustrie  nennen? 


274  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Oder  wenn  man  meint,  weil  es  ein  Arbeitsmittel  sei, 
ändere  sich  der  Sachverhalt;  wird  man  die  Brettschneide- 
mühle, in  der  die  Hölzer  für  die  Kunstmöbelmanufaktur  her- 
gerichtet werden,  also  ein  Gut  zweiter  Ordnung  auf  dem 
Wege  zu  dem  Luxusgut  Kunstmöbel :  wird  man  sie  eine  Luxus- 
industrie nennen? 

Ich  glaube  nicht.  Ich  glaube,  man  wird  selbst  die  Eisen- 
gießerei, aus  der  die  eisernen  Röhren  für  die  Versailler  Wasser- 
kunst hervorgingen,  die  also  diejenigen  Gegenstände  lieferte, 
ohne  die  diese  eminente  Luxusanlage  nicht  hätte  geschaffen 
werden  können,  keine  Luxusindustrie  nennen. 

Freilich:  eine  Beziehung  zwischen  solcher  Art  Industrien 
und  der  Entfaltung  des  Luxus  besteht  schon.  Und  will  man 
die  Bedeutung  dieses  Kulturphänomens  in  ihrer  ganzen  Weite 
ermessen,  so  muß  man  auch  diese  Ausstrahlungen  mit  in  Rück- 
sicht ziehen.  Denn  alle  diese  Gewerbe,  die  in  größerer  oder 
kleinerer  Entfernung  an  der  Deckung  des  Luxusbedarfs  teil- 
nehmen ,  wären  ja  nicht  in  der  Welt ,  wenn  der  Luxus  nicht 
in  der  W^elt  wäre.  Und  ein  sehr  großer  Teil  der  frühkapita- 
listischen Industrien  ist  auf  diese  Weise  auf  Umwegen  vom 
Luxus  ins  Leben  gerufen  worden.  Wenn  auch  die  Umwege 
zuweilen  recht  weite  sind:  weil  die  Glas-  und  andere  Luxus- 
industrien das  Holz  in  den  Wäldern  aufgebraucht  hatten,  wurde 
die  Steinkohle  ein  immer  begehrteres  Feuerungsmaterial,  nach 
dem  um  so  mehr  Nachfrage  entstand,  je  mehr  Menschen  sich 
in  den  vom  Luxus  getragenen  Großstädten  niederließen.  Und 
so  entstand  eine  der  großen  Industrien  der  frühkapitalisti- 
schen Epoche:  die  Kohlenindustrie  von  New  Castle. 

Aber  ich  meine  gar  nicht  diese  indirekt  vom  Luxus  er- 
zeugte Industrie,  die  man  vielleicht  mittelbare  Luxusindustrie 
nennen  könnte,  wenn  ich  von  dem  Einfluß  des  Luxus  auf  die 
Umgestaltung  der  gewerblichen  Produktion  spreche.  Da  denke 
ich  vielmehr  an  die  Luxusindustrie  im  „eigentlichen"  Sinne, 
die  wir  ja  ganz  deutlich,  in  unserem  Gefühl  wenigstens,  als 


j,     Der  Luxus  und  die  Industrie  175 

eine  besondere  Kategorie  von  Industrie  von  anderen  sich  ab- 
lieben sehen.  Aber  es  geht  nicht  an,  den  Begriff  der  —  sagen 
wir  —  unmittelbaren,  echten  Luxusindustrie  etwa  auf  die- 
jenigen Gewerbe  zu  beschränken,  die  Luxusgut  erster  Ordnung 
herstellen,  da  wir  sonst,  wie  gesagt,  ausgesprochene  „Luxus- 
industrien'^,  die  jedermann  als  solche  anerkannt  sehen  will, 
wie  die  Brokatweberei  oder  Goldbortenwirkerei,  ausschließen 
müßten. 

Ich  glaube,  das  Merkmal,  das  den  Begriff"  der  Luxus- 
industrie wesentlich  bestimmt,  ist  die  Artbeschaffenheit  des 
erzeugten  Gutes  selbst:  ob  dieses  selbst  ein  hochwertiges  Gut 
sei,  entscheidet  darüber,  ob  das  Gewerbe,  in  dem  es  erzeugt 
wird,  eine  Luxusindustrie  ist  oder  nicht.  Darum  eine  Seiden- 
filanda,  obwohl  sie  ein  Luxusgut  dritter  Ordnung  herstellt, 
eine  Luxusindustrie  ist,  eine  Brettschneidemühle,  die  ein 
Luxusgut  zweiter  Ordnung  liefert,  dagegen  nicht.  Wenn  in 
derartigen  Industrien,  die  geringwertige  Güter  herstellen, 
also  Güter  von  niedrigem  spezifischem  Weit,  durch  den  Luxus 
Kapitalismus  erzeugt  wird,  so  ist  es  doch  immer  ein  Massen- 
absatz, der  diesen  ermöglicht  hat.  Freilich:  ein  Massenabsatz 
von  Luxusbedarfs  Gnaden. 

Wir  verfolgen  jetzt  also  nur  die  echten  Luxusindustrien. 
Und  selbst  wenn  wir  nur  diese  ins  Auge  fassen,  ist  die  Ein- 
flußsphäre des  Luxus  und  seine  Bedeutung  für  die  Heraus- 
bildung des  kapitalistischen  Wirtschaftssystems  außerordent- 
lich groß. 

Leider  werden  wir  wohl  für  immer  darauf  verzichten 
müssen,  uns  von  dieser  Bedeutung  eine  quantitative  Vor- 
stellung zu  machen,  insbesondere  aber  den  Anteil,  den  der 
Luxus  an  der  Überführung  der  gewerblichen  Produktion  in 
die  kapitalistische  Organisation  hat,  ziffernmäßig  festzustellen. 
Das  könnten  wir  selbst  heute  mit  Hilfe  unserer  hochent- 
wickelten Berufs-  und  Betriebsstatistik  nicht.  Und  zwar  des- 
halb nicht,  weil  weder  früher  noch  heute  die  Kategorien  der 


176  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Luxusindustrie  oder  auch  nur  der  Qualitätsindustrie  in  den 
Zahlen-  und  Größenfeststellungen  berücksichtigt  werden.  Es 
heißt  „Tuchweberei",  aber  keine  Statistik  der  Welt  unter- 
scheidet, ob  es  sieh  um  das  Weben  allerfeinster  oder  ganz  grober 
Tücher  handelt;  und  so  in  zahlreichen  Fällen.  Deshalb  wird 
man  für  viele  Gewerbearten ,  wenn  nur  im  ganzen  für  ihren 
Umfang  Zahlenangaben  gemacht  werden,  nicht  feststellen 
können,  wie  groß  innerhalb  ihrer  die  Luxusindustrie  ist, 
während  man  es  bei  anderen  Gewerbearten  kann,  die  reine 
Luxusindustrien  sind:  Gobelinweberei,  Goldbortenfabrikation, 
Goldschmiederei  usw.  Wir  können  jene  anderen  Gewerbe,  in 
denen  Grob-  und  Feingut  hergestellt  wird,  im  Gegensatz  zu 
diesen  „reinen"  Luxusgewerben  „gemischte"  Gewerbe  nennen. 

Kann  man  also  selbst  heute  nicht  sagen,  etwa  für  Deutsch- 
land, wieviel  Prozent  der  gewerblichen  Arbeiter  in  Luxus- 
industrien beschäftigt  sind,  wieviel  weniger  ist  eine  solche 
ziffernmäßige  Verhältnisbestimmung  möglich  für  die  ver- 
gangenen Jahrhunderte,  für  die  jede  allgemeine  Industrie- 
statistik fehlt. 

Wollen  wir  die  Bedeutung  des  Luxusbedarfs  für  die  Ent- 
wicklung des  gewerblichen  Kapitalismus  trotzdem  ermessen, 
so  müssen  wir  es  wie  in  allen  ähnlichen  Fällen  auf  dem 
Umwege  des  monographisch-induktiven  Verfahrens  tun;  wir 
müssen  es  uns  vor  allem  angelegen  sein  lassen,  die  grund- 
sätzlichen Eigenarten  herauszufinden,  die  die  als  kapitalistische 
Luxusindustrien  erkannten  und  anerkannten  Erscheinungen 
des  gewerblichen  Lebens  an  sich  tragen. 

Wir  werden  dann  etwa  folgendes  nachweisen  können: 

1.  daß  einige  Luxusindustrien  eine  große  absolute  Aus- 
dehnung gewonnen  haben,  deren  Bedeutung  wir  durch  aller- 
hand Vergleiche  uns  ins  Gefühl  bringen  können; 

2.  daß  ausgesprochene  Luxusindustrien  besonders  früh- 
zeitig dem  Kapitalismus  anheimfallen; 

3.  daß   innerhalb   derselben   Gewerbegruppen   diejenigen 


Der  Luxus  und  die  Industrie  177 

Gewerbezweige,  die  LuxusglUer  herstellen,  der  Regel  nach 
früher  vom  Kapitalismus  erfaßt  werden  als  die  anderen; 

4.  daß  in  den  Luxusindustrien  zuerst  großkapitalistische 
und  großbetriebliche  Organisationsformen  sich  ausbilden. 

Es  wird  die  Übersichtlichkeit  erhöhen,  wenn  wir  unsere 
Erörterung  für  die  reinen  Luxusgewerbe  und  für  die  ge- 
mischten Gewerbe  gesondert  anstellen. 

2.  Die  reinen  Liixusgewerbe 

a)  Die  Seidenindustrie.  Daß  die  Seidenindustrie 
im  Wirtschaftsleben  der  europäischen  Völker  während  der 
frühkapitalistischen  Epoche  eine  überragend  große  Bedeutung 
gehabt  hat,  wissen  selbst  unsere  „Historiker".  Man  kann 
die  Tatsache  also  gewissermaßen  als  geschichtsnotorisch  be- 
trachten und  braucht  sie  nicht  erst  lange  zu  beweisen.  Zwei 
Ziffern  mögen  hier  Platz  finden ;  der  Wert  der  Lyoner  Seiden- 
zeuge belief  sich  in  dem  Zeitraum  von  1770  bis  1784  (nach 
den  Berechnungen  in  der  Encycl.  m6th.)  auf  jährlich  etwa 
60  Mill.  Fr.  Der  Wert  der  gesamten  Einfuhr  nach  Frank- 
reich beziffert  sich  in  den  Jahren  1779 — 1781  auf  bzw.  208, 
216,  269  Mill.  Fr.,  der  der  Ausfuhr  auf  235,  236,  260  Mill.  Fr., 
der  Gesamtwert  des  auswärtigen  Handels  demnach  auf  443, 
452,  529  Mill.  Fr.;  von  diesem  machte  also  der  Wert  der  in 
Lyon  allein  erzeugten  Seidenwaren  Vs — Vt  aus.  Da  der  Wert 
der  im  Jahre  1911  die  deutsche  Grenze  überschreitenden 
Waren  19,161  Mill.  Mk.  betrug,  so  würde  den  60  Mill.  Fr. 
Produktionswert  heute  ein  solcher  von  2400—2700  Mill.  Mk. 
entsprechen.  Zum  Vergleich :  nach  den  Produktionserhebungen 
des  Reichsamts  des  Innern  betrug  der  Gesamtwert  des  in 
Deutschland  erzeugten  Roheisens  (1908)  657  152  000  Mk.,  der 
Wert  des  erzeugten  Baumwollgarns  644464000  Mk.,  der  Wert 
der  geförderten  Steinkohlen  (1910)  1535  258000  Mk.  Roh- 
eisen +  Baumwollgarn  +  Steinkohlen  zusammen  würden  also 
ungefähr   das   in   der  heutigen  Volkswirtschaft  eines  Kultur- 

Sombart,  Luxus  und  Kapitulismus  12 


j^73  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

landes  bedeuten,  was  die  Seidenindustrie  des  einen  Lyon  für 
die  Volkswirtschaft  Frankreichs  im  18.  Jahrhundert  war,  wo- 
bei noch  in  Rücksicht  zu  ziehen  ist,  daß  der  Außenhandel 
vor  130  Jahren  eine  verhältnismäßig  viel  größere  Rolle  im 
Wirtschaftsleben  eines  Landes  spielte  als  heute. 

Und  die  Berliner  Seideniudustrie  erzeugte  Waren  für 
3 — 4  Mill.  Taler,  als  der  Gesamtwert  der  Produkte,  die  in 
den  Berliner  Fabriken  und  Manufakturen  hergestellt  wurden, 
sich  auf  etwa  C  Mill.  Taler  (1783:  6  098  226  Taler  nach  den 
Angaben  Nicolais)  bezifferte. 

Diese  Standard-Industrie  jener  Zeit  hat  nun,  das  ist  das, 
was  uns  hier  interessiert,  als  eines  der  ersten  Gewerbe  die 
kapitalistische  Organisation  über  sich  ergehen  lassen  müssen, 
so  daß  man  wohl  sagen  kann,  sie  habe  in  der  Geschichte  des 
industriellen  Kapitalismus  Epoche  gemacht.  Und  zwar  für 
alle  Formen  des  Kapitalismus  bietet  die  Seidenindustrie  in 
sehr  frühen  Zeiten  charakteristische  Beispiele  dar:  ebenso 
wie  in  ihr  vielleicht  zuerst  die  hausindustrielle  Betriebsweise 
zur  Entwicklung  gelangt,  so  treten  uns  auch  die  Manufaktur 
und  die  Fabrik  in  der  Sphäre  der  Seidenindustrie  zuerst  in 
vollendeter  Form  entgegen:  die  Seidenfiianden  des  14.  Jahr- 
hunderts sind  gleichsam  die  Wiegendrucke  der  gesellschaft- 
lichen Großbetriebe. 

In  welchen  Formen  sich  die  Seidenindustrie  bewegte,  die 
die  Italiener,  namentlich  die  Venetianer  und  Genuesen,  in  den 
Levantekolonien  in  großem  Umfange  betrieben,  wissen 
wir  nicht.  Wahrscheinlich  bildete  hier  die  Sklaverei  oder 
Hörigkeit  die  Grundlage  des  Betriebssystems. 

In  den  europäischen  Staaten  hingegen  ist  es  wohl  dureh- 
geheuds  die  Hausindustrie,  in  der  die  kapitalistische 
Seidenindustrie  zuerst  betrieben  wird:  Spinnerei  wie  Weberei, 
und  zwar,  wie  ich  schon  sagte,  recht  früh. 

In  Paris  stehen  schon  im  Anfang  des  14.  Jahrhunderts, 
wie  es  die  Statuten  vom  27.  März  1324  erkennen  lassen,  die 


Der  Luxus  und  die  Industrie  179 

Seidenspinnerinnen  und  -zwiiiierinneii,  die  „filaresses",  wie  sie 
heißen,  im  Verhältnis  der  Lolinarbeiterinnen  zu  ihren  Brot- 
herren, den  Merciers,  die  die  Rohseide  einkaufen  und,  nach- 
dem sie  gesponnen,  gezwirnt  und  appretiert  ist,  zum  Nähen, 
Sticken  oder  Weben  verkaufen  ^ö«. 

Ebenfalls  als  Verlagssystem  tritt  uns  die  Organisation 
der  Seidenindustrie,  insbesondere  der  Seidenweberei,  entgegen 
während  des  14.  Jahrhunderts  bereits  in  Venedig  ^®^  während 
des  15.  Jahrhunderts  in  Genua  (Statut  von  1432)  ^««^  und  dje 
übrigen  Mittelpunkte  der  italienischen  Seidenindustrie, 
Lucca,  Florenz,  Mailand,  weisen  dieselbe  Arbeitsverfassung  auf. 
Als  die  Seidenmauufaktur  im  16.  Jahrhundert  in  Lyon  begründet 
wird,  erscheint  sie  gleichermaßen  in  der  Gestalt  der  Haus- 
industrie: schon  das  erste  Statut  von  1554  enthält  lange  Be- 
stimmungen über  die  Veruntreuung  des  Rohstoffs ^°^,  und 
schon  das  Edikt  vom  28.  Januar  1554  spricht  von  den  „Ver- 
legern,  die  das  Geschäft  leiten,  ohne  selbst  den  ganzen  Tag 
am  Webstuhl  zu  sitzen",  es  sind  die  „marchands  conduisant  la 
manufacture  de  velours  et  de  draps  de  soie  sans  etre  assis 
toute  la  journ6e  sur  le  metier  et  mener  la  navette"^'*^. 

Man  weiß,  daß  die  hausindustrielle  Organisation  dann 
auch  in  den  übrigen  Ländern  beim  Betriebe  des  Seiden- 
gewerbes die  Regel  bildete. 

Neben  dem  Verlagssystem  hat  sich  aber  in  der  Seiden- 
industrie offenbar  schon  sehr  früh  der  geschlossene,  gesell- 
schaftliche Großbetrieb  in  der  Form  der  Manufaktur 
oder  (vor  allem)  der  Fabrik  entwickelt.  Ja  vielleicht  gehört 
der  erste  verbürgte  Fall  einer  Fabrik  auf  kapitalistischer  Basis 
während  des  europäischen  Mittelalters  dem  Seidengewerbe  an. 
Freilich,  man  muß  sehr  vorsichtig  sein,  wenn  man  die  Be- 
richte der  früheren  Jahrhunderte  über  industrielle  Anlagen 
di'uten  will.  Meistens  nämlich,  wenn  von  Manufaktur  oder 
auch  Fabrik  die  Rede  ist,  ist  nicht  die  Betriel)sforni,  sondern 

nur  das  Gewerbe  als  solches  damit  bezeichnet;  und  selbst 

12* 


j^^Q  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

wenn  es  heißt,  der  und  der  hat  eine  Seidenmanufaktur  er- 
öffnet, in  der  500  Personen  beschäftigt  sind,  so  weiß  man 
immer  noch  nicht,  ob  es  sich  um  großbetriebliche  oder  haus- 
industrielle Organisation  handelt. 

Immerhin  lassen  sich  Fälle  großbetrieblicher  Gestaltung 
in  der  Seidenindustrie  auch  für  ganz  frühe  Zeit  mit  Sicher- 
heit nachweisen:  in  der  Seidenweberei  allerdings  nicht  vor 
dem  IG.  Jahrhundert.  Der  früheste,  mir  bekannte  Manufaktur- 
betrieb ist  hier  der  des  Raoulet  Viard,  eines  der  Begründer 
der  Lyoner  Seidenindustrie,  der  4(J  Webstühle  in  einem  Hause 
vereinigte.  Früher  hingegen  tritt  der  Großbetrieb,  und  zwar 
gleich  in  der  Gestalt  der  Fabrik,  in  der  Seidenspinnerei  auf. 
Diejenigen  Anlagen,  die  uns  Alidosi  beschreibt,  und  die 
Seidenfilanden  mit  4000  Fäden  und  Wasserantrieb  darstellen, 
sollen  nach  diesem  Gewährsmann  bis  in  die  erste  Hälfte  des 
14.  Jahrhunderts  zurückreichen,  da  am  23.  Juni  1341  die 
Stadt  Bologna  einem  gewissen  Bolognino  di  Barghesano  aus 
Lucca  die  Genehmigung  zur  Anlage  einer  solchen  mechanisch 
angetriebenen  Seidenfilande,  in  der  eine  „einzige  Maschine  die 
Arbeit  von  4000  Spinnerinnen  verrichtet",  erteilt  haben  soll. 
Die  wichtige  Stelle  hat  folgenden  Wortlaut 2": 

„Sono  certe  machiue  grandi,  le  quali  mosse  da  un  piccolo  canaletto 
d'aqua  di  Reno  fanno  ciascuna  di  loro  con  molta  prestezza  Filare,  Tor- 
zere  ed  addoppiare  quattro  milla  fila  di  Seta,  operando  in  un  istante 
quel,  che  farebbono  quattromila  Filatrici  e  quell'  acqua  ha  propiietä  di 
fare  la  Seta  buona  e  vaga  e  lavoiano  ogu'  anno  centottanta  milla  libre 
di  Seta,  cioe  centomilla  di  forestiera,  e  ottantamilla  di  nostrana  con  la 
seta  doppia,  e  secondo,  che  n'  e  abbondanza.  E  la  piü  antica  memoria 
che  di  questi  hö  trovata  e  stata  dell'  anno  1341  ä  23  guigno,  che  la 
cittä  concesse  licenza  ä  Bolognino  di  Barghesano  da  Luca,  habitante  in 
Bologna,  nella  Capeila  di  S.  Lucia  di  potere  construere  un  filatoio  da 
seta  nella  capella  di  S.  Biagio  sopra  il  fossato  presso  le  mura  della  Cittä. 
Et  nel  1345  fu  fatto  un  decreto,  che  Giovanni  Oreto  della  Capella  di  S.  Co- 
lombano  potesse  havere  acqua  per  un  filatoio  da  seta  nel  borgo  Polecino." 

Für  das  Jahr  1371  führt  A.  (S.  38)  dann  13  „filatogli  di 
seta"  auf,  die  alle  der  Kommune  gehören  und  an  Unternehmer 
verpachtet  sind. 


Der  Luxus  und  die  Industrie  181 

Diese  Bologneser  Seidenhaspel-  und  Zwirnmaschiue  war 
berühmt.  J.  J.  Becher  berichtet  davon 212.  ^(Sie)  haben  zu 
Bologne  in  Italia  ein  Filatorium  erfunden,  welches  die  Seyde 
abwindet  und  auch  zwirnet  |  aber  dieses  Instrument  ist  sehr 
gross  I  kostbar  und  mühsam  |  und  hat  viel  tausend  entia,  Zahn 
und  Getrieb  |  derowegen  es  offter  wandelbar  wird.  Die  Italiäner 
halten  es  gleichwol  in  so  hohem  Werth  und  Segretezza,  dass 
es  bey  Hencken  verboten  jemand  zu  zeigen.  Ich  habe  gleich- 
wohl gedachte  jMachinam  von  den  Italiänern  nachgemacht  zu 
München  gesehen  |  aber  wegen  ihrer  grossen  Kosten  und 
vieler  entien  wie  gedacht  |  nicht  sehr  aestimirt." 

Nach  diesen  Worten  ist  es  zweifelhaft,  ob  diese  große 
maschinelle  Seidenspinnerei  außerhalb  Italiens  überhaupt  Ver- 
breitung gefunden  hat.  Möglicherweise  beginnt  die  groß- 
betriebliche Seidenspinnerei  in  den  übrigen  Ländern  erst  im 
17.  Jahrhundert  sich  zu  entwickeln,  als  man  die  Erfindung 
ebendesselben  Joh.  Joach.  Bechers  sich  zunutze  machte.  Er 
erzählt  uns,  daß  seine  Maschine  in  einer  Fabrik  Anwendung 
gefunden  habe,  die  die  Stadt  Harlem  zu  diesem  Zwecke  erbaut 
habe:  die  Fabrik  war  300  Schuh  lang  und  kostete  40  000  fl. 
Becher  ging  1076  in  die  Niederlande;  aus  dem  Anfang  der 
1680er  Jahre  hören  wir  von  großen  „Seidenfabriken",  die  in 
Utrecht  eröffnet  werden  und  500  Arbeitern  Brot  geben  sollen : 
möglich,  daß  es  Seidenfilanden  waren.  Übrigens  bedeutete 
die  Bechersche  Erfindung  einen  Rückfall  aus  der  Fabrik  in 
die  Manufaktur,  da  seine  „Machina  gautz  unwandelbar  [  und 
ohn  einig  Gerase  gantz  leicht  zu  bewegen  |  also  dass  ein  Mensch 
auf  einmahl  tausend  Stränge  abwinden  kau  |  da  hingegen  die 
Bolognesische  Machina   mit  "Wasser   getrieben  werden  muss". 

Genug:  seit  dem  14.  Jahrhundert  bestehen  in  Italien, 
sicher  auch  seit  dem  17.  Jahrhundert  in  den  nordischen 
Ländern  großbetrieblich  organisierte  Seidenfilanden:  in  Eng- 
land Silk- Mills  (also  hatten  sie  Wasserantrieb V)  genannt. 
Defoe^^^  findet  auf  seinen  Wanderungen  eine  solche  Seiden- 


132  P'ünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

mühle  iu  Sheftield,  die  nach  dem  Vorbilde  der  von  Stoekport 
gebaut  ist:  5  Stockwerke  hoch,  90  yards  lang  und  in  der 
200  Hände  beschäftigt  werden. 

b)  Die  Spitzeniu  dustrie.  Diese  Luxusindustrie  hat 
für  einzelne  Länder  und  Lau  desteile  eine  große  Bedeutung 
gehabt.  16G9  waren  in  Frankreich  17  300  Arbeiter  und  Ar- 
beiterinnen in  der  Spitzenindustrie  beschäftigt^^*.  Im  König- 
reich Sachsen  lebten  im  18.  Jahrhundert  ganze  Bevölkerungen 
vom  Spitzenklöppeln.  Ein  Glück,  daß  der  Herr  Landbau- 
verwalter Christ.  Ludw.  Ziegler  aus  Hannover  am  18.  Junius 
1775  von  Chemnitz  nach  Zwönitz  wanderte,  um  auf  den 
Schneeberg  zu  kommen,  und  daß  er  seinem  Freunde  Johann 
Beckmann,  ordentlichem  Professor  der  Ökonomie  in  Göttingen, 
von  den  Eindrücken ,  die  er  auf  dieser  Wanderung  in  sich 
aufnahm,  in  einem  Briefe  Bericht  erstattete  ^^^:  so  wissen  wir 
wenigstens,  was  es  damals  mit  der  Spitzenklöppelei  im  Erz- 
gebirge für  eine  Bewandtnis  hatte,  wissen,  daß  in  jedem 
Hause  „so  viel  Klöppelküssen  auf  dem  Tische  als  Weibsen  in 
demselben  waren".  Kleine  Kinder  von  fünf  Jahren,  erfahren 
wir,  „fangen  schon  mit  Kanten  an,  die  durch  ein  Paar  Kleppel 
gemacht  werden,  und  das  Gespiel  eines  dreyjährigen  Mädgens 
ist  ein  Kleppelsack  mit  vier  Kleppeln  zu  einer  Lidze". 

Waren  diese  geklöppelten  Spitzen  vielleicht  schon  im 
18.  Jahrhundert  nicht  durchgängig  mehr  ein  Luxusartikel, 
den  sich  nur  Eeiche  anschaffen  konnten,  so  gilt  doch  von  den 
feinen  Nähspitzen,  die  in  Brabant  und  seit  Colbert  namentlich 
auch  in  Frankreich  gefertigt  wurden ,  daß  sie  nur  in  den 
Oberschichten  dir  Gesellschaft  ihre  Abnehmer  fanden. 

Die  Organisation  war  in  allen  Fällen  dieselbe:  die  Spitzen- 
arbeiter wurden  von  Kaufleuten  beschäftigt,  „die  man  (im 
Erzgebirge)  Spitzenherren  nennt"  und  unter  denen  zuweilen 
(in  Frankreich)  Zwischenmeisterinnen  arbeiteten,  die  selbst 
wieder  je  4 — 5  Arbeiterinnen  unter  sich  hatten. 

In   der  Spitzenindustrie   sind   aber   daneben   ganz  eigen- 


Der  Luxus  und  die  Industrie  183 

artige  Betriebsorganisatioiien  ausgebildet  worden,  die  mir  in 
keinem  anderen  Gewerbe  bekannt  geworden  sind:  man  schuf 
(in  Frankreich)  förmliche  Alumnate,  in  denen  die  Arbeiterinnen 
wohnten  und  speisten  und  wohl  auch  ihre  Unterweisungen 
empfingen.  Wir  sind  über  solche  Anstalten  durch  eine  Reihe 
von  Etatsauf>tellungen  unterrichtet  ^i«. 

1699  reicht  ein  C.ement  de  Gouffrcville  für  eine  in  St.  Denis  zu 
errichtende  „Manufacture  de  dentelles"  folgenden  Kosten- 
anschlag ein: 

für  den  Faden  p.  a 6  000  1. 

20  Betten  für  die  maitresses 1  000  „ 

200       n        T)      n    apprentisses  et  ouvriercs     6  000  „ 

400  Paar  Überzüge  dafür 1  600  „ 

40     „  „  für  die  maitresses   .   .   .       400  „ 

Tischservice 500  „ 

Tischwäsche 500  „ 

Gage  der  maitresses  ä  200  1 4  000  „ 

Verköstigung  der  apprentisses  ä  100  1.  .    .    .  20  000  „ 

usw.  

Insgesamt  96  uOO  1. 

c)  Die  Spiegelfabrikation  wird  auf  ganz  breiter, 
großkapitalistischer  Basis  betrieben;  in  Frankreich  machen 
sich  1704  zwei  Gesellschaften  Konkurrenz:  die  von  Dombes 
und  die  von  St.  Gobain,  Tour  la  Ville  und  Paris.  Diese  hatte 
zwei  Jahre  vorher  Antoine  Dagincourt,  ein  reicher  Pariser, 
für  990000  1.  angekauft 2".  Die  Spiegelmanufaktur  in  Fau- 
bourg  St.  Antoine  beschäftigte  500  Arbeiter.  Mercier  be- 
schreibt uns  die  Einrichtung  dieses  Etablissements,  wo  in 
einem  Schleifsaal  400  Arbeiter  beschäftigt  waren  2'^. 

d)  Die  Porzel  lan  Industrie  ist  die  Luxusindustrie 
par  excellence  im  18.  Jahrhundert.  Porzellanmanufakturen  mit 
mehr  oder  weniger  staatlicher  Organisation  werden  errichtet 
in  folgenden  Städten:  1709  Meißen,  1718  Wien,  1720  Höchst, 
1740  Vincennes,  seit  175G  S^vres,  1743  Capo  di  Monte  bei 
Neajjel,  1744  Fürstenberg,  1750  Berlin,  1755  Frankeiithal, 
1758  Nymphenburg  und  Ludwigsburg,  1772  Kopenhagen. 
Daneben  wimmelte  es  aber  von  privaten  Unternehmungen  2^*. 


184  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Die  Porzellanmanufakturen  wachsen  sich  rasch  zu  ganz 
großen  Betrieben  aus,  wie  deren  die  Zeit  nur  wenige  kannte. 

Die  Berliner  Porzellaiimanufaktur  beschäftigt  1798  schon 
400  Arbeiter  220.  Das  Persoual  der  Meißener  Manufaktur 
wuchs  wie  folgt  an  221 :  1719  2(3,  1730  49,  1740  218,  1745  3S7, 
1750  378. 

e)  Verschiedene  Industrien.  Es  hat  wenig  Zweck, 
auch  über  die  anderen  reinen  Luxusindustrien  wie  für  die  ge- 
nannten, die  ich  als  Beispiele  herausgegriffen  habe,  in  ähn- 
licher Weise  Berieht  zu  erstatten.  Der  Leser  würde  ermüden, 
denn  es  ist  immer  dasselbe  Bild:  keine  einzige  wirkliche 
Luxusindustrie  ist  mir  bekannt,  die  nicht  spätestens  im 
Laufe  des  18.  Jahrhunderts  in  die  kapitalistische  und  sehr 
häufig  auch  großbetriebliche  Form  übergeführt  wurde,  wenn 
sie  nicht  (was  meist  der  Fall  ist)  sofort  auf  kapitalistischer 
oder  großbetrieblicher  Grundlage  aufgebaut  ist.  So  die  Glas- 
industrie  (seit  Murano),  so  die  Zuckerindustrie: 
Cambden  verlangt  im  18.  Jahrhundert  für  den  „Zuckerbäcker" 
in  London  1000 — 5000  ^  Kapital;  so  die  Goldschmiederei 
und  andere  Goldarbeit:  Fran^ois  Thomas  Germain,  der  be- 
rühmte Goldschmied,  der  1748  seinem  Vater  im  Louvre  folgt, 
setzt  für  3000000  Fr.  um  und  macht  einen  Bankerott  von 
2400  000  Fr.,  Londoner  Goldschmiede  müssen  ein  Mindest- 
kapital von  500 — 3000  £  haben ;  in  Berlin  ist  im  18.  Jahr- 
hundert der  größte  Betrieb  die  Gold-  und  Silbermanufaktur, 
die  Tressen,  Schärpen,  Troddeln  usw.  fertigte  und  1784  813, 
1799  1013, 1801  1151  Personen  beschäftigte;  so  die  Stickerei: 
1774  errichtet  ein  Franzose  in  Berlin  eine  Manufaktur,  die 
77  Arbeiter  beschäftigt  und  viele  „zum  Manns-  und  Damen- 
putz gehörige  seidene  und  reiche  Sachen"  fertigt;  so  die 
Fabrikation  künstlicher  Blumen:  177(3  wird  in  Berlin 
die  erste  Fabrik  dieser  Art  gegründet,  die  1784  für  24000 
Reichstaler  Waren  erzeugt  und  140  „Frauenspersonen"  be- 
schäftigt. 


Der  l.uxiis  und  die  ludustrie  185 

3.  Die  gemischten  Gewerbe 
Überall,  sehen  wir,  herrscht  iu  den  Luxusgewerben 
Kapitalismus  und  oft  auch  Großbetrieb,  die  sich  in  den  von 
uns  betrachteten  Fällen  neben  dem  alten  Handwerk  ent- 
wickelt hatten.  "Wie  sehr  nun  aber  Luxusindustrien  und 
Kapitalismus  zusammengehören,  welche  eminente  Bedeutung 
also  die  Entfaltung  des  Luxusbedarfs  für  die  Entwicklung  des 
Kapitalismus  gehabt  hat,  werden  wir  erst  ganz  zu  ermessen 
vermögen,  wenn  wir  nun  diejenigen  Luxusindustrien  vor 
unserem  geistigen  Auge  vorüberziehen  lassen ,  die  sich  im 
Rahmen  alter  Handwerke,  aus  alten  Handwerken  durch 
Dirterenzierung  herausgebildet  haben.  Da  nehmen  wir  näm- 
lich wahr  —  und  das  ist  die  wirtschaftsgeschichtlich  wichtigste 
Erkenntnis,  die  wir  hierbei  zu  gewinnen  vermögen  — ,  daß 
diejenigen  Teile  eines  Handwerks,  die  dem  Kapitalismus  an- 
heimfallen, immer  Tätigkeiten  umfassen,  die  für  den  Luxus- 
bedarf produzieren.  Die  meisten  Handwerke  machen,  mit 
anderen  Worten,  schon  während  der  frühkapitalistischen  Epoche 
einen  Differenzierungsprozeß  durch:  die  künstlerische,  quali- 
fizierte Arbeit  scheidet  sich  von  der  gewöhnlichen  groben 
Handwerksarbeit  ab  und  verselbständigt  sich  in  eigenen  Ge- 
werben; diese  nehmen  damit  einen  kapitalistischen  Charakter 
an,  während  die  Grobarbeit  lange  Zeit  dem  Handwerker  ver- 
bleibt, bis  auch  sie  (aber  erst  in  unseren  Tagen)  die  Um- 
wandlung in  die  kapitalistische  Organisation  erlebt.  Hand- 
werk und  Luxus gewerbe  werden  ein  sich  aus- 
schließender Gegensatz  auch  im  Bewußtsein  der  Zeit- 
genossen, wie  es  eine  schöne  und  charakteristische  Stelle  bei 
Mercier  deutlich  erkennen  läßt^^^: 

„Les  artisaiis  paroisscnt  les  individus  les  plus  heiirenx.  Tirant 
parti  de  leur  industiie  et  de  leur  dexterite,  ils  se  tiennent  ii  leur  place, 
ce  qui  est  aussi  sage  qu'infiniment  rare.  Sans  ambition  conime  sans 
vanit^,  ils  ne  travaillent  que  pour  leur  entretien  et  leurs  di- 
vertissements(!),  ils  sont  honnetes  et  civils  envers  tout  le  monde, 


13(3  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

parce  qu'ils  ont  besoin  de  tous  les  etats.  La  vie  des  artisans  est  rangee; 
on  dirait  qu'ctant  voues  ä  des  occupations  plus  utiles  que  celle  des 
arts  de  luxe  ils  en  sont  r^compenses  par  le  calnie  de  la  conscience 
et  la  tranquillite  de  la  vie.  Un  mtnuisier  a  un  air  de  probite  que  n'a 
point  le  peintre  en  email." 

„Geiiiisclit"  wollen  wir  diese  Gewerbe  im  Gegensatz  zu 
den  reinen  Luxusgewerben  nennen,  weil  sie  sowohl  für  den 
Feinbedarf  als  auch  für  den  Grobbedarf  arbeiten. 

Natürlich  kann  es  sich  auch  hier  nicht  darum  handeln, 
eine  vollständige  Übersicht  sämtlicher  Gewerbe,  die  in  Be- 
tracht kommen,  zu  geben.  Es  genügt  wiederum,  wenn  ich 
an  den  wichtigsten  die  Richtigkeit  meiner  Gedankengänge 
erweise. 

a)  Die  Wollindustrie.  Unnötig  zu  sagen,  daß  die 
"Wollindustrie  neben  der  Seidenindustrie  das  wichtigste  Ge- 
werbe der  frühkapitalistischen  Epoche  war.  In  der  Woll- 
industrie wurden  Gewelie  für  die  Armen  und  Gewebe  für  die 
Reichen  hergestellt,  selbstverständlich.  Wo  wir  aber  auf  eine 
„blühende  Wollindustrie"  stoßen,  die  der  Stolz  ihrer  Staaten 
und  Städte  ist,  die  deren  Reichtum  begründet,  ist  es  immer 
eine  solche,  die  feine,  kostbare  Gewebe  herstellt,  ist  es  eine 
„Luxusindustrie"  und  ist  sie  frühzeitig  kapitalistisch  oder  gar 
großbetrieblich  organisieit  (bis  die  Lieferung  für  den  Heeres- 
bedarf auch  eine  bedeutende  kapitalistische  Weberei  begründet, 
die  Massengüter  erzeugt). 

Anders  ausgedrückt:  soweit  die  Wollindustrie  am  Auf- 
bau des  modernen  Kapitalismus  beteiligt  ist,  ist  sie  eine  Luxus- 
industrie. 

Vielleicht  die  früheste  durchgängig  kapitalistisch  organi- 
sierte Industrie  großen  Stils  ist  die  Florentiner  Woll- 
weberei. Daß  sie  zusammen  mit  der  Seidenindustrie  den  Glanz 
und  die  Macht  von  Florenz  begründet  hat  (soweit  diese  nicht 
in  reinen  Geldgeschäften  ihr  Fundamentum  hatten),  ist  all- 
bekannt. Daß  sie  in  der  Tat  frühzeitig,  wahrscheinlich  schon 
seit  dem   13.  Jahrhundert  auf  kapitalistischer  Basis   ruhten. 


Der  Luxus  und  die  Industrie  187 

haben  die  ausgezeiclmcteu  Untersucliungen  Alfred  Dorens 
außer  Zweifel  gestellt -2".  Schon  das  erste  Zunftstatut  der 
Calimala  vom  Jahre  13U0  zeigt  den  liausindustriellen  Betrieh 
fest  eingewurzelt. 

Aber  ganz  gewiß  war  sie  auch  eine  Luxusindustrie  im 
strengen  Sinne.  Die  Geschichte  der  Calimalazunft  (die,  wie 
man  weiß,  ein  Veredlungsgewerbebetrieb  war)  liegt  im  dunkeln. 
Sicher  ist  nur  dieses:  daß  ertt  dann  der  Florentiner  Handel  zu 
voller  Blüte  gelangte,  als  es  geglückt  war,  durch  Anwendung 
einer  Reihe  von  Veredlungsprozessen  (F'ärbung  und  Appretur) 
das  rauhere  nordische  Fabrikat  so  zu  verbessern  und  zu  ver- 
feinern, daß  es  den  verwöhntesten  Ansprüchen  des  steigenden 
Luxus  im  Orient  und  Okzident  zu  genügen  imstande  war. 
Man  kannte  die  Ansprüche  und  Bedürfnisse  der  moham- 
medanischen Welt;  man  hatte  die  überaus  feinen  Tücher  aus 
dem  Sultanat  Algarva  selbst  eingeführt:  so  mochte  man  all- 
mählicii  in  die  Geheimnisse  jener  technisch  überlegenen  Luxus- 
fabrikation eindringen,  mochte  es  lernen,  einem  rauhen  Tuche, 
wie  es  die  nordischen  Länder  erzeugten,  den  feinen  Schmelz, 
die  leuchtenden  Farben  zu  verleihen,  die  von  jetzt  au  das 
Florentiner  Fabrikat  vor  allen  anderen  auszeichnen  2^*.  „Piü 
panni  e  piü  fini  sanno  fare  in  Firenze  che  in  aicuno  altro 
luogo,"  schrieb  Mitte  des  15    Jahrhunderts  Goro  Dati. 

So  hob  sich  die  Florentiner  Wollindustrie  als  Ganzes 
durch  ihren  Qualitätscharakter  von  denen  anderer  Länder  und 
Städte  ab.  Innerhalb  der  Stadt  Florenz  selbst  scheiden  sich 
ebenfalls  die  Grobtücher  von  den  Feintüchern,  denn  natürlich 
liefen  unter  den  Produkten  der  ganzen  Industrie  auch  minder- 
wertige Stücke  unter.  Die  Groben  und  die  Feinen  waren  im 
14.  Jahrhundert  auch  räumlich  getrennt;  es  ist  der  Gegen- 
satz vom  Garbo  und  S.  Martino-Viertel.  W;is  mir  nun  aber 
besonders  interessant  erscheint,  ist  die  Wahrnehmung,  daß 
im  Garbo,  wo  die  groben  Massenartikel  hergestellt  wurden, 
die  kleineren,  mehr  zünftlerisch  handwerkerlich  interessierten 


jgg  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Meister  saßen,  während  in  S.  Martino,  wo  die  eigentliche 
Luxusindustrie  ihren  Sitz  hatte,  die  kaufmännisch  kapita- 
listischen Interessenten  die  Oberhand  hatten.  Das  wenigstens 
lese  ich  aus  dem  Streit  heraus,  in  dem  Garbo  und  S.  Martino 
immerfort  lagen  2^^. 

Von  der  spanischen  Wollindustrie  wissen  wir  wenig. 
Sie  „blühte"  im  16.  Jahrhundert,  sagen  die  üblichen  Berichte. 
Aber  wir  vermögen  uns  doch  insoweit  von  ihrer  Verfassung 
ein  Bild  zu  machen,  als  wir  erkennen,  daß  es  1.  eine  Luxus- 
industrie war  (soweit  sie  eben  „blühte"),  und  daß  sie  2.  kapi- 
talistisch organisiert  war  (soweit  sie  eben  Luxusgüter  er- 
zeugte). 

Guicciardini  erzählt  nur^se-.  ^^Oggi  hanno  commin- 
ciato  in  qualche  luogo  a  attendervi  e  di  giä  in  qualche  parte 
della  Spagna  si  lavorano  panni  e  drappi  da  altebassie  e  d'oro 
in  fuora  come  in  Valenza,  in  Toleto,  in  Sibilia."  Und  in 
einem  Bericht,  den  wir  über  einen  Festzug  in  Segovia  aus 
dem  16.  Jahrhundert  besitzen,  findet  sich  die  folgende  lehr- 
reiche Stelle  ^^^: 

„An  zweiter  Stelle  kamen  die  Wollindustriellen  und  die  Tuch- 
fabrikanten, die  das  Volk  mit  Unrecht  Kaufleute  nennt.  Sie  sind  tat- 
sächlich wie  Väter  der  Familien,  die  in  ihren  Häusern  und  außerhalb 
derselben  eine  große  Anzahl  Volk  beschäftigen,  viele  bis  200,  viele  bis 
300  Personen.  Durch  fremde  Hände  lassen  sie  eine  Unmenge  des 
feinsten  Tuches  herstellen  .  .  ." 

In  Frankreich  entwickelt  sich  die  Feintuchweberei 
während  des  17.  Jahrhunderts  vornehmlich  in  und  um  Ronen, 
Sedan,  Elboeuf  und  Reims  2^*.  Hier  aber  ist  es  auch,  wo  die 
kapitalistische  Organisation  schon  im  17.  und  18.  Jahrhundert  zu 
außergewöhnlich  hoher  Ausbildung  gelangt.  Zwar  findet  sich 
in  der  Manufacture  de  Sedan  nur  ein  mittelgroßer  Verleger- 
typ: von  4  privilegierten  „Entrepreneurs  de  fabrique"  be- 
schäftigen 2  je  104,  1  65,  1  50  Webstühle,  von  21  nicht- 
privilegierten 1  über  40,  4  über  30  usw.  ^^^  Ich  denke  aber 
an  die  Etablissements  der  Gebrüder  van  Robais,  in  denen  wir 


i 


Der  Luxus  und  die  Industrie  189 

Großbetriebe  von  ganz  bedeutender  Ausdehnung  vor  uns  haben. 
Die  genaue  Statistik,  die  wir  von  diesen  Betrieben  besitzen  ^^o^ 
gestattet  uns  bis  ins  kleinste,  ihre  Organisation  zu  erkennen. 
Wir  sehen  die  Verarbeitung  der  Wolle  bis  zum  fertigen  Fabrikat 
in  22  Teilprozesse  aufgelöst  und  tinden  nicht  weniger  als 
1692  Arbeiter  in  einem  Etablissement  vereinigt.  Von  diesen 
sind  822  Rad -Spinnerinnen  und  200  Weber  an  100  Web- 
stühlen. Luxusindustrie.  Daneben  gibt  es  ein  ausgedehntes 
Wollweberhandwerk,  das  gew^öhnliche  Ware  herstellt. 

Die  berühmteste  Wollindustrie  im  18.  Jahrhundert  war 
die  englische.  Auf  ihr  ruhte,  heißt  es  im  Jargon,  „die 
Wohlfahrt  des  Landes":  „wool  is  eminently  the  foundation  of 
the  English  riches"  (Jos.  Child).  1738  waren  IV2  Millionen 
Menschen  bei  der  Verarbeitung  der  Wolle  in  England  be- 
schäftigt. Die  Zahl  ist  natürlich  falsch.  Immerhin.  Der  Wert 
der  ausgeführten  Wollwaren  betrug  1700  schon  3000000  ^, 
1815  war  er  auf  9381420  £  gestiegen  ^^V 

Unter  diesen  Wollstotfen  befanden  sich  natürlich  ebensogut 
grobe  wie  feine.  Ganz  gewiß  war  die  englische  Wollindustrie 
nicht  als  Ganzes  eine  Luxusindustrie.  Namentlich  in  der 
späteren  Zeit,  insbesondere  als  Amerika  ein  starker  Kon- 
sument englischer  Wollwaren  wurde  (von  den  9  Millionen  £ 
im  Jahre  1815  gingen  über  4  Mill.  ^  nach  den  Vereinigten 
Staaten),  werden  die  groben  Stoffe  für  den  Bürger  und  die 
Masse  vielleicht  sogar  überwogen  haben.  Aber  sie  war  doch 
auch  eine  Luxusindustrie.  Und  das  in  ganz  hervorragendem 
Maße.  Die  feinen  englischen  Tuche  ebenso  wie  die  teuren 
englischen  Phantasiestoffe  waren  namentlich  während  des 
18.  Jahrhunderts  in  der  ganzen  Welt  von  den  reichen  Leuten 
begehrt.  Um  nur  ein  Beisjjiel  herauszugreifen :  in  Nord- 
deutschland, in  Polen  und  in  Rußland  trugen  die  oberen 
Schichten  im  18.  Jahrhundert  mit  Vorliebe  englische  Woll- 
stoffe: „In  all  which  countries  the  nobilty,  gentry  and  principal 
burghers  are  cloathed  with  English  cloth,   druggets,  serges, 


J9Q  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

stiiffs  etc.  and  consume  a  very  great  quantity"  ^^^.  In  Ruß- 
land insbesondere  sind  der  Zar  selbst,  sein  ganzer  Hof  mit 
allen  Vornehmen  von  Petersburg  bis  Moskau  und  hinunter  bis 
Astrachan  „innerhalb  der  letzten  paar  Jahre"  (heißt  es  1745 
im  Complete  English  Tradesman)  zu  den  englischen  Wollstoffen 
übergegangen,  die  sie  alle  tragen:  „to  the  infinite  increase 
of  our  trade  tither." 

Die  Frage,  die  sich  uns  aufdrängt,  ist  nun  diese:  lassen 
sich  die  Unterschiede  zwischen  Grob-  und  Feinweberei  in  der 
englischen  Wollindustrie  in  der  Verschiedenheit  der  Wirt- 
schafts- und  Betriebsformen  verfolgen?  Diese  Frage  ist,  soviel 
ich  sehe,  bisher  noch  nicht  gestellt  worden,  obwohl  sie  mir 
doch  eine  der  wichtigsten  in  dem  ganzen,  weitschichtigen 
Problem  zu  sein  scheint. 

Wenn  ich  auf  Grund  des  vorliegenden  Materials  die  Frage 
zu  bejahen  wage,  so  geschieht  es  doch  mit  allem  Vorbehalt. 
Die  Tatsachen,  aus  denen  wir  uns  unser  Urteil  bilden  müssen, 
sind  folgende:  am  Ende  der  frühkapitalistischen  Epoche  be- 
standen in  der  englischen  Wollindustrie,  wie  man  weiß,  zwei 
Organisationssysteme  nebeneinander ^^^i  die  kapitalistische 
Hausindustrie  und  das  Handwerk.  Jene,  die  man  auch  als 
das  Westenglische  System  bezeichnete,  herrschte  in  West- 
england, aber  auch  im  großen  Webereibezirk  des  Ostens,  in 
Norfolk  usw.,  und  im  Süden. 

Das  Handwerk  war  jedoch  noch  ziemlich  intakt  in  dem 
nördlichen  Bezirk,  in  Yorkshire.  Die  beiden  Gebiete,  der 
Norden  und  die  übrigen  Teile,  unterscheiden  sich  vor  allem 
als  die  Gebiete  des  Streichgarns  und  des  Kammgarns.  Aus 
den  gekämmten  Wollen  wurden  aber  die  ganz  feinen  Tuche, 
Flanelle  usw.  gefertigt.  Waren  es  also  die  hochwertigen  Waren, 
die  Luxusgüter,  die  aus  dem  Gebiete  der  kapitalistischen 
Organisation  kamen,  während  die  Erzeugung  der  gröberen, 
minderwertigen  dem  Handwerk  verbliehen  war? 

Es  mag  auch  noch  daran  erinnert  werden,  daß  die  manu- 


Der  Luxus  und  die  Industrie  191 

fakturniäßig  organisierte  Weberei,  von  der  wir  im  16.  Jahr- 
hundert bereits  hören :  — 

„In  einem  großen,  langen  Saal 
Zweihundert  Webstuhl'  an  der  Zahl!" 

heißt  es  in  der  Beschreibung  der  Unternehmungen  des  Jack 
von  Newbury^^*,  und  ein  derartiger  Fall  großbetrirblicher 
Gestaltung  in  jener  Zeit  steht  nicht  vereinzelt  da  — ,  daß 
diese  großbetrieblich  organisierte  Wollindustrie  offenbar  eine 
Luxusindustrie  war:  die  Fabrikate  John  Winchcombes,  eben 
jenes  Jack  von  Newbury,  besaßen  europäischen  Ruf;  daß  sie 
jedenfalls  auch  in  dem  schon  kapitalistisch  zersetzten  West- 
england lagen:  Newbury,  Kloster  Malmesbury,  das  ein  reicher 
Tucher,  namens  Stump,  gepachtet  hatte,  um  dort  Webstühle 
aufzustellen,  Cirencester,  wo  eine  ansehnliche  Walkmühle  er- 
baut wurde,  die  Abtei  von  Osney  bei  Oxford,  die  derselbe 
Stump  pachten  will:  sie  alle  liegen  im  westeuglischen  Woll- 
industriegebiete. Ebenso  hören  wir,  daß  in  Norwich  im 
16.  Jahrbundert  durch  reiche  Verleger  Webwaren  im  großen 
erzeugt  werden,  die  bis  dahin  aus  Italien  eingeführt  wurden, 
also  hochwertige  Luxustoffe  waren  ^^^ 

b)  Die  Leinen  Industrie  ist  mir  durchaus  problematisch. 
Daß  sie  in  weitem  Umfange,  in  Schlesien,  in  Westfalen,  in 
Irland,  eine  Luxusindustrie  war,  steht  außer  Zweifel.  Sie 
liefeite  ja  unserm  Beau  im  London  des  18.  Jahrhunderts  die 
feinen  Hemden,  die  Elle  zu  10  oder  12  s. ;  sie  lieferte  die 
kostbaren  Battiste  und  Gazen;  sie  lieferte  die  prachtvollen 
Tafelgedecke,  die  wir  heute  noch  in  den  Museen  bewundern. 
Sie  lielerte  aber  auch  in  großen  Mengen  Kleiderstofle  für  die 
Neger.  Und  besonders  in  Irland  wurde  sehr  viel  billiges 
Leinen  erzeugt:  das  Leinen,  das  der  Linnen  Board  of  Ireland 
im  Jahre  1747  48  prämiierte,  sollte  nicht  weniger  als  6  d.  und 
nicht  mehr  als  10  d.  das  Yard  kosten! 

Aber  wie  sich  die  Güte  des  Falirikats  und  die  Wirtschaf ts- 
und  Betriebsformen   zueinander   verhalten ,   vermag  ich  nicht 


j^p2  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

ZU  sagen.  Daß  das  Handwerk  und  die  Hausindustrie  in  den 
großen  Exportleinenindustrien  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
nebeneinander  bestanden,  wissen  wir.  Aber  wie  verteilten 
sie  sich  zwischen  Luxus-  und  Massengüter?  Die  Wichtigkeit 
dieser  Frage  verdiente  schon  eine  Doktordissertation. 

c)  Die  Schneiderei.  Aus  dem  Schneiderhandwerk 
heben  sich  während  des  18.  Jahrhunderts  einzelne  Betriebe 
heraus  und  bilden  sich  in  kapitalistische  Unternehmungen  um: 
diejenigen,  die  für  die  feine,  das  heißt  zahlungsfähige  Kund- 
schaft arbeiten,  in  denen  also  Luxusgüter  hergestellt  werden. 

Seltsamerweise  ist  es  in  der  Herrenschneiderei  zunächst 
Konfektionsschneiderei,  die  solcherweise  auf  eine  kapitalistische 
Basis  gestellt  wird,  was  heute  längst  nicht  mehr  üblich  ist: 
die  Herstellung  fertiger  Luxuskleider  scheint  im  18.  Jahr- 
hundert durchaus  nicht  verpönt  gewesen  zu  sein.  Man  kann 
die  Luxuskonfektion  für  England  so  gut  wie  für  Frankreich 
nachweisen.  Die  eine  Stelle,  die  ihre  Existenz  im  18.  Jahr- 
hundert erweist,  findet  sich  in  der  Allgemeinen  Sehatzkammer 
der  Kauffmannschaft  usw.  und  lautet  wie  folgt  ^^ß; 

„Kleider  kommen  heutiges  Tages  und  fast  mehr  als  es  in  Deutsch- 
land nützlich,  in  ein  öffentliches  Comerzium,  in  dem  nicht  allein  viele 
deutsche  Herren  das  Geld  für  kostbare  .  .  .  Kleider  etc.  nach  Franck- 
reich  schicken,  sondern  auch  die  Franzosen  selbst  gantze  Kisten  und 
Fässer  voll  auf  unsere  Messen  bringen  .  .  ." 

Die  andere  Belegstelle  ist  eine  Annonce,  die  ein  Dartiga- 

longue  in  der  Nummer  der  „Affiches,  annonces  et  avis  divers" 

vom  4.  April  1770  eingerückt  hat: 

„Le  sieur  Dartigalongue,  maitre  et  marchand  tailleur  ä  Paris,  a  etabli 
depuis  quelque  tems  un  magasin  d'habits  neufs  tout  faits,  de 
toutes  especes,  de  toutes  tailles,  et  des  plus  ä  la  mode.  Si  ceux  de 
magasins  ne  sont  pas  au  goüt  des  personnes,  qui  veulent  etre  prompte- 
ment  habilles,  il  est  en  etat  de  les  satisfaire  presqu'ä  l'instant,  par  la 
quantite  d'ouvriers  qu'il  employe.  II  entreprend  toutes  les 
livrees  avec  le  plus  d'economie  possible.  II  fait  des  envois  en  province 
et  jusque  dans  les  pays  etrangers;  mais  les  personnes  qui  voudront  lui 
ecrire  sont  prie  d'afiianchir  leurs  lettres." 


Der  Luxus  und  die  Industrie  193 

Daß  es  sich  dabei  um  Kleider  für  die  „bessere"  Kund- 
schaft handelt,  scheint  mir  der  Tenor  der  Annonce  deutlich 
zu  besagen.  Auch  die  Livree  der  damaligen  Zeit  gehörte 
zweifellos  zu  den  teuren  Kleidungsstücken. 

Wenn  nun  aber  A.  Franklin,  der  diese  Annonce  aus- 
gegraben hat,  meint 2^^  W  Dartigalongue  sei  der  „erste 
Konfektionär",  so  irrt  er,  wenn  er  damit  nicht  sagen  will: 
der  erste  mit  dem  Namen  bekannte.  Die  Tatsache  der 
Kleiderkonfektion  ist  für  eine  viel  frühere  Zeit  verbürgt; 
auch  die  vorhin  erwähnte  Notiz  stammt  ja  schon  aus  der 
Zeit  vor  1741. 

In  London  finden  wir  schon  im  17.  Jahrhundert  Schneider, 
die  in  den  besseren  Stadtteilen  fertige  Kleider  feilhalten. 
Die  Sitte  muß  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  aufgekommen 
sein ,  also  wahrscheinlich  wieder  in  jener  bewegten  Zeit ,  als 
wir  die  Seidenwarenhändler  „wie  einen  Stock  schwärmender 
Bienen"  in  der  Stadt  umherziehen  sehen.  Denn  eine  Schrift 
aus  dem  Jahre  1681  ^^^  klagt  über  diese  Neuerung :  „viele  er- 
innerten sich  noch  der  Zeit,  da  es  in  London  keine  fertigen 
Kleider  in  Läden  zu  kaufen  gab".  Die  Kundenschneider, 
„accustomed  tailor" ,  widersetzen  sich  den  Kleiderhändlern, 
„taylers  being  salesmen",  die  teuere  Miete  in  fashionablen 
Quartieren  bezahlen,  lange  Kredite  ihrer  aristokratischen 
Kundschaft  gewähren  (also  hielten  sie  Luxuskleider  feil !) 
und  in  ihren  Werkstätten  Dutzende  und  selbst  Gänge  (scores 
=  20  Mann)  von  Arbeitern  beschäftigten. 

Aber  das  Hauptfeld,  auf  dem  sich  die  kapitalistische 
Schneiderei  entfalten  konnte,  war  doch  (wie  heute  noch)  die 
feine  Maßarbeit. 

Die  Beschreibung,  die  R.  Campbell  von  dem  Geschäft 
eines  Maßschneiders  in  London  macht  2^^,  würde  auf  jedes 
heutige  Geschäft  gleicher  Art  ohne  weiteres  auch  passen : 
sehr  anspruchsvolle  Kundschaft,  die  meist  auf  Pump  arbeiten 
läßt,  sehr  hohe  Auslagen  für  die  teueren  Stoffe  und  Zutaten, 

Sombart,  Luxus  und  Knpitalisnius  13 


29^  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

die  mehr  kosten,  als  der  Arbeitslohn  beträgt,  Differenzierung 
der  Arbeit  in  hochqualitizierte  Zuschneidearbeit  und  speziali- 
sierte Näharbeit.  Der  Zuschneider  verdient  reichlich:  er  be- 
kommt außer  den  Abfällen  (cabbage)  und  den  Trinkgeldern, 
die  ihm  die  Gentlemen  bei  der  Anprobe  zu  geben  pflegen, 
eine  Guinee  die  Woche;  gute  Zuschneider  sind  gesucht.  Die 
übrigen  Schneider  sind  „so  zahlreich  wie  Heuschrecken"  und 
gemeiniglich  „arm  wie  die  Ratten" ;  sie  sind  drei  oder  vier 
Monate  im  Jahre  außer  Stellung,  also  durchaus  proletarische 
Existenzen.  Es  mag  daran  erinnert  werden,  daß  der  Gewerk- 
verein der  Schneider  der  erste  ist,  den  wir  kennen  2*". 

Ganz  großen  Stil  hatte  schon  im  18.  Jahrhundert  die  feine 
Damenschneiderei  und  Putzmacherei  angenommen:  die  schon 
öfters  erwähnte  Schneiderin  Marie  Antoinettes  machte  einen 
Bankrott  mit  3  Mill.  Fr.  Passiven  ^^i. 

d)  L  e  d  e  r  a  r  b  e  i  t  e  r.  In  der  Schuhmacherei  gelangt 
wie  in  der  Schneiderei  die  feine  Maßarbeit  zuerst  zu  höheren 
Formen  der  Organisation.  In  Paris  begegnen  wir  im  18.  Jahr- 
hundert dem  „Magazinmeister",  wie  ihn  Kanter  für  Breslau 
geschildert  hat^**^,  der  nur  für  vornehme  Kundschaft  arbeitet : 
„Dieser  Schuhmacher  trägt  einen  schwarzen  Rock,  eine  wohl- 
gepuderte Perücke,  und  seine  Weste  ist  aus  Seide;  er  hat 
das  Aussehen  eines  Registrators;"  er  nimmt  aber  doch  noch 
persönlich  bei  der  Frau  Gräfin  Maß.  „Seine  Kollegen  haben 
Pech  an  den  Fingern;  sie  tragen  ramponierte  Perücken  und 
schmutzige  Wäsche;  aber  (!)  sie  arbeiten  für  das  Volk,  sie 
bekleiden  nicht  die  Füßchen  schöner  Marquisen^*^" 

Der  Sattler,  der  Luxusgeschirre  macht,  ist  „ein  wirk- 
lich bedeutender  und  nützlicher  Geschäftsmann".  Er  muß 
einen  großen  Vorrat  flüssigen  Geldes  haben  (a  large  Stock 
of  ready  money),  „da  seine  Materialien  teuer  sind  und  die 
vornehme  Kundschaft  (the  Gentry)  ihren  Sattler  nicht  früher 
zu  bezahlen  pflegt  als  andere  Lieferanten  2**."  Damals  im 
18.  Jahrhundert  befindet  sich  dieser  Geschirrsattler  just  auf 


Der  Luxus  und  die  Industrie  195 

dem  Wege   zur  Manufaktur:   er  beschäftigt  zahlreiche  Hand- 
werker, die  aber  noch  „selbständig"  sind. 

Innerhalb  des  Gerbergewerbes  bestehen  in  Frankreich 
im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  „Manufakturen"  für  folgende 
Ledersorten,  deren  Bereitung  also  dem  Kapitalismus  anheim- 
gefallen ist:  ungarische  Leder,  englische  Kalbleder,  Marokin, 
Büffel,  Gemse  24^ 

Dasselbe  wird  auch  für  das  Berlin  des  18.  Jahrhunderts 
berichtet ^^'^ :  „Die  Herstellung  feinerer  Lederarten ,  wie 
Saffian,  Korduan,  dänisches  Leder,  wurde  von  französischen 
Emigranten  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  Berlin  ein- 
geführt, zum  Teil  in  der  Form  von  Großbetrieben,  die 
dann  mitunter  auch  die  Verarbeitung  des  Leders  („dänische 
Handschuhe")  mit  in  ihre  Tätigkeit  hineinzogen." 

e)  Hutmacherei.  „Eine  jede  Mannsperson,  von  dem 
Regenten  bis  auf  den  Bauer,  hat  einen  Hut  nötig.  Dieses 
macht  die  Hutmacher  zu  ganz  ohnentbehrlichen  Handwerkern 
vor  einen  Staat.  Da  aber  die  meisten  Hutmacher,  sonderlich 
in  kleinen  Städten,  gemeiniglich  nur  geringe  und  schlechte 
Hüte  vor  die  untersten  Classen  der  Menschen  verfertigen ; 
hohe  Standespersonen  aber.  Staatsbedienten  und  reiche  und 
wohlhabende  Leute,  solche  Sorten  von  Hüten  vor  sicli  viel 
zu  verächtlich  halten,  sondern  feine  Hüte  tragen  wollen;  so 
wird  man  selbst  einsehen,  daß  auch  feine  Hüte  im  Lande 
selbst  verfertiget  werden  .  .  .-*^" 

So  ist  man  zur  Anlage  von  „feinen  Hutmanufakturen" 
gelangt;  zuerst  in  Frankreich  in  Paris,  Marseille,  Lyon,  Ronen, 
Gandebec  usw. :  einen  berühmten  Hutmacher  lernen  wir  schon 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  kennen,  der  in  Ronen  19  Gehilfen 
beschäftigt  und  12  davon  mit  nach  Rotterdam  nimmt  2*^.  Dann 
aber  auch  in  England,  wo  z.  B.  alle  Kardinalshüte  gemacht 
wurden  (das  Stück  zu  5—0  Guineen !).  Schließlich  auch  in 
Deutschland:    in  Erlangen   wie  Berlin.     Hier  in  Berlin  trägt 

das  Hutmachergewerbe  bis  zum  Ende   des  18.  Jahrhunderts 

13* 


iQl^  Fimttes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

<»auz  allgemein  ein  durchaus  handwerksmäßiges  Gepräge,  das 
es  bei  der  Anfertigung  minderer  Sorten  bis  zur  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  beibehält.  1782  wird  aber  eine  Hutfabrik 
begründet,  in  der  37  Arbeiter  beschäftigt  sind,  und  die  für 
21800  Rtlr.  „Hüte  von  vorzüglicher  Güte  und  Feinheit" 
macht  (während  die  ganze,  aus  133  Köpfen  bestehende  Hut- 
macherzunft in  demselben  Jahre  nur  für  45240  Rtlr.  Hüte 
erzeugt)  ^^^. 

f)  Baugewerbe.  Schon  zur  Zeit  der  Renaissancepäpste 
wird  die  Herstellung  der  großen  Paläste  und  Kirchen  durch- 
aus in  kapitalistischem  Rahmen  besorgt.  Der  Comaske  Bel- 
tramo  di  Martino  aus  Varese  beispielsweise,  der  unter  Nicolaus  V. 
baute,  gebot  über  eine  ganze  Armee  von  Arbeitern  und  besaß 
große  Ziegeleien  und  Kalköfen  in  Rom ;  seine  jährliche  Forde- 
rung an  die  päpstliche  Kasse  betrug  etwa  30000  Dukaten. 
Manchem  überbeschäftigten  Bauunternehmer  war  es  nicht 
mehr  möglich,  sämtliche  Bauten,  die  er  zu  gleicher  Zeit  aus- 
führte, persönlich  zu  überwachen:  er  ließ  sich  dann  durch 
Bauführer  oder  Parlierer  (soprastante)  vertreten ;  Filarete  be- 
rechnet in  seinem  Traktat,  daß  auf  je  85  Mauerleute  ein 
solcher  Aufseher  kommen  müsse  ^^o. 

Kein  Wunder  also,  wenn  wir  im  17.  Jahrhundert  beim 
Bau  der  französischen  Königschlösser  schon  recht  kapital- 
kräftigen Unternehmern  begegnen.  Die  Baurechnungen,  auf 
deren  Bedeutung  ich  schon  hinwies,  und  die  ihren  Wert  erst  an 
dieser  Stelle  für  uns  ganz  offenbaren,  gestatten  uns,  die  ein- 
zelnen an  den  Bauten  beteiligten  Gewerbetreibenden  zu  verfolgen 
und  genau  festzustellen,  welche  Beträge  sie  für  ihre  Leistungen 
in  Empfang  nehmen.  Daraus  läßt  sich  natürlich  mit  Leichtig- 
keit ihr  Gesehäftsumfang,  ihre  Entwicklung  im  Laufe  mehrerer 
.Jahre  usw.  erkennen.  Das  Bild,  das  wir  auf  Grund  dieser 
Angaben  von  dem  Baugewerbe  am  Ende  des  17.,  Anfang  des 
18.  .Jahrhunderts  in  Paris  empfangen,  ist  etwa  folgendes: 

Maurerei  und  Zimmerei  sind  (natürlich  immer  nur  soweit 


1)lt  Luxus  und  die  Industrie  197 

flie  großen  Moüumentalbauten  in  Betracht  kommen)  durch- 
aus schon  großkapitalistisch  organisiert. 

In  beiden  Gewerben  stoßen  wir  immer  wieder  auf  dieselben 
Firmen,  die  meist  von  zwei  Kompagnons  vertreten  und  die 
ausdrücklich  genannt  werden:  „entrepreneurs  du  bastiment 
neuf  du  Louvre",  „entrepreneurs  des  ouvrages  de  charpenterie 
du  bastiment  du  Louvre"  usw.  Da  sind  im  Jahre  1664  die 
großen  Baugeschäfte:  Jacques  Mazi^res  &  Pierre  Bergeron, 
die  in  einem  Jahre  861330  1.,  im  andern  610600  1.  beim 
Louvre,  200  965  1.  3  s.  in  Versailles  für  Maurerarbeiten  er- 
halten :  da  sind  Poncelet  Cliquin  &  Paul  Charpentier  mit  100 
bis  150  0U0  Fr.,  zu  denen  sich  im  Laufe  der  Jahre  ein  lialbes 
Dutzend  andere  gesellt. 

Nächst  diesen  beiden  Hauptbaugewerben  kommt  dann  die 
Dach  deck  erei,  die  auch  schon  stark  in  der  Umbildung 
zur  kapitalistischen  Organisation  begriffen  ist.  Ich  verfolge 
einen  gewissen  Ch.  Yvon  und  finde,  daß  er  im  Jahre  1664  im 
Louvre,  in  St.  Germain  und  in  Versailles  Arbeiten  ausführt, 
für  die  er  49  900  1.  empfängt.  Von  gleichem  Kaliber  etwa 
ist  die  Firma  Jean  Pillart  et  Claude  Fresneau,  die  sich 
nennen:  „maistres  couvreurs,  entrepreneurs  des  ouvrages 
de  couverture  et  plomberie". 

Die  übrigen  Baugewerbe:  Tischlerei,  Schlosserei,  Glaserei 
usw.  finden  wir  im  Anfang  unserer  Epoche  in  handwerks- 
mäßigem Zustande ;  es  sind  offenbar  wohlhabende  Meister  mit 
einem  halben  Dutzend  Gesellen  und  Lehrlingen ,  die  hier 
arbeiten :  oft  10  oder  20  gleichzeitig  an  einem  Bau,  mit  einer 
Gesamtrechnung  im  Jahre  von  ein  Paar  Tausend  Livres  bis 
höchstens  (die  Tischler)  20  700  1.,  wenn  wir  nicht  annehmen 
wollen,  daß  die  vier  Tischler,  die  1666  eine  Summe  von 
63000  1.,  andere  vier,  die  eine  Summe  von  59000  1.  und 
16  317  1.  in  Empfang  nehmen,  eine  einzige  Firma  gewesen 
seien;  ein  paar  Schlosser  dagegen  erheben  sich  wohl  schon, 
namentlich   in   den  späteren  Jahren,   zu  kleinkapitalistischen 


19g  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Unternehmern:  es  sieht  fast  aus,  als  vollzöge  sieh  im  Laufe 
der  Zeit  von  Mitte  des  17.  bis  Anfang  des  18.  Jahrhunderts 
(wohl  unter  dem  Einfluß  der  starken  Bautätigkeit  des  Königs 
und  seiner  Granden)  eine  „Konzentration" :  im  Jahre  1715 
liefert  ein  gewisser  Frangois  Cafin,  serrurier,  doch  schon  für 
51578  1.  11  s. ;  das  läßt  doch  immerhin  auf  einen  Betrieb 
von  12 — 15  und  mehr  Gehilfen  schließen,  selbst  wenn  die  hier 
verzeichneten  Beträge  die  einzigen  Lieferungen  gewesen 
wären. 

Das  Bild,  das  uns  dann  Mercier  von  der  Organisation 
des  Baugewerbes  in  Paris  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  ent- 
wirft, zeigt  durchaus  großkapitalistische  Züge  auf,  soweit  die 
großen  Luxusbauten  in  Betracht  kommen ^^i.  Mercier  er- 
wähnt an  jener  Stelle  zwar  nicht  ausdrücklich,  daß  es  sich 
bei  diesen  großen  Bauunternehmern  um  Luxusbauten  handelt; 
wir  wissen  aber  aus  früheren  Berichten  gerade  desselben  Ge- 
währsmannes, wie  sehr  in  dem  damaligen  Paris  die  Bau- 
geschichte von  den  Prachtbauten  der  reichen  Finanziers  be- 
herrscht wurde. 

g)  Die  Stellmacherei,  aber  auch  die  Tapeziererei 
und  die  Sattlerei  stoßen  während  der  frühkapitalistischen 
Epoche  einige  Verrichtungen  ab,  die  sich  zu  einer  neuen 
kapitalistisch  betriebenen  Luxusindustrie:  der  Kutschen- 
bau er  ei,  zusammenfügen.  Die  Kutschenbauerei  hat  um 
die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  den  Weg  zur  vollendeten  Manu- 
faktur halb  zurückgelegt.  Sie  vereinigt  in  ihrer  höchsten 
Form  (in  London)  ^^^  in  eigener  Werkstatt  diejenigen  Arbeiten, 
die  den  Kasten  des  Wagens  einschließlich  Lederbezug  und 
Polsterungen  herrichten,  und  beschäftigt  außer  dem  Hause: 
den  Schnitzer,  den  Radmacher,  den  Gießer  (für  die  Be- 
schläge usw.),  den  Lederarbeiter,  den  Schmied,  den  Geschirr- 
macher. 

Aber  auch  in  dieser  halbfertigen  Gestalt  beansprucht  die 
Kutsch enmacherei    damals   schon    „a    great    Stock    of  ready 


I 


Der  Luxus  und  die  Industrie  190 

Monev",  ein  beträchtliches  Kapital,  nicht  zuletzt  wieder  wegen 
der  langen  Zahlungsfristen,  die  der  vornehmen  Kundschaft 
zugestanden  werden  müssen.  Denn  die  Kutschenbauer  haben 
nur  mit  dem  Adel  und  Leuten  von  Rang  (with  none  but 
Nobilty  and  Quality)  zu  tun,  bei  denen  es  oft  genug  über- 
haupt nicht  zum  Bezahlen  kommt. 

Die  Kutschenindustrie  hatte  übrigens  gerade  um  jene 
Zeit  in  England  einen  großen  Aufschwung  genommen,  da  der 
Adel  damals  einen  Stolz  darein  zu  setzen  begann,  selbst  zu 
kutschieren:  „our  nobilty  and  gentry  even  now  taking  Pride 
in  driving  themselves"  ^^^.  Wo  daher  vor  einem  Menschen- 
alter ein  paar  Dutzend  Kutschenbauer  lebten  (zehn  oder 
zwölf  in  der  City  und  nicht  ganz  soviel  in  den  andern  Stadt- 
teilen Londons),  haben  jetzt  die  zu  einer  Gesellschaft  zu- 
sammengeschlossenen Kutschenbauer  ganze  Straßenzüge  be- 
setzt-^*. 

h)  Die  (Möbel-)  Tisch]  er  ei  hat  von  jeher  die  Tendenz 
gehabt,  die  Schranken  des  Handwerks  zu  durchbrechen,  so- 
bald sie  anfing,  Luxusgegenstände  herzustellen.  Wir  finden 
deshalb  frühzeitig  —  z.  B.  in  Augsburg  im  16.  Jahrhundert  — 
die  Luxustischlerei,  die  „fürnehm  arbeit"  macht,  in  einen 
gewissen  Gegensatz  gestellt  zu  dem  „gemainen  handwerk". 
Während  dessen  Meister  in  der  Regel  nur  einen,  seit  1549 
zwei  Gesellen  beschäftigen  dürfen,  wurde  in  Fällen,  in  denen 
eine  größere  „fürnehm  arbeit"  anzufertigen  war,  um  Dispens 
von  dieser  Beschränkung  nachgesucht  ^^^. 

Im  17.  Jahrhundert  gestaltet  sich  dann  die  Luxus- 
sehreinerei  zu  großbetrieblichen  Formen  aus,  die  zunächst 
nicht  im  kapitalistischen  Rahmen  sich  entwickeln,  sondern 
vom  Königtum,  vom  Staate  gepflegt  werden.  Vorbildlich  für 
alle  Kunstmöbelherstellung,  bis  zu  den  Vereinigten  Werk- 
stätten in  unseren  Tagen,  ist,  wie  allbekannt,  die  Manu- 
facture  royale  des  Gobelins  geworden,  die  Colbert  zur  Blüte 
brachte  2^^.    In  ihr  wurde  alles  erzeugt,  was  zur  Ausstattung 


200  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

der  königlichen  Schlösser  diente,  also  nicht  nur  die  Möbel 
aus  Ebenholz],  Schildpatt  und  farbigen  Hölzern  mit  ihren 
Schnitzereien  und  Intarsien,  sondern  auch  die  Wand-  und 
Fußteppiche,  die  Lüster  und  Kandelaber  aus  Bronze  und 
Kristall;  das  Silber-  und  Goldgeschirr,  das  mit  Edelsteinen 
geschmückt  war  usw. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  darzustellen,  wie  in  diesen 
Werkstätten  unter  der  Leitung  bedeutender  Künstler  —  Lebrun 
war  lange  Zeit  Direktor,  Baudoniu  Yvard,  Van  der  Meulen, 
Bapt.  Monnoyer  u.  a.  waren  als  Maler,  die  Gebrüder  Anguier, 
Coysevox,  Tuby  als  Bildhauer,  Audran,  Rousselet,  Ledere 
als  Kupferstecher  tätig  —  mit  einem  gewaltigen  Stabe  von 
Arbeitern :  in  der  Teppichabteilung  waren  allein  250  Personen 
beschäftigt,  die  Wunderwerke  des  Style  Louis  XIV.  hervor- 
gegangen sind.  (Obwohl  eine  Geschichte  der  Organisation 
des  Kunstgewerbes  eine  sehr  dankbare  Aufgabe  für  talentvolle 
Leute  wäre.)  Genug,  daß  hier  einer  der  größten  Luxus- 
konsume  auch  eine  der  größten  Umwälzungen  der  gewerb- 
lichen Organisationen  hervorgerufen  hat,  die  dann  auch  für 
die  Entwicklung  des  modernen  Kapitalismus  große  Bedeutung 
erlangen  mußte.  Denn  nach  dem  Vorbilde  der  Manufacture 
royale  des  Gobelins  entstanden  überall,  wo  ein  Zentrum 
des  Konsums  von  Luxusmöbeln  war,  kapitalistische  Kunst- 
tischlereien. In  Frankreich  selbst  haben  wir  in  dem  be- 
rühmten Unternehmen  des  Charles  Beule  wohl  das  erste  Bei- 
spiel einer  vollendeten  Kunstmöbelmanufaktur.  Beule,  der 
mit  seinen  vier  Söhnen  die  Arbeit  organisierte  und  zunächst 
auch  nur  für  den  Hof,  dann  aber  für  die  vornehme  Gesell- 
schaft auch  außerhalb  des  Hofes  produzierte,  stellte  alle 
Sorten  Möbel  in  Bronze  und  Holz  her,  als  Uhrgehäuse, 
Bureaux,  Kommoden,  Küchenschränke,  Lüster,  Truhen,  Gu6- 
ridons  usw.  Er  war  von  1672 — 1732  en  vogue;  1720  (Süd- 
seeschwindel!) bezifferte  sich  der  Wert  der  angefangenen 
Stücke  in  seinen  Werkstätten  (die  im  Louvre  lagen)  auf 
80000  Liv.257. 


Der  Luxus  und  die  Industrie  201 

In  ganz  großem  Stile  betrieben  dann  die  berühmten 
englischen  Kunsttischler  ihr  Geschäft:  die  Sheraton,  Chippen- 
dale "^s. 

Auch  in  Deutschland  finden  wir  die  Luxustischlerei  (und 
diese  allein,  denn  der  handwerksmäßige  Charakter  der  ordi- 
nären Möbeltischlerei  blieb  bis  tief  ins  19.  Jahrhundert  hin- 
ein gewahrt)  kapitalistisch  und  großbetrieblich  organisiert 
schon  im  18.  Jahrhundert.  Eine  der  frühesten  kapitalistischen 
Tischlereien  ist  bei  uns  die  von  Mainz,  die  sich  als  Luxus- 
tischlerei im  Anschluß  an  den  prachtliebenden  kurfürstlichen 
Hof  entwickelt  ^^59 

Und  so  vollzieht  sich  die  Entwicklung  in  zahlreichen 
anderen  Handwerken  auch: 

Die  Posamentierer  in  Berlin  sind  am  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  ein  blühendes  Handwerk:  259  Meister  be- 
schäftigen 248  Gesellen  und  170  Lehrlinge.  „Die  reiche  Arbeit 
dagegen  unter  Verwendung  von  Gold-  und  Silberdraht  wurde 
von  der  Gold-  und  Silbermanufaktur  als  Verlagsinstitut  und 
den  Posamentierern   als  deren  Heimarbeitern   angefertigt  2^°. 

Die  gewöhnliche  Pomade  wird  im  18.  Jahrhundert  von 
den  Friseuren  hergestellt;  dagegen  gibt  es  zwei  Fabriken  für 
Schminke  und  für  „haarwachsende  Pomade"  ^^^ 

Die  Seifensieder  leben  ruhig  und  zufrieden  dahin, 
bis  eines  schönen  Tags  Luxusseifen  erfunden  werden.  „Das 
Fabriksystem  beginnt  mit  dem  Aufkommen  von  Luxusseifen." 
Im  18.  Jahrhundert  war  das  Produktionsgebiet  zwischen  Hand- 
werk und  kapitalistischer  Unternehmung  scharf  geschieden: 
jenes  stellte  die  gewöhnlichen  Seifen  her,  diese  die  feineren, 
wie  Marseiller  Seifen  usw.  ^^^  in  Marseille  selbst,  wo  ein 
Zentrum  der  Luxusseifenfabrikation  war,  haben  im  Jahre  1760 
38  Seifenfabriken  170  Kessel  und  1000  Arbeiter ^«a. 

Der  elegante  Soap-Boiler  in  London  braucht  ein  Anfangs- 
kapital von  2—3000  i^264^ 

Aber   ich    denke,    der    Beispiele    sind    nun    genug    auf- 


202  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

gezählt.  Besser,  wir  gehen  zum  Schlüsse  dieser  Betrach- 
tungen noch  den  Gründen  nach,  die  zu  dieser  in  weitem 
Umfange  einheitlichen  Entwicklung  der  gewerblichen  Pro- 
duktion geführt  haben. 

4.  Die  revolutionierende  Kraft  des  Luxtiskonsums 

Was  hat  die  Gewerbe,  ehedenn  die  Technik  es  tat,  in  den 
Kapitalismus  hineingetrieben?  Welches  ist  der  Grund,  wes- 
halb sich  hier  das  Handwerk  erhält,  dort  durch  eine  kapi- 
talistische Organisation  ersetzt  wird? 

Die  Vertreter  der  herrschenden  Meinung  antworten:  die 
geographische  Ausweitung  des  Absatzes  ist  schuld  daran,  daß 
der  Kapitalismus  Macht  über  die  gewerbliche  Arbeit  gewinnt, 
wie  ich  das  oben  schon  dargelegt  habe.  Ich  sage  dem  ent- 
gegen: viel  bedeutender  ist  der  Einfluß,  den  die  Ausbildung 
eines  starken  Luxuskousums  auf  die  Organisation  der  gewerb- 
lichen Produktion  ausübt.  Sie  ist  es,  die  in  sehr  zahlreichen 
(nicht  in  allen!)  Fällen  dem  Kapitalismus  die  Tore  öifnet, 
damit  er  in  die  so  wohl  umfriedete  Stadt  des  Handwerks 
seinen  Einzug  hält.  Meine  Ausführungen,  denke  ich,  be- 
weisen die  Richtigkeit  meiner  Ansicht. 

Wollte  man  mir  nun  aber  etwa  einwenden :  Du  täuschest 
dich;  jene  Gewerbe,  die  du  richtig  als  Luxusindustrien  be- 
zeichnet hast,  und  die  in  der  Tat  am  frühesten  vom  Kapi- 
talismus erfaßt  werden,  erleiden  diese  frühe  Herrschaft  nicht, 
weil  sie  Luxusindustrien,  sondern  weil  sie  Exportindustrien 
sind.    Denn  diese  Eigenschaft  haben  sie  alle  auch. 

So  würde  ich  antworten:  Du  irrst  Freund.  Du  irrst 
zwiefach : 

L  sind  keineswegs  alle  kapitalistisch  organisierten  Luxus- 
industrien Exportindustrien.  Ich  erinnere  s'n  die  Möbel-,  die 
Kutschen-,  die  Teppich-Manufaktur,  an  die  Luxusschneiderei 
und  Schuhmacherei.  Das  ist  alles  „lokale",  sogar  meistens 
in  eminentem  Sinne  „Kundenproduktion". 


Der  Luxus  und  die  Industrie  203 

2.  sind  keineswegs  alle  Exportgewerbe  kapitalistisch. 
Das  ganze  Mittt-laiter  hindurch  hat  es  zahllose  Handwerke 
mit  interlokalem  und  internationalem  Absatz  gegeben.  Und 
solche  Exi)Orthandwerke  haben  sich  bis  in  die  neuere  Zeit 
hinein  erhalten:  noch  im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  waren 
die  Wollweberei  in  Yorkshire,  die  Leinenweberei  in  Schlesien, 
die  beide  für  den  Weltmarkt  arbeiteten,  durchaus  handwerks- 
mäßig organisiert. 

Also  kann  die  geographische  Ausweitung  des  Absatz- 
gebietes doch  nicht  der  entscheidende  Grund  sein,  der  in  anderen 
Gewerben  den  Kapitalismus  zur  Herrschaft  kommen  läßt. 

Meine  Ansicht,  daß  dieser  entscheidende  Grund  die  Aus- 
weitung des  Luxuskousums  ist,  daß  also  die  namhaft  ge- 
machten Gewerbe  dem  Kapitalismus  anheimfallen,  weil  es 
Luxusindustrien  sind,  verteidige  ich  wie  folgt: 

Die  Gründe,  die  ein  Luxusgewerbe  eher  geeignet  machen 
für  kapitalistische  Organisation,  liegen: 

L  in  der  Natur  des  Produktionsprozesses.  Fast 
immer  erheischt  ein  Luxusgut  einen  kostbaren  Rohstoff 
der  häufig  aus  der  Ferne  bezogen  werden  muß. 

Also:  Bevorteilung  des  reicheren  und  des  kaufmännisch 
gebildeten  Mannes:  wenn  die  Pariser  „Filaresses"  schon 
im  13.  Jahrhundert  für  einen  Mercier  gegen  Lohn  Seide 
spinnen,  die  dieser  dann  in  der  Stadt  verkauft,  während 
Flachs  und  Wolle  Jahrhunderte  später  noch  von  Bauern  „in 
eigener  Regie"  verarbeitet  werden:  was  für  einen  andern 
Grund  hat  die  hausindustrielle  Organisation  in  diesem  Falle 
als  den,  daß  nur  der  Mercier  in  den  Besitz  des  teuren  Roh- 
stoffs gelangt. 

Meist  ist  aber  auch  das  Verfahren,  mittels  dessen  ein 
Luxusgut  hergestellt  wird,  kostspieliger  als  das,  mit  dem  das 
ordinäre  Gut  verfertigt  wird.  Damals,  heute  gilt  der  Satz 
natürlich  nicht!  Man  denke  an  die  frühere  Textilindustrie 
(Färberei!  Appretur!);  an  Glas-  und  Porzellanfabrikation;  an 


204  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Teppiclikiiüpferei  oder  Weberei;  an  Spiegelerzeugung;  kura 
an  die  meisten  Prozesse  der  Luxusindustrien.  Also  abermals : 
Bevorteilung  des  „kapitalkräftigen"  Mannes.  Aber  das  Ver- 
fahren bei  der  Erzeugung  von  Luxusgütern  ist  nicht  nur  kost- 
spieliger: es  ist  meist  auch  kunstvoller,  komplizierter,  setzt 
mehr  Kenntnisse,  mehr  Überblick,  mehr  Dispositionstalent 
voraus :  Grund ,  weshalb  die  Tüchtigsten ,  in  diesem  Sinne : 
Besten  aus  der  Masse  herausgehoben  werden,  die  mit  ihren 
Gaben  die  Stellungen  der  neuen,  vorwiegend  zur  Leitung  und 
Organisation  berufenen  Wirtschaftssubjekte  allein  auszufüllen 
vermögen.  Die  Vorzüge  des  Luxusgutes  werden  aber  oft 
genug  nur  erzielt,  wenn  auch  der  Arbeitsprozeß  schon  durch 
Kooporation  und  Spezialisation  auf  eine  hohe  Stufe  empor- 
gehoben ist:  die  kapitalistische  Maßschneiderei  liefert  nur 
darum  Qualitätswaren ,  weil  sie  die  hochwertige  Arbeit  des 
talentierten  Zuschneiders  für  eine  große  Masse  von  Durch- 
schnittsschneidern nutzbar  macht.  Eine  Differenzierung  von 
hochwertigen  Leistungen  ist  aber  nur  möglich  auf  einer 
breiteren  Produktionsbasis,  wie  sie  die  von  der  kapitalistischen 
Unternehmung  ins  Leben  gerufene  Betriebsorganisation  erst 
schafft. 

2.  liegen  die  Gründe,  die  die  Luxusgewerbe  eher  als  die 
andern  zum  Kapitalismus  treiben,  in  der  Natur  des  Ab- 
satzes. Ich  will  den  Gedanken  nicht  urgieren,  dem  wir 
schon  begegnet  sind  und  der  unter  dem  Ancien  regime 
offenbar  gang  und  gäbe  war:  daß  nämlich  die  seigneuriale 
Nonchalance  beim  Bezahlen  häufige  Verluste  für  den  Pro- 
duzenten von  Luxuswaren  im  Gefolge  habe,  jedenfalls  aber 
eine  breitere  Kapitalbasis  nötig  mache,  als  sie  sonst  er- 
forderlich wäre. 

Wichtig  dagegen  scheint  mir  der  Umstand,  daß  der  Absatz 
von  Luxusgütern  offenbar  größeren  Konjunkturschwankungen 
unterworfen  ist  als  der  von  Massengebrauchsartikeln.  Die 
Geschichte  aller   Luxusindustrien  lehrt  es   uns:   die  Launen 


Der  Luxus  und  die  Industrie  205 

der  reichen  Leute,  bei  denen  während  der  friihkapitalistischen 
Epoche  „die  Mode"  den  Geschmack  zu  beherrschen  anfängt, 
wechseln  rasch.  Und  dieser  rasche  Wechsel  führt  auf  der 
einen  Seite  oft  Absatzstockungen  herbei  und  heischt  auf  der 
andern  Seite  vom  Produzenten  eine  sehr  starke  Versatilität 
des  Geistes,  wenn  er  seine  Produktion  immer  wieder  den  neuen 
Anforderungen  anpassen  soll.  Die  kapitalistische  Organisation 
ist  nun  aber  viel  eher  als  das  Handwerk  imstande,  sowohl 
ungünstigen  Konjunkturen  standzuhalten ,  als  günstige  aus- 
zunutzen. 

Zu  diesen  allgemeinen,  „in  der  Natur  der  Sache"  liegen- 
den Gründen  kommt  nun 

3.  der  historische  Grund,  daß  alle  Luxusindustrien  während 
des  europäischen  Mittelalters  künstlich  geschaffen  worden 
sind,  entweder  von  den  Fürsten  oder  von  unternehmungslustigen 
Fremden.  Der  Fremde  spielt  bei  der  Entstehung  der  modernen 
Industrie  (wie  ich  an  anderer  Stelle  ausführlich  darlegen 
werde)  die  entscheidende  Rolle:  von  den  Humiliaten  an- 
gefangen, die  in  Florenz  die  Tuchindustrie  begründen,  bis  zu 
den  französischen  Emigranten ,  die  die  Väter  der  Berliner 
Industrie  sind,  zieht  sich  eine  ununterbrochene  Kette  von 
"Wanderungen  Industrieller  und  von  industriellen  Gründungen 
in  der  Fremde  durch  sie.  Was  sie  aber  begründen,  sind  fast 
immer  Luxusindustrien,  deren  Entwicklung  ja  auch  den 
Landesherren  vor  allem  am  Herzen  lag. 

Alle  diese  Industrien  aber,  die  mit  Bewußtheit  und  durch 
Fremde  ins  Leben  gerufen  werden,  erhalten  von  vornherein 
ein  rationales  Gepräge.  Sie  entstehen  meist  außerhalb  der 
alten  zünftlerischen  Schranken  und  oft  im  Gegensatz  zu  den 
alteingewurzelten  Interessen  der  ortsangesessenen  Handwerker. 
Bei  ihrer  Etablier ung  sprechen  keine  Rücksichten,  sprechen 
nur  Gründe  der  Zweckmäßigkeit,  und  deshalb  vor  allem  auch 
sind  sie  der  Boden,  auf  dem  sich  das  neue,  ökonomisch  höhere 
Wirtschaftssystem  zuerst  entfaltete. 


20(5  Fünftes  Kapitel:  Die  Geburt  des  Kapitalismus 

Aber  die  wichtigste  Vorbedingung,  die  erfüllt  sein  mußte, 
damit  dieses  Wirtschaftssystem  bestehen  konnte,  war  doch  ein 
seinem  Wesen  gemäßer  Absatz.     Da  nun  (letzter  Grund!) 

4.  die  andere  Möglichkeit  eines  großen  Absatzes:  der 
Massenabsatz  von  minderwertigen  Gütern  oder  der  Absatz 
großer,  zusammengesetzter  Güter  sich  meist  erst  viel  später 
einstellte,  so  blieb  dem  nach  Verwandlung  in  Kapital  streben- 
den Geldvermögen  nur  die  Anlage   in  Luxusgewerben  übrig. 

So  zeugte  der  Luxus,  der  selbst,  wie  wir  sahen,  ein  legi- 
times Kind  der  illegitimen  Liebe  war,  den  Kapitalismus. 

Finis 


Quellen  und  Literatumadiweise 


1 


209 


Erstes  Kapitel:    Die  neue  Geseilschaft 

1  H.  Laube,  a.  a.  0.  1,  128. 

2  Starkeys  England  in  the  Reign  of  Henry  VII  bei  Denton,  Eng- 
land in  the  fiftheenth  cent.  (1888),  259. 

^  Sie  ist  zuletzt  abgedruckt  und  ausführlich  kommentiert  bei 
J.  Goldstein,  Berufsgliederung  und  Reichtum.     1897. 

*  Siehe  die  Schedule  bei  Postlethwayt,  Dict.  of  Comm.  2^ 
(1758),  746.  747. 

B  Harrison,  Description  of  England.  B.  III,  Ch.  IV  (ed.  1577); 
zitiert  bei  Gib  bin  s,  Ind.  in  E.  4.  ed.  (1906),  p.  323.  Klar  ist  das  Bild 
nicht,  das  wir  von  der  Entstehungsart  der  Gentry  unter  Elisabeth  emp- 
fangen; C  am  den,  Britannia;  ed.  1590,  p.  106,  sagt  ganz  allgemein: 
„Generosi  (i.  e.  Gentlemen)  vel  promiscue  nobiles  sunt,  qui  natalibus 
clari  aut  quos  Virtus  aut  Fortuna  e  faece  hominum  extulit." 

6  Defoe,  Complete  English  Tradesman.  2.  ed.  1727,  p.  310;  5.  ed. 
1745.    1,  322.    (Die  Stelle  lautet  in  beiden  Ausgaben  gleich.) 

'  Defoe,  1.  c.  5.  ed.  1,  224  ff. 

8  Defoe,  1.  c.  2.  ed.  p.  313;  5.  ed.  1,  324. 

^Postlethwayt,  Dict.  of  Comm.  Art.  Commerce;  Miege- 
B  Ol  ton,   The  Present  State  of  Great  Britain  etc.     10.  ed.  1745,  p.  156. 

10  Charles  R.  Dodd,  Manual  of  Dignities  etc.  (1843),  251. 

"  Defoe,  1.  c.  2.  ed.  p.  311;  5.  ed.  1,  323.  24. 

12  L  e  c  k  y  bringt  das  Zitat  aus  den  „Miscellanea"  in  seiner  Ge- 
schichte Englands  im  II.  Bande,  Kap.  2  (Deutsche  Übersetzung  1,  208). 
Ich  habe  in  meinem  Exemplar  der  Miscellanea  (Vol.  I  1680;  Vol.  II 
1690)  das  Zitat  nicht  gefunden. 

13  Defoe,  1.  c.  im  XXIV.  Kapitel  der  5.  Auflage  (die  2.  Auflage 
hat  dies  Kapitel  noch  nicht). 

1*  Laffemas,  Traite  du  commerce  de  la  vie  du  loyal  marchand 
1601;  bei  G.  Fagniez,  L'economie  sociale  de  la  France  sous  Henry  IV 
(1897),  253. 

"^  Siehe  jetzt  wieder  Strieder,  Genesis  d.  mod.  Kap.,  40,  und 
die  daselbst  angeführte  Literatur,  sowie  Rud.  Häpke,  Die  Entstehung 
der  großen  bürgerlichen  Vermögen  im  M.  A.,  in  Schmollers  Jahrb.  29, 
245  ff. 

Sombart,  Luxus  und  Kapitalismus  14 


210  Quellen  und  Litteraturnachweise 

'«  Siehe  jetzt  wieder  H.  Sieveking,  Die  kapitalistische  Ent- 
wicklung in  den  italienischen  Städten  des  Mittelalters,  in  der  Viertel- 
iahrschr.  f.  Soc.  u.  W.-Gesch.  7,  73. 

i''  Ranks  6  in  B.  Thorpe,  Ancient  Laws  institutions  of  England 
1  (1840),  193.  Anm.  des  Herausgebers:  „It  is  possible  that  craeft  (craft) 
may  here  as  at  the  present  day  signify  a  vessel." 

^®  Siehe  die  zahlreichen  Beispiele  bei  H.  Pigeonneau,  Hist.  du 
commerce  de  la  France  1  (1885),  397  ff. ;  und  G.  D'Avenel,  Hist,  econ. 
de  la  propri(5te  etc.  1  (1894),  144  ff. 

^^  Beispiele  bei  Levasseur,  Hist.  des  classes  ouvrieres  etc.  2^ 
(1900),  175.  200. 

^'^  Ch.  Norman d,  La  bourgeoisie  frangaise  au  XVII  sc.  (1908), 
9  fi.  21  ff.  64  ff. 

21  G.  D'Avenel,  1.  c.  1,  144  ff.  208  f. 

«2  Sully,  Memoires  s.  a.  1601;  ed.  1752,  4,  12  ff. 

28  (Mercier)  Tableau  de  Paris  2,  201,  Ch.  CLXXII. 

^*  Die  Ziffern  entnehme  ich  der  sorgfältigen  Arbeit  F.  Bei  ochs, 
Die  Entwicklung  der  Großstädte  in  Europa,  in  den  Comptes  rendus  du 
Vllle  Congres  international  d'Hyg.  et  de  Dem.  (1894),  55  ff.  Wo  ich  ein 
*  vor  den  Städtenamen  angebracht  habe,  sind  die  Ziffern  dem  Aufsatze 
Inama-Sterneggs  im  Handwörterbuch  d.  Staatswiss.  3.  A.  entlehnt.  Die 
Einwohnerzahlen  von  Dublin  fand  ich  bei  AI.  Moreau  de  Jonnes, 
Statistique  de  la  Grande  Bretagne  1  (1837),  88.  Die  letzte  Zahl  für 
London  ist  die  amtliche  Zahl  des  Zensus  von  1801;  die  Zahl  für  Berlin 
nach  den  Normann  sehen  Zusammenstellungen,  die  mitgeteilt  sind  bei 
Mir  ab  6  au,  d.  J.,  De  la  monarchie  prussienne  1  (1788),  395  f. 

Zweites  Kapitel:   Die  Großstadt 

26  Den  Text  des  bei  Rymer,  Foedera  16,  448,  verzeichneten  Er- 
lasses gibt  Anderson,  Orig.  2,  209,  auszugsweise  wieder. 

26  Daniel  De  Foe,  A  Tour  through  the  islands  of  great  Britain. 
Zuerst  erschienen  1724.  8.  Auflage,  nach  der  ich  zitiere,  4  Vol.  1778   2,  253. 

2''  Mi r ab e au,  1.  c. 

28  Lies  z.  B.  Berg,  De  Refugies  in  de  Nederlande  etc.  1  (1845),  269  f. 

28  E.  Gerland,  Kreta  als  venetianische  Kolonie  (1204 — 1669),  im 
Historischen  Jahrbuch  20  (1899),  22. 

^*>  Siehe  die  Schilderungen  Venedigs  bei  H.  Simons feld.  Der 
Fondaco  dei  Tedeschi  in  Venedig  2  (1887),  265  ff. 

^1  Bei  Gregorovius,  Gesch.  der  Stadt  Rom  1^,  236. 

32  Gregorovius,  a.  a.  0.  8*,  287. 

33  Bei  Pastor,  Gesch.  der  Päpste  1  3-  *  (1901),  78  ff. 

3*  Conservacion  de  monarquias  y  discnrsos.  Disc.  XIV,  zit.  bei 
Ranke,  Fürsten  und  Völker  Südeuropas  13,  458.  Vgl.  H  ab  1er, 
Wirtschaftl.  Blüte  Spaniens,  53.  153,  155  und  öfters. 


Quellen  und  Literaturnachweise  211 

^^  Lies  die  hübsche  Schilderung,  die  (nach  guten  Quellen)  von 
Madrid  in  seiner  Blütezeit  entwirft:  v.  Gleichen-Kußwurm,  Das 
galante  Europa  (1910),  19. 

^ö  Lies  die  anmutigen  Schilderungen  bei  E.  Gothein,  Kultur- 
entwicklung Süditaliens  (1886).  317  ff.  342  ff.  Vgl.  noch  Burckhardt, 
Kultur  d.  Ren.  2^  (1878),  106.  166,  und  Hippolyt.  a  Coli.,  Incrementa 
urbium  sive  de  causis  magnitudinis  urbium  liber  unus  (1665),  207. 

^■^  Lavoisier,  A.  L.,  Essai  sur  la  popuIation  de  la  ville  de  Paris, 
sur  sa  richesse  et  ses  consommations,  in  den  M^langes  d'ec.  pol.,  ed. 
Daire,  1  (1847),  601  ff. 

^^  Ami  des  Hommes  2,  215. 

"^  ¥.  Quesnay,  Artikel  „Fermiers"  in  der  Encyclopödie.  (Euvres, 
Ed.  Oncken,  189.  Die  „Wasserkopftheorie"  datiert  für  Paris  aus  dem 
16.  Jahrhundert;  A.  d.  II.  2,  215;  für  London  aus  dem  17.  .Jahrhundert: 
G raunt  meint,  „daß  London  .  .  .  vielleicht  ein  allzu  großer  und  viel- 
leicht auch  ein  zu  mächtiger  Kopf  für  seinen  Leib  sei";  Job.  Graunt, 
Anmerkungen  über  die  Totenzettel  der  Stadt  London  usw.  (1662);  deutsch 
1702  in  der  Widmung. 

*'^  Ami  des  Hommes  2,  232. 

"  Ami  des  Hommes  2,  217.  Angaben  über  die  enorme  Höhe 
der  Renten  der  kirchlichen  und  weltlichen  Großen  siehe  bei  H.  Taine, 
Les  origines  de  la  France  contemporaine  1  '*  (1885),  52.  Taines  Haupt- 
quelle für  den  Absentiismus  der  französischen  Seigneurs  und  ihren  Kon- 
flux  nach  Paris  ist  merkwürdigerweise  ArthurYoung,  der  so  tut,  als 
ob  es  in  England  um  dieselbe  Zeit  wesentlich  anders  gewesen  wäre. 

*2  (Mercier)  Tableau  de  Paris  1  (1783),  67/68. 

*^  Edw.  Ghamberlayne,  The  second  part  of  the  Present  State 
of  England.     13.  ed.     1687,  p.  200. 

**  D.  Hume,  Essays  2,  114. 

*s  Artificial  Fire  1644.  Ms.  in  Brit.  Mus.,  mitgeteilt  bei  W.  Cun- 
ningham,  The  growth  of  Engl.  Ind.  and  Comm.  2*  (1905),  319. 

^^  Miege  and  Bolton,  The  present  State  of  Great  Britain  etc. 
10.  ed.     1745,  p.  101. 

Defoe,  Tour  2,  135/36. 


47 


Drittes  Kapitel:    Die  Säkularisation  der  Liebe 

*^  I  poeti  del  primo  secolo.    2  Vol.    1816. 

*^  A.  Schultz,  Das  höfische  Leben  zur  Zeit  der  Minnesänger. 
2,  423. 

^<*  Siehe  die  hübsche  Zusammenfassung  in  dem  Buche  von  Josef 
Kirchner,  Die  Darstellung  des  ersten  Menschenpaares  in  der  bildenden 
Kunst.    1903. 

14* 


212  Quellen  und  Literaturnachweise 

"  Laur.  Valla,  Opera  ed.  Bas.  1590,  905  (De  Vol.  IIb.  I,  c.  XXII). 

^2  Ang.  Firenzuola,  Discorso  delle  bellezze  delle  donne  (1542). 
Neue  Ausgabe  1886.  Im  Auszug  (deutsch)  bei  Burckhardt,  K.  d.  R. 
IV.  Abschn. ,  VII.  Kapitel,  und  (ausführlich)  bei  R.  Günther,  Kultur- 
geschichte der  Liebe  (1899),  298  fif.  Seltsamerweise  schreibt  Burck- 
hardt (a.  a.  0.  S.  63):  „Ob  das  15.  Jahrhundert  schriftliche  Rechen- 
schaft über  sein  Schönheitsideal  hinterlassen  hat,  weiß  ich  nicht  zu 
sagen."  Es  waren  ihm  die  oben  zitierten  Stellen  bei  L.  Valla  oifenbar 
im  Augenblick  nicht  in  Erinnerung. 

'^'^  L.  Valla,  Opp.  cit.,  668. 

"  P.  Bembo,  Gli  Asolani  (ed.  1575),  p.  134. 

56  p.  Bembo,  1.  c.  p.  189/190. 

^^^  L.  Valla,  De  vol.  Lib.  I,  cap.  38. 

^ß  F.  Gregorovius,  Lucrezia  Borgia  1^  (1875),  96. 

5''  Die  Stellen  finden  sich  in  dem  berühmten  fünften  Kapitel  des 
dritten  Buchs  der  Essais.  Haben  ähnliche  Anschauungen  schon  früher 
geherrscht?  Oder  richtiger:  sind  sie  schon  früher  in  ein  System  ge- 
bracht (denn  gelebt  hat  man  nach  ihnen  seit  den  Minnesängern)? 
Man  könnte  es  fast  annehmen,  wenn  man  Nostrodamus  und  manchen 
Entscheid  der  „Minnehöfe"  liest.  Vgl.  K.  Weinhold,  Die  deutschen 
Frauen  in  dem  Mittelalter.    3.  Aufl.  1897. 

6^  Estr.  dal  periodico  Gli  Studi  in  Italia  (1882),  mitget.  von  Grego- 
rovius, a.  a.  0.  7^  722. 

^^  Barbier,  Journal  4,  496,  zit.  bei  R.  Günther,  Kulturgeschichte 
der  Liebe  (1899),  397. 

^•^  Siehe  die  lange  Liste  von  Maitressen  der  Generalpächter  bei 
Paul  Ginisty,  M^e  Duthe  et  son  temps  (s.  a.),  11. 

61  (Mercier)  Tableau  de  Paris.     1783,  Ch.  573. 

62  Complete  English  Tradesman.    5.  ed.,  1745.    Ch.  L. 

Viertes  Kapitel:   Die  Entfaltung  des  Luxus 

63  Worte  des  Senators  Stephan  Garczynski  in  seiner  1751  gedruckten 
Schrift:  „Anatomie  der  Republik  Polen",  bei  Roepell,  Polen  um  die 
Mitte  des  18.  Jahrh.  (1876),  17.    Acta  Boruss.     Getr.  Hand.  Pol.  1,  386. 

6*  Zit.  bei  J.  F.  Andre,  Hist.  de  la  Papaute  ä  Avignon  (2.  ed. 
1887),  300. 

65  I  due  sontuosissimi  Conviti  fatti  ä  Papa  demente  V  nel  1308 
descritti  da  Anonimo  fiorentino,  testimone  di  veduta.    Ed.  1868. 

66  E.  Müntz,  L'argent  et  le  luxe  ä  la  cour  pontificale  d' Avignon, 
in  der  Revue  des  questions  histoiiques  t.  LXVI  (1899),  p.  5 — 44  et  378 — 406. 

E.  Müntz  et  Faucon,  Inventaire  des  objets  precieux  vendus  ä 
Avignon  1358,  in  der  Revue  archeologique  1882,  p.  217—225. 

Vgl.  Th.  Okey,  The   Story  of  Avignon   1911   (mit  Bibliographie). 


Quellen  und  Literaturnachweise  213 

Ch.  Martin,  Le  Chäteau  et  les  Papes  d'Avignon  1899.  Soweit  meine 
Kenntnisse  reichen,  gibt  es  eine  zuverlässige  und  ausführliche  Dar- 
stellung des  (weltlichen)  Lebens  an  den  Avignoner  Höfen  in  der  Literatur 
bisher  nicht. 

8''  Leo  König,  Die  päpstliche  Kammer  unter  Clemens  V.  und 
Johann  XXIL  (1894),  56  ff. 

68  Lies  die  Beschreibung  der  Feste  bei  Gregorovius  7^  238  f. 

68  Matth.  Palmieri,  De  temp.  suis,  ebenda  S.  242. 

'0  Bure,  Diar. 

"'  Gregorovius,  a.  a.  0.  8*,  173  ff. 

"2  Einige  Auszüge  bei  Roscoe,  Life  of  Leo  X.  (1806),  1,  238  f. 
und  App.  XXIX. 

"  Quellen  bei  G  re  goro  viu  s,  a.  a.  0.  7",  342  f.  Die  Soll-Einkünfte 
des  Ducato  Estense  im  Jahre  1592  betrugen  690  993  19.  8  Lire  marche- 
sane,  Pietro  Sitta,  Saggio  sulle  istituzioni  finanziarie  del  Ducato 
estense  nei  secoli  XV  e  XVI  (1891),  126. 

"  Rel.  des  amb.  ven.  (Coli,  des  doc.  inedits  sur  l'hist.  de  France) 
1,  285,  bei  Pigeonnean,  2,  28.  Über  die  Luxusausgaben  der  älteren 
Valois:  Baudrill art,  3,  273. 

'6  Rel.  2,  529;  1.  c.  p.  58. 

"6  Bericht  des  Matteo  Dandolo  bei  Alberi  T.  4,  42/43. 

■'■'  (Forbonnais)  Recherches  1  (1758),  119  suiv. 

"'^  (Forbonnais)  Recherches  2,  101. 

"'^  J.  Guiffrey,  Coniptes  des  bätiments  du  roi  sous  le  regne  de 
Louis  XIV.  5  Vol.  1881  —  1896  in  der  Collect,  de  Docum.  inödits. 
nie  Serie. 

8°  J.  Guiffrey,  Inventaire  general  du  mobilier  de  la  couronne  sous 
Louis  XIV  (1663—1715).    2  Vol.    1885. 

*^  Einen  Bericht  aus  der  Dezember-Nummer  1697  findet  die  Leserin 
bei  A.  Franklin,  Les  magasins  de  nouveautes  (1894),  227  suiv. 

^^a  j.  Guiffrey,  Comptes  des  bätiments  L  c. 

82  Diar.  Europ.  c.  24.  10.  1666,  bei  Ranke,  Franz.  Gesch.  3  ■',  214. 

88  Arch.  nat.  0',  3792  —  94,  mitgeteilt  in  dem  sehr  lehrreichen 
Buche  von  Emile  Langlade,  La  marchande  de  modes  de  Marie  An- 
toinette  Rose  Bertin  (s.  a),  29.  122. 

83a  j.  Guiffrey,  Comptes  des  bätiments  du  roi  etc.  1(1881),  XLII. 

8*  Etat  des  depenses  de  M^e  la  Marquise  de  Pompadour  du  9  sept. 
1745  au  15  avr.  1769  jour  de  sa  mort,  publ.  par  M.  Luc.  Leroy:  zit. 
bei  Baudrillart  4,  327. 

86  Coli,  de  doc.  inöd.  t.  IV,  p.  545—561,  zit.  von  Mn>e  ß.  Carey, 
La  Cour  et  la  ville  de  Madrid  etc.  (1876),  App.  Note  C. 

86  Hübsche  Beschreibung  des  luxuriösen  Hoflebens  Wilhelms  von 
Oranien,  als  er  noch  nicht  englischer  König  war,  bei  Berg,  De  Re- 
fugies  1,  269  f. 


214  Quellen  und  Literaturnachweise 

^"^  Sämtliche  Ziflfern  über  die  Ausgaben  der  englischen  Könige  ent- 
nehme ich  J.  Sinclair,  Hist.  of  the  public  revenue  of  the  Brit.  emp. 
3.  ed.  1803.    Vol.  I  und  II. 

88  Bei  Willy  Doenges,  Meißner  Porzellan  (1907),  76  f.  126. 

89  Inf.  XIII,  118 — 122,  und  dazu  Kostanecki,  Dantes  Philosophie 
des  Eigentums  (1912),  8  f. 

^  Louis  XIY,  Memoires,  zit.  bei  Baudrillart,  H.  du  L.  4,  68. 
9^  Diese   entzückende  Wendung   findet   sich   bei    C  am  den,   Bri- 
tannia  (1580),  106. 

92  Aus  dem  Livre  de  Raison  de  M.  Pierre  Cesar  de  Cadenet  de 
Charleval,  angefangen  1728,  fortgesetzt  1763  von  Frangois  de  Ch.  und 
abgeschlossen  von  dessen  Sohne  bei  Ch.  de  Ribbe,  Les  familles  2^ 
(1874),  144.  Eine  überaus  wertvolle  Sammlung  von  englischen  Haus- 
haltungsbudgets aus  der  Zeit  von  1650 — 1750  besitzt  das  Smithsonian 
Institut  in  Washington.  Einige  Auszüge  daraus  teilt  der  Besitzer  dieser 
Sammlung  mit,  der  sie  zusammengebracht  und  dem  Sm.  I.  geschenkt 
hat,  J.  A.  Halliwell,  in  der  Schrift:  Some  account  of  a  collection  of 
several  thousand  Bills,  Accounts  and  Inventories  etc.     1852. 

93  SuUy,  Mem.  4  (1752),  12  ff.  (s.  a.  1601). 

9*  Bassompiere,  Mem.  2«  ser.,  tome  VI,  p.  56  der  Coli.  Michaud; 
bei  Fr e gier,  Police  de  Paris  2,  34. 

»SThirion,  Vie  privee  292;  Vie  privee  de  Louis  XV  (1785); 
Humbert  de  Gallier,  Les  moeurs  (1911),  85  tf.  (reiches  Material). 

98  Die  Quellen  bei  T  a  i  n  e  ,  Origines  1,  168  suiv. 

9'  E.  Langlade,  La  marchande  de  Modes  etc.,  263  suiv. 

98  Polifilo,  La  guarderoba  di  Lucrezia  Borgia.  Dali'  Archivio 
di  Stato  di  Modena.    1903. 

99  Brief  der  M^^  de  Maintenon  an  ihren  Bruder  vom  25.  Sept. 
1679;  vgl.  Aimö  Houze  de  l'Aulnont,  La  finance  d'un  bourgeois  de 
Lille  au  17.  siecle  (1889),  51.  116. 

Joo  Compl.  Engl.  Tradesman  2  (1745),  328. 

"1  Defoe,  Compl.  Tradesman  (1727),  115.  116.  14L 

102  Archenholtz,  England  und  Italien  3,  141  ff. 

103  Bei  De  Ribbe,  Une  grande  dame  137. 

104  jyjme  (Je  Sevigne,  Lettres. 

10^  Nach  Du  Hautchamp:  Oscar  de  Vallee,  Les  manieures 
d'argent  (1858),  121. 

105a  (Mercier)  Tableau  de  Paris  2,  199  fif. 

106  Thirion,  Vie  privee  124. 

'0^  Viele  Ziffern  bei  Humbert  de  Gallier  1.  c.  96  ff.  Ein 
wichtiges  Quellenwerk  ist  Pierre  Manuel,  La  police  de  Paris 
dbvoilee.     1794. 

107  a  W.  L  ü  b  k  e ,  Geschichte  der  Renaissance  Frankreichs  (1868),  287. 


Quellen  und  Literaturnachweise  215 

^"■'^  Lettres,  Instructions  et  mömoires  de  Colbert,  publ.  par 
P.  Clement  in  der  Coli,  des  doc.  inödits  Ille  sörie,  t.  8,  p.  XLV. 

'^*  Edm.  0.  von  Lippmann,  Geschichte  des  Zuckers,  seine 
Darstellung  und  Verwendung  seit  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Beginne 
der  Rübenzuckerfabrikation.    1890. 

109  Burckhardt,  Kultur  der  Ren.  2,  117. 

"«  Gregorovius,  G.  d.  St.  R.  8*,  290.  291. 

"Oa  Gas.  Chledowski,  Rom  (1912),  377.  Dort  finden  sich  noch 
mehr  Beschreibungen  ähnlicher  Wohnungen. 

"•  Regnier  Desmarets  zit.  bei  Fournier,  Le  vieux  neuf  2,  147. 

"2  Lettres  de  M«  de  Sevigne.    26.  Novbr.  1694. 

"3  Evelyn,  Memorials  1,  562  bei  Alb.  Savine,  1.  c.  160. 

"*  Edm.  et  Jules  de  Goncourt,  La  Du  Barry  (1909),  133. 

*'^  Lies  die  Beschreibungen  der  Chambres  k  coucher  bei  Thirion, 
348  ff.,  352  f. 

1'^  The  Seats  of  the  Nobilty  and  Gentry  in  a  collection  of  the 
most  interesting  and   picturesque  views  engraved  by  W.  Watts.     1779. 

*"  Lies  die  interessante  Stelle  bei  Montesquieu,  E.  d.  ,L. 
Liv.  VII  Ch.  I  nach! 

'1^  Bei  Ch.  de  Ribbe,  Une  grande  dame  dans  son  menage  au 
temps  de  Louis  XIV.  d'apr^s  le  Journal  de  la  comtesse  de  Rochefort 
(1689).     Paris  1889,  p.  167. 

119  De  L6ris,  Dictionnaire  . .  .  des  Theatres  (1763),  XX  ff.  VgL 
A.  du  Casse,  Histoire  anecdotique  de  l'ancien  thcatre  en  France. 
2  Vol.     1862—1864  (wesentlich  literärgeschichtlich). 

120  Yür  das  England  des  17.  Jahrhunderts:  The  character  of  a 
town  Gallant.  Stellen  daraus  bei  A.  Savine,  La  cour  galante  de 
Charles  II.,  130  suiv. 

1-1  Defoe-Richardson,  A  Tour  through  the  Island  of  Great 
Britain  etc.    8*1»  ed.    2  (1778),  92.  93. 

"2  Archenholtz,  England  und  Italien  2,  230. 

12^  Henri  d'Almäras,  Les  plaisirs  du  Palais  Royal,  1.  c.  p.  11. 

12*  (Defoe),  Complete  tradesman.    2.  ed.  1727. 

i^BJ.W.  von  Archenholtz,  England  und  Italien  2(1787),  231  ff. 

12«  (Mercier),  Tableau  de  Paris  3,  109 ff. 

1"  Mitgeteilt  bei  P.  Ginisty,  40. 

Fünftes  Kapitel:   Die  Geburt  des  Kapitalismus  aus  dem  Luxus 

1-^  Die  genauen  Angaben  bei  Anderson,  Orig.  of  Comm.  s.  h.  a. 
1*9  Am  besten  unterrichtet  der  Artikel  „Lois  somtuaires"   in  der 
Encyclopedie. 

i"<>  Montesquieu,  Espr.  des  Lois  L.  VII.  ch.  IV. 


21(3  Quellen  und  Literaturnachweise 

1^^  Abbe  Coyer,  Developpement  et  defense  du  Systeme  de  la 
noblesse  conimergante  1  (1757).  52. 

^^"  Barbon,  A  discourse  of  Trade  (1690),  62  bei  Cunningham, 
Growth,  2,  392,   wo  noch  mehr  Stellen  dieses  Inhalts  angeführt  werden. 

^^^  D.  Hume,  Of  refinement  in  the  arts  in  den  Essays  ed.  1793; 
2,  19  ff. 

^"■*  The  Fable  of  the  Bees:  or  Private  Vices,  Publick  Benefits 
6.  ed.  1732  p.  10;  dazu  die  Anmerkungen  I — N. 

135  -yyiijj^  j'i-h.  von  Sehr  Odern  Fürstl.  Schatz-  und  Rent- 
kammer etc.  (1744),  172. 

136  W.  Hey d,  Gesch.  d.  Lev.  Hdls.  2  (1879),  550 ff. 

1"  A.  Schulte,  Gesch.  d.  mittelalt.  Hdls.  1  (1900),  720 ff. 

138  Martin,  Louis  XIV.,  288  seg. 

139  Tabelle  bei  Chaptal,  Ind.  fran?.  1,  130. 

1***  AI.  de  Humboldt,  Essai  politique  sur  le  royaume  de  la  Nou- 
velle  Espagne  4  (1811),  366  seg. 

1"  Buxton,  The  African  Slave  Trade.     1840. 

1*2  Langer,  Sklaverei  in  Europa,  16. 

1*3  Schipper,  Anfänge  d.  Kapit.  bei  den  Juden  (1907),  19ff. ; 
Caro,  Soz.  u.  W.-Gesch.   d.  J.  1,  137  ff.    Vgl.  noch  Heyd,  2,  542 ff. 

1**  Belegstellen  bei  R.  Hey  neu,  Zur  Entst.  d.  Kapit.  in  Venedig 
(1905)  32  fi'. 

1*^  Anderson,  Orig.  4,  130  (nach  einem  „französischen  Autor"). 

1*6  Edwards,  Hist.  of  the  West  Ind.  2,  65. 

i*''  Postlethwayt,  Dict.  of  Comm.  1,  709 f.  s.  v.  England. 

1*8  0  n  s  1 0  w  B  u  r  r[i  s  h ,  Batavia  illustrata  or  a  view  of  the  Policy 
and  Commerce  of  the  United  Provinces  etc.  etc.  (1728),  354  seg. 

i'*^  Moreau  deJonnes,  Etat  öcon.  et  soc.  de  la  France (1867),  349. 

160  Complete  English  Tradesman,  5.  ed.  1745  Ch.  LI.  Ich  besitze 
außer  dieser  fünften  Auflage  nur  die  zweite,  die  1724  erschien;  in  dieser 
findet  sich  das  Kapitel,  auf  das  ich  mich  beziehe,  noch  nicht.  Ich 
kann  hier  in  Deutschland  nicht  feststellen,  ob  die  Zusätze  schon  in  der 
dritten  oder  vierten  Auflage  hinzugefügt  sind. 

161  Zeitschr.  d.  histor.  Ver.  für  Schwaben  und  Neuburg  6,  38,  39. 

162  (Mercier)  Tableau  de  Paris  1783.    Ch.  DLV. 

163  Zu  dieser  ganzen  Darstellung  ist  zu  Rate  zu  ziehen  mein  „Mod. 
Kap.",  wo  ich  die  Entwicklungstendenzen  des  modernen  Detailhandels 
dargelegt  habe. 

16*  R.  Campbell,  The  London  Tradesman  (1745),  47. 

166  Artikel  Tapissier  in  der  Enc.  meth.  Man.  2,  219  seg. 

166  Savary,  Dictionnaire  du  Commerce  2,  714. 

16''  General  Description  of  all  Trades  (1747),  49. 

168  Gen.  Description  cit.  p.  215. 

*69  (Mercier),  Tableau  de  Paris,  7,  73. 


Quellen  und  Literaturnachweise  217 

159a  Correspondance  du  marquis  de  Balleroy,  publ.  par  le  Comte 
E.  de  Barthelemy  bei  Humbert  de  Gallier,  57. 

^8"  1.  A  General  Description  of  all  Trades  etc.  1747.  2.  R.  Camp- 
bell, The  London  Tradesman,  being  a  compendious  view  of  all  the 
Trades,  Professions,  Arts  etc.  etc.  1747. 

"1  Compl.  Engl.  Tradesman  1  (1745),  215. 

'62  C.  Bertaguolli,  Delle  vicende  dell' agricolt  in  Italia(1881),  226f. 

'6'  K.  Häbler,  Die  wirtschaftliche  Blüte  Spaniens  im  16.  Jahr- 
hundert.   1888.    S.  35. 

^6*  Belege  bei  M.  J.  Bonn,  Spaniens  Niedergang  (1896),  113. 

165  Y(^Q  (Jen  Schriften  A.  Youngs  kommt  für  unsere  Zwecke 
namentlich  in  Betracht  seine  „Southern  Tour":  A  six  weeks  tour  through 
the  Southern  countries  of  England  and  Wales,  die  ich  nach  der  2.  ed. 
von  1769  zitiere. 

168  Daniel  De  Foe,  A  Tour  etc. 

167  gjj.  Y.  M.  Eden,  State  of  the  Poor  or  an  History  of  the 
labouring  Classes  in  England  from  the  Conquest  to  the  Present  Period  etc. 
S  Vol.  1797. 

168  Defoe  1,  101. 

169  A.  Young,  Southern  Tour,  78 f. 
1^0  Defoe  1,  139.  160. 

1"  Defoe  1,  199.  206. 

1"  Defoe  2,  137. 

1"  Defoe  1,  65;  Young  21  ff. 

"*  A.  Young  49ff. 

i''^  Defoe  3,  10  in  bezug  auf  Lincolnshire. 

i''6  A.  Young,  200 ff.  in  bezug  auf  die  Gegend  um  Salisbury. 

1"  Young  308  ff. 

1"  Young  317. 

1''®  Hasbach,  Die  englischen  Landarbeiter  in  den  letzten  hundert 
Jahren  und  die  Einhegungen.  1894,  S.  11  (Schriften  des  Vereins  für 
Sozialpolitik  Band  59). 

180  Defoe  1,  182. 

»si  Nach  Betty  670  000.   Vgl.  den  1.  Essay  in  der  Ausgabe  von  1699. 

182  Defoe  3,  265. 

183  Die  Zusammenstellungen  bei  Hasbach,  116 ff. 
18*  Eden,  1.  c.  1,  334. 

185  Defoe  2,  111. 

186  Defoe  2,  112. 

18''  Miege  and  Bolton,  The  present  State  of  Great  Britain  and 
Ireland.    10.  ed.    1745.    pag.  102. 

188  Defoe  1,  324. 

189  Surrey,  Berks,  Oxford,  namentlich  aber  Nord-Wiltshire,  wo  die 
auf  dem  Lande  gewonnene  Gerste  für  den  Londoner  Markt  —  es  wurde 


218  Quellen  und  Literaturnachweise 

ein  Spezialmarkt  für  Malz  in  Queenhith  abgehalten  —  in  den  Städten 
Abingdon,  Faringdon  u.  a.  zu  Malz  verarbeitet  wurde;  Defoe  2,  113. 

18°  Bei  Henuingham  in  Suffolk,  A,  Young,  Southern  Tour,  69, 
namentlich  aber  um  Farnham  (Surrey),  wo  der  einst  blühende  Getreide- 
bau ganz  dem  Hopfen  hatte  weichen  müssen;  Defoe  1,  196;  Young,  217. 

'81  Der  größte  Hafermarkt  für  London  war  Croydon  in  Surrey; 
Defoe  1,  217. 

"»  Teile  von  Essex;  Young  266. 

"3  Defoe  1,  209. 

19*  Defoe  2,  32.  181. 

195  Defoe  2,  32. 

198  Namentlich  die  waldreichen  Gegenden  von  Berkshire  und 
Buckinghamshire;  Defoe  2,  32.  55. 

1"  Defoe  1,  120. 

198  Melon,  Essai  sur  le  commerce  (1734).     Coli,  des  Ec,  696. 

199  J.  E.  Cairnes,  The  Slave  Power  (1863),  76. 

-^'^  Labat,  Nouv.  Voyage  aux  isles  d'Amärique.     1742. 

201  AI.  V.  Humboldt,  Nouv.  Esp.  3,  179. 

202  Hüne,  Darstellung  aller  Veränderungen  des  Sklavenhandels.  1820. 
803  Handelmann,  Gesch.  der  Insel  Hayti  (1860),  28. 

20*  Anderson,  Orig.  of  Comm.  4,  690. 

20BA1.  Moreau  de  Jonnes,  Rech.  stat.  sur  l'esclavage 
colonial.     1842. 

806  Bei  E.  Pariset,  Hist.   de  la  Fabrique  lyonnaise  (1901),  15. 

80'J  R.  Broglio  d'Ajano,  Die  venetianische  Seidenindustrie 
(1893),  2. 

808  H.  Sieveking,  Die  genuesische  Seidenindustrie  in  Schmollers 
Jahrbuch  21  (1897),  101  ff.  103. 

209  E.  Pariset,  1.  c.  p.  35. 

210  Bei  Godart,  L'ouvrier  en  soie  (1899),  89. 

811  A.  Alidosi,  Instruttione  delle  cose  notabili  di  Bologna 
(1621),  37. 

812  Joh.  Joach.  Becher,  Närrische  Weisheit  (1686),  19 f.  234. 
818  (Defoe),    A   Tour    through    the    Island    of  Great   Britain   3^ 

(1778),  104. 

81*  Moreau  de  Jonnes,  Etat  econ.  et  soc.  de  la  France,  337. 

81^  Joh.  Beckmann,  Beyträge  zur  Oekonomie  etc.  1  (1779),  108 ff. 

818  Aus  dem  National-Archiv  mitget.  von  G.  Martin,  Louis  XIV. 
(1899),  240/41. 

217  Martin,  1.  c.  p.  30L 

818  (Mercier),  Tableau  de  Paris  9,  312  seg. 

819  Martin,  1.  c.  150  seg. 

220  0.  Wiedfeldt,  Entwicklungsgeschichte  der  Berliner  Industrie 
(1898),  322. 


Quellen  und  Literaturnachweise  219 

*2^  Vict.  Böhmers,  Urk.  Geschichte  und  Statistik  der  Meißner 
Porzellanmanufaktur  von  1710  bis  1880,  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
die  Betriebs-,  Lohn-  und  Kassenverhältnisse  in  der  Zeitschr.  d.  Kgl. 
Sachs.  Stat.  Bureaus  26  (1880),  44  ff. 

222  Tabl.  de  Paris  11  (1788),  41/42. 

223  A.  Doren,  Die  Florentiner  Wollentuchindustrie  (1901X  23. 

224  A.  Doren,  a.  a.  0.  S.  22. 
22B  A.  Doren,  a.  a.  0.  S.  86  ff.' 

226  Guicciardini,  Opere  6,  275/76,  zit.  bei  K.  Häbler,  Die  wirt- 
schaftliche Blüte  Spaniens  (1888),  47. 

227  Colmenares,  llist.  de  la  insegne  ciudad  de  Segovia,  547,  zit. 
bei  J.  M.  Bonn,  Spaniens  Niedergang  (1896),  120. 

228  G.  Martin,  Louis  XIV.,  17. 

229  Enc.  meth.  Manuf.  1,  337. 

230  Die  Originaldokumente  sind  großenteils  abgedruckt  bei  Le- 
vasseur,  2,  421  ff. 

231  Porter,  Progress  of  the  Nations  (3.  ed.  1851),  169. 
288  Compl.  Engl.  Tradesman  2,  290. 

233  Die  Hauptquelle,  aus  der  alle  späteren  Bearbeiter  schöpfen,  ist 
der  Report  from  the  Comittee  of  the  House  of  Commons  on  the  WooUen 
Manufacture  of  England.     1806. 

23*  Quellen  bei  Ashley,  Engl.  W.  Gesch.  2,  270. 

285  1.  u.  2.  Phil,  and  Mar.  c.  14  bei  Cunningham,  Growth  1*,  525. 

236  Allgem.  Schatzkammer  der  Kauffmannschaft  etc.  (1741),  1213/14. 

23T  A.  Franklin,  Les  magasins  de  nouveautös  (1894),  265. 

238  The  Trade  of  England  revived  (1681),  36;  zit.  S.  u.  B.  Webb, 
History  of  Trade  Unionism  (1894),  26. 

239  Campbell,  192. 
2*0  Webbs,  L  c.  p.  26. 

2*1  E  m.  Langlade,  La  marchande  de  mode  de  Marie  An- 
toinette.    s.  a. 

2*2  H.  Kanter,  Die  Schuhmacherei  in  Breslau,  in  den  Schriften 
des  Ver.  f.  Soz.-Pol.  (55,  26. 

2«  Tabl.  de  Paris  11  (1788),  19. 

-**  Campbell,  233  seg. 

2"  Savary,  Dict.  du  Comm.  2,  631. 

2"  0.  Wiedfeldt,  Berliner  Ind.,  364. 

24T  Bergius,  Cam.  Magaz.  3,  236. 

2*8  Negociations  du  Comte  d'Avaux  5,  267,  zit.  bei  Chr.  Weiß, 
Hist.  des  r^fugies  prot.  de  France  2,  131. 

2*9  0.  Wiedfeldt,  Berl.  Ind.,  209. 

250  E.  Müntz,  Les  arts  et  la  cour  des  papes  1,  104.  84  n.  3.  Vgl. 
J.  Burckhardt,  Geschichte  der  Renaissance.    3.  Aufl.  (1891),  19.  20. 

251  Tabl.  de  Paris  Ch.  636.    8,  166  ff. 


220  Quellen  und  Literaturnachweise 

253  Campbell,  229  seg. 

«•^s  Qen.  descr,  of  all  Trades,  65. 

26*  Compl.  Engl.  Tr.  2,  337. 

266  Arth.  Cohen,  Das  Schreinergewerbe  in  Augsburg,  in  den 
Schriften  des  Ver.  f.  Soz.-Pol.  64,  500. 

268  Eine  genaue  Beschreibung  der  Manuf.  des  Gobelins  auf  Grund 
der  Originalurkunden  findet  man  bei  Levasseur,  2,  242  ff. 

267  Levasseur,  2,  310. 

268  R.  S.  Clouston,  English  Furniture  and  Furniture  Makers 
of  the  XVin.  Century.  1906  (geht  leider  auf  die  Organisationsprobleme 
fast  gar  nicht  ein). 

269  Rieh.  Hirsch,  Die  Möbelschreinerei  in  Mainz,  in  den  Schriften 
des  Ver.  f.  Soz.-Pol.  34,  296.  312. 

260  0.  Wiedfeldt,  a.  a.  0.  S.  188. 

261  0.  Wiedfeldt,  a.  a.  0.  S.  390. 

262  0.  Wiedfeldt,  a.  a.  0.  S.  386. 

263  G.  Martin,  Louis  XV.,  144. 
26*  Gen.  Descr.,  339. 


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