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Full text of "Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England"

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Studien 


zur 


Theorie  und  Geschichte 


der 


Handelskrisen  in  England. 


Von 


Dr.  Michael  von  Tugan-Baranowsky 

ehemals  Privatdocent  an  der  UniversiUit  St.  Petcrsburc^. 


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Jena, 

Verlag  von    Gustav  Fischer, 
1901. 


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Л11е  Rechte  vorbebalten. 


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Vorwort. 


Die  vorliegende  Arbeit  ist  dem  industriellen  Cyklus,  den  perio- 
dischen Handelskrisen,  —  die  am  meisten  rätselhafte  und  von  der  Wissen- 
schaft bisher  nicht  aufgehellte  Erscheinung  des  modernen  Wirtschafts- 
lebens —  gewidmet.  Es  wurden  freilich  in  der  allerletzten  Zeit  vieierseits 
Meinungen  geäussert,  dass  die  periodischen  Krisen  schon  der  Ver- 
gangenheit angehören,  dass  der  Kapitalismus  diese  ihm  eigentümliche 
Kinderkrankheit  heute  überwunden  hat.  Diese  Aeusserungen  beweisen 
aber  bloss,  wie  rasch  sogar  diejenigen  geschichtlichen  Ereignisse, 
w^elche  in  garnicht  entlegener  Zeit  stattgefunden  haben,  in  Vergessen- 
heit geraten.  Der  Baring-Krach,  in  welchem  der  Aufschwung  der  80  er 
Jahre  kulminierte,  ist  anno  1890  ausgebrochen;  die  schwere  Depres- 
sion, welche  darauf  folgte,  dauerte  bis  1894 — 95.  Einige  Jahre  des 
Aufschwunges  genügten,  um  an  der  Möglichkeit  der  Wiederkehr  der 
Depression  Zweifel  zu  erregen.  Leider  aber  kann  diese  Beruhigung 
schaffende  Ueberzeugung  den  Erfahrungen  der  letzten  Monate  gegen- 
über nicht  mehr  aufrecht  erhalten  werden.  Es  mehren  sich  die 
Zeichen,  dass  die  kapitalistische  Welt  einer  neuen  gewaltigen  wirt- 
schaftlichen Krise  entgegen  geht.  Die  führenden  Industrien  —  die 
Textil-  und  Eisenindustrie  —  leiden  schon  an  Absatzstockung.  Die 
Kohlennot,  durch  den  bedeutenden  Wachstum  des  Verbrauchs  der 
Kohle  während  der  3 — 4  Jahre  des  Aufschwungs  verursacht,  ist  eine 
ebenso  gesetzmässige  und  als  solche  eine  Voraussicht  zulassende  Er- 
scheinung, wie  die  Geldknappheit,  an  welcher  Deutschland  seit  mehr 
als  einem  Jahre  leidet.  Alle  diese  Phänomene  sind  notwendige  Eolgen 
des  Aufschwungs  und  zugleich  die  Vorboten  der  herannahenden  Krise. 

In  wirtschaftlichen  Krisen  kommen  die  tiefsten  Widersprüche  der 
kapitalistischen  Wirtschaftsweise  zum  Ausdruck.  Die  kapitalistische 
Welt  ist  eigenen  Gesetzen  unterworfen,  deren  elementare  Kraft  in 
Kj-isen  sich  geltend  macht.      Daher  die  Unbegreiflichkeit  der  Krisen. 


IV 

Die  Gesellschaft    ist    nicht  imstande,    die    von    ihr    selbst    geschaffenen 
Kräfte  zu  beherrschen,  und  steht  ihnen   ohnmächtig  gegenüber. 

In  diesem  Buche  wird  der  Leser  den  A'^ersuch  finden,  den  in- 
dustriellen Cyklus  in  dem  modernen  Wirtschaftsleben  nachzuweisen 
und  in  seinem  Wesen  zu  ergründen.  Die  Geschichte  der  Handels- 
krisen in  England,  in  dessen  industrieller  Entwickelung  der  cyklische 
Charakter  am  deutlichsten  hervortritt,  hat  mir  ein  umfangreiches  Ma- 
terial dazu  geliefert.  Meinen  wissenschaftlichen  Ueberzeugungen 
nach  gehöre  ich  im  grossen  und  ganzen  zur  Marx'schen  Schule  und 
zolle  dem  genialen  Schöpfer  des  „Kapitals"  die  grösste  Verehrung; 
dies  hat  mich  jedoch  nicht  abgehalten,  an  gewissen  grundlegenden 
Ansichten  von  Marx  eine  entschiedene  Kritik  zu  üben.  Die  in 
diesem  Buche  entwickelte  Theorie  der  Absatzmärkte  und  der  Krisen 
soll,  nach  der  Auffassung  des  Verfassers,  eine  Synthese  der  Lehren 
der  klassischen  Nationalökonomie  mit  den  Marx'schen  Ausführungen 
im  IL  Bande  des  „Kapitals"  bilden. 

Trotz  des  hervorragenden  theoretischen  und  praktischen  In- 
teresses, welches  die  Untersuchung  der  Handelskrisen  bietet,  giebt  es, 
wie  bekannt,  sehr  wenig'e  wissenschaftliche  Arbeiten,  welche  die  Ge- 
schichte der  Krisen  zu  ihrem  Vorwurf  haben.  Die  meisten  Arbeiten 
der  letzten  Art  haben  einen  durchaus  deskriptiven  Charakter,  und 
verzichten  vollkommen  auf  eine  tiefere  theoretische  Erklärung  der 
Krisen.  Das  gilt  besonders  von  der  bekannten  „Geschichte  der 
Handelskrisen"  von  Max  Wirth.  Ich  war  bestrebt,  die  Geschichte 
der  englischen  Krisen  auf  Grund  der  Urquellen,  der  englischen  Blau- 
bücher, zu  bearbeiten  und  das  Thatsachenmaterial  mit  einer  theore- 
tischen Behandlung  des  Gegenstandes  zu  verknüpfen.  Zugleich  hielt 
ich  es  für  angemessen,  auch  die  sozialen  Wirkungen  der  Krisen  in 
den  Bereich  meiner  Forschung  zu  ziehen.  Da  der  industrielle  Cyklus 
ein  höchst  bedeutender  Faktor  im  gesamten  sozialen  Leben  Englands 
ist,  so  schien  es  am  Platze,  den  Einfluss  der  Krisen  auf  die  wichtig- 
sten sozial-politischen  Bewegungen  der  englischen  Arbeiterklasse  zu 
analysieren. 

Bei  der  Behandlung  meines  Themas  erstrebte  ich  die  möglichste 
Kürze  und  betrachtete  es  nicht  als  notwendig,  durch  Citatenaufwand 
dem  Leser  zu  imponieren.  Es  soll  aber  nicht  aus  diesem  Mangel  an 
sichtbarem  Gelehrten apparat  gefolgert  werden,  dass  die  nicht  citierten 
Veröffentlichungen  dem  Verfasser  unbekannt  geblieben  sind. 

Dem  vorliegenden  Buche  liegt  zu  Grunde  die  völlig  revidierte 
und  umgearbeitete  zweite  russische  Auflage  (1900)  meiner  im  Jahre 
1894     erschienenen    russischen    Schrift    über    denselben    Gegenstand. 


Schon  im  Januar  1900  habe  ich  meine  feste  Ueberzeugung  ausge- 
sprochen, dass  der  wirtschaftliche  Aufschwung  der  letzten  Jahre  in 
der  nächsten  Zukunft,  wahrscheinlich  in  diesem  Jahre,  zur  Absatz- 
stockung und  allgemeiner  Depression  führen  wird.  Die  neuesten  Er- 
fahrungen scheinen  diese  Erwartungen  vollkommen  zu  bestätigen. 

Soviel  über  den  Inhalt  des  Buches.  Für  etwaige  Verstösse 
gegen  den  deutschen  Ausdruck  darf  ich  wohl  als  Ausländer  um 
Nachsicht  bitten. 

St.  Petersburg,   i.  Oktober  1900. 

M.  Tugan-Baranowsky. 


Inhalt. 


Spil<> 


I.  TEIL. 
Theorie  und  Geschichte  der  Krisen. 

Kapitel  I. 
Die  Grundursachen  der  Krisen  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft i 

Kapitel  II. 

Ein    allgemeiner  Abriss    der   Entwickelung   der   englischen  Industrie    seit   dem   zweiten 
Viertel  des  XIX.  Jahrhunderts. 

I.  Der  Kampf  der  Maschine  gegen  die  Handarbeit  und  der  Mangel  an  Märkten        38 
II.  Der  Sieg  der  Maschine  und  die  Eroberung  neuer  Märkte       .      .      .      .     .     .        4" 

III.  Der  Verfall  der  industriellen  Suprematie  Englands 54 

Kapitel  III. 

Die  Krisen  des  zweiten  Viertels  des  Jahrhunderts 65 

Die  Krisis  von   1825 69 

Die  Krisis  von   1836 85 

Die  Geldkrisis  von   1839 98 

Die  Handelskrisis  von   1847 103 

Kapitel  IV. 

Die  Krisen  der  50  er  und  60  er  Jahre 121 

Die  Krisis  von    1857 124 

Die  Geldkrisis  von    1864  und  die  Kreditkrisis  von    1866 137 

Kapitel  V. 
Die  periodischen  Schлvankungen  der  Industrie  in  der  neuesten   Zeit 149 

Kapitel  VI. 
Die  Erklärung  der  Krisen  aus  der  Unterkonsumtion  der  Volksmassen 174 

Kapitel  VII. 
Die  Krisentheorie  von  Marx 197 

Kapitel  VIII. 
Der  industrielle  Cyklus  und  die  Ursachen  der  Periodicität  der  Krisen 232 


VIII 

Seite 
П.  TEIL. 

Die  sozialen  Wirkungen  der  Handelskrisen. 
Kapitel  I. 

Der  Einfluss  des  industriellen  Cyklus  auf  das  Volksleben 257 

I.  Periodische    Schwankungen    im    englischen  Volksleben   während    des    zweiten 

Viertels  des  Jahrhunderts 258 

II.  Schwankungen  im  Volksleben  in  den  50er  und  60  er  Jahren 282 

III.  Schwankungen  im  Volksleben  während  der  neuesten   Zeit 288 

Kapitel  II. 
Der  Chartismus 297 

Kapitel  III. 
Der  Baumwollhunger 353 

Kapitel  IV. 
Die  neuesten  Arbeitslosenbewegungen 382 

Schlussbetrachtungen 4*^7 


I.  Teil. 


Theorie  und  Geschichte 
der  Krisen. 


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KAPITEL  I. 


Die  Grundlirsachen  der  Krisen  in  der  kapitalistisclien 

Wirtscliaft. 


Die  Bedeutung  des  Marktes  in  der  modernen  Wirtschaftsordnung.  —  Der  Natural- 
austausch.  —  Die  Unmöglichkeit  einer  allgemeinen  Ueberproduktion  bei  dem  Naturalaus tausch. 
—  Der  durch  Geld  vermittelte  Austausch.  —  Die  Möglichkeit  einer  allgemeinen  Warenüber- 
produktion. —  Der  Markt.  —  Die  einfache  Warenproduktion.  —  Die  Regulierung  der 
Produktion  durch  die  Konsumtion.  —  Die  kapitalistische  Produktion.  —  Das  Fehlen  eines 
Zusammenhanges  zwischen  der  Produktion  und  Konsumtion.  —  Das  Prinzip  der  propor- 
tioneilen Einteilung  der  Produktion.  —  Die  einfache  Reproduktion  des  Kapitals.  —  Die 
Akkumulation  von  Kapital.  —  Der  Kredit.  —  Die  beiden  fundamentalen  AVidersprüche  der 
kapitalistischen  Wirtschaft.  —  Die  Abhängigkeit  der  Krisen  von  diesen  Widersprüchen.  — 
Die  Notwendigkeit  der  Krisen.  —  Der  auswärtige  Handel. 

Der  Kampf  um  den  Markt  bildet  den  charakteristischen  Zug 
des  wirtschaftlichen  Lebens  der  Gegenwart.  Ein  guter  Markt  ist 
fast  alles,  was  der  heutige  Produzent  in  einem  Lande  des  entwickelten 
Kapitalismus,  wie  z.  B.  England,  bedarf.  Sobald  aus  irgend  welchen 
Gründen  eine  erhöhte  Nachfrage  nach  Produkten  einer  bestimmten 
Art  auf  dem  Markte  sich  geltend  macht,  werden  solche  Produkte 
nicht  nur  in  der  verlangten,  sondern  sogar  in  einer  übermässigen 
Menge  produziert.  Ein  Mangel  an  Kapital  oder  an  Arbeitskräften  ist 
fast  nie  zu  befürchten.  Eine  gewinnbringende  Unternehmung  kann 
(ausser  den  seltenen  Momenten  einer  Panik  auf  dem  Geldmarkte) 
nicht  Mangel  an  Kapital  leiden :  die  Kreditanstalten  stehen  immer  zu 
ihrer  Verfügung.  Ebenso  wenig  droht  dem  Unternehmer  ein  Mangel 
an  Arbeitskräften.  Selbst  zu  Zeiten  der  Prosperität  nimmt  zwar  die 
Arbeitslosen armee  ab,  verschwindet  aber  nie  vollkommen.  Die  Ar- 
beitslosenstatistik beweist  uns,  dass  sogar  die  besten,  geschicktesten 
Arbeiter,  welche  den  Gewerkvereinen  angehören,  —  die  eigentliche 
Arbeiteraristokratie  —  immer  den  Markt  überfüllen.  Zur  Zeit  der 
Krisen  steigt  der  Prozentsatz  der  Arbeitslosen  in  den  Gewerkvereinen 

Tugan-Baranowsky,  Die  Handelskrisen.  1 


sehr  hoch,  zur  Zeit  der  Prosperität  fällt   er   tief,    sinkt   aber   nie   auf 
Null  herab. 

Weshalb  vermag  aber  die  Industrie  selbst  in  den  besten  Jahren 
alle  ihr  zur  Verfügung  stehenden  Produktivkräfte  nicht  auszunutzen? 
Weshalb  liegt  immer  so  viel  Kapital  brach,  und  weshalb  bleiben  so 
viele  Arbeitskräfte  unbeschäftigt? 

Der  beliebige  Unternehmer  würde  antworten :  „weil  unter  den 
heutigen  Wirtschaftsverhältnissen  die  Schwierigkeit  nicht  darin  be- 
steht, eine  Ware  zu  produzieren,  sondern  sie  abzusetzen,  für  sie  einen 
Markt  zu  finden". 

Diese  zweite  Aufgabe  hat  durch  ihre  Bedeutung  die  erste  ganz 
in  den  Hintergrund  gedrängt.  Und  man  ziehe  in  Betracht,  wie  kom- 
pliziert die  Organisation  des  Absatzes  in  unserer  Zeit  ist,  welche 
Anstrengungen  jeder  Unternehmer  machen  muss,  um  seine  Ware  in 
die  dichte  Menge  von  allerhand  Waren,  die  bereits  den  Markt  über- 
füllen, hineinzuschieben.  In  der  Regel  geht  das  Angebot  der  Nach- 
frage immer  voran,  es  überholt  sie,  und  der  Warenproduzent  muss 
bereit  sein,  alles  Mögliche  zu  versuchen,  um  nur  die  Nachfrage  her- 
vorzurufen. Jedermann  weiss  aus  eigener  Erfahrung,  welche  Rolle 
die  Reklame  in  unserer  Zeit  spielt.  Zu  welcher  I.ist  und  zu  welchen 
Kniffen  greift  nicht  der  Händler,  um  den  Käufer  einzufangen !  Es 
ist  noch  gut,  dass  keine  physische  Gewalt  angewendet  wird.  Die 
Reklame  drängt  sich  uns  vor  die  Augen,  man  kann  sie  nicht  weg- 
scheuchen, wie  eine  zudringliche  Fliege.  Sie  ist  überall  vor  uns,  sie 
blickt  von  der  Höhe  der  Häuser  mit  metergrossen  Buchstaben  auf 
uns  herab;  des  Abends  tritt  sie  uns  in  bunten  Feuern  entgegen,  sie 
bedeckt  jede  freie  Mauer,  jeden  für  den  öffentlichen  Verkehr  dienen- 
den Wagen  mit  den  wunderlichsten  und  phantastischsten  Zeichnungen, 
sie  dringt  endlich  zu  uns  ins  Haus  hinein.  Ob  wir  es  wollen  oder 
nicht,  wir  werden  gezwungen,  unsere  Aufmerksamkeit  der  Ware  des 
findigen  Kaufmanns  zuzuwenden.  Die  Organisation  des  Absatzes 
beschränkt  sich  aber  bei  weitem  nicht  auf  die  Publikation  und  die 
Reklame.  Der  Unternehmer  unserer  Zeit  hat  ein  kompliziertes  und 
weitverzweigtes  Netzwerk  von  Handelsvermittelungen  geschaffen, 
dessen  ökonomische  Bedeutung  nicht  leicht  überschätzt  werden  kann. 
Dieses  Netzwerk  hat  mit  seinen  Maschen  wie  ein  Spinngewebe  die 
ganze  Welt  umsponnen.  Jede  grosse  Firma  verfügt  über  zahlreiche 
sesshafte  und  reisende,  ausschliesslich  mit  Auffindung  von  Kunden 
beschäftigte  Agenten.  Die  für  die  neueste  Zeit  charakteristische 
Verdrängung  des  Engroshändlers  durch  diese  Agenten,  die  Erweite- 
rung des  unmittelbaren  Verkehres  des  Produzenten   mit  dem  Detail- 


händler  oder  direkt  mit  dem  Konsumenten  hat  die  Handelsarmee 
nicht  verringert,  vielmehr  ist  diese  dadurch  vermehrt.  Die  Berufs- 
statistik zeigt  überall  ein  enormes  Anwachsen  dieser  Armee,  welches 
in  seinem  Tempo  das  Wachstum  der  mit  der  Güterproduktion  be- 
schäftigten Bevölkerung  bei  weitem  überholt. 

Wenn  wir  nun  diesem  Netzwerke  der  privatwirtschaftlichen 
Vermittler  noch  die  mannigfaltigen  öffentlichen  und  gesellschaftlichen 
Einrichtungen  hinzufügen,  welche  speziell  zum  Zwecke  des  Auffindens 
von  Märkten  für  die  Waren  geschaffen  werden,  wie  z.  B.  die  Kon- 
sularagenturen  im  Auslande,  die  lokalen,  nationalen  und  internationalen 
Ausstellungen,  die  Handelsmuseen,  allerlei  Vereine  zur  Förderung  des 
Handels,  des  Exportes  u.  s.  w.,  so  werden  wir  begreifen,  welche 
bedeutende  Rolle  in  der  modernen  Wirtschaftsordnung  die  Organi- 
sation des  Warenabsatzes  —  also  der  Markt  —  spielt. 

Der  Markt  ist  der  Knotenpunkt,  wo  die  Fäden  des  wirtschaft- 
lichen Lebens  unserer  Zeit  zusammenlaufen.  Der  Markt  beherrscht 
die  Produktion  und  nicht  die  Produktion  den  Markt  —  solchen  Ein- 
druck gewinnt  jeder  nicht  theoretisierende  Beobachter  des  modernen 
Lebens.  Auch  die  historische  Erfahrung  jedes  beliebigen  kapitalisti- 
schen Landes  scheint  diesen  Eindruck  zu  bestätigen.  Nehmen  wir 
England.  Im  Laufe  dieses  ganzen  Jahrhunderts  geht  England  periodisch 
von  Prosperität  zur  Krise.  Der  Handel  schwillt  an,  dann  folgt  eine 
Krise,  und  der  Handel  und  die  Industrie  liegen  wieder  darnieder. 
Es  vergehen  einige  Jahre  der  Depression,  und  von  neuem  beginnt 
ein  Aufschwung.  Und  warum  folgt  auf  einen  Aufschwung  ein 
Niedergang?  Warum  wird  die  Entwickelung  der  Industrie  durch 
Krisen  unterbrochen?  Etwa  weil  die  Produktivkräfte  sich  vermindern, 
weil  das  Kapital  nicht  ausreicht,  allen  vorhandenen  Arbeitskräften 
Beschäftigung  zu  geben,  oder  die  Arbeiter  nicht  ausreichen,  um  das 
tote  Kapital  in  Bewegung  zu  setzen?  Gerade  das  Gegenteil  ist  der 
Fall.  Gerade  zur  Zeit  der  Depression  häufen  sich  in  den  Banken 
enorme  Kapitalien  an,  die  eine  Anlage  suchen  und  nicht  finden 
können;  gerade  zu  dieser  Zeit  schlagen  auch  das  blödeste  Auge  die 
kolossalen  Produktivkräfte,  über  welche  die  moderne  Industrie  ver- 
fügt, die  aber  ohne  Bewegung  tot  und  erstarrt  bleiben,  als  ob  der 
gesellschaftliche  Organismus  von  einem  Schlage  getroffen  wäre. 
Andererseits  bekundet  die  grosse  Arbeitslosen armee  klar,  dass  von 
einem  Mangel  an  Arbeitskräften  nicht  die  Rede  sein  kann.  Die  Ur- 
sachen der  Geschäftsstockung  wurzeln  ganz  und  völlig  im  Gebiete  des 
Marktes.  Die  Depression  findet  aus  dem  Grunde  statt,  weil  der 
Warenabsatz    gehemmt  ist,   oder,    genauer  gesagt,   weil  der  Preis,   zu 


—       4        — 

welchem  die  Ware  abgesetzt  werden  kann,  für  die  Unternehmer 
nicht  lohnend  ist.  Es  genügt  eine  Verbesserung  des  Marktes,  eine 
Erhöhung  des  Preises  der  Ware  um  einige  Prozente,  um  das  Bild 
wie  durch  einen  Zauberschlag  zu  verändern,  um  die  Maschinen  in 
Bewegung  zu  setzen,  den  Arbeitern  Beschäftigung  zu  geben  und  den 
gesamten  industriellen  Bienenkorb  von  dem  Gesumme  einer  emsigen 
Arbeit  zu  erfüllen. 

Worauf  ist  nun  aber  diese  gewaltige  Macht  des  Marktes  in  der 
gegenwärtigen  Wirtschaft  begründet?  Wir  werden  im  Folgenden 
versuchen,  dies  klarzulegen. 

Auf  dem  Markte  begegnen  sich  Nachfrage  und  Angebot.  Der 
Umfang  des  Angebotes  wird  durch  die  Menge  der  in  den  Austausch 
tretenden  Waren  in  ihrer  dinglichen  Form  bestimmt.  Das  Angebot 
hat  nichts  Rätselhaftes  und  Unbegreifliches  an  sich.  Dagegen  be- 
sitzt die  Nachfrage  eine  solche  materielle,  handgreifliche  Form  nicht. 
Die  Nachfrage  schliesst  ein  psychisches  Moment  in  sich  ein,  Wünsche, 
Bedürfnisse,  welche  in  unserem  Innern  wurzeln.  Die  Nachfrage  er- 
scheint als  etwas  Ungreifbares  und  Unbestimmbares,  was  ganz 
anderen  Gesetzen  folgt  als  das  Angebot. 

In  der  Analyse  des  Mechanismus  der  Nachfrage  besteht  also 
die  ganze  Schwierigkeit  der  Klarlegung  der  Rolle  des  Marktes  in 
der  modernen  Volkswirtschaft. 

Aber  die  betonte  eigenartige  Rätselhaftigkeit  erlangt  die  Nach- 
frage nur  auf  den  späteren  Entwickelungsstufen  der  Tauschwirtschaft. 
Bei  dem  unmittelbaren,  dem  sogenannten  naturalen  Austausch,  stellt 
sich  die  Sache  ganz  einfach  dar.  Denn  was  ist  in  diesem  Falle  er- 
forderlich, um  in  den  Besitz  des  Produktes  eines  anderen  zu  kommen? 
Offenbar  das  Angebot  des  eigenen  Produktes.  Mit  anderen  Worten, 
die  Nachfrage  eines  jeden  wird  direkt  und  unmittelbar  durch  sein 
Angebot  bestimmt.  Das  subjektive  Moment,  die  Wünsche,  die  Be- 
dürfnisse bestimmen  den  Inhalt,  die  Richtung  der  Nachfrage  Aber 
der  Umfang,  die  Grösse  dieser  letzteren,  wird  durch  ein  objektives 
Moment,  durch  das  Angebot  festgestellt. 

Der  Preis  eines  Gutes  (sein  Aequivalent)  wird,  im  allgemeinen 
Sinne  des  Wortes,  die  Menge  an  Gütern  genannt,  die  man  bei  der 
Erwerbung  dieses  Gutes  hingiebt.  So  bildet  z.  В.,  wenn  Korn  mit 
Tuch  ausgetauscht  wird,  die  für  das  Tuch  hingegebene  Menge  Korn 
den  Preis  des  Tuches,  und  die  entsprechende  Menge  Tuch  bildet 
den  Preis  des  Kornes.  In  seiner  Eigenschaft  eines  Wertverhält- 
nisses zwischen  zwei  Gütern  kann  offenbar  der  Preis  beider  ausge- 
tauschter Güter  nicht  zugleich  steigen  (oder  sinken).     Das  Korn  und 


-        5       — 

das  Tuch  können  nicht  gleichzeitig  in  ihren  relativen  Preisen  steigen 
(oder  sinken).  Also  ist,  bei  einem  unmittelbaren-  Produktenaustausch, 
ein  allgemeines  Sinken  (wie  auch  ein  Steigen)  der  Preise  geradezu 
undenkbar;  mit  anderen  Worten  ist  ein  solcher  Zustand  des  Marktes 
undenkbar,  bei  welchem  alle  ausgetauschten  Produkte  im  Uebermasse 
gegeneinander  vorhanden  wären.  Wenn  die  zum  Austausch  gebotene 
Menge  Tuch  zunimmt,  während  die  von  Korn  unverändert  bleibt,  so 
muss  der  Preis  des  Tuches  fallen:  der  Tuchproduzent  wird  eine  ge- 
ringere Menge  Korn  für  jedes  Stück  Tuch  bekommen.  Und  wenn 
die  Vermehrung  des  Angebotes  von  Tuch  nicht  durch  das  Sinken 
der  Produktionskosten  eines  bestimmten  Vorrats  von  Tuch  hervor- 
gerufen ist,  so  haben  wir  eine  sogenannte  Ueberproduktion  von  Tuch 
vor  uns.  Da  aber  das  relative  Sinken  des  Preises  des  Tuches  einem 
relativen  Steigen  des  Preises  des  Kornes  gleichbedeutend  ist,  so  ist 
die  Ueberproduktion  von  Tuch  zugleich  eine  Unterproduktion  von 
Korn.  Wenn  nun  das  Angebot  von  Korn  in  demselben  Masse  ge- 
wachsen wäre  wie  das  Angebot  von  Tuch,  so  wäre  der  Preis  des 
Tuches  unverändert  geblieben,  denn  das  Verhältnis  zweier  Grössen 
erleidet  durch  ihre  Multiplikation  mit  ein  und  derselben  Zahl  keine 
Veränderung.  Das  Fallen  des  Tuchpreises  ist  also  durch  die  unpro- 
portionelle  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  hervorgerufen 
worden:  wäre  ein  Teil  der  Produktivkräfte  der  Gesellschaft  von  der 
Tuch-  zur  Kornproduktion  abgelenkt  worden,  so  wären  die  Preise  der 
beiden  Produkte  unverändert  geblieben  und  hätte  keine  partielle 
Ueberproduktion  stattgefunden. 

Aber  ist  es  nicht  möglich,  dass  der  Absatz  der  vermehrten 
Mengen  beider  Produkte  auf  die  Unmöglichkeit  des  weiteren  Steigens 
des  Konsums  stösst?  Nehmen  wir  an,  dass  der  Tuchproduzent  keiner 
grösseren  Menge  Korn  und  der  Kornproduzent  keiner  grösseren  Menge 
Tuch  bedarf.  Werden  wir  in  diesem  Falle  nicht  eine  Ueberproduktion 
beider  Produkte,  wie  die  des  Kornes,  so  auch  die  des  Tuches  vor  uns 
haben  ? 

Doch  ein  solcher  Fall  ist  geradezu  unmöglich,  und  zwar  aus 
folgendem  Grunde.  Wir  gehen  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  in 
den  Austausch  nur  zwei  Produkte  treten  —  Korn  und  Tuch,  —  und 
dass  beide  Produkte  für  den  Austausch  produziert  sind.  Wenn  der 
Produzent  des  Kornes  (des  Tuches)  keiner  vermehrten  Menge  des 
Tuches  (des  Kornes)  bedarf,  welchen  Zweck  hätte ^ es  für  ihn,  seine 
eigene  Produktion  zu  erweitern?  Wozu  würde  er  sich  der  Mühe 
unterziehen,  Produkte  herzustellen,  Avenn  er  keiner  neuen  Produkte 
überhaupt  bedarf?    Die  wirtschaftliche  Arbeit  setzt  einen  bestimmten 


Zweck  voraus  —  namentlich  die  Vermehrung  der  materiellen  Mittel 
zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse  des  arbeitenden  Subjekts.  Der 
Mensch,  welcher  keines  neuen  Produktes  bedarf  und  trotzdem  neue 
Produkte   herstellt,   verdient  in  eine  Irrenanstalt  gebracht  zu  werden. 

Wenn  die  Korn-  und  Tuchproduzenten  kein  Bedürfnis  nach  einer 
vermehrten  Menge  von  respektiven  Produkten  haben,  so  wird  auch 
keiner  von  ihnen  seine  eigene  Produktion  erweitern,  und  es  wird 
also  keine  Ueberproduktion  an  Produkten  stattfinden.  Nur  das  Be- 
dürfnis nach  irgend  einem  bestimmten  Produkte  —  wir  setzen  ja  die 
Verhältnisse  der  einfachen  Tauschwirtschaft,  welche  kein  Geld  kennt, 
voraus  —  nur  dies  Bedürfnis  kann  den  Menschen  bewegen,  sich  mit 
der  Produktion  zu  befassen. 

Dies  bleibt  zutreffend  auch  in  dem  Falle,  wenn  in  den  Aus- 
tausch nicht  zwei,  sondern  mehr  verschiedene  Produkte  eintreten. 
Nehmen  wir  an,  dass  nicht  nur  Tuch  und  Korn,  sondern  noch  irgend 
welche  anderen  Produkte,  sagen  wir,  Wein,  Häute  und  Waffen,  aus- 
getauscht werden.  Das  Tuch  wird  mit  Korn,  Wein,  Häuten,  Waffen 
ausgetauscht;  Korn  wird  ausgetauscht  mit  Tuch,  Wein,  Häuten, 
Waffen;  Wein  mit  Korn,  Waffen,  Häuten,  Tuch  u.  s.  w.  Es  ist  mög- 
lich, dass  die  Vermehrung  der  Korn-  und  Tuchproduktion  nicht  von 
einer  Erhöhung  der  Nachfrage  gerade  nach  diesen  Produkten  begleitet 
wird.  Es  ward  dann  eine  Ueberproduktion  von  Tuch  und  Korn  eintreten, 
dagegen  werden  aber  einige  von  den  anderen  Produkten,  Wein, 
Häute,  Waffen,  in  ungenügender  Menge  hergestellt,  da  das  unbe- 
friedigte Bedürfnis  nach  diesen  Produkten  der  einzige  Beweggrund 
für  die  Erweiterung  der  Korn-  und  Tuchproduktion  sein  kann.  Die 
Ueberproduktion  von  Korn  und  Tuch  erweist  sich  also  als  eine  Unter- 
produktion anderer  Produkte  —  als  ein  Mangel  an  Proportionalität 
in  der  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion.  Wenn  statt  der 
Korn-  und  Tuchproduktion  die  von  Waffen,  Wein  und  Häuten  er- 
weitert worden  wäre,  so  würde  das  Gleichgewicht  zwischen  dem  An- 
gebot von  Produkten  und  der  Nachfrage  nach  ihnen  nicht  gestört 
werden. 

Die  Ueberproduktion  von  Produkten  kann  auf  dieser  Stufe  der 
Tauschwirtschaft  nur  eine  partielle  sein.  Eine  allgemeine  Ueber- 
produktion hingegen  —  also  ein  allgemeines  Sinken  der  relativen 
Preise  der  Produkte  —  ist  nicht  nur  unmöglich,  sondern  geradezu 
undenkbar,  wie  es  undenkbar  ist,  dass  zwei  Grössen  gleichzeitig  im 
Verhältnis  zu  einander  sinken  (oder  steigen). 

Also  wird  bei  dem  unmittelbaren  Austausch  der  Produkte  die 
Nachfrage    nach    einem  jeden    Produkte    unmittelbar    durch   das    An- 


—       7        — 

gebot  der  anderen  bestimmt.  Bei  der  proportion eilen  Einteilung  der 
gesellschaftlichen  Produktion  müssen  das  Angebot  und  die  Nachfrage 
notwendigerweise  im  (jleichgewichte  sein.  Wenn  von  einem  Markte 
in  der  einfachen  Tauschwirtschaft,  welche  kein  Geld  kennt,  die  Rede 
sein  kann,  so  bildet  dieser  Markt  nichts  Zusammenhängendes,  Ganzes, 
für  alle  Produkte  Gleichartiges.  Keine  allgemeine  Bewegung  der 
Preise  in  einer  oder  der  anderen  Richtung  —  sei  es  ein  allgemeines 
Steigen  oder  Sinken  der  Preise  —  ist  auf  einem  solchen  Markte 
möglich;  folglich  auch  keine  allgemeine  Verbesserung  oder  Ver- 
schlechterung der  Absatzverhältnisse.  Vielmehr  ist  die  Verbesserung 
solcher  für  eines  der  Produkte,  welche  in  den  Austausch  eintreten, 
gleichbedeutend  mit  der  Verschlechterung  der  Absatzverhältnisse  für 
irgend  ein  anderes  Produkt. 

Im  Falle  eines  Steigens  des  Preises  von  Korn  (ausgedrückt  in 
Tuch)  sinkt  der  Preis  von  Tuch  (ausgedrückt  in  Korn),  wenn  der  Markt 
für  Korn  günstig  ist,  so  ist  er  für  Tuch  ungünstig.  Es  ist,  als  ob  der 
gesamte  Markt  in  einzelne  Räume,  welche  von  einander  durch  Zwischen- 
wände getrennt  sind,  zerfiele,  die  Nachfrage  nach  einem  jeden  Produkt 
wird  durch  besondere  individuelle  Verhältnisse  bestimmt,  und  das,  was 
man  die  allgemeine  Stimmung  des  Marktes  nennt,  fehlt  vollkommen. 

Gehen  wir  jetzt  über  zur  Analyse  des  Marktes  in  der  Geldwirt- 
schaft. Und  zwar  zuerst  in  der  einfachen  Warenwirtschaft.  Die 
Waren  werden  von  kleinen  unabhängigen,  mit  eigenen  Produktions- 
mitteln arbeitenden  Produzenten  hergestellt;  die  Arbeitsinstrumente 
spielen  eine  ganz  untergeordnete  Rolle  im  Produktionsprozess ,  wie 
auf  dem  Warenmarkte.  Die  Hauptmasse  der  Waren,  welche  in  Aus- 
tausch treten,  dient  dem  unmittelbaren  Konsum.  Beim  Naturalaus- 
tausch  werden  Produkte  unmittelbar  mit  Produkten  ausgetauscht, 
in  der  Geldwirtschaft  aber  zerfällt  der  Austauschprozess  in  zwei 
Teile:  Ware  —  Geld  und  Geld — Ware,  —  den  Verkauf  und  den  Kauf. 
Das  Geld,  welches  die  Rolle  eines  Vermittlers  beim  Austausch  spielt, 
kann  durchaus  nicht  mit  den  anderen  Waren  gleichgestellt  werden. 
Ist  es  zwar  auch  eine  Ware,  so  doch  eine  ganz  eigentümliche,  die 
eine  eigenartige  Funktion  im  Prozess  der  Warencirkulation  aus- 
übt. Ein  Unterschied  der  Ware  „Geld"  von  allen  anderen  Waren 
verdient  besonders  hervorgehoben  zu  sein:  nämlich  die  Eigenschaft 
des  Geldes,  als  eines  allgemeinen  Kauf-  und  Zahlungsmittels,  den 
Gegenstand  einer  allgemeinen  und  unbeschränkten  Nachfrage  zu 
bilden,  während  die  Nachfrage  nach  allen  anderen  Waren  notwendiger- 
weise nur  eine  begrenzte  sein  kann.  Das  bedingt  nun  einen  tiefen 
Unterschied    zwischen    den    beiden    Hälften    des    Austauschprozesses; 


—       8       — 

der  Akt  des  Verkaufs  gewinnt  im  Prozess  der  Metamorphose  der 
Waren  eine  unvergleichlich  grössere  Bedeutung  als  der  des  Kaufes. 
Beim  Verkauf  der  Ware  erhält  der  Verkäufer,  den  Gegenstand  einer 
uneingeschränkten  und  nicht  zweifelhaften  Nachfrage  zum  Austausch 
für  einen  Gegenstand,  nach  welchem  die  Nachfrage  eine  zweifelhafte 
und  begrenzte  ist.  Der  Kauf  vollzieht  sich  unter  normalen  Markt- 
verhältnissen ohne  jegliche  Schwierigkeiten;  dagegen  ist  der  Verkauf 
der  Ware  immer  das  gefährlichste  Moment  der  Metamorphose  der 
Waren. 

Obwohl  der  erste  Akt  dieser  Metamorphose,  der  Verkauf  — 
auch  den  zweiten  —  den  Kauf  voraussetzt,  wird  —  wie  Marx 
treffend  bemerkt  —  der  Zeitpunkt  und  der  Ort,  an  welchem  dieser 
zweite  Akt  stattfindet,  durchaus  nicht  durch  den  ersten  Akt  voraus- 
bestimmt. Der  Verkauf  der  Ware  kann  auf  dem  einen  Markte  ge- 
schehen, während  der  Kauf  auf  einem  anderen  stattfindet,  der  Kauf 
braucht  durchaus  nicht  unmittelbar  auf  den  Verkauf  zu  folgen,  sondern 
er  kann  auf  unbestimmte  Zeit  aufgeschoben  werden.  Ja,  es  ist  mög- 
lich, dass  auf  den  Verkauf  überhaupt  kein  Kauf  folgt,  —  der  Ver- 
käufer kann  den  Prozess  der  Warencirkulation  unterbrechen,  indem 
er  das  Geld  in  seinen  Händen  als  einen  Schatz  zurückbehält.  Es  ist 
bekannt,  dass  auf  diese  Art  in  den  Ländern  des  fernen  Orients, 
namentlich  in  Indien,  enorme  Mengen  Silbergeld  immer  aus  der 
Cirkulation  heraustreten. 

Also  ist  die  Verwandlung  des  einfachen  Austauschprozesses  — 
beim  unmittelbaren  Produktenaustausch  —  in  einen  komplizierten, 
doppelseitigen  Prozess  des  Verkaufes  und  Kaufes  keineswegs  eine 
nur  formelle  Veränderung,  welche  das  Wesen  des  Austauschprozesses 
nicht  berührt.  Vielmehr  wird  durch  die  Einführung  des  Geldes,  als 
Vermittlers  beim  Austauch,  der  Austauschprozess  geradezu  revo- 
lutioniert. 

Und  dies  ist  richtig,  selbst  wenn  man  von  der  Möglichkeit  des 
Unterbrechens  der  Warencirkulation  vollkommen  absieht. 

Wir  haben  gesehen,  dass  beim  unmittelbaren  Produktenaustausch 
ein  allgemeines  Sinken  (oder  Steigen)  der  Warenpreise  unmöglich  ist. 
Bei  dem '  durch  Geld  vermittelten  Austausch  wird  der  Preis  einer 
jeden  Ware  in  Geld  ausgedrückt.  Es  liegt  daher  nichts  Unmögliches 
in  einem  allgemeinen  Steigen  (oder  Sinken)  der  Geldpreise  der  Waren. 

Jede  Veränderung  des  Wertes  der  Ware  „Geld"  muss  auf  die 
Preise  der  übrigen  Waren  zurückwirken.  Das  Steigen  (Sinken) 
des  Wertes  des  Geldes  kommt  zum  Ausdruck  in  einem  allgemeinen 
Sinken   (Steigen)   der  Warenpreise.     Wir  werden  uns  jedoch  bei  den 


Veränderungen  der  Warenpreise,  die  durch  Schwankungen  im  Wert 
des  Geldmaterials  hervorgerufen  werden,  nicht  aufhalten.  Viel  wich- 
tiger ist  es,  den  Einfluss  des  Zustandes  des  Warenmarktes  selbst  auf 
die  Warenpreise  zu  bestimmen. 

Nehmen  wir  das  frühere  Beispiel  wieder  auf  —  den  Austausch 
von  Korn  mit  Tuch.  Beim  Naturalaustausch  ist  das  Sinken  des  Korn- 
preises gleichbedeutend  mit  dem  Steigen  des  Tuchpreises.  Wie  ist 
aber  der  Zusammenhang  zwischen  den  Preisen  von  Korn  und  Tuch 
bei  dem  durch  Geld  vermittelten  Austausch? 

Bei  dem  unmittelbaren  Produktenaustausch  war  die  Nachfrage 
nach  Tuch  durch  das  Angebot  von  Korn  bestimmt.  Wenn  wir  von 
den  Unterbrechungen  der  Warencirkulation  durch  das  Heraustreten 
des  Geldes  aus  der  Cirkulation  absehen,  so  wird  auch  im  Falle  eines 
durch  Geld  vermittelten  Austausches  die  Nachfrage  nach  Waren  eines 
jeden  Warenproduzenten  durch  sein  Angebot  bestimmt. 

In  dieser  Hinsicht  unterscheidet  sich  der  durch  Geld  vermittelte 
Austausch  in  nichts  vom  Naturalaustausch.  Und  in  welcher  Weise 
erhält  in  der  That  der  Warenproduzent  Geld  für  den  Ankauf  der 
Waren,  deren  er  bedarf?  Offenbar  durch  Verkauf  seiner  eigenen 
Waren.  Die  Käufe  des  Produzenten  werden  also  durch  seine  Ver- 
käufe bestimmt,  mit  anderen  Worten,  seine  Nachfrage  wird  durch 
sein  Angebot  reguliert. 

Also  im  Falle  des  durch  Geld  vermittelten  Austausches  (wie 
auch  des  Naturalaustausches)  wird  die  Nachfrage  des  Kornproduzenten 
nach  Tuch  durch  das  Angebot  von  Korn  bestimmt.  Nehmen  wir  an, 
dass  das  Angebot  von  Korn  gewachsen  ist  und  die  gewöhnliche 
Nachfrage  des  Tuchproduzenten  überschritten  hat,  so  wird  das  ein 
Sinken  des  Geldpreises  des  Kornes  hervorrufen.  Da  Korn  ein  zum 
Leben  unbedingt  notwendiges  Gut  ist  und  die  Preise  solcher  Güter 
nach  einem  bekannten  Gesetz  die  Tendenz  haben,  stärker  zu  schwanken 
als  das  Angebot,  so  muss  das  Sinken  des  Kornpreises  bedeutender 
sein  als  das  Wachstum  seines  Angebotes,  und  die  gesamte  Geld- 
summe, welche  vom  Kornproduzenten  eingenommen  wird,  muss  sinken^ 
Wenn  aber  dieser  letztere  weniger  Geld  erhält,  so  wird  er  auch 
weniger  für  das  Tuch  bezahlen.  Das  Sinken  des  Kornpreises  zieht 
folglich  auch  ein  Fallen  des  Tuchpreises  nach  sich. 

Hat  das  Angebot  einer  der  beiden  Waren  —  des  Kornes  — 
die  Nachfrage  überschritten,  so  ist  die  Folge  davon  das  Sinken  des 
Geldpreises  nicht  nur  von  Korn,  sondern  auch  von  Tuch.  Die  Preise 
der   beiden   Waren   verändern   sich    nicht  in   einer   entgegengesetzten 


lO         — 


Richtung,  wie  das  bei  dem  Naturalaustausch  der  Fall  war,  sondern 
in  ein  und  derselben  Richtung. 

Betrachten  wir  nun  diesen  Fall  etwas  näher.  Im  Angebot  von 
Tuch  ist  keine  Veränderung  eingetreten,  das  Tuch  ist  nicht  im 
Uebermass  produziert  worden,  trotzdem  ist  sein  Preis,  ebenso  wie  der 
der  übermässig  produzierten  Ware  —  des  Kornes  —  gefallen.  Beide 
Waren  sind  im  Preise  gesunken,  die  Kornproduzenten,  wie  die  des 
Tuches  haben  Schaden  erlitten  —  ihre  Geldeinnahmen  haben  sich 
verringert. 

Der  Preis  ist  der  Hauptregulator  der  Warenproduktion.  Jeder 
Warenproduzent  hat  im  Preise  gewissermassen  einen  Indikator, 
welcher  die  Stimmung  des  Marktes  anzeigt.  Das  Steigen  des  Preises 
ruft  eine  Erweiterung  der  Produktion,  das  Sinken  des  Preises  ihre 
Einschränkung  hervor.  In  dem  von  uns  betrachteten  Falle  giebt 
dieser  Indikator  des  Marktes  —  der  Preis  —  ungünstige  Angaben 
in  Bezug  auf  beide  Waren,  welche  in  den  Austausch  eintreten,  so- 
wohl in  Bezug  auf  das  Korn  wie  auch  auf  das  Tuch. 

Wenn  das  Korn  nicht  nur  mit  Tuch,  sondern  auch  mit  anderen 
Waren  ausgetauscht  wird,  so  werden  infolge  eines  Fallens  des  Korn- 
preises die  Preise  aller  dieser  Waren  sinken.  Das  Sinken  der  Waren- 
preise wird  ein  allgemeines  sein. 

Also  wird  durch  die  Einführung  des  Geldes  als  Vermittlers  beim 
Austausch  der  Markt  von  Grund  aus  revolutioniert.  Der  Markt  wird 
zu  einem  Beherrscher  der  Produktion.  Die  ungünstige  Stimmung 
des  Marktes  wirkt  auch  auf  die  Preise  derjenigen  Waren,  welche 
durchaus  nicht  im  Uebermass  produziert  worden  sind,  ungünstig 
zurück.  Der  Preis  einer  jeden  Ware  kommt  in  eine  enge  Abhängig- 
keit von  den  Preisen  aller  anderen  Waren. 

Das  allgemeine  Fallen  der  Warenpreise  erscheint  in  den  Augen 
der  Warenproduzenten  als  ein  Zeichen  einer  allgemeinen  Ueber- 
schreitung  der  Nachfrage  nach  den  Waren  durch  deren  Angebot, 
also  einer  allgemeinen  Warenüberproduktion.  Und  in  der  That,  der 
allgemeine  Charakter  dieser  Ueberproduktion  wird  dadurch  bestätigt, 
dass  eine  allgemeine  Einschränkung  der  Produktion  auf  sie  gewöhn- 
lich folgt,  indem  jeder  Produzent  den  Preis  seiner  Ware  durch  das 
gewöhnliche  Mittel  —  die  Verminderung  des  Angebotes  —  in  die 
Höhe  zu  bringen  strebt. 

Wir  begegnen  also  in  dem  durch  Geld  vermittelten  Warenaus- 
tausch einem  ganz  neuen  Phänomen  —  der  allgemeinen  Warenüber- 
produktion —  welche  dem  Naturalaustausch  vollkommen  unbekannt 
ist.     Die  Ueberproduktion  einer  Ware   verwandelt  sich  in   der  Geld- 


1 1 


Wirtschaft  in  eine  Ueberproduktion  aller  Waren  —  und  der  Markt 
kämpft  gegen  diese  allgemeine  Ueberproduktion  mittels  einer  allge- 
meinen Einschränkung  der  Warenproduktion. 

Darin  kommt  die.  gar  so  rätselhafte,  paradoxe  und  charakte- 
ristische Erscheinung  der  heutigen  Wirtschaftsordnung  zum  Ausdruck 
—  der  üeberfluss,  der  zum  Mangel  wird,  die  Leiden  der  Armut, 
durch  einen  übermässigen  Reichtum  hervorgerufen,  die  Einschrän- 
kung der  Produktion,  infolge  des  Reichtums  an  Produktivkräften. 

Die  Möglichkeit  einer  allgemeinen  Warenüberproduktion,  d.  h. 
eines  solchen  Zustandes  des  Marktes,  bei  welchem  die  zahlungsfähige 
Nachfrage  nach  allen  Waren  geringer  ist  als  das  Angebot,  was  in 
einem  allgemeinen  Preisfall  zum  Vorschein  kommt,  kann  keinem 
Zweifel  unterliegen,  da  es  kein  kapitalistisches  Land  giebt,  welches 
diesen  Zustand  nicht  aus  eigener  Erfahrung  gekannt  hätte.  Die 
ganze  Schwierigkeit  besteht  in  der  Erklärung  dieser  Erscheinung, 
in  der  Feststellung  ihrer  realen  Gründe. 

Auf  das  Ueberschreiten  der  Nachfrage  nach  den  Waren  durch 
das  Angebot  als  auf  den  Grund  der  allgemeinen  Warenüberproduktion 
hinzuweisen,  das  heisst  sich  mit  dem  Konstatieren  der  Erscheinung 
statt  ihrer  Erklärung  begnügen.  Das  Sinken  der  Warenpreise  ist 
ein  unzweifelhaftes  Zeichen  dafür,  dass  das  Gleichgewicht  zwischen 
der  Nachfrage  und  dem  Angebot  gestört  ist.  Aber  wieso  kann  die 
gesamte  Nachfrage  unter  das  gesamte  Angebot  sinken?  Darin  be- 
steht eben  die  Frage. 

Oben  ist  es  festgestellt  worden,  dass  in  der  Geldwirtschaft,  wie  bei 
dem  unmittelbaren  Produktenaustausch,  die  Nachfrage  nach  den 
Produkten  in  letzter  Instanz  durch  das  Angebot  bestimmt  wird.  Die 
gesamte  Nachfrage  muss  also  dem  gesamten  Angebote  entsprechen. 
Wenn  infolge  einer  unproportion eilen  Einteilung  der  gesellschaft- 
lichen Produktion  einige  Produkte  im  Verhältnis  zur  Nachfrage  in 
übermässiger  Menge  produziert  worden  sind,  so  heisst  das,  dass  die 
Produktion  anderer  Produkte  hinter  der  Nachfrage  zurückgeblieben 
ist.  Wenn  der  einen  Produkte  zu  viele  sind,  so  heisst  das,  dass  es 
der  anderen  zu  wenig  giebt. 

Indessen  erweisen  sich  in  dem  Falle,  welchen  wir  jetzt  betrachten, 
alle  Waren  als  im  Uebermasse  produziert,  sodass  die  Preise  aller  sinken. 
Bedeutet  das  etwa,  dass  die  These  über  die  Abhängigkeit  der  Nach- 
frage nach  den  Waren  von  ihrem  Angebot  eine  Einschränkung  er- 
fordert ? 

Durchaus  nicht.  Wir  haben  gesehen,  in  welcher  Weise  die  all- 
gemeine Warenüberproduktion  in  der  Geldwirtschaft  entsteht.  Der  all- 


12         


gemeinen  Ueberproduktion  Hegt  zu  Grunde  eine  partielle 
Ueberproduktion.  Diese  oder  jene  Waren  werden  in  einer  die 
gewöhnliche  Nachfrage  überschreitenden  Menge  hergestellt.  Ihre  Preise 
sinken.  Die  Verminderung  der  Geldeinnahmen  schränkt  die  Kaufkraft 
der  Besitzer  dieser  Waren  ein.  Es  folgt  ein  Preisfall  aller  der  Waren, 
für  deren  Kauf  diese  Kaufkraft  verausgabt  wird,  und  so  erweisen 
sich  alle  Waren  infolge  der  übermässigen  Produktion  einiger  von 
ihnen  als  im  Uebermasse  vorhanden. 

Das  gesamte  Warenangebot  könnte  unabhängig  von  der  Ein- 
teilung der  gesellschaftlichen  Produktion  die  gesamte  Nachfrage  nur 
in  dem  Falle  überschreiten,  wenn  das  Geld  aus  irgend  welchen 
Gründen  aus  der  Cirkulation  herausträte.  Ist  das  nicht  der  Fall,  so 
kann  die  Ueberproduktion  der  Waren  nur  durch  eine  unproportionelle 
Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  hervorgerufen  werden. 
Jeder  Warenproduzent,  welcher  seine  Geldeinnahme  verausgabt,  erhebt 
eine  Nachfrage  nach  einer  gleichwertigen  Menge  anderer  Waren. 
Wenn  daher  einige  Waren  im  Uebermass  sind,  so  bedeutet  das,  dass 
irgend  л¥е1сЬе  andere  Waren  in  nicht  genügender  Menge  vorhanden 
sind.  Der  durch  Geld  vermittelte  Warenaustausch  vollzieht  sich  auf 
derselben  materiellen  Basis  wie  der  unmittelbare  Produktenaustausch, 
namentlich  auf  der  Basis  der  Produktenherstellung.  Im  Falle  einer 
proportionellen  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  muss  die 
Nachfrage  nach  Produkten  sich  mit  deren  Angebot  decken.  Für 
den  Naturalaustausch  gilt  dies  unbedingt,  für  den  durch  Geld  ver- 
mittelten x\ustausch  mit  einer  Einschränkung:  soweit  auf  den  Ver- 
kauf ein  Kauf  folgt,  soweit  der  Warenaustausch  nicht  durch  den 
Austritt  des  Geldes  aus  der  Cirkulation  unterbrochen  wird. 

Also,  die  reale  Grundlage  des  durch  Geld  vermittelten  Aus- 
tausches ist  gerade  dieselbe  wie  die  des  Naturalaustausches.  Der 
Verkauf  und  der  Kauf,  die  Verwandlung  der  Ware  in  Geld  und  des 
Geldes  in  Ware  ist  am  Ende  doch  nur  eine  neue  Form  des  Aus- 
tausches der  Produkte  mit  Produkten.  Aber  durch  die  Veränderung 
der  Form  des  Austausches  wird  auch  sein  Inhalt  von  Grund  aus 
umgestaltet.  Der  Markt  wird  zu  einem  Ganzen,  er  erhält  eine  Ein- 
heitlichkeit, er  wird  nicht  nur  zum  Regulator,  sondern  zum  Beherrscher 
der  Produktion. 

Es  werden  Phänomene  möglich,  welche  dem  Naturalaustausch 
ganz  unbekannt  sind:  eine  allgemeine  Ueberproduktion  der  Produkte, 
eine  durch  den  Reichtum  hervorgerufene  Armut. 

Die  einfache  Warenproduktion,  welche  die  Möglichkeit  einer 
allgemeinen  Warenüberproduktion  in  sich  schliesst,  macht  diese  Ueber- 


—      13      — 

Produktion  durchaus  nicht  notwendig.  Im  Gegenteil,  die  allge- 
meinen Wirtschaftsverhältnisse  der  kleinen  selbständigen  Waren- 
produzenten sind  derart,  dass  diese  Möglichkeit  äusserst  selten  zur 
Wirklichkeit  wird.  Wie  oben  gesagt,  bilden  die  Gegenstände  des 
unmittelbaren  Konsums  die  Hauptmasse  der  Waren,  welche  unter 
der  Herrschaft  der  einfachen  Warenproduktion  in  Austausch  treten. 
Die  Konsumtion  bildet  den  unmittelbaren  Zweck  der  Produktion. 
Obwohl  die  Thatsache  des  Austausches  selbst  die  Voraussetzung  in 
sich  schliesst,  dass  die  Ware  nicht  für  den  eigenen  Konsum  des 
Produzenten,  sondern  für  den  Konsum  eines  anderen  hergestellt  wird, 
werden  doch  fast  alle  Waren  unmittelbar  für  die  Konsumtion  pro- 
duziert. 

Zwischen  der  Produktion  und  der  Konsumtion  bleibt  ein  enger 
Zusammenhang  bestehen,  wenn  er  auch  komplizierter  ist  als  in  der 
Eigenproduktion,  tauschloser  Wirtschaft.  Die  Richtung  der  gesell- 
schaftlichen Produktion  wird  durch  die  Konsumtionsbedürfnisse  der 
Bevölkerung  eines  kleinen  Gebietes  bestimmt.  Diese  Bedürfnisse 
zeichnen  sich  durch  eine  bedeutende  Stabilität  aus,  die  Nachfrage 
nach  Produkten  wächst  sehr  langsam  in  demselben  Masse,  wie  die 
Bevölkerung  wächst.  Da  die  Arbeitsinstrumente  eine  untergeordnete 
Rolle  in  der  Produktion  spielen  und  die  Maschinen  fast  unbekannt 
sind,  so  sind  auch  die  Produktivkräfte  der  Bevölkerung,  welche 
hauptsächlich  in  einer  angehäuften  Geschicklichkeit  und  Gewandtheit 
des  Arbeiters  selbst  bestehen,  eines  schnellen  Wachstums  nicht  fähig. 
Unter  solchen  Verhältnissen  —  namentlich  bei  der  Stetigkeit  der 
Nachfrage  und  des  Angebotes  der  Waren  —  sind  ganz  ausserordent- 
liche Umstände  erforderlich,  damit  der  Warenmarkt  in  den  Zustand 
einer  allgemeinen  Ueberproduktion  käme.  Grosse  Preisschwankungen 
sind  —  unter  dem  Vorherrschen  des  Kleinbetriebs  —  nur  in  betreff 
derjenigen  Produkte  zu  beobachten,  deren  Herstellung  in  einer  engen 
Abhängigkeit  von  atmosphärischen  Phänomenen  steht,  wie  es  z.  B. 
bei  allen  Produkten  des  Ackerbaues  der  Fall  ist.  Das  Angebot 
dieser  Produkte  ist  enormen  Schwankungen  unterworfen,  aber  der 
Einfluss  dieser  Schwankungen  auf  den  gesamten  Warenmarkt  wird 
dadurch  bedeutend  abgeschwächt,  dass  diese  Produkte  nur  in  einem 
geringen  Masse  auf  den  Markt  treten,  da  sie  hauptsächlich  in  der 
Wirtschaft  des  Produzenten  selbst  konsumiert  werden.  Die  Produkte 
des  Ackerbaues  spielen  z.  B.  eine  ganz  untergeordnete  Rolle  auf 
dem  Waren  markte  der  mittelalterlichen  Stadt,  welche  als  historischer 
Typus  der  Organisation  des  Kleinbetriebs  gelten  kann.  Aus  diesem 
Grunde   rufen   die  Schwankungen  der  Preise  der  landwirtschaftlichen 


—       14       — 

Produkte  in  der  einfachen  Warenwirtschaft  keine  starken  Schwan- 
kungen der  Preise  der  anderen  Waren  hervor. 

Also,  wenn  bei  dem  unmittelbaren  Produktenaustausch  eine  all- 
gemeine Ueberproduktion  der  Produkte  geradezu  unmöglich  ist,  so 
ist  unter  der  Herrschaft  der  einfachen  Warenwirtschaft  eine  all- 
gemeine Ueberproduktion,  wenn  auch  möglich,  so  durchaus  nicht 
notwendig. 

Gehen  wir  jetzt  über  zur  Analyse  des  Marktes  bei  der  gegen- 
wärtigen Form  der  Warenwirtschaft  —  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft. 

Der  Grundunterschied  der  kapitalistischen  von  der  einfachen 
Warenwirtschaft  ist  nicht  auf  dem  Gebiete  des  Austausches,  sondern 
auf  dem  der  Produktion  zu  suchen.  Der  kleine  Warenproduzent 
arbeitet  eigenhändig,  sein  Zweck  ist,  sich  Lebensmittel  zu  verschaffen, 
indem  er  seine  Arbeitsprodukte  mit  den  Arbeitsprodukten  anderer 
Produzenten  austauscht.  Der  kapitalistische  Unternehmer  lässt  Lohn- 
arbeiter arbeiten,  sein  Zweck  ist  der  Profit.  Ein  Teil  dieses  Profits 
geht  in  den  persönlichen  Konsum  des  kapitalistischen  Unternehmers 
über,  ein  anderer  Teil  wird  akkumuliert  und  wieder  in  Kapital  ver- 
wandelt. Die  Konsumtion  der  Arbeiter,  welche  mit  der  kapitalistischen 
Produktion  beschäftigt  sind,  hat  eine  ganz  andere  ökonomische  Be- 
deutung als  die  Konsumtion  der  kleinen  Warenproduzenten ,  und 
zwar  besteht  dieser  Unterschied  in  Folgendem.  Die  Herstellung  von 
Konsumtionsmitteln  ist  in  der  einfachen  Warenwirtschaft  der  un- 
mittelbare Zweck  der  Produktion.  Die  Vervollkommnung  der  Technik 
und  der  Arbeitsinstrumente,  die  Vermehrung  der  Geschicklichkeit 
und  der  Gewandtheit  des  Arbeiters,  das  Wachstum  der  Produktiv- 
kräfte überhaupt  —  alles  dies  führt  in  der  einfachen  Warenwirtschaft 
zu  einer  Vermehrung  des  Vorrates  der  Konsumtionsmittel  in  den 
Händen  der  Bevölkerung.  Das  Arbeitsinstrument  eines  selbständigen 
Produzenten  kann  keinesfalls  als  sein  eigener  Konkurrent  auftreten. 
Der  Produzent  benutzt  diese  Arbeitsinstrumente  nur  insofern,  als  sie 
zur  Vermehrung  seines  Komfortes  und  seines  Wohlhabens  dienen, 
insofern,  als  er  durch  deren  Benutzung  seine  Konsumtion  erweitern 
und  qualitativ  verbessern  kann.  Zwischen  der  Ausdehnung  der  Pro- 
duktion und  dem  Wachstum  der  nationalen  Konsumtion  kann  es  in 
der  Wirtschaft  der  kleinen  Warenproduzenten  keinen  Konflikt  geben. 
Der  Mensch  bleibt  der  Herr  der  Produktion,  und  die  Arbeits- 
instrumente, die  Arbeitsmittel  bleiben  seine  gehorsamen  Diener. 

In  der  kapitalistischen  Produktion  wird  das  Verhältnis  zwischen 
dem  Menschen    und   den  Arbeitsmitteln    von  Grund   aus  umgestaltet. 


—      15      — 

Der  Leiter  der  kapitalistischen  Unternehmung  ist  nicht  der  Arbeiter, 
welcher  mit  seinen  Arbeitsmitteln  arbeitet,  sondern  der  Kapitalist, 
welcher  an  der  unmittelbaren  Arbeit  keinen  Anteil  nimmt.  Vom 
Standpunkte  des  kapitalistischen  Unternehmers  aus  ist  der  Arbeiter 
ganz  ebenso  ein  Produktionsmittel  wie  das  Instrument  in  den  Händen 
dieses  Arbeiters  oder  wie  die  Maschine,  deren  lebendes  Anhängsel 
der  Arbeiter  ist.  Der  Arbeiter  und  die  Maschine  sind  in  gleichem 
Masse  Kapital.  Die  Unterhaltung  des  Lebens  des  Arbeiters  ist  eine 
der  notwendigen  Bedingungen  des  Produktionsprozesses,  ebenso  wie 
das  Einwerfen  von  Kohlen  in  den  Ofen  nötig  ist,  damit  die  Maschine 
nicht  still  steht.  Aber  wie  das  Anschaffen  von  Heizungsmaterial  für 
die  Maschinen  nicht  der  Zweck  der  kapitalistischen  Produktion  ist, 
ebenso  ist  auch  die  Herstellung  der  Lebensmittel  der  Arbeiterklasse 
nicht  der  Zweck  der  kapitalistischen  Produktion. 

Eines  der  grössten  Verdienste  von  Marx  besteht  in  dem  Hin- 
weise auf  den  „Fetischcharakter"  der  Ware.  Der  tiefste  Unterschied 
der  Warenwirtschaft  von  jeder  anderen  besteht  eben  in  diesem 
Fetischcharakter  der  Waren  weit.  Die  Warenwirtschaft  beruht  auf 
der  gesellschaftlichen  Arbeitsteilung,  und  der  Zusammenhang  zwischen 
den  einzelnen  Produzenten  wird  in  ihr  nicht  zerrissen:  auch  in  der 
Warenwirtschaft,  wie  in  der  Urgemeinde,  arbeitet  der  eine  für  den 
anderen.  Aber  als  Bindemittel  zwischen  den  einzelnen  Produzenten 
dient  in  der  Warenwirtschaft  die  Ware,  ein  Ding;  die  Verhältnisse 
der  Menschen  werden  durch  die  Verhältnisse  der  Dinge  verhüllt, 
oder  vielmehr  in  Dingen  ausgedrückt,  verdinglicht.  Infolgedessen, 
werden  die  Dinge  gleichfalls  vergeistigt,  beginnen  gleichsam  ein  be- 
wusstes  Leben  zu  führen.  Die  Ware  steigt  und  sinkt  im  Preise  ganz 
unabhängig  von  dem  Willen  der  einzelnen  Produzenten,  deren  Arbeits- 
produkt diese  Ware  bildet  —  als  ob  diese  Ware  ein  selbständiges 
und  zwar  mit  Willen  begabtes  Wesen  wäre.  Die  toten  Produkte  des 
Menschen  werden  seine  eigenen  Gebieter.  Die  Verkörperung  dieses 
Fetischismus,  dieser  Verdinglichung  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse, 
welche  den  Menschen  beherrschen,  ist  der  Markt.  Die  Macht  des 
Marktes  ist  die  Macht  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse  des  Menschen, 
welche  die  Form  von  dinglichen  Waren  Verhältnissen  angenommen 
haben. 

Die  kapitalistische  Wirtschaft  geht  noch  weiter  in  der  Identi- 
fizierung der  Dinge  und  des  Menschen.  Der  Warenaustausch  hat 
das  Ding  gleichsam  zu  einem  lebenden  und  zwar  höheren  Wesen 
gemacht:  die  kapitalistische  Produktion '  verwandelt  den  Menschen 
gleichsam  in  ein  Ding.     Die  Arbeitskraft  des  Menschen,  mit  anderen 


—  Тб  ~ 

Worten  der  Mensch  selbst  wird  zu  einer  Ware,  die  auf  dem  Markte 
ganz  ebenso  gekauft  und  verkauft  wird  wie  ein  beliebiges  Produkt 
der  menschlichen  Arbeit.  Der  Arbeiter  verwandelt  sich  gleichsam 
in  ein  lebendes  Arbeitsmittel  —  in  ein  mit  Sprache  begabtes  Werk- 
zeug. Diese  Gleichartigkeit  und  Gleichwertigkeit  des  Menschen  und 
der  Maschine  in  der  kapitalistischen  Produktion  kommt  mit  voller 
Klarheit  darin  zum  Vorschein,  dass  die  Maschine  den  Arbeiter  ersetzt. 
Jede  Erhöhung  der  Löhne  wird  mit  einer  Erweiterung  der  Maschinen- 
anwendung begleitet.  Der  Arbeiter  begegnet  überall,  als  seinem 
stärksten  und  gefährlichsten  Konkurrenten,  seinem  eigenen  Arbeits- 
produkte, der  Maschine.  Der  Kapitalismus  verwandelt  den  Menschen 
aus  einem  Selbstzweck  in  ein  einfaches  Produktionsmittel.  Dies  ist 
übrigens  dem  Kapitalismus  gemeinsam  mit  anderen  Produktionsweisen, 
welche  auf  Aneignung  des  Mehrproduktes  durch  gesellschaftliche 
Klassen,  die  an  der  produktiven  Thätigkeit  nicht  teilnehmen,  beruhen, 
wie  die  Sklaven-  und  feudale  Wirtschaft. 

Diese  Eigentümlichkeit  der  kapitalistischen  Produktion  hat  Marx 
treffend  gekennzeichnet,  indem  er  die  lebendige  Arbeitskraft  unter 
die  Kategorie  des  Kapitals  subsumierte.  Und  in  der  That  ist  der 
Lohnarbeiter  nichts  anderes  als  eine  der  Unterarten  des  Kapitals. 
Nur  ein  Teil  der  gesamten  Volkskonsumtion  ist  in  der  kapitalistischen 
Wirtschaft  der  unmittelbare  Zweck  der  Produktion  und  nicht  ein 
Mittel  für  dieselbe,  und  das  ist  die  Konsumtion  der  Klassen,  welche 
sich  das  Mehrprodukt  aneignen. 

Der  Zusammenhang  zwischen  der  nationalen  Konsumtion  und 
der  nationalen  Produktion  erhält  also  in  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft einen  ganz  neuen  Charakter.  Der  Weizen,  welchen  die  Arbeiter 
nötig  haben,  der  Hafer,  welcher  als  Futter  für  die  Pferde  dient,  Stein- 
kohle, welche  für  die  Heizung  der  Maschinen  notwendig  ist,  dies 
alles  sind  im  Prozesse  der  kapitalistischen  Produktion  Gegenstände 
einer  und  derselben  Kategorie,  Gegenstände,  welche  für  die  Pro- 
duktion unvermeidlich  sind  und  nur  aus  diesem  Grunde  hergestellt 
werden. 

Wenn  vereinigte  technische  und  ökonomische  Rücksichten  die 
Maschinen  zu  vorteilhafteren  Produktionsmitteln  als  die  Arbeiter 
machen,  so  werden  die  Arbeiter  durch  Maschinen  ersetzt  und  statt 
Konsumtionsmittel  für  Menschen  wird  Heizungsmaterial  für  die  Ma- 
schinen produziert.  Die  Konsumtionsmittel  des  Arbeiters  werden 
in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  nur  insofern  erzeugt,  als  der  Arbeiter 
in  seiner  Eigenschaft  als  subjektiver  Faktor  der  Produktion  unent- 
behrlich ist. 


—       17      - 

Aber  ist  denn  nicht  für  die  Verwertung  des  Kapitals  ein  Markt 
notwendig,  und  wird  also  der  Absatz  der  Waren  auch  in  der  kapita- 
listischen Wirtschaft  schliesslich  nicht  durch  den  Umfang  der  natio- 
nalen Konsumtion  bedingt?  Ist  etwa  die  Realisation  des  gesellschaft- 
lichen Produktes,  also  die  Verwertung  des  Kapitals  möglich,  wenn 
die  nationale  Produktion  schneller  wächst  als  die  nationale  Kon- 
sumtion? Werden  daher  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft,  wie  auch 
in  jeder  anderen,  die  Schranken  der  gesellschaftlichen  Produktion 
nicht  durch  die  gesellschaftliche  Konsumtion  bestimmt?  Alle  diese 
Fragen  entstehen  ganz  natürlich  und  scheinen  in  sich  die  gänzliche 
Widerlegimg  der  oben  angeführten  Erwägungen  einzuschliessen.  Und 
doch  bleiben  diese  letzteren  vollkommen  richtig.  So  gehen  wir  denn 
nunmehr  über  zur  Analyse  des  Prozesses  der  Reproduktion  des  ge- 
sellschaftlichen Kapitals  in  seinem  Gesamtumfange. 

Die  Verwertung  des  gesellschafthchen  Kapitals  findet  durch  die 
Vermittelung  des  Geldes  statt.  Die  Waren  müssen  verkauft  werden, 
um  sich  in  neue  Waren  zu  verwandeln.  Aber  bei  der  abstrakten 
Analyse  der  gesellschaftlichen  Reproduktion  des  Kapitals  können  wir 
von  der  Rolle  des  Geldes  in  dieser  Reproduktion  vollkommen  ab- 
sehen. Damit  leugnen  wir  durchaus  nicht,  dass  die  Unterbrechungen 
der  Geldcirkulation  Störungen  im  Prozesse  der  Reproduktion  des 
gesellschaftlichen  Kapitals  hervorrufen.  Es  ist  aber  augenblicklich 
nicht  unsere  Aufgabe,  diese  Unterbrechungen  zu  untersuchen.  Inso- 
fern das  Geld  nur  eine  Vermittlerrolle  beim  Austausche  spielt,  werden 
Produkte  mit  Produkten  gekauft.  Von  dieser  Annahme  werden 
wir  in  der  folgenden  Analyse  ausgehen. 

Die  gesellschaftliche  Reproduktion  des  Kapitals  besteht  in  der 
technischen  Reproduktion  der  verschiedenen  Elemente  des  Kapitals 
in  ihrer  stofflichen  Form  und  in  der  Ersetzung  der  einen  von  ihnen 
durch  die  anderen  im  Akte  des  Austausches.  Als  Resultat  dieser 
Reproduktion  und  des  Austausches  wird  das  gesellschafthche  Kapital 
verwertet  und  zugleich  der  Profit  des  Kapitalisten  (genauer  gesagt, 
alle  Einkommen,  welche  nicht  auf  Arbeit  beruhen  —  die  Rente  nach 
der  Terminologie  von  Rodbertus)  realisiert. 

Die  nachfolgenden  Schemata  beziehen  sich  auf  die  Reproduktion 
des  gesellschaftlichen  Kapitals  in  Fällen  seiner  Reproduktion  auf 
gleichbleibender,  sowie  auch  auf  erweiterter  Stufenleiter  (Akku- 
mulation des  Kapitals).  In  dem  Schema  No.  I  ist  der  erste  Fall  dar- 
gestellt. 


Tugan-Baranowsky,  Die  Handelskrispii. 


Schema  No.  I. 

Die  einfache  Reproduktion  des  gesellschaftlichen  Kapitals. 

Erste  Abteilung. 
Die  Produktion  der  Produktionsmittel. 
720^,  -f-  ЗбОа  +  Збо^  =   I440. 

Zweite  Abteilung. 
Die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 

360^,   -j-    iSOa    -\-    iSOr    =    720. 

Dritte  Abteilung. 
Die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 

360^,    -\-     iSOa     +     180^     =    720. 

Dieses  Schema  (welches  nach  dem  Muster  der  bekannten 
Marx'schen  Schemata  im  II.  Band  des  „Kapitals"  konstruiert  ist)  soll 
veranschaulichen,  wie  die  kapitalistische  Produktion  in  dem  Falle  ein- 
geteilt wird,  wenn  das  gesamte  Mehrprodukt  in  den  Konsum  der 
Kapitalisten  eingeht.  Das  erste  Glied  jeder  dieser  dreigliedrigen 
Summen  bezieht  sich  auf  den  Wert  der  Produktionsmittel,  welche  in 
der  betreffenden  Produktionsabteilung  angewendet  werden  (in  Mil- 
lionen Pfund,  Mark,  Francs  u.  s.  f.);  das  zweite  —  auf  den  Wert  der 
Arbeitslöhne  der  betreffenden  Arbeiter,  das  dritte  —  auf  den  Wert 
des  Mehrproduktes  (die  Rente,  im  Sinne  von  Rodbertus,  die  wir  der 
Einfachheit  halber  mit  dem  Profit  der  Kapitalisten  identifizieren)  i).  In 
allen  drei  Summen  ist  dasselbe  Verhältnis  des  Wertes  der  Produk- 
tionsmittel zu  den  Arbeitslöhnen  und  zum  Profit  angenommen.  Die 
erste  Abteilung  bringt  die  Produktion  der  Produktionsmittel,  die  zweite 
die  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter  und  die  dritte  die  der  Kapi- 
talisten (genauer,  aller  Klassen,  welche  am  Mehrprodukt  teilhaben) 
zum  Ausdruck.  Die  absoluten  Zahlen  sind  ganz  willkürlich  ge- 
nommen, sie  haben  für  uns  gar  keine  Bedeutung.  Vom  Unterschied 
des  stehenden  und  des  umlaufenden  Kapitals  ist  der  Einfachheit  halber 
nach  dem  Marx'schen  Vorgang  im  Schema  ganz  abgesehen  worden. 


i)  Ich  gebrauche  nicht  die  übliche  Marx  sehe  Terminologie  (konstantes  Kapital,  va- 
riables Kapital,  Mehrwert),  da  ich  nicht  auf  dem  Boden  der  Mehrwerttheorie  von  Marx 
stehe.  Nach  meiner  Ansicht  besteht  in  der  Schaffung  des  Mehrproduktes  —  also  der 
Rente  —  gar  kein  Unterschied  zwischen  der  menschlichen  Arbeitskraft  und  den  toten 
Arbeitsmitteln,  Die  Maschine  darf  man  mit  demselben  Rechte  wie  die  menschliche 
Arbeitskraft  als  variables  Kapital  bezeichnen,  da  beide  Mehrprodukt  erzeugen.  Darüber 
siehe  meine  russischen  Artikel:  „Der  fundamentale  Irrtum  der  abstrakten  Theorie  des  Ka- 
pitalismus von  Marx"  und  „Das  Wertgesetz  und  die  Profitrate"  (Russische  Zeitschrift 
„AVissenschaftliche.  Rundschau",   1889  Mai  und   1900  März).     Auch  unten  Kapitel  VII. 


—  IQ         — 

Während  thatsächlich  nur  ein  Teil  der  Produktionsmittel  in  einem 
Jahre  verbraucht  wird  und  in  natura  ersetzt  werden  muss,  haben 
wir  angenommen,  dass  die  Produktionsmittel  im  Laufe  einer  Pro- 
duktionsperiode ganz  verbraucht  und  ganz  ersetzt  werden,  mit  anderen 
Worten,  dass  die  gesamten  Produktionsmittel  sich  ebenso  umsetzen 
wie  das  umlaufende  Kapital 

Die  dritte  Abteilung  unseres  Schemas  bezieht  sich  auf  die  Pro- 
duktion der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten.  Wie  können  die 
Waren  dieser  Art  (im  Werte  von  720)  auf  dem  Markte  realisiert 
werden?  Das  Schema  giebt  darauf  eine  klare  Antwort.  Ein  Viertel 
dieser  Waren  wird  von  den  Kapitalisten  dieser  Abteilung  selbst  kon- 
sumiert werden  (180);  ein  ebenso  grosser  Teil  wird  von  den  Kapita- 
listen der  zweiten  Abteilung  (deren  Profit  auch  gleich  180  ist)  ver- 
braucht werden;  den  übrigen  Teil  konsumieren  die  Kapitalisten  der 
ersten  Abteilung  (deren  Profit  beträgt  360).  Im  Austausch  gegen  die 
von  ihnen  veräusserten  Produkte  werden  die  Kapitalisten  der  dritten 
Abteilung  für  360  Produktionsmittel  und  die  Arbeiter  derselben  Ab- 
teilung für  180  Konsumtionsmittel  erhalten.  In  dieser  Weise  vollzieht 
sich  die  Realisierung  aller  Waren  der  dritten  Abteilung. 

Die  Waren  der  zweiten  Abteilung  (Konsumtionsmittel  der  Ar- 
beiter, auch  im  Werte  von  720)  werden  in  der  folgenden  Weise  rea- 
lisiert: ein  Viertel  dieser  Waren  (180)  wird  innerhalb  der- 
selben Abteilung  von  den  in  ihr  beschäftigten  Arbeiter  konsumiert 
werden;  ein  anderes  Viertel  (180)  geht  in  den  Konsum  der  Arbeiter 
der  dritten  Abteilung  und  die  Hälfte  (360)  in  den  Konsum  der 
Arbeiter  der  ersten  Abteilung  über.  Im  Austausch  dafür  erhalten 
die  Kapitalisten  der  zweiten  Abteilung  für  180  Gegenstände  ihrer 
Konsumtion  und  für  360  Produktionsmittel. 

Von  den  Waren  der  ersten  Abteilung  (den  Produktionsmitteln), 
deren  Wert  1440  beträgt,  wird  die  Hälfte  (720)  in  derselben  Ab- 
teilung verbraucht;  ein  Viertel  (360)  wird  für  die  Produktion  der 
zweiten  Abteilung  und  ein  Viertel  (360)  für  die  Produktion  der 
dritten  Abteilung  verlangt.  In  Austausch  dafür  erhalten  die  Kapi- 
talisten der  ersten  Abteilung  für  360  Gegenstände  ihrer  Konsumtion 
und  die  Arbeiter  derselben  Abteilung  für  360  ihre  Lebensmittel. 

Die  Nachfrage  nach  allen  Waren  ist  dem  Angebot  gleich.  Der 
Wert  der  geschaffenen  Produktionsmittel  —  1440  —  ist  gleich  dem 
Wert  der  Produktionsmittel,  die  für  die  Erneuerung  der  gesamten 
gesellschaftlichen  Produktion  auf  gleichbleibender  Stufenleiter  (720 
^  360  -|~  360)  erheischt  werden.  Der  Wert  der  Konsumtions- 
mittel   der    Arbeiter    —    720    —    ist    der    Summe    der    Arbeitslöhne 

2* 


20 


(збо  -f-  i8o  -|-  i8o)  und  der  Wert  der  Konsumtiosmittel  der  Kapitalisten 
—  auch  720  —  der  Summe  des  Profites  (360  +  180  -|-  180)  gleich. 
Die  Waren  jeder  Abteilung  werden  zum  Teil  innerhalb  derselben 
Abteilung  ausgetauscht  und  verbraucht,  zum  Teil  gelangen  sie  in 
Austausch  mit  den  Waren  der  beiden  anderen  Abteilungen. 

Bei  der  Betrachtung  dieses  Schemas  muss  besonders  betont  werden, 
dass  die  Produktionsmittel  neben  und  gleichzeitig  mit  den  Konsumtions- 
mitteln der  Arbeiter  und  der  Kapitalisten  produziert  und  auf  dem 
Markte  umgesetzt  werden.  Es  scheint  dies  ohne  weiteres  ganz  selbst- 
verständlich zu  sein;  doch  wurde  vor  Marx  bei  der  Analyse  des  Pro- 
zesses der  gesellschaftlichen  Reproduktion  des  Kapitals  gerade  da- 
durch am  meisten  gefehlt,  dass  die  Bedeutung  der  Produktionsmittel, 
als  eines  notwendigen  Bestandteils  des  gesellschaftlichen  Produktes, 
unbeachtet  geblieben  wurde.  Die  gesamte  klassische  Schule  der  National- 
ökonomie —  von  Adam  vSmith  bis  J.  S.  Mill  —  ging  bei  dieser  Analyse 
von  der  ganz  unhaltbaren  Voraussetzung  aus,  dass  der  Wert  des 
jährlichen  Warenprodukts  sich  nur  in  Arbeitslohn,  Profit  und  Rente 
auflöst.  Der  Wert  der  Produktionsmittel  fällt  bei  dieser  Voraus- 
setzung volkommen  weg.  Mit  vollem  Recht  hat  Marx  diese  Doktrin 
als  eine  „erstaunliche"  bezeichnet.  Dieselbe  höchst  verkehrte  Annahme 
ist  die  Hauptursache  aller  Unklarheiten  und  der  unentwirrbaren  Kon- 
fusion in  der  Kontroverse  Ricardo's,  der  beiden  Mills,  J.  B.  Say  mit 
Malthus,  Chalmers  und  Sismondi  über  die  Möglichkeit  einer  allge- 
meinen Warenüberproduktion  gewesen.  Also  darf  man  bei  der  Ana- 
lyse der  gesellschaftlichen  Reproduktion  des  Kapitals  keinesfalls 
ausser  acht  lassen,  dass  das  gesellschaftliche  Kapital  nicht  nur  für 
die  Herstellung  von  Konsumtionsmitteln,  sondern  auch  von  Produk- 
tionsmitteln verwendet  wird.  Wir  werden  unten  noch  Gelegenheit 
haben,  auf  diesen  Punkt  zurückzukommen. 

Der  von  uns  betrachtete  Fall  der  einfachen  Reproduktion  des 
gesellschaftlichen  Kapitals  ist  sehr  einfach  und  bietet  keine  Schwierig- 
keiten: wenn  der  gesamte  Profit  in  den  Konsum  der  Kapitalisten 
übergeht,  so  ist  es  leicht  zu  begreifen,  dass  bei  einer  proportionellen 
Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  die  Nachfrage  nach  allen 
Waren  mit  deren  Angebot  übereinstimmen  muss.  Viel  verwickelter 
ist  der  andere  Fall  —  der  der  Akkumulation  von  Kapital.  Nehmen 
wir  an,  dass  die  Kapitalisten  ihren  gesamten  Profit  zu  konsumieren 
aufhören,  etwa  weil  sie  durch  die  Konkurrenzverhältnisse  genötigt 
sind,  einen  Teil  desselben  zu  kapitalisieren.  Wird  in  diesem  Falle 
nicht  das  gesellschaftliche  Warenangebot  die  gesellschaftliche  Waren- 
nachfrage überholen? 


—  2  1  

Wir  können  nicht  unterstellen,  dass  die  Kapitalisten  den  von 
ihnen  selbst  nicht  verbrauchten  Teil  des  Profites  als  einen  Schatz 
aufbewahren,  in  ihrem  Geldschrank  einfach  unterbringen.  Wir  gehen 
von  der  Voraussetzung  aus,  dass  die  Kapitalisten  bestrebt  sind,  den 
ihrer  eigenen  Konsumtion  entzogenen  Teil  des  Profites  zu  kapitali- 
sieren, um  daraus  neuen  Profit  herauszuschlagen.  Unsere  Aufgabe 
лvird  darin  bestehen,  schematisch  eine  solche  Einteilung  der  gesell- 
schaftlichen Produktion  darzustellen,  bei  welcher  dieses  Streben  zu 
seiner  vollen  Verwirklichung  gelangt. 

Das  unten  folgende  Schema  stellt  die  Akkumulation  des  gesell- 
schaftlichen Kapitals  dar  unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Hälfte 
des  Profites  beständig  kapitalisiert  wird. 

Schema  No.  II. 

Die    Reproduktion    des    gesellschaftlichen    Kapitals    auf    erweiterter 
Stufenleiter  (die  Akkumulation  des  Kapitals). 

Das  erste  Jahr. 

Erste  Abteilung. 
Die  Produktion  der  Produktionsmittel. 

84OJ5  -|-  42ОД  -[~  420r  =  1680. 

Zweite  Abteilung. 

Die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 

420^,  -\-  2iOa  -\-  2iOr  =^  840. 

Dritte  Abteilung. 

Die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 

i8o^,  -|-  goa  +  QOr  =  360. 

Das  zweite  Jahr. 

Erste  Abteilung. 

Die  Produktion  der  Produktionsmittel. 
980J,  -[-  490^  -\-  490^  =  i960. 

Zweite  Abteilung. 

Die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 
490^,  +  245«  -f  245^  =  980. 

Dritte  Abteilung. 

Die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 

2  10^,  -}-  105«  -f-  105^  =  420. 

Das  dritte  Jahr. 

Erste  Abteilung. 
Die  Produktion  der  Produktionsmittel. 

ii43V3i>  +  571'/за  +  57^Узг  =  2286  Vs- 


22 


Zweite  Abteilung. 
Die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 

SyiVsi^  +  -85V6«  +  285V6,  =  11437з- 

Dritte  Abteilung. 

Die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 

245^    -|-    122^1  ^_a   +    122 1/2;,   =    490. 

Im  ersten  Schema  war  die  Reproduktion  des  Kapitals  bei  der 
Voraussetzung  dargestellt,  dass  die  Kapitalisten  ihren  gesamten 
Profit  konsumieren.  Nehmen  wir  jetzt  an,  dass  die  Konkurrenzver- 
hältnisse die  Kapitalisten  nötigen,  nur  die  Hälfte  ihres  Profites  für 
ihre  persönliche  Konsumtion  zu  verausgaben  und  den  übrigen  Teil 
desselben  zu  kapitalisieren.  Bleibt  der  ersparte  Teil  des  Kapitals 
unverwendet  liegen,  so  wird  er  keinen  Profit  bringen.  Um  einen 
Gewinn  von  seinen  Ersparnissen  zu  haben,  muss  der  Kapitalist  sie 
auch  verwenden,  aber  nicht  für  seine  persönliche  Konsumtion,  sondern 
produktiv  —  für  die  Erweiterung  der  Produktion.  Wenn  aber  die 
gesellschaftliche  Produktion  in  allen  Produktionszweigen  gleichmässig 
angewachsen  wäre,  so  hätten  die  Kapitalisten  gleichmässig  ihren 
Zweck  —  die  Akkumulation  von  Kapital  und  die  Vermehrung  ihrer 
Profite  —  nicht  erreicht,  da  ein  bedeutender  Teil  der  produzierten 
Waren  niemand  nötig  wäre:  nämlich  der  grösste  Teil  der  Gegenstände 
der  eigenen  Konsumtion  der  Kapitalisten.  Der  grösste  Teil  dieser 
Waren  würde  unverkauft  bleiben,  da  die  Nachfrage  nach  solchen, 
unserer  Voraussetzung  gemäss,  eingeschränkt  worden  ist.  Zugleich 
würden  die  Waren,  nach  welchen  eine  erhöhte  Nachfrage  entstanden 
ist  (die  Produktionsmittel  und  die  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter) 
in  ungenügender  Menge  auf  dem  Markte  vorhanden  sein.  Also 
können  die  Kapitalisten  den  Profit  nur  auf  einem  Wege  kapitalisieren : 
durch  Veränderung  der  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion. 
Das  ist  durchaus  keine  leichte  Sache,  aber  uns  interessiert  hier  nicht 
der  Prozess  dieser  Veränderung  selbst,  sondern  seine  Resultate.  Das 
Schema  N0.  II  stellt  eine  solche  Einteilung  der  gesellschaftlichen 
Produktion  dar,  bei  welcher  das  Streben  der  Kapitalisten,  die  Hälfte 
ihres  Profites  zu  kapitalisieren,  vollauf  verwirklicht  werden  kann. 

In  diesem  Schema  ist  der  Gesamtwert  des  gesellschaftlichen 
Produktes  im  ersten  Jahre  eben  so  hoch  angenommen  wie  im  Schema 
N0.  I  (2880);  der  Wert  des  gesamten  vorgeschossenen  Kapitals  (der 
Produktionsmittel  und  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter)  —  bleibt 
auch  derselbe.  Das  Kapital  ist  das  Produkt  der  früheren  Produktion, 
dessen  Menge  als  eine  gegebene  betrachtet  werden  muss. 


-  23  — 

Ebenso  ist  im  Schema  No.  II  dasselbe  Verhältnis  des  Wertes 
der  Produktionsmittel  zu  dem  der  Arbeitslöhne  und  zum  Profit  an- 
genommen wie  im  Schema  No.  I. 

Der  einzige  Unterschied  des  Schemas  No.  II  (das  erste  Jahr) 
vom  ersten  Schema  besteht  in  einer  anderen  Einteilung  der  gesell- 
schaftlichen Produktion.  Im  Schema  No.  I  war  die  gesellschaftliche 
Produktion  in  der  Weise  eingeteilt,  dass  das  Kapital  nicht  anwuchs 
und  das  Mehrprodukt  ganz  und  völlig  in  den  persönlichen  Konsum 
der  Kapitalisten  überging.  Im  Schema  No.  II  wird  die  Akkumulation 
des  Kapitals  durch  die  gesellschaftliche  Einteilung  der  Produktion 
selbst  erheischt. 

Die  Gesamtsumme  des  Profits  im  ersten  Jahre  bleibt  in  Schema 
No.  II  dieselbe  wie  im  Schema  No.  I,  nämlich  420 -|- 210 -|- 90  ^  720. 
Aber  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten  sind  nur  360  produziert 
worden,  also  im  Vergleich  mit  dem  Schema  N0.  I  zweimal  weniger. 
Dafür  sind  andere  Produkte  in  grösserer  Menge  hergestellt  worden, 
und  zwar  die  Produktionsmittel  um  240  und  die  Konsumtionsmittel 
um  120  mehr.  Es  ist  unsere  Aufgabe,  klarzulegen,  wieso  das  neu 
akkumulierte  Kapital  produktiv  verwendet  werden  kann,  obwohl  die 
Nachfrage  nach  den  Konsumtionsmitteln  der  Kapitalisten  zweimal 
geringer  geworden  ist. 

Dieses  neu  akkumulierte  Kapital  wird  für  die  Erweiterung  der 
Produktion  im  zweiten  Jahre  verwendet  werden.  Die  Nachfrage 
nach  den  Produktionsmitteln  im  zweiten  Jahre  übertrifft  um  240  die- 
selbe Nachfrage  des  ersten  Jahres  (zur  Produktion  des  ersten  Jahres 
wurden  die  Produktionsmittel  im  Werte  von  840 -|- 420-}-  180=  1440 
erforderlich,  für  die  Produktion  des  zweiten  Jahres  werden  sie  aber  im 
Werte  von  980  -|-  490  -|-  2 10  =  1680  erheischt);  die  Nachfrage  nach  den 
Konsumtionsmitteln  der  Arbeiter  ist  im  zweiten  Jahre  um  120  grösser 
als  im  ersten  (die  Arbeitslöhne  des  ersten  Jahres:  420 ~\-  2io-\-go  =  jzo; 
die  des  zweiten  Jahres:  490  -(-  245  -(-  105  =  840).  Also  werden  die  über- 
schüssigen Produktionsmittel  und  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter  des 
ersten  Jahres  von  der  Produktion  des  zweiten  Jahres  verschlungen  werden. 
Die  Realisation  der  im  Laufe  des  ersten  Jahres  hergestellten  Produkte 
wird  sich  in  der  folgenden  Weise  vollziehen.  Der  Konsumtionsmittel 
der  Kapitalisten  (dritte  Abteilung)  sind  360  erzeugt.  Unserer  Vor- 
aussetzung gemäss  konsumieren  die  Kapitalisten  nur  die  Hälfte  ihres 
Profits.  Da  der  Profit  der  Kapitalisten  der  ersten  x\bteilung  im 
ersten  Jahre  gleich  420  ist,  so  wird  folglich  ihre  Nachfrage  nach 
Konsumtionsmitteln  mit  210  sich  beziffern,  die  Nachfrage  nach  Kon- 
sumtionsmitteln   der    Kapitalisten    der    zweiten    Abteilung  wird     105, 


—        24        — 

die  der  dritten  Abteilung  45  betragen.  Die  Gesamtsumme  der  Nach- 
frage beträgt  360,  d.  h. -sie  deckt  vollständig  das  Angebot  dieser 
Produkte.  Lebensmittel  der  Arbeiter  sind  im  ersten  Jahre  im  Be- 
trage von  840  produziert.  Für  die  erweiterte  Produktion  des  zweiten 
Jahres  sind  Waren  dieser  Art  erforderlich:  für  die  erste  Abteilung 
im  Betrage  von  490,  für  die  zweite  von  245  und  für  die  dritte  von  105, 
d.  h.  wieder  im  Betrage  des  Angebots.  Ebenso  ist  die  Nachfrage 
nach  Produktionsmitteln  für  die  Produktion  des  zweiten  Jahres  (980 
die  Produktion  der  ersten  Abteilung,  490  die  der  zweiten  und  210 
die  der  dritten)  dem  Werte  der  im  ersten  Jahre  erzeugten  Produktions- 
mittel gleich  (1680).  In  dieser  Weise  haben  alle  Produkte  des  ersten 
Jahres  im  zweiten  Jahre  einen  Absatz  gefunden. 

Aber  zu  welchem  Zwecke  dient  die  erweiterte  Produktion  des 
zweiten  Jahres?  Haben  wir  das  Recht,  anzunehmen,  dass  die  Nach- 
frage nach  Produktionsmitteln  und  nach  Lebensmitteln  der  Arbeiter 
im  zweiten  Jahre  grösser  ist  als  im  ersten?  Wir  gehen  wie  früher 
von  der  Voraussetzung  aus,  dass  die  Kapitalisten  die  Hälfte  ihres 
Profites  (im  zweiten  Jahre  wie  im  ersten)  nicht  persönlich  konsumieren, 
sondern  in  Kapital  verwandeln.  Die  Einteilung  der  gesellschaftlichen 
Produktion  im  zweiten  Jahre  ist  eine  solche,  dass  die  Hälfte  des 
Profits  wieder  akkumuliert  wird.  Die  Nachfrage  nach  den  Produkten 
des  zweiten  Jahres  entsteht  aus  der  erweiterten  Produktion  des  dritten 
Jahres. 

Am  Ende  des  zweiten  Jahres  wurden  für  i960  Produktionsmittel, 
für  980  Lebensmittel  der  Arbeiter  und  für  420  Konsumtionsmittel 
der  Kapitalisten  hergestellt.  Sehen  wir  nun,  wie  diese  Produkte  rea- 
lisiert werden  können. 

Der  Gesamtprofit  beträgt  im  zweiten  Jahre  840  (490  -J-  245  -f- 
105).  Unserer  Unterstellung  gemäss  verausgaben  die  Kapitalisten 
die  Hälfte  dieses  Profites  für  ihre  Konsumtion.  Also  ist  ein  Markt 
für  die  im  zweiten  Jahre  produzierten  Konsumtionsmittel  der  Kapita- 
listen im  Werte  von  420  gefunden.  Die  Produktionsmittel  der  er- 
Aveiterten  Produktion  der  dritten  Jahres  (1143V3  -\-  571'Уз  -|-  245) 
sind  i960,  gleich  dem  Werte  der  im  zweiten  Jahre  geschaffenen  Pro- 
duktionsmittel; die  Arbeitslöhne  des  dritten  Jahres  (571V3  ~h  ^^sVe 
-|-  12272)  sind  980,  gleich  den  im  zweiten  Jahre  erzeugten  Lebens- 
mitteln der  Arbeiter.  Also  realisieren  sich  alle  Produkte  des  zweiten 
Jahres  im  dritten  Jahre  —  der  Markt  für  sie  wird  durch  die  erwei- 
terte Produktion  des  dritten  Jahres  geschaffen. 

Es  wird  nun  m.  E.  nicht  nötig  sein,  mit  dieser  Analyse 
der  Einteilung  der   gesellschaftlichen    Produktion    im    vierten    fünften 


—      25       — 

und  den  folgenden  Jahren  fortzufahren.  Die  angeführten  Schemata 
mussten  zur  Evidenz  den  an  sich  sehr  einfachen  Grundsatz  beweisen, 
welcher  aber  bei  ungenügendem  Verständnis  des  Prozesses  der  Re- 
produktion des  gesellschaftlichen  Kapitals  leicht  Einwände  hervorruft, 
nämlich  den  Grundsatz,  dass  die  kapitalistische  Produktion  für  sich  selbst 
einen  Markt  schafft.  Ist  es  nur  möglich,  die  gesellschaftliche  Pro- 
duktion zu  erweitern,  reichen  die  Produktivkräfte  dazu  aus,  so  muss 
bei  der  proportionellen  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion 
auch  die  Nachfrage  eine  entsprechende  Erweiterung  erfahren,  denn 
unter  diesen  Bedingungen  repräsentiert  jede  neuproduzierte  Ware 
eine  neuerschienene  Kaufkraft  für  die  Erwerbung  anderer  Waren. 

Aus  der  Vergleichung  der  einfachen  Reproduktion  des  gesell- 
schaftlichen Kapitals  mit  dessen  Reproduktion  auf  erweiterter  Stufen- 
leiter kann  man  den  höchst  wichtigen  Schluss  ziehen,  dass  in  der 
kapitalistischen  Wirtschaft  die  Nachfrage  nach  Waren  vom  Gesamt- 
umfang der  gesellschaftlichen  Konsumtion  in  einem  gewissen  Sinne 
unabhängig  ist:  es  kann  der  Gesamtumfang  der  gesellschaftlichen 
Konsumtion  zurückgehen  und  zugleich  die  gesamte  gesellschaftliche 
Nachfrage  nach  Waren  wachsen,  wie  absurd  das  auch  vom  Stand- 
punkte des  „gesunden  Menschenverstandes"  erscheinen  mag.  Die 
Akkumulation  von  gesellschaftlichem  Kapital  führt  zu  einer  Ein- 
schränkung der  gesellschaftlichen  Nachfrage  nach  Konsumtionsmitteln 
und  zugleich  zu  einer  Erhöhung  der  gesamten  gesellschaftlichen 
Nachfrage  nach  Waren.  So  hatte  die  gesellschaftliche  Nachfrage  nach 
Konsumtionsmitteln,  bei  Reproduktion  des  Kapitals  auf  gleichbleibender 
Stufenleiter,  im  Schema  No.  I  1440  (720  die  Konsumtion  der  Ar- 
beiter und  720  die  Konsumtion  der  Kapitalisten)  und  die  Nachfrage 
nach  allen  Waren  2880  betragen.  Bei  der  Akkumulation  des  Ka- 
pitals (Schema  N0.  II)  sind  im  zweiten  Jahre  Konsumtionsmittel  im 
Werte  von  1400  hergestellt  worden  (Konsumtionsmittel  der  Arbeiter 
im  Werte  von  980  und  die  der  Kapitalisten  im  Werte  von  420); 
der  Wert  der  gesamten  produzierten  Warenmasse  erreicht  aber  3360. 
Diese  ganze  Warenmasse  —  die  Konsumtions-  wie  die  Produktions- 
mittel —  sind,  wie  wir  gesehen  haben,  von  der  gesellschaftlichen 
Konsumtion  und  der  Produktion  des  dritten  Jahres  absorbiert  worden. 
Also  ist  die  gesamte  gesellschaftliche  Warenproduktion  im  Schema 
N0.  II  (das  zweite  Jahr)  im  Vergleich  mit  der  im  Schema  N0.  I  be- 
deutend angewachsen,  die  Produktion  der  Konsumtionsmittel  aber  ist 
gesunken,  ohne  dass  das  Gleichgewicht  zwischen  dem  Angebot  und 
der  Nachfrage  dadurch  zum  Mindesten*  gestört  wäre. 


—         2б         — 

Das  heisst  mit  anderen  Worten,  dass  der  Umfang  der  Nach- 
frage nach  den  Waren  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  durchaus 
nicht  durch  den  Umfang  der  Konsumtion  bestimmt  wird.  Nicht  die 
Konsumtion,  sondern  die  Produktion  ist  das  bestimmende  Moment 
in  der  kapitalistischen  Wirtschaft.  Der  kapitalistische  Unternehmer 
strebt  einen  möglichst  grossen  Profit  zu  realisieren,  nicht  aber  eine 
möglichst  grosse  Menge  von  Konsumtionsmitteln  zu  schaffen.  Zu- 
gleich erfordern  die  Gesetze  der  kapitalistischen  Konkurrenz  die  Ka- 
pitalisierung eines  bedeutenden  Teiles  dieses  Profites,  die  Verwand- 
lung desselben  in  grösserem  oder  geringerem  Masse  in  Produktions- 
mittel, welche  gar  nicht  in  den  menschlichen  Konsum  übergehen. 
Deshalb  kann  man  in  gewissem  Sinne  sagen,  dass  der  Zweck  der 
kapitalistischen  Produktion  nicht  in  der  Konsumtion,  sondern  im 
Wachstum  des  Kapitals  selbst  besteht. 

'v  Die  Akkumulation  des  Kapitals  vollzieht  sich  durch  Verwand- 
lung des  Profites  in  Produktionsmittel  und  Lebensmittel  der  Arbeiter. 
Aber  nichts  kann  irriger  sein  als  die  Vorstellung,  dass  der  Kapitalist, 
indem  er  den  Profit  kapitalisiert,  einfach  an  Stelle  seiner  Konsumtion 
die  der  Arbeiter  setze.  Von  dieser  Voraussetzung  ging  jedoch  die 
klassische  Schule  in  ihrer  Analyse  des  Prozesses  der  Akkumulation 
des  Kapitals  aus.  So  beweist  J.  St.  Mill  in  den  „Grundsätzen  der 
politischen  Oekonomie",  dass  eine  allgemeine  Waren  Überproduktion  aus 
dem  Grunde  unmöglich  ist,  weil  im  Falle  einer  Einschränkung  der 
Konsumtion  der  Kapitalisten  die  Konsumtion  der  Arbeiter,  infolge 
der  Akkumulation  des  Kapitals,  gerade  um  dieselbe  Summe  steigen 
und  die  gesamte  gesellschaftliche  Nachfrage  nach  Konsumtionsmitteln 
nicht  die  geringste  Veränderung  erfahren  würde:  die  Konsumtion  der 
Arbeiter  würde  an  Stelle  der  Konsumtion  der  Kapitalisten  treten, 
und  das  sei  alles. 

Der  Irrtum  von  Mill  entsprang  aus  dem  oben  angezeigten  ge- 
meinsamen Irrtum  der  klassischen  Schule,  welche  nicht  einzusehen 
vermochte,  dass  die  Produktionsmittel  ein  eben  so  notwendiger  Be- 
standteil des  gesellschaftlichen  Produktes  sind  wie  die  Konsum-, 
tionsmittel.  Der  Verzicht  der  Kapitalisten  auf  die  Konsumtion  eines 
Teiles  ihrer  Profite  vermehrt  in  der  That  die  Konsumtion  der  Ar- 
beiter, aber  durchaus  nicht  in  dem  Umfang,  in  welchem  die  Kon- 
sumtion der  Kapitalisten  eingeschränkt  worden  ist:  die  Gesamtsumme 
der  gesellschaftlichen  Konsumtion  vermindert  sich  dabei,  dafür  aber 
nimmt  die  Erzeugung  der  Produktionsmittel  zu.  In  unserem  Beispiel 
(vSchema  No.  II,  das  erste  Jahr)  hat  die  Verminderung  der  Konsum- 
tion der  Kapitalisten  um  360  (infolge  der  Kapitalisierung  der  Hälfte 


ihres  Profites)  eine  Erweiterung  der  Konsumtion  der  Arbeiter  um  nur 
I20  hervorg-erufen.  Um  die  übrige  Summe  hat  sich  die  Erzeugung 
der  Produktionsmittel  erweitert. 

Also  kann  die  Akkumulation  des  Kapitals  von  einem  absoluten 
\  Rückgang  der  gesellschaftlichen  Konsumtion  begleitet  w^erden.  Ein 
relativer  Rückgang  der  gesellschaftlichen  Konsumtion  —  im  Ver- 
hältnis zur  allgemeinen  Summe  des  gesellschaftUchen  Produktes  — 
ist  jedenfalls  unvermeidlich. 

In  den  oben  angeführten  Schematen  haben  wir  von  einem  Mo- 
ment, das  von  sehr  grosser  Bedeutung  ist,  abgesehen,  —  vom  tech- 
nischen Fortschritt.  Der  technische  Fortschritt  gelangt  darin  zum 
Ausdruck,  dass  die  Bedeutung  der  Arbeitsmittel,  der  Maschine  immer 
mehr,  im  Vergleich  mit  der  lebendigen  Arbeit,  dem  Arbeiter  selbst, 
zunimmt.  Die  Produktionsmittel  spielen  eine  immer  grössere  Rolle 
im  Produktionsprozesse  und  auf  dem  Warenmarkte.  Der  Arbeiter 
tritt  gegenüber  der  Maschine  in  den  Hintergrund,  und  zugleich  tritt 
in  den  Hintergrund  die  aus  der  Konsumtion  des  Arbeiters  ent- 
stehende Nachfrage  im  Vergleich  mit  der  Nachfrage,  welche  aus  der 
produktiven  Konsumtion  der  Produktionsmittel  entsteht.  Das  ganze 
Getriebe  der  kapitalistischen  Wirtschaft  nimmt  den  Charakter  eines 
gleichsam  für  sich  selbst  existierenden  Mechanismus  an,  in  welchem 
die  Konsumtion  des  Menschen  als  ein  einfaches  Moment  des  Pro- 
zesses der  Reproduktion  und  der  Cirkulation  des  Kapitals  erscheint  i). 

Der  Widerspruch  zwischen  der  Produktion  als  einem  Mittel, 
die  menschlichen  Bedürfnisse  zu  befriedigen,  und  der  Produktion  als 
einem  technischen  Momente  bei  der  Schaffung  des  Kapitals,  d.  h. 
als  Selbstzweck,   ist  der  fundamentale  Widerspruch  der  kapitalisti- 


i)  Die  im  Texte  entwickelte  Theorie  der  Realisation  des  gesellschaftlichen  Produktes 
in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  bildet  einen  Versuch  einer  Synthese  der  Lehren  der  klassi- 
schen Nationalökonomie  über  das  zwischen  der  Produktion  und  der  Konsumtion  obwaltende 
Verhältnis  und  der  Marx  sehen  Analyse  der  Reproduktion  des  gesellschaftlichen  Kapitals 
(im  zweiten  Bande  des  „Kapitals").  Die  Lehre  Say-James  und  John  Mill-Ricardo 
über  die  notwendige  Uebereinstimmung  des  Gesamtumfanges  der  Produktion  mit  dem  Ge- 
samtumfange der  Nachfrage  wird  von  den  meisten  neueren  Nationalökonomen  als  überwunden 
betrachtet.  So  legt  z.  B.  ein  so  hervorragender  Theoretiker  wie  W.  L  e  x  i  s  keinen  grossen 
Wert  auf  diese  Lehre.  Ich  meinerseits  behaupte  keinesfalls,  dass  alle  Einzelheiten  dieser 
Lehre  in  der  Fassung,  die  ihr  die  genannten  Nationalökonomen  —  von  den  optimistischen 
Schlussfolgerungen  ganz  zu  schweigen  —  gegeben  haben,  richtig  sind.  Trotzdem  halte  ich 
den  Kern  dieser  Theorie,  ihre  Hauptidee  —  nämlich,  dass  bei  einer  proportioneilen  Ein- 
teilung der  gesellschaftlichen  Produktion  das  Warengebot  mit  der  Nachtrage  übereinstimmen 
muss  —  nicht  nur  für  richtig,  sondern  sogar  für  anbestreitbar.  Alles,  was  gegen  diese  Idee 
eingewendet  worden  ist,  leidet,  meines  Erachtens,  am  mangelnden  Verständnis  derselben. 
Darüber  unten  Kapitel  VI  und  VII. 


—         28        — 

sehen  Wirtschaftsordnung.  Dieser  Widerspruch  findet  seinen  sozialen 
Ausdruck  darin,  dass  die  Leiter  der  Produktion  —  die  Besitzer  der 
Produktionsmittel  —  nicht  unmittelbar  an  der  Produktion  teil- 
nehmen und  die  unmittelbaren  Produzenten  keine  Produktions- 
mittel besitzen  und  demnach  keine  Kontrolle  über  die  Pro- 
duktion haben.  Dieser  letztere  Widerspruch  ist  jedoch  keine  spe- 
cifische  Eigentümlichkeit  der  kapitalistischen  Produktionsweise, 
da  diese  ihn  mit  allen  Produktionsweisen,  die  auf  Aneignung  des 
Mehrproduktes,  wie  die  sklavische  und  feudale  Produktiosweise,  be- 
ruhen, gemein  hat.  Der  Unterschied  der  kapitalistischen  Produktion 
besteht  aber  darin,  dass  nicht  nur  der  Arbeiter  zur  Rolle  eines  ein- 
fachen Produktionsmittels  degradiert  wird,  sondern  dass  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  auch  der  Kapitalist  selbst  ein  einfaches  Mittel  der 
Akkumulation  des  Kapitals  wird.  Die  Gesetze  der  kapitalistischen 
Konkurrenz  verlangen  gebieterisch  vom  Kapitalisten  eine  Erweiterung 
der  Produktion  und  die  Kapitalisierung  eines  bedeutenden  Teiles 
seines  Profites.  In  der  Sklaven-  und  Feudalwirtschaft  hatte  die 
Produktion  immerhin  zu  ihrem  unmittelbaren  Zweck  die  Konsumtion, 
nämlich  die  Konsumtion  der  herrschenden  gesellschaftlichen  Klasse. 
In  der  kapitalistischen  Wirtschaft  wird  selbst  die  Konsumtion  der 
Kapitalisten  durch  die  Bedürfnisse  der  Produktion  bestimmt,  selbst 
die  Leiter  der  Produktion  werden  im  gewissen  Sinne  zu  ihren 
Dienern.  Und  darum  hatte  Marx  vollkommen  recht,  wenn  er  sagte, 
dass  in  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  „das  Kapital  und  seine 
Selbstverwertung  als  Ausgangspunkt  und  Endpunkt,  als  Motiv  und 
Zweck  der  Produktion  erscheint". 

Die  einfache  Warenwirtschaft  kennt  diesen  Widerspruch  nicht. 
Die  kleinen  Warenproduzenten  sind  im  Besitze  von  Produktionsmitteln 
und  produzieren  Konsumtionsmittel  für  einander. 

Die  Produktion  bleibt  in  der  Wirtschaft  der  kleinen  Waren- 
produzenten immer  ein  Mittel  für  die  Konsumtion,  sie  wird  aber  nie 
zu  einem  Selbstzwecke.  Der  Mensch  ist  der  Herr  der  Produktion 
und  keineswegs  ihr  Diener;  zugleich  bleiben  die  Produktionsmittel 
die  Diener  des  Menschen  und  werden  nicht  seine  Herren,  wie  dies 
in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  der  Fall  ist. 

In  einem  unmittelbaren  Zusammenhang  mit  dem  ersten  steht 
der  zweite  Widerspruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung,  und 
zwar  besteht  dieser  Widerspruch  im  „Gegensatze  zwischen  der  Or- 
ganisation der  Produktion  in  der  einzelnen  Fabrik  und  der  Anarchie 
der  Produktion  in  der  ganzen  Gesellschaft"  (Engels).  In  der  Sklaven- 
und  Feudalwirtschaft  kann  die  Produktion  im  Rahmen  einer  einzelnen 


—        29        — 

Wirtschaft  in  hohem  Grade  organisiert  sein  —  man  braucht  nur  an 
die  familiae  rusticae  und  urbanae  der  römischen  Oikenherren  zu  er- 
innern. Aber  soweit  die  Grundlage  einer  solchen  Wirtschaft  die 
Eigenproduktion  —  Produktion  für  den  Selbstgebrauch  —  bildet, 
leidet  sie  nicht  an  der  Anarchie  der  gesellschaftlichen  Produktion. 

In  der  einfachen  Warenwirtschaft  kann  die  gesellschaftliche 
Produktion  eine  unorganisierte  sein,  aber  zugleich  fehlt  eine  plan- 
mässige  Organisation  auch  innerhalb  des  einzelnen  Betriebes  — 
insofern ,  als  der  Kleinbetrieb  nicht  eine  irgendwie  bedeutende 
Teilung  und  Vereinigung  der  Arbeit  im  Rahmen  des  einzelnen  Be- 
triebs zulässt.  Die  Planlosigkeit  der  gesamten  gesellschaftlichen 
Produktion  im  Zusammenhang  mit  dem  durch  Geld  vermittelten  Aus- 
tausch erzeugt  in  der  einfachen  Warenwirtschaft  die  Möglichkeit 
einer  allgemeinen  Ueberproduktion.  Die  Widersprüche  der  kapitalisti- 
schen Produktion,  auf  welche  wir  hingewiesen  haben,  machen  eine 
allgemeine  Ueberproduktion  als  ein  Moment  der  Entwicklung  der 
kapitalistischen  Wirtschaft  notwendig. 

Wir  haben  gesehen,  dass  die  Vermittelung  des  Geldes  den 
Markt  zu  einer  besonderen  ökonomischen  Macht,  welche  die  Pro- 
duktion beherrscht,  erhebt.  Der  Einfluss  des  Marktes  beruht  auf  der 
Abhängigkeit  der  Warenpreise  von  einander,  —  gerade  infolge  dieser 
Abhängigkeit  bildet  der  Markt  für  alle  Waren  ein  untrennbares 
Ganzes,  einen  eigenartigen  Organismus.  Die  gegenseitige  Bedingtheit 
der  Preise  wächst  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  infolge  des  Kre- 
dites. vSolange  das  Geld  das  einzige  Tauschmittel  war,  beruhte  die 
Warencirkulation  auf  einer  materiellen  Basis.  Als  Tauschmittel  dient 
in  einfacher  Geldwirtschaft  (im  Gegensatze  zur  Kreditwirtschaft)  eine 
bestimmte  Ware,  in  ihrer  dinglichen  Form,  eine  Ware,  welche  zwar  sich 
in  ihrer  ökonomischen  Funktion  von  allen  anderen  Waren  unter- 
scheidet, immerhin  aber  eine  Ware  bleibt.  Jeder  Kauf  und  Verkauf 
für  bares  Geld  bewahrt  in  gewissem  Sinne  den  Charakter  des  un- 
mittelbaren Produktenaustausches,  da  die  Münze  auch  ein  Produkt 
ist.  Die  Warenpreise  zeichnen  sich  daher  beim  einfachen  durch  Geld 
vermittelten  Austausch  durch  eine  bedeutende  Stabilität  aus.  Die 
Preise  stehen,  so  zu  sagen,  auf  einem  materiellen  Boden.  Die  kapita- 
listische Wirtschaft  schafft  ein  neues  Cirkulationsmittel,  —  den  Kredit. 
Der  Kredit  hebt  die  Abhängigkeit  der  Warenpreise  vom  Angebot 
der  Waaren  nicht  auf;  sie  wird  jedoch  unter  der  Herrschaft  der 
Kreditwirtschaft  eine  ausserordentliche  komplizierte.  Der  Kredit  stellt 
den  anderen  Faktor  des  Preises,  die  Nächfrage,  in  den  Vordergrund, 
und  modifiziert  zugleich  wesentlich  ihre  ökonomische  Bedeutung.    Wie 


—       Зо      — 

oben  festgestellt,  wird  die  Nachfrage  bei  dem  durch  Geld  vermit- 
telten wie  beim  Naturalaustauch  auf  das  Angebot  gegründet.  Das 
Angebot  bestimmt  die  Kaufkraft,  und  nur  die  Richtung  dieser  Kraft 
wird  durch  die  Wünsche  und  die  Bedürfnisse  der  Käufer  bedingt. 
Der  Kredit  befreit  die  Nachfrage  von  einem  unmittelbaren  Zusammen- 
hang mit  dem  laufenden  Angebot.  Dank  dem  Kredit  kann  die  Nach- 
frage, ganz  unabhängig  vom  augenblicklichen  Angebot,  bedeutend 
steigen  und  sinken.  Die  Warenpreise  gewinnen  bei  der  Ausbreitung 
der  Käufe  und  Verkäufe  auf  Kredit  eine  eigentümliche  Beweglich- 
keit, sie  werden  zum  Ausdruck  eines  rein  psychischen  Elementes  — 
der  Berechnungen  der  Kontrahenten  nicht  nur  in  Bezug  auf  die  gegen- 
wärtige, sondern  auch  auf  die  zukünftige  Lage  des  Marktes,  auf 
die  allgemeine  Stimmung  der  Käufer  und  der  Verkäufer,  auf  die  grössere 
oder  geringere  Spekulationslust  u.  s.  w. 

Die  Abhängigkeit  der  W^arenpreise  vom  Angebot  bleibt  aller- 
dings bestehen,  sie  wird  aber  dadurch  ausserordentlich  kompliziert, 
dass  neben  dem  realen  Angebot  des  gegebenen  Augenblicks  das  un- 
bekannte und  nicht  vorhandene  zukünftige  Angebot,  genauer,  die 
Meinung  der  interessierten  Personen  über  dieses  zukünftige  Angebot, 
eine  Wirkung  ausübt.  Bei  der  einfachen  Geldwirtschaft  ist  der  Um- 
fang der  Kaufkraft,  welche  auf  dem  Markte  vorhanden  ist,  in  jedem 
Moment  eine  mehr  oder  minder  bestimmte  Grösse.  Die  Grundlage 
dieser  Kaufkraft  bilden  Waren  und  Geld  in  dinglicher  Form.  Ob- 
wohl die  Beschleunigung  der  Cirkulation  des  Geldes  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  die  Vermehrung  seiner  Menge  ersetzen  kann,  gilt 
diese  Möglichkeit  jedoch  in  einem  ziemlich  engen  Rahmen.  Bei  der 
Kreditwirtschaft  ist  die  Kaufkraft  des  Marktes  ein  komplizierter  und 
elastischer,  immaterieller  —  aber  zugleich  gebrechlicher  —  Aufbau 
auf  der  realen  Geldbasis:  die  Kaufkraft  des  Markts  kann  ohne  jeg- 
liche Veränderung  in  den  realen  Verhältnissen  des  Waren-  und  Geld- 
angebots steigen  oder  sinken,  je  nach  der  grösseren  oder  geringeren 
Neigung   der   Käufer   und   Verkäufer,    sich   des  Kredits  zu  bedienen. 

Ausserdem  verstärkt  der  Kredit  in  höchstem  Grade  die  gegen- 
seitige Abhängigkeit  der  einzelnen  Betriebe.  Der  Zusammenhang 
zwischen  ihnen  wird  ein  engerer  und  innigerer.  Die  Veränderungen 
des  Marktes  nehmen  einen  lawinenartigen  Charakter  an:  unbedeu- 
tende Ereignisse  vermögen  eine  zerstörende  Wirkung  auf  den  Markt 
auszuüben,  weil  der  Effekt  des  ursprünglichen  Stosses  mit  seiner 
Ausbreitung  w^ächst.  Die  Schwankungen  des  Marktes  in  der  einen 
und  der  anderen  Richtung,  in  der  Richtung  des  Steigens  und  des 
Sinkens    der    Warenpreise  —  der    Bereicherung   und    des    Ruins  der 


_      31      — 

Warenbesitzer,  —  erhalten  eine  gewaltige  Kraft  und  gewaltigen 
Schwung. 

So  verstärkt  der  Austauschmechanismus  selbst,  welcher  der  kapi- 
talistischen Wirtschaft  eigentümlich  ist,  —  der  Kredit  —  den  Effect 
der  Schwankungen  des  Warenangebotes  ganz  bedeutend.  Trotzdem 
liegen  den  verschiedenen  Störungen  des  Kredites  schliesslich  doch 
Störungen  auf  dem  Gebiete  der  realen  Produktion  und  des  realen 
Warenangebotes  zu  Grunde. 

Es  wurde  oben  ausgeführt,  dass  der  fundamentale  Widerspruch  des 
Kapitalismus  im  Fehlen  einer  Kontrolle  der  gesellschaftlichen  Kon- 
sumtion über  die  gesellschaftliche  Produktion  besteht.  Die  kapitalis- 
tische Produktion  wird  aus  einem  Mittel  zu  einem  Selbstzweck. 
Hieraus  entspringen  auch  die  Krisen   der   kapitalistischen  Wirtschaft. 

Diese  letztere  besitzt  keinen  solchen  einheitlichen  Regulator, 
wie  es  in  der  einfachen  Warenwirtschaft  die  gesellschaftliche  Konsum- 
tion ist.  Das  Bestreben  nach  einer  möglichst  grossen  Ausdehnung 
der  Produktion  ist  ein  charakteristischer  Zug  der  kapitalistischen 
Produktionsweise.  Die  absolute  Grenze  für  die  Erweiterung  der  Pro- 
duktion bilden  die  Produktivkräfte,  über  welche  die  Gesellschaft  ver- 
fügt; diese  Grenze  zu  erreichen  ist  das  Kapital  immer  bestrebt. 

Und  doch  vergeblich!  Das  Kapital  kann  diese  Grenze  nie  er- 
reichen. Wir  haben  gesehen,  dass  bei  einer  proportion eilen  Eintei- 
lung der  gesellschaftlichen  Produktion  die  Nachfrage  durch  das  An- 
gebot von  Waren  selbst  geschaffen  wird.  Jedoch  schliesst  die  Erreichung 
einer  vollkommener  Proportionalität  unüberwindliche  Schwierigkeiten 
in  sich.  Jede  andere  Einteilung  des  gesellschaftlichen  Kapitals  ausser 
einer  proportion  eilen  wird  zur  Ueberproduktion  einiger  Waren  führen; 
da  aber  alle  Produktionszweige  in  einem  engen  Zusammenhange  mit 
einander  stehen,  so  verwandelt  sich  leicht  eine  partielle  Ueberproduk- 
tion einiger  Waren  in  eine  allgemeine  Warenüberproduktion;  der 
Warenmarkt  wird  von  unverkauften  Waren  überfüllt,  und  es  folgt 
der  Preissturz. 

Um  die  ganze  Schwierigkeit  einer  produktiven  Anlegung  eines 
neuen  Kapitals  zu  begreifen,  genügt  es,  sich  an  das  oben  über  die 
Ueberfüllung  des  Warenmarktes  unter  den  gegenwärtigen  Kon- 
kurrenzverhältnissen Gesagte  zu  erinnern.  Die  Nachfrage  nach  sämt- 
lichen Waren  wird  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  in  der  Regel  durch 
das  Angebot  vollauf  befriedigt.  Bei  den  herrschenden  Konkurrenz- 
verhältnissen wirkt  das  Angebot  aggressiv  auf  die  Nachfrage,  es  geht 
ihr  voran. 


—         32         — 

IsTur  in  Ausnahmefällen  kann  es  längere  Zeit  eine  unbefriedigte 
Nachfrage  geben.  Und  nun,  während  das  Angebot  aller  Waren  be- 
reits die  Nachfrage  eher  übertrifft,  als  dass  es  sich  mit  ihr  deckt, 
muss  man  einen  Markt  für  neue  Waren  finden.  Legt  man  das  ge- 
samte neue  Kapital  in  irgend  einem  einzelnen  Produktionszweig  an 
—  so  wird  das  zur  Ueberproduktion  führen,  da  bereits  die  bisher 
produzierten  Waren  dieser  Art  die  Nachfrage  vollständig  gedeckt 
hatten.  Damit  sich  ein  Markt  für  die  neu  produzierten  Waren  findet, 
ist  es  nötig,  dass  das  Anlage  suchende  Kapital  sich  in  einer  be- 
stimmten Proportion  unter  eine  ganze  Reihe  von  Produktionszweigen 
verteilt ;  ist  dies  glücklich  ausgeführt,  so  wird  das  Anwachsen  der 
Nachfrage  dem  Anwachsen  des  Angebotes  entsprechen,  und  die  Pro- 
duktion wird  sich  erweitern,  ohne  dass  die  Nachfrage  nach  Waren 
durch  deren  Angebot  übertroffen  wird.  Aber  ist  ein  solcher  Erfolg 
immer  zu  erreichen?     Offenbar  nicht. 

Ein  Teil  des  kapitalisierten  gesellschaftlichen  Mehrproduktes 
findet  verhältnismässig  leicht  Anlage  in  demselben  Produktionszweige, 
in  welchem  dieses  Mehrprodukt  entstanden  ist.  Der  Prozess  der  \^er- 
teilung  des  kapitalisierten  Profites  unter  den  verschiedenen  Industrie- 
zweig'en  vollzieht  sich  in  diesem  Falle  automatisch  —  die  Produktion 
erweitert  sich  in  einer  ganzen  Reihe  von  Industriezweigen,  am  meisten 
in  denjenigen,  welche  die  höchsten  Gewinne  abgeworfen  haben,  d.  h.  in 
denjenigen,  nach  deren  Produkten  die  höchste  Nachfrage  erhoben  wurde. 
Aber  ausser  diesen  neu  entstehenden  Kapitalien,  welche  fast  gar 
nicht  auf  den  Geldmarkt  treten,  da  sie  auf  der  Stelle  Anlage  finden, 
verfügt  jedes  reiche  kapitalistische  Land,  wie  z.  B.  England,  über 
eine  enorme  Masse  freier  Kapitalien,  welche  zum  Teil  aus  den  Profiten 
der  Industriellen  und  Kaufleute  stammen,  die  aus  irgend  welchen 
Gründen  von  den  Besitzern  selbst  nicht  angelegt  werden  konnten, 
zum  Teil  aus  der  kapitalisierten  Quote  der  Einkommen  der  anderen 
Gesellschaftsklassen,  hauptsächlich  der  Klasse  der  Geldkapitalisten. 
Diese  freien  Kapitalien,  welche  mit  keinem  bestimmten  Produktions- 
zweig verknüpft  sind,  suchen  gierig  nach  einer  vorteilhaften  Anlage 
und  fliessen  stets  dem  Geldmarkte  zu.  Die  produktive  Anlegung 
dieser  Kapitalien  ist  durchaus  keine  leichte  Sache.  Daraus,  aus  den 
vSchwierigkeiten  einer  proportion eilen  Verteilung  der  neu  geschaffenen 
freien,  mit  der  Industrie  und  Handel  nicht  verknüpften  Kapitalien, 
entstehen  auch  die  Handelskrisen. 

In  einem  gewissen  Sinne  kann  man  sagen,  dass  die  Grund- 
ursache der  Krisen  die  Volksarmut,  die  Unterkonsumtion  der  arbei- 
tenden Klassen  ist.     In  der  That  wird  die  Bildung  der  überschüssigen 


—      33      — 

Kapitalien,  und  überhaupt  die  Kapitalisierung  eines  bedeutenden 
Teiles  des  gesellschaftlichen  Einkommens  durch  die  Geringfügigkeit 
des  Anteiles  der  Arbeitermassen  an  dem  von  ihnen  produzierten  Pro- 
dukte unmittelbar  hervorgerufen.  Wenn  es  nicht  nötig  wäre,  eine 
Anlage  für  neue  Kapitalien  zu  finden,  wenn  die  Produktion,  infolge 
der  Kapitalisierung  des  Profites,  nicht  angespornt  wäre,  so  würde 
eine  Proportion  eile  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  keine 
grosse  Schwierigkeiten  bieten.  In  diesem  Fälle  w^ürde  die  gesellschaft- 
liche Produktion,  wie  in  der  Wirtschaft  kleiner  Warenproduzenten, 
unmittelbar  durch  die  gesellschaftliche  Konsumtion  reguliert  werden. 
Die  Akkumulation  des  Kapitals  durch  die  Kapitalisten  ist  eine  Folge 
der  Aneignung  des  Mehrproduktes  durch  Personen,  welche  an  der 
Produktion  nicht  teilnehmen,  ein  Resultat  davon,  dass  den  unmittel- 
baren Produzenten  ein  Teil  des  produzierten  Produktes  entzogen 
worden  ist.  Je  geringer  der  Anteil  des  Arbeiters  ist,  desto  höher  ist 
der  Anteil  des  Kapitalisten  —  und  um  so  rascher  vollzieht  sich  die 
Akkumulation  des  Kapitals  —  notwendigerweise  von  Stockungen 
und  Krisen  begleitet. 

Also,    die   Armut   der  Volksmassen,    die   Armut  nicht  im  abso- 
luten, sondern  im  relativen  Sinne,  im  Sinne   der   Geringfügigkeit  des 
Anteils    des    Arbeiters    an    dem    gesamten  gesellschaftlichen  Produkt, 
ist    eine    der    Vorbedingungen    der    Handelskrisen.     Aber    man  muss 
den  Zusammenhang  der  Armut  und  der  Krisen  klar  verstehen.     Die 
verbreitete    Meinung,    die    bis    zu    einem    gewissen    Grade    auch    von 
Marx  geteilt  wurde,  dass  das  Elend  der  Arbeiter,  welche    die  grosse 
Mehrzahl  der  Bevölkerung  bilden,  eine  Realisation  der  Produkte  der 
sich  immer  erweiternden  kapitalistischen  Produktion  wegen  mangeln- 
der Nachfrage  unmöglich  macht  —  ist  als  falsch  zu  bezeichnen.   Wir 
haben    gesehen,    dass    die   kapitalistische    Produktion    für    sich    selbst 
einen  Markt  schafft  —   die  Konsumtion    ist   nur   eines   der   Momente 
der  kapitalistischen  Produktion.     Wenn  die  gesellschaftliche    Produk- 
tion   planmässig  organisiert    wäre,    wenn    die    Leiter    der  Produktion 
eine  vollkommene  Kenntnis    der  Nachfrage  und  die  Macht  hätten, 
die  Arbeit  und  das  Kapital  frei  aus  einem  Produktionszweig  in   einen 
anderen    überzuführen,    so    könnte,    wie    niedrig    die    gesellschaftliche 
Konsumtion    auch    sein    möchte,    das  Angebot   der  Waren  die  Nach- 
frage nicht  überschreiten.     Aber  die  Akkumulation  des  Kapitals   bei 
einer  völligen  Planlosigkeit  der  gesellschaftlichen  Produktion,  bei  der 
Anarchie,  welche  auf  dem  Warenmarkt  herrscht,  führt  unausbleiblich 
zu  Krisen. 

Tugan-Baranowsky  ,  Die  Haiulclskiiscn.  Q 


—       34       — 

Die  planmässige  Organisation  der  Arbeit  in  der  kapitalistischen 
Fabrik  erhöht  kolossal  die  Produktivität  der  Arbeit.  Erst  der  Kapi- 
talismus hat  die  Technologie  auf  eine  wissenschaftliche  Basis  gestellt, 
erst  er  hat  die  Vervollkommnung  der  Technik  zu  einem  Konkurrenz- 
gesetze für  die  Produzenten  gemacht.  Aber  die  technischen  Kräfte 
der  modernen  Industrie  können  sich  infolge  der  sozialen  Hindernisse, 
auf  die  sie  stossen,  infolge  der  Planlosigkeit  der  gesamten  gesellschaft- 
lichen Produktion,  nicht  in  vollem  Umfange  entfalten.  Hieraus  ent- 
springt auch  die  Notwendigkeit  der  Krisen,  welche  also  durch  die 
beiden  Widersprüche  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  hervor- 
gerufen werden:  i.  durch  den  Widerspruch,  dass  die  Produktions- 
mittel Personen  angehören,  welche  an  der  Produktion  nicht  teil- 
nehmen, dagegen  den  unmittelbaren  Produzenten  fehlen,  und  2.  durch 
die  Desorganisation  der  gesamten  gesellschaftlichen  Produktion, 
während  dieselbe  in  den  einzelnen  Betrieben  organisiert  ist.  Diese 
beiden  Widersprüche  sind  gleich  notwendig-  und  zugleich  vollkommen 
ausreichend  die  Entstehung  von  Krisen  zu  begründen. 

Die  specifische  Form  des  Austausches,  welche  dem  Kapitalis- 
mus eigentümlich  ist,  der  Kredit,  verstärkt  die  Wirkung  der  Krisen. 
Die  tiefsten  Ursachen  derselben  wurzeln  jedoch  auf  dem  Gebiete  der 
Produktion.  Die  Geschichte  der  Krisen  eines  jeden  kapitalistischen 
Landes  hat  ihre  eigentümlichen  Züge  je  nach  den  konkreten  Wirt- 
schaftsverhältnissen des  Landes;  aber  da  beide  Widersprüche,  auf 
die  w^r  hingewiesen  haben,  wie  der  Kredit  der  kapitalistischen 
Wirtschaftsordnung  als  solcher  eigentümlich  sind,  so  bleiben  die  Grund- 
ursachen der  Krisen  überall  im  wesentlichen  dieselben,  wie  verschieden- 
artig das  konkrete  Milieu,  in  dem  ihre  Wirkung  zum  Vorschein 
kommt,  auch  sein  mag. 

Wir  müssen  uns  jedoch  noch  bei  einem  ökonomischen  Moment 
aufhalten,  dessen  Bedeutung  wir  bisher  nicht  berührt  haben,  nämlich 
bei  dem  auswärtigen  Handel.  Als  Resultat  unsrer  abstrakten  Ana- 
lyse des  Prozesses  der  Reproduktion  des  gesellschaftlichen  Kapitals 
hat  sich  der  Schluss  ergeben,  dass  es  bei  einer  proportioneilen  Ein- 
teilung der  gesellschaftlichen  Produktion  kein  überschüssiges  gesell- 
schaftliches Produkt  geben  kann.  Dabei  haben  wir  vom  auswärtigen 
Handel  ganz  abgesehen.  Dazu  hatten  wir  vollkommen  recht,  da  der 
auswärtige  Handel  ein  auswärtiger  nur  für  einzelne  Länder  ist, 
—  für  die  gesamte  kapitalistische  Welt  aber  bleibt  der  Handel 
zwischen  verschiedenen  Ländern  ein  innerer  —  ein  Handelsaustausch 
innerhalb    des    kapitalistischen    Ganzen.      Wenn    wir  jedoch    zur    Be- 


—      35      — 

trachtung  der  Wirtschaft  der  einzekien  Länder  übergehen,  müssen 
wir  uns  natürUch  auf  einen  anderen  Standpunkt  stellen.  Es  giebt 
kein  kapitalistisches  Land  ohne  auswärtigen  Handel,  und  für  solche 
Länder  wie  England  spielt  der  auswärtige  Markt  für  viele  wichtige 
Produktionszweige  sogar  eine  grössere  Rolle  als  der  innere  Markt. 
Der  auswärtige  Markt  ist  für  England  unbedingt  notwendig.  Es 
unterliegt  nicht  dem  geringsten  Zweifel,  dass  der  innere  englische 
Markt,  wie  auch  die  nationale  englische  Produktion  eingeteilt  sein 
mag,  nicht  alle  baumwollenen  Gewebe,  Tücher,  Maschinen  und  an- 
dere Fabrikate,  welche  in  England  produziert  werden,  verbrauchen 
könnte.  Beweist  das  nicht,  dass  die  kapitalistische  Produktion  ein 
überschüssiges  Produkt  schafft,  für  welches  auf  dem  inneren  Markte 
kein  Platz  vorhanden  ist?  Warum  überhaupt  bedarf  England  eines 
auswärtigen  Marktes? 

Die  Antwort  ist  keine  schwere.  Darum,  weil  ein  bedeutender 
Teil  der  Kaufkraft  Englands  für  die  Anschaffung  ausländischer  Waren 
verausgabt  wird.  Die  Einfuhr  ausländischer  Waren  für  den  inneren 
Markt  Englands  macht  auch  die  Ausfuhr  englischer  Waren  für  den 
auswärtigen  Markt  absolut  notwendig.  Da  England  ohne  einen  aus- 
ländischen Import  nicht  auskommen  kann,  so  ist  auch  ein  Export  für 
dieses  Land  eine  Existenzbedingung,  sonst  hätte  es  nichts,  womit  es 
für  seinen  Import  bezahlen  könnte. 

Die  verzweifelte  Jagd  nach  einem  Markt,  welche  einen  so 
charakteristischen  Zug  der  kapitalistischen  Wirtschaft  bildet,  beschränkt 
sich  nicht  auf  das  enge  Gebiet  des  inneren  Marktes.  Jeder  Produk- 
tionszweig strebt  danach,  sein  Absatzgebiet  möglichst  zu  erweitern. 
Wenn  die  auswärtigen  Konkurrenzverhältnisse  es  zulassen,  ergiesst 
sich  die  betreffende  Industrie  rasch  über  die  Grenzen  des  einheimischen 
Marktes  und  beginnt  für  den  auswärtigen  Markt  zu  arbeiten.  So 
führt  das  Streben  der  kapitalistischen  Industrie  nach  einer  unbe- 
schränkten Erweiterung  zu  dem  Resultat,  dass  alle  Länder  sich  in 
1  ein  kolossales  Ganze,  in  ein  Netz  verschlingen.  Jedes  Land  ist  ein 
Markt  für  die  anderen  Länder  und  zugleich  sind  die  anderen  Länder 
ein  Markt  für  dieses  Land. 

Der  auswärtige  Markt  spielt  überhaupt  eine  sehr  grosse  Rolle 
in  der  Geschichte  der  kapitalistischen  Produktionsweise.  Die  ursprüng- 
liche Domaine  des  Kapitalismus  war  die  Produktion  von  Luxusgegen- 
ständen, welche  nur  von  einem  sehr  ausgedehnten  Markt  absorbiert 
werden  konnten,  da  die  Zahl  der  Konsumenten  dieser  Gegenstände 
in  jedem  Lande  eine  beschränkte  war.    Feine  Gewebe,  Glas,  Porzellan, 

3* 


-       Зб      - 

teuere  Metall-  und  Lederfabrikate  und  überhaupt  verschiedene  Luxus- 
waren —  solche  Produkte  stellte  hauptsächlich  die  kapitalistische 
Manufaktur  in  der  ersten  Zeit  ihres  Entstehens  in  Italien,  Flandern, 
England,  Frankreich  und  andern  Ländern  her.  Ein  bedeutender  Teil 
dieser  Fabrikate  wurde  von  vornherein  für  den  Absatz  nach  andern 
Ländern  bestimmt.  Viel  später  hat  die  kapitalistische  Industrie 
die  Herstellung  von  Gegenständen  der  Massenkonsumtion  erfasst 
und  begann  dann  in  erster  Linie  für  den  einheimischen  Markt  zu 
produzieren.  Ein  solcher  Entwickelungsgang  der  kapitalistischen  Pro- 
duktion steht  mit  der  Entwicklung  des  Handels  im  engsten  Zu- 
sammenhang. Der  auswärtige  Handel  hat  immer  einen  mehr  kapi- 
talistischen Charakter  gehabt  als  der  innere.  Es  ist  dies  auch  ganz 
begreiflich  —  der  auswärtige  Handel  erfordert  grössere  Kapitalien, 
eine  entwickeltere  Unternehmungslust  und  eine  grössere  Specialisierung 
des  Händlers  als  der  innere.  Auf  dem  Gebiete  des  auswärtigen 
Handels  sind  zuerst  Associationen  der  Kapitalisten  entstanden.  Der 
Handel  mit  einheimischen  Produkten  innerhalb  des  Landes  konnte 
wegen  des  Vorherrschens  der  Eigenproduktion  und  der  Gleichartig- 
keit der  Produkte,  die  in  verschiedenen  Teilen  des  Landes  produziert 
werden,  lange  Zeit  keine  bedeutende  Entwickelung  erfahren.  Dieser 
Handel  blieb,  da  er  sich  auf  ein  äusserst  beschränktes  Gebiet  er- 
streckte, ein  Kleinhandel,  und  der  Händler  war  dabei  manchmal  auch 
ein  kleiner  Produzent.  Der  auswärtige  Handel  der  Küstenländer 
Europas  mit  der  Levante,  Indien  und  Amerika,  wie  auch  der  euro- 
päischen Länder  miteinander,  hat  zur  Bildung  enormer  kaufmännischer 
Kapitalien  geführt,  die  allmählich  auch  die  Produktion  in  kapita- 
listischer Weise  organisiert  haben,  vor  allem  die  Produktion  der 
Waren,  welche  Gegenstand  dieses  Handels  waren.  Ueberhaupt  hat 
sich  die  kapitalistische  Produktion  meistens  von  Anfang  an  auf  den 
auswärtigen  Markt  gestützt. 

Die  internationale  Arbeitsteilung  hat  ferner  dazu  geführt,  dass 
sich  in  jedem  Lande  diejenigen  Produktionszweige  auf  Kosten  der 
anderen  entwickelt  haben,  für  welche  dies  Land  sich  infolge  seiner 
natürlichen,  ökonomischen  oder  sozialen  Verhältnisse  am  meisten 
eignete.  Es  entstanden  Länder  eines  landwirtschaftlichen  und  eines 
industriellen  Typus,  deren  ökonomische  Existenz  einen  Austausch  der 
Produkte  der  Landwirtschaft  mit  den  Produkten  der  Industrie  voraus- 
setzt. Das  extremste  Beispiel  eines  industriellen  Landes  mit  einer 
hypertrophierten  Industrie  und  einem  beinahe  atrophierten  Ackerbau 
bildet  England.  Ohne  einen  auswärtigen  Markt  für  die  Produkte  seiner 
Industrie  kann  England  nicht  existieren,  da  die  Einfuhr  der  Nahrungs- 


—      37       — 

mittel  und  der  Rohstoffe  durch  die  Ausfuhr  der  Fabrikate  bezahlt 
werden  muss.  Daher  die  enorme  Bedeutung  der  auswärtigen  Märkte 
für  die  Industrie  Englands.  Die  gesamte  auswärtige  Politik  Englands 
wird  durch  die  Jagd  nach  auswärtigen  Märkten  für  die  Produkte 
seiner  Industrie  bestimmt.  Im  auswärtigen  Handel  entfalten  sich  auch 
die  Widersprüche  der  kapitahstischen  Wirtschaftsordnung,  welche  in 
England,  wie  auch  in  den  anderen  Ländern,  die  tiefsten  Ursachen  der 
kapitalistischen  Krisen  bilden. 


KAPITEL  IL 


Ein  allgemeiner  Abriss  der  Entwickelung  der 
englischen  Industrie  seit  dem  zweiten  Viertel  des 

XIX.  jahrliunderts. 


I.  Der  Kampf  der  Maschine  gegen  die  Handarbeit  und  der  Mangel  an 
Märkten.  —  Die  schwache  Entwickehing  der  Maschinenweberei  bis  zu  den  2oer  Jahren 
des  XIX.  Jahrhunderts.  Die  Verdrängung  des  Handwebers  durch  die  Maschine  in  der 
Baumwollweberei  in  den  .30er  und  40er  Jahren.  —  Die  Eisenbahnen  und  die  Dampfschiffe. 
—  Die  Abnahme  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung.  —  Das  enorme  Wachstum  der  fabrik- 
mässigen  Produktion.  —  Der  Mangel  an  Märkten.  —  Die  Bewegung  zu  Gunsten  des  PVei- 
handels.  —  Die  Abnahme  der  Kaufkraft  des  englischen  Arbeiters.  —  П.  Der  Sieg  der 
Maschine  und  die  Eroberung  neuer  Märkte.  —  Der  Triumph  des  Freihandels.  — 
Die  Weiterentwickeking  des  Eisenbahnnetzes  in  der  gesamten  Welt.  —  Die  Entdeckung 
der  Goldlager  in  Kalifornien  und  Australien.  —  Die  Erhöhimg  der  Warenpreise.  —  Das 
Wachstum  des  auswärtigen  Handels.  —  П1.  Der  Verfall  der  industriellen  Suprematie 
Englands.  —  Die  Verlangsamung  des  Wachstums  der  engUschen  Industrie  und  des  Han- 
dels. —  Das  Fallen  der  Warenpreise.  —  Die  Erstarkung  der  Konkurrenz  Deutschlands.  — 
Der  Protektionismus.  —  Eine  Veränderung  des  Charakters  des  englischen  Exports.  —  Der 
Rückgang  des  englischen  Zwischenhandels. 


Der  Kampf  der  Maschine  gegen  die  Handarbeit  und  der  Mangel 

an  Märkten. 

Wir  sind  gewohnt,  von  einer  „industriellen  Revolution"  zu  sprechen, 
welche  in  England  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  durch  die  Einführung 
neuer  Produktionsmethoden  hervorgerufen  worden  sei.  Aber  wenn  das 
auch  eine  Revolution  war,  so  doch  eine  Revolution  ganz  eigener  Art, 
in  nichts  den  plötzlichen  Katastrophen  ähnlich,  die  wir  als  politische  Re- 
volutionen bezeichnen.  „Die  industrielle  Revolution"  Englands  war  ein 
langsamer  und  komplizierter  Prozess,  welcher  sich  viele  Jahrzehnte  hin- 
gezogen hat,  keinen  bestimmten  Anfang  und  kein  bestimmtes  Ende  hatte. 


—      39      - 

In  gewissem  Sinne  kann  man  sagen,  dass  dieser  Prozess  auch  bis  jetzt 
noch  nicht  vollendet  ist,  da  jetzt  noch  der  heftige  Kampf  der  Fabrik 
mit  der  kleinen  Werkstatt,  der  Maschine  mit  der  Handarbeit  fort- 
dauert. Heute  wie  früher  verdrängt  der  Grossbetrieb  den  kleinen, 
schreitet  die  Fabrik,  immer  neue  Arbeitsgebiete  erfassend,  vorwärts; 
bei  allem  dem  ist  die  Fabrik  selbst  in  England  gegenwärtig  bei 
weitem  nicht  die  alleinige  Form  der  Industrie. 

Die  „industrielle  Revolution"  war,  wie  gesagt,  ein  lang  dau- 
ernder Prozess.  Neue  Produktionsmethoden  drangen  und  dringen 
nacheinander  in  einen  Arbeitszweig  nach  dem  anderen  ein.  Während 
in  den  einen  von  ihnen  die  Revolution  bereits  vollendet  ist  und  die 
Fabrik  eine  unbeschränkte  Herrschaft  erlangt  hat,  herrscht  in  den 
anderen  noch  ebenso  unbeschränkt  der  Kleinbetrieb.  Jeder  Pro- 
duktionszweig hat  je  nach  seinen  technischen,  ökonomischen  und 
sozialen  Eigentümlichkeiten  seine  eigene  Geschichte.  In  jedem  kapi- 
talistischen Lande  sehen  wir  die  verschiedenartigsten  Formen  der 
Industrie  nebeneinander  bestehen  —  von  der  selbständigen  Arbeit 
eines  alleinstehenden  Produzenten  bis  zu  den  kolossalen  Anhäufungen 
von  Lohnarbeitern  in  den  grossen  kapitalistischen  Fabriken.  Die 
historische  Entwickelung  der  Industrie  besteht  in  einer  stärkeren 
Ausbreitung  der  einen  von  diesen  Formen  und  in  einem  langsameren 
Wachstum  oder  sogar  Verfall  der  anderen,  wodurch  sich  der  allge- 
meine industrielle  Typus  des  betreffenden  Landes  in  einer  bestimmten 
Richtung  verändert. 

Die  maschinelle  Produktion  hat  zuerst  einen  verhältnismässig 
nicht  sehr  bedeutsamen  Arbeitszweig  erfasst  —  die  Baumwollspinnerei. 
Infolge  technischer  Umstände  besitzt  die  Maschine  in  diesem  Arbeits- 
zweige enorme  Vorzüge  vor  der  Handarbeit.  Der  Sieg  der  Maschine 
in  der  Baumwollspinnerei  war  ein  überaus  rascher  —  es  genügten 
wenige  Jahre,  nachdem  Arkwright  1768  in  Nottingham  die  erste 
Baumwollspinnfabrik  errichtet  hatte,  um  in  England  das  Handspinnen 
der  Baumwolle  ganz  verschwinden  zu  lassen.  Die  Baumwollspinnerei 
in  England  war  schon  zu  Beginn  des  XIX.  Jahrhunderts  eine  ausschliess- 
lich fabrikmässige  Produktion.  Das  Kattundrucken  hat  auch  bald 
einen  fabrikmässigen  Charakter  angenommen,  aber  auf  dem  Gebiete 
der  Weberei  war  der  Kampf  der  grossen  und  kleinen  Produktion  ein 
sehr  hartnäckiger  und  andauernder.  Die  Verw^endung  der  Maschine 
zur  Weberei  ist  mit  bedeutenden  technischen  Schwierigkeiten  ver- 
knüpft. Der  mechanische  Webstuhl  von  Cartwright,  der  im  Jahre 
1785  erfunden  worden  ist,  war  nicht  entfernt  eine  so  vollkommene 
Maschine,   wie  die  Watermaschine  von  Arkw^right  oder  die  „Mule'^ 


—      40       — 

von  Crom  ton.  Es  war  eine  ganze  Reihe  neuer  Erfindungen  nötig, 
bevor  die  Webemaschine  zur  praktischen  Anwendung  gelangte.  Der 
gegenwärtige  Typus  des  mechanischen  Webstuhls  hat  sich  erst  im 
Jahre  1822  festgesetzt  (mit  dem  von  Scharp  und  Roberts  ge- 
nommenen Patent),  und  erst  seit  dieser  Zeit  beginnt  die  Maschinen- 
weberei schnell  zu  wachsen.  Im  Jahre  18 13  zählte  man  in  England 
insgesamt  2400  mechanische  Webstühle,  Avährend  gegen  200000  Hand- 
webstühle für  Bearbeitung  der  Baumwolle  vorhanden  waren.  In  den 
Jahren  1813 — 20  hat  sich  die  Zahl  der  Webemaschinen  um  11  750 
vermehrt.  Wenn  \vir  uns  erinnern,  dass  diese  mechanischen  Web- 
stühle fast  ausschliesslich  in  der  Baum  Wollindustrie  Anwendung  ge- 
funden hatten  und  dass  in  den  übrigen  Zweigen  der  Textilindustrie 
die  Handweberei  unbedingt  vorherrschte,  so  werden  wir  leicht  be- 
greifen, wie  wenig  die  „industrielle  Revolution"  auf  dem  Gebiete  der 
AVeberei  bis  zu  den  zwanziger  Jahren  dieses  Jahrhunderts  vorge- 
schritten war. 

Vom  Standpunkte  der  Interessen  der  arbeitenden  Massen  waren 
die  „revolutionärste''  Epoche  nicht  sowohl  die  letzten  Jahrzehnte  des 
vorigen  und  die  ersten  Jahrzehnte  dieses  Jahrhunderts  („die  industrielle 
Revolution"  verlegt  man  gewöhnlich  in  diese  Zeit)  als  vielmehr  das 
zweite  Viertel  des  laufenden  Jahrhunderts,  wann  die  Maschinenweberei 
energisch  die  Handweberei  verdrängte.  Das  Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts zeichnete  sich  durch  technische  Erfindungen  aus,  die  die  tiefste 
Umwälzung  in  der  Weltwirtschaft  vollziehen  sollten.  Aber  diese  Er- 
findungen haben  durchaus  nicht  sofort  eine  praktische  Anwendung 
gefunden.  Einer  der  wichtigsten  Zweige  der  die  Rohstoffe  veredelnden 
Industrie  ist  nach  der  darin  beschäftigten  Personen  die  Weberei  — 
und  in  dieses  Gebiet  begann,  wie  gesagt,  die  Maschine  erst  be- 
deutend später  einzudringen.  Bis  zu  den  30er  Jahren  hat  die  Zahl 
der  Handweber  fast  garnicht  abgenommen.  Zu  dieser  Zeit  erreichte 
die  Gesamtzahl  der  Handweber  in  Grossbritannien  nach  den  Daten 
der  Parlamentskommission,  die  ihre  Lage  in  den  Jahren  1834 — 35 
untersucht  hatte,  eine  MiUion.  Darauf  beginnt  die  Maschine  den 
Handweber  rasch  zu  verdrängen,  und  gegen  Ende  der  50er  Jahre 
hört  in  der  Baumwollweberei  die  Handarbeit  fast  auf.  Die  entsprechen- 
den Daten  für  einige  Jahre  sind  die  folgenden  i): 


i)  Thomas  Ellison,  The  Cotton  Trade  of  Great  Britain.  London  1886,  S.  66. 
Die  Zahlen  der  Handweber  sind  nur  ungefähr  richtig.  Nach  anderen  Schätzungen  hat 
die  Zahl  der  Handweber  von  Baumwolle  in  den  Jahren  1820 — 34  nicht  nur  nicht  ab- 
genommen, sondern  sie  ist  sogar  gestiegen.  Vergl.  E.  Baines,  History  of  the  Cotton 
Manufacture  in  Great  Britain,  London   1835,  S.   236. 


41 


In  den  Jahren. 


Die  Zahl   der  ni  der  Baumwolhvcbcrei    ^„^^      ^,  ,q^^      ,,  ^^^         .  ,Qrr.     a, 

....  ...       r-       ,    •,       •  löio — 21  IÖ2Q — 31  1044 — 40  ioi;g — Ol 

beschäftigten  Arbeiter  Orrossbritanniens  ^  ->      ^  -r-r     -r  jj 

a)  Fabrikarbeiter 10  000  50000  150000  203000 

b)  Hausarbeiter  (Handweber)       .    240000  225000  60000  7  500 

Hunderttausende  von  Handwebern  sind  in  den  30er  und  40er 
Jahren  genötigt  worden,  ihre  Webstühle  zu  verlassen  und  in  Fabriken 
überzugehen.  Es  war  eine  vollständige  Umgestaltung  des  wichtigsten 
Zweiges  der  englischen  Industrie  —  eine  Urngestaltung,  deren  Be- 
deutung für  die  Lage  der  Arbeiterklasse  Englands  viel  grösser  war 
als  die  Bedeutung  der  gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  statt- 
gehabten Umwälzung  der  Baumwollspinnerei.  Wenn  man  daher 
„die  industrielle  Revolution"  auf  eine  bestimmte  historische  Epoche 
beziehen  Avill,  so  kann  man  sie  mit  grösserem  Rechte  in  das  zweite 
Viertel  des  XIX.  als  in  das  Ende  des  XVIII  Jahrhunderts  verlegen. 

Und  dies  ist  um  so  richtiger,  als  gerade  in  diese  Zeit  die  grösste 
Umwälzung  auf  dem  Gebiete  des  Transportwesens  fällt.  Im  Jahre 
1830  ist  die  erste  Eisenbahn  zwischen  Liverpool  und  Manchester  er- 
öffnet worden  und  Ende  der  vierziger  Jahre  war  das  Eisenbahnnetz 
Englands  in  den  Hauptzügen  vollendet.  Im  Jahre  1838  vollführten 
die  ersten  Dampfschiffe  die  Ueberfahrt  über  den  Ocean  aus  Liverpool 
nach  New  York.  Die  Tonnenzahl  der  Dampfschiffe  des  Vereinigten 
Königreichs  ist  von  7243  (1820)  auf  173580  (1849)  gestiegen.  Im 
Jahre  1840  ist  in  England  die  Postreform  von  Rowland  Hill,  die 
das  Eintreten  einer  neuen  Aera  im  Postwesen  einleitete,  durchgeführt 
worden.  Die  Verkehrsverhältnisse  spielen  eine  so  dominierende 
Rolle  im  wirtschaftlichen  Leben,  dass  die  Bedeutung  der  angedeu- 
teten Momente  nicht  unterschätzt  werden  darf.  Die  Lokomotive 
und  das  Dampfschiff  waren  noch  mehr  als  die  Spinn-  und  Web- 
maschine dasjenige,  was  die  gegenwärtige  kapitalistische  Wirtschafts- 
ordnung mit  allen  ihren  Licht-  und  Schattenseiten  geschaffen  hat. 

Tiefe  Veränderungen  sind  auch  im  Ackerbau  vor  sich  gegangen. 
Bis  zu  den  20er  Jahren  des  XIX.  Jahrhunderts  wuchs  die  Zahl  der 
landwirtschaftlichen  Bevölkerung  in  England.  So  ist  nach  Porter  die 
Zahl  der  Familien,  welche  in  Grossbritannien  im  Ackerbau  beschäftigt 
waren,  von  895998  (181 1)  auf  978656  (1821)  gestiegen.  Also,  trotz 
der  Einzäunung  der  Gemeindefelder  (enclosure  of  commons),  der 
Umwandlung  der  kleinen  Farmen  in  grosse  und  der  sogenannten 
„Lichtung"  der  Güter  (clearing  of  estates  —  der  zwangsweisen  Ex- 
mittierung der  kleinen  Pächter,  um  das  Ackerland  in  Weide  oder 
Wiese  zu  verwandeln)  hat  die  Agrarrevolution,   von   welcher   Arnold 


—       42       — 

Toynbee  spricht,  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  Jahrhunderts  noch 
nicht  die  Macht  erreicht,  um  die  Bevölkerung  vom  Lande  in  die 
vStadt  zu  treiben.  Nach  den  20  er  Jahren  vergeht  aber  kein  ein- 
ziger Census  in  Grossbritannien,  ohne  dass  eine  absolute  Abnahme 
der  ackerbautreibenden  Bevölkerung  konstatiert  worden  wäre.  Offen- 
bar hat  in  England  erst  seit  dieser  Zeit  die  Stadt  ein  entschiedenes 
Uebergewicht  über  das  Land  erlangt.  Die  neuen  Lebens-  und  Ar- 
beitsverhältnisse haben  zu  einer  langsamen,  aber  stetigen  Entvöl- 
kerung des  platten  Landes  geführt. 

Also  war  das  zweite  Viertel  des  XIX.  Jahrhunderts  eine  Epoche 
der  energischsten  Verdrängung  der  alten  Wirtschaftsformen  durch 
neue.  Die  Ersetzung  der  kleinen  Produktion  durch  die  grosse  und 
der  Handarbeit  durch  die  Maschine  führte  zur  enormen  Erhöhung 
der  Produktivität  der  Arbeit.  Nach  Th.  Ellison  sind  die  bedeu- 
tendsten Vervollkommnungen  auf  dem  Gebiete  der  Spinnerei  in  der 
Periode  1820 — 30  und  auf  dem  Gebiete  der  Weberei  in  der  Periode 
1830 — 1845  durchgeführt  worden.  Das  Wachstum  der  Produktivität 
der  Arbeit  in  der  Baumwollweberei  und  Spinnerei  Englands  kann 
man  auf  Grund  der  folgenden  Daten  beurteilen  ^) : 


Die  Jahrespro- 

Die Jahrespro- 

Die Menge    der  Roh- 

duktion des 

duktion  der 

baumwolle,  welche 

Die  Jahre 

Garnes  auf 

Gewebe  auf 

jährlich  im  Vereinigten 

einen    Arbeiter 

einen    Arbeiter 

Königreich  verarbeitet 

(in   Pfund) 

(in  Pfund) 

wurde  (in  Million.  Pfd.) 

1819—21 

968 

342 

120 

1829—31 

1546 

521 

243 

1844—46 

2754 

1681 

588 

Dieses  rasche  Wachstum  der  Produktivität  der  Arbeit  hatte,  wie 
man  aus  den  angeführten  Zahlen  sieht,  eine  ganz  bedeutende  Erweite- 
rung der  Produktion  zur  Folge.  Aehnliche  Veränderungen  sind  auch 
in  anderen  Zweigen  der  enghschen  Industrie  —  in  der  Tuchindustrie, 
Roheisenindustrie,  Metall  Warenproduktion,  Steinkohlengewinnung  u. 
s.  w.  vor  sich  gegangen.  Die  Produktivität  der  Arbeit  stieg  in  fast 
allen  Produktionszweigen  rasch,  begleitet  von  einer  starken  Erhö- 
hung der  Menge  der  hergestellten  Produkte.  So  ist  nach  Porter  das 
in  England  produzierte  Roheisen  von  442  Tausend  Tonnen  (1823) 
auf  2093  Tausend  Tonnen  (1848)  gestiegen;  die  aus  einem  der  Häfen 
Grossbritanniens  nach  einem  anderen  oder  nach  dem  Auslande  trans- 


I)  Ellison,  S.  68 — 69  und  Beilage  N0.  4. 


~      43       ^ 

portierten  Steinkohlen  hatten  sich  von  4803  Tausend  Tonnen  (1820) 
auf  1 1381  Tausend  Tonnen  (1849)  erhöht,  die  Einfuhr  der  ausländischen 
Wolle  für  die  Bearbeitung  in  Grossbritannien  ist  von  16623  Tausend 
Pfund  (1821)  auf  76769  Tausend  Pfund  (1849)  gestiegen  u.  s.  f. 

Zu  selben  Zeit  machte  der  englische  Ackerbau  keine  so  schnellen 
Fortschritte.  Nach  der  Schätzung  von  Porter  könnte  der  Ackerbau 
Grossbritanniens  182 1 — 30  ungefähr  15  Millionen  der  Bevölkerung 
ernähren,  1841 — 49  aber  16 — 17  Millionen.  Das  Wachstum  des 
Produktes  des  Ackerbaues  war  ganz  unbedeutend.  Indessen  ver- 
mehrten sich  die  Produkte  der  Industrie ,  wie  oben  angegeben, 
kolossal.  Bei  einer  solchen  Sachlage  war  der  auswärtige  Markt  das 
einzige  Mittel,  einen  Absatz  für  die  steigende  Masse  der  englischen 
Fabrikate  zu  finden. 

Dieser  Markt  aber  war  für  England  wenig  zugänglich.  Der 
Protektionismus  herrschte  fast  auf  dem  gesamten  europäischen  Kon- 
tinent. In  b>ankreich  war  der  Tarif  von  18 16  in  Kraft,  durch 
welchen,  mit  geringen  Ausnahmen,  die  Einfuhr  sämtlicher  baum- 
wollener, wollener,  eiserner  und  stählerner  Fabrikate  (ausser  Maschinen, 
auf  die  ein  verhältnismässig  geringer  Zoll  gelegt  wurde)  verboten 
war.  In  Deutschland  wurde  nach  der  Gründung  des  Zollvereins  im 
Jahre  1833  der  preussische  Tarif,  welcher  einen  schutzzöllnerischen, 
aber  keinen  prohibitiven  Charakter  hatte,  mit  geringen  Veränderungen 
angenommen.  In  Spanien  näherte  sich  der  Tarif  dem  französischen; 
die  Einfuhr  baumwollener  Gewebe  war  verboten.  Der  schwedische 
Tarif  hatte  gleichfalls  einen  fast  prohibitiven  Charakter.  Die  Tarife 
der  meisten  anderen  europäischen  Staaten  waren  auf  den  Schutz  der 
inländischen  Produktion  gerichtet. 

Wie  sehr  der  englische  Handel  durch  die  schutzzöllnerischen 
Tarife  der  europäischen  Staaten  eingeengt  war,  sieht  man  daraus, 
dass  in  den  40er  Jahren  England  nach  Frankreich  weniger  Waren 
als  nach  Holland  ausgeführt  hat  (der  Wert  der  durchschnittlichen 
Jahresausfuhr  britischer  Produkte  nach  Frankreich  war  gegen 
2Y2  Millionen  Pfund  Sterling,  nach  Holland  aber  über  3  Mill. 
Pfund),  nach  Spanien  weniger  als  nach  Portugal  (nach  Spanien  jähr- 
lich gegen  Y2  Million  Pfund,  nach  Portugal  gegen  i  Million).  Der 
internationale  Handel  strömte  in  die  wenigen  für  ihn  offenen  Kanäle, 
und  zwischen  Nachbarländern,  welche  für  einander  ausgezeichnete 
Märkte  sein  könnten,  fand  nur  ein  ganz  geringfügiger  Handelsaus- 
tausch statt.  Der  europäische  Markt  war  nicht  im  stände,  die  immer 
steigende  Masse  der  englischen  P^abrikate  zu  absorbieren.  Für  die 
englische   Industrie   blieb   es   nur  ein  Ausweg  —   diejenigen  Märkte 


—      44      — 

zu  erobern,  welche  ihr  zugänglich  waren  —  die  britischen  Kolo- 
nien und  überhaupt  die  aussereuropäischen  Länder.  Insbeson- 
dere war  dies  der  Fall  mit  den  Produkten  des  wichtigsten  Zweiges 
der  englischen  Industrie,  auf  den  fast  die  Hälfte  der  gesamten  Aus- 
fuhr fiel,  —  der  Baumwollindustrie. 

Die  Verteilung  in  Prozenten  der  Ausfuhr  der  englischen  Baum- 
wollfabrikate nach  verschiedenen  Ländern  war  folgende^): 

Gewebe.  jähre 

1820   1830   1840   1850 

Nach  Europa  (ausser  der  Türkei) 51  31  25  16 

Nach  der  Türkei,  Aegypten,  Afrika 4  9  9  14 

Nach  Amerika  (ausser  den  Vereinigten  Staaten)   ...  22  32  35  27 

Nach  den  Vereinigten  Staaten 9  12  4  8 

Nach  Britisch-Ostindien     1  .  18  23 

Nach  China,  Japan,  Java  j ^  4  8 

Nach  allen  anderen  Ländern 8  5  4  4 

Garn. 

1820  1830  1840  1850 

Nach  Europa  (ausser  Türkei) 96  87  78  69 

Nach  der  Türkei 2  2  3  4 

Nach  Britisch-Ostindien     \^  «  14  16 

Nach  China,  Japan,  Java  j 2  2 

Nach  den  übrigen  Ländern 2  3  5  9 

Während  Europa  an  Bedeutung  für  den  Absatz  der  englischen 
baumwollenen  Fabrikate  verlor,  eroberte  die  englische  Industrie  neue 
Märkte  —  Ostindien,  Aegypten  und  China.  Im  Jahre  1820  war 
Europa  der  wichtigste  Markt  für  England  —  fast  das  gesamte  eng- 
lische Gespinst  und  mehr  als  die  Hälfte  der  baumwollenen  Gewebe 
wurden  von  Europa  absorbiert;  im  Jahre  1850  steht  Europa  schon  in 
der  Einfuhr  der  Gewebe  bedeutend  unter  Ostindien  und  fast  in  der 
gleichen  Linie  mit  der  Türkei  und  Afrika. 

Der  Mangel  an  Märkten  für  den  Absatz  der  Waren  bildet  einen 
gewöhnlichen  Gegenstand  der  Klagen  der  englischen  Industriellen 
der  30er  und  40er  Jahre.  Die  Bewegung  zu  Gunsten  des  Freihan- 
dels, als  deren  Anfang  man  die  berühmte  Petition  von  1820  der 
Londoner  Kaufmannschaft  ansehen  kann,  ist  nur  aus  dem  Grunde 
so  schnell  von  Erfolg  gekrönt  gewesen,  weil  sie  in  der  That  durch 
ein  dringendes  Bedürfnis  hervorgerufen  war,  namentlich  durch  die 
Notwendigkeit,  für  die  englische  Industrie  ihre  auswärtigen  Märkte 
zu  erweitern.  Die  Argumentation  der  Freetraders  bestand  haupt- 
sächlich in  der  ständigen  Wiederholung  des  einen  Gedankens,  näm- 
lich,   dass    die    englische   Industrie    einer    Erweiterung    des   Absatz- 

i)  Ellison,  64. 


—      45      — 

gebiets  bedürfte,  diese  aber  nur  durch  die  Entwickelung  des  Aussen- 
handels  erreicht  werden  könne.  Die  Aufhebung  der  Zölle  auf  die 
Gegenstände  der  englischen  Einfuhr  muss  —  behaupteten  die  Frei- 
händler —  in  zweierlei  Weise  den  englischen  Export  befördern. 
Erstens  wird  das  den  Protektionismus  in  der  ganzen  Welt  erschüttern, 
da  England  das  Hauptbollwerk  des  Protektionismus  ist  —  und  sein 
Uebergang  zum  Freihandel  nicht  umhin  kann,  die  anderen  Länder 
mitzureissen.  Zweitens  muss  die  Aufhebung  der  Zölle  auf  die  land- 
wirtschaftlichen Produkte  die  Einfuhr  solcher  nach  England  ver- 
mehren —  und  dies  wird  zu  einer  Vermehrung  der  Ausfuhr  der 
Produkte  der  englischen  Industrie  führen,  da  der  internationale,  wie 
auch  jeder  andere  Handel,  sich  auf  Grundlage  des  Produktenaus- 
tausches vollzieht.  Wenn  England  zu  seinem  inneren  Markte  keine 
Produkte  der  ackerbautreibenden  Länder  zulässt,  so  müssen  auch 
diese  letzteren  Länder  darauf  verzichten,  sich  englische  Fabrikate  an- 
zuschaffen, da  sie  nichts  haben,  womit  sie  solche  bezahlen  können. 

Diese  Argumentation  enthielt  viel  Richtiges.  Die  englischen 
Industriellen  und  ihre  Ideologen  —  Oekonomisten  -  Freihändler  — 
hatten  vollen  Grund  zu  behaupten,  dass  der  Einfuhrzoll  auf  das  Ge- 
treide mit  einem  Ausfuhrzoll  auf  Fabrikate  gleichbedeutend  sei.  Es 
wäre  ja  möglich  gewesen,  dass  einige  Länder,  welche  Getreide  nach 
England  ausführten,  keiner  englischen  Fabrikate  bedürften.  Aber  es 
unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  die  Erweiterung  der  Einfuhr  land- 
wirtschaftlicher Produkte  nach  England  die  Kaufkraft  der  ackerbau- 
treibenden Länder  vermehrt  und  dadurch  ein  wichtiges  Hindernis  für 
die  Entwickelung  der  englischen  Ausfuhr  beseitigt  hätte. 

Die  ungenügende  Elasticität  des  auswärtigen  Marktes,  welcher 
die  Produkte  der  englischen  Industrie  nur  langsam  absorbieren  konnte, 
zeigt  sich  auch  bei  einer  Vergleichung  der  Veränderung  des  Wertes 
und  der  Masse  der  englischen  Ausfuhr  in  den  30er  und  40er  Jahren  ^). 


Der  wirkliche  Wert  der 

jährlichen  Ausfuhr  der 

Produkte  des  Vereinigten 

Königreichs  (in  Millionen 

Pfund  Sterling) 


1821 — 30  . 
1831—40  . 
1841—50  . 


36,6 
45.2 
57.4 


Die  Zunahme 
in  7o 

Der  offizielle  Wert 
derselben  Produkte 
(die  Masse)  (in  Mil- 
lionen Pfund  Sterl.) 

Die  Zunahme 
in  7o 

24 
27 

48,8 

79,8 

131,8 

63 
65 

i)  Nach  den  Tables  of  the  Revenue,  Population,  Commerce  etc.  of  the  United  King- 
dom.    Offizieller   AVert   wurde   damals   der   Preis    der  Ware   auf   Grund   bestimmter    unver- 


-       4б      - 

Während  die  Ausfuhr  ihrer  Masse  nach  schnell  anwuchs,  ver- 
mehrte sie  sich  ihrem  Werte  nach  bedeutend  langsamer.  Daraus 
können  wir  schliessen,  dass  die  Erweiterung  der  Ausfuhr  von  einem 
bedeutenden  Sinken  der  Preise  begleitet  oder  vielmehr  durch  dieses 
erreicht  wurde.  Und  in  der  That  eine  fallende  Tendenz  der  Waren- 
preise war  für  diese  Zeit  charakteristisch.  Die  Hauptursache  einer 
solchen  Tendenz  bestand  in  dem  raschen  Fortschritt  der  Produktions- 
technik, aber  neben  dieser  wirkte  noch  eine  andere  Ursache  —  die 
Schwierigkeit,  für  die  enormen  Produktenmassen,  welche  die  zu  neuen 
vervoUkomneten  Produktionsmethoden  übergegangenen  Fabriken  auf 
den  Markt  hinauswarfen,  einen  Absatz  zu  finden. 

War  der  auswärtige  Markt  für  die  englische  Industrie  wenig 
zugänglich,  so  war  auch  die  Nachfrage  des  inneren  Marktes  keiner 
schnellen  Zunahme  fähig.  Ich  werde  Gelegenheit  haben  weiter  unten 
von  der  erschreckenden  Verarmung  der  grossen  Mehrzahl  der 
englischen  Bevölkerung  in  den  30  er  und  40  er  Jahren  zu  sprechen. 
Diese  Verarmung  wurde  durch  die  Entwickelung  neuer  Wirtschafts- 
formen und  ihren  Kampf  mit  den  alten  unmittelbar  hervorgerufen. 
Die  Kaufkraft  der  englischen  Arbeiterklasse  wuchs  nicht  nur  nicht 
der  Vermehrung  der  Produktion  entsprechend,  sondern  ging  eher  zu- 
rück.    Ich  lasse  einige  hierauf  bezügliche  Daten  folgen: 


Jahre 


Der  durchschnittliche 
Jahreswert  d.baumwol- 
lenen  Gewebe,  welche  i. 
Vereigt.  Königreiche  ^) 
konsumirt  worden  sind 
(in  Millionen  Pf d.Sterl.) 


Pro  Kopf  der 
Bevölkerung 

Jahre 

14  sh.    3  d. 
13    ,'      2   „ 
II    „    10  „ 

182b — 30 

i«3i— 35 
1841—45 

Der   Konsum 
des  Zuckers  pro 

Kopf  der  Be 

völkerung  ^) 

(in  Pfund) 


Der  durchschnittli- 
che Preis  d.Zuckers 

in  London  (ein- 
schliesslich des  Zol- 
les) pro  Centner 


1836  —  40 
1841—45 
1846 — 50 


i«,5 
17,9 
16,5 


18,4 


17,4 


2  £  17  sh. 

2  „  13  M 
2  „  18  „ 


Man  kann  also  die  Lage  der  englischen  Industrie  in  den  30er 
und  40er  Jahren  auf  folgende  Weise  charakterisieren: 

Die  Produktion  erweiterte  sich  rasch  dank  der  Zunahme  der 
Produktivität   der   Arbeit,   aber   zugleich   war   der   auswärtige   Markt 

änderlicher  Normen  genannt,  welche  im  Jahre  1 694  festgesetzt  worden  waren.  Das  Wachs- 
tum des  offiziellen  Wertes  der  britischen  Ausfuhr  zeigt  daher  ein  AVachstum  der  Masse 
der  ausgeführten  Waren. 

1 )  Zusammengestellt  nach  den  Tabellen  von  J.  Mann,  The  Gotton  Trade  of  Great 
Britain,  Manchester  1860.  Diese  Tabellen  sind  nachgedruckt  bei  Ure,  The  Cotton  Manu- 
facture,  II,  S.  408. 

2)  Zusammengestellt  nach  der  in  The  Economist  1859,  15.  Januar,  Supplement, 
S.   18  abgedruckten  Tabelle. 


—      47       — 

durch  Zollschlagbäume  versperrt,  und  der  innere  Markt  litt  infolge 
des  Rückganges  der  Nachfrage  seitens  der  Arbeiterklasse.  Diese 
ungünstigen  Bedingungen  verhinderten  die  Fortschritte  der  Produktion 
nicht,  führten  aber  ein  Sinken  der  Warenpreise  herbei.  Das  Kapital 
wurde  akkumuliert,  und  die  Industrie  entwickelte  sich,  aber  wie  wir 
weiter  sehen  werden,  ging  diese  Entwickelung  den  Weg  langwieriger 
und  schwerer  Krisen. 


II. 

Der  Sieg  der  Maschine  und  die  Eroberung  neuer  Märicte. 

Mit  den  50er  Jahren  beginnt  eine  neue  Epoche  in  der  Ge- 
schichte der  englischen  Industrie.  Die  Aufhebung  der  Korngesetze 
im  Jahre  1846  war  der  Anfang  einer  Reihe  von  handelspolitischen 
und  finanziellen  Massnahmen,  welche  auf  die  vollkommene  Befreiung 
des  aus-  und  inländischen  Handels  Englands  von  jedweder  Re- 
gierungsvormundschaft gerichtet  waren.  Die  Herabsetzung  oder  die 
vollständige  Abschaffung  der  Accise  auf  eine  grosse  Anzahl  von 
Konsumtionsmitteln,  zugleich  mit  der  Aufhebung  der  Einfuhrzölle  auf 
alle  Rohstoffe,  haben  die  Produktionskosten  der  englischen  Fabrikate 
verringert  und  ihre  Absatzmöglichkeit  erweitert.  Die  Verbilligung  des 
Getreides  und  der  anderen  Lebensmittel  der  Arbeiterklasse  hat  zur 
Vermehrung  der  Nachfrage  nach  Fabrikaten  seitens  der  grossen  Masse 
der  englischen  Bevölkerung  geführt,  und  die  nach  der  Aufhebung 
der  Korngesetze  stark  gestiegene  Korneinfuhr  hat  den  ausländischen 
Konsumenten  die  für  die  Anschaffung  der  englischen  Waren  not- 
wendigen Mittel  gegeben. 

Also  hat  schon  die  Abschaffung  der  Zölle  auf  das  Getreide  und 
auf  die  Rohstoffe  den  Markt  für  die  englischen  Fabrikate  ausgedehnt; 
aber  die  Wirkung  dieser  grossen  Reformen  wurde  noch  dadurch  ausser- 
ordentlich verstärkt,  dass  die  anderen  Staaten,  wie  es  die  englischen 
Freihändler  der  40  er  Jahre  ganz  richtig  voraussahen,  von  dem  Bei- 
spiele Englands  hingerissen  wurden  und  ihrerseits  gleichfalls  anfingen, 
die  Zölle  auf  die  wichtigsten  Gegenstände  ihrer  Einfuhr  herabzusetzen. 
Während  der  ersten  Hälfte  der  50  er  Jahre  haben  die  meisten  euro- 
päischen Staaten  ihre  Tarife  im  liberalen  Sinne  revidiert.  Die  Zölle 
auf  viele  aus  England  ausgeführte  Waren  waren  von  Russland, 
Schweden,  Norwegen,  Dänemark,  Holland,  Sardinien,  Preussen  und 
anderen  Ländern    ermässigt.     Spanien    ist    von    einem  prohibitiven  zu 


~       48       - 

einem   schutzzöUnerischen    Tarif    übergegangen,    und    Frankreich    hat 
seine  Zölle  auf  Eisen,  Stahl  und  Metallfabrikate  stark  herabgesetzt. 

In  England  selbst  wurden  die  handelspolitischen  und  finanziellen 
Reformen  in  derselben  Richtung  wie  früher  weitergeführt.  Im 
Jahre  1853  hat  Gladstone  die  Accise  auf  Seife  abgeschafft,  die 
Einfuhrzölle  auf  123  Gegenstände  aufgehoben  und  die  Zölle  auf  viele 
andere  Waren  herabgesetzt.  Der  Zoll  auf  Thee  ist  fast  auf  die 
Hälfte  ermässigt  worden.  Der  Krimkrieg  hat  die  englische  Regierung 
genötigt,  die  Accise  auf  Spiritus  und  auf  Bier  sowie  die  Zölle  auf 
einige  Kolonialprodukte  zu  erhöhen,  aber  mit  der  Wiederkehr  des 
Friedens  hat  England  den  früheren  Weg  der  systematischen  Ermässi- 
gung der  indirekten  Zölle  wieder  betreten. 

Als  das  wichtigste  Ereignis  auf  dem  Gebiete  der  Zollpolitik  dieser 
Zeit  —  nicht  nur  für  England  allein,  sondern  für  die  ganze  Welt  — 
muss  zweifellos  der  Handelsvertrag  anerkannt  werden,  welcher  1860 
zwischen  England  und  Frankreich  abgeschlossen  worden  war. 

Dieser  Vertrag  war  ein  Triumph  des  Freihandels:  der  Freihandel 
hat  das  Tand  erobert,  welches  stets  als  das  Bollwerk  des  Protektionis- 
mus auf  dem  europäischen  Kontinent  gegolten  hatte  -—  Frankreich. 
Durch  den  Vertrag  von  1860  hat  Frankreich  sich  verpflichtet,  alle 
Verbote  in  seinem  Tarif  abzuschaffen  und  die  Zölle  auf  die  Produkte 
der  britischen  Industrie  soweit  herabzusetzen,  dass  sie  bis  zum 
10.  Oktober  1864  nicht  mehr  als  30%  und  nach  Verlauf  dieser  Zeit 
nicht  mehr  als  25^/0  vom  Werte  betrügen.  Dafür  hat  England,  mit 
wenigen  geringfügigen  Ausnahmen,  alle  Zölle  auf  die  französischen 
Fabrikate  aufgehoben  und  die  Zölle  auf  die  französischen  alkohol- 
haltigen Getränke  stark  herabgesetzt. 

Obwohl  dieser  Vertrag,  rein  formell  betrachtet,  für  Frank- 
reich günstiger  war  als  für  England,  hat  durch  ihn  die  eng- 
lische Industrie,  welche  die  französische  Konkurrenz  nicht  zu  fürch- 
ten hatte,  mehr  gewonnen  —  da  die  Vorteile,  welche  den  fran- 
zösischen Weinproduzenten  zu  gute  kamen,  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  durch  die  Verluste  der  französischen  Fabrikanten,  für  welche 
die  Konkurrenz  der  Engländer  sehr  gefährlich  war,  aufgewogen 
wurden.  Die  Bedeutung  dieses  Vertrages  sowie  der  vorangegangenen 
Herabsetzung  der  französischen  Zölle  für  die  britische  Industrie  lässt 
sich  durch  das  Wachstum  der  britischen  Ausfuhr  nach  Frankreich 
bestimmen.  Der  Wert  der  nach  Frankreich  ausgeführten  Produkte 
des  Vereinigten  Königreichs  betrug  in  den  Jahren  1841 — 50  jährlich 
2,5  MilHonen  Pfund,  in  den  Jahren  1851 — 60  4,4  Millionen  Pfund  und 
in  den  Jahren   i8öi — 70  bereits   10,2  Millionen  Pfund. 


—      49      — 

In  den  40er  Jahren  waren  viele  Länder  zweiten  Ranges  bessere 
Märkte  für  den  Absatz  britischer  Produkte  als  Frankreich;  seit  1860 
nimmt  Frankreich  in  Bezug"  auf  die  Bedeutung  für  die  Ausfuhr  des 
Vereinigten  Königreichs  die  fünfte  Stelle  ein;  ihm  stehen  nur  die 
Vereinigten   Staaten,  Ostindien,  Deutschland  und  Australien  voran. 

Auf  diesen  Vertrag  folgte  der  Abschluss  ähnlicher  Verträge  mit 
anderen  europäischen  Staaten  —  Belgien,  Italien,  dem  deutschen  Zoll- 
verein, Oesterreich  und  der  Schweiz.  Es  trat  eine  Epoche  des  Frei- 
handels ein,  welche  übrigens  nicht  lange  gedauert  hat.  Eigentlich 
war  der  auswärtige  Handel  nur  in  England,  welches  auf  jeden  Schutz 
der  einheimischen  Arbeit  verzichtet  und  nur  Finanzzölle  auf  wenige 
Einfuhrgegenstände  beibehalten  hat,  ganz  frei,  die  Tarife  der  anderen 
europäischen  Länder  aber  haben  einen  mehr  oder  weniger  schutz- 
zöllnerischen  Charakter  bewahrt;  aber  fast  überall  sind  die  Schutz- 
zölle stark  herabgesetzt  worden  und  die  Regierungen  vieler  Länder 
haben  sich  offen  zu  Gunsten  des  Freihandels  ausgesprochen.  Nur  die 
Vereinigten  Staaten  sind  von  der  allgemeinen  Bewegung  ganz  un- 
berührt geblieben.  Der  amerikanische  Tarif  von  1862  hatte  einen 
durchaus  schutzzöllnerischen  Charakter. 

Zwar  hat  die  Herabsetzung  der  Zölle  zur  Entwickelung  des 
Welthandels,  in  welchem  England  die  Hauptrolle  spielte,  sehr  viel 
beigetragen.  Noch  grössere  Bedeutung  aber  in  dieser  Hinsicht  ist 
der  weiteren  Ausbreitung  des  Eisenbahn-  und  Dampfschiffsverkehrs 
zuzuschreiben.  Solange  weite  Landesstrecken  sogar  in  den  civilisier- 
testen  Ländern  keine  genügenden  Verkehrswege  hatten,  konnte  der 
internationale  Handel  mit  den  billigeren  Waren  keine  grosse  Dimen- 
sionen annehmen.  England  schickte  seine  Waren  in  der  ganzen  Welt 
herum,  aber  das  Gebiet  ihrer  Verbreitung  war  sehr  oft  nur  auf  die 
Küstenstreifen  beschränkt.  Dadurch  war  z.  B.  die  verhältnismässig 
schwache  Verbreitung  der  englischen  Waren  in  einem  so  dicht  be- 
völkerten Lande  wie  Ostindien  bedingt.  Die  billigen  englischen 
Waren  konnten  einen  Transport  zu  Lande  auf  schlechten  Wegen  auf 
grosse  Entfernungen  nicht  ertragen.  Ende  der  40er  Jahre  begann 
ein  rascher  Bau  von  Eisenbahnen  in  vielen  europäischen  und  anderen 
Ländern.  Die  Welt  ist  enger  geworden,  —  alle  Länder  haben  sich 
gleichsam  einander  genähert,  die  Gegenden,  welche  vom  Meeresufer 
entfernt  sind,  sind  dem  Welthandel  ebenso  zugänglich  geworden  wie 
die  Meeresküste.  Der  schwerste  Zoll,  mit  welchem  die  englischen 
Waren  belegt  waren,  die"  Kosten  eines  entfernten  Transportes  —  hat 
eine  vielfache  Ermässigung  erfahren.  Die  englischen  Waren  sind 
innerhalb    der   Kontinente    zugänglich    geworden.      Die   Ausdehnung 

Tugan-Barano wsky,  Dio  Ifandelskrisen.  4 


—      50      — 

des  Absatzgebietes,  welche  durch  die  Eisenbahnen  hervorgerufen 
worden  ist,  ist  an  dem  Beispiele  Ostindiens  ersichtlich.  Anfang  der 
50er  Jahre  schwankte  der  Wert  der  Ausfuhr  der  Produkte  des  Ver- 
einigten Königreichs  nach  Ostindien  zwischen  6  und  7  Millionen 
Pfund.  Ende  der  50er  Jahre  begann  in  Ostindien  der  Bau  der  Eisen- 
bahnen mit  Hülfe  des  englischen  Kapitals,  und  zu  Anfang  der  60er 
Jahre  ist  der  Wert  der  britischen  Ausfuhr  auf  17  Millionen  Pfund 
gestiegen. 

Diese  beiden  Momente  —  nämlich  der  Uebergang  Englands  und, 
in  geringerem  Masse,  des  übrigen  Europas  vom  Protektionismus  zum 
Freihandel  und  die  Ausbreitung  des  Eisenbahn-  und  DampfschifF- 
verkehrs  haben  das  Absatzgebiet  der  englischen  Fabrikate  im 
höchsten  Masse  erweitert. 

In  derselben  Richtung  hat  noch  ein  drittes  Moment  eingewirkt 
—  nämlich  die  Entdeckung  der  überaus  reichen  Goldlager  in  Ka- 
lifornien und  Australien.  Im  Jahre  1848  ist  durch  einen  Zufall  in 
Kalifornien  Gold  entdeckt  worden  und  im  Jahre  1851  in  Victoria, 
einer  der  australischen  Kolonien.  Die  Bedeutung  dieser  Entdeckungen 
für  den  englischen  Handel  bestand  vor  allem  darin,  dass  die  Nach- 
frage nach  englischen  Waren  sich  in  Kalifornien  und  Australien  in 
kurzer  Zeit  vervielfachte.  Das  Gerücht  über  die  märchenhaften  Reich- 
tümer, welche  an  den  einsamen  Ufern  des  Sakramente  und  des 
Murrey  liegen,  haben  Zehn-  und  Hunderttausende  von  Emigranten  aus 
allen  Weltteilen  in  diese  Länder  gelockt.  Die  Wüsten  Kaliforniens, 
in  denen  früher  nur  wilde  Indianer  herumzogen,  sind  jetzt  mit  einer 
erstaunlichen  Schnelligkeit  bevölkert  worden.  Australien  war  ein 
Land  von  grösserer  Kultur,  jedoch  ebenso  dünn  bevölkert  und  erst, 
nachdem  einer  der  Inländer,  aus  Kalifornien  zurückgekehrt,  an  dem 
Ufer  eines  australischen  Flüsschens  goldhaltigen  Sand  gefunden  hatte, 
begann  seine  Bevölkerung  sich  ebenso  rasch  zu  vermehren  wie  die 
Kaliforniens.  Da  es  in  Kalifornien  und  Australien  fast  keine  ein- 
heimische Industrie  gab,  so  mussten  alle  für  die  vermehrte  Bevöl- 
kerung notwendigen  Waren  aus  anderen  Ländern  eingeführt  werden. 
Australien  war  zudem  eine  britische  Kolonie,  und  es  ist  daher  ganz 
natürlich,  dass  sein  Hauptlieferant  England  wurde. 

Der  durchschnittliche  Wert  der  Jahresausfuhr  der  britischen 
Fabrikate  nach  Australien  betrug  im  Jahrzehnt  1842 — 51  nur  1,6 
Millionen  Pfund,  im  Jahrzehnt  1852  — 1861  aber  schon  10,1  Millionen 
Pfund.  Also  infolge  der  Entdeckung  des  Goldes  in  Australien  hat 
England  einen  neuen  Markt  gewonnen,  welcher  seiner  Bedeutung 
nach  für  den  britischen  Handel  Frankreich,  Italien   und   die  anderen 


—       51       — 

Länder,  welche  lange  Zeit  in  einem  lebhaften  Handelsverkehr  mit 
England  gestanden  hatten,  übertraf  und  nur  gegen  die  Vereinigten 
Staaten,  Deutschland  und  Ostindien  zurückstand. 

Viel  schwerer  ist  es,  die  ökonomische  Bedeutung  der  Vermeh- 
rung des  Vorrats  des  Goldes  für  England  selbst  zu  bestimmen.  Die 
Goldgewinnung  hat  sich  in  den  50er  und  6oer  Jahren  ausserordent- 
lich gehoben.  In  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts  sind  in 
der  ganzen  Welt  bloss  118  487  Kilogramm  Gold  gewonnen  worden, 
während  in  einem  Jahrzehnte  1851 — 60  der  Goldertrag  401  138  Kilo- 
gramm Gold  betrug.  Seit  der  Entdeckung  Amerikas  gab  es  keine 
Epoche,  wo  die  Menge  der  Edelmetalle  in  Europa  so  stark  und  so 
plötzlich  zugenommen  hat.  Im  XVI.  Jahrhundert  war  auf  den  Silber- 
zufluss  aus  Amerika  ein  bedeutendes  Steigen  der  Warenpreise  ge- 
folgt; nach  einer  verbreiteten  Ansicht  ist  es  durch  das  Fallen  des 
Silberpreises  hervorgerufen  worden.  Hat  die  Vermehrung  der  Gold- 
gewinnung in  den  50er  Jahren  nicht  auf  das  Fallen  seines  Wertes, 
also  auf  die  Erhöhung  der  Warenpreise  eingewirkt? 

Eine  solche  Einwirkung  scheint  mir  jedenfalls  höchst  zweifel- 
haft. Freilich  sind  die  Warenpreise  in  den  50er  und  6oer  Jahren 
gestiegen.  Nach  der  bekannten  Schätzung  von  Jevons  haben  sie 
sich  um  mindestens  lo^o  erhöht.  Aber  es  liegt  durchaus  kein  Grund 
vor,    diese    Erhöhung  auf  das  Fallen  des  Goldwertes  zurückzuführen. 

Gleichzeitig  mit  der  Vermehrung  der  Goldgewinnung  haben  viele 
andere  Momente  in  derselben  Richtung  auf  die  Warenpreise  eingewirkt. 
So  z.  B.  mussten  die  Kriege  der  50er  und  60er  Jahre,  welche  nach 
so  vielen  Jahren  des  Friedens  ausbrachen,  natürlich  die  Warenpreise 
in  die  Höhe  treiben:  die  hohen  Preise  von  Getreide,  Flachs,  Hanf  und 
anderen  russischen  Waren  in  England  Mitte  der  50  er  Jahre  waren 
eine  Folge  des  Krimkrieges,  und  das  ungewöhnliche  Emporschnellen 
der  Baumwollpreise  in  den  60  er  Jahren  ist  durch  den  Bürgerkrieg  in 
den  Vereinigten  Staaten  verursacht  w^orden. 

In  den  30er  und  40er  Jahren  litt  die  englische  Industrie  unter 
einem  Mangel  an  Märkten:  die  Warenpreise  mussten  niedrig  sein, 
weil  das  Warenangebot  die  Nachfrage  nach  solchen  übertraf.  Seit 
den  50er  Jahren  haben  sich  die  Märkte  für  die  Produkte  der  eng- 
lischen Industrie  ausserordentlich  ausgedehnt ,  und  so  konnte  ein 
Steigen  der  Warenpreise  nicht  ausbleiben.  Neben  den  gewöhnlichen 
periodischen  Preisschwankungen  giebt  es  auf  dem  Warenmarkte  auch 
dauernde  Epochen  der  Erhöhung  und  des  Sinkens  der  Preise,  einer 
günstigen    und    einer    ungünstigen    Konjunktur.     Das    zweite  Viertel 


—      52      — 

dieses  Jahrhunderts  war  eine  Epoche  des  Sinkens  der  Warenpreise 
infolge  der  ungünstigen  Verhältnisse  des  Weltmarktes,  die  Epoche 
1850 — 73  war  hingegen  die  Zeit  einer  günstigen  Konjunktur. 

Die  Vermehrung  der  Goldgewinnung  in  Kalifornien  und 
Australien  konnte  unmittelbar  nur  insofern  auf  die  englischen  Waren- 
preise einwirken,  als  daraus  eine  erhöhte  Nachfrage  nach  Waren  in 
den  goldgewinnenden  Ländern  entstanden  ist.  Diese  neu  entstandene 
Nachfrage  war  jedoch  geringfügig  im  Vergleich  mit  der  neuen  Nach- 
frage, welche  durch  die  Verbreitung  des  Freihandels  und  die  Ver- 
besserung des  Transportwesens  geschaffen  worden  ist. 

Der  hohe  Diskontsatz  der  Bank  von  England  in  den  50  er  und  60  er 
Jahren  zeigt,  dass  der  Goldzufluss  nach  England  auf  die  Warenpreise 
nicht  auf  dem  Wege  des  Sinkens  des  Zinsfusses  einwirken  konnte. 
Ich  bestreite  allerdings  nicht,  dass  der  Goldzufluss  nach  England  eine 
gewisse  Einwirkung  auf  die  englischen  Preise  ausgeübt  hat:  zwar  ist 
das  Steigen  der  Preise  durch  andere  Ursachen  hervorgerufen  worden, 
doch  wäre  ein  solches  unmöglich  gewesen,  wenn  der  reiche  Gold- 
zufluss aus  Kalifornien  und  Australien  die  Kassen  der  Bank  von 
England  nicht  gestärkt  hätte  und  wenn  nicht  das  neugewonnene 
Gold  in  die  Cirkulation  getreten  wäre,  um  das  immer  wachsende 
Bedürfnis  nach  Tauschmitteln  zu  befriedigen.  (Nach  einigen  Schätzungen 
hat  sich  die  Menge  der  Goldmünzen  im  Vereinigten  Königreich  in 
dieser  Zeit  um  20  Millionen  Pfund  Sterling  vermehrt.)  Der  Krim- 
krieg ist  nur  aus  dem  Grunde  für  die  finanzielle  und  ökonomische 
Lage  Englands  so  günstig  vorübergegangen,  ohne  eine  Geldkrisis 
hervorzurufen,  weil  gleichzeitig  mit  dem  Abfluss  einer  enormen  Menge 
Metallgeld  auf  den  Kriegsschauplatz  Gold  nach  England  aus  Gold 
gewinnenden  Ländern  floss;  ebenso  verursachte  der  Silberabfluss  nach 
dem  Orient  Ende  der  50er  und  Anfang  der  60er  Jahre,  welcher  durch 
die  Vermehrung  der  Einfuhr  der  orientalischen  Waren  nach  Europa 
hervorgerufen  wurde,  nur  aus  dem  Grunde  keine  vollkommene  Störung 
des  europäischen  Geldmarktes,  weil  in  Frankreich  enorme  Silber- 
vorräte vorhanden  waren,  die  es  nach  dem  Orient  schicken  konnte 
und  zum  Ersatz  des  vSilbers  aus  England  Gold  bekam.  Der  Gold- 
zufluss hat  somit  eine  grosse  Bedeutung  gehabt,  jedoch  nicht  die, 
welche  ihm  gewöhnlich  zugeschrieben  wird:  er  hat  nicht  unmittelbar 
auf  die  Warenpreise  eingewirkt,  sondern  eine  Veränderung  der  Preise 
in  der  Richtung  ermöglicht,  welche  dem  allgemeinen  Zustande  des 
Warenmarktes  entsprach. 

Wir  haben  gesehen,  dass  im  zweiten  Viertel  dieses  Jahrhunderts 
der  Wert  der   englischen  Ausfuhr   infolge  des  durch  den  Mangel  an 


—      53       - 

Märkten   und   die   Fortschritte   der  Technik  hervorgerufenen   Sinkens 
der  Preise  nur  langsam  zunehmen  konnte. 

Die  50er  und  60 er  Jahre  bieten  ein  anderes  Bild  dar:  für  die 
englische  Industrie  eröffneten  sich  neue  Märkte,  und  der  Wert  der 
englischen  Ausfuhr  fing  an,  rasch  zu  wachsen,  umsomehr  als  die  Ent- 
wickelung  der  Technik  schon  nicht  mehr  eine  so  rapide  wie  früher  war. 


Die  durchschnittliche  jährliche 

Der  durchschnittliche  Jahreswert 

Tonnenzahl  der  aus  den  Häfen 

Jahre 

der  Ausfuhr  der  Produkte  des 

des  Vereinigten  Königreichs  nach 

Vereinigten  Königreichs 

dem  Ausland  und  den  Britischen 

(in  Millionen  Pf.) 

Kolonien  abgegangenen  Schiffe 
(in  Millionen) 

GeAvachsen  um 

Gewachsen  um 

1841 — 1850 

57,4               — 

60,3                 — 

1851  — 1860 

106,5         85  7o 

103,2             71 7o 

1861  — 1870 

166,0         56% 

153,9              49  7o 

Die  Ausfuhr  nimmt  zu  mit  grösster  Geschwindigkeit.  Während 
in  der  vorangegangenen  Periode  die  Masse  der  ausgeführten  Waren 
viel  schneller  anwuchs  als  deren  Wert,  —  mit  anderen  Worten  die 
Preise  sanken  —  jetzt  wächst  hingegen  der  Wert  der  ausgeführten 
Waren  schneller  als  die  Tonnenzahl  der  aus  England  abgegangenen 
Schiffe.  Daraus  kann  man  auf  das  Steigen  der  Warenpreise  schliessen 
—  und  zugleich,  da  aus  England  hauptsächlich  Fabrikate  exportiert 
werden,  auf  die  Verlangsamung  des  technischen  Fortschrittes. 

Und  in  der  That  hat  in  der  Baumwollproduktion  die  Aera  der 
Entdeckungen  in  den  40  er  Jahren  ihren  Abschluss  gefunden.  Die 
Produktion  fuhr  fort  sich  zu  vermehren,  aber  nicht  entfernt  mit  der 
früheren  Geschwindigkeit.  Der  jährliche  Verbrauch  der  Baumwolle 
stieg  von  755  Millionen  Pfund  (185 1 — 55)  auf  971  Millionen  Pfund 
(1866 — 70).  Die  Menge  des  produzierten  Roheisens  hat  sich  von 
2,1  Millionen  Tonnen  (1849)  ^^^  4»7  Millionen  Tonnen  (1861  —  70) 
vermehrt.  In  den  anderen  Produktionszweigen  war  die  Vermehrung 
der  Produktion  auch  nicht  eine  so  rapide  wie  in  den  30  er  und  40er 
Jahren.  Dafür  hatten  aber  die  Preise  der  Produkte  keine  Tendenz 
zum  Sinken  gehabt  und  die  Industrie  entwickelte  sich  bei  einer 
günstigen  Lage  des  Warenmarktes.  Die  Unternehmer  realisierten 
hohe  Gewinne  und  konnten  mit  dem  Experiment  des  Freihandels 
vollkommen  zufrieden  sein.  Der  Reichtum  der  besitzenden  Klassen 
wuchs  so  schnell,  dass  Gladstone  berechtigt  war,  in  seiner  be- 
rühmten Budgetrede  von  1863  dies  Wachstum  als  „berauschendes"  zu 
bezeichnen. 


—      54      — 
III. 

Der  Verfall  der  industriellen  Suprematie  Englands. 

Aber  alle  diese  Prosperität  hat  sich  nicht  als  von  langer  Dauer 
erwiesen.  Keine  zwanzig  Jahre  waren  seit  dem  Abschluss  des  be- 
rühmten Cobden sehen  Handelsvertrages  vergangen,  als  untrügliche 
Zeichen  darauf  hindeuteten,  dass  die  industrielle  Weltherrschaft  Eng- 
lands sich  ihrem  Ende  nähere.  Die  Mitte  der  70  er  Jahre  bedeutet 
einen  Wendepunkt  in  der  Geschichte  der  englischen  Industrie.  Auf 
die  Periode  des  Aufschwunges  war  eine  andauernde  und  schwere 
Geschäftsstockung  gefolgt.  Darin  lag  noch  nichts  Ausserordentliches: 
wie  auf  die  Flut  unausbleiblich  die  Ebbe  folgt,  so  folgt  in  England  auf 
den  Aufschwung  stets  eine  Geschäftsstockung.  Jedoch  als  diesmal 
die  Geschäftsstockung  dem  neuen  Aufschwung  wieder  Platz  machte, 
kehrten  damit  die  früheren  glücklichen  Tage  für  die  englischen  In- 
dustriellen nicht  wieder.  Der  englische  Fabrikant  musste  mit  Staunen 
sehen,  dass  seine  alte  Ueberlegenheit  über  alle  anderen  Konkurrenten 
mehr  und  mehr  in  das  Gebiet  der  Tradition  verwiesen  wird.  Die 
Weltindustrie  entwickelte  sich  sehr  rasch  und  gerade  in  den  Ländern, 
deren  Märkte  England  gleichsam  als  sein  Erbgut  zu  betrachten  ge- 
wohnt war.  Nord- Amerika,  welches  mit  allen  Vorzügen  eines  jungen 
und  schwach  bevölkerten  Landes  die  Vorteile  einer  hohen  Kultur 
und  Technik,  die  die  Technik  des  alten  Europa  bei  weitem  überholt, 
vereinigt,  strebte  erfolgreich  sich  aus  der  Abhängigkeit  von  der 
englischen  Industrie  zu  befreien.  Die  englischen  Kolonien,  wie  Canada 
und  Australien,  brachten  mit  Hülfe  von  Schutzzöllen  ihre  eigene  In- 
dustrie zur  Entwickelung.  Die  Länder  des  fernen  Orients,  welche 
die  Hauptmasse  der  Produkte  der  englischen  Baumwollweberei  und 
Spinnerei  absorbierten,  fingen  seit  Ende  der  70er  Jahre  an,  eigene 
Fabriken  zu  errichten.  Die  Baumwolle-  und  Baumwollspinnfabriken 
von  Bombay  machten  nicht  nur  dem  Lancashire  eine  ernsthafte  Kon- 
kurrenz auf  dem  ostindischen  Markte,  sondern  sie  eroberten  nach  und 
nach  selbst  noch  einige  wichtige  auswärtige  Märkte,  die  sich  früher 
im  Monopolbesitz  Englands  befunden  hatten.  So  kam  es,  dass  die 
Ausfuhr  des  Baumwollgarnes  aus  England  nach  China  und  Japan 
seit  der  Mitte  der  70er  Jahre  fast  garnicht  zunahm,  während  die 
Ausfuhr  aus  Ostindien  sich  so  stark  erweiterte,  dass  das  englische 
Garn  nur  noch  einen  geringfügigen  Teil  des  ausländischen  Garnes  auf 
jenen  Märkten  bildete.  Das  ostindische  Garn  hat  den  japanischen 
und  chinesischen  Markt  fast  vollständig  erobert. 


-     55      — 

Höchst  ungünstig  erwies  auch  für  England  die  neueste  Richtung 
der  Handelspolitik  der  meisten  Staaten.  Mit  dem  Ende  der  70er 
Jahre  beginnt  ein  Umschwung  nach  der  Richtung  des  Protektionis- 
mus hin.  In  den  70er  und  80er  Jahren  sind  in  allen  europäischen 
Ländern,  die  über  eine  entwickelte  Industrie  verfügen  —  mit  Aus- 
nahme von  Belgien  und  Holland  —  die  Zolltarife  im  Sinne  einer 
Verstärkung  des  Protektionismus  revidiert  worden.  Die  Vereinigten 
Staaten  haben  durch  den  Mc  Kinley-Tarif,  der  durch  die  nachfol- 
genden Zollreformen  nur  wenig  abgeschwächt  worden  ist,  den  Pro- 
tektionismus auf  die  Spitze  getrieben.  Selbst  einige  englische  Kolo- 
nien haben  sich,  wie  gesagt,  durch  hohe  Zölle  vor  den  Produkten 
des  eigenen  Mutterlandes  geschützt. 

Im  Jahre  1886  wurde  in  England  eine  Königliche  Kommission 
eingesetzt  zum  Zwecke,  die  Ursachen  der  Geschäftsstockung  zu  unter- 
suchen. Die  meisten  von  der  Kommission  verhörten  Industriellen 
beklagten  sich  über  die  ausländische  Konkurrenz  im  allgemeinen  und 
die  deutsche  im  besonderen.  Nach  diesen  Aussagen  haben  die 
deutschen,  belgischen  und  französischen  Waren  die  englischen  nicht 
nur  von  vielen  ausländischen  Märkten  ganz  verdrängt,  sondern  sie 
sind  auch  in  bedrohlichen  Mengen  in  England  selbst  erschienen.  Die 
englischen  Fabrikanten,  die  früher  so  selbstbewusst  die  ganze  Welt 
zum  Kampfe  herausgefordert  und  stets  nur  das  eine  angestrebt  hatten 
—  die  Freiheit  der  Konkurrenz  —  sie  können  jetzt  ihren  eigenen 
Markt  nicht  schützen.  Sie  —  die  Ritter  des  Freihandels  —  lassen 
sich  dazu  herbei,  um  Schutzzölle  zu  bitten,  um  sich  vor  dem  An- 
sturm der  Ausländer  zu  retten.  In  den  8oer  Jahren  beginnt  in  Eng- 
land eine  Bewegung  zu  Gunsten  des  Protektionismus.  Eine  Mino- 
rität der  obengenannten  Kommission  schlug  auch  direkt  und  ohne 
Umschweife  vor,  ausländische  Fabrikate  mit  Einfuhrzöllen  zu  belegen; 
die  Majorität  war  weniger  entschlossen,  aber  auch  sie  sah  sich  ge- 
nötigt, folgende  Erklärung  abzugeben:  „In  der  Warenproduktion  an 
sich  —  so  lesen  wir  in  dem  Bericht  der  Kommission  —  haben  wir, 
wenn  überhaupt,  nur  sehr  wenige  Vorzüge  vor  Deutschland  vor- 
aus; und  in  der  Kenntnis  des  Weltmarktes,  in  dem  Bestreben,  sich 
den  lokalen  Verhältnissen  anzupassen  und  sich  überall,  луо  es  mög- 
lich ist,  dauernd  festzusetze^n,  fangen  die  Deutschen  sogar  an,  uns  zu 
übertreffen.!)" 

Wie  gross  musste  die  ErnüchLerung  sein,  die  die  Freihandels- 
ära zeitigte,  dass  die  Engländer  zu  ihrem  alten  Glauben,  dem  Protek- 

i)  Final  Report  of  the  Royal  Commission  appointed  to  inquire  into  the  Depression 
of  Trade  and  Industry,    1886,  S.  XX. 


-      5б      - 

tionismus,  zurückkehrten!  Was  würden  wohl  die  Schatten  der  ehr- 
würdigen, lorbeergekrönten  Cobden  und  Bright  darüber  sagen? 

Die  Herrschaft  des  Freihandels  auf  dem  Weltmärkte  hat  sich 
als  eine  ephemere  erwiesen,  und  selbst  im  Vaterland  eines  Bright  er- 
hebt die  Hydra  des  Protektionismus  den  Kopf. 

In  der  neuesten  Zeit  ist  Deutschland  noch  mehr  in  den  Vorder- 
grund getreten  und  hat  England  im  industriellen  Wettrennen  ent- 
schieden hinter  sich  gelassen.  Und  dies  Faktum,  das  schon  längst 
den  Gegenstand  der  Klagen  der  englischen  Fabrikanten  bildete,  be- 
ginnt in  den  letzten  Jahren  die  öffentliche  Meinung  Englands  ernst 
zu  beunruhigen.  Das  übrigens  ziemlich  oberflcächliche  Buch  von 
Williams  „Made  in  Germany"  hat  mehrere  Auflagen  erlebt  und  einen 
starken  Erfolg-  gehabt  —  nur  aus  dem  Grunde,  weil  der  Verfasser 
den  Mut  gehabt  hat,  jenes  Faktum  ohne  jede  Verheimlichung  aus- 
zusprechen. Die  industrielle  Suprematie  Englands,  die  eine  lange  Zeit 
von  allen  anerkannte  Wahrheit  war,  verwandelt  sich  jetzt  in  einen 
Mythus.     Ja,  ,,der  industrielle  Ruhm  Englands  schwindet." 

Die  statistischen  Zahlen  beweisen  das  unanfechtbar  i). 


2i 

1—) 

Durchschnittlicher   Wert    der 
Ausfuhr  der  Produkte  des  Ver- 
einigten Königreichs  (in  Milli- 
onen Pfund  Sterling) 

^0 

0  "" 

,й 

4) 

в 

(Л 

Tonnenzahl  der  aus  den  Häfen 
des    Vereinigten    Königreichs 
nach   dem  Ausland   und    den 
britischen  Kolonien  abgegange- 
nen Schiffe 
(in  Hunderttausenden) 

^0 

0 

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<u 

bfi 

'S 

00 

Roheisenj)roduktion  (Milli- 
onen Tonnen) 

0 

Й 
<v 

'S 

(Л 

Steinkohlenproduktion  (in 
Millionen  Tonnen) 

© 
0 

_Й 
Й 

'S 
4-1 

(Л 

Verbrauch  der  Baumwolle  in 

den  Fabriken  Gross- 
britanniens (in  zehn  Millionen 
Pfund) 

.^0 

.S 

Й 
<D 

bß 

'<u 
■t-i 

1861 — 70 
1871—80 
1881—90 
1891 — 99 

166 
221 

234 
233 

33 

7 

154 
241 

332 
420 

56 
38 

26 

4.7 
6,6 

7,9 
8,0 

40 

20 

I 

97 
131 
164 
192 

35 
25 
17 

81 
128 
149 
163 

58 

17 

9 

Diese  Tabelle  bildet  einen  beredten  Kommentar  zu  den 
citierten  Worten  Williams.  Im  Handel  wie  in  der  Industrie  Eng- 
lands sehen  wir  einen  Stillstand  oder  bedeutende  Verlangsamung 
der  Entwickelung.  Zwar  nimmt  die  Produktion  von  Steinkohlen,  Roh- 
eisen und  die  Baumwollindustrie  zu,  aber  das  Tempo  der  Zunahme 
wird  fortgesetzt  immer  langsamer.  Die  Steinkohlenindustrie  ist 
in  den  90er  Jahren  stärker  gewachsen  als  die  Bevölkerung,  die 
Baumwollindustrie  aber  schwächer  —  und    noch  schwächer  derjenige 


i)   Nach    den    Statistical    Abstracts    for    the  United  Kingdom    und   jährlichen  Supple- 
menten des  ,,The  Economist". 


—      57      — 

Produktionszweig,  der  eine  führende  Rolle  in  der  modernen  Wirt- 
schaft spielt  —  die  Roheisenproduktion.  Ebenso  verhält  es  sich  mit 
der  britischen  Ausfuhr.  Die  Tonnenzahl  der  abgegangenen  Schiffe 
fährt  fort  zu  wachsen,  die  Zunahme  wird  aber  mit  jedem  Jahrzehnt 
schwächer.  Der  Wert  der  Ausfuhr  hört  aber  auf  zu  steigen.  Das 
deutet  auf  ein  Steigen  der  Warenpreise  hin.  Und  in  der  That  sind 
die  8oer  und  90er  Jahre  die  Zeit  des  Sinkens  der  Preise  gewesen. 
Mit  diesem  Sinken,  das  Ende  der  70er  und  in  der  ersten  Hälfte  der 
80er  Jahre  besonders  schroff  war,  beschäftigen  sich  zahlreiche  öko- 
nomische Schriften  der  neuesten  Zeit.  Die  Thatsache  des  Sinkens 
selbst,  sowie  auch  seine  Ursachen,  können  in  der  wissenschafthchen 
Litteratur  als  festgestellt  betrachtet  werden.  Als  Hauptursache  gilt 
für  die  meisten  Autoren  die  in  der  neuesten  Zeit  erfolgte  vollstän- 
dige Umwandlung  des  Transport-  und  Verkehrswesens  —  die  allge- 
meine Verbreitung  der  Eisenbahnen  und  des  Telegraphen  sowie  die 
Verdrängung  der  Segel  durch  die  Dampfschiffahrt. 

Der  relative  Rückgang  der  englischen  Industrie  steht  in  einem 
auffallenden  Kontrast  zu  den  industriellen  Fortschritten  der  Konkur- 
renten Englands,  in  erster  Einie  zum  kolossalen  Aufschwung  der 
deutschen  Industrie.  Wie  bereits  erwähnt,  überlässt  England  nicht 
nur  seinen  Platz  auf  dem  Weltmarkte  anderen  Ländern,  sondern  es 
kann  nicht  einmal  seinen  eigenen  Markt  behaupten.  So  ist  in  den 
Jahren  1889  bis  98  die  Ausfuhr  der  wollenen  Gewebe  aus  England 
dem  Werte  nach  von  21,3  Millionen  Pfund  auf  13,7  Millionen  ge- 
sunken, während  deren  Einfuhr  nach  England  von  9,7  Millionen 
auf  9,8  Millionen  Pfund  gestiegen  ist;  die  Ausfuhr  der  seidenen  Ge- 
webe ist  in  derselben  Zeit  von  2,5  Millionen  Pfund  auf  1,5  Millionen 
gesunken,  ihre  Einfuhr  dagegen  von  11,8  Millionen  auf  16,6  Mill. 
gestiegen;  die  Ausfuhr  der  baumwollenen  Gewebe  ist  von  58,8 
Millionen  Pfund  auf  56,0  Millionen  gesunken,  deren  Einfuhr  ist 
von  2,5  Millionen  auf  4,4  Millionen  gestiegen.  In  Fällen  aber  des 
Steigens  der  britischen  Ausfuhr  entfällt  solches  fast  aussschliesslich 
auf  die  Ausfuhr  von  Produktionsmitteln  für  andere  Länder.  So  hat 
eine  bedeutende  Erhöhung  der  Ausfuhr  von  Steinkohlen  und  Maschi- 
nen aus  England  stattgefunden:  der  Wert  der  Ausfuhr  der  Stein- 
kohlen hat  sich  von  14,8  Millionen  Pfund  (im  Jahre  1889)  auf  18,1 
Millionen  (im  Jahre  1898)  und  der  der  Maschinen  in  derselben  Zeit 
von  14,7  Millionen  auf  17,4  Millionen  erhöht.  Ebenso  stark  ist  die 
Ausfuhr  der  chemischen  Produkte,  der  Farbstoffe  u.  s.  w.  gewachsen. 

In  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  bildeten  die  verschie- 
denen Gewebe  den  Hauptgegenstand  der   englischen  Ausfuhr.     Jetzt 


-      58      - 

wächst  die  relative  Bedeutung  der  Ausfuhr  der  eisernen  Fabrikate, 
Maschinen  und  Steinkohlen.  Ich  lasse  hier  die  betreffenden  Daten 
folgen  1). 

Jährliche  Ausfuhr  aus  dem  Vereinigten  Königreich  in  Mill.  Pf.  St. 


Jahre 

Baum- 
wollene 
Gewebe 

Wollene 

Leinene 

Unverarbeites 
u.  verarbeitetes 
Eisen   (einschl. 
der  Maschinen) 

Stein- 
kohlen 

1868—70 
1886—88 
1896—98 

54,2 
59,5 
56,4 

21.3 
20,2 

16,0 

7,0 
5,5 
4.7 

26,3 
35,3 
39.9 

5,4 
10,4 
16,7 

Es  hat  eine  Zeit  gegeben,  wo  die  Ausfuhr  der  baumwollenen 
Fabrikate  beinahe  die  Hälfte  der  gesamten  englischen  Ausfuhr  er- 
reicht hatte.  Jetzt  entfällt  nur  ein  wenig  mehr  als  Y5  der  Ausfuhr 
auf  die  baumwollenen  Gewebe.  In  dieser  Veränderung  kommt 
zweierlei  zum  Vorschein.  Erstens  ist  sie  eine  Folge  des  Verfalls 
der  industriellen  Suprematie  Englands:  der  auswärtige  Markt  ver- 
langt immer  weniger  englische  Gewebe  und  andere  Produkte  der 
rohstoffveredelnden  Industrie,  die  dem  Konsum  unmittelbar  dienen  — 
da  solche  von  den  einheimischen  Industrien  selbst  erzeugt  werden. 
Zugleich  wächst  jedoch  die  Nachfrage  nach  englischen  Maschinen, 
Kohlen,  Roheisen  etc.  —  den  Produktionsmitteln  für  die  sich  rasch 
entwickelnden  Industrien  der  englischen  Konkurrenten.  Zweitens 
aber  ist  diese  Veränderung  —  das  starke  relative  Wachstum  der 
Nachfrage  nach  Produktionsmitteln  auf  Kosten  der  Nachfrage  nach 
den  Konsumtionsmitteln  —  keineswegs  nur  England  eigen.  In  allen 
industriellen  Staaten  tritt  uns  dieselbe  Erscheinung  entgegen  —  überall 
folgt  die  Entwicklung  der  Volkswirtschaft  demselben  fundamentalen 
Gesetz.  Die  Montanindustrie,  welche  die  Produktionsmittel  für  die 
moderne  Industrie  schafft,  wird  immer  mehr  in  den  Vordergrund 
gerückt.  Somit  kommt  in  der  relativen  Abnahme  des  Exports  der- 
jenigen britischen  Fabrikate,  die  in  den  unmittelbaren  Verbrauch  ein- 
gehen, auch  das  Grundgesetz  der  kapitalistischen  Entwickelung  zum 
Ausdruck:  je  mehr  die  Technik  fortschreitet,  desto  mehr  treten  die 
Konsumtionsmittel  zurück  gegenüber  den  Produktionsmitteln.  Die 
Menschenkonsumtion  spielt  eine  immer  geringere  Rolle  gegenüber  der 
produktiven  Konsumtion  der  Produktivmittel.  So  sind  nach  Porter  1830 
in  Grossbritannien  653417  Tonnen  Roheisen    produziert    worden;    im 


i)  Nach  den  Statistical  Abstracts  for  the  United  Kingdom. 


—       59       — 

Jahre  1899  —  ungefähr  9^/2  MiUionen  Tonnen.  Die  Roheisen- 
produktion ist  ungefähr  um  das  Fünfzehnfache  gewachsen.  Der  Ver- 
brauch an  Baumwolle  in  der  britischen  Baumwollenindustrie  erreichte 
im  Jahre  1830  248  Millionen  Pfund,  im  Jahre  1899  1760  Millionen 
Pfund  —  eine  Vermehrung  ungefähr  um  das  Siebenfache.  Dasselbe 
zeigt  sich  in  einer  relativen  Abnahme  der  in  der  Produktion  der 
Konsumtionsmittel  beschäftigten  Bevölkerung  und  einer  raschen  ab- 
soluten und  relativen  Zunahme  des  in  der  Herstellung  der  Produktions- 
mittel beschäftigten  Personals.  So  ist  allgemein  bekannt,  dass 
die  landwirtschaftliche  Bevölkerung  nicht  allein  in  England,  das  Ge- 
treide importiert,  sondern  auch  in  den  getreideexportierenden  Ländern 
prozentual  im  Abnehmen  begriffen  ist.  Ein  relativer  (und  manchmal 
auch  absoluter)  Rückgang  des  Arbeiterpersonals  wird  jedoch  nicht 
nur  in  der  Landwirtschaft  beobachtet.  Nach  Hobson  („The  Evo- 
lution of  modern  Capitalism")  finden  in  der  Berufsgliederung  der 
Bevölkerung  Englands  die  folgenden  Veränderungen  statt.  Die  re- 
lative Zahl  der  Arbeiter  in  der  Textilindustrie  ist  in  der  neuesten 
Zeit  in  rascher  Abnahme  begriffen.  Der  Prozentsatz  der  in  diesen 
Produktionszweigen  beschäftigten  Bevölkerung  ist  von  ii,i  (185 1) 
auf  7,6  (1891)  gesunken.  Der  Prozentsatz  des  in  der  Bekleidungs- 
industrie beschäftigten  Arbeiterpersonals  ist  in  denselben  Jahren  gleich- 
falls gesunken,  und  zwar  von  10,3  auf  8,3.  In  den  Jahren  187 1 — 81 
hat  sogar  eine  absolute  Abnahme  der  Zahl  der  Textilarbeiter  statt- 
gefunden. Und  umgekehrt,  in  der  die  Produktionsmittel  schaffen- 
den Industrie  sehen  wir  ein  sehr  rasches  absolutes  und  relatives 
Wachstum  der  Arbeiterzahl:  der  Maschinenbau,  der  Schiffbau,  die 
chemische  Industrie,  die  Bearbeitung  von  Metallen,  die  Steinkohlen- 
produktion und  die  anderen  Produktionszweige,  die  Produktionsmittel 
herstellen,  ziehen  an  sich  einen  immer  grösseren  Teil  der  Bevölke- 
rung an. 

Die  Thatsachen  der  neuesten  industriellen  Entwickelung  be- 
stätigen also  vollkommen  die  theoretischen  Ergebnisse  der  im 
I.  Kapitel  gegebenen  abstrakten  Analyse  des  Akkumulations-Pro- 
zesses des  Kapitals.  Die  Produktionsmittel  erobern  sich  eine  immer 
dominierendere  Stellung  in  der  Industrie  und  auf  dem  Warenmarkte 
nicht  nur  Englands,  sondern  der  ganzen  kapitalistischen   Welt. 

Allerdings  scheint  die  oben  verzeichnete  Thatsache  des  Still- 
standes der  Roheisenproduktion  in  England  in  der  allerneuesten  Zeit 
damit  nicht  übereinzustimmen.  Aber  dieser  Stillstand  ist  durch  rein 
lokale  Ursachen  hervorgerufen;  zugleich  ist  er  der  schlagendste  Be- 
weis   dafür,    dass   England    seine    frühere    dominierende   Stellung    auf 


-         6o       — 

dem  Weltmarkte  eingebüsst  hat.  Die  Roheisenproduktion  der  ganzen 
Welt  ist  von  18,5  Millionen  Tonnen  (1880)  auf  35  Millionen  Tonnen 
(1898)  gestiegen  —  in  England  bloss  ist  sie  beinahe  stationär  ge- 
blieben (nur  im  Jahre  1899  ist  ein  bedeutendes  Wachstum  der  eng- 
lischen Roheisenproduktion  zu  verzeichnen).  Dieser  Stillstand  hat  eine 
sehr  bedeutende  Erhöhung  der  Einfuhr  ausländischen  Eisens  und 
eiserner  Fabrikate  nach  England  hervorgerufen:  in  den  Jahren  1889 
bis  98  ist  deren  Einfuhr  ihrem  Werte  nach  von  4,3  Millionen  Pfund 
auf  8,3  Millionen  gestiegen. 

Die  statistischen  Daten  geben  also  keinen  Grund  für  die  opti- 
mistische Beurteilung  der  gegenwärtigen  wirtschaftlichen  Lage 
Englands. 

England  bildet  das  merkwürdige  und  lehrreiche  Schauspiel  der 
vollkommensten  und  zugleich  der  monstreusesten  Schöpfung  des 
Kapitalismus.  Die  gesamte  Existenz  Englands  beruht  auf  dem  aus- 
wärtigen Markte,  der  Ackerbau  im  Lande  geht  zurück,  und  nur  ein 
geringfügiger  Teil  des  Territoriums  wird  zum  Getreidebau  benutzt. 
Nur  der  Absatz  von  Fabrikaten  auf  dem  auswärtigen  Markt  kann  der 
wachsenden  Bevölkerung  Englands  die  notwendigen  Lebensmittel, 
die  auf  dem  englischen  Boden  nicht  mehr  produziert  werden,  ver- 
schaffen. Solange  England  seine  industrielle  Suprematie  vor  allen 
Ländern  bewahrt  hatte,  enthielt  diese  Sachlage  für  England  nichts 
Gefährliches:  England  war  die  Fabrik  der  gesamten  Welt  geworden, 
—  von  allen  Seiten  erhielt  es  Rohstoffe  und,  nachdem  es  diese  in 
Fabrikate  verwandelt  hat,  schickte  es  sie  zurück  in  die  ganze  übrige 
Welt.  Aber  das  Ende  der  industriellen  Suprematie  Englands  musste 
früher  oder  später  eintreten.  In  der  That,  welche  Vorzüge  besitzt 
England,  die  anderen  Ländern  unzugänglich  wären?  Die  wichtigsten 
Vorzüge  waren  und  bleiben  der  kolossale  Reichtum  Englands  und 
die  unvergleichliche  technische  Geschicklichkeit  des  englischen  Ar- 
beiters. Aber  die  Kapitalien  emigrieren  ja  noch  leichter  als  die 
Arbeiter  —  wir  werden  weiter  unten  sehen ,  dass  das  englische 
Kapital  stets  in  reichlicher  Flut  aus  seinem  Vaterlande  nach  jungen 
Ländern  mit  einer  höheren  Profitrate  abgeflossen  ist;  in  der  neuesten 
Zeit  hat  sich  diese  Emigration  des  Kapitals  ausserordentlich  verstärkt. 
Die  technische  Geschicklichkeit  und  Gewandtheit  des  englischen  Ar- 
beiters ist  auch  kein  Monopolbesitz  desselben.  Der  Arbeiter  Amerikas 
übertrifft  sogar  den  englischen  und  der  deutsche  holt  ihn  rasch  ein. 
Ein  enormer  Vorzug  Englands  waren  in  der  früheren  Zeit  die  vor- 
trefflichen   Verkehrswege    innerhalb    des    Landes.      England    ist    das 


—    6I     — 

Land,  wo  ein  Eisenbahnnetz  am  frühesten  geschaffen  wurde,  und  das 
ist  eine  der  Ursachen  des  Aufschwunges  der  englischen  Industrie 
nach  den  40  er  Jahren  gewesen.  Jetzt  sind  die  Eisenbahnen  in  der 
ganzen  Welt  verbreitet,  sie  sind  durchaus  kein  englischer  Alleinbesitz 
geblieben.  Endlich  ist  der  wichtigste  natürli  :he  Vorzug  Englands  — 
der  Reichtum  an  Mineralien  (Steinkohlen  und  Eisen)  einer  Erschöpfung 
unterworfen.  Wie  bereits  gezeigt,  ist  schon  die  Eisenproduktion 
Englands  in  Stillstand  geraten  (obgleich  die  Einfuhr  des  ausländischen 
Eisenerzes  rasch  zunimmt).  Die  Vorzüge  Englands  vor  den  anderen 
Ländern  können  sich  also  im  Laufe  der  Entwicklung  der  Weltwirt- 
schaft nur  vermindern. 

Die  Länder  aber,  die  ihre  eigenen  Rohstoffe  verarbeiten,  haben 
einen  enormen  Vorzug,  der  durch  nichts  aufgewogen  werden  kann 
—  den  Vorzug,  dass  sie  die  Transportkosten  sparen.  England  führt 
aus  Ostindien  Baumwolle  ein,  verwandelt  sie  in  Gewebe  und  führt 
diese  letzteren  zurück  nach  Ostindien  aus.  Diese  Kosten  des  Doppel- 
transports sind  eine  natürliche  Prämie  zu  Gunsten  der  ostindischen 
Baum  Wollindustrie;  kein  Wunder,  dass  die  Fabriken  von  Bombay 
immer  gefährlichere  Konkurrenten  von  Lancashire  werden. 

Der  stärkste  Konkurrent  Englands  —  Deutschland  —  schlägt 
aber  den  englischen  Fabrikanten  nicht  nur  auf  seinem  eigenen,  dem 
deutschen  Markte ,  sondern  verdrängt  England  mit  Erfolg  auch 
von  den  neutralen  Märkten  und  selbst  von  dem  englischen  Binnen- 
markt. Alle  Sachkundigen  rühmen  die  Unternehmungslust  und  den 
industriellen  Geist  der  deutschen  Fabrikanten  und  Kaufleute  im 
Gegensatz  zu  dem  hartnäckigen  Konservativismus  der  Engländer.  Viele 
Märkte  sind  den  Engländern  nur  aus  dem  Grunde  verloren  gegangen, 
weil  sie  sich  nicht  den  lokalen  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  an- 
passen wollten,  weil  sie  die  gäng  und  gäbe  gewordenen  Warenmuster 
nicht  abänderten.  Die  Monopollage  auf  dem  Warenmarkte,  die  die 
Engländer  so  lange  genossen  hatten,  hat  ihnen  selbst  am  meisten 
geschadet.  Eine  lange  dauernde  Herrschaft  führt  leicht  zur  Ver- 
weichlichung —  das  hat  sich  gerade  in  England  gezeigt.  Deutsch- 
land, das  sich  jeden  neuen  Markt  durch  Kampf  erobern  musste, 
hat  eine  musterhafte  Organisation  von  Institutionen  geschaffen,  die 
den  Zweck  haben,  den  Handel  und  die  Industrie  zu  fördern.  Die 
deutschen  Konsuln  werden  als  die  besten  in  der  ganzen  Welt  an- 
erkannt, ebenso  wie  die  deutschen  Handelsreisenden  und  Handels- 
agenten, die  deutschen  Vereine  zur  Förderung  des  Handels,  die 
deutschen  Handels-  und  technischen  Schulen  u.  s.  w. 


—  б2  — 

Das  alles  genügt  vollkommen,  um  das  Uebergewicht  Deutsch- 
lands zu  erklären. 

Der  englische  Handel  hat  auch  von  einer  anderen  Seite  einen 
schweren  Schlag  erlitten..  Die  neueste  Entwicklung  des  Handels 
wird  nämlich  dadurch  charakterisiert,  dass  der  Handelsvermittler  — 
der  Engroshändler  —  fast  überall  durch  den  unmittelbaren  Verkehr 
des  Produzenten  mit  dem  Detailhändler  und  manchmal  auch  direkt 
mit  dem  Konsumenten  verdrängt  wird.  Die  oben  erwähnte  König- 
liche Kommission  von  1886  hat  darüber  ein  reichhaltiges  und  lehr- 
reiches Material  gesammelt.  Eine  ganze  Reihe  von  Zeugen ,  die 
von  der  Kommission  befragt  worden  sind ,  hat  einmütig  erklärt, 
dass  die  Beziehungen  zwischen  den  Produzenten  und  den  Konsu- 
menten die  Tendenz  haben  immer  unmittelbarer  zu  werden^). 
Diese  Tendenz  ist  für  England  sehr  nachteilig,  da  England  anderen 
Ländern  gegenüber  die  Rolle  eines  Händlers  spielt.  Die  enorme  Be- 
deutung  bLnglands  im  Welthandel   beruhte  auf   seiner  Vermittlerrolle 


i)  Nachstehend  einige  von  diesen  Aussagen:  „In  der  letzten  Zeit  hat  sich  das  Be- 
streben verstärkt,  ohne  Vermittler  auszukommen.  In  Oldham  versuchen  wn  nach  Möglich- 
keit, einen  direkten  Handel  mit  den  Baumwollenproduzenten  in  Amerika  in  die  Wege  zu 
leiten.  Nach  meiner  Meinung  hat  die  Praxis  erwiesen,  dass  die  Dienste  des  Vermittlers 
teuer  zu  stehen  kommen,  und  daher  sind  die  Vermittler  in  einem  bedeutenden  Masse  be- 
seitigt worden."  (Aussage  des  Sekretärs  der  Cotton  Spinners  Association.  —  S.  Andrew 
Second  Report  on  Trade  Depression.  Minutes  of  Evidence.  Q.  4358 — 59):  „Frage:  Ver- 
kaufen Sie  die  von  Ihnen  produzierten  Waren  (baumwollene  Gewebe)  Händlern  (Expor- 
teuren)? —  Antwort:  Wir  expedieren  alles  selbst.  Unser  Profit  ist  so  gering,  dass  wir  auf 
Vermittelung  der  Händler  verzichten  und  uns  ohne  sie  behelfen  mussten.  Vor  einigen 
Jahren  verkauften  wir  alles,  was  wir  produzierten,  einem  Händler,  jetzt  haben  wir  ihn  voll- 
ständig ausgeschaltet  und  exportieren  selbst.  (A.  u.  O.  Aussage  des  Fabrikanten  A.  Simpson. 
Q.  5673).  Frage:  Bemerken  Sie  eine  Veränderung  im  System  der  Verteilung  der  Waren? 
Antwort:  Ja,  wir  bemerken  eine  gewisse  Veränderung.  In  früherer  Zeit  war  unsere  Firma 
der  Kanal,  durch  den  Alle  die  Waren,  die  sie  brauchten,  erhielten.  Aber  jetzt  verstärkt 
sich  zu  unserem  Unglück  die  Tendenz  zum  unmittelbaren  Verkehr  der  Produzenten  mit  den 
Konsumenten ;  viele  Detailhändler,  die  sich  immer  um  Waren,  welche  sie  brauchten,  an  uns 
gewandt  hatten,  stehen  jetzt  in  unmittelbarem  Verkehr  mit  dem  Produzenten."  (Aussage  des 
Vertreters  einer  grossen  Firma,  die  einen  Engroshandel  mit  Bekleidungsgegenständen  führt, 
G.  Gribble.  Q.  4070.)  „Vor  25  Jahren  hatte  der  Handel  mit  New- York  folgenden  Cha- 
rakter: der  (amerikanische)  Importeur  kaufte  Waren  (leinene  Gewebe)  beim  Fabrikanten  und 
manchmal  sogar  nicht  bei  diesem,  sondern  bei  irgend  einer  Kommissionsfirma  in  Man- 
chester oder  in  einem  anderen  grossen  Centrum  .  .  .  Dann  folgte  der  Engroshändler,  der 
die  Ware  beim  Importeur  kaufte  und  sie  in  einzelnen  Portionen  den  Detailhändlern  ver- 
kaufte .  .  .  Jetzt  ist  der  Importeur  schon  längst  verschwunden,  der  Engroshändler  verschwindet 
auch  rasch,  und  die  Detailhändler  in  New-York  erhalten  die  Ware,  die  sie  brauchen,  un- 
mittelbar vom  Fabrikanten".     (Aussage  des  Leinenlabrikanten  R.  Reade.     Q.  7038.) 


-      бз      - 

im  Handel  Europas  mit  dem  Orient  und  anderen  aussereuropä- 
ischen  Ländern,  die  die  europäischen  Fabrikate  gegen  ihre  eige- 
nen Rohprodukte  austauschten.  Baumwolle  aus  Amerika ,  Indien 
und  Egypten,  KaiFee  aus  Westindien,  Brasilien  und  Arabien,  Thee 
und  Seide  aus  China  und  mannigfache  Produkte  der  Tropen- 
länder gelangten  gewöhnlich  nur  durch  englische  Hände  nach 
Europa. 

London  und  Liverpool  waren  die  Lagerstätten  für  enorme 
Warenmassen,  die  den  Transitweg  durch  England  machten.  Das 
Streben  nach  Einschränkung  des  Zwischenhandels  musste  in  erster 
Linie  auf  den  englischen  Handel  zurückwirken.  Und  in  der  That 
hat  der  Zwischenhandel  Englands  eine  bedeutende  Einschränkung 
erfahren ').  Die  statistischen  Daten  bestätigen  das  vollkommen:  in 
den  Jahren  1870 — 79  wurden  jährlich  durch  das  Vereinigte  König- 
reich transitweise  Waren  für  11,9  Millionen  Pfund  Sterling  durch- 
geführt; in  den  Jahren  1870 — 89  aber  für  11,4  Millionen  und  in  den 
Jahren   1890 — 98  nur  für   10,3  Millionen. 


1)  Frage:  „War  in  der  letzten  Zeit  eine  Tendenz  zu  direkterem  Handelsverkehr 
zu  bemerken  und  hat  dadurch  nicht  unser  Zwischenhandel  gelitten?  Antwort:  Allerdings. 
Die  natürliche  Tendenz  der  letzten  20  Jahre  bestand  in  einer  Ausschaltung  unserer  Handels- 
vermittelung und  in  der  Bildung  eines  direkten  Verkehrs  der  Produktionsorte  mit  dem  Kon- 
tinent. Der  Suezkanal  hat  ausserordentlich  viel  zur  Entwickelung  des  direkten  Handels 
beigetragen,  so  dass  England  schon  nicht  mehr  wie  früher  die  Lagerstätte  der  Waren  ist," 
(Third  Report  on  T.  D.  M.  of  E.,  Aussage  des  Schiffseigentümers  Williamson.  Q.  11 191). 
„Frage:  Hat  unser  Zwischenhandel  gelitten?  Antwort:  Zweifellos,  für  viele  Waren. 
Nehmen  wir  z.  B.  den  Thee.  Früher  haben  wir  viele  Versicherungspolicen  für  Thee 
gesehen,  der  per  Dampfschiff  aus  London  nach  Petersburg  geht  und  direkt  aus  China  nach 
London  eingeführt  wird.  Jetzt  habe  ich  schon  lange  Zeit  keine  einzige  derartige  Police  mehr 
für  Thee  gesehen,  der  direkt  aus  China  nach  Odessa  geht.  Weiter,  nehmen  wir  die  Seide. 
Früher  wurde  dieselbe  (vom  Orient)  ausnahmslos  nach  London  geleitet,  auf  dem  Londoner 
Markte  verkauft  und  erst  von  hier  aus  ein  Teil  derselben  nach  dem  Kontinent,  nach  Lyon 
und  anderen  Gegenden  geschickt;  aber  in  den  letzten  3  —  4  Jahren  ging  die  Seide  direkt 
nach  Marseille  und  Venedig  und  zerstreute  sich  von  dort  aus  über  den  Kontinent,  ohne  zu 
uns  zu  gelangen.  Oder  nehmen  wir  die  Baumwolle.  Ich  bin  in  der  vergangenen  ЛУосЬе 
in  Liverpool  gewesen  und  habe  in  Gesprächen  Klagen  über  die  Geschäftsstockung  gehört; 
man  hat  mir  gesagt,  dass  ein  Handelszweig  ganz  verschwunden  sei,  nämlich  der,  dass  man 
Baumwolle  auf  dem  Liveфooler  Markte  ankaufte,  um  sie  nach  Russland  und  nach  verschie- 
denen kontinentalen  Häfen  zu  schicken;  jetzt  wird  die  Baumwolle  aus  den  Produktions- 
orten direkt  auf  den  Kontinent  gebracht."  (Aussage  des  Schiffseigentümers  W.  Price. 
Q.  10072.)  Von  dem  Rückgang  des  Zwischenhandels  Englands  sprechen  auch  die  anderen 
Schiffseigentümer,  die  von  der  Kommission  befragt  worden  sind.  (Devitt  Q.  10283 — 89. 
Cattarns   11334.     Scholefield  Q,    10848  und  andere.) 


-      б4       - 


Also  wird  die  neueste  Phase  der  Ent Wickelung  der  englischen 
Industrie  durch  einen  relativen  Stillstand  charakterisiert.  Die  Aus- 
breitung der  kapitalistischen  Produktionsweise  in  der  ganzen  Welt 
hat  zu  einer  ausserordentlichen  Verstärkung  der  Konkurrenz  auf  dem 
Weltmärkte  geführt,  und  England  ist  es  nicht  gelungen,  seine  frühere 
industrielle  und  kommerzielle  Hegemonie  aufrecht  zu  erhalten.  Es 
hat,  und  zwar  auf  immer,  seine  frühere  Monopolstellung  auf  dem 
Weltmarkte  verloren. 


KAPITEL  III. 

Die  Krisen  des  zweiten  Viertels  des  Jahrhunderts. 


Die  allgemeine  Charakteristik  der  Schwankungen  der  englischen  Industrie.  —  Die 
Krisis  von  1825.  —  Die  Eröffnung  neuer  Märkte  in  Südamerika.  —  Spekulationen  mit 
den  südamerikanischen  Werten.  —  Der  Gründungsschwindel.  —  Der  Bau  neuer  Baumwoll- 
fabriken. —  Der  Abfluss  englischen  Kapitals  nach  Südamerika.  —  Die  Ursachen  der  Kri- 
sis. —  Die  Krisis  von  1836.  —  Gute  Ernten.  —  Der  Abfluss  des  englischen  Kapitals 
nach  den  Vereinigten  Staaten.  —  Spekulationen  mit  Staatsländereien.  —  Die  Börsenkrisis 
von  1835.  —  Der  Charakter  des  Spekulationsfiebers  von  1836.  —  Das  Cirkular  des  Präsi- 
denten Jackson.  —  Der  Unterschied  zwischen  dem  Goldabflusse  nach  dem  Auslande  und 
dem  nach  dem  Inneren  des  Landes.  —  Vergleichung  der  Krisen  von  1836  und  von  1825. 
—  Die  Geld  krisis  von  1839.  —  Der  Einfluss  der  amerikanischen  Spekulationen.  — 
Das  Fehlen  eines  Goldabflusses  nach  dem  Inneren  des  Landes.  —  Die  Geschäftsstockung 
zu  Anfang  der  40er  Jahre.  —  Die  Krisis  von  1847.  —  Gute  Ernten,  —  Der  Bau  von 
Eisenbahnen.  —  Die  Börsenkrisis  von  1845.  —  Die  Missernten  von  1846  und  1847.  —  Die 
Abnahme  der  Ausfuhr.  —  Warum  floss  das  englische  Kapital  nicht  nach  dem  Auslande 
ab?  —  Die  Veränderung  der  Diskontpolitik  der  Bank  von  England.  —  Die  Schwankungen 
der  Getreidepreise.  —  Die  Suspendierung  der  Bankakte  von  1844.  —  Der  Unterschied 
zwischen  der  Krisis  von   1847  und  den  vorangegangenen  Krisen. 

Die  periodische  Wiederkehr  von  Zeiten  der  Prosperität  und 
Krisis  ist  ein  charakteristischer  Zug  der  kapitahstischen  Produktions- 
\  weise.  Diese  Schwankungen  darf  man  aber  nicht  mit  den  nicht 
(  periodischen,  auf  längere  Zeiträume  sich  erstreckenden  Aenderungen 
i  in  Zuständen  der  Industrie  verwechseln.  So  entwickelte  sich  z.  B. 
t  die  englische  Industrie  bis  zur  Hälfte  der  70er  Jahre  rasch;  in  der 
neuesten  Zeit  hat  sich  diese  Vorwärtsbewegung  bedeutend  verlang- 
samt. Aber  wie  früher,  so  unterliegt  die  englische  Industrie  auch 
jetzt  periodischen  Schwankungen.  In  den  ersten  Jahrzehnten  nach 
dem  Triumph  des  Freihandels  konnte  England  schweren  industriellen 
I  Krisen,  die  von  einer  vollständigen  Geschäftsstockung  begleitet 
worden  waren,  nicht  entgehen;  die  neueste  ungünstige  Epoche  der 
industriellen  Entwicklung  Englands  wird  durch  Perioden  des  Auf- 
schwunges unterbrochen.  Die  Zeitgenossen  sind  gewöhnlich  nicht 
imstande,  periodische  Schwankungen  von    den  tieferliegenden  Aende- 

Tugan-BaiaiKj  wsky  ,  Die  Handelskrisen.  U 


—     66     — 

rungen  im  Entwickelungsgange  der  Industrie  zu  unterscheiden. 
Während  der  industriellen  Krisis  ertönen  erschreckte  Klagerufe 
über  den  Untergang  des  Landes;  wenn  die  Krisis  sich  in  die  Länge 
zieht,  erhalten  die  pessimistischen  Prophezeiungen  ein  noch  grösseres 
Gewicht  und  die  hoffnungslose  ^Stimmung  wird  eine  allgemeine.  Um- 
gekehrt löscht  der  industrielle  Aufschwung  bald  jegliche  Erinnerung 
an  die  früheren  schweren  Tage  aus  dem  Gedächtnis  der  Menschen 
aus;  eine  rosige  Stimmung  herrscht  auf  der  Börse  und  teilt  sich  der 
ganzen  wirtschaftlichen  Welt  mit.  Es  ist,  als  ob  es  überhaupt  keine 
Krisen  gegeben  habe,  als  ob  eine  industrielle  Aera,  die  eine  allge- 
meine und  durch  nichts  gestörte  Prosperität  verspricht,  eingetreten 
sei.  Aber  wie  eine  auf  das  Ufer  anlaufende  Welle  noch  nicht  von 
einer  allgemeinen  Flut  zeugt ,  so  lässt  auch  der  industrielle  Auf- 
schwung einiger  Jahre  nicht  auf  einen  Umschwung  in  der  industriellen 
Entwickelung  des  Landes  schliessen. 

Inmitten  des  immer  wechselnden  Stromes  der  Weltgeschichte 
ist  die  regelmässige  Aufeinanderfolge  von  Perioden  des  industriellen 
Aufschwunges  und  Niederganges  etwas  ganz  Eigentümliches.  Die 
vergangenen  Zeiten  haben  nichts  Aehnliches  gekannt.  Industrielle 
Krisen  haben  zwar  auch  früher  stattgefunden.  So  kann  man  im 
i8.  Jahrhundert  auf  eine  ganze  Reihe  von  Krisen  hinweisen,  die 
manches  Gemeinsame  mit  denen  der  Gegenwart  hatten.  In  einer 
Beziehung  sind  jedoch  die  neuesten  Krisen  von  allen  anderen  ganz 
verschieden:  ältere  Krisen  wurden  durch  irgendwelche  exceptionelle, 
meist  politische  Umstände  hervorgerufen  und  zeigten  in  ihrer  Wieder- 
kehr keine  Periodicität  an.  Diese  Periodicität  aber  bildet  das  Cha- 
rakteristikum der  modernen  Krisen ,  Krisen  der  entwickelten  kapi- 
talistischen Produktionsweise.  Diese  Krisen  sind  wohl  das  einzige 
soziale  Gebiet,  auf  welchem  eine  genaue  Vorhersagung  mehrmals 
gelungen  ist. 

Die  periodische  Wiederkehr  der  Krisen  beginnt  in  England  erst  mit 
den  2oer  Jahren  unseres  Jahrhunderts.  Die  Krisen  von  i8ii,von  1815 
und  von  1818  gehören,  ihrem  Typus  nach,  zu  den  Krisen  des  vorigen 
Jahrhunderts  —  sie  waren  nicht  periodisch  und  standen  in  einem  un- 
mittelbaren Zusammenhang  mit  dem  grossen  Krieg,  den  England  mit 
Napoleon  geführt  hatte. 

Einen  ganz  anderen  Charakter  haben  die  nachfolgenden  eng- 
lischen Krisen  gehabt:  ihre  Periodicität  beweist,  dass  sie  nicht  aus 
den  äusseren  Umständen,  sondern  aus  dem  inneren  Wesen  der 
modernen  Wirtschaftsordnung  selbst  herstammen.  Zur  Zeit  einer  all- 
gemeinen Prosperität,  während  des  grössten  Aufschwungs  des  Handels 


67 


und  der  Industrie,  brach  wie  ein  Gewitter  eine  Handelskrisis  mit 
allen  ihren  Folgen  aus:  Bankerotten,  Arbeitslosigkeit,  Notlage  der 
Bevölkerung  u.  s.  w.  Besonders  typisch  sind  die  Krisen  des  zweiten 
Viertels  dieses  Jahrhunderts  gewesen,  zu  deren  Behandlung  wir  nun 
auch  übergehen.  Die  nachfolgende  Tabelle  und  das  auf  Grund  derselben 
konstruierte  Diagramm  No.  i  soll  zur  Orientierung  im  allgemeinen 
Charakter  der  periodischen  Schwankungen  der  englischen  Industrie 
während  dieser  Zeit  dienen. 


Wert  der  Aus- 

Barvorrat der  Bank 

Zahl  der  Banke- 

Relative Ver- 

Jahre 

fuhr  der  Pro- 
dukte des  Ver- 
einigten König- 
reichs (in  Milli- 
onen Pfd. ') 

rotte  i.  England 
und  Wales  (auf 
volle    10  abge- 
rundet ^) 

änderungen  der 

Preise  des 

britischen 

Eisens  ^) 

von  England  bis 
1831  Ende  August, 
nach  1 831  Ende  Ok- 
tober jeden  Jahres 

(in  Mill.  Pfd.)^') 

1S23 

35.5 

1240 

78 

^2,7 

1824 

38,4 

1230 

94 

11,8 

1825 

38,9 

1470 

114 

3,6 

1826 

31,5 

3300 

100 

6,8 

1827 

37,2 

1680 

86 

10,5 

1828 

36,8 

1510 

80 

10,5 

1829 

35,8 

2160 

72 

6,8 

1830 

38,3 

1720 

66 

1 1,2 

1831 

37,2 

1820 

63 

6,4 

1832 

36,5 

1730 

61 

8,3 

1833 

40,0 

1290 

65 

9,5 

1834 

41,6 

1370 

65 

6,4 

1835 

47,4 

1310 

64 

6,1 

1836 

53,4 

II 90 

86 

4,7 

1837 

42,1 

1950 

74 

7,9 

1838 

50,1 

1090 

n 

9,1 

1839 

53,2 

1470 

71 

2,6 

1840 

51,4 

1890 

63 

3,0 

1841 

51,6 

1840 

6i 

4,0 

1842 

47,4 

1660 

51 

9,8 

1843 

52,3 

1260 

43 

11,9 

1844 

58,6 

1 100 

43 

14,1 

1845 

60,1 

1 160 

59 

14,0 

1846 

57,8 

1530 

60 

14,8 

1847 

58,8 

1910 

60 

8,4 

1848 

52,9 

— 

47 

13,3 

1849 

63,6 

— 

40 

15,3 

1850 

71,4 

— 

37 

16,0 

Durchschnitt 

47,1 

160 

67 

9,3 

Die  dicken  vertikalen  Linien  des  Diagramms  bezeichnen  die 
Jahre    in     denen     in    England    Handelskrisen    stattgefunden     haben. 

i)  Nach  den  Tables  of  the  Revenue  etc.  .  .  .  of  the  United  Kingdopi. 

2)  Nach  Jevons  Tabellen  (Investigations  in  Currency  and  Finance.  London  1884. 
Artikel  The  Variation  of  Prices,  S. '145 — 147.) 

3)  Nach  den  Repoit  on  the  Bank  of  England  Charter,  1833,  Appendix  N0.  5  ; 
Reports  on  Banks  of  Issue,  1840,  Appendix  N0.  12,  6;  Reports  on  Commercial  Distress, 
1848,  Appendix  N0.  8;  Reports  on  Bank  Acts,    1857,  Appendix. 


—      68      — 

Solcher  Krisen  haben  wir  während  der  Periode,  die  wir  jetzt  be- 
trachten, drei  —  in  den  Jahren  1825,  1836  und  1847;  '^^  Jahre  1839 
hat  eine  Geldkrisis  stattgefunden,  die  im  Diagramm  durch  eine  ver- 
tikale punktierte  Linie  bezeichnet  ist. 

Es  ist  leicht  zu  bemerken,  dass  zwischen  den  Schwankungen 
aller  Kurven  ein  gewisser  Zusammenhang  besteht.  Und  zwar  sind 
die  Schwankungen  der  Ausfuhrkurve  ganz  analog  denen  der  Kurve 
der  Eisenpreise,  mit  dem  Unterschied,  dass  die  erste  Kurve  im  all- 
gemeinen steigt,  die  zweite  fällt;  dagegen  schwanken  die  beiden 
anderen  Kurven  —  die  der  Bankerotte  und  die  der  Barvorräte  der 
Bank  von  England  —  in  entgegengesetztem  Sinne.  Die  stärksten 
Schwankungen  entfallen  auf  die  Krisenjahre. 

Gehen  wir  jetzt  zu  einer  näheren  Betrachtung  dieser  Schwan- 
kungen über.  Die  ersten  drei  Jahre  1823  bis  1825  bilden  eine 
Epoche  des  Aufschwunges  von  Handel  und  Industrie;  die  Ausfuhr  ist 
gewachsen ,  die  Preise  des  Eisens  sind  sehr  hoch  gestiegen,  der  Bar- 
vorrat der  Bank  von  England  dagegen  ist  stark  gesunken,  und  zwar 
ist  sein  Sinken  im  Jahre  1824  ein  langsames  gewesen,  nachher  aber 
ist  es  ein  sehr  rasches  geworden.  Offenbar  hat  Ende  1825  auf 
dem  englischen  Geldmarkte  eine  Katastrophe  stattgefunden,  die  fast 
alles  Geld  aus  der  Kasse  der  Bank  von  England  fortgeleitet  hat 
Diese  Katastrophe  hatte  im  folgenden  Jahre  eine  enorme  Erhöhung 
der  Zahl  der  Bankerotte,  eine  Abnahme  der  Ausfuhr  und  ein  Sinken 
der  Eisenpreise  zur  Folge.  Dagegen  hat  sich  der  Metallvorrat  der 
Bank  von  England  im  Jahre  1826  von  neuem  vermehrt.  Die  folgen- 
den sechs  Jahre  von  1827  bis  1832  bieten  in  der  industriellen  Ge- 
schichte Englands  nichts  Bemerkenswertes  dar.  In  den  Jahren  1829 
und  1831  findet  eine  Erhöhung  der  Zahl  der  Bankerotte  und  eine 
Verminderung  des  Metallvorrats  der  Bank  von  England  statt,  aber 
beides  minder  schroff  als  in  den  Jahren  1825 — 26.  Der  Wert  der 
Ausfuhr  verändert  sich  wenig;  die  Preise  des  Eisens  fallen  allmählich. 
Seit  dem  Jahre  1833  beginnt  eine  neue  Epoche  des  Aufschwunges. 
Die  Ausfuhr  wie  die  Eisenpreise  erhöhen  sich  rasch;  die  Kasse 
der  Bank  von  England  leert  sich  von  neuem  und  sinkt  gegen 
Ende  1836  wieder  auf  das  Minimum,  wie  im  Jahre  1825;  die  indu- 
strielle Prosperität  endigt  mit  einer  schweren  Erschütterung  des  Kre- 
dits. Im  Jahre  1837  ist  die  allgemeine  Lage  der  Industrie  sehr  ähn- 
lich derselben  im  Jahre  1825.  Die  Kurve  der  Ausfuhr  macht  einen 
plötzlichen  Sprung  nach  unten,  der  Preis  des  Eisens  sinkt  gleichfalls; 
die  Bankerotte  vermehren  sich,  die  edlen  Metalle  fliessen  zurück  in 
die   Kasse    der  Bank.      Im   Jahre    1839    fallen    die  Metallvorräte    der 


Tugan-Baranowsky,  Die  Handelskrisen. 

Diagramm  No.  1 

Jahre 


Zur  S.  68. 


rO    ГД     Kl    Kfl     КП    КП    K»^    Гх-\    .-!•»    (•.•\    л,'%    •,-,     с.ч    iTi;    /TZ     Sri     iTl    ?ТГ7 


+  96 
4-  92 


V 


Jahre 


Ü<   05  -5   00   «O  © 


-       б9       - 

Bank  von  England  auf  den  niedrigsten  Punkt  der  ganzen  Periode, 
die  wir  betrachten;  in  diesem  Jahre  hat  England  eine  schwere  Geld- 
krisis  erlebt,  die  auf  die  Preise  des  Eisens  und  in  geringerem  Masse 
auf  die  Ausfuhr  zurückwirkte.  Das  Ende  der  30er  und  der 
Anfang  der  40  er  Jahre  sind  durch  niedrige  Preise,  Sinken  der 
Ausfuhr  und  hohe  Zahl  von  Bankerotten  gekennzeichnet.  Im 
Jahre  1843  beginnt  die  dritte  Epoche  des  Aufschwunges,  die  mit  der 
Handelskrisis  von  1847  abschliesst.  Das  Jahr  1848  entspricht  in  wirt- 
schaftlicher Beziehung  vollkommen  den  Jahren   1826  und   1837. 

In  der  Zeit,  welche  wir  betrachten,  haben  also  in  England  drei 
Handelskrisen  stattgefunden  —  in  den  Jahren  1825,  1836  und  1847; 
die  Krisen  haben  keinen  zufälligen  Charakter  gehabt,  vielmehr  waren 
sie  mit  der  Entwicklung  der  englischen  Industrie  und  des  Handels 
organisch  auf  engste  verknüpft.  Das  ist  daraus  zu  ersehen ,  dass 
einer  jeden  Handelskrisis  der  nämliche  Zustand  des  Geld-  und  Waren- 
marktes vorangegangen  war.  Jede  Epoche  des  Aufschwungs  schloss 
mit  einer  industriellen  Krisis,  auf  die  eine  mehr  oder  minder  dauernde 
Epoche  der  Geschäftsstockung  folgte:  nach  der  Krisis  von  1825  er- 
höhte sich  die  Ausfuhr  lange  Zeit  nicht,  nach  der  Doppelkrisis  von 
1836 — 39  sank  die  Ausfuhr  sogar  einige  Jahre  hintereinander.  Die 
Wirkung  der  Krisis  von  1847  war  eine  weniger  dauernde,  sie  hat 
nur  auf  den  Zustand  des  Handels  des  folgenden  Jahres  zurückgewirkt. 
Also  führte  während  der  Periode,  die  wir  betrachten,  jeder  bedeutende 
Handelsauf  Schwung  England  zu  einer  industriellen  Krisis. 

Worin  haben  nun  die  unmittelbaren  Ursachen  dieser  Krisen 
bestanden?  Das  kann  nur  die  Geschichte  einer  jeden  von  ihnen 
zeigen. 

Die  Krisis  von  1825. 

Durch  die  beiden  schweren  Krisen  von  1815  und  von  18 18,  die 
auf  den  Abschluss  des  Friedens  gefolgt  waren,  wurde  der  englische 
Handel  in  eine  andauernde  Stockung  gebracht.  Der  Zinsfuss  war 
gesunken,  was  zur  Erhöhung  der  Kurse  der  englischen  dreiprozentigen 
Konsols  führte,  welche  von  73Y2  0^  April  1823)  auf  96^4  (im  No- 
vember 1824)  gestiegen  waren.  Der  Geldmarkt  war  von  Kapitalien 
überfüllt,  die  eine  Anlage  suchten,  ohne  sie  aber  zu  finden. 

Das  Fallen  des  Zinsfusses  hat  der  Regierung  die  Möglichkeit 
gegeben,  eine  ganze  Reihe  von  Konvertierungen  vorzunehmen:  1824 
sind  die  s^/o'ige  und  4^/oige  Anleihe  (auf  die  Gesamtsumme  von 
215  Millionen  Pfund)  in    eine   ^^/^Ige  und  eine  зУг^о^^^  verwandelt 


-       70      — 

worden.  Die  Kasse  der  Bank  von  England  war  in  solchem  Masse 
von  Gold  überfüllt,  dass  die  Bank  schon  im  Jahre  182 1  die  Bar- 
zahlungen wieder  aufnehmen  konnte,  obwohl  das  Parlament  dasselbe 
erst  auf  1823  bestimmt  hatte. 

Eine  solche  Sachlage,  dass  die  Kapitalien  den  Geldmarkt  über- 
füllen und  die  gesellschaftlichen  Produktivkräfte  sich  nur  aus  dem 
Grunde  nicht  entfalten  können,  weil  die  Warencirkulation  durch  die 
vorangegangene  Krisis  gestört  ist,  kann  nicht  lange  anhalten.  Nach 
und  nach  erholt  sich  die  Industrie  von  der  Stockung.  Die  Unter- 
nehmer suchen  neue  Märkte,  verfolgen  sorgfältig  die  Nachfrage,  und 
jede  Vermehrung  der  Nachfrage  ruft  sofort  eine  Erweiterung  der 
Produktion  hervor.  Es  ist  nur  ein  geringer  Stoss  notwendig,  damit 
die  ganze  Maschinerie,  die  vollständig  aktionsbereit  ist,  in  vollen 
Gang  kommt.  Die  Summe  der  potentiellen  Energie,  die  sich  während 
einer  Geschäftsstockung  im  sozialen  Organismus  sammelt,  ist  so  gross, 
dass  die  Wirkung  eines  jeden  günstigen  ökonomischen  Ereignisses 
manchmal  in  gar  keinem  Verhältnis  zum  Anlass  steht. 

Zu  dem  betreffenden  Zeitpunkt  gab  einen  solchen  Stoss  die  Ent- 
deckung neuer  Märkte  in  Amerika.  Im  Jahre  1823  ist  die  Unab- 
hängigkeit der  Staaten  von  Süd-  und  Centralamerika,  die  früher 
spanische  und  portugiesische  Kolonien  waren,  anerkannt  worden.  In 
England  war  die  Ansicht  verbreitet,  dass  diese  Länder  im  Besitze 
von  unerschöpflichen  natürlichen  Reichtümern  seien,  welche  die  Ein- 
wohner unter  dem  Drucke  einer  despotischen  und  unwissenden  fremden 
Regierung  nicht  hätten  ausbeuten  können,  und  dass  die  Erlangung 
der  Unabhängigkeit  durch  die  südamerikanischen  Staaten  ein  neues 
höchst  bedeutsames  Gebiet  für  die  englische  Unternehmungslust  und 
das  englische  Kapital  eröffnet.  Die  Gold-  und  Silberwerke  in  Mexiko 
und  Peru,  über  deren  Reichtümer  die  übertriebensten  Gerüchte  in 
Umlauf  gesetzt  waren,  wurden  während  der  ganzen  Zeit  des  Krieges 
um  die  Unabhängigkeit  fast  gar  nicht  ausgebeutet,  nach  Wiederher- 
stellung des  Friedens  konnten  jedoch  die  Arbeiten  aus  Mangel  an 
Kapitalien  nicht  aufgenommen  werden.  Gleichzeitig  wusste  aber 
England  nicht,  wo  es  seine  Kapitalien,  die  im  Ueberfluss  den  Banken 
zuflössen  und  den  Geldmarkt  überfüllten,  anlegen  könnte.  Kein 
Wunder,  dass  die  englischen  Kapitalien  sich  auf  die  neu  eröffneten 
Märkte  ebenso  stürmisch  stürzten,  wie  das  Wasser,  das  durch  eine 
Oeffnung  im  Damme  herausströmt. 

Seit  1824  wird  die  Londoner  Börse  von  südamerikanischen 
Papieren  überschwemmt.  In  den  zwei  Jahren  1824 — 25  haben 
die  Staaten  von  Süd-  und  Centralamerika  für    mehr  als  20  Millionen 


i 

4 


—      71       — 

Pfund  Staatsanleihen  in  London  aufgenommen  i).  Ausserdem  wurde 
auf  der  Londoner  Börse  eine  ungeheure  grosse  Menge  von  Aktien 
und  anderen  AVertpapieren  von  Kompagnien  zur  Ausbeutung  der 
natürlichen  Reichtümer  der  neuen  Welt  —  hauptsächlich  der  Berg- 
werke, welche  freilich  oft  genug  nur  in  der  Phantasie  der  Gründer 
existierten  —  verkauft.  Alle  möglichen  Aktien  fanden  auf  der 
Börse  eine  günstige  Aufnahme,  ihre  Kurse  gingen  rapide  in  die 
Höhe,  und  das  Spekulationsfieber  bemächtigte  sich  des  Publikums. 
Man  darf  nicht  vergessen,  dass  diejenigen,  die  auf  Börsenwerte 
zeichneten,  die  ganze  Summe  durchaus  nicht  sofort  voll  bezahlen 
niüssten.  Es  genügte,  dass  man  den  ersten  Beitrag  von  5  bis  10% 
der  gezeichneten  Summe  bezahlte,  um  die  betreffenden  Börsenwerte 
zu  bekommen.  Daher  waren  auch  die  Leute  mit  den  geringsten  Geld- 
mitteln imstande,  am  Börsenspiel  teilzunehmen.  Von  der  Stärke  der 
Spekulation  auf  der  Londoner  Effektenbörse  im  Jahre  1824  und  1825 
kann  man  sich  eine  Vorstellung  machen,  wenn  man  vernimmt,  dass 
z.  B.  die  Aktien  der  Englisch-mexikanischen  Kompagnie  am  11.  Ja- 
nuar 1825  mit  einer  Prämie  von  128  Pfund  (bei  10  Pfund  einge- 
zahlten Kapitals)  notiert  wurden,  die  Aktien  der  Kompagnie  des 
Real-del-Monte  mit  einer  Prämie  von  1350  Pfund  (eingezahltes  Kapital 
70  Pfund),  die  der  Vereinigten  Mexikanischen  mit  einer  Prämie  von 
155  Pfund  (eingezahltes  Kapital  10  Pfund),  die  der  Kolumbischen  mit 
einer  Prämie  von  82  Pfund  (eingezahltes  Kapital  10  Pfund)  u.  s.  w.'-^). 
Während  eines  Monats  —  vom  10.  Dezember  1824  bis  11.  Ja- 
nuar 1825  ^-  ist  der  Kurs  der  Englisch-Mexikanischen  Aktien  um 
125  Pfund,  der  des  Real-del-Monte  um  800  Pfund,  der  der  Ver- 
einigten Mexikanischen  Kompagnie  um  120  Pfund  u.  s.  w.  gestiegen. 
Kolossale  Vermögen  sind  in  kurzer  Zeit  durch  Börsen  spiel  gewonnen 
worden.  Unter  solchen  Umständen  wurde  eine  Ausartung  der  Spe- 
kulation in  eine  wahre  Manie  unausbleiblich;  und  zwar  hatte  diese 
Manie  sich  weit  über  die  Kreise  des  gewöhnlichen  Börsenpublikums 
ausgebreitet.  Alle  vermögenden  Klassen  der  Bevölkerung  warfen 
sich  auf  die  Effektenbörse,  um  а  la  hausse  zu  spekulieren.  „Prinzen, 
Aristokraten,  Politiker,  Beamte,  Advokaten,  Aerzte,  Geistliche,  Philo- 
sophen, Poeten,  Mädchen,  Frauen  und  Witwen"  —  so  lesen  лvir  im 
Annual  Register  von  1825  —  ,,haben  sich  auf  die  Börse  geworfen, 
um  einen  Teil  ihres  Vermögens  in  Unternehmungen  anzulegen,  von 
denen  ihnen  nichts  ausser  dem  Namen  bekannt  war". 


i)  Report  from  the  Select  Committee  on  the  Bank  of  England  Charter,   1833,  Appen- 
dix N0.  95. 

2)  John  Francis,   History  of  the  Bank  of  England,  London,  Vol.  II,  S.  4. 


Ein  derartig  plötzlicher  Taumel  gleicht  einer  Epidemie:  je  mehr 
Leute  von  ihm  befallen  sind,  desto  särker  ist  seine  Wirkung  auf  die 
übrige  Bevölkerung.  Aber  man  darf  nicht  vergessen,  dass  diese 
Spekulationsepidemie  sich  nur  aus  dem  Grunde  entwickeln  konnte, 
weil  in  England  viele  freie  Kapitalien  angehäuft  waren,  die  keine 
vorteilhafte  Anlage  auf  dem  inneren  Markte  finden  könnten.  Nach 
den  Worten  von  Palmer,  des  Direktors  der  Bank  von  England,  ist 
der  erste  Anstoss  zur  Spekulation  mit  ausländischen  Papieren  durch 
die  von  der  Regierung  Anfang  der  20er  Jahre  vorgenommenen 
Konvertierungen  gegeben  worden  i).  Der  englische  Kapitalist  konnte 
eine  niedrige  Verzinsung  seines  Kapitals  nur  durch  Anlegung  des- 
selben im  Auslande  vermeiden,  zudem  boten  die  südamerikanischen 
Staaten  die  verlockendsten  Bedingungen  —  die  Anleihen  wurden  zu 
7,  8  oder  mehr  Prozent  aufgenommen,  während  der  Preis  der  3^/0 igen 
englischen  Konsols  fast  auf  100  gestiegen  war.  Allerdings  haben 
die  amerikanischen  Staaten  diese  Bedingungen  geboten  ohne  die  Ab- 
sicht sie  einzuhalten,  aber  die  englischen  Kapitalisten  waren  geneigt, 
an  die  Solidität  der  ausländischen  Anleihen  zu  glauben,  da  die  An- 
leihen der  europäischen  Staaten,  die  auf  der  Londoner  Börse  1818 
und  18 19  aufgenommen  waren,  sich  als  eine  vollkommen  sichere  und 
vorteilhafte  Geldanlage  erwiesen. 

Nicht  lange,  und  das  Spekulationsfieber,  das  mit  den  ausländi- 
schen Börsenwerten  angefangen  hatte,  verpflanzte  sich  auch  auf  den 
inneren  Markt:  es  sind  unzählige  Projekte  erschienen  des  Baues  von 
Eisenbahnen,  von  Kanälen,  der  Einrichtung  von  Dampfschifflinien, 
der  Gründung  von  Gas-  und  Versicherungsgesellschaften,  Banken, 
Fabriken  u.  s.  w. 

Viele  Kompagnien  wurden  zu  dem  ausschliesslichen  Zwecke  des 
Börsenspieles  gegründet,  und  daher  tauchten  unter  ihnen  so  phan- 
tastische Unternehmungen  auf,  wie  die  Kompagnie  für  Durchstechung 
der  Panama-Landenge,  deren  Umrisse  zu  jener  Zeit  noch  fast  unbe- 
kannt waren,  wie  die  Kompagnie  für  Perlenfang  an  den  Ufern  Ko- 
lumbiens u.  s.  w.  Das  nominelle  Kapital  der  Kompagnien,  die  in 
den  Jahren  1824 — 25  projektiert  oder  gegründet  worden  sind,  hat 
nach  einigen  Berechnungen  372  Millionen  Pfund  erreicht.  Von  ihnen 
haben  sich  in  den  folgenden  Jahren  nur  Kompagnien  mit  einem 
nominellen  Kapital  von  102  Millionen  erhalten.  Die  übrigen  aber 
hatten  liquidiert  oder  waren  gar  nicht  begründet  worden  2). 

i)  Report  on  the  Bank  of  England  Charter.  Minutes  of  Evidence.  Aussage  von 
H.  Palmer.     Q.  606. 

2)  P'rancis,   History  of  the  Bank  of  England.     Vol.  II,  S.  30. 


—       73       — 

Dies  war  die  Lage  der  Londoner  Effektenbörse  gegen  Ende 
des  Jahres  1824  und  zu  Beginn  des  Jahres  1825.  Was  die  industrielle 
Welt  betrifft,  so  fand  in  ihr  auch  eine  grosse  Belebung  statt,  obwohl 
diese  den  wahnsinnigen  Spekulationen  der  Börsenspieler  nicht  im 
geringsten  ähnlich  war.  In  der  That  ist  der  Fabrikant  nicht  im- 
stande, den  Preis  seiner  Produkte  aus  Spekulationsgründen  bedeutend 
zu  erhöhen,  da  der  Preis  der  Waren  in  einem  grösseren  oder  ge- 
ringeren Zusammenhange  mit  den  realen  Bedingungen  des  An- 
gebots und  der  Nachfrage  sich  befindet.  Trotzdem  waren  1825 
die  Preise  der  Fabrikate  ziemlich  bedeutend  gestiegen  —  so  sind 
z.  B.  die  Preise  der  baumwollenen  Gewebe  1825  um  23%  in  die 
Höhe  gegangen  1).  Diese  Erhöhung  erscheint  geringfügig  im  Ver- 
gleich zu  dem  Steigen  der  Börsenwerte,  dafür  sind  aber  diese  letzteren 
oft  ganz  fiktive,  während  ein  Penny  oder  Schilling  mehr  im  Preise 
der  Fabrikate  die  Einkommen  ganzer  Gesellschaftsklassen  erhöht.  Und 
in  der  That  hat  das  Steigen  der  Preise  der  baumwollenen  Fabrikate 
zu  einem  raschen  Bau  neuer  Fabriken  in  Lancashire  geführt.  Der 
Bau  selbst  wurde  nicht  selten  ohne  jegliches  bares  Kapital  nur  mit 
den  Mitteln  der  Banken  ausgeführt,  die  gern  gegen  eine  Hypothek 
Geld  vorstrecken.  „Viele  Banken  von  Lancashire  haben,  —  nach 
der  Aussage  eines  der  Direktoren  der  Manchesterbank  John  Dwyer 
—  die  grössten  Anstrengungen  gemacht,  um  den  Umfang  ihrer  Dar- 
lehen zu  erweitern,  was  hat  seinerseits  zum  Bau  neuer  Fabriken  in 
ungeheurem  Umfang  geführt"  2). 

Die  Eröffnung  der  südamerikanischen  Märkte  hat  in  England 
nicht  bloss  Börsenspekulationen,  sondern  auch  eine  Erhöhung  der 
Ausfuhr  der  englischen  Waren  nach  dem  Auslande  hervorgerufen. 
Man  darf  nicht  glauben,  dass  aus  England  ganze  Haufen  Gold  nach 
Südamerika  flössen,  um  die  Bezahlung  aller  Anleihen,  die  in  London 
aufgenommen  worden  sind,  zu  realisieren.  Thatsächlich  geschah  die 
Bezahlung  nicht  mit  edlem  Metall,  wenigstens  nicht  mit  ihm  allein, 
sondern  in  bedeutendem  Masse  auch  mit  Waren.  Die  Ausfuhr  der 
britischen  Waren  nach  Central-  und  Südamerika  ist  von  2942  Tausend 
Pfund  Sterling  (1821)  auf  6426  Tausend  Pfund  Sterling  (1825)  —  in 
vier  Jahren  um  mehr  als  das  Doppelte  —  gestiegen.  Den  Haupt- 
gegenstand der  Ausfuhr  bildeten  baumwollene  Gewebe.  Die  erhöhte 
Nachfrage    hat    ein    Steigen    der   Preise    und    eine    Vermehrung   der 


i)  Nach  der  Tabelle  von  Neild  im  Journal  of  the  Stat.  Society  of  London,  i86i, 
December.     An  Account  of  the  Prices  of  Printing  Cloth. 

2)  Report  on  the  Bank  of  England  Charter.  Minutes  of  Evidence.  Aussagen  von 
J.  Dwyer.     Q.   4368—4394. 


—      74      — 

Produktion  der  baumwollenen  Gewebe  in  England  hervorgerufen  — 
die  Menge  der  in  Grossbritannien  verarbeiteten  Baumwolle  ist  von 
129  Millionen  Pfund  (182 1)  auf   167  Millionen  Pfund  (1825)  gestiegen. 

Woher  haben  aber  die  südamerikanischen  Länder  die  Mittel  ge- 
nommen, um  im  Jahre  1825  zweimal  so  viel  Waren  zu  kaufen  als 
im  Jahre  1821?  Diese  Mittel  sind  von  den  Engländern  selbst  ge- 
liefert worden.  Die  Anleihen,  die  auf  der  Londoner  Börse  auf- 
genommen worden  sind,  dienten  zur  Bezahlung  für  die  eingeführten 
Waren.  Die  englischen  Fabrikanten  wurden  durch  die  von  ihnen 
selbst  geschaffene  Nachfrage  getäuscht  und  mussten  sich  bald  durch 
eigene  Erfahrung  überzeugen  lassen,  wie  unbegründet  ihre  über- 
mässigen Hoffnungen  gewesen  waren. 

Es  ist  bemerkenswert,  dass,  trotz  des  allgemeinen  Aufschwungs 
des  Handels,  die  Ausfuhr  englischer  Waren  nach  vielen  Ländern  sich 
nicht  ausgedehnt  hat.  So  ist  z.  B.  die  Ausfuhr  nach  den  nord euro- 
päischen Staaten  von  9  Millionen  Pfund  vSterling  (1821)  auf  8,5  Mil- 
lionen (1825),  nach  den  südeuropäischen  Staaten  in  derselben  Zeit 
von  6,9  Millionen  auf  6,1  Millionen  gesunken.  Fast  die  ganze  Er- 
höhung der  britischen  Ausfuhr  entfällt  auf  Süd-  und  Centralamerika 
und,  in  geringerem  Masse,  auf  die  Vereinigten  Staaten. 

Im  Jahre  1824  ist  die  Lage  der  englischen  Industrie  eine  in 
jeder  Hinsicht  sehr  gute  gewesen,  jedoch  sind  die  Warenpreise  im 
allgemeinen  sehr  wenig  gestiegen.  Das  Spekulationsfieber,  das  die 
vermögenden  Klassen  der  englischen  Gesellschaft  erfasst  hatte,  er- 
streckte sich  nicht  auf  den  Warenmarkt,  weil  im  Verhältnisse  der 
Nachfrage  zum  Angebot  der  Waren  keine  bedeutende  Veränderung 
vor  sich  gegangen  war.  Ende  1824  hat  sich  die  Lage  des  Waren- 
marktes verändert.  Die  Vorräte  von  Rohstoffen  aller  Art  haben 
sich  infolge  ihres  intensiven  Verbrauchs  während  des  abgelaufenen 
Jahres  stark  verringert.  Zugleich  wurden  Befürchtungen  laut,  dass 
die  Ernten  vieler  wichtiger  vegetabilischer  Produkte  (und  vor  allem 
der  Baumwolle)  für  die  gew^achsenen  Bedürfnisse  der  Bevölkerung 
und  der  Industrie  ungenügend  sein  würde.  Das  bewirkte  die  Aus- 
breitung der  Spekulation  auch  auf  den  Warenmarkt.  Mit  Beginn 
des  Jahres  1825  fingen  die  Warenpreise  an,  schnell  zu  steigen;  sie 
erreichten  ihren  Höhepunkt  im  Juli  dieses  Jahres.  Am  meisten  sind 
die  Preise  der  Rohbaumwolle  gestiegen,  die  den  Gegenstand  wildester 
Spekulationen  bildete.  Nicht  nur  Baumwollhändler,  sondern  auch 
Fabrikanten  kauften  enorme  Vorräte  von  Rohbaumwolle  auf,  welche 
bei  weitem  ihre  gewöhnliche  Nachfrage  übertrafen,  in  der  Absicht, 
die  Preise  der  Baumwolle   noch  mehr  in  die  Höhe  zu  treiben.     Und 


4 

i 


—      75      — 

das  gelang  während  einer  gewissen  Zeit  vollkommen.  Die  Preise 
der  Baumwolle  in  Liverpool  erhöhten  sich  viel  schneller  als  auf  dem 
wichtigsten  amerikanischen  Baumwollmarkte  —  in  New  Orleans. 


Baumwolle  (Georgia) 

Indigo  (Ostindische,  höhere  Qualität) 

Seide  (China) 

Tabak  (Virginischer) 

Zucker  (Havanna) 

Kaffee  (San  Domingo) 

Roheisen  (britisches) 

Blei 

Bauholz  (Memel) 

Salpeter  . 


Steigen  d.  "Warenpreise 
auf  d.  Londoner  Markte 
von  Dezember  1824  bis 
Juni  1825  im  Vergleich 
zu  Juli  bis  Nov.  1824  ^) 


+  100  "/0 

+  21 

-|-  20 

+  33 

+  39 

+  30 

+  n 

+  30 

-j-  20 

4-  82 


Das  Durchschnittsniveau  der  Warenpreise  hat  sich  1825  nach 
dem  Jevonsschen  index  number  im  Vergleich  zu  dem  voran- 
gegangenen Jahr  um  17^0  erhöht^).  Das  Steigen  der  Warenpreise  hat 
eine  Erhöhung  der  Einfuhr  der  Waren  hervorgerufen,  deren  Preise 
auf  dem  Londoner  Markte  anormal  hochstanden.  So  ist  im  Jahre 
1825  die  Einfuhr  der  Baumwolle  um  53V0.  des  Tabaks  um  81%, 
des  Holzes  um    2 1  ^q  u.  s.  w.  gestiegen. 

Im  Jahre  1824  waren  die  Warenpreise  auf  dem  Londoner  Markte 

nicht  hoch,  und  infolgedessen  hatte  sich  die  Wareneinfuhr  nach  England 

ihrer  Masse   nach   im  Vergleich  zu   dem   vorangegangenen  Jahre  nur 

I       um    5^/q    erhöht    (der    offizielle    Wert    der  Einfuhr    des    Vereinigten 

Königreichs    war    von     35,8    Millionen    Pfund    im   Jahre     1823    auf 

1      37,6  Millionen  Pfund  im  Jahre   1824  gestiegen),  die  Ausfuhr  aber  war 

'       um   12^/0  gestiegen.    Im  Jahre   1825  sind  die  Warenpreise  in  England 

I       sehr  in  die  Höhe  gegangen.    Infolgedessen  hat  sich  die  Wareneinfuhr 

\       1825  ihrer  Masse  nach  um  17%  vermehrt  und  die  Ausfuhr  (der  Masse 

nach)    um    3^^    verringert    (der    offizielle    Wert    der    Ausfuhr    der 

britischen  Produkte  betrug  im  Jahre   1824   48,8  Millionen  Pfund   und 

im  Jahre    1825    47,2    Millionen;   der    offizielle    Wert    der   Einfuhr   im 

Jahre   1825  betrug  44,1   Millionen). 

Im  Jahre  1825  ist  also  im  auswärtigen  Handel  Englands  folgende 
Veränderung  vor  sich  gegangen  —  die  Einfuhr  hat  sich  stark  ver- 
mehrt,   die   Ausfuhr   hat   sich   vermindert.     Das   war   der   Ausgangs- 


i)  Berechnet  nach  Tooke,  History  of  Prices,  II,  S.    157. 

2)  Jcvons,  Investigations  in  Currency  and  Finances.     The  Variation  of  Prices. 


-      76      — ' 

punkt  für  alle  nachfolgenden  Ereignisse,  die  mit  Notwendigkeit  auf- 
einander folgten  und  die  englische  Industrie  und  den  Handel  in  eine 
vollständige  Stockung  brachten. 

Der  allgemeine  Gang  dieser  Ereignisse  war  in  kurzen  Worten 
der  folgende.  Die  Vermehrung  der  Einfuhr  machte  die  Zahlungs- 
bilanz für  England  ungünstig.  Das  Gold  begann  aus  England  nach 
dem  Auslande  abzufliessen,  der  Barvorrat  der  Bank  von  England 
nahm  rasch  ab  und  die  Bank  war  der  Gefahr  nahe,  die  Einlösung 
ihrer  Noten  einstellen  zu  müssen.  In  der  nachfolgenden  Tabelle  ist 
die  Bewegung  des  Barvorrats  der  Bank  von  England  mit  der  Ver- 
änderung des  Wechselkurses  auf  Paris  zusammengestellt  i). 


Wechselkurs 
auf  Paris  nach 

Barvorrat  der 

Sicht  (dj 

IS  Gold- 

Bank  von  Eng- 
land (in  Milli- 

agio 
zug 

ist  m  Ab- 
gebracht) 

onen   Pfd.  St.) 

1824, 

31- 

Januar  . 

25 

Fr. 

34 

С 

13,5 

27. 

März     .     . 

25 

37 

13,9 

26. 

Juni       .     . 

25 

25 

12,8 

28. 

August 

25 

8 

11,8 

24. 

Dezember  . 

25 

2 

10,7 

1825, 

26. 

Februar     . 

25 

0 

8,9 

28. 

Mai       .     . 

25 

0 

6,1 

25- 

Juni       .     . 

24 

96 

5'5 

30. 

Juli  .     .     . 

25 

I 

4,2 

27. 

August 

25 

I 

3,6 

24. 

September 

25 

12 

3,5 

29. 

Oktober     . 

25 

9 

3,2 

25- 

November 

25 

2 

3,0 

31- 

Dezember . 

25 

10 

^3 

1826, 

28. 

Februar 

25 

41 

2,5 

31. 

August 

25 

42 

6,8 

Wie  bekannt,  kann  die  internationale  Bewegung  der  Edelmetalle 
an  Wechselkursen  am  sichersten  erkannt  werden.  Wenn  der  Lon- 
doner Kurs  auf  Paris  unter  25  Francs  10  Centimes  (nach  Sicht)  stand, 
dann  wurde  es  vorteilhaft,  Gold  aus  London  nach  Paris  zu  schicken, 
stand  aber  der  Kurs  über  25  Francs  35  Centimes,  so  wurde  es  vor- 
teilhaft, Gold  aus  Paris  nach  London  zu  schicken.  Daher  rief  das 
Fallen  des  Kurses  auf  Paris  unter  25  Francs  10  Centimes  den  Abfluss 
der  Edelmetalle  aus  England  nach  dem  Auslande  hervor  und,  um- 
gekehrt, das  Steigen  des  Kurses  über  15  Francs  35  Centimes  hatte 
einen  Goldzufluss  aus  dem  Auslande  nach  England  zur  Folge. 


l)  Report  on  the  Bank  of  England  Charter.     Apendix  No.  6,   5,  97. 


—      77       — 

Der  Stand  des  Londoner  Kurses  zu  Anfang  1824  zeigt,  dass  in 
dieser  Zeit  ausländisches  Gold  nach  England  floss.  Seit  Juni  hat  der 
Goldzufluss  aus  dem  Auslande  aufgehört  und  Ende  des  Jahres  be- 
ginnt Gold  aus  England  abzufliessen.  Dieser  Abfluss  dauert  mit  zu- 
nehmender Intensität  bis  September  1825  fort,  wo  wieder  eine  Ver- 
änderung stattfindet:  der  Wechselkurs  steigt,  aber  der  Metallvorrat 
der  Bank  fährt  fort  zu  sinken.  Seit  Anfang  1826  erneuert  sich  der 
Zufluss  des  Metalles  nach  England.  Alle  diese  Schwankungen  im 
Zu-  und  Abfluss  der  Edelmetalle  sind  ganz  begreiflich  und  stehen  im 
Zusammenhang  mit  dem  Zustand  des  englischen  auswärtigen  Handels. 
Zu  Beginn  des  Jahres  1824  hat  sich  die  englische  Warenausfuhr  stark 
vermehrt,  und  das  hat  natürlich  einen  Goldzufluss  nach  England  her- 
vorgerufen; im  Jahre  1825  ist  die  Einfuhr  der  ausländischen  Produkte 
nach  England  stärker  gestiegen,  und  das  Gold  fing  an,  sich  aus  dem 
Lande  zu  entfernen. 

Die  Bank  von  England  bildet  ein  Reservoir,  wo  die  Metall- 
vorräte von  ganz  England  gesammelt  sind;  diese  Vorräte  sind  das 
b\mdament  für  den  ganzen  Ueberbau  des  englischen  Kredites,  denn 
wie  ausgebreitet  die  Kreditwirtschaft  auch  sein  mag,  sie  bedarf  immer 
eines  gewissen  Vorrates  an  Metallgeld.  Wenn  man  die  Schwan- 
kungen der  Wechselkurse  mit  der  Höhe  der  Metallvorräte  der  Bank 
von  England  vergleicht,  so  ist  es  leicht  zu  bemerken,  dass  zwischen 
beiden  ein  gewisser  Zusammenhang  besteht.  Wenn  die  Wechselkurse 
für  England  günstig  sind,  erhöht  sich  der  Metallvorrat  der  Bank  und, 
wenn  die  Kurse  ungünstig  sind,  vermindert  sich  dieser.  Die  Ver- 
mehrung der  Vorräte  an  Gold  und  Silber  in  den  Kassen  der  Bank 
in  den  ersten  drei  Monaten  des  Jahres  18^4  findet  ihre  Erklärung  in 
der  Höhe  der  Wechselkurse.  Die  starke  Verminderung  dieser  Vor- 
räte in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1824  und  der  ersten  Hälfte 
des  Jahres  1825  kann  gleichfalls  durch  den  niedrigen  Stand  der 
Wechselkurse  und  den  Goldabfluss  nach  dem  Auslande  erklärt 
werden.  Aber  in  den  letzten  Monaten  des  Jahres  1825  hört  die  Ab- 
hängigkeit des  Barvorrats  der  Bank  von  England  von  Wechselkursen 
auf  Im  September  sind  die  Wechselkurse  so  gestiegen,  dass  der 
Goldabfluss  nach  dem  Auslande  aufhören  müsste;  trotzdem  fuhr  das 
Gold  fort,  aus  der  Kasse  der  Bank  abzutliessen.  Auch  im  Oktober 
und  Dezember  sind  die  Wechselkurse  nicht  allzu  niedrig,  und  doch 
sehen  wir  eine  starke  Abaahme  des  Goldes  in  der  Kasse  der  Bank. 
Es  wurde  folglich  das  Sinken  des  Barvorrats  der  Bank  von  England 
im  Jahre  1825  durch  zwei  verschiedene  Ursachen  hervorgerufen:  die 
eine  Ursache   (die   ungünstige  Handels-   und  Zahlungsbilanz   und   der 


Goldabfluss  nach  dem  Auslande)  hatte  im  Laufe  der  ersten  8  Monate 
des  Jahres  1825  gewirkt,  die  andere  Ursache,  die  wir  noch  feststellen 
müssen,  hat  im  September  1825  zu  wirken  begonnen  und  in  4  Monaten 
die  Kasse  der  Bank  beinahe  in  den  Zustand  einer  vollständigen  Er- 
schöpfung gebracht. 

Wie  oben  gesagt,  hat  das  Steigen  der  Warenpreise  auf  dem 
Londoner  Markte  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1825  eine  Er- 
höhung der  Einfuhr  ausländischer  Waren  nach  England  her- 
vorgerufen. Obwohl  die  Warenpreise  auch  unter  dem  Einfluss  der 
Spekulation  steigen  können,  werden  sie  im  letzten  Grunde  doch  durch 
die  realen  Bedingungen  von  Nachfrage  und  Angebot  bestimmt.  Das  An- 
gebot aller  ausländischen  Waren  auf  dem  Londoner  Markt  hat  sich  1825 
stark  vermehrt,  und  das  hat  zuerst  ein  Anhalten  der  steigenden  Bewegung 
der  Preise  und  darauf  einen  raschen  Fall  derselben  hervorgerufen. 

Und  dieser  Fall  war  durchaus  unvermeidlich,  da  die  Nachfrage 
nach  den  Waren  in  England  nicht  im  Verhältnis  zu  deren  erhöhtem 
Angebot  steigen  konnte:  die  englischen  Fabriken  konnten  die  Pro- 
duktion nicht  ausdehnen,  weil  die  auswärtigen  Märkte  mit  englischen 
Waren  ohnedies  überfüllt  waren,  der  Konsum  der  Kolonialwaren 
konnte  aber  aus  demselben  Grunde  nicht  wachsen,  da  der  Reichtum 
des  Landes  und  das  Einkommen  aller  Gesellschafsklassen  wird  ja 
gerade  durch  die  Stufenleiter  der  Produktion  bestimmt.  Daher 
mussten  die  übermässig  gestiegenen  Warenpreise  früher  oder  später 
sinken,  und  das  geschah  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1825  und 
in  noch  höherem  Masse  in  der  zweiten  Hälfte  des  darauffolgenden 
Jahres. 


Sinken  d.  Warenpreise 
in  London  von  Januar 
bis  Juni  1826  im  Ver- 
gleich zu  Dezember 
1824  bis  Juni   1825  *) 

Baumwolle  (Georgia) 

Indigo  (Ostindische  höhere  Qualität)     . 

Seide  (China) 

Zucker  (Havanna) 

Kafee  (St.  Domingo) 

Roheisen  (britisches) 

Blei 

-36 

—  39 

—  23 
-38 

—  27 

—  27 

Bauholz  (Memel) 

Saloeter 

—  24 

—  34 

^ 

Das   Sinken    der  Preise   hat    alle    die  Spekulanten    ruiniert,    die 
Waren    gekauft    hatten    in   der    Hoffnung,    sie    mit    Vorteil    wieder- 

i)  Berechnet  nach  То  оке,  History  of  Prices,  Vol.  II,  S,   157. 


—       79      — 

zuverkaufen.  Die  Stimmung'  des  Warenmarktes  und  der  industriellen 
Welt  hat  sich  schroff  verändert;  wie  früher  ein  grenzenloses  Ver- 
trauen und  eine  Erwartung  der  besten  Zukunft  geherrscht  hatte,  so 
hat  sich  jetzt  eine  Niedergeschlagenheit  und  eine  Furcht  vor  weiterem 
Sinken  der  Preise  verbreitet.  Zugleich  erwiesen  sich  die  Spekulationen 
mit  südamerikanischen  Werten  als  jedweder  soliden  Grundlage  bar. 
Die  amerikanischen  Staaten  dachten  in  den  meisten  Fällen  nicht 
daran ,  den  von  ihnen  übernommenen  Verpflichtungen  nachzu- 
kommen, die  Zinsen  wurden  nicht  gezahlt,  und  viele  Kreditoren  ver- 
loren die  volle  Summe  ihres  Beitrages.  Die  Aktiengesellschaften  für 
Ausbeutung  der  Bergwerke  und  der  anderen  natürlichen  Reichtümer 
der  neuen  Welt  hatten  bloss  zu  einer  unproduktiven  Verwendung 
des  Kapitals  geführt  und  keine  Einnahmen  ergeben.  Das  Steigen 
der  Kurse  der  Börsenwerte  musste  schon  aus  dem  Grunde  aufhören, 
weil  der  Erfolg  der  einen  Spekulanten  die  anderen  bewog,  immer 
neue  und  neue  Unternehmungen  zu  erfinden.  Die  Nachfrage  nach 
Kapital  vermehrte  sich  immerfort,  und  wie  enorm  die  englischen 
Kapitalien  auch  sein  mochten,  sie  mussten  sich  schliesslich  doch  er- 
schöpfen. Nach  und  nach  hat  sich  die  Menge  der  freien  Kapitalien 
auf  dem  Geldmarkte  stark  vermindert.  Es  trat  ein  Moment  des  Still- 
standes ein,  ein  Moment  des  Kampfes  zwischen  den  Parteien  der 
Hausse  und  der  Baisse,  und  darauf  ein  rascher  Zusammenbruch  des 
Kartenhäuschens  der  ephemeren  Unternehmungen,  die  die  Londoner 
Börse  überschwemmt  hatten. 

Das  war  die  Sachlage  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1825. 
Die  Kasse  der  Bank  von  England  hat  sich  infolge  des  Goldabflusses 
nach  dem  Auslande  stark  geleert,  viele  Börsenspekulanten  sind  durch 
das  Sinken  der  Preise  der  Börsenwerte  ruiniert.  Die  industriellen 
Firmen  aber  waren  noch  nicht  bankerott,  denn  bis  zu  dem  Zeitpunkt, 
wo  der  Bankerott  einer  industriellen  Firma  zu  Tage  tritt,  muss  eine 
bestimmte  Zeit  von  3 — 4  oder  mehr  Monaten  verf Hessen,  eben  bis 
der  Moment  eintritt,  wo  sie  ihren  Schuldverpflichtungen  nachkommen 
muss.  Die  Bankerotte  begannen  zuerst  bei  den  Banken.  Die  eng- 
lischen Banken  hatten  sich  an  den  Spekulationen  jener  Zeit  stark 
beteiligt.  Der  gewöhnliche  Fehler,  der  damals  mehr  als  eine  solide 
Bank  zugrunde  gerichtet  hat,  bestand  in  folgendem.  Die  Bank  legte 
gewöhnlich  ihre  Kapitalien  so  an,  dass  sie  in  einem  Notfalle  solche 
nicht  sofort  zu  realisieren  ^  vermochte.  In  der  Zeit  einer  Panik  auf 
dem  Geldmarkte  genügt  jedoch  ein  ganz  nichtiges  und  unbegrün- 
detes Gerücht,  damit  die  Kreditoren  von  der  Bank  sofort  die  Rück- 
gabe ihrer  Einlagen  verlangen.    Durch  die   Parlamentsakte  von    1822 


—       8o      — 

wurde  es  den  privaten  Banken  die  Emission  von  Einpfundbank- 
noten gestattet;  das  hat  ihre  Lage  noch  gefährlicher  gemacht,  da 
die  Besitzer  der  Einpfundbanknoten  grösstenteils  keine  reichen  Leute 
v^raren  —  kleine  Gewerbetreibende,  Kaufleute,  Farmer  u.  s.  w.  — 
Leute,  die  leicht  von  einer  Panik  erfasst  werden,  die  zu  einem  über- 
triebenen Vertrauen  in  einer  günstigen  Zeit  wie  zu  einem  über- 
triebenen Misstrauen  in  einer  kritischen  neigen  i).  Viele  Zeugen,  die 
von  der  Parlamentskommission  von  1833  verhört  worden  sind,  haben 
sogar  die  Entstehung  der  Krisis  von  1825  auf  die  übermässige  Emission 
von  Einpfundbanknoten  zurückgeführt.  Dass  grosse  Missbräuche 
seitens  der  Provinzialbanken  in  der  Banknotenausgabe  ausgeübt 
wurden,  das  steht  zwar  ausser  Zweifel.  Nach  einer  Schätzung  von  Lord 
Liverpool  ist  der  Wert  der  von  den  Provinzialbanken  im  Anfange 
des  Jahres  1825  ausgegebenen  Banknoten  im  Vergleich  zum  Ende  des 
Jahres  1823  beinahe  verdoppelt  worden.  Doch  ist  es  gewiss  eine 
sehr  grosse  Uebertreibung,  als  eine  wichtigste  Ursache  der  Krisis  die 
übertriebene  Ausgabe  der  Banknoten  überhaupt  oder  zwar  bloss  die 
der  Einpfundbanknoten  zu  betrachten.  Die  Einpfundbanknoten 
konnten  wohl  die  Lage  der  Privatbanken  während  der  Krisis  viel 
gefährlicher  machen;  auch  hatte  zu  starke  Banknotenausgabe  zu 
Krediterleichterungen  während  des  Aufschwungs  geführt  und  dadurch 
die  darauffolgende  Krisis  verschärft.  Jedenfalls  wurde  aber  diese  un- 
vermeidlich. 

Im  Oktober  1825  sind  5  Provinzialbanken  bankerott  gegangen. 
Die  solidesten  Banken  mussten  einen  schweren  Ansturm  seitens  des 
Publikums  erleiden  und  liefen  Gefahr,  die  Zahlungen  einzustellen. 
Obwohl  die  Banknoten  der  Bank  von  England  das  unbeschränkte 
Vertrauen  des  Publikums  genossen,  entstand  im  Lande  eine  starke 
Nachfrage  nach  Metall.  An  Stelle  des  Goldabflusses  nach  dem  Aus- 
lande trat  der  Goldabfluss  aus  London  nach  der  Provinz.  Nach  den 
Worten  sachkundiger  Zeugen,  die  von  der  Parlamentskommission  von 
1833  verhört  wurden,  wurde  die  Abnahme  des  Barvorrats  der  Bank 
von  England  Ende  1825  ausschliesslich  durch  diesen  letzteren  Um- 
stand hervorgerufen  2).  Der  Münzhof  prägte  einige  Monate  hindurch 
ununterbrochen  Goldmünzen,  die  sich  sofort  im  Innern  des  Landes 
verbreiteten. 


i)   Vergl.    darüber    Report    on    the   Bank   of  England    Charter.  Minutes  of  Evidence, 
Aussage  von  Horsley  Palmer,  Q.   271 — 279. 

2)  Report  on  the  B.  of  E.  Charter.  Minutes  of  Evidence,    Aussagen    von  Horsley 

Palmer.      Q.   272,  von  J.   Harman,   Q.   2226.  j 

4 


—     «I 


Als  Ursachen  dieser  Verstärkung  der  Nachfrage  seitens  des 
engHschen  Publikums  nach  Gold  kann  man  folgendes  betrachten: 
I.  Die  Einpfundbanknoten  der  Provinzialbanken  konnten  nur  in  Metall 
eingelöst  werden,  da  die  Bank  von  England  nicht  das  Recht  hatte, 
neue  Ausgaben  von  Banknoten  in  diesem  Werte  vorzunehmen;  als 
daher  enorme  Mengen  von  Einpfundbanknoten  zur  Einlösung  vor- 
gezeigt wurden,  griffen  die  Provinzialbanken  zu  den  äussersten  Mitteln, 
um  ihre  Vorräte  an  Metall  zu  vermehren  i);  2.  die  lauf  enden  Wochen- 
ausgaben der  Privatpersonen,  die  Entlöhnung  der  Arbeiter,  die  kleinen 
Einkäufe  u.  s.  w.  können  nur  in  Metall  gemacht  werden,  und  daher 
musste  jedesmal,  wenn  ein  Depositum  aus  der  Bank  zurückverlangt 
wurde,  ein  Teil  desselben  in  Gold  zurückgegeben  werden.  Darüber 
haben  einige  von  der  Kommission  von  i833  befragte  Bankiers 
interessante  Angaben  gemacht:  so  z.  B.  haben  die  Bankiers  Beckett 
und  Smith  ausgesagt,  dass,  wenn  die  Fabrikanten  Geld  für  laufende 
Ausgaben  brauchen,  nehmen  sie  ein  Drittel  des  verlangten  Goldes  in 
Banknoten  und  die  anderen  zwei  Drittel  in  Gold  2);  3.  zur  Zeit  einer 
Krisis  vermehren  sich  infolge  der  Einschränkung  des  Kredites  die 
Operationen  mit  barem  Gelde  und  zugleich  entsteht  im  Publikum  das 
Streben  nach  Vermehrung  der  Reserven;  infolgedessen  steigt  die 
Nachfrage  nach  barem  Gelde  beider  Art  —  nach  Metallgeld  und 
nach  Banknoten,  soweit  diese  letzteren  das  volle  Vertrauen  des  Publi- 
kums geniessen. 

Als  Cirkulationsmittel  erscheinen  in  normaler  Zeit  das  bare 
Geld  wie  der  Kredit.  Die  Einschränkung  des  Kredites  ist  daher 
gleichbedeutend  mit  einer  Verminderung  von  Cirkulationsmittel  und 
wird  infolgedessen  von  einer  Vermehrung  der  Nachfrage  nach  barem 
Gelde  begleitet.  Das  Geld  wird  teuer  —  nicht  aus  dem  Grunde, 
weil  es  in  geringerer  Menge  vorhanden  wäre,  sondern  darum,  weil 
die  Nachfrage  nach  ihm  grösser  geworden  ist. 

Aus  der  oben  angeführten  Tabelle  ist  einzusehen,  dass  der 
Metallvorrat  der  Bank  von  England  in  den  ersten  9  Monaten  des 
Jahres  1825  infolge  des  Goldabflusses  nach  dem  Auslande  um  6  Mil- 
lionen Pfund  abgenommen  hat.  Im  September  waren  in  der  Kasse 
der  Bank  weniger  als  4  Millionen  Pfund  geblieben.  Bei  einer  so 
schwachen  Kasse  musste  die  Bank  für  Selbsterhaltung  sorgen  und 
daher   fing   sie   an    die  Darlehen    einzuschränken.     Im  Oktober   hatte 

i)  Report  on  the  B.  of  E.  Charter.  Minutes  of  Evidence.  Aussage  von  H.  Palm  er, 
Q.  274. 

2)  A.  a.  O.,  Aussage  von  W.  Beckett,   Q.    1300 — 1302;    Aussage  von  J.  Smith, 

Q-   474- 

Tiigan-Baiaiuj wsky  ,  Die  Handelskrisen.  (J 


—         82         — 

die  Bank  Wechsel  für  6,2  Millionen  Pfund,  im  November  aber  nur 
für  5,2  Millionen  Pfund  diskontiert.  Die  Direktion  der  Bank  weigerte 
sich  den  Provinzialbanken,  die  am  meisten  einer  Unterstützung  be- 
durften, zu  Hülfe  zu  kommen.  Auf  solche  Weise  hoffte  die  Direktion 
das  Gold  in  der  Bankkasse  zurückzuhalten,  erreichte  aber  damit  das 
gerade  Gegenteil.  Die  Weigerung  der  Bank  von  England,  Darlehen 
zu  geben,  verstärkte  nur  die  Panik  auf  dem  Geld-  und  Warenmarkte, 
das  Gold  wurde  in  noch  grösserem  Umfang  durch  fortgesetzte  Rück- 
forderung der  Depositen  aus  der  Bank  herausgezogen,  und  die 
Provinzialbanken  begannen  eine  nach  der  anderen  zusammenzu- 
brechen. 

Um  die  Bedeutung  des  Fallissements  einer  grossen  Bank  oder 
eines  anderen  grossen  industriellen  Unternehmens  für  die  gesamte 
Volkswirtschaft  vollständig  zu  bemessen,  muss  man  in  Betracht  ziehen, 
dass  in  der  gegenwärtigen  Wirtschaftsordnung  eine  jede  einzelne 
Wirtschaft  mit  tausend  unsichtbaren  Fäden  mit  den  anderen  Wirt- 
schaften verknüpft  ist.  Alle  Wirtschaften  zusammen  bilden  ein  Riesen- 
netz, in  dem  sich  die  Krisis  lawinenartig  verbreitet  —  daher  ist  ihre 
Wirkung  auch  eine  so  zerstörende.  Der  Zusammenbruch  von  5  Banken 
im  Oktober  hat  zur  Folge  gehabt,  dass  im  Dezember  1825  und 
Januar  1826  bereits  70  Banken  die  Zahlungen  eingestellt  haben.  Der 
Barvorrat  der  Bank  von  England  verringerte  sich  immer  mehr  und 
sank  endlich  am  24.  Dezember  auf  1027  Tausend  Pfund.  Im  Jahre 
1797  hatte  die  Bank  von  England  in  ihren  Gewölben  einen  grösseren 
Goldvorrat  besessen  und  doch  wurde  sie  gezwungen,  die  Einlösung 
ihrer  Banknoten  aufzugeben. 

Auch  diesmal  war  die  Bankdirektion  bereits  auf  dem  Punkte, 
diese  letztere  Massregel  zu  ergreifen ,  aber  die  Regierung  wider- 
setzte sich  ihr  entschieden.  Darauf  versuchte  es  die  Bank  mit  einer 
entgegengesetzten  Politik,  —  statt  ihre  Kasse  durch  Verweigerung 
des  Kredites  zu  schützen,  beschloss  sie,  den  Kredit  zu  erweitern.  Das 
war  für  die  Bank  um  so  leichter,  da  sie  von  Rothschild  eine  be- 
deutende Summe  Gold  (300000  Sovereigns)  zurückbekam.  Die  Bank 
entschloss  sich  dem  erschütterten  Handel  und  der  Industrie  zu 
Hülfe  zu  kommen,  alle  soliden  kommerziellen  Wechsel,  die  die 
Privatbanken  aus  Furcht,  ihren  Kassenbestand  zu  verringern,  zurück- 
wiesen, zu  diskontieren,  den  Kredit  in  weitestem  Umfang  allen 
Londoner  und  provinziellen  Banken,  die  bloss  durch  rechtzeitige  Unter- 
stützung gerettet  werden  konnten,  zu  eröffnen  ^).    Ein  Mittel  dazu  hat 

i)  Report  cn  the  B.  of  E.  Charter.  Minutes  of  Evidence.  Aussage  von  J.  Har- 
mann.    Q,   2217. 


-       8з       - 

die  Bank  in  der  verstärkten  Notenausgabe  gefunden,  deren  Wert 
von  17  Millionen  Pfund  (am  3.  Dezember  1825)  auf  26,1  Millionen 
Pfund  im  Januar  1826  gestiegen  ist.  Zugleich  ist  der  Wert  der 
von  der  Bank  diskontierten  Wechsel  von  7  Millionen  Pfund  (Dezember 
1825)  auf  13,7   Millionen  Pfund  (Januar  1826)  gestiegen i). 

Diese  kühne  Handlungsweise  hat  sich  als  durchaus  erfolgreich 
er\viesen.  Trotz  der  Vermehrung  der  Darlehen  fand  nicht  nur  kein 
Goldabfluss  aus  der  Kasse  der  Bank  statt,  sondern  es  floss  ihr  sogar 
noch  Gold  zu,  und  im  Februar  1826  ist  der  Metall vorrat  der  Bank 
bereits  auf  2,5  Millionen  Pfund  gestiegen.  Da  das  Gold  nicht  im  Aus- 
lande, sondern  im  Innern  des  Landes  zur  Aufrechterhaltung  des  er- 
schütterten Kredites  verlangt  wurde,  so  konnten  die  Banknoten  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  das  Metall  ersetzen.  Aber  noch  wichtiger 
war  die  moralische  Wirkung,  die  durch  das  Eingreifen  der  Bank  zu 
einer  Zeit  ausgeübt  wurde,  wo  die  gesamte  Handels-  und  Geldwelt 
von  einer  Panik  erfasst  war.  Hätte  die  Bank  ein  halbes  Jahr  früher, 
als  Gold  verlangt  wurde,  um  ausländische  Wechsel  zu  bezahlen,  zu 
dieser  Massnahme  gegriffen,  so  wären  alle  neu  ausgegebenen  Bank- 
noten sofort  zur  Einlösung  vorgewiesen  worden,  da  auf  dem  inter- 
nationalen Markte  Metall  das  einzige  Zahlungsmittel  bildet;  die  Kasse 
der  Bank  hätte  sich  also  noch  mehr  geleert.  Aber  Ende  1825  war 
die  Lage  des  Geldmarktes  eine  ganz  andere:  der  Goldabfluss  nach 
dem  Auslande  hatte  aufgehört  und  die  Bank  hat  aus  Holland  und 
anderen  Ländern  bedeutende  Goldsummen  erhalten  —  so  gewährte 
die  Bank  von  Frankreich  der  Bank  von  England  eine  Anleihe  von 
2  Millionen  Pfund.  Die  einzige  Ursache  des  Goldabflusses  aus  der 
Bank  bestand  in  der  Störung  des  Kredites  im  Innern  des  Landes. 
Die  Noten  der  Bank  von  England  genossen  dasselbe  Vertrauen 
wie  Metall;  daher  kam  die  verstärkte  Ausgabe  derselben  gerade  zur 
richtigen  Zeit  und  trug  zur  Wiederherstellung  des  Vertrauens  auf 
dem  Geldmarkte  ausserordentlich  bei. 

Da  in  der  modernen  Wirtschaftsordnung  zwischen  den  einzelnen 
Elementen  derselben  der  engste  Zusammenhang  besteht,  so  haben  die 
Bankerotte   der  Banken,   die   die   ganze  erste  Hälfte  des  Jahres   1826 


i)  Man  erzählt,  dass  die  Direktion  der  Bank  durch  einen  Zufall  einen  Koffer  mit 
alten  Einpfundnoten  (die  neue  Ausgabe  solcher  wurde  der  Bank  nicht  gestattet)  gefunden 
hatte  und  dass  diese  Einpfundnoten,  лvelche  die  Bank  mit  der  Erlaubnis  der  Regierung  in 
die  Cirkulation  brachte,  eine  rasche  beruhigende  Wirkung  wie  durch  einen  Zauber  auf  den 
Geldmarkt  ausgeübt  hatten.  Dennoch  gehört  eine  solche  Wirkimg  mehr  dem  Gebiete  des 
Aberglaubens  an,  der  in  Bezug  auf  die  Rolle  des  Geldes  im  Verkehr  noch  bis  heute  in 
weiten  Kreisen  des  Publikums  herrscht. 


-       84      - 

fortdauerten,  Bankerotte  ihrer  Kunden,  der  Kaufleute  und  der  Fabri- 
kanten, zur  F'olge  gehabt;  umgekehrt  waren  die  Bankerotte  dieser 
letzteren  ihrerseits  sehr  oft  Ursache,  dass  die  Banken  ihre  Zahlungen 
einstellten.  Das  ganze  Jahr  1826  ging  auf  die  Liquidation  der  Unter- 
nehmungen des  vorhergegangenen  Jahres  auf.  Der  englische  Handel 
und  die  Industrie  haben  durch  die  Krisis  stark  gelitten,  am  meisten 
grosse  exportierende  Handelsfirmen,  welche  massenhaft  Bankerott 
machten  1).  Da  die  heftigsten  Spekulationen  im  Gebiete  der  Baum- 
wollindustrie stattgefunden  haben ,  so  hatte  auch  diese  die  grössten 
Verluste  von  der  Krisis  aufzuweisen.  In  Liverpool  und  Manchester 
wurden  die  Bankerotte  besonders  zahlreich. 

Aber  man  darf  nicht  glauben,  dass  das  Uebel  der  Krisis  haupt- 
sächlich in  einer  direkten  Vernichtung  von  Kapitalien  bestanden  hat. 
Eine  solche  hat  allerdings  auch  stattgefunden:  enorme  Kapitalien, 
welche  in  ausländischen  Anleihen  und  anderen  missglückten  Unter- 
nehmungen angelegt  waren,  sind  verloren  gegangen.  So  hatte  z.  B. 
die  Kompagnie  Real  del  Monte  mehr  als  i  Million  Pfund  Sterling 
für  die  Ausbeutung  der  Silberbergwerke  in  Mexiko  ausgegeben,  und 
schliesslich  musste  sie  ihr  gesamtes  Vermögen  für  27  Tausend  Pfund 
verkaufen  2).  In  den  9  ausländischen  Anleihen,  die  in  England  in 
den  Jahren  1824 — 25  aufgenommen  worden  waren,  haben  die  englischen 
Kapitalisten  mehr  als  10  Millionen  Pfund  verloren  (das  eingezahlte 
Kapital  hatte  13,5  Millionen  Pfund  Sterling  betragen,  sein  Marktwert 
ist  aber  nach  der  Krisis  auf  3  Millionen  Pfund  Sterling  gesunken  ^). 
Trotzdem  kann  über  den  Mangel  an  Kapital  in  England  nach  der 
Krisis  keine  Rede  sein:  bereits  im  Februar  1827  war  der  Bar- 
vorrat der  Bank  von  England  wieder  auf  10,2  Millionen  Pfund  ge- 
stiegen, und  die  privaten  Depositen  erreichten  die  Summe  von  8,8  Mil- 
lionen Pfund.  Die  englische  Industrie  hat  während  der  3 — 4  Jahre, 
die  unmittelbar  auf  die  Krisis  folgten,  nicht  am  Mangel  an  Kapital, 
sondern  an  der  Schwierigkeit,  für  dasselbe  eine  lohnende  Anlage  zu 
finden,  gelitten.  Die  Krisis  hat  die  nationalen  Produktivkräfte  nicht 
verringert,  sie  hat  aber  den  gesamten  Mechanismus  der  Geld-  und 
Warencirkulation  in  Störung  gebracht.  Die  Produzenten  mussten 
die  Produktion  einschränken,  die  Arbeiter  wurden  aufs  Pflaster  gesetzt, 
die  Fabrikgebäude,  Maschinen  u.  s.  w.  mussten  müssig  dastehen,  weil  der 
Absatz  aller  Waren  gestört  wurde.    Die  regelmässige  Warencirkulation 

i)  Vergl.  Th.  Tooke,  Considerations  of  the  State  of  Currency,  London,  1826,  S.  159. 

2)  Leone  Levi,  History  of  British  Commerce,  London   1872,  S.   179. 

3)  James  Wilson,  Fluctuations  of  Currency,  Commerce  and  Manufactures  referable 
to  Corn  Laws,  London,    1840,  S.  46. 


-      85      - 

wurde  unterbrochen  und  konnte  eine  Zeit  lang  nicht  wiederhergestellt 
werden.  Die  Resultate  waren  dieselben,  als  ob  das  Land  in  der  That 
einen  bedeutenden  Teil  seiner  Kapitalien  verloren  hätte. 

Eine  solche  Sachlage  kann  jedoch  nicht  lange  anhalten.  Jede 
Krisis  trägt  in  sich  selbst  die  Bedingungen  ihrer  Heilung.  Wie  in 
den  unmittelbar  der  Krisis  vorangehenden  Jahren  alles  zu  einer  über- 
mässigen Erweiterung  der  Produktion  und  zur  Erhöhung  der  Preise 
beiträgt,  so  trägt  in  den  auf  die  Krisis  folgenden  Jahren  alles  zur 
Reinigung  der  ökonomischen  Atmosphäre  und  zur  Wiederherstellung 
des  Vertrauens  bei.  Die  kleineren  Kapitalisten  wie  minder  vermögende 
Spekulanten  sind  darniedergefallen;  die  Produktion  ist  eingeschränkt 
worden  und  somit  hat  die  Hauptursache,  die  die  Krisis  und  das 
Sinken  der  Warenpreise  hervorgerufen  hatte,  aufgehört  zu  wirken. 
Der  von  einer  Uebermasse  der  Waren  befreite  Markt  fängt  wieder 
an,  eine  verstärkte  Nachfrage  nach  Waren  zu  erheben,  und  die  In- 
dustrie nimmt  einen  neuen  Aufschwung. 

In  gewisser  Beziehung  hat  die  Krisis  von  1825  sogar  eine 
wohlthätige  Wirkung  auf  die  englische  Industrie  ausgeübt.  Nach 
den  Aussagen  des  Fabrikanten  Smith  vor  einer  Parlamentskommission 
von  1833  hat  der  Dampfwebestuhl  in  den  englischen  Fabriken  erst 
nach  dieser  Krisis  allgemeine  Anwendung  gefunden  i).  In  der  Eisen- 
giesserei  sind  auch  seit  1825  wichtige  Verbesserungen  vorgenommen 
worden,  durch  die,  nach  der  Ansicht  des  Fabrikanten  Hill,  die  Pro- 
duktionskosten des  Eisens  sehr  bedeutend  herabgesetzt  worden  sind  2). 
Das  durch  das  Fallen  der  Warenpreise  hervorgerufene  Sinken  der 
Profitrate  bewog  die  Fabrikanten,  nach  Mitteln  zu  suchen,  um  die 
Produktion  zu  verbilligen.  Daher  sind  die  Jahre,  die  auf  die  Krisis 
von  1825  folgten,  durch  einen  raschen  Fortschritt  der  Technik  ge- 
kennzeichnet. 

Die  Krisis  von  1836. 

Die  vier  Jahre  von  1833 — 36  sind  in  der  englischen  Wirtschafts- 
geschichte durch  überaus  gute  Ernten  gekennzeichnet.  Diese  Ernten 
waren  so  reichlich,  dass  während  einiger  Jahre  England  fast  gar  keines 
importierten  Getreides  bedurfte  und  die  Preise  des  englischen  Weizens 
auf  den  niedrigsten  Punkt  im  Vergleich  mit  den  allen  vorangegangenen 
60  Jahren  heruntergesunken  sind.     Die  durchschnittliche  Jahreseinfuhr 


i)  Report  on  Maniifactures,  Commerce  &  Shipping   1833.  Minutes  of  Evidence,  Aus- 
sage von  Smith,  S.  565. 

2)  A.  a.  O.,  Aussage  von  Hill,   S.  620. 


-       86       — 

des  Getreides  nach  England  betrug  in  den  Jahren  1833 — 36  nur  gegen 
4%  der  durchschnittlichen  Einfuhr  in  den  vorangegangenen  4  Jahren. 

Diese  Ernten  haben  den  Anstoss  zu  einem  neuen  Aufschwung 
der  englischen  Industrie  gegeben.  Die  Spuren  der  Geschäftsstockung, 
die  auf  die  Krisis  von  1825  folgte,  waren  schon  ganz  verwischt,  was 
unter  anderem  aus  den  Aussagen  der  Zeugen  zu  ersehen  war,  die  von 
der  Parlaments-Kommission  von  1833,  veranstaltet  zur  Untersuchung 
des  Zustandes  des  Handels  und  der  Industrie,  befragt  worden  sind^). 
Ein  neuer  Aufschwung  der  englischen  Industrie  musste  nach  der  an- 
dauernden Depression  Ende  der  20er  Jahre  allerdings  eintreten;  vier 
reichliche  Ernten  Anfang  der  30er  Jahre  haben  diesem  Umschwünge 
natürlich  stark  beigetragen. 

Gleichzeitig  damit  -hat  sich  auch  die  Lage  des  auswärtigen 
Marktes  gebessert.  Wie  in  den  zwanziger  Jahren  neue  Märkte  in 
Central-  und  Südamerika  sich  für  England  eröffnet  hatten,  so  war  in 
den  dreissiger  Jahren  die  englische  Ausfuhr  nach  den  Vereinigten 
Staaten  ausserordentlich  gewachsen.  Die  Vermehrung  der  britischen 
Ausfuhr  in  den  Jahren  1833  —  36  entfällt  hauptsächlich  auf  die  Ver- 
einigten Staaten,  wie  das  aus  den  nachfolgenden  Daten  zu  ersehen  ist^). 

Wert    der    Ausfuhr    der    Produkte    des    Vereinigten    König- 
reiches (in  Tausend  Pfund  Sterling). 


Jahre 

Nach  den 

Vereinigten 

Staaten 

Nach 
Nord- 
europa 

Nach 
Südeuropa 

Nach 
Asien 

Nach  Cen- 
tral- u.  Süd- 
amerika 

1832 
1836 

5468 
12  426 

9897 
10  000 

5867 
9  001 

4235 
6751 

4  272 

5  955 

Diese  rasche  Ausdehnung  des  englischen  Exportes  nach  den 
Vereinigten  Staaten  führte  zur  Ueberfüllung  des  amerikanischen 
Marktes  mit  englischen  Waren,  was  man  als  eine  unmittelbare  Ur- 
sache der  Handelskrisis  von   1836  betrachten  darf. 

Wir  haben  oben  gesehen,  dass  die  gewaltige  Zunahme  in  den 
2  о  er  Jahren  der  britischen  Ausfuhr  nach  Central-  und  Südamerika 
durch  den  Zufluss  englischen  Kapitals  nach  diesen  Ländern  verursacht 
wurde.  Die  Engländer  hatten  ihre  Ausfuhr  selbst  bezahlt.  Etwas 
Aehnliches  wiederholte  sich  auch  jetzt. 


i)  Vergl.   Report   on   Manufactures,    Commerce  and  Shipping.    Minutes  of  Evidence, 
Aussagen  von  S.  Gurney,  Josua   Bates,  Thompson,  Larpent  u.  a. 

2)  Nach  den  Accounts  relating  to  Trade  &  Navigation  of  the  United  Kingdom,    1842. 


-      87      - 

Im  Jcihre  1834  übertraf  die  Wareneinfuhr  der  Vereinigten  Staaten 
deren  Ausfuhr  um  6  Millionen  Dollar;  zugleich  aber  übertraf  die 
Einfuhr  der  Edelmetalle  nach  den  Vereinigten  Staaten  die  Ausfuhr 
derselben  Metalle  fast  um  16  Millionen  Dollar.  Im  Jahre  1836  er- 
reichte schon  der  Ueberschuss  der  Wareneinfuhr  52  Millionen  Dollar, 
trotzdem  wurde  doch  an  Edelmetallen  um  g  Millionen  mehr  einge- 
führt als  ausgeführt  1). 

Hieraus  geht  hervor,  dass  die  Bezahlung  für  die  nach  den  Ver- 
einigten Staaten  eingeführten  Waren  nicht  mit  Gold,  sondern  mit 
irgend  welchen  anderen  Werten  geschah.  Was  waren  das  für  Werte 
und  woher  stammten  sie?  Die  Vereinigten  Staaten  waren  nicht  reich 
an  Kapital  —  der  Ueberschuss  der  Wareneinfuhr  konnte  keines- 
falls Zinsen  für  das  den  anderen  Ländern  geliehene  amerikanische 
Kapital  darstellen.  Also  bildete  dieser  Warenüberschuss  das  von  den 
Vereinigten  Staaten  selbst  geborgte  Kapital.  Und  in  der  That  strömte 
in  den  30  er  Jahren  das  europäische  Kapital  und  insbesondere  das 
englische  im  Ueberfluss  nach  den  Vereinigten  Staaten.  Ohne  Hülfe 
der  europäischen  Kapitalien  hätten  die  Vereinigten  Staaten  den  Bau 
von  einer  ganzen  Reihe  von  Eisenbahnen  und  Kanälen,  der  zu  dieser 
Zeit  angefangen  wurde,  nicht  zu  unternehmen  vermocht.  Der  grösste 
Teil  der  Eisenbahnaktien  sowie  anderer  Aktienunternehmungen  Nord- 
amerikas fand  in  England  Absatz.  Die  in  dieser  Weise  erhaltenen 
Geldmittel  wurden  in  Nordamerika  teils  zur  Erweiterung  des 
Handels  und  der  Industrie  verwendet  (der  Kapitalienzufluss  rief  in 
den  Vereinigten  Staaten  die  Bildung  einer  Menge  von  neuen  indu- 
striellen Unternehmungen  hervor),  teils  aber  sind  die  zugeflossenen 
Kapitalien  auf  der  Börse  geblieben  und  beförderten  allerhand  Börsen- 
spekulationen. Der  Ueberfluss  an  freien  KapitaHen  hat  die  Gründung 
einer  ganzen  Reihe  neuer  Banken  hervorgerufen.  In  den  zwei  Jahren 
1835 — 36  sind  in  den  Vereinigten  Staaten  61  solcher  mit  einem 
Kapital  von   52   Millionen  Dollar  gegründet  worden  2). 

Aus  demselben  Grunde  war  der  Ankauf  von  Staatsländereien  in 
den  westlichen  Staaten  sehr  stark  angewachsen  und  hatte  bald  einen 
durchaus  spekulativen  Charakter  angenommen:  die  Käufer  hatten  meis- 
tens keine  Absicht,  Ackerbau  zu  treiben,  und  erлvarben  das  Land  mit 
dem  ausschliesslichen  Zwecke  des  Wiederverkaufes.  Im  Jahre  1833 
sind  noch  nicht  einmal  für  4  Millionen  Dollar  Staatsländereien  gekauft 
worden,   1836  aber  schon  für  24,8  Millionen  з). 

i)  William  Sumner,  А  History  of  American  Currency,  New-York  1875,  p.  134. 

2)  Verg].  W.  Sumner,   123. 

3)  A.  a.  O.,    119. 


Die  Landspekulationen  sind  in  Nordamerika  ein  sehr  gutes 
Zeichen  des  Zustandes  des  Geldmarktes.  Obwohl  in  den  30  er  Jahren 
Staatsländereien  in  Amerika  nur  für  bares  Geld  (Metall  oder  Bank- 
noten) verkauft  wurden,  konnten  mit  diesen  Ländern  Leute  ohne  jeg- 
liche Geldmittel  spekulieren.  Die  speziell  zu  diesem  Zwecke  gegrün- 
deten Banken  eröffneten  den  Landspekulanten  leichten  Kredit,  und 
dazu  brauchten  die  Banken  selbst  keine  grosse  Kapitalien  zu  haben, 
da  die  Staatskasse  als  Bezahlung  für  das  Land  die  von  diesen  Ban- 
ken ausgegebenen  Noten  annahm.  Solange  die  Staatskasse  nicht 
Bezahlung  in  Gold  verlangte,  konnten  die  Banken  unbeschränkt  ihre 
Operationen  erweitern  und  die  Ausgabe  ihrer  Noten  vermehren.  Der 
Kauf  von  Staatsländereien  war  sehr  bald  in  ein  wahres  Börsenhasard- 
spiel ausgeartet. 

Das  alles  zusammen  —  der  Ueberfluss  an  Kapitalien,  der  Auf- 
schwung von  Handel  und  Industrie,  das  Steigen  der  Waren-  und 
Bodenpreise  —  hat  in  Amerika  eine  intensive  Nachfrage  nach  euro- 
päischen Waren  hervorgerufen.  Aber  ausserdem  förderten  die  eng- 
lischen Kapitalisten  die  Einfuhr  englischer  Waren  nach  den  Ver- 
einigten Staaten  durch  Eröffnung  des  höchst  liberalen  Kredites  an 
amerikanische  Importeure.  Einige  grosse  Bankhäuser  in  England 
befassten  sich  speziell  mit  diesem  Geschäft.  Sie  eröffneten  amerika- 
nischen Kaufleuten  Kredit,  und  wenn  der  Zahlungstermin  eintrat, 
tilgten  diese  letzteren  nicht  selten  die  Schuld  an  eine  Bank  mit  Hülfe 
des  Kredites,  der  ihnen  von  den  anderen  Banken  gewährt  wurde. 
So  haben  7  Bankhäuser  (6  in  London  und  eines  in  Liverpool),  die 
insgesamt  gegen  2  Millionen  Pfund  Kapital  besassen ,  im  Jahre 
1836  amerikanische  Wechsel  im  Werte  von  mehr  als  15  Millionen 
Pfund  acceptiert  1).  Es  ist  begreiflich,  dass  unter  solchen  Umständen 
die  Einfuhr  der  englischen  Waren  nach  Amerika  schnell  über  die 
gewöhnlichen  Grenzen  des  amerikanischen  Konsums  hinauswuchs 
und  einen  Spekulationscharakter  annahm.  Wie  in  den  20er  Jahren 
Central-  und  Südamerika  englische  Waren  für  englisches  Geld  gekauft 
hatte,  so  kauften  in  den  30er  Jahren  die  Vereinigten  Staaten  eng- 
lische Waren  mit  Hülfe  englischer  Kapitalien.  Das  Aufhören  des 
Zuflusses  des  englischen  Kapitals  nach  den  Vereinigten  Staaten 
musste  sofort  die  Nachfrage  nach  englischen  Fabrikaten  aufhalten, 
w^as  auch  bald  erfolgte. 

Gehen  wir  aber  zu  England  zurück.  Mitte  der  30  er  Jahre 
war    der    englische    Warenmarkt    in    einem    sehr    belebten    Zustande, 


i)  Edinburgh  Review,    1836,  The  Oisis  in  American  Trade. 


-      89      - 

was  übrigens  nicht  den  Charakter  eines  Spekulationsfiebers ,  des 
gewöhnlichen  Vorboten  einer  nahenden  Krisis,  hatte.  Die  Waren- 
preise waren  etwas  gestiegen,  aber  dieses  Steigen  fand  seine  Er- 
klärung vollkommen  in  den  normalen  Bedingungen  der  Nachfrage: 
es  waren  gestiegen  die  Preise  der  Baumwolle,  der  Seide,  des  Flachses, 
des  Eisens,  des  Kupfers,  überhaupt  die  Preise  von  allerlei  Rohstoffen, 
\vas  ganz  natürlich  war,  da  die  Erweiterung  der  Produktion  die  Nach- 
frage nach  Rohstoffen  vermehrt  hatte.  Doch  ist  dieses  Steigen  nicht 
allzu  gross  gewesen.  Aber  auf  der  Effektenbörse  war  die  Sachlage 
eine  .mdere.  Vom  Juli  1833  з,п  bis  zu  Ende  1834  haben  Spanien 
und  Portugal  eine  ganze  Reihe  Anleihen  in  England  aufgenommen. 
Die  Realisierung  dieser  Anleihen  hat  den  Bankiers,  die  die  Unter- 
bringung der  Anleihen  auf  der  Börse  übernommen  hatten,  bedeutende 
Gewinne  eingebracht,  und  es  dauerte  nicht  lange,  bis  die  Spekula- 
tion sich  auch  auf  die  anderen  ausländischen  Fonds  erstreckte;  ihre 
Preise  stiegen  schnell,  in  einigen  Fällen  bis  um  100%.  Bald  darauf 
folgte  ein  Börsenkrach.  „Bis  zum  Frühjahr  1835  —  sagt  der  Direk- 
tor der  Bank  von  England  Palmer  —  kam  keine  Post  vom  Konti- 
nent, die  nicht  mit  allerhand  ausländischen  für  den  Verkauf  auf  dem 
hiesigen  Markte  bestimmten  Fonds  beladen  gewesen  wäre.  Im  Mai 
1835  trat  eine  Reaktion  ein:  ein  panischer  Schrecken  erfasste  die 
Spekulanten  und  die  Preise  der  ausländischen  Fonds  fielen  noch 
schneller,  als  sie  früher  gestiegen  waren  i)". 

So  ist  die  Börsenkrisis  in  England  bereits  1835  ausgebrochen; 
aber  es  ist  äusserst  kennzeichnend,  welche  schwache  Wirkung  das 
auf  die  Industrie  ausgeübt  hat.  Die  Panik  auf  der  Londoner  Effekten- 
börse war  auf  einen  engen  Kreis  von  Börsenspekulanten  beschränkt 
und  erstreckte  sich  nicht  im  geringsten  auf  die  übrigen  Bevölke- 
rungsschichten ;  darum  konnte  diese  Panik  nicht  den  industriellen 
Aufschwung  zum  Stillstand  bringen.  Der  Warenmarkt  zeigte  nach 
Tooke  bis  zum  Jahre  1836  keine  Zeichen  einer  anormalen  Aufregung. 

Im  Jahre  1836  verändert  sich  die  Lage.  Der  Aufschwung  des 
Handels  und  der  Industrie  ist  in  eine  Gründungsmanie  ausgeartet. 
Das  Spekulationsfieber  von  1836  unterscheidet  sich  in  England  da- 
durch von  demjenigen  des  Jahres  1825,  dass  die  Spekulationen  von 
1825  hauptsächlich  auf  ausländische  Unternehmungen,  die  von  1836 
aber  auf  Unternehmungen  in  England  selbst  gerichtet  waren.  Es  ist 
das  auch  begreitlich.  Anfang  der  20  er  Jahre  ist  der  Anstoss  zum 
Aufschwung  der  englischen  Industrie  von  aussen  gegeben  worden  — 

i)  J.  Horsley  Palmer,  Causes  and  Consequeuces  of  the  Pressure  on  the  Money 
Market   1837,  S.   28. 


—      90      — 

durch  die  Eröffnung  des  südamerikanischen  Marktes.  In  den  30  er 
Jahren  gab  den  unmittelbaren  Anlass  zum  Aufschwung  eine  Reihe 
von  ausgezeichneten  Ernten  in  England  selbst.  Im  Jahre  1825  bil- 
deten den  beliebstesten  Gegenstand  der  Spekulationen  auf  der  Lon- 
doner Börse  die  Aktien  der  mexikanischen  und  südamerikanischen 
Bergwerke,  im  Jahre  1836  aber  —  die  Aktien  der  englischen  Eisen- 
bahnen und  privaten  Banken.  Mit  der  Wiedererneuerung  der 
Charte  der  Bank  von  England  im  Jahre  1833  ist  die  Gründung 
von  Depositen-Aktienbanken  überall  gestattet  worden,  bis  zum  Jahre 
1836  war  aber  die  Zahl  der  neugegründeten  Aktienbanken  nicht 
gross.  Ihre  Zahl  vermehrte  sich  indessen  im  Jahre  1836  bedeutend 
—  in  diesem  Jahre  allein  sind  48  Banken  gegründet  worden  i). 

Ausserdem  hat  sich  die  Spekulation  auf  die  Aktien  von  Eisen- 
bahnen, Bergwerken,  Kanälen  und  anderen  industriellen  Unterneh- 
mungen geworfen.  „Man  kann  sich  keine  Vorstellung  davon  machen  — 
erklärte  im  Mai  1836  im  Parlament  einer  der  Minister,  Thompson  — 
Avelche  Dimensionen  die  Spekulationsmanie  in  unserem  Lande  ange- 
nommen hat.  Man  kann  keine  Zeitung,  kein  Börsenblatt,  keinen 
Preis-Courant  und  keine  andere  Handelspublikation  lesen,  ohne  einer 
Annonce  zu  begegnen,  die  die  Gründung  einer  neuen  Aktiengesell- 
schaft anzeigt;  von  diesen  Aktiengesellschaften  sind  viele  derart,  dass 
ihre  Zahlungsunfähigkeit  auf  den  ersten  Blick  evident  ist.  Der  grösste 
Teil  dieser  Gesellschaften  wird  von  vSpekulanten  gegründet,  die  ihre 
Aktien  mit  Vorteil  wiederverkaufen  wollen;  sie  sind  bemüht,  die 
Kurse  der  Aktien  künstlich  in  die  Höhe  zu  treiben,  und  überlassen 
die  weitere  Sorge  für  die  von  ihnen  gegründeten  Unternehmungen 
den  Käufern,  die  so  thöricht  gewesen  sind,  ihr  Geld  in  dieser  Weise 
anzulegen  .  .  .  Die  Vermehrung  der  Aktienbanken  in  vielen  Teilen 
des  Landes  erfüllt  mich  mit  grosser  Sorge,  denn  für  viele  von  ihnen 
trifft  das  Schlimmste  zu,  was  man  über  Aktiengesellschaften  über- 
haupt sagen  kann  2)".  In  der  That  sind  viele  Aktienbanken  lediglich 
in  der  Hoffnung  auf  die  Leichtgläubigkeit  der  Aktionäre  gegründet 
worden.  Um  die  notwendigen  Kapitalien  leichter  zusammenzubringen, 
verausgabten  die  Banken  Aktien  mit  den  geringfügigsten  Coupuren: 
so  sind  z.  B.  im  Jahre  1836  Bankaktien  im  Werte  von  10  und  5  Pfund 
Sterling  verausgabt  worden  з).  Es  ist  begreiflich,  dass  ein  so  niedriger 
Preis  der  Aktien  die  Spekulation  befördern  sollte. 

i)  Report  from  the  Select  Committee  on  Joint  Stock  Banks  together  with  the  Mi- 
nutes of  Evidence,   Appendix  and  Index,    1837,  App.  II,   N0.    1. 

2)  Citiert  nach  То  оке  (History  of  Prices,  II,   276). 

3)  Report  on  Joint  Stock  Banks   1837.   Minutes  of  Evidence,   Aussagen  von  James  '1 
Marshall,  Q.  4502. 


—      91       — 

Wie  Leone  Levi  berichtet,  betrug  das  nominelle  Kapital  der 
Aktiengesellschaften,  die  in  den  Jahren  1834 — 36  im  Vereinigten 
Königreich  gegründet  worden  waren,  105,2  Millionen  Pfund  Sterling, 
von  denen  69,6  Millionen  Pfund  SterHng  auf  Eisenbahnen,  23,8  MilH- 
onen  auf  Bankinstitute,  7,6  auf  Versicherungsgesellschaften,  7,0  auf 
Bergwerksunternehmungen,  3,7  auf  Kanäle  u.  s.  w.  entfielen  i). 

Die  Rückwirkung  aller  dieser  Vorgänge  auf  den  Waarenmarkt 
Hess  nicht  lange  auf  sich  warten. 

Steigen  der  Londoner  Preise  im  Juli   1835  ^^^   1836  im  Ver- 
gleich zum  Juli   1833*^). 


Preis  der  Baumwolle  (Georgia) 

,,  „  (spanischen)  Wolle 

„  „  (italienischen)  Seide 

„  des  (britischen)  Roheisens 

„  „  „  Bleies    . 

„  „  Zuckers  (Havanna) 

,,  „  (ostindischen)     Indigo 

Quahtät)    .      .     . 

„  „  (virginischen)  Tabaks 


(mittlere 


Juli   1835 


+  25 
+  33 
+  17 
—  9 
+  32 
+  23 

+  31 
-j-  22 


7o 


Juli   1836 


+  3i7o 

-\-  22 
-j-40 
+  60 

+  95 
+  80 

+  45 
4-44 


Das  Steigen  der  Warenpreise  hat  sofort  auf  den  auswärtigen 
Handel  Englands  zurückgewirkt:  im  Jahre  1836  hat  sich  die  Masse 
der  aus  dem  Vereinigten  Königreich  ausgeführten  Waren  nur  um 
7  Vo  g'^g'^n  die  des  vorangegangenen  Jahres  vermehrt,  die  Masse  der 
eingeführten  Waren  ist  dagegen  um  17  ^Д  gestiegen  (Im  Jahre  1835 
betrug  der  offizielle  Wert  der  Ausfuhr  91,2  Millionen  Pfund,  der  der 
Einfuhr  48,9  Millionen  Pfund;  im  Jahre  1836  der  der  Ausfuhr  97,6 
Millionen  Pfund,  der  der  Einfuhr  57,0  Millionen  Pfund). 

Mittlerweile  führten  die  Ereignisse  in  den  Vereinigten  Staaten 
das  Land  unaufhaltsam  zu  einer  Krisis.  Um  die  Landspekulation 
aufzuhalten,  erliess  der  Präsident  Jackson  am  11.  Juli  1836  das  be- 
rühmte Cirkular,  welches  die  dem  Präsidenten  feindliche  Partei  für 
alles  kommende  Unglück  verantwortlich  machte.  Dieses  Cirkular  ver- 
bot überhaupt  den  Verkauf  der  Staatsländereien  anders  als  gegen 
Metallgeld;  in  den  Fällen  aber,  wo  es  der  Staatskasse  erlaubt  war, 
für  die  Staatsländereien  Banknoten  in  Zahlung  zu  nehmen,  musste 
die  Staatskasse  diese  letzteren  sofort  zur  Einlösung  vorzeigen. 


i)  Leone  Levi,  History  of  British  Commerce,  London  1872,  p.  229. 
2)  Berechnet  nach  Tookes  Tabellen,  History  of  Prices,  Vol.  II. 


—      92      — 

Die  Wirkung  dieses  Cirkulars  wurde  eine  sehr  rasche:  die  Land- 
spekulation hörte  sofort  auf,  da  die  Banken  ihren  Kunden  keinen 
Kredit  mehr  gewähren  konnten  und  da  sie  aus  Furcht,  dass  man  von 
ihnen  Gold  fordern  würde,  energische  Massnahmen  zur  Vermehrung 
ihrer  Reserven  trafen.  Aber  wMe  immer  in  solchen  Fällen,  erreichten 
solche  Massnahmen,  die  zu  spät  getroffen  waren,  nicht  ihr  Ziel, 
die  Genesung  des  Marktes.  Da  die  Kunden  der  Banken  keine  Unter- 
stützung von  diesen  in  Form  eines  Wechseldiskontes  erhielten,  be- 
eilten sie  sich,  ihre  Depositen  zurückzuziehen  und  die  Banknoten  zur 
Einlösung  vorzuzeigen.  Die  Panik  brach  aus.  In  den  westlichen 
Staaten,  die  die  Hauptarena  der  Landspekulationen  gewesen  sind,  be- 
gannen die  Banken  zu  fallieren,  es  folgten  Bankerotte  der  Kaufleute 
und  der  Industriellen  zuerst  im  Westen  und  dann  auch  in  New-York. 

Die  Ereignisse  in  den  Vereinigten  Staaten  fanden  sofort  einen 
Wiederhall  in  England.  Die  Bank  von  England  erhöhte  den  Diskont, 
um  den  Goldabfluss  aus  ihrer  Kasse  (dieses  Gold  floss  nach  den  Ver- 
einigten Staaten  ab)  aufzuhalten,  und  gab  dadurch  das  erste  Signal 
zu  Befürchtungen.  Um  aber  die  nachfolgenden  Ereignisse  klar  über- 
sehen zu  können,  müssen  wir  uns  zunächst  bei  dem  Zustande  des 
Contos  der  Bank  von  England  in  den  Jahren  1836  und  1837  ^^^~ 
halten. 

Conto   der  Bank   von   England  und  Wechselkurs  in   London 

auf  Paris. 


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1836   5.  Januar    .      . 

Ы 

4 

17,5 

25  Fr.  31  Ct. 

5.  April      .      . 

7,8 

4 

11,4 

25          28 

3.  Mai  .     .     . 

7,5 

4 

10,4 

25        H 

7.  Juni        .     . 

7Л 

4 

12,4 

25            8 

5.  Juli   .     .     . 

6,7 

4 

14,9 

25           10 

2.  August  , 

5,6 

4V. 

12,7 

25          II 

6.   September  . 

5,2 

5 

13,4 

25          14 

4.*  Oktober 

5,0 

5 

14,2 

25          15 

I.  November  . 

4,7 

5 

13,5 

25          20 

6.  Dezember  . 

3,9 

5 

18,1 

25          27 

1837   3-  Januar    .     . 

4,2 

5 

20,0 

25          29 

4.  April      .     . 

4,4 

5 

15,2 

25          30 

2.  Mai  .     ,      . 

4,4 

5 

14,1 

25          31 

6.  Juni  .     .     . 

5,1 

5 

13,0 

25          30 

I .  August  . 

6,1 

5 

12,1 

25          32 

i)  Report  from  the  Select  Committee  on  Banks  of  Issue,  1840,  Appendix  N0.  9.  12. 
2)  Report  from  the  Select  Commitee  on  Commercial  Distress,   1847  — 1848,  Appen- 
dix N0.    13. 


Il 


—       93       — 

Während  der  ersten  vier  Monate  des  Jahres  1836  waren  die 
Wechselkurse  für  England  günstig,  es  floss  infolge  dessen  Gold  aus 
dem  Auslande  nach  England  zu.  Von  Mai  ab  werden  die  Kurse  un- 
günstig und  das  Gold  beginnt  aus  der  Bank  abzufliessen.  Im  August 
erhöht  die  Bank  den  Diskont  von  4  ^Д  auf  4Y2  Vo  ^^^  i^  September 
noch  weiter  auf  5  %.  Das  hat  aber  nicht  den  Abfluss  des  Goldes 
verhindert.  Vom  November  ab  werden  die  Kurse  für  England  wieder 
günstig  —  ein  sicheres  Zeichen,  dass  der  Goldabfluss  nach  dem  Aus- 
lande aufgehört  hat.  Nichtsdestoweniger  fährt  das  Gold  fort  aus 
der  Bank  abzufliessen  —  offenbar  ist  an  Stelle  des  external  drain 
(des  Goldabflusses  nach  dem  Auslande)  ein  noch  gefährlicherer  inter- 
nal drain  (Goldabfluss  nach  dem  Inneren  des  Landes)  getreten. 

Die  Verringerung  des  Barvorrats  der  Bank  von  England  in  der 
Zeit  von  Mai  bis  September  1836  wurde  durch  die  für  England  un- 
günstige Handelsbilanz  hervorgerufen,  sowie  durch  die  starke 
Nachfrage  nach  Gold  in  den  Vereinigten  Staaten  durch  das  Cirkular 
des  Präsidenten  Jackson  herbeigeführt.  Jackson  war  ein  energischer 
Gegner  der  Zettelbanken  und  als  daher  1836  die  Frist  des  Privi- 
legiums der  Hauptzettelbank  Amerikas,  der  „Bank  von  den  Vereinigten 
Staaten"  abgelaufen  war,  wurde  es  nicht  wieder  erneuert.  Die  „Bank 
von  den  Vereinigten  Staaten",  die  am  meisten  an  allen  Spekulationen  jener 
Zeit  beteiligt  war,  musste,  um  ihre  Kasse  sicher  zu  stellen,  in  London 
eine  Anleihe  von  i  Million  Dollar  in  Gold  aufnehmen.  Die  anderen 
Banken  thaten  auch  ihr  Möglichstes,  um  ihre  Kasse  zu  verstärken ;  daher 
wurde  im  Sommer  1836  die  Londoner  Börse  mit  amerikanischen  Papieren 
überschwemmt,  die  von  den  amerikanischen  Banken  für  bares  Geld 
verkauft  wurden.  Um  ihre  Kasse  sicher  zu  stellen,  erhöhte  die  Bank 
von  England  im  August  ihren  Diskont  und  beschloss,  die  Wechsel 
einiger  Firmen,  die  enge  Beziehungen  mit  Amerika  unterhielten,  nicht 
zu  diskontieren.  Die  Darlehen  an  Privatpersonen  verringerten  sich 
ein  wenig,  aber  der  Goldabfluss  fuhr  fort  sich  zu  verstärken,  so  dass 
die  Massnahmen  der  Bank  von  England  zunächst  nur  eine  Unruhe 
auf  dem  Goldmarkte  Englands  verursachte.  Die  Schwierigkeit  der 
Lage  vieler  neugegründeter  Aktienbanken  wurde  dadurch  erhöht, 
dass  sie  zahlreiche  Abteilungen  in  verschiedenen  Städten  hatten,  und 
da  eine  jede  Abteilung  eine  spezielle  Kasse  führte,  mussten  die  Banken 
grössere  Vorräte  baren  Geldes  bereithalten,  als  sie  dies  bei  dem  Vor- 
handensein nur  einer  Kasse  gemusst  hätten. 

Am  7.  November  stellte  die  Ulster  und  die  Belfaster  Bank 
ihre  Zahlungen  ein,  am  9.  November  eine  andere  grosse  irländische  Bank 
(Agricultural  and  Commercial  Bank  of  Ireland),  aus  der  das  Publikum 


—       94       — 

im  Oktober  durch  Vorweisung  der  Banknoten  zur  Einlösung,  sowie 
durch  Rückverlangung  der  Depositen  für  150  Tausend  Pfund  Gold 
entnommen  hatte  ^).  Diese  Bank  hatte  45  Abteilungen  gehabt,  und 
dieser  Umstand  war  nach  den  Worten  des  Direktors  der  Bank  Dwyer 
eine  der  Ursachen  ihres  Zusammenbruches.  Das  erste  Fallissement 
hat,  wie  immer  in  solchen  Fallen,  eine  Panik  hervorgerufen.  Der 
grösste  Teil  der  irländischen  Banken  erlitt  das,  was  die  Engländer 
einen  run,  d.  h.  einen  Ansturm  seitens  des  Publikums,  nennen.  Um 
sich  zu  retten,  mussten  die  Banken  mit  allen  Mitteln  die  Gold  Vorräte 
in  ihren  Kassen  vermehren,  und  das  Gold  floss  aus  dem  gemein- 
samen Reservoir  des  Metallgeldes  des  gesamten  Vereinigten  König- 
reichs, aus  der  Bank  von  England,  nach  Irland.  Im  November  und 
Dezember  sind  2  Millionen  Pfund  Gold  aus  England  nach  Irland 
ausschliesslich  mit  dem  Zwecke,  die  Reserven  der  irländischen  Banken 
sicher  zu  stellen,  geschickt  worden.  Dieses  Gold  wurde  der  Kasse 
der  Bank  von  England  entzogen-).  Wenn  die  Verminderung  des 
Barvorrats  der  Bank  von  England  keine  so  bedeutende  war  (vom 
I.  November  1836  bis  zum  3.  Januar  1837  hat  sich  der  Metallvorrat 
der  Bank  bloss  um  ^/.y  Million  Pfund  vermindert),  so  lag  die  Ur- 
sache dessen  lediglich  in  den  günstigen  Wechselkursen,  unter  deren 
Einfluss  das  Gold  nach  England  zurückzukehren  begann. 

Warum  sind  nun  die  Wechselkurse  in  diesem  für  den  englischen 
Kredit  so  kritischen  Augenblick  für  England  günstig  geworden? 
Dieser  Thatsache  werden  wir  noch  öfter  begegnen:  sobald  der  „internal 
drain"  beginnt,  hört  der  „external  drain"  auf.  Im  Augenblick  der 
h(>chsten  Panik,  wenn  der  Kredit  der  solidesten  Häuser  erschüttert 
ist,  h()rt  das  Gold  auf,  aus  England  nach  dem  Auslande  abzufliessen 
und  kehrt  sogar  \on  neuem  nach  England  zurück.  Die  Ursachen 
dieser  Erscheinung  sind  leicht  zu  erkennen. 

Der  Goldabfluss  aus  den  centralen  Kreditanstalten  nach  dem 
Inneren  des  Landes  wird  durch  die  Vermehrung  der  Nachfrage  nach 
Gold  im  Inneren  des  Landes  hervorgerufen;  mit  anderen  Worten  — 
durch  die  Erhöhung  des  Goldpreises  auf  dem  inneren  Markte.  Wie 
jede  andere  Ware  kommt  das  im  internationalen  Handel  cirkulierende 
(toUI  auf  den  Markt,  wo  sein  Preis  der  höchste  ist  und  daher  jedes- 
mal, wtMui  der  Cieldmarkt  eines  gewissen  Landes  von  einer  Panik 
erfasst  ist  —  also,  w^enn  in  diesem  Lande  die  Nachfrage  nach  barem 


i)  Report  on  Joint  Stock  Banks,   1837.  Minutes  of  Evidence,  Aussage  von  Dwyer. 
g.  2722—2734.  ^ 

2)  A.  a.  O.,  Aussage  von  Mahony.    Q.  4055 — 4058.  а 


—      95      — 

Gelde  zu  ihrem  Maximum  steigt,  beginnt  das  Gold  aus  dem  Aus- 
lande nach  diesem  Lande  zu  fliessen  —  der  „internal  drain'*  hebt  den 
„external  drain"  auf  und  schafft  sogar  eine  Bewegung  des  Goldes  im 
internationalen  Verkehr  in  entgegengesetzter  Richtung. 

Die  Nachfrage  nach  Gold  war  in  Irland  aus  dem  Grunde  be- 
sonders stark,  weil  man  nicht  wusste,  ob  die  Noten  der  Bank  von 
England  in  Irland  genau  so  als  ein  gesetzliches  Zahlungsmittel  gelten 
könnten  wie  in  England  ^).  Uebrigens  unterschied  sich  die  irländische 
Bankgesetzgebung  in  vielen  Beziehungen  von  der  englischen.  So 
hatten  die  irländischen  Banken  das  Recht  Noten  im  Werte  von 
w^eniger  als  5  Pfund  Sterling  zu  verausgaben;  es  ist  aber  bekannt, 
dass  bei  Eintritt  einer  Panik  die  kleinen  Noten  am  ehesten  zur 
Einlösung  vorgezeigt  werden.  Nur  aus  diesem  Grunde  hat  die  Panik 
in  Irland  einen  so  bedeutenden  Umfang  angenommen  und  war  eine 
so  bedeutende  Goldausfuhr  aus  England  nötige). 

In  England  wurde  die  Geldklemme  auch  sehr  stark.  Viele 
Provinzialbanken,  die  ihre  Operationen  übermässig  erweitert  hatten, 
mussten  alle  Anstrengungen  machen,  um  ihre  Reserven  in  einem 
solchen  Augenblick  zu  erweitern,  wo  alle  gern  Gold  annahmen,  aber 
niemand  es  geben  wollte.  Ende  November  war  die  grosse  englische 
Aktienbank  „Northern  and  Central  Bank"  genötigt,  um  einen  Ban- 
kerott zu  vermeiden,  sich  an  die  Bank  von  England  um  Hülfe  zu 
wenden.  Der  Zusammenbruch  dieser  grossen  Bank  hätte  den  ge- 
samten englischen  Kredit  mit  einer  solchen  Erschütterung  bedroht, 
dass  die  Bank  von  England  aus  Selbsterhaltungsgefühl  ihrem  Gesuch 
nachkommen  musste.  Wäre  gleichzeitig  mit  der  Panik  in  Irland 
eine  in  England  ausgebrochen,  so  hätte  sie  der  Kasse  der  Bank  von 
England  den  Rest  des  Goldvorrates,  der  ihr  noch  geblieben  war,  ent- 
ziehen können. 

Im  November  1836  waren  die  Preise  vieler  Waren,  wenn  auch 
nicht  bedeutend,  gefallen. 

Fallen    der    Warenpreise    im    November    1836    im    Vergleich 

zum  Juli  desselben  Jahres^). 

Baumwolle  (Georgia)  —  26  "Д 

Biei  (englisches)  —  1 1 

Roheisen  (britisches)  —  13 


i)  Report    on  Joint    Stock  Banks.    Minutes    of    Evidence,    Aussage   von  Mahony. 
Q.  4060. 

2)  A.  a.  O.,  Aussage  von  Marshall.     Q.  4555. 

3)  Nach  Tookes  Tabellen  (History  of  Prices  II). 


-      9б      - 

Kupfer  (britisches)  —    7  % 

Zucker  (Havanna)  —  1 1 

Zinn  (britisches)  —  18 

Der  Stand  der  Warenpreise  ist  das  beste  Zeichen  der  Lage 
der  Industrie.  So  lange  die  Preise  hoch  stehen ,  kann  von  einer 
Handelskrisis  nicht  die  Rede  sein.  Das  Sinken  der  Waren- 
preise ist  zugleich  Ursache  und  Folge  des  Ruins  der  Fabrikanten, 
der  Einschränkung  der  Produktion,  der  Stockung  des  Handels  und 
der  anderen  Erscheinungen,  die  in  ihrer  Gesamtheit  eine  Handels- 
krisis bilden.  Im  Jahre  1837  sanken  die  Preise  des  grössten  Teils 
der  Waren  noch  mehr.  So  sanken  im  Vergleich  zum  Juli  1836  die 
Warenpreise  im  Juli  1837   wie  folgt: 

Die  Preise  der  Baumwolle  sanken  um  45  "/^ 


des  Tabaks               „ 

,.    31 

,,     Zuckers              ,, 

„     20 

,,     Eisens                 ,, 

»    44 

,,     Kupfers              ,, 

M    29 

,,     Zinnes                „ 

„    39 

,,     Bleies                 „ 

,,    33 

der  (italienischen) 

Seide         „ 

„     31 

Unter  dem  Einfluss  der  amerikanischen  Krisis  geriet  der  eng- 
lische Handel  mit  den  Vereinigten  Staaten  in  eine  vollständige 
Stockung.  Die  amerikanischen  Importeure  konnten  eine  ungeheure 
Menge  der  von  ihnen  gekauften  Waren  nicht  loswerden;  die  Ausfuhr 
der  englischen  Fabrikate  nach  den  Vereinigten  Staaten  sank  1837 
von  12  Millionen  Pfund  Sterling  (1836)  auf  4,7  Millionen  Pfund,  d.  h. 
beinahe  um  das  Dreifache. 

Die  Krisis  von  1836  hat  jedoch  keine  grosse  Verbreitung  ge- 
wonnen. Das  nördliche  Europa  war  z.  B.  von  der  Krisis  fast  un- 
berührt geblieben:  es  ist  nicht  nur  keine  Verminderung  des  Wertes 
der  Ausfuhr  britischer  Produkte  nach  dem  nördlichen  Europa  einge- 
treten, sondern  der  Wert  dieser  Ausfuhr  hat  sich  sogar  um  15% 
vermehrt.  Mehr  als  70^0  der  Abnahme  der  britischen  Ausfuhr  im 
Jahre   1837   entfällt  auf  die  Vereinigten  Staaten. 

Während  der  ersten  5  Monate  des  Jahres  1837  ^^t  der  Barvorrat 
der  Bank  von  England  ein  sehr  niedriger  geblieben  (gegen  4  Mil- 
lionen Pfund  Sterling),  obwohl  die  Wechselkurse,  abgesehen  vom 
Februar,  die  ganze  Zeit  für  England  günstig  waren.  Im  April  und 
im  Mai  kam  Gold  aus  dem  Auslande  nach  England,  aber  der  Metall- 
vorrat der  Bank  von  England  stieg  nicht.  Offenbar  verteilte  sich 
das  Gold  auf  das  Innere  des  Landes  —  mit  anderen  Worten  wurde 
der  Kredit  eingeschränkt,  das  Misstrauen  wuchs.  Ihren  Höhepunkt 
erreichte  die  Krisis   im  Juni.     In    diesem  Monat   mussten  drei  grosse 


£  M 


—      97       — 

Firmen,  die  auf  den  Handel  mit  Amerika  spekuliert  und  den  ameri- 
kanischen Importeuren  Kredit  in  enormer  Höhe  gewährt  hatten,  die 
Zahlungen  einstellen.  Ihre  Passiva  beliefen  sich  auf  5  Millionen 
Pfund  Sterhng.  Die  Zahl  der  Bankerotte  nahm  1837  im  Vergleich 
zum  Jahre  1836  um  64%  zu.  Von  allen  Zweigen  der  englischen 
Industrie  hat  die  Baumwollindustrie  durch  die  Krisis  am  meisten  ge- 
litten. Im  Jahre  1837  hat  die  Ausfuhr  der  baumwollenen  Gewebe 
aus  dem  Vereinigten  Königreiche  um  26%  abgenommen. 

Wenn  wir  die  Krisen  von  1825  und  von  1837  ^it  einander 
vergleichen,  so  finden  wir  zwischen  ihnen  viel  Aehnlichkeit.  Beide 
waren  hauptsächlich  durch  eine  rasche  Erweiterung  der  Ausfuhr  her- 
vorgerufen, wobei  die  ausländische  Nachfrage  durch  eine  starke  Emi- 
gration englischer  Kapitalien  im  Jahre  1825  nach  Central-  und  Süd- 
amerika, im  Jahre  1836  nach  den  Vereinigten  Staaten  geschaffen 
war.  Aber  im  Jahre  1836  \vurde  das  vSpekulationsfieber  in  England 
vorzugsweise  auf  die  inländischen,  während  im  Jahre  1825  auf  die  aus- 
ländischen Unternehmungen  gerichtet.  Die  Bewegung  der  Waren- 
preise war  im  Jahre  1836  ganz  ähnlich  der  von  1825.  Im  Juli  er- 
reichen die  Preise  der  meisten  Waren  auf  dem  Londoner  Markte  ihr 
Maximum,  im  November  folgt  ein  Sinken,  zuerst  ein  langsames,  dann 
ein  immer  rascheres,  und  dauert  während  des  grössten  Teiles  des  fol- 
genden Jahres  fort.  Der  Zusammenbruch  der  Banken  und  die  Panik 
auf  dem  Geldmarkte  traten  beide  Male  im  Herbste  ein:  im  Jahre  1825 
im  Oktober  und  im  Jahre  1836  im  November.  Die  Abnahme  des 
Metallvorrats  der  Bank  von  England  wird  in  beiden  Fällen  zuerst 
durch  den  Goldabfluss  aus  England  nach  dem  Auslande,  sodann  aber 
aus  der  Kasse  der  Bank  nach  dem  Inneren  des  Landes  hervorgerufen. 
Bis  zum  Ende  des  Jahres  1836  hat  sich  die  Krisis  ebenso  entwickelt 
wie  im  Jahre  1825,  jedoch  mit  dem  einen  wesentlichen  Unterschied, 
ft  dass  im  Jahre  1825  das  Spekulationsfieber  auf  der  Effekten-  und 
Warenbörse  noch  viel  stärker  und  die  durch  sie  hervorgerufene  Er- 
schütterung des  englischen  Goldmarktes  und  als  Folge  derselben  der 
gesamten  englischen  Industrie  in  ihren  Ergebnissen  noch  viel  ver- 
derblicher gewesen  war. 

Im  Jahre  1836  stiegen  die  Preise  der  wichtigsten  Waren  in 
England  nicht  so  stark  wie  im  Jahre  1825,  und  das  hat  auf  den 
Gang  des  englischen  auswärtigen  Handels  zurückgewirkt.  Im  Jahre 
1825  hat  die  Masse  der  aus -dem  Vereinigten  Königreiche  ausgeführten 
Produkte  ein  wenig  abgenommen  und  die  Masse  der  eingeführten 
ausländischen  Waren  sich  bedeutend  vermehrt.  Im  Jahre  1836  hingegen 
ist  sowohl    die  Einfuhr   der    ausländischen  Waren   nach  England  wie 

Tugan-Barano  wsky  ,   Die  Handelskrisen.  7 


-      98      - 

die  Ausfuhr  seiner  Produkte  nach  dem  Auslande  gestiegen,  wenn 
auch  die  Einfuhr  der  ausländischen  Waren  in  stärkerem  Masse.  Damit 
hängt  die  Thatsache  zusammen,  dass  der  Goldabfluss  noch  dem  Aus- 
lande im  Jahre  1825  viel  bedeutender  war  als  im  Jahre  1836  (im 
Jahre  1825  hat  der  Barvorrat  der  Bank  von  England  infolge  des 
Goldabtlusses  nach  dem  Auslande  um  6  Millionen  Pfund,  im  Jahre 
1836  aber  nur  um  2  Y2  Millionen  Pfund  Sterling  abgenommen). 

In  gleichem  Masse  wie  der  Gründerschwindel  von  1825  stärker 
war  als  der  von  1836,  war  auch  das  zweite  Mal  die  Reaktion  und 
Krisis  nicht  so  stark  wie  das  erste.  In  den  letzten  Monaten  des 
Jahres  1825  haben  viele  Provinzialbanken  in  England  bankerott  ge- 
macht, 1836  hat  aber  keine  englische  Bank  die  Zahlungen  eingestellt. 
Im  Jahre  1826  war  die  Zahl  aller  Bankerotte  beinahe  um  125^9  ge- 
stiegen, im  Jahre  1837  a,ber  nur  um  64^/0.  Andererseits  war  die 
Panik  von  1825  zwar  stärker,  aber  weniger  anhaltend.  Schon  Anfang 
1826  begann  das  Gold  schnell  in  die  Kasse  der  Bank  von  England 
zurückzuf Hessen,  während  1837  die  Kasse  der  Bank  sich  trotz  des 
Goldzuflusses  aus  dem  Auslande  bis  zum  Juni  sehr  langsam  füllte 
und  die  Krisis  sich  beinahe  über  ein  ganzes  Jahr  hinzog. 


Die  Geldkrisis  von  1839. 

Die  zwei  nachfolgenden  Jahre  waren  für  den  englischen  Acker- 
bau sehr  ungünstig.  Unter  dem  Einfluss  zweier  starker  Missernten  waren 
die  mittleren  Preise  des  Weizens  im  Jahre  1839  i^  Vergleich  zu  denen  des 
Jahres  1836  um  48^0  gestiegen,  und  der  Wert  des  gesamten  Ge- 
treides, das  nach  dem  Vereinigten  Königreiche  für  den  inländischen 
Konsum  eingeführt  wurde,  erreichte  die  bisher  nicht  dagewesene 
Summe  von  10Y2  Millionen  Pfund  Sterling.  Im  Jahre  1836  betrug 
der  Wert  des  eingeführten  Getreides  gegen  0,1  ^/q  des  Wertes  der 
gesamten  Ausfuhr  der  britischen  Produkte,  und  1839  erreichte  er 
20^/0  dieses  Wertes. 

Die  Erhöhung  der  Einfuhr,  die  nicht  von  einer  entsprechenden 
Erweiterung  der  Ausfuhr  begleitet  war,  hat  die  Handelsbilanz  gegen 
England  gekehrt.  Dazu  kam  eine  ganze  Reihe  anderer  Umstände, 
die  in  ihrer  Gesamtheit  ungewöhnlich  niedrige  Wechselkurse  in  Lon- 
don auf  alle  ausländischen  Märkte  und  einen  starken  Goldabfluss  aus 
England  nach  dem  Auslande  hervorriefen. 


4 


—       99       — 


Barvorrat 

der 

Wechselkurs  auf  Paris 

Bank 

von 

Eng- 

nach  Sicht 

(das  Gold- 

land 

(in  Milli- 

agio  ] 

st 

m  Abzug 

onen 

Pfd.St.)^) 

gt 

'bracht)^) 

1838 

6. 

November     . 

9,2 

25 

Fr. 

24  Ct. 

4- 

Dezember     . 

9,6 

25 

15 

i839 

I. 

Januar 

9,0 

25 

4 

5. 

März  .      .     . 

6,7 

24 

98 

7. 

Mai     .     .     . 

4>3 

24 

99 

2. 

Juli      .     .     .  ■ 

3>7 

25 

3 

3. 

September    . 

2,4 

25 

18 

5- 

November     . 

2,7 

25 

16 

3- 

Dezember     . 

3,6 

25 

9 

1840 

7- 

Januar 

4,5 

25 

15 

I. 

Dezember 

3,6 

25 

19 

Vom  Dezember  1838  ab  sinkt  der  Kurs  rasch  und  während  der 
ersten  Hälfte  des  Jahres  1839  steht  er  ausserordenthch  niedrig,  Zu- 
gleich nimmt  der  Barvorrat  der  Bank  von  England  bedeutend  ab  und 
erreicht  am  3.  September  den  Betrag  von  2,4  Millionen  Pfund  Sterling; 
in  8  Monaten  sind  aus  der  Kasse  6V2  Millionen  Pfund  Sterling  ab- 
geflossen —  der  Goldabfluss  war  viel  stärker  als  im  Jahre  1836. 
Die  Ursachen  dieses  Abflusses  bestanden,  abgesehen  von  der  ihrer 
Grösse  nach  ganz  ausserordentlichen  Getreideeinfuhr,  noch  im  Folgen- 
den: die  Krisis  von  1836  war  trotz  aller  Bankerotte  in  den  Ver- 
einigten Staaten  immer  noch  nicht  ganz  liquidiert.  Im  Jahre  1837 
hatten  alle  Banken  der  Vereinigten  Staaten  die  Einlösung  ihrer  Noten 
eingestellt,  was  aber  mit  einem  Bankerott  nicht  gleichbedeutend 
war,  da  der  Kongress  den  Banken  gestattet  hatte,  zu  dieser 
äussersten  Massnahme  zu  greifen.  Die  Bank  von  den  Vereinigten  Staaten, 
die  sich  unter  der  Leitung  ihres  Direktors  N.  Beadle  am  meisten  an 
allen  Spekulationen  jener  Zeit  beteiligt  hatte,  benutzte  die  Erlaubnis 
des  Kongresses,  um  die  Geschäfte  der  Bank  mittels  der  gewagtesten 
Spekulationen  zu  erweitern.  So  kaufte  diese  Bank  in  ungeheuren 
Mengen  Rohbaumwolle  in  den  Vereinigten  Staaten  an  und  verkaufte 
sie  in  Europa  zu  einem  so  hohen  Preise  wieder,  dass  die  Produzenten 
der  Baumwollfabrikate  sich  genötigt  sahen,  die  Produktion  einzu- 
schränken; die  Bank  betrieb  allerlei  Börsenspekulationen  mit  ameri- 
kanischen und  ausländischen  Wertpapieren  u.  s.  w.  Im  Jahre  1839, 
als  die  Spekulation  im  Verkauf  von  Rohbaumwolle  den  grössten 
Umfang  erreicht  hatte  und  im  Besitze  der  Bank  von  den  Vereinigten 
Staaten     sich   Riesenvorräte    unverkaufter    Rohbaumwolle    angehäuft 


i)  First  Report  from  the  Select  Committee  on  Banks  of  Issue,  1840,  App.  N0.  9,  12  ; 
Second  Report  on  Banks  of  Issue,    1841,  App.  N0.   6,   28. 

7* 


—       I  oo      — 

hatten,  war  die  Londoner  Börse  von  einer  Menge  amerikanischer 
Werte  überschwemmt,  die  in  London  leichten  Absatz  fanden,  da  das 
Vertrauen  zu  ihnen  durch  die  Krisis  von  1836  noch  nicht  endgiltig 
erschüttert  wurde  (in  diesem  Jahre  hatte  die  Mehrzahl  der  amerikani- 
schen Firmen  trotz  der  Störung  des  Kredites  pünktlich  auf  Grund 
ihrer  Verpflichtungen  bezahlt).  Also  gerade  infolge  des  Umstandes, 
dass  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  im  Jahre  1837  die 
Entwickelung  einer  Krisis  aufgehalten  hatte,  brach  eine  solche  in 
diesem  Lande  im  Jahre  1839  ™^t  doppelter  Kraft  aus  und  rief  einen 
Goldabfluss  aus  England  nach  Amerika  hervor.  Ausserdem  floss 
Gold  aus  England  nach  dem  europäischen  Kontinent  ab  infolge  des 
Zusammenbruchs  der  Bank  von  Belgien  im  Herbste  1838.  Dieser 
Zusammenbruch  rief  Anfang  1839  i^  Belgien  und  Frankreich  eine 
Panik  hervor,  und  da  der  englische  Geldmarkt  von  der  Panik  unbe- 
rührt und  der  Kredit  auf  ihm  unerschüttert  geblieben  war,  so  floss 
das  Gold  dorthin,  wo  die  grösste  Nachfrage  danach  war,  —  nach  dem 
europäischen  Kontinent  und  Amerika.  Alles  das  zusammen  rief  im 
Jahre  1839  einen  seiner  Dauer  und  Kraft  nach  ganz  ausser  gewöhn- 
lichen external  drain  hervor,  der  die  Kasse  der  Bank  von  England 
fast  vollkommen  leerte. 

Um  das  Gold  in  ihren  Gewölben  zurückzuhalten,  erhöhte  die 
Bank  von  England  am  16.  Mai  ihren  Diskont  auf  5^0  ui^d  am 
I.  August  auf  6^0-  Da  aber  der  Kredit  im  Lande  keine  Einschrän- 
kung erfuhr  und  die  Warenpreise  nicht  sanken,  so  dauerte  der  Gold- 
abfluss nach  dem  Auslande  fort.  Um  sich  zu  retten,  musste  die 
Bank  zum  äussersten  Mittel  greifen:  durch  Vermittlung  des  Bank- 
hauses Baring  machte  sie  in  Paris  eine  Anleihe  von  2  Millionen 
Pfund  Sterling.  Die  Pariser  Bankiers  willigten  ein,  Wechsel  für  diese 
Summe  zu  acceptieren,  die  durch  die  Bank  allmählich  realisiert  wurde, 
was  die  Wechselkurse  Anfang  September  bedeutend  erhöhte.  Das 
Gold  fing  allmählich,  wenn  auch  sehr  langsam,  an,  in  die  Kasse  der 
Bank  zurückzufliessen.  Die  Wechselkurse  standen  andauernd  niedrig 
und  waren  für  England  nicht  nur  während  des  Jahres  1839,  sondern 
auch  im  folgenden  Jahre  ungünstig.  Durch  energische  Massnahmen 
gelang  es  der  Bank,  den  Goldstrom  aufzuhalten,  sie  vermochte  aber 
nicht,  eine  rückläufige  Bewegung  hervorzurufen,  und  daher  war  der 
Barvorrat  der  Bank  von  England  Ende  1840  ebenso  gering  wie 
Ende   1839. 

Jedoch,  trotz  der  kritischen  Lage  der  Bank  von  England  im 
Jahre  1839  hat  die  Krisis  dieses  Jahres  in  England  den  Charakter 
einer  reinen  Geldkrisis  gehabt  und  war  nicht  von  Erschütterung  der 


—        lOI 


Industrie  begleitet,  wie  in  den  Jahren  1825  und  1837.  Keine  einzige 
Bank  im  Vereinigten  Königreiche  stellte  die  Zahlungen  ein,  die  all- 
gemeine Zahl  der  Bankerotte  in  England  vermehrte  sich  fast  gar 
nicht.  Die  Preise  der  Rohbaumwolle  erlitten  dank  den  Ope- 
rationen der  Bank  von  den  Vereinigten  Staaten  enorme  Schwan- 
kungen, die  Getreidepreise  stiegen  im  Jahre  1839  stark  unter  dem 
Einfluss  der  Missernte  und  fielen  im  folgenden  Jahre,  da  die  Ernte 
in  demselben  sich  besser  als  im  vorangegangenen  erwiesen  hat,  aber  die 
Preise  der  verschiedenen  Metalle  (in  diesen  Preisen  spiegelt  sich  am  besten 
die  allgemeine  Lage  der  Industrie  wider)  sanken  im  Jahre  1840  re- 
lativ nicht  viel:  so  sanken  z.  B.  die  Preise  des  Bleies  im  Juli  1840  im 
Vergleich  zum  Juli  des  vorangegangenen  Jahres  nur  um  5  ^/q,  die 
Preise  des  Kupfers  stiegen  sogar  in  derselben  Zeit  um  i  ^o  >  die  des 
Zinnes    sanken    um    4%;    nur    die  Eisenspreise   sanken   beinahe   um 

20  Vo- 

Die  englische  Industrie  hatte  im  Jahre  1836  eine  so  schwere 
Erschütterung  erlitten,  dass  für  die  Ausbrechung  einer  neuen  Handels- 
krisis im  Jahre  1839  kein  Boden  in  England  vorhanden  war.  Die  Krise 
von  1836  hat  auf  den  Fonds-  und  Warenmarkt  Englands  eine  reinigende 
Wirkung  ausgeübt  und  ihn  von  ungesunden  Elementen  befreit,  die 
durch  das  Spekulationsfieber  der  vorangegangenen  Jahre  geschaffen 
waren;  die  meisten  englischen  Spekulanten  waren  im  Jahre  1837 
ruiniert  worden.  Gerade  deswegen  war  im  Jahre  1839  ^.uf  den  Gold- 
abfluss  aus  England  nach  dem  Auslande  keine  Handelskrisis  gefolgt, 
wie  das  in  den  Jahren  1825  und  1836  der  Fall  gewesen  war.  Der 
external  drain  in  England  ging  daher  Ende  1839  nicht  in  einen 
internal  drain  über,  und  der  englische  Kredit  erlitt  keine  Erschütte- 
rung. 

Wenn  wir  die  Bewegung  der  Metallvorräte  der  Bank  von  Eng- 
land in  den  Jahren  1840  und  1826  mit  einander  vergleichen,  so  be- 
merken wir  zwischen  beiden  einen  grossen  Unterschied.  Ende  1826 
war  der  Metallvorrat  der  Bank  von  England  ebenso  hoch  wie  An- 
fang 1825,  alles  aus  der  Kasse  der  Bank  abgeflossene  Gold  ist  wieder 
zurückgekehrt.  Indessen  bleibt  im  Jahre  1840  der  Barvorrat  der 
Bank  von  England  ebenso  niedrig  wie  Ende  1839  —  das  Gold  fliesst 
in  die  Kasse  der  Bank  nicht  zurück  —  trotz  solcher  Massnahmen 
seitens  der  Bank,  wie  die  Erhöhung  des  Diskonts  auf  6^0  (i"^  Jahre 
1825  hatte  der  Diskont  .der  Bank  von  England  5%  nicht  über- 
schritten). Was  hatte  nun  den  Goldabfluss  aus  der  Bank  in  den 
Jahren  1839 — 40  zu  einem  so  andauernden  gemacht?  Gerade  der- 
jenige Umstand,  dass  die  Krisis  dieses  Jahres  in  England  (nicht  etwa 


I02 


auch  in  den  Vereinigten  Staaten)  eine  Geld-  und  keine  Handelskrisis 
war^).  Eine  Handelskrisis  ruft  stets  eine  Erschütterung  des  Geld- 
marktes hervor,  aber  eine  rasche  und  kurze  Erschütterung.  Das 
Metall  strömt  ins  Innere  der  Landescirkulation,  um  die  Leere,  die 
durch  die  Einschränkung  des  Kredites  gebildet  wird,  auszufüllen,  aber 
sobald  das  Vertrauen  wieder  hergestellt  wird,  strömt  das  Metall  mit 
noch  grösserer  Geschwindigkeit  zurück.  Die  Einschränkung  der 
Warencirkulation,  die  auf  eine  Handelskrisis  folgt,  setzt  grosse  Mengen 
Geldes  frei,  die  sich  früher  in  der  Cirkulation  befanden,  und  alles 
dieses  überschüssige  Geld  häuft  sich  in  den  Banken  an.  Daher  findet 
nach  der  Liquidation  einer  Handelskrisis  stets  eine  Vermehrung  der 
Metallvorräte  in  den  Banken  statt  2). 

Л¥епп  dagegen  auf  den  Goldabfluss  nach  dem  Auslande  keine 
Handelskrisis  und  keine  Panik  auf  dem  Geldmarkte  folgt,  kann 
die  Geldkrisis  einen  chronischen  Charakter  annehmen,  da  in  diesem 
Falle  keine  Einschränkung  der  Warencirkulation  eintritt,  die  im 
ersteren  Falle  ein  Zur ückfli essen  des  Metalles  in  die  Kassen  der 
Banken  hervorruft.  Aus  der  oben  angeführten  Tabelle  (S.  67)  sieht 
man,  dass  im  Jahre  1840  der  Wert  der  britischen  Ausfuhr  sich  fast 
garnicht  vermindert  hat;  daher  ist  auch  der  Metall  Vorrat  der  Bank 
von  England  im  Laufe  dieses  ganzen  Jahres  ein  so  niedriger  ge- 
blieben. 

In  den  Vereinigten  Staaten  hatte  die  Krisis  von  1839  einen 
anderen  Charakter.  Wie  oben  erwähnt,  ermöglichte  die  Regie- 
rung der  Vereinigten  Staaten  im  Jahre  1837  vielen  Banken,  deren 
Lage  eine  schwere  war  und  die  schon  längst  zahlungsunfähig 
geworden  waren ,  durch  die  Erlaubnis  zur  Einstellung  der  Ein- 
lösung ihrer  Noten  einem  Bankerott  zu  entgehen.  Dadurch  wurde 
die  Liquidation  der  Krisis  aufgehalten  und  sollte  sich  einige 
Jahre  hinziehen.  Die  amerikanischen  Banken,  von  der  Notwen- 
digkeit, ihren  Verpflichtungen  nachzukommen,  befreit,  fuhren  in 
ihren  gewagten  Spekulationen  fort.  Erst  im  Jahre  1841,  als  der 
Kongress  die  Wiederherstellung  der  Einlösung  gefordert  hatte,  schlug 
die  Stunde  der  Vergeltung.  Die  „Bank  von  den  Vereinigten  Staaten*', 
das   grösste   Bankinstitut   des   Landes,    das   in   den  Spekulationen  am 


i)  Dass  im  Jahre  1839  in  England  keine  bedeutende  Erschütterung  des  Handels 
stattgefunden  hat,  darüber  vergl.  First  Report  on  Banks  of  Issue.  Minutes  of  Evidence. 
Aussage  von  Loyd  Q.  3589.     Dasselbe  sagt  auch  То  оке  (History  of  Prices,  II,   270). 

2)  Diese  Erscheinung  ist  sehr  gut  in  dem  bekannten  Buch  von  Clementjuglar 
Des  crises  commerciales  et  de  leur  retour  periodique  (Paris  1889,  i  re  partie,  eh.  XVII) 
klargelegt. 


—     юз     — 

weitesten  gegangen  war,  musste  die  Zahlungen  einstellen.  Somit  trat 
die  endgültige  Liquidation  der  Krisis  von  1836  in  den  Vereinigten 
Staaten  erst  im  Jahre  1841  ein.  Die  Zahl  der  Bankerotte  in  den 
Vereinigten  Staaten  erreichte  in  drei  Jahren  1837 — 39  nach  offiziellen 
Daten  33000,  die  Passiva  betrugen  insgesamt  440  Millionen  Dollar  ^). 
Da  aber  zwischen  dem  Zustande  des  englischen  und  dem  des  ameri- 
kanischen Marktes  der  engste  Zusammenhang  besteht,  ist  es  ganz 
begreiflich,  dass  die  englische  Industrie  in  den  Jahren  1841  und  1842 
sich  in  einem  sehr  gedrückten  Zustande  befunden  hat. 

Die  Handelskrisis  von  1847. 

Nach  einigen  Jahren  einer  wirtschaftlichen  Depression,  die  im 
Jahre  1842  ihren  Höhepunkt  erreicht  hatte,  trat  in  England  wieder 
eine  Periode  des  industriellen  Aufschwungs  ein. 

Anfang  1844  erreichte  der  Barvorrat  der  Bank  von  England 
die  vordem  noch  nicht  dagewesene  Höhe  von  i6  Millionen  Pfund 
Sterling ;    der  Diskont  wurde   von  der  Bank  auf  i  ^4  Vo  herabgesetzt. 

Nach  einem  bekannten  Wort  kann  John  Bull  vieles  ertragen, 
aber  nur  nicht  2  ^j^.  Die  Produktivkräfte  des  Landes  waren  zu  einer 
I  neuen  energischen  Arbeit  gerüstet,  und  diese  Arbeit  Hess  nicht  lange 
auf  sich  warten. 

Die  Ernten  1843  —  44  waren  sehr  gute,  die  Preise  der  land- 
wirtschaftlichen Produkte  niedrig,  die  Nachfrage  nach  Fabrikaten 
hoch.  Auf  dem  auswärtigen  Markte  waren  die  Spuren  der  vor- 
angegangenen Krisen  verwischt  und  der  Friedensschluss  zwischen 
England  und  China  im  Jahre  1842  eröffnete  für  die  englische  Industrie 
einen  neuen  enormen  Markt,  dessen  Bedeutung  dazu  von  den  engli- 
schen Fabrikanten  zuerst  sehr  überschätzt  wurde.  Die  Industrie 
raffte  sich  auf  und  die  drei  Jahre  1844 — 1845  waren  durch  eine 
starke  Vermehrung  der  Ausfuhr  der  brittischen  Fabrikate  nach  dem 
Auslande,  durch  eine  Ausdehnung  der  Produktion  und  zugleich  durch 
eine  Verbesserung  der  ökonomischen  Lage  der  arbeitenden  Klassen, 
die  während  der  vorangegangenen  Krise  schwere  Entbehrungen  er- 
litten haben,  gekennzeichnet.  So  äussert  z.  B.  November  1845  ^^^ 
Fabrikinspektor  Leonard  Horner  in  seinem  Halbjahrsberichte  fol- 
gendermassen :  „In  den  ganzen  letzten  8  Jahren  ist  mir  kein  solcher 
Aufschwung  der  Industrie,  namentlich  der  Baumwollspinnerei,  erinner- 
lich, wie  während  des  vorigen  Winters  und  Herbstes.     In  dieser  Zeit 


i)  Clement  Juglar,  Des  crises  coramerciales,  S.  467. 


—      I04     — 

erhielt  ich  jede  Woche  Nachrichten  von  dem  Bau  neuer  Fabriken  . 
oder  von  der  Vergrösserung  der  schon  vorhandenen,  von  der  Ein- 
führung neuer,  leistungsfähigerer  Maschinen  u.  s.  w.  Ueberall  hörte 
ich  Klagen  über  die  Schwierigkeit  Arbeiter  zu  beschaffen,  und  über 
das  Steigen  der  Löhne.  Unterrichtete  Leute  teilen  mir  auch  von  den 
sehr  hohen  Profiten  der  Fabrikanten  mit,  die  durch  die  hohen  Preise 
des  Garnes,  welche  mit  niedrigen  Preisen  der  Rohbaumwolle  zusammen- 
fallen, bedingt  werden  1)".  Nach  den  Berichten  Horners  hat  sich  in  den 
Jahren  1842 — 45  die  Zahl  der  Fabriken  in  seinem  Bezirke  um  524, 
—  fast  ausschliesslich  Baumwollfabriken   —  vermehrt. 

Wir  haben  an  Beispielen  der  vorangegangenen  Krisen  gesehen, 
dass  die  Anlage  der  englischen  Kapitalien  in  jeder  Periode  eines 
industriellen  Aufschwungs  irgend  eine  bestimmte  Richtung  annimmt. 
In  den  2 о  er  Jahren  gingen  die  enghschen  Kapitalien  im  Ueberfluss 
nach  Central-  und  Südamerika;  in  der  Mitte  der  30er  Jahre  gingen 
sie  nach  den  Vereinigten  Staaten  und  die  in  England  gebliebenen 
wandten  sich  hauptsächlich  den  Eisenbahnunternehmungen  und  der 
Gründung  von  Aktienbanken  zu.  In  den  40  er  Jahren  hat  keine  be- 
deutende Emigration  englischer  Kapitalien  nach  dem  Auslande 
stattgefunden,  nicht  aber  aus  dem  Grunde,  weil  die  Menge  der  freien 
Kapitalien  sich  in  England  vermindert  hätte.  Ueberschüssige  Kapi- 
talien waren  in  England  in  dieser  Zeit  mehr  als  früher  vorhanden, 
sie  fanden  aber  eine  vorteilhafte  Anlage  innerhalb  des  Landes,  wo 
sie  sich  dem  Bau  eines  immensen  Eisenbahnnetzes  zuwandten. 


Vom  Parlament  wur- 

Thatsächlich sind  für 

den  konzessioniert 

den  Bau  der  Eisen- 

Eisenbahnbauten im 

bahnen  verausgabt 

Werte  von  (Milli- 

vi^orden (Millionen 

onen  Pfund)  '^) 

Pfund)  2) 

Bis  zum   31.  Dezember 

1843 

81,9 

65,6 

Im  Jahre 

1844 

20,4 

6,7 

1845 

60,5 

16,2 

1846 

131,7 

37,8 

1847 

44,2 

40,7 

1848 

15,3 

33,2 

1849 

3,9 

29,6 

Nach  einer  von  Wilson,  dem  bekannten  National-Oekonomen 
der  40  er  Jahre  und  Begründer  des  „The  Economist",  aufgestellten 
Berechnung    erreichte    die    jährliche    Akkumulation    von    Kapital    in 


i)  Report  of  Inspektor  of  Factories  L.  Horner,  November   1845,  S.   13. 
2)  Tooke,  History  of  Prices,  V,   352. 


—      I05     — 

Grossbritannien  die  bedeutende  Summe  von  60  Millionen  Pfund  Ster- 
ling i).  Also  übertraf  im  Jahre  1846  der  Wert  der  neu  konzessio- 
nierten Eisenbahnen  um  mehr  als  das  Doppelte  die  jährliche  Akku- 
mulation von  englischen  Kapital.  Die  durch  den  Eisenbahnbau  wäh- 
rend der  drei  Jahre  1846 — 48  auf  dem  inneren  englischen  Markte 
geschaffene  Nachfrage  war  so  gross,  dass  sie  nicht  weniger  als  2/3 
der  gesamten  ausländischen  Nachfrage  nach  britischen  Produkten 
gleichkam.  Die  Zahl  der  Arbeiter,  die  im  Jahre  1847  bei  dem  Bau 
der  Eisenbahn  beschäftigt  waren,  betrug  mehr  als  200000  Mann. 
Das  enorme  Steigen  der  Eisenpreise  zeigt,  welche  bedeutende  Nach- 
frage nach  Eisen  durch  die  Eisenbahnbauten  geschaffen  worden  ist. 
Mitte  der  40  er  Jahre  befand  sich  Handel  und  Industrie  in  Eng- 
land in  einem  ausgezeichneten  Zustande.  Die  Produktion  hatte  sich 
erweitert,  die  Warenpreise  waren  bedeutend  in  die  Höhe  gegangen, 
die  Nachfrage  auf  dem  inneren  Markte  war  stark  gestiegen,  die  Aus- 
fuhr der  englischen  Produkte  nach  dem  Auslande  hatte  sich  ver- 
mehrt. Wie  immer  dauerte  es  auch  diesmal  nicht  lange,  bis  der 
industrielle  Aufschwung  eine  Spekulation  erzeugte,  die  sich  in  diesem 
Falle  hauptsächlich  mit  den  Eisenbahnunternehmungen  befasste.  Die 
Spekulation  mit  Eisenbahnaktien  begann  schon  im  Jahre  1844.  „Im 
Anfange  des  Jahres  1844  —  sagt  То  оке  —  als  man  schon  nicht 
mehr  daran  zweifeln  konnte,  dass  die  Industrie  des  Landes  einen 
Aufschwung  nehme,  lenkten  die  günstigen  Resultate,  die  durch  die 
schon  früher  gebauten  Eisenbahnen  erreicht  waren,  die  allgemeine 
Aufmerksamkeit  auf  sich.  Es  schien  sehr  wahrscheinlich,  dass  die 
weitere  Ausdehnung  des  Eisenbahnnetzes  sich  ebenso  rentabel  er- 
weisen wird,  um  so  mehr  als  die  Preise  des  Eisens  und  des  anderen 
für  den  Eisenbahnbau  notwendigen  Materials  keine  hohe  waren.  Infolge 
dessen  gingen  im  Frühling  und  Sommer  die  Preise  der  Mehrzahl  der 
alten  Eisenbahnaktien  sehr  in  die  Höhe,  und  ausserdem  wurden  noch 
viele  neue  Linien  projektiert.  Im  September  1844  wurden  dem 
Parlament  mehr  als  90  Projekte  neuer  Linien  vorgelegt,  für  deren 
Ausführung  nicht  weniger  als  100  Millionen  Pfund  erforderlich  ge- 
wesen wären,  und  die  Zahl  dieser  Projekte  wuchs  ununterbrochen 
bis  zum  Ende  des  Jahres".  Im  Jahre  1845  wurden  die  Eisenbahn- 
spekulationen noch  heftiger  und  führten  zu  einer  Börsenkrisis.  „Im 
August,  nachdem  das  Parlament  die  Konzessionen  für  die  projektierten 
Eisenbahnen  erteilt  hatte,  artete  die  Spekulation  zu  einer  wahren 
Manie   aus.      Gleichzeitig    machten    sich    aber   bereits    Zeichen    einer 


I )  Wilson,  Capital,  Currency  and  Banking,  IX. 


-  -      io6     — 

nahen  Reaktion  bemerkbar.  Es  wurde  allen  klar,  dass  die  Speku- 
lanten durchaus  nicht  alle  auf  einen  Erfolg  der  Unternehmungen 
rechneten,  sondern  lediglich  auf  die  in  dem  gegebenen  Augenblick 
vorwiegende  Stimmung  der  Börse  in  Bezug  auf  die  eine  oder  andere 
Aktie.  Die  Aktien  wurden  nicht  zum  Zwecke  einer  dauernden 
Kapitalsanlage  gekauft,  sondern  zum  Zwecke  des  sofortigen  Wieder- 
verkaufs zu  erhöhten  Preisen.  Solange  die  Zahl  der  Personen,  die 
spekulieren  wollten,  sich  vermehrte,  wuchsen  auch  die  Kurse  der 
Aktien.  Aber  Ende  Oktober  machte  sich  unter  den  Besitzern  der 
Aktien  das  Streben  bemerkbar,  die  Profite,  die  durch  die  hohe  Kurse 
der  Aktien  versprochen  wurden,  zu  realisieren;  dieses  Streben  ging 
allmählich  in  eine  Panik  über,  die  Kurse  der  Aktien  fingen  an  schnell 
zu  sinken,  und  die  Effektenbörsen  in  den  verschiedenen  Städten  des 
Königreichs,  die  früher  von  Tausenden  von  Spekulanten  voll  waren, 
leerten  sich^)". 

Die  englische  Industrie  ist  von  der  Börsenkrise  des  Jahres  1845 
ganz  unberührt  geblieben;  wir  erkennen  ihren  Einfluss  weder  am 
Conto  der  Bank  von  England,  deren  Barvorrat  im  November  dieses 
Jahres  über  13  Millionen  Pfund  Sterling  betrug,  noch  in  der  Zahl 
der  Bankerotte,  noch  in  dem  allgemeinen  Stande  der  Warenpreise. 
Die  Börsenkrisis  von  1845  §^^S  nicht  über  den  Kreis  des  Börsen- 
publikums hinaus,  wie  im  Jahre  1835  ^i^  Krisis  auf  der  Effektenbörse 
die  Industrie  nicht  berührt  hatte.  Es  findet  das  seine  Erklärung 
darin,  dass,  obwohl  die  Spekulation  mit  den  Eisenbahnaktien  im 
Jahre  1845  zusammenbrach,  der  Bau  der  Eisenbahnen  gerade  zu 
dieser  Zeit  begann,  grosse  Dimensionen  anzunehmen. 

Die  kolossalen  Eisenbahnbauten  in  den  Jahren  1846  und  1847 
mussten  die  Nachfi'age  auf  dem  inneren  Markte  bedeutend  erweitern. 
Es  war  also  eigentlich  in  dieser  Zeit  ein  bisher  noch  nicht  dage- 
wesener Aufschwung  der  englischen  Industrie  zu  erwarten.  Was 
wollten  auch  einige  Millionen  Pfund,  um  die  sich  die  Ausfuhr  briti- 
scher Produkte  nach  dem  Auslande  in  den  Jahren  1846  und  1847 
vermindert  hat,  bedeuten,  im  Vergleich  zu  den  beinahe  100  Millionen 
Pfund,  die  von  den  Eisenbahn gesellschaften  für  den  Ankauf  von 
Material  zum  Eisenbahnbau  und  von  den  Eisenbahnarbeitern  für  den 
Einkauf  ihrer  Konsumgegenstände  in  diesen  zwei  Jahren  verausgabt 
wurden?  Indessen,  wenn  wir  uns  zu  den  Daten  über  den  Ver- 
brauch der  baumwollenen  Gewebe  auf  dem  einheimischen  MarkteJ 
Englands  wenden,  so  sehen  wir  nicht  ein  Wachstum,  sondern  einen j 
Rückschlag. 

i)  То  оке,  History  of  Prices,  IV,  64. 


—     loy     — 

Im  Jahre  1845  sind  im  Vereinigten  Königreich  baumwollene 
Gewebe  für  21  Millionen  Pfund  St.  konsumiert  worden,  1846  für 
19  Millionen,   1847  ^ber  nur  für   13  Millionen  i). 

Worin  findet  dieser  Rückgang  seine  Erklärung?  In  den  Miss- 
ernten. Im  Jahre  1845  trat  in  Irland  und  England  eine  Kartoffelkrank- 
heit auf,  die  die  Ernte  dieses  Jahres  fast  vollständig  vernichtete;  auch 
die  Getreideernte  war  in  diesem  Jahre  eine  sehr  schlechte.  Im  Jahre 
1846  ergab  die  Kartoffel  wieder  keine  Ernte,  und  das  Getreide  ge- 
dieh noch  schlechter  als  im  vorangegangenen  Jahre.  In  Irland 
herrschte  eine  Hungersnot.  Das  Parlament  war  genötigt,  8  Millionen 
Pfund  St.  zur  Unterstützung  der  hungernden  Bevölkerung  auszu- 
setzen. Im  Jahre  1847  wurden  in  das  Vereinigte  Königreich  allerlei 
Getreidearten  für  den  inländischen  Konsum  im  Werte  von  29  Mil- 
lionen Pfund  Sterling  eingeführt;  diese  Einfuhr  kam  50^0  der  ge- 
samten Ausfuhr  der  britischen  Fabrikate  gleich,  während  im  Jahre 
1845  die  Getreideeinfuhr  nur  3%  des  britischen  Exports  gleichge- 
kommen war. 

Der  Missernte  des  Getreides  gesellte  sich  die  Missernte  der 
Baumwolle  hinzu.  Die  Preise  der  Rohbaumwolle  in  Manchester  stiegen 
im  Januar  1847  um  65%  i"^  Vergleich  zum  Januar  1846.  Die  Lage 
der  englischen  Fabrikanten  war  eine  sehr  schwierige:  der  Preis  des 
Rohmaterials  war  gestiegen,  die  Nachfrage  nach  Fabrikaten  seitens 
der  Bevölkerung  konnte  aber  in  Folge  des  hohen  Preises  der  Nahrungs- 
mittel nicht  steigen.  Die  Preise  des  Baumwollgarnes  sind  im  Jahre  1847 
gar  nicht,  die  der  baumwollenen  Gewebe  kaum  merklich  in  die  Höhe 
gegangen. 

Unter  solchen  Umständen  wurde  die  Produktion  nicht  lohnend 
und  sie  musste  eingeschränkt  werden,  was  eben  geschah. 

Der  Handelskrisis  von  1847  war  keine  Spekulation  auf  dem 
Warenmarkte  vorangegangen,  wie  das  vor  den  früheren  Krisen  der 
Б'аИ  gewesen  war.  Im  Jahre  1847  standen  die  Preise  vieler  Waren 
auf  dem  englischen  Markte  hoch  (z.  B.  die  Preise  der  Rohbaumwolle, 
des  Eisens  und  der  anderen  Metalle),  aber  nicht  infolge  einer  Speku- 
lation der  Händler,  sondern  weil  das  Angebot  im  Vergleich  zu  der 
Nachfrage  ungenügend  war.  Nur  im  Getreidehandel,  der  auch  in 
einer  ruhigen  Zeit  infolge  starker  und  unvorhergesehener  Schwan- 
kungen der  Getreidepreise  einen  Spekulationscharakter  hat,  nahm  die 
Spekulation  einen  grossen  Umfang  an.  Der  Preis  des  Quarters  Ge- 
treide  stieg    von  Januar  bis  Mai   1847  von  66  Sh.   10  d.  auf   102  Sh. 


i)  Nach  den  Tabellen  von  J.  A.  Mann  (The  Cotton  Trade  of  Great  Britain   1860). 


—      io8      - 

5  d.  Ende  Mai  desselben  Jahres.  Darauf  folgte  ein  rasches  Fallen, 
und  im  September  sanken   die  Preise  des  Quarters  auf  49  sh.  6  d"  ^). 

Die  Spekulaten  rechneten  darauf,  dass  die  Getreidevorräte  in 
England  bis  zur  neuen  Ernte  nicht  ausreichen  würden.  Ihre  Be- 
rechnungen erwiesen  sich  als  irrige  —  die  hohen  Preise  riefen  eine 
erhöhte  Getreidezufuhr  aus  dem  Auslande  hervor;  die  Ernte  wurde 
besser,  als  erwartet  wurde,  und  die  Preise  konnten  sich  nicht  auf  der 
anormalen  Höhe  erhalten.  Sofort  trat  eine  rückläufige  Bewegung 
ein,  die  den  Zusammenbruch  einer  grossen  Anzahl  von  Getreide- 
händlern und  in  dessen  Gefolge  eine  allgemeine  Handelskrisis  nach 
sich  zog. 

Betrachten  wir  jetzt  das  Conto  der  Bank  von  England  im 
Jahre   1847. 

Conto  der  Bank  von  England^). 


1847 


Barvorrat 

(in  Millionen 

Pfund) 


.  .5  'ö 
(U  ■ — '  с 

iD    ^  — I 


Niedrigster  Diskont  d. 

Bank  von  England 

während  des  Monats 


Wechselkurs  auf  Paris 

nach  Sicht 

(das  Goldagio  ist  in  Abzug 

gebracht) 


2.  Januar 
6.   März 

3.  April 

1.  Mai 
5-  Juni 

3.  JuH 

4.  September 

2,  Oktober 
30.   Oktober 

6.   November 
4.  Dezember 


15 
1 1,6 

10,3 

9,3 
10,2 
10,4 

9 
8,6 

8,4 

8,7 

1 1,0 


Mill.  Pf. 


8,2 
5,7 
3,7 

2,7 

5,1 

5,2 

4,2 

3,4 
1,2 

2,0 

5,6 


Janviar 

März 

April 

Mai. 

Juni 

Juli. 

September 

Oktober 

November 

Dezember 


3 
4 
4 
5 
5 
5 
5% 

7 
b 


I. 

Januar  . 

25   Fr 

2. 

März    . 

25     „ 

I. 

April    . 

25     „ 

4- 

Mai 

25     ., 

7- 

Juni 

25     „ 

2. 

Juli       . 

25     „ 

3. 

September 

25     „ 

I. 

Oktober 

25     „ 

2. 

November 

25     „ 

3. 

Dezember 

25     „ 

II  Ct. 

13  „ 

45  „ 

13  „ 

8  „ 

II  „ 

32  „ 

24  „ 

27  „ 


i)  Report  from  the  Select  Committee  on  Commercial  Distress.  1847 — 48.  Appen- 
dix N0.  6. 

2)  Report  from  the  Select  Committee  on  Commercial  Distress.  1847 — 48.  App.  N0.  6, 
13,  31.  Reserve  wird  der  Teil  des  Kassenbestandes  der  Bank  von  England]  genannt,  über 
den  sie,  auf  Grund  der  Peel  sehen  Akte  von  1844,  frei  verfügen  kann.  Durch  die  Akte 
von  1844  sind  die  Bedingungen  der  Notenausgabe  der  Bank  von  England  total  umgestaltet 
worden.  Die  Banknoten,  die  über  14  MiUionen  Pf.  hinaus  verausgabt  werden,  müssen 
nach  dieser  Akte  voll  durch  Metall  gedeckt  werden;  dieser  Teil  des  Barvorrats  der  Bank 
kann  daher  nicht  in  die  Cirkulation  treten.  Die  Reserve  ist  der  freie  Teil  des  Barvorrats 
der  Bank.  Es  ist  natürlich,  dass  die  Bank  bei  ihren  Operationen  allein  mit  der  Grösse 
ihrer  Reserve  rechnen  muss,  da  die  übrige  Menge  Metalls  in  ihrer  Kasse  zu  Kreditzwecken 
nicht  benutzt  werden  kann.  Die  Peelsche  Akte  hat  in  der  Geschichte  der  ökono- 
mischen Wissenschaft  eine  besonders  wichtige  Rolle  gespielt.  Die  von  der  modernen  Wissen- 
schaft angenommene  Geld-  und  Kredittheorie  ist  zum  Teil  aus  der  durch  diese  Akte  hervorgerufenen 
Polemik  entstanden,  wobei  man  die  grösste  Bedeutung  den  Schriften  von  Tooke  und 
Fullarton  zuschreiben  muss.  Wir  werden  uns  jedoch  nicht  bei  dieser  Akte  aufhalten,  da, 
wie  wichtig  auch  diese  in  vielen  Beziehungen  sein   mag,  eines    durch  'die   spätere   Erfahrung 


—     log     — 

Nach   dem,   was    wir   oben    über    die   enorme    Einfuhr   von  Ge- 
treide nach  England  gesagt  haben,  muss  uns  die  Ursache  des  Gold- 
abflusses aus  Eng'land  nach  dem  Auslande  im  Jahre  1 847  ganz  klar  sein. 
Aber  während  in  den  Jahren   1825  und  1836  der  Barvorrat  der  Bank 
von    England    7 — 8    Monate   hindurch    ununterbrochen    sank,   wurde 
im  Jahre   1847  ^^^  Goldabfluss  aus  England  nach  dem  Auslande  kein 
so   lange    andauernder   und   ununterbrochener.      Von   Januar   bis  Mai 
:  nimmt   der   Barvorrat   der   Bank   von  England   ab,   die  Reserve  ver- 
mindert sich,   und  die    Wechselkurse  bleiben    für  England  ungünstig. 
1  Vom  Mai  bis  zum  Juli  ändert  sich  die  Richtung  des  Goldstromes  — 
I  das  Gold  fängt  an,  in  die  Kasse   der  Bank  zurückzufliessen,  die  Re- 
serve nimmt  zu,  und  die  Wechselkurse  stehen  eine  Zeitlang  sehr  hoch. 
I  Dann    beginnt    wieder    die    frühere    Bewegung   —    die  Wechselkurse 
:  sinken,  und  das  Gold  fängt  an,  aus  England  abzufliessen.    Im  Oktober 
I  werden    die  Wechselkurse  für  England    günstig,   aber  der  Barvorrat 
und   die    Reserve    der  Bank    von   England   fahren    fort    abzunehmen, 
bis   die   Reserve  am    30.    Oktober   am  tiefsten    sinkt  —  auf   1,2  Mill. 
1  Pf.  St.      Im  November    und  Dezember  fliesst  das  Gold  rasch  zurück, 
und  die  Bankreserve  erreicht  wieder  eine  bedeutende  Höhe. 

Im  Jahre  1847  fallen  uns  bedeutende  Veränderungen  desDiskontes 

auf,  die  in  den  Jahren  1825  und  1836  ausgebheben  sind.  (Im  Jahre  1825  hielt 

die  Bank  während  der  ersten  1 1  Monate  den  Diskont  unverändert  — 

f  4%  für  kurzfristige  Wechsel  —  und  erhöhte  nur  im    Dezember    den 

!  Diskont  auf  5  ^/0 ;  im  Jahre  1 8  3  6  ist  der  Diskont  nur  im  Juli  von  4^/0  auf  4  Y2  % 

h  und  im  September  von  4Y2  7o  ^^^  5  ^/0  erhöht  worden).     Die  Ursache 

I'  dieses  Unterschiedes  besteht  darin,  dass  während  der  vorangegangenen 

I  Krisen   die   Bank    sich    gegenüber   der  Abnahme  ihres  Metallvorrats 

passiver  verhalten  hatte  —  sie  hatte  das  einzige  wirksame  Mittel,  um 

i  Metall    in    ihren    Kassen    zurückzubehalten,    die    Erhöhung    des    Dis- 

\  kontes,  nicht    angewendet.      Wie    bekannt,   hat   die   Diskonterhöhung 

immer   die   Tendenz,  die   Wechselkurse   des   Landes    zu  erhöhen  und 

den    Goldabfluss    nach    dem     Auslande    aufzuhalten.      Der    Barpreis 


vollkommen  erwiesen  ist:    nämlich  dass  die  Akte  von   1844  keinesfalls    der  Wiederkehr  der 
\   Krisen  vorzubeugen  oder  ihre  ökonomische  Wirkung  abzuschwächen  imstande   war,    obwohl 
|i  das  eins  der  Hauptziele  der  von  Sir  Robert  Peel  ausgeführten  Bankreform  war.    In  dieser 
Beziehung  kann  die  ganze  Reform  als  vollkommen  missglückt  gelten.     Nur  eine  totale  Ver- 
kennung  der   tiefer    liegenden  Ursachen  der  Krisen  konnte   die   ganz   verfehlte   Idee   hervor- 
1'  rufen,  dass  Krisen  aus  mangelnder  Organisation  der  Kreditinstitute   entstehen.     Die   Eaisen 
i  sind  so  eng  mit  der  kapitalistischen  Produktionsweise  verknüpft,   dass  sogar  die  bestmögliche 
Bankreform  (und  die  von  Robert  Peel   darf   man    keineswegs   als   eine   solche   betrachten) 
j-  nichts  Bedeutendes  in  der  Vorbeugung  der  Krisen  erreichen  könnte. 


I  lO 


eines  Wechsels  ist  gleich  seiner  Valuta  abzüglich  des  Diskontsatzes 
am  Orte  des  Diskontierens  des  Wechsels.  Die  Erhöhung  des  Dis- 
kontsatzes vermindert  den  Barpreis  eines  Wechsels,  die  Wechsel 
werden  auf  dem  betreffenden  Markte  billiger  —  man  fängt  an,  sie 
nach  dem  Auslande  (wo  sie  teuerer  sind)  zum  Austausch  gegen  Gold 
auszuführen,  und  die  Wechselkurse  (nach  Sicht)  steigen.  Alles  das 
ist  sehr  einfach,  aber  bis  man  den  Einfluss  des  Diskontes  auf  die 
Wechselkurse  verstand,  musste  man  eine  lange  Erfahrung  durch- 
machen. 

Ausserdem  war  vor  Peelsschen  Bankakte  die  Bank  von  Eng- 
land für  die  Abnahme  ihres  Barvorrats  schon  deswegen  weniger 
empfindlich,  weil  sie  über  die  gesammte  Summe  Gold  und  Silber 
die  sie  vorrätig  hatte,  verfügen  konnte.  Dagegen  hat  die  Akte  von 
1844  der  Bank  die  Verfügung  nur  über  einen  Teil  ihrer  Vorräte  —  über 
die  Reserve  —  gestattet.  Unter  dem  neuen  System  musste  die  Bank 
energische  Massnahmen  zur  Sicherung  ihrer  Kasse  bereits  zu  eine 
Zeit  treffen,  wo  der  Barvorrat  noch  verhältnismässig  gross  war  (im 
Jahre  1847  ist  der  Barvorrat  der  Bank  von  England  nicht  einmal  auf 
8  Millionen  Pf  St.  gesunken,  und  doch  musste  man,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden,  zur  Rettung  der  Bank  zur  Suspendierung  des 
Gesetzes  von   1844  greifen). 

In  diesen  beiden  Umständen  —  der  neuen  Politik  der  Bank  und 
einer  grösseren  Empfindlichkeit  der  Bank  für  die  Abnahme  des  Kassen- 
bestandes —  findet  das  Aufhören  des  Goldabflusses  im  Frühling 
1847  seine  Erklärung.  Da  die  Bank  von  England  eine  Verminde- 
rung ihrer  Reserve  befürchtete,  traf  sie  im  April  dieses  Jahres  ener- 
gische Massnahmen  zur  Einschränkung  ihrer  Diskontoperation.  Der 
Diskont  wurde  erhöht,  die  langfristigen  Wechsel  wurden  gar  nicht 
mehr  zum  Diskont  angenommen  und,  was  noch  wichtiger  ist,  die 
Bank  von  England  setzte  eine  bestimme  Norm  für  die  Diskontierung 
der  Wechsel  jeder  einzelnen  Firma  fest.  Solche  harte  Massnahmen 
riefen  sehr  bald  eine  Panik  auf  dem  Geldmarkte  Englands  hervor. 
Wie  Tooke  berichtet,  war  die  Nachfrage  nach  barem  Geld  in  Eng- 
land so  gestiegen,  dass  in  einigen  Fällen  ganz  sichere  Wechsel  erst 
zu  12  und  noch  höheren  Jahreszinsen  diskontiert  wurden.  Die 
Wechselkurse  stiegen  sofort  und  wurden  für  England  günstig.  Nach 
der  Aussage  des  Londoner  Bankiers  Gurney  hatte  jemand  Anfang 
April  in  Liverpool  100  Tausend  Pfund  Goldmünzen  und  Barren  auf 
ein  Schiff  geladen,  um  sie  nach  den  Vereinigten  Staaten  zu  trans- 
portieren in  der  Absicht,  die  vorteilhafteren  Kurse  der  amerikanischen 
Wechsel   auszunutzen.      Aber   infolge   der    in   England    eingetretenen 


—     III 


Geldklemme  wurde  diese  ganze  Summe  wieder  in  England  ausge- 
laden und  blieb  im  Lande,  da  bei  der  Erhöhung  der  englischen 
Wechselkurse  die  Ausfuhr  von  Gold  nach  Amerika  unvorteilhaft  ge- 
worden war^).  Das  Gold  begann  nach  England  zurückzufliessen,  die 
Reserve  der  Bank  von  England  vermehrte  sich,  und  die  Direktion 
der  Bank  war  in  der  Lage,  ihre  prohibitiven  Massnahmen  aufzuheben. 

Bemerkenswert  ist,  dass  die  Industrie  und  der  Handel  von  der 
im  April  auf  dem  Geldmarkt  ausgebrochenen  Panik  so  wenig  berührt 
wurden,  dass  sich  gerade  zu  dieser  Zeit  die  Spekulationen  der  Ge- 
treidehändler vermehrten,  die  den  Preis  des  Quarters  Weizen  schnell 
um  mehrere  Zehner  von  Schillingen  erhöhten.  Ueberhaupt  übt  der 
Zustand  des  Geldmarktes  einen  mächtigen  Einfluss  auf  den  Handel 
nur  dann  aus,  wenn  die  Lage  dieses  letzteren  einen  solchen  Einfluss 
begünstigt;  wenn  aber,  wie  das  diesmal  der  Fall  war,  die  Geldklemme 
mit  einer  Abnahme  des  Warenangebotes  und  einem  Steigen  der 
Nachfrage  zusammenfällt,  so  kann  die  Erhöhung  des  Diskontes  das 
Steigen  der  Warenpreise  und  somit  die  Entwickelung  einer  Speku- 
lation auf  dem  Warenmarkte  nicht  verhindern. 

Im  Juli  hat  sich  der  Goldabfluss  nach  dem  Auslande  erneuert. 
Das  Gold  ging  wie  früher  für  die  Bezahlung  für  das  Getreide  auf, 
das  im  Ueberfluss  auf  dem  Londoner  Markt  erschienen  war,  ange- 
zogen durch  die  daselbst  notierten  übermässig  hohe  Preise. 

Einfuhr  von  Getreide  und  Mehl  nach  dem  Vereinigten 
Königreich  in  Tausenden  Quarter^). 


Vom  24. 

Februar 

bis 

zum 

30. 

März 

1052 

,,      31- 

März 

4. 

Mai 

1332 

5- 

Mai 

8. 

Juni 

1251 

9. 

Juni 

13- 

Juli 

1944 

V      14- 

Juli 

17- 

August 

2010 

„      18. 

August 

21. 

September 

1608 

„      22. 

September 

26. 

Oktober 

969 

Die  Einfuhr  vermehrt  sich  und  erreicht  ihren  Höhepunkt  in  der 
zweiten  Hälfte  des  Juli  und  in  der  ersten  Hälfte  des  August.  In- 
dessen erreichten  die  Preise  des  Getreides  ihr  Maximum  gegen  Ende 
Mai.  Die  Differenz  von  zwei  Monaten  zwischen  dem  Eintreten  des 
einen  und  dem  des  anderen  Maximums  war  durch  die  Zeit  bedingt, 
die  zur  Ueberführung  des  Getreides  von  dem  Ausfuhrorte  nach  dem 
Verkaufsorte  erforderlich  war.     Die  engHschen  Getreidehändler  hatten 


I    First  Report  on  Commercial  Distress.    Minutes  of  Evidence,   Aussage  von  Gur- 
ney.     Q.   1921  —  23. 

2)  Report  on  Commercial  Distress.  App.  N0.  50, 


I  12 


im  A^pril  und  Mai  enorme  Mengen  Getreide  zu  übermässig  hohen 
Preisen  gekauft,  dieses  Getreide  kam  im  Juli  und  August  an,  als  die 
Preise  des  Getreides  schon  gesunken  waren,  weil  die  Ernteaussichten 
sich  günstiger,  als  man  erwartet  hatte,  erwiesen.  Der  Preisfall  hatte 
die  Getreidehändler  ruiniert  und  hat  den  Ausbruch  einer  schweren 
Handelskrisis  nach  sich  gezogen. 

Von  Oktober  ab  werden  die  Wechselkurse  für  England  günstig, 
aber  der  Goldabfluss  aus  der  Bank  von  England  dauert  fort.  Offen- 
bar ist  die  Entwickelung  der  Krisis  in  ein  neues  Stadium  getreten: 
der  external  drain  hat  einem  internal  drain  Platz  gemacht;  der  durch 
die  ungünstige  Handelsbilanz  hervorgerufene  Goldabfluss  nach  dem 
Auslande  machte  Platz  dem  Goldabfiusse  nach  dem  Inneren  des 
Landes.  Diese  Aenderung  wurde  durch  die  Panik,  welche  den  eng- 
lischen Geld-  und  Warenmarkt  erfasst  hatte,  hervorgerufen. 

Den  niedrigsten  Stand  (1,2  Millionen  Pfund  St.)  hat  die  Reserve 
der  Bank  von  England  am  30.  Oktober  erreicht.  Seit  dem  2.  Ok- 
tober, d.  h.  28  Tage  hindurch,  hat  die  Reserve  der  Bank  um  2,2  Mill. 
Pf  St.,  der  Barvorrat  der  Bank  aber  nur  um  0,2  Millionen  Pfund 
abgenommen.  Die  stärkere  Verminderung  der  Reserve  zeigt,  dass 
innerhalb  des  Landes  nicht  nur  Gold,  sondern  auch  Banknoten  ver- 
langt wurden.  Ueberhaupt  vermindert  sich  das  Vertrauen  zu  den 
Noten  der  Bank  von  England  während  der  Krisen  nicht  im  ge- 
ringsten, und  da  die  Uebersendung  der  Noten  und  der  Verkehr  mit 
ihnen  viel  leichter  und  bequemer  ist  als  der  Gold  verkehr,  so  war 
auch  während  der  Panik  von  1847  ^i^  Nachfrage  nach  Banknoten 
noch  grösser  als  nach  Gold.  In  diesem  Sinne  haben  viele  die  von 
der  Parlamentskommission  von  1847 — 4^  befragte  Zeugen  ausgesagt. 
So  teilte  z.  B.  der  Bankier  Birbeck  mit,  dass  während  der 
Panik  seine  Bank  und  andere  ihm  bekannte  Bankhäuser  ihre  Re- 
serven um  75—100%  im  Vergleich  zu  den  in  ruhigen  Zeiten  ver- 
mehrt haben.  Diese  Reserven  bestanden  hauptsächlich  aus  Noten 
der  Bank  von  England  i). 

Der  Entwickelungsgang  der  Krisis  von  1847  ist  sehr  gut  von 
dem  Direktor  der  Bank  von  England  Morris,  der  eine  Aussage  vor 
der  genannten  Parlamentskommission  gemacht  hat,  dargestellt  worden: 
„Der  Zusammenbruch  der  Mehrzahl  der  Getreidespekulanten,  der  auf 
das  Fallen  der  Getreidepreise  folgte,  hat  die  Einstellung  der  Zahlungen 
seitens   eines   grossen    Bankhauses,   das   enge   Verbindungen   mit  der 


i)  First  Report  on  Commercial  Distress.  Minutes  of  Evidence.     Aussage  von   Bir- 
beck.    Q.  5771—5773- 


^  Ш 


—      из      — 

Provinz  hatte,  herbeigeführt.  Die  Einstellung  der  Zahlungen  dieser 
Firma  hat  einen  der  Hauptkanäle  der  Kreditcirkulation  zwischen  Lon- 
don und  der  Provinz  zerstört  und  eine  allgemeine  Beunruhigung  im 
Lande  hervorg*erufen.  Es  folgte  dann  der  Zusammenbruch  noch 
einiger  grosser  Getreidehandelsfirmen,  und  darauf  haben  nacheinander 
die  Zahlungen  eing"estellt :  die  Königliche  Bank  in  Liverpool,  die 
Liverpooler  Kreditgesellschaft,  die  Bank  von  Nord-  und  Südwales, 
einige  Bankhäuser  und  die  Newcastler  Bank,  auch  die  Nortumber- 
lander  und  Durhamer  Banken  kamen  durch  den  Ansturm  des  Publi- 
kums in  grosse  Gefahr.  Alle  diese  Unglücksfälle  haben  eine  Panik 
und  eine  fast  vollständig-e  Vernichtung  des  Kredits  zur  Folge  gehabt. 
Die  Londoner  Bankiers  waren  nicht  mehr  in  der  Lage,  ihren  Kunden, 
wie  gewöhnlich,  Kredit  zu  gewähren  und  diese  letzteren  mussten  sich 
an  die  Bank  von  England  um  Hilfe  wenden.  Alle  fingen  an,  ihre 
Reserven  zu  vermehren,  und  aus  diesem  Grunde  klagten  alle  über 
Mangel  an  Geld,  obwohl  sich  in  den  Händen  des  Puplikums  um  4 
oder  5  Millionen  Pfund  Sterling  mehr  Banknoten  und  Goldmünzen 
befanden  als  im  August.  Infolge  der  Zerstörung  des  Kredits  konnten 
die  Firmen,  die  einen  Handel  mit  dem  Auslande  führen  und  gewohnt 
waren,  ihre  Wechsel  nach  Ablauf  ihrer  Frist  zu  erneuern,  ihren  Ver- 

I   pflichtungen    nicht    nachkommen    und    mussten    ihre    Zahlungen    ein- 

I   stellen"!). 

Am   23.  September  erhöhte  die  Bank  von  England  den  Diskont 
für  Dreimonatwechsel  auf  6  ^Д,  und  am  i.  Oktober  erklärte  die  Direk- 

,    tion  der  Bank,   dass  sie  gegen   Verpfändung  von  Staatspapieren   und 

!   Consols  keinen  Kredit  mehr  gewähren  werde.     Aber  alle  diese  Mass- 

I  nahmen  haben  die  Panik  nicht  abgeschwächt,  sondern  nur  gestärkt 
und  konnten  daher  die  Verminderung  der  Bankreserve  nicht  authalten, 
obwohl  das  Geld  im  Oktober  schon  aus  dem  Auslande  nach  England 
wieder  zurückkehrte.  Nach  der  Aussage  von  Morris  kam  nach  der 
Erhöhung  des  Diskonts  eine  bedeutende  Summe  Goldes  aus  Russland, 
und  die  Empfänger  desselben  erklärten  Morris,  dass  sie  Gold  nur  aus 
dem  Grunde  einführten,  weil  der  hohe  Diskont  in  England  diese 
Operation    vorteilhaft    machte  '•^).      Dieses    Gold    war    kein    russisches 

II  Kapital,  sondern  es  gehörte  englischen  Kapitalisten,  die  es  für  vor- 
teilhaft gefunden  hatten,  es  im  Auslande  zu  halten. 

Trotzdem  nahm  die  Reserve  der  Bank  von  England  immer  ab, 
bis  sie  Ende  Oktober   unter  die  Summe  fiel,   die   die  Londoner  Ban- 


i)  First    Report    on    Commercial    Distress.       Minutes    of    Evidence.      Aussage    von 
Morris  and  Prescott.     Q.   2675. 
2)  A.  a.  O.     O.   2840. 
Tugaii- Buraiiowbky  ,  Die;  Handelskrisen.  У 


114     — 


kiers  in  der  Bank  von  England  als  Depositen  hatten.  Diese  Depo- 
siten konnten  jeden  Augenblick  von  den  Eigentümern  zurückgefordert 
werden,  und  die  Bank  von  England  lief  Gefahr,  zahlungsunfähig  zu 
werden,  obwohl  ihr  Barvorrat  mehr  als  8  Millionen  Pfund  Sterling 
betrug.  Die  Panik  erreichte  ihren  Höhepunkt.  Der  Regierung  wurden 
von  allen  Seiten  Petitionen  eingereicht  um  Suspendierung  des  Ge- 
setzes von  1844,  das  der  Bank  von  England  das  Recht  genommen 
hatte,  über  ihre  ganze  Kasse  zu  verfügen. 

Am  23.  Oktober  empfahl  die  Regierung  der  Direktion  der  Bank, 
sich  in  ihren  Operationen  nicht  mehr  an  die  betreffenden  Bestimmungen 
des  Gesetzes  zu  halten,  den  Diskont  aber  auf  8  7o  ^^^  erhöhen.  Die 
Panik  hörte  sofort  auf,  da  das  Publikum  die  Sicherheit  erlangte,  dass 
man  im  äussersten  Ealle  immer  bei  der  Bank  von  England  Hülfe 
finden  konnte.  Nach  der  Aussage  des  Bankiers  Pease  war  es  einige 
Tage  vor  der  Veröffentlichung  des  Regierungserlasses  vom  23.  Oktober 
ganz  unmögHch,  die  sichersten  Wechsel  zu  diskontieren,  so  sehr  fürch- 
teten alle  ihre  Reserven  zu  vermindern  i).  Die  Note  der  Regierung 
hat  das  Vertrauen  wieder  hergestellt  und,  was  besonders  bemerkens- 
wert ist,  die  Wiederherstellung  des  Vertrauens  beruhte  auf  einem  rein 
psychologischen  Moment:  thatsächlich  kam  die  Bank  von  England 
gar  nicht  dazu,  das  ihr  gegebene  Recht  auszuüben,  die  Ausgabe 
ihrer  Noten  über  die  gesetzlich  bestimmte  Norm  zu  erweitern.  Die 
Darlehen  an  Privatpersonen  vermehrten  sich  sehr  unbedeutend  und 
die  Summe  der  von  der  Bank  verausgabten  Noten  überschritt  die 
vom  Gesetz  festgesetzte  Norm  nicht. 

Wie  man  aus  der  oben  angeführten  Tabelle  des  Contos  der 
Bank  von  England  ersieht,  vollzog  sich  die  Liquidation  der  Krisis 
von  1847  viel  schneller  als  in  den  analogen  vorangegangenen  Epochen. 
Schon  zu  Beginn  des  Dezembers  desselben  Jahres  stieg  die  Reserve 
der  Bank  von  England  auf  über  5  MilHonen  Pfund  Sterling  und  der 
Barvorrat  auf   1 1   Millionen  Pfund  Sterling. 

Unter  dem  Einfluss  der  Krise  von  1847  hat  sich  die  Zahl  der 
Bankerotte  in  England  und  Wales  im  Vergleich  zum  vorangegan- 
genen Jahre  um  24  ^o  vermehrt;  es  ist  das  eine  unbedeutende  Ver- 
mehrung, aber  im  Vergleich  zum  Jahre  1845  haben  im  Jahre  1847 
um  65  7o  m^hr  Bankerotte  stattgefunden.  Die  meisten  Bankerotte 
fanden  im  November  statt,  als  die  Panik  auf  dem  Geldmarkte  schon 
vorübergegangen  war. 


i)  Plrst  Report  on  Commercial  Distress.    Minutss  of  Evidence.    Aussage  von  Pease. 
Q.  4619. 


Л 


I  I 


Die  Krise  von  1847  ^^^^  ^^^  den  Preis  der  Eisenbahnaktien 
einen  starken  Einfluss  ausgeübt.  Bis  Anfang  1850  fielen  die  Kurse 
der  Aktien.  Die  Einnahmen  der  neu  erbauten  Eisenbahnen  konnten 
infolge  der  allgemeinen  Geschäftsstockung,  die  zu  einer  Einschränkung 
des  Personenverkehrs  und  des  Warentransportes  auf  den  Eisenbahnen 
führte,  ohnehin  nicht  gross  sein;  die  Geldklemme  hat  zum  Fallen  der 
Kurse  der  Aktien  noch  mehr  beigetragen.  Die  folgende  Tabelle 
zeigt  den  Umfang  der  Verluste  der  englischen  Kapitalisten  bei  den 
Eisenbahnunternehmungen  in  den  40er  Jahren  ^). 


Dezember 
1845 


Dezember 
1849 


Kapital,  das  im  Eisenbahnbau    des  Vereinigten    Königreichs 

angelegt  war  (in  Millionen  Pfund) 

Börsenpreis  desselben  (in  Millionen  Pfund) 

Reingewinn  bezw.  Verlust  der  Aktienbesitzer    (in  Millionen 


Pfund) 


100 
160 

+  60 


230 
1,10 

120 


Im  Jahre  1845  haben  alle  Personen,  die  ihre  Kapitalien  in  Eisen- 
bahnunternehmungen angelegt  hatten,  60  Millionen  Pfund  gewonnen; 
das  hat  einen  Zufluss  von  weiteren  130  Millionen  Pfund  zu  den  Eisen- 
bahnunternehmungen hervorgerufen  —  und  als  Endresultat  hat  sich  ein 
reiner  Verlust  von  120  Millionen  Pfund  Sterling  ergeben,  die  Ge- 
samtsumme des  Verlustes  betrug   aber   180  Millionen  Pfund  Sterling. 

Die  Warenpreise  haben  sich  (ausser  denen  des  Getreides)  im 
Jahre  1847  wenig  verändert.  Aber  im  folgenden  Jahre  ist  schon  ein 
allgemeiner  Preisfall  zu  bemerken.  Im  Vergleich  zum  JuH  1847  waren 
Juli   1848  gesunken  die  Preise  von 

Rohbaumwolle  (Georgia)        .     .      .  um  37  ^/^ 

Zucker  (MuscaA'ados) ,,       7 

Holz  (aus  Danzig) y,     ^7 

Eisen  (britisches) »31 

Kupfer  (britisches)        ,,     10-) 

Die  Krise  von  1847  wirkte  am  schwersten  zurück  auf  die  Baum- 
wollindustrie und  auf  viele  Zweige  der  Montanindustrie,  insbesondere 
auf  die  Eisen-  und  Steinkohlenindustrie. 

Es  ist  interessant,  dass,  obwohl  die  unmittelbare  Ursache  der 
Krisis  die  Missernte  bildete,  durch  Zeugenaussagen  vollauf  die  That- 
sache    festgestellt    worden    ist,    dass    die    landwirtschaftlichen    Bezirke 


i)  Tooke,  History  of  Prices.     V,  372. 

2)  Berechnet    nach    den   Tabellen  Tookes    in  History  of  Prices.     Vol.  IV  und  VI. 


—    II6    — 

Englands  und  Schottlands  von  der  Krise  unberührt  geblieben  sind; 
diese  richtete  ihre  grössten  Verheerungen  im  Lancashire  und  Staf- 
fordshire  an  ^). 

Die  Krise  von  1847  unterscheidet  sich  in  vielen  Beziehungen 
wesentlich  von  den  vorangegangenen  Krisen  der  Jahre  1825  und  1836. 
Beide  letztere  Krisen  waren  durch  eine  rasche  Erweiterung  des 
Exporthandels  Grossbritanniens  und  darauffolgende  Abnahme  der 
Ausfuhr  hervorgerufen  worden.  In  den  Jahren  1825  und  1836 
wanderte  das  britische  Kapital  nach  dem  Auslande  und  hatte 
dadurch  im  Auslande  eine  neue  Nachfrage  nach  britischen  Waren 
geschaffen.  Im  Jahre  1847  blieb  das  britische  Kapital  im  Lande  und 
wendete  sich  Eisenbahn  Unternehmungen  zu,  trotzdem  aber  sank  die 
zuerst  stark  in  die  Höhe  gegangene  Nachfrage  nach  Waren  auf  dem 
inneren  Markte,  weil  die  günstige  Wirkung  der  Ausgaben  für  die 
EisentDahnunternehmungen  durch  zwei  nachfolgende  Missernten,  die 
eine  gesteigerte  Einfuhr  von  Getreide  notwendig  machten  und  dessen 
Preis  ausserordentlich  erhöhten,  durchgekreuzt  worden  war.  Im  Jahre 
1847  sind  in  England  auf  den  Bau  von  Eisenbahnen  40  Millionen 
Pfund  Sterling  aufgewandt  worden,  was  den  inneren  Handel  sehr  be- 
leben musste,  gleichzeitig  war  aber  für  den  inländischen  Konsum  Ge- 
treide im  Werte  von  beinahe  30  Millionen  Pfund  eingeführt  worden, 
und  ausserdem  war  noch  für  den  Ankauf  von  Baumwolle,  die  auch 
durch  die  Missernte  gelitten  hatte  und  im  Preise  gestiegen  war,  ein 
Mehr  von  einigen  Millionen  Pfund  verausgabt  worden.  So  kam  es, 
dass  der  innere  Markt  Englands  im  Jahre  1847  nicht  nur  keine  Aus- 
dehnung, sondern  vielmehr  eine  Einengung  erfahren  hat.  Die  Lage 
des  auswärtigen  Marktes  wurde  auch  keine  günstige  infolge  der- 
selben Ursache,  der  Missernte. 

Die  Krise  von  1847  ist  also  nicht  durch  ein  übermässiges 
Warenangebot  hervorgerufen  worden,  sondern  durch  eine  plötzliche 
Abnahme  der  Nachfrage,  die  auf  die  Erweiterung  der  Produktion 
und  den  industriellen  Aufschwung  der  vorangegangenen  Jahre  folgte. 
Daher  waren  auch  die  äusseren  Symptome  der  Krise  von  1847  ganz 
andere  als  die  der  früheren:  in  den  Jahren  1836  und  1825  war  der 
Krise  eine  lebhafte  Spekulation  auf  dem  Warenmarkte  vorangegangen, 
die  die  Preise  der  meisten  Waren,  insbesondere  die  Preise  der  Kolonial- 
produkte, welche  den  Hauptgegenstand  des  Zwischenhandels  Englands 
mit   Europa   bilden,  .  in    die    Höhe    getrieben    hatte.      Im   Jahre    1847 


i)  Vergl.  First  Report  on  Com.  Distress,  Aussagen  von  Gurney,   Q.    1710 — 1712, 
Cotton,   Q.  445,  Second  Report,  Aussage  von  Macfarhin,   Q.   7648. 


—      117     — 

stiegen  die  Preise  der  Mehrzahl  der  Waren  gar  nicht,  nur  der  Preis 
des  Getreides  stieg  schnell,  um  darauf  ebenso  schnell  wieder  zu  fallen. 
In  den  Jahren  1825  und  1836  war  die  Krisis  ganz  unerwartet  ein- 
getreten. Der  aussergewöhnliche  Aufschwung  des  englischen  Handels 
und  der  Industrie  während  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  war  Ende 
Jahres  einem  plötzlichen  Zusammenbruch  des  Kredits  und  der  Ge- 
schäftsstockung gewichen.  Im  Jahre  1847  bereitete  sich  die  Krisis 
ganz  allmählich  vor,  eine  Einschränkung  der  Produktion  und  eine 
Handelsstockung  ging  ihr  bereits  voran.  In  den  Jahren  1825  und 
1836  hatte  sich  der  Barvorrat  der  Bank  von  England  ununterbrochen 
während  des  ganzen  Jahres  verringert;  im  Jahre  1847  hingegen  haben 
zwei  Geldkrisen  stattgefunden  —  die  eine  im  April,  auf  die  eine  Ver- 
mehrung des  Metallvorrats  der  Bank  von  England  gefolgt  war,  und 
die  andere  im  Oktober. 

Als  eine  der  wichtigsten  Ursachen  der  Krisis  von  1847  wird 
fast  allgemein  die  Immobilisierung  des  englischen  Kapitals  infolge 
Eisenbahnbauten  anerkannt.  Eine  solche  Auffassung  wurde  z.  B.  in 
einer  ganzen  Reihe  sehr  geistreicher  Artikel  im  „Economist"  ver- 
treten (diese  Artikel,  deren  Verfasser  der  Herausgeber  dieser  einfluss- 
reichen Zeitschrift,  James  Wilson,  war,  sind  auch  in  einer  Separat- 
ausgabe unter  dem  Titel  „Capital,  Currency  and  Banking"  erschienen). 
So  lesen  wir  z.  B.  im  „Economist"  vom  i.  Mai  1847  folgendes:  „Wir 
haben  einen  bedeutenden  Teil  unseres  Kapitals,  oder,  was  dasselbe 
ist,  uns  zur  Verfügung  stehender  nützlicher  Dinge  auf  den  Eisenbahn- 
bau verwendet.  Dieses  Kapital  erzeugt  keine  neuen  Produkte  oder 
irgend  etwas  anderes,  was  wir  gegen  die  Waren,  welcher  wir  bedürfen, 
umtauschen   könnten.      Dieser    Umstand   musste  unsere   Ausfuhr  not- 

t  wendigerweise  herabsetzen,  während  unsere  Konsumtion  zugenommen 
hat  und  die   Einfuhr   der  ausländischen  Waren  sich  vermehrte.      Der 

■  Notstand,  an  dem  wir  kranken,  hängt  vom  Mangel  an  Kapital,  vom 

•  Mangel  an   Waren   ab;    diesen   Notstand  zu  vermeiden  ist  nur  durch 

•  eine  Steigerung  der  Ersparnisse  und  der  Arbeitsproduktivität  möglich". 
Die  Auffassung  von  Wilson  wurde  von  den  meisten  Schriftstellern 
jener  Zeit  geteilt,  die  über  die  Krisis  von  1847  schrieben,  —  so  z.  B. 

'  von  dem  berühmten  Samuel  Jones  Loyd  (Lord  О  verstone),  dem  geistlichen 
'  Vater  der  Peelschen  Bankakte,  dem  hervorragenden  Vertreter  der  so- 
genannten Currency  theory  Robert  Torrens  —  ebenso  wie  von  dem 
entschiedensten  Gegner  dieser  Theorie  Thomas  Tooke.  In  demselben 
'  Sinne  haben  sich  auch  viele  der  von  der  Parlamentskommission  der 
Jahre  1847 — 48  verhörten  Zeugen  ausgesprochen  —  darunter  die  Di- 
rektoren der  Bank  von  England   Morris    und   Prescott,   die  Bankiers 


—      1 1 8     — 

Hodgson,  Loyd  und  andere.  Nach  der  Aussage  von  Tooke  haben 
die  Eisenbahnbauten  eine  ungünstige  Wirkung  auf  die  gesamte 
Volkswirtschaft  ausgeübt,  infolge  der  Verwandlung  eines  grossen 
Teiles  des  umlaufenden  Kapitals  in  stehendes  und  Verringerung  des 
in  der  Industrie  und  im  Handel  angewandten  Kapitals  ^).  Die 
Zurückführung  der  Krisis  von  1847  ^^^  ^i^  Immobilisierung  des  eng- 
lischen Kapitals  infolge  Eisenbahnbauten  finden  wir  auch  bei  den 
meisten  neueren  Krisenhistorikern  (so  z.  B.  bei  Max  Wirth,  Juglar, 
Leone  Levi,  Hyndman  u.  a.).  Dennoch  können  wir  trotz  dieses  über- 
einstimmenden Urteils  der  Praktiker  und  der  Männer  der  Wissen- 
schaft über  die  Ursachen  der  genannten  Krisis,  dasselbe  in  obiger 
Fassung  nicht  anders  als  für  irreführend  erklären.  Sehr  cha- 
rakteristisch ist  es,  dass,  während  die  Theoretiker  und  die  Bankiers 
den  Mangel  an  Kapital  in  Handel  und  Industrie  behaupteten,  die 
Industriellen  und  Händler  selbst  einen  solchen  entschieden  vor  der 
Kommission  von  1847 — 4^  abgeleugnet  haben  (Vrgl.  die  Aussagen 
der  Fabrikanten  und  Händler  Salt,  Münz,  Terner  u.  a.).  Nach  unserer 
oben  entwickelten  Auffassung  haben  die  Eisenbahnbauten  nicht  nur 
keine  Einschränkung  der  nationalen  Produktion  Englands,  keine  Л^ег- 
ringerung  der  in  England  erzeugten  Produkte  verursacht,  sondern, 
umgekehrt,  die  englische  Industrie  im  hohen  Grade  gefördert.  In  dem 
angeführten  Citat  aus  dem  „Economist"  wird  die  Abnahme  der  Aus- 
fuhr der  britischen  Produkte  in  den  Jahren  1846  und  1847  (übrigens, 
eine  sehr  unbedeutende)  der  Verminderung  des  in  der  Produktion 
verwendeten  Kapitals  zugeschrieben.  Wäre  es  aber  richtig,  dass  die 
Einschränkung  der  engUschen  Produktion  durch  den  Kapitalmangel 
hervorgerufen  wurde  (und  nicht  durch  den  Mangel  an  Nachfrage), 
so  müssten  die  Preise  der  englischen  Fabrikate  hoch  stehen.  Gerade 
das  Gegenteil  war  jedoch  der  Fall  —  die  Preise  der  baumwollenen 
Gewebe  konnten  —  wie  wir  es  oben  gesehen  haben  —  selbst  der 
Erhöhung  der  Preise  des  Rohstoffes  nicht  folgen.  Also,  nicht  Mangel 
an  Kapital,  sondern  Mangel  an  Nachfrage  (wegen  der  Missernte)  ist  ]У 
die  unmittelbare  Ursache  der  Krisis  von    1847   gewesen. 

Auf  die  Eisenbahnbauten  wurden  dieselben  Kapitalien,  die  früher 
aus  England  nach  dem  Ausland  abflössen,  verwendet.  Allerdings  kann 
man  Wilson  beistimmen,  wenn  er  sagt,  dass  der  grösste  Teil  der 
jährlichen  Ersparnisse  Englands,  welche,  nach  seiner  Schätzung,  die 
bedeutende   Summe    von    60    Millionen    Pfund  erreichten,  kein  freies, 


i)  First   Report   on   Commercial  Distress.     Minutes  of  Evidence.     Aussage  von  Th. 
Tooke.     Q.   5306. 


119     — 

disponibles  Kapital  bildete  und  seiner  gewöhnlicher  Verwendung 
nicht  entzogen  werden  könnte.  „Der  grösste  Teil  unserer  Erspar- 
nisse —  führt  Wilson  in  seiner  oben  citierten  Schrift  aus  —  wird 
durch  die  Erweiterung  und  Vervollkommnung  der  zahlreichen  Zweige 
unserer  Industrie  absorbiert  und  ist  für  die  Auf r echthalt ung  unseres 
sich  rasch  ausdehnenden  Handels  durchaus  notwendig.  Die  Kapita- 
lien werden  hauptsächlich  durch  die  industriellen  und  handeltreibenden 
Gesellschaftsklassen  akkumuliert.  Bei  rascher  Bevölkerungszunahme 
und  ebenso  schneller  Entwicklung  des  Handels  und  der  Industrie 
unseres  Landes  bedürfen  die  Unternehmer,  als  Regel,  für  die  Er- 
w^eiterung  ihrer  eigenen  Geschäfte  alle  ihre  Ersparnisse;  und  es  steht 
ausser  Zweifel,  dass  in  der  neuesten  Zeit,  bei  einem  so  belebten  Han- 
del und  so  enorm  angewachsenen  Bergbau,  Fabrikindustrie  und 
Schiffahrt,  das  Bedürfnis  nach  dem  Kapital  viel  grösser  als  je  früher 
sein  muss"i).  Daraus  zieht  Wilson  die  Schlussfolgerung,  dass  die 
auf  den  Eisenbahnbau  verwendeten  Kapitalien  kein  freies,  disponibles 
Kapital  bildeten,  sondern  der  Industrie  und  dem  Handel  entzogen 
wurden,  was  ohne  Einschränkung  der  nationalen  Produktion  Englands 
unmöglich  war. 

Diese  Schlussfolgerung  durfte  als  unbestreitbar  gelten,  solange 
die  Lehre  der  klassischen  Nationalökonomie,  dass  die  Produktion 
durch  die  Menge  des  Kapitals  beschränkt  wird,  richtig  wäre.  Doch 
ist  diese  Lehre,  in  ihrer  absoluter  Form,  unhaltbar.  Wilson 
(wie  J.  S.  Mill  und  andere  Vertreter  dieser  Lehre)  lässt  einen  höchst 
wichtigen  Umstand  ausser  acht:  nämlich,  dass  dieselbe  Menge  der 
Produktionsmittel  —  des  Kapitals  —  eine  sehr  verschiedene  Pro- 
duktenmasse schaffen  mag,  je  nach  der  Dauer  der  Umschlagszeit  des 
Kapitals  und  dem  Grade,  in  welchem  die  Produktionsmittel  eine  pro- 
duktive Verwendung  finden.  Das  brach  liegende  Kapital  —  ebenso 
wie  Maschinen,  Werkzeuge,  Rohstoffe,  während  sie  in  den  Waren- 
lagern auf  die  Käufer  w^arten,  erzeugen  keine  Produkte.  Jede  Be- 
schleunigung der  Warencirkulation  muss  auf  die  wStufenleiter  der  ge- 
sellschaftlichen Produktion  gerade  dieselbe  Wirkung  ausüben  wie 
die  Vermehrung  des  gesellschaftlichen  Kapitals.  Bei  gegebener 
Grösse  des  vorgeschossenen  Kapitals  wächst  die  Stufenleiter  der  Pro- 
duktion im  umgekehrten  Verhältnis  zur  Umschlagsperiode  des  Ka- 
pitals 2).  Darum  ist  die  gesellschaftliche  Produktion  auch  bei  gleich- 
bleibender Grösse  des  gesellschaftlichen  Kapitals  einer  raschen  Aus- 
dehnung fähig.     Und  das  ist  eben,  .was  die  Geschichte  der  englischen 

1)  Wilson,  Capital,  Currency  and  Banking,  S.    ii. 

2)  Vergl.  Marx,  Das  Kapital,  II.  Band,   2.  Abschnitt.    Der  Umschlag  des  Kapitals. 


I  20 


Industrie  mehrmals  erwiesen  hat:  jede  Steigerung  der  Nachfrage  ruft 
sofort  ein  entsprechendes  oder  meistens  ein  stärkeres  Wachstum  der 
Produktion  hervor  —  obwohl  das  gesellschaftliche  Kapital  dasselbe 
bleibt.  Nicht  Mangel  an  Kapital,  sondern  Ueberschuss  an  Kapital 
ist  die  eigentümliche  Krankheit  der  englischen  Industrie. 

Dasselbe  gilt  auch  für  die  Periode  der  Eisenbahnspekulationen 
der  40er  Jahre.  Mangel  an  freiem,  disponiblem  Kapital  kann  nicht 
ohne  Einwirkung  auf  den  Geldmarkt  bleiben  —  in  der  Höhe  des  Dis- 
konts muss  dieser  Mangel  zum  Ausdruck  kommen.  Der  Zustand  des 
englischen  Geldmarktes  aber  während  der  ganzen  Periode  des  Auf- 
schwungs und  der  Eisenbahnspekulationen  der  40er  Jahre  beweist 
nicht  nur  keinen  Kapitalmangel,  sondern  einen  Ueberschuss  des 
freien  Anlage  suchenden  Kapitals:  der  Diskontsatz  ist  während  dieser 
Zeit  ungewöhnlich  niedrig  geblieben.  Das  beweist,  dass  trotz  der 
enormen  Verwendung  des  englischen  Kapitals  auf  die  Eisenbahn- 
bauten der  englische  Handel  und  die  Industrie  keinesfalls  an  Man- 
gel an  umlaufendem  Kapital  leiden  konnte. 

Die  Bestimmung  des  Charakters  des  Einflusses,  welchen  die 
Eisenbahnbauten  auf  die  Krisis  von  1847  ausgeübt  hatten,  hat  ein 
grosses  theoretisches  Interesse,  da  bis  jetzt  viele  Krisentheoretiker  die 
Krisen  von  der  Immobilisierung  des  gesellschaftlichen  Kapitals  ab- 
leiten. Und  zwar  enthält  diese  Lehre  in  sich  einen  Kern  der  Wahr- 
heit —  aber  der  Zusammenhang  zwischen  der  Verwandlung  des 
flüssigen  Kapitals  in  stehendes  und  den  Krisen  ist  ein  anderer 
als  der  von  den  genannten  Autoren  angenommene.  Diesen  Zusam- 
menhang aufzudecken  und  zu  erklären  bildet  die  Aufgabe  eines  der 
folgenden  Kapitel  dieser  Schrift. 


in 


KAPITEL  IV. 

Die  Krisen  der  50er  und  60er  Jahre. 


Der  Charakter  der  Schwankungen  der  englischen  Industrie  in  dieser  Zeit.  —  Die 
Krisis  von  1857.  —  Ihr  Weltcharakter.  —  Der  Abfluss  des  europäischen  Kapitals  nach 
den  Vereinigten  Staaten.  —  Die  Land-  und  Eisenbahnspekulationen.  —  Das  Sinken  der 
Getreidepreise  und  die  Bankerotte.  —  Die  Rolle  des  englischen  Kapitals  in  den  amerikanischen 
Spekulationen.  —  Die  Krisis  in  England.  —  Der  gleichzeitige  Goldabfluss  nach  dem  Innern 
des  Landes  und  nach  dem  Auslande.  —  Die  Suspendierung  der  Pe eischen  Akte.  —  Die 
Geldkrisis  von  1864.  —  Der  Metallabfluss  nach  dem  Orient.  —  Die  DiskontpoHtik  der 
Bank  von  England.  --  Die  Kreditkrisis  von  1866.  —  Der  Einfluss  des  „Baumwoll- 
hungers" auf  den  allgemeinen  Zustand  der  englischen  Industrie.  —  Der  Gründungsschwindel. 

—  Der  Zusammenbruch  der  Firma  Overend  &  Co.  —  Die  Panilc.  —  Die  dritte  Suspen- 
dierung der  Peelschen  Akte.  —  Vergleichung  der  Krisis  von  1866  mit  den  anderen  Krisen. 

—  AVarum  finden  die  Handelskrisen  gewöhnlich  im  Herbste  statt? 

Die  Aufhebung  der  Korngesetze  und  der  Uebergang  Englands 
zum  Freihandel  sollten,  nach  der  Meinung  vieler  englischen  Frei- 
händler der  30er  und  4G^er  Jahre,  frühere  gewaltige  Schwankungen 
der  englischen  Industrie  unmöglich  machen.  Aber  wie  die  Bank- 
1  reform  von  Robert  Peel  sich  als  ein  höchst  unglückliches  Heilmittel 
für  die  eigentümliche  Krankheit  der  kapitalistischen  Produktionsweise 

—  die  Handelskrisen  —  erwies,  ebensowenig  vermochte  der  Frei- 
handel Krisen  vorzubeugen.  Die  unten  folgende  Tabelle  und  das  bei- 
gefügte Diagramm  Nr.  2,  zeigen  die  jährlichen  Veränderungen  der 
englischen  Industrie  und  des  Handels  in  den  Jahren   1851 — 70  an. 

Wir  sehen  auf  dem  Diagramm,  dass  die  Kurve  des  Exportes 
mit  nur  geringen  vSchwankungen  stark  in  die  Höhe  geht.  Dieser 
Schwankungen  können  wir  vier  bemerken:  die  Ausfuhr  sinkt  in  den 
Jahren  1854—55  (Krisis  in  AustraUen),  1858  (Handelskrisis  in  England), 
1861 — 62  (Baumwollhunger)  und  1867—68  (Geschäftsstockung  nach 
der  Kreditkrisis  von    1866). 


122 


Wert  der  Ausfuhr 

Zahl  der  im  Ver- 
einigt. Königreich 
gegründeten  Ak- 
tiengesellschaften ^ ) 

Durchschnitts- 

Barvorrat der  Bank 

Jahre 

der  Produkte  des 
Vereinigten  König- 
reichs (in  MilHonen 
Pfund)  *) 

preise  des   schotti- 
schen Roheisens 
(für  eine  Tonne  in 
Schillingen)  ^) 

von  England  Ende 

Oktober  jeden 
Jahres  (in  Milli- 
onen Pfund)'"') 

1851 

74 

— 

40 

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1852 

78 

— 

45 

21,2 

1853 

99 

— 

62 

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1854 

97 

— 

80 

13,6 

1855 

96 

— 

71 

11,3 

1856 

116 

— 

73 

9,6 

1857 

122 

— 

69 

8,7 

1858 

117 

— 

54 

19,1 

1859 

130 

— 

52 

16,9 

1860 

136 

— 

54 

14,1 

1861 

^25 

— 

49 

14,2 

1862 

124 

— 

53 

15,5 

1863 

147 

790 

56 

44 

1864 

160 

997 

57 

13,1 

1865 

166 

1034 

55 

13,2 

1866 

189 

762 

61 

16,7 

1867 

181 

479 

54 

22,7 

1868 

179 

461 

53 

19,8 

1869 

iqo 

475 

53 

18,8 

1870 

200                            595 

54 

22,0 

Im  Durchschnitt 

136 

699 

57 

15.8 

Die  Kurve  der  Gründung  von  Aktiengesellschaften  steigt  stark 
in  den  Jahren  1863 — 65,  sie  sinkt  im  Jahre  1866,  fällt  am  tiefsten  im 
Jahre   1868,  fängt  dann  aber  wieder  zu  steigen  an. 

Die  Kurve  der  Eisenpreise  steigt  zuerst  rasch,  um  darauf  zu 
fallen;  das  stärkste  Sinken  entfällt  auf  das  Jahr  1858,  schwächere  Sen- 
kungen  finden    statt   in   den  Jahren    1855,   1861,   1865   und   1867 — 68. 

Gehen  wir  jetzt  zu  der  letzten  Kurve  über  —  der  des  Bar- 
vorrats der  Bank  von  England.  Diese  Kurve  weist  auf  den  Zustand 
des  Kredites  hin.  Vom  Jahre  1852  an  sinkt  sie  ununterbrochen  bis  zum 
Jahre  1857,  wo  der  Vorrat  an  Edelmetallen  in  der  Kasse  der  Bank 
am  tiefsten  fällt.  Daraus  können  wir  schliessen,  dass  bis  zu  diesem 
Jahre  der  eng-lische  Kredit  immer  weiter  ausgedehnt  wurde.  Im  Jahre 
1858  vermehrt  sich  der  Barvorrat  der  Bank  plötzHch  auf  mehr  als 
das  Doppelte,  das  beweist,  dass  im  Jahre  1858  eine  plötzliche  Einschrän- 
kung des  Kredites  stattgefunden  hat  —  also  eine  Handelskrisis.      In 


i)  Nach  den  Statistical  Abstracts  for  the  United  Kingdom. 

2)  Nach  den  Tabellen  von  Sauerbeck  (Augustus  Sauerbeck,   On  Prices  of  Commodi- 
ties  and  the  Precious  Metals,  Journal  of  Statistical  Society  of  London,    1866  Sept.). 

3)  Bis    1857    nach   dem    Report   from    the   Select    Committee    on   Bank   Acts.    1857. 
App.  N0.    13;  nach    1857   nach  Returns  of  the  Bank  of  England.    1873. 


Tugan-Baranowsky,  Die  Handelskrisen. 


Zur    S.     12  2. 


Diagramm  No.  2 


Jahre 


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Jahre 


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X 


~    123    -- 

den  Jahren  1861  — 1862  hat  die  englische  Ausfuhr  wieder  eine  Ein- 
schränkung- erfahren  und  zwar  eine  stärkere  als  im  Jahre  1858.  Der 
Barv4^rrat  der  Bank  von  England  ist  aber  im  Jahre  1861  fast  gar  nicht 
und  in  den  Jahren  1862  nur  unbedeutend  gestiegen;  also,  wenn  der  Kredit 
im  Jahre  1862  auch  eine  Einschränkung  erfahren  hat,  so  doch  eine  sehr 
geringe.  In  den  Jahren  1863 — 64  bemerken  wir  ein  Fallen  des  Bar- 
vorrats. Da  auf  eine  Handelskrisis  immer  eine  Vermehrung,  nicht 
aber  eine  Verminderung  der  Kasse  der  Bank  folgt,  so  müssen 
wir  schliessen,  dass  es  in  den  Jahren  1861 — 62  keine  Handels- 
krisis gegeben  hat.  Und  in  der  That  war  der  gedrückte  Zu- 
stand der  englischen  Industrie  in  den  Jahren  1861 — 62  durch  eine 
ganz  zufbillige  Ursache  —  den  Bürgerkrieg  der  nordamerikanischen 
Staaten  —  bedingt.  Die  englische  Ausfuhr  nach  den  Vereinigten 
wStaaten  betrug  im  Jahre  1860  22,9  Millionen  Pfund,  im  folgenden  Jahre 
aber  sank  sie  auf  11,0  Millionen  Pf.  herab;  infolge  dessen  sank  auch 
die  Gesamtsumme  der  englischen  Ausfuhr. 

Im  Jahre  1867  steigt  der  Barvorrat  der  Bank  von  England  stark 
und  steht  einige  Jahre  hindurch  höher  als  Ende  der  50er  Jahre. 
Das  deutet  auf  eine  noch  stärkere  Einschränkung  des  Kredites  hin 
als  nach  der  Krisis  von  1857.  Ein  niedriger  Metall  Vorrat,  niedrige 
Preise,  eine  Stockung  der  Industrie,  kurz  alle  Eolgen  einer  Handels- 
krisis sind  in  den  Jahren  1867  und  1868  zu  beobachten.  Aber  zu- 
gleich sieht  man  im  Jahre  1866  nicht  nur  kein  Fallen  des  Barvorrats  der 
Bank  von  England  (ein  solches  Fallen  geht  immer  einer  Handelskrisis 
voran),  sondern,  umgekehrt,  eine  Steigerung  der  Kasse.  Also,  лvenn 
im  Jahre  1866  auch  eine  Krisis  stattgefunden  hat,  so  hatte  diese  Krisis 
einen  ganz  eigentümlichen  Charakter  gehabt;  ihr  Entwickelungsgang 
ist  ein  anderer  gewesen  als  der  der  vorangegangenen  Krisen.  Und 
in  der  That  unterschied  sich  die  Krise  von  1866  in  vielen  Be- 
ziehungen von  allen  anderen  Krisen.  Das  Sinken  des  Barvorrats  und 
die  Panik  auf  dem  Geldmarkte  haben  im  Jahre  1866  nicht  im  Herbste, 
wie  das  gewöhnlich  bei  den  Krisen  der  Fall  ist,  sondern  im  Frühling 
stattgefunden;  im  Oktober  war  die  Kasse  der  Bank  von  England 
bereits  wieder  mit  Gold  gefüllt,  und  daher  ist  das  Jahr  1866  in  un- 
serer Tabelle  ein  Jahr  des  Steigens  und  nicht  des  Sinkens  des 
Kassenbestandes  der  Bank  von  England,  obwohl  im  Mai  1866  in  der 
Kasse  der  Bank  nicht  mehr  als  8  Millionen  Pfund  Metall  geblieben 
waren. 

Nunmehr  wenden  wir  uns  zu  einer  ausführlichen  Betrachtung 
der  Krisen  dieser  Epoche. 


—        124 


Die  Krisis  von  1857. 

Oben  wurde  es  schon  auf  die  günstigen  Bedingungen  in  den 
50er  Jahren  für  die  Entwickelung  des  enghschen  Handels  und  der 
Industrie  hingewiesen.  Die  Entdeckung  der  Goldlager  in  Cahfor- 
nien  und  Australien  hat  für  die  enghschen  Fabrikanten  neue  ausge- 
zeichnete Märkte  geschaifen,  und  der  andauernde  Goldzufluss  nach 
England  aus  diesen  Ländern  hat  England  die  Möglichkeit  gegeben, 
den  Krimkrieg  ohne  Störung  seiner  Geldcirculation  zu  überstehen. 
Die  Beendigung  dieses  Krieges  im  Jahre  1856  hat  der  englischen  In- 
f^  jstrie,  die  sich  ohnedies  in  einem  blühenden  Zustand  befand,  einen 
neuen  Anstoss  gegeben. 

Die  Handelskrisis  von  1857  war  die  erste  Weltkrisis.  Die 
Krisen  des  zweiten  Viertels  des  Jahrhunderts  waren  vorwiegend  eng- 
lische und  amerikanische  Krisen  gewesen.  Es  ist  das  auch  begreif- 
lich: die  Handelskrisen  bilden  die  specifische  Krankheit  der  kapita- 
listischen Wirtschaftsordnung.  Bis  zum  Ende  der  40er  Jahre  war 
die  kapitalistische  Produktion  auf  dem  europäischen  Kontinente  noch 
sehr  wenig  entwickelt.  Erst  die  Revolution  von  1848  zeigte  für 
Europa  die  neue  kapitalistische  Aera  an.  Und  daher  beginnen  die 
kontinentalen  europäischen  Staaten  erst  nach  den  vierziger  Jahren  in 
höherem  oder  geringerem  Maasse,  je  nach  der  Reife  der  kapitali- 
stischen Produktionsweise  in  jedem  einzelnen  Staat,  von  der  Flut 
und  Ebbe  des  Kapitalismus  getroffen  zu  werden.  Die  kapitalistische 
Industrie  ist  seit  den  50er  Jahren  fast  überall  in  eine  rasche  auf- 
steigende Entwickelung  geraten.  Und  am  schnellsten  in  dem 
Lande,  das  mit  der  Unternehmungslust  der  Bevölkerung  uner- 
schöpfliche Naturreichtümer  vereinigt  —  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Nord-Amerika.  Die  Vereinigten  Staaten  dienen  für  Europa 
gewissermassen  als  eine  Zufluchtsort  sowohl  für  die  überschüssige 
Bevölkerung  wie  für  die  überschüssigen  Kapitalien.  In  den  30er 
Jahren  waren  nach  Amerika  hauptsächlich  englische  Kapitalien  aus- 
gewandert. Anfang  der  50er  Jahre  strömten  nach  Amerika  unter 
dem  Einfluss  der  politischen  Unruhen  Kapitalien  nicht  nur  aus  Eng- 
land, sondern  auch  aus  anderen  europäischen  Staaten.  Nach  einer 
Schätzung  von  A.  Seh  äff  le  waren  in  den  Jahren  1849 — 54  1000  Mil- 
lioner Gulden  wenigstens  in  amerikanische  Wertpapiere  übertragen  ^). 
Die   Auswanderung   der  europäischen  Kapitalien   nach  Amerika  hielt 


i)  A.  Schaf fle,  Gesammelte  Aufsätze.     Die  Handelskrisis  von   1857,  S.  58. 


—      125     — 

noch  an,  als  die  politische  Gärung  in  Europa  bereits  aufgehört  hatte, 
und  es  ist  bemerkenswert,  dass  selbst  die  Erhöhung  des  Diskonts  der 
Bank  von  England  auf  5  und  6%  und  eine  starke  Nachfrage  nach 
Kapitalien  in  England  selbst  den  Abfluss  englischer  Kapitalien  nach 
den  Vereinigten  Staaten  nicht  aufhalten  konnte  i).  Nach  dem  Bericht 
einer  Parlamentskommission  von  1858  besassen  die  englischen  Kapi- 
talisten Anfang  1857  für  80  Millionen  Pfund  amerikanische  Wert- 
papiere -). 

Der    Zufluss   der    europäischen  Kapitalien  nach  den  Vereinigten 

Staaten  war  zugleich  Folge  und  Ursache  des  aussergewöhnlichen 
Aufschwungs  der  amerikanischen  Industrie  in  den  50er  Jahren.  Aller- 
dings haben  dazu  auch  andere  Umstände  beigetragen.  So  ist  der 
Krimkrieg,  der  die  Getreideausfuhr  aus  Russland  unterbrach,  sehr  vor- 
teilhaft für  die  amerikanischen  Farmers  gewesen.  Die  Entdeckung 
der  Goldlager  in  Californien  hat  auch  eine  starke  Wirkung  in  der- 
selben Richtung  ausgeübt.  Kolossale  Kapitalien,  die  nach  Amerika 
aus  Europa  kamen,  traten  zunächst  in  die  Effektenbörse  und  flössen 
von  dort  aus  in  die  verschiedensten  Kanäle  der  amerikanischen  In- 
dustrie und  des  Handels.  Die  Aktiengesellschaften  schössen  in  den 
Vereinigten  Staaten  wie  Pilze  aus  dem  Erdboden.  Die  Spekulation 
warf  sich  vorzugsweise  auf  Werte,  die  das  stehende  Kapital  des 
Landes  vorstellten.  Der  Ankauf  der  Staatsländereien  wurde  sofort 
stark  betrieben.  In  den  Jahren  1852—53  wurden  in  den  Vereinigten 
Staaten  Staatsländern  für  1,7  Millionen  Dollar,  in  den  Jahren  1854 — 
56  aber  bereits  für  20,4  Millionen  Dollar  gekaufte). 

Den  Lieblingsgegenstand  der  Spekulation  bildeten  Eisenbahn- 
werte. Sehr  grosse  Kapitalien  wurden  für  den  Bau  von  Eisenbahnen 
verwendet.  Das  Eisenbahnnetz  der  Vereinigten  Staaten  erfuhr  1856 
eine  Erweiterung  um  4Y2  Tausend  Meilen.  Die  Ausdehnung  der 
projektierten  neuen  Linien  war  noch  grösser.  Und  zwar  wurden 
viele  Eisenbahnlinien,  ganz  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Rentabilität,  nur 
aus  Rücksichten  des  Börsenspieles  erbaut^). 

Das  Steigen  der  Warenpreise  auf  dem  amerikanischen  Markte 
führte  zu  einer  Erhöhung  der  Wareneinfuhr.     Im  Jahre   1857  hat  die 

i)  Report  from  the  Select  Committee  on  the  Bank  Act  of  1844.  1858.  Minutes 
of  Evidence.     Aussage  von  Hodgson,     Q.  3699 — 3703. 

2)  Report  from  the  Select  Committee  on  the  Bank  Act  of   1844,  S.  VIII. 

3)  A.  Schäffle,  Zur  Lehre  von  den  Handelskrisen  (Zeitschrift  für  die  gesamte 
Staatswissenschaft,    1858,  S.   443.) 

4)  Moritz  Mohl  weist  hin,  dass  die  Hauptursache  der  nordamerikanischen  Handels- 
krisis von  1857  in  den  Eisenbahnspekulaiionen  bestand.  Moritz  Mohl,  Ueber  Bank- 
manöver, Bankfrage  und  Krisis,  Stuttgart   1858,  S.    19. 


—        12б       

Einfuhr  von  Waren  (ausser  den  Edelmetallen)  nach  Amerika  um 
32  Millionen  Dollar,  während  die  Ausfuhr  viel  geringer,  nur  um 
12  Millionen,  zugenommen.  Dabei  entwickelte  sich  die  amerikanische 
Industrie  sehr  stark.  So  wurden  in  den  Jahren  1854 — 55  in  den 
nordamerikanischen  Fabriken  679  Tausend  Ballen  Baumwolle,  in  den 
Jahren  1856 — 57  aber  schon  819  Tausend  verarbeitet.  Diese  Ver- 
mehrung ist  umso  auffallender,  da  die  Preise  der  Baumwolle  wegen 
einer  schlechten  Ernte  stark  gestiegen  waren  (von  5^8  d.  pro  Pfund 
im  Jahre  1855  auf  7^8  d.  im  Jahre  1857)  und,  wie  wir  unten  sehen 
werden,  England  seine  Baumwolhndustrie  einzuschränken  genötigt 
war.  Aber  der  amerikanische  Warenmarkt  war  so  aufgeregt,  dass 
weder  die  gesteigerte  Einfuhr  der  ausländischen  Waren  noch  die 
hohen  Preise  der  Rohstoffe  die  Ausdehnung  der  einheimischen  Pro- 
duktion verhindern  konnte. 

Die  Zunahme  der  Warenm^isse  auf  dem  amerikanischen  Markte 
ging  mit  dem  Steigen  der  Warenpreise  zusammen.  Eine  solche 
Sachlage  wurde  nur  unter  der  Bedingung  einer  raschen  Ausdehnung 
des  Marktes  möglich.  Aber  wie  elastisch  der  amerikanische  Markt 
auch  sein  mochte,  die  immer  anwachsende  Masse  der  einheimischen 
und  ausländischen  Waren  konnte  er  schliesslich  nicht  absorbieren. 

A.  Schäffle  giebt  in  seiner  lehrreichen  Arbeit  über  die  Krisis 
von  1857  folgende  Uebersicht  des  Zustands  des  Warenmarktes  in 
New- York  in  den  Jahren   1855 — 57^). 

Einfuhr  New-Yorks. 


Import  in  den  ersten   10  Mo- 
naten  I.  Jan.  bis   31.   Okt. 


1855 
Mill.  Doli. 


1856 
Mill.  Doli. 


1857 
Mill.  Doli. 


Import  im  Monat  Oktober 


1855 
Mill.  Doli. 


1856 
Mill.  Doli. 


1857 
Mill.  Doli. 


Zam  Konsum  verzollt 
Dagegen   auf  Transito- 
lager  genommen 


96,8 
21,6 


138,8 
31,3 


117,3 
64,2 


12,1 
2,4 


9,9 
2,8 


2,8 
7,4 


Mit  jedem  Jahre  häuften  sich  in  den  Niederlagen  des  Zollamtes 
grössere  Massen  der  unverkauften  Waren  an.  Die  Verbrauchsfähig- 
keit des  amerikanischen  Marktes  war  nicht  imstande,  dem  Wachs- 
tum der  Einfuhr  Schritt  zu  halten;  das  führte  zur  enormen  Vermehrung 
der  auf  Transitolager  genommenen  Waren  —  also  der  Waren,  die, 
wegen   der  mangelnden  Nachfrage   auf  dem   amerikanischen   Markte, 


i)  A.  Schäffle,  Gesammelte  Aufsätze.     Die  Handelskrisis  von   1857,  S.   28. 


127       — 

nicht  in  die  innere  Warencirkulation  Amerikas  treten  konnten.  Wo- 
mit haben  nun  die  New- Yorker  Kaufleute  den  ausländischen  Expor- 
teuren für  diese  auf  Transitolager  genommenen,  also  von  den  ameri- 
kanischen Konsumenten  nicht  verbrauchten  Waren  gezahlt?  Kehren 
wir  nach  England  zurück. 

Die  Kommission,  die  im  Jahre  1858  vom  englischen  Parlament 
eingesetzt  worden  ist  zum  Zwecke,  die  Wirkung  der  Peels chen  Bank- 
akte zu  untersuchen,  hat  als  Grundursache  der  Krisis  des  vorange- 
gangenen Jahres  den  „Missbrauch  mit  dem  Kredit  und  die  dadurch 
hervorgerufenen  übermässigen  Handelsspekulationen"  bezeichnet. 

Die  Aussagen  der  Zeugen,  die  von  der  Kommission  befragt 
worden  sind,  haben  vollkommen  klargelegt,  aufweiche  Weise  die  ameri- 
kanischen Importeure  die  Einfuhr  ausländischer,  hauptsächlich  eng- 
lischer Waren  nach  den  Vereinigten  Staaten  vermehren  konnten, 
ohne  ihrerseits  irgend  ein  Kapital  anzulegen.  Die  Sache  wurde 
in  folgender  Weise  abgemacht.  Eine  ganze  Reihe  englischer  Bank- 
häuser befasste  sich  mit  dem  sogenannten  „foreign  bankin g",  mit 
Operationen  mit  dem  ausländischen  Kredit.  Diese  Operationen  be- 
standen im  Diskontieren  ausländischer  Wechsel  sowie  in  der  Eröffnung 
eines  Kredites  an  ausländische  Kaufleute  gegen  die  eine  oder  andere 
Sicherheit  oder  auch  ohne  jede  Sicherheit  ausser  der  Solidität  der 
Person,  der  der  Kredit  gewährt  wurde.  Gewöhnlich  werden  die 
„foreign  banking"  und  „local  banking"  (die  Operationen  mit  dem  aus- 
ländischen und  die  mit  dem  inländischen  Kredit)  von  verschiedenen 
Firmen  ausgeführt,  so  dass  diejenige  Firma,  welche  die  englischen 
Wechsel  diskontiert,  ausländische  nicht  diskontiert,  und  umgekehrt. 
Aber  in  den  Jahren  1856 — 1857  nahm,  infolge  des  ausserordentlichen 
Aufschwungs  des  amerikanischen  Handels,  das  System  des  „foreign 
banking"  eine  solche  Ausdehnung,  dass  viele  Banken,  die  sich  früher 
ausschliesslich  mit  dem  inländischen  Kredit  befasst  hatten,  begannen, 
amerikanischen  Kaufleuten  zu  kreditieren.  Diese  wandten  sich  an 
amerikanische  Banken,  welche  Beziehungen  mit  britischen  Kredit- 
instituten unterhielten;  der  Kredit  dieser  letzteren  stand  auf  den 
Börsen  der  ganzen  Welt  so  hoch,  dass  ein  von  ihnen  ac- 
ceptierter  Wechsel  in  Amerika  leicht  verkauft  werden  konnte.  Die 
\  amerikanischen  Bankiers  gewährten  ihren  Kunden  den  Kredit  in  der 
Form  der  auf  britische  Kreditinstitute  ausgestellten  Wechsel,  auf  Grund 
einer  besonderen  Vereinbarung  mit  solchen  Instituten.  An  Zahlungs- 
terminen  wurden   die  Wechsel   erneuert  oder  durch  andere  Wechsel 


i)  Report  of  Üie  Select  Committee  on  the  Bank  Act  of  1844,  S.   28. 


—       128       — 

getilgt  und  so  wurde  die  Wechselreiterei  im  höchsten  Grade  ge- 
trieben 1). 

Im  Anfange  des  Jahres  1857  wurde  der  amerikanische  Kredit 
zum  äussersten  angespannt.  Solange  aber  das  Vertrauen  nicht  er- 
schüttert war  und  man  die  Darlehen  leicht  erhielt,  konnten  die  ameri- 
kanischen Kaufleute  sich  des  Verkaufes  ihrer  Waren  enthalten.  Aus 
diesem  Grunde,  trotz  einer  enormen  Ueberfüllung  des  amerikanischen 
Marktes  mit  den  unverkauften  Waren  und  stockendem  Absatz,  sanken 
die  Warenpreise  während  einer  gewissen  Zeit  nicht. 

Aber  es  ist  selbstverständlich,  dass  eine  solche  Sachlage  nicht 
lange  anhalten  konnte.  Ihren  Höhepunkt  erreichten  die  Warenpreise 
im  Sommer  1857  (Mai — August).  Während  einiger  Monate  vermochte 
die  Spekulation  nicht  nur  die  Preise  auf  der  erreichten  Höhe  zu  er- 
halten, sondern  sogar  sie  ein  wenig  noch  mehr  zu  steigern;  im  August 
jedoch  trat  eine  Reaktion  ein.  Den  Anstoss  zu  derselben  gab  die 
ausgezeichnete  Ernte  in  Europa  im  Jahre  1857.  Die  Preise  des  Ge- 
treides fielen  sofort,  da  aber  in  den  Vereinigten  Staaten  das  Getreide 
den  wichtigsten  Ausfuhrgegenstand  bildet,  so  wirkte  das  Fallen  der 
Getreidepreise  sofort  auf  den  gesamten  amerikanischen  Warenmarkt 
zurück. 

Ende  August,  sobald  der  Zustand  der  Ernte  bekannt  wurde, 
fallierte  eine  ziemlich  kleine  Aktienbank  „Ohio  Life  Insurance  and 
Trust  Company".  Diese  Bank  war  sehr  stark  in  Eisenbahnspeku- 
lationen verwickelt  und  hatte  grosse  Vorschüsse  auf  Wertpapiere 
einiger  Eisenbahnunternehmungen  gemacht.  Das  erste  Fallissement 
gab  das  Signal  der  Panik  —  obwohl  die  fallierte  Bank  keine  hervor- 
ragende Rolle  im  System  des  amerikanischen  Kredits  spielte.  Die 
überaus  starke  Wirkung  dieses  ersten  Bankerotts  beruhte  vollständig 
auf  der  höchst  gespannten  Lage  des  amerikanischen  Geldmarktes. 
Der  Handel,  die  Industrie  und  die  Börse  wurden  zu  einer  Krisis  reif  — 
und  die  Krisis  brach  aus.  Die  Panik  erfasste  die  gesamten  Börsen 
Amerikas.  Da  mit  den  Eisenbahnunternehmungen  am  meisten  ge- 
sündigt wurde,  so  erlitten  auch  die  Eisenbahnaktien  das  schwerste 
Fallen.  Darauf  folgte  der  Sturz  der  Warenpreise.  Zum  Dezember 
sanken  die  Preise  der  meistsn  Waren  um  20 — 30  ^|^^. 

Die  Geldklemme  wurde  so  stark,  dass  im  September  der  Dis- 
kont in  New-York  zwischen  12  und  24  ^Д  schwankte  und  Mitte 
Oktober  das  Diskontieren   fast  ganz   aufgehört  hatte  wegen  Mangels 


i)  Report   on  the   Bank    Act    of    1844.     Minutes  of  Evidence,   Aussagen  von  Ball, 
Q.    1661 — 92.     Colemann,   Q.   2054 — 5^«     Fleming,   Q.   5356 — 75   u.  a. 


—      129     — 

an  Kapital.    Die  Panik  dauerte  bis  Ende  Oktober,  bereits  im  November 
hörte  sie  beinahe  auf,  und  am  17.  November  sank  der  Diskont  wieder 

auf  6  o/o- 

Bei  dem  engen  Zusammenhang  zwischen  Amerika  und  England 
musste  die  amerikanische  Krisis  notwendigerweise  auch  auf  England 
zurückwirken.  Man  darf  aber  nicht  glauben,  dass  England  eine  nur 
passive  Rolle  spielte  und  dass  es  nur  infolge  seiner  Beziehungen  zu 
Amerika  in  Mitleidenschaft  gezogen  wurde.  Die  Krisis  von  1857 
hat,  wie  oben  gesagt  worden  ist,  einen  Weltcharakter  gehabt.  Die 
Universalität  der  Krisis  wurde  nicht  nur  dadurch  bedingt,  dass  der 
Handel  der  ganzen  Welt  aufs  engste  mit  einander  verbunden  ist. 
Die  Hauptursache  der  weiten  Ausbreitung  der  Krisis  bestand  darin, 
dass  die  fieberhafte  Erregung  des  Handels  und  der  Industrie,  die 
stets  zu  einer  Krise  führt,  in  den  50er  Jahren  in  allen  kapitalistischen 
Ländern  mehr  oder  weniger  zu  bemerken  war.  Die  Krisis  brach  zu- 
erst in  den  Vereinigten  Staaten  aus,  weil  Nordamerika  das  beste  Feld 
für  die  Anlage  des  internationalen  Kapitals  gewesen  war.  In  Amerika 
erreichte  der  Spekulations-  und  Gründungsschwindel  seinen  Höhepunkt, 
und  in  Amerika  trat  zuerst  die  unvermeidliche  Reaktion  ein.  Jedoch 
soll  man  nicht  vergessen,  dass  die  äusserste  Anspannung  des  Kredites 
in  Amerika  hauptsächlich  eine  Folge  der  Spekulationen  des  englischen 
Kapitales  war.  Im  Jahre  1857  wiederholte  sich  gerade  dasselbe,  was 
während  der  Krisen  von  1825  und  von  1836  stattgefunden  hatte. 
Die  in  einer  raschen  Entwickelung  begriifene  englische  Industrie  be- 
darf einer  entsprechenden  Ausdehnung  der  Märkte,  und  diese  wird 
zum  Teil  durch  das  nach  dem  Ausland  emigrierende  englische  Kapi- 
tal geschaffen. 

Der  Zufluss  englischer  Kapitalien  nach  den  Vereinigten  Staaten 
ist  eine  der  wichtigsten  Ursachen  des  industriellen  Aufschwunges  von 
Amerika  in  den  Jahren  1856 — 57  gewesen;  da  England  der  Haupt- 
lieferant der  ausländischen  P^abrikate  auf  dem  amerikanischen  Markt 
war  und  bleibt,  so  musste  das  zur  Erweiterung  der  Ausfuhr  der  eng- 
lischen Produkte  nach  den  Vereinigten  Staaten  führen,  und  in  der 
That  vermehrte  sich  diese  Ausfuhr  im  Jahre  1856  um  4,6  Millionen 
Pfund.  Der  Zuwachs  (insbesondere  im  Vergleich  zur  Vermehrung 
der  englischen  Ausfuhr  nach  Amerika  in  den  30er  Jahren)  ist  aller- 
dings als  nicht  sehr  bedeutend  zu  bezeichnen.  Den  Grund  davon 
darf  man  in  der  Entwickelung  der  amerikanischen  Industrie  suchen. 
Wie  oben  erwähnt,  wurde  in  den  50er  Jahren  diese  Entwickelung  so 
rasch,  dass  z.  B.  die  amerikanische  Baumwollindustrie  im  Jahre  1857, 
trotz  des  bedeutenden  Steigens  der  Preise  der  BaumwoUe,  sich  erweiterte, 

T  u  g  а  n  -  в  а  r  а  n  0  w  s  к  у  ,  Die  Handel  skriseu .  9 


I30     — 


während  die  englische  eine  Einschränkung  erfuhr.  Gerade  die  Ent- 
wickelung  der  einheimischen  amerikanischen  Industrie  hat  die  Zu- 
nahme der  englischen  Ausfuhr  gehemmt. 

Wie  den  Krisen  von  1836  und  1847  schwächere  Erschütterungen 
auf  der  Effektenbörse  vorangegangen  waren,  so  ging  auch  der 
Handelskrisis  von  1857  eine  Börsenkrisis  voran.  Diese  Krisis  brach 
im  Herbst  des  Jahres  1856  aus;  insbesondere  litt  durch  sie  die  Pariser 
Börse,  die  den  Centralpunkt  der  Börsenspekulationen  auf  dem  euro- 
päischen Kontinent  bildete  i). 

Gehen  wir  jetzt  über  zur  Uebersicht  des  Contos  der  Bank  von 
England  im  Jahre   1857. 

Conto  der  Bank  von  England^). 


rvorrat 
onen  Pfd. 
St.) 

eserve 
onen  Pfd. 
St.) 

»iskontierte 
echsel  (Milli- 
en  Pfd.  St.) 

isiten  der 
oner  Ban- 
Millionen 
d.  St.) 

bJO  0 

P^S 

0  тз  ~^ir 

g. 

t 

"^  § 

^    0    OJ 

Am  4. 

Januar 

10,2 

4,8 

5,8 

3,0 

6 

>     4- 

Juli 

11,5 

5,9 

7,5 

3,0 

6 

>      I- 

August 

11,3 

5,2 

8,0 

3,0 

57. 

,     5- 

Septbr. 

",5 

6,1 

7,7 

2,6 

5'/. 

,     3- 

Oktober 

10,7 

4,6 

8,5 

2,7 

5^/. 

,   17- 

Oktober 

9,5 

3,2 

9,7 

3,5 

7 

,  31- 

Oktober 

8,7 

2,3 

1 1,1 

3,8 

8 

,     4- 

Novemb. 

8,5 

2,2 

11,4 

3,5 

8 

,   II. 

Novemb. 

7,2 

0,96 

13,2 

4,6 

9 

,   18. 

Novemb. 

6,5 

1,1 

16,0 

5,1 

10 

,     2. 

Dezemb. 

7,4 

2,3 

17,8 

5,2 

10 

,  30. 

Dezemb. 

11,5 

6,1 

15,2 

6,4 

8 

Bis  September  1857  gab  die  Lage  der  Bank  von  England  zu 
keinen  Befürchtungen  Anlass.  Der  Barvorrat  war  zwar  nicht  gross, 
weil  Gold  auf  dem  europäischen  Kontinente  verlangt  wurde,  um  das 
nach  dem  Orient  abgeflossene  Silber  zu  ersetzen.  Die  Metallvorräte 
der  Bank  nahmen  jedoch  nicht  ab,  sondern  vermehrten  sich  sogar 
bis  zum  JuH  um  1,3  Millionen  Pfund  St.  Die  Stärkung  der  Reserve 
gab  der  Bank  die  Möglichkeit,  den  Diskont  von  6  auf  5  Y2  7o  herab- 
zusetzen. Aber  Mitte  September  gelangen  nach  England  Nachrichten 
über  die  Geldklemme  in  Amerika;  darauf  beginnen  Metallvorrat  und 
Reserve  der  Bank  von  England  sich  rasch  zu  vermindern.  Am 
1 1  November  sank  die  Reserve  der  Bank  auf  die  geringfügige 
Summe  von  958  Tausend  Pfund;  der  Diskont  wurde  auf  9%  erhöht. 

i)  Ueber  die  Börsenkrisis  von  1856  vergl.  Otto  Michaelis,  Volkswirtschaftliehc 
Schriften,  Berlin    1873,  Bd.  I;   Handelskrisis  von   1857,  S.   288 — 324. 

2)  Nach  dem   Report  on   the  Bank  Act  of   1844.     Appendix  N0.  6. 


•« 


—     131     — 

Gleich  darauf  fängt  die  Reserve  an  zu  steigen:  in  der  Zeit  vom  1 1  No- 
vember bis  zum  3.  December  vermehrt  sich  die  Reserve  um  mehr 
als  I  Million  Pfund,  der  Barvorrat  aber  nur  um  180  Tausend  Pfund. 
Ende  Dezember  stehen  Reserve  und  Barvorrat  fast  auf  derselben 
Höhe  wie  Anfang  Juli. 

Noch  im  August  war  die  Direktion  der  Bank  von  England  von 
der  Sicherheit  der  Lage  des  Geldmarktes  dermassen  überzeugt,  dass 
sie  sich  dazu  verstand,  der  Ostindischen  Kompagnie  einen  Kredit 
im  Betrag  von  einer  Million  Pfund  zu  gewähren.  Die  Krise  brach, 
wie  immer,  ganz  unerwartet  aus.  Nach  dem  Berichte  der  Parlaments- 
kommission wurde  der  englische  Handel  zu  Beginn  des  Herbstes 
des  Jahres  1857  ganz  allgemein  als  vollkommen  погтаГ  und  gesund  be- 
trachtet i).  Die  Nachrichten  über  die  amerikanischen  Bankerotte  er- 
regten eine  allgemeine  Unruhe,  aber  die  leitenden  Organe  der  Presse 
beharrten  dabei,  dass  England  keine  Handelskrisis  zu  befürchten 
habe.  Mittlerweile  begann  aber  die  höchst  bedeutende  Erhöhung  des 
Diskontes  in  den  Vereinigten  Staaten  ihre  gewöhnliche  Wirkung 
auszuüben  und  das  Gold  fing  an,  nach  Amerika  abzufliessen.  In 
3  Wochen  vom  3.  bis  zum  24.  Oktober  sind  684  Tausend  Sovereigns 
aus  der  Kasse  der  Bank  von  England  nach  den  Vereinigten  Staaten 
gewandert.  Gleichzeitig  hat  das  Gold  begonnen,  nach  dem  Inneren 
des  Landes  abzufliessen:  in  derselben  Zeit  sind  nach  Irland  190  Tausend 
Sovereigns  und  nach  Schottland  235  Tausend  Sovereigns  gewandert. 
(Die  Menge  der  Goldmünzen,  die  in  die  innere  Circulation  von  Eng- 
land selbst  getreten  sind,  ist  nicht  bekannt)  2). 

Mitte  Oktober  gingen  die  Warenpreise  in  England  stark  her- 
unter; gleichzeitig  begannen  die  Bankerotte  der  industriellen  Firmen, 
die  mit  Amerika  in  geschäftlichen  Verbindungen  standen.  Am 
24.  Oktober  stellte  die  Liverpool  Borough  Bank  ihre  Zahlungen  ein. 
Die  Ursache  des  Zusammenbruchs  dieser  P*ank  bestand  in  der  An- 
häufung vieler  unbezahlter  Wechsel  in  ihrer  Kasse.  Die  Panik  er- 
fasste  ganz  England. 

Am  25.  November  hörte  der  Goldabfluss  aus  England  nach  den 
Vereinigten  Staaten  auf,  aber  das  Gold  fuhr  fort,  noch  stärker  in  die 
innere  Cirkulation  des  Landes  zu  treten.  Anfang  November  machten 
einige  Fabrikanten  und  Kaufleute,  die  sich  mit  dem  Exporthandel 
nach  Amerika  befassten.  Bankerott.  Die  fallierten  Firmen  hatten  mit 
dem  System  der  Wechselreiterei  starken  Missbrauch  getrieben.  So 
.  hatte   z.    B.   eine    fallierte   Firma    in    London    und    Schottland  allerlei 


i)  Report  of  the  Commiltee  on  the  Bank  Act  of   1844,  S.   7. 
2)  A.  a.  O.  Appendix    12. 


—        132        — 

fiktive  Wechsel  für  insgesamt  235  Tausend  Pfund  diskontiert i). 
Diese  Bankerotte  zogen  den  Zusammenbruch  einer  schottischen  Aktien- 
bank, Western  Bank,  nach  sich,  worauf  eine  andere  schottische  Bank, 
City  of  Glasgow  Bank,  die  Zahlungen  einstellte  (diese  letztere  Bank 
nahm  übrigens  nach  einigen  Tagen  ihre  Zahlungen  wieder  auf).  Die 
Stärke  der  Panik,  welche  durch  den  Zusammenbruch  zweier  grosser 
Banken,  die  seit  langer  Zeit  den  Ruf  einer  besonderen  Solidität  und 
Vorsicht  in  ihrer  Geschäftsführung  genossen  hatten,  hervorgerufen 
wurde,  kann  man  danach  beurteilen,  dass  in  der  einen  Woche 
vom  4.  bis  zum  11.  November  aus  England  nach  ^Schottland  für 
I  060  Tausend  Pfund  Goldmünzen  abgesendet  wurde  ^). 

Der  Zusammenbruch  der  Western  Bank  am  9.  November  wurde 
unmittelbar  durch  den  Bankerott  von  4  schottischen  Handelsfirmen 
verursacht,  die  alle  zusammen  der  Bank  i  604  Tausend  Pfund  St. 
schuldig  waren,  während  das  Aktienkapital  der  Bank  nicht  mehr  als 
I  500  Tausend  Pfund  betrugt).  Diese  Bank  hatte  das  oben  beschrie- 
bene System  des  Kreditierens  der  amerikanischen  Spekulanten  im 
höchsten  Masse  getrieben.  Als  sich  im  Publikum  Gerüchte  über 
die  gefährliche  Lage  der  Western  Bank  verbreitet  hatten,  wurde  auf 
die  Bank  ein  sogenannter  „run"  gemacht;  dabei  wurden  aber  die  Ka- 
pitalien aus  der  Bank  nicht  dadurch  gezogen,  dass  man  ihre  Noten 
zur  Einlösung  vorzeigte,  sondern  dass  man  die  Depositen  zurückver- 
langte, die  dann  sofort  in  andere  Banken  gesteckt  wurden.  In  dem 
Monat,  der  dem  Zusammenbruch  vorangegangen  war,  wurden  aus 
der  Bank  Depositen  für  i  280  Tausend  Pfund  zurückgezogen,  und  die 
Bank  musste  ihre  Zahlungen  einstellen. 

Der  Goldabfiuss  nach  Schottland  am  10.  und  11.  November  war 
so  stark,  dass,  nach  der  Ansicht  des  Gouverneurs  der  Bank  von 
England  Neaves,  die  darauffolgende  Suspendierung  der  P  ее  Ischen 
Bankakte  eine  unmittelbare  Folge  jenes  Goldabflusses  war.  Die 
fieberhafte  Nachfrage  nach  Gold  in  Schottland  wurde  nicht  durch 
dass  Misstrauen  des  Publikums  zu  den  Noten  der  lokalen  Banken 
verursacht.  Nach  den  Aussagen  aller  Zeugen,  die  von  der  Parla- 
mentskommission von  1858  befragt  worden  sind,  cirkulierten  die 
Banknoten  der  schottischen  Banken  zur  Zeit  der  Krise  im  Publikum 
ebenso  ungehemmt  wie  früher.  Das  Steigen  der  Nachfrage  nach 
Gold    war   vielmehr   eine   Wirkung   des    Gesetzes  von   1844,    welches 


i)  Report  on  the  Bank  Act  of   1844.  Minutes  of  Evidence.    Aussage  von  Fleming. 
Q.  5564. 

2)  A.  a.  O.  Appendix  N0.    12. 

3)  A.  a.   O.  M.   of  E.  Aussage  von  Fleming.     Q.   5376 — y/,  5539.  ^ 


-^    133    — 

für  die  Notenausgabe  der  schottischen  Banken  analoge  beschränkende 
Bestimmungen  traf  wie  die  für  die  Bank  von  England.  Da  aber 
während  einer  Panik  die  Nachfrage  nach  barem  Geld  im  höchsten 
Grade  wächst,  so  waren  die  schottischen  Banken  gezwungen,  um  die 
Ausgabe  ihrer  Bankwoten  auszudehnen,  ihre  Metallvorräte,  die  sie  aus 
der  Bank  von  England  mittels  des  Wiederdiskontierens  der  Wechsel 
auszogen,  zu  vermehren  ^). 

Es  ist  interessant,  dass  im  Höhepunkte  der  Panik,  während  alle 
bestrebt  Avaren,  ihre  eigenen  Reserven  zu  vermehren,  die  Depositen 
der  Londoner  Banken  in  der  Bank  von  England  nicht  nur  keine 
Verringerung,  sondern  umgekehrt,  eine  bedeutende  Vermehrung  er- 
fahren hatten.  Die  Ursache  dieser  Erscheinung  bestand  darin,  dass 
die  Panik  auf  dem  Geldmarkte  die  Menge  der  Depositen  von  Lon- 
doner Banken  in  der  Bank  von  England  nach  zwei  entgegengesetzten 
Richtungen  beeinflussen  kann:  einerseits  vermindern  sich  diese  De- 
positen infolge  der  Vermehrung  der  Reserven  der  provinziellen 
Kunden  der  Londoner  Banken,  indem  diese  Kunden  ihre  Geldmittel  aus 
London  zurückziehen;  andererseits  sind  die  Londoner  Banken  selbst 
bestrebt,  ihre  Reserven  zu  verstärken  und  sie  an  einem  sicheren 
Orte,  wie  dies  die  Bank  von  England  ist,  unterzubringen;  sie  ver- 
mehren daher  ihre  Depositen.  J^e  nach  der  Stärke  der  einen  oder 
anderen  Tendenz  können  sich  die  privaten  Depositen  in  der  Bank 
von  England  vermehren  oder  vermindern. 

Seit  den  50er  Jahren  ist  es  unter  den  britischen  Bankiers  üblich 
geworden,  ihre  freien  Geldmittel  bei  den  sogenannten  „bill-broker's" 
(wörtlich  Wechselmakler,  der  Sache  nach  halbe  Bankiers),  die  sich 
ausschliesslich  mit  der  Operation  des  Wechseldiskontes  befassen, 
unterzubringen.  Der  Grund  hierfür  lag  hauptsächlich  darin,  dass 
Privatbanken  anfingen,  Zinsen  auf  jeden  Augenblick  kündbare  De- 
positen zu  bezahlen;  da  aber  die  Bank  von  England  keine  Zinsen 
auf  Depositen  bezahlt,  so  w^urde  es  für  die  Privatbanken  unvorteil- 
haft, ihre  Reserven  in  der  Bank  von  England  zu  halten.  Infolge 
dessen  fingen  sie  an,  einen  Teil  ihrer  Reserven  bei  Billbfokers,  die 
für  jederzeit  kündbare  Depositen  Zinsen  zahlen,  unterzubringen.  Die 
Billbrokers  ihrerseits  besitzen  keine  Reserve  in  barem  Geld:  ihre  Re- 
serve bilden  die  von  ihnen  diskontierten  Wechsel,  die  sie  wieder- 
diskontieren, wenn  sie  Geld  bedürfen.  Während  der  Panik  von  1857 
haben    die    Londoner    Banken   ihre    Depositen    von    den    Billbrokers 

i)   Ueber   die    schottischen   Bankerotte   und    den    Goldabfiuss    nach    Schottland   vergl. 
j,     Report    on    the    Bank    Act    of    1844.     Minutes   of    Evidence,    Aussagen    von  Robertson, 
Q-  3337  —  66,  Clark,  g.  3057  —  72,  Fleming,  Q.  5356—95- 


—      134     - 

zurückverlangt  und  sie  in  der  Bank  von  England  untergebracht. 
Daher  schreibt  sich  die  bedeutende  Vermehrung  der  Depositen  der 
Banken  in  der  Bank  von  England  im  November  und  Dezember  1857. 
Die  Billbrokers  selbst  erhielten  nötige  Geldmittel,  um  den  Banken 
ihre  Depositen  zurückzugeben,  durch  ein  Wiederdiskontieren  ihrer 
Wechsel  in  der  Bank  von  England.  Ungefähr  die  Hälfte  der 
Wechsel,  die  während  der  letzten  drei  Monate  des  Jahres  1857  von 
der  Bank  von  England  diskontiert  wurden,  gehörten  den  Billbrokers, 
denen  die  Bank  aus  Selbsterhaltungstrieb  zu  Hülfe  kommen 
musste,  da  anderenfalls  die  Billbrokers  nicht  in  der  Lage  gewesen 
wären,  den  Banken  ihre  Depositen  zurückzugeben,  und  diese  letzteren 
dann  ihrerseits  gezwungen  w^ären,  um  ihren  Verpflichtungen  nachzu- 
kommen, ihre  Depositen  aus  der  Bank  von  England  zurückzuziehen. 
Also  war  die  Erweiterung  der  Diskontoperation  der  Bank  von  Eng- 
land zur  Zeit  der  Krisis  von  1857  bis  zu  einen  gewissen  Grade  nur 
eine  einfache  Uehertragung  derselben  Geldsummen  vom  Conto  der 
einen  Kunden  auf  das  der  anderen  ^). 

Das  Gold  floss  aus  der  Bank  von  England  —  wie  immer  während 
der  Krisen  —  hauptsächlich  infolge  der  Erweiterung  des  Diskontierens 
der  Wechsel  ab.  Doch  während  die  Summe  der  diskontierten  Wechsel 
vom  5.  September  bis  zum  11.  November  um  5899  Tausend  Pfund 
zugenommen  hat,  hat  sich  der  Barvorrat  der  Bank  in  derselben  Zeit 
nur  um  4328  Tausend  Pfund  vermindert.  Die  Differenz  findet  ihre 
Erklärung  in  der  Vermehrung  der  Depositen  der  privaten  Banken 
sowie  darin,  dass  das  Publikum  nicht  nur  Gold,  sondern  auch  Bank- 
noten aus  der  Bank  von  England  wegnahm. 

Am  1 1 .  November  fiel  die  Reserve  der  Bank  am  tiefsten :  es  war 
ein  Moment,  als  sie  nicht  mehr  als  581  Tausend  Pfund  betrug. 
Obwohl  in  der  Kasse  der  Bank  für  mehr  als  7  Millionen  Pfund 
Sterling  Gold  und  Silber  vorhanden  war,  lief  die  Bank  Gefahr,  keine 
freien  Summen  zur  Rückzahlung  der  Depositen  zu  besitzen.  Die 
öffentliche  Meinung  forderte  dringend  die  Suspension  der  Peelschen 
Akte,  und  die  Regierung  musste  nachgeben.  Am  12.  November  er- 
mächtigte sie  die  Direktion  der  Bank,  die  Ausgabe  ihrer  Noten  über 
die  durch  das  Gesetz  von   1844  festgesetzten  Schranken  zu  erweitern. 

Somit  erwies  sich  die  Peelsche  Akte  zum  zweiten  Male  als 
unhaltbar.  Im  Jahre  1847  war  die  Bank  von  England  nicht  dazu 
gekommen,  die  ihr  verliehene  Befugnis  auszuüben.  Die  Zuversicht 
allein,  dass  der  Kredit  erweitert  werden  könnte,  hatte  für  die  Wieder-   |^ 

i)  Vergl.  darüber  den  Report  on  the  Bank  Act  of  1844.  Minutes  of  Evidence, 
Aussage  des  Gouverneurs  der  Bank  von  England  Neave.     Q.   616 — 660  und  die  folg. 


—      ^35     — 

herstelliing  des  Vertrauens  genügt;  im  Jahre  1857  aber  musste  die 
Bank  tliatsächlich  die  vom  Gesetze  gezogenen  Grenzen  der  Noten- 
ausgabe übertreten.  Bis  zum  18.  November  wuchs  in  einer  Woche, 
trotz  der  Erhöhung  des  Diskontes  auf  lo^o»  die  Summe  der  diskon- 
tierten Wechsel  in  dem  Portefeuille  der  Bank  von  England  beinahe  um 
3  Millionen  Pfund  und  ausserdem  vermehrten  sich  die  Darlehen  auf 
eine  bestimmte  Frist  an  Privatpersonen  um  mehr  als  i  Million  Pfund; 
der  Barbestand  der  Bank  sank  um  687  Tausend  Pfund,  die  Reserve 
vermehrte  sich  aber  um  210  Tausend  Pfund;  über  die  Norm  hinaus 
wurden  Banknoten  in  einem  Gesamtwert  von  852  Tausend  Pfund 
verausgabt. 

Die  Bankerotte  der  Banken  und  Handelsfirmen  dauerten  den 
ganzen  November  hindurch  fort.  Besonders  zahlreich  waren  die 
Bankerotte  in  den  Centren  der  Eisenindustrie.  Am  25.  November 
stellte  die  „Northumberland  and  Durham  Bank"  die  Zahlungen  ein. 
Das  Kapital  dieser  Bank  hat  nur  600  Tausend  Pfund  betragen  — 
und  zugleich  war  eine  fallierte  Bergwerkanstalt  allein  der  Bank  circa 
I  Million  Pfund  schuldig  1).  In  Staffordshire  stellten  infolge  der  Ban- 
kerotte einiger  Besitzer  von  Eisenbergwerken  mehrere  Banken  ihre 
Zahlungen  gleichfalls  ein. 

Gegen  Ende  Dezember  war  die  Panik  vorübergegangen  und 
damit  die  akute  Periode  der  Krisis  beendet.  Der  Diskont  der  Bank 
von  England  wurde  auf  8^/0  herabgesetzt,  die  Summe  der  diskon- 
tierten Wechsel  verminderte  sich  und  das  Gold  fing  wieder  an,  die 
Kassen  der  Bank  zu  füllen. 

Wenn  wir  das  Conto  der  Bank  von  England  im  Jahre  1857 
mit  dem  der  früheren  Krisenjahre  vergleichen,  so  sehen  wir  sofort, 
dass  der  Entwicklungsgang  der  Krise  von  1857  ein  ganz  anderer 
war,  als  der  der  früher  beschriebenen  Krisen.  Den  Krisen  von  1825, 
1837    u^d    1847    sind    infolge    niedriger    Wechselkurse    starke    Gold- 

.  abflüsse  nach  dem  Auslande  vorangegangen.  Daraufhörte  der  external 

'1  drain  auf,  die  Wechselkurse  stiegen,  und  zugleich  trat  ein  internal 
drain  ein:  das  Gold  strömte  nach  dem  Inneren  des  Landes.  Im  Jahre 
1857  waren  diese  beiden  drains  nicht  scharf  von  einander  getrennt, 
sie   fanden   vielmehr   fast   gleichzeitig  statt.     Von  JuH   bis  Ende  Sep- 

\\:  tember  befand  sich  der  Barvorrat  der  Bank  von  England  mit  geringen 
Schwankungen   auf   ein   und   derselben   Höhe,   im   Oktober   aber   fing 

•   ein  Goldabfluss  nach  Amerika  an,   und   zu   gleicher  Zeit  begann   das 


I)  A.  a.  O.  Minutes  of  Evidence.  Aussage  von  Hodgson,   Q.  3456 — 57- 


13б 


Gold  aus  der  Kasse   der  Bank   von  England   nach   dem  Inneren   des 
Landes  abzufliessen. 

Es  sind  aus  der  Kasse  der  Bank  von  England  abgeflossen  ^) : 


Nach 
Schottland  und  Irland 


Nach  den 
Vereinigten  Staaten 


Im  Oktober 

In  den  ersten   17   Tagen  des 
November 


758  Tausend  Sovereigns 


i960 


853   Tausend  Sovereigns 


2ÖI 


Die  Eigentümlichkeit  der  Krisis  von  1857  erklärt  sich  dadurch, 
dass  die  vorangegangenen  Krisen  einen  mehr  lokalen  Charakter  ge- 
habt und  sich  hauptsächlich  auf  England  beschränkt  hatten  (wozu  im 
Jahre  1837  noch  die  Vereinigten  Staaten  kamen).  Die  Richtung  des 
Goldstromes  im  internationalen  Verkehr  war  hauptsächhch  durch  den  Zu- 
stand des  enghschen  Handels  und  des  englischen  Goldmarktes  bestimmt 
worden.  Die  Erhöhung  der  Warenpreise  auf  dem  englischen  Markte, 
die  den  Krisen  vorangegangen  war,  konnte  sofort  ein  Zuströmen  der 
Waren  der  ganzen  Welt  nach  England  und  einen  Goldabfluss  aus 
England  hervorrufen,  da  die  Warenpreise  auf  den  anderen  Märkten 
sich  nicht  so  stark  Avie  in  England  erhöhten.  Die  Panik  und  die 
Erhöhung  des  Diskontes  auf  dem  englischen  Markte  konnte  aber, 
seinerseits,  sofort  einen  Goldabfluss  nach  England  bewirken,  weil  in 
anderen  Staaten  der  Diskont  niedrig  bheb.  So  hatte  z.  B.  die  Bank 
von  Frankreich  die  ganze  Zeit  von  1820  bis  1847  clen  Diskont  auf 
einer  unveränderten  Höhe  von  4  ^Д  gehalten.  Nur  im  Jahre  1847, 
als  die  Panik  in  England  den  Höhepunkt  erreicht  hatte,  hatte  die 
Bank  von  Frankreich  den  Diskont  auf  5   ^o  erhöht. 

Dagegen  war  im  Jahre  1857  die  Krise  eine  allgemeine:  es  war 
ihr  eine  mehr  oder  minder  starke  Erhöhung  der  Warenpreise  auf  den 
Märkten  der  ganzen  Welt  vorangegangen.  Der  Warenstrom  war 
nicht  nach  einer  Seite  gerichtet,  sondern  gleichmässiger  auf  alle 
Länder  verteilt,  und  daher  floss  das  Gold  aus  England  nicht  ab.  Aus 
demselben  Grund  konnte,  als  in  England  eine  Panik  ausgebrochen 
war,  das  Gold  nicht  aus  anderen  Ländern  nach  England  zuströmen, 
da  die  Panik  sich  über  die  Geldmärkte  der  ganzen  Welt  ausgebreitet 
hatte.  In  den  Vereinigten  Staaten  war  die  Panik  noch  stärker  als 
in    England,   daher    floss    das    Gold     aus    der    Bank    von    England 


i)  Л,  a.   O.   Appendix,    N0.    12.      Die  vSummc    des  Goldes,   das    aus    der  Bank    von 
England  nach  dem  Inneren  England's  abgeflossen  ist,   ist  nicht  bekannt. 


—      137     — 

gleichzeitig  nach  dem  Inneren  des  Landes  und  nach  Amerika  ab. 
Vom  europäischen  Kontinent  konnte  Gold  nach  England  nicht 
zufliessen ,  weil  der  Diskont  in  den  wichtigsten  westeuropäischen 
Centren  ebenso  hoch  wie  in  England  war;  so  z.  B.  erhöhte  in  Paris 
die  Bank  von  Frankreich  im  November  den  Diskont  auf  lo  %. 

Die  Eigentümlichkeiten  der  Krise  von  1857  finden  also  ihre  Er- 
klärung im  Weltcharakter  dieser  Krise.  Am  meisten  haben  unter 
der  Krisis  dieses  Jahres  die  Vereinigten  Staaten  und  Hamburg  ge- 
litten, England  jedoch  viel  weniger.  Während  nach  den  vorausge- 
gangenen Krisen  die  Stockung  der  englischen  Industrie  jahrelang 
dauerte,  wurde  die  Wirkung  der  Krisis  von  1857  in  England  schon 
im  Jahre  1859  wenig  fühlbar.  Der  charakteristische  Unterschied  der 
Krise  des  Jahres  1857  von  den  Krisen  der  Jahre  1825  und  1836  be- 
stand auch  darin,  dass  diese  Krise  am  schwersten  nicht  die  Baum- 
Iwoll-,  sondern  die  Eisenindustrie  traf.  Darin  kam  der  neue  Zug  der 
kapitalistischen  Produktionsweise  zum  Ausdruck:  die  Vermehrung  der 
Rolle  der  Produktionsmittel  auf  dem  Warenmarkt  und  in  dem  wirt- 
schaftlichen Leben  überhaupt. 

Die  Stockung  des  Handels  bewegt  gewöhnlich  die  Unternehmer, 
iur  den  Absatz  ihrer  Waren  neue  Märkte  zu  suchen.  In  dieser  Hin- 
sicht hat  die  Krise  von  1857  eine  sehr  starke  Wirkung  ausgeübt. 
I  Die  englische  Ausfuhr  nach  den  Vereinigten  Staaten  sank  von 
19  Millionen  Pfund  (1857)  auf  14  Millionen  Pfund  (1858),  die  Aus- 
fuhr nach  Ostindien  aber  stieg  von  11,7  Millionen  Pfund  (1857)  ^.uf 
16,8  Millionen  Pfund  (1858). 

Um  sich  für  die  Einschränkung  des  europäischen  und  des  ameri- 
kanischen Marktes  zu  entschädigen,  strömte  das  englische  Kapital 
nach  Asien.  In  Ostindien  begann  man  mit  einem  intensiven  Eisen- 
bahnbau und  einer  Verbesserung  der  inneren  Verkehrswege  und  das 
hatte  zur  Folge  eine  rasche  Steigerung  in  diesem  Lande  der  Nach- 
frage   nach    englischen  Waren. 

Die  Geldkrisis  von  1864  und  die  Kreditkrisis  von  1866. 

In  der  Geschichte  der  englischen  Industrie  ist  die  Periode  von 
1861  bis  1865  in  einigen  Beziehungen  eine  ganz  aussergewöhnliche 
gewesen.  Der  Krimkrieg  ist  von  England  sehr  leicht  ertragen  worden 
und  hat  auf  den  Zustand  des  englischen  Warenmarktes  sehr  wenig 
eingewirkt.  Der  Krieg  hat  England  von  keinem  grossen  Markte  ab- 
geschnitten und  die  Einfuhr  der  Rohstoffe  nach  England  wenig  er- 
schwert.    Dagegen  hat   der  Bürgerkrieg   in  Nordamerika    gleichzeitig 


—      138     — 

England  seines  wichtigsten  Absatzmarktes  beraubt  (die  englische  Aus- 
fuhr nach  den  Vereinigten  Staaten  fiel  von  23  Millionen  Pfund  Ster- 
ling im  Jahre  1861  auf  11  Mill.  Pfund  SterHng  im  folgenden  Jahre) 
und  die  Zufuhr  des  wichtigsten  Rohstoffes  —  der  Baumwolle  —  fast 
angehalten.  Es  trat  ein  „Baumwollhunger"  ein.  Der  Verbrauch 
von  Rohbaumwolle  sank  in  Grossbritannien  von  1084  Millionen  Pfund 
(1860)  auf  452   Millionen  Pfund  (1862). 

Die  Preise  der  Rohbaumwolle  stiegen  um  ein  Vielfaches,  was 
seinerseits  eine  kolossale  Vermehrung  der  Zufuhr  von  Rohbaumwolle  aus 
Ostindien,  Aegypten,  Brasilien  und  anderen  Ländern  zur  Folge  hatte. 

Der  Wert  der  Einfuhr  Englands  aus  den  Ländern  des  Orients 
erhöhte  sich  in  einem  enormen  Grade.  So  stieg  z.  B.  die  Einfuhr 
aus  Ostindien  von  15  Millionen  Pfund  (1860)  auf  52  Millionen  Pfund 
(1864),  die  aus  Aegypten  von  10  Millionen  Pfund  auf  beinahe 
20  Millionen  Pfund  (1864)  u.  s.  w.  Dieses  kolossale  Wachstum  der 
Einfuhr  der  orientalischen  Waren  rief  in  England  1864  eine  andauernde 
und  schwere  Geldkrisis  hervor. 

Conto  der  Bank  von  England  im  Jahre  1864^). 


Barvorrat 

Niedrigster  Diskont 

am 

6. 

J  anuar 

14,2 

7  (V 

om   24.  Dezembei    1863   an) 

20. 

Januar 

i3>o 

8  ( 

,,      20.  Januar  an) 

2. 

März 

14,0 

ь  ( 

,,      25.   Б'еЬгиаг  an) 

27. 

April 

12,6 

7  ( 

,,      16.  April  an) 

18. 

Mai 

13,3 

9  ( 

„        5.  Mai  an) 

22. 

Juni 

I4'3 

6  ( 

,,      16.  Juli  an) 

10. 

August 

12,6 

8  l 

,,        4.  August  an) 

14. 

September 

12,9 

9  ( 

,,        8.  September  an; 

26. 

Oktober 

i3>i 

9  ( 

"                                      я                     У}  ) 

21. 

Dezember 

H'3 

6  ( 

,,      15.  Dezember  an) 

Die  Politik  der  Bank  bestand  darin,  den  Diskont  sofort  zu  er- 
höhen, sobald  die  Metallvorräte  in  ihren  Kassen  abzunehmen  begannen, 
und  nur  infolge  dieser  Politik  sank  der  Barvorrat  der  Bank  von  Eng- 
land im  Jahre  1864  nicht  so  stark,  wie  er  während  der  vorange- 
gangenen Krisen  gesunken  war.  Während  der  zwei  ersten  Wochen 
des  Januar  nahm  der  Barvorrat  der  Bank  von  England  um  mehr  als 
eine  Million  Pfund  ab.  Das  Silber  floss  nach  Indien  ab,  und  der 
Bombayer  Münzhof  konnte  nicht  rechtzeitig  alle  Silberrupien  prägen, 
die  stets  sofort  nach   dem  Inneren   des  Landes  in  Bezahlung  für  die 


i)  Returns  of  the  Bank  of  England,   26.  Mai   1873. 


—      139     — 

Baumwolle  abgingen  ^).  Am  20.  Januar  erhöhte  die  Bank  den  Dis- 
kont auf  8  7o.  ^ind  das  Metall  fing  an,  in  die  Kasse  der  Bank  zurück- 
zukehren. 

Im  April  fingen  die  Metallvorräte  der  Bank  von  England  wieder 
an,  sich  zu  vermindern,  und  zwar  aus  demselben  Grunde  wie  im 
Januar.  Die  Erhöhung  des  Diskontes  hat  aber  wieder  ihre  Wirkung 
ausgeübt,  und  im  Juli  erreichte  der  Barvorrat  dieselbe  Höhe  wie  An- 
fang März.  Im  August  fing  das  Metall  zum  dritten  Male  an,  aus  der 
Kasse  abzufliessen,  und  Anfang  September  musste  die  Bank  zum 
zweiten  Male  den  Diskont  auf  9  7o  erhöhen.  Der  Diskont  spielte 
die  Rolle  einer  Pumpe  für  das  edle  Metall;  jede  Erhöhung  des  Dis- 
kontes setzte  diese  Pumpe  sofort  in  Thätigkeit,  und  das  Metallgeld 
kehrte  in  die  Kasse  der  Bank  von  England  zurück. 

Die  Krise  von  1864  beschränkte  sich  fast  ausschliesslich  auf  den 
Geldmarkt ;  auf  dem  Warenmarkte  fand  nur  ein  unbedeutendes  Sinken 
der  Warenpreise  statt.  Trotz  einer  Diskonthöhe,  welche  in  früheren 
Zeiten  nur  während  einer  äussersten  Geldklemme  anzutreffen  war, 
haben  Handel  und  IndUvStrie  in  England  keine  bedeutenden  Erschütte- 
rungen erfahren.  Das  letztere  wird  dadurch  bewiesen,  dass  im  Jahre 
1865  statt  einer  Stockung  des  Handels,  die  auf  jede  Handelskris  folgt, 
das  direkte  Gegenteil  eintrat:  ein  Aufschwung  des  Handels  und  der 
Industrie.  Also  ist  die  Krisis  von  1864  eine  Geld-,  durchaus  aber 
nicht  eine  Handelskrisis  gewesen  ^). 

Trotz  des  fortdauernden  „Baumwollhungers"  war  der  englische 
Handel  während  dieser  ganzen  Zeit  keinesfalls  gedrückt.  Für  die 
Einschränkung  des  Handels  mit  Nordamerika  war  England  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  durch  die  Erweiterung  seines  Handels  mit 
Europa  entschädigt  worden,  welche  durch  den  Abschluss  von  Handels- 
verträgen mit  Frankreich,  Belgien,  dem  deutschen  Zollvereine,  Oester- 
reich  und  Italien  herbeigeführt  wurde.  Unter  dem  „Baumwollhunger" 
haben  am  meisten  die  Arbeiter  gelitten,  für  die  dieser  Hunger  nicht 
nur  eine  figürliche  Bedeutung  hatte,  sondern  ein  thatsächliches  Elend 
bedeutete.  Was  die  Unternehmer  anlangt,  so  sind  sie  für  die  Ein- 
schränkung der  Produktion  durch  eine  Erhöhung  des  Wertes  der 
baumwollenen  Gewebe  entschädigt  worden.    In  den  Jahren   1860  und 


i)  Emile  de  Laveleye,    Le  Marche  monetaire  et  ses  crises.     Paris   1865,    S.  80. 

2)  Laveleye  und  Juglar  bezeichnen  die  Krisis  von  1864,  als  eine  Handelskrisis 
(vgl,  Le  Marche  monetaire,  Chapitre  VI  und  Des  Crises  Commerciales,  374 — 383);  dieser 
Auffassung  aber  widersprechen  alle  statistischen  Daten  über  den  Zustand  der  englischen  In- 
dustrie in  der  Periode  von  1863  bis  1866,  die  von  einer  ununterbrochenen  fortschreitenden 
Entwickelung  während  dieser  ganzen  Zeit  zeugen. 


—       140     — 

i86i  hatte  sich  die  englische  Baumwollindustrie  so  erweitert,  dass 
sich  bei  den  englischen  Fabrikanten  und  Kaufleuten  kolossale  Vorräte 
unverkaufter  Gewebe  angehäuft  haben ;  die  Einstellung  der  Produk- 
tion hat  ihnen  die  Möglichkeit  gegeben,  alle  diese  Gewebe  mit  hohem 
Profite  zu  verkaufen.  Für  diejenigen  Industriezweige,  welche  mit  der 
Baumwollindustrie  konkurrieren,  war  die  Erhöhung  der  Preise  der 
baumwollenen  Gewebe  auch  sehr  vorteilhaft.  Die  Leinenindustrie  be- 
gann gerade  zu  dieser  Zeit  grosse  Fortschritte  zu  machen,  nachdem 
sie  einige  Jahrzehnte  hindurch  in  einem  beinahe  stationären  Zustande 
geblieben  war.  Die  Produktion  der  wollenen  Gewebe  zog  auch  grosse 
Vorteile  aus  dem  Baumwollhunger.  Die  Ausfuhr  der  wollenen  und 
leinenen  Gewebe  aus  dem  Vereinigten  Königreich  hat  sich  im  Jahre 
1865  im  Vergleich  zu  der  des  Jahres  1862  fast  verdoppelt.  „Die 
Einschränkung  der  Baumwollindustrie  —  so  lesen  wir  im  „Economist"  — 
hat  sehr  Avenig  Einfiuss  auf  den  allgemeinen  Wohlstand  des  Landes 
ausgeübt.  Man  kann  sagen,  dass  das  Jahr  1863  mit  wenigen  Aus- 
nahmen für  den  Handel  und  die  Industrie  sehr  vorteilhaft  gewesen  ist  i)". 

Im  Jahre  1862  wurde  m  England  die  Gesetzgebung  über  die 
Aktiengesellschaften  revidiert  und  die  Gründung  von  Aktiengesell- 
schaften mit  beschränkter  Haftpflicht  ausserordentlich  erleichtert;  die 
Aktiengesellschaften  begannen  schnell  emporzuwachsen.  In  3  Jahren 
(1863 —  65)  erreichte  das  nominelle  Kapital  der  neugegründeten  Ge- 
sellschaften   die   kolossale  Summe   von    582   Millionen  Pfund   Sterling. 

Nach  dem  „Economist"  befanden  sich  im  Jahre  1865  alle  wich- 
tigsten Zweige  der  englischen  Industrie,  darunter  auch  die  Baumwoll- 
industrie, in  einem  blühenden  Zustande.  „Die  Periode  1863  — 1865 
kann  die  Zeit  der  extension  mania  (der  Manie  der  Erweiterung)  ge- 
nannt werden,  da  in  dieser  Zeit  die  Nation  bestrebt  war,  mit  allen 
Mitteln  allerlei  kommerzielle  Unternehmungen  zu  erweitern.  Die 
Zahl  von  Aktiengesellschaften  jeder  Art,  Bank-  und  Finanzinstituten, 
Gesellschaften  für  den  Bau  von  Schiffswerften,  für  Ausbeutung  von 
Bergwerken,  ferner  für  Handels-  und  industrielle  Unternehmungen 
u.  s.  w.  hat  sich  ausserordentlich  vermehrt"  2). 

Wie  gewöhnlich  in  solchen  Fällen,  hat  sich  die  Spekulation  be- 
sonders gern  Eisenbahnunternehmungen  zugewendet.  Die  neu  ge- 
gründeten Aktienbanken  bethätigten  sich  sehr  energisch  an  diesen 
Spekulationen.  Sie  acccptierten  Wechsel  der  Eisenbahngesellschaften, 
wobei   die   Zahlungen    dieser  Wechsel   in   Eisenbahnaktien   und  Obli- 


i)  Manufacturing  Distress,  The  Economist,    ii.  Juli   1863. 

2)  The  Economist,   18.  Mai   1867.     The  Causes  of  the  Existing  Depression. 


—      141      — 

gationen,  die  л'оп  den  Banken  selbst  realisiert  wurden,  geschahen.  Die 
Eisenbahnen  wurden  also  vollständig  mit  den  Mitteln  der  Banken  ge- 
baut. Für  die  Erweiterung  des  Eisenbahnnetzes  im  Vereinigten  König- 
reich sind  in  den  Jahren  1862 — 66  98  Millionen  Pfund  Sterling  ver- 
ausgabt worden,  und  das  Eisenbahnnetz  hat  sich  um  mehr  als  2000 
Meilen  erweitert. 

Aber  in  noch  grösserem  Umfange  wurden  enghsche  Kapitalien 
im  Bau  der  ausländischen,  hauptsächlich  amerikanischen  Eisenbahnen 
angelegt. 

Die  Beendigung  des  nordamerikanischen  Bürgerkrieges  gab  der 
englischen  Industrie  einen  neuen  Anstoss.  Die  Ausfuhr  nach  den 
Vereinigten  vStaaten  stieg  von  16,7  Millionen  Pfund  (1864)  auf 
28,5  Millionen  (1866).  Alles  das  führte  sehr  bald  eine  Krisis  herbei. 
Jedoch  waren  die  Umstände,  unter  denen  die  Krisis  von  1866  statt- 
fand, ganz  aussergewöhnhcher  Art.  Alle  vorangegangenen  Krisen 
haben  stets  im  Herbste,  im  letzten  Viertel  des  Jahres  stattgefunden; 
vor  dem  Ausbruch  derselben  oder  gleichzeitig  mit  ihnen  fand  sonst 
stets  ein  Abfluss  von  Edelmetall  nach  dem  Auslande  statt,  ein  so- 
genannter external  drain.  Im  Jahre  1866  ist  nichts  Aehnliches  ge- 
schehen. Die  Panik  fing  ganz  plötzlich  im  Mai  an,  während  die 
Reserve  der  Bank  von  England  eine  verhältnismässig  bedeutende 
war,  und  brachte  in  zwei  Wochen  die  Kasse  der  Bank  beinahe  zu 
einer  vollständigen  Erschöpfung,  so  dass  zum  dritten  Male  die  Peel 'sehe 
Akte  suspendiert  werden  musste.  Von  da  ab  war  das  ganze  Jahr 
hindurch  trotz  der  noch  nicht  dagewesenen  Höhe  des  Diskontes  die 
!  .Zahl  der  Bankerotte  unter  den  Kaufleuten  und  Industriellen  nicht 
gross,  und  erst  im  folgenden  Jahre  wurde  es  klar,  dass  die  Krise 
nicht  bloss  den  englischen  Kredit,  sondern  zugleich  auch  die  Waren- 
cirkulation  vollkommen  gestört  hatte. 

Zu  Beginn  des  Jahres  1866  Hess  nichts  das  nahe  Eintreten 
einer  Krisis  erwarten,  obwohl  die  ausserordentliche  Vermehrung  der 
Aktiengesellschaften  Symptome  eines  Gründungsschwindels  aufwies. 
Der  Barvorrat  und  die  Reserve  der  Bank  von  England  stiegen  bis 
Ende  März.  Im  April  beginnt  ein  langsames  Sinken  der  Reserve 
der  Bank;  am  9.  Mai  nimmt  dieses  mit  einem  Male  bedrohliche 
Dimensionen  an:  in  einer  Woche  sinkt  die  Kasse  der  Bank  um  mehr 
als  4  Millionen  Pfund. 


—        142 


Conto   der  Bank  von  England^). 


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Diskont 

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Q 

(Milli 

onen  Pfund  Sterling) 

am     3. 

Januar 

5'3 

13,1 

10,2 

5,0 

22,3 

6,2 

7   (vom  28.  Dez.  1865  an) 

V      7- 

Februar 

5,9 

13,1 

8,3 

ьз 

16,9 

4,3 

8   l   , 

,        4.  Januar  an) 

„      7. 

März 

7A 

14,1 

r,o 

2,8 

18,8 

4,7 

7   (  , 

,      22.  Februar  an) 

„    28. 

März 

6,9 

14,4 

7,3 

5,o 

21,7 

5,3 

6  (  , 

,      15.  März  an) 

„      4- 

April 

6,2 

14,3 

7,8 

4,8 

21,1 

5,3 

6  {  , 

„        „  ) 

„     18. 

April 

57 

13,9 

7.7 

2,0 

18,0 

5,7 

6  (  , 

,                ,,       ,,  ) 

„       2. 

Mai 

4,8 

T3,5 

8,8 

2,3 

18,5 

5,0 

6  С 

,                ,,       >,  ) 

,,      9- 

Mai 

5'0 

13^2 

9,2 

2,3 

19,3 

5^1 

8  (  , 

,     8.  Mai  an) 

„     16. 

Mai 

0,7 

12,3 

13,8 

7,8 

24,6 

7,9 

10   (   , 

,    12.  Mai  an) 

„    30. 

Mai 

0,4 

II, у 

16,5 

7,6 

26,7 

7,9 

10   (   , 

„       „) 

,,       I. 

August 

2,4 

13,8 

11,3 

5'2 

20,9 

6,0 

lO   (   , 

„       „) 

,.      3. 

Oktober 

6,b 

i6,9 

8,9 

3,6 

23,4 

6,5 

4'Д(  > 

,      27.  Sept.  an) 

„     26. 

Dezember 

11,4 

19,2 

7,4 

2,7 

27,3 

6,6 

З'ЛС    : 

,      30.  Dez.  an) 

Die  Verminderung  der  Reserve  der  Bank  von  England  im  April 
war  eine  Folge  des  Zusammenbruches  zweier  vor  kurzem  gegründeter 
Aktienbanken  —  der  Joint-Stock-Discount  Company  und  der  Burneds 
Banking  Company.  Das  rasche  Phallen  der  Kurse  der  Aktien  dieser 
Banken,  das  zum  Teil  durch  die  Börsenspekulation,  zum  Teil  aber 
auch  durch  die  schlechte  Verwaltung  der  Banken  selbst  herbeigeführt 
wurde,  war  die  Hauptursache  ihres  Unterganges  gewesen.  Als  die 
Aktien  zu  fallen  begannen  und  die  Befürchtung  auftauchte,  dass  diese 
Banken  fallieren  würden,  fing  das  Publikum  an,  seine  Depositen  aus 
ihnen  zurückzuziehen,  wodurch  beide  Banken  genötigt  wurden,  ihre 
Zahlungen  einzustellen  2).  Da  aber  beide  zusammengebrochene  Banken 
erst  kurze  Zeit  vorher  gegründet  worden  waren  und  im  System  des  eng- 
lischen Kredits  keine  bedeutende  Rolle  spielten,  so  übte  ihr  Zusammen- 
bruch nur  eine  rasch  vorübergehende  Wirkung  auf  den  Geldmarkt 
aus,  und  bis  Anfang  Mai  blieb  alles  in  der  City  ruhig. 

Ende  April  fingen  die  Aktien  des  soHdesten  englischen  Kredit- 
institutes —  der  Firma  Overend,  Gurney  &  Co.  —  zu  fallen  an.  Der 
Einfluss  in  der  City  und  der  Kredit  dieser  Firma  waren  so  gross,  dass  man 
sie  ihrer  Bedeutung  nach  der  Bank  von  England  gleichsetzte.  Anfang 
Mai  bezahlte  die  Firma  der  Mid-Wales  Railway  Company  einen 
Wechsel   nicht.     Die  Nachricht  davon   verbreitete  sich  sofort  in   der 


i)  Returns  of  the  Bank  of  England,   26.  Mai   1873. 

2)  William  Fowler,  Ihe  crisis  of  1866,  London   1867,  S.  4. 


—      143      ~ 

City,  die  Einleger  strömten  sofort  herbei,  um  ihre  Depositen  zurück- 
zuverlangen. Am  lo.  Mai  musste  die  Firma  ihre  Zahlungen  einstellen, 
wobei  ihre  Passiva  mehr  als   lo  Millionen  Pfund  betrugen  i). 

Die  durch  diesen  Bankerott  hervorgerufene  Panik  kann  man 
nach  der  Verminderung  der  Reserve  der  Bank  von  England  be- 
urteilen: der  Barvorrat  der  Bank  verminderte  sich  in  einer  Woche, 
vom  9.  bis  16.  Mai,  nicht  bedeutend,  —  um  weniger  als  eine  Million; 
die  Reserve  der  Bank  nahm  aber  um  mehr  als  4  Millionen  ab.  Diese 
4  Millionen  sind  aus  der  Bank  auf  dem  Wege  einer  Vermehrung  der 
Summe  der  diskontierten  Wechsel  um  4,6  Millionen  und  der  Dar- 
lehen auf  eine  bestimmte  Frist  um  5,5  Millionen  gezogen  worden, 
wahrend  gleichzeitig  die  Depositen  um  5,3  Millionen  Pfund  stiegen. 
Das  Gold  wurde  aus  der  Bank  nicht  zum  Zwecke  der  Ausfuhr 
nach  dem  Auslande  herausgezogen,  sondern  zur  Vermehrung  der 
Reserven  des  von  einer  Panik  erfassten  englischen  Publikums.  Die 
Operationen  der  Plrma  Overend  &  Co.  sind  so  umfangreich  ge- 
wesen, dass  ihr  Zusammenbruch  sofort  den  Kredit  in  ganz  England 
zerstörte.  Allgemein  erwartete  man  weitere  Bankerotte,  und  jeder- 
mann beeilte  sich,  sich  mit  barem  Gelde  zu  versehen.  Die  Londoner 
und   andere   Banken    haben    aus   der   Bank    von   England   Noten    für 

j  4  Millionen  Pfund  gezogen,  um  die  Mittel  zur  Rückzahlung  der  von 
ihnen  angenommenen  Depositen  zu  beschaffen.  Dass  die  Noten  der 
Bank  von  England  wirklich  zu  diesem  Zweck  den  privaten  Banken 
erförderlich  wurden,  das  wird  durch  die  grossen  Coupuren  der  ver- 
langten Banknoten  bewiesen  (es  sind  aus  der  Bank  von  England  ge- 
nommen: für  648  Tausend  Pfund  Fünfpfundnoten,  für  577  Tausend 
Pfund  Zehnpfundnoten,  für  1703  Tausend  Pfund  Zwanzig-  bis  Hundert- 
pfundnoten, für  848  Tausend  Pfund  Hundert-  bis  Tausendpfundnoten)-). 
Der  Zusammenbruch  der  Firma  Overend  &  Co.  ist  durch  ihre 
unvorsichtige  Geschäftsführung  veranlasst  worden:   diese  Firma  hatte 

■'  kolossale,  aus  den  Depositen  privater  Personen  bestehende  Kapitalien 
in  Darlehen  an  verschiedene  unsichere  Unternehmungen  angelegt, 
darunter   an   viele   Eisenbahn gesellschaften   in   England   und   im   Aus- 

iji  lande.  Einige  von  diesen  Gesellschaften  haben  im  Jahre  1866  falliert: 
so  z.  B.  in  Amerika  die  Atlantic  &  Great  Western  Railway  Com- 
pany,  und   in  England  die  London,   Chatam  &  Dover  Railway  Com- 

j  pany.    Die  Bahnen  dieser  beiden  Gesellschaften  waren  fast  ausschliess- 
lich mit  den  Geldmitteln  der  englischen  Banken,  und  zwar  hauptsäch- 

i)  H,  D.  Macleod,  The  Elements  of  Banking,  London   1876,  S.   228. 
2)  R.  H.  Patterson,    On   our  Home  Monetary  Drains.     Journal  of  the  Stat.  Soc. 
t"  London   1870,  S.   224. 


—      144     — 

lieh  mit  denen  der  Firma  Overend  &  Co.  erbaut  worden.  Diese 
Firma  war  in  Wirklichkeit  bereits  einige  Jahre  vor  der  Krise  von 
1866  zahlungsunfähig,  aber  der  Kredit,  den  sie  in  der  ganzen  Welt 
genossen  hatte,  hatte  ihr  die  Möglichkeit  gegeben,  sich  zu  halten. 

Die  Panik,  die  durch  den  Zusammenbruch  dieser  Firma  hervor- 
gerufen wurde,  war  so  gross,  dass,  obgleich  die  Bank  von  England 
den  Diskont  sofort  auf  10  ^q  erhöhte,  die  Regierung  es  für  nötig 
erachtete,  der  Direktion  der  Bank  zu  erlauben,  Banknoten  über  die 
im  Gesetze  von  1844  festgesetzte  Norm  hinaus  zu  verausgaben.  So 
wurde  dieses  Gesetz  zum  dritten  Male  suspendiert.  Aber  die  Bank 
kam  nicht  dazu,  das  ihr  gegebene  Recht  auszunutzen.  Obgleich  sich 
die  Summe  der  Noten  der  Bank  von  England  in  der  Cirkulation  um 
beinahe  4  Millionen  Pfund  vermehrt  hatte  (am  9.  Mai  waren  in  der 
Cirkulation  Noten  der  Bank  von  England  im  Betrage  von  22,3  Mill. 
Pfund,  am  16.  Mai  aber  solche  im  Betrage  von  26,1  Millionen  Pfund), 
überschritt  ihre  Gesamtsumme  die  gesetzhche  Norm  nicht.  Es  findet 
das  seine  Erklärung  darin,  dass  während  der  Panik  des  Jcihres  1866 
das  Gold  fast  gar  nicht  aus  der  Bank  von  England  herausgezogen 
wurde;  nach  dem  Auslande  floss  das  Gold  beinahe  überhaupt  nicht 
ab,  innerhalb  des  Landes  war  auch  keine  grosse  Nachfrage  nach 
Metall  vorhanden,  und  zwar  aus  dem  Gründe,  weil  die  Panik  dieses 
Jahres  fast  ausschliesslich  durch  das  Misstrauen  zu  den  Privatbanken, 
nicht  aber  durch  eine  Erschütterung  des  Handels  und  der  Industrie 
im  Lande  hervorgerufen  war.  Daher  genügte,  auch  im  Höhepunkt 
der  Panik,  der  Barvorrat  der  Bank  von  England  vollständig,  um  die 
neu  verausgabten  Banknoten  zu  decken. 

Es  ist  sehr  lehrreich,  die  Panik  von  1866  mit  der  von  1857 
zu  vergleichen.  Im  Jahre  1857  hatte  sich  in.  der  Panikwoche  vom 
4.  bis  II.  November  die  Reserve  der  Bank  von  England  um  1,2  Mill. 
Pfund  und  der  Barvorrat  um  1,3  Millionen  Pfund  vermindert.  Die 
Summe  der  in  der  Cirkulation  befindlichen  Banknoten  hatte  sich  i 
gegen  Ende  November  um  i  Million  Pfund  vermehrt,  wobei  die 
Norm,  in  der  die  Banknoten  durch  Gold  gedeckt  werden  mussten,  Щ 
durchbrochen  war.  Im  Jahre  1866  verlangte  das  Publikum  weit 
mehr  Noten  der  Bank  von  England,  aber  sie  waren  alle  durch  den 
Vorrat  an  Edelmetallen  in  den  Gewölben  der  Bank  gedeckt.  Der 
Unterschied  zwischen  der  einen  und  der  anderen  Panik  rührte  davon 
her,  dass  im  Jahre  1857  die  Ursache  der  Panik  eine  Handelskrise 
gewesen  war,  im  Jahre  1866  aber  die  Panik  nur  durch  den  zufälligen 
Zusammenbruch  einer  grossen  Bank  hervorgerufen  wurde. 


—     145     — 

Auf  den  Zusammenbruch  der  Firma  Overend  &  Co.  folgte  der 
Zusammenbruch  anderer  kleinerer  Banken.  Im  Mai  und  Juni  stellten 
die  Imperial  Mercantile  Credit  Association,  die  Bank  of  London,  die 
Consolidated  Bank,  die  Agra  &  Masterman  Bank  und  andere  ihre 
Zahlungen  ein  ^). 

Noch  mehr  als  in  England  selbst  war  der  englische  Kredit  im 
Auslande  erschüttert.  Nur  dadurch  kann  die  merkwürdige  Erscheinung 
erklärt  werden,  dass,  obgleich  die  Bank  von  England  den  Diskont 
auf  lo  %  erhöht  hatte  (während  in  Paris  der  Diskont  auf  4  ^o  stehen 
blieb),  das  Gold  einige  Monate  hindurch  in  die  Kasse  der  Bank  nicht 
zufliessen  wollte  und  die  Reserve  andauernd  niedrig  blieb.  Im  Aus- 
lande fürchtete  man  nach  der  Suspendierung  der  Bankakte  von  1844, 
dass  die  Bank  von  England  aufhören  werde,  ihre  Noten  einzulösen, 
und  die  aussergewöhnliche  Höhe  des  Diskontes  verstärkte  nur  auf 
dem  europäischen  Kontinent  das  Misstrauen  zu  der  finanziellen  Lage 
Englands;  infolge  dessen  übte  auch  die  Erhöhung  des  Diskontes  eine 
Zeit  lang  ihre  gewöhnliche  Wirkung  nicht  aus. 

Die  gegen  Ende  des  Jahres  erfolgte  Erhöhung  der  Reserve  der 
Bank  von  England  auf  1 1  Millionen  Pfund  und  des  Barvorrats  auf 
19  Millionen  Pfund  zeugt  nicht  nur  von  der  Wiederherstellung  des 
Vertrauens,  sondern  auch  von  einer  Geschäftsstockung.  Die  Panik  von 
1866  war  nicht  durch  eine  Handelskrisis  hervorgerufen,  aber  eine  De- 
pression war  auf  sie  gefolgt.  Hätte  nicht  im  Mai  der  zufällige  Zusammen- 
bruch der  Firma  Overend  &  Co.  stattgefunden,  so  wäre  wahrscheinlich 
eine  Krise  im  Herbst  1866  oder  1867  ausgebrochen,  da  das  wSpeku- 
lationsfieber  der  vorangegangenen  Jahre  unausbleiblich  zu  einer  Krise 
fuhren  musste. 

Alle  früheren  Krisen  in  England  haben  ausnahmslos  im  Herbst 
stattgefunden.  Und  das  ist  kein  Zufall.  Die  Hauptmasse  der  Waren 
im  internationalen  Verkehr  ist  vegetativen  Ursprungs.  Die  Ernte  der 
Mehrzahl  der  vegetabilischen  Produkte  findet  im  Herbste  statt.  In 
dieser  Zeit  wird  nicht  nur  Getreide,  Tabak,  Wein  u.  s.  w.  geerntet, 
sondern  auch  allerlei  vegetabilische  Stoffe,  die  das  Rohmaterial  für 
die  Industrie  abgeben,  wie  Baumwolle,  Flachs,  Hanf  u.  s.  w.  Im 
Herbste  werden  also  die  Preise  einer  ganzen  Reihe  der  wichtigsten 
Waren  bestimmt;  gerade  da  zeigt  es  sich,  in  wieweit  die  Spekulation 
auf  dem  Warenmarkte  gerechtfertigt  war.  Es  ist  natürlich,  dass  eine 
Reaktion  auf  dem  Gebiete  der  Preise  dann  eintritt,  wenn  die  rauhe 
Wirklichkeit  beweist,  dass  die  zu  optimistischen  Berechnungen  unbe- 
gründet waren,  d.  h.  gegen  die  Zeit  der  Ernte. 

I)  W.  Fowler,  The  Crisis  of  1866,  S.  9. 
Tugan-Baranowsky ,  Die  Handelskrisen.  IQ 


—      146     — 

Das  ist  die  erste  Ursache,  warum  die  Krisen  im  Herbste  ein- 
treten. In  England  wirken  in  derselben  Richtung  noch  andere  Ur- 
sachen. England  importiert  hauptsächlich  Rohstoffe  und  exportiert 
Fabrikate;  dabei  bezahlt  England  seinen  Import  sofort  mit  barem 
Gelde,  es  exportiert  dagegen  auf  Kredit,  manchmal  auf  sehr  lang- 
fristigen. Infolge  dessen  ist  im  Herbst  die  Zahlungsbilanz  für  Eng- 
land gewöhnlich  ungünstig  und  die  Edelmetalle  in  Barren  und  in 
Münzen  fiiessen  nach  dem  Auslande  ab,  um  im  Laufe  des  Jahres 
wieder  nach  England  zurückzukehren. 

Also,  im  Herbste  bedürfen  die  englischen  Kaufleute  mehr  als  je 
bares  Geldes  und  zugleich  wird  der  Vorrat  an  barem  Geld  im  Herbste 
geringer  als  je.  Der  inländische  Handel  verlangt  gleichfalls  im  Herbste, 
infolge  der  auf  eine  Ernte  folgenden  Erweiterung  der  Warencirku- 
lation,  grössere  Geldmassen. 

Daraus  vermindern  sich  im  Herbste  Reserve  und  Barvorrat  der 
Bank  von  England ,  die  Diskontierungen  derselben  aber  erweitern 
sich.  Dasselbe  ist  der  Fall  mit  den  Privatbanken:  ihre  Reserven 
vermindern  sich  infolge  der  Erweiterung  der  Diskontierungen  einer- 
seits und  der  Zurückziehung  der  Depositen  der  Händler,  Industriellen 
und  anderer  Personen,  die  bares  Geld  im  Herbste  brauchen,  andrerseits. 
Alles  das,  zusammen  genommen,  erzeugt  eine  Geldklemme.  Der  Dis- 
kont steigt,  der  Kredit  wird  nicht  gern  eröffnet,  die  alten  Wechsel, 
die  vielleicht  schon  mehrfach  nach  Ablauf  der  Frist  erneuert  wurden, 
werden  nicht  mehr  erneuert,  jedermann  beeilt  sich,  seine  Darlehen  zu 
realisieren  und  sich  mit  barem  Gelde  zu  versehen.  Es  ist  ganz  natür- 
lich, dass  unter  solchen  Umständen  die  weniger  vermögenden  oder 
weniger  vorsichtigen  Firmen  nicht  imstande  werden,  ihren  Verpflich- 
tungen nachzukommen ;  sie  fallieren,  in  ihrem  Sturz  reissen  sie  andere 
Firmen  mit,  und  eine  Krisis  bricht  aus.  Daher  haben  alle  englischen 
Handelskrisen  —  nicht  nur  die  von  1825,  1837,  1847  und  1857, 
sondern  auch  die  früheren  Krisen,  die  von  1799,  18 10,  18 14 — 15 
und   1818   —  immer  im  Herbste  stattgefunden. 

Die  Panik  und  die  Einschränkung  des  Kredites  im  Jahre  1866 
waren  nicht  durch  eine  Handelskrisis  hervorgerufen.  Daher  sehen  wir 
unter  den  kommerziellen  und  industriellen  Firmen  Englands,  trotz 
des  Zusammenbruches  der  Banken  und  der  unerhörten  Höhe  deS' 
Diskontes,  nur  wenig  Bankerotte.  Im  Jahre  1865  gab  es  in  Eng- 
land 831  Fälle  von  Zahlungsunfähigkeit,  im  Jahre   1866  aber  nur  813. 

Die  Krise  des  Frühjahrs  1866  kann  eine  Kreditkrise  genannt 
werden:  auf  eine  übermässige  Erweiterung  des  Kredites  folgte  plötz- 
lich eine  Einschränkung   desselben,   unter   welcher   hauptsächlich  die 


—     147     — 

Kreditinstitute  gelitten  haben  ^).  Die  Erschütterung  des  Kredits  hat 
sich  aus  dem  Grunde  nicht  auf  die  Industrie  ausgedehnt,  weil  im 
Frühling  1866  die  Verhältnisse  für  eine  Handelskrise  noch  nicht  reif 
waren  und  die  Jahreszeit  der  Entstehung  einer  solchen  nicht 
günstig  war. 

Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  die  Panik  des  Jahres  1866 
auf  die  englische  Industrie  gar  keinen  Einfiuss  ausgeübt  hat.  Die 
Einschränkung  des  Kredites  hat  dazu  geführt,  dass  der  englische 
Handel  in  grösserem  Masse  als  früher  mit  barem  Gelde  geführt  und 
dass  daher  eine  zweite  Wiederholung  der  Panik  des  Jahres  1866  un- 
möglich gemacht  wurde.  Also  hat  der  frühzeitige  Zusammenbruch 
der  Firma  Overend  &  Co.,  der  die  Kreditkrise  von  1866  hervorge- 
rufen hat,  einer  Handelskrise,  die  sonst  in  der  nächsten  Zukunft  zu 
erwarten  stand,  vorgebeugt. 

Andererseits  fand  die  Stockung  des  Handels  und  der  Industrie, 
die  immer  auf  eine  Handelskrisis  folgt,  in  England  auch  Ende  1866 
statt,  und  in  einem  noch  höheren  Masse  während  der  beiden  folgenden 
Jahre.  Wie  wir  es  aus  der  späteren  Geschichte  der  Schwankungen 
der  englischen  Industrie  sehen  werden,  folgt  auf  einen  übermässigen 
industriellen  Aufschw^ung  stets  eine  Depression,  eine  Geschäftsstockung, 
wenn  auch  der  Uebergang  von  dem  einen  Zustand  zu  dem  anderen 
nicht  immer  von  einer  Krise  begleitet  wird.  Die  Handelskrise  ver- 
stärkt nur  die  Reaktion,  ist  aber  nicht  ihre  einzige  Ursache. 

Die  in  dem  Zustand  der  englischen  Industrie  eingetretene  Re- 
aktion wird  durch  die  Veränderung  der  Warenpreise  klar  gekenn- 
zeichnet 2) : 

Steigen  und  Sinken  der  Warenpreise  auf  dem  Londoner 

Markte  in  Prozenten 

(im  Vergleich  zum   i.  Januar  des  jeweilig  vergangenen  Jahres). 


am 

I.  Januar 

1866 

am 

I.  Januar   1867 

Kaffee    .     .     . 
Zucker    .     . 

H-ii7o 

-i7  7o 
—    9 

Thee        .     . 
Seide       .     . 
Flachs  u.  Hanf 

+  31 
+  27 
+  6 

—  23 

—  9 

—  17 

Kupfer    . 
Eisen 

+  21 

—    5 

—  20 

—  12 

Zinn  .... 
Baumwolle  .     . 

+    7 

+  15   (im 

Vergleich 

mit 

Juli 

1865) 

—  28 

i)  Vgl.  darüber  The  Panic  of   1866.     The  Bankers  Magazine   1866    und   The  Crisis 
"f   1866.     The  Economist  vom   23.  Juni   1866. 

2)  Berechnet  nach  den  Tabellen   in  The  Economist,   1867,    Commercial  History    and 
ll     Review  of  1866,  S.  40. 

10* 


—    148    — 

Am  I.  Januar  1866  standen  also  die  Preise  der  meisten  Waren 
bedeutend  höher  als  am  i.  Januar  1865.  Sogar  die  Baumwolle  war 
im  Preise  gestiegen,  trotzdem,  dass  ihre  Zufuhr  aus  den  Vereinigten 
Staaten  stark  zugenommen  hatte;  das  weist  auf  eine  heftige  Spekulation 
hin,  da  die  erneuerte  Zufuhr  von  Baumwolle  aus  Nordamerika  eigent- 
lich die  Preise  der  Baumwolle  auf  das  Niveau  des  Anfangs  der  60er 
Jahre  bringen  sollte,  d.  h.  dieselben  stark  herabdrücken.  Die  Preise 
des  Eisens  sind  im  Jahre  1865  gesunken,  weil  infolge  der  Beendigung 
des  nordamerikanischen  Bürgerkrieges  die  Zahl  der  gebauten  Schiffe 
sich  vermindert  hat.  Am  i.  Januar  1867  sind  aber  die  Preise  aller 
Waren  gesunken. 

Die  Epoche  der  Prosperität  war  abgelaufen  und  eine  Epoche 
der  Depression  trat  ein,  die  im  Gebiete  des  Handels  und  der  Industrie 
in  niedrigen  Warenpreisen,  in  einer  Einschränkung  der  Produktion 
und  im  Gebiete  des  Kredits  in  niedrigem  Diskont,  in  einer  Anhäufung 
von  freien  Kapitalien  in  den  Kassen  der  Banken  zum  Ausdruck  kam. 

Am  schwersten  wurden  durch  die  wirtschaftliche  Depression 
Ende  der  6oer  Jahre,  wie  Ende  der  50er  Jahre,  diejenigen  Produktions- 
zweige getroffen,  die  das  stehende  Kapital  erzeugen,  also  haupt- 
sächlich die  Eisen-  und  Maschinenindustrie  und  der  Schiffsbau. 


KAPITEL  V. 


Die  periodischen  Schwankungen  der  Industrie 
in  der  neuesten  Zeit. 


Charakteristik  dieser  Schwankungen.  —  Veränderung  derselben  im  Vergleich  zu 
denen  der  früheren  Zeit.  —  Das  Fehlen  plötzlicher  Sprünge.  —  Die  Krise  von  1873.  — 
Der  Wiener  Börsenkrach.  —  Die  amerikanische  Krise.  —  Die  Spekulation  auf  der  Lon- 
doner Effektenbörse.  —  England  entgeht  einer  Krise.  —  Die  Depression  der  80er 
Jahre.  —  Das  Sinken  der  Warenpreise  und  seine  Ursachen.  —  Die  Veränderung  der 
Transportverhältnisse.  —  Der  englische  Ackerbau.  —  Die  Verstärkung  der  Konkiu-renz 
auf  dem  Weltmarkte.  —  Die  Aktiengesellschaften.  —  Der  Baringskrach  und  die 
Depression  der  90 er  Jahre.  —  Die  argentinischen  Spekulationen.  —  Die  ausserordenthche 
Entwickelung  Argentiniens.  —  Der  Gründungsschwindel.  —  Der  Zusammenbruch  der  Firma 
Baring.  —  England  ist  wieder  einer  Krisis  entgangen.  —  Die  Depression  in  den  Jahren 
1892 — 94.  —  Die  Handelskrisen  in  Australien  und  Amerika.  —  Warum  haben  in  England 
die  Krisen  des  früheren  Typus  aufgehört? 

Die  bedeutende  Verlangsamung  der  industriellen  Entwickelung 
Englands  seit  der  zweiten  Hälfte  der  70er  Jahre  hat  keineswegs 
periodische  Schwankungen  der  Industrie  beseitigt.  Im  Gegenteil,  nie- 
mals haben  diese  Schwankungen  einen  so  gesetzmässigen  Charakter 
gehabt  wie  gerade  in  der  neuesten  Zeit.  Hierunten  folgen  unsere 
üblichen  Tabelle  und  Diagramm  ^). 


i)  Nach  den  Statistical  Abstracts  for  the  United  Kingdom.  Im  Jahre  1883  erschien 
in  England  ein  neues  Gesetz,  betreffend  die  Bankerotte,  das  eine  veränderte  Registrierung 
derselben  zur  Folge  hatte.  Da  die  absoluten  Zahlen  der  Bankerotte  vor  und  nach  1883 
mit   einander   nicht   vergleichbar   sind,    so   habe   ich  zwei  Durchschnittszahlen  berechnet,    die 

||  eine   für    187 1  — 1883    und   die    andere    für    1884 — 1898;    in   das  Diagramm   sind   die  Ab- 

I    weichungen  von  diesen  Durchschnittszahlen  eingetragen. 


I50     — 


Jahre 

Wert  der  Ausfuhr  der 
Produkte  des  Ver- 
einigten Königreichs 
(in  Millionen  Pfd.  St.) 

Umsätze  des  Londoner 

Clearing-House  (in 
Zehnmillionen  Pfd.St.) 

Anzahl  der  Bankerotte 
u.  Fälle  von  Zahlungs- 
unfähigkeit in  England 
und  Wales    (auf  volle 
10  abgerundet) 

Anzahl  der  neu  ge- 

gründetenAktiengesell- 

schaften  (auf  volle   10 

abgerundet) 

Preise  des  schottischen 

Roheisens  pro  Tonne 

(in  Schillingen) 

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England  im  letzten 
Quartal  des  betreffen- 
den Jahres 
(in  Mill.  Pfd.  St.) 

1871 

223 

479 

6280 

820 

59 

2З1О 

1872 

256 

589 

6840 

1 120 

102 

21,4 

1873 

255 

607 

7490 

1230 

117 

20,9 

1874 

240 

594 

7920 

1240 

88 

21,0 

1875 

223 

569 

7890 

1 170 

66 

23,6 

1876 

201 

496 

9250 

1070 

59 

31,3 

1877 

199 

504 

9530 

990 

54 

23,2 

1878 

193 

499 

11450 

890 

48 

25,5 

1879 

192 

489 

13130 

1030 

47 

30,0 

1880 

223 

579 

10300 

1300 

55 

26,4 

1881 

234 

636 

9730 

1580 

49 

20,8 

1882 

241 

622 

9040 

1630 

49 

20,8 

1883 

240 

593 

8560 

1770 

47 

22,4 

1884 

233 

580 

4190 

1540 

42 

20,4 

1885 

213 

551 

4350 

1480 

42 

20,8 

1886 

213 

590 

4860 

1890 

40 

i9>9 

1887 

222 

608 

4870 

2500 

42 

20,2 

1888 

235 

694 

4860 

2550 

40 

19,5 

1889 

249 

762 

4540 

2790 

48 

19,7 

1890 

264 

780 

4040 

2790 

50 

21,8 

1891 

247 

685 

4240 

2690 

47 

23,2 

1892 

227 

648 

4660 

2610 

42 

25,0 

1893 

218 

648 

4900 

2620 

42 

25,9 

1894 

216 

634 

4790 

2970 

43 

35.3 

1895 

226 

759 

4490 

3890 

44 

42,5 

1896 

240 

758 

4170 

4740 

47 

35.9 

1897 

234 

749 

4100 

5230 

45 

31.8 

1898 

233 

810 

4320 

4650 

47 

31.5 

1899 

255 

915 

— 

— 

— 

— 

In 

d.  Jahren  71  — 

33 

Im  Durchschnitt 

229 

636 

In 

9030 
d.  Jahren  84 — < 
4490 

2170 
58 

54 

25.1 

-      I 


Schon   bei   einer   flüchtigen   Betrachtung   des  Diagramms  Nr.   3 
fällt  uns  die  Periodicität  der  Schwankungen   der  beiden  Kurven,  die 
den    auswärtigen    und    den    inneren    Handel   Englands   kennzeichnen, 
auf  —  der  Kurve  des  englischen  Exportes  und  der  Kurve  der  Um-    ' 
Sätze    des    Londoner    Clearing-House.      Analoge    Schwankungen    be- 
merken  wir  an   der  sehr  rasch  steigenden   Kurve  der  Aktiengesell-   | 
Schäften.      Man    kann    in    den    Bewegungen    jeder     dieser    Kurven  j 
4   Wellen    unterscheiden.      Die    erste   Welle    erreicht    in    den  Jahren   1 
1873 — 1874    ihren    Höhepunkt.      Dann    beginnt   eine  lange   dauernde 
industrielle  Ebbe  bis   1878—79.     Die  zweite  Welle  erreicht  rasch  ihr 


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1899 
1898 
1897 
1896 
1895 
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1893 
1892 
1891 
1890 
1889 
1888 
1887 
1886 
1885 
1884 
1883 
1882 
1881 
1880 
1879 
1878 
1877 
1876 
1875 
1874 
1873 
1872 
1871 


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Prozente  der  Abweichungen  von  den  Durchschnittszahlen 


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1884 
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1899 

1898 
1897 
1896 
1895 
1894 
1893 
1892 
1891 
1890 
1889 
1888 
1887 
1886 
1885 
1884 
1883 
1882 
1881 
1880 
1879 
1878 
1877 
1876 
1875 
1874 
1873 
1872 
1871 


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Prozente  der  Abweichungen  von  den  Durchschnittszahlen 


—      151     — 

Maximum  gegen  1881 — 83.  vSodann  folgt  ein  Phallen  der  Welle,  wo- 
bei das  Minimum  in  die  Jahre  1885  —  86  fällt  Die  dritte  aufsteigende 
Welle  beginnt  nach  1890  zu  fallen.  Die  ersten  4  Jahre  der  90er  Jahre 
sind  durch  eine  industrielle  Ebbe  gekennzeichnet.  Seit  1895  sehen 
wir  eine  neue  industrielle  Flut. 

Ganz  analoge  Schwankungen  finden  auch  in  der  Bewegung  der 
Eisenpreise  statt.  Einen  besonders  kolossalen  vSprung  nach  oben 
machen  die  Preise  des  Eisens  zu  Beginn  der  70er  Jahre.  Die  Jahre 
1880  und  1890  sind  auch  die  Höhepunkte  ihres  Aufsteigens,  aber 
dieses  Aufsteigen  ist  ganz  geringfügig  im  Vergleich  zu  dem  der  70er 
Jahre.  Von  1894/95  an  gehen  die  Preise  des  Eisens  wieder  in  die 
Höhe. 

In  welchem  Zusammenhang  haben  nun  diese  gesetzmässigen 
vSchwankungen  der  englischen  Industrie  mit  dem  Zustand  des  Geld- 
marktes gestanden? 

Im  ersten  Jahrzehnt  1871  — 1880  schwankt  die  Kurve  der  Bar- 
vorräte der  Bank  von  England  in  entgegengesetzter  Richtung  im 
Vergleich  zu  den  Schwankungen  der  ersten  vier  Kurven;  mit  andern 
Worten  waren  die  Schwankungen  der  Industrie  in  dieser  Zeit  von 
den  Schwankungen  des  Kredites  abhängig.  Das  Sinken  der  Waren- 
preise in  den  Jahren  1874 — 76  ruft  einen  Zufluss  von  Metall  in  die 
Kasse  der  Bank  hervor  —  ein  sicheres  Zeichen  dafür,  dass  auf  dem 
Gebiete  des  Kredites  eine  von  denjenigen  periodischen  Katastrophen 
vor  sich  gegangen  ist,  die  wir  schon  so  gut  kennen  gelernt  haben. 
Aber  diese  Krise  hatte  bei  weitem  nicht  die  typische  Form  gehabt, 
da  die  Erhöhung  des  Barvorrats  der  Bank  von  England  nur  all- 
mählich im  Verlauf  von  drei  Jahren  vor  sich  geht.  Im  Jahre  1877 
sinkt  der  Barvorrat  rasch  und  steigt  darauf  ebenso  rasch  bis  zum 
Jahre  1879.  Nichts  Aehnliches  hatte  in  den  Perioden  der  vorange- 
gangenen Krisen  stattgefunden. 

Die  im  Anfang  der  8oer  Jahre  stattfindende  zweite  Schwankung 
der  Industrie,  die  in  allen  vier  ersten  Kurven  in  verschiedenem 
Grade  zum  Ausdruck  kommt,  ruft  keine  irgendwie  bedeutende  Er- 
schütterung des  Kredites  hervor:  die  Kurve  der  Barvorräte  der  Bank 
von  England  macht  keinen  Sprung  nach  oben  (wie  das  immer  nach 
einer  Handelskrisis  der  Fall  ist),  sondern  sie  sinkt  zugleich  mit  allen 
anderen  Kurven.  Erst  1883  macht  sich  ein  schwaches  Steigen  be- 
merkbar. Dass  zeugt  davon,  dass  zum  ersten  Mal  im  ganzen  19. 
Jahrhundert  ein  Jahrzehnt  in  England  ohne  eine  Erschütterung  des 
Kredits  verflossen  ist.  Im  Jahre  1891  findet  gleichzeitig  mit  dem 
Sinken  des  Exportes  ein  Steigen  des  Barvorrat»  der  Bank  von  Eng- 


—        152         - 

land  statt,  aber  wieder  bei  weitem  kein  schroffes,  sondern  eins,  das 
ganze  5  Jahre  hindurch  fortdauert. 

Die  Kurve  der  Bankerotte  ist  der  beste  Gradmesser  für  die 
Krisen.  Wir  sehen,  dass  die  Bankerotte  bis  zum  Jahre  1879  "lit 
einer  gewissen  Regelmässigkeit  zunehmen.  Offenbar  hat  die  Krise 
der  70  er  Jahre  keinen  so  schroffen  Charakter  gehabt  wie  die  voran- 
gegangenen Krisen.  Die  Jahre  1883 — 84  sind  nicht  durch  eine  Zu- 
nahme, sondern  durch  ein  Sinken  der  Zahl  der  Bankerotte  gekenn- 
zeichnet. Also  von  einer  gewöhnlichen  Krise  in  England  kann  nicht 
die  Rede  sein.  Der  Wendepunkt  des  Jahres  1890  tritt  in  der  Zahl 
der  Bankerotte  nur  in  sehr  geringem  Masse  zum  Vorschein.  Erst 
1893  vermehren  sich  die  Bankerotte  bedeutend.  Die  neuesten  Jahre 
des  industriellen  Aufschwunges  sind  von  einer  Verminderung  der 
Zahl  der  Bankerotte  begleitet. 

Vergleichen  wir  die  neuesten  Schwankungen  der  englischen  In- 
dustrie mit  den  früheren,  so  wird  der  Unterschied  zwischen  ihnen 
sofort  klar.  Die  Wellen  sind  nicht  mehr  so  steil  wie  früher.  Die 
Kurve  der  Ausfuhr  bildete  früher  eine  gebrochene  Linie  mit  spitzen 
Winkeln,  jetzt  hat  diese  Kurve  einen  wellenartigen  Charakter  ange- 
nommen —  eine  ausgeprägte  Winkelbildung  findet  nicht  mehr  statt. 
Früher  war  auf  jedes  starke  Sinken  des  Exportes  immer  ein  noch 
stärkeres  Steigen  desselben  gefolgt;  jetzt  sinkt  die  Ausfuhr  jahrelang 
tiefer  und  tiefer.  Früher  gab  es  also  weniger  Jahre  des  Sinkens  als 
des  Steigens,  jetzt  ist  das  Umgekehrte  der  Fall.  Ausserdem  waren 
die  periodischen  Schwankungen  der  englischen  Industrie  früher  von 
Erschütterungen  des  Kredites  begleitet.  Das  Fallen  der  Welle  des 
industriellen  Aufschwunges  nach  Ueberschreitung  des  Kulmina- 
tionspunktes wirkte  wie  ein  starker  Stoss  auf  die  gesamte  Volks- 
wirtschaft; jetzt  rufen  die  Schwankungen  der  Industrie  Erschütterungen 
des  Kredites  garnicht  hervor  und  die  englische  Industrie  geht  all- 
mählich und  ohne  schroffe  Uebergänge  aus  einem  blühenden  Zustand 
in  einen  Zustand  des  äussersten  Verfalls  über. 

Gehen  wir  jetzt  zur  ausführlichen  Betrachtung  der  einzelnen 
Schwankungen  der  englischen  Industrie  über.  Die  Epoche  187  i — 73 
war  in  ganz  Europa  die  Zeit  eines  aussergewöhnlichen  industriellen 
Aufschwungs.  Gegen  das  Ende  der  6oer  Jahre  litt  die  Industrie  unter 
der  allgemein  gehegten  Erwartung  eines  Krieges  zwischen  Frank- 
reich und  Deutschland.  Endlich  brach  dieser  Krieg  aus.  Mittelst  der 
französischen  Milliarden  wurden  die  deutschen  Staatsschulden  getilgt. 
Auf  den  Geldmarkt  Deutschlands  wurden  plötzlich  höchst  bedeutende 
Kapitalien  geworfen,  die  eine  vorteilhafte  Anlage  suchten;  kein  Wunder, 


—     153     — 

dass  daraus  ein  Gründungsschwindel  emporgeschossen  ist,  der  bald 
den  Charakter  der  tollsten  Manie  angenommen  hatte. 

Das  Lieblingsgebiet  der  Börsenagiotage  ist  Deutschland  und 
Oesterreich  geworden.  Wie  immer  hat  sich  die  Agiotage  mit  be- 
sonderem Eifer  auf  die  Erweiterung  des  stehendes  Kapitals  des  Landes 
geworfen;  der  Bau  neuer  Eisenbahnen,  der  Ankauf  freier,  städtischer 
Grundstücke  für  deren  Bebauung  mit  Häusern  waren  die  beliebten 
Formen  der  Börsenspekulationen  dieser  Zeit.  Besonders  stark  hat 
die  Spekulation  dieser  letzteren  Art  in  Wien  gewütet,  und  in  Wien 
erfolgte  auch  zuerst  die  unvermeidliche  Reaktion.  Am  8.  Mai  1873 
brach  auf  der  Wiener  Effektenbörse  eine  Panik  aus,  die  mit  einem 
vollständigen  Zusammenbruch  der  Börsenspekulanten  endigte.  Etwas 
später  trat  die  Börsenkrisis  auch  in  Deutschland  ein. 

Die  Vereinigten  Staaten  sind  ein  so  viel  versprechendes  Feld 
für  die  Anlage  europäischen  Kapitals,  dass  es  sonderbar  gewesen 
wäre,  wenn  der  Gründungsschwindel  in  Europa  sich  nicht  auf  Ame- 
rika ausgebreitet  hätte.  Aber  auch  abgesehen  davon,  gab  es  in  Ame- 
rika genügend  Vorbedingungen  für  jenen  eigentümlichen,  erregten 
Zustand  der  Volkswirtschaft,  der  immer  mit  einer  Handelskrisis  endigt. 
Seit  1857  hatte  es  in  den  Vereinigten  Staaten  keine  Krisis  mehr  ge- 
geben; nach  Beendigung  des  Bürgerkrieges  im  Jahre  1864  hat  sich 
aber  die  Industrie  der  Vereinigten  Staaten  ganz  ausserordentlich  ent- 
wickelt und  der  Nationalreichtum  wuchs  schneller  als  je  zuvor.  Es 
ist  natürlich,  dass  auch  in  den  Vereinigten  Staaten  eine  Gründungs- 
manie entstand.  Das  beliebteste  Objekt  der  Börsenspekulation  wurden 
die  Eisenbahnen.  In  den  4  Jahren  1870 — 1873  ist  in  den  Vereinigten 
Staaten  ein  neues,  23.406  Meilen  umfassendes  Eisenbahnnetz  gebaut 
worden. 

Und  zwar  waren  es  eben  die  missglückten  Spekulationen  bei 
den  Eisenbahnbauten,  die  sehr  bald  Amerika  zu  einem  Krache  und 
einer  Börsenpanik  geführt  hatten. 

Anfang  Januar  gründete  eines  der  solidesten  Bankhäuser  der 
Vereinigten  Staaten,  die  Firma  Jay  Cooke  and  Co.,  die  den  Eisen- 
bahngesellschaften ungeheuere  Geldsummen  geliehen  hatte,  —  ein 
Syndikat  zu  dem  Zwecke,  eine  neue  Eisenbahnanleihe  von  300  Mill. 
Dollar  aufzunehmen,  um  die  angefangenen  Eisenbahnlinien  auszu- 
bauen. Aber  obgleich  diesem  Syndikate  sich  auch  das  Haus  Roth- 
schild anschloss,  glückte  die  Anleihe  nicht,  und  nur  mit  der  grössten 
Mühe  gelang  es,  100  Mill.  Dollar  (statt  der  erforderlichen  300  Mill. 
Dollar)  zusammenzubringen.  Die  europäischen  Börsen  (auf  denen 
hauptsächlich    amerikanische    Wertpapiere    abgesetzt    wurden)    waren 


—      154     — 

ebenso  wie  die  Newyorker  Börse  ohnehin  mit  Eisenbahnwerten  über- 
schwemmt und  konnten,  trotz  der  vorteilhaften  Bedingungen,  die  an- 
gebotenen Papiere  nicht  unterbringen.  Da  wendeten  sich  die  Eisen- 
bahngesellschaften an  die  Banken  um  Hülfe  und  erhielten  von  ihnen 
Darlehen  auf  bestimmte  Frist  gegen  Verpfändung  ihrer  Werte.  Diese 
Darlehen  wurden  von  den  Gesellschaften  nicht  rechtzeitig  zurück- 
erstattet, und  die  Banken,  die  ihnen  geliehen  hatten,  begannen,  eine 
nach  der  andern,  die  Zahlungen  einzustellen,  Zuerst  wurde  die 
„New  York  Warehouse  and  Security  Company",  die  für  viele  Eisen- 
bahnen in  Cansas,  Missury  und  Texas  Geld  geliehen  hatte,  banke- 
rott; sodann  folgte  der  Bankerott  einer  anderen  Firma,  die  für  die 
Süd-Canadische  Eisenbahn  Geld  geliehen  hatte,  und  endhch,  nach 
dem  Bankerott  einiger  Eisenbahngesellschaften,  stellte  selbst  die  Firma 
Jay  Cook  und  Co.  ihre  Zahlungen  ein. 

Wie  haben  nun  alle  diese  Ereignisse  auf  den  englischen  Geld- 
und  Warenmarkt  eingewirkt?  Aus  den  oben  angeführten  Daten  des 
Wertes  der  britischen  Ausfuhr,  der  Umsätze  des  Clearing-house ,  der 
Eisenpreise  u.  s.  w.  ersieht  man,  dass  die  drei  Jahre  1871  — 1873  durch 
einen  ausserordentlichen  Aufschwung  der  englischen  Industrie  ge- 
kennzeichnet waren.  Wie  gewöhnlich  w^urde  das  englische  Kapital 
nicht  nur  in  der  Gründung  neuer  industrieller  Unternehmungen 
innerhalb  des  Landes  angelegt,  sondern  es  floss  auch  im  Ueberflusse 
nach  dem  Auslande  ab.  Die  Londoner  Börse  wurde  von  einem 
Fieber  nach  ausländischen  Anleihen  erfasst,  ebenso  wie  Deutschland,  Щ 
Oesterreich  und  die  Vereinigten  Staaten  von  einer  Häuser-  oder 
Bahnbauwut  erfasst  wurden.  In  den  5  Jahren  1870  — 1875  wurden  || 
in  London  ausländische  Anleihen  im  Betrage  von  ungefähr  260  Mil-  1 
lionen  Pfund  und  zwar  viele  von  ihnen  in  der  unüberlegtesten  Weise 
aufgenommen  1).  Nur  mit  Hilfe  der  gewissenlosesten  Manöver  der 
Makler,  Börsenagenten  und  Finanzmänner,  welche  die  Realisierung 
dieser  Anleihen  übernommen  hatten,  konnten  diese  einen  zeitweisen 
Erfolg  haben.  So  gelang  es  vielen  südamerikanischen  Staaten,  die 
schon  seit  langer  Zeit  zahlungsunfähig  waren  und  keine  Absicht 
hatten,  die  übernommenen  Verpflichtungen  zu  erfüllen,  in  London 
Anleihen  aufzunehmen. 

Die   Zinsen    auf  diese   Anleihen    wurden    nur   so   lange   bezahlt, 
bis   das   empfangene   Geld   nicht  verausgabt    wurde;    dann   hörte   die 
Zahlung  der  Zinsen  auf  und  die  Kreditoren  sassen  auf  dem  Trocknen,  t 
Ende  der  70  er  Jahre  haben  folgende  Staaten  Zinsen  für  ihre  Anleihen  * 


I)  A.  R.  Wallace,  Bad  Times,  London   1886,  S.    18. 


-       155      — 

überhaupt  nicht  oder  doch  nicht  in  vollem  Umfang  bezahlt:  die 
Türkei,  Aegypten,  Griechenland,  Bolivia,  Costa- Rica,  Ecuador,  Hon- 
duras, Mexiko,  Paraguay,  Peru,  St.  Domingo,  Uruguay  und  Venezuela  i). 

Solange  aber  die  Zahlungsunfähigkeit  dieser  Staaten  noch  nicht 
zu  Tage  getreten  war,  haben  ihre  in  London  aufgenommenen  An- 
leihen natürlich  die  englische  Ausfuhr  gefördert.  Ebenso  hat  der 
fieberhafte  Eisenbahnbau  in  den  Vereinigten  Staaten  eine  enorme 
Nachfrage  nach  englischem  Eisen  und  englischer  Steinkohle  geschaffen, 
deren  Preise  um  das  Vielfache  stiegen.  Die  Ausfuhr  britischer  Produkte 
nach  den  Vereinigten  Staaten  stieg  rasch  von  28,3  Millionen  Pfund 
(1870)  auf  40,7  Millionen  (1872);  darauf  aber  begann  sie  zu  sinken 
und  ging  1878  auf  14,6  Millionen  Pfund  herunter. 

Der  Anfang  der  70  er  Jahre  war  die  Zeit  einer  unerhörten 
Prosperität  in  der  Eisen-  und  Steinkohlenindustrie  Englands;  in  den 
anderen  Industriezweigen  war  der  Aufschwung  viel  schwächer.  So 
ist  die  Ausfuhr  von  Eisen  und  Stahl  aus  England  in  den  Jahren 
1868 — 73  um  mehr  als  das  Doppelte  —  von  17,6  Millionen  Pfund 
Sterling  auf  37,7  MilHonen  — ,  die  der  Steinkohle  in  einem  noch 
grösseren  Masse,  nämlich  von  5,4  Millionen  Pfund  Sterhng  auf  13,2 
Millionen  gestiegen;  dagegen  hat  sich  die  Ausfuhr  der  baumwollenen 
Gewebe  in  derselben  Zeit  nur  von  53  Millionen  Pfund  Sterling  auf 
61,5  Millionen,  der  wollenen  von  19,6  Millionen  auf  25,4  Millionen  und 
der  leinenen  von  7,1   MilHonen  auf  7,3  Millionen  erhöht. 

Ueber  die  Entwicklung  der  englischen  Eisenindustrie  kann 
man  auf  Grund  der  folgenden  Daten  urteilen  2): 


Roheisenpro- 

Freier  Vorrat 

Jahre 

dviktion  Gross- 
britanniens 
(Mill.  Tonnen) 

Mittlerer 
sh. 

Preis 
d. 

an  Roheisen 
(Mill.   Tonnen) 

1867 

4.7 

52 

6 

0,644 

1868 

4,9 

52 

9 

0,720 

1869 

5,4 

53 

3 

0,735 

1870 

5.9 

54 

4 

0,782 

1871 

6,6 

59 

0 

0,558 

1872 

6,7 

lOI 

10 

0,235 

1873 

6,8 

117 

3 

0,200 

Die  rasche  Ausdehnung  der  Eisenproduktion  konnte  nicht  mit 
dem  Wachstum  der  Nachfrage  Schritt  halten.  Das  wird  durch  die 
Verringerung  des  unverkauften  Vorrats  an  Roheisen  und  durch  die 
kolossal  gestiegenen  Eisenpreise  bewiesen. 


1)  W.  E.  Smith,  The  Recent  Depression  of  Trade,  London   1880,  S.  45. 

2)  Juglar,  Des  Crises  commerciales,  S.  391. 


15б 


Es  ist  sehr  interessant,  dass  die  Börsen-  und  Handelskrisis,  die 
1873  in  Centraleuropa  und  Amerika  ausbrach,  sich  nicht  auf  Eng- 
land ausgebreitet  hat.  Der  Wiener  Börsenkrach  hat  keine  starke 
Wirkung  auf  den  Londoner  Geldmarkt  ausgeübt.  Die  September- 
krisis  in  Amerika  hat  ein  starkes  Steigen  des  Diskontes  der  Bank 
von  England  hervorgerufen,  aber  eine  Panik  und  Zusammenbruch  des 
Kredites  haben   1873  auf  dem  Londoner  Markte  nicht  stattgefunden. 

Conto  der  Bank  von  England  im  Jahre   1873^). 


Am   10.  Januar    . 
„      20,  Oktober 
„     30.   Oktober 
„     20.  November 
„     20.  Dezember 


Reserve 


Barvorrat 


Diskont 


(in  Millionen  Pfd.  Sterl.) 


12,3 

7,3 

7,5 

7,6 

12,1 


24,0 
19,7 
19,4 
19,3 
24,2 


47. 
6 

7 
9 

47. 


Zur  Zeit  des  grössten  Steigens  des  Diskontes  erreicht  die  Re- 
serve der  Bank  7,6  Millionen  Pfund  Sterling,  und  der  Barvorrat  be- 
trägt mehr  als  19  Millionen  Pfund  —  dieses  Bild  ist  dem  bei  den 
früheren  Krisen  wenig  ähnlich.  Im  Jahre  1873  ist  in  England  keine 
einzige  Bank  zusammengebrochen,  und  die  Zahl  der  Bankerotte  hat 
sich  nur  sehr  unbedeutend  vermehrt.  Während  in  Ländern,  welche 
auf  einer  viel  niedrigeren  Stufe  der  industriellen  Entwicklung  standen, 
die  Krisis  einen  ausserordentlich  verheerenden  Charakter  hatte  und 
einem  wahren  Sturmwinde,  der  alles  auf  seinem  Wege  zu  Boden 
warf,  glich,  ist  England  einer  akuten  Krisis  völlig  entgangen.  Es 
findet  das  seine  Erklärung  hauptsächlich  darin,  dass  bis  zu  dem  Jahre 
1871  noch  nicht  alle  Spuren  der  Krisis  von  1866  ausgelöscht  werden 
konnten.  Die  Spekulation  hatte  noch  keine  Zeit  gehabt,  sich  auf  dem 
englischen  Warenmarkte  völlig  zu  entwickeln;  „die  Mine  war,"  um 
eine  treffende  Bezeichnung  von  Juglar  zu  wiederholen,  „noch  nicht 
oder  wenigstens  nur  zur  Hälfte  geladen"  ^j.  Infolgedessen  hat  auch 
keine  Explosion  stattgefunden. 

Allerdings  waren  in  den  70  er  Jahren  die  Spekulationen  in  aus- 
ländischen Anleihen  auf  der  Londoner  Effektenbörse  sehr  stark,  aber 
wie  wir  es  am  Beispiele  der  früheren  Krisen  mehrmals  gesehen  haben, 
übt  eine  Börsenkrisis  einen  sehr  geringen  Einfluss  auf  die  Volkswirt- 


i)  Juglar,  Des  Crises  commerciales,  390. 
2)  Л.  a.   O.,   393. 


—     157     — 

Schaft  aus,  wenn  die  Spekulation  und  die  Agiotage  nicht  über  den 
Kreis  des  gewöhnlichen  Börsenpublikums  hinausgeht. 

Also,  England  ist  es  1873  gelungen,  einer  akuten  Handelskrisis 
zu  entgehen;  trotzdem  blieb  die  englische  Industrie  während  der 
nachfolgenden  Jahre  in  einer  sehr  bedrückten  Lage.  Die  Krise  selbst 
hat  nicht  stattgefunden,  aber  alle  ihre  Folgen  waren  vorhanden:  das 
Sinken  der  Warenpreise,  die  Handelsstockung,  die  Einschränkung  der 
Produktion  —  alles  das  fand  in  England  in  der  zweiten  Hälfte  der 
70  er  Jahre  in  noch  grösserem  Masse  statt  als  in  denjenigen  Ländern, 
welche  1873  eine  sehr  schwere  Handelskrisis  durchgemacht  hatten. 
Die  Zahl  der  Bankerotte  wuchs  mit  jedem  Jahre;  im  Jahre  1875  be- 
gannen die  Bankerotte  der  Bankfirmen.  Die  bedeutende  Vermehrung 
li  des  Barvorrats  der  Bank  von  England  im  Jahre  1876  beweist,  dass  dies- 
mal der  englische  Kredit  eine  starke  Erschütterung  erlitten  hat.  Im 
Jahre  1878  stellten  einige  Banken  ersten  Ranges  die  Zahlungen  ein, 
u.  a.  eines  der  solidesten  Kreditinstitute  Schottlands  —  die  City  of 
Glasgow  Bank  — ,  dessen  Passiva  sich  auf  12  Mill.  Pfund  Sterling, 
und  die  West -England  and  South  Wales  Banking  Company,  deren 
Passiva  5  Millionen  Pfund  betrugen  i).  Trotzdem  aber  brach  in  der 
City  keine  Panik  aus,  und  die  Bank  von  England  beschränkte  sich 
darauf,  ihren  Diskont  im  November  auf  6%  zu  erhöhen.  Die  Panik 
ist  ausgeblieben  und  namentlich  aus  dem  Grunde,  weil,  während  in 
der  früheren  Zeit  die  Bankerotte  der  Banken  unmittelbar  auf  Perioden 
eines  starken  Aufschwunges  der  Industrie,  also  des  angespannten 
Kredites,  folgten,  jetzt  die  Banken  erst  nach  einigen  Jahren  einer 
Geschäftsstockung,  also  eingeschränkten  Kredites,  zusammenbrachen. 
Früher  hatten  die  Handelskrisen  mit  den  Bankerotten  der  Banken 
angefangen,  jetzt  fanden  diese  Bankerotte  am  Ende  einer  Handels- 
depresion  statt.  Fünf  Jahre  einer  Geschäftsstockung  haben  den  eng- 
lischen Geldmarkt  Ende  der  70  er  Jahre  so  sehr  von  allen  ungesunde 
Spekulationen  treibenden  Elementen  gereinigt,  dass  für  die  Aus- 
brechung einer  Panik  kein  Boden  sich  mehr  vorfand. 

Die  Liquidation  des  industriellen  Aufschwunges  vom  Anfang 
der  70  er  Jahre  dauerte  länger,  war  aber  zugleich  eine  minder  schroffe 
als  je  zuvor.  In  den  70  er  Jahren  hat  in  England  keine  Panik 
auf  dem  Geldmarkte  und  keine  akute  Handelskrisis  der  gewöhnlichen 
Art  stattgefunden;  statt  dessen  hat  sich  die  Geschäftsstockung  ausser- 
ordentlich in  die  Länge  gezogen  und  fand  schliesslich  ihren  Ab- 
schluss  in  einer  Zerrüttung  des  Kredites.  Ihren  Höhepunkt  hat 
diese    Zerrüttung   im    Jahre     1879    erreicht;     in    diesem    Jahre    zeigt 

I)  The  Economist,   1879.     General  Results  of  the  Commercial  History  of   1878. 


-      I5Ö     - 

die  Kurve  der  Bankerotte,  die  sich  während  einer  ganzen  Reihe  von 
Jahren  regelmässig  nach  aufwärts  bewegt  hatte,  ihr  Maximum. 

Nach  1879  beginnt  eine  neue  Welle  des  industriellen  Auf- 
schwungs. In  den  Vereinigten  Staaten  trat  wieder  ein  Eisenbahn- 
fieber ein;  in  den  drei  Jahren  1880  —  82  hat  sich  das  Eisenbahn- 
netz um  28  240  englische  Meilen  vergrössert;  dem  entsprechend  ist 
auch  die  Ausfuhr  der  britischen  Produkte  nach  den  Vereinigten 
Staaten  von  14,6  Millionen  Pfund  (1878)  auf  31  Millionen  Pfund  (1882) 
gestiegen.  Wie  in  den  70  er  Jahren  entfällt  die  Vermehrung  der  bri- 
tischen Ausfuhr  hauptsächlich  auf  die  Produkte  derjenigen  Produk- 
tionszweige, die  das  stehende  Kapital  der  Industrie  herstellen. 

So  ist  in  den  Jahren  1878 — 82  die  Ausfuhr  (dem  Werte  nach) 
des  Eisens  und  des  Stahls  von  18,4  Millionen  Pfund  auf  31,6  Millionen 
Pfund,  die  Maschinenausfuhr  von  7,5  Millionen  Pfund  auf  11,9  Mil- 
lionen, die  der  baumwollenen  Gewebe  aber  nur  von  52,9  Millionen 
Pfund  auf  62,9  Millionen,  die  der  wollenen  von  16,7  Millionen  auf 
18,8,  die  der  leinenen  von  5,5  Millionen  auf  6  Millionen  gestiegen. 

Aus  diesen  Zahlen  sowie  aus  der  Veränderung  der  Eisenpreise 
sieht  man,  dass  der  industrielle  Aufschwung  am  Anfang  der  80  er 
Jahre  viel  schwächer  war  als  der  am  Anfang  der  70er  Jahre.  Daher 
hat  sich  der  Uebergang  vom  Aufschwung  zur  Geschäftsstockung  in 
England  in  den  80  er  Jahren  noch  allmählicher  vollzogen  als  in  den 
70  er  Jahren.  In  anderen  Ländern  wurde  dieser  Uebergang  von  mehr 
oder  minder  schweren  Erschütterungen  des  Kredits  begleitet,  so  hat 
z.  B.  im  Jahre  1882  in  Frankreich  der  bekannte  Krach  Bontoux  statt- 
gefunden; in  den  Vereinigten  Staaten  fand  1884  ein  Eisenbahnkrach 
statt,  der  dem  Krache  von  1873  ähnlich,  nur  etwas  schwächer  war. 
In  England  wurde  das  Fallen  der  Welle  des  industriellen  Auf- 
schwungs von  keiner  Krediterschütterung  begleitet. 

Aber  trotzdem  war  wohl  kaum  jemals  eine  Geschäftsstockung 
in  England  so  anhaltend  und  so  verderblich  für  das  Land  gewesen 
wie  die  in  den  80  er  Jahren.  Gerade  in  dieser  Zeit  zeigt  sich  in 
voller  Deutlichkeit  die  neue  Phase  der  Entwickelung  der  Weltwirt- 
schaft, die  durch  eine  hartnäckige  Tendenz  der  Warenpreise  zum 
Sinken  gekennzeichnet  ist.  Diei  Thatsache  dieser  Tendenz  selbst 
unterliegt  keinem  Zweifel.  Hier  folgen  hier  die  betreffenden  Data  für 
mehrere  Jahre  ^): 


i)  Berechnet  nach  den  Daten  des  Final  Report  of  the  Royal  Commission  on  Gold 
and  Silver,  1888,  S.  17.  Index-Number  nennen  die  englischen  Statistiker  die  Durchschnitts- 
zahl, die  den  Zustand  der  Warenpreise  in  einem  bestimmten  Zeitpunkt  zum  Ausdruck  bringt. 
Durch   die  Veränderung    des  Index-Number's    wird    die  Veränderung    des    durchschnittlichen 


—      159     — 


Veränderung  der  durchschnittlichen  Warenpreise  nach  den 

Index-Numbers. 


1865—69 
1870-79 
1880—87 


Index-Number 

des 
,,Economist" 


100 
93 

11 


Index-Numbre 

von 

Pal^rave 


100 

97 
82 


Index-Number 

von 

Sauerbeck 


100 

97 
78 


In  den  70  er  Jahren  ist  das  Fallen  der  Warenpreise  unbedeutend, 
aber  in  den  80er  Jahren  erreicht  es  15 — 20%  oder  sogar  noch  mehr. 
Die  Klagen  über  die  niedrigen  Warenpreise,  die  fast  den  ganzen 
Unternehmergewinn  zu  nichte  gemacht  hatten,  waren  in  der  Mitte 
der  80  er  Jahre  allgemein.  Sie  werden  fast  von  allen  Zeugen  vor- 
geführt, die  von  der  Kommission  von  1886,  welche  die  Geschäfts- 
stockung untersuchte,  befragt  wurden.  In  demselben  Sinne  äusserten 
auch  die  Fabrikinspektoren.  „In  dem  gedrückten  Zustande  des  Waren- 
marktes —  lesen  wir  z.  B.  im  Berichte  des  Inspektors  Henderson 
für  das  Jahr  1885  —  unter  welchem  unser  Land  so  lange  leidet,  be- 
ginnen allmählich  alle  in  erster  Linie  ein  Fallen  der  Warenpreise  zu 
erkennen.  In  einigen  Industriezweigen  hat  die  Produktion  gar  keine 
Einschränkung  erfahren,  aber  alle  klagen,  dass  der  Profit  ganz  ge- 
schwunden sei"  2).  In  dem  Berichte  der  genannten  Kommission  wird 
eindringlich  auf  das  ausserordentliche  Fallen  des  Unternehmergewinnes 
hingewiesen. 

Wie  oben  erwähnt,  hat  das  Sinken  der  Warenpreise  und  die 
Geschäftsstockung  von  1883 — 87  eine  grosse  Litteratur  geschaffen. 
Die  einen  Autoren  betrachten  als  Hauptursache  des  Sinkens  der 
Preise  die  Verteuerung  des  Goldes,  die  anderen  die  Entwertung  des 
Silbers,  die  dritten  die  protektionistische  Richtung  der  neuesten 
Handelspolitik  vieler  Staaten  u.  s.  w.  Aber  mag  auch  das  eine  oder 
das  andere  Moment  zum  Teil  mitgewirkt  haben,  die  wichtigsten 
Ursachen  des  Sinkens  der  Preise  bilden  doch,  nach  der  herrschenden 
Auffassung,  die  neuesten  Veränderungen  auf  dem  Gebiete  der  Pro- 
duktionstechnik und  des  Verkehrswesens  der  ganzen  Welt.  Darin 
stimmen  die  meisten  Autoren  überein,  die  die  Geschäftsstockung  der 
80  er    Jahre    untersucht    haben.      Und    zwar    die   grösste    Bedeutung 


Niveaus  der  Preise  gekennzeichnet.   Natürlich  sind  die  Index-Numbers  verschieden,  je  nach- 
dem,   welche  Waren    ihnen   unterlegt   sind.     Die    drei   angeführten   Index-Numbers,    die  der 
Londoner    Zeitschrift    „The    Economist",    die    von    Palgrave    und    Sauerbeck,    sind    auf 
Grund  der  Preise  verschiedener  Waren  und  mit  Hülfe  verschiedener  Methoden  berechnet, 
i)  Report  of  the  Inspector  of  Factorics  Henderson,  30.  October   1885. 


—      i6o     — 

muss  man  der  Umwälzung  auf  dem  Gebiete  des  Transportwesens  zu- 
rechnen. 

Die  ersten  Eisenbahnen  wurden  in  England  gebaut.  Sie  stärkten 
die  ohnedies  starke  Position  Englands  auf  dem  Weltmarkte.  Dann 
fing  man  mit  dem  Eisenbahnbau  in  den  reichen  östlichen  Staaten 
Nordamerikas  und  auf  dem  europäischen  Kontinent  an,  später  auch 
in  anderen  Ländern  mit  geringerer  Kultur  und  mit  dünner  Bevölke- 
rung. Solange  die  Eisenbahnen  noch  keine  bedeutende  Entwickelung 
der  einheimischen  Industrie  in  den  Gegenden,  durch  die  sie  geführt 
wurden,  hervorgerufen  hatten,  war  ihre  Verbreitung  für  England, 
das  eine  Monopolstellung  im  Welthandel  einnahm,  sehr  wünschens- 
wert. Als  aber  unter  dem  Einflüsse  der  Eisenbahnen  sich  in  den 
meisten  europäischen  Staaten  sowie  in  der  Nordamerikanischen  Union 
eine  starke  und  rasch  fortschreitende  Industrie  entwickelt  hatte,  ver- 
änderte sich  die  Situation  für  England.  Ueberall  begannen  ihm 
neue  und  wieder  neue  Konkurrenten  zu  entstehen,  die  sich  beeilten, 
nicht  nur  den  einheimischen,  sondern  wo  möglich  auch  den  aus- 
wärtigen Markt  in  ihre  Hände  zu  bekommen.  Eine  allgemeine 
Ueberproduktion  an  Waren  oder  genauer  die  stetige  Tendenz  zu 
einer  solchen  ist  die  natürliche  Folge  einer  solchen  Sachlage.  Das 
Warenangebot  übertraf  die  Nachfrage,  und  die  Preise  aller  derjenigen 
Waren,  in  deren  Herstellung  die  internationale  Konkurrenz  besonders 
heftig  wurde,  fingen  an  zu  sinken.  Unter  diesem  Sinken  hat  freilich 
nicht  allein  England  gelitten,  sondern  auch  alle  anderen  Länder,  die 
als  seine  Konkurrenten  auftraten;  trotzdem  musste  die  Depression 
am  schwersten  in  England  empfunden  werden,  da  die  englische  In- 
dustrie an  dem  industriellen  Aufschwung,  der  das  Sinken  der  Waren- 
preise hervorrief,  relativ  wenig  beteiligt  war,  alle  schweren  Folgen 
dieses  Sinkens  aber  ebenso  wie  seine  glücklicheren  Konkurrenten 
ertragen  musste. 

Die  Verbilligung  des  Transportes  hat  am  offensichtlichsten  auf 
die  Preise  der  landwirtschaftlichen  Produkte  und  folglich  auch  auf 
den  Ackerbau  eingewirkt.  Infolge  der  Eisenbahnen,  die  durch 
die  Vereinigten  Staaten,  Russland  und  Indien  durchgelegt  waren, 
wurden  diese  Länder  mit  ihren  bedeutenden  Flächen  vortrefflichen  und 
unbebauten  Erdbodens  in  die  Lage  versetzt,  die  Produktion  des  für 
die  Ausfuhr  nach  den  dicht  bevölkerten  Ländern  Westeuropas  be- 
stimmten Getreides  mehrfach  zu  erweitern.  Der  westeuropäische 
Ackerbau  verlor  plötzlich  den  wirksamsten  Schutzzoll,  der  ihm  in 
der  früheren  Zeit  die  Möglichkeit  gegeben  hatte,  die  Konkurrenz  der 
extensiven  Wirtschaft    der    entfernten    Länder    im    Westen    und   im 


—    I6I    — 

"  Osten  nicht  fürchten  zu  brauchen  —  nämlich  die  hohen  Kosten  des 
r.andtransportes  für  das  Getreide.  Eine  Folge  davon  war  die  schwere 
landwirtschaftliche  Krisis  in  Westeuropa.  Alles  das  sind  allgemein 
bekannte  Thatsachen,  auf  die  man  nur  hinzuweisen  braucht,  um  ihre 
Bedeutung  klarzustellen.     ' 

Speziell    der    englische    Ackerbau    hat    sehr    stark    unter    dem 

[j  Sinken  der  Getreidepreise  gelitten.  James  Caird,  die  grösste  Auto- 
rität in  allen  Fragen  dieser  Art,  rechnete  auf  Grund  einer  speziellen 

1  amtlichen  Untersuchung  aus,  dass  in  den  80  er  Jahren  das  Einkommen 
der  agrarischen  Bevölkerung  des  Vereinigten  Königreiches  sich  um 
insgesamt  42,8  Millionen  Pfund  Sterling  vermindert  hat^)  Dasselbe 
wird  auch  durch  die  Aussagen  anderer  Zeugen  bestätigt,  die  das 
Sinken  der  Pacht  für  das  Ackerland  während  des  Jahrzehntes  1875 
bis  1885  auf  30 — 40^/0  abschätzen  2). 

Es  ist  ganz  natürlich,  dass  die  Abnahme  der  Kaufkraft  der 
landwirtschaftlichen  Bevölkerung  Englands  um  40  Millionen  Pfund 
Sterling  eine  sehr  ungünstige  Wirkung  auf  den  allgemeinen  Zustand 
des  englischen  Marktes  ausüben  musste.  Die  englischen  Landlords,  Farmer 
und  landwirtschaftlichen  Arbeiter  kauften  weniger  Fabrikate,  unter  den 
amerikanischen  Farmern  aber  konnte  die  Nachfrage  nach  englischen 
Waren  nicht  wachsen,  weil  die  englischen  Fabrikate  auf  dem  inneren 
amerikanischen  Markte  mit  den  Produkten  der  einheimischen  Industrie 
nicht  konkurrieren  konnten.  Daher  führte  eine  ganze  Reihe  von 
Zeugen  aus  den  Reihen  der  Gewerbetreibenden  und  Fabrikanten 
die  Stockung  in  der  die  Rohstoffe  veredelnden  Industrie  Englands 
auf  die  Abnahme  der  Kaufkraft  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung 
zurück^).  Im  Berichte  der  Kommission  von  1886  wird  dieser  letztere 
Umstand  gleichfalls  als  eine  der  wesentlichen  Ursachen  der  Geschäfts- 
stockung anerkannt^). 

Das  alles  trifft  natürlich  zu,  dass  aber  die  Verminderung  des 
Einkommens  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  nicht  die  einzige, 
geschweige  die  Hauptursache  der  Depression  der  80  er  Jahre  war, 
wird  schon  dadurch  bewiesen,  dass  die  Geschäftsstockung  sich  nicht 
allein  auf  Westeuropa,    sondern    auch    auf  Amerika   (wo  die  gesamte 


i)  Second   Report   on    Trade   Depression.     M.  of  E.     Aussage    von  James  Caird. 

Q-  7673—77- 

2)  Third    Report    on    Trade    Depression.      M.    of    E.      Aussage    von    Coleman, 
Q.  8994;  von  Druce,  Q.  9114. 

3)  Second  Report  on  Trade  Depression.  M.  of  E.  Aussage  von  Dixon  ,  Q.  1363 — 1364 ; 
von  Belk,  Q.  2722;  von  Broun,  Q.  4765 — 68  u.  a. 

4)  Final  Report  on  Trade  Depression.     XVII. 
Tugan-Baranowsky ,  Die  Handelskrisen.  ц 


l62        

Kaufkraft  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  bedeutend  gewachsen 
sein  musste)  ausbreitete.  Die  Agrarkrisis  war  also  nur  eine  der 
Erscheinungsformen  der  allgemeinen  Krisis,  die  in  der  Hauptsache 
durch  eine  totale  Umgestaltung  der  Bedingungen  der  Waren- 
beförderung (Eisenbahnen ,  Dampfschiffe  ,  Telegraph)  hervorgerufen 
worden  ist. 

Die  fallende  Tendenz  der  Warenpreise,  die  zuerst  in  den  80  er 
Jahren  zum  Vorschein  kam,  ist  eine  notwendige  Folge  der  heuti- 
gen Erstarkung  der  Konkurrenz  auf  dem  Weltmarkte.  Das 
Prinzip  der  uneingeschränkten  Konkurrenz  wurde  zum  ersten  Mal 
nicht  allein  innerhalb  eines  Landes,  sondern  auch  auf  dem 
Weltmarkte  in  seinem  vollen  Umfang  erprobt;  und  da  kam  der 
innere  Widerspruch,  der  diesem  Prinzipe  zu  Grunde  liegt,  zum  Aus- 
druck. Die  Anarchie  der  gesellschaftlichen  Produktion  hat  zu  einer 
allgemeinen  Depression  und  zu  ihrem  natürlichen  Korrektivum,  zur 
Bildung  von  Monopolen,  Kartellen  und  Trusts  geführt,  deren  Wachs- 
tum ein  so  charakteristisches  Merkmal  der  neuesten  industriellen 
Entwickelung  der  ganzen  Welt  bildet. 

„In  den  letzten  Jahren  —  so  lesen  wir  im  Bericht  der  Kom- 
mission von  1886  —  ist  in  den  Lebensverhältnissen  der  gesamten 
civilisierten  Welt  durch  die  Hilfsmittel  der  Wissenschaft,  durch  die 
Anwendung  der  maschinellen  Kräfte  zur  Produktion  und  zum  Transport 
der  Waren  in  allen  Ländern  der  Welt  eine  höchst  bedeutende  Umwälzung 
bewirkt  worden.  Das  Quantum  Arbeit,  das  für  die  Erzielung  eines 
bestimmten  Resultats  auf  dem  Gebiete  der  Produktion  oder  des 
Transportes  erforderlich  ist,  hat  sich  ausserordentlich  vermindert  und 
vermindert  sich  fortgesetzt.  Die  Schwierigkeit  besteht  jetzt  nicht 
mehr  wie  früher  in  einem  Mangel  oder  in  einer  Teuerung  der  Lebens- 
oder Luxusmittel,  sondern  im  Kampfe  um  den  entsprechenden  Anteil 
an  der  Arbeit,  die  für  die  ungeheuere  Majorität  der  Bevölkerung  das 
einzige  Mittel  ist,  um  in  den  Besitz  jener  Gegenstände  zu  gelangen, 
mögen  sie  auch  in  noch  so  grosser  Menge  vorhanden  und  auch  noch 
so  billig  sein"  ^).  Mit  anderen  Worten,  ist  heute  Jedermann  bestrebt, 
seine  Konkurrenten  zu  verdrängen,  den  Markt  zu  erobern,  und  eine 
Folge  davon  ist  eine  stetige  Tendenz  zur  Ueberproduktion  und 
um   Ueberangebot  von  Waren. 

Namentlich  über  die  Konkurrenz  der  Aktiengesellschaften  hat  die 
Kommission  von  1886  besonders  viele  Klagen  zu  hören  bekommen; 
viele  Zeugen  behaupteten,  die  Hauptursache  der  niedrigen  Warenpreise 


i)  Final  Report  on  Trade  Depression,  LVII. 


4 


—     1бз     — 

bestehe  darin,  dass  in  vielen  Produktionszweigen  Aktiengesellschaften 
eine  übermässige  Verbreitung  gefunden  hätten.  Diese  könnten  zu 
arbeiten  fortfahren,  selbst  ohne  einen  Profit,  da  im  Interesse  der  Leute, 
welche  die  Geschäfte  leiten  (des  Vorstandes,  des  Aufsich tsrates  u.  s.  w.), 
eine  Weiterführung  der  Produktion  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Renta- 
bilität liege.  In  der  That  war  in  vielen  Fällen  die  Zunahme  der 
Aktiengesellschaften  eine  auffallend  rasche.  „Die  charakteristische 
Eigentümlichkeit  der  Entwickelung  der  britischen  Baumwollindustrie 
in  der  letzten  Zeit  -  sagt  Th.  Ellison  —  ist  das  aussergewöhnliche 
Wachstum  der  Spinnereien  und  Webereien,  die  sich  im  Besitze  von 
Aktiengesellschaften  befinden  i)."  Die  erste  Aktienbau mwoUfabrik 
(Sun  Mill)  wurde  in  Oldham  im  Jahre  1858  gegründet.  Sie  hatte 
einen  hervorragenden  Erfolg.  Anfang  der  70er  Jahre  wurden  sehr 
viele  neue  Aktienbaum wollfabriken  gegründet.  Alle  diese  Fabriken, 
deren  Mehrzahl  sich  in  Oldham  und  dessen  Umgegend  konzentriert, 
sind  mit  allen  neuesten  Vervollkommnungen  ausgerüstet  und  ver- 
körpern das  letzte  Wort  der  Fabriktechnik. 

Die  Verbreitung  der  Aktiengesellschaften  hat  zweifellos  zur  Ver- 
stärkung der  Konkurrenz  der  Produzenten  und  zum  Sinken  der 
Warenpreise  beigetragen.  Aber  immerhin  ist  die  Bedeutung  dieses 
Moments  geringfügig  im  Vergleich  zu  den  obengenannten  allgemeinen 
Ursachen  des  Sinkens  der  Preise  —  der  weitesten  Verbreitung  der 
kapitalistischen  Industrie  in  der  ganzen  Welt  und  der  kolossalen  Ver- 
billigung  des  Transportes. 

Nach  1886  tritt  ein  neuer  industrieller  Aufschwung  ein.  Und 
wiederum  kam  dieser  Aufschwung  in  England  hauptsächhch  in  der 
Maschinen-  und  Montanindustrie  zum  Ausdruck:  die  Ausfuhr  des  Eisens 
ist  1886  bis  1890  von  21,8  Millionen  Pfund  Sterling  auf  31,6  Mil- 
lionen, die  der  Maschinen  von  10,1  Millionen  auf  16,4  Millionen,  die 
der  Steinkohle  von  9,8  Millionen  auf  19,0  Millionen  gestiegen.  Da- 
gegen hat  sich  die  Ausfuhr  der  Produkte  der  Textilindustrie  kaum 
merklich  vermehrt:  die  der  baumwollenen  Gewebe  ist  von  57,4  auf 
62,1  Millionen  Pfund  gestiegen,  die  der  wollenen  Gewebe  von  19,7  Mill. 
Pfund  auf  20,4  Millionen,  die  der  leinenen  von  5,3  MiUionen  auf  5,7  Mill. 

Diesmal  hat  sich  besonders  stark  die  Ausfuhr  der  englischen 
Waren  nach  der  argentinischen  Republik  ausgedehnt.  Im  Jahre  1885 
führte  England  seine  Produkte  nach  Argentinien  nur  für  4,7  Millionen 
Pfund  Sterling,  im  Jahre  1889  schon  für  10,7  Millionen  aus.  Ende 
der  80er  Jahre  begann  auf  der  Londoner  Börse   wieder  eine  Speku- 


i)  The  Cotton  Trade  of  Great  Britain,  S.    133. 

11* 


—     164     — 

lation  mit  ausländischen  Anleihen,  einer  solchen  in  den  70er  Jahren 
sehr  ähnlich.  Wieder  fingen  südamerikanische  Staaten  und  viele 
britische  Kolonien  an,  enorme  Anleihen  in  Europa  (hauptsächlich  in 
London)  aufzunehmen. 

Die  Staatsschuld  der  argentinischen  Republik  wuchs  in  kolos- 
salem Umfang.  Im  Jahre  1874  hatte  die  im  Auslande  aufgenommene 
Schuld  der  Republik  nicht  10  Millionen  Pfund  überschritten,  im  Jahre 
1890  aber  erreichten  ihre  Staats-,  Provinzial-  und  Munizipalschulden, 
die  im  Auslande  und  zwar  hauptsächlich  in  London  aufgenommen  waren, 
59,1  Millionen  Pfund  ^).  Ausserdem  war  die  Londoner  Börse  von 
allerhand  Wertpapieren  —  hauptsächlich  von  Eisenbahnpapieren  — 
überschwemmt.  Der  Zufluss  ausländischer  Kapitalien  nach  Argen- 
tinien hat  einen  auffallenden  Aufschwung  dieses  vor  kurzer  Zeit  noch 
fast  unbevölkerten  Landes  hervorgerufen.  Die  wichtigste  Anlage  für 
die  ausländischen  Kapitalien  war  in  Argentinien  der  Bau  der  Eisen- 
bahnen. Im  Jahre  1883  gab  es  im  Lande  ein  3123  Kilometer  langes 
Eisenbahnnetz,  im  Jahre  1893  umfasste  dieses  bereits  13691  Kilometer. 
Aber  diese  letzte  Zahl  bezieht  sich  nur  auf  die  thatsächlich  ausge- 
führten Linien.  Projektiert  waren  viel  mehr  Bahnen.  Im  Jahre  1889 
allein  sind  39  Konzessionen  für  den  Bau  von  Eisenbahnen  von  einer 
Gesamtstrecke  von  1 2  000  Kilometer  erteilt  worden.  Der  grösste  Teil 
dieser  Konzessionen  blieb  aber  auf  dem  Papier,  die  Eisenbahnen  sind 
nicht  ausgeführt  worden  und  zwar  infolge  des  Eintretens  einer  ausser- 
ordentlich heftigen  Handelskrisis 

Das  Ende  der  80er  Jahre  bedeutete  für  Argentien  eine  Epoche  des 
w^ahnsinnigsten  Gründerschwindels.  Während  dreier  Jahre,  1887  — 1889, 
waren  250  Aktiengesellschaften  entstanden;  ihre  nominalen  Kapitalien 
erreichten  insgesamt  764  Millionen  Dollar  2).  Zu  alledem  kam  die  äusserst 
schlampige  Führung  der  Staatswirtschaft  hinzu;  die  Regierung  von 
Argentinien,  die  ebenso  gewissenlos  war  wie  die  meisten  Regierungen 
der  anderen  südamerikanischen  Staaten,  dachte  am  allerwenigsten  an 
die  Zukunft.  Die  Deficite  wurden  durch  Anleihen  gedeckt.  Aber 
auch  diese  Anleihen  reichten  nicht  aus.  Die  Regierung  schreckte  nicht 
davor  zurück,  zum  letzten  Mittel,  zur  Ausgabe  von  Papiergeld,  zu 
greifen.   In  kurzer  Zeit  wurde  das  Land  mit  Papiergeld  überschwemmt. 

Alles  das  endete  damit,  womit  es  enden  musste  —  mit  einem 
grandiosen  Krach,  der  von  einer  Revolution  und  einem  Bürgerkriege  be- 
gleitet w^ar,  wodurch  die  gesamte  Industrie  des  Landes  paralysiert  wurde. 

i)  The  Argentine  Crisis.     The  Economic  Journal  1861,  Vol.   i. 
2)  Otto   Hübner,    Der   finanzielle   Zusammenbruch   Argentiniens.      Conrad's  Jahr- 
bücher f.  Nat.-Oek.  und  Stat.    1892. 


-      1б5     - 

Diesmal  konnte  der  englische  Kredit  nicht  so  leicht  den  Schwierig- 
keiten, die  er  sich  selbst  bereitet  hatte,  entrinnen.  'Die  grösste  eng- 
lische private  Bank,  die  Firma  Baring  &  Co.,  die  ein  nicht  geringeres 
Vertrauen  genoss  als  seinerzeit  die  Firma  Overend,  Gurney  &  Co., 
brach  am  14.  November  1890  zusammen.  Die  Firma  Baring  war 
der  Finanzagent  der  argentinischen  Regierung  und  brachte  die  argen- 
tinischen Papiere  auf  den  europäischen  Märkten  unter.  Schon  1889 
begann  das  Unterbringen  argentinischer  Papiere  schwierig  zu  werden. 
Die  Börse  traute  diesen  Papieren  nicht  mehr,  sie  befürchtete  einen 
Krach.  Im  Juli  erfolgte  auch  dieser.  Im  Besitze  der  Firma  Baring 
verblieb  eine  bedeutende  Menge  von  nicht  realisierten  argentinischen 
Papieren,  welche  die  Börse  nicht  mehr  annahm,  und  die  Firma  \vurde 
gezwungen,  die  Zahlungen  einzustellen.  Man  befürchtete  schon  eine 
Panik  in  der  City,  sie  trat  jedoch  nicht  ein  —  zum  Teil  infolge  der 
Massnahmen,  die  von  der  Direktion  der  Bank  von  England  getroffen 

I  worden  waren  (diese  hatte  sich  im  Verein  mit  allen  anderen  bedeu- 
tenden Londoner  Banken  verpflichtet,  die  von  der  Firma  Baring  ac- 
ceptierten  Wechsel  bis  zur  Höhe  von  18  Millionen  Pfund  zu  über- 
nehmen) —   zum  Teil  aber  (und  hauptsächlich),   weil   der  industrielle 

jj  Aufschwung  und  die  Erweiterung  des  Kredites  nicht  stark  genug 
für  eine  Panik  waren.  Mit  welcher  Leichtigkeit  der  englische  Geld- 
markt den  Zusammenbruch  der  Firma  Baring  ertragen  hat,  kann  man 
auf  Grund  der  Bewegung  des  Diskontes  der  Bank  von  England  im 
Jahre   1890  beurteilen. 

Durchschnittlicher  niedrigster  Diskont  der  Bank   von  Eng- 
land im  Jahre   1890. 


Januar 

6 

April 

375 

Juli                4 

Oktober 

5 

Februar 

sVr 

Mai 

3 

August           47з 

November 

sVe 

März 

4V16 

Juni 

3V16 

September     4Уб 

Dezember 

5V10 

Im  Jahre  1866  hatte  die  Bank  von  England  nach  dem  Zu- 
sammenbruch der  Firma  Overend  &  Co.  einige  Monate  hindurch  den 
Diskont  auf  10  ^Д  halten  müssen,  jetzt  hat  aber  der  Zusammenbruch 
einer  nicht  minder  bedeutenden  Firma  auf  die  Höhe  des  Diskontes 
beinahe  gar  nicht  zurückgewirkt. 

Nach  1890  tritt  die  englische  Industrie  wieder  in  eine  Phase  der 
Depression:  der  Wert  des  Exportes  sinkt,  die  Umsätze  des  Londoner 
Clearing-Houses  nehmen  ab,  die  Warenpreise  gehen  herunter.  Aber 
wieder,  wie  das  auch  in  den  8oer  Jahren  der  Fall  gewesen  war,  wird 
das  Fallen  der  Welle  des  industriellen  Aufschwungs  nicht  von  einer 
Panik  begleitet.    Es  ist  im  Jahre   1891   keine  bedeutende  Vermehrung 


—    I66    — 

des  Barvorrats  der  Bank  von  England  zu  bemerken;  ebenso  vermehrt 
sich  auch  die  Zahl  der  Bankerotte  in  diesem  Jahre  nur  sehr  unerheblich. 

Das  eigentümliche  Merkmal  der  industriellen  Entwickelung  Eng- 
lands in  der  neuesten  Zeit  ist  also  eine  Aenderung  im  Charakter  der 
Handelskrisen ;  an  der  Stelle  plötzlicher  Erschütterungen  und  Paniken 
sind  andauernde  Depressionen  getreten.  Die  königliche  Kommission 
von  1886  kam,  nachdem  sie  die  einzelnen  Ursachen  der  Geschäfts- 
stockung um  die  Mitte  der  8oer  Jahre  untersucht  hatte,  zu  folgendem 
Schlüsse :  „Alle  diese  Ursachen  haben  die  Tendenz,  die  Aufregung 
jener  anormalen  Perioden  des  Verfalls  des  Handels,  die  man  mit 
„Panik"  bezeichnet,  immer  seltener  zu  machen.  Früher  wurde  die 
Ueberproduktion  plötzlich  durch  einen  Zusammenbruch  des  Kredits  auf- 
gehalten, aber  die  nachfolgende  Erweiterung  der  Nachfrage  beseitigte 
die  Uebelstände.  In  Zukunft  kann  man  eine  grössere  Stabilität  im 
Verhältnis  von  Nachfrage  zu  Angebot  und  eine  gleichmässigere,  wenn 
auch  niedrigere  Profitrate  erwarten  i)." 

In  der  neuesten  Phase  der  Entwickelung  der  kapitalistischen 
Wirtschaft,  deren  typische  БЪгт  die  enghsche  Wirtschaft  darstellt, 
haben  die  industriellen  Schwankungen  nicht  aufgehört  und  sind  nicht 
einmal  schwächer  geworden ;  ihre  Amplitude  hat  sich  eher  vermehrt, 
aber  ihre  Geschwindigkeit  hat  zweifellos  abgenommen.  Von  dieser 
Veränderung  hat  die  Industrie  nicht  nur  nichts  gewonnen,  sondern 
eher  verloren.  Früher  bewirkte  die  Handelskrisis  zahlreiche  Banke- 
rotte der  Spekulanten  und  minder  vermögender  Unternehmer  und 
brachte  auf  kurze  Zeit  den  Handel  fast  vollständig  zum  Stillstand; 
sobald  aber  die  Panik  vorüber  ging,  erholte  sich  der  Handel  rasch 
und  die  neue  Periode  des  Aufschwungs  trat  ein.  Jetzt  dauert  die 
Geschäftsstockung  jahrelang,  zugleich  aber  tritt  sie  nicht  so  schroff 
und  so  plötzlich  auf.  Früher  wurde  eine  aufsteigende  Bewegung  der 
Kurve  des  englischen  Exportes  stark  ausgeprägt,  obschon  diese  Be- 
wegung durch  plötzliche  Senkungen  unterbrochen  wurde;  jetzt  bewegt 
sich  diese  Kurve  wellenförmig,  zugleich  geht  sie  aber  nicht  in  die  ^' 
Höhe.  Analoge  Veränderungen  haben  auch  auf  dem  Gebiete  der  Ij 
Produktion  stattgefunden. 

Mit  dem  Jahre  1890  tritt,  wie  gesagt,  eine  neue  Epoche  der 
Depression  ein.  Die  argentinische  Krisis  war  nur  ihre  hervorragendste 
Episode.  Ein  ähnlicher  Krach,  nur  in  schwächerem  Grade,  hat  in 
Transvaal,  Mexiko,  Uruguay  und  anderen  Ländern  stattgefunden.  Die 
darauffolgende  Geschäftsstockung  erreichte   aber   nicht  so   bald  ihren 


i)  Final  Report  on  Trade  Depression,   XVIII. 


—     167     — 

Höhepunkt.  Das  Jahr  1891  war  für  die  meisten  Zweige  der  eng- 
lischen Industrie  kein  schweres  Jahr.  Nur  wenige  Zweige  befanden 
sich  in  einem  gedrückten  Zustande  —  so  hat  die  BaumwolHndustrie, 
insbesondere  aber  die  Spinnerei,  durch  die  grossen  Schwankungen 
der  Rohbaumwolle  gelitten  (im  Jahre  1891  sind  die  Preise  der  Roh- 
baumwolle infolge  einer  guten  Ernte  stark  gesunken  und  die  Spinner, 
die  grosse  Einkäufe  an  Baumwolle  gemacht  hatten,  wurden  dadurch 
schwer  geschädigt);  in  der  Tuchindustrie  sowie  in  der  Produktion 
wollener  Gewebe,  trat  infolge  des  neuen  amerikanischen  Mac  Kinley- 
Tarifs  eine  Stockung  ein;  derselbe  Tarif  hat  auch  der  Blechindustrie 
von  Wales  einen  schweren  Schlag  versetzt. 

Die  Baumwollspinnerei  kam  auch  durch  die  ausserordentliche 
Entwickelung  der  Konkurrenz   seitens   der  Aktienfabriken   in    grosse 

\\  Schwierigkeiten.  „Es  ist  traurig,  die  Verwüstung  zu  beobachten,  die 
in  einigen  blühenden  Thälern  Lancashires  durch  den  Druck  der  gegen- 
wärtigen Konkurrenz  angerichtet  ist  —  schreibt  in  seinem  Bericht 
für  das  Jahr  1891  der  P'abrikinspektor  Henderson.  —  Die  Fabriken 
und  Wohnhäuser  sind  geschlossen,  niemand  ist  drin,  viele  von  ihnen 
sind  ohne  Dächer  und  ganz  verfallen  .  .  .  Der  Baumwollspinner,  der 
Eigentümer  seiner  b^abrik  und  Maschinen  ist,  wird  bald  ganz  ver- 
schwinden .  .  .  Die  einzigen  Unternehmer  werden  bald  Aktiengesell- 
schaften sein  ...  In  den  letzten  30  Jahren  war  alles  darauf  gerichtet, 
den  kleinen  Kapitalisten  an  die  Wand  zu  drücken  (to  send  the  smaller 
capitalist  to  the  wall)   und  den  einzelnen  Unternehmer  zu  erdrücken; 

I  es  wird  für  ihn  immer  schwerer,  mit  den  grossen  Gesellschaften  zu 
konkurrieren,  die  im  Besitze  von  umfangreichen,  mit  allen  neuesten  Vor- 
richtungen und  Maschinen  ausgerüsteten  Fabriken  sind.  In  derselben 
Richtung  hat  die  Vermehrung  der  Anforderungen  gewirkt,  die  an  die 
Fabrikanten  seitens  der  Fabrikgesetzgebung  gestellt  werden,  und  das 
immer  schwieriger  sich  gestaltende  Verhältnis  zu  den  Arbeitern.  Es 
unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  in  der  letzten  Zeit  viele  Unternehmer 
ihre  Kapitalien  aus  der  Baum  Wollindustrie  gezogen  haben  .  .  .  Unter 
den  vielen  Fabriken,  die  in  meinem  Bezirke  neu  errichtet  worden 
sind  oder  neu  errichtet  werden,  kann  ich  zur  Zeit  keine  einzige  irgend 
wie  bedeutende  nennen,  die  von  einer  einzelnen  Person  angelegt 
worden  wäre^)." 

Aber  die  allgemeine  Lage  der  englischen  Industrie  war  —  wie 
bereits  gesagt  —  im  Jahre  1891  keine  entschieden  gedrückte.  Be- 
deutend  schlechter  war   das   folgende  Jahr.      „Während  des  grössten 


I)  Report  of  the  Chief  Inspector  of  Factories  and  Workshops,   1892,  S.   22. 


—      i68     — 

Teils  der  vergangenen  12  Monate  —  lesen  wir  im  Bericht  von 
Henderson  für  das  Jahr  1892  —  befand  sich  die  Industrie  Schott- 
lands und  des  nördlichen  Englands  in  einem  sehr  unbefriedigten 
Zustande.  Tausende  von  Familien  sind  an  den  Bettelstab  gebracht 
und  hunderte  von  kleinen  Krämern  und  Kaufleuten  sind  bankerott 
geworden  .  .  Die  Baumwollindustrie  befindet  sich  in  einem  kritischen 
Zustande  ....  Wir  fühlen  jetzt  die  Wirkungen  der  wilden  Aktien- 
spekulationen, die  die  Zahl  der  Spindeln  in  Oldham  um  Millionen  ver- 
mehrt haben.  Die  Oldham  er  Fabriken  haben  die  kleinen  primitiven 
Fabriken  erdrückt  und  werden  jetzt  ihrerseits  erdrückt  von  den  Spinn- 
fabriken in  Bombay  1)."  In  Huddersfield,  Wolverhampton,  Bradford, 
Staffordshire,  Wales  und  anderen  Ortschaften  trat  eine  industrielle 
Stockung  ein.     Sehr  stark  hat  die  Eisenindustrie  gelitten. 

Das  Jahr  1893  war  noch  schlechter.  „Die  Industrie  war"  —  so 
berichtet  z.  B.  der  Fabrikinspektor  Jones  aus  dem  montanindustriellen 
Bezirk  von  Cornwall  und  Devonshire  —  „in  einem  schrecklich 
gedrückten  Zustand  ....  Viele  Arbeiter  haben  die  Arbeit  verloren, 
und  es  entsteht  die  ernste  Frage,  wie  man  diesen  armen  Leuten 
helfen  solle." 

Aus  Edinburg  wird  berichtet:  „Der  allgemeine  Zustand  der  In- 
dustrie ist  traurig.  Verminderung  der  Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter, 
Einschränkung  der  Arbeit,  Unthätigkeit  der  Maschinen  —  das  sieht 
man  überall."  Aus  Blackburn:  „Mindestens  die  Hälfte  der  Maschinen 
stqht  still  und  ein  bedeutender  Teil  der  übrigen  arbeitet  nicht  die 
volle  Zeit.  Tausende  von  Arbeitern  müssen  hungern  und  zwar  in 
einem  Masse,  wie  es  seit  dem  amerikanischen  Kriege  noch  nicht  da- 
gewesen war 2).''  Mitteilungen  dieser  Art  über  den  Zustand  der  eng- 
lischen Industrie  füllen  die  Berichte  der  Fabrik-Inspektoren  für  das 
Jahr  1893  sowie  auch  die  für  das  folgende  Jahr. 

Im  Jahre  1893  brach  in  Australien  und  in  den  Vereinigten 
Staaten  eine  schwere  Handelskrisis  aus,  die,  wie  immer,  durch  den 
Gründungsschwindel  und  die  Börsen-  und  Handelsspekulationen  her- 
vorgerufen worden  ist.  Eine  rasche  Ausdehnung  des  Eisenbahnnetzes 
war  in  beiden  Ländern  der  Krisis  vorangegangen  und  hatte  eine 
solche  zu  einem  grossen  Teile  verursacht.  Die  amerikanische  Krisis 
ist  noch  verschärft  worden  durch  die  Münzwirren  in  den  Vereinigten 
Staaten  —  durch  das  Sinken  des  Silberpreises  und  die  Befürchtungen, 
dass  die  Bundesregierung  die  Einlösung  des  Silbers  gegen  Gold  ein- 
stellen würde.    Die  Krisis  fing,  wie  gewöhnlich,  mit  dem  Goldabflusse 

i)  Report  of  the  Chief  Inspector  of  Factories    1893. 
2)  Report  of  the  Chief  Inspector  of  Factories   1894. 


—      lög     — 

nach  dem  Auslande  an.  Infolge  dieses  Abflusses  sank  der  Goldvor- 
rat in  der  Staatskasse  der  Vereinigten  Staaten  von  120  Millionen 
Dollar  (zu  Beginn  des  Jahres)  auf  90  Millionen  Dollar  (Anfang 
Juni).  Im  FriihHng  begannen  die  Bankerotte  der  Banken  und  der 
Handelsfirmen.  Im  Sommer  war  der  Kredit  vollkommen  lahm  ge- 
legt und  der  Handel  geriet  absolut  ins  Stocken.  Der  Diskont  ging 
bis  auf  12 — 18  hinauf.  Die  Panik  erreichte  ihren  Höhepunkt  im 
August,  als  gegen  600  Banken  ganz  oder  zum  Teil  ihre  Zahlungen 
einstellten.  Die  Zahl  der  Bankerotte  in  den  Vereinigten  Staaten  stieg 
^'on  7538  mit  Gesamtpassiven  von  93  Millionen  Dollar  (1890)  auf  11  174 
mit  Gesamtpassiven  von  324  Millionen  Dollar  (1893)  i).  Besonders  stark 
haben  unter  der  Krisis  die  Eisenbahngesellschaften  gelitten:  74  Ge- 
sellschaften mit  einem  Eisenbahnnetz  von  insgesamt  29  Tausend  Meilen 
sind  in  Konkurs  geraten. 

Die  Krisis  in  Australien  begann  bereits  im  Jahre  1891,  erreichte 
aber  ihre  volle  Entwicklung  auch  erst  im  Jahre  1893.  In  einer  be- 
sonders harten  Form  ist  die  Krisis  in  Victoria  ausgebrochen.  Das 
englische  Kapital  floss  Ende  der  8oer  Jahre  im  Ueberfluss  nach 
Australien.  Das  hat  zu  einem  Gründungsschwindel  und  einer  ausser- 
ordentlichen Erweiterung  des  Eisenbahnnetzes  geführt.  So  sind  aus 
der  Gesamtsumme  von  1 1 2  Millionen  Pfund  Sterling,  die  in  dieser 
Zeit  auf  dem  Wege  von  Staatsanleihen  von  drei  Kolonien  —  Vic- 
toria, Neusüdwales  und  Tasmanien  —  aufgebracht  worden  sind, 
81  Millionen  für  den  Bau  von  Eisenbahnen  und  Tramways  veraus- 
gabt worden.  Das  Eisenbahnnetz  Australiens  umfasste  im  Jahre  1880 
erst  4900  Meilen,  im  Jahre   1895  aber  bereits  15600  Meilen. 

Es  wurden  viele  Baugesellschaften  für  die  Bebauung  der  städ- 
tischen Grundstücke  gegründet.  Die  Landspekulationen  waren  Ende 
der  80er  Jahre  besonders  stark.  Im  Jahre  1891  begann  der  Zu- 
sammenbruch der  Baugesellschaften.  Im  Jahre  1893  erfolgte  der  all- 
gemeine Krach,  und  die  meisten  australischen  Banken  stellten  ihre 
Zahlungen  ein  ^). 

Die  australische  und  amerikanische  Krisen  riefen  eine  lange 
dauernde  Depression  in  der  Weltindustrie  hervor;  besonders  schwer 
haben  sie  auf  den  Zustand  der  englischen  Industrie  eingewirkt. 
Eine  Panik  aber  wurde  England  vollkommen  erspart.  Die  schwache 
Erschütterung  des  englischen  Kredites  im  Jahre  1890  durch  den 
Baring's  Krach  hatte  genügt,   um  das  Uebergreifen  der  australischen 

i)  F.  W.  Taussig,    The  Crisis  in    the  United  States.    Economic  Journal   1893.  — 
A.  Stevens,  Phenomena  of  the  Panic  in   1893.  —  Quarterly  Review  of  Economics.   1894. 
2)  A.  Ellis,  The  Austrahan  banking  crisis.     Economic  Journal    1893. 


—     170     — 

und  amerikanischen  Geldklemme  auf  England  zu  verhüten.  Im 
August  und  September,  als  die  Panik  in  Amerika  und  Australien 
ihren  Höhepunkt  erreichte,  hielt  die  Bank  von  England  ihren  Dis- 
kont auf  dem  Niveau  4 — 4Y2  Vo'  während  die  Reserve  mehr  als 
12   Millionen  Pfund  betrug. 

Nach  1895  beginnt  ein  neuer  industrieller  Aufschwung,  der  bis 
zur  Gegenwart  anhält.  Wie  man  aus  allem  Gesagten  ersieht,  haben 
die  Handelskrisen  des  früheren  Typus  in  England  aufgehört.  Die  Ur- 
sachen  dieser  höchst  wichtigen  Veränderung  bestehen  in   folgendem: 

Zunächst,  in  den  neuesten  Verhältnissen  des  Welthandels.  Oben 
ist  es  darauf  hingewiesen,  dass  einer  der  am  meisten  charakteristischen 
Züge  der  ökonomischen  Entwickelung  der  Gegenwart  die  allmähliche 
Verdrängung  des  selbständigen  Engroshändlers  ist.  Die  Beschleu- 
nigung und  Verbilligung  des  Verkehrs  zwischen  allen  Weltteilen  hat 
natürlich  dazu  beigetragen ,  dass  sich  Warenvorräte  aller  Art  in  den 
Händen  des  Händlers  vermindern:  der  Verkehr  zwischen  den  Produ- 
zenten und  Konsumenten  wird  immer  unmittelbarer.  Dadurch  wird  natür- 
lich die  ökonomische  Bedeutung  des  Handelskapitals  vermindert;  ge- 
rade das  Handelskapital  war  jedoch  am  meisten  an  den  wahnsinnigen 
Spekulationen  schuld,  die  in  der  früheren  Zeit  auf  dem  englischen 
Geldmarkte  Paniken  hervorgerufen  hatten.  Der  Fabrikant,  der  seine 
Ware  selbst  an  den  Konsumenten  verkauft,  hat  wenig  Neigung,  mit 
ihr  zu  spekulieren ;  dagegen  besteht  das  Wesen  des  Handels  gerade 
in  der  Spekulation,  in  der  Erzielung  des  Profits  aus  dem  Preisunter- 
schiede. Dazu  hat  heute  auch  die  Handelsspekulation  selbst  einen 
anderen  Charakter  angenommen  und  führt  eher  zu  einer  Schwächung 
als  zu  einer  Verstärkung  der  Preisschwankungen.  Bei  der  Erleich- 
terung der  Warenbeförderung  (Eisenbahnen,  Dampfschiffe,  Telegraph) 
und  der  Ausbreitung  des  Handelsverkehrs  in  der  ganzen  Welt,  ruft 
jede  Erhöhung  der  Warenpreise  sofort  eine  Verstärkung  der  Waren- 
zufuhr von  den  Märkten  hervor,  wo  die  Ware  im  Preise  nicht  ge- 
stiegen ist.  Der  Warenmarkt  besitzt  heute  einen  derartig  ausge- 
bildeten internationalen  Charakter,  die  Abhängigkeit  zwischen  den 
einzelnen  Märkten  ist  so  gross,  dass  die  Preise  der  Waren  in  den- 
jenigen Ländern,  die  der  ausländischen  Konkurrenz  geöffnet  sind, 
wie  z.  B.  in  England,  in  viel  grösserem  Masse  als  früher  durch 
das  Verhältnis  der  Weltnachfrage  zum  Weltangebot  bestimmt 
werden;  dies  Verhältnis  ist  natürlich  weniger  Schwankungen  ausge- 
setzt  als   das  von  Nachfrage  zu  Angebot  in  jedem   einzelnen  Lande. 

Ferner  sind  im  Wesen  der  englischen  Industrie  selbst  tiefe  Ver- 
änderungen vor  sich  gegangen.    Wir  haben  schon  mehrfach  darauf  hin- 


~    171    — 

gewiesen,  dass  in  der  neuesten  Zeit  die  grössten  Schwankungen  in 
England  nicht  mehr  wie  früher  in  der  TextiHndustrie,  sondern  in 
der  Eisenindustrie,  dem  Maschinenbau,  der  Steinkohlenproduktion  und 
in  den  anderen  Industriezweigen,  die  Produktionsmittel  herstellen,  statt- 
finden. Im  zweiten  Teile  dieses  Buches  werden  wir  noch  auf  diesen 
Punkt  im  Zusammenhang  mit  den  Schwankungen  des  Prozentsatzes 
der  Arbeitslosen  in  verschiedenen  Industriezweigen  zurückkommen 
müssen. 

Der  Aufschwung  und  die  Geschäftsstockung  kommen  also  in  der 
neuesten  Zeit  am  stärksten  in  der  Erzeugung  von  Produktionsmitteln 
zum  Ausdruck,  nicht  wie  früher  in  der  Textilindustrie.  England  wird 
immer  mehr  und  mehr  zum  Lieferanten  nicht  der  Konsumenten, 
sondern  der  Produzenten  des  Auslandes.  Es  unterliegt  aber  keinem 
Zweifel,  dass  der  Handel  mit  den  Konsumtionsmitteln  einen  grösseren 
Spielraum  für  Spekulationen  gewährt  als  der  Handel  mit  den  Produk- 
tionsmitteln. Die  Nachfrage  nach  Maschinen,  Steinkohlen  u.  s.  w. 
kann  nicht  in  einem  irgend  wie  erheblichem  Masse  durch  die  Be- 
mühungen der  Produzenten  dieser  Gegenstände  erweitert  werden. 
Dagegen  lässt  sich  die  Nachfrage  nach  Fabrikaten,  die  für  einen  un- 
produktiven Verbrauch  bestimmt  sind,  leicht  erhöhen  durch  die  Be- 
mühungen der  Produzenten  oder  der  Händler  —  mit  Hülfe  der  Re- 
klame, durch  die  grössere  Anpassung  der  Ware  an  den  Geschmack 
der  Konsumenten,  durch  Verbreitung  der  Ware  in  weiteren  Gesell- 
schaftsklassen u.  s.  w.  Für  die  baumwollenen  Gewebe  z.  B.  ist  der 
Markt  die  ganze  Welt,   nicht   nur  die  civilisierten,   sondern    auch  un- 

I  civilisierte  Länder.  Die  Händler  mit  baumwollenen  Geweben  können 
immer  darauf  rechnen,  bei  grösserer  Unternehmungslust  immer  neue 
Märkte  für  ihre  Waren  zu  eröffnen.  Sie  können  längere  Zeit  unver- 
kaufte Warenvorräte,  in  der  Hoffnung,  sie  später  vorteilhaft  abzu- 
setzen, in  ihren  Händen  behalten.  In  vielen  Zweigen  der  Eisen- 
industrie wird  dagegen  nur  auf  Bestellung  gearbeitet.  Das  ist  z.  B. 
bei  dem  Bau  von  Seeschiffen  der  Fall,  ebenso  bei  der  Eisenbahnschienen- 
produktion. Es  giebt  keine  Handelsvorräte  an  Schiffen  oder  Schienen. 
Schiffsbauten  und  Eisenbahnmaterial  absorbieren  aber  gegen  ein 
Drittel  des  gesamten  Eisens,  das  in  England  überhaupt  verbraucht 
wird;  die  Produkte  dieser  Produktionszweige  bilden  mehr  als  ein 
Drittel  englischen  Exportes  an  Eisenfabrikaten. 

Die  Erweiterung  der  Arbeit  auf  Bestellung  beseitigt  den  Händler 

ji  und  nimmt  der  Produktion  den  Spekulationscharakter.  So  lange 
in  England  der  industrielle  Aufschwung  hauptsächlich  in  der  Baum- 
wollindustrie  zum    Ausdruck   kam,    fanden   die   Handelsspekulationen 


—      172     — 

in  England  einen  günstigen  Boden.  Eine  Hemmung  des  Warenabsatzes 
rief  da  einen  allgemeinen  Zusammenbruch  der  Handelsfirmen  und  eine 
Panik  hervor.  Jetzt  ist  die  englische  Baumwollindustrie  nur  im  geringen 
Masse  am  industriellen  Aufschwung  beteiligt.  Es  findet  das  seine  Erklä- 
rung einerseits  im  Verfall  der  industriellen  Suprematie  Englands :  die  Län- 
der, in  die  früher  baumwollene  b'abrikate  aus  England  eingeführt  worden 
waren,  produzieren  diese  heute  selbst.  Andererseits  aber  erscheint  die 
Verminderung  der  Rolle  der  Baumwollindustrie  im  industriellen  Leben 
Englands  als  eine  Folge  der  wachsenden  Bedeutung  in  der  modernen 
Industrie  der  Produktion  der  Maschinen,  Werkzeuge  —  der  Produk- 
tionsmittel überhaupt.  Jedenfalls  kommt  heute  im  englischen  Aussen- 
handel  der  Aufschwung  hauptsächlich  in  einer  Verstärkung  der  Aus- 
fuhr von  Produktionsmitteln  zum  Ausdruck.  Diese  Produktionsmittel 
erzeugt  der  englische  Produzent,  wie  gesagt,  zu  einem  grossen  Teile 
auf  Bestellung,  d.  h.  sicher,  ohne  jedwedes  Risico.  Es  ist  also  ganz 
natürlich,  dass  die  Handelsspekulationen  auf  dem  englischen  Waren- 
markte keinen  so  günstigen  Boden  finden  wie  früher  und  sich  nicht 
entfalten  können. 

Die  Veränderung  des  Charakters  der  Handelskrisen  in  der 
neuesten  englischen  industriellen  Geschichte  steht  also  teils  in  einem 
unmittelbaren  Zusammenhang  mit  dem  Verlust  der  industriellen  Supre- 
matrie  Englands.  Die  Epochen  des  industriellen  Aufschwungs  Eng- 
lands sind  zu  unbedeutend,  um  eine  so  stürmische  Reaktion  wie  früher 
nach  sich  zu  ziehen.  Andere  Ursachen  für  das  Fehlen  der  Krisen 
sind  aber  nicht  nur  England  eigen.  Die  Verminderung  der  Bedeutung 
der  Handelsspekulationen  als  krisenbildender  Momente,  infolge  der 
EntWickelung  des  Welthandels  und  der  grösseren  Stabilität  der  Preise 
einerseits  und  der  Zunahme  der  Arbeit  auf  Bestellung,  anderer- 
seits, hat  die  Tendenz,  die  Schroffheit  des  Ueberganges  von  Auf- 
schwung zu  Geschäftsstockung  in  der  ganzen  Welt  zu  mildern.  In 
jungen  und  schnell  wachsenden  Ländern,  wie  in  den  Vereinigten 
Staaten,  Australien  oder  Argentinien,  finden  trotzdem  —  infolge  der 
ausserordentlich  raschen  Entwickelung  der  Produktivkräfte  dieser 
Länder  in  günstigen  Jahren  —  Paniken  und  akute  Handelskrisen  statt. 
Aber  in  Europa  sind  schon  lange  Zeit  keine  akuten  Krisen  des 
früheren  Typus  mehr  ausgebrochen.  Das  beweist  jedoch  keinenfalls, 
dass  die  Zeit  der  Paniken  vorbei  ist.  Der  industrielle  Aufschwung  der 
letzten  Jahre  ist  besonders  bedeutend  in  Deutschland  —  es  ist  mög- 
lich, dass  gerade  in  diesem  Lande  das  Fallen  der  Welle  des  industriellen 
Aufschwungs  von  einer  akuten  Krisis  begleitet  sein  wird.    Allerdings, 


! 


—     173     — 


wenn  auch  die  Handelskrisen  des  früheren  Typus  in  England  nur 
noch  der  Geschichte  angehören,  so  hat  das  doch  die  für  die  kapita- 
listische Produktionsweise  charakteristische  Periodicität  der  Entwicke- 
lung  keineswegs  aufgehoben.  Ja,,  noch  mehr  —  das  Aufhören  der 
akuten  Krisen  hat  die  auffallende  Periodicität  von  Flut  und  Ebbe  im 
wirtschaftlichen  Leben  der  kapitalistischen  Welt  nur  verstärkt,  und 
diese  Periodicität  tritt  jetzt  deutlicher  zu  Tage  als  je  zuvor. 


KAPITEL  VI. 


Die  Erklärung  der  Krisen  aus  der  Unterkonsumtion 

der  Volksmassen. 


Die  Krisentheorie  der  klassischen  Schule.  —  Deren  Mängel.  —  Die  Lehre  über  das 
Kapital  von  J.  S.  Mill.  —  Die  Inkonsequenzen  Mills.  —  Die  Unterkonsumtionstheorie 
Sismondis.  —  Seine  Analyse  des  gesellschaftHchen  Einkommens.  —  Die  Verringerung 
des  nationalen  Einkommens  unter  dem  Einfluss  der  Entwickelung  der  kapitalistischen  Pro- 
duktion.  —  Der  Zusammenhang  der  Verelendung  der  Volksmassen  mit  der  Absatzstockung. 

—  Die  Ansichten  von  Dühring,  Herkner  und  Hobson  über  die  Ursachen  der  Krisen. 

—  Die  Unhaltbarkeit  der  Unterkonsumtionstheorie. 

Die  Geschichte  der  englischen  Handelskrisen  hat  uns  ein  um- 
fangreiches Material  zur  Beurteilung  der  konkreten  Ursachen  der 
Krisen  geliefert.  Jede  Krisis,  wie  jedes  konkrete  geschichtliche 
Ereignis,  besitzt  individuelle  Züge,  und  es  war  nicht  allzu  schwer,  die 
unmittelbaren  Ursachen  der  verschiedenen  Krisen  festzustellen.  Aber 
neben  diesen  individuellen  Zügen  tritt  in  der  Geschichte  der  Krisen 
eine  grosse  Aehnlichkeit  aller  kapitalistischen  Wirtschaftsstörungen  1 
hervor.  Die  charakteristische,  jeder  Krisis  vorangehende  Lage  des 
Waren-  und  Geldmarktes,  die  Erscheinungen  im  Gebiete  des  Geld- 
und  Kredit  Verkehrs,  welche  die  Entwickelung  einer  Krisis  begleiten, 
der  darauffolgende  Zustand  des  Handels  und  der  Industrie  —  darin 
kommen  typische  Züge  aller  Krisen,  wie  verschiedenartig  sonst  diei 
besonderen  Ursachen  solcher  sein  möchten,  zum  Ausdruck.  Darum 
ist  die  Krisengeschichte  so  monoton  —  man  ist  gezwungen,  immer 
dasselbe  zu  wiederholen;  gerade  aber  diese  Eintönigkeit  beweist  am 
besten  die  Gesetzmässigkeit  der  Krisen.  Sie  werden  offenbar  nicht 
durch  die  zufälligen  Umstände  des  gegebenen  geschichtlichen  Mo- 
mentes, sondern  durch  mächtigere  und  bleibende,  im  Wesen  der 
kapitalistischen   Wirtschaftsordnung    wurzelnde  Kräfte   hervorgerufen. 

Die  Krisengeschichte  hat  uns  gezeigt,  dass  die  Krisen  sich  mit 
einer  auffallenden  Regelmässigkeit  wiederholen.  Jedes  Jahrzehnt  tritt 
in  England    eine   Epoche    des   Aufschwungs,    der   industriellen    Blüte 


f 


175 


und  dann  des  Niedergangs,  der  Geschäftsstockung  ein.  Diese  Regel- 
mässigkeit, diese  Periodicität  der  Krisen  scheint  einem  Gesetze  unter- 
worfen zu  sein,  und  dieses  Gesetz  ist  noch  aufzufinden.  Unsere  Auf- 
gabe —  die  wissenschaftHche  Erklärung  der  Krisen  in  ihrem  ganzen 
Zusammenhange  —  ist  bei  weitem  noch  nicht  gelöst,  wenn  wir  die  un- 
mittelbaren Ursachen  einer  jeden  Krisis,  als  eines  konkreten  historischen 
Ereignisses,  klargelegt  haben.  Die  im  ersten  Kapitel  dieses  Buches 
gegebene  theoretische  Analyse  der  Bedingungen  der  Realisation  des 
gesellschaftlichen  Produktes  hat  uns  die  Notwendigkeit  der  Entstehung 
der  Krisen  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  nachgewiesen;  die 
Periodicität  derselben  bedarf  aber  einer  weiteren  Erklärung.  Die  ge- 
nannte Analyse  ist  also  bloss  als  eine  Grundlage  der  wissenschaft- 
lichen Krisentheorie  zu  betrachten. 

Als  ein  Ergebnis  dieser  Analyse  erwies  sich  der  Grundsatz, 
dass  bei  einer  proportioneilen  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Pro- 
duktion die  Nachfrage  nach  Produkten  mit  deren  Angebot  überein- 
stimmen muss.  Der  Gedanke  von  einer  derartigen  Uebereinstimmung 
ist  allerdings  nicht  als  neu  zu  bezeichnen  —  er  war  schon  im  18.  Jahr- 
hundert Turgot  und  anderen  Physiokraten  geläufig,  später  von 
J.  B.  Say  in  Traite  d'Economie  Politique  (1803)  und  von  James  Mi  11 
in  seiner  Schrift  Commerce  defended  (1808)  strenger  formuliert  und 
nachgewiesen,  von  demselben  Sa}^  in  Cours  complet  d'Economie 
!  Politique  pratique  (1828 — 2g)  und  James  Mill  in  Elements  of  Political 
Economy  (182 1)  weiter  entwickelt  und  endlich  in  einem  der  ver- 
breitetsten  Handbücher  der  politischen  Oekonomie  —  in  Principles 
of  Political  Economy  von  John  Stuart  Mill  —  dargestellt.  Eine 
der  spätesten  selbständigen  Darstellungen  derselben  Lehre  findet  sich 
in  Some  Leading  Principles  of  Political  Economy  (1874)  von 
J.  E.  Cairnes.  Die  ganze  klassische  Schule  der  National-Oekonomie 
(mit  der  Ausnahme  von  Malthus)  hat  auf  dem  Boden  dieser  Lehre 
gestanden.  Und  zwar  hat  diese  letztere  für  alle  ihre  Vertreter  als 
ganz  unbestreitbar  gegolten.  So  äussert  J.  S.  Mill  in  seinen  „Grund- 
sätzen der  politischen  Oekonomie",  dass  er  kaum  eine  befriedigende 
Ausdrucksweise  für  die  Ansichten  derer  finden  kann,  welche  die 
Möglichkeit  einer  zu  raschen  Kapitalakkumulation  zulassen,  so  wider- 
sinnig erscheine  ihm  eine  solche  Zulassung.  Ebenso  betrachtete  ein 
so  scharfer  Logiker  wie  Ricardo  die  Lehre  von  der  Ueberein- 
stimmung des  Gesamtangebots  mit  der  Gesamtnachfrage  als  eine 
solche,  deren  Verneinung  eine  logische  Ungereimtheit  bildet.  Und 
zwar  kann  für  einen  jeden,  der  die  Polemik  von  Ricardo  mit 
Malthus   und   Sismondi    genau   kennt,   nicht   der  geringste  Zweifel 


—     176     — 

obwalten,  dass  der  Sieg  in  dieser  Kontroverse  auf  Seiten  Ricardos 
war.  In  Etudes  sur  TEconomie  Politique  ist  Sismondi  gezwungen,  die 
Richtigkeit  der  von  ihm  angefochtenen  Lehre  anzuerkennen  und 
seinem  Gegner  alle  nötigen  Zugeständnisse  zu  machen  i).  Ebenso 
wenig  vermochte  Malthus  in  seinen  von  Bonar  veröffentlichten 
Briefen  gegen  die  zwingenden  Argumente  Ricardos  stich  zu  halten. 
Und  dennoch  sind  die  Ansichten  von  vSismpndi  und  Malthus  in 
betreff  des  Zusammenhanges  der  Produktion  und  Konsumtion  in  der 
Volkswirtschaft  von  den  meisten  neueren  Krisentheoretikern  ange- 
nommen, während  die  Theorie  Say-Mill-Ricardo  heute  beinahe 
keine  Anhänger  findet.  Für  die  neueren  Nationalökonomen  ist  die 
Lieblingslehre  der  klassischen  Schule  bestenfalls  eine  ganz  unbrauch- 
bare „blutleere  Abstraktion"  (Vergl.  W.  Lexis  Artikel  „Ueber- 
produktion''  im  „Handwörterbuche  der  Staatswissenschaften"),  welche 
zu  keinen  wissenschaftlichen  Zwecken  benutzt  werden  kann. 

Solch  ein  Schicksal  einer  Lehre  kann  nur  aus  deren  Inhalte 
erklärt  werden.  Es  muss  ein  fundamentaler  Fehler  in  ihr  vorhanden 
sein,  wenn  sie  sich  so  wenig  zu  behaupten  vermocht  hat. 

Allerdings  haben  der  genannten  Lehre  einige  von  ihren  Ver- 
tretern sehr  viel  geschadet.  So  hat  z.  B.  J.  B.  Say  in  seinem  Cours 
Complet  d'Economie  Politique  eine  solche  Fassung  dieser  Lehre  ge- 
geben,  bei   welcher   sie   sich   in    eine   platte  Tautologie   verwandelt  ^). 


i)  Auf  S.  55  seiner  Etudes  (Band  I)  erzählt  Sismondi,  dass  er  kurz  vor  dem  Tode 
Ricardos  Gelegenheit  gehabt  habe,  mit  dem  berühmten  Nationalökonomen  Bekannt- 
schaft zu  machen;  die  Diskussion  wurde  der  Frage  über  die  Möglichkeit  einer  allgemeinen 
Warenüberproduktion  gewidmet.  Aus  dieser  Diskussion  entstand  eine  umfassende  und  höchst 
interessante  Anmerkung  in  den  genannten  Etudes.  Sismondi  untersucht  namentUch  in 
dieser  Anmerkung  den  Einfluss  der  Steigerung  der  Produktivität  dei  Arbeit  auf  den  Waren- 
absatz. Das  Schlussergebnis  dieser,  übrigens  sehr  konfusen  Analyse  erweist  sich  entschieden 
zu  Gunsten  der  Theorie  Ricardos,  was  aus  dem  folgenden  Citat  ganz  klar  hervortritt: 
„Wir  kommen"  —  sagt  Sismondi  —  „wie  Ricardo  zu  dem  Schlüsse,  dass,  wenn  der 
Warenumsatz  keine  Unterbrechung  erfährt,  die  Produktion  eine  Konsumtion  schaffen  muss; 
dazu  kommen  wir  aber,  indem  wir  von  Zeit  und  Raum,  nach  dem  Muster  der  deutschen 
Metaphysiker  und  von  allen  Hemmnissen,  welche  den  Warenumlauf  unterbrechen,  vollkommen 
abstrahieren;  aber  je  genauer  wir  den  letzteren  untersuchen,  um  so  umfangreicher  erscheinen 
uns  jene  Hemmnisse".  Ricardo  hat  aber  nie  behauptet,  dass  Unterbrechungen  des  Л¥агеп- 
umlaufes  unmöglich  seien.  Seine  Lehre  bestand  eben  darin,  dass  die  Störungen  des  Gleich- 
gewichts zwischen  der  Produktion  und  der  Konsumtion  nie  aus  dem  Ueberschusse  der  Pro- 
duktivkräfte, sondern  nur  aus  den  Bedingungen  des  Warenumlaufs  entspringen  können.  Das 
Zugeständnis  Sismondis  in  einem  so  wichtigen  Punkte  ist  gleichbedeutend  mit  dem,  dass 
er  seine  eigene  Theorie,  die  bis  jetzt  so  viele  Anhänger  findet,  preisgegeben  hat. 

2)  E.  V.  Bergmann,  Geschichte  der  nationalökonomischen  Krisentheorien,  Stuttgart 
1895,  S.  76.  Die  Bergmannsche  Darstellung  und  Kritik  der  klassischen  Lehre  ist 
übrigens  ungenügend. 


? 


177 


Die  Darstellung  der  Lehre  in  den  „Grundsätzen  der  politischen 
Oekonomie"  von  J.  S.  IMill  ist  so  verwickelt  und  dunkel,  dass  die 
I  betreffenden  ^Seiten  wahrscheinlich  nur  von  wenigen  vollkommen  ver- 
standen worden  sind.  Ein  sehr  scharfsinniger  Schriftsteller  — 
R.  S.  Moffat  —  gesteht  in  seinem  interessanten  Buche  „The 
Economy  of  Consumtion  (London  1878)",  dass  vieles  in  der  Dar- 
stellung von  Mi  11  ihm  unklar  geblieben  ist^).  Die  Grundursache  der 
geringen  Beachtung,  welche  die  klassische  Lehre  bei  den  neueren 
Nationalökonomen  findet ,  liegt  aber  tiefer  —  in  der  Un Voll- 
kommenheit dieser  Lehre.  Sie  könnte  nämlich  eine  ausgezeichnete 
Grundlage  für  eine  inhaltreiche  Theorie  der  Bedingungen  der  Reali- 
sation des  gesellschaftlichen  Produktes  werden,  bildete  aber  selbst 
eine  solche  Theorie  bei  weitem  nicht.  Keiner  der  Vertreter  der  Lehre 
hat  sie  folgerichtig  weiter  zu  entwickeln  verstanden.  Neben  den 
tiefen  und  richtigen  Gedanken  enthalten  die  Schriften  Ricardos  und 
der  beiden  Mills  (von  J.  B.  Say  ganz  zu  schweigen)  so  viel  Un- 
haltbares in  Bezug  auf  die  Beziehungen  zwischen  der  gesellschaftlichen 
Produktion  und  der  Konsumtion,  dass  man  die  Verwerfung  der 
ganzen  Lehre  seitens  der  meisten  neueren  Theoretiker  nicht  anders 
als  ganz  natürlich  finden  kann. 

Wie  schon  früher  gesagt,  hat  die  klassische  Schule  die  Gesetze 
der  Akkumulation  des  gesellschaftlichen  Kapitals  vollkommen  miss- 
verstanden. Nach  der  Auffassung  Smith's  und  seiner  Nachfolger 
vermindert  die  Akkumulation  des  Kapitals  den  Konsumtionsfonds  der 
Gesellschaft  in  keiner  Weise:  die  Konsumtion  der  Arbeiter  tritt  ein- 
fach an  die  Stelle  derjenigen  der  Kapitalisten.  Die  glänzende  Ana- 
lyse des  Cirkulationsprozesses  des  Kapitals,  welche  Karl  Marx  im 
П.  Bande  des  „Kapitals"  giebt,  hat  die  Unhaltbarkeit  dieser  Auf- 
fassung nachgewiesen.  Die  Produktionsmittel  bilden  einen  ebenso 
notwendigen  Bestandteil  des  gesellschaftlichen  Produktes  wie  die 
Konsumtionsmittel,  und  da  jede  Steigerung  der  Kapitalakkumulation 
die  Herstellung  neuer  Produktiosmittel  hervorruft,  so  kann  als  Folge 
davon  eine  —  wenigstens  relative  — Verringerung  des  Konsumtions- 
fonds nicht  ausbleiben. 

Weitere  Mängel  der  klassischen  Lehre  treten  besonders  scharf 
in  der  Unfähigkeit  Says,  Ricardos  und  der  beiden  Mills  hervor, 
sie  zur  Erklärung  der  konkreten  Erscheinungen  des  Wirtschaftslebens 
zu  benutzen.     Für  Say    und  Ricardo    galt    ihre    Lehre    einfach    als 


1)    Auf   einem    auffallenden  Missverständnis    beruht   die   ganze    Kritik    Moffats    der 
Theorie  vom  Kapital  von  J.  S.   Mi  11, 

Tugun-Baranowsky,  Die  Handelskrisen.  J'i 


-     178     - 

Beweis  der  Unmöglichkeit  einer  allgemeinen  Ueberproduktion  — 
einer  solchen  Lage  des  Warenmarktes,  bei  der  das  gesamte  Waren- 
angebot die  Nachfrage  nach  Waren  überschreitet  und  ein  allgemeiner 
Preissturz  folgt.  Da  aber  das  Wesen  der  Handelskrisen  gerade  in 
einer  allgemeinen  Ueberproduktion  besteht,  so  wurden  Say  und 
Ricardo  gezwungen,  die  unbestreitbaren  Thatsachen  zu  leugnen. 
Anstatt  die  Handelskrisen  im  Lichte  des  von  ihnen  aufgestellten 
Prinzips  zu  erklären,  haben  Say  und  Ricardo  solche  einfach  ver- 
neint. 

Ricardo,  der  zweifelsohne  beste  Theoretiker  der  klassischen 
Schule,  betrachtete  die  Handelskrisen  als  zufällige,  durch  die  ver- 
schiedensten Ursachen  hervorgerufene  Wirtschaftsstörungen.  Durch 
die  Ereignisse  seiner  Zeit  beeinflusst,  schrieb  Ricardo  eine  besondere 
Bedeutung  als  Krisen  Ursachen  den  politischen  Umständen  —  so  dem 
Beginn  und  der  Endigung  eines  Krieges  zu.  Alle  wirtschaftlichen 
Störungen  und  Stockungen  entspringen,  nach  der  Auffassung  Ri- 
cardos, aus  den  plötzlichen  Aenderungen  der  Nachfrage  und  dauern 
solange,  bis  die  Kapitalien  aus  den  Industriezweigen,  deren  Produkte 
nicht  absatzfähig  werden,  in  jene  anderen  Zweige,  wo  die  Nachfrage 
das  Angebot  überschreitet,  übergehen  können. 

Eine  solche  Betrachtung  der  Krisen  —  als  vorübergehender  zu- 
fälliger Wirtschaftsstörungen  —  war  zur  Zeit  Says  und  Ricardos 
möglich.  Die  spätere  Erfahrung  hat  aber  gezeigt,  dass  Krisen  keine 
zufälligen  äusseren  Störungen  seien,  sondern  mit  der  modernen  Wirt- 
schaftsordnung organisch  aufs  engste  verknüpft  sind.  Obschon  Mal- 
thus  und  Sismondi  keine  logisch  konsequente  Erklärung  der  Krisen 
auszubilden  vermochten,  so  haben  sie  wenigstens  die  Bedeutung  der- 
selben anerkannt.  Und  darum  haben  spätere  Krisentheoretiker  eine 
schlechte  Krisentheorie  von  Sismondi  der  Verwerfung  jeder  Krisen- 
theorie seitens  Ricardos  vorgezogen. 

Nicht  bloss  aber  die  Krisen,  auch  andere  wirtschaftliche  Er- 
scheinungen wurden  von  der  Smith  sehen  Schule  vom  Standpunkte 
des  genannten  Prinzips  falsch  interpretiert.  Nehmen  wir  z.  B.  die 
bekannte  Lehre  J.  S.  Mills  über  das  Kapital.  So  behauptet  Mill, 
dass  die  Grösse  der  gesellschaftlichen  Produktion  durch  die  Menge 
des  Kapitals  bedingt  wird.  Das  mag  man  vielleicht  als  eine  durchaus 
konsequente  Folgerung  aus  dem  Grundsatz  über  die  Abhängigkeit 
der  Nachfrage  vom  Angebot  finden.  Dennoch  bleibt  diese  Be- 
hauptung in  der  von  Mill  gegebenen  Fassung  durchaus  falsch.  Nach 
der  Auffassung   von    Mill    muss   die  thatsächliche  Grösse  der  gesell- 


—     179     — 

schaftlichen  Produktion  mit  der  Kapitalmenge  immer  übereinstimmen  i). 
Daraus  zieht  Mill  höchst  wichtige  praktische  Schlussfolgerungen:  so 
leugnet  er  z.  B.  die  Möglichkeit  einer  Förderung  der  nationalen  Pro- 
duktion durch  die  Steigerung  der  unproduktiven  Konsumtion  — 
durch   die  Luxusentfaltung   der   höheren  Gesellschaftsklassen,  die  un- 

I  produktiven  Staatsausgaben  u.  s.  w.  Ferner  glaubt  Mill  aus  seinem 
Grundsatz  die  Unhaltbarkeit  des  Protektionismus  beweisen  zu  können. 

I  Die  Schutzzölle  schaffen  namentlich  keine  neuen  Kapitalien  : —  also 
können  sie  auch  die  nationale  Produktion  nicht  vermehren.  Zugleich 
aber  stimmt  Mill,  mit  einer  erstaunlichen  Inkonsequenz,  den  Er- 
wägungen   Chalmers    über    die    Geringfügigkeit    der    Wirkung    zu, 

I  welche  eine  Vernichtung  des  gesellschaftlichen  Kapitals  durch  Kriege, 

'  Ueberschwemmungen  u.  s.  w.  auf  den  Umfang  der  nationalen  Pro- 
duktion ausübe.    Chalmers  weist  namentlich  auf  die  bekannte  That- 

■  Sache  hin,  dass  die  industriellen  Länder  sehr  leicht  die  schwersten 
Kriege  ertragen:  kolossale  unproduktive  Kapitalausgaben  müssten, 
wie  es  scheint,  einen  beträchtlichen  Teil  des  nationalen  Kapitals  ver- 
nichten —  und  doch  erträgt  das  Land  diese  Wertvernichtung  mit 
einer   auffallenden  Leichtigkeit  und  wird  nach  kurzer  Zeit  reicher  als 

i  je  zuvor.  Beweist  das  nicht  die  Geringfügigkeit  der  Rolle  des  Kapitals 
I  und  die  hohe  Bedeutung  der  Nachfrage  in  der  modernen  Volkswirt- 
I  Schaft?  Diese  Schlussfolgerung  zieht  Chalmers  -  und  Mill 
pflichtet  ihm  bei,  ohne  den  schreiendsten  Widerspruch  der  Ansichten 
Chalmers  mit  seinen  eigenen  zu  bemerken. 

Aus  dem  von  uns  im  I.  Kapitel  dieses  Buches  über  die  Bedeutung 
des  Absatzmarktes  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  Gesagten  geht  es 
klar  hervor,  dass  Chalmers  vollkommen  recht  hatte  und  dass  die  Nach- 
frage in  der  That  eine  überaus  grosse  Rolle  in  der  Bestimmung  der 
Grösse  der  nationalen  Produktion  spielt.    Die  Lehre  Mills  über  die  Ab- 

■  hängigkeit  des  Produktionsumfangs  von  der  Menge  des  Kapitals  wäre 
bloss  unter  einer  Ergänzung  richtig:  nämlich  unter  der  Voraussetzung 
einer  proportioneilen  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion.  Träfe 
diese  Voraussetzung  zu,  so  müsste  das  Kapital  die  Produktions- 
grösse  thatsächlich  bestimmen.  Besteht  aber  in  der  modernen  Wirt- 
schaft eine   solche  Proportionalität?     Gewiss  nicht  —  zur  Erreichung 

,1  der  letzteren  wäre  eine  Organisation  der  gesellschaftlichen  Produktion 
nötig.  Nach  der  treffenden  Charakteristik  von  R.  Moffat  ist  die 
moderne    Industrie    „ein    unaufhörlicher    Kampf    zwischen     den    An- 


i)  Einige  geringfügige  Ausnahmen  von  diesem  Grundsatz  werden  von  Mill  zugelassen, 
die  Regel  aber  bleibt  für  ihn  bestehen. 

12* 


—     i8o     — 

Sprüchen  der  unbekannten  Nachfrage  und  den  Schwankungen  des 
unbekannten  Angebots  i)."  Bei  dieser  Sachlage  vermag,  worauf  schon 
oben  mehrmals  hingewiesen  wurde,  die  nationale  Produktion  das  ihr 
zur  Verfügung  stehende  Kapital  nie  völlig  auszunutzen.  Die  ganze 
Geschichte  der  Krisen  kann  als  historischer  Beleg  gelten  für  die  über- 
wiegende Bedeutung  der  Nachfrage  in  der  heutigen  Volkswirtschaft 
und  die  Fähigkeit  der  nationalen  Produktion,  sich  bei  gleichbleibender 
Menge  des  Kapitals  sehr  stark  auszudehnen. 

Also  hat  das  Prinzip  des  notwendigen  Zusammenhanges  der 
Nachfrage  mit  dem  Angebot  in  der  Lehre  über  das  Kapital  von 
J.  S.  Mi  11  keinen  glücklichen  Ausdruck  gefunden.  Vielmehr  hat 
diese  Lehre  bloss  dazu  beigetragen,  dass  das  geng-nnte  Prinzip  dis- 
kreditiert und  von  den  neuen  National-Oekonomen  als  eine  „blutleere 
Abstraktion"  verworfen  wurde. 

Die  von  Sismondi  stammende  Erklärung  der  Krisen  aus  der 
Unterkonsumtion  der  Volksmassen  ist  dagegen  die  herrschende  ge- 
worden. Obschon  es  gar  nicht  meine  Absicht  ist,  eine  Geschichte 
der  verschiedenen  Krisentheorien  zu  geben,  sehe  ich  mich  wegen  der 
hervorragenden  Stelle,  welche  die  Unterkonsumtionstheorie  unter  allen 
anderen  Krisentheorien  einnimmt,  zu  einer  Auseinandersetzung  mit 
derselben  genötigt. 

Als  deren  Begründer  kann,  wie  gesagt,  Simonde  de  Sismondi 
gelten''^).  Seine  „Nouveaux  Principes  d' Economic  Politique"  (1819) 
und  „Etudes  sur  F  Economic  PoHtique"  (1837)  enthalten  bis  jetzt  das 
Beste,  was  über  die  Krisen  von  dem  genannten  Standpunkte  ge- 
schrieben wurde.  Die  Theorie  Sismondis  ist  ohne  Zweifel  eine  der 
geistreichsten  Krisentheorien,  w^elche  zugleich  am  meisten  Anhänger 
gefunden  hat. 

Der  Hauptirrtum  der  Schule  Say-Ricardo  besteht,  nach  der 
Ansicht  Sismondis,  darin,  dass  sie  den  eigentlichen  Zweck  jeder 
wirtschaftlichen  Thätigkeit  vollkommen  ausser  acht  gelassen  hatte. 
Aus  der  Lehre  dieser  Schule  geht  hervor,  dass  der  einzige  Wirt- 
schaftszweck in  der  Reichtumsanhäufung  besteht.  Der  Reichtum  aber 
bildet  keinen  Selbstzweck,  sondern  lediglich  ein  Mittel  zur  Bedürfnis- 
befriedigung. Der  eigentliche  Zweck  der  wirtschaftlichen  Thätigkeit 
besteht  in  einer  Förderung  der  Wohlfahrt  der  Gemeinschaft,   also  in 


i)  R.  Moffat,  The  Economy  of  Consumption  S.    114. 

2)  Allerdings  haben  schon  vor  Sismondi  einige  andere  Autoren,  besonders  R.  Owen, 
die  Krisen  mit  der  Volksarmut  in  Zusammenhang  gebracht;  dennoch  ist  es  ein  unbestreit- 
bares und  zugleich  höchst  bedeutendes  Verdienst  Sismondis,  diese  Idee  in  eine  inhalt- 
reiche Theorie  auszubildent  zu  haben. 


—      i8i      — 

einer  Steigerung  der  Konsumtion.  „Say  und  Ricardo"  —  sagt 
Sismondi  im  Vorwort  zur  zweiten  Auflage  seiner  „Nouveaux  Prin- 
cipes  d'Economie  Politique"  —  „sind  bei  der  Doktrin  angelangt,  .  .  . 
dass  die  Konsumtion  keine  anderen  Schranken  hat  ausser  denen  der 
Produktion;  dennoch  ist  die  Konsumtion  durch  das  Einkommen  be- 
schränkt." Und  wenn  die  Anhäufung  der  Arbeitsprodukte  die  Wohl- 
fahrt der  Gesellschaft  nicht  steigert,  so  folgt  die  Wirtschaft  offenbar 
einem   falschen  Wege  und  erreicht  ihren  wahren   Zweck  nicht.     „Das 

^  erste  Phänomen"  —  führt  Sismondi  aus  —  „das  uns  in  der  Revo- 
lution, welche  die  Weltwirtschaft  heute  erlebt,  auffällt,  ist  ein  über- 
mässiges, der  Nachfrage  des  Marktes  nicht  entsprechendes  Wachstum 
der  Produktivkräfte  ....  das  Uebermass  des  Warenangebots  und  die 
.Vrmut  derer,  die  durch  ihre  Arbeit  zu  viel  Reichtum  hergestellt  haben. 
Das  blosse  Konstatieren  dieses  Phänomens  enthält,  wie  es  scheint, 
einen  Widerspruch.  Wir  sprechen  von  der  Vermehrung  der  mensch- 
lichen Arbeitsprodukte;  diese  aber  bilden  den  Reichtum.  Wie  kann 
also  die  Reichtumsvermehrung  eine  Ursache  der  Armut  sein?''^). 

Um  dieses  Phänomen  zu  verstehen,  muss  man  den  wirtschaft- 
lichen Prozess  in  seiner  einfachsten  Form  untersuchen.  Der  Reich- 
tum eines  einzelnen  Individuums  wird  offenbar  an  seinem  Einkommen 
gemessen.  Die  Grösse  des  Einkommens  bestimmt  die  Maximalgrenze 
der  möglichen  Konsumtion;  die  Konsumtion  kann  diese  Grenze,  ohne 

I  das  Kapital,  den  Konsumtionsfonds,  selbst  zu  schädigen,  nicht  über- 
schreiten.     Wie    verknüpfen    sich    aber    in    der    Volkswirtschaft    Ein- 

I  kommen  und  Kapital?  „Wir  kommen"  —  bemerkt  Sismondi  — 
„zur  schwierigsten  und  am  meisten  abstrakten  Frage  der  politischen 
Oekonomie.  Kapital  und  Einkommen  gehen  in  unserer  Vorstellung 
durcheinander:  wir  sehen,  dass  das  Einkommen  der  einen  Person  zum 
Kapital  einer  anderen  wird  und  dass  dasselbe  Produkt  je  nach  seinem 
Besitzer  verschiedene  Benennungen  erhält  ....  Je  schwerer  jedoch 
es  ist,  das  gesellschaftliche  Kapital  vom  gesellschaftlichen  Einkommen 
zu  unterscheiden,  um  so  wichtiger  erscheint  eine  solche  Unterscheidung  2)." 
Leider  aber  ist  dieselbe  Sismondi  bei   weitem   nicht   gelungen. 

I  Die  Schwierigkeit  besteht  namentlich  darin,  dass  dasselbe  Produkt, 
durch   dessen   Verkauf  das   Einkommen   einer   Person   realisiert  wird, 

f    das    Kapital    einer    anderen    Person    bildet.      Nehmen    wir    z.    B.    die 

I'   Maschinenproduktion.      Aus    dem    Verkauf    der    Maschine    entspringt 

1)  Sismonde  de  Sismondi,  Etudes    sur    l'Economie   Politique,  Bruxelles   1837,    Tome 
'     Premier.     Du  Revenu  Social,  S.   78. 

1  2)  Sismondi,  Nouveaux  Principes  d'Economie  Politique,  Paris,   2 me  Edition  1827, 

'     Bd.  1,  S.  84. 


I82 


das  Einkommen  des  Maschinenfabrikanten.  Dieselbe  Maschine  aber, 
wenn  sie  im  Besitze  eines  Landwirtes  ist,  bildet  einen  Bestandteil 
seines  Kapitals.  Für  die  genaue  Unterscheidung  des  gesellschaft- 
lichen Einkommens  vom  Kapital  muss  man  offenbar  die  Rolle  der 
Produktionsmittel  als  eines  notwendigen  Bestandteiles  des  gesellschaft- 
lichen Produktes  klar  л^erstehen.  Wenn  man  aber  auf  dem  alten 
Smithschen  Standpunkte  bleibt,  dass  das  gesamte  gesellschaftUche 
Produkt  sich  in  Einkommen  auflöst,  so  geht  man  aus  der  Konfusion 
der  klassichen  Schule  nicht  hinaus.  Und  das  muss  man  von  Sis- 
mondi  sagen.  Auch  für  Sismondi  besteht  „die  jährliche  Produktion 
oder  das  Ergebnis  aller  im  Laufe  des  Jahres  von  der  Nation  ausge- 
führten Arbeiten  aus  zwei  Teilen:  den  einen  .  .  .  bildet  der  aus  dem 
Reichtum  fliessende  Gewinn ;  der  andere  wird  als  der  Arbeitsfähig- 
keit, gegen  welche  er  ausgetauscht  wird,  gleichgedacht  —  dies  sind 
die  Lebensmittel  der  arbeitenden  Klassen  .  .  .  Also  müssen  National- 
einkommen und  die  jährliche  Produktion  im  Gleichgewichte  sein  und 
gleiche  Grössen  vorstellen.  Die  ganze  jährliche  Produktion  wird  im 
Laufe  des  Jahres  verbraucht,  teils  durch  die  Arbeiter,  die,  indem  sie 
ihre  Arbeit  in  Austausch  geben,  die  Produkte  in  Kapital  verwandeln, 
teils   durch  die  Kapitalisten"  (Nouveaux  Principes,  Bd.  I  S.   104,  105). 

Also  die  „erstaunliche"  Doktrin  A.  Smiths  in  ihrer  ganzen 
Integrität ! 

Gehen  wir  aber  zurück  zu  Sismondis  Analyse  der  Bedingungen 
der  Realisation  des  gesellschaftlichen  Produktes.  Die  Schranke  der 
möglichen  Nachfrage  eines  jeden  Individuums  ist  durch  sein  Ein- 
kommen bestimmt.  „Die  Nationen  bestehen  aus  Individuen;  dasselbe, 
was  für  ein  jedes  Individuum  gilt,  muss  auch  für  ihre  Gesamtheit 
gelten.  Die  nationale  Konsumtion,  wenigstens  diejenige  Konsumtion, 
welche  jahrelang  ununterbrochen  gehen  kann,  ohne  dass  der  National- 
reichtum sich  dadurch  vermindert,  ist  nichts  anderes  als  die  Gesamt- 
konsumtion aller  zur  Gesellschaft  gehörenden  Individuen,  in  den 
Schranken,  die  durch  die  Einkommen  aller  Individuen  gestellt  werden  ^)". 
„Das  jährliche  Gesamteinkommen  einer  Nation  ist  für  den  Umtausch 
gegen  die  jährliche  nationale  Gesamtproduktion  bestimmt ;  durch  diesen 
Umtausch  sichert  jeder  seine  eigene  Konsumtion,  verwertet  das  ver- 
brauchte Kapital,  erhebt  eine  neue  Nachfrage  und  ermöglicht  eine 
neue  Konsumtion.  Falls  aber  das  jährliche  Gesamteinkommen  für 
den  Ankauf  der  jährlichen  Gesamtproduktion  nicht  verausgabt  wird, 
so  wird  ein  Teil  des  Gesamtproduktes  unverkauft  bleiben,  die  Waren- 


i)  Etudes  sur  l'Economie  Politique,  Bd.  I,  S.   84. 


—      i83     — 

lager  werden  überfüllt,  die  Kapitalien  paralysiert  und  die  Produktion 
eingestellt  werden  -)." 

Und  zwar  ist  die  gesamte  Organisation  der  modernen  Volks- 
лvirtschaft  auf  die  Verminderung  des  Nationaleinkommens  gerichtet. 
Durch  die  unbeschränkte  Konkurrenz  sind  die  Unternehmer  gezwungen, 
zu  allen  möglichen  Massnahmen  zu  greifen,  um  nur  die  Produktions- 
kosten ihrer  Waren  herabzusetzen  und  die  Waren  zu  verbilligen.  Da- 
zu ersetzen  sie  die  Handarbeit  durch  die  Maschine  und  entziehen 
Tausenden  von  Handarbeitern  ihre  Beschäftigung.  Zugleich  sinken, 
wegen  eines  Ueberangebots  der  Arbeitshände,  die  Löhne  der  Fabrik- 
arbeiter. Die  Einkommen  der  selbständigen  Kleinproduzenten  ver- 
ringern sich  auch  unter  dem  Einflüsse  der  Konkurrenz  des  Grossbe- 
triebs, welche  die  ganze  Existenz  der  Kleinproduktion  in  Frage  stellt. 
So  sinken  die  Einkommen  der  unteren  Gesellschaftsschichten,  zu  denen 
die  grosse  Masse  der  Käufer  gehört.  Was  die  Einkommen  der 
höheren  Gesellschaftsklassen  —  besonders  der  Kapitalisten  und  der 
Unternehmer  —  betrifft,  so  können  solche  Einkommen  infolge  der 
Vermehrung  der  Kapitalien  absolut  wachsen,  allerdings  aber  nicht 
im  Verhältnis  zur  Erweiterung  der  Produktion,  da  dieselbe  Kon- 
kurrenz die  Unternehmer  und  die  Kapitalisten  zwingt,  sich  mit  einer 
niedrigeren  Profitrate  zu  begnügen. 

„Also  verringert  sich  der  innere  Markt  infolge  der  Koncentration 
des  Eigentums  in  den  Händen  einer  kleinen  Zahl  von  Besitzenden, 
und  die  Industrie  wird  immer  mehr  auf  den  äusseren  Markt  ange- 
wiesen." Wie  kann  in  r'er  That  eine  sich  rasch  vermehrende  Pro- 
duktenmasse einen  Absatz  finden  auf  dem  inneren  Markte,  wenn  die 
Kaufkraft  der  Gesellschaft  infolge  des  Sinkens  des  Gesellschaftsein- 
kommens sich  verringert?  Darum  streben  alle  Nationen  mit  sich 
rasch  entwickelnden  Industrien,  sich  der  auswärtigen  Märkte  zu  bemäch- 
tigen, im  Auslande  die  Waren  abzusetzen,  für  die  es  im  Inlande 
keinen  Platz  giebt.  Dennoch  wirken  im  Auslande  dieselben  Ursachen 
wie  im  Inlande.  „Eine  Nation,  die  zuerst  eine  technische  Erfindung 
gemacht  hat,  kann  jahrelang  ihre  Märkte  erweitern  ...  Es  muss 
aber  der  Moment  kommen,  wo  die  ganze  civilisierte  Welt  nur  einen 
Markt  bilden  und  keine  Nation  neue  Käufer  finden  wird.  Die  Nach- 
frage auf  dem  Weltmarkte  wird  eine  bestimmte  Grösse  bilden,  um 
die  alle  industriellen  Nationen  wettkämpfen  werden.  Der  Absatz 
einer  grösseren  Produktenmasse  seitens  einer  Nation  muss  in  diesem 
Falle  auf  Kosten  einer  anderen  Nation  geschehen"  (N.  Р.,  IL,  S.  316). 


i)  Nouveaux  Principes  d'Economie  Politique,  Bd.  I,  S.   106. 


-      i84     — 

Alle  diese  Erwägungen  führen  vSismondi  zum  Schluss,  dass  es 
nur  ein  Mittel  giebt,  die  Absatzstockung  und  die  Warenüberproduk- 
tion zu  vermeiden.  Und  zwar  besteht  dieses  Mittel  in  der  Hebung 
der  Wohlfahrt  der  Volksmassen,  in  der  Aufrechterhaltung  einer  ge- 
wissen Proportion,  eines  Gleichgewichts  zwischen  dem  Wachstum  der 
Produktion  und  Konsiimtion.  „Der  arme  Mann  ist  notwendigerweise 
der  wichtigste  Käufer  der  Manufakturprodukte;  um  ihn  zu  einem 
guten  Käufer  zu  machen,  muss  man  sein  Einkommen  steigern  .... 
Daher  bildet  der  niedrige  Arbeitslohn  nicht  nur  keinen  Vorteil  für 
den  Fabrikanten,  sondern  im  Gegenteil  ist  für  den  letzteren  schädlich, 
indem  der  niedrige  Lohn  den  Fabrikanten  der  wichtigsten  Käufer 
beraubt  7*. 

Dabei  leugnet  Sismondi  durchaus  nicht,  dass  eine  Krisenur- 
sache auch  in  der  Planlosigkeit  der  modernen  Volkswirtschaft  be- 
stehe. Die  Planlosigkeit  aber  führt,  nach  seiner  Auffassung,  bloss 
zu  partiellen  Störungen  des  Gleichgewichts  zwischen  dem  Angebot 
und  der  Nachfrage.  Die  allgemeine  Ueberproduktion  aber,  die  all- 
gemeine Absatzstockung,  wird  nach  der  Meinung  Sismondis  nur 
durch  die  oben  angegebenen  tieferen,  im  Wesen  der  heutigen  Wirt- 
schaftsordnung wurzelnden  Ursachen,  welche  das  überschüssige  Pro- 
dukt erzeugen,  hervorgerufen. 

Diese  allerdings  sehr  geistreiche  Theorie  beruht  auf  einer  der 
unsrigen  diametral  entgegengesetzten  Auffassung  der  Geset-ze  der 
Reahsation  des  gesellschaftlichen  Produktes.  Die  Theorie  Sismon- 
dis hat,  wie  gesagt,  den  grössten  Einfluss  auf  die  national-ökonomische 
Ideenrichtung  ausgeübt.  So  bildet  die  berühmte  Krisentheorie  von 
Rodbertus  bloss  eine  weitere  Entwickelung  einiger  Sismondischen 
Gedanken  2).      In     der    unten     zu     betrachtenden    Krisentheorie     von 

i)  Etudes  sur  l'Economie  Politique,  Bd.  II,  S.  222.  Die  Krisentheorie  Sismondis 
ist  hauptsächlich  im  II.  und  III.  Buche  der  Nouveaux  Principes  d'Economie  Politique  und 
im   I.,   2.,  3.  und   14.  Artikel  der  genannten  Etudes  dargestellt. 

2)  Ich  verkenne  keinesfalls,  dass  Rodbertus  jeden  Zusammenhang  zwischen  den 
Krisen  und  der  absoluten  Grösse  des  Arbeitslohns  entschieden  leugnet  und  dass  nach  seiner 
Ansicht  die  Ursache  der  Krisen  lediglich  im  Fallen  des  Anteils  der  Arbeiter  am  gesellschaft- 
lichen Produkte  wegen  der  Steigenmg  der  Produktivität  der  Arbeit  bestehe.  Dennoch  ist  auch 
dieser  Gedanke,  nämlich  dass  das  Sinken  des  Arbeitslohns,  als  einer  Quote  des  Gesamtpro- 
duktes, die  Krisen  hervorruft,  vor  Rodbertus  von  Sismondi  ausgesprochen.  In  der  oben 
citierten  Anmerkung  seiner  „Etudes  sur  l'Economie  Politique"  untersucht  Sismondi  den  Ein- 
fluss der  Vervollkommnung  der  Technik  auf  den  Warenabsatz.  Dabei  geht  er  von  der  Voraus- 
setzung aus,  dass  die  Steigerung  der  Arbeitsproduktivität  von  keinem  Wachstum  des  Reallohns 
der  Arbeiter  begleitet  wird.  Bei  dieser  Voraussetzung  muss  offenbar  die  Zahl  der  mit  der  Her- 
stellung der  Lebensmittel  der  Arbeiter  beschäftigten  Arbeiter  bei  jeder  Vervollkommnung  der 
Technik  sinken;  die  Zahl  der  die  Luxusgegenstände  erzeugenden  Arbeiter  nimmi  hingegen  zu. 


-     i85     - 

Marx  und  seiner  Schule  ist  ein  gewisser  Einfluss  der  Ansichten  Sis- 
mondis  nicht  zu  verkennen.  Auch  andere  Autoren,  welche  keine 
Marxisten  sind,  stehen  mehr  oder  weniger  entschieden  auf  dem  Stand- 
punkte Sismondis:  das  gilt  namentlich  —  um  nur  die  bedeutenderen 
zu  nennen  —  von  E.  Dühring,  Herkner  und  Hobson. 

So  lesen  wir  bei  Dühring  folgendes:  „Die  im  System  der  Lohn- 
hörigkeit  tiefgedrückten   Finanzen    der   arbeitenden   Menge    gestatten 
keine  solche  Konsumtion,   welche   der  sich  ausdehnenden  Produktion 
eine  Richtung  vorschreiben   könnte.     Die  auf  Rentabilität,   d.  h.   auf 
Renten    und    auf    Kapitalgewinne    angelegte    Unternehmerproduktion 
landwirtschaftlicher    une   manufakturischer   Art   muss   sich   mit   ihrem 
Absatz  vornehmlich  im  Kreise  der  besitzenden  Klassen  selbst  drehen, 
und  Avie  sie  sich  auch  mit  ihren  Verlegenheiten  von  einem  Punkt  des 
Weltmarkts  zum  anderen  fortwälzen  möge,  so  kann   es  ihr  dennoch 
nicht  gelingen,   sich  dort  die  gewünschte  Sicherheit   des  Absatzes   zu 
verschaffen.     Das  System  der  im  Interesse  des  Besitzes  und   der  ge- 
sellschaftlichen herrschenden  Klassen  erfolgten  Produktion  ermangelt 
,  zu  sehr   einer  breiten   Grundlage   und  schaukelt   sich   zu    haltungslos 
t  im  eignen  Rahmen,  als  dass  es  sich  nicht  schon  vermöge  eines  Kon- 
stitutionsfehlers zu  Stauungen  des  Absatzes  führen  müsste.     Die  An- 
spannung der  produktiven  Kräfte   der  Massen   ist  unbeschränkt  und 
zielt  trotz  der  dazwischentretenden  Regellosigkeiten   und  Arbeitszeit- 
!  Verschwendungen,  welche  von  den  Unternehmern  durch  Unterbrechung 
I  oder  verkehrte  Anwendung  der  Arbeiter  aufgenötigt  werden,  dennoch 
■  stets  auf  ein    grösstes   Mass,   während  die  Anweisungen,  welche   die 
Arbeiter  in  Gestalt  der  Löhne  auf  einen  Teil  der  volkswirtschaftHchen 
Produkte  erhalten,   nach  Kräften  in  der  Richtung  auf  ein   geringstes 
!  Mass    niedergehalten    werden.      Hieraus    entsteht    im    Gesamtgetriebe 
i  der  Wirtschaft  eine  tief  wurzelnde  und  gleichsam  konstitutive  Anlage 
j  zur  Kreislaufsstörung  zwischen  Produktion  und  Konsumtion  .  .  .  Die 

■„Nehmen    wir    an",    führt    Sismondi    aus,    „das    eine   neue   Erfindung,  die  um   ^Д  die  für 

I'  die    Produktion    notwendigen    Arbeitshände    ersparen    lässt,    in    allen    die    Konsumtionsmittel 

!•  der    ärmeren    Bevölkerungsklassen    erzeugenden    Produktionszweigen    eingeführt    wird.      Die 

Unternehmer  werden  dadurch  gewinnen,  da  sie,  falls  sie  sogar  3  Arbeiter  von  je  10  entlassen, 

nicht   minder  Produkte    als    früher   erzeugen  werden Unter   diesen  Bedingungen 

verringert  jede  Erfindung  die  Nachfrage  nach  den  Produkten  schon  bestehender  Werk- 
stätten, und  erhöht  zugleich  die  Nachfrage  nach  den  Produkten  der  noch  nicht  bestehenden 
Werkstätten,  welche  Luxusgegenstände  herstellen  sollen.  Jede  Erfindung  macht  das  Be- 
stehen der  die  Konsumtionsmittel  der  ärmeren  Bevölkerung  erzeugenden  Industrien  von  der 
Schaffung  der  Luxusindustrien  abhängig;  jedoch  kann  man  diese  letzteren  nicht  ohne  neue 
Kapitalien,  neue  Arbeiter,  nicht  ohne  einen  Zeitverlust  erhoffen,  den  die  beschäftigungslos 
gebliebenen  Arbeiter  nicht  leicht  ertragen  können"  (Etudes,  S.  61).  Die  ganze  Krisenlheorie 
ivon  Rodbert  US  ist  in  diesem  Absätze  enthalten. 


I  I 


_      i86     — 

Produktion  dehnt  sich  in  rascherem  Verhältnis  aus  als  die  stets  rück- 
ständige Fähigkeit  der  Volksmassen  zum  Einkauf  der  produzierten 
Artikel.  Für  letztere  künstlich  erzeugte  Unterkonsumtion  wäre  schon 
eine  beständig  bleibende  Produktion  scheinbar  eine  Unteroproduktion  ')". 
H.  Herkner  vertritt  ähnhche  Ansichten  in  seiner  kleinen  Schrift 
„Die  sociale  Reform  als  Gebot  des  wirtschaftlichen  Fortschritts"  und 
in  seinem  Artikel  „Die  Krisen^'  im  „Handwörterbuche  der  Staats- 
wissenschaften". In  der  ersten  Schrift  bekennt  er  sich  zum  Anhänger 
Sismondis  und  stellt,  in  voller  Uebereinstimmung  mit  diesem,  fol- 
gende Sätze  auf: 

„Erstens:  der  sich  selbst  überlassene  Verkehr  schliesst  die 
Tendenz  zu  einer  grossen  Ungleichheit  des  Einkommens  und 
Vermögensverteilung  in  sich." 

„Zweitens:  die  Kauf-  und  Konsumkraft  der  Massen  der 
Bevölkerung  bleibt  demzufolge  hinter  der  durch  die  modernen 
technischen  und  ökonomischen  Errungenschaften  bewirkten 
Steigerung  der  Produktivität  zurück." 

'    „Drittens:    aus    diesem    Missverhältnis   zwischen    Kaufkraft 
und  Produktivkraft  der  arbeitenden  Klassen  ergeben  sich  Ab- 
satzstockungen   im    Inlande,    welche    man    durch    mögUchst 
grossen  Export  und  durch  Kapitalanlagen  im  Auslande  aus- 
zugleichen   strebt.      Der    Ausgleich    durch    die    bezeichneten 
Mittel   verursacht  aber  immer   grössere  Schwierigkeiten   teils 
wegen    der    allmählich    auch    eintretenden    Ueberfüllung    der 
auswärtigen  Märkte,  teils  wegen  der  immer  schärferen  Kon- 
kurrenz, die  sich  durch  die  Unterkonsumtion  der  Massen  auf 
den  Export  angewiesener  moderner  Industriestaaten  bezeitigt." 
„Viertens:     es    ergiebt    sich    somit     ein    Zustand    latenter 
Krise,  der  schliesslich  weitere  wirtschaftliche  Fortschritte  ver- 
zögert 2)". 
Zu  den  Nachfolgern  Sismondis  gehört  unbestreitbar  auchj.  Hob- 
son.     „Ich  behaupte    die  Identität  der   Arbeitslosigkeit  mit  der  Ge- 
schäftsstockung"   —    führt   er   aus   im    Vorworte   seiner  Schrift   „The 
Problem  of  the  Unemployed"  —  „und  glaube,  durch  die  Analyse  der 
Thatsachen  festzustellen,  dass  die  Ursache  dieser  industriellen  Krank- 
heit   in    der    Unterkonsumtion    bestehe.      Die    Nichtanerkennung   des 
Umstandes,    dass   der    Umfang   wie   die   Richtung   der    Industrie   un- 

i)  E.  Dühring,  Kursus  der  National-  und  Sozialökonomie,  Leipzig  1876,  2.  Aufl.,' 
S.  221,  222,  227. 

2)  H.  Herkner,  Die  soziale  Reform  als  Gebot  des  wirtschaftlichen  Fortschritts,; 
Leipzig  1891,  S.  37—38. 


I 


-      i87     - 

mittelbar  durch  die  effektive  Nachfrage  der  Konsumenten  bedingt 
wird  .  .  .  bildet  bis  auf  unsere  Zeit  den  tiefsten  Grund  der  Irrtümer 
der  englischen  Oekonomie  .  .  .  Einige  ältere  Oekonomen  —  besonders 
Lauderdale  und  Malthus^)  haben  eine  glänzende  und  richtige 
Analyse  dieser  Erscheinungen  gegeben,  welche  nie  wiederlegt  Avorden 
ist.  Ihre  treffenden  Argumente  sind  verworfen  worden,  nicht  weil 
die  Unhaltbarkeit  derselben  nachgewiesen  worden  wäre,  sondern  weil 
sie  mit  den  Ansichten  und  praktischen  Vorschlägen  verknüpft  waren, 
die  man  mit  Recht  als  unbrauchbar  und  schädlich  betrachtete.  Die 
allgemeine  Annahme  der  unlogischen  und  unhaltbaren  Definitionen 
der  Begriffe  „Kapital**  und  „Nachfrage"  sowie  eine  Vernachlässigung 
der  Untersuchung  des  wirklichen  Mechanismus  des  Sparens,  haben 
die  meisten  englischen  professionellen  Nationalökonomen  veranlasst, 
die  Erscheinungen  eines  allgemeinen  Ueberschusses  der  Produktiv- 
kräfte, wie  sie  in  den  Perioden  der  Geschäftsstockung  zum  Ausdruck 
kommen,  nicht  zuzugeben'*  ^). 

Es  ist  interessant,  bei  Hobsons  Kritik  der  klassischen  Lehre 
etwas  länger  zu  verweilen.  Ganz  richtig  weist  Hobson  darauf  hin, 
dass  diese  Eehre  keinen  allgemeinen  Ueberschuss  an  Produktivkräften 
zulässt.  Ein  Ueberschuss  an  Arbeitskräften  wäre,  dieser  Theorie  ge- 
mäss, bei  dem  Mangel  an  Kapital  möglich,  wie  der  Ueberschuss  an 
Kapital  bei  dem  Mangel  an  Arbeitshänden;  beide  zusammen  könnten 
aber  nicht  im  Uebermasse  vorhanden  sein.  Die  Ueberproduktion  in 
einigen  Industriezweigen  hat  nach  den  Ansichten  der  Vertreter  der 
klassischen  Lehre  in  einer  Unterproduktion  in  irgend  welchen  anderen 
Industriezweigen  ihre  notwendige  Vorbedingung.  „Stimmt  aber  eine 
solche  Annahme**  —  fragt  Hobson  ~  „mit  den  Thatsachen  des 
wirklichen  Wirtschaftslebens  überein?  Wo  sind  während  einer  Ge- 
schäftsstockung die  in  zu  geringer  Menge  produzierten  Waren  auf- 
zufinden? Wird  das  Sinken  der  Warenpreise,  welches  jede  Krisis 
aufweist,  durch  das  Steigen  der  Preise  einiger  anderer  Waren  be- 
gleitet?" So  etwas  verneint  Hobson  natürlich  ganz  entschieden.  Der 
Preissturz  und  folglich  auch  die  Warenüberproduktion  sind  zur  Zeit 
einer  industriellen  Krise  ganz  allgemein  —  und  damit  ist  für  Hob- 
son die  Unhaltbarkeit  der  klassischen  Lehre  bewiesen. 

„Zur  Entstehung  einer  effektiven  Nachfrage  nach  den  Produkten 
müssen  die  ökonomische  MögHchkeit  zu  konsumieren  und  der  Wunsch 


i)  Die  Ansichten  Hobsons  sind  am  meisten  denen  von  Sismondi  ähnlich.  Diesen 
letzteren  Autor  nennt  aber  Hobson  nicht,  Avahrscheinlich  aus  dem  Grunde,  weil  die 
Schriften  Sismondis  ihm  weniger  bekannt  sind. 

2)  John  A.  Hobson,  The  Problem  of  the  Unemployed,  London  1896,  p.  VHI,  IX. 


—      i88     — 

dazu  sich  bei  derselben  Person  vereinigen.  Die  Verleugnung  der 
Möglichkeit  eines  allgemeinen  Ueberschusses  der  Produktivkraft  sei- 
tens der  Oekonomen  schliesst  eine  Voraussetzung  einer  solchen  Ver- 
einigung in  sich.  Diese  Voraussetzung  ist  jedoch  durchaus  falsch. 
Jene,  die  Unternehmergewinn,  Kapitalzins  und  Rente  beziehen,  er- 
halten dadurch  die  Möglichkeit,  kolossale  Mengen  von  Baum  woll- 
waren, Steinkohlen,  Eisenwaren  u,  s.  w.  zu  verbrauchen,  sie  haben 
aber  den  Wunsch,  nur  einen  relativ  geringfügigen  Teil  dieser  Waren 
zu  konsumieren  ....  Es  bleibt  eine  bedeutende  überschüssige  Kon- 
sumtionskraft übrig,  welche  von  keinem  Wunsche,  sie  in  eine  effek- 
tive Nachfrage  zu  verwandeln,  begleitet  wird  ....  Die  Konsumtions- 
kraft steht  hauptsächlich  denjenigen  zur  Verfügung,  welche  keinen 
Wunsch  zu  konsumieren  haben.  Was  wünschen  nun  diese  Leute? 
Sie  wollen  sparen  i)."  Wird  aber  das  Sparen  zur  Vermehrung  der 
Nachfrage  führen?  Hobson  sucht  diese  Frage  theoretisch  zu  erörtern. 
„Setzen  wir"  —  argumentiert  Hobson  —  „eine  Gemeinschaft 
mit  nicht  wachsender  Bevölkerung  voraus,  in  welcher  ein  richtiges 
ökonomisches  Verhältnis  zwischen  der  Menge  des  Kapitals  und  dem 
Umfange  der  Konsumtion  besteht.  Nehmen  wir  ferner  an,  dass  man 
einen  Versuch  macht,  das  »Sparen  zu  steigern  durch  die  Enthaltung 
vom  Konsum  irgend  eines  Produktes,  z.  B.  der  Baum woll waren. 
Dieses  Sparen  würde  gar  keinen  ökonomischen  Sinn  haben,  falls  es 
eine  längere  Zeit  dauern  müsste  und  nicht  möglichst  bald  durch  eine 
Steigerung  des  Konsums  kompensiert  würde.  Da  kein  Industriezweig 
einer  Vermehrung  seines  Kapitals  bedarf,  so  können  die  Ersparnisse 
mit  gleichem  Erfolg  für  die  Errichtung  neuer  Baumwollfabriken,  wie 
jeder  anderen  Fabriken,  verwendet  werden;  also  nehmen  wir  an,  dass 
die  neuen  Ersparnisse  des  ersten  Jahres  in  dieser  Form  kapitalisiert 
werden.  Das  wird  dazu  führen,  dass  die  Ausdehnung  der  Beschäf- 
tigung von  Kapital  und  Arbeit  bei  der  Errichtung  neuer  Baumwoll- 
fabriken die  Verringerung  der  Beschäftigung  bei  der  Herstellung  der 
Baumwollwaren  kompensieren  wird.  Unter  der  Annahme  einer  Fähig- 
keit von  Kapital  und  Arbeit,  aus  einer  Beschäftigung  in  die  andere 
überzugehen,  wird  dieser  Wechsel  gar  keinen  Einfluss  auf  den  Ge- 
samtumfang der  gesellschaftlichen  Beschäftigung  ausüben.  Die  Ar- 
beiter werden  ihren  Lohn  für  die  Errichtung  neuer  Baumwollfabriken, 
anstatt  für  die  Herstellung  von  Baumwollwaren  bekommen.  Am 
Ende  des  zweiten  Jahres  werden  jedoch  die  Baumvvollfabriken  im 
Ueberschusse  sein   im  Vergleich   mit   der  Nachfrage   nach  BaumwoU- 


i)  The  Problem  of  the  Unemployed,  S.  73 — 74. 


—      iSq     — 

waren,  unter  der  Voraussetzung  eines  unveränderten  Konsums  der- 
selben Waren,  und  in  einem  doppelten  Ueberschusse  bei  der  Voraus- 
setzung einer  Verringerung  des  Konsums  der  Baumwollwaren.  Wird 
man  mir  dazu  einwenden"  —  bemerkt  Hobson  —  „dass  ich  alle  Er- 
sparnisse nicht  in  demselben  Industriezweig,  wo  die  Nachfrage  abso- 
lut gesunken  ist,  angelegt  voraussetzen  darf,  so  kann  ich  bloss  ant- 
worten, dass  dies  zur  Einfachheit  der  Argumentation  angenommen 
ist,  ohne  dass  damit  die  Beweiskraft  der  letzteren  im  mindesten  be- 
einträchtigt würde.  Bei  der  Annahme  einer  gleichmässigen  Verteilung 
der  Ersparnisse  unter  allen  Industriezweigen  werden  die  letzteren  am 
Jahresende  beinahe  in  dieselbe  traurige  Lage  kommen  wie  die  Baum- 
wollindustrie unter  meiner  Voraussetzung.  Wenn  nur  die  sparenden 
Personen  so  thöricht  wären,  eine  solche  Politik  fortzusetzen  und  den 
Besitz  der  steigenden  Menge  nutzloser  Baumwollfabriken  dem  Waren- 
konsum vorzuziehen,  so  könnte  dieser  Prozess  bis  in  die  Unendlich- 
keit gehen,  ohne  irgend  eine  Veränderung  oder  Verminderung  des 
Umfangs  der  Beschäftigung  der  Arbeit  und  der  Anlage  des  Kapitals 
hervorzurufen.  Das  hätte  nur  den  Sinn,  dass  einige  Personen  eine  Be- 
friedigung finden  in  der  Errichtung  und  Vernichtung  neuer  Baumwoll- 
fabriken . . .  Thatsächlich  aber,  bei  einer  vernünftigeren  Handlungsweise, 
wird  sich  die  Sache  anders  gestalten.  Im  Falle  einer  Errichtung  von 
überschüssigen  Fabriken,  kann  die  Ueberproduktion  der  betreffenden 
Güter  nicht  lange  dauern.  Nehmen  wir  an,  dass  die  Besitzer  der  Er- 
sparnisse solche  durch  die  Vermittlung  der  Banken  anlegen.  Nehmen 
wir  an,  dass  die  Banken  ....  die  Ersparnisse  des  ersten  Jahres  in 
überschüssigen  Baumwollfabriken  angelegt  haben.  Diese  Fabriken 
sind  im  zweiten  Jahre  nicht  imstande,  die  Produktion  ohne  w^eitere 
Vorschüsse  seitens  der  Banken  fortzusetzen,  da  es  für  die  erzeugten 
Waren  keinen  Absatz  giebt.  Die  Banken  werden  aber  im  zweiten 
Jahre  eine  weitere  Kreditierung  der  Fabriken  verweigern  ....  die 
schwächeren  Fabriken  werden  die  Arbeit  einstellen,  eine  allgemeine 
Geschäftsstockung  wird  folgen  und  Arbeit  und  Kapital  werden  brach 
liegen  1)." 

Diese  seltsamen  Erwägungen  eines  so  hervorragenden  Theore- 
tikers wie  Hobson  können  als  Beweis  dienen,  wie  wenig  sogar  die 
elementarsten  Gesetze  der  Realisation  des  gesellschaftlichen  Produktes 
von  den  vielen  heutigen  Nationalökonomen  verstanden  werden.  Die 
ganze  Beweisführung  Hobsons  kann  bloss  einen  Sinn  haben  — 
nämlich  die   totale  Verneinung  der   Möghchkeit  der  Kapitalakkumu- 


i)  The  Problem  of  the  Unemployed,  S.  94 — 96. 


—     igo     — 

lation.  Was  anderes  soll  das  Beispiel  Hobsons  beweisen?  Nach 
seiner  Auffassung  kann  die  Enthaltung  von  der  unproduktiven  Kon- 
sumtion seitens  einiger  Personen  bloss  zur  Anhäufung  der  unver- 
kauften Waren  führen.  Wie  kann  sich  aber  die  Kapitalakkumulation 
anders  vollziehen  als  durch  eine  Verwandlung  eines  Teiles  des  ge- 
sellschaftlichen Produktes  aus  einem  Fonds  zur  unproduktiven  Kon- 
sumtion in  Kapital?  Glaubt  Hobson,  dass  die  Kapitalisten  ihre  Pro- 
fite zugleich  akkumulieren  und  konsumieren,  dieselbe  Warenmasse 
zugleich  produktiv  und  unproduktiv  verbrauchen  können?  Ist  das 
aber  nicht  möglich,  so  kann  man  die  Erwägungen  Hobsons  bloss 
als  eine  Beweisführung  der  Unmöglichkeit  der  Kapitalakkumulation 
überhaupt  betrachten. 

Gehen  wir  nun  zur  Kritik  der  angegebenen  theoretischen  Aus- 
führungen Sismondis  und  seiner  Nachfolger  über.  Obschon  Sis- 
mondi  erst  im  Anfange  dieses  Jahrhunderts  geschrieben  hat,  ist  seine 
Theorie,  wie  man  sieht,  durchaus  nicht  veraltet.  Bis  jetzt  findet  der 
berühmte  schweizerische  Gelehrte  treue  Anhänger,  welche  in  theore- 
tischer Hinsicht  keinen  Schritt  weiter  gegangen  sind.  Die  Kritik  der 
Sismondischen  Theorie  ist  um  so  wichtiger,  als,  trotz  einer  ganz 
unhaltbaren  prinzipiellen  Grundlage,  diese  Theorie  viel  Gesundes 
und  Richtiges  in  der  Beurteilung  der  konkreten  Bedingungen  des 
modernen  Wirtschaftslebens  enthält.  In  dieser  Hinsicht  bildet  die 
Sismondische  Theorie  gerade  das  Gegenteil  der  klassischen  Lehre: 
während  die  letztere,  aus  prinzipiell  ganz  unbestreitbaren  Grundsätzen 
ausgehend,  zu  falschen  praktischen  Schlussfolgerungen  gekommen  ist 
und  sich  als  unfähig  erwies,  die  konkreten  Erscheinungen  der 
heutigen  Volkswirtschaft  zu  erklären,  ist  es  Sismondi  gelungen,  trotz 
mangelhafter  theoretischer  Grundlage,  eine  brillante  und  tiefe  Charak- 
teristik der  Tendenzen  der  kapitalistischen  Entwickelung  zu  geben  und 
die  konkreten  Ursachen  vieler  sehr  wichtiger  ökonomischer  Erschei- 
nungen aufzufinden. 

Den  theoretischen  Kern  der  Ausführungen  Sismondis  bildet 
der  Grundsatz,  dass  die  gesellschaftliche  Nachfrage  nach  den  Pro- 
dukten durch  die  gesellschaftliche  Konsumtion  und,  in  letzter  Instanz, 
durch  die  Grösse  des  gesellschaftlichen  Einkommens  bestimmt  wird. 
Daraus  schliesst  Sismondi  auf  die  Möglichkeit  und,  unter  den  herr- 
schenden Bedingungen  des  Wirtschaftslebens,  auf  die  Notwendigkeit 
der  Bildung  des  überschüssigen  Produktes,  welches  durch  die  rasche 
Entwickelung  der  Produktivkräfte,  verbunden  mit  der  Unterkonsum- 
tion der  Volksmassen,  geschaffen  wird.  Die  Annahme  eines  solchen 
überschüssigen    gesellschaftlichen    Produktes,   'welches    bei    der   herr- 


—      igi      — 

sehenden  Einkommen  Verteilung  absatzunfähig-  ist,  ganz  unabhängig 
von  der  grösseren  oder  geringeren  Proportionalität  der  Einteilung 
der  gesellschaftlichen  Produktion,  ist  das  Charakteristikum  der  Theorie 
Sismondis. 

Ist  nun  diese  Annahme  richtig?  Wird  ein  überschüssiges  Pro- 
dukt, wie  ungünstig  die  Einkommensverteilung  für  die  Volksmassen 
sich  erweisen  mag,  unter  der  Voraussetzung  einer  proportion eilen 
Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  entstehen?  Unsere  Ant- 
w^ort  kann  nur  eine  entschieden  verneinende  sein.  Zwar  besteht  in 
der  heutigen  Volkswirtschaft  ein  Ueberschuss  an  Produktivkräften, 
in  dem  Sinne,  dass  die  moderne  Wirtschaftsorganisation  —  der  Kapi- 
talismus —  nicht  imstande  ist,  alle  der  Gesellschaft  zur  Verfügung 
stehenden  Produktivkräfte  auszunutzen.  Darin  hat  Sismondi  voll- 
kommen recht.  Aber  seine  Erklärung  dieses  Phänomens  ist  falsch. 
Nicht  der  Mangel  an  effektiver  Nachfrage,  sondern  der  Mangel  an 
Proportionalität  in  der  Verteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion 
ist  die   alleinige  Ursache    der  Bildung  des  überschüssigen  Produktes. 

Sismondi  wie  all  seine  Nachfolger  haben  keine  Ahnung  von 
den  Gesetzen,  welche  die  Realisation  des  gesellschaftlichen  Produktes 
bestimmen.  Der  Versuch  Hobsons,  die  Unmöglichkeit  der  Kapital- 
akkumulation bei  der  Verringerung  der  Luxuskonsumtion  nachzu- 
weisen, ist  ganz  misslungen.  Das  im  ersten  Kapitel  dieses  Buches 
angeführte  Schema  No.  2  der  Reproduktion  des  gesellschaftlichen 
Kapitals  auf  erweiterter  Stufenleiter  entspricht  dem  von  Hobson 
betrachteten  Falle  der  Akkumulation  des  Kapitals.  Sehen  wir  aber 
in  diesem  Schema  ein  überschüssiges  Produkt  entstehen?  In  keiner 
Weise!  Der  Irrtum  Hobsons  liegt  darin,  dass  Hobson  in  seiner 
Analyse  die  Notwendigkeit  einer  Aenderung  in  der  Einteilung  der 
gesellschaftlichen  Produktion  bei  jeder  Verringerung  der  unproduk- 
tiven Konsumtion  übersieht.  Was  würden  aber  die  Arbeiter  in  dem 
Beispiele  von  Hobson  bei  einer  proportioneilen  Einteilung  der  Pro- 
duktion produzieren?  Offenbar  ihre  eigenen  Lebensmittel  und  Pro- 
duktionsmittel. Wozu  w^ erden  aber  solche  dienen?  Zur  Erweiterung 
der  Produktion  im  zweiten  Jahre.  Der  Produktion  welcher  Produkte? 
Wieder  der  Produktionsmittel  und  Lebensmittel  der  Arbeiter  —  und 
so  ad  infinitum.  Hobson  nimmt  an,  dass  die  Enthaltung  der  Kapi- 
talisten vom  Konsum  der  Baumwollwaren  zur  Errichtung  neuer 
Baum  Wollfabriken  führt.  Das  wäre  gewiss  eine  höchst  thörichte 
Handlungsweise  und  die  Produkte  neuer  Fabriken  hätten  keinen  Ab- 
satz gefunden.  Sind  aber  die  Kapitalisten  etw^as  klüger,  als  wofür 
Hobson  sie  hält,  so  werden  sie  keine  neuen  Baumwollfabriken,  son- 


—     192     — 

dern  vorwiegend  neue  Maschinenfabriken,  Bergwerke,  Steinkohlen- 
gruben u.  s.  w.  errichten.  Die  Produkte  aller  dieser  Unternehmungen 
werden  das  nächste  Jahr  keineswegs  brach  liegen,  sondern  durch  die 
erweiterte  Produktion  des  nächsten  Jahres  verbraucht  werden.  Also 
ist  die  Bildung  des  überschüssigen  Produktes  bei  der  Kapitalakkumu- 
lation bloss  eine  Folge  einer  mangelnden  Proportionalität  in  der  Ein- 
teilung der  gesellschaftlichen  Produktion.  Unser  Schema  N0.  2  be- 
weist die  Möglichkeit  der  Kapitalakkumulation  bei  gleichzeitiger 
Verringerung  der  Luxuskonsumtion.  Im  Gegensatz  zu  den  Behaupt- 
ungen Hobsons  finden  in  diesem  Falle  immer  neue  Arbeiter  Be- 
schäftigung bei  der  Erzeugung  neuer  Kapitalgüter,  welche  zur  weiteren 
Kapitalakkumulation  oder  zur  Ausdehnung  der  Luxuskonsumtion 
verwendet  werden  können.  Die  ganze  Analyse  Hobsons  erweist 
sich  folglich  als  grundfalsch.  Das  überschüssige  Produkt  kann  in  der 
proportioneil  eingeteilten  Volkswirtschaft  nicht  entstehen,  wie  rasch 
sich  das  Kapital  auch  akkumulieren    mag. 

Kann  aber  die  Verdrängung  der  Arbeiter  durch  die  Maschinen 
nicht  zur  Bildung  des  überschüssigen  Produktes  führen?  Gehen  wir 
zu  Sismondi  zurück.  Sismondi  weist  auf  die  Verringerung  der 
Kaufkraft  der  breiten  Gesellschaftsschichten  infolge  der  Verbreitung 
der  kapitalistischen  Produktionsweise  hin.  Darin  kann  man  ihm  voll- 
kommen zustimmen.  Wir  haben  aber  in  unsrer  Analyse  der  Repro- 
duktion des  gesellschaftlichen  Kapitals  von  der  Verdrängung  der 
Arbeiter  durch  die  Maschinen,  vom  Sinken  des  Arbeitslohns  und  der 
Herabsetzung  der  Nachfrage  seitens  der  arbeitenden  Klasse  wegen 
ihrer  Verelendung  yollkommen  abgesehen.  Werden  nun  unsere 
Schlussfolgerungen  unter  der  Voraussetzung  einer  solchen  Verelen- 
dung gelten  1)? 

Wenn  ich  nur  meine  Leser  nicht  zu  ermüden  fürchtete,  so 
könnte  ich  weitere  Schemata  aufbauen,  um  zur  Evidenz  nachzuweisen, 
dass  bei  der  Voraussetzung  einer  proportioneilen  Einteilung  der  ge- 
sellschaftlichen Produktion  und  des  Vorhandenseins  von  Produktiv- 
kräften zur  Ausdehnung  der  Produktion,  ein  überschüssiges  Produkt 
in  keinem  Falle  entstehen  kann,  wie  geringfügig  die  Kaufkraft  der 
Volksmassen  auch  sein  mag.  Setzen  wir  z.  B.  voraus,  dass  die 
Maschine  als  Produktionsfaktor  Schritt  für  Schritt  den  Arbeiter  in 
der  Produktion  ersetzt.  Früher  fanden  eine  Million  Arbeiter  Beschäf- 
tigung,  dann  900000,  800000,  700000  u.  s.  w.     Wenn  der  jährliche 

i)  Wir  nehmen  eine  Verelendung  der  Arbeiterklasse  bloss  als  etwas  theoretisch  denk- 
bares an.  Damit  behaupten  wir  keinesfalls,  dass  eine  solche  Verelendung  auch  thatsächlich 
stattfindet. 


—      193     — 

Lohn  eines  Arbeiters  500  Mk.  ausmacht,  so  bildet  das  gesamte 
Arbeitereinkommen  des  ersten  Jahres  500  MiUionen  Mk.,  des  zweiten 
450  Millionen,  des  dritten  400  Millionen  Mk.  u.  s.  w.  Das  gesamte 
Volkseinkommen  verringert  sich  bedeutend.  Die  Kaufkraft  und  die 
effektive  Nachfrage  der  Bevölkerung  wird  immer  kleiner.  Wird  sich 
aber  damit  auch  die  gesamte  gesellschaftliche  Nachfrage  nach  den 
Waren  entsprechend  vermindern  ?  Zur  Einfachheit  der  Analyse  können 
wir  annehmen,  dass  der  Preis  der  Maschinen  den  Löhnen  der  durch 
die  Maschinen  verdrängten  Arbeiter  gleich  ist  und  dass  die  Maschinen 
im  Laufe  eines  Jahres  ganz  verbraucht  und  reproduziert  werden.  Bei 
dieser  Voraussetzung  kostet  die  jährliche  Anschaffung  der  Maschinen 
genau  dasselbe  wie  die  jährlichen  Arbeitslöhne  —  und  da  am  Ende 
eines  Jahres  die  Maschinen  reproduziert  werden  müssen  und  für  die 
gesellschaftliche  Produktion  ebenso  unentbehrlich  sind,  wie  es  früher  die 
jetzt  durch  die  Maschinen  verdrängten  Arbeiter  waren,  so  wird  die 
gesamte  gesellschaftliche  Nachfrage  nach  den  Waren  durch  die  Ver- 
minderung der  Nachfrage  seitens  der  Arbeiterklassen  nicht  im  min- 
desten verringert.  Die  Maschinen  sind  an  die  Stelle  der  lebendigen 
Arbeiter  getreten,  die  Produktionsmittel  haben  auf  dem  Warenmarkt 
die  Konsumtionsmittel  ersetzt  —  und  dennoch  hat  die  Gesamtsumme 
der  gesellschaftlichen  Nachfrage  keine  Veränderung  erfahren. 

Wir  sehen  also,  dass  die  Bewegung  der  nationalen  Nachfrage 
und  des  nationalen  Reichtums  mit  der  Bewegung  des  nationalen 
Einkommens  keineswegs  parallel  geht.  Den  Begriff  des  nationalen 
Reichtums  soll  man  scharf  vom  Begriffe  des  nationalen  Einkommens 
unterscheiden.  Den  nationalen  Reichtum  bilden  alle  einer  Nation  zur 
Verfügung  stehenden  wirtschaftlichen  (d.  h.  Wert  besitzenden)  Güter; 
das  nationale  Einkommen  nennen  wir  denjenigen  Teil  des  nationalen 
Reichtums,  der  ohne  eine  Verringerung  des  nationalen  Kapitals  kon- 
sumiert werden  kann.  Das  nationale  Einkommen  kann  sich  vermin- 
dern und  die  nationale  Nachfrage  zugleich  wachsen;  die  Steigerung 
des  nationalen  Reichtums  kann  von  einer  Verringerung  des  nationalen 
Einkommens  begleitet  werden,  wie  paradoxal  das  auch  klingen  mag. 
Und  das  ist  wohl  ein  Paradoxon,  aber  nicht  ein  von  uns  erfundenes, 
sondern  ein  im  Wesen  der  kapitahstischen  Ordnung  begründetes. 
Das  Einkommen  bildet  den  Zweck  jeder  Produktion.  Auch  die  kapi- 
talistische Produktion  strebt  zur  Vermehrung  des  Einkommens  — 
namentlich  des  Einkommens  der  Leiter  der  kapitahstischen  Produktion 
—  also  der  Kapitalisten.  In  einer  Gesellschaft,  wo  die  Produzenten 
selbst  über  die  Produktionsmittel  verfügten,   müsste   das  Streben  der 

Tiigan-ßaranowsky  ,  Die  Handelskrisen.  13 


—     194     — 

Leiter  der  Produktion  zur  Steigerung  ihrer  Einkommen  auch  das 
gesamte  nationale  Einkommen  vermehren.  In  der  kapitaHstischen 
Gesellschaft  aber,  wo  die  Leiter  der  Produktion  andere  für  sich 
arbeiten  lassen,  kann  die  Steigerung  der  kapitalistischen  Einkommen 
von  einer  Verringerung  des  nationalen  Einkommens  begleitet  werden. 
Vom  Standpunkte  des  kapitalistischen  Unternehmers  bildet  ja  der 
Arbeitslohn  —  also  das  Einkommen  der  grossen  Mehrzahl  der  Be- 
völkerung —  kein  Einkommen,  sondern  eine  Kapitalausgabe;  daher 
ist  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  die  Herabsetzung  des  National- 
einkommens gleichzeitig  mit  dem  Wachstum  der  kapitalistischen  Ein- 
kommen und  des  nationalen  Reichtums  —  ohne  jegliche  Störung  des 
Gleichgewichts  zwischen  der  Produktion  und  Konsumtion  —  möglich. 

Man  mag  die  ganze  Sache,  wie  man  will,  drehen  —  man 
mag  nicht  nur  die  Verdrängung  der  Arbeiter  durch  die  Maschine, 
sondern  auch  das  Sinken  der  Arbeitslöhne  und  der  Einkommen  der 
selbständigen  Kleinproduzenten  voraussetzen  —  der  Grundsatz  über 
die  Unmöglichkeit  der  Bildung  des  überschüssigen  Produktes  in  der 
proportioneil  eingeteilten  und  zugleich  über  genügende  Produktions- 
kräfte verfügenden  Volkswirtschaft  muss  bestehen  i).  Das  Elend 
der  Volksmassen  kann  eine  ungünstige  Wirkung  auf  den  Waren- 
absatz nur  insofern  ausüben,  als  eine  proportioneile  Einteilung  der 
gesellschaftlichen  Produktion  dadurch  erschwert  wird. 

Alle  theoretischen  Ausgangspunkte  Sismondis  und  seiner 
Schule  sind  zu  verwerfen.  Unwahr  ist  es,  dass  das  nationale  Ein- 
kommen mit  der  nationalen  Nachfrage  zusammenfällt.  Nicht  minder 
unwahr  ist  ein  anderer  Grundsatz  Sismondis  —  dass  das  Gleichge- 
wicht von  Angebot  und  Nachfrage  in  der  Volkswirtschaft  eine 
Uebereinstimmung  der  nationalen  Produktion  mit  der  Konsumtion 
zur  Voraussetzung  hat.  Dabei  bleibt  aber  vollkommen  richtig  der 
Hinweis  Sismondis  auf  die  Bildung  eines  überschüssigen  Produk- 
tes durch  die  moderne  Wirtschaftsorganisation ;  die  Ursachen  dieser 
Bildung  bestehen  jedoch  nicht  im  Mangel  an  einer  kaufkräftigen 
Nachfrage,  sondern  in  der  Schwierigkeit,  bei  den  herrschenden  öko- 
nomischen und  sozialen  Verhältnissen  eine  proportionelle  Einteilung 
der  gesellschaftlichen  Produktion  zu  erreichen. 


i)  Dabei  abstrahiere  ich  natürlich  von  Unterbrechungen  des  Güterumlaufs  durch 
Geld-  und  Kreditstörungen ;  bei  dieser  ganzen  theoretischen  Kontroverse  handelt  es  sich 
ja  nur  um  die  Bestimmung  der  Rolle  der  Einkommensverteilung  und  der  gesellschaftlichen 
Konsumtion  bei  der  Realisation  des  gesellschaftlichen  Produktes. 


—      195     — 

Man  kann  sich  nur  einen  Fall  vorstellen,  wo  der  Ueberschuss  am 
gesellschaftlichen  Produkte  in  keinem  Zusammenhang  mit  der  Ein- 
teilung der  gesellschaftlichen  Produktion  steht.  Setzen  wir  z.  B. 
voraus,  dass  die  gesellschaftliche  Produktion  wegen  Mangels  an  Pro- 
duktivkräften sich  nicht  ausdehnen  kann  und  dass  die  Kapitahsten 
sich  vom  Konsum  eines  Teiles  ihres  Einkommens  enthalten.  Die 
Nachfrage  nach  den  Luxusgegenständen  wird  sich  folglich  verringern. 
Da  aber,  unserer  Voraussetzung  gemäss,  keine  Ausdehnung  der  Pro- 
duktion möglich  ist,  so  kann  die  Nachfrage  nach  den  Produktions- 
mitteln und  Lebensmitteln  der  Arbeiter  nicht  steigen.  In  diesem 
Falle  wird  also  das  gesamte  Warenangebot  die  gesamte  Nachfrage 
überschreiten,  und  keine  Aenderung  der  Einteilung  der  gesellschaft- 
lichen Produktion  wird  imstande  sein,  den  ^Absatzmarkt  für  das  über- 
schüssige gesellschafthche  Produkt  zu  schaffen.  Wir  werden  also  das 
übermässige  Produkt  im  Sinne  Sismondis  vor  uns  haben.  Dennoch 
bildet  dieser  P'all  keine  Ausnahme  von  den  von  uns  aufgestellten 
Grundsätzen  über  die  zwischen  dem  Angebot  und  der  Nachfrage 
obwaltenden  Verhältnisse.  Die  absolute  Ueberproduktion  entsteht  hier 
namentlich  aus  der  Unmöglichkeit  einer  Ausdehnung  der  Produktion 
dank  dem  Mangel  an  Produktivkräften.  Nur  dieser  letztere  Umstand 
ist  also  als  eine  Ursache  der  Bildung  des  überschüssigen  Produktes  zu 
betrachten.  Machen  aber  technische  Bedingungen  eine  Erw^eiterung 
der  Produktion  möglich  und  sind  die  Kapitalisten  bestrebt,  das  Kapital 
zu  akkumulieren,  so  kann  die  Kapitalakkumulation  bloss  durch  einen 
Mangel  an  Proportionalität  verhindert  werden,  nicht  aber  durch  einen 
Mangel  an  der  Konsumtionskraft  der  Gesellschaft. 

Allerdings  bleibt  es  wahr,  dass  bei  einem  Mangel  an  Produk- 
tivkräften und  einer  stationären  Produktion  eine  Verringerung  der 
gesellschaftlichen  Konsumtion  die  Bildung  des  überschüssigen  Pro- 
duktes zur  Folge  haben  muss.  Da  aber  das  Charakteristische  der 
kapitalistischen  Wirtschaftsordnung,  nach  allgemeiner  Anerkennung, 
in  einem  Ueberfluss  an  Produktivkräften  besteht,  so  können  wir  den 
Fall  eines  Mangels  an  Produktivkräften  nur  als  eine  Ausnahme  aus 
der  Regel  betrachten. 

Sismondi  wirft  der  Smithschen  Schule  vor,  dass  sie  den 
wahren  Zweck  der  Wirtschaft  —  die  Steigerung  der  Wohlfahrt  der 
Gemeinschaft  —  ausser  acht  gelassen  habe  und  die  Wissenschaft  über 
die  Volkswirtschaft  —  die  politische  Oekonomie  —  in  eine  Wissen- 
schaft über  die  Reichtumsanhäufung  —  eine  Chrematistik  —  ver- 
wandelt habe.     Diese   Bemerkung    Sismondis    ist   ebenso   geistreich 

13* 


—      igö     — 

wie  alle  seine  Erwägungen  und  enthält  ein  grosses  Stück  Wahrheit. 
Um  ganz  wahr  zu  sein,  bedarf  sie  nur  einer  Modifikation:  nicht  die 
Smithsche  Schule,  sondern  die  ganze  heutige  Organisation  der  Volks- 
wirtschaft —  der  Kapitalismus  —  hat  den  eigentlichen  Zweck  der 
wirtschaftlichen  Thätigkeit  —  die  Befriedigung  der  Menschenbedürf- 
nisse —  vereitelt  und  die  gesamte  Volkswirtschaft  einfach  in  einen 
Mechanismus  der  Kapitalakkumulation  verwandelt. 


KAPITEL  VII. 

Die  Krisentheorie  von  Marx. 


Darstellung  dieser  Theorie.  —  Gesetz  des  tendenziellen  Falls  der  Profitrate.  —  Ab- 
solute Ueberproduktion  von  Kapital.  —  Der  Zusammenhang  der  Absatzstockung  mit  der 
Unterkonsumtion  der  Volksmassen.  —  Kritik  des  Gesetzes  der  fallenden  Profitrate.  —  Das 
Fehlen  eines  notwendigen  Zusammenhanges  zwischen  der  Zusammensetzung  des  Kapitals  und 
der  Profitrate,  auf  Grund  der  Arbeitswerttheorie  bewiesen.  —  Die  Unhaltbarkeit  der  Marx- 
schen  Mehrwerts theorie.  —  Das  Wesen  des  Profitproblems.  —  Das  Profitproblem  und  das 
Wertproblem.  —  Die  Entstehung  des  Profits.  —  Die  wechselseitigen  Beziehungen  zwischen 
den  drei  Bestandteilen  des  gesellschaftlichen  Produktes.  —  Das  ethische  Moment  der  Marx- 
schen  MehrAverttheorie.  —  Die  Entwickelungsgesetze  des  Kapitalismus  und  die  Bedingungen 
seiner  Verwandlung  in  Sozialismus. 

Die  Krisen  haben  einen  überaus  grossen  Einfluss  auf  die  Aus- 
bildung der  Theorie  des  modernen  Sociah'smus  ausgeübt.  Die  Stockung 
während  der  Krisen  des  gesamten  Mechanismus  der  socialen  Güter- 
erzeugung, das  unsagbare  Elend  der  breiten  Volksmassen,  das  auf 
die  Krisen  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  folgte,  das  Rätsel- 
hafte und  das  Unbegreifliche  des  ganzen  Phänomens  —  dies  alles 
führte  natürlich  zur  Auffassung,  dass  in  den  Krisen  tiefer  wurzelnde 
und  nicht  zu  beseitigende  Uebel  der  heutigen  Wirtschaftsordnung 
zum  Vorschein  kommen.  Die  Kritik  der  kapitalistischen  Wirtschafts- 
weise schien  in  den  Krisen  die  sicherste  Grundlage  und  zugleich 
die  schlagendste  Bestätigung  zu  finden.  Die  Verwandlung  Robert 
Owens  aus  einem  bürgerlichen  Philanthropen,  einem  gutmütigen  Fabri- 
kanten in  einen  radikalen  und  unversöhnlichen  Kritiker  der  modernen 
Gesellschaft  und  den  Stifter  einer  neuen  socialen  Lehre,  welche  von 
Tausenden  englischer  Arbeiter  mit  Enthusiasmus  als  ein  neues  Evan- 
gelium empfangen  wurde,  geschah  unter  dem  unmittelbaren  Einfluss 
der  englischen  Krisen,  die  auf  die  Wiederherstellung  des  Friedens  in 
den  Jahren    1815    und    18 17    folgten.     Dasselbe    gilt    auch   für    viele 


—    198    — 

andere  hervorragende  Vertreter  der  socialistischen  Lehre.  Dabei 
werden  wir  jedoch  nicht  verweilen  und  gehen  unmittelbar  zur  Be- 
trachtung der  Krisenlehre  des  bei  weitem  hervorragendsten  und  ein- 
flussreichsten sociaHstischen  Theoretikers  —  Karl  Marx  —  über. 

Schon  im  „Kommunistischen  Manifeste"  finden  wir  eine  brillante 
Charakteristik  der  Bedeutung  der  Krisen  in  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft. „Die  bürgerlichen  Produktions-  und  Verkehrsverhältnisse,  die 
bürgerlichen  Eigentumsverhältnisse,  die  moderne  bürgerliche  Gesell- 
schaft, die  so  gewaltige  Produktions-  und  Verkehrsmittel  hervorge- 
zaubert hat,  gleicht  dem  Hexenmeister,  der  die  unterirdischen  Ge- 
walten nicht  mehr  zu  beherrschen  vermag,  die  er  heraufbeschwor. 
Seit  Dezennien  ist  die  Geschichte  der  Industrie  nur  die  Geschichte  der 
Empörung  der  modernen  Produktivkräfte  gegen  die  modernen  Pro- 
duktionsverhältnisse, gegen  die  Eigentumsverhältnisse,  welche  die 
Lebensbedingungen  der  Bourgeosie  und  ihrer  Herrschaft  sind.  Es 
genügt,  die  Handelskrisen  zu  nennen,  welche  in  ihrer  periodischen 
Wiederkehr  immer  drohender  die  Existenz  der  ganzen  bürgerlichen 
Gesellschaft  in  Frage  stellen.  In  den  Handelskrisen  wird  ein  grosser 
Teil  nicht  nur  der  erzeugten  Produkte,  sondern  bereits  geschaffener 
Produktivkräfte  regelmässig  vernichtet.  In  den  Krisen  bricht  eine 
gesellschaftliche  Epidemie  aus,  welche  allen  früheren  Epochen  als  ein 
Widersinn  erschienen  wäre  —  die  Epidemie  der  Warenüberproduk- 
tion. Die  Gesellschaft  findet  sich  plötzlich  in  einen  Zustand  momen- 
taner Barbarei  zurückversetzt;  die  Industrie,  der  Handel  scheinen  ver- 
nichtet, und  warum?  Weil  sie  zu  viel  Civihsation,  zu  viel  Lebens- 
mittel, zu  viel  Industrie,  zu  viel  Handel  besitzt.  Die  Produktivkräfte, 
die  ihr  zur  Verfügung  stehen,  dienen  nicht  mehr  zur  Beförderung  der 
bürgerlichen  Eigentumsverhältnisse Die  bürgerlichen  Verhält- 
nisse sind  zu  eng  geworden,  um  den  von  ihnen  erzeugten  Reichtum 
zu  fassen.  —  Wodurch  überwindet  die  Bourgeosie  die  Krisen?  Einer- 
seits durch  die  erzwungene  Vernichtung  einer  Masse  von  Produktiv- 
kräften ;  andererseits  durch  die  Eroberung  neuer  Märkte  und  die 
gründlichere  Ausbeutung  alter  Märkte.  Wodurch  also?  Dadurch, 
dass  sie  allsei  tigere  und  gewaltigere  Krisen  vorbereitet  und  die  Mittel, 
den  Krisen  vorzubeugen,  vermindert." 

Eine  eigenthche  Krisentheorie,  eine  Feststellung  der  treibenden 
Kräfte,  der  inneren  Ursachen,  welche  in  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft periodisch  die  Krisen  zeitigen,  finden  wir  dennoch  im  „Kom- 
munistischen  Manifeste"   nicht.     Dasselbe   gilt  auch  von   „Zur  Kritik 


I)  Das  kommunistische  Manifest,  5.  Auflage,  S.   13,   14, 


der  Politischen  Oekonomie"  und  von  den  zwei  ersten  Bänden  des 
„Kapitals."  Bei  der  Betrachtung  der  Erscheinungen  der  Waren-  und 
Geldcirkulation  macht  Marx  öfters  scharfsinnige  Bemerkungen  über 
die  möglichen  Krisenursachen  in  der  heutigen  Wirtschaftsordnung. 
Geleg-entlich  kritisiert  Marx  sehr  scharf  —  aber  nicht  in  ganz  ge- 
rechter Weise  —  die  Ansichten  der  Vertreter  der  klassischen  Lehre 
über  die  Unmöglichkeit  einer  allgemeinen  Warenüberproduktion.  Im 
II.  Bande  des  „Kapitals"  befindet  sich  die  glänzende  Analyse  der  Re- 
produktion des  gesellschaftlichen  Kapitals,  welche,  unseres  Erachtens, 
die  Grundlage  jeder  wissenschaftlichen  Theorie  des  socialen  Stoff- 
wechsels in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  werden  muss.  Dennoch 
ist  diese  Analyse  bei  Marx  unvollendet  geblieben;  sie  wurde  vom 
Verfasser  selbst  zur  Erklärung  der  Krisen  und  anderer  Erscheinungen 
des  heutigen  Wirtschaftslebens  nicht  benutzt  und,  was  noch  wichtiger 
ist,  sie  steht  in  keiner  Uebereinstimmung  mit  anderen  Ansichten  von 
Marx.  Man  kann  sogar  behaupten,  dass  diese  Analyse  der  Marx- 
schen  Auffassung  der  Entwickelungsgesetze  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaftsordnung in  vieler  Hinsicht  entschieden  widerspricht.  Nur  das 
kann  die  auffallende  Thatsache  erklären,   dass  die   genannte  Analyse 

I  sogar  von  der  Marxschen  Schule  so  wenig  bis  heute  berücksichtigt 
ist.  Meines  Wissens  giebt  es  z.  B.  in  der  deutschen  nationalökonomi- 
schen Litteratur  keinen  Versuch,  die  Marxsche  Analyse  der  Repro- 
duktion des  gesellschaftlichen  Kapitals  zur  Erklärung  der  Krisen  und 
der  Entwickelungsgesetze  des  Kapitalismus  überhaupt  zu  verwerten  ^). 
In  den  zwei  ersten  Bänden  des  „Kapitals"  finden  wir  allerdings 
keine  ausgebildete  Krisentheorie.     Im  ersten  Bande  betrachtet  Marx 

[  eingehend  die  socialen  Wirkungen  der  Krisen  —  den  Einfiuss  dieser 
letzteren   auf  die  Gestaltung  des  socialen    Lebens;   die  Ursachen   der 

|i  Krisen  werden  dabei  nur  flüchtig  berührt.  Diese  Lücke  ist  durch 
den  dritten  Band  des  „Kapitals'*  vollkommen  ausgefüllt.  Der  ge- 
nannte Band  enthält  eine  Theorie  der  Entwickelung  der  kapitalistischen 
Wirtschaft  in  ihrer  Gesamtheit;  die  Krisen  erhalten  in  dieser  Theorie 


i)  In  der  russischen  Litteratur  dagegen,  nachdem  in  der  ersten  russischen  Auflage 
der  vorUegenden  Arbeit  auf  die  Bedeutung  der  Marx 'sehen  Analyse  hingewiesen  wurde, 
sind  in  den  letzten  Jahren  mehrere  Schriften  erschienen,  deren  Verfasser  sich  auf  den  Boden 
der  genannten  Analyse  stellen.  Es  entstand  eine  sehr  interessante  Polemik,  wobei  die 
meisten  Marxisten  die  genannte  Analyse  als  ein  Argument  für  die  Möglichkeit  einer  weiteren 
Entwickelung  der  kapitalistischen  Industrie  in  Russland  betrachteten,  während  ihre  Gegner 
„Volkstümler"  (Avelche  übrigens  sich  auch  Marxisten  nennen)  eine  solche  Möglichkeit  leug- 
neten. Nebenbei  sei  bemerkt,  dass  diese  Kontroverse  im  höchsten  Grade  zur  Steigerung 
des  Interesses  zu  den  Fragen  der  nationalökonomischen  Theorie  in  Russland  beigetragen  und 
eine     Reihe  rein  theoretischer  Arbeiten  hervorgerufen  hat. 


200        

eine  hervorragende  Stelle,  und  die  Krisenursachen  werden  erforscht 
und  nachgewiesen. 

Als  treibende  Macht  der  kapitalistischen  Entwickelung  erkennt 
Marx  das  tendenzielle  Fallen  der  Profitrate.  Das  betreffende  Gesetz 
betrachtet  Marx  als  eine  notwendige  Folge  seiner  Werttheorie.  Wie 
bekannt,  wird  nach  dieser  Theorie  der  Warenwert  durch  „die  zur 
Herstellung  eines  Gebrauchswertes  gesellschaftlich  notwendige  Arbeits- 
zeit" bestimmt.  Der  Wertzuwachs,  welcher  den  Profit  eines  Kapi- 
talisten bildet,  kann  also  bloss  aus  der  unbezahlten,  im  Prozesse  der 
Produktion  aufgewandten  lebendigen  Arbeit  entspringen,  da  die  Pro- 
duktionsmittel auf  das  Produkt  nur  den  Wert  ihrer  verbrauchten 
Teile  übertragen.  Darum  bildet  im  Produktionsprozess  die  lebendige 
Arbeit  nach  der  Marx  sehen  Terminologie  das  variable  Kapital,  die 
Produktionsmittel  aber,  die  vorgethane  Arbeit,  welche  keines  weiteren 
Wertzuwachses  fähig  ist,  das  konstante  Kapital.  Das  Wesen  jeder 
Vervollkommnung  der  Technik,  jeder  Steigerung  der  Produktivität 
der  Arbeit  besteht  in  einem  relativen  Wachstum  des  konstanten  und 
in  einer  relativen  Verringerung  des  variablen  Kapitals.  Je  produk- 
tiver die  Arbeit  ist,  um  so  grössere  Mengen  Rohstoffe  werden  durch 
ein  bestimmtes  Quantum  lebendiger  Arbeit  in  einer  bestimmten  Zeit 
verarbeitet  werden.  Zugleich  werden  die  Arbeiter  mit  der  Vervoll- 
kommnung der  Technik  durch  die  Maschinen  ersetzt,  was  zum  rela- 
tiven Wachstum  des  konstanten  Kapitals  im  höchsten  Grade  beiträgt. 
Diese  beiden  Umstände  verringern  fortwährend  bei  der  Entwickelung 
der  kapitalistischen  Industrie  die  Quote  des  variablen  Kapitals  in  der 
gesamten  Kapitalausgabe.  Da  aber  bloss  das  variable  Kapital  den 
Mehrwert  erzeugt,  so  muss  offenbar  die  Mehrwertmasse  am  gesamten 
(variablen  und  konstanten)  Kapital  gemessen,  sinken,  was  im  Fallen 
der  Profitrate  zum  Ausdruck  kommt.  Zugleich  kann  natürlich  die 
Masse  des  Mehrwerts  und  des  Profits,  infolge  einer  stärkeren  Ver- 
mehrung der  absoluten  Masse  des  gesellschaftlichen  Kapitals,  absolut 
wachsen. 

„Diese  fortschreitende  relative  Abnahme  des  variablen  Kapitals 
im  Verhältnis  zum  konstanten  und  daher  zum  Gesamtkapital  ist  iden- 
tisch mit  der  fortschreitend  höheren  organischen  Zusammensetzung 
des  gesellschaftlichen  Kapitals  in  seinem  Durchschnitt.  Es  ist  ebenso 
nur  ein  anderer  Ausdruck  für  die  fortschreitende  Entwickelung  der 
gesellschaftlichen  Produktivkraft  der  Arbeit,  die  sich  gerade  darin 
zeigt,  dass  vermittelst  der  wachsenden  Anwendung  von  Maschinerie 
und  fixem  Kapital  überhaupt  mehr  Roh-  und  Hülfsstoffe  von  der- 
selben  Anzahl  Arbeiter  in   derselben  Zeit,   d.  h.   mit   weniger  Arbeit 


20I 


in  Produkte  verwandelt  werden  ....  Die  progressive  Tendenz  der 
allgemeinen  Profitrate  zum  Sinken  ist  also  nur  ein  der  kapitalistischen 
Produktionsweise  eigentümlicher  Ausdruck  für  die  fortschreitende  Ent- 
wickelung  der  gesellschaftlichen  Produktivkraft  der  Arbeit  ....  So 
einfach  das  Gesetz  nach  den  bisherigen  Entwicklungen  erscheint,  so 
wenig  ist  es  aller  bisherigen  Oekonomie  gelungen es  zu  ent- 
decken. Sie  sah  das  Phänomen  und  quälte  sich  in  widersprechenden 
Versuchen  ab,  es  zu  deuten.  Bei  der  grossen  Wichtigkeit  aber,  die 
dies  Gesetz  für  die  kapitahstische  Produktion  hat,  kann  man  sagen, 
dass  es  das  Mysterium  bildet,  um  dessen  Lösung  sich  die  ganze  poli- 
tische Oekonomie  seit  Adam  Smith  dreht,  und  dass  der  Unterschied 
zwischen  verschiedenen  Schulen  seit  A.  Smith  in  den  verschiedenen 
Versuchen  zu  seiner  Lösung  besteht  i)." 

Und  gewiss,  wäre  dies  Gesetz  richtig,  so  müsste  es  die  grösste 
Bedeutung  für  die  Erkenntnis  des  gesamten  Entwickelungsganges  der 
heutigen  Gesellschaft  gewinnen.  Die  Entdeckung  eines  solchen  Ge- 
setzes, das  ganz  mechanisch  mit  Naturnotwendigkeit  wirken  soll, 
könnte  nur  der  Newtonschen  Entdeckung  der  Gesetze  der  Schwer- 
kraft verglichen  werden. 

Allerdings  werden  von  Marx  viele  entgegenwirkende  Ursachen 
zugelassen.  Als  solche  gelten  für  ihn  namentlich:  i.  Erhöhung  des 
Exploitationsgrads  der  Arbeit  durch  Verlängerung  des  Arbeitstages 
und  Intensifikation  der  Arbeit;  2.  Herunterdrücken  des  Arbeitslohns 
unter  seinen  Wert,  was  Marx  als  „eine  der  bedeutendsten  Ursachen, 
die  die  Tendenz  zum  Fall  der  Profitrate  aufhalten"  bezeichnet;  3.  Ver- 
wohlfeilerung  der  Elemente  des  konstanten  Kapitals;  4.  die  relative 
Uebervölkerung;  5.  der  auswärtige  Handel;  6.  die  Zunahme  des 
Aktienkapitals  % 

Alle  diese  Ursachen  durchkreuzen  oder  heben  die  Wirkung  des 
allgemeinen  Gesetzes  zum  Teil  auf;  dennoch  bleibt  das  Gesetz,  obschon 
mehr  in  der  Form  einer  Tendenz,  für  Marx  bestehen  und  wird  von 
ihm  seiner  gesamten  Auffassung  der  Entwicklung  der  kapitahsti- 
schen  Produktionsweise  zu  Grunde  gelegt. 

Der  einzige  Zweck  der  kapitalistischen  Produktion  besteht  in 
der  Produktion  des  Mehrwertes.  „Die  Schöpfung  von  Mehrwert  findet 
die  nötigen  Produktionsmittel,  d.  h.  hinreichende  Akkumulation  von 
Kapital  vorausgesetzt,  keine  anderen  Schranken  als  die  Arbeiterbe- 
völkerung, wenn  die  Rate  des  Mehrwertes,  also  der  Exploitationsgrad 

i)  Das  Kapital,  III.  Bd.,  S.   192  — 193. 

2)  Die  sub  4)  und  5)  angegebene  Momente  fallen  offenbar  mit  den  sub  2)  und  3) 
angegebenen  zusammen. 


202       

der  Arbeit,  und  keine  andere  Schranke  als  den  Exploitationsgrad  der 
Arbeit,  wenn  die  Arbeiterbevölkerung  gegeben  ist  .  .  .  Man  muss  es 
nie  vergessen,  dass  die  Produktion  des  Mehrwertes  .  .  .  der  unmittel- 
bare Zweck  und  das  bestimmende  Motiv  der  kapitalistischen  Produk- 
tion ist  .  .  .  Sobald  das  auspressbare  Quantum  Mehrarbeit  in  Waren 
vergegenständlicht  ist,  ist  der  Mehrwert  produziert.  Aber  mit  dieser 
Produktion  des  Mehrwerts  ist  nur  der  erste  Akt  des  kapitalistischen 
Produktionsprozesses,  der  unmittelbare  Produktionsprozess  beendet. 
Das  Kapital  hat  so  und  soviel  unbezahlte  Arbeit  eingesaugt  .  .  Nun 
kommt  der  zweite  Akt  des  Prozesses.  Die  gesamte  Warenmasse, 
das  Gesamtprodukt,  sowohl  der  Teil,  der  das  konstante  und  variable 
Kapital  ersetzt,  wie  der,  der  den  Mehrwert  darstellt,  muss  verkauft 
werden.  Geschieht  dies  nicht  oder  nur  zum  Teil,  oder  nur  zu  Preisen, 
die  unter  den  Produktionspreisen  stehen,  so  ist  der  Arbeiter  zwar  ex- 
ploitiert,  aber  seine  Exploitation  realisiert  sich  nicht  als  solche  für  den 
Kapitalisten  ....  Die  Bedingungen  der  unmittelbaren  Exploitation 
und  die  ihrer  Realisation  sind  nicht  identisch.  Sie  fallen  nicht  nur 
nach  Zeit  und  Ort,  sondern  auch  begrifflich  auseinander.  Die  einen 
sind  nur  beschränkt  durch  die  Produktivkraft  der  Gesellschaft,  die 
anderen  durch  die  Proportionalität  der  verschiedenen  Produktions- 
zweige und  durch  die  Konsumtionskraft  der  Gesellschaft.  Diese 
letztere  ist  aber  bestimmt  weder  durch  die  absolute  Produktionskraft 
noch  durch  die  absolute  Konsumtionskraft;  sondern  durch  die  Kon- 
sumtionskraft auf  Basis  antagonistischer  Distributionsverhältnisse,  welche 
die  Konsumtion  der  grossen  Masse  der  Gesellschaft  auf  ein  nur  inner- 
halb mehr  oder  minder  enger  Grenzen  veränderliches  Minimum  redu- 
ziert. Sie  ist  ferner  beschränkt  durch  den  Akkumulationstrieb,  den 
Trieb  nach  Vergrösserung  des  Kapitals  und  nach  Produktion  von 
Mehrwert  auf  erweiterter  Stufenleiter  .  .  .  Der  Markt  muss  daher  be- 
ständig ausgedehnt  werden,  so  dass  seine  Zusammenhänge  und  die 
sie  regelnden  Bedingungen  immer  mehr  die  Gestalt  eines  von  den 
Produzenten  unabhängigen  Naturgesetzes  annehmen,  immer  unkon- 
trollierbarer werden.  Der  innere  Widerspruch  sucht  sich  auszugleichen 
durch  Ausdehnung  des  äusseren  Feldes  der  Produktion.  Je  mehr 
sich  aber  die  Produktivkraft  entwickelt,  um  so  mehr  gerät  sie  in 
Widerstreit  mit  der  engen  Basis,  worauf  die  Konsumtionsverhältnisse 
beruhen.  Es  ist  auf  dieser  widerspruchsvollen  Basis  durchaus  kein 
Widerspruch,  dass  Uebermass  von  Kapital  verbunden  ist  mit  wach- 
sendem Uebermass  von  Bevölkerung ;  denn  obgleich,  beide  zusammen- 
gebracht, die  Masse  des  produzierten  Mehrwerts  sich  steigern  würde, 
steigert  sich  eben  damit  der  Widerspruch  zwischen  den  Bedingungen, 


—        203        — 

worin   dieser  Mehrwert  produziert,   und  den   Bedingungen,   worin   er 
realisiert  wird^)." 

Die  Realisation  des  gesellschaftlichen  Produktes  wird  also,  nach 
der  Auffassung  von  Marx,  durch  zwei  Bedingungen  bestimmt: 

1.  durch  die  Proportionalität  der  Einteilung  der  gesellchaftlichen 
'Produktion ; 

2.  durch  die  Konsumtionskraft  der  Gesellschaft. 

Die  Annahme  der  ersten  Bedingung  stimmt  mit  der  Marx- 
schen  Analyse  der  Reproduktion  des  gesellschaftlichen  Kapitals  im 
II.  Bande  des  „Kapitals"  vollkommen  überein;  dagegen  widerspricht 
dieser  Analyse  der  Hinweis  auf  die  zweite  Bedingung  ganz  entschieden. 
Die  Unterkonsumtion  der  Volksmassen  kann  nur  insofern  der  Reali- 
sation des  gesellschaftlichen  Produktes  im  Wege  stehen,  als  eine  pro- 
portioneile Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  dadurch  er- 
schwert wird.  Der  Mangel  an  Proportionalität  bleibt  aber  auch  in 
diesem  Falle  die  einzige  Ursache  der  mangelnden  Nachfrage.  Daher 
darf  man  nicht  gleichzeitig  vom  Mangel  an  Proportionalität  und  von 
der  Unterkonsumtion  als  von  beiden  besonderen  Krisenursachen 
sprechen  —  beide  bilden  ja  im  gewissen  Sinne  dasselbe.  Durch 
diese  Gegenüberstellung  der  mangelnden  Proportionalität  und  der 
mangelnden  Konsumtionskraft  der  Gesellschaft,  als  beider  unabhän- 
giger Ursachen  der  Absatzstockung,  bekennt  sich  Marx  zum  'An- 
hänger der  Sismondischen  Unterkonsumtionstheorie. 

Gehen  wir  zu  den  weiteren  Ausführungen  von  Marx  über. 
Das  Fallen  der  Profitrate  betrachtet  Marx  als  das  wichtigste  Gesetz 
der  kapitalistischen  Entwickelung.  Obschon  die  relative  Verringerung 
der  Arbeiterzahl  durch  eine  Steigerung  der  Exploitation  der  Arbeiter 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  kompensiert  werden  kann,  gilt  diese 
Kompensationsmöglichkeit  nur  in  sehr  engen  Grenzen.  „Sie  kann 
den  Fall  der  Profitrate  wohl  hemmen,  aber  nicht  aufheben."  Die 
Profitrate  bildet  aber  den  wichtigsten  Regulator  der  kapitalistischen 
Produktion.  Das  Sinken  der  Profitrate  führt  zur  sogenannten  Plethora 
des  Kapitals:  das  herangewachsene  Kapital  ist  nicht  imstande,  sich 
auf  Grundlage  der  alten  Profitrate  zu  verwerten,  das  zu  Spekulation, 
Kreditschwindel,  Aktienschwindel,  Krisen  führt.  „Es  wäre  eine  abso- 
lute Ueberproduktion  von  Kapital  vorhanden,  sobald  das  zusätzliche 
Kapital  für  den  Zweck  der  kapitalistischen  Produktion  =  О  wäre.  Der 
Zweck  der  kapitalistischen  Produktion  ist  aber  Verwertung  des  Kapi- 
tals, d.  h.  Aneignung  von  Mehrarbeit,  Produktion  von  Mehrwert,  von 


1)  A.  a.  O.  S.   225,   226. 


—       204       — 

Profit.  Sobald  also  das  Kapital  gewachsen  wäre  in  einem  Verhält- 
nis zur  Arbeitsbevölkerung,  dass  weder  die  absolute  Arbeitszeit,  die 
diese  Bevölkerung  liefert,  ausgedehnt  noch  die  relative  Mehrarbeits- 
zeit erweitert  werden  könnte  .  .  .  wo  also  das  angewachsene  Kapital 
nur  ebensoviel  oder  selbst  weniger  Mehrwertsmasse  produziert  als 
vor  seinem  Wachstum,  so  fände  eine  absolute  Ueberproduktion  von 
Kapital  statt,  d.  h.  das  angewachsene  Kapital  С  -[~  ^  С  produzierte 
nicht  mehr  Profit  oder  gar  weniger  Profit  als  das  Kapital  С  vor 
seiner  Vermehrung  durch  А  С.  In  beiden  Fällen  fände  auch  ein 
starker  und  plötzlicher  Fall  in  der  allgemeinen  Profitrate  statt,  dies- 
mal aber  wegen  eines  Wechsels  in  der  Zusammensetzung  des  Kapi- 
tals, der  nicht  der  Entwickelung  der  Produktivkraft  geschuldet  wäre, 
sondern  einem  Steigen  im  Geldwerte  des  variablen  Kapitals  (wegen 
der  gestiegenen  Löhne)  und  der  ihr  entsprechenden  Abnahme  im 
Verhältnis  der  Mehrarbeit  zur  notwendigen  Arbeit  ...  In  der  Wirk- 
lichkeit würde  sich  die  Sache  so  darstellen,  dass  ein  Teil  des  Kapi- 
tals ganz  oder  teilweise  brach  läge  (weil  es  erst  das  schon  fungierende 
Kapital  aus  seiner  Position  verdrängen  müsste,  um  sich  überhaupt  zu 
verwerten)  und  der  andere  Teil  durch  den  Druck  des  unbeschäftigten 
oder  halbbeschäftigten  Kapitals  sich  zu  niederer  Rate  des  Profits 
verwerten  würde  .  .  .  Der  Fall  der  Profitrate  wäre  diesmal  begleitet 
von  einer  absoluten  Abnahme  der  Profitmasse,  da  unter  unseren  Vor- 
aussetzungen die  Masse  der  angewandten  Arbeitskraft  nicht  vermehrt 
und  die  Mehrwertrate  nicht  gesteigert,  also  auch  die  Masse  des  Mehr- 
werts nicht  vermehrt  werden  könnte.  Und  die  verminderte  Profit- 
masse wäre  zu  l.)erechnen  auf  ein  vergrössertes  Gesamtkapital  ^)." 

Der  Konflikt  zwischen  dem  Streben  des  Kapitals  zur  unbe- 
schränkten Ausdehnung  der  Produktion  und  der  Unmöglichkeit  einer 
wachsenden  Verwertung  des  Kapitals  gleicht  sich  aus  in  einer  Brach- 
legung oder  teilweisen  Vernichtung  des  ganzen  überschüssigen  Kapi- 
tals. „Dies  würde  sich  erstrecken  zum  Teil  auf  die  materielle  Kapi- 
talsubstanz ....  Die  Hauptzerstörung,  und  mit  dem  akutesten  Cha- 
rakter, fände  statt  mit  Bezug  auf  das  Kapital,  soweit  es  Werteigen- 
schaft besitzt,  mit  Bezug  auf  die  Kapital  werte  ...  Es  kommt  hinzu, 
dass  bestimmte  vorausgesetzte  Preisverhältnisse  den  Reproduktions- 
prozess  bedingen,  dieser  daher  durch  den  allgemeinen  Preisfall  in 
Stockung  und  Verwirrung  gerät.  Diese  Stockung  und  Störung  para- 
lysiert die  mit  der  Entwickelung  des  Kapitals  gleichzeitig  gegebene, 
auf  jenen   vorausgesetzten    Preisverhältnissen    beruhende    Fiktion   des 


I)  A.  a.  o.  S.  233,  234. 


—      205       — 

Geldes  als  Zahlungsmittels,  unterbricht  an  hundert  Stellen  die  Kette 
der  Zahlungsobligationen  an  bestimmten  Terminen,  wird  noch  ver- 
schärft durch  das  damit  gegebene  Zusammenbrechen  des  gleichzeitig 
mit  dem  Kapital  entwickelten  Kreditsystems  und  führt  so  zu  heftigen 
akuten  Krisen,  plötzlichen  gewaltsamen  Entwertungen  und  wirklicher 
Stockung  und  Sturz  des  Reproduktionsprozesses,  und  damit  zu  wirk- 
licher Abnahme  der  Reproduktion.  Gleichzeitig  aber  wären  andere 
Agentien  im  Spiel  gewesen.  Die  Stockung  der  Produktion  hätte 
einen  Teil  der  Arbeiterklasse  brachgelegt  und  dadurch  den  beschäf- 
tigten Teil  in  Verhältnisse  gesetzt,  worin  er  sich  eine  Senkung  des 
Arbeitslohnes,  selbst  unter  den  Durchschnitt,  gefallen  lassen  müsste; 
eine  Operation,  die  für  das  Kapital  ganz  dieselbe  Wirkung  hat,  als 
wenn  beim  Durchschnittslohn  der  relative  oder  absolute  Mehrwert  er- 
höht worden  wäre  .  .  Der  Preisfall  und  der  Konkurrenzkampf  hätten 
andererseits  jedem  Kapitalisten  einen  Stachel  gegeben,  den  indivi- 
duellen Wert  seines  Gesamtproduktes  durch  Anwendung  neuer 
Maschinen,  neuer  verbesserter  Arbeitsmethoden,  neuer  Kombinationen, 
über  dessen  allgemeinen  Wert  zu  erhöhen,  d.  h.  die  Produktivkraft 
eines  gegebenen  Quantums  Arbeit  zu  steigern,  das  Verhältnis  des 
variablen  Kapitals  zum  konstanten  zu  senken  und  damit  Arbeiter  frei- 
zusetzen, kurz,  eine  künstliche  Uebervölkerung  zu  schaffen,  ferner 
würde  die  Entwertung  der  Elemente  des  konstanten  Kapitals  selbst 
ein  Element  sein,  das  Erhöhung  der  Protitrate  einschlösse  ....  Die 
Masse  des  angewandten  konstanten  Kapitals,  gegen  das  variable,  wäre 
gewachsen,  aber  der  Wert  dieser  Masse  könnte  gefallen  sein.  Die 
eingetretene  Stockung  der  Produktion  hätte  eine  spätere  Erweiterung 
der  Produktion  —  innerhalb  der  kapitalistischen  Grenzen  —  vorbe- 
reitet ....  Und  so  würde  der  Zirkel  von  neuem  durchlaufen.  Ein 
Teil  des  Kapitals,  das  durch  Funktionsstockung  entwertet  war,  würde 
seinen  alten  Wert  wieder  gewinnen.  Im  übrigen  würde  mit  erwei- 
terten Produktionsbedingungen,  mit  einem  erweiterten  Markt  und  mit 
erhöhter  Produktivkraft  derselbe  fehlerhafte  Kreislauf  wieder  durch- 
gemacht werden  ^).^^ 

Die  Krisen  sind,  nach  Marx,  „momentane  gewaltsame  Lösungen" 
des  fundamentalen  Widerspruches  der  kapitalistischen  Produktions- 
weise, welcher  darin  besteht,  dass  die  kapitalistische  Produktionsweise 
„eine  Tendenz  einschliesst  nach  absoluter  Entwickelung  der  Produk- 
tivkräfte," während  die  Verwertung  des  Kapitals  einer  solchen  abso- 
luten   Zunahme   nicht  fähig  ist.      Die   fallende   Profitrate  hemmt  die 


I)  A.  a.  O.  S.   236,   237. 


—        2o6       — 

Akkumulation  des  Kapitals.  „Die  kapitalistische  Produktion  strebt 
beständig,  diese  ihr  immanenten  ^Schranken  zu  überwinden,  aber  sie 
überwindet  sie  nur  durch  Mittel,  die  ihr  diese  Schranken  aufs  neue 
und  auf  gewaltigerem  Masstab  entgegenstellen.  Die  wahre  Schranke 
der  kapitalistischen  Produktion  ist  das  Kapital  selbst,  ist  dies:  dass 
das  Kapital  und  seine  Selbstverwertung  als  Ausgangspunkt  und  End- 
punkt, als  Motiv  und  Zweck  der  Produktion  erscheint;  dass  die  Pro- 
duktion nur  Produktion  für  das  Kapital  und  nicht  umgekehrt  die 
Produktionsmittel  blosse  Mittel  für  eine  stets  sich  erweiternde  Ge- 
staltung des  Lebensprozesses  für  die  Gesellschaft  der  Produzenten 
sind.  Die  Schranken,  in  denen  sich  die  Erhaltung  und  Verwertung 
des  Kapitalwertes,  die  auf  der  Enteignung  und  Verarmung  der  grossen 
Masse  der  Produzenten  beruht,  allein  bewegen  kann,  diese  Schranken 
treten  daher  beständig  in  Widerspruch  mit  den  Produktionsmethoden, 
die  das  Kapital  zu  seinem  Zweck  anwenden  muss,  und  die  auf  un- 
beschränkte Vermehrung  der  Produktion,  auf  die  Produktion  als  Selbst- 
zweck, auf  unbedingte  Entwickelung  der  gesellschaftlichen  Produktiv- 
kräfte der  Arbeit  lossteuern.  Das  Mittel  —  unbedingte  Entwickelung 
der  Produktivkräfte  —  gerät  in  fortwährenden  Konflikt  mit  dem  be- 
schränkten Zweck  der  Verwertung  des  vorhandenen  Kapitals.  Wenn 
daher  die  kapitalistische  Produktionsweise  ein  historisches  Mittel  ist, 
um  die  materielle  Produktivkraft  zu  entwickeln  und  den  ihr  ent- 
sprechenden Weltmarkt  zu  schaffen,  ist  sie  zugleich  der  beständige 
Widerspruch  zwischen  dieser  ihrer  historischen  Aufgabe  und  den  ihr 
entsprechenden  gesellschaftlichen  Produktionsverhältnissen  ^)." 

Die  Ueberproduktion  von  Kapital  ist  keine  absolute  Ueberpro- 
duktion  von  Produktionsmitteln,  sondern  eine  Ueberproduktion  der- 
selben als  Exploitationsmittel  der  Arbeiter.  „Es  werden  zu  viel  Waren 
produziert,  um  den  in  ihnen  enthaltenen  Wert  und  darin  eingeschlossenen 
Mehrwert  unter  den  durch  die  kapitalistische  Produktion  gegebenen 
Verteilungsbedingungen  und  Konsumtionsverhältnissen  zu  realisieren 
und  in  neues  Kapital  zurückverwandeln  zu  können,  d.  h.  um  diesen 
Prozess  ohne  beständig  wiederkehrende  Exploisionen  auszuführen." 
Die  Schranke  der  kapitalistischen  Produktionsweise  tritt  hervor:  „i.  dar- 
in, dass  die  Entwickelung  der  Produktivkraft  der  Arbeit  im  Fallen 
der  Profitrate  ein  Gesetz  erzeugt,  das  ihrer  eigenen  Entwickelung 
auf  einen  gewissen  Punkt  feindlich  gegen  übertritt  und  daher  beständig 
durch  Krisen  überwunden  werden  muss;  2.  darin,  dass  .  .  die  Profit- 
rate über  Ausdehnung  oder  Beschränkung  der  Produktion  entscheidet 

i)  A.  a.  O.  S.   231,   232. 


• —     207     — 

statt  des  Verhältnisses  der  Produktion  zu  den  gesellschaftlichen  Be- 
dürfnissen." 

Im  Sinken  der  Profitrate  kommt  die  historische  Notwendigkeit 
der  Verwandlung  der  kapitalistischen  Produktionsweise  in  eine  höhere 
Wirtschaftsform  zum  Ausdruck.  „Es  zeigt  sich  hier  in  rein  ökono- 
mischer Weise,  d.  h.  vom  Bourgeoisstandpunkt,  innerhalb  der  Grenzen 
des  kapitalistischen  Verstandes,  vom  Standpunkt  der  kapitalistischen 
Produktion  selbst,  ihre  Schranke,  ihre  Relativität,  dass  sie  keine  abso- 
lute, sondern  nur  eine  historische,  einer  gewissen  beschränkten  Ent- 
wicklungsepoche der  materiellen  Produktionsbedingungen  entsprechende 
Produktionsweise  ist  ^)." 

Man  kann  die  Krisentheorie  von  Marx  folgendermassen  resü- 
mieren. Die  relative  Zunahme  des  konstanten  Kapitals  ruft  das  Fallen 
der  Profitrate  hervor.  Die  Profitrate  ist  aber  die  treibende  Macht  der 
kapitalistischen  Produktion.  Der  Fall  der  Profitrate,  der  auf  einem 
gewissen  Punkt  zur  Unmöglichkeit  einer  kapitalistischen  Verwertung 
des  neu  akkumulierten  Kapitals  führt,  bildet  die  Schranke  der  kapi- 
talistischen Produktion.  Das  überschüssige  Kapital  ist  nicht  imstande, 
auf  Grund  der  früheren  Profitrate  sich  zu  verwerten  —  es  entsteht 
also  eine  Ueberproduktion  люп  Kapital.  Die  Unterkonsumtion  der 
Volksmassen  zeitigt  gleichfalls  eine  allgemeine  Warenüberproduktion, 
die  aber  keine  absolute  ist,  sondern  nur  im  Rahmen  der  gegebenen 
historischen  Produktionsbedingungen  gilt.  Die  durch  diese  Ueber- 
produktion verursachte  Absatzstockung  ruft  Brachlegung,  Vernichtung 
und  Entwertung  von  Kapital  hervor  —  und  schafft  zugleich  eine 
künstliche  Uebervölkerung.  Das  Sinken  der  Arbeitslöhne  erhöht  aber 
die  Rate  des  Mehrwertes;  die  Verwohlfeilerung  der  Elemente  des 
konstanten  Kapitals,  wegen  des  durch  die  Absatzstockung  hervorge- 
rufenen Preissturzes,  verringert  das  Kapital,  auf  das  eine  gegebene 
Profitmasse  gemessen  wird.  Die  Profitrate  steigt  —  und  derselbe 
Kreislauf  wird  von  neuem  durchgemacht. 

Die  Kritik  dieser  Theorie  schliesst  in  sich  die  Kritik  der  wich- 
tigsten Grundlagen  des  Marx  sehen  ökonomischen  Systems  ein.  Das 
Gesetz  der  fallenden  Profitrate  scheint  eine  logisch-notwendige  Folge 
der  Arbeitswerttheorie  zu  sein.  Besteht  aber  solch  ein  Gesetz,  so  sind 
alle  Schlussfolgerungen,  die  aus  ihm  von  Marx  gezogen  werden,  zu 
acceptieren.  Das  genannte  Gesetz  soll,  nach  der  Auffassung  von 
Marx,  nicht  nur  die  Periodicität  der  Krisen,  sondern  auch  die  öko- 
nomische Notwendigkeit  der  Verwandlung  der  kapitalistischen  Wirt- 

i)  A.  a.  O.  S.   242. 


—     2o8     — 

Schaftsordnung  in  eine  sozialistische  Gesellschaft  begründen.  Das 
interessante  Kapitel  im  III.  Bande  des  „Kapitals",  welches  der  „Enf 
faltung  der  inneren  Widersprüche  des  Gesetzes"  der  fallenden  Profit- 
rate gewidmet  ist,  enthält,  wenn  auch  nicht  mit  genügender  Klarheit 
ausgedrückt,  die  ganze  Theorie  der  ökonomischen  Entwickelung  des 
Sozialismus  aus  der  heutigen   Gesellschaftsordnung, 

Bildet  aber  das  in  Rede  stehende  Gesetz  wirklich  eine  logische 
Folge  der  Arbeitswerttheorie? 

Unsere  Antwort  wird  eine  entschieden  verneinende  sein. 

Jeder  kapitalistische  Unternehmer  ist  überzeugt,  dass  sein  Profit 
ganz  ebenso  durch  den  konstanten,  nach  der  Marxschen  Termino- 
logie, wie  durch  den  variablen  Teil  seines  Kapitals  erzeugt  wird. 
Der  Kapitalist  bemerkt  keinen  Unterschied,  in  Bezug  auf  die  Schaffung 
des  Profits,  zwischen  diesen  beiden  Bestandteilen  des  Kapitals.  Der 
„Vulgaroekonome"  stimmt  dem  Kapitalisten  bei.  Die  „Vulgaroeko- 
nomen"  glauben,  dass  die  Maschine,  welche  den  Arbeiter  ersetzt,  den 
Profit  des  Kapitalisten  nicht  verringert,  obschon  die  Quote  des  variablen 
Kapitals  im  Gesamtkapital  dadurch  kleiner  wird. 

Die  Marx  sehe  Mehrwerttheorie  beweist  aber,  nach  der  Meinung 
aller  ihrer  Anhänger,  dass  Praktiker  sowie  Theoretiker  —  Vulgarö- 
konomen  —  im  Irrtum  befangen  sind.  Eine  je  geringere  Rolle  im  Pro- 
duktionsprozess  die  lebendige  Arbeit,  also  die  wertbildende  Substanz 
spielt,  eine  um  so  geringere  Mehrwertmasse  muss  ein  bestimmtes  Kapi- 
tal abwerfen  —  um  so  niedriger  muss  also  die  Profitrate  sein. 

Und  doch,  trotz  scheinbarer  Triftigkeit  dieser  Argumentation, 
leidet  sie,  unseres  Erachtens,  an  vielen  logischen  Fehlern.  Aus  der 
Arbeitswerttheorie  folgt  keineswegs  das  Gesetz  der  fallen- 
den Profitrate;  aus  derselben  Theorie  folgt  sogar  die  Mehr- 
werttheorie, wie  Marx  sie  verstanden  hat,  nicht. 

Wir  werden  also  zu  beweisen  versuchen,  dass  man  die  Arbeit 
als  alleinige  wertbildende  Substanz  anerkennen  und  zugleich  mit 
den  „Vulgaroekonomen"  übereinstimmen  kann,  welche  keinen  Unter- 
schied in  Bezug  auf  die  Schaffung  des  Profits  zwischen  der  lebendigen 
Arbeit  und  der  vorgethanen  Arbeit,  den  Arbeitsmitteln,  ziehen.  Die 
Praktiker  und  die  „Vulgaroekonomen"  haben  darin,  nach  unserer 
Meinung,  vollkommen  recht.  Die  Arbeitswerttheorie  führt  keinesfalls 
zur  Annahme  eines  notwendigen  Zusammenhanges  zwischen  der  orga- 
nischen Zusammensetzung  des  Kapitals  (im  Sinne  von  Marx)  und  der 
Höhe  der  Profitrate. 

Was  einzelne  Wirtschaften  und  besondere  Produktionszweige 
betrifft,    so     wird     das    Fehlen    eines    solchen    Zusammenhanges    von 


—      2og     — 

Marx  selbst  anerkannt.  Die  im  III.  Bande  des  „Kapitals"  entwickelte 
Theorie  der  Verwandlung  der  Werte  in  Produktionspreise  und  der 
Ausgleichung  der  allgemeinen  Profitrate  durch  die  Konkurrenz  be- 
ruht auf  einer  Anerkennung  der  übrigens  unbestreitbaren  Thatsache, 
dass  der  Profit  in  verschiedenen  Produktionszweigen  in  gar  keinem 
Verhältnis  zur  Zusammensetzung  des  darin  angelegten  Kapitals  steht. 
Die  Masse  des  Profits  jedes  einzelnen  Kapitalisten  wird  durch  die 
Glosse  seines  Gesamtkapitals  bestimmt,  nicht  aber  durch  den  variablen 
Teil  desselben.  Zwei  Kapitale  derselben  Grösse,  aber  verschiedener 
Zusammensetzung,  w^erden  gleich  grosse  Massen  Profits  abwerfen,  ob- 
schon  die  durch  jedes  Kapital  beschäftigte  Arbeiterzahl  verschieden 
sein  muss.  Der  einzelne  Kapitalist  irrt  sich  also  nicht,  wenn  er 
seinen  Profit  als  etwas  in  gleichem  Masse  von  den  beiden  Bestand- 
teilen des  Kapitals  —  vom  variablen  und  konstanten  Teile  desselben  — 
Abhängiges  betrachtet.  „Der  einzelne  Kapitalist  (oder  auch  die  Ge- 
samtheit der  Kapitalisten  in  jeder  besonderen  Produktionssphäre), 
dessen  Blick  borniert  ist,  glaubt  mit  Recht,  dass  sein  Profit  nicht 
allein  aus  der  von  ihm  oder  in  seinem  Zweig  beschäftigten  Arbeit 
herstamme  ^)",  aber  die  Gesamtsumme  des  kapitalistischen  Profits,  der 
Profit  der  ganzen  Klasse  der  Kapitalisten  wird  —  führt  Marx  aus  — 
durch  die  Gesamtmehrwertsmase,  welche  nur  die  lebendige  Arbeit 
erzeugt,  bestimmt.  „Die  verschiedenen  Kapitalisten  verhalten  sich 
hier,  soweit  der  Profit  in  Betracht  kommt,  als  blosse  Aktionäre  einer 
Aktiengesellschaft,  worin  die  Anteile  am  Profit  gleichmässig  pro  loo 
verteilt  werden  und  daher  für  die  verschiedenen  Kapitalisten  sich 
nur  unterscheiden  nach  der  Grösse  des  von  jedem  in  das  Gesamt- 
unternehmen gesteckten  Kapitals,  nach  seiner  verhältnismässigen  Be- 
teiligung am  Gesamtunternehmen,  nach  der  Zahl  seiner  Aktien." 
Wodurch  wird  aber  der  gesamte  zwischen  den  einzelnen  Kapitalisten 
zu  verteilende  gesellschaftliche  Profit  bedingt?  Durch  die  Mehrwerts- 
masse, welche  das  gesellschaftliche  Kapital  abwirft.  Und  da  den 
Mehrwert,  wie  den  Wert  überhaupt,  eine  in  Produkten  festgeronnene 
Arbeitszeit  bildet,  so  hängt  die  Grösse  des  gesamten  gesellschaftlichen 
Profits  bloss  von  der  Grösse  des  variablen  Teiles  des  gesellschaft- 
lichen Kapitals  ab  und  jede  Aenderung  in  der  organischen  Zusammen- 
setzung des  gesellschaftlichen  Kapitals  muss,  ceteris  paribus,  auf 
die  Profitrate  zurückwirken. 

Ja,   ceteris   paribus,   ist   es   ganz   richtig.      Der    Irrtum    dieses 
:  ganzen  Raisonnements   liegt   aber   darin,   dass   wir   eben   kein   Recht 


i)  Das  Kapital,   Bd.  III,  S.    149. 
Tugan-Earanowsky  ,  Die  Handelskrisen.  14 


—       2IO       — 

haben,  diese  cetera  paria  vorauszusetzen.  Marx  hat  selbst  darauf 
hingewiesen ,  dass  die  Erhöhung  der  Zusammensetzung  des  Kapitals 
nur  ein  kapitalistischer  Ausdruck  einer  Steigerung-  der  Pro- 
duktivität der  Arbeit  ist.  Eine  je  geringere  Quote  des  gesamten 
Kapitals  das  variable  Kapital  bildet,  um  so  grösser  wird  die 
Produktivität  der  Arbeit.  Die  Wirkung  beider  Momente  auf  die 
Profitrate  —  und  das  ist  von  Marx  verkannt  —  kompensiert  sich 
und  die  Profitrate  kann  nicht,  trotz  der  Veränderung  der  Zusammen- 
setzung des  Kapitals,  fallen. 

Die  Frage  ist  so  wichtig,  dass  wir  bei  ihr  etwas  länger  ver- 
weilen müssen.  Wir  werden  das  gesellschaftliche  Produkt  in  seiner 
dinglichen  Form,  als  Gebrauchswert  mit  а  bezeichnen,  die  auf  Er- 
zeugung desselben   aufgewandte   gesellschaftliche  Arbeit  mit  b.     Die 

а 
Produktivität  der  Arbeit  wird  also  ^—   (die    Produktivität   der   Arbeit 

b 

nennen  wir  die  Menge  des  Produktes,  durch  ein  gegebenes  Quantum 
Arbeit  hergestellt).  Nehmen  wir  an,  dass  das  gesamte  gesellschaft- 
liche Kapital  aus  variablem  Kapital  besteht  —  d.  h.  dass  die  ge- 
samte Kapitalausgabe  sich  in  Arbeitslöhne  auflöst.  Die  Mehrwert- 
rate  werden    wir  als    ioo%    unterstellen.     So   erhalten   wir  folgende 

Formel: 

Formel  No.  i. 

—  v  +  — m  =  b, 

2  2  J 

worin  v  variables  Kapital  und  m  Mehrwert  darstellt.  Die  Profitrate 
ist  in  diesem  P'all  gleich  der  Mehrwertsrate  ioo%.  Setzen  wir  nun 
voraus,  dass  eine  Hälfte  der  Arbeiter  durch  Maschinen  ersetzt  wird. 
Marx   würde   in    diesem  Falle   folgendem! assen   argumentieren.     Die 

Hälfte  [  — )   des    gesamten    Kapitals    verwandelt    sich    in    konstantes 

Kapital,    welches   keinen    Mehrwert    erzeugt.      Das    variable    Kapital 

sinkt  bis  auf  —  herab.   Bei  gleichbleibender  Mehrwertsrate  wird  dieses 

4 

Kapital  —    Mehrwert    erzeugen.      Da    das    aufgewandte    Kapital  — 
4  ^ 

bleibt   I  —  c-\ vj,    so    muss    die    Profitrate    fallen     und    wird    nur 

\4  4      / 

50^0»  statt  wie  früher   loo^o  betragen. 

Die  Unhaltbarkeit   einer  solchen  Betrachtungsweise  ist  dennoch 

handgreiflich.     Es    wird    dabei    von    der   Einwirkung    der   Steigerung 

der  Produktivität  der  Arbeit  auf  den  Wert  der  Arbeitsprodukte  voll- 


21  I 


kommen  abgesehen.  Die  Ersetzung  der  Arbeiter  durch  Maschinen 
muss  aber  die  Produktivität  der  Arbeit  steigern.  Der  Arbeitswert 
jeder  bestimmten  Menge  des  Produktes  muss  also  sinken.  Die  Ver- 
drängung der  Arbeiter  durch  Maschinen  kann  keinesfalls  ihre  Real- 
löhne erhöhen.  Thatsächlich  werden  unter  dieser  Voraussetzung  die 
realen  Arbeitslöhne  vielleicht  fallen.  Aber  selbst  unter  der  Annahme 
einer  gleichbleibenden  realen  Belohnung  der  Arbeiter  wird  der  Arbeits- 
wert ihrer  Löhne  allerdings  sinken.  Die  notwendige  Arbeitszeit  (im 
Sinne  von  Marx)  wird  abnehmen,  die  Mehrwertsrate  also  steigen. 
Etwas  Aehnliches  gilt  auch  für  das  konstante  Kapital :  dessen  Arbeits- 
wert muss  gleichfalls  und  aus  demselben  Grunde  —  infolge  der 
Steigerung  der  Produktivität  der  Arbeit  —  sinken.  Alle  diese  Ein- 
wirkungen der  Erhöhung  der  Produktivität  der  Arbeit  auf  den  Wert 
des  Kapitals  berücksichtigt  Marx  gar  nicht.  Er  geht  von  der  Vor- 
aussetzung einer  gleichbleibenden  Mehrwertsrate  aus,  während  es  klar 
ist,  dass  eine  Aenderung  der  Zusammensetzung  des  Kapitals  unter 
diesen  Bedingungen  nicht  ohne  eine  Einwirkung  auf  diese  Rate 
bleiben  kann  ^). 

Eine  richtig'e  Lösung  des  gegebenen  Problems  ist  also  nicht  so 
einfach,  wie  sie  Marx  annimmt.  Damit  unsere  Analyse  etwas  Reales 
darstelle,  müssen  wir  die  Veränderungen  der  Produktivität  der  Arbeit 


i)  Um  alle  Missverständnisse  vorzubeugen,  führen  wir  das  betreffende  Raisonnement 
von  Marx  selbst  an,  worin  er  sein  Gesetz  des  tendenziellen  Falls  der  Profitrate  begründet, 
„Bei  gegebenem  Arbeitslohn  und  Arbeitstag  stellt  ein  variables  Kapital  z.  B.  von  loo  eine 
bestimmte  Anzahl  in  Bewegung  gesetzter  Arbeiter  vor,  es  ist  der  Index  dieser  Anzahl  .  .  . 
Verrichten  diese  lOO  Arbeiter  ebensoviel  notwendige  Arbeit  wie  Mehrarbeit,  arbeiten  sie 
also  täglich  ebensoviel  Zeit  für  sich  selbst  .  .  .  wie    für    den  Kapitalisten  ...    so    wäre    die 

Rate  des  Mehrwerts  —  =    loo"/^.     Diese  Rate   des  Mehrwerts    würde  sich  jedoch  in  sehr 

verschiedenen  Profitraten  ausdrücken,   je    nach    dem    verschiedenen    Umfang    des    konstanten 

Kapit£ 
100  7„ 


Kapitals  с  und  damit  des  Gesamtkapitals  C,    da  die  Profitrate  — .      Ist    die    Mehrwertsrate 


lOO 


Wenn  с  =     50, 

V    =     IOC, 

so  ist  p' 

150 

=  бб7з7о. 

„       с   =    lOO, 

V    =     ICO, 

so  ist  p' 

100 
200 

=  5o7o, 

„        с    =    200, 

V    =     IOC, 

so  ist  p' 

100 
300 

=  зз7з7о' 

„      с  =  зоо, 

V    =     100, 

so  ist  p' 

100 
400 

=    25  0/,. 

Dieselbe  Rate  des  Mehrwertes  bei  unveränderten  Explotationsgrad  der  Arbeit,  würde 
sich  so  in  einer  fallenden  Profitrate  ausdrücken"  (Das  Kapital,  Bd.  Ш,  i.  Teil,  S.  191). 
Nun  beruht  diese  ganze  Argumentation  auf  einer  Contradictio  in  adjecto,  da  die  Mehrwerts- 
rate bei  der  Veränderung  der  Zusammensetzung  des  Kapitals  sich  verändern  muss. 

14* 


—       212       — 

und  die  dadurch  verursachten  Veränderungen  der  Werte  der  Pro- 
dukte in  Rechnung  ziehen.  Für  die  Bestimmung  der  Produktivität 
der  Arbeit  ist  aber  die  Berücksichtigung  der  Gebrauchswerte  der 
Waren,  der  Masse  des  Produktes,  und  nicht  nur  des  Wertes  des- 
selben erforderlich.  Die  oben  angegebene  Formel  müssen  wir  also 
in  Produktenmassen  darstellen  und  bekommen  eine  folgende  Formel: 

а        ,     а 
—  V  ч m  =  а, 

2  2 

worin  а  das  gesamte  gesellschaftliche  Produkt  bezeichnet. 

Unserer  Voraussetzung  gemäss  ersetzen  die  Maschinen  eine 
Hälfte  der  Arbeiter;  eine  Hälfte  des  variablen  Kapitals  verwandelt  sich 
in  konstantes.  Wir  können  der  Einfachheit  halber  annehmen,  dass 
diese  Maschinen  sich  ebenso  umsetzen  wie  das  variable  Kapital  (das 
ist  übrigens  die  übliche  Annahme  von  Marx  in  analogen  Fällen, 
z.  B.  in  seiner  in  der  Anmerkung  angeführten  Ausführung,  worin  er 
das  Gesetz  des  Fallens  der  Profitrate  begründet).  Das  unter  neuen 
technischen  Bedingungen  erzeugte  Produkt  kann  bei  dieser  Voraus- 
setzung nicht  abnehmen  —  sonst  hätte  es  keinen  ökonomischen 
Sinn,  die  Handarbeit  durch  die  Maschinenarbeit  zu  ersetzen.  That- 
sächlich  wird  die  Masse  des  gesellschaftlichen  Produktes  unter  diesen 
Bedingungen  zunehmen,  was  unseren  Schlussfolgerungen  nur  mehr 
Kraft  geben  kann.  Betrachten  wir  jedoch  den  Grenzfall,  wo  die 
Maschine  eine  ebenso  grosse  Produktenmasse  wie  die  durch  sie 
ersetzten  Arbeiter  erzeugt;  in  diesem  Falle  ist  die  Einführung  der 
Maschine  mö gliche  während  unter  der  Voraussetzung  einer  Ver- 
ringerung der  Masse  des  erzeugten  Produktes  eine  solche  Einführung 
ökonomisch  geradezu  unmöglich  ist. 

Wir  müssen  also  annehmen,  dass  das  Mehrprodukt,  wegen  der 
Einführung  der  Maschinen,  nicht  abgenommen  hat  —  falls  es  früher 

=  —  (als  Gebrauchswert),  so  muss  es  auch  jetzt    —     bleiben.       Die 

realen  Löhne  der  Arbeiter,  welche  nach  der  Einführung  der  Maschinen 

Beschäftigung  finden,  =  —  (unserer  Voraussetzung  gemäss  ist  ja  die 

4 

Zahl  der  Arbeiter  zweimal  kleiner  geworden).  Das  Mehrprodukt  und 
die    realen    Löhne    der    Arbeiter    (das    gesellschaftliche    Einkommen) 

■1 
bilden  also,  in  Produktenmassen,   — a. 

4 

Wie  gross  aber  wird  der  Arbeitswert  dieses  Produktes,  wel- 
ches das  gesellschaftliche  Einkommen  ausmacht,  unter  neuen  Produk- 
tionsbedingungen, d.  h.  auf  Grund  der  maschinellen  Produktion  sein? 


—       2  13        — 

Dieser  Wert  kann  keinesfalls  der  frühere  ( —  b  1  bleiben,  da  dank  der 

Einführung  der  Maschinen  ein  geringeres  Quantum  Arbeit  zur  Her- 
stellung  einer   bestimmten  Menge   des   Produktes   genügt.     Die   neu 

angewandte  im  Produktionsprozesse  lebendige  Arbeit  = —  (eine  Hälfte 

der  Arbeitsmasse  im  ersten  Jahre,  vor  der  Einführung  der  Maschinen). 
Diese  Arbeitsmasse  ist,  nach  der  Arbeitswerttheorie,  dem  Werte 
des  variablen  Kapitals  und  des  Mehrproduktes  gleich,  da  der  Wert  des 
konstanten  Kapitals,  nach  derselben  Theorie,  im  Produktionsprozesse 
unverändert  bleibt.  Der  Wert  des  Mehrproduktes  und  der  Arbeits- 
löhne (des  variablen  Kapitals)  ist  also  — .  Wie  gross  ist  aber  unter 
diesen  Bedingungen  die  Produktivität  der  Arbeit?  Wie  erhalten  sie 
durch  eine  Division  der  Menge  des  Produktes  1  —  а  j  auf  ihren  Ar- 
beitswert ( —  I ;  sie  ist  also  gleich  — - .  Um  den  Arbeitswert  des  vari- 
ablen Kapitals  aufzufinden,   müssen  wir  dessen  Masse  ( —  |  durch  die 

Produktivität  der  Arbeit  dividieren: 

аза        b 
4  '  2b        6 

Also  ist  der  Wert  des  variablen  Kapitals  =  — ;  ebenso  gross  ist, 

nach  unserer  Voraussetzung,  der  Wert  des  konstanten  Kapitals.  Die 
gesamte  Summe  der  im  zweiten  Jahre  aufgewandten  lebendigen  Arbeit  = 

—  •  Aus  diesem  neuen  im  Produktionsprozesse  geschaffenen  Werte 
erhalten    die  Arbeiter  — ;    als  Mehrwert  bleibt  also  den  Kapitalisten 

2         6  ~  3* 

Wir    haben    so    die    Mehrwertsmasse    im    zweiten   Jahre    fest- 
gestellt, sie  ist  = Damit   erhalten    wir   für  das  zweite  Jahr  fol- 

3 

gende  Formel: 

Formel  No.  2. 

b       ,    b        ,     b  2  , 

—  c-f  —  v-^ m=i— b  . 

6       '     6        '     3  3 


—       214       — 

Das   vorgeschossene   Kapital  ist  —  =  f  —  с  -|-  ■ — ^  v  j;  ebenso  gross 

ist  der  Mehrwert.  Die  Profitrate  bleibt  also  wie  früher  ioo%;  sie 
ist  trotz  der  Veränderung  der  organischen  Zusammen- 
setzung des  Kapitals  und  Verwandlung  einer  Hälfte  des 
variablen  Kapitals  in  konstantes  unverändert  geblieben. 

Stimmt  aber  ein  solches  Ergebnis  mit  der  Arbeitswerttheorie 
überein?  Nach  dieser  Theorie  bildet  ja  die  Arbeit  die  alleinige  Sub- 
stanz des  Wertes.  In  unserem  Falle  aber  ist  die  Quote  der  lebendigen 
Arbeit  im  Gesamtkapital  bedeutend  gesunken  und  trotzdem  bleibt 
die  Profitrate  dieselbe.     Wie  ist  das  zu  erklären? 

Sehr  einfach.  Die  Verringerung  der  in  der  Produktion  aufge- 
wandten lebendigen  Arbeit  kann  allerdings  nicht  ohne  eine  Ein- 
wirkung auf  den  Arbeitswert  des  gesellschaftlichen  Produktes  und 
auf   den    Mehrwert    bleiben.     Das   ist   auch   aus   unseren   Formeln   zu 

ersehen:    in    der  Formel  No.  i    ist  der  Mehrwert  = —  ;   in  der  For- 

2 

mel    No.    2    aber    nur Die   Abnahme    des    variablen    Kapitals 

3 

kömmt   also   in    einer  Abnahme  der  Mehrwertsmasse  zum  Ausdruck. 

Die  Profitrate  erhält  dennoch  dadurch  keine  Veränderung,  weil 
gleichzeitig  mit  dem  Sinken  des  Mehrwertes  der  Arbeitswert  des 
vorgeschossenen  Kapitals   sinkt.     Während   in   der  Formel  No.  i   der 

Wert   des   vorgeschossenen  Kapitals  =  —   ist,   ist   er  in  der  Formel 

No.  2  nur 

3 

Das  Sinken  des  Wertes  des  variablen  Kapitals  ist  unter  diesen 
Bedingungen  mit  einer  Steigerung  der  Mehrwertsrate  gleichbedeutend. 
In  der  Formel  No.  i  ist  die  Mehrwertsrate  100%;  in  der  Formel 
N0.  2  aber  — 200^/0. 

Jede  Ersetzung  der  Handarbeit  durch  die  maschinelle  Arbeit 
und  des  variablen  Kapitals  durch  das  konstante  muss  also  folgende 
Veränderungen  hervorrufen:  der  Mehrwert  muss  relativ  sinken,  zu- 
gleich aber  die  Produktivität  der  Arbeit  steigen,  was  ein  Sinken  der 
Arbeitswerte  des  variablen  und  konstanten  Kapitals  zur  Folge  haben 
muss.  Das  Sinken  des  Wertes  des  variablen  Kapitales  ist  mit  einem 
Wachstum  der  Mehrwertsrate  gleichbedeutend.  Alle  diese  entgegen- 
wirkenden Ursachen  heben  ihre  respektiven  Einwirkungen  auf  die 
Profitrate   auf,    und    die  Profitrate    bleibt   dabei  unverändert  bestehen- 


—     215     — 

Die  relative  Abnahme  des  variablen  Kapitals,  wodurch  jede 
Vervollkommnung  der  Technik  begleitet  wird,  gelangt  also  in  der 
Veränderung  der  Masse  und  der  Rate  nur  des  Mehrwerts,  nicht 
aber  des  Profits  zum  Ausdruck.  In  unserer  Analyse  haben  wir 
jedoch  eine  wichtige  Annahme  gemacht,  welche  der  Wirklichkeit 
gewiss  nicht  entspricht:  wir  haben  nämlich  vorausgesetzt,  dass  die 
Einführung  der  Maschinen  die  Masse  des  gesellschaftlichen  Produktes 
nicht  erhöht.  In  der  Wirklichkeit  nimmt  unter  diesen  Bedingungen 
die  Gesamtmasse  des  Produktes  sehr  stark  zu.  Die  Steigerung  der 
Produktivität  der  Arbeit  ist  also  bedeutend  grösser,  als  wir  es  an- 
genommen haben.  Daher  bedürfen  unsere  Schlussfolgerungen  fol- 
gender Modifikation:  wir  sind  zur  Schlussfolgerung  angelangt,  dass 
die  Ersetzung  der  Handarbeit  durch  die  Maschinenarbeit  die  Profitrate 
nicht  verringert.  Das  wäre  richtig  unter  der  Voraussetzung,  dass  die 
Einführung  der  Maschinen  keinen  Zuwachs  der  Produktenmasse  her- 
vorruft. Da  aber  thatsächlich  die  Maschinenarbeit  grössere  Produkten- 
massen als  die  Handarbeit  erzeugt,  so  muss  die  Profitrate  infolge  des 

I  relativen  Steigens  des  konstanten  Kapitals  zunehmen.  Also  gerade 
das  Gegenteil  zur  Marx'schen  Theorie.    Auf  Grund  der  Arbeits- 

I  Werttheorie  gelangen  wir  zur  Schlussfolgerung,  dass  die 
Ersetzung  der  Arbeiter  durch  die  Maschinen  an  und  für 
sich  nicht  nur  keine  fallende,  sondern  vielmehr  eine  stei- 
gende Tendenz  der  Profitrate  erzeugt^). 

Es  ist  leicht  einzusehen,  welche  Bedeutung  dieser  Grundsatz  für 
die  gesamte  Mehr  Werttheorie  gewinnen  muss.  Auf  Grund  unserer 
Analyse  können  wir  behaupten,  dass  in  Bezug  der  Einwirkung 
auf  die   Profitrate    kein    Unterschied    zwischen   dem    konstanten   und 


i)  Dieser  Grundsatz  bedarf  nur  einer  Beschränkung.  In  unserer  ganzen  Argumentation 
haben  wir  von  der  Einwirkung  der  Umschlagszeit  des  gesellschaftlichen  Kapitals  auf 
die  Profitrate  vollkommen  abgesehen.  Die  Verkürzung  dieser  Umschlagszeit  muss  die  Profitrate 
erhöhen,  die  Verlangsamung  der  Umschlagsbewegung  des  Kapitals  die  Profitrate  verringern, 
wie  das  von  Marx  meisterhaft  im  II.  Bande  des  Kapitals  nachgewiesen  ist.  Der  technische 
Fortschritt  wirkt  auf  die  Umschlagszeit  des  Kapitals  in  zwei  entgegengesetzten  Richtungen: 
einerseits  wird  dadurch  die  Umschlagsbewegung  verlangsamt  infolge  der  Verwandlung  eines 
Teiles  des  umlaufenden  Kapitals  in  stehendes ;  andererseits  aber  wird  dadurch  die  Um- 
schlagsbewegung beschleunigt,  wegen  einer  intensiveren  Ausnutzung  des  stehenden  Kapitals 
und  einer  Beschleunigung  des  Transports.  Diese  beiden  Momente  können  den  Einfluss  der 
im  Texte  betrachteten  Ursachen  durchkreuzen.  Da  aber  unsere  Aufgabe  ist,  die  Bedeutung 
der  Marx  sehen  Verteilung  des  Kapitals  in  variables  und  konstantes  (nicht  aber  der  üblen 
Verteilung  des  Kapitals  in  umlaufendes  und  stehendes)  in  Bezug  auf  die  Profitrate  zu 
prüfen,  so  können  wir  hier,  übrigens  nach  dem  Vorgang  von  Marx  selbst,  die  Einwirkung 
des  technischen  Fortschrittes  auf  die  Umschlagsbewegung    des  Kapitals    ausser    acht    lassen. 


—        2l6        — 

variablen  Kapital  besteht.  Das  Fehlen  eines  Zusammenhanges  in 
der  Privatwirtschaft  zwischen  der  Zusammensetzung  des  Kapitals  und 
der  Profitrate  ist  von  Marx  selbst  anerkannt.  Er  war  aber  der 
Meinung,  dass  ein  solcher  Zusammenhang  in  der  Volkswirtschaft  be- 
stehen muss.  Wir  glauben  aber  nachgewiesen  zu  haben  —  und 
zwar  auf  Grund  der  Marxschen  Werttheorie  —  dass  in  der  Volks- 
wirtschaft die  Profitrate  ebenso  wenig  wie  in  der  Privatwirtschaft 
durch  die  Zusammensetzung  des  Kapitals  bestimmt  wird. 

Oben  wurde  darauf  hingewiesen,  auf  welche  Weise  Marx  den  hand- 
greiflichsten Widerspruch  zwischen  seiner  Mehrwerttheorie  und  der  un- 
bestreitbaren Thatsache  der  Unabhängigkeit  der  Profitrate  in  der  Privat- 
wirtschaft von  der  Zusammensetzung  des  Kapitals  aufzuheben  versucht. 
Die  Mehrwerttheorie  verzichtet  auf  die  Erklärung  der  Erscheinungen 
des  Marktes,  des  privatwirtschaftlichen  Verkehrs,  zieht  sich  sozu- 
sagen, den  Thatsachen  nachgebend,  von  dem  Kampfplatze  zurück. 
Aber  um  die  Mehrwerttheorie  als  eine  Theorie  der  realen  Verhält- 
nisse der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  zu  retten,  findet  Marx 
für  dieselbe  ein  neues  Gebiet  auf,  woraus  sie,  nach  der  Meinung  von 
Marx  selbst  wie  aller  seiner  Anhänger,  nicht  fortgetrieben  werden 
kann.  Als  ein  solches  Gebiet  erscheint  die  kapitalistische  Wirtschaft 
in  ihrer  Gesamtheit  —  die  Verteilung  des  gesamten  gesellschaftlichen 
Produktes  zwischen  besonderen  gesellschaftlichen  Klassen.  Obschon 
die  Verteilung  des  Profits  zwischen  den  einzelnen  Kapitalisten  sich 
nicht  auf  Grundlage  des  Mehrwertsgesetzes  vollzieht,  bestimmt  das 
Mehrwertsgesetz,  nach  der  Auffassung  von  Marx,  den  Anteil  der 
gesamten  kapitalistischen  Klasse  am  gesellschaftlichen  Produkt.  Auf 
diese  Weise  erhält  der  Mehrwert,  vom  Markte  verbannt,  vom  vul- 
garen, alltäglichen  Markte,  den  die  meisten  marxistischen  Theoretiker 
tief  verachten  und  dessen  Gesetze  von  ihnen  als  etwas  Niedriges  und 
Gemeines  betrachtet  werden,  ein  neues  erhabenes  Gebiet  und  wird 
zum  Beherrscher  der  kapitalistischen  Welt. 

Diese  schwierige  strategische  Operation  ist  von  Marx  mit  un- 
vergleichlichem Geschick  im  IIl.  Bande  des  „Kapitals"  vollzogen:  nach- 
dem Marx  den  „Vulgaroekonomen"  alles,  was  dieselben  beanspruchen 
könnten,  zugestanden  hatte,  scheint  er  in  einer  noch  stärkeren  Lage  als 
früher  sich  zu  befinden.  Die  Mehrwerttheorie  scheint  einen  ent- 
schiedenen und  endgültigen  Sieg  davongetragen  zu  haben. 

Aus  unserer  Analyse  geht  aber  hervor,  dass  der  Mehrwert 
in  der  gesamten  kapitalistischen  Volkswirtschaft  ebenso  wenig  reale 
Bedeutung  hat  wie  in  der  Privatwirtschaft.  Der  Versuch  von  Marx, 
den   Mehrwert   in    der    gesellschaftlichen  Wirtschaft  als  etwas  Reales 


—       2  17       — 

zu  betrachten,  führte  ihn  zur  Entdeckung  des  „Gesetzes  der  fallenden 
Profitrate".  Dieses  imaginäre  Gesetz  erweist  sich  aber  als  ganz  un- 
haltbar. Die  Unhaltbarkeit  desselben  ist  übrigens  fast  selbstverständ- 
lich. Wäre  dies  Gesetz  richtig,  so  müsste  jede  Erhöhung  der 
Produktivität  der  Arbeit  den  Profit  verringern;  die  kapitalistische 
Klasse  gewänne  also  nicht  von  der  Steigerung,  sondern  von  der 
Herabsetzung  der  Produktivität  der  Arbeit.  Die  Maschinen  —  die 
mächtigste  Waffe  der  Fabrikanten  in  ihrem  Kampfe  mit  der  Arbeiter- 
klasse —  erscheinen  nach  dieser  Theorie  als  gefährhchste  Feinde  der 
Kapitalisten  selbst.  Und  bis  dies  Geheimnis  in  den  Manuskripten 
von  Marx  entschleiert  wurde,  konnte  kein  Fabrikant  darauf  kommen, 
dass  er,  indem  er  die  Arbeiter  durch  die  Maschine  ersetzt,  zum  Unter- 
gang seiner  Klasse  arbeitet. 

Aus  der  Unhaltbarkeit  des  imaginären  Gesetzes  von  Marx 
geht  natürlich  nicht  hervor,  dass  die  Profitrate  in  der  kapitalistischen 
Wirtschaft  stationär  bleibt.  Allerdings  beweist  uns  die  Geschichte, 
dass  das  Sinken  der  Profitrate  keinesfalls  eine  so  allgemeine  und  ge- 
setzmässige  Erscheinung  ist,  wie  sie  es  im  Falle  der  Richtigkeit  der 
Marx 'sehen  Theorie  sein  sollte.  Ad.  Smith  sagt  im  „Reichtum  der 
Nationen",  dass  der  Zinsfuss  in  den  reichsten  europäischen  Ländern 
4,  3  und  sogar  2^0  nicht  übersteigt.  Als  üblichen  Zinsfuss  in  England 
nennt  er  4  oder  4Y2  Vo-  ^^  Laufe  des  ganzen  Jahrhunderts  ist  also  der 
Zinsfuss  in  England  sehr  wenig  gesunken.  Die  umfangreichste  Er- 
setzung der  Handarbeit  durch  die  Maschinenarbeit  fand  in  England 
im  zweiten  Viertel  dieses  Jahrhunderts  statt.  Dennoch  ist  es  nicht 
möglich,  irgend  eine  Einwirkung  dieser  gewaltigen  Aenderung  der 
Zusammensetzung  des  englischen  nationalen  Kapitals  auf  die  mittlere 
Profitrate  zu  bemerken.  Die  Preise  der  englischen  dreiprozentigen 
Konsols  deuten  vielmehr  auf  eine  grosse  Stabilität  der  mittleren 
Profitrate  in  England  hin.  Freilich  scheint  es,  dass  seit  dem  Anfange 
der  70  er  Jahre  die  Profitrate  in  England  gesunken  ist.  Das  findet 
aber  seine  Erklärung  in  der  wachsenden  Schwierigkeit  für  England, 
seine  industrielle  Suprematie  zu  behaupten,  in  der  Verstärkung  der 
Konkurrenz  auf  dem  Weltmarkte,  im  Steigen  der  Arbeitslöhne  und  in 
der  Verkürzung  des  Arbeitstags,  und  in  vielen  anderen  Umständen, 
die  keinesfalls  mit  der  Erhöhung  der  Zusammensetzung  des  nationalen 
Kapitals  indentifiziert  werden  können. 

Zwar  ist  ein  starkes  Fallen  des  Zinsfusses  im  Anfange  der 
kapitalistischen  Entwicklung  jedes  Landes  zu  bemerken.  Dieses 
Fallen  stellt  aber  ein  ganz  anderes  Phänomen  dar  als  das  spätere  Sinken 
der  Profitrate.     Der  hohe  Zins  der  uncivilisierten  oder  halbcivilisierten 


—       2l8       — 

Länder  ist  nicht  mit  dem  Zinse  der  kapitalistischen  Länder  zu  ver- 
gleichen. „Unter  der  Form  des  Zinses  kann  hier  vom  Wucherer 
aller  Ueberschuss  über  die  allernotdürftigsten  Subsistenzmittel  (den 
Betrag  des  späteren  Arbeitslohns)  der  Produzenten  verschlungen 
werden  (was  später  als  Profit  und  Bodenrente  erscheint),  und  es  ist 
daher  höchst  abgeschmackt,  die  Höhe  dieses  Zinses  da,  wo  er  mit 
Ausnahme  dessen,  was  dem  Staate  zukommt;  allen  Mehrwert  sich 
aneignet,  zu  vergleichen  mit  der  Höhe  des  modernen  Zinsfusses,  wo 
der  Zins,  wenigstens  der  normale,  nur  einen  Teil  dieses  Mehrwertes 
bildet."!) 

Es  scheint,  dass  Marx  selbst  fühlte,  wie  wenig  sein  vermeint- 
liches Gesetz  mit  den  Thatsachen  der  kapitalistischen  Entwickelung 
übereinstimmt,  denn  er  hat  eine  ganze  Reihe  entgegenwirkender  Ur- 
sachen angeführt,  die  die  Wirkung  des  Gesetzes  mehr  oder  weniger 
abschwächen  sollten.  Leider  hat  er  unter  diesen  Ursachen  auf  die  einzig 
wichtige  —  nämlich  die  Steigerung  der  Produktivität  der  Arbeit, 
welche  das  ganze  Gesetz  aufhebt  —  nicht  hingewiesen.  Unter  den 
von  Marx  genannten  Ursachen  wirken  einige  geradezu  in  umge- 
kehrter Richtung  im  Vergleich  mit  der  von  Marx  angenommenen. 
Das  gilt  z.  B.  von  der  Verlängerung  des  Arbeitstags  und  des 
Herunterdrückens  des  Arbeitslohns.  Die  neuere  Erfahrung  zeigt 
keine  Verlängerung,  sondern  Verkürzung  des  Arbeitstags  zugleich 
mit  dem  Steigen  der  Arbeitslöhne.  Das  sind  also  Momente,  welche 
die  Profitrate  herabsetzen  müssen  —  und  sie  können  folglich  keines- 
falls als  dem  Gesetze  der  fallenden  Profitrate  „entgegenwirkende 
Ursachen"  gelten.  Die  andern  von  Marx  angeführten  Momente  sind 
nicht  so  wichtig,  um  die  Wirkung  des  Gesetzes  derart  zu  modifizieren, 
wie  es  nötig  wäre,  damit  das  Gesetz  den  Thatschen  des  realen  Lebens 
nicht  widerspreche. 

Also  die  Theorie  wie  die  Erfahrung  beweist  in  gleicher  Weise 
die  Unhaltbarkeit  des  von  Marx  aufgefundenen  „Gesetzes".  Die 
Profitrate  mag  sinken  —  keinesfalls  aber  infolge  der  relativen  Ver- 
ringerung des  variablen  Kapitals.  Damit  erweist  sich  aber  die  ganze 
Profittheorie  von  Marx  als  unhaltbar. 

Welche  andere  Profittheorie  müssen  wir  aber  an  die  Stelle  der 
Marx 'sehen  setzen?  Obschon  das  keinen  unmittelbaren  Zusammen- 
hang mit  dem  Hauptthema  der  vorliegenden  Arbeit  hat,  können  wir 
der  Beantwortung  dieser  Frage  nicht  ausweichen. 


i)  Marx,  Das  Kapital,  III.  Bd,   2.  Teil,  S.    134. 


? 


—       2  19       — 

Für  Marx  ist  das  Profitproblem  im  letzten  Grunde  das  Wert- 
problem. Und  zwar  stimmt  Marx  in  dieser  Hinsicht  mit  den  meisten 
Theoretikern,  welche  sich  mit  der  genannten  Frage  befassten,  überein 
—  darunter  auch  mit  seinem  hervorragendsten  wissenschaftlichen 
Antagonisten  —  E.  Böhm-Bawerk.  Für  Böhm-Bawerk,  wie  für 
Marx  besteht  das  Profitproblem  in  der  Erklärung,  warum  der  Preis 
des  fertigen  Produktes  seine  Produktionskosten  übertrifft. 

Von  der  Arbeitswerttheorie  ausgehend,  betrachtet  Marx  diesen 
Wertüberschuss  als  die  unbezahlte  Arbeit;  der  Kapitalist  verausgabt 
im  Arbeitslohn  nur  einen  Teil  des  vom  Arbeiter  neugeschaffenen 
Wertes.  Nach  der  Auffassung  von  Böhm-Bawerk  übertrifft  der 
Wert  des  fertigen  Produktes  die  Produktionskosten  darum,  weil  die 
„gegenwärtigen  Güter  mehr  wert  sind  als  künftige  Güter  gleicher 
Art  und  Menge";  und  da  der  Produktionsprozess  eines  Zeitaufwands 
bedarf,  so  muss  der  Wert  des  fertigen  Produktes  höher  sein  als 
seine  Produktionskosten.  Wie  verschieden  die  Profittheorien  von 
Marx  und  Böhm-Bawerk  auch  seien,  so  beruhen  sie  doch  auf  der- 
selben  Auffassung  des  durch  die  Profittheorie  zu  lösenden  Problems. 

Diese  Auffassung  ist  aber,  unseres  Erachtens,  irreführend:  das 
Profitproblem  hat  nichts  Gemeinsames  mit  dem  Wertproblem.  Vom 
privatwirtschaftlichen  Standpunkte  ist  freilich  der  Profit  eine  Er- 
scheinung des  Verkehrs  und  kann  nur  aus  den  Gesetzen  der  Preis- 
und  folglich  der  Wertbildung  erklärt  werden.  In  einer  Gesellschaft, 
wo  die  Arbeitsteilung  vorherrscht,  kann  das  von  einem  besonderen 
Unternehmer  hergestellte  Gut,  seiner  dinglichen  Natur  nach,  als 
Gebrauchswert,  nichts  Gemeinsames  mit  den  Gütern  haben,  welche 
seine  Produktionskosten  ausmachen.  Das  Tuch  z.  B.  ist  als  Ding, 
als  Gebrauchswert  etwas  ganz  anderes  als  Maschinen,  Fabrikgebäude, 
Konsumtionsmittel  der  Arbeiter,  Rohstoffe,  Heizmaterial  und  anderes, 
was  zur  Erzeugung  eines  Tuches  erforderlich  ist.  Nur  in  seiner 
Eigenschaft  eines  Tauschwertes  ist  das  fertige  Produkt  —  Tuch  — 
etwas  Grösseres  als  Güter,  welche  für  die  Produktion  des  Tuches 
verbraucht  werden  müssen.  Und  daher,  wenn  man  den  Profit  vom 
priv^at wirtschaftlichen  Standpunkte  betrachtet,  so  kann  die  Erklärung 
des  Profits  nur  auf  Grundlage  einer  Werttheorie  geschehen. 

Dasselbe  Problem  ist  aber  auch  von  einem  anderen  Standpunkte 
zu  behandeln.  Betrachten  wir  nicht  die  Privatwirtschaft,  worin  die 
Gesetze  der  Gesamtwirtschaft  zum  Ausdruck  kommen,  sondern  diese 
Gesamtwirtschaft  selbst,  deren  Bestandteile  Privatwirtschaften 
bilden.  Der  Preis  einer  Ware  ist  ein  Wertverhältnis.  Der  Profit 
realisiert   sich   für  die  einzelnen  kapitalistischen  Produzenten  auf  dem 


220       

Wege  der  Warencirkulation  —  des  Kaufes  der  einen  Waren  und  des 
Verkaufes  der  anderen.  Wenn  wir  aber  die  Volkswirtschaft  in  ihrem 
Ganzen  nehmen,  so  erfolgt  die  Warencirkulation  innerhalb  dieses 
Ganzen,  und  in  Bezug  auf  das  Ganze  wird  kein  Kauf  oder  Verkauf 
von  Waren  geschehen  und  der  Warenpreis  wird  also  seine  Bedeutung 
verlieren.  Der  Preis  bestimmt  den  Anteil  jeder  einzelnen  Person  am 
gesellschaftlichen  Produkt  und  daher  wird  der  Reichtum  jeder  Person 
in  Preisen  ausgedrückt;  die  ganze  Gemeinschaft  hat  mit  niemand 
sein  Produkt  zu  teilen,  und  daher  ist  der  gesellschaftliche  Reichtum 
von  Preisen  unabhängig.  Er  kann  nur  in  Gebrauchswerten  ausge- 
drückt werden. 

In  der  Privatwirtschaft  sind  die  neu  hergestellten  und  die  bei 
der  Produktion  verbrauchten  Güter  als  Gebrauchswerte  inkommen- 
surabel, sie  sind  verschiedene  Dinge.  In  der  Volkswirtschaft  aber 
sind  die  neu  erzeugten  und  verbrauchten  Güter  als  Gebrauchswerte 
kommensurabel,  da  es  doch  Dinge  derselben  Art  sind.  Im  Anfange 
einer  Produktionsperiode  verfügt  die  Gemeinschaft  über  ein  gewisses 
Kapital  in  Produktionsmitteln  und  Konsumtionsmitteln  der  Arbeiter; 
sagen  wir  z.  В.,  dass  das  gesellschaftliche  Kapital  aus  lo  Millionen 
Tonnen  Korn,  200  Tausend  Tonnen  Baumwollgewebe,  400  Tausend 
Tonnen  Tuch,  4  Millionen  Tonnen  Roheisen,  40  Tausend  Tonnen 
Kupfer  u.  s.  w.  besteht.  Zum  Ende  der  Produktionsperiode  verfügt 
die  Gemeinschaft,  sagen  wir,  über  15  Millionen  Tonnen  Korn,  220 
Tausend  Tonnen  Baumwollgewebe,  500  Tausend  Tonnen  Tuch, 
5  Millionen  Tonnen  Roheisen,  45  Tausend  Tonnen  Kupfer  u.  s.  w. 
Die  Gemeinschaft  verbraucht  im  Produktionsprozesse  und  reproduziert 
im  grossen  und  ganzen  dieselben  Güter,  nur  reproduziert  sie  in  ver- 
mehrter Menge.  Das  Tuch  und  die  Tuchwalzenmaschine  können  nur 
als  Tauschwerte  gleichgesetzt  werden.  Aber  ein  Meter  Tuch  und  zwei 
Meter  Tuch,  eine  Tuchwalzenmaschine  und  zwei  Tuchwalzenmaschinen 
sind  als  Dinge,  als  Gebrauchswerte  kommensurabel.  Die  Erklärung, 
warum  das  Tuch  um  ю^Д  teurer  als  seine  Produktionskosten  ist,  muss 
auf  irgend  einer  Werttheorie  beruhen.  Keine  Werttheorie  ist  aber  er- 
forderlich, um  zu  erklären,  warum  15  Millionen  Tonnen  Korn  um 
50^/0  teurer  seien  als  10  Millionen  Tonnen  desselben  Vorrats,  oder 
warum  man  220  Tausend  Tonnen  Baumwollgewebe  um  20^0  höher 
als  200  Tausend  Tonnen  desselben  Vorrats  bezahle.  Es  ist  hand- 
greiflich, dass  sich  das  Verhältnis  des  Preises  eines  Teiles  eines 
veräusserten  Gütervorrats  zum  Preise  des  gesamten  Vorrats  allein 
durch  die  Grösse  dieses  Teiles  bestimmen  lässt. 


—        2  2  1        — 

Die  Entstehung  des  Profits,  wie  überhaupt  aller  Einkommen, 
welche  nicht  auf  dem  Arbeitsaufwand  beruhen,  erklärt  sich  da- 
durch, dass  der  gesellschaftliche  Produktionsprozess  zur  Vermehrung 
der  zur  Verfügung  der  Gemeinschaft  stehenden  Gütermasse  führt. 
Warum  übertrifft  der  Wert  des  gesellschaftlichen  Produktes  den 
Wert  der  Güter,  welche  zu  seiner  Erzeugung  verbraucht  werden 
müssen?  Offenbar  darum,  weil  durch  den  produktiven  Verbrauch 
einer  gegebenen  Menge  Güter  die  Gemeinschaft  nicht  nur  alle  diese 
Güter  reproduziert,  sondern  noch  ein  Mehrprodukt  erzeugt.  Die  Ver- 
wertung dieses  Mehrproduktes  erfolgt  auf  dieselbe  Weise  wie  die 
Verwertung  der  anderen  Bestandteile  des  gesellschaftlichen  Produktes. 
So  entsteht  der  von  Marx  genannte  Mehrwert.  Die  Abhängigkeit 
des  Profits  vom  Momente  der  Vermehrung  im  Produktions- 
prozesse der  Gütermenge  ist  übrigens  handgreiflich;  es  ist  doch 
eine  Entstehung  des  Mehrwerts  ohne  Mehrprodukt  undenkbar, 
da  der  Warenkörper  die  materielle  Grundlage  des  Tauschwertes  ist. 
Die  Schaffung  des  Mehrproduktes  ist  also  die  Grundlage  der  Bildung 
des  Profits.^) 

Warum  aber  wird  bei  modernen  Produktionsbedingungen  das 
gesellschaftliche  Produkt  nicht  nur  unter  den  Arbeitern,  welche  am 
Produktionsprozess  durch  ihre  Arbeit  teilgenommen  haben,  sondern 
auch  unter  anderen  Gesellschaftsklassen,  welche  an  der  Produktion 
keinen  Anteil  genommen  haben,  jedoch  die  Produktionsmittel  besitzen, 
verteilt?  Darum  vor  allem,  weil  der  Stand  der  gesellschaftlichen 
Produktionstechnik  es  ermöglicht,  eine  grössere  Gütermasse  zu 
schaffen,  als  es  für  die  Erneuerung  der  gesellschaftlichen  Produktion 
technisch  notwendig  ist.  Das  ermöglicht  die  Bildung  des  Mehr- 
produktes, und  dieses  Mehrprodukt  wird  teils  oder  insgesamt  von  den 
Eigentümern  der  Produktionsmittel  angeeignet,  welche  die  Macht 
dazu  haben,  weil  sie  Monopolbesitzer  einer  notwendigen  materiellen 
Vorbedingung  des  Produktionsprozesses  sind. 

Von  welchen  Ursachen  der  Güterwert  auch  abhängen  mag, 
eins  steht  fest  —  nämlich,  dass  das  gesellschaftliche  Produkt  einen 
Preis  im  Austauschprozess  erhält,  und  dass  die  Verteilung  des  gesell- 
schaftlichen Produktes  unter  den  verschiedenen  Gesellschaftsklassen 
durch    die  Vermittelung    der    Preisbildung    erfolgt.      Als  Werte    und 


i)  Man  darf  diese  Auffassung  nicht  mit  der  Profittheorie  von  Physiokraten  ver- 
wechseln. Die  Physiokraten  sind  vom  Begriffe  der  biologischen  Vermehrung,  als  von  der 
letzten  Ursache  des  Wachtums  des  Gütervorrats,  über  welchen  die  Gesellschaft  verfügt,  ausge- 
gangen. Von  unserem  Standpunkte  aber  erzeugt  der  Bergbau  in  demselben  Masse  das 
Mehrprodukt  wie  der  Ackerbau. 


—       222 


Preise  sind  alle  wirtschaftlichen  Güter  gleichzusetzen.  Das  gesamte 
gesellschaftliche  Produkt  zerfällt  in  drei  Bestandteile:  der  eine  Teil 
geht  zur  Wiederherstellung  der  verbrauchten  Produktionsmittel,  der 
andere  geht  in  den  Konsum  der  arbeitenden  Klasse  über,  den  dritten 
aber  werden  sich  die  nichtarbeitenden  Klassen  aneignen.  Wodurch 
wird  die  Quote  des  gesellschaftlichen  Produktes,  über  welche  die 
nichtarbeitenden  Klassen  verfügen,  bestimmt?  Offenbar  durch  die 
Summe  beider  übrigen  Quoten  —  derer  der  Produktionsmittel  und 
der  arbeitenden  Klasse.  Bleiben  diese  beiden  letzten  Quoten  in 
ihrer  Summe  unverändert,  so  kann  auch  die  Quote  der  nicht 
arbeitenden  Klassen  keine  Veränderung  erfahren,  wenn  auch  die 
Quote  der  Arbeiter  sich  verändert.  »Setzen  wir  voraus,  dass 
die  Quote  der  Produktionsmittel  ein  Viertel  des  Gesamtproduktes 
ausmacht,  die  der  arbeitenden  Klasse  ein  Halb  und  die  der  nicht- 
arbeitenden Klassen  ein  Viertel.  Nehmen  wir  an,  dass  die  Quote 
der  arbeitenden  Klasse  infolge  der  entsprechenden  Zunahme  der 
Quote  der  Produktionsmittel,  dank  der  Verdrängung  der  Arbeiter 
durch  die  Maschinen,  zweimal  kleiner  wird.  In  diesem  Falle  werden 
die  Arbeitslöhne  ein  Viertel  und  die  Produktionsmittel  ein  Halb 
des  gesamten  Produktes  ausmachen.  Da  aber  die  Summe  beider 
Quoten  unverändert  bleibt,  so  muss  auch  die  Quote  der  nichtarbeiten- 
den Klassen  unverändert  bleiben.  Daraus  geht  die  Unhaltbarkeit  des 
Marx 'sehen  Gesetzes  der  fallenden  Profitrate  klar  hervor. 

Wird  aber  das  relative  Fallen  des  Anteils  der  lebendigen  Arbeit 
am  Produktionsprozess  ohne  jeglichen  Einfluss  auf  den  Arbeitswert 
der  Einkommen  der  nichtarbeitenden  Klassen  bleiben?  Gewiss  nicht  — 
die  Veränderung  der  Zusammensetzung  des  gesellschaftlichen  Kapitals 
muss  unter  diesen  Bedingungen  den  Mehrwert  verändern.  Der  Preis 
der  kapitalistischen  Einkommen  kann  aber  dabei  derselbe  bleiben. 
Der  Preis  einer  Ware  wird  durch  das  Verhältnis  des  Wertes  des 
gegebenen  Gutes  zum  Werte  eines  anderen  Gutes  —  z.  B.  des  Geldes 
—  bestimmt.  Wenn  die  Werte  beider  Güter  sich  gleichmässig  ver- 
ändern, so  bleibt  das  Wertverhältnis  unverändert.  Der  Kapitalist, 
wie  jedes  andere  wirtschaftende  Subjekt,  kümmert  sich  aber  unter 
modernen  Wirtschaftsbedingungen  am  wenigsten  um  Arbeitswerte; 
ihn  interessieren  nur  Preise.  Und  in  diesen  gelangen  allgemeine 
Wertveränderungen  gar  nicht  zum  Ausdruck. 

Die  Wechselbeziehungen  zwischen  den  Veränderungen  der  Zu- 
sammensetzung des  Kapitals,  dem  Arbeitswert  und  der  Profitrate 
können  wir  graphisch  darstellen.  Die  nachfolgenden  Kreise  können 
das  Produkt   des  gesellschaftlichen  Kapitals   einer   gegebenen  Grösse 


—        223        — 

symbolisieren;  das  schwarze  Segment  stellt  den  Anteil  der  Arbeiter- 
klasse am  Produkte  (das  variable  Kapital)  dar,  das  halbgestrichene 
die  Quote  der  Produktionsmittel  (das  konstante  Kapital)  und  das  un- 
gestrichene das  Mehrprodukt,  über  welches  die  nichtarbeitenden 
Klassen  verfügen. 


Die  Fläche  jedes  Kreises  bezeichnet  den  ArbeitsAvert  des  Pro- 
duktes des  gesellschaftlichen  Kapitals  einer  gegebenen  Grösse  bei  ver- 
schiedenen Zusammensetzungen  des  gesellschaftlichen  Kapitals,  sowie 
die  Fläche  jedes  Segmentes  den  Arbeitswert  des  betreffenden  Bestand- 
teils desselben  Produktes  bezeichnet.  Wir  sehen,  dass  jede  absolute 
Verringerung  des  variablen  Kapitals  durch  eine  Abnahme  des  Arbeits- 
werts des  gesellschaftlichen  Produktes  begleitet  wird.  Der  Mehrwert 
wird  kleiner  und  kleiner.  Die  Mehrwertsrate  (welche  aus  dem  Ver- 
hältnis des  ungestrichenen  zum  schwarzen  Segment  erkannt  werden 
kann)  steigt  dagegen  fortwährend.  Das  Verhältnis  aber  dieses  unge- 
strichenen Segments  zu  den  beiden  anderen  Segmenten  in  ihrer 
Summe  (dies  Verhältnis  bezeichnet  die  Profitrate)  bleibt  unverändert 
und  ist  immer  =  50  %.     Die  Profitrate  bleibt  also  unverändert. 

Gehen  wir  nun  weiter.  Ricardo  glaubte,  dass  die  Höhe  des 
Profits  allein  durch  die  Höhe  des  Arbeitslohns  (wie  einer  Quote  des 
Wertes  des  Arbeitsproduktes)  bestimmt  wird.  —  Je  höher  der  Arbeits- 
lohn ist  (der  Anteil  der  Arbeiter  am  Produkte),  desto  geringer  ist  der 
Profit.  Die  Unhaltbarkeit  dieser  Auffassung  geht  aus  unserer  Ana- 
lyse klar  hervor.  Der  Anteil  der  Kapitalisten  und  die  Profit- 
rate können  gleichzeitig  mit  dem  Anteil  der  Arbeiter  wach- 
sen. Dazu  ist  bloss  eine  relative  Abnahme  der  Quote  der  Produk- 
tionsmittel (z.  B.  durch  eine  Herabsetzung  des  Wertes  dieser  letzteren) 
am  gesellschaftlichen  Produkte  erforderlich. 

Also,  jede  Verwohlfeilerung  der  Arbeitsmittel  oder  Rohstoffe 
übt  auf  die  Profitrate  dieselbe  Wirkung,  wie  das  Sinken  der  Arbeits- 
löhne aus.  Eine  Verbesserung  der  Methoden  des  Eisengiessens  ver- 
ringert die  Menge  der  Produktivkräfte  der  Gesellschaft,  welche  zur 
Herstellung  einer  bestimmten  Menge  Eisens  verwendet  werden  müssen. 
Eine  bestimmte  Menge  von   gesellschaftlichen  Produktivkräften   wird 


—        224       — 

freigesetzt.  Diese  freigesetzten  Produktivkräfte  können  zur  Erzeugung 
der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten  oder  der  Arbeiter  benutzt 
werden.  Wer  sich  dieses  neue  Produkt  aneignen  wird  —  die  Kapitalisten 
oder  die  Arbeiter  — ,  das  hängt  von  der  socialen  Macht  jeder  Klasse  ab. 
Sind  die  Kapitalisten  stärker,  so  wird  dieses  neue  Produkt  von  ihnen 
angeeignet,  und  ihr  Profit  wird  wachsen  nicht  wegen  des  Sinkens  des 
Arbeitslohns,  sondern  wegen  Verwohlfeilerung  der  Produktionsmittel. 

Daher  sind  theoretisch  folgende  Kombinationen  des  Arbeitslohns 
(als  einer  Quote  des  Wertes  des  Produktes)  mit  der  Profitrate  mög- 
lich: hoher  Arbeitslohn  und  niedrige  Profitrate,  hoher  Arbeitslohn  und 
hohe  Profitrate,  niedriger  Lohn  und  hohe  Profitrate,  niedriger  Lohn 
und  niedrige  Profitrate. 

Das  Fehlen  eines  notwendigen  Antagonismus  zwischen  dem 
Arbeitslohn  und  dem  Profit  ist  sonderbarerweise  durch  keinen  an- 
deren als  durch  Marx  selbst  bewiesen.  So  lesen  wir  im  III.  Bande 
des  „Kapitals"  folgendes.  „Finden  Variationen  (im  konstanten  Kapi- 
tal) statt,  sei  es  infolge  von  Oekonomie  des  konstanten  Kapitals,  sei 
es  infolge  von  Preisschwankungen  des  Rohstoffes,  so  afficieren  sie 
stets  die  Profitrate,  auch  wenn  sie  den  Arbeitslohn,  also  die  Rate 
und  Masse  des  Mehrwerts,  ganz  unberührt  lassen  ....  Es  ist  also 
ganz  gleichgültig  —  im  Unterschiede  von  dem,  was  sich  bei  der 
Betrachtung  des  Mehrwerts  zeigte  —  in  w^elchen  Produktionssphären 
diese  Variationen  vorgehen;  ob  die  von  ihnen  berührten  Industrie- 
zweige Lebensmittel  für  die  Arbeiter produzieren  oder  nicht. 

Das  hier  Entwickelte  gilt  ebensowohl,  wo  die  Variationen  sich  in  Luxus- 

Produktionen  ereignen  .  .  .  Da  die  Protitrate  -^  oder  =  — -j- —    so 

ist  klar,  dass  alles,  was  einen  Wechsel  in  der  Grösse  von  с  und  des- 
wegen von  С  verursacht,  ebenfalls  einen  Wechsel  in  der  Profitrate 
hervorbringt,  auch  wenn  m  und  v  und  ihr  gegenseitiges  Verhältnis 
unverändert  bleiben  .  .  .  Der  bisher  noch  durchaus  mangelhaften  Ein- 
sicht in  die  Natur  der  Profitrate  und  in  ihre  spezifische  Verschieden- 
heit von  der  Rate  des  Mehrwerts  ist  es  zuzuschreiben,  wenn  einerseits 
Oekonomen,  die  den  durch  praktische  Erfahrung  festgestellten  be- 
deutenden Einfluss  der  Preise  des  Rohstoffs  auf  die  Profitrate  hervor- 
heben, dies  theoretisch  ganz  falsch  erklären  (Torrens),  während  anderer- 
seits an  den  allgemeinen  Principien  festhaltende  Oekonomen,  wie 
Ricardo,  den  Einfluss  z.  B.  des  Welthandels  auf  die  Profitrate  ver- 
kennen ^)." 


I)  Das  Kapital,  III.  Bd.,  I.  Teil,  S.  81—83. 


I 


^^л 


Wie  es  scheint,  hat  Marx  selbst  die  Tragweite  seiner  bezüg- 
lichen Anschauung  nicht  verstanden.  Am  Beispiele  der  RohstofF- 
verbilHgung  hat  Marx  eingesehen,  dass  in  Bezug  der  Einwirkung 
auf  die  Profitrate  das  konstante  Kapital  sich  vorn  variablen  in 
keiner  Hinsicht  unterscheidet.  Eine  tiefere  Analyse  hätte  aber  Marx 
zeigen  müssen ,  dass  es  auch  in  anderer  Hinsicht,  was  die  Profitrate 
betrifft,  keinen  Unterschied  zwischen  variablem  und  konstantem  Kapital 
giebt.  Die  Produktionsmittel  spielen  im  Produktionsprozess  sowie 
in  der  Bildung  der  Profitrate  gerade  dieselbe  Rolle  wie  die  Arbeiter. 
Die  Maschinen  sind  unter  den  modernen  Wirtschaftsbedingungen 
durchaus  den  Arbeitern  äquivalent:  sie  schaffen  wie  die  Arbeiter 
Gebrauchswerte  und  wirken  in  gleichem  Masse  auf  die  Profitrate  ein. 

Woher  stammt  also  das  Einkommen,  welches  nicht  auf  der 
Arbeit  der  betreffenden  Person,  sondern  lediglich  auf  dem  Eigentum 
beruht  —  die  Rente  nach  der  treffenden  Terminologie  von  Rodbertus? 
Dies  Problem  hat  bei  Rodbertus  eine  im  ganzen  befriedigende 
Lösung  erhalten.  „Die  Rente"  —  lesen  wir  in  seinen  Briefen  an  Kirch- 
mann  —  „beruht  auf  zwei  unumgänglichen  Vorbedingungen.  Erstens: 
Es  kann  keine  Rente  geben,  wenn  nicht  die  Arbeit  mehr  hervorbringt, 
als  wenigstens  zur  Fortsetzung  der  Arbeit  für  die  Arbeiter  erforder- 
lich ist  —  denn  es  ist  unmöglich,  dass,  ohne  ein  solches  Plus,  jemand 
ohne  selbst  zu  arbeiten,  regelmässig  ein  Einkommen  beziehen  könnte. 
Zweitens:  Es  kann  keine  Rente  geben,  wenn  nicht  Einrichtungen  be- 
stehen, die  dieses  Plus  ganz  oder  zum  Teil  den  Arbeitern  entziehen 
und  anderen,  die  nicht  selbst  arbeiten,  zuwenden  —  denn  die  Arbeiter 
sind  durch  die  Natur  selbst  immer  zunächst  im  Besitze  ihres  Pro- 
duktes. Dass  die  Arbeit  ein  solches  Plus  giebt,  beruht  auf  wirtschaft- 
lichen Gründen,  solchen,  welche  die  Produktivität  der  Arbeit  erhöhen. 
Dass  dieses  Plus  ganz  oder  zum  Teil  den  Arbeitern  entzogen  und 
anderen  zugewandt  wird,  beruht  auf  Gründen  des  positiven  Rechts, 
das  sich  von  jeher  mit  der  Gewalt  koaliert  hat,  so  auch  nur  durch 
fortgesetzten  Zwang  diese  Entziehung  durchsetzt  ^)." 

Diese  Lösung  können  wir,  auf  Grund  unserer  Analyse,  mit  nur 
kleiner  Modifikation  acceptieren.  Namentlich  ungenau  ist  es,  das 
Mehrprodukt  als  ein  ausschliessliches  Produkt  der  Arbeit  zu  bezeichnen. 
Das  Mehrprodukt  als  ein  Gebrauchswert  ist  gewiss  ganz  ebenso  die 
Schöpfung  der  Natur  und  des  Kapitals  wie  der  lebendigen  Arbeit. 
Der  Arbeitswert  des  Mehrproduktes  wird  selbstverständlich  nur  durch 


i)  Zur  Beleuchtung  der  Sozialen  Frage,   1875,  S.  33. 
Tugan-Baianowsky  ,  Die  Handelskrisen.  15 


die  Arbeit  bestimmt  Aber  der  Mehrwert  in  diesem  Sinne  hat,  wie 
wir  gesehen  haben ,  keine  reale  Bedeutung  in  der  Bestimmung 
der  Profitrate;  der  Kapitahst  kümmert  sich  über  diesen  Mehrwert 
gar  nicht. 

Die  von  uns  entwickelte  Profittheorie  stimmt  ebenso  gut  mit 
der  Arbeitswerttheorie  wie  mit  der  Grenznutzentheorie  überein.  Sie 
ist  von  jegHcher  Werttheorie  unabhängig.  In  unserer  Analyse  sind  wir 
von  der  Arbeitswerttheorie  ausgegangen;  trotzdem  sind  wir  zum  Er- 
gebnis gelangt,  dass  die  lebendige  Arbeit  im  Prozesse  der  Profit- 
bildung ganz  dieselbe  Rolle  spielt  wie  die  vorgethane  Arbeit,  die 
Produktionsmittel.  Dies  Ergebnis  steht  mit  der  Grenznutzentheorie  in 
voller  Uebereinstimmung.  Wir  haben  also  die  Profittheorie  von  jeg- 
lichem Zusammenhang  mit  der  Werttheorie  befreit. 

Damit  haben  wir  die  Richtig'keit  eines  der  wichtigsten  von 
Ricardo  formulierten  methodologischen  Grundsätze  der  politischen 
Oekonomie  bewiesen.  Dieser  Grundsatz  ist  von  Ricardo  in  einem 
seiner  Briefe  an  Mac  Culloch  ausgesprochen  und  lautet  folgender- 
massen:  „Am  Ende  müssen  alle  grossen  Fragen  über  Grund- 
rente, Arbeitslohn  und  Profit  durch  die  Proportionen  er- 
klärt werden,  in  welchen  das  gesamte  Produkt  zwischen 
Grundbesitzern,  Kapitalisten  und  Arbeiter  verteilt  wird 
und  welche  in  keinem  notwendigen  Zusammenhang  mit 
der  Lehre  vom  Werte  stehen  i)." 

Und  doch  steht  unsere  Profittheorie  auf  derselben  sociologischen 
Grundlage  wie  die  Marxsche  Theorie.  In  dieser  Hinsicht  unter- 
scheidet sich  unsere  Theorie  von  derMarxschen  nur  im  folgenden:  Fast 
alle  Profittheorien  —  die  Marxsche  inbegriffen  —  enthalten  ein 
ethisches  Moment,  bestimmte  rechtliche  Forderungen.  Diese  Theorien 
rechtfertigen  den  Profit,  beweisen  seine  wirtschaftliche  Notwendigkeit 
oder  leugnen  eine  solche.  Von  solchen  offenbar  ethischen  Theorien  wie 
der  Abstinenztheorie  von  Senior  ganz  zu  schweigen,  behalten  alle 
Theorien  der  Produktivität  des  Kapitals  sowie  die  Kapitalzinstheorie 
von  Böhm-Bawerk  einen  mehr  oder  weniger  ethischen  Charakter. 
Alle  diese  Theorien  sollen  den  Beweis  liefern,  dass  der  Profit  und  der 
Kapitalzins  notwendige  ökonomische  Kategorien  sind,  die  sich  im 
Wesen  der  menschlichen  Wirtschaft  überhaupt,  nicht  aber  in  historischen 


I )  „After  all  the  great  questions  of  Rent,  Wages  and  Profits  must  be  explained  by 
the  proportions  in  which  the  whole  produce  is  divided  between  landlords,  capitalists  and 
jabourers,  and  which  are  not  cssentialy  connected  with  the  doctrine  of  value."  Letters  of 
David  Ricardo  to  John  Ramsay   Mac  Culloch,  New  York,    1895,  S.   72. 


—        о  r> 


221        — 

Bedingiingen  der  letzteren,  begründen.  Daraus  folgt  natürlich  eine 
Anerkennung  der  Rechtmässigkeit  des  Zinses.  Die  Unhaltbarkeit 
solcher  Theorien  ist  aber  handgreiflich.  Zwar  ist  die  Produktivität 
des  Kapitals,  in  Bezug  auf  die  Schaffung  der  Gebrauchswerte,  eben- 
so unbestreitbar  Avie  die  Produktivität  der  Arbeit.  Dank  der  An- 
wendung der  Arbeitsinstrumente  und  besonders  der  Maschinen  nimmt 
die  Menge  der  erzeugten  Produkte  kolossal  zu.  Wird  aber  die  Profit- 
rate allein  durch  die  Produktivität  des  Kapitals  bestimmt?  Gewiss  nicht. 
Die  Produktivität  eines  mechanischen  Webstuhls  ist  in  Petersburg  wie 
in  London  dieselbe  —  und  doch  ist  die  Profitrate  des  Londoner 
Fabrikanten  viel  niedriger.  Die  Zunahme  des  Arbeitslohns  ver- 
ringert ceteris  paribus  die  Profitrate  —  obschon  die  Produktivität  der 
Maschinen  dadurch  keine  Veränderung  erfährt.  Es  ist  handgreiflich, 
dass ,  falls  der  Arbeitslohn  das  gesamte  Mehrprodukt  ausmachte, 
kein  Profit  entstehen  könnte,  wie  hoch  die  Produktivität  des 
Kapitals  auch  sein  mag.  Man  kann  aber  keine  bestimmte 
Grenze  der  Steigerung  des  Arbeitslohnes  feststellen.  Die  tägHche 
Erfahrung  zeigt,  dass  die  Profitrate  bedeutende  Schwankungen 
erfährt,  ganz  unabhängig  von  den  technischen  Bedingungen  des 
Produktionsprozesses.  Der  Profit  ist  ein  soziales  Phänomen,  welches 
nicht  auf  rein  technische  Momente  zurückgeführt  werden  kann. 
Aehnliche  Betrachtungen  beweisen  die  Unhaltbarkeit  der  Kapital- 
zinstheorie von  Böhm-Bawerk.  Allen  solchen  Theorien  liegt  ein 
fundamentaler  Fehler  zu  Grunde:  die  Verwechslung  des  Kapitals, 
als  eines  Produktionsfaktors,  mit  dem  Kapitalisten  —  dem  Be- 
sitzer dieses  Produktionsfaktors,  die  \"erwechslung  der  Kategorien 
der  Technik  mit  den  Kategorien  der  sozialen  Ordnung.  Der  Profit 
ist  eine  Kategorie  der  Verteilung,  also  eine  Kategorie  der  sozialen 
Ordnung,  und  darum  muss  jeder  Versuch,  den  Profit  und  Kapital- 
zins ausserhalb  des  sozialen  Gebietes  zu  begründen,  notwendigerweise 
misslingen. 

Aber  die  Marx  sehe  Mehrwerttheorie  enthält  gleichfalls  ein 
ethisches  Moment,  wenn  auch  eins  anderer  Art.  Nach  dieser 
Theorie  entsteht  der  Profit  aus  der  unbezahlten  Arbeit.  Eine  solche 
Auffassung  beruht  offenbar  auf  der  nicht  ausgesprochenen  Annahme, 
dass  nur  der  Arbeiter  das  Recht  auf  das  hergestellte  Produkt  habe. 
Als  Gebrauchswert,  als  materielles  Ding,  ist  das  erzeugte  Gut  das 
Produkt  nicht  bloss  der  Arbeit,  sondern  auch  anderer  Produktions- 
faktoren. Als  Arbeitswert  ist  freilich  das  Produkt  die  alleinige  Schöpfung 
der  Arbeit.  Unsere  Analyse  hat  uns  aber  gezeigt,  dass  die  Höhe  des 
Profits    (seinem  Preise   und  seiner  Rate  nach)  in  keiner  notw^endigen 

15* 


—        228        — 

Beziehung  zum  Arbeitswerte  steht.  Die  Betrachtung  des  Phänomens 
des  Profits  vom  Standpunkte  der  Arbeitswerttheorie  kann  also  nur  den 
einen  Sinn  haben  —  das  Recht  des  Arbeiters  auf  den  vollen  Arbeits- 
ertrag ökonomisch  zu  begründen.  Wir  können  dieses  Recht  aner- 
kennen *  oder  nicht  —  das  eine  steht  fest :  kein  Recht  lässt  eine 
durchaus  objektive  Begründung  zu.  Seinem  Wesen  nach  enthält 
das  Recht  ein  Moment  des  Sollens,  des  Zwecks  —  Momente  sub- 
jektiver Natur. 

Werner  Sombart  äussert  in  einem  seiner  geistreichen  Artikel 
über  die  Marxsche  Theorie,  dass  der  Marxismus  ein  vollkommen  ob- 
jektives, antiethisches  System  sei.  Leider  ist  das  nicht  richtig.  Marx 
strebte  allerdings  zu  einer  solchen  ganz  objektiven  Konstruktion  — 
sie  ist  ihm  aber  nicht  gelungen.  Die  Mehrwerttheorie  von  Marx 
enthält  ebensoviel  Ethik,  wie  die  Theorien  der  Produktivität  des  Kapi- 
tals. Ganz  objektiv  betrachtet,  entsteht  der  Profit  weder  aus  der  unbe- 
zahlten Arbeit  noch  aus  dem  durch  das  Kapital  erzeugten  Wertzu- 
wachs. Der  Profit  ist  die  Quote  der  Kapitalisten  am  gesellschaft- 
lichen Produkte  —  und  die  Grösse  dieser  Quote  wird  durch  den  Klassen- 
kampf, also  nicht  durch  das  Recht,  sondern  durch  die  Macht  bestimmt. 

Wenn  man  aber  die  Marxsche  Profittheorie  von  ihrer  Grund- 
lage —  der  Arbeitswerttheorie  —  befreit  (was  auszuführen  wir  ver- 
sucht haben),  so  erhält  man  eine  neue  Profittheorie,  welche  in  der 
That  ganz  objektiv  ist  und  kein  ethisches  Moment  enthält  i).  Wird 
durch  diese  Theorie  der  Profit  gerechtfertigt  oder  dessen  Unrecht- 
mässigkeit  bewiesen?  Weder  das  eine,  noch  das  andere.  Sie  beschränkt 
sich  nur  auf  die  Erklärung  der  sozialen  Thatsachen ,  zeigt  ihre 
objektiven  Gründe.  Wem  soll  das  Mehrprodukt  gehören  —  den 
Arbeitern  oder  den  Kapitalisten  ?  —  darauf  giebt  die  objektive  Theorie 
des  Profits  gar  keine  Antwort.  Sie  leugnet  die  Wichtigkeit  dieser 
Frage  nicht,  sie  erkennt  sich  aber  zu  ihrer  Lösung  inkompetent. 
Das  Gebiet  des  Sollens  liegt  ausserhalb  der  Kompetenz  der  objektiven 
Wissenschaft,  welche  den  ursächlichen  Zusammenhang  der  Erschei- 
nungen aufdeckt. 

Diese  Profittheorie  bildet  ein  Ganzes  mit  der  in  dieser  Schrift 
entwickelten  Theorie  der  Realisation  des  gesellschaftlichen  Produktes. 
Beide    Theorien   beruhen    auf   der    Anerkennung,    dass    die    kapita- 


i)  Nebenbei  sei  bemerkt,  dass  auch  die  Terminologie  von  Marx  preiszugeben  ist. 
Man  kann  die  Arbeitskraft  nicht  als  variables  Kapital  und  die  Produktionsmittel  als  kon- 
stantes Kapital  bezeichnen,  da  beide  Kapitalarten  im  Produktionsprozess  und  in  der  Schaffung 
des  Mehrproduktes  dieselbe  Rolle  spielen.  Die  ganze  Einteilung  des  Kapitals  in  variables 
und  konstantes  ist  zu  verwerfen. 


2  29        — 

listische  Wirtschaftsweise  den  Arbeiter  und  die  Arbeits- 
mittel gleich  setzt.  Die  Arbeiter  und  die  Arbeitsmittel  sind  vom 
kapitalistischen  Standpunkte  vollkommen  äquivalent.  Darin  besteht  das 
Wesen  dieser  Wirtschaftsweise.  Der  Kapitalismus  verwandelt  im  wirt- 
schaftlichen Verkehr  den  Menschen  in  ein  einfaches  Produktionsmittel, 
behandelt  den  Menschen  als  ein  Tier  oder  unbeseeltes  Ding.  Das  gilt 
ganz  ebenso  für  die  Schaffung  des  Profits  wie  für  die  Realisation  des 
hergestellten  Produktes.  Es  wird  gewöhnlich  angenommen,  dass  die 
gesellschaftliche  Nachfrage  durch  die  Konsumtionskraft  der  Gesellschaft 
bestimmt  wird;  wir  haben  aber  nachzuweisen  versucht,  dass  die  durch 
das  Wachstum  des  Kapitals,  durch  den  produktiven  Verbrauch  der  Pro- 
duktionsmittel geschaffene  Nachfrage  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
von  der  Konsumtion  der  Gesellschaft  unabhängig  ist.  Die  Produk- 
tionsmittel erweisen  sich  also  in  dieser  Hinsicht  als  den  Menschen 
gleich.  Die  Mehrwerttheorie  von  Marx  behauptet  ferner,  dass  in 
Bezug  auf  die  Entstehung  des  Profits  ein  fundamentaler  Unterschied 
zwischen  den  Menschen  und  den  Produktionsmitteln  bestehe:  der 
Profit  ist  nämlich  die  alleinige  Schöpfung  der  aufgewandten  mensch- 
lichen Arbeit,  während  die  Produktionsmittel  dabei  keine  aktive 
Rolle  spielen.  Unsere  Analyse  hat  aber  die  Unhaltbarkeit  der 
Marx  sehen  Mehrwerttheorie  gezeigt.  Auch  in  Bezug  auf  die 
Schaffung  des  Profits  sind  die  Menschen  und  die  Produktionsmittel 
in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  gleich. 

Darin  kommt  der  tiefste  Widerspruch  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft und  zugleich  die  Notwendigkeit  ihrer  weiteren  Entwickelung 
zum  Ausdruck:  obschon  der  Kapitalismus  den  Menschen  bloss  als 
ein  Mittel,  als  ein  Ding  betrachtet,  bleibt  der  Mensch  ein  Selbst- 
zweck für  sich.  Das  Individuum  protestiert  gegen  eine  Wirtschafts- 
ordnung, die  den  Zweck  (den  Menschen)  in  ein  Mittel  verwandelt 
und  das  Mittel  (die  Produktion)  in  einen  Zweck. 

Wir  können  jetzt  zur  Marxschen  Krisentheorie  zurückgehen. 
Unsere  Analyse  hat  uns  gezeigt,  dass  dieselbe  an  folgenden  Mängeln 
leidet: 

i)  das  ihr  zu  Grunde  liegende,  mechanische  „Gesetz  des  ten- 
denziellen Falls  der  Profitrate"  ist  kein  wirkliches  Gesetz;  die  Be- 
gründung dieses  Gesetzes  durch  die  Arbeitswerttheorie  beruht  bei 
Marx  auf  logischen  Fehlern.  Richtig  verstanden,  beweist  die  Arbeits- 
werttheorie im  Gegenteil  die  Unhaltbarkeit  dieses  Gesetzes; 

2)  Alle  Betrachtungen  Marx'  über  die  „Entfaltung  der  inneren 
Widersprüche  des  Gesetzes"  fallen  damit  weg.  Die  absolute  Ueberpro- 
duktion  von  Kapital,  welche  Marx  annimmt,  hat  keine  reale  Bedeutung; 


—      ^Зо     — 

З)  Die  von    Marx    bezeichneten  Schranken   der   kapitalistischen 
Produktion  existieren  in  der  Wirklichkeit  gleichfalls  nicht. 

Damit  kommen  wir  zur  höchst  wichtigen  Frage  über  die 
Bedingungen  der  weiteren  Entwickelung  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaftsordnung. Marx  war  der  Ansicht,  dass  auf  einer  gewissen 
Stufe  der  Entwickelung  angelangt  die  kapitalistische  Gesellschaft  nicht 
mehr  bestehen  kann.  Ihre  Umgestaltung  in  die  sozialistische  Gesellschaft 
wird  dann  ökonomisch  notwendig  sein;  wir  können  die  Umgestaltung 
als  einen  Zusammenbruch  oder  nicht  bezeichnen  (Kautsky  protestiert 
neuerdings  energisch  gegen  die  Behauptung  Bernsteins,  dass  Marx 
auf  dem  Boden  der  sogenannten  „Zusammenbruchstheorie"  gestanden  ist), 
eines  bleibt  aber  unbestreitbar  —  nämlich,  dass  nach  der  Auffassung 
von  Marx  wie  der  meisten  Marxisten  die  Entwickelung  der  kapita- 
listischen Produktionsweise  früher  oder  später  die  Bedingungen  schaffen 
muss,  unter  welchen  die  Realisation  des  Mehrwertes  ökonomisch  un- 
möglich wird.  Marx  hat  auf  zwei  von  diesen  Bedingungen  hinge- 
wiesen —  nämlich  i)  auf  das  „Gesetz  des  tendenziellen  Falls  der  Profit- 
rate" und  2)  auf  die  Schwierigkeit  der  Realisation  des  gesellschaftlichen 
Produktes  unter  den  kapitalistischen  Verteilungsverhältnissen,  welche 
eine  Unterkonsumtion  hervorrufen.  Das  zweite  Moment  spielt  in  den 
Schriften  vieler  Marxisten  eine  besonders  grosse  Rolle.  So  lesen  wir 
z.  B.  im  neuesten  interessanten  und  scharfsinnigen  Buche  Kautskys 
„Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Programm"  folgendes: 
„Es  ist  klar,  die  kapitalistische  Produktionsweise  wird  von  dem 
historischen  Moment  an  zur  Unmöglichkeit,  in  dem  es  sich  heraus- 
stellt, dass  der  Markt  nicht  mehr  in  demselben  Tempo  sich  aus- 
dehnen kann  wie  die  Produktion ;  d.  h.  sobald  die  Ueberproduk- 
tion  chronisch  wird.  Bernstein  versteht  unter  historischer  Notwen- 
digkeit nur  eine  Zwangslage.  Hier  haben  wir  eine  solche,  die,  wenn 
sie  eintritt,  unvermeidlich  den  Socialismus  erzwingt.  Zu  einem  solchen 
Zustand  muss  es  aber  kommen,  wenn  die  ökonomische  Entwickelung 
in  derselben  Weise  wie  bisher  vor  sich  geht;  denn  der  äussere,  wie 
der   innere,    Markt  hat  seine   Grenzen;    indessen  ist  die  Ausdehnung 

der  Produktion  praktisch  grenzenlos Die  unheilbar  chronische 

Ueberproduktion,  sie  bedeutet  die  letzte  Grenze,  bis  zu  der  das  kapi- 
talistische Regime  sich  überhaupt  behaupten  kann  ....  Der  Hinweis 
auf  die  clironische  Ueberproduktion  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  der 

Prophezeiung  der  grossen  Weltkrisis Seine  Bedeutung  besteht 

darin,  dass  er  durch  Festsetzung  einer  äussersten  Grenze  der  Lebens- 
fähigkeit der  heutigen  Gesellschaft  den  Socialismus  aus  jenem  nebel- 
haften   Bereich,    in  das   ihn   heute   so  viele  Socialisten  verweisen,  uns 


—        231        — 

näher  rückt,  so  dass  dieses  aus  einem  Ziel,  das  vielleicht  nach  fünf- 
hundert Jaliren  verwirklicht  werden  dürfte  —  vielleicht  auch  nicht  — 
ein  absehbares  und  notwendiges  Ziel  praktischer  Politik  wird''^). 

Wir  glauben  aber  nicht  an  eine  „Erzwingung"  des  Socialismus. 
Wir  erkennen  die  ökonomische  Notwendigkeit  der  Verwandlung 
der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  in  eine  socialistische  voll- 
kommen an.  Diese  Notwendigkeit  kann  aber  keinesfalls  den  Cha- 
rakter einer  Zwangslage  annehmen.  Nach  unserer  Auffassung  beruht 
die  ökonomische  Notwendigkeit  des  Socialismus  auf  der  Unfähigkeit 
des  Kapitalismus,  die  gesammten  gesellschaftlichen  Produktivkräfte 
auszunutzen,  —  darauf,  dass,  auf  einer  gewissen  Stufe  der  Entwicke- 
lung  angelangt,  die  kapitalistische  Produktionsweise  die  Entfaltung 
der  Produktivkräfte  der  Gemeinschaft  hemmt,  ^tatt  sie  zu  fördern. 
Der  Sozialismus  wird  also  auf  dieser  Entwickelungsstufe,  ganz  öko- 
nomisch betrachtet,  eine  höhere  Wirtschaftsordnung  darstellen  als 
der  Kapitalismus.  Trotzdem  aber  wird  auch  in  diesem  Falle  die  ka- 
pitalistische Wirtschaft  nicht  unmöglich,  sondern  weniger  pro- 
gressiv, die  Entwickelung  der  gesellschaftlichen  Produktivkräfte 
weniger  fördernd  als  die  sozialistische. 

Wir  brauchen  die  bezüghche  Auffassung  von  Kautsky  keiner 
Kritik  zu  unterwerfen.  Unsere  Analyse  der  Bedingungen  der  Rea- 
lisation des  gesellschaftlichen  Produktes  hat  uns  die  Unhaltbarkeit 
aller  solcher  Auffassungen  nachgewiesen.  Ist,  wie  Kautsky  annimmt, 
die  Ausdehnung  der  Produktion  praktisch  grenzenlos,  so  müssen  wir 
die  Ausdehnung  des  Marktes  als  ebenso  grenzenlos  annehmen,  denn  es 
giebt  bei  der  proportionellen  Einteilung  der  gesellschaft- 
lichen Produktion  für  die  Ausdehnung  des  Marktes  keine 
andere  Schranke  ausser  den  Produktivkräften,  über  welche 
die  Gesellschaft  verfügt. 

Als  Schlussergebnis  unserer  Kritik  der  im  III.  Bande  des  „Ka- 
pitals" entwickelten  Krisentheorie  von  Marx  erweist  sich  also,  dass 
die  im  II.  Bande  des  „Kapitals"  gegebene  glänzende  Analyse  der  Re- 
produktion des  gesellschaftlichen  Kapitals  von  Marx  unvervл^ertet  ge- 
blieben ist. 


i)  Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Programm,  S.    142,    145. 


KAPITEL  VIII. 


Der  industrielle  Cyclus  und  die  Ursachen  der 
Periodicität  der  Krisen. 


Allgemeiner  Charakter  dieser  Periodicität.  —  Der  industrielle  Cyklus.  —  Die  Regel- 
mässigkeit der  Schwankungen  der  Eisenpreise.  —  Die  periodische  Schaffung  neuen  stehenden 
Kapitals.  —  Der  Bau  von  Eisenbahnen.  —  Die  Spekulationen  mit  unbeweglichem  Eigentum. 
—  Die  Theorie  von  Henry  George.  —  Die  ununterbrochene  Akkumulation  vom  freien 
Leihkapital.  —  Unterschied  zwischen  der  Akkumulation  vom  Leihkapital  und  Akkumulation 
vom  produktiven  Kapital.  —  Die  Krisen  und  der  niedrige  Zinsfuss.  —  Die  Unmöglichkeit 
einer  ununterbrochenen  Verwandlung  des  Leihkapitals  in  produktives  Kapital.  —  Die  Börsen- 
krisen. —  Der  Kreditcyklus.  —  Ursachen  der  Phasen  des  industriellen  Cyklus.  —  Der 
Aussenhandel. 

Die  Geschichte  der  englischen  Krisen  hat  uns  die  Periodicität 
von  Flut  und  Ebbe  der  kapitalistischen  Industrie  nachgewiesen. 
Zwar  ist  diese  Periodizität  keine  mathematische  Periodicität:  der  indu- 
strielle Cyklus  kann  sich  ausdehnen  und  zusammenziehen  je  nach  den 
konkreten  Wirtschaftsbedingungen  des  g*egebenen  historischen  Mo- 
mentes. Daher  ist  von  vornherein  die  Unhaltbarkeit  aller  Versuche 
klar,  die  Wiederkehr  der  Krisen  als  etwas  einem  mathematischen 
Gesetze  Unterworfenes  zu  betrachten.  Einen  solchen  Versuch  bildet 
z.  B.  die  Jevonssche  Theorie  des  Zusammenhanges  der  Krisen  mit 
dem  Erscheinen  der  Sonnenflecke.  Sie  wird  schon  durch  die  Chro- 
nologie der  Krisen  widerlegt.  Zwar  haben  während  einiger  Jahrzehnte 
die  Krisen  ungefähr  in  den  gleichen  Zwischenräumen  stattgefunden: 
die  Krisenjahre  —  1825,  1836,  1847  —  sind  von  einander  durch 
Intervalle  von  je  elf  Jahren  getrennt.  Dennoch  fand  die  folgende 
Krise  nach  1.0  Jahren,  im  Jahre  1857  statt,  die  nächste  nach 
9  Jahren,  im  Jahre  1866.  Die  Geschäftsstockung  der  70er  Jahre  hat 
im  Jahre  1873  angefangen  und  im  Jahre  1879  geendigt;  die  der 
80er  Jahre  im  Jahre  1882  angefangen  und  im  Jahre  1887  geendigt, 
die  der  90er  Jahre  im  Jahre  1891  angefangen  und  im  Jahre  1895 
geendigt.  Es  scheint,  als  ob  der  industrielle  Cyklus  sich  in  der 
neuesten  Zeit  zusammengezogen  hat.    Die  Intervalle  zwischen  den  Kul- 


—      233      — 

minationsjahren  der  Geschäftsstockung  (1878 — 79,  1886 — 87,  1894 — 95) 
übertreffen  nicht  8 — 9  Jahre.  Die  Jahre  des  grössten  Aufschwunges 
—  1873,  1882,  1890  —  sind  von  einander  durch  ungefähr  ähnliche 
Intervalle  getrennt.  Augenblicklich  aber  sind  seit  dem  Baringschen 
Krach  ungefähr  zehn  Jahre  verflossen ,  die  Krisis  ist  dennoch 
immer  noch  nicht  eingetreten.  Man  darf  die  Geschäftsstockung 
in  der  nächsten  Zukunft  erwarten  —  wahrscheinlich  von  dem  Herbste 
dieses  Jahres  an.  In  Russland  dauert  die  Geschäftsstockung  schon 
beinahe  ein  Jahr  —  seit  dem  Petersburger  Börsenkrach  Anfang 
Oktober  1899.  Wir  stehen  zweifelsohne  am  Vorabend  einer  neuen 
andauernden  Periode  der  Depression,  welche  die  ganze  kapitalistische 
Welt  umfassen  wird.  Allerdings  hat  sich  der  industrielle  Cyklus 
wieder  ausgedehnt,  —  denn,  w^äre  die  Reaktion  nach  demselben  Zeit- 
raum wie  im  Jahre  1890  eingetreten,  so  hätte  die  Geschäftsstockung 
bereits  im  Jahre  1898  erfolgen  müssen.  Heute  müssen  wir  dennoch 
die  allgemeine  Geschäftsstockung  erst  seit  dem  Jahre   1900  erwarten. 

Die  kapitalistische  Entwickelung  ist  periodisch  in  dem  Sinne, 
dass  sie  sich  aus  aufeinanderfolgenden  Epochen  des  Aufschwungs 
und  des  Niedergangs,  der  Blüte  und  der  Depression  zusammensetzt, 
dass  ihre  Laufbahn  einen  Cyklus  bildet.  Der  industrielle  Cyklus 
umfasst  ungefähr  (aber  nur  ungefähr)  ein  Jahrzehnt.  Nach  der  so 
oft  angeführten  Schilderung  von  Samuel  Loyd  haben  wir  jedes  Jahr- 
zehnt „einen  Zustand  geschäftlicher  Ruhe,  dann  einer  Verbesserung, 
wachsenden  Vertrauens,  Blüte,  Aufregung,  Ueberspekulation,  Kon- 
vulsionen, Klemme,  Geschäftsstockung,  Elends  — ■  und  dann  wieder 
geschäftlicher  Ruhe."  Diesen  industriellen  Cyklus  können  wir  als  ein 
der  kapitalistischen  Entwickelung  innewohnendes  Gesetz  betrachten. 
Der  industrielle  Cyklus  umfasst,  wie  die  Geschichte  der  englischen 
Krisen  zeigt,  eine  Periode  von  8— 11  Jahren. 

Wodurch  wird  nun  diese  Periodicität  der  Krisen  hervorgerufen? 
Nach  unserer  Schilderung  entspringen  die  Krisen  der  beiden  Wider- 
sprüche der  kapitalistischen  Produktionsweise:  i)  davon,  dass  die  Pro- 
duktionsmittel Personen  angehören,  die  an  der  Produktion  nicht  teil- 
nehmen, während  sie  den  unmittelbaren  Produzenten  fehlen  und  2)  der 
Planlosigkeit  der  gesellschaftlichen  Produktion,  während  die  Produktion 
in  den  einzelnen  Betrieben  organisiert  ist.  Diese  Widersprüche  müssen 
die  kapitalistische  Wirtschaft  zu  Krisen  führen ;  woher  wiederholen 
sich  aber  solche  periodisch?  Das  ist  noch  zu  erklären.  Die  Ge- 
schichte der  Krisen  in  dem  Lande,  wo  der  industrielle  Cyklus  am 
deutlichsten   und  mit  dem  grössten   Relief  zum  Ausdruck  kommt  — 


—      234     — 

in  England  —  wird  uns  die  Möglichkeit  geben,  auf  induktivem  Wege 
die  Ursachen  dieser  Periodicität  festzustellen. 

Es  ist  leicht  einzusehen,  dass  die  Aufeinanderfolge  der  Perioden 
des  Aufschwungs  in  einem  gewissen  Zusammenhange  mit  der 
Schaffung  neuen  stehenden  Kapitals  der  Gesellschaft  steht.  Die  Jahre 
des  Aufschwunges  sind  immer  durch  eine  solche  Schaffung  gekenn- 
zeichnet. 

Bei  der  Betrachtung  der  Geschichte  der  Krisen  haben  wir  be- 
merkt, dass  die  Preise  des  Eisens  mit  grösster  Regelmässigkeit 
schwanken;  während  jeder  Periode  des  Aufschwunges  sind  die  Eisen- 
preise hoch,  und  umgekehrt,  jede  Geschäftsstockung  wird  mit  den 
niedrigen  Eisenpreisen  begleitet.  Kein  einziges  Mal  haben  wir  be- 
merkt, dass  die  Eisenpreise  vor  dem  Eintritt  einer  Handelskrisis 
niedrig  oder  nach  derselben  hoch  gewesen  wären.  Dasselbe  gilt  aber 
durchaus  nicht  für  alle  Warenpreise.  So  schwanken  z.  B.  die  Ge- 
treidepreise nicht  entfernt  so  regelmässig.  Man  kann  gar  nicht  sagen, 
welcher  Stand  der  Getreidepreise  —  hohe  oder  niedrige  Preise  — 
einer  bestimmten  Phase  des  industriellen  Cyklus  entspricht.  So  waren 
z.  B.  zur  Zeit  des  Aufschwunges  der  Jahre  1823 — 25  die  Getreide- 
preise hoch,  zur  Zeit  des  Aufschwunges  der  30er  Jahre  (1833 — 36) 
sind  sie  aber  sehr  niedrig  gewesen.  Die  Krisis  von  1847  hat  in 
einem  schlechten,  die  von  1857  a,ber  in  einem  guten  Erntejahre  statt- 
gefunden. Die  Krisis  von  1866  ist  nach  niedrigen  Getreidepreisen  einge- 
treten, dagegen  die  Geschäftsstockung  von  1867— -69  wurde  von 
hohen  Getreidepreisen  begleitet.  Anfang  der  70er  Jahre  waren  die 
Getreidepreise  hoch  —  das  hat  jedoch  nicht  gehindert,  dass  die  eng- 
lische Industrie  eine  noch  nicht  dagewesene  IMüte  erreichte.  Nach 
dem  Jahre  1873  sinken  die  Preise  des  Getreides  mit  geringen 
Schwankungen  einige  Jahre  hindurch,  was  die  Geschäftsstockung 
nicht  aufhält.  Die  Epochen  des  Aufschwunges  Anfang  und  Ende 
der  80er  Jahre  sowie  die  Depressionen  Mitte  der  80er  und  der  90er 
Jahre  standen  mit  den  Getreidepreisen  in  keinem  Zusammenhang. 
Hingegen  bilden  die  Eisenpreise  das  sicherste  und  unfehlbarste  Baro- 
meter für  die  allgemeine  Stimmung  des  Warenmarktes  und  den  Zu- 
stand der  Industrie.  Der  industrielle  Cyklus  spiegelt  sich  vollkommen 
in  der  Bewegung  der  Eisenpreise:  mit  dem  Aufschwung  steigen  auch 
die  Preise  des  Eisens,  die  Krisis  und  die  Depression  kommen  in 
einem  Sinken  dieser  Preise  zum  Ausdruck. 

Diese  auffallende  Abhängigkeit  ist  damit  zu  erklären,  dass  das 
Eisen  das  wichtigste  Material  ist,  aus  dem  Maschinen,  Instrumente, 
Schienen,  Schiffe  und  überhaupt  Produktions-  und  Transportmittel  ge- 


—     ^35      — 

macht  werden.  Aus  der  Nachfrage  nach  Eisen  und  aus  den  Prei- 
sen des  Eisens  kann  man  die  Menge  des  stehenden  Kapitals,  welches 
neu  geschaffen  wird,  beurteilen.  Sind  die  Preise  des  Eisens  hoch, 
so  werden  viele  neue  Fabriken,  Eisenbahnen,  Schiffe  u.  s.  w.  gebaut, 
sind  sie  niedrig,  so  hat  sich  die  Produktion  des  stehenden  Kapitals 
verlangsamt. 

Ein  am  meisten  charakteristischer  Zug  der  neuesten  Krisen  ist 
ihr  enger  Zusammenhang  mit  den  Eisenbahnbauten,  „Man  kann 
sagen"  —  bemerkt  treffend  Nasse  —  „dass  in  den  meisten  Teilen  der 
civilisierten  Welt  das  bestehende  Eisenbahnnetz  stossweise  zu  stände 
gekommen  ist,  nicht  in  stetigem  planmässigem  Ausbau,  sondern  in 
periodisch  excessiv  erregter  und  dann  wieder  stagnierender  Thätig- 
keit^)".  Insbesondere  ist  dieser  Zusammenhang  in  den  Vereinigten 
Staaten  zu  konstatieren.  Allen  amerikanischen  Krisen  der  letzten 
Jahrzehnte  ist  eine  ausserordentlich  energische  Ausdehnung  des  Eisen- 
bahnnetzes vorangegangen.  Dasselbe  gilt  auch  für  die  letzten  Krisen 
in  Argentinien  und  Australien. 

In  England  ist  der  Zusammenhang  der  Krisen  mit  den  Eisen- 
bahnbauten kein  so  unmittelbarer.  Allerdings  kann  er  für  zwei  Kri- 
sen —  für  die  von  1847  und  in  geringerem  Masse  für  die  von  1836 
leicht  festgestellt  werden.  Die  späteren  Krisen  sind  aber  ohne  Zweifel 
nicht  durch  Eisenbahnbauten  in  England  selbst  hervorgerufen  worden. 
Das  ist  übrigens  ganz  begreiflich.  England  ist  seinem  Areal  nach 
ein  so  kleines  Land,  dass  sein  Bedürfnis  nach  Eisenbahnen  sehr  bald 
gesättigt  werden  konnte.  Б'иг  eine  fernere  Erweiterung  des  Eisen- 
bahnnetzes war  sozusagen  kein  Raum  vorhanden.  Dadurch  wurde 
der  Zusammenhang  der  englischen  Krisen  mit  den  Eisenbahnbauten 
komplizierter,  keinesfalls  aber  ist  ein  solcher  aufgehoben  worden. 
Wir  können  aus  der  Geschichte  der  englischen  Krisen  ersehen, 
welch  eine  bedeutende  Rolle  als  Krisenursache  der  Abfluss  eng- 
lischer Kapitalien  nach  dem  Auslande  spielt.  In  den  Ländern  aber, 
nach  denen  die  englischen  Kapitalien  strömen,  werden  diese  vornehm- 
lich in  Eisenbahnbauten  angelegt;  auf  diese  Weise  werden  die  eng- 
lischen Krisen,  wenn  auch  indirekt,  gleichfalls  durch  periodische  Er- 
weiterungen des  Eisenbahnnetzes  der   gesamten   Welt   hervorgerufen. 

Einen  anderen  charakteristischen  Zug  vieler  Krisen  bilden  die 
Spekulationen  mit  unbeweglichem  Eigentum  und  insbesondere  mit 
städtischen  Grundstücken.  In  den  Vereinigten  Staaten  geht  den 
Krisen    fast   immer    eine  ausserordentliche   Erweiterung  der  Ankäufe 

i)  E.  Nasse,  Die  Verhütung  der  Produktionskrisen  durch  staatUche  Fürsorge.  Jahr- 
buch für  Gesetzgebung  im  Deutschen  Reich,  Bd.  Ш,  S.   153. 


—        23б        — 

von  Staatsländereien  und  eine  daraus  resultierende  höchst  bedeutende 
Erhöhung  der  Preise  des  Grund  und  Bodens  voran;  diese  Eigentüm- 
Hchkeit  der  amerikanischen  Krisen  ist  so  auffallend,  dass  Henry 
George  sie  seiner  Krisentheorie  zu  Grunde  gelegt  hat.  „Die  Haupt- 
ursache der  periodischen  Geschäftsstockungen  —  lesen  wir  in  seinem 
Buche  „Progress  and  Poverty"  —  denen,  wie  es  scheint,  alle  civilisierten 
Länder  in  steigendem  Grade  ausgesetzt  werden,  besteht  in  einem 
durch  die  Spekulation  hervorgerufenen  Steigen  der  Bodenpreise,  was 
eine  Abnahme  des  Ertrages  von  Arbeit  und  Kapital  sowie  eine  Ein- 
stellung der  Produktion  zur  Folge  hat"^).  Diese  Behauptung  enthält 
eine  bedeutende  Uebertreibung.  Das  periodische  Steigen  der  Boden- 
preise als  Hauptursache  der  Krisen  betrachten ,  heisst  die  Sache 
zu  einfach  nehmen.  Die  Landspekulationen  während  der  Perioden 
des  Aufschwunges  sind  höchst  charakteristisch  als  Symptom  einer 
Ausdehnung  des  stehenden  Kapitals  der  Gesellschaft,  sie  sind  aber 
mehr  ein  Symptom  der  Krankheit  als  ihre  Ursache. 

Die  Spekulationen  mit  städtischen  Grundstücken  und  der  Bau- 
schwindel erreichten  z.  B.  einen  ungeheuren  Umfang  in  Wien  am  Vor- 
abend des  berühmten  Kraches  vom  Mai  1873,  in  Berlin  um  dieselbe 
Zeit,  in  Australien  und  Argentinien  gegen  das  Ende  der  80er  Jahre 
u,  s.  w.  Allerdings  spielen  in  England  selbst  die  Spekulationen 
dieser  Art  als  krisenbeförderndes  Moment  keine  grosse  Rolle.  Hier 
müssen  wir  aber  wieder  daran  erinnern,  dass  sich  die  englischen 
Kapitalien  an  den  Spekulationen  fast  aller  anderer  Länder  beteiligen. 
England  ist  das  Herz  der  kapitalistischen  Welt,  und  daher  wirkt  alles, 
was  irgendwo  in  der  Weltwirtschaft  vor  sich  geht,  sofort  auf  Eng- 
land zurück. 

Uebrigens  kann  man  wohl  kaum  bestreiten,  dass  in  den  Epochen 
eines  Aufschwunges  eine  Anlegung  des  gesellschaftlichen  Kapitals 
(das,  was  die  Engländer  „Investment*'  nennen)  vor  sich  geht.  Den 
einer  Krisis  vorangehenden  Zustand  der  Volkswirtschaft  kennzeichnet 
man  gewöhnlich  —  und  das  gilt  für  alle  Krisenhistoriker  von  То  оке 
bis  Hyndman  —  als  Gründungsschwindel.  In  einer  solchen  Zeit 
beeilen  sich  alle,  ihre  freien  Mittel  in  irgend  einer  Unternehmung 
anzulegen,  und  die  gewandten  Börsenleute  benutzen  diese  Gelegen- 
heit, um  sich  auf  Kosten  des  zu  vertrauensvollen  Publikums  zu  be- 
reichern. 

Einer  jeden  Krisis  geht  unfehlbar  der  Gründungsschwindel 
voran  —    die  Gründung  einer  ungeheuren  Anzahl  von  neuen    Unter- 


i)  Henry  George,  Progress  and  Poverty.     London    1885,  S.    185. 


—     237     — 

nehmungen.      Dieser   Gründungsschwindel  ist  ja    aber  nichts  anderes 
als  die  Schaffung  neuen  stehenden  Kapitals  der  Gesellschaft. 

Eine  annähernde  Vorstellung  über  den  Zusammenhang  der 
Krisen  mit  den  Neugründungen  kann  man  sich  aus  der  folgenden 
Statistik  der  jährlichen  Emission  von  Börsenwerten  (Renten,  Obli- 
gationen, Aktien  u.  s.  w.)  in  England  machen  i). 


Jahre 

Millionen 

Jahre 

Millionen 

Jahre 

Millionen 

Jahre 

Millionen 

Pfd.  Sterl. 

Pfd.  Sterl. 

Pfd.  Sterl. 

Pfd.  Sterl. 

1870 

92,3 

1879 

56,5 

1887 

II  1,2 

1895 

104,7 

1872 

151,6 

1880 

122,2 

1888 

160,3 

1896 

152,7 

1873 

154,7 

1881 

189,4 

1889 

207,0 

1897 

157,3 

1874 

1 14,2 

1882 

145,6 

1890 

142,6 

1898 

150,3 

1875 

62,7 

1883 

81,2 

1891 

104,6 

1899 

133,2 

1876 

43,2 

1884 

109,0 

1892 

81,1 

1877 

51,5 

1885 

78,0 

1893 

49,1 

1878 

59,2 

1886 

101,9 

1894 

91,8 

In  dieser  Tabelle  haben  wir  die  Jahre  nach  den  Phasen  des 
industriellen  Cyklus  zusammengesetzt,  so  dass  mit  jeder  neuen  Spalte 
ein  neuer  industrieller  Cyklus  beginnt.  Es  ist  aus  der  Tabelle  leicht 
zu  ersehen,  dass  die  ersten  Jahre  des  industriellen  Cyklus  stets  durch 
eine  Vermehrung  der  Anlegung  des  nationalen  Kapitals  gekenn- 
zeichnet werden ;  die  Neugründungen  erreichen  aber  bereits  in  wenigen 
Jahren  ihren  Höhepunkt.  Dann  folgt  eine  Verminderung  der  Neu- 
gründungen, bis  der  folgende  Cyklus  wieder  eine  neue  Erhöhung 
bringt.  Die  Kapitalemissionen  erreichen  ihre  Maxima  in  England 
in  den  Jahren  1873,  1881,  1889,  1897;  ihre  Minima  fallen  auf  die 
Jahre  1876,  1885,  1893.  Nebenbei  sei  bemerkt,  dass  eine  Verminde- 
rung der  englischen  Emissionen  in  den  letzten  zwei  Jahren  ein  sicheres 
Zeichen  ist,  dass  der  laufende  industrielle  Cyklus  in  seine  ungünstige 
Phase,  die  der  Depression,  übergeht.  Die  Depression  folgt  ge- 
wöhnlich, wie  dieselbe  Tabelle  zeigt,  nicht  unmittelbar  auf  das  Maxi- 
mum der  Emissionen,  sondern  zwischen  diesem  Maximum  und  dem 
Beginn  der  Geschäftsstockung  können  einige  Jahre  vergehen.  Daher 
müssen  wir  die  Geschäftsstockung  in  diesem  Jahre  (1900)  erwarten. 

In  den  jährlichen  Schwankungen  der  Zahl  der  neu  gegrün- 
deten Aktiengesellschaften,  die  früher  bei  der  Darstellung  der  Ge- 
schichte der  Krisen  von  uns  angeführt  wurden ,  kommt  der  Zu- 
sammenhang der  Krisen  mit  der  Gründerthätigkeit  ebenso  anschaulich 
zum  Ausdruck.  Endlich  zeigt  die  Arbeitslosenstatistik,  die  wir  im 
zweiten    Teile    dieses    Buches    behandeln    werden ,    dass    gerade    die- 


i)  Nach  den  jährlichen  Supplements  des  The  Economist. 


—      2з8     — 

jenigen  Produktionszweige  die  grössten  periodischen  Schwankungen  er- 
fahren, welche  das  stehende  Kapital  produzieren.  In  dieser  Beziehung 
höchst  lehrreich  ist  die  Aussage  des  Chefs  der  Sektion  für  Arbeitsstatistik 
im  englischen  Handelsamt  Llewellyn  Smith's  vor  einer  Parlaments- 
kommission von  1895.  „Die  cyklischen  Schwankungen  —  so  hat 
er  ausgeführt  —  sind  besonders  stark  in  solchen  Produktionszweigen, 
wie  Schiffbau,  Maschinenbau  und  verwandte  Industriezweige,  welche 
Walther  Bagehot  „die  instrumentalen  Industrien"  („instrumental 
trades")  genannt  hat.  Der  allgemeine  Umfang  der  nationalen  Pro- 
duktion schwankt  von  Jahr  zu  Jahr  nur  wenig  .  .  .  aber  auch  diese 
geringen  Schwankungen  genügen,  um  höchst  bedeutende  Erschütte- 
rungen (violent  oscillations)  in  den  Produktionszweigen,  die  Produk- 
tionsmittel herstellen,  hervorzurufen"  i). 

Warum  ist  nun  jede  intensive  Schaffung  neuen  stehenden  Ka- 
pitals von  einem  allgemeinen  Aufschwung  der  Industrie  und  jede 
Verminderung  der  Gründerthätigkeit  von  einer  allgemeinen  Geschäfts- 
stockung begleitet?  Die  Ursache  dieses  Zusammenhanges  liegt  in 
der  Abhängigkeit  aller  Produktionszweige  in  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft von  einander. 

Jeder  Produktionsprozess  schafft  eine  neue  Nachfrage  nach 
anderen  Waren.  Aus  nichts  kann  nichts  produziert  werden.  Um  neue 
Waren  erzeugen  zu  können,  muss  man  Rohstoffe,  Produktionsmittel, 
Konsumtionsmittel  der  Arbeiter  anschaffen.  Die  Erweiterung  der  Pro- 
duktion in  irgend  einem  Produktionszweig  verstärkt  also  die  Nachfrage 
nach  Waren,  die  durch  andere  Industrien  hergestellt  werden.  Auf  diese 
Weise  teilt  sich  der  Anstoss  zur  Ausdehnung  der  Produktion  von  einem 
Industriezweig  dem  anderen  mit,  und  daher  wirkt  die  Erweite- 
rung der  Produktion  ansteckend  und  hat  immer  die  Ten- 
denz, die  gesamte  Volkswirtschaft  zu  erfassen.  Aus  diesem 
Grunde  wächst  in  den  Perioden  der  Neuschaffung  des  stehenden  Ka- 
pitals die  Nachfrage  nach  allen  Waren. 

Um  eine  Fabrik  oder  Eisenbahn  zu  bauen,  muss  man  Baumate- 
rial (Holz,  Ziegelsteine,  Eisen  u.  s.  w.),  Maschinen,  Instrumente  an- 
schaffen ,  Arbeiter  gegen  Lohnzahlung  dingen.  Baumaterial  wie 
Maschinen  und  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter  fallen  nicht  vom 
Himmel  herunter,  sondern  werden  von  anderen  Produktionszweigen 
hergestellt.  Also  muss  jede  Verstärkung  der  Gründerthätigkeit  die 
Nachfrage  nach  den  Produktionsmitteln  und  Konsumtionsmitteln   der 


I)  Third  Report  from  the  Select  Committee  on  Distress  from   Want  of  Employment, 
1895,  Aussage  von  Llewellyn  Sm 


—      239     — 

Arbeiter  steigern.  Zugleich  steigt  aber  die  Nachfrage  nach  den  Kon- 
sumtionsmitteln  der  höheren  Gesellschaftsklassen,  da  der  allgemeine  Auf- 
schwung der  Industrie  die  Einkommen  der  Unternehmer  vermehrt. 
wSo  kommt  allmählich  die  ganze  nationale  Industrie  in  Erregung 
dank  der  Erzeugung  neuen  stehenden  Kapitals  —  dem  Bau  neuer 
Eisenbahnlinien,  Fabriken,  Häuser,  Schiffe  u.  s.  w.  i). 

Warum  erfolgt  aber  die  Erzeugung  neuen  stehenden  Kapitals 
nicht  nach  und  nach,  allmählich,  sondern  stossweise,  mit  gewaltigen 
Sprüngen?  Dies  erklärt  sich  aus  den  Bedingungen  der  Kapitalakku- 
mulation in  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung. 

Oben  w^urde  schon  darauf  hingewiesen,  dass  man  unter  den 
heutigen  Wirtschaftsverhältnissen  in  jedem  reichen  kapitalistischen 
Land  freie  Kapitalien,  die  an  keinen  Industriezweig  gebunden  sind,  sich 
rasch  akkumulieren  sieht.  Solche  Kapitalien  erscheinen  auf  dem 
Geldmarkte  als  freies  Leihkapital.  Sie  bilden  sich  aus  den  kapitali- 
sierten Teilen  der  Einkommen  der  verschiedensten  Gesellschaftsklassen 
sowie  aus  den  freien  Kassenvorräten,  über  die  jeder  beliebige 
Unternehmer  oder  auch  nur  ein  reicher  Mann  verfügt.  Dank  den 
Banken  —  den  Reservoiren  für  Aufnahme  und  Anlage  dieses 
freien  Leihkapitals  —  kommt  jedermann  in  die  Lage,  denjenigen 
Teil  seines  Kassen  Vorrats,  dessen  er  nicht  augenblicklich  für  die  lau- 
fenden Ausgaben  bedarf  (bei  der  Entwickelung  des  Checkverkehrs 
sogar  seinen  gesamten  Kassenvorrat)  in  Leihkapital  zu  verwandeln. 
Dazu  braucht  er  nur  sein  freies  Geld  in  die  Bank  als  Depositum 
einzulegen.  Aber  den  Hauptbestandteil  des  auf  dem  Markte  vorhan- 
denen freien  Leihkapitals  bilden  nicht  Kassenvorräte  der  Privatpersonen, 
sondern  kapitalisierte  Einkommen,  welche  dort,  wo  sie  entstanden  sind, 
aus  diesem  oder  jenem  Grunde  nicht  angelegt  werden  konnten.  Die  An- 
häufung dieses  Leihkapitals  ist  aber  keineswegs  mit  dem  Wachstum 
des  produktiven  Kapitals  zu  verwechseln.  „Nicht  jede  Vermehrung 
des  leihbaren  Geldkapitals  zeigt  wirkliche  Kapitalakkumulation  oder 
Erweiterung  des  Reproduktionsprozesses  2).  Am  klarsten  tritt  der 
Unterschied  zwischen  dem  produktiven  und  dem  leihbaren  Geldkapital 
in  den  Staatsanleihen  hervor.  Der  Staat  nimmt  eine  bestimmte  An- 
leihe für  unproduktive  Zwecke  auf;  Kreditoren  des  Staates  sind  Ka- 
pitalisten, die  das  geforderte  Geldkapital  vorstrecken.  Nachdem  diese 
Summe  vom  Staate  verausgabt  wird,  erfährt  das  Kapital  der  Staats- 
kreditoren durchaus  keine  Einschränkung,   obwohl   das  reale  produk- 


i)  Vgl.  Marx,  Das  Kapital,  Bd.  II,  S.   287,   288. 
2)  Marx,  Das  Kapital,  Ed.  III,   2.  Teil,  S.   22. 


—     240     — 

tive  Kapital  des  Landes  im  Falle  einer  unproduktiven  Verausgabung 
der  erhaltenen  Summen  verschwindet.  Der  Besitzer  eines  vStaatswert- 
papiers  besitzt  in  Wirklichkeit  das  nackte  Recht,  einen  bestimmten 
Teil  des  Mehrproduktes  des  Landes  für  sich  selbst  zu  nehmen. 
„Die  Akkumulation  des  Kapitals  der  Staatsschuld  heisst  weiter  nichts 
als  Vermehrung  einer  Klasse  von  Staats  gläubigem,  die  gewisse 
Summen  auf  den  Betrag  der  Steuern  für  sich  vorwegzunehmen  be- 
rechtigt sind"  (Marx).  Das  Wachstum  der  Staatsschuld  weist  keines- 
falls auf  das  Wachstum  des  realen  Kapitals  des  Landes  hin,  —  trotz- 
dem werden  auf  dem  Geldmarkte  die  Staatspapiere  ganz  ebenso  als 
Kapital  betrachtet  wie  die  Obligationen  oder  Aktien  einer  industriellen 
Unternehmung,  die  in  der  That  ein  reales  Kapital  repräsentieren. 

Also  ist  die  Akkumulation  des  Leihkapitals  etwas  vom  realen 
Wachstum  der  Produktion  und  des  produktiven  Kapitals  ganz  Ver- 
schiedenes. Das  leihbare  Geldkapital  kann  nicht  nur  bei  einer  Er- 
weiterung, sondern  auch  bei  einer  Stockung  und  Einschränkung  der 
Produktion  akkumuliert  werden.  Und  es  kann  nicht  nur  unter 
solchen  Umständen  akkumuliert  werden,  sondern  es  wird  da  auch 
thatsächlich  akkumuliert. 

In  der  kapitalistischen  Gesellschaft  giebt  es  eine  ganz  Reihe 
von  Einkommen,  deren  Grösse  gar  nicht  oder  nur  sehr  wenig  von 
dem  Zustand  der  nationalen  Produktion  abhängt.  Von  allen  Kategorien 
des  nationalen  Einkommens  schwankt  der  Unternehmergewinn  von 
Jahr  zu  Jahr,  je  nach  dem  Zustand  des  Handels  und  der  Industrie,  am 
meisten,  dann  folgen  die  Einkommen  der  Arbeiter.  Diese  zwei  Ein- 
kommensarten steigen  in  günstigen  Phasen  des  industriellen  Cyklus 
und  sinken  in  ungünstigen.  Aber  andere  lediglich  auf  Besitz  be- 
ruhende Einkommen  sind  viel  unabhängiger  von  diesen  Phasen.  So 
werden  z.  B.  die  Zinsen  auf  Staatsanleihen,  auf  Hypotheken,  auf  Obli- 
gationen u.  s.  w.  in  den  Jahren  einer  Geschäftsstockung  in  der  Regel 
ebenso  pünktlich  bezahlt  wie  in  den  Jahren  eines  Aufschwungs.  Die 
Grundrente  kann  sich  in  längeren  Perioden  stark  verändern,  so  ist 
z.  B.  die  Grundrente  in  England  in  den  letzten  20  Jahren  bedeutend 
gesunken.  Die  Phasen  des  industriellen  Cyklus  kommen  aber  in  der 
Grundrente  fast  gar  nicht  zum  Ausdruck. 

Die  Einkommen  dieser  Art  bilden  insgesamt  eine  sehr  bedeu- 
tende Quote  des  nationalen  Einkommens;  auf  Grund  der  Statistik  der 
nationalen  Einkommensteuer  in  England  kann  man  urteilen,  dass 
die  Einkommen  aus  Grund  und  Boden,  Häusern,  Staatsanleihen,  aus- 
ländischen und  kolonialen  Anleihen  insgesamt  beinahe  eine  Hälfte 
des   gesamten   besteuerten   nationalen   Einkommens  Englands   bilden. 


—      241      — 

Also  in  England  —  und  dasselbe  gilt  für  jedes  andere  kapitalisti- 
sche Land  —  wird  eine  ganze  Reihe  von  Einkommen  von  den  Phasen 
des  industriellen  Cyklus  gar  nicht  oder  nur  sehr  wenig  beeinflusst.  Es 
giebt  keinen  Beweggrund  für  die  Rentiers  verschiedener  Gattungen, 
einen  geringeren  Teil  ihres  Einkommens  während  einer  Geschäfts- 
stockung als  während  eines  Aufschwungs  zu  akkumulieren.  Im  Ge- 
genteil, da  zur  Zeit  einer  Geschäftsstockung  die  Warenpreise  und 
damit  auch  die  Kosten  für  den  Lebensunterhalt  sowie  andere  Aus- 
gaben sinken,  können  die  Ersparnisse  der  Rentiers,  sowie  alle  derer, 
die  ein  ständiges  Einkommen  beziehen  (Militärs,  Beamte,  Pensionäre, 
höhere  Angestellte,  verschiedene  Professionelle  u.  s.  w.),  sich  ver- 
mehren. Dagegen  müssen  aber  die  Ersparnisse  anderer  Bevölkerungs- 
schichten, besonders  der  Unternehmer  und  der  Arbeiter,  in  ungün- 
stigen Phasen  des  industriellen  Cyklus  sich  stark  vermindern.  Aller- 
dings muss  die  Akkumulation  des  leihbaren  Geldkapitals  gleichmässi- 
ger  gehen  als  dessen  Verwandlung  in  produktives  Kapital;  das  Leih- 
kapital wird  ununterbrochen  akkumuliert,  in  ein  produktives  Kapital 
verwandelt  es  sich  aber  stossweise. 

Bei  der  Beschreibung  der  einzelnen  Krisen  haben  wir  mehr- 
mals hingewiesen  auf  das  bedeutende  Wachstum  der  Reserven  der 
Banken  unmittelbar  nach  der  Beendigung  einer  Krisis,  zur  Zeit  einer 
Geschäftsstockung.  Zur  selben  Zeit  vermehren  sich  gleichfalls  die 
Depositen  der  Privatpersonen  in  den  Banken.  Das  weist  auf  eine 
Anhäufung  des  in  der  Industrie  nicht  angelegten  freien  Leihkapitals. 
Der  niedrige  Diskontsatz,  der  stets  auf  die  Liquidation  einer  Handels- 
krisis folgt  und  sich  während  einer  ganzen  Reihe  von  Jahren  hart- 
näckig hält,  zeugt  von  einem  Ueberfluss  an  nicht  angelegten  Kapi- 
talien. Ueberhaupt,  wie  die  günstigen  Phasen  des  industriellen  Cyklus 
sich  durch  eine  verstärkte  Anlegung  von  Kapitalien,  durch  eine  Ver- 
wandlung des  freien  Kapitals  in  gebundenes  charakterisieren,  so  wird 
die  ungünstige  Phase  durch  eine  Akkumulation  des  freien,  unge- 
bundenen leihbaren  Geldkapitals  charakterisiert. 

Das  ist  derart  handgreiflich,  dass  viele  Nationalökonomen  (ins- 
besondere J.  St.  Mill)  als  die  unmittelbare  Ursache  der  Krisen  das 
Sinken  des  Diskontsatzes  betrachteten,  das  Spekulationen  auf  dem 
Geldmarkte  und  den  darauffolgenden  Zusammenbruch  hervorrufe  ^). 


i)  Das  Sinken  der  Profitrate  spielt,  wie  oben  hingewiesen,  eine  grosse  Rolle  auch  in 
der  Krisentheorie  von  Marx.  Die  Ursachen  dieses  Sinkens  werden  aber  von  Marx  anders 
betrachtet  als  von  Mill;  übrigens  haben  die  Krisentheorien  von  Mill  luid  Marx  nichts 
Gemeinsames. 

Tugan-Baranowsky  ,  Die  Handelskrisen.  \Q 


—      242      — 

„Die  Krisen  finden  fast  periodisch  statt,  weil  der  Profit  die  Ten- 
denz hat  zu  sinken  —  führt  J.  St.  Mill  in  seinen  „Grundsätzen  der  poli- 
tischen Oekonomie"  aus.  —  Wenn  ein  paar  Jahre  ohne  eine  solche  Krise 
verflossen  sind,  sammelt  sich  zu  dem  bereits  vorhandenen  Kapital  so 
viel  neues  an,  dass  es  unmöglich  wird,  dieses  so  anzulegen,  dass  es 
den  gewöhnlichen  Profit  abwerfe;  die  Kurse  aller  Staatspapiere 
steigen  sehr  hoch,  der  Diskontsatz  für  Wechsel  erster  Klasse  sinkt 
bedeutend,  und  alle  Geschäftsleute  beklagen  sich  über  das  Ver- 
schwinden der  vorteilhaften  Geschäfte  .  .  .  Da  es  fast  unmöglich  wird, 
zu  einem  Profit  zu  kommen,  ohne  etwas  zu  riskieren,  so  werden  die 
Leute  geneigt,  alle  Projekte  aufzugreifen,  die  überhaupt  eine  Hoff- 
nung auf  einen  höheren  Profit  gewähren,  wenn  sie  auch  mit  dem 
Risiko  eines  Verlustes  zu  rechnen  haben ;  so  kommt  es  zu  jenen  Spe- 
kulationen, die  mit  den  darauffolgenden  Reaktionen  bedeutende  Massen 
von  Kapitalien  zerstören  oder  ins  Ausland  wandern  lassen,  wodurch 
eine  temporäre  Erhöhung  des  Zinsfusses  und  des  Profites  hervorge- 
rufen und  der  Platz  für  neue  Ansammlungen  geräumt  wird;  dann 
verläuft  derselbe  Cyklus  aufs  neue." 

Mill  hat  vollkommen  recht,  indem  er  auf  die  rasche  Akku- 
mulation des  leihbaren  Kapitals  nach  der  Krisis  hinweist,  was  ein 
Sinken  des  Diskontsatzes  zur  Folge  hat  und  die  Entwickelung  der 
Spekulation  begünstigt.  In  den  Schwankungen  des  Diskontsatzes 
kommen  aber  auf  der  Oberfläche  des  Geldmarktes  tiefere  Verände- 
rungen der  kapitalistischen  Wirtschaft  zum  Vorschein,  von  welchen 
Mill  keine  Ahnung  hat. 

Einen  Zusammenhang  des  niedrigen  Zinsfusses  mit  der  Speku- 
lationslust muss  man  allerdings  anerkennen.  Viele  Zeugen,  die  vor 
der  Parlamentskommission  von  1833,  welche  die  Krisis  von  1825  zu 
untersuchen  hatte,  vernommen  wurden,  führten  die  Krisis  auf  das 
Sinken  des  Zinsfusses  infolge  der  Konventierungen  der  englischen 
Staatsschuld  zurück.  Die  Krisis  von  1847  ist  gleichfalls  von  einigen 
von  der  Parlamentskommission  des  Jahres  1848  befragten  Zeugen 
mit  dem  ausserge wohnlich  niedrigen  Diskontsatz  der  Jahre  1843 — 44 
in  Zusammenhang  gebracht  worden.  Ueberhaupt  ist  der  Diskontsatz 
in  der  einem  Aufschwung  unmittelbar  vorangehenden  Phase  des  in- 
dustriellen Cyklus  g-ewöhnlich  niedrig. 

Die  Akkumulation  des  leihbaren  Geldkapitals  vollzieht  sich  also 
ununterbrochen;  seine  Verwandlung  in  produktives  Kapital,  die  An- 
legung des  Leihkapitals  in  der  Industrie  begegnet  aber  einem  Wider- 
stand.   Das  Vorhandensein  dieses  Widerstandes  kann  keinem  Zweifel 


—      243      — 

unterliegen.  In  den  Jahren  einer  Geschäftsstockung  ist  der  Markt 
von  Leihkapital  überhäuft.  Zur  Verwandlung  dieses  letzteren  in 
produktives  Kapital  ist  eine  gewisse  Proportionalität  in  der  Ver- 
teilung des  freien  Kapitals  unter  \^erschiedenen  Produktionszweigen 
erforderlich.  Damit  kein  Warenüberschuss  entsteht,  muss  das  neue 
Kapital  proportionell  auf  alle  Produktionszweige  sich  verteilen.  Die 
Erreichung  einer  solchen  Proportionalität  schliesst  aber  in  sich  unter 
heutigen  Wirtschaftsbedingungen,  namentlich  bei  der  Planlosigkeit 
der  nationalen  Produktion,  wie  bereits  im  ersten  Kapitel  dieses 
Buches  ausgeführt  ist,  bedeutende  Schwierigkeiten.  Es  entsteht 
folgende  Sachlage.  Das  freie  leihbare  Geldkapital  wird  ununter- 
brochen akkumuliert,  es  sucht  energisch  eine  Anlage,  kann  aber  keine 
finden.  Das  nicht  angelegte  Kapital  bringt  keinen  Zins  —  es  fun- 
giert als  Kapital  gar  nicht,  hat  keinen  Gebrauchswert  für  seinen  Be- 
sitzer. Je  mehr  solcher  nicht  fungierenden  Kapitalien  vorhanden  sind, 
desto  energischer  muss  der  Drang  sein  zur  produktiven  Anlegung 
des  freien  Kapitals.  Von  der  einen  Seite  will  also  die  Industrie  kein 
neues  Kapital  mehr  aufnehmen,  auf  der  anderen  aber  strebt  dies 
Kapital  mit  immer  wachsender  Macht  in  die  Industrie  einzudringen. 
Es  muss  ein  Moment  kommen,  wenn  der  Widerstand  der  Industrie 
überwunden,  das  akkumulierte  Leihkapital  in  der  Industrie  eine  An- 
lage finden  und  sich  in  produktives  Kapital  verwandeln  wird.  Es 
tritt  eine  Epoche  des  Aufschwungs  ein. 

Bei  der  Verwandlung  des  Leihkapitals  in  produktives  Kapital, 
was  mit  der  Erweiterung  der  nationalen  Produktion  gleichbedeutend 
ist,  ist  nur  der  erste  Schritt  schwer:  infolge  der  Abhängigkeit  aller 
Produktionszweige  von  einander  hat  jede  Ausdehnung  der  Produktion 
die  Tendenz,  sich  von  einem  Produktionszweig  auf  den  anderen  aus- 
zubreiten, bis  sie  die  ganze  Volkswirtschaft  erfassen  wird.  Das  freie 
leihbare  Geldkapital,  (welches  z.  B.  in  der  Bank  als  Einlage  ruht  und 
von  der  Bank  selbst  nicht  für  das  Wechseldiskontieren  verausgabt 
wird)  stellt  eine  latente  Kaufkraft  dar.  Diese  Kaufkraft,  die  sich  in 
den  schlechten  Jahren  ansammelt,  übt  keinen  Einfluss  auf  den  Waren- 
markt aus,  solange  das  Leihkapital  unangelegt  bleibt.  Aber  sobald 
dies  Kapital  in  der  einen  oder  anderen  Weise  angelegt  wird,  ver- 
wandelt sich  seine  latente  Kaufkraft  sofort  in  eine  effektive.  Das 
Kapital  wird  verausgabt,  d.  h.  es  wird  auf  den  Kauf  der  einen  oder 
der  anderen  Waren  verwendet.  Es  wird  ein  neues  produktives  Kapital 
geschaffen,  was  eine  verstärkte  Nachfrage  nach  Produktionsmitteln 
sowie  nach  Konsumtionsmitteln  erzeugt.  Die  Industrie  eröffnet  gleich- 
sam  einen    neuen    Markt;   dieser   Markt  wird  durch  die  Ausdehnung 

16* 


—      244      — 

der  Produktion  selbst  geschaffen,  —  durch  die  Verausgabung  kolossaler 
Leihkapitalien,  die  früher  müssig  in  den  Kassen  der  Banken  ruhten. 
Für  die  Industrie  ist  es  gleichgültig,  woher  die  plötzliche  Vermehrung 
der  Nachfrage  kommt.  P^ür  sie  ist  es  nur  von  Bedeutung,  dass  die 
Nachfrage  sich  thatsächlich  um  die  ganze  Summe  des  angehäuften 
und  jetzt  verausgabten  Leihkapitals  vermehrt  hat.  Die  Warenpreise 
steigen,  und  die  gesellschaftliche  Produktion  erweitert  sich  auf  der 
ganzen  Linie. 

Darüber  gehen  einige  Jahre  hin.  Das  früher  angesammelte 
Leihkapital  wird  allmählich  verbraucht  worden.  Zwar  schafft  die  er- 
weiterte gesellschaftliche  Produktion  bedeutende  neue  Kapitalien. 
Aber  der  Markt  absorbiert  diese  Kapitalien  rasch,  da  alle  Unter- 
nehmer bestrebt  werden,  die  günstige  Konjunktur  auszunutzen.  Die 
Waren  finden  Absatz,  und  jeder  Unternehmer  wird  bemüht,  alle  Kapi- 
lien,  die  er  nur  heranziehen  kann,  in  sein  eigenes  Geschäft  zu  stecken. 
Alle  Reserven  des  Kapitals  werden  ausgenutzt.  Die  ausserordentliche 
Erweiterung  des  Kredites,  die  für  diese  Phase  des  industriellen  Cyklus 
so  charakteristisch  ist,  deutet  auf  eine  intensive  Anlage  des  Kapitals 
hin.  Während  früher  eine  starke  Konkurrenz  unter  den  Besitzern  des 
Leihkapitals  bestand  und  das  Angebot  des  Leihkapitals  die  Nachfrage 
nach  demselben  übertraf,  übertrifft  jetzt  bedeutend  die  Nachfrage  nach 
Leihkapital  dessen  Angebot. 

Das  Steigen  des  Diskontsatzes,  das  gewöhnlich  gegen  Schluss 
dieser  Phase  beobachtet  wird,  ist  ein  sicheres  Zeichen  dafür,  dass  das 
freie  Leihkapital  fehlt.  In  dieser  Zeit  stellt  es  sich  zur  allgemeinen 
Verwunderung  heraus,  dass  das  Geld  plötzlich  „teuer"  geworden  ist;  in 
Wirklichkeit  aber  wird  nicht  das  Geld,  sondern  das  Leihkapital  teuer, 
und  zwar  wird  es  teuer,  weil  auf  dem  Geldmarkte  wenig  freies,  un- 
beschäftigtes Kapital  geblieben  ist. 

Höchst  charakteristich  ist  es,  dass  Börsenkrisen  den  Geschäfts- 
stockungen nicht  selten  um  viele  Monate,  und  sogar  einige  Jahre 
vorangehen. 

So  hat  z.  B.  vor  der  Handelskrisis  von  1836  eine  Börsenkrisis 
im  Jahre  1835  stattgefunden;  vor  der  Handelskrisis  von  1847  ^^^ 
bereits  im  Jahre  1845  eine  Börsenkrisis  ausgebrochen;  den  Handels- 
krisen der  Jahre  1857  und  1873  sind  Börsenkrisen  im  Jahre  1856 
und  im  Mai  1873  vorangegangen.  Der  Geschäftsstockung  von  1892 
— 95  ging  der  Zusammenbruch  der  P'irma  Baring  im  Jahre  1890  voran. 
Diese  Erscheinung  steht  im  innigsten  Zusammenhange  mit  der  Be- 
wegung des  industriellen  Cyklus.  Eine  Börsenkrisis  entsteht  in  jener 
Phase  des  industriellen  Cyklus,  wenn  der  Mang-el  an  Leihkapital  sich 


—     245     — 

fühlbar  zu  machen  anfängt.  Bei  dem  Ueberschusse  an  Leihkapital  findet 
der  Börsenkrach  nie  statt.  Der  Ueberschuss  an  Leihkapital  fördert  die 
Börsenspekulation,  und  die  Kurse  der  Börsenpapiere  stehen  hoch.  Die 
Erschöpfung  des  freien  Leihkapitals  muss  aber  unausbleiblich  zum 
Sinken  der  Börsenkurse  führen.  Das  wirkt  als  Signal  zur  Panik  und 
der  Börsenkrach  folgt.  Allerdings  ist  er  ein  sicheres  Zeichen  dafür, 
dass  das  freie  Leihkapital  beinahe  erschöpft  ist.  Dennoch  kann  die 
Industrie  sich  einige  Zeit  nach  dem  BörsenJ^rache  in  einem  belebten 
Zustand  befinden,  da  der  Aufschwung  der  Industrie  durch  eine  Schaff- 
ung von  produktivem  Kapital  aufrecht  erhalten  wird,  diese  sich  aber 
nicht  plötzlich,  sondern  allmählich,  im  Laufe  längerer  Perioden  voll- 
zieht. So  hörten  z.  B.  in  England  die  Spekulationen  mit  den  Eisen- 
bahnaktien schon  im  Jahre  1845  ^^  ^^^  Fallen  ihrer  Kurse  auf, 
und  der  Zufluss  neuen  Kapitals  zu  den  Eisenbahnbauten  verlangsamte 
sich  seit  dem  Jahre  1846  bedeutend,  aber  die  Verausgabung  des 
Kapitals  auf  den  Bau  der  Eisenbahnen  begann  erst  seit  diesem  Jahre 
im  grossen  Umfange  und  dauerte  einige  Jahre  hindurch. 

Wie  die  Börsenkrisis  durch  die  Erschöpfung  des  freien  Leih- 
kapitals hervorgerufen  wird,  so  erfolgt  die  Handelskrisis  wegen  der 
Beendigung  der  Schaffung  des  neuen  produktiven  Kapitals.  Aus 
diesem  Grunde  hat  die  Handelskrisis  von  1847  zwei  Jahre  später  als 
die  Börsenkrisis  stattgefunden.  In  ähnlicher  Weise  hat  der  Wiener 
Krach  vom  Mai  1873  sofort  ein  »Sinken  der  Kurse  der  Börsen\yerte 
in  ganz  Europa  hervorgerufen.  Die  Summe  der  Kapitalemissionen 
erfuhr  eine  starke  Einschränkung,  aber  die  englische  Industrie  befand 
sich  selbst  im  Jahre  1875  nicht  in  einem  sehr  gedrückten  Zustand. 
Die  Schaffung  des  neuen  produktiven  Kapitals  hatte  noch  nicht  auf- 
gehört. Erst  einige  Jahre  nach  dem  Beginn  der  Krisis  Hess  sie  sich 
auch  für  die  englische  Industrie  in  vollem  Masse  fühlen. 

Der  Zusammenbruch  der  Firma  Baring  hat  gleichzeitig  zuerst 
nur  auf  die  Börse  zurückgewirkt:  die  Kapitalemissionen  haben  sich 
vermindert  —  die  Börse  war  den  Neugründungen  nicht  günstig.  Die 
Depression  der  Industrie  erfolgte  viel  später  —  erst  als  die  Schaffung 
des  produktiven  Kapitals  eine  Einschränkung  erfahren  hat. 

Die  oben  (S.  237)  angeführte  Statistik  der  Kapitalemissionen 
in  England  kann  als  statistischer  Beweis  für  das  Gesagte  gelten.  Das 
Maximum  der  Emissionen  entfällt  in  den  70  er  Jahren  auf  das  Jahr 
1873;  die  Geschäftsstockung  erfolgte  aber  viel  später.  Im  industriellen 
Cyklus  der  ersten  Hälfte  der  80  er  Jahre  entfällt  das  Maximum  der 
Emissionen  auf  das  Jahr   1881    —  zwei  oder  drei  Jahre  vor   dem  Be- 


—     246      — 

ginn  der  Geschäftsstockung;  gegen  Ende  der  80er  Jahre  entfällt  das- 
selbe Maximum  auf  das  Jahr  1889  —  ein  Jahr  vor  dem  Zusammen- 
bruch der  Firma  Baring  und  einige  Jahre  vor  der  Geschäftsstockung 
der  90  er  Jahre.  Die  künftige  Geschäftsstockung  muss  auch  einige 
Jahre  nach  dem  Maximum  von   1897  kommen. 

Warum  endigt  nun  jeder  industrielle  Aufschwung  mit  einer  Re- 
aktion —  mit  einer  Geschäftsstockung?  Dafür  giebt  es  viele  Ur- 
sachen. Zunächst  absorbiert  die  Erweiterung  der  Produktion  das 
freie  Leihkapital,  die  freie,  ungebundene  Kaufkraft,  deren  Anhäufung 
auf  dem  Geldmarkte  die  unmittelbare  Ursache  des  Aufschwungs  ge- 
wesen war.  Solange  z.  B.  die  Eisenbahn  gebaut  wird,  schafft  ihr 
Bau  eine  Nachfrage  nach  ungeheuer  grossen  Warenmassen.  Die 
Eisenbahnbauten  können  aber  nicht  fortwährend  in  demselben  Um- 
fange, wie  zu  Zeiten  des  Aufschwungs,  fortgesetzt  werden  —  dazu 
fehlt  einfach  das  Kapital.  An  der  Geschichte  der  amerikanischen 
Krisis  von  1873  haben  wir  gesehen,  dass  die  unmittelbare  Ursache 
des  Ausbruchs  der  Krisis  in  der  Unmöglichkeit  bestand,  auf  dem 
europäischen  und  amerikanischen  Geldmarkte  neue  Eisenbahnanleihen 
zu  realisieren.  Das  Leihkapital  wurde  erschöpft  —  und  die  Eisen- 
bahnbauten mussten  eingeschränkt  werden.  Ferner  können  die 
hohen  Warenpreise  und  die  hohen  Profite,  welche  der  AufschAvung 
zeitigt,  nicht  ohne  eine  Spannung  des  Kredites  und  eine  Erwachung 
der  Spekulationslust  bleiben.  Die  günstige  Lage  des  Weltmarktes 
muss,  mit  Naturnotwendigkeit,  zur  spekulativen  Erregung  führen. 
Hohe  Profite  sind  einem  berauschenden  Getränke  ähnlich,  das  in  be- 
deutender Menge  genossen,  dem  stärksten  und  vernünftigsten  Menschen 
die  Einsicht  nehmen  muss.  Und  wenn  wir  heute  auf  dem  englischen 
Warenmarkte  nichts  Aehnhches  dem  Spekulationsschwindel  der  frü- 
heren Zeit  bemerken,  so  ist  das  einfach  dadurch  zu  erklären,  dass 
die  goldenen   Zeiten  der  englischen  Industrie  vorüber  sind. 

Die  Spannung  des  Kredits  und  der  Spekulationsschwindel  führen 
ihrerseits  unvermeidlich  zum  Zusammenbruch  des  Kredites  und  zur  Pa- 
nik. Eine  treffende  Charakteristik  des  Kreditcyklus  finden  wir  in  dem 
geistreichen  Artikel  von  John  Mills,  „On  Credit  Cycles  and  the  Ori- 
gin  of  Commercial  Panics"  (Transactions  of  the  Manchester  Statistical 
Society   1867 — 68). 

Die  Panik  auf  dem  Geldmarkte  —  führt  Mills  aus  —  zerstört 
das  Kapital  nicht,  indessen  ist  ihre  Wirkung  für  die  gesamte  Volks- 
wirtschaft höchst  verderbhch.  Was  ist  es  nun,  das  während  einer 
Panik   zerstört    wird    und    eine  Leere  hinterlässt?      „Es  ist  das  feine. 


—        ■> 


247     — 

immaterielle  Agens,  mittels  dessen  das  inerte  Kapital  in  Bewegung 
gesetzt  wird  und  neuen  Wegen  sich  zuwendet.  Dieses  Agens  ist 
der  Kredit".  Die  Panik  ist  der  Tod  des  Kredites.  Aber  der  Kredit 
besitzt  die  Fähigkeit,  zum  Leben  wieder  aufzuerstehen,  und  sein 
Lebenscyklus  ist  der  moderne  industrielle  Cyklus.  Die  erste  Periode 
eines  Kreditcyklus  (Postpanic  period)  folgt  unmittelbar  auf  die  Be- 
endigung einer  Panik.  Zu  dieser  Zeit  wird  der  Diskontsatz  niedrig, 
und  auf  dem  Geldmarkte  übertrifft  das  Angebot  des  Leihkapitals  die 
Nachfrage  nach  diesem.  Eine  solche  Lage  des  Geldmarktes  wird  be- 
dingt: I.  durch  die  Stimmung  der  Kapitalbesitzer,  die  sich  nach  der 
Beendigung  einer  Panik  zwar  beruhigen,  aber  dennoch  fürchten,  sich 
vom  Kapital  zu  trennen,  und  dasselbe  daher  an  einem  sicheren  Orte 
—  in  Banken  —  unterbringen ;  aus  diesem  Grunde  wachsen  in  den 
Banken  in  dieser  Zeit  die  Depositen  der  Privatpersonen;  und  2.  durch 
die  Stimmung  der  Debitoren ,  die  keine  Lust  haben,  neue  Anleihen 
aufzunehmen  und  ihre  Geschäfte  auszudehnen. 

Die  erste  Periode  dauert  gewöhnlich  2 — 3  Jahre.  Diese  ganze 
Zeit  hindurch  steht  der  Zinsfuss  niedrig,  die  Reserven  der  Banken 
bleiben  aber  hoch.  Allmählich  bemerkt  man  eine  Wiederherstellung 
des  Kredits,  es  tritt  die  mittlere  Periode  —  die  Periode  der  Bele- 
bung ein.  Die  Warenpreise  und  die  Profite  steigen,  die  Geschäfte 
dehnen  sich  rasch  aus.  Es  beginnen  junge  Leute  an  Geschäften  sich 
zu  beteiligen,  die  die  vorangegangene  Panik  nicht  erlebt  haben  und 
natürlich  geneigt  sind,  mit  mehr  Optimismus  in  die  Zukunft  zu 
blicken.  Das  breite  Publikum  ist  immer  geneigt,  die  Zukunft  sich 
ebenso  wie  die  Gegenwart  zu  denken;  das  Vertrauen  wächst  und  die 
Ueberzeugung  in  der  Dauerhaftigkeit  der  Verbesserung  des  Marktes 
erfasst  breite  Schichten  der  Bevölkerung.  Die  Kapitalien  cirkulieren 
rasch  und  werfen  gute  Profite  ab,  die  sofort  wieder  in  die  Cirkulation 
treten.  Allmählich  überschwemmen  die  Kapitalien  die  gewöhnlichen 
Cirkulationskanäle,  und  die  Kapitalisten  beginnen,  neue  Absatzwege 
zu  suchen. 

Es  beginnt  die  dritte  —  Spekulationsperiode.  Der  Kredit  wird 
mehr  und  mehr  gespannt,  die  Preise  erreichen  eine  anormale  Höhe; 
endlich  bricht  das  ganze  Gebäude  zusammen.  Der  Kredit  stirbt,  um 
wieder  aufzustehen.     So  verläuft  der  Kreditcyklus. 

Diese  ganze  Ausführung  ist  fein  und  geistreich.  Ihr  Fehler  be- 
steht nur  darin,  dass  Mills  lediglich  die  eine  Seite  der  Sache  zeich- 
net —  die  durch  den  industriellen  Cyklus  bedingten  psychischen  Mo- 
mente; objektive  Ursachen  des  Cyklus  werden  von  ihm  vernachlässigt 


—    248    — 

(es  giebt  zwar  bei  Mills  einen  Versuch,  die  objektiven  Ursachen  der 
Krisen  festzustellen,  dieser  Versuch  aber  ist  ihm  völlig  misslungen). 
Allerdings  ist  es  richtig,  dass  auch  die  Psychologie  des  Unternehmers 
im  Zusammenhange  mit  den  Phasen  des  industriellen  Cyklus  gesetz- 
mässigen  Veränderungen  unterliegt.  Die  Psychologie  der  Phase  der 
Geschäftsstockung  hat  mit  der  Psychologie  der  Phase  des  Aufschwunges 
nichts  Gemeinsames.  Der  Aufschwung  zwingt  den  Spekulanten,  die 
Grenze  zu  überschreiten,  die  vernünftige  Unternehmungslust  von  unüber- 
legtem Wagemut^  der  vor  keinem  Risiko  und  vor  keinen  Gefahren 
zurückschrickt,  scheidet.  Man  darf  nicht  ausser  acht  lassen,  dass  die 
Spekulation  sich  nur  auf  die  zu  erwartende  Preisdifferenz  erstreckt, 
und  dass  die  absolute  Höhe  der  Preise  für  sie  gleichgültig  ist  Der 
Spekulant  kann  überzeugt  sein,  dass  der  Preissturz  in  mehr  oder 
minder  naher  Zeit  unausbleiblich  ist.  Das  geht  ihn  aber  garnichts 
an;  es  interessiert  ihn  nur,  wie  hoch  der  Preis  eines  bestimmten  Wert- 
papiers oder  einer  Ware  morgen,  in  acht  Tagen,  nach  einem  Monat  sein 
wird.  Wenn  sich  auf  dem  Markte  hohe  Preise  festgesetzt  haben,  kann 
die  Spekulation,  wenn  auch  die  Preise  nach  allgemeiner  Anerkennung 
in  der  Zukunft  fallen  müssen,  kühn  а  la  hausse  spielen,  in  der  Hoff- 
nung, die  Profite  vor  dem  Eintritt  einer  Reaktion  zu  realisieren. 
„Jetzt  oder  nie"  —  das  ist  die  Devise  eines  jeden  Unternehmers,  um- 
somehr  die  des  vSpekulanten ,  im  Momente  günstiger  Konjunktur. 
Alle  wissen,  wie  kurz  diese  Momente  sind,  was  noch  mehr  alle  ver- 
anlasst, mit  grösster  Eile  die  günstige  Konjunktur  auszunutzen,  an 
der  allgemeinen  aufsteigenden  Bewegung  teilzunehmen. 

Kein  Wunder,  dass  diese  allgemeine  Bereitwilligkeit,  die  Ge- 
schäfte auszudehnen,  Waren  oder  Börsenpapiere  zu  erhöhten  Preisen 
zu  kaufen  in  der  Hoffnung,  sie  zu  noch  grösseren  Preisen  wiederzu- 
verkaufen, zu  einer  äussersten  Spannung  des  Kredits,  zu  einem  Börsen- 
schwindel, einer  Gründermanie  und  schliesslich  zu  einem  Krach  führt. 
Alles  hat  sein  Ende  —  der  Kredit  lässt  sich  ausdehnen,  aber  der 
übermässig  ausgedehnte  Kredit  muss  schliesslich  platzen.  Die  Preise 
mögen  sich  infolge  der  sanguinischen  Stimmung  des  Marktes  eine  lange 
Zeit  auf  einer  anormalen  Höhe  halten;  früher  oder  später  müssen  sie 
aber  in  Uebereinstimniung  mit  den  realen  Verhältnissen  des  Ange- 
botes und  der  Nachfrage  kommen.  Aufgeblasene  Unternehmungen, 
schlecht  fundierte  Fabriken,  nach  deren  Produkten  keine  Nachfrage 
vorhanden  ist,  Eisenbahnen,  auf  denen  man  nichts  zu  transportieren 
hat,  können  sich  eine  Zeit  lang  mittels  des  Börsenspiels  halten;  die 
Stunde  der  Vergeltung  muss  aber  früher  oder  später  schlagen.  Der 
Aufschwung  endigt  mit  einem  Niedergang,  der  Spekulationsschwindel 


—      249     — 

mit   einer  Panik,    und   je  heftiger  der   Schwindel   war,   desto   stärker 
muss  die  Panik  sein. 

Die  periodischen  Schwankungen  der  Industrie  stehen,  nach  einer 
richtigen  Bemerkung  von  Juglar,  in  einem  unmittelbaren  Zusammen- 
hang mit  den  periodischen  Schwankungen  der  Warenpreise.  Die 
Jahre  des  Aufschwunges  sind  Jahre  der  hohen  Preise,  die  Jahre  der 
Geschäftsstockung  —  Jahre  der  niedrigen  Preise.  Die  Handelkrisis  oder 
die  Geschäftsstockung  kommt  zum  Ausdruck  und  hat  ihre  unmittelbare 
Ursache  in  dem  Sinken  der  Warenpreise.  Die  Erklärung  der  perio- 
dischen Veränderungen  der  Warenpreise  muss  zugleich  eine  Erklärung 
der  Periodicität  der  Krisen  sein. 

Nach  allem  Gesagten  kann  diese  Erklärung  keine  Schwierig- 
keiten mehr  bieten.  Der  Aufschwung  der  Industrie  wird  dadurch 
hervorgerufen,  dass  die  in  den  vorangegangenen  Jahren  angehäuften 
Leihkapitalien,  die  die  latente  Kaufkraft  der  Gesellschaft  darstellen, 
verausgabt  werden  und  eine  neue  Nachfrage  nach  Waren  schaffen. 
Infolge  dessen  steigen  die  Preise.  Das  Steigen  der  Preise  über- 
schreitet bei  einer  günstigen  Lage  des  Marktes  rasch  die  normalen 
Grenzen  und  artet  in  eine  Spekulation  aus,  auf  die  ein  Krach  folgt. 
Eine  Reaktion  müsste  aber  unvermeidlich  auch  in  jenem  Falle  ein- 
treten, wenn  das  Steigen  der  Preise  nicht  so  bedeutend  wäre,  um  einen 
Krach  hervorzurufen. 

Das  früher  akkumulierte  Kapital  muss  doch  einmal  verbraucht 
werden.  In  Phasen  des  Aufschwungs  wird  das  neue  stehende  Kapital 
der  Gesellschaft  geschaffen.  Die  ganze  gesellschaftliche  Industrie 
nimmt  eine  eigenartige  Richtung  an:  die  Erzeugung  der  Produktions- 
mittel wird  in  den  Vordergrund  gerückt.  Eisen,  Maschinen,  Instru- 
mente, Schiffe,  Baumaterialien,  werden  in  viel  grösseren  Mengen  als 
früher  gefordert  und  hergestellt.  Am  Ende  ist  das  neue  stehende 
Kapital  fertig:  neue  Fabriken,  neue  Schiffe,  neue  Häuser  sind 
gebaut,  neue  Eisenbahnlinien  sind  ausgeführt.  Da  vermindern  sich 
aber  die  Neugründungen.  Die  Nachfrage  nach  allen  Materialien, 
welche  die  Elemente  des  stehenden  Kapitals  bilden,  erfährt  eine 
Einschränkung.  Die  Einteilung  der  Produktion  hört  auf  proportionell 
zu  sein:  Maschinen,  Instrumente,  Eisen,  Ziegelsteine,  Bauholz  werden 
weniger  als  früher  verlangt,  weil  die  Neugründungen  abgenommen 
haben.  Da  aber  die  Produzenten  der  Produktionsmittel  ihr  Kapital 
aus  ihren  Unternehmungen  nicht  herausziehen  können  und  zudem 
erfordert  die  Grösse  des  angelegten  Kapitals  in  der  Form  der 
Bauten,  Maschinen   u.  s.  w.    eine   Fortführung  der  Produktion  (sonst 


—       250       — 

wirft  das  müssig  dastehende  Kapital  keine  Zinsen  ab),  so  entsteht 
eine  Ueberproduktion  der  Produktionsmittel.  Infolge  der  Abhängig- 
keit aller  Produktionszweige  von  einander  wird  die  partielle  Ueber- 
produktion zu  einer  allgemeinen  —  die  Preise  aller  Waren  sinken, 
und  es  tritt  eine  allgemeine  Geschäftsstockung  ein. 

Es  ist  übrigens  klar,  dass  jede  Verringerung  der  Neugründungen 
eine  Störung  der  Proportionalität  in  der  Einteilung  der  gesellschaft- 
lichen Produktion  hervorrufen  muss.  Die  gesellschaftliche  Nachfrage 
erfährt  eine  Aenderung,  und  das  Gleichgewicht  der  Nachfrage  mit 
dem  Angebot  kann  nicht  mehr  bestehen.  Da  aber  die  Neugründungen 
eine  Nachfrage  nicht  nur  nach  den  Produktionsmitteln,  sondern  auch 
nach  den  Konsumtionsmitteln  der  Arbeiter  schaffen,  so  muss  gleich- 
falls eine  Ueberproduktion  in  den  Konsumtionsmittel  herstellenden 
Produktionszweigen,  sowie  in  den  Produktionsmittel  erzeugenden  In- 
dustrien, eintreten  ^). 

Die  Ueberproduktion  wird  allgemein  —  dennoch  ist  sie  keines- 
falls mit  einem  absoluten  Uebertreffen  der  Konsumtionskraft  der  Ge- 
sellschaft durch  deren  Produktivkräfte  gleichbedeutend.  Und  das  ist 
dadurch  bewiesen,  dass  einige  Jahre  nach  der  Krisis  viel  grössere 
Warenmassen  einen  Absatz  finden  —  die  Absatzstockung  ist  keine 
chronische  Erscheinung.  Der  Grund  dieser  allgemeinen  Ueber- 
produktion (welche  jahrelang  dauern  kann  und  thatsächlich  dauert) 
liegt  also  im  Mangel  an  Proportionalität  zwischen  verschiedenen  Pro- 
duktionszweigen. Die  Störungen  im  Gebiete  des  Geld-  und  Kredit- 
verkehrs sind  bloss  sekundäre  Erscheinungen,  welche  auf  Grundlage 
dieses  Mangels  an  Proportionalität  entstehen. 

Aber  auch  unabhängig  von  der  Einwirkung  der  Verringerung 
der  Neugründungen  auf  die  Nachfrage  nach  den  Waren  wird  die 
gesellschaftliche  Produktion  infolge  des  Aufschwungs  immer  mehr 
und  mehr  unproportionell  wegen  dem  ungleichmässigen  Wachstum 
verschiedener  Produktionszweige.  Die  Ausdehnung  der  Produktion 
in  verschiedenen ,  Industrien  erfolgt  zu  solchen  Zeiten  fast  unabhängig 
von  realen  Verhältnissen  der  Nachfrage,  lediglich  aus  Spekulations- 
rücksichten und  unter  dem  Einfluss  der  Börsenmanöver.  Eine  stärkste 
Ausdehnung  erfahren  diejenigen  Industrien,  welche  der  Börsenspeku- 


i)  Meine  Krisentheorie  hat  trotz  ganz  anderer  theoretischer  Grundlage  manches 
gemeinsam  mit  den  Ausführungen  Hobson's  in  seiner  Schrift  „The  Problem  of  the  Un- 
employed".  Dazu  sei  bemerkt,  dass  meine  Theorie  schon  im  Jahre  1894  (also  vor  Hob- 
son)  in  der  ersten  russischen  Auflage  dieses  Buches  dargestellt  worden  ist. 


--      251       — 

lation  das  beste  Material  liefern.  So  kommt  es,  dass  am  Ende  der 
aufsteigenden  Phase  des  industriellen  Cyklus  jede  Proportionalität  in 
der  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  fehlt  und  nur  durch 
eine  Vernichtung  eines  Teiles  des  Kapitals  der  zu  stark  angewachsenen 
Produktionszweige  wiederhergestellt  werden  kann. 

So  folgt  eine  allgemeine  Geschäftsstockung  auf  einen  allgemeinen 
Geschäftsaufschwung  und  der  industrielle  Cyklus  geht  aus  der  gün- 
stigen in  die  ungünstige  Phase  über.  Während  der  ungünstigen 
Phase  wird  das  freie  Leihkapital  akkumuliert;  es  folgt  eine  neue 
Epoche  des  Aufschwungs,  wo  dieses  Kapital  verausgabt  wird,  was 
mit  einer  Krisis  endigt,  und  derselbe  Lauf  beginnt  von  neuem. 

Die  Wirkung  dieses  ganzen  Mechanismus  kann  man  mit  der 
Arbeit  einer  Dampfmaschine  vergleichen.  Die  Rolle  des  Dampfes 
im  Cylinder  spielt  die  Akkumulation  des  freien  Leihkapitals;  wenn 
der  Druck  des  Dampfes  auf  den  Pumpenstempel  eine  bestimmte 
Grösse  erreicht,  wird  der  Widerstand  des  Pumpenstempels  über- 
wunden, der  Pumpenstempel  bewegt  sich,  geht  bis  zum  Ende  des 
Cylinders,  für  den  Dampf  eröffnet  sich  ein  freier  Ausgang,  und  der 
Pumpenstempel  kehrt  nach  seinem  alten  Platz  zurück.  Ebenso  dringt 
das  sich  akkumulierende  freie  Leihkapital,  nachdem  es  eine  gewisse 
Grösse  erreicht  hat,  in  die  Industrie  ein,  setzt  sie  in  Bewegung,  es 
wird  verausgabt  und  die  Industrie  kommt  wieder  in  den  früheren 
Zustand.  Es  ist  natürlich,  dass  unter  solchen  Bedingungen  die  Krisen 
sich  periodisch  wiederholen  müssen.  Die  kapitalistische  Industrie 
muss  stets  denselben  Kreis  der  Entwickelung  durchlaufen. 

Das  Vorhandensein  des  Aussenhandels  macht  diesen  Prozess  zu 
einem  noch  komplizierteren.  Für  ein  Land  wie  England,  das  enorme 
Warenmengen  aus  dem  Auslande  bekommt,  ist  der  auswärtige  Markt 
unbedingt  notwendig.  In  England  wird  das  freie  Leihkapital  sehr 
rasch  akkumuliert,  dessen  Verwandlung  aber  in  produktives  Kapital 
in  England  selbst  unmöglich  ist,  ohne  eine  entsprechende  Vermehrung 
der  Nachfrage  nach  englischen  Eabrikaten  im  Auslande.  Dieses 
Hindernis,  worauf  schon  Sismondi  in  den  Nouveaux  Principes 
d'Economie  Politique  hingewiesen  hat,  wird  in  folgender  Weise 
überwunden.  Wenn  die  Akkumulation  des  englischtm  Leihkapitals 
eine  gewisse  Grösse  erreicht,  wird  dieses  Kapital  auf  folgende  Weise 
angelegt:  ein  Teil  desselben  bleibt  im  Lande  und  verwandelt  sich  in 
produktives  Kapital,  ein  anderer  Teil  fliesst  nach  dem  Auslande  in 
der  Form  von  Anleihen  zu  produktiven  oder  unproduktiven  Zwecken, 
Beteiligung  an  verschiedensten  Unternehmungen  u.  s.  w.    Diese  Emi- 


—        252        — 

gration  des  Kapitals  auf  den  auswärtigen  Markt  ist  in  England 
ein  ständiges  Symptom  des  industriellen  Aufschwunges.  Aber  das 
emigrierende  Kapital  geht  für  die  englische  Industrie  nicht  verloren. 
Es  schafft  im  Auslande  eine  Nachfrage  nach  englischen  Waren,  und 
so  findet  derjenige  Teil  des  nationalen  Kapitals,  der  zu  Hause  ge- 
blieben ist,  eine  produktive  Anlage.  Nachdem  aber  die  freien  Leih- 
kapitalien in  England  erschöpft  werden  und  nach  dem  Auslande  ab- 
zufliessen  aufhören,  verliert  das  Ausland  die  Kaufmittel  zum  Ankauf 
englischer  Waren.  Es  folgt  eine  Absatzstockung,  und  eine  Handels- 
krisis bricht  aus. 

Der  auswärtige  Handel  hat  die  wahren  Ursachen  der  früheren 
englischen  Krisen  verdunkelt.  In  den  ersten  Jahrzehnten  dieses  Jahr- 
hunderts litt  unter  den  Krisen  am  meisten  die  Baumwollindustrie, 
eine  Industrie,  die  nicht  Produktionsmittel,  sondern  Konsumtionsmittel 
herstellt.  Trotzdem  wurde  früher  wie  jetzt  die  Phase  des  Auf- 
schwungs durch  die  Schaffung  neuen  stehenden  Kapitals  bedingt. 
Da  aber  England  im  Besitze  des  industriellen  Monopols  war  und 
zugleich  der  Export  der  Produktionsmittel,  wegen  ihrer  relativen 
Schwerfälligkeit,  bei  der  schwachen  Anwendung  des  Dampfes  im 
Verkehrswesen  auf  ungeheure  Schwierigkeiten  stiess  (die  Ausfuhr  der 
Maschinen  aus  England  war  noch  obendrein  bis  zum  Jahre  1842  ver- 
boten), so  ist  es  natürlich,  dass  die  Vermehrung  der  Nachfrage  nach 
Waren  im  Auslande,  durch  die  mit  der  Hilfe  der  englischen  Kapi- 
talien erfolgten  Neugründungen  hervorgerufen,  zur  Folge  hatte,  dass 
aus  England  nicht  Produktionsmittel,  sondern  andere  Fabrikate,  haupt- 
sächlich Gewebe,  exportiert  wurden.  So  ging  der  Krisis  von  1825 
eine  bedeutende  Ausdehnung  der  Ausfuhr  englischer  baumwollener 
Gewebe  nach  Central-  und  Südamerika  voran.  Woher  war  aber  in 
Amerika  die  Nachfrage  nach  englischen  Geweben  gestiegen?  Weil 
der  Zufluss  der  englischen  Kapitalien  zur  Bildung  einer  Menge  neuer 
Unternehmungen,  zu  Neugründungen  in  diesem  Lande  geführt  hatte, 
was  eine  Vermehrung  der  Nachfrage  nach  allen  Waren,  darunter 
auch  nach  Geweben,  verursachte.  Heute  hat  England  das  industrielle 
Monopol  verloren,  der  Transport  der  Produktionsmittel  bietet  zugleich 
nicht  dieselbe  Schwierigkeit  wie  früher,  und  wir  wessen  ja,  dass  die 
bedeutendsten  Schwankungen  in  der  neuesten  Zeit  gerade  bei  der 
Erzeugung  und  der  Ausfuhr  der  Produktionsmittel  beobachtet  werden. 

Die  kapitalistische  Welt  ist  ihren  eigenen  Gesetzen  unterworfen, 
die  mit  elementarer  Kraft  wirken.  Der  sogenannte  gesunde  Menschen- 
verstand ist  ein  schlechter  Leiter  für  das  Verständnis  dieser  Gesetze. 
Vom    Standpunkt    des    gesunden    Menschenverstandes   ist    die    gesell- 


—     253     — 

schaftliche  Produktion  ein  Mittel  zur  gesellschaftlichen  Konsumtion. 
In  Wirklichkeit  besteht  in  der  kapitalischen  Wirtschaft  gerade  ein 
umgekehrtes  Verhältnis  zwischen  der  gesellschaftlichen  Produktion  und 
Konsumtion.  Nicht  die  Konsumtion  beherrscht  in  der  kapitalischen 
Wirtschaft  die  Produktion,  sondern  die  Produktion  beherrscht  die 
Konsumtion.  Die  Phasen  des  industriellen  Cyklus  werden  nicht 
durch  die  Gesetze  der  Konsumtion,  sondern  durch  die  der  Produk- 
tion bedingt.  Nicht  deswegen  dehnt  sich  die  Produktion  in  der 
Phase  des  Aufschwamgs  aus,  weil  in  dieser  Phase  der  Konsum  wächst; 
umgekehrt,  der  Konsum  w^ächst  in  dieser  Phase  gerade  aus  dem 
Grunde,  weil  die  Produktion  sich  erweitert.  Die  kapitalistische  Welt  ist 
ein  in  Entwickelung"  begriffenes  und  ausserordentlich  kompliziertes 
System,  dessen  Atome  die  einzelnen  menschlischen  Individuen  sind. 
Jedes  einzelne  Individuum  wird  in  seiner  wirtschaftlichen  Thätigkeit 
\юп  seinem  persönlichen  Interesse  geleitet;  für  jeden  Teilnehmer  der 
Produktion  ist  der  Konsum  der  Zweck  und  die  Produktion  das 
Mittel.  Aber  aus  dem  Zusammenwirken  der  individuellen  und  von 
einander  unabhängigen  Willen  entsteht  etwas  qualitativ  Neues,  der 
organische  Komplex  der  kapitalistischen  Wirtschaft,  das  uiibewusste, 
von  keinem  Willen  geleitete,  von  keinem  Gedanken  durchdrungene, 
trotzdem  aber  zusammenhängende  und  seinem  eigenen  Gesetze  unter- 
worfene Ganze.  Die  Gesetze  der  Bewegung  dieses  Komplexes  werden 
nicht  durch  die  Willen  der  einzelnen  ihn  bildenden  menschlischen 
Individuen  bestimmt,  umgekehrt  ist  jedes  einzelne  Individuum  diesen 
Gesetzen  unterworfen.  Auf  Grundlage  des  Widerspruches  zw^ischen 
den  Zielen  und  Bestrebungen  lebendiger  menschlicher  Persönlichkeiten 
und  den  von  diesen  Zielen  unabhängigen  Gesetzen  des  kapitahstischen 
Komplexes,  der  den  Interessen  des  Individuums  keine  Rechnung  trägt, 
auf  dieser  Grundlage  entstehen  die  Widersprüche  der  kapitalistischen 
Wirtschaftsordnung.  Den  fundamentalsten  von  diesen  Widersprüchen 
bildet,  wie  bereits  gezeigt,  der  Widerspruch  zwischen  der  kapitalisti- 
schen Produktion  als  einfachem  Mittel  der  Verwertung  und  des  Wachs- 
tums des  Kapitals  und  der  Produktion  als  Mittel  der  Befriedigung 
der  Bedürfnisse  des  Menschen.  Aus  dem  Vorhandensein  dieses 
Widerspruches  geht  aber  die  beschränkte  historische  Rolle  des  Kapi- 
talismus klar  hervor:  die  kapitalistische  Gesellschaft  ist  eine  Klassen- 
gesellschaft, die  kapitalistische  Organisation  der  Wirtschaft  ist  eine 
Wirtschaftsorganisation  im  Interesse  nicht  der  gesamten  Bevölkerung, 
sondern  nur  ihrer  unbedeutenden  Minorität  —  der  Besitzer  der  Pro- 
duktionsmittel.    Daher    muss    die    w^eitere    Entwickelung    der    kapita- 


—     254     — 

listischen  Wirtschaft  zu  ihrer  Umwandlung  in  eine  höhere  Form 
führen,  die  dieses  Widerspruches  entkleidet  sein  wird.  Die  Organi- 
sation der  Volkswirtschaft  muss  ebenso  planmässig,  von  einem  ein- 
heitlichen Gedanken  durchdrungen,  und  im  Interesse  ihres  vSubjekts, 
der  Gesellschaft,  aufgebaut  werden,  wie  planmässig,  zielbewusst  und 
im  Interesse  ihres  Subjekts,  des  Individuums,  die  Privatwirtschaft 
heute  aufgebaut  ist.  Solche  Wirtschaftsorganisation  heisst  aber 
Sozialismus. 


II.  Teil. 


Die  sozialen  Wirkungen  der 
Handelskrisen. 


KAPITEL  I. 


Der  Einfluss  des  industriellen  Cyklus  auf  das 

Volksleben. 


I.  Periodische  Schwankungen  im  englischen  Volksleben  während  des 
zweiten  Viertels  des  Jahrhunderts.  —  Allgemeine  Charakteristik  der  ökonomischen 
Lage  der  englischen  Bevölkerung  zu  dieser  Zeit.  —  Ursachen  der  Verarmung  der  breiten 
Massen  der  Bevölkerung.  —  Die  Handweber.  —  Die  periodischen  Schwankungen  im  Volks- 
leben im  Zusammenhang  mit  den  Handelskrisen.  —  Der  Einfluss  des  neuen  Armengesetzes. 
—  Die  Unstätigkeit  der  Beschcäftigung.  —  Massnahmen,  projektiert  von  der  Kommission 
des  Jahres  1830.  —  II.  Schwankungen  im  Volksleben  während  der  50er  und 
60er  Jahre.  —  Der  Baumwollhunger.  —  Der  Jorkshire  Streik  von  1858.  —  Die  Be- 
deutung der  industriellen  Schwankungen  für  Unternehmer  und  Arbeiter.  —  III.  ScliAvan- 
kungen  während  der  neuesten  Zeit.  —  Die  Veränderung  im  Charakter  dieser  Schwan- 
kungen. —  Die  relative  Stabilität  der  Löhne.  —  Die  Bedeutung  in  dieser  Hinsicht  der 
Gewerkvereine. 

Nach  der  materialistischen  (genauer,  der  ökonomischen)  Ge- 
schichtsauffassung besteht  das  bestimmende  Moment  der  historischen 
Entwickelung  in  der  Wirtschaftsentwickelung.  ,,Die  ökonomische 
Struktur  der  Gesellschaft,  sagt  Marx,  bildet  die  reelle  Basis,  worauf 
sich  ein  juristischer  und  politischer  Ueberbau  erhebt."  Wäre  das  richtig, 
so  hätte  der  industrielle  Cyklus  nicht  ohne  einen  Einfluss  auf  den 
allgemeinen  Lebensgang  des  englischen  Volkes  sowie  auf  die  soziale 
Treschichte  Englands  bleiben  können.  Das  Vorhandensein  dieses 
Einflusses  wäre  zugleich  ein  Argument  für  die  Richtigkeit  der 
genannten  Theorie  des  historischen  Prozesses,  wenigstens  für  das 
gegebene  historische  Milieu  und  die  gegebene  Epoche. 

Der  zweite  Teil  der  vorliegenden  Arbeit  wird  der  Feststellung 
der  Bedeutung  des  industriellen  Cyklus  als  eines  sozialen  Faktors 
gewidmet  sein.  Zunächst  werden  wir  versuchen,  den  Einfluss  der 
Schwankungen  der  Industrie  auf  die  ökonomische  Lage  der  breiten 
Massen    der    englischen  Bevölkerung   und   auf   einige  elementare  Er- 

Tugan-Baraiiowsk y,  Die  Handelskiisen.  17 


—     258     — 

scheinungen  des  Volkslebens  zu  schildern.  Darauf  werden  wir  die 
bedeutsamsten  sozialen  Bewegungen  in  England  beschreiben,  die 
durch  die  Krisen  und  die  Arbeitslosigkeit  verursacht  sind. 


I. 

Periodische  Schwankungen   im  englischen  Voll<sleben  während 
des  zweiten  Viertels  des  Jahrhunderts. 

Wir  wissen  ja  schon,  dass  das  zweite  A^iertel  dieses  Jahrhunderts 
durch  das  Zusammenfallen  einer  raschen  Entwickelung  der  Industrie 
und  der  Technik  mit  einer  Verarmung  der  breiten  Volksmassen 
in  England  charakterisiert  ist.  Die  Reform  der  Armengesetze  im 
Jahre  1834  hat  die  Zahl  der  Paupers  vermindert,  zugleich  aber  den 
Notstand  unter  den  Arbeitern  vergrössert.  Die  ökonomische  Lage 
der  englischen  Arbeiter  hat  sich  besonders  verschlechtert  gegen  das 
Ende  der  30er  und  zu  Beginn  der  40er  Jahre.  In  der  berühmten 
Schrift  von  Engels:  „Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England" 
sind  zahlreiche  Berichte  von  Augenzeugen  zusammengestellt  über  die 
entsetzlichen  hygienischen  Lebensverhältnisse  der  englischen  Arbeiter 
in  den  grossen  Industriecentren,  wo  die  elenden  Wohnungen  der 
Arbeiter  unter  allerhand  Schmutz  dicht  zusammengedrängt  wurden. 
Die  Wohnungseinrichtung  der  unteren  Klassen  der  Arbeiterbevölke- 
rung, ihre  Nahrung,  Kleidung,  alles  bewies  einen  äussersten  Grad 
der  Not  und  des  Elends.  „Zu  allen  Zeiten,  sagt  in  der  genannten 
Schrift  Er.  Engels,  ausgenommen  in  den  kurzen  Perioden  höchster 
Blüte,  muss  die  englische  Industrie  eine  unbeschäftigte  Reserve  von 
Arbeitern  haben,  um  eben  während  der  am  meisten  belebten  Monate 
die  am  Markte  verlangten  Massen  von  Waren  produzieren  zu  können. 
Diese  Reserve  ist  mehr  oder  minder  zahlreich,  je  nachdem  die  Lage 
des  Marktes  minder  oder  mehr  die  Beschäftigung  eines  Teiles  der- 
selben veranlasst  .  .  .  Diese  Reserve,  zu  der  während  der  Krisis  eine 
ungeheure  Menge  und  während  der  Zeitabschnitte,  die  man  als 
Durchschnitt  von  Blüte  und  Krisis  annehmen  kann,  noch  immer  eine 
gute  Anzahl  gehören,  das  ist  die  „überzählige  I5evölkerung"  Englands, 
die  durch  Betteln  und  Stehlen,  durch  Strassenkehren ,  Einsammeln 
von  Pferdemist,  Fahren  mit  Schubkarren  oder  Eseln,  Herumkökern 
oder  einzelne  gelegentliche  kleine  Arbeiten  eine  kümmerliche  Existenz 
fristet."     (S.   12g  der  ersten  Auflage.) 

Diese  Charakteristik  von  Engels  stimmt  mit  den  Aussagen 
anderer  Zeitgenossen  vollkommen  überein.     Als  Beispiel  können  wir 


—    -259     — 

eine  Aeusserung  von  D.  Tuckett  anführen,  einem  bürgerlichen 
Oekonomen  der  40  er  Jahre,  welcher  der  freien  Konkurrenz  das  Wort 
redet  und  durchaus  nicht  geneigt  ist,  alles  in  düsterem  Lichte  zu 
sehen:  „Die  folgende  Beschreibung,  sagt  Tuckett,  giebt  eine  un- 
parteiische und  zutreffende  Charakteristik  der  gegenwärtigen  Lage 
jenes  Teiles  der  britischen  Bevölkerung,  der  von  der  Arbeit  in 
Manufakturen  lebt.  Bei  normaler  Lage  des  Handels  befindet  sich 
ungefähr  der  dritte  Teil  der  Bevölkerung  in  entsetzlichstem  Elend 
nnd  dem  Hungertode  nahe.  Ein  anderes  Drittel  dieser  Bevölkerung 
oder  vielleicht  noch  mehr  verdient  kaum  mehr  als  die  gewöhnlichen 
Landarbeiter,  und  nur  ein  knappes  Drittel  bekommt  für  seine  Arbeit 
Löhne,  die  ein  auskömmliches  Leben  und  einigen  Komfort  ermög- 
lichen." 1) 

Nach  Simmonds  und  Miller  hatte  in  den  30er  und  40er 
Jahren  ein  grosser  Teil  der  Bevölkerung  der  Stadt  Glasgow  offenbar 
keine  anderen  Subsistenzmittel  als  Diebstahl  und  Prostitution.  Dr.  Kay 
sagt  dasselbe  über  Manchester  aus''^).  Diese  Zeugnisse  könnten  wir 
beliebig  vermehren,  das  ist  jedoch  überflüssig,  da  sie  alle  mehr  oder 
weniger  dasselbe  wiederholen. 

Wenden  wir  uns  den  statistischen  Daten  über  die  Bewegung 
der  Arbeitslöhne  in  England  in  den  verschiedenen  Industriezweigen 
während  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  zu,  so  sehen  wir, 
dass  in  der  Arbeiterklasse  zwei  scharf  von  einander  geschiedene 
Gruppen  vorhanden  waren.  Die  Löhne  der  Fabrikarbeiter  nahmen 
nicht  zu,  sie  sanken  aber  auch  nicht  bedeutend.  Sind  auch  die  Geld- 
löhne der  Fabrikarbeiter  im  allgemeinen  im  Vergleich  zum  Anfang 
des  Jahrhunderts  zurückgegangen,  so  darf  man  doch  nicht  vergessen, 
dass  das  englische  Geld  während  des  Krieges  mit  Napoleon  bedeu- 
tend entwertet  war;  die  Preise  der  Mehrzahl  der  Konsumtionsmittel 
der  Arbeiterklasse  waren  während  dieses  Krieges  sehr  hoch,  be- 
sonders die  Getreidepreise.  Daher  konnten  die  realen  Löhne,  gleich- 
zeitig mit  dem  Sinken  der  Geldlöhne,  steigen.  Das  ist  eben  der  Fall 
gewesen  mit  den  Löhnen  der  Fabrikarbeiter  und  überhaupt  aller  ge- 
lernten Arbeiter,  während  die  realen  Löhne  der  ungelernten  Arbeiter 
sanken. 

Die  in  der  Grossproduktion  beschäftigten  Arbeiter  bildeten  mit 
den  gelernten  Arbeitern  überhaupt  denjenigen  Teil  der  städtischen  Be- 

1)  J.  D,  Tuckett,  А  History  of  the  Past  &  Present  State  of  the  Labouring  Popu- 
lation. 2  vol.  London  1846,  I,  S.  595.  Dieses  Werk  bildet  eine  der  umfangreichsten  Unter- 
suchungen über  die  Lage  der  englischen  Arbeiterklasse  in  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts. 

2)  Tuckett,  I,  S.  443. 

17* 


2бо        

völkernng,  von  dem  Tuckett  sagt,  dass  er  ein  auskömmliches 
Dasein  führt  und  sich  einigen  Komfort  erlauben  kann.  In  einer 
ganz  anderen  Lage  befand  sich  aber  die  übrige  Masse  der  Arbeiter, 
die  Arbeiter  in  der  Kleinproduktion,  die  Landarbeiter,  die  ungelernten 
Arbeiter  u.  s.  w.  Ihre  Lage  hat  sich  zum  Beginn  dieses  Jahrhunderts 
stark  verschlechtert  und  verschlechterte  sich  fortgesetzt  während 
einiger  darauffolgender  Jahrzehnte. 

Besonders  schwer  gestaltete  sich  die  Lage  der  Handweber, 
deren  Zahl,  wie  oben  gesagt,  in  Grossbritannien  eine  Million  erreichte. 
Mit  jedem  Jahr  sanken  ihre  Löhne.  Der  P'abrikant  Grimshaw  hat 
auf  Grund  der  Handelsbücher  seiner  Unternehmung  der  Parlaments- 
kommission von  1833  ausführliche  Daten  über  das  Einkommen  der 
Handweber  und  ihre  notwendigen  Lebensausgaben  im  Flecken 
Barroford,  in  der  Umgegend  von  Colne  mitgeteilt;  diese  Daten  er- 
gaben, dass  in  den  Jahren  1820 — 33  das  Einkommen  der  Handweber 
beinahe  um  die  Hälfte  gesunken  war  und  zu  Beginn  der  30er 
Jahre  kaum  die  notwendigsten  Ausgaben  für  Nahrung  und  Wohnung 
deckte,  und  auch  das  nur  unter  der  Voraussetzung',  dass  die  Arbeit 
während  des  ganzen  Jahres  nicht  aufhörte.^)  Thatsächlich  bildeten 
aber  die  Jahre,  wo  es  uiumterbrochen  Arbeit  gab,  eine  seltene  Aus- 
nahme; gewöhnlich  mussten  die  Handweber  während  einiger 
Wochen,  wenn  nicht  Monate,  im  Jahre  aus  Mangel  an  Arbeit  müssig 
bleiben.  Es  ist  schwer ,  sich  vorzustellen ,  in  welcher  Weise  sie 
ihre  Existenz  noch  aufrechterhalten  konnten.  Oben  wurde  auf  die 
Einschränkung  des  inneren  Marktes  für  die  Produkte  der  englischen 
Industrie  hingewiesen.  Die  Berechnungen  von  Grimshaw  erklären 
diese  Thatsache  vollkommen.  Hunderttausende  der  englischen  Be- 
völkerung hatten  keine  bestimmten  Geldmittel,  um  sich  Kleidung  zu 
kaufen.  Kein  Wunder,  dass  der  Gesamtwert  der  baumwollenen  Ge- 
werbe, die  in  England  verkauft  wurden,  nicht  wuchs,  sondern  von 
Jahr  zu  Jahr  sank. 

Infolge  der  grossen  Anzahl  der  Handweber  (es  waren  ihrer 
mehr  als  alle  Fabrikarbeiter  zusammengenommen)  musste  das  rasche 
Sinken  ihrer  Einkommen  die  Aufmerksamkeit  der  öffentlichen 
Meinung  und  der  Regierung  auf  sich  lenken.  Das  Parlament  setzte 
wiederholt  Kommissionen  ein,  die  die  Ursachen  dieser  Erscheinung 
untersuchen  und  Mittel  zu  ihrer  Beseitigung  finden  sollten.  Diese 
Kommissionen    haben    ein   reichhaltiges  Material   gesammelt,    welches 


i)   Report    from    the    Select    Committee    on    Manufactures ,    Commerce   and    Shipping, 
1833.     Minutes  of  Evidence.     Aussage  von  James  Grimshaw,  S.  602. 


—       201        — 

die  schlimmsten  Befürchtungen  der  Pessimisten  bestätigte.  Der 
Parlamentsbericht  von  1841  giebt  eine  sehr  gute  Charakteristik  der 
Lage  der  Handweber  im  Vereinigten  Königreich  gegen  das  Ende 
der  30  er  Jahre. 

Am  schlechtesten  hatten  es  die  Weber,  die  baumwollene  und 
seidene  Gewebe  herstellten  ^).  In  Lancashire,  dem  Centrum  der 
Baumwollin dustrie,  wo  die  Fabrikarbeiter  verhältnismässig  bedeu- 
tende Löhne,  nicht  selten  mehr  als  i  Pfund  pro  Woche,  erhielten, 
übertraf  der  gewöhnliche  Wochenlohn  einer  Weberfamilie,  die  mit 
Produktion  von  baumwollenen  Geweben  beschäftigt  war,  nicht  ein- 
mal 6 — g  Schilling-).  Die  Löhne  der  Wollweber  in  Jorkshire  waren 
doppelt  so  hoch.  Aber  in  demselben  Jorkshire  befanden  sich  die 
Weber  der  leinenen  Stoffe  genau  in  einem  solchen  Elend  wie  die 
Lancashirer  Weber.  Ihre  Lage  beschreibt  der  Fabrikant  R.  Dewes 
folgendermassen:  „Die  Lage  dieser  Weber  ist  eine  überaus  traurige. 
Sie  erleiden  viele  Entbehrungen.  Oft  können  gesunde,  erw^achsene 
Arbeiter,  die  Tag  und  Nacht  arbeiten,   sich  nicht  den  Tagesunterhalt 

verdienen,  weil  die  Löhne  ungenügend  sind Die  private  Wohlthätig- 

keit   hilft  ihnen    viel,    aber   auch  sie  reicht  nicht  für   alle    aus"  .  .  .  .^) 

Fast  dasselbe  sagen  auch  die  Aufseher  der  Armenhäuser,  z.  B. 
der  Aufseher  Laidler  aus:  „Ich  war  5  Jahre  lang  Aufseher.  Die 
Weber  leiden  im  allgemeinen  grosse  Not.  Sie  haben  sich  vielfach 
an  mich  gewendet.  Das  geschah  aus  der  äussersten  Not.  Aus 
meiner  fünfjährigen  Erfahrung  w^eiss  ich,  dass  sie  nicht  faule  Leute 
sind;  im  Gegenteil,  sie  sind  im  allgemeinen  sehr  unternehmend  .  .  . 
Die  Kinder  der  Weber  haben  oft  so  wenig  Kleider,  dass  sie  nichts 
anzuziehen  haben,  worin  sie  nach  der  Schule  gehen  könnten"*^). 


i)  Ihre  Wohnungen  z.  B.  werden  von  einem  Mitglied  der  Kommission  Symons  folgen- 
dermassen beschrieben :  ,,Die  Wohnungen  der  Weber  für  baumwollene  ОелуеЬе  beweisen  am 
besten,  wie  sehr  sie  leidt-n.  ...  In  den  meisten  Häusern  ist  die  Wohnungseinrichtung  eine  kläg- 
Hche  und  armsehge.  Ihre  Lagerstätten  bestehen  aus  Stroh  .  .  .  manchmal  fand  ich  bei  ihnen 
einige  Reste  von  schönen  Möbeln,  die  von  besseren  Tagen  her  mit  einem  Stolz  aufbewahrt 
Averden,  den  die  Armut  nicht  hat  ersticken  können  und  der  in  einem  traurigen  Kontrast  zu 
dem  elenden  Mittagessen  und  zu  dem  erschöpften  Aussehen  der  Eigentümer  steht".  (Hand- 
loom  Weavers.  Report  of  the  Commissioners,  1841,  S.  6);  Aussage  des  Kommissionsmit- 
gliedes Fletcher:  ,,In  der  Umgegend  von  Bulkington  und  Foleshill  leben  die  Familien 
der  ЛУеЬег  gewöhnlich  im  grössten  Schmutz  und  Elend,  schlafen  ohne  Bettstellen  und  ohne 
Bettwäsche  .  .  .  ihre  Nahrung  besteht  vorwiegend  aus  Brot  und  Butter,  Kartoffel  und  etwas 
Thee ;  in  seltenen  Fällen  kommen  noch  einige  Stückchen  Schweinefett  hinzu"  (Report,  S.  7). 

2)  Vgl.  Report  on  the  Hand-loom  Weavers,  Tabellen  auf  der  S.   3. 

3)  A.  a.  O.,  Aussage  von  R.  Dewes,  S.  9. 

4)  A.  a.  O.,  Aussage  von  Laidler,  S.    10. 


—       2б2        — 

Freilich  litten  nicht  alle  Weber  in  gleichem  Masse:  in  den 
Fällen,  wo  die  Herstellung  einer  besonderen  Art  von  Gewebe  eine 
besondere  Geschicklichkeit  oder  physische  Kraft  erforderte,  waren 
die  Weberlöhne  bedeutend  höher.  Aber  die  grosse  Mehrzahl  der 
Weber,  die  keine  besonderen  Vorzüge  aufwiesen,  waren  zur  äussersten 
Not  gebracht,  wie  wir  dies  an  den  eben  angeführten  Beispielen 
gesehen  haben.  Diese  Not  war  um  so  schwerer  zu  ertragen,  als 
sie  auf  die  Periode  einer  Blüte  des  Handwebergewerbes  Ende  des 
i8.  Jahrhunderts  folgte.  Die  Erinnerung  an  die  früheren  glück- 
lichen Tage,  wie  die  Abneigung  gegen  die  Fabrikarbeit  verhinderte 
die  Handweber,  ihr  Gewerbe  zu  verlassen.  Sie  konnten  es  nicht 
begreifen,  warum  dieselbe  Beschäftigung  früher  so  gut  und  jetzt  so 
schlecht  belohnt  wurde,  und  hofften  auf  die  Rückkehr  der  alten 
Zeiti). 

In  der  That  standen  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  die  Handweber 
an  der  vSpitze  der  englischen  Arbeiterklasse'').  Die  wichtigsten  Er- 
findungen dieses  Jahrhunderts,  die  „Jenny"  von  Hargreaves  und  die 
„Mule"  von  Crompton  stammen  von  einfachen  Webern  her.  Aber 
Intelligenz  und  Bildung  haben  die  Handweber  nicht  gehindert,  aus 
der  ersten  Reihe  der  Arbeiterklasse  in  die  allerletzte  hinabzusinken. 
Offenbar  mussten  dafür  irgend  welche  Ursachen  vorhanden  sein, 
deren  Wirkung  so  mächtig  war,  dass  einzelne  Personen  gegen  sie 
nichts  thun  konnten. 

Nicht  minder  schlimm  war  die  Lage  der  Strumpfwirker  (frame- 
work  knitters).  Die  Löhne  in  diesem  Industriezweige  satiken  un- 
unterbrochen während  der  Jahre  iBii  —  1842  und  gingen  da  insge- 
samt um  35  Yo  herunter^).  Die  Strumpfwirker  arbeiteten  wie  die 
Handweber  bei  sich  zu  Hause,  sie  hatten  aber  keine  eigenen  Web- 
stühle und  mieteten  solche  bei  den  Unternehmern.  Die  Verschlechterung 
ihrer  Lage  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  in  diesem  Produktions- 
zweige keine  hervorragenden  Erfindungen  gemacht  worden  waren, 
die  die  Nachfrage  nach  Arbeitern  verringern  könnten.  Die  An- 
wendung von  Dampfmaschinen  zur  Strumpfwarenproduktion  war 
wohl  technisch  möglich,  aber  die  niedrigen  Löhne  der  Handarbeiter 
verhinderten  das  Eindringen  der  Maschine.  Trotzdem  sanken  die  У 
Löhne  der  Strumpfwirker  so  sehr,  dass  zu  Beginn  der  40er  Jahre 
ihr  durchschnittliches  wöchentliches  Einkommen  in  Leicestershire,  dem 


i)  A.  a.  O.,  Aussage  von  Dr.  Mitchel,  S.  39. 

2)  A.  a.  O.,  Aussage  von  Kingon,  S.  43. 

3)  Cunningham,  The  Growth  of  English  Industry  in  Modern  Times,  S.   618. 


—        2бЗ        — 

Centrum  der  Strumpfwarenproduktion,  zwischen  4  und  8  Schilling  pro 
Woche  schwankte  1). 

Die  Löhne  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  waren  auch  stark 
gefallen.  Im  Jahre  1830  sind  die  Landarbeiter  im  Süden  Englands, 
von  Armut  und  Not  getrieben,  bis  zu  einem  offenen  Aufruhr  ge- 
gangen: sie  überfielen  die  Meierhöfe  der  Farmers  und  verbrannten  die 
Gebäude  und  die  landwirtschaftlichen  Vorräte.  Im  Jahre  1844  ver- 
anstalteteten  die  poHtischen  Gegner  des  Grafen  Shaftesbury,  eines 
der  Führer  der  Partei  des  zehnstündigen  Arbeitstages,  eine  Enquete 
über  die  wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiter  in  seinen  Gütern.  Es 
stellte  sich  heraus,  dass  der  durchschnittliche  Wochenlohn  eines  er- 
wachsenen männlichen  Arbeiters  nur  7  bis  8  Schilling  betrug,  und 
dass  das  Einkommen  der  ganzen  Familie  keine  10  vSchilling  pro  Woche 
übertraf.  Das  Einkommen  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  näherte 
sich  also  demjenig'en  der  Handweber 2).  Wakefield  hatte  also  Recht, 
die  Landarbeiter  paupers,  und  vSadler,  sie  weisse  Sklaven  zu  nennen. 

Wodurch  ist  nun  diese  Verarmung  der  breiten  Massen  der  arbeiten- 
den Bevölkerung  in  England  hervorgerufen  worden?  Der  Bericht  der 
Kommission  von  1841  weist  als  auf  die  Hauptursache  der  niedrigen 
Löhne  der  Handweber  auf  die  ausserordentliche  Leichtigkeit  der  Er- 
lernung dieses  Gewerbes  hin.  Frauen  und  Kinder  könnten  nach 
einigen  Monaten  Lehrzeit  ebenso  geschickte  Weber  werden  w^ie  er- 
wachsene Männer.  Das  führte  zur  Vermehrung  des  Arbeitsangebots 
im  Handwebergewerbe  und  zum  Fallen  der  Löhne  ^).  Eine  solche 
Erklärung  scheint  ganz  richtig  zu  sein,  sie  erklärt  aber  in  der  Wirk- 
lichkeit sehr  wenig:  die  in  ihr  angegebene  Ursache  hat  ebenso  gut 
im  vorigen  wie  in  diesem  Jahrhundert  gewirkt,  trotzdem  war  jedoch 
im  vorigen  Jahrhundert  die  Handweberei  ein  sehr  gut  bezahltes  Ge- 
werbe, in  diesem  Jahrhundert  dagegen  konnte  sie  eine  selbständige 
Existenz  der  Arbeiter  nicht  sichern.  Offenbar  mussten  in  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  ausser  der  Leichtigkeit  des  Erlernens 
der  Weberei  noch  irgend  welche  andere  spezielle  Ursachen  wirken, 
die  früher  nicht  gewirkt  hatten  und  die  in  diesem  Jahrhundert  die 
wirtschaftliche  Lage  nicht  nur  der  Handweber,  sondern  auch  aller 
anderen  Arbeiter,  die  zur  Gruppe  der  sogenannten  „unqualifizierten 
Arbeit"  (unskilled  labour)  gehören,  so  stark  herabgesetzt  haben.  Diese 
Ursachen    waren    sehr   kompliziert    und   mannigfaltig,   man    kann    sie 


i)  J.  Ward,  Workmen  and  Wages.     London   1868,  S.  34. 

2)  Marx,  Das  Kapital,  Bd.  I,  3.  Auflage,  S.   698. 

3)  Report  on  the  Hand-loom  Weavers,  S.  39 — 44. 

4)  A.  a.  O.  S.  39—44- 


—      264      — 

aber  alle  durch  einen  Begriff  zusammenfassen,  den  der  Entwicklung 
der  kapitalistischen  Wirtschaft. 

Im  18.  Jahrhundert  herrschte  in  England  die  Kleinproduktion 
vor,  die  Verhältnisse  zwischen  den  Unternehmern  und  den  Arbeitern 
durch  Gesetz  oder  Sitte  festgestellt  wurden  und  die  gesellschaft- 
liche Arbeitsteilung  war  nur  wenig  entwickelt.  Noch  zu  Beginn 
dieses  Jahrhunderts  betrieb  der  kleine  Pächter  neben  dem  Ackerbau 
verschiedene  Hülfsge werbe,  und  der  kleine  Gewerbetreibende  betrieb 
nebenbei  auch  Ackerbau.  Die  kapitalistische  Wirtschaft  hat  eine 
vollständige  Trennung  der  landwirtschaftlichen  von  der  Rohstoffe 
veredelnden  Industrie  herbeigeführt.  Die  Pächter  und  die  Land- 
arbeiter haben  ihre  Hülfsgewerbe  verloren;  die  Handspindel,  die 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  die  Hauptstütze  der  bäuerlichen  Familie 
bildete,  konnte  die  Konkurrenz  mit  der  Maschine  nicht  bestehen. 
Ebenso  unrentabel  wurden  auch  alle  anderen  kleinen  Gewerbe,  und 
die  Landwirte  wurden  genötigt,  sich  Existenzmittel  nur  durch  land- 
wirtschaftliche Arbeit  zu  verschaffen. 

Die  Vernichtung  der  Hülfsgewerbe  beraubte  die  landwirtschaft- 
liche Bevölkerung  einer  sehr  wichtigen  Einnahmequelle  und  ver- 
minderte ihren  Wohlstand.  Die  Einzäunung  der  Gemeindefelder,  das 
Zusammenschlagen  kleiner  Farmen  zu  grossen  und  die  Lichtung  der 
Güter  (Clearing  of  Estates)  haben   in    derselben    Richtung   eingewirkt. 

Wie  die  Ackerbautreibenden  die  Hülfsbeschäftigungen  in  der 
Rohstoffe  veredelnden  Industrie  verloren  haben,  so  haben  die  Arbeiter 
in  dieser  den  Ackerbau  als  Nebenbeschäftigung  verloren.  Zu  Beginn 
dieses  Jahrhunderts  betrieben  die  Yorkshirer  Tuchmeister  gleichzeitig 
mit  der  Tuchproduktion  auch  Ackerbau  i).  Um  die  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  hatten  die  Handweber,  die  wie  früher  auf  dem 
Lande  lebten  und  bei  sich  zu  Hause  arbeiteten,  den  Ackerbau  schon 
ganz  aufgegeben,  und  in  den  wenigen  Fällen,  wo  sie  fortfuhren,  sich 
für  Feldarbeit  zu  verdingen,  erwiesen  sie  sich  als  sehr  schlechte 
Landarbeiter  ^).  Die  Spinnerei  und  Weberei  als  Hülfsgewerbe  konnten 
mit  neuen  Produktionsmethoden  nicht  konkurrieren,  ebenso  wie  die 
Hülfsbeschäftigung  mit  dem  Ackerbau  die  Konkurrenz  mit  den 
grossen  Farmen  und  ihrer  intensiven  Wirtschaft  nicht  aushalten 
konnte. 


i)  Vgl.  den  höchst  interessanten  Report  on  the  State  of  the  Woolen  Manufactures  of 
England,    1806.     In    der   Umgegend   von    Leeds    gab    es    gegen    3500    kleiner    selbständiger 
Tiichproduzenten,  welche  in   Dörfern  lebten  und  ihr  eigenes  Land  besassen  oder  kleine  Par 
Zellen  von  3—15   Acres  pachteten. 

2)  Report  on  the  Hand-loom  Weavers,  S.  9. 


—       2б5       — 

Also  war  die  durch  die  Entwickelung  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft verursachte  gesellschaftliche  Arbeitsteilung  die  erste  Zeit  gleich 
unvorteilhaft  sowohl  für  die  Landarbeiter,  wie  für  die  Arbeiter  der 
Rohstoffe  veredelnden  Industrie,  solange  diese  in  der  Kleinproduktion 
Beschäftigung  fanden. 

Die  Verringerung  der  Verdienste  der  Handweber  war  eine  natür- 
liche Folge  der  Entwickelung  der  Grossindustrie.  Aber  es  wäre  ein 
Irrtum  anzunehmen,  dass  die  einzige  Ursache  des  vSinkens  ihrer  Löhne 
in  der  Konkurrenz  der  Webmaschine  bestand.  Diese  Ursache  war 
zweifellos  von  grosser  Bedeutung,  aber  sie  war  nicht  die  einzige  und 
sogar  nicht  einmal  die  Hauptursache.  Das  ist  am  besten  daraus  zu 
ersehen,  dass  die  Löhne  der  Handweber  bereits  zu  sinken  begannen,  als 
die  mechanischen  Webstühle  in  England  noch  keine  grosse  Verbreitung 
gefunden  hatten.  Wie  oben  gesagt,  beginnt  die  rasche  Verbreitung 
der  mechanischen  Webstühle  in  England  und  Schottland  erst  seit 
dem  Ende  der  20  er  Jahre,  die  Löhne  der  Handweber  sanken  aber 
mit  geringen  Schwankungen  schon  seit  Beginn  dieses  Jahrhunderts. 
Dasselbe  wird  auch  dadurch  bewiesen,  dass  die  Löhne  der  Strumpf- 
wirker, die  keinen  Kampf  gegen  die  Maschinen  zu  führen  hatten, 
nicht  minder  tief  gefallen  sind  als  die  Löhne  der  Handweber. 

Im  grossen  und  ganzen  gingen  in  England  in  der  ersten 
Hälfte  des  ig.  Jahrhuлderts  die  Löhne  aller  Arbeiter,  deren  Arbeit 
keine  lange  Lehrzeit  erforderte,  herunter.  Die  Entwickelung  des 
Kapitalismus  hat  die  Bildung  einer  überschüssigen  Bevölkerung  mit 
sich  gebracht,  die  das  P^ngland  der  früheren  Zeit  nicht  kannte.  Die 
Landarbeiter,  die  den  Ackerbau  aufgeben  mussten,  die  kleinen  selb- 
ständigen Produzenten,  die  die  Konkurrenz  mit  der  Grossindustrie 
nicht  aushalten  konnten,  die  Arbeiter,  die  von  der  Maschine  ver- 
drängt wurden,  die  Vertreter  von  allerhand  Berufsarten,  die  unter 
den  früheren  Verhältnissen  geblüht  hatten  und  sich  an  die  neuen 
nicht  anpassen  konnten,  alle  diese  Massen  der  arbeitenden  Bevölke- 
rung haben  ihre  früheren  Einkünfte  verloren  und  mussten  sich  in 
denjenigen  Industrien  anhäufen,  die  allen  zugänglich  waren.  Die 
Bildung  einer  überschüssigen  Bevölkerung,  die  ihre  übliche  Beschäf- 
tigung verliert  und  eine  neue  suchen  muss,  ist  eine  gewöhnliche  Folge 
aller  grossen  industriellen  Umwälzungen.  Schon  die  geographische 
Verlegung  der  Industriecentren  musste  Tausende  um  ihren  Verdienst 
und  ihre  Einkünfte  bringen.  Die  englische  Industrie  hat  aber,  im 
Zusammenhang  mit  der  Veränderung  der  Produktionsmethoden,  ihren 
Schauplatz  mehrere  Male  gewechselt.  Ursprünglich  war  sie  auf  dem 
Lande    zerstreut;    nach   der   Erfindung   der   Arkrightschen    Maschine, 


—        2б6       — 

die  durch  Wasser  in  Bewegung  gesetzt  wurde,  begannen  die  Baum- 
wollspinnfabriken,  sich  um  die  Ufer  der  Flüsse  zu  gruppieren;  mit 
der  Ausbreitung  der  Dampfmotoren  rückten  die  Fabriken  den 
Städten  näher,  und  zwar  nach  kohlenreichen  Gegenden,  Aus  den 
östlichen  und  südlichen  Grafschaften  Englands  wanderte  die  Industrie 
nach  den  nördlichen,  Lancashire,  Cheshire  und  Yorkshire^).  Der 
Prozess  der  Verlegung  der  Industrie  kam  in  der  intensiven  Ent- 
wickelung  derselben  in  einigen  Gegenden  und  in  ihrem  Verfall  in 
anderen  zum  Ausdruck.  Die  Bevölkerung  aber  hat  immer  die 
Neigung,  in  den  gewohnten  Ortschaften  und  in  dem  gewohnten 
Milieu  zu  bleiben ;  daher  kommt  eine  neue  geographische  Einteilung 
der  Bevölkerung,  eine  Auswanderung  aus  den  untergehenden  In- 
dustriecentren in  die  neu  emporkommenden  erst  dann  zu  stände,  wenn 
die  Not  gross  und  die  Emigration  direkt  notwendig  wird. 

Das  Elend  der  englischen  Handweber  stand  in  einem  auffallenden 
Konstrast  zum  relativen  Wohlstand  der  Weber  auf  dem  europäischen 
Kontinent.  Nach  den  von  der  genannten  Kommission  gesammelten 
Daten  war  in  allen  den  b'ällen,  wo  die  Weberei  mit  Ackerbau  ver- 
bunden war,  die  Lage  der  Weber  eine  befriedigende.  In  der  vSchweiz 
und  in  Oesterreich  fuhr  die  Weberei  fort,  ein  Hülfsgewerbe  für  die 
Ackerbautreibenden  zu  sein  und,  obwohl  die  Löhne  der  Weber  nicht 
hoch  waren,  so  litten  dieselben  keine  Not.  Nur  in  Irland  war  die 
Lage  der  Handweber  noch  schlechter  als  in  England;  aber  hier 
bildete  die  Weberei  auch  die  einzige  Beschäftigung   der   Handweber. 

Die  Handweber  selbst  führten  ihre  Notlage  hauptsächlich  auf 
zwei  Ursachen  zurück:  auf  die  Verbreitung  der  mechanischen  Web- 
stühle und  auf  den  Mangel  an  Gewerkvereinen  unter  den  Hand- 
webern. Der  Bericht  der  Kommission  von  1841  stellte  dagegen 
nicht  nur  entschieden  in  Abrede,  dass  die  iVrbeitervereine  die  Löhne 
erhöhen  können,  sondern  er  behauptete  sogar,  dass  die  Arbeiter- 
vereine die  Tendenz  hätten,  die  Löhne  herabzudrücken-).  Heute  steht 
es  ausser  Zweifel,  dass  die  Arbeiter  und  nicht  die  Parlaments- 
kommission Recht  hatte.  Der  Mangel  an  Organisation  unter  den 
Handwebern  hat  das  Sinken  ihrer  Löhne  begünstigt.  Die  niedrigen 
Löhne  der  Handweber  hemmten  die  Entwickelung  der  Grossindustrie, 
da  es  nicht  rentabel  war,  die  Handarbeit  durch  Maschinenarbeit  zu 
ersetzen,  solange  die  Arbeitshände  so  billig  waren.  Also  erhielt  der 
Mangel    der    Organisation    unter    den    Arbeitern    die    Hausindustrie 


i)  Cunningham,  S.  468. 

2)  Report  on  the  Hand-loom  Weavers,  S.  31. 


—     267     — 

künstlich  aufrecht  trotz  der  technischen  Rückständigkeit  derselben' 
zum  grossen  Schaden  der  arbeitenden  Klasse. 

In  welcher  Weise  haben  nun  die  industriellen  Krisen  auf  die 
Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England  eingewirkt?  Um  diese  P'rage 
mit  genauen  Zahlen  zu  beantworten,  habe  ich  die  folgende  Methode 
angewandt:  ich  habe  einige  landwirtschaftliche  und  einige  industrielle 
Grafschaften  zur  Untersuchung  gewählt  uud  die  Veränderungen  in 
der  Zahl  der  Heiraten,  der  Verbrechen,  der  Sterbefälle  und  der 
Kosten  der  Armenverpflegung  von  Jahr  zu  Jahr  in  den  Grafschaften 
der  einen  und  der  anderen  Art  verglichen.  Da  die  Krisen  mit  ihrer 
ganzen  Last  auf  die  Industrie  und  Handel  treibenden  Klassen  der 
Gesellschaft  drücken,  während  die  landwirtschaftliche  Bevölkerung 
von  ihnen  fast  gar  nicht  berührt  wird,  muss  notwendigerweise, 
wenn  die  Krisen  wirklich  ein  bedeutender  Faktor  im  Volksleben 
Englands  sind,  dieser  Unterschied  in  der  Verschiedenheit  der  Be- 
wegung der  betreffenden  statistischen  Daten  für  die  industriellen 
und  die  landwirtschaftlichen  Grafschaften  zum  Vorschein  kommen. 
Die  von  mir  untersuchte  Gruppe  der  landwirtschaftlichen  Grafschaften 
besteht  aus  den  folgenden:  Cambridge,  Essex,  Norfolk,  Oxford,  Lin- 
coln, Sufifolk  und  Wilts,  in  denen  die  landwirtschaftliche  Bevölkerung 
die  industrielle  überwiegt;  die  Gruppe  der  industriellen  Grafschaften 
besteht  aus  Lancaster  und  Chester,  in  welchen  Grafschaften  der 
grösste  Teil  der  Baumwollindustrie  Englands  konzentriert  ist  und 
die  landwirtschaftliche  Bevölkerung  nur  sehr  schwach  vertreten  ist. 
Hier  sind  die  bezüglichen  Daten : 

Die  Verteilung  der  Bevölkerung  nach  dem  Beruf  betrug  im 
Jahre   1841^) 

j       ,     j    •  .    1    r^i.  X.  nach  dem  Prozentsatz  der  Bevölkerung, 

in  den  landwirtscnaftlicnen  ,,      .       «ii.  ^  г.     ■       tltji        j-j 

P     ^    ,    ^  welche  im  Ackerbau        welche  im  Handel  und  in  der 

beschäftigt  ist  Industrie  beschäftigt  ist 

Cambridge  39,3  25,3 

Essex  39,0  24,6 

Lincoln  40,0  24,4 

Norfolk  32,8  31,8 

Oxford  34,9  29,2 

Suffolk  38,2  27,5 

WUts  36,3  27,9 

in  den  industriellen  Grafschaften 

Lancaster  6,7  62,9 

Chester  15,1  52,9 

Die  Bevölkerungszahl  beider  Gruppen  war  in  den  40  er  Jahren 
beinahe    die    gleiche,    und    zwar    betrug    sie    im    Jahre    1841    in    den 

I)  Vgl.  Porter,  The  Progess  of  the  Nation,    1847,  S.  58. 


2б8       — 


7  landwirtschaftlichen  Grafschaften  2  02  i  490  und  in  den  2  industriellen 
Grafschafte  П2062364. 


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153 



103 

0,735 

195 

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45 

0,209 

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98 

0,473 

1824 

149 

— 

I  10 

0,735 

192 

— 

49 

0,210 

1б5 

— 

108 

0,469 

1825 

151 

— 

107 

0,734 

201 

— 

167 

0,222 

171 



I  12 

0,474 

1826 

149 

— 

43 

0,752 

174 

— 

187 

0,307 

i6i 

— 

124 

0,508 

1827 

149 

— 

42 

0,722 

175 

194 

0,256 

162 

• 

45 

0,489 

1828 

154 

— 

108 

0,746 

193 

■  — 

49 

0,230 

165 

— 

123 

0,484 

1829 

140 

— 

49 

0,802 

173 

— 

173 

0,253 

43 



47 

0,54 

1830 

146 

— 

125 

0,785 

177 

— 

47 

0,243 

156 

— 

41 

0,505 

183I 

153 

— 

43 

0,804 

174 

— 

171 

0,243 

161 



140 

0,54 

1832 

^54 

— 

146 

0,764 

184 

— 

187 

0,2l8 

165 



47 

0,488 

1833 

154 

— 

141 

0,707 

186 

— 

166 

0,198 

168 



140 

0,446 

1834 

152 

— 

46 

0,634 

189 

— 

194 

0.170 

168 

— 

45 

0,385 

1835 

136 

— 

151 

0,532 

187 

— 

174 

0,148 

162 



141 

0,323 

1836 

133 

— 

164 

0,418 

192 

— 

42 

0,45 

162 



140 

0,271 

1837 

129 

— 

170 

0401 

161 

— 

180 

0,152 

149 

— 

46 

0,274 

1838 

— 

203 

45 

0,442 

— 

261 

167 

0,149 

44 

224 

41 

0,289 

1839 

141 

198 

158 

0,439 

177 

288 

186 

0,159 

49 

219 

158 

0,295 

1840 

43 

210 

165 

0,439 

171 

300 

224 

0,168 

156 

228 

173 

0,303 

I84I 

145 

207 

49 

0,438 

171 

258 

239 

0,181 

44 

2l6 

174 

0,309 

1842 

141 

202 

183 

0,442 

47 

257 

265 

0,216 

147 

217 

194 

0,324 

1843 

139 

197 

180 

0,431 

179 

254 

218 

0,193 

42 

212 

181 

0,305 

1844 

142 

205 

174 

0,448 

193 

243 

168 

0,172 

160 

24 

160 

0,305 

1845 

149 

201 

141 

0,443 

21 1 

246 

49 

0,171 

172 

209 

145 

0,296 

1846 

148 

208 

41 

0,467 

200 

308 

169 

0,187 

172 

230 

148 

0,314 

1847 

142 

213 

162 

0,508 

169 

342 

187 

0,290 

158 

247 

168 

0,362 

1848 

149 

212 

49 

0,454 

177 

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205 

0,249 

49 

230 

175 

0,335 

1849 

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216 

47 

0,425 

189 

294 

173 

0,203 

162 

251 

48 

0,307 

1850 

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201 

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172 

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Im  Durch- 

schnitt 

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206 

H7 

0,579 

183 

274 

182 

0,205 

161 

224 

47 

0,384 

Die  relativen  Zahlen  dieser  Tabelle  sind  berechnet  auf  Grund  der  absoluten  Zahlen, 
welche  den  englischen  amtlichen  statistischen  Publikationen  —  Annual  Reports  of  the  Kcgi- 
strar  General  of  Births,  Deathes  and  Marnages  in  England  und  Tables  of  the  Revenue» 
Population,   Commerce  etc.  of  the  United  Kingdom  —  entnommen  sind. 

Diese  Tabelle  zeigt  für  die  Jahre  1822 — 50  die  Zahl  der 
verehelichten  und  die  der   verstorbenen    Personen   auf  je    10  000   der 


i 


—     269     — 

Bevölkerung,  ferner  die  Zahl  der  vor  das  Schwurgericht  ge- 
stellten Personen  auf  je  100  000  der  Bevölkerung,  sowie  die  jähr- 
liche Höhe  der  Armenunterstützung  pro  Kopf  der  Bevölkerung. 
Und  zwar  sind  alle  diese  Daten  sowohl  für  ganz  England,  als  auch 
speziell  für  die  g'enannten  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Graf- 
schaften gegeben.  Auf  Grund  dieser  Daten  sind  die  beigelegten 
Diagramme  zusammengestellt  worden:  das  Diagramm  Nr.  4  bezieht 
sich  auf  die  landwirtschaftlichen  Grafschaften,  das  Diagramm  Nr.  5 
auf  die  industriellen  und  das  Diagramm  Nr.  6  auf  ganz  England. 

Schon  bei  einem  flüchtigen  Blicke  auf  die  beiden  ersten  Dia- 
gramme macht  sich  ein  auffallender  Unterschied  zwischen  ihnen  be- 
merkbar. Das  Diagramm  Nr.  4,  welches  sich  auf  die  landwirtschaft- 
lichen Grafschaften  bezieht,  zeigt  keine  bedeutenden  periodischen 
Schwankungen.  Die  Kurve  der  Eheschliessungen  bleibt  während  der 
ersten  5  Jahre  fast  unverändert;  die  Handelskrisis  von  1825  übt  auf 
sie  keinen  bedeutenden  Einfluss.  In  den  Jahren  1829  und  1830  sinkt 
die  Zahl  der  Eheschliessungen  unter  der  Wirkung  der  Missernten 
dieser  Jahre  (in  dem  Triennium  1826 — 28  betrug  der  Durschschnitts- 
preis  eines  Quarters  Weizen  in  England  ca.  59  Schilling;  im  Jahre 
1829  stieg  er  auf  66  Schilling  und  im  Jahre  1830  auf  64  Schilhng). 
Infolge  der  vorzüglichen  Ernten  des  Anfanges  der  30er  Jahre  steigt 
die  Zahl  der  Eheschliessungen  wieder  bis  auf  die  frühere  Höhe. 

Aber  im  Jahre  1835  sinkt  diese  Zahl  trotz  der  guten  Ernte 
plötzlich,  und  im  Lauf  der  ganzen  nachfolgenden  Zeit  steht  sie  be- 
deutend niedriger  als  am  Anfange  der  20er  und  30  er  Jahre.  Offen- 
bar hat  sich  im  Leben  der  landwirtschaftHchen  Bevölkerung  Eng- 
lands eine  tiefe  Veränderung  vollzogen,  w^elche  auf  die  Zahl  der 
Eheschliessungen  eine  Rückwirkung  ausgeübt  hat.  In  der  That  war 
in  dem  Jahre  1834  bie  berühmte  Reform  des  Armengesetzes  durch- 
geführt worden,  mittels  welcher  die  Urheber  derselben  die  Beseitigung 
des  Pauperismus  bezweckten. 

Die  Unterstützung  der  Familien  der  verarmten  Arbeiter  wurde 
sehr  eingeschränkt,  und  die  Arbeiter,  welche  keine  Mittel  hatten,  um 
ihre  Familie  zu  ernähren,  mussten  mitsamt  derselben  in  Arbeitshäuser 
wandern.  Natürlich  hat  diese  strenge  Massnahme  eine  Abnahme  der 
Eheschliessungen  unter  den  Arbeitern  zur  Folge  gehabt  Die  Mal- 
thusianer  konnten  triumphieren:  es  war  für  die  Vermehrung  der  Be- 
völkerung ein  Hemmschuh  geschaffen.  Das  weitere  Sinken  des  Wohl- 
standes der  arbeitenden  Bevölkerung  in  England  ist  jedoch  durch 
diese  Massnahme  nicht  verhindert  worden. 


—     270     — 

Die  Wirkung  des  neuen  Gesetzes,  welches  in  den  ersten  Jahren 
nach  seiner  Einführung  besonders  streng  gehandhabt  wurde ,  war 
eine  so  einschneidende,  dass  selbst  in  der  von  Missernten  heimge- 
suchten Zeit  Ende  der  30  er  und  Anfang  der  40  er  Jahre  die  Zahl 
der  Eheschliessungen  grösser  war  als  in  den  Jahren  1835 — 37»  welche 
gute  Ernten  hatten,  aber  unmittelbar  der  Einführung  des  Gesetzes 
von  1834  folgten.  Mitte  der  40er  Jahre  steigt  wieder  die  Kurve 
der  Eheschliessungen  unter  dem  Einflüsse  der  guten  Ernten ,  um 
im  Jahre  1847  wieder  zu  sinken;  in  diesem  Jahre  trat  der  Misswachs 
des  Getreides  im  Vereinigten  Königreich  zugleich  mit  dem  durch 
die  Kartoffelkrankheit  verursachten  Verlust  der  gesamten  Kartoffel- 
ernte auf. 

Die  Kurve  der  Sterblichkeit,  welche  auf  unserem  Diagramm  mit 
dem  Jahre  1838  beginnt,  da  erst  seit  dieser  Zeit  eine  regelmässige 
Registrierung  der  Sterbe-  und  Geburtsfälle  in  England  angefangen 
hat,  weist  ebensowenig  Schwankungen  auf  wie  die  Kurve  der  Ehe- 
schliessungen und  bewegt  sich  grösstenteils  im  Gegensatze  zu  der 
letzteren;  ihre  geringen  Schwankungen  beweisen,  dass  die  ökono- 
mische Eage  der  Masse  der  Bevölkerung  in  den  landwirtschaftlichen 
Grafschaften  Englands  sich  von  Jahr  zu  Jahr  wenig  verändert  hat. 
Die  Ernten  und  Missernten  üben  eine  grössere  Wirkung  auf  den 
Profit  des  Pächters  als  auf  die  Löhne  der  Arbeiter,  und  der  Einfluss 
der  Ernte  auf  die  Lage  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  ist  verhältnis- 
mässig gering. 

Die  Kurve  der  KriminaUtät  schwankt  viel  stärker  und  zeigt 
bis  zum  Anfang  der  40  er  Jahre  überdies  eine  merkliche  Aufwärts- 
bewegung. Die  Ursachen  der  Schwankungen  sind  nicht  immer  klar: 
die  Krisis  von  1825  hat  keinen  erkennbaren  Einfluss  auf  die  Ver- 
mehrung der  Verbrechen  ausgeübt.  Die  oben  erwähnte  Reform  der 
Armengesetze  ruft  dagegen  eine  bedeutende  Steigerung  der  Krimi- 
nalität hervor;  das  Gesetz  von  1834  hat  in  den  landwirtschaftlichen 
Grafschaften  nicht  nur  die  Zahl  der  Ehen  verringert,  sondern  zu- 
gleich auch  die  Zahl  der  Verbrecher  vermehrt.  Offenbar  hat  der 
Arme  das  Risiko,  ins  Gefängnis  zu  gelangen,  der  unvermeidlichen  Ы 
Einsperrung  ins  Arbeitshaus  häufig  vorgezogen.  Die  Krisis  von  1836 
hat  ein  Wachstum  der  Verbrechen  bewirkt.  Ueberhaupt  schwankt  || 
die  Kurve  der  Kriminalität  ähnlich  wie  diejenige  der  Sterblichkeit. 
In  den  Jahren  der  Missernten  steigt  die  Kriminalität,  in  Jahren  mit 
guter  Ernte  sinkt  sie. 

Die  Kurve  des  Pauperismus  steigt  Ende  der  20er  Jahre  unter 
dem  Einflüsse  der  Missernten,  um  nach  dem  Erlass  des  neuen  Armen- 


Tugan-B 


Zur  S.  270. 


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Zur  S.  270. 


Diagramm  N0.  4 

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Diagramm  N0.  5 

Industrielle  Grafschaften 

Jahre 


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Diagramm  N0.  6 

England 


Jahre 


1836 
183.^1 
183.1 
1833 
1832 
1831 
1830 
1829 
1828 
1827 
1826 
1825 
1824 
1823 

1850 
1849 
1848 
1847 
1846 

1843 
1842 
1841 
1840 
1839 
1838 
1837 

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Jahre 


Jahre 


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—       27  I       — 

gesetzes  stark  zu  sinken.  In  den  40  er  Jahren  sind  ihre  Schwan- 
kungen gering,  und  nur  im  Tahre   1847   steigt  sie  merklich. 

Das  Gesagte  resümierend,  kommen  wir  auf  Grund  des  Dia- 
grammes  Nr.  4  zu  folgenden  vSchlüssen:  in  der  Lage  der  landwirt- 
schaftlichen Bevölkerung  machten  sich  in  dem  zweiten  Viertel  dieses 
Jahrhunderts  nur  ziemlich  unbedeutende  Schwankungen  bemerkbar 
mit  Ausnahme  derer  der  Kriminalität,  welche  verhältnismässig  be- 
deutend waren  und  vornehmlich  durch  den  Ausfall  der  Ernte  her- 
vorgerufen worden  waren.  Die  Handelskrisen,  welche  nicht  von 
Missernten  begleitet  waren,  übten  keinen  irgendwie  merklichen  Ein- 
fluss  auf  die  Lage  der  landwirtschaftlichen  Klassen  Englands.  So 
blieb  zum  Beispiel  trotz  der  Krisis  von  1825  in  den  landwirtschaft- 
lichen Grafschaften  die  Zahl  der  Eheschhessungen  und  der  Pau- 
perismus beinahe  stationär.  Dasselbe  gilt  von  der  Krisis  des  Jahres 
1836.  Im  Jahre  1847  hat  sich  die  Lage  der  landwirtschaftlichen  Be- 
völkerung verschlimmert,  aber  nicht  unter  dem  Einflüsse  der  Handels- 
krisis, sondern  unter  dem  der  Missernte  des  voraufgegangenen  Jahres. 
Dagegen  hat  die  Reform  der  Armengesetze  eine  sehr  starke  Wir- 
kung auf  die  Lage  der  ländlichen  Bevölkerung  Englands  ausgeübt 
und  eine  Verminderung  der  Zahl  der  Eheschlesisungen  sowie  eine 
Steigerung  der  Zahl  der  Verbrechen  bewirkt. 

Vergleichen  wir  das  Diagramm  Nr.  4  mit  dem  Nr.  5,  welches 
die  Lebensverhältnisse  der  Industriebevölkerung  Englands  charakteri- 
siert, so  bemerken  wir  sofort,  dass  im  Leben  der  industriellen  Klassen 
Englands  viel  grössere  Schwankungen  stattfinden  als  im  Leben  der 
landwirtschaftlichen  Klassen.  Während  des  Trienniums  1823  — 1825, 
in  welchem  der  Handel  und  die  Industrie  Englands  blühten,  steht 
die  Kurve  der  Eheschliessungen  in  den  industriellen  Grafschaften 
hoch  und  erreicht  im  Jahre  1825  das  Maximum  für  das  Jahrzehnt. 
Die  Handelskrise  am  Ende  dieses  Jahres  drückt  sie  sofort  auf  ein 
Niveau  herab,  welches  das  Minimum  des  ganzen  Jahrzehnts  darstellt. 
Die  Reform  der  Armen gesetzgebung  hat  keine  merkliche  Wirkung 
auf  die  Zahl  der  Ehen  in  den  industriellen  Grafschaften  ausgeübt. 
Die  Fabrikarbeiter  waren  gewohnt,  ohne  Kirchspielunterstützungen 
auszukommen,  und  in  den  Industriecentren  hatte  daher  die  Ein- 
schränkung- dieser  Unterstützungen  keinen  solchen  Einfluss  auf  die 
Lage  der  Bevölkerung   wie   in    den  landwirtschaftlichen  Grafschaften. 

In  der  folgenden  Periode  des  Aufschwunges,  1833-36,  be- 
merken wir  ein  starkes  Steigen  der  Kurve  der  Eheschliessungen. 
Im  Jahre  1836  erreicht  die  Ehefrequenz  wieder  das  Maximum  für 
das  ganze  Jahrzehnt.     Im   Jahre   1837  sinkt  unter   dem  Einflüsse   der 


—     272     — 

Krisis  des  люгап gegangenen  Jahres  die  Zahl  der  Eheschliessungen 
stark;  in  diesem  Jahre  ist  sie  die  niedrigste  im  ganzen  Jahrzehnt. 
Im  Jahre  1842  sinken  die  Eheschliessimgen  stark  infolge  der  an- 
dauernden Geschäftsstockung  des  Endes  der  30er  und  des  Anfanges 
der  40er  Jahre.  Die  neue  Epoche  des  Aufschwunges  der  Jahre 
1843 — 45  hat  ein  sofortiges  Wachstum  der  Zahl  der  Eheschliessungen 
zur  Folge,  und  die  Handelskrisis  von  1847  reduziert  wieder  die  Zahl 
der  eingegangenen  Ehen  auf  ein  Minimum. 

Die  Kurve  des  Pauperismus  schwankt  in  offenbarem  Zusammen- 
hang mit  den  Krisen.  Diese  Kurve  zeigt  drei  starke  Steigerungen 
in  den  Jahren  1826,  1842  und  1847,  ^^^  ist  in  jenen  Jahren,  in 
welchen  die  englische  Industrie  die  grössten  Stockungen  erlebte. 
Vergleichen  wir  die  Schwankungen  dieser  Kurve  mit  denen  der 
Ehefrequenz,  so  tritt  der  enge  Zusammenhang  zwischen  beiden  klar 
hervor:  fast  jedes  Mal,  w^enn  die  erste  Kurve  steigt,  sinkt  die  zweite 
und  umgekehrt.  Diese  beiden  Kurven  bilden  zusammen  beinahe 
eine  symmetrische  Figur. 

Die  Kurve  der  wSterblichkeit  in  den  industriellen  Grafschaften 
bewegt  sich  im  umgekehrten  Verhältnis  zu  der  Kurve  der  Ehe- 
schliessungen. In  dem  Triennium  1843  — 1845  sinkt  sie  stark;  im 
Jahre  1846  erfolgt  ein  Steigen,  und  das  Maximum  wird  im  Jahre 
1847  erreicht.  Im  Jahre  1849  wütete  in  England  die  Cholera;  trotz- 
dem war  in  diesem  Jahre  die  Sterblichkeit  in  den  industriellen  Graf- 
schaften Englands  viel  niedriger  als  in  dem  Jahre  1847;  ^^s  will 
sagen,  dass  für  die  Industriebevölkerung  Englands  eine  Handelskrisis 
verderblicher  war  als  eine  Epidemie.  Ueberhaupt  aber  sind  die 
Schwankungen  in  der  Zahl  der  Eheschliessungen  und  der  Sterbefälle 
in  den  industriellen  Grafschaften  viel  stärker  als  in  den  landwirt- 
schaftlichen. 

Die  Kurve  der  Verbrechen  zeigt  eine  ähnliche  Abhängigkeit 
der  Kriminalität  der  Bevölkerung  von  ihrer  ökonomischen  Lage, 
eine  Abhängigkeit,  die  auch  in  anderen  Erscheinungen  des  Volkslebens 
zum  Ausdruck  kommt.  In  den  Jahren  des  Wohlstandes  sinkt  die 
Kriminalität,  in  den  Jahren  der  Krisis  steigt  sie  rasch.  Die  Ge- 
schäftsstockung im  Anfang  der  40er  Jahre  ruft  eine  besonders 
starke  Vermehrung  der  Kriminalität  hervor;  ir  dieser  Zeit  ist  zu 
der  Arbeitslosigkeit  die  politische  Agitation  der  Chartisten  hinzu- 
gekommen, und  die  Zahl  der  Gesetzübertretungen  ist  sehr  stark 
gewachsen. 

Wenn  wir  die  Schwankungen  aller  dieser  vier  Kurven  mit 
denen  der  Kurve  des  englischen  Exportes  auf  dem  Diagramm  Nr.  i 


—      273      — 

vergleichen,  so  bemerken  wir,  dass  die  Kurve  der  Eheschliessungen 
in  derselben  Richtung  schwankt  wie  die  Kurve  des  Exportes,  während 
die  drei  übrigen  Kurven  (die  der  Sterblichkeit,  der  Kriminalität 
und  des  Pauperismus)  sich  in  einer  entgegengesetzten  Richtung  be- 
wegen. Jedesmal,  wenn  der  Export  des  Vereinigten  Königreiches 
sinkt,  vermindert  sich  in  deh  industriellen  Grafschaften  Englands  die 
Zahl  der  Ehen  und  steigt  zugleich  die  Zahl  der  Sterbefälle,  der  Ver- 
brechen und  der  Paupers.  Ueberhaupt  folgen  die  Schwankungen 
aller  Kurven  unseres  Diagramms  offenbar  diesem  Gesetze:  die 
periodischen  Schwankungen  der  englischen  Industrie,  welche  in  akuter 
Form  in  den  Handelskrisen  zum  Ausdruck  kommen,  haben  während 
der  Zeit,  welche  wir  jetzt  betrachten,  eben  solche  periodische  Schwan- 
kungen im  Leben  der  industriellen  Klassen  Englands  hervorgerufen. 
Die  industriellen  Flut  und  Ebbe  ziehen  auch  in  entsprechendem  Ver- 
hältnis Flut  und  Ebbe  der  Eheschhessungen,  der  Sterbefälle,  der 
Kriminalität  u.  s.  w.  nach  sich. 

Der  enge  Zusammenhang  zwischen  den  Schwankungen  der 
einen  und  der  anderen  Art  trat  in  England  in  den  30er — 40er  Jahren 
klar  zu  Tage.  Interessant  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Aussage  eines 
Sheriffs  der  Lanarker  Grafschaft,  eines  gewissen  Alisons,  welche  er 
vor  einer  Kommission  des  Oberhauses  im  Jahre  1848  gemacht  hat. 
Alison  teilte  nämlich  mit,  dass,  wenn  die  englische  Bank  ihren  Dis- 
kontosatz erhöhte,  er  sich  an  die  lokalen  Behörden  in  der  folgenden  Art 
zu  wenden  pflegte:  „Gentlemen,  die  Englische  Bank  erhöht  ihren  Dis- 
kont, ihr  müsst  sofort  Massnahmen  treffen,  um  in  den  Gefängnissen, 
Hospitälern  und  Arbeitshäusern  Platz  für  neu  Ankommende  zu 
schaffen"  ^). 

Das  Diagramm  Nr.  6,  welches  sich  auf  ganz  England  bezieht, 
macht  den  Eindruck  einer  Zusammensetzung  aus  den  beiden  ersten 
Diagrammen.  Die  Schwankungen  der  Kurven  sind  nicht  so  stark 
wie  in  dem  Diagramm  Nr.  5 ,  sie  sind  aber  stärker  als  in  dem 
Diagramm  Nr.  4.  Die  Wirkung  der  Handelskrisen  kommt  ganz  klar 
zum  Ausdruck. 

Das  Diagramm  Nr.  6  zeigt,  wie  auch  die  zwei  vorangegangenen 
Diagramme,  das  vollständige  Fehlen  eines  Fortschrittes  in  der  wirt- 
schaftlichen Lage  der  englischen  Bevölkerung  während  des  zweiten 
Viertels    dieses  Jahrhunderts   an.      Damit   ist   nicht    gemeint,   dass  die 


i)  Vgl.  Report    from    the    Secret    Committee  of  the  House  of  Lords  on  Commercial 
Distress   1848,  Minutes  of  Evidence.     S.  416. 

Tugan-Baranowsky ,  Die  Handelskrisen.  18 


—     274     — 

Lage  der  arbeitenden  Klasse  Englands  diese  Zeit  hindurch  unver- 
ändert blieb.  Im  Gegenteil,  sie  erlitt  sehr  starke  Veränderungen, 
diese  hatten  aber  nicht  einen  fortschreitenden,  sondern  einen  cyklischen 
Charakter. 

Die  Unbeständigkeit  der  Arbeitsgelegenheit  war  für  die  eng- 
lischen Arbeiter  eine  scharfe  Geissei.  Besonders  hatten  von  den 
Krisen  die  Handweber  zu  leiden,  welche  zu  dieser  Zeit  einen  schweren 
Kampf  gegen  die  Maschine  führen  mussten.  Wie  aus  dem  Berichte 
der  parlamentarischen  Kommission  von  1841  über  die  Handweber 
zu  ersehen  ist,  klagten  die  Handweber  Englands  und  Schottlands 
nicht  so  sehr  über  den  niedrigen  Stand  ihrer  Löhne  als  über  die 
häufige  Wiederkehr  von  Geschäftsstockungen,  während  deren  sie 
keine  Arbeit  hatten.  So  äussert  sich  z.  B.  ein  gewisser  Bresson,  ein 
intelligenter  Seiden weber:  „Es  wäre  für  die  Weber  möglich,  aus- 
kömmlich zu  leben,  wenn  sie  jahraus  jahrein  auf  ständige  Arbeit 
rechnen  könnten;  aber  alle  fünf  oder  sechs  Jahre  tritt  eine  Periode  der 
Geschäftsstockung  ein,  und  oft  vergehen  zwei  Jahre,  bevor  der  Handel 
wieder  auflebt.  Der  vorige  Winter  (1836 — 37)  war  einer  der  schlech- 
testen. Das  Wetter  war  sehr  ungünstig,  und  der  Handel  hatte  fast 
ganz  aufgehört  infolge  der  Panik,  welche  die  amerikanischen  Firmen 
erfasst  hatte.  Die  Seidenhändler  konnten  die  Ware  um  keinen  Preis 
loswerden,  und  die  Manufakturbesitzer  stellten  die  Produktion  ganz 
ein.  Tausende  von  Webern  konnten  keine  Beschäftigung  finden  und 
litten  grosse  Not"^). 

Ueber  die  Wollweber,  welche  die  am  besten  bezahlte  Klasse 
der  Weber  bildeten,  bemerkt  einer  der  befragten  Zeugen,  Chapman: 
„Wäre  ihr  Einkommen  ein  konstantes,  so  bezweifle  ich  sehr,  dass,  |У 
wie  erwünscht  ihnen  auch  eine  Besserung  ihrer  Lage  sein  möchte, 
sie  über  dieselbe  klagen  würden.  Leider  finden  aber  die  Weber 
selten  Arbeit".  Dasselbe  sagt  auch  Symons  von  den  schottischen 
Webern:  „In  keinem  einzigen  Zweige  der  Weberei  Schottlands 
finden  die  Arbeiter  ständige  Arbeit;  alle  leiden  stark  unter  den 
periodisch  wiederkehrenden  Geschäftsstockungen,  und  nur  in  wenigen 
Gegenden  Schottlands  hat  ein  bedeutender  Teil  der  Weber  die 
Arbeit  im  vergangenen  Sommer  nicht  verloren;  in  der  That  ist  die 
häufige  Wiederkehr  der  Geschäftsstockungen  ein  wichtiger,  wenn 
auch  nicht  der  einzige  Grund  des  Elendes  der  Hausweber" '^). 


i)  Vgl.  Report  on  tbe  Hand-loom    Weavers.     London    1841,  S.    19. 
2)  A.  a.   O.  S.   20. 


—     275     — 

Die  Handelskrisen  führten  nicht  nur  Schwankungen  im  Ver- 
dienste der  Handweber  herbei,  sondern  sie  haben  auf  die  Weber 
auch  ständig  einen  schädlichen  Einfluss  geübt,  indem  sie  ihr  Lebens- 
niveau herabdrückten,  so  dass  die  Handweber  sich  an  ein  immer 
elenderes  Leben,  welches  dem  verminderten  Arbeitslohn  entsprach, 
gewöhnten.  Bei  den  Handwebern  waren  keine  Gewerkvereine  vor- 
handen, auch  keinerlei  Vereine  für  gegenseitige  Unterstützung  in 
Fällen  der  Not.  Auf  die  isoliert  dastehenden  Weber  drückten  die 
Krisen  und  die  Arbeitslosigkeit  mit  ihrer  ganzen  Last,  und  mit  jeder 
neuen  Krise  wurden  sie  weniger  fähig,  ihre  Interessen  zu  wahren. 
Das  musste  zum  Sinken  ihrer  Löhne  führen.  Ausserdem  wirkte,  wie 
aus  den  Worten  des  den  Arbeitern  sehr  zugeneigten  Dr.  Mitchel 
zu  ersehen  ist,  die  Unthätigkeit  der  Arbeiter  zur  Zeit  der  Krisen 
sehr  schädlich  auf  ihre  Arbeitskraft  und  ihre  Gewohnheiten: 

„Zu  einer  solchen  Zeit,"  sagt  Dr.  Mitchel,  „werden  die  Arbeiter 
durch  die  Not  gewöhnt,  fast  ohne  jedwede  Existenzmittel  zu  leben 
und  es  wird  ihre  geistige  und  körperliche  Energie  ausserordentlich 
geschwächt;  die  Gewohnheit  zur  Faulenzerei,  zum  Nichtsthun  tagaus 
tagein  wird  zur  vorherrschenden  Neigung.  Es  kann  dafür  ein  über- 
zeugendes Beispiel  aus  Braintree  angeführt  werden.  Als  die  Weber 
dieses  Fleckens  nach  einer  gezwungenen  Unthätigkeit  während  einiger 
Monate  im  Jahre  1837  Arbeit  bekamen,  fiel  es  dem  Manufaktur- 
besitzer nach  einigen  Wochen  auf,  dass  die  Weber  jetzt  sehr  wenig 
arbeiteten,  obwohl  sie  keine  andere  Beschäftigung  hatten.  Der 
Unternehmer  sah  sich  infolgedessen  genötigt,  von  den  Arbeitern 
zu  verlangen,  dass  jede  Woche  unbedingt  ein  gewisses  Arbeitsquan- 
tum erledigt  werden  sollte,  die  Weber  lieferten  jedoch,  obgleich 
Geldstrafen  über  sie  verhängt  wurden  und  sie  riskierten,  die  Arbeit 
ganz  zu  verlieren,  weniger,  als  sie  zu  arbeiten  imstande  waren"  ^). 

Die  Kurve  der  Kriminalität  und  des  Pauperismus  auf  dem  Dia- 
gramm Nr.  5  ist  eine  gute  statistische  Illustration  für  die  Engels- 
sche  Theorie  der  industriellen  Reservearmee  des  Kapitalismus.  Jede 
Handelskrise  schleudert  viele  Tausende  von  Arbeitern  aus  der  arbeiten- 
den Klasse  hinaus;  diese  können  nicht  mehr  von  ihrer  Arbeit  leben 
und  gehen  in  die  Reihen  der  Paupers  oder  der  Verbrecher  über. 
Wenn  die  Krisis  vorüber  ist,  der  Handel  sich  von  neuem  belebt  und 
die  Nachfrage  nach  Arbeitern  steigt,  entlassen  die  Gefängnisse  und 
die  Arbeitshäuser  ihre   Bevölkerung.     Nur   dank   dem  Vorhandensein 


i)  A.  a.  O.  S.  21. 

18* 


—     276     — 

eines  ständigen  Ueberschusses  an  Arbeitshänden  vermag  die  kapita- 
listische Industrie  sich  in  Perioden  des  Aufschwungs  so  schnell  aus- 
zudehnen. „Der  charakteristische  Lebenslauf  der  modernen  Industrie, 
die  Form  eines  durch  kleinere  Schwankungen  unterbrochenen  zehn- 
jährigen Cyklus  von  Perioden  mittlerer  Le]:)endigkeit,  Produktion 
unter  Hochdruck,  Krise  und  Stagnation,  beruht  auf  der  beständigen 
Bildung,  grösserer  oder  geringerer  Absorption  und  Wiederbildung  der 
industriellen  Reservearmee  oder  Uebervölkerung.  Ihrerseits  rekrutieren 
die  Wechselfälle  des  industriellen  Cyklus  die  Uebervölkerung  und 
werden  zu   einem  ihrer  energischsten  Reproduktionsagentien"  i). 

Die  ständige  Abwechselung  der  Perioden  des  Aufschwunges 
mit  denen  des  Niederganges  konnte  vorteilhaft  für  einige  Unter- 
nehmer und  Kapitalisten  sein ;  in  den  Perioden  der  Prosperität  heimsten 
sie  bedeutende  Profite  ein,  durch  welche  sie  für  die  Verluste  entschädigt, 
wurden,  die  sie  zur  Zeit  der  Krisen  erlitten  hatten.  Aber  die  Ar- 
beiter hatten  wenig  Vorteil  von  den  Perioden  des  Aufschwunges: 
die  Löhne  der  besser  bezahlten  und  organisierten  Fabrikarbeiter 
stiegen  manchmal,  aber  oft  blieben  sie  unverändert,  obgleich  der 
Profit  der  Unternehmer  gestiegen  war.  Dafür  verminderte  sich  aber 
während  der  Krisen  das  Einkommen  der  Fabrikarbeiter  stark  infolge 
der  Verkürzung  der  Arbeitszeit,  der  Einschränkung  der  Zahl  der 
beschäftigten  Arbeiter  und  des  Sinkens  der  Arbeitslöhne.  Nach  einer 
Krisis  blieben  die  Löhne  während  einer  ganzen  Reihe  von  Jahren 
niedriger,  als  sie  vor  der  Krisis  waren.  Als  Beispiel  kann  man  fol- 
gendes anführen: 

Die  durchschnittlichen  Wochenlöhne^). 

Eine  Baumwollfabrik  in  Hyde  Eine  Wollenfabrik  in  Leicester 


i 


Jahre 

Spinner     I.  Klasse 

Weber 

Wollkämmer 

1821 

35 

sh. 

6  d. 

14  sh. 

18 — 25   sh. 

1826 

35 

n 

— 

13     M 

16—24    „ 

1831 

34 

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9  »» 

12   „ 

14—21     „ 

Eine  Baumwollfabrik  in  Manchester 

Jahre 

Baum  Wollkämmer 
Männer 

Spinner 

Weber 

1845 

13  sh.       8  d. 

12  sh.    —  d. 

9  sh.     9  d. 

1847 

7    »       9  » 

6    „      10  „ 

4    ..     10  n 

1849 

12    „     —  „ 

12    „      —   „ 

9    »      5  " 

l 


1)  K.  Marx,  Das  Kapital,  Bd.  I,  3.  Aufl.,  S.  649. 

2)  Vgl.  Returns  of  Wages,   1887,  S.  8,   15,   12. 


~    277    — 

Im  Jahre  1847  waren  die  Löhne  der  Weber  in  den  Baumwoll- 
fabriken von  Manchester  um  mehr  als  die  Hälfte  gesunken ;  die 
Löhne  der  Spinner  waren  gleichfalls  sehr  stark  heruntergegangen. 
Die  Krisis  von  1825  hat  die  Löhne  der  Fabrikarbeiter  verhältnis- 
mässig nur  wenig  verringert,  aber  es  muss  berücksichtigt  werden, 
dass  das  Arbeitseinkommen  des  Arbeiters  nicht  allein  von  seinem 
Arbeitslohn  abhängt,  sondern  auch  von  der  Zeitdauer,  während  der 
er  beschäftigt  ist,  und  diese  wird  während  der  Krisen  immer  stark 
reduziert.  Die  Schwankungen  der  Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter 
kann  man  aus  folgendem  Beispiele  ersehen: 

Der  Prozentsatz   der  arbeitslosen  Mitglieder  der  Trade 

Union  der  Eisengiesser 

(Ironfounders  of  England,  Ireland  and  Wales) 
(auf  je   100  Unionsmitglieder)  *) 


im  Jahre 

im  Jahre 

1831 

5,8 

1841 

18,5 

1832 

7,1 

1842 

11,0 

1833 

8,1 

1843 

7,4 

1834 

6,2 

1844 

5Д 

1835 

5,4 

1845 

3,9 

1836 

5.0 

184b 

19.3 

1837 

12,4 

1847 

15,7 

1838 

10,5 

1848 

33,4 

1839 

II, I 

1849 

22,3 

1840 

14,8 

1850 

13,8 

An    Unterstützungen  wurden    den    arbeitslosen    Mitgliedern    der 
Union  der  Messerarbeiter  bezahlt  2):  ' 


£ 

£ 

1832 

2,572 

1837 

2,650 

1833 

742 

1838 

2,417 

1834 

^53 

1839 

2,279 

1835 

60 

1840 

3,546 

1836 

40 

1841 

3,003 

Die  Aufeinanderfolge  der  Perioden  des  Aufschwunges  und  der 
(jeschäftsstockung  kommt  in  diesen  Zahlen  deutlich  zum  Ausdruck. 
Ende  der  30  er  und  Anfang  der  40er  Jahre  schwillt  die  Zahl  der 
Arbeitslosen  stark  an,  in  den  Perioden  1834 — 36  und  1843—45  ver- 
mindert sie  sich. 

Die  ständigen  Schwankungen  des  Arbeitseinkommens  der  Ar- 
beiter veranlasste  das  englische  Parlament  im  Jahre   1830  eine  Kom- 


i)  Vgl.    Statistical    Tables    and    Reports    on    Trade   Unions.     Fourth    Report    1891, 

s.  523. 

2)  Vgl.   Report   of   the   National   Association   for    the   Promotion   of   Social    Science 
on  Trades  Societies.      1860,  S.  539. 


—    278    — 

mission  einzusetzen,  welche  die  Aufgabe  hatte,  Mittel  zu  finden,  um 
den  Uebelstand  zu  beseitigen  oder  wenigstens  zu  mildern.  Diese  Kom- 
mission ist  zu  dem  Ergebnis  gelangt,  „1.  dass  in  den  Industriedistrikten 
Englands  in  der  That  bedeutende  Schwankungen  in  der  Beschäftigung 
der  Arbeiter  stattfinden,  was  zu  einer  grossen  Not  unter  denselben 
führe,  2.  dass  der  Arbeiterdurchschnittverdienst  mehrerer  Jahre  bei 
gleichmässiger  Verteilung  desselben  vollständig  genügen  würde,  um 
die  Arbeiter  in  den  Perioden  der  Geschäftsordnung  zu  versorgen"  i). 
Indes  sei  nach  den  Ausführungen  der  Kommission  der  weitaus  grösste 
Teil  der  Textil-  und  Metallindustriearbeiter  gegenwärtig  imi  ganzen 
Königreich  mittellos  und  zur  Zeit  der  Arbeitslosigkeit  unversorgt; 
nur  wenige  besser  bezahlte  Arbeiter  haben  Sparkasseneinlagen,  die 
Mehrzahl  der  Arbeiter  habe  aber  keine  Ersparnisse,  und  wenn  sie 
keine  Arbeit  haben,  seien  sie  genötigt,  ein  schlechteres  Leben  zu 
führen ,  ihren  Kredit  zu  erschöpfen ,  ihre  Kleider  und  Möbel  zu 
verpfänden  und  schliesslich  sich  von  dem  Kirchspiele  unterstützen 
zu  lassen  2). 

Ausser  alldem  führte  nach  der  Meinung  der  Kommission  die 
Not  der  Arbeiter  auch  zu  einem  Missverhältnis  zwischen  dem  Um- 
fang der  Produktion  und  der  Nachfrage  nach  Waren.  Wenn  die 
Nachfrage  nach  Waren  sich  vermindert,  sollte  natürlicherweise  die 
Produktion  eingeschränkt  werden,  indes  hat  die  Notlage  der  Arbeiter 
gerade  zu  dieser  Zeit  manchmal  eine  Erweiterung  der  Produktion 
zur  Folge.  Das  Sinken  der  Löhne  veranlasst  die  Arbeiter,  eine 
grössere  Stundenzahl  am  Tage  zu  arbeiten,  und  verdoppelt  ihre  An- 
strengungen; infolgedessen  kann  die  Warenmasse  anwachsen  zu 
einer  Zeit ,  in  welcher  sie  nach  Massgabe  der  Marktverhältnisse 
eine  Einschränkung  erfahren  müsste.  Desgleichen  kann  für  einzelne 
Unternehmer  die  Erweiterung  der  Produktion  zur  Zeit  des  tiefsten 
Sinkens  der  Arbeitslöhne  vorteilhaft  sein,  obwohl  die  ganze  Unter- 
nehmerklasse darunter  leidet,  da  diese  Erweiterung  der  Produktion  zu 
einer  Verschärfung  der  Krisis  führt,  welche  infolge  der  ständigen 
Ueberfüllung  des  Marktes  mit  Waren  aus  einer  temporären,  vorüber- 
gehenden zu  einer  dauernden,  nahezu  chronischen  wird. 

Wenn  die  Arbeiter  zur  Zeit  der  Krisen  mit  Existenzmitteln 
versorgt  wären ,  würden  ihre  Löhne  nicht  so  stark  heruntergehen 
und   sie  würden    nicht  genötigt   sein,    in    anormaler  Weise   die  Dauer 


i)  Vgl.  Report  from  the  Select  Committee  on  Manufacturers  Employnien  1830,  S.  1 
2)  A.  a.   O.  S.   7. 


—      279     — 

des  Arbeitstages  zu  verlängern.  In  diesem  Falle  könnte  die 
Produktion  zur  Zeit  der  Verminderung  der  Nachfrage  eingeschränkt 
werden,  und  die  Handelskrisen  würden  minder  dauerhaft  und  schwer 
werden.  Die  Kommission  hat  daher  im  Interesse  der  Arbeiter  wie 
der  Unternehmer  den  Voi schlag  gemacht,  dass  von  den  Arbeitern 
Vereine  für  Unterstützung  arbeitsloser  Mitglieder  gebildet  werden. 
Die  Mittel  eines  solchen  Vereines  sollten  aus  freiwilligen  Bei- 
trägen der  Mitglieder  gebildet  werden,  und  jedes  Mitglied  sollte  bei 
Arbeitslosigkeit  das  Recht  auf  eine  Unterstützung  erhalten  im  Be- 
trage der  Summe,  welche  von  ihm  eingezahlt  ist,  mitsamt  den  zuge- 
wachsenen Zinsen. 

Der  Vorschlag  der  Kommission  kam  also  hinaus  auf  die  Bildung 
von  Sparkassen  eigentümlicher  Art,  nämlich  Kassen  mit  einem  be- 
schränkten Rechte  der  Eigentümer  auf  Zurückforderun g  der  Einlagen. 
Das  Prinzip  der  gegenseitigen  Versicherung  hat  die  Kommission  ent- 
schieden abgelehnt,  „da  die  arbeitenden  Klassen  einen  Verein,  in 
welchem  ein  jeder  für  sich  verantwortlich  ist,  einem  Verein  vorziehen 
werden,  in  welchem  der  eine  für  die  anderen  haften  muss,  ohne  für 
sich  selbst  etwas  zu  bekommen"  i). 

Bekanntlich  haben  die  Arbeiter  den  Vereinigungen  der  letzteren 
Art  den  Vorzug  gegeben.  Die  Trade  Unions  sind  Vereine  für 
gegenseitige  Versicherung  gegen  Zufälle,  welchen  der  Arbeitsverdienst 
ausgesetzt  ist.  Nur  infolge  der  weiteren  Anwendung  des  Ver- 
sicherungsprinzips erreichen  sie  mehr  oder  minder  ihre  Ziele  und  ge- 
währen den  Arbeitern  zur  Zeit  der  Arbeitslosigkeit  eine  wirkliche 
Hilfe.  In  den  30  er  Jahren  dieses  Jahrhunderts  waren  aber  die  Ar- 
beitslöhne so  niedrig,  dass  die  Arbeiter  keinesfalls  Ersparnisse  für 
Notzeiten  machen  konnten,  und  deshalb  haben  die  Sparkassen,  welche 
von  der  Kommission  vorgeschlagen  worden  sind,  nie  Verwirklichung 
gefunden. 

Die  Epochen  der  Depression  sind ,  wie  es  von  Brentano 
besonders  betont  wurde,  auch  in  der  Hinsicht  interessant,  dass  sich 
gerade  in  solchen  Zeiten ,  in  denen  die  Nachfrage  nach  Waren 
eingeschränkt  wird  und  ihre  Preise  sinken,  grosse  Vervollkomm- 
nungen in  der  Technik  vollziehen,  neue  Industriezweige  zur  Ent- 
wickelung    gelangen,     neue    Absatzmärkte    eröffnet    werden,    über- 


i)  A.  a.  O.  S.  II.  Etwas  ähnliches  hat  neuestens  Georg  Schanz  vorgeschlagen. 
Vgl.  seine  Arbeiten  „Zur  Frage  der  Arbeitslosenversicherung",  Berlin  1895  ^'^^^  „Neue 
Beiträge  zur  Frage  der  Arbeitslosenversicherung",  Berlin   1897. 


—     28o     — 

haupt  die  veraltete  Routine  neuen  Methoden  Platz  macht.  Unter 
dem  Einflüsse  niedriger  Preise  sind  die  Industriellen  und  Kauf- 
leute genötigt,  aus  Selbsterhaltungstrieb  Mittel  und  Wege  auszu- 
finden ,  um  die  Produktion  zu  verbilligen  und  den  Absatz  ihrer 
Waren  zu  erweitern.  In  den  Epochen  des  Aufschwungs ,  wenn 
der  Profit  hoch  ist  und  der  Absatz  der  Waren  leicht  vor  sich 
geht,  sind  die  Unternehmer  um  die  Vervollkommnung  ihres  Betriebes 
wenig  besorgt;  sie  sind  bemüht,  ihre  Produktion  zu  erweitern,  denken 
aber  nicht  an  eine  Verbesserung  derselben.  Wenn  aber  die  Preise 
sinken  und  das  Geschäft  Verluste  bringt,  dann  beginnt  man  in  der 
Praxis  alle  die  Erfindungen  und  Entdeckungen  anzuwenden,  welche 
viele  Jahre  vordem  brach  gelegen  haben,  ohne  die  Aufmerksamkeit 
von  irgend  jemand  auf  sich  zu  lenken. 

Dieser  Umstand  ist  von  E.  Chadwik  hervorgehoben  worden  in 
der  Rede,  welche  er  in  einer  Versammlung  der  National  Association 
for  the  Promotion  of  Social  Science  im  Jahre  1865  gehalten  hat. 
„Es  ist  sehr  wichtig,"  sagte  Chadwik,  „sich  zu  vergegenwärtigen, 
dass  die  grossen  Vervollkommungen  in  der  Baumwollindustrie  durch 
die  Perioden  der  industriellen  Depression  hervorgerufen  sind.  Ein 
Axiom  des  verstorbenen  Kennedy,  welchen  man  den  Vater  der 
Baumwollindustrie  nennt,  war,  dass  die  Verbesserungen  in  der  Pro- 
duktion nur  während  eines  starken  Sinkens  des  Profites  gemacht  wer- 
den" 1).  Dasselbe  haben  einige  Fabrikanten  ausgesagt,  welche  in  einer 
Parlamentskommission  von  1833  befragt  worden  sind  2).  Auch  in  den 
Berichten  der  Fabrikinspektoren  wird  es  nicht  selten  auf  denselben  Um- 
stand hingewiesen.  So  sagt  z.  B.  der  Fabrikinspektor  A.  Redgrave 
in  seinem  Berichte  für  das  Jahr  1854:  „Wenn  der  Handel  gut  geht 
und  alle  Waren  Käufer  finden,  dann  kümmert  sich  niemand  um 
Vervollkommnungen  und  Erfindung  neuer  Produktionsmethoden;  aber 
wenn  der  Handel  aus  irgend  welchen  Gründen,  welche  durch  An- 
strengungen des  Geistes  und  der  Energie  beseitigt  werden  können, 
in  Stockung  gerät,  dann  finden  Vervollkommnungen  der  Produktion 
statt"  3). 

Den  Einfluss  der  Handelskrisen  auf  die  Preise  der  baumwollenen 
Gewebe  kann  man  aus  der  folgenden  Tabelle  ersehen: 


i)  Vgl.  Journal  of  the  Statistical  Society  of  London.      1865,  S.  3. 

2)  Vgl.  Report   on    Manufactures ,    Commerce   and   Shipping,    Minutes   of   Evidence, 
London   1833.     Aussagen  der  Fabrikanten  Smith  und  Hill. 

3)  Vgl.  Report  of  the  Inspector  of  Factories  A.  Redgrave   1854. 


im  Jahre 

sh. 

d. 

1820 

15 

9 

1821 

15 

3 

1822 

14 

6 

.823 

H 

1824 

H 

6 

1825 

16 

3 

1826 

10 

6 

1827 

10 

— 

1828 

9 

9 

1829 

8 

9 

1830 

8 

8 

1831 

8 

1 1 

1832 

8 

7 

1833 

8 

II 

1834 

9 

4 

—    281    — 

Der  durchschnittliche  Jahrespreis  der  baumwollenen 
Gewebe  7/8  72.     Reed  Printing  Clothi). 

im  Jahre     sh.    d. 

1835  10    2 

1836  10    — 

1837  7    9 

1838  8    5 

1839  8    7V2 

1840  7    3 

1841  7  3 

1842  6  V2 

1843  6  27, 

1844  6  3 

1845  5   II '/2 

1846  5    6 

1847  5    8V2 

1848  4    9V2 

1849  5    4V2 

Nach  der  Krisis  von  1825  sinkt  der  Preis  der  baumwollenen 
Gewebe  plötzlich  um  mehr  als  den  dritten  Teil.  In  der  folgen- 
den Zeit  steigt  der  Preis  der  Gewebe  nicht  einmal  bis  zum 
Niveau  des  Jahres  1826  und  bleibt  bedeutend  niedriger  als  in  der 
Periode,  welche  dem  Jahre  1825  vorangegangen  war.  Es  beweist 
dies,  dass  das  Sinken  des  Preises  der  Gewebe  von  einer  entsprechen- 
den Verminderung  ihres  Wertes,  mit  anderen  Worten  von  der  Ver- 
vollkommnung der  Produktion  hervorgerufen  wurde,  denn  wäre  dies 
nicht  der  Fall  gewesen,  so  würde  nach  Wiederkehr  einer  Epoche 
des  Aufschwunges  der  Preis  sehr  bald  die  frühere  Höhe  wieder 
erreicht  haben.  Ebenso  war  nach  der  andauernden  Geschäftsstockung 
der  Jahre  1837 — 42  der  Preis  der  baumwollenen  Gewebe  bedeutend 
niedriger  als  früher.  Dagegen  steigt  ihr  Preis  ein  wenig  in  jeder  Epoche 
des  Aufschwungs,  was  auf  die  Verlangsamung  oder  das  Aufhören 
des  technischen  P'ortschrittes  in  dieser  Zeit  hinweist;  so  war  der  Preis 
der  baumwollenen  Gewebe  in  den  Jahren  1823 — 1825,  1832 — 1836 
und  1842  — 1844  gestiegen,  dabei  war  er  jedoch  in  jeder  späteren 
Epoche  des  Aufschwunges  bedeutend  niedriger  als  in  der  vorauf- 
gegangenen. 


I)  Vgl.  Neild,    An  Account   of   the   Prices   of  Printing  Cloth,   im  Journal   of  the 
Statistical  Society  of  London,   i86i,  S.   495. 


282 


П. 

Schwankungen  im  Volksleben  in  den  50  er  und  60  er  Jahren. 

Es  ist  oben  auf  die  Ursachen  hingewiesen,  die  die  rasche  Ent- 
wickelung  des  enghschen  Handels  und  das  bedeutende  Wachstum 
des  nationalen  Reichtums  in  England  in  den  50  er  und  60  er  Jahren 
zur  Folge  hatten.  Eine  Vermehrung  des  nationalen  Reichtums 
ist  durchaus  nicht  immer  mit  einer  Verbesserung  der  Lage  der 
Arbeiterklasse  begleitet;  den  besten  Beweis  dafür  bietet  England 
während  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts ,  als  gleichzeitig 
mit  den  Fortschritten  der  Industrie  und  der  Bereicherung  der 
höheren  Bevölkerungsklassen  eine  progressive  Verarmung  der 
niederen  Klassen  und  ein  Sinken  der  Löhne  des  grössten  Teiles  der 
Arbeiter  vor  sich  gegangen  war.  Aber  in  der  Periode,  zu  deren 
Betrachtung  wir  nun  übergehen,  hat  sich  die  Lage  des  Arbeits- 
marktes stark  zu  Gunsten  der  Arbeiter  verändert.  Die  industrielle 
Revolution,  die  so  viele  schwere  Opfer  gezeitigt  hatte,  hat  in  den 
wichtigsten  Industriezweigen  ihren  Abschluss  gefunden.  Das  Klein- 
gewerbe und  die  Hausindustrie  waren  nicht  verschwunden  und 
existierten  weiter  gleichzeitig  mit  der  Grossindustrie  und  dem  Fabrik- 
system, aber  der  Kampf  zwischen  ihnen  beschränkte  sich  auf  ein 
immer  enger  werdendes  Gebiet.  Die  Maschine  gelangte  zur  voll- 
ständigen Herrschaft  in  den  wichtigsten  Zweigen  der  Rohstoffe  ver- 
edelnden Industrie.  Die  Hausindustrie  war  noch  immer  sehr  ver- 
breitet in  vielen  untergeordneten  Industriezweigen,  insbesondere  in 
denen,  die  mit  dem  auswärtigen  Markt  nicht  zu  rechnen  hatten. 
Aber  in  der  Baumwollwebeindustrie,  in  der  während  einiger  Jahr- 
zehnte ein  hartnäckiger  Kampf  der  Maschine  gegen  die  Handarbeit 
vor  sich  gegangen  war,  hat  die  P'abrik  entschieden  gesiegt.  Die 
Zahl  der  Handweber  hat  derart  abgenommen,  dass  man  nach 
Schulze-Gaevernitz,  der  Ende  der  80er  Jahre  sich  in  Manchester 
aufhielt,  um  jene  Zeit  nur  mit  grosser  Mühe  in  dieser  Stadt  Hand- 
weber auffinden  konnte.  Jämmerliche  Ueberreste  einer  einst  zahl- 
reichen Klasse  von  Arbeitern,  fahren  diese  Weber  (meist  gebrechliche 
alte  Männer  und  Frauen)  fort,  einige  Sorten  altmodischen  Gewebes 
zu  bereiten,  deren  maschinelle  Produktion  unrentabel  ist  wegen  der 
Beschränktheit  der  Nachfrage. 

Die  wichtigste  Ursache  des  Sinkens  des  Wohlstandes  der  eng- 
lischen Arbeiterklasse  im  zweiten  Viertel  dieses  Jahrhunderts,  der 
Kampf  der  Fabrik  gegen  die  Hausindustrie   und  das  Handwerk,  hat 


—     ^«3     — 


also  aufgehört,  den  früheren  drückenden  Einfluss  auf  den  Arbeits- 
markt auszuüben. 

Zugleich  hat  die  Fabrikgesetzgebung  sowie  das  Wachstum  des 
Trade-Unionismus  und  der  kooperativen  Vereine  die  soziale  Macht 
der  Arbeiterklasse  bedeutend  gehoben.  Das  Resultat  war  das 
Steigen  der  Löhne,  die  Verkürzung  des  Arbeitstages  und  überhaupt 
die  Verbesserung   der    ökonomischen    Lage   der  englischen    Arbeiter. 

Sehen  wir  nun,  wie  die  Phasen  des  industriellen  Cyklus  sich 
im  Volksleben  Englands  in  der  zu  betrachtenden  Periode  wieder- 
spiegelten. Die  folgende  Tabelle  und  die  Diagramme  sind  ebenso  zu- 
sammengestellt wie  die  früher  angeführten  ^). 


Landwirtschaftliche 

Indu  strie 

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raf- 

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1851 

128 

202 

1б7 

748 

199 

258 

180 

385 

172 

220 

155 

535 

1852 

140 

200 

157 

726 

205 

28о 

176 

367 

174 

223 

151 

513 

1853 

144 

204 

149 

716 

206 

272 

165 

317 

179 

229 

147 

487 

1854 

141 

211 

157 

730 

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1856 

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1857 

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165 

218 

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1858 

146 

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1859 

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191 

241 

126 

326 

170 

224 

85 

450 

1860 

141 

197 

67 

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234 

113 

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1861 

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163 

216 

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1862 

134 

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1869 

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177 

255 

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342 

159 

223 

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1870 

135 

205 

68 

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121 

363 

161 

229 

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488 

Im  Durchschnitt 

140 

201 

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677 

187 

2б1 

137 

399 

168 

224 

106 

483 

I)  Berechnet  nach  den  Daten  der  amtlichen  statistischen  Publikationen:  Reports  of 
Registrar-General  of  Births,  Deaths  and  Marriages  in  England  and  Wales,  Returns  of  Pau- 
pers Relieved  und  Judicial  Statistics  of  England  and  Wales. 


—    284    — 

Bei  einem  flüchtigen  Blick  auf  die  zwei  ersten  Diagramme 
(Nr.  7  und  8)  fällt  es  uns  auf,  dass  die  Schwankungen  der  Eheschlies- 
sungen, der  Sterblichkeit,  des  Pauperismus  und  der  Kriminalität  in 
der  Zeit  von  1851  bis  1870  viel  unregelmässigere  waren  als  in  der 
vorangegangenen  Periode.  Die  Kurve  der  Eheschliessungen  in  den 
landwirtschaftlichen    Grafschaften   sinkt    etwas   stärker   in  den  Jahren 

1854  und  1855,  1860 — 61  und  1867;  das  sind  alles  schlechte  Ernte- 
jahre. Zwischen  den  Schwankungen  der  Kurve  der  Sterblichkeit  und 
der  Eheschliessungen  kann  man  in  der  Zeit  von  1851  — 1857  einen 
gewissen  Zusammenhang  beobachten,  aber  in  den  60  er  Jahren  fehlt 
jeder  Zusammenhang  und  die  Kurve  der  Sterblichkeit  bewegt  sich 
eher  in  demselben  Sinne  wie  die  Kurve  der  Eheschliessungen  als  in 
einem  entgegengesetzten.  Der  Zusammenhang  zwischen  den  Schwan- 
kungen des  Pauperismus  und  denen  der  Eheschliessungen  tritt  klarer 
hervor.  Die  Kurve  der  Kriminalität  sinkt  stark  in  den  Jahren 
1855 — 56;   die  Ursache  dieses  Sinkens  bestand   darin,    dass   im  Jahre 

1855  die  Strafprozessordnung  eine  Veränderung  erfuhr,  was  zur  P'olge 
hatte,  dass  die  Zahl  der  Personen,  die  vor  das  Schwurgericht  ge- 
wiesen wurden,  sich  bedeutend  verminderte. 

In  den  industriellen  Grafschaften  (Diagramm  Nr.  8)  wird  eine 
grössere  Korrelation  zwischen  den  Schwankungen  der  Eheschlies- 
sungen und  des  Pauperismus,  genau  wie  früher,  beobachtet.  Fast  ein 
jedes  Mal,  wenn  sich  die  Zahl  der  Paupers  vermehrt,  sinkt  die  Zahl 
der  Eheschliessungen  und  umgekehrt.  Die  Zahl  der  Eheschliessungen 
sinkt  bedeutend,  und  die  Zahl  der  Paupers  steigt  in  den  Jahren 
1854— 1855,  1858,  1862,  (der  Pauperismus  erreicht  aber  im  Jahre 
1863  seinen  Höhepunkt)  und  1867.  Die  Abnahme  der  Eheschliessungen 
im  Jahre  1855  in  den  industriellen  Grafschaften  wurde  durch  die  Ein- 
schränkung des  englischen  Handels  zur  Zeit  der  australischen  Krisis 
hervorgerufen.  Im  Jahre  1858  nahm,  trotz  der  sehr  guten  Ernte,  die 
Zahl  der  Eheschliessungen  in  den  industriellen  Grafschaften  ab  infolge 
der  industriellen  Krisis  des  vorangegangenen  Jahres.  Der  Baum- 
wollhunger hat,  wie  aus  dem  Diagramm  zu  ersehen  ist,  auf  die  Lage 
der  grossen  Masse  der  englischen  Bevölkerung  in  den  Centren  der 
Baum  Wollindustrie  einen  ungeheuren  Einfluss  ausgeübt.  Die  Zahl  der 
Paupers  hat  sich  um  ein  Vielfaches  vermehrt,  und  die  Zahl  der  Ehe- 
schliessungen ist  bis  zum  Minimum  gesunken.  Es  ist  lehrreich, 
mit  dieser  Thatsache  die  oben  citierten  Worte  des  „The  Economist" 
über  die  „Blüte  der  englischen  Industrie"  in  der  ersten  Hälfte  der 
60er   Jahre    zusammenzustellen.      In    der    Zeit   von    1867  — 1869    (der 


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1870 

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1866 

1865 

1864 

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1859  ^ 

1858 

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1855 

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1865 
1864 
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1861 
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1858 
1857 
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1855 
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Prozente  der  Abweichungen  von  den  Durchschnittszahlen 


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Prozente  der  Abweichungen  von  den  Durchschnittszahlen 


—      285      ~ 

Periode  der  Depression)  sinkt,  auch  wie  zu  erwarten  ist,  die  Zahl 
der  EheschHessungen. 

Die  »Schwankungen  der  Sterbhchkeit  entsprechen  nicht  immer 
den  Schwankungen  des  Pauperismus.  NamentHch  tritt  eine  starke 
Divergenz  im  Jahre  1866  zu  Tage:  gleichzeitig  mit  einem  bedeuten- 
den Wachstum  der  Zahl  der  Eheschliessungen  und  mit  einem  Sinken 
des  Pauperismus  wächst  in  den  industriellen  Grafschaften  die  Zahl 
der  Sterbefälle.  Die  Ursache  dieser  Divergenz  bestand  in  dem  Auf- 
treten einer  starken  Choleraepidemie  in  Lancashire  im  Jahre  1866. 

Die  Kurve  der  Kriminalität  sinkt  mit  bedeutenden  Schwankungen; 
die  Maxima  der  Kriminalität  entfallen  auf  die  Jahre  1854,  1857  und 
1863;  die  zwei  ersten  Jahre  sind  Jahre  der  Depression  und  das 
letzte  ein  Jahr  des  ßaumwollhungers. 

Das  Diagramm  Nr.  9,  das  sich  auf  ganz  England  bezieht,  ist 
gleichsam  eine  Summierung  der  zwei  ersten  Diagramme  und  bietet 
nichts  Neues.  Allerdings  muss  anerkannt  werden ,  dass  die  Ein- 
wirkung des  industriellen  Cyklus  auf  das  Volksleben  in  den  zwei 
ersten  Jahrzehnten  des  Ereihandels  stark  durch  den  Einfluss  л^ег- 
schiedener  zufälliger  Faktoren  und  Ereignisse  verdunkelt  war. 

Wir  haben  oben  gesagt,  dass  die  Handelskrisen  mit  ihrer  ganzen 
Last  auf  die  Arbeiterklasse  drücken,  während  die  Unternehmer 
in  der  Lage  sind,  die  Verluste  der  ungünstigen  Jahre  durch  die 
Vorteile  der  günstigen  zu  decken.  Die  periodischen  Schwankungen 
der  Industrie  und  die  sie  begleitenden  Schwankungen  im  Volksleben 
werden  durch  das  Bestreben  der  Unternehmerklasse  hervorgerufen, 
jede  günstige  Angelegenheit  zur  Erweiterung  der  Geschäfte  auszu- 
nutzen. Nicht  nur  jede  Erhöhung  der  Nachfrage  wird  sofort  durch 
eine  Erhr)hung  des  Angebotes  begleitet,  sondern  die  Nachfrage  selbst 
wird  künstlich  geschaffen  durch  den  Verkauf  der  Ware  unter  güns- 
tigen Bedingungen  auf  Kredit.  Alles  möglische  zu  thun,  um  die  Ge- 
schäfte auszudehnen  und  die  Masse  der  verkauften  Waren  zu  steigern, 
das  ist  das  Streben  jedes  Unternehmers.  Alle  Unternehmer  in  ihrer 
Gesamtheit  können  die  Nachteile  einer  übermässigen  Erweiterung  des 
Angebotes  einsehen ,  aber  jeder  einzelne  von  ihnen  hat  nicht  die 
Macht,  den  von  ihm  selbst  anerkannten  Uebelstand  zu  bekämpfen,  und 
kann  nur  bei  der  Vermehrung  seiner  persönlichen  Geschäfte  und 
bei  der  Verdrängung  seiner  Konkurrenten,  d.  h.  bei  einer  Handlungs- 
weise, die  denselben  Uebelstand  erzeugt,   auf  seine  Rettung  rechnen. 

Uebrigens  kann  das  periodische  Eintreten  einer  Geschäftsstockung 
für  grössere  Unternehmer,  welche  die  industriellen  Stürme,  die  die 
kleineren    Unternehmer   zu  Grunde  richten,    aushalten  können,   sogar 


—       286       — 

vorteilhaft  sein.  So  hat  die  schwere  Krisis  der  Baum  Wollindustrie, 
die  durch  den  „Baumwollhunger"  der  60  er  Jahre  verursacht  worden 
war,  eine  starke  Einschränkung  der  Zahl  der  Baumwollfabriken, 
aber  gleichzeitig  eine  Vermehrung  der  Zahl  der  Spindeln  zur  Folge 
gehabt. 

Zahl  der  Baumwollfabriken  im  Zahl  der  Spindeln  in  denselben 

Vereinigten  Königreich  ^)  (in  Tausenden) ') 

1862    ....     2  887  30387 

1867    ....     2  549  32  000 

Mehr  als  ein  Drittel  der  Baumwollspinnfabriken  gehörten  im 
Jahre  1862  zu  solchen,  deren  motorische  Kraft  nicht  mehr  als  zwanzig 
Pferdekräfte  betrug;  die  meisten  von  diesen  kleinen  Fabriken  gingen 
infolge  der  Verteuerung  der  Baumwolle  und  der  Einstellung  der 
Produktion  unter;   ihren   Platz  haben   grosse  Fabriken  eingenommen.     | 

Ganz  anders  wirken  die  Handelskrisen  auf  die  Arbeiter  ein. 
Die  Arbeiter  gewinnen  sehr  wenig  zur  Zeit  eines  Aufschwungs, 
müssen  aber  während  der  nachfolgenden  Depression  schw^ere  Leiden 
ertragen.  Für  die  Arbeiter  bilden  die  periodischen  Depressionen 
einen  höchst  bedeutenden  Uebelstand ,  gegen  den  sie  mit  allen 
Kräften  zu  kämpfen  haben.  Auf  Grund  der  Einschränkung  der 
Eheschliessungen  und  des  Wachstums  der  Zahl  der  Sterbefälle 
und  \^erbrechen  in  den  Jahren  1862 — 1863  in  den  Centren  der 
Baumwollindustrie  kann  man  beurteilen,  wie  schwer  die  Ein- 
schränkung der  Produktion  auf  die  Arbeiterklasse  eingewirkt  hat. 
Die  Ausdehnung  der  Produktion,  die  für  den  Unternehmer  so 
vorteilhaft  ist ,  bedeutet  für  den  Arbeiter  eine  Vermehrung  des 
Arbeitsaufwands,  mit  dem  nicht  immer  ein  Steigen  der  Löhne  ver- 
bunden ist.  Daher  streben  die  Arbeiter  natürlich  zu  einer  mög- 
lichst grossen  Stabilität  der  Produktion  und  der  Löhne.  Als  eine 
Illustration  dafür  mag  die  Geschichte  eines  bedeutenden  Streiks  der 
Yorkshirer  Kohlengrubenarbeiter  im  Jahre   1858  gelten^). 

Zu  Beginn  der  50  er  Jahre  stiegen  die  Preise  der  Kohlen  in  Щ 
Yorkshire  um  60  ^Д.  Die  Stücklöhne  der  Kohlengräber  erhöhten  sich 
auch,  aber  nur  um  30  ^o-  Die  Differenz  zwischen  dem  Steigen  der 
Kohlenpreise  und  dem  der  Löhne  bildete  den  überschüssigen  Profit 
der  Unternehmer.  So  haben  sich  die  Verdienste  sowohl  der  Unter- 
nehmer wie   der  Arbeiter   vermehrt,   das   hat  aber  die  einen  und  die 


i)  Report  of  Inspector  of  Factories  Baker,   1869. 

2)  Vgl.  „West  -  Yorkshire  Coal-Strike  and  Lock  out",  by  J.  M.  Ludlow  (Trades 
Societies  and  Strikes.  Report  of  the  Committee  appointed  by  the  National  Association  for 
the  Promotion  of  Social  Science,   1860). 


4 


—    287    — 

anderen  zu  einer  ganz  entgegengesetzten  Handlungsweise  veranlasst. 
Die  Unternehmer  begannen  sofort  die  alten  Schachten  zu  erweitern  und 
neue  einzurichten;  alle  ihre  Anstrengungen  waren  darauf  gerichtet,  die 
Produktion  auszudehnen  und  die  guten  Kohlenpreise  auszunutzen.  Um- 
gekehrt erblickten  die  Arbeiter  im  Steigen  der  Stücklöhne  eine  Mög- 
lichkeit, die  Arbeitszeit  zu  verkürzen.  Nach  den  Worten  der  Unternehmer 
haben  die  Arbeiter  ihre  tägliche  Arbeit  derart  eingeschränkt,  dass 
ihr  täglicher  Verdienst  derselbe  blieb  wie  vor  der  Erhöhung  der  Löhne. 
Infolgedessen  konnten  die  Unternehmer  die  Produktion  nur  durch 
Heranziehen  neuer  Arbeiter  erweitern ,  welche  aber  an  die  unter- 
irdische Arbeit  nicht  gewöhnt  waren  und  diese  schlecht  ausführten. 
Trotzdem  wurde  eine  Erweiterung  der  Produktion  erreicht;  es 
folgte  das  Sinken  der  Kohlenpreise.  Die  Kohlenindustriellen  ver- 
suchten die  Kohlenpreise  auf  anormaler  Höhe  zu  erhalten  und  trafen 
unter  einander  die  Vereinbarung,  keine  Kohlen  zu  niedrigeren  Preisen 
als  zu  denen  der  festgesetzten  Norm  zu  verkaufen.  Aber  die  Kon- 
kurrenz unter  den  einzelnen  Unternehmern  machte  die  Vereinbarung 
bald  zu  nichte,  und  die  Kohlenpreise  fuhren  fort  zu  sinken.  Da 
trafen  die  Kohlenindustriellen  eine  andere  Vereinbarung,  die  sie 
auch  mit  einem  grösseren  Erfolg  durchführten:  auf  der  Versammlung 
der  Kohlenindustriellen  im  März  1858  wurde  der  einstimmige  Be- 
schluss  gefasst,  die  Stücklöhne  der  Arbeiter  um  15  ^/0  herabzusetzen. 
Um  ihrem  Beschluss  eine  grössere  Kraft  zu  verleihen,  verstanden 
sich  gleichzeitig  die  Kohlenindustriellen  zur  Einstellung  der  Arbeit 
im  ganzen  Bezirk,  falls  die  Arbeiter  eine  solche  Herabsetzung  nicht 
acceptierten.  Dadurch  dachten  die  Kohlenindustriellen  mit  einem 
Schlage  zwei  Ziele  zu  erreichen:  die  Arbeiter  gefügig  zu  machen 
und  die  Kohlenpreise  durch  Einschränkung  der  Produktion  in  die 
Höhe  zu  treiben.  Die  Einschränkung  der  Produktion  in  den  Perioden 
des  Preissturzes  ist  vom  Standpunkte  der  Unternehmer  ein  harmloses 
Mittel,  die  Uebel  der  vorangegangenen  Erweiterung  zu  beseitigen. 
Nach  den  Worten  kompetenter  Personen  haben  die  Kohlenindustriellen 
.  zu  jener  Zeit  nichts  so  sehr  gewünscht  wie  einen  kleinen  Arbeiter- 
;  streik.  So  fiel  der  grösste  Teil  der  Vorteile  der  Erweiterung  der 
Produktion  den  Unternehmern  zu,  die  ganze  Last  der  Einschränkung 
i  mussten   aber  die  Arbeiter  tragen. 

Der  Vorschlag  der  Unternehmer  hat  einen  allgemeinen  Streik 
(  der  Arbeiter  und  die  Bildung  des  ersten  mächtigen  Gewerkvereines 
I  unter  den  Yorkshirer  Kohlen gräbern  zur  Folge  gehabt.  Der  Ge- 
^  werkverein  fasste  einen  Beschluss,  dass  kein  Vereinsmitglied  mehr 
als    8    Stunden    pro    Tag    arbeiten    und    mehr    als    einen    gewissen 


—     288     — 

Maximallohn  pro  Tag  verdienen  darf.  Diese  letzte  Bestimmung  war 
den  Unternehmern  besonders  unangenehm,  da  sie  auf  die  Regulierung 
der  Produktion  hinausging.  Nach  den  Worten  eines  Kohlen- 
industriellen wurde  gerade  diese  Bestimmung  des  Gewerkvereins  von 
den  Unternehmern  besonders  angefochten. 

Der  Streik  dauerte  mehr  als  zwei  Monate  und  endigte  mit 
einem  Kompromiss.  T^er  Gewerkverein  hat  sich  behauptet  und  hat 
die  Bestimmung,  die  den  Unternehmern  so  missfiel,  aufrecht  erhalten, 
die  Arbeiter  acceptierten  jedoch  eine  Herabsetzung  der  Löhne. 

In  diesem  Streik  kommt  der  Unterschied  in  dem  Verhalten  der 
Unternehmer  und  der  Arbeiter  den  Schwankungen  der  Industrie 
gegenüber  ganz  deutlich  zum  Ausdruck.  Die  Arbeiter  streben,  die 
Produktion  möglichst  gleichmässig  zu  gestalten,  und  verzichten  sogar 
auf  ein  höheres  Einkommen,  die  Unternehmer  zielen  dagegen  in 
Perioden  des  Aufschwungs  auf  möglichst  grosse  Erweiterung  der 
Produktion,  was  wieder  ihre  Einschränkung  in  Perioden  der  Depres- 
sion nach  sich  zieht.  Für  die  Unternehmer,  und  das  muss  besonders 
betont  werden,  ist  die  Krisis  ein  natürliches  Korrektiv  des  vorher- 
gegangenen Aufschwungs,  eine  temporäre  Schwierigkeit,  die  vollauf 
durch  die  späteren  Vorteile  kompensiert  werden  kann,  für  die  Ar- 
beiter aber  bedeutet  eine  Handelskrisis  eine  Notlage  und  Elend,  w^as 
durch  etwas  höhere  Löhne  in  den  günstigen  Phasen  des  industriellen 
Cyklus  nicht  wett  gemacht  werden  kann. 


IIL 

Schwankungen  im  Volksleben  während  der  neuesten  Zeit. 

Die  letzten  30  Jahre  zeichnen  sich  aus  durch  eine  relative  Ver- 
langsamung der  Entwickelung  der  englischen  Industrie  und  einen 
Verfall  der  industriellen  Suprematie  Englands  sowie  durch  eine 
Veränderung  des  Charakters  der  Handelskrisen.  Andauernde  Depres- 
sionen sind  an  Stelle  der  akuten  Krisen  getreten.  Zugleich  ist  aber 
die  neueste  Phase  der  Entwickelung  der  englischen  Industrie  auch 
durch  entgegengesetzte  Züge  charakterisiert:  durch  das  Steigen  der 
Arbeitslöhne  und  überhaupt  durch  die  Hebung  der  Lage  der  Arbeiter- 
klasse. Dieser  Widerspruch  findet  seine  Erklärung  im  stätigen 
Wachstum  der  sozialen  Macht  der  englischen  Arbeiter.  Trotz  der 
ungünstigen  Lage  des  Warenmarktes  hat  es  die  Arbeiterklasse  ver- 
standen,   sich    eine   grössere    Summe   von    Lebensmitteln    zu    erobern. 


—     289     — 

Die  Fabrikgesetzgebung  und  die  mächtige  Entwickelung  des  Trade- 
Unionismus  sowie  der  kooperativen  Bewegung  unter  den  Arbeiter- 
massen hat  die  Stellung  des  Arbeiters,  als  Verkäufers  der  Arbeits- 
kraft, im  höchsten  Grade  verstärkt.  Infolgedessen  ist  die  Wirkung 
des  industriellen  Cyklus  auf  das  Volksleben  bedeutend  schwächer 
geworden,  луаз  aus  der  unten  folgenden  Tabelle  und  den  Diagrammen 
zu  ersehen  ist. 


Landwirtschaftliche 

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1872 

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1877 

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1878 

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1879 

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234 

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1880 

129 

190 

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393 

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232 

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215 

149 

205 

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1881 

133 

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389 

163 

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1882 

132 

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199 

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1883 

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1892 

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1893 

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—      290     — 

\us  dem  Diagramm  Nr.  10  ist  zu  ersehen,  dass  in  den  land- 
wirtschaftlichen Grafschaften  die  Schwankungen  in  der  Zahl  der  Ehe- 
schliessungen und  des  Pauperismus  höchst  geringfügig  waren.  Die 
Kurve  des  Pauperismus  sinkt  stark  während  der  Jahre  1871 — 1878, 
dann  hört  ihr  Sinken  für  einige  Jahre  auf;  mit  Beginn  der  80er  Jahre 
findet  ein  minder  rasches  Sinken  des  Pauperismus  statt.  Seit  der 
zweiten  Hälfte  der  80  er  Jahre  bleibt  die  Kurve  des  Pauperismus 
fast  stabil. 

Die  Löhne  der  Landarbeiter  in  England  sind  bekanntlich  in  den 
70er  Jahren,  zum  Teil  unter  dem  Einfluss  der  von  J.  Arch  gelei- 
teten Gewerkvereine  von  Landarbeitern,  stark  gestiegen.  Darin  lag 
wohl  die  Hauptursache  für  das  Sinken  des  Pauperismus. 

Die  Kurve  der  Sterblichkeit  sinkt  im  allgemeinen,  wenn  auch 
mit  bedeutenden  Schwankungen;  die  Schwankungen  der  Kurve  der 
Kriminalität  (die  ebenfalls  sinkt)  sind  noch  stärker.  Die  Verminde- 
rung der  Zahl  der  Verbrechen  im  Jahre  1880  ist  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  auf  das  Inkrafttreten  der  neuen  Strafprozessordnung 
des  Jahres   1879  zurückzuführen. 

Ueberhaupt  ist  die  Verminderung  des  Pauperismus,  der  Sterb- 
lichkeit und  der  Zahl  der  Verbrechen  in  den  landwirtschaftlichen 
Grafschaften  Englands  ein  Beweis  für  die  Hebung  der  wirtschaft- 
lichen Lage  der  englischen  Landarbeiter.  Zwar  scheint  die  Ver- 
minderung der  Zahl  der  eingegangenen  Ehen  vom  Ge§"enteil  zu 
zeugen;  aber  es  muss  in  Betracht  gezogen  werden,  dass,  wenn  auch 
die  jährlichen  Schwankungen  in  der  Zahl  der  Eheschliessungen  im 
engsten  Zusammenhange  mit  der  wirtschaftlichen  Lage  der  Bevöl- 
kerung stehen,  dies  nicht  von  den  Veränderungen  der  Durchschnitts- 
zahl der  geschlossenen  Ehen  für  längere  Zeitperioden  gilt.  Es 
ist  wohl  möglich,  dass  der  wachsende  Wohlstand  im  Zusammenhang 
mit  der  Verbreitung  neuer  Gewohnheiten  und  einer  neuen  Lebens- 
weise von  einer  Verminderung  der  Zahl  der  Ehen  begleitet  werden 
kann. 

Das  Diagramm  Nr.  1 1  bezieht  sich  auf  die  industriellen  Graf- 
schaften. Die  zwei  ersten  Kurven  (die  Zahl  der  Eheschliessungen 
und  die  der  Paupers)  schwanken,  wie  zu  erwarten  war,  im  umge- 
kehrten Verhältnis  und  bilden  mit  einander  eine  symmetrische  Figur. 
Alles,  was  im  ersten  Teil  dieses  I^uches  gesagt  ist  über  die  Ver- 
änderung im  Charakter  der  Schwankungen  der  Kurven  im  Diagramm 
Nr.  3,  das  die  Entwickelung  der  enghschen  Industrie  in  der  neuesten 
Zeit  zum  Ausdruck  bringt,  gilt  Punkt  für  Punkt  auch  für  diese  beiden 


Tugan- 


Zur  S.  290. 


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Zur  S.  290. 


Diagramm  N0.  10 

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Diagramm  N0.  11 

Industrielle  Grafschaften 


Diagramm  N0.  12 

England 


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Jahre 


—      291      — 

Kurven.  Die  Kurven  der  Eheschliessungen  und  des  Pauperismus 
haben  den  Charakter  \'on  wellenförmigen  Linien  angenommen,  die 
mit  einer  auffallenden  Regelmässigkeit  schwanken.  Der  Parallelis- 
mus der  Schwankungen  der  Kurve  der  Eheschliessungen  und  der  des 
britischen  Warenexportes  tritt  klar  zu  Tage. 

Aber  in  den  allerletzten  Jahren  bemerken  wir  ein  Wachstum 
des  Pauperismus  gleichzeitig  mit  einem  Wachstum  des  Exportes. 
Wahrscheinlich  findet  das  seine  Erklärung  in  den  Veränderungen  in 
der  Organisation  der  Armenunterstützung,  die  im  Jahre  1894  vor- 
genorrmien  worden  sind.  Diese  Veränderungen  konnten  dazu  führen, 
dass  die  Armenadministration  mit  grösserer  Bereitwilligkeit  als  früher 
den  Bedürftigen  zu  Hilfe  kam,  was  die  Zahl  der  Paupers  zu  ver- 
mehren geeignet  ist. 

Die  Kurven  der  Kriminalität  und  der  Sterblichkeit  schwanken 
weniger  regelmässig.  Das  starke  Sinken  der  Kriminalität  im 
Jahre  1880  ist  durch  die  oben  erwähnte  Reform  der  Strafprozess- 
ordnung hervorgerufen  worden.  Wenn  wir  aber  die  Schwankungen 
aller  vier  Kurven  in  den  beiden  ersten  Jahrzehnten  vergleichen,  so 
bemerken  wir  sofort,  dass  im  ersten  Jahrzehnt  diese  Schwankungen 
bedeutender  waren  und  mehr  den  Phasen  des  industriellen  Cyklus  ent- 
sprachen als  im  zweiten.  So  findet  z.  B.  zu  Beginn  der  70  er  Jahre 
(starker  Aufschwung)  eine  Vermehrung  der  Zahl  der  Eheschliessungen 
und  eine  Verminderung  des  Pauperismus,  der  Kriminalität  und  der 
Sterblichkeit  statt.  Ende  der  70  er  Jahre  (Depression)  wächst  dagegen 
der  Pauperismus  sowie  die  Kriminalität  bedeutend  und  die  Zahl  der 
Eheschliessungen  vermindert  sich;  zugleich  aber  sinkt  die  Sterb- 
lichkeit. Das  beweist,  dass  in  der  neuesten  Zeit  eine  Geschäfts- 
stockung nicht  mehr  so  verderblich  wirkt  wie  in  den  40er  Jahren,  als 
eine  Handelskrisis  verheerender  als  jede  Epidemie  war.  In  der  ersten 
Hälfte  der  80er  Jahre  steigt  trotz  der  Depression  der  Pauperismus  in 
einer  kaum  merklichen  Weise;  auf  die  Kriminalität  und  die  Sterb- 
lichkeit übt  diese  Depression  gar  keinen  Einfluss  aus. 

In  den  90  er  Jahren  sind  die  Schwankungen  in  der  Zahl  der 
Eheschliessungen  noch  weniger  bedeutend.  Die  Kurve  der  Ehe- 
schliessungen erfährt  nur  kleine  vSch wankungen  im  Zusammenhang 
mit  den  Phasen  des  industriellen  Cyklus.  Der  Aufschwung  Ende  der 
80  er  Jahre  kommt  zum  Ausdruck  in  dem  Steigen  dieser  Kurve,  die 
Depression  Anfang  der  90  er  Jahre  in  ihrem  vSinken.  Im  Jahre  1896, 
mit  dem  eine  neue  Epoche  des  Aufschwungs  beginnt,  sehen  wir  eine 
Zunahme  der   Eheschliessungen.     Die  Schwankungen   der  Kurve  der 

19* 


—      292 

Sterblichkeit  können  dagegen  in  keiner  Weise  zu  den  Phasen  des 
industriellen  Cyklus  in  Beziehung  g"ebracht  werden.  Die  niedrigste 
Sterblichkeit  wird  im  Jahre  1894  —  während  einer  Geschäftsstockung  — 
beobachtet:  offenbar  sind  die  Phasen  des  industriellen  Cyklus  nicht 
mehr  wie  früher  das  entscheidende  Moment  für  die  Sterblichkeit  der 
englischen  industriellen  Bevölkerung.  Die  verderbliche  Wirkung  der 
Krisen  ist  bedeutend  abgeschwächt. 

Die  Kurve  der  Kriminalität  sinkt  beinahe  ohne  Schwankungen. 
In  den  letzten  10  Jahren  ist  die  industrielle  Ebbe  und  Fluth  an 
den  Bewegungen  dieser  Kurve  gar  nicht  zu  erkennen.  Die  Kurve 
steigt  nur  in  den  Jahren  1888  und  1897  während  des  industriellen  Auf- 
schwunges. Die  Geschäftsstockung*  zu  Beginn  der  90  er  Jahre  hat 
das  Sinken  der  Zahl  der  Verbrechen  nicht  verhindert. 

Das  Diagramm  Nr.  12,  das  sich  auf  ganz  England  bezieht,  zeigt 
mit  voller  Anschaulichkeit  die  stattgefundene  bedeutende  Veränderung 
in  den  Lebensverhältnissen  des  englischen  Volkes.  Die  Schwankungen 
der  Eheschliessungen  und  des  Pauperismus  sind  gering,  doch  stehen 
sie  in  einem  gewissen  Zusammenhang  mit  den  Phasen  des  indus- 
triellen Cyklus.  Dieser  Zusammenhang  verschwindet  jedoch  fast  voll- 
ständig bei  den  Schwankungen  der  Kriminalität  und  der  Sterb- 
lichkeit. 

Es  ist  interessant,  die  Diagramme  Nr.  3,  10 — 12  mit  den  Dia- 
grammen Nr.  I,  4  —  6  zu  vergleichen.  Diese  letzteren  Diagramme  stellen 
das  Leben  des  englischen  Volkes  im  zw^eiten  Viertel  dieses  Jahr- 
hunderts dar.  Wir  sehen  schroffe  periodische  Schwankungen  im 
Volksleben  unter  der  Einwirkung  der  Phasen  des  industriellen  Cyklus. 
Besonders  sprunghaft  sind  die  Schwankungen  im  Leben  der  indus- 
triellen Bevölkerung.  Jede  Handelskrisis  übt  eine  höchst  verderbliche 
Wirkung  auf  die  Arbeiterklasse  aus,  Arbeitshäuser  wie  Gefängnisse 
werden  von  Arbeitslosen  überfüllt,  die  Sterblichkeit  wächst  in  einem 
bedeutenden  Grade.  Zu  gleicher  Zeit  machen  ILmdel  und  Industrie 
trotz  heftiger  Krisen  rasche  Fortschritte.  Das  Wachstum  des  Exportes 
steht  in  einem  schreienden  Gegensatz  zur  Verschlechterung  der  Lebens- 
verhältnisse der  Arbeiterbevölkerung. 

Die  Diagramme  der  neuesten  Zeit  weisen  auf  ganz  andere  Ver- 
hältnisse hin.  Statt  eines  energischen  Steigens  der  Kurve  des  Exportes 
mit  schroffen  Senkungen  in  Krisenjahren  beobachteten  wir  regelmässige 
wellenförmige  Schwankungen  dieser  Kurve,  ohne  dass  sich  deren  | 
Niveau  verändert.  Die  industrielle  Entwicklung  des  Landes  hat  sich 
entschieden  verlangsamt.      Zugleich  aber  sind  im  Volksleben  Zeichen 


—     293      — 

einer  zweifellosen  Verbesserung  zu  bemerken.  Die  ungünstigen  Phasen 
des  industriellen  Cyklus  üben  auf  die  Lage  der  Arbeiter  die  frühere 
zerstörende  Wirkung  nicht  mehr  aus.  Selbst  in  industriellen  Be- 
zirken wächst  die  Sterblichkeit  und  die  Kriminalität  in  Krisenjahren 
nicht  mehr. 

Diese  Veränderung  ist  um  so  bemerkenswerter,  als,  wie  wir 
weiter  unten  sehen  werden,  die  Arbeitslosigkeit  in  der  neuesten  Phase 
der  Entwickelung  des  Kapitalismus  durchaus  nicht  verschwunden  ist; 
es  liegt  sogar  kein  Anlass  vor,  anzunehmen,  dass  sie  ihrem  Umfange 
nach  eine  Einschränkung  erfahren  hat.  Wir  werden  noch  weiter  unten 
auf  diese  Frage  zurückkommen  müssen.  Allerdings  beweisen  die  ange- 
führten statistischen  Daten,  dass  die  Wirkung  der  Geschäftsstockung 
und  der  Arbeitslosigkeit  auf  die  Lebenshaltung  der  breiten  Massen 
der  englischen  Bevölkerung  in  der  neuesten  Zeit  durch  irgend  w^elche 
andere  Faktoren  durchkreuzt  und  teilweise  aufgehoben  wird. 

Als  die   wächtigsten    dieser  Faktoren  muss    man   die   allgemeine 
Hebung    der    wirtschaftlichen    Lage    des    englischen    Arbeiters    und 
das  Wachstum   des  Trade-Unionismus  anerkennen.     Was   das  erstere 
Moment  betrifft,  so  ist  seine  Bedeutung  handgreiflich.     Je   höher   die 
!  Löhne  sind,    desto   leichter   kann  der  Arbeiter   die   Perioden  der  Ar- 
beitslosigkeit   ertragen.     Die    Trade -Unions  andererseits    wirken    den 
schlimmen    Folgen    der    Geschäftsstockung    in    zw^eierlei    Weise    ent- 
J.  gegen:    erstens    durch   unmittelbare  Unterstützung    ihrer    arbeitslosen 
!  Mitglieder    und    zweitens    durch    Regelung    der   Arbeitsverhältnisse. 
\\  Zwar    gewähren    nicht    alle    Gewerkvereine    ihren    arbeitslosen    Mit- 
■j  gliedern  Unterstützungen.     Die   Mehrzahl  der  Arbeitslosen  kann  von 
|l  den  Gewerkvereinen    schon  aus   dem    Grunde  allein   keine  Unterstüt- 
fi  zung  erhalten,  weil  die  Trade-Unions  nicht  mehr  als  ein  Fünftel  der 
:;  erwachsenen  industriellen  Arbeiter  des  Vereinigten  Königreiches  um- 
I  fassen  1).     Der  Einfluss    der  Trade-Unions  auf   die  Arbeitsverhältnisse 
J'.ist    dennoch    viel    stärker,    als    man     nach    diesen    Daten    annehmen 
':  könnte.     Die   Vorteile    der    Regelung   der    Arbeitsverhältnisse    durch 
klie    Trade-Unions    kommen    nicht    allein    den    organisierten,    sondern 
auch    den     unorganisierten    Arbeitern    zu    gute.     So    sagen    S.    und 
B.  Webb    in    ihrem    ausgezeichneten   Werke    „Industrial  Democracy" 
folgendes:    „Die    kollektiven    Arbeitsverträge    umfassen    einen    unver- 
gleichlich   grösseren    Teil    der    Industrie    als    der    Trade-Unionismus. 
:  Eine   genaue   Statistik   darüber   giebt   es    nicht,    aber  wir   haben    den 


i)   Report   by   the   Chief   Labour   Correspondent   of   the   Board   of  Trade    on  Trade 
Unions,    1898,  S.   23. 


—      ^94      — 

Eindruck  gewonnen,  dass  in  allen  Gebieten  der  Industrie,  wo  ge- 
lernte Arbeiter  beschäftigt  werden,  welche  in  den  Werkstätten  der 
Unternehmer  zusammen  arbeiten,  für  90^0  f^er  Arbeiter  die  Höhe 
der  Löhne  und  die  Länge  des  Arbeitstages  (oft  auch  viele  andere 
Verhältnisse)  durch  kollektive  Arbeitsverträge  vorausbestimmt  sind. 
Persönlich  haben  diese  Arbeiter  an  solchen  Verträgen  gar  nicht  teil 
genommen,  aber  ihre  Interessen  sind  durch  die  Vertreter  ihrer  Klasse 
geschützt." 

Die  Trade-Unions  kämpfen  mit  allen  Mitteln  gegen  die  Herab- 
setzung der  Löhne  zu  Zeiten  der  Depression;  da  aber  ein  und  derselbe 
Lohn  an  organisierte  und  nichtorganisierte  Arbeiter  bezahlt  wird,  so 
ist  es  begreiflich,  dass  die  Bedeutung  einer  Trade -Union  als  eines 
Mittels,  das  normale  Einkommen  der  Arbeiter  zu  schützen,  an  verhältnis- 
mässig unbedeutenden  Zahlen  der  Trade-Unionisten  gar  nicht  bemessen 
w^erden  kann.  In  der  früheren  Zeit  übte  eine  Handelskrisis  ihre  verderb- 
liche Wirkung  auf  die  Lage  der  Arbeiter  in  zweierlei  Weise  aus:  ers- 
tens schränkte  sie  die  Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter  ein  oder  die  Zahl 
der  Tage  in  der  Woche,  während  derer  die  Arbeiter  beschäftigt  waren; 
zweitens  rief  eine  Krisis  ein  Sinken  der  Löhne  hervor,  was  die  Notlage 
der  Arbeiter  noch  vermehrte.  In  der  neuesten  Zeit  ist  die  Arbeitslosig- 
keit in  Perioden  der  Geschäftsstockung  fast  ebenso  stark  wie  früher. 
Aber  die  Löhne  sind  infolge  der  mächtigen  Organisation  der  Trade- 
Unions  viel  stabiler  geworden.  Mit  anderen  Worten  trifft  heute  die 
Krisis  hauptsächlich  die  Arbeitslosen ,  während  sie  früher  die  ge- 
samte Masse  der  arbeitenden  Bevölkerung  getroffen  hatte,  die  Ar- 
beitslosen sowie  die  beschäftigten  Arbeiter.  ; 

Einige  Beispiele  eines  höchst  bedeutenden  Sinkens  der  Löhne 
während  der  Krisis  von  1847  sind  oben  angegeben.  Im  folgenden 
Kapitel  werden  wir  andere  Beispiele  derselben  Art  anführen.  In  der 
neuesten  Zeit  ist  von  einem  Sinken  der  Löhne  um  die  Hälfte  in  den 
Perioden  der  Geschäftsstockung  gar  keine  Rede  mehr.  Die  normalen 
Löhne  der  Trade-Unionisten  schwanken  sehr  wenig,  wie  das  aus  der 
nachstehenden  Tabelle  zu  ersehen  ist^). 

Das  Steigen  der  Löhne  der  Ziegler  in  den  Jahren  1874 — 1877 
zeigt  am  besten,  wie  wenig  die  Geschäftsstockung  auf  die  Löhne 
eingewirkt  hat.  Erst  im  Jahre  1878  begann  die  Krisis,  unter  der  die 
Industrie  schon  einige  Jahre  gelitten  hatte,  auch  eine  Wirkung  auf 
die  Löhne  auszuüben.  Ebenso  ist  von  einem  Einfluss  der  Depression 
der  80  er  Jahre  auf  die  Löhne  der  Ziegler  gar  nichts  zu  merken. 


i)  Vgl.  Fourth  Report  on  Trade  Unions,    1891. 


~    295 


Operative 

Bricklayers 

Society 

Amalgamated 

Society  of  Car- 

penters  and 

Amal  gamated 
Engin  eers 

Steam  Engine 
MakersSociety 

Glass   Bottle 
Makers  Socie- 
ty 

Joiners 

-§? 

T5    g 

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t— 1 

Wochenlöhne 
(im  Sommer) 

Wochenlöhne 

[/}  t/} 

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Wochen- 
lühne 

Wochen- 
löhne 

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Wochen- 
löhne 

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sh.          d. 

sh. 

sh. 

sh. 

i8;i 

18-37  8 

20-37     8 

3^5 

24—36 

1,3 

22—36 

0,58 

30 

1,93 

1872 

20   -39  9 

20-37      2V2 

1.3 

26—36 

0,9 

24—36 

0,53 

33 

0,73 

187л 

der  gleiche 

20 — 40 

1,0 

1,1 

24-36 

0,65 

36 

0,49 

i874 

24—39    4\'2 

21—42     4 

0,87 

1,6 

26  -  36 

0,81 

l  d.  gleiche 

0,85 
1,16 

2,63 

:875 
1876 

24—40    i'/, 
24—45    5 

20—42 
20 — 42     4 

0,82 
0,81 

d.  gleiche 

2,4 
3,6 

.  d.  gleiche 

1,2 
2,0 

33 

1877 

der  gleiche 

der  gleiche 

1,1 

4.7 

2,7 

33 

6,1 

1878 

24—42   47, 

20-41      7 

2,5 

6,5 

4'7 

30 

7,3 

1879 
1880 
1881 

\  der  gleiche 
20-42     4 

7,6 
6,3 
4,9 

24-36 
>  d.  gleiche 

13,3 
5,9 
3,5 

24—36 
\  d,  gleiche 

10,1 

3,5 
2,1 

27 

\  d.  gleiche 

13,4 
11,4 
5,16 

1882 

der  gleiche 

3,0 

26-38 

1,8 

26-38 

1,1 

1 

7,3 

1883 

20—40 

3,2 

2,3 

1,4 

30 

4,23 

1884 
i88s 

•  der  gleiche 

>  der  gleiche 

4,0 
6,1 

5,1 
6,2 

2,6 

4.4 

6,26 
5,3 

1886 

20—42      4V2 

7,8 

•  d.  gleiche 

7,4 

,  d.  gleiche 

5>8 

7,5 

1887 

5,8 

6,3 

5«8 

}  d.  gleiche 

6,2 

1888 
1889 

/  der  gleiche 

5,5 
3,2 

4,2 
1,9 

2,6 
0,93 

5,14 

4,37 

1890 

1,9 

1,6 

30-38 

0,67 

* 

2,9 

Es  ist  sehr  lehrreich,  die  Veränderung  der  normalen  Löhne 
der  Trade-Unionisten  mit  den  Schwankungen  in  der  Zahl  der  arbeits- 
losen Mitglieder  der  Gewerk vereine  zu  vergleichen.  Die  Zahl  der  Arbeits- 
losen schwankt,  wie  aus  den  angeführten  Daten  zu  ersehen  ist,  sehr  be- 
deutend, sie  wirkt  aber  auf  die  Löhne  fast  gar  nicht  ein.  So  ist  im 
Jahre  1879  die  Zahl  der  Arbeitslosen  in  der  Tischlergewerkschaft 
stark  gestiegen,  die  Löhne  sind  aber  dieselben  geblieben.  Die  Zu- 
nahme der  Arbeitslosigkeit  im  Jahre  1886  hat  sogar  ein  Steigen  der 
Löhne  der  Tischler  nicht  verhindert.  Bei  den  Maschinenbauern  sind 
die  Löhne  nur  im  Jahre  1879  gesunken,  während  sie  alle  anderen  Jahre 
unverändert  blieben  oder  sogar  zunahmen,  obwohl  der  Prozentsatz 
der  Arbeitslosen  oft  ein  sehr  hoher  war. 

Für  die  neueste  Zeit  sind  allgemeinere  Daten  über  die  Ver- 
änderung der  Löhne  der  breiten  Arbeitermassen  vorhanden.  Um- 
seitig folgen  die  bezüglichen  Daten  für  die  Jahre   1893 — 1899^). 


I)  Vgl.  The  Labour  Gazette,   1900,  N0,   i. 


—     2дЬ     — 


Anzahl  der 

Durchschnittliche  Veränderun- 

Tm 

Arbeiter,  deren 

gen   in  den  Wochenlöhnen 

Jahre 

Löhne  eine 

pro 

Kopf 

Veränderung 
erfahren  haben 

Steigen 

Sinken 

sh.      d. 

sh.      d. 

1893 

549  977 

-     5V2 

—      — 

1894 

670  386 

—      — 

I      4V, 

1895 

436718 

—       — 

I           3^/o 

1896 

607  654 

-    10V2 

— 

1897 

597  444 

I     o'U 

—      — 

1898 

I  015  169 

I      7 

—      — 

1899 

I  III  197 

I     67, 

—      — 

Trotz  der  schweren  Arbeitslosigkeit  sind  die  Löhne  im  Jahre 
1893  nach  den  Daten  des  Berichtes  etwas  gestiegen.  Während  der 
zwei  nachfolgenden  Jahre  sanken  die  Löhne;  aber  dieses  Sinken  war 
im  Vergleich  zum  Sinken  der  Löhne  während  der  früheren  Krisen 
ganz  unbedeutend.  Die  Löhne  sanken  im  Durchschnitt  um  etwas 
mehr  als  i  wSchilling  pro  Woche,  d  h.  wahrscheinlich  bedeutend 
weniger  als  um  5  ^/q. 

In  dieser  Stabilität  der  Löhne  trotz  der  Arbeitslosigkeit  besteht 
der  wesentliche  Unterschied  zwischen  der  heutigen  Arbeitslosigkeit 
und  der  der  früheren  Zeit.  Dieser  Unterschied  ist  hauptsächlich  dem 
Umstand  zu  danken,  dass  die  Arbeiter  organisiert  sind.  Obwohl  die 
Zahl  der  nicht  organisierten  Arbeiter  die  der  organisierten  bei  weitem 
übertrifft,  so  kommen  die  Vorteile  der  Organisation  in  gewisser  Be- 
ziehung der  gesamten  Arbeiterklasse  zu  gute.  Der  englische  Arbeits- 
markt stellt  schon  nicht  mehr  eine  chaotische  Ansammlung  von 
Arbeitern  dar,  die  durch  nichts  miteinander  verbunden  werden  und  die 
miteinander  als  Verkäufer  ihrer  Arbeitskraft  konkurrieren.  Eine  ver- 
hältnismässig kleine  Gruppe  von  Trade-Unionisten  regelt  die  Be- 
dingungen des  Arbeitsvertrages  für  die  ganze  übrige  Masse  der  ge- 
lernten und  zum  Teil  auch  der  ungelernten  Arbeiter,  und  die  Fabrik- 
gesetze beschränken  die  Konkurrenz  unter  den  Arbeitern  von  einer 
anderen  Seite.  Die  Unterstützungsvereine  (Friendly  Societies)  wie 
die  Konsumvereine  stärken  gleichfalls  die  ökonomische  Macht  des 
englischen  Arbeiters.  In  derselben  Richtung  wirkt  auch  die  allge- 
meine Erhöhung  des  Standard's  of  life  des  Arbeiters.  Daher  treffen 
die  Krisen  der  neuesten  Zeit  mit  ihrer  vollen  Wucht  nur  die 
schwächeren  Arbeiter,  üben  aber  nicht  den  früheren  niederdrückenden 
Einfluss  auf  die  Arbeiterklasse  in  ihrer  Gesamtheit  aus. 


KAPITEL  II. 

Der  Chartismus. 


Die  Arbeitslosenbewegungen  während  der  Geschäftsstockung  der  20  er  Jahre.  —  Die 
Zerstörung  der  Webemaschinen  im  Jahre  1826  in  Blackburn  und  anderen  Städten.  —  Die 
Arbeitslosigkeit  des  Jahres  1829.  —  Der  Chartismus.  —  Der  Zusammenhang  des  Chartis- 
mus mit  der  Arbeitslosigkeit.  —   Das  neue  Armengesetz.   —    Die  Agitation  gegen  dasselbe. 

—  Die  Entstehung  einer  Agitation  zu  Gunsten  der  „Volkscharte".  —  Der  innere  Wider- 
spruch zwischen  dem  politischen  Programm  des  Chartismus  und  seinen  ökonomischen  Ursachen. 

—  Die  \^ertreter  der  politischen  Richtung  im  Chartismus.  —  Die  Vertreter  der  sozialen 
Strömung.  —  Das  Fehlen  eines  positiven  sozialen  Reformprogramms.  —  Die  Chartisten- 
meetings. —  Die  erste  nationale  Petition  der  Chartisten.  —  Die  Rede  D Israelis  im  Par- 
lament. —  Die  Arbeitslosigkeit  und  die  Notlage  der  Bevölkerung  zu  Beginn  der  40  er  Jahre. 

—  Die  zweite  nationale  Petition.  —  Der  Verfall  des  Chartismus  zur  Zeit  der  Wieder- 
kehr des  industriellen  Aufschwungs.  —  Der  ,,Agтaфlan"  von  O'Connor.  —  Romantisch- 
utopische Elemente  im  Chartismus.  —  Das  letzte  Auflodern  des  Chartismus  während  der 
Arbeitslosigkeit  von   1848. 

Das  zweite  Viertel  dieses  Jahrhunderts  war  von  schweren 
Handelskrisen  gekennzeichnet,  auf  welche  andauernde  Arbeitslosig- 
keiten folgten.  Eine  Arbeitslosigkeit  in  akuter  Form  muss  soziale  Un- 
zufriedenheit und  Arbeitslosen bewegungen  hervorrufen.  In  diesem 
Kapitel  werden  wir  solche  Bewegungen,  welche  mit  den  Handels- 
krisen der  2 о  er,  30  er  und  40  er  Jahre  im  Zusammenhang  standen, 
darzustellen  versuchen. 

Die  Krisis  von  1825  rief  eine  Arbeitslosigkeit  hervor,  die  mit 
einigen  Unterbrechungen  bis  zum  Jahre  1830  andauerte.  Die  Arbeits- 
losigkeit war  besonders  schwer  unter  den  Arbeitern  der  Textil- 
industrie, hauptsächlich  unter  den  Baumwoll-  und  Seiden webern. 

So  gab  es  in  Macclesfield,  dem  Centrum  der  Seidenweberei  Lancas- 
hires,  Ende  Januar  gegen  9  —  loooo  Arbeitslose.  In  Conglton  (Cheshire) 
wurde  im  Jahre  1825  auf  5325  Seiden  Webstühlen  gearbeitet;  im  Februar 
1826  nur  noch  auf  2275.  Die  Anzahl  der  beschäftigten  Seidenarbeiter 
ging  von  13999  3.uf  5860  zurück.  Insgesamt  erreichte  die  Anzahl  der 
Arbeitslosen    1 1 893.       Von    der    Stimmung    unter    den    Arbeitslosen 


—    298    — 

konnte  man  sich  nach  den  in  der  Stadt  angeschlagenen  Plakaten 
eine  Vorstellung  machen;  da  hiess  es:  „Brot  oder  Blut"  —  „Keine 
Arbeit,  nieder  mit  dem  Könige!"  u.  s.  w.  In  Spitalfield  erreichte  die 
Zahl  der  arbeitslosen  Seidenweber  18000.  In  einer  ganzen  Reihe 
von  Städten  —  London,  Bradford,  Manchester,  Macclesfield ,  Leeds, 
Blackburn  und  anderen  —  wurden  Komitees  zur  Unterstützung  der 
notleidenden  Arbeiter  gebildet. 

Im  März  1826  haben  in  Macclesfield  Unruhen  unter  den 
Arbeitern  stattgefunden.  Während  einiger  Tage  sammelten  sich  die 
Weber  in  den  Strassen  an,  wo  sie  auf  die  Entscheidung  der  Regierung 
über  die  Erlaubnis  der  Einfuhr  seidener  Stoffe  nach  England  warteten. 
(Die  Seiden weber  waren,  ebenso  wie  die  Fabrikanten,  heftige  Gegner 
der  liberalen  Zollreformen  von  Huskisson  und  erwarteten  von  der 
Zulassung  französischer  Seidenstoffe  auf  den  englischen  Markt  den 
Untergang  der  englischen  Seidenindustrie.)  Als  am  i.  März  bekannt 
wurde,  dass  die  Regierung  den  Aufschub  dieser  Erlaubnis  nicht 
bewilligen  wollte,  begannen  die  Weber  in  ihrer  Wut  Laternen  zu  zer- 
schlagen und  Bäckereien  zu  plündern.  Am  anderen  Tage  wurden 
die  Ruhestörungen  fortgesetzt.  Die  Arbeitslosen  schlugen  Fenster 
ein  und  plünderten  alles,  was  sie  konnten.  Der  Aufruhr  wurde  nur 
durch  Hinzuziehung  von  Dragonern  gebändigt. 

Einen  noch  grösseren  Umfang  erreichten  die  Ruhestörungen 
der  arbeitslosen  Baumwollweber  in  Blackburn.  Diese  Unruhen 
bildeten  einen  der  letzten  Versuche  der  englischen  Arbeiter,  gegen 
das  b'abriksystem  durch  Zerstörung  der  Maschinen  zu  kämpfen. 
Wie  die  Seidenweber  die  Ursache  ihrer  Notlage  in  der  liberalen 
Zollpolitik  der  Regierung  sahen,  so  erkannten  die  Baumwollhandweber 
mit  grösserem  Recht  als  ihren  am  meisten  gefährlichen  und  schonungs- 
losen Feind  die  Webemaschinen.  Am  18.  April  stürzte  sich  ein 
Haufen  von  Handwebern  auf  eine  Baumwollwebefabrik  in  der  Um- 
gegend von  Blackburn,  auf  der  mechanische  Webstühle  aufgestellt 
waren;  es  kam  aber  nur  zum  Zerschlagen  der  Fensterscheiben,  da 
die  Soldaten  weitere  Zerstörungen  verhinderten.  Am  24.  April 
wiederholten  sich  jedoch  die  Ruhestörungen  mit  viel  ernsterem 
Charakter.  In  vier  Fabriken  in  der  Umgegend  Blackburns  wurden 
alle  mechanischen  Webstühle  zerstört.  Dann  zogen  dieselben  Haufen 
in  einer  Anzahl  von  einigen  Tausend  Mann  nach  Blackburn  hin. 
Gegen  500  Mann  waren  mit  Piken  bewaffnet,  einige  hatten  Gewehre 
oder  Pistolen  bei  sich.  Die  Menge  stürzte  sich  sofort  auf  eine  Fabrik 
und  vernichtete  die  Webemaschinen.  Dasselbe  wiederholte  sich  auch 
mit    einer   anderen    Fabrik.      Es   waren    wenige    Soldaten    zur   Stelle, 


—      299      — 

und  trotz  des  Feuers,  das  sie  eröffneten,  wodurch  einige  Arbeiter 
getötet  wurden,  konnten  sie  mit  der  Menge  nicht  fertig  werden. 
Alle  Dampfwebstühle  in  Blackburn   und  Umgegend   wurden  zerstört. 

Die  Ereignisse  in  Blackburn  haben  ähnliche  Auftritte  im  ge- 
samten I.ancashire  veranlasst.  Die  Weber  überfielen  die  Fabriken 
und  zerstörten  die  Webemaschinen.  In  Manchester  wurde  eine 
Fabrik  in  Brand  gesteckt.  Das  Militär  schoss,  und  die  Zahl  der 
Getöteten  und  Verwundeten  war  keine  geringe.  Die  Centren  der 
Ruhestörungen  waren  Manchester,  Wigan,  Bolton  und  Blackburn. 
Die  Unruhen  hielten  mehr  als  eine  Woche  an,  wobei  insgesamt 
17  Fabriken  überfallen  und  gegen  1000  Webemaschinen  zerstört 
wurden.  Schliesslich  wuchs  die  Menge  der  Angreifer  auf  viele 
Tausende  an.  wSie  zerstörte  nicht  nur  die  Maschinen,  sondern  sie 
plünderte  auch  die  Bäckereien  und  beraubte  alle  vorübergehenden 
anständig  gekleideten  Leute. 

Die  Ruhestörer  setzten  sich  fast  ausschliesslich  aus  den  arbeits- 
losen Baumwollhandwebern  zusammen,  deren  Lage  eine  verzweifelte 
war.  In  Blackburn  allein  erreichte  die  Zahl  der  arbeitslosen  Weber 
einschliesslich  ihrer  Familien  14  Tausend  Köpfe,  d.  h.  mehr  als  die 
Hälfte  der  Bevölkerung,  die  in  Blackburn  22  Tausend  betrug.  Die 
Arbeitslosen  erhielten  eine  Unterstützung  in  der  Form  von  Nahrungs- 
mitteln, aber  diese  war  so  kärglich,  dass  „The  Times"  in  ihrem  Leit- 
artikel vom  18.  April  ohne  Umschweife  erklärte:  „Kurzum,  die 
Arbeiter  Blackburns  sterben  vor  Hunger." 

Die  Stimmung  der  Arbeiter,  die  diese  Unruhen  gezeitigt  hat, 
kann  man  nach  einer  Petition  beurteilen,  die  die  Handweber  der 
Stadt  Bolton  an  den  Kolonialminister  Lord  Bathurst  gerichtet  haben. 
In  dieser  Petition  baten  die  Weber,  ihnen  Hilfsmitteln  für  die  Aus- 
wanderung aus  England  zu  gewähren.  „Der  Wunsch,  aus  der  Heimat 
auszuwandern",  so  hiess  es  in  der  Petition,  „sei  nicht  ein  momentaner  Be- 
schluss,  hervorgerufen  durch  die  äusserste  Notlage,  in  der  die  Petenten 
sich  augenblicklich  befänden,  sondern  er  sei  nach  reiflicher  Ueberlegung 
gefasst.  Einige  von  ihnen  erinnerten  sich  der  Zeit,  wo  sie  genug  ver- 
dienen konnten,  um  sich  im  Alter  zu  erhalten  und  um  ihre  Familie 
zu  ernähren.  Ursachen,  die  nicht  von  ihnen  abhingen,  hätten  diesen 
Wohlstand  in  den  Zustand  eines  äussersten  Elends  verwandelt.  Sie 
stünden  jetzt  auf  der  niedrigsten  Stufe,  auf  der  sich  jemals  menschliche 
Wesen  befunden  hätten,  und  seien  tiefer  ins  Elend  gesunken  als,  wie 
die  Geschichte  zeige,  jemals  irgend  ein  Teil  der  industriellen  Be- 
völkerung in  der  früheren  Zeit  .  .  .  Die  Hilfe,  die  durch  freiwillige 
Spenden  geleistet  würde,  sei  zu  unbedeutend,   und  ihre  Annahme  sei 


—     зоо     — 

zudem  mit  dem  natürlichen  Unabhängigkeitsgefühle  unvereinbar  .  .  . 
Es  sei  dies  ein  schrecklicher  Zustand,  wenn  ein  freier  Mann  durch 
seine  Arbeit  nicht  genügend  für  seine  Ernährung  verdienen  könne; 
aber  noch  schrecklicher  sei  es,  wenn  man  sogar  eine  so  karg  bezahlte 
Beschäftigung  nicht  erlange  ^)." 

Die  Unruhen  in  Lancashire  versetzten  die  englische  Gesellschaft 
in  eine  äusserste  Bestürzung.  In  London  wurde  sofort  ein  Central- 
komitee  für  Arbeitslosenunterstützung  gebildet,  das  in  den  drei  Jahren, 
1826 — 1829,  die  bedeutende  Summe  von  232  Tausend  Pfund  auf- 
gebracht hat  Ausserdem  brachten  zahlreiche  lokale  Komitees  für 
denselben  Zweck  grosse  Summen  auf 

Die  zwei  darauffolgenden  Jahre  brachten  eine  gewisse  Ver- 
besserung, aber  das  Jahr  1829  war  ein  fast  ebenso  schweres  wie  das 
Jahr  1826.  In  Lancashire  begannen  wieder  Unruhen  unter  den 
Arbeitslosen,  die  von  einer  Zerstörung  der  Maschinen  und  von  einer 
Plünderung  der  Läden  begleitet  waren.  Im  P'rühling  wurde  die 
Arbeitslosigkeit  in  Manchester  besonders  schwer.  Am  3.  Mai  stürzte 
sich  ein  Haufen  Handweber  auf  die  Fabriken,  bemächtigte  sich  ihrer, 
zerstörte  die  Maschinen  und  verbrannte  eine  Fabrik  bis  auf  den 
Grund  vor  den  Augen  der  PoHzei.  Am  nächsten  Tage  erfolgte  die 
Plünderung  von  Bäckereien  und  Esswarenläden. 

Fast  zur  selben  Zeit  fanden  Ruhestörungen  der  Wollweber  in 
Rochdale  statt,  die  gleichfalls  von  einer  Zerstörung  der  Maschinen 
begleitet  waren.  Als  einige  von  den  Arbeitern,  die  an  dem  Angriff 
auf  die  Fabriken  beteiligt  waren,  verhaftet  und  ins  Gefängnis  gesteckt 
wurden,  griff  die  Menge  das  Gefängnis  an.  Das  überwachende 
Militär  gab  Feuer,  und  erst  nach  einigen  Salven,  die  5  Mann  auf 
der  Stelle  getötet  und  25  verwundet  haben,  zerstreute  sich  die 
Menge. 

Von  dem  Umfang  der  Not  im  Herbste  1829  kann  man  sich 
nach  den  folgenden  Beispielen  eine  Vorstellung  machen.  In  Burnsley 
nahm  Ende  August  das  Komitee  der  Weber  eine  Untersuchung  der 
Lage  der  Arbeiter  auf.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  von  3703  Web- 
stühlen nur  170  volle  Zeit,  1689  zeitweise,  1844  aber  gar  nicht  be- 
schäftigt wurden.  Im  September  haben  in  diesen  Städten  Ruhe- 
störungen von  Seiten  der  Arbeitslosen  stattgefunden,  wobei  eine 
Fabrik  in  Brand  gesetzt  und  einige  Häuser  der  Fabrikanten  ge- 
plündert wurden. 

In  Macclesfield  standen  993  Häuser  leer  und  34  Fabriken 
arbeiteten  nicht. 

i)  The  Times,    1826,  vom  20.  Mai. 


—     30I      — 

In  Huddersfield,  das  eine  Bevölkerung  von  29  Tausend  hatte, 
verdienten  660  Arbeiter  i  Schilling  pro  Tag,  420  7  d.  pro  Tag, 
-439  5V2  d.  pro  Tag  und   13226  nicht  mehr  als  2Y2  d. 

Wie  sehr  die  Löhne,  selbst  der  besser  bezahlten  Fabrikarbeiter, 
unter  dem  Einfluss  der  Arbeitslosigkeit  heruntergegangen  waren, 
davon  giebt  uns  einen  Begriif  der  Avichtige  Streik  in  Stockport  und 
anderen  benachbarten  Städten,  der  durch  die  seitens  der  Fabrikanten 
erfolgte  Ankündigung  einer  weiteren  Lohnreduktion  für  die  Baum- 
wollenspinner hervorgerufen  war;  die  Löhne  der  Baumwollenspinner 
waren  nämlich  bereits  im  Vergleich  zu  denen  des  Jahres  1828  um 
30  7o  gesunken,  jetzt  sollten  sie  wieder  um  5 — 25^0  herabgesetzt 
werden.  Der  Streik  breitete  sich  auf  alle  Nachbarstädte  aus,  insge- 
samt stellten  30 — 40  Tausend  Arbeiter  die  Arbeit  ein^). 

Die  Arbeitslosigkeit  Ende  der  30er  und  Anfang  der  40er  Jahre 
war  von  der  grössten  politischen  Bewegung  der  englischen  Arbeiter- 
klasse der  Neuzeit  begleitet.  Der  Chartismus  war,  wie  wir  es  in 
folgendem  zu  zeigen  versuchen  werden,  zum  bedeutenden  Teil  aus 
dieser  Arbeitslosigkeit  entstanden.  In  der  ganzen  Geschichte  der 
Arbeiterklasse  in  England  hatte  es  noch  keine  so  schwere  Epoche 
gegeben  wie  diese  Jahre.  Gerade  in  dieser  Zeit  geschah  die  endgiltige 
Verdrängung  der  Hausweberei  durch  die  Fabrikweberei.  Hundert- 
tausende von  Arbeitern,  die  seit  jeher  gewohnt  waren,  in  ihren 
Kottagen  auf  Hand  Webstühlen  zu  arbeiten,  waren  zum  äussersten 
Grad  der  Verelendung  gebracht  worden.  Dazu  kam  eine  ganze 
Reihe  anderer  Umstände,  die  die  Lage  der  Haus-  wie  der  Fabrik- 
arbeiter noch  mehr  verschlechterten.  Erstens  die  aussergewöhnlich 
andauernde  Geschäftsstockung.  Nur  im  Jahre  1838  war  der  Handel 
belebt.  Das  ganze  übrige  Jahrfünft  von  1837 — ^^4^  bedeutete  für 
denselben  eine  vollständige  Stockung.  Diese  Stockung  war  begleitet 
und  zum  Teil  hervorgerufen  durch  eine  Reihe  von  Missernten  in 
England,  die  auf  gute  Erntejahre  Anfang  der  30er  Jahre  folgten. 
Die  Missernten  haben  nicht  nur  eine  Verarmung  des  platten  Landes 
hervorgerufen,  sondern  indirekt  auch  auf  die  industriellen  Arbeiter 
höchst  niederdrückend  gewirkt,  indem  sie  das  Getreide  verteuerten 
und  eine  intensive  Auswanderung  der  ländlichen  Bevölkerung  nach 
den  Städten  hervorriefen,  was  ein  Sinken  der  Löhne  der  städtischen 
Arbeiter  zur  Folge  hatte. 


i)  Alle  oben  angeführten  Daten  sind  der  Zeitung  „The  Times"  —  den  Nummern 
vom  16.,  27.,  29.,  30.  Januar,  4,,  16.  Februar,  2.,  4.,  20.  März,  4.,  18.,  30.  April  1826; 
vom  4.,    18.  Mai,   29.  September   1829;  vom   27.  Februar   1830  —  entnommen. 


i02 


Sodann  hat  zur  Vergrösserung  der  Last  dieser  Arbeitslosigkeit 
die  Reform  der  Armengesetze  im  Jahre  1834  bedeutend  beigetragen; 
dank  dieser  Reform  gingen  die  Arbeiter  der  gewohnten  Unterstützung 
seitens  des  Kirchspiels  verlustig,  solange  sie  in  ihrem  eigenen  Heime 
verblieben.  Diese  Reform  war  die  wichtigste  soziale  Massregel  des 
reformierten  Parlaments.  Ihr  Zweck  war  eine  möglichst  grosse  Ein- 
schränkung der  Ausgaben  für  Armenunterstützung;  als  Mittel  dazu 
sollte  es  dienen,  dass  die  Erhaltung  einer  Unterstützung  an  möglichst 
lästige  Bedingungen  für  die  Armen  geknüpft  wurde.  Mit  dem 
Eintritt  in  ein  Arbeitshaus  (das  im  vollen  Sinne  des  Wortes  ein 
Gefängnis  mit  schwerer  Zwangsarbeit  war)  wurden  der  Mann  von 
der  Frau,  die  Eltern  von  den  Kindern  getrennt.  Da  aber  für  die 
älteren  Arbeiter  das  Leben  auf  Kosten  des  Kirchspiels  das  fast  un- 
vermeidliche Los  war  (wir  werden  weiter  unten  sehen,  dass  sogar 
heute  noch  nahezu  die  Hälfte  der  älteren  Arbeiter  ohne  eine  Unter- 
stützung seitens  der  Armenadministration  nicht  auskommen  kann),  so 
kann  man  sich  leicht  vorstellen,  welch  eine  Entrüstung  solche  Mass- 
nahmen bei  den  Arbeitern  hervorrufen  mussten.  Im  Arbeitshaus 
wurde  während  des  Essens  die  Unterhaltung  verboten;  seine 
unglücklichen  Insassen  hatten  nicht  das  Recht,  das  Arbeitshaus  zu 
verlassen,  nicht  einmal  an  Sonntagen,  um  in  die  Kirche  zu 
gehen  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Thomas  Attwood,  der  Führer  der  Radikalen  in  Birmingham,  be- 
zeichnete die  betreffende  Bill  während  ihrer  Beratung  im  Parlament  als 
„schamloseste  Plünderung  der  armen  Leute".  Der  berühmte  Cobbett 
drückte  sich  über  die  Bill  noch  schärfer  aus.  „Wenn  die  armen 
Leute  in  der  Not  ihres  gesetzlichen  Rechtes  auf  Unterstützung  ver- 
lustig gehen,"  sagte  er  in  einer  der  Parlamentssitzungen,  „welches 
natürliche  oder  menschliche  Gesetz  kann  sie  dann  des  Rechtes  be- 
rauben, sich  anzueignen,  wessen  sie  bedürfen,  um  nicht  Hungers 
zu  sterben?  Raub  und  Gewaltthaten  werden  notwendig  sein  .  .  .  . 
Er  (Cobbett)  sei  überzeugt,  dass  das  Parlament  dieses  Gesetz  nicht 
annehmen  werde,  und  sollte  sich  irgend  ein  Parlament  in  Zukunft 
dazu  entschliessen,  so  würde  das  einen  Kampfruf  gegen  die  Kottage 
bedeuten,  auf  den  nur,  wenn  die  Vorsehung  es  wolle,  ein  Kampf- 
ruf gegen  die  Paläste  antworten  werde."  Das  Unterhaus  liess  sich 
aber  durch  diese  Drohungen  nicht  einschüchtern,  und  die  Bill  wurde 
in  der  dritten  Sitzung  mit  einer  Majorität  von  187  gegen  50  ange- 
nommen ^). 


I)   Hansard's   Parlamentary  Debatcs,   1834,   Vol.   24,  S.    1052. 


—     ЗОЗ     — 

Eine  interessante  Rede  zu  Gunsten  der  Bill  hielt  im  Oberhause 
Lord  Brougham,  der  wahre  Urheber  der  Reform.  Bei  der  so 
grossen  Unpopularität  Malthus'  in  weiten  Kreisen  der  englischen 
Gesellschaft  war  ein  gewisser  Mut  erforderlich,  um  sich  oifen  als 
seinen  Anhänger  zu  bekennen,  wie  das  Lord  Brougham  gethan  hat. 
Seine  Rede  war  eine  wahre  Dithyrambe  zu  Ehren  Malthus'.  Broug- 
ham nannte  ihn  „den  klügsten,  den  gelehrtesten  und  den  tugend- 
haftesten Menschen,  eine  Zierde  der  Gesellschaft,  in  der  er  lebe, 
einen  Gegenstand  der  Bewunderung  seitens  der  Vertreter  der  Wissen- 
schaft, unter  denen  er  die  erste  und  die  glänzendste  Leuchte  sei  .  .  . 
Jede  Art  Wohlthätigkeit  mit  wenigen  Ausnahmen  —  erklärte  ferner 
Brougham  —  widerspreche  den  Prinzipien  der  politischen  Oekonomie. 
Selbst  Greise  verdienten  keine  Unterstützung;  da  das  Alter  einen 
jeden  ereile,  so  müssten  alle  umsichtigen  Leute,  so  lange  sie  Kräfte 
hätten,  genügend  sparen,  um  sich  im  Alter  erhalten  zu  können.  Da- 
her müssten  die  Asyle  für  alte  Männer  und  Frauen  streng  genommen 
als  schädlich  für  die  Gesellschaft  bezeichnet  werden;  immerhin  werde 
ihre  schlechte  Wirkung  noch  durch  ihre  guten  Seiten  gemildert. 
Jedoch  widerspreche  eine  andere  Art  der  Wohlthätigkeit,  zu  der  er 
(Brougham)  jetzt  übergehe,  ganz  entschieden  allen  gesunden  Prin- 
zipien; er  meine  die  Kinderasyle,  mögen  sie  nun  vom  Staate  oder 
von  Privatpersonen  errichtet  werden.  Solche  Asyle,  mit  Ausnahme 
der  für  die  Waisen  bestimmten,  seien  ein  wahrer  Uebelstand;  am 
allerschlimmsten  aber  seien  die  Findelhäuser.  Diejenigen,  von  denen 
die  Armengesetze  der  Königin  Elisabeth  ausgingen,  wären  in  der 
Gesellschaftswissenschaft  nicht  bewandert;  ihnen  sei  das  wahre  Be- 
völkerungsgesetz unbekannt  gewesen,  sie  könnten  nicht  voraussehen, 
dass  eines  Tages  Malthus  kommen  und  das  menschliche  Geschlecht 
über  diesen  wichtigen,  aber  bis  jetzt  noch  schlecht  verstandenen 
Wissenszweig  aufklären  würde;  sie  kannten  das  wahre  Prinzip  nicht, 
auf  dem  man  Präventivmassregeln  gegen  eine  übermässige  Ver- 
mehrung der  Bevölkerung  aufbauen  müsse"  i). 

Der  Cynismus  dieser  Erklärungen  kam  nur  ihrer  Naivetät 
gleich.  Wenn  man  auch  mit  Brougham  darin  einverstanden  wäre, 
dass  Leute,  die  nicht  arbeiten  und  nicht  sparen  wollen,  keine  Unter- 
stützung verdienen,  so  bliebe  doch  eine  sehr  wichtige  P>age,  für  die 
sich  der  ehrwürdige  Lord  nicht  im  geringsten  interessierte,  die  aber 
für  den  Arbeiter  die  wichtigste  war,  nämlich,  auf  welche  Weise 
eine    Beschäftigung    zu   finden,    wenn    der    Unternehmer    eine    solche 


i)  Hansard's  Parliamantary  Debatcs   1834,  Vol.  25,  S.  221,   224,  229. 


—      304     — 

nicht  gewährt.  Der  Arbeiter  suchte  nichts  anderes  als  Arbeit,  aber 
gerade  dieselbe  konnte  er  oft  nirgends  anderswo  als  im  Arbeitshause 
finden.  Dann  aber  erhielt  er  keine  produktive  Arbeit,  sondern  nur 
eine  Arbeitslast,  die  ein  rein  neg'atives  Ziel  hatte  —  den  Aufenthalt 
im  Arbeitshause  für  seinen  unfreiwilligen  Insassen  möglichst  drückend 
zu  machen. 

„Um  mit  allen  Leiden  Englands  zu  endigen  —  schrieb  aus  Anlass 
der  neuen  Armengesetze  Carlyle  --  giebt  es  nur  ein  Mittel,  die  Ver- 
weigerung der  Unterstützung  ausserhalb  des  Arbeitshauses.  England 
lag  krank  und  unzufrieden,  kraftlos  auf  seinem  Schmerzenslager, 
finster  und  von  tiefer  Verzweiflung  erfüllt,  unbesonnen  und  unüber- 
legt, —  und  da  erscheint,  wie  Hyperion  der  Länder  des  Orients,  die 
Administration  der  Armengesetze  und  sagt:  es  sollen  Arbeitshäuser 
da  sein  und  in  ihnen  Brot  und  Wasser  des  Kummers  geben!  Es 
war  das  eine  einfache  Erfindung-  wie  alle  wahrhaft  grossen  Erfin- 
dungen. Und  siehe  da,  überall,  wo  sich  die  Mauern  eines  Arbeits- 
hauses erheben,  verschwindet  das  Eilend  und  das  Leid  aus  dem 
Gesichtskreise,  es  verschwindet  ganz,  wie  einige  hoffen,  und  wird 
zu  nichte;  Arbeitsamkeit,  Nüchternheit,  Ueberfluss,  Steigerung  der 
Löhne,  Friede  auf  Erden  und  der  allgemeine  Wohlstand  treten  un- 
vermeidlich —  nach  den  Berichten  der  Administration  der  Armen- 
gesetze —  mehr  oder  minder  rasch  zur  Freude  aller  Parteien  ein"  ^). 

Unter  solchen  Bedingungen  war  es  ganz  natürlich,  dass  die 
Arbeitslosigkeit,  die  auf  die  Krise  von  1836  folgte  und  mehrere 
Jahre  hindurch  anhielt,  eine  massenhafte  Verelendung  der  x\rbeiter- 
klasse  verursachte  und  eine  äusserste  Unzufriedenheit  und  Erregung 
unter  den  breiten  Bevölkerungsgeschichten  hervorrief. 

Die  Handelskrisis  von  1836  führte  sofort  zu  einer  ganzen  Reihe 
von  wStreiken.  Anfang  November  begann  ein  Streik  in  Staffordshire, 
der  die  Schliessung  der  meisten  Fabriken  in  diesem  Bezirk  zur  Folge 
hatte.  Gegen  40  Tausend  Arbeiter  wurden  auf  das  Pflaster  gesetzt. 
In  Preston  führte  der  Streik  in  einigen  Baumwollfabriken  gleichfalls 
zur  Schliessung  aller  übrigen  Fabriken,  und  15  Tausend  Arbeiter 
blieben  beschäftigungslos.  Eine  ähnliche  massenhafte  Einstellung  der 
Produktion  erfolgte  auch  in  vielen  anderen  Städten  Lancashires 
(Oldham,  Ashton  u.  s.  w.).  Die  Unternehmer,  die  die  Vorteile  einer 
Einstellung  der  Produktion  während  einer  Geschäftsstockung  sehr 
gut  verstanden,  traten  solidarisch  auf,  und  der  Streik  in  einer  Fabrik 
zog  die  Schliessung  aller  übrigen  nach  sich. 


i)  Thomas  Carlyle,  Chartism.,   London    1840,  S.    16. 


—     305     — 

Im  Jahre  1837  erfolgte  der  epochemachende  Streik  der  Spinner 
in  Glasgow,  in  dessen  Verlauf  ein  Arbeiter  auf  offener  Strasse  ge- 
tötet wurde,  wie  man  annahm,  von  den  Mitgliedern  eines  Gewerk- 
vereins. Obwohl  das  letztere  durchaus  nicht  bewiesen  war,  wurden 
mehrere  Arbeiter  zur  Zwangsarbeit  auf  einige  Jahre  verurteilt.  Unter 
den  besitzenden  Klassen  entstand  eine  energische  Bewegung  gegen 
die  Gewerkvereine.  Die  massenhaften  Streiks  des  Jahres  1837 
endigten  zu  Ungunsten  der  Arbeiter  und  führten  in  einigen  Fällen 
zum  Zusammenbruch  der  Arbeiterorganisationen,  die  sie  unterstützt 
hatten.  Das  Ende  der  30er  Jahre  war  überhaupt  eine  Zeit  der 
rückläufigen  Bewegung  des  Trade-Unionismus.  „Die  Mitgliederzahl 
der  noch  am  Leben  befindlichen  Trade-Unions,  sagen  S.  und  B.  Webb, 
nahm  reissend  ab.  Die  Gewerkschaft  der  englischen  Steinmaurer, 
vielleicht  die  stärkste  der  damaligen  Verbindungen,  stürzte  sich  im 
Jahre  1841  in  absoluten  Bankerott  durch  einen  verhängnisvollen 
Streik  ...  Es  brach  fast  um  dieselbe  Zeit  der  gleich  starke  oder 
noch  stärkere  Verein  der  schottischen  Steinmaurer  zusammen.  Die 
Gewerkschaften  in  Glasgow  waren  infolge  der  unglücklichen  Vor- 
kommnisse des  Jahres  1837  i^  völlige  Desorganisation  geraten.  Die 
Textilarbeiter  Eancashires  gaben  kein  Lebenszeichen  von  sich, 
während  im  Wachsen  begriffene  Verbindungen,  wie  die  der  Eisen- 
giesser,  die  der  Dampfmaschinenbauer  und  Mühlenbauer  und  die  der 
Kohlenschmiede,  durch  die  schweren  Anforderungen  der  arbeitslosen 
Mitglieder  an  ihre  Kassen  lahm  gelegt  wurden.  Die  geistige  Ver- 
fassung der  arbeitenden  Klassen  war  nicht  günstiger  als  der  Zustand 
der  Geschäfte.  Grimmige  Unzufriedenheit  und  bitterer  Verdruss  sind 
die  charakteristischen  Merkmale  dieser  Periode'' i). 

Der  Trade-Unionismus  machte  dem  Chartismus  Platz.  Der 
Trade-Unionismus  erfordert  für  seinen  Erfolg  eine  günstige  Lage 
des  Arbeitsmarktes.  Die  Jahre  der  Arbeitslosigkeit  werden  stets 
durch  die  Abnahme  der  Zahl  der  Mitglieder  der  Gewerkschaften  und 
durch  die  Schwächung  der  organisatorischen  Bewegung  überhaupt 
gekennzeichnet.  Dagegen  erstarken  in  Perioden  der  Depression  die 
politischen  Bestrebungen  der  Arbeiterklasse.  Die  schwerste  Arbeits- 
losigkeit dieses  Jahrhunderts  war  von  der  revolutionärsten  Arbeiter- 
bew^egung,  dem  Chartismus,  und  zugleich  von  einem  vollständigen 
Verfalle  des  Trade-Unionismus  begleitet. 

Den  unmittelbaren  Anlass  zur  Chartistenagitation  hat  der  Kampf 


I)  Sidney  und  Beatrice  Webb,  Die  Geschichte  des  britischen  Trade-Unionismus. 
Deutsch  von   R.  Bernstein,  S.  137. 

T  u  g  а  n  -  В  а  r  а  n  0  w  s  к  у  ,  Die  TTan(l(,'lskrisen .  20 


—     зоб     — 

gegen  das  neue  Armengesetz  gegeben^).  Es  hat  wohl  kaum  je 
irgend  ein  Gesetz  einen  solchen  Hass  unter  der  Bevölkerung  hervor- 
gerufen wie  dieses.  Während  des  Jahres  1837  wurden  in  ga.nz 
England  Protestmeetings  gegen  das  neue  Gesetz  abgehalten  und 
Petitionen  um  seine  Abschaffung  eingereicht.  Und  das  kann  nicht 
Wunder  nehmen,  da  die,  denen  die  Ausführung  des  Gesetzes  oblag, 
alles  gethan  haben,  um  diesen  Hass  zu  verdienen.  Die  Unterstützung 
im  Arbeitshause  wurde  unter  solchen  Bedingungen  gewährt,  dass  nur 
die  äusserste  Not  einen  Menschen  veranlassen  konnte,  zu  dieser  Hilfe 
seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Eines  der  höheren  Mitglieder  der  Admi- 
nistration der  Armengesetze,  Dr.  Kaye,  erklärte  geradezu  auf 
einem  öffentlichen  Meeting:  „Unser  Zweck  ist,  die  Arbeitshäuser  den 
Gefängnissen  so  ähnlich  wie  möglich  und  den  Aufenthalt  darin  so 
lästig  wie  möglich  zu  machen"  ^).  Mit  den  Arbeitern  stimmten  in 
der  Entrüstung  gegen  das  neue  Gesetz  auch  viele  gutherzige 
Menschen  aus  den  besitzenden  Klassen  überein.  Die  Petitionen,  die 
von  allen  Seiten  an  das  Unterhaus  (dem  Unterhause  gingen  allein 
während  einer  Session  333  Petitionen  mit  268000  Unterschriften  zu 
Gunsten  einer  vollständigen  oder  partiellen  Abschaffung  des  Gesetzes 
zu^);  dagegen  liefen  zu  Gunsten  des  Gesetzes  nur  35  Petionen  mit 
952  Unterschriften  ein),  an  das  Oberhaus  und  an  den  König  ge- 
richtet wurden,  atmeten  alle  dieselbe  Entrüstung.  Das  neue  Gesetz 
wird  als  „unwürdig  eines  christlichen  Landes"  bezeichnet,  als  ein 
„despotisches",  „grausames",  „tyrannisches"  Gesetz.  Das  Arbeitshaus 
wird  ein  Gefängnis  genannt,  eine  „neue  ßastille",  in  der  man  mit  den 
Armen  wie  mit  den  Verbrechern,  die  der  strengsten  Strafe  würdig  sind, 
umgeht  .  .  .  „Ein  Resultat  dieser  Massregel  muss,"  lesen  wir  in  einer 
Petition,  „der  Kampf  der  Armen  gegen  die  Reichen  und  die  voll- 
ständige Entfremdung  der  Armen  gegenüber  der  Regierung  dieses 
Landes  sein^)."      ' 


i)  „Obwohl  der  gegenwärtige  erregte  Zustand  der  Arbeiter  im  Norden  nicht  auf 
eine  Ursache  zurückgeführt  werden  kann,  ist  es  doch  zur  Genüge  bekannt,  dass  gerade 
diese  freche  und  grausam  heuchlerische  Massregel  (das  neue  Armengesetz)  die  Geduld  der 
arbeitenden  Klasse  erschöpft  und  diese  zum  offenen  Kampfe  herausgefordert  hat  ...  Im 
Norden  wurde  dieses  ungeheuerliche  Gesetz  als  eine  Schöpfung  der  Todfeinde  des  Volkes 
betrachtet,  und  im  Kampfe  gegen  dasselbe  haben  sich  unsere  nördlichen  Brüder  erhoben :  Sie 
haben  diesem  Gesetze  eine  Feindschaft  bis  aufs  Messer  geschworen."  The  Poor  Law  and 
the  Movement.  The  London  Democrat,  1839,  Nr.  2.  Diese  Zeitschrift  wurde  von  J. 
Harney  herausgegeben  —  einem  der  extrem  revolutionären  Chartisten.  Der  Liebimgsheld 
Harneys  war  Marat. 

2)  Hansards  Parliamentary  Debatcs,    1838,  Vol.  41,  S.  10 14. 

3)  Rede  Fieldens  im  Parlament.     Hansards  Pari.  Debates,    1837,   Vol.  39,  S.  956. 

4)  The  Times,   24.  März    1837. 


—     307      — 

Die  Administration  der  Armengesetze  begann  sofort  nach  ihrer 
Entstehung  in  weitem  Umfang  die  Arbeiter  aus  den  landwirtschaft- 
lichen Bezirken  nach  den  industriellen,  auf  Bestellung  der  Fabrikanten, 
zu  transportieren.  In  Manchester  wurde  ein  spezielles  Bureau  er- 
richtet, in  dem  jeder  F^ibrikant  so  viel  Arbeiter  bestellen  konnte,  als 
er  brauchte:  diese  wurden  ihm  dann  als  lebende  Ware  aus  den  land- 
wirtschaftlichen Bezirken  geliefert.  Zwar  waren  diese  Auswanderungen 
der  Arbeiter  „freiwillige",  die  ländlichen  Arbeiter  gingen  darauf  ein. 
Aber  die  freiwillige  Einwilligung  war  in  Wirklichkeit  eine  Fiktion, 
da  die  Administration  die  Macht  hatte,  die  Arbeiter  zur  Auswanderung 
zu  zwingen:  sie  brauchte  dazu  bloss  ihnen  die  seitens  des  Kirch- 
spiels g'ewährte  Unterstützung  zu  entziehen  und  sie  in  einem  Arbeits- 
hause unterzubringen.  Es  ist  selbstverständlich,  dass  für  die  in- 
dustriellen Arbeiter  solche  Massenauswanderungen  der  Landarbeiter 
nach  den  Städten  eine  Herabdrückung  des  Standard's  of  life  in  der 
Stadt  bedeuteten,  v^^enn  auch  nicht  bis  auf  das  Niveau  des  Landes, 
so  doch  eine  bedeutende  Herabdrückung. 

Die  Opposition  gegen  das  neue  Gesetz  war  in  den  industriellen 
Bezirken  viel  heftiger  als  in  den  landwirtschaftlichen,  obwohl  die 
schlimmsten  Wirkungen  dieses  Gesetzes  geiade  in  den  landwirtschaft- 
lichen Bezirken  zu  verzeichnen  waren.  Der  Fabrikant  Fielden, 
einer  der  Führer  der  Bewegung  zu  Gunsten  des  i  о  stündigen  Arbeits- 
tages, erklärte  im  Unterhaus,  dass  die  Arbeiter  Lancashires  nie  eine 
Anwendung  des  Gesetzes  von  1834  i"  ihrer  Gegend  zulassen  w^erden 
und  dass,  falls  ein  solcher  Versuch  in  dem  Bezirk,  wo  er  wohne, 
gemacht  würde,  er  selbst  sich  an  die  Spitze  derer  stellen  w^ürde,  die  dem 
Gesetze  einen  offenen  Widerstand  leisten  würden.  Und  in  der  That 
stiess  die  neue  Administration  der  Armengesetze  in  den  industriellen 
Bezirken  nicht  selten  auf  den  hartnäckigsten  Widerstand  der  Be- 
völkerung. In  einigen  Fällen  konnten  die  Agenten  dieser  Adminis- 
tration sich  nur  durch  Flucht  vor  dem  Zorne  der  Volksmassen  retten. 
Diese  Opposition  hat  gewisse  praktische  Resultate  gehabt,  sie  be- 
wegte nämlich  die  Administration  bei  der  Anw^endung  des  Gesetzes 
von  seinen  strengen  Bestimmungen  bedeutend  abzuweichen.  In 
einigen  industriellen  Bezirken  behielt  die  neue  Administration  sogar 
das  frühere  System  der  Armenunterstützung  bei.  Die  Unterstützung 
arbeitsfähiger  Leute  ausserhalb  des  Arbeitshauses  hat  thatsächlich 
nicht  aufgehört.  Schon  der  Ueberfiuss  an  Arbeitslosen  in  der 
Periode  1837  — 1842  machte  es  unmöglich,  alle  Arbeitslosen  in  Arbeits- 
häuser unterzubringen,  da  diese  völlig  überfüllt  waren. 

Aber  alle  diese  Konzessionen  konnten  die  Bevölkerung  mit  dem 

2Ö* 


—     3o8     — 

neuen  System  der  Armenunterstützung  nicht  versöhnen.  Im  Novem- 
ber 1837  rief  die  Einführung  des  neuen  Gesetzes  in  Bradford  (in 
Yorkshire)  einen  ernsthaften  Zusammenstoss  des  Volkes  mit  dem 
Mihtär  hervor.  Die  Aufruhrakte  wurde  vorgelesen  und  einige 
Escadrons  ^""er  Kavallerie  attakierten  die  Menge,  die  sich  mit 
Steinwürfen  verteidigte.  Schliesslich  griffen  die  Soldaten  zum 
Seitengewehr. 

Mittlerweile  wuchs  die  Arbeitslosigkeit  beständig.  Besonders 
entsetzlich  war  die  Lage  der  Baumwollhandweber  in  Lancashire  und 
der  Seiden  Weber  in  Spitalfield.  In  Birmingham,  dem  Centrum  der 
Eisen  Warenproduktion,  war  die  Arbeitslosigkeit  auch  sehr  stark.  Im 
März  sandten  die  Fabrikanten  und  die  Händler  dieser  Stadt  eine 
Deputation  an  die  Regierung  mit  der  Bitte,  entschiedene  Massnahmen 
zu  ergreifen,  um  der  Notlage  cibzuhelfen  .  .  .  „Wenn  nicht  sofort  von 
der  Regierung  solche  Massnahmen  getroffen  werden,"  hiess  es  in  der 
Petition,  „so  wird  ein  bedeutender  Teil  der  Bevölkerung  beschäf- 
tigungslos bleiben  i)". 

Die  Agitation  des  Jahres  1837  war  hauptsächlich  gegen  das 
neue  Armengesetz  gerichtet.  Fast  jede  Nummer  des  „Bronterre's 
National  Reformer",  einer  Zeitschrift,  die  von  Bronterre  O'Brienne 
herausgegeben  wurde  (später  einem  der  hervorragendsten  Chartisten- 
führer), enthält  glühende  Geisselungen  dieses  Gesetzes.  So  lesen  wir 
in  der  ersten  Nummer  vom  7.  Januar  1837:  „Unsere  Arbeiterklasse, 
sowohl  die  Land-  wie  die  industriellen  Arbeiter,  sind  durch  die  Gier 
der  Unternehmer  bereits  auf  einen  so  niedrigen  Zustand  gebracht, 
dass  sie  gerade  noch  dem  vollständigen  Untergang  entgehen;  aber 
das  Geldungeheuer  (Money  monster)  ist  noch  nicht  gesättigt.  Als 
letztes  Mittel  hat  dieses  Ungeheuer  ein  neues  Armengesetz  geschaffen, 
um  die  Arbeiter  auf  das  niedrigste  Lebensniveau  herabzudrücken. 
Dieses  Gesetz  behandelt  die  Opfer  der  Armut  so,  wie  in  anderen 
Ländern  die  verurteilten  Verbrecher  behandelt  werden;  dieses  Gesetz 
giebt  die  Kleidung  des  Verbrechers,  die  Kost  des  Verbrechers  und 
das  Gefängnis  des  Verbrechers  einem  erschöpften  Manne,  dessen 
Arbeit  das  Ungeheuer  bereichert  hat  und  dessen  Schuld  nur  darin 
besteht,  dass  er  das  Ungeheuer  nicht  vor  100  Jahren  erwürgt  hat  .  .  . 
Das  sind  die  letzten  Mittel  des  industriellen  England  ...  Ja,  meine 
Freunde,  das  neue  Armengesetz  ist  der  letzte  blutige  Versuch  des 
Geldungeheuers,  den  zusammenbrechenden  Aufbau  dieses  menschen- 
mörderischen    Systems    aufrecht    zu     erhalten,     des    schonungslosen 


i)  Bronterres  National  Reformer,  Nr.  II,   1837. 


—      309      — 

Systems,  das  Euch  inmitten  des  von  Euch  selbst  geschaffenen  Reich- 
tums zu  Armen  macht  i)." 

BekanntUch  hatte  die  berühmte  „Charte"  der  Chartisten  einen 
durchaus  politischen  Charakter.  Sie  bestand  aus  6  Punkten.  Allge- 
meines Wahlrecht  für  erwachsene  Männer,  geheime  Stimmenabgabe, 
Aufhebung  des  Vermögenscensus  für  Abgeordnete,  gleichmässige 
Wahlbezirke,  Diäten  der  Abgeordneten  und  einjährige  Legislatur- 
periode, das  waren  diese  Punkte. 

Ihre  Entstehung  war  die  folgende.  Im  Jahre  1836  wurde  in 
London  ein  Arbeiterverein  „The  London  Working  Men  Association" 
gebildet,  der  den  Charakter  eines  radikalen  politischen,  ausschliesslich 
für  Arbeiter  bestimmten,  Klubs  hatte.  Dieser  Verein  hat  mit  der 
Hilfe  einiger  politischen  Radikalen  die  berühmten  6  Punkte  ausge- 
arbeitet, die  später  zur  „Volkscharte"  wurden.  Im  Februar  1837  hat 
der  Verein  auf  einem  öffentlichen  Meeting  vorgeschlagen ,  sich  an 
das  Parlament  mit  einer  Petition  um  Bewilligung  dieser  Forderungen 
zu  wenden.  Während  des  Jahres  1837  haben  diese  Forderungen 
jedoch  allgemeine  Aufmerksamkeit  nicht  auf  sich  gelenkt  und  haben 
keine  energische  Agitation  hervorgerufen.  Anfang  Mai  1838  wandte 
sich  die  Association  mit  einer  Adresse  an  andere  ähnliche  Associa- 
tionen, indem  sie  die  6  Punkte  als  „Volkscharte"  empfahl.  Es  ist 
höchst  charakteristisch,  dass  eine  Zeit  lang  die  „Charte"  im  „Nor- 
thern Star",  dem  Organ  des  einflussreichsten  Führers  der  Chartisten, 
O'Connor's,  gar  nicht  vermerkt  war.  Erst  mit  dem  Sommer  1838 
tritt  die  „Volkscharte"  als  Hauptgegenstand  der  Agitation  in  den 
Vordergrund. 

Die  politischen  b'orderungen  der  „Charte"  weisen  auf  einen 
Zusammenhang  des  Chartismus  mit  dem  politischen  Radikalismus  hin, 
der  mit  der  Parlamentsreform  von  1832,  die  die  politische  Herrschaft 
der  bürgerlichen  Klasse  begründete,  bei  weitem  nicht  befriedigt  w^ar. 
Den  Arbeitern  gewährte  diese  Reform  kein  Stimmrecht,  und  sie 
hatten  vollen  Grund ,  sich  als  getäuscht  zu  betrachten.  Ihrer 
äusseren  Form  nach  bildete  die  Chartistenbewegung  eine  Fortsetzung 
der  politischen  Agitation  um  das  allgemeine  Stimmrecht,  die  seit  dem 
18,  Jahrhundert  in  England  fortdauerte. 

Seinem  inneren  Inhalt  nach  war  dennoch  der  Chartismus  keine 
politische,  sondern  eine  durchaus  soziale  Bewegung.  Die  berühmten 
6  Punkte  der  Charte  haben  nur  deshalb  die  Arbeitermassen  so  rasch 
um    sich    gruppiert,    weil    die   gesetzgeberische   Thätigkeit    des    refor- 

I)  A.  a.  o. 


—     3 '  ^     — 

mierten  Parlaments  (und  besonders  das  neue  Armengesetz)  in  den 
Volksmassen  die  Ueberzeugung  hervorgerufen  hatte,  dass  der  Not- 
stand, welcher  wahrhaftig  unerträglich  war,  sich  in  einem  gewissen 
Zusammenhang  mit  der  Herrschaft  der  bürgerlichen  Klasse  im  Par- 
lament befand.  Das  allgemeine  Stimmrecht  wurde  durch  die  Arbeiter- 
massen als  ein  mächtiger  Hebel  zur  Steigerung  ihrer  wirtschaftlichen 
Lage  betrachtet. 

Mit  vollem  Rechte  haben  die  Gegner  des  neuen  Armengesetzes 
des  öfteren  im  Parlament  auf  den  Zusammenhang  hingewiesen,  der 
zwischen  diesem  Gesetz  und  der  Agitation  zu  Gunsten  des  allge- 
meinen Wahlrechts  bestehe.  Gerade  das  Gesetz  von  1834,  clas  der 
Zeit  seiner  Einführung  nach  mit  einer  aussergewöhnlich  andauernden 
und  schweren  Arbeitslosigkeit,  welche  die  Trade -Unionistische 
Organisation  der  Fabrikarbeiter  fast  zerstörte,  zusammenfiel,  rief  im 
Volke  die  Erregung  gegen  das  Parlament  hervor,  die  im  Chartismus 
zum  Ausdruck  kam. 

Um  sich  davon  zu  überzeugen,  genügt  es,  die  leitenden  Zeit- 
schriften der  Chartisten  im  Anfange  der  Chartisten  а  gitation  in  den 
Jahren  1837 — 1838  zu  lesen.  Das  Armengesetz  spielt  in  ihnen  die 
bei  weitem  hervorragendste  Rolle.  The  Northern  Star,  das  Organ 
von  Fergus  O'Connor,  mit  dessen  Namen  der  Chartismus  in  erster 
Linie  verknüpft  ist,  giebt  der  Kritik  dieses  Gesetzes  einen  noch 
grösseren  Raum  als  die  oben  citierte  Zeitschrift  O'Brien's.  The 
Northern  Liberator  führt  auch  einen  ständigen  Krieg  gegen  das 
Armengesetz.  Protestmeetings  und  Protestpetitionen  gegen  dieses 
Gesetz  waren  mächtige  Vorgänger  der  Meetings  und  Petitionen  der 
Chartisten.  Selbst  der  grossen  Zahl  ihrer  Teilnehmer  nach  konnten 
einige  dieser  Meetings  den  Vergleich  mit  den  'grossartigsten  Meetings 
der  Chartisten  aushalten. 

Die  Idee  der  nationalen  Petitionen  und  der  kolossalen  Prozes- 
sionen als  Kampfmittel  gegen  das  Parlament  entstand  gerade  auf 
dem  Boden  der  Agitation  gegen  das  Armengesetz.  O'Brien  sagt 
(То  the  Radical  and  Social  Reformers  of  Great  Britain  and  Ireland. 
National  Reformer,  1837,  ^^'  5)»  <^^ss  O'Connor  ihn  zu  Anfang  Fe- 
bruar 1837  ^^^  <^бп  Gedanken  gebracht  habe,  anstatt  einer  grossen 
Anzahl  von  kleinen  Petitionen  gegen  das  Gesetz  von  1834  ^^^ 
Parlament  eine  Petition  im  Namen  sämtHcher  Armen  Englands  in 
Begleitung  einer  Prozession  von   200000  Mann  vorzulegen. 

Die  Entrüstung  gegen  das  neue  Armengesetz  brachte  Arbeiter- 
massen in  Bewegung,  und  die  Arbeitslosigkeit  und  die  Not  ver- 
wandelte diese  Entrüstung  in  eine  Flamme,    die   mit  einem  Male  das 


—     311      — 

ganze  Land  erfasste.  Noch  zu  Beginn  des  Jahres  1837  warf  O'Brien 
den  Arbeitern  Gleichgiltigkeit  gegenüber  dem  allgemeinen  AVahl- 
rechte  л'ог:  „Ihr  habt,"  so  schrieb  er,  „keine  kühnen  Anstrengungen 
gemacht,  um  das  Wahlrecht  zu  erobern;  Ihr  habt  keine  grossen 
Demonstrationen  zu  diesem  Zwecke  veranstaltet;  allerdings  habt  Ihr 
manchmal  Petitionen  in  diesem  Sinne  eingereicht,  aber  dieser  Petitionen 
waren  zu  wenige,  und  sie  waren  zu  schwach  und  unentschieden  in 
ihrer  Ausdrucksweise,  nur  wenige  von  ihnen  waren  kühn  und  ge- 
bieterisch, zudem  wurden  sie  niemals  gleichzeitig  in  grosser  Anzahl 
eingereicht.  Ihr  sagt  darin,  dass  Ihr  Steuern  zahlt,  dass  Ihr  in  der 
Miliz  zu  dienen  verpflichtet  seid  und  vielen  anderen  unkonsequenten 
Unsinn,  aber  Ihr  habt  nie  mit  Entschiedenheit  Eure  Forderungen 
aufgestellt,  als  Leute,  die  ein  gleiches,  ja  sogar  höheres  Recht  haben 
als  ihre  Unterdrücker  .  .  .  Ihr  habt  Euch  selbst  in  Euren  besten 
Tagen  damit  begnügt.  Eure  Sache  in  die  Hände  weniger  Demagogen 
zu  legen,  die,  wie  ehrlich  und  kühn  sie  auch  sein  möchten,  nichts 
ohne  eine  allgemeine  Volksbewegung,  die  von  Euch  ausgehen  soll, 
erreichen  konnten  i)." 

Etwas  über  ein  Jahr,  nachdem  diese  Zeilen  geschrieben  waren, 
da  waren  Millionen  englischer  Arbeiter  in  Bewegung  geraten,  wur- 
den kolossale  Meetings  und  Demonstrationen  veranstaltet,  und  die 
Volkscharte,  deren  Inhalt  in  einer  Forderung  des  allgemeinen  Wahl- 
rech^ts  bestand,  wurde  mit  unbeschreiblichem  Enthusiasmus  von  der 
Arbeiterklasse  Englands  begrüsst.  Was  hat  sich  denn  verändert? 
Warum  haben  die  englischen  Arbeiter  ihre  politische  Apathie  von 
sich  geworfen,  welcher  neue  Geist  ist  in  ihnen  eingekehrt,  wie  kam 
es,  dass  ihre  Versammlungen  immer  mehr  an  die  der  französischen 
Revolutionäre  des  vorigen  Jahrhunderts  erinnerten?  Ist  der  eng- 
lische Arbeiter  ein  anderer  Mensch  geworden? 

Nein,  er  ist  derselbe  geblieben,  der  er  auch  früher  war.  Der 
Chartismus  leuchtete  plötzlich  in  einer  hellen  Flamme  auf,  die  den 
gesamten  sozialen  Bau  Englands  zu  verschlingen  drohte,  und  erlosch 
eben  so  schnell.  Die  Ursachen  des  Chartismus  waren  vorübergehender 
Natur:  die  schwere  Not  und  Arbeitslosigkeit,  das  hat  dem  englischen 
Volke  den  Schrei  der  Verzweiflung  entrissen,  der  der  Chartismus  war. 

Der  Notstand  war  zu  unerträglich,  und  die  Volksmassen  kamen 
in  Bewegung  und  forderten  politische  Rechte.  Aber  die  Not  in 
ihrer    akuten    Form    ging    vorüber,    und    die  Welle    der    industriellen 


i)  Bronterre's  National  Reformer,  Nr.  i,    1837. 


—        312        — 

Flut  trug  rasch  die  revolutionäre  Stimmung  des  englischen  Arbeiters 
mit  sich  fort.  Der  Chartismus  war  in  der  englischen  Geschichte  wie 
ein  hell  aufleuchtender  Meteor,  der  keine  Spur  hinterlässt. 

Wir  haben  hier  nicht  die  Geschichte  des  Chartismus  zu  schreiben, 
obwohl  das  auch  eine  dankbare  Aufgabe  gewesen  wäre!  Selten 
hat  eine  historische  Bewegung  so  viel  Heroismus  und  Begeisterung 
zu  Tage  gefördert  wie  diese.  Das  alles  kann  aber  für  den  Histcjriker 
die  schw^achen  Seiten  der  Bewegung  nicht  verdecken.  Schon  das 
Programm  des  Chartismus  ist  charakteristisch,  ein  ausschliesslich 
politisches  Programm,  während  die  Bewegung  einen  vollkommen 
socialen    Charakter    trug.     Wie   ist   dieser  Widerspruch   zu    erklären? 

Damit,  dass  der  Chartismus  eine  rein  negative  Bewegung,  eine 
Bewegung  des  Protestes  und  weiter  nichts  war.  Die  Volksmassen 
bedurften  irgend  einer  P^ahne,  um  die  sie  sich  scharen  konnten.  Eine 
solche  Fahne  wurde  die  „Volkscharte".  Aber  sie  war  auch  nicht 
mehr  als  eine  Fahne;  ein  positives  Programm  hat  die  Bewegung  nie 
besessen.  In  den  Augen  der  Chartisten  war  die  Eroberung  des  all- 
gemeinen Wahlrechts  nur  ein  Mittel  für  die  ökonomische  Umgestal- 
tung der  Gesellschaft,  für  die  Rettung  der  breiten  Volksmassen  aus 
dem  Elend,  unter  dem  sie  litten.  Aber  auf  welchem  Wege  sollte 
das  geschehen?  Welche  ökonomischen  Massnahmen  sollte  das  neue, 
durch  das  Volk  erwählte  Parlament  ergreifen?  Das  wussten  die 
Chartisten  selbst  nicht.  Der  Chartismus,  der  eine  Frucht  der .  rein 
ökonomischen  Unzufriedenheit  war,  konnte  trotzdem  kein  positives 
ökonomisches  Programm  ausarbeiten. 

Die  Führer  der  Chartisten  empfanden  tief  die  Leiden  des  Volks; 
sie  erkannten  richtig  die  Ursachen  dieser  Leiden,  aber  sie  wussten 
nicht  die  Mittel,  um  sie  zu  heilen.  Sie  klammerten  sich  an  das 
radikale  politische  Programm,  weil  es  für  alle  verständlich  war  und 
eine  einfache  Entscheidung  für  alle  Fragen  gab.  „Lasst  nur  das 
Volk  sein  Parlament  wählen,  gebt  ihm  die  politische  Macht  in  die 
Hände,  und  es  wird  sich  selbst  helfen  können."  Das  war  die  Ant- 
wort der  Chartisten. 

Aber  das  war  keine  Antwort,  sondern  ein  Zugeständnis  seiner 
eigenen  Unfähigkeit  eine  solche  zu  geben.  Das  Volk  kannte  die 
betreffenden  Mittel  noch  weniger  als  seine  Führer. 

So  ist  es  begreiflich,  dass  die  Erfolge  des  Chartismus  ephemere 
sein  mussten.  Die  Volksmassen  wurden  zum  Chartismus  durch 
ökonomische  Notlage  getrieben,  man  schlug  ihnen  jedoch  politische 
Reformen  vor.  Solange  die  Not  sich  nicht  verminderte,  waren  die 
Massen   bereit,   sich   um  jedes   beliebige  Banner  zu  scharen,   wenn  es 


—     313     — 

nur  ein  Banner  des  Protestes  war.  Aber  die  Not  in  ihrer  akuten 
Form  ist  vorübergegangen,  und  das  Volk  hat  das  Banner  ver- 
lassen. 

Warum  hat  nun  der  Chartismus  kein  radikales  und  zugleich 
positives  ökonomisches  Programm  ausgearbeitet?  Weil  ein  solches 
Programm  in  den  30er  Jahren  unmöglich  war.  Es  war  das  die  Zeit 
der  energischen  Entwickelung  des  noch  jungen  und  mächtigen 
Kapitalismus  einer-  und  des  utopischen  Socialismus  andererseits. 
Radikale  ökonomische  Reformen  waren  unmöglich  und  wären  auf 
Versuche,  die  Entwickelung  des  Kapitalismus  zu  hemmen,  hinaus- 
gelaufen, auf  Versuche,  die  keine  Aussicht  auf  Erfolg  gehabt  hätten 
und  nicht  fähig  gewesen  wären,  die  Eeiden  des  Volkes  zu  erleich- 
tern. Gerade  einen  solchen  Charakter  hatte,  wie  wir  unten  weiter 
sehen  werden,  der  berühmte  „Landplan"  von  O'Connor. 

Also  hing  der  Chartismus  trotz  seiner  raschen  Erfolge  sozu- 
sagen in  der  Euft.  Die  organisatorische  Arbeiterbewegung  ging 
ihren  Lauf  vom  Chartismus  ganz  unabhängig.  Diese  kam  um  jene 
Zeit  in  England  hauptsächlich  in  drei  Formen  zum  Ausdruck:  im 
Trade-Unionismus,  in  der  Agitation  zu  Gunsten  der  Zehnstundenbill 
und  im  Owenitischen  Socialismus,  der  anfing,  die  Form  einer  Ge- 
nossenschaftsbewegung anzunehmen.  Alle  diese  Bewegungen  hatten 
tiefe  Wurzeln  in  den  socialen  Verhältnissen  Englands  und  haben  zu 
Resultaten  von  grösster  Bedeutung  geführt.  Der  Chartismus  konnte 
sich  mit  keiner  von  diesen  Bew^egungen  verschmelzen,  weil  er  der 
Ausdruck  des  leidenschaftlichen  Protestes  der  Volksmassen  gegen  die 
unerträglichen  Existenzbedingungen  des  Augenblicks  war,  die  Fabrik- 
gesetzgebung, das  Genossenschaftswesen  und  der  Trade-Unionismus 
aber  langsame  und  entfernte  Resultate  in  der  Zukunft  versprachen, 
während  Hilfe,  und  zwar  radikale  Hilfe,  sofort  nötig  war. 

Am  nächsten  stand  der  Chartismus  noch  der  Bewegung  für 
den  Erlass  einer  Zehnstundenbill.  Fiel  den,  dem  es  beschieden  Avar, 
diese  grosse  Reform  im  Parlament  durchzusetzen,  äusserte  sich  auf  vielen 
Meetings  zu  Gunsten  der  „Volkscharte".  Oastier,  der  energische, 
einflussreiche  und  populäre  Leiter  der  ausserparlam entarischen  Agi- 
tation für  den  Erlass  dieses  Gesetzes,  war  kein  Chartist,  er  stand 
jedoch  in  naher  Beziehung  zu  den  Führern  des  Chartismus,  er  schrieb 
in  Chartistenzeitungen,  er  trat  in  Chartistenmeetings  auf.  Aber 
immerhin  unterschied  sich  prinzipiell  die  Bewegung  zu  Gunsten  einer 
Beschränkung  des  Arbeitstages  schon  dadurch  vom  Chartismus,  dass 
sie  keine  Reform  des  Parlaments  verlangte,  dass  sie  es  durchaus 
für  möglich  hielt  (und  zwar  mit  vollem  Recht),  ihre  Ziele  unter  dem 


—      3^4      — 

bestehenden  Parlament  zu  erreichen.  Oastier  war  seinen  politischen 
Ueberzeugungen  nach  nicht  einmal  Liberaler,  er  bekannte  sich  als 
Tory.  Ebenso  gehörten  auch  andere  Führer  der  Bewegung  für 
die  Zehnstundenbill  —  Sadler  und  Lord  Ashley  —  zu  den  Konser- 
vativen. 

In  der  Chartistenpresse  und  in  öffentlichen  Versammlungen 
spielte  die  Forderung  der  Verkürzung  des  Arbeitstages  der  Fabrik- 
arbeiter eine  geringe  Rolle,  jedenfalls  eine  viel  geringere  als  der  Kampf 
gegen  das  neue  Armengesetz. 

Die  Chartistenbewegung  hatte  so  zu  sagen  zwei  Wurzeln. 
Erstens  verlangte  eine  kleine  Gruppe  von  politischen  Radikalen  unter 
den  besitzenden  Klassen  und  besser  bezahlten  Arbeitern  politische 
Reformen.  Als  Vertreter  dieser  Gruppe  der  Chartisten  können  aus 
der  bürgerlichen  Klasse  Thomas  Attwood^),  aus  der  Arbeiter- 
klasse Lovett,  der  Sekretär  der  Londoner  „Working  Men  Associa- 
tion", gelten.  Lovett  war  ein  typischer,  intelligenter,  englischer 
Arbeiter,  durchaus  kein  Revolutionär,  ein  nüchterner  und  vorsichtiger 
Mann,  keineswegs  den  Kapitalisten  feindselig  gesinnt  und  mit  ihnen 
Hand  in  Hand  zu  gehen  bereit,  der  es  aber  zugleich  sehr  gut  ver- 
stand, die  Interessen  seiner  Klasse  energisch  zu  vertreten.  Lovett 
stand  der  Trade-Unionistischen  Bewegung  sehr  nahe  und  war  einer 
der  Hauptorganisatoren  ihrer  Verteidigung  während  der  Agitation 
gegen  den  Trade-Unionismus  nach  dem  Glasgower  Streik  von  1837. 
In  seiner  Autobiographie  bedauert  es  Lovett  bitter,  dass,  dank 
O'Connor,  Stephens  und  Oastier,  der  Bund  der  Radikalen  aus  der 
bürgerlichen  Klasse  mit  der  Arbeiterklasse  zerfallen  würde.  Nach 
seiner  Darstellung  haben  die  Mittelklassen,  solange  die  genannten 
Personen  an  der  Chartistenbewegung  nicht  teilgenommen  hatten,  der 
Forderung  des  allgemeinen  Wahlrechts  nicht  nur  keinen  Widerstand 
geleistet,  sondern  sie  sogar  unterstützt.  Und  in  der  That  waren  die 
berühmten  6  Punkte  unter  dem  unmittelbaren  Einfluss  der  bürger- 
lichen Parlamentsradikalen  entstanden'^). 


1)  Im  neuesten  Buch  über  den  Chartismus  von  John  Tildsley  „Die  Entstehung 
der  Chartistenbewegung"  (Jena,  1898)  wird  mit  Recht  auf  die  grosse  Bedeutung  des  Bir- 
minghamer politischen  Bundes,  an  dessen  Spitze  Attwood  stand,  für  die  Organisierung  des 
Chartismus  als  einer  politischen  Bewegung,  hingewiesen. 

2)  Lovett  war  einer  der  fruchtbarsten  Schriftsteller  unter  den  Chartisten.  Seine 
gemässigte  Gesinnung  wird  durch  eine  kleine  Schrift  gekennzeichnet,  die  er  zusammen  mit 
einem  anderen  Chartisten  im  Jahre  1840,  während  er  im  Gefängnis  sass,  geschrieben  hat: 
„Chartism,  а  new  Organisation  of  the  People,  by  William  Lovett,  Cabinet-Maker,  and 
John  Collins,  Tool-Maker",  London  1840.  In  dieser  Schrift  empfiehlt  Lovett  den  Char- 
tisten die  Gründung  einer  nationalen  Association  für  Selbstbildung.     Diese  Association  sollte 


-      315      — 

Attwood  und  Lovett  brachten  hauptsächlich  die  politische 
Strömung  des  Chartismus  zum  Ausdruck.  Das  rein  sociale  Element 
wurde  am  schärfsten  durch  Stephens  vertreten.  Stephens  bekannte 
sich  nicht  zum  Chartisten,  er  war  nicht  nur  kein  politischer  Radi- 
kaler, sondern  er  hielt  sich  sogar  für  einen  Tory.  Uebrigens  trug 
gerade  dieser  Tory  am  meisten  bei  zur  Entstehung  jener  rein  demo- 
kratischen Massenbewegung,  in  die  sich  der  Chartismus  bald  ver- 
wandelte. Trotz  seines  Torysmus  ist  es  Stephens'  und  Oastler's 
mehr  als  irgend  jemand  anders  Schuld,  dass  der  Chartismus  einen 
revolutionären  Charakter  annahm.  Der  Ausgangspunkt  der  Stephens- 
schen  Agitation  war  nicht  die  „Charte",  der  er  gleichgültig  gegen- 
überstand, sondern  der  Kampf  gegen  die  Unterdrückung  der  Ar- 
beiter in  den  Fabriken  und  insbesondere  der  Kampf  gegen  das  neue 
Armengesetz.  Das  war  eben  die  sociale  Wurzel  des  Chartismus. 
Für  Eovett  reduzierte  sich  der  Chartismus  auf  eine  Reform  des 
Parlaments,  für  Stephens  auf  guten  Lohn  und  massige  Arbeit. 

Stephens  war  der  erste  von  den  Chartisten,  der  von  der 
Regierung  wegen  Anstiftung  des  Volkes  zum  Aufstand  verfolgt  und 
zu  einer  langen  Gefängnishaft  verurteilt  worden  ist.  Dieser  sanfte, 
religiöse  Mann,  um  nach  seinem  Porträt  zu  urteilen,  mit  kindlichem 
und  naiven  Gesicht,  wurde  eine  Zeitlang  für  den  Führer  der  revo- 
lutionären Partei  der  Chartisten,    der  Partei  der    „physischen  Gewalt" 


den  ZAveck  haben,  für  Arbeiter  Bibliotheken,  Vorlesungen  und  öffentliche  Vorträge,  Schulen, 
elementare  und  höhere,  einzurichten,  Bücher  zu  drucken  u.  s.  w.  Dadurch  hofft  Lovett  im 
Lande  eine  der  ,, Charte"  günstige  öffentliche  Meinung  zu  schaffen  und  das  allgemeine  Stimm- 
recht ohne  jegliche  Störung  des  Friedens  zu  erreichen.  Im  VorAvort  zu  dieser  Schrift  be- 
müht sich  Lovett,  die  mittleren  Klassen  davon  zu  überzeugen,  dass  die  Charte  für  sie  nichts 
Gefährliches  darstellt.  „Die  Vermutung,  dass  das  allgemeine  Stimmrecht  ein  Ueberwiegen 
der  Arbeiterklasse  im  Unterhause  zur  Folge  haben  werde,  wird  durch  die  Erfahrungen  der 
anderen  Länder  nicht  bestätigt.  Die  Arbeiterklassen  haben  selbst  in  Amerika  nicht  eine 
solche  Machtstellung,  obwohl  dort  der  Reichtum  und  die  gesellschaftliche  Stellung  eines  jeden 
viel  weniger  Bedeutung  haben  als  bei  uns.  Die  enormen  Vorteile  der  allgemeinen  Stimm- 
abgabe für  das  Volk  bestehen  darin,  dass  sie  dem  Volke  die  besten  Mittel  ziu"  Selbst- 
bildung an  die  Hand  giebt,  dass  sie  den  menschlichen  Geist  energisch  darauf  hindrängt,  die 
Ungerechtigkeit  des  öffentlichen  Lebens  zu  beseitigen  und  die  Volksvertreter  zu  bewegen, 
die  Gesetze  zu  verbessern  und  die  Bedingungen  für  einen  allgemeinen  Wohlstand  zu  schaffen, 
wie  das  den  Wünschen  der  aufgeklärten  öffentlichen  Meinung  entspricht.  Alles  das  erwarten 
wir  von  der  Verwirklichung  der  Volkscharte"  (Einleitung,  21).  AVenn  aber  die  Charte  den 
Arbeitern  kein  Uebergewicht  gewähren  wird,  warum  wird  das  Parlament  anders  als  früher  лvirken? 
Lovett  hat  eben  den  sozialen  Charakter  der  Chartistenbewegung  nicht  begriffen,  лvegen  seines 
stetigen  vStrebens,  die  besitzenden  Klassen  für  die  Sache  der  Arbeiter  zu  gewinnen.  Bald 
nach  seiner  Entlassung  aus  dem  Gefängnis  wendete  er  sich  namens  der  Association,  an  deren 
Spitze  er  stand,  mit  einem  Manifest  an  die  ,, mittleren  Klassen",  in  dem  er  für  einen  „herz- 
lichen Bund  der  Mittelklassen  mit  den  Arbeitern"  eintrat  (Autobiography,   262). 


—     3i6     — 

gehalten.  Aber  er  war  wohl  kaum  unaufrichtig,  als  er  vor  Gericht 
seine  Zugehörigkeit  zu  den  Chartisten  in  Abrede  stellte.  Stephens 
erhob  einen  Protest  gegen  die  Bedrückung  des  Volkes,  die  vor  seinen 
Augen  geschah,  erhob  Protest  gegen  das  neue  Armengesetz,  das  er 
nicht  nur  grausam  und  der  englichen  Verfassung  widersprechend 
fand,  das  er  nicht  nur  als  eine  Verletzung  des  alten  Rechtes  des 
englischen  Volkes  erkannte,  Hilfe  vom  Kirchspiele  im  Notfalle  zu 
erhalten,  sondern  das  er  auch  für  unchristlich  hielt,  für  eine  Zer- 
störung der  Familie,  „für  eine  Trennung  derer,  die  Gott  selbst  ver- 
einigt hat".  Er  rief  das  Volk  zu  den  Waffen  auf,  zum  Schutze  der 
Religion  und  der  uralten  Rechte  des  englischen  Volkes. 

O'Brien  und  O'Connor  haben  versucht,  den  socialen  Protest 
der  arbeitenden  Klassen  gegen  die  Notlage  und  gegen  den  uner- 
träglichen ökonomischen  Druck  mit  den  politischen  Forderungen  der 
Radikalen  zu  vereinigen,  aber  dieser  Versuch  scheiterte  darum,  weil 
ein  natürlicher  Zusammenhang  zwischen  den  beiden  Momenten  fehlte. 
Das  alte  Armengesetz  hatte  an  so  vielen  nicht  zu  beseitigenden 
Mängeln  gelitten,  dass  es  keinesfalls  wiederhergestellt  werden  konnte; 
das  war  jedoch  die  einzige  gesetzgeberische  Massregel,  die  man  als 
Mittel  zur  Linderung  der  Not  vorschlagen  konnte.  Die  Geschäfts- 
stockung und  der  Verfall  der  alten  Gewerbeformen  konnten  durch  keine 
Gesetze  beseitigt  werden,  ihre  Ursachen  lagen  dazu  zu  tief.  Es  waren 
keine  praktischen  Mittel  vorhanden,  um  den  unglücklichen  Hand- 
webern, die  den  bedeutendsten  Teil  der  Lancashirer  Arbeiter 
bildeten,  zu  helfen,  da  ihre  Leiden  durch  das  Wachstum  der  Gross- 
industrie verursacht  waren.  Ebenso  konnten  auch  die  anderen  socialen 
Krankheiten  jener  Zeit  keine  Heilung  finden.  Die  Reform  des  Par- 
laments, die  O'Brien  und  O'Connor  der  Volksbewegung  auf  ihre 
Fahne  geschrieben  hatten,  war  kein  wirksames  Mittel,  die  zweifellos 
vorhandenen  Uebelstände  zu  beseitigen.  Das  war  eben  der  letzte 
Grund  des  endgiltigen  Scheiterns  der  ganzen   Chartistenbewegung. 

Zu  Beginn  des  Jahres  1853  war  die  Chartistenagitation,  wie  ge- 
sagt, hauptsächlich  gegen  das  neue  Armen gesetz  gerichtet.  In  Lan- 
cashire  und  anderen  industriellen  Bezirken  bildeten  sich  spezielle 
Associationen  für  den  Kampf  gegen  dieses  Gesetz  —  Anti-Poor-Law- 
Associations.  In  Manchester  wurden  Delegiertenkonkresse  dieser 
Associationen  veranstaltet.  Auf  einem  von  diesen  Kongressen  wurden 
49  Petitionen  um  Abschaffung  des  Gesetzes  eingereicht.  Die  meisten 
Petitionen  trugen  je  einige  Tausend  Unterschriften. 

Der  Geistliche  Stephens  sagte  auf  einem  Meeting  auf  Anlass 
eines  solchen    Kongresses,   dass  ein  Arbeiter  ihm  ein  Messer  gezeigt 


I 


—     317      — 

habe,  mit  dem  er  entschlossen  gewesen  sei.  den  Wärter  des  Ar- 
beitshauses zu  töten ,  wenn  dieser  ihn  von  seiner  Frau  trennen 
wollte.  „Zuerst  glaubten  die  Leute  nicht,  sagte  Stephens,  dass  ein 
solches  Gesetz  überhaupt  ausgeheckt  werden  konnte,  nicht  einmal 
von  dem  teuflischsten  Wesen,  das  jemals  gelebt  hat;  sie  glaubten  nicht, 
dass  eine  Regierung  in  unseren  Tagen  sich  dazu  entschliessen  könnte, 
zumal  eine  Reformregierung,  die  ihr  Vertrauen  genoss,  an  der  die 
Hoffnnngen  und  Erwartungen  der  Hälfte  des  Landes  hingen;  sie 
dachten  nicht,  dass  eine  Regierung,  die  so  viel  Versprechungen  ge- 
geben, einen  so  niedrigen  Treubruch  geübt  hätte.  Aber  jetzt  sind 
sie  genötigt,  daran  zu  glauben,  denn  eine  Grafschaft  nach  der  anderen, 
eine  Stadt  nach  der  anderen,  ein  Dorf  nach  dem  anderen  und  eine 
Hütte  nach  der  anderen  gesehen  hat,  wie  der  Feind  sich  nähert  .  .  . 
Und  dieselben  Leute,  die  früher  nicht  an  die  Möglichkeit  eines  solchen 
Gesetzes  glauben  konnten,  haben  sich  jetzt  von  seiner  Existenz  über- 
zeugt; sie  verstehen  es  vollkommen  und  hassen  es  aus  ganzem  Herzen. 
Sie  haben  geschworen,  ohne  jedwede  Organisation,  irgend  welcher 
Art  —  ein  jeder  für  sich  selbst,  Männer,  Frauen,  Kinder  —  sie  haben 
geschworen  im  Namen  Gottes,  im  Namen  ihrer  Frauen  und  Kinder, 
Väter  und  Mütter,  Brüder  und  Schwestern,  sie  haben  geschworen, 
lieber  tausend  Mal  in  den  Tod  zu  gehen,  als  sich  zu  trennen,  als  in 
ein  Gefängnis  gesteckt  zu  werden,  als  die  Freiheit  einzubüssen,  als 
auf  Befehl  der  Regierung  zu  hungern  .  .  .  kann  denn  die  Regierung, 
die  Polizei,  das  Militär,  können  alle  Heere  der  feindlichen  Mächte 
der  Macht  des  Volkes  widerstehen,  wenn  unsere  Frauen  und  unsere 
Töchter  vor  unseren  Füssen  liegen,  um  Schutz  und  um  Rache  flehend? 
Noch  einmal  schwöre  ich  vor  dem  Himmel  und  vor  Euch,  niemals  in 
irgend  einer  Form  mich  diesem  Gesetze  zu  unterwerfen  i)." 

,  Einige  Tage  nach  diesem  Meeting,  am  20.  Februar,  reichte 
БЧеЫеп  dem  Parlament  142  Petitionen  um  Abschaffung  des  Gesetzes 
von  1834  ein.  Aber  die  Torys  und  die  Whigs  waren  einmütig.  Der 
Antrag  Fieldens  wurde  mit  309  Stimmen  gegen    17  abgelehnt. 

Und  da  erfüllte  sich,  was  Cobbet  während  der  Beratung  des 
Gesetzes  von  1834  im  Parlament  vorhergesagt  hatte:  ein  Kampfschrei 
durchtoste  das  ganze  Land.  Die  Forderung  des  Abschaffens  eines 
grausamen  Gesetzes  macht  kühneren  Forderungen  Platz.  Das  Volk 
muss  selbst  über  seine  Geschicke  entscheiden,  nieder  mit  den  Torys 
und  mit  den  Whigs,  mit  diesen  „blutigen"  Whigs,  wie  man  sie  zu 
jener    Zeit    nannte.      Die    Volkscharte,    darin    liegt    die    Rettung    des 


i)  The  Northern  Star,   1838,  Nr.  13. 


—     3IÖ     — 

Volkes.  Wozu  soll  man  sich  mit  Petitionen  an  ein  Parlament  wenden, 
das  aus  Reichen  besteht?  Nur  Arme  können  die  Armen  verstehen, 
es  lebe  das  Volksparlament,  das  jährlich  von  der  gesamten  Bevölkerung 
des  l.andes  gewählt  wird!'). 

Die  Volksmasse  kam  mit  einem  Mal  in  Bewegung.  Am  28.  Mai 
hat  in  Glasgow  das  erste  von  den  koUassalen  Chartistenmeetings 
stattgefunden,  die  sich  später  so  oft  im  ganzen  Lande  wiederholt 
haben.  Gegen  200000  Mann  —  vorzugsweise  Arbeiter  —  hatten  am 
Meeting  teilgenommen'^).  40  Musikorchester  begleiteten  die  Pro- 
zessionen, hunderte  von  Flaggen  wehten  über  die  Menge.  Der  erste 
Platz  unter  den  Rednern  auf  diesem  Meeting  gehörte  Thomas 
Attwood,  einem  der  einflussreichsten  Männer  im  J^ande,  dem  Leiter 
der  Volksbewegung  zu  Gunsten  der  Parlamentsreform  von  1832. 
„Wenn  zwei  Millionen  Menschen  sich  vornehmen  das  allgemeine 
Stimmrecht  zu  erlangen,  sagte  er,  und  zu  diesem  Zwecke  in  einen 
Generalstreik  treten,  welche  Regierung  kann  einer  solchen  Demon- 
stration stand  halten?" 

Bald  darauf  kommen  auch  in  Manchester  und  anderen  Städten 
Meetings  zusammen.  In  Manchester  erklärte  Fielden,  dass  „eins 
von  beiden  geschehen  müsse,  das  neue  Armengesetz  werde  ent- 
weder durch  das  Parlament,  oder  durch  eine  Revolution  abgeschafft 
werden.  Er  (Fielden)  zweifele  nicht  daran,  dass  spätestens  in  zwei 
Jahren  die  jährliche  Parlamente,  das  allgemeine  Wahlrecht  und  die 
geheime  Stimmabgal.^  erreicht  sein  werden".  Stephens  erklärte 
unter  unbeschreiblichem  Enthusiasmus  der  Mengen:  „In  einer  Aus- 
dehnung von  drei  Meilen  von  meinem  Hause  befinden  sich  in  den 
Wohnungen  der  Arbeiter  nicht  weniger  als  5000  Stück  verschiedener 
Waffen.  Ich  wünsche  nur,  dass  die  5000  sich  um  das  fünfzigfache 
vermehren  .  .  .  Das  Land  braucht  energische  und  tapfere  Leute  ^mit 
Waffen  in  den  Händen,  Leute,  die  ausrufen  könnten:  „wir  werden 
eher  auf  dem  Schlachtfelde  den  letzten  Blutstropfen  vergiessen,  als 
uns  diesem  teuflischen  Gesetze  unterordnen"^). 

Von  dieser  Zeit  an  wächst  die  Chartistenbewegung  weit  über 
die   Agitation    gegen    das   Armengesetz    hinaus.      „Die    Volkscharte", 


i)  Lovett  bemerkt  mit  vollem  Rechte,  dass  die  Bewegung  in  den  industriellen  Be- 
zirken ursprünglich  ausschliesslich  gegen  das  Armengesetz  gerichtet  war  und  sich  erst  be- 
deutend später  der  Erreichung  der  „Volkschaite"  zugewandt  hat.   Lovetts  Autobiographie,  172. 

2)  Es  sei  hier  übrigens  bemerkt,  dass  alle  Zahlenangaben  über  die  Beteiligung  auf 
den  Chartistenmeetings  von  den  Chartisten  selbst  stammen  und  zweifellos  bedeutend  über- 
trieben sind. 

3)  The  Northern  Star,  Nr.  30,    1838. 


—      3^9     — 

als  Mittel,  alles  Elend  des  Volkes  zu  heben,  bemächtigt  sich  der 
Geister  von  Millionen  der  Arbeiter.  Die  Führer  der  Bewegung  selbst 
waren  über  die  Schnelligkeit  ihres  Wachstums  erstaunt.  Es  war 
noch  nicht  lange  her,  dass  Bronterre  O'Brien  sich  über  den  poli- 
tischen IndifFerentismus  des  englischen  Arbeiters  beklagt  hatte,  und 
schon  fand  in  Newcastle  im  Juni  1838,  am  Tage  der  Krönung  der 
Königin  Victoria,  eine  der  wichtigsten  politischen  Demonstrationen 
der  Arbeiterklasse  statt,  die  England  jemals  gesehen  hatte.  Die  Zahl 
der  Versammelten  war  zwar  geringer  als  die  in  Glasgow  (sie  betrug 
gegen  80000);  aber  die  allgemeine  Stimmung  war  viel  entschiedener 
und  die  Sprache  der  Redner  viel  kühner.  Auf  den  Fahnen  waren 
Inschriften  der  folgenden  Art: 

Fr  ее  dorn. 
When  once  more  her  hosts  assemble, 
T.et  the  tyrants  only  tremble; 
Smile  they  at  tbis  idle  threat? 
Crimson  tears  may  follow  yet  ^). 

Auf  dem  Meeting  wurde  eine  Resolution  angenommen ,  dass 
man  mit  allen  Mitteln,  nicht  nur  mit  gesetzHchen,  wie  einer  der 
Redner  ausdrücklich  betont  hatte,  das  allgemeine  Stimmrecht  erringen 
müsse. 

Während  dieses  Meetings  defilierten  vor  den  Augen  der  Menge 
Detachements  der  Kavallerie  und  der  Infanterie,  die  eine  Kanone 
mit  sich  führten,  vorbei;  es  schien,  als  ob  es  mit  Absicht  gethan 
würde,  um  die  Leute  zu  unvernünftigen  Handlungen  zu  provozieren. 
Aber  die  Menge  gab  den  erwünschten  Anlass  nicht,  und  so  kam  es 
nicht  zu  einem   Zusammenstoss. 

Es  folgte  nun  eine  Reihe  von  Chartistenmeetings  in  den  ver- 
schiedenen Städten  Englands;  das  grösste  derselben  fand  in  Birming- 
ham statt  (an  diesem  nahmen  gegen  200000  Personen  teil).  Das 
Londoner  Meeting  war  eines  der  am  wenigsten  geglückten.  Ueber- 
haupt  trat  der  Chartismus  in  London  viel  schwächer  auf  als  in  der 
Provinz. 

Auf  dem  Meeting  in  Birmingham  gab  Attwood  unter  anderem 
die  Antwort  auf  die  allerwichtigste  Frage,  wozu  die  Durchsetzung 
der  „Charte"  führen  müsse.  Die  Antwort  ist^  äusserst  charakteristisch 
als    das  ökonomische    Programm  des  rechten    Flügels  der    Chartisten 

i)  Freiheit. 

Wenn  ihre  Auserwählten  sich  versammeln, 

Dann  sollen  die  Tyrannen  zittern. 

Sie  lachen  über  diese  leere  Drohung? 

Mit  blutigen  Thräiien   werden  sie  das  bezahlen. 


—      320     — 

(The  Birmingham  Political  Union,  an  deren  Spitze  Attwood  stand, 
war  die  bedeutendste  radikale  Organisation  Englands):  „Was  muss 
unser  Ziel  sein,  führte  Attwood  aus,  wenn  sich  das  Parlament  in 
unseren  Händen  befinden  wird?  Vor  allem  werden  wir  die  Korngesetze 
aufheben  (Beifall).  Wir  müssen  die  Kornpreise  ins  Gleichgewicht 
mit  den  Arbeitslöhnen  bringen,  und  wenn-  wir  die  Gesetze  über  die 
Goldwährung  aufgehoben  haben,  werden  wir  die  Preise  der  Arbeit 
den  mit  Preisen  der  Nahrungsmittel  in  Uebereinstimmung  bringen. 
Damit  werden  wir  allen  Klassen  der  Bevölkerung  eine  Wohlthat  er- 
weisen. Dann  werden  wir  uns  dem  Armengesetze  zuwenden.  Es 
darf  sich  auch  nicht  einen  Monat  halten  (Beifall)  .  .  .  Das  ist  unser 
grosses  Ziel.  Und  endlich  müssen  wir  auch  die  Fabrikgesetze  revi- 
dieren" 1). 

Und  das  ist  alles.  Man  kann  nicht  sagen,  dass  sich  diese  Aus- 
führungen durch  Klarheit  auszeichnen,  insbesondere  dort,  wo  von  den 
Preisen  des  Getreides,  der  Arbeit  und  der  Goldwährung  die  Rede 
ist.  Attwood  gehörte  zu  den  Anhängern  des  „billigen  Geldes"  und 
hielt  die  Wiederherstellung  der  Goldwährung  in  England  im  Jahre  1819 
für  die  Wurzel  alles  Uebels.  Jedenfalls  enthält  das  Attwoodsche 
Programm  nichts,  was  irgendwie  an  den  Socialismus  erinnert.  Einige 
von  den  Forderungen  Attwoods  wurden  sehr  bald  im  Parlament 
durchgesetzt.  Um  die  Korngesetze  abzuschaffen,  war  es  nicht  nötig, 
grosse  politische  Reformen  auf  die  Fahne  der  Chartisten  zu  schreiben. 

Auch  andere  Redner  sprachen  auf  diesem  Meeting  von  der 
Rettung  des  Volkes  durch  Rückkehr  zur  Papierwährung.  Es  braucht 
nicht  hinzugefügt  zu  werden,  dass  das  alles  von  einem  niedrigen 
Niveau  des  ökonomischen  Verständnisses  zeugte. 

Allerdings  brachte  Attwood  nur  die  Anschauungen  der  einen, 
der  bürgerlichen  Gruppe  der  Chartisten  zum  Ausdruck.  Aber  die 
übrigen  Chartisten  auf  dem  Meeting,  die  die  Annäherung  an  die 
Birminghamer  Radikalen  freudig  begrüssten,  sprachen  kein  einziges 
Wort  gegen  das  ökonomische  Programm  derselben. 

Zwar  gab  es  unter  den  Chartisten  eine  andere,  eine  mehr 
zum  Socialismus  neigende  Strömung,  aber  auch  das  war  ein  sehr 
unklarer,  verworrener  und  utopischer  Socialismus,  von  einem  vor- 
zugsweise agrarischen  Charakter.  О 'Brie  n  war  vielleicht  der- 
jenige unter  den  Chartisten,  der  am  bewusstesten  die  socialistische 
Richtung  vertrat.  Schon  vor  Beginn  der  Chartistenbewegung  war 
er    Herausgeber     des     bekannten     socialistisch    gefärbten     radikalen 


I)  The  Northern  Star,    1838,  Nr.  39. 


—        32  1        — 

Arbeiterorgans  „The  Poor  Man's  Guardian".  Im  Jahre  1836  über- 
setzte O'Brien  Buonarottis  Geschichte  der  Verschwörung  Babeufs; 
im  Л^orwort  sagte  er,  dass  er  die  Anschauungen  Buonarottis  voll- 
kommen teile  1).  Er  war  ein  entschiedener  Anhänger  der  Verstaat- 
lichung des  Grund  und  Bodens  und  entwickelte  in  seinen  nach- 
folgenden Arbeiten  ein  ganzes  Programm  der  sozialen  Umgestaltung, 
wobei  ausser  der  Verstaatlichung  des  Grund  und  Bodens  ein  neues 
System  des  Austausches  und  eine  neue  Organisation  der  Geld- 
cirkulation  die  Hauptrolle  spielten.  Im  sozialen  System  O'Briens 
lässt  sich  der  Einfiuss  der  Gedanken  R.  Owens  erkennen.  iVllerdings 
hatte  O'Brien  seine  eigene  Utopie,  die  übrigens  in  keiner  Hinsicht 
an  die  Utopie  seines  grossen  Zeitgenossen  Owens  heranreichte. 
Solche  Utopien  haben  dennoch  eine  sehr  geringe  Rolle  in  der  Char- 
tistenbewegung gespielt.  Sie  waren  weit  entfernt  von  den  realen 
Aufgaben  der  Arbeiterbewegung  jener  Zeit.  Das  erkannte  auch 
O'Brien,  indem  er  während  des  grössten  Aufschwungs  der  Char- 
tistenbewegung energisch  betonte,  dass  der  Streit  über  den  Zukunft- 
staat augenblicklich  nur  ein  rein  theoretisches  Interesse  haben  könne, 
da  die  reale  Aufgabe  der  Bewegung  in  der  Erreichung  bestimmter 
politischer  Reformen  bestehe. 

Für  die  Charakteristik  des  Chartismus  als  einer  sozialen  Be- 
wegung sind  die  Reden  von  Stephens  und  O'Connor  auf  dem 
Riesenmeeting  in  Manchester  am  25.  September  1838  von  grossem 
Interesse.  Von  der  Stimmung  des  Volkes,  das  sich  in  einigen 
Hunderttausenden  auf  diesem  Meeting  versammelt  hatte,  kann  man 
sich  eine  Vorstellung  machen  nach  den  Bildern  und  Inschriften  auf 
den  dort  entrollten  Fahnen.  Auf  einer  Fahne  z.  B.  sah  man  eine 
Hand  mit  einem  Dolch;  die  dazu  gehörige  Inschrift  lautete:  „Ihr, 
Tyrannen,  wollt  uns  dazu  zwingen?"  Auf  einer  anderen  war  die 
Abschlachtung  der  Arbeiter  in  Manchester  im  Jahre  18 19  dargestellt 
mit  der  Inschrift:  „Der  Mord  fordert  seine  Sühne"  u.  s.  w.  Stephens 
und  O'Connor  haben  es  versucht,  dem  Volke  zu  erklären,  wozu 
das  allgemeine  Wahlrecht  führen  wird.  Stephens  äusserte  sich 
folgendermassen :    „Die    Frage   der   allgemeinen   Stimmabgabe   sei    im 


i)  „Das  Buch  Buonarotti's  enthält  eme  der  besten  mir  bekannten  Darstellungen 
der  grossen  politischen  und  sozialen  Prinzipien,  die  ich  solange  Zeit  in  Poor  Man's  Guardian 
und  anderen  Schriften  verteidigt  habe  ....  Ich  war  über  die  Uebereinstimmung  der  Ideen 
Buonarottis  mit  den  meinigen  so  erstaunt,  dass  ich  sofort  den  Entschluss  fasste,  das  Buch 
zu  übersetzen  und  so  dem  englischen  Leser  die  Doktrinen  Poor  Man's  Guardian's  in  einer 
neuen  Form  darzustellen."  Buonarottis  History  of  Babeufs  Conspiracy  for  Equality.  London 
1836.     Vorwort  S.  ХГП. 

Tugan-Baranowsky,  Die  Handelskrisen.  21 


—       322        — 

letzten  Grunde  eine  Messer-  und  Gabelfrage.  Wenn  man  ihn  frage, 
was  er  unter  einer  allgemeinen  Stimmabgabe  verstehe,  werde  er 
antworten:  das  Recht  eines  jeden  Menschen  in  diesem  Lande  auf 
eine  bequeme  Wohnung  für  sich  und  seine  Familie,  ein  nahrhaftes 
Mittagsessen,  nicht  mehr  Arbeit,  als  die  Gesundheit  zulasse,  und 
solche  Löhne,  die  die  Möglichkeit  geben  könnten,  alle  vernünftigen 
Forderungen  des  Menschen  zu  befriedigen"  (stürmischer  Beifall). 

Auf  einem  anderen  Meeting,  das  in  Liverpool  stattfand,  fügte 
Stephens  diesen  Ausführungen  noch  folgendes  hinzu:  „Es  gebe 
ein  wichtigeres  und  fundamentaleres  Prinzip ,  als  jede  Regie- 
rungsform. Es  sei  das  die  Frage  des  Gleichgewichts  zwischen 
Armut  und  Eigentum,  des  Gleichgewichts  zwischen  den  als  Kapital 
fungierenden  Arbeitsprodukten  und  der  Arbeit  selbst,  die  'allen 
Reichtum  schaffe  ...  In  einer  Republik  wie  in  einer  Monarchie  müsse 
diese  Frage  früher  oder  später  die  ganze  Aufmerksamkeit  der  tYeunde 
des  Volkes  und  der  Politiker  auf  sich  lenken  .  .  .  Niemand  habe  das 
Recht,  mehr  als  seine  Mitmenschen  zu  besitzen,  so  lange  es  Leute 
gebe,  die  das  Notwendigste  entbehren  .  .  .  Die  Arbeiter  verlangten 
einen  gerechten  Lohn  für  nicht  übermässige  Arbeit.  Sei  denn  diese 
Forderung  so  unbegründet  oder  so  masslos  i)?" 

Aber  wiederum  setzt  Stephens  nicht  auseinander,  wie  die 
Erfüllung  dieser  Forderung  zu  erreichen  sei.  Die  Volkscharte  sei 
notwendig,  um  die  ökonomischen  Bedürfnisse  der  Arbeiter  zu  be- 
friedigen. Aber  welche  Massnahmen  sollen  den  Wohlstand  des 
Volkes  herbeiführen?  Darin  eben  besteht  die  Frage,  auf  die  Stephens 
in  seiner  langen  Rede  nichts  zu  antworten  hat. 

O'Connor  äusserte  etwas  anderes.  „Wenn  das  Volk  vom 
Parlament  mittels  des  allgemeinen  Wahlrechts  Besitz  ergreife,  was 
solle  man  dann  thun?  Dann  solle  man  dafür  sorgen,  dass  die  Steuern 
den  Bedürfnissen  des  Staates  entsprechen.  Die  Menschen  seien  sehr 
freigebig,  wenn  sie  andere  mit  Steuern  belegen,  aber  wenn  das  Volk 
sich  selbst  mit  Steuern  belegen  würde,  so  würde  ein  jeder  selbst  Soldat 
werden,  um  die  kostspielige  Armee,  die  die  Geldmittel  des  Landes 
verschlinge,  in  Friedenszeiten  zu  ersparen;  statt  eine  Staatskirche  zu 
unterhalten,  würde  ein  jeder  durch  freiwillige  Gliben  für  die  religiösen 
Einrichtungen  sorgen,  die  seinem  Gewissen  am  nächsten  stünden. 
Das  seien  einige  der  Volksrechte,  die  das  allgemeine  Stimmrecht  ver- 
wirklichen würde  '^)." 


i)  The  Northern  Star,  No.  47,   1838. 
2)  The  Northern  Star    N0.  46,    1838. 


—     323     — 

Hiernach  weist  O'Connor  noch  beiläufig  darauf  hin,  dass  die 
Gewerkvereine  ganz  frei  werden  müssen,  und  damit  sind  seine 
Ausführungen  erschöpft.  Verminderung  der  Steuern  durch  Be- 
seitigung der  stehenden  Armee  und  der  Staatskirche,  KoaHtionen- 
freiheit  und,  selbstverständHch ,  Abschaffung  des  Armengesetzes 
von  1834,  das  ist  alles,  was  die  „Charte"  dem  Volke  bringen  muss. 
Zweifellos  ist  das  sehr  wenig.  Es  ist  handgreiflich,  dass  weder 
Stephens  noch  OXonnor  eine  bestimmte  Vorstellung  davon  hatten, 
auf  welche  Weise  man  der  schrecklichen  Notlage  abhelfen  könne, 
die  den  Chartismus  ins  Leben  gerufen  hat. 

Ebenso  unbestimmt  sind  die  ökonomischen  Forderungen  der 
Chartisten  in  ihrer  ersten  nationalen  Petition,  die  im  Herbst  1838 
verfasst  W4irde.  Die  Petition  beginnt  mit  einem  Hinweis  darauf,  dass, 
trotz  dem  Ueberfluss  an  Gaben  der  äusseren  Natur,  die  Bevölkerung 
schwere  Leiden  zu  ertragen  habe.  „Ihre  Petenten  erliegen  unter  der 
Last  der  Steuern,  und  diese  werden  immer  noch  von  unseren  Herren 
als  ungenügend  bezeichnet.  Die  Händler  und  Industriellen  befinden 
sich  am  Rande  des  Ruins.  Die  Arbeiter  hungern.  Das  Kapital 
wirft  keinen  Profit  ab,  und  die  Arbeit  wird  nicht  entlohnt.  Das 
Haus  des  Handwerkers  ist  leer  geworden  und  die  Kammer  des 
Wucherers  ist  gefüllt.  Im  Arbeitshause  ist  kein  Platz  mehr  vor- 
handen, die  Fabrik  aber  steht  leer.  Ihre  Petenten  haben  mit  grösster 
Sorgfalt  nach  den  Ursachen  des  Notstandes  gesucht,  der  so  schwer 
und  so  andauernd  auf  ihnen  laste.  Diese  Ursachen  können  nicht  in 
der  Natur  oder  in  dem  Willen  der  Vorsehung  bestehen  .  .  .  Sie  (die 
Petenten)  erklären  dem  Unterhause  ehrerbietigst,  dass  dieser  Zustand 
nicht  fortdauern  dürfe.  Sie  sagen  dem  Hause,  dass  das  Kapital  des 
Unternehmers  nicht  des  angemessenen  Profits,  dass  die  Arbeit  des 
Arbeiters  nicht  der  angemessenen  Belohnung  beraubt  werden  dürfe. 
Dass  die  Gesetze,  die  die  Nahrung  teuer,  das  Geld  knapp  und  die 
Arbeit  billig  machen,  beseitigt  werden  müssen.  Dass  die  Steuern 
auf  das  Eigentum,  nicht  aber  auf  die  produktive  Thätigkeit,  gelegt 
werden  müssen  .  .  .  Als  Vorbedingung  dieser  und  anderer  notwendiger 
Massnahmen,  als  einziges  Mittel,  das  die  Interessen  des  Volkes 
schützen  könnte,  verlangen  ihre  Petenten,  dass  der  Schutz  der  In- 
teressen des  Volkes  diesem  selbst  anvertraut  würde'-)." 

Darauf  folgen  die  Punkte  der  „Charte".  In  dieser  Petition  tritt 
die  innere  Schwäche   des  Chartismus  mit  voller  Anschaulichkeit  her- 


1)  The  Northern  Star,  N0.  46,   1838. 

2)  Gamrnage,   88. 

21 


—      324     — 

vor.  Die  Petition  beginnt  mit  einem  Hinweis  auf  die  schwere  öko- 
nomische Lage  des  Landes.  Ueber  die  Ursachen  dieser  Notlage 
wird  gar  nichts  gesagt.  Die  Massnahmen  zur  Beseitigung  dieser 
Notlage  werden  auch  ganz  unbestimmt  skizziert.  Die  Verminderung 
der  Steuern,  die  Abschaffung  der  Korngesetze  und  die  Reform  des 
Geldsystems,  nur  das  kann  die  Petition  der  Regierung  vorschlagen, 
dafür  stellt  sie  aber  mit  voller  Entschiedenheit  die  Forderung  einer 
radikalen  Parlamentsreform  auf. 

Sehr  charakteristisch  ist  in  dieser  Petition  auch  das  vollständige 
Fehlen  irgend  eines  Gedankens,  der  sich  dem  Sozialismus  nähere. 
Das  Kapital  und  die  Arbeit  werden  in  gleichem  Masse  als  recht- 
mässige Momente  des  Wirtschaftslebens  erkannt,  die  mit  gleichem 
Rechte  auf  eine  „angemessene"  Entlohnung  Anspruch  erheben  können. 
Der  Punkt  über  die  Abschaffung  „der  Gesetze,  die  das  Geld  knapp 
machen",  ist  vollständig  dem  Birminghamer  Programm  von  Attwood 
entnommen. 

In  dieser  Petition  fällt  auch  das  gänzliche  Uebergehen  des 
neuen  Armengesetzes  und  der  Fabrikgesetze  auf,  der  wichtigsten 
sozialen  Forderungen,  die  die  Arbeitermassen  aufgestellt  haben.  Es 
findet  das  seine  Erklärung  wahrscheinlich  darin,  dass  die  Petition 
vom  Birmingham  er  politischen  Vereine  verfasst  wurde,  einem  Vereine 
bürgerlicher  Radikaler i).  Attwood,  der  an  der  Spitze  dieses  Ver- 
eines stand,  war  im  höchsten  Grade  bemüht,  die  Mittelklassen  auf 
die  Seite  der  Chartisten  zu  ziehen,  und  daher  wurden  in  diese 
Petition  nur  solche  Forderungen  aufgenommen,  die  auf  die  Sympathie 
dieser  Klassen  rechnen  konnten. 

Es  ist  interessant,  bei  dem  Verhalten  der  Chartisten  den  Korn- 
gesetzen gegenüber  zu  verweilen.  In  dieser  höchst  wichtigen  Frage 
herrschte  unter  den  Chartisten  durchaus  keine  Einigkeit.  Der  rechte 
Flügel  der  Chartisten  stand  der  Agitation  gegen  die  Korngesetze 
sympathisch  gegenüber.  Aber  O'Brien  und  darauf  O'Connor 
traten  dieser  Agitation  gegenüber  äusserst  feindselig  auf.  O'Brien 
behauptete,  dass  unter  den  herrschenden  politischen  Verhältnissen 
alle  Vorteile  der  Abschaffung  der  Korngesetze  der  Klasse  der 
Geldkapitalisten,  den  Creditoren,  zum  Nachteile  der  Arbeiter  und 
der  Schuldner,  zufallen  würden.  Das  Sinken  der  Getreidepreise 
würde  namentlich  von  einem  Sinken  der  Löhne  begleitet  werden. 
Da    aber    die    Kaufkraft    des    Geldes    infolge    der    Verbilligung    der 


i)  Nach  Lovett  war   die    Petition    von   Douglas,    dem    Verleger    des    Birminghamer 
Journals,  verfasst.     Autobiography,  S.   201. 


—     325     — 

Nahrungsmittel  entsprechend  wachsen  würde,  so  würde  sich  die 
Last  aller  fixierten  Zahlungen  und  Steuern  vermehren.  Unter 
solchen  Umständen  sei  die  Abschaffung  der  Kornzölle  gleichbe- 
deutend mit  der  Expropriation  der  gesamten  arbeitenden  und  pro- 
duzierenden Bevölkerung  zu  Gunsten  der  Geldkapitalisten.  Die  Ab- 
schaffung der  Kornzölle  müsste  von  anderen  Massnahmen  be- 
gleitet werden,  die  den  Kapitalisten  die  Möglichkeit,  sich  alle 
\^orteile  dieser  Abschaffung  anzueignen,  nehmen  sollten  und  da 
nur  ein  durch  allgemeines  Stimmrecht  erwähltes  Parlament  sich 
zu  solchen  Massnahmen  entschliessen  könnte,  so  wäre,  nach  der 
Meinung  O'Briens,  eine  sofortige  Aufhebung  der  Korngesetze  für 
die  Interesse  der  Arbeiterklasse  schädlich. 

Während  des  Herbstes  1838  wurden  Chartistenmeetings  zahl- 
reicher abgehalten  als  jemals.  Nicht  selten  w^urden  sie  mitten  in  der  Nacht 
bei  Fackelschein  veranstaltet.  Viele  erschienen  bewaffnet.  Auf  einem 
solchen  nächtlichen  Meeting  fragte  Stephens,  ob  die  Anwesenden 
bewaffnet  seien.  Es  ertönten  einige  Schüsse.  „Und  das  ist  alles?" 
fragte  Stephens.  Man  antwortete  ihm  mit  einer  ganzen  Salve. 
Als  Stephens  vorschlug,  dass  diejenigen,  die  sich  entschlossen  hätten, 
Waffen  anzuschaffen,  die  Hände  erheben  sollten,  erhoben  sich  die  Hände 
aller  Anwesenden,  und  wieder  erfolgten  einige  vSalven.  Die  Regie- 
rung machte  solchen  Auftritten  ein  rasches  Ende,  indem  sie  nächt- 
liche Meetings  verbot  und  Stephens  verhaftete. 

Am  4.  Februar  1839  trat  in  London  der  erste  nationale  Kon- 
vent der  Chartisten  zusammen,  an  dem  53  Delegierte,  Vertreter  der 
Chartistengruppen  aus  verschiedenen  Teilen  des  Landes  teilnahmen. 
Dieser  Konvent  sollte  ein  Volksparlament  bilden  und  gegenüber  dem 
nur  von  einem  kleinen  Bruchteile  der  Bevölkerung  gewählten  Par- 
lamente im  Westminsterhause  tagen.  Wir  werden  bei  der  Thätigkeit 
dieses  Konvents  nicht  verweilen.  Viele  Chartisten  waren  damit  un- 
zufrieden, dass  ihre  Vertreter  eine  ebenso  übermässige  Redelust 
zeigten  wie  die  Parlamentsmitglieder  im  Westminsterhaus.  Die 
Delegirten  der  industriellen  Bezirke  des  Nordens,  des  Hauptbollwerks 
des  Chartismus,  wiesen  ganz  entschieden  auf  die  Arbeitslosigkeit  und 
die  Notlage  der  arbeitenden  Klasse  als  auf  die  eigentliche  Ursache 
des  Chartismus  hin.  So  erklärte  der  Delegierte  Bussey,  der  Ver- 
treter von  einigen  Hunderttausenden  Yorkshirer  Arbeitern,  dass  „die 
Ursache  des  Chartismus  die  entsetzliche  Armut  sei.  Bevor  diese 
Ursache  beseitigt  würde,  könne  man  auf  eine  Wiederkehr  des  Friedens 
nicht  rechnen."  Seine  Rede  schloss  er,  indem  er  die  bekannten 
Stephensschen  Worte  variierte:  „Hätten  wir  nur  eine  gute  Kleidung, 


—        32б        — 

eine  gute  Wohnung  und  ein  nahrhaftes  Mittagsessen,  so  hätte  uns 
unsere  Regierungsform  nicht  im  mindesten  gekümmert"  ^).  Der  New- 
castler  Delegierte,  Lowry,  sagte  auf  einem  anderen  Meeting:  „Die 
Chartistenagitation  sei  einem  Notstande  entsprungen ,  einem  entsetz- 
Hchen  und  allgemeinen  Notstande,  unter  dem  das  ganze  Volk  leide  .  .  . 
Als  Vertreter  der  Arbeiterklassen  des  Nordens  erkläre  er  (Lowry), 
dass  sie  nicht  warten  könnten  und  auch  nicht  warten  wollten  2)." 
Gammage,  der  Geschichtsschreiber  des  Chartismus,  der  sich  auch 
selbst  an  der  Bewegung  energisch  beteiligte,  sagt:  „Die  Anhänger 
der  „physischen  Gewalt^'  unter  den  Mitgliedern  des  Konvents  kamen 
zu  ihrer  Stellungnahme  durch  die  äusserste  Unzufriedenheit  der 
Arbeiterklassen,  insbesondere  in  den  industriellen  Bezirken,  die  durch 
den  akutesten,  durch  keine  Hoffnungen  auf  Besserung  gemilderten 
Notstand  hervorgerufen  wurde.  Dieser  Notstand  bildete  einen 
häufigen  Gegenstand  der  Besprechungen  des  Konvents^)."  Und  in 
der  That,  einer  der  wärmsten  Anhänger  der  „physischen  Gewalt", 
Marsden,  ein  Handweber,  hat  persönlich  unter  der  allgemeinen 
Arbeitslosigkeit  stark  gelitten,  und  nach  seiner  eigenen  Anerkennung 
musste  er  mit  seiner  Familie  während  einiger  Zeit  hungern.  Viele 
Redner  wiesen  auf  ähnliche  Fälle  des  äussersten  Elends  auch  in 
anderen  Arbeitszweigen  hin'^). 

Die  nationale  Petition,  mit  1280000  Unterschriften  bedeckt, 
wurde  dem  Unterhaus  durch  Attwood  am  14.  Juni  vorgelegt.  Im 
Juli  fanden  in  Birmingham  grosse  Unruhen  statt.  Die  Menge  leistete 
dem  Militär  heftigen  Widerstand,  zerstörte  einige  Läden  und  ver- 
brannte einige  Häuser.  Herzog  von  Wellington  sagte  aus  diesem 
Anlass  im  Oberhaus,  er  habe  viele  Städte  gesehen,  die  im  Sturm 
genommen  worden  seien,  aber  keine  einzige  Stadt  habe  so  grausam 
gelitten  wie  Birmingham.  Natürlich  war  diese  Erklärung  äusserst 
übertrieben.  Auf  die  Unruhen  folgten  Verhaftungen  vieler  Chartisten- 
führer. 

Einige  Tage  zuvor,  am  12.  JuH,  brachte  Attwood  im  Unter- 
hause den  Antrag  ein,  die  nationale  Petition  der  Chartisten  in  einer 
speziellen  Kommission  einer  Erörterung  zu  unterziehen.  Die  Rede 
Attwood 's  und  die  nachfolgenden  Debatten  geben  sehr  viel  zur 
Verständigung  des  wahren  Charakters  des  Chartismus. 


i)  The  Northern  Star,   1839,  N0.  65. 

2)  A.  a.  O.,  N0.  66. 

3)  Gammage,    108. 

4)  The  Northern  Star,    1839,  N0.   68. 


—     327      — 

Attwood  hat  darauf  hingewiesen,  dass  nicht  nur  die  Arbeiter 
schwere  Entbehrungen  erfahren,  sondern  alle  industriellen  Klassen  des 
Landes  unter  der  andauernden  Geschäftsstockung  zu  leiden  haben. 
Diese  Geschäftsstockung  stand,  nach  der  Auffassung  von  Attwood,  in 
einem  unmittelbaren  Zusammenhang  mit  dem  Aufnehmen  der  Bar- 
zahkmgen  im  Jahre  1819;  die  Interessen  sowohl  der  Arbeiter  wie 
der  Unternehmer  stimmen  in  dieser  Hinsicht  vollkommen  überein. 
„Er  sei  überzeugt,  dass  der  Wohlstand  und  die  Befriedigung  der 
Arbeiterklasse  ohne  die  geringste  Schädigung  der  Interessen  anderer 
Gesellschaftsklassen  oder  Ungerechtigkeit  für  irgend  jemand  anderen 
erreicht  werden  könnten.  Das  Land  könnte  beständige  Handels- 
sch\vankungen  nicht  ertragen  .  .  .  Die  1 200000,  die  die  Petition 
unterzeichnet  hätten,  erklärten  damit,  sie  hätten  ein  Recht,  durch 
ehrliche  Arbeit  zu  leben,  dass  man  ihnen  aber  dieses  Recht  ver- 
weigere; zugleich  erklärten  sie,  dass  die  industriellen  Schwankungen  zu 
kurzen  Perioden  einer  zweifelhaften  Blüte,  aber  zu  andauernden  Perio- 
den einer  unzweifelhaften  Not  führen."  Nach  der  Ansicht  Attwoods 
brachte  die  Petition  nicht  nur  die  Forderungen  der  Arbeiter,  sondern 
auch  der  meisten  Angehörigen  der  Mittelklassen,  der  Gewerbtreiben  den 
und  der  Händler  zum  Ausdruck.  Für  die  Unternehmer  sei  die  Ge- 
schäftsstockung noch  schlimmer  als  für  die  Arbeiter. 

Fielden,  der  den  Antrag  Attwoods  unterstützte,  sprach  auch 
über  die  Geschäftsstockung,  unter  der  besonders  stark  Lancashire 
sowie  überhaupt  die  industriellen  Bezirke  litten.  „Und  wodurch  sei 
die  Krisis  in  den  Manufakturbezirken  hervorgerufen?"  Durch 
schlechte  Gesetze  oder  jedenfalls  dadurch,  dass  das  Parlament  nicht 
gewillt  ist,  gute  Gesetze  zu  schaffen. 

Attwood  gab  also  ein  Hilfsmittel  an,  das  Papiergeld;  Fielden 
aber  hat  auf  kein  Hilfsmittel  hingewiesen  und  begnügte  sich  mit 
dem  Konstatieren  der  übrigens  unbestreitbaren  Thatsache  des  Not- 
standes infolge  der  Geschäftsstockung.  Die  von  Attwood  einge- 
nommene Position  war  jedoch  so  schwach,  dass  es  der  Regierung, 
die  vom  Lord  Rüssel  vertreten  wurde,  keine  Mühe  machte,  ihn  zu 
widerlegen.  Die  Rede  Lord  Russeis  war  für  Attwood  vernichtend. 
„Der  verehrte  Gentleman,"  erklärte  Rüssel,  ,, betrachte  die  Petition 
hauptsächlich  vom  Standpunkte  der  ökonomischen  und  sozialen  Lage 
des  Volkes.  Was  die  politische  Seite  der  Frage  anlange,  so  halte 
sich  der  verehrte  Gentleman  bei  diesem  Punkte  wenig  auf  .  .  .  Viele 
meinten,  dass  das  allgemeine  Wahlrecht  das  Volk  glücklich  machen 
werde.  Aber  er  (Rüssel)  denke,  dass  diese  Auffassung  auf  einem 
fundamentalen    Irrtum    beruhe.      Der   verehrte   Gentleman   sage:    „Er 


-      32S     — 

sei  für  das  allgemeine  Wahlrecht,  denn  bis  wir  es  nicht  haben 
würden,  würde  das  Parlament  uns  heute  Wohlstand  bringen,  morgen 
aber  uns  in  den  Notstand  stürzen."  Er  (Rüssel)  könne  sich  aber 
keine  Regierungsform  vorstellen  .  .  .  die  dem  ganzen  Lande  eine 
stetige  und  ununterbrochene  PrOvSperität  sichere,  die  in  einem  in- 
dustriellen Handelslande  sowohl  den  niedrigen  Stand  der  Löhne 
und  den  daraus  entspringenden  Notstand,  unter  dem  am  schwersten 
die  unteren  Klassen  der  Bevölkerung  leiden,  wie  jene  abwechselnden 
Schwankungen  von  Wohlstand  zu  Not,  die  in  allen  Ländern  der  ge- 
nannten Art  zu  beobachten  seien,  vorbeuge.  Man  sehe  die  Ver- 
einigten Staaten  Amerikas  an.  Sie  hätten  das  allgemeine  Wahlrecht. 
Wer  würde  aber  behaupten,  dass  die  Vereinigten  Staaten  frei  von 
diesen  Schwankungen  oder  frei  von  Not  seien?  .  .  .  Weder  das  all- 
gemeine Wahlrecht  noch  irgend  eine  andere  Form  des  Wahlrechts 
könne  Gesetze  schaffen,  die  dem  Volke  einen  ständigen  Wohlstand 
sichern." 

Darauf  ging  Rüssel  über  zur  Analyse  des  speziellen  Mittels, 
den  Notstand  zu  lindern,  das  Attwood  empfohlen  hatte.  Voraus- 
gesetzt, dass  dieses  Mittel  wirksam  wäre,  gebe  es  einen  Grund  zur 
Annahme,  dass  die  Parlamentsreform  zu  seiner  Durchführung  führen 
würde?  Rüssel  berief  sich  auf  die  Erklärungen  der  einflussreichsten 
Chartistenführer,  wieFergus  O'Connor,  Lovett,  Collins,  Frostu.a., 
gegen  das  Papiergeld.  So  wurde  in  einem  Chartisten  manifeste  den 
Arbeitern  unter  anderem  gesagt:  „Unter  den  verschiedenen  Mass- 
nahmen, mittels  derer  man  Euch  knechten  will,  giebt  es  keine 
drückendere  als  das  Papiergeld."  Daher  habe  Attwood  mit  seinem 
Glauben  an  die  Papierwährung  vom  allgemeinen  Wahlrecht  nichts 
zu  hoffen. 

Die  interessanteste  und  geistreichste  Rede  hielt  während 
dieser  Debatte  Disraöli.  Er  wies  darauf  hin,  dass  die  Chartisten- 
bewegung durchaus  nicht  durch  das  Streben  der  Arbeiter  zu  poli- 
tischen Rechten  hervorgerufen  sei.  „Die  politischen  Rechte  hätten 
einen  so  abstrakten  Charakter,  ihre  Folgen  wirken  so  entfernt  auf 
die  Volksmasse  zurück,  dass  sie,  nach  seiner  (Disraöli  s)  Ansicht, 
niemals  zur  Entstehung  einer  grossen  Volksbewegung  führen  könnten." 
Dennoch  halte  es  Disraöli  gleichfalls  für  unmöglich,  den  Chartismus 
auf  rein  ökonomische  Ursachen  zurückzuführen.  „Es  gebe  etwas, 
das  zwischen  ökonomischen  und  politischen  Ursachen  stehe,"  erklärte 
er,  „und  das  sei  es  gerade,  was  diese  grosse  Bewegung  geschaffen 
habe  .  .  .  Die  wahre  Ursache  dieser  letzteren  sei  die  Ueberzeugung 
eines  Teiles  der  Bevölkerung,  dass  ihre  bürgerlichen  Rechte  verletzt 


—      329     — 

seien.  In  den  letzten  Jahren  habe  zweifellos  eine  Verletzung  der  bür- 
gerlichen Rechte  des  englischen  Volkes  stattgefunden.  Er  gehöre  nicht 
zu  denen,  die  da  denken,  die  Volkscharte  sei  allein  aus  dem  neuen 
Armengesetze  entstanden.  Aber  er  glaube  doch,  dass  zwischen  dem 
einen  und  dem  anderen  ein  enger  Zusammenhang  bestehe  .  .  .  Die 
alte  Konstitution  habe  einem  geringen  Teil  der  Nation  politische 
Rechte  übergeben.  Aber  die  politischen  Rechte  seien  einer  geringen 
Klasse  von  Personen  nur  unter  gewissen  Bedingungen  anvertraut 
gewesen:  diese  Personen  sollten  nämhch  die  bürgerlichen  Rechte  der 
grossen  Majorität  schützen.  Das  hätte  nicht  nur  ihre  Ehre  erfordert; 
die  Organisation  der  Gesellschaft  sei  derart  gewesen,  dass  Personen,  die 
mit  politischen  Rechten-  versehen  wurden,  zugleich  bestimmte  Verpflich- 
tungen übernähmen,  die  sie  ausführen  müssten.  Jetzt  sei  ein  be- 
deutender Teil  der  politischen  Macht  einer  neuen  Klasse  von  Personen 
übertragen,  die  diese  grossen  öffentlichen  Verpflichtungen  nicht  auf 
sich  genommen  hätten.  Nur  die  Erfüllung  grosser  Pflichten  habe 
vormals  den  grossen  sozialen  Einfluss  geschaffen;  die  neue  Klasse 
aber,  die  die  politischen  Rechte  erhalten  habe,  sei  nicht  mit  der 
Volksmasse  durch  Erfüllung  von  sozialen  Pflichten  verknüpft  ge- 
wesen .  .  .  Wohin  habe  das  geführt?  Diejenigen,  die  die  politische 
Macht  erworben  hätten,  ohne  ihre  notwendigen  Vorbedingungen  und 
Verpflichtungen  zu  erfüllen,  hätten  sich  natürlich  bemüht,  sich  nach 
MögHchkeit  aller  Ausgaben  und  Sorgen  zu  entledigen.  Nachdem  sie 
eine  solche  Lage  erreicht  hätten,  um  derentwillen  andere  bereit 
wären,  Ausgaben  zu  tragen  und  keine  Sorgen  zu  scheuen,  seien  sie 
bemüht  gewesen,  die  Vorteile  der  Situation,  ohne  jeglichen  Nachteil 
für  ihren  Geldbeutel  und  ohne  jegliche  Verausgabung  ihrer  Zeit, 
auszunutzen.  Das  erste  habe  zu  einem  Bestreben,  die  Staatsausgaben 
einzuschränken,  das  zweite  zu  einer  ständigen  Einmischung  der 
Regierung  geführt.  Aber  er  (Disraeli)  behaupte,  dass  man  nicht 
eine  billige  und  centralisierte  Regierung  haben  und  zugleich  die 
bürgerlichen  Rechte  des  englischen  Volkes  erhalten  könne  ...  Er 
glaube,  dass  darin  die  wahre  Ursache  des  Chartismus  bestehe  .  .  . 
Ein  bedeutender  Teil  der  Bevölkerung  habe  erkannt,  dass  ihre 
bürgerlichen  Rechte  verletzt  seien.  Das  neue  Armengesetz  sei  eine 
solche  Verletzung  dieser  bürgerlichen  Rechte  gewesen.  Man  könne 
nicht  leugnen,  dass  das  neue  Armengesetz  auf  einem  Prinzipe  beruhe, 
das  alle  sozialen  Pflichten  des  Staates  negiere.  Dieses  Gesetz  schreibe 
den  Notleidenden  vor,  sich  um  Hilfe  nicht  an  die  nächsten  Nachbarn, 
sondern  an  die  entfernte  Regierungsgewalt  zu  wenden.  Dieses  Gesetz 
sage   dem    unglücklichen  Arbeiter,    er  habe   kein    gesetzliches   Recht 


—     ЗЗО     — 

auf  eine  Unterstützung,  die  Unterstützung,  die  er  erhalte,  sei  Sache 
der  Wohlthätigkeit.  Und  er  (Disraöli)  glaube,  dass  die  Unzufrieden- 
heit, die  durch  diese  Veränderungen  hervorgerufen  sei,  diejenige 
Kraft  gewesen  wäre,  welche  die  Partei  des  Aufruhrs  zu  ihren 
Zwecken  ausgenutzt  habe.  So  sei  die  Chartistenbewegung  ent- 
standen ...  Er  erkenne  an,  dass  die  nationale  Petition  von  dem 
grossen  Irrtume  ausgehe,  dass  das  soziale  Unglück  durch  politische 
Rechte  geheilt  werden  könne;  dieser  Irrtum  aber  werde  nicht  von 
den  armen  Chartisten  allein  geteilt  i)." 

Disraeli  hat  viel  mehr  Verständnis  für  die  Ursachen  des 
Chartismus  bewiesen  als  irgend  ein  anderer  Staatsniann  jener  Zeit. 
Sehr  fein  und  richtig  ist  seine  Bemerkung  über  die  Gleichgiltigkeit 
der  Volksmasse  gegenüber  politischen  Rechten  und  über  die  Be- 
deutung der  bürgerlichen  Rechte.  Gerade  in  diesem  Unterschied 
zwischen  den  politischen  und  den  bürgerlichen  Rechten  liegt  der 
Schlüssel  zum  Verständnis  der  gesamten  neuesten  politischen  Ge- 
schichte Englands.  Der  englische  Arbeiter  zeigte  stets  einen  auf  den 
ersten  Blick  unbegreiflichen  Indifferentismus  gegenüber  seinen  poli- 
tischen Rechten.  Nur  in  der  Epoche  des  Chartismus  sind  die  poli- 
tischen Rechte  als  Fahne  einer  Volksbewegung  entrollt  worden. 
Aber  Disraeli  hatte  durchaus  recht,  wenn  er  sagte,  das  sei  nur 
eine  Aeusserlichkeit,  die  Kraft  des  Chartismus  liege  aber  nicht  in 
der  politischen  Unzufriedenheit. 

Nirgends  in  der  Welt  hat  die  Arbeiterklasse  soviel  Mut  und 
Beharrlichkeit  in  der  Verteidigung  ihrer  Interessen  bewiesen  wie  in 
England.  Nirgends  in  der  Welt  haben  die  Arbeiter  eine  so  mächtige 
Klassenorganisation  geschaffen  wie  in  England,  nirgends  haben  die 
Arbeiter  auch  einen  solchen  politischen  Einfluss  gehabt  wie  in  Eng- 
land. Und  doch  hat  der  englische  Arbeiter  erst  seit  kurzer  Zeit 
politische  Rechte  erhalten,  sogar  heute  besitzt  er  sie  noch  nicht  in 
vollem  Umfange,  da  England  ein  allgemeines  Wahlrecht  immer  noch 
nicht  kennt.  Warum  hat  nun  der  englische  Arbeiter  im  Gegensatz 
zu  seinen  Brüdern  auf  dem  Kontinent  seine  Energie  nicht  auf  die 
Eroberung  politischer  Rechte  gerichtet?  Gewiss,  wenn  der  englische 
Arbeiter  nur  einen  geringen  Teil  jener  Energie  und  Beharrlichkeit, 
mit  der  er  beständig  seinen  ökonomischen  Kampf  führt,  für  den 
politischen  Kampf  aufgewendet  hätte,  so  wäre  das  allgemeine  Wahl- 
recht in  England  schon  längst  eine  vollzogene  Thatsache. 


i)  Hansard's  Parliamentaiy  Debates.      1839-     Vol.  49. 


—     331      — 

Die  Erklärung  dieser  Erscheinung  liegt  im  folgenden:  dem 
eng'lischen  Arbeiter  fehlen  die  Beweggründe,  die  den  Arbeiter  auf 
dem  Kontinent  auf  den  politischen  Kampf  hindrängen.  Die  Volksmasse 
auf  dem  Kontinent  machte  Revolutionen,  um  ihre  bürgerlichen 
Freiheiten  auszudehnen.  In  England  war  die  bürgerliche  Freiheit  in 
ihren  Hauptzügen  schon  längst  erreicht,  und  keine  Erweiterung  des 
Wahlrechtes  konnte  zu  dieser  Freiheit  etwas  Wesentliches  hinzufügen. 
Daher  konnten  die  politischen  Reformen  die  englische  Volksmasse 
nicht  lebhaft  berühren;  auch  bei  einem  aristokratischen  Parlament 
fühlte  sich  der  englische  Arbeiter  als  ein  ebenso  freier  Mensch  wie 
bei  einem  demokratischen. 

Der  Chartismus  war  ein  grossartiger  Versuch,  die  b^rderung 
politischer  Rechte  für  das  Volk  mit  den  realen  Volksbedürfnissen  zu 
verknüpfen.  Jedoch  da  diese  Bedürfnisse  ökonomischer  Art  waren 
und  der  sociale  Gedanke  jener  Zeit  keine  ernsthaften  und  ausführ- 
baren Massregeln  zur  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  ausgearbeitet 
hatte,  so  musste  dieser  Versuch  schliesslich  scheitern  i).  Solange  die 
Arbeitslosigkeit  einen  grossen  Umfang  hatte,  hielt  sich  die  Volks- 
masse an  die  „Charte",  als  an  eine  Fahne  des  Protestes.  Aber  eine 
Wiederbelebung  des  Handels  genügte,  um  den  Chartismus  ver- 
schwinden zu  lassen. 

Die  schwierige  Stellung  Attwoods  im  Parlament  kennzeichnet 
grell  den  inneren  Widerspruch,  unter  dem  der  Chartismus  litt,  den 
Widerspruch  zwischen  dem  politischen  Programm  der  Bewegung  und 
ihren  sozialen  Wurzeln.  Der  Antrag  Attwoods,  die  Chartisten- 
petition einer  Parlamentskommission  zur  Erörterung  zu  unterbreiten, 
wurde  mit  einer  Majorität  von  235  Stimmen  gegen  46  abgelehnt. 

Am  4.  November  1839  erfolgte  ein  ernsthafter  Versuch  eines 
offenen     Aufruhrs    seitens    der     Chartisten.       Frühmorgens    drangen 

i)  Die  Aufhebung  des  neuen  Armengesetzes  war  die  einzige  praktische  von  den 
Chartisten  vorgeschlagene  Massregel,  die  in  der  That  erst  nach  einer  radikalen  Reform  des 
Parlaments  verwirklicht  werden  konnte,  da  beide  Parteien,  die  Tories  und  die  Wighs,  an 
dem  neuen  Gesetz  unbedingt  festhielten.  Aber  erstens  hat  die  heftige  Opposition  gegen 
das  Gesetz  in  den  industriellen  Bezirken  in  bedeutendem  Masse  ihr  Ziel  erreicht:  das  Gesetz 
wurde  in  diesen  Bezirken  so  vorsichtig  gehandhabt,  dass  der  Unterschied  gegenüber  dem 
früheren  Zustand,  dem  vor  1834,  nicht  gross  war.  Zweitens  aber  bezog  sich  dieses  Gesetz 
immerhin  nur  auf  einen  Teil  der  Arbeiterklasse.  Der  grösste  Teil  der  Arbeiter  in  den 
industriellen  Grafschaften  hatte  auch  unter  dem  alten  Gesetze  keinerlei  Unterstützung  seitens 
der  Kirchspiele  bezogen,  da  er  so  etwas  für  eine  Schande  hielt.  Insbesondere  galt  das  für 
die  Vertreter  der  gelernten  Arbeit.  Daher,  wie  wichtig  dieses  Gesetz  auch  gewesen  sein 
mochte,  es  bot  für  die  Volksmassen  doch  nicht  einen  genügenden  Anlass,  um  den  gesamten 
englischen  Staatsbau  zu  zerstören  und  das  Parlament  auf  demokratischer  Grundlage  neu  auf- 
zubauen. 


-^    332    —     . 

einige  Tausend  Bergarbeiter  in  die  Stadt  Newport,  um  unter  An- 
wendung von  Gewalt  das  städtische  Gefängnis  zu  besetzen  und  die 
dort  gefangen  gehaltenen  Chartistenführer  zu  befreien.  Viele  waren 
bewaffnet  mit  Gewehren,  Piken,  Heugabeln.  Die  Menge,  an  deren 
Spitze  der  ehemalige  Richter  Frost  stand,  beabsichtigte  anscheinend 
von  der  Stadt  Besitz  zu  ergreifen  und  dadurch  das  Signal  zu  einem 
allgemeinen  Aufruhr  zu  geben,  der  gleichzeitig  in  Yorkshire  aus- 
brechen sollte.  Ein  Detachement  Militär  leistete  Widerstand.  Es  er- 
folgte ein  gegenseitiges  Beschiessen,  wobei  10  Chartisten  auf  der 
Stelle  getötet  und  gegen  50  verwundet  wurden.  Der  Aufstand 
wurde  kurzer  Hand  niedergeschlagen. 

Ueber  die  Stimmung,  die  diesen  verzweifelten  und  hoffnungs- 
losen Versuch  hervorrief,  kann  man  sich  auf  Grund  des  folgenden 
Briefes  eines  der  getöteten  Chartisten,  eines  Jünglings  von  18  Jahren, 
eine  Vorstellung  machen.  Dieser  unbekannte  Held  der  Freiheit 
schrieb  folgendermassen: 

„Pontipool,  Sonntag  Nachts,  am  4.  November  183g.  Teure 
Eltern,  ich  hoffe,  dass  Ihr  Euch  in  guter  Gesundheit  befindet, 
wie  zur  Zeit  auch  ich  bin.  Diese  Nacht  gehe  ich  in  den  ruhm- 
vollen Kampf  um  die  Freiheit,  und  wenn  es  dem  Herrn  gefallen 
wird,  mein  Leben  zu  erhalten,  werde  ich  Euch  sehen  .  .  .  Wenn 
aber  nicht,  bedauert  mich  nicht,  ich  sterbe  für  eine  edle  Sache. 
Auf  Wiedersehen.     Ganz  der  Euere  George  Shell"  i). 

Die  Organisatoren  des  Newport  er  Aufstandes  —  Frost, Williams 
und  Jones  —  wurden  zum  Tode  verurteilt,  aber  die  Regierung  er- 
setzte dieses  Urteil  durch  eine  lebenslängliche  Deportation  mit  Zwangs- 
arbeit. Im  Jahre  1840  befanden  sich  fast  alle  Führer  der  Chartisten 
im  Gefängnis  und  die  Bewegung  schien  aufzuhören. 

Die  Regierung  feierte  einen  Sieg;  viele  glaubten,  der  Chartis- 
mus sei  begraben.  Aber  tiefere  Beobachter  des  Volkslebens  sahen, 
dass  die  Geschichte  des  Chartismus  noch  nicht  zu  Ende  ist. 

„Wir  wissen  -  führte  Carlyle  aus  —  dass  der  Chartismus, 
wie  die  Zeitungen  versichern,  erloschen  ist;  dass  die  Reformregierung 
„die  Chimäre  des  Chartismus  in  der  glücklichsten  und  wirksamsten 
Weise  zerstört  hat".  So  sagen  die  Zeitungen,  aber  leider  weiss  der 
grösste  Teil  der  Arbeiter,  dass  nur  die  „Chimäre"  des  Chartismus, 
nicht  aber  der  Chartismus  selbst,  in  Wirklichkeit  vernichtet  ist.  Die 
unzusammenhängende    und    plumpe    Gestalt,    in    der   der    Chartismus 


I)  Gammage,    163. 


—     333     — 

zuletzt  vor  den  Augen  der  Welt  erschienen  war,  ist  vernichtet  wor- 
den, oder,  richtiger,  sie  ist  von  selbst,  unter  ihrer  eigenen  Schwere, 
zusammengebrochen,  den  Naturgesetzen  folgend.  Aber  das  innere 
Wesen  des  Chartismus  ist  nicht  untergegangen.  Der  Chartismus  be- 
deutet eine  bittere  Unzufriedenheit,  die  wütend  und  wahnsinnig  ge- 
worden ist  —  die  anormale  Lage  oder  anormale  Stimmung  der  Ar- 
beiterklassen Englands.  Das  ist  der  neue  Name  für  einen  Zustand, 
der  viele  Namen  gehabt  hat  und  noch  mehr  haben  wird.  Das  Wesen 
des  Chartismus  ist  tief  begründet  und  weit  verbreitet,  es  ist  nicht 
von  heute  und  wird  nicht  heute  oder  morgen  untergehen"  4. 

Die  Arbeitslosigkeit  und  der  Notstand  vermehrten  sich  bis  Ende 
1842.  Wie  gross  die  Verelendung  der  Arbeiterklasse  in  dieser  Zeit 
war,  kann  man  danach  beurteilen,  dass  im  Jahre  1841  ein  privates 
Hülfskomitee  für  Arbeitslose  in  Birmingham  Unterstützung  an  mehr 
als  40000  Personen  ausgeteilt  hat,  aber  eine  Unterstützung  im  mini- 
malsten Umfang  —  1^/2  d.  pro  Kopf  in  der  Woche.  Die  Arbeiter 
mit  Familien  verdienten  in  Birmingham  nicht  mehr  als  6 — 11  Sh. 
pro  Woche  2).  wSolche  Komitees  wurden  auch  in  vielen  anderen 
Städten  gegründet. 

Die  Lage  der  Arbeiter  in  Stockport  im  September  1841  wird 
im  Northern  Star  folgendermassen  geschildert;  „Die  Stadt  stellt  ein 
Bild  des  Elendes  und  der  Verzweiflung  dar.  Hunderte  von  Arbeitern 
gehen  in  den  Strassen  umher,  ohne  Nahrung  zu  haben  und  ohne  zu 
wissen,  wo  solche  aufzutreiben.  Tausende  von  Familien  haben  ihr 
Hab  und  Gut  versetzt  und  all  ihre  Kleidungsstücke  verkauft,  um  sich 
Brot  zu  kaufen,  andere  haben  alles  losgeschlagen  und  sind  nach 
Amerika  ausgewandert.  Niemand  erinnert  sich,  dass  man  je  eine 
solche  allgemeine  Hungersnot  und  ein  solches  Elend  erlebt  habe.  Eine 
grosse  Fabrik,  die  gegen  tausend  Arbeiter  beschäftigte,  ist  geschlossen 
worden,  und  es  ist  keine  Hoffnung  vorhanden,  dass  sie  die  Arbeit 
wieder  aufnimmt.  Die  Weber  in  einer  anderen  Fabrik  sind  am 
Sonnabend  in  einen  Streik  eingetreten,  aber  die  Arbeitslosen  sind  so 
sehr  bestrebt,  Beschäftigung  zu  finden,  dass  schon  am  Dienstag 
die  Fabrik  mit  einem  vollständigen  Arbeiterpersonal  arbeitete"^).  Die 
Gesamtzahl  der  Arbeitslosen  in  Stockport  erreichte  5 — 7  Tausend. 

In  Leeds  wurde  im  Herbst  ein  Komitee  gebildet,  um  die  Zahl 
der  Arbeitslosen  festzustellen.  Das  Komitee  unternahm  eine  Arbeits- 
losenzählung  durch   eigens   dazu   eingesetzte    Zähler.     Es   stellte   sich 

i)  Chartism,  S.   2. 

2)  Hansard 's  Parliamentary  Debates,   1841,   vol.   58,  S.    15 19,    1546. 

3)  Northern  Star,  N0.  201,    1841. 


—     334     — 

heraus,  dass,  obwohl  nicht  die  gesamte  Bevölkerung  von  Leeds  gezählt 
wurde,  an  Arbeitslosen  mit  ihren  Familienmitgliedern  i6  156  Köpfe  re- 
gistriert wurden.  In  seinem  Bericht  sagt  das  Komitee  unter  anderem : 
„Die  Zähler  waren  in  vielen  Fällen  gezwungen  ihre  Tabellen  auszu- 
füllen, indem  sie  diese  auf  ihre  Knie  legten,  da  es  in  der  Wohnung 
an  jeglichem  Möbelstück,  auf  das  die  Tabellen  hätten  gelegt  werden 
können,  vollständig  fehlte;  in  sehr  vielen  Phallen  bestand  die  Wohnung 
nur  aus  4  feuchten  Wänden  ohne  jegliche  Möbel"  ^). 

In  der  kleinen  Stadt  Mansfield  war  die  Not  besonders  gross 
unter  den  Strumpfwirkern.  Die  Zahl  der  Arbeitslosen  wuchs  während 
des  ganzen  Herbstes  und  erreichte  gegen  Ende  November  einen 
solchen  Umfang,  dass  gegen  1000  Weber  (einschliesslich  ihrer  Fami- 
lienmitglieder) ohne  jegliche  Subsistenzmittel  blieben. 

Die  Arbeitslosen  veranstalteten  Prozessionen  in  der  Stadt  und 
schickten  Deputationen  zu  den  reichen  Stadtbewohnern,  indem  sie  um 
Hilfe  nicht  baten,  sondern  Hilfe  forderten.  Der  diese  Thatsachen  mit- 
teilende Korrespondent  bemerkt  dazu:  „der  Chartismus  verbreitet  sich 
überall  ebenso  schnell  wie  der  Notstand,  der  Bankerott  und  der 
Ruin". 

Aus  Blackburn  wurde  in  dem  nicht  chartistischen  Lokalblatte 
—  der  Blackburn  Gazette  —  folgendes  mitgeteilt:  „Die  Lage  der 
besitzlosen  Leute  in  dieser  Stadt  und  ihrer  Umgebung  ist  wirk- 
lich traurig.  Selbst  wenn  genügend  Arbeit  vorhanden  ist,  ist  die 
Lage  der  Handweber  derart,  dass  sie  Mitleid  hervorrufen  kann;  aber 
gegenwärtig,  wo  die  Löhne  ausserordentlich  niedrig  sind  und  es  sehr 
schwer  oder  ganz  unmöglich  ist,  Arbeit  zu  finden,  dazu  die  Witterung 
noch  sehr  hart  ist,  haben  ihre  Leiden  die  äusserste  Grenze  erreicht. 
Die  reichen  Einwohner  der  Stadt  haben  sich  genötigt  gesehen,  ein 
Hilfskomitee  zu  bilden'^  ^j. 

In  Schottland  war  die  Eisenindustrie  in  eine  vollständige 
Stockung  geraten.  Die  Unternehmer  beschlossen,  ein  Viertel  aller 
Hochöfen  auszulöschen.  Nach  dem  Glasgow  Chronicle  waren  nicht 
weniger  als  die  Hälfte  der  Arbeiter  in  den  Kattundruckfabriken 
Schottlands  ohne  Arbeit.  „Was  die  Weber  anbelangt"  bemerkt  die- 
selbe Zeitung  „so  sind  sie  schon  so  lange  im  Zustande  einer  Ver- 
elendung, und  wir  haben  schon  so  oft  auf  diese  Thatsache  hingewiesen, 
dass  wir  uns  heute  hier  nicht  aufzuhalten  brauchen.  Die  Notlage 
nimmt  jetzt  einen  allgemeinen  Charakter  an." 


i)  Northern  Star,  N0.   206,   1841. 

2)  The  Northern  Star,  N0.   212,    1841, 


—      335      — 

In  Nottingham  haben  die  Arbeitslosen  Meetings  und  Prozes- 
sionen in  der  Stadt  veranstaltet.  Die  Zahl  der  Arbeitslosen  betrug 
mehr  als  5000.  In  Sheffield  war  auch  ein  Viertel  der  Hochöfen  er- 
loschen. Weekly  Dispatch  teilte  mit:  „In  dem  Umkreise  von 
20  Meilen  um  Manchester  herrschen  Not  und  Hunger.''  In  Man- 
chester bildete  sich  unter  dem  Vorsitz  des  Bürgermeisters  ein 
Hilfskomitee  für  Arbeitslose.  Aehnliche  Komitees  bildeten  sich  in 
London,  Derby,  Nottingham,  Leicester  und  vielen  anderen  englischen 
und  schottischen  Städten. 

In  Spitalfield  standen  mehr  als  ein  Drittel  der  Webstühle  still. 
In  Preston  gab  es  gegen  2000  Arbeitslose.  In  Vigan  hat  das 
Arbeitslosenkomitee  795  Arbeiterfamilien  registriert;  es  hat  sich 
herausgestellt,  dass  ungefähr  ein  Drittel  volle  Arbeit  hatten,  ein 
Drittel  halb  beschäftigt,  ein  Drittel  ganz  unbeschäftigt  waren.  Ueber 
die  Lebensverhältnisse  der  unbeschäftigten  oder  halbbeschäftigten 
Arbeiter  geben  die  folgenden  Zahlen  einen  Begriff:  von  diesen 
schliefen  1104  Personen  zu  je  3  in  einem  Bette,  712  zu  je  4,  200  zu 
je  5,  156  zu  je  6,  66  zu  je  7  und  8  in  einem  Bett.  „Aber  sehr  viele 
von  diesen  armen  Leuten  hatten  weder  Betten  noch  Betttücher  und 
schliefen  einfach  auf  dem  nackten  Fussboden.  ^^q  der  sogenannten 
Betten  hatten  wohl  kaum  ein  Recht  auf  diese  Benennung;  sie  be- 
standen in  ihrer  grossen  Mehrzahl  aus  Bündeln  alten  Strohs,  Heus 
u.  s.  w.,  in  Säcken  aus  roher  Leinwand  .  .  .  ohne  Bettdecken  irgend 
welcher  Art  .  .  .  Die  einen  haben  ihre  Bettwäsche  versetzt,  die 
anderen  haben  sie  verkauft,  um  für  sich  und  ihre  hungernden 
Kinder  Nahrung  zu  kaufen.  In  einigen  Häusern"  so  teilten  die 
Verfasser  des  Berichtes  mit"  haben  die  Kinder  während  unseres 
Besuches  bitter  geweint,  und  als  wir  fragten,  warum  sie  weinten, 
haben  sie  uns  geantwortet:  aus  Hunger,  sie  hätten  heute  kein  Stück- 
chen Brot  gegessen."     (Northern  Star,  Nr.  215.) 

In  Leigh  standen  von  den  7000  Seidenwebstühlen  gegen  3000 
müssig.  Von  den  Baumwollwebern  arbeitete  nur  die  Hälfte.  In 
Hyde  hatten  4000  Arbeiter  in  den  Baumwollfabriken  eine  vollständige 
oder  partielle  Beschäftigung,  1700  aber  waren  ganz  ohne  Beschäfti- 
gung (Northern  Star,  Nr.  215). 

Die  Arbeitslosigkeit  zu  Beginn  der  40er  Jahre  war  von  einem 
sehr  bedeutenden  Sinken  der  Löhne  begleitet.  So  waren  in  Hyde 
die  Löhne  in  den  Baumwollfabriken  in  den  Jahren  1839 — 1S41  ^^^ 
12^/0  gesunken,   in  Mossley  standen    die  Löhne  zu  Beginn   der  40  er 


i)  The  Northern  Star,  N0.  206. 


—    ззб    — 

Jahre  im  Vergleich  zu  denen  am  Beginn  der  30  er  Jahre  für  die 
Baum  Wollfabrikarbeiter  um  25  %,  für  die  WoUenfabrikarbeiter  sogar 
um  45  ^/0  niedriger.  In  Leigh  waren  die  Löhne  der  Baumwollhand- 
weber seit  1836  um  20 — 25  %  gesunken;  in  Vigan  erhielten  die 
Baumwollweber  im  Jahre  1835  7  Schillinge,  im  Jahre  1841  aber  nur 
noch  5  SchilHnge  pro  Woche.  Die  Löhne  der  Spinner  und  der 
Maschinenweber  waren  um  20  ^o  gesunken.  Die  Löhne  der  Spinner 
in  Preston  waren  um  lo^o»  die  der  Weber  um  25^^/0  gesunken.  In 
Glossop  waren  in  den  Jahren  1836 — 1841  die  Löhne  der  Spinner  um 
25%,  die  der  Maschinenweber  um  14%  gesunken  (Northern  Star, 
Nr.  215). 

Die  angeführten  Daten  stammen  nicht  von  den  Arbeitern  her. 
Sie  sind  aus  den  Berichten  ausgezogen,  die  auf  einem  Riesenmeeting 
in  Manchester  verlesen  wurden.  Dieses  Meeting  wurde  Ende 
Dezember  1841  von  der  Liga  gegen  die  Korngesetze  veranstaltet. 
Es  haben  daran  alle  bedeutenderen  Fabrikanten  von  Manchester 
sowie  die  parlamentarischen  Vertreter  der  verschiedenen  Bezirke  des 
Baumwollrayons  teilgenommen. 

Am  20.  September  erklärte  im  Unterhaus  der  Vertreter  von 
Rochdale,  Crawford,  dass  „das  Elend  in  Rochdale  einen  Umfang 
erreicht  habe,  der  einen  jeden  mit  Entsetzen  erfüllen  müsse".  Nach 
seinen  Ausführungen  gab  es  in  dieser  Stadt  136  Personen,  die  6  d. 
wöchentlich  verdienten,  290,  die  10  d.,  508  i  SchilHng,  855  i  Schil- 
ling 6  d.  und   1500   I   Schilling   10  d.  pro  Woche  verdienten. 

Der  Notstand  war  so  gross,  dass  die  Frage  der  Unterstützung 
der  Notleidenden  im  Parlament  öfters  auftauchte,  wenn  auch  ohne 
jedwedes  praktische  Resultat.  Schon  am  24.  September,  als  der 
Notstand  noch  nicht  akut  geworden  war,  wurde  im  Parlament  durch 
den  Abgeordneten  Stewart  eine  Petition  der  Einwohner  von  Paisley 
eingereicht,  in  der  erklärt  wurde,  dass  in  dieser  kleinen  Stadt 
605  ArbeiterfamiHen  infolge  des  Bankerottes  und  der  Schliessung 
einiger  Baumwollfabriken  die  Arbeit  verloren  hätten.  In  einer 
anderen  Stadt,  in  Johnstone,  führten  von  16  Fabriken  in  der  Stadt 
nur  4  die  Arbeit  weiter.  In  den  Maschinenfabriken  arbeitete  nur 
ein  Viertel  der  früheren  Arbeiterzahl.  Ungefähr  im  selben  Verhältnis 
hatte  sich  auch  die  Zahl  der  Arbeiter  in  den  Steinkohlengruben  ver- 
mindert. Die  Petition  endigte  mit  den  Worten:  „Da  sich  der  Winter 
naht,  glauben  die  Petenten,  dass  sie  ihre  öffentliche  Pflicht  nicht  er- 
füllen würden,  wenn  sie  nicht  die  Aufmerksamkeit  des  Parlaments 
auf  diese  Sachlage  lenkten,  damit  das  Parlament  in  der  ernsthaftesten 
Weise   den   Notstand    in    diesem    sowie   in   den   anderen   industriellen 


—      337      — 

Bezirken  des  Königreichs  zu  berücksichtigen  beliebe.  Das  Haus 
wolle  daher  der  gegenwärtigen  gedrückten  Lage  des  Landes  seine 
ernste  Beachtung  schenken  und  rasche  Hilfsmassregeln  ergreifen,  die 
es  für  notwendig  erachte." 

Während  der  nachfolgenden  Debatten  erklärten  einige  Mitglieder, 
dass  in  den  anderen  Gegenden  die  Not  noch  grösser  sei.  So  mussten 
in  Manchester  gegen  8000  Personen  mit  dem  Bettellohn  von  15  d. 
pro  Kopf  in  der  Woche  leben. 

Das  Jahr  1842  war  für  die  Arbeiter  noch  schAverer  als  das 
vorangegangene.  Aus  allen  Centren  der  Manufakturindustrie  kamen 
Nachrichten  von  der  äussersten  Verelendung  der  Arbeiterklasse. 
Mehrmals  wurden  sogar  Fälle  von  Hungersnot  verzeichnet.  In  Car- 
lisle  hat  das  Hilfskomitee  für  die  Arbeitslosen  Anfang  Januar  einen 
Bericht  vorgelegt,  demzufolge  es  in  der  Stadt  309  Familien  gab,  die 
aus  insgesamt  1146  Personen  bestanden  und  die  ein  bestimmtes  Ein- 
kommen überhaupt  nicht  hatten,  334  Familien  (1465  Personen),  die 
weniger  als  i  Schilling  pro  Familie,  411  Familien  (1623  Personen), 
die  weniger  als  i  Schilling  pro  Kopf  in  der  Woche  hatten;  157 
Familien  (692  Personen)  hatten  pro  Kopf  weniger  als  2  Schillinge 
und  140  Familien  (635  Personen)  weniger  als  3  Schillinge  in  der 
Woche  1). 

In  den  Baumwollbezirken  war  die  Arbeitslosigkeit  besonders 
gross.  In  Stockport  bildete  sich  ein  Hilfskomitee  für  Arbeitslose  unter 
Vorsitz  des  Bürgermeisters.  Nach  der  Mitteilung  des  Komitees  standen 
gegen  ein  Drittel  der  Dampfmaschinen  in  der  Stadt  und  in  deren 
Umgebung  im  Januar  1842  still.  Die  Gesamtzahl  der  Arbeitslosen 
erreichte  9000  Mann  (ohne  Familienmitglieder).  „Eine  Folge  dieser 
Arbeitslosigkeit  waren  die  Leiden  aller  Klassen  der  Bevölkerung,  deren 
Interessen  mit  der  Industrie  verknüpft  sind,  und  die  beispiellose  Not- 
lage und  die  Entbehrungen  der  Arbeiterklassen;  diese  Entbehrungen 
haben  heute  einem  Umfang  erreicht,  von  dem  man  sich  auf  Grund 
der  nackten  statistischen  Daten  keine  Vorstellung  machen  kann. 
Ehrliche  Leute,  die  bereit  sind  zu  arbeiten,  sind  genötigt,  mit  ihren 
ganzen  Familien  Dorfbettler  zu  werden,  oder  Tag  aus  Tag  ein  von 
der  Hilfe  der  Nachbarn  zu  leben  .  .  .  Viele  sterben  buchstäblich 
Hungers."  Von  8218  Arbeitsfähigen,  die  vom  Komitee  registriert 
wurden,  hatten  nur  1204  volle  Beschäftigung;  2866  hatten  eine  teil- 
weise Beschäftigung  und  4148  waren  beschäftigungslos.  Der  durch- 
schnittliche Wochenverdienst  von  15  823  Personen  (beiderlei  Geschlechts 


I)  Northern  Star,  No.   217,    1842. 
Tugan-Baranowsky,  Die  Handelskrisen.  22 


—     338      - 

und  jeglichen  Alters)  betrug  nur  i  Schilling  4^Д  d.  pro  Kopf.  Das 
Einkommen  derer,  die  eine  volle  Beschäftigung  hatten,  erreichte  nur 
7  Schilling  6Y2  d.  pro  Woche  i). 

Im  Januar  1842  erhielten  in  Paisley  17000  Personen  Unter- 
stützung vom  Wohlthätigkeitskomitee  2).  In  Bolton  bildete  sich  gleich- 
falls ein  ähnliches  Komitee,  das  im  Januar  6167  Personen,  deren 
Wocheneinkommen  iiY4d.  betrug,  Unterstützungen  austeilte;  828  Per- 
sonen, die  um  Hilfe  baten,  erhielten  keine  Unterstützung,  weil  ihr 
Wocheneinkommen  i  Schilling  9Y4  d.  pro  Kopf  betrug.  Von  50  Fa- 
briken arbeiteten  nur  20  die  volle  Zeit.  Das  Komitee  besichtigte  die 
Wohnräume  von  1013  Familien  (5035  Köpfe);  von  diesen  besassen 
nur  950  Familien  Betten.  Insgesamt  hatten  diese  Glücklichen  1553 
Betten,  d.  h.  weniger  als  2  Betten  pro  Familie.  Der  grösste  Teil  der 
Betten  hatte  keine  Matratzen,  Bündel  von  Stroh  ersetzten  diese;  diese 
5053  Personen  waren  im  Besitze  von  nur  2876  Bänken,  i38oTischen, 
642  Stühlen;  425  Menschen  schliefen  auf  dem  nackten  Fussboden. 
Dr.  В  о  wring,  der  diese  Thatsache  dem  Parlament  mitteilte,  sagte, 
dass  es  „in  vielen  Strassen  von  Bolton  keinen  einzigen  Einwohner 
gebe  (die  Häuser  ständen  leer),  Hunderte  von  Familien  schliefen 
direkt  auf  der  Erde,  Tausende  hätten  nicht  genügend  Brot,  um  zu 
leben".  In  Manchester  gab  es  5492  leerstehende  Häuser,  681 
unvermietete  Läden  und  116  Fabriken,  die  die  Arbeit  eingestellt 
hatten  ^). 

Das  alles  führte  zur  Wiederbelebung  des  Chartismus.  „Die 
Centralorganisation  der  Chartisten  —  die  National  Charter  Association 
—  befand  sich",  sagt  Gammage,  „niemals  in  einem  so  blühenden 
Zustand  wie  im  Jahre  1842^)".  Die  neue  Petition  der  Chartisten,  die 
am  2.  Mai  1842  dem  Unterhause  eingereicht  wurde,  trug  3315752 
Unterschriften.  Allerdings  stammten  nicht  alle  Unterschriften  von 
erwachsenen  Männern,  es  waren  viele  Kinder  und  Frauenunterschriften 
dabei.  Duncombe,  der  die  Petition  dem  Parlament  einreichte,  sagte, 
sie  sei  von  mehr  als  einer  Million  Familien  unterzeichnet.  Da  die 
erste  Petition  fast  ausschliesslich  von  erwachsenen  Männern  unter- 
zeichnet war,  so  brachte  die  zweite  Petition  wahrscheinlich  die  Forde- 
rung eines  eben  so  grossen  Teiles  der  Bevölkerung  zum  Ausdruck 
wie  die  erste. 


1)  A.  a.  O. 

2)  Hansards  Parliamentary  Debates,    1842,  Vol.  LX,  S.    178, 

3)  Л.  a.  O.  S.   701. 

4)  Gammage,   213. 


—      339      — 

Das  Haus  lehnte  mit  287  Stimmen  gegen  49  den  Antrag  von 
Duncombe  ab,  den  Petenten  zu  gestatten,  ihre  Beschwerden  dem 
Parlament  mündlich  vorzutragen. 

Die  zweite  Petition  der  Chartisten  atmet  schon  einen  ganz  an- 
deren Geist  als  die  erste.  Die  radikale  wStrömung  hat  die  Oberhand 
gewonnen,  von  einer  Furcht,  die  besitzenden  Klassen  zu  reizen,  ist 
keine  Spur  mehr  vorhanden.  Die  Petition  weist  auf  die  beispiellose 
Not  der  Bevölkerung  hin  .  .  .  „Tausende  aus  dem  Volke  sterben  von 
Not  .  .  .  Die  Petenten,  die  sich  wohl  bewusst  sind,  dass  das  Elend 
zu  Verbrechen  führt,  sehen  mit  Staunen  und  Unruhe,  wie  schlecht 
die  Unterstützung  der  Alten ,  der  Armen  und  Kranken  besorgt 
ist;  mit  dem  Gefühl  der  Entrüstung  sehen  sie,  dass  das  Parlament 
das  neue  Armengesetz  in  Kraft  behalten  will,  trotz  zahlreicher 
Belege  dafür,  dass  dieses  Gesetz  im  Widerspruch  zur  Konstitution 
steht,  dass  es  einen  unchristlichen  Charakter  hat  und  einen  höchst 
verderblichen  Einfluss  auf  die  Löhne  und  das  Leben  der  Unterthanen 
dieses  Landes  ausübt."  Die  Petition  weist  auf  den  Steuerdruck  hin 
und  auf  die  Ungerechtigkeit,  dass  die  königliche  Familie  und  höhere 
kirchliche  Würdenträger  kolossale  Einkommen  beziehen,  während 
viele  Arbeiter  sich  mit  einigen  Pences  pro  Kopf  am  Tage  begnügen 
müssen.  Das  häufige  Verbot  von  öif entlichen  Meetings  wird  als  un- 
konstitutionell bezeichnet,  ebenso  wie  die  Verstärkung  des  Polizei- 
kontingents. „Die  Bastillen  für  die  Armen  seien  demselben  Geiste 
wie  die  Polizeiposten  entsprungen,  dem  Bestreben  einer  unverant- 
wortlichen Minorität  die  Majorität  zu  bedrücken  und  hungern  zu 
lassen." 

Die  Unterhaltung  einer  zahlreichen  ständigen  Armee  sei  eine 
Last  für  das  Volk,  gegen  das  diese  Armee  gerichtet  ist.  „Die  Pe- 
tenten bedauern,  dass  die  Arbeitszeit,  insbesondere  in  den  Fabriken, 
über  das  Mass  dessen,  was  der  Mensch  ertragen  kann,  hinausgeht 
und  dass  die  Löhne  für  die  Arbeit  in  den  ungesunden  Verhältnissen 
einer  Fabrik  nicht  genügen,  um  die  Gesundheit  zu  erhalten  und  dem 
Arbeiter  diejenigen  Annehmlichkeiten  zu  verschaffen,  die  nach  einer 
Verausgabung  von  physischer  Energie  so  notwendig  sind.  Die  Pe- 
tenten lenken  die  Aufmerksamkeit  des  Parlaments  auf  die  Bettel- 
löhne der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  und  empfinden  ein  Gefühl  der 
Entrüstung  und  des  Entsetzens,  wenn  sie  das  geringfügige  Ein- 
kommen derer  sehen,  deren  Arbeit  Nahrung  für  die  gesamte  Be- 
völkerung schafft.  Die  Petenten  bedauern  tief  das  Vorhandensein 
von  Monopolen  aller  Art  in  diesem  Lande,  und  indem  sie  die  Steuer 
auf  die  notwendigsten  Konsumtionsgegenstände,  die  hauptsächlich  von 

22* 


—     340     — 

der  Arbeiterklasse  konsumiert  werden,  entschieden  verurteilen,  sind 
sie  zugleich  der  Ansicht,  dass  die  Aufhebung  der  Monopole  allein 
die  Arbeiter  aus  ihrer  elenden  Lage  nicht  emporheben  wird,  solange 
das  Volk  nicht  selbst  die  Macht  erlangt  hat,  was  erst  allen  Monopolen 
und  Unterdrückungen  jeder  Art  ein  Ende  machen  wird;  die  Petenten 
weisen  auf  die  bestehenden  Monopole  des  Wahlrechts,  des  Papier- 
geldes, des  Maschinen-  und  Grundbesitzes,  der  Presse,  der  Kirche, 
des  Transportwesens  und  viele  andere  Monopole  hin,  die  zu  zahl- 
reich sind,  um  sie  alle  aufzuzählen;  alle  diese  Monopole  werden  durch 
die  Klassengesetzgebung  geschaffen." 

Darauf  fordert  die  Petition  die  Aufhebung  der  Staatskirche  und 
die  Bildung  eines  besonderen  Parlaments  für  Irland.  Als  die  erste 
Vorbedingung  zur  \^erwirklichung  aller  dieser  Massnahmen  bezeichnet 
die  Petition  die  Reform  des  Parlaments  auf  Grund  der  6  Punkte  der 
Volkscharte  i). 

Diese  Petition  hat  einen  Zwiespalt  unter  den  Chartisten  her- 
vorgerufen: die  meisten  schottischen  Chartisten  haben  sich  geweigert, 
sie  zu  unterzeichnen.  Ihre  Einwendungen  bezogen  sich  auf  drei 
Punkte:  auf  die  Bildung  eines  unabhängigen  irischen  Parlaments, 
auf  das  neue  Armengesetz  und  auf  das  Fehlen  in  der  Petition  einer 
Forderung,  die  Kornzölle  abzuschaffen.  Die  öffentliche  Meinung  in 
Schottland  billigte  die  Agitation  gegen  des  neue  Armengesetz  (das 
nur  auf  England  sich  bezog)  nicht  und  sympatisierte  sogar  mit  dem 
Gesetz,    als   einem    Mittel,    das  legahsierte  Bettlertum  einzuschränken. 

Als  ein  wichtiger  Fehler  der  Chartisten  muss  ihre  Stellung  zu 
den  Korngesetzen  bezeichnet  werden.  In  den  40er  Jahren  haben  sie 
unter  dem  Einfluss  von  O'Connor  gegen  die  Bewegung  zu  Gunsten 
der  Abschaffung  dieser  Gesetze  sehr  energisch  gekämpft,  obwohl  die 
Aufhebung  der  Kornzölle  im  unmittelbaren  Interesse  der  industriellen 
Arbeiter  lag.  Allerdings  hatten  die  Leiter  der  Liga  zur  Abschaffung 
der  Korngesetze  die  Interessen  der  Fabrikanten  im  Auge,  aber  in 
diesem  P'alle  fielen  die  Interessen  der  Fabrikanten  und  die  der 
Fabrikarbeiter  vollkommen  zusammen.  Der  Hass  gegen  die  Fabrikanten 
verblendete  die  Chartistenführer. 

Ueberhaupt  hat  sich  die  allgemeine  Stimmung  der  Chartisten 
im  Jahre  1842  bedeutend  in  der  Richtung  einer  grösseren  An- 
näherung an  den  Soziahsmus  verändert.  Die  Gegenüberstellung  von 
hungernder  Arbeitermasse  und  reichen  Fabrikanten  ist  das  gewöhnliche 
Thema  der  Chartistenredner.     Der  glühende  Hass  gegen  das  Fabrik- 


i)  The  Northern  Star,  N0.  205,   1841. 


—     341      — 

System,  der  Hinweis  auf  die  verderbliche  Wirkung  der  Maschinen, 
auf  die  \^erkehrtheit  der  Handelspohtik  der  Regierung,  die  bestrebt 
sei,  nur  den  Aussenhandel  zu  erweitern,  statt  um  die  Ausdehnung 
des  inneren  Marktes  zu  sorgen,  all  das  füllte  die  Spalten  des  Haupt- 
organs der  Chartisten,  The  Northern  Star.  Die  neue  Stimmung  der 
Chartisten  kann  durch  die  folgende  Rede  O'Connors,  die  er  auf 
einem    Meeting  im  Juli   1842    gehalten   hat,    gekennzeichnet   werden. 

„Wir  wollen  nicht  das  Eigentum  zerstören,"  erklärte  O'Connor, 
„und  jemanden  des  Lebens  berauben,  sondern  nur  für  uns  und  unsere 
Familien  den  gebührenden  Anteil  an  dem  bekommen,  was  die  frei- 
gebige Vorsehung  für  das  Wohl  aller  geschaffen  hat.  Lasst  irgend 
jemand  blicken  auf  den  Reichtum  und  die  Armut,  welche  uns  um- 
geben, und  jedermann  wird  gestehen,  dass  es  auf  dieser  Insel  niemals 
so  viel  Geld  und  so  viel  Not,  so  viel  Reichtum  und  so  viel  Elend 
gegeben  hat  wie  heute.  Wem  gehört  aber  dieser  kolossaler  Reich- 
tum? Den  Besitzern  des  Wahlrechts,  den  Handelsherren  und 
Fabrikanten.  Aber  es  ist  handgreiflich,  dass  niemand  mit  seiner 
persönlichen  Arbeit  Millionen  gewinnen  kann;  er  kann  diese  Millionen 
nur  durch  die  Arbeit  anderer  bekommen  ...  Es  giebt  etwas,  was 
eine  besondere  Aufmerksamkeit  auf  sich  lenken  muss:  es  ist  das  die 
Verbreitung  der  Maschinen,  die  in  bedeutendem  Masse  den  Not- 
stand hervorgerufen  haben,  unter  dem  das  Land  jetzt  leidet  .  .  ."  Er 
(O'Connor)  erinnere  sich  an  ein  Meeting  in  Manchester,  auf  dem 
Mr.  Cobden  anwesend  war.  Ein  Handweber,  namens  Butterworth, 
verurteilte  daselbst  die  Einführung  der  mechanischen  Webstühle,  die 
viele  von  seinen  Brüdern  der  Arbeit  beraubt  hätten.  „Wie,"  sagte 
Cobden,  „Sie  möchten  die  Maschinen  vernichten?"  —  „Nein,"  ant- 
wortete ButterAvorth,  „Ihr  könnt  meinetwegen  mit  Euren  Maschinen 
essen,  mit  Euren  Maschinen  trinken,  mit  Euren  Maschinen  ins  Bett 
gehen,  mit  Euren  Maschinen  aufstehen,  aber  Eure  Maschinen  sollen 
mir  nicht  den  Rock  vom  Leibe  ziehen"  i). 

Der  Northern  Star  führte  im  Jahre  1842  in  einer  ganzen  Serie 
von  Artikeln  einen  Kampf  gegen  die  „extension  of  commerce  party", 
die  Partei  der  Erweiterung  des  Handels;  er  legte  dar,  dass  der 
Aussenhandel  bei  weitem  nicht  eine  solche  Bedeutung  habe,  wie  ihm 
zugeschrieben  werde,  und  dass  der  innere  Markt  wichtiger  sei  als  der 
äussere,  dass  gerade  die  Entwickelung  des  Aussenhandels  das  Elend 
hervorgerufen  habe. 


i)  Northern  Star,  No.   245,   1842. 


—      342      — 

Im  August  1842  führte  die  äusserste  Not  zu  einem  Massenstreik 
und  zu  grossen  Unruhen  in  Lancashire.  Anfang  August  hatten 
einige  Fabrikanten  von  Lancashire  die  Löhne  der  Arbeiter  herab- 
gesetzt. Das  hatte  die  Einstellung  der  Arbeit  in  einer  ganzen  Reihe 
von  Fabriken  zur  Folge.  Die  Arbeiter  erklärten,  sie  würden  die 
Arbeit  nicht  wieder  aufnehmen,  ehe  die  „Volkscharte"  das  Gesetz  des 
Landes  geworden  sei.  Die  Fabrikanten  verhinderten  aber  keineswegs 
die  Ausbreitung  des  Streiks.  Nach  einer  verbreiteten  Version  wäre 
der  Streik  durch  die  Liga  zur  Abschaffung  der  Korngesetze  hervor- 
gerufen, die  in  dieser  Weise  auf  die  Regierung  einwirken  und  sie 
bewegen  wollte,  die  Korngesetze  abzuschaffen.  Allerdings  hat  sich 
die  Bewegung  mit  erstaunlicher  Geschwindigkeit  in  Lancashire  aus- 
gebreitet. Am  9.  August  begaben  sich  Tausende  von  Arbeitern  aus 
den  umliegenden  Ortschaften  nach  Manchester,  zerstreuten  sich  über 
die  ganze  Stadt  und  zwangen  alle  Fabriken  der  Stadt,  die  Arbeit  ein- 
zustellen. Von  den  Krämern  verlangte  die  Menge  Geld  und  Brot, 
und  die  erschrockenen  Krämer  waren  genötigt,  diese  unfreiwilligen 
Almosen  zu  gewähren.  Drei  Tage  hindurch  waren  in  Manchester 
alle  Fabriken  geschlossen. 

Die  Chartisten  waren  von  dieser  Bewegung  ganz  überrascht. 
Es  unterliegt  nicht  dem  geringsten  Zweifel,  dass  sie  sie  nicht  hervor- 
gerufen haben.  Aber  als  der  Streik  schnell  um  sich  griff,  beschlossen 
die  Chartistendelegierten,  ihn  auszunutzen  und  die  vStreikenden  zu 
unterstützen. 

Mittlerweile  breitete  sich  der  Streik  über  alle  umliegenden 
Städte  aus.  Arbeiter massen  brachten  mit  Gewalt  die  Arbeit  zum 
Stillstand,  warfen  die  Fenster  der  Fabriken  ein,  misshandelten  sogar 
in  einigen  Fällen  die  Verwalter  und  die  Fabrikanten  und  verlangten 
von  den  Krämern  Geld  oder  Brot.  Bald  erfolgten  Zusammenstösse 
mit  dem  Militär.  In  Staleybridge  gaben  die  Soldaten  Feuer,  einige 
wurden  getötet,  viele  verwundet.  In  anderen  Städten  gelang  es  dem 
Mihtär,  die  Menge  auseinander  zu  treiben,  ohne  zu  den  Waffen  zu 
greifen. 

Zu  gleicher  Zeit  stellten  in  Staffordshire  Tausende  von  Ar- 
beitern in  den  Steinkohlengruben ,  infolge  einer  Lohnreduktion, 
die  Arbeit  ein.  Auch  in  Staffordshire  hielten  die  Streikenden  die 
Ordnung  nicht  lange  aufrecht.  Ein  Privathaus  wurde  geplündert 
und  verbrannt.  „Die  reichen  Klassen  erfasste  ein  panischer  Schrecken. 
Grosse  Volksmengen  durchzogen  die  Strassen;  die  ganze  Umgegend 
befand  sich  in  äusserster  Erregung"  (Gammage  227). 


—      343      - 

Trotzdem  war  der  Streik  bei  weitem  kein  allgemeiner,  wie  das 
die  Chartisten  wollten,  und  beschränkte  sich  auf  Lancashire,  York- 
shire  und  Staffordshire.  Er  endigte  rasch  ohne  jedweden  Erfolg. 
Die  Chartistenführer  wurden  verhaftet,  obwohl  sie  am  wenigsten 
für  die  Unruhen  verantwortlich  zu  machen  waren.  Der  Northern 
Star  schob  von  Anfang  an  die  Schuld  am  Streik  auf  die  Liga 
zur  Abschaffung  der  Korngesetze  und  legte  dar,  wie  unvernünftig 
der  Streik  sei.  Wahrscheinlich  war  der  Streik  eine  rein  elemen- 
tare Bewegung,  die  durch  die  verzweifelte  Lage  der  Arbeiter  her- 
vorgerufen wurde,  eine  Bewegung,  die  von  niemand  organisiert 
wurde  und  keinen  bestimmten  Zweck  verfolgte.  Man  kann  wohl 
kaum  annehmen,  dass  die  Liga  zur  Abschaffung  der  Korngesetze 
und  die  Fabrikanten  mit  Bewusstsein  eine  solche  Bewegung  vor- 
bereiten konnten,  die  vor  allem  sie  selbst  mit  Gefahr  bedrohte. 

Nach  diesem  Streik  trat  für  eine  lange  Zeit  ein  Stillstand  in 
der  Chartistenbewegung  ein.  Vom  Herbst  1842  an  beginnt  die  Lage 
der  Industrie  sich  zu  heben.  Die  akute  Periode  der  Arbeitslosigkeit 
war  abgeschlossen,  und  der  Chartismus  verliess  mit  einer  erstaunlichen 
Schnelligkeit  die  Bühne. 

Die  Periode  des  industriellen  Aufschwungs  von  1843 — 1846  be- 
deutete den  vollständigen  Verfall  des  Chartismus.  Die  Chartisten 
führten  ihren  Kampf  gegen  die  „Liga"  weiter,  aber  ohne  jeden  Er- 
folg. O'Connor  hatte  im  Jahre  1844  3,uf  einem  Meeting  eine  per- 
sönliche Auseinandersetzung  mit  Cobden  und  Bright,  erlitt  aber, 
wie  der  Geschichtsschreiber  des  Chartismus  und  zugleich  einer  seiner 
Führer,  Gammage  anerkennt,  eine  vollständige  Niederlage.  In  der 
That  war  es  schwer,  etwas  dagegen  zu  erwidern,  dass  in  einem 
industriellen  Lande,  wie  England,  die  Verbilligung  des  Getreides  nicht 
nur  die  Industrie  beleben,  sondern  auch  die  Lage  des  Arbeiters  heben 
muss.  Gegen  den  überzeugenden  Nachweis,  dass  es  für  den  Ar- 
beiter besser  sei,  das  Brod  billig  als  teuer  zu  bezahlen,  waren  alle 
oft  sehr  beredten  Aufrufe  O'Connors  zur  Eroberung  vor  allem  der 
politischen  Macht  wirkungslos.  Allerdings  gelang  es  weder  O'Connor 
noch  sonst  einem  der  Chartistenführer,  zu  beweisen,  dass  die  Auf- 
hebung der  Kornzölle  vor  der  Verwirklichung  der  Prinzipien  der 
Charte  für  die  Arbeiterklasse  nicht  von  Vorteil  sei. 

Das  vollständige  Einschlummern  der  Chartistenbewegung  unter 
den  Volksmassen  gab  den  Chartistenführern  die  Müsse,  sich  soziale 
Reformpläne  zu  überlegen  und  sie  auszuarbeiten.  Die  beiden  her- 
vorragendsten Führer,  O'Connor  und  O'Brien,  haben  ein  jeder 
seine    eigene    Utopie    ausgedacht.      Die  Utopie   O'Briens  war   nicht 


—      344     — 

auf  eine  Verwirklichung  in  der  nächsten  Zukunft  berechnet  und 
hatte  keine  praktische  Bedeutung.  Daher  werden  wir  dabei  nicht 
länger  verweilen.  Ihr  Hauptinhalt  bestand  in  der  Forderung  der 
Boden  Verstaatlichung,  und  das  ist  für  sie  bezeichnend.  Der  Char- 
tismus, als  soziale  Bewegung,  hatte  einen  rein  negativen  Charakter 
nnd  brachte  die  in  der  Periode  der  industriellen  Revolution  und 
der  Verdrängung  der  Kleinproduktion  durch  die  Grossproduktion 
ganz  begreifliche  Feindseligkeit  der  Arbeiterklasse  gegen  das  Fa- 
briksystem zum  Ausdruck.  Die  Sehnsucht  nach  dem  Lande  wirft 
ein  helles  Licht  auf  die  utopischen  und  romantischen  Elemente  des 
Chartismus. 

Einen  ebenso  romantisch-utopischen  Charakter^  wenn  auch  in 
einer  anderen  Form,  hatte  der  berühmte  „Agrarplan"  O'Connors. 
Dieser  Plan  gewann  rasch  eine  grosse  Popularität  und  wurde  auf 
einer  Konferenz  der  Chartistendelegierten  in  Birmingham  im  Jahre  1843 
angenommen:  unter  dem  Zeichen  des  „Agrarplans"  führte  der  Char- 
tismus den  Kampf  bis  zu  seinem  endgültigen  Zusammenbruch.  Der 
„Agrarplan"  von  O'Connor  verdient  daher  eine  ausführliche  Be- 
trachtung, als  Ausdruck  der  ökonomischen  Desiderata  der  mächtig- 
sten Volksbewegung,  die  England  in  der  neuesten  Zeit  gekannt  hat. 

Die  Grundanschauungen  O'Connors  über  die  Agrarfrage 
sind  in  einem  umfangreichen  Artikel  in  der  von  ihm  heraus- 
gegebenen Zeitschrift  „The  Labourer",  unter  dem  Titel  „A  Treatise 
on  the  Small  Proprietary  System"  (Labourer,  1847,  0  dargestellt 
worden.  O'Connor  erklärt  da,  er  sei  ein  entschiedener  Gegner  des 
Kommunismus,  aber  ein  PYeund  des  Genossenschaftswesens.  Er  sei 
ein  Feind  von  kleinen  Farmen,  die  in  Pacht  gegeben  werden,  aber 
ein  Freund  des  kleinen  Grundbesitzes.  O'Connor  glaubt,  dass  der 
kleine  Grundbesitz  die  Produktivität  des  Landes  ausserordentlich  ver- 
mehren müsse,  und  beruft  sich  auf  das  Beispiel  der  belgischen  Bauern. 
„Ich  bin  ein  Gegner  der  öffentlichen  Speiseanstalten,  der  öffentlichen 
Bäckereien  und  der  öffentlichen  Wäschereien",  sagt  er,  offenbar  auf 
Fourier  anspielend.  „Ich  bin  für  das  Prinzip  meum  und  tuum  — 
mein  und  dein^)." 

Der  Plan  O'Connors  war  von  ausserordentlicher  Einfachheit. 
Die  Arbeiter  sollten  eine  Gesellschaft  bilden  zum  Ankauf  von 
Ländereien.  Aber  wo  sollten  sie  dazu  Geld  hernehmen?  Die  Ver- 
wirklichung seines  „Agrarplanes"  wollte  O'Connor  nicht,  wie  die  Auf- 
hebung der  Kornzölle,  bis  zum  Siege  der  „Volkscharte"  verschoben  sehen. 


I)  The  Labourer,  I,  S.   157. 


—     345      — 

Die  ganze  Sache  konnte  sofort  beginnen:  man  brauchte  nur  2000  £ 
anzusammehi,  und  die  Operationen  mit  dem  Ankauf  der  Ländereien 
konnte  man  anfangen. 

Diese  2000  Pfund  werden  durch  Subskription  gesammelt.  Wer 
ein  Stück  Land  von  zwei  Acres  erhalten  will,  bezahlt  2  £  12  wSchil- 
ling  4  d. ,  wer  3  Acres  erhalten  will,  zahlt  3  £  18  Schilling  6  d. 
und  für  4  Acres  5  £  4  Schilling  8  d.  Das  Los  entscheidet,  wem  von 
den  Aktionären  die  Bodenanteile  zufallen.  Der  glückliche  Gewinner 
muss  eine  bestimmte  Rente  an  die  Gesellschaft  zahlen,  5%  von  dem 
gesamten  verausgabten  gesellschaftlichen  Kapital.  So  erhalten  die 
Aktionäre  eine  gute  Dividende  auf  ihre  Aktien.  Das  gekaufte  Gut 
wird  verpfändet,  für  das  gelöste  Geld  wird  ein  neues  gekauft,  auf 
dem  Bodenanteile  anderen  Aktionären  zugewiesen  werden  u.  s.  w.^). 

Wenn  wir  daran  denken,  dass  dieses  Projekt  P'abrikar heitern 
vorgeschlagen  wurde,  so  kann  man  seine  praktische  Bedeutung  er- 
messen. Höchst  charakteristisch  ist  es  dass  ein  so  naives  Projekt 
eine  Zeitlang  zweifellosen  Erfolg  hatte.  In  drei  Jahren,  bis  zum 
Beginn  des  Jahres  1848,  gelang  es  O'Connor,  von  den  Arbeitern 
die  grosse  Summe  von  94184  £  einzusammeln,  bei  etwa  gegen 
100  000  Zeichnern.  Einige  Güter  wurden  in  der  That  gekauft  und 
in  kleine  Parzellen  zerschlagen. 

O'Connor  sprach  die  feste  Ueberzeugung  aus,  dass  die  Fabrik- 
industrie in  England  ihren  Höhepunkt  erreicht  habe  und  infolge  der 
Unmöghchkeit  einer  weiteren  Ausdehnung  des  auswärtigen  Marktes 
einem  allmähligen  Verfall  entgegen  gehe.  Man  müsse  nach  einem 
Mittel  suchen,  die  Fabriken  durch  eine  andere  Erwerbsquelle  zu  er- 
setzen. Die  kleine  Bauern  Wirtschaft  müsse  eine  solche  Quelle  werden. 
In  der  Zukunft  müssen  sich,  wie  ehemals,  verschiedene  Gewerbe  mit 
dem  Ackerbau  verbinden,  der  kleine  Ackerbautreibende  müsse  nicht 
nur  seine  Nahrungsmittel,  sondern  auch  die  Kleidungsstücke  produ- 
zieren. „Die  Wohnung  eines  jeden  Bauern  muss  während  der  langen 
Winterabende  der  Ort  einer  lebhaften  Hausindustrie  werden.  Der 
Schneider  oder  der  Schuhmacher  werden  ihrer  Kunst  deswegen  nicht 
verlustig  gehen,  weil  sie  gelernt  haben,  mit  der  Schaufel  umzugehen. 
Sie  werden  Fabrikate  herstellen,  um  sie  in  der  von  der  Feldarbeit 
nicht  ausgefüllten  Zeit  zu  verkaufen  2)."  „Der  Ackerbau",  so  wurde 
im  Northern  Star  erklärt,"  muss  die  Grundlage  der  Volkswirtschaft 
bilden  und  dem  grössten  Teil  der  Bevölkerung  Beschäftigung  geben. 
Die  Industrie  aber  muss  eine  untergeordnete  Stelle  einnehmen." 

i)  The  Labourer,  vol.  III,  S.  56  und  Vol.  IV,  S.  26. 
2)  The  Labourer,   1848,  Vol.  IV,  S.   140. 


—      34б     — 

Die  Popularität  des  „Agrarplanes"  von  O'Connor  deckt  uns 
die  tiefsten  Ursachen  des  Chartismus  auf.  Der  Chartismus  war  eine 
Reaktion  der  engHschen  Arbeiterklasse  gegen  die  industrielle  Re- 
volution und  das  Fabriksystem.  „Back  to  the  Land"  —  „Zurück 
aufs  Land!"  war  die  Kampfeslosung  O'Connors.  Und  dieser  Ruf 
fand  einen  mächtigen  Widerhall  bei  der  englischen  Arbeiterklasse, 
die  auf  die  Wiederbelebung  der  bereits  in  England  untergegangenen 
Bauernwirtschaft  hoffte.  Daraus  tritt  der  prinzipielle  Unterschied 
zwischen  dem  Chartismus  und  der  heutigen  sozialdemokratischen 
Arbeiterbewegung  klar  hervor.  Auf  der  Fahne  des  Chartismus 
stand  „Zurück"  und  nicht  „Vorwärts",  der  Chartismus  suchte  sein 
Ideal  nicht  in  der  Zukunft,  sondern  in  der  Vergangenheit^). 

Jede  reelle  Kraft  hat  der  Chartismus  bereits  in  der  Mitte  der 
40  er  Jahre  verloren.  Die  temporäre  Auferstehung  des  Chartismus 
im  Jahre  1848,  die  unmittelbar  durch  die  Handelskrisis  von  1847 
und  die  neue  schwere  Arbeitslosigkeit  hervorgerufen  war,  war  nur 
das  letzte  Aufflackern  der  erlöschenden  Flamme  2). 

Seit  dem  Heibst  1847  begannen  die  englischen  Fabriken  die 
Arbeit  einzustellen;  in  vielen  Städten  Lancashires  brachen  Streiks 
aus  infolge  des  Sinkens  der  Löhne.  Die  Streiks  waren  von  stürmi- 
schen Auftritten  begleitet.  So  fand  Anfang  Oktober  in  Blackburn 
ein  Zusammenstoss  der  Arbeiter  mit  der  PoHzei  statt,  und  zwar  deshalb, 
weil  die  Arbeiter  die  Arbeit  der  NichtStreikenden  verhindern  wollten. 
Nur  die  Ankunft  des  Militärs  machte  den  Unruhen  ein  Ende. 

Am  ig.  Oktober  arbeiteten  nach  den  offiziellen  Daten  in  den 
Fabriken  Manchesters  die  volle  Zeit  18  5 16,  nicht  volle  Zeit  12  198, 
arbeitslos  waren   10341=^). 


II  Nach  Brentanos  Vorgange  ist  es  Mode  geworden,  eine  Analogie  zwischen 
der  Chartistenbewegung  und  der  heutigen  sozialdemokratischen  Bewegung  zu  ziehen  und  aus 
dem  Misserfolg  des  Chartismus  auf  die  Aussichtslosigkeit  der  Sozialdemokratie  zu  schHessen. 
Diese  Analogie  ist  jedoch  höchst  irreführend.  Der  Chartismus  war  eine  ganz  eigenartige 
Arbeiterbewegung,  die  nur  in  England  möglich  war  und  die  unter  ganz  anderen  sozialen 
Bedingungen  sich  entwickelte  als  die  heutigen  sozialistischen  Bewegungen  in  verschiedenen 
Ländern.  Der  fundamentalste  Unterschied  besteht  darin,  dass  der  Chartismus  keine  sozialistische 
Bewegung  war  und  kein  positives  soziales  Programm  ausarbeiten  konnte,  ausser  den  uto- 
pischen agrarischen  Projekten  O'Connors  und  O'Briens.  Es  heisst  den  Thatsachen  Gewalt 
anthun,  wenn  man  das  Scheitern  des  Chartismus  als  ein  Argument  gegen  die  Sozialdemo- 
kratie benutzt. 

2)  Sidney  Webb  bemerkt  ganz  richtig:  ,,In  der  ganzen  Periode  von  1837  —  48 
ist  die  Chartistenbewegung  stärker  und  schwächer  geworden  nahezu  genau  in  dem  Masse, 
wie  die  Not  der  Bevölkerung  zu-  und  abgenommen  hat."  Sidney  Webb,  Labour  in  the 
longest  Reign.     London   1899,  S.  9. 

3)  The  Manchester  Examiner,  vom   20.  Oktober    1847. 


—      347      — 

In  anderen  Städten  Lancashires  war  die  Lage   noch  schlechter. 
So  hat  z.  B.  in  Wigan  von   20  Fabriken  nur  eine  die  volle  Zeit  ge- 
arbeitet.     In    Ashton    waren    infolge    des    allgemeinen    Streiks    alle 
Fabriken  geschlossen.     In  vielen  Städten  wiederholten  sich   Meetings 
und  Prozessionen  von  Arbeitslosen,  ganz  wie  im  Jahre  1842.    Ueber- 
all  bildeten  sich  Hilfskomitees  für  die  Arbeitslosen.     In  Glasgow  war 
die  Lage  besonders  schwierig.    Anfang  Dezember  arbeiteten  nur  vier 
Baumwollspinnfabriken  volle  Zeit,  36  nicht  volle  Zeit  und   16  standen 
still.     In  Todmorden  „waren  die  Strassen  von  Arbeitslosen  überfüllt. 
Ihre    ausgemergelten    Gestalten    waren    entsetzlich    anzusehen.      Alle 
Fabriken,   mit   Ausnahme  einer  einzigen,   standen  entweder   still   oder 
arbeiteten  nicht  die  volle  Zeit"  i)-     I"  Paisley  lebten  Mitte  Dezember 
3—4000  Mann  nur  durch  private  Unterstützung.     In  Spitalfield  hatten 
Ende    1847    gegen    zwei   Drittel    der    Weber    keine    Beschäftigung 2). 
Bald  erfolgten  Arbeitslosenunruhen,  die  einen  besonders  stürmi- 
schen   Charakter    in    Glasgow    annahmen.       Die    Strassen    der    Stadt 
durchzog  ein  sehr  grosser  Haufen  Arbeitsloser  mit  den  Rufen:  „Brot 
oder  Revolution!"     Einige  Läden  wurden  geplündert.     Besonders  ge- 
litten   haben    die    Bäckereien    und    Waffenläden.      Die    Polizei    hatte 
nicht  die  Macht,  mit  der  Menge  fertig  zu  werden.     Erst   die  Salven 
des    nach    der    Stadt    gerufenen    MiHtärs   machten    den   Unruhen    ein 
Ende.     Aehnhche  Scenen   wiederholten    sich  in   den   anderen  Fabrik- 
städten.     Die   Februarrevolution    in   Frankreich    goss   Oel   ins   P^euer. 
Der   Chartismus   war   wieder  gleichsam   auferstanden.     Von   den   Ur- 
sachen, die  diese  Bewegung,   von   der   alle   annahmen,   sie   habe  auf- 
gehört,  wieder   ins   Leben    gerufen   haben,   kann   man   sich    ein  Bild 
machen  nach  den  Reden  der  Chartistendelegierten,  die  am  4.  April  1848 
zu    ihrem     Konvent    zusammentraten.       Die    meisten     Berichte     der 
Konventsmitglieder   handeln   vom   Notstand   und   der  Arbeitslosigkeit 
in  den  wichtigsten  Industriecentren. 

So  erklärte  z.  B.  der  Delegierte  Stevenson  im  Namen  des 
nördlichen  Lancashires:  „Man  dürfe  den  Leuten,  die  Hungers  sterben, 
nicht  Geduld  predigen.  Er  wolle  der  Regierung  die  Ueberzeugung 
beibringen,  dass  die  Bevölkerung  in  Lancashire  nicht  gewillt  sei,  zu 
Tausenden  zu  sterben,  ohne  zu  murren,  in  einem  Lande,  das  von 
Reichtum  überfüllt  sei.  Die  Scenen,  denen  er  beiwohnen  müsse, 
seien  in  der  That  entsetzlich.  Die  ausgemergelten,  Gerippen  ähn- 
lichen   Wesen,    die    sein  Haus    mit    Bitten    um    Almosen    belagerten, 


1)  The  Northern  Star,    1847,  N0.  528. 

2)  A.  a.  O.    1847,  N0.   533. 


—     348      - 

könnten  sogar  ein  Herz  von  Stein  erweichen."  Der  Delegierte 
Hittchin  sagte:  „Nirgends  habe  das  Volk  solche  Entbehrungen 
erlitten,  wie  sie  Wigan  zu  Teil  geworden  seien  .  .  .  Fast  alle 
F'abriken  ständen  leer  .  .  .  Die  Bevölkerung  in  Wigan  glaube,  dass 
sie  genug  gelitten  habe ,  und  dass  man  wieder  anfangen  müsse 
zu  arbeiten,  wenn  man  auch  gezwungen  wäre,  um  das  zu  er- 
reichen, zur  physischen  Gewalt  zu  greifen;  das  sei  immer  noch 
besser,  als  eine  solche  Not  zu  ertragen."  lieber  Oldham  berichtete 
der  Delegierte  Kydd:  „In  dieser  Stadt  herrsche  eine  allgemeine  Un- 
zufriedenheit. Der  Notstand  sei  so  schwer  und  so  lange  andauernd, 
dass  die  Bevölkerung  ganz  den  Verstand  verloren  habe.  Der  be- 
ständige Hunger  sei  für  sie  schlimmer  als  der  Tod."  Der  Delegierte 
Donowan  „zeichnete  ein  trauriges  Bild  der  Leiden  der  Arbeiter  in 
Manchester,  von  denen  loooo  gar  keine  Arbeit  hätten.  Jedes  Mittel 
sei  ihnen  recht,  um  die  Charte  zu  erkämpfen".  Nach  dem  Bericht 
von  Edmund  Jones  aus  Liverpool  „hätten  dort  circa  loooo  Leute 
20  Wochen  hindurch  keinerlei  Beschäftigung.  Liverpool  stehe  vor 
einem  Bankerott  oder  einer  Revolution".  Ein  anderer  Delegierter 
aus  Liverpool,  Smith,  bestätigte  das  und  erklärte:  „Wenn  der 
Petition  um  die  Charte  nicht  statt  gegeben  werde,  so  würde  man 
sich  diese  erkämpfen,  und  sei  es  mit  dem  Bajonett."  Der  Delegierte 
Aston  sagte:  „Northampton  leide  unter  Geschäftsstockung,  und  man 
sei  dort  zu  dem  Schlüsse  gekommen,  dass  nur  die  Volkscharte 
normale  Zustände  wieder  herstellen  könne  .  .  .  Die  Arbeiter  seien 
entschlossen,  um  jeden  Preis  die  Charte  sich  zu  erobern."  Der  Dele- 
gierte Tottersal  erklärte:  „Die  Lage  der  Bevölkerung  in  Bury  sei 
die  denkbar  entsetzlichste,  das  Einkommen  der  Leute  sei  so  gering- 
fügig, dass  diese  nahe  am  Hungertode  ständen,  und  das  mache  sie 
zu  allem  fähig.  Alles  schare  sich  um  die  Charte,  und  man  könne 
mit  l^estimmtheit  sagen,  dass  diese  niemals  früher  einen  solchen 
Enthusiasmus  hervorgerufen  habe  wie  jetzt."  Der  Delegierte  John 
West  meinte:  „Die  Arbeiter  müssten  jetzt  von  der  Hälfte  ihres 
sonstigen  Einkommens  leben  oder  vielmehr  mit  einem  solchen  Ein- 
kommen hungern  .  .  .  Die  Bevölkerung  von  Stockport  habe  be- 
schlossen, keine  Petitionen  mehr  einzureichen."  Richard  Mars  den 
sagte:  „Vor  10  Jahren  sei  die  Lage  schlecht  gewesen;  jetzt  sei  sie 
noch  zehnmal  schlechter  ...  Er  malte  ein  entsetzliches  Bild  der 
Leiden  des  Volkes  im  nördHchen  Lancashire  .  .  .  und  führte  einige 
Fälle  von  Hungertod  an."  Der  Delegierte  Bavingtone  führte  aus; 
„Das    Elend    und     der     Notstand     erreichten     Entsetzen     erregende 


I 


—     349      — 

Dimensionen;  er  habe  die  Volksmasse  noch  nie  in  einer  solchen 
Erregung  gesehen,  das  Volk  sei  entschlossen,  was  es  auch  kosten 
möge,  sich  sein  Recht  zu  erobern"  ^). 

In  einem  ähnlichen  Ton  sprachen  auch  die  andern  Delegierten 
des  Konvents.  Die  Stimmung  des  Konvents  war  derart,  dass 
O'Brien,  der  auch  ein  Mandat  hatte,  dieses  niederlegte  und  das  in 
der  folgenden  Weise  vor  seinen  Wählern  rechtfertigte:  „Nachdem  er 
gesehen  habe,  dass  der  Konvent  hauptsächlich  aus  Vertretern  von 
Bezirken  zusammengesetzt  sei,  deren  Bevölkerung  sich  in  der  ent- 
setzlichsten Lage  befinde,  —  viele  hätten  buchstäblich  gehungert  — ,  nach- 
dem er  von  einem  Delegierten  gehört  habe,  dass  unter  der  Be- 
\^lkerung,  die  ihn  entsandt  hätte,  viele  nicht  mehr  als  einen  Penny 
pro  Tag  hätten,  dass  in  anderen  Gegenden  Leute  mit  grossen 
Familien  nicht  mehr  als  4  oder  5  Schilling  täglich  verdienen  könnten, 
sei  er  (O'Brien)  zu  der  Ueberzeugung  gelangt,  dass  ein  Konvent, 
der  bei  einer  solchen  Lage  der  Bevölkerung  gewählt  sei,  nicht  die 
nötige  Besonnenheit  wahren  könne  und  zu  einem  Zusammenstoss  der 
Bevölkerung  mit  der  Regierung  führen  müsse"  2). 

Man  könnte  vielleicht  die  Richtigkeit  dieser  Mitteilungen  be- 
zweifeln, da  sie  von  Personen  ausgingen,  die  natürlich  geneigt  waren, 
die  Verhältnisse  in  dem  denkbar  düstersten  Lichte  darzustellen. 
Aber  hier  haben  wir  auch  eine  Beschreibung  der  Notlage,  die  einem 
ganz  konservativen  Organ,  nämlich  den  Times,  entnommen  ist. 

In  dieser  Zeitschrift  finden  wir  einen  Brief  eines  Geistlichen 
aus  Nottingham,  wo  es  hiess:  „Ich  denke,  dass  ein  bedeutender  Teil 
der  Bevölkerung  der  Stadt  beinahe  buchstäblich  hungert  .  .  .  einer 
meiner  Gehilfen,  der  während  der  Hungersnot  der  letzten  Jahre  in 
Irland  war,  sagt,  er  habe  in  Irland  nicht  einen  grösseren  Notstand 
gesehen  als  jetzt  in  Nottingham  .  .  .  Die  meisten  Möbel  und  Sachen 
der  Arbeiter  sind  versetzt  oder  verkauft,  und,  als  ich  mich  erkundigte, 
warum  so  viele  Kinder  in  der  Schule  fehlten,  erfuhr  ich,  dass  sie 
nichts  anzuziehen  hätten,  womit  sie  in  die  Schule  gehen  könnten." 
Ein  anderer  Geistlicher  schrieb  in  den  Times:  „Meiner  Ansicht  nach 
hatte  während  der  letzten  18  Monate  die  Hälfte  der  Arbeiter  nur 
gerade  so  viel,  um  nicht  im  buchstäblichen  Sinne  des  Wortes  vom 
Hunger  zu  sterben  .  .  .  Ich  zögere  nicht,  zu  erklären,  dass  eine 
solche    Sachlage    die    Arbeiter    dahin    treiben    muss,    sich    jeder    Be- 


1)  Alle  diese   Aussagen   sind   den    Konventberichten    entnommen,    die    im    Northern 
Star,   1848,  N0.  546  zum  Abdruck  gelangt  sind. 

2)  The  Northern  Star,  No.   547. 


—      350      — 

wegung  anzuschliessen,  die  überhaupt  eine  Verbesserung  ihrer  Lage 
ihnen  verspricht."  Ein  dritter  GeistHcher  schrieb:  „Ich  kann  ohne 
Zaudern  sagen,  dass,  soweit  ich  weiss,  die  Notlage  unter  den  unteren 
Klassen  der  Bevölkerung  allgemeiner  und  schwerer  als  jemals  früher 
ist  .  .  .  Es  giebt  keine  Worte,  um  die  Entbehrungen  und  das  Elend 
im  gegenwärtigen  Augenblick  zu  schildern.  Viele  hungern  buch- 
stäblich." 

In  derselben  Nummer  von  The  Times  lesen  wir  im  Leit- 
artikel: „In  allen  unseren  Städten  befindet  sich  die  Industrie  in  voll- 
kommener Stockung  ...  Es  giebt  nichts  Traurigeres  als  die  Berichte 
über  die  Lage  der  Bevölkerung  in  den  nördlichen  Städten.  Dort 
findet  eine  Massennot  statt,  die  man  mit  lokalen  Hilfsmitteln  bei 
weitem  nicht  mildern  kann  i)". 

Aus  Anlass  anderer  ähnlicher  Thatsachen  finden  wir  in  einem 
anderen  Leitartikel  der  Times  eine  feine  Bemerkung,  die  als  Schlüssel 
zu  den  neuesten  Volksbewegungen  in  England  gelten  mag.  „Man 
kann  als  ein  Axiom  der  englischen  Politik  anerkennen,  dass  jede 
bedeutende  politische  Bewegung  in  den  breiten  Massen  der  Be- 
völkerung auf  einen  Mangel  an  Beschäftigung  hindeutet.  Wenn  die 
englische  Bevölkerung  genügend  zu  thun  hat,  so  kümmert  sie  sich 
nicht  um  die  Politik,  so  lange  bis  sie  wieder  mehr  freie  Zeit  hat. 
Die  Arbeiter  denken  an  die  Politik  nur  dann,  wenn  sie  nicht  gut 
bezahlt  werden,  und  keine  volle  Beschäftigung  finden." 

Am  IG.  April  reichte  O'Connor  dem  Parlament  die  dritte 
nationale  Petition  der  Chartisten  ein.  Man  erwartete,  dass  die  Ein- 
reichung der  Petition  von  einer  kolossalen  Chartistenprozession  von 
einigen  looooo  Personen  begleitet  sein  würde.  Da  die  Angelegen- 
heit sich  im  Revolutionsjahre  1848  abspielte,  so  befürchtete  die  Re- 
gierung und  die  besitzenden  Klassen  von  England  die  Wiederholung 
der  Pariser  Ereignisse  in  London.  Man  traf  die  äussersten  Vorsichts- 
massregeln. Der  Tower  war  abgesperrt  und  mit  Militär  besetzt, 
einige  Batterieen  waren  aus  Woolvich  herbeigeholt  und  in  verschiedenen 
Stadtteilen  untergebracht,  das  Militär  wurde  mobil  gemacht  und  mehr 
als  150000  Privatpersonen  boten  der  Regierung  ihre  Dienste  an 
als  freiwiUiges  Polizeikommando,  um  im  Falle  der  Not  die  Ordnung 
wieder  herzustellen. 

Alle  diese  ausserordentlichen  Massnahmen  erwiesen  sich  aber 
als  unnötig.     An  der  Chartistenprozession  beteiligten   sich  nur  einige 


i)  The  Times,  vom   29.  April   1848. 
2)  The  Times,   vom   24.  April    1848. 


у. 


—     351      — 

loooo  Mann,  die  sich  vollkommen  friedlich  verhielten  und  keinen 
Anlass  zum  Einschreiten  des  Militärs  gaben.  Die  nationale  Petition 
um  die  6  Punkte  der  Volkscharte  wurde  dem  Parlament  von  O'Connor 
eingereicht,  der  erklärte,  dass  diese  Petition  5700000  Unterschriften 
trüge.  Die  enorme  Zahl  der  Unterschriften  flösste  selbst  den  Feinden 
der  Bewegung  Achtung  ein.  Aber  der  Zauber  dieser  Zahl  wurde 
bald  zerstört.  Die  Petition  wurde  einer  speziellen  Kommission  über- 
geben, die  die  Unterschriften  nachzählte  und  erklärte,  es  seien  ihrer 
unter  der  Petition  nur  1975496  und  dabei  seien  viele  Unterschriften 
noch  offenbar  fiktive.  So  standen  unter  der  Petition  die  Unterschriften 
der  Königin  Victoria,  des  Herzogs  von  Wellington  und  viele  andere, 
die  ohne  Zweifel  erdichtet  waren.  Es  erfolgte  eine  peinliche  Scene  im 
Parlament,  wänrend  derer  O'Connor  der  Lüge  bezichtigt,  von  Be- 
leidigungen überhäuft  und,  was  noch  schlimmer,  in  den  Augen  des 
ganzen  Landes  lächerlich  gemacht  wurde.  So  erlosch  unter  allge- 
meinen  Gelächter  das  letzte  Auflodern  des  Chartismus. 

Nach  dem  10.  April  verlässt  der  Chartismus  die  politische  Bühne. 
Die  Chartistenmeetings  dauerten  fort,  solange  die  Arbeitslosigkeit 
dauerte;  aber  allgemein  hat  man  eingesehen,  dass  der  Chartismus  jeg- 
liche politische  Bedeutung  verloren  habe  .  .  . 

Trotzdem  sind  die  vierziger  Jahre  durchaus  nicht  so  spurlos  für 
die  soziale  Geschichte  Englands  vorübergegangen.  Die  wichtigsten 
sozialen  Reformen  Englands  stammen  von  dieser  Zeit  her.  Es  ge- 
nügt darauf  hinzuweisen,  dass  im  Jahre  1847  ^ür  Frauen  und  Minder- 
jährige in  den  Fabriken  der  gesetzliche  Zehnstundentag  eingeführt 
worden  ist;  man  denke  ferner  an  die  Aufhebung  der  Korngesetze 
im  Jahre  1846,  an  die  Einführung  der  Einkommensteuer  im  Jahre 
1842,  an  die  Bankreform  von  1844  u.  s.  w.  Aber  der  unmittelbare 
Zweck  des  Chartismus,  die  radikale  Umgestaltung  der  englischen 
politischen  Konstitution  in  extrem  demokratischem  Geiste,  ist  auch 
heute  noch  nicht  entfernt  erreicht.  Bis  heute  kennt  England  kein 
allgemeines  Wahlrecht.  Von  den  6  Punkten  der  „Charte"  ist  nur  einer 
—  die  geheime  Stimmenabgabe  —  vollständig  verwirklicht.  Die  Ur- 
sache des  Misserfolges  des  Chartismus  besteht  darin,  dass,  wie 
oben  gezeigt,  diese  Bewegung  einen  inneren  Widerspruch  in  sich 
einschloss:  obgleich  sie  ihrer  Entstehung  und  ihrem  Endziele  nach 
eine  soziale  Bewegung  war,  konnte  sie  doch  kein  positives  sozial- 
ökonomisches Programm  schaffen  i).     Die  Versuche,   ein  solches  Pro- 


1)  Vgl.  J.  Tildsley,  Die  Entstehung  der  Chartistenbewegiing,  S.    131  ff. 


—     352     — 

gramm  zu  schaffen  (der  „Agrarplan"  O'Connors),  haben  nicht  nur 
einen  utopischen,  sondern  auch  einen  romantisch-reaktionären  Charakter 
gehabt.  Da  ihm  aber  ein  positives  Programm  sozialer  Reformen  fehlte, 
so  konnte  der  Chartismus  auch  nicht  sein  pohtisches  Programm  ver- 
wirklichen. Die  radikale  politische  Umgestaltung  der  politischen 
Konstitution  Englands  konnte  nur  durch  grosse  soziale  Ziele  berech- 
tigt werden  —  und  solche  aufzustellen,  war  der  Chartismus  nicht 
imstande. 


KAPITEL  III. 

Der  Baumwollhimger. 


Die  Bedeutung  des  Baumwollhungers  für  die  Fabrikanten  und  die  Arbeiter.  —  Die 
Arbeitslosigkeit.  —  Der  Kampf  der  Arbeiter  gegen  die  obligatorische  Arbeit.  —  Die  Parla- 
mentsdebatten. —  Die  Stellung  von  Bright.  —  Die  Gleichgültigkeit  der  Fabrikanten  gegen- 
über den  Leiden  der  Arbeiter.  —  Die  Verteidigung  der  Interessen  der  Fabrikanten  durch 
Cobden.  —  Die  von  der  Regierung  und  von  den  besitzenden  Klassen  zur  Linderung  der 
Not  getroffenen  Massregeln.  —  Die  Rede  Gladstones.  —  Die  Arbeiterunruhen  in  Staley- 
bridge  und  anderen  Städten.  —  Die  Bewegung  zu  Gunsten  der  Auswanderung.  —  Der 
hartnäckige  Widerstand  der  Fabrikanten  dieser  Bewegung  gegenüber.  —  Die  öffentlichen 
Arbeiten.  —  Die  Folgen  des  Baumwollhungers. 

Der  Baumwollhunger  der  60 er  Jahre  hat,  worauf  im  ersten  Teile 
dieses  Buches  hingewiesen  wurde,  keine  allgemeine  Stockung  der 
englischen  Industrie  hervorgerufen.  Wie  bereits  erwähnt,  haben  von 
dem  Baumwollhunger  die  Baumwollfabrikanten  und  -händler,  die,  wie 
man  erwarten  sollte,  das  Unglück  in  erster  Linie  mit  seiner  Wucht 
hätte  treffen  müsste,  nicht  nur  nicht  gelitten,  sondern  sogar  gewonnen. 
Nur  die  kleineren  Fabrikanten  wurden  durch  die  Krisis  ruiniert. 
Die  meisten  von  ihnen  haben  die  Krisis  nicht  überstanden.  Da- 
gegen führte  der  Baumwollhunger  zur  Bereicherung  der  grossen  Fabri- 
kanten. Mitte  1861  haben  sich  in  England  sehr  bedeutende  Vorräte  an 
unverkaufter  Rohbaumwolle  und  Baumwollwaren  angehäuft.  Die  Ein- 
stellung der  Zufuhr  der  amerikanischen  Rohbaumwolle  hat  ein  ausser- 
ordentliches Steigen  der  Preise  dieser  Vorräte  zur  Folge  gehabt. 
Nach  einigen  Berechnungen  müssten  die  englischen  Baumwollfabri- 
kanten und  -händler  an  der  Rohbaumwolle  (infolge  des  Steigens  ihrer 
Preise)  über  19  Millionen  Pf.  St.  und  an  den  Baumwollfabrikaten 
über  16  MiUionen  Pf.  St,  insgesamt  über  35  Millionen  Pf.  St.  ge- 
wonnen haben.  Diesen  kolossalen  Gewinn  haben  die  Lancashirer 
Kapitalisten  während  der  zwei  ersten  Jahre  des  Baumwollhungers 
eingestrichen.  Arnold,  der  Geschichtsschreiber  des  Baumw^ollhungers, 
der  gegen  die  Fabrikanten   durchaus   nicht   feindlich   gesinnt   ist,   be- 

Tugan-Baiaiiowsky  ,  Die  Handelsknsen.  -3 


--     354     — 

merkt  aus  diesem  Anlass:  „36  Millionen  Profit!  Wenn  wir  sogar 
annehmen,  dass  die  Produktion  der  letzten  zwei  Jahre  (man  befindet 
sich  im  Jahre  1864.  M.  T.-B.)  keinen  Gewinn  gegeben  hat  —  und  solch 
eine  Annahme  wäre  doch  geradezu  komisch,  so  können  sich  die  Industri- 
ellen bei  der  Einschränkung  der  Produktion  immer  noch  trösten,  da 
diese  ihnen  diesen  unerwarteten  Wohlstand  erzeugt  hat  ^)." 

Viele  Lancashirer  Kapitalisten  haben  also  unter  dem  Baumwoll- 
hunger  nicht  gelitten,  sondern  bedeutend  gewonnen.  Wer  wurde 
nun  durch  diesen  Hunger  getroffen  ?  Hauptsächlich  die  Arbeiter. 
Die  Lancashirer  Arbeiter  standen  in  den  60 er  Jahren,  ebenso  wie 
heute,  an  der  Spitze  der  englischen  Arbeiterklasse.  Sie  erhielten 
die  höchsten  Löhne,  waren  unter  ihren  Klassengenossen  die  intelli- 
gentesten und  bestorganisierten.  Schon  zu  dieser  Zeit  haben 
sie  es  erreicht,  dass  die  Verträge  über  die  Arbeit,  die  Löhne,  die 
Arbeitsstunden  u.  s.  w.  durch  eine  kollektive  Vereinbarung  mit  dem 
Unternehmer  abgeschlossen  wurden.  Viele  von  ihnen  hatten  Erspar- 
nisse in  den  Sparkassen,  nicht  wenige  besassen  ihre  eigenen  Cottages. 
Der  Prozentsatz  der  Paupers  war  in  Lancashire  bedeutend  niedriger 
als  im  übrigen  Lande.  Die  Unabhängigkeit  und  der  Stolz  der  Lan- 
cashirer Arbeiter  liess  sie  eine  staatliche  Unterstützung  verschmähen, 
und  viele  von  ihnen  litten  lieber  Not,  als  dass  sie  die  Unterstützung 
seitens  der  Armenadminstration  annahmen. 

Und  diese  Arbeiterklasse  war  es  gerade,  die  für  einige  Jahre 
jedwede  Subsistenzmittel  verlieren  sollte.  Vom  Herbst  1861  an  wächst 
die  Zahl  der  Arbeitslosen  in  den  .Baumwolldistrikten.  In  der  ersten 
Zeit  war  die  Administration  der  Armenunterstützung  die  einzige  Hilfs- 
quelle. Am  II.  November  wandte  sich  der  Präsident  der  Armen- 
unterstützung Villiers  mit  einem  Cirkular  an  die  lokalen  Armen- 
behörden, indem  er  auf  die  Notwendigkeit  hinwies,  ausserordent- 
liche Hilfsmassregeln  zu  treffen.  Ende  des  Jahres  begann  man  auch 
private  Hilfskomitees  zu  bilden. 

Seit  dem  Januar  1862  nimmt  die  Arbeitslosigkeit  bedrohliche 
Dimensionen  an,  insbesondere  in  den  kleinen  Städtchen  Lancashires, 
deren  Bevölkerung  fast  ausschhesslich  von   der  Arbeit  in  Baumwoll- 


1)  R.  Arnold,  The  History  of  the  Cotton  Famine.  London  1864,  S.  83.  Die 
ausserordentliche  Bereicherung  grosser  Lancashirer  Kapitalisten  infolge  des  Baumvvollhungers 
wird  auch  von  anderen  bestätigt.  ,,Es  ist  ebenso  sicher  wie  ein  Grundsatz  der  Mathematik, 
sagt  W.  Torrens,  dass  die  plötzliche  Schliessung  der  amerilcanischen  Häfen  sich 
für  die  grosse  Klasse  der  Lancashirer  Kapitalisten  als  ein  bedeutender  Gewinn  erwiesen  hat, 
indem  sie  den  Preis  der  gewaltigen  Vorräte,  die  sich  in  ihren  Händen  befanden,  verdoppelte." 
ЛУ.  Т.  Torrens,  Lancashires  Lesson.     London   1864. 


—     355     — 

fabriken  lebte.  Fast  in  jedem  dieser  Städtchen  bildeten  sich  örtliche 
Unterstützungskomitees,  die  dem  Arbeiter  entweder  mit  Geld  oder  mit 
Anweisungen  an  die  Geschäfte,  in  denen  sie  nach  Wahl  Waren  be- 
kommen konnten,  Hilfe  leisteten. 

Im  Frühjahre  1862  erreichte  die  Einschränkung  der  Produktion 
einen  solchen  Umfang,  dass  z.  B.  im  April  in  Manchester  von  den 
47  504  Arbeitern,  die  in  den  Fabriken  der  Stadt  beschäftigt  waren, 
nur  23722  volle  Zeit  arbeiteten;  15393  waren  halb  beschäftigt  und 
8369  ganz  arbeitslos.  In  Blackburn  und  Umgegend  haben  von  154 
Fabriken  nur  16  volle  Zeit  gearbeitet,  23  aber  die  Arbeit  ganz  ein- 
gestellt; von  40000  Arbeitern  sind  8459  ganz  beschäftigungslos  ge- 
blieben, und  die  bedeutende  Mehrzahl  der  übrigen  arbeitete  nur  2  bis 
4  Tage  in  der  Woche  i). 

Die  Hilfsmittel,  die  am  Orte  gesammelt  werden  konnten,  reichten 
nicht  aus.  Einige  Londoner  Zeitungen,  und  insbesondere  The  Times 
begannen  eine  Agitation  zu  Gunsten  einer  nationalen  Organisation 
der  Arbeitslosenunterstützung.  Vom  Frühjahre  1862  an  wurden  in 
den  Times  eine  ganze  Reihe  von  Artikeln,  unterzeichnet:  „A  Lan- 
cashire  lad"  (Ein  Lancashirer  Junge)  zum  Abdruck  gebracht.  Der 
Verfasser  dieser  Artikel,  ein  gewisser  Whit taker,  schilderte  die  Not- 
lage in  Lancashire  in  lebendiger  und  ungekünstelter  Sprache.  Seine 
Briefe  machten  auf  das  Publikum  einen  starken  Eindruck,  und  die 
wSpenden  liefen  rasch  ein.  Unter  dem  unmittelbaren  Einfluss  dieser 
Briefe  bildete  sich  Ende  April  unter  dem  Vorsitz  des  Lord  Mayors 
ein  Centralkomitee  zur  Unterstützung  der  notleidenden  Arbeiter 
(The  Lancashire  and  Cheshire  Operatives  Relief  Fund).  In  fol- 
genden Worten  beschreibt  z.  B.  Whittaker  die  Notlage  in  Lan- 
cashire in  einem  Brief  an  den  Lord  Mayor:  „Es  wird  einem  schwer, 
die  Wohnungen  der  Leute,  die  man  kennt  und  achtet,  obwohl  sie 
einfache  Arbeiter  sind,  ohne  jedwede  Einrichtung  und  ohne  Möbel 
zu  sehen,  zu  bemerken,  wie  man  die  Lieblingsbücher  und  -bilder,  eins 
nach  dem  anderen  in  den  erstbesten  Laden  trägt,  um  sich  Nahrungs- 
mittel von  schlechter  und  für  die  Ernährung  völlig  ungenügender 
Qualität  zu  kaufen.  Aber  all  das  ist  noch  nicht  das  schlimmste.  In 
vielen  Cottages  hat  man  gar  nichts  mehr,  was  man  noch  verkaufen 
könnte,  unsere  Mütter  und  Schwestern  müssen  zum  Betteln  greifen, 
und  manchmal  müssen  sie  an  eine  Thür  klopfen,  hinter  der  eine  eben 
so  grosse  Not  verborgen  ist  wie  bei  ihnen  zu  Hause.  Die  Väter  und 
die  Brüder  aber  betrachten  sich  als  glücklich,  wenn  es  ihnen  gelingt, 


I)  The  Manchester  Guardian,   vorn   9.  April   1862. 

23^ 


—     35б     — 

einen  oder  zwei  Schillinge  am  Tage  durch  Strassenkehren  oder 
Steineklopfen  zu  verdienen  .  .  .  Ich  besitze  nicht  die  Kraft,  alles,  was 
ich  sehe,  so  beredt  zu  schildern,  wie  ich  es  gern  möchte.  Das,  was 
ich  sehe  und  höre,  ist  unbeschreiblich.  Es  ist  das  Elend,  das 
äusserste  Elend,  dem  um  jeden  Preis  abgeholfen  werden  muss^)". 

Das  Komitee  unter  dem  Vorsitz  des  Lord  Mayors  wurde  die 
Centralstelle  für  die  Sammlung  von  Spenden  aus  dem  ganzen  Lande. 
Nach  einigen  Tagen  bildete  sich  ein  ähnliches  Komitee  auch  in  Man- 
chester unter  dem  Vorsitze  des  Bürgermeisters  (Manchester  Central 
Relief  Comittee). 

Um  dieselbe  Zeit  beginnt  unter  den  Arbeitern  eine  energische 
Agitation  gegen  die  Praxis  der  Armenbehörden.  Die  P'abrik- 
arbeiter  hatten  ihren  Gewohnheiten,  ihrer  Lebensweise  nach  nichts 
Gemeinsames  mit  den  gewöhnlichen  Insassen  der  Arbeitshäuser.  Ge- 
wöhnt, an  Maschinen  zu  arbeiten,  nicht  so  sehr  mit  den  Muskeln  als  durch 
konzentrierte  Aufmerksamkeit,  erwiesen  sich  die  Lancashirer  Arbeiter 
nicht  fähig,  die  rohen  und  schweren  Arbeiten  auszuführen  (wie  z.  B. 
das  Steineklopfen  mit  schweren  Hammern),  die  ihnen  von  den 
Armenbehörden  vorgeschrieben  wurden.  Kein  Wunder,  dass  die 
Arbeiter  einen  hartnäckigen  Kampf  gegen  die  Administration  der  Armen- 
unterstützung begannen.  Ende  April  veranstalteten  die  Arbeitslosen 
Manchesters  ein  stark  besuchtes  Meeting,  auf  dem  sich  2 — 3000  Arbeiter 
versammelten,  um  gegen  den  labour  test,  die  von  den  lokalen  Behörden 
vorgeschriebene  obligatorische  Arbeit  Protest,  zu  erheben'^).  Aehn- 
liche  Meetings  wurden  auch  in  anderen  Städten  Lancashires  abge- 
halten. So  haben  in  Staleybridge  mehr  als  3000  Arbeiter  auf  einem 
Meeting  einmütig  beschlossen,  sich  an  die  Regierung  mit  einer  Pe- 
tition um  Abschaffung  dieser  obligatorischen  Arbeit  zu  wenden. 
Unter  dem  Einfluss  dieser  Agitation  wandte  sich  eine  Deputation 
von  Parlamentsvertretern  Lancashires  an  Villiers  mit  der  Bitte,  in 
Sachen  der  Armenunterstützung  Wandel  zu  schaffen.  Villiers  ant- 
wortete ausweichend  und  versprach  nichts  Bestimmtes. 

Im  Mai  wurde  die  Frage  der  Unterstützung  der  Arbeiter  Lan- 
cashires im  Parlament  aufgerollt.  In  der  Sitzung  vom  9.  Mai  lenkte 
A.  Egerton,  der  Vertreter  des  südlichen  Lancashire,  die  Aufmerk- 
samkeit des  Parlaments  auf  den  Notstand  in  Lancashire.  Nach  seinen 
Ausführungen  erreichte  die  Zahl  der  Arbeitslosen  in  Lancashire 
58000,    und   eine   bedeutend   grössere    Zahl   arbeitet   nicht  volle    Zeit. 


i)  A.  a.  O.  vom  28.  April   1862. 

2)  Manchester  Guardian,  vom  28.  April    1862. 


—     357      — 

Die  Unzufriedenheit  der  Arbeiter  mit  den  schweren  Bedingungen, 
unter  denen  die  Unterstützung  seitens  der  lokalen  Behörden  geleistet 
werde,  wachse  immer  an.  Angesichts  dessen  erachte  er  es  für  nötig, 
den  Präsidenten  der  Administration  der  Armengesetze  Villi  er s  zu 
fragen,  ob  die  Regierung  es  nicht  für  nötig  halte,  die  Bedingungen,  unter 
denen  die  Unterstützung  erteilt  werde,  zu  mildern.  Der  Vertreter 
des  nördlichen  Lancashire  Pott  er  behauptete,  die  Zahl  der  Arbeits- 
losen sei  viel  bedeutender,  und  erreiche  looooo.  Unter  der  Ein- 
stellung der  Fabrikproduktion  hätten  nicht  allein  die  Arbeiter,  son- 
dern auch  viele  andere  Klassen  der  Bevölkerung  zu  leiden.  So  drohe 
den  meisten  kleinen  Händlern  der  völlige  Ruin.  Villiers  erklärte 
namens  der  Regierung,  dass  die  lokalen  Behörden  die  vollständige 
Möglichkeit  hätten,  die  Bedingungen,  unter  denen  die  Unterstützung 
erteilt  werde,  zu  mildern,  dass  keine  Aenderung  in  der  Praxis  der 
Administration  der  Armenunterstützung  erforderlich  sei  und  dass  die 
Regierung  die  Thätigkeit  der  lokalen  Behörden  vollständig  gut- 
heisse. 

Sehr  charakteristisch  für  den  englischen  bürgerlichen  Radikalis- 
mus ist  die  Haltung,  die  in  dieser  Frage  von  dem  berühmten  Bright 
eingenommen  wurde.  Bright  war  vor  allem  bemüht,  den  Eindruck 
von  dem  Umfange  des  Notstands  abzuschwächen.  Nach  seiner  Ansicht 
war  unter  den  Korngesetzen  zu  Beginn  der  40  er  Jahre  die  Not  in 
Lancashire  viel  stärker  gewesen.  Bright  verteidigte  energisch  die 
lokalen  Behörden,  die  nach  seinen  Ausführungen  das  Vertrauen 
ihrer  steuerzahlenden  Wähler  besässen  und  am  kompetentesten  \vären, 
wenn  es  sich  um  die  Verwendung  der  Summen  handelte,  die  von 
den  Ortsbewohnern  aufgebracht  wurden.  Nach  der  Ansicht  Brights 
„w^ürde  die  Regierung  mit  wahrer  Weisheit  und  entsprechend  den 
Forderungen  der  Humanität  verfahren,  wenn  sie  sich  möglichst  wenig 
in  die  Verfügung  der  lokalen  Behörden  über  die  Verausgabung  der 
ihnen  anvertrauten  Summen  einmischte". 

Die  nationale  Organisation  der  Unterstützung  der  Arbeiter  be- 
trachtete Bright  sehr  ungünstig:  „Er  widersetze  sich  jedweden  Hilfs- 
massregeln  grossen  Stiles  in  der  Art  einer  Bildung  eines  centralen 
Komitees  in  London  oder  einer  Einmischung  der  Regierung  in  die 
Thätigkeit  der  lokalen  Armenbehörden,  das  würde  nur  den  Paupe- 
rismus in  Lancashire  vermehren  und  sich  auch  sonst  als  äusserst  ver- 
derblich erweisen;  wenn  es  aber  jemand  im  Königreich  gebe,  der 
den  Notleidenden  helfen  wolle,  so  möge  er  ruhig  ohne  jedweden 
Lärm,  wo  die  Not  herrsche,  Geld  schicken,  wie  viel  er  könne,  ohne 
jedoch  kolossale  nationale  Fonds  zu  bilden". 


.     -      358      - 

Hibbert,  der  Abgeordnete  von  Oldham,  sprach  sich  energisch 
für  die  Abschaffung  des  labour  test  aus.  Ebenso  erkannte  der  Ab- 
geordnete von  Manchester  Bazley  an,  dass  die  strenge  Handhabung 
des  Armen gesetzes  gemildert  werden  müsse. 

Wie  immer  haben  die  Tories,  die  Vertreter  der  Interessen  der 
Grundbesitzer,  den  Beschwerden  der  Arbeiter  gegenüber  viel  mehr 
Aufmerksamkeit  gezeigt  als  die  liberalen  Fabrikanten.  Nach  einigen 
Tagen  (am  12.  Mai)  wurde  dieselbe  Frage  der  Hilfsmassregeln  für 
die  notleidenden  Arbeiter  Lancashires  im  Oberhause  erörtert,  und  die 
Hauptforderung  der  Arbeiter,  die  Abschaffung  der  obhgatorischen 
Arbeit,  fand  warme  \^erteidiger  unter  den  hochgeborenen  Mitgliedern 
dieses  Hauses.  Graf  Shaftesbury  erklärte:  ,.Er  sei  nicht  dagegen, 
dass  obligatorische  Arbeit  von  denen  verlangt  werde,  die  aus  Träg- 
heit und  weil  sie  nicht  arbeiten  wollten,  beschäftigungslos  seien. 
Aber  man  müsse  daran  denken,  dass  die  Arbeiter  sich  im  Zustande 
einer  äussersten  Not  nicht  durch  ihre  Schuld  befänden.  Sie  wollten 
arbeiten,  und  gerade  bei  dem  gegenwärtigen  Zustande  des  Handels, 
wo  sich  für  sie  keine  Arbeit  fände  und  sie  infolgedessen  genötigt 
seien ,  um  Hilfe  zu  bitten ,  sei  die  Forderung  einer  obligatorischen 
Arbeit  äusserst  grausam  und  ungerecht.  Besonders  gelte  das  für 
die  Baumwollarbeiter,  von  denen  in  der  Fabrik  eine  feine  Arbeit 
verlangt  werde,  welche  nicht  durch  Hände  ausgeführt  werden  könne, 
die  durch  gewöhnliche  Handlangerarbeit  unempfindlich  geworden 
seien.  Solche  Leute  zu  zwingen.  Steine  zu  klopfen,  heisse  nicht  nur 
sie  zu  überflüssigen  Leiden  aussetzen,  sondern  sei  in  vielen  Fällen 
gleichbedeutend  damit,  dass  sie  der  Erwerbsmöglichkeit  überhaupt 
beraubt  würden,  wenn  der  Handel  sich  von  neuem  belebe.  Ebenso 
hiesse  es  die  Gesundheit  eines  Menschen  aufs  Spiel  setzen,  wenn 
man  ihn,  der  sonst  nur  an  die  hohe  Temperatur  einer  Fabrik  ge- 
wohnt sei,  zwinge,  unter  freiem  Himmel  manchmal  im  strömenden 
Regen  zu  arbeiten.'' 

Namens  der  Regierung  antwortete  Granville,  der  darauf  hin- 
wies, dass  die  lokalen  Behörden  das  Recht  hätten,  nach  Gutdünken 
Hilfe  zu  leisten,  ohne  obligatorische  Arbeit  zu  verlangen,  und  dass 
die  Regierung  den  lokalen  Behörden  volle  Freiheit  des  Handelns 
gewähren  wolle  ^). 

Unter  dem  Eindrucke  dieser  Debatten  betraute  die  Regierung 
eines  der  obersten  Mitglieder  der  Armenadministration,  Farn  all,  mit 
der  Untersuchung  der  Thätigkeit  der  lokalen  Behörden  der  Armenunter- 


i)  Hansards  Parliamentary  Debates,   Vol.  CLXVI. 


—     359     — 

Stützung  und  versah  ihn  zu  diesem  Zwecke  mit  sehr  weitgehenden 
VoHmachten.  Die  Unzufriedenheit  der  Arbeiter  mit  der  Thätigkeit 
der  Behörden  war  sehr  gross.  In  Blackburn  weigerten  sich  gegen 
looo  Arbeiter,  die  im  Arbeitshaus  mit  Steineklopfen  beschäftigt 
waren,  entschieden,  die  Arbeit  fortzusetzen,  und  erneuerten  die  Arbeit 
erst,  nachdem  ihnen  die  verlangten  Konzessionen  gemacht  worden 
waren  ^).  Die  Protestmeetings  gegen  die  obligatorische  Arbeit  dauerten 
in  allen  bedeutenden  Städten  Lancashires  fort.  Die  Aufgabe  Farn  а  11s 
bestand  darin,  die  örtlichen  Behörden  zu  veranlassen,  unter  Ver- 
meidung jedweder  Verletzung  des  Armengesetzes,  die  Unterstützungs- 
bedingungen zu  erleichtern.  Diese  Mission  wurde  von  ihm  mit  einem 
gewissen  Erfolg  durchgeführt;  er  hat  vieles  beseitigt,  was  die  Un- 
zufriedenheit der  Arbeiter  erregt  hatte. 

Während  des  Sommers  nahm  der  Notstand  zu.  Im  Juli  waren 
von  den  355000  Arbeitern  in  den  Textilfabriken  Lancashires  und 
Cheshires  80000  ganz  beschäftigungslos  und  die  übrigen  arbeiteten 
zum  grössten  Teil  nicht  volle  Zeit.  Da  aber  von  allen  Seiten  des 
Landes  Spenden  rasch  hinflössen,  so  gab  es  eigentlich  keine  Hungersnot. 
Die  arbeitende  Bevölkerung  wurde  nur  plötzlich  ihres  gewöhnlichen 
Komforts  beraubt  und  sank  auf  die  Stufe  der  Paupers  herab,  aber 
direkt  einen  Mangel  an  Nahrungsmitteln  litt  sie  doch  nicht.  Dadurch 
wird  jene  auf  den  ersten  Blick  auffallende  Thatsache  erklärt,  dass 
der  „Baumwollhunger"  sehr  wenig  auf  die  Sterblichkeit  der  Be- 
völkerung eingewirkt  hat  (siehe  Tabelle  auf  der  Seite.  283).  Die 
Lancashirer  Arbeiter  gehörten  nicht  zu  jenen  Leuten,  die  ruhig 
Hungers  sterben  können.  Die  Regierung  und  die  öffentliche  Meinung 
fürchteten  im  höchsten  Grade  eine  Bewegung  unter  den  Arbeitern. 
Und  als  es  sich  zeigte,  dass  die  Arbeiter  sich  ruhig  verhielten, 
richtete  die  Regierung  alle  Anstrengungen  dahin,  die  Anlässe  zur 
Störung  dieser  Ruhe  zu  beseitigen.  In  vielen  Städten  Lancashires 
begannen  die  Behörden  Unterstützungen  ohne  jedwede  Forderung 
einer  obligatorischen  Arbeit  zu  gewähren.  Aus  den  Lobreden  auf 
die  „mannhafte  Ruhe"  der  Arbeiter,  mit  der  die  bürgerliche  Presse, 
die  öffentlichen  Versammlungen  und  das  Parlament  die  Arbeiter  um 
die  Wette  überhäuften,  war  deutlich  die  Angst  vor  den  Arbeitern 
herauszuhören;  alle  waren  bewusst,  dass  diese  Ruhe  nur  durch  die 
Erleichterung  des  Loses  der  Arbeiter  erkauft  werden  könne. 

Es  ist  bezeichnend,  dass  gerade  die  Fabrikanten  die  ge- 
ringste  BereitwiUigkeit    zeigten,    irgend    welche    Opfer    zu    Gunsten 


I)  The  Manchester   Weekly  Times  vom   /.  Juni   1862. 


—      Збо      — 

der  Arbeiter  zu  bringen.  Die  konservativen  Zeitungen  waren  von 
Klagen  über  die  Gleichgiltigkeit  der  „Baumv^ollkönige"  gegenüber 
den  Leiden  derselben  Leute,  die  ihre  Reichtümer  geschaffen  hatten, 
erfüllt.  Und  in  der  That  verhielten  sich  die  Lancashirer  Fabrikanten 
mit  einem  erstaunlichen  Indifferentismus  gegenüber  der  Agitation  zu 
Gunsten  der  Unterstützung  der  notleidenden  Arbeiter,  die  ganz 
England  und  sogaT  viele  englische  Kolonien  erfasste.  So  sagt 
Arnold:  „Die  Fabrikanten  zeigten  sich  nicht  geneigt,  an  Subscrip- 
tionen  zu  Gunsten  der  Notleidenden  teilzunehmen.  Die  Hälfte  der 
Zeitungen  des  Landes  .  .  .  beschwor  sie,  den  Leiden  ihrer  Nächsten 
ihre  Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  und  verwies  sie  auf  ihre  Pflicht. 
Aber  weder  Ueberredung  noch  Hohn  übte  irgend  einen  Eindruck 
aus.  Man  kann  sagen,  dass  derselbe  Mangel  an  Rohstoffen,  der 
unter  den  Arbeitern  jene  Not  hervorrief,  den  Kapitalisten  grossen 
Vorteil  brachte.  Und,  wie  immer  in  solchen  Fällen,  zeigten  die,  welche 
durch  diese  Sachlage  gewonnen  hatten,  wenig  Sympathie  für  die,  welche 
darunter  litten."  Hieraus  zieht  Arnold  den  Schluss,  dass  „der 
kommerzielle  Geist  die  Grossmut  ertöte"  i).  Es  handelt  sich  hier 
dennoch  natürlich  nicht  um  den  „kommerziellen  Geist";  die  edlen 
Lords,  die  von  der  Geschäftswelt  so  weit  entfernt  sind,  zeigten  unter 
analogen  Bedingungen  dieselbe  Gleichgiltigkeit  gegenüber  ihren 
Farmern  und  Arbeitern. 

Allerdings  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  die  Lancashirer 
Fabrikanten  sich  ihren  Arbeitern  gegenüber  äusserst  teilnahmlos 
verhalten  haben.  Die  konservativen  Zeitungen  benutzten  die  Ge- 
legenheit, um  ihre  Entrüstung  über  die  Grausamkeit  der  Vertreter 
des  industriellen  und  des  Handelskapitals  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
So  lesen  wir  z.  B.  in  den  Times  die  folgenden  in  der  That  beredten 
Zeilen:  „Die  Baumwolle  kommt  nicht,  es  ist  keine  Arbeit  da,  die 
Arbeiter  sterben  Hungers;  und  wenn  es  jemanden  in  der  Welt  giebt, 
der  gegenüber  alledem  gleichgiltig  ist,  der  kein  Wort  sagt  und  kein 
Lebenszeichen  von  sich  giebt,  so  ist  es  der  Fabrikant.  Die  Fabrikanten 
sind  ebenso  unthätig  wie  ihre  Maschinen,  ebenso  kalt  wie  ihre 
Kessel,  oder  sind  sie  abwesend,  man  weiss  nicht  wo.  Allerdings 
kommt  von  ihnen  keine  Hilfe  .  .  .  Die  Baumwolllords  sind  mit  ihrer 
Baumwolle  verschwunden"  2). 

Das  Wachstum  der  Not  veranlasste  die  Regierung,  auf  ihr 
passives  Verhalten  gegenüber  den  Leiden  der  Arbeitsmassen  zu  ver- 


1)  Arnold,   263 — 264. 

2)  Citiert  nach  Arnold,   200. 


—     3^1      — 

ziehten.  Am  22.  Juli  braehte  Villiers  eine  Bill  ein,  die  den  einzelnen 
Kirchspielen  und  Distrikten,  die  unter  dem  Baumwollhunger  gelitten 
hatten,  das  Recht  gab,  die  Summen  für  den  Unterhalt  der  Armen, 
unter  gewissen  Bedingungen,  unter  alle  Kirchspiele,  die  zu  denselben 
Distrikten  gehören,  oder  unter  allen  Distrikten  der  Grafschaft  zu 
verteilen.  Auf  diese  Weise  konnte  man  die  Last  der  Ausgaben  für 
die  Armenunterstützung  gleichmässiger  unter  den  einzelnen  Kirch- 
spielen und  Distrikten  einteilen. 

Die  Stellung  der  Lancashirer  Fabrikanten  und  ihrer  Freunde 
im  Parlament  dieser  Bill  gegenüber  ist  höchst  charakteristisch. 
Cobden  unterzog  die  Bill  der  schärfsten  Kritik,  weil  sie  die  Lage 
der  Steuerzahler  in  Lancashire  keineswegs  erleichtere.  Nach  Cobden s 
Meinung  konnten  die  Fabrikanten  die  Last  der  immer  wachsenden 
Ausgaben  für  den  Unterhalt  der  Armen  nicht  ertragen,  da  ihre 
Fabriken  geschlossen  seien.  Nach  der  Rede  Cobdens  könnte  es 
scheinen,  dass  die  wahren  Dulder  niemand  anders  als  die  Fabrikanten 
seien  .  .  .  ,.Die  meisten  Baumwollfabriken,"  erklärte  er,  „gehörten 
Personen,  die  verhältnismässig  wenig  Kapital  besassen.  Die  Namen 
der  grossen  Fabrikanten  könnten  leicht  aufgezählt  werden,  aber  die, 
die  hartnäckig  kämpften,  die  durch  ihre  Sparsamkeit  und  ihren  Er- 
findungsgeist, durch  Einführung  neuer  Maschinen  und  durch  Erhöhung 
der  Produktivität  ihrer  Fabriken  die  Macht  und  die  Grösse  dieses 
Landes  geschaffen  hätten,  zählten  nach  Tausenden  .  .  .  Das  Parla- 
ment müsse  alles  thun,  um  dem  Ruin  dieser  Leute  vorzubeugen, 
da  die  Möglichkeit  der  Wiederherstellung  des  Wohlstandes  dieses 
Landes  davon  abhänge,  ob  sie  noch  in  der  Lage  würden  sein,  den 
Arbeitern  Arbeit  zu  geben.  Welche  Massregel  sei  aber  mehr  ge- 
eignet, diese  Klasse  der  Bevölkerung  zu  vernichten,  als  die,  welche 
die  Regierung  vorschlage?" 

Angesichts  dessen  schlug  Cobden  vor,  die  Summen  für  die 
Armenunterstützung  durch  öffenthche  Anleihen  aufzubringen.  Das 
würde  den  Fabrikanten  die  auf  ihnen  liegende  Last  der  Arbeits- 
losenunterstützung erleichtern.  In  demselben  Sinne  sprachen  sich 
auch  andere  Vertreter  Lancashires  aus.  Einige  люп  ihnen  forderten 
sogar  eine  nationale  Unterstützung  der  Lancashirer  Arbeiter.  Offen- 
bar verdrängte  die  Furcht,  die  Arbeitslosen  aus  eigenen  Mitteln  er- 
halten zu  müssen,  sehr  rasch  in  den  Herzen  der  liberalen  Anhänger 
der  Selbsthilfe  und  des  Freihandels  ihre  sonstige  Antipathie  gegen 
die  staatliche  Vormundschaft. 

Die  wahre  Tendenz  aller  dieser  Anträge  wurde  sehr  richtig, 
von    Lord   Palmerstone    während   der   dritten   Lesung   der  Bill   am 


—        Зб2        — 

ЗО.  Juli  gekennzeichnet.  „In  Wirklichkeit,"  erklärte  er  von  den 
Gegnern  der  Bill,  „wollen  sie  die  ganze  Last  von  den  Reichen  auf 
die  Armen  überwälzen  ...  In  diesen  Grafschaften  (Lancashire  und 
Cheshire)  gebe  es  kolossale  Kapitalisten,  und  einige  von  ihnen  — 
er  müsse  das  mit  Bedauern  konstatieren  —  verkauften  und  exportierten 
aus  dem  Lande,  während  die  Bevölkerung  vor  ihren  Thüren  gehungert 
und  man  noch  schlimmere  Leiden  in  der  Zukunft  erwartet  habe 
—  dieselben  Rohstoffe,  die  die  Fabriken  im  Gange  erhalten  und  den 
Arbeitern  Beschäftigung  geben  sollten.  Müssten  denn  alle  diese 
Leute  von  den  Ausgaben  für  den  Unterhalt  der  Armen  ausgenommen 
werden?  Warum  sollten  sie  nicht  hinzugezogen  werden  zur  Linderung 
der  Leiden,  die  vor  ihren  Augen  geschahen,  wenn  sie  alle  Mittel 
dazu  hätten?  Nicht  nur  hätten  diese  Fabrikanten  kolossale  Ver- 
mögen erworben,  sondern  auch  alle  Gutsbesitzer  jener  Distrikte 
hätten  von  der  Entwickelung  der  Baumwollindustrie  in  der  Graf- 
schaft sehr  gewonnen,  und  es  sei  nur  berechtigt,  dass  die  Grafschaft 
in  ihrer  Gesamtheit  zur  Erhaltung  ihrer  Arbeitslosen  herangezogen 
werde  .  .  .  F>  denke,  es  sei  ganz  gerecht,  alle  laufenden  Ausgaben 
der  Grafschaft  durch  die  laufenden  Einnahmen  zu  decken,  statt  in 
die  Armengesetze  ein  neues  Prinzip  der  Geldanleihen  für  laufende 
Ausgaben  einzuführen." 

Trotzdem  war  die  Opposition  der  Lancashirer  Fabrikanten  so 
heftig,  dass  die  Regierung  nachgeben  musste  und  die  Bill  nur  mit 
wesentlichen  Abänderungen  durchging;  es  wurde  nämlich  den 
Distrikten  überlassen,  die  Ausgaben  für  die  Armenunterstützung 
durch  eine  Anleihe  zu  decken,  wenn  diese  Ausgaben  eine  bestimmte 
Summe  erreichten.     Die  Fabrikanten  haben  gesiegt. 

Das  Oberhaus  verhielt  sich  sehr  missbilligend  gegenüber  der 
Nachgiebigkeit  der  Regierung.  Graf  von  Malmesbury  hielt  eine 
lange  Rede  gegen  die  Abänderungen  der  Bill.  „Wenn  die  Arbeiter 
so  viel  Mut  und  Geduld  unter  dem  Druck  der  schweren  Leiden  an 
den  Tag  gelegt  hätten,  so  hätten  auch  die  Steuerzahler  dieser 
reichen  Grafschaften  eine  annähernd  ähnliche  Geistesstärke  bekunden 
müssen.  Schicke  es  sich  denn  für  diese  Steuerzahler,  sich  an  das 
Parlament  mit  der  Bitte  um  Hilfe  zu  wenden?''  Nach  der  Meinung 
des  edlen  Lords  bestand  der  beste  Ausweg  aus  der  schwierigen  Lage, 
in  der  sich  Lancashire  befand,  in  der  Heranziehung  nicht  nur  des  un- 
beweglichen, sondern  auch  des  beweglichen  Besitzes,  des  Handels- 
und des  Geldkapitals  zur  Zahlung  von  Steuern  für  die  Armen.  Die 
Fabrikanten  beschwerten  sich  über  die  übermässige  Last  der  Aus- 
gaben  für  den  Unterhalt  der   Armen,   aber  in   vielen   landwirtschaft- 


—    з^з    — 

liehen    Distrikten    seien   die    üblichen    Steuern    für    die    Armen    viel 
schwerer. 

Noch  energischer  sprach  I>ord  Kingsdown:  „Eine  Fabrik  nach 
der  anderen  würde  errichtet,"  erklärte  er  mit  Pathos,  „und  eine  zahl- 
reiche Bevölkerung  wäre  zusammengerufen,  um  kolossale  Vermögen 
zu  schaffen,  die  die  Besitzer  dieser  Fabriken  erworben  hätten.  Sei  es  derer 
würdig,    die   diese   Bevölkerung  zusammengerufen   hätten,    die   dieser 

I  Bevölkerung  Beschäftigung  gegeben  und  aus  der  Arbeit  dieser  Be- 
völkerung ihre  Profite  gezogen  hätten,  dass  sie  im  ersten  Augenblick, 
wo  von  ihnen  einige  Opfer  für  die  Unterstützung  der  Armen  verlangt 
würden,  händeringend  um  Hilfe  flehten  und  a.uf  die  künftigen 
Generationen     die   Last    abwälzen     wollten,     die     sie    selbst    tragen 

j  müssten?  ...  Er  empfinde  Scham  beim  Anhören  dieser  Bitten. 
Was  würden  die  Fabrikanten  Lancashires  wohl  sagen,  wenn  infolge 
eines  Notstandes  in  den  landwirtschaftlichen  Bezirken  der  Vorschlag 

j  gemacht  worden  wäre,  die  Steuerlasten  auf  die  benachbarten  in- 
dustriellen Bezirke  überzuwälzen?  Als  die  Korngesetze  abgeschafft 
würden,  hätten  viele  darauf  hingewiesen,  dass  die  landwirtschaftlichen  Be- 
zirke schwere  Not  litten.  Was  würde  auf  derartige  Hinweise  geantwortet? 
Dass  die  landwirtschaftHche  Bevölkerung  sich  eine  andere  Beschäfti- 
gung suchen  würde  und  dass  ein  jeder  für  sich  selbst  die  Ver- 
antwortung tragen  müsse"  ^). 

Trotz   der  heftigen  Opposition   vieler  Lords   ging  die   Bill   aber 

|i    durch  und  wurde  zum  Gesetz. 

Mittlerweile  dauerte  in  Manchester  der  hartnäckige  Kampf  der 
Arbeiter  gegen  die  lokalen  Behörden  wegen  der  obligatorischen 
Arbeit   fort.     In   anderen  Städten    Lancashires    hatten    die  Behörden 

I  schon  lange  nachgegeben,  aber  in  Manchester  wollten  sie  nicht 
ihre  übliche  Art,  wie  sie  Unterstützung  erteilten,  aufgeben.  Im 
August  haben  einige  sehr  zahlreich  besuchte  öffentliche  Arbeiter- 
meetings stattgefunden,  auf  denen  der  (später  von  vielen  Behörden, 
darunter  auch  von  dem  in  Manchester  acceptierten)  Vorschlag  ge- 
macht wurde,  die  obligatorische  Arbeit  durch  einen  Unterricht  der 
Arbeiter  in  Schulen  für  Erwachsene  zu  ersetzen.  Die  Arbeiter,  die 
in  den  Farmen  und  den  Arbeitshäusern  der  Armenbehörden  be- 
schäftigt waren,  veranstalteten  öffentliche  Protestdemonstrationen, 
machten  Umzüge  durch  die  Stadt,  aber  mit  vollständiger  Aufrechter- 
haltung der  Ordnung.  Eine  spezielle  Arbeiterdeputation  wurde  abge- 
sandt,   um    der    Regierung    eine    Petition    zu    überreichen,    die    um 


i)  Hansards  Parliamentary  Debates,  Vol.   CLXVIll. 


—      Зб4      — 

Milderung  der  Bedingungen,  unter  denen  die  Unterstützung  erteilt 
wurde,  bat.  Die  Deputation  wurde  von  dem  Premier-Minister  und 
von  einigen  anderen  Mitgliedern  der  Regierung  sehr  liebenswürdig 
empfangen,  erreichte  aber  keine  bestimmten  Resultate. 

Die  Protestmeetings  gegen  die  obligatorische  Arbeit  dauerten 
während  des  ganzen  Herbstes  1862  fort.  Allmählich  nahmen  sie 
einen  bedrohlichen  Charakter  an.  Auf  dem  Meeting  vom  10.  Oktober 
in  Manchester,  an  dem  einige  Tausend  Arbeiter  teilnahmen,  wurde 
eine  Resolution  angenommen,  welche  die  vollständige  und  unverzügliche 
Abschaffung  der  obligatorischen  Arbeit  und  die  Erteilung  der  Unter- 
stützung in  Geldform  und  nicht  zur  Hälfte  in  Geld,  zur  Hälfte 
in  Naturalien ,  wie  das  bisher  geschah ,  verlangte.  Einer  der 
Redner,  ein  gewisser  Evans,  erklärte:  „Wenn  man  will,  dass 
das  Eigentum  geachtet  wird,  so  muss  man  sofort  d'ose  teuflische 
und  ungerechte  obligatorische  Arbeit  beseitigen  .  .  .  Die  Arbeiter 
sollen,  statt  in  die  Farmen  und  Arbeitshäuser  zu  gehen,  um  Hanf 
zu  brechen,  in  Schulen  und  Bibliotheken  gehen  .  .  .  Die  Arbeit  ohne 
jedwede  Entschädigung  widerspricht  den  Gesetzen  der  politischen 
Oekonomie  .  .  .  Wir  haben  unsere  Meinung  schon  wiederholt  aus- 
gesprochen, die  Geschichte  besagt  aber,  dass  die  Nichtbeachtung  der 
öffentlichen  Meinung  schlimme  Folgen  hat.  In  Rochdale  wird 
keine  obligatorische  Arbeit  verlangt;  wozu  hat  das  geführt?  Zur 
Verminderung  der  Sterblichkeit.  Es  kann  also  nicht  Wunder  nehmen, 
dass  in  Manchester  die  Sterblichkeit  seit  dem  Beginn  der  Krisis  um 
60  — 70%  höher  ist  als  in  anderen  Gegenden"  i). 

Die  anderen  Redner  sprachen  in  demselben  Ton,  indem  sie  auf 
die  Notwendigkeit  hinwiesen,  den  Arbeitern,  statt  sie  die  schwere  Arbeit 
verrichten  zu  lassen,  Heber  Unterricht  zu  erteilen.  „W^enn  dieses 
Meeting  sein  Ziel  nicht  erreicht,"  so  erklärte  einer  der  Redner,  „so 
müssen  wir  stärker  an  der  Thür  klopfen  und  mit  einer  Volksmasse 
von  Zehntausenden  unter  Musikbegleitung  die  Strassen  Manchesters 
durchziehen." 

Schliesslich  erreichte  die  Agitation  ihr  Ziel.  Eine  der  Ein- 
richtungen, die  am  meisten  zur  Unzufriedenheit  der  Arbeiter  beigetragen 
hatten,  nämlich,  dass  die  Unterstützung  von  der  Armenadministration  zur 
Hälfte  in  Geld  und  zur  Hälfte  in  Naturalien  verabfolgt  wurde,  wurde 
durch  eine  Verfügung  der  Centraladministration  der  Armengesetze 
beseitigt,  wonach  die  Unterstützung  nur  noch  in  Geld  verabfolgt 
werden    durfte.      Vom    November    an    begannen     die    Behörden    in 


i)  The  Manchester  Weekly  Times,  vom   11.  Oktober   1862. 


\  —     3^5     — 

Manchester,  der  Forderung  der  Arbeiter  gemäss,  die  obligatorische 
Arbeit  durch  den  Unterricht  der  Arbeiter  in  eigens  dazu  errichteten 
Schulen  zu  ersetzen.  In  diesen  Schulen  lernten  die  Arbeiter 
Lesen,  Schreiben  und  Rechnen.  Evans,  der  Redner  auf  dem 
Meeting  vom  lo.  Oktober,  wurde  von  den  Behörden  eingeladen,  an 
der  Organisation  solcher  Schulen  teilzunehmen^).  Die  Arbeiterinnen 
wurden  im  Nähen  unterrichtet;  die  Gründung  von  Nähschulen  war 
zweifellos  ein  sehr  glücklicher  Gedanke.  Diese  Schulen  erwiesen  der 
Bevölkerung  einen  grossen  Nutzen  und  verbreiteten  sich  rasch  in 
ganz  Lancashire.  Es  ist  interessant  und  bezeichnend  für  die  Lebens- 
verhältnisse des  englischen  Arbeiters,  dass  ein  bedeutender  Teil  der 
Arbeiterinnen  (nach  dem  Fabrikinspektor  A.  Redgrave  gegen  ein 
Drittel)  gar  nicht  nähen  konnte.  Sie  nahmen  zum  ersten  Male  in 
ihrem  Leben  die  Nadel  zur  Hand  und  wussten  zuerst  gar  nicht,  wie 
sie  zu  handhaben;  sie  zogen  die  Nadel  durch  das  Gewebe,  indem  sie 
sie  auf  den  Tisch  drückten.  Die  Mütter  vieler  Kinder  hatten  früher 
niemals  mit  einer  Nadel  zu  thun  gehabt.  In  kurzer  Zeit  haben  sie 
aber  das  Nähen  erlernt,  und  natürlich  hat  sich  diese  einfache  Kunst 
in  ihrem  Haushalt  als  sehr  nützlich  erwiesen. 

Bis  Ende  1862  nahm  die  Arbeitslosigkeit  zu,  und  entsprechend 
nahm  auch  die  Zahl  derer  zu,  die  eine  Unterstützung  aus  der  einen 
oder  der  anderen  Quelle  erhielten ,  von  Armenbehörden  oder  privaten 
Wohlthätigkeitskomitees.  Trotz  der  Arbeitslosigkeit,  obwohl  alle 
Ersparnisse  der  Arbeiterklasse  zu  dieser  Zeit  gänzlich  erschöpft  waren, 
erhielten  alle  Notleidenden  eine  Unterstützung,  die  zwar  armselig 
war,  aber  doch  genügte,  um  sie  vor  dem  Hunger  zu  schützen.  Der 
verhältnismässig  unbedeutende  Einfluss  des  Baumwollhungers  auf  die 
Zunahme  der  Sterblichkeit  in  Lancashire  ist  der  beste  Beweis  dafür, 
das  von  einem  „Hunger"  im  buchstäblichen  Sinne  des  Wortes  keine 
Rede  sein  konnte.  Es  ist  interessant,  dass  die  früheren  Perioden 
einer  Geschäftsstockung  —  die  Jahre  1842,  1847  ^^^  1^57  —  von 
einer   viel    stärkeren    Sterblichkeit   der   Bevölkerung   begleitet  waren. 


i)  Es  ist  bezeichnend  für  die  englischen  Verhältnisse,  dass  die  Behörden  Manchesters  sich 

mit  grosser  Achtung  über  die  Thätigkeit  Evans  aussprachen.    In  der  Sitzung  der  lokalen  Armen- 

j  behörden   am   i.  Januar   1863   erklärte    der   Vorsitzende:    ,,Mr.    Evans,    einer    der    ständigen 

il  Teilnehmer   der  Arbeitslosendeputationen    während   des   ganzen    vorangegangenen   Jahres,  ein 

Mann  von  grossen    Fähigkeiten   und    einer   von    denen,    die  am    entscheidensten    eine   Unter- 

;  Stützung  seitens  des  Kirchspiels  zurückvi^eisen ,    der   erste,    der   den    Gedanken   angeregt   hat, 

Unterrichtsklassen  für  die  Unterstützungsempfänger  zu  errichten ,  hat  unlängst  von  den  Armen- 

i' behörden  den  Auftrag  erhalten,    an    der   Errichtung  der  Klassen  mitzuarbeiten,    und    erfüllt 

;i  mit  grossem  Taktgefühl  und  mit  Einsicht  seine  neuen  Pflichten."    The  Manchester  Examiner 

'  and  Times  vom   2.  Januar   1863. 


-      Зб6     — 

obwohl  die  Arbeitslosigkeit  im  Jahre  1862,  ihrem  Umfange  nach,  beispiel- 
los war.  Aber  gerade  der  höchst  bedeutende  Umfang  der  Arbeitslosig- 
keit bewirkte  auch,  dass  man  ausserordentliche  Hilfsmassregeln  er- 
griff. Diese  Massregeln  waren,  wie  aus  dem  oben  Dargelegten  zu 
ersehen  ist,  durch  den  Entschluss  der  Lancashirer  Arbeiter  erzwungen, 
die  Ruhe  und  die  „Achtung  vor  dem  Eigentum"  nur  in  dem  Falle 
zu  bewahren,  wenn  die  besitzenden  Klassen  alles  Mögliche  thäten, 
um  sie  während  der  Arbeitslosigkeit  zu  unterstützen. 

Der  Geschichtschreiber  des  Baumwollhungers  Arnold  be- 
dauert, dass  die  Arbeiter  es  so  ansahen,  als  ob  sie  eine  staatliche 
Pension  während  der  Dauer  des  Baumwollhungers  zu  erhalten  hätten  ^j. 
Zweifellos  betrachteten  die  Arbeiter  die  Unterstützung  nicht  als  ein 
Almosen,  sondern  als  ihr  gutes  Recht,  das  sie  bereit  waren  zu  ver- 
teidigen. Sie  hielten  sich  durchaus  nicht  für  Paupers  und  wehrten 
sich  mit  Erfolg  dagegen,  als  Paupers  behandelt  zu  werden.  Und 
nur  w^eil  die  Arbeiter  eine  solche  Haltung  einnahmen,  entgingen  sie 
dem  Schicksal,  während  dieser  Zeit  thatsächlich  zu  hungern.  Ihre 
Ruhe,  für  die  sie  von  allen  Seiten  so  gepriesen  wurden,  bedeutete  am 
allerwenigsten  eine  Apathie  oder  eine  hoffnungslose  Unterwerfung 
unter  das  Schicksal,  eine  Bereitwilligkeit,  alles  zu  ertragen.  Im 
Gegenteil,  unter  dieser  Ruhe  fühlte  man  den  festen  Entschluss  der 
Arbeiter,  ihr  Recht  auf  ein  menschliches  Dasein  mit  allen  Mitteln  zu 
schützen,  sich  ihrer  Freiheit,  ihrer  Unabhängigkeit,  ihrer  Würde,  falls 
jemand  sie  antasten  sollte,  zu  wehren. 

Im  Dezember  1862  erreichte  die  Arbeitslosigkeit  ihren  Höhe- 
punkt in  Bezug  auf  die  ganze  Periode,  die  wir  jetzt  betrachten.  Am 
6.  Dezember  erhielten  in  Lancashire  und  Cheshire  271983  Personen 
beiderlei  Geschlechts  eine  Unterstützung  seitens  der  Armenbehörden 
und  genossen  236310  Personen  Unterstützung  von  privaten  Wohl- 
thätigkeitskomitees,  die  in  der  ganzen  von  der  Not  betroffenen 
Gegend  zerstreut  waren  (insgesamt  waren  gegen  170  solcher  Komitees 
thätig).  Während  des  Jahres  1862  stieg  der  Prozentsatz  der  Paupers 
von  2,9  auf  13,7  7o  ^^^  Gesamtbevölkerung  der  industriellen  Distrikte. 
Aber  in  einzelnen  Distrikten  war  der  Prozentsatz  der  Paupers  noch 
viel  höher.  So  bildeten  die  Paupers  Ende  November  im  Verhältnis 
zur  Bevölkerung:  in  Ashton  under  Lyne  25^/0,  in  Preston  20  ^o- 
in     Manchester     20%,     in     Blackburn     19^/0    u.   s.   w.  2).       Von     den 


i)  Arnold,   197. 

2)  Report  on  Agencies    and   Methods    for    Dealing   with    the   Unemployed.     London 
1893,  S.  390. 


—     Зб7      — 

270  Tausend  Arbeitern,  die  von  den  Armenbehörden  eine  Unter- 
stützung erhielten,  arbeiteten  nur   12527   in  den  Arbeitshäusern. 

Nach  der  Berechnung  Farnalls  hatten  die  Distrikte,  die  unter 
dem  Baumwollhunger  gelitten  haben,  eine  Bevölkerung  von  1984955; 
von  dieser  Bevölkerung  arbeiteten  533959  Personen  in  Baumwoll- 
fabriken oder  in  Fabriken,  die  in  der  einen  oder  anderen  Weise  mit 
der  Baumwollindustrie  verbunden  waren.  Ende  Januar  waren  von 
diesen  Arbeitern  247230  ganz  beschäftigungslos,  165600  arbeiteten 
nicht  volle  Zeit  und  nur   121  129  hatten  volle  Arbeit i). 

Die  Massenarbeitslosigkeit  gab  den  Fabrikanten  die  Möglich- 
keit, die  Löhne  um  10—20%  herabzusetzen.  In  einer  Rede,  die  er 
auf  einem  Meeting  in  Chester  hielt,  eröffnete  Gladstone  den  жЛ.г- 
beitern  die  angenehme  Aussicht  auf  ein  weiteres  Sinken  der  Löhne. 
Nachdem  er  der  Ruhe  der  Arbeiter  das  gewohnte  Lob  gespendet 
hatte,  wies  Gladstone  sie  auf  die  folgende  Perspektive  hin:  „es 
ständen  ihnen  neue  Prüfungen  bevor.  Sie  seien  aus  der  Lage  von 
gut  bezahlten  Arbeitern  in  die  Lage  von  Arbeitern,  die  eine  Unter- 
stützung vom  Kirchspiel  erhielten ,  übergegangen,  dabei  habe  sich 
die  Achtung  vor  ihnen  nicht  nur  vermindert,  sondern  sie  sei  vielmehr 
gestiegen.  Er  hoffe,  dass  sie  bald  wieder  aus  der  Lage  derer,  die 
eine  Unterstützung  erhielten,  in  die  Lage  von  gut  bezahlten  Arbeitern 
übergehen  würden.  Aber  das  werde  nicht  mit  einem  Male  vor  sich 
gehen.  Jetzt  gestalte  sich  die  Lage  des  Arbeitsmarktes  so,  dass  die 
Unternehmer,  oder  richtiger  diejenigen  Unternehmer,  die  von  dem 
Sturm,  der  über  sie  hinweggebraust,  nicht  gebrochen  seien,  genötigt 
sein  würden,  nur  niedrige  Löhne  zu  zahlen.  Sich  mit  diesem  nied- 
rigen Lohne  zu  begnügen,  die  Arbeit  bei  einem  gesunkenen  Lebens- 
niveau wieder  aufzunehmen ,  das  werde  die  neue  Prüfung  für  die 
Arbeiter  sein.  Mögten  sie  nun  diese  Prüfung  als  eine  unvermeidliche 
annehmen,  mögten  sie  auf  die  Stimme  des  Stolzes  nicht  hören,  und 
diese  Prüfung  solle  die  letzte  sein  2)". 

Also,  den  Arbeitern  stand  eine  Prüfung  nach  der  andern  bevor, 
und  als  Endergebnis  war  ein  allgemeines  Sinken  der  Löhne  auf 
längere  Zeit  vorauszusehen.  Die  Fabrikanten  sollten  noch  ein  Mal 
durch  den  Baumwollhunger  Gewinne  einheimsen:  in  der  ersten  Zeit 
des  „Hungers"  erzielten  sie  grosse  Gewinne  durch  die  Verteuerung 
der  Baumwolle,  und  gegen  das  Ende  des  Hungers  sollten  sie  durch 
das  Sinken  der  Löhne  gewinnen.     Und  die  Arbeiter  sollten  bei  alle- 


i)  Farnalls  Report  vom  21  Januaiy   1863.     App.  to  Annual  Report  Poor  Law  Com., 

s.  55—56. 

2)  The  Manchester  Wetkly  Times,  vom   3.  Jan.    1863. 


-      Зб8      -  . 

dem,  nach  der  Meinung  von  Gladstone,  eine  „mutvolle  Ruhe"  be- 
wahren und  die  ohnedies  schwierige  Lage  ihrer  Unternehmer  durch 
unmässige  Forderungen  nicht  noch  schwerer  gestalten. 

Indessen  waren  die  Arbeiter  selbst  anderer  Meinung.  Entgegen 
der  Erwartung  Gladstones  hörten  sie  „der  Stimme  des  Stolzes". 
Schon  seit  Ende  1862  beginnt  unter  den  Arbeitern  eine  Bewegung, 
die  die  Fabrikanten  nicht  wenig  erschreckte  und  erzürnte.  Die  Ar- 
beiter beabsichtigten  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  fortzugehen! 
Ja,  fortzugehen,  das  undankbare  Vaterland  zu  verlassen  und  so  allen 
Prüfungen  zu  entgehen,  deren  Ende  nicht  abzusehen  war.  Mit  grosser 
Beunruhigung  erfuhren  die  Lancashirer  Fabrikanten  aus  den  offiziellen 
Berichten,  dass  im  Jahre  1862  die  Zahl  der  Auswanderer,  die  sich  in 
Liverpool  einschifften,  bedeutend  gewachsen  war.  Und  dazu  wan- 
derten gerade  die  besten  Arbeiter  aus,  die  Aufseher,  die  Spinner,  die 
früher  hohe  Löhne  erhalten  hatten  und  einen  hohen  Stand  der  tech- 
nischen Fertigkeit  besassen.  Die  Fabrikanten  erblickten  eine  unange- 
nehme Perspektive  vor  sich;  wenn  nun  in  der  That  eine  Massenemi- 
gration der  Lancashirer  Arbeiter  beginnen  wollte?  Wer  wird  dann 
in  den  Fabriken  arbeiten?  Die  Arbeit  in  einer  Baumwollfabrik  er- 
fordert grosse  Vorbereitung  und  Kunstfertigkeit.  Die  Lanca- 
shirer x\rbeiter  haben  in  einer  langen  Reihe  von  Generationen  diese 
Fertigkeit  ausgebildet.  Sie  waren  Spezialisten,  Virtuosen  ihrer  Ar- 
beit. Ohne  sie  würden  die  Spinn-  und  Webemaschinen  ebenso  un- 
beholfene Massen  von  Stahl  und  Eisen  sein  wie  die  Dampfkessel 
ohne  Kohlen. 

Mittlerweile  erhielt  die  Emigrationsbewegung  eine  unerwartete 
Unterstützung.  Die  australischen  Kolonien  zeigten  die  grösste  Be- 
reitwilligkeit, die  Lancashirer  Arbeiter,  denen  es  in  der  Heimat  so 
schlecht  ging,  aufzunehmen.  Im  Januar  setzte  die  Provinz  Canterbury 
in  Neuseeland  eine  Summe  von  10  000  Pfund  Sterling  aus,  um  die 
Auswanderung  der  notleidenden  Arbeiter  aus  England  nach  dieser 
Kolonie  zu  fördern.  Das  gab  den  Anstoss  zu  einer  allgemeinen 
Bewegung  der  Lancashirer  Arbeiter  zu  Gunsten  einer  Auswanderung. 
Auf  einer  ganzen  Reihe  von  Meetings  nahmen  die  Arbeiter  ein- 
stimmig Resolutionen  zu  Gunsten  einer  Massenemigration  an.  Ein 
besonders  zahlreiches  Meeting  wurde  in  Blackburn  am  27.  Januar 
unter  dem  Vorsitz  des  Aldermanns  von  Blackburn  Cunningham  veran- 
staltet. „Die  Regierung  hat  einen  Tadel  verdient,"  sagte  einer  der 
Redner,  „weil  sie  die  Anstrengungen,  die  von  der  Aristokratie  und 
von  den  Grundbesitzern  im  ganzen  Lande  gemacht  werden,  um  die 
Lage    derer    zu    verbessern,    die    unter    der    BaumwoUkrisis    gelitten 


-      Зб9     — 

haben,  gar  nicht  unterstützt  hätte.  Die  Regierung  habe  nichts  ge- 
than,  um  den  Tausenden  von  Arbeitern  zu  helfen,  die  von  der 
Privatwohlthätigkeit  lebten.  Es  sei  die  Pflicht  der  Regierung,  in 
Perioden  eines  ausgedehnten  Notstandes,  wie  der  heutige,  für  die 
Bevölkerung  zu  sorgen,  selbst  wenn  das  nur  durch  eine  Ueber- 
siedelung  aller  überflüssigen  Arbeiter  nach  den  Kolonieen  erreicht 
werden  könnte,  wo  die  Arbeiter  Beschäftigung  finden  könnten." 

Einstimmig  wurde  die  folgende  Resolution  angenommen:  „In- 
dem die  Anwesenden  den  edlen  Anstrengungen  aller  derer,  die  zur 
Unterstützung  der  Arbeitslosen  mitgewirkt  hätten,  die  schuldige 
Anerkennung  zu  teil  werden  lassen,  fühlen  sie  sich  zugleich  ver- 
pflichtet, infolge  des  unbefriedigenden  Zustandes  der  wichtigsten 
Industrie  am  Orte,  alle  möglichen  Mittel  zu  suchen,  um  eine  be- 
deutende Zahl  überschüssiger  Arbeiter  aus  diesem  Distrikt  zu  ent- 
fernen, was  als  das  wirksamste  Mittel  gelten  dürfe,  die  Lage  der 
Arbeiter  zu  verbessern,  sowie  die  Steuerlast  und  die  iVusgaben  der 
Hilfskomitees  zu  vermindern"  i). 

Zugleich  wandte  sich  das  Meeting  mit  einem  Vorschlag  an  das 
Londoner  Komitee,  eine  Auswanderung  der  Lancashirer  Arbeiter  nach 
den  Vereinigten  Staaten  zu  organisieren.  Nach  der  Meinung  der 
Mitglieder  des  Meetings  konnte  in  einem  halben  Jahre  die  Aus- 
wanderung von  loooo  Arbeiterfamilien  aus  Lancashire  organisiert 
werden. 

Aber  für  eine  Auswanderung  waren  vor  allem  Geldmittel  er- 
forderlich, über  die  die  verelendeten  Arbeiter  Lancashires  nicht  ver- 
fügten. Damit  die  Auswanderungsbewegung  einen  weiten  Umfang 
annehme,  war  eine  direkte  Unterstützung  dieser  Bewegung  durch 
Geldmittel  erforderlich.  Man  könnte  voraussetzen,  dass  es  bei  den 
kolossalen  Summen,  die  zur  Unterstützung  der  Lancashirer  Arbeiter 
gesammelt  wurden  (während  der  ganzen  Dauer  des  „Hungers" 
wurden  ungefähr  2  Millionen  Pfund  Sterling  an  Privatspenden  auf- 
gebracht) ,  nicht  schwer  fallen  könnte ,  einen  Fonds  für  die  Aus- 
wanderung zu  bilden  Da  die  Regierungen  der  Kolonieen  gern  einen 
bedeutenden  Teil  der  Ausgaben  für  die  Auswanderung  der  englischen 
Arbeiter  auf  sich  nahmen ,  so  genügte  eine  Summe  von  einigen 
Pfund  pro  Mann,  um  den  Arbeitern  die  Möglichkeit  auszuwandern  zu 
geben.  Die  Erhaltung  der  Arbeitslosen  auf  öffentliche  Kosten  während 
vieler  Monate  war  viel  teuerer.  Und  es  unterliegt  keinem  Zweifel, 
dass,    wenn    die    Armenbehörden     und     die    Wohlthätigkeitskomitees 


i)  The  Manchester  Examiner  and  Times,  vom   28.  Jan.    1863. 
Tugan-Baran  owsky .  Die  Handelskrisen.  ^4 


—     370     — 

in  dieser  Angelegenheit  sich  durch  Erwägungen  rein  finanzieller  Art 
leiten  lassen  hätten,  sie  gern  diese  Methode,  die  Last  des  Unterhaltes 
der  Arbeitslosen  los  zu  werden,  benutzt  hätten. 

Was  die  Arbeiter  anlangt,  so  wünschten  diese  nichts  Besseres. 
Also  sollte  man  glauben,  dass  die  Organisation  der  Auswanderung 
in  weitem  Umfang  mit  grosser  Leichtigkeit  vor  sich  gegangen  wäre. 
Jedoch  nichts  Derartiges  geschah.  Trotz  der  immer  wachsenden 
Agitation  der  Arbeiter  zu  Gunsten  einer  Auswanderung  blieben  die 
Regierung  und  die  Privatwohlthätigkeitskomitees  dieser  Agitation 
gegenüber  völlig  taub.  Wenn  die  Auswanderung  für  die  Arbeiter 
der  beste  Ausweg  aus  einer  ganz  unerträglichen  'Lage  w^ar,  so  war  sie 
das  Schlimmste,  was  die  Kapitalisten  nur  befürchten  konnten.  Dem 
Drängen  der  Arbeiter  gegenüber  waren  die  Fabrikanten  entschlossen, 
alles  Mögliche  zu  thun,  um  nur  die  Auswanderung  zu  verhindern. 

In  einem  Brief  an  die  Redaktion  des  „Manchester  Daily  Exa- 
miner"  (vom  6.  Februar  1863)  bringt  der  Sekretär  der  Cotton  Supply 
Association,  Haywood,  eine  Berechnung,  wonach  die  Auswanderung 
von  50000  BaumvvoUarbeitern  für  die  „Industrie"  und  für  das  ganze 
Land  einem  jährlichen  Verlust  von  4  Millionen  Pfund  Sterling  gleich- 
käme. „Vor  zwei  Jahren,"  fährt  Haywood  fort,  „war  ein  Mangel 
an  Arbeitern  in  den  P'abriken  fühlbar.  Sobald  der  amerikanische 
Krieg  beendigt  sein  wird,  wird  jede  Spindel  und  jeder  Webstuhl  in 
Bewegung  kommen;  und  selbst  eine  partielle  Auswanderung  würde 
dazu  führen,  dass  nicht  genug  Arbeitshände  für  die  Produktion  vor- 
handen sein  würde."  Es  wäre  viel  vorteilhafter  für  die  Nation, 
während  dreier  Jahre  alle  Arbeiter  auf  öffentliche  Kosten  zu  unter- 
halten, als  ihnen  die  Möglichkeit  zu  geben,  auszuwandern.  „Die  Aus- 
wanderung der  Arbeiter  fördern  hiesse  eine  im  höchsten  Masse 
selbstmörderische  Politik  treiben,  insbesondere  trifft  das  für  die  Aus- 
wanderung der  Spinner  zu.  Die  Auswanderung  eines  Spinners 
führt  dazu,  dass  zehn  Hilfsarbeiter  arljeitslos  werden;  es  ist  viel 
schwerer,  einem  Arbeiter  die  Fertigkeit  beizubringen,  auf  einer 
Spinnmaschine  zu  arbeiten,  als  ihn  irgend  eine  andere  Fabrikarbeit 
zu  lehren." 

Wir  haben  gesehen,  dass  die  Haltung  der  Lancashirer  Fabri- 
kanten während  der  ganzen  Zeit  des  ßaumwoUhungers  ganz  konse- 
quent war  und  den  „gesunden  Prinzipien  der  politischen  Oekonomie", 
wie  man  damals  sagte,  vollkommen  entsprach.  Die  Fabrikanten  kümmer- 
ten sich  um  ihre  Interessen  und  um  nichts  weiter.  Der  Baumwollhunger 
brachte  ihnen  enorme  Gewinne  und  pauperisierte  die  Arbeiter;  trotzdem 


.iL 


—     371      — 

griffen  die  Fabrikanten,  als  die  Arbeiter  sich  an  sie  um  Hilfe 
wandten,  nur  mit  der  grössten  Unlust  in  den  Geldbeutel.  Jeder 
für  sich  und  Gott  für  uns  alle,  das  war  ihre  Devise.  Aber  nun 
wollten  die  Arbeiter  auch  einmal  an  sich  denken  und  das  Vaterland, 
wo  sie  keine  Beschäftigung  fanden,  verlassen.  Da  fingen  die 
Fabrikanten  an,  zu  wehklagen  und  sich  auf  das  Interesse  des  Landes 
zu  berufen.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  die  Arbeiter  nicht  das  Recht 
hätten,  das  Land  zu  verlassen,  da  ohne  sie  die  Fabriken  stille  stehen 
würden.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  die  Auswanderung  fördern 
„eine  selbstmörderische  PoHtik  treiben"  hiesse.  Aber  wohin  sind 
denn  die  „gesunden  Prinzipien  der  politischen  Oekonomie"  geraten? 
Ist  denn  die  „free  trade"  nicht  das  fundamentalste  von  diesen  Prin- 
zipien? Waren  denn  die  Arbeiter,  indem  sie  den  Wunsch  äusserten 
auszuwandern,  nicht  gerade  der  Regel  gefolgt,  „ihre  Ware  auf  dem 
vorteilhaftesten  Markte  zu  verkaufen"?  Warum  sollten  die  Arbeiter 
für  die  Interessen  der  Fabrikanten  sorgen,  die  eine  Erhöhung  der 
Löhne  befürchteten?  Warum  sollten  die  Wohlthätigkeitskomitees  in 
der  Auswahl  der  Form  der  Hilfe  sich  nicht  durch  die  gesunde 
kommerzielle  Berechnung  leiten  lassen,  das  grösste  Mass  von  Hilfe 
mit  der  geringsten  Summe  von  Geldmitteln  zu  leisten,  sondern  durch 
die  Rücksicht  auf  „die  bleibenden  Interessen  des  Landes",  mit 
anderen  Worten,  der  Fabrikanten? 

Wir  sehen  also,  wenn  es  an  den  Geldbeutel  herantritt, 
versagt  jede  Theorie.  Die  Fabrikanten  haben  die  ernste  Gefahr  ge- 
fühlt, die  ihnen  von  der  Auswanderung  der  Arbeiter  drohte,  und  die 
Argumente  „der  politischen  Oekonomie"  haben  für  sie  ihre  gewohnte 
Kraft  verloren. 

Der  citierte  Arnold  gerät  in  Entrüstung  über  den  Unverstand 
der  Arbeiter,  die  auf  eine  Förderung  der  Auswanderung  durch  die 
örtlichen  Wohlthätigkeitskomitees  (d.  h.  durch  die  Fabrikanten) 
hofften.  „Zu  erwarten,  dass  der  Fabrikant,  für  den  die  Arbeiter 
einen  Bestandteil  des  Kapitals  bilden,  das  in  seinen  Lancashirer 
Fabriken  angelegt  ist,  zu  der  Entfernung  der  Arbeiter  aus  dem 
Lande  beitragen  soll,  das  ist  der  Höhepunkt  des  Unsinns.  Wie 
Pharao  wäre  der  Fabrikant  eher  bereit,  vieles  zu  ertragen,  als  sein 
Volk  zu  entlassen;  er  würde  lieber  für  dieses  Volk  die  ganze  Summe 
aufbringen,  die  für  den  Unterhalt  der  Arbeitslosen  notwendig  ist, 
er  würde  lieber  drei-  oder  viermal  mehr  Steuern  für  den  Unterhalt 
der  Armen  bezahlen,  er  würde  lieber  Baumwolle  zu  jedem  beliebigen 

24* 


—     372     — 

Preise  kaufen,  um  den  Arbeitern  Beschäftigung  in  den  Fabriken  zu 
verschaffen"  ^). 

Zu  so  extremen  Massregeln  zu  greifen  lag  übrigens  keine  Not- 
wendigkeit vor.  Die  Massenauswanderung  w^ar  ohne  Geldhilfe  von 
ausserhalb  unmöglich,  der  Geldbeutel  befand  sich  aber  in  den  Händen 
der  Fabrikanten.  Man  brauchte  nur  den  Geldbeutel  geschlossen  zu 
halten,  und  die  Sache  war  erledigt. 

Alle  Versuche  der  Arbeiter,  von  den  örtlichen  Komitees  Geld 
für  die  Auswanderung  zu  erhalten,  blieben  erfolglos.  Die  privaten 
Komitees  weigerten  sich  entschieden,  in  irgend  einer  Form  die  Aus- 
wanderung zu  unterstützen.  Ebensowenig  Bereitwilligkeit,  den  Armen 
zu  helfen,  zeigten  auch  die  Armenbehörden,  obw^ohl  es  durch  Gesetz 
gestattet  wurde,  Beiträge  für  die  Auswanderung  der  Paupers  in  der 
Höhe  von   lo  Pfund  Sterling  pro  Kopf  zu  gewähren. 

Trotzdem  wuchs  die  Agitation  zu  Gunsten  der  Auswanderung 
immer  mehr  an.  Die  Arbeiter  veranstalteten  Meetings  und  reichten 
dem  Parlament  Petitionen  in  diesem  Sinne  ein.  Ein  wenig  Geld- 
unterstützung erhielt  die  Auswanderungsbewegung  von  den  Kolonieen. 
An  Neu-Seeland  schlössen  sich  Victoria  und  Queensland  an;  jede  von 
diesen  Kolonieen  setzte  je  5000  Pfund  Sterling  zu  diesem  Zwecke  aus. 
Die  Kolonialagenten  versuchten  mehrfach,  das  Manchester  Central  Execu- 
tive Comitee  zu  veranlassen,  einen  Teil  seiner  Geldmittel  für  die  Aus- 
wanderung auszusetzen.  Das  Komitee  weigerte  es  entschieden;  es 
wusste,  wie  Arnold  bemerkt,  dass,  „wenn  es  darauf  einginge,  es  sich 
in  direkten  Widerspruch  zu  den  Wünschen  fast  aller  Spendeleister 
am  Orte  setzen  würde  ■^)". 

Mittlerweile  begannen  die  Arbeiter  sich  etwas  schlechter  auf- 
zuführen. Man  hatte  zu  sehr  ihre  Vernunft  und  Ruhe  ge- 
lobt. Ende  März  1863  fanden  in  einer  ganzen  Reihe  von  kleinen 
Fabrikstädtchen  Lancashires  ernsthafte  Unruhen  statt.  Die  Unruhen 
begannen  in  der  Stadt  Staleybridge  und  wurden  dadurch  hervor- 
gerufen, dass  das  örtliche  Wohlthätigkeitskomitee  die  Unterstützung 
von  3  Schilling  4  d.  pro  Kopf  in  der  Woche  auf  3  Schilling  herab- 
setzte und  zugleich  die  Unterstützung,  die  bisher  in  Geld  angewiesen 
wurde,  zum  Teil  in  Naturalien  verabfolgte.  Diejenigen,  die  eine  Unter- 
stützung erhielten,  weigerten  sich  entschieden,  dieselbe  in  geringerem 
Umfange  anzunehmen,  gingen  auf  die  Strasse,  verjagten  die  Polizei 
und  plünderten   die    Geschäftsräume   des    Komitees.     Die    Häuser,    in 


1)  Arnold,  343—344. 

2)  Arnold,  389. 


—     373     — 

denen  die  Mitglieder  des  Komitees  wohnten,  mussten  ein  wahres 
Bombardement  von  Steinen  über  sich  ergehen  lassen.  Die  Menge 
nahm  vollkommen  von  der  Stadt  Besitz  und  plünderte  viele  Läden 
hauptsächlich  die  von  Nahrungsmitteln.  Gegen  Abend  wurde  Militär 
in  die  Stadt  citiert,  aber  nicht  in  genügender  Anzahl.  Die  Unruhen 
erneuerten  sich  während  der  folgenden  Tage  und  kamen  hauptsäch- 
lich in  der  Plünderung  von  I.äden  zum  Ausdruck.  Erst  als  Ver- 
stärkung anlangte,  gelang  es  dem  Militär,  nach  einigen  Kavallerie- 
attacken die  Strassen  der  Stadt  zu  säubern  und  die  Ordnung  wieder 
herzustellen. 

Aehnliche  Unruhen  fanden  auch  in  anderen  Städten  statt.  Die 
Menge  plünderte  die  Läden,  warf  nach  der  Polizei  mit  Steinen.  Die 
Bewegung  war  nicht  organisiert  und  verfolgte  kein  bestimmtes  Ziel 
(nur  in  Staleybridge  trugen  die  Unruhen  den  Charakter  eines  Pro- 
testes gegen  die  Handlungen  des  Wohlthätigkeitskomitees),  sie  zeigte 
nur  die  Gährung  in  der  Masse  der  Arbeitslosen ,  deren  Geduld 
erschöpft  zu  sein  schien. 

Diese  Ereignisse  beunruhigten  natürlich  die  öffentliche  Meinung 
und  die  Auswanderungsfrage  wurde  in  der  Presse  und  in  den 
I  Komitees  mit  grösserer  Leidenschaftlichkeit  als  je  zuvor  diskutiert. 
Die  Arbeiter  fuhren  fort,  dem  Parlament  und  den  Wohlthätigkeits- 
komitees Petitionen  um  Unterstützung  der  Auswanderung  einzureichen. 
Einige  Hundert  Arbeiter  Blackburns  wandten  sich  mit  derselben 
Bitte  an  das  Centralkomitee  in  London,  indem  sie  ihre  Bereitwillig- 
keit auszuwandern  erklärten.  Das  Londoner  Komitee  war  überhaupt 
viel  unabhängiger  vom  Einflüsse  der  P^abrikanten  als  die  Komitees  in 
Manchester.  Viele  von  den  Mitgliedern  desselben  drangen  darauf, 
dass  man  sofort  zur  Unterstützung  der  Auswanderung  der  Arbeiter 
5000  Pfund  Sterling  anwiese.  Andere  Mitglieder  des  Komitees  waren 
dagegen.  Nach  ihrer  Meinung  musste  „eine  bedeutende  Auswanderung 
von  Leuten,  die  in  der  wichtigsten  Industrie  Lancashires  und  Che- 
shires  beschäftigt  sind,  notwendigerweise  der  Bevölkerung  dieses 
Teiles  des  Landes  einen  ernsten  und  dauernden  Schaden  zufügen"  i). 
Zu  einem  endgiltigen  Beschluss  kam  das  Komitee  nicht. 

Sofort  nach  den  Unruhen  in  Staleybridge  erschien  in  den  Times 
ein  interessanter  Brief  des  bekannten  christlichen  Sozialisten  Kings- 
ley.  „Was  geschehen  musste",  schrieb  Kingsley,  „ist  geschehen. 
Die  Lancashirer  Arbeiter  fingen  an,  die  Unterstützung  als  ihr  Recht 
zu  betrachten,  und  es  entstanden  Unruhen.     Wie   ist  nun    der   Sach- 


i)  Manchester  Weekly  Times,  vom  28  March   1863. 


—     374     — 

verhalt?  Der  amerikanische  Krieg  ist  nicht  beendet  und  nähert  sich 
auch  nicht  seinem  Ende;  die  Baumwolle  wird  nicht  in  das  Land  im- 
portiert, der  Arbeitsmarkt  in  Lancashire  muss  einige  Jahre  hindurch 
überfüllt  bleiben.  Die  Fabrikanten  sind  geneigt,  diese  Ueberfüllung 
auszunutzen,  um  die  Löhne  herabzusetzen,  wenn  die  Arbeit  wieder 
beginnt,  und  widersetzen  sich  daher  der  Auswanderung  der  Arbeiter. 
Sie  haben  natürlich  das  Recht,  die  Ueberfüllung  des  Marktes  in 
ihrem  Interesse  auszunutzen  und  die  Arbeiter  in  England  zu  halten, 
aber  natürhch  auf  ihre  eigenen  Kosten.  Sie  haben  nicht  das  Recht, 
das  auf  fremde  Kosten  zu  thun.  Ich  bitte  die  englische  Gesell- 
schaft, den  Hilfskomitees  ein  für  alle  Mal  es  zu  verstehen  zu  geben, 
dass  sie  ein  solches  Verhalten  nicht  zulassen  w^erde,  dass  sie  es  nicht 
erlauben  werde,  dass  sich  die  Spenden  gegen  diejenigen  wenden,  für 
die  sie  gegeben  worden  sind;  dass  sie  alles  Mögliche  thun  werde,  um 
die  Lage  des  Arbeitsmarktes  in  Lancashire  zu  erleichtern,  indem  sie 
den  Arbeitern  die  Möglichkeit  geben  wird,  nach  den  Kolonieen  aus- 
zuwandern .  .  .  Wenn  aber  die  P'abrikanten  Arbeitshände  brauchen, 
so  können  sie  diese  aus  Irland  beziehen,  wie  sie  das  schon  des  (■)fteren 
zu  ihrem  grossen  Vorteil  gethan  haben  i)." 

Die  Arbeitslosenunruhen  dauerten  fort.  Ende  April  wiederholten 
sich  in  Preston  dieselben  Scenen  in  geringerem  Umfang  wie  in 
Staleybridge.  Diesmal  war  die  Bewegung  nicht  gegen  ein  Wohl- 
thätigkeitskomitee,  sondern  gegen  die  lokalen  Armenbehörden  ge- 
richtet. Die  Arbeiter  weigerten  sich,  die  Arbeit  auszuführen,  die  ihnen 
die  Behörden  verschrieben,  sie  veranstalteten  einige  Tausend  Mann 
stark  einen  Umzug  in  der  Stadt,  plünderten  einige  Läden  und  bom- 
bardierten mit  Steinen  die  Häuser,  wo  die  ihnen  unangenehmen 
Mitglieder  der  Administration  wohnten.  Es  wurde  MiHtär  herbeige- 
rufen, aber  es  kam  nicht  zu  einem  Zusammenstoss  mit  demselben. 

In  Stockport  und  Wigan  wurden  seitens  der  Arbeiter  auch 
Versuche  gemacht,  Unruhen  hervorzurufen,  aber  es  kam  nur  zu  Pro- 
testumzügen in  den  wStrassen  der  Stadt  und  zu  einigen  eingeworfenen 
Fenstern.  Das  alles  zeigte,  dass  die  Gärung  unter  den  Arbeitern 
immer  zunahm;  das  Parlament  musste  endlich  seine  Aufmerksamkeit 
darauf  lenken. 

Mit  der  Vertretung  ihrer  Interessen  im  Parlament  betrauten  die 
Arbeiter  den  Abgeordneten  Ferrand,  einen  Tory,  der  sich  ener- 
gisch an  der  Durchsetzung  des  Zehnstundengesetzes  beteiligt  hatte. 
27  Delegierte  der  Arbeiter  von  Lancashire  und  Cheshire  begaben  sich 


I)  Manchester  Weekly  Times,  vom  4  April   1863. 


—     375     — 

zu  Ferrand  mit  der  Bitte,  im  Parlament  die  Frage  der  Hilfsmass- 
nahmen  für  die  Arbeiter  aufzurollen. 

Ferrand  versprach  den  Arbeitern,  sie  zu  unterstützen,  und  löste 
sein  A^ersprechen  ehrlich  ein.  Seine  in  der  Sitzung  vom  27.  April 
zur  Verteidigung  der  Arbeiter  gehaltene  Rede  war  ein  wahrer  An- 
klageakt gegen  die  Fabrikanten.  Ferrand  wies  darauf  hin,  dass  die 
Arbeiter  keine  Vertreter  im  Parlament  hätten,  daher  sei  das  Parlament 
verpflichtet,  sich  mit  um  so  grösserer  Aufmerksamkeit  ihren  Interessen 
zuzuwenden. 

Ferrand  erinnerte  das  Parlament  an  so  viele  charakteristische 
Thatsachen  aus  der  Geschichte  der  Fabrikarbeit  in  England.  Die 
Lancashirer  Fabrikanten  zeigten  durchaus  nicht  zum  ersten  Mal  die 
Neigung,  ihre  Arbeiter  wie  Sklaven  zu  behandeln.  Anfang  der  30er 
Jahre  hätten  die  Baumwollfabriken  ihre  Produktion  so  erweitert,  dass 
ein  Mangel  an  Arbeitern  eingetreten  würde.  Was  hätten  nun  die  Fabri- 
kanten gethan?  Sie  hätten  sich  an  die  Administration  der  Armengesetze 
mit  dem  Vorschlag  gewendet,  dass  die  Kirchspiele  die  „überschüssige 
Bevölkerung"  der  landwirtschaftlichen  Distrikte  nach  Lancashire  zum 
Arbeiten  in  den  Fabriken  versetzen  möchen.  Mit  Einwilligung  der 
Administration  würden  zu  diesem  Zwecke  spezielle  Agenten  einge- 
setzt. In  Manchester  würde  ein  spezielles  Bureau  eingerichtet,  in 
dem  die  Verzeichnisse  der  Arbeitslosen  in  den  landwirtschaftlichen 
Distrikten  mitgeteilt  würden.  Die  Fabrikanten  hätten  sich  an  dieses 
Bureau  gewendet  und  die  Arbeiter  nach  ihrem  Belieben  gewählt.  Die  Ar- 
beiter würden  dann  wie  Vieh  nach  Manchester  transportiert.  Die  Sache 
hätte  den  Charakter  eines  wahren  Handelsgeschäftes.  „Dem  Parlament 
werde  es  schwer  fallen,  es  zu  glauben"  —  sagte  Ferrand  —  „er  versichere 
aber,  dass  dieser  Handel  mit  Menschenfleisch  geblüht  hätte:  die  Ar- 
beiter würden  ebenso  regelmässig  den  Fabrikanten  verkauft,  wie  die 
Sklaven  den  Plantagenbesitzern  in  den  Vereinigten  Staaten  verkauft 
würden,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  sie  nicht  versteigert  würden." 
Und  noch  vor  kurzer  Zeit,  im  Jahre  1861,  am  Vorabend  des  Baum- 
wollhungers, sei  eine  Fabrikantendeputation  nach  London  gekommen 
und  hätte,  sich  an  Villiers  mit  der  Bitte  gewendet,  die  Kinder  der 
Paupers  für  die  Lancashirer  Fabriken  benutzen  zu  dürfen.  Villiers  hätte 
geantwortet,  dass  er  die  Anschauungen  der  Deputation  vollkommen  teile 
und  nicht  daran  zweifele,  dass  ihr  Vorschlag  für  die  armen  Kinder  so- 
wohl wie  für  die  Armenbehörden  im  höchsten  Grade  von  Nutzen  sei. 

„Er  wolle  die  Lancashirer  Arbeiter,"  fuhr  Ferrand  fort,  „nicht 
über  ihr  Verdienst  loben.  Er  denke,  dass  es  dieselben  Leute  seien 
wie   in    den   Jahren    1841,    1842    und    1848.     Wenn    ein    Aufruhr   be- 


-     376     - 

ginne,  könne  niemand  seiner  Herr  werden,  und  das  Parlament  wisse, 
dass  es  einen  Aufruhr  riskiere  .  .  .  Die  Arbeiter  würden  gerne 
für  einen  ausreichenden  Lohn  eine  Arbeit  annehmen ,  aber  sie 
wollten  nicht  in  der  Lage  der  Paupers  sein;  sie  wollten  nicht 
4—  6  Stunden  täglich  für  einen  Bettellohn  arbeiten.  Sie  wollten  wie 
Engländer  behandelt  werden  .  .  .  Man  könne  nicht  erwarten,  dass 
Fabrikaufseher  und  geschickte  Arbeiter,  die  früher  hohe  Löhne  er- 
halten hätten,  die  Reinigung  v^n  Strassen,  Kanälen  und  Wasserleitungen 
gerne  übernehmen.  Sie  bitten,  dass  man  ihnen  helfe  auszuwandern, 
und  er  hoffe,  dass  der  edle  Lord  (der  Premier-Minister  Palmerstone) 
sich  ihren  Bitten  gegenüber  wohlwollend  verhalten  würde  ...  Er 
rate  den  Baumwollfabrikanten,  sich  mit  der  Bill,  betreffend  den 
8 stündigen  Arbeitstag,  einverstanden  zu  erklären.  Wenn  sie  das 
thun  würden,  werde  man  zweifellos  viele  P'abriken  öffnen  können,  die  jetzt 
geschlossen  seien  .  .  .  Die  Fabrikanten  sagten,  das  Land  habe  kein 
Recht,  von  ihnen  ein  Teilchen  ihres  Kapitals,  ihrer  Maschinen,  ihrer 
Fabriken  zu  verlangen.  Aber  sie  müssten  sich  daran  erinnern,  dass 
sie  selbst  während  der  letzten  zwanzig  Jahre  verlangt  hätten,  dass  viele 
Industriezweige  ihnen  zum  Opfer  gebracht  würden.  Und  das  würde 
erfüllt;  es  würde  ihnen  die  Seiden-  und  die  Bandindustrie  zum  Opfer 
gebracht  und  viele  Handge werbe  .  .  .  Der  verehrte  Vertreter  Roch- 
dales  (Cobden)  hätte  wiederholt  an  diesem  Orte  während  der  Beratung 
der  Korngesetze  versichert,  er  trete  für  das  Recht  des  Arbeiters  ein, 
über  seine  Arbeit  nach  seinem  Gutdünken  zu  verfügen.  Er  hätte  gesagt: 
„Ihr  habt  nicht  das  Recht,  den  Arbeiter  zu  binden.  Er  hat  eben- 
so ein  Recht  auf  PVeihandel  mit  seiner  Arbeit,  wie  wir  das  Recht 
des  Freihandels  mit  unseren  baumwollenen  Waren  haben."  Schön, 
sie  verlangten  jetzt  den  Freihandel  für  ihre  Arbeit.  Sie  verlangten, 
dass  man  ihnen  erlaube  fortzugehen.  Aber  das  Parlament  wisse, 
dass  sie  zu  arm  seien,  um  ohne  fremde  Hilfe  fortzugehen.  Ohne 
Hilfe  des  Parlaments  hätten  sie  nicht  die  Mittel,  um  fortgehen  zu 
können"  ^). 

Alle  diese  Argumente  haben  auf  die  Regierung  sehr  wenig 
Eindruck  gemacht.  Sie  lehnte  entschieden  jedwede  Unterstützung 
der  Auswanderung  ab,  drückte  aber  die  Bereitwilligkeit  aus,  sofort 
der  Organisation  von  öffentlichen  Arbeiten  in  weitem  Umfange  näher 
zu  treten,  die  arbeitslosen  erwachsenen  Männern  in  Baum  wollbezirken 
Beschäftigung  für  guten  Lohn  geben  könnten.  Villiers  erklärte, 
die  Regierung  werde  sofort  in  die  Notstandsdistrikte  einen  speziellen 


I)   Hansards  Parliamentary  Debates,   Vol.  CLXX. 


—     377      — 

Bevollmächtigten  senden  (den  Ingenieur  Rawlinson),  der  an  Ort 
und  Stelle  untersuchen  solle,  welcher  Art  Arbeiten  vorgenommen 
werden  könnten;  nach  Einholung  des  Berichtes  versprach  die 
Regierung,  sofort  dem  Parlament  eine  Bill  über  die  öffentlichen 
Arbeiten  vorzulegen. 

In  der  That  brachte  die  Regierung  schon  im  Juni  eine  Bill  ein, 
die  sie  ermächtigte,  einen  Kredit  in  der  Höhe  von  i  200000  Pfund 
Sterling  (später  wurde  diese  Summe  auf  i  850000  erhöht)  aus  den 
Mitteln  der  Staatskasse  den  Munizipalbehörden  der  Baum  wollbezirke 
zu  eröffnen  zum  Zwecke  der  öffentlichen  Arbeiten.  Die  Bill  ging 
ohne  wesentliche  Opposition  durch.  С  ob  den  verteidigte  die  Bill  und 
bekämpfte  die  Auswanderung,  indem  er  sich  darauf  berief,  dass  die 
Auswanderung  von  schweren  Folgen  für  die  Arbeiter  selbst  begleitet 
sein  Avürde.  (Aber  die  Arbeiter  waren  ja  erwachsene  Männer,  sie 
standen  für  ihre  Handlungen  voll  ein  und  konnten  selbst  darüber 
entscheiden,  ob  sie  auswandern  sollen  oder  nicht!)  Ferra nd  beharrte 
dabei,  dass  die  öffentlichen  Arbeiten  ungenügend  seien  und  verlangte 
eine  Organisation  der  Auswanderung  von  100  000  Personen,  d.  h.  von 
etwa  einem  Viertel  der  Arbeitslosen.  „Die  Arbeiter  selbst,"  erklärte 
er  bei  der  zweiten  Lesung  der  Bill  am  26.  Juni,  „seien  heute  der- 
massen  bestrebt  auszuwandern,  dass,  wenn  genügend  wSchiflfe  für  die 
Auswanderung  \^rhanden  wären,  die  gesamte  Fabrikbevölkerung 
jenseits  des  Oceans  fliehen  würde.  Wer  könnte  es  wagen,  die  un- 
bestreitbare Thatsache  zu  leugnen,  dass  die  Arbeiter  auswandern 
wollten?  Wer  widersetze  sich  aber  diesen  Wünschen?  Die  Herren 
Villiers  und  С  ob  den,  dieselben  Herren,  die  früher  Führer  der  Liga 
zur  Abschaffung  der  Korngesetze  gewesen  wären  und  die  heute  die  Inter- 
essen der  Fabrikanten  verteidigten,  welche  miteinander  festen  Bund  ge- 
schlossen hätten,  um  die  Auswanderung  zu  verhindern!  Die  Arbeiter 
seien  des  Hungers  und  der  Armut  müde,  sie  erbitten,  um  auswandern 
zu  können,  nur  eine  einzige  Million  von  den  vielen  Millionen,  die, 
wie  vor  kurzer  Zeit  der  Finanzminister  (Gladstone)  rühmend  hervor- 
gehoben hätte,  in  den  letzten  Jahren  durch  ihre  Arbeit  dem  Reichtum 
des  Landes  hinzugefügt  worden  seien." 

Die  anderen  konservativen  Abgeordneten  haben  diese  Gelegen- 
heit benutzt,  um  ihre  alten  Kämpfe  mit  den  Freihändlern  zu  erneuern. 
Der  Abgeordnete  Bentinck  wiesineiner  langen  Rede  darauf  hin,  dass  die 
Versprechungen  der  Free-Traders  nicht  in  Erfüllung  gegangen  seien  und 
dass  der  Freihandel  ein  grausames  Fiasko  erlitten  habe,  da  das  Parlament 
jetzt  über  die  Frage  der  Unterstützung  der  Fabrikbevölkerung  be- 
raten müsse,  die  eine  beispiellose  Not  leide:  „Die  grossen  Fabrikanten 


-     378     - 

Lancashires,"  sagte  Bentinck,  „seien  gegen  diese  Auswanderung, 
weil  eine  solche,  nach  ihrer  Meinung,  im  Falle  einer  Belebung  der 
Baumwollindustrie,  einen  Mangel  an  Arbeitern  hervorrufen  würde. 
Andererseits,  behaupteten  Leute,  die  mit  der  Sache  besser  vertraut 
seien,  dass  die  Auswanderung  für  die  Arbeiter  das  einzige  Rettungs- 
mittel sei"i). 

Zu  Gunsten  der  Auswanderung  sprach  sich  auch  Adderley 
aus,  aber  die  Annahme  der  Regierungsvorlage  wurde  durch  diese 
Opposition  nicht  verhindert.  Indessen,  während  im  Parlament  über 
die  Frage  der  Unterstützung  der  Lancashirer  Arbeiter  verhandelt 
wurde,  fing  der  Notstand  an,  sich  ohne  Hilfe  von  irgend  einer  Seite 
zu  vermindern;  obwohl  die  Blockade  der  südlichen  Staaten  fortdauerte, 
obwohl  die  amerkanische  Baumwolle,  wie  früher,  für  den  englischen 
Fabrikanten  beinahe  unzugänglich  war,  nahmen  viele  Baumwoll- 
fabrikanten  die  Arbeit  wieder  auf,  indem  sie  die  amerikanische 
Baumwolle  durch  indische,  ägyptische  und  andere  Sorten  ersetzten, 
deren  Zufuhr  um  ein  Mehrfaches  zunahm.  Die  schwerste  Zeit  war 
vorbei.  Im  Sommer  1863  erhielten  bereits  gegen  die  Hälfte  der 
Baumwollarbeiter  wieder  Arbeit  in  den  Fabriken.  Die  öffentlichen 
Arbeiten,  die  im  Herbst'  begannen,  konnten  keine  grosse  Bedeutung 
für  die  Verminderung  der  Arbeitslosigkeit  haben,  da  sie  nur  einigen 
Tausend  Personen  Arbeit  gewährten.  Trotzdem  sank  die  Zahl  der 
Personen,  die  öffentliche  Unterstützung  erhielten,  wie  das  aus  den 
folgenden   Zahlen  zu  ersehen  ist: 

Anzahl  der  Personen,  die  regelmässig  unterstützt  wurden-): 

Januar 456  786 

Februar 440  529 

März 426  411 

April 364419 

Mai 294  281 

Juni 256  230 

September 184  625 

Dezember 180  900  1 

Der  Baumwollhunger  nahte  sich  seinem  Ende.  Es  ist  interes- 
sant, dass  die  Ausgaben  für  die  Unterstützung  der  Arbeitslosen 
hauptsächlich  durch  private  Spenden  gedeckt  waren.  Bis  zum 
30.  Juni  sind  private  Spenden  in  der  Höhe  von  insgesamt  1974203 
Pfund  Sterling  gesammelt  worden;  die  Mehrausgaben  für  den  Unter- 
halt der  Armen  in  den.  Baumwollbezirken  erreichten  aber  in  derselben 
Zeit  ungefähr  625000  Pfund  Sterling.     Der  bei  weitem  grössere  Teil 

i)  Hansards  Parliamentary  Debates,   Vol.  CLXX. 

2)  Annual   Register   1863.     The  Distress  in  tlie  Cotton  Manufacturing  Districts. 


—     379     — 

von  Privatspenden  wurde  ausserhalb  der  Baumwollbezirke  gesammelt, 
in  diesen  letzteren  hatte  die  Subskription  insgesamt  626433  Pfund 
Sterling  ergeben  ^). 

Die  öffentlichen  Arbeiten  begann  man  zu  einer  Zeit,  wo  das 
grösste  Bedürfnis  nach  ihnen  schon  vorbei  war.  Die  Arbeiten  be- 
standen hauptsächlich  in  der  Durchlegung  und  Pflasterung  neuer 
Strassen,  in  der  Anlage  von  Kanälen  und  Wasserleitungen,  in  dem 
Bau  von  Parkanlagen  u.  s.  w.  Besonders  achtete  man  darauf,  dass, 
indem  man  den  Arbeitslosen  Beschäftigung  verschaffte,  doch  nichts 
unternommen  wurde,  was  den  betreffenden  Gegenden  nicht  zugleich 
zu  gute  kam.  Und  wie  es  scheint,  wurde  diese  Aufgabe  mit  vollem 
Erfolge  gelöst.  Nach  allgemeiner  Anerkennung  haben  sich  die 
öffentlichen  Arbeiten  in  Lancashire,  die  erst  im  Jahre  1866  abge- 
schlossen wurden,  als  sehr  nützlich  für  das  Land  erwiesen.  Die 
Geldmittel,  die  für  diese  Arbeiten  vom  Staate  verausgabt  worden 
waren,  wurden  von  den  Gemeinden,  die  es  geliehen  bekommen 
hatten,  pünktlich  zurückbezahlt.  Im  ganzen  haben  sich  an  diesen 
Arbeiten  8324  Arbeiter  beteiligt,  die  mit  ihren  Familien  eine  Be- 
völkerung von  30 — 40000  Personen  repräsentierten. 

Der  Leiter  der  öffentlichen  Arbeiten,  Rawlinson,  sagt  von 
diesen:  „vSie  haben  einigen  Tausenden  nüchterner  und  energischer 
Leute  eine  nützliche  Beschäftigung  verschafft.  Viele  von  diesen  Leuten 
haben  neue  Arbeiten  erlernt  und  sind,  dank  der  Arbeit  unter  freiem 
Himmel,  gesunder  und  stärker  geworden.  Manche  sind  zu  ihrer 
früheren  Beschäftigung  zurückgekehrt,  viele  sind  nach  anderen 
Gegenden  ausgewandert  und  finden  einen  Erwerb  durch  Arbeit 
ausserhalb  des  Fabrikgebäudes,  andere  fahren  hier  am  Orte  mit  ihrer 
neuen  Arbeit  fort  und  wollen  nicht  mehr  in  die  Fabrik  zurück- 
kehren" 2). 

Obwohl  die  akute  Periode  des  Baumwollhungers  im  Jahre  1863 
beendigt  war,  dauerte  die  Abeitslosigkeit  doch  noch  viele  Monate 
fort.  Zum  Sommer  1864  erhielten  noch  immer  mehr  als  100  000  Per- 
sonen eine  Unterstützung  seitens  der  Armenbehörden. 

Es  ist  höchst  wahrscheinlich,  dass,  wenn  vom  ^Sommer  1863  an 
die  Arbeitslosigkeit  unter  dem  Einflüsse  der  Wiederaufnahme  der 
Fabrikarbeiten  keine  Einschränkung  erfahren  hätte,  die  Lancashirer 
Arbeiter  eine  Organisation  der  Auswanderung  in  grossen  Stil  vom 
Parlament     erzwungen    haben     würden.      Die      öffentliche    Meinung 


i)  Arnold,  493,  98. 

2)  Report  of  Robert  Rawlinson   vom   12.  June  1866. 


■       —     з8о     - 

neigte  sich  der  Auswanderung  zu  als  dem  einzigen  Mittel,  ernst- 
haften Unruhen  in  Lancashire  vorzubeugen.  Das  Londoner 
Komitee,  das  unter  dem  Vorsitze  des  Lord  Mayors  tagte, 
bewilligte  schliesslich  5000  Pfund  Sterling,  die  als  Anfang  eines 
speziellen  Auswanderungsfonds  dienen  sollten.  Einige  Tausend 
Fabrikarbeiter  wurden  mit  Hilfe  von  Kolonialagenten  aus  Lancashire 
nach  verschiedenen  australischen  Kolonieen  geschickt.  Aber  einen 
grossen  Umfang  hat  die  Emigrationsbewegung  aus  Lancashire  nicht 
angenommen,  weil  die  Lancashirer  Fabriken  endlich  ihre  Thüren 
öffneten,  die  Maschinen  wieder  in  Bewegung  kamen  und  die  Arbeiter 
wieder  Zutritt  zur  Arbeit  erhielten,  die  ihnen  so  lange  Zeit  vorent- 
halten gewesen  war.  Die  Fabrikanten  wurden  von  dem  schreck- 
lichen Alpdruck  des  „Massenausgangs"  der  Arbeiter,  der  sie  viele 
Monate  lang  bedrückt  hatte,  befreit,  und  alles  begann  nun  allmählich 
wieder  in  das  frühere  Geleis  zurückzukehren.  Die  Zahl  der  Aus- 
wanderer aus  dem  Vereinigten  Königreich  wuchs  im  Jahre  1864  im 
Vergleich  zu  dem  vorangegangenen  Jahr  sehr  stark  (im  Jahre  1863 
betrug  die  Gesamtzahl  der  aus  dem  Vereinigten  Königreich  aus- 
gewanderten britischen  Unterthanen  97763,  im  Jahre  1864  aber 
192864),  jedoch  diese  Zunahme  der  Auswanderung  wurde  nur  in  un- 
bedeutendem Masse  durch  die  Zunahme  der  Auswanderung  der 
Lancashirer  Fabrikbevölkerung  hervorgerufen.  Es  hat  nämlich  nach 
einer  von  dem  Unterstützungskomitee  in  Manchester  angestellten 
Berechnung  die  in  der  Lancashirer  Baumwollindustrie  beschäftigte 
Arbeiterbevölkerung  im  Jahre  1863  um  33969  abgenommen,  wobei 
18244  ausgewandert  oder  nach  anderen  Gegenden  des  Landes  über- 
gesiedelt sind  und  15725  eine  andere  Beschäftigung  am  Orte  gefunden 
haben.  Das  bedeutende  Wachstum  der  Auswanderung  im  Jahre  1863 
findet  seine  Erklärung  hauptsächlich  in  der  ausserordentlichen  Zu- 
nahme der  irischen  Auswanderung,  wie  das  aus  einem  Ueberblick 
über  die  Nationalität  der  Auswanderer,  die  sich  in  Liverpool  ein- 
geschifft haben,  zu  ersehen  ist^). 

1862  1863 

Engländer 13  185  28  548 

Schotten 830  3  176 

Iren 22418  61312 

36  433  93  036 

Aber  selbst  die  unbedeutende  Auswanderung  der  Baum- 
wollarbeiter, die  stattfand,  ist  nicht  ohne  einen  gewissen  Einfluss  auf 
den    Arbeitsmarkt    in    den    Baum  wollbezirken    geblieben.      Schon    im 


i)  Reports  of  Inspectors  of  Factories,  31.  Oct.   1863,  S.  93. 


-     38i     - 

Jahre  1865  wurden  aus  vielen  Gegenden  Klagen  der  Fabrikanten 
über  einen  Mangel  an  Arbeitern  und  über  die  Notwendigkeit,  die 
Löhne  zu  erhöhen,  laut.  So  teilt  der  Fabrikinspektor  Jones  in  diesem 
Jahre  mit:  „Als  Hauptursache  des  Mangels  an  Arbeitshänden  (in  Bol- 
ton)  kann  man  die  Auswanderung  aus  Bolton  betrachten,  die  zur 
Zeit  des  Beginns  der  Panik  stattgefunden  hat  .  .  .  die  Löhne  stiegen 
überall,  ohne  dass  sich  die  Unternehmer  dem  sehr  widersetzten".  In 
Stockport  war  gleichfalls  ein  Mangel  an  Arbeitern  fühlbar,  und  die 
Unternehmer  mussten  die  Löhne  erhöhen.  Aus  Burnley  wurden  auch 
Mitteilungen  über  Lohnerhöhungen  gemacht  u.  s.  w.  ^). 

Die  Arbeiter  waren  also  der  neuen  „Prüfung"  entgangen,  die 
ihnen  ihr  guter  Freund  Gladstone  vorausgesagt  hatte,  und  die  in 
der  Geschichte  Englands  beispiellose  Arbeitslosigkeit,  die  durch  den 
Baumwollhunger  hervorgerufen  war,  hat  nicht  zu  einem  dauerndem 
Sinken  der  Lebenshaltungen  des  Lancashirer  Arbeiters  geführt. 


i)  Reports  of  Inspectors  of  Factories,  30  Apr.    1865,  S.    19 — 20. 


KAPITEL  IV. 

Die  neuesten  Arbeitslosenbewegungen. 


Die  Arbeitslosigkeit  in  den  70  er  Jahren.  —  Die  Streiks  der  Baumwollarbeiter  im 
Jahre  1878.  —  Der  Rückgang  des  Trade  Unionismus.  —  Neue  Richtungen  in  der  Arbeiter- 
bewegung Englands  seit  den  80er  Jahren.  —  Die  Arbeitslosigkeit  in  der  80er  Jahren.  — 
Die  Agitation  der  ,, Sozial-demokratischen  Federation".  —  Die  Unruhen  in  London  am 
8.  Februar  1886.  —  Die  Steigerung  des  Einflusses  der  „Sozial-demokratischen  Federation". 
—  Die  Arbeitslosenmeetings  auf  dem  Trafalgar  Square.  —  Der  „blutige  Sonntag".  —  Die 
Arbeitslosigkeit  in  den  90  er  Jahren.  —  Die  Arbeitslosenmeetings.  —  Die  öffentlichen 
Arbeiten.  —  Die  Streiks.  —  Die  Arbeitslosenzählungen. 

Die  Arbeitslosigkeit  der  70er  Jahre,  die  ihren  Höhepunkt  in  den 
Jahren  1878 — 1879  erreichte,  hat  keine  bedeutende  Arbeitslosenbe- 
wegung hervorgerufen.  Trotzdem  zeugte  der  Verlauf  der  Streiks 
in  Lancashire  im  Jahre  1878  von  einer  Gärung  und  bedeutenden 
Erregung  der  Volksmassen  unter  dem  Einfluss  des  lange  andauernden 
Notstandes.  So  haben  in  Blackburn  Anfang  Mai  jenes  Jahres  ernste 
Arbeiterunruhen  in  den  Baumwollfabriken  stattgefunden,  als  Folge 
eines  unglücklichen  Streiks,  der  durch  die  Ankündigung  einer  Herab- 
setzung der  Löhne  seitens  der  Unternehmer  herbeigeführt  wurde. 
x\ls  es  sich  herausstellte,  dass  die  Unternehmer  die  von  den  Ar- 
beitern aufgestellten  Bedingungen  nicht  annehmen  wollten,  stürzte 
sich  ein  Haufen  von  einigen  Tausend  Arbeitern  auf  die  Fabriken 
und  schlug  deren  Fenster  ein.  Das  Haus  eines  Fabrikanten,  des 
Vorsitzenden  der  örtlichen  Fabrikantenassociation ,  wurde  verbrannt. 
Die  Polizei  konnte  mit  den  Streikenden  nicht  fertig  werden ,  sie 
musste  Militär  zu  Hilfe  rufen.  In  einer  anderen  Lancashirer  Stadt, 
in  Burnley ,  wurde  gleichfalls  ein  Laden  verbrannt ,  im  Flecken 
Oswaldtwhistle  überfielen  die  Arbeiter  das  Haus  eines  Fabrikanten, 
und  die  Polizei  gab  Feuer,  wobei  5  Mann  verwundet  wurden. 

Der  Riesenstreik  der  Baumwollarbeiter  im  Jahre  1878  ist  auch 
dadurch  bemerkenswert,  dass  in  ihm  der  Gegensatz  im  Verhalten  der 
Arbeiter   und   der  Unternehmer   den  Krisen    gegenüber  mit  Klarheit 


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zum  Ausdruck  kam.  Die  Arbeiter  willigten  nämlich  in  eine  Herab- 
setzung der  Löhne  ein,  aber  nur  unter  der  Bedingung,  dass  die  Ar- 
beit in  den  Fabriken  auf  4  Tage  in  der  Woche  beschränkt  werde. 
Die  Einschränkung  der  Produktion  war  nach  der  Meinung  der  Ar- 
beiter notwendig,  um  den  Markt  von  einer  Ueberfüllung  mit  unver- 
kauften Waren  zu  bewahren.  Dagegen  beharrten  die  Fabrikanten 
auf  einer  Herabsetzung  der  Löhne  ohne  jedwede  Einschränkung  der 
Produktion,  da  sie  bei  einer  Einschränkung  der  Produktion  durch 
das  müssig  stehende  Kapital  Schaden  litten.  Die  Arbeiter  erliessen 
im  Juni  1878  ein  Manifest,  in  dem  sie  unter  anderem  das  Folgende 
erklärten:  „Die  Unternehmer  schlagen  eine  Lohnreduktion  bis  zum 
Belauf  von  10%  ^^^-  Wir  auf  der  anderen  Seite  haben  behauptet, 
dass  eine  Reduzierung  der  Lohnsätze  weder  die  überschüssigen  Stoffe 
vom  Markt  hinwegräumen  noch  uns  über  die  Schwierigkeit  hinw^eg- 
helfen  könne,  die  aus  der  begrenzten  Zufuhr  des  Rohmaterials  er- 
wachsen. Indes  dies  war  die  Theorie  der  Unternehmer,  und  wir 
haben  in  verschiedenen  Phasen  des  Kampfes  die  folgenden  Vor- 
schläge gemacht,  als  Basis  für  die  Schichtung  dieses  höchst  unheil- 
vollen Kampfes:  i.  Eine  Lohnreduzierung  von  10%  bei  4  Tagen  Ar- 
beit die  Woche,  oder  von  5  ^Д  bei  einer  Arbeitswoche  von  5  Tagen, 
bis  die  Ueberfüllung  des  Tuchmarktes  und  die  durch  den  Baumwoll- 
mangel  hervorgerufenen  Schwierigkeiten  hinweggeräumt  sind"^). 

Die  Arbeitslosigkeit  war  so  stark,  dass  im  Dezember  1878  in 
j  Manchester  allein  gegen  40000  Personen  von  einem  privaten  Hilfs- 
I  komitee  Unterstützung  erhielten.  Aehnliche  Komitees  bildeten  sich 
in  Liverpool,  Bristol,  Exeter,  Wolverhampton,  Southampton,  Birken- 
head,  Ashton  (under  Lyne)  und  anderen  Städten.  In  Cheadle  und 
Congleton  war  mindestens  die  Hälfte  der  Arbeiter  beschäftigungslos, 
und  die  Mehrzahl  der  übrigen  arbeitete  nicht  volle  Zeit.  Im  südlichen 
Staifordshire  und  im  östlichen  Worcestershire  arbeiteten  nur  40  von 
160  Hochöfen  und  130  Eisenfabriken  standen  still"^).  Sidney  und 
Beatrice  Webb  sagen,  dass  „die  Jahre  1878  — 1880  in  fast  allen  Ge- 
werben eine  grosse  Zunahme  in  der  Zahl  der  Streiks  sahen,  von  denen  die 
meisten  mit  völliger  Niederlage  der  Arbeiter  endigten.  Einschneidende 
Lohnreduktionen  erfolgten  in  allen  Industrieen  ^)".  Das  Sinken  der 
Löhne  wurde  nicht  selten  von  Лпег  Verlängerung  des  Arbeitstages 
begleitet.     Einige  Hundert  Gewerkschaften  hörten  auf  zu   existieren, 


i)  Sidney  und  Beatrice  Webb,  Die  Geschichte  des  Britischen  Trade-Unionismus. 
j      Deutsch  von  R.  Bernstein,  S.   291. 

2)  Annual  Register,    1878. 

3)  Die  Geschichte  der  Britischen  Irade-Unionismus,  S.   293. 


-      384      - 

weil  sie  nicht  imstande  waren,  ihren  arbeitslosen  Mitgliedern  Unter- 
stützung zu  gewähren.  „In  der  That  markierte  das  Jahr  1879  so 
ausgesprochen  den  Tiefstand  der  Gewerkschaftsbewegung,  wie  die 
Jahre  1873  und  1874  die  Hochflut  der  Prosperität  bezeichnet  hatten. 
Die  ökonomischen  Prüfungen,  die  der  Trade-Unionismus  187g  durch- 
machte, können  nur  mit  denen  verglichen  werden,  die  er  in  den  Jahren 
1839 — 1842   überstehen  musste  i)". 

Aber  wie  schwer  die  Leiden  auch  gewesen  waren,  die  von  den 
englischen  Arbeitern  Ende  der  70er  Jahre  ertragen  wurden,  so  haben 
sie  doch  keine  politische  Bewegung  unter  den  englischen  Arbeitern 
hervorgerufen.  Die  70er  Jahre  waren  nach  Sidney  und  Beatrice 
Webb  die  Zeit  der  vollständigen  Herrschaft  des  Liberalismus  in 
den  Köpfen  der  englischen  Arbeiter.  Der  englische  Arbeiter  war 
von  dem  Glauben  an  die  Unfehlbarkeit  des  Prinzips  des  laisser-faire 
auf  dem  politischen  wie  auf  dem  sozialen  Gebiete  durchdrungen.  Die 
industrielle  Depression  der  80 er  Jahre  machte  diesem  Glauben  ein 
Ende.  Seit  dieser  Geschäftsstockung  beginnt  eine  neue  Epoche  in 
der  Geschichte  der  englischen  Arbeiterbewegung. 

„Vor  10  Jahren,"  schrieben  Sidney  und  Beatrice  Webb  im 
Jahre  1894,  „waren  alle  Beobachter  darin  einig,  dass  die  Trade-Unions 
von  Grossbritannien  einen  undurchdringlichen  Schutzwall  gegen  die 
sozialistischen  Pläne  bilden,  würden.  Heute  finden  wir  die  ganze 
Trade-Unionswelt  von  kollektivistischen  Ideen  durchsetzt  und,  wie  die 
„Times"  feststellt,  die  Gewerkschaftskongresse  von  der  sozialistischen 
Partei  beherrscht.  Diese  Revolution  in  den  Ansichten  ist  das  Haupt- 
ereignis in  der  Gewerkschaftsgeschichte  der  jüngsten  Zeit  2)". 

Und  zwar  hat  diese  Revolution  zur  Zeit  der  Geschäfts- 
stockung der  80  er  Jahre  stattgefunden.  Unter  den  rein  ideellen  Ein- 
flüssen schreiben  Sidney  und  Beatrice  Webb  dem  Buche  Georges 
„Fortschritt  und  Armut"  eine  besondere  Bedeutung  zu.  Der  Einfluss 
dieses  Buches  wurde  noch  verstärkt  durch  die  persönliche  Agitation 
Georges  während  seines  Aufenthalts  in  England  in  den  Jahren 
1884— 1885. 

Am  17.  Januar  1885  versammelten  sich  auf  dem  Platze  vor  der 
Londoner  Börse  gegen  2000  Personen,  um  Henry  George  zu  hören, 
der  versprochen  hatte,  ein  Mittel  zu  zeigen  um  die  Arbeitslosigkeit 
zu  bekämpfen.  Die  Rede  Henry  Georges  war  ebenso  geistreich  und 
schön  wie  alles,  was  er  sprach  und  schrieb.    „Es  ist  darauf  hingewiesen 


i)  A.  a.  o.,  S.  295. 

2)  A.  a.  O.,  S.  318. 


-     385     - 

worden  —  sagte  er  —  dass  gegen  ein  Siebentel  der  Erdkugel 
der  britischen  Flagge  unterthan  ist.  Das  ist  wahr,  doch  werde  ich 
sagen,  wie  Tiberiiis  Gracchus  den  Römern  vor  2000  Jahren  gesagt 
hatte:  „Männer  Roms,  man  nennt  Euch  Gebieter  der  ganzen  Welt, 
und  doch  giebt  es  keinen  .einzigen  Zoll  Erde,  den  Ihr  Euer  Eigen 
nennen  könntet!"  Was  für  Rechte  haben  sie  in  England?  (Zurufe 
aus  der  Menge:  „gar  keine!")  Ja,  gar  keine,  ausser  dem  Rechte,  sich 
selbst  Tag  für  Tag,  Monat  für  Monat,  Jahr  für  Jahr  zu  verkaufen. 
Dieses  Meeting  ist  zusammengetreten,  um  Klarheit  über  die  Frage 
der  Geschäftsstockung  zu  gewinnen.  Es  ist  die  Zeit  gekommen,  wo 
die  Leute  auf  den  Strassen  und  in  den  Werkstätten  dieser  P>age 
ihre  Aufmerksamkeit  zuwenden  und  sich  mit  ihr  beschäftigen  müssen. 
Man  darf  sie  nicht  den  königlichen  Kommissionen,  den  gelehrten 
Professoren  überlassen  .  .  .  Kann  man  darüber  im  Zweifel  sein, 
worin  die  Ursachen  der  Geschäftsstockung  liegen?  Die  Leute  der 
Klasse,  die  ich  erwähnt  habe,  weisen  auf  die  Ueberproduktion  als  auf 
die  Ursache  der  Geschäftsstockung  hin.  Aber  die  Ueberproduktion 
ist  Unsinn.  Es  sind  nicht  zu  viele  Produkte  vorhanden.  In  dieser 
Versammlung  giebt  es  keinen  einzigen,  der  nicht  mehr  Reichtum 
haben  wollte,  als  er  hat;  warum  häufen  sich  denn  die  Waren  in  den 
Läden  an?  Einfach  aus  dem  Grunde,  weil  die  Leute,  die  sie  brauchen, 
sie  nicht  kaufen  können.  Sie  haben  nichts,  womit  sie  sie  bezahlen 
könnten,  weil  sie  keine  Arbeit  haben.  Und  warum  haben  sie  keine 
Arbeit?  Weil  die  Produktivkräfte  der  Natur,  der  Grund  und  Boden 
für  sie  unzugänglich  sind." 

Das  Meeting  nahm  eine  Resulution  an,  in  der  es  hiess,  dass 
die  Arbeitslosigkeit  „eine  Folge  davon  sei,  dass  die  Leute  des  gleichen 
Rechts  auf  die  von  Gott  geschaffenen  Produktivkräfte  beraubt  seien'*, 
und  dass  „die  Anwesenden  sich  verpflichteten,  mit  allen  Mitteln  für 
das  ganze  Volk  das  ihm  angeborene  Recht  auf  Grund  und  Boden 
zu  verlangen  ^)". 

Dieses  Meeting  leitete  nun  eine  Reihe  von  anderen  Arbeits- 
losenmeetings ein,  die  einen  mehr  stürmischen  Charakter  trugen. 

Am  16.  Februar  begaben  sich  die  Arbeitslosen  in  einer  Anzahl 
von  3—4000  Personen  in  einem  Umzug  die  Ufer  der  Themse  entlang 
zum  Parlamentsgebäude  mit  Fahnen,  auf  denen  Sprüche  geschrieben 
waren,  wie:  „Freiheit,  Gleichheit  und  Brüderhchkeit,"  „Vox  popuh, 
vox  Dei"  u.  s.  w. 


l)  The  Times  vom    19.  Januar    1885. 
Tugiin-ßaranowsky  ,  Die  Haudelskiisen.  25 


—     386     — 

Die  Polizei  wollte  die  Menge  nicht  an  das  Gebäude  des 
Ministeriums  der  Lokalverwaltung  heranlassen,  aber  die  Menge  brach 
sich  Bahn  und  bestand  darauf,  dass  ihre  Deputation  von  Russell, 
dem  Parlamentssekretär  des  Ministeriums,  empfangen  wurde.  Die 
Deputation  bat  die  Regierung,  sie  möge  die  lokalen  Behörden  ver- 
anlassen, öffentliche  Arbeiten  zu  organisieren  und  die  Arbeitszeit  in 
allen  Staatswerkstätten  zu  verkürzen.  Während  der  Unterhandlungen 
mit  Russell  brachte  die  Menge  Hochrufe  auf  die  soziale  Revolution 
aus  und  versuchte,  jedoch  ohne  Erfolg,  in  das  Gebäude  einzudringen. 

Nur  mit  grosser  Mühe  gelang  es  der  Polizei,  die  Strassen  vor 
dem  Gebäude  des  Ministeriums  zu  säubern.  Als  die  Deputation 
zurückgekehrt  war  und  mitgeteilt  hatte,  dass  Russell  sich  geweigert 
habe,  irgend  welche  Versprechungen  abzugeben,  nahm  das  Meeting 
die  folgende,  von  John  Burns  vorgeschlagene,  Resolution  an:  „Das 
Arbeitslosenmeeting  sieht,  nachdem  es  die  Antwort  gehört  hat,  die 
seiner  Deputation  vom  Ministerium  der  Lokalverwaltung  gegeben 
wurde,  in  der  Weigerung,  öffentliche  Arbeiten  zu  organisieren,  ein 
Todesurteil  für  Tausende  von  Arbeitslosen  und  hält  Russell  und  die 
einzelnen  Mitglieder  der  Regierung  einzeln  und  in  ihrer  Gesamtheit 
für  schuld  an  dem  Morde  derer,  die  während  der  nächsten  Wochen 
sterben  können  und  deren  Leben  noch  gerettet  werden  könnte, 
wenn  die  Regierung  entsprechend  dem  Vorschlag  der  Deputation 
gehandelt  hätte^'^). 

Am  i6.  März  wurde  in  London  unter  dem  Vorsitz  des  Lord 
Mayors  ein  Komitee  gebildet  zum  Zwecke  der  Untersuchung  der 
Ursachen  der  Arbeitslosigkeit  und  der  Mittel,  mit  denen  den  Arbeits- 
losen geholfen  werden  könnte.  Dem  Komitee  traten  als  Mitglieder 
der  Kardinal  Manning,  der  bekannte  Nationalökonom  Howell 
und  viele  andere  bei.  Das  Komitee  legte  nach  einem  Jahr  einen 
Bericht  über  die  Londoner  Arbeitslosigkeit  vor,  unternahm  aber 
keine  praktischen  Schritte. 

Die  Arbeitslosigkeit  nahm  aber  beständig  zu.  Auf  dem  inter- 
nationalen Gewerkschaftskongress  vom  Jahre  1886  beschrieb  James 
Mawdsley,  der  vorsichtige  und  massige  Führer  der  Baumwollspinner 
von  Lancashire,  die  Lage  der  englischen  Arbeiter  in  folgenden 
Worten:  „Die  Löhne  seien  gesunken  und  eine  Menge  Arbeiter  ohne 
Beschäftigung  .  .  .  Alltäglich  würden  Flachsspinnereien  geschlossen  .  .  . 
Sämtliche  Baugewerbe  befänden  sich  in  schlechter  Lage  .  .  .  Die 
Eisen giessereien    hätten    mit    Schwierigkeiten    zu    kämpfen,    und    ein 

1)  The  Times  \om    17.  Februar    1885. 


-      3^7      - 

Drittel  der  Schiffszimmerleute  seien  ohne  Beschäftigung  .  .  .  Die 
Dampfmaschinenfabrikation  sei  ebenfalls  flau  .  .  .  Angesichts  der  so 
gestiegenen  Zahl  von  Arbeitslosen  drehe  sich  die  ganze  Frage  natür- 
lich darum,  ob  irgend  welche  Aussicht  auf  Besserung  vorhanden  sei. 
Ihm  scheine  es,  dass,  so  lange  der  gegenwärtige  Gesellschaftszustand 
zu  bestehen  fortfahre,  keine  Aussicht  auf  Besserung  vorhanden  sei"  ^). 

Während  des  ganzes  Jahres  1886  fanden  fortgesetzt  Arbeits- 
losendemonstrationen statt.  Gleich  zu  Beginn  des  Februar  begab 
sich  eine  Deputation  vieler  Arbeiterverbände  zum  Lord  Mayor  mit 
der  Bitte,  eine  Subskription  zu  Gunsten  der  Arbeitslosen  zu  eröffnen. 
Der  Lord  Mayor  willigte  ein,  und  die  Subskription  wurde  sofort 
eröffnet. 

Und  es  war  in  der  That  notwendig,  etwas  zu  Gunsten  der 
Arbeitslosen  zu  unternehmen,  wie  das  die  Ereignisse  der  nächsten 
Tage  zeigten.  Am  8.  Februar  veranstalteten  einige  Arbeiterorgani- 
sationen, die  Beziehungen  mit  den  Tories  unterhielten  und  der  Liga 
zum  Zwecke  der  Abschaffung  des  Freihandels  angeschlossen  waren, 
ein  Meeting  auf  dem  Trafalgar  Square.  Aber  das  Meeting  nahm  einen 
ganz  anderen  Charakter  an,  als  seine  Veranstalter  erwarteten.  Um 
die  Nelsonsäule  versammelte  sich  eine  enorme  Monge  von  einigen 
Zehntausend  Leuten,  der  übrige  Teil  des  Platzes  war  von  Zuschauern 
überfüllt.  Die  meisten  von  den  Versammelten  hatten  durchaus  keine 
Neigung,  die  protektionistischen  Resolutionen  der  Veranstalter  des 
Meetings  zu  unterstützen;  die  Tribünen,  von  denen  die  Redner 
sprachen,  wurden  umgeworfen,  und  die  Freunde  der  „Sozialdemo- 
kratischen Federation'^  wurden  die  Herren  des  Meetings.  Als  Ver- 
treter der  „Federation"  sprachen  Burns,  Hyndman,  Champion  u.a. 
Nach  Beendigung  des  Meetings  entfernte  sich  die  Menge  zuerst  in 
einer  ziemlich  friedlichen  Stimmung.  Burns,  mit  einer  roten  Fahne 
in  der  Hand,  wurde  von  einigen  Männern  auf  den  Schultern  getragen. 
Als  aber  die  Menge  vor  den  Fenstern  der  prächtigen  Klubs  der 
Hauptstadt  war,  flogen  in  die  Fenster  der  Klubs  Steine,  und  kurze 
Zeit  darauf  waren  auf  dem  Wege,  den  die  Menge  ging,  in  allen 
Klubhäusern,  ohne  Unterschied  der  Partei,  die  Fenster  eingeworfen. 
Nachdem  wurden  einige  Läden  geplündert.  Die  Polizei  war  für 
solche  in  den  Strassen  Londons  noch  nicht  dagewesenen  Scenen 
nicht  vorbereitet  und  erwies  sich  als  ganz  machtlos,  mit  der  Menge 
fertig  zu  werden,  die  in  einem  zerstörenden  Strom  die  reichsten 
Strassen    Londons    durchzog    und    sich    endlich    zerstreute,    ohne    auf 


I)  S.  und  B.    W'ebb,  Die  Geschichte  des  Bridschen  Trade-Unionismus,  S.  322. 

25* 


ihrem  Wege  einem  ernsthaften  Widerstand  zu  begegnen.  Der  Leit- 
artikel der  „Times"  sagte  aus  diesem  Anlass:  „Das  waren  die  bedroh- 
hchsten  Unruhen  in  den  vielen  Jahren,  vielleicht  waren  es  sogar  die 
schlimmsten,  deren  man  sich  überhaupt  erinnern  kann."  Als  die 
Hauptschuldigen  bezeichnete  die  „Times"  Hyndman  und  Burns, 
insbesondere  den  letzteren,  der  der  Menge  in  etw^as  variierter  Form 
den  berühmten  Ausspruch  der  aufständischen  Lyoner  Arbeiter  wieder- 
holt hatte:  „Besser  kämpfend  zu  sterben,  als  Hungers  zu  sterben". 
„Wenn  solche  Unruhen,  wie  die  gestrigen  —  schrieb  die  „Times"  — 
keine  gesetzliche  Verfolgung  nach  sich  ziehen  werden ,  werden 
sie  sich  bei  der  ersten  passenden  Gelegenheit,  und  zwar  in  noch 
grösserem  Umfang,  wiederholen.  Wenn  die  Herren  Hyndman 
und  Burns  noch  nicht  verhaftet  sind,  so  müssen  sie  noch  heute  ver- 
haftet werden"^). 

Alles  das  rief  eine  ausserordentliche  Erregung  in  London  her- 
vor. Die  Kaufleute  des  West-ends  befürchteten  eine  Wiederholung 
der  Plünderung  und  beinahe  einen  Volksaufstand.  Viele  von  ihnen 
durften  einige  Zeit  nicht  die  Läden  in  den  Strassen,  in  denen  der 
Ueberfall  seitens  der  Menge  stattgefunden  hatte,  öffnen,  die  anderen 
ergriffen  verschiedene  Vorsichtsmassregeln,  um  sich  bei  einem  Ueber- 
fall verteidigen  zu  können.  Einige  Entrüstungsmeetings  wurden 
sofort  organisiert;  auf  diesen  Meetings  verlangte  man  die  Vorladung 
Hyndmans  und  Burns  vor  Gericht. 

Nach  einigen  Tagen  wurde  London  von  einer  Panik  erfasst 
und  im  Centrum  der  Stadt  wurden  fast  alle  Läden  geschlossen;  es 
hatte  sich  das  Gerücht  verbreitet,  dass  eine  Wiederholung  der  Plün- 
derung vom  8.  Februar,  aber  in  einem  grösseren  Umfang,  bevorstehe 
und  dass  Zehntausend  Arbeitslose  sich  auf  das  Centrum  der  Stadt 
hinbewegten.  Und  in  der  That  waren  in  London  in  verschiedenen 
Orten  bedeutende  Mengen  von  Arbeitslosen  mit  sehr  bedrohlichen 
Absichten  versammelt.  Aber  die  Polizei  war  vorbereitet,  und  es 
kam  nicht  zu  einer  Zerstörung  der  Läden.  Aehnhche  Zusammen- 
rottungen des  Volkes  in  den  Strassen  Londons  um  den  Traf al gar 
Square  wiederholten  sich  zum  grossen  Entsetzen  der  vornehmen 
Bevölkerung  West-ends  noch  einige  Tage  hindurch.  Die  Panik  war 
so  stark,  dass  die  Besitzer  der  grossen  Magazine  in  der  City  ihre 
Angestellten  bewaffneten  und  ein  P>eiwiUigenregiment  dem  Lord 
Mayor  seine  Dienste  für  den  Notfall  anbot. 

Die  Unruhen  vom  8.  Februar  waren  jedoch  durchaus  nicht  das 
Resultat   eines   grausamen    Beschlusses    der   SoziaHsten,    die    reichste 

i)  The  Times  vom  9.  Februar  1886. 


-     389     — 

Stadt  in  der  AVeit  einer  Plünderung  auszuliefern,  wie  das  die  er- 
schrockenen Londoner  Kaufleute  annahmen.  Weder  Burns  noch 
Hyndman  haben  die  Menge  zu  einer  Plünderung  aufgereizt.  Die 
Plünderung  war  das  Resultat  der  Erregung  von  hungrigen  Leuten, 
die  die  Abwesenheit  der  Polizei  als  eine  Gelegenheit  zur  Plünderung 
benutzten. 

Sobald  sich  die  Nachricht  von  der  Londoner  Demonstration 
im  Lande  verbreitete,  wurden  überall  Arbeitslosen meetings  abgehalten. 
In  Birmingham  hätte  ein  Meeting  beinahe  zu  Ruhestörungen,  in  der 
Art  der  Londoner,  geführt,  aber  die  Behörden  machten  rechtzeitig  ein 
ganzes  Detachement  berittener  Polizei  mobil.  Die  Arbeitslosenumzüge 
wurden  in  Birmingham  streng  verboten  und  sofort  von  der  Polizei  zer- 
streut. Den  Läden  geschah  nichts,  aber  ihre  Besitzer  zogen  es  vernünf- 
tigerweise vor,  sobald  sich  die  Menge  näherte,  die  Läden  zu  schliessen. 
Der  Bürgermeister  von  Birmingham,  der  sich  kurz  zuvor  hartnäckig 
geweigert  hatte,  eine  Subskription  zu  Gunsten  der  Arbeitslosen  zu 
eröffnen,  gab  sofort  nach  und  die  Subskription  wurde  eröffnet.  In 
Jarmouth  verlief  das  Arbeitslosenmeeting  sehr  stürmisch  und  der 
Polizei  wurde  von  den  Manifestanten  etw^as  zugesetzt.  In  Sheffield 
fand  auch  ein  sehr  grosses  Arbeitslosenmeeting  statt,  in  Leicester  ein 
Zusammenstoss  der  Streikenden  mit  der  Polizei. 

Durch  die  Ereignisse  vom  8.  Februar  wurde  nicht  nur  Eng- 
land, sondern  ganz  Europa  stark  betroffen.  So  schrieb  z.  B.  das  Or- 
gan der  gemässigten  Republikaner  in  Frankreich,  „Le  Temps",  das 
Folgende:  „Die  sozialistischen  Unruhen  in  London,  die  in  dieser  Stadt 
eine  solche  Panik  hervorgerufen  haben,  haben  auf  das  Festland 
keinen  geringen  Einfluss  ausgeübt.  Sie  haben  uns  als  etw^as  ganz 
Unerwartetes  betroffen.  Es  ist  etwas  ganz  Neues  im  politischen 
Leben  Englands  ...  Es  scheint,  das  alle  civilisierten  Völker  sich  all- 
mählich einer  grossen  Krisis  nähern  und  dass  die  schlechten  Beispiele, 
die  sozialistischen  Prinzipien  und  die  schädlichen  Ideen  sich  von 
einem  Ende  Europas  und  Amerikas  zum  anderen  ausbreiten"  i). 

Die  „Kölnische  Zeitung"  verzeichnete  schadenfroh,  dass  jetzt  auch 
England  aus  eigener  Erfahrung  die  Gefahr  der  Ausbreitung  der 
sozialistischen  Doktrinen  kennen   gelernt  habe. 

Die  „Neue  Freie  Presse"  wies  mit  vollem  Recht  auf  den  Zu- 
sammenhang dieser  Unruhen  mit  der  Geschäftsstockung  hin  und 
meinte,    dass  nur   die    Rückkehr    des   industriellen   Aufschwungs   das 


i)  Le  Temps  vom   lo.  Februar  1886. 


—     390     — 

Wachstum  des  Radikalismus  in  England  aufhalten  Avürde.  Ueber- 
haupt  legten  alle  Zeitungen  des  Kontinents  den  Londoner  Ereignissen 
eine  grosse  Bedeutung  bei,  als  dem  Ausdruck  einer  tiefen  Unzu- 
friedenheit und  Erregung  der  englischen  Arbeitermasse. 

Das  unmittelbare  Resultat  der  Londoner  Unruhen  war  der  be- 
deutende Zufluss  von  Spenden  für  die  Arbeitslosen.  In  der  Woche, 
die  der  Demonstration  vorangegangen  war,  hatte  die  vom  Lord 
Mayor  eröffnete  Subskription  zu  ihren  Gunsten  nur  3000  Pfund 
Sterling  ergeben.  Die  folgende  Woche  ergab  30000  Pfund  Sterling. 
Ende  März  erreichte  der  zur  Verfügung  des  Lord  Mayors  stehende 
Fonds  76000  Pfund  Sterling. 

Die  Regierung  verhielt  sich  den  Unruhen  gegenüber  auch  nicht 
passiv:  sie  organisierte  öffentliche  Arbeiten,  um  den  Arbeitslosen 
Beschäftigung  zu  geben,  entliess  zugleich  den  Inspektor  der  Lon- 
doner Polizei  Henderson,  und  stellte  die  4  Führer  der  Demonstra- 
tion, Burns,  Hyndmann,  Champion  und  Williams  vor  das 
Gericht. 

Die  Geschworenen  sprachen  jedoch  alle  4  Angeklagten  frei. 

Am  21.  Februar  veranstaltete  die  „Sozialdemokratische  Federa- 
tion"  wieder  ein  kolossales  Arbeitslosenmeeting  im  Hyde  Park.  An 
diesem  Meeting  nahmen  nach  den  Berichten  der  Zeitungen  50  bis 
75000  Personen  teil  (Die  „Justice",  das  Organ  der  „Sozialdemokratischen 
Federation"  nannte  sogar  100 — 120000).  Das  Meeting  verlief  fried- 
licher, obwohl  einige  Ebenster  eingeschlagen  wurden  und  ein  kleines 
Scharmützel  mit  der  berittenen  Polizei  stattfand,  die  nach  dem  „Daily 
Chronicle"  (vom  22.  Б'еЬгиаг  i886)  „mit  einer  wahren  Bashi-buzukenvvut 
und  mit  einem  offenbaren  Rachedurst  die  Menge  attackierte  und  sie 
auseinandertrieb". 

Dieses  neue  Arbeitslosenmeeting  brachte  die  Frage  der  Zweck- 
mässigkeit der  öffentlichen  Meetings  überhaupt  auf  die  Tagesordnung. 
Im  Oberhause  schlug  Lord  Lamington,  der  von  anderen  erblichen  Ge- 
setzgebern unterstützt  wurde,  vor,  die  Sonntagsmeetings  in  den  Parks  und 
den  öffentlichen  Plätzen  zu  verbieten.  Die  Regierung  antwortete  aus- 
weichend, und  die  Frage  wurde  vertagt.  Am  12.  März  wurde  die 
Frage  der  Arbeitslosenunterstützung  im  Unterhause  aufgerollt.  Der 
Abgeordnete  von  Leeds  Dawson  brachte  die  folgende  Resolution 
ein:  „Angesichts  der  herrschenden  Geschäftsstockung  und  der  be- 
deutenden Anzahl  von  Arbeitslosen,  findet  das  Parlament,  dass  für 
die  Regierung  die  Zeit  gekommen  sei,  die  notwendigen  öffentlichen 
Arbeiten  vorzunehmen,  und  zwar  zunächst  die  Errichtung  kleiner 
Häfen  an  verschiedenen  Punkten  des  Ufers,  in  die  kleine  Schiffe  bei 


.»    iH 


—     391      — 

einem  Sturm  flüchten  könnten  (harbours  of  refuge)".  Diese  Reso- 
lution wurde  von  einigen  Mitgliedern  unterstützt,  stiess  jedoch  auf  eine 
heftige  Opposition  seitens  Chamberlains,  Balfours,  Bradlaughs 
und  anderer,  und  der  Antragsteller  nahm  sie  zurück.  Trotzdem 
müsste  die  Regierung  der  Arbeitslosigkeit  ihre  ernsthafte  Aufmerk- 
samkeit zuwenden  und  forderte  Anfang  März  in  einem  Cirkular  an 
die  lokalen  Behörden  dieselben  auf,  öffentliche  Arbeiten  für  Arbeitslose 
zu  organisieren.  Derartige  Arbeiten  wurden  in  vielen  Gegenden  Eng- 
lands veranstaltet. 

Während  des  ganzen  Frühlings  fanden  in  vielen  Städten  Englands 
Riesenmeetings  von  Arbeitslosen  statt,  von  denen  die  in  Manchester 
und  Glasgow  besonders  stark  besucht  waren. 

Die  Arbeitslosenbewegung  von  1886  lenkte  die  Aufmerksam- 
keit aller  auf  eine  neue  soziale  Macht  in  England,  den  Sozialismus. 
An  der  Spitze  der  Agitation^  zu  Gunsten  der  Arbeitslosen  stand  näm- 
lich die  „Sozialdemokratische  Federation".  Diese  Organisation,  die 
einige  Jahre  zuvor  entstanden  war,  spielte  zuerst  gar  keine  Rolle  im 
öffentlichen  Leben  Englands.  Die  Namen  von  Hyndman  und  von 
Burns  (der  letztere  entzweite  sich  bald  mit  der  „Federation")  waren 
I  dem  grossen  Publikum  vor  der  Demonstration  vom  8.  Februar  ganz 
unbekannt.  Nach  dieser  Demonstration  wurden  sie  in  der  ganzen 
Welt  berühmt,  und  der  Einfluss  der  „sozialdemokratischen  Federation" 
wuchs  ausserordentlich,  wenn  auch  nur  auf  kurze  Zeit. 

Die  Erfolge  der  Federation  beruhten  hauptsächlich  auf  Ursachen 
vorübergehender  Natur,  und  zuerst  auf  der  Arbeitslosigkeit,  welche 
immer  zur  Steigerung  des  Radikalismus  führt.  Die  Führer  der  Federation 
betrachteten  ihre  Erfolge  natürlich  anders.  Der  Leitartikel  im  „Justice" 
vom  6.  Mai  1886  ist  der  Uebersicht  der  Thätigkeit  der  Federation  im 
vergangenen  Jahre  gewidmet  und  ist  von  kühnsten  Hoffnungen  erfüllt: 
„Wir  haben  nie  auf  solche  Erfolge  gehofft",  gesteht  der  Verfasser  des 
Artikels.  „  .  .  .  Man  kann  wenig  Beispiele  solches  schnellen  Fort- 
schrittes, welchen  unsere  Sache  aufweist,  anführen  .  .  .  Gestern,  ein 
kleiner  Haufen  wenig  bekannter  Leute,  heute  die  rote  Fahne  auf 
dem  Carlton  Club,  morgen  das  sozialdemokratische  England. 
Gestern  —  eine  Nacht,  heute  —  Morgendämmerung,  morgen  —  der 
volle  Tag.'^ 

Leider  aber  wussten  Hyndman  und  seine  Freunde  nicht,  wie 
ephemär  diese  Erfolge  waren.  Es  genügte  kurze  Zeit  des  Auf- 
schwungs, um  die  Federation  in  ihre  alte  Lage  der  Unbekanntbeit 
zurückzuführen. 


—      392      — 

Allerdings  war  der  Einfluss  der  Federation  während  der  Ar- 
beitslosenagitation des  Jahres  1886  sehr  gross.  Das  am  29.  August 
auf  dem  Trafalgar  Square  abgehaltene  Meeting  zeugte  deutlich  davon, 
welche  Bedeutung  die  „Sozialdemokratische  Federation"  erreicht  hatte. 
Dieses  Meeting  wurde  in  einer  Angelegenheit  berufen,  die  unmittelbar 
nur  die  Federation  berührte,  nämlich,  um  einen  Protest  gegen  die  Ver- 
urteilung Williams,  eines  der  Mitglieder  der  Federation,  zur  Ge- 
fängnishaft auszusprechen.  Trotzdem  sammelte  sich  auf  dem  Trafalgar 
Square  wieder  eine  enorme  Menge,  40 — 60000,  an.  Hyndman  wurde 
von  der  Menge  besonders  warm  begrüsst:  während  einiger  Minuten 
konnte  er  wegen  Applaus  und  Zurufen   nicht  sprechen. 

Mit  dem  Eintreten  des  Herbstes  wurde  die  Agitation  der  Fede- 
ration unter  den  Arbeitslosen  erneuert.  Die  Federation  beschloss 
am  9.  November,  am  Tage  des  Amtsantrittes  des  Lord  Mayors,  wo 
ganz  London  sich  versammelt,  um  dei;  Umzug  des  Lord  Mayors 
und  seines  Gefolges  mit  anzusehen,  einen  Riesenumzug  der  Arbeits- 
losen zu  veranstalten.  Bei  der  Ansammlung  einer  solchen  Menge 
von  Leuten  war  natürlich  zu  erwarten,  dass  der  Arbeitslosenumzug 
zu  ernsthaften  Unruhen  und  zu  einem  Zusammenstoss  mit  der  Polizei 
führen  würde.  Die  ganze  Presse  sah  diesem  Tag  mit  grosser  Be- 
sorgnis entgegen.  Die  „Justice"  dagegen  erwartete  den  9.  November 
als  einen  bedeutsamen  Moment,  wo  die  Macht  der  „Sozialdemokratischen 
Federation"  in  London  sich  in  ihrem  vollen   Glanz  zeigen  werde. 

„Die  gesamte  Arbeiterklasse  Londons",  schreibt  die  „Justice"  in 
ihrem  Leitartikel  vom  30.  Oktober  1886,  „verlangt  von  der  „Sozialdemo- 
kratischen Federation",  dass  sie  ihre  Entrüstung  zum  Ausdruck  bringe 
und  ihre  Unzufriedenheit  organisiere.  Das  wollen  wir  nun  thun,  das  ist 
es,  was  der  Demonstration  vom  9.  November  eine  so  grosse  Bedeutung 
verleiht ;  sie  wird  nicht  nur  das  Elend  und  die  Leiden  der  Arbeitslosen 
zum  Ausdruck  bringen,  sie  wird  auch  der  Beginn  des  grossen  Klassen- 
kampfes am  Ende  des  19.  Jahrhunderts  sein.  London  ist  vom  Norden 
bis  zum  Süden,  vom  Osten  bis  zum  Westen  in  eine  so  grosse  Er- 
regung geraten  wie  noch  niemals,  solange  diese  Generation  besteht. 
Möge  nun  London  sich  an  die  Spitze  der  ruhmvollen  Bewegung  für 
die  endgiltige  Befreiung  der  Arbeiter  der  ganzen  Welt  stellen." 

Am  9.  November  hat  jedoch  nichts  Derartiges  stattgefunden. 
Die  Polizei  verbot  das  Arbeitslosen meeting  und  traf  allerhand  Mass- 
regeln gegen  die  Verwirklichung  des  Umzuges.  Die  City  hatte  den 
Charakter  einer  belagerten  Stadt.  Die  Läden  waren  geschlossen, 
überall  wurden  Detachements  von  Militär  und  Polizei  postiert.  Das 
beabsichtigte  Meeting  der  Arbeitslosen   konnte  nicht   stattfinden,  und 


—     393      — 

nur  ein  kleiner  Haufen  von  Leuten  mit  roten  Fahnen  brach  sich 
Bahn  zur  Nelsonsäule  und  nahm  eine  Resolution  an,  die  die  Re- 
gierung ersuchte,  die  Bedingungen,  unter  denen  die  Unterstützung 
seitens  der  Armenbehörden  ausserhalb  des  Arbeitshauses  gewährt 
werde,  zu  mildern,  die  lokalen  Behörden  zu  veranlassen,  möglichst 
bald  öffentliche  Arbeiten  zu  organisieren,  in  den  Staatsbetrieben  den 
Arbeitstag  zu  verkürzen  und  sich  in  Verbindung  mit  den  Regierungen 
der  anderen  Staaten  zu  setzen  über  eine  allgemeine  Herabsetzung  des 
Arbeitstags.  Im  grossen  und  ganzen  war  die  Demonstration  entschie- 
den misslungen. 

Trotzdem  erfuhr  derEinfluss  der  „Sozialdemokratischen  Federation" 
auf  die  Arbeitslosen  keine  Abschwächung.  Das  Arbeitslosenmeeting 
vom  2 1 .  November  auf  dem  Traf algar  Square  war  das  am  stärksten 
besuchte  von  allen.  Die  „Justice"  behauptete,  dass  das  die  grösste  Ar- 
beiterdemonstration war,  die  London  jemals  gesehen  hatte.  Die  Redner 
sprachen  von  fünf  Tribünen  aus.  Das  Meeting  verlief  ganz  friedlich 
und  nahm  die  gewohnten  Resolutionen  an,  durch  die  die  Regierung 
aufgefordert  wurde,  energische  Massregeln  zur  Linderung  der  Arbeits- 
losigkeit zu  treffen. 

Dieses  Meeting  hatte  unter  anderem  die  Zunahme  der  Agitation 
unter  der  wohlhabenden  Londoner  Bevölkerung  zu  Gunsten  eines 
Verbotes  der  öffentlichen  Versammlungen  auf  dem  Trafalgar  Square 
zur  Folge.  Eine  in  diesem  Sinne  abgefasste  Petition  wurde  dem 
Parlament  überreicht;  in  ihr  Avurde  es  unter  anderem  ausgeführt, 
dass  „in  der  letzten  Zeit  verschiedene  Gruppen  mit  entgegengesetzten 
Anschauungen  gleichzeitig  Meetings  auf  dem  Platze  abgehalten  hätten, 
was  zu  grossen  Ruhestörungen  und  Unruhen  geführt  hätte  ...  In- 
folgedessen seien  viele  von  den  Petenten  genötigt,  des  öfteren  ihre 
Läden  zu  verbarrikadieren  und  den  Handel  ganz  still  stehen  zu  lassen." 
Die  „Times"  unterstützte  nicht  nur  in  ihrem  Leitartikel  vom  25.  De- 
zember diese  Petition ,  sondern  fand  sogar,  dass  man  angesichts  der 
drohenden  Haltung  der  Arbeitslosen  noch  mehr  anstreben  müsse, 
nämlich  das  Verbot  der  öffenthchen  Meetings  in  den  Mittelpunkten 
der  grossen  Städte  überhaupt. 

Somit  drohte  England  eine  wesentliche  Einschränkung  der 
politischen  Freiheit,  die  in  so  hohem  Grade  in  die  Sitten  des  eng- 
lischen öffentlichen  Lebens  eingedrungen  ist.  Das  Verhalten  der 
einflussreichsten  englischen  Zeitung  in  dieser  Frage  zeigte,  dass  die 
Arbeitslosendemonstrationen  einen  sehr  starken  Eindruck  auf  die 
öffentliche  Meinung  gemacht  und  eine  ernsthafte  Unruhe  unter  den 
besitzenden  Klassen  erzeugt  hatten. 


—     394     — 

Die  Agitation  unter  den  Arbeitslosen  dauerte  fort.  Arn  i.  Januar 
waren  an  vielen  Punkten  der  Hauptstadt  Arbeitslosenumzüge  zu  den 
Arbeitshäusern  organisiert.  Diese  Demonstration  hatte  jedoch  keinen 
grossen  Erfolg. 

Im  Februar  1887  begann  die  Arbeitslosigkeit  ein  wenig  nach- 
zulassen. Trotzdem  war  noch  im  März  die  Arbeitslosigkeit  äusserst 
schwer,  wie  aus  der  offiziellen  statistischen  Untersuchung  der  Arbeits- 
losigkeit zu  ersehen  ist,  die  im  März  1887  vorgenommen  wurde. 
Diese  Untersuchung  erstreckte  sich  auf  einige  Bezirke  Londons  mit 
einer  Bevölkerung  von  125  313  Personen.  Die  Enquete  kam  dadurch 
zustande,  dass  man  alle  Einwohner  dieser  Bezirke  persönlich  befragte. 
Es  stellte  sich  heraus,  dass  von  den  29451  männlichen  Arbeitern 
27  Yq  arbeitslos  waren.  In  einigen  Industriezweigen  war  der  Prozent- 
satz der  Arbeitslosen  ein  höchst  bedeutender,  so  hatten  unter  den 
Dockarbeitern  55  ^/q  keine  Beschäftigung,  unter  den  im  Schiffsbau 
beschäftigten  Arbeitern  44  ^Д ,  unter  den  Schreinern  und  Maurern 
37^0'  unter  den  Malern  33%.  Von  den  Mechanikern  waren  20^/0 
arbeitslos,  von  den  Schmieden  26%,  von  den  Möbelarbeitern  20^/0, 
von  den  Arbeitern  in  den  Tabakfabriken  27  ^/q.  In  einer  besseren 
Lage  befanden  sich  die  Schuhmacher  {17%  Arbeitslose),  die  Buch- 
binder (12  7o),  die  Uhrmacher  (13  ^/0),  die  Gepäckträger  an  der  Eisen- 
bahn (6  ^/q)  und  andere.  Von  allen  aufbezählten  Arbeitern  waren 
während  der  Periode  von  Oktober  1886  bis  März  1887  nicht  weniger 
als  53%  mehr  oder  minder  lange  Zeit  arbeitslos  ^). 

Selbst  bis  Herbst  1887  dauerte  noch  die  Notlage.  Einige  Jahre 
des  industriellen  Stillstandes  hatten  alle  die  unbedeutenden  Erspar- 
nisse des  Arbeiters  erschöpft.  Allmählich  wurde  es  unter  den 
Arbeitslosen  üblich,  die  Nächte  auf  dem  Trafalgar  Square  zuzubringen. 
Zuerst  nächtigten  dort  einzelne,  dann  zehn  und  schliesslich  sogar 
Hunderte  .  .  .  Im  Centrum  Londons,  im  reichsten  Bezirke,  angesichts 
der  prächtigen  Häuser  der  Hauptstadt,  hat  sich  das  finstere  und 
obdachlose  Elend,  wie  in  seiner  gewohnten  Behausung,  einquartiert. 
Von  der  Stimmung  dieser  arbeitslosen  und  obdachlosen  Menge  кгшп 
die  folgende  Scene  eine  Vorstellung  geben. 

Am  12.  Oktober  erschien  im  Gerichtsgebäude  auf  der  Bow- 
street  bei  dem  Richter  Sir  James  Ingham  eine  Deputation  von 
fünf  Mann  namens  einer  zahlreichen  Menge  Arbeitsloser,  die  sich 
auf  der  Strasse  angehäuft  hatten,  und  auf  die  Frage,  was  sie  wollten, 


1)  Tabulations  of  the  Statements  made    by  Men    living    in   certain   Selected   Districts 
of  London  in  March   1887.     London   1887. 


71. 


—      395      — 

erklärte  einer  von  der  Deputation  namens  seiner  Kollegen,  „dass  sie 
Arbeit  brauchten,  dass  sie  sich  in  jeder  Weise  bemüht  hätten,  Arbeit 
zu  suchen,  aber  sie  nicht  finden  könnten,  und  dass  viele  von  ihnen 
meinten,  es  sei  besser,  als  das  alles  zu  ertragen,  den  Richter  zu 
bitten,  sie  auf  drei  Monate  ins  Gefängnis  zu  stecken.  Sie  zögen  das 
Gefängnis  dem  Umherirren  in  den  Strassen  und  den  Nächten  auf 
dem  Trafalgar  Square  vor".  Zwischen  dem  Richter  und  der  Deputation 
entspinnt  sich  nun  der  folgende  Dialog: 

Sir  James  Ingham:  „Wer  sind  Sie?" 

—  „Ich  bin  ein  Schneider  und  seit  vier  Wochen  arbeitslos." 

Sir  James:  „Haben  Sie  sich  an  das  Kirchspiel  um  Hilfe  ge- 
wendet?" 

—  „Nein,  statt  dessen  bitte  ich  Sie  mich  ins  Gefängnis  zu 
stecken !  Im  Gefängnis  behandelt  man  die  Leute  besser  als  im 
Arbeitshause." 

Sir  James:  „Jeder  von  Euch  weiss  sehr  gut,  dass  das  Gericht 
Eure  Bitte  nicht  erfüllen  kann.  Das  Gericht  kann  niemand  ins  Ge- 
fängnis stecken,  wenn  er  das  nicht  durch  eine  Verletzung  des  Ge- 
setzes verdient  hat  .  .  .  Meine  Antwort  ist  die  folgende:  ich  habe 
nicht  das  Recht,  Euch  ins  Gefängnis  zu  stecken." 

—  „Habe  ich  das  Recht,  Euer  Gnaden  noch  eine  Frage  vor- 
zulegen ?" 

Sir  James:  „Bitte  sehr." 

— -  „Die  Arbeitslosen  sind  derselben  Meinung,  wie  auch  Euer 
Gnaden,  dass  man  sie  nicht  ins  Gefängnis  stecken  wird,  wenn  sie 
kein  Verbrechen  begangen  haben,  wie  z.  B.  die  Plünderung  einer 
Bäckerei.  Sie  wollen  wissen,  wenn  ein  Mann  in  einem  blauen  Rock 
mit  hellen  Knöpfen  (ein  Polizeibeamter)  es  bestätigt,  dass  sie  die 
Fenster  zerschlagen  und  die  Bäckereien  geplündert  hätten,  ob  Sie 
dann  diese  Bitte  erfüllen  würden?" 

Sir  James:  „Ihr  seid  äusserst  dreist,  dass  Ihr  mir  hier  solche 
Fragen  stellt.     Bitte,  entfernt  Euch!^' 

Die  Deputation  gerät  in  Erregung.  Man  ruft:  „Wir  wollen 
nicht  Hungers  sterben!  Wir  wollen  Arbeit!  Steckt  uns  ins  Ge- 
fängnis!" 

Sir  James:  „Ihr  verdient  kein  Mitleid.  Entfernt  Euch  aus  dem 
Gerichtsgebäude." 

Die  Deputation  entfernt  sich  und  kehrt  zur  Menge,  die  sie  auf 
der  Strasse    erwartet,    zurück.      Die  Menge  zieht  ab;    vorangetragen 


—     39б     — 

wird  ihr  eine  Fahne  mit  der  Inschrift:  „Wir  wollen  Arbeit  oder 
Brot"  1). 

Im  Oktober  begannen  die  x\rbeitslosenmeetings  auf  dem 
Trafalgar  Square  sich  fast  jeden  Tag  zu  wiederholen.  Die  Arbeits- 
losenmengen versammelten  sich  mit  Fahnen,  umgaben  die  Säule,  auf 
deren  Spitze  der  alte  Nelson  steht,  und  hörten  Reden  an.  Die 
schwarze  P'ahne,  das  Symbol  des  Elends  und  der  Verzweiflung,  ver- 
drängte fast  vollständig  die  rote.  Nach  Beendig'ung  des  Meetings 
durchzog  die  Menge  in  einem  Umzug  die  Strassen  der  Stadt. 

Die  Polizei,  an  deren  Spitze  jetzt  Sir  Charles  Warren  stand, 
verhielt  sich  gegenüber  den  Manifestanten  sehr  herausfordernd  und 
grob.  Am  17.  Oktober  säuberte  die  Polizei  den  Trafalgar  Square 
nach  einem  Handgemenge,  während  dessen  viele,  sowohl  aus  der 
Menge,  wie  von  den  Polizeibeamten,  zu  Schaden  kamen.  Am 
18.  Oktober  erfolgte  ein  neuer  Zusammenstoss  mit  der  Polizei  in 
einem  noch  grösseren  Umfang  im  Hyde  Park. 

Der  charakteristische  Unterschied  zwischen  der  Arbeitslosen- 
bewegung von  1886  und  von  1887  bestand  darin,  dass  sie  im 
Jahre  1887  eine  fast  elementare  war,  ohne  jedwede  Beteiligung  der 
„Sozialdemokratischen  Federation".  Die  Arbeitslosen  mengen,  die 
täglich  auf  dem  Trafalgar  Square  zusammenflössen ,  waren  von 
niemand  organisiert  und  nur  von  dem  einen  Wunsch  vereinigt, 
möglichst  laut  und  stark  ihre  Not  bekannt  zu  geben.  Die  Redner, 
die  auf  diesen  Meetings  sprachen ,  waren  meist  ganz  unbekannte 
Arbeiter,  deren  Namen  plötzlich  in  die  Spalten  der  Zeitungen 
kamen,  um  wieder  spurlos  zu  verschwinden.  Das  konservative 
Ministerium  und  der  neue  Chef  der  Londoner  Polizei,  Sir  Charles 
Warren,  zeigten  viel  mehr  Entschlossenheit  in  ihrer  Handlungsweise 
gegenüber  den  Arbeitslosen,  als  die  Regierung  Gladstones  während 
der  Demonstration  vom  8.  Februar  1886.  Am  21.  Oktober  erschien 
die  Polizei  um  Mitternacht  auf  dem  Trafalgar  Square  und  entfernte 
einige  Hundert  Männer  und  Frauen,  die  kein  Obdach  hatten  und  in 
kalten  Herbstnächten  gewohnt  waren,  auf  den  steinernen  Bailustraden 
und  Bänken  des  Platzes  zu  schlafen.  Der  Trafalgar  Square  sollte 
weder    am  Tage  noch  in  der  Nacht  ein  Sammelplatz  der  Armen  sein. 

Trotzdem  fanden  Arbeitslosenmeetings  auf  dem  Trafalgar  Square 
und  in  anderen  Gegenden  Londons  fast  täglich  weiter  statt,  meist 
ohne  eine  voraufgegangene  Organisation.  Die  Arbeitslosenmengen, 
die  infolge  eines  aufgezwungenen  Müssigganges  sich  langweilten  und 


i)  The  Times  vom   13.  Oktober   1887. 


—      397      — 

durch  die  Not  zu  leiden  hatten,  waren  gewohnt,  überall  in  London, 
wo  sich  nur  die  Möglichkeit  bot,  sich  zu  versammeln.  London  nahm 
ein  ganz  ungewöhnliches  Aussehen  an  —  das  Aussehen  einer  Stadt, 
die  am  Vorabend  einer  sozialen  Katastrophe  steht.  Jede  Nummer 
einer  beliebigen  Londoner  Zeitung  jener  Tage  war  mit  der  Beschrei- 
bung von  Zusammenstössen  der  Polizei  mit  der  Menge  angefüllt. 
„Riots  in  London"  (Unruhen  in  London),  „Police  and  Mob"  (Die 
Polizei  und  dieA^olksmenge)  —  Artikel  mit  solchen  Titeln  füllten  die 
Spalten  der  „Times".  Seit  1848,  seit  dem  Zusammenbruch  des  Char-- 
tismus  nach  seinem  letzten  Auflodern ,  hatte  London  nicht  mehr 
einen  solchen  Zustand  der  äussersten  Aufregung  und  Unruhe 
erlebt.  Die  Wolken  ballten  sich  zusammen,  in  der  Luft  lag  ein 
Gewitter. 

Das  konservative  Ministerium  war  durchaus  nicht  geneigt,  eine 
solche  Sachlage  zu  dulden.  In  der  Person  Warrens  hatte  es  eine 
„eiserne  Faust".  Die  besitzenden  Klassen  Londons  verlangten  ener- 
gische Massregeln  gegen  die  Arbeitslosenansammlungen.  Schon  ein 
Jahr  früher,  im  November  1886,  hatten  sich  über  5000  der  einfluss- 
reichsten und  wohlhabendsten  Kaufleute  und  Einwohner  West-ends 
mit  einer  Petition  um  das  Verbot  der  öffentlichen  Versammlungen 
auf  dem  Trafalgar  Square  an  das  Parlament  gewandt.  Eine  ganze 
Reihe  von  Meetings  vermögender  Leute  nahmen  Resolutionen  in 
demselben  Sinne  an.  Am  3.  November  1887  verlangte  ein  sehr  ein- 
flussreiches Meeting  unter  dem  Vorsitz  eines  Mitgliedes  des  Parla- 
ments die  Einstellung  der  Meetings  auf  dem  Trafalgar  Square. 

„Die  ständige  Wiederholung  der  Demonstrationen  auf  dem 
Trafalgar  Square  und  im  West-end,"  erklärte  einer  der  Redner  auf 
dem  Meeting,  „habe  jetzt  einen  so  ernsthaften  Charakter  angenommen, 
dass  die  Einwohner  (West-ends),  die  diese  Demonstrationen  fast  zwei 
Jahre  lang  ertragen  hätten,  keinen  anderen  Ausweg  mehr  wüssten,  als 
wirksame  Massregeln  zur  Einstellung  dieser  Demonstrationen  zu  ver- 
langen" i).  Alle  konservativen  Zeitungen  sprachen  sich  in  demselben 
Sinne  aus.  Die  Regierung  beschloss,  diesen  Wünschen  nachzu- 
kommen, und  durch  eine  Verfügung  von  Sir  Charles  Warren  vom 
8.  November  wurden  die  Meetings  auf  dem  Trafalgar  Square  ver- 
boten. 

Diese  Verfügung  führte  zu  einem  blutigen  Zusammenstoss  der 
Menge  mit  dem  Militär  in  den  Strassen  Londons  am  13.  November. 
Die    Verletzung    seitens    der    Regierung    eines    der    fundamentalsten 


i)  The  Times  vom  4.  November   il 


-     398     - 

Rechte  des  englischen  Bürgers,  des  Rechtes  auf  öffentliche  Ver- 
sammlungen, war  eine  wesentliche  Einschränkung  der  politischen 
Freiheit,  an  die  man  sich  in  England  so  gewöhnt  hat.  Die  Ver- 
fügung vom  8.  November  vereinigte  alle  liberalen  und  radikalen 
Elemente  Londons.  Um  dagegen  Protest  zu  erheben,  beschlossen 
die  radikalen  Associationen  von  London,  am  ersten  kommenden 
Sonntag,  am  13.  November,  auf  dem  Traf al gar  Square  ein  Ent- 
rüstungsmeeting aus  Anlass  der  Verhaftung  des  irischen  Politikers 
O'Brien  zu  veranstalten. 

Dieses  Meeting  war  eine  wahre  Schlacht,  die  zwischen  der  viel- 
tausendköpfigen Menge  und  der  Polizei  und  dem  Militär  geschlagen 
wurde.  Schon  von  früher  Morgenstunde  an  war  der  Trafalgar  Square 
von  der  Polizei  besetzt.  Eine  zusammenhängende  Kette  von  Schutz- 
leuten von  mehr  als  2000  Mann  umringte  den  Platz  in  einer  ununter- 
brochenen dunkeln  Linie.  In  den  benachbarten  Strassen  bewegten 
sich  Detachements  der  berittenen  Polizei.  In  der  Nähe  standen 
einige  Escadrons  der  berittenen  Garde  und  einige  Abteilungen  der 
Garde  zu  Fuss  bereit.  Das  alles  erschreckte  jedoch  die  Demon- 
stranten nicht.  Nachmittags  begannen  die  Strassen,  die  um  den 
Platz  herumlagen,  sich  zu  füllen.  Aus  den  Vororten  Londons  kamen 
immer  neue  und  neue  Umzüge  mit  Fahnen,  und  um  3  Uhr  waren 
alle  Strassen  in  der  Nähe  mit  Volksmassen  dicht  gefüllt.  Ein  hef- 
tiger Zusammenstoss  mit  der  Polizei  begann.  Die  Menge  überfiel 
die  Polizei  mit  vStöcken,  eisernen  Stangen,  Steinen,  ja  sogar  mit 
Messern.  Die  berittenen  Polizisten  wurden  von  den  Pferden  herunter- 
gezogen. Ein  kleiner  Haufen  von  Demonstranten,  mit  Burns  und 
Cunninghame  Graham  an  der  Spitze,  machten  einen  verzweifelten 
Versuch,  zur  Nelsonsäule  vorzudringen,  aber  ohne  Erfolg.  In  allen 
umliegenden  Strassen  gab  es  ein  Handgemenge,  in  dem  viele  Poli- 
zisten, noch  mehr  aber  die  Demonstranten  verwundet  wurden.  Die 
Pohzei  blieb  überall  Sieger  und  der  Trafalgar  Square  blieb  eine  un- 
zugängliche leere  Insel  inmitten  eines  wogenden  Menschenmeeres. 

So  ging  es  fort  bis  4  Uhr.  Die  Menge  konnte  nicht  zur 
Nelsonsäule  durchbrechen,  aber  sie  wuchs  immer  an,  sie  ging  nicht 
auseinander  und  führte  wütende  Attacken  gegen  die  Polizei  aus. 
Der  Abend  näherte  sich,  die  Lage  wurde  immer  ernsthafter,  da  mit 
dem  Eintritt  der  Dunkelheit  es  schwerer  gewesen  wäre,  den  Platz 
zu  schützen.  Es  wurde  Verstärkung  verlangt.  Die  königliche  Garde, 
beritten  und  zu  Fuss,  trat  aus  der  Kaserne  heraus  und  begann  die 
Strassen  zu  säubern.  Die  Soldaten  drangen  mit  aufgepflanztem 
Bajonett  vor.    Das  Militär  wurde  von  bürgerhchen  Behörden  begleitet, 


-      399      - 

die  im  Notfalle  die  Aufruhrakte  verlesen  sollte,  damit  man  von  den 
Schiesswaffen  Gebrauch  machen  könnte.  So  weit  kam  es  aber  nicht. 
Dem  Militär  und  der  Polizei  gelang  es,  die  Strassen  zu  säubern,  und 
der  Trafalgar  Square  blieb  in  den   Händen  der  Polizei. 

Am  anderen  Tag  beglückwünschten  die  konservativen  Zeitungen 
die  Regierung  und  Warren  zu  dem  errungenen  Sieg.  „Infolge  der 
von  wSir  Charles  Warren  getroffenen  musterhaften  Massregeln", 
schrieb  die  „Times"  in  ihrem  Leitartikel,  „sowie  auch  infolge  der 
Geschicklichkeit  und  der  Energie,  mit  denen  diese  Massregeln  von 
seinen  Untergebenen  ausgeführt  worden  sind,  ist  der  entschlossene 
Versuch,  die  Hauptstadt  der  Macht  eines  Haufens  von  Taugenichtsen 
auszuliefern,  fehlgeschlagen  .  .  .  Wer  den  gestrigen  Kampf  gesehen  hat, 
kann  am  besten  den  Dienst  schätzen,  der  von  Sir  Charles  Warren 
g-eleistet  ist  .  .  .  und  den  enormen  Umfang  des  Unglücks,  wenn  der 
Kampf  anders  ausgegangen  wäre.  Diese  wilden  Mengen  belebte 
nicht  der  Enthusiasmus  für  das  Recht  der  freien  Rede,  nicht  die 
Ueberzeugung  von  der  Unschuld  O'Briens,  nicht  irgend  eine  ernst- 
hafte Ueberzeugung  oder  eine  ehrliche  Absicht  überhaupt.  Es  war 
das  einfach  ein  Durst  nach  Unruhe,  eine  Hoffnung  auf  Plünderung 
und  ein  Aufstand  einer  rohen  tierischen  Kraft  gegen  die  Herr- 
schaft des  Gesetzes  .  .  .  Die  Zerstörung  eines  im  voraus  vorbereiteten 
Planes,  die  notw^ endigsten  Grundlagen  der  Ordnung  zu  vernichten  und 
London  durch  Auslieferung  seiner  Strassen  in  die  Hände  von  Ver- 
brechern zu  terrorisieren,  das  ist  gestern  von  Sir  Charles  Warren 
erreicht  worden"  ^). 

Der  „blutige  Sonntag",  wie  ihn  die  „Justice"  genannt  hat,  war 
ein  entschiedener  Sieg  der  Regierung.  Die  Versuche,  Ansammlungen 
auf  dem  Trafalgar-Square  zustande  zu  bringen,  wiederholten  sich  auch 
in  den  folgenden  Tagen,  sie  waren  aber  so  schwach,  dass  die  Re- 
gierung sie  ohne  jegliche  Mühe  unterdrücken  konnte.  Die  rote  und 
die  schwarze  Fahne  hörten  auf,  den  Einwohnern  Londons  Entsetzen 
einzuflössen. 

Wie  sich  die  besitzenden  Klassen  gegenüber  den  Ereignissen 
vom  13.  November  verhielten,  davon  kann  man  sich  eine  Vorstellung 
machen,  wenn  man  hört,  dass  während  der  folgenden  wenigen  Tage 
mehr  als  3500  Freiwillige  sich  meldeten,  um  im  Notfalle  das  Amt 
eines  Schutzmannes  zu  übernehmen.  Nach  der  „Times"  gehörten  diese 
freiwilligen  Schutzleute  hauptsächlich  der  mittleren  und  höheren  Klasse 
an.      Selbst  Lords    hielten    es   für    ihre   Pflicht,   ihre  Dienste   als   frei- 


i)  Die  ,, Times"  vom    14.   November    il 


—      400     — • 

willige  Polizisten  anzubieten.  Jedoch  hatte  man  gar  nicht  nötig,  von 
diesen  Diensten  Gebrauch  zu  machen,  da  die  Agitation  zu  Gunsten 
der  Arbeitslosen  auf  dem  Trafalgar  Square  die  Hauptschlacht  ver- 
loren hatte. 

Die  Londoner  x\rbeitslosen  fuhren  fort,  in  verschiedenen  Ge- 
genden Meetings  abzuhalten,  aber  nicht  entfernt  so  grossartige,  wie 
im  Oktober  und  November.  Die  öffentliche  Meinung  interessierte 
sich  wenig  für  diese  Meetings,  nachdem  am  13.  November  die  Möglich- 
keit vollständig  erwiesen  war,  mit  der  ganzen  Arbeitslosenbewegung 
fertig  zu  werden.  Das  Eintreten  eines  industriellen  Aufschwungs  im 
Frühling  1888  setzte  die  Arbeitslosenbewegung,  die  eine  Zeit  lang 
einen  für  England  beunruhigenden  Charakter  angenommon  hatte,  von 
der  Tagesordnung  ab. 

Die  Arbeitslosigkeit  der  80  er  Jahre  hat  eine  sehr  grosse  Be- 
deutung für  die  Entwickelung  der  sozialen  Verhältnisse  Englands 
gehabt.  Eine  ganze  Reihe  von  Parlamentskommissionen  widmete 
sich  dem  Studium  der  so  krass  zu  Tage  getretenen  Volksnot.  Eine 
besondere  Bedeutung  unter  diesen  Kommissionen  hatte  die  Kommission 
des  Oberhauses  zur  Prüfung  der  Ausbreitung  des  sogenannten  Sweating- 
Systems  —  der  äussersten  Ausbeutung  der  Arbeit  in  vielen  Zweigen 
der  Hausindustrie.  Diese  Kommission  förderte  erstaunliche  und  geradezu 
unglaubliche  Thatsachen  der  Unterdrückung  des  Arbeiters  zu  Tage 
—  eines  richtigen  Hungerlohnes  und  einer  immensen  Dauer  des  Arbeits- 
tags. Private  Forscher  wandten  sich  gleichfalls  den  Fragen  der  Not 
des  Volkes  zu.  Die  grösste  Bedeutung  unter  diesen  Forschungen 
hatte,  wie  S.  und  B.  Webb  mit  Recht  bemerken,  die  in  den  Annalen 
der  Wissenschaft  ohne  Beispiel  dastehende  Arbeit  des  reichen  Londoner 
Kaufmanns  Charles  Booth,  der  die  Lebensverhältnisse  der  Londoner 
Bevölkerung  untersucht  hat,  eine  Arbeit,  von  der  wir  noch  weiter 
unten  sprechen  werden. 

„Die  Wirkung  der  auf  diese  Weise  angeregten  Erhebungen  war 
ein  unberechenbarer  Anstoss  zu  sozialen  Reformen.  Zum  grössten 
Teil  waren  sie  in  der  Erwartung  unternommen  worden,  dass  eine 
ernsthafte  und  wissenschaftliche  Untersuchung  den  Ausnahmecharakter 
der  von  den  Philantropen  blossgelegten  und  von  den  neuen  Agitatoren 
freigebig  citierten  peinlichen  Vorkommnisse  beweisen  würde.  Aber 
zur  wahrhaften  Ueberraschung  sowohl  der  Oekonomen  wie  der 
Trade-Unionsführer  wurden  die  Schwarzmalereien  der  Sensations- 
schriftsteller und  der  Sozialisten  von  den  Statistiken  im  ganzen  ge- 
nommen als  gerechtfertigt  erwiesen.  Die  Fälle  unverdienten  Elends 
erwiesen    sich   als   nicht   blos  zufällige  Ausnahmen    eines  allgemeinen 


—      40  1      — 

Zustandes  massigen  Wohlbehagens,  sondern  als  typische  Beispiele  für 
die  Durchschnittsexistenz  grosser  Massen  der  Bevölkerung."^)  Der 
optimistische  Liberalismus,  der  in  den  60  er  und  70  er  Jahren  nicht 
nur  in  den  besitzenden  Klassen  Englands,  sondern  auch  unter  den 
Arbeiterführern  herrschte,  machte  einer  ganz  anderen  sozialen  Welt- 
anschauung Platz.  Burns,  Tom  Mann,  Tillet,  die  hervorragendsten 
Charaktere  unter  den  Arbeiterführern,  v^aren  von  dem  neuen  Geiste 
durchdrungen  und  Vliesen  die  englische  Arbeiterbe w^egung  auf  eine 
neue  Bahn.  Der  sogenannte  neue  Trade-Unionismus  wurde  die  Ver- 
körperung dieser  neuen  Richtung,  und  die  Resolutionen  der  Gev^^erk- 
sckaftskongresse  zu  Gunsten  des  Achtstundentages,  der  Vergesell- 
schaftung der  Produktionsmittel  u.  s.  w.  waren  der  Ausdruck  dieses 
neuen  Geistes. 

Die  Erneuerung  der  Arbeitslosigkeit  im  Jahre  1892  führte  zur 
Erneuerung  der  Arbeitslosenbewegungen,  wenn  auch  zweifellos  in 
schwächerem  Umfang.  Seit  dem  Herbst  1892  fanden  Arbeitslosen- 
meetings in  Tower  Hill  in  London  fast  jeden  Tag  statt.  Auf  diesen 
Meetings  versammelte  sich  eine  Volksmenge  von  Hunderten,  manch- 
mal von  Tausenden  von  Arbeitslosen ;  nach  Schluss  der  Meetings  ver- 
anstaltete die  Menge  Umzüge  mit  vorangetragenen  roten  Fahnen. 
Diese  Umzüge  führten  nicht  selten  zu  Zusammenstössen  mit  der 
Polizei. 

Am  13.  November  1892,  am  fünften  Jahrestag  des  „blutigen 
Sonntags",  veranstalteten  die  Arbeiterorganisationen  Londons  auf  dem 
Trafalgar  Square  ein  kolossales  Arbeitslosenmeeting,  auf  dem  sich 
einige  Zehntausend  Menschen  versammelten.  Das  Ministerium 
Gladstones  verhinderte  dieses  Meeting  nicht.  Das  Meeting  nahm  zwei 
Resolutionen  an:  die  erste  begrüsste  die  Wiedereroberung  seitens  der 
Bevölkerung  von  London  des  „Rechtes  auf  öffentliche  Meetings  auf 
ihrem  historischen  Forum",  die  zweite  lautete:  „in  Erwägung,  dass  die 
Zahl  der  Arbeitslosen  in  London  und  im  Vereinigten  Königreich  sich 
täglich  vermehrt  und  während  dieses  Winters  eine  beispiellose  zu 
werden  droht,  in  der  ferneren  Erwägung,  dass  überall  öffentliche 
Arbeiten  verlangt  werden,  wendet  sich  das  Meeting  an  die  Regierung 
und  die  öffentlichen  Institutionen  mit  dem  Vorschlag,  solche  Arbeiten 
zu  veranstalten  und  so  denen  Beschäftigung  zu  verschaffen,  die  nicht 
durch  ihre  Schuld  ohne  Beschäftigung  sind,  sondern  infolge  einer 
ungerechten  Gesetzgebung  und  des  bestehenden  kapitalistischen 
Systems."  ^) 

i)  S.  und  B.  ЛУеЬЬ,  Die  Geschichte  des  Britischen  Trade-Unionismus,  S.  324. 
2)   The  Times  vom    14.  November   1892. 
Tugan -Baruno  WS ky  ,  Die  Handelskrisen.  26 


—      402      — 

Unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  dieser  Agitation  versandte 
die  Regierung  am  14.  November  ein  Cirkular  an  die  Organe  der 
Lokalverwaltung,  das  folgenden  Inhalt  hatte:  „Aus  den  Mitteilungen, 
die  das  Ministerium  der  Lokalverwaltung  erhalten  hat,  geht  hervor, 
dass  gegenwärtig  in  verschiedenen  Teilen  des  Landes  eine  bedeutende 
Not  sich  bemerkbar  macht  infolge  des  Mangels  an  Beschäftigung, 
und  es  scheint  wahrscheinlich,  dass  während  des  bevorstehenden 
Winters  diese  Sachlage  allgemeiner  und  schwieriger  sein  wird.  Das 
Ministerium  ist  davon  überzeugt,  dass  es  in  den  Reihen  derer,  die 
gewöhnlich  die  Hilfe  des  Kirchspiels  nicht  suchen,  Leute  giebt,  die 
schwere  Entbehrungen  leiden  und,  wenn  die  Geschäftsstockung  fort- 
dauern wird,  liegt  genügender  Grund  zur  Befürchtung'  vor,  dass  sehr 
viele  Leute,  die  gewöhnlich  ständig  Arbeit  haben,  in  den  Nothstand 
geraten.  Das  Unabhängigkeitsgefühl,  das  so  viele  Arbeiter  ver- 
anlasst, lieber  allerhand  Opfer  zu  bringen,  als  sich  der  Schmach  des 
Pauperismus  auszusetzen,  verdient  die  grösste  Sympathie  und  Achtung, 
und  es  liegt  im  Interesse  der  gesamten  Gesellschaft,  dieses  Gefühl 
mit  allen  möglichen  Mitteln  aufrecht  zu  erhalten." 

Mit  Rücksicht  hierauf  schlug  die  Regierung  den  Organen  der 
Lokalverwaltung  vor,  zur  Unterstützung  der  Notleidenden  öffentliche 
Arbeiten  in  der  Art  von  Pflasterung  und  Durchlegung  neuer  Strassen, 
Einrichtung  von  Wasserleitungen  u.  s.  w.  vorzunehmen. 

Das  Cirkular  vom  14.  November  bewirkte,  dass  in  96  Ortschaften 
die  Munizipalbehörden  öffentliche  Arbeiten  veranstalteten.  In  weitestem 
Umfang  wurden  diese  Arbeiten  in  London  organisiert,  —  aber  auch 
hier  wurden  dadurch  nicht  mehr  als  einige  Tausend  Arbeiter  be- 
schäftigt. Insgesamt  fanden  bei  diesen  Arbeiten  in  den  77  wichtigsten 
Punkten  Englands  26875   Arbeiter  eine  Beschäftigung^). 

Im  allgemeinen  erwiesen  sich  die  städtischen  öffentlichen  Arbeiten 
in  den  Jahren  1892 — 93  keineswegs  als  ein  glückliches  Experiment. 
So  sagen  die  Verfasser  des  „Report  on  Agencies  and  Methods  for 
Dealing  with  the  Unemployed,"  1893:  „die  vSchlüsse,  die  man  aus  den 
Experimenten  vieler  Ortsbehörden  während  des  verflossenen  Winters 
ziehen  kann,  sind  durchaus  negativer  Art.  Die  spezifische  Gefahr, 
die  dem  Erfolge  der  zeitweiligen  städtischen  Arbeiten  droht,  besteht 
darin,  dass  man  zu  diesen  Arbeiten  jene  Gattung  von  Arbeitslosen 
nicht  heranziehen  kann,  deren  Arbeitslosigkeit  einen  nur  vorüber- 
gehenden Charakter  hat,   zugleich   aber  können   diese  Arbeiten   wohl 


i)  Third  Report  011  Distress  from   Want  of  Ernployment,   Aussage  von  Llewellyn 

Smith,   Q.   4723. 


—      4^3      — 

I  kaum  so  organisiert  Averden,  dass  sie  den  chronisch  Arbeitslosen 
ständig  Beschäftigung  geben  könnten"  i). 

Die  Arbeitslosenmeetings  dauerten  während  des  ganzen  Winters 
1892 — 1893  und  1893 — 94  fort.  Im  Unterhause  regte  einer  der 
wenigen  parlamentarischen  Arbeitervertreter,  Keir  Hardie,  des 
öfteren  die  Frage  der  Arbeitslosenunterstützung  an,  aber  ohne  jedwedes 
praktische  Resultat.  Als  ein  Mittel,  die  Arbeitslosigkeit  zu  bekämpfen, 
bezeichnete  Hardie  die  Einführung  des  8 stündigen  Arbeitstages  und 
die  weitere  Ausdehnung  von  öffentlichen  Arbeiten  jeder  Art. 

Die  Geschäftsstockung  der  90  er  Jahre  war  auf  dem  europäischen 
Festlande  durch  eine  wahre  Epidemie  von  anarchistischen  Attentaten 
gekennzeichnet.  Diese  Epidemie  stand  in  einem  unbestreitbaren 
Zusammenhang  mit  der  Arbeitslosigkeit.  In  England  erfuhr  die 
Agitation  der  Anarchisten  auch  eine  Verstärkung;  die  Arbeitslosen- 
meetings endigten  nicht  selten  mit  Zummenstössen  der  Sozialisten  mit 
den  Anarchisten.  Die  gewöhnliche  Phraseologie  der  Redner  auf 
diesen  Meetings  war  derart,  dass  sie  manchmal  Interpellationen  im 
Parlamente  seitens  der  konservativen  Abgeordneten  zur  Folge  hatte, 
die  sich  darüber  wunderten,  wie  es  die  Regierung  zulassen  könnte, 
dass  die  Redner  die  Menge  öffentlich  zu  Plünderung,  Brandstiftung 
und  sogar  zum  Mord  reicher  Leute  aufforderten ;  natürlich  hatte  das 
alles  keine  ernsthafte  Bedeutung  und  Hess  nur  auf  die  erregte 
wStimmung  der  Arbeitermassen  schliessen.  Die  Arbeitslosigkeit  musste 
notwendigerweise  eine  solche  Stimmung  hervorrufen,  und  Bernard 
Shaw  hatte  zweifellos  recht,  wenn  er  in  seiner  Schilderung  der 
Thätigkeit  der  Fabiangesellschaft  erklärte:  „der  Geist  der  Insurrektion 
wird  bei  der  nächsten  Geschäftsstockung  eben  so  sicher  wieder  er- 
scheinen, wie  die  Sonne  morgen  früh  wieder  aufgehen  wird."  ^) 

Man  kann  durchaus  Kautsky  beistimmen,  wenn  er  sagt: 
„In  der  relativen  Bedeutung  vom  ökonomischen  und  politischen 
Kampfe  lässt  sich  eine  gewisse  Fluktuation  verfolgen,  ähnlich  der 
Wellenbewegung  der  kapitalistischen  Industrie.  So  wie  diese  wechselt 
zwischen  Prosperität  und  Krisis,  so  finden  wir  auch  in  der  Politik 
Zeiten  grosser  Kämpfe,  raschen  Fortschreitens  auf  politischem  Gebiet, 
—  Zeiten  politischer  „Revolution"  —  wechselnd  mit  Zeiten  politischer 
Stagnation,  in  denen  die  Entwickelung  der  ökonomischen  Organisationen, 
die  soziale  „Reform"  in  den  Vordergrund  gerät  ....  Die  Zeiten  der 
Prosperität    sind    naturgemäss  jene,    in   denen    die   allgemeine    gesell- 


i)  Report,  S.  236 — 237. 

2)  Bernard  Shaw,  The  Fabian-Society:  ЛVhat  it  has  done.    London   1892,  S.    10 

26* 


—      4^4     — 

schaftliche  Unzufriedenheit  am  geringsten,  und  das  Streben,  durch 
eigene  Kraft  sich  emporzuarbeiten,  am  aussichtsreichsten,  das  Be- 
dürfnis nach  Anrufung  des  Staats  am  schwächsten.  Nicht  bloss  die 
Kapitalisten,  sondern  auch  die  Arbeiter  legen  da  geringeren  Wert 
auf  die  Politik  und  grösseren  auf  ökonomische  Unternehmungen  und 
Organisationen,  die  sofort  greifbare  Vorteile  versprechen.  In  der 
Krisis  schwindet  die  Aussicht,  auf  dem  Boden  der  reinen  Oekonomie 
vorwärts  zu  kommen,  die  mächtigste  ökonomische  Potenz,  der  Staat 
muss  helfen,  des  Staates  muss  man  sich  bemächtigen,  um  wieder  festen 
Boden  unter  den  P^üssen  zu  bekommen,  die  gesellschaftliche  Un- 
zufriedenheit wächst,  alle  Gegensätze  verschärfen  sich  und  alles  drängt 
auf  den  politischen  Kampf  hin.''^)  Wie  aus  unserer  Darstellung  der 
sozialen  Wirkungen  der  englischen  Handelskrisen  hervorgeht,  ist  der 
Einfluss  des  industriellen  Cyklus  auf  die  Politik  in  England  ganz 
auffallend. 

Die  Jahre  1892 — 93  waren  durch  Riesenstreiks  gekennzeichnet, 
unter  denen  vornehmlich  der  Streik  der  Kohlengräber  der  centralen 
Grafschaften,  der  Zahl  der  Streikenden  nach,  ohne  Beispiel  dasteht. 
Ueber  300000  Kohlengräber  traten  in  den  Streik  ein,  da  sie  in  die 
Herabsetzung  der  Löhne,  die  von  den  Unternehmern  beabsichtigt 
war,  nicht  einwilligen  wollten.  Da  die  Steinkohlen  ein  für  eine  ganze 
Reihe  von  Produktionszweigen  notwendiges  Produkt  darstellen,  so 
hat  man  berechnet,  dass  der  Kohlengräberstreik  zu  der  Arbeits- 
einstellung von  insgesamt  beinahe  einer  Million  Arbeitern  geführt 
hat.  Dieser  Streik  ist  nicht  nur  seinem  Umfang  nach  von  historischer 
Bedeutung.  Während  desselben  wurde  auch  zum  ersten  Male  von 
breiten  Schichten  der  Arbeiterschaft  ein  ganz  neues  Prinzip,  das 
Prinzip  der  living  wages  —  des  Arbeitslohnes,  der  für  das  Leben 
notwendig  ist  —  aufgestellt.  Die  Unternehmer  beharrten  auf  der 
Herabsetzung  der  Löhne,  da  die  Preise  der  Kohlen  gesunken  waren. 
Die  Arbeiter  leugneten  diese  letztere  Thatsache  nicht,  behaupteten 
jedoch,  dass,  wie  niedrig  der  Preis  des  Produktes  und  wie  geringfügig 
die  Profite  der  Unternehmer  auch  sein  möchten,  die  Löhne  nicht  unter 
das,  was  für  eine  menschenwürdige  Existenz  notwendig  sei,  sinken 
dürften.     Der  Streik  endigte  mit  einem  Kompromiss. 

Die  Depression  dauerte  bis  1895.  Der  Anfang  des  Jahres  1895 
brachte  sogar  noch  eine  plötzliche  Zunahme  der  Arbeitslosigkeit  unter 
dem  Einflüsse  einer  ganz  besonderen  Ursache,  des  heftigen  Frostes, 
der   in  England  Ende  Januar  eingetreten   w^ar.     Dieser  Frost  machte 


i)  Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Progrannni,  S.    163,    164. 


—     405      — 

fast  überall  alle  Arbeiten,  die  unter  freiem  Himmel  ausgeführt 
werden  mussten,  unmöglich  und  beraubte  viele  Arbeiter  ihrer  Be- 
schäftigung. 

Um  diese  Zeit  veranstaltete  der  Rat  der  Londoner  Gewerk- 
schaften mit  Hilfe  der  ,, Unabhängigen  Arbeiterpartei"  (die  in  der 
Periode  der  Arbeitslosigkeit  der  90er  Jahre  —  im  Jahre  1893  — 
entstanden  war)  eine  sehr  interessante  Arbeitslosenzählung  in  West 
Ham  (einem  der  Londoner  Bezirke).  Diese  Zählung  wurde  bis  zum 
20.  Januar  1895  vollendet.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  es  in  West 
Ham  bei  einer  Bevölkerung  von  ungefähr  250000  10 140  Arbeitslose, 
darunter  gegen  1000  Frauen  gab.  An  männlichen  Arbeitern,  die 
volle  Beschäftigung  in  West  Ham  hatten,  wurden  28383  gezählt, 
an  Arbeitern,  die  eine  vorübergehende,  zufällige  Beschäftigung  hatten 
6176.  Die  Arbeitslosen  bildeten  mithin  über  20%  ^^^  männlichen 
Arbeiterbevölkerung.  Von  den  9000  beschäftigungslosen  männlichen 
Arbeitern  waren  gegen  2000  gelernte  Arbeiter  —  Maschinenbauer, 
Kupferschmiede,  Schiffbauer,  Matrosen  u.  s.  w.  i). 

Während  des  Winters  1 894-— 1895  wurden  in  den  wichtigsten 
Städten  Englands  öffentliche  Arbeiten  für  Erwerbslose  organisiert. 
Private  Wohlthätigkeitskomitees  waren  auch  in  vielen  Gegenden 
thätig  und  halfen  den  Arbeitslosen  meist  durch  Verteilung  von 
Nahrungsmitteln,  Kleidungsstücken,  Heizungsmaterial  u.  s.  w.  Man 
muss  in  Betracht  ziehen,  dass,  wenn  auch  die  Arbeitslosigkeit  in  den 
Jahren  1894 — 1Ö95  nicht  entfernt  so  bedeutend  war  wie  im  Winter 
1892  — 1893,  man  doch  bereits  den  dritten  Winter  seit  Beginn  der 
Arbeitslosigkeit  zählte.  Die  Mittel  der  Arbeiter  waren  erschöpft, 
und  daher  wurde  die  Not  stärker,  obwohl  der  Zustand  des  Arbeits- 
marktes günstiger  war. 

Anfang  1895  waren  in  Liverpool,  nach  den  Angaben  des 
Sekretärs  der  Gewerkschaft  der  Dockarbeiter,  gegen  18000  Arbeits- 
lose, in  Leeds  gegen  8000.  in  Glasgow  auch  gegen  8000,  in 
Birmingham  zählte  die  Arbeitslosendeputation  15000  Arbeitslose. 
Keir  Hardie  behauptete,  dass  es  im  gesamten  Vereinigten  König- 
reich gegen  1750000  Arbeitslose  ausser  den  Paupers  gegeben  habe, 
aber  natürlich  können  solche  Behauptungen,  die  nur  auf  einem  all- 
gemeinen Eindruck  beruhen,  auf  einen  wenn  auch  nur  entfernten 
Grad  von  Genauigkeit  keinen  Anspruch  erheben  ^). 


1)  First  Report  from  the  Select  Committee  on  Distiess  from  Want  of  Employment. 
1895.     Aussage  von  Percy  Alden  und  Keir  Hardie. 

2)  Vgl.    die   Aussage   von    Keir    Hardie    sowohl    wie    Appendix    No.    5   im    First 
Report  on  Distress  from  Want  of  Employment. 


—      /\o6      — 

In  Liverpool  fanden  die  Arbeitslosenmeetings  eben  so  häufig 
statt  wie  in  London  und  trugen  gleichfalls  einen  stürmischen 
Charakter.  Auf  diesen  Meetings  wurden  nicht  selten  Reden  in  einem 
solchen  Ton  gehalten,  dass  die  Liverpooler  Polizei  in  einen  nervösen 
Zustand  geraten  musste.  Es  kam  zu  Handgemengen,  und  die  Liver- 
pooler Polizei  verbot,  ähnlich  wie  die  Londoner  Polizei  im  Jahre  1887, 
Meetings   auf  dem   Platze    vor   dem    Gebäude    der   Börse   abzuhalten. 

Am  13.  Februar  gelang  es  Hardie,  durchzusetzen,  dass  das 
Parlament  eine  Kommission  einsetzte  zur  Untersuchung  des  durch 
die  Arbeitslosigkeit  entstandenen  Notstandes  und  der  Mittel  gegen  die 
Arbeitslosigkeit.  Aber  das  Parlament  weigerte  sich,  eine  kurze  Frist 
zur  Vorlegung  des  Berichtes  der  Kommission  zu  bestimmen,  wie  das 
Hardie  verlangt  hatte.  Wie  zu  erwarten  war,  legte  daher  die  Kom- 
mission ihren  Bericht  erst  vor,  als  der  Notstand  bereits  vorüber  war. 
Der  letzte  dieser  Berichte  ist  von  einer  anderen  Kommission  vorge- 
legt worden,  die  vom  neuen  Parlament  im  Jahre  1896  eingesetzt 
wurde,  als  die  englische  Industrie  bereits  entschieden  in  die  Phase 
eines  Aufschwungs  eingetreten  war,  dessen  Ende  wir  uns  heute 
nähern. 


Schlussbetrachtungen. 


Die  Arbeitslosigkeit  als  eine  notwendige  Erscheinung  der  kapitalistischen  Wirtschfts- 
ordnung.  —  Schwankungen  in  der  Zahl  der  arbeitslosen  Mitglieder  der  Gewerkvereine  in  den 
verschiedenen  Produktionszweigen.  —  Die  Arbeitslosigkeit  unter  den  Metallarbeitern.  — 
Schwankungen  nach  Saisons  und  nach  den  Phasen  des  industriellen  Cyklus.  —  Warum 
sind  die  cyklischen  Schwankungen  am  stärksten  in  der  Produktion  der  Produktionsmittel?  — 
VerschAvindet  die  Arbeitslosigkeit  mit  der  Weiterentwickelung  des  Kapitalismus  ?  —  Die 
Reservearrriee  des  Kapitalismus  nach  den  Untersuchungen  von  Booth.  —  Die  Arbeits- 
losigkeit der  alten  Leute,  —  Die  Unfähigkeit  des  Kapitalismus,  die  gesamten  Produktiv- 
kräfte der  Gesellschaft  auszunutzen. 

Die  vorliegende  Arbeit  sollte  beweisen,  dass  der  industrielle 
Cyklus,  welcher  die  periodischen  Krisen  zeitigt,  eine  notwendige  und 
unvermeidliche  Bewegungsform  der  kapitalistischen  Industrie  ist. 
Aber  die  Krisen  sind  ein  memento  mori  'für  die  kapitalistische  Wirt- 
schaftsordnung. In  den  Krisen,  sagt  Engels,  hat  „die  ökonomische 
Kollision  ihren  Höhepunkt  erreicht,  die  Produktionsweise  rebelliert 
gegen  die  Austauschweise,  die  Produktionskräfte  rebellieren  gegen 
die  Produktionsweise,  der  sie  entwachsen  sind"  ^). 

Die  Stockung  der  Industrie  kommt  auf  dem  Arbeitsmarkte  in 
der  Arbeitslosigkeit  zum  Ausdruck.  Was  besagen  nun  die  That- 
sachen  für  die  Arbeitslosigkeit  in  England?  Verschwindet  die 
Arbeitslosigkeit   mit   der  Entwicklung   des  Kapitalismus   oder  nicht? 

Die  Arbeitslosigkeit  ist  eine  derart  komplizierte  Erscheinung, 
dass  sie  nicht  Gegenstand  einer  genauen  statistischen  Berechnung 
sein  kann.  Trotzdem  haben  die  englischen  Statistiker  ein  gutes 
Merkmal  gefunden,  um  nicht  die  absolute  Grösse  der  Arbeitslosigkeit, 
wohl  aber  ihre  Veränderungen  in  den  verschiedenen  Zeiten  lu  be- 
stimmen. Dieses  Merkmal  ist  der  Prozentsatz  der  arbeitslosen  Mit- 
glieder der  Gewerkvereine,  die  von  diesen  Vereinen  unterstützt 
werden.  Die  Bedeutung  dieses  Merkmals  wird  dadurch  abgeschwächt, 
dass  bei  weitem  nicht  alle  Gewerkvereine  solche  Unterstützungen 
gewähren  und  dem  englischen  Arbeitsdepartement  die  entsprechenden 

i)  Herrn  Eugen  Düh rings  Umwälzung  der  Wissenschaft,  3.  Aufl.,  S.  297. 


—      4o8      — 

Daten  zustellen.  Ausserdem  giebt  dieses  Merkmal  keinerlei  Hinweis 
auf  die  Arbeitslosigkeit  unter  der  breiten  Masse  der  nicht  organi- 
sierten Arbeiter.  Da  wir  aber  kein  anderes  Merkmal  besitzen,  müssen 
wir  dieses  benutzen. 

In  dem  angeführten  Diagramm  (S.  409)  sind  für  die  Jahre 
1887  — 1899  die  Schwankungen  im  englischen  Export  und  im  Pro- 
zentsatz der  arbeitslosen  Mitglieder  der  Gewerkvereine  in  einigen 
Industriezweigen  nach  den  Daten  des  englischen  Arbeitsdepartements 
zusammengestellt. 

Die  cyklischen  Schwankungen  in  der  Zahl  der  Arbeitslosen 
treten  auf  diesem  Diagramm  mit  voller  Klarheit  hervor.  Wir  sehen, 
dass  diese  Schwankungen  den  Schwankungen  des  Exports  genau 
entgegengesetzt  verlaufen.  Daraus  können  wir  auf  die  Ursache  der 
Schwankungen  der  Arbeitslosigkeit  schliessen.  Diese  letzteren  stehen 
offenbar  in  einem  Zusammenhang  mit  den  Phasen  des  industriellen 
Cyklus. 

Halten  wir  uns  bei  jeder  dieser  Kurven  der  Arbeitslosigkeit 
auf.  Die  Kurve  der  Arbeitslosigkeit  in  den  Industriezweigen,  die  die 
Instrumente  und  die  Produktionsmittel  der  kapitalistischen  Industrie 
erzeugen,  schwankt  am  stärksten  und  am  regelmässigsten.  Der  in- 
dustrielle Cyklus  kommt  in  ihr  zum  klarsten  Abdruck.  Die  beiden 
anderen  Kurven  der  Arbeitslosigkeit  schwanken  in  viel  schwächerem 
Grade. 

Wir  sehen,  dass  zur  Zeit  der  letzten  Periode  der  Arbeitslosig- 
keit am  Anfang  der  90  er  Jahre  in  so  wichtigen  Produktionszweigen 
wie  der  Maschinenbau,  der  Schiffbau  und  die  Metallbearbeitung  (die 
erste  Kurve)  der  Prozentsatz  der  Arbeitslosen  mehr  als  1 1  %  betrug. 
Wenn  wir  die  Veränderungen  in  der  Zahl  der  Arbeitslosen  im  letzten 
Jahrzehnt  vergleichen,  werden  wir  keine  Verbesserung  bemerken. 
Wenn  man  nach  der  Zahl  der  Arbeitslosen  in  der  Maschinenbau- 
industrie urteilt,  war  die  Arbeitslosigkeit  der  Jahre  1893 — 1894  sogar 
stärker  als  die  des  Jahres  1887.  Der  neueste  industrielle  Aufschwung, 
der  sich  heute  seinem  Ende  nähert,  ist  durch  eine  grössere  Arbeits- 
losenzahl gekennzeichnet  als  der  Aufschwung  am  Ende  der  80er 
Jahre.'  Nur  in  der  Bauindustrie  sehen  wir  etwas  anderes:  die  Zahl 
der  Arbeitslosen  sinkt  im  allgemeinen,  und  die  letzten  Jahre  sind 
durch  einen  sehr  unbedeutenden  Prozentsatz  der  Arbeitslosen  charak- 
terisiert. 

Aber,  wie  gesagt,  der  Prozentsatz  der  Mitglieder  der  Gewerk- 
vereine, die  als  Arbeitslose  eine  Unterstützung  erhalten,  bringt  die 
wirkliche     Zahl     der    Arbeitslosen     durchaus    nicht    zum    Ausdruck. 


40Q 


in  Millionen 
Pf.St. 


I 


Proceatsatz 
derArbeitslosen 


Prozentsatz  der  arbeitslosen 

Mitglieder 

Wert  der  Ausfuhr 

der  Trade  Unions 

der  Produkte 
des  Vereinigten 

Jahre 

Maschinen-  und 

Buchdrucker-  und 

Königreichs 

Schiffbau  und  die 

Buchbinder- 

Bauindustrie 

(in  Millionen 

Metallbranche 

gewerbe 

Pfd.  St.) 

1887 

9,4 

2,9 

5,9 

222 

1888 

6,0 

2,4 

5,5 

235 

1889 

2,3 

2,5 

3,3 

249 

1890 

2,2 

2,2 

2,2 

264 

1891 

4,1 

4,0 

2,5 

247 

1892 

1.1 

4,3 

3,0 

227 

1893 

11,4 

4,1 

3,8 

218 

1894 

1 1,2 

5,6 

4,1 

216 

1895 

8,2 

4,9 

3,8 

226 

1896 

4,2 

4,3 

1,8 

•240 

1897 

4,8 

3,9 

1,6 

234 

1898 

4,0 

3,7 

1,3 

233 

1899 

2,4 

3,9 

1,5 

255 

—      4IO      — 

Erstens  haben  bei  weitem  nicht  alle  arbeitslose  Mitglieder  der  Ge- 
werkvereine, die  solche  Unterstützung  gewähren,  das  Recht  auf 
diese  Unterstützung.  So  hatten  nach  dem  Report  on  the  Unemployed 
nur  50  Yo  d^r  Mitglieder  der  SchifFbaugewerkschaft  einen  Anspruch 
auf  diese  Unterstützung,  von  den  Eisengiessern  hatten  diesen  An- 
spruch 88  ^/oi  es  giebt  auch  andere  Ursachen,  welche  dazu  führen,  dass 
die  wirkliche  Zahl  der  arbeitslosen  Mitglieder  der  Gewerkvereine  die 
Zahl  derer,  die  eine  Unterstützung  erhalten,  bedeutend  übertrifft. 
Vor  allem  aber  muss  man  nicht  vergessen,  dass  den  Gewerkvereinen 
nur  eine  unbedeutende  Minderheit  der  Arbeiter  angehört,  und  zwar 
haben  nach  den  letzten  Daten  den  Ge  werk  vereinen  nur  2 1  ^/q  der 
erwachsenen  männlichen  Arbeiter  des  Vereinigten  Königsreichs  und 
12^/0  der  erwachsenen  Arbeiterinnen  angehört.  Wenn  wir  die  land- 
wirtschaftlichen Arbeiter  ausnehmen,  so  steigt  die  Zahl  der  männlichen 
Arbeiter,  die  den  Gewerkvereinen  angehören,  auf  25  ^/q.  Unter  den 
Bergarbeitern  gehören  gegen  36  ^/0  Gewerkvereinen  an,  unter  den 
Arbeitern  der  Textilindustrie  27  ^o  ^^-  s.  w. 

Die  Prozentsätze  der  Arbeitslosen  in  unserem  Diagramm  be- 
sagen gar  nichts  über  die  Arbeitslosigkeit  unter  der  breiten  Masse 
der  nicht  organisierten  Arbeiter.  Zwar  unterliegt  der  Maschinenbau 
bedeutend  stärkeren  Schwankungen  als  andere  Industriezweige,  und 
wenn  in  der  Maschinenbauindustrie  der  Prozentsatz  der  arbeitslosen 
Mitglieder  der  Gewerkschaften  in  den  Jahren  1893 — 1894  mehr  als 
1 1  Yq  betrug,  so  dürfen  wir  daraus  noch  nicht  schliessen,  dass  in  den 
anderen  Industriezweigen  der  Prozentsatz  der  Beschäftigungslosen 
unter  den  organisierten  Arbeitern  ebenso  gross  war.  Aber  anderer- 
seits kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  unter  den  nicht 
organisierten  Arbeitern  die  Arbeitslosigkeit  viel  stärker  ist  als 
unter  den  organisierten.  In  den  Arbeiterorganisationen  befinden 
sich  die  leistungsfähigeren  Arbeiter,  die  Arbeitslosigkeit  muss  aber 
mit  ihrer  Wucht  am  schwersten  die  schwächsten  treffen.  Wenn  die 
Nachfrage  nach  Arbeit  sinkt,  so  müssen  am  ehesten  diejenigen 
Arbeiter  die  Beschäftigung  verlieren,  deren  Arbeit  am  wenigsten 
produktiv  ist.  Daher  kann  man  mit  voller  Zuversicht  behaupten,  dass 
unter  den  nichtorganisierten  Arbeitern  die  Arbeitslosigkeit  viel  stärker 
sein  muss  als  unter  den  organisierten,  aber  um  wieviel  stärker,  dafür 
fehlen  selbst  annähernde  Daten. 

Als  eine  gewisse  Grundlage  für  eine  Vorstellung  von  dem 
wirklichen  Umfang  der  Arbeitslosigkeit  können  die  im  vorigen 
Kapitel  angeführten  Daten  der  Arbeitslosenzählungen  in  einigen  Be- 
zirken Londons  in  den  Jahren   1887   und   1894  dienen.     Wir  erinnern 


p 


—    411    — 

daran,  dass  nach  den  Daten  der  ersten  Zählung  27  %'  "^ch  denen 
der  zweiten  Zählung  über  20%  ^^^  männlichen  Arbeiter  arbeitslos 
waren. 

Auf  Grund  dieser  Zählungen  darf  man  annehmen,  dass  der 
Prozentsatz  der  Arbeitslosen  unter  der  industriellen  Bevölkerung  in 
den  Jahren  der  Geschäftsstockung  ein  sehr  hoher  ist  und  jene  nicht 
sehr  bedeutenden  Zahlen,  die  in  den  Berichten  der  Gewerkvereine 
verzeichnet  werden,  weit  hinter  sich  zurück  lässt. 

Wir  wollen  jedoch  zur  detaiUierten  Betrachtung  der  Schwan- 
kungen der  Arbeitslosigkeit  in  den  einzelnen  Industriezweigen  zurück- 
kehren. Wir  haben  gesehen,  dass  die  cyklischen  Schwankungen  am 
schärfsten  in  den  Produktionszweigen,  die  Produktions-  und  Transport- 
mittel produzieren,  zum  Ausdruck  kommen.  Dieselbe  Erscheinung  be- 
obachten wir,  wenn  wir  mit  den  Jahresschwankungen  des  Prozent- 
satzes der  Arbeitslosen  die  Saisonschwankungen  der  Arbeitslosigkeit 
je  nach  der  Jahreszeit  vergleichen. 

In  der  auf  S.  412  angeführten  Tabelle  ist  diese  Zusammenstel- 
lung für  jeden  Produktionszweig  gemacht^). 

Die  horizontalen  Zahlenreihen  bringen  die  cyklischen  (Jahres)- 
Schwankungen  zum  Ausdruck,  die  vertikalen  Reihen,  die  Saison- 
(Monats-)  Schwankungen.  In  der  Bauindustrie  sind  die  Saison-  und 
die  cyklischen  Schwankungen  beinahe  gleich  stark.  Die  grösste 
Zahl  der  Arbeitslosen  in  der  Bauindustrie  ist  im  Januar  zu  beob- 
achten (4,7  ö/o,  wenn  wir  die  Durchschnittszahl  für  sieben  Jahre  nehmen), 
die  geringste  Zahl  der  Arbeitslosen  haben  wir  im  August  (1,9%). 
Die  Jahresschwankungen  sind  um  einiges  stärker  als  die  Monats- 
schwankungen: im  Jahre  der  grössten  Arbeitslosigkeit  (1894)  waren 
durchschnittlich  4,1  %  Arbeitslose  und  im  Jahre  der  geringsten 
Arbeitslosigkeit  (1898)  1,3  Vo-  I^  der  Metallbranche  sind  dagegen 
die  Monatsschwankungen  ganz  geringfügig:  der  Monat  der  grössten 
Arbeitslosigkeit,  der  Dezember  (8,3  %  Arbeitslose),  übertrifft  nur  um 
ein  weniges  den  Monat  der  geringsten  Arbeitslosigkeit,  den  Juni 
(6,3  %  Arbeitslose).  Zugleich  aber  sind  die  cyklischen  Schwan- 
kungen sehr  gross  (11,4 — 4,0%).  Im  Buchdruckerei-  und  Buch- 
bindereigewerbe sind  die  Saison-  sowohl  wie  die  cyklischen  Schwan- 
kungen unbedeutend. 

Also  die  grössten  cykhschen  Schwankungen  finden  in  der 
Metallbranche  statt.  Leider  können  wir  in  diesem  Falle  nur  drei 
Industriezweige   miteinander   vergleichen,    weil   nur  für   diese  Zweige 


l)  Nach  dem   Fifth  Annual  Abstract  of  Labour  Statistics. 


—   4' -2 


1892 


i893 


1894 


1895 


1896 


1897 


1898 


Im    Durch- 
schnitt für 
7  Jahre 


Prozentsatz  der  Arbeitslosen  in  der  Bauindustrie 


Ende : 
Januar . 
Februar     . 
März    . 
April    .     . 
Mai      .     . 
Juni 

Juli  .  . 
August 
September 
Oktober  . 
November 
Dezember 


3.3 

3,8 
4,4 
4.5 
2,8 

2,3 
2,3 
2,1 

2,1 

2,4 
3,2 
3,0 


6,1 

7,3 

8,2 

3,7 

2,4 

2,0 

5,0 

4,4 

10,1 

2,5 

2,0 

1,7 

3,8 

3-,8 

4,9 

2,6 

1,2 

1,6 

2,5 

3,1 

3,3 

1,5 

1,0 

1,1 

2,5 

3,6 

2,5 

1,6 

0,8 

1,2 

2,6 

3,8 

2,5 

1,5 

^,5 

1,2 

2,8 

3,6 

2,4 

1,8 

1,3 

1,0 

2,8 

3,2 

1,8 

1,1 

1,2 

0,9 

3,1 

3,6 

1,6 

1,3 

»,4 

0,9 

3,9 

3,8 

1,9 

0,9 

1,7 

0,9 

4.0 

4,2 

2,1 

0,9 

1,6 

1,1 

6,5 

5,7 

3,8 

2,1 

2,8 

1,8 

3,8 

4,1 

3,8 

1,8 

1,6 

1,3 

4,7 
4,2 

3,2 
2,4 
2,1 
2,2 
2,2 

1,9 
2,0 

2,2 

2,4 

3,7 


Im  Durchschnitt  pro  Jahr 


3,0 


2,8 


Prozentsatz  der  Arbeitslosen  im  Maschinen- 
und  in  der  Metallbranche 


und  Schilfbau 


Ende : 
Januar . 
Februar     . 
März    .     . 
April    .     . 
Mai      .      . 
Juni      .     . 
Juli       .     . 
August 
September 
Oktober    . 
November 
Dezember 


5,5 
6,1 

7,2 

7,5 
7,2 
7,0 
7,3 
7,1 
7,3 
8,7 
10,5 
1 1,1 


12,0 
1 1,6 
10,8 
10,4 
10,5 
10,0 
10,7 

11,4 
12,2 
12,2 
12,4 
12,6 


10,7 
9,7 
10,5 
10,1 
10,0 

9,9 
12,0 

12,5 
12,4 

12,3 
11,5 
12,3 


11,4 
10,7 

9,2 

8,7 
8,1 

7,8 
7,5 
7,3 
7,2 
7,6 
6,4 
6,7 


5,7 
4,7 
4,1 
3,8 
3,8 
3,7 
3,7 
4,1 
4,7 
4,2 
3,8 
3,9 


3,5 
3,1 
2,9 
2,9 

2,5 
2,9 
3,4 
4,8 
6,7 

7,9 
8,0 

8,7 


Ы 
7,0 

4,5 
4,0 

3,2 

3,1 

3,3 
3,3 

3,1 

3,0 

2,6 

3,2 


8,1 
7,6 
7,0 
6,8 

6,5 
6,3 
6,8 

7,2 

7,7 
8,0 

7,9 
8,3 


Im  Durchschnitt  pro  Jahr 


7,7 


11,4 


11,2 


8,2 


4,3 


4,8 


4,0 


7,4 


Prozentsatz  der  Arbeitslosen  in  Buchdruckereien  und 
Buchbindereien 


Ende: 
Januar . 
Februar     . 
März    . 
April    .     . 
Mai      .     . 
Juni 

Juli  .  . 
August 
September 
Oktober  . 
November 
Dezember 


4,6 
5,0 
2,9 
2,9 

2,3 

3,4 
3,2 
4,3 

4,3 
Ы 
6,3 
3,7 


Im  Durchschnitt  pro  Jahr  4,3 


3,8 
3,3 

2,8 

2,6 
2,6 
2,8 
3,0 
6,3 
6,3 
5,2 
3,8 
6,0 


6,1 

5,7 
5,4 
4,9 
6,0 

6,4 
6,1 

7,5 
6,5 

5;I 

3,7 
4,5 


4,1 


5,7 


5,3 
4,8 
4,9 
5,4 
5,6 
5,5 
4,1 
6,7 
5,7 
3,8 

2,5 

4,1 


4,9 


5,4 
4,9 
4,6 
4,4 
4,8 
4,8 
3,8 
5,6 
5,0 
3,4 
2,3 
3,0 


4,3 


4,8 
4,4 
3,6 
3,7 
3,4 
4,4 
3,1 
5,3 
5,4 
3,5 

2,5 

3,1 


3,9 


4,9 
3,6 
3,0 
3,1 
3,6 
3-8 
3,0 
4,6 
4,6 

3,3 
2,4 
2,9 


3,7 


5,0 
4,5 
3,9 
3,9 
4,0 

4,4 
3,8 
5,8 
5,4 
4,6 
3,4 
4,0 


4,4 


413     — 


das  englische  Arbeitsdepartement  Daten  über  die  Arbeitslosen  zahl 
veröffentlicht.  Man  kann  jedoch  ein  indirektes  Merkmal  finden,  um 
die  Intensität  der  cyklischen  Schwankungen  in  allen  wichtigsten 
Produktionszweigen  zu  bestimmen.  Als  dieses  Merkmal  können  die 
Daten  über  die  jährlichen  Veränderungen  der  Löhne  in  den  ver- 
schiedenen Produktionszweigen  gelten.  In  der  folgenden  Tabelle 
ist  für  das  Jahrfünft  1893  -1897  für  verschiedene  Produktions- 
zweige der  Prozentsatz  der  Arbeiter  zusammengestellt,  deren  Löhne 
sich  im  Laufe  des  Jahres  verändert  haben  i). 


Produktionsart 


Prozentsatz  der  Zahl  der  Arbeiter,  deren  Löhne 

sich  während  des  Jahres  verändert  haben,  zu  der 

Gesamtzahl    der    Arbeiter,    die    im    betreffenden 

Industriezweig  beschäftigt  sind. 


1893 


1894 


1895 


1896 

1897 

10,8 

10,1 

24.7 

29,8 

23,4 

18,7 

0,8 

0,7 

0,6 

0,3 

0,3 

0.5 

5,0 

2,5 

1.9 

3-3 

0,7 

0,8 

Im    Durch- 
schnitt für 
5  Jabre 


Bauindustrie 

Erz-  tmd  Kohlengewinnung      .... 

Metallbearbeitung,  Maschinen-  und  Schiff- 
bau   

Textilindustrie 

Konfektionsindustrie 

Buchdruckgewerbe 

Holzindustrie 

Glas-  und  Keramische  Industrie  . 

Chemische  Industrie,  Nahrungsmittel-  und 
Tabakindustrie 


SA 
3^,9 

1 1,0 

4,4 
0,6 
0,4 
0,2 
0,1 

0,1 


4,0 
64,2 

5,3 
1,2 
0,9 

o<3 

0,4 

1.9 
0,03 


3.0 
39.0 

4.5 
1,3 
0,3 
0,2 

0.5 

2,2 

0,2 


6,7 
38,9 

12, Ь 
1.7 
o,5 
0.3 
1,7 
1.9 

0,4 


Diese  Tabelle  zeigt,  dass  den  grössten  Schwankungen  ausgesetzt 
sind  die  Löhne  in  den  Produktionszweigen,  die  Produktionsmittel  er- 
zeugen, insbesondere  die  in  der  Erz-  und  Steinkohlenindustrie  und  in 
der  Metallbranche.  In  der  Textilindustrie,  wie  in  anderen  Zweigen 
der  die  Konsumtionsmittel  produzierenden  Industrie  sind  die  Schwan- 
kungen der  Löhne  ganz  geringfügig. 

Diese  Daten  stimmen  vollkommen  mit  der  in  diesem  Buch  dar- 
gelegten Krisentheorie  überein.  Wie  dem  Leser  erinnerlich  sein 
dürfte,  werden  nach  dieser  Theorie  die  periodischen  Krisen  durch 
eine  periodische  Schaffung  des  gesellschaftlichen  stehenden  Kapitals 
hervorgerufen.  Wäre  diese  Theorie  richtig,  so  müssten  die  grössten 
cyklischen  Schwankungen  sich  in  der  Produktion  von  Maschinen  und 
Werkzeugen  (in  dem,  was  Bagehot  die  instrumental  trades  ge- 
nannt hat),  und  in  der  Produktion  von  Metallen  und  Steinkohlen,  die 
für  die  Maschinen  Bau-  und  Heizungsmaterial  bilden,  zeigen.  Und 
das  ist  in  der  That  der  Fall. 


i)  Nach  dem  Report  and  Statistical  Tables   relating  to  Changes  in  Rates  of  Wages 
and  Hours  of  Labour  in  the  United  Kingdom  in    1897,    1898. 


—     414     — 

Es  ist  interessant  etwas  bei  dem  Baugewerbe  zu  verweilen. 
Wir  haben  oben  gesehen,  dass  im  Baugewerbe  die  cykHschen 
Schwankungen  der  Arbeitslosigkeit  nicht  bedeutend  sind.  Die  letzten 
Jahre  sind  im  Baugewerbe  durch  einen  ausserordentlich  niedrigen 
Prozentsatz  der  Arbeitslosen  gekennzeichnet.  Die  Daten  über  die 
Pföhe  der  Löhne  im  Baugewerbe  (wir  führen  diese  Daten  nicht  an) 
zeigen,  dass  das  Baugewerbe  die  einzige  Industrie  ist,  in  der  in  den 
letzten  Jahren  die  Löhne  ununterbrochen  stiegen  in  den  Jahren  der 
Depression  sowie  des  Aufschwungs.  Die  so  überaus  günstige  Lage 
der  Bauindustrie  erklärt  sich  dadurch,  dass  die  Bauindustrie  nicht 
für  den  Weltmarkt,  sondern  ausschliesslich  für  den  lokalen  Markt 
arbeitet;  sie  hat  die  Konkurrenz  des  Auslandes  nicht  zu  fürchten 
und  durch  den  Stempel  „Made  in  Germany"  wird  sie  nicht  bedroht. 
Zugleich  wird  die  Nachfrage  nach  der  Bauarbeit  nicht  nur  durch 
den  Zustand  der  Industrie,  sondern  auch  durch  das  Wachstum  der 
Bevölkerung  bestimmt  Da  aber  das  Wachstum  der  Bevölkerung 
viel  gleichmässiger  als  das  Wachstum  der  Industrie  vor  sich  geht,  so 
leidet  auch  das  Baugewerbe  von  Geschäftsstockung  weniger  als  z.  B. 
der  Maschinenbau,  der  die  Produktionsmittel  der  Industrie  her- 
stellt. Das  Baugewerbe,  das  gleichzeitig  Produktionsmittel  (Werk- 
stätten) und  Konsumtionsmittel  (Wohnungen)  erzeugt,  vereinigt  in 
sich  die  Züge  der  beiden  Hauptabteilungen  der  Industrie  (der  Pro- 
duktion von  Produktionsmitteln  und  der  von  Konsumtionsmitteln), 
und  daher  werden  die  cyklischen  Schwankungen  in  der  Bauindustrie, 
obwohl  sie  ganz  klar  zum  Ausdruck  kommen,  nicht  so  gross  wie  im 
Maschinenbau  und  der  Metall-  und  Steinkohlenproduktion. 

Sind  die  in  diesem  Buche  niedergelegten  Anschauungen  über 
die  Ursachen  der  Krisen  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft  richtig, 
so  kann  nichts  irrtümlicher  sein  als  die  Ansicht,  die  von  einigen 
Schriftstellern  (z.  B.  von  Bernstein)  neuestens  ausgesprochen  wird, 
dass  die  neueste  Entwicklung  des  Kapitalismus  die  Gefahr  des 
periodischen  Eintretens  von  Krisen  beseitigt  habe.  Allerdings  haben 
die  Krisen  des  früheren  Typus  aus  Gründen,  auf  die  oben  hingewiesen 
wurde,  in  England  aufgehört.  Die  früheren  Krisen  glichen  einem 
Sturmwinde,  der  rasch  über  das  Land  hinfegte  und  alles  auf  seinem 
Wege  zerstörte,  aber  eben  so  schnell  wieder  verschwand.  Jetzt  ist 
die  Krisis  nicht  mehr  ein  akuter  Krankheitsanfall,  sondern  eine  sich 
in  die  Länge  ziehende  Krankheit;  so  war  z.  B.  die  Weltkrisis  von 
1857  eine  wahre  ökonomische  Katastrophe,  die  in  kurzer  Zeit  die 
Handelsthätigkeit  der  gesamten  kapitalistischen  Welt  gestört  und  sie 
beinahe  zu  einem  vollständigen  Stillstand  gebracht  hat.     Alles  schien 


—     4^5      — 

zusammengebrochen  und  darniedergefallen  zu  sein.  Aber  bereits 
nach  einem  Jahre  waren  die  Spuren  der  Krisis  fast  verwischt  und 
i  die  Industrie  war  belebter  als  je  zuvor.  Daher  nimmt  es  nicht  Wunder, 
?  dass  die  alten  Krisentheoretiker  (allerdings  aus  der  Zahl  der  Apologeten 
\  der  kapitalistischen  Wirtschaftsweise,  wie  J.  B.  Say)  die  Krisen  mit 
einem  Gewitter  verglichen,  das  Bäume  bricht,  aber  die  Atmosphäre 
>  reinigt  und  die  Felder  erfrischt.  Jedoch  auf  die  Krisen  der  Gegenwart 
würde  selbst  ein  eingefleischter  Optimist,  der  immer  bereit  wäre  zu 
jubeln  und  auf  das  Bestehende  Lobeshymnen  zu  singen,  nicht  eine 
solche  Charakteristik  anwenden.  In  England  gab  es  keine  Handels- 
katastrophe zu  Beginn  der  80  er  Jahre,  und  trotzdem  befand  sich 
die  Industrie  ungefähr  vier  Jahre  hindurch  in  der  schwersten  Stockung. 
Ebenso  rief  der  Zusammenbruch  der  Firma  Bar  in  g  im  Jahre  i8go 
keine  allgemeine  Erschütterung  des  englischen  Kredites  hervor,  und 
trotzdem  zog  sich  die  Geschäftsstockung  über  3  bis  4  Jahre  hin.  Die 
Börsenpanik  und  die  Bankerotte  treffen  mit  ihrer  Wucht  die  Unter- 
nehmer und  die  besitzenden  Klassen;  unter  einer  Geschäftsstockung 
leiden  am  schwersten  die  Arbeiter.  Daher  kann  man  sagen,  dass 
ein  Vergleich  zwischen  den  Krisen  der  Gegenwart  und  denen  der 
fünfziger  und  sechziger  Jahre  nicht  zu  Gunsten  der  Krisen  des  neuen 
Typus  ausfällt. 

Viele  glauben,  dass  die  Krisen  durch  das  weitere  Wachstum 
•von  verschiedenerlei  Unternehmerverbänden,  Kartellen,  Syndikaten, 
Trusts  beseitigt  werden  können,  da  diese  die  Tendenz  haben,  direkt 
oder  indirekt  die  nationale  Produktion  zu  regeln.  Wir  sind  durch- 
aus nicht  geneigt,  die  Bedeutung  solcher  Verbände  zu  unterschätzen; 
ihre  allgemeine  Verbreitung  ist  in  unseren  Augen  der  beste  Beweis 
für  den  Bankerott  des  Prinzips  der  freien  Konkurrenz  im  Wirtschafts- 
leben der  Gegenwart  und  für  die  Notwendigkeit  einer  planmässigen 
Organisation  der  gesellschaftlichen  Produktion.  Die  Kartelle  stellen 
einen  höchst  bedeutenden  Fortschritt  der  kapitahstischen  Wirtschaft  auf 
dem  Wege  der  Konzentration  des  Betriebes  dar.  Aber  immerhin  halten 
wir  es  für  ganz  unmöglich^  dass  die  Kartelle  den  industriellen  Cyklus 
aufheben.  Ein  Kartell  kann  in  einem  einzelnen  Industriezweig  eine 
planmässige  Organisation  der  Produktion  einführen;  aber  das  gegen- 
seitige Verhältnis  solcher  organisierten  Produktionszweige  bleibt 
ebenso  unorganisiert  und  planlos  wie  früher.  Die  Kartelle  ver- 
hindern durchaus  nicht,  dass  das  Eisenbahnnetz  heute,  wie  früher, 
stossweise  erweitert  wird,  dass  das  neue  gesellschaftliche  stehende 
Kapital  nicht  allmählig  von  Jahr  zu  Jahr,  sondern  periodisch  geschaffen 
wird.      Der    ganze    Mechanismus    der  Akkumulation  des   freien  Leih- 


—     4i6     — 

kapitals  bleibt  durch  die  Kartelle  unberührt.  Der  industrielle  Cyklus 
ist  im  inneren  Wesen  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung"  be- 
gründet —  und  nur  die  Aufhebung  der  kapitalistischen  Wirtschaft 
kann  der  periodischen  Wiederkehr  der  Depressionen  vorbeugen.  Zwar 
können  die  Kartelle  die  Schroffheit  des  Uebergangs  von  Aufschwung 
zu  Stockung  mildern.  Die  Kartelle  können  das  Sinken  der  Warenpreise 
durch  plan  massige  Einschränkung  der  Produktion  abschwächen.  Die  Ein- 
schränkung der  Produktion  ist  aber  für  die  Arbeiter  gleichbedeutend 
mit  einer  Arbeitslosigkeit.  Gerade  die  Einschränkung  der  gesell- 
schaftlichen Produktion  ist  ja  der  Uebelstand,  gegen  den  angekämpft 
werden  muss.  Gegen  diesen  Uebelstand  sind  die  Kartelle  machtlos. 
Die  Bedeutung  der  Kartelle  für  die  Unternehmer  besteht  eben  darin, 
dass  sie  die  Last  der  Depression  von  den  Unternehmern  auf  die 
Arbeiter  abwälzen,  wobei  sie  mit  Erfolg  die  Interessen  der  Unter- 
nehmer durch  Regulierung  der  Preise  der  Produkte  schützen,  wovon 
ja  die  Profite  des  Kapitalisten  abhängen.  Nur  in  dem  Falle  könnten 
die  Kartelle  den  industriellen  Cyklus  aufheben,  wenn  sie  nicht  nur 
die  einzelnen  Indusriezweige,  sondern  auch  die  Akkumulation  des 
gesamten  gesellschaftlichen  Kapitals  und  seine  planmässige  Anlage 
in  den  verschiedenen  Industriezweigen  regelten,  und  zwar  nicht  nur 
in  einzelnen  Ländern,  sondern  in  der  gesamten  kapitalistischen  Welt- 
wirtschaft überhaupt.  Kann  man  aber  eine  solche  Wirtschaftsordnung 
als  möglich  betrachten?  Das  wäre  ein  Kollektivismus  in  Interessen 
der  wenigen  Kapitalisten.  Die  Arbeiterklasse  wäre  unter  solchen  Be- 
dingungen der  organisierten  Kapital! stenklasse  gegenüber  ganz  ohn- 
mächtig, welche  das  gesamte  gesellschaftliche  Leben  in  ihrem  Interesse 
regeln  würde.  Auf  dem  Wege  einer  Verwirklichung  einer  solchen 
Wirtschaftsordnung  ständen  grössere  Schwierigkeiten  da,  als  auf 
dem  Wege  der  Verwirklichung  des  Sozialismus,  da  die  sozialistische 
Organisation  der  Volkswirtschaft  ihrer  Idee  nach  eine  Organisation 
im  Interesse  der  grossen  Mehrzahl  der  Bevölkerung  werden  muss, 
während  die  kapitalistische  Organisation  nur  im  Interesse  der  kleinen 
Minorität  der  Bevölkerung  geschehen  kann.  Daher  muss  man  eine 
kapitalistische  Organisation  der  Volkswirtschaft  als  eine  wahre  Utopie 
betrachten.  Die  kapitalistische  Wirtschaftsordnung  muss  planlos 
bleiben. 

Vermindert  sich  die  Arbeitslosigkeit  in  der  neuesten  Phase  der 
Entwickelung  der  enghschen  Wirtschaft?  Die  Statistik  kann  darauf 
keine  Antwort  geben,  aber  viele  Umstände  veranlassen  uns,  vielleicht 
das  Gegenteil  anzunehmen. 


—      4^7      — 

Einige  hervorragende  Forscher  des  englischen  Wirtschaftslebens 
>  stehen  dabei    uns   zur  Seite.      So    erklärt  z.  B.  Hobson:   „Der  allge- 
meine   Zustand   des   Arbeitsmarktes   in   England   ist   durch   eine  Ver- 
mehrung der  Schwankungen  gekennzeichnet  und  die  unproduktive  Ver- 
ausgabung   von    Arbeitskraft    ist    gegenwärtig     grösser    als    vor   50 
(   Jahren."  1)      Charles  Booth   erklärte    vor  der  Parlamentskommission, 
:    die    die    Arbeitslosigkeit    im   Jahre    1895    zu   untersuchen   hatte,   dass, 
*    nach    seiner    Meinung,     „die    verbesserte    Organisation    der    Industrie 
■    unbestritten    nach    einer   grösseren   Stetigkeit    der  Beschäftigung  hin- 
strebe.      Aber    auf    diesem    Wege    wird    sie    unmittelbar    gegen    die 
Arbeitslosen  wirken.     Sie  schafft  eine  grössere  Zahl  von  Arbeitslosen, 
,    sie  begünstigt  die  besseren  Arbeiter.     Je  grösser  der  Teil  der  Arbeit, 
die  regelmässig  ausgeführt  wird,  desto  weniger  bleibt  für  solche  übrig, 
die    unregelmässig    arbeiten.      Das   ist    es  gerade,    was    die  Lage  der 
rein  zufälligen  Arbeiter  verschlechtern  muss.     Vor  dem  Dockerstreik 
hielt  es  die  A^erwaltung  der  Docks  für  sehr  vorteilhaft,  dass  sich  zur 
Arbeit    in    den  Docks    möglichst    viele  Mitbewerber    meldeten.      Seit 
dem   Streik    hat    sich    das    geändert,    und    der    Vorsitzende    des   Ver- 
einigten Komitees  der  Docks,  Mr.  Hubbard,  macht  alle  Anstrengungen, 
um  die  Zahl  der  zufälligen  Arbeiter  zu  vermindern.     Er  ist  stets  be- 
müht, die  Arbeit,    die  den  regulären  Arbeitern  zufällt,  zu  vermehren. 
Die  Folge   davon   ist   offenbar  die,   dass   für   die  irregulären  Arbeiter 
immer  weniger  und  weniger  Arbeit  übrig  bleibt,  und  diesen  Umstand 
kann  man  als  eine  der  Ursachen  der  Not  betrachten,  die  im  East-end 
von  London  herrscht."  2) 

In  demselben  Sinne  sprach  sich  auch  der  Chef  des  englischen 
Arbeitsdepartements,  LlewellynSmith,  aus,  einer  der  besten  Kenner 
der  sozialen  Verhältnisse  Englands.  „Ich  bin  davon  überzeugt,  sagte 
er,  dass  im  allgemeinen  die  meisten  Schritte  in  der  Richtung  nach 
einer  plan  massigeren  Organisation  der  Industrie  die  Tendenz  haben, 
die  Beschäftigten  strenger  von  den  Unbeschäftigten  zu  trennen,  d.  h. 
die  Arbeitslosigkeit,  wenn  es  erlaubt  ist,  sich  so  auszudrücken,  auf 
eine  geringere  Anzahl  von  Leuten  zu  konzentrieren,  wobei  dann  diese 
während  einer  längeren  Periode  keine  Arbeit  haben."  Die  weiteren 
Aussagen  Smiths  zeigen,  dass  die  Tendenz  der  neuesten  Zeit  nach 
seiner  Meinung  dahin  gehe,  dass  die  Arbeitslosigkeit  in  wachsendem 
Grade  mit  ihrer  ganzen  Wucht  die  weniger  geschickten  Arbeiter 
treffe.      Es    findet    gewissermassen    eine     natürliche    Zuchtwahl    statt. 

i)   Hobson,  The  Problem  of  the  Unemployed,  S.   35. 

2)  Third  Report  on  Distress  from  Want  of  Employment.  Aussage  von  Charles 
Booth. 

Tugan-Baranowsky  ,  Die  Handelskrisen.  27 


„Eine  planmässigere  Organisation,  sagt  Smith,  hat  die  Tendenz,  die 
Arbeit  für  die  b^ähigen  zu  erweitern  und  die  Lage  der  tiefer 
Stehenden  zu  verschHmmern.'^  i) 

Es  unterliegt  nicht  dem  geringsten  Zweifel,  dass  die  kapitalis- 
tische Wirtschaftsweise  heute  wie  früher  eine  industrielle  Reserve- 
armee erzeugt,  deren  Vorhandensein  eine  der  Bedingungen  der 
weiteren  Entwickelung  der  kapitalistischen  Industrie  ist.  Die  be- 
deutsamen Arbeiten  von  Charles  Booth,  der  eine  detaillierte  Unter- 
suchung der  Lebensverhältnisse  der  Londoner  Bevölkerung  angestellt 
hat,  liefern  uns  vorzügliches  Material,  um  über  den  Charakter  dieser 
Reservearmee  zu  urteilen.  Booth  teilte  namentlich  die  gesamte 
Londoner  Bevölkerung  in  8  Klassen  ein.  Die  niedrigste  Klasse  A, 
das  sind  die  Barbaren,  die  mitten  in  unserer  Civilisation  leben,  Ver- 
brecher und  halbe  Verbrecher,  Vagabunden,  Leute,  die  keine 
Wohnung  haben,  die  nächtigen,  wo  es  sich  gerade  trifft,  die  ohne 
eine  bestimmte  Beschäftigung  leben  und  keine  Beute  verachten.  Das 
ist  die  niedrigste  Stufe  auf  der  sozialen  Leiter.  „Ihr  Leben,  sagt 
Booth,  ist  ein  Leben,  das  zwischen  äusserster  Not  und  zufälligem 
Ueberfluss  hin-  und  herschwankt.'*  Auf  diese  Klasse  entfällt  nach 
der  Berechnung  von  Booth  nur  gegen  i  ^/o  der  Londoner  Bevölkerung, 
da  aber  diese  Leute  nicht  gezählt  werden  können,  so  ist  es  möglich, 
dass  ihrer  bedeutend  mehr  sind.  Dann  folgt  die  Klasse  B,  sehr  arme 
Leute,  mit  einem  zufälligen  Erwerb.  Sie  bilden  die  Klasse  der 
chronischen  Arbeitslosen,  da  die  durchschnittliche  Dauer  ihrer  Be- 
schäftigung drei  Tage  pro  Woche  nicht  überschreitet.  In  dieser 
Klasse  sind  auch  viele  unverbesserlich  und  für  dife  Civilisation  ver- 
loren. „Sie  ertragen  die  Regelmässigkeit  und  die  Langeweile  einer 
civilisierten  Existenz  nicht,"  sagt  Booth.  „Sie  wären  wohl  kaum 
bereit,  eine  ganze  Woche  zu  arbeiten,  selbst  wenn  sie  dazu  die 
Möglichkeit  hätten."  Auf  diese  Klasse  entfallen  8,4  ^/0  der  Londoner 
Bevölkerung. 

Von  diesen  beiden  Klassen  ist  die  Klasse  А  für  die  Gesellschaft 
nicht  nur  unnütz,  sondern  zweifellos  direkt  schädlich;  sie  grebt  der 
Gesellschaft  nichts,  aber  sie  macht  bedeutende  Ausgaben  erforderlich, 
um  die  Gesellschaft  vom  sozialen  Schlamm  zu  reinigen,  der  sich  in 
den  unteren  Räumen  des  prächtigen  Gebäudes  des  Kapitalismus 
anhäuft.  Die  Klasse  В  ist  nach  Booth,  wenn  auch  nicht  schädlich, 
so  doch  ganz  überflüssig.  Die  Arbeit  dieser  Klasse  ist  so  wenig 
produktiv,  dass  sie  ohne  Mühe  von  den  höheren  Klassen  der  Arbeiter 


i)  A.  a.  O.,  Aussage  von  Llewellyn  Smith. 


—      4^9      — 

ausgeführt  werden  könnte.  Also,  bilden  ganz  überflüssige  oder  sogar 
schädliche  Elemente,  die  sich  in  den  sozialen  Tiefen  ablagern,  nach 
Booths  Berechnung"  beinahe   lo  ^/q  der  Bevölkerung  Londons. 

Alles  das  ist  ein  ständiger  und  stabiler  Bodensatz  des  Kapi- 
talismus, der  sich  nicht  höher  erheben  kann.  Die  Leute  dieser  Klasse 
haben  keine  Zukunft,  sie  sind  endgültig  dem  Untergang  verfallen. 
Die  erbarmungslose  soziale  Ordnung  hat  sie  zerdrückt  und  vernichtet, 
in  Wilde  oder  Halbwilde  verwandelt,  ihre  Seele,  und  nicht  selten 
auch  ihren  Körper  verunstaltet,  und  es  bleibt  ihnen  nur  übrig,  sich 
in  ihr  Geschick  zu  fügen  oder  einen  Guerillakrieg  gegen  ihren  Feind, 
die  gegenwärtige  Gesellschaft,  zu  führen. 

Obwohl  aber  die  Existenzverhältnisse  die  Menschen  dieser 
Klasse  unfähig  zu  jedweder  konstanter  Arbeit  gemacht  haben,  beruht 
ihr  Fallen  durchaus  nicht  auf  ihren  persönlichen  Eigenschaften. 
Was  treibt  die  Leute  in  die  Zahl  der  Verbrecher  oder  der  chronisch 
Arbeitslosen?  Nach  Booth  finden  in  der  Trunksucht  nicht  mehr  als 
14^/0  der  Fälle  der  äussersten  Not  in  East-end  ihre  Erklärung;  Krank- 
heit oder  physische  Schwäche  erklären  10  ^/0  dieser  Fälle,  eine  zu  grosse 
Zahl  von  Familienangehörigen  8  ^Д.  Alle  übrigen  Fälle  aber  lassen 
sich  nicht  in  einen  unmittelbaren  Zusammenhang  mit  den  persönlichen 
Eigentümlichkeiten  der  Armen  bringen.  Es  ist  selbstverständlich, 
dass  diese  Leute  im  Kampf  ums  Dasein  die  am  mindesten  starken 
und  befähigten  sind.  Sie  haben  diesen  Kampf  nicht  ausgehalten 
und  sind  gefallen.  Trotzdem  aber  liegt  die  Ursache  ihres  Fallens  vor 
allem  in  der  Grausamkeit  des  Kampfes  selbst. 

Die  dritte  Klasse  С  hat  ein  wechselndes  kleines  Einkommen. 
Diese  Klasse  (die  ihrer  Zahl  nach  der  vorangegangenen  ungefähr 
gleich  ist)  wird  am  schwersten  durch  die  Handelskrisen  getroffen. 
Die  zu  dieser  Klasse  gehörenden  verlieren  die  Arbeit  während  der 
Dauer  der  Krisen  und  erhalten  sie  wieder,  wenn  der  Warenmarkt 
sich  belebt.  Sie  bilden  eigentlich  die  disponible  Reservearmee  des 
KapitaHsmus,  aus  der  die  thätige  Armee  des  Kapitalismus  in  den 
Jahren  des  industriellen  Aufschwungs  wird,  während  die  zwei  ersten 
Klassen  für  die  Zwecke  der  kapitalistischen  Industrie  fast  nutzlos 
sind.  Zusammen  mit  der  Klasse  D,  die  ein  kleines  regelmässiges 
Einkommen  hat,  verweist  Booth  die  Klasse  С  in  die  Gruppe  „Armut." 
Das  gewöhnliche  Einkommen  dieser  beiden  Klassen  übertrifft  nicht 
21  Schilling  pro  Woche.  Die  Klassen  С  und  D  bilden  22.7  %  der 
Londoner  Bevölkerung. 

Also  auf  alle  vier  Klassen,  von  denen  die  beiden  niedrigeren 
die    Gruppe    der    äussersten    Armut,     und     die    beiden    höheren    die 

27* 


l\20       

Gruppe  der  Armut  darstellen,  entfällt  gegen  1/3  der  Londoner  Be- 
völkerung. Gegen  die  Hälfte  der  Bevölkerung  entfällt  auf  Arbeiter 
mit  einem  Einkommen  über  21  Schilling  pro  Woche.  Auf  die 
höheren  und  mittleren  Klassen  (die  nicht  zu  physischen  Arbeitern 
gehören)  entfallen   17,4^0  der  Bevölkerung  von  London  i). 

So  differenziert  sich  also  die  Londoner  Bevölkerung  nach  der 
Untersuchung  von  Booth.  Gegen  1/3  der  Bevölkerung  in  einer 
Zahl  von  über  1300000  gehört  zu  den  Armen  und  äussersten 
Armen,  auf  die  wohlhabenden  Klassen  entfällt  weniger  als  1/5  der 
Bevölkerung. 

Die  Untersuchungen  von  Booth  haben  ein  neues  und  grelles 
Licht  auf  die  Struktur  der  englischen  Gesellschaft  auch  von  einer 
anderen  Seite  geworfen,  nämlich  von  der  des  Pauperismus.  Die  Zahl 
der  Paupers,  der  Leute,  die  vom  Staate  den  Unterhalt  beziehen,  da 
sie  keine  anderen  Existenzmittel  haben,  ist  in  England  verhältnis- 
mässig nicht  gross.  In  den  letzten  Jahren  schwankt  sie  um  800000, 
d.  h.  um  etwa  3  ^o  der  Bevölkerung.  Es  ist  das  ein  verhältnismässig 
unbedeutender  Prozentsatz.  Man  darf  aber  nur  nicht  vergessen,  dass, 
da  der  englische  Arbeiter  der  Gegenwart  es  für  die  grösste  Schmach 
ansieht,  eine  Unterstützung  vom  Kirchspiel  zu  erhalten,  der  niedrige 
Prozentsatz  der  Paupers  noch  nicht  darauf  schliessen  lässt,  dass  die 
Zahl  der  Fälle  äusserster  Not  unbedeutend  ist. 

Aber,  wie  gesagt,  die  Arbeiten  von  Booth  haben  ein  ganz 
neues  Licht  auf  den  englischen  Pauperismus  geworfen.  Namentlich 
war  Booth  der  glückliche  Gedanke  gekommen,  die  Verteilung  der 
Paupers  nach  dem  Alter  zu  untersuchen  und  sie  mit  den  entsprechen- 
den Altersgruppen  der  gesamten  Bevölkerung  zu  vergleichen.  Dabei 
benutzte  Booth  die  Daten  über  die  Zahl  der  Paupers  nicht  für  einen 
bestimmten  Tag  (den  i.  Januar  oder  den  i.  Juli,  wie  die  gewöhn- 
liche Statistik  des  Pauperismus  in  England  geführt  wird),  sondern  für 
das  ganze  Jahr,  d.  h.  über  die  Gesamtzahl  der  Personen,  die  während 
des  Jahres  mehr  oder  minder  lange  Zeit  Unterstützungen  von  den 
Armenbehörden  erhalten. 

Es  ergab  sich  die  folgende  auffallende  Tabelle: 

Anzahl  der  Paupers   in  England  im  Jahre   1892  auf  je   1000 
der  Bevölkerung  des  betreffenden  Alters: 

Unter   16  Jahren     ....  51  Von   70—74        „  ...  313 

Von   16—59  Jahren    ...  32  „      75  —  79        »  ...  394 

„     60 — 64        „         ...  132  Uebcr  79  Jahren  .     .     .     .  413 

„     65—69       „         ...  206 

l)  Vgl.  Charles  Booth,  Life  and  Labour  of  the  People  of  London,  Vol.  IL 
London    1892. 


—     421      — 

Wenn  man  sämtliche  Paupers,  die  mehr  als  65  Jahre  alt  sind, 
zusammennimmt,  so  beträgt  ihre  Zahl  29,2  %  der  Bevölkerung  des 
betreifenden  Alters  in  England.  Mit  anderen  Worten,  beinahe  ein 
Drittel  der  alten  Leute  in  England  sind  Paupers!  Da  es  aber  in  den 
höheren  und  mittleren  Klassen  der  Bevölkerung  gar  keine  Paupers 
giebt,  so  muss  man,  nach  Booth,  annehmen,  dass  für  die  Arbeiter- 
klassen das  Verhältnis  der  Zahl  der  Paupers  über  65  Jahre  40  oder  45  % 
zur  Gesamtzahl  ihrer  Altersgenossen  beträgt,  d.  h.  beinahe  die  Hälfte  i). 

Also  beinahe  die  Hälfte  der  Arbeiter,  die  das  Unglück  gehabt 
haben,  alt  zu  werden,  ist  verurteilt,  ihr  Leben  als  Paupers  zu  be- 
schliessen!  Und  das  in  dem  reichsten  Lande  der  Welt,  in  England! 
Der  Kapitalismus  kennt  gegenüber  dem  Schwächsten  kein  Erbarmen: 
die  Alten  können  nicht  mehr  arbeiten,  und  man  wirft  sie  hinaus,  л¥1е 
untauglichen  menschlischen  Schutt,  der  seine  Schuldigkeit  gethan  hat 
und  jetzt  niemand  mehr  nütz  ist,  —  ins  Arbeitshaus. 

Mit  dem  Wachstum  der  Konkurrenz  wird  das  Leben  immer 
schwerer,  immer  früher  wird  die  Arbeitskraft  durch  das  Kapital 
konsumiert  und  hört  auf  von  dem  Arbeitsmarkte  aufgenommen  zu 
werden.  „In  vielen  Industriezweigen,  sagt  Hobson,  so  z.  B.  im 
Bergbau,  unter  den  Matrosen,  Spinnern,  in  der  Metallbranche,  im 
Maschinenbau  ist  es  für  einen  Mann  von  40 — 50  Jahren  thatsächlich  un- 
möghch,  eine  gesicherte  Beschäftigung  zu  finden.  Trotz  aller  seiner  Be- 
mühungen, das  Aussehen  eines  nicht  alten  Mannes  zu  bewahren,  fühlt 
ein  solcher  Arbeiter,  dass  die  Arbeit  seinen  Händen  entgleitet;  seine 
Geschicklichkeit  und  Erfahrung  können  ihn  nicht  vor  der  Konkurrenz 
der  jungen  Generation  retten,  die  ihn  in  der  Schnelligkeit  der  Arbeit 
und  in  der  Muskelenergie  überholt.  In  den  idealen  Konstruktionen  der 
Zukunftsgesellschaft",  fährt  Hobson  fort,  „wird  es  nicht  selten  an- 
genommen, dass  20  oder  25  Jahre,  die  Periode  der  grössten  Ent- 
wickelung  der  Kräfte  des  Mannes  und  der  Frau,  eine  vollkommen 
genügende  Zeit  seien,  um  die  Arbeitskraft  des  Menschen  zum  Nutzen 
der  Gesellschaft  zu  verwenden.  Unter  den  heutigen  Verhältnissen 
bildet  die  frühzeitige  zwangsweise  Entfernung  von  der  Arbeit,  die 
nicht  einem  ehrenvollen  und  gesicherten  Wohlstand  der  Erholung 
Platz  macht,  sondern  einem  erniedrigenden  Bettelkampf  um  gering- 
fügige und  zufällige  Existenzmittel,  die  dazu  noch  immer  unsicherer 
werden,  je  mehr  das  Alter  zunimmt,  eine  der  erschütterndsten  Formen 
des  Problems  der  Arbeitslosigkeit'*  ^). 

1)  Charles  Booth,  The  Aged  Poor  in  England  and  Wales.  London  1894, 
S.  42,  420. 

2)  The  Problem  of  the  Unemployed,  16.  Daraufhaben  vor  Hobson  noch  Booth  und 
viele  andere  hingewiesen.    Vgl.  Geoffrey  Drage,  The  Problem  of  ihe  Aged  Poor,  S.  43  —  44. 


422        

Und  diese  Arbeitslosigkeit  erfährt  nicht  nur  keine  Einschränkung, 
sondern  sie  nimmt  in  der  neuesten  Zeit  noch  zu.  Charles  Booth, 
zweifellos  der  kompetenteste  Gewährsmamn,  sagt  darüber  das  folgende: 
„In  den  grossen  Industriecentren  befinden  sich  heute  die  alten  Leute 
zweifellos  in  einer  schlechteren  Lage  als  vor  20  Jahren.  Die  alten 
Leute  leiden  infolge  der  wachsenden  Schwierigkeit,  eine  Beschäftigung 
zu  finden.  Dieselben  Verhältnisse,  die  die  Lage  der  Jungen  ver- 
bessert haben,  wirken  gegen  die  Alten.  Die  Kinder  haben  freilich 
in  vielen  Fällen  heute  mehr  die  Möglichkeit  den  Eltern  zu  helfen, 
aber  sie  haben,  wie  man  befürchten  kann,  oft  weniger  Lust  dazu." 
Es  ist  interessent,  dass,  nach  Booth,  es  „in  Bezug  auf  die  Beschäf- 
tigung von  Leuten  in  einem  hohen  Alter  auf  dem  platten  Lande 
besser  als  in  der  Stadt  und  bei  den  PVauen  besser  als  bei  den 
Männern  steht  .  .  ."  „Auf  dem  Lande  erhalten  die  alten  Leute  ihre 
Kraft  längere  Zeit  und  selbst,  wenn  sie  schon  schwach  und  siech 
geworden  sind,  können  sie  doch  irgend  welche  landwirtschaftliche 
Arbeiten  ausführen.  In  der  Stadt  werden  sie  nicht  nur  früher 
schwach,  sondern  sie  werden  schon  noch  früher  für  unfähig  zur 
Arbeit  gehalten.  Die  Arbeitsperiode  ist  auf  dem  Lande  um  10  Jahre 
länger  als  in  der  Stadt"  ^). 

Also  die  Arbeitslosigkeit  in  mannigfaltigen  Formen,  die  vor- 
übergehende und  zufällige  Arbeitslosigkeit,  welche  bei  jedem  Zustand 
des  Arbeitsmarktes  für  jeden  besonderen  Arbeiter  eintreten  kann,  die 
länger  andauernde  Arbeitslosigkeit,  die  sich  ganze  Monate  und  Jahre 
hindurch  hinzieht,  je  nach  den  Phasen  des  industriellen  Cyklus,  die 
chronische  Arbeitslosigkeit  des  Auswurfs  der  gegenwärtigen  Gesell- 
schaft, des  sozialen  Bodensatzes  des  Kapitalismus,  die  Arbeitslosigkeit 
von  Leuten,  die  das  reife  Alter  überschritten  haben,  und  die  von 
Greisen  —  alle  diese  Formen  der  Arbeitslosigkeit  stellen  einen  spezi- 
fischen Zug  des  Kapitalismus  dar,  als  einer  bestimmten  historischen 
Wirtschaftsordnung.  Kann  nun  der  Kapitalismus,  solange  er  er  selber, 
d.  h.  eine  Wirtschaftsordnung  bleibt,  die  darauf  begründet  ist,  dass 
der  wirtschaftliche  Prozess  von  individuellen  Unternehmern  geleitet 
wird,  welche  die  Arbeit  durch  Lohnarbeiter  verrichten  lassen,  sich 
des  industriellen  Cyklus,  der  chronischen  Reservearmee  von  Arbeits- 
losen, der  Arbeitslosigkeit  der  alt  gewordenen  Arbeiter  u.  s.  w.  ent- 
ledigen? Die  Theorie  sowohl  wie  die  Erfahrungen  sprechen  dagegen. 
Die  Theorie  beweist,  dass  der  industrielle  Cyklus  im  inneren  Wesen 
des   Kapitalismus   begründet   ist   und    dass   die   industrielle   Reserve- 


i)  The  Aged  Poor,  S.   321,   331,  332. 


—      423      — 

armee  eine  notwendige  Vorbedingung  des  Wachstums  der  kapitalis- 
tischen Industrie  ist.  Die  Erfahrung  zeigt,  dass  die  Arbeitslosigkeit 
mit  der  weiteren  Entwickelung  der  Industrie  durchaus  keine  Ein- 
schränkungen erfährt  und  sogar  in  mancher  Hinsicht  noch  schwe- 
rere Formen  annimmt. 

Es  giebt  allerdings  Mittel  zur  Bekämpfung,  freilich  nicht  der 
Arbeitslosigkeit  selbst,  wohl  aber  des  Notstandes,  der  durch  die 
Arbeitslosigkeit  erzeugt  wird.  Aber  wie  beschränkt  ist  die  Wirkungs- 
sphäre dieser  Mittel!  Die  Gewerkvereine  sind  die  einzigen  Organi- 
sationen ,  die  mehr  oder  minder  erfolgreich  danach  streben ,  die 
Leiden  der  Arbeitslosigkeit  abzuschwächen.  Auf  die  Thätigkeit  der 
Arbeiterorganisationen  in  England  muss  auch  die  unbestrittene  That- 
sache  zurückgeführt  werden,  dass,  obgleich  die  Arbeitslosigkeit  in 
der  neuesten  Phase  der  Entwickelung  der  englischen  Wirtschaft  nicht 
abgenommen,  sondern  vielleicht  noch  zugenommen  hat,  die  durch  die 
Arbeitslosig'keit  hervorgerufene  Not  sich  zweifellos  stark  vermindert 
hat.  Aber  immerhin  darf  die  Bedeutung  der  Gewerkvereine  in 
diesem  Sinne  nicht  überschätzt  werden.  Die  Perioden  der  Arbeits- 
losigkeit stellen  zugleich  Perioden  der  Schwächung  der  Arbeiter- 
organisationen dar,  da  die  Arbeitslosenunterstützung  die  Vereinskassen 
ausserordentlich  belastet  und  viele  Vereine,  die  diese  East  nicht  aus- 
halten können,  liquidieren  müssen.  Aber  die  staatliche  Versicherung 
gegen  die  Arbeitslosigkeit?  Eine  solche  giebt  es,  abgesehen  von 
einigen  schwachen  Versuchen  dieser  Art,  die  in  der  allerletzten  Zeit 
in  einigen  Kantonen  der  Schweiz  gemacht  werden,  nirgends.  Aber 
auch  die  staatliche  Versicherung  gegen  die  Arbeitslosigkeit  ist  einmal 
machtlos,  etwas  gegen  die  Hauptursache  des  Uebels  —  die  Arbeits- 
losigkeit selbst  —  auszurichten,  dann  aber  kann  sie  den  Arbeitslosen 
keine  ausgedehnte  Hilfe  gewähren,  ohne  eine  bedeutende  Ver- 
mehrung der  Steuerlast  oder  eine  bedeutende  Verringerung  des 
Arbeitslohnes  der  beschäftigten  Arbeiter  hervorrufen. 

Wenn  aber  eine  solche  staatliche  Versicherung  gegen  die 
Arbeitslosigkeit  wirklich  in  weitem  Umfang  organisiert  werden  würde, 
so  würde  das  nun  einen  sehr  entschiedenen  Schritt  in  der  Richtung 
zum  Sozialismus  bedeuten.  Die  Versicherung  gegen  die  Arbeitslosig- 
keit wird  natürlich  mit  einem  Arbeitsnachweis  für  Arbeitslose  ver- 
knüpft. Aber  vv'ann  könnte  der  Staat  die  Verpflichtung  übernehmen, 
den  Arbeitslosen  Beschäftigung  nachzuweisen?  Nur  dann,  wenn  er 
den  Weg  der  Verstaatlichung  der  Produktion  und  der  Produktions- 
mittel betritt. 


—     424      — 

Die  Frage  der  Arbeitslosigkeit  wird  erst  dann  verschwinden, 
wenn  die  kapitalistische  Gesellschaftsordnung,  die  auf  einem  jeder 
Organisation  baren  freien  Spiel  der  privaten  Interessen  beruht,  sich 
in  eine  harmonische  Wirtschaftsorganisation  verwandelt,  in  der  die 
Interessen  der  einzelnen  Mitglieder  der  Gesellschaft  den  Interessen 
des  Ganzen  untergeordnet  werden.  Es  muss  besonders  betont  werden, 
dass  die  kapitalistische  Wirtschaftsordnung  nicht  imstande  ist,  die 
Arbeitslosenfrage  zu  lösen.  Die  periodische  und  chronische  Arbeits- 
losigkeit ist  ein  unvermeidliches  Ergebnis  der  Entwickelungsgesetze 
des  Kapitalismus,  ein  Resultat  der  ihm  immanenten  Widersprüche. 
Die  Arbeitslosigkeit  aufheben  kann  man  nur  auf  eine  Art  —  durch 
Aufhebung  der  kapitalistischen  Wirtschaftsweise. 

Das  Vorhandensein  einer  Arbeitslosenreservearmee  des  Kapi- 
talismus ist  zugleich  der  krasseste  und  zwingendste  Beweis  für  die  Un- 
fähigkeit des  Kapitalismus,  die  gesamten  Produktivkräfte  der  Gesell- 
schaft auszunutzen.  Man  vergesse  nicht,  dass  die  kapitalistische  Arbeits- 
losigkeit durchaus  nicht  dadurch  entsteht,  dass  das  Kapital,  über  das 
die  Gesellschaft  verfügt,  zu  gering  ist,  um  den  Arbeitern  Be- 
schäftigung zu  verschaffen.  Nein,  die  Paradoxie  der  kapitalistischen 
Arbeitslosigkeit  besteht  darin,  dass  die  Leute  infolge  eines  Ueber- 
flusses  an  Produktionsmitteln  keine  Beschäftigung  finden.  Wegen 
eines  zu  grossen  Reichtums  stehen  die  Maschinen  still  und  die 
Arbeiter  können  keine  produktive  Thätigkeit  verrichten.  Das  hört 
sich  gerade  so  an,  als  ob  alle  sozialen  Bedürfnisse  befriedigt  seien 
und  die  Gesellschaft  keine  neuen  Produkte  brauche,  als  ob  das  droit 
а  la  paresse  —  das  Recht  auf  Faulheit  —  verwirklicht  sei.  In 
Wirklichkeit  ist  aber  die  Masse  der  Bevölkerung  eines  mehr  elemen- 
taren Rechtes  —  des  Rechtes  auf  Arbeit  —  beraubt,  dadurch  be- 
raubt, dass  die  Minorität  der  Bevölkerung  das  Monopol  auf  die 
Produktionsmittel  besitzt. 

In  der  Arbeitslosigkeit  tritt  also  die  spezifische  Beschränktheit 
des  Kapitalismus,  als  einer  historisch  bedingten  Produktionsweise,  zu 
Tage.  Alle  historischen  Wirtschaftssysteme  sind  gefallen,  weil  sie 
nicht  zu  beseitigende  Hindernisse  für  eine  weitere  Entwickelung  der 
gesellschaftlichen  Produktivkräfte  in  sich  schlössen.  Die  Sklaven- 
wirtschaft gab  die  Möglichkeit,  innerhalb  einer  geschlossenen  Einzel- 
wirtschaft die  Produktion  zu  erweitern  und  eine  höchst  detaillierte 
Arbeitsteilung  darin  einzuführen,  sie  war  aber  mit  den  weiteren  Fort- 
schritten der  industriellen  Technik  ganz  unvereinbar,  da  die  Produk- 
tivität der  Sklavenarbeit  nicht  eine  gewisse,  ziemhch  niedrige  Grenze 
überschreiten  konnte. 


-      42Ö      — 

Die  Feudahvirtschaft  war  mit  der  Entwickelung  des  Warenaus- 
tausches und  einer  iiusg*edehnten  interncitionalen  ^Arbeitsteilung  un- 
vereinbar. Der  Kapitalismus  lässt  eine  unvergleichlich  höhere  Stufe 
der  Entwickelung  der  gesellschaftlichen  Produktivkräfte  erreichen. 
Trotzdem  stösst  auch  der  Kapitalismus  auf  eine  Grenze,  die  er 
nicht  zu  überschreiten  vermag*.  Diese  Grenze  ist  die  Unmöglichkeit 
für  den  Kapitalismus ,  die  Produktivkräfte  der  Gesellschaft  in 
ihrem  vollen  Umfang"  auszunutzen.  —  Daraus  geht  die  Notwendig- 
keit einer  weiteren  Entwickelung  der  kapitalistischen  Wirtschaftsord- 
nung Ьег\юг:  der  Kapitalismus  bildet  eine  ebenso  vorübergehende 
Phase  der  Entwickelung"  der  menschlichen  Wirtschaft,  wie  jene  Wirt- 
schaftsformen, die  dem  Kapitalismus  vorangegangen  sind,  jetzt  aber 
schon  der  Geschichte  angehören. 


Dnick  von  Ant.  Kämpfe  in  Jeiu. 


CINDING  DEPT.  SEP  1    Ш 


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