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Studien
zur
Theorie und Geschichte
der
Handelskrisen in England.
Von
Dr. Michael von Tugan-Baranowsky
ehemals Privatdocent an der UniversiUit St. Petcrsburc^.
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Jena,
Verlag von Gustav Fischer,
1901.
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Л11е Rechte vorbebalten.
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Vorwort.
Die vorliegende Arbeit ist dem industriellen Cyklus, den perio-
dischen Handelskrisen, — die am meisten rätselhafte und von der Wissen-
schaft bisher nicht aufgehellte Erscheinung des modernen Wirtschafts-
lebens — gewidmet. Es wurden freilich in der allerletzten Zeit vieierseits
Meinungen geäussert, dass die periodischen Krisen schon der Ver-
gangenheit angehören, dass der Kapitalismus diese ihm eigentümliche
Kinderkrankheit heute überwunden hat. Diese Aeusserungen beweisen
aber bloss, wie rasch sogar diejenigen geschichtlichen Ereignisse,
w^elche in garnicht entlegener Zeit stattgefunden haben, in Vergessen-
heit geraten. Der Baring-Krach, in welchem der Aufschwung der 80 er
Jahre kulminierte, ist anno 1890 ausgebrochen; die schwere Depres-
sion, welche darauf folgte, dauerte bis 1894 — 95. Einige Jahre des
Aufschwunges genügten, um an der Möglichkeit der Wiederkehr der
Depression Zweifel zu erregen. Leider aber kann diese Beruhigung
schaffende Ueberzeugung den Erfahrungen der letzten Monate gegen-
über nicht mehr aufrecht erhalten werden. Es mehren sich die
Zeichen, dass die kapitalistische Welt einer neuen gewaltigen wirt-
schaftlichen Krise entgegen geht. Die führenden Industrien — die
Textil- und Eisenindustrie — leiden schon an Absatzstockung. Die
Kohlennot, durch den bedeutenden Wachstum des Verbrauchs der
Kohle während der 3 — 4 Jahre des Aufschwungs verursacht, ist eine
ebenso gesetzmässige und als solche eine Voraussicht zulassende Er-
scheinung, wie die Geldknappheit, an welcher Deutschland seit mehr
als einem Jahre leidet. Alle diese Phänomene sind notwendige Eolgen
des Aufschwungs und zugleich die Vorboten der herannahenden Krise.
In wirtschaftlichen Krisen kommen die tiefsten Widersprüche der
kapitalistischen Wirtschaftsweise zum Ausdruck. Die kapitalistische
Welt ist eigenen Gesetzen unterworfen, deren elementare Kraft in
Kj-isen sich geltend macht. Daher die Unbegreiflichkeit der Krisen.
IV
Die Gesellschaft ist nicht imstande, die von ihr selbst geschaffenen
Kräfte zu beherrschen, und steht ihnen ohnmächtig gegenüber.
In diesem Buche wird der Leser den A'^ersuch finden, den in-
dustriellen Cyklus in dem modernen Wirtschaftsleben nachzuweisen
und in seinem Wesen zu ergründen. Die Geschichte der Handels-
krisen in England, in dessen industrieller Entwickelung der cyklische
Charakter am deutlichsten hervortritt, hat mir ein umfangreiches Ma-
terial dazu geliefert. Meinen wissenschaftlichen Ueberzeugungen
nach gehöre ich im grossen und ganzen zur Marx'schen Schule und
zolle dem genialen Schöpfer des „Kapitals" die grösste Verehrung;
dies hat mich jedoch nicht abgehalten, an gewissen grundlegenden
Ansichten von Marx eine entschiedene Kritik zu üben. Die in
diesem Buche entwickelte Theorie der Absatzmärkte und der Krisen
soll, nach der Auffassung des Verfassers, eine Synthese der Lehren
der klassischen Nationalökonomie mit den Marx'schen Ausführungen
im IL Bande des „Kapitals" bilden.
Trotz des hervorragenden theoretischen und praktischen In-
teresses, welches die Untersuchung der Handelskrisen bietet, giebt es,
wie bekannt, sehr wenig'e wissenschaftliche Arbeiten, welche die Ge-
schichte der Krisen zu ihrem Vorwurf haben. Die meisten Arbeiten
der letzten Art haben einen durchaus deskriptiven Charakter, und
verzichten vollkommen auf eine tiefere theoretische Erklärung der
Krisen. Das gilt besonders von der bekannten „Geschichte der
Handelskrisen" von Max Wirth. Ich war bestrebt, die Geschichte
der englischen Krisen auf Grund der Urquellen, der englischen Blau-
bücher, zu bearbeiten und das Thatsachenmaterial mit einer theore-
tischen Behandlung des Gegenstandes zu verknüpfen. Zugleich hielt
ich es für angemessen, auch die sozialen Wirkungen der Krisen in
den Bereich meiner Forschung zu ziehen. Da der industrielle Cyklus
ein höchst bedeutender Faktor im gesamten sozialen Leben Englands
ist, so schien es am Platze, den Einfluss der Krisen auf die wichtig-
sten sozial-politischen Bewegungen der englischen Arbeiterklasse zu
analysieren.
Bei der Behandlung meines Themas erstrebte ich die möglichste
Kürze und betrachtete es nicht als notwendig, durch Citatenaufwand
dem Leser zu imponieren. Es soll aber nicht aus diesem Mangel an
sichtbarem Gelehrten apparat gefolgert werden, dass die nicht citierten
Veröffentlichungen dem Verfasser unbekannt geblieben sind.
Dem vorliegenden Buche liegt zu Grunde die völlig revidierte
und umgearbeitete zweite russische Auflage (1900) meiner im Jahre
1894 erschienenen russischen Schrift über denselben Gegenstand.
Schon im Januar 1900 habe ich meine feste Ueberzeugung ausge-
sprochen, dass der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre in
der nächsten Zukunft, wahrscheinlich in diesem Jahre, zur Absatz-
stockung und allgemeiner Depression führen wird. Die neuesten Er-
fahrungen scheinen diese Erwartungen vollkommen zu bestätigen.
Soviel über den Inhalt des Buches. Für etwaige Verstösse
gegen den deutschen Ausdruck darf ich wohl als Ausländer um
Nachsicht bitten.
St. Petersburg, i. Oktober 1900.
M. Tugan-Baranowsky.
Inhalt.
Spil<>
I. TEIL.
Theorie und Geschichte der Krisen.
Kapitel I.
Die Grundursachen der Krisen in der kapitalistischen Wirtschaft i
Kapitel II.
Ein allgemeiner Abriss der Entwickelung der englischen Industrie seit dem zweiten
Viertel des XIX. Jahrhunderts.
I. Der Kampf der Maschine gegen die Handarbeit und der Mangel an Märkten 38
II. Der Sieg der Maschine und die Eroberung neuer Märkte . . . . . . 4"
III. Der Verfall der industriellen Suprematie Englands 54
Kapitel III.
Die Krisen des zweiten Viertels des Jahrhunderts 65
Die Krisis von 1825 69
Die Krisis von 1836 85
Die Geldkrisis von 1839 98
Die Handelskrisis von 1847 103
Kapitel IV.
Die Krisen der 50 er und 60 er Jahre 121
Die Krisis von 1857 124
Die Geldkrisis von 1864 und die Kreditkrisis von 1866 137
Kapitel V.
Die periodischen Schлvankungen der Industrie in der neuesten Zeit 149
Kapitel VI.
Die Erklärung der Krisen aus der Unterkonsumtion der Volksmassen 174
Kapitel VII.
Die Krisentheorie von Marx 197
Kapitel VIII.
Der industrielle Cyklus und die Ursachen der Periodicität der Krisen 232
VIII
Seite
П. TEIL.
Die sozialen Wirkungen der Handelskrisen.
Kapitel I.
Der Einfluss des industriellen Cyklus auf das Volksleben 257
I. Periodische Schwankungen im englischen Volksleben während des zweiten
Viertels des Jahrhunderts 258
II. Schwankungen im Volksleben in den 50er und 60 er Jahren 282
III. Schwankungen im Volksleben während der neuesten Zeit 288
Kapitel II.
Der Chartismus 297
Kapitel III.
Der Baumwollhunger 353
Kapitel IV.
Die neuesten Arbeitslosenbewegungen 382
Schlussbetrachtungen 4*^7
I. Teil.
Theorie und Geschichte
der Krisen.
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KAPITEL I.
Die Grundlirsachen der Krisen in der kapitalistisclien
Wirtscliaft.
Die Bedeutung des Marktes in der modernen Wirtschaftsordnung. — Der Natural-
austausch. — Die Unmöglichkeit einer allgemeinen Ueberproduktion bei dem Naturalaus tausch.
— Der durch Geld vermittelte Austausch. — Die Möglichkeit einer allgemeinen Warenüber-
produktion. — Der Markt. — Die einfache Warenproduktion. — Die Regulierung der
Produktion durch die Konsumtion. — Die kapitalistische Produktion. — Das Fehlen eines
Zusammenhanges zwischen der Produktion und Konsumtion. — Das Prinzip der propor-
tioneilen Einteilung der Produktion. — Die einfache Reproduktion des Kapitals. — Die
Akkumulation von Kapital. — Der Kredit. — Die beiden fundamentalen AVidersprüche der
kapitalistischen Wirtschaft. — Die Abhängigkeit der Krisen von diesen Widersprüchen. —
Die Notwendigkeit der Krisen. — Der auswärtige Handel.
Der Kampf um den Markt bildet den charakteristischen Zug
des wirtschaftlichen Lebens der Gegenwart. Ein guter Markt ist
fast alles, was der heutige Produzent in einem Lande des entwickelten
Kapitalismus, wie z. B. England, bedarf. Sobald aus irgend welchen
Gründen eine erhöhte Nachfrage nach Produkten einer bestimmten
Art auf dem Markte sich geltend macht, werden solche Produkte
nicht nur in der verlangten, sondern sogar in einer übermässigen
Menge produziert. Ein Mangel an Kapital oder an Arbeitskräften ist
fast nie zu befürchten. Eine gewinnbringende Unternehmung kann
(ausser den seltenen Momenten einer Panik auf dem Geldmarkte)
nicht Mangel an Kapital leiden : die Kreditanstalten stehen immer zu
ihrer Verfügung. Ebenso wenig droht dem Unternehmer ein Mangel
an Arbeitskräften. Selbst zu Zeiten der Prosperität nimmt zwar die
Arbeitslosen armee ab, verschwindet aber nie vollkommen. Die Ar-
beitslosenstatistik beweist uns, dass sogar die besten, geschicktesten
Arbeiter, welche den Gewerkvereinen angehören, — die eigentliche
Arbeiteraristokratie — immer den Markt überfüllen. Zur Zeit der
Krisen steigt der Prozentsatz der Arbeitslosen in den Gewerkvereinen
Tugan-Baranowsky, Die Handelskrisen. 1
sehr hoch, zur Zeit der Prosperität fällt er tief, sinkt aber nie auf
Null herab.
Weshalb vermag aber die Industrie selbst in den besten Jahren
alle ihr zur Verfügung stehenden Produktivkräfte nicht auszunutzen?
Weshalb liegt immer so viel Kapital brach, und weshalb bleiben so
viele Arbeitskräfte unbeschäftigt?
Der beliebige Unternehmer würde antworten : „weil unter den
heutigen Wirtschaftsverhältnissen die Schwierigkeit nicht darin be-
steht, eine Ware zu produzieren, sondern sie abzusetzen, für sie einen
Markt zu finden".
Diese zweite Aufgabe hat durch ihre Bedeutung die erste ganz
in den Hintergrund gedrängt. Und man ziehe in Betracht, wie kom-
pliziert die Organisation des Absatzes in unserer Zeit ist, welche
Anstrengungen jeder Unternehmer machen muss, um seine Ware in
die dichte Menge von allerhand Waren, die bereits den Markt über-
füllen, hineinzuschieben. In der Regel geht das Angebot der Nach-
frage immer voran, es überholt sie, und der Warenproduzent muss
bereit sein, alles Mögliche zu versuchen, um nur die Nachfrage her-
vorzurufen. Jedermann weiss aus eigener Erfahrung, welche Rolle
die Reklame in unserer Zeit spielt. Zu welcher I.ist und zu welchen
Kniffen greift nicht der Händler, um den Käufer einzufangen ! Es
ist noch gut, dass keine physische Gewalt angewendet wird. Die
Reklame drängt sich uns vor die Augen, man kann sie nicht weg-
scheuchen, wie eine zudringliche Fliege. Sie ist überall vor uns, sie
blickt von der Höhe der Häuser mit metergrossen Buchstaben auf
uns herab; des Abends tritt sie uns in bunten Feuern entgegen, sie
bedeckt jede freie Mauer, jeden für den öffentlichen Verkehr dienen-
den Wagen mit den wunderlichsten und phantastischsten Zeichnungen,
sie dringt endlich zu uns ins Haus hinein. Ob wir es wollen oder
nicht, wir werden gezwungen, unsere Aufmerksamkeit der Ware des
findigen Kaufmanns zuzuwenden. Die Organisation des Absatzes
beschränkt sich aber bei weitem nicht auf die Publikation und die
Reklame. Der Unternehmer unserer Zeit hat ein kompliziertes und
weitverzweigtes Netzwerk von Handelsvermittelungen geschaffen,
dessen ökonomische Bedeutung nicht leicht überschätzt werden kann.
Dieses Netzwerk hat mit seinen Maschen wie ein Spinngewebe die
ganze Welt umsponnen. Jede grosse Firma verfügt über zahlreiche
sesshafte und reisende, ausschliesslich mit Auffindung von Kunden
beschäftigte Agenten. Die für die neueste Zeit charakteristische
Verdrängung des Engroshändlers durch diese Agenten, die Erweite-
rung des unmittelbaren Verkehres des Produzenten mit dem Detail-
händler oder direkt mit dem Konsumenten hat die Handelsarmee
nicht verringert, vielmehr ist diese dadurch vermehrt. Die Berufs-
statistik zeigt überall ein enormes Anwachsen dieser Armee, welches
in seinem Tempo das Wachstum der mit der Güterproduktion be-
schäftigten Bevölkerung bei weitem überholt.
Wenn wir nun diesem Netzwerke der privatwirtschaftlichen
Vermittler noch die mannigfaltigen öffentlichen und gesellschaftlichen
Einrichtungen hinzufügen, welche speziell zum Zwecke des Auffindens
von Märkten für die Waren geschaffen werden, wie z. B. die Kon-
sularagenturen im Auslande, die lokalen, nationalen und internationalen
Ausstellungen, die Handelsmuseen, allerlei Vereine zur Förderung des
Handels, des Exportes u. s. w., so werden wir begreifen, welche
bedeutende Rolle in der modernen Wirtschaftsordnung die Organi-
sation des Warenabsatzes — also der Markt — spielt.
Der Markt ist der Knotenpunkt, wo die Fäden des wirtschaft-
lichen Lebens unserer Zeit zusammenlaufen. Der Markt beherrscht
die Produktion und nicht die Produktion den Markt — solchen Ein-
druck gewinnt jeder nicht theoretisierende Beobachter des modernen
Lebens. Auch die historische Erfahrung jedes beliebigen kapitalisti-
schen Landes scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Nehmen wir
England. Im Laufe dieses ganzen Jahrhunderts geht England periodisch
von Prosperität zur Krise. Der Handel schwillt an, dann folgt eine
Krise, und der Handel und die Industrie liegen wieder darnieder.
Es vergehen einige Jahre der Depression, und von neuem beginnt
ein Aufschwung. Und warum folgt auf einen Aufschwung ein
Niedergang? Warum wird die Entwickelung der Industrie durch
Krisen unterbrochen? Etwa weil die Produktivkräfte sich vermindern,
weil das Kapital nicht ausreicht, allen vorhandenen Arbeitskräften
Beschäftigung zu geben, oder die Arbeiter nicht ausreichen, um das
tote Kapital in Bewegung zu setzen? Gerade das Gegenteil ist der
Fall. Gerade zur Zeit der Depression häufen sich in den Banken
enorme Kapitalien an, die eine Anlage suchen und nicht finden
können; gerade zu dieser Zeit schlagen auch das blödeste Auge die
kolossalen Produktivkräfte, über welche die moderne Industrie ver-
fügt, die aber ohne Bewegung tot und erstarrt bleiben, als ob der
gesellschaftliche Organismus von einem Schlage getroffen wäre.
Andererseits bekundet die grosse Arbeitslosen armee klar, dass von
einem Mangel an Arbeitskräften nicht die Rede sein kann. Die Ur-
sachen der Geschäftsstockung wurzeln ganz und völlig im Gebiete des
Marktes. Die Depression findet aus dem Grunde statt, weil der
Warenabsatz gehemmt ist, oder, genauer gesagt, weil der Preis, zu
— 4 —
welchem die Ware abgesetzt werden kann, für die Unternehmer
nicht lohnend ist. Es genügt eine Verbesserung des Marktes, eine
Erhöhung des Preises der Ware um einige Prozente, um das Bild
wie durch einen Zauberschlag zu verändern, um die Maschinen in
Bewegung zu setzen, den Arbeitern Beschäftigung zu geben und den
gesamten industriellen Bienenkorb von dem Gesumme einer emsigen
Arbeit zu erfüllen.
Worauf ist nun aber diese gewaltige Macht des Marktes in der
gegenwärtigen Wirtschaft begründet? Wir werden im Folgenden
versuchen, dies klarzulegen.
Auf dem Markte begegnen sich Nachfrage und Angebot. Der
Umfang des Angebotes wird durch die Menge der in den Austausch
tretenden Waren in ihrer dinglichen Form bestimmt. Das Angebot
hat nichts Rätselhaftes und Unbegreifliches an sich. Dagegen be-
sitzt die Nachfrage eine solche materielle, handgreifliche Form nicht.
Die Nachfrage schliesst ein psychisches Moment in sich ein, Wünsche,
Bedürfnisse, welche in unserem Innern wurzeln. Die Nachfrage er-
scheint als etwas Ungreifbares und Unbestimmbares, was ganz
anderen Gesetzen folgt als das Angebot.
In der Analyse des Mechanismus der Nachfrage besteht also
die ganze Schwierigkeit der Klarlegung der Rolle des Marktes in
der modernen Volkswirtschaft.
Aber die betonte eigenartige Rätselhaftigkeit erlangt die Nach-
frage nur auf den späteren Entwickelungsstufen der Tauschwirtschaft.
Bei dem unmittelbaren, dem sogenannten naturalen Austausch, stellt
sich die Sache ganz einfach dar. Denn was ist in diesem Falle er-
forderlich, um in den Besitz des Produktes eines anderen zu kommen?
Offenbar das Angebot des eigenen Produktes. Mit anderen Worten,
die Nachfrage eines jeden wird direkt und unmittelbar durch sein
Angebot bestimmt. Das subjektive Moment, die Wünsche, die Be-
dürfnisse bestimmen den Inhalt, die Richtung der Nachfrage Aber
der Umfang, die Grösse dieser letzteren, wird durch ein objektives
Moment, durch das Angebot festgestellt.
Der Preis eines Gutes (sein Aequivalent) wird, im allgemeinen
Sinne des Wortes, die Menge an Gütern genannt, die man bei der
Erwerbung dieses Gutes hingiebt. So bildet z. В., wenn Korn mit
Tuch ausgetauscht wird, die für das Tuch hingegebene Menge Korn
den Preis des Tuches, und die entsprechende Menge Tuch bildet
den Preis des Kornes. In seiner Eigenschaft eines Wertverhält-
nisses zwischen zwei Gütern kann offenbar der Preis beider ausge-
tauschter Güter nicht zugleich steigen (oder sinken). Das Korn und
- 5 —
das Tuch können nicht gleichzeitig in ihren relativen Preisen steigen
(oder sinken). Also ist, bei einem unmittelbaren- Produktenaustausch,
ein allgemeines Sinken (wie auch ein Steigen) der Preise geradezu
undenkbar; mit anderen Worten ist ein solcher Zustand des Marktes
undenkbar, bei welchem alle ausgetauschten Produkte im Uebermasse
gegeneinander vorhanden wären. Wenn die zum Austausch gebotene
Menge Tuch zunimmt, während die von Korn unverändert bleibt, so
muss der Preis des Tuches fallen: der Tuchproduzent wird eine ge-
ringere Menge Korn für jedes Stück Tuch bekommen. Und wenn
die Vermehrung des Angebotes von Tuch nicht durch das Sinken
der Produktionskosten eines bestimmten Vorrats von Tuch hervor-
gerufen ist, so haben wir eine sogenannte Ueberproduktion von Tuch
vor uns. Da aber das relative Sinken des Preises des Tuches einem
relativen Steigen des Preises des Kornes gleichbedeutend ist, so ist
die Ueberproduktion von Tuch zugleich eine Unterproduktion von
Korn. Wenn nun das Angebot von Korn in demselben Masse ge-
wachsen wäre wie das Angebot von Tuch, so wäre der Preis des
Tuches unverändert geblieben, denn das Verhältnis zweier Grössen
erleidet durch ihre Multiplikation mit ein und derselben Zahl keine
Veränderung. Das Fallen des Tuchpreises ist also durch die unpro-
portionelle Einteilung der gesellschaftlichen Produktion hervorgerufen
worden: wäre ein Teil der Produktivkräfte der Gesellschaft von der
Tuch- zur Kornproduktion abgelenkt worden, so wären die Preise der
beiden Produkte unverändert geblieben und hätte keine partielle
Ueberproduktion stattgefunden.
Aber ist es nicht möglich, dass der Absatz der vermehrten
Mengen beider Produkte auf die Unmöglichkeit des weiteren Steigens
des Konsums stösst? Nehmen wir an, dass der Tuchproduzent keiner
grösseren Menge Korn und der Kornproduzent keiner grösseren Menge
Tuch bedarf. Werden wir in diesem Falle nicht eine Ueberproduktion
beider Produkte, wie die des Kornes, so auch die des Tuches vor uns
haben ?
Doch ein solcher Fall ist geradezu unmöglich, und zwar aus
folgendem Grunde. Wir gehen von der Voraussetzung aus, dass in
den Austausch nur zwei Produkte treten — Korn und Tuch, — und
dass beide Produkte für den Austausch produziert sind. Wenn der
Produzent des Kornes (des Tuches) keiner vermehrten Menge des
Tuches (des Kornes) bedarf, welchen Zweck hätte ^ es für ihn, seine
eigene Produktion zu erweitern? Wozu würde er sich der Mühe
unterziehen, Produkte herzustellen, Avenn er keiner neuen Produkte
überhaupt bedarf? Die wirtschaftliche Arbeit setzt einen bestimmten
Zweck voraus — namentlich die Vermehrung der materiellen Mittel
zur Befriedigung der Bedürfnisse des arbeitenden Subjekts. Der
Mensch, welcher keines neuen Produktes bedarf und trotzdem neue
Produkte herstellt, verdient in eine Irrenanstalt gebracht zu werden.
Wenn die Korn- und Tuchproduzenten kein Bedürfnis nach einer
vermehrten Menge von respektiven Produkten haben, so wird auch
keiner von ihnen seine eigene Produktion erweitern, und es wird
also keine Ueberproduktion an Produkten stattfinden. Nur das Be-
dürfnis nach irgend einem bestimmten Produkte — wir setzen ja die
Verhältnisse der einfachen Tauschwirtschaft, welche kein Geld kennt,
voraus — nur dies Bedürfnis kann den Menschen bewegen, sich mit
der Produktion zu befassen.
Dies bleibt zutreffend auch in dem Falle, wenn in den Aus-
tausch nicht zwei, sondern mehr verschiedene Produkte eintreten.
Nehmen wir an, dass nicht nur Tuch und Korn, sondern noch irgend
welche anderen Produkte, sagen wir, Wein, Häute und Waffen, aus-
getauscht werden. Das Tuch wird mit Korn, Wein, Häuten, Waffen
ausgetauscht; Korn wird ausgetauscht mit Tuch, Wein, Häuten,
Waffen; Wein mit Korn, Waffen, Häuten, Tuch u. s. w. Es ist mög-
lich, dass die Vermehrung der Korn- und Tuchproduktion nicht von
einer Erhöhung der Nachfrage gerade nach diesen Produkten begleitet
wird. Es ward dann eine Ueberproduktion von Tuch und Korn eintreten,
dagegen werden aber einige von den anderen Produkten, Wein,
Häute, Waffen, in ungenügender Menge hergestellt, da das unbe-
friedigte Bedürfnis nach diesen Produkten der einzige Beweggrund
für die Erweiterung der Korn- und Tuchproduktion sein kann. Die
Ueberproduktion von Korn und Tuch erweist sich also als eine Unter-
produktion anderer Produkte — als ein Mangel an Proportionalität
in der Einteilung der gesellschaftlichen Produktion. Wenn statt der
Korn- und Tuchproduktion die von Waffen, Wein und Häuten er-
weitert worden wäre, so würde das Gleichgewicht zwischen dem An-
gebot von Produkten und der Nachfrage nach ihnen nicht gestört
werden.
Die Ueberproduktion von Produkten kann auf dieser Stufe der
Tauschwirtschaft nur eine partielle sein. Eine allgemeine Ueber-
produktion hingegen — also ein allgemeines Sinken der relativen
Preise der Produkte — ist nicht nur unmöglich, sondern geradezu
undenkbar, wie es undenkbar ist, dass zwei Grössen gleichzeitig im
Verhältnis zu einander sinken (oder steigen).
Also wird bei dem unmittelbaren Austausch der Produkte die
Nachfrage nach einem jeden Produkte unmittelbar durch das An-
— 7 —
gebot der anderen bestimmt. Bei der proportion eilen Einteilung der
gesellschaftlichen Produktion müssen das Angebot und die Nachfrage
notwendigerweise im (jleichgewichte sein. Wenn von einem Markte
in der einfachen Tauschwirtschaft, welche kein Geld kennt, die Rede
sein kann, so bildet dieser Markt nichts Zusammenhängendes, Ganzes,
für alle Produkte Gleichartiges. Keine allgemeine Bewegung der
Preise in einer oder der anderen Richtung — sei es ein allgemeines
Steigen oder Sinken der Preise — ist auf einem solchen Markte
möglich; folglich auch keine allgemeine Verbesserung oder Ver-
schlechterung der Absatzverhältnisse. Vielmehr ist die Verbesserung
solcher für eines der Produkte, welche in den Austausch eintreten,
gleichbedeutend mit der Verschlechterung der Absatzverhältnisse für
irgend ein anderes Produkt.
Im Falle eines Steigens des Preises von Korn (ausgedrückt in
Tuch) sinkt der Preis von Tuch (ausgedrückt in Korn), wenn der Markt
für Korn günstig ist, so ist er für Tuch ungünstig. Es ist, als ob der
gesamte Markt in einzelne Räume, welche von einander durch Zwischen-
wände getrennt sind, zerfiele, die Nachfrage nach einem jeden Produkt
wird durch besondere individuelle Verhältnisse bestimmt, und das, was
man die allgemeine Stimmung des Marktes nennt, fehlt vollkommen.
Gehen wir jetzt über zur Analyse des Marktes in der Geldwirt-
schaft. Und zwar zuerst in der einfachen Warenwirtschaft. Die
Waren werden von kleinen unabhängigen, mit eigenen Produktions-
mitteln arbeitenden Produzenten hergestellt; die Arbeitsinstrumente
spielen eine ganz untergeordnete Rolle im Produktionsprozess , wie
auf dem Warenmarkte. Die Hauptmasse der Waren, welche in Aus-
tausch treten, dient dem unmittelbaren Konsum. Beim Naturalaus-
tausch werden Produkte unmittelbar mit Produkten ausgetauscht,
in der Geldwirtschaft aber zerfällt der Austauschprozess in zwei
Teile: Ware — Geld und Geld — Ware, — den Verkauf und den Kauf.
Das Geld, welches die Rolle eines Vermittlers beim Austausch spielt,
kann durchaus nicht mit den anderen Waren gleichgestellt werden.
Ist es zwar auch eine Ware, so doch eine ganz eigentümliche, die
eine eigenartige Funktion im Prozess der Warencirkulation aus-
übt. Ein Unterschied der Ware „Geld" von allen anderen Waren
verdient besonders hervorgehoben zu sein: nämlich die Eigenschaft
des Geldes, als eines allgemeinen Kauf- und Zahlungsmittels, den
Gegenstand einer allgemeinen und unbeschränkten Nachfrage zu
bilden, während die Nachfrage nach allen anderen Waren notwendiger-
weise nur eine begrenzte sein kann. Das bedingt nun einen tiefen
Unterschied zwischen den beiden Hälften des Austauschprozesses;
— 8 —
der Akt des Verkaufs gewinnt im Prozess der Metamorphose der
Waren eine unvergleichlich grössere Bedeutung als der des Kaufes.
Beim Verkauf der Ware erhält der Verkäufer, den Gegenstand einer
uneingeschränkten und nicht zweifelhaften Nachfrage zum Austausch
für einen Gegenstand, nach welchem die Nachfrage eine zweifelhafte
und begrenzte ist. Der Kauf vollzieht sich unter normalen Markt-
verhältnissen ohne jegliche Schwierigkeiten; dagegen ist der Verkauf
der Ware immer das gefährlichste Moment der Metamorphose der
Waren.
Obwohl der erste Akt dieser Metamorphose, der Verkauf —
auch den zweiten — den Kauf voraussetzt, wird — wie Marx
treffend bemerkt — der Zeitpunkt und der Ort, an welchem dieser
zweite Akt stattfindet, durchaus nicht durch den ersten Akt voraus-
bestimmt. Der Verkauf der Ware kann auf dem einen Markte ge-
schehen, während der Kauf auf einem anderen stattfindet, der Kauf
braucht durchaus nicht unmittelbar auf den Verkauf zu folgen, sondern
er kann auf unbestimmte Zeit aufgeschoben werden. Ja, es ist mög-
lich, dass auf den Verkauf überhaupt kein Kauf folgt, — der Ver-
käufer kann den Prozess der Warencirkulation unterbrechen, indem
er das Geld in seinen Händen als einen Schatz zurückbehält. Es ist
bekannt, dass auf diese Art in den Ländern des fernen Orients,
namentlich in Indien, enorme Mengen Silbergeld immer aus der
Cirkulation heraustreten.
Also ist die Verwandlung des einfachen Austauschprozesses —
beim unmittelbaren Produktenaustausch — in einen komplizierten,
doppelseitigen Prozess des Verkaufes und Kaufes keineswegs eine
nur formelle Veränderung, welche das Wesen des Austauschprozesses
nicht berührt. Vielmehr wird durch die Einführung des Geldes, als
Vermittlers beim Austauch, der Austauschprozess geradezu revo-
lutioniert.
Und dies ist richtig, selbst wenn man von der Möglichkeit des
Unterbrechens der Warencirkulation vollkommen absieht.
Wir haben gesehen, dass beim unmittelbaren Produktenaustausch
ein allgemeines Sinken (oder Steigen) der Warenpreise unmöglich ist.
Bei dem ' durch Geld vermittelten Austausch wird der Preis einer
jeden Ware in Geld ausgedrückt. Es liegt daher nichts Unmögliches
in einem allgemeinen Steigen (oder Sinken) der Geldpreise der Waren.
Jede Veränderung des Wertes der Ware „Geld" muss auf die
Preise der übrigen Waren zurückwirken. Das Steigen (Sinken)
des Wertes des Geldes kommt zum Ausdruck in einem allgemeinen
Sinken (Steigen) der Warenpreise. Wir werden uns jedoch bei den
Veränderungen der Warenpreise, die durch Schwankungen im Wert
des Geldmaterials hervorgerufen werden, nicht aufhalten. Viel wich-
tiger ist es, den Einfluss des Zustandes des Warenmarktes selbst auf
die Warenpreise zu bestimmen.
Nehmen wir das frühere Beispiel wieder auf — den Austausch
von Korn mit Tuch. Beim Naturalaustausch ist das Sinken des Korn-
preises gleichbedeutend mit dem Steigen des Tuchpreises. Wie ist
aber der Zusammenhang zwischen den Preisen von Korn und Tuch
bei dem durch Geld vermittelten Austausch?
Bei dem unmittelbaren Produktenaustausch war die Nachfrage
nach Tuch durch das Angebot von Korn bestimmt. Wenn wir von
den Unterbrechungen der Warencirkulation durch das Heraustreten
des Geldes aus der Cirkulation absehen, so wird auch im Falle eines
durch Geld vermittelten Austausches die Nachfrage nach Waren eines
jeden Warenproduzenten durch sein Angebot bestimmt.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich der durch Geld vermittelte
Austausch in nichts vom Naturalaustausch. Und in welcher Weise
erhält in der That der Warenproduzent Geld für den Ankauf der
Waren, deren er bedarf? Offenbar durch Verkauf seiner eigenen
Waren. Die Käufe des Produzenten werden also durch seine Ver-
käufe bestimmt, mit anderen Worten, seine Nachfrage wird durch
sein Angebot reguliert.
Also im Falle des durch Geld vermittelten Austausches (wie
auch des Naturalaustausches) wird die Nachfrage des Kornproduzenten
nach Tuch durch das Angebot von Korn bestimmt. Nehmen wir an,
dass das Angebot von Korn gewachsen ist und die gewöhnliche
Nachfrage des Tuchproduzenten überschritten hat, so wird das ein
Sinken des Geldpreises des Kornes hervorrufen. Da Korn ein zum
Leben unbedingt notwendiges Gut ist und die Preise solcher Güter
nach einem bekannten Gesetz die Tendenz haben, stärker zu schwanken
als das Angebot, so muss das Sinken des Kornpreises bedeutender
sein als das Wachstum seines Angebotes, und die gesamte Geld-
summe, welche vom Kornproduzenten eingenommen wird, muss sinken^
Wenn aber dieser letztere weniger Geld erhält, so wird er auch
weniger für das Tuch bezahlen. Das Sinken des Kornpreises zieht
folglich auch ein Fallen des Tuchpreises nach sich.
Hat das Angebot einer der beiden Waren — des Kornes —
die Nachfrage überschritten, so ist die Folge davon das Sinken des
Geldpreises nicht nur von Korn, sondern auch von Tuch. Die Preise
der beiden Waren verändern sich nicht in einer entgegengesetzten
lO —
Richtung, wie das bei dem Naturalaustausch der Fall war, sondern
in ein und derselben Richtung.
Betrachten wir nun diesen Fall etwas näher. Im Angebot von
Tuch ist keine Veränderung eingetreten, das Tuch ist nicht im
Uebermass produziert worden, trotzdem ist sein Preis, ebenso wie der
der übermässig produzierten Ware — des Kornes — gefallen. Beide
Waren sind im Preise gesunken, die Kornproduzenten, wie die des
Tuches haben Schaden erlitten — ihre Geldeinnahmen haben sich
verringert.
Der Preis ist der Hauptregulator der Warenproduktion. Jeder
Warenproduzent hat im Preise gewissermassen einen Indikator,
welcher die Stimmung des Marktes anzeigt. Das Steigen des Preises
ruft eine Erweiterung der Produktion, das Sinken des Preises ihre
Einschränkung hervor. In dem von uns betrachteten Falle giebt
dieser Indikator des Marktes — der Preis — ungünstige Angaben
in Bezug auf beide Waren, welche in den Austausch eintreten, so-
wohl in Bezug auf das Korn wie auch auf das Tuch.
Wenn das Korn nicht nur mit Tuch, sondern auch mit anderen
Waren ausgetauscht wird, so werden infolge eines Fallens des Korn-
preises die Preise aller dieser Waren sinken. Das Sinken der Waren-
preise wird ein allgemeines sein.
Also wird durch die Einführung des Geldes als Vermittlers beim
Austausch der Markt von Grund aus revolutioniert. Der Markt wird
zu einem Beherrscher der Produktion. Die ungünstige Stimmung
des Marktes wirkt auch auf die Preise derjenigen Waren, welche
durchaus nicht im Uebermass produziert worden sind, ungünstig
zurück. Der Preis einer jeden Ware kommt in eine enge Abhängig-
keit von den Preisen aller anderen Waren.
Das allgemeine Fallen der Warenpreise erscheint in den Augen
der Warenproduzenten als ein Zeichen einer allgemeinen Ueber-
schreitung der Nachfrage nach den Waren durch deren Angebot,
also einer allgemeinen Warenüberproduktion. Und in der That, der
allgemeine Charakter dieser Ueberproduktion wird dadurch bestätigt,
dass eine allgemeine Einschränkung der Produktion auf sie gewöhn-
lich folgt, indem jeder Produzent den Preis seiner Ware durch das
gewöhnliche Mittel — die Verminderung des Angebotes — in die
Höhe zu bringen strebt.
Wir begegnen also in dem durch Geld vermittelten Warenaus-
tausch einem ganz neuen Phänomen — der allgemeinen Warenüber-
produktion — welche dem Naturalaustausch vollkommen unbekannt
ist. Die Ueberproduktion einer Ware verwandelt sich in der Geld-
1 1
Wirtschaft in eine Ueberproduktion aller Waren — und der Markt
kämpft gegen diese allgemeine Ueberproduktion mittels einer allge-
meinen Einschränkung der Warenproduktion.
Darin kommt die. gar so rätselhafte, paradoxe und charakte-
ristische Erscheinung der heutigen Wirtschaftsordnung zum Ausdruck
— der üeberfluss, der zum Mangel wird, die Leiden der Armut,
durch einen übermässigen Reichtum hervorgerufen, die Einschrän-
kung der Produktion, infolge des Reichtums an Produktivkräften.
Die Möglichkeit einer allgemeinen Warenüberproduktion, d. h.
eines solchen Zustandes des Marktes, bei welchem die zahlungsfähige
Nachfrage nach allen Waren geringer ist als das Angebot, was in
einem allgemeinen Preisfall zum Vorschein kommt, kann keinem
Zweifel unterliegen, da es kein kapitalistisches Land giebt, welches
diesen Zustand nicht aus eigener Erfahrung gekannt hätte. Die
ganze Schwierigkeit besteht in der Erklärung dieser Erscheinung,
in der Feststellung ihrer realen Gründe.
Auf das Ueberschreiten der Nachfrage nach den Waren durch
das Angebot als auf den Grund der allgemeinen Warenüberproduktion
hinzuweisen, das heisst sich mit dem Konstatieren der Erscheinung
statt ihrer Erklärung begnügen. Das Sinken der Warenpreise ist
ein unzweifelhaftes Zeichen dafür, dass das Gleichgewicht zwischen
der Nachfrage und dem Angebot gestört ist. Aber wieso kann die
gesamte Nachfrage unter das gesamte Angebot sinken? Darin be-
steht eben die Frage.
Oben ist es festgestellt worden, dass in der Geldwirtschaft, wie bei
dem unmittelbaren Produktenaustausch, die Nachfrage nach den
Produkten in letzter Instanz durch das Angebot bestimmt wird. Die
gesamte Nachfrage muss also dem gesamten Angebote entsprechen.
Wenn infolge einer unproportion eilen Einteilung der gesellschaft-
lichen Produktion einige Produkte im Verhältnis zur Nachfrage in
übermässiger Menge produziert worden sind, so heisst das, dass die
Produktion anderer Produkte hinter der Nachfrage zurückgeblieben
ist. Wenn der einen Produkte zu viele sind, so heisst das, dass es
der anderen zu wenig giebt.
Indessen erweisen sich in dem Falle, welchen wir jetzt betrachten,
alle Waren als im Uebermasse produziert, sodass die Preise aller sinken.
Bedeutet das etwa, dass die These über die Abhängigkeit der Nach-
frage nach den Waren von ihrem Angebot eine Einschränkung er-
fordert ?
Durchaus nicht. Wir haben gesehen, in welcher Weise die all-
gemeine Warenüberproduktion in der Geldwirtschaft entsteht. Der all-
12
gemeinen Ueberproduktion Hegt zu Grunde eine partielle
Ueberproduktion. Diese oder jene Waren werden in einer die
gewöhnliche Nachfrage überschreitenden Menge hergestellt. Ihre Preise
sinken. Die Verminderung der Geldeinnahmen schränkt die Kaufkraft
der Besitzer dieser Waren ein. Es folgt ein Preisfall aller der Waren,
für deren Kauf diese Kaufkraft verausgabt wird, und so erweisen
sich alle Waren infolge der übermässigen Produktion einiger von
ihnen als im Uebermasse vorhanden.
Das gesamte Warenangebot könnte unabhängig von der Ein-
teilung der gesellschaftlichen Produktion die gesamte Nachfrage nur
in dem Falle überschreiten, wenn das Geld aus irgend welchen
Gründen aus der Cirkulation herausträte. Ist das nicht der Fall, so
kann die Ueberproduktion der Waren nur durch eine unproportionelle
Einteilung der gesellschaftlichen Produktion hervorgerufen werden.
Jeder Warenproduzent, welcher seine Geldeinnahme verausgabt, erhebt
eine Nachfrage nach einer gleichwertigen Menge anderer Waren.
Wenn daher einige Waren im Uebermass sind, so bedeutet das, dass
irgend л¥е1сЬе andere Waren in nicht genügender Menge vorhanden
sind. Der durch Geld vermittelte Warenaustausch vollzieht sich auf
derselben materiellen Basis wie der unmittelbare Produktenaustausch,
namentlich auf der Basis der Produktenherstellung. Im Falle einer
proportionellen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion muss die
Nachfrage nach Produkten sich mit deren Angebot decken. Für
den Naturalaustausch gilt dies unbedingt, für den durch Geld ver-
mittelten x\ustausch mit einer Einschränkung: soweit auf den Ver-
kauf ein Kauf folgt, soweit der Warenaustausch nicht durch den
Austritt des Geldes aus der Cirkulation unterbrochen wird.
Also, die reale Grundlage des durch Geld vermittelten Aus-
tausches ist gerade dieselbe wie die des Naturalaustausches. Der
Verkauf und der Kauf, die Verwandlung der Ware in Geld und des
Geldes in Ware ist am Ende doch nur eine neue Form des Aus-
tausches der Produkte mit Produkten. Aber durch die Veränderung
der Form des Austausches wird auch sein Inhalt von Grund aus
umgestaltet. Der Markt wird zu einem Ganzen, er erhält eine Ein-
heitlichkeit, er wird nicht nur zum Regulator, sondern zum Beherrscher
der Produktion.
Es werden Phänomene möglich, welche dem Naturalaustausch
ganz unbekannt sind: eine allgemeine Ueberproduktion der Produkte,
eine durch den Reichtum hervorgerufene Armut.
Die einfache Warenproduktion, welche die Möglichkeit einer
allgemeinen Warenüberproduktion in sich schliesst, macht diese Ueber-
— 13 —
Produktion durchaus nicht notwendig. Im Gegenteil, die allge-
meinen Wirtschaftsverhältnisse der kleinen selbständigen Waren-
produzenten sind derart, dass diese Möglichkeit äusserst selten zur
Wirklichkeit wird. Wie oben gesagt, bilden die Gegenstände des
unmittelbaren Konsums die Hauptmasse der Waren, welche unter
der Herrschaft der einfachen Warenproduktion in Austausch treten.
Die Konsumtion bildet den unmittelbaren Zweck der Produktion.
Obwohl die Thatsache des Austausches selbst die Voraussetzung in
sich schliesst, dass die Ware nicht für den eigenen Konsum des
Produzenten, sondern für den Konsum eines anderen hergestellt wird,
werden doch fast alle Waren unmittelbar für die Konsumtion pro-
duziert.
Zwischen der Produktion und der Konsumtion bleibt ein enger
Zusammenhang bestehen, wenn er auch komplizierter ist als in der
Eigenproduktion, tauschloser Wirtschaft. Die Richtung der gesell-
schaftlichen Produktion wird durch die Konsumtionsbedürfnisse der
Bevölkerung eines kleinen Gebietes bestimmt. Diese Bedürfnisse
zeichnen sich durch eine bedeutende Stabilität aus, die Nachfrage
nach Produkten wächst sehr langsam in demselben Masse, wie die
Bevölkerung wächst. Da die Arbeitsinstrumente eine untergeordnete
Rolle in der Produktion spielen und die Maschinen fast unbekannt
sind, so sind auch die Produktivkräfte der Bevölkerung, welche
hauptsächlich in einer angehäuften Geschicklichkeit und Gewandtheit
des Arbeiters selbst bestehen, eines schnellen Wachstums nicht fähig.
Unter solchen Verhältnissen — namentlich bei der Stetigkeit der
Nachfrage und des Angebotes der Waren — sind ganz ausserordent-
liche Umstände erforderlich, damit der Warenmarkt in den Zustand
einer allgemeinen Ueberproduktion käme. Grosse Preisschwankungen
sind — unter dem Vorherrschen des Kleinbetriebs — nur in betreff
derjenigen Produkte zu beobachten, deren Herstellung in einer engen
Abhängigkeit von atmosphärischen Phänomenen steht, wie es z. B.
bei allen Produkten des Ackerbaues der Fall ist. Das Angebot
dieser Produkte ist enormen Schwankungen unterworfen, aber der
Einfluss dieser Schwankungen auf den gesamten Warenmarkt wird
dadurch bedeutend abgeschwächt, dass diese Produkte nur in einem
geringen Masse auf den Markt treten, da sie hauptsächlich in der
Wirtschaft des Produzenten selbst konsumiert werden. Die Produkte
des Ackerbaues spielen z. B. eine ganz untergeordnete Rolle auf
dem Waren markte der mittelalterlichen Stadt, welche als historischer
Typus der Organisation des Kleinbetriebs gelten kann. Aus diesem
Grunde rufen die Schwankungen der Preise der landwirtschaftlichen
— 14 —
Produkte in der einfachen Warenwirtschaft keine starken Schwan-
kungen der Preise der anderen Waren hervor.
Also, wenn bei dem unmittelbaren Produktenaustausch eine all-
gemeine Ueberproduktion der Produkte geradezu unmöglich ist, so
ist unter der Herrschaft der einfachen Warenwirtschaft eine all-
gemeine Ueberproduktion, wenn auch möglich, so durchaus nicht
notwendig.
Gehen wir jetzt über zur Analyse des Marktes bei der gegen-
wärtigen Form der Warenwirtschaft — der kapitalistischen Wirt-
schaft.
Der Grundunterschied der kapitalistischen von der einfachen
Warenwirtschaft ist nicht auf dem Gebiete des Austausches, sondern
auf dem der Produktion zu suchen. Der kleine Warenproduzent
arbeitet eigenhändig, sein Zweck ist, sich Lebensmittel zu verschaffen,
indem er seine Arbeitsprodukte mit den Arbeitsprodukten anderer
Produzenten austauscht. Der kapitalistische Unternehmer lässt Lohn-
arbeiter arbeiten, sein Zweck ist der Profit. Ein Teil dieses Profits
geht in den persönlichen Konsum des kapitalistischen Unternehmers
über, ein anderer Teil wird akkumuliert und wieder in Kapital ver-
wandelt. Die Konsumtion der Arbeiter, welche mit der kapitalistischen
Produktion beschäftigt sind, hat eine ganz andere ökonomische Be-
deutung als die Konsumtion der kleinen Warenproduzenten , und
zwar besteht dieser Unterschied in Folgendem. Die Herstellung von
Konsumtionsmitteln ist in der einfachen Warenwirtschaft der un-
mittelbare Zweck der Produktion. Die Vervollkommnung der Technik
und der Arbeitsinstrumente, die Vermehrung der Geschicklichkeit
und der Gewandtheit des Arbeiters, das Wachstum der Produktiv-
kräfte überhaupt — alles dies führt in der einfachen Warenwirtschaft
zu einer Vermehrung des Vorrates der Konsumtionsmittel in den
Händen der Bevölkerung. Das Arbeitsinstrument eines selbständigen
Produzenten kann keinesfalls als sein eigener Konkurrent auftreten.
Der Produzent benutzt diese Arbeitsinstrumente nur insofern, als sie
zur Vermehrung seines Komfortes und seines Wohlhabens dienen,
insofern, als er durch deren Benutzung seine Konsumtion erweitern
und qualitativ verbessern kann. Zwischen der Ausdehnung der Pro-
duktion und dem Wachstum der nationalen Konsumtion kann es in
der Wirtschaft der kleinen Warenproduzenten keinen Konflikt geben.
Der Mensch bleibt der Herr der Produktion, und die Arbeits-
instrumente, die Arbeitsmittel bleiben seine gehorsamen Diener.
In der kapitalistischen Produktion wird das Verhältnis zwischen
dem Menschen und den Arbeitsmitteln von Grund aus umgestaltet.
— 15 —
Der Leiter der kapitalistischen Unternehmung ist nicht der Arbeiter,
welcher mit seinen Arbeitsmitteln arbeitet, sondern der Kapitalist,
welcher an der unmittelbaren Arbeit keinen Anteil nimmt. Vom
Standpunkte des kapitalistischen Unternehmers aus ist der Arbeiter
ganz ebenso ein Produktionsmittel wie das Instrument in den Händen
dieses Arbeiters oder wie die Maschine, deren lebendes Anhängsel
der Arbeiter ist. Der Arbeiter und die Maschine sind in gleichem
Masse Kapital. Die Unterhaltung des Lebens des Arbeiters ist eine
der notwendigen Bedingungen des Produktionsprozesses, ebenso wie
das Einwerfen von Kohlen in den Ofen nötig ist, damit die Maschine
nicht still steht. Aber wie das Anschaffen von Heizungsmaterial für
die Maschinen nicht der Zweck der kapitalistischen Produktion ist,
ebenso ist auch die Herstellung der Lebensmittel der Arbeiterklasse
nicht der Zweck der kapitalistischen Produktion.
Eines der grössten Verdienste von Marx besteht in dem Hin-
weise auf den „Fetischcharakter" der Ware. Der tiefste Unterschied
der Warenwirtschaft von jeder anderen besteht eben in diesem
Fetischcharakter der Waren weit. Die Warenwirtschaft beruht auf
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, und der Zusammenhang zwischen
den einzelnen Produzenten wird in ihr nicht zerrissen: auch in der
Warenwirtschaft, wie in der Urgemeinde, arbeitet der eine für den
anderen. Aber als Bindemittel zwischen den einzelnen Produzenten
dient in der Warenwirtschaft die Ware, ein Ding; die Verhältnisse
der Menschen werden durch die Verhältnisse der Dinge verhüllt,
oder vielmehr in Dingen ausgedrückt, verdinglicht. Infolgedessen,
werden die Dinge gleichfalls vergeistigt, beginnen gleichsam ein be-
wusstes Leben zu führen. Die Ware steigt und sinkt im Preise ganz
unabhängig von dem Willen der einzelnen Produzenten, deren Arbeits-
produkt diese Ware bildet — als ob diese Ware ein selbständiges
und zwar mit Willen begabtes Wesen wäre. Die toten Produkte des
Menschen werden seine eigenen Gebieter. Die Verkörperung dieses
Fetischismus, dieser Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse,
welche den Menschen beherrschen, ist der Markt. Die Macht des
Marktes ist die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse des Menschen,
welche die Form von dinglichen Waren Verhältnissen angenommen
haben.
Die kapitalistische Wirtschaft geht noch weiter in der Identi-
fizierung der Dinge und des Menschen. Der Warenaustausch hat
das Ding gleichsam zu einem lebenden und zwar höheren Wesen
gemacht: die kapitalistische Produktion ' verwandelt den Menschen
gleichsam in ein Ding. Die Arbeitskraft des Menschen, mit anderen
— Тб ~
Worten der Mensch selbst wird zu einer Ware, die auf dem Markte
ganz ebenso gekauft und verkauft wird wie ein beliebiges Produkt
der menschlichen Arbeit. Der Arbeiter verwandelt sich gleichsam
in ein lebendes Arbeitsmittel — in ein mit Sprache begabtes Werk-
zeug. Diese Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit des Menschen und
der Maschine in der kapitalistischen Produktion kommt mit voller
Klarheit darin zum Vorschein, dass die Maschine den Arbeiter ersetzt.
Jede Erhöhung der Löhne wird mit einer Erweiterung der Maschinen-
anwendung begleitet. Der Arbeiter begegnet überall, als seinem
stärksten und gefährlichsten Konkurrenten, seinem eigenen Arbeits-
produkte, der Maschine. Der Kapitalismus verwandelt den Menschen
aus einem Selbstzweck in ein einfaches Produktionsmittel. Dies ist
übrigens dem Kapitalismus gemeinsam mit anderen Produktionsweisen,
welche auf Aneignung des Mehrproduktes durch gesellschaftliche
Klassen, die an der produktiven Thätigkeit nicht teilnehmen, beruhen,
wie die Sklaven- und feudale Wirtschaft.
Diese Eigentümlichkeit der kapitalistischen Produktion hat Marx
treffend gekennzeichnet, indem er die lebendige Arbeitskraft unter
die Kategorie des Kapitals subsumierte. Und in der That ist der
Lohnarbeiter nichts anderes als eine der Unterarten des Kapitals.
Nur ein Teil der gesamten Volkskonsumtion ist in der kapitalistischen
Wirtschaft der unmittelbare Zweck der Produktion und nicht ein
Mittel für dieselbe, und das ist die Konsumtion der Klassen, welche
sich das Mehrprodukt aneignen.
Der Zusammenhang zwischen der nationalen Konsumtion und
der nationalen Produktion erhält also in der kapitalistischen Wirt-
schaft einen ganz neuen Charakter. Der Weizen, welchen die Arbeiter
nötig haben, der Hafer, welcher als Futter für die Pferde dient, Stein-
kohle, welche für die Heizung der Maschinen notwendig ist, dies
alles sind im Prozesse der kapitalistischen Produktion Gegenstände
einer und derselben Kategorie, Gegenstände, welche für die Pro-
duktion unvermeidlich sind und nur aus diesem Grunde hergestellt
werden.
Wenn vereinigte technische und ökonomische Rücksichten die
Maschinen zu vorteilhafteren Produktionsmitteln als die Arbeiter
machen, so werden die Arbeiter durch Maschinen ersetzt und statt
Konsumtionsmittel für Menschen wird Heizungsmaterial für die Ma-
schinen produziert. Die Konsumtionsmittel des Arbeiters werden
in der kapitalistischen Wirtschaft nur insofern erzeugt, als der Arbeiter
in seiner Eigenschaft als subjektiver Faktor der Produktion unent-
behrlich ist.
— 17 -
Aber ist denn nicht für die Verwertung des Kapitals ein Markt
notwendig, und wird also der Absatz der Waren auch in der kapita-
listischen Wirtschaft schliesslich nicht durch den Umfang der natio-
nalen Konsumtion bedingt? Ist etwa die Realisation des gesellschaft-
lichen Produktes, also die Verwertung des Kapitals möglich, wenn
die nationale Produktion schneller wächst als die nationale Kon-
sumtion? Werden daher in der kapitalistischen Wirtschaft, wie auch
in jeder anderen, die Schranken der gesellschaftlichen Produktion
nicht durch die gesellschaftliche Konsumtion bestimmt? Alle diese
Fragen entstehen ganz natürlich und scheinen in sich die gänzliche
Widerlegimg der oben angeführten Erwägungen einzuschliessen. Und
doch bleiben diese letzteren vollkommen richtig. So gehen wir denn
nunmehr über zur Analyse des Prozesses der Reproduktion des ge-
sellschaftlichen Kapitals in seinem Gesamtumfange.
Die Verwertung des gesellschafthchen Kapitals findet durch die
Vermittelung des Geldes statt. Die Waren müssen verkauft werden,
um sich in neue Waren zu verwandeln. Aber bei der abstrakten
Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion des Kapitals können wir
von der Rolle des Geldes in dieser Reproduktion vollkommen ab-
sehen. Damit leugnen wir durchaus nicht, dass die Unterbrechungen
der Geldcirkulation Störungen im Prozesse der Reproduktion des
gesellschaftlichen Kapitals hervorrufen. Es ist aber augenblicklich
nicht unsere Aufgabe, diese Unterbrechungen zu untersuchen. Inso-
fern das Geld nur eine Vermittlerrolle beim Austausche spielt, werden
Produkte mit Produkten gekauft. Von dieser Annahme werden
wir in der folgenden Analyse ausgehen.
Die gesellschaftliche Reproduktion des Kapitals besteht in der
technischen Reproduktion der verschiedenen Elemente des Kapitals
in ihrer stofflichen Form und in der Ersetzung der einen von ihnen
durch die anderen im Akte des Austausches. Als Resultat dieser
Reproduktion und des Austausches wird das gesellschafthche Kapital
verwertet und zugleich der Profit des Kapitalisten (genauer gesagt,
alle Einkommen, welche nicht auf Arbeit beruhen — die Rente nach
der Terminologie von Rodbertus) realisiert.
Die nachfolgenden Schemata beziehen sich auf die Reproduktion
des gesellschaftlichen Kapitals in Fällen seiner Reproduktion auf
gleichbleibender, sowie auch auf erweiterter Stufenleiter (Akku-
mulation des Kapitals). In dem Schema No. I ist der erste Fall dar-
gestellt.
Tugan-Baranowsky, Die Handelskrispii.
Schema No. I.
Die einfache Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals.
Erste Abteilung.
Die Produktion der Produktionsmittel.
720^, -f- ЗбОа + Збо^ = I440.
Zweite Abteilung.
Die Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter.
360^, -j- iSOa -\- iSOr = 720.
Dritte Abteilung.
Die Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten.
360^, -\- iSOa + 180^ = 720.
Dieses Schema (welches nach dem Muster der bekannten
Marx'schen Schemata im II. Band des „Kapitals" konstruiert ist) soll
veranschaulichen, wie die kapitalistische Produktion in dem Falle ein-
geteilt wird, wenn das gesamte Mehrprodukt in den Konsum der
Kapitalisten eingeht. Das erste Glied jeder dieser dreigliedrigen
Summen bezieht sich auf den Wert der Produktionsmittel, welche in
der betreffenden Produktionsabteilung angewendet werden (in Mil-
lionen Pfund, Mark, Francs u. s. f.); das zweite — auf den Wert der
Arbeitslöhne der betreffenden Arbeiter, das dritte — auf den Wert
des Mehrproduktes (die Rente, im Sinne von Rodbertus, die wir der
Einfachheit halber mit dem Profit der Kapitalisten identifizieren) i). In
allen drei Summen ist dasselbe Verhältnis des Wertes der Produk-
tionsmittel zu den Arbeitslöhnen und zum Profit angenommen. Die
erste Abteilung bringt die Produktion der Produktionsmittel, die zweite
die der Konsumtionsmittel der Arbeiter und die dritte die der Kapi-
talisten (genauer, aller Klassen, welche am Mehrprodukt teilhaben)
zum Ausdruck. Die absoluten Zahlen sind ganz willkürlich ge-
nommen, sie haben für uns gar keine Bedeutung. Vom Unterschied
des stehenden und des umlaufenden Kapitals ist der Einfachheit halber
nach dem Marx'schen Vorgang im Schema ganz abgesehen worden.
i) Ich gebrauche nicht die übliche Marx sehe Terminologie (konstantes Kapital, va-
riables Kapital, Mehrwert), da ich nicht auf dem Boden der Mehrwerttheorie von Marx
stehe. Nach meiner Ansicht besteht in der Schaffung des Mehrproduktes — also der
Rente — gar kein Unterschied zwischen der menschlichen Arbeitskraft und den toten
Arbeitsmitteln, Die Maschine darf man mit demselben Rechte wie die menschliche
Arbeitskraft als variables Kapital bezeichnen, da beide Mehrprodukt erzeugen. Darüber
siehe meine russischen Artikel: „Der fundamentale Irrtum der abstrakten Theorie des Ka-
pitalismus von Marx" und „Das Wertgesetz und die Profitrate" (Russische Zeitschrift
„AVissenschaftliche. Rundschau", 1889 Mai und 1900 März). Auch unten Kapitel VII.
— IQ —
Während thatsächlich nur ein Teil der Produktionsmittel in einem
Jahre verbraucht wird und in natura ersetzt werden muss, haben
wir angenommen, dass die Produktionsmittel im Laufe einer Pro-
duktionsperiode ganz verbraucht und ganz ersetzt werden, mit anderen
Worten, dass die gesamten Produktionsmittel sich ebenso umsetzen
wie das umlaufende Kapital
Die dritte Abteilung unseres Schemas bezieht sich auf die Pro-
duktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten. Wie können die
Waren dieser Art (im Werte von 720) auf dem Markte realisiert
werden? Das Schema giebt darauf eine klare Antwort. Ein Viertel
dieser Waren wird von den Kapitalisten dieser Abteilung selbst kon-
sumiert werden (180); ein ebenso grosser Teil wird von den Kapita-
listen der zweiten Abteilung (deren Profit auch gleich 180 ist) ver-
braucht werden; den übrigen Teil konsumieren die Kapitalisten der
ersten Abteilung (deren Profit beträgt 360). Im Austausch gegen die
von ihnen veräusserten Produkte werden die Kapitalisten der dritten
Abteilung für 360 Produktionsmittel und die Arbeiter derselben Ab-
teilung für 180 Konsumtionsmittel erhalten. In dieser Weise vollzieht
sich die Realisierung aller Waren der dritten Abteilung.
Die Waren der zweiten Abteilung (Konsumtionsmittel der Ar-
beiter, auch im Werte von 720) werden in der folgenden Weise rea-
lisiert: ein Viertel dieser Waren (180) wird innerhalb der-
selben Abteilung von den in ihr beschäftigten Arbeiter konsumiert
werden; ein anderes Viertel (180) geht in den Konsum der Arbeiter
der dritten Abteilung und die Hälfte (360) in den Konsum der
Arbeiter der ersten Abteilung über. Im Austausch dafür erhalten
die Kapitalisten der zweiten Abteilung für 180 Gegenstände ihrer
Konsumtion und für 360 Produktionsmittel.
Von den Waren der ersten Abteilung (den Produktionsmitteln),
deren Wert 1440 beträgt, wird die Hälfte (720) in derselben Ab-
teilung verbraucht; ein Viertel (360) wird für die Produktion der
zweiten Abteilung und ein Viertel (360) für die Produktion der
dritten Abteilung verlangt. In Austausch dafür erhalten die Kapi-
talisten der ersten Abteilung für 360 Gegenstände ihrer Konsumtion
und die Arbeiter derselben Abteilung für 360 ihre Lebensmittel.
Die Nachfrage nach allen Waren ist dem Angebot gleich. Der
Wert der geschaffenen Produktionsmittel — 1440 — ist gleich dem
Wert der Produktionsmittel, die für die Erneuerung der gesamten
gesellschaftlichen Produktion auf gleichbleibender Stufenleiter (720
^ 360 -|~ 360) erheischt werden. Der Wert der Konsumtions-
mittel der Arbeiter — 720 — ist der Summe der Arbeitslöhne
2*
20
(збо -f- i8o -|- i8o) und der Wert der Konsumtiosmittel der Kapitalisten
— auch 720 — der Summe des Profites (360 + 180 -|- 180) gleich.
Die Waren jeder Abteilung werden zum Teil innerhalb derselben
Abteilung ausgetauscht und verbraucht, zum Teil gelangen sie in
Austausch mit den Waren der beiden anderen Abteilungen.
Bei der Betrachtung dieses Schemas muss besonders betont werden,
dass die Produktionsmittel neben und gleichzeitig mit den Konsumtions-
mitteln der Arbeiter und der Kapitalisten produziert und auf dem
Markte umgesetzt werden. Es scheint dies ohne weiteres ganz selbst-
verständlich zu sein; doch wurde vor Marx bei der Analyse des Pro-
zesses der gesellschaftlichen Reproduktion des Kapitals gerade da-
durch am meisten gefehlt, dass die Bedeutung der Produktionsmittel,
als eines notwendigen Bestandteils des gesellschaftlichen Produktes,
unbeachtet geblieben wurde. Die gesamte klassische Schule der National-
ökonomie — von Adam vSmith bis J. S. Mill — ging bei dieser Analyse
von der ganz unhaltbaren Voraussetzung aus, dass der Wert des
jährlichen Warenprodukts sich nur in Arbeitslohn, Profit und Rente
auflöst. Der Wert der Produktionsmittel fällt bei dieser Voraus-
setzung volkommen weg. Mit vollem Recht hat Marx diese Doktrin
als eine „erstaunliche" bezeichnet. Dieselbe höchst verkehrte Annahme
ist die Hauptursache aller Unklarheiten und der unentwirrbaren Kon-
fusion in der Kontroverse Ricardo's, der beiden Mills, J. B. Say mit
Malthus, Chalmers und Sismondi über die Möglichkeit einer allge-
meinen Warenüberproduktion gewesen. Also darf man bei der Ana-
lyse der gesellschaftlichen Reproduktion des Kapitals keinesfalls
ausser acht lassen, dass das gesellschaftliche Kapital nicht nur für
die Herstellung von Konsumtionsmitteln, sondern auch von Produk-
tionsmitteln verwendet wird. Wir werden unten noch Gelegenheit
haben, auf diesen Punkt zurückzukommen.
Der von uns betrachtete Fall der einfachen Reproduktion des
gesellschaftlichen Kapitals ist sehr einfach und bietet keine Schwierig-
keiten: wenn der gesamte Profit in den Konsum der Kapitalisten
übergeht, so ist es leicht zu begreifen, dass bei einer proportionellen
Einteilung der gesellschaftlichen Produktion die Nachfrage nach allen
Waren mit deren Angebot übereinstimmen muss. Viel verwickelter
ist der andere Fall — der der Akkumulation von Kapital. Nehmen
wir an, dass die Kapitalisten ihren gesamten Profit zu konsumieren
aufhören, etwa weil sie durch die Konkurrenzverhältnisse genötigt
sind, einen Teil desselben zu kapitalisieren. Wird in diesem Falle
nicht das gesellschaftliche Warenangebot die gesellschaftliche Waren-
nachfrage überholen?
— 2 1
Wir können nicht unterstellen, dass die Kapitalisten den von
ihnen selbst nicht verbrauchten Teil des Profites als einen Schatz
aufbewahren, in ihrem Geldschrank einfach unterbringen. Wir gehen
von der Voraussetzung aus, dass die Kapitalisten bestrebt sind, den
ihrer eigenen Konsumtion entzogenen Teil des Profites zu kapitali-
sieren, um daraus neuen Profit herauszuschlagen. Unsere Aufgabe
лvird darin bestehen, schematisch eine solche Einteilung der gesell-
schaftlichen Produktion darzustellen, bei welcher dieses Streben zu
seiner vollen Verwirklichung gelangt.
Das unten folgende Schema stellt die Akkumulation des gesell-
schaftlichen Kapitals dar unter der Voraussetzung, dass die Hälfte
des Profites beständig kapitalisiert wird.
Schema No. II.
Die Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals auf erweiterter
Stufenleiter (die Akkumulation des Kapitals).
Das erste Jahr.
Erste Abteilung.
Die Produktion der Produktionsmittel.
84OJ5 -|- 42ОД -[~ 420r = 1680.
Zweite Abteilung.
Die Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter.
420^, -\- 2iOa -\- 2iOr =^ 840.
Dritte Abteilung.
Die Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten.
i8o^, -|- goa + QOr = 360.
Das zweite Jahr.
Erste Abteilung.
Die Produktion der Produktionsmittel.
980J, -[- 490^ -\- 490^ = i960.
Zweite Abteilung.
Die Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter.
490^, + 245« -f 245^ = 980.
Dritte Abteilung.
Die Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten.
2 10^, -}- 105« -f- 105^ = 420.
Das dritte Jahr.
Erste Abteilung.
Die Produktion der Produktionsmittel.
ii43V3i> + 571'/за + 57^Узг = 2286 Vs-
22
Zweite Abteilung.
Die Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter.
SyiVsi^ + -85V6« + 285V6, = 11437з-
Dritte Abteilung.
Die Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten.
245^ -|- 122^1 ^_a + 122 1/2;, = 490.
Im ersten Schema war die Reproduktion des Kapitals bei der
Voraussetzung dargestellt, dass die Kapitalisten ihren gesamten
Profit konsumieren. Nehmen wir jetzt an, dass die Konkurrenzver-
hältnisse die Kapitalisten nötigen, nur die Hälfte ihres Profites für
ihre persönliche Konsumtion zu verausgaben und den übrigen Teil
desselben zu kapitalisieren. Bleibt der ersparte Teil des Kapitals
unverwendet liegen, so wird er keinen Profit bringen. Um einen
Gewinn von seinen Ersparnissen zu haben, muss der Kapitalist sie
auch verwenden, aber nicht für seine persönliche Konsumtion, sondern
produktiv — für die Erweiterung der Produktion. Wenn aber die
gesellschaftliche Produktion in allen Produktionszweigen gleichmässig
angewachsen wäre, so hätten die Kapitalisten gleichmässig ihren
Zweck — die Akkumulation von Kapital und die Vermehrung ihrer
Profite — nicht erreicht, da ein bedeutender Teil der produzierten
Waren niemand nötig wäre: nämlich der grösste Teil der Gegenstände
der eigenen Konsumtion der Kapitalisten. Der grösste Teil dieser
Waren würde unverkauft bleiben, da die Nachfrage nach solchen,
unserer Voraussetzung gemäss, eingeschränkt worden ist. Zugleich
würden die Waren, nach welchen eine erhöhte Nachfrage entstanden
ist (die Produktionsmittel und die Konsumtionsmittel der Arbeiter)
in ungenügender Menge auf dem Markte vorhanden sein. Also
können die Kapitalisten den Profit nur auf einem Wege kapitalisieren :
durch Veränderung der Einteilung der gesellschaftlichen Produktion.
Das ist durchaus keine leichte Sache, aber uns interessiert hier nicht
der Prozess dieser Veränderung selbst, sondern seine Resultate. Das
Schema N0. II stellt eine solche Einteilung der gesellschaftlichen
Produktion dar, bei welcher das Streben der Kapitalisten, die Hälfte
ihres Profites zu kapitalisieren, vollauf verwirklicht werden kann.
In diesem Schema ist der Gesamtwert des gesellschaftlichen
Produktes im ersten Jahre eben so hoch angenommen wie im Schema
N0. I (2880); der Wert des gesamten vorgeschossenen Kapitals (der
Produktionsmittel und der Konsumtionsmittel der Arbeiter) — bleibt
auch derselbe. Das Kapital ist das Produkt der früheren Produktion,
dessen Menge als eine gegebene betrachtet werden muss.
- 23 —
Ebenso ist im Schema No. II dasselbe Verhältnis des Wertes
der Produktionsmittel zu dem der Arbeitslöhne und zum Profit an-
genommen wie im Schema No. I.
Der einzige Unterschied des Schemas No. II (das erste Jahr)
vom ersten Schema besteht in einer anderen Einteilung der gesell-
schaftlichen Produktion. Im Schema No. I war die gesellschaftliche
Produktion in der Weise eingeteilt, dass das Kapital nicht anwuchs
und das Mehrprodukt ganz und völlig in den persönlichen Konsum
der Kapitalisten überging. Im Schema No. II wird die Akkumulation
des Kapitals durch die gesellschaftliche Einteilung der Produktion
selbst erheischt.
Die Gesamtsumme des Profits im ersten Jahre bleibt in Schema
No. II dieselbe wie im Schema No. I, nämlich 420 -|- 210 -|- 90 ^ 720.
Aber der Konsumtionsmittel der Kapitalisten sind nur 360 produziert
worden, also im Vergleich mit dem Schema N0. I zweimal weniger.
Dafür sind andere Produkte in grösserer Menge hergestellt worden,
und zwar die Produktionsmittel um 240 und die Konsumtionsmittel
um 120 mehr. Es ist unsere Aufgabe, klarzulegen, wieso das neu
akkumulierte Kapital produktiv verwendet werden kann, obwohl die
Nachfrage nach den Konsumtionsmitteln der Kapitalisten zweimal
geringer geworden ist.
Dieses neu akkumulierte Kapital wird für die Erweiterung der
Produktion im zweiten Jahre verwendet werden. Die Nachfrage
nach den Produktionsmitteln im zweiten Jahre übertrifft um 240 die-
selbe Nachfrage des ersten Jahres (zur Produktion des ersten Jahres
wurden die Produktionsmittel im Werte von 840 -|- 420-}- 180= 1440
erforderlich, für die Produktion des zweiten Jahres werden sie aber im
Werte von 980 -|- 490 -|- 2 10 = 1680 erheischt); die Nachfrage nach den
Konsumtionsmitteln der Arbeiter ist im zweiten Jahre um 120 grösser
als im ersten (die Arbeitslöhne des ersten Jahres: 420 ~\- 2io-\-go = jzo;
die des zweiten Jahres: 490 -(- 245 -(- 105 = 840). Also werden die über-
schüssigen Produktionsmittel und Konsumtionsmittel der Arbeiter des
ersten Jahres von der Produktion des zweiten Jahres verschlungen werden.
Die Realisation der im Laufe des ersten Jahres hergestellten Produkte
wird sich in der folgenden Weise vollziehen. Der Konsumtionsmittel
der Kapitalisten (dritte Abteilung) sind 360 erzeugt. Unserer Vor-
aussetzung gemäss konsumieren die Kapitalisten nur die Hälfte ihres
Profits. Da der Profit der Kapitalisten der ersten x\bteilung im
ersten Jahre gleich 420 ist, so wird folglich ihre Nachfrage nach
Konsumtionsmitteln mit 210 sich beziffern, die Nachfrage nach Kon-
sumtionsmitteln der Kapitalisten der zweiten Abteilung wird 105,
— 24 —
die der dritten Abteilung 45 betragen. Die Gesamtsumme der Nach-
frage beträgt 360, d. h. -sie deckt vollständig das Angebot dieser
Produkte. Lebensmittel der Arbeiter sind im ersten Jahre im Be-
trage von 840 produziert. Für die erweiterte Produktion des zweiten
Jahres sind Waren dieser Art erforderlich: für die erste Abteilung
im Betrage von 490, für die zweite von 245 und für die dritte von 105,
d. h. wieder im Betrage des Angebots. Ebenso ist die Nachfrage
nach Produktionsmitteln für die Produktion des zweiten Jahres (980
die Produktion der ersten Abteilung, 490 die der zweiten und 210
die der dritten) dem Werte der im ersten Jahre erzeugten Produktions-
mittel gleich (1680). In dieser Weise haben alle Produkte des ersten
Jahres im zweiten Jahre einen Absatz gefunden.
Aber zu welchem Zwecke dient die erweiterte Produktion des
zweiten Jahres? Haben wir das Recht, anzunehmen, dass die Nach-
frage nach Produktionsmitteln und nach Lebensmitteln der Arbeiter
im zweiten Jahre grösser ist als im ersten? Wir gehen wie früher
von der Voraussetzung aus, dass die Kapitalisten die Hälfte ihres
Profites (im zweiten Jahre wie im ersten) nicht persönlich konsumieren,
sondern in Kapital verwandeln. Die Einteilung der gesellschaftlichen
Produktion im zweiten Jahre ist eine solche, dass die Hälfte des
Profits wieder akkumuliert wird. Die Nachfrage nach den Produkten
des zweiten Jahres entsteht aus der erweiterten Produktion des dritten
Jahres.
Am Ende des zweiten Jahres wurden für i960 Produktionsmittel,
für 980 Lebensmittel der Arbeiter und für 420 Konsumtionsmittel
der Kapitalisten hergestellt. Sehen wir nun, wie diese Produkte rea-
lisiert werden können.
Der Gesamtprofit beträgt im zweiten Jahre 840 (490 -J- 245 -f-
105). Unserer Unterstellung gemäss verausgaben die Kapitalisten
die Hälfte dieses Profites für ihre Konsumtion. Also ist ein Markt
für die im zweiten Jahre produzierten Konsumtionsmittel der Kapita-
listen im Werte von 420 gefunden. Die Produktionsmittel der er-
Aveiterten Produktion der dritten Jahres (1143V3 -\- 571'Уз -|- 245)
sind i960, gleich dem Werte der im zweiten Jahre geschaffenen Pro-
duktionsmittel; die Arbeitslöhne des dritten Jahres (571V3 ~h ^^sVe
-|- 12272) sind 980, gleich den im zweiten Jahre erzeugten Lebens-
mitteln der Arbeiter. Also realisieren sich alle Produkte des zweiten
Jahres im dritten Jahre — der Markt für sie wird durch die erwei-
terte Produktion des dritten Jahres geschaffen.
Es wird nun m. E. nicht nötig sein, mit dieser Analyse
der Einteilung der gesellschaftlichen Produktion im vierten fünften
— 25 —
und den folgenden Jahren fortzufahren. Die angeführten Schemata
mussten zur Evidenz den an sich sehr einfachen Grundsatz beweisen,
welcher aber bei ungenügendem Verständnis des Prozesses der Re-
produktion des gesellschaftlichen Kapitals leicht Einwände hervorruft,
nämlich den Grundsatz, dass die kapitalistische Produktion für sich selbst
einen Markt schafft. Ist es nur möglich, die gesellschaftliche Pro-
duktion zu erweitern, reichen die Produktivkräfte dazu aus, so muss
bei der proportionellen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion
auch die Nachfrage eine entsprechende Erweiterung erfahren, denn
unter diesen Bedingungen repräsentiert jede neuproduzierte Ware
eine neuerschienene Kaufkraft für die Erwerbung anderer Waren.
Aus der Vergleichung der einfachen Reproduktion des gesell-
schaftlichen Kapitals mit dessen Reproduktion auf erweiterter Stufen-
leiter kann man den höchst wichtigen Schluss ziehen, dass in der
kapitalistischen Wirtschaft die Nachfrage nach Waren vom Gesamt-
umfang der gesellschaftlichen Konsumtion in einem gewissen Sinne
unabhängig ist: es kann der Gesamtumfang der gesellschaftlichen
Konsumtion zurückgehen und zugleich die gesamte gesellschaftliche
Nachfrage nach Waren wachsen, wie absurd das auch vom Stand-
punkte des „gesunden Menschenverstandes" erscheinen mag. Die
Akkumulation von gesellschaftlichem Kapital führt zu einer Ein-
schränkung der gesellschaftlichen Nachfrage nach Konsumtionsmitteln
und zugleich zu einer Erhöhung der gesamten gesellschaftlichen
Nachfrage nach Waren. So hatte die gesellschaftliche Nachfrage nach
Konsumtionsmitteln, bei Reproduktion des Kapitals auf gleichbleibender
Stufenleiter, im Schema No. I 1440 (720 die Konsumtion der Ar-
beiter und 720 die Konsumtion der Kapitalisten) und die Nachfrage
nach allen Waren 2880 betragen. Bei der Akkumulation des Ka-
pitals (Schema N0. II) sind im zweiten Jahre Konsumtionsmittel im
Werte von 1400 hergestellt worden (Konsumtionsmittel der Arbeiter
im Werte von 980 und die der Kapitalisten im Werte von 420);
der Wert der gesamten produzierten Warenmasse erreicht aber 3360.
Diese ganze Warenmasse — die Konsumtions- wie die Produktions-
mittel — sind, wie wir gesehen haben, von der gesellschaftlichen
Konsumtion und der Produktion des dritten Jahres absorbiert worden.
Also ist die gesamte gesellschaftliche Warenproduktion im Schema
N0. II (das zweite Jahr) im Vergleich mit der im Schema N0. I be-
deutend angewachsen, die Produktion der Konsumtionsmittel aber ist
gesunken, ohne dass das Gleichgewicht zwischen dem Angebot und
der Nachfrage dadurch zum Mindesten* gestört wäre.
— 2б —
Das heisst mit anderen Worten, dass der Umfang der Nach-
frage nach den Waren in der kapitalistischen Wirtschaft durchaus
nicht durch den Umfang der Konsumtion bestimmt wird. Nicht die
Konsumtion, sondern die Produktion ist das bestimmende Moment
in der kapitalistischen Wirtschaft. Der kapitalistische Unternehmer
strebt einen möglichst grossen Profit zu realisieren, nicht aber eine
möglichst grosse Menge von Konsumtionsmitteln zu schaffen. Zu-
gleich erfordern die Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz die Ka-
pitalisierung eines bedeutenden Teiles dieses Profites, die Verwand-
lung desselben in grösserem oder geringerem Masse in Produktions-
mittel, welche gar nicht in den menschlichen Konsum übergehen.
Deshalb kann man in gewissem Sinne sagen, dass der Zweck der
kapitalistischen Produktion nicht in der Konsumtion, sondern im
Wachstum des Kapitals selbst besteht.
'v Die Akkumulation des Kapitals vollzieht sich durch Verwand-
lung des Profites in Produktionsmittel und Lebensmittel der Arbeiter.
Aber nichts kann irriger sein als die Vorstellung, dass der Kapitalist,
indem er den Profit kapitalisiert, einfach an Stelle seiner Konsumtion
die der Arbeiter setze. Von dieser Voraussetzung ging jedoch die
klassische Schule in ihrer Analyse des Prozesses der Akkumulation
des Kapitals aus. So beweist J. St. Mill in den „Grundsätzen der
politischen Oekonomie", dass eine allgemeine Waren Überproduktion aus
dem Grunde unmöglich ist, weil im Falle einer Einschränkung der
Konsumtion der Kapitalisten die Konsumtion der Arbeiter, infolge
der Akkumulation des Kapitals, gerade um dieselbe Summe steigen
und die gesamte gesellschaftliche Nachfrage nach Konsumtionsmitteln
nicht die geringste Veränderung erfahren würde: die Konsumtion der
Arbeiter würde an Stelle der Konsumtion der Kapitalisten treten,
und das sei alles.
Der Irrtum von Mill entsprang aus dem oben angezeigten ge-
meinsamen Irrtum der klassischen Schule, welche nicht einzusehen
vermochte, dass die Produktionsmittel ein eben so notwendiger Be-
standteil des gesellschaftlichen Produktes sind wie die Konsum-,
tionsmittel. Der Verzicht der Kapitalisten auf die Konsumtion eines
Teiles ihrer Profite vermehrt in der That die Konsumtion der Ar-
beiter, aber durchaus nicht in dem Umfang, in welchem die Kon-
sumtion der Kapitalisten eingeschränkt worden ist: die Gesamtsumme
der gesellschaftlichen Konsumtion vermindert sich dabei, dafür aber
nimmt die Erzeugung der Produktionsmittel zu. In unserem Beispiel
(vSchema No. II, das erste Jahr) hat die Verminderung der Konsum-
tion der Kapitalisten um 360 (infolge der Kapitalisierung der Hälfte
ihres Profites) eine Erweiterung der Konsumtion der Arbeiter um nur
I20 hervorg-erufen. Um die übrige Summe hat sich die Erzeugung
der Produktionsmittel erweitert.
Also kann die Akkumulation des Kapitals von einem absoluten
\ Rückgang der gesellschaftlichen Konsumtion begleitet w^erden. Ein
relativer Rückgang der gesellschaftlichen Konsumtion — im Ver-
hältnis zur allgemeinen Summe des gesellschaftUchen Produktes —
ist jedenfalls unvermeidlich.
In den oben angeführten Schematen haben wir von einem Mo-
ment, das von sehr grosser Bedeutung ist, abgesehen, — vom tech-
nischen Fortschritt. Der technische Fortschritt gelangt darin zum
Ausdruck, dass die Bedeutung der Arbeitsmittel, der Maschine immer
mehr, im Vergleich mit der lebendigen Arbeit, dem Arbeiter selbst,
zunimmt. Die Produktionsmittel spielen eine immer grössere Rolle
im Produktionsprozesse und auf dem Warenmarkte. Der Arbeiter
tritt gegenüber der Maschine in den Hintergrund, und zugleich tritt
in den Hintergrund die aus der Konsumtion des Arbeiters ent-
stehende Nachfrage im Vergleich mit der Nachfrage, welche aus der
produktiven Konsumtion der Produktionsmittel entsteht. Das ganze
Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft nimmt den Charakter eines
gleichsam für sich selbst existierenden Mechanismus an, in welchem
die Konsumtion des Menschen als ein einfaches Moment des Pro-
zesses der Reproduktion und der Cirkulation des Kapitals erscheint i).
Der Widerspruch zwischen der Produktion als einem Mittel,
die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, und der Produktion als
einem technischen Momente bei der Schaffung des Kapitals, d. h.
als Selbstzweck, ist der fundamentale Widerspruch der kapitalisti-
i) Die im Texte entwickelte Theorie der Realisation des gesellschaftlichen Produktes
in der kapitalistischen Wirtschaft bildet einen Versuch einer Synthese der Lehren der klassi-
schen Nationalökonomie über das zwischen der Produktion und der Konsumtion obwaltende
Verhältnis und der Marx sehen Analyse der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals
(im zweiten Bande des „Kapitals"). Die Lehre Say-James und John Mill-Ricardo
über die notwendige Uebereinstimmung des Gesamtumfanges der Produktion mit dem Ge-
samtumfange der Nachfrage wird von den meisten neueren Nationalökonomen als überwunden
betrachtet. So legt z. B. ein so hervorragender Theoretiker wie W. L e x i s keinen grossen
Wert auf diese Lehre. Ich meinerseits behaupte keinesfalls, dass alle Einzelheiten dieser
Lehre in der Fassung, die ihr die genannten Nationalökonomen — von den optimistischen
Schlussfolgerungen ganz zu schweigen — gegeben haben, richtig sind. Trotzdem halte ich
den Kern dieser Theorie, ihre Hauptidee — nämlich, dass bei einer proportioneilen Ein-
teilung der gesellschaftlichen Produktion das Warengebot mit der Nachtrage übereinstimmen
muss — nicht nur für richtig, sondern sogar für anbestreitbar. Alles, was gegen diese Idee
eingewendet worden ist, leidet, meines Erachtens, am mangelnden Verständnis derselben.
Darüber unten Kapitel VI und VII.
— 28 —
sehen Wirtschaftsordnung. Dieser Widerspruch findet seinen sozialen
Ausdruck darin, dass die Leiter der Produktion — die Besitzer der
Produktionsmittel — nicht unmittelbar an der Produktion teil-
nehmen und die unmittelbaren Produzenten keine Produktions-
mittel besitzen und demnach keine Kontrolle über die Pro-
duktion haben. Dieser letztere Widerspruch ist jedoch keine spe-
cifische Eigentümlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise,
da diese ihn mit allen Produktionsweisen, die auf Aneignung des
Mehrproduktes, wie die sklavische und feudale Produktiosweise, be-
ruhen, gemein hat. Der Unterschied der kapitalistischen Produktion
besteht aber darin, dass nicht nur der Arbeiter zur Rolle eines ein-
fachen Produktionsmittels degradiert wird, sondern dass bis zu einem
gewissen Grade auch der Kapitalist selbst ein einfaches Mittel der
Akkumulation des Kapitals wird. Die Gesetze der kapitalistischen
Konkurrenz verlangen gebieterisch vom Kapitalisten eine Erweiterung
der Produktion und die Kapitalisierung eines bedeutenden Teiles
seines Profites. In der Sklaven- und Feudalwirtschaft hatte die
Produktion immerhin zu ihrem unmittelbaren Zweck die Konsumtion,
nämlich die Konsumtion der herrschenden gesellschaftlichen Klasse.
In der kapitalistischen Wirtschaft wird selbst die Konsumtion der
Kapitalisten durch die Bedürfnisse der Produktion bestimmt, selbst
die Leiter der Produktion werden im gewissen Sinne zu ihren
Dienern. Und darum hatte Marx vollkommen recht, wenn er sagte,
dass in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung „das Kapital und seine
Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und
Zweck der Produktion erscheint".
Die einfache Warenwirtschaft kennt diesen Widerspruch nicht.
Die kleinen Warenproduzenten sind im Besitze von Produktionsmitteln
und produzieren Konsumtionsmittel für einander.
Die Produktion bleibt in der Wirtschaft der kleinen Waren-
produzenten immer ein Mittel für die Konsumtion, sie wird aber nie
zu einem Selbstzwecke. Der Mensch ist der Herr der Produktion
und keineswegs ihr Diener; zugleich bleiben die Produktionsmittel
die Diener des Menschen und werden nicht seine Herren, wie dies
in der kapitalistischen Wirtschaft der Fall ist.
In einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem ersten steht
der zweite Widerspruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, und
zwar besteht dieser Widerspruch im „Gegensatze zwischen der Or-
ganisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie
der Produktion in der ganzen Gesellschaft" (Engels). In der Sklaven-
und Feudalwirtschaft kann die Produktion im Rahmen einer einzelnen
— 29 —
Wirtschaft in hohem Grade organisiert sein — man braucht nur an
die familiae rusticae und urbanae der römischen Oikenherren zu er-
innern. Aber soweit die Grundlage einer solchen Wirtschaft die
Eigenproduktion — Produktion für den Selbstgebrauch — bildet,
leidet sie nicht an der Anarchie der gesellschaftlichen Produktion.
In der einfachen Warenwirtschaft kann die gesellschaftliche
Produktion eine unorganisierte sein, aber zugleich fehlt eine plan-
mässige Organisation auch innerhalb des einzelnen Betriebes —
insofern , als der Kleinbetrieb nicht eine irgendwie bedeutende
Teilung und Vereinigung der Arbeit im Rahmen des einzelnen Be-
triebs zulässt. Die Planlosigkeit der gesamten gesellschaftlichen
Produktion im Zusammenhang mit dem durch Geld vermittelten Aus-
tausch erzeugt in der einfachen Warenwirtschaft die Möglichkeit
einer allgemeinen Ueberproduktion. Die Widersprüche der kapitalisti-
schen Produktion, auf welche wir hingewiesen haben, machen eine
allgemeine Ueberproduktion als ein Moment der Entwicklung der
kapitalistischen Wirtschaft notwendig.
Wir haben gesehen, dass die Vermittelung des Geldes den
Markt zu einer besonderen ökonomischen Macht, welche die Pro-
duktion beherrscht, erhebt. Der Einfluss des Marktes beruht auf der
Abhängigkeit der Warenpreise von einander, — gerade infolge dieser
Abhängigkeit bildet der Markt für alle Waren ein untrennbares
Ganzes, einen eigenartigen Organismus. Die gegenseitige Bedingtheit
der Preise wächst in der kapitalistischen Wirtschaft infolge des Kre-
dites. vSolange das Geld das einzige Tauschmittel war, beruhte die
Warencirkulation auf einer materiellen Basis. Als Tauschmittel dient
in einfacher Geldwirtschaft (im Gegensatze zur Kreditwirtschaft) eine
bestimmte Ware, in ihrer dinglichen Form, eine Ware, welche zwar sich
in ihrer ökonomischen Funktion von allen anderen Waren unter-
scheidet, immerhin aber eine Ware bleibt. Jeder Kauf und Verkauf
für bares Geld bewahrt in gewissem Sinne den Charakter des un-
mittelbaren Produktenaustausches, da die Münze auch ein Produkt
ist. Die Warenpreise zeichnen sich daher beim einfachen durch Geld
vermittelten Austausch durch eine bedeutende Stabilität aus. Die
Preise stehen, so zu sagen, auf einem materiellen Boden. Die kapita-
listische Wirtschaft schafft ein neues Cirkulationsmittel, — den Kredit.
Der Kredit hebt die Abhängigkeit der Warenpreise vom Angebot
der Waaren nicht auf; sie wird jedoch unter der Herrschaft der
Kreditwirtschaft eine ausserordentliche komplizierte. Der Kredit stellt
den anderen Faktor des Preises, die Nächfrage, in den Vordergrund,
und modifiziert zugleich wesentlich ihre ökonomische Bedeutung. Wie
— Зо —
oben festgestellt, wird die Nachfrage bei dem durch Geld vermit-
telten wie beim Naturalaustauch auf das Angebot gegründet. Das
Angebot bestimmt die Kaufkraft, und nur die Richtung dieser Kraft
wird durch die Wünsche und die Bedürfnisse der Käufer bedingt.
Der Kredit befreit die Nachfrage von einem unmittelbaren Zusammen-
hang mit dem laufenden Angebot. Dank dem Kredit kann die Nach-
frage, ganz unabhängig vom augenblicklichen Angebot, bedeutend
steigen und sinken. Die Warenpreise gewinnen bei der Ausbreitung
der Käufe und Verkäufe auf Kredit eine eigentümliche Beweglich-
keit, sie werden zum Ausdruck eines rein psychischen Elementes —
der Berechnungen der Kontrahenten nicht nur in Bezug auf die gegen-
wärtige, sondern auch auf die zukünftige Lage des Marktes, auf
die allgemeine Stimmung der Käufer und der Verkäufer, auf die grössere
oder geringere Spekulationslust u. s. w.
Die Abhängigkeit der W^arenpreise vom Angebot bleibt aller-
dings bestehen, sie wird aber dadurch ausserordentlich kompliziert,
dass neben dem realen Angebot des gegebenen Augenblicks das un-
bekannte und nicht vorhandene zukünftige Angebot, genauer, die
Meinung der interessierten Personen über dieses zukünftige Angebot,
eine Wirkung ausübt. Bei der einfachen Geldwirtschaft ist der Um-
fang der Kaufkraft, welche auf dem Markte vorhanden ist, in jedem
Moment eine mehr oder minder bestimmte Grösse. Die Grundlage
dieser Kaufkraft bilden Waren und Geld in dinglicher Form. Ob-
wohl die Beschleunigung der Cirkulation des Geldes bis zu einem
gewissen Grade die Vermehrung seiner Menge ersetzen kann, gilt
diese Möglichkeit jedoch in einem ziemlich engen Rahmen. Bei der
Kreditwirtschaft ist die Kaufkraft des Marktes ein komplizierter und
elastischer, immaterieller — aber zugleich gebrechlicher — Aufbau
auf der realen Geldbasis: die Kaufkraft des Markts kann ohne jeg-
liche Veränderung in den realen Verhältnissen des Waren- und Geld-
angebots steigen oder sinken, je nach der grösseren oder geringeren
Neigung der Käufer und Verkäufer, sich des Kredits zu bedienen.
Ausserdem verstärkt der Kredit in höchstem Grade die gegen-
seitige Abhängigkeit der einzelnen Betriebe. Der Zusammenhang
zwischen ihnen wird ein engerer und innigerer. Die Veränderungen
des Marktes nehmen einen lawinenartigen Charakter an: unbedeu-
tende Ereignisse vermögen eine zerstörende Wirkung auf den Markt
auszuüben, weil der Effekt des ursprünglichen Stosses mit seiner
Ausbreitung w^ächst. Die Schwankungen des Marktes in der einen
und der anderen Richtung, in der Richtung des Steigens und des
Sinkens der Warenpreise — der Bereicherung und des Ruins der
_ 31 —
Warenbesitzer, — erhalten eine gewaltige Kraft und gewaltigen
Schwung.
So verstärkt der Austauschmechanismus selbst, welcher der kapi-
talistischen Wirtschaft eigentümlich ist, — der Kredit — den Effect
der Schwankungen des Warenangebotes ganz bedeutend. Trotzdem
liegen den verschiedenen Störungen des Kredites schliesslich doch
Störungen auf dem Gebiete der realen Produktion und des realen
Warenangebotes zu Grunde.
Es wurde oben ausgeführt, dass der fundamentale Widerspruch des
Kapitalismus im Fehlen einer Kontrolle der gesellschaftlichen Kon-
sumtion über die gesellschaftliche Produktion besteht. Die kapitalis-
tische Produktion wird aus einem Mittel zu einem Selbstzweck.
Hieraus entspringen auch die Krisen der kapitalistischen Wirtschaft.
Diese letztere besitzt keinen solchen einheitlichen Regulator,
wie es in der einfachen Warenwirtschaft die gesellschaftliche Konsum-
tion ist. Das Bestreben nach einer möglichst grossen Ausdehnung
der Produktion ist ein charakteristischer Zug der kapitalistischen
Produktionsweise. Die absolute Grenze für die Erweiterung der Pro-
duktion bilden die Produktivkräfte, über welche die Gesellschaft ver-
fügt; diese Grenze zu erreichen ist das Kapital immer bestrebt.
Und doch vergeblich! Das Kapital kann diese Grenze nie er-
reichen. Wir haben gesehen, dass bei einer proportion eilen Eintei-
lung der gesellschaftlichen Produktion die Nachfrage durch das An-
gebot von Waren selbst geschaffen wird. Jedoch schliesst die Erreichung
einer vollkommener Proportionalität unüberwindliche Schwierigkeiten
in sich. Jede andere Einteilung des gesellschaftlichen Kapitals ausser
einer proportion eilen wird zur Ueberproduktion einiger Waren führen;
da aber alle Produktionszweige in einem engen Zusammenhange mit
einander stehen, so verwandelt sich leicht eine partielle Ueberproduk-
tion einiger Waren in eine allgemeine Warenüberproduktion; der
Warenmarkt wird von unverkauften Waren überfüllt, und es folgt
der Preissturz.
Um die ganze Schwierigkeit einer produktiven Anlegung eines
neuen Kapitals zu begreifen, genügt es, sich an das oben über die
Ueberfüllung des Warenmarktes unter den gegenwärtigen Kon-
kurrenzverhältnissen Gesagte zu erinnern. Die Nachfrage nach sämt-
lichen Waren wird in der kapitalistischen Wirtschaft in der Regel durch
das Angebot vollauf befriedigt. Bei den herrschenden Konkurrenz-
verhältnissen wirkt das Angebot aggressiv auf die Nachfrage, es geht
ihr voran.
— 32 —
IsTur in Ausnahmefällen kann es längere Zeit eine unbefriedigte
Nachfrage geben. Und nun, während das Angebot aller Waren be-
reits die Nachfrage eher übertrifft, als dass es sich mit ihr deckt,
muss man einen Markt für neue Waren finden. Legt man das ge-
samte neue Kapital in irgend einem einzelnen Produktionszweig an
— so wird das zur Ueberproduktion führen, da bereits die bisher
produzierten Waren dieser Art die Nachfrage vollständig gedeckt
hatten. Damit sich ein Markt für die neu produzierten Waren findet,
ist es nötig, dass das Anlage suchende Kapital sich in einer be-
stimmten Proportion unter eine ganze Reihe von Produktionszweigen
verteilt ; ist dies glücklich ausgeführt, so wird das Anwachsen der
Nachfrage dem Anwachsen des Angebotes entsprechen, und die Pro-
duktion wird sich erweitern, ohne dass die Nachfrage nach Waren
durch deren Angebot übertroffen wird. Aber ist ein solcher Erfolg
immer zu erreichen? Offenbar nicht.
Ein Teil des kapitalisierten gesellschaftlichen Mehrproduktes
findet verhältnismässig leicht Anlage in demselben Produktionszweige,
in welchem dieses Mehrprodukt entstanden ist. Der Prozess der \^er-
teilung des kapitalisierten Profites unter den verschiedenen Industrie-
zweig'en vollzieht sich in diesem Falle automatisch — die Produktion
erweitert sich in einer ganzen Reihe von Industriezweigen, am meisten
in denjenigen, welche die höchsten Gewinne abgeworfen haben, d. h. in
denjenigen, nach deren Produkten die höchste Nachfrage erhoben wurde.
Aber ausser diesen neu entstehenden Kapitalien, welche fast gar
nicht auf den Geldmarkt treten, da sie auf der Stelle Anlage finden,
verfügt jedes reiche kapitalistische Land, wie z. B. England, über
eine enorme Masse freier Kapitalien, welche zum Teil aus den Profiten
der Industriellen und Kaufleute stammen, die aus irgend welchen
Gründen von den Besitzern selbst nicht angelegt werden konnten,
zum Teil aus der kapitalisierten Quote der Einkommen der anderen
Gesellschaftsklassen, hauptsächlich der Klasse der Geldkapitalisten.
Diese freien Kapitalien, welche mit keinem bestimmten Produktions-
zweig verknüpft sind, suchen gierig nach einer vorteilhaften Anlage
und fliessen stets dem Geldmarkte zu. Die produktive Anlegung
dieser Kapitalien ist durchaus keine leichte Sache. Daraus, aus den
vSchwierigkeiten einer proportion eilen Verteilung der neu geschaffenen
freien, mit der Industrie und Handel nicht verknüpften Kapitalien,
entstehen auch die Handelskrisen.
In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass die Grund-
ursache der Krisen die Volksarmut, die Unterkonsumtion der arbei-
tenden Klassen ist. In der That wird die Bildung der überschüssigen
— 33 —
Kapitalien, und überhaupt die Kapitalisierung eines bedeutenden
Teiles des gesellschaftlichen Einkommens durch die Geringfügigkeit
des Anteiles der Arbeitermassen an dem von ihnen produzierten Pro-
dukte unmittelbar hervorgerufen. Wenn es nicht nötig wäre, eine
Anlage für neue Kapitalien zu finden, wenn die Produktion, infolge
der Kapitalisierung des Profites, nicht angespornt wäre, so würde
eine Proportion eile Einteilung der gesellschaftlichen Produktion keine
grosse Schwierigkeiten bieten. In diesem Fälle w^ürde die gesellschaft-
liche Produktion, wie in der Wirtschaft kleiner Warenproduzenten,
unmittelbar durch die gesellschaftliche Konsumtion reguliert werden.
Die Akkumulation des Kapitals durch die Kapitalisten ist eine Folge
der Aneignung des Mehrproduktes durch Personen, welche an der
Produktion nicht teilnehmen, ein Resultat davon, dass den unmittel-
baren Produzenten ein Teil des produzierten Produktes entzogen
worden ist. Je geringer der Anteil des Arbeiters ist, desto höher ist
der Anteil des Kapitalisten — und um so rascher vollzieht sich die
Akkumulation des Kapitals — notwendigerweise von Stockungen
und Krisen begleitet.
Also, die Armut der Volksmassen, die Armut nicht im abso-
luten, sondern im relativen Sinne, im Sinne der Geringfügigkeit des
Anteils des Arbeiters an dem gesamten gesellschaftlichen Produkt,
ist eine der Vorbedingungen der Handelskrisen. Aber man muss
den Zusammenhang der Armut und der Krisen klar verstehen. Die
verbreitete Meinung, die bis zu einem gewissen Grade auch von
Marx geteilt wurde, dass das Elend der Arbeiter, welche die grosse
Mehrzahl der Bevölkerung bilden, eine Realisation der Produkte der
sich immer erweiternden kapitalistischen Produktion wegen mangeln-
der Nachfrage unmöglich macht — ist als falsch zu bezeichnen. Wir
haben gesehen, dass die kapitalistische Produktion für sich selbst
einen Markt schafft — die Konsumtion ist nur eines der Momente
der kapitalistischen Produktion. Wenn die gesellschaftliche Produk-
tion planmässig organisiert wäre, wenn die Leiter der Produktion
eine vollkommene Kenntnis der Nachfrage und die Macht hätten,
die Arbeit und das Kapital frei aus einem Produktionszweig in einen
anderen überzuführen, so könnte, wie niedrig die gesellschaftliche
Konsumtion auch sein möchte, das Angebot der Waren die Nach-
frage nicht überschreiten. Aber die Akkumulation des Kapitals bei
einer völligen Planlosigkeit der gesellschaftlichen Produktion, bei der
Anarchie, welche auf dem Warenmarkt herrscht, führt unausbleiblich
zu Krisen.
Tugan-Baranowsky , Die Haiulclskiiscn. Q
— 34 —
Die planmässige Organisation der Arbeit in der kapitalistischen
Fabrik erhöht kolossal die Produktivität der Arbeit. Erst der Kapi-
talismus hat die Technologie auf eine wissenschaftliche Basis gestellt,
erst er hat die Vervollkommnung der Technik zu einem Konkurrenz-
gesetze für die Produzenten gemacht. Aber die technischen Kräfte
der modernen Industrie können sich infolge der sozialen Hindernisse,
auf die sie stossen, infolge der Planlosigkeit der gesamten gesellschaft-
lichen Produktion, nicht in vollem Umfange entfalten. Hieraus ent-
springt auch die Notwendigkeit der Krisen, welche also durch die
beiden Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaftsordnung hervor-
gerufen werden: i. durch den Widerspruch, dass die Produktions-
mittel Personen angehören, welche an der Produktion nicht teil-
nehmen, dagegen den unmittelbaren Produzenten fehlen, und 2. durch
die Desorganisation der gesamten gesellschaftlichen Produktion,
während dieselbe in den einzelnen Betrieben organisiert ist. Diese
beiden Widersprüche sind gleich notwendig- und zugleich vollkommen
ausreichend die Entstehung von Krisen zu begründen.
Die specifische Form des Austausches, welche dem Kapitalis-
mus eigentümlich ist, der Kredit, verstärkt die Wirkung der Krisen.
Die tiefsten Ursachen derselben wurzeln jedoch auf dem Gebiete der
Produktion. Die Geschichte der Krisen eines jeden kapitalistischen
Landes hat ihre eigentümlichen Züge je nach den konkreten Wirt-
schaftsverhältnissen des Landes; aber da beide Widersprüche, auf
die w^r hingewiesen haben, wie der Kredit der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung als solcher eigentümlich sind, so bleiben die Grund-
ursachen der Krisen überall im wesentlichen dieselben, wie verschieden-
artig das konkrete Milieu, in dem ihre Wirkung zum Vorschein
kommt, auch sein mag.
Wir müssen uns jedoch noch bei einem ökonomischen Moment
aufhalten, dessen Bedeutung wir bisher nicht berührt haben, nämlich
bei dem auswärtigen Handel. Als Resultat unsrer abstrakten Ana-
lyse des Prozesses der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals
hat sich der Schluss ergeben, dass es bei einer proportioneilen Ein-
teilung der gesellschaftlichen Produktion kein überschüssiges gesell-
schaftliches Produkt geben kann. Dabei haben wir vom auswärtigen
Handel ganz abgesehen. Dazu hatten wir vollkommen recht, da der
auswärtige Handel ein auswärtiger nur für einzelne Länder ist,
— für die gesamte kapitalistische Welt aber bleibt der Handel
zwischen verschiedenen Ländern ein innerer — ein Handelsaustausch
innerhalb des kapitalistischen Ganzen. Wenn wir jedoch zur Be-
— 35 —
trachtung der Wirtschaft der einzekien Länder übergehen, müssen
wir uns natürUch auf einen anderen Standpunkt stellen. Es giebt
kein kapitalistisches Land ohne auswärtigen Handel, und für solche
Länder wie England spielt der auswärtige Markt für viele wichtige
Produktionszweige sogar eine grössere Rolle als der innere Markt.
Der auswärtige Markt ist für England unbedingt notwendig. Es
unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass der innere englische
Markt, wie auch die nationale englische Produktion eingeteilt sein
mag, nicht alle baumwollenen Gewebe, Tücher, Maschinen und an-
dere Fabrikate, welche in England produziert werden, verbrauchen
könnte. Beweist das nicht, dass die kapitalistische Produktion ein
überschüssiges Produkt schafft, für welches auf dem inneren Markte
kein Platz vorhanden ist? Warum überhaupt bedarf England eines
auswärtigen Marktes?
Die Antwort ist keine schwere. Darum, weil ein bedeutender
Teil der Kaufkraft Englands für die Anschaffung ausländischer Waren
verausgabt wird. Die Einfuhr ausländischer Waren für den inneren
Markt Englands macht auch die Ausfuhr englischer Waren für den
auswärtigen Markt absolut notwendig. Da England ohne einen aus-
ländischen Import nicht auskommen kann, so ist auch ein Export für
dieses Land eine Existenzbedingung, sonst hätte es nichts, womit es
für seinen Import bezahlen könnte.
Die verzweifelte Jagd nach einem Markt, welche einen so
charakteristischen Zug der kapitalistischen Wirtschaft bildet, beschränkt
sich nicht auf das enge Gebiet des inneren Marktes. Jeder Produk-
tionszweig strebt danach, sein Absatzgebiet möglichst zu erweitern.
Wenn die auswärtigen Konkurrenzverhältnisse es zulassen, ergiesst
sich die betreffende Industrie rasch über die Grenzen des einheimischen
Marktes und beginnt für den auswärtigen Markt zu arbeiten. So
führt das Streben der kapitalistischen Industrie nach einer unbe-
schränkten Erweiterung zu dem Resultat, dass alle Länder sich in
1 ein kolossales Ganze, in ein Netz verschlingen. Jedes Land ist ein
Markt für die anderen Länder und zugleich sind die anderen Länder
ein Markt für dieses Land.
Der auswärtige Markt spielt überhaupt eine sehr grosse Rolle
in der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise. Die ursprüng-
liche Domaine des Kapitalismus war die Produktion von Luxusgegen-
ständen, welche nur von einem sehr ausgedehnten Markt absorbiert
werden konnten, da die Zahl der Konsumenten dieser Gegenstände
in jedem Lande eine beschränkte war. Feine Gewebe, Glas, Porzellan,
3*
- Зб -
teuere Metall- und Lederfabrikate und überhaupt verschiedene Luxus-
waren — solche Produkte stellte hauptsächlich die kapitalistische
Manufaktur in der ersten Zeit ihres Entstehens in Italien, Flandern,
England, Frankreich und andern Ländern her. Ein bedeutender Teil
dieser Fabrikate wurde von vornherein für den Absatz nach andern
Ländern bestimmt. Viel später hat die kapitalistische Industrie
die Herstellung von Gegenständen der Massenkonsumtion erfasst
und begann dann in erster Linie für den einheimischen Markt zu
produzieren. Ein solcher Entwickelungsgang der kapitalistischen Pro-
duktion steht mit der Entwicklung des Handels im engsten Zu-
sammenhang. Der auswärtige Handel hat immer einen mehr kapi-
talistischen Charakter gehabt als der innere. Es ist dies auch ganz
begreiflich — der auswärtige Handel erfordert grössere Kapitalien,
eine entwickeltere Unternehmungslust und eine grössere Specialisierung
des Händlers als der innere. Auf dem Gebiete des auswärtigen
Handels sind zuerst Associationen der Kapitalisten entstanden. Der
Handel mit einheimischen Produkten innerhalb des Landes konnte
wegen des Vorherrschens der Eigenproduktion und der Gleichartig-
keit der Produkte, die in verschiedenen Teilen des Landes produziert
werden, lange Zeit keine bedeutende Entwickelung erfahren. Dieser
Handel blieb, da er sich auf ein äusserst beschränktes Gebiet er-
streckte, ein Kleinhandel, und der Händler war dabei manchmal auch
ein kleiner Produzent. Der auswärtige Handel der Küstenländer
Europas mit der Levante, Indien und Amerika, wie auch der euro-
päischen Länder miteinander, hat zur Bildung enormer kaufmännischer
Kapitalien geführt, die allmählich auch die Produktion in kapita-
listischer Weise organisiert haben, vor allem die Produktion der
Waren, welche Gegenstand dieses Handels waren. Ueberhaupt hat
sich die kapitalistische Produktion meistens von Anfang an auf den
auswärtigen Markt gestützt.
Die internationale Arbeitsteilung hat ferner dazu geführt, dass
sich in jedem Lande diejenigen Produktionszweige auf Kosten der
anderen entwickelt haben, für welche dies Land sich infolge seiner
natürlichen, ökonomischen oder sozialen Verhältnisse am meisten
eignete. Es entstanden Länder eines landwirtschaftlichen und eines
industriellen Typus, deren ökonomische Existenz einen Austausch der
Produkte der Landwirtschaft mit den Produkten der Industrie voraus-
setzt. Das extremste Beispiel eines industriellen Landes mit einer
hypertrophierten Industrie und einem beinahe atrophierten Ackerbau
bildet England. Ohne einen auswärtigen Markt für die Produkte seiner
Industrie kann England nicht existieren, da die Einfuhr der Nahrungs-
— 37 —
mittel und der Rohstoffe durch die Ausfuhr der Fabrikate bezahlt
werden muss. Daher die enorme Bedeutung der auswärtigen Märkte
für die Industrie Englands. Die gesamte auswärtige Politik Englands
wird durch die Jagd nach auswärtigen Märkten für die Produkte
seiner Industrie bestimmt. Im auswärtigen Handel entfalten sich auch
die Widersprüche der kapitahstischen Wirtschaftsordnung, welche in
England, wie auch in den anderen Ländern, die tiefsten Ursachen der
kapitalistischen Krisen bilden.
KAPITEL IL
Ein allgemeiner Abriss der Entwickelung der
englischen Industrie seit dem zweiten Viertel des
XIX. jahrliunderts.
I. Der Kampf der Maschine gegen die Handarbeit und der Mangel an
Märkten. — Die schwache Entwickehing der Maschinenweberei bis zu den 2oer Jahren
des XIX. Jahrhunderts. Die Verdrängung des Handwebers durch die Maschine in der
Baumwollweberei in den .30er und 40er Jahren. — Die Eisenbahnen und die Dampfschiffe.
— Die Abnahme der landwirtschaftlichen Bevölkerung. — Das enorme Wachstum der fabrik-
mässigen Produktion. — Der Mangel an Märkten. — Die Bewegung zu Gunsten des PVei-
handels. — Die Abnahme der Kaufkraft des englischen Arbeiters. — П. Der Sieg der
Maschine und die Eroberung neuer Märkte. — Der Triumph des Freihandels. —
Die Weiterentwickeking des Eisenbahnnetzes in der gesamten Welt. — Die Entdeckung
der Goldlager in Kalifornien und Australien. — Die Erhöhimg der Warenpreise. — Das
Wachstum des auswärtigen Handels. — П1. Der Verfall der industriellen Suprematie
Englands. — Die Verlangsamung des Wachstums der engUschen Industrie und des Han-
dels. — Das Fallen der Warenpreise. — Die Erstarkung der Konkurrenz Deutschlands. —
Der Protektionismus. — Eine Veränderung des Charakters des englischen Exports. — Der
Rückgang des englischen Zwischenhandels.
Der Kampf der Maschine gegen die Handarbeit und der Mangel
an Märkten.
Wir sind gewohnt, von einer „industriellen Revolution" zu sprechen,
welche in England Ende des vorigen Jahrhunderts durch die Einführung
neuer Produktionsmethoden hervorgerufen worden sei. Aber wenn das
auch eine Revolution war, so doch eine Revolution ganz eigener Art,
in nichts den plötzlichen Katastrophen ähnlich, die wir als politische Re-
volutionen bezeichnen. „Die industrielle Revolution" Englands war ein
langsamer und komplizierter Prozess, welcher sich viele Jahrzehnte hin-
gezogen hat, keinen bestimmten Anfang und kein bestimmtes Ende hatte.
— 39 -
In gewissem Sinne kann man sagen, dass dieser Prozess auch bis jetzt
noch nicht vollendet ist, da jetzt noch der heftige Kampf der Fabrik
mit der kleinen Werkstatt, der Maschine mit der Handarbeit fort-
dauert. Heute wie früher verdrängt der Grossbetrieb den kleinen,
schreitet die Fabrik, immer neue Arbeitsgebiete erfassend, vorwärts;
bei allem dem ist die Fabrik selbst in England gegenwärtig bei
weitem nicht die alleinige Form der Industrie.
Die „industrielle Revolution" war, wie gesagt, ein lang dau-
ernder Prozess. Neue Produktionsmethoden drangen und dringen
nacheinander in einen Arbeitszweig nach dem anderen ein. Während
in den einen von ihnen die Revolution bereits vollendet ist und die
Fabrik eine unbeschränkte Herrschaft erlangt hat, herrscht in den
anderen noch ebenso unbeschränkt der Kleinbetrieb. Jeder Pro-
duktionszweig hat je nach seinen technischen, ökonomischen und
sozialen Eigentümlichkeiten seine eigene Geschichte. In jedem kapi-
talistischen Lande sehen wir die verschiedenartigsten Formen der
Industrie nebeneinander bestehen — von der selbständigen Arbeit
eines alleinstehenden Produzenten bis zu den kolossalen Anhäufungen
von Lohnarbeitern in den grossen kapitalistischen Fabriken. Die
historische Entwickelung der Industrie besteht in einer stärkeren
Ausbreitung der einen von diesen Formen und in einem langsameren
Wachstum oder sogar Verfall der anderen, wodurch sich der allge-
meine industrielle Typus des betreffenden Landes in einer bestimmten
Richtung verändert.
Die maschinelle Produktion hat zuerst einen verhältnismässig
nicht sehr bedeutsamen Arbeitszweig erfasst — die Baumwollspinnerei.
Infolge technischer Umstände besitzt die Maschine in diesem Arbeits-
zweige enorme Vorzüge vor der Handarbeit. Der Sieg der Maschine
in der Baumwollspinnerei war ein überaus rascher — es genügten
wenige Jahre, nachdem Arkwright 1768 in Nottingham die erste
Baumwollspinnfabrik errichtet hatte, um in England das Handspinnen
der Baumwolle ganz verschwinden zu lassen. Die Baumwollspinnerei
in England war schon zu Beginn des XIX. Jahrhunderts eine ausschliess-
lich fabrikmässige Produktion. Das Kattundrucken hat auch bald
einen fabrikmässigen Charakter angenommen, aber auf dem Gebiete
der Weberei war der Kampf der grossen und kleinen Produktion ein
sehr hartnäckiger und andauernder. Die Verw^endung der Maschine
zur Weberei ist mit bedeutenden technischen Schwierigkeiten ver-
knüpft. Der mechanische Webstuhl von Cartwright, der im Jahre
1785 erfunden worden ist, war nicht entfernt eine so vollkommene
Maschine, wie die Watermaschine von Arkw^right oder die „Mule'^
— 40 —
von Crom ton. Es war eine ganze Reihe neuer Erfindungen nötig,
bevor die Webemaschine zur praktischen Anwendung gelangte. Der
gegenwärtige Typus des mechanischen Webstuhls hat sich erst im
Jahre 1822 festgesetzt (mit dem von Scharp und Roberts ge-
nommenen Patent), und erst seit dieser Zeit beginnt die Maschinen-
weberei schnell zu wachsen. Im Jahre 18 13 zählte man in England
insgesamt 2400 mechanische Webstühle, Avährend gegen 200000 Hand-
webstühle für Bearbeitung der Baumwolle vorhanden waren. In den
Jahren 1813 — 20 hat sich die Zahl der Webemaschinen um 11 750
vermehrt. Wenn \vir uns erinnern, dass diese mechanischen Web-
stühle fast ausschliesslich in der Baum Wollindustrie Anwendung ge-
funden hatten und dass in den übrigen Zweigen der Textilindustrie
die Handweberei unbedingt vorherrschte, so werden wir leicht be-
greifen, wie wenig die „industrielle Revolution" auf dem Gebiete der
AVeberei bis zu den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts vorge-
schritten war.
Vom Standpunkte der Interessen der arbeitenden Massen waren
die „revolutionärste'' Epoche nicht sowohl die letzten Jahrzehnte des
vorigen und die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts („die industrielle
Revolution" verlegt man gewöhnlich in diese Zeit) als vielmehr das
zweite Viertel des laufenden Jahrhunderts, wann die Maschinenweberei
energisch die Handweberei verdrängte. Das Ende des vorigen Jahr-
hunderts zeichnete sich durch technische Erfindungen aus, die die tiefste
Umwälzung in der Weltwirtschaft vollziehen sollten. Aber diese Er-
findungen haben durchaus nicht sofort eine praktische Anwendung
gefunden. Einer der wichtigsten Zweige der die Rohstoffe veredelnden
Industrie ist nach der darin beschäftigten Personen die Weberei —
und in dieses Gebiet begann, wie gesagt, die Maschine erst be-
deutend später einzudringen. Bis zu den 30er Jahren hat die Zahl
der Handweber fast garnicht abgenommen. Zu dieser Zeit erreichte
die Gesamtzahl der Handweber in Grossbritannien nach den Daten
der Parlamentskommission, die ihre Lage in den Jahren 1834 — 35
untersucht hatte, eine MiUion. Darauf beginnt die Maschine den
Handweber rasch zu verdrängen, und gegen Ende der 50er Jahre
hört in der Baumwollweberei die Handarbeit fast auf. Die entsprechen-
den Daten für einige Jahre sind die folgenden i):
i) Thomas Ellison, The Cotton Trade of Great Britain. London 1886, S. 66.
Die Zahlen der Handweber sind nur ungefähr richtig. Nach anderen Schätzungen hat
die Zahl der Handweber von Baumwolle in den Jahren 1820 — 34 nicht nur nicht ab-
genommen, sondern sie ist sogar gestiegen. Vergl. E. Baines, History of the Cotton
Manufacture in Great Britain, London 1835, S. 236.
41
In den Jahren.
Die Zahl der ni der Baumwolhvcbcrei ^„^^ ^, ,q^^ ,, ^^^ . ,Qrr. a,
.... ... r- , •, • löio — 21 IÖ2Q — 31 1044 — 40 ioi;g — Ol
beschäftigten Arbeiter Orrossbritanniens ^ -> ^ -r-r -r jj
a) Fabrikarbeiter 10 000 50000 150000 203000
b) Hausarbeiter (Handweber) . 240000 225000 60000 7 500
Hunderttausende von Handwebern sind in den 30er und 40er
Jahren genötigt worden, ihre Webstühle zu verlassen und in Fabriken
überzugehen. Es war eine vollständige Umgestaltung des wichtigsten
Zweiges der englischen Industrie — eine Urngestaltung, deren Be-
deutung für die Lage der Arbeiterklasse Englands viel grösser war
als die Bedeutung der gegen Ende des vorigen Jahrhunderts statt-
gehabten Umwälzung der Baumwollspinnerei. Wenn man daher
„die industrielle Revolution" auf eine bestimmte historische Epoche
beziehen Avill, so kann man sie mit grösserem Rechte in das zweite
Viertel des XIX. als in das Ende des XVIII Jahrhunderts verlegen.
Und dies ist um so richtiger, als gerade in diese Zeit die grösste
Umwälzung auf dem Gebiete des Transportwesens fällt. Im Jahre
1830 ist die erste Eisenbahn zwischen Liverpool und Manchester er-
öffnet worden und Ende der vierziger Jahre war das Eisenbahnnetz
Englands in den Hauptzügen vollendet. Im Jahre 1838 vollführten
die ersten Dampfschiffe die Ueberfahrt über den Ocean aus Liverpool
nach New York. Die Tonnenzahl der Dampfschiffe des Vereinigten
Königreichs ist von 7243 (1820) auf 173580 (1849) gestiegen. Im
Jahre 1840 ist in England die Postreform von Rowland Hill, die
das Eintreten einer neuen Aera im Postwesen einleitete, durchgeführt
worden. Die Verkehrsverhältnisse spielen eine so dominierende
Rolle im wirtschaftlichen Leben, dass die Bedeutung der angedeu-
teten Momente nicht unterschätzt werden darf. Die Lokomotive
und das Dampfschiff waren noch mehr als die Spinn- und Web-
maschine dasjenige, was die gegenwärtige kapitalistische Wirtschafts-
ordnung mit allen ihren Licht- und Schattenseiten geschaffen hat.
Tiefe Veränderungen sind auch im Ackerbau vor sich gegangen.
Bis zu den 20er Jahren des XIX. Jahrhunderts wuchs die Zahl der
landwirtschaftlichen Bevölkerung in England. So ist nach Porter die
Zahl der Familien, welche in Grossbritannien im Ackerbau beschäftigt
waren, von 895998 (181 1) auf 978656 (1821) gestiegen. Also, trotz
der Einzäunung der Gemeindefelder (enclosure of commons), der
Umwandlung der kleinen Farmen in grosse und der sogenannten
„Lichtung" der Güter (clearing of estates — der zwangsweisen Ex-
mittierung der kleinen Pächter, um das Ackerland in Weide oder
Wiese zu verwandeln) hat die Agrarrevolution, von welcher Arnold
— 42 —
Toynbee spricht, in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts noch
nicht die Macht erreicht, um die Bevölkerung vom Lande in die
vStadt zu treiben. Nach den 20 er Jahren vergeht aber kein ein-
ziger Census in Grossbritannien, ohne dass eine absolute Abnahme
der ackerbautreibenden Bevölkerung konstatiert worden wäre. Offen-
bar hat in England erst seit dieser Zeit die Stadt ein entschiedenes
Uebergewicht über das Land erlangt. Die neuen Lebens- und Ar-
beitsverhältnisse haben zu einer langsamen, aber stetigen Entvöl-
kerung des platten Landes geführt.
Also war das zweite Viertel des XIX. Jahrhunderts eine Epoche
der energischsten Verdrängung der alten Wirtschaftsformen durch
neue. Die Ersetzung der kleinen Produktion durch die grosse und
der Handarbeit durch die Maschine führte zur enormen Erhöhung
der Produktivität der Arbeit. Nach Th. Ellison sind die bedeu-
tendsten Vervollkommnungen auf dem Gebiete der Spinnerei in der
Periode 1820 — 30 und auf dem Gebiete der Weberei in der Periode
1830 — 1845 durchgeführt worden. Das Wachstum der Produktivität
der Arbeit in der Baumwollweberei und Spinnerei Englands kann
man auf Grund der folgenden Daten beurteilen ^) :
Die Jahrespro-
Die Jahrespro-
Die Menge der Roh-
duktion des
duktion der
baumwolle, welche
Die Jahre
Garnes auf
Gewebe auf
jährlich im Vereinigten
einen Arbeiter
einen Arbeiter
Königreich verarbeitet
(in Pfund)
(in Pfund)
wurde (in Million. Pfd.)
1819—21
968
342
120
1829—31
1546
521
243
1844—46
2754
1681
588
Dieses rasche Wachstum der Produktivität der Arbeit hatte, wie
man aus den angeführten Zahlen sieht, eine ganz bedeutende Erweite-
rung der Produktion zur Folge. Aehnliche Veränderungen sind auch
in anderen Zweigen der enghschen Industrie — in der Tuchindustrie,
Roheisenindustrie, Metall Warenproduktion, Steinkohlengewinnung u.
s. w. vor sich gegangen. Die Produktivität der Arbeit stieg in fast
allen Produktionszweigen rasch, begleitet von einer starken Erhö-
hung der Menge der hergestellten Produkte. So ist nach Porter das
in England produzierte Roheisen von 442 Tausend Tonnen (1823)
auf 2093 Tausend Tonnen (1848) gestiegen; die aus einem der Häfen
Grossbritanniens nach einem anderen oder nach dem Auslande trans-
I) Ellison, S. 68 — 69 und Beilage N0. 4.
~ 43 ^
portierten Steinkohlen hatten sich von 4803 Tausend Tonnen (1820)
auf 1 1381 Tausend Tonnen (1849) erhöht, die Einfuhr der ausländischen
Wolle für die Bearbeitung in Grossbritannien ist von 16623 Tausend
Pfund (1821) auf 76769 Tausend Pfund (1849) gestiegen u. s. f.
Zu selben Zeit machte der englische Ackerbau keine so schnellen
Fortschritte. Nach der Schätzung von Porter könnte der Ackerbau
Grossbritanniens 182 1 — 30 ungefähr 15 Millionen der Bevölkerung
ernähren, 1841 — 49 aber 16 — 17 Millionen. Das Wachstum des
Produktes des Ackerbaues war ganz unbedeutend. Indessen ver-
mehrten sich die Produkte der Industrie , wie oben angegeben,
kolossal. Bei einer solchen Sachlage war der auswärtige Markt das
einzige Mittel, einen Absatz für die steigende Masse der englischen
Fabrikate zu finden.
Dieser Markt aber war für England wenig zugänglich. Der
Protektionismus herrschte fast auf dem gesamten europäischen Kon-
tinent. In b>ankreich war der Tarif von 18 16 in Kraft, durch
welchen, mit geringen Ausnahmen, die Einfuhr sämtlicher baum-
wollener, wollener, eiserner und stählerner Fabrikate (ausser Maschinen,
auf die ein verhältnismässig geringer Zoll gelegt wurde) verboten
war. In Deutschland wurde nach der Gründung des Zollvereins im
Jahre 1833 der preussische Tarif, welcher einen schutzzöllnerischen,
aber keinen prohibitiven Charakter hatte, mit geringen Veränderungen
angenommen. In Spanien näherte sich der Tarif dem französischen;
die Einfuhr baumwollener Gewebe war verboten. Der schwedische
Tarif hatte gleichfalls einen fast prohibitiven Charakter. Die Tarife
der meisten anderen europäischen Staaten waren auf den Schutz der
inländischen Produktion gerichtet.
Wie sehr der englische Handel durch die schutzzöllnerischen
Tarife der europäischen Staaten eingeengt war, sieht man daraus,
dass in den 40er Jahren England nach Frankreich weniger Waren
als nach Holland ausgeführt hat (der Wert der durchschnittlichen
Jahresausfuhr britischer Produkte nach Frankreich war gegen
2Y2 Millionen Pfund Sterling, nach Holland aber über 3 Mill.
Pfund), nach Spanien weniger als nach Portugal (nach Spanien jähr-
lich gegen Y2 Million Pfund, nach Portugal gegen i Million). Der
internationale Handel strömte in die wenigen für ihn offenen Kanäle,
und zwischen Nachbarländern, welche für einander ausgezeichnete
Märkte sein könnten, fand nur ein ganz geringfügiger Handelsaus-
tausch statt. Der europäische Markt war nicht im stände, die immer
steigende Masse der englischen P^abrikate zu absorbieren. Für die
englische Industrie blieb es nur ein Ausweg — diejenigen Märkte
— 44 —
zu erobern, welche ihr zugänglich waren — die britischen Kolo-
nien und überhaupt die aussereuropäischen Länder. Insbeson-
dere war dies der Fall mit den Produkten des wichtigsten Zweiges
der englischen Industrie, auf den fast die Hälfte der gesamten Aus-
fuhr fiel, — der Baumwollindustrie.
Die Verteilung in Prozenten der Ausfuhr der englischen Baum-
wollfabrikate nach verschiedenen Ländern war folgende^):
Gewebe. jähre
1820 1830 1840 1850
Nach Europa (ausser der Türkei) 51 31 25 16
Nach der Türkei, Aegypten, Afrika 4 9 9 14
Nach Amerika (ausser den Vereinigten Staaten) ... 22 32 35 27
Nach den Vereinigten Staaten 9 12 4 8
Nach Britisch-Ostindien 1 . 18 23
Nach China, Japan, Java j ^ 4 8
Nach allen anderen Ländern 8 5 4 4
Garn.
1820 1830 1840 1850
Nach Europa (ausser Türkei) 96 87 78 69
Nach der Türkei 2 2 3 4
Nach Britisch-Ostindien \^ « 14 16
Nach China, Japan, Java j 2 2
Nach den übrigen Ländern 2 3 5 9
Während Europa an Bedeutung für den Absatz der englischen
baumwollenen Fabrikate verlor, eroberte die englische Industrie neue
Märkte — Ostindien, Aegypten und China. Im Jahre 1820 war
Europa der wichtigste Markt für England — fast das gesamte eng-
lische Gespinst und mehr als die Hälfte der baumwollenen Gewebe
wurden von Europa absorbiert; im Jahre 1850 steht Europa schon in
der Einfuhr der Gewebe bedeutend unter Ostindien und fast in der
gleichen Linie mit der Türkei und Afrika.
Der Mangel an Märkten für den Absatz der Waren bildet einen
gewöhnlichen Gegenstand der Klagen der englischen Industriellen
der 30er und 40er Jahre. Die Bewegung zu Gunsten des Freihan-
dels, als deren Anfang man die berühmte Petition von 1820 der
Londoner Kaufmannschaft ansehen kann, ist nur aus dem Grunde
so schnell von Erfolg gekrönt gewesen, weil sie in der That durch
ein dringendes Bedürfnis hervorgerufen war, namentlich durch die
Notwendigkeit, für die englische Industrie ihre auswärtigen Märkte
zu erweitern. Die Argumentation der Freetraders bestand haupt-
sächlich in der ständigen Wiederholung des einen Gedankens, näm-
lich, dass die englische Industrie einer Erweiterung des Absatz-
i) Ellison, 64.
— 45 —
gebiets bedürfte, diese aber nur durch die Entwickelung des Aussen-
handels erreicht werden könne. Die Aufhebung der Zölle auf die
Gegenstände der englischen Einfuhr muss — behaupteten die Frei-
händler — in zweierlei Weise den englischen Export befördern.
Erstens wird das den Protektionismus in der ganzen Welt erschüttern,
da England das Hauptbollwerk des Protektionismus ist — und sein
Uebergang zum Freihandel nicht umhin kann, die anderen Länder
mitzureissen. Zweitens muss die Aufhebung der Zölle auf die land-
wirtschaftlichen Produkte die Einfuhr solcher nach England ver-
mehren — und dies wird zu einer Vermehrung der Ausfuhr der
Produkte der englischen Industrie führen, da der internationale, wie
auch jeder andere Handel, sich auf Grundlage des Produktenaus-
tausches vollzieht. Wenn England zu seinem inneren Markte keine
Produkte der ackerbautreibenden Länder zulässt, so müssen auch
diese letzteren Länder darauf verzichten, sich englische Fabrikate an-
zuschaffen, da sie nichts haben, womit sie solche bezahlen können.
Diese Argumentation enthielt viel Richtiges. Die englischen
Industriellen und ihre Ideologen — Oekonomisten - Freihändler —
hatten vollen Grund zu behaupten, dass der Einfuhrzoll auf das Ge-
treide mit einem Ausfuhrzoll auf Fabrikate gleichbedeutend sei. Es
wäre ja möglich gewesen, dass einige Länder, welche Getreide nach
England ausführten, keiner englischen Fabrikate bedürften. Aber es
unterliegt keinem Zweifel, dass die Erweiterung der Einfuhr land-
wirtschaftlicher Produkte nach England die Kaufkraft der ackerbau-
treibenden Länder vermehrt und dadurch ein wichtiges Hindernis für
die Entwickelung der englischen Ausfuhr beseitigt hätte.
Die ungenügende Elasticität des auswärtigen Marktes, welcher
die Produkte der englischen Industrie nur langsam absorbieren konnte,
zeigt sich auch bei einer Vergleichung der Veränderung des Wertes
und der Masse der englischen Ausfuhr in den 30er und 40er Jahren ^).
Der wirkliche Wert der
jährlichen Ausfuhr der
Produkte des Vereinigten
Königreichs (in Millionen
Pfund Sterling)
1821 — 30 .
1831—40 .
1841—50 .
36,6
45.2
57.4
Die Zunahme
in 7o
Der offizielle Wert
derselben Produkte
(die Masse) (in Mil-
lionen Pfund Sterl.)
Die Zunahme
in 7o
24
27
48,8
79,8
131,8
63
65
i) Nach den Tables of the Revenue, Population, Commerce etc. of the United King-
dom. Offizieller AVert wurde damals der Preis der Ware auf Grund bestimmter unver-
- 4б -
Während die Ausfuhr ihrer Masse nach schnell anwuchs, ver-
mehrte sie sich ihrem Werte nach bedeutend langsamer. Daraus
können wir schliessen, dass die Erweiterung der Ausfuhr von einem
bedeutenden Sinken der Preise begleitet oder vielmehr durch dieses
erreicht wurde. Und in der That eine fallende Tendenz der Waren-
preise war für diese Zeit charakteristisch. Die Hauptursache einer
solchen Tendenz bestand in dem raschen Fortschritt der Produktions-
technik, aber neben dieser wirkte noch eine andere Ursache — die
Schwierigkeit, für die enormen Produktenmassen, welche die zu neuen
vervoUkomneten Produktionsmethoden übergegangenen Fabriken auf
den Markt hinauswarfen, einen Absatz zu finden.
War der auswärtige Markt für die englische Industrie wenig
zugänglich, so war auch die Nachfrage des inneren Marktes keiner
schnellen Zunahme fähig. Ich werde Gelegenheit haben weiter unten
von der erschreckenden Verarmung der grossen Mehrzahl der
englischen Bevölkerung in den 30 er und 40 er Jahren zu sprechen.
Diese Verarmung wurde durch die Entwickelung neuer Wirtschafts-
formen und ihren Kampf mit den alten unmittelbar hervorgerufen.
Die Kaufkraft der englischen Arbeiterklasse wuchs nicht nur nicht
der Vermehrung der Produktion entsprechend, sondern ging eher zu-
rück. Ich lasse einige hierauf bezügliche Daten folgen:
Jahre
Der durchschnittliche
Jahreswert d.baumwol-
lenen Gewebe, welche i.
Vereigt. Königreiche ^)
konsumirt worden sind
(in Millionen Pf d.Sterl.)
Pro Kopf der
Bevölkerung
Jahre
14 sh. 3 d.
13 ,' 2 „
II „ 10 „
182b — 30
i«3i— 35
1841—45
Der Konsum
des Zuckers pro
Kopf der Be
völkerung ^)
(in Pfund)
Der durchschnittli-
che Preis d.Zuckers
in London (ein-
schliesslich des Zol-
les) pro Centner
1836 — 40
1841—45
1846 — 50
i«,5
17,9
16,5
18,4
17,4
2 £ 17 sh.
2 „ 13 M
2 „ 18 „
Man kann also die Lage der englischen Industrie in den 30er
und 40er Jahren auf folgende Weise charakterisieren:
Die Produktion erweiterte sich rasch dank der Zunahme der
Produktivität der Arbeit, aber zugleich war der auswärtige Markt
änderlicher Normen genannt, welche im Jahre 1 694 festgesetzt worden waren. Das Wachs-
tum des offiziellen Wertes der britischen Ausfuhr zeigt daher ein AVachstum der Masse
der ausgeführten Waren.
1 ) Zusammengestellt nach den Tabellen von J. Mann, The Gotton Trade of Great
Britain, Manchester 1860. Diese Tabellen sind nachgedruckt bei Ure, The Cotton Manu-
facture, II, S. 408.
2) Zusammengestellt nach der in The Economist 1859, 15. Januar, Supplement,
S. 18 abgedruckten Tabelle.
— 47 —
durch Zollschlagbäume versperrt, und der innere Markt litt infolge
des Rückganges der Nachfrage seitens der Arbeiterklasse. Diese
ungünstigen Bedingungen verhinderten die Fortschritte der Produktion
nicht, führten aber ein Sinken der Warenpreise herbei. Das Kapital
wurde akkumuliert, und die Industrie entwickelte sich, aber wie wir
weiter sehen werden, ging diese Entwickelung den Weg langwieriger
und schwerer Krisen.
II.
Der Sieg der Maschine und die Eroberung neuer Märicte.
Mit den 50er Jahren beginnt eine neue Epoche in der Ge-
schichte der englischen Industrie. Die Aufhebung der Korngesetze
im Jahre 1846 war der Anfang einer Reihe von handelspolitischen
und finanziellen Massnahmen, welche auf die vollkommene Befreiung
des aus- und inländischen Handels Englands von jedweder Re-
gierungsvormundschaft gerichtet waren. Die Herabsetzung oder die
vollständige Abschaffung der Accise auf eine grosse Anzahl von
Konsumtionsmitteln, zugleich mit der Aufhebung der Einfuhrzölle auf
alle Rohstoffe, haben die Produktionskosten der englischen Fabrikate
verringert und ihre Absatzmöglichkeit erweitert. Die Verbilligung des
Getreides und der anderen Lebensmittel der Arbeiterklasse hat zur
Vermehrung der Nachfrage nach Fabrikaten seitens der grossen Masse
der englischen Bevölkerung geführt, und die nach der Aufhebung
der Korngesetze stark gestiegene Korneinfuhr hat den ausländischen
Konsumenten die für die Anschaffung der englischen Waren not-
wendigen Mittel gegeben.
Also hat schon die Abschaffung der Zölle auf das Getreide und
auf die Rohstoffe den Markt für die englischen Fabrikate ausgedehnt;
aber die Wirkung dieser grossen Reformen wurde noch dadurch ausser-
ordentlich verstärkt, dass die anderen Staaten, wie es die englischen
Freihändler der 40 er Jahre ganz richtig voraussahen, von dem Bei-
spiele Englands hingerissen wurden und ihrerseits gleichfalls anfingen,
die Zölle auf die wichtigsten Gegenstände ihrer Einfuhr herabzusetzen.
Während der ersten Hälfte der 50 er Jahre haben die meisten euro-
päischen Staaten ihre Tarife im liberalen Sinne revidiert. Die Zölle
auf viele aus England ausgeführte Waren waren von Russland,
Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, Sardinien, Preussen und
anderen Ländern ermässigt. Spanien ist von einem prohibitiven zu
~ 48 -
einem schutzzöUnerischen Tarif übergegangen, und Frankreich hat
seine Zölle auf Eisen, Stahl und Metallfabrikate stark herabgesetzt.
In England selbst wurden die handelspolitischen und finanziellen
Reformen in derselben Richtung wie früher weitergeführt. Im
Jahre 1853 hat Gladstone die Accise auf Seife abgeschafft, die
Einfuhrzölle auf 123 Gegenstände aufgehoben und die Zölle auf viele
andere Waren herabgesetzt. Der Zoll auf Thee ist fast auf die
Hälfte ermässigt worden. Der Krimkrieg hat die englische Regierung
genötigt, die Accise auf Spiritus und auf Bier sowie die Zölle auf
einige Kolonialprodukte zu erhöhen, aber mit der Wiederkehr des
Friedens hat England den früheren Weg der systematischen Ermässi-
gung der indirekten Zölle wieder betreten.
Als das wichtigste Ereignis auf dem Gebiete der Zollpolitik dieser
Zeit — nicht nur für England allein, sondern für die ganze Welt —
muss zweifellos der Handelsvertrag anerkannt werden, welcher 1860
zwischen England und Frankreich abgeschlossen worden war.
Dieser Vertrag war ein Triumph des Freihandels: der Freihandel
hat das Tand erobert, welches stets als das Bollwerk des Protektionis-
mus auf dem europäischen Kontinent gegolten hatte -— Frankreich.
Durch den Vertrag von 1860 hat Frankreich sich verpflichtet, alle
Verbote in seinem Tarif abzuschaffen und die Zölle auf die Produkte
der britischen Industrie soweit herabzusetzen, dass sie bis zum
10. Oktober 1864 nicht mehr als 30% und nach Verlauf dieser Zeit
nicht mehr als 25^/0 vom Werte betrügen. Dafür hat England, mit
wenigen geringfügigen Ausnahmen, alle Zölle auf die französischen
Fabrikate aufgehoben und die Zölle auf die französischen alkohol-
haltigen Getränke stark herabgesetzt.
Obwohl dieser Vertrag, rein formell betrachtet, für Frank-
reich günstiger war als für England, hat durch ihn die eng-
lische Industrie, welche die französische Konkurrenz nicht zu fürch-
ten hatte, mehr gewonnen — da die Vorteile, welche den fran-
zösischen Weinproduzenten zu gute kamen, bis zu einem gewissen
Grade durch die Verluste der französischen Fabrikanten, für welche
die Konkurrenz der Engländer sehr gefährlich war, aufgewogen
wurden. Die Bedeutung dieses Vertrages sowie der vorangegangenen
Herabsetzung der französischen Zölle für die britische Industrie lässt
sich durch das Wachstum der britischen Ausfuhr nach Frankreich
bestimmen. Der Wert der nach Frankreich ausgeführten Produkte
des Vereinigten Königreichs betrug in den Jahren 1841 — 50 jährlich
2,5 MilHonen Pfund, in den Jahren 1851 — 60 4,4 Millionen Pfund und
in den Jahren i8öi — 70 bereits 10,2 Millionen Pfund.
— 49 —
In den 40er Jahren waren viele Länder zweiten Ranges bessere
Märkte für den Absatz britischer Produkte als Frankreich; seit 1860
nimmt Frankreich in Bezug" auf die Bedeutung für die Ausfuhr des
Vereinigten Königreichs die fünfte Stelle ein; ihm stehen nur die
Vereinigten Staaten, Ostindien, Deutschland und Australien voran.
Auf diesen Vertrag folgte der Abschluss ähnlicher Verträge mit
anderen europäischen Staaten — Belgien, Italien, dem deutschen Zoll-
verein, Oesterreich und der Schweiz. Es trat eine Epoche des Frei-
handels ein, welche übrigens nicht lange gedauert hat. Eigentlich
war der auswärtige Handel nur in England, welches auf jeden Schutz
der einheimischen Arbeit verzichtet und nur Finanzzölle auf wenige
Einfuhrgegenstände beibehalten hat, ganz frei, die Tarife der anderen
europäischen Länder aber haben einen mehr oder weniger schutz-
zöllnerischen Charakter bewahrt; aber fast überall sind die Schutz-
zölle stark herabgesetzt worden und die Regierungen vieler Länder
haben sich offen zu Gunsten des Freihandels ausgesprochen. Nur die
Vereinigten Staaten sind von der allgemeinen Bewegung ganz un-
berührt geblieben. Der amerikanische Tarif von 1862 hatte einen
durchaus schutzzöllnerischen Charakter.
Zwar hat die Herabsetzung der Zölle zur Entwickelung des
Welthandels, in welchem England die Hauptrolle spielte, sehr viel
beigetragen. Noch grössere Bedeutung aber in dieser Hinsicht ist
der weiteren Ausbreitung des Eisenbahn- und Dampfschiffsverkehrs
zuzuschreiben. Solange weite Landesstrecken sogar in den civilisier-
testen Ländern keine genügenden Verkehrswege hatten, konnte der
internationale Handel mit den billigeren Waren keine grosse Dimen-
sionen annehmen. England schickte seine Waren in der ganzen Welt
herum, aber das Gebiet ihrer Verbreitung war sehr oft nur auf die
Küstenstreifen beschränkt. Dadurch war z. B. die verhältnismässig
schwache Verbreitung der englischen Waren in einem so dicht be-
völkerten Lande wie Ostindien bedingt. Die billigen englischen
Waren konnten einen Transport zu Lande auf schlechten Wegen auf
grosse Entfernungen nicht ertragen. Ende der 40er Jahre begann
ein rascher Bau von Eisenbahnen in vielen europäischen und anderen
Ländern. Die Welt ist enger geworden, — alle Länder haben sich
gleichsam einander genähert, die Gegenden, welche vom Meeresufer
entfernt sind, sind dem Welthandel ebenso zugänglich geworden wie
die Meeresküste. Der schwerste Zoll, mit welchem die englischen
Waren belegt waren, die" Kosten eines entfernten Transportes — hat
eine vielfache Ermässigung erfahren. Die englischen Waren sind
innerhalb der Kontinente zugänglich geworden. Die Ausdehnung
Tugan-Barano wsky, Dio Ifandelskrisen. 4
— 50 —
des Absatzgebietes, welche durch die Eisenbahnen hervorgerufen
worden ist, ist an dem Beispiele Ostindiens ersichtlich. Anfang der
50er Jahre schwankte der Wert der Ausfuhr der Produkte des Ver-
einigten Königreichs nach Ostindien zwischen 6 und 7 Millionen
Pfund. Ende der 50er Jahre begann in Ostindien der Bau der Eisen-
bahnen mit Hülfe des englischen Kapitals, und zu Anfang der 60er
Jahre ist der Wert der britischen Ausfuhr auf 17 Millionen Pfund
gestiegen.
Diese beiden Momente — nämlich der Uebergang Englands und,
in geringerem Masse, des übrigen Europas vom Protektionismus zum
Freihandel und die Ausbreitung des Eisenbahn- und DampfschifF-
verkehrs haben das Absatzgebiet der englischen Fabrikate im
höchsten Masse erweitert.
In derselben Richtung hat noch ein drittes Moment eingewirkt
— nämlich die Entdeckung der überaus reichen Goldlager in Ka-
lifornien und Australien. Im Jahre 1848 ist durch einen Zufall in
Kalifornien Gold entdeckt worden und im Jahre 1851 in Victoria,
einer der australischen Kolonien. Die Bedeutung dieser Entdeckungen
für den englischen Handel bestand vor allem darin, dass die Nach-
frage nach englischen Waren sich in Kalifornien und Australien in
kurzer Zeit vervielfachte. Das Gerücht über die märchenhaften Reich-
tümer, welche an den einsamen Ufern des Sakramente und des
Murrey liegen, haben Zehn- und Hunderttausende von Emigranten aus
allen Weltteilen in diese Länder gelockt. Die Wüsten Kaliforniens,
in denen früher nur wilde Indianer herumzogen, sind jetzt mit einer
erstaunlichen Schnelligkeit bevölkert worden. Australien war ein
Land von grösserer Kultur, jedoch ebenso dünn bevölkert und erst,
nachdem einer der Inländer, aus Kalifornien zurückgekehrt, an dem
Ufer eines australischen Flüsschens goldhaltigen Sand gefunden hatte,
begann seine Bevölkerung sich ebenso rasch zu vermehren wie die
Kaliforniens. Da es in Kalifornien und Australien fast keine ein-
heimische Industrie gab, so mussten alle für die vermehrte Bevöl-
kerung notwendigen Waren aus anderen Ländern eingeführt werden.
Australien war zudem eine britische Kolonie, und es ist daher ganz
natürlich, dass sein Hauptlieferant England wurde.
Der durchschnittliche Wert der Jahresausfuhr der britischen
Fabrikate nach Australien betrug im Jahrzehnt 1842 — 51 nur 1,6
Millionen Pfund, im Jahrzehnt 1852 — 1861 aber schon 10,1 Millionen
Pfund. Also infolge der Entdeckung des Goldes in Australien hat
England einen neuen Markt gewonnen, welcher seiner Bedeutung
nach für den britischen Handel Frankreich, Italien und die anderen
— 51 —
Länder, welche lange Zeit in einem lebhaften Handelsverkehr mit
England gestanden hatten, übertraf und nur gegen die Vereinigten
Staaten, Deutschland und Ostindien zurückstand.
Viel schwerer ist es, die ökonomische Bedeutung der Vermeh-
rung des Vorrats des Goldes für England selbst zu bestimmen. Die
Goldgewinnung hat sich in den 50er und 6oer Jahren ausserordent-
lich gehoben. In der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts sind in
der ganzen Welt bloss 118 487 Kilogramm Gold gewonnen worden,
während in einem Jahrzehnte 1851 — 60 der Goldertrag 401 138 Kilo-
gramm Gold betrug. Seit der Entdeckung Amerikas gab es keine
Epoche, wo die Menge der Edelmetalle in Europa so stark und so
plötzlich zugenommen hat. Im XVI. Jahrhundert war auf den Silber-
zufluss aus Amerika ein bedeutendes Steigen der Warenpreise ge-
folgt; nach einer verbreiteten Ansicht ist es durch das Fallen des
Silberpreises hervorgerufen worden. Hat die Vermehrung der Gold-
gewinnung in den 50er Jahren nicht auf das Fallen seines Wertes,
also auf die Erhöhung der Warenpreise eingewirkt?
Eine solche Einwirkung scheint mir jedenfalls höchst zweifel-
haft. Freilich sind die Warenpreise in den 50er und 6oer Jahren
gestiegen. Nach der bekannten Schätzung von Jevons haben sie
sich um mindestens lo^o erhöht. Aber es liegt durchaus kein Grund
vor, diese Erhöhung auf das Fallen des Goldwertes zurückzuführen.
Gleichzeitig mit der Vermehrung der Goldgewinnung haben viele
andere Momente in derselben Richtung auf die Warenpreise eingewirkt.
So z. B. mussten die Kriege der 50er und 60er Jahre, welche nach
so vielen Jahren des Friedens ausbrachen, natürlich die Warenpreise
in die Höhe treiben: die hohen Preise von Getreide, Flachs, Hanf und
anderen russischen Waren in England Mitte der 50 er Jahre waren
eine Folge des Krimkrieges, und das ungewöhnliche Emporschnellen
der Baumwollpreise in den 60 er Jahren ist durch den Bürgerkrieg in
den Vereinigten Staaten verursacht w^orden.
In den 30er und 40er Jahren litt die englische Industrie unter
einem Mangel an Märkten: die Warenpreise mussten niedrig sein,
weil das Warenangebot die Nachfrage nach solchen übertraf. Seit
den 50er Jahren haben sich die Märkte für die Produkte der eng-
lischen Industrie ausserordentlich ausgedehnt , und so konnte ein
Steigen der Warenpreise nicht ausbleiben. Neben den gewöhnlichen
periodischen Preisschwankungen giebt es auf dem Warenmarkte auch
dauernde Epochen der Erhöhung und des Sinkens der Preise, einer
günstigen und einer ungünstigen Konjunktur. Das zweite Viertel
— 52 —
dieses Jahrhunderts war eine Epoche des Sinkens der Warenpreise
infolge der ungünstigen Verhältnisse des Weltmarktes, die Epoche
1850 — 73 war hingegen die Zeit einer günstigen Konjunktur.
Die Vermehrung der Goldgewinnung in Kalifornien und
Australien konnte unmittelbar nur insofern auf die englischen Waren-
preise einwirken, als daraus eine erhöhte Nachfrage nach Waren in
den goldgewinnenden Ländern entstanden ist. Diese neu entstandene
Nachfrage war jedoch geringfügig im Vergleich mit der neuen Nach-
frage, welche durch die Verbreitung des Freihandels und die Ver-
besserung des Transportwesens geschaffen worden ist.
Der hohe Diskontsatz der Bank von England in den 50 er und 60 er
Jahren zeigt, dass der Goldzufluss nach England auf die Warenpreise
nicht auf dem Wege des Sinkens des Zinsfusses einwirken konnte.
Ich bestreite allerdings nicht, dass der Goldzufluss nach England eine
gewisse Einwirkung auf die englischen Preise ausgeübt hat: zwar ist
das Steigen der Preise durch andere Ursachen hervorgerufen worden,
doch wäre ein solches unmöglich gewesen, wenn der reiche Gold-
zufluss aus Kalifornien und Australien die Kassen der Bank von
England nicht gestärkt hätte und wenn nicht das neugewonnene
Gold in die Cirkulation getreten wäre, um das immer wachsende
Bedürfnis nach Tauschmitteln zu befriedigen. (Nach einigen Schätzungen
hat sich die Menge der Goldmünzen im Vereinigten Königreich in
dieser Zeit um 20 Millionen Pfund Sterling vermehrt.) Der Krim-
krieg ist nur aus dem Grunde für die finanzielle und ökonomische
Lage Englands so günstig vorübergegangen, ohne eine Geldkrisis
hervorzurufen, weil gleichzeitig mit dem Abfluss einer enormen Menge
Metallgeld auf den Kriegsschauplatz Gold nach England aus Gold
gewinnenden Ländern floss; ebenso verursachte der Silberabfluss nach
dem Orient Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre, welcher durch
die Vermehrung der Einfuhr der orientalischen Waren nach Europa
hervorgerufen wurde, nur aus dem Grunde keine vollkommene Störung
des europäischen Geldmarktes, weil in Frankreich enorme Silber-
vorräte vorhanden waren, die es nach dem Orient schicken konnte
und zum Ersatz des vSilbers aus England Gold bekam. Der Gold-
zufluss hat somit eine grosse Bedeutung gehabt, jedoch nicht die,
welche ihm gewöhnlich zugeschrieben wird: er hat nicht unmittelbar
auf die Warenpreise eingewirkt, sondern eine Veränderung der Preise
in der Richtung ermöglicht, welche dem allgemeinen Zustande des
Warenmarktes entsprach.
Wir haben gesehen, dass im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts
der Wert der englischen Ausfuhr infolge des durch den Mangel an
— 53 -
Märkten und die Fortschritte der Technik hervorgerufenen Sinkens
der Preise nur langsam zunehmen konnte.
Die 50er und 60 er Jahre bieten ein anderes Bild dar: für die
englische Industrie eröffneten sich neue Märkte, und der Wert der
englischen Ausfuhr fing an, rasch zu wachsen, umsomehr als die Ent-
wickelung der Technik schon nicht mehr eine so rapide wie früher war.
Die durchschnittliche jährliche
Der durchschnittliche Jahreswert
Tonnenzahl der aus den Häfen
Jahre
der Ausfuhr der Produkte des
des Vereinigten Königreichs nach
Vereinigten Königreichs
dem Ausland und den Britischen
(in Millionen Pf.)
Kolonien abgegangenen Schiffe
(in Millionen)
GeAvachsen um
Gewachsen um
1841 — 1850
57,4 —
60,3 —
1851 — 1860
106,5 85 7o
103,2 71 7o
1861 — 1870
166,0 56%
153,9 49 7o
Die Ausfuhr nimmt zu mit grösster Geschwindigkeit. Während
in der vorangegangenen Periode die Masse der ausgeführten Waren
viel schneller anwuchs als deren Wert, — mit anderen Worten die
Preise sanken — jetzt wächst hingegen der Wert der ausgeführten
Waren schneller als die Tonnenzahl der aus England abgegangenen
Schiffe. Daraus kann man auf das Steigen der Warenpreise schliessen
— und zugleich, da aus England hauptsächlich Fabrikate exportiert
werden, auf die Verlangsamung des technischen Fortschrittes.
Und in der That hat in der Baumwollproduktion die Aera der
Entdeckungen in den 40 er Jahren ihren Abschluss gefunden. Die
Produktion fuhr fort sich zu vermehren, aber nicht entfernt mit der
früheren Geschwindigkeit. Der jährliche Verbrauch der Baumwolle
stieg von 755 Millionen Pfund (185 1 — 55) auf 971 Millionen Pfund
(1866 — 70). Die Menge des produzierten Roheisens hat sich von
2,1 Millionen Tonnen (1849) ^^^ 4»7 Millionen Tonnen (1861 — 70)
vermehrt. In den anderen Produktionszweigen war die Vermehrung
der Produktion auch nicht eine so rapide wie in den 30 er und 40er
Jahren. Dafür hatten aber die Preise der Produkte keine Tendenz
zum Sinken gehabt und die Industrie entwickelte sich bei einer
günstigen Lage des Warenmarktes. Die Unternehmer realisierten
hohe Gewinne und konnten mit dem Experiment des Freihandels
vollkommen zufrieden sein. Der Reichtum der besitzenden Klassen
wuchs so schnell, dass Gladstone berechtigt war, in seiner be-
rühmten Budgetrede von 1863 dies Wachstum als „berauschendes" zu
bezeichnen.
— 54 —
III.
Der Verfall der industriellen Suprematie Englands.
Aber alle diese Prosperität hat sich nicht als von langer Dauer
erwiesen. Keine zwanzig Jahre waren seit dem Abschluss des be-
rühmten Cobden sehen Handelsvertrages vergangen, als untrügliche
Zeichen darauf hindeuteten, dass die industrielle Weltherrschaft Eng-
lands sich ihrem Ende nähere. Die Mitte der 70 er Jahre bedeutet
einen Wendepunkt in der Geschichte der englischen Industrie. Auf
die Periode des Aufschwunges war eine andauernde und schwere
Geschäftsstockung gefolgt. Darin lag noch nichts Ausserordentliches:
wie auf die Flut unausbleiblich die Ebbe folgt, so folgt in England auf
den Aufschwung stets eine Geschäftsstockung. Jedoch als diesmal
die Geschäftsstockung dem neuen Aufschwung wieder Platz machte,
kehrten damit die früheren glücklichen Tage für die englischen In-
dustriellen nicht wieder. Der englische Fabrikant musste mit Staunen
sehen, dass seine alte Ueberlegenheit über alle anderen Konkurrenten
mehr und mehr in das Gebiet der Tradition verwiesen wird. Die
Weltindustrie entwickelte sich sehr rasch und gerade in den Ländern,
deren Märkte England gleichsam als sein Erbgut zu betrachten ge-
wohnt war. Nord- Amerika, welches mit allen Vorzügen eines jungen
und schwach bevölkerten Landes die Vorteile einer hohen Kultur
und Technik, die die Technik des alten Europa bei weitem überholt,
vereinigt, strebte erfolgreich sich aus der Abhängigkeit von der
englischen Industrie zu befreien. Die englischen Kolonien, wie Canada
und Australien, brachten mit Hülfe von Schutzzöllen ihre eigene In-
dustrie zur Entwickelung. Die Länder des fernen Orients, welche
die Hauptmasse der Produkte der englischen Baumwollweberei und
Spinnerei absorbierten, fingen seit Ende der 70er Jahre an, eigene
Fabriken zu errichten. Die Baumwolle- und Baumwollspinnfabriken
von Bombay machten nicht nur dem Lancashire eine ernsthafte Kon-
kurrenz auf dem ostindischen Markte, sondern sie eroberten nach und
nach selbst noch einige wichtige auswärtige Märkte, die sich früher
im Monopolbesitz Englands befunden hatten. So kam es, dass die
Ausfuhr des Baumwollgarnes aus England nach China und Japan
seit der Mitte der 70er Jahre fast garnicht zunahm, während die
Ausfuhr aus Ostindien sich so stark erweiterte, dass das englische
Garn nur noch einen geringfügigen Teil des ausländischen Garnes auf
jenen Märkten bildete. Das ostindische Garn hat den japanischen
und chinesischen Markt fast vollständig erobert.
- 55 —
Höchst ungünstig erwies auch für England die neueste Richtung
der Handelspolitik der meisten Staaten. Mit dem Ende der 70er
Jahre beginnt ein Umschwung nach der Richtung des Protektionis-
mus hin. In den 70er und 80er Jahren sind in allen europäischen
Ländern, die über eine entwickelte Industrie verfügen — mit Aus-
nahme von Belgien und Holland — die Zolltarife im Sinne einer
Verstärkung des Protektionismus revidiert worden. Die Vereinigten
Staaten haben durch den Mc Kinley-Tarif, der durch die nachfol-
genden Zollreformen nur wenig abgeschwächt worden ist, den Pro-
tektionismus auf die Spitze getrieben. Selbst einige englische Kolo-
nien haben sich, wie gesagt, durch hohe Zölle vor den Produkten
des eigenen Mutterlandes geschützt.
Im Jahre 1886 wurde in England eine Königliche Kommission
eingesetzt zum Zwecke, die Ursachen der Geschäftsstockung zu unter-
suchen. Die meisten von der Kommission verhörten Industriellen
beklagten sich über die ausländische Konkurrenz im allgemeinen und
die deutsche im besonderen. Nach diesen Aussagen haben die
deutschen, belgischen und französischen Waren die englischen nicht
nur von vielen ausländischen Märkten ganz verdrängt, sondern sie
sind auch in bedrohlichen Mengen in England selbst erschienen. Die
englischen Fabrikanten, die früher so selbstbewusst die ganze Welt
zum Kampfe herausgefordert und stets nur das eine angestrebt hatten
— die Freiheit der Konkurrenz — sie können jetzt ihren eigenen
Markt nicht schützen. Sie — die Ritter des Freihandels — lassen
sich dazu herbei, um Schutzzölle zu bitten, um sich vor dem An-
sturm der Ausländer zu retten. In den 8oer Jahren beginnt in Eng-
land eine Bewegung zu Gunsten des Protektionismus. Eine Mino-
rität der obengenannten Kommission schlug auch direkt und ohne
Umschweife vor, ausländische Fabrikate mit Einfuhrzöllen zu belegen;
die Majorität war weniger entschlossen, aber auch sie sah sich ge-
nötigt, folgende Erklärung abzugeben: „In der Warenproduktion an
sich — so lesen wir in dem Bericht der Kommission — haben wir,
wenn überhaupt, nur sehr wenige Vorzüge vor Deutschland vor-
aus; und in der Kenntnis des Weltmarktes, in dem Bestreben, sich
den lokalen Verhältnissen anzupassen und sich überall, луо es mög-
lich ist, dauernd festzusetze^n, fangen die Deutschen sogar an, uns zu
übertreffen.!)"
Wie gross musste die ErnüchLerung sein, die die Freihandels-
ära zeitigte, dass die Engländer zu ihrem alten Glauben, dem Protek-
i) Final Report of the Royal Commission appointed to inquire into the Depression
of Trade and Industry, 1886, S. XX.
- 5б -
tionismus, zurückkehrten! Was würden wohl die Schatten der ehr-
würdigen, lorbeergekrönten Cobden und Bright darüber sagen?
Die Herrschaft des Freihandels auf dem Weltmärkte hat sich
als eine ephemere erwiesen, und selbst im Vaterland eines Bright er-
hebt die Hydra des Protektionismus den Kopf.
In der neuesten Zeit ist Deutschland noch mehr in den Vorder-
grund getreten und hat England im industriellen Wettrennen ent-
schieden hinter sich gelassen. Und dies Faktum, das schon längst
den Gegenstand der Klagen der englischen Fabrikanten bildete, be-
ginnt in den letzten Jahren die öffentliche Meinung Englands ernst
zu beunruhigen. Das übrigens ziemlich oberflcächliche Buch von
Williams „Made in Germany" hat mehrere Auflagen erlebt und einen
starken Erfolg- gehabt — nur aus dem Grunde, weil der Verfasser
den Mut gehabt hat, jenes Faktum ohne jede Verheimlichung aus-
zusprechen. Die industrielle Suprematie Englands, die eine lange Zeit
von allen anerkannte Wahrheit war, verwandelt sich jetzt in einen
Mythus. Ja, ,,der industrielle Ruhm Englands schwindet."
Die statistischen Zahlen beweisen das unanfechtbar i).
2i
1—)
Durchschnittlicher Wert der
Ausfuhr der Produkte des Ver-
einigten Königreichs (in Milli-
onen Pfund Sterling)
^0
0 ""
,й
4)
в
(Л
Tonnenzahl der aus den Häfen
des Vereinigten Königreichs
nach dem Ausland und den
britischen Kolonien abgegange-
nen Schiffe
(in Hunderttausenden)
^0
0
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Й
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bfi
'S
00
Roheisenj)roduktion (Milli-
onen Tonnen)
0
Й
<v
'S
(Л
Steinkohlenproduktion (in
Millionen Tonnen)
©
0
_Й
Й
'S
4-1
(Л
Verbrauch der Baumwolle in
den Fabriken Gross-
britanniens (in zehn Millionen
Pfund)
.^0
.S
Й
<D
bß
'<u
■t-i
1861 — 70
1871—80
1881—90
1891 — 99
166
221
234
233
33
7
154
241
332
420
56
38
26
4.7
6,6
7,9
8,0
40
20
I
97
131
164
192
35
25
17
81
128
149
163
58
17
9
Diese Tabelle bildet einen beredten Kommentar zu den
citierten Worten Williams. Im Handel wie in der Industrie Eng-
lands sehen wir einen Stillstand oder bedeutende Verlangsamung
der Entwickelung. Zwar nimmt die Produktion von Steinkohlen, Roh-
eisen und die Baumwollindustrie zu, aber das Tempo der Zunahme
wird fortgesetzt immer langsamer. Die Steinkohlenindustrie ist
in den 90er Jahren stärker gewachsen als die Bevölkerung, die
Baumwollindustrie aber schwächer — und noch schwächer derjenige
i) Nach den Statistical Abstracts for the United Kingdom und jährlichen Supple-
menten des ,,The Economist".
— 57 —
Produktionszweig, der eine führende Rolle in der modernen Wirt-
schaft spielt — die Roheisenproduktion. Ebenso verhält es sich mit
der britischen Ausfuhr. Die Tonnenzahl der abgegangenen Schiffe
fährt fort zu wachsen, die Zunahme wird aber mit jedem Jahrzehnt
schwächer. Der Wert der Ausfuhr hört aber auf zu steigen. Das
deutet auf ein Steigen der Warenpreise hin. Und in der That sind
die 8oer und 90er Jahre die Zeit des Sinkens der Preise gewesen.
Mit diesem Sinken, das Ende der 70er und in der ersten Hälfte der
80er Jahre besonders schroff war, beschäftigen sich zahlreiche öko-
nomische Schriften der neuesten Zeit. Die Thatsache des Sinkens
selbst, sowie auch seine Ursachen, können in der wissenschafthchen
Litteratur als festgestellt betrachtet werden. Als Hauptursache gilt
für die meisten Autoren die in der neuesten Zeit erfolgte vollstän-
dige Umwandlung des Transport- und Verkehrswesens — die allge-
meine Verbreitung der Eisenbahnen und des Telegraphen sowie die
Verdrängung der Segel durch die Dampfschiffahrt.
Der relative Rückgang der englischen Industrie steht in einem
auffallenden Kontrast zu den industriellen Fortschritten der Konkur-
renten Englands, in erster Einie zum kolossalen Aufschwung der
deutschen Industrie. Wie bereits erwähnt, überlässt England nicht
nur seinen Platz auf dem Weltmarkte anderen Ländern, sondern es
kann nicht einmal seinen eigenen Markt behaupten. So ist in den
Jahren 1889 bis 98 die Ausfuhr der wollenen Gewebe aus England
dem Werte nach von 21,3 Millionen Pfund auf 13,7 Millionen ge-
sunken, während deren Einfuhr nach England von 9,7 Millionen
auf 9,8 Millionen Pfund gestiegen ist; die Ausfuhr der seidenen Ge-
webe ist in derselben Zeit von 2,5 Millionen Pfund auf 1,5 Millionen
gesunken, ihre Einfuhr dagegen von 11,8 Millionen auf 16,6 Mill.
gestiegen; die Ausfuhr der baumwollenen Gewebe ist von 58,8
Millionen Pfund auf 56,0 Millionen gesunken, deren Einfuhr ist
von 2,5 Millionen auf 4,4 Millionen gestiegen. In Fällen aber des
Steigens der britischen Ausfuhr entfällt solches fast aussschliesslich
auf die Ausfuhr von Produktionsmitteln für andere Länder. So hat
eine bedeutende Erhöhung der Ausfuhr von Steinkohlen und Maschi-
nen aus England stattgefunden: der Wert der Ausfuhr der Stein-
kohlen hat sich von 14,8 Millionen Pfund (im Jahre 1889) auf 18,1
Millionen (im Jahre 1898) und der der Maschinen in derselben Zeit
von 14,7 Millionen auf 17,4 Millionen erhöht. Ebenso stark ist die
Ausfuhr der chemischen Produkte, der Farbstoffe u. s. w. gewachsen.
In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bildeten die verschie-
denen Gewebe den Hauptgegenstand der englischen Ausfuhr. Jetzt
- 58 -
wächst die relative Bedeutung der Ausfuhr der eisernen Fabrikate,
Maschinen und Steinkohlen. Ich lasse hier die betreffenden Daten
folgen 1).
Jährliche Ausfuhr aus dem Vereinigten Königreich in Mill. Pf. St.
Jahre
Baum-
wollene
Gewebe
Wollene
Leinene
Unverarbeites
u. verarbeitetes
Eisen (einschl.
der Maschinen)
Stein-
kohlen
1868—70
1886—88
1896—98
54,2
59,5
56,4
21.3
20,2
16,0
7,0
5,5
4.7
26,3
35,3
39.9
5,4
10,4
16,7
Es hat eine Zeit gegeben, wo die Ausfuhr der baumwollenen
Fabrikate beinahe die Hälfte der gesamten englischen Ausfuhr er-
reicht hatte. Jetzt entfällt nur ein wenig mehr als Y5 der Ausfuhr
auf die baumwollenen Gewebe. In dieser Veränderung kommt
zweierlei zum Vorschein. Erstens ist sie eine Folge des Verfalls
der industriellen Suprematie Englands: der auswärtige Markt ver-
langt immer weniger englische Gewebe und andere Produkte der
rohstoffveredelnden Industrie, die dem Konsum unmittelbar dienen —
da solche von den einheimischen Industrien selbst erzeugt werden.
Zugleich wächst jedoch die Nachfrage nach englischen Maschinen,
Kohlen, Roheisen etc. — den Produktionsmitteln für die sich rasch
entwickelnden Industrien der englischen Konkurrenten. Zweitens
aber ist diese Veränderung — das starke relative Wachstum der
Nachfrage nach Produktionsmitteln auf Kosten der Nachfrage nach
den Konsumtionsmitteln — keineswegs nur England eigen. In allen
industriellen Staaten tritt uns dieselbe Erscheinung entgegen — überall
folgt die Entwicklung der Volkswirtschaft demselben fundamentalen
Gesetz. Die Montanindustrie, welche die Produktionsmittel für die
moderne Industrie schafft, wird immer mehr in den Vordergrund
gerückt. Somit kommt in der relativen Abnahme des Exports der-
jenigen britischen Fabrikate, die in den unmittelbaren Verbrauch ein-
gehen, auch das Grundgesetz der kapitalistischen Entwickelung zum
Ausdruck: je mehr die Technik fortschreitet, desto mehr treten die
Konsumtionsmittel zurück gegenüber den Produktionsmitteln. Die
Menschenkonsumtion spielt eine immer geringere Rolle gegenüber der
produktiven Konsumtion der Produktivmittel. So sind nach Porter 1830
in Grossbritannien 653417 Tonnen Roheisen produziert worden; im
i) Nach den Statistical Abstracts for the United Kingdom.
— 59 —
Jahre 1899 — ungefähr 9^/2 MiUionen Tonnen. Die Roheisen-
produktion ist ungefähr um das Fünfzehnfache gewachsen. Der Ver-
brauch an Baumwolle in der britischen Baumwollenindustrie erreichte
im Jahre 1830 248 Millionen Pfund, im Jahre 1899 1760 Millionen
Pfund — eine Vermehrung ungefähr um das Siebenfache. Dasselbe
zeigt sich in einer relativen Abnahme der in der Produktion der
Konsumtionsmittel beschäftigten Bevölkerung und einer raschen ab-
soluten und relativen Zunahme des in der Herstellung der Produktions-
mittel beschäftigten Personals. So ist allgemein bekannt, dass
die landwirtschaftliche Bevölkerung nicht allein in England, das Ge-
treide importiert, sondern auch in den getreideexportierenden Ländern
prozentual im Abnehmen begriffen ist. Ein relativer (und manchmal
auch absoluter) Rückgang des Arbeiterpersonals wird jedoch nicht
nur in der Landwirtschaft beobachtet. Nach Hobson („The Evo-
lution of modern Capitalism") finden in der Berufsgliederung der
Bevölkerung Englands die folgenden Veränderungen statt. Die re-
lative Zahl der Arbeiter in der Textilindustrie ist in der neuesten
Zeit in rascher Abnahme begriffen. Der Prozentsatz der in diesen
Produktionszweigen beschäftigten Bevölkerung ist von ii,i (185 1)
auf 7,6 (1891) gesunken. Der Prozentsatz des in der Bekleidungs-
industrie beschäftigten Arbeiterpersonals ist in denselben Jahren gleich-
falls gesunken, und zwar von 10,3 auf 8,3. In den Jahren 187 1 — 81
hat sogar eine absolute Abnahme der Zahl der Textilarbeiter statt-
gefunden. Und umgekehrt, in der die Produktionsmittel schaffen-
den Industrie sehen wir ein sehr rasches absolutes und relatives
Wachstum der Arbeiterzahl: der Maschinenbau, der Schiffbau, die
chemische Industrie, die Bearbeitung von Metallen, die Steinkohlen-
produktion und die anderen Produktionszweige, die Produktionsmittel
herstellen, ziehen an sich einen immer grösseren Teil der Bevölke-
rung an.
Die Thatsachen der neuesten industriellen Entwickelung be-
stätigen also vollkommen die theoretischen Ergebnisse der im
I. Kapitel gegebenen abstrakten Analyse des Akkumulations-Pro-
zesses des Kapitals. Die Produktionsmittel erobern sich eine immer
dominierendere Stellung in der Industrie und auf dem Warenmarkte
nicht nur Englands, sondern der ganzen kapitalistischen Welt.
Allerdings scheint die oben verzeichnete Thatsache des Still-
standes der Roheisenproduktion in England in der allerneuesten Zeit
damit nicht übereinzustimmen. Aber dieser Stillstand ist durch rein
lokale Ursachen hervorgerufen; zugleich ist er der schlagendste Be-
weis dafür, dass England seine frühere dominierende Stellung auf
- 6o —
dem Weltmarkte eingebüsst hat. Die Roheisenproduktion der ganzen
Welt ist von 18,5 Millionen Tonnen (1880) auf 35 Millionen Tonnen
(1898) gestiegen — in England bloss ist sie beinahe stationär ge-
blieben (nur im Jahre 1899 ist ein bedeutendes Wachstum der eng-
lischen Roheisenproduktion zu verzeichnen). Dieser Stillstand hat eine
sehr bedeutende Erhöhung der Einfuhr ausländischen Eisens und
eiserner Fabrikate nach England hervorgerufen: in den Jahren 1889
bis 98 ist deren Einfuhr ihrem Werte nach von 4,3 Millionen Pfund
auf 8,3 Millionen gestiegen.
Die statistischen Daten geben also keinen Grund für die opti-
mistische Beurteilung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage
Englands.
England bildet das merkwürdige und lehrreiche Schauspiel der
vollkommensten und zugleich der monstreusesten Schöpfung des
Kapitalismus. Die gesamte Existenz Englands beruht auf dem aus-
wärtigen Markte, der Ackerbau im Lande geht zurück, und nur ein
geringfügiger Teil des Territoriums wird zum Getreidebau benutzt.
Nur der Absatz von Fabrikaten auf dem auswärtigen Markt kann der
wachsenden Bevölkerung Englands die notwendigen Lebensmittel,
die auf dem englischen Boden nicht mehr produziert werden, ver-
schaffen. Solange England seine industrielle Suprematie vor allen
Ländern bewahrt hatte, enthielt diese Sachlage für England nichts
Gefährliches: England war die Fabrik der gesamten Welt geworden,
— von allen Seiten erhielt es Rohstoffe und, nachdem es diese in
Fabrikate verwandelt hat, schickte es sie zurück in die ganze übrige
Welt. Aber das Ende der industriellen Suprematie Englands musste
früher oder später eintreten. In der That, welche Vorzüge besitzt
England, die anderen Ländern unzugänglich wären? Die wichtigsten
Vorzüge waren und bleiben der kolossale Reichtum Englands und
die unvergleichliche technische Geschicklichkeit des englischen Ar-
beiters. Aber die Kapitalien emigrieren ja noch leichter als die
Arbeiter — wir werden weiter unten sehen , dass das englische
Kapital stets in reichlicher Flut aus seinem Vaterlande nach jungen
Ländern mit einer höheren Profitrate abgeflossen ist; in der neuesten
Zeit hat sich diese Emigration des Kapitals ausserordentlich verstärkt.
Die technische Geschicklichkeit und Gewandtheit des englischen Ar-
beiters ist auch kein Monopolbesitz desselben. Der Arbeiter Amerikas
übertrifft sogar den englischen und der deutsche holt ihn rasch ein.
Ein enormer Vorzug Englands waren in der früheren Zeit die vor-
trefflichen Verkehrswege innerhalb des Landes. England ist das
— 6I —
Land, wo ein Eisenbahnnetz am frühesten geschaffen wurde, und das
ist eine der Ursachen des Aufschwunges der englischen Industrie
nach den 40 er Jahren gewesen. Jetzt sind die Eisenbahnen in der
ganzen Welt verbreitet, sie sind durchaus kein englischer Alleinbesitz
geblieben. Endlich ist der wichtigste natürli :he Vorzug Englands —
der Reichtum an Mineralien (Steinkohlen und Eisen) einer Erschöpfung
unterworfen. Wie bereits gezeigt, ist schon die Eisenproduktion
Englands in Stillstand geraten (obgleich die Einfuhr des ausländischen
Eisenerzes rasch zunimmt). Die Vorzüge Englands vor den anderen
Ländern können sich also im Laufe der Entwicklung der Weltwirt-
schaft nur vermindern.
Die Länder aber, die ihre eigenen Rohstoffe verarbeiten, haben
einen enormen Vorzug, der durch nichts aufgewogen werden kann
— den Vorzug, dass sie die Transportkosten sparen. England führt
aus Ostindien Baumwolle ein, verwandelt sie in Gewebe und führt
diese letzteren zurück nach Ostindien aus. Diese Kosten des Doppel-
transports sind eine natürliche Prämie zu Gunsten der ostindischen
Baum Wollindustrie; kein Wunder, dass die Fabriken von Bombay
immer gefährlichere Konkurrenten von Lancashire werden.
Der stärkste Konkurrent Englands — Deutschland — schlägt
aber den englischen Fabrikanten nicht nur auf seinem eigenen, dem
deutschen Markte , sondern verdrängt England mit Erfolg auch
von den neutralen Märkten und selbst von dem englischen Binnen-
markt. Alle Sachkundigen rühmen die Unternehmungslust und den
industriellen Geist der deutschen Fabrikanten und Kaufleute im
Gegensatz zu dem hartnäckigen Konservativismus der Engländer. Viele
Märkte sind den Engländern nur aus dem Grunde verloren gegangen,
weil sie sich nicht den lokalen Verhältnissen und Bedürfnissen an-
passen wollten, weil sie die gäng und gäbe gewordenen Warenmuster
nicht abänderten. Die Monopollage auf dem Warenmarkte, die die
Engländer so lange genossen hatten, hat ihnen selbst am meisten
geschadet. Eine lange dauernde Herrschaft führt leicht zur Ver-
weichlichung — das hat sich gerade in England gezeigt. Deutsch-
land, das sich jeden neuen Markt durch Kampf erobern musste,
hat eine musterhafte Organisation von Institutionen geschaffen, die
den Zweck haben, den Handel und die Industrie zu fördern. Die
deutschen Konsuln werden als die besten in der ganzen Welt an-
erkannt, ebenso wie die deutschen Handelsreisenden und Handels-
agenten, die deutschen Vereine zur Förderung des Handels, die
deutschen Handels- und technischen Schulen u. s. w.
— б2 —
Das alles genügt vollkommen, um das Uebergewicht Deutsch-
lands zu erklären.
Der englische Handel hat auch von einer anderen Seite einen
schweren Schlag erlitten.. Die neueste Entwicklung des Handels
wird nämlich dadurch charakterisiert, dass der Handelsvermittler —
der Engroshändler — fast überall durch den unmittelbaren Verkehr
des Produzenten mit dem Detailhändler und manchmal auch direkt
mit dem Konsumenten verdrängt wird. Die oben erwähnte König-
liche Kommission von 1886 hat darüber ein reichhaltiges und lehr-
reiches Material gesammelt. Eine ganze Reihe von Zeugen , die
von der Kommission befragt worden sind , hat einmütig erklärt,
dass die Beziehungen zwischen den Produzenten und den Konsu-
menten die Tendenz haben immer unmittelbarer zu werden^).
Diese Tendenz ist für England sehr nachteilig, da England anderen
Ländern gegenüber die Rolle eines Händlers spielt. Die enorme Be-
deutung bLnglands im Welthandel beruhte auf seiner Vermittlerrolle
i) Nachstehend einige von diesen Aussagen: „In der letzten Zeit hat sich das Be-
streben verstärkt, ohne Vermittler auszukommen. In Oldham versuchen wn nach Möglich-
keit, einen direkten Handel mit den Baumwollenproduzenten in Amerika in die Wege zu
leiten. Nach meiner Meinung hat die Praxis erwiesen, dass die Dienste des Vermittlers
teuer zu stehen kommen, und daher sind die Vermittler in einem bedeutenden Masse be-
seitigt worden." (Aussage des Sekretärs der Cotton Spinners Association. — S. Andrew
Second Report on Trade Depression. Minutes of Evidence. Q. 4358 — 59): „Frage: Ver-
kaufen Sie die von Ihnen produzierten Waren (baumwollene Gewebe) Händlern (Expor-
teuren)? — Antwort: Wir expedieren alles selbst. Unser Profit ist so gering, dass wir auf
Vermittelung der Händler verzichten und uns ohne sie behelfen mussten. Vor einigen
Jahren verkauften wir alles, was wir produzierten, einem Händler, jetzt haben wir ihn voll-
ständig ausgeschaltet und exportieren selbst. (A. u. O. Aussage des Fabrikanten A. Simpson.
Q. 5673). Frage: Bemerken Sie eine Veränderung im System der Verteilung der Waren?
Antwort: Ja, wir bemerken eine gewisse Veränderung. In früherer Zeit war unsere Firma
der Kanal, durch den Alle die Waren, die sie brauchten, erhielten. Aber jetzt verstärkt
sich zu unserem Unglück die Tendenz zum unmittelbaren Verkehr der Produzenten mit den
Konsumenten ; viele Detailhändler, die sich immer um Waren, welche sie brauchten, an uns
gewandt hatten, stehen jetzt in unmittelbarem Verkehr mit dem Produzenten." (Aussage des
Vertreters einer grossen Firma, die einen Engroshandel mit Bekleidungsgegenständen führt,
G. Gribble. Q. 4070.) „Vor 25 Jahren hatte der Handel mit New- York folgenden Cha-
rakter: der (amerikanische) Importeur kaufte Waren (leinene Gewebe) beim Fabrikanten und
manchmal sogar nicht bei diesem, sondern bei irgend einer Kommissionsfirma in Man-
chester oder in einem anderen grossen Centrum . . . Dann folgte der Engroshändler, der
die Ware beim Importeur kaufte und sie in einzelnen Portionen den Detailhändlern ver-
kaufte . . . Jetzt ist der Importeur schon längst verschwunden, der Engroshändler verschwindet
auch rasch, und die Detailhändler in New-York erhalten die Ware, die sie brauchen, un-
mittelbar vom Fabrikanten". (Aussage des Leinenlabrikanten R. Reade. Q. 7038.)
- бз -
im Handel Europas mit dem Orient und anderen aussereuropä-
ischen Ländern, die die europäischen Fabrikate gegen ihre eige-
nen Rohprodukte austauschten. Baumwolle aus Amerika , Indien
und Egypten, KaiFee aus Westindien, Brasilien und Arabien, Thee
und Seide aus China und mannigfache Produkte der Tropen-
länder gelangten gewöhnlich nur durch englische Hände nach
Europa.
London und Liverpool waren die Lagerstätten für enorme
Warenmassen, die den Transitweg durch England machten. Das
Streben nach Einschränkung des Zwischenhandels musste in erster
Linie auf den englischen Handel zurückwirken. Und in der That
hat der Zwischenhandel Englands eine bedeutende Einschränkung
erfahren '). Die statistischen Daten bestätigen das vollkommen: in
den Jahren 1870 — 79 wurden jährlich durch das Vereinigte König-
reich transitweise Waren für 11,9 Millionen Pfund Sterling durch-
geführt; in den Jahren 1870 — 89 aber für 11,4 Millionen und in den
Jahren 1890 — 98 nur für 10,3 Millionen.
1) Frage: „War in der letzten Zeit eine Tendenz zu direkterem Handelsverkehr
zu bemerken und hat dadurch nicht unser Zwischenhandel gelitten? Antwort: Allerdings.
Die natürliche Tendenz der letzten 20 Jahre bestand in einer Ausschaltung unserer Handels-
vermittelung und in der Bildung eines direkten Verkehrs der Produktionsorte mit dem Kon-
tinent. Der Suezkanal hat ausserordentlich viel zur Entwickelung des direkten Handels
beigetragen, so dass England schon nicht mehr wie früher die Lagerstätte der Waren ist,"
(Third Report on T. D. M. of E., Aussage des Schiffseigentümers Williamson. Q. 11 191).
„Frage: Hat unser Zwischenhandel gelitten? Antwort: Zweifellos, für viele Waren.
Nehmen wir z. B. den Thee. Früher haben wir viele Versicherungspolicen für Thee
gesehen, der per Dampfschiff aus London nach Petersburg geht und direkt aus China nach
London eingeführt wird. Jetzt habe ich schon lange Zeit keine einzige derartige Police mehr
für Thee gesehen, der direkt aus China nach Odessa geht. Weiter, nehmen wir die Seide.
Früher wurde dieselbe (vom Orient) ausnahmslos nach London geleitet, auf dem Londoner
Markte verkauft und erst von hier aus ein Teil derselben nach dem Kontinent, nach Lyon
und anderen Gegenden geschickt; aber in den letzten 3 — 4 Jahren ging die Seide direkt
nach Marseille und Venedig und zerstreute sich von dort aus über den Kontinent, ohne zu
uns zu gelangen. Oder nehmen wir die Baumwolle. Ich bin in der vergangenen ЛУосЬе
in Liverpool gewesen und habe in Gesprächen Klagen über die Geschäftsstockung gehört;
man hat mir gesagt, dass ein Handelszweig ganz verschwunden sei, nämlich der, dass man
Baumwolle auf dem Liveфooler Markte ankaufte, um sie nach Russland und nach verschie-
denen kontinentalen Häfen zu schicken; jetzt wird die Baumwolle aus den Produktions-
orten direkt auf den Kontinent gebracht." (Aussage des Schiffseigentümers W. Price.
Q. 10072.) Von dem Rückgang des Zwischenhandels Englands sprechen auch die anderen
Schiffseigentümer, die von der Kommission befragt worden sind. (Devitt Q. 10283 — 89.
Cattarns 11334. Scholefield Q, 10848 und andere.)
- б4 -
Also wird die neueste Phase der Ent Wickelung der englischen
Industrie durch einen relativen Stillstand charakterisiert. Die Aus-
breitung der kapitalistischen Produktionsweise in der ganzen Welt
hat zu einer ausserordentlichen Verstärkung der Konkurrenz auf dem
Weltmärkte geführt, und England ist es nicht gelungen, seine frühere
industrielle und kommerzielle Hegemonie aufrecht zu erhalten. Es
hat, und zwar auf immer, seine frühere Monopolstellung auf dem
Weltmarkte verloren.
KAPITEL III.
Die Krisen des zweiten Viertels des Jahrhunderts.
Die allgemeine Charakteristik der Schwankungen der englischen Industrie. — Die
Krisis von 1825. — Die Eröffnung neuer Märkte in Südamerika. — Spekulationen mit
den südamerikanischen Werten. — Der Gründungsschwindel. — Der Bau neuer Baumwoll-
fabriken. — Der Abfluss englischen Kapitals nach Südamerika. — Die Ursachen der Kri-
sis. — Die Krisis von 1836. — Gute Ernten. — Der Abfluss des englischen Kapitals
nach den Vereinigten Staaten. — Spekulationen mit Staatsländereien. — Die Börsenkrisis
von 1835. — Der Charakter des Spekulationsfiebers von 1836. — Das Cirkular des Präsi-
denten Jackson. — Der Unterschied zwischen dem Goldabflusse nach dem Auslande und
dem nach dem Inneren des Landes. — Vergleichung der Krisen von 1836 und von 1825.
— Die Geld krisis von 1839. — Der Einfluss der amerikanischen Spekulationen. —
Das Fehlen eines Goldabflusses nach dem Inneren des Landes. — Die Geschäftsstockung
zu Anfang der 40er Jahre. — Die Krisis von 1847. — Gute Ernten, — Der Bau von
Eisenbahnen. — Die Börsenkrisis von 1845. — Die Missernten von 1846 und 1847. — Die
Abnahme der Ausfuhr. — Warum floss das englische Kapital nicht nach dem Auslande
ab? — Die Veränderung der Diskontpolitik der Bank von England. — Die Schwankungen
der Getreidepreise. — Die Suspendierung der Bankakte von 1844. — Der Unterschied
zwischen der Krisis von 1847 und den vorangegangenen Krisen.
Die periodische Wiederkehr von Zeiten der Prosperität und
Krisis ist ein charakteristischer Zug der kapitahstischen Produktions-
\ weise. Diese Schwankungen darf man aber nicht mit den nicht
( periodischen, auf längere Zeiträume sich erstreckenden Aenderungen
i in Zuständen der Industrie verwechseln. So entwickelte sich z. B.
t die englische Industrie bis zur Hälfte der 70er Jahre rasch; in der
neuesten Zeit hat sich diese Vorwärtsbewegung bedeutend verlang-
samt. Aber wie früher, so unterliegt die englische Industrie auch
jetzt periodischen Schwankungen. In den ersten Jahrzehnten nach
dem Triumph des Freihandels konnte England schweren industriellen
I Krisen, die von einer vollständigen Geschäftsstockung begleitet
worden waren, nicht entgehen; die neueste ungünstige Epoche der
industriellen Entwicklung Englands wird durch Perioden des Auf-
schwunges unterbrochen. Die Zeitgenossen sind gewöhnlich nicht
imstande, periodische Schwankungen von den tieferliegenden Aende-
Tugan-BaiaiKj wsky , Die Handelskrisen. U
— 66 —
rungen im Entwickelungsgange der Industrie zu unterscheiden.
Während der industriellen Krisis ertönen erschreckte Klagerufe
über den Untergang des Landes; wenn die Krisis sich in die Länge
zieht, erhalten die pessimistischen Prophezeiungen ein noch grösseres
Gewicht und die hoffnungslose ^Stimmung wird eine allgemeine. Um-
gekehrt löscht der industrielle Aufschwung bald jegliche Erinnerung
an die früheren schweren Tage aus dem Gedächtnis der Menschen
aus; eine rosige Stimmung herrscht auf der Börse und teilt sich der
ganzen wirtschaftlichen Welt mit. Es ist, als ob es überhaupt keine
Krisen gegeben habe, als ob eine industrielle Aera, die eine allge-
meine und durch nichts gestörte Prosperität verspricht, eingetreten
sei. Aber wie eine auf das Ufer anlaufende Welle noch nicht von
einer allgemeinen Flut zeugt , so lässt auch der industrielle Auf-
schwung einiger Jahre nicht auf einen Umschwung in der industriellen
Entwickelung des Landes schliessen.
Inmitten des immer wechselnden Stromes der Weltgeschichte
ist die regelmässige Aufeinanderfolge von Perioden des industriellen
Aufschwunges und Niederganges etwas ganz Eigentümliches. Die
vergangenen Zeiten haben nichts Aehnliches gekannt. Industrielle
Krisen haben zwar auch früher stattgefunden. So kann man im
i8. Jahrhundert auf eine ganze Reihe von Krisen hinweisen, die
manches Gemeinsame mit denen der Gegenwart hatten. In einer
Beziehung sind jedoch die neuesten Krisen von allen anderen ganz
verschieden: ältere Krisen wurden durch irgendwelche exceptionelle,
meist politische Umstände hervorgerufen und zeigten in ihrer Wieder-
kehr keine Periodicität an. Diese Periodicität aber bildet das Cha-
rakteristikum der modernen Krisen , Krisen der entwickelten kapi-
talistischen Produktionsweise. Diese Krisen sind wohl das einzige
soziale Gebiet, auf welchem eine genaue Vorhersagung mehrmals
gelungen ist.
Die periodische Wiederkehr der Krisen beginnt in England erst mit
den 2oer Jahren unseres Jahrhunderts. Die Krisen von i8ii,von 1815
und von 1818 gehören, ihrem Typus nach, zu den Krisen des vorigen
Jahrhunderts — sie waren nicht periodisch und standen in einem un-
mittelbaren Zusammenhang mit dem grossen Krieg, den England mit
Napoleon geführt hatte.
Einen ganz anderen Charakter haben die nachfolgenden eng-
lischen Krisen gehabt: ihre Periodicität beweist, dass sie nicht aus
den äusseren Umständen, sondern aus dem inneren Wesen der
modernen Wirtschaftsordnung selbst herstammen. Zur Zeit einer all-
gemeinen Prosperität, während des grössten Aufschwungs des Handels
67
und der Industrie, brach wie ein Gewitter eine Handelskrisis mit
allen ihren Folgen aus: Bankerotten, Arbeitslosigkeit, Notlage der
Bevölkerung u. s. w. Besonders typisch sind die Krisen des zweiten
Viertels dieses Jahrhunderts gewesen, zu deren Behandlung wir nun
auch übergehen. Die nachfolgende Tabelle und das auf Grund derselben
konstruierte Diagramm No. i soll zur Orientierung im allgemeinen
Charakter der periodischen Schwankungen der englischen Industrie
während dieser Zeit dienen.
Wert der Aus-
Barvorrat der Bank
Zahl der Banke-
Relative Ver-
Jahre
fuhr der Pro-
dukte des Ver-
einigten König-
reichs (in Milli-
onen Pfd. ')
rotte i. England
und Wales (auf
volle 10 abge-
rundet ^)
änderungen der
Preise des
britischen
Eisens ^)
von England bis
1831 Ende August,
nach 1 831 Ende Ok-
tober jeden Jahres
(in Mill. Pfd.)^')
1S23
35.5
1240
78
^2,7
1824
38,4
1230
94
11,8
1825
38,9
1470
114
3,6
1826
31,5
3300
100
6,8
1827
37,2
1680
86
10,5
1828
36,8
1510
80
10,5
1829
35,8
2160
72
6,8
1830
38,3
1720
66
1 1,2
1831
37,2
1820
63
6,4
1832
36,5
1730
61
8,3
1833
40,0
1290
65
9,5
1834
41,6
1370
65
6,4
1835
47,4
1310
64
6,1
1836
53,4
II 90
86
4,7
1837
42,1
1950
74
7,9
1838
50,1
1090
n
9,1
1839
53,2
1470
71
2,6
1840
51,4
1890
63
3,0
1841
51,6
1840
6i
4,0
1842
47,4
1660
51
9,8
1843
52,3
1260
43
11,9
1844
58,6
1 100
43
14,1
1845
60,1
1 160
59
14,0
1846
57,8
1530
60
14,8
1847
58,8
1910
60
8,4
1848
52,9
—
47
13,3
1849
63,6
—
40
15,3
1850
71,4
—
37
16,0
Durchschnitt
47,1
160
67
9,3
Die dicken vertikalen Linien des Diagramms bezeichnen die
Jahre in denen in England Handelskrisen stattgefunden haben.
i) Nach den Tables of the Revenue etc. . . . of the United Kingdopi.
2) Nach Jevons Tabellen (Investigations in Currency and Finance. London 1884.
Artikel The Variation of Prices, S. '145 — 147.)
3) Nach den Repoit on the Bank of England Charter, 1833, Appendix N0. 5 ;
Reports on Banks of Issue, 1840, Appendix N0. 12, 6; Reports on Commercial Distress,
1848, Appendix N0. 8; Reports on Bank Acts, 1857, Appendix.
— 68 —
Solcher Krisen haben wir während der Periode, die wir jetzt be-
trachten, drei — in den Jahren 1825, 1836 und 1847; '^^ Jahre 1839
hat eine Geldkrisis stattgefunden, die im Diagramm durch eine ver-
tikale punktierte Linie bezeichnet ist.
Es ist leicht zu bemerken, dass zwischen den Schwankungen
aller Kurven ein gewisser Zusammenhang besteht. Und zwar sind
die Schwankungen der Ausfuhrkurve ganz analog denen der Kurve
der Eisenpreise, mit dem Unterschied, dass die erste Kurve im all-
gemeinen steigt, die zweite fällt; dagegen schwanken die beiden
anderen Kurven — die der Bankerotte und die der Barvorräte der
Bank von England — in entgegengesetztem Sinne. Die stärksten
Schwankungen entfallen auf die Krisenjahre.
Gehen wir jetzt zu einer näheren Betrachtung dieser Schwan-
kungen über. Die ersten drei Jahre 1823 bis 1825 bilden eine
Epoche des Aufschwunges von Handel und Industrie; die Ausfuhr ist
gewachsen , die Preise des Eisens sind sehr hoch gestiegen, der Bar-
vorrat der Bank von England dagegen ist stark gesunken, und zwar
ist sein Sinken im Jahre 1824 ein langsames gewesen, nachher aber
ist es ein sehr rasches geworden. Offenbar hat Ende 1825 auf
dem englischen Geldmarkte eine Katastrophe stattgefunden, die fast
alles Geld aus der Kasse der Bank von England fortgeleitet hat
Diese Katastrophe hatte im folgenden Jahre eine enorme Erhöhung
der Zahl der Bankerotte, eine Abnahme der Ausfuhr und ein Sinken
der Eisenpreise zur Folge. Dagegen hat sich der Metallvorrat der
Bank von England im Jahre 1826 von neuem vermehrt. Die folgen-
den sechs Jahre von 1827 bis 1832 bieten in der industriellen Ge-
schichte Englands nichts Bemerkenswertes dar. In den Jahren 1829
und 1831 findet eine Erhöhung der Zahl der Bankerotte und eine
Verminderung des Metallvorrats der Bank von England statt, aber
beides minder schroff als in den Jahren 1825 — 26. Der Wert der
Ausfuhr verändert sich wenig; die Preise des Eisens fallen allmählich.
Seit dem Jahre 1833 beginnt eine neue Epoche des Aufschwunges.
Die Ausfuhr wie die Eisenpreise erhöhen sich rasch; die Kasse
der Bank von England leert sich von neuem und sinkt gegen
Ende 1836 wieder auf das Minimum, wie im Jahre 1825; die indu-
strielle Prosperität endigt mit einer schweren Erschütterung des Kre-
dits. Im Jahre 1837 ist die allgemeine Lage der Industrie sehr ähn-
lich derselben im Jahre 1825. Die Kurve der Ausfuhr macht einen
plötzlichen Sprung nach unten, der Preis des Eisens sinkt gleichfalls;
die Bankerotte vermehren sich, die edlen Metalle fliessen zurück in
die Kasse der Bank. Im Jahre 1839 fallen die Metallvorräte der
Tugan-Baranowsky, Die Handelskrisen.
Diagramm No. 1
Jahre
Zur S. 68.
rO ГД Kl Kfl КП КП K»^ Гх-\ .-!•» (•.•\ л,'% •,-, с.ч iTi; /TZ Sri iTl ?ТГ7
+ 96
4- 92
V
Jahre
Ü< 05 -5 00 «O ©
- б9 -
Bank von England auf den niedrigsten Punkt der ganzen Periode,
die wir betrachten; in diesem Jahre hat England eine schwere Geld-
krisis erlebt, die auf die Preise des Eisens und in geringerem Masse
auf die Ausfuhr zurückwirkte. Das Ende der 30er und der
Anfang der 40 er Jahre sind durch niedrige Preise, Sinken der
Ausfuhr und hohe Zahl von Bankerotten gekennzeichnet. Im
Jahre 1843 beginnt die dritte Epoche des Aufschwunges, die mit der
Handelskrisis von 1847 abschliesst. Das Jahr 1848 entspricht in wirt-
schaftlicher Beziehung vollkommen den Jahren 1826 und 1837.
In der Zeit, welche wir betrachten, haben also in England drei
Handelskrisen stattgefunden — in den Jahren 1825, 1836 und 1847;
die Krisen haben keinen zufälligen Charakter gehabt, vielmehr waren
sie mit der Entwicklung der englischen Industrie und des Handels
organisch auf engste verknüpft. Das ist daraus zu ersehen , dass
einer jeden Handelskrisis der nämliche Zustand des Geld- und Waren-
marktes vorangegangen war. Jede Epoche des Aufschwungs schloss
mit einer industriellen Krisis, auf die eine mehr oder minder dauernde
Epoche der Geschäftsstockung folgte: nach der Krisis von 1825 er-
höhte sich die Ausfuhr lange Zeit nicht, nach der Doppelkrisis von
1836 — 39 sank die Ausfuhr sogar einige Jahre hintereinander. Die
Wirkung der Krisis von 1847 war eine weniger dauernde, sie hat
nur auf den Zustand des Handels des folgenden Jahres zurückgewirkt.
Also führte während der Periode, die wir betrachten, jeder bedeutende
Handelsauf Schwung England zu einer industriellen Krisis.
Worin haben nun die unmittelbaren Ursachen dieser Krisen
bestanden? Das kann nur die Geschichte einer jeden von ihnen
zeigen.
Die Krisis von 1825.
Durch die beiden schweren Krisen von 1815 und von 18 18, die
auf den Abschluss des Friedens gefolgt waren, wurde der englische
Handel in eine andauernde Stockung gebracht. Der Zinsfuss war
gesunken, was zur Erhöhung der Kurse der englischen dreiprozentigen
Konsols führte, welche von 73Y2 0^ April 1823) auf 96^4 (im No-
vember 1824) gestiegen waren. Der Geldmarkt war von Kapitalien
überfüllt, die eine Anlage suchten, ohne sie aber zu finden.
Das Fallen des Zinsfusses hat der Regierung die Möglichkeit
gegeben, eine ganze Reihe von Konvertierungen vorzunehmen: 1824
sind die s^/o'ige und 4^/oige Anleihe (auf die Gesamtsumme von
215 Millionen Pfund) in eine ^^/^Ige und eine зУг^о^^^ verwandelt
- 70 —
worden. Die Kasse der Bank von England war in solchem Masse
von Gold überfüllt, dass die Bank schon im Jahre 182 1 die Bar-
zahlungen wieder aufnehmen konnte, obwohl das Parlament dasselbe
erst auf 1823 bestimmt hatte.
Eine solche Sachlage, dass die Kapitalien den Geldmarkt über-
füllen und die gesellschaftlichen Produktivkräfte sich nur aus dem
Grunde nicht entfalten können, weil die Warencirkulation durch die
vorangegangene Krisis gestört ist, kann nicht lange anhalten. Nach
und nach erholt sich die Industrie von der Stockung. Die Unter-
nehmer suchen neue Märkte, verfolgen sorgfältig die Nachfrage, und
jede Vermehrung der Nachfrage ruft sofort eine Erweiterung der
Produktion hervor. Es ist nur ein geringer Stoss notwendig, damit
die ganze Maschinerie, die vollständig aktionsbereit ist, in vollen
Gang kommt. Die Summe der potentiellen Energie, die sich während
einer Geschäftsstockung im sozialen Organismus sammelt, ist so gross,
dass die Wirkung eines jeden günstigen ökonomischen Ereignisses
manchmal in gar keinem Verhältnis zum Anlass steht.
Zu dem betreffenden Zeitpunkt gab einen solchen Stoss die Ent-
deckung neuer Märkte in Amerika. Im Jahre 1823 ist die Unab-
hängigkeit der Staaten von Süd- und Centralamerika, die früher
spanische und portugiesische Kolonien waren, anerkannt worden. In
England war die Ansicht verbreitet, dass diese Länder im Besitze
von unerschöpflichen natürlichen Reichtümern seien, welche die Ein-
wohner unter dem Drucke einer despotischen und unwissenden fremden
Regierung nicht hätten ausbeuten können, und dass die Erlangung
der Unabhängigkeit durch die südamerikanischen Staaten ein neues
höchst bedeutsames Gebiet für die englische Unternehmungslust und
das englische Kapital eröffnet. Die Gold- und Silberwerke in Mexiko
und Peru, über deren Reichtümer die übertriebensten Gerüchte in
Umlauf gesetzt waren, wurden während der ganzen Zeit des Krieges
um die Unabhängigkeit fast gar nicht ausgebeutet, nach Wiederher-
stellung des Friedens konnten jedoch die Arbeiten aus Mangel an
Kapitalien nicht aufgenommen werden. Gleichzeitig wusste aber
England nicht, wo es seine Kapitalien, die im Ueberfluss den Banken
zuflössen und den Geldmarkt überfüllten, anlegen könnte. Kein
Wunder, dass die englischen Kapitalien sich auf die neu eröffneten
Märkte ebenso stürmisch stürzten, wie das Wasser, das durch eine
Oeffnung im Damme herausströmt.
Seit 1824 wird die Londoner Börse von südamerikanischen
Papieren überschwemmt. In den zwei Jahren 1824 — 25 haben
die Staaten von Süd- und Centralamerika für mehr als 20 Millionen
i
4
— 71 —
Pfund Staatsanleihen in London aufgenommen i). Ausserdem wurde
auf der Londoner Börse eine ungeheure grosse Menge von Aktien
und anderen AVertpapieren von Kompagnien zur Ausbeutung der
natürlichen Reichtümer der neuen Welt — hauptsächlich der Berg-
werke, welche freilich oft genug nur in der Phantasie der Gründer
existierten — verkauft. Alle möglichen Aktien fanden auf der
Börse eine günstige Aufnahme, ihre Kurse gingen rapide in die
Höhe, und das Spekulationsfieber bemächtigte sich des Publikums.
Man darf nicht vergessen, dass diejenigen, die auf Börsenwerte
zeichneten, die ganze Summe durchaus nicht sofort voll bezahlen
niüssten. Es genügte, dass man den ersten Beitrag von 5 bis 10%
der gezeichneten Summe bezahlte, um die betreffenden Börsenwerte
zu bekommen. Daher waren auch die Leute mit den geringsten Geld-
mitteln imstande, am Börsenspiel teilzunehmen. Von der Stärke der
Spekulation auf der Londoner Effektenbörse im Jahre 1824 und 1825
kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man vernimmt, dass
z. B. die Aktien der Englisch-mexikanischen Kompagnie am 11. Ja-
nuar 1825 mit einer Prämie von 128 Pfund (bei 10 Pfund einge-
zahlten Kapitals) notiert wurden, die Aktien der Kompagnie des
Real-del-Monte mit einer Prämie von 1350 Pfund (eingezahltes Kapital
70 Pfund), die der Vereinigten Mexikanischen mit einer Prämie von
155 Pfund (eingezahltes Kapital 10 Pfund), die der Kolumbischen mit
einer Prämie von 82 Pfund (eingezahltes Kapital 10 Pfund) u. s. w.'-^).
Während eines Monats — vom 10. Dezember 1824 bis 11. Ja-
nuar 1825 ^- ist der Kurs der Englisch-Mexikanischen Aktien um
125 Pfund, der des Real-del-Monte um 800 Pfund, der der Ver-
einigten Mexikanischen Kompagnie um 120 Pfund u. s. w. gestiegen.
Kolossale Vermögen sind in kurzer Zeit durch Börsen spiel gewonnen
worden. Unter solchen Umständen wurde eine Ausartung der Spe-
kulation in eine wahre Manie unausbleiblich; und zwar hatte diese
Manie sich weit über die Kreise des gewöhnlichen Börsenpublikums
ausgebreitet. Alle vermögenden Klassen der Bevölkerung warfen
sich auf die Effektenbörse, um а la hausse zu spekulieren. „Prinzen,
Aristokraten, Politiker, Beamte, Advokaten, Aerzte, Geistliche, Philo-
sophen, Poeten, Mädchen, Frauen und Witwen" — so lesen лvir im
Annual Register von 1825 — ,,haben sich auf die Börse geworfen,
um einen Teil ihres Vermögens in Unternehmungen anzulegen, von
denen ihnen nichts ausser dem Namen bekannt war".
i) Report from the Select Committee on the Bank of England Charter, 1833, Appen-
dix N0. 95.
2) John Francis, History of the Bank of England, London, Vol. II, S. 4.
Ein derartig plötzlicher Taumel gleicht einer Epidemie: je mehr
Leute von ihm befallen sind, desto särker ist seine Wirkung auf die
übrige Bevölkerung. Aber man darf nicht vergessen, dass diese
Spekulationsepidemie sich nur aus dem Grunde entwickeln konnte,
weil in England viele freie Kapitalien angehäuft waren, die keine
vorteilhafte Anlage auf dem inneren Markte finden könnten. Nach
den Worten von Palmer, des Direktors der Bank von England, ist
der erste Anstoss zur Spekulation mit ausländischen Papieren durch
die von der Regierung Anfang der 20er Jahre vorgenommenen
Konvertierungen gegeben worden i). Der englische Kapitalist konnte
eine niedrige Verzinsung seines Kapitals nur durch Anlegung des-
selben im Auslande vermeiden, zudem boten die südamerikanischen
Staaten die verlockendsten Bedingungen — die Anleihen wurden zu
7, 8 oder mehr Prozent aufgenommen, während der Preis der 3^/0 igen
englischen Konsols fast auf 100 gestiegen war. Allerdings haben
die amerikanischen Staaten diese Bedingungen geboten ohne die Ab-
sicht sie einzuhalten, aber die englischen Kapitalisten waren geneigt,
an die Solidität der ausländischen Anleihen zu glauben, da die An-
leihen der europäischen Staaten, die auf der Londoner Börse 1818
und 18 19 aufgenommen waren, sich als eine vollkommen sichere und
vorteilhafte Geldanlage erwiesen.
Nicht lange, und das Spekulationsfieber, das mit den ausländi-
schen Börsenwerten angefangen hatte, verpflanzte sich auch auf den
inneren Markt: es sind unzählige Projekte erschienen des Baues von
Eisenbahnen, von Kanälen, der Einrichtung von Dampfschifflinien,
der Gründung von Gas- und Versicherungsgesellschaften, Banken,
Fabriken u. s. w.
Viele Kompagnien wurden zu dem ausschliesslichen Zwecke des
Börsenspieles gegründet, und daher tauchten unter ihnen so phan-
tastische Unternehmungen auf, wie die Kompagnie für Durchstechung
der Panama-Landenge, deren Umrisse zu jener Zeit noch fast unbe-
kannt waren, wie die Kompagnie für Perlenfang an den Ufern Ko-
lumbiens u. s. w. Das nominelle Kapital der Kompagnien, die in
den Jahren 1824 — 25 projektiert oder gegründet worden sind, hat
nach einigen Berechnungen 372 Millionen Pfund erreicht. Von ihnen
haben sich in den folgenden Jahren nur Kompagnien mit einem
nominellen Kapital von 102 Millionen erhalten. Die übrigen aber
hatten liquidiert oder waren gar nicht begründet worden 2).
i) Report on the Bank of England Charter. Minutes of Evidence. Aussage von
H. Palmer. Q. 606.
2) P'rancis, History of the Bank of England. Vol. II, S. 30.
— 73 —
Dies war die Lage der Londoner Effektenbörse gegen Ende
des Jahres 1824 und zu Beginn des Jahres 1825. Was die industrielle
Welt betrifft, so fand in ihr auch eine grosse Belebung statt, obwohl
diese den wahnsinnigen Spekulationen der Börsenspieler nicht im
geringsten ähnlich war. In der That ist der Fabrikant nicht im-
stande, den Preis seiner Produkte aus Spekulationsgründen bedeutend
zu erhöhen, da der Preis der Waren in einem grösseren oder ge-
ringeren Zusammenhange mit den realen Bedingungen des An-
gebots und der Nachfrage sich befindet. Trotzdem waren 1825
die Preise der Fabrikate ziemlich bedeutend gestiegen — so sind
z. B. die Preise der baumwollenen Gewebe 1825 um 23% in die
Höhe gegangen 1). Diese Erhöhung erscheint geringfügig im Ver-
gleich zu dem Steigen der Börsenwerte, dafür sind aber diese letzteren
oft ganz fiktive, während ein Penny oder Schilling mehr im Preise
der Fabrikate die Einkommen ganzer Gesellschaftsklassen erhöht. Und
in der That hat das Steigen der Preise der baumwollenen Fabrikate
zu einem raschen Bau neuer Fabriken in Lancashire geführt. Der
Bau selbst wurde nicht selten ohne jegliches bares Kapital nur mit
den Mitteln der Banken ausgeführt, die gern gegen eine Hypothek
Geld vorstrecken. „Viele Banken von Lancashire haben, — nach
der Aussage eines der Direktoren der Manchesterbank John Dwyer
— die grössten Anstrengungen gemacht, um den Umfang ihrer Dar-
lehen zu erweitern, was hat seinerseits zum Bau neuer Fabriken in
ungeheurem Umfang geführt" 2).
Die Eröffnung der südamerikanischen Märkte hat in England
nicht bloss Börsenspekulationen, sondern auch eine Erhöhung der
Ausfuhr der englischen Waren nach dem Auslande hervorgerufen.
Man darf nicht glauben, dass aus England ganze Haufen Gold nach
Südamerika flössen, um die Bezahlung aller Anleihen, die in London
aufgenommen worden sind, zu realisieren. Thatsächlich geschah die
Bezahlung nicht mit edlem Metall, wenigstens nicht mit ihm allein,
sondern in bedeutendem Masse auch mit Waren. Die Ausfuhr der
britischen Waren nach Central- und Südamerika ist von 2942 Tausend
Pfund Sterling (1821) auf 6426 Tausend Pfund Sterling (1825) — in
vier Jahren um mehr als das Doppelte — gestiegen. Den Haupt-
gegenstand der Ausfuhr bildeten baumwollene Gewebe. Die erhöhte
Nachfrage hat ein Steigen der Preise und eine Vermehrung der
i) Nach der Tabelle von Neild im Journal of the Stat. Society of London, i86i,
December. An Account of the Prices of Printing Cloth.
2) Report on the Bank of England Charter. Minutes of Evidence. Aussagen von
J. Dwyer. Q. 4368—4394.
— 74 —
Produktion der baumwollenen Gewebe in England hervorgerufen —
die Menge der in Grossbritannien verarbeiteten Baumwolle ist von
129 Millionen Pfund (182 1) auf 167 Millionen Pfund (1825) gestiegen.
Woher haben aber die südamerikanischen Länder die Mittel ge-
nommen, um im Jahre 1825 zweimal so viel Waren zu kaufen als
im Jahre 1821? Diese Mittel sind von den Engländern selbst ge-
liefert worden. Die Anleihen, die auf der Londoner Börse auf-
genommen worden sind, dienten zur Bezahlung für die eingeführten
Waren. Die englischen Fabrikanten wurden durch die von ihnen
selbst geschaffene Nachfrage getäuscht und mussten sich bald durch
eigene Erfahrung überzeugen lassen, wie unbegründet ihre über-
mässigen Hoffnungen gewesen waren.
Es ist bemerkenswert, dass, trotz des allgemeinen Aufschwungs
des Handels, die Ausfuhr englischer Waren nach vielen Ländern sich
nicht ausgedehnt hat. So ist z. B. die Ausfuhr nach den nord euro-
päischen Staaten von 9 Millionen Pfund vSterling (1821) auf 8,5 Mil-
lionen (1825), nach den südeuropäischen Staaten in derselben Zeit
von 6,9 Millionen auf 6,1 Millionen gesunken. Fast die ganze Er-
höhung der britischen Ausfuhr entfällt auf Süd- und Centralamerika
und, in geringerem Masse, auf die Vereinigten Staaten.
Im Jahre 1824 ist die Lage der englischen Industrie eine in
jeder Hinsicht sehr gute gewesen, jedoch sind die Warenpreise im
allgemeinen sehr wenig gestiegen. Das Spekulationsfieber, das die
vermögenden Klassen der englischen Gesellschaft erfasst hatte, er-
streckte sich nicht auf den Warenmarkt, weil im Verhältnisse der
Nachfrage zum Angebot der Waren keine bedeutende Veränderung
vor sich gegangen war. Ende 1824 hat sich die Lage des Waren-
marktes verändert. Die Vorräte von Rohstoffen aller Art haben
sich infolge ihres intensiven Verbrauchs während des abgelaufenen
Jahres stark verringert. Zugleich wurden Befürchtungen laut, dass
die Ernten vieler wichtiger vegetabilischer Produkte (und vor allem
der Baumwolle) für die gew^achsenen Bedürfnisse der Bevölkerung
und der Industrie ungenügend sein würde. Das bewirkte die Aus-
breitung der Spekulation auch auf den Warenmarkt. Mit Beginn
des Jahres 1825 fingen die Warenpreise an, schnell zu steigen; sie
erreichten ihren Höhepunkt im Juli dieses Jahres. Am meisten sind
die Preise der Rohbaumwolle gestiegen, die den Gegenstand wildester
Spekulationen bildete. Nicht nur Baumwollhändler, sondern auch
Fabrikanten kauften enorme Vorräte von Rohbaumwolle auf, welche
bei weitem ihre gewöhnliche Nachfrage übertrafen, in der Absicht,
die Preise der Baumwolle noch mehr in die Höhe zu treiben. Und
4
i
— 75 —
das gelang während einer gewissen Zeit vollkommen. Die Preise
der Baumwolle in Liverpool erhöhten sich viel schneller als auf dem
wichtigsten amerikanischen Baumwollmarkte — in New Orleans.
Baumwolle (Georgia)
Indigo (Ostindische, höhere Qualität)
Seide (China)
Tabak (Virginischer)
Zucker (Havanna)
Kaffee (San Domingo)
Roheisen (britisches)
Blei
Bauholz (Memel)
Salpeter .
Steigen d. "Warenpreise
auf d. Londoner Markte
von Dezember 1824 bis
Juni 1825 im Vergleich
zu Juli bis Nov. 1824 ^)
+ 100 "/0
+ 21
-|- 20
+ 33
+ 39
+ 30
+ n
+ 30
-j- 20
4- 82
Das Durchschnittsniveau der Warenpreise hat sich 1825 nach
dem Jevonsschen index number im Vergleich zu dem voran-
gegangenen Jahr um 17^0 erhöht^). Das Steigen der Warenpreise hat
eine Erhöhung der Einfuhr der Waren hervorgerufen, deren Preise
auf dem Londoner Markte anormal hochstanden. So ist im Jahre
1825 die Einfuhr der Baumwolle um 53V0. des Tabaks um 81%,
des Holzes um 2 1 ^q u. s. w. gestiegen.
Im Jahre 1824 waren die Warenpreise auf dem Londoner Markte
nicht hoch, und infolgedessen hatte sich die Wareneinfuhr nach England
ihrer Masse nach im Vergleich zu dem vorangegangenen Jahre nur
I um 5^/q erhöht (der offizielle Wert der Einfuhr des Vereinigten
Königreichs war von 35,8 Millionen Pfund im Jahre 1823 auf
1 37,6 Millionen Pfund im Jahre 1824 gestiegen), die Ausfuhr aber war
' um 12^/0 gestiegen. Im Jahre 1825 sind die Warenpreise in England
I sehr in die Höhe gegangen. Infolgedessen hat sich die Wareneinfuhr
\ 1825 ihrer Masse nach um 17% vermehrt und die Ausfuhr (der Masse
nach) um 3^^ verringert (der offizielle Wert der Ausfuhr der
britischen Produkte betrug im Jahre 1824 48,8 Millionen Pfund und
im Jahre 1825 47,2 Millionen; der offizielle Wert der Einfuhr im
Jahre 1825 betrug 44,1 Millionen).
Im Jahre 1825 ist also im auswärtigen Handel Englands folgende
Veränderung vor sich gegangen — die Einfuhr hat sich stark ver-
mehrt, die Ausfuhr hat sich vermindert. Das war der Ausgangs-
i) Berechnet nach Tooke, History of Prices, II, S. 157.
2) Jcvons, Investigations in Currency and Finances. The Variation of Prices.
- 76 — '
punkt für alle nachfolgenden Ereignisse, die mit Notwendigkeit auf-
einander folgten und die englische Industrie und den Handel in eine
vollständige Stockung brachten.
Der allgemeine Gang dieser Ereignisse war in kurzen Worten
der folgende. Die Vermehrung der Einfuhr machte die Zahlungs-
bilanz für England ungünstig. Das Gold begann aus England nach
dem Auslande abzufliessen, der Barvorrat der Bank von England
nahm rasch ab und die Bank war der Gefahr nahe, die Einlösung
ihrer Noten einstellen zu müssen. In der nachfolgenden Tabelle ist
die Bewegung des Barvorrats der Bank von England mit der Ver-
änderung des Wechselkurses auf Paris zusammengestellt i).
Wechselkurs
auf Paris nach
Barvorrat der
Sicht (dj
IS Gold-
Bank von Eng-
land (in Milli-
agio
zug
ist m Ab-
gebracht)
onen Pfd. St.)
1824,
31-
Januar .
25
Fr.
34
С
13,5
27.
März . .
25
37
13,9
26.
Juni . .
25
25
12,8
28.
August
25
8
11,8
24.
Dezember .
25
2
10,7
1825,
26.
Februar .
25
0
8,9
28.
Mai . .
25
0
6,1
25-
Juni . .
24
96
5'5
30.
Juli . . .
25
I
4,2
27.
August
25
I
3,6
24.
September
25
12
3,5
29.
Oktober .
25
9
3,2
25-
November
25
2
3,0
31-
Dezember .
25
10
^3
1826,
28.
Februar
25
41
2,5
31.
August
25
42
6,8
Wie bekannt, kann die internationale Bewegung der Edelmetalle
an Wechselkursen am sichersten erkannt werden. Wenn der Lon-
doner Kurs auf Paris unter 25 Francs 10 Centimes (nach Sicht) stand,
dann wurde es vorteilhaft, Gold aus London nach Paris zu schicken,
stand aber der Kurs über 25 Francs 35 Centimes, so wurde es vor-
teilhaft, Gold aus Paris nach London zu schicken. Daher rief das
Fallen des Kurses auf Paris unter 25 Francs 10 Centimes den Abfluss
der Edelmetalle aus England nach dem Auslande hervor und, um-
gekehrt, das Steigen des Kurses über 15 Francs 35 Centimes hatte
einen Goldzufluss aus dem Auslande nach England zur Folge.
l) Report on the Bank of England Charter. Apendix No. 6, 5, 97.
— 77 —
Der Stand des Londoner Kurses zu Anfang 1824 zeigt, dass in
dieser Zeit ausländisches Gold nach England floss. Seit Juni hat der
Goldzufluss aus dem Auslande aufgehört und Ende des Jahres be-
ginnt Gold aus England abzufliessen. Dieser Abfluss dauert mit zu-
nehmender Intensität bis September 1825 fort, wo wieder eine Ver-
änderung stattfindet: der Wechselkurs steigt, aber der Metallvorrat
der Bank fährt fort zu sinken. Seit Anfang 1826 erneuert sich der
Zufluss des Metalles nach England. Alle diese Schwankungen im
Zu- und Abfluss der Edelmetalle sind ganz begreiflich und stehen im
Zusammenhang mit dem Zustand des englischen auswärtigen Handels.
Zu Beginn des Jahres 1824 hat sich die englische Warenausfuhr stark
vermehrt, und das hat natürlich einen Goldzufluss nach England her-
vorgerufen; im Jahre 1825 ist die Einfuhr der ausländischen Produkte
nach England stärker gestiegen, und das Gold fing an, sich aus dem
Lande zu entfernen.
Die Bank von England bildet ein Reservoir, wo die Metall-
vorräte von ganz England gesammelt sind; diese Vorräte sind das
b\mdament für den ganzen Ueberbau des englischen Kredites, denn
wie ausgebreitet die Kreditwirtschaft auch sein mag, sie bedarf immer
eines gewissen Vorrates an Metallgeld. Wenn man die Schwan-
kungen der Wechselkurse mit der Höhe der Metallvorräte der Bank
von England vergleicht, so ist es leicht zu bemerken, dass zwischen
beiden ein gewisser Zusammenhang besteht. Wenn die Wechselkurse
für England günstig sind, erhöht sich der Metallvorrat der Bank und,
wenn die Kurse ungünstig sind, vermindert sich dieser. Die Ver-
mehrung der Vorräte an Gold und Silber in den Kassen der Bank
in den ersten drei Monaten des Jahres 18^4 findet ihre Erklärung in
der Höhe der Wechselkurse. Die starke Verminderung dieser Vor-
räte in der zweiten Hälfte des Jahres 1824 und der ersten Hälfte
des Jahres 1825 kann gleichfalls durch den niedrigen Stand der
Wechselkurse und den Goldabfluss nach dem Auslande erklärt
werden. Aber in den letzten Monaten des Jahres 1825 hört die Ab-
hängigkeit des Barvorrats der Bank von England von Wechselkursen
auf Im September sind die Wechselkurse so gestiegen, dass der
Goldabfluss nach dem Auslande aufhören müsste; trotzdem fuhr das
Gold fort, aus der Kasse der Bank abzutliessen. Auch im Oktober
und Dezember sind die Wechselkurse nicht allzu niedrig, und doch
sehen wir eine starke Abaahme des Goldes in der Kasse der Bank.
Es wurde folglich das Sinken des Barvorrats der Bank von England
im Jahre 1825 durch zwei verschiedene Ursachen hervorgerufen: die
eine Ursache (die ungünstige Handels- und Zahlungsbilanz und der
Goldabfluss nach dem Auslande) hatte im Laufe der ersten 8 Monate
des Jahres 1825 gewirkt, die andere Ursache, die wir noch feststellen
müssen, hat im September 1825 zu wirken begonnen und in 4 Monaten
die Kasse der Bank beinahe in den Zustand einer vollständigen Er-
schöpfung gebracht.
Wie oben gesagt, hat das Steigen der Warenpreise auf dem
Londoner Markte in der ersten Hälfte des Jahres 1825 eine Er-
höhung der Einfuhr ausländischer Waren nach England her-
vorgerufen. Obwohl die Warenpreise auch unter dem Einfluss der
Spekulation steigen können, werden sie im letzten Grunde doch durch
die realen Bedingungen von Nachfrage und Angebot bestimmt. Das An-
gebot aller ausländischen Waren auf dem Londoner Markt hat sich 1825
stark vermehrt, und das hat zuerst ein Anhalten der steigenden Bewegung
der Preise und darauf einen raschen Fall derselben hervorgerufen.
Und dieser Fall war durchaus unvermeidlich, da die Nachfrage
nach den Waren in England nicht im Verhältnis zu deren erhöhtem
Angebot steigen konnte: die englischen Fabriken konnten die Pro-
duktion nicht ausdehnen, weil die auswärtigen Märkte mit englischen
Waren ohnedies überfüllt waren, der Konsum der Kolonialwaren
konnte aber aus demselben Grunde nicht wachsen, da der Reichtum
des Landes und das Einkommen aller Gesellschafsklassen wird ja
gerade durch die Stufenleiter der Produktion bestimmt. Daher
mussten die übermässig gestiegenen Warenpreise früher oder später
sinken, und das geschah in der zweiten Hälfte des Jahres 1825 und
in noch höherem Masse in der zweiten Hälfte des darauffolgenden
Jahres.
Sinken d. Warenpreise
in London von Januar
bis Juni 1826 im Ver-
gleich zu Dezember
1824 bis Juni 1825 *)
Baumwolle (Georgia)
Indigo (Ostindische höhere Qualität) .
Seide (China)
Zucker (Havanna)
Kafee (St. Domingo)
Roheisen (britisches)
Blei
-36
— 39
— 23
-38
— 27
— 27
Bauholz (Memel)
Saloeter
— 24
— 34
^
Das Sinken der Preise hat alle die Spekulanten ruiniert, die
Waren gekauft hatten in der Hoffnung, sie mit Vorteil wieder-
i) Berechnet nach То оке, History of Prices, Vol. II, S, 157.
— 79 —
zuverkaufen. Die Stimmung' des Warenmarktes und der industriellen
Welt hat sich schroff verändert; wie früher ein grenzenloses Ver-
trauen und eine Erwartung der besten Zukunft geherrscht hatte, so
hat sich jetzt eine Niedergeschlagenheit und eine Furcht vor weiterem
Sinken der Preise verbreitet. Zugleich erwiesen sich die Spekulationen
mit südamerikanischen Werten als jedweder soliden Grundlage bar.
Die amerikanischen Staaten dachten in den meisten Fällen nicht
daran , den von ihnen übernommenen Verpflichtungen nachzu-
kommen, die Zinsen wurden nicht gezahlt, und viele Kreditoren ver-
loren die volle Summe ihres Beitrages. Die Aktiengesellschaften für
Ausbeutung der Bergwerke und der anderen natürlichen Reichtümer
der neuen Welt hatten bloss zu einer unproduktiven Verwendung
des Kapitals geführt und keine Einnahmen ergeben. Das Steigen
der Kurse der Börsenwerte musste schon aus dem Grunde aufhören,
weil der Erfolg der einen Spekulanten die anderen bewog, immer
neue und neue Unternehmungen zu erfinden. Die Nachfrage nach
Kapital vermehrte sich immerfort, und wie enorm die englischen
Kapitalien auch sein mochten, sie mussten sich schliesslich doch er-
schöpfen. Nach und nach hat sich die Menge der freien Kapitalien
auf dem Geldmarkte stark vermindert. Es trat ein Moment des Still-
standes ein, ein Moment des Kampfes zwischen den Parteien der
Hausse und der Baisse, und darauf ein rascher Zusammenbruch des
Kartenhäuschens der ephemeren Unternehmungen, die die Londoner
Börse überschwemmt hatten.
Das war die Sachlage in der zweiten Hälfte des Jahres 1825.
Die Kasse der Bank von England hat sich infolge des Goldabflusses
nach dem Auslande stark geleert, viele Börsenspekulanten sind durch
das Sinken der Preise der Börsenwerte ruiniert. Die industriellen
Firmen aber waren noch nicht bankerott, denn bis zu dem Zeitpunkt,
wo der Bankerott einer industriellen Firma zu Tage tritt, muss eine
bestimmte Zeit von 3 — 4 oder mehr Monaten verf Hessen, eben bis
der Moment eintritt, wo sie ihren Schuldverpflichtungen nachkommen
muss. Die Bankerotte begannen zuerst bei den Banken. Die eng-
lischen Banken hatten sich an den Spekulationen jener Zeit stark
beteiligt. Der gewöhnliche Fehler, der damals mehr als eine solide
Bank zugrunde gerichtet hat, bestand in folgendem. Die Bank legte
gewöhnlich ihre Kapitalien so an, dass sie in einem Notfalle solche
nicht sofort zu realisieren ^ vermochte. In der Zeit einer Panik auf
dem Geldmarkte genügt jedoch ein ganz nichtiges und unbegrün-
detes Gerücht, damit die Kreditoren von der Bank sofort die Rück-
gabe ihrer Einlagen verlangen. Durch die Parlamentsakte von 1822
— 8o —
wurde es den privaten Banken die Emission von Einpfundbank-
noten gestattet; das hat ihre Lage noch gefährlicher gemacht, da
die Besitzer der Einpfundbanknoten grösstenteils keine reichen Leute
v^raren — kleine Gewerbetreibende, Kaufleute, Farmer u. s. w. —
Leute, die leicht von einer Panik erfasst werden, die zu einem über-
triebenen Vertrauen in einer günstigen Zeit wie zu einem über-
triebenen Misstrauen in einer kritischen neigen i). Viele Zeugen, die
von der Parlamentskommission von 1833 verhört worden sind, haben
sogar die Entstehung der Krisis von 1825 auf die übermässige Emission
von Einpfundbanknoten zurückgeführt. Dass grosse Missbräuche
seitens der Provinzialbanken in der Banknotenausgabe ausgeübt
wurden, das steht zwar ausser Zweifel. Nach einer Schätzung von Lord
Liverpool ist der Wert der von den Provinzialbanken im Anfange
des Jahres 1825 ausgegebenen Banknoten im Vergleich zum Ende des
Jahres 1823 beinahe verdoppelt worden. Doch ist es gewiss eine
sehr grosse Uebertreibung, als eine wichtigste Ursache der Krisis die
übertriebene Ausgabe der Banknoten überhaupt oder zwar bloss die
der Einpfundbanknoten zu betrachten. Die Einpfundbanknoten
konnten wohl die Lage der Privatbanken während der Krisis viel
gefährlicher machen; auch hatte zu starke Banknotenausgabe zu
Krediterleichterungen während des Aufschwungs geführt und dadurch
die darauffolgende Krisis verschärft. Jedenfalls wurde aber diese un-
vermeidlich.
Im Oktober 1825 sind 5 Provinzialbanken bankerott gegangen.
Die solidesten Banken mussten einen schweren Ansturm seitens des
Publikums erleiden und liefen Gefahr, die Zahlungen einzustellen.
Obwohl die Banknoten der Bank von England das unbeschränkte
Vertrauen des Publikums genossen, entstand im Lande eine starke
Nachfrage nach Metall. An Stelle des Goldabflusses nach dem Aus-
lande trat der Goldabfluss aus London nach der Provinz. Nach den
Worten sachkundiger Zeugen, die von der Parlamentskommission von
1833 verhört wurden, wurde die Abnahme des Barvorrats der Bank
von England Ende 1825 ausschliesslich durch diesen letzteren Um-
stand hervorgerufen 2). Der Münzhof prägte einige Monate hindurch
ununterbrochen Goldmünzen, die sich sofort im Innern des Landes
verbreiteten.
i) Vergl. darüber Report on the Bank of England Charter. Minutes of Evidence,
Aussage von Horsley Palmer, Q. 271 — 279.
2) Report on the B. of E. Charter. Minutes of Evidence, Aussagen von Horsley
Palmer. Q. 272, von J. Harman, Q. 2226. j
4
— «I
Als Ursachen dieser Verstärkung der Nachfrage seitens des
engHschen Publikums nach Gold kann man folgendes betrachten:
I. Die Einpfundbanknoten der Provinzialbanken konnten nur in Metall
eingelöst werden, da die Bank von England nicht das Recht hatte,
neue Ausgaben von Banknoten in diesem Werte vorzunehmen; als
daher enorme Mengen von Einpfundbanknoten zur Einlösung vor-
gezeigt wurden, griffen die Provinzialbanken zu den äussersten Mitteln,
um ihre Vorräte an Metall zu vermehren i); 2. die lauf enden Wochen-
ausgaben der Privatpersonen, die Entlöhnung der Arbeiter, die kleinen
Einkäufe u. s. w. können nur in Metall gemacht werden, und daher
musste jedesmal, wenn ein Depositum aus der Bank zurückverlangt
wurde, ein Teil desselben in Gold zurückgegeben werden. Darüber
haben einige von der Kommission von i833 befragte Bankiers
interessante Angaben gemacht: so z. B. haben die Bankiers Beckett
und Smith ausgesagt, dass, wenn die Fabrikanten Geld für laufende
Ausgaben brauchen, nehmen sie ein Drittel des verlangten Goldes in
Banknoten und die anderen zwei Drittel in Gold 2); 3. zur Zeit einer
Krisis vermehren sich infolge der Einschränkung des Kredites die
Operationen mit barem Gelde und zugleich entsteht im Publikum das
Streben nach Vermehrung der Reserven; infolgedessen steigt die
Nachfrage nach barem Gelde beider Art — nach Metallgeld und
nach Banknoten, soweit diese letzteren das volle Vertrauen des Publi-
kums geniessen.
Als Cirkulationsmittel erscheinen in normaler Zeit das bare
Geld wie der Kredit. Die Einschränkung des Kredites ist daher
gleichbedeutend mit einer Verminderung von Cirkulationsmittel und
wird infolgedessen von einer Vermehrung der Nachfrage nach barem
Gelde begleitet. Das Geld wird teuer — nicht aus dem Grunde,
weil es in geringerer Menge vorhanden wäre, sondern darum, weil
die Nachfrage nach ihm grösser geworden ist.
Aus der oben angeführten Tabelle ist einzusehen, dass der
Metallvorrat der Bank von England in den ersten 9 Monaten des
Jahres 1825 infolge des Goldabflusses nach dem Auslande um 6 Mil-
lionen Pfund abgenommen hat. Im September waren in der Kasse
der Bank weniger als 4 Millionen Pfund geblieben. Bei einer so
schwachen Kasse musste die Bank für Selbsterhaltung sorgen und
daher fing sie an die Darlehen einzuschränken. Im Oktober hatte
i) Report on the B. of E. Charter. Minutes of Evidence. Aussage von H. Palm er,
Q. 274.
2) A. a. O., Aussage von W. Beckett, Q. 1300 — 1302; Aussage von J. Smith,
Q- 474-
Tiigan-Baiaiuj wsky , Die Handelskrisen. (J
— 82 —
die Bank Wechsel für 6,2 Millionen Pfund, im November aber nur
für 5,2 Millionen Pfund diskontiert. Die Direktion der Bank weigerte
sich den Provinzialbanken, die am meisten einer Unterstützung be-
durften, zu Hülfe zu kommen. Auf solche Weise hoffte die Direktion
das Gold in der Bankkasse zurückzuhalten, erreichte aber damit das
gerade Gegenteil. Die Weigerung der Bank von England, Darlehen
zu geben, verstärkte nur die Panik auf dem Geld- und Warenmarkte,
das Gold wurde in noch grösserem Umfang durch fortgesetzte Rück-
forderung der Depositen aus der Bank herausgezogen, und die
Provinzialbanken begannen eine nach der anderen zusammenzu-
brechen.
Um die Bedeutung des Fallissements einer grossen Bank oder
eines anderen grossen industriellen Unternehmens für die gesamte
Volkswirtschaft vollständig zu bemessen, muss man in Betracht ziehen,
dass in der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung eine jede einzelne
Wirtschaft mit tausend unsichtbaren Fäden mit den anderen Wirt-
schaften verknüpft ist. Alle Wirtschaften zusammen bilden ein Riesen-
netz, in dem sich die Krisis lawinenartig verbreitet — daher ist ihre
Wirkung auch eine so zerstörende. Der Zusammenbruch von 5 Banken
im Oktober hat zur Folge gehabt, dass im Dezember 1825 und
Januar 1826 bereits 70 Banken die Zahlungen eingestellt haben. Der
Barvorrat der Bank von England verringerte sich immer mehr und
sank endlich am 24. Dezember auf 1027 Tausend Pfund. Im Jahre
1797 hatte die Bank von England in ihren Gewölben einen grösseren
Goldvorrat besessen und doch wurde sie gezwungen, die Einlösung
ihrer Banknoten aufzugeben.
Auch diesmal war die Bankdirektion bereits auf dem Punkte,
diese letztere Massregel zu ergreifen , aber die Regierung wider-
setzte sich ihr entschieden. Darauf versuchte es die Bank mit einer
entgegengesetzten Politik, — statt ihre Kasse durch Verweigerung
des Kredites zu schützen, beschloss sie, den Kredit zu erweitern. Das
war für die Bank um so leichter, da sie von Rothschild eine be-
deutende Summe Gold (300000 Sovereigns) zurückbekam. Die Bank
entschloss sich dem erschütterten Handel und der Industrie zu
Hülfe zu kommen, alle soliden kommerziellen Wechsel, die die
Privatbanken aus Furcht, ihren Kassenbestand zu verringern, zurück-
wiesen, zu diskontieren, den Kredit in weitestem Umfang allen
Londoner und provinziellen Banken, die bloss durch rechtzeitige Unter-
stützung gerettet werden konnten, zu eröffnen ^). Ein Mittel dazu hat
i) Report cn the B. of E. Charter. Minutes of Evidence. Aussage von J. Har-
mann. Q, 2217.
- 8з -
die Bank in der verstärkten Notenausgabe gefunden, deren Wert
von 17 Millionen Pfund (am 3. Dezember 1825) auf 26,1 Millionen
Pfund im Januar 1826 gestiegen ist. Zugleich ist der Wert der
von der Bank diskontierten Wechsel von 7 Millionen Pfund (Dezember
1825) auf 13,7 Millionen Pfund (Januar 1826) gestiegen i).
Diese kühne Handlungsweise hat sich als durchaus erfolgreich
er\viesen. Trotz der Vermehrung der Darlehen fand nicht nur kein
Goldabfluss aus der Kasse der Bank statt, sondern es floss ihr sogar
noch Gold zu, und im Februar 1826 ist der Metall vorrat der Bank
bereits auf 2,5 Millionen Pfund gestiegen. Da das Gold nicht im Aus-
lande, sondern im Innern des Landes zur Aufrechterhaltung des er-
schütterten Kredites verlangt wurde, so konnten die Banknoten bis
zu einem gewissen Grade das Metall ersetzen. Aber noch wichtiger
war die moralische Wirkung, die durch das Eingreifen der Bank zu
einer Zeit ausgeübt wurde, wo die gesamte Handels- und Geldwelt
von einer Panik erfasst war. Hätte die Bank ein halbes Jahr früher,
als Gold verlangt wurde, um ausländische Wechsel zu bezahlen, zu
dieser Massnahme gegriffen, so wären alle neu ausgegebenen Bank-
noten sofort zur Einlösung vorgewiesen worden, da auf dem inter-
nationalen Markte Metall das einzige Zahlungsmittel bildet; die Kasse
der Bank hätte sich also noch mehr geleert. Aber Ende 1825 war
die Lage des Geldmarktes eine ganz andere: der Goldabfluss nach
dem Auslande hatte aufgehört und die Bank hat aus Holland und
anderen Ländern bedeutende Goldsummen erhalten — so gewährte
die Bank von Frankreich der Bank von England eine Anleihe von
2 Millionen Pfund. Die einzige Ursache des Goldabflusses aus der
Bank bestand in der Störung des Kredites im Innern des Landes.
Die Noten der Bank von England genossen dasselbe Vertrauen
wie Metall; daher kam die verstärkte Ausgabe derselben gerade zur
richtigen Zeit und trug zur Wiederherstellung des Vertrauens auf
dem Geldmarkte ausserordentlich bei.
Da in der modernen Wirtschaftsordnung zwischen den einzelnen
Elementen derselben der engste Zusammenhang besteht, so haben die
Bankerotte der Banken, die die ganze erste Hälfte des Jahres 1826
i) Man erzählt, dass die Direktion der Bank durch einen Zufall einen Koffer mit
alten Einpfundnoten (die neue Ausgabe solcher wurde der Bank nicht gestattet) gefunden
hatte und dass diese Einpfundnoten, лvelche die Bank mit der Erlaubnis der Regierung in
die Cirkulation brachte, eine rasche beruhigende Wirkung wie durch einen Zauber auf den
Geldmarkt ausgeübt hatten. Dennoch gehört eine solche Wirkimg mehr dem Gebiete des
Aberglaubens an, der in Bezug auf die Rolle des Geldes im Verkehr noch bis heute in
weiten Kreisen des Publikums herrscht.
- 84 -
fortdauerten, Bankerotte ihrer Kunden, der Kaufleute und der Fabri-
kanten, zur F'olge gehabt; umgekehrt waren die Bankerotte dieser
letzteren ihrerseits sehr oft Ursache, dass die Banken ihre Zahlungen
einstellten. Das ganze Jahr 1826 ging auf die Liquidation der Unter-
nehmungen des vorhergegangenen Jahres auf. Der englische Handel
und die Industrie haben durch die Krisis stark gelitten, am meisten
grosse exportierende Handelsfirmen, welche massenhaft Bankerott
machten 1). Da die heftigsten Spekulationen im Gebiete der Baum-
wollindustrie stattgefunden haben , so hatte auch diese die grössten
Verluste von der Krisis aufzuweisen. In Liverpool und Manchester
wurden die Bankerotte besonders zahlreich.
Aber man darf nicht glauben, dass das Uebel der Krisis haupt-
sächlich in einer direkten Vernichtung von Kapitalien bestanden hat.
Eine solche hat allerdings auch stattgefunden: enorme Kapitalien,
welche in ausländischen Anleihen und anderen missglückten Unter-
nehmungen angelegt waren, sind verloren gegangen. So hatte z. B.
die Kompagnie Real del Monte mehr als i Million Pfund Sterling
für die Ausbeutung der Silberbergwerke in Mexiko ausgegeben, und
schliesslich musste sie ihr gesamtes Vermögen für 27 Tausend Pfund
verkaufen 2). In den 9 ausländischen Anleihen, die in England in
den Jahren 1824 — 25 aufgenommen worden waren, haben die englischen
Kapitalisten mehr als 10 Millionen Pfund verloren (das eingezahlte
Kapital hatte 13,5 Millionen Pfund Sterling betragen, sein Marktwert
ist aber nach der Krisis auf 3 Millionen Pfund Sterling gesunken ^).
Trotzdem kann über den Mangel an Kapital in England nach der
Krisis keine Rede sein: bereits im Februar 1827 war der Bar-
vorrat der Bank von England wieder auf 10,2 Millionen Pfund ge-
stiegen, und die privaten Depositen erreichten die Summe von 8,8 Mil-
lionen Pfund. Die englische Industrie hat während der 3 — 4 Jahre,
die unmittelbar auf die Krisis folgten, nicht am Mangel an Kapital,
sondern an der Schwierigkeit, für dasselbe eine lohnende Anlage zu
finden, gelitten. Die Krisis hat die nationalen Produktivkräfte nicht
verringert, sie hat aber den gesamten Mechanismus der Geld- und
Warencirkulation in Störung gebracht. Die Produzenten mussten
die Produktion einschränken, die Arbeiter wurden aufs Pflaster gesetzt,
die Fabrikgebäude, Maschinen u. s. w. mussten müssig dastehen, weil der
Absatz aller Waren gestört wurde. Die regelmässige Warencirkulation
i) Vergl. Th. Tooke, Considerations of the State of Currency, London, 1826, S. 159.
2) Leone Levi, History of British Commerce, London 1872, S. 179.
3) James Wilson, Fluctuations of Currency, Commerce and Manufactures referable
to Corn Laws, London, 1840, S. 46.
- 85 -
wurde unterbrochen und konnte eine Zeit lang nicht wiederhergestellt
werden. Die Resultate waren dieselben, als ob das Land in der That
einen bedeutenden Teil seiner Kapitalien verloren hätte.
Eine solche Sachlage kann jedoch nicht lange anhalten. Jede
Krisis trägt in sich selbst die Bedingungen ihrer Heilung. Wie in
den unmittelbar der Krisis vorangehenden Jahren alles zu einer über-
mässigen Erweiterung der Produktion und zur Erhöhung der Preise
beiträgt, so trägt in den auf die Krisis folgenden Jahren alles zur
Reinigung der ökonomischen Atmosphäre und zur Wiederherstellung
des Vertrauens bei. Die kleineren Kapitalisten wie minder vermögende
Spekulanten sind darniedergefallen; die Produktion ist eingeschränkt
worden und somit hat die Hauptursache, die die Krisis und das
Sinken der Warenpreise hervorgerufen hatte, aufgehört zu wirken.
Der von einer Uebermasse der Waren befreite Markt fängt wieder
an, eine verstärkte Nachfrage nach Waren zu erheben, und die In-
dustrie nimmt einen neuen Aufschwung.
In gewisser Beziehung hat die Krisis von 1825 sogar eine
wohlthätige Wirkung auf die englische Industrie ausgeübt. Nach
den Aussagen des Fabrikanten Smith vor einer Parlamentskommission
von 1833 hat der Dampfwebestuhl in den englischen Fabriken erst
nach dieser Krisis allgemeine Anwendung gefunden i). In der Eisen-
giesserei sind auch seit 1825 wichtige Verbesserungen vorgenommen
worden, durch die, nach der Ansicht des Fabrikanten Hill, die Pro-
duktionskosten des Eisens sehr bedeutend herabgesetzt worden sind 2).
Das durch das Fallen der Warenpreise hervorgerufene Sinken der
Profitrate bewog die Fabrikanten, nach Mitteln zu suchen, um die
Produktion zu verbilligen. Daher sind die Jahre, die auf die Krisis
von 1825 folgten, durch einen raschen Fortschritt der Technik ge-
kennzeichnet.
Die Krisis von 1836.
Die vier Jahre von 1833 — 36 sind in der englischen Wirtschafts-
geschichte durch überaus gute Ernten gekennzeichnet. Diese Ernten
waren so reichlich, dass während einiger Jahre England fast gar keines
importierten Getreides bedurfte und die Preise des englischen Weizens
auf den niedrigsten Punkt im Vergleich mit den allen vorangegangenen
60 Jahren heruntergesunken sind. Die durchschnittliche Jahreseinfuhr
i) Report on Maniifactures, Commerce & Shipping 1833. Minutes of Evidence, Aus-
sage von Smith, S. 565.
2) A. a. O., Aussage von Hill, S. 620.
- 86 —
des Getreides nach England betrug in den Jahren 1833 — 36 nur gegen
4% der durchschnittlichen Einfuhr in den vorangegangenen 4 Jahren.
Diese Ernten haben den Anstoss zu einem neuen Aufschwung
der englischen Industrie gegeben. Die Spuren der Geschäftsstockung,
die auf die Krisis von 1825 folgte, waren schon ganz verwischt, was
unter anderem aus den Aussagen der Zeugen zu ersehen war, die von
der Parlaments-Kommission von 1833, veranstaltet zur Untersuchung
des Zustandes des Handels und der Industrie, befragt worden sind^).
Ein neuer Aufschwung der englischen Industrie musste nach der an-
dauernden Depression Ende der 20er Jahre allerdings eintreten; vier
reichliche Ernten Anfang der 30er Jahre haben diesem Umschwünge
natürlich stark beigetragen.
Gleichzeitig damit -hat sich auch die Lage des auswärtigen
Marktes gebessert. Wie in den zwanziger Jahren neue Märkte in
Central- und Südamerika sich für England eröffnet hatten, so war in
den dreissiger Jahren die englische Ausfuhr nach den Vereinigten
Staaten ausserordentlich gewachsen. Die Vermehrung der britischen
Ausfuhr in den Jahren 1833 — 36 entfällt hauptsächlich auf die Ver-
einigten Staaten, wie das aus den nachfolgenden Daten zu ersehen ist^).
Wert der Ausfuhr der Produkte des Vereinigten König-
reiches (in Tausend Pfund Sterling).
Jahre
Nach den
Vereinigten
Staaten
Nach
Nord-
europa
Nach
Südeuropa
Nach
Asien
Nach Cen-
tral- u. Süd-
amerika
1832
1836
5468
12 426
9897
10 000
5867
9 001
4235
6751
4 272
5 955
Diese rasche Ausdehnung des englischen Exportes nach den
Vereinigten Staaten führte zur Ueberfüllung des amerikanischen
Marktes mit englischen Waren, was man als eine unmittelbare Ur-
sache der Handelskrisis von 1836 betrachten darf.
Wir haben oben gesehen, dass die gewaltige Zunahme in den
2 о er Jahren der britischen Ausfuhr nach Central- und Südamerika
durch den Zufluss englischen Kapitals nach diesen Ländern verursacht
wurde. Die Engländer hatten ihre Ausfuhr selbst bezahlt. Etwas
Aehnliches wiederholte sich auch jetzt.
i) Vergl. Report on Manufactures, Commerce and Shipping. Minutes of Evidence,
Aussagen von S. Gurney, Josua Bates, Thompson, Larpent u. a.
2) Nach den Accounts relating to Trade & Navigation of the United Kingdom, 1842.
- 87 -
Im Jcihre 1834 übertraf die Wareneinfuhr der Vereinigten Staaten
deren Ausfuhr um 6 Millionen Dollar; zugleich aber übertraf die
Einfuhr der Edelmetalle nach den Vereinigten Staaten die Ausfuhr
derselben Metalle fast um 16 Millionen Dollar. Im Jahre 1836 er-
reichte schon der Ueberschuss der Wareneinfuhr 52 Millionen Dollar,
trotzdem wurde doch an Edelmetallen um g Millionen mehr einge-
führt als ausgeführt 1).
Hieraus geht hervor, dass die Bezahlung für die nach den Ver-
einigten Staaten eingeführten Waren nicht mit Gold, sondern mit
irgend welchen anderen Werten geschah. Was waren das für Werte
und woher stammten sie? Die Vereinigten Staaten waren nicht reich
an Kapital — der Ueberschuss der Wareneinfuhr konnte keines-
falls Zinsen für das den anderen Ländern geliehene amerikanische
Kapital darstellen. Also bildete dieser Warenüberschuss das von den
Vereinigten Staaten selbst geborgte Kapital. Und in der That strömte
in den 30 er Jahren das europäische Kapital und insbesondere das
englische im Ueberfluss nach den Vereinigten Staaten. Ohne Hülfe
der europäischen Kapitalien hätten die Vereinigten Staaten den Bau
von einer ganzen Reihe von Eisenbahnen und Kanälen, der zu dieser
Zeit angefangen wurde, nicht zu unternehmen vermocht. Der grösste
Teil der Eisenbahnaktien sowie anderer Aktienunternehmungen Nord-
amerikas fand in England Absatz. Die in dieser Weise erhaltenen
Geldmittel wurden in Nordamerika teils zur Erweiterung des
Handels und der Industrie verwendet (der Kapitalienzufluss rief in
den Vereinigten Staaten die Bildung einer Menge von neuen indu-
striellen Unternehmungen hervor), teils aber sind die zugeflossenen
Kapitalien auf der Börse geblieben und beförderten allerhand Börsen-
spekulationen. Der Ueberfluss an freien KapitaHen hat die Gründung
einer ganzen Reihe neuer Banken hervorgerufen. In den zwei Jahren
1835 — 36 sind in den Vereinigten Staaten 61 solcher mit einem
Kapital von 52 Millionen Dollar gegründet worden 2).
Aus demselben Grunde war der Ankauf von Staatsländereien in
den westlichen Staaten sehr stark angewachsen und hatte bald einen
durchaus spekulativen Charakter angenommen: die Käufer hatten meis-
tens keine Absicht, Ackerbau zu treiben, und erлvarben das Land mit
dem ausschliesslichen Zwecke des Wiederverkaufes. Im Jahre 1833
sind noch nicht einmal für 4 Millionen Dollar Staatsländereien gekauft
worden, 1836 aber schon für 24,8 Millionen з).
i) William Sumner, А History of American Currency, New-York 1875, p. 134.
2) Verg]. W. Sumner, 123.
3) A. a. O., 119.
Die Landspekulationen sind in Nordamerika ein sehr gutes
Zeichen des Zustandes des Geldmarktes. Obwohl in den 30 er Jahren
Staatsländereien in Amerika nur für bares Geld (Metall oder Bank-
noten) verkauft wurden, konnten mit diesen Ländern Leute ohne jeg-
liche Geldmittel spekulieren. Die speziell zu diesem Zwecke gegrün-
deten Banken eröffneten den Landspekulanten leichten Kredit, und
dazu brauchten die Banken selbst keine grosse Kapitalien zu haben,
da die Staatskasse als Bezahlung für das Land die von diesen Ban-
ken ausgegebenen Noten annahm. Solange die Staatskasse nicht
Bezahlung in Gold verlangte, konnten die Banken unbeschränkt ihre
Operationen erweitern und die Ausgabe ihrer Noten vermehren. Der
Kauf von Staatsländereien war sehr bald in ein wahres Börsenhasard-
spiel ausgeartet.
Das alles zusammen — der Ueberfluss an Kapitalien, der Auf-
schwung von Handel und Industrie, das Steigen der Waren- und
Bodenpreise — hat in Amerika eine intensive Nachfrage nach euro-
päischen Waren hervorgerufen. Aber ausserdem förderten die eng-
lischen Kapitalisten die Einfuhr englischer Waren nach den Ver-
einigten Staaten durch Eröffnung des höchst liberalen Kredites an
amerikanische Importeure. Einige grosse Bankhäuser in England
befassten sich speziell mit diesem Geschäft. Sie eröffneten amerika-
nischen Kaufleuten Kredit, und wenn der Zahlungstermin eintrat,
tilgten diese letzteren nicht selten die Schuld an eine Bank mit Hülfe
des Kredites, der ihnen von den anderen Banken gewährt wurde.
So haben 7 Bankhäuser (6 in London und eines in Liverpool), die
insgesamt gegen 2 Millionen Pfund Kapital besassen , im Jahre
1836 amerikanische Wechsel im Werte von mehr als 15 Millionen
Pfund acceptiert 1). Es ist begreiflich, dass unter solchen Umständen
die Einfuhr der englischen Waren nach Amerika schnell über die
gewöhnlichen Grenzen des amerikanischen Konsums hinauswuchs
und einen Spekulationscharakter annahm. Wie in den 20er Jahren
Central- und Südamerika englische Waren für englisches Geld gekauft
hatte, so kauften in den 30er Jahren die Vereinigten Staaten eng-
lische Waren mit Hülfe englischer Kapitalien. Das Aufhören des
Zuflusses des englischen Kapitals nach den Vereinigten Staaten
musste sofort die Nachfrage nach englischen Fabrikaten aufhalten,
w^as auch bald erfolgte.
Gehen wir aber zu England zurück. Mitte der 30 er Jahre
war der englische Warenmarkt in einem sehr belebten Zustande,
i) Edinburgh Review, 1836, The Oisis in American Trade.
- 89 -
was übrigens nicht den Charakter eines Spekulationsfiebers , des
gewöhnlichen Vorboten einer nahenden Krisis, hatte. Die Waren-
preise waren etwas gestiegen, aber dieses Steigen fand seine Er-
klärung vollkommen in den normalen Bedingungen der Nachfrage:
es waren gestiegen die Preise der Baumwolle, der Seide, des Flachses,
des Eisens, des Kupfers, überhaupt die Preise von allerlei Rohstoffen,
\vas ganz natürlich war, da die Erweiterung der Produktion die Nach-
frage nach Rohstoffen vermehrt hatte. Doch ist dieses Steigen nicht
allzu gross gewesen. Aber auf der Effektenbörse war die Sachlage
eine .mdere. Vom Juli 1833 з,п bis zu Ende 1834 haben Spanien
und Portugal eine ganze Reihe Anleihen in England aufgenommen.
Die Realisierung dieser Anleihen hat den Bankiers, die die Unter-
bringung der Anleihen auf der Börse übernommen hatten, bedeutende
Gewinne eingebracht, und es dauerte nicht lange, bis die Spekula-
tion sich auch auf die anderen ausländischen Fonds erstreckte; ihre
Preise stiegen schnell, in einigen Fällen bis um 100%. Bald darauf
folgte ein Börsenkrach. „Bis zum Frühjahr 1835 — sagt der Direk-
tor der Bank von England Palmer — kam keine Post vom Konti-
nent, die nicht mit allerhand ausländischen für den Verkauf auf dem
hiesigen Markte bestimmten Fonds beladen gewesen wäre. Im Mai
1835 trat eine Reaktion ein: ein panischer Schrecken erfasste die
Spekulanten und die Preise der ausländischen Fonds fielen noch
schneller, als sie früher gestiegen waren i)".
So ist die Börsenkrisis in England bereits 1835 ausgebrochen;
aber es ist äusserst kennzeichnend, welche schwache Wirkung das
auf die Industrie ausgeübt hat. Die Panik auf der Londoner Effekten-
börse war auf einen engen Kreis von Börsenspekulanten beschränkt
und erstreckte sich nicht im geringsten auf die übrigen Bevölke-
rungsschichten ; darum konnte diese Panik nicht den industriellen
Aufschwung zum Stillstand bringen. Der Warenmarkt zeigte nach
Tooke bis zum Jahre 1836 keine Zeichen einer anormalen Aufregung.
Im Jahre 1836 verändert sich die Lage. Der Aufschwung des
Handels und der Industrie ist in eine Gründungsmanie ausgeartet.
Das Spekulationsfieber von 1836 unterscheidet sich in England da-
durch von demjenigen des Jahres 1825, dass die Spekulationen von
1825 hauptsächlich auf ausländische Unternehmungen, die von 1836
aber auf Unternehmungen in England selbst gerichtet waren. Es ist
das auch begreitlich. Anfang der 20 er Jahre ist der Anstoss zum
Aufschwung der englischen Industrie von aussen gegeben worden —
i) J. Horsley Palmer, Causes and Consequeuces of the Pressure on the Money
Market 1837, S. 28.
— 90 —
durch die Eröffnung des südamerikanischen Marktes. In den 30 er
Jahren gab den unmittelbaren Anlass zum Aufschwung eine Reihe
von ausgezeichneten Ernten in England selbst. Im Jahre 1825 bil-
deten den beliebstesten Gegenstand der Spekulationen auf der Lon-
doner Börse die Aktien der mexikanischen und südamerikanischen
Bergwerke, im Jahre 1836 aber — die Aktien der englischen Eisen-
bahnen und privaten Banken. Mit der Wiedererneuerung der
Charte der Bank von England im Jahre 1833 ist die Gründung
von Depositen-Aktienbanken überall gestattet worden, bis zum Jahre
1836 war aber die Zahl der neugegründeten Aktienbanken nicht
gross. Ihre Zahl vermehrte sich indessen im Jahre 1836 bedeutend
— in diesem Jahre allein sind 48 Banken gegründet worden i).
Ausserdem hat sich die Spekulation auf die Aktien von Eisen-
bahnen, Bergwerken, Kanälen und anderen industriellen Unterneh-
mungen geworfen. „Man kann sich keine Vorstellung davon machen —
erklärte im Mai 1836 im Parlament einer der Minister, Thompson —
Avelche Dimensionen die Spekulationsmanie in unserem Lande ange-
nommen hat. Man kann keine Zeitung, kein Börsenblatt, keinen
Preis-Courant und keine andere Handelspublikation lesen, ohne einer
Annonce zu begegnen, die die Gründung einer neuen Aktiengesell-
schaft anzeigt; von diesen Aktiengesellschaften sind viele derart, dass
ihre Zahlungsunfähigkeit auf den ersten Blick evident ist. Der grösste
Teil dieser Gesellschaften wird von vSpekulanten gegründet, die ihre
Aktien mit Vorteil wiederverkaufen wollen; sie sind bemüht, die
Kurse der Aktien künstlich in die Höhe zu treiben, und überlassen
die weitere Sorge für die von ihnen gegründeten Unternehmungen
den Käufern, die so thöricht gewesen sind, ihr Geld in dieser Weise
anzulegen . . . Die Vermehrung der Aktienbanken in vielen Teilen
des Landes erfüllt mich mit grosser Sorge, denn für viele von ihnen
trifft das Schlimmste zu, was man über Aktiengesellschaften über-
haupt sagen kann 2)". In der That sind viele Aktienbanken lediglich
in der Hoffnung auf die Leichtgläubigkeit der Aktionäre gegründet
worden. Um die notwendigen Kapitalien leichter zusammenzubringen,
verausgabten die Banken Aktien mit den geringfügigsten Coupuren:
so sind z. B. im Jahre 1836 Bankaktien im Werte von 10 und 5 Pfund
Sterling verausgabt worden з). Es ist begreiflich, dass ein so niedriger
Preis der Aktien die Spekulation befördern sollte.
i) Report from the Select Committee on Joint Stock Banks together with the Mi-
nutes of Evidence, Appendix and Index, 1837, App. II, N0. 1.
2) Citiert nach То оке (History of Prices, II, 276).
3) Report on Joint Stock Banks 1837. Minutes of Evidence, Aussagen von James '1
Marshall, Q. 4502.
— 91 —
Wie Leone Levi berichtet, betrug das nominelle Kapital der
Aktiengesellschaften, die in den Jahren 1834 — 36 im Vereinigten
Königreich gegründet worden waren, 105,2 Millionen Pfund Sterling,
von denen 69,6 Millionen Pfund SterHng auf Eisenbahnen, 23,8 MilH-
onen auf Bankinstitute, 7,6 auf Versicherungsgesellschaften, 7,0 auf
Bergwerksunternehmungen, 3,7 auf Kanäle u. s. w. entfielen i).
Die Rückwirkung aller dieser Vorgänge auf den Waarenmarkt
Hess nicht lange auf sich warten.
Steigen der Londoner Preise im Juli 1835 ^^^ 1836 im Ver-
gleich zum Juli 1833*^).
Preis der Baumwolle (Georgia)
,, „ (spanischen) Wolle
„ „ (italienischen) Seide
„ des (britischen) Roheisens
„ „ „ Bleies .
„ „ Zuckers (Havanna)
,, „ (ostindischen) Indigo
Quahtät) . . .
„ „ (virginischen) Tabaks
(mittlere
Juli 1835
+ 25
+ 33
+ 17
— 9
+ 32
+ 23
+ 31
-j- 22
7o
Juli 1836
+ 3i7o
-\- 22
-j-40
+ 60
+ 95
+ 80
+ 45
4-44
Das Steigen der Warenpreise hat sofort auf den auswärtigen
Handel Englands zurückgewirkt: im Jahre 1836 hat sich die Masse
der aus dem Vereinigten Königreich ausgeführten Waren nur um
7 Vo g'^g'^n die des vorangegangenen Jahres vermehrt, die Masse der
eingeführten Waren ist dagegen um 17 ^Д gestiegen (Im Jahre 1835
betrug der offizielle Wert der Ausfuhr 91,2 Millionen Pfund, der der
Einfuhr 48,9 Millionen Pfund; im Jahre 1836 der der Ausfuhr 97,6
Millionen Pfund, der der Einfuhr 57,0 Millionen Pfund).
Mittlerweile führten die Ereignisse in den Vereinigten Staaten
das Land unaufhaltsam zu einer Krisis. Um die Landspekulation
aufzuhalten, erliess der Präsident Jackson am 11. Juli 1836 das be-
rühmte Cirkular, welches die dem Präsidenten feindliche Partei für
alles kommende Unglück verantwortlich machte. Dieses Cirkular ver-
bot überhaupt den Verkauf der Staatsländereien anders als gegen
Metallgeld; in den Fällen aber, wo es der Staatskasse erlaubt war,
für die Staatsländereien Banknoten in Zahlung zu nehmen, musste
die Staatskasse diese letzteren sofort zur Einlösung vorzeigen.
i) Leone Levi, History of British Commerce, London 1872, p. 229.
2) Berechnet nach Tookes Tabellen, History of Prices, Vol. II.
— 92 —
Die Wirkung dieses Cirkulars wurde eine sehr rasche: die Land-
spekulation hörte sofort auf, da die Banken ihren Kunden keinen
Kredit mehr gewähren konnten und da sie aus Furcht, dass man von
ihnen Gold fordern würde, energische Massnahmen zur Vermehrung
ihrer Reserven trafen. Aber wMe immer in solchen Fällen, erreichten
solche Massnahmen, die zu spät getroffen waren, nicht ihr Ziel,
die Genesung des Marktes. Da die Kunden der Banken keine Unter-
stützung von diesen in Form eines Wechseldiskontes erhielten, be-
eilten sie sich, ihre Depositen zurückzuziehen und die Banknoten zur
Einlösung vorzuzeigen. Die Panik brach aus. In den westlichen
Staaten, die die Hauptarena der Landspekulationen gewesen sind, be-
gannen die Banken zu fallieren, es folgten Bankerotte der Kaufleute
und der Industriellen zuerst im Westen und dann auch in New-York.
Die Ereignisse in den Vereinigten Staaten fanden sofort einen
Wiederhall in England. Die Bank von England erhöhte den Diskont,
um den Goldabfluss aus ihrer Kasse (dieses Gold floss nach den Ver-
einigten Staaten ab) aufzuhalten, und gab dadurch das erste Signal
zu Befürchtungen. Um aber die nachfolgenden Ereignisse klar über-
sehen zu können, müssen wir uns zunächst bei dem Zustande des
Contos der Bank von England in den Jahren 1836 und 1837 ^^^~
halten.
Conto der Bank von England und Wechselkurs in London
auf Paris.
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1836 5. Januar . .
Ы
4
17,5
25 Fr. 31 Ct.
5. April . .
7,8
4
11,4
25 28
3. Mai . . .
7,5
4
10,4
25 H
7. Juni . .
7Л
4
12,4
25 8
5. Juli . . .
6,7
4
14,9
25 10
2. August ,
5,6
4V.
12,7
25 II
6. September .
5,2
5
13,4
25 14
4.* Oktober
5,0
5
14,2
25 15
I. November .
4,7
5
13,5
25 20
6. Dezember .
3,9
5
18,1
25 27
1837 3- Januar . .
4,2
5
20,0
25 29
4. April . .
4,4
5
15,2
25 30
2. Mai . , .
4,4
5
14,1
25 31
6. Juni . . .
5,1
5
13,0
25 30
I . August .
6,1
5
12,1
25 32
i) Report from the Select Committee on Banks of Issue, 1840, Appendix N0. 9. 12.
2) Report from the Select Commitee on Commercial Distress, 1847 — 1848, Appen-
dix N0. 13.
Il
— 93 —
Während der ersten vier Monate des Jahres 1836 waren die
Wechselkurse für England günstig, es floss infolge dessen Gold aus
dem Auslande nach England zu. Von Mai ab werden die Kurse un-
günstig und das Gold beginnt aus der Bank abzufliessen. Im August
erhöht die Bank den Diskont von 4 ^Д auf 4Y2 Vo ^^^ i^ September
noch weiter auf 5 %. Das hat aber nicht den Abfluss des Goldes
verhindert. Vom November ab werden die Kurse für England wieder
günstig — ein sicheres Zeichen, dass der Goldabfluss nach dem Aus-
lande aufgehört hat. Nichtsdestoweniger fährt das Gold fort aus
der Bank abzufliessen — offenbar ist an Stelle des external drain
(des Goldabflusses nach dem Auslande) ein noch gefährlicherer inter-
nal drain (Goldabfluss nach dem Inneren des Landes) getreten.
Die Verringerung des Barvorrats der Bank von England in der
Zeit von Mai bis September 1836 wurde durch die für England un-
günstige Handelsbilanz hervorgerufen, sowie durch die starke
Nachfrage nach Gold in den Vereinigten Staaten durch das Cirkular
des Präsidenten Jackson herbeigeführt. Jackson war ein energischer
Gegner der Zettelbanken und als daher 1836 die Frist des Privi-
legiums der Hauptzettelbank Amerikas, der „Bank von den Vereinigten
Staaten" abgelaufen war, wurde es nicht wieder erneuert. Die „Bank
von den Vereinigten Staaten", die am meisten an allen Spekulationen jener
Zeit beteiligt war, musste, um ihre Kasse sicher zu stellen, in London
eine Anleihe von i Million Dollar in Gold aufnehmen. Die anderen
Banken thaten auch ihr Möglichstes, um ihre Kasse zu verstärken ; daher
wurde im Sommer 1836 die Londoner Börse mit amerikanischen Papieren
überschwemmt, die von den amerikanischen Banken für bares Geld
verkauft wurden. Um ihre Kasse sicher zu stellen, erhöhte die Bank
von England im August ihren Diskont und beschloss, die Wechsel
einiger Firmen, die enge Beziehungen mit Amerika unterhielten, nicht
zu diskontieren. Die Darlehen an Privatpersonen verringerten sich
ein wenig, aber der Goldabfluss fuhr fort sich zu verstärken, so dass
die Massnahmen der Bank von England zunächst nur eine Unruhe
auf dem Goldmarkte Englands verursachte. Die Schwierigkeit der
Lage vieler neugegründeter Aktienbanken wurde dadurch erhöht,
dass sie zahlreiche Abteilungen in verschiedenen Städten hatten, und
da eine jede Abteilung eine spezielle Kasse führte, mussten die Banken
grössere Vorräte baren Geldes bereithalten, als sie dies bei dem Vor-
handensein nur einer Kasse gemusst hätten.
Am 7. November stellte die Ulster und die Belfaster Bank
ihre Zahlungen ein, am 9. November eine andere grosse irländische Bank
(Agricultural and Commercial Bank of Ireland), aus der das Publikum
— 94 —
im Oktober durch Vorweisung der Banknoten zur Einlösung, sowie
durch Rückverlangung der Depositen für 150 Tausend Pfund Gold
entnommen hatte ^). Diese Bank hatte 45 Abteilungen gehabt, und
dieser Umstand war nach den Worten des Direktors der Bank Dwyer
eine der Ursachen ihres Zusammenbruches. Das erste Fallissement
hat, wie immer in solchen Fallen, eine Panik hervorgerufen. Der
grösste Teil der irländischen Banken erlitt das, was die Engländer
einen run, d. h. einen Ansturm seitens des Publikums, nennen. Um
sich zu retten, mussten die Banken mit allen Mitteln die Gold Vorräte
in ihren Kassen vermehren, und das Gold floss aus dem gemein-
samen Reservoir des Metallgeldes des gesamten Vereinigten König-
reichs, aus der Bank von England, nach Irland. Im November und
Dezember sind 2 Millionen Pfund Gold aus England nach Irland
ausschliesslich mit dem Zwecke, die Reserven der irländischen Banken
sicher zu stellen, geschickt worden. Dieses Gold wurde der Kasse
der Bank von England entzogen-). Wenn die Verminderung des
Barvorrats der Bank von England keine so bedeutende war (vom
I. November 1836 bis zum 3. Januar 1837 hat sich der Metallvorrat
der Bank bloss um ^/.y Million Pfund vermindert), so lag die Ur-
sache dessen lediglich in den günstigen Wechselkursen, unter deren
Einfluss das Gold nach England zurückzukehren begann.
Warum sind nun die Wechselkurse in diesem für den englischen
Kredit so kritischen Augenblick für England günstig geworden?
Dieser Thatsache werden wir noch öfter begegnen: sobald der „internal
drain" beginnt, hört der „external drain" auf. Im Augenblick der
h(>chsten Panik, wenn der Kredit der solidesten Häuser erschüttert
ist, h()rt das Gold auf, aus England nach dem Auslande abzufliessen
und kehrt sogar \on neuem nach England zurück. Die Ursachen
dieser Erscheinung sind leicht zu erkennen.
Der Goldabfluss aus den centralen Kreditanstalten nach dem
Inneren des Landes wird durch die Vermehrung der Nachfrage nach
Gold im Inneren des Landes hervorgerufen; mit anderen Worten —
durch die Erhöhung des Goldpreises auf dem inneren Markte. Wie
jede andere Ware kommt das im internationalen Handel cirkulierende
(toUI auf den Markt, wo sein Preis der höchste ist und daher jedes-
mal, wtMui der Cieldmarkt eines gewissen Landes von einer Panik
erfasst ist — also, w^enn in diesem Lande die Nachfrage nach barem
i) Report on Joint Stock Banks, 1837. Minutes of Evidence, Aussage von Dwyer.
g. 2722—2734. ^
2) A. a. O., Aussage von Mahony. Q. 4055 — 4058. а
— 95 —
Gelde zu ihrem Maximum steigt, beginnt das Gold aus dem Aus-
lande nach diesem Lande zu fliessen — der „internal drain'* hebt den
„external drain" auf und schafft sogar eine Bewegung des Goldes im
internationalen Verkehr in entgegengesetzter Richtung.
Die Nachfrage nach Gold war in Irland aus dem Grunde be-
sonders stark, weil man nicht wusste, ob die Noten der Bank von
England in Irland genau so als ein gesetzliches Zahlungsmittel gelten
könnten wie in England ^). Uebrigens unterschied sich die irländische
Bankgesetzgebung in vielen Beziehungen von der englischen. So
hatten die irländischen Banken das Recht Noten im Werte von
w^eniger als 5 Pfund Sterling zu verausgaben; es ist aber bekannt,
dass bei Eintritt einer Panik die kleinen Noten am ehesten zur
Einlösung vorgezeigt werden. Nur aus diesem Grunde hat die Panik
in Irland einen so bedeutenden Umfang angenommen und war eine
so bedeutende Goldausfuhr aus England nötige).
In England wurde die Geldklemme auch sehr stark. Viele
Provinzialbanken, die ihre Operationen übermässig erweitert hatten,
mussten alle Anstrengungen machen, um ihre Reserven in einem
solchen Augenblick zu erweitern, wo alle gern Gold annahmen, aber
niemand es geben wollte. Ende November war die grosse englische
Aktienbank „Northern and Central Bank" genötigt, um einen Ban-
kerott zu vermeiden, sich an die Bank von England um Hülfe zu
wenden. Der Zusammenbruch dieser grossen Bank hätte den ge-
samten englischen Kredit mit einer solchen Erschütterung bedroht,
dass die Bank von England aus Selbsterhaltungsgefühl ihrem Gesuch
nachkommen musste. Wäre gleichzeitig mit der Panik in Irland
eine in England ausgebrochen, so hätte sie der Kasse der Bank von
England den Rest des Goldvorrates, der ihr noch geblieben war, ent-
ziehen können.
Im November 1836 waren die Preise vieler Waren, wenn auch
nicht bedeutend, gefallen.
Fallen der Warenpreise im November 1836 im Vergleich
zum Juli desselben Jahres^).
Baumwolle (Georgia) — 26 "Д
Biei (englisches) — 1 1
Roheisen (britisches) — 13
i) Report on Joint Stock Banks. Minutes of Evidence, Aussage von Mahony.
Q. 4060.
2) A. a. O., Aussage von Marshall. Q. 4555.
3) Nach Tookes Tabellen (History of Prices II).
- 9б -
Kupfer (britisches) — 7 %
Zucker (Havanna) — 1 1
Zinn (britisches) — 18
Der Stand der Warenpreise ist das beste Zeichen der Lage
der Industrie. So lange die Preise hoch stehen , kann von einer
Handelskrisis nicht die Rede sein. Das Sinken der Waren-
preise ist zugleich Ursache und Folge des Ruins der Fabrikanten,
der Einschränkung der Produktion, der Stockung des Handels und
der anderen Erscheinungen, die in ihrer Gesamtheit eine Handels-
krisis bilden. Im Jahre 1837 sanken die Preise des grössten Teils
der Waren noch mehr. So sanken im Vergleich zum Juli 1836 die
Warenpreise im Juli 1837 wie folgt:
Die Preise der Baumwolle sanken um 45 "/^
des Tabaks „
,. 31
,, Zuckers ,,
„ 20
,, Eisens ,,
» 44
,, Kupfers ,,
M 29
,, Zinnes „
„ 39
,, Bleies „
,, 33
der (italienischen)
Seide „
„ 31
Unter dem Einfluss der amerikanischen Krisis geriet der eng-
lische Handel mit den Vereinigten Staaten in eine vollständige
Stockung. Die amerikanischen Importeure konnten eine ungeheure
Menge der von ihnen gekauften Waren nicht loswerden; die Ausfuhr
der englischen Fabrikate nach den Vereinigten Staaten sank 1837
von 12 Millionen Pfund Sterling (1836) auf 4,7 Millionen Pfund, d. h.
beinahe um das Dreifache.
Die Krisis von 1836 hat jedoch keine grosse Verbreitung ge-
wonnen. Das nördliche Europa war z. B. von der Krisis fast un-
berührt geblieben: es ist nicht nur keine Verminderung des Wertes
der Ausfuhr britischer Produkte nach dem nördlichen Europa einge-
treten, sondern der Wert dieser Ausfuhr hat sich sogar um 15%
vermehrt. Mehr als 70^0 der Abnahme der britischen Ausfuhr im
Jahre 1837 entfällt auf die Vereinigten Staaten.
Während der ersten 5 Monate des Jahres 1837 ^^t der Barvorrat
der Bank von England ein sehr niedriger geblieben (gegen 4 Mil-
lionen Pfund Sterling), obwohl die Wechselkurse, abgesehen vom
Februar, die ganze Zeit für England günstig waren. Im April und
im Mai kam Gold aus dem Auslande nach England, aber der Metall-
vorrat der Bank von England stieg nicht. Offenbar verteilte sich
das Gold auf das Innere des Landes — mit anderen Worten wurde
der Kredit eingeschränkt, das Misstrauen wuchs. Ihren Höhepunkt
erreichte die Krisis im Juni. In diesem Monat mussten drei grosse
£ M
— 97 —
Firmen, die auf den Handel mit Amerika spekuliert und den ameri-
kanischen Importeuren Kredit in enormer Höhe gewährt hatten, die
Zahlungen einstellen. Ihre Passiva beliefen sich auf 5 Millionen
Pfund Sterhng. Die Zahl der Bankerotte nahm 1837 im Vergleich
zum Jahre 1836 um 64% zu. Von allen Zweigen der englischen
Industrie hat die Baumwollindustrie durch die Krisis am meisten ge-
litten. Im Jahre 1837 hat die Ausfuhr der baumwollenen Gewebe
aus dem Vereinigten Königreiche um 26% abgenommen.
Wenn wir die Krisen von 1825 und von 1837 ^it einander
vergleichen, so finden wir zwischen ihnen viel Aehnlichkeit. Beide
waren hauptsächlich durch eine rasche Erweiterung der Ausfuhr her-
vorgerufen, wobei die ausländische Nachfrage durch eine starke Emi-
gration englischer Kapitalien im Jahre 1825 nach Central- und Süd-
amerika, im Jahre 1836 nach den Vereinigten Staaten geschaffen
war. Aber im Jahre 1836 \vurde das vSpekulationsfieber in England
vorzugsweise auf die inländischen, während im Jahre 1825 auf die aus-
ländischen Unternehmungen gerichtet. Die Bewegung der Waren-
preise war im Jahre 1836 ganz ähnlich der von 1825. Im Juli er-
reichen die Preise der meisten Waren auf dem Londoner Markte ihr
Maximum, im November folgt ein Sinken, zuerst ein langsames, dann
ein immer rascheres, und dauert während des grössten Teiles des fol-
genden Jahres fort. Der Zusammenbruch der Banken und die Panik
auf dem Geldmarkte traten beide Male im Herbste ein: im Jahre 1825
im Oktober und im Jahre 1836 im November. Die Abnahme des
Metallvorrats der Bank von England wird in beiden Fällen zuerst
durch den Goldabfluss aus England nach dem Auslande, sodann aber
aus der Kasse der Bank nach dem Inneren des Landes hervorgerufen.
Bis zum Ende des Jahres 1836 hat sich die Krisis ebenso entwickelt
wie im Jahre 1825, jedoch mit dem einen wesentlichen Unterschied,
ft dass im Jahre 1825 das Spekulationsfieber auf der Effekten- und
Warenbörse noch viel stärker und die durch sie hervorgerufene Er-
schütterung des englischen Goldmarktes und als Folge derselben der
gesamten englischen Industrie in ihren Ergebnissen noch viel ver-
derblicher gewesen war.
Im Jahre 1836 stiegen die Preise der wichtigsten Waren in
England nicht so stark wie im Jahre 1825, und das hat auf den
Gang des englischen auswärtigen Handels zurückgewirkt. Im Jahre
1825 hat die Masse der aus -dem Vereinigten Königreiche ausgeführten
Produkte ein wenig abgenommen und die Masse der eingeführten
ausländischen Waren sich bedeutend vermehrt. Im Jahre 1836 hingegen
ist sowohl die Einfuhr der ausländischen Waren nach England wie
Tugan-Barano wsky , Die Handelskrisen. 7
- 98 -
die Ausfuhr seiner Produkte nach dem Auslande gestiegen, wenn
auch die Einfuhr der ausländischen Waren in stärkerem Masse. Damit
hängt die Thatsache zusammen, dass der Goldabfluss noch dem Aus-
lande im Jahre 1825 viel bedeutender war als im Jahre 1836 (im
Jahre 1825 hat der Barvorrat der Bank von England infolge des
Goldabtlusses nach dem Auslande um 6 Millionen Pfund, im Jahre
1836 aber nur um 2 Y2 Millionen Pfund Sterling abgenommen).
In gleichem Masse wie der Gründerschwindel von 1825 stärker
war als der von 1836, war auch das zweite Mal die Reaktion und
Krisis nicht so stark wie das erste. In den letzten Monaten des
Jahres 1825 haben viele Provinzialbanken in England bankerott ge-
macht, 1836 hat aber keine englische Bank die Zahlungen eingestellt.
Im Jahre 1826 war die Zahl aller Bankerotte beinahe um 125^9 ge-
stiegen, im Jahre 1837 a,ber nur um 64^/0. Andererseits war die
Panik von 1825 zwar stärker, aber weniger anhaltend. Schon Anfang
1826 begann das Gold schnell in die Kasse der Bank von England
zurückzuf Hessen, während 1837 die Kasse der Bank sich trotz des
Goldzuflusses aus dem Auslande bis zum Juni sehr langsam füllte
und die Krisis sich beinahe über ein ganzes Jahr hinzog.
Die Geldkrisis von 1839.
Die zwei nachfolgenden Jahre waren für den englischen Acker-
bau sehr ungünstig. Unter dem Einfluss zweier starker Missernten waren
die mittleren Preise des Weizens im Jahre 1839 i^ Vergleich zu denen des
Jahres 1836 um 48^0 gestiegen, und der Wert des gesamten Ge-
treides, das nach dem Vereinigten Königreiche für den inländischen
Konsum eingeführt wurde, erreichte die bisher nicht dagewesene
Summe von 10Y2 Millionen Pfund Sterling. Im Jahre 1836 betrug
der Wert des eingeführten Getreides gegen 0,1 ^/q des Wertes der
gesamten Ausfuhr der britischen Produkte, und 1839 erreichte er
20^/0 dieses Wertes.
Die Erhöhung der Einfuhr, die nicht von einer entsprechenden
Erweiterung der Ausfuhr begleitet war, hat die Handelsbilanz gegen
England gekehrt. Dazu kam eine ganze Reihe anderer Umstände,
die in ihrer Gesamtheit ungewöhnlich niedrige Wechselkurse in Lon-
don auf alle ausländischen Märkte und einen starken Goldabfluss aus
England nach dem Auslande hervorriefen.
4
— 99 —
Barvorrat
der
Wechselkurs auf Paris
Bank
von
Eng-
nach Sicht
(das Gold-
land
(in Milli-
agio ]
st
m Abzug
onen
Pfd.St.)^)
gt
'bracht)^)
1838
6.
November .
9,2
25
Fr.
24 Ct.
4-
Dezember .
9,6
25
15
i839
I.
Januar
9,0
25
4
5.
März . . .
6,7
24
98
7.
Mai . . .
4>3
24
99
2.
Juli . . . ■
3>7
25
3
3.
September .
2,4
25
18
5-
November .
2,7
25
16
3-
Dezember .
3,6
25
9
1840
7-
Januar
4,5
25
15
I.
Dezember
3,6
25
19
Vom Dezember 1838 ab sinkt der Kurs rasch und während der
ersten Hälfte des Jahres 1839 steht er ausserordenthch niedrig, Zu-
gleich nimmt der Barvorrat der Bank von England bedeutend ab und
erreicht am 3. September den Betrag von 2,4 Millionen Pfund Sterling;
in 8 Monaten sind aus der Kasse 6V2 Millionen Pfund Sterling ab-
geflossen — der Goldabfluss war viel stärker als im Jahre 1836.
Die Ursachen dieses Abflusses bestanden, abgesehen von der ihrer
Grösse nach ganz ausserordentlichen Getreideeinfuhr, noch im Folgen-
den: die Krisis von 1836 war trotz aller Bankerotte in den Ver-
einigten Staaten immer noch nicht ganz liquidiert. Im Jahre 1837
hatten alle Banken der Vereinigten Staaten die Einlösung ihrer Noten
eingestellt, was aber mit einem Bankerott nicht gleichbedeutend
war, da der Kongress den Banken gestattet hatte, zu dieser
äussersten Massnahme zu greifen. Die Bank von den Vereinigten Staaten,
die sich unter der Leitung ihres Direktors N. Beadle am meisten an
allen Spekulationen jener Zeit beteiligt hatte, benutzte die Erlaubnis
des Kongresses, um die Geschäfte der Bank mittels der gewagtesten
Spekulationen zu erweitern. So kaufte diese Bank in ungeheuren
Mengen Rohbaumwolle in den Vereinigten Staaten an und verkaufte
sie in Europa zu einem so hohen Preise wieder, dass die Produzenten
der Baumwollfabrikate sich genötigt sahen, die Produktion einzu-
schränken; die Bank betrieb allerlei Börsenspekulationen mit ameri-
kanischen und ausländischen Wertpapieren u. s. w. Im Jahre 1839,
als die Spekulation im Verkauf von Rohbaumwolle den grössten
Umfang erreicht hatte und im Besitze der Bank von den Vereinigten
Staaten sich Riesenvorräte unverkaufter Rohbaumwolle angehäuft
i) First Report from the Select Committee on Banks of Issue, 1840, App. N0. 9, 12 ;
Second Report on Banks of Issue, 1841, App. N0. 6, 28.
7*
— I oo —
hatten, war die Londoner Börse von einer Menge amerikanischer
Werte überschwemmt, die in London leichten Absatz fanden, da das
Vertrauen zu ihnen durch die Krisis von 1836 noch nicht endgiltig
erschüttert wurde (in diesem Jahre hatte die Mehrzahl der amerikani-
schen Firmen trotz der Störung des Kredites pünktlich auf Grund
ihrer Verpflichtungen bezahlt). Also gerade infolge des Umstandes,
dass die Regierung der Vereinigten Staaten im Jahre 1837 die
Entwickelung einer Krisis aufgehalten hatte, brach eine solche in
diesem Lande im Jahre 1839 ™^t doppelter Kraft aus und rief einen
Goldabfluss aus England nach Amerika hervor. Ausserdem floss
Gold aus England nach dem europäischen Kontinent ab infolge des
Zusammenbruchs der Bank von Belgien im Herbste 1838. Dieser
Zusammenbruch rief Anfang 1839 i^ Belgien und Frankreich eine
Panik hervor, und da der englische Geldmarkt von der Panik unbe-
rührt und der Kredit auf ihm unerschüttert geblieben war, so floss
das Gold dorthin, wo die grösste Nachfrage danach war, — nach dem
europäischen Kontinent und Amerika. Alles das zusammen rief im
Jahre 1839 einen seiner Dauer und Kraft nach ganz ausser gewöhn-
lichen external drain hervor, der die Kasse der Bank von England
fast vollkommen leerte.
Um das Gold in ihren Gewölben zurückzuhalten, erhöhte die
Bank von England am 16. Mai ihren Diskont auf 5^0 ui^d am
I. August auf 6^0- Da aber der Kredit im Lande keine Einschrän-
kung erfuhr und die Warenpreise nicht sanken, so dauerte der Gold-
abfluss nach dem Auslande fort. Um sich zu retten, musste die
Bank zum äussersten Mittel greifen: durch Vermittlung des Bank-
hauses Baring machte sie in Paris eine Anleihe von 2 Millionen
Pfund Sterling. Die Pariser Bankiers willigten ein, Wechsel für diese
Summe zu acceptieren, die durch die Bank allmählich realisiert wurde,
was die Wechselkurse Anfang September bedeutend erhöhte. Das
Gold fing allmählich, wenn auch sehr langsam, an, in die Kasse der
Bank zurückzufliessen. Die Wechselkurse standen andauernd niedrig
und waren für England nicht nur während des Jahres 1839, sondern
auch im folgenden Jahre ungünstig. Durch energische Massnahmen
gelang es der Bank, den Goldstrom aufzuhalten, sie vermochte aber
nicht, eine rückläufige Bewegung hervorzurufen, und daher war der
Barvorrat der Bank von England Ende 1840 ebenso gering wie
Ende 1839.
Jedoch, trotz der kritischen Lage der Bank von England im
Jahre 1839 hat die Krisis dieses Jahres in England den Charakter
einer reinen Geldkrisis gehabt und war nicht von Erschütterung der
— lOI
Industrie begleitet, wie in den Jahren 1825 und 1837. Keine einzige
Bank im Vereinigten Königreiche stellte die Zahlungen ein, die all-
gemeine Zahl der Bankerotte in England vermehrte sich fast gar
nicht. Die Preise der Rohbaumwolle erlitten dank den Ope-
rationen der Bank von den Vereinigten Staaten enorme Schwan-
kungen, die Getreidepreise stiegen im Jahre 1839 stark unter dem
Einfluss der Missernte und fielen im folgenden Jahre, da die Ernte
in demselben sich besser als im vorangegangenen erwiesen hat, aber die
Preise der verschiedenen Metalle (in diesen Preisen spiegelt sich am besten
die allgemeine Lage der Industrie wider) sanken im Jahre 1840 re-
lativ nicht viel: so sanken z. B. die Preise des Bleies im Juli 1840 im
Vergleich zum Juli des vorangegangenen Jahres nur um 5 ^/q, die
Preise des Kupfers stiegen sogar in derselben Zeit um i ^o > die des
Zinnes sanken um 4%; nur die Eisenspreise sanken beinahe um
20 Vo-
Die englische Industrie hatte im Jahre 1836 eine so schwere
Erschütterung erlitten, dass für die Ausbrechung einer neuen Handels-
krisis im Jahre 1839 kein Boden in England vorhanden war. Die Krise
von 1836 hat auf den Fonds- und Warenmarkt Englands eine reinigende
Wirkung ausgeübt und ihn von ungesunden Elementen befreit, die
durch das Spekulationsfieber der vorangegangenen Jahre geschaffen
waren; die meisten englischen Spekulanten waren im Jahre 1837
ruiniert worden. Gerade deswegen war im Jahre 1839 ^.uf den Gold-
abfluss aus England nach dem Auslande keine Handelskrisis gefolgt,
wie das in den Jahren 1825 und 1836 der Fall gewesen war. Der
external drain in England ging daher Ende 1839 nicht in einen
internal drain über, und der englische Kredit erlitt keine Erschütte-
rung.
Wenn wir die Bewegung der Metallvorräte der Bank von Eng-
land in den Jahren 1840 und 1826 mit einander vergleichen, so be-
merken wir zwischen beiden einen grossen Unterschied. Ende 1826
war der Metallvorrat der Bank von England ebenso hoch wie An-
fang 1825, alles aus der Kasse der Bank abgeflossene Gold ist wieder
zurückgekehrt. Indessen bleibt im Jahre 1840 der Barvorrat der
Bank von England ebenso niedrig wie Ende 1839 — das Gold fliesst
in die Kasse der Bank nicht zurück — trotz solcher Massnahmen
seitens der Bank, wie die Erhöhung des Diskonts auf 6^0 (i"^ Jahre
1825 hatte der Diskont .der Bank von England 5% nicht über-
schritten). Was hatte nun den Goldabfluss aus der Bank in den
Jahren 1839 — 40 zu einem so andauernden gemacht? Gerade der-
jenige Umstand, dass die Krisis dieses Jahres in England (nicht etwa
I02
auch in den Vereinigten Staaten) eine Geld- und keine Handelskrisis
war^). Eine Handelskrisis ruft stets eine Erschütterung des Geld-
marktes hervor, aber eine rasche und kurze Erschütterung. Das
Metall strömt ins Innere der Landescirkulation, um die Leere, die
durch die Einschränkung des Kredites gebildet wird, auszufüllen, aber
sobald das Vertrauen wieder hergestellt wird, strömt das Metall mit
noch grösserer Geschwindigkeit zurück. Die Einschränkung der
Warencirkulation, die auf eine Handelskrisis folgt, setzt grosse Mengen
Geldes frei, die sich früher in der Cirkulation befanden, und alles
dieses überschüssige Geld häuft sich in den Banken an. Daher findet
nach der Liquidation einer Handelskrisis stets eine Vermehrung der
Metallvorräte in den Banken statt 2).
Л¥епп dagegen auf den Goldabfluss nach dem Auslande keine
Handelskrisis und keine Panik auf dem Geldmarkte folgt, kann
die Geldkrisis einen chronischen Charakter annehmen, da in diesem
Falle keine Einschränkung der Warencirkulation eintritt, die im
ersteren Falle ein Zur ückfli essen des Metalles in die Kassen der
Banken hervorruft. Aus der oben angeführten Tabelle (S. 67) sieht
man, dass im Jahre 1840 der Wert der britischen Ausfuhr sich fast
garnicht vermindert hat; daher ist auch der Metall Vorrat der Bank
von England im Laufe dieses ganzen Jahres ein so niedriger ge-
blieben.
In den Vereinigten Staaten hatte die Krisis von 1839 einen
anderen Charakter. Wie oben erwähnt, ermöglichte die Regie-
rung der Vereinigten Staaten im Jahre 1837 vielen Banken, deren
Lage eine schwere war und die schon längst zahlungsunfähig
geworden waren , durch die Erlaubnis zur Einstellung der Ein-
lösung ihrer Noten einem Bankerott zu entgehen. Dadurch wurde
die Liquidation der Krisis aufgehalten und sollte sich einige
Jahre hinziehen. Die amerikanischen Banken, von der Notwen-
digkeit, ihren Verpflichtungen nachzukommen, befreit, fuhren in
ihren gewagten Spekulationen fort. Erst im Jahre 1841, als der
Kongress die Wiederherstellung der Einlösung gefordert hatte, schlug
die Stunde der Vergeltung. Die „Bank von den Vereinigten Staaten*',
das grösste Bankinstitut des Landes, das in den Spekulationen am
i) Dass im Jahre 1839 in England keine bedeutende Erschütterung des Handels
stattgefunden hat, darüber vergl. First Report on Banks of Issue. Minutes of Evidence.
Aussage von Loyd Q. 3589. Dasselbe sagt auch То оке (History of Prices, II, 270).
2) Diese Erscheinung ist sehr gut in dem bekannten Buch von Clementjuglar
Des crises commerciales et de leur retour periodique (Paris 1889, i re partie, eh. XVII)
klargelegt.
— юз —
weitesten gegangen war, musste die Zahlungen einstellen. Somit trat
die endgültige Liquidation der Krisis von 1836 in den Vereinigten
Staaten erst im Jahre 1841 ein. Die Zahl der Bankerotte in den
Vereinigten Staaten erreichte in drei Jahren 1837 — 39 nach offiziellen
Daten 33000, die Passiva betrugen insgesamt 440 Millionen Dollar ^).
Da aber zwischen dem Zustande des englischen und dem des ameri-
kanischen Marktes der engste Zusammenhang besteht, ist es ganz
begreiflich, dass die englische Industrie in den Jahren 1841 und 1842
sich in einem sehr gedrückten Zustande befunden hat.
Die Handelskrisis von 1847.
Nach einigen Jahren einer wirtschaftlichen Depression, die im
Jahre 1842 ihren Höhepunkt erreicht hatte, trat in England wieder
eine Periode des industriellen Aufschwungs ein.
Anfang 1844 erreichte der Barvorrat der Bank von England
die vordem noch nicht dagewesene Höhe von i6 Millionen Pfund
Sterling ; der Diskont wurde von der Bank auf i ^4 Vo herabgesetzt.
Nach einem bekannten Wort kann John Bull vieles ertragen,
aber nur nicht 2 ^j^. Die Produktivkräfte des Landes waren zu einer
I neuen energischen Arbeit gerüstet, und diese Arbeit Hess nicht lange
auf sich warten.
Die Ernten 1843 — 44 waren sehr gute, die Preise der land-
wirtschaftlichen Produkte niedrig, die Nachfrage nach Fabrikaten
hoch. Auf dem auswärtigen Markte waren die Spuren der vor-
angegangenen Krisen verwischt und der Friedensschluss zwischen
England und China im Jahre 1842 eröffnete für die englische Industrie
einen neuen enormen Markt, dessen Bedeutung dazu von den engli-
schen Fabrikanten zuerst sehr überschätzt wurde. Die Industrie
raffte sich auf und die drei Jahre 1844 — 1845 waren durch eine
starke Vermehrung der Ausfuhr der brittischen Fabrikate nach dem
Auslande, durch eine Ausdehnung der Produktion und zugleich durch
eine Verbesserung der ökonomischen Lage der arbeitenden Klassen,
die während der vorangegangenen Krise schwere Entbehrungen er-
litten haben, gekennzeichnet. So äussert z. B. November 1845 ^^^
Fabrikinspektor Leonard Horner in seinem Halbjahrsberichte fol-
gendermassen : „In den ganzen letzten 8 Jahren ist mir kein solcher
Aufschwung der Industrie, namentlich der Baumwollspinnerei, erinner-
lich, wie während des vorigen Winters und Herbstes. In dieser Zeit
i) Clement Juglar, Des crises coramerciales, S. 467.
— I04 —
erhielt ich jede Woche Nachrichten von dem Bau neuer Fabriken .
oder von der Vergrösserung der schon vorhandenen, von der Ein-
führung neuer, leistungsfähigerer Maschinen u. s. w. Ueberall hörte
ich Klagen über die Schwierigkeit Arbeiter zu beschaffen, und über
das Steigen der Löhne. Unterrichtete Leute teilen mir auch von den
sehr hohen Profiten der Fabrikanten mit, die durch die hohen Preise
des Garnes, welche mit niedrigen Preisen der Rohbaumwolle zusammen-
fallen, bedingt werden 1)". Nach den Berichten Horners hat sich in den
Jahren 1842 — 45 die Zahl der Fabriken in seinem Bezirke um 524,
— fast ausschliesslich Baumwollfabriken — vermehrt.
Wir haben an Beispielen der vorangegangenen Krisen gesehen,
dass die Anlage der englischen Kapitalien in jeder Periode eines
industriellen Aufschwungs irgend eine bestimmte Richtung annimmt.
In den 2 о er Jahren gingen die enghschen Kapitalien im Ueberfluss
nach Central- und Südamerika; in der Mitte der 30er Jahre gingen
sie nach den Vereinigten Staaten und die in England gebliebenen
wandten sich hauptsächlich den Eisenbahnunternehmungen und der
Gründung von Aktienbanken zu. In den 40 er Jahren hat keine be-
deutende Emigration englischer Kapitalien nach dem Auslande
stattgefunden, nicht aber aus dem Grunde, weil die Menge der freien
Kapitalien sich in England vermindert hätte. Ueberschüssige Kapi-
talien waren in England in dieser Zeit mehr als früher vorhanden,
sie fanden aber eine vorteilhafte Anlage innerhalb des Landes, wo
sie sich dem Bau eines immensen Eisenbahnnetzes zuwandten.
Vom Parlament wur-
Thatsächlich sind für
den konzessioniert
den Bau der Eisen-
Eisenbahnbauten im
bahnen verausgabt
Werte von (Milli-
vi^orden (Millionen
onen Pfund) '^)
Pfund) 2)
Bis zum 31. Dezember
1843
81,9
65,6
Im Jahre
1844
20,4
6,7
1845
60,5
16,2
1846
131,7
37,8
1847
44,2
40,7
1848
15,3
33,2
1849
3,9
29,6
Nach einer von Wilson, dem bekannten National-Oekonomen
der 40 er Jahre und Begründer des „The Economist", aufgestellten
Berechnung erreichte die jährliche Akkumulation von Kapital in
i) Report of Inspektor of Factories L. Horner, November 1845, S. 13.
2) Tooke, History of Prices, V, 352.
— I05 —
Grossbritannien die bedeutende Summe von 60 Millionen Pfund Ster-
ling i). Also übertraf im Jahre 1846 der Wert der neu konzessio-
nierten Eisenbahnen um mehr als das Doppelte die jährliche Akku-
mulation von englischen Kapital. Die durch den Eisenbahnbau wäh-
rend der drei Jahre 1846 — 48 auf dem inneren englischen Markte
geschaffene Nachfrage war so gross, dass sie nicht weniger als 2/3
der gesamten ausländischen Nachfrage nach britischen Produkten
gleichkam. Die Zahl der Arbeiter, die im Jahre 1847 bei dem Bau
der Eisenbahn beschäftigt waren, betrug mehr als 200000 Mann.
Das enorme Steigen der Eisenpreise zeigt, welche bedeutende Nach-
frage nach Eisen durch die Eisenbahnbauten geschaffen worden ist.
Mitte der 40 er Jahre befand sich Handel und Industrie in Eng-
land in einem ausgezeichneten Zustande. Die Produktion hatte sich
erweitert, die Warenpreise waren bedeutend in die Höhe gegangen,
die Nachfrage auf dem inneren Markte war stark gestiegen, die Aus-
fuhr der englischen Produkte nach dem Auslande hatte sich ver-
mehrt. Wie immer dauerte es auch diesmal nicht lange, bis der
industrielle Aufschwung eine Spekulation erzeugte, die sich in diesem
Falle hauptsächlich mit den Eisenbahnunternehmungen befasste. Die
Spekulation mit Eisenbahnaktien begann schon im Jahre 1844. „Im
Anfange des Jahres 1844 — sagt То оке — als man schon nicht
mehr daran zweifeln konnte, dass die Industrie des Landes einen
Aufschwung nehme, lenkten die günstigen Resultate, die durch die
schon früher gebauten Eisenbahnen erreicht waren, die allgemeine
Aufmerksamkeit auf sich. Es schien sehr wahrscheinlich, dass die
weitere Ausdehnung des Eisenbahnnetzes sich ebenso rentabel er-
weisen wird, um so mehr als die Preise des Eisens und des anderen
für den Eisenbahnbau notwendigen Materials keine hohe waren. Infolge
dessen gingen im Frühling und Sommer die Preise der Mehrzahl der
alten Eisenbahnaktien sehr in die Höhe, und ausserdem wurden noch
viele neue Linien projektiert. Im September 1844 wurden dem
Parlament mehr als 90 Projekte neuer Linien vorgelegt, für deren
Ausführung nicht weniger als 100 Millionen Pfund erforderlich ge-
wesen wären, und die Zahl dieser Projekte wuchs ununterbrochen
bis zum Ende des Jahres". Im Jahre 1845 wurden die Eisenbahn-
spekulationen noch heftiger und führten zu einer Börsenkrisis. „Im
August, nachdem das Parlament die Konzessionen für die projektierten
Eisenbahnen erteilt hatte, artete die Spekulation zu einer wahren
Manie aus. Gleichzeitig machten sich aber bereits Zeichen einer
I ) Wilson, Capital, Currency and Banking, IX.
- - io6 —
nahen Reaktion bemerkbar. Es wurde allen klar, dass die Speku-
lanten durchaus nicht alle auf einen Erfolg der Unternehmungen
rechneten, sondern lediglich auf die in dem gegebenen Augenblick
vorwiegende Stimmung der Börse in Bezug auf die eine oder andere
Aktie. Die Aktien wurden nicht zum Zwecke einer dauernden
Kapitalsanlage gekauft, sondern zum Zwecke des sofortigen Wieder-
verkaufs zu erhöhten Preisen. Solange die Zahl der Personen, die
spekulieren wollten, sich vermehrte, wuchsen auch die Kurse der
Aktien. Aber Ende Oktober machte sich unter den Besitzern der
Aktien das Streben bemerkbar, die Profite, die durch die hohe Kurse
der Aktien versprochen wurden, zu realisieren; dieses Streben ging
allmählich in eine Panik über, die Kurse der Aktien fingen an schnell
zu sinken, und die Effektenbörsen in den verschiedenen Städten des
Königreichs, die früher von Tausenden von Spekulanten voll waren,
leerten sich^)".
Die englische Industrie ist von der Börsenkrise des Jahres 1845
ganz unberührt geblieben; wir erkennen ihren Einfluss weder am
Conto der Bank von England, deren Barvorrat im November dieses
Jahres über 13 Millionen Pfund Sterling betrug, noch in der Zahl
der Bankerotte, noch in dem allgemeinen Stande der Warenpreise.
Die Börsenkrisis von 1845 §^^S nicht über den Kreis des Börsen-
publikums hinaus, wie im Jahre 1835 ^i^ Krisis auf der Effektenbörse
die Industrie nicht berührt hatte. Es findet das seine Erklärung
darin, dass, obwohl die Spekulation mit den Eisenbahnaktien im
Jahre 1845 zusammenbrach, der Bau der Eisenbahnen gerade zu
dieser Zeit begann, grosse Dimensionen anzunehmen.
Die kolossalen Eisenbahnbauten in den Jahren 1846 und 1847
mussten die Nachfi'age auf dem inneren Markte bedeutend erweitern.
Es war also eigentlich in dieser Zeit ein bisher noch nicht dage-
wesener Aufschwung der englischen Industrie zu erwarten. Was
wollten auch einige Millionen Pfund, um die sich die Ausfuhr briti-
scher Produkte nach dem Auslande in den Jahren 1846 und 1847
vermindert hat, bedeuten, im Vergleich zu den beinahe 100 Millionen
Pfund, die von den Eisenbahn gesellschaften für den Ankauf von
Material zum Eisenbahnbau und von den Eisenbahnarbeitern für den
Einkauf ihrer Konsumgegenstände in diesen zwei Jahren verausgabt
wurden? Indessen, wenn wir uns zu den Daten über den Ver-
brauch der baumwollenen Gewebe auf dem einheimischen MarkteJ
Englands wenden, so sehen wir nicht ein Wachstum, sondern einen j
Rückschlag.
i) То оке, History of Prices, IV, 64.
— loy —
Im Jahre 1845 sind im Vereinigten Königreich baumwollene
Gewebe für 21 Millionen Pfund St. konsumiert worden, 1846 für
19 Millionen, 1847 ^ber nur für 13 Millionen i).
Worin findet dieser Rückgang seine Erklärung? In den Miss-
ernten. Im Jahre 1845 trat in Irland und England eine Kartoffelkrank-
heit auf, die die Ernte dieses Jahres fast vollständig vernichtete; auch
die Getreideernte war in diesem Jahre eine sehr schlechte. Im Jahre
1846 ergab die Kartoffel wieder keine Ernte, und das Getreide ge-
dieh noch schlechter als im vorangegangenen Jahre. In Irland
herrschte eine Hungersnot. Das Parlament war genötigt, 8 Millionen
Pfund St. zur Unterstützung der hungernden Bevölkerung auszu-
setzen. Im Jahre 1847 wurden in das Vereinigte Königreich allerlei
Getreidearten für den inländischen Konsum im Werte von 29 Mil-
lionen Pfund Sterling eingeführt; diese Einfuhr kam 50^0 der ge-
samten Ausfuhr der britischen Fabrikate gleich, während im Jahre
1845 die Getreideeinfuhr nur 3% des britischen Exports gleichge-
kommen war.
Der Missernte des Getreides gesellte sich die Missernte der
Baumwolle hinzu. Die Preise der Rohbaumwolle in Manchester stiegen
im Januar 1847 um 65% i"^ Vergleich zum Januar 1846. Die Lage
der englischen Fabrikanten war eine sehr schwierige: der Preis des
Rohmaterials war gestiegen, die Nachfrage nach Fabrikaten seitens
der Bevölkerung konnte aber in Folge des hohen Preises der Nahrungs-
mittel nicht steigen. Die Preise des Baumwollgarnes sind im Jahre 1847
gar nicht, die der baumwollenen Gewebe kaum merklich in die Höhe
gegangen.
Unter solchen Umständen wurde die Produktion nicht lohnend
und sie musste eingeschränkt werden, was eben geschah.
Der Handelskrisis von 1847 war keine Spekulation auf dem
Warenmarkte vorangegangen, wie das vor den früheren Krisen der
Б'аИ gewesen war. Im Jahre 1847 standen die Preise vieler Waren
auf dem englischen Markte hoch (z. B. die Preise der Rohbaumwolle,
des Eisens und der anderen Metalle), aber nicht infolge einer Speku-
lation der Händler, sondern weil das Angebot im Vergleich zu der
Nachfrage ungenügend war. Nur im Getreidehandel, der auch in
einer ruhigen Zeit infolge starker und unvorhergesehener Schwan-
kungen der Getreidepreise einen Spekulationscharakter hat, nahm die
Spekulation einen grossen Umfang an. Der Preis des Quarters Ge-
treide stieg von Januar bis Mai 1847 von 66 Sh. 10 d. auf 102 Sh.
i) Nach den Tabellen von J. A. Mann (The Cotton Trade of Great Britain 1860).
— io8 -
5 d. Ende Mai desselben Jahres. Darauf folgte ein rasches Fallen,
und im September sanken die Preise des Quarters auf 49 sh. 6 d" ^).
Die Spekulaten rechneten darauf, dass die Getreidevorräte in
England bis zur neuen Ernte nicht ausreichen würden. Ihre Be-
rechnungen erwiesen sich als irrige — die hohen Preise riefen eine
erhöhte Getreidezufuhr aus dem Auslande hervor; die Ernte wurde
besser, als erwartet wurde, und die Preise konnten sich nicht auf der
anormalen Höhe erhalten. Sofort trat eine rückläufige Bewegung
ein, die den Zusammenbruch einer grossen Anzahl von Getreide-
händlern und in dessen Gefolge eine allgemeine Handelskrisis nach
sich zog.
Betrachten wir jetzt das Conto der Bank von England im
Jahre 1847.
Conto der Bank von England^).
1847
Barvorrat
(in Millionen
Pfund)
. .5 'ö
(U ■ — ' с
iD ^ — I
Niedrigster Diskont d.
Bank von England
während des Monats
Wechselkurs auf Paris
nach Sicht
(das Goldagio ist in Abzug
gebracht)
2. Januar
6. März
3. April
1. Mai
5- Juni
3. JuH
4. September
2, Oktober
30. Oktober
6. November
4. Dezember
15
1 1,6
10,3
9,3
10,2
10,4
9
8,6
8,4
8,7
1 1,0
Mill. Pf.
8,2
5,7
3,7
2,7
5,1
5,2
4,2
3,4
1,2
2,0
5,6
Janviar
März
April
Mai.
Juni
Juli.
September
Oktober
November
Dezember
3
4
4
5
5
5
5%
7
b
I.
Januar .
25 Fr
2.
März .
25 „
I.
April .
25 „
4-
Mai
25 .,
7-
Juni
25 „
2.
Juli .
25 „
3.
September
25 „
I.
Oktober
25 „
2.
November
25 „
3.
Dezember
25 „
II Ct.
13 „
45 „
13 „
8 „
II „
32 „
24 „
27 „
i) Report from the Select Committee on Commercial Distress. 1847 — 48. Appen-
dix N0. 6.
2) Report from the Select Committee on Commercial Distress. 1847 — 48. App. N0. 6,
13, 31. Reserve wird der Teil des Kassenbestandes der Bank von England] genannt, über
den sie, auf Grund der Peel sehen Akte von 1844, frei verfügen kann. Durch die Akte
von 1844 sind die Bedingungen der Notenausgabe der Bank von England total umgestaltet
worden. Die Banknoten, die über 14 MiUionen Pf. hinaus verausgabt werden, müssen
nach dieser Akte voll durch Metall gedeckt werden; dieser Teil des Barvorrats der Bank
kann daher nicht in die Cirkulation treten. Die Reserve ist der freie Teil des Barvorrats
der Bank. Es ist natürlich, dass die Bank bei ihren Operationen allein mit der Grösse
ihrer Reserve rechnen muss, da die übrige Menge Metalls in ihrer Kasse zu Kreditzwecken
nicht benutzt werden kann. Die Peelsche Akte hat in der Geschichte der ökono-
mischen Wissenschaft eine besonders wichtige Rolle gespielt. Die von der modernen Wissen-
schaft angenommene Geld- und Kredittheorie ist zum Teil aus der durch diese Akte hervorgerufenen
Polemik entstanden, wobei man die grösste Bedeutung den Schriften von Tooke und
Fullarton zuschreiben muss. Wir werden uns jedoch nicht bei dieser Akte aufhalten, da,
wie wichtig auch diese in vielen Beziehungen sein mag, eines durch 'die spätere Erfahrung
— log —
Nach dem, was wir oben über die enorme Einfuhr von Ge-
treide nach England gesagt haben, muss uns die Ursache des Gold-
abflusses aus Eng'land nach dem Auslande im Jahre 1 847 ganz klar sein.
Aber während in den Jahren 1825 und 1836 der Barvorrat der Bank
von England 7 — 8 Monate hindurch ununterbrochen sank, wurde
im Jahre 1847 ^^^ Goldabfluss aus England nach dem Auslande kein
so lange andauernder und ununterbrochener. Von Januar bis Mai
: nimmt der Barvorrat der Bank von England ab, die Reserve ver-
mindert sich, und die Wechselkurse bleiben für England ungünstig.
1 Vom Mai bis zum Juli ändert sich die Richtung des Goldstromes —
I das Gold fängt an, in die Kasse der Bank zurückzufliessen, die Re-
serve nimmt zu, und die Wechselkurse stehen eine Zeitlang sehr hoch.
I Dann beginnt wieder die frühere Bewegung — die Wechselkurse
: sinken, und das Gold fängt an, aus England abzufliessen. Im Oktober
I werden die Wechselkurse für England günstig, aber der Barvorrat
und die Reserve der Bank von England fahren fort abzunehmen,
bis die Reserve am 30. Oktober am tiefsten sinkt — auf 1,2 Mill.
1 Pf. St. Im November und Dezember fliesst das Gold rasch zurück,
und die Bankreserve erreicht wieder eine bedeutende Höhe.
Im Jahre 1847 fallen uns bedeutende Veränderungen desDiskontes
auf, die in den Jahren 1825 und 1836 ausgebheben sind. (Im Jahre 1825 hielt
die Bank während der ersten 1 1 Monate den Diskont unverändert —
f 4% für kurzfristige Wechsel — und erhöhte nur im Dezember den
! Diskont auf 5 ^/0 ; im Jahre 1 8 3 6 ist der Diskont nur im Juli von 4^/0 auf 4 Y2 %
h und im September von 4Y2 7o ^^^ 5 ^/0 erhöht worden). Die Ursache
I' dieses Unterschiedes besteht darin, dass während der vorangegangenen
I Krisen die Bank sich gegenüber der Abnahme ihres Metallvorrats
passiver verhalten hatte — sie hatte das einzige wirksame Mittel, um
i Metall in ihren Kassen zurückzubehalten, die Erhöhung des Dis-
\ kontes, nicht angewendet. Wie bekannt, hat die Diskonterhöhung
immer die Tendenz, die Wechselkurse des Landes zu erhöhen und
den Goldabfluss nach dem Auslande aufzuhalten. Der Barpreis
vollkommen erwiesen ist: nämlich dass die Akte von 1844 keinesfalls der Wiederkehr der
\ Krisen vorzubeugen oder ihre ökonomische Wirkung abzuschwächen imstande war, obwohl
|i das eins der Hauptziele der von Sir Robert Peel ausgeführten Bankreform war. In dieser
Beziehung kann die ganze Reform als vollkommen missglückt gelten. Nur eine totale Ver-
kennung der tiefer liegenden Ursachen der Krisen konnte die ganz verfehlte Idee hervor-
1' rufen, dass Krisen aus mangelnder Organisation der Kreditinstitute entstehen. Die Eaisen
i sind so eng mit der kapitalistischen Produktionsweise verknüpft, dass sogar die bestmögliche
Bankreform (und die von Robert Peel darf man keineswegs als eine solche betrachten)
j- nichts Bedeutendes in der Vorbeugung der Krisen erreichen könnte.
I lO
eines Wechsels ist gleich seiner Valuta abzüglich des Diskontsatzes
am Orte des Diskontierens des Wechsels. Die Erhöhung des Dis-
kontsatzes vermindert den Barpreis eines Wechsels, die Wechsel
werden auf dem betreffenden Markte billiger — man fängt an, sie
nach dem Auslande (wo sie teuerer sind) zum Austausch gegen Gold
auszuführen, und die Wechselkurse (nach Sicht) steigen. Alles das
ist sehr einfach, aber bis man den Einfluss des Diskontes auf die
Wechselkurse verstand, musste man eine lange Erfahrung durch-
machen.
Ausserdem war vor Peelsschen Bankakte die Bank von Eng-
land für die Abnahme ihres Barvorrats schon deswegen weniger
empfindlich, weil sie über die gesammte Summe Gold und Silber
die sie vorrätig hatte, verfügen konnte. Dagegen hat die Akte von
1844 der Bank die Verfügung nur über einen Teil ihrer Vorräte — über
die Reserve — gestattet. Unter dem neuen System musste die Bank
energische Massnahmen zur Sicherung ihrer Kasse bereits zu eine
Zeit treffen, wo der Barvorrat noch verhältnismässig gross war (im
Jahre 1847 ist der Barvorrat der Bank von England nicht einmal auf
8 Millionen Pf St. gesunken, und doch musste man, wie wir weiter
unten sehen werden, zur Rettung der Bank zur Suspendierung des
Gesetzes von 1844 greifen).
In diesen beiden Umständen — der neuen Politik der Bank und
einer grösseren Empfindlichkeit der Bank für die Abnahme des Kassen-
bestandes — findet das Aufhören des Goldabflusses im Frühling
1847 seine Erklärung. Da die Bank von England eine Verminde-
rung ihrer Reserve befürchtete, traf sie im April dieses Jahres ener-
gische Massnahmen zur Einschränkung ihrer Diskontoperation. Der
Diskont wurde erhöht, die langfristigen Wechsel wurden gar nicht
mehr zum Diskont angenommen und, was noch wichtiger ist, die
Bank von England setzte eine bestimme Norm für die Diskontierung
der Wechsel jeder einzelnen Firma fest. Solche harte Massnahmen
riefen sehr bald eine Panik auf dem Geldmarkte Englands hervor.
Wie Tooke berichtet, war die Nachfrage nach barem Geld in Eng-
land so gestiegen, dass in einigen Fällen ganz sichere Wechsel erst
zu 12 und noch höheren Jahreszinsen diskontiert wurden. Die
Wechselkurse stiegen sofort und wurden für England günstig. Nach
der Aussage des Londoner Bankiers Gurney hatte jemand Anfang
April in Liverpool 100 Tausend Pfund Goldmünzen und Barren auf
ein Schiff geladen, um sie nach den Vereinigten Staaten zu trans-
portieren in der Absicht, die vorteilhafteren Kurse der amerikanischen
Wechsel auszunutzen. Aber infolge der in England eingetretenen
— III
Geldklemme wurde diese ganze Summe wieder in England ausge-
laden und blieb im Lande, da bei der Erhöhung der englischen
Wechselkurse die Ausfuhr von Gold nach Amerika unvorteilhaft ge-
worden war^). Das Gold begann nach England zurückzufliessen, die
Reserve der Bank von England vermehrte sich, und die Direktion
der Bank war in der Lage, ihre prohibitiven Massnahmen aufzuheben.
Bemerkenswert ist, dass die Industrie und der Handel von der
im April auf dem Geldmarkt ausgebrochenen Panik so wenig berührt
wurden, dass sich gerade zu dieser Zeit die Spekulationen der Ge-
treidehändler vermehrten, die den Preis des Quarters Weizen schnell
um mehrere Zehner von Schillingen erhöhten. Ueberhaupt übt der
Zustand des Geldmarktes einen mächtigen Einfluss auf den Handel
nur dann aus, wenn die Lage dieses letzteren einen solchen Einfluss
begünstigt; wenn aber, wie das diesmal der Fall war, die Geldklemme
mit einer Abnahme des Warenangebotes und einem Steigen der
Nachfrage zusammenfällt, so kann die Erhöhung des Diskontes das
Steigen der Warenpreise und somit die Entwickelung einer Speku-
lation auf dem Warenmarkte nicht verhindern.
Im Juli hat sich der Goldabfluss nach dem Auslande erneuert.
Das Gold ging wie früher für die Bezahlung für das Getreide auf,
das im Ueberfluss auf dem Londoner Markt erschienen war, ange-
zogen durch die daselbst notierten übermässig hohe Preise.
Einfuhr von Getreide und Mehl nach dem Vereinigten
Königreich in Tausenden Quarter^).
Vom 24.
Februar
bis
zum
30.
März
1052
,, 31-
März
4.
Mai
1332
5-
Mai
8.
Juni
1251
9.
Juni
13-
Juli
1944
V 14-
Juli
17-
August
2010
„ 18.
August
21.
September
1608
„ 22.
September
26.
Oktober
969
Die Einfuhr vermehrt sich und erreicht ihren Höhepunkt in der
zweiten Hälfte des Juli und in der ersten Hälfte des August. In-
dessen erreichten die Preise des Getreides ihr Maximum gegen Ende
Mai. Die Differenz von zwei Monaten zwischen dem Eintreten des
einen und dem des anderen Maximums war durch die Zeit bedingt,
die zur Ueberführung des Getreides von dem Ausfuhrorte nach dem
Verkaufsorte erforderlich war. Die engHschen Getreidehändler hatten
I First Report on Commercial Distress. Minutes of Evidence, Aussage von Gur-
ney. Q. 1921 — 23.
2) Report on Commercial Distress. App. N0. 50,
I 12
im A^pril und Mai enorme Mengen Getreide zu übermässig hohen
Preisen gekauft, dieses Getreide kam im Juli und August an, als die
Preise des Getreides schon gesunken waren, weil die Ernteaussichten
sich günstiger, als man erwartet hatte, erwiesen. Der Preisfall hatte
die Getreidehändler ruiniert und hat den Ausbruch einer schweren
Handelskrisis nach sich gezogen.
Von Oktober ab werden die Wechselkurse für England günstig,
aber der Goldabfluss aus der Bank von England dauert fort. Offen-
bar ist die Entwickelung der Krisis in ein neues Stadium getreten:
der external drain hat einem internal drain Platz gemacht; der durch
die ungünstige Handelsbilanz hervorgerufene Goldabfluss nach dem
Auslande machte Platz dem Goldabfiusse nach dem Inneren des
Landes. Diese Aenderung wurde durch die Panik, welche den eng-
lischen Geld- und Warenmarkt erfasst hatte, hervorgerufen.
Den niedrigsten Stand (1,2 Millionen Pfund St.) hat die Reserve
der Bank von England am 30. Oktober erreicht. Seit dem 2. Ok-
tober, d. h. 28 Tage hindurch, hat die Reserve der Bank um 2,2 Mill.
Pf St., der Barvorrat der Bank aber nur um 0,2 Millionen Pfund
abgenommen. Die stärkere Verminderung der Reserve zeigt, dass
innerhalb des Landes nicht nur Gold, sondern auch Banknoten ver-
langt wurden. Ueberhaupt vermindert sich das Vertrauen zu den
Noten der Bank von England während der Krisen nicht im ge-
ringsten, und da die Uebersendung der Noten und der Verkehr mit
ihnen viel leichter und bequemer ist als der Gold verkehr, so war
auch während der Panik von 1847 ^i^ Nachfrage nach Banknoten
noch grösser als nach Gold. In diesem Sinne haben viele die von
der Parlamentskommission von 1847 — 4^ befragte Zeugen ausgesagt.
So teilte z. B. der Bankier Birbeck mit, dass während der
Panik seine Bank und andere ihm bekannte Bankhäuser ihre Re-
serven um 75—100% im Vergleich zu den in ruhigen Zeiten ver-
mehrt haben. Diese Reserven bestanden hauptsächlich aus Noten
der Bank von England i).
Der Entwickelungsgang der Krisis von 1847 ist sehr gut von
dem Direktor der Bank von England Morris, der eine Aussage vor
der genannten Parlamentskommission gemacht hat, dargestellt worden:
„Der Zusammenbruch der Mehrzahl der Getreidespekulanten, der auf
das Fallen der Getreidepreise folgte, hat die Einstellung der Zahlungen
seitens eines grossen Bankhauses, das enge Verbindungen mit der
i) First Report on Commercial Distress. Minutes of Evidence. Aussage von Bir-
beck. Q. 5771—5773-
^ Ш
— из —
Provinz hatte, herbeigeführt. Die Einstellung der Zahlungen dieser
Firma hat einen der Hauptkanäle der Kreditcirkulation zwischen Lon-
don und der Provinz zerstört und eine allgemeine Beunruhigung im
Lande hervorg*erufen. Es folgte dann der Zusammenbruch noch
einiger grosser Getreidehandelsfirmen, und darauf haben nacheinander
die Zahlungen eing"estellt : die Königliche Bank in Liverpool, die
Liverpooler Kreditgesellschaft, die Bank von Nord- und Südwales,
einige Bankhäuser und die Newcastler Bank, auch die Nortumber-
lander und Durhamer Banken kamen durch den Ansturm des Publi-
kums in grosse Gefahr. Alle diese Unglücksfälle haben eine Panik
und eine fast vollständig-e Vernichtung des Kredits zur Folge gehabt.
Die Londoner Bankiers waren nicht mehr in der Lage, ihren Kunden,
wie gewöhnlich, Kredit zu gewähren und diese letzteren mussten sich
an die Bank von England um Hilfe wenden. Alle fingen an, ihre
Reserven zu vermehren, und aus diesem Grunde klagten alle über
Mangel an Geld, obwohl sich in den Händen des Puplikums um 4
oder 5 Millionen Pfund Sterling mehr Banknoten und Goldmünzen
befanden als im August. Infolge der Zerstörung des Kredits konnten
die Firmen, die einen Handel mit dem Auslande führen und gewohnt
waren, ihre Wechsel nach Ablauf ihrer Frist zu erneuern, ihren Ver-
I pflichtungen nicht nachkommen und mussten ihre Zahlungen ein-
I stellen"!).
Am 23. September erhöhte die Bank von England den Diskont
für Dreimonatwechsel auf 6 ^Д, und am i. Oktober erklärte die Direk-
, tion der Bank, dass sie gegen Verpfändung von Staatspapieren und
! Consols keinen Kredit mehr gewähren werde. Aber alle diese Mass-
I nahmen haben die Panik nicht abgeschwächt, sondern nur gestärkt
und konnten daher die Verminderung der Bankreserve nicht authalten,
obwohl das Geld im Oktober schon aus dem Auslande nach England
wieder zurückkehrte. Nach der Aussage von Morris kam nach der
Erhöhung des Diskonts eine bedeutende Summe Goldes aus Russland,
und die Empfänger desselben erklärten Morris, dass sie Gold nur aus
dem Grunde einführten, weil der hohe Diskont in England diese
Operation vorteilhaft machte '•^). Dieses Gold war kein russisches
II Kapital, sondern es gehörte englischen Kapitalisten, die es für vor-
teilhaft gefunden hatten, es im Auslande zu halten.
Trotzdem nahm die Reserve der Bank von England immer ab,
bis sie Ende Oktober unter die Summe fiel, die die Londoner Ban-
i) First Report on Commercial Distress. Minutes of Evidence. Aussage von
Morris and Prescott. Q. 2675.
2) A. a. O. O. 2840.
Tugaii- Buraiiowbky , Die; Handelskrisen. У
114 —
kiers in der Bank von England als Depositen hatten. Diese Depo-
siten konnten jeden Augenblick von den Eigentümern zurückgefordert
werden, und die Bank von England lief Gefahr, zahlungsunfähig zu
werden, obwohl ihr Barvorrat mehr als 8 Millionen Pfund Sterling
betrug. Die Panik erreichte ihren Höhepunkt. Der Regierung wurden
von allen Seiten Petitionen eingereicht um Suspendierung des Ge-
setzes von 1844, das der Bank von England das Recht genommen
hatte, über ihre ganze Kasse zu verfügen.
Am 23. Oktober empfahl die Regierung der Direktion der Bank,
sich in ihren Operationen nicht mehr an die betreffenden Bestimmungen
des Gesetzes zu halten, den Diskont aber auf 8 7o ^^^ erhöhen. Die
Panik hörte sofort auf, da das Publikum die Sicherheit erlangte, dass
man im äussersten Ealle immer bei der Bank von England Hülfe
finden konnte. Nach der Aussage des Bankiers Pease war es einige
Tage vor der Veröffentlichung des Regierungserlasses vom 23. Oktober
ganz unmögHch, die sichersten Wechsel zu diskontieren, so sehr fürch-
teten alle ihre Reserven zu vermindern i). Die Note der Regierung
hat das Vertrauen wieder hergestellt und, was besonders bemerkens-
wert ist, die Wiederherstellung des Vertrauens beruhte auf einem rein
psychologischen Moment: thatsächlich kam die Bank von England
gar nicht dazu, das ihr gegebene Recht auszuüben, die Ausgabe
ihrer Noten über die gesetzlich bestimmte Norm zu erweitern. Die
Darlehen an Privatpersonen vermehrten sich sehr unbedeutend und
die Summe der von der Bank verausgabten Noten überschritt die
vom Gesetz festgesetzte Norm nicht.
Wie man aus der oben angeführten Tabelle des Contos der
Bank von England ersieht, vollzog sich die Liquidation der Krisis
von 1847 viel schneller als in den analogen vorangegangenen Epochen.
Schon zu Beginn des Dezembers desselben Jahres stieg die Reserve
der Bank von England auf über 5 MilHonen Pfund Sterling und der
Barvorrat auf 1 1 Millionen Pfund Sterling.
Unter dem Einfluss der Krise von 1847 hat sich die Zahl der
Bankerotte in England und Wales im Vergleich zum vorangegan-
genen Jahre um 24 ^o vermehrt; es ist das eine unbedeutende Ver-
mehrung, aber im Vergleich zum Jahre 1845 haben im Jahre 1847
um 65 7o m^hr Bankerotte stattgefunden. Die meisten Bankerotte
fanden im November statt, als die Panik auf dem Geldmarkte schon
vorübergegangen war.
i) Plrst Report on Commercial Distress. Minutss of Evidence. Aussage von Pease.
Q. 4619.
Л
I I
Die Krise von 1847 ^^^^ ^^^ den Preis der Eisenbahnaktien
einen starken Einfluss ausgeübt. Bis Anfang 1850 fielen die Kurse
der Aktien. Die Einnahmen der neu erbauten Eisenbahnen konnten
infolge der allgemeinen Geschäftsstockung, die zu einer Einschränkung
des Personenverkehrs und des Warentransportes auf den Eisenbahnen
führte, ohnehin nicht gross sein; die Geldklemme hat zum Fallen der
Kurse der Aktien noch mehr beigetragen. Die folgende Tabelle
zeigt den Umfang der Verluste der englischen Kapitalisten bei den
Eisenbahnunternehmungen in den 40er Jahren ^).
Dezember
1845
Dezember
1849
Kapital, das im Eisenbahnbau des Vereinigten Königreichs
angelegt war (in Millionen Pfund)
Börsenpreis desselben (in Millionen Pfund)
Reingewinn bezw. Verlust der Aktienbesitzer (in Millionen
Pfund)
100
160
+ 60
230
1,10
120
Im Jahre 1845 haben alle Personen, die ihre Kapitalien in Eisen-
bahnunternehmungen angelegt hatten, 60 Millionen Pfund gewonnen;
das hat einen Zufluss von weiteren 130 Millionen Pfund zu den Eisen-
bahnunternehmungen hervorgerufen — und als Endresultat hat sich ein
reiner Verlust von 120 Millionen Pfund Sterling ergeben, die Ge-
samtsumme des Verlustes betrug aber 180 Millionen Pfund Sterling.
Die Warenpreise haben sich (ausser denen des Getreides) im
Jahre 1847 wenig verändert. Aber im folgenden Jahre ist schon ein
allgemeiner Preisfall zu bemerken. Im Vergleich zum JuH 1847 waren
Juli 1848 gesunken die Preise von
Rohbaumwolle (Georgia) . . . um 37 ^/^
Zucker (MuscaA'ados) ,, 7
Holz (aus Danzig) y, ^7
Eisen (britisches) »31
Kupfer (britisches) ,, 10-)
Die Krise von 1847 wirkte am schwersten zurück auf die Baum-
wollindustrie und auf viele Zweige der Montanindustrie, insbesondere
auf die Eisen- und Steinkohlenindustrie.
Es ist interessant, dass, obwohl die unmittelbare Ursache der
Krisis die Missernte bildete, durch Zeugenaussagen vollauf die That-
sache festgestellt worden ist, dass die landwirtschaftlichen Bezirke
i) Tooke, History of Prices. V, 372.
2) Berechnet nach den Tabellen Tookes in History of Prices. Vol. IV und VI.
— II6 —
Englands und Schottlands von der Krise unberührt geblieben sind;
diese richtete ihre grössten Verheerungen im Lancashire und Staf-
fordshire an ^).
Die Krise von 1847 unterscheidet sich in vielen Beziehungen
wesentlich von den vorangegangenen Krisen der Jahre 1825 und 1836.
Beide letztere Krisen waren durch eine rasche Erweiterung des
Exporthandels Grossbritanniens und darauffolgende Abnahme der
Ausfuhr hervorgerufen worden. In den Jahren 1825 und 1836
wanderte das britische Kapital nach dem Auslande und hatte
dadurch im Auslande eine neue Nachfrage nach britischen Waren
geschaffen. Im Jahre 1847 blieb das britische Kapital im Lande und
wendete sich Eisenbahn Unternehmungen zu, trotzdem aber sank die
zuerst stark in die Höhe gegangene Nachfrage nach Waren auf dem
inneren Markte, weil die günstige Wirkung der Ausgaben für die
EisentDahnunternehmungen durch zwei nachfolgende Missernten, die
eine gesteigerte Einfuhr von Getreide notwendig machten und dessen
Preis ausserordentlich erhöhten, durchgekreuzt worden war. Im Jahre
1847 sind in England auf den Bau von Eisenbahnen 40 Millionen
Pfund Sterling aufgewandt worden, was den inneren Handel sehr be-
leben musste, gleichzeitig war aber für den inländischen Konsum Ge-
treide im Werte von beinahe 30 Millionen Pfund eingeführt worden,
und ausserdem war noch für den Ankauf von Baumwolle, die auch
durch die Missernte gelitten hatte und im Preise gestiegen war, ein
Mehr von einigen Millionen Pfund verausgabt worden. So kam es,
dass der innere Markt Englands im Jahre 1847 nicht nur keine Aus-
dehnung, sondern vielmehr eine Einengung erfahren hat. Die Lage
des auswärtigen Marktes wurde auch keine günstige infolge der-
selben Ursache, der Missernte.
Die Krise von 1847 ist also nicht durch ein übermässiges
Warenangebot hervorgerufen worden, sondern durch eine plötzliche
Abnahme der Nachfrage, die auf die Erweiterung der Produktion
und den industriellen Aufschwung der vorangegangenen Jahre folgte.
Daher waren auch die äusseren Symptome der Krise von 1847 ganz
andere als die der früheren: in den Jahren 1836 und 1825 war der
Krise eine lebhafte Spekulation auf dem Warenmarkte vorangegangen,
die die Preise der meisten Waren, insbesondere die Preise der Kolonial-
produkte, welche den Hauptgegenstand des Zwischenhandels Englands
mit Europa bilden, . in die Höhe getrieben hatte. Im Jahre 1847
i) Vergl. First Report on Com. Distress, Aussagen von Gurney, Q. 1710 — 1712,
Cotton, Q. 445, Second Report, Aussage von Macfarhin, Q. 7648.
— 117 —
stiegen die Preise der Mehrzahl der Waren gar nicht, nur der Preis
des Getreides stieg schnell, um darauf ebenso schnell wieder zu fallen.
In den Jahren 1825 und 1836 war die Krisis ganz unerwartet ein-
getreten. Der aussergewöhnliche Aufschwung des englischen Handels
und der Industrie während der ersten Hälfte des Jahres war Ende
Jahres einem plötzlichen Zusammenbruch des Kredits und der Ge-
schäftsstockung gewichen. Im Jahre 1847 bereitete sich die Krisis
ganz allmählich vor, eine Einschränkung der Produktion und eine
Handelsstockung ging ihr bereits voran. In den Jahren 1825 und
1836 hatte sich der Barvorrat der Bank von England ununterbrochen
während des ganzen Jahres verringert; im Jahre 1847 hingegen haben
zwei Geldkrisen stattgefunden — die eine im April, auf die eine Ver-
mehrung des Metallvorrats der Bank von England gefolgt war, und
die andere im Oktober.
Als eine der wichtigsten Ursachen der Krisis von 1847 wird
fast allgemein die Immobilisierung des englischen Kapitals infolge
Eisenbahnbauten anerkannt. Eine solche Auffassung wurde z. B. in
einer ganzen Reihe sehr geistreicher Artikel im „Economist" ver-
treten (diese Artikel, deren Verfasser der Herausgeber dieser einfluss-
reichen Zeitschrift, James Wilson, war, sind auch in einer Separat-
ausgabe unter dem Titel „Capital, Currency and Banking" erschienen).
So lesen wir z. B. im „Economist" vom i. Mai 1847 folgendes: „Wir
haben einen bedeutenden Teil unseres Kapitals, oder, was dasselbe
ist, uns zur Verfügung stehender nützlicher Dinge auf den Eisenbahn-
bau verwendet. Dieses Kapital erzeugt keine neuen Produkte oder
irgend etwas anderes, was wir gegen die Waren, welcher wir bedürfen,
umtauschen könnten. Dieser Umstand musste unsere Ausfuhr not-
t wendigerweise herabsetzen, während unsere Konsumtion zugenommen
hat und die Einfuhr der ausländischen Waren sich vermehrte. Der
■ Notstand, an dem wir kranken, hängt vom Mangel an Kapital, vom
• Mangel an Waren ab; diesen Notstand zu vermeiden ist nur durch
• eine Steigerung der Ersparnisse und der Arbeitsproduktivität möglich".
Die Auffassung von Wilson wurde von den meisten Schriftstellern
jener Zeit geteilt, die über die Krisis von 1847 schrieben, — so z. B.
' von dem berühmten Samuel Jones Loyd (Lord О verstone), dem geistlichen
' Vater der Peelschen Bankakte, dem hervorragenden Vertreter der so-
genannten Currency theory Robert Torrens — ebenso wie von dem
entschiedensten Gegner dieser Theorie Thomas Tooke. In demselben
' Sinne haben sich auch viele der von der Parlamentskommission der
Jahre 1847 — 48 verhörten Zeugen ausgesprochen — darunter die Di-
rektoren der Bank von England Morris und Prescott, die Bankiers
— 1 1 8 —
Hodgson, Loyd und andere. Nach der Aussage von Tooke haben
die Eisenbahnbauten eine ungünstige Wirkung auf die gesamte
Volkswirtschaft ausgeübt, infolge der Verwandlung eines grossen
Teiles des umlaufenden Kapitals in stehendes und Verringerung des
in der Industrie und im Handel angewandten Kapitals ^). Die
Zurückführung der Krisis von 1847 ^^^ ^i^ Immobilisierung des eng-
lischen Kapitals infolge Eisenbahnbauten finden wir auch bei den
meisten neueren Krisenhistorikern (so z. B. bei Max Wirth, Juglar,
Leone Levi, Hyndman u. a.). Dennoch können wir trotz dieses über-
einstimmenden Urteils der Praktiker und der Männer der Wissen-
schaft über die Ursachen der genannten Krisis, dasselbe in obiger
Fassung nicht anders als für irreführend erklären. Sehr cha-
rakteristisch ist es, dass, während die Theoretiker und die Bankiers
den Mangel an Kapital in Handel und Industrie behaupteten, die
Industriellen und Händler selbst einen solchen entschieden vor der
Kommission von 1847 — 4^ abgeleugnet haben (Vrgl. die Aussagen
der Fabrikanten und Händler Salt, Münz, Terner u. a.). Nach unserer
oben entwickelten Auffassung haben die Eisenbahnbauten nicht nur
keine Einschränkung der nationalen Produktion Englands, keine Л^ег-
ringerung der in England erzeugten Produkte verursacht, sondern,
umgekehrt, die englische Industrie im hohen Grade gefördert. In dem
angeführten Citat aus dem „Economist" wird die Abnahme der Aus-
fuhr der britischen Produkte in den Jahren 1846 und 1847 (übrigens,
eine sehr unbedeutende) der Verminderung des in der Produktion
verwendeten Kapitals zugeschrieben. Wäre es aber richtig, dass die
Einschränkung der engUschen Produktion durch den Kapitalmangel
hervorgerufen wurde (und nicht durch den Mangel an Nachfrage),
so müssten die Preise der englischen Fabrikate hoch stehen. Gerade
das Gegenteil war jedoch der Fall — die Preise der baumwollenen
Gewebe konnten — wie wir es oben gesehen haben — selbst der
Erhöhung der Preise des Rohstoffes nicht folgen. Also, nicht Mangel
an Kapital, sondern Mangel an Nachfrage (wegen der Missernte) ist ]У
die unmittelbare Ursache der Krisis von 1847 gewesen.
Auf die Eisenbahnbauten wurden dieselben Kapitalien, die früher
aus England nach dem Ausland abflössen, verwendet. Allerdings kann
man Wilson beistimmen, wenn er sagt, dass der grösste Teil der
jährlichen Ersparnisse Englands, welche, nach seiner Schätzung, die
bedeutende Summe von 60 Millionen Pfund erreichten, kein freies,
i) First Report on Commercial Distress. Minutes of Evidence. Aussage von Th.
Tooke. Q. 5306.
119 —
disponibles Kapital bildete und seiner gewöhnlicher Verwendung
nicht entzogen werden könnte. „Der grösste Teil unserer Erspar-
nisse — führt Wilson in seiner oben citierten Schrift aus — wird
durch die Erweiterung und Vervollkommnung der zahlreichen Zweige
unserer Industrie absorbiert und ist für die Auf r echthalt ung unseres
sich rasch ausdehnenden Handels durchaus notwendig. Die Kapita-
lien werden hauptsächlich durch die industriellen und handeltreibenden
Gesellschaftsklassen akkumuliert. Bei rascher Bevölkerungszunahme
und ebenso schneller Entwicklung des Handels und der Industrie
unseres Landes bedürfen die Unternehmer, als Regel, für die Er-
w^eiterung ihrer eigenen Geschäfte alle ihre Ersparnisse; und es steht
ausser Zweifel, dass in der neuesten Zeit, bei einem so belebten Han-
del und so enorm angewachsenen Bergbau, Fabrikindustrie und
Schiffahrt, das Bedürfnis nach dem Kapital viel grösser als je früher
sein muss"i). Daraus zieht Wilson die Schlussfolgerung, dass die
auf den Eisenbahnbau verwendeten Kapitalien kein freies, disponibles
Kapital bildeten, sondern der Industrie und dem Handel entzogen
wurden, was ohne Einschränkung der nationalen Produktion Englands
unmöglich war.
Diese Schlussfolgerung durfte als unbestreitbar gelten, solange
die Lehre der klassischen Nationalökonomie, dass die Produktion
durch die Menge des Kapitals beschränkt wird, richtig wäre. Doch
ist diese Lehre, in ihrer absoluter Form, unhaltbar. Wilson
(wie J. S. Mill und andere Vertreter dieser Lehre) lässt einen höchst
wichtigen Umstand ausser acht: nämlich, dass dieselbe Menge der
Produktionsmittel — des Kapitals — eine sehr verschiedene Pro-
duktenmasse schaffen mag, je nach der Dauer der Umschlagszeit des
Kapitals und dem Grade, in welchem die Produktionsmittel eine pro-
duktive Verwendung finden. Das brach liegende Kapital — ebenso
wie Maschinen, Werkzeuge, Rohstoffe, während sie in den Waren-
lagern auf die Käufer w^arten, erzeugen keine Produkte. Jede Be-
schleunigung der Warencirkulation muss auf die wStufenleiter der ge-
sellschaftlichen Produktion gerade dieselbe Wirkung ausüben wie
die Vermehrung des gesellschaftlichen Kapitals. Bei gegebener
Grösse des vorgeschossenen Kapitals wächst die Stufenleiter der Pro-
duktion im umgekehrten Verhältnis zur Umschlagsperiode des Ka-
pitals 2). Darum ist die gesellschaftliche Produktion auch bei gleich-
bleibender Grösse des gesellschaftlichen Kapitals einer raschen Aus-
dehnung fähig. Und das ist eben, .was die Geschichte der englischen
1) Wilson, Capital, Currency and Banking, S. ii.
2) Vergl. Marx, Das Kapital, II. Band, 2. Abschnitt. Der Umschlag des Kapitals.
I 20
Industrie mehrmals erwiesen hat: jede Steigerung der Nachfrage ruft
sofort ein entsprechendes oder meistens ein stärkeres Wachstum der
Produktion hervor — obwohl das gesellschaftliche Kapital dasselbe
bleibt. Nicht Mangel an Kapital, sondern Ueberschuss an Kapital
ist die eigentümliche Krankheit der englischen Industrie.
Dasselbe gilt auch für die Periode der Eisenbahnspekulationen
der 40er Jahre. Mangel an freiem, disponiblem Kapital kann nicht
ohne Einwirkung auf den Geldmarkt bleiben — in der Höhe des Dis-
konts muss dieser Mangel zum Ausdruck kommen. Der Zustand des
englischen Geldmarktes aber während der ganzen Periode des Auf-
schwungs und der Eisenbahnspekulationen der 40er Jahre beweist
nicht nur keinen Kapitalmangel, sondern einen Ueberschuss des
freien Anlage suchenden Kapitals: der Diskontsatz ist während dieser
Zeit ungewöhnlich niedrig geblieben. Das beweist, dass trotz der
enormen Verwendung des englischen Kapitals auf die Eisenbahn-
bauten der englische Handel und die Industrie keinesfalls an Man-
gel an umlaufendem Kapital leiden konnte.
Die Bestimmung des Charakters des Einflusses, welchen die
Eisenbahnbauten auf die Krisis von 1847 ausgeübt hatten, hat ein
grosses theoretisches Interesse, da bis jetzt viele Krisentheoretiker die
Krisen von der Immobilisierung des gesellschaftlichen Kapitals ab-
leiten. Und zwar enthält diese Lehre in sich einen Kern der Wahr-
heit — aber der Zusammenhang zwischen der Verwandlung des
flüssigen Kapitals in stehendes und den Krisen ist ein anderer
als der von den genannten Autoren angenommene. Diesen Zusam-
menhang aufzudecken und zu erklären bildet die Aufgabe eines der
folgenden Kapitel dieser Schrift.
in
KAPITEL IV.
Die Krisen der 50er und 60er Jahre.
Der Charakter der Schwankungen der englischen Industrie in dieser Zeit. — Die
Krisis von 1857. — Ihr Weltcharakter. — Der Abfluss des europäischen Kapitals nach
den Vereinigten Staaten. — Die Land- und Eisenbahnspekulationen. — Das Sinken der
Getreidepreise und die Bankerotte. — Die Rolle des englischen Kapitals in den amerikanischen
Spekulationen. — Die Krisis in England. — Der gleichzeitige Goldabfluss nach dem Innern
des Landes und nach dem Auslande. — Die Suspendierung der Pe eischen Akte. — Die
Geldkrisis von 1864. — Der Metallabfluss nach dem Orient. — Die DiskontpoHtik der
Bank von England. -- Die Kreditkrisis von 1866. — Der Einfluss des „Baumwoll-
hungers" auf den allgemeinen Zustand der englischen Industrie. — Der Gründungsschwindel.
— Der Zusammenbruch der Firma Overend & Co. — Die Panilc. — Die dritte Suspen-
dierung der Peelschen Akte. — Vergleichung der Krisis von 1866 mit den anderen Krisen.
— AVarum finden die Handelskrisen gewöhnlich im Herbste statt?
Die Aufhebung der Korngesetze und der Uebergang Englands
zum Freihandel sollten, nach der Meinung vieler englischen Frei-
händler der 30er und 4G^er Jahre, frühere gewaltige Schwankungen
der englischen Industrie unmöglich machen. Aber wie die Bank-
1 reform von Robert Peel sich als ein höchst unglückliches Heilmittel
für die eigentümliche Krankheit der kapitalistischen Produktionsweise
— die Handelskrisen — erwies, ebensowenig vermochte der Frei-
handel Krisen vorzubeugen. Die unten folgende Tabelle und das bei-
gefügte Diagramm Nr. 2, zeigen die jährlichen Veränderungen der
englischen Industrie und des Handels in den Jahren 1851 — 70 an.
Wir sehen auf dem Diagramm, dass die Kurve des Exportes
mit nur geringen vSchwankungen stark in die Höhe geht. Dieser
Schwankungen können wir vier bemerken: die Ausfuhr sinkt in den
Jahren 1854—55 (Krisis in AustraUen), 1858 (Handelskrisis in England),
1861 — 62 (Baumwollhunger) und 1867—68 (Geschäftsstockung nach
der Kreditkrisis von 1866).
122
Wert der Ausfuhr
Zahl der im Ver-
einigt. Königreich
gegründeten Ak-
tiengesellschaften ^ )
Durchschnitts-
Barvorrat der Bank
Jahre
der Produkte des
Vereinigten König-
reichs (in MilHonen
Pfund) *)
preise des schotti-
schen Roheisens
(für eine Tonne in
Schillingen) ^)
von England Ende
Oktober jeden
Jahres (in Milli-
onen Pfund)'"')
1851
74
—
40
I5>2
1852
78
—
45
21,2
1853
99
—
62
i5'3
1854
97
—
80
13,6
1855
96
—
71
11,3
1856
116
—
73
9,6
1857
122
—
69
8,7
1858
117
—
54
19,1
1859
130
—
52
16,9
1860
136
—
54
14,1
1861
^25
—
49
14,2
1862
124
—
53
15,5
1863
147
790
56
44
1864
160
997
57
13,1
1865
166
1034
55
13,2
1866
189
762
61
16,7
1867
181
479
54
22,7
1868
179
461
53
19,8
1869
iqo
475
53
18,8
1870
200 595
54
22,0
Im Durchschnitt
136
699
57
15.8
Die Kurve der Gründung von Aktiengesellschaften steigt stark
in den Jahren 1863 — 65, sie sinkt im Jahre 1866, fällt am tiefsten im
Jahre 1868, fängt dann aber wieder zu steigen an.
Die Kurve der Eisenpreise steigt zuerst rasch, um darauf zu
fallen; das stärkste Sinken entfällt auf das Jahr 1858, schwächere Sen-
kungen finden statt in den Jahren 1855, 1861, 1865 und 1867 — 68.
Gehen wir jetzt zu der letzten Kurve über — der des Bar-
vorrats der Bank von England. Diese Kurve weist auf den Zustand
des Kredites hin. Vom Jahre 1852 an sinkt sie ununterbrochen bis zum
Jahre 1857, wo der Vorrat an Edelmetallen in der Kasse der Bank
am tiefsten fällt. Daraus können wir schliessen, dass bis zu diesem
Jahre der eng-lische Kredit immer weiter ausgedehnt wurde. Im Jahre
1858 vermehrt sich der Barvorrat der Bank plötzHch auf mehr als
das Doppelte, das beweist, dass im Jahre 1858 eine plötzliche Einschrän-
kung des Kredites stattgefunden hat — also eine Handelskrisis. In
i) Nach den Statistical Abstracts for the United Kingdom.
2) Nach den Tabellen von Sauerbeck (Augustus Sauerbeck, On Prices of Commodi-
ties and the Precious Metals, Journal of Statistical Society of London, 1866 Sept.).
3) Bis 1857 nach dem Report from the Select Committee on Bank Acts. 1857.
App. N0. 13; nach 1857 nach Returns of the Bank of England. 1873.
Tugan-Baranowsky, Die Handelskrisen.
Zur S. 12 2.
Diagramm No. 2
Jahre
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Jahre
\
X
~ 123 --
den Jahren 1861 — 1862 hat die englische Ausfuhr wieder eine Ein-
schränkung- erfahren und zwar eine stärkere als im Jahre 1858. Der
Barv4^rrat der Bank von England ist aber im Jahre 1861 fast gar nicht
und in den Jahren 1862 nur unbedeutend gestiegen; also, wenn der Kredit
im Jahre 1862 auch eine Einschränkung erfahren hat, so doch eine sehr
geringe. In den Jahren 1863 — 64 bemerken wir ein Fallen des Bar-
vorrats. Da auf eine Handelskrisis immer eine Vermehrung, nicht
aber eine Verminderung der Kasse der Bank folgt, so müssen
wir schliessen, dass es in den Jahren 1861 — 62 keine Handels-
krisis gegeben hat. Und in der That war der gedrückte Zu-
stand der englischen Industrie in den Jahren 1861 — 62 durch eine
ganz zufbillige Ursache — den Bürgerkrieg der nordamerikanischen
Staaten — bedingt. Die englische Ausfuhr nach den Vereinigten
wStaaten betrug im Jahre 1860 22,9 Millionen Pfund, im folgenden Jahre
aber sank sie auf 11,0 Millionen Pf. herab; infolge dessen sank auch
die Gesamtsumme der englischen Ausfuhr.
Im Jahre 1867 steigt der Barvorrat der Bank von England stark
und steht einige Jahre hindurch höher als Ende der 50er Jahre.
Das deutet auf eine noch stärkere Einschränkung des Kredites hin
als nach der Krisis von 1857. Ein niedriger Metall Vorrat, niedrige
Preise, eine Stockung der Industrie, kurz alle Eolgen einer Handels-
krisis sind in den Jahren 1867 und 1868 zu beobachten. Aber zu-
gleich sieht man im Jahre 1866 nicht nur kein Fallen des Barvorrats der
Bank von England (ein solches Fallen geht immer einer Handelskrisis
voran), sondern, umgekehrt, eine Steigerung der Kasse. Also, лvenn
im Jahre 1866 auch eine Krisis stattgefunden hat, so hatte diese Krisis
einen ganz eigentümlichen Charakter gehabt; ihr Entwickelungsgang
ist ein anderer gewesen als der der vorangegangenen Krisen. Und
in der That unterschied sich die Krise von 1866 in vielen Be-
ziehungen von allen anderen Krisen. Das Sinken des Barvorrats und
die Panik auf dem Geldmarkte haben im Jahre 1866 nicht im Herbste,
wie das gewöhnlich bei den Krisen der Fall ist, sondern im Frühling
stattgefunden; im Oktober war die Kasse der Bank von England
bereits wieder mit Gold gefüllt, und daher ist das Jahr 1866 in un-
serer Tabelle ein Jahr des Steigens und nicht des Sinkens des
Kassenbestandes der Bank von England, obwohl im Mai 1866 in der
Kasse der Bank nicht mehr als 8 Millionen Pfund Metall geblieben
waren.
Nunmehr wenden wir uns zu einer ausführlichen Betrachtung
der Krisen dieser Epoche.
— 124
Die Krisis von 1857.
Oben wurde es schon auf die günstigen Bedingungen in den
50er Jahren für die Entwickelung des enghschen Handels und der
Industrie hingewiesen. Die Entdeckung der Goldlager in Cahfor-
nien und Australien hat für die enghschen Fabrikanten neue ausge-
zeichnete Märkte geschaifen, und der andauernde Goldzufluss nach
England aus diesen Ländern hat England die Möglichkeit gegeben,
den Krimkrieg ohne Störung seiner Geldcirculation zu überstehen.
Die Beendigung dieses Krieges im Jahre 1856 hat der englischen In-
f^ jstrie, die sich ohnedies in einem blühenden Zustand befand, einen
neuen Anstoss gegeben.
Die Handelskrisis von 1857 war die erste Weltkrisis. Die
Krisen des zweiten Viertels des Jahrhunderts waren vorwiegend eng-
lische und amerikanische Krisen gewesen. Es ist das auch begreif-
lich: die Handelskrisen bilden die specifische Krankheit der kapita-
listischen Wirtschaftsordnung. Bis zum Ende der 40er Jahre war
die kapitalistische Produktion auf dem europäischen Kontinente noch
sehr wenig entwickelt. Erst die Revolution von 1848 zeigte für
Europa die neue kapitalistische Aera an. Und daher beginnen die
kontinentalen europäischen Staaten erst nach den vierziger Jahren in
höherem oder geringerem Maasse, je nach der Reife der kapitali-
stischen Produktionsweise in jedem einzelnen Staat, von der Flut
und Ebbe des Kapitalismus getroffen zu werden. Die kapitalistische
Industrie ist seit den 50er Jahren fast überall in eine rasche auf-
steigende Entwickelung geraten. Und am schnellsten in dem
Lande, das mit der Unternehmungslust der Bevölkerung uner-
schöpfliche Naturreichtümer vereinigt — in den Vereinigten Staaten
von Nord-Amerika. Die Vereinigten Staaten dienen für Europa
gewissermassen als eine Zufluchtsort sowohl für die überschüssige
Bevölkerung wie für die überschüssigen Kapitalien. In den 30er
Jahren waren nach Amerika hauptsächlich englische Kapitalien aus-
gewandert. Anfang der 50er Jahre strömten nach Amerika unter
dem Einfluss der politischen Unruhen Kapitalien nicht nur aus Eng-
land, sondern auch aus anderen europäischen Staaten. Nach einer
Schätzung von A. Seh äff le waren in den Jahren 1849 — 54 1000 Mil-
lioner Gulden wenigstens in amerikanische Wertpapiere übertragen ^).
Die Auswanderung der europäischen Kapitalien nach Amerika hielt
i) A. Schaf fle, Gesammelte Aufsätze. Die Handelskrisis von 1857, S. 58.
— 125 —
noch an, als die politische Gärung in Europa bereits aufgehört hatte,
und es ist bemerkenswert, dass selbst die Erhöhung des Diskonts der
Bank von England auf 5 und 6% und eine starke Nachfrage nach
Kapitalien in England selbst den Abfluss englischer Kapitalien nach
den Vereinigten Staaten nicht aufhalten konnte i). Nach dem Bericht
einer Parlamentskommission von 1858 besassen die englischen Kapi-
talisten Anfang 1857 für 80 Millionen Pfund amerikanische Wert-
papiere -).
Der Zufluss der europäischen Kapitalien nach den Vereinigten
Staaten war zugleich Folge und Ursache des aussergewöhnlichen
Aufschwungs der amerikanischen Industrie in den 50er Jahren. Aller-
dings haben dazu auch andere Umstände beigetragen. So ist der
Krimkrieg, der die Getreideausfuhr aus Russland unterbrach, sehr vor-
teilhaft für die amerikanischen Farmers gewesen. Die Entdeckung
der Goldlager in Californien hat auch eine starke Wirkung in der-
selben Richtung ausgeübt. Kolossale Kapitalien, die nach Amerika
aus Europa kamen, traten zunächst in die Effektenbörse und flössen
von dort aus in die verschiedensten Kanäle der amerikanischen In-
dustrie und des Handels. Die Aktiengesellschaften schössen in den
Vereinigten Staaten wie Pilze aus dem Erdboden. Die Spekulation
warf sich vorzugsweise auf Werte, die das stehende Kapital des
Landes vorstellten. Der Ankauf der Staatsländereien wurde sofort
stark betrieben. In den Jahren 1852—53 wurden in den Vereinigten
Staaten Staatsländern für 1,7 Millionen Dollar, in den Jahren 1854 —
56 aber bereits für 20,4 Millionen Dollar gekaufte).
Den Lieblingsgegenstand der Spekulation bildeten Eisenbahn-
werte. Sehr grosse Kapitalien wurden für den Bau von Eisenbahnen
verwendet. Das Eisenbahnnetz der Vereinigten Staaten erfuhr 1856
eine Erweiterung um 4Y2 Tausend Meilen. Die Ausdehnung der
projektierten neuen Linien war noch grösser. Und zwar wurden
viele Eisenbahnlinien, ganz ohne Rücksicht auf ihre Rentabilität, nur
aus Rücksichten des Börsenspieles erbaut^).
Das Steigen der Warenpreise auf dem amerikanischen Markte
führte zu einer Erhöhung der Wareneinfuhr. Im Jahre 1857 hat die
i) Report from the Select Committee on the Bank Act of 1844. 1858. Minutes
of Evidence. Aussage von Hodgson, Q. 3699 — 3703.
2) Report from the Select Committee on the Bank Act of 1844, S. VIII.
3) A. Schäffle, Zur Lehre von den Handelskrisen (Zeitschrift für die gesamte
Staatswissenschaft, 1858, S. 443.)
4) Moritz Mohl weist hin, dass die Hauptursache der nordamerikanischen Handels-
krisis von 1857 in den Eisenbahnspekulaiionen bestand. Moritz Mohl, Ueber Bank-
manöver, Bankfrage und Krisis, Stuttgart 1858, S. 19.
— 12б
Einfuhr von Waren (ausser den Edelmetallen) nach Amerika um
32 Millionen Dollar, während die Ausfuhr viel geringer, nur um
12 Millionen, zugenommen. Dabei entwickelte sich die amerikanische
Industrie sehr stark. So wurden in den Jahren 1854 — 55 in den
nordamerikanischen Fabriken 679 Tausend Ballen Baumwolle, in den
Jahren 1856 — 57 aber schon 819 Tausend verarbeitet. Diese Ver-
mehrung ist umso auffallender, da die Preise der Baumwolle wegen
einer schlechten Ernte stark gestiegen waren (von 5^8 d. pro Pfund
im Jahre 1855 auf 7^8 d. im Jahre 1857) und, wie wir unten sehen
werden, England seine Baumwolhndustrie einzuschränken genötigt
war. Aber der amerikanische Warenmarkt war so aufgeregt, dass
weder die gesteigerte Einfuhr der ausländischen Waren noch die
hohen Preise der Rohstoffe die Ausdehnung der einheimischen Pro-
duktion verhindern konnte.
Die Zunahme der Warenm^isse auf dem amerikanischen Markte
ging mit dem Steigen der Warenpreise zusammen. Eine solche
Sachlage wurde nur unter der Bedingung einer raschen Ausdehnung
des Marktes möglich. Aber wie elastisch der amerikanische Markt
auch sein mochte, die immer anwachsende Masse der einheimischen
und ausländischen Waren konnte er schliesslich nicht absorbieren.
A. Schäffle giebt in seiner lehrreichen Arbeit über die Krisis
von 1857 folgende Uebersicht des Zustands des Warenmarktes in
New- York in den Jahren 1855 — 57^).
Einfuhr New-Yorks.
Import in den ersten 10 Mo-
naten I. Jan. bis 31. Okt.
1855
Mill. Doli.
1856
Mill. Doli.
1857
Mill. Doli.
Import im Monat Oktober
1855
Mill. Doli.
1856
Mill. Doli.
1857
Mill. Doli.
Zam Konsum verzollt
Dagegen auf Transito-
lager genommen
96,8
21,6
138,8
31,3
117,3
64,2
12,1
2,4
9,9
2,8
2,8
7,4
Mit jedem Jahre häuften sich in den Niederlagen des Zollamtes
grössere Massen der unverkauften Waren an. Die Verbrauchsfähig-
keit des amerikanischen Marktes war nicht imstande, dem Wachs-
tum der Einfuhr Schritt zu halten; das führte zur enormen Vermehrung
der auf Transitolager genommenen Waren — also der Waren, die,
wegen der mangelnden Nachfrage auf dem amerikanischen Markte,
i) A. Schäffle, Gesammelte Aufsätze. Die Handelskrisis von 1857, S. 28.
127 —
nicht in die innere Warencirkulation Amerikas treten konnten. Wo-
mit haben nun die New- Yorker Kaufleute den ausländischen Expor-
teuren für diese auf Transitolager genommenen, also von den ameri-
kanischen Konsumenten nicht verbrauchten Waren gezahlt? Kehren
wir nach England zurück.
Die Kommission, die im Jahre 1858 vom englischen Parlament
eingesetzt worden ist zum Zwecke, die Wirkung der Peels chen Bank-
akte zu untersuchen, hat als Grundursache der Krisis des vorange-
gangenen Jahres den „Missbrauch mit dem Kredit und die dadurch
hervorgerufenen übermässigen Handelsspekulationen" bezeichnet.
Die Aussagen der Zeugen, die von der Kommission befragt
worden sind, haben vollkommen klargelegt, aufweiche Weise die ameri-
kanischen Importeure die Einfuhr ausländischer, hauptsächlich eng-
lischer Waren nach den Vereinigten Staaten vermehren konnten,
ohne ihrerseits irgend ein Kapital anzulegen. Die Sache wurde
in folgender Weise abgemacht. Eine ganze Reihe englischer Bank-
häuser befasste sich mit dem sogenannten „foreign bankin g", mit
Operationen mit dem ausländischen Kredit. Diese Operationen be-
standen im Diskontieren ausländischer Wechsel sowie in der Eröffnung
eines Kredites an ausländische Kaufleute gegen die eine oder andere
Sicherheit oder auch ohne jede Sicherheit ausser der Solidität der
Person, der der Kredit gewährt wurde. Gewöhnlich werden die
„foreign banking" und „local banking" (die Operationen mit dem aus-
ländischen und die mit dem inländischen Kredit) von verschiedenen
Firmen ausgeführt, so dass diejenige Firma, welche die englischen
Wechsel diskontiert, ausländische nicht diskontiert, und umgekehrt.
Aber in den Jahren 1856 — 1857 nahm, infolge des ausserordentlichen
Aufschwungs des amerikanischen Handels, das System des „foreign
banking" eine solche Ausdehnung, dass viele Banken, die sich früher
ausschliesslich mit dem inländischen Kredit befasst hatten, begannen,
amerikanischen Kaufleuten zu kreditieren. Diese wandten sich an
amerikanische Banken, welche Beziehungen mit britischen Kredit-
instituten unterhielten; der Kredit dieser letzteren stand auf den
Börsen der ganzen Welt so hoch, dass ein von ihnen ac-
ceptierter Wechsel in Amerika leicht verkauft werden konnte. Die
\ amerikanischen Bankiers gewährten ihren Kunden den Kredit in der
Form der auf britische Kreditinstitute ausgestellten Wechsel, auf Grund
einer besonderen Vereinbarung mit solchen Instituten. An Zahlungs-
terminen wurden die Wechsel erneuert oder durch andere Wechsel
i) Report of Üie Select Committee on the Bank Act of 1844, S. 28.
— 128 —
getilgt und so wurde die Wechselreiterei im höchsten Grade ge-
trieben 1).
Im Anfange des Jahres 1857 wurde der amerikanische Kredit
zum äussersten angespannt. Solange aber das Vertrauen nicht er-
schüttert war und man die Darlehen leicht erhielt, konnten die ameri-
kanischen Kaufleute sich des Verkaufes ihrer Waren enthalten. Aus
diesem Grunde, trotz einer enormen Ueberfüllung des amerikanischen
Marktes mit den unverkauften Waren und stockendem Absatz, sanken
die Warenpreise während einer gewissen Zeit nicht.
Aber es ist selbstverständlich, dass eine solche Sachlage nicht
lange anhalten konnte. Ihren Höhepunkt erreichten die Warenpreise
im Sommer 1857 (Mai — August). Während einiger Monate vermochte
die Spekulation nicht nur die Preise auf der erreichten Höhe zu er-
halten, sondern sogar sie ein wenig noch mehr zu steigern; im August
jedoch trat eine Reaktion ein. Den Anstoss zu derselben gab die
ausgezeichnete Ernte in Europa im Jahre 1857. Die Preise des Ge-
treides fielen sofort, da aber in den Vereinigten Staaten das Getreide
den wichtigsten Ausfuhrgegenstand bildet, so wirkte das Fallen der
Getreidepreise sofort auf den gesamten amerikanischen Warenmarkt
zurück.
Ende August, sobald der Zustand der Ernte bekannt wurde,
fallierte eine ziemlich kleine Aktienbank „Ohio Life Insurance and
Trust Company". Diese Bank war sehr stark in Eisenbahnspeku-
lationen verwickelt und hatte grosse Vorschüsse auf Wertpapiere
einiger Eisenbahnunternehmungen gemacht. Das erste Fallissement
gab das Signal der Panik — obwohl die fallierte Bank keine hervor-
ragende Rolle im System des amerikanischen Kredits spielte. Die
überaus starke Wirkung dieses ersten Bankerotts beruhte vollständig
auf der höchst gespannten Lage des amerikanischen Geldmarktes.
Der Handel, die Industrie und die Börse wurden zu einer Krisis reif —
und die Krisis brach aus. Die Panik erfasste die gesamten Börsen
Amerikas. Da mit den Eisenbahnunternehmungen am meisten ge-
sündigt wurde, so erlitten auch die Eisenbahnaktien das schwerste
Fallen. Darauf folgte der Sturz der Warenpreise. Zum Dezember
sanken die Preise der meistsn Waren um 20 — 30 ^|^^.
Die Geldklemme wurde so stark, dass im September der Dis-
kont in New-York zwischen 12 und 24 ^Д schwankte und Mitte
Oktober das Diskontieren fast ganz aufgehört hatte wegen Mangels
i) Report on the Bank Act of 1844. Minutes of Evidence, Aussagen von Ball,
Q. 1661 — 92. Colemann, Q. 2054 — 5^« Fleming, Q. 5356 — 75 u. a.
— 129 —
an Kapital. Die Panik dauerte bis Ende Oktober, bereits im November
hörte sie beinahe auf, und am 17. November sank der Diskont wieder
auf 6 o/o-
Bei dem engen Zusammenhang zwischen Amerika und England
musste die amerikanische Krisis notwendigerweise auch auf England
zurückwirken. Man darf aber nicht glauben, dass England eine nur
passive Rolle spielte und dass es nur infolge seiner Beziehungen zu
Amerika in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Krisis von 1857
hat, wie oben gesagt worden ist, einen Weltcharakter gehabt. Die
Universalität der Krisis wurde nicht nur dadurch bedingt, dass der
Handel der ganzen Welt aufs engste mit einander verbunden ist.
Die Hauptursache der weiten Ausbreitung der Krisis bestand darin,
dass die fieberhafte Erregung des Handels und der Industrie, die
stets zu einer Krise führt, in den 50er Jahren in allen kapitalistischen
Ländern mehr oder weniger zu bemerken war. Die Krisis brach zu-
erst in den Vereinigten Staaten aus, weil Nordamerika das beste Feld
für die Anlage des internationalen Kapitals gewesen war. In Amerika
erreichte der Spekulations- und Gründungsschwindel seinen Höhepunkt,
und in Amerika trat zuerst die unvermeidliche Reaktion ein. Jedoch
soll man nicht vergessen, dass die äusserste Anspannung des Kredites
in Amerika hauptsächlich eine Folge der Spekulationen des englischen
Kapitales war. Im Jahre 1857 wiederholte sich gerade dasselbe, was
während der Krisen von 1825 und von 1836 stattgefunden hatte.
Die in einer raschen Entwickelung begriifene englische Industrie be-
darf einer entsprechenden Ausdehnung der Märkte, und diese wird
zum Teil durch das nach dem Ausland emigrierende englische Kapi-
tal geschaffen.
Der Zufluss englischer Kapitalien nach den Vereinigten Staaten
ist eine der wichtigsten Ursachen des industriellen Aufschwunges von
Amerika in den Jahren 1856 — 57 gewesen; da England der Haupt-
lieferant der ausländischen P^abrikate auf dem amerikanischen Markt
war und bleibt, so musste das zur Erweiterung der Ausfuhr der eng-
lischen Produkte nach den Vereinigten Staaten führen, und in der
That vermehrte sich diese Ausfuhr im Jahre 1856 um 4,6 Millionen
Pfund. Der Zuwachs (insbesondere im Vergleich zur Vermehrung
der englischen Ausfuhr nach Amerika in den 30er Jahren) ist aller-
dings als nicht sehr bedeutend zu bezeichnen. Den Grund davon
darf man in der Entwickelung der amerikanischen Industrie suchen.
Wie oben erwähnt, wurde in den 50er Jahren diese Entwickelung so
rasch, dass z. B. die amerikanische Baumwollindustrie im Jahre 1857,
trotz des bedeutenden Steigens der Preise der BaumwoUe, sich erweiterte,
T u g а n - в а r а n 0 w s к у , Die Handel skriseu . 9
I30 —
während die englische eine Einschränkung erfuhr. Gerade die Ent-
wickelung der einheimischen amerikanischen Industrie hat die Zu-
nahme der englischen Ausfuhr gehemmt.
Wie den Krisen von 1836 und 1847 schwächere Erschütterungen
auf der Effektenbörse vorangegangen waren, so ging auch der
Handelskrisis von 1857 eine Börsenkrisis voran. Diese Krisis brach
im Herbst des Jahres 1856 aus; insbesondere litt durch sie die Pariser
Börse, die den Centralpunkt der Börsenspekulationen auf dem euro-
päischen Kontinent bildete i).
Gehen wir jetzt über zur Uebersicht des Contos der Bank von
England im Jahre 1857.
Conto der Bank von England^).
rvorrat
onen Pfd.
St.)
eserve
onen Pfd.
St.)
»iskontierte
echsel (Milli-
en Pfd. St.)
isiten der
oner Ban-
Millionen
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"^ §
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Am 4.
Januar
10,2
4,8
5,8
3,0
6
> 4-
Juli
11,5
5,9
7,5
3,0
6
> I-
August
11,3
5,2
8,0
3,0
57.
, 5-
Septbr.
",5
6,1
7,7
2,6
5'/.
, 3-
Oktober
10,7
4,6
8,5
2,7
5^/.
, 17-
Oktober
9,5
3,2
9,7
3,5
7
, 31-
Oktober
8,7
2,3
1 1,1
3,8
8
, 4-
Novemb.
8,5
2,2
11,4
3,5
8
, II.
Novemb.
7,2
0,96
13,2
4,6
9
, 18.
Novemb.
6,5
1,1
16,0
5,1
10
, 2.
Dezemb.
7,4
2,3
17,8
5,2
10
, 30.
Dezemb.
11,5
6,1
15,2
6,4
8
Bis September 1857 gab die Lage der Bank von England zu
keinen Befürchtungen Anlass. Der Barvorrat war zwar nicht gross,
weil Gold auf dem europäischen Kontinente verlangt wurde, um das
nach dem Orient abgeflossene Silber zu ersetzen. Die Metallvorräte
der Bank nahmen jedoch nicht ab, sondern vermehrten sich sogar
bis zum JuH um 1,3 Millionen Pfund St. Die Stärkung der Reserve
gab der Bank die Möglichkeit, den Diskont von 6 auf 5 Y2 7o herab-
zusetzen. Aber Mitte September gelangen nach England Nachrichten
über die Geldklemme in Amerika; darauf beginnen Metallvorrat und
Reserve der Bank von England sich rasch zu vermindern. Am
1 1 November sank die Reserve der Bank auf die geringfügige
Summe von 958 Tausend Pfund; der Diskont wurde auf 9% erhöht.
i) Ueber die Börsenkrisis von 1856 vergl. Otto Michaelis, Volkswirtschaftliehc
Schriften, Berlin 1873, Bd. I; Handelskrisis von 1857, S. 288 — 324.
2) Nach dem Report on the Bank Act of 1844. Appendix N0. 6.
•«
— 131 —
Gleich darauf fängt die Reserve an zu steigen: in der Zeit vom 1 1 No-
vember bis zum 3. December vermehrt sich die Reserve um mehr
als I Million Pfund, der Barvorrat aber nur um 180 Tausend Pfund.
Ende Dezember stehen Reserve und Barvorrat fast auf derselben
Höhe wie Anfang Juli.
Noch im August war die Direktion der Bank von England von
der Sicherheit der Lage des Geldmarktes dermassen überzeugt, dass
sie sich dazu verstand, der Ostindischen Kompagnie einen Kredit
im Betrag von einer Million Pfund zu gewähren. Die Krise brach,
wie immer, ganz unerwartet aus. Nach dem Berichte der Parlaments-
kommission wurde der englische Handel zu Beginn des Herbstes
des Jahres 1857 ganz allgemein als vollkommen погтаГ und gesund be-
trachtet i). Die Nachrichten über die amerikanischen Bankerotte er-
regten eine allgemeine Unruhe, aber die leitenden Organe der Presse
beharrten dabei, dass England keine Handelskrisis zu befürchten
habe. Mittlerweile begann aber die höchst bedeutende Erhöhung des
Diskontes in den Vereinigten Staaten ihre gewöhnliche Wirkung
auszuüben und das Gold fing an, nach Amerika abzufliessen. In
3 Wochen vom 3. bis zum 24. Oktober sind 684 Tausend Sovereigns
aus der Kasse der Bank von England nach den Vereinigten Staaten
gewandert. Gleichzeitig hat das Gold begonnen, nach dem Inneren
des Landes abzufliessen: in derselben Zeit sind nach Irland 190 Tausend
Sovereigns und nach Schottland 235 Tausend Sovereigns gewandert.
(Die Menge der Goldmünzen, die in die innere Circulation von Eng-
land selbst getreten sind, ist nicht bekannt) 2).
Mitte Oktober gingen die Warenpreise in England stark her-
unter; gleichzeitig begannen die Bankerotte der industriellen Firmen,
die mit Amerika in geschäftlichen Verbindungen standen. Am
24. Oktober stellte die Liverpool Borough Bank ihre Zahlungen ein.
Die Ursache des Zusammenbruchs dieser P*ank bestand in der An-
häufung vieler unbezahlter Wechsel in ihrer Kasse. Die Panik er-
fasste ganz England.
Am 25. November hörte der Goldabfluss aus England nach den
Vereinigten Staaten auf, aber das Gold fuhr fort, noch stärker in die
innere Cirkulation des Landes zu treten. Anfang November machten
einige Fabrikanten und Kaufleute, die sich mit dem Exporthandel
nach Amerika befassten. Bankerott. Die fallierten Firmen hatten mit
dem System der Wechselreiterei starken Missbrauch getrieben. So
. hatte z. B. eine fallierte Firma in London und Schottland allerlei
i) Report of the Commiltee on the Bank Act of 1844, S. 7.
2) A. a. O. Appendix 12.
— 132 —
fiktive Wechsel für insgesamt 235 Tausend Pfund diskontiert i).
Diese Bankerotte zogen den Zusammenbruch einer schottischen Aktien-
bank, Western Bank, nach sich, worauf eine andere schottische Bank,
City of Glasgow Bank, die Zahlungen einstellte (diese letztere Bank
nahm übrigens nach einigen Tagen ihre Zahlungen wieder auf). Die
Stärke der Panik, welche durch den Zusammenbruch zweier grosser
Banken, die seit langer Zeit den Ruf einer besonderen Solidität und
Vorsicht in ihrer Geschäftsführung genossen hatten, hervorgerufen
wurde, kann man danach beurteilen, dass in der einen Woche
vom 4. bis zum 11. November aus England nach ^Schottland für
I 060 Tausend Pfund Goldmünzen abgesendet wurde ^).
Der Zusammenbruch der Western Bank am 9. November wurde
unmittelbar durch den Bankerott von 4 schottischen Handelsfirmen
verursacht, die alle zusammen der Bank i 604 Tausend Pfund St.
schuldig waren, während das Aktienkapital der Bank nicht mehr als
I 500 Tausend Pfund betrugt). Diese Bank hatte das oben beschrie-
bene System des Kreditierens der amerikanischen Spekulanten im
höchsten Masse getrieben. Als sich im Publikum Gerüchte über
die gefährliche Lage der Western Bank verbreitet hatten, wurde auf
die Bank ein sogenannter „run" gemacht; dabei wurden aber die Ka-
pitalien aus der Bank nicht dadurch gezogen, dass man ihre Noten
zur Einlösung vorzeigte, sondern dass man die Depositen zurückver-
langte, die dann sofort in andere Banken gesteckt wurden. In dem
Monat, der dem Zusammenbruch vorangegangen war, wurden aus
der Bank Depositen für i 280 Tausend Pfund zurückgezogen, und die
Bank musste ihre Zahlungen einstellen.
Der Goldabfiuss nach Schottland am 10. und 11. November war
so stark, dass, nach der Ansicht des Gouverneurs der Bank von
England Neaves, die darauffolgende Suspendierung der P ее Ischen
Bankakte eine unmittelbare Folge jenes Goldabflusses war. Die
fieberhafte Nachfrage nach Gold in Schottland wurde nicht durch
dass Misstrauen des Publikums zu den Noten der lokalen Banken
verursacht. Nach den Aussagen aller Zeugen, die von der Parla-
mentskommission von 1858 befragt worden sind, cirkulierten die
Banknoten der schottischen Banken zur Zeit der Krise im Publikum
ebenso ungehemmt wie früher. Das Steigen der Nachfrage nach
Gold war vielmehr eine Wirkung des Gesetzes von 1844, welches
i) Report on the Bank Act of 1844. Minutes of Evidence. Aussage von Fleming.
Q. 5564.
2) A. a. O. Appendix N0. 12.
3) A. a. O. M. of E. Aussage von Fleming. Q. 5376 — y/, 5539. ^
-^ 133 —
für die Notenausgabe der schottischen Banken analoge beschränkende
Bestimmungen traf wie die für die Bank von England. Da aber
während einer Panik die Nachfrage nach barem Geld im höchsten
Grade wächst, so waren die schottischen Banken gezwungen, um die
Ausgabe ihrer Bankwoten auszudehnen, ihre Metallvorräte, die sie aus
der Bank von England mittels des Wiederdiskontierens der Wechsel
auszogen, zu vermehren ^).
Es ist interessant, dass im Höhepunkte der Panik, während alle
bestrebt Avaren, ihre eigenen Reserven zu vermehren, die Depositen
der Londoner Banken in der Bank von England nicht nur keine
Verringerung, sondern umgekehrt, eine bedeutende Vermehrung er-
fahren hatten. Die Ursache dieser Erscheinung bestand darin, dass
die Panik auf dem Geldmarkte die Menge der Depositen von Lon-
doner Banken in der Bank von England nach zwei entgegengesetzten
Richtungen beeinflussen kann: einerseits vermindern sich diese De-
positen infolge der Vermehrung der Reserven der provinziellen
Kunden der Londoner Banken, indem diese Kunden ihre Geldmittel aus
London zurückziehen; andererseits sind die Londoner Banken selbst
bestrebt, ihre Reserven zu verstärken und sie an einem sicheren
Orte, wie dies die Bank von England ist, unterzubringen; sie ver-
mehren daher ihre Depositen. J^e nach der Stärke der einen oder
anderen Tendenz können sich die privaten Depositen in der Bank
von England vermehren oder vermindern.
Seit den 50er Jahren ist es unter den britischen Bankiers üblich
geworden, ihre freien Geldmittel bei den sogenannten „bill-broker's"
(wörtlich Wechselmakler, der Sache nach halbe Bankiers), die sich
ausschliesslich mit der Operation des Wechseldiskontes befassen,
unterzubringen. Der Grund hierfür lag hauptsächlich darin, dass
Privatbanken anfingen, Zinsen auf jeden Augenblick kündbare De-
positen zu bezahlen; da aber die Bank von England keine Zinsen
auf Depositen bezahlt, so w^urde es für die Privatbanken unvorteil-
haft, ihre Reserven in der Bank von England zu halten. Infolge
dessen fingen sie an, einen Teil ihrer Reserven bei Billbfokers, die
für jederzeit kündbare Depositen Zinsen zahlen, unterzubringen. Die
Billbrokers ihrerseits besitzen keine Reserve in barem Geld: ihre Re-
serve bilden die von ihnen diskontierten Wechsel, die sie wieder-
diskontieren, wenn sie Geld bedürfen. Während der Panik von 1857
haben die Londoner Banken ihre Depositen von den Billbrokers
i) Ueber die schottischen Bankerotte und den Goldabfiuss nach Schottland vergl.
j, Report on the Bank Act of 1844. Minutes of Evidence, Aussagen von Robertson,
Q- 3337 — 66, Clark, g. 3057 — 72, Fleming, Q. 5356—95-
— 134 -
zurückverlangt und sie in der Bank von England untergebracht.
Daher schreibt sich die bedeutende Vermehrung der Depositen der
Banken in der Bank von England im November und Dezember 1857.
Die Billbrokers selbst erhielten nötige Geldmittel, um den Banken
ihre Depositen zurückzugeben, durch ein Wiederdiskontieren ihrer
Wechsel in der Bank von England. Ungefähr die Hälfte der
Wechsel, die während der letzten drei Monate des Jahres 1857 von
der Bank von England diskontiert wurden, gehörten den Billbrokers,
denen die Bank aus Selbsterhaltungstrieb zu Hülfe kommen
musste, da anderenfalls die Billbrokers nicht in der Lage gewesen
wären, den Banken ihre Depositen zurückzugeben, und diese letzteren
dann ihrerseits gezwungen w^ären, um ihren Verpflichtungen nachzu-
kommen, ihre Depositen aus der Bank von England zurückzuziehen.
Also war die Erweiterung der Diskontoperation der Bank von Eng-
land zur Zeit der Krisis von 1857 bis zu einen gewissen Grade nur
eine einfache Uehertragung derselben Geldsummen vom Conto der
einen Kunden auf das der anderen ^).
Das Gold floss aus der Bank von England — wie immer während
der Krisen — hauptsächlich infolge der Erweiterung des Diskontierens
der Wechsel ab. Doch während die Summe der diskontierten Wechsel
vom 5. September bis zum 11. November um 5899 Tausend Pfund
zugenommen hat, hat sich der Barvorrat der Bank in derselben Zeit
nur um 4328 Tausend Pfund vermindert. Die Differenz findet ihre
Erklärung in der Vermehrung der Depositen der privaten Banken
sowie darin, dass das Publikum nicht nur Gold, sondern auch Bank-
noten aus der Bank von England wegnahm.
Am 1 1 . November fiel die Reserve der Bank am tiefsten : es war
ein Moment, als sie nicht mehr als 581 Tausend Pfund betrug.
Obwohl in der Kasse der Bank für mehr als 7 Millionen Pfund
Sterling Gold und Silber vorhanden war, lief die Bank Gefahr, keine
freien Summen zur Rückzahlung der Depositen zu besitzen. Die
öffentliche Meinung forderte dringend die Suspension der Peelschen
Akte, und die Regierung musste nachgeben. Am 12. November er-
mächtigte sie die Direktion der Bank, die Ausgabe ihrer Noten über
die durch das Gesetz von 1844 festgesetzten Schranken zu erweitern.
Somit erwies sich die Peelsche Akte zum zweiten Male als
unhaltbar. Im Jahre 1847 war die Bank von England nicht dazu
gekommen, die ihr verliehene Befugnis auszuüben. Die Zuversicht
allein, dass der Kredit erweitert werden könnte, hatte für die Wieder- |^
i) Vergl. darüber den Report on the Bank Act of 1844. Minutes of Evidence,
Aussage des Gouverneurs der Bank von England Neave. Q. 616 — 660 und die folg.
— ^35 —
herstelliing des Vertrauens genügt; im Jahre 1857 aber musste die
Bank tliatsächlich die vom Gesetze gezogenen Grenzen der Noten-
ausgabe übertreten. Bis zum 18. November wuchs in einer Woche,
trotz der Erhöhung des Diskontes auf lo^o» die Summe der diskon-
tierten Wechsel in dem Portefeuille der Bank von England beinahe um
3 Millionen Pfund und ausserdem vermehrten sich die Darlehen auf
eine bestimmte Frist an Privatpersonen um mehr als i Million Pfund;
der Barbestand der Bank sank um 687 Tausend Pfund, die Reserve
vermehrte sich aber um 210 Tausend Pfund; über die Norm hinaus
wurden Banknoten in einem Gesamtwert von 852 Tausend Pfund
verausgabt.
Die Bankerotte der Banken und Handelsfirmen dauerten den
ganzen November hindurch fort. Besonders zahlreich waren die
Bankerotte in den Centren der Eisenindustrie. Am 25. November
stellte die „Northumberland and Durham Bank" die Zahlungen ein.
Das Kapital dieser Bank hat nur 600 Tausend Pfund betragen —
und zugleich war eine fallierte Bergwerkanstalt allein der Bank circa
I Million Pfund schuldig 1). In Staffordshire stellten infolge der Ban-
kerotte einiger Besitzer von Eisenbergwerken mehrere Banken ihre
Zahlungen gleichfalls ein.
Gegen Ende Dezember war die Panik vorübergegangen und
damit die akute Periode der Krisis beendet. Der Diskont der Bank
von England wurde auf 8^/0 herabgesetzt, die Summe der diskon-
tierten Wechsel verminderte sich und das Gold fing wieder an, die
Kassen der Bank zu füllen.
Wenn wir das Conto der Bank von England im Jahre 1857
mit dem der früheren Krisenjahre vergleichen, so sehen wir sofort,
dass der Entwicklungsgang der Krise von 1857 ein ganz anderer
war, als der der früher beschriebenen Krisen. Den Krisen von 1825,
1837 u^d 1847 sind infolge niedriger Wechselkurse starke Gold-
. abflüsse nach dem Auslande vorangegangen. Daraufhörte der external
'1 drain auf, die Wechselkurse stiegen, und zugleich trat ein internal
drain ein: das Gold strömte nach dem Inneren des Landes. Im Jahre
1857 waren diese beiden drains nicht scharf von einander getrennt,
sie fanden vielmehr fast gleichzeitig statt. Von JuH bis Ende Sep-
\\: tember befand sich der Barvorrat der Bank von England mit geringen
Schwankungen auf ein und derselben Höhe, im Oktober aber fing
• ein Goldabfluss nach Amerika an, und zu gleicher Zeit begann das
I) A. a. O. Minutes of Evidence. Aussage von Hodgson, Q. 3456 — 57-
13б
Gold aus der Kasse der Bank von England nach dem Inneren des
Landes abzufliessen.
Es sind aus der Kasse der Bank von England abgeflossen ^) :
Nach
Schottland und Irland
Nach den
Vereinigten Staaten
Im Oktober
In den ersten 17 Tagen des
November
758 Tausend Sovereigns
i960
853 Tausend Sovereigns
2ÖI
Die Eigentümlichkeit der Krisis von 1857 erklärt sich dadurch,
dass die vorangegangenen Krisen einen mehr lokalen Charakter ge-
habt und sich hauptsächlich auf England beschränkt hatten (wozu im
Jahre 1837 noch die Vereinigten Staaten kamen). Die Richtung des
Goldstromes im internationalen Verkehr war hauptsächhch durch den Zu-
stand des enghschen Handels und des englischen Goldmarktes bestimmt
worden. Die Erhöhung der Warenpreise auf dem englischen Markte,
die den Krisen vorangegangen war, konnte sofort ein Zuströmen der
Waren der ganzen Welt nach England und einen Goldabfluss aus
England hervorrufen, da die Warenpreise auf den anderen Märkten
sich nicht so stark Avie in England erhöhten. Die Panik und die
Erhöhung des Diskontes auf dem englischen Markte konnte aber,
seinerseits, sofort einen Goldabfluss nach England bewirken, weil in
anderen Staaten der Diskont niedrig bheb. So hatte z. B. die Bank
von Frankreich die ganze Zeit von 1820 bis 1847 clen Diskont auf
einer unveränderten Höhe von 4 ^Д gehalten. Nur im Jahre 1847,
als die Panik in England den Höhepunkt erreicht hatte, hatte die
Bank von Frankreich den Diskont auf 5 ^o erhöht.
Dagegen war im Jahre 1857 die Krise eine allgemeine: es war
ihr eine mehr oder minder starke Erhöhung der Warenpreise auf den
Märkten der ganzen Welt vorangegangen. Der Warenstrom war
nicht nach einer Seite gerichtet, sondern gleichmässiger auf alle
Länder verteilt, und daher floss das Gold aus England nicht ab. Aus
demselben Grund konnte, als in England eine Panik ausgebrochen
war, das Gold nicht aus anderen Ländern nach England zuströmen,
da die Panik sich über die Geldmärkte der ganzen Welt ausgebreitet
hatte. In den Vereinigten Staaten war die Panik noch stärker als
in England, daher floss das Gold aus der Bank von England
i) Л, a. O. Appendix, N0. 12. Die vSummc des Goldes, das aus der Bank von
England nach dem Inneren England's abgeflossen ist, ist nicht bekannt.
— 137 —
gleichzeitig nach dem Inneren des Landes und nach Amerika ab.
Vom europäischen Kontinent konnte Gold nach England nicht
zufliessen , weil der Diskont in den wichtigsten westeuropäischen
Centren ebenso hoch wie in England war; so z. B. erhöhte in Paris
die Bank von Frankreich im November den Diskont auf lo %.
Die Eigentümlichkeiten der Krise von 1857 finden also ihre Er-
klärung im Weltcharakter dieser Krise. Am meisten haben unter
der Krisis dieses Jahres die Vereinigten Staaten und Hamburg ge-
litten, England jedoch viel weniger. Während nach den vorausge-
gangenen Krisen die Stockung der englischen Industrie jahrelang
dauerte, wurde die Wirkung der Krisis von 1857 in England schon
im Jahre 1859 wenig fühlbar. Der charakteristische Unterschied der
Krise des Jahres 1857 von den Krisen der Jahre 1825 und 1836 be-
stand auch darin, dass diese Krise am schwersten nicht die Baum-
Iwoll-, sondern die Eisenindustrie traf. Darin kam der neue Zug der
kapitalistischen Produktionsweise zum Ausdruck: die Vermehrung der
Rolle der Produktionsmittel auf dem Warenmarkt und in dem wirt-
schaftlichen Leben überhaupt.
Die Stockung des Handels bewegt gewöhnlich die Unternehmer,
iur den Absatz ihrer Waren neue Märkte zu suchen. In dieser Hin-
sicht hat die Krise von 1857 eine sehr starke Wirkung ausgeübt.
I Die englische Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten sank von
19 Millionen Pfund (1857) auf 14 Millionen Pfund (1858), die Aus-
fuhr nach Ostindien aber stieg von 11,7 Millionen Pfund (1857) ^.uf
16,8 Millionen Pfund (1858).
Um sich für die Einschränkung des europäischen und des ameri-
kanischen Marktes zu entschädigen, strömte das englische Kapital
nach Asien. In Ostindien begann man mit einem intensiven Eisen-
bahnbau und einer Verbesserung der inneren Verkehrswege und das
hatte zur Folge eine rasche Steigerung in diesem Lande der Nach-
frage nach englischen Waren.
Die Geldkrisis von 1864 und die Kreditkrisis von 1866.
In der Geschichte der englischen Industrie ist die Periode von
1861 bis 1865 in einigen Beziehungen eine ganz aussergewöhnliche
gewesen. Der Krimkrieg ist von England sehr leicht ertragen worden
und hat auf den Zustand des englischen Warenmarktes sehr wenig
eingewirkt. Der Krieg hat England von keinem grossen Markte ab-
geschnitten und die Einfuhr der Rohstoffe nach England wenig er-
schwert. Dagegen hat der Bürgerkrieg in Nordamerika gleichzeitig
— 138 —
England seines wichtigsten Absatzmarktes beraubt (die englische Aus-
fuhr nach den Vereinigten Staaten fiel von 23 Millionen Pfund Ster-
ling im Jahre 1861 auf 11 Mill. Pfund SterHng im folgenden Jahre)
und die Zufuhr des wichtigsten Rohstoffes — der Baumwolle — fast
angehalten. Es trat ein „Baumwollhunger" ein. Der Verbrauch
von Rohbaumwolle sank in Grossbritannien von 1084 Millionen Pfund
(1860) auf 452 Millionen Pfund (1862).
Die Preise der Rohbaumwolle stiegen um ein Vielfaches, was
seinerseits eine kolossale Vermehrung der Zufuhr von Rohbaumwolle aus
Ostindien, Aegypten, Brasilien und anderen Ländern zur Folge hatte.
Der Wert der Einfuhr Englands aus den Ländern des Orients
erhöhte sich in einem enormen Grade. So stieg z. B. die Einfuhr
aus Ostindien von 15 Millionen Pfund (1860) auf 52 Millionen Pfund
(1864), die aus Aegypten von 10 Millionen Pfund auf beinahe
20 Millionen Pfund (1864) u. s. w. Dieses kolossale Wachstum der
Einfuhr der orientalischen Waren rief in England 1864 eine andauernde
und schwere Geldkrisis hervor.
Conto der Bank von England im Jahre 1864^).
Barvorrat
Niedrigster Diskont
am
6.
J anuar
14,2
7 (V
om 24. Dezembei 1863 an)
20.
Januar
i3>o
8 (
,, 20. Januar an)
2.
März
14,0
ь (
,, 25. Б'еЬгиаг an)
27.
April
12,6
7 (
,, 16. April an)
18.
Mai
13,3
9 (
„ 5. Mai an)
22.
Juni
I4'3
6 (
,, 16. Juli an)
10.
August
12,6
8 l
,, 4. August an)
14.
September
12,9
9 (
,, 8. September an;
26.
Oktober
i3>i
9 (
" я У} )
21.
Dezember
H'3
6 (
,, 15. Dezember an)
Die Politik der Bank bestand darin, den Diskont sofort zu er-
höhen, sobald die Metallvorräte in ihren Kassen abzunehmen begannen,
und nur infolge dieser Politik sank der Barvorrat der Bank von Eng-
land im Jahre 1864 nicht so stark, wie er während der vorange-
gangenen Krisen gesunken war. Während der zwei ersten Wochen
des Januar nahm der Barvorrat der Bank von England um mehr als
eine Million Pfund ab. Das Silber floss nach Indien ab, und der
Bombayer Münzhof konnte nicht rechtzeitig alle Silberrupien prägen,
die stets sofort nach dem Inneren des Landes in Bezahlung für die
i) Returns of the Bank of England, 26. Mai 1873.
— 139 —
Baumwolle abgingen ^). Am 20. Januar erhöhte die Bank den Dis-
kont auf 8 7o. ^ind das Metall fing an, in die Kasse der Bank zurück-
zukehren.
Im April fingen die Metallvorräte der Bank von England wieder
an, sich zu vermindern, und zwar aus demselben Grunde wie im
Januar. Die Erhöhung des Diskontes hat aber wieder ihre Wirkung
ausgeübt, und im Juli erreichte der Barvorrat dieselbe Höhe wie An-
fang März. Im August fing das Metall zum dritten Male an, aus der
Kasse abzufliessen, und Anfang September musste die Bank zum
zweiten Male den Diskont auf 9 7o erhöhen. Der Diskont spielte
die Rolle einer Pumpe für das edle Metall; jede Erhöhung des Dis-
kontes setzte diese Pumpe sofort in Thätigkeit, und das Metallgeld
kehrte in die Kasse der Bank von England zurück.
Die Krise von 1864 beschränkte sich fast ausschliesslich auf den
Geldmarkt ; auf dem Warenmarkte fand nur ein unbedeutendes Sinken
der Warenpreise statt. Trotz einer Diskonthöhe, welche in früheren
Zeiten nur während einer äussersten Geldklemme anzutreffen war,
haben Handel und IndUvStrie in England keine bedeutenden Erschütte-
rungen erfahren. Das letztere wird dadurch bewiesen, dass im Jahre
1865 statt einer Stockung des Handels, die auf jede Handelskris folgt,
das direkte Gegenteil eintrat: ein Aufschwung des Handels und der
Industrie. Also ist die Krisis von 1864 eine Geld-, durchaus aber
nicht eine Handelskrisis gewesen ^).
Trotz des fortdauernden „Baumwollhungers" war der englische
Handel während dieser ganzen Zeit keinesfalls gedrückt. Für die
Einschränkung des Handels mit Nordamerika war England bis zu
einem gewissen Grade durch die Erweiterung seines Handels mit
Europa entschädigt worden, welche durch den Abschluss von Handels-
verträgen mit Frankreich, Belgien, dem deutschen Zollvereine, Oester-
reich und Italien herbeigeführt wurde. Unter dem „Baumwollhunger"
haben am meisten die Arbeiter gelitten, für die dieser Hunger nicht
nur eine figürliche Bedeutung hatte, sondern ein thatsächliches Elend
bedeutete. Was die Unternehmer anlangt, so sind sie für die Ein-
schränkung der Produktion durch eine Erhöhung des Wertes der
baumwollenen Gewebe entschädigt worden. In den Jahren 1860 und
i) Emile de Laveleye, Le Marche monetaire et ses crises. Paris 1865, S. 80.
2) Laveleye und Juglar bezeichnen die Krisis von 1864, als eine Handelskrisis
(vgl, Le Marche monetaire, Chapitre VI und Des Crises Commerciales, 374 — 383); dieser
Auffassung aber widersprechen alle statistischen Daten über den Zustand der englischen In-
dustrie in der Periode von 1863 bis 1866, die von einer ununterbrochenen fortschreitenden
Entwickelung während dieser ganzen Zeit zeugen.
— 140 —
i86i hatte sich die englische Baumwollindustrie so erweitert, dass
sich bei den englischen Fabrikanten und Kaufleuten kolossale Vorräte
unverkaufter Gewebe angehäuft haben ; die Einstellung der Produk-
tion hat ihnen die Möglichkeit gegeben, alle diese Gewebe mit hohem
Profite zu verkaufen. Für diejenigen Industriezweige, welche mit der
Baumwollindustrie konkurrieren, war die Erhöhung der Preise der
baumwollenen Gewebe auch sehr vorteilhaft. Die Leinenindustrie be-
gann gerade zu dieser Zeit grosse Fortschritte zu machen, nachdem
sie einige Jahrzehnte hindurch in einem beinahe stationären Zustande
geblieben war. Die Produktion der wollenen Gewebe zog auch grosse
Vorteile aus dem Baumwollhunger. Die Ausfuhr der wollenen und
leinenen Gewebe aus dem Vereinigten Königreich hat sich im Jahre
1865 im Vergleich zu der des Jahres 1862 fast verdoppelt. „Die
Einschränkung der Baumwollindustrie — so lesen wir im „Economist" —
hat sehr Avenig Einfiuss auf den allgemeinen Wohlstand des Landes
ausgeübt. Man kann sagen, dass das Jahr 1863 mit wenigen Aus-
nahmen für den Handel und die Industrie sehr vorteilhaft gewesen ist i)".
Im Jahre 1862 wurde m England die Gesetzgebung über die
Aktiengesellschaften revidiert und die Gründung von Aktiengesell-
schaften mit beschränkter Haftpflicht ausserordentlich erleichtert; die
Aktiengesellschaften begannen schnell emporzuwachsen. In 3 Jahren
(1863 — 65) erreichte das nominelle Kapital der neugegründeten Ge-
sellschaften die kolossale Summe von 582 Millionen Pfund Sterling.
Nach dem „Economist" befanden sich im Jahre 1865 alle wich-
tigsten Zweige der englischen Industrie, darunter auch die Baumwoll-
industrie, in einem blühenden Zustande. „Die Periode 1863 — 1865
kann die Zeit der extension mania (der Manie der Erweiterung) ge-
nannt werden, da in dieser Zeit die Nation bestrebt war, mit allen
Mitteln allerlei kommerzielle Unternehmungen zu erweitern. Die
Zahl von Aktiengesellschaften jeder Art, Bank- und Finanzinstituten,
Gesellschaften für den Bau von Schiffswerften, für Ausbeutung von
Bergwerken, ferner für Handels- und industrielle Unternehmungen
u. s. w. hat sich ausserordentlich vermehrt" 2).
Wie gewöhnlich in solchen Fällen, hat sich die Spekulation be-
sonders gern Eisenbahnunternehmungen zugewendet. Die neu ge-
gründeten Aktienbanken bethätigten sich sehr energisch an diesen
Spekulationen. Sie acccptierten Wechsel der Eisenbahngesellschaften,
wobei die Zahlungen dieser Wechsel in Eisenbahnaktien und Obli-
i) Manufacturing Distress, The Economist, ii. Juli 1863.
2) The Economist, 18. Mai 1867. The Causes of the Existing Depression.
— 141 —
gationen, die л'оп den Banken selbst realisiert wurden, geschahen. Die
Eisenbahnen wurden also vollständig mit den Mitteln der Banken ge-
baut. Für die Erweiterung des Eisenbahnnetzes im Vereinigten König-
reich sind in den Jahren 1862 — 66 98 Millionen Pfund Sterling ver-
ausgabt worden, und das Eisenbahnnetz hat sich um mehr als 2000
Meilen erweitert.
Aber in noch grösserem Umfange wurden enghsche Kapitalien
im Bau der ausländischen, hauptsächlich amerikanischen Eisenbahnen
angelegt.
Die Beendigung des nordamerikanischen Bürgerkrieges gab der
englischen Industrie einen neuen Anstoss. Die Ausfuhr nach den
Vereinigten vStaaten stieg von 16,7 Millionen Pfund (1864) auf
28,5 Millionen (1866). Alles das führte sehr bald eine Krisis herbei.
Jedoch waren die Umstände, unter denen die Krisis von 1866 statt-
fand, ganz aussergewöhnhcher Art. Alle vorangegangenen Krisen
haben stets im Herbste, im letzten Viertel des Jahres stattgefunden;
vor dem Ausbruch derselben oder gleichzeitig mit ihnen fand sonst
stets ein Abfluss von Edelmetall nach dem Auslande statt, ein so-
genannter external drain. Im Jahre 1866 ist nichts Aehnliches ge-
schehen. Die Panik fing ganz plötzlich im Mai an, während die
Reserve der Bank von England eine verhältnismässig bedeutende
war, und brachte in zwei Wochen die Kasse der Bank beinahe zu
einer vollständigen Erschöpfung, so dass zum dritten Male die Peel 'sehe
Akte suspendiert werden musste. Von da ab war das ganze Jahr
hindurch trotz der noch nicht dagewesenen Höhe des Diskontes die
! .Zahl der Bankerotte unter den Kaufleuten und Industriellen nicht
gross, und erst im folgenden Jahre wurde es klar, dass die Krise
nicht bloss den englischen Kredit, sondern zugleich auch die Waren-
cirkulation vollkommen gestört hatte.
Zu Beginn des Jahres 1866 Hess nichts das nahe Eintreten
einer Krisis erwarten, obwohl die ausserordentliche Vermehrung der
Aktiengesellschaften Symptome eines Gründungsschwindels aufwies.
Der Barvorrat und die Reserve der Bank von England stiegen bis
Ende März. Im April beginnt ein langsames Sinken der Reserve
der Bank; am 9. Mai nimmt dieses mit einem Male bedrohliche
Dimensionen an: in einer Woche sinkt die Kasse der Bank um mehr
als 4 Millionen Pfund.
— 142
Conto der Bank von England^).
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7,8
24,6
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, 12. Mai an)
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Mai
0,4
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16,5
7,6
26,7
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August
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11,3
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Oktober
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3,6
23,4
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, 27. Sept. an)
„ 26.
Dezember
11,4
19,2
7,4
2,7
27,3
6,6
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, 30. Dez. an)
Die Verminderung der Reserve der Bank von England im April
war eine Folge des Zusammenbruches zweier vor kurzem gegründeter
Aktienbanken — der Joint-Stock-Discount Company und der Burneds
Banking Company. Das rasche Phallen der Kurse der Aktien dieser
Banken, das zum Teil durch die Börsenspekulation, zum Teil aber
auch durch die schlechte Verwaltung der Banken selbst herbeigeführt
wurde, war die Hauptursache ihres Unterganges gewesen. Als die
Aktien zu fallen begannen und die Befürchtung auftauchte, dass diese
Banken fallieren würden, fing das Publikum an, seine Depositen aus
ihnen zurückzuziehen, wodurch beide Banken genötigt wurden, ihre
Zahlungen einzustellen 2). Da aber beide zusammengebrochene Banken
erst kurze Zeit vorher gegründet worden waren und im System des eng-
lischen Kredits keine bedeutende Rolle spielten, so übte ihr Zusammen-
bruch nur eine rasch vorübergehende Wirkung auf den Geldmarkt
aus, und bis Anfang Mai blieb alles in der City ruhig.
Ende April fingen die Aktien des soHdesten englischen Kredit-
institutes — der Firma Overend, Gurney & Co. — zu fallen an. Der
Einfluss in der City und der Kredit dieser Firma waren so gross, dass man
sie ihrer Bedeutung nach der Bank von England gleichsetzte. Anfang
Mai bezahlte die Firma der Mid-Wales Railway Company einen
Wechsel nicht. Die Nachricht davon verbreitete sich sofort in der
i) Returns of the Bank of England, 26. Mai 1873.
2) William Fowler, Ihe crisis of 1866, London 1867, S. 4.
— 143 ~
City, die Einleger strömten sofort herbei, um ihre Depositen zurück-
zuverlangen. Am lo. Mai musste die Firma ihre Zahlungen einstellen,
wobei ihre Passiva mehr als lo Millionen Pfund betrugen i).
Die durch diesen Bankerott hervorgerufene Panik kann man
nach der Verminderung der Reserve der Bank von England be-
urteilen: der Barvorrat der Bank verminderte sich in einer Woche,
vom 9. bis 16. Mai, nicht bedeutend, — um weniger als eine Million;
die Reserve der Bank nahm aber um mehr als 4 Millionen ab. Diese
4 Millionen sind aus der Bank auf dem Wege einer Vermehrung der
Summe der diskontierten Wechsel um 4,6 Millionen und der Dar-
lehen auf eine bestimmte Frist um 5,5 Millionen gezogen worden,
wahrend gleichzeitig die Depositen um 5,3 Millionen Pfund stiegen.
Das Gold wurde aus der Bank nicht zum Zwecke der Ausfuhr
nach dem Auslande herausgezogen, sondern zur Vermehrung der
Reserven des von einer Panik erfassten englischen Publikums. Die
Operationen der Plrma Overend & Co. sind so umfangreich ge-
wesen, dass ihr Zusammenbruch sofort den Kredit in ganz England
zerstörte. Allgemein erwartete man weitere Bankerotte, und jeder-
mann beeilte sich, sich mit barem Gelde zu versehen. Die Londoner
und andere Banken haben aus der Bank von England Noten für
j 4 Millionen Pfund gezogen, um die Mittel zur Rückzahlung der von
ihnen angenommenen Depositen zu beschaffen. Dass die Noten der
Bank von England wirklich zu diesem Zweck den privaten Banken
erförderlich wurden, das wird durch die grossen Coupuren der ver-
langten Banknoten bewiesen (es sind aus der Bank von England ge-
nommen: für 648 Tausend Pfund Fünfpfundnoten, für 577 Tausend
Pfund Zehnpfundnoten, für 1703 Tausend Pfund Zwanzig- bis Hundert-
pfundnoten, für 848 Tausend Pfund Hundert- bis Tausendpfundnoten)-).
Der Zusammenbruch der Firma Overend & Co. ist durch ihre
unvorsichtige Geschäftsführung veranlasst worden: diese Firma hatte
■' kolossale, aus den Depositen privater Personen bestehende Kapitalien
in Darlehen an verschiedene unsichere Unternehmungen angelegt,
darunter an viele Eisenbahn gesellschaften in England und im Aus-
iji lande. Einige von diesen Gesellschaften haben im Jahre 1866 falliert:
so z. B. in Amerika die Atlantic & Great Western Railway Com-
pany, und in England die London, Chatam & Dover Railway Com-
j pany. Die Bahnen dieser beiden Gesellschaften waren fast ausschliess-
lich mit den Geldmitteln der englischen Banken, und zwar hauptsäch-
i) H, D. Macleod, The Elements of Banking, London 1876, S. 228.
2) R. H. Patterson, On our Home Monetary Drains. Journal of the Stat. Soc.
t" London 1870, S. 224.
— 144 —
lieh mit denen der Firma Overend & Co. erbaut worden. Diese
Firma war in Wirklichkeit bereits einige Jahre vor der Krise von
1866 zahlungsunfähig, aber der Kredit, den sie in der ganzen Welt
genossen hatte, hatte ihr die Möglichkeit gegeben, sich zu halten.
Die Panik, die durch den Zusammenbruch dieser Firma hervor-
gerufen wurde, war so gross, dass, obgleich die Bank von England
den Diskont sofort auf 10 ^q erhöhte, die Regierung es für nötig
erachtete, der Direktion der Bank zu erlauben, Banknoten über die
im Gesetze von 1844 festgesetzte Norm hinaus zu verausgaben. So
wurde dieses Gesetz zum dritten Male suspendiert. Aber die Bank
kam nicht dazu, das ihr gegebene Recht auszunutzen. Obgleich sich
die Summe der Noten der Bank von England in der Cirkulation um
beinahe 4 Millionen Pfund vermehrt hatte (am 9. Mai waren in der
Cirkulation Noten der Bank von England im Betrage von 22,3 Mill.
Pfund, am 16. Mai aber solche im Betrage von 26,1 Millionen Pfund),
überschritt ihre Gesamtsumme die gesetzhche Norm nicht. Es findet
das seine Erklärung darin, dass während der Panik des Jcihres 1866
das Gold fast gar nicht aus der Bank von England herausgezogen
wurde; nach dem Auslande floss das Gold beinahe überhaupt nicht
ab, innerhalb des Landes war auch keine grosse Nachfrage nach
Metall vorhanden, und zwar aus dem Gründe, weil die Panik dieses
Jahres fast ausschliesslich durch das Misstrauen zu den Privatbanken,
nicht aber durch eine Erschütterung des Handels und der Industrie
im Lande hervorgerufen war. Daher genügte, auch im Höhepunkt
der Panik, der Barvorrat der Bank von England vollständig, um die
neu verausgabten Banknoten zu decken.
Es ist sehr lehrreich, die Panik von 1866 mit der von 1857
zu vergleichen. Im Jahre 1857 hatte sich in. der Panikwoche vom
4. bis II. November die Reserve der Bank von England um 1,2 Mill.
Pfund und der Barvorrat um 1,3 Millionen Pfund vermindert. Die
Summe der in der Cirkulation befindlichen Banknoten hatte sich i
gegen Ende November um i Million Pfund vermehrt, wobei die
Norm, in der die Banknoten durch Gold gedeckt werden mussten, Щ
durchbrochen war. Im Jahre 1866 verlangte das Publikum weit
mehr Noten der Bank von England, aber sie waren alle durch den
Vorrat an Edelmetallen in den Gewölben der Bank gedeckt. Der
Unterschied zwischen der einen und der anderen Panik rührte davon
her, dass im Jahre 1857 die Ursache der Panik eine Handelskrise
gewesen war, im Jahre 1866 aber die Panik nur durch den zufälligen
Zusammenbruch einer grossen Bank hervorgerufen wurde.
— 145 —
Auf den Zusammenbruch der Firma Overend & Co. folgte der
Zusammenbruch anderer kleinerer Banken. Im Mai und Juni stellten
die Imperial Mercantile Credit Association, die Bank of London, die
Consolidated Bank, die Agra & Masterman Bank und andere ihre
Zahlungen ein ^).
Noch mehr als in England selbst war der englische Kredit im
Auslande erschüttert. Nur dadurch kann die merkwürdige Erscheinung
erklärt werden, dass, obgleich die Bank von England den Diskont
auf lo % erhöht hatte (während in Paris der Diskont auf 4 ^o stehen
blieb), das Gold einige Monate hindurch in die Kasse der Bank nicht
zufliessen wollte und die Reserve andauernd niedrig blieb. Im Aus-
lande fürchtete man nach der Suspendierung der Bankakte von 1844,
dass die Bank von England aufhören werde, ihre Noten einzulösen,
und die aussergewöhnliche Höhe des Diskontes verstärkte nur auf
dem europäischen Kontinent das Misstrauen zu der finanziellen Lage
Englands; infolge dessen übte auch die Erhöhung des Diskontes eine
Zeit lang ihre gewöhnliche Wirkung nicht aus.
Die gegen Ende des Jahres erfolgte Erhöhung der Reserve der
Bank von England auf 1 1 Millionen Pfund und des Barvorrats auf
19 Millionen Pfund zeugt nicht nur von der Wiederherstellung des
Vertrauens, sondern auch von einer Geschäftsstockung. Die Panik von
1866 war nicht durch eine Handelskrisis hervorgerufen, aber eine De-
pression war auf sie gefolgt. Hätte nicht im Mai der zufällige Zusammen-
bruch der Firma Overend & Co. stattgefunden, so wäre wahrscheinlich
eine Krise im Herbst 1866 oder 1867 ausgebrochen, da das wSpeku-
lationsfieber der vorangegangenen Jahre unausbleiblich zu einer Krise
fuhren musste.
Alle früheren Krisen in England haben ausnahmslos im Herbst
stattgefunden. Und das ist kein Zufall. Die Hauptmasse der Waren
im internationalen Verkehr ist vegetativen Ursprungs. Die Ernte der
Mehrzahl der vegetabilischen Produkte findet im Herbste statt. In
dieser Zeit wird nicht nur Getreide, Tabak, Wein u. s. w. geerntet,
sondern auch allerlei vegetabilische Stoffe, die das Rohmaterial für
die Industrie abgeben, wie Baumwolle, Flachs, Hanf u. s. w. Im
Herbste werden also die Preise einer ganzen Reihe der wichtigsten
Waren bestimmt; gerade da zeigt es sich, in wieweit die Spekulation
auf dem Warenmarkte gerechtfertigt war. Es ist natürlich, dass eine
Reaktion auf dem Gebiete der Preise dann eintritt, wenn die rauhe
Wirklichkeit beweist, dass die zu optimistischen Berechnungen unbe-
gründet waren, d. h. gegen die Zeit der Ernte.
I) W. Fowler, The Crisis of 1866, S. 9.
Tugan-Baranowsky , Die Handelskrisen. IQ
— 146 —
Das ist die erste Ursache, warum die Krisen im Herbste ein-
treten. In England wirken in derselben Richtung noch andere Ur-
sachen. England importiert hauptsächlich Rohstoffe und exportiert
Fabrikate; dabei bezahlt England seinen Import sofort mit barem
Gelde, es exportiert dagegen auf Kredit, manchmal auf sehr lang-
fristigen. Infolge dessen ist im Herbst die Zahlungsbilanz für Eng-
land gewöhnlich ungünstig und die Edelmetalle in Barren und in
Münzen fiiessen nach dem Auslande ab, um im Laufe des Jahres
wieder nach England zurückzukehren.
Also, im Herbste bedürfen die englischen Kaufleute mehr als je
bares Geldes und zugleich wird der Vorrat an barem Geld im Herbste
geringer als je. Der inländische Handel verlangt gleichfalls im Herbste,
infolge der auf eine Ernte folgenden Erweiterung der Warencirku-
lation, grössere Geldmassen.
Daraus vermindern sich im Herbste Reserve und Barvorrat der
Bank von England , die Diskontierungen derselben aber erweitern
sich. Dasselbe ist der Fall mit den Privatbanken: ihre Reserven
vermindern sich infolge der Erweiterung der Diskontierungen einer-
seits und der Zurückziehung der Depositen der Händler, Industriellen
und anderer Personen, die bares Geld im Herbste brauchen, andrerseits.
Alles das, zusammen genommen, erzeugt eine Geldklemme. Der Dis-
kont steigt, der Kredit wird nicht gern eröffnet, die alten Wechsel,
die vielleicht schon mehrfach nach Ablauf der Frist erneuert wurden,
werden nicht mehr erneuert, jedermann beeilt sich, seine Darlehen zu
realisieren und sich mit barem Gelde zu versehen. Es ist ganz natür-
lich, dass unter solchen Umständen die weniger vermögenden oder
weniger vorsichtigen Firmen nicht imstande werden, ihren Verpflich-
tungen nachzukommen ; sie fallieren, in ihrem Sturz reissen sie andere
Firmen mit, und eine Krisis bricht aus. Daher haben alle englischen
Handelskrisen — nicht nur die von 1825, 1837, 1847 und 1857,
sondern auch die früheren Krisen, die von 1799, 18 10, 18 14 — 15
und 1818 — immer im Herbste stattgefunden.
Die Panik und die Einschränkung des Kredites im Jahre 1866
waren nicht durch eine Handelskrisis hervorgerufen. Daher sehen wir
unter den kommerziellen und industriellen Firmen Englands, trotz
des Zusammenbruches der Banken und der unerhörten Höhe deS'
Diskontes, nur wenig Bankerotte. Im Jahre 1865 gab es in Eng-
land 831 Fälle von Zahlungsunfähigkeit, im Jahre 1866 aber nur 813.
Die Krise des Frühjahrs 1866 kann eine Kreditkrise genannt
werden: auf eine übermässige Erweiterung des Kredites folgte plötz-
lich eine Einschränkung desselben, unter welcher hauptsächlich die
— 147 —
Kreditinstitute gelitten haben ^). Die Erschütterung des Kredits hat
sich aus dem Grunde nicht auf die Industrie ausgedehnt, weil im
Frühling 1866 die Verhältnisse für eine Handelskrise noch nicht reif
waren und die Jahreszeit der Entstehung einer solchen nicht
günstig war.
Damit soll nicht gesagt sein, dass die Panik des Jahres 1866
auf die englische Industrie gar keinen Einfiuss ausgeübt hat. Die
Einschränkung des Kredites hat dazu geführt, dass der englische
Handel in grösserem Masse als früher mit barem Gelde geführt und
dass daher eine zweite Wiederholung der Panik des Jahres 1866 un-
möglich gemacht wurde. Also hat der frühzeitige Zusammenbruch
der Firma Overend & Co., der die Kreditkrise von 1866 hervorge-
rufen hat, einer Handelskrise, die sonst in der nächsten Zukunft zu
erwarten stand, vorgebeugt.
Andererseits fand die Stockung des Handels und der Industrie,
die immer auf eine Handelskrisis folgt, in England auch Ende 1866
statt, und in einem noch höheren Masse während der beiden folgenden
Jahre. Wie wir es aus der späteren Geschichte der Schwankungen
der englischen Industrie sehen werden, folgt auf einen übermässigen
industriellen Aufschw^ung stets eine Depression, eine Geschäftsstockung,
wenn auch der Uebergang von dem einen Zustand zu dem anderen
nicht immer von einer Krise begleitet wird. Die Handelskrise ver-
stärkt nur die Reaktion, ist aber nicht ihre einzige Ursache.
Die in dem Zustand der englischen Industrie eingetretene Re-
aktion wird durch die Veränderung der Warenpreise klar gekenn-
zeichnet 2) :
Steigen und Sinken der Warenpreise auf dem Londoner
Markte in Prozenten
(im Vergleich zum i. Januar des jeweilig vergangenen Jahres).
am
I. Januar
1866
am
I. Januar 1867
Kaffee . . .
Zucker . .
H-ii7o
-i7 7o
— 9
Thee . .
Seide . .
Flachs u. Hanf
+ 31
+ 27
+ 6
— 23
— 9
— 17
Kupfer .
Eisen
+ 21
— 5
— 20
— 12
Zinn ....
Baumwolle . .
+ 7
+ 15 (im
Vergleich
mit
Juli
1865)
— 28
i) Vgl. darüber The Panic of 1866. The Bankers Magazine 1866 und The Crisis
"f 1866. The Economist vom 23. Juni 1866.
2) Berechnet nach den Tabellen in The Economist, 1867, Commercial History and
ll Review of 1866, S. 40.
10*
— 148 —
Am I. Januar 1866 standen also die Preise der meisten Waren
bedeutend höher als am i. Januar 1865. Sogar die Baumwolle war
im Preise gestiegen, trotzdem, dass ihre Zufuhr aus den Vereinigten
Staaten stark zugenommen hatte; das weist auf eine heftige Spekulation
hin, da die erneuerte Zufuhr von Baumwolle aus Nordamerika eigent-
lich die Preise der Baumwolle auf das Niveau des Anfangs der 60er
Jahre bringen sollte, d. h. dieselben stark herabdrücken. Die Preise
des Eisens sind im Jahre 1865 gesunken, weil infolge der Beendigung
des nordamerikanischen Bürgerkrieges die Zahl der gebauten Schiffe
sich vermindert hat. Am i. Januar 1867 sind aber die Preise aller
Waren gesunken.
Die Epoche der Prosperität war abgelaufen und eine Epoche
der Depression trat ein, die im Gebiete des Handels und der Industrie
in niedrigen Warenpreisen, in einer Einschränkung der Produktion
und im Gebiete des Kredits in niedrigem Diskont, in einer Anhäufung
von freien Kapitalien in den Kassen der Banken zum Ausdruck kam.
Am schwersten wurden durch die wirtschaftliche Depression
Ende der 6oer Jahre, wie Ende der 50er Jahre, diejenigen Produktions-
zweige getroffen, die das stehende Kapital erzeugen, also haupt-
sächlich die Eisen- und Maschinenindustrie und der Schiffsbau.
KAPITEL V.
Die periodischen Schwankungen der Industrie
in der neuesten Zeit.
Charakteristik dieser Schwankungen. — Veränderung derselben im Vergleich zu
denen der früheren Zeit. — Das Fehlen plötzlicher Sprünge. — Die Krise von 1873. —
Der Wiener Börsenkrach. — Die amerikanische Krise. — Die Spekulation auf der Lon-
doner Effektenbörse. — England entgeht einer Krise. — Die Depression der 80er
Jahre. — Das Sinken der Warenpreise und seine Ursachen. — Die Veränderung der
Transportverhältnisse. — Der englische Ackerbau. — Die Verstärkung der Konkiu-renz
auf dem Weltmarkte. — Die Aktiengesellschaften. — Der Baringskrach und die
Depression der 90 er Jahre. — Die argentinischen Spekulationen. — Die ausserordenthche
Entwickelung Argentiniens. — Der Gründungsschwindel. — Der Zusammenbruch der Firma
Baring. — England ist wieder einer Krisis entgangen. — Die Depression in den Jahren
1892 — 94. — Die Handelskrisen in Australien und Amerika. — Warum haben in England
die Krisen des früheren Typus aufgehört?
Die bedeutende Verlangsamung der industriellen Entwickelung
Englands seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre hat keineswegs
periodische Schwankungen der Industrie beseitigt. Im Gegenteil, nie-
mals haben diese Schwankungen einen so gesetzmässigen Charakter
gehabt wie gerade in der neuesten Zeit. Hierunten folgen unsere
üblichen Tabelle und Diagramm ^).
i) Nach den Statistical Abstracts for the United Kingdom. Im Jahre 1883 erschien
in England ein neues Gesetz, betreffend die Bankerotte, das eine veränderte Registrierung
derselben zur Folge hatte. Da die absoluten Zahlen der Bankerotte vor und nach 1883
mit einander nicht vergleichbar sind, so habe ich zwei Durchschnittszahlen berechnet, die
|| eine für 187 1 — 1883 und die andere für 1884 — 1898; in das Diagramm sind die Ab-
I weichungen von diesen Durchschnittszahlen eingetragen.
I50 —
Jahre
Wert der Ausfuhr der
Produkte des Ver-
einigten Königreichs
(in Millionen Pfd. St.)
Umsätze des Londoner
Clearing-House (in
Zehnmillionen Pfd.St.)
Anzahl der Bankerotte
u. Fälle von Zahlungs-
unfähigkeit in England
und Wales (auf volle
10 abgerundet)
Anzahl der neu ge-
gründetenAktiengesell-
schaften (auf volle 10
abgerundet)
Preise des schottischen
Roheisens pro Tonne
(in Schillingen)
Й
0
>
PQ
»1
T3
■i->
0
>
i-
ci
England im letzten
Quartal des betreffen-
den Jahres
(in Mill. Pfd. St.)
1871
223
479
6280
820
59
2З1О
1872
256
589
6840
1 120
102
21,4
1873
255
607
7490
1230
117
20,9
1874
240
594
7920
1240
88
21,0
1875
223
569
7890
1 170
66
23,6
1876
201
496
9250
1070
59
31,3
1877
199
504
9530
990
54
23,2
1878
193
499
11450
890
48
25,5
1879
192
489
13130
1030
47
30,0
1880
223
579
10300
1300
55
26,4
1881
234
636
9730
1580
49
20,8
1882
241
622
9040
1630
49
20,8
1883
240
593
8560
1770
47
22,4
1884
233
580
4190
1540
42
20,4
1885
213
551
4350
1480
42
20,8
1886
213
590
4860
1890
40
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1887
222
608
4870
2500
42
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1888
235
694
4860
2550
40
19,5
1889
249
762
4540
2790
48
19,7
1890
264
780
4040
2790
50
21,8
1891
247
685
4240
2690
47
23,2
1892
227
648
4660
2610
42
25,0
1893
218
648
4900
2620
42
25,9
1894
216
634
4790
2970
43
35.3
1895
226
759
4490
3890
44
42,5
1896
240
758
4170
4740
47
35.9
1897
234
749
4100
5230
45
31.8
1898
233
810
4320
4650
47
31.5
1899
255
915
—
—
—
—
In
d. Jahren 71 —
33
Im Durchschnitt
229
636
In
9030
d. Jahren 84 — <
4490
2170
58
54
25.1
- I
Schon bei einer flüchtigen Betrachtung des Diagramms Nr. 3
fällt uns die Periodicität der Schwankungen der beiden Kurven, die
den auswärtigen und den inneren Handel Englands kennzeichnen,
auf — der Kurve des englischen Exportes und der Kurve der Um- '
Sätze des Londoner Clearing-House. Analoge Schwankungen be-
merken wir an der sehr rasch steigenden Kurve der Aktiengesell- |
Schäften. Man kann in den Bewegungen jeder dieser Kurven j
4 Wellen unterscheiden. Die erste Welle erreicht in den Jahren 1
1873 — 1874 ihren Höhepunkt. Dann beginnt eine lange dauernde
industrielle Ebbe bis 1878—79. Die zweite Welle erreicht rasch ihr
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1899
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1897
1896
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1894
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1892
1891
1890
1889
1888
1887
1886
1885
1884
1883
1882
1881
1880
1879
1878
1877
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1875
1874
1873
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Prozente der Abweichungen von den Durchschnittszahlen
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1890
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1883
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1881
1880
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Prozente der Abweichungen von den Durchschnittszahlen
— 151 —
Maximum gegen 1881 — 83. vSodann folgt ein Phallen der Welle, wo-
bei das Minimum in die Jahre 1885 — 86 fällt Die dritte aufsteigende
Welle beginnt nach 1890 zu fallen. Die ersten 4 Jahre der 90er Jahre
sind durch eine industrielle Ebbe gekennzeichnet. Seit 1895 sehen
wir eine neue industrielle Flut.
Ganz analoge Schwankungen finden auch in der Bewegung der
Eisenpreise statt. Einen besonders kolossalen vSprung nach oben
machen die Preise des Eisens zu Beginn der 70er Jahre. Die Jahre
1880 und 1890 sind auch die Höhepunkte ihres Aufsteigens, aber
dieses Aufsteigen ist ganz geringfügig im Vergleich zu dem der 70er
Jahre. Von 1894/95 an gehen die Preise des Eisens wieder in die
Höhe.
In welchem Zusammenhang haben nun diese gesetzmässigen
vSchwankungen der englischen Industrie mit dem Zustand des Geld-
marktes gestanden?
Im ersten Jahrzehnt 1871 — 1880 schwankt die Kurve der Bar-
vorräte der Bank von England in entgegengesetzter Richtung im
Vergleich zu den Schwankungen der ersten vier Kurven; mit andern
Worten waren die Schwankungen der Industrie in dieser Zeit von
den Schwankungen des Kredites abhängig. Das Sinken der Waren-
preise in den Jahren 1874 — 76 ruft einen Zufluss von Metall in die
Kasse der Bank hervor — ein sicheres Zeichen dafür, dass auf dem
Gebiete des Kredites eine von denjenigen periodischen Katastrophen
vor sich gegangen ist, die wir schon so gut kennen gelernt haben.
Aber diese Krise hatte bei weitem nicht die typische Form gehabt,
da die Erhöhung des Barvorrats der Bank von England nur all-
mählich im Verlauf von drei Jahren vor sich geht. Im Jahre 1877
sinkt der Barvorrat rasch und steigt darauf ebenso rasch bis zum
Jahre 1879. Nichts Aehnliches hatte in den Perioden der vorange-
gangenen Krisen stattgefunden.
Die im Anfang der 8oer Jahre stattfindende zweite Schwankung
der Industrie, die in allen vier ersten Kurven in verschiedenem
Grade zum Ausdruck kommt, ruft keine irgendwie bedeutende Er-
schütterung des Kredites hervor: die Kurve der Barvorräte der Bank
von England macht keinen Sprung nach oben (wie das immer nach
einer Handelskrisis der Fall ist), sondern sie sinkt zugleich mit allen
anderen Kurven. Erst 1883 macht sich ein schwaches Steigen be-
merkbar. Dass zeugt davon, dass zum ersten Mal im ganzen 19.
Jahrhundert ein Jahrzehnt in England ohne eine Erschütterung des
Kredits verflossen ist. Im Jahre 1891 findet gleichzeitig mit dem
Sinken des Exportes ein Steigen des Barvorrat» der Bank von Eng-
— 152 -
land statt, aber wieder bei weitem kein schroffes, sondern eins, das
ganze 5 Jahre hindurch fortdauert.
Die Kurve der Bankerotte ist der beste Gradmesser für die
Krisen. Wir sehen, dass die Bankerotte bis zum Jahre 1879 "lit
einer gewissen Regelmässigkeit zunehmen. Offenbar hat die Krise
der 70 er Jahre keinen so schroffen Charakter gehabt wie die voran-
gegangenen Krisen. Die Jahre 1883 — 84 sind nicht durch eine Zu-
nahme, sondern durch ein Sinken der Zahl der Bankerotte gekenn-
zeichnet. Also von einer gewöhnlichen Krise in England kann nicht
die Rede sein. Der Wendepunkt des Jahres 1890 tritt in der Zahl
der Bankerotte nur in sehr geringem Masse zum Vorschein. Erst
1893 vermehren sich die Bankerotte bedeutend. Die neuesten Jahre
des industriellen Aufschwunges sind von einer Verminderung der
Zahl der Bankerotte begleitet.
Vergleichen wir die neuesten Schwankungen der englischen In-
dustrie mit den früheren, so wird der Unterschied zwischen ihnen
sofort klar. Die Wellen sind nicht mehr so steil wie früher. Die
Kurve der Ausfuhr bildete früher eine gebrochene Linie mit spitzen
Winkeln, jetzt hat diese Kurve einen wellenartigen Charakter ange-
nommen — eine ausgeprägte Winkelbildung findet nicht mehr statt.
Früher war auf jedes starke Sinken des Exportes immer ein noch
stärkeres Steigen desselben gefolgt; jetzt sinkt die Ausfuhr jahrelang
tiefer und tiefer. Früher gab es also weniger Jahre des Sinkens als
des Steigens, jetzt ist das Umgekehrte der Fall. Ausserdem waren
die periodischen Schwankungen der englischen Industrie früher von
Erschütterungen des Kredites begleitet. Das Fallen der Welle des
industriellen Aufschwunges nach Ueberschreitung des Kulmina-
tionspunktes wirkte wie ein starker Stoss auf die gesamte Volks-
wirtschaft; jetzt rufen die Schwankungen der Industrie Erschütterungen
des Kredites garnicht hervor und die englische Industrie geht all-
mählich und ohne schroffe Uebergänge aus einem blühenden Zustand
in einen Zustand des äussersten Verfalls über.
Gehen wir jetzt zur ausführlichen Betrachtung der einzelnen
Schwankungen der englischen Industrie über. Die Epoche 187 i — 73
war in ganz Europa die Zeit eines aussergewöhnlichen industriellen
Aufschwungs. Gegen das Ende der 6oer Jahre litt die Industrie unter
der allgemein gehegten Erwartung eines Krieges zwischen Frank-
reich und Deutschland. Endlich brach dieser Krieg aus. Mittelst der
französischen Milliarden wurden die deutschen Staatsschulden getilgt.
Auf den Geldmarkt Deutschlands wurden plötzlich höchst bedeutende
Kapitalien geworfen, die eine vorteilhafte Anlage suchten; kein Wunder,
— 153 —
dass daraus ein Gründungsschwindel emporgeschossen ist, der bald
den Charakter der tollsten Manie angenommen hatte.
Das Lieblingsgebiet der Börsenagiotage ist Deutschland und
Oesterreich geworden. Wie immer hat sich die Agiotage mit be-
sonderem Eifer auf die Erweiterung des stehendes Kapitals des Landes
geworfen; der Bau neuer Eisenbahnen, der Ankauf freier, städtischer
Grundstücke für deren Bebauung mit Häusern waren die beliebten
Formen der Börsenspekulationen dieser Zeit. Besonders stark hat
die Spekulation dieser letzteren Art in Wien gewütet, und in Wien
erfolgte auch zuerst die unvermeidliche Reaktion. Am 8. Mai 1873
brach auf der Wiener Effektenbörse eine Panik aus, die mit einem
vollständigen Zusammenbruch der Börsenspekulanten endigte. Etwas
später trat die Börsenkrisis auch in Deutschland ein.
Die Vereinigten Staaten sind ein so viel versprechendes Feld
für die Anlage europäischen Kapitals, dass es sonderbar gewesen
wäre, wenn der Gründungsschwindel in Europa sich nicht auf Ame-
rika ausgebreitet hätte. Aber auch abgesehen davon, gab es in Ame-
rika genügend Vorbedingungen für jenen eigentümlichen, erregten
Zustand der Volkswirtschaft, der immer mit einer Handelskrisis endigt.
Seit 1857 hatte es in den Vereinigten Staaten keine Krisis mehr ge-
geben; nach Beendigung des Bürgerkrieges im Jahre 1864 hat sich
aber die Industrie der Vereinigten Staaten ganz ausserordentlich ent-
wickelt und der Nationalreichtum wuchs schneller als je zuvor. Es
ist natürlich, dass auch in den Vereinigten Staaten eine Gründungs-
manie entstand. Das beliebteste Objekt der Börsenspekulation wurden
die Eisenbahnen. In den 4 Jahren 1870 — 1873 ist in den Vereinigten
Staaten ein neues, 23.406 Meilen umfassendes Eisenbahnnetz gebaut
worden.
Und zwar waren es eben die missglückten Spekulationen bei
den Eisenbahnbauten, die sehr bald Amerika zu einem Krache und
einer Börsenpanik geführt hatten.
Anfang Januar gründete eines der solidesten Bankhäuser der
Vereinigten Staaten, die Firma Jay Cooke and Co., die den Eisen-
bahngesellschaften ungeheuere Geldsummen geliehen hatte, — ein
Syndikat zu dem Zwecke, eine neue Eisenbahnanleihe von 300 Mill.
Dollar aufzunehmen, um die angefangenen Eisenbahnlinien auszu-
bauen. Aber obgleich diesem Syndikate sich auch das Haus Roth-
schild anschloss, glückte die Anleihe nicht, und nur mit der grössten
Mühe gelang es, 100 Mill. Dollar (statt der erforderlichen 300 Mill.
Dollar) zusammenzubringen. Die europäischen Börsen (auf denen
hauptsächlich amerikanische Wertpapiere abgesetzt wurden) waren
— 154 —
ebenso wie die Newyorker Börse ohnehin mit Eisenbahnwerten über-
schwemmt und konnten, trotz der vorteilhaften Bedingungen, die an-
gebotenen Papiere nicht unterbringen. Da wendeten sich die Eisen-
bahngesellschaften an die Banken um Hülfe und erhielten von ihnen
Darlehen auf bestimmte Frist gegen Verpfändung ihrer Werte. Diese
Darlehen wurden von den Gesellschaften nicht rechtzeitig zurück-
erstattet, und die Banken, die ihnen geliehen hatten, begannen, eine
nach der andern, die Zahlungen einzustellen, Zuerst wurde die
„New York Warehouse and Security Company", die für viele Eisen-
bahnen in Cansas, Missury und Texas Geld geliehen hatte, banke-
rott; sodann folgte der Bankerott einer anderen Firma, die für die
Süd-Canadische Eisenbahn Geld geliehen hatte, und endhch, nach
dem Bankerott einiger Eisenbahngesellschaften, stellte selbst die Firma
Jay Cook und Co. ihre Zahlungen ein.
Wie haben nun alle diese Ereignisse auf den englischen Geld-
und Warenmarkt eingewirkt? Aus den oben angeführten Daten des
Wertes der britischen Ausfuhr, der Umsätze des Clearing-house , der
Eisenpreise u. s. w. ersieht man, dass die drei Jahre 1871 — 1873 durch
einen ausserordentlichen Aufschwung der englischen Industrie ge-
kennzeichnet waren. Wie gewöhnlich w^urde das englische Kapital
nicht nur in der Gründung neuer industrieller Unternehmungen
innerhalb des Landes angelegt, sondern es floss auch im Ueberflusse
nach dem Auslande ab. Die Londoner Börse wurde von einem
Fieber nach ausländischen Anleihen erfasst, ebenso wie Deutschland, Щ
Oesterreich und die Vereinigten Staaten von einer Häuser- oder
Bahnbauwut erfasst wurden. In den 5 Jahren 1870 — 1875 wurden ||
in London ausländische Anleihen im Betrage von ungefähr 260 Mil- 1
lionen Pfund und zwar viele von ihnen in der unüberlegtesten Weise
aufgenommen 1). Nur mit Hilfe der gewissenlosesten Manöver der
Makler, Börsenagenten und Finanzmänner, welche die Realisierung
dieser Anleihen übernommen hatten, konnten diese einen zeitweisen
Erfolg haben. So gelang es vielen südamerikanischen Staaten, die
schon seit langer Zeit zahlungsunfähig waren und keine Absicht
hatten, die übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen, in London
Anleihen aufzunehmen.
Die Zinsen auf diese Anleihen wurden nur so lange bezahlt,
bis das empfangene Geld nicht verausgabt wurde; dann hörte die
Zahlung der Zinsen auf und die Kreditoren sassen auf dem Trocknen, t
Ende der 70 er Jahre haben folgende Staaten Zinsen für ihre Anleihen *
I) A. R. Wallace, Bad Times, London 1886, S. 18.
- 155 —
überhaupt nicht oder doch nicht in vollem Umfang bezahlt: die
Türkei, Aegypten, Griechenland, Bolivia, Costa- Rica, Ecuador, Hon-
duras, Mexiko, Paraguay, Peru, St. Domingo, Uruguay und Venezuela i).
Solange aber die Zahlungsunfähigkeit dieser Staaten noch nicht
zu Tage getreten war, haben ihre in London aufgenommenen An-
leihen natürlich die englische Ausfuhr gefördert. Ebenso hat der
fieberhafte Eisenbahnbau in den Vereinigten Staaten eine enorme
Nachfrage nach englischem Eisen und englischer Steinkohle geschaffen,
deren Preise um das Vielfache stiegen. Die Ausfuhr britischer Produkte
nach den Vereinigten Staaten stieg rasch von 28,3 Millionen Pfund
(1870) auf 40,7 Millionen (1872); darauf aber begann sie zu sinken
und ging 1878 auf 14,6 Millionen Pfund herunter.
Der Anfang der 70 er Jahre war die Zeit einer unerhörten
Prosperität in der Eisen- und Steinkohlenindustrie Englands; in den
anderen Industriezweigen war der Aufschwung viel schwächer. So
ist die Ausfuhr von Eisen und Stahl aus England in den Jahren
1868 — 73 um mehr als das Doppelte — von 17,6 Millionen Pfund
Sterling auf 37,7 MilHonen — , die der Steinkohle in einem noch
grösseren Masse, nämlich von 5,4 Millionen Pfund Sterhng auf 13,2
Millionen gestiegen; dagegen hat sich die Ausfuhr der baumwollenen
Gewebe in derselben Zeit nur von 53 Millionen Pfund Sterling auf
61,5 Millionen, der wollenen von 19,6 Millionen auf 25,4 Millionen und
der leinenen von 7,1 MilHonen auf 7,3 Millionen erhöht.
Ueber die Entwicklung der englischen Eisenindustrie kann
man auf Grund der folgenden Daten urteilen 2):
Roheisenpro-
Freier Vorrat
Jahre
dviktion Gross-
britanniens
(Mill. Tonnen)
Mittlerer
sh.
Preis
d.
an Roheisen
(Mill. Tonnen)
1867
4.7
52
6
0,644
1868
4,9
52
9
0,720
1869
5,4
53
3
0,735
1870
5.9
54
4
0,782
1871
6,6
59
0
0,558
1872
6,7
lOI
10
0,235
1873
6,8
117
3
0,200
Die rasche Ausdehnung der Eisenproduktion konnte nicht mit
dem Wachstum der Nachfrage Schritt halten. Das wird durch die
Verringerung des unverkauften Vorrats an Roheisen und durch die
kolossal gestiegenen Eisenpreise bewiesen.
1) W. E. Smith, The Recent Depression of Trade, London 1880, S. 45.
2) Juglar, Des Crises commerciales, S. 391.
15б
Es ist sehr interessant, dass die Börsen- und Handelskrisis, die
1873 in Centraleuropa und Amerika ausbrach, sich nicht auf Eng-
land ausgebreitet hat. Der Wiener Börsenkrach hat keine starke
Wirkung auf den Londoner Geldmarkt ausgeübt. Die September-
krisis in Amerika hat ein starkes Steigen des Diskontes der Bank
von England hervorgerufen, aber eine Panik und Zusammenbruch des
Kredites haben 1873 auf dem Londoner Markte nicht stattgefunden.
Conto der Bank von England im Jahre 1873^).
Am 10. Januar .
„ 20, Oktober
„ 30. Oktober
„ 20. November
„ 20. Dezember
Reserve
Barvorrat
Diskont
(in Millionen Pfd. Sterl.)
12,3
7,3
7,5
7,6
12,1
24,0
19,7
19,4
19,3
24,2
47.
6
7
9
47.
Zur Zeit des grössten Steigens des Diskontes erreicht die Re-
serve der Bank 7,6 Millionen Pfund Sterling, und der Barvorrat be-
trägt mehr als 19 Millionen Pfund — dieses Bild ist dem bei den
früheren Krisen wenig ähnlich. Im Jahre 1873 ist in England keine
einzige Bank zusammengebrochen, und die Zahl der Bankerotte hat
sich nur sehr unbedeutend vermehrt. Während in Ländern, welche
auf einer viel niedrigeren Stufe der industriellen Entwicklung standen,
die Krisis einen ausserordentlich verheerenden Charakter hatte und
einem wahren Sturmwinde, der alles auf seinem Wege zu Boden
warf, glich, ist England einer akuten Krisis völlig entgangen. Es
findet das seine Erklärung hauptsächlich darin, dass bis zu dem Jahre
1871 noch nicht alle Spuren der Krisis von 1866 ausgelöscht werden
konnten. Die Spekulation hatte noch keine Zeit gehabt, sich auf dem
englischen Warenmarkte völlig zu entwickeln; „die Mine war," um
eine treffende Bezeichnung von Juglar zu wiederholen, „noch nicht
oder wenigstens nur zur Hälfte geladen" ^j. Infolgedessen hat auch
keine Explosion stattgefunden.
Allerdings waren in den 70 er Jahren die Spekulationen in aus-
ländischen Anleihen auf der Londoner Effektenbörse sehr stark, aber
wie wir es am Beispiele der früheren Krisen mehrmals gesehen haben,
übt eine Börsenkrisis einen sehr geringen Einfluss auf die Volkswirt-
i) Juglar, Des Crises commerciales, 390.
2) Л. a. O., 393.
— 157 —
Schaft aus, wenn die Spekulation und die Agiotage nicht über den
Kreis des gewöhnlichen Börsenpublikums hinausgeht.
Also, England ist es 1873 gelungen, einer akuten Handelskrisis
zu entgehen; trotzdem blieb die englische Industrie während der
nachfolgenden Jahre in einer sehr bedrückten Lage. Die Krise selbst
hat nicht stattgefunden, aber alle ihre Folgen waren vorhanden: das
Sinken der Warenpreise, die Handelsstockung, die Einschränkung der
Produktion — alles das fand in England in der zweiten Hälfte der
70 er Jahre in noch grösserem Masse statt als in denjenigen Ländern,
welche 1873 eine sehr schwere Handelskrisis durchgemacht hatten.
Die Zahl der Bankerotte wuchs mit jedem Jahre; im Jahre 1875 be-
gannen die Bankerotte der Bankfirmen. Die bedeutende Vermehrung
li des Barvorrats der Bank von England im Jahre 1876 beweist, dass dies-
mal der englische Kredit eine starke Erschütterung erlitten hat. Im
Jahre 1878 stellten einige Banken ersten Ranges die Zahlungen ein,
u. a. eines der solidesten Kreditinstitute Schottlands — die City of
Glasgow Bank — , dessen Passiva sich auf 12 Mill. Pfund Sterling,
und die West -England and South Wales Banking Company, deren
Passiva 5 Millionen Pfund betrugen i). Trotzdem aber brach in der
City keine Panik aus, und die Bank von England beschränkte sich
darauf, ihren Diskont im November auf 6% zu erhöhen. Die Panik
ist ausgeblieben und namentlich aus dem Grunde, weil, während in
der früheren Zeit die Bankerotte der Banken unmittelbar auf Perioden
eines starken Aufschwunges der Industrie, also des angespannten
Kredites, folgten, jetzt die Banken erst nach einigen Jahren einer
Geschäftsstockung, also eingeschränkten Kredites, zusammenbrachen.
Früher hatten die Handelskrisen mit den Bankerotten der Banken
angefangen, jetzt fanden diese Bankerotte am Ende einer Handels-
depresion statt. Fünf Jahre einer Geschäftsstockung haben den eng-
lischen Geldmarkt Ende der 70 er Jahre so sehr von allen ungesunde
Spekulationen treibenden Elementen gereinigt, dass für die Aus-
brechung einer Panik kein Boden sich mehr vorfand.
Die Liquidation des industriellen Aufschwunges vom Anfang
der 70 er Jahre dauerte länger, war aber zugleich eine minder schroffe
als je zuvor. In den 70 er Jahren hat in England keine Panik
auf dem Geldmarkte und keine akute Handelskrisis der gewöhnlichen
Art stattgefunden; statt dessen hat sich die Geschäftsstockung ausser-
ordentlich in die Länge gezogen und fand schliesslich ihren Ab-
schluss in einer Zerrüttung des Kredites. Ihren Höhepunkt hat
diese Zerrüttung im Jahre 1879 erreicht; in diesem Jahre zeigt
I) The Economist, 1879. General Results of the Commercial History of 1878.
- I5Ö -
die Kurve der Bankerotte, die sich während einer ganzen Reihe von
Jahren regelmässig nach aufwärts bewegt hatte, ihr Maximum.
Nach 1879 beginnt eine neue Welle des industriellen Auf-
schwungs. In den Vereinigten Staaten trat wieder ein Eisenbahn-
fieber ein; in den drei Jahren 1880 — 82 hat sich das Eisenbahn-
netz um 28 240 englische Meilen vergrössert; dem entsprechend ist
auch die Ausfuhr der britischen Produkte nach den Vereinigten
Staaten von 14,6 Millionen Pfund (1878) auf 31 Millionen Pfund (1882)
gestiegen. Wie in den 70 er Jahren entfällt die Vermehrung der bri-
tischen Ausfuhr hauptsächlich auf die Produkte derjenigen Produk-
tionszweige, die das stehende Kapital der Industrie herstellen.
So ist in den Jahren 1878 — 82 die Ausfuhr (dem Werte nach)
des Eisens und des Stahls von 18,4 Millionen Pfund auf 31,6 Millionen
Pfund, die Maschinenausfuhr von 7,5 Millionen Pfund auf 11,9 Mil-
lionen, die der baumwollenen Gewebe aber nur von 52,9 Millionen
Pfund auf 62,9 Millionen, die der wollenen von 16,7 Millionen auf
18,8, die der leinenen von 5,5 Millionen auf 6 Millionen gestiegen.
Aus diesen Zahlen sowie aus der Veränderung der Eisenpreise
sieht man, dass der industrielle Aufschwung am Anfang der 80 er
Jahre viel schwächer war als der am Anfang der 70er Jahre. Daher
hat sich der Uebergang vom Aufschwung zur Geschäftsstockung in
England in den 80 er Jahren noch allmählicher vollzogen als in den
70 er Jahren. In anderen Ländern wurde dieser Uebergang von mehr
oder minder schweren Erschütterungen des Kredits begleitet, so hat
z. B. im Jahre 1882 in Frankreich der bekannte Krach Bontoux statt-
gefunden; in den Vereinigten Staaten fand 1884 ein Eisenbahnkrach
statt, der dem Krache von 1873 ähnlich, nur etwas schwächer war.
In England wurde das Fallen der Welle des industriellen Auf-
schwungs von keiner Krediterschütterung begleitet.
Aber trotzdem war wohl kaum jemals eine Geschäftsstockung
in England so anhaltend und so verderblich für das Land gewesen
wie die in den 80 er Jahren. Gerade in dieser Zeit zeigt sich in
voller Deutlichkeit die neue Phase der Entwickelung der Weltwirt-
schaft, die durch eine hartnäckige Tendenz der Warenpreise zum
Sinken gekennzeichnet ist. Diei Thatsache dieser Tendenz selbst
unterliegt keinem Zweifel. Hier folgen hier die betreffenden Data für
mehrere Jahre ^):
i) Berechnet nach den Daten des Final Report of the Royal Commission on Gold
and Silver, 1888, S. 17. Index-Number nennen die englischen Statistiker die Durchschnitts-
zahl, die den Zustand der Warenpreise in einem bestimmten Zeitpunkt zum Ausdruck bringt.
Durch die Veränderung des Index-Number's wird die Veränderung des durchschnittlichen
— 159 —
Veränderung der durchschnittlichen Warenpreise nach den
Index-Numbers.
1865—69
1870-79
1880—87
Index-Number
des
,,Economist"
100
93
11
Index-Numbre
von
Pal^rave
100
97
82
Index-Number
von
Sauerbeck
100
97
78
In den 70 er Jahren ist das Fallen der Warenpreise unbedeutend,
aber in den 80er Jahren erreicht es 15 — 20% oder sogar noch mehr.
Die Klagen über die niedrigen Warenpreise, die fast den ganzen
Unternehmergewinn zu nichte gemacht hatten, waren in der Mitte
der 80 er Jahre allgemein. Sie werden fast von allen Zeugen vor-
geführt, die von der Kommission von 1886, welche die Geschäfts-
stockung untersuchte, befragt wurden. In demselben Sinne äusserten
auch die Fabrikinspektoren. „In dem gedrückten Zustande des Waren-
marktes — lesen wir z. B. im Berichte des Inspektors Henderson
für das Jahr 1885 — unter welchem unser Land so lange leidet, be-
ginnen allmählich alle in erster Linie ein Fallen der Warenpreise zu
erkennen. In einigen Industriezweigen hat die Produktion gar keine
Einschränkung erfahren, aber alle klagen, dass der Profit ganz ge-
schwunden sei" 2). In dem Berichte der genannten Kommission wird
eindringlich auf das ausserordentliche Fallen des Unternehmergewinnes
hingewiesen.
Wie oben erwähnt, hat das Sinken der Warenpreise und die
Geschäftsstockung von 1883 — 87 eine grosse Litteratur geschaffen.
Die einen Autoren betrachten als Hauptursache des Sinkens der
Preise die Verteuerung des Goldes, die anderen die Entwertung des
Silbers, die dritten die protektionistische Richtung der neuesten
Handelspolitik vieler Staaten u. s. w. Aber mag auch das eine oder
das andere Moment zum Teil mitgewirkt haben, die wichtigsten
Ursachen des Sinkens der Preise bilden doch, nach der herrschenden
Auffassung, die neuesten Veränderungen auf dem Gebiete der Pro-
duktionstechnik und des Verkehrswesens der ganzen Welt. Darin
stimmen die meisten Autoren überein, die die Geschäftsstockung der
80 er Jahre untersucht haben. Und zwar die grösste Bedeutung
Niveaus der Preise gekennzeichnet. Natürlich sind die Index-Numbers verschieden, je nach-
dem, welche Waren ihnen unterlegt sind. Die drei angeführten Index-Numbers, die der
Londoner Zeitschrift „The Economist", die von Palgrave und Sauerbeck, sind auf
Grund der Preise verschiedener Waren und mit Hülfe verschiedener Methoden berechnet,
i) Report of the Inspector of Factorics Henderson, 30. October 1885.
— i6o —
muss man der Umwälzung auf dem Gebiete des Transportwesens zu-
rechnen.
Die ersten Eisenbahnen wurden in England gebaut. Sie stärkten
die ohnedies starke Position Englands auf dem Weltmarkte. Dann
fing man mit dem Eisenbahnbau in den reichen östlichen Staaten
Nordamerikas und auf dem europäischen Kontinent an, später auch
in anderen Ländern mit geringerer Kultur und mit dünner Bevölke-
rung. Solange die Eisenbahnen noch keine bedeutende Entwickelung
der einheimischen Industrie in den Gegenden, durch die sie geführt
wurden, hervorgerufen hatten, war ihre Verbreitung für England,
das eine Monopolstellung im Welthandel einnahm, sehr wünschens-
wert. Als aber unter dem Einflüsse der Eisenbahnen sich in den
meisten europäischen Staaten sowie in der Nordamerikanischen Union
eine starke und rasch fortschreitende Industrie entwickelt hatte, ver-
änderte sich die Situation für England. Ueberall begannen ihm
neue und wieder neue Konkurrenten zu entstehen, die sich beeilten,
nicht nur den einheimischen, sondern wo möglich auch den aus-
wärtigen Markt in ihre Hände zu bekommen. Eine allgemeine
Ueberproduktion an Waren oder genauer die stetige Tendenz zu
einer solchen ist die natürliche Folge einer solchen Sachlage. Das
Warenangebot übertraf die Nachfrage, und die Preise aller derjenigen
Waren, in deren Herstellung die internationale Konkurrenz besonders
heftig wurde, fingen an zu sinken. Unter diesem Sinken hat freilich
nicht allein England gelitten, sondern auch alle anderen Länder, die
als seine Konkurrenten auftraten; trotzdem musste die Depression
am schwersten in England empfunden werden, da die englische In-
dustrie an dem industriellen Aufschwung, der das Sinken der Waren-
preise hervorrief, relativ wenig beteiligt war, alle schweren Folgen
dieses Sinkens aber ebenso wie seine glücklicheren Konkurrenten
ertragen musste.
Die Verbilligung des Transportes hat am offensichtlichsten auf
die Preise der landwirtschaftlichen Produkte und folglich auch auf
den Ackerbau eingewirkt. Infolge der Eisenbahnen, die durch
die Vereinigten Staaten, Russland und Indien durchgelegt waren,
wurden diese Länder mit ihren bedeutenden Flächen vortrefflichen und
unbebauten Erdbodens in die Lage versetzt, die Produktion des für
die Ausfuhr nach den dicht bevölkerten Ländern Westeuropas be-
stimmten Getreides mehrfach zu erweitern. Der westeuropäische
Ackerbau verlor plötzlich den wirksamsten Schutzzoll, der ihm in
der früheren Zeit die Möglichkeit gegeben hatte, die Konkurrenz der
extensiven Wirtschaft der entfernten Länder im Westen und im
— I6I —
" Osten nicht fürchten zu brauchen — nämlich die hohen Kosten des
r.andtransportes für das Getreide. Eine Folge davon war die schwere
landwirtschaftliche Krisis in Westeuropa. Alles das sind allgemein
bekannte Thatsachen, auf die man nur hinzuweisen braucht, um ihre
Bedeutung klarzustellen. '
Speziell der englische Ackerbau hat sehr stark unter dem
[j Sinken der Getreidepreise gelitten. James Caird, die grösste Auto-
rität in allen Fragen dieser Art, rechnete auf Grund einer speziellen
1 amtlichen Untersuchung aus, dass in den 80 er Jahren das Einkommen
der agrarischen Bevölkerung des Vereinigten Königreiches sich um
insgesamt 42,8 Millionen Pfund Sterling vermindert hat^) Dasselbe
wird auch durch die Aussagen anderer Zeugen bestätigt, die das
Sinken der Pacht für das Ackerland während des Jahrzehntes 1875
bis 1885 auf 30 — 40^/0 abschätzen 2).
Es ist ganz natürlich, dass die Abnahme der Kaufkraft der
landwirtschaftlichen Bevölkerung Englands um 40 Millionen Pfund
Sterling eine sehr ungünstige Wirkung auf den allgemeinen Zustand
des englischen Marktes ausüben musste. Die englischen Landlords, Farmer
und landwirtschaftlichen Arbeiter kauften weniger Fabrikate, unter den
amerikanischen Farmern aber konnte die Nachfrage nach englischen
Waren nicht wachsen, weil die englischen Fabrikate auf dem inneren
amerikanischen Markte mit den Produkten der einheimischen Industrie
nicht konkurrieren konnten. Daher führte eine ganze Reihe von
Zeugen aus den Reihen der Gewerbetreibenden und Fabrikanten
die Stockung in der die Rohstoffe veredelnden Industrie Englands
auf die Abnahme der Kaufkraft der landwirtschaftlichen Bevölkerung
zurück^). Im Berichte der Kommission von 1886 wird dieser letztere
Umstand gleichfalls als eine der wesentlichen Ursachen der Geschäfts-
stockung anerkannt^).
Das alles trifft natürlich zu, dass aber die Verminderung des
Einkommens der landwirtschaftlichen Bevölkerung nicht die einzige,
geschweige die Hauptursache der Depression der 80 er Jahre war,
wird schon dadurch bewiesen, dass die Geschäftsstockung sich nicht
allein auf Westeuropa, sondern auch auf Amerika (wo die gesamte
i) Second Report on Trade Depression. M. of E. Aussage von James Caird.
Q- 7673—77-
2) Third Report on Trade Depression. M. of E. Aussage von Coleman,
Q. 8994; von Druce, Q. 9114.
3) Second Report on Trade Depression. M. of E. Aussage von Dixon , Q. 1363 — 1364 ;
von Belk, Q. 2722; von Broun, Q. 4765 — 68 u. a.
4) Final Report on Trade Depression. XVII.
Tugan-Baranowsky , Die Handelskrisen. ц
l62
Kaufkraft der landwirtschaftlichen Bevölkerung bedeutend gewachsen
sein musste) ausbreitete. Die Agrarkrisis war also nur eine der
Erscheinungsformen der allgemeinen Krisis, die in der Hauptsache
durch eine totale Umgestaltung der Bedingungen der Waren-
beförderung (Eisenbahnen , Dampfschiffe , Telegraph) hervorgerufen
worden ist.
Die fallende Tendenz der Warenpreise, die zuerst in den 80 er
Jahren zum Vorschein kam, ist eine notwendige Folge der heuti-
gen Erstarkung der Konkurrenz auf dem Weltmarkte. Das
Prinzip der uneingeschränkten Konkurrenz wurde zum ersten Mal
nicht allein innerhalb eines Landes, sondern auch auf dem
Weltmarkte in seinem vollen Umfang erprobt; und da kam der
innere Widerspruch, der diesem Prinzipe zu Grunde liegt, zum Aus-
druck. Die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion hat zu einer
allgemeinen Depression und zu ihrem natürlichen Korrektivum, zur
Bildung von Monopolen, Kartellen und Trusts geführt, deren Wachs-
tum ein so charakteristisches Merkmal der neuesten industriellen
Entwickelung der ganzen Welt bildet.
„In den letzten Jahren — so lesen wir im Bericht der Kom-
mission von 1886 — ist in den Lebensverhältnissen der gesamten
civilisierten Welt durch die Hilfsmittel der Wissenschaft, durch die
Anwendung der maschinellen Kräfte zur Produktion und zum Transport
der Waren in allen Ländern der Welt eine höchst bedeutende Umwälzung
bewirkt worden. Das Quantum Arbeit, das für die Erzielung eines
bestimmten Resultats auf dem Gebiete der Produktion oder des
Transportes erforderlich ist, hat sich ausserordentlich vermindert und
vermindert sich fortgesetzt. Die Schwierigkeit besteht jetzt nicht
mehr wie früher in einem Mangel oder in einer Teuerung der Lebens-
oder Luxusmittel, sondern im Kampfe um den entsprechenden Anteil
an der Arbeit, die für die ungeheuere Majorität der Bevölkerung das
einzige Mittel ist, um in den Besitz jener Gegenstände zu gelangen,
mögen sie auch in noch so grosser Menge vorhanden und auch noch
so billig sein" ^). Mit anderen Worten, ist heute Jedermann bestrebt,
seine Konkurrenten zu verdrängen, den Markt zu erobern, und eine
Folge davon ist eine stetige Tendenz zur Ueberproduktion und
um Ueberangebot von Waren.
Namentlich über die Konkurrenz der Aktiengesellschaften hat die
Kommission von 1886 besonders viele Klagen zu hören bekommen;
viele Zeugen behaupteten, die Hauptursache der niedrigen Warenpreise
i) Final Report on Trade Depression, LVII.
4
— 1бз —
bestehe darin, dass in vielen Produktionszweigen Aktiengesellschaften
eine übermässige Verbreitung gefunden hätten. Diese könnten zu
arbeiten fortfahren, selbst ohne einen Profit, da im Interesse der Leute,
welche die Geschäfte leiten (des Vorstandes, des Aufsich tsrates u. s. w.),
eine Weiterführung der Produktion ohne Rücksicht auf ihre Renta-
bilität liege. In der That war in vielen Fällen die Zunahme der
Aktiengesellschaften eine auffallend rasche. „Die charakteristische
Eigentümlichkeit der Entwickelung der britischen Baumwollindustrie
in der letzten Zeit - sagt Th. Ellison — ist das aussergewöhnliche
Wachstum der Spinnereien und Webereien, die sich im Besitze von
Aktiengesellschaften befinden i)." Die erste Aktienbau mwoUfabrik
(Sun Mill) wurde in Oldham im Jahre 1858 gegründet. Sie hatte
einen hervorragenden Erfolg. Anfang der 70er Jahre wurden sehr
viele neue Aktienbaum wollfabriken gegründet. Alle diese Fabriken,
deren Mehrzahl sich in Oldham und dessen Umgegend konzentriert,
sind mit allen neuesten Vervollkommnungen ausgerüstet und ver-
körpern das letzte Wort der Fabriktechnik.
Die Verbreitung der Aktiengesellschaften hat zweifellos zur Ver-
stärkung der Konkurrenz der Produzenten und zum Sinken der
Warenpreise beigetragen. Aber immerhin ist die Bedeutung dieses
Moments geringfügig im Vergleich zu den obengenannten allgemeinen
Ursachen des Sinkens der Preise — der weitesten Verbreitung der
kapitalistischen Industrie in der ganzen Welt und der kolossalen Ver-
billigung des Transportes.
Nach 1886 tritt ein neuer industrieller Aufschwung ein. Und
wiederum kam dieser Aufschwung in England hauptsächhch in der
Maschinen- und Montanindustrie zum Ausdruck: die Ausfuhr des Eisens
ist 1886 bis 1890 von 21,8 Millionen Pfund Sterling auf 31,6 Mil-
lionen, die der Maschinen von 10,1 Millionen auf 16,4 Millionen, die
der Steinkohle von 9,8 Millionen auf 19,0 Millionen gestiegen. Da-
gegen hat sich die Ausfuhr der Produkte der Textilindustrie kaum
merklich vermehrt: die der baumwollenen Gewebe ist von 57,4 auf
62,1 Millionen Pfund gestiegen, die der wollenen Gewebe von 19,7 Mill.
Pfund auf 20,4 Millionen, die der leinenen von 5,3 MiUionen auf 5,7 Mill.
Diesmal hat sich besonders stark die Ausfuhr der englischen
Waren nach der argentinischen Republik ausgedehnt. Im Jahre 1885
führte England seine Produkte nach Argentinien nur für 4,7 Millionen
Pfund Sterling, im Jahre 1889 schon für 10,7 Millionen aus. Ende
der 80er Jahre begann auf der Londoner Börse wieder eine Speku-
i) The Cotton Trade of Great Britain, S. 133.
11*
— 164 —
lation mit ausländischen Anleihen, einer solchen in den 70er Jahren
sehr ähnlich. Wieder fingen südamerikanische Staaten und viele
britische Kolonien an, enorme Anleihen in Europa (hauptsächlich in
London) aufzunehmen.
Die Staatsschuld der argentinischen Republik wuchs in kolos-
salem Umfang. Im Jahre 1874 hatte die im Auslande aufgenommene
Schuld der Republik nicht 10 Millionen Pfund überschritten, im Jahre
1890 aber erreichten ihre Staats-, Provinzial- und Munizipalschulden,
die im Auslande und zwar hauptsächlich in London aufgenommen waren,
59,1 Millionen Pfund ^). Ausserdem war die Londoner Börse von
allerhand Wertpapieren — hauptsächlich von Eisenbahnpapieren —
überschwemmt. Der Zufluss ausländischer Kapitalien nach Argen-
tinien hat einen auffallenden Aufschwung dieses vor kurzer Zeit noch
fast unbevölkerten Landes hervorgerufen. Die wichtigste Anlage für
die ausländischen Kapitalien war in Argentinien der Bau der Eisen-
bahnen. Im Jahre 1883 gab es im Lande ein 3123 Kilometer langes
Eisenbahnnetz, im Jahre 1893 umfasste dieses bereits 13691 Kilometer.
Aber diese letzte Zahl bezieht sich nur auf die thatsächlich ausge-
führten Linien. Projektiert waren viel mehr Bahnen. Im Jahre 1889
allein sind 39 Konzessionen für den Bau von Eisenbahnen von einer
Gesamtstrecke von 1 2 000 Kilometer erteilt worden. Der grösste Teil
dieser Konzessionen blieb aber auf dem Papier, die Eisenbahnen sind
nicht ausgeführt worden und zwar infolge des Eintretens einer ausser-
ordentlich heftigen Handelskrisis
Das Ende der 80er Jahre bedeutete für Argentien eine Epoche des
w^ahnsinnigsten Gründerschwindels. Während dreier Jahre, 1887 — 1889,
waren 250 Aktiengesellschaften entstanden; ihre nominalen Kapitalien
erreichten insgesamt 764 Millionen Dollar 2). Zu alledem kam die äusserst
schlampige Führung der Staatswirtschaft hinzu; die Regierung von
Argentinien, die ebenso gewissenlos war wie die meisten Regierungen
der anderen südamerikanischen Staaten, dachte am allerwenigsten an
die Zukunft. Die Deficite wurden durch Anleihen gedeckt. Aber
auch diese Anleihen reichten nicht aus. Die Regierung schreckte nicht
davor zurück, zum letzten Mittel, zur Ausgabe von Papiergeld, zu
greifen. In kurzer Zeit wurde das Land mit Papiergeld überschwemmt.
Alles das endete damit, womit es enden musste — mit einem
grandiosen Krach, der von einer Revolution und einem Bürgerkriege be-
gleitet w^ar, wodurch die gesamte Industrie des Landes paralysiert wurde.
i) The Argentine Crisis. The Economic Journal 1861, Vol. i.
2) Otto Hübner, Der finanzielle Zusammenbruch Argentiniens. Conrad's Jahr-
bücher f. Nat.-Oek. und Stat. 1892.
- 1б5 -
Diesmal konnte der englische Kredit nicht so leicht den Schwierig-
keiten, die er sich selbst bereitet hatte, entrinnen. 'Die grösste eng-
lische private Bank, die Firma Baring & Co., die ein nicht geringeres
Vertrauen genoss als seinerzeit die Firma Overend, Gurney & Co.,
brach am 14. November 1890 zusammen. Die Firma Baring war
der Finanzagent der argentinischen Regierung und brachte die argen-
tinischen Papiere auf den europäischen Märkten unter. Schon 1889
begann das Unterbringen argentinischer Papiere schwierig zu werden.
Die Börse traute diesen Papieren nicht mehr, sie befürchtete einen
Krach. Im Juli erfolgte auch dieser. Im Besitze der Firma Baring
verblieb eine bedeutende Menge von nicht realisierten argentinischen
Papieren, welche die Börse nicht mehr annahm, und die Firma \vurde
gezwungen, die Zahlungen einzustellen. Man befürchtete schon eine
Panik in der City, sie trat jedoch nicht ein — zum Teil infolge der
Massnahmen, die von der Direktion der Bank von England getroffen
I worden waren (diese hatte sich im Verein mit allen anderen bedeu-
tenden Londoner Banken verpflichtet, die von der Firma Baring ac-
ceptierten Wechsel bis zur Höhe von 18 Millionen Pfund zu über-
nehmen) — zum Teil aber (und hauptsächlich), weil der industrielle
jj Aufschwung und die Erweiterung des Kredites nicht stark genug
für eine Panik waren. Mit welcher Leichtigkeit der englische Geld-
markt den Zusammenbruch der Firma Baring ertragen hat, kann man
auf Grund der Bewegung des Diskontes der Bank von England im
Jahre 1890 beurteilen.
Durchschnittlicher niedrigster Diskont der Bank von Eng-
land im Jahre 1890.
Januar
6
April
375
Juli 4
Oktober
5
Februar
sVr
Mai
3
August 47з
November
sVe
März
4V16
Juni
3V16
September 4Уб
Dezember
5V10
Im Jahre 1866 hatte die Bank von England nach dem Zu-
sammenbruch der Firma Overend & Co. einige Monate hindurch den
Diskont auf 10 ^Д halten müssen, jetzt hat aber der Zusammenbruch
einer nicht minder bedeutenden Firma auf die Höhe des Diskontes
beinahe gar nicht zurückgewirkt.
Nach 1890 tritt die englische Industrie wieder in eine Phase der
Depression: der Wert des Exportes sinkt, die Umsätze des Londoner
Clearing-Houses nehmen ab, die Warenpreise gehen herunter. Aber
wieder, wie das auch in den 8oer Jahren der Fall gewesen war, wird
das Fallen der Welle des industriellen Aufschwungs nicht von einer
Panik begleitet. Es ist im Jahre 1891 keine bedeutende Vermehrung
— I66 —
des Barvorrats der Bank von England zu bemerken; ebenso vermehrt
sich auch die Zahl der Bankerotte in diesem Jahre nur sehr unerheblich.
Das eigentümliche Merkmal der industriellen Entwickelung Eng-
lands in der neuesten Zeit ist also eine Aenderung im Charakter der
Handelskrisen ; an der Stelle plötzlicher Erschütterungen und Paniken
sind andauernde Depressionen getreten. Die königliche Kommission
von 1886 kam, nachdem sie die einzelnen Ursachen der Geschäfts-
stockung um die Mitte der 8oer Jahre untersucht hatte, zu folgendem
Schlüsse : „Alle diese Ursachen haben die Tendenz, die Aufregung
jener anormalen Perioden des Verfalls des Handels, die man mit
„Panik" bezeichnet, immer seltener zu machen. Früher wurde die
Ueberproduktion plötzlich durch einen Zusammenbruch des Kredits auf-
gehalten, aber die nachfolgende Erweiterung der Nachfrage beseitigte
die Uebelstände. In Zukunft kann man eine grössere Stabilität im
Verhältnis von Nachfrage zu Angebot und eine gleichmässigere, wenn
auch niedrigere Profitrate erwarten i)."
In der neuesten Phase der Entwickelung der kapitalistischen
Wirtschaft, deren typische БЪгт die enghsche Wirtschaft darstellt,
haben die industriellen Schwankungen nicht aufgehört und sind nicht
einmal schwächer geworden ; ihre Amplitude hat sich eher vermehrt,
aber ihre Geschwindigkeit hat zweifellos abgenommen. Von dieser
Veränderung hat die Industrie nicht nur nichts gewonnen, sondern
eher verloren. Früher bewirkte die Handelskrisis zahlreiche Banke-
rotte der Spekulanten und minder vermögender Unternehmer und
brachte auf kurze Zeit den Handel fast vollständig zum Stillstand;
sobald aber die Panik vorüber ging, erholte sich der Handel rasch
und die neue Periode des Aufschwungs trat ein. Jetzt dauert die
Geschäftsstockung jahrelang, zugleich aber tritt sie nicht so schroff
und so plötzlich auf. Früher wurde eine aufsteigende Bewegung der
Kurve des englischen Exportes stark ausgeprägt, obschon diese Be-
wegung durch plötzliche Senkungen unterbrochen wurde; jetzt bewegt
sich diese Kurve wellenförmig, zugleich geht sie aber nicht in die ^'
Höhe. Analoge Veränderungen haben auch auf dem Gebiete der Ij
Produktion stattgefunden.
Mit dem Jahre 1890 tritt, wie gesagt, eine neue Epoche der
Depression ein. Die argentinische Krisis war nur ihre hervorragendste
Episode. Ein ähnlicher Krach, nur in schwächerem Grade, hat in
Transvaal, Mexiko, Uruguay und anderen Ländern stattgefunden. Die
darauffolgende Geschäftsstockung erreichte aber nicht so bald ihren
i) Final Report on Trade Depression, XVIII.
— 167 —
Höhepunkt. Das Jahr 1891 war für die meisten Zweige der eng-
lischen Industrie kein schweres Jahr. Nur wenige Zweige befanden
sich in einem gedrückten Zustande — so hat die BaumwolHndustrie,
insbesondere aber die Spinnerei, durch die grossen Schwankungen
der Rohbaumwolle gelitten (im Jahre 1891 sind die Preise der Roh-
baumwolle infolge einer guten Ernte stark gesunken und die Spinner,
die grosse Einkäufe an Baumwolle gemacht hatten, wurden dadurch
schwer geschädigt); in der Tuchindustrie sowie in der Produktion
wollener Gewebe, trat infolge des neuen amerikanischen Mac Kinley-
Tarifs eine Stockung ein; derselbe Tarif hat auch der Blechindustrie
von Wales einen schweren Schlag versetzt.
Die Baumwollspinnerei kam auch durch die ausserordentliche
Entwickelung der Konkurrenz seitens der Aktienfabriken in grosse
\\ Schwierigkeiten. „Es ist traurig, die Verwüstung zu beobachten, die
in einigen blühenden Thälern Lancashires durch den Druck der gegen-
wärtigen Konkurrenz angerichtet ist — schreibt in seinem Bericht
für das Jahr 1891 der P'abrikinspektor Henderson. — Die Fabriken
und Wohnhäuser sind geschlossen, niemand ist drin, viele von ihnen
sind ohne Dächer und ganz verfallen . . . Der Baumwollspinner, der
Eigentümer seiner b^abrik und Maschinen ist, wird bald ganz ver-
schwinden . . . Die einzigen Unternehmer werden bald Aktiengesell-
schaften sein ... In den letzten 30 Jahren war alles darauf gerichtet,
den kleinen Kapitalisten an die Wand zu drücken (to send the smaller
capitalist to the wall) und den einzelnen Unternehmer zu erdrücken;
I es wird für ihn immer schwerer, mit den grossen Gesellschaften zu
konkurrieren, die im Besitze von umfangreichen, mit allen neuesten Vor-
richtungen und Maschinen ausgerüsteten Fabriken sind. In derselben
Richtung hat die Vermehrung der Anforderungen gewirkt, die an die
Fabrikanten seitens der Fabrikgesetzgebung gestellt werden, und das
immer schwieriger sich gestaltende Verhältnis zu den Arbeitern. Es
unterliegt keinem Zweifel, dass in der letzten Zeit viele Unternehmer
ihre Kapitalien aus der Baum Wollindustrie gezogen haben . . . Unter
den vielen Fabriken, die in meinem Bezirke neu errichtet worden
sind oder neu errichtet werden, kann ich zur Zeit keine einzige irgend
wie bedeutende nennen, die von einer einzelnen Person angelegt
worden wäre^)."
Aber die allgemeine Lage der englischen Industrie war — wie
bereits gesagt — im Jahre 1891 keine entschieden gedrückte. Be-
deutend schlechter war das folgende Jahr. „Während des grössten
I) Report of the Chief Inspector of Factories and Workshops, 1892, S. 22.
— i68 —
Teils der vergangenen 12 Monate — lesen wir im Bericht von
Henderson für das Jahr 1892 — befand sich die Industrie Schott-
lands und des nördlichen Englands in einem sehr unbefriedigten
Zustande. Tausende von Familien sind an den Bettelstab gebracht
und hunderte von kleinen Krämern und Kaufleuten sind bankerott
geworden . . Die Baumwollindustrie befindet sich in einem kritischen
Zustande .... Wir fühlen jetzt die Wirkungen der wilden Aktien-
spekulationen, die die Zahl der Spindeln in Oldham um Millionen ver-
mehrt haben. Die Oldham er Fabriken haben die kleinen primitiven
Fabriken erdrückt und werden jetzt ihrerseits erdrückt von den Spinn-
fabriken in Bombay 1)." In Huddersfield, Wolverhampton, Bradford,
Staffordshire, Wales und anderen Ortschaften trat eine industrielle
Stockung ein. Sehr stark hat die Eisenindustrie gelitten.
Das Jahr 1893 war noch schlechter. „Die Industrie war" — so
berichtet z. B. der Fabrikinspektor Jones aus dem montanindustriellen
Bezirk von Cornwall und Devonshire — „in einem schrecklich
gedrückten Zustand .... Viele Arbeiter haben die Arbeit verloren,
und es entsteht die ernste Frage, wie man diesen armen Leuten
helfen solle."
Aus Edinburg wird berichtet: „Der allgemeine Zustand der In-
dustrie ist traurig. Verminderung der Zahl der beschäftigten Arbeiter,
Einschränkung der Arbeit, Unthätigkeit der Maschinen — das sieht
man überall." Aus Blackburn: „Mindestens die Hälfte der Maschinen
stqht still und ein bedeutender Teil der übrigen arbeitet nicht die
volle Zeit. Tausende von Arbeitern müssen hungern und zwar in
einem Masse, wie es seit dem amerikanischen Kriege noch nicht da-
gewesen war 2).'' Mitteilungen dieser Art über den Zustand der eng-
lischen Industrie füllen die Berichte der Fabrik-Inspektoren für das
Jahr 1893 sowie auch die für das folgende Jahr.
Im Jahre 1893 brach in Australien und in den Vereinigten
Staaten eine schwere Handelskrisis aus, die, wie immer, durch den
Gründungsschwindel und die Börsen- und Handelsspekulationen her-
vorgerufen worden ist. Eine rasche Ausdehnung des Eisenbahnnetzes
war in beiden Ländern der Krisis vorangegangen und hatte eine
solche zu einem grossen Teile verursacht. Die amerikanische Krisis
ist noch verschärft worden durch die Münzwirren in den Vereinigten
Staaten — durch das Sinken des Silberpreises und die Befürchtungen,
dass die Bundesregierung die Einlösung des Silbers gegen Gold ein-
stellen würde. Die Krisis fing, wie gewöhnlich, mit dem Goldabflusse
i) Report of the Chief Inspector of Factories 1893.
2) Report of the Chief Inspector of Factories 1894.
— lög —
nach dem Auslande an. Infolge dieses Abflusses sank der Goldvor-
rat in der Staatskasse der Vereinigten Staaten von 120 Millionen
Dollar (zu Beginn des Jahres) auf 90 Millionen Dollar (Anfang
Juni). Im FriihHng begannen die Bankerotte der Banken und der
Handelsfirmen. Im Sommer war der Kredit vollkommen lahm ge-
legt und der Handel geriet absolut ins Stocken. Der Diskont ging
bis auf 12 — 18 hinauf. Die Panik erreichte ihren Höhepunkt im
August, als gegen 600 Banken ganz oder zum Teil ihre Zahlungen
einstellten. Die Zahl der Bankerotte in den Vereinigten Staaten stieg
^'on 7538 mit Gesamtpassiven von 93 Millionen Dollar (1890) auf 11 174
mit Gesamtpassiven von 324 Millionen Dollar (1893) i). Besonders stark
haben unter der Krisis die Eisenbahngesellschaften gelitten: 74 Ge-
sellschaften mit einem Eisenbahnnetz von insgesamt 29 Tausend Meilen
sind in Konkurs geraten.
Die Krisis in Australien begann bereits im Jahre 1891, erreichte
aber ihre volle Entwicklung auch erst im Jahre 1893. In einer be-
sonders harten Form ist die Krisis in Victoria ausgebrochen. Das
englische Kapital floss Ende der 8oer Jahre im Ueberfluss nach
Australien. Das hat zu einem Gründungsschwindel und einer ausser-
ordentlichen Erweiterung des Eisenbahnnetzes geführt. So sind aus
der Gesamtsumme von 1 1 2 Millionen Pfund Sterling, die in dieser
Zeit auf dem Wege von Staatsanleihen von drei Kolonien — Vic-
toria, Neusüdwales und Tasmanien — aufgebracht worden sind,
81 Millionen für den Bau von Eisenbahnen und Tramways veraus-
gabt worden. Das Eisenbahnnetz Australiens umfasste im Jahre 1880
erst 4900 Meilen, im Jahre 1895 aber bereits 15600 Meilen.
Es wurden viele Baugesellschaften für die Bebauung der städ-
tischen Grundstücke gegründet. Die Landspekulationen waren Ende
der 80er Jahre besonders stark. Im Jahre 1891 begann der Zu-
sammenbruch der Baugesellschaften. Im Jahre 1893 erfolgte der all-
gemeine Krach, und die meisten australischen Banken stellten ihre
Zahlungen ein ^).
Die australische und amerikanische Krisen riefen eine lange
dauernde Depression in der Weltindustrie hervor; besonders schwer
haben sie auf den Zustand der englischen Industrie eingewirkt.
Eine Panik aber wurde England vollkommen erspart. Die schwache
Erschütterung des englischen Kredites im Jahre 1890 durch den
Baring's Krach hatte genügt, um das Uebergreifen der australischen
i) F. W. Taussig, The Crisis in the United States. Economic Journal 1893. —
A. Stevens, Phenomena of the Panic in 1893. — Quarterly Review of Economics. 1894.
2) A. Ellis, The Austrahan banking crisis. Economic Journal 1893.
— 170 —
und amerikanischen Geldklemme auf England zu verhüten. Im
August und September, als die Panik in Amerika und Australien
ihren Höhepunkt erreichte, hielt die Bank von England ihren Dis-
kont auf dem Niveau 4 — 4Y2 Vo' während die Reserve mehr als
12 Millionen Pfund betrug.
Nach 1895 beginnt ein neuer industrieller Aufschwung, der bis
zur Gegenwart anhält. Wie man aus allem Gesagten ersieht, haben
die Handelskrisen des früheren Typus in England aufgehört. Die Ur-
sachen dieser höchst wichtigen Veränderung bestehen in folgendem:
Zunächst, in den neuesten Verhältnissen des Welthandels. Oben
ist es darauf hingewiesen, dass einer der am meisten charakteristischen
Züge der ökonomischen Entwickelung der Gegenwart die allmähliche
Verdrängung des selbständigen Engroshändlers ist. Die Beschleu-
nigung und Verbilligung des Verkehrs zwischen allen Weltteilen hat
natürlich dazu beigetragen , dass sich Warenvorräte aller Art in den
Händen des Händlers vermindern: der Verkehr zwischen den Produ-
zenten und Konsumenten wird immer unmittelbarer. Dadurch wird natür-
lich die ökonomische Bedeutung des Handelskapitals vermindert; ge-
rade das Handelskapital war jedoch am meisten an den wahnsinnigen
Spekulationen schuld, die in der früheren Zeit auf dem englischen
Geldmarkte Paniken hervorgerufen hatten. Der Fabrikant, der seine
Ware selbst an den Konsumenten verkauft, hat wenig Neigung, mit
ihr zu spekulieren ; dagegen besteht das Wesen des Handels gerade
in der Spekulation, in der Erzielung des Profits aus dem Preisunter-
schiede. Dazu hat heute auch die Handelsspekulation selbst einen
anderen Charakter angenommen und führt eher zu einer Schwächung
als zu einer Verstärkung der Preisschwankungen. Bei der Erleich-
terung der Warenbeförderung (Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraph)
und der Ausbreitung des Handelsverkehrs in der ganzen Welt, ruft
jede Erhöhung der Warenpreise sofort eine Verstärkung der Waren-
zufuhr von den Märkten hervor, wo die Ware im Preise nicht ge-
stiegen ist. Der Warenmarkt besitzt heute einen derartig ausge-
bildeten internationalen Charakter, die Abhängigkeit zwischen den
einzelnen Märkten ist so gross, dass die Preise der Waren in den-
jenigen Ländern, die der ausländischen Konkurrenz geöffnet sind,
wie z. B. in England, in viel grösserem Masse als früher durch
das Verhältnis der Weltnachfrage zum Weltangebot bestimmt
werden; dies Verhältnis ist natürlich weniger Schwankungen ausge-
setzt als das von Nachfrage zu Angebot in jedem einzelnen Lande.
Ferner sind im Wesen der englischen Industrie selbst tiefe Ver-
änderungen vor sich gegangen. Wir haben schon mehrfach darauf hin-
~ 171 —
gewiesen, dass in der neuesten Zeit die grössten Schwankungen in
England nicht mehr wie früher in der TextiHndustrie, sondern in
der Eisenindustrie, dem Maschinenbau, der Steinkohlenproduktion und
in den anderen Industriezweigen, die Produktionsmittel herstellen, statt-
finden. Im zweiten Teile dieses Buches werden wir noch auf diesen
Punkt im Zusammenhang mit den Schwankungen des Prozentsatzes
der Arbeitslosen in verschiedenen Industriezweigen zurückkommen
müssen.
Der Aufschwung und die Geschäftsstockung kommen also in der
neuesten Zeit am stärksten in der Erzeugung von Produktionsmitteln
zum Ausdruck, nicht wie früher in der Textilindustrie. England wird
immer mehr und mehr zum Lieferanten nicht der Konsumenten,
sondern der Produzenten des Auslandes. Es unterliegt aber keinem
Zweifel, dass der Handel mit den Konsumtionsmitteln einen grösseren
Spielraum für Spekulationen gewährt als der Handel mit den Produk-
tionsmitteln. Die Nachfrage nach Maschinen, Steinkohlen u. s. w.
kann nicht in einem irgend wie erheblichem Masse durch die Be-
mühungen der Produzenten dieser Gegenstände erweitert werden.
Dagegen lässt sich die Nachfrage nach Fabrikaten, die für einen un-
produktiven Verbrauch bestimmt sind, leicht erhöhen durch die Be-
mühungen der Produzenten oder der Händler — mit Hülfe der Re-
klame, durch die grössere Anpassung der Ware an den Geschmack
der Konsumenten, durch Verbreitung der Ware in weiteren Gesell-
schaftsklassen u. s. w. Für die baumwollenen Gewebe z. B. ist der
Markt die ganze Welt, nicht nur die civilisierten, sondern auch un-
I civilisierte Länder. Die Händler mit baumwollenen Geweben können
immer darauf rechnen, bei grösserer Unternehmungslust immer neue
Märkte für ihre Waren zu eröffnen. Sie können längere Zeit unver-
kaufte Warenvorräte, in der Hoffnung, sie später vorteilhaft abzu-
setzen, in ihren Händen behalten. In vielen Zweigen der Eisen-
industrie wird dagegen nur auf Bestellung gearbeitet. Das ist z. B.
bei dem Bau von Seeschiffen der Fall, ebenso bei der Eisenbahnschienen-
produktion. Es giebt keine Handelsvorräte an Schiffen oder Schienen.
Schiffsbauten und Eisenbahnmaterial absorbieren aber gegen ein
Drittel des gesamten Eisens, das in England überhaupt verbraucht
wird; die Produkte dieser Produktionszweige bilden mehr als ein
Drittel englischen Exportes an Eisenfabrikaten.
Die Erweiterung der Arbeit auf Bestellung beseitigt den Händler
ji und nimmt der Produktion den Spekulationscharakter. So lange
in England der industrielle Aufschwung hauptsächlich in der Baum-
wollindustrie zum Ausdruck kam, fanden die Handelsspekulationen
— 172 —
in England einen günstigen Boden. Eine Hemmung des Warenabsatzes
rief da einen allgemeinen Zusammenbruch der Handelsfirmen und eine
Panik hervor. Jetzt ist die englische Baumwollindustrie nur im geringen
Masse am industriellen Aufschwung beteiligt. Es findet das seine Erklä-
rung einerseits im Verfall der industriellen Suprematie Englands : die Län-
der, in die früher baumwollene b'abrikate aus England eingeführt worden
waren, produzieren diese heute selbst. Andererseits aber erscheint die
Verminderung der Rolle der Baumwollindustrie im industriellen Leben
Englands als eine Folge der wachsenden Bedeutung in der modernen
Industrie der Produktion der Maschinen, Werkzeuge — der Produk-
tionsmittel überhaupt. Jedenfalls kommt heute im englischen Aussen-
handel der Aufschwung hauptsächlich in einer Verstärkung der Aus-
fuhr von Produktionsmitteln zum Ausdruck. Diese Produktionsmittel
erzeugt der englische Produzent, wie gesagt, zu einem grossen Teile
auf Bestellung, d. h. sicher, ohne jedwedes Risico. Es ist also ganz
natürlich, dass die Handelsspekulationen auf dem englischen Waren-
markte keinen so günstigen Boden finden wie früher und sich nicht
entfalten können.
Die Veränderung des Charakters der Handelskrisen in der
neuesten englischen industriellen Geschichte steht also teils in einem
unmittelbaren Zusammenhang mit dem Verlust der industriellen Supre-
matrie Englands. Die Epochen des industriellen Aufschwungs Eng-
lands sind zu unbedeutend, um eine so stürmische Reaktion wie früher
nach sich zu ziehen. Andere Ursachen für das Fehlen der Krisen
sind aber nicht nur England eigen. Die Verminderung der Bedeutung
der Handelsspekulationen als krisenbildender Momente, infolge der
EntWickelung des Welthandels und der grösseren Stabilität der Preise
einerseits und der Zunahme der Arbeit auf Bestellung, anderer-
seits, hat die Tendenz, die Schroffheit des Ueberganges von Auf-
schwung zu Geschäftsstockung in der ganzen Welt zu mildern. In
jungen und schnell wachsenden Ländern, wie in den Vereinigten
Staaten, Australien oder Argentinien, finden trotzdem — infolge der
ausserordentlich raschen Entwickelung der Produktivkräfte dieser
Länder in günstigen Jahren — Paniken und akute Handelskrisen statt.
Aber in Europa sind schon lange Zeit keine akuten Krisen des
früheren Typus mehr ausgebrochen. Das beweist jedoch keinenfalls,
dass die Zeit der Paniken vorbei ist. Der industrielle Aufschwung der
letzten Jahre ist besonders bedeutend in Deutschland — es ist mög-
lich, dass gerade in diesem Lande das Fallen der Welle des industriellen
Aufschwungs von einer akuten Krisis begleitet sein wird. Allerdings,
!
— 173 —
wenn auch die Handelskrisen des früheren Typus in England nur
noch der Geschichte angehören, so hat das doch die für die kapita-
listische Produktionsweise charakteristische Periodicität der Entwicke-
lung keineswegs aufgehoben. Ja,, noch mehr — das Aufhören der
akuten Krisen hat die auffallende Periodicität von Flut und Ebbe im
wirtschaftlichen Leben der kapitalistischen Welt nur verstärkt, und
diese Periodicität tritt jetzt deutlicher zu Tage als je zuvor.
KAPITEL VI.
Die Erklärung der Krisen aus der Unterkonsumtion
der Volksmassen.
Die Krisentheorie der klassischen Schule. — Deren Mängel. — Die Lehre über das
Kapital von J. S. Mill. — Die Inkonsequenzen Mills. — Die Unterkonsumtionstheorie
Sismondis. — Seine Analyse des gesellschaftHchen Einkommens. — Die Verringerung
des nationalen Einkommens unter dem Einfluss der Entwickelung der kapitalistischen Pro-
duktion. — Der Zusammenhang der Verelendung der Volksmassen mit der Absatzstockung.
— Die Ansichten von Dühring, Herkner und Hobson über die Ursachen der Krisen.
— Die Unhaltbarkeit der Unterkonsumtionstheorie.
Die Geschichte der englischen Handelskrisen hat uns ein um-
fangreiches Material zur Beurteilung der konkreten Ursachen der
Krisen geliefert. Jede Krisis, wie jedes konkrete geschichtliche
Ereignis, besitzt individuelle Züge, und es war nicht allzu schwer, die
unmittelbaren Ursachen der verschiedenen Krisen festzustellen. Aber
neben diesen individuellen Zügen tritt in der Geschichte der Krisen
eine grosse Aehnlichkeit aller kapitalistischen Wirtschaftsstörungen 1
hervor. Die charakteristische, jeder Krisis vorangehende Lage des
Waren- und Geldmarktes, die Erscheinungen im Gebiete des Geld-
und Kredit Verkehrs, welche die Entwickelung einer Krisis begleiten,
der darauffolgende Zustand des Handels und der Industrie — darin
kommen typische Züge aller Krisen, wie verschiedenartig sonst diei
besonderen Ursachen solcher sein möchten, zum Ausdruck. Darum
ist die Krisengeschichte so monoton — man ist gezwungen, immer
dasselbe zu wiederholen; gerade aber diese Eintönigkeit beweist am
besten die Gesetzmässigkeit der Krisen. Sie werden offenbar nicht
durch die zufälligen Umstände des gegebenen geschichtlichen Mo-
mentes, sondern durch mächtigere und bleibende, im Wesen der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurzelnde Kräfte hervorgerufen.
Die Krisengeschichte hat uns gezeigt, dass die Krisen sich mit
einer auffallenden Regelmässigkeit wiederholen. Jedes Jahrzehnt tritt
in England eine Epoche des Aufschwungs, der industriellen Blüte
f
175
und dann des Niedergangs, der Geschäftsstockung ein. Diese Regel-
mässigkeit, diese Periodicität der Krisen scheint einem Gesetze unter-
worfen zu sein, und dieses Gesetz ist noch aufzufinden. Unsere Auf-
gabe — die wissenschaftHche Erklärung der Krisen in ihrem ganzen
Zusammenhange — ist bei weitem noch nicht gelöst, wenn wir die un-
mittelbaren Ursachen einer jeden Krisis, als eines konkreten historischen
Ereignisses, klargelegt haben. Die im ersten Kapitel dieses Buches
gegebene theoretische Analyse der Bedingungen der Realisation des
gesellschaftlichen Produktes hat uns die Notwendigkeit der Entstehung
der Krisen in der kapitalistischen Wirtschaft nachgewiesen; die
Periodicität derselben bedarf aber einer weiteren Erklärung. Die ge-
nannte Analyse ist also bloss als eine Grundlage der wissenschaft-
lichen Krisentheorie zu betrachten.
Als ein Ergebnis dieser Analyse erwies sich der Grundsatz,
dass bei einer proportioneilen Einteilung der gesellschaftlichen Pro-
duktion die Nachfrage nach Produkten mit deren Angebot überein-
stimmen muss. Der Gedanke von einer derartigen Uebereinstimmung
ist allerdings nicht als neu zu bezeichnen — er war schon im 18. Jahr-
hundert Turgot und anderen Physiokraten geläufig, später von
J. B. Say in Traite d'Economie Politique (1803) und von James Mi 11
in seiner Schrift Commerce defended (1808) strenger formuliert und
nachgewiesen, von demselben Sa}^ in Cours complet d'Economie
! Politique pratique (1828 — 2g) und James Mill in Elements of Political
Economy (182 1) weiter entwickelt und endlich in einem der ver-
breitetsten Handbücher der politischen Oekonomie — in Principles
of Political Economy von John Stuart Mill — dargestellt. Eine
der spätesten selbständigen Darstellungen derselben Lehre findet sich
in Some Leading Principles of Political Economy (1874) von
J. E. Cairnes. Die ganze klassische Schule der National-Oekonomie
(mit der Ausnahme von Malthus) hat auf dem Boden dieser Lehre
gestanden. Und zwar hat diese letztere für alle ihre Vertreter als
ganz unbestreitbar gegolten. So äussert J. S. Mill in seinen „Grund-
sätzen der politischen Oekonomie", dass er kaum eine befriedigende
Ausdrucksweise für die Ansichten derer finden kann, welche die
Möglichkeit einer zu raschen Kapitalakkumulation zulassen, so wider-
sinnig erscheine ihm eine solche Zulassung. Ebenso betrachtete ein
so scharfer Logiker wie Ricardo die Lehre von der Ueberein-
stimmung des Gesamtangebots mit der Gesamtnachfrage als eine
solche, deren Verneinung eine logische Ungereimtheit bildet. Und
zwar kann für einen jeden, der die Polemik von Ricardo mit
Malthus und Sismondi genau kennt, nicht der geringste Zweifel
— 176 —
obwalten, dass der Sieg in dieser Kontroverse auf Seiten Ricardos
war. In Etudes sur TEconomie Politique ist Sismondi gezwungen, die
Richtigkeit der von ihm angefochtenen Lehre anzuerkennen und
seinem Gegner alle nötigen Zugeständnisse zu machen i). Ebenso
wenig vermochte Malthus in seinen von Bonar veröffentlichten
Briefen gegen die zwingenden Argumente Ricardos stich zu halten.
Und dennoch sind die Ansichten von vSismpndi und Malthus in
betreff des Zusammenhanges der Produktion und Konsumtion in der
Volkswirtschaft von den meisten neueren Krisentheoretikern ange-
nommen, während die Theorie Say-Mill-Ricardo heute beinahe
keine Anhänger findet. Für die neueren Nationalökonomen ist die
Lieblingslehre der klassischen Schule bestenfalls eine ganz unbrauch-
bare „blutleere Abstraktion" (Vergl. W. Lexis Artikel „Ueber-
produktion'' im „Handwörterbuche der Staatswissenschaften"), welche
zu keinen wissenschaftlichen Zwecken benutzt werden kann.
Solch ein Schicksal einer Lehre kann nur aus deren Inhalte
erklärt werden. Es muss ein fundamentaler Fehler in ihr vorhanden
sein, wenn sie sich so wenig zu behaupten vermocht hat.
Allerdings haben der genannten Lehre einige von ihren Ver-
tretern sehr viel geschadet. So hat z. B. J. B. Say in seinem Cours
Complet d'Economie Politique eine solche Fassung dieser Lehre ge-
geben, bei welcher sie sich in eine platte Tautologie verwandelt ^).
i) Auf S. 55 seiner Etudes (Band I) erzählt Sismondi, dass er kurz vor dem Tode
Ricardos Gelegenheit gehabt habe, mit dem berühmten Nationalökonomen Bekannt-
schaft zu machen; die Diskussion wurde der Frage über die Möglichkeit einer allgemeinen
Warenüberproduktion gewidmet. Aus dieser Diskussion entstand eine umfassende und höchst
interessante Anmerkung in den genannten Etudes. Sismondi untersucht namentUch in
dieser Anmerkung den Einfluss der Steigerung der Produktivität dei Arbeit auf den Waren-
absatz. Das Schlussergebnis dieser, übrigens sehr konfusen Analyse erweist sich entschieden
zu Gunsten der Theorie Ricardos, was aus dem folgenden Citat ganz klar hervortritt:
„Wir kommen" — sagt Sismondi — „wie Ricardo zu dem Schlüsse, dass, wenn der
Warenumsatz keine Unterbrechung erfährt, die Produktion eine Konsumtion schaffen muss;
dazu kommen wir aber, indem wir von Zeit und Raum, nach dem Muster der deutschen
Metaphysiker und von allen Hemmnissen, welche den Warenumlauf unterbrechen, vollkommen
abstrahieren; aber je genauer wir den letzteren untersuchen, um so umfangreicher erscheinen
uns jene Hemmnisse". Ricardo hat aber nie behauptet, dass Unterbrechungen des Л¥агеп-
umlaufes unmöglich seien. Seine Lehre bestand eben darin, dass die Störungen des Gleich-
gewichts zwischen der Produktion und der Konsumtion nie aus dem Ueberschusse der Pro-
duktivkräfte, sondern nur aus den Bedingungen des Warenumlaufs entspringen können. Das
Zugeständnis Sismondis in einem so wichtigen Punkte ist gleichbedeutend mit dem, dass
er seine eigene Theorie, die bis jetzt so viele Anhänger findet, preisgegeben hat.
2) E. V. Bergmann, Geschichte der nationalökonomischen Krisentheorien, Stuttgart
1895, S. 76. Die Bergmannsche Darstellung und Kritik der klassischen Lehre ist
übrigens ungenügend.
?
177
Die Darstellung der Lehre in den „Grundsätzen der politischen
Oekonomie" von J. S. IMill ist so verwickelt und dunkel, dass die
I betreffenden ^Seiten wahrscheinlich nur von wenigen vollkommen ver-
standen worden sind. Ein sehr scharfsinniger Schriftsteller —
R. S. Moffat — gesteht in seinem interessanten Buche „The
Economy of Consumtion (London 1878)", dass vieles in der Dar-
stellung von Mi 11 ihm unklar geblieben ist^). Die Grundursache der
geringen Beachtung, welche die klassische Lehre bei den neueren
Nationalökonomen findet , liegt aber tiefer — in der Un Voll-
kommenheit dieser Lehre. Sie könnte nämlich eine ausgezeichnete
Grundlage für eine inhaltreiche Theorie der Bedingungen der Reali-
sation des gesellschaftlichen Produktes werden, bildete aber selbst
eine solche Theorie bei weitem nicht. Keiner der Vertreter der Lehre
hat sie folgerichtig weiter zu entwickeln verstanden. Neben den
tiefen und richtigen Gedanken enthalten die Schriften Ricardos und
der beiden Mills (von J. B. Say ganz zu schweigen) so viel Un-
haltbares in Bezug auf die Beziehungen zwischen der gesellschaftlichen
Produktion und der Konsumtion, dass man die Verwerfung der
ganzen Lehre seitens der meisten neueren Theoretiker nicht anders
als ganz natürlich finden kann.
Wie schon früher gesagt, hat die klassische Schule die Gesetze
der Akkumulation des gesellschaftlichen Kapitals vollkommen miss-
verstanden. Nach der Auffassung Smith's und seiner Nachfolger
vermindert die Akkumulation des Kapitals den Konsumtionsfonds der
Gesellschaft in keiner Weise: die Konsumtion der Arbeiter tritt ein-
fach an die Stelle derjenigen der Kapitalisten. Die glänzende Ana-
lyse des Cirkulationsprozesses des Kapitals, welche Karl Marx im
П. Bande des „Kapitals" giebt, hat die Unhaltbarkeit dieser Auf-
fassung nachgewiesen. Die Produktionsmittel bilden einen ebenso
notwendigen Bestandteil des gesellschaftlichen Produktes wie die
Konsumtionsmittel, und da jede Steigerung der Kapitalakkumulation
die Herstellung neuer Produktiosmittel hervorruft, so kann als Folge
davon eine — wenigstens relative — Verringerung des Konsumtions-
fonds nicht ausbleiben.
Weitere Mängel der klassischen Lehre treten besonders scharf
in der Unfähigkeit Says, Ricardos und der beiden Mills hervor,
sie zur Erklärung der konkreten Erscheinungen des Wirtschaftslebens
zu benutzen. Für Say und Ricardo galt ihre Lehre einfach als
1) Auf einem auffallenden Missverständnis beruht die ganze Kritik Moffats der
Theorie vom Kapital von J. S. Mi 11,
Tugun-Baranowsky, Die Handelskrisen. J'i
- 178 -
Beweis der Unmöglichkeit einer allgemeinen Ueberproduktion —
einer solchen Lage des Warenmarktes, bei der das gesamte Waren-
angebot die Nachfrage nach Waren überschreitet und ein allgemeiner
Preissturz folgt. Da aber das Wesen der Handelskrisen gerade in
einer allgemeinen Ueberproduktion besteht, so wurden Say und
Ricardo gezwungen, die unbestreitbaren Thatsachen zu leugnen.
Anstatt die Handelskrisen im Lichte des von ihnen aufgestellten
Prinzips zu erklären, haben Say und Ricardo solche einfach ver-
neint.
Ricardo, der zweifelsohne beste Theoretiker der klassischen
Schule, betrachtete die Handelskrisen als zufällige, durch die ver-
schiedensten Ursachen hervorgerufene Wirtschaftsstörungen. Durch
die Ereignisse seiner Zeit beeinflusst, schrieb Ricardo eine besondere
Bedeutung als Krisen Ursachen den politischen Umständen — so dem
Beginn und der Endigung eines Krieges zu. Alle wirtschaftlichen
Störungen und Stockungen entspringen, nach der Auffassung Ri-
cardos, aus den plötzlichen Aenderungen der Nachfrage und dauern
solange, bis die Kapitalien aus den Industriezweigen, deren Produkte
nicht absatzfähig werden, in jene anderen Zweige, wo die Nachfrage
das Angebot überschreitet, übergehen können.
Eine solche Betrachtung der Krisen — als vorübergehender zu-
fälliger Wirtschaftsstörungen — war zur Zeit Says und Ricardos
möglich. Die spätere Erfahrung hat aber gezeigt, dass Krisen keine
zufälligen äusseren Störungen seien, sondern mit der modernen Wirt-
schaftsordnung organisch aufs engste verknüpft sind. Obschon Mal-
thus und Sismondi keine logisch konsequente Erklärung der Krisen
auszubilden vermochten, so haben sie wenigstens die Bedeutung der-
selben anerkannt. Und darum haben spätere Krisentheoretiker eine
schlechte Krisentheorie von Sismondi der Verwerfung jeder Krisen-
theorie seitens Ricardos vorgezogen.
Nicht bloss aber die Krisen, auch andere wirtschaftliche Er-
scheinungen wurden von der Smith sehen Schule vom Standpunkte
des genannten Prinzips falsch interpretiert. Nehmen wir z. B. die
bekannte Lehre J. S. Mills über das Kapital. So behauptet Mill,
dass die Grösse der gesellschaftlichen Produktion durch die Menge
des Kapitals bedingt wird. Das mag man vielleicht als eine durchaus
konsequente Folgerung aus dem Grundsatz über die Abhängigkeit
der Nachfrage vom Angebot finden. Dennoch bleibt diese Be-
hauptung in der von Mill gegebenen Fassung durchaus falsch. Nach
der Auffassung von Mill muss die thatsächliche Grösse der gesell-
— 179 —
schaftlichen Produktion mit der Kapitalmenge immer übereinstimmen i).
Daraus zieht Mill höchst wichtige praktische Schlussfolgerungen: so
leugnet er z. B. die Möglichkeit einer Förderung der nationalen Pro-
duktion durch die Steigerung der unproduktiven Konsumtion —
durch die Luxusentfaltung der höheren Gesellschaftsklassen, die un-
I produktiven Staatsausgaben u. s. w. Ferner glaubt Mill aus seinem
Grundsatz die Unhaltbarkeit des Protektionismus beweisen zu können.
I Die Schutzzölle schaffen namentlich keine neuen Kapitalien : — also
können sie auch die nationale Produktion nicht vermehren. Zugleich
aber stimmt Mill, mit einer erstaunlichen Inkonsequenz, den Er-
wägungen Chalmers über die Geringfügigkeit der Wirkung zu,
I welche eine Vernichtung des gesellschaftlichen Kapitals durch Kriege,
' Ueberschwemmungen u. s. w. auf den Umfang der nationalen Pro-
duktion ausübe. Chalmers weist namentlich auf die bekannte That-
■ Sache hin, dass die industriellen Länder sehr leicht die schwersten
Kriege ertragen: kolossale unproduktive Kapitalausgaben müssten,
wie es scheint, einen beträchtlichen Teil des nationalen Kapitals ver-
nichten — und doch erträgt das Land diese Wertvernichtung mit
einer auffallenden Leichtigkeit und wird nach kurzer Zeit reicher als
i je zuvor. Beweist das nicht die Geringfügigkeit der Rolle des Kapitals
I und die hohe Bedeutung der Nachfrage in der modernen Volkswirt-
I Schaft? Diese Schlussfolgerung zieht Chalmers - und Mill
pflichtet ihm bei, ohne den schreiendsten Widerspruch der Ansichten
Chalmers mit seinen eigenen zu bemerken.
Aus dem von uns im I. Kapitel dieses Buches über die Bedeutung
des Absatzmarktes in der kapitalistischen Wirtschaft Gesagten geht es
klar hervor, dass Chalmers vollkommen recht hatte und dass die Nach-
frage in der That eine überaus grosse Rolle in der Bestimmung der
Grösse der nationalen Produktion spielt. Die Lehre Mills über die Ab-
■ hängigkeit des Produktionsumfangs von der Menge des Kapitals wäre
bloss unter einer Ergänzung richtig: nämlich unter der Voraussetzung
einer proportioneilen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion. Träfe
diese Voraussetzung zu, so müsste das Kapital die Produktions-
grösse thatsächlich bestimmen. Besteht aber in der modernen Wirt-
schaft eine solche Proportionalität? Gewiss nicht — zur Erreichung
,1 der letzteren wäre eine Organisation der gesellschaftlichen Produktion
nötig. Nach der treffenden Charakteristik von R. Moffat ist die
moderne Industrie „ein unaufhörlicher Kampf zwischen den An-
i) Einige geringfügige Ausnahmen von diesem Grundsatz werden von Mill zugelassen,
die Regel aber bleibt für ihn bestehen.
12*
— i8o —
Sprüchen der unbekannten Nachfrage und den Schwankungen des
unbekannten Angebots i)." Bei dieser Sachlage vermag, worauf schon
oben mehrmals hingewiesen wurde, die nationale Produktion das ihr
zur Verfügung stehende Kapital nie völlig auszunutzen. Die ganze
Geschichte der Krisen kann als historischer Beleg gelten für die über-
wiegende Bedeutung der Nachfrage in der heutigen Volkswirtschaft
und die Fähigkeit der nationalen Produktion, sich bei gleichbleibender
Menge des Kapitals sehr stark auszudehnen.
Also hat das Prinzip des notwendigen Zusammenhanges der
Nachfrage mit dem Angebot in der Lehre über das Kapital von
J. S. Mi 11 keinen glücklichen Ausdruck gefunden. Vielmehr hat
diese Lehre bloss dazu beigetragen, dass das geng-nnte Prinzip dis-
kreditiert und von den neuen National-Oekonomen als eine „blutleere
Abstraktion" verworfen wurde.
Die von Sismondi stammende Erklärung der Krisen aus der
Unterkonsumtion der Volksmassen ist dagegen die herrschende ge-
worden. Obschon es gar nicht meine Absicht ist, eine Geschichte
der verschiedenen Krisentheorien zu geben, sehe ich mich wegen der
hervorragenden Stelle, welche die Unterkonsumtionstheorie unter allen
anderen Krisentheorien einnimmt, zu einer Auseinandersetzung mit
derselben genötigt.
Als deren Begründer kann, wie gesagt, Simonde de Sismondi
gelten''^). Seine „Nouveaux Principes d' Economic Politique" (1819)
und „Etudes sur F Economic PoHtique" (1837) enthalten bis jetzt das
Beste, was über die Krisen von dem genannten Standpunkte ge-
schrieben wurde. Die Theorie Sismondis ist ohne Zweifel eine der
geistreichsten Krisentheorien, w^elche zugleich am meisten Anhänger
gefunden hat.
Der Hauptirrtum der Schule Say-Ricardo besteht, nach der
Ansicht Sismondis, darin, dass sie den eigentlichen Zweck jeder
wirtschaftlichen Thätigkeit vollkommen ausser acht gelassen hatte.
Aus der Lehre dieser Schule geht hervor, dass der einzige Wirt-
schaftszweck in der Reichtumsanhäufung besteht. Der Reichtum aber
bildet keinen Selbstzweck, sondern lediglich ein Mittel zur Bedürfnis-
befriedigung. Der eigentliche Zweck der wirtschaftlichen Thätigkeit
besteht in einer Förderung der Wohlfahrt der Gemeinschaft, also in
i) R. Moffat, The Economy of Consumption S. 114.
2) Allerdings haben schon vor Sismondi einige andere Autoren, besonders R. Owen,
die Krisen mit der Volksarmut in Zusammenhang gebracht; dennoch ist es ein unbestreit-
bares und zugleich höchst bedeutendes Verdienst Sismondis, diese Idee in eine inhalt-
reiche Theorie auszubildent zu haben.
— i8i —
einer Steigerung der Konsumtion. „Say und Ricardo" — sagt
Sismondi im Vorwort zur zweiten Auflage seiner „Nouveaux Prin-
cipes d'Economie Politique" — „sind bei der Doktrin angelangt, . . .
dass die Konsumtion keine anderen Schranken hat ausser denen der
Produktion; dennoch ist die Konsumtion durch das Einkommen be-
schränkt." Und wenn die Anhäufung der Arbeitsprodukte die Wohl-
fahrt der Gesellschaft nicht steigert, so folgt die Wirtschaft offenbar
einem falschen Wege und erreicht ihren wahren Zweck nicht. „Das
^ erste Phänomen" — führt Sismondi aus — „das uns in der Revo-
lution, welche die Weltwirtschaft heute erlebt, auffällt, ist ein über-
mässiges, der Nachfrage des Marktes nicht entsprechendes Wachstum
der Produktivkräfte .... das Uebermass des Warenangebots und die
.Vrmut derer, die durch ihre Arbeit zu viel Reichtum hergestellt haben.
Das blosse Konstatieren dieses Phänomens enthält, wie es scheint,
einen Widerspruch. Wir sprechen von der Vermehrung der mensch-
lichen Arbeitsprodukte; diese aber bilden den Reichtum. Wie kann
also die Reichtumsvermehrung eine Ursache der Armut sein?''^).
Um dieses Phänomen zu verstehen, muss man den wirtschaft-
lichen Prozess in seiner einfachsten Form untersuchen. Der Reich-
tum eines einzelnen Individuums wird offenbar an seinem Einkommen
gemessen. Die Grösse des Einkommens bestimmt die Maximalgrenze
der möglichen Konsumtion; die Konsumtion kann diese Grenze, ohne
I das Kapital, den Konsumtionsfonds, selbst zu schädigen, nicht über-
schreiten. Wie verknüpfen sich aber in der Volkswirtschaft Ein-
I kommen und Kapital? „Wir kommen" — bemerkt Sismondi —
„zur schwierigsten und am meisten abstrakten Frage der politischen
Oekonomie. Kapital und Einkommen gehen in unserer Vorstellung
durcheinander: wir sehen, dass das Einkommen der einen Person zum
Kapital einer anderen wird und dass dasselbe Produkt je nach seinem
Besitzer verschiedene Benennungen erhält .... Je schwerer jedoch
es ist, das gesellschaftliche Kapital vom gesellschaftlichen Einkommen
zu unterscheiden, um so wichtiger erscheint eine solche Unterscheidung 2)."
Leider aber ist dieselbe Sismondi bei weitem nicht gelungen.
I Die Schwierigkeit besteht namentlich darin, dass dasselbe Produkt,
durch dessen Verkauf das Einkommen einer Person realisiert wird,
f das Kapital einer anderen Person bildet. Nehmen wir z. B. die
I' Maschinenproduktion. Aus dem Verkauf der Maschine entspringt
1) Sismonde de Sismondi, Etudes sur l'Economie Politique, Bruxelles 1837, Tome
' Premier. Du Revenu Social, S. 78.
1 2) Sismondi, Nouveaux Principes d'Economie Politique, Paris, 2 me Edition 1827,
' Bd. 1, S. 84.
I82
das Einkommen des Maschinenfabrikanten. Dieselbe Maschine aber,
wenn sie im Besitze eines Landwirtes ist, bildet einen Bestandteil
seines Kapitals. Für die genaue Unterscheidung des gesellschaft-
lichen Einkommens vom Kapital muss man offenbar die Rolle der
Produktionsmittel als eines notwendigen Bestandteiles des gesellschaft-
lichen Produktes klar л^erstehen. Wenn man aber auf dem alten
Smithschen Standpunkte bleibt, dass das gesamte gesellschaftUche
Produkt sich in Einkommen auflöst, so geht man aus der Konfusion
der klassichen Schule nicht hinaus. Und das muss man von Sis-
mondi sagen. Auch für Sismondi besteht „die jährliche Produktion
oder das Ergebnis aller im Laufe des Jahres von der Nation ausge-
führten Arbeiten aus zwei Teilen: den einen . . . bildet der aus dem
Reichtum fliessende Gewinn ; der andere wird als der Arbeitsfähig-
keit, gegen welche er ausgetauscht wird, gleichgedacht — dies sind
die Lebensmittel der arbeitenden Klassen . . . Also müssen National-
einkommen und die jährliche Produktion im Gleichgewichte sein und
gleiche Grössen vorstellen. Die ganze jährliche Produktion wird im
Laufe des Jahres verbraucht, teils durch die Arbeiter, die, indem sie
ihre Arbeit in Austausch geben, die Produkte in Kapital verwandeln,
teils durch die Kapitalisten" (Nouveaux Principes, Bd. I S. 104, 105).
Also die „erstaunliche" Doktrin A. Smiths in ihrer ganzen
Integrität !
Gehen wir aber zurück zu Sismondis Analyse der Bedingungen
der Realisation des gesellschaftlichen Produktes. Die Schranke der
möglichen Nachfrage eines jeden Individuums ist durch sein Ein-
kommen bestimmt. „Die Nationen bestehen aus Individuen; dasselbe,
was für ein jedes Individuum gilt, muss auch für ihre Gesamtheit
gelten. Die nationale Konsumtion, wenigstens diejenige Konsumtion,
welche jahrelang ununterbrochen gehen kann, ohne dass der National-
reichtum sich dadurch vermindert, ist nichts anderes als die Gesamt-
konsumtion aller zur Gesellschaft gehörenden Individuen, in den
Schranken, die durch die Einkommen aller Individuen gestellt werden ^)".
„Das jährliche Gesamteinkommen einer Nation ist für den Umtausch
gegen die jährliche nationale Gesamtproduktion bestimmt ; durch diesen
Umtausch sichert jeder seine eigene Konsumtion, verwertet das ver-
brauchte Kapital, erhebt eine neue Nachfrage und ermöglicht eine
neue Konsumtion. Falls aber das jährliche Gesamteinkommen für
den Ankauf der jährlichen Gesamtproduktion nicht verausgabt wird,
so wird ein Teil des Gesamtproduktes unverkauft bleiben, die Waren-
i) Etudes sur l'Economie Politique, Bd. I, S. 84.
— i83 —
lager werden überfüllt, die Kapitalien paralysiert und die Produktion
eingestellt werden -)."
Und zwar ist die gesamte Organisation der modernen Volks-
лvirtschaft auf die Verminderung des Nationaleinkommens gerichtet.
Durch die unbeschränkte Konkurrenz sind die Unternehmer gezwungen,
zu allen möglichen Massnahmen zu greifen, um nur die Produktions-
kosten ihrer Waren herabzusetzen und die Waren zu verbilligen. Da-
zu ersetzen sie die Handarbeit durch die Maschine und entziehen
Tausenden von Handarbeitern ihre Beschäftigung. Zugleich sinken,
wegen eines Ueberangebots der Arbeitshände, die Löhne der Fabrik-
arbeiter. Die Einkommen der selbständigen Kleinproduzenten ver-
ringern sich auch unter dem Einflüsse der Konkurrenz des Grossbe-
triebs, welche die ganze Existenz der Kleinproduktion in Frage stellt.
So sinken die Einkommen der unteren Gesellschaftsschichten, zu denen
die grosse Masse der Käufer gehört. Was die Einkommen der
höheren Gesellschaftsklassen — besonders der Kapitalisten und der
Unternehmer — betrifft, so können solche Einkommen infolge der
Vermehrung der Kapitalien absolut wachsen, allerdings aber nicht
im Verhältnis zur Erweiterung der Produktion, da dieselbe Kon-
kurrenz die Unternehmer und die Kapitalisten zwingt, sich mit einer
niedrigeren Profitrate zu begnügen.
„Also verringert sich der innere Markt infolge der Koncentration
des Eigentums in den Händen einer kleinen Zahl von Besitzenden,
und die Industrie wird immer mehr auf den äusseren Markt ange-
wiesen." Wie kann in r'er That eine sich rasch vermehrende Pro-
duktenmasse einen Absatz finden auf dem inneren Markte, wenn die
Kaufkraft der Gesellschaft infolge des Sinkens des Gesellschaftsein-
kommens sich verringert? Darum streben alle Nationen mit sich
rasch entwickelnden Industrien, sich der auswärtigen Märkte zu bemäch-
tigen, im Auslande die Waren abzusetzen, für die es im Inlande
keinen Platz giebt. Dennoch wirken im Auslande dieselben Ursachen
wie im Inlande. „Eine Nation, die zuerst eine technische Erfindung
gemacht hat, kann jahrelang ihre Märkte erweitern ... Es muss
aber der Moment kommen, wo die ganze civilisierte Welt nur einen
Markt bilden und keine Nation neue Käufer finden wird. Die Nach-
frage auf dem Weltmarkte wird eine bestimmte Grösse bilden, um
die alle industriellen Nationen wettkämpfen werden. Der Absatz
einer grösseren Produktenmasse seitens einer Nation muss in diesem
Falle auf Kosten einer anderen Nation geschehen" (N. Р., IL, S. 316).
i) Nouveaux Principes d'Economie Politique, Bd. I, S. 106.
- i84 —
Alle diese Erwägungen führen vSismondi zum Schluss, dass es
nur ein Mittel giebt, die Absatzstockung und die Warenüberproduk-
tion zu vermeiden. Und zwar besteht dieses Mittel in der Hebung
der Wohlfahrt der Volksmassen, in der Aufrechterhaltung einer ge-
wissen Proportion, eines Gleichgewichts zwischen dem Wachstum der
Produktion und Konsiimtion. „Der arme Mann ist notwendigerweise
der wichtigste Käufer der Manufakturprodukte; um ihn zu einem
guten Käufer zu machen, muss man sein Einkommen steigern ....
Daher bildet der niedrige Arbeitslohn nicht nur keinen Vorteil für
den Fabrikanten, sondern im Gegenteil ist für den letzteren schädlich,
indem der niedrige Lohn den Fabrikanten der wichtigsten Käufer
beraubt 7*.
Dabei leugnet Sismondi durchaus nicht, dass eine Krisenur-
sache auch in der Planlosigkeit der modernen Volkswirtschaft be-
stehe. Die Planlosigkeit aber führt, nach seiner Auffassung, bloss
zu partiellen Störungen des Gleichgewichts zwischen dem Angebot
und der Nachfrage. Die allgemeine Ueberproduktion aber, die all-
gemeine Absatzstockung, wird nach der Meinung Sismondis nur
durch die oben angegebenen tieferen, im Wesen der heutigen Wirt-
schaftsordnung wurzelnden Ursachen, welche das überschüssige Pro-
dukt erzeugen, hervorgerufen.
Diese allerdings sehr geistreiche Theorie beruht auf einer der
unsrigen diametral entgegengesetzten Auffassung der Geset-ze der
Reahsation des gesellschaftlichen Produktes. Die Theorie Sismon-
dis hat, wie gesagt, den grössten Einfluss auf die national-ökonomische
Ideenrichtung ausgeübt. So bildet die berühmte Krisentheorie von
Rodbertus bloss eine weitere Entwickelung einiger Sismondischen
Gedanken 2). In der unten zu betrachtenden Krisentheorie von
i) Etudes sur l'Economie Politique, Bd. II, S. 222. Die Krisentheorie Sismondis
ist hauptsächlich im II. und III. Buche der Nouveaux Principes d'Economie Politique und
im I., 2., 3. und 14. Artikel der genannten Etudes dargestellt.
2) Ich verkenne keinesfalls, dass Rodbertus jeden Zusammenhang zwischen den
Krisen und der absoluten Grösse des Arbeitslohns entschieden leugnet und dass nach seiner
Ansicht die Ursache der Krisen lediglich im Fallen des Anteils der Arbeiter am gesellschaft-
lichen Produkte wegen der Steigenmg der Produktivität der Arbeit bestehe. Dennoch ist auch
dieser Gedanke, nämlich dass das Sinken des Arbeitslohns, als einer Quote des Gesamtpro-
duktes, die Krisen hervorruft, vor Rodbertus von Sismondi ausgesprochen. In der oben
citierten Anmerkung seiner „Etudes sur l'Economie Politique" untersucht Sismondi den Ein-
fluss der Vervollkommnung der Technik auf den Warenabsatz. Dabei geht er von der Voraus-
setzung aus, dass die Steigerung der Arbeitsproduktivität von keinem Wachstum des Reallohns
der Arbeiter begleitet wird. Bei dieser Voraussetzung muss offenbar die Zahl der mit der Her-
stellung der Lebensmittel der Arbeiter beschäftigten Arbeiter bei jeder Vervollkommnung der
Technik sinken; die Zahl der die Luxusgegenstände erzeugenden Arbeiter nimmi hingegen zu.
- i85 -
Marx und seiner Schule ist ein gewisser Einfluss der Ansichten Sis-
mondis nicht zu verkennen. Auch andere Autoren, welche keine
Marxisten sind, stehen mehr oder weniger entschieden auf dem Stand-
punkte Sismondis: das gilt namentlich — um nur die bedeutenderen
zu nennen — von E. Dühring, Herkner und Hobson.
So lesen wir bei Dühring folgendes: „Die im System der Lohn-
hörigkeit tiefgedrückten Finanzen der arbeitenden Menge gestatten
keine solche Konsumtion, welche der sich ausdehnenden Produktion
eine Richtung vorschreiben könnte. Die auf Rentabilität, d. h. auf
Renten und auf Kapitalgewinne angelegte Unternehmerproduktion
landwirtschaftlicher une manufakturischer Art muss sich mit ihrem
Absatz vornehmlich im Kreise der besitzenden Klassen selbst drehen,
und Avie sie sich auch mit ihren Verlegenheiten von einem Punkt des
Weltmarkts zum anderen fortwälzen möge, so kann es ihr dennoch
nicht gelingen, sich dort die gewünschte Sicherheit des Absatzes zu
verschaffen. Das System der im Interesse des Besitzes und der ge-
sellschaftlichen herrschenden Klassen erfolgten Produktion ermangelt
, zu sehr einer breiten Grundlage und schaukelt sich zu haltungslos
t im eignen Rahmen, als dass es sich nicht schon vermöge eines Kon-
stitutionsfehlers zu Stauungen des Absatzes führen müsste. Die An-
spannung der produktiven Kräfte der Massen ist unbeschränkt und
zielt trotz der dazwischentretenden Regellosigkeiten und Arbeitszeit-
! Verschwendungen, welche von den Unternehmern durch Unterbrechung
I oder verkehrte Anwendung der Arbeiter aufgenötigt werden, dennoch
■ stets auf ein grösstes Mass, während die Anweisungen, welche die
Arbeiter in Gestalt der Löhne auf einen Teil der volkswirtschaftHchen
Produkte erhalten, nach Kräften in der Richtung auf ein geringstes
! Mass niedergehalten werden. Hieraus entsteht im Gesamtgetriebe
i der Wirtschaft eine tief wurzelnde und gleichsam konstitutive Anlage
j zur Kreislaufsstörung zwischen Produktion und Konsumtion . . . Die
■„Nehmen wir an", führt Sismondi aus, „das eine neue Erfindung, die um ^Д die für
I' die Produktion notwendigen Arbeitshände ersparen lässt, in allen die Konsumtionsmittel
!• der ärmeren Bevölkerungsklassen erzeugenden Produktionszweigen eingeführt wird. Die
Unternehmer werden dadurch gewinnen, da sie, falls sie sogar 3 Arbeiter von je 10 entlassen,
nicht minder Produkte als früher erzeugen werden Unter diesen Bedingungen
verringert jede Erfindung die Nachfrage nach den Produkten schon bestehender Werk-
stätten, und erhöht zugleich die Nachfrage nach den Produkten der noch nicht bestehenden
Werkstätten, welche Luxusgegenstände herstellen sollen. Jede Erfindung macht das Be-
stehen der die Konsumtionsmittel der ärmeren Bevölkerung erzeugenden Industrien von der
Schaffung der Luxusindustrien abhängig; jedoch kann man diese letzteren nicht ohne neue
Kapitalien, neue Arbeiter, nicht ohne einen Zeitverlust erhoffen, den die beschäftigungslos
gebliebenen Arbeiter nicht leicht ertragen können" (Etudes, S. 61). Die ganze Krisenlheorie
ivon Rodbert US ist in diesem Absätze enthalten.
I I
_ i86 —
Produktion dehnt sich in rascherem Verhältnis aus als die stets rück-
ständige Fähigkeit der Volksmassen zum Einkauf der produzierten
Artikel. Für letztere künstlich erzeugte Unterkonsumtion wäre schon
eine beständig bleibende Produktion scheinbar eine Unteroproduktion ')".
H. Herkner vertritt ähnhche Ansichten in seiner kleinen Schrift
„Die sociale Reform als Gebot des wirtschaftlichen Fortschritts" und
in seinem Artikel „Die Krisen^' im „Handwörterbuche der Staats-
wissenschaften". In der ersten Schrift bekennt er sich zum Anhänger
Sismondis und stellt, in voller Uebereinstimmung mit diesem, fol-
gende Sätze auf:
„Erstens: der sich selbst überlassene Verkehr schliesst die
Tendenz zu einer grossen Ungleichheit des Einkommens und
Vermögensverteilung in sich."
„Zweitens: die Kauf- und Konsumkraft der Massen der
Bevölkerung bleibt demzufolge hinter der durch die modernen
technischen und ökonomischen Errungenschaften bewirkten
Steigerung der Produktivität zurück."
' „Drittens: aus diesem Missverhältnis zwischen Kaufkraft
und Produktivkraft der arbeitenden Klassen ergeben sich Ab-
satzstockungen im Inlande, welche man durch mögUchst
grossen Export und durch Kapitalanlagen im Auslande aus-
zugleichen strebt. Der Ausgleich durch die bezeichneten
Mittel verursacht aber immer grössere Schwierigkeiten teils
wegen der allmählich auch eintretenden Ueberfüllung der
auswärtigen Märkte, teils wegen der immer schärferen Kon-
kurrenz, die sich durch die Unterkonsumtion der Massen auf
den Export angewiesener moderner Industriestaaten bezeitigt."
„Viertens: es ergiebt sich somit ein Zustand latenter
Krise, der schliesslich weitere wirtschaftliche Fortschritte ver-
zögert 2)".
Zu den Nachfolgern Sismondis gehört unbestreitbar auchj. Hob-
son. „Ich behaupte die Identität der Arbeitslosigkeit mit der Ge-
schäftsstockung" — führt er aus im Vorworte seiner Schrift „The
Problem of the Unemployed" — „und glaube, durch die Analyse der
Thatsachen festzustellen, dass die Ursache dieser industriellen Krank-
heit in der Unterkonsumtion bestehe. Die Nichtanerkennung des
Umstandes, dass der Umfang wie die Richtung der Industrie un-
i) E. Dühring, Kursus der National- und Sozialökonomie, Leipzig 1876, 2. Aufl.,'
S. 221, 222, 227.
2) H. Herkner, Die soziale Reform als Gebot des wirtschaftlichen Fortschritts,;
Leipzig 1891, S. 37—38.
I
- i87 -
mittelbar durch die effektive Nachfrage der Konsumenten bedingt
wird . . . bildet bis auf unsere Zeit den tiefsten Grund der Irrtümer
der englischen Oekonomie . . . Einige ältere Oekonomen — besonders
Lauderdale und Malthus^) haben eine glänzende und richtige
Analyse dieser Erscheinungen gegeben, welche nie wiederlegt Avorden
ist. Ihre treffenden Argumente sind verworfen worden, nicht weil
die Unhaltbarkeit derselben nachgewiesen worden wäre, sondern weil
sie mit den Ansichten und praktischen Vorschlägen verknüpft waren,
die man mit Recht als unbrauchbar und schädlich betrachtete. Die
allgemeine Annahme der unlogischen und unhaltbaren Definitionen
der Begriffe „Kapital** und „Nachfrage" sowie eine Vernachlässigung
der Untersuchung des wirklichen Mechanismus des Sparens, haben
die meisten englischen professionellen Nationalökonomen veranlasst,
die Erscheinungen eines allgemeinen Ueberschusses der Produktiv-
kräfte, wie sie in den Perioden der Geschäftsstockung zum Ausdruck
kommen, nicht zuzugeben'* ^).
Es ist interessant, bei Hobsons Kritik der klassischen Lehre
etwas länger zu verweilen. Ganz richtig weist Hobson darauf hin,
dass diese Eehre keinen allgemeinen Ueberschuss an Produktivkräften
zulässt. Ein Ueberschuss an Arbeitskräften wäre, dieser Theorie ge-
mäss, bei dem Mangel an Kapital möglich, wie der Ueberschuss an
Kapital bei dem Mangel an Arbeitshänden; beide zusammen könnten
aber nicht im Uebermasse vorhanden sein. Die Ueberproduktion in
einigen Industriezweigen hat nach den Ansichten der Vertreter der
klassischen Lehre in einer Unterproduktion in irgend welchen anderen
Industriezweigen ihre notwendige Vorbedingung. „Stimmt aber eine
solche Annahme** — fragt Hobson ~ „mit den Thatsachen des
wirklichen Wirtschaftslebens überein? Wo sind während einer Ge-
schäftsstockung die in zu geringer Menge produzierten Waren auf-
zufinden? Wird das Sinken der Warenpreise, welches jede Krisis
aufweist, durch das Steigen der Preise einiger anderer Waren be-
gleitet?" So etwas verneint Hobson natürlich ganz entschieden. Der
Preissturz und folglich auch die Warenüberproduktion sind zur Zeit
einer industriellen Krise ganz allgemein — und damit ist für Hob-
son die Unhaltbarkeit der klassischen Lehre bewiesen.
„Zur Entstehung einer effektiven Nachfrage nach den Produkten
müssen die ökonomische MögHchkeit zu konsumieren und der Wunsch
i) Die Ansichten Hobsons sind am meisten denen von Sismondi ähnlich. Diesen
letzteren Autor nennt aber Hobson nicht, Avahrscheinlich aus dem Grunde, weil die
Schriften Sismondis ihm weniger bekannt sind.
2) John A. Hobson, The Problem of the Unemployed, London 1896, p. VHI, IX.
— i88 —
dazu sich bei derselben Person vereinigen. Die Verleugnung der
Möglichkeit eines allgemeinen Ueberschusses der Produktivkraft sei-
tens der Oekonomen schliesst eine Voraussetzung einer solchen Ver-
einigung in sich. Diese Voraussetzung ist jedoch durchaus falsch.
Jene, die Unternehmergewinn, Kapitalzins und Rente beziehen, er-
halten dadurch die Möglichkeit, kolossale Mengen von Baum woll-
waren, Steinkohlen, Eisenwaren u, s. w. zu verbrauchen, sie haben
aber den Wunsch, nur einen relativ geringfügigen Teil dieser Waren
zu konsumieren .... Es bleibt eine bedeutende überschüssige Kon-
sumtionskraft übrig, welche von keinem Wunsche, sie in eine effek-
tive Nachfrage zu verwandeln, begleitet wird .... Die Konsumtions-
kraft steht hauptsächlich denjenigen zur Verfügung, welche keinen
Wunsch zu konsumieren haben. Was wünschen nun diese Leute?
Sie wollen sparen i)." Wird aber das Sparen zur Vermehrung der
Nachfrage führen? Hobson sucht diese Frage theoretisch zu erörtern.
„Setzen wir" — argumentiert Hobson — „eine Gemeinschaft
mit nicht wachsender Bevölkerung voraus, in welcher ein richtiges
ökonomisches Verhältnis zwischen der Menge des Kapitals und dem
Umfange der Konsumtion besteht. Nehmen wir ferner an, dass man
einen Versuch macht, das »Sparen zu steigern durch die Enthaltung
vom Konsum irgend eines Produktes, z. B. der Baum woll waren.
Dieses Sparen würde gar keinen ökonomischen Sinn haben, falls es
eine längere Zeit dauern müsste und nicht möglichst bald durch eine
Steigerung des Konsums kompensiert würde. Da kein Industriezweig
einer Vermehrung seines Kapitals bedarf, so können die Ersparnisse
mit gleichem Erfolg für die Errichtung neuer Baumwollfabriken, wie
jeder anderen Fabriken, verwendet werden; also nehmen wir an, dass
die neuen Ersparnisse des ersten Jahres in dieser Form kapitalisiert
werden. Das wird dazu führen, dass die Ausdehnung der Beschäf-
tigung von Kapital und Arbeit bei der Errichtung neuer Baumwoll-
fabriken die Verringerung der Beschäftigung bei der Herstellung der
Baumwollwaren kompensieren wird. Unter der Annahme einer Fähig-
keit von Kapital und Arbeit, aus einer Beschäftigung in die andere
überzugehen, wird dieser Wechsel gar keinen Einfluss auf den Ge-
samtumfang der gesellschaftlichen Beschäftigung ausüben. Die Ar-
beiter werden ihren Lohn für die Errichtung neuer Baumwollfabriken,
anstatt für die Herstellung von Baumwollwaren bekommen. Am
Ende des zweiten Jahres werden jedoch die Baumvvollfabriken im
Ueberschusse sein im Vergleich mit der Nachfrage nach BaumwoU-
i) The Problem of the Unemployed, S. 73 — 74.
— iSq —
waren, unter der Voraussetzung eines unveränderten Konsums der-
selben Waren, und in einem doppelten Ueberschusse bei der Voraus-
setzung einer Verringerung des Konsums der Baumwollwaren. Wird
man mir dazu einwenden" — bemerkt Hobson — „dass ich alle Er-
sparnisse nicht in demselben Industriezweig, wo die Nachfrage abso-
lut gesunken ist, angelegt voraussetzen darf, so kann ich bloss ant-
worten, dass dies zur Einfachheit der Argumentation angenommen
ist, ohne dass damit die Beweiskraft der letzteren im mindesten be-
einträchtigt würde. Bei der Annahme einer gleichmässigen Verteilung
der Ersparnisse unter allen Industriezweigen werden die letzteren am
Jahresende beinahe in dieselbe traurige Lage kommen wie die Baum-
wollindustrie unter meiner Voraussetzung. Wenn nur die sparenden
Personen so thöricht wären, eine solche Politik fortzusetzen und den
Besitz der steigenden Menge nutzloser Baumwollfabriken dem Waren-
konsum vorzuziehen, so könnte dieser Prozess bis in die Unendlich-
keit gehen, ohne irgend eine Veränderung oder Verminderung des
Umfangs der Beschäftigung der Arbeit und der Anlage des Kapitals
hervorzurufen. Das hätte nur den Sinn, dass einige Personen eine Be-
friedigung finden in der Errichtung und Vernichtung neuer Baumwoll-
fabriken . . . Thatsächlich aber, bei einer vernünftigeren Handlungsweise,
wird sich die Sache anders gestalten. Im Falle einer Errichtung von
überschüssigen Fabriken, kann die Ueberproduktion der betreffenden
Güter nicht lange dauern. Nehmen wir an, dass die Besitzer der Er-
sparnisse solche durch die Vermittlung der Banken anlegen. Nehmen
wir an, dass die Banken .... die Ersparnisse des ersten Jahres in
überschüssigen Baumwollfabriken angelegt haben. Diese Fabriken
sind im zweiten Jahre nicht imstande, die Produktion ohne w^eitere
Vorschüsse seitens der Banken fortzusetzen, da es für die erzeugten
Waren keinen Absatz giebt. Die Banken werden aber im zweiten
Jahre eine weitere Kreditierung der Fabriken verweigern .... die
schwächeren Fabriken werden die Arbeit einstellen, eine allgemeine
Geschäftsstockung wird folgen und Arbeit und Kapital werden brach
liegen 1)."
Diese seltsamen Erwägungen eines so hervorragenden Theore-
tikers wie Hobson können als Beweis dienen, wie wenig sogar die
elementarsten Gesetze der Realisation des gesellschaftlichen Produktes
von den vielen heutigen Nationalökonomen verstanden werden. Die
ganze Beweisführung Hobsons kann bloss einen Sinn haben —
nämlich die totale Verneinung der Möghchkeit der Kapitalakkumu-
i) The Problem of the Unemployed, S. 94 — 96.
— igo —
lation. Was anderes soll das Beispiel Hobsons beweisen? Nach
seiner Auffassung kann die Enthaltung von der unproduktiven Kon-
sumtion seitens einiger Personen bloss zur Anhäufung der unver-
kauften Waren führen. Wie kann sich aber die Kapitalakkumulation
anders vollziehen als durch eine Verwandlung eines Teiles des ge-
sellschaftlichen Produktes aus einem Fonds zur unproduktiven Kon-
sumtion in Kapital? Glaubt Hobson, dass die Kapitalisten ihre Pro-
fite zugleich akkumulieren und konsumieren, dieselbe Warenmasse
zugleich produktiv und unproduktiv verbrauchen können? Ist das
aber nicht möglich, so kann man die Erwägungen Hobsons bloss
als eine Beweisführung der Unmöglichkeit der Kapitalakkumulation
überhaupt betrachten.
Gehen wir nun zur Kritik der angegebenen theoretischen Aus-
führungen Sismondis und seiner Nachfolger über. Obschon Sis-
mondi erst im Anfange dieses Jahrhunderts geschrieben hat, ist seine
Theorie, wie man sieht, durchaus nicht veraltet. Bis jetzt findet der
berühmte schweizerische Gelehrte treue Anhänger, welche in theore-
tischer Hinsicht keinen Schritt weiter gegangen sind. Die Kritik der
Sismondischen Theorie ist um so wichtiger, als, trotz einer ganz
unhaltbaren prinzipiellen Grundlage, diese Theorie viel Gesundes
und Richtiges in der Beurteilung der konkreten Bedingungen des
modernen Wirtschaftslebens enthält. In dieser Hinsicht bildet die
Sismondische Theorie gerade das Gegenteil der klassischen Lehre:
während die letztere, aus prinzipiell ganz unbestreitbaren Grundsätzen
ausgehend, zu falschen praktischen Schlussfolgerungen gekommen ist
und sich als unfähig erwies, die konkreten Erscheinungen der
heutigen Volkswirtschaft zu erklären, ist es Sismondi gelungen, trotz
mangelhafter theoretischer Grundlage, eine brillante und tiefe Charak-
teristik der Tendenzen der kapitalistischen Entwickelung zu geben und
die konkreten Ursachen vieler sehr wichtiger ökonomischer Erschei-
nungen aufzufinden.
Den theoretischen Kern der Ausführungen Sismondis bildet
der Grundsatz, dass die gesellschaftliche Nachfrage nach den Pro-
dukten durch die gesellschaftliche Konsumtion und, in letzter Instanz,
durch die Grösse des gesellschaftlichen Einkommens bestimmt wird.
Daraus schliesst Sismondi auf die Möglichkeit und, unter den herr-
schenden Bedingungen des Wirtschaftslebens, auf die Notwendigkeit
der Bildung des überschüssigen Produktes, welches durch die rasche
Entwickelung der Produktivkräfte, verbunden mit der Unterkonsum-
tion der Volksmassen, geschaffen wird. Die Annahme eines solchen
überschüssigen gesellschaftlichen Produktes, 'welches bei der herr-
— igi —
sehenden Einkommen Verteilung absatzunfähig- ist, ganz unabhängig
von der grösseren oder geringeren Proportionalität der Einteilung
der gesellschaftlichen Produktion, ist das Charakteristikum der Theorie
Sismondis.
Ist nun diese Annahme richtig? Wird ein überschüssiges Pro-
dukt, wie ungünstig die Einkommensverteilung für die Volksmassen
sich erweisen mag, unter der Voraussetzung einer proportion eilen
Einteilung der gesellschaftlichen Produktion entstehen? Unsere Ant-
w^ort kann nur eine entschieden verneinende sein. Zwar besteht in
der heutigen Volkswirtschaft ein Ueberschuss an Produktivkräften,
in dem Sinne, dass die moderne Wirtschaftsorganisation — der Kapi-
talismus — nicht imstande ist, alle der Gesellschaft zur Verfügung
stehenden Produktivkräfte auszunutzen. Darin hat Sismondi voll-
kommen recht. Aber seine Erklärung dieses Phänomens ist falsch.
Nicht der Mangel an effektiver Nachfrage, sondern der Mangel an
Proportionalität in der Verteilung der gesellschaftlichen Produktion
ist die alleinige Ursache der Bildung des überschüssigen Produktes.
Sismondi wie all seine Nachfolger haben keine Ahnung von
den Gesetzen, welche die Realisation des gesellschaftlichen Produktes
bestimmen. Der Versuch Hobsons, die Unmöglichkeit der Kapital-
akkumulation bei der Verringerung der Luxuskonsumtion nachzu-
weisen, ist ganz misslungen. Das im ersten Kapitel dieses Buches
angeführte Schema No. 2 der Reproduktion des gesellschaftlichen
Kapitals auf erweiterter Stufenleiter entspricht dem von Hobson
betrachteten Falle der Akkumulation des Kapitals. Sehen wir aber
in diesem Schema ein überschüssiges Produkt entstehen? In keiner
Weise! Der Irrtum Hobsons liegt darin, dass Hobson in seiner
Analyse die Notwendigkeit einer Aenderung in der Einteilung der
gesellschaftlichen Produktion bei jeder Verringerung der unproduk-
tiven Konsumtion übersieht. Was würden aber die Arbeiter in dem
Beispiele von Hobson bei einer proportioneilen Einteilung der Pro-
duktion produzieren? Offenbar ihre eigenen Lebensmittel und Pro-
duktionsmittel. Wozu w^ erden aber solche dienen? Zur Erweiterung
der Produktion im zweiten Jahre. Der Produktion welcher Produkte?
Wieder der Produktionsmittel und Lebensmittel der Arbeiter — und
so ad infinitum. Hobson nimmt an, dass die Enthaltung der Kapi-
talisten vom Konsum der Baumwollwaren zur Errichtung neuer
Baum Wollfabriken führt. Das wäre gewiss eine höchst thörichte
Handlungsweise und die Produkte neuer Fabriken hätten keinen Ab-
satz gefunden. Sind aber die Kapitalisten etw^as klüger, als wofür
Hobson sie hält, so werden sie keine neuen Baumwollfabriken, son-
— 192 —
dern vorwiegend neue Maschinenfabriken, Bergwerke, Steinkohlen-
gruben u. s. w. errichten. Die Produkte aller dieser Unternehmungen
werden das nächste Jahr keineswegs brach liegen, sondern durch die
erweiterte Produktion des nächsten Jahres verbraucht werden. Also
ist die Bildung des überschüssigen Produktes bei der Kapitalakkumu-
lation bloss eine Folge einer mangelnden Proportionalität in der Ein-
teilung der gesellschaftlichen Produktion. Unser Schema N0. 2 be-
weist die Möglichkeit der Kapitalakkumulation bei gleichzeitiger
Verringerung der Luxuskonsumtion. Im Gegensatz zu den Behaupt-
ungen Hobsons finden in diesem Falle immer neue Arbeiter Be-
schäftigung bei der Erzeugung neuer Kapitalgüter, welche zur weiteren
Kapitalakkumulation oder zur Ausdehnung der Luxuskonsumtion
verwendet werden können. Die ganze Analyse Hobsons erweist
sich folglich als grundfalsch. Das überschüssige Produkt kann in der
proportioneil eingeteilten Volkswirtschaft nicht entstehen, wie rasch
sich das Kapital auch akkumulieren mag.
Kann aber die Verdrängung der Arbeiter durch die Maschinen
nicht zur Bildung des überschüssigen Produktes führen? Gehen wir
zu Sismondi zurück. Sismondi weist auf die Verringerung der
Kaufkraft der breiten Gesellschaftsschichten infolge der Verbreitung
der kapitalistischen Produktionsweise hin. Darin kann man ihm voll-
kommen zustimmen. Wir haben aber in unsrer Analyse der Repro-
duktion des gesellschaftlichen Kapitals von der Verdrängung der
Arbeiter durch die Maschinen, vom Sinken des Arbeitslohns und der
Herabsetzung der Nachfrage seitens der arbeitenden Klasse wegen
ihrer Verelendung yollkommen abgesehen. Werden nun unsere
Schlussfolgerungen unter der Voraussetzung einer solchen Verelen-
dung gelten 1)?
Wenn ich nur meine Leser nicht zu ermüden fürchtete, so
könnte ich weitere Schemata aufbauen, um zur Evidenz nachzuweisen,
dass bei der Voraussetzung einer proportioneilen Einteilung der ge-
sellschaftlichen Produktion und des Vorhandenseins von Produktiv-
kräften zur Ausdehnung der Produktion, ein überschüssiges Produkt
in keinem Falle entstehen kann, wie geringfügig die Kaufkraft der
Volksmassen auch sein mag. Setzen wir z. B. voraus, dass die
Maschine als Produktionsfaktor Schritt für Schritt den Arbeiter in
der Produktion ersetzt. Früher fanden eine Million Arbeiter Beschäf-
tigung, dann 900000, 800000, 700000 u. s. w. Wenn der jährliche
i) Wir nehmen eine Verelendung der Arbeiterklasse bloss als etwas theoretisch denk-
bares an. Damit behaupten wir keinesfalls, dass eine solche Verelendung auch thatsächlich
stattfindet.
— 193 —
Lohn eines Arbeiters 500 Mk. ausmacht, so bildet das gesamte
Arbeitereinkommen des ersten Jahres 500 MiUionen Mk., des zweiten
450 Millionen, des dritten 400 Millionen Mk. u. s. w. Das gesamte
Volkseinkommen verringert sich bedeutend. Die Kaufkraft und die
effektive Nachfrage der Bevölkerung wird immer kleiner. Wird sich
aber damit auch die gesamte gesellschaftliche Nachfrage nach den
Waren entsprechend vermindern ? Zur Einfachheit der Analyse können
wir annehmen, dass der Preis der Maschinen den Löhnen der durch
die Maschinen verdrängten Arbeiter gleich ist und dass die Maschinen
im Laufe eines Jahres ganz verbraucht und reproduziert werden. Bei
dieser Voraussetzung kostet die jährliche Anschaffung der Maschinen
genau dasselbe wie die jährlichen Arbeitslöhne — und da am Ende
eines Jahres die Maschinen reproduziert werden müssen und für die
gesellschaftliche Produktion ebenso unentbehrlich sind, wie es früher die
jetzt durch die Maschinen verdrängten Arbeiter waren, so wird die
gesamte gesellschaftliche Nachfrage nach den Waren durch die Ver-
minderung der Nachfrage seitens der Arbeiterklassen nicht im min-
desten verringert. Die Maschinen sind an die Stelle der lebendigen
Arbeiter getreten, die Produktionsmittel haben auf dem Warenmarkt
die Konsumtionsmittel ersetzt — und dennoch hat die Gesamtsumme
der gesellschaftlichen Nachfrage keine Veränderung erfahren.
Wir sehen also, dass die Bewegung der nationalen Nachfrage
und des nationalen Reichtums mit der Bewegung des nationalen
Einkommens keineswegs parallel geht. Den Begriff des nationalen
Reichtums soll man scharf vom Begriffe des nationalen Einkommens
unterscheiden. Den nationalen Reichtum bilden alle einer Nation zur
Verfügung stehenden wirtschaftlichen (d. h. Wert besitzenden) Güter;
das nationale Einkommen nennen wir denjenigen Teil des nationalen
Reichtums, der ohne eine Verringerung des nationalen Kapitals kon-
sumiert werden kann. Das nationale Einkommen kann sich vermin-
dern und die nationale Nachfrage zugleich wachsen; die Steigerung
des nationalen Reichtums kann von einer Verringerung des nationalen
Einkommens begleitet werden, wie paradoxal das auch klingen mag.
Und das ist wohl ein Paradoxon, aber nicht ein von uns erfundenes,
sondern ein im Wesen der kapitahstischen Ordnung begründetes.
Das Einkommen bildet den Zweck jeder Produktion. Auch die kapi-
talistische Produktion strebt zur Vermehrung des Einkommens —
namentlich des Einkommens der Leiter der kapitahstischen Produktion
— also der Kapitalisten. In einer Gesellschaft, wo die Produzenten
selbst über die Produktionsmittel verfügten, müsste das Streben der
Tiigan-ßaranowsky , Die Handelskrisen. 13
— 194 —
Leiter der Produktion zur Steigerung ihrer Einkommen auch das
gesamte nationale Einkommen vermehren. In der kapitaHstischen
Gesellschaft aber, wo die Leiter der Produktion andere für sich
arbeiten lassen, kann die Steigerung der kapitalistischen Einkommen
von einer Verringerung des nationalen Einkommens begleitet werden.
Vom Standpunkte des kapitalistischen Unternehmers bildet ja der
Arbeitslohn — also das Einkommen der grossen Mehrzahl der Be-
völkerung — kein Einkommen, sondern eine Kapitalausgabe; daher
ist in der kapitalistischen Wirtschaft die Herabsetzung des National-
einkommens gleichzeitig mit dem Wachstum der kapitalistischen Ein-
kommen und des nationalen Reichtums — ohne jegliche Störung des
Gleichgewichts zwischen der Produktion und Konsumtion — möglich.
Man mag die ganze Sache, wie man will, drehen — man
mag nicht nur die Verdrängung der Arbeiter durch die Maschine,
sondern auch das Sinken der Arbeitslöhne und der Einkommen der
selbständigen Kleinproduzenten voraussetzen — der Grundsatz über
die Unmöglichkeit der Bildung des überschüssigen Produktes in der
proportioneil eingeteilten und zugleich über genügende Produktions-
kräfte verfügenden Volkswirtschaft muss bestehen i). Das Elend
der Volksmassen kann eine ungünstige Wirkung auf den Waren-
absatz nur insofern ausüben, als eine proportioneile Einteilung der
gesellschaftlichen Produktion dadurch erschwert wird.
Alle theoretischen Ausgangspunkte Sismondis und seiner
Schule sind zu verwerfen. Unwahr ist es, dass das nationale Ein-
kommen mit der nationalen Nachfrage zusammenfällt. Nicht minder
unwahr ist ein anderer Grundsatz Sismondis — dass das Gleichge-
wicht von Angebot und Nachfrage in der Volkswirtschaft eine
Uebereinstimmung der nationalen Produktion mit der Konsumtion
zur Voraussetzung hat. Dabei bleibt aber vollkommen richtig der
Hinweis Sismondis auf die Bildung eines überschüssigen Produk-
tes durch die moderne Wirtschaftsorganisation ; die Ursachen dieser
Bildung bestehen jedoch nicht im Mangel an einer kaufkräftigen
Nachfrage, sondern in der Schwierigkeit, bei den herrschenden öko-
nomischen und sozialen Verhältnissen eine proportionelle Einteilung
der gesellschaftlichen Produktion zu erreichen.
i) Dabei abstrahiere ich natürlich von Unterbrechungen des Güterumlaufs durch
Geld- und Kreditstörungen ; bei dieser ganzen theoretischen Kontroverse handelt es sich
ja nur um die Bestimmung der Rolle der Einkommensverteilung und der gesellschaftlichen
Konsumtion bei der Realisation des gesellschaftlichen Produktes.
— 195 —
Man kann sich nur einen Fall vorstellen, wo der Ueberschuss am
gesellschaftlichen Produkte in keinem Zusammenhang mit der Ein-
teilung der gesellschaftlichen Produktion steht. Setzen wir z. B.
voraus, dass die gesellschaftliche Produktion wegen Mangels an Pro-
duktivkräften sich nicht ausdehnen kann und dass die Kapitahsten
sich vom Konsum eines Teiles ihres Einkommens enthalten. Die
Nachfrage nach den Luxusgegenständen wird sich folglich verringern.
Da aber, unserer Voraussetzung gemäss, keine Ausdehnung der Pro-
duktion möglich ist, so kann die Nachfrage nach den Produktions-
mitteln und Lebensmitteln der Arbeiter nicht steigen. In diesem
Falle wird also das gesamte Warenangebot die gesamte Nachfrage
überschreiten, und keine Aenderung der Einteilung der gesellschaft-
lichen Produktion wird imstande sein, den ^Absatzmarkt für das über-
schüssige gesellschafthche Produkt zu schaffen. Wir werden also das
übermässige Produkt im Sinne Sismondis vor uns haben. Dennoch
bildet dieser P'all keine Ausnahme von den von uns aufgestellten
Grundsätzen über die zwischen dem Angebot und der Nachfrage
obwaltenden Verhältnisse. Die absolute Ueberproduktion entsteht hier
namentlich aus der Unmöglichkeit einer Ausdehnung der Produktion
dank dem Mangel an Produktivkräften. Nur dieser letztere Umstand
ist also als eine Ursache der Bildung des überschüssigen Produktes zu
betrachten. Machen aber technische Bedingungen eine Erw^eiterung
der Produktion möglich und sind die Kapitalisten bestrebt, das Kapital
zu akkumulieren, so kann die Kapitalakkumulation bloss durch einen
Mangel an Proportionalität verhindert werden, nicht aber durch einen
Mangel an der Konsumtionskraft der Gesellschaft.
Allerdings bleibt es wahr, dass bei einem Mangel an Produk-
tivkräften und einer stationären Produktion eine Verringerung der
gesellschaftlichen Konsumtion die Bildung des überschüssigen Pro-
duktes zur Folge haben muss. Da aber das Charakteristische der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung, nach allgemeiner Anerkennung,
in einem Ueberfluss an Produktivkräften besteht, so können wir den
Fall eines Mangels an Produktivkräften nur als eine Ausnahme aus
der Regel betrachten.
Sismondi wirft der Smithschen Schule vor, dass sie den
wahren Zweck der Wirtschaft — die Steigerung der Wohlfahrt der
Gemeinschaft — ausser acht gelassen habe und die Wissenschaft über
die Volkswirtschaft — die politische Oekonomie — in eine Wissen-
schaft über die Reichtumsanhäufung — eine Chrematistik — ver-
wandelt habe. Diese Bemerkung Sismondis ist ebenso geistreich
13*
— igö —
wie alle seine Erwägungen und enthält ein grosses Stück Wahrheit.
Um ganz wahr zu sein, bedarf sie nur einer Modifikation: nicht die
Smithsche Schule, sondern die ganze heutige Organisation der Volks-
wirtschaft — der Kapitalismus — hat den eigentlichen Zweck der
wirtschaftlichen Thätigkeit — die Befriedigung der Menschenbedürf-
nisse — vereitelt und die gesamte Volkswirtschaft einfach in einen
Mechanismus der Kapitalakkumulation verwandelt.
KAPITEL VII.
Die Krisentheorie von Marx.
Darstellung dieser Theorie. — Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. — Ab-
solute Ueberproduktion von Kapital. — Der Zusammenhang der Absatzstockung mit der
Unterkonsumtion der Volksmassen. — Kritik des Gesetzes der fallenden Profitrate. — Das
Fehlen eines notwendigen Zusammenhanges zwischen der Zusammensetzung des Kapitals und
der Profitrate, auf Grund der Arbeitswerttheorie bewiesen. — Die Unhaltbarkeit der Marx-
schen Mehrwerts theorie. — Das Wesen des Profitproblems. — Das Profitproblem und das
Wertproblem. — Die Entstehung des Profits. — Die wechselseitigen Beziehungen zwischen
den drei Bestandteilen des gesellschaftlichen Produktes. — Das ethische Moment der Marx-
schen MehrAverttheorie. — Die Entwickelungsgesetze des Kapitalismus und die Bedingungen
seiner Verwandlung in Sozialismus.
Die Krisen haben einen überaus grossen Einfluss auf die Aus-
bildung der Theorie des modernen Sociah'smus ausgeübt. Die Stockung
während der Krisen des gesamten Mechanismus der socialen Güter-
erzeugung, das unsagbare Elend der breiten Volksmassen, das auf
die Krisen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts folgte, das Rätsel-
hafte und das Unbegreifliche des ganzen Phänomens — dies alles
führte natürlich zur Auffassung, dass in den Krisen tiefer wurzelnde
und nicht zu beseitigende Uebel der heutigen Wirtschaftsordnung
zum Vorschein kommen. Die Kritik der kapitalistischen Wirtschafts-
weise schien in den Krisen die sicherste Grundlage und zugleich
die schlagendste Bestätigung zu finden. Die Verwandlung Robert
Owens aus einem bürgerlichen Philanthropen, einem gutmütigen Fabri-
kanten in einen radikalen und unversöhnlichen Kritiker der modernen
Gesellschaft und den Stifter einer neuen socialen Lehre, welche von
Tausenden englischer Arbeiter mit Enthusiasmus als ein neues Evan-
gelium empfangen wurde, geschah unter dem unmittelbaren Einfluss
der englischen Krisen, die auf die Wiederherstellung des Friedens in
den Jahren 1815 und 18 17 folgten. Dasselbe gilt auch für viele
— 198 —
andere hervorragende Vertreter der socialistischen Lehre. Dabei
werden wir jedoch nicht verweilen und gehen unmittelbar zur Be-
trachtung der Krisenlehre des bei weitem hervorragendsten und ein-
flussreichsten sociaHstischen Theoretikers — Karl Marx — über.
Schon im „Kommunistischen Manifeste" finden wir eine brillante
Charakteristik der Bedeutung der Krisen in der kapitalistischen Wirt-
schaft. „Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die
bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesell-
schaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorge-
zaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Ge-
walten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.
Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie nur die Geschichte der
Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Pro-
duktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die
Lebensbedingungen der Bourgeosie und ihrer Herrschaft sind. Es
genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen
Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen
Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein grosser
Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern bereits geschaffener
Produktivkräfte regelmässig vernichtet. In den Krisen bricht eine
gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein
Widersinn erschienen wäre — die Epidemie der Warenüberproduk-
tion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momen-
taner Barbarei zurückversetzt; die Industrie, der Handel scheinen ver-
nichtet, und warum? Weil sie zu viel Civihsation, zu viel Lebens-
mittel, zu viel Industrie, zu viel Handel besitzt. Die Produktivkräfte,
die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der
bürgerlichen Eigentumsverhältnisse Die bürgerlichen Verhält-
nisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum
zu fassen. — Wodurch überwindet die Bourgeosie die Krisen? Einer-
seits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktiv-
kräften ; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die
gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch,
dass sie allsei tigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel,
den Krisen vorzubeugen, vermindert."
Eine eigenthche Krisentheorie, eine Feststellung der treibenden
Kräfte, der inneren Ursachen, welche in der kapitalistischen Wirt-
schaft periodisch die Krisen zeitigen, finden wir dennoch im „Kom-
munistischen Manifeste" nicht. Dasselbe gilt auch von „Zur Kritik
I) Das kommunistische Manifest, 5. Auflage, S. 13, 14,
der Politischen Oekonomie" und von den zwei ersten Bänden des
„Kapitals." Bei der Betrachtung der Erscheinungen der Waren- und
Geldcirkulation macht Marx öfters scharfsinnige Bemerkungen über
die möglichen Krisenursachen in der heutigen Wirtschaftsordnung.
Geleg-entlich kritisiert Marx sehr scharf — aber nicht in ganz ge-
rechter Weise — die Ansichten der Vertreter der klassischen Lehre
über die Unmöglichkeit einer allgemeinen Warenüberproduktion. Im
II. Bande des „Kapitals" befindet sich die glänzende Analyse der Re-
produktion des gesellschaftlichen Kapitals, welche, unseres Erachtens,
die Grundlage jeder wissenschaftlichen Theorie des socialen Stoff-
wechsels in der kapitalistischen Wirtschaft werden muss. Dennoch
ist diese Analyse bei Marx unvollendet geblieben; sie wurde vom
Verfasser selbst zur Erklärung der Krisen und anderer Erscheinungen
des heutigen Wirtschaftslebens nicht benutzt und, was noch wichtiger
ist, sie steht in keiner Uebereinstimmung mit anderen Ansichten von
Marx. Man kann sogar behaupten, dass diese Analyse der Marx-
schen Auffassung der Entwickelungsgesetze der kapitalistischen Wirt-
schaftsordnung in vieler Hinsicht entschieden widerspricht. Nur das
kann die auffallende Thatsache erklären, dass die genannte Analyse
I sogar von der Marxschen Schule so wenig bis heute berücksichtigt
ist. Meines Wissens giebt es z. B. in der deutschen nationalökonomi-
schen Litteratur keinen Versuch, die Marxsche Analyse der Repro-
duktion des gesellschaftlichen Kapitals zur Erklärung der Krisen und
der Entwickelungsgesetze des Kapitalismus überhaupt zu verwerten ^).
In den zwei ersten Bänden des „Kapitals" finden wir allerdings
keine ausgebildete Krisentheorie. Im ersten Bande betrachtet Marx
[ eingehend die socialen Wirkungen der Krisen — den Einfiuss dieser
letzteren auf die Gestaltung des socialen Lebens; die Ursachen der
|i Krisen werden dabei nur flüchtig berührt. Diese Lücke ist durch
den dritten Band des „Kapitals'* vollkommen ausgefüllt. Der ge-
nannte Band enthält eine Theorie der Entwickelung der kapitalistischen
Wirtschaft in ihrer Gesamtheit; die Krisen erhalten in dieser Theorie
i) In der russischen Litteratur dagegen, nachdem in der ersten russischen Auflage
der vorUegenden Arbeit auf die Bedeutung der Marx 'sehen Analyse hingewiesen wurde,
sind in den letzten Jahren mehrere Schriften erschienen, deren Verfasser sich auf den Boden
der genannten Analyse stellen. Es entstand eine sehr interessante Polemik, wobei die
meisten Marxisten die genannte Analyse als ein Argument für die Möglichkeit einer weiteren
Entwickelung der kapitalistischen Industrie in Russland betrachteten, während ihre Gegner
„Volkstümler" (Avelche übrigens sich auch Marxisten nennen) eine solche Möglichkeit leug-
neten. Nebenbei sei bemerkt, dass diese Kontroverse im höchsten Grade zur Steigerung
des Interesses zu den Fragen der nationalökonomischen Theorie in Russland beigetragen und
eine Reihe rein theoretischer Arbeiten hervorgerufen hat.
200
eine hervorragende Stelle, und die Krisenursachen werden erforscht
und nachgewiesen.
Als treibende Macht der kapitalistischen Entwickelung erkennt
Marx das tendenzielle Fallen der Profitrate. Das betreffende Gesetz
betrachtet Marx als eine notwendige Folge seiner Werttheorie. Wie
bekannt, wird nach dieser Theorie der Warenwert durch „die zur
Herstellung eines Gebrauchswertes gesellschaftlich notwendige Arbeits-
zeit" bestimmt. Der Wertzuwachs, welcher den Profit eines Kapi-
talisten bildet, kann also bloss aus der unbezahlten, im Prozesse der
Produktion aufgewandten lebendigen Arbeit entspringen, da die Pro-
duktionsmittel auf das Produkt nur den Wert ihrer verbrauchten
Teile übertragen. Darum bildet im Produktionsprozess die lebendige
Arbeit nach der Marx sehen Terminologie das variable Kapital, die
Produktionsmittel aber, die vorgethane Arbeit, welche keines weiteren
Wertzuwachses fähig ist, das konstante Kapital. Das Wesen jeder
Vervollkommnung der Technik, jeder Steigerung der Produktivität
der Arbeit besteht in einem relativen Wachstum des konstanten und
in einer relativen Verringerung des variablen Kapitals. Je produk-
tiver die Arbeit ist, um so grössere Mengen Rohstoffe werden durch
ein bestimmtes Quantum lebendiger Arbeit in einer bestimmten Zeit
verarbeitet werden. Zugleich werden die Arbeiter mit der Vervoll-
kommnung der Technik durch die Maschinen ersetzt, was zum rela-
tiven Wachstum des konstanten Kapitals im höchsten Grade beiträgt.
Diese beiden Umstände verringern fortwährend bei der Entwickelung
der kapitalistischen Industrie die Quote des variablen Kapitals in der
gesamten Kapitalausgabe. Da aber bloss das variable Kapital den
Mehrwert erzeugt, so muss offenbar die Mehrwertmasse am gesamten
(variablen und konstanten) Kapital gemessen, sinken, was im Fallen
der Profitrate zum Ausdruck kommt. Zugleich kann natürlich die
Masse des Mehrwerts und des Profits, infolge einer stärkeren Ver-
mehrung der absoluten Masse des gesellschaftlichen Kapitals, absolut
wachsen.
„Diese fortschreitende relative Abnahme des variablen Kapitals
im Verhältnis zum konstanten und daher zum Gesamtkapital ist iden-
tisch mit der fortschreitend höheren organischen Zusammensetzung
des gesellschaftlichen Kapitals in seinem Durchschnitt. Es ist ebenso
nur ein anderer Ausdruck für die fortschreitende Entwickelung der
gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, die sich gerade darin
zeigt, dass vermittelst der wachsenden Anwendung von Maschinerie
und fixem Kapital überhaupt mehr Roh- und Hülfsstoffe von der-
selben Anzahl Arbeiter in derselben Zeit, d. h. mit weniger Arbeit
20I
in Produkte verwandelt werden .... Die progressive Tendenz der
allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen
Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Ent-
wickelung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit .... So
einfach das Gesetz nach den bisherigen Entwicklungen erscheint, so
wenig ist es aller bisherigen Oekonomie gelungen es zu ent-
decken. Sie sah das Phänomen und quälte sich in widersprechenden
Versuchen ab, es zu deuten. Bei der grossen Wichtigkeit aber, die
dies Gesetz für die kapitahstische Produktion hat, kann man sagen,
dass es das Mysterium bildet, um dessen Lösung sich die ganze poli-
tische Oekonomie seit Adam Smith dreht, und dass der Unterschied
zwischen verschiedenen Schulen seit A. Smith in den verschiedenen
Versuchen zu seiner Lösung besteht i)."
Und gewiss, wäre dies Gesetz richtig, so müsste es die grösste
Bedeutung für die Erkenntnis des gesamten Entwickelungsganges der
heutigen Gesellschaft gewinnen. Die Entdeckung eines solchen Ge-
setzes, das ganz mechanisch mit Naturnotwendigkeit wirken soll,
könnte nur der Newtonschen Entdeckung der Gesetze der Schwer-
kraft verglichen werden.
Allerdings werden von Marx viele entgegenwirkende Ursachen
zugelassen. Als solche gelten für ihn namentlich: i. Erhöhung des
Exploitationsgrads der Arbeit durch Verlängerung des Arbeitstages
und Intensifikation der Arbeit; 2. Herunterdrücken des Arbeitslohns
unter seinen Wert, was Marx als „eine der bedeutendsten Ursachen,
die die Tendenz zum Fall der Profitrate aufhalten" bezeichnet; 3. Ver-
wohlfeilerung der Elemente des konstanten Kapitals; 4. die relative
Uebervölkerung; 5. der auswärtige Handel; 6. die Zunahme des
Aktienkapitals %
Alle diese Ursachen durchkreuzen oder heben die Wirkung des
allgemeinen Gesetzes zum Teil auf; dennoch bleibt das Gesetz, obschon
mehr in der Form einer Tendenz, für Marx bestehen und wird von
ihm seiner gesamten Auffassung der Entwicklung der kapitahsti-
schen Produktionsweise zu Grunde gelegt.
Der einzige Zweck der kapitalistischen Produktion besteht in
der Produktion des Mehrwertes. „Die Schöpfung von Mehrwert findet
die nötigen Produktionsmittel, d. h. hinreichende Akkumulation von
Kapital vorausgesetzt, keine anderen Schranken als die Arbeiterbe-
völkerung, wenn die Rate des Mehrwertes, also der Exploitationsgrad
i) Das Kapital, III. Bd., S. 192 — 193.
2) Die sub 4) und 5) angegebene Momente fallen offenbar mit den sub 2) und 3)
angegebenen zusammen.
202
der Arbeit, und keine andere Schranke als den Exploitationsgrad der
Arbeit, wenn die Arbeiterbevölkerung gegeben ist . . . Man muss es
nie vergessen, dass die Produktion des Mehrwertes . . . der unmittel-
bare Zweck und das bestimmende Motiv der kapitalistischen Produk-
tion ist . . . Sobald das auspressbare Quantum Mehrarbeit in Waren
vergegenständlicht ist, ist der Mehrwert produziert. Aber mit dieser
Produktion des Mehrwerts ist nur der erste Akt des kapitalistischen
Produktionsprozesses, der unmittelbare Produktionsprozess beendet.
Das Kapital hat so und soviel unbezahlte Arbeit eingesaugt . . Nun
kommt der zweite Akt des Prozesses. Die gesamte Warenmasse,
das Gesamtprodukt, sowohl der Teil, der das konstante und variable
Kapital ersetzt, wie der, der den Mehrwert darstellt, muss verkauft
werden. Geschieht dies nicht oder nur zum Teil, oder nur zu Preisen,
die unter den Produktionspreisen stehen, so ist der Arbeiter zwar ex-
ploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den
Kapitalisten .... Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation
und die ihrer Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur
nach Zeit und Ort, sondern auch begrifflich auseinander. Die einen
sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die
anderen durch die Proportionalität der verschiedenen Produktions-
zweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Diese
letztere ist aber bestimmt weder durch die absolute Produktionskraft
noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern durch die Kon-
sumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche
die Konsumtion der grossen Masse der Gesellschaft auf ein nur inner-
halb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum redu-
ziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den
Trieb nach Vergrösserung des Kapitals und nach Produktion von
Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter . . . Der Markt muss daher be-
ständig ausgedehnt werden, so dass seine Zusammenhänge und die
sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den
Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkon-
trollierbarer werden. Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen
durch Ausdehnung des äusseren Feldes der Produktion. Je mehr
sich aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in
Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnisse
beruhen. Es ist auf dieser widerspruchsvollen Basis durchaus kein
Widerspruch, dass Uebermass von Kapital verbunden ist mit wach-
sendem Uebermass von Bevölkerung ; denn obgleich, beide zusammen-
gebracht, die Masse des produzierten Mehrwerts sich steigern würde,
steigert sich eben damit der Widerspruch zwischen den Bedingungen,
— 203 —
worin dieser Mehrwert produziert, und den Bedingungen, worin er
realisiert wird^)."
Die Realisation des gesellschaftlichen Produktes wird also, nach
der Auffassung von Marx, durch zwei Bedingungen bestimmt:
1. durch die Proportionalität der Einteilung der gesellchaftlichen
'Produktion ;
2. durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft.
Die Annahme der ersten Bedingung stimmt mit der Marx-
schen Analyse der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals im
II. Bande des „Kapitals" vollkommen überein; dagegen widerspricht
dieser Analyse der Hinweis auf die zweite Bedingung ganz entschieden.
Die Unterkonsumtion der Volksmassen kann nur insofern der Reali-
sation des gesellschaftlichen Produktes im Wege stehen, als eine pro-
portioneile Einteilung der gesellschaftlichen Produktion dadurch er-
schwert wird. Der Mangel an Proportionalität bleibt aber auch in
diesem Falle die einzige Ursache der mangelnden Nachfrage. Daher
darf man nicht gleichzeitig vom Mangel an Proportionalität und von
der Unterkonsumtion als von beiden besonderen Krisenursachen
sprechen — beide bilden ja im gewissen Sinne dasselbe. Durch
diese Gegenüberstellung der mangelnden Proportionalität und der
mangelnden Konsumtionskraft der Gesellschaft, als beider unabhän-
giger Ursachen der Absatzstockung, bekennt sich Marx zum 'An-
hänger der Sismondischen Unterkonsumtionstheorie.
Gehen wir zu den weiteren Ausführungen von Marx über.
Das Fallen der Profitrate betrachtet Marx als das wichtigste Gesetz
der kapitalistischen Entwickelung. Obschon die relative Verringerung
der Arbeiterzahl durch eine Steigerung der Exploitation der Arbeiter
bis zu einem gewissen Grade kompensiert werden kann, gilt diese
Kompensationsmöglichkeit nur in sehr engen Grenzen. „Sie kann
den Fall der Profitrate wohl hemmen, aber nicht aufheben." Die
Profitrate bildet aber den wichtigsten Regulator der kapitalistischen
Produktion. Das Sinken der Profitrate führt zur sogenannten Plethora
des Kapitals: das herangewachsene Kapital ist nicht imstande, sich
auf Grundlage der alten Profitrate zu verwerten, das zu Spekulation,
Kreditschwindel, Aktienschwindel, Krisen führt. „Es wäre eine abso-
lute Ueberproduktion von Kapital vorhanden, sobald das zusätzliche
Kapital für den Zweck der kapitalistischen Produktion = О wäre. Der
Zweck der kapitalistischen Produktion ist aber Verwertung des Kapi-
tals, d. h. Aneignung von Mehrarbeit, Produktion von Mehrwert, von
1) A. a. O. S. 225, 226.
— 204 —
Profit. Sobald also das Kapital gewachsen wäre in einem Verhält-
nis zur Arbeitsbevölkerung, dass weder die absolute Arbeitszeit, die
diese Bevölkerung liefert, ausgedehnt noch die relative Mehrarbeits-
zeit erweitert werden könnte . . . wo also das angewachsene Kapital
nur ebensoviel oder selbst weniger Mehrwertsmasse produziert als
vor seinem Wachstum, so fände eine absolute Ueberproduktion von
Kapital statt, d. h. das angewachsene Kapital С -[~ ^ С produzierte
nicht mehr Profit oder gar weniger Profit als das Kapital С vor
seiner Vermehrung durch А С. In beiden Fällen fände auch ein
starker und plötzlicher Fall in der allgemeinen Profitrate statt, dies-
mal aber wegen eines Wechsels in der Zusammensetzung des Kapi-
tals, der nicht der Entwickelung der Produktivkraft geschuldet wäre,
sondern einem Steigen im Geldwerte des variablen Kapitals (wegen
der gestiegenen Löhne) und der ihr entsprechenden Abnahme im
Verhältnis der Mehrarbeit zur notwendigen Arbeit ... In der Wirk-
lichkeit würde sich die Sache so darstellen, dass ein Teil des Kapi-
tals ganz oder teilweise brach läge (weil es erst das schon fungierende
Kapital aus seiner Position verdrängen müsste, um sich überhaupt zu
verwerten) und der andere Teil durch den Druck des unbeschäftigten
oder halbbeschäftigten Kapitals sich zu niederer Rate des Profits
verwerten würde . . . Der Fall der Profitrate wäre diesmal begleitet
von einer absoluten Abnahme der Profitmasse, da unter unseren Vor-
aussetzungen die Masse der angewandten Arbeitskraft nicht vermehrt
und die Mehrwertrate nicht gesteigert, also auch die Masse des Mehr-
werts nicht vermehrt werden könnte. Und die verminderte Profit-
masse wäre zu l.)erechnen auf ein vergrössertes Gesamtkapital ^)."
Der Konflikt zwischen dem Streben des Kapitals zur unbe-
schränkten Ausdehnung der Produktion und der Unmöglichkeit einer
wachsenden Verwertung des Kapitals gleicht sich aus in einer Brach-
legung oder teilweisen Vernichtung des ganzen überschüssigen Kapi-
tals. „Dies würde sich erstrecken zum Teil auf die materielle Kapi-
talsubstanz .... Die Hauptzerstörung, und mit dem akutesten Cha-
rakter, fände statt mit Bezug auf das Kapital, soweit es Werteigen-
schaft besitzt, mit Bezug auf die Kapital werte ... Es kommt hinzu,
dass bestimmte vorausgesetzte Preisverhältnisse den Reproduktions-
prozess bedingen, dieser daher durch den allgemeinen Preisfall in
Stockung und Verwirrung gerät. Diese Stockung und Störung para-
lysiert die mit der Entwickelung des Kapitals gleichzeitig gegebene,
auf jenen vorausgesetzten Preisverhältnissen beruhende Fiktion des
I) A. a. o. S. 233, 234.
— 205 —
Geldes als Zahlungsmittels, unterbricht an hundert Stellen die Kette
der Zahlungsobligationen an bestimmten Terminen, wird noch ver-
schärft durch das damit gegebene Zusammenbrechen des gleichzeitig
mit dem Kapital entwickelten Kreditsystems und führt so zu heftigen
akuten Krisen, plötzlichen gewaltsamen Entwertungen und wirklicher
Stockung und Sturz des Reproduktionsprozesses, und damit zu wirk-
licher Abnahme der Reproduktion. Gleichzeitig aber wären andere
Agentien im Spiel gewesen. Die Stockung der Produktion hätte
einen Teil der Arbeiterklasse brachgelegt und dadurch den beschäf-
tigten Teil in Verhältnisse gesetzt, worin er sich eine Senkung des
Arbeitslohnes, selbst unter den Durchschnitt, gefallen lassen müsste;
eine Operation, die für das Kapital ganz dieselbe Wirkung hat, als
wenn beim Durchschnittslohn der relative oder absolute Mehrwert er-
höht worden wäre . . Der Preisfall und der Konkurrenzkampf hätten
andererseits jedem Kapitalisten einen Stachel gegeben, den indivi-
duellen Wert seines Gesamtproduktes durch Anwendung neuer
Maschinen, neuer verbesserter Arbeitsmethoden, neuer Kombinationen,
über dessen allgemeinen Wert zu erhöhen, d. h. die Produktivkraft
eines gegebenen Quantums Arbeit zu steigern, das Verhältnis des
variablen Kapitals zum konstanten zu senken und damit Arbeiter frei-
zusetzen, kurz, eine künstliche Uebervölkerung zu schaffen, ferner
würde die Entwertung der Elemente des konstanten Kapitals selbst
ein Element sein, das Erhöhung der Protitrate einschlösse .... Die
Masse des angewandten konstanten Kapitals, gegen das variable, wäre
gewachsen, aber der Wert dieser Masse könnte gefallen sein. Die
eingetretene Stockung der Produktion hätte eine spätere Erweiterung
der Produktion — innerhalb der kapitalistischen Grenzen — vorbe-
reitet .... Und so würde der Zirkel von neuem durchlaufen. Ein
Teil des Kapitals, das durch Funktionsstockung entwertet war, würde
seinen alten Wert wieder gewinnen. Im übrigen würde mit erwei-
terten Produktionsbedingungen, mit einem erweiterten Markt und mit
erhöhter Produktivkraft derselbe fehlerhafte Kreislauf wieder durch-
gemacht werden ^).^^
Die Krisen sind, nach Marx, „momentane gewaltsame Lösungen"
des fundamentalen Widerspruches der kapitalistischen Produktions-
weise, welcher darin besteht, dass die kapitalistische Produktionsweise
„eine Tendenz einschliesst nach absoluter Entwickelung der Produk-
tivkräfte," während die Verwertung des Kapitals einer solchen abso-
luten Zunahme nicht fähig ist. Die fallende Profitrate hemmt die
I) A. a. O. S. 236, 237.
— 2o6 —
Akkumulation des Kapitals. „Die kapitalistische Produktion strebt
beständig, diese ihr immanenten ^Schranken zu überwinden, aber sie
überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue
und auf gewaltigerem Masstab entgegenstellen. Die wahre Schranke
der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: dass
das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und End-
punkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; dass die Pro-
duktion nur Produktion für das Kapital und nicht umgekehrt die
Produktionsmittel blosse Mittel für eine stets sich erweiternde Ge-
staltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten
sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung
des Kapitalwertes, die auf der Enteignung und Verarmung der grossen
Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken
treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden,
die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muss, und die auf un-
beschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbst-
zweck, auf unbedingte Entwickelung der gesellschaftlichen Produktiv-
kräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel — unbedingte Entwickelung
der Produktivkräfte — gerät in fortwährenden Konflikt mit dem be-
schränkten Zweck der Verwertung des vorhandenen Kapitals. Wenn
daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist,
um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr ent-
sprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige
Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr
entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen ^)."
Die Ueberproduktion von Kapital ist keine absolute Ueberpro-
duktion von Produktionsmitteln, sondern eine Ueberproduktion der-
selben als Exploitationsmittel der Arbeiter. „Es werden zu viel Waren
produziert, um den in ihnen enthaltenen Wert und darin eingeschlossenen
Mehrwert unter den durch die kapitalistische Produktion gegebenen
Verteilungsbedingungen und Konsumtionsverhältnissen zu realisieren
und in neues Kapital zurückverwandeln zu können, d. h. um diesen
Prozess ohne beständig wiederkehrende Exploisionen auszuführen."
Die Schranke der kapitalistischen Produktionsweise tritt hervor: „i. dar-
in, dass die Entwickelung der Produktivkraft der Arbeit im Fallen
der Profitrate ein Gesetz erzeugt, das ihrer eigenen Entwickelung
auf einen gewissen Punkt feindlich gegen übertritt und daher beständig
durch Krisen überwunden werden muss; 2. darin, dass . . die Profit-
rate über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion entscheidet
i) A. a. O. S. 231, 232.
• — 207 —
statt des Verhältnisses der Produktion zu den gesellschaftlichen Be-
dürfnissen."
Im Sinken der Profitrate kommt die historische Notwendigkeit
der Verwandlung der kapitalistischen Produktionsweise in eine höhere
Wirtschaftsform zum Ausdruck. „Es zeigt sich hier in rein ökono-
mischer Weise, d. h. vom Bourgeoisstandpunkt, innerhalb der Grenzen
des kapitalistischen Verstandes, vom Standpunkt der kapitalistischen
Produktion selbst, ihre Schranke, ihre Relativität, dass sie keine abso-
lute, sondern nur eine historische, einer gewissen beschränkten Ent-
wicklungsepoche der materiellen Produktionsbedingungen entsprechende
Produktionsweise ist ^)."
Man kann die Krisentheorie von Marx folgendermassen resü-
mieren. Die relative Zunahme des konstanten Kapitals ruft das Fallen
der Profitrate hervor. Die Profitrate ist aber die treibende Macht der
kapitalistischen Produktion. Der Fall der Profitrate, der auf einem
gewissen Punkt zur Unmöglichkeit einer kapitalistischen Verwertung
des neu akkumulierten Kapitals führt, bildet die Schranke der kapi-
talistischen Produktion. Das überschüssige Kapital ist nicht imstande,
auf Grund der früheren Profitrate sich zu verwerten — es entsteht
also eine Ueberproduktion люп Kapital. Die Unterkonsumtion der
Volksmassen zeitigt gleichfalls eine allgemeine Warenüberproduktion,
die aber keine absolute ist, sondern nur im Rahmen der gegebenen
historischen Produktionsbedingungen gilt. Die durch diese Ueber-
produktion verursachte Absatzstockung ruft Brachlegung, Vernichtung
und Entwertung von Kapital hervor — und schafft zugleich eine
künstliche Uebervölkerung. Das Sinken der Arbeitslöhne erhöht aber
die Rate des Mehrwertes; die Verwohlfeilerung der Elemente des
konstanten Kapitals, wegen des durch die Absatzstockung hervorge-
rufenen Preissturzes, verringert das Kapital, auf das eine gegebene
Profitmasse gemessen wird. Die Profitrate steigt — und derselbe
Kreislauf wird von neuem durchgemacht.
Die Kritik dieser Theorie schliesst in sich die Kritik der wich-
tigsten Grundlagen des Marx sehen ökonomischen Systems ein. Das
Gesetz der fallenden Profitrate scheint eine logisch-notwendige Folge
der Arbeitswerttheorie zu sein. Besteht aber solch ein Gesetz, so sind
alle Schlussfolgerungen, die aus ihm von Marx gezogen werden, zu
acceptieren. Das genannte Gesetz soll, nach der Auffassung von
Marx, nicht nur die Periodicität der Krisen, sondern auch die öko-
nomische Notwendigkeit der Verwandlung der kapitalistischen Wirt-
i) A. a. O. S. 242.
— 2o8 —
Schaftsordnung in eine sozialistische Gesellschaft begründen. Das
interessante Kapitel im III. Bande des „Kapitals", welches der „Enf
faltung der inneren Widersprüche des Gesetzes" der fallenden Profit-
rate gewidmet ist, enthält, wenn auch nicht mit genügender Klarheit
ausgedrückt, die ganze Theorie der ökonomischen Entwickelung des
Sozialismus aus der heutigen Gesellschaftsordnung,
Bildet aber das in Rede stehende Gesetz wirklich eine logische
Folge der Arbeitswerttheorie?
Unsere Antwort wird eine entschieden verneinende sein.
Jeder kapitalistische Unternehmer ist überzeugt, dass sein Profit
ganz ebenso durch den konstanten, nach der Marxschen Termino-
logie, wie durch den variablen Teil seines Kapitals erzeugt wird.
Der Kapitalist bemerkt keinen Unterschied, in Bezug auf die Schaffung
des Profits, zwischen diesen beiden Bestandteilen des Kapitals. Der
„Vulgaroekonome" stimmt dem Kapitalisten bei. Die „Vulgaroeko-
nomen" glauben, dass die Maschine, welche den Arbeiter ersetzt, den
Profit des Kapitalisten nicht verringert, obschon die Quote des variablen
Kapitals im Gesamtkapital dadurch kleiner wird.
Die Marx sehe Mehrwerttheorie beweist aber, nach der Meinung
aller ihrer Anhänger, dass Praktiker sowie Theoretiker — Vulgarö-
konomen — im Irrtum befangen sind. Eine je geringere Rolle im Pro-
duktionsprozess die lebendige Arbeit, also die wertbildende Substanz
spielt, eine um so geringere Mehrwertmasse muss ein bestimmtes Kapi-
tal abwerfen — um so niedriger muss also die Profitrate sein.
Und doch, trotz scheinbarer Triftigkeit dieser Argumentation,
leidet sie, unseres Erachtens, an vielen logischen Fehlern. Aus der
Arbeitswerttheorie folgt keineswegs das Gesetz der fallen-
den Profitrate; aus derselben Theorie folgt sogar die Mehr-
werttheorie, wie Marx sie verstanden hat, nicht.
Wir werden also zu beweisen versuchen, dass man die Arbeit
als alleinige wertbildende Substanz anerkennen und zugleich mit
den „Vulgaroekonomen" übereinstimmen kann, welche keinen Unter-
schied in Bezug auf die Schaffung des Profits zwischen der lebendigen
Arbeit und der vorgethanen Arbeit, den Arbeitsmitteln, ziehen. Die
Praktiker und die „Vulgaroekonomen" haben darin, nach unserer
Meinung, vollkommen recht. Die Arbeitswerttheorie führt keinesfalls
zur Annahme eines notwendigen Zusammenhanges zwischen der orga-
nischen Zusammensetzung des Kapitals (im Sinne von Marx) und der
Höhe der Profitrate.
Was einzelne Wirtschaften und besondere Produktionszweige
betrifft, so wird das Fehlen eines solchen Zusammenhanges von
— 2og —
Marx selbst anerkannt. Die im III. Bande des „Kapitals" entwickelte
Theorie der Verwandlung der Werte in Produktionspreise und der
Ausgleichung der allgemeinen Profitrate durch die Konkurrenz be-
ruht auf einer Anerkennung der übrigens unbestreitbaren Thatsache,
dass der Profit in verschiedenen Produktionszweigen in gar keinem
Verhältnis zur Zusammensetzung des darin angelegten Kapitals steht.
Die Masse des Profits jedes einzelnen Kapitalisten wird durch die
Glosse seines Gesamtkapitals bestimmt, nicht aber durch den variablen
Teil desselben. Zwei Kapitale derselben Grösse, aber verschiedener
Zusammensetzung, w^erden gleich grosse Massen Profits abwerfen, ob-
schon die durch jedes Kapital beschäftigte Arbeiterzahl verschieden
sein muss. Der einzelne Kapitalist irrt sich also nicht, wenn er
seinen Profit als etwas in gleichem Masse von den beiden Bestand-
teilen des Kapitals — vom variablen und konstanten Teile desselben —
Abhängiges betrachtet. „Der einzelne Kapitalist (oder auch die Ge-
samtheit der Kapitalisten in jeder besonderen Produktionssphäre),
dessen Blick borniert ist, glaubt mit Recht, dass sein Profit nicht
allein aus der von ihm oder in seinem Zweig beschäftigten Arbeit
herstamme ^)", aber die Gesamtsumme des kapitalistischen Profits, der
Profit der ganzen Klasse der Kapitalisten wird — führt Marx aus —
durch die Gesamtmehrwertsmase, welche nur die lebendige Arbeit
erzeugt, bestimmt. „Die verschiedenen Kapitalisten verhalten sich
hier, soweit der Profit in Betracht kommt, als blosse Aktionäre einer
Aktiengesellschaft, worin die Anteile am Profit gleichmässig pro loo
verteilt werden und daher für die verschiedenen Kapitalisten sich
nur unterscheiden nach der Grösse des von jedem in das Gesamt-
unternehmen gesteckten Kapitals, nach seiner verhältnismässigen Be-
teiligung am Gesamtunternehmen, nach der Zahl seiner Aktien."
Wodurch wird aber der gesamte zwischen den einzelnen Kapitalisten
zu verteilende gesellschaftliche Profit bedingt? Durch die Mehrwerts-
masse, welche das gesellschaftliche Kapital abwirft. Und da den
Mehrwert, wie den Wert überhaupt, eine in Produkten festgeronnene
Arbeitszeit bildet, so hängt die Grösse des gesamten gesellschaftlichen
Profits bloss von der Grösse des variablen Teiles des gesellschaft-
lichen Kapitals ab und jede Aenderung in der organischen Zusammen-
setzung des gesellschaftlichen Kapitals muss, ceteris paribus, auf
die Profitrate zurückwirken.
Ja, ceteris paribus, ist es ganz richtig. Der Irrtum dieses
: ganzen Raisonnements liegt aber darin, dass wir eben kein Recht
i) Das Kapital, Bd. III, S. 149.
Tugan-Earanowsky , Die Handelskrisen. 14
— 2IO —
haben, diese cetera paria vorauszusetzen. Marx hat selbst darauf
hingewiesen , dass die Erhöhung der Zusammensetzung des Kapitals
nur ein kapitalistischer Ausdruck einer Steigerung- der Pro-
duktivität der Arbeit ist. Eine je geringere Quote des gesamten
Kapitals das variable Kapital bildet, um so grösser wird die
Produktivität der Arbeit. Die Wirkung beider Momente auf die
Profitrate — und das ist von Marx verkannt — kompensiert sich
und die Profitrate kann nicht, trotz der Veränderung der Zusammen-
setzung des Kapitals, fallen.
Die Frage ist so wichtig, dass wir bei ihr etwas länger ver-
weilen müssen. Wir werden das gesellschaftliche Produkt in seiner
dinglichen Form, als Gebrauchswert mit а bezeichnen, die auf Er-
zeugung desselben aufgewandte gesellschaftliche Arbeit mit b. Die
а
Produktivität der Arbeit wird also ^— (die Produktivität der Arbeit
b
nennen wir die Menge des Produktes, durch ein gegebenes Quantum
Arbeit hergestellt). Nehmen wir an, dass das gesamte gesellschaft-
liche Kapital aus variablem Kapital besteht — d. h. dass die ge-
samte Kapitalausgabe sich in Arbeitslöhne auflöst. Die Mehrwert-
rate werden wir als ioo% unterstellen. So erhalten wir folgende
Formel:
Formel No. i.
— v + — m = b,
2 2 J
worin v variables Kapital und m Mehrwert darstellt. Die Profitrate
ist in diesem P'all gleich der Mehrwertsrate ioo%. Setzen wir nun
voraus, dass eine Hälfte der Arbeiter durch Maschinen ersetzt wird.
Marx würde in diesem Falle folgendem! assen argumentieren. Die
Hälfte [ — ) des gesamten Kapitals verwandelt sich in konstantes
Kapital, welches keinen Mehrwert erzeugt. Das variable Kapital
sinkt bis auf — herab. Bei gleichbleibender Mehrwertsrate wird dieses
4
Kapital — Mehrwert erzeugen. Da das aufgewandte Kapital —
4 ^
bleibt I — c-\ vj, so muss die Profitrate fallen und wird nur
\4 4 /
50^0» statt wie früher loo^o betragen.
Die Unhaltbarkeit einer solchen Betrachtungsweise ist dennoch
handgreiflich. Es wird dabei von der Einwirkung der Steigerung
der Produktivität der Arbeit auf den Wert der Arbeitsprodukte voll-
21 I
kommen abgesehen. Die Ersetzung der Arbeiter durch Maschinen
muss aber die Produktivität der Arbeit steigern. Der Arbeitswert
jeder bestimmten Menge des Produktes muss also sinken. Die Ver-
drängung der Arbeiter durch Maschinen kann keinesfalls ihre Real-
löhne erhöhen. Thatsächlich werden unter dieser Voraussetzung die
realen Arbeitslöhne vielleicht fallen. Aber selbst unter der Annahme
einer gleichbleibenden realen Belohnung der Arbeiter wird der Arbeits-
wert ihrer Löhne allerdings sinken. Die notwendige Arbeitszeit (im
Sinne von Marx) wird abnehmen, die Mehrwertsrate also steigen.
Etwas Aehnliches gilt auch für das konstante Kapital : dessen Arbeits-
wert muss gleichfalls und aus demselben Grunde — infolge der
Steigerung der Produktivität der Arbeit — sinken. Alle diese Ein-
wirkungen der Erhöhung der Produktivität der Arbeit auf den Wert
des Kapitals berücksichtigt Marx gar nicht. Er geht von der Vor-
aussetzung einer gleichbleibenden Mehrwertsrate aus, während es klar
ist, dass eine Aenderung der Zusammensetzung des Kapitals unter
diesen Bedingungen nicht ohne eine Einwirkung auf diese Rate
bleiben kann ^).
Eine richtig'e Lösung des gegebenen Problems ist also nicht so
einfach, wie sie Marx annimmt. Damit unsere Analyse etwas Reales
darstelle, müssen wir die Veränderungen der Produktivität der Arbeit
i) Um alle Missverständnisse vorzubeugen, führen wir das betreffende Raisonnement
von Marx selbst an, worin er sein Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate begründet,
„Bei gegebenem Arbeitslohn und Arbeitstag stellt ein variables Kapital z. B. von loo eine
bestimmte Anzahl in Bewegung gesetzter Arbeiter vor, es ist der Index dieser Anzahl . . .
Verrichten diese lOO Arbeiter ebensoviel notwendige Arbeit wie Mehrarbeit, arbeiten sie
also täglich ebensoviel Zeit für sich selbst . . . wie für den Kapitalisten ... so wäre die
Rate des Mehrwerts — = loo"/^. Diese Rate des Mehrwerts würde sich jedoch in sehr
verschiedenen Profitraten ausdrücken, je nach dem verschiedenen Umfang des konstanten
Kapit£
100 7„
Kapitals с und damit des Gesamtkapitals C, da die Profitrate — . Ist die Mehrwertsrate
lOO
Wenn с = 50,
V = IOC,
so ist p'
150
= бб7з7о.
„ с = lOO,
V = ICO,
so ist p'
100
200
= 5o7o,
„ с = 200,
V = IOC,
so ist p'
100
300
= зз7з7о'
„ с = зоо,
V = 100,
so ist p'
100
400
= 25 0/,.
Dieselbe Rate des Mehrwertes bei unveränderten Explotationsgrad der Arbeit, würde
sich so in einer fallenden Profitrate ausdrücken" (Das Kapital, Bd. Ш, i. Teil, S. 191).
Nun beruht diese ganze Argumentation auf einer Contradictio in adjecto, da die Mehrwerts-
rate bei der Veränderung der Zusammensetzung des Kapitals sich verändern muss.
14*
— 212 —
und die dadurch verursachten Veränderungen der Werte der Pro-
dukte in Rechnung ziehen. Für die Bestimmung der Produktivität
der Arbeit ist aber die Berücksichtigung der Gebrauchswerte der
Waren, der Masse des Produktes, und nicht nur des Wertes des-
selben erforderlich. Die oben angegebene Formel müssen wir also
in Produktenmassen darstellen und bekommen eine folgende Formel:
а , а
— V ч m = а,
2 2
worin а das gesamte gesellschaftliche Produkt bezeichnet.
Unserer Voraussetzung gemäss ersetzen die Maschinen eine
Hälfte der Arbeiter; eine Hälfte des variablen Kapitals verwandelt sich
in konstantes. Wir können der Einfachheit halber annehmen, dass
diese Maschinen sich ebenso umsetzen wie das variable Kapital (das
ist übrigens die übliche Annahme von Marx in analogen Fällen,
z. B. in seiner in der Anmerkung angeführten Ausführung, worin er
das Gesetz des Fallens der Profitrate begründet). Das unter neuen
technischen Bedingungen erzeugte Produkt kann bei dieser Voraus-
setzung nicht abnehmen — sonst hätte es keinen ökonomischen
Sinn, die Handarbeit durch die Maschinenarbeit zu ersetzen. That-
sächlich wird die Masse des gesellschaftlichen Produktes unter diesen
Bedingungen zunehmen, was unseren Schlussfolgerungen nur mehr
Kraft geben kann. Betrachten wir jedoch den Grenzfall, wo die
Maschine eine ebenso grosse Produktenmasse wie die durch sie
ersetzten Arbeiter erzeugt; in diesem Falle ist die Einführung der
Maschine mö gliche während unter der Voraussetzung einer Ver-
ringerung der Masse des erzeugten Produktes eine solche Einführung
ökonomisch geradezu unmöglich ist.
Wir müssen also annehmen, dass das Mehrprodukt, wegen der
Einführung der Maschinen, nicht abgenommen hat — falls es früher
= — (als Gebrauchswert), so muss es auch jetzt — bleiben. Die
realen Löhne der Arbeiter, welche nach der Einführung der Maschinen
Beschäftigung finden, = — (unserer Voraussetzung gemäss ist ja die
4
Zahl der Arbeiter zweimal kleiner geworden). Das Mehrprodukt und
die realen Löhne der Arbeiter (das gesellschaftliche Einkommen)
■1
bilden also, in Produktenmassen, — a.
4
Wie gross aber wird der Arbeitswert dieses Produktes, wel-
ches das gesellschaftliche Einkommen ausmacht, unter neuen Produk-
tionsbedingungen, d. h. auf Grund der maschinellen Produktion sein?
— 2 13 —
Dieser Wert kann keinesfalls der frühere ( — b 1 bleiben, da dank der
Einführung der Maschinen ein geringeres Quantum Arbeit zur Her-
stellung einer bestimmten Menge des Produktes genügt. Die neu
angewandte im Produktionsprozesse lebendige Arbeit = — (eine Hälfte
der Arbeitsmasse im ersten Jahre, vor der Einführung der Maschinen).
Diese Arbeitsmasse ist, nach der Arbeitswerttheorie, dem Werte
des variablen Kapitals und des Mehrproduktes gleich, da der Wert des
konstanten Kapitals, nach derselben Theorie, im Produktionsprozesse
unverändert bleibt. Der Wert des Mehrproduktes und der Arbeits-
löhne (des variablen Kapitals) ist also — . Wie gross ist aber unter
diesen Bedingungen die Produktivität der Arbeit? Wie erhalten sie
durch eine Division der Menge des Produktes 1 — а j auf ihren Ar-
beitswert ( — I ; sie ist also gleich — - . Um den Arbeitswert des vari-
ablen Kapitals aufzufinden, müssen wir dessen Masse ( — | durch die
Produktivität der Arbeit dividieren:
аза b
4 ' 2b 6
Also ist der Wert des variablen Kapitals = — ; ebenso gross ist,
nach unserer Voraussetzung, der Wert des konstanten Kapitals. Die
gesamte Summe der im zweiten Jahre aufgewandten lebendigen Arbeit =
— • Aus diesem neuen im Produktionsprozesse geschaffenen Werte
erhalten die Arbeiter — ; als Mehrwert bleibt also den Kapitalisten
2 6 ~ 3*
Wir haben so die Mehrwertsmasse im zweiten Jahre fest-
gestellt, sie ist = Damit erhalten wir für das zweite Jahr fol-
3
gende Formel:
Formel No. 2.
b , b , b 2 ,
— c-f — v-^ m=i— b .
6 ' 6 ' 3 3
— 214 —
Das vorgeschossene Kapital ist — = f — с -|- ■ — ^ v j; ebenso gross
ist der Mehrwert. Die Profitrate bleibt also wie früher ioo%; sie
ist trotz der Veränderung der organischen Zusammen-
setzung des Kapitals und Verwandlung einer Hälfte des
variablen Kapitals in konstantes unverändert geblieben.
Stimmt aber ein solches Ergebnis mit der Arbeitswerttheorie
überein? Nach dieser Theorie bildet ja die Arbeit die alleinige Sub-
stanz des Wertes. In unserem Falle aber ist die Quote der lebendigen
Arbeit im Gesamtkapital bedeutend gesunken und trotzdem bleibt
die Profitrate dieselbe. Wie ist das zu erklären?
Sehr einfach. Die Verringerung der in der Produktion aufge-
wandten lebendigen Arbeit kann allerdings nicht ohne eine Ein-
wirkung auf den Arbeitswert des gesellschaftlichen Produktes und
auf den Mehrwert bleiben. Das ist auch aus unseren Formeln zu
ersehen: in der Formel No. i ist der Mehrwert = — ; in der For-
2
mel No. 2 aber nur Die Abnahme des variablen Kapitals
3
kömmt also in einer Abnahme der Mehrwertsmasse zum Ausdruck.
Die Profitrate erhält dennoch dadurch keine Veränderung, weil
gleichzeitig mit dem Sinken des Mehrwertes der Arbeitswert des
vorgeschossenen Kapitals sinkt. Während in der Formel No. i der
Wert des vorgeschossenen Kapitals = — ist, ist er in der Formel
No. 2 nur
3
Das Sinken des Wertes des variablen Kapitals ist unter diesen
Bedingungen mit einer Steigerung der Mehrwertsrate gleichbedeutend.
In der Formel No. i ist die Mehrwertsrate 100%; in der Formel
N0. 2 aber — 200^/0.
Jede Ersetzung der Handarbeit durch die maschinelle Arbeit
und des variablen Kapitals durch das konstante muss also folgende
Veränderungen hervorrufen: der Mehrwert muss relativ sinken, zu-
gleich aber die Produktivität der Arbeit steigen, was ein Sinken der
Arbeitswerte des variablen und konstanten Kapitals zur Folge haben
muss. Das Sinken des Wertes des variablen Kapitales ist mit einem
Wachstum der Mehrwertsrate gleichbedeutend. Alle diese entgegen-
wirkenden Ursachen heben ihre respektiven Einwirkungen auf die
Profitrate auf, und die Profitrate bleibt dabei unverändert bestehen-
— 215 —
Die relative Abnahme des variablen Kapitals, wodurch jede
Vervollkommnung der Technik begleitet wird, gelangt also in der
Veränderung der Masse und der Rate nur des Mehrwerts, nicht
aber des Profits zum Ausdruck. In unserer Analyse haben wir
jedoch eine wichtige Annahme gemacht, welche der Wirklichkeit
gewiss nicht entspricht: wir haben nämlich vorausgesetzt, dass die
Einführung der Maschinen die Masse des gesellschaftlichen Produktes
nicht erhöht. In der Wirklichkeit nimmt unter diesen Bedingungen
die Gesamtmasse des Produktes sehr stark zu. Die Steigerung der
Produktivität der Arbeit ist also bedeutend grösser, als wir es an-
genommen haben. Daher bedürfen unsere Schlussfolgerungen fol-
gender Modifikation: wir sind zur Schlussfolgerung angelangt, dass
die Ersetzung der Handarbeit durch die Maschinenarbeit die Profitrate
nicht verringert. Das wäre richtig unter der Voraussetzung, dass die
Einführung der Maschinen keinen Zuwachs der Produktenmasse her-
vorruft. Da aber thatsächlich die Maschinenarbeit grössere Produkten-
massen als die Handarbeit erzeugt, so muss die Profitrate infolge des
I relativen Steigens des konstanten Kapitals zunehmen. Also gerade
das Gegenteil zur Marx'schen Theorie. Auf Grund der Arbeits-
I Werttheorie gelangen wir zur Schlussfolgerung, dass die
Ersetzung der Arbeiter durch die Maschinen an und für
sich nicht nur keine fallende, sondern vielmehr eine stei-
gende Tendenz der Profitrate erzeugt^).
Es ist leicht einzusehen, welche Bedeutung dieser Grundsatz für
die gesamte Mehr Werttheorie gewinnen muss. Auf Grund unserer
Analyse können wir behaupten, dass in Bezug der Einwirkung
auf die Profitrate kein Unterschied zwischen dem konstanten und
i) Dieser Grundsatz bedarf nur einer Beschränkung. In unserer ganzen Argumentation
haben wir von der Einwirkung der Umschlagszeit des gesellschaftlichen Kapitals auf
die Profitrate vollkommen abgesehen. Die Verkürzung dieser Umschlagszeit muss die Profitrate
erhöhen, die Verlangsamung der Umschlagsbewegung des Kapitals die Profitrate verringern,
wie das von Marx meisterhaft im II. Bande des Kapitals nachgewiesen ist. Der technische
Fortschritt wirkt auf die Umschlagszeit des Kapitals in zwei entgegengesetzten Richtungen:
einerseits wird dadurch die Umschlagsbewegung verlangsamt infolge der Verwandlung eines
Teiles des umlaufenden Kapitals in stehendes ; andererseits aber wird dadurch die Um-
schlagsbewegung beschleunigt, wegen einer intensiveren Ausnutzung des stehenden Kapitals
und einer Beschleunigung des Transports. Diese beiden Momente können den Einfluss der
im Texte betrachteten Ursachen durchkreuzen. Da aber unsere Aufgabe ist, die Bedeutung
der Marx sehen Verteilung des Kapitals in variables und konstantes (nicht aber der üblen
Verteilung des Kapitals in umlaufendes und stehendes) in Bezug auf die Profitrate zu
prüfen, so können wir hier, übrigens nach dem Vorgang von Marx selbst, die Einwirkung
des technischen Fortschrittes auf die Umschlagsbewegung des Kapitals ausser acht lassen.
— 2l6 —
variablen Kapital besteht. Das Fehlen eines Zusammenhanges in
der Privatwirtschaft zwischen der Zusammensetzung des Kapitals und
der Profitrate ist von Marx selbst anerkannt. Er war aber der
Meinung, dass ein solcher Zusammenhang in der Volkswirtschaft be-
stehen muss. Wir glauben aber nachgewiesen zu haben — und
zwar auf Grund der Marxschen Werttheorie — dass in der Volks-
wirtschaft die Profitrate ebenso wenig wie in der Privatwirtschaft
durch die Zusammensetzung des Kapitals bestimmt wird.
Oben wurde darauf hingewiesen, auf welche Weise Marx den hand-
greiflichsten Widerspruch zwischen seiner Mehrwerttheorie und der un-
bestreitbaren Thatsache der Unabhängigkeit der Profitrate in der Privat-
wirtschaft von der Zusammensetzung des Kapitals aufzuheben versucht.
Die Mehrwerttheorie verzichtet auf die Erklärung der Erscheinungen
des Marktes, des privatwirtschaftlichen Verkehrs, zieht sich sozu-
sagen, den Thatsachen nachgebend, von dem Kampfplatze zurück.
Aber um die Mehrwerttheorie als eine Theorie der realen Verhält-
nisse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu retten, findet Marx
für dieselbe ein neues Gebiet auf, woraus sie, nach der Meinung von
Marx selbst wie aller seiner Anhänger, nicht fortgetrieben werden
kann. Als ein solches Gebiet erscheint die kapitalistische Wirtschaft
in ihrer Gesamtheit — die Verteilung des gesamten gesellschaftlichen
Produktes zwischen besonderen gesellschaftlichen Klassen. Obschon
die Verteilung des Profits zwischen den einzelnen Kapitalisten sich
nicht auf Grundlage des Mehrwertsgesetzes vollzieht, bestimmt das
Mehrwertsgesetz, nach der Auffassung von Marx, den Anteil der
gesamten kapitalistischen Klasse am gesellschaftlichen Produkt. Auf
diese Weise erhält der Mehrwert, vom Markte verbannt, vom vul-
garen, alltäglichen Markte, den die meisten marxistischen Theoretiker
tief verachten und dessen Gesetze von ihnen als etwas Niedriges und
Gemeines betrachtet werden, ein neues erhabenes Gebiet und wird
zum Beherrscher der kapitalistischen Welt.
Diese schwierige strategische Operation ist von Marx mit un-
vergleichlichem Geschick im IIl. Bande des „Kapitals" vollzogen: nach-
dem Marx den „Vulgaroekonomen" alles, was dieselben beanspruchen
könnten, zugestanden hatte, scheint er in einer noch stärkeren Lage als
früher sich zu befinden. Die Mehrwerttheorie scheint einen ent-
schiedenen und endgültigen Sieg davongetragen zu haben.
Aus unserer Analyse geht aber hervor, dass der Mehrwert
in der gesamten kapitalistischen Volkswirtschaft ebenso wenig reale
Bedeutung hat wie in der Privatwirtschaft. Der Versuch von Marx,
den Mehrwert in der gesellschaftlichen Wirtschaft als etwas Reales
— 2 17 —
zu betrachten, führte ihn zur Entdeckung des „Gesetzes der fallenden
Profitrate". Dieses imaginäre Gesetz erweist sich aber als ganz un-
haltbar. Die Unhaltbarkeit desselben ist übrigens fast selbstverständ-
lich. Wäre dies Gesetz richtig, so müsste jede Erhöhung der
Produktivität der Arbeit den Profit verringern; die kapitalistische
Klasse gewänne also nicht von der Steigerung, sondern von der
Herabsetzung der Produktivität der Arbeit. Die Maschinen — die
mächtigste Waffe der Fabrikanten in ihrem Kampfe mit der Arbeiter-
klasse — erscheinen nach dieser Theorie als gefährhchste Feinde der
Kapitalisten selbst. Und bis dies Geheimnis in den Manuskripten
von Marx entschleiert wurde, konnte kein Fabrikant darauf kommen,
dass er, indem er die Arbeiter durch die Maschine ersetzt, zum Unter-
gang seiner Klasse arbeitet.
Aus der Unhaltbarkeit des imaginären Gesetzes von Marx
geht natürlich nicht hervor, dass die Profitrate in der kapitalistischen
Wirtschaft stationär bleibt. Allerdings beweist uns die Geschichte,
dass das Sinken der Profitrate keinesfalls eine so allgemeine und ge-
setzmässige Erscheinung ist, wie sie es im Falle der Richtigkeit der
Marx 'sehen Theorie sein sollte. Ad. Smith sagt im „Reichtum der
Nationen", dass der Zinsfuss in den reichsten europäischen Ländern
4, 3 und sogar 2^0 nicht übersteigt. Als üblichen Zinsfuss in England
nennt er 4 oder 4Y2 Vo- ^^ Laufe des ganzen Jahrhunderts ist also der
Zinsfuss in England sehr wenig gesunken. Die umfangreichste Er-
setzung der Handarbeit durch die Maschinenarbeit fand in England
im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts statt. Dennoch ist es nicht
möglich, irgend eine Einwirkung dieser gewaltigen Aenderung der
Zusammensetzung des englischen nationalen Kapitals auf die mittlere
Profitrate zu bemerken. Die Preise der englischen dreiprozentigen
Konsols deuten vielmehr auf eine grosse Stabilität der mittleren
Profitrate in England hin. Freilich scheint es, dass seit dem Anfange
der 70 er Jahre die Profitrate in England gesunken ist. Das findet
aber seine Erklärung in der wachsenden Schwierigkeit für England,
seine industrielle Suprematie zu behaupten, in der Verstärkung der
Konkurrenz auf dem Weltmarkte, im Steigen der Arbeitslöhne und in
der Verkürzung des Arbeitstags, und in vielen anderen Umständen,
die keinesfalls mit der Erhöhung der Zusammensetzung des nationalen
Kapitals indentifiziert werden können.
Zwar ist ein starkes Fallen des Zinsfusses im Anfange der
kapitalistischen Entwicklung jedes Landes zu bemerken. Dieses
Fallen stellt aber ein ganz anderes Phänomen dar als das spätere Sinken
der Profitrate. Der hohe Zins der uncivilisierten oder halbcivilisierten
— 2l8 —
Länder ist nicht mit dem Zinse der kapitalistischen Länder zu ver-
gleichen. „Unter der Form des Zinses kann hier vom Wucherer
aller Ueberschuss über die allernotdürftigsten Subsistenzmittel (den
Betrag des späteren Arbeitslohns) der Produzenten verschlungen
werden (was später als Profit und Bodenrente erscheint), und es ist
daher höchst abgeschmackt, die Höhe dieses Zinses da, wo er mit
Ausnahme dessen, was dem Staate zukommt; allen Mehrwert sich
aneignet, zu vergleichen mit der Höhe des modernen Zinsfusses, wo
der Zins, wenigstens der normale, nur einen Teil dieses Mehrwertes
bildet."!)
Es scheint, dass Marx selbst fühlte, wie wenig sein vermeint-
liches Gesetz mit den Thatsachen der kapitalistischen Entwickelung
übereinstimmt, denn er hat eine ganze Reihe entgegenwirkender Ur-
sachen angeführt, die die Wirkung des Gesetzes mehr oder weniger
abschwächen sollten. Leider hat er unter diesen Ursachen auf die einzig
wichtige — nämlich die Steigerung der Produktivität der Arbeit,
welche das ganze Gesetz aufhebt — nicht hingewiesen. Unter den
von Marx genannten Ursachen wirken einige geradezu in umge-
kehrter Richtung im Vergleich mit der von Marx angenommenen.
Das gilt z. B. von der Verlängerung des Arbeitstags und des
Herunterdrückens des Arbeitslohns. Die neuere Erfahrung zeigt
keine Verlängerung, sondern Verkürzung des Arbeitstags zugleich
mit dem Steigen der Arbeitslöhne. Das sind also Momente, welche
die Profitrate herabsetzen müssen — und sie können folglich keines-
falls als dem Gesetze der fallenden Profitrate „entgegenwirkende
Ursachen" gelten. Die andern von Marx angeführten Momente sind
nicht so wichtig, um die Wirkung des Gesetzes derart zu modifizieren,
wie es nötig wäre, damit das Gesetz den Thatschen des realen Lebens
nicht widerspreche.
Also die Theorie wie die Erfahrung beweist in gleicher Weise
die Unhaltbarkeit des von Marx aufgefundenen „Gesetzes". Die
Profitrate mag sinken — keinesfalls aber infolge der relativen Ver-
ringerung des variablen Kapitals. Damit erweist sich aber die ganze
Profittheorie von Marx als unhaltbar.
Welche andere Profittheorie müssen wir aber an die Stelle der
Marx 'sehen setzen? Obschon das keinen unmittelbaren Zusammen-
hang mit dem Hauptthema der vorliegenden Arbeit hat, können wir
der Beantwortung dieser Frage nicht ausweichen.
i) Marx, Das Kapital, III. Bd, 2. Teil, S. 134.
?
— 2 19 —
Für Marx ist das Profitproblem im letzten Grunde das Wert-
problem. Und zwar stimmt Marx in dieser Hinsicht mit den meisten
Theoretikern, welche sich mit der genannten Frage befassten, überein
— darunter auch mit seinem hervorragendsten wissenschaftlichen
Antagonisten — E. Böhm-Bawerk. Für Böhm-Bawerk, wie für
Marx besteht das Profitproblem in der Erklärung, warum der Preis
des fertigen Produktes seine Produktionskosten übertrifft.
Von der Arbeitswerttheorie ausgehend, betrachtet Marx diesen
Wertüberschuss als die unbezahlte Arbeit; der Kapitalist verausgabt
im Arbeitslohn nur einen Teil des vom Arbeiter neugeschaffenen
Wertes. Nach der Auffassung von Böhm-Bawerk übertrifft der
Wert des fertigen Produktes die Produktionskosten darum, weil die
„gegenwärtigen Güter mehr wert sind als künftige Güter gleicher
Art und Menge"; und da der Produktionsprozess eines Zeitaufwands
bedarf, so muss der Wert des fertigen Produktes höher sein als
seine Produktionskosten. Wie verschieden die Profittheorien von
Marx und Böhm-Bawerk auch seien, so beruhen sie doch auf der-
selben Auffassung des durch die Profittheorie zu lösenden Problems.
Diese Auffassung ist aber, unseres Erachtens, irreführend: das
Profitproblem hat nichts Gemeinsames mit dem Wertproblem. Vom
privatwirtschaftlichen Standpunkte ist freilich der Profit eine Er-
scheinung des Verkehrs und kann nur aus den Gesetzen der Preis-
und folglich der Wertbildung erklärt werden. In einer Gesellschaft,
wo die Arbeitsteilung vorherrscht, kann das von einem besonderen
Unternehmer hergestellte Gut, seiner dinglichen Natur nach, als
Gebrauchswert, nichts Gemeinsames mit den Gütern haben, welche
seine Produktionskosten ausmachen. Das Tuch z. B. ist als Ding,
als Gebrauchswert etwas ganz anderes als Maschinen, Fabrikgebäude,
Konsumtionsmittel der Arbeiter, Rohstoffe, Heizmaterial und anderes,
was zur Erzeugung eines Tuches erforderlich ist. Nur in seiner
Eigenschaft eines Tauschwertes ist das fertige Produkt — Tuch —
etwas Grösseres als Güter, welche für die Produktion des Tuches
verbraucht werden müssen. Und daher, wenn man den Profit vom
priv^at wirtschaftlichen Standpunkte betrachtet, so kann die Erklärung
des Profits nur auf Grundlage einer Werttheorie geschehen.
Dasselbe Problem ist aber auch von einem anderen Standpunkte
zu behandeln. Betrachten wir nicht die Privatwirtschaft, worin die
Gesetze der Gesamtwirtschaft zum Ausdruck kommen, sondern diese
Gesamtwirtschaft selbst, deren Bestandteile Privatwirtschaften
bilden. Der Preis einer Ware ist ein Wertverhältnis. Der Profit
realisiert sich für die einzelnen kapitalistischen Produzenten auf dem
220
Wege der Warencirkulation — des Kaufes der einen Waren und des
Verkaufes der anderen. Wenn wir aber die Volkswirtschaft in ihrem
Ganzen nehmen, so erfolgt die Warencirkulation innerhalb dieses
Ganzen, und in Bezug auf das Ganze wird kein Kauf oder Verkauf
von Waren geschehen und der Warenpreis wird also seine Bedeutung
verlieren. Der Preis bestimmt den Anteil jeder einzelnen Person am
gesellschaftlichen Produkt und daher wird der Reichtum jeder Person
in Preisen ausgedrückt; die ganze Gemeinschaft hat mit niemand
sein Produkt zu teilen, und daher ist der gesellschaftliche Reichtum
von Preisen unabhängig. Er kann nur in Gebrauchswerten ausge-
drückt werden.
In der Privatwirtschaft sind die neu hergestellten und die bei
der Produktion verbrauchten Güter als Gebrauchswerte inkommen-
surabel, sie sind verschiedene Dinge. In der Volkswirtschaft aber
sind die neu erzeugten und verbrauchten Güter als Gebrauchswerte
kommensurabel, da es doch Dinge derselben Art sind. Im Anfange
einer Produktionsperiode verfügt die Gemeinschaft über ein gewisses
Kapital in Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln der Arbeiter;
sagen wir z. В., dass das gesellschaftliche Kapital aus lo Millionen
Tonnen Korn, 200 Tausend Tonnen Baumwollgewebe, 400 Tausend
Tonnen Tuch, 4 Millionen Tonnen Roheisen, 40 Tausend Tonnen
Kupfer u. s. w. besteht. Zum Ende der Produktionsperiode verfügt
die Gemeinschaft, sagen wir, über 15 Millionen Tonnen Korn, 220
Tausend Tonnen Baumwollgewebe, 500 Tausend Tonnen Tuch,
5 Millionen Tonnen Roheisen, 45 Tausend Tonnen Kupfer u. s. w.
Die Gemeinschaft verbraucht im Produktionsprozesse und reproduziert
im grossen und ganzen dieselben Güter, nur reproduziert sie in ver-
mehrter Menge. Das Tuch und die Tuchwalzenmaschine können nur
als Tauschwerte gleichgesetzt werden. Aber ein Meter Tuch und zwei
Meter Tuch, eine Tuchwalzenmaschine und zwei Tuchwalzenmaschinen
sind als Dinge, als Gebrauchswerte kommensurabel. Die Erklärung,
warum das Tuch um ю^Д teurer als seine Produktionskosten ist, muss
auf irgend einer Werttheorie beruhen. Keine Werttheorie ist aber er-
forderlich, um zu erklären, warum 15 Millionen Tonnen Korn um
50^/0 teurer seien als 10 Millionen Tonnen desselben Vorrats, oder
warum man 220 Tausend Tonnen Baumwollgewebe um 20^0 höher
als 200 Tausend Tonnen desselben Vorrats bezahle. Es ist hand-
greiflich, dass sich das Verhältnis des Preises eines Teiles eines
veräusserten Gütervorrats zum Preise des gesamten Vorrats allein
durch die Grösse dieses Teiles bestimmen lässt.
— 2 2 1 —
Die Entstehung des Profits, wie überhaupt aller Einkommen,
welche nicht auf dem Arbeitsaufwand beruhen, erklärt sich da-
durch, dass der gesellschaftliche Produktionsprozess zur Vermehrung
der zur Verfügung der Gemeinschaft stehenden Gütermasse führt.
Warum übertrifft der Wert des gesellschaftlichen Produktes den
Wert der Güter, welche zu seiner Erzeugung verbraucht werden
müssen? Offenbar darum, weil durch den produktiven Verbrauch
einer gegebenen Menge Güter die Gemeinschaft nicht nur alle diese
Güter reproduziert, sondern noch ein Mehrprodukt erzeugt. Die Ver-
wertung dieses Mehrproduktes erfolgt auf dieselbe Weise wie die
Verwertung der anderen Bestandteile des gesellschaftlichen Produktes.
So entsteht der von Marx genannte Mehrwert. Die Abhängigkeit
des Profits vom Momente der Vermehrung im Produktions-
prozesse der Gütermenge ist übrigens handgreiflich; es ist doch
eine Entstehung des Mehrwerts ohne Mehrprodukt undenkbar,
da der Warenkörper die materielle Grundlage des Tauschwertes ist.
Die Schaffung des Mehrproduktes ist also die Grundlage der Bildung
des Profits.^)
Warum aber wird bei modernen Produktionsbedingungen das
gesellschaftliche Produkt nicht nur unter den Arbeitern, welche am
Produktionsprozess durch ihre Arbeit teilgenommen haben, sondern
auch unter anderen Gesellschaftsklassen, welche an der Produktion
keinen Anteil genommen haben, jedoch die Produktionsmittel besitzen,
verteilt? Darum vor allem, weil der Stand der gesellschaftlichen
Produktionstechnik es ermöglicht, eine grössere Gütermasse zu
schaffen, als es für die Erneuerung der gesellschaftlichen Produktion
technisch notwendig ist. Das ermöglicht die Bildung des Mehr-
produktes, und dieses Mehrprodukt wird teils oder insgesamt von den
Eigentümern der Produktionsmittel angeeignet, welche die Macht
dazu haben, weil sie Monopolbesitzer einer notwendigen materiellen
Vorbedingung des Produktionsprozesses sind.
Von welchen Ursachen der Güterwert auch abhängen mag,
eins steht fest — nämlich, dass das gesellschaftliche Produkt einen
Preis im Austauschprozess erhält, und dass die Verteilung des gesell-
schaftlichen Produktes unter den verschiedenen Gesellschaftsklassen
durch die Vermittelung der Preisbildung erfolgt. Als Werte und
i) Man darf diese Auffassung nicht mit der Profittheorie von Physiokraten ver-
wechseln. Die Physiokraten sind vom Begriffe der biologischen Vermehrung, als von der
letzten Ursache des Wachtums des Gütervorrats, über welchen die Gesellschaft verfügt, ausge-
gangen. Von unserem Standpunkte aber erzeugt der Bergbau in demselben Masse das
Mehrprodukt wie der Ackerbau.
— 222
Preise sind alle wirtschaftlichen Güter gleichzusetzen. Das gesamte
gesellschaftliche Produkt zerfällt in drei Bestandteile: der eine Teil
geht zur Wiederherstellung der verbrauchten Produktionsmittel, der
andere geht in den Konsum der arbeitenden Klasse über, den dritten
aber werden sich die nichtarbeitenden Klassen aneignen. Wodurch
wird die Quote des gesellschaftlichen Produktes, über welche die
nichtarbeitenden Klassen verfügen, bestimmt? Offenbar durch die
Summe beider übrigen Quoten — derer der Produktionsmittel und
der arbeitenden Klasse. Bleiben diese beiden letzten Quoten in
ihrer Summe unverändert, so kann auch die Quote der nicht
arbeitenden Klassen keine Veränderung erfahren, wenn auch die
Quote der Arbeiter sich verändert. »Setzen wir voraus, dass
die Quote der Produktionsmittel ein Viertel des Gesamtproduktes
ausmacht, die der arbeitenden Klasse ein Halb und die der nicht-
arbeitenden Klassen ein Viertel. Nehmen wir an, dass die Quote
der arbeitenden Klasse infolge der entsprechenden Zunahme der
Quote der Produktionsmittel, dank der Verdrängung der Arbeiter
durch die Maschinen, zweimal kleiner wird. In diesem Falle werden
die Arbeitslöhne ein Viertel und die Produktionsmittel ein Halb
des gesamten Produktes ausmachen. Da aber die Summe beider
Quoten unverändert bleibt, so muss auch die Quote der nichtarbeiten-
den Klassen unverändert bleiben. Daraus geht die Unhaltbarkeit des
Marx 'sehen Gesetzes der fallenden Profitrate klar hervor.
Wird aber das relative Fallen des Anteils der lebendigen Arbeit
am Produktionsprozess ohne jeglichen Einfluss auf den Arbeitswert
der Einkommen der nichtarbeitenden Klassen bleiben? Gewiss nicht —
die Veränderung der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Kapitals
muss unter diesen Bedingungen den Mehrwert verändern. Der Preis
der kapitalistischen Einkommen kann aber dabei derselbe bleiben.
Der Preis einer Ware wird durch das Verhältnis des Wertes des
gegebenen Gutes zum Werte eines anderen Gutes — z. B. des Geldes
— bestimmt. Wenn die Werte beider Güter sich gleichmässig ver-
ändern, so bleibt das Wertverhältnis unverändert. Der Kapitalist,
wie jedes andere wirtschaftende Subjekt, kümmert sich aber unter
modernen Wirtschaftsbedingungen am wenigsten um Arbeitswerte;
ihn interessieren nur Preise. Und in diesen gelangen allgemeine
Wertveränderungen gar nicht zum Ausdruck.
Die Wechselbeziehungen zwischen den Veränderungen der Zu-
sammensetzung des Kapitals, dem Arbeitswert und der Profitrate
können wir graphisch darstellen. Die nachfolgenden Kreise können
das Produkt des gesellschaftlichen Kapitals einer gegebenen Grösse
— 223 —
symbolisieren; das schwarze Segment stellt den Anteil der Arbeiter-
klasse am Produkte (das variable Kapital) dar, das halbgestrichene
die Quote der Produktionsmittel (das konstante Kapital) und das un-
gestrichene das Mehrprodukt, über welches die nichtarbeitenden
Klassen verfügen.
Die Fläche jedes Kreises bezeichnet den ArbeitsAvert des Pro-
duktes des gesellschaftlichen Kapitals einer gegebenen Grösse bei ver-
schiedenen Zusammensetzungen des gesellschaftlichen Kapitals, sowie
die Fläche jedes Segmentes den Arbeitswert des betreffenden Bestand-
teils desselben Produktes bezeichnet. Wir sehen, dass jede absolute
Verringerung des variablen Kapitals durch eine Abnahme des Arbeits-
werts des gesellschaftlichen Produktes begleitet wird. Der Mehrwert
wird kleiner und kleiner. Die Mehrwertsrate (welche aus dem Ver-
hältnis des ungestrichenen zum schwarzen Segment erkannt werden
kann) steigt dagegen fortwährend. Das Verhältnis aber dieses unge-
strichenen Segments zu den beiden anderen Segmenten in ihrer
Summe (dies Verhältnis bezeichnet die Profitrate) bleibt unverändert
und ist immer = 50 %. Die Profitrate bleibt also unverändert.
Gehen wir nun weiter. Ricardo glaubte, dass die Höhe des
Profits allein durch die Höhe des Arbeitslohns (wie einer Quote des
Wertes des Arbeitsproduktes) bestimmt wird. — Je höher der Arbeits-
lohn ist (der Anteil der Arbeiter am Produkte), desto geringer ist der
Profit. Die Unhaltbarkeit dieser Auffassung geht aus unserer Ana-
lyse klar hervor. Der Anteil der Kapitalisten und die Profit-
rate können gleichzeitig mit dem Anteil der Arbeiter wach-
sen. Dazu ist bloss eine relative Abnahme der Quote der Produk-
tionsmittel (z. B. durch eine Herabsetzung des Wertes dieser letzteren)
am gesellschaftlichen Produkte erforderlich.
Also, jede Verwohlfeilerung der Arbeitsmittel oder Rohstoffe
übt auf die Profitrate dieselbe Wirkung, wie das Sinken der Arbeits-
löhne aus. Eine Verbesserung der Methoden des Eisengiessens ver-
ringert die Menge der Produktivkräfte der Gesellschaft, welche zur
Herstellung einer bestimmten Menge Eisens verwendet werden müssen.
Eine bestimmte Menge von gesellschaftlichen Produktivkräften wird
— 224 —
freigesetzt. Diese freigesetzten Produktivkräfte können zur Erzeugung
der Konsumtionsmittel der Kapitalisten oder der Arbeiter benutzt
werden. Wer sich dieses neue Produkt aneignen wird — die Kapitalisten
oder die Arbeiter — , das hängt von der socialen Macht jeder Klasse ab.
Sind die Kapitalisten stärker, so wird dieses neue Produkt von ihnen
angeeignet, und ihr Profit wird wachsen nicht wegen des Sinkens des
Arbeitslohns, sondern wegen Verwohlfeilerung der Produktionsmittel.
Daher sind theoretisch folgende Kombinationen des Arbeitslohns
(als einer Quote des Wertes des Produktes) mit der Profitrate mög-
lich: hoher Arbeitslohn und niedrige Profitrate, hoher Arbeitslohn und
hohe Profitrate, niedriger Lohn und hohe Profitrate, niedriger Lohn
und niedrige Profitrate.
Das Fehlen eines notwendigen Antagonismus zwischen dem
Arbeitslohn und dem Profit ist sonderbarerweise durch keinen an-
deren als durch Marx selbst bewiesen. So lesen wir im III. Bande
des „Kapitals" folgendes. „Finden Variationen (im konstanten Kapi-
tal) statt, sei es infolge von Oekonomie des konstanten Kapitals, sei
es infolge von Preisschwankungen des Rohstoffes, so afficieren sie
stets die Profitrate, auch wenn sie den Arbeitslohn, also die Rate
und Masse des Mehrwerts, ganz unberührt lassen .... Es ist also
ganz gleichgültig — im Unterschiede von dem, was sich bei der
Betrachtung des Mehrwerts zeigte — in w^elchen Produktionssphären
diese Variationen vorgehen; ob die von ihnen berührten Industrie-
zweige Lebensmittel für die Arbeiter produzieren oder nicht.
Das hier Entwickelte gilt ebensowohl, wo die Variationen sich in Luxus-
Produktionen ereignen . . . Da die Protitrate -^ oder = — -j- — so
ist klar, dass alles, was einen Wechsel in der Grösse von с und des-
wegen von С verursacht, ebenfalls einen Wechsel in der Profitrate
hervorbringt, auch wenn m und v und ihr gegenseitiges Verhältnis
unverändert bleiben . . . Der bisher noch durchaus mangelhaften Ein-
sicht in die Natur der Profitrate und in ihre spezifische Verschieden-
heit von der Rate des Mehrwerts ist es zuzuschreiben, wenn einerseits
Oekonomen, die den durch praktische Erfahrung festgestellten be-
deutenden Einfluss der Preise des Rohstoffs auf die Profitrate hervor-
heben, dies theoretisch ganz falsch erklären (Torrens), während anderer-
seits an den allgemeinen Principien festhaltende Oekonomen, wie
Ricardo, den Einfluss z. B. des Welthandels auf die Profitrate ver-
kennen ^)."
I) Das Kapital, III. Bd., I. Teil, S. 81—83.
I
^^л
Wie es scheint, hat Marx selbst die Tragweite seiner bezüg-
lichen Anschauung nicht verstanden. Am Beispiele der RohstofF-
verbilHgung hat Marx eingesehen, dass in Bezug der Einwirkung
auf die Profitrate das konstante Kapital sich vorn variablen in
keiner Hinsicht unterscheidet. Eine tiefere Analyse hätte aber Marx
zeigen müssen , dass es auch in anderer Hinsicht, was die Profitrate
betrifft, keinen Unterschied zwischen variablem und konstantem Kapital
giebt. Die Produktionsmittel spielen im Produktionsprozess sowie
in der Bildung der Profitrate gerade dieselbe Rolle wie die Arbeiter.
Die Maschinen sind unter den modernen Wirtschaftsbedingungen
durchaus den Arbeitern äquivalent: sie schaffen wie die Arbeiter
Gebrauchswerte und wirken in gleichem Masse auf die Profitrate ein.
Woher stammt also das Einkommen, welches nicht auf der
Arbeit der betreffenden Person, sondern lediglich auf dem Eigentum
beruht — die Rente nach der treffenden Terminologie von Rodbertus?
Dies Problem hat bei Rodbertus eine im ganzen befriedigende
Lösung erhalten. „Die Rente" — lesen wir in seinen Briefen an Kirch-
mann — „beruht auf zwei unumgänglichen Vorbedingungen. Erstens:
Es kann keine Rente geben, wenn nicht die Arbeit mehr hervorbringt,
als wenigstens zur Fortsetzung der Arbeit für die Arbeiter erforder-
lich ist — denn es ist unmöglich, dass, ohne ein solches Plus, jemand
ohne selbst zu arbeiten, regelmässig ein Einkommen beziehen könnte.
Zweitens: Es kann keine Rente geben, wenn nicht Einrichtungen be-
stehen, die dieses Plus ganz oder zum Teil den Arbeitern entziehen
und anderen, die nicht selbst arbeiten, zuwenden — denn die Arbeiter
sind durch die Natur selbst immer zunächst im Besitze ihres Pro-
duktes. Dass die Arbeit ein solches Plus giebt, beruht auf wirtschaft-
lichen Gründen, solchen, welche die Produktivität der Arbeit erhöhen.
Dass dieses Plus ganz oder zum Teil den Arbeitern entzogen und
anderen zugewandt wird, beruht auf Gründen des positiven Rechts,
das sich von jeher mit der Gewalt koaliert hat, so auch nur durch
fortgesetzten Zwang diese Entziehung durchsetzt ^)."
Diese Lösung können wir, auf Grund unserer Analyse, mit nur
kleiner Modifikation acceptieren. Namentlich ungenau ist es, das
Mehrprodukt als ein ausschliessliches Produkt der Arbeit zu bezeichnen.
Das Mehrprodukt als ein Gebrauchswert ist gewiss ganz ebenso die
Schöpfung der Natur und des Kapitals wie der lebendigen Arbeit.
Der Arbeitswert des Mehrproduktes wird selbstverständlich nur durch
i) Zur Beleuchtung der Sozialen Frage, 1875, S. 33.
Tugan-Baianowsky , Die Handelskrisen. 15
die Arbeit bestimmt Aber der Mehrwert in diesem Sinne hat, wie
wir gesehen haben , keine reale Bedeutung in der Bestimmung
der Profitrate; der Kapitahst kümmert sich über diesen Mehrwert
gar nicht.
Die von uns entwickelte Profittheorie stimmt ebenso gut mit
der Arbeitswerttheorie wie mit der Grenznutzentheorie überein. Sie
ist von jegHcher Werttheorie unabhängig. In unserer Analyse sind wir
von der Arbeitswerttheorie ausgegangen; trotzdem sind wir zum Er-
gebnis gelangt, dass die lebendige Arbeit im Prozesse der Profit-
bildung ganz dieselbe Rolle spielt wie die vorgethane Arbeit, die
Produktionsmittel. Dies Ergebnis steht mit der Grenznutzentheorie in
voller Uebereinstimmung. Wir haben also die Profittheorie von jeg-
lichem Zusammenhang mit der Werttheorie befreit.
Damit haben wir die Richtig'keit eines der wichtigsten von
Ricardo formulierten methodologischen Grundsätze der politischen
Oekonomie bewiesen. Dieser Grundsatz ist von Ricardo in einem
seiner Briefe an Mac Culloch ausgesprochen und lautet folgender-
massen: „Am Ende müssen alle grossen Fragen über Grund-
rente, Arbeitslohn und Profit durch die Proportionen er-
klärt werden, in welchen das gesamte Produkt zwischen
Grundbesitzern, Kapitalisten und Arbeiter verteilt wird
und welche in keinem notwendigen Zusammenhang mit
der Lehre vom Werte stehen i)."
Und doch steht unsere Profittheorie auf derselben sociologischen
Grundlage wie die Marxsche Theorie. In dieser Hinsicht unter-
scheidet sich unsere Theorie von derMarxschen nur im folgenden: Fast
alle Profittheorien — die Marxsche inbegriffen — enthalten ein
ethisches Moment, bestimmte rechtliche Forderungen. Diese Theorien
rechtfertigen den Profit, beweisen seine wirtschaftliche Notwendigkeit
oder leugnen eine solche. Von solchen offenbar ethischen Theorien wie
der Abstinenztheorie von Senior ganz zu schweigen, behalten alle
Theorien der Produktivität des Kapitals sowie die Kapitalzinstheorie
von Böhm-Bawerk einen mehr oder weniger ethischen Charakter.
Alle diese Theorien sollen den Beweis liefern, dass der Profit und der
Kapitalzins notwendige ökonomische Kategorien sind, die sich im
Wesen der menschlichen Wirtschaft überhaupt, nicht aber in historischen
I ) „After all the great questions of Rent, Wages and Profits must be explained by
the proportions in which the whole produce is divided between landlords, capitalists and
jabourers, and which are not cssentialy connected with the doctrine of value." Letters of
David Ricardo to John Ramsay Mac Culloch, New York, 1895, S. 72.
— о r>
221 —
Bedingiingen der letzteren, begründen. Daraus folgt natürlich eine
Anerkennung der Rechtmässigkeit des Zinses. Die Unhaltbarkeit
solcher Theorien ist aber handgreiflich. Zwar ist die Produktivität
des Kapitals, in Bezug auf die Schaffung der Gebrauchswerte, eben-
so unbestreitbar Avie die Produktivität der Arbeit. Dank der An-
wendung der Arbeitsinstrumente und besonders der Maschinen nimmt
die Menge der erzeugten Produkte kolossal zu. Wird aber die Profit-
rate allein durch die Produktivität des Kapitals bestimmt? Gewiss nicht.
Die Produktivität eines mechanischen Webstuhls ist in Petersburg wie
in London dieselbe — und doch ist die Profitrate des Londoner
Fabrikanten viel niedriger. Die Zunahme des Arbeitslohns ver-
ringert ceteris paribus die Profitrate — obschon die Produktivität der
Maschinen dadurch keine Veränderung erfährt. Es ist handgreiflich,
dass , falls der Arbeitslohn das gesamte Mehrprodukt ausmachte,
kein Profit entstehen könnte, wie hoch die Produktivität des
Kapitals auch sein mag. Man kann aber keine bestimmte
Grenze der Steigerung des Arbeitslohnes feststellen. Die tägHche
Erfahrung zeigt, dass die Profitrate bedeutende Schwankungen
erfährt, ganz unabhängig von den technischen Bedingungen des
Produktionsprozesses. Der Profit ist ein soziales Phänomen, welches
nicht auf rein technische Momente zurückgeführt werden kann.
Aehnliche Betrachtungen beweisen die Unhaltbarkeit der Kapital-
zinstheorie von Böhm-Bawerk. Allen solchen Theorien liegt ein
fundamentaler Fehler zu Grunde: die Verwechslung des Kapitals,
als eines Produktionsfaktors, mit dem Kapitalisten — dem Be-
sitzer dieses Produktionsfaktors, die \"erwechslung der Kategorien
der Technik mit den Kategorien der sozialen Ordnung. Der Profit
ist eine Kategorie der Verteilung, also eine Kategorie der sozialen
Ordnung, und darum muss jeder Versuch, den Profit und Kapital-
zins ausserhalb des sozialen Gebietes zu begründen, notwendigerweise
misslingen.
Aber die Marx sehe Mehrwerttheorie enthält gleichfalls ein
ethisches Moment, wenn auch eins anderer Art. Nach dieser
Theorie entsteht der Profit aus der unbezahlten Arbeit. Eine solche
Auffassung beruht offenbar auf der nicht ausgesprochenen Annahme,
dass nur der Arbeiter das Recht auf das hergestellte Produkt habe.
Als Gebrauchswert, als materielles Ding, ist das erzeugte Gut das
Produkt nicht bloss der Arbeit, sondern auch anderer Produktions-
faktoren. Als Arbeitswert ist freilich das Produkt die alleinige Schöpfung
der Arbeit. Unsere Analyse hat uns aber gezeigt, dass die Höhe des
Profits (seinem Preise und seiner Rate nach) in keiner notw^endigen
15*
— 228 —
Beziehung zum Arbeitswerte steht. Die Betrachtung des Phänomens
des Profits vom Standpunkte der Arbeitswerttheorie kann also nur den
einen Sinn haben — das Recht des Arbeiters auf den vollen Arbeits-
ertrag ökonomisch zu begründen. Wir können dieses Recht aner-
kennen * oder nicht — das eine steht fest : kein Recht lässt eine
durchaus objektive Begründung zu. Seinem Wesen nach enthält
das Recht ein Moment des Sollens, des Zwecks — Momente sub-
jektiver Natur.
Werner Sombart äussert in einem seiner geistreichen Artikel
über die Marxsche Theorie, dass der Marxismus ein vollkommen ob-
jektives, antiethisches System sei. Leider ist das nicht richtig. Marx
strebte allerdings zu einer solchen ganz objektiven Konstruktion —
sie ist ihm aber nicht gelungen. Die Mehrwerttheorie von Marx
enthält ebensoviel Ethik, wie die Theorien der Produktivität des Kapi-
tals. Ganz objektiv betrachtet, entsteht der Profit weder aus der unbe-
zahlten Arbeit noch aus dem durch das Kapital erzeugten Wertzu-
wachs. Der Profit ist die Quote der Kapitalisten am gesellschaft-
lichen Produkte — und die Grösse dieser Quote wird durch den Klassen-
kampf, also nicht durch das Recht, sondern durch die Macht bestimmt.
Wenn man aber die Marxsche Profittheorie von ihrer Grund-
lage — der Arbeitswerttheorie — befreit (was auszuführen wir ver-
sucht haben), so erhält man eine neue Profittheorie, welche in der
That ganz objektiv ist und kein ethisches Moment enthält i). Wird
durch diese Theorie der Profit gerechtfertigt oder dessen Unrecht-
mässigkeit bewiesen? Weder das eine, noch das andere. Sie beschränkt
sich nur auf die Erklärung der sozialen Thatsachen , zeigt ihre
objektiven Gründe. Wem soll das Mehrprodukt gehören — den
Arbeitern oder den Kapitalisten ? — darauf giebt die objektive Theorie
des Profits gar keine Antwort. Sie leugnet die Wichtigkeit dieser
Frage nicht, sie erkennt sich aber zu ihrer Lösung inkompetent.
Das Gebiet des Sollens liegt ausserhalb der Kompetenz der objektiven
Wissenschaft, welche den ursächlichen Zusammenhang der Erschei-
nungen aufdeckt.
Diese Profittheorie bildet ein Ganzes mit der in dieser Schrift
entwickelten Theorie der Realisation des gesellschaftlichen Produktes.
Beide Theorien beruhen auf der Anerkennung, dass die kapita-
i) Nebenbei sei bemerkt, dass auch die Terminologie von Marx preiszugeben ist.
Man kann die Arbeitskraft nicht als variables Kapital und die Produktionsmittel als kon-
stantes Kapital bezeichnen, da beide Kapitalarten im Produktionsprozess und in der Schaffung
des Mehrproduktes dieselbe Rolle spielen. Die ganze Einteilung des Kapitals in variables
und konstantes ist zu verwerfen.
2 29 —
listische Wirtschaftsweise den Arbeiter und die Arbeits-
mittel gleich setzt. Die Arbeiter und die Arbeitsmittel sind vom
kapitalistischen Standpunkte vollkommen äquivalent. Darin besteht das
Wesen dieser Wirtschaftsweise. Der Kapitalismus verwandelt im wirt-
schaftlichen Verkehr den Menschen in ein einfaches Produktionsmittel,
behandelt den Menschen als ein Tier oder unbeseeltes Ding. Das gilt
ganz ebenso für die Schaffung des Profits wie für die Realisation des
hergestellten Produktes. Es wird gewöhnlich angenommen, dass die
gesellschaftliche Nachfrage durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft
bestimmt wird; wir haben aber nachzuweisen versucht, dass die durch
das Wachstum des Kapitals, durch den produktiven Verbrauch der Pro-
duktionsmittel geschaffene Nachfrage bis zu einem gewissen Grade
von der Konsumtion der Gesellschaft unabhängig ist. Die Produk-
tionsmittel erweisen sich also in dieser Hinsicht als den Menschen
gleich. Die Mehrwerttheorie von Marx behauptet ferner, dass in
Bezug auf die Entstehung des Profits ein fundamentaler Unterschied
zwischen den Menschen und den Produktionsmitteln bestehe: der
Profit ist nämlich die alleinige Schöpfung der aufgewandten mensch-
lichen Arbeit, während die Produktionsmittel dabei keine aktive
Rolle spielen. Unsere Analyse hat aber die Unhaltbarkeit der
Marx sehen Mehrwerttheorie gezeigt. Auch in Bezug auf die
Schaffung des Profits sind die Menschen und die Produktionsmittel
in der kapitalistischen Wirtschaft gleich.
Darin kommt der tiefste Widerspruch der kapitalistischen Wirt-
schaft und zugleich die Notwendigkeit ihrer weiteren Entwickelung
zum Ausdruck: obschon der Kapitalismus den Menschen bloss als
ein Mittel, als ein Ding betrachtet, bleibt der Mensch ein Selbst-
zweck für sich. Das Individuum protestiert gegen eine Wirtschafts-
ordnung, die den Zweck (den Menschen) in ein Mittel verwandelt
und das Mittel (die Produktion) in einen Zweck.
Wir können jetzt zur Marxschen Krisentheorie zurückgehen.
Unsere Analyse hat uns gezeigt, dass dieselbe an folgenden Mängeln
leidet:
i) das ihr zu Grunde liegende, mechanische „Gesetz des ten-
denziellen Falls der Profitrate" ist kein wirkliches Gesetz; die Be-
gründung dieses Gesetzes durch die Arbeitswerttheorie beruht bei
Marx auf logischen Fehlern. Richtig verstanden, beweist die Arbeits-
werttheorie im Gegenteil die Unhaltbarkeit dieses Gesetzes;
2) Alle Betrachtungen Marx' über die „Entfaltung der inneren
Widersprüche des Gesetzes" fallen damit weg. Die absolute Ueberpro-
duktion von Kapital, welche Marx annimmt, hat keine reale Bedeutung;
— ^Зо —
З) Die von Marx bezeichneten Schranken der kapitalistischen
Produktion existieren in der Wirklichkeit gleichfalls nicht.
Damit kommen wir zur höchst wichtigen Frage über die
Bedingungen der weiteren Entwickelung der kapitalistischen Wirt-
schaftsordnung. Marx war der Ansicht, dass auf einer gewissen
Stufe der Entwickelung angelangt die kapitalistische Gesellschaft nicht
mehr bestehen kann. Ihre Umgestaltung in die sozialistische Gesellschaft
wird dann ökonomisch notwendig sein; wir können die Umgestaltung
als einen Zusammenbruch oder nicht bezeichnen (Kautsky protestiert
neuerdings energisch gegen die Behauptung Bernsteins, dass Marx
auf dem Boden der sogenannten „Zusammenbruchstheorie" gestanden ist),
eines bleibt aber unbestreitbar — nämlich, dass nach der Auffassung
von Marx wie der meisten Marxisten die Entwickelung der kapita-
listischen Produktionsweise früher oder später die Bedingungen schaffen
muss, unter welchen die Realisation des Mehrwertes ökonomisch un-
möglich wird. Marx hat auf zwei von diesen Bedingungen hinge-
wiesen — nämlich i) auf das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profit-
rate" und 2) auf die Schwierigkeit der Realisation des gesellschaftlichen
Produktes unter den kapitalistischen Verteilungsverhältnissen, welche
eine Unterkonsumtion hervorrufen. Das zweite Moment spielt in den
Schriften vieler Marxisten eine besonders grosse Rolle. So lesen wir
z. B. im neuesten interessanten und scharfsinnigen Buche Kautskys
„Bernstein und das sozialdemokratische Programm" folgendes:
„Es ist klar, die kapitalistische Produktionsweise wird von dem
historischen Moment an zur Unmöglichkeit, in dem es sich heraus-
stellt, dass der Markt nicht mehr in demselben Tempo sich aus-
dehnen kann wie die Produktion ; d. h. sobald die Ueberproduk-
tion chronisch wird. Bernstein versteht unter historischer Notwen-
digkeit nur eine Zwangslage. Hier haben wir eine solche, die, wenn
sie eintritt, unvermeidlich den Socialismus erzwingt. Zu einem solchen
Zustand muss es aber kommen, wenn die ökonomische Entwickelung
in derselben Weise wie bisher vor sich geht; denn der äussere, wie
der innere, Markt hat seine Grenzen; indessen ist die Ausdehnung
der Produktion praktisch grenzenlos Die unheilbar chronische
Ueberproduktion, sie bedeutet die letzte Grenze, bis zu der das kapi-
talistische Regime sich überhaupt behaupten kann .... Der Hinweis
auf die clironische Ueberproduktion ist nicht gleichbedeutend mit der
Prophezeiung der grossen Weltkrisis Seine Bedeutung besteht
darin, dass er durch Festsetzung einer äussersten Grenze der Lebens-
fähigkeit der heutigen Gesellschaft den Socialismus aus jenem nebel-
haften Bereich, in das ihn heute so viele Socialisten verweisen, uns
— 231 —
näher rückt, so dass dieses aus einem Ziel, das vielleicht nach fünf-
hundert Jaliren verwirklicht werden dürfte — vielleicht auch nicht —
ein absehbares und notwendiges Ziel praktischer Politik wird''^).
Wir glauben aber nicht an eine „Erzwingung" des Socialismus.
Wir erkennen die ökonomische Notwendigkeit der Verwandlung
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in eine socialistische voll-
kommen an. Diese Notwendigkeit kann aber keinesfalls den Cha-
rakter einer Zwangslage annehmen. Nach unserer Auffassung beruht
die ökonomische Notwendigkeit des Socialismus auf der Unfähigkeit
des Kapitalismus, die gesammten gesellschaftlichen Produktivkräfte
auszunutzen, — darauf, dass, auf einer gewissen Stufe der Entwicke-
lung angelangt, die kapitalistische Produktionsweise die Entfaltung
der Produktivkräfte der Gemeinschaft hemmt, ^tatt sie zu fördern.
Der Sozialismus wird also auf dieser Entwickelungsstufe, ganz öko-
nomisch betrachtet, eine höhere Wirtschaftsordnung darstellen als
der Kapitalismus. Trotzdem aber wird auch in diesem Falle die ka-
pitalistische Wirtschaft nicht unmöglich, sondern weniger pro-
gressiv, die Entwickelung der gesellschaftlichen Produktivkräfte
weniger fördernd als die sozialistische.
Wir brauchen die bezüghche Auffassung von Kautsky keiner
Kritik zu unterwerfen. Unsere Analyse der Bedingungen der Rea-
lisation des gesellschaftlichen Produktes hat uns die Unhaltbarkeit
aller solcher Auffassungen nachgewiesen. Ist, wie Kautsky annimmt,
die Ausdehnung der Produktion praktisch grenzenlos, so müssen wir
die Ausdehnung des Marktes als ebenso grenzenlos annehmen, denn es
giebt bei der proportionellen Einteilung der gesellschaft-
lichen Produktion für die Ausdehnung des Marktes keine
andere Schranke ausser den Produktivkräften, über welche
die Gesellschaft verfügt.
Als Schlussergebnis unserer Kritik der im III. Bande des „Ka-
pitals" entwickelten Krisentheorie von Marx erweist sich also, dass
die im II. Bande des „Kapitals" gegebene glänzende Analyse der Re-
produktion des gesellschaftlichen Kapitals von Marx unvervл^ertet ge-
blieben ist.
i) Bernstein und das sozialdemokratische Programm, S. 142, 145.
KAPITEL VIII.
Der industrielle Cyclus und die Ursachen der
Periodicität der Krisen.
Allgemeiner Charakter dieser Periodicität. — Der industrielle Cyklus. — Die Regel-
mässigkeit der Schwankungen der Eisenpreise. — Die periodische Schaffung neuen stehenden
Kapitals. — Der Bau von Eisenbahnen. — Die Spekulationen mit unbeweglichem Eigentum.
— Die Theorie von Henry George. — Die ununterbrochene Akkumulation vom freien
Leihkapital. — Unterschied zwischen der Akkumulation vom Leihkapital und Akkumulation
vom produktiven Kapital. — Die Krisen und der niedrige Zinsfuss. — Die Unmöglichkeit
einer ununterbrochenen Verwandlung des Leihkapitals in produktives Kapital. — Die Börsen-
krisen. — Der Kreditcyklus. — Ursachen der Phasen des industriellen Cyklus. — Der
Aussenhandel.
Die Geschichte der englischen Krisen hat uns die Periodicität
von Flut und Ebbe der kapitalistischen Industrie nachgewiesen.
Zwar ist diese Periodizität keine mathematische Periodicität: der indu-
strielle Cyklus kann sich ausdehnen und zusammenziehen je nach den
konkreten Wirtschaftsbedingungen des g*egebenen historischen Mo-
mentes. Daher ist von vornherein die Unhaltbarkeit aller Versuche
klar, die Wiederkehr der Krisen als etwas einem mathematischen
Gesetze Unterworfenes zu betrachten. Einen solchen Versuch bildet
z. B. die Jevonssche Theorie des Zusammenhanges der Krisen mit
dem Erscheinen der Sonnenflecke. Sie wird schon durch die Chro-
nologie der Krisen widerlegt. Zwar haben während einiger Jahrzehnte
die Krisen ungefähr in den gleichen Zwischenräumen stattgefunden:
die Krisenjahre — 1825, 1836, 1847 — sind von einander durch
Intervalle von je elf Jahren getrennt. Dennoch fand die folgende
Krise nach 1.0 Jahren, im Jahre 1857 statt, die nächste nach
9 Jahren, im Jahre 1866. Die Geschäftsstockung der 70er Jahre hat
im Jahre 1873 angefangen und im Jahre 1879 geendigt; die der
80er Jahre im Jahre 1882 angefangen und im Jahre 1887 geendigt,
die der 90er Jahre im Jahre 1891 angefangen und im Jahre 1895
geendigt. Es scheint, als ob der industrielle Cyklus sich in der
neuesten Zeit zusammengezogen hat. Die Intervalle zwischen den Kul-
— 233 —
minationsjahren der Geschäftsstockung (1878 — 79, 1886 — 87, 1894 — 95)
übertreffen nicht 8 — 9 Jahre. Die Jahre des grössten Aufschwunges
— 1873, 1882, 1890 — sind von einander durch ungefähr ähnliche
Intervalle getrennt. Augenblicklich aber sind seit dem Baringschen
Krach ungefähr zehn Jahre verflossen , die Krisis ist dennoch
immer noch nicht eingetreten. Man darf die Geschäftsstockung
in der nächsten Zukunft erwarten — wahrscheinlich von dem Herbste
dieses Jahres an. In Russland dauert die Geschäftsstockung schon
beinahe ein Jahr — seit dem Petersburger Börsenkrach Anfang
Oktober 1899. Wir stehen zweifelsohne am Vorabend einer neuen
andauernden Periode der Depression, welche die ganze kapitalistische
Welt umfassen wird. Allerdings hat sich der industrielle Cyklus
wieder ausgedehnt, — denn, w^äre die Reaktion nach demselben Zeit-
raum wie im Jahre 1890 eingetreten, so hätte die Geschäftsstockung
bereits im Jahre 1898 erfolgen müssen. Heute müssen wir dennoch
die allgemeine Geschäftsstockung erst seit dem Jahre 1900 erwarten.
Die kapitalistische Entwickelung ist periodisch in dem Sinne,
dass sie sich aus aufeinanderfolgenden Epochen des Aufschwungs
und des Niedergangs, der Blüte und der Depression zusammensetzt,
dass ihre Laufbahn einen Cyklus bildet. Der industrielle Cyklus
umfasst ungefähr (aber nur ungefähr) ein Jahrzehnt. Nach der so
oft angeführten Schilderung von Samuel Loyd haben wir jedes Jahr-
zehnt „einen Zustand geschäftlicher Ruhe, dann einer Verbesserung,
wachsenden Vertrauens, Blüte, Aufregung, Ueberspekulation, Kon-
vulsionen, Klemme, Geschäftsstockung, Elends — ■ und dann wieder
geschäftlicher Ruhe." Diesen industriellen Cyklus können wir als ein
der kapitalistischen Entwickelung innewohnendes Gesetz betrachten.
Der industrielle Cyklus umfasst, wie die Geschichte der englischen
Krisen zeigt, eine Periode von 8— 11 Jahren.
Wodurch wird nun diese Periodicität der Krisen hervorgerufen?
Nach unserer Schilderung entspringen die Krisen der beiden Wider-
sprüche der kapitalistischen Produktionsweise: i) davon, dass die Pro-
duktionsmittel Personen angehören, die an der Produktion nicht teil-
nehmen, während sie den unmittelbaren Produzenten fehlen und 2) der
Planlosigkeit der gesellschaftlichen Produktion, während die Produktion
in den einzelnen Betrieben organisiert ist. Diese Widersprüche müssen
die kapitalistische Wirtschaft zu Krisen führen ; woher wiederholen
sich aber solche periodisch? Das ist noch zu erklären. Die Ge-
schichte der Krisen in dem Lande, wo der industrielle Cyklus am
deutlichsten und mit dem grössten Relief zum Ausdruck kommt —
— 234 —
in England — wird uns die Möglichkeit geben, auf induktivem Wege
die Ursachen dieser Periodicität festzustellen.
Es ist leicht einzusehen, dass die Aufeinanderfolge der Perioden
des Aufschwungs in einem gewissen Zusammenhange mit der
Schaffung neuen stehenden Kapitals der Gesellschaft steht. Die Jahre
des Aufschwunges sind immer durch eine solche Schaffung gekenn-
zeichnet.
Bei der Betrachtung der Geschichte der Krisen haben wir be-
merkt, dass die Preise des Eisens mit grösster Regelmässigkeit
schwanken; während jeder Periode des Aufschwunges sind die Eisen-
preise hoch, und umgekehrt, jede Geschäftsstockung wird mit den
niedrigen Eisenpreisen begleitet. Kein einziges Mal haben wir be-
merkt, dass die Eisenpreise vor dem Eintritt einer Handelskrisis
niedrig oder nach derselben hoch gewesen wären. Dasselbe gilt aber
durchaus nicht für alle Warenpreise. So schwanken z. B. die Ge-
treidepreise nicht entfernt so regelmässig. Man kann gar nicht sagen,
welcher Stand der Getreidepreise — hohe oder niedrige Preise —
einer bestimmten Phase des industriellen Cyklus entspricht. So waren
z. B. zur Zeit des Aufschwunges der Jahre 1823 — 25 die Getreide-
preise hoch, zur Zeit des Aufschwunges der 30er Jahre (1833 — 36)
sind sie aber sehr niedrig gewesen. Die Krisis von 1847 hat in
einem schlechten, die von 1857 a,ber in einem guten Erntejahre statt-
gefunden. Die Krisis von 1866 ist nach niedrigen Getreidepreisen einge-
treten, dagegen die Geschäftsstockung von 1867— -69 wurde von
hohen Getreidepreisen begleitet. Anfang der 70er Jahre waren die
Getreidepreise hoch — das hat jedoch nicht gehindert, dass die eng-
lische Industrie eine noch nicht dagewesene IMüte erreichte. Nach
dem Jahre 1873 sinken die Preise des Getreides mit geringen
Schwankungen einige Jahre hindurch, was die Geschäftsstockung
nicht aufhält. Die Epochen des Aufschwunges Anfang und Ende
der 80er Jahre sowie die Depressionen Mitte der 80er und der 90er
Jahre standen mit den Getreidepreisen in keinem Zusammenhang.
Hingegen bilden die Eisenpreise das sicherste und unfehlbarste Baro-
meter für die allgemeine Stimmung des Warenmarktes und den Zu-
stand der Industrie. Der industrielle Cyklus spiegelt sich vollkommen
in der Bewegung der Eisenpreise: mit dem Aufschwung steigen auch
die Preise des Eisens, die Krisis und die Depression kommen in
einem Sinken dieser Preise zum Ausdruck.
Diese auffallende Abhängigkeit ist damit zu erklären, dass das
Eisen das wichtigste Material ist, aus dem Maschinen, Instrumente,
Schienen, Schiffe und überhaupt Produktions- und Transportmittel ge-
— ^35 —
macht werden. Aus der Nachfrage nach Eisen und aus den Prei-
sen des Eisens kann man die Menge des stehenden Kapitals, welches
neu geschaffen wird, beurteilen. Sind die Preise des Eisens hoch,
so werden viele neue Fabriken, Eisenbahnen, Schiffe u. s. w. gebaut,
sind sie niedrig, so hat sich die Produktion des stehenden Kapitals
verlangsamt.
Ein am meisten charakteristischer Zug der neuesten Krisen ist
ihr enger Zusammenhang mit den Eisenbahnbauten, „Man kann
sagen" — bemerkt treffend Nasse — „dass in den meisten Teilen der
civilisierten Welt das bestehende Eisenbahnnetz stossweise zu stände
gekommen ist, nicht in stetigem planmässigem Ausbau, sondern in
periodisch excessiv erregter und dann wieder stagnierender Thätig-
keit^)". Insbesondere ist dieser Zusammenhang in den Vereinigten
Staaten zu konstatieren. Allen amerikanischen Krisen der letzten
Jahrzehnte ist eine ausserordentlich energische Ausdehnung des Eisen-
bahnnetzes vorangegangen. Dasselbe gilt auch für die letzten Krisen
in Argentinien und Australien.
In England ist der Zusammenhang der Krisen mit den Eisen-
bahnbauten kein so unmittelbarer. Allerdings kann er für zwei Kri-
sen — für die von 1847 und in geringerem Masse für die von 1836
leicht festgestellt werden. Die späteren Krisen sind aber ohne Zweifel
nicht durch Eisenbahnbauten in England selbst hervorgerufen worden.
Das ist übrigens ganz begreiflich. England ist seinem Areal nach
ein so kleines Land, dass sein Bedürfnis nach Eisenbahnen sehr bald
gesättigt werden konnte. Б'иг eine fernere Erweiterung des Eisen-
bahnnetzes war sozusagen kein Raum vorhanden. Dadurch wurde
der Zusammenhang der englischen Krisen mit den Eisenbahnbauten
komplizierter, keinesfalls aber ist ein solcher aufgehoben worden.
Wir können aus der Geschichte der englischen Krisen ersehen,
welch eine bedeutende Rolle als Krisenursache der Abfluss eng-
lischer Kapitalien nach dem Auslande spielt. In den Ländern aber,
nach denen die englischen Kapitalien strömen, werden diese vornehm-
lich in Eisenbahnbauten angelegt; auf diese Weise werden die eng-
lischen Krisen, wenn auch indirekt, gleichfalls durch periodische Er-
weiterungen des Eisenbahnnetzes der gesamten Welt hervorgerufen.
Einen anderen charakteristischen Zug vieler Krisen bilden die
Spekulationen mit unbeweglichem Eigentum und insbesondere mit
städtischen Grundstücken. In den Vereinigten Staaten geht den
Krisen fast immer eine ausserordentliche Erweiterung der Ankäufe
i) E. Nasse, Die Verhütung der Produktionskrisen durch staatUche Fürsorge. Jahr-
buch für Gesetzgebung im Deutschen Reich, Bd. Ш, S. 153.
— 23б —
von Staatsländereien und eine daraus resultierende höchst bedeutende
Erhöhung der Preise des Grund und Bodens voran; diese Eigentüm-
Hchkeit der amerikanischen Krisen ist so auffallend, dass Henry
George sie seiner Krisentheorie zu Grunde gelegt hat. „Die Haupt-
ursache der periodischen Geschäftsstockungen — lesen wir in seinem
Buche „Progress and Poverty" — denen, wie es scheint, alle civilisierten
Länder in steigendem Grade ausgesetzt werden, besteht in einem
durch die Spekulation hervorgerufenen Steigen der Bodenpreise, was
eine Abnahme des Ertrages von Arbeit und Kapital sowie eine Ein-
stellung der Produktion zur Folge hat"^). Diese Behauptung enthält
eine bedeutende Uebertreibung. Das periodische Steigen der Boden-
preise als Hauptursache der Krisen betrachten , heisst die Sache
zu einfach nehmen. Die Landspekulationen während der Perioden
des Aufschwunges sind höchst charakteristisch als Symptom einer
Ausdehnung des stehenden Kapitals der Gesellschaft, sie sind aber
mehr ein Symptom der Krankheit als ihre Ursache.
Die Spekulationen mit städtischen Grundstücken und der Bau-
schwindel erreichten z. B. einen ungeheuren Umfang in Wien am Vor-
abend des berühmten Kraches vom Mai 1873, in Berlin um dieselbe
Zeit, in Australien und Argentinien gegen das Ende der 80er Jahre
u, s. w. Allerdings spielen in England selbst die Spekulationen
dieser Art als krisenbeförderndes Moment keine grosse Rolle. Hier
müssen wir aber wieder daran erinnern, dass sich die englischen
Kapitalien an den Spekulationen fast aller anderer Länder beteiligen.
England ist das Herz der kapitalistischen Welt, und daher wirkt alles,
was irgendwo in der Weltwirtschaft vor sich geht, sofort auf Eng-
land zurück.
Uebrigens kann man wohl kaum bestreiten, dass in den Epochen
eines Aufschwunges eine Anlegung des gesellschaftlichen Kapitals
(das, was die Engländer „Investment*' nennen) vor sich geht. Den
einer Krisis vorangehenden Zustand der Volkswirtschaft kennzeichnet
man gewöhnlich — und das gilt für alle Krisenhistoriker von То оке
bis Hyndman — als Gründungsschwindel. In einer solchen Zeit
beeilen sich alle, ihre freien Mittel in irgend einer Unternehmung
anzulegen, und die gewandten Börsenleute benutzen diese Gelegen-
heit, um sich auf Kosten des zu vertrauensvollen Publikums zu be-
reichern.
Einer jeden Krisis geht unfehlbar der Gründungsschwindel
voran — die Gründung einer ungeheuren Anzahl von neuen Unter-
i) Henry George, Progress and Poverty. London 1885, S. 185.
— 237 —
nehmungen. Dieser Gründungsschwindel ist ja aber nichts anderes
als die Schaffung neuen stehenden Kapitals der Gesellschaft.
Eine annähernde Vorstellung über den Zusammenhang der
Krisen mit den Neugründungen kann man sich aus der folgenden
Statistik der jährlichen Emission von Börsenwerten (Renten, Obli-
gationen, Aktien u. s. w.) in England machen i).
Jahre
Millionen
Jahre
Millionen
Jahre
Millionen
Jahre
Millionen
Pfd. Sterl.
Pfd. Sterl.
Pfd. Sterl.
Pfd. Sterl.
1870
92,3
1879
56,5
1887
II 1,2
1895
104,7
1872
151,6
1880
122,2
1888
160,3
1896
152,7
1873
154,7
1881
189,4
1889
207,0
1897
157,3
1874
1 14,2
1882
145,6
1890
142,6
1898
150,3
1875
62,7
1883
81,2
1891
104,6
1899
133,2
1876
43,2
1884
109,0
1892
81,1
1877
51,5
1885
78,0
1893
49,1
1878
59,2
1886
101,9
1894
91,8
In dieser Tabelle haben wir die Jahre nach den Phasen des
industriellen Cyklus zusammengesetzt, so dass mit jeder neuen Spalte
ein neuer industrieller Cyklus beginnt. Es ist aus der Tabelle leicht
zu ersehen, dass die ersten Jahre des industriellen Cyklus stets durch
eine Vermehrung der Anlegung des nationalen Kapitals gekenn-
zeichnet werden ; die Neugründungen erreichen aber bereits in wenigen
Jahren ihren Höhepunkt. Dann folgt eine Verminderung der Neu-
gründungen, bis der folgende Cyklus wieder eine neue Erhöhung
bringt. Die Kapitalemissionen erreichen ihre Maxima in England
in den Jahren 1873, 1881, 1889, 1897; ihre Minima fallen auf die
Jahre 1876, 1885, 1893. Nebenbei sei bemerkt, dass eine Verminde-
rung der englischen Emissionen in den letzten zwei Jahren ein sicheres
Zeichen ist, dass der laufende industrielle Cyklus in seine ungünstige
Phase, die der Depression, übergeht. Die Depression folgt ge-
wöhnlich, wie dieselbe Tabelle zeigt, nicht unmittelbar auf das Maxi-
mum der Emissionen, sondern zwischen diesem Maximum und dem
Beginn der Geschäftsstockung können einige Jahre vergehen. Daher
müssen wir die Geschäftsstockung in diesem Jahre (1900) erwarten.
In den jährlichen Schwankungen der Zahl der neu gegrün-
deten Aktiengesellschaften, die früher bei der Darstellung der Ge-
schichte der Krisen von uns angeführt wurden , kommt der Zu-
sammenhang der Krisen mit der Gründerthätigkeit ebenso anschaulich
zum Ausdruck. Endlich zeigt die Arbeitslosenstatistik, die wir im
zweiten Teile dieses Buches behandeln werden , dass gerade die-
i) Nach den jährlichen Supplements des The Economist.
— 2з8 —
jenigen Produktionszweige die grössten periodischen Schwankungen er-
fahren, welche das stehende Kapital produzieren. In dieser Beziehung
höchst lehrreich ist die Aussage des Chefs der Sektion für Arbeitsstatistik
im englischen Handelsamt Llewellyn Smith's vor einer Parlaments-
kommission von 1895. „Die cyklischen Schwankungen — so hat
er ausgeführt — sind besonders stark in solchen Produktionszweigen,
wie Schiffbau, Maschinenbau und verwandte Industriezweige, welche
Walther Bagehot „die instrumentalen Industrien" („instrumental
trades") genannt hat. Der allgemeine Umfang der nationalen Pro-
duktion schwankt von Jahr zu Jahr nur wenig . . . aber auch diese
geringen Schwankungen genügen, um höchst bedeutende Erschütte-
rungen (violent oscillations) in den Produktionszweigen, die Produk-
tionsmittel herstellen, hervorzurufen" i).
Warum ist nun jede intensive Schaffung neuen stehenden Ka-
pitals von einem allgemeinen Aufschwung der Industrie und jede
Verminderung der Gründerthätigkeit von einer allgemeinen Geschäfts-
stockung begleitet? Die Ursache dieses Zusammenhanges liegt in
der Abhängigkeit aller Produktionszweige in der kapitalistischen Wirt-
schaft von einander.
Jeder Produktionsprozess schafft eine neue Nachfrage nach
anderen Waren. Aus nichts kann nichts produziert werden. Um neue
Waren erzeugen zu können, muss man Rohstoffe, Produktionsmittel,
Konsumtionsmittel der Arbeiter anschaffen. Die Erweiterung der Pro-
duktion in irgend einem Produktionszweig verstärkt also die Nachfrage
nach Waren, die durch andere Industrien hergestellt werden. Auf diese
Weise teilt sich der Anstoss zur Ausdehnung der Produktion von einem
Industriezweig dem anderen mit, und daher wirkt die Erweite-
rung der Produktion ansteckend und hat immer die Ten-
denz, die gesamte Volkswirtschaft zu erfassen. Aus diesem
Grunde wächst in den Perioden der Neuschaffung des stehenden Ka-
pitals die Nachfrage nach allen Waren.
Um eine Fabrik oder Eisenbahn zu bauen, muss man Baumate-
rial (Holz, Ziegelsteine, Eisen u. s. w.), Maschinen, Instrumente an-
schaffen , Arbeiter gegen Lohnzahlung dingen. Baumaterial wie
Maschinen und Konsumtionsmittel der Arbeiter fallen nicht vom
Himmel herunter, sondern werden von anderen Produktionszweigen
hergestellt. Also muss jede Verstärkung der Gründerthätigkeit die
Nachfrage nach den Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln der
I) Third Report from the Select Committee on Distress from Want of Employment,
1895, Aussage von Llewellyn Sm
— 239 —
Arbeiter steigern. Zugleich steigt aber die Nachfrage nach den Kon-
sumtionsmitteln der höheren Gesellschaftsklassen, da der allgemeine Auf-
schwung der Industrie die Einkommen der Unternehmer vermehrt.
wSo kommt allmählich die ganze nationale Industrie in Erregung
dank der Erzeugung neuen stehenden Kapitals — dem Bau neuer
Eisenbahnlinien, Fabriken, Häuser, Schiffe u. s. w. i).
Warum erfolgt aber die Erzeugung neuen stehenden Kapitals
nicht nach und nach, allmählich, sondern stossweise, mit gewaltigen
Sprüngen? Dies erklärt sich aus den Bedingungen der Kapitalakku-
mulation in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.
Oben w^urde schon darauf hingewiesen, dass man unter den
heutigen Wirtschaftsverhältnissen in jedem reichen kapitalistischen
Land freie Kapitalien, die an keinen Industriezweig gebunden sind, sich
rasch akkumulieren sieht. Solche Kapitalien erscheinen auf dem
Geldmarkte als freies Leihkapital. Sie bilden sich aus den kapitali-
sierten Teilen der Einkommen der verschiedensten Gesellschaftsklassen
sowie aus den freien Kassenvorräten, über die jeder beliebige
Unternehmer oder auch nur ein reicher Mann verfügt. Dank den
Banken — den Reservoiren für Aufnahme und Anlage dieses
freien Leihkapitals — kommt jedermann in die Lage, denjenigen
Teil seines Kassen Vorrats, dessen er nicht augenblicklich für die lau-
fenden Ausgaben bedarf (bei der Entwickelung des Checkverkehrs
sogar seinen gesamten Kassenvorrat) in Leihkapital zu verwandeln.
Dazu braucht er nur sein freies Geld in die Bank als Depositum
einzulegen. Aber den Hauptbestandteil des auf dem Markte vorhan-
denen freien Leihkapitals bilden nicht Kassenvorräte der Privatpersonen,
sondern kapitalisierte Einkommen, welche dort, wo sie entstanden sind,
aus diesem oder jenem Grunde nicht angelegt werden konnten. Die An-
häufung dieses Leihkapitals ist aber keineswegs mit dem Wachstum
des produktiven Kapitals zu verwechseln. „Nicht jede Vermehrung
des leihbaren Geldkapitals zeigt wirkliche Kapitalakkumulation oder
Erweiterung des Reproduktionsprozesses 2). Am klarsten tritt der
Unterschied zwischen dem produktiven und dem leihbaren Geldkapital
in den Staatsanleihen hervor. Der Staat nimmt eine bestimmte An-
leihe für unproduktive Zwecke auf; Kreditoren des Staates sind Ka-
pitalisten, die das geforderte Geldkapital vorstrecken. Nachdem diese
Summe vom Staate verausgabt wird, erfährt das Kapital der Staats-
kreditoren durchaus keine Einschränkung, obwohl das reale produk-
i) Vgl. Marx, Das Kapital, Bd. II, S. 287, 288.
2) Marx, Das Kapital, Ed. III, 2. Teil, S. 22.
— 240 —
tive Kapital des Landes im Falle einer unproduktiven Verausgabung
der erhaltenen Summen verschwindet. Der Besitzer eines vStaatswert-
papiers besitzt in Wirklichkeit das nackte Recht, einen bestimmten
Teil des Mehrproduktes des Landes für sich selbst zu nehmen.
„Die Akkumulation des Kapitals der Staatsschuld heisst weiter nichts
als Vermehrung einer Klasse von Staats gläubigem, die gewisse
Summen auf den Betrag der Steuern für sich vorwegzunehmen be-
rechtigt sind" (Marx). Das Wachstum der Staatsschuld weist keines-
falls auf das Wachstum des realen Kapitals des Landes hin, — trotz-
dem werden auf dem Geldmarkte die Staatspapiere ganz ebenso als
Kapital betrachtet wie die Obligationen oder Aktien einer industriellen
Unternehmung, die in der That ein reales Kapital repräsentieren.
Also ist die Akkumulation des Leihkapitals etwas vom realen
Wachstum der Produktion und des produktiven Kapitals ganz Ver-
schiedenes. Das leihbare Geldkapital kann nicht nur bei einer Er-
weiterung, sondern auch bei einer Stockung und Einschränkung der
Produktion akkumuliert werden. Und es kann nicht nur unter
solchen Umständen akkumuliert werden, sondern es wird da auch
thatsächlich akkumuliert.
In der kapitalistischen Gesellschaft giebt es eine ganz Reihe
von Einkommen, deren Grösse gar nicht oder nur sehr wenig von
dem Zustand der nationalen Produktion abhängt. Von allen Kategorien
des nationalen Einkommens schwankt der Unternehmergewinn von
Jahr zu Jahr, je nach dem Zustand des Handels und der Industrie, am
meisten, dann folgen die Einkommen der Arbeiter. Diese zwei Ein-
kommensarten steigen in günstigen Phasen des industriellen Cyklus
und sinken in ungünstigen. Aber andere lediglich auf Besitz be-
ruhende Einkommen sind viel unabhängiger von diesen Phasen. So
werden z. B. die Zinsen auf Staatsanleihen, auf Hypotheken, auf Obli-
gationen u. s. w. in den Jahren einer Geschäftsstockung in der Regel
ebenso pünktlich bezahlt wie in den Jahren eines Aufschwungs. Die
Grundrente kann sich in längeren Perioden stark verändern, so ist
z. B. die Grundrente in England in den letzten 20 Jahren bedeutend
gesunken. Die Phasen des industriellen Cyklus kommen aber in der
Grundrente fast gar nicht zum Ausdruck.
Die Einkommen dieser Art bilden insgesamt eine sehr bedeu-
tende Quote des nationalen Einkommens; auf Grund der Statistik der
nationalen Einkommensteuer in England kann man urteilen, dass
die Einkommen aus Grund und Boden, Häusern, Staatsanleihen, aus-
ländischen und kolonialen Anleihen insgesamt beinahe eine Hälfte
des gesamten besteuerten nationalen Einkommens Englands bilden.
— 241 —
Also in England — und dasselbe gilt für jedes andere kapitalisti-
sche Land — wird eine ganze Reihe von Einkommen von den Phasen
des industriellen Cyklus gar nicht oder nur sehr wenig beeinflusst. Es
giebt keinen Beweggrund für die Rentiers verschiedener Gattungen,
einen geringeren Teil ihres Einkommens während einer Geschäfts-
stockung als während eines Aufschwungs zu akkumulieren. Im Ge-
genteil, da zur Zeit einer Geschäftsstockung die Warenpreise und
damit auch die Kosten für den Lebensunterhalt sowie andere Aus-
gaben sinken, können die Ersparnisse der Rentiers, sowie alle derer,
die ein ständiges Einkommen beziehen (Militärs, Beamte, Pensionäre,
höhere Angestellte, verschiedene Professionelle u. s. w.), sich ver-
mehren. Dagegen müssen aber die Ersparnisse anderer Bevölkerungs-
schichten, besonders der Unternehmer und der Arbeiter, in ungün-
stigen Phasen des industriellen Cyklus sich stark vermindern. Aller-
dings muss die Akkumulation des leihbaren Geldkapitals gleichmässi-
ger gehen als dessen Verwandlung in produktives Kapital; das Leih-
kapital wird ununterbrochen akkumuliert, in ein produktives Kapital
verwandelt es sich aber stossweise.
Bei der Beschreibung der einzelnen Krisen haben wir mehr-
mals hingewiesen auf das bedeutende Wachstum der Reserven der
Banken unmittelbar nach der Beendigung einer Krisis, zur Zeit einer
Geschäftsstockung. Zur selben Zeit vermehren sich gleichfalls die
Depositen der Privatpersonen in den Banken. Das weist auf eine
Anhäufung des in der Industrie nicht angelegten freien Leihkapitals.
Der niedrige Diskontsatz, der stets auf die Liquidation einer Handels-
krisis folgt und sich während einer ganzen Reihe von Jahren hart-
näckig hält, zeugt von einem Ueberfluss an nicht angelegten Kapi-
talien. Ueberhaupt, wie die günstigen Phasen des industriellen Cyklus
sich durch eine verstärkte Anlegung von Kapitalien, durch eine Ver-
wandlung des freien Kapitals in gebundenes charakterisieren, so wird
die ungünstige Phase durch eine Akkumulation des freien, unge-
bundenen leihbaren Geldkapitals charakterisiert.
Das ist derart handgreiflich, dass viele Nationalökonomen (ins-
besondere J. St. Mill) als die unmittelbare Ursache der Krisen das
Sinken des Diskontsatzes betrachteten, das Spekulationen auf dem
Geldmarkte und den darauffolgenden Zusammenbruch hervorrufe ^).
i) Das Sinken der Profitrate spielt, wie oben hingewiesen, eine grosse Rolle auch in
der Krisentheorie von Marx. Die Ursachen dieses Sinkens werden aber von Marx anders
betrachtet als von Mill; übrigens haben die Krisentheorien von Mill luid Marx nichts
Gemeinsames.
Tugan-Baranowsky , Die Handelskrisen. \Q
— 242 —
„Die Krisen finden fast periodisch statt, weil der Profit die Ten-
denz hat zu sinken — führt J. St. Mill in seinen „Grundsätzen der poli-
tischen Oekonomie" aus. — Wenn ein paar Jahre ohne eine solche Krise
verflossen sind, sammelt sich zu dem bereits vorhandenen Kapital so
viel neues an, dass es unmöglich wird, dieses so anzulegen, dass es
den gewöhnlichen Profit abwerfe; die Kurse aller Staatspapiere
steigen sehr hoch, der Diskontsatz für Wechsel erster Klasse sinkt
bedeutend, und alle Geschäftsleute beklagen sich über das Ver-
schwinden der vorteilhaften Geschäfte . . . Da es fast unmöglich wird,
zu einem Profit zu kommen, ohne etwas zu riskieren, so werden die
Leute geneigt, alle Projekte aufzugreifen, die überhaupt eine Hoff-
nung auf einen höheren Profit gewähren, wenn sie auch mit dem
Risiko eines Verlustes zu rechnen haben ; so kommt es zu jenen Spe-
kulationen, die mit den darauffolgenden Reaktionen bedeutende Massen
von Kapitalien zerstören oder ins Ausland wandern lassen, wodurch
eine temporäre Erhöhung des Zinsfusses und des Profites hervorge-
rufen und der Platz für neue Ansammlungen geräumt wird; dann
verläuft derselbe Cyklus aufs neue."
Mill hat vollkommen recht, indem er auf die rasche Akku-
mulation des leihbaren Kapitals nach der Krisis hinweist, was ein
Sinken des Diskontsatzes zur Folge hat und die Entwickelung der
Spekulation begünstigt. In den Schwankungen des Diskontsatzes
kommen aber auf der Oberfläche des Geldmarktes tiefere Verände-
rungen der kapitalistischen Wirtschaft zum Vorschein, von welchen
Mill keine Ahnung hat.
Einen Zusammenhang des niedrigen Zinsfusses mit der Speku-
lationslust muss man allerdings anerkennen. Viele Zeugen, die vor
der Parlamentskommission von 1833, welche die Krisis von 1825 zu
untersuchen hatte, vernommen wurden, führten die Krisis auf das
Sinken des Zinsfusses infolge der Konventierungen der englischen
Staatsschuld zurück. Die Krisis von 1847 ist gleichfalls von einigen
von der Parlamentskommission des Jahres 1848 befragten Zeugen
mit dem ausserge wohnlich niedrigen Diskontsatz der Jahre 1843 — 44
in Zusammenhang gebracht worden. Ueberhaupt ist der Diskontsatz
in der einem Aufschwung unmittelbar vorangehenden Phase des in-
dustriellen Cyklus g-ewöhnlich niedrig.
Die Akkumulation des leihbaren Geldkapitals vollzieht sich also
ununterbrochen; seine Verwandlung in produktives Kapital, die An-
legung des Leihkapitals in der Industrie begegnet aber einem Wider-
stand. Das Vorhandensein dieses Widerstandes kann keinem Zweifel
— 243 —
unterliegen. In den Jahren einer Geschäftsstockung ist der Markt
von Leihkapital überhäuft. Zur Verwandlung dieses letzteren in
produktives Kapital ist eine gewisse Proportionalität in der Ver-
teilung des freien Kapitals unter \^erschiedenen Produktionszweigen
erforderlich. Damit kein Warenüberschuss entsteht, muss das neue
Kapital proportionell auf alle Produktionszweige sich verteilen. Die
Erreichung einer solchen Proportionalität schliesst aber in sich unter
heutigen Wirtschaftsbedingungen, namentlich bei der Planlosigkeit
der nationalen Produktion, wie bereits im ersten Kapitel dieses
Buches ausgeführt ist, bedeutende Schwierigkeiten. Es entsteht
folgende Sachlage. Das freie leihbare Geldkapital wird ununter-
brochen akkumuliert, es sucht energisch eine Anlage, kann aber keine
finden. Das nicht angelegte Kapital bringt keinen Zins — es fun-
giert als Kapital gar nicht, hat keinen Gebrauchswert für seinen Be-
sitzer. Je mehr solcher nicht fungierenden Kapitalien vorhanden sind,
desto energischer muss der Drang sein zur produktiven Anlegung
des freien Kapitals. Von der einen Seite will also die Industrie kein
neues Kapital mehr aufnehmen, auf der anderen aber strebt dies
Kapital mit immer wachsender Macht in die Industrie einzudringen.
Es muss ein Moment kommen, wenn der Widerstand der Industrie
überwunden, das akkumulierte Leihkapital in der Industrie eine An-
lage finden und sich in produktives Kapital verwandeln wird. Es
tritt eine Epoche des Aufschwungs ein.
Bei der Verwandlung des Leihkapitals in produktives Kapital,
was mit der Erweiterung der nationalen Produktion gleichbedeutend
ist, ist nur der erste Schritt schwer: infolge der Abhängigkeit aller
Produktionszweige von einander hat jede Ausdehnung der Produktion
die Tendenz, sich von einem Produktionszweig auf den anderen aus-
zubreiten, bis sie die ganze Volkswirtschaft erfassen wird. Das freie
leihbare Geldkapital, (welches z. B. in der Bank als Einlage ruht und
von der Bank selbst nicht für das Wechseldiskontieren verausgabt
wird) stellt eine latente Kaufkraft dar. Diese Kaufkraft, die sich in
den schlechten Jahren ansammelt, übt keinen Einfluss auf den Waren-
markt aus, solange das Leihkapital unangelegt bleibt. Aber sobald
dies Kapital in der einen oder anderen Weise angelegt wird, ver-
wandelt sich seine latente Kaufkraft sofort in eine effektive. Das
Kapital wird verausgabt, d. h. es wird auf den Kauf der einen oder
der anderen Waren verwendet. Es wird ein neues produktives Kapital
geschaffen, was eine verstärkte Nachfrage nach Produktionsmitteln
sowie nach Konsumtionsmitteln erzeugt. Die Industrie eröffnet gleich-
sam einen neuen Markt; dieser Markt wird durch die Ausdehnung
16*
— 244 —
der Produktion selbst geschaffen, — durch die Verausgabung kolossaler
Leihkapitalien, die früher müssig in den Kassen der Banken ruhten.
Für die Industrie ist es gleichgültig, woher die plötzliche Vermehrung
der Nachfrage kommt. P^ür sie ist es nur von Bedeutung, dass die
Nachfrage sich thatsächlich um die ganze Summe des angehäuften
und jetzt verausgabten Leihkapitals vermehrt hat. Die Warenpreise
steigen, und die gesellschaftliche Produktion erweitert sich auf der
ganzen Linie.
Darüber gehen einige Jahre hin. Das früher angesammelte
Leihkapital wird allmählich verbraucht worden. Zwar schafft die er-
weiterte gesellschaftliche Produktion bedeutende neue Kapitalien.
Aber der Markt absorbiert diese Kapitalien rasch, da alle Unter-
nehmer bestrebt werden, die günstige Konjunktur auszunutzen. Die
Waren finden Absatz, und jeder Unternehmer wird bemüht, alle Kapi-
lien, die er nur heranziehen kann, in sein eigenes Geschäft zu stecken.
Alle Reserven des Kapitals werden ausgenutzt. Die ausserordentliche
Erweiterung des Kredites, die für diese Phase des industriellen Cyklus
so charakteristisch ist, deutet auf eine intensive Anlage des Kapitals
hin. Während früher eine starke Konkurrenz unter den Besitzern des
Leihkapitals bestand und das Angebot des Leihkapitals die Nachfrage
nach demselben übertraf, übertrifft jetzt bedeutend die Nachfrage nach
Leihkapital dessen Angebot.
Das Steigen des Diskontsatzes, das gewöhnlich gegen Schluss
dieser Phase beobachtet wird, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass das
freie Leihkapital fehlt. In dieser Zeit stellt es sich zur allgemeinen
Verwunderung heraus, dass das Geld plötzlich „teuer" geworden ist; in
Wirklichkeit aber wird nicht das Geld, sondern das Leihkapital teuer,
und zwar wird es teuer, weil auf dem Geldmarkte wenig freies, un-
beschäftigtes Kapital geblieben ist.
Höchst charakteristich ist es, dass Börsenkrisen den Geschäfts-
stockungen nicht selten um viele Monate, und sogar einige Jahre
vorangehen.
So hat z. B. vor der Handelskrisis von 1836 eine Börsenkrisis
im Jahre 1835 stattgefunden; vor der Handelskrisis von 1847 ^^^
bereits im Jahre 1845 eine Börsenkrisis ausgebrochen; den Handels-
krisen der Jahre 1857 und 1873 sind Börsenkrisen im Jahre 1856
und im Mai 1873 vorangegangen. Der Geschäftsstockung von 1892
— 95 ging der Zusammenbruch der P'irma Baring im Jahre 1890 voran.
Diese Erscheinung steht im innigsten Zusammenhange mit der Be-
wegung des industriellen Cyklus. Eine Börsenkrisis entsteht in jener
Phase des industriellen Cyklus, wenn der Mang-el an Leihkapital sich
— 245 —
fühlbar zu machen anfängt. Bei dem Ueberschusse an Leihkapital findet
der Börsenkrach nie statt. Der Ueberschuss an Leihkapital fördert die
Börsenspekulation, und die Kurse der Börsenpapiere stehen hoch. Die
Erschöpfung des freien Leihkapitals muss aber unausbleiblich zum
Sinken der Börsenkurse führen. Das wirkt als Signal zur Panik und
der Börsenkrach folgt. Allerdings ist er ein sicheres Zeichen dafür,
dass das freie Leihkapital beinahe erschöpft ist. Dennoch kann die
Industrie sich einige Zeit nach dem BörsenJ^rache in einem belebten
Zustand befinden, da der Aufschwung der Industrie durch eine Schaff-
ung von produktivem Kapital aufrecht erhalten wird, diese sich aber
nicht plötzlich, sondern allmählich, im Laufe längerer Perioden voll-
zieht. So hörten z. B. in England die Spekulationen mit den Eisen-
bahnaktien schon im Jahre 1845 ^^ ^^^ Fallen ihrer Kurse auf,
und der Zufluss neuen Kapitals zu den Eisenbahnbauten verlangsamte
sich seit dem Jahre 1846 bedeutend, aber die Verausgabung des
Kapitals auf den Bau der Eisenbahnen begann erst seit diesem Jahre
im grossen Umfange und dauerte einige Jahre hindurch.
Wie die Börsenkrisis durch die Erschöpfung des freien Leih-
kapitals hervorgerufen wird, so erfolgt die Handelskrisis wegen der
Beendigung der Schaffung des neuen produktiven Kapitals. Aus
diesem Grunde hat die Handelskrisis von 1847 zwei Jahre später als
die Börsenkrisis stattgefunden. In ähnlicher Weise hat der Wiener
Krach vom Mai 1873 sofort ein »Sinken der Kurse der Börsen\yerte
in ganz Europa hervorgerufen. Die Summe der Kapitalemissionen
erfuhr eine starke Einschränkung, aber die englische Industrie befand
sich selbst im Jahre 1875 nicht in einem sehr gedrückten Zustand.
Die Schaffung des neuen produktiven Kapitals hatte noch nicht auf-
gehört. Erst einige Jahre nach dem Beginn der Krisis Hess sie sich
auch für die englische Industrie in vollem Masse fühlen.
Der Zusammenbruch der Firma Baring hat gleichzeitig zuerst
nur auf die Börse zurückgewirkt: die Kapitalemissionen haben sich
vermindert — die Börse war den Neugründungen nicht günstig. Die
Depression der Industrie erfolgte viel später — erst als die Schaffung
des produktiven Kapitals eine Einschränkung erfahren hat.
Die oben (S. 237) angeführte Statistik der Kapitalemissionen
in England kann als statistischer Beweis für das Gesagte gelten. Das
Maximum der Emissionen entfällt in den 70 er Jahren auf das Jahr
1873; die Geschäftsstockung erfolgte aber viel später. Im industriellen
Cyklus der ersten Hälfte der 80 er Jahre entfällt das Maximum der
Emissionen auf das Jahr 1881 — zwei oder drei Jahre vor dem Be-
— 246 —
ginn der Geschäftsstockung; gegen Ende der 80er Jahre entfällt das-
selbe Maximum auf das Jahr 1889 — ein Jahr vor dem Zusammen-
bruch der Firma Baring und einige Jahre vor der Geschäftsstockung
der 90 er Jahre. Die künftige Geschäftsstockung muss auch einige
Jahre nach dem Maximum von 1897 kommen.
Warum endigt nun jeder industrielle Aufschwung mit einer Re-
aktion — mit einer Geschäftsstockung? Dafür giebt es viele Ur-
sachen. Zunächst absorbiert die Erweiterung der Produktion das
freie Leihkapital, die freie, ungebundene Kaufkraft, deren Anhäufung
auf dem Geldmarkte die unmittelbare Ursache des Aufschwungs ge-
wesen war. Solange z. B. die Eisenbahn gebaut wird, schafft ihr
Bau eine Nachfrage nach ungeheuer grossen Warenmassen. Die
Eisenbahnbauten können aber nicht fortwährend in demselben Um-
fange, wie zu Zeiten des Aufschwungs, fortgesetzt werden — dazu
fehlt einfach das Kapital. An der Geschichte der amerikanischen
Krisis von 1873 haben wir gesehen, dass die unmittelbare Ursache
des Ausbruchs der Krisis in der Unmöglichkeit bestand, auf dem
europäischen und amerikanischen Geldmarkte neue Eisenbahnanleihen
zu realisieren. Das Leihkapital wurde erschöpft — und die Eisen-
bahnbauten mussten eingeschränkt werden. Ferner können die
hohen Warenpreise und die hohen Profite, welche der AufschAvung
zeitigt, nicht ohne eine Spannung des Kredites und eine Erwachung
der Spekulationslust bleiben. Die günstige Lage des Weltmarktes
muss, mit Naturnotwendigkeit, zur spekulativen Erregung führen.
Hohe Profite sind einem berauschenden Getränke ähnlich, das in be-
deutender Menge genossen, dem stärksten und vernünftigsten Menschen
die Einsicht nehmen muss. Und wenn wir heute auf dem englischen
Warenmarkte nichts Aehnhches dem Spekulationsschwindel der frü-
heren Zeit bemerken, so ist das einfach dadurch zu erklären, dass
die goldenen Zeiten der englischen Industrie vorüber sind.
Die Spannung des Kredits und der Spekulationsschwindel führen
ihrerseits unvermeidlich zum Zusammenbruch des Kredites und zur Pa-
nik. Eine treffende Charakteristik des Kreditcyklus finden wir in dem
geistreichen Artikel von John Mills, „On Credit Cycles and the Ori-
gin of Commercial Panics" (Transactions of the Manchester Statistical
Society 1867 — 68).
Die Panik auf dem Geldmarkte — führt Mills aus — zerstört
das Kapital nicht, indessen ist ihre Wirkung für die gesamte Volks-
wirtschaft höchst verderbhch. Was ist es nun, das während einer
Panik zerstört wird und eine Leere hinterlässt? „Es ist das feine.
— ■>
247 —
immaterielle Agens, mittels dessen das inerte Kapital in Bewegung
gesetzt wird und neuen Wegen sich zuwendet. Dieses Agens ist
der Kredit". Die Panik ist der Tod des Kredites. Aber der Kredit
besitzt die Fähigkeit, zum Leben wieder aufzuerstehen, und sein
Lebenscyklus ist der moderne industrielle Cyklus. Die erste Periode
eines Kreditcyklus (Postpanic period) folgt unmittelbar auf die Be-
endigung einer Panik. Zu dieser Zeit wird der Diskontsatz niedrig,
und auf dem Geldmarkte übertrifft das Angebot des Leihkapitals die
Nachfrage nach diesem. Eine solche Lage des Geldmarktes wird be-
dingt: I. durch die Stimmung der Kapitalbesitzer, die sich nach der
Beendigung einer Panik zwar beruhigen, aber dennoch fürchten, sich
vom Kapital zu trennen, und dasselbe daher an einem sicheren Orte
— in Banken — unterbringen ; aus diesem Grunde wachsen in den
Banken in dieser Zeit die Depositen der Privatpersonen; und 2. durch
die Stimmung der Debitoren , die keine Lust haben, neue Anleihen
aufzunehmen und ihre Geschäfte auszudehnen.
Die erste Periode dauert gewöhnlich 2 — 3 Jahre. Diese ganze
Zeit hindurch steht der Zinsfuss niedrig, die Reserven der Banken
bleiben aber hoch. Allmählich bemerkt man eine Wiederherstellung
des Kredits, es tritt die mittlere Periode — die Periode der Bele-
bung ein. Die Warenpreise und die Profite steigen, die Geschäfte
dehnen sich rasch aus. Es beginnen junge Leute an Geschäften sich
zu beteiligen, die die vorangegangene Panik nicht erlebt haben und
natürlich geneigt sind, mit mehr Optimismus in die Zukunft zu
blicken. Das breite Publikum ist immer geneigt, die Zukunft sich
ebenso wie die Gegenwart zu denken; das Vertrauen wächst und die
Ueberzeugung in der Dauerhaftigkeit der Verbesserung des Marktes
erfasst breite Schichten der Bevölkerung. Die Kapitalien cirkulieren
rasch und werfen gute Profite ab, die sofort wieder in die Cirkulation
treten. Allmählich überschwemmen die Kapitalien die gewöhnlichen
Cirkulationskanäle, und die Kapitalisten beginnen, neue Absatzwege
zu suchen.
Es beginnt die dritte — Spekulationsperiode. Der Kredit wird
mehr und mehr gespannt, die Preise erreichen eine anormale Höhe;
endlich bricht das ganze Gebäude zusammen. Der Kredit stirbt, um
wieder aufzustehen. So verläuft der Kreditcyklus.
Diese ganze Ausführung ist fein und geistreich. Ihr Fehler be-
steht nur darin, dass Mills lediglich die eine Seite der Sache zeich-
net — die durch den industriellen Cyklus bedingten psychischen Mo-
mente; objektive Ursachen des Cyklus werden von ihm vernachlässigt
— 248 —
(es giebt zwar bei Mills einen Versuch, die objektiven Ursachen der
Krisen festzustellen, dieser Versuch aber ist ihm völlig misslungen).
Allerdings ist es richtig, dass auch die Psychologie des Unternehmers
im Zusammenhange mit den Phasen des industriellen Cyklus gesetz-
mässigen Veränderungen unterliegt. Die Psychologie der Phase der
Geschäftsstockung hat mit der Psychologie der Phase des Aufschwunges
nichts Gemeinsames. Der Aufschwung zwingt den Spekulanten, die
Grenze zu überschreiten, die vernünftige Unternehmungslust von unüber-
legtem Wagemut^ der vor keinem Risiko und vor keinen Gefahren
zurückschrickt, scheidet. Man darf nicht ausser acht lassen, dass die
Spekulation sich nur auf die zu erwartende Preisdifferenz erstreckt,
und dass die absolute Höhe der Preise für sie gleichgültig ist Der
Spekulant kann überzeugt sein, dass der Preissturz in mehr oder
minder naher Zeit unausbleiblich ist. Das geht ihn aber garnichts
an; es interessiert ihn nur, wie hoch der Preis eines bestimmten Wert-
papiers oder einer Ware morgen, in acht Tagen, nach einem Monat sein
wird. Wenn sich auf dem Markte hohe Preise festgesetzt haben, kann
die Spekulation, wenn auch die Preise nach allgemeiner Anerkennung
in der Zukunft fallen müssen, kühn а la hausse spielen, in der Hoff-
nung, die Profite vor dem Eintritt einer Reaktion zu realisieren.
„Jetzt oder nie" — das ist die Devise eines jeden Unternehmers, um-
somehr die des vSpekulanten , im Momente günstiger Konjunktur.
Alle wissen, wie kurz diese Momente sind, was noch mehr alle ver-
anlasst, mit grösster Eile die günstige Konjunktur auszunutzen, an
der allgemeinen aufsteigenden Bewegung teilzunehmen.
Kein Wunder, dass diese allgemeine Bereitwilligkeit, die Ge-
schäfte auszudehnen, Waren oder Börsenpapiere zu erhöhten Preisen
zu kaufen in der Hoffnung, sie zu noch grösseren Preisen wiederzu-
verkaufen, zu einer äussersten Spannung des Kredits, zu einem Börsen-
schwindel, einer Gründermanie und schliesslich zu einem Krach führt.
Alles hat sein Ende — der Kredit lässt sich ausdehnen, aber der
übermässig ausgedehnte Kredit muss schliesslich platzen. Die Preise
mögen sich infolge der sanguinischen Stimmung des Marktes eine lange
Zeit auf einer anormalen Höhe halten; früher oder später müssen sie
aber in Uebereinstimniung mit den realen Verhältnissen des Ange-
botes und der Nachfrage kommen. Aufgeblasene Unternehmungen,
schlecht fundierte Fabriken, nach deren Produkten keine Nachfrage
vorhanden ist, Eisenbahnen, auf denen man nichts zu transportieren
hat, können sich eine Zeit lang mittels des Börsenspiels halten; die
Stunde der Vergeltung muss aber früher oder später schlagen. Der
Aufschwung endigt mit einem Niedergang, der Spekulationsschwindel
— 249 —
mit einer Panik, und je heftiger der Schwindel war, desto stärker
muss die Panik sein.
Die periodischen Schwankungen der Industrie stehen, nach einer
richtigen Bemerkung von Juglar, in einem unmittelbaren Zusammen-
hang mit den periodischen Schwankungen der Warenpreise. Die
Jahre des Aufschwunges sind Jahre der hohen Preise, die Jahre der
Geschäftsstockung — Jahre der niedrigen Preise. Die Handelkrisis oder
die Geschäftsstockung kommt zum Ausdruck und hat ihre unmittelbare
Ursache in dem Sinken der Warenpreise. Die Erklärung der perio-
dischen Veränderungen der Warenpreise muss zugleich eine Erklärung
der Periodicität der Krisen sein.
Nach allem Gesagten kann diese Erklärung keine Schwierig-
keiten mehr bieten. Der Aufschwung der Industrie wird dadurch
hervorgerufen, dass die in den vorangegangenen Jahren angehäuften
Leihkapitalien, die die latente Kaufkraft der Gesellschaft darstellen,
verausgabt werden und eine neue Nachfrage nach Waren schaffen.
Infolge dessen steigen die Preise. Das Steigen der Preise über-
schreitet bei einer günstigen Lage des Marktes rasch die normalen
Grenzen und artet in eine Spekulation aus, auf die ein Krach folgt.
Eine Reaktion müsste aber unvermeidlich auch in jenem Falle ein-
treten, wenn das Steigen der Preise nicht so bedeutend wäre, um einen
Krach hervorzurufen.
Das früher akkumulierte Kapital muss doch einmal verbraucht
werden. In Phasen des Aufschwungs wird das neue stehende Kapital
der Gesellschaft geschaffen. Die ganze gesellschaftliche Industrie
nimmt eine eigenartige Richtung an: die Erzeugung der Produktions-
mittel wird in den Vordergrund gerückt. Eisen, Maschinen, Instru-
mente, Schiffe, Baumaterialien, werden in viel grösseren Mengen als
früher gefordert und hergestellt. Am Ende ist das neue stehende
Kapital fertig: neue Fabriken, neue Schiffe, neue Häuser sind
gebaut, neue Eisenbahnlinien sind ausgeführt. Da vermindern sich
aber die Neugründungen. Die Nachfrage nach allen Materialien,
welche die Elemente des stehenden Kapitals bilden, erfährt eine
Einschränkung. Die Einteilung der Produktion hört auf proportionell
zu sein: Maschinen, Instrumente, Eisen, Ziegelsteine, Bauholz werden
weniger als früher verlangt, weil die Neugründungen abgenommen
haben. Da aber die Produzenten der Produktionsmittel ihr Kapital
aus ihren Unternehmungen nicht herausziehen können und zudem
erfordert die Grösse des angelegten Kapitals in der Form der
Bauten, Maschinen u. s. w. eine Fortführung der Produktion (sonst
— 250 —
wirft das müssig dastehende Kapital keine Zinsen ab), so entsteht
eine Ueberproduktion der Produktionsmittel. Infolge der Abhängig-
keit aller Produktionszweige von einander wird die partielle Ueber-
produktion zu einer allgemeinen — die Preise aller Waren sinken,
und es tritt eine allgemeine Geschäftsstockung ein.
Es ist übrigens klar, dass jede Verringerung der Neugründungen
eine Störung der Proportionalität in der Einteilung der gesellschaft-
lichen Produktion hervorrufen muss. Die gesellschaftliche Nachfrage
erfährt eine Aenderung, und das Gleichgewicht der Nachfrage mit
dem Angebot kann nicht mehr bestehen. Da aber die Neugründungen
eine Nachfrage nicht nur nach den Produktionsmitteln, sondern auch
nach den Konsumtionsmitteln der Arbeiter schaffen, so muss gleich-
falls eine Ueberproduktion in den Konsumtionsmittel herstellenden
Produktionszweigen, sowie in den Produktionsmittel erzeugenden In-
dustrien, eintreten ^).
Die Ueberproduktion wird allgemein — dennoch ist sie keines-
falls mit einem absoluten Uebertreffen der Konsumtionskraft der Ge-
sellschaft durch deren Produktivkräfte gleichbedeutend. Und das ist
dadurch bewiesen, dass einige Jahre nach der Krisis viel grössere
Warenmassen einen Absatz finden — die Absatzstockung ist keine
chronische Erscheinung. Der Grund dieser allgemeinen Ueber-
produktion (welche jahrelang dauern kann und thatsächlich dauert)
liegt also im Mangel an Proportionalität zwischen verschiedenen Pro-
duktionszweigen. Die Störungen im Gebiete des Geld- und Kredit-
verkehrs sind bloss sekundäre Erscheinungen, welche auf Grundlage
dieses Mangels an Proportionalität entstehen.
Aber auch unabhängig von der Einwirkung der Verringerung
der Neugründungen auf die Nachfrage nach den Waren wird die
gesellschaftliche Produktion infolge des Aufschwungs immer mehr
und mehr unproportionell wegen dem ungleichmässigen Wachstum
verschiedener Produktionszweige. Die Ausdehnung der Produktion
in verschiedenen , Industrien erfolgt zu solchen Zeiten fast unabhängig
von realen Verhältnissen der Nachfrage, lediglich aus Spekulations-
rücksichten und unter dem Einfluss der Börsenmanöver. Eine stärkste
Ausdehnung erfahren diejenigen Industrien, welche der Börsenspeku-
i) Meine Krisentheorie hat trotz ganz anderer theoretischer Grundlage manches
gemeinsam mit den Ausführungen Hobson's in seiner Schrift „The Problem of the Un-
employed". Dazu sei bemerkt, dass meine Theorie schon im Jahre 1894 (also vor Hob-
son) in der ersten russischen Auflage dieses Buches dargestellt worden ist.
-- 251 —
lation das beste Material liefern. So kommt es, dass am Ende der
aufsteigenden Phase des industriellen Cyklus jede Proportionalität in
der Einteilung der gesellschaftlichen Produktion fehlt und nur durch
eine Vernichtung eines Teiles des Kapitals der zu stark angewachsenen
Produktionszweige wiederhergestellt werden kann.
So folgt eine allgemeine Geschäftsstockung auf einen allgemeinen
Geschäftsaufschwung und der industrielle Cyklus geht aus der gün-
stigen in die ungünstige Phase über. Während der ungünstigen
Phase wird das freie Leihkapital akkumuliert; es folgt eine neue
Epoche des Aufschwungs, wo dieses Kapital verausgabt wird, was
mit einer Krisis endigt, und derselbe Lauf beginnt von neuem.
Die Wirkung dieses ganzen Mechanismus kann man mit der
Arbeit einer Dampfmaschine vergleichen. Die Rolle des Dampfes
im Cylinder spielt die Akkumulation des freien Leihkapitals; wenn
der Druck des Dampfes auf den Pumpenstempel eine bestimmte
Grösse erreicht, wird der Widerstand des Pumpenstempels über-
wunden, der Pumpenstempel bewegt sich, geht bis zum Ende des
Cylinders, für den Dampf eröffnet sich ein freier Ausgang, und der
Pumpenstempel kehrt nach seinem alten Platz zurück. Ebenso dringt
das sich akkumulierende freie Leihkapital, nachdem es eine gewisse
Grösse erreicht hat, in die Industrie ein, setzt sie in Bewegung, es
wird verausgabt und die Industrie kommt wieder in den früheren
Zustand. Es ist natürlich, dass unter solchen Bedingungen die Krisen
sich periodisch wiederholen müssen. Die kapitalistische Industrie
muss stets denselben Kreis der Entwickelung durchlaufen.
Das Vorhandensein des Aussenhandels macht diesen Prozess zu
einem noch komplizierteren. Für ein Land wie England, das enorme
Warenmengen aus dem Auslande bekommt, ist der auswärtige Markt
unbedingt notwendig. In England wird das freie Leihkapital sehr
rasch akkumuliert, dessen Verwandlung aber in produktives Kapital
in England selbst unmöglich ist, ohne eine entsprechende Vermehrung
der Nachfrage nach englischen Eabrikaten im Auslande. Dieses
Hindernis, worauf schon Sismondi in den Nouveaux Principes
d'Economie Politique hingewiesen hat, wird in folgender Weise
überwunden. Wenn die Akkumulation des englischtm Leihkapitals
eine gewisse Grösse erreicht, wird dieses Kapital auf folgende Weise
angelegt: ein Teil desselben bleibt im Lande und verwandelt sich in
produktives Kapital, ein anderer Teil fliesst nach dem Auslande in
der Form von Anleihen zu produktiven oder unproduktiven Zwecken,
Beteiligung an verschiedensten Unternehmungen u. s. w. Diese Emi-
— 252 —
gration des Kapitals auf den auswärtigen Markt ist in England
ein ständiges Symptom des industriellen Aufschwunges. Aber das
emigrierende Kapital geht für die englische Industrie nicht verloren.
Es schafft im Auslande eine Nachfrage nach englischen Waren, und
so findet derjenige Teil des nationalen Kapitals, der zu Hause ge-
blieben ist, eine produktive Anlage. Nachdem aber die freien Leih-
kapitalien in England erschöpft werden und nach dem Auslande ab-
zufliessen aufhören, verliert das Ausland die Kaufmittel zum Ankauf
englischer Waren. Es folgt eine Absatzstockung, und eine Handels-
krisis bricht aus.
Der auswärtige Handel hat die wahren Ursachen der früheren
englischen Krisen verdunkelt. In den ersten Jahrzehnten dieses Jahr-
hunderts litt unter den Krisen am meisten die Baumwollindustrie,
eine Industrie, die nicht Produktionsmittel, sondern Konsumtionsmittel
herstellt. Trotzdem wurde früher wie jetzt die Phase des Auf-
schwungs durch die Schaffung neuen stehenden Kapitals bedingt.
Da aber England im Besitze des industriellen Monopols war und
zugleich der Export der Produktionsmittel, wegen ihrer relativen
Schwerfälligkeit, bei der schwachen Anwendung des Dampfes im
Verkehrswesen auf ungeheure Schwierigkeiten stiess (die Ausfuhr der
Maschinen aus England war noch obendrein bis zum Jahre 1842 ver-
boten), so ist es natürlich, dass die Vermehrung der Nachfrage nach
Waren im Auslande, durch die mit der Hilfe der englischen Kapi-
talien erfolgten Neugründungen hervorgerufen, zur Folge hatte, dass
aus England nicht Produktionsmittel, sondern andere Fabrikate, haupt-
sächlich Gewebe, exportiert wurden. So ging der Krisis von 1825
eine bedeutende Ausdehnung der Ausfuhr englischer baumwollener
Gewebe nach Central- und Südamerika voran. Woher war aber in
Amerika die Nachfrage nach englischen Geweben gestiegen? Weil
der Zufluss der englischen Kapitalien zur Bildung einer Menge neuer
Unternehmungen, zu Neugründungen in diesem Lande geführt hatte,
was eine Vermehrung der Nachfrage nach allen Waren, darunter
auch nach Geweben, verursachte. Heute hat England das industrielle
Monopol verloren, der Transport der Produktionsmittel bietet zugleich
nicht dieselbe Schwierigkeit wie früher, und wir wessen ja, dass die
bedeutendsten Schwankungen in der neuesten Zeit gerade bei der
Erzeugung und der Ausfuhr der Produktionsmittel beobachtet werden.
Die kapitalistische Welt ist ihren eigenen Gesetzen unterworfen,
die mit elementarer Kraft wirken. Der sogenannte gesunde Menschen-
verstand ist ein schlechter Leiter für das Verständnis dieser Gesetze.
Vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes ist die gesell-
— 253 —
schaftliche Produktion ein Mittel zur gesellschaftlichen Konsumtion.
In Wirklichkeit besteht in der kapitalischen Wirtschaft gerade ein
umgekehrtes Verhältnis zwischen der gesellschaftlichen Produktion und
Konsumtion. Nicht die Konsumtion beherrscht in der kapitalischen
Wirtschaft die Produktion, sondern die Produktion beherrscht die
Konsumtion. Die Phasen des industriellen Cyklus werden nicht
durch die Gesetze der Konsumtion, sondern durch die der Produk-
tion bedingt. Nicht deswegen dehnt sich die Produktion in der
Phase des Aufschwamgs aus, weil in dieser Phase der Konsum wächst;
umgekehrt, der Konsum w^ächst in dieser Phase gerade aus dem
Grunde, weil die Produktion sich erweitert. Die kapitalistische Welt ist
ein in Entwickelung" begriffenes und ausserordentlich kompliziertes
System, dessen Atome die einzelnen menschlischen Individuen sind.
Jedes einzelne Individuum wird in seiner wirtschaftlichen Thätigkeit
\юп seinem persönlichen Interesse geleitet; für jeden Teilnehmer der
Produktion ist der Konsum der Zweck und die Produktion das
Mittel. Aber aus dem Zusammenwirken der individuellen und von
einander unabhängigen Willen entsteht etwas qualitativ Neues, der
organische Komplex der kapitalistischen Wirtschaft, das uiibewusste,
von keinem Willen geleitete, von keinem Gedanken durchdrungene,
trotzdem aber zusammenhängende und seinem eigenen Gesetze unter-
worfene Ganze. Die Gesetze der Bewegung dieses Komplexes werden
nicht durch die Willen der einzelnen ihn bildenden menschlischen
Individuen bestimmt, umgekehrt ist jedes einzelne Individuum diesen
Gesetzen unterworfen. Auf Grundlage des Widerspruches zw^ischen
den Zielen und Bestrebungen lebendiger menschlicher Persönlichkeiten
und den von diesen Zielen unabhängigen Gesetzen des kapitahstischen
Komplexes, der den Interessen des Individuums keine Rechnung trägt,
auf dieser Grundlage entstehen die Widersprüche der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung. Den fundamentalsten von diesen Widersprüchen
bildet, wie bereits gezeigt, der Widerspruch zwischen der kapitalisti-
schen Produktion als einfachem Mittel der Verwertung und des Wachs-
tums des Kapitals und der Produktion als Mittel der Befriedigung
der Bedürfnisse des Menschen. Aus dem Vorhandensein dieses
Widerspruches geht aber die beschränkte historische Rolle des Kapi-
talismus klar hervor: die kapitalistische Gesellschaft ist eine Klassen-
gesellschaft, die kapitalistische Organisation der Wirtschaft ist eine
Wirtschaftsorganisation im Interesse nicht der gesamten Bevölkerung,
sondern nur ihrer unbedeutenden Minorität — der Besitzer der Pro-
duktionsmittel. Daher muss die w^eitere Entwickelung der kapita-
— 254 —
listischen Wirtschaft zu ihrer Umwandlung in eine höhere Form
führen, die dieses Widerspruches entkleidet sein wird. Die Organi-
sation der Volkswirtschaft muss ebenso planmässig, von einem ein-
heitlichen Gedanken durchdrungen, und im Interesse ihres vSubjekts,
der Gesellschaft, aufgebaut werden, wie planmässig, zielbewusst und
im Interesse ihres Subjekts, des Individuums, die Privatwirtschaft
heute aufgebaut ist. Solche Wirtschaftsorganisation heisst aber
Sozialismus.
II. Teil.
Die sozialen Wirkungen der
Handelskrisen.
KAPITEL I.
Der Einfluss des industriellen Cyklus auf das
Volksleben.
I. Periodische Schwankungen im englischen Volksleben während des
zweiten Viertels des Jahrhunderts. — Allgemeine Charakteristik der ökonomischen
Lage der englischen Bevölkerung zu dieser Zeit. — Ursachen der Verarmung der breiten
Massen der Bevölkerung. — Die Handweber. — Die periodischen Schwankungen im Volks-
leben im Zusammenhang mit den Handelskrisen. — Der Einfluss des neuen Armengesetzes.
— Die Unstätigkeit der Beschcäftigung. — Massnahmen, projektiert von der Kommission
des Jahres 1830. — II. Schwankungen im Volksleben während der 50er und
60er Jahre. — Der Baumwollhunger. — Der Jorkshire Streik von 1858. — Die Be-
deutung der industriellen Schwankungen für Unternehmer und Arbeiter. — III. ScliAvan-
kungen während der neuesten Zeit. — Die Veränderung im Charakter dieser Schwan-
kungen. — Die relative Stabilität der Löhne. — Die Bedeutung in dieser Hinsicht der
Gewerkvereine.
Nach der materialistischen (genauer, der ökonomischen) Ge-
schichtsauffassung besteht das bestimmende Moment der historischen
Entwickelung in der Wirtschaftsentwickelung. ,,Die ökonomische
Struktur der Gesellschaft, sagt Marx, bildet die reelle Basis, worauf
sich ein juristischer und politischer Ueberbau erhebt." Wäre das richtig,
so hätte der industrielle Cyklus nicht ohne einen Einfluss auf den
allgemeinen Lebensgang des englischen Volkes sowie auf die soziale
Treschichte Englands bleiben können. Das Vorhandensein dieses
Einflusses wäre zugleich ein Argument für die Richtigkeit der
genannten Theorie des historischen Prozesses, wenigstens für das
gegebene historische Milieu und die gegebene Epoche.
Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit wird der Feststellung
der Bedeutung des industriellen Cyklus als eines sozialen Faktors
gewidmet sein. Zunächst werden wir versuchen, den Einfluss der
Schwankungen der Industrie auf die ökonomische Lage der breiten
Massen der englischen Bevölkerung und auf einige elementare Er-
Tugan-Baraiiowsk y, Die Handelskiisen. 17
— 258 —
scheinungen des Volkslebens zu schildern. Darauf werden wir die
bedeutsamsten sozialen Bewegungen in England beschreiben, die
durch die Krisen und die Arbeitslosigkeit verursacht sind.
I.
Periodische Schwankungen im englischen Voll<sleben während
des zweiten Viertels des Jahrhunderts.
Wir wissen ja schon, dass das zweite A^iertel dieses Jahrhunderts
durch das Zusammenfallen einer raschen Entwickelung der Industrie
und der Technik mit einer Verarmung der breiten Volksmassen
in England charakterisiert ist. Die Reform der Armengesetze im
Jahre 1834 hat die Zahl der Paupers vermindert, zugleich aber den
Notstand unter den Arbeitern vergrössert. Die ökonomische Lage
der englischen Arbeiter hat sich besonders verschlechtert gegen das
Ende der 30er und zu Beginn der 40er Jahre. In der berühmten
Schrift von Engels: „Die Lage der arbeitenden Klasse in England"
sind zahlreiche Berichte von Augenzeugen zusammengestellt über die
entsetzlichen hygienischen Lebensverhältnisse der englischen Arbeiter
in den grossen Industriecentren, wo die elenden Wohnungen der
Arbeiter unter allerhand Schmutz dicht zusammengedrängt wurden.
Die Wohnungseinrichtung der unteren Klassen der Arbeiterbevölke-
rung, ihre Nahrung, Kleidung, alles bewies einen äussersten Grad
der Not und des Elends. „Zu allen Zeiten, sagt in der genannten
Schrift Er. Engels, ausgenommen in den kurzen Perioden höchster
Blüte, muss die englische Industrie eine unbeschäftigte Reserve von
Arbeitern haben, um eben während der am meisten belebten Monate
die am Markte verlangten Massen von Waren produzieren zu können.
Diese Reserve ist mehr oder minder zahlreich, je nachdem die Lage
des Marktes minder oder mehr die Beschäftigung eines Teiles der-
selben veranlasst . . . Diese Reserve, zu der während der Krisis eine
ungeheure Menge und während der Zeitabschnitte, die man als
Durchschnitt von Blüte und Krisis annehmen kann, noch immer eine
gute Anzahl gehören, das ist die „überzählige I5evölkerung" Englands,
die durch Betteln und Stehlen, durch Strassenkehren , Einsammeln
von Pferdemist, Fahren mit Schubkarren oder Eseln, Herumkökern
oder einzelne gelegentliche kleine Arbeiten eine kümmerliche Existenz
fristet." (S. 12g der ersten Auflage.)
Diese Charakteristik von Engels stimmt mit den Aussagen
anderer Zeitgenossen vollkommen überein. Als Beispiel können wir
— -259 —
eine Aeusserung von D. Tuckett anführen, einem bürgerlichen
Oekonomen der 40 er Jahre, welcher der freien Konkurrenz das Wort
redet und durchaus nicht geneigt ist, alles in düsterem Lichte zu
sehen: „Die folgende Beschreibung, sagt Tuckett, giebt eine un-
parteiische und zutreffende Charakteristik der gegenwärtigen Lage
jenes Teiles der britischen Bevölkerung, der von der Arbeit in
Manufakturen lebt. Bei normaler Lage des Handels befindet sich
ungefähr der dritte Teil der Bevölkerung in entsetzlichstem Elend
nnd dem Hungertode nahe. Ein anderes Drittel dieser Bevölkerung
oder vielleicht noch mehr verdient kaum mehr als die gewöhnlichen
Landarbeiter, und nur ein knappes Drittel bekommt für seine Arbeit
Löhne, die ein auskömmliches Leben und einigen Komfort ermög-
lichen." 1)
Nach Simmonds und Miller hatte in den 30er und 40er
Jahren ein grosser Teil der Bevölkerung der Stadt Glasgow offenbar
keine anderen Subsistenzmittel als Diebstahl und Prostitution. Dr. Kay
sagt dasselbe über Manchester aus''^). Diese Zeugnisse könnten wir
beliebig vermehren, das ist jedoch überflüssig, da sie alle mehr oder
weniger dasselbe wiederholen.
Wenden wir uns den statistischen Daten über die Bewegung
der Arbeitslöhne in England in den verschiedenen Industriezweigen
während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu, so sehen wir,
dass in der Arbeiterklasse zwei scharf von einander geschiedene
Gruppen vorhanden waren. Die Löhne der Fabrikarbeiter nahmen
nicht zu, sie sanken aber auch nicht bedeutend. Sind auch die Geld-
löhne der Fabrikarbeiter im allgemeinen im Vergleich zum Anfang
des Jahrhunderts zurückgegangen, so darf man doch nicht vergessen,
dass das englische Geld während des Krieges mit Napoleon bedeu-
tend entwertet war; die Preise der Mehrzahl der Konsumtionsmittel
der Arbeiterklasse waren während dieses Krieges sehr hoch, be-
sonders die Getreidepreise. Daher konnten die realen Löhne, gleich-
zeitig mit dem Sinken der Geldlöhne, steigen. Das ist eben der Fall
gewesen mit den Löhnen der Fabrikarbeiter und überhaupt aller ge-
lernten Arbeiter, während die realen Löhne der ungelernten Arbeiter
sanken.
Die in der Grossproduktion beschäftigten Arbeiter bildeten mit
den gelernten Arbeitern überhaupt denjenigen Teil der städtischen Be-
1) J. D, Tuckett, А History of the Past & Present State of the Labouring Popu-
lation. 2 vol. London 1846, I, S. 595. Dieses Werk bildet eine der umfangreichsten Unter-
suchungen über die Lage der englischen Arbeiterklasse in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts.
2) Tuckett, I, S. 443.
17*
2бо
völkernng, von dem Tuckett sagt, dass er ein auskömmliches
Dasein führt und sich einigen Komfort erlauben kann. In einer
ganz anderen Lage befand sich aber die übrige Masse der Arbeiter,
die Arbeiter in der Kleinproduktion, die Landarbeiter, die ungelernten
Arbeiter u. s. w. Ihre Lage hat sich zum Beginn dieses Jahrhunderts
stark verschlechtert und verschlechterte sich fortgesetzt während
einiger darauffolgender Jahrzehnte.
Besonders schwer gestaltete sich die Lage der Handweber,
deren Zahl, wie oben gesagt, in Grossbritannien eine Million erreichte.
Mit jedem Jahr sanken ihre Löhne. Der P'abrikant Grimshaw hat
auf Grund der Handelsbücher seiner Unternehmung der Parlaments-
kommission von 1833 ausführliche Daten über das Einkommen der
Handweber und ihre notwendigen Lebensausgaben im Flecken
Barroford, in der Umgegend von Colne mitgeteilt; diese Daten er-
gaben, dass in den Jahren 1820 — 33 das Einkommen der Handweber
beinahe um die Hälfte gesunken war und zu Beginn der 30er
Jahre kaum die notwendigsten Ausgaben für Nahrung und Wohnung
deckte, und auch das nur unter der Voraussetzung', dass die Arbeit
während des ganzen Jahres nicht aufhörte.^) Thatsächlich bildeten
aber die Jahre, wo es uiumterbrochen Arbeit gab, eine seltene Aus-
nahme; gewöhnlich mussten die Handweber während einiger
Wochen, wenn nicht Monate, im Jahre aus Mangel an Arbeit müssig
bleiben. Es ist schwer , sich vorzustellen , in welcher Weise sie
ihre Existenz noch aufrechterhalten konnten. Oben wurde auf die
Einschränkung des inneren Marktes für die Produkte der englischen
Industrie hingewiesen. Die Berechnungen von Grimshaw erklären
diese Thatsache vollkommen. Hunderttausende der englischen Be-
völkerung hatten keine bestimmten Geldmittel, um sich Kleidung zu
kaufen. Kein Wunder, dass der Gesamtwert der baumwollenen Ge-
werbe, die in England verkauft wurden, nicht wuchs, sondern von
Jahr zu Jahr sank.
Infolge der grossen Anzahl der Handweber (es waren ihrer
mehr als alle Fabrikarbeiter zusammengenommen) musste das rasche
Sinken ihrer Einkommen die Aufmerksamkeit der öffentlichen
Meinung und der Regierung auf sich lenken. Das Parlament setzte
wiederholt Kommissionen ein, die die Ursachen dieser Erscheinung
untersuchen und Mittel zu ihrer Beseitigung finden sollten. Diese
Kommissionen haben ein reichhaltiges Material gesammelt, welches
i) Report from the Select Committee on Manufactures , Commerce and Shipping,
1833. Minutes of Evidence. Aussage von James Grimshaw, S. 602.
— 201 —
die schlimmsten Befürchtungen der Pessimisten bestätigte. Der
Parlamentsbericht von 1841 giebt eine sehr gute Charakteristik der
Lage der Handweber im Vereinigten Königreich gegen das Ende
der 30 er Jahre.
Am schlechtesten hatten es die Weber, die baumwollene und
seidene Gewebe herstellten ^). In Lancashire, dem Centrum der
Baumwollin dustrie, wo die Fabrikarbeiter verhältnismässig bedeu-
tende Löhne, nicht selten mehr als i Pfund pro Woche, erhielten,
übertraf der gewöhnliche Wochenlohn einer Weberfamilie, die mit
Produktion von baumwollenen Geweben beschäftigt war, nicht ein-
mal 6 — g Schilling-). Die Löhne der Wollweber in Jorkshire waren
doppelt so hoch. Aber in demselben Jorkshire befanden sich die
Weber der leinenen Stoffe genau in einem solchen Elend wie die
Lancashirer Weber. Ihre Lage beschreibt der Fabrikant R. Dewes
folgendermassen: „Die Lage dieser Weber ist eine überaus traurige.
Sie erleiden viele Entbehrungen. Oft können gesunde, erw^achsene
Arbeiter, die Tag und Nacht arbeiten, sich nicht den Tagesunterhalt
verdienen, weil die Löhne ungenügend sind Die private Wohlthätig-
keit hilft ihnen viel, aber auch sie reicht nicht für alle aus" . . . .^)
Fast dasselbe sagen auch die Aufseher der Armenhäuser, z. B.
der Aufseher Laidler aus: „Ich war 5 Jahre lang Aufseher. Die
Weber leiden im allgemeinen grosse Not. Sie haben sich vielfach
an mich gewendet. Das geschah aus der äussersten Not. Aus
meiner fünfjährigen Erfahrung w^eiss ich, dass sie nicht faule Leute
sind; im Gegenteil, sie sind im allgemeinen sehr unternehmend . . .
Die Kinder der Weber haben oft so wenig Kleider, dass sie nichts
anzuziehen haben, worin sie nach der Schule gehen könnten"*^).
i) Ihre Wohnungen z. B. werden von einem Mitglied der Kommission Symons folgen-
dermassen beschrieben : ,,Die Wohnungen der Weber für baumwollene ОелуеЬе beweisen am
besten, wie sehr sie leidt-n. ... In den meisten Häusern ist die Wohnungseinrichtung eine kläg-
Hche und armsehge. Ihre Lagerstätten bestehen aus Stroh . . . manchmal fand ich bei ihnen
einige Reste von schönen Möbeln, die von besseren Tagen her mit einem Stolz aufbewahrt
Averden, den die Armut nicht hat ersticken können und der in einem traurigen Kontrast zu
dem elenden Mittagessen und zu dem erschöpften Aussehen der Eigentümer steht". (Hand-
loom Weavers. Report of the Commissioners, 1841, S. 6); Aussage des Kommissionsmit-
gliedes Fletcher: ,,In der Umgegend von Bulkington und Foleshill leben die Familien
der ЛУеЬег gewöhnlich im grössten Schmutz und Elend, schlafen ohne Bettstellen und ohne
Bettwäsche . . . ihre Nahrung besteht vorwiegend aus Brot und Butter, Kartoffel und etwas
Thee ; in seltenen Fällen kommen noch einige Stückchen Schweinefett hinzu" (Report, S. 7).
2) Vgl. Report on the Hand-loom Weavers, Tabellen auf der S. 3.
3) A. a. O., Aussage von R. Dewes, S. 9.
4) A. a. O., Aussage von Laidler, S. 10.
— 2б2 —
Freilich litten nicht alle Weber in gleichem Masse: in den
Fällen, wo die Herstellung einer besonderen Art von Gewebe eine
besondere Geschicklichkeit oder physische Kraft erforderte, waren
die Weberlöhne bedeutend höher. Aber die grosse Mehrzahl der
Weber, die keine besonderen Vorzüge aufwiesen, waren zur äussersten
Not gebracht, wie wir dies an den eben angeführten Beispielen
gesehen haben. Diese Not war um so schwerer zu ertragen, als
sie auf die Periode einer Blüte des Handwebergewerbes Ende des
i8. Jahrhunderts folgte. Die Erinnerung an die früheren glück-
lichen Tage, wie die Abneigung gegen die Fabrikarbeit verhinderte
die Handweber, ihr Gewerbe zu verlassen. Sie konnten es nicht
begreifen, warum dieselbe Beschäftigung früher so gut und jetzt so
schlecht belohnt wurde, und hofften auf die Rückkehr der alten
Zeiti).
In der That standen Ende des i8. Jahrhunderts die Handweber
an der vSpitze der englischen Arbeiterklasse''). Die wichtigsten Er-
findungen dieses Jahrhunderts, die „Jenny" von Hargreaves und die
„Mule" von Crompton stammen von einfachen Webern her. Aber
Intelligenz und Bildung haben die Handweber nicht gehindert, aus
der ersten Reihe der Arbeiterklasse in die allerletzte hinabzusinken.
Offenbar mussten dafür irgend welche Ursachen vorhanden sein,
deren Wirkung so mächtig war, dass einzelne Personen gegen sie
nichts thun konnten.
Nicht minder schlimm war die Lage der Strumpfwirker (frame-
work knitters). Die Löhne in diesem Industriezweige satiken un-
unterbrochen während der Jahre iBii — 1842 und gingen da insge-
samt um 35 Yo herunter^). Die Strumpfwirker arbeiteten wie die
Handweber bei sich zu Hause, sie hatten aber keine eigenen Web-
stühle und mieteten solche bei den Unternehmern. Die Verschlechterung
ihrer Lage ist um so bemerkenswerter, als in diesem Produktions-
zweige keine hervorragenden Erfindungen gemacht worden waren,
die die Nachfrage nach Arbeitern verringern könnten. Die An-
wendung von Dampfmaschinen zur Strumpfwarenproduktion war
wohl technisch möglich, aber die niedrigen Löhne der Handarbeiter
verhinderten das Eindringen der Maschine. Trotzdem sanken die У
Löhne der Strumpfwirker so sehr, dass zu Beginn der 40er Jahre
ihr durchschnittliches wöchentliches Einkommen in Leicestershire, dem
i) A. a. O., Aussage von Dr. Mitchel, S. 39.
2) A. a. O., Aussage von Kingon, S. 43.
3) Cunningham, The Growth of English Industry in Modern Times, S. 618.
— 2бЗ —
Centrum der Strumpfwarenproduktion, zwischen 4 und 8 Schilling pro
Woche schwankte 1).
Die Löhne der landwirtschaftlichen Arbeiter waren auch stark
gefallen. Im Jahre 1830 sind die Landarbeiter im Süden Englands,
von Armut und Not getrieben, bis zu einem offenen Aufruhr ge-
gangen: sie überfielen die Meierhöfe der Farmers und verbrannten die
Gebäude und die landwirtschaftlichen Vorräte. Im Jahre 1844 ver-
anstalteteten die poHtischen Gegner des Grafen Shaftesbury, eines
der Führer der Partei des zehnstündigen Arbeitstages, eine Enquete
über die wirtschaftliche Lage der Arbeiter in seinen Gütern. Es
stellte sich heraus, dass der durchschnittliche Wochenlohn eines er-
wachsenen männlichen Arbeiters nur 7 bis 8 Schilling betrug, und
dass das Einkommen der ganzen Familie keine 10 vSchilling pro Woche
übertraf. Das Einkommen der landwirtschaftlichen Arbeiter näherte
sich also demjenig'en der Handweber 2). Wakefield hatte also Recht,
die Landarbeiter paupers, und vSadler, sie weisse Sklaven zu nennen.
Wodurch ist nun diese Verarmung der breiten Massen der arbeiten-
den Bevölkerung in England hervorgerufen worden? Der Bericht der
Kommission von 1841 weist als auf die Hauptursache der niedrigen
Löhne der Handweber auf die ausserordentliche Leichtigkeit der Er-
lernung dieses Gewerbes hin. Frauen und Kinder könnten nach
einigen Monaten Lehrzeit ebenso geschickte Weber werden w^ie er-
wachsene Männer. Das führte zur Vermehrung des Arbeitsangebots
im Handwebergewerbe und zum Fallen der Löhne ^). Eine solche
Erklärung scheint ganz richtig zu sein, sie erklärt aber in der Wirk-
lichkeit sehr wenig: die in ihr angegebene Ursache hat ebenso gut
im vorigen wie in diesem Jahrhundert gewirkt, trotzdem war jedoch
im vorigen Jahrhundert die Handweberei ein sehr gut bezahltes Ge-
werbe, in diesem Jahrhundert dagegen konnte sie eine selbständige
Existenz der Arbeiter nicht sichern. Offenbar mussten in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts ausser der Leichtigkeit des Erlernens
der Weberei noch irgend welche andere spezielle Ursachen wirken,
die früher nicht gewirkt hatten und die in diesem Jahrhundert die
wirtschaftliche Lage nicht nur der Handweber, sondern auch aller
anderen Arbeiter, die zur Gruppe der sogenannten „unqualifizierten
Arbeit" (unskilled labour) gehören, so stark herabgesetzt haben. Diese
Ursachen waren sehr kompliziert und mannigfaltig, man kann sie
i) J. Ward, Workmen and Wages. London 1868, S. 34.
2) Marx, Das Kapital, Bd. I, 3. Auflage, S. 698.
3) Report on the Hand-loom Weavers, S. 39 — 44.
4) A. a. O. S. 39—44-
— 264 —
aber alle durch einen Begriff zusammenfassen, den der Entwicklung
der kapitalistischen Wirtschaft.
Im 18. Jahrhundert herrschte in England die Kleinproduktion
vor, die Verhältnisse zwischen den Unternehmern und den Arbeitern
durch Gesetz oder Sitte festgestellt wurden und die gesellschaft-
liche Arbeitsteilung war nur wenig entwickelt. Noch zu Beginn
dieses Jahrhunderts betrieb der kleine Pächter neben dem Ackerbau
verschiedene Hülfsge werbe, und der kleine Gewerbetreibende betrieb
nebenbei auch Ackerbau. Die kapitalistische Wirtschaft hat eine
vollständige Trennung der landwirtschaftlichen von der Rohstoffe
veredelnden Industrie herbeigeführt. Die Pächter und die Land-
arbeiter haben ihre Hülfsgewerbe verloren; die Handspindel, die
Ende des 18. Jahrhunderts die Hauptstütze der bäuerlichen Familie
bildete, konnte die Konkurrenz mit der Maschine nicht bestehen.
Ebenso unrentabel wurden auch alle anderen kleinen Gewerbe, und
die Landwirte wurden genötigt, sich Existenzmittel nur durch land-
wirtschaftliche Arbeit zu verschaffen.
Die Vernichtung der Hülfsgewerbe beraubte die landwirtschaft-
liche Bevölkerung einer sehr wichtigen Einnahmequelle und ver-
minderte ihren Wohlstand. Die Einzäunung der Gemeindefelder, das
Zusammenschlagen kleiner Farmen zu grossen und die Lichtung der
Güter (Clearing of Estates) haben in derselben Richtung eingewirkt.
Wie die Ackerbautreibenden die Hülfsbeschäftigungen in der
Rohstoffe veredelnden Industrie verloren haben, so haben die Arbeiter
in dieser den Ackerbau als Nebenbeschäftigung verloren. Zu Beginn
dieses Jahrhunderts betrieben die Yorkshirer Tuchmeister gleichzeitig
mit der Tuchproduktion auch Ackerbau i). Um die Mitte des
19. Jahrhunderts hatten die Handweber, die wie früher auf dem
Lande lebten und bei sich zu Hause arbeiteten, den Ackerbau schon
ganz aufgegeben, und in den wenigen Fällen, wo sie fortfuhren, sich
für Feldarbeit zu verdingen, erwiesen sie sich als sehr schlechte
Landarbeiter ^). Die Spinnerei und Weberei als Hülfsgewerbe konnten
mit neuen Produktionsmethoden nicht konkurrieren, ebenso wie die
Hülfsbeschäftigung mit dem Ackerbau die Konkurrenz mit den
grossen Farmen und ihrer intensiven Wirtschaft nicht aushalten
konnte.
i) Vgl. den höchst interessanten Report on the State of the Woolen Manufactures of
England, 1806. In der Umgegend von Leeds gab es gegen 3500 kleiner selbständiger
Tiichproduzenten, welche in Dörfern lebten und ihr eigenes Land besassen oder kleine Par
Zellen von 3—15 Acres pachteten.
2) Report on the Hand-loom Weavers, S. 9.
— 2б5 —
Also war die durch die Entwickelung der kapitalistischen Wirt-
schaft verursachte gesellschaftliche Arbeitsteilung die erste Zeit gleich
unvorteilhaft sowohl für die Landarbeiter, wie für die Arbeiter der
Rohstoffe veredelnden Industrie, solange diese in der Kleinproduktion
Beschäftigung fanden.
Die Verringerung der Verdienste der Handweber war eine natür-
liche Folge der Entwickelung der Grossindustrie. Aber es wäre ein
Irrtum anzunehmen, dass die einzige Ursache des vSinkens ihrer Löhne
in der Konkurrenz der Webmaschine bestand. Diese Ursache war
zweifellos von grosser Bedeutung, aber sie war nicht die einzige und
sogar nicht einmal die Hauptursache. Das ist am besten daraus zu
ersehen, dass die Löhne der Handweber bereits zu sinken begannen, als
die mechanischen Webstühle in England noch keine grosse Verbreitung
gefunden hatten. Wie oben gesagt, beginnt die rasche Verbreitung
der mechanischen Webstühle in England und Schottland erst seit
dem Ende der 20 er Jahre, die Löhne der Handweber sanken aber
mit geringen Schwankungen schon seit Beginn dieses Jahrhunderts.
Dasselbe wird auch dadurch bewiesen, dass die Löhne der Strumpf-
wirker, die keinen Kampf gegen die Maschinen zu führen hatten,
nicht minder tief gefallen sind als die Löhne der Handweber.
Im grossen und ganzen gingen in England in der ersten
Hälfte des ig. Jahrhuлderts die Löhne aller Arbeiter, deren Arbeit
keine lange Lehrzeit erforderte, herunter. Die Entwickelung des
Kapitalismus hat die Bildung einer überschüssigen Bevölkerung mit
sich gebracht, die das P^ngland der früheren Zeit nicht kannte. Die
Landarbeiter, die den Ackerbau aufgeben mussten, die kleinen selb-
ständigen Produzenten, die die Konkurrenz mit der Grossindustrie
nicht aushalten konnten, die Arbeiter, die von der Maschine ver-
drängt wurden, die Vertreter von allerhand Berufsarten, die unter
den früheren Verhältnissen geblüht hatten und sich an die neuen
nicht anpassen konnten, alle diese Massen der arbeitenden Bevölke-
rung haben ihre früheren Einkünfte verloren und mussten sich in
denjenigen Industrien anhäufen, die allen zugänglich waren. Die
Bildung einer überschüssigen Bevölkerung, die ihre übliche Beschäf-
tigung verliert und eine neue suchen muss, ist eine gewöhnliche Folge
aller grossen industriellen Umwälzungen. Schon die geographische
Verlegung der Industriecentren musste Tausende um ihren Verdienst
und ihre Einkünfte bringen. Die englische Industrie hat aber, im
Zusammenhang mit der Veränderung der Produktionsmethoden, ihren
Schauplatz mehrere Male gewechselt. Ursprünglich war sie auf dem
Lande zerstreut; nach der Erfindung der Arkrightschen Maschine,
— 2б6 —
die durch Wasser in Bewegung gesetzt wurde, begannen die Baum-
wollspinnfabriken, sich um die Ufer der Flüsse zu gruppieren; mit
der Ausbreitung der Dampfmotoren rückten die Fabriken den
Städten näher, und zwar nach kohlenreichen Gegenden, Aus den
östlichen und südlichen Grafschaften Englands wanderte die Industrie
nach den nördlichen, Lancashire, Cheshire und Yorkshire^). Der
Prozess der Verlegung der Industrie kam in der intensiven Ent-
wickelung derselben in einigen Gegenden und in ihrem Verfall in
anderen zum Ausdruck. Die Bevölkerung aber hat immer die
Neigung, in den gewohnten Ortschaften und in dem gewohnten
Milieu zu bleiben ; daher kommt eine neue geographische Einteilung
der Bevölkerung, eine Auswanderung aus den untergehenden In-
dustriecentren in die neu emporkommenden erst dann zu stände, wenn
die Not gross und die Emigration direkt notwendig wird.
Das Elend der englischen Handweber stand in einem auffallenden
Konstrast zum relativen Wohlstand der Weber auf dem europäischen
Kontinent. Nach den von der genannten Kommission gesammelten
Daten war in allen den b'ällen, wo die Weberei mit Ackerbau ver-
bunden war, die Lage der Weber eine befriedigende. In der vSchweiz
und in Oesterreich fuhr die Weberei fort, ein Hülfsgewerbe für die
Ackerbautreibenden zu sein und, obwohl die Löhne der Weber nicht
hoch waren, so litten dieselben keine Not. Nur in Irland war die
Lage der Handweber noch schlechter als in England; aber hier
bildete die Weberei auch die einzige Beschäftigung der Handweber.
Die Handweber selbst führten ihre Notlage hauptsächlich auf
zwei Ursachen zurück: auf die Verbreitung der mechanischen Web-
stühle und auf den Mangel an Gewerkvereinen unter den Hand-
webern. Der Bericht der Kommission von 1841 stellte dagegen
nicht nur entschieden in Abrede, dass die iVrbeitervereine die Löhne
erhöhen können, sondern er behauptete sogar, dass die Arbeiter-
vereine die Tendenz hätten, die Löhne herabzudrücken-). Heute steht
es ausser Zweifel, dass die Arbeiter und nicht die Parlaments-
kommission Recht hatte. Der Mangel an Organisation unter den
Handwebern hat das Sinken ihrer Löhne begünstigt. Die niedrigen
Löhne der Handweber hemmten die Entwickelung der Grossindustrie,
da es nicht rentabel war, die Handarbeit durch Maschinenarbeit zu
ersetzen, solange die Arbeitshände so billig waren. Also erhielt der
Mangel der Organisation unter den Arbeitern die Hausindustrie
i) Cunningham, S. 468.
2) Report on the Hand-loom Weavers, S. 31.
— 267 —
künstlich aufrecht trotz der technischen Rückständigkeit derselben'
zum grossen Schaden der arbeitenden Klasse.
In welcher Weise haben nun die industriellen Krisen auf die
Lage der arbeitenden Klasse in England eingewirkt? Um diese P'rage
mit genauen Zahlen zu beantworten, habe ich die folgende Methode
angewandt: ich habe einige landwirtschaftliche und einige industrielle
Grafschaften zur Untersuchung gewählt uud die Veränderungen in
der Zahl der Heiraten, der Verbrechen, der Sterbefälle und der
Kosten der Armenverpflegung von Jahr zu Jahr in den Grafschaften
der einen und der anderen Art verglichen. Da die Krisen mit ihrer
ganzen Last auf die Industrie und Handel treibenden Klassen der
Gesellschaft drücken, während die landwirtschaftliche Bevölkerung
von ihnen fast gar nicht berührt wird, muss notwendigerweise,
wenn die Krisen wirklich ein bedeutender Faktor im Volksleben
Englands sind, dieser Unterschied in der Verschiedenheit der Be-
wegung der betreffenden statistischen Daten für die industriellen
und die landwirtschaftlichen Grafschaften zum Vorschein kommen.
Die von mir untersuchte Gruppe der landwirtschaftlichen Grafschaften
besteht aus den folgenden: Cambridge, Essex, Norfolk, Oxford, Lin-
coln, Sufifolk und Wilts, in denen die landwirtschaftliche Bevölkerung
die industrielle überwiegt; die Gruppe der industriellen Grafschaften
besteht aus Lancaster und Chester, in welchen Grafschaften der
grösste Teil der Baumwollindustrie Englands konzentriert ist und
die landwirtschaftliche Bevölkerung nur sehr schwach vertreten ist.
Hier sind die bezüglichen Daten :
Die Verteilung der Bevölkerung nach dem Beruf betrug im
Jahre 1841^)
j , j • . 1 r^i. X. nach dem Prozentsatz der Bevölkerung,
in den landwirtscnaftlicnen ,, . «ii. ^ г. ■ tltji j-j
P ^ , ^ welche im Ackerbau welche im Handel und in der
beschäftigt ist Industrie beschäftigt ist
Cambridge 39,3 25,3
Essex 39,0 24,6
Lincoln 40,0 24,4
Norfolk 32,8 31,8
Oxford 34,9 29,2
Suffolk 38,2 27,5
WUts 36,3 27,9
in den industriellen Grafschaften
Lancaster 6,7 62,9
Chester 15,1 52,9
Die Bevölkerungszahl beider Gruppen war in den 40 er Jahren
beinahe die gleiche, und zwar betrug sie im Jahre 1841 in den
I) Vgl. Porter, The Progess of the Nation, 1847, S. 58.
2б8 —
7 landwirtschaftlichen Grafschaften 2 02 i 490 und in den 2 industriellen
Grafschafte П2062364.
Landwii
'tschaf tliche
Industrielle Graf-
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—
173
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47
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1830
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—
125
0,785
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—
47
0,243
156
—
41
0,505
183I
153
—
43
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—
171
0,243
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1832
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0,764
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187
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47
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1833
154
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141
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—
166
0,198
168
140
0,446
1834
152
—
46
0,634
189
—
194
0.170
168
—
45
0,385
1835
136
—
151
0,532
187
—
174
0,148
162
141
0,323
1836
133
—
164
0,418
192
—
42
0,45
162
140
0,271
1837
129
—
170
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161
—
180
0,152
149
—
46
0,274
1838
—
203
45
0,442
—
261
167
0,149
44
224
41
0,289
1839
141
198
158
0,439
177
288
186
0,159
49
219
158
0,295
1840
43
210
165
0,439
171
300
224
0,168
156
228
173
0,303
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207
49
0,438
171
258
239
0,181
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141
202
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0,442
47
257
265
0,216
147
217
194
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180
0,431
179
254
218
0,193
42
212
181
0,305
1844
142
205
174
0,448
193
243
168
0,172
160
24
160
0,305
1845
149
201
141
0,443
21 1
246
49
0,171
172
209
145
0,296
1846
148
208
41
0,467
200
308
169
0,187
172
230
148
0,314
1847
142
213
162
0,508
169
342
187
0,290
158
247
168
0,362
1848
149
212
49
0,454
177
27!
205
0,249
49
230
175
0,335
1849
142
216
47
0,425
189
294
173
0,203
162
251
48
0,307
1850
141
201
42
~
206
241
173
"
172
208
41
Im Durch-
schnitt
H5
206
H7
0,579
183
274
182
0,205
161
224
47
0,384
Die relativen Zahlen dieser Tabelle sind berechnet auf Grund der absoluten Zahlen,
welche den englischen amtlichen statistischen Publikationen — Annual Reports of the Kcgi-
strar General of Births, Deathes and Marnages in England und Tables of the Revenue»
Population, Commerce etc. of the United Kingdom — entnommen sind.
Diese Tabelle zeigt für die Jahre 1822 — 50 die Zahl der
verehelichten und die der verstorbenen Personen auf je 10 000 der
i
— 269 —
Bevölkerung, ferner die Zahl der vor das Schwurgericht ge-
stellten Personen auf je 100 000 der Bevölkerung, sowie die jähr-
liche Höhe der Armenunterstützung pro Kopf der Bevölkerung.
Und zwar sind alle diese Daten sowohl für ganz England, als auch
speziell für die g'enannten landwirtschaftlichen und industriellen Graf-
schaften gegeben. Auf Grund dieser Daten sind die beigelegten
Diagramme zusammengestellt worden: das Diagramm Nr. 4 bezieht
sich auf die landwirtschaftlichen Grafschaften, das Diagramm Nr. 5
auf die industriellen und das Diagramm Nr. 6 auf ganz England.
Schon bei einem flüchtigen Blicke auf die beiden ersten Dia-
gramme macht sich ein auffallender Unterschied zwischen ihnen be-
merkbar. Das Diagramm Nr. 4, welches sich auf die landwirtschaft-
lichen Grafschaften bezieht, zeigt keine bedeutenden periodischen
Schwankungen. Die Kurve der Eheschliessungen bleibt während der
ersten 5 Jahre fast unverändert; die Handelskrisis von 1825 übt auf
sie keinen bedeutenden Einfluss. In den Jahren 1829 und 1830 sinkt
die Zahl der Eheschliessungen unter der Wirkung der Missernten
dieser Jahre (in dem Triennium 1826 — 28 betrug der Durschschnitts-
preis eines Quarters Weizen in England ca. 59 Schilling; im Jahre
1829 stieg er auf 66 Schilling und im Jahre 1830 auf 64 Schilhng).
Infolge der vorzüglichen Ernten des Anfanges der 30er Jahre steigt
die Zahl der Eheschliessungen wieder bis auf die frühere Höhe.
Aber im Jahre 1835 sinkt diese Zahl trotz der guten Ernte
plötzlich, und im Lauf der ganzen nachfolgenden Zeit steht sie be-
deutend niedriger als am Anfange der 20er und 30 er Jahre. Offen-
bar hat sich im Leben der landwirtschaftHchen Bevölkerung Eng-
lands eine tiefe Veränderung vollzogen, w^elche auf die Zahl der
Eheschliessungen eine Rückwirkung ausgeübt hat. In der That war
in dem Jahre 1834 bie berühmte Reform des Armengesetzes durch-
geführt worden, mittels welcher die Urheber derselben die Beseitigung
des Pauperismus bezweckten.
Die Unterstützung der Familien der verarmten Arbeiter wurde
sehr eingeschränkt, und die Arbeiter, welche keine Mittel hatten, um
ihre Familie zu ernähren, mussten mitsamt derselben in Arbeitshäuser
wandern. Natürlich hat diese strenge Massnahme eine Abnahme der
Eheschliessungen unter den Arbeitern zur Folge gehabt Die Mal-
thusianer konnten triumphieren: es war für die Vermehrung der Be-
völkerung ein Hemmschuh geschaffen. Das weitere Sinken des Wohl-
standes der arbeitenden Bevölkerung in England ist jedoch durch
diese Massnahme nicht verhindert worden.
— 270 —
Die Wirkung des neuen Gesetzes, welches in den ersten Jahren
nach seiner Einführung besonders streng gehandhabt wurde , war
eine so einschneidende, dass selbst in der von Missernten heimge-
suchten Zeit Ende der 30 er und Anfang der 40 er Jahre die Zahl
der Eheschliessungen grösser war als in den Jahren 1835 — 37» welche
gute Ernten hatten, aber unmittelbar der Einführung des Gesetzes
von 1834 folgten. Mitte der 40er Jahre steigt wieder die Kurve
der Eheschliessungen unter dem Einflüsse der guten Ernten , um
im Jahre 1847 wieder zu sinken; in diesem Jahre trat der Misswachs
des Getreides im Vereinigten Königreich zugleich mit dem durch
die Kartoffelkrankheit verursachten Verlust der gesamten Kartoffel-
ernte auf.
Die Kurve der Sterblichkeit, welche auf unserem Diagramm mit
dem Jahre 1838 beginnt, da erst seit dieser Zeit eine regelmässige
Registrierung der Sterbe- und Geburtsfälle in England angefangen
hat, weist ebensowenig Schwankungen auf wie die Kurve der Ehe-
schliessungen und bewegt sich grösstenteils im Gegensatze zu der
letzteren; ihre geringen Schwankungen beweisen, dass die ökono-
mische Eage der Masse der Bevölkerung in den landwirtschaftlichen
Grafschaften Englands sich von Jahr zu Jahr wenig verändert hat.
Die Ernten und Missernten üben eine grössere Wirkung auf den
Profit des Pächters als auf die Löhne der Arbeiter, und der Einfluss
der Ernte auf die Lage der landwirtschaftlichen Arbeiter ist verhältnis-
mässig gering.
Die Kurve der KriminaUtät schwankt viel stärker und zeigt
bis zum Anfang der 40 er Jahre überdies eine merkliche Aufwärts-
bewegung. Die Ursachen der Schwankungen sind nicht immer klar:
die Krisis von 1825 hat keinen erkennbaren Einfluss auf die Ver-
mehrung der Verbrechen ausgeübt. Die oben erwähnte Reform der
Armengesetze ruft dagegen eine bedeutende Steigerung der Krimi-
nalität hervor; das Gesetz von 1834 hat in den landwirtschaftlichen
Grafschaften nicht nur die Zahl der Ehen verringert, sondern zu-
gleich auch die Zahl der Verbrecher vermehrt. Offenbar hat der
Arme das Risiko, ins Gefängnis zu gelangen, der unvermeidlichen Ы
Einsperrung ins Arbeitshaus häufig vorgezogen. Die Krisis von 1836
hat ein Wachstum der Verbrechen bewirkt. Ueberhaupt schwankt ||
die Kurve der Kriminalität ähnlich wie diejenige der Sterblichkeit.
In den Jahren der Missernten steigt die Kriminalität, in Jahren mit
guter Ernte sinkt sie.
Die Kurve des Pauperismus steigt Ende der 20er Jahre unter
dem Einflüsse der Missernten, um nach dem Erlass des neuen Armen-
Tugan-B
Zur S. 270.
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Diagramm N0. 5
Industrielle Grafschaften
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Diagramm N0. 6
England
Jahre
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1833
1832
1831
1830
1829
1828
1827
1826
1825
1824
1823
1850
1849
1848
1847
1846
1843
1842
1841
1840
1839
1838
1837
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Jahre
Jahre
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— 27 I —
gesetzes stark zu sinken. In den 40 er Jahren sind ihre Schwan-
kungen gering, und nur im Tahre 1847 steigt sie merklich.
Das Gesagte resümierend, kommen wir auf Grund des Dia-
grammes Nr. 4 zu folgenden vSchlüssen: in der Lage der landwirt-
schaftlichen Bevölkerung machten sich in dem zweiten Viertel dieses
Jahrhunderts nur ziemlich unbedeutende Schwankungen bemerkbar
mit Ausnahme derer der Kriminalität, welche verhältnismässig be-
deutend waren und vornehmlich durch den Ausfall der Ernte her-
vorgerufen worden waren. Die Handelskrisen, welche nicht von
Missernten begleitet waren, übten keinen irgendwie merklichen Ein-
fluss auf die Lage der landwirtschaftlichen Klassen Englands. So
blieb zum Beispiel trotz der Krisis von 1825 in den landwirtschaft-
lichen Grafschaften die Zahl der Eheschhessungen und der Pau-
perismus beinahe stationär. Dasselbe gilt von der Krisis des Jahres
1836. Im Jahre 1847 hat sich die Lage der landwirtschaftlichen Be-
völkerung verschlimmert, aber nicht unter dem Einflüsse der Handels-
krisis, sondern unter dem der Missernte des voraufgegangenen Jahres.
Dagegen hat die Reform der Armengesetze eine sehr starke Wir-
kung auf die Lage der ländlichen Bevölkerung Englands ausgeübt
und eine Verminderung der Zahl der Eheschlesisungen sowie eine
Steigerung der Zahl der Verbrechen bewirkt.
Vergleichen wir das Diagramm Nr. 4 mit dem Nr. 5, welches
die Lebensverhältnisse der Industriebevölkerung Englands charakteri-
siert, so bemerken wir sofort, dass im Leben der industriellen Klassen
Englands viel grössere Schwankungen stattfinden als im Leben der
landwirtschaftlichen Klassen. Während des Trienniums 1823 — 1825,
in welchem der Handel und die Industrie Englands blühten, steht
die Kurve der Eheschliessungen in den industriellen Grafschaften
hoch und erreicht im Jahre 1825 das Maximum für das Jahrzehnt.
Die Handelskrise am Ende dieses Jahres drückt sie sofort auf ein
Niveau herab, welches das Minimum des ganzen Jahrzehnts darstellt.
Die Reform der Armen gesetzgebung hat keine merkliche Wirkung
auf die Zahl der Ehen in den industriellen Grafschaften ausgeübt.
Die Fabrikarbeiter waren gewohnt, ohne Kirchspielunterstützungen
auszukommen, und in den Industriecentren hatte daher die Ein-
schränkung- dieser Unterstützungen keinen solchen Einfluss auf die
Lage der Bevölkerung wie in den landwirtschaftlichen Grafschaften.
In der folgenden Periode des Aufschwunges, 1833-36, be-
merken wir ein starkes Steigen der Kurve der Eheschliessungen.
Im Jahre 1836 erreicht die Ehefrequenz wieder das Maximum für
das ganze Jahrzehnt. Im Jahre 1837 sinkt unter dem Einflüsse der
— 272 —
Krisis des люгап gegangenen Jahres die Zahl der Eheschliessungen
stark; in diesem Jahre ist sie die niedrigste im ganzen Jahrzehnt.
Im Jahre 1842 sinken die Eheschliessimgen stark infolge der an-
dauernden Geschäftsstockung des Endes der 30er und des Anfanges
der 40er Jahre. Die neue Epoche des Aufschwunges der Jahre
1843 — 45 hat ein sofortiges Wachstum der Zahl der Eheschliessungen
zur Folge, und die Handelskrisis von 1847 reduziert wieder die Zahl
der eingegangenen Ehen auf ein Minimum.
Die Kurve des Pauperismus schwankt in offenbarem Zusammen-
hang mit den Krisen. Diese Kurve zeigt drei starke Steigerungen
in den Jahren 1826, 1842 und 1847, ^^^ ist in jenen Jahren, in
welchen die englische Industrie die grössten Stockungen erlebte.
Vergleichen wir die Schwankungen dieser Kurve mit denen der
Ehefrequenz, so tritt der enge Zusammenhang zwischen beiden klar
hervor: fast jedes Mal, w^enn die erste Kurve steigt, sinkt die zweite
und umgekehrt. Diese beiden Kurven bilden zusammen beinahe
eine symmetrische Figur.
Die Kurve der wSterblichkeit in den industriellen Grafschaften
bewegt sich im umgekehrten Verhältnis zu der Kurve der Ehe-
schliessungen. In dem Triennium 1843 — 1845 sinkt sie stark; im
Jahre 1846 erfolgt ein Steigen, und das Maximum wird im Jahre
1847 erreicht. Im Jahre 1849 wütete in England die Cholera; trotz-
dem war in diesem Jahre die Sterblichkeit in den industriellen Graf-
schaften Englands viel niedriger als in dem Jahre 1847; ^^s will
sagen, dass für die Industriebevölkerung Englands eine Handelskrisis
verderblicher war als eine Epidemie. Ueberhaupt aber sind die
Schwankungen in der Zahl der Eheschliessungen und der Sterbefälle
in den industriellen Grafschaften viel stärker als in den landwirt-
schaftlichen.
Die Kurve der Verbrechen zeigt eine ähnliche Abhängigkeit
der Kriminalität der Bevölkerung von ihrer ökonomischen Lage,
eine Abhängigkeit, die auch in anderen Erscheinungen des Volkslebens
zum Ausdruck kommt. In den Jahren des Wohlstandes sinkt die
Kriminalität, in den Jahren der Krisis steigt sie rasch. Die Ge-
schäftsstockung im Anfang der 40er Jahre ruft eine besonders
starke Vermehrung der Kriminalität hervor; ir dieser Zeit ist zu
der Arbeitslosigkeit die politische Agitation der Chartisten hinzu-
gekommen, und die Zahl der Gesetzübertretungen ist sehr stark
gewachsen.
Wenn wir die Schwankungen aller dieser vier Kurven mit
denen der Kurve des englischen Exportes auf dem Diagramm Nr. i
— 273 —
vergleichen, so bemerken wir, dass die Kurve der Eheschliessungen
in derselben Richtung schwankt wie die Kurve des Exportes, während
die drei übrigen Kurven (die der Sterblichkeit, der Kriminalität
und des Pauperismus) sich in einer entgegengesetzten Richtung be-
wegen. Jedesmal, wenn der Export des Vereinigten Königreiches
sinkt, vermindert sich in deh industriellen Grafschaften Englands die
Zahl der Ehen und steigt zugleich die Zahl der Sterbefälle, der Ver-
brechen und der Paupers. Ueberhaupt folgen die Schwankungen
aller Kurven unseres Diagramms offenbar diesem Gesetze: die
periodischen Schwankungen der englischen Industrie, welche in akuter
Form in den Handelskrisen zum Ausdruck kommen, haben während
der Zeit, welche wir jetzt betrachten, eben solche periodische Schwan-
kungen im Leben der industriellen Klassen Englands hervorgerufen.
Die industriellen Flut und Ebbe ziehen auch in entsprechendem Ver-
hältnis Flut und Ebbe der Eheschhessungen, der Sterbefälle, der
Kriminalität u. s. w. nach sich.
Der enge Zusammenhang zwischen den Schwankungen der
einen und der anderen Art trat in England in den 30er — 40er Jahren
klar zu Tage. Interessant ist in dieser Hinsicht die Aussage eines
Sheriffs der Lanarker Grafschaft, eines gewissen Alisons, welche er
vor einer Kommission des Oberhauses im Jahre 1848 gemacht hat.
Alison teilte nämlich mit, dass, wenn die englische Bank ihren Dis-
kontosatz erhöhte, er sich an die lokalen Behörden in der folgenden Art
zu wenden pflegte: „Gentlemen, die Englische Bank erhöht ihren Dis-
kont, ihr müsst sofort Massnahmen treffen, um in den Gefängnissen,
Hospitälern und Arbeitshäusern Platz für neu Ankommende zu
schaffen" ^).
Das Diagramm Nr. 6, welches sich auf ganz England bezieht,
macht den Eindruck einer Zusammensetzung aus den beiden ersten
Diagrammen. Die Schwankungen der Kurven sind nicht so stark
wie in dem Diagramm Nr. 5 , sie sind aber stärker als in dem
Diagramm Nr. 4. Die Wirkung der Handelskrisen kommt ganz klar
zum Ausdruck.
Das Diagramm Nr. 6 zeigt, wie auch die zwei vorangegangenen
Diagramme, das vollständige Fehlen eines Fortschrittes in der wirt-
schaftlichen Lage der englischen Bevölkerung während des zweiten
Viertels dieses Jahrhunderts an. Damit ist nicht gemeint, dass die
i) Vgl. Report from the Secret Committee of the House of Lords on Commercial
Distress 1848, Minutes of Evidence. S. 416.
Tugan-Baranowsky , Die Handelskrisen. 18
— 274 —
Lage der arbeitenden Klasse Englands diese Zeit hindurch unver-
ändert blieb. Im Gegenteil, sie erlitt sehr starke Veränderungen,
diese hatten aber nicht einen fortschreitenden, sondern einen cyklischen
Charakter.
Die Unbeständigkeit der Arbeitsgelegenheit war für die eng-
lischen Arbeiter eine scharfe Geissei. Besonders hatten von den
Krisen die Handweber zu leiden, welche zu dieser Zeit einen schweren
Kampf gegen die Maschine führen mussten. Wie aus dem Berichte
der parlamentarischen Kommission von 1841 über die Handweber
zu ersehen ist, klagten die Handweber Englands und Schottlands
nicht so sehr über den niedrigen Stand ihrer Löhne als über die
häufige Wiederkehr von Geschäftsstockungen, während deren sie
keine Arbeit hatten. So äussert sich z. B. ein gewisser Bresson, ein
intelligenter Seiden weber: „Es wäre für die Weber möglich, aus-
kömmlich zu leben, wenn sie jahraus jahrein auf ständige Arbeit
rechnen könnten; aber alle fünf oder sechs Jahre tritt eine Periode der
Geschäftsstockung ein, und oft vergehen zwei Jahre, bevor der Handel
wieder auflebt. Der vorige Winter (1836 — 37) war einer der schlech-
testen. Das Wetter war sehr ungünstig, und der Handel hatte fast
ganz aufgehört infolge der Panik, welche die amerikanischen Firmen
erfasst hatte. Die Seidenhändler konnten die Ware um keinen Preis
loswerden, und die Manufakturbesitzer stellten die Produktion ganz
ein. Tausende von Webern konnten keine Beschäftigung finden und
litten grosse Not"^).
Ueber die Wollweber, welche die am besten bezahlte Klasse
der Weber bildeten, bemerkt einer der befragten Zeugen, Chapman:
„Wäre ihr Einkommen ein konstantes, so bezweifle ich sehr, dass, |У
wie erwünscht ihnen auch eine Besserung ihrer Lage sein möchte,
sie über dieselbe klagen würden. Leider finden aber die Weber
selten Arbeit". Dasselbe sagt auch Symons von den schottischen
Webern: „In keinem einzigen Zweige der Weberei Schottlands
finden die Arbeiter ständige Arbeit; alle leiden stark unter den
periodisch wiederkehrenden Geschäftsstockungen, und nur in wenigen
Gegenden Schottlands hat ein bedeutender Teil der Weber die
Arbeit im vergangenen Sommer nicht verloren; in der That ist die
häufige Wiederkehr der Geschäftsstockungen ein wichtiger, wenn
auch nicht der einzige Grund des Elendes der Hausweber" '^).
i) Vgl. Report on tbe Hand-loom Weavers. London 1841, S. 19.
2) A. a. O. S. 20.
— 275 —
Die Handelskrisen führten nicht nur Schwankungen im Ver-
dienste der Handweber herbei, sondern sie haben auf die Weber
auch ständig einen schädlichen Einfluss geübt, indem sie ihr Lebens-
niveau herabdrückten, so dass die Handweber sich an ein immer
elenderes Leben, welches dem verminderten Arbeitslohn entsprach,
gewöhnten. Bei den Handwebern waren keine Gewerkvereine vor-
handen, auch keinerlei Vereine für gegenseitige Unterstützung in
Fällen der Not. Auf die isoliert dastehenden Weber drückten die
Krisen und die Arbeitslosigkeit mit ihrer ganzen Last, und mit jeder
neuen Krise wurden sie weniger fähig, ihre Interessen zu wahren.
Das musste zum Sinken ihrer Löhne führen. Ausserdem wirkte, wie
aus den Worten des den Arbeitern sehr zugeneigten Dr. Mitchel
zu ersehen ist, die Unthätigkeit der Arbeiter zur Zeit der Krisen
sehr schädlich auf ihre Arbeitskraft und ihre Gewohnheiten:
„Zu einer solchen Zeit," sagt Dr. Mitchel, „werden die Arbeiter
durch die Not gewöhnt, fast ohne jedwede Existenzmittel zu leben
und es wird ihre geistige und körperliche Energie ausserordentlich
geschwächt; die Gewohnheit zur Faulenzerei, zum Nichtsthun tagaus
tagein wird zur vorherrschenden Neigung. Es kann dafür ein über-
zeugendes Beispiel aus Braintree angeführt werden. Als die Weber
dieses Fleckens nach einer gezwungenen Unthätigkeit während einiger
Monate im Jahre 1837 Arbeit bekamen, fiel es dem Manufaktur-
besitzer nach einigen Wochen auf, dass die Weber jetzt sehr wenig
arbeiteten, obwohl sie keine andere Beschäftigung hatten. Der
Unternehmer sah sich infolgedessen genötigt, von den Arbeitern
zu verlangen, dass jede Woche unbedingt ein gewisses Arbeitsquan-
tum erledigt werden sollte, die Weber lieferten jedoch, obgleich
Geldstrafen über sie verhängt wurden und sie riskierten, die Arbeit
ganz zu verlieren, weniger, als sie zu arbeiten imstande waren" ^).
Die Kurve der Kriminalität und des Pauperismus auf dem Dia-
gramm Nr. 5 ist eine gute statistische Illustration für die Engels-
sche Theorie der industriellen Reservearmee des Kapitalismus. Jede
Handelskrise schleudert viele Tausende von Arbeitern aus der arbeiten-
den Klasse hinaus; diese können nicht mehr von ihrer Arbeit leben
und gehen in die Reihen der Paupers oder der Verbrecher über.
Wenn die Krisis vorüber ist, der Handel sich von neuem belebt und
die Nachfrage nach Arbeitern steigt, entlassen die Gefängnisse und
die Arbeitshäuser ihre Bevölkerung. Nur dank dem Vorhandensein
i) A. a. O. S. 21.
18*
— 276 —
eines ständigen Ueberschusses an Arbeitshänden vermag die kapita-
listische Industrie sich in Perioden des Aufschwungs so schnell aus-
zudehnen. „Der charakteristische Lebenslauf der modernen Industrie,
die Form eines durch kleinere Schwankungen unterbrochenen zehn-
jährigen Cyklus von Perioden mittlerer Le]:)endigkeit, Produktion
unter Hochdruck, Krise und Stagnation, beruht auf der beständigen
Bildung, grösserer oder geringerer Absorption und Wiederbildung der
industriellen Reservearmee oder Uebervölkerung. Ihrerseits rekrutieren
die Wechselfälle des industriellen Cyklus die Uebervölkerung und
werden zu einem ihrer energischsten Reproduktionsagentien" i).
Die ständige Abwechselung der Perioden des Aufschwunges
mit denen des Niederganges konnte vorteilhaft für einige Unter-
nehmer und Kapitalisten sein ; in den Perioden der Prosperität heimsten
sie bedeutende Profite ein, durch welche sie für die Verluste entschädigt,
wurden, die sie zur Zeit der Krisen erlitten hatten. Aber die Ar-
beiter hatten wenig Vorteil von den Perioden des Aufschwunges:
die Löhne der besser bezahlten und organisierten Fabrikarbeiter
stiegen manchmal, aber oft blieben sie unverändert, obgleich der
Profit der Unternehmer gestiegen war. Dafür verminderte sich aber
während der Krisen das Einkommen der Fabrikarbeiter stark infolge
der Verkürzung der Arbeitszeit, der Einschränkung der Zahl der
beschäftigten Arbeiter und des Sinkens der Arbeitslöhne. Nach einer
Krisis blieben die Löhne während einer ganzen Reihe von Jahren
niedriger, als sie vor der Krisis waren. Als Beispiel kann man fol-
gendes anführen:
Die durchschnittlichen Wochenlöhne^).
Eine Baumwollfabrik in Hyde Eine Wollenfabrik in Leicester
i
Jahre
Spinner I. Klasse
Weber
Wollkämmer
1821
35
sh.
6 d.
14 sh.
18 — 25 sh.
1826
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Eine Baumwollfabrik in Manchester
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Männer
Spinner
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1845
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12 sh. — d.
9 sh. 9 d.
1847
7 » 9 »
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1849
12 „ — „
12 „ — „
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1) K. Marx, Das Kapital, Bd. I, 3. Aufl., S. 649.
2) Vgl. Returns of Wages, 1887, S. 8, 15, 12.
~ 277 —
Im Jahre 1847 waren die Löhne der Weber in den Baumwoll-
fabriken von Manchester um mehr als die Hälfte gesunken ; die
Löhne der Spinner waren gleichfalls sehr stark heruntergegangen.
Die Krisis von 1825 hat die Löhne der Fabrikarbeiter verhältnis-
mässig nur wenig verringert, aber es muss berücksichtigt werden,
dass das Arbeitseinkommen des Arbeiters nicht allein von seinem
Arbeitslohn abhängt, sondern auch von der Zeitdauer, während der
er beschäftigt ist, und diese wird während der Krisen immer stark
reduziert. Die Schwankungen der Zahl der beschäftigten Arbeiter
kann man aus folgendem Beispiele ersehen:
Der Prozentsatz der arbeitslosen Mitglieder der Trade
Union der Eisengiesser
(Ironfounders of England, Ireland and Wales)
(auf je 100 Unionsmitglieder) *)
im Jahre
im Jahre
1831
5,8
1841
18,5
1832
7,1
1842
11,0
1833
8,1
1843
7,4
1834
6,2
1844
5Д
1835
5,4
1845
3,9
1836
5.0
184b
19.3
1837
12,4
1847
15,7
1838
10,5
1848
33,4
1839
II, I
1849
22,3
1840
14,8
1850
13,8
An Unterstützungen wurden den arbeitslosen Mitgliedern der
Union der Messerarbeiter bezahlt 2): '
£
£
1832
2,572
1837
2,650
1833
742
1838
2,417
1834
^53
1839
2,279
1835
60
1840
3,546
1836
40
1841
3,003
Die Aufeinanderfolge der Perioden des Aufschwunges und der
(jeschäftsstockung kommt in diesen Zahlen deutlich zum Ausdruck.
Ende der 30 er und Anfang der 40er Jahre schwillt die Zahl der
Arbeitslosen stark an, in den Perioden 1834 — 36 und 1843—45 ver-
mindert sie sich.
Die ständigen Schwankungen des Arbeitseinkommens der Ar-
beiter veranlasste das englische Parlament im Jahre 1830 eine Kom-
i) Vgl. Statistical Tables and Reports on Trade Unions. Fourth Report 1891,
s. 523.
2) Vgl. Report of the National Association for the Promotion of Social Science
on Trades Societies. 1860, S. 539.
— 278 —
mission einzusetzen, welche die Aufgabe hatte, Mittel zu finden, um
den Uebelstand zu beseitigen oder wenigstens zu mildern. Diese Kom-
mission ist zu dem Ergebnis gelangt, „1. dass in den Industriedistrikten
Englands in der That bedeutende Schwankungen in der Beschäftigung
der Arbeiter stattfinden, was zu einer grossen Not unter denselben
führe, 2. dass der Arbeiterdurchschnittverdienst mehrerer Jahre bei
gleichmässiger Verteilung desselben vollständig genügen würde, um
die Arbeiter in den Perioden der Geschäftsordnung zu versorgen" i).
Indes sei nach den Ausführungen der Kommission der weitaus grösste
Teil der Textil- und Metallindustriearbeiter gegenwärtig imi ganzen
Königreich mittellos und zur Zeit der Arbeitslosigkeit unversorgt;
nur wenige besser bezahlte Arbeiter haben Sparkasseneinlagen, die
Mehrzahl der Arbeiter habe aber keine Ersparnisse, und wenn sie
keine Arbeit haben, seien sie genötigt, ein schlechteres Leben zu
führen , ihren Kredit zu erschöpfen , ihre Kleider und Möbel zu
verpfänden und schliesslich sich von dem Kirchspiele unterstützen
zu lassen 2).
Ausser alldem führte nach der Meinung der Kommission die
Not der Arbeiter auch zu einem Missverhältnis zwischen dem Um-
fang der Produktion und der Nachfrage nach Waren. Wenn die
Nachfrage nach Waren sich vermindert, sollte natürlicherweise die
Produktion eingeschränkt werden, indes hat die Notlage der Arbeiter
gerade zu dieser Zeit manchmal eine Erweiterung der Produktion
zur Folge. Das Sinken der Löhne veranlasst die Arbeiter, eine
grössere Stundenzahl am Tage zu arbeiten, und verdoppelt ihre An-
strengungen; infolgedessen kann die Warenmasse anwachsen zu
einer Zeit , in welcher sie nach Massgabe der Marktverhältnisse
eine Einschränkung erfahren müsste. Desgleichen kann für einzelne
Unternehmer die Erweiterung der Produktion zur Zeit des tiefsten
Sinkens der Arbeitslöhne vorteilhaft sein, obwohl die ganze Unter-
nehmerklasse darunter leidet, da diese Erweiterung der Produktion zu
einer Verschärfung der Krisis führt, welche infolge der ständigen
Ueberfüllung des Marktes mit Waren aus einer temporären, vorüber-
gehenden zu einer dauernden, nahezu chronischen wird.
Wenn die Arbeiter zur Zeit der Krisen mit Existenzmitteln
versorgt wären , würden ihre Löhne nicht so stark heruntergehen
und sie würden nicht genötigt sein, in anormaler Weise die Dauer
i) Vgl. Report from the Select Committee on Manufacturers Employnien 1830, S. 1
2) A. a. O. S. 7.
— 279 —
des Arbeitstages zu verlängern. In diesem Falle könnte die
Produktion zur Zeit der Verminderung der Nachfrage eingeschränkt
werden, und die Handelskrisen würden minder dauerhaft und schwer
werden. Die Kommission hat daher im Interesse der Arbeiter wie
der Unternehmer den Voi schlag gemacht, dass von den Arbeitern
Vereine für Unterstützung arbeitsloser Mitglieder gebildet werden.
Die Mittel eines solchen Vereines sollten aus freiwilligen Bei-
trägen der Mitglieder gebildet werden, und jedes Mitglied sollte bei
Arbeitslosigkeit das Recht auf eine Unterstützung erhalten im Be-
trage der Summe, welche von ihm eingezahlt ist, mitsamt den zuge-
wachsenen Zinsen.
Der Vorschlag der Kommission kam also hinaus auf die Bildung
von Sparkassen eigentümlicher Art, nämlich Kassen mit einem be-
schränkten Rechte der Eigentümer auf Zurückforderun g der Einlagen.
Das Prinzip der gegenseitigen Versicherung hat die Kommission ent-
schieden abgelehnt, „da die arbeitenden Klassen einen Verein, in
welchem ein jeder für sich verantwortlich ist, einem Verein vorziehen
werden, in welchem der eine für die anderen haften muss, ohne für
sich selbst etwas zu bekommen" i).
Bekanntlich haben die Arbeiter den Vereinigungen der letzteren
Art den Vorzug gegeben. Die Trade Unions sind Vereine für
gegenseitige Versicherung gegen Zufälle, welchen der Arbeitsverdienst
ausgesetzt ist. Nur infolge der weiteren Anwendung des Ver-
sicherungsprinzips erreichen sie mehr oder minder ihre Ziele und ge-
währen den Arbeitern zur Zeit der Arbeitslosigkeit eine wirkliche
Hilfe. In den 30 er Jahren dieses Jahrhunderts waren aber die Ar-
beitslöhne so niedrig, dass die Arbeiter keinesfalls Ersparnisse für
Notzeiten machen konnten, und deshalb haben die Sparkassen, welche
von der Kommission vorgeschlagen worden sind, nie Verwirklichung
gefunden.
Die Epochen der Depression sind , wie es von Brentano
besonders betont wurde, auch in der Hinsicht interessant, dass sich
gerade in solchen Zeiten , in denen die Nachfrage nach Waren
eingeschränkt wird und ihre Preise sinken, grosse Vervollkomm-
nungen in der Technik vollziehen, neue Industriezweige zur Ent-
wickelung gelangen, neue Absatzmärkte eröffnet werden, über-
i) A. a. O. S. II. Etwas ähnliches hat neuestens Georg Schanz vorgeschlagen.
Vgl. seine Arbeiten „Zur Frage der Arbeitslosenversicherung", Berlin 1895 ^'^^^ „Neue
Beiträge zur Frage der Arbeitslosenversicherung", Berlin 1897.
— 28o —
haupt die veraltete Routine neuen Methoden Platz macht. Unter
dem Einflüsse niedriger Preise sind die Industriellen und Kauf-
leute genötigt, aus Selbsterhaltungstrieb Mittel und Wege auszu-
finden , um die Produktion zu verbilligen und den Absatz ihrer
Waren zu erweitern. In den Epochen des Aufschwungs , wenn
der Profit hoch ist und der Absatz der Waren leicht vor sich
geht, sind die Unternehmer um die Vervollkommnung ihres Betriebes
wenig besorgt; sie sind bemüht, ihre Produktion zu erweitern, denken
aber nicht an eine Verbesserung derselben. Wenn aber die Preise
sinken und das Geschäft Verluste bringt, dann beginnt man in der
Praxis alle die Erfindungen und Entdeckungen anzuwenden, welche
viele Jahre vordem brach gelegen haben, ohne die Aufmerksamkeit
von irgend jemand auf sich zu lenken.
Dieser Umstand ist von E. Chadwik hervorgehoben worden in
der Rede, welche er in einer Versammlung der National Association
for the Promotion of Social Science im Jahre 1865 gehalten hat.
„Es ist sehr wichtig," sagte Chadwik, „sich zu vergegenwärtigen,
dass die grossen Vervollkommungen in der Baumwollindustrie durch
die Perioden der industriellen Depression hervorgerufen sind. Ein
Axiom des verstorbenen Kennedy, welchen man den Vater der
Baumwollindustrie nennt, war, dass die Verbesserungen in der Pro-
duktion nur während eines starken Sinkens des Profites gemacht wer-
den" 1). Dasselbe haben einige Fabrikanten ausgesagt, welche in einer
Parlamentskommission von 1833 befragt worden sind 2). Auch in den
Berichten der Fabrikinspektoren wird es nicht selten auf denselben Um-
stand hingewiesen. So sagt z. B. der Fabrikinspektor A. Redgrave
in seinem Berichte für das Jahr 1854: „Wenn der Handel gut geht
und alle Waren Käufer finden, dann kümmert sich niemand um
Vervollkommnungen und Erfindung neuer Produktionsmethoden; aber
wenn der Handel aus irgend welchen Gründen, welche durch An-
strengungen des Geistes und der Energie beseitigt werden können,
in Stockung gerät, dann finden Vervollkommnungen der Produktion
statt" 3).
Den Einfluss der Handelskrisen auf die Preise der baumwollenen
Gewebe kann man aus der folgenden Tabelle ersehen:
i) Vgl. Journal of the Statistical Society of London. 1865, S. 3.
2) Vgl. Report on Manufactures , Commerce and Shipping, Minutes of Evidence,
London 1833. Aussagen der Fabrikanten Smith und Hill.
3) Vgl. Report of the Inspector of Factories A. Redgrave 1854.
im Jahre
sh.
d.
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1821
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3
1822
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—
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1830
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1831
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8
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1833
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II
1834
9
4
— 281 —
Der durchschnittliche Jahrespreis der baumwollenen
Gewebe 7/8 72. Reed Printing Clothi).
im Jahre sh. d.
1835 10 2
1836 10 —
1837 7 9
1838 8 5
1839 8 7V2
1840 7 3
1841 7 3
1842 6 V2
1843 6 27,
1844 6 3
1845 5 II '/2
1846 5 6
1847 5 8V2
1848 4 9V2
1849 5 4V2
Nach der Krisis von 1825 sinkt der Preis der baumwollenen
Gewebe plötzlich um mehr als den dritten Teil. In der folgen-
den Zeit steigt der Preis der Gewebe nicht einmal bis zum
Niveau des Jahres 1826 und bleibt bedeutend niedriger als in der
Periode, welche dem Jahre 1825 vorangegangen war. Es beweist
dies, dass das Sinken des Preises der Gewebe von einer entsprechen-
den Verminderung ihres Wertes, mit anderen Worten von der Ver-
vollkommnung der Produktion hervorgerufen wurde, denn wäre dies
nicht der Fall gewesen, so würde nach Wiederkehr einer Epoche
des Aufschwunges der Preis sehr bald die frühere Höhe wieder
erreicht haben. Ebenso war nach der andauernden Geschäftsstockung
der Jahre 1837 — 42 der Preis der baumwollenen Gewebe bedeutend
niedriger als früher. Dagegen steigt ihr Preis ein wenig in jeder Epoche
des Aufschwungs, was auf die Verlangsamung oder das Aufhören
des technischen P'ortschrittes in dieser Zeit hinweist; so war der Preis
der baumwollenen Gewebe in den Jahren 1823 — 1825, 1832 — 1836
und 1842 — 1844 gestiegen, dabei war er jedoch in jeder späteren
Epoche des Aufschwunges bedeutend niedriger als in der vorauf-
gegangenen.
I) Vgl. Neild, An Account of the Prices of Printing Cloth, im Journal of the
Statistical Society of London, i86i, S. 495.
282
П.
Schwankungen im Volksleben in den 50 er und 60 er Jahren.
Es ist oben auf die Ursachen hingewiesen, die die rasche Ent-
wickelung des enghschen Handels und das bedeutende Wachstum
des nationalen Reichtums in England in den 50 er und 60 er Jahren
zur Folge hatten. Eine Vermehrung des nationalen Reichtums
ist durchaus nicht immer mit einer Verbesserung der Lage der
Arbeiterklasse begleitet; den besten Beweis dafür bietet England
während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts , als gleichzeitig
mit den Fortschritten der Industrie und der Bereicherung der
höheren Bevölkerungsklassen eine progressive Verarmung der
niederen Klassen und ein Sinken der Löhne des grössten Teiles der
Arbeiter vor sich gegangen war. Aber in der Periode, zu deren
Betrachtung wir nun übergehen, hat sich die Lage des Arbeits-
marktes stark zu Gunsten der Arbeiter verändert. Die industrielle
Revolution, die so viele schwere Opfer gezeitigt hatte, hat in den
wichtigsten Industriezweigen ihren Abschluss gefunden. Das Klein-
gewerbe und die Hausindustrie waren nicht verschwunden und
existierten weiter gleichzeitig mit der Grossindustrie und dem Fabrik-
system, aber der Kampf zwischen ihnen beschränkte sich auf ein
immer enger werdendes Gebiet. Die Maschine gelangte zur voll-
ständigen Herrschaft in den wichtigsten Zweigen der Rohstoffe ver-
edelnden Industrie. Die Hausindustrie war noch immer sehr ver-
breitet in vielen untergeordneten Industriezweigen, insbesondere in
denen, die mit dem auswärtigen Markt nicht zu rechnen hatten.
Aber in der Baumwollwebeindustrie, in der während einiger Jahr-
zehnte ein hartnäckiger Kampf der Maschine gegen die Handarbeit
vor sich gegangen war, hat die P'abrik entschieden gesiegt. Die
Zahl der Handweber hat derart abgenommen, dass man nach
Schulze-Gaevernitz, der Ende der 80er Jahre sich in Manchester
aufhielt, um jene Zeit nur mit grosser Mühe in dieser Stadt Hand-
weber auffinden konnte. Jämmerliche Ueberreste einer einst zahl-
reichen Klasse von Arbeitern, fahren diese Weber (meist gebrechliche
alte Männer und Frauen) fort, einige Sorten altmodischen Gewebes
zu bereiten, deren maschinelle Produktion unrentabel ist wegen der
Beschränktheit der Nachfrage.
Die wichtigste Ursache des Sinkens des Wohlstandes der eng-
lischen Arbeiterklasse im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts, der
Kampf der Fabrik gegen die Hausindustrie und das Handwerk, hat
— ^«3 —
also aufgehört, den früheren drückenden Einfluss auf den Arbeits-
markt auszuüben.
Zugleich hat die Fabrikgesetzgebung sowie das Wachstum des
Trade-Unionismus und der kooperativen Vereine die soziale Macht
der Arbeiterklasse bedeutend gehoben. Das Resultat war das
Steigen der Löhne, die Verkürzung des Arbeitstages und überhaupt
die Verbesserung der ökonomischen Lage der englischen Arbeiter.
Sehen wir nun, wie die Phasen des industriellen Cyklus sich
im Volksleben Englands in der zu betrachtenden Periode wieder-
spiegelten. Die folgende Tabelle und die Diagramme sind ebenso zu-
sammengestellt wie die früher angeführten ^).
Landwirtschaftliche
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1862
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1865
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136
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135
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180
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121
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161
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201
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187
2б1
137
399
168
224
106
483
I) Berechnet nach den Daten der amtlichen statistischen Publikationen: Reports of
Registrar-General of Births, Deaths and Marriages in England and Wales, Returns of Pau-
pers Relieved und Judicial Statistics of England and Wales.
— 284 —
Bei einem flüchtigen Blick auf die zwei ersten Diagramme
(Nr. 7 und 8) fällt es uns auf, dass die Schwankungen der Eheschlies-
sungen, der Sterblichkeit, des Pauperismus und der Kriminalität in
der Zeit von 1851 bis 1870 viel unregelmässigere waren als in der
vorangegangenen Periode. Die Kurve der Eheschliessungen in den
landwirtschaftlichen Grafschaften sinkt etwas stärker in den Jahren
1854 und 1855, 1860 — 61 und 1867; das sind alles schlechte Ernte-
jahre. Zwischen den Schwankungen der Kurve der Sterblichkeit und
der Eheschliessungen kann man in der Zeit von 1851 — 1857 einen
gewissen Zusammenhang beobachten, aber in den 60 er Jahren fehlt
jeder Zusammenhang und die Kurve der Sterblichkeit bewegt sich
eher in demselben Sinne wie die Kurve der Eheschliessungen als in
einem entgegengesetzten. Der Zusammenhang zwischen den Schwan-
kungen des Pauperismus und denen der Eheschliessungen tritt klarer
hervor. Die Kurve der Kriminalität sinkt stark in den Jahren
1855 — 56; die Ursache dieses Sinkens bestand darin, dass im Jahre
1855 die Strafprozessordnung eine Veränderung erfuhr, was zur P'olge
hatte, dass die Zahl der Personen, die vor das Schwurgericht ge-
wiesen wurden, sich bedeutend verminderte.
In den industriellen Grafschaften (Diagramm Nr. 8) wird eine
grössere Korrelation zwischen den Schwankungen der Eheschlies-
sungen und des Pauperismus, genau wie früher, beobachtet. Fast ein
jedes Mal, wenn sich die Zahl der Paupers vermehrt, sinkt die Zahl
der Eheschliessungen und umgekehrt. Die Zahl der Eheschliessungen
sinkt bedeutend, und die Zahl der Paupers steigt in den Jahren
1854— 1855, 1858, 1862, (der Pauperismus erreicht aber im Jahre
1863 seinen Höhepunkt) und 1867. Die Abnahme der Eheschliessungen
im Jahre 1855 in den industriellen Grafschaften wurde durch die Ein-
schränkung des englischen Handels zur Zeit der australischen Krisis
hervorgerufen. Im Jahre 1858 nahm, trotz der sehr guten Ernte, die
Zahl der Eheschliessungen in den industriellen Grafschaften ab infolge
der industriellen Krisis des vorangegangenen Jahres. Der Baum-
wollhunger hat, wie aus dem Diagramm zu ersehen ist, auf die Lage
der grossen Masse der englischen Bevölkerung in den Centren der
Baum Wollindustrie einen ungeheuren Einfluss ausgeübt. Die Zahl der
Paupers hat sich um ein Vielfaches vermehrt, und die Zahl der Ehe-
schliessungen ist bis zum Minimum gesunken. Es ist lehrreich,
mit dieser Thatsache die oben citierten Worte des „The Economist"
über die „Blüte der englischen Industrie" in der ersten Hälfte der
60er Jahre zusammenzustellen. In der Zeit von 1867 — 1869 (der
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Prozente der Abweichungen von den Durchschnittszahlen
— 285 ~
Periode der Depression) sinkt, auch wie zu erwarten ist, die Zahl
der EheschHessungen.
Die »Schwankungen der Sterbhchkeit entsprechen nicht immer
den Schwankungen des Pauperismus. NamentHch tritt eine starke
Divergenz im Jahre 1866 zu Tage: gleichzeitig mit einem bedeuten-
den Wachstum der Zahl der Eheschliessungen und mit einem Sinken
des Pauperismus wächst in den industriellen Grafschaften die Zahl
der Sterbefälle. Die Ursache dieser Divergenz bestand in dem Auf-
treten einer starken Choleraepidemie in Lancashire im Jahre 1866.
Die Kurve der Kriminalität sinkt mit bedeutenden Schwankungen;
die Maxima der Kriminalität entfallen auf die Jahre 1854, 1857 und
1863; die zwei ersten Jahre sind Jahre der Depression und das
letzte ein Jahr des ßaumwollhungers.
Das Diagramm Nr. 9, das sich auf ganz England bezieht, ist
gleichsam eine Summierung der zwei ersten Diagramme und bietet
nichts Neues. Allerdings muss anerkannt werden , dass die Ein-
wirkung des industriellen Cyklus auf das Volksleben in den zwei
ersten Jahrzehnten des Ereihandels stark durch den Einfluss л^ег-
schiedener zufälliger Faktoren und Ereignisse verdunkelt war.
Wir haben oben gesagt, dass die Handelskrisen mit ihrer ganzen
Last auf die Arbeiterklasse drücken, während die Unternehmer
in der Lage sind, die Verluste der ungünstigen Jahre durch die
Vorteile der günstigen zu decken. Die periodischen Schwankungen
der Industrie und die sie begleitenden Schwankungen im Volksleben
werden durch das Bestreben der Unternehmerklasse hervorgerufen,
jede günstige Angelegenheit zur Erweiterung der Geschäfte auszu-
nutzen. Nicht nur jede Erhöhung der Nachfrage wird sofort durch
eine Erhr)hung des Angebotes begleitet, sondern die Nachfrage selbst
wird künstlich geschaffen durch den Verkauf der Ware unter güns-
tigen Bedingungen auf Kredit. Alles möglische zu thun, um die Ge-
schäfte auszudehnen und die Masse der verkauften Waren zu steigern,
das ist das Streben jedes Unternehmers. Alle Unternehmer in ihrer
Gesamtheit können die Nachteile einer übermässigen Erweiterung des
Angebotes einsehen , aber jeder einzelne von ihnen hat nicht die
Macht, den von ihm selbst anerkannten Uebelstand zu bekämpfen, und
kann nur bei der Vermehrung seiner persönlichen Geschäfte und
bei der Verdrängung seiner Konkurrenten, d. h. bei einer Handlungs-
weise, die denselben Uebelstand erzeugt, auf seine Rettung rechnen.
Uebrigens kann das periodische Eintreten einer Geschäftsstockung
für grössere Unternehmer, welche die industriellen Stürme, die die
kleineren Unternehmer zu Grunde richten, aushalten können, sogar
— 286 —
vorteilhaft sein. So hat die schwere Krisis der Baum Wollindustrie,
die durch den „Baumwollhunger" der 60 er Jahre verursacht worden
war, eine starke Einschränkung der Zahl der Baumwollfabriken,
aber gleichzeitig eine Vermehrung der Zahl der Spindeln zur Folge
gehabt.
Zahl der Baumwollfabriken im Zahl der Spindeln in denselben
Vereinigten Königreich ^) (in Tausenden) ')
1862 .... 2 887 30387
1867 .... 2 549 32 000
Mehr als ein Drittel der Baumwollspinnfabriken gehörten im
Jahre 1862 zu solchen, deren motorische Kraft nicht mehr als zwanzig
Pferdekräfte betrug; die meisten von diesen kleinen Fabriken gingen
infolge der Verteuerung der Baumwolle und der Einstellung der
Produktion unter; ihren Platz haben grosse Fabriken eingenommen. |
Ganz anders wirken die Handelskrisen auf die Arbeiter ein.
Die Arbeiter gewinnen sehr wenig zur Zeit eines Aufschwungs,
müssen aber während der nachfolgenden Depression schw^ere Leiden
ertragen. Für die Arbeiter bilden die periodischen Depressionen
einen höchst bedeutenden Uebelstand , gegen den sie mit allen
Kräften zu kämpfen haben. Auf Grund der Einschränkung der
Eheschliessungen und des Wachstums der Zahl der Sterbefälle
und \^erbrechen in den Jahren 1862 — 1863 in den Centren der
Baumwollindustrie kann man beurteilen, wie schwer die Ein-
schränkung der Produktion auf die Arbeiterklasse eingewirkt hat.
Die Ausdehnung der Produktion, die für den Unternehmer so
vorteilhaft ist , bedeutet für den Arbeiter eine Vermehrung des
Arbeitsaufwands, mit dem nicht immer ein Steigen der Löhne ver-
bunden ist. Daher streben die Arbeiter natürlich zu einer mög-
lichst grossen Stabilität der Produktion und der Löhne. Als eine
Illustration dafür mag die Geschichte eines bedeutenden Streiks der
Yorkshirer Kohlengrubenarbeiter im Jahre 1858 gelten^).
Zu Beginn der 50 er Jahre stiegen die Preise der Kohlen in Щ
Yorkshire um 60 ^Д. Die Stücklöhne der Kohlengräber erhöhten sich
auch, aber nur um 30 ^o- Die Differenz zwischen dem Steigen der
Kohlenpreise und dem der Löhne bildete den überschüssigen Profit
der Unternehmer. So haben sich die Verdienste sowohl der Unter-
nehmer wie der Arbeiter vermehrt, das hat aber die einen und die
i) Report of Inspector of Factories Baker, 1869.
2) Vgl. „West - Yorkshire Coal-Strike and Lock out", by J. M. Ludlow (Trades
Societies and Strikes. Report of the Committee appointed by the National Association for
the Promotion of Social Science, 1860).
4
— 287 —
anderen zu einer ganz entgegengesetzten Handlungsweise veranlasst.
Die Unternehmer begannen sofort die alten Schachten zu erweitern und
neue einzurichten; alle ihre Anstrengungen waren darauf gerichtet, die
Produktion auszudehnen und die guten Kohlenpreise auszunutzen. Um-
gekehrt erblickten die Arbeiter im Steigen der Stücklöhne eine Mög-
lichkeit, die Arbeitszeit zu verkürzen. Nach den Worten der Unternehmer
haben die Arbeiter ihre tägliche Arbeit derart eingeschränkt, dass
ihr täglicher Verdienst derselbe blieb wie vor der Erhöhung der Löhne.
Infolgedessen konnten die Unternehmer die Produktion nur durch
Heranziehen neuer Arbeiter erweitern , welche aber an die unter-
irdische Arbeit nicht gewöhnt waren und diese schlecht ausführten.
Trotzdem wurde eine Erweiterung der Produktion erreicht; es
folgte das Sinken der Kohlenpreise. Die Kohlenindustriellen ver-
suchten die Kohlenpreise auf anormaler Höhe zu erhalten und trafen
unter einander die Vereinbarung, keine Kohlen zu niedrigeren Preisen
als zu denen der festgesetzten Norm zu verkaufen. Aber die Kon-
kurrenz unter den einzelnen Unternehmern machte die Vereinbarung
bald zu nichte, und die Kohlenpreise fuhren fort zu sinken. Da
trafen die Kohlenindustriellen eine andere Vereinbarung, die sie
auch mit einem grösseren Erfolg durchführten: auf der Versammlung
der Kohlenindustriellen im März 1858 wurde der einstimmige Be-
schluss gefasst, die Stücklöhne der Arbeiter um 15 ^/0 herabzusetzen.
Um ihrem Beschluss eine grössere Kraft zu verleihen, verstanden
sich gleichzeitig die Kohlenindustriellen zur Einstellung der Arbeit
im ganzen Bezirk, falls die Arbeiter eine solche Herabsetzung nicht
acceptierten. Dadurch dachten die Kohlenindustriellen mit einem
Schlage zwei Ziele zu erreichen: die Arbeiter gefügig zu machen
und die Kohlenpreise durch Einschränkung der Produktion in die
Höhe zu treiben. Die Einschränkung der Produktion in den Perioden
des Preissturzes ist vom Standpunkte der Unternehmer ein harmloses
Mittel, die Uebel der vorangegangenen Erweiterung zu beseitigen.
Nach den Worten kompetenter Personen haben die Kohlenindustriellen
. zu jener Zeit nichts so sehr gewünscht wie einen kleinen Arbeiter-
; streik. So fiel der grösste Teil der Vorteile der Erweiterung der
Produktion den Unternehmern zu, die ganze Last der Einschränkung
i mussten aber die Arbeiter tragen.
Der Vorschlag der Unternehmer hat einen allgemeinen Streik
( der Arbeiter und die Bildung des ersten mächtigen Gewerkvereines
I unter den Yorkshirer Kohlen gräbern zur Folge gehabt. Der Ge-
^ werkverein fasste einen Beschluss, dass kein Vereinsmitglied mehr
als 8 Stunden pro Tag arbeiten und mehr als einen gewissen
— 288 —
Maximallohn pro Tag verdienen darf. Diese letzte Bestimmung war
den Unternehmern besonders unangenehm, da sie auf die Regulierung
der Produktion hinausging. Nach den Worten eines Kohlen-
industriellen wurde gerade diese Bestimmung des Gewerkvereins von
den Unternehmern besonders angefochten.
Der Streik dauerte mehr als zwei Monate und endigte mit
einem Kompromiss. T^er Gewerkverein hat sich behauptet und hat
die Bestimmung, die den Unternehmern so missfiel, aufrecht erhalten,
die Arbeiter acceptierten jedoch eine Herabsetzung der Löhne.
In diesem Streik kommt der Unterschied in dem Verhalten der
Unternehmer und der Arbeiter den Schwankungen der Industrie
gegenüber ganz deutlich zum Ausdruck. Die Arbeiter streben, die
Produktion möglichst gleichmässig zu gestalten, und verzichten sogar
auf ein höheres Einkommen, die Unternehmer zielen dagegen in
Perioden des Aufschwungs auf möglichst grosse Erweiterung der
Produktion, was wieder ihre Einschränkung in Perioden der Depres-
sion nach sich zieht. Für die Unternehmer, und das muss besonders
betont werden, ist die Krisis ein natürliches Korrektiv des vorher-
gegangenen Aufschwungs, eine temporäre Schwierigkeit, die vollauf
durch die späteren Vorteile kompensiert werden kann, für die Ar-
beiter aber bedeutet eine Handelskrisis eine Notlage und Elend, w^as
durch etwas höhere Löhne in den günstigen Phasen des industriellen
Cyklus nicht wett gemacht werden kann.
IIL
Schwankungen im Volksleben während der neuesten Zeit.
Die letzten 30 Jahre zeichnen sich aus durch eine relative Ver-
langsamung der Entwickelung der englischen Industrie und einen
Verfall der industriellen Suprematie Englands sowie durch eine
Veränderung des Charakters der Handelskrisen. Andauernde Depres-
sionen sind an Stelle der akuten Krisen getreten. Zugleich ist aber
die neueste Phase der Entwickelung der englischen Industrie auch
durch entgegengesetzte Züge charakterisiert: durch das Steigen der
Arbeitslöhne und überhaupt durch die Hebung der Lage der Arbeiter-
klasse. Dieser Widerspruch findet seine Erklärung im stätigen
Wachstum der sozialen Macht der englischen Arbeiter. Trotz der
ungünstigen Lage des Warenmarktes hat es die Arbeiterklasse ver-
standen, sich eine grössere Summe von Lebensmitteln zu erobern.
— 289 —
Die Fabrikgesetzgebung und die mächtige Entwickelung des Trade-
Unionismus sowie der kooperativen Bewegung unter den Arbeiter-
massen hat die Stellung des Arbeiters, als Verkäufers der Arbeits-
kraft, im höchsten Grade verstärkt. Infolgedessen ist die Wirkung
des industriellen Cyklus auf das Volksleben bedeutend schwächer
geworden, луаз aus der unten folgenden Tabelle und den Diagrammen
zu ersehen ist.
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— 290 —
\us dem Diagramm Nr. 10 ist zu ersehen, dass in den land-
wirtschaftlichen Grafschaften die Schwankungen in der Zahl der Ehe-
schliessungen und des Pauperismus höchst geringfügig waren. Die
Kurve des Pauperismus sinkt stark während der Jahre 1871 — 1878,
dann hört ihr Sinken für einige Jahre auf; mit Beginn der 80er Jahre
findet ein minder rasches Sinken des Pauperismus statt. Seit der
zweiten Hälfte der 80 er Jahre bleibt die Kurve des Pauperismus
fast stabil.
Die Löhne der Landarbeiter in England sind bekanntlich in den
70er Jahren, zum Teil unter dem Einfluss der von J. Arch gelei-
teten Gewerkvereine von Landarbeitern, stark gestiegen. Darin lag
wohl die Hauptursache für das Sinken des Pauperismus.
Die Kurve der Sterblichkeit sinkt im allgemeinen, wenn auch
mit bedeutenden Schwankungen; die Schwankungen der Kurve der
Kriminalität (die ebenfalls sinkt) sind noch stärker. Die Verminde-
rung der Zahl der Verbrechen im Jahre 1880 ist bis zu einem ge-
wissen Grade auf das Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung
des Jahres 1879 zurückzuführen.
Ueberhaupt ist die Verminderung des Pauperismus, der Sterb-
lichkeit und der Zahl der Verbrechen in den landwirtschaftlichen
Grafschaften Englands ein Beweis für die Hebung der wirtschaft-
lichen Lage der englischen Landarbeiter. Zwar scheint die Ver-
minderung der Zahl der eingegangenen Ehen vom Ge§"enteil zu
zeugen; aber es muss in Betracht gezogen werden, dass, wenn auch
die jährlichen Schwankungen in der Zahl der Eheschliessungen im
engsten Zusammenhange mit der wirtschaftlichen Lage der Bevöl-
kerung stehen, dies nicht von den Veränderungen der Durchschnitts-
zahl der geschlossenen Ehen für längere Zeitperioden gilt. Es
ist wohl möglich, dass der wachsende Wohlstand im Zusammenhang
mit der Verbreitung neuer Gewohnheiten und einer neuen Lebens-
weise von einer Verminderung der Zahl der Ehen begleitet werden
kann.
Das Diagramm Nr. 1 1 bezieht sich auf die industriellen Graf-
schaften. Die zwei ersten Kurven (die Zahl der Eheschliessungen
und die der Paupers) schwanken, wie zu erwarten war, im umge-
kehrten Verhältnis und bilden mit einander eine symmetrische Figur.
Alles, was im ersten Teil dieses I^uches gesagt ist über die Ver-
änderung im Charakter der Schwankungen der Kurven im Diagramm
Nr. 3, das die Entwickelung der enghschen Industrie in der neuesten
Zeit zum Ausdruck bringt, gilt Punkt für Punkt auch für diese beiden
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Kurven. Die Kurven der Eheschliessungen und des Pauperismus
haben den Charakter \'on wellenförmigen Linien angenommen, die
mit einer auffallenden Regelmässigkeit schwanken. Der Parallelis-
mus der Schwankungen der Kurve der Eheschliessungen und der des
britischen Warenexportes tritt klar zu Tage.
Aber in den allerletzten Jahren bemerken wir ein Wachstum
des Pauperismus gleichzeitig mit einem Wachstum des Exportes.
Wahrscheinlich findet das seine Erklärung in den Veränderungen in
der Organisation der Armenunterstützung, die im Jahre 1894 vor-
genorrmien worden sind. Diese Veränderungen konnten dazu führen,
dass die Armenadministration mit grösserer Bereitwilligkeit als früher
den Bedürftigen zu Hilfe kam, was die Zahl der Paupers zu ver-
mehren geeignet ist.
Die Kurven der Kriminalität und der Sterblichkeit schwanken
weniger regelmässig. Das starke Sinken der Kriminalität im
Jahre 1880 ist durch die oben erwähnte Reform der Strafprozess-
ordnung hervorgerufen worden. Wenn wir aber die Schwankungen
aller vier Kurven in den beiden ersten Jahrzehnten vergleichen, so
bemerken wir sofort, dass im ersten Jahrzehnt diese Schwankungen
bedeutender waren und mehr den Phasen des industriellen Cyklus ent-
sprachen als im zweiten. So findet z. B. zu Beginn der 70 er Jahre
(starker Aufschwung) eine Vermehrung der Zahl der Eheschliessungen
und eine Verminderung des Pauperismus, der Kriminalität und der
Sterblichkeit statt. Ende der 70 er Jahre (Depression) wächst dagegen
der Pauperismus sowie die Kriminalität bedeutend und die Zahl der
Eheschliessungen vermindert sich; zugleich aber sinkt die Sterb-
lichkeit. Das beweist, dass in der neuesten Zeit eine Geschäfts-
stockung nicht mehr so verderblich wirkt wie in den 40er Jahren, als
eine Handelskrisis verheerender als jede Epidemie war. In der ersten
Hälfte der 80er Jahre steigt trotz der Depression der Pauperismus in
einer kaum merklichen Weise; auf die Kriminalität und die Sterb-
lichkeit übt diese Depression gar keinen Einfluss aus.
In den 90 er Jahren sind die Schwankungen in der Zahl der
Eheschliessungen noch weniger bedeutend. Die Kurve der Ehe-
schliessungen erfährt nur kleine vSch wankungen im Zusammenhang
mit den Phasen des industriellen Cyklus. Der Aufschwung Ende der
80 er Jahre kommt zum Ausdruck in dem Steigen dieser Kurve, die
Depression Anfang der 90 er Jahre in ihrem vSinken. Im Jahre 1896,
mit dem eine neue Epoche des Aufschwungs beginnt, sehen wir eine
Zunahme der Eheschliessungen. Die Schwankungen der Kurve der
19*
— 292
Sterblichkeit können dagegen in keiner Weise zu den Phasen des
industriellen Cyklus in Beziehung g"ebracht werden. Die niedrigste
Sterblichkeit wird im Jahre 1894 — während einer Geschäftsstockung —
beobachtet: offenbar sind die Phasen des industriellen Cyklus nicht
mehr wie früher das entscheidende Moment für die Sterblichkeit der
englischen industriellen Bevölkerung. Die verderbliche Wirkung der
Krisen ist bedeutend abgeschwächt.
Die Kurve der Kriminalität sinkt beinahe ohne Schwankungen.
In den letzten 10 Jahren ist die industrielle Ebbe und Fluth an
den Bewegungen dieser Kurve gar nicht zu erkennen. Die Kurve
steigt nur in den Jahren 1888 und 1897 während des industriellen Auf-
schwunges. Die Geschäftsstockung* zu Beginn der 90 er Jahre hat
das Sinken der Zahl der Verbrechen nicht verhindert.
Das Diagramm Nr. 12, das sich auf ganz England bezieht, zeigt
mit voller Anschaulichkeit die stattgefundene bedeutende Veränderung
in den Lebensverhältnissen des englischen Volkes. Die Schwankungen
der Eheschliessungen und des Pauperismus sind gering, doch stehen
sie in einem gewissen Zusammenhang mit den Phasen des indus-
triellen Cyklus. Dieser Zusammenhang verschwindet jedoch fast voll-
ständig bei den Schwankungen der Kriminalität und der Sterb-
lichkeit.
Es ist interessant, die Diagramme Nr. 3, 10 — 12 mit den Dia-
grammen Nr. I, 4 — 6 zu vergleichen. Diese letzteren Diagramme stellen
das Leben des englischen Volkes im zw^eiten Viertel dieses Jahr-
hunderts dar. Wir sehen schroffe periodische Schwankungen im
Volksleben unter der Einwirkung der Phasen des industriellen Cyklus.
Besonders sprunghaft sind die Schwankungen im Leben der indus-
triellen Bevölkerung. Jede Handelskrisis übt eine höchst verderbliche
Wirkung auf die Arbeiterklasse aus, Arbeitshäuser wie Gefängnisse
werden von Arbeitslosen überfüllt, die Sterblichkeit wächst in einem
bedeutenden Grade. Zu gleicher Zeit machen ILmdel und Industrie
trotz heftiger Krisen rasche Fortschritte. Das Wachstum des Exportes
steht in einem schreienden Gegensatz zur Verschlechterung der Lebens-
verhältnisse der Arbeiterbevölkerung.
Die Diagramme der neuesten Zeit weisen auf ganz andere Ver-
hältnisse hin. Statt eines energischen Steigens der Kurve des Exportes
mit schroffen Senkungen in Krisenjahren beobachteten wir regelmässige
wellenförmige Schwankungen dieser Kurve, ohne dass sich deren |
Niveau verändert. Die industrielle Entwicklung des Landes hat sich
entschieden verlangsamt. Zugleich aber sind im Volksleben Zeichen
— 293 —
einer zweifellosen Verbesserung zu bemerken. Die ungünstigen Phasen
des industriellen Cyklus üben auf die Lage der Arbeiter die frühere
zerstörende Wirkung nicht mehr aus. Selbst in industriellen Be-
zirken wächst die Sterblichkeit und die Kriminalität in Krisenjahren
nicht mehr.
Diese Veränderung ist um so bemerkenswerter, als, wie wir
weiter unten sehen werden, die Arbeitslosigkeit in der neuesten Phase
der Entwickelung des Kapitalismus durchaus nicht verschwunden ist;
es liegt sogar kein Anlass vor, anzunehmen, dass sie ihrem Umfange
nach eine Einschränkung erfahren hat. Wir werden noch weiter unten
auf diese Frage zurückkommen müssen. Allerdings beweisen die ange-
führten statistischen Daten, dass die Wirkung der Geschäftsstockung
und der Arbeitslosigkeit auf die Lebenshaltung der breiten Massen
der englischen Bevölkerung in der neuesten Zeit durch irgend w^elche
andere Faktoren durchkreuzt und teilweise aufgehoben wird.
Als die wächtigsten dieser Faktoren muss man die allgemeine
Hebung der wirtschaftlichen Lage des englischen Arbeiters und
das Wachstum des Trade-Unionismus anerkennen. Was das erstere
Moment betrifft, so ist seine Bedeutung handgreiflich. Je höher die
! Löhne sind, desto leichter kann der Arbeiter die Perioden der Ar-
beitslosigkeit ertragen. Die Trade -Unions andererseits wirken den
schlimmen Folgen der Geschäftsstockung in zw^eierlei Weise ent-
J. gegen: erstens durch unmittelbare Unterstützung ihrer arbeitslosen
! Mitglieder und zweitens durch Regelung der Arbeitsverhältnisse.
\\ Zwar gewähren nicht alle Gewerkvereine ihren arbeitslosen Mit-
■j gliedern Unterstützungen. Die Mehrzahl der Arbeitslosen kann von
|l den Gewerkvereinen schon aus dem Grunde allein keine Unterstüt-
fi zung erhalten, weil die Trade-Unions nicht mehr als ein Fünftel der
:; erwachsenen industriellen Arbeiter des Vereinigten Königreiches um-
I fassen 1). Der Einfluss der Trade-Unions auf die Arbeitsverhältnisse
J'.ist dennoch viel stärker, als man nach diesen Daten annehmen
': könnte. Die Vorteile der Regelung der Arbeitsverhältnisse durch
klie Trade-Unions kommen nicht allein den organisierten, sondern
auch den unorganisierten Arbeitern zu gute. So sagen S. und
B. Webb in ihrem ausgezeichneten Werke „Industrial Democracy"
folgendes: „Die kollektiven Arbeitsverträge umfassen einen unver-
gleichlich grösseren Teil der Industrie als der Trade-Unionismus.
: Eine genaue Statistik darüber giebt es nicht, aber wir haben den
i) Report by the Chief Labour Correspondent of the Board of Trade on Trade
Unions, 1898, S. 23.
— ^94 —
Eindruck gewonnen, dass in allen Gebieten der Industrie, wo ge-
lernte Arbeiter beschäftigt werden, welche in den Werkstätten der
Unternehmer zusammen arbeiten, für 90^0 f^er Arbeiter die Höhe
der Löhne und die Länge des Arbeitstages (oft auch viele andere
Verhältnisse) durch kollektive Arbeitsverträge vorausbestimmt sind.
Persönlich haben diese Arbeiter an solchen Verträgen gar nicht teil
genommen, aber ihre Interessen sind durch die Vertreter ihrer Klasse
geschützt."
Die Trade-Unions kämpfen mit allen Mitteln gegen die Herab-
setzung der Löhne zu Zeiten der Depression; da aber ein und derselbe
Lohn an organisierte und nichtorganisierte Arbeiter bezahlt wird, so
ist es begreiflich, dass die Bedeutung einer Trade -Union als eines
Mittels, das normale Einkommen der Arbeiter zu schützen, an verhältnis-
mässig unbedeutenden Zahlen der Trade-Unionisten gar nicht bemessen
w^erden kann. In der früheren Zeit übte eine Handelskrisis ihre verderb-
liche Wirkung auf die Lage der Arbeiter in zweierlei Weise aus: ers-
tens schränkte sie die Zahl der beschäftigten Arbeiter ein oder die Zahl
der Tage in der Woche, während derer die Arbeiter beschäftigt waren;
zweitens rief eine Krisis ein Sinken der Löhne hervor, was die Notlage
der Arbeiter noch vermehrte. In der neuesten Zeit ist die Arbeitslosig-
keit in Perioden der Geschäftsstockung fast ebenso stark wie früher.
Aber die Löhne sind infolge der mächtigen Organisation der Trade-
Unions viel stabiler geworden. Mit anderen Worten trifft heute die
Krisis hauptsächlich die Arbeitslosen , während sie früher die ge-
samte Masse der arbeitenden Bevölkerung getroffen hatte, die Ar-
beitslosen sowie die beschäftigten Arbeiter. ;
Einige Beispiele eines höchst bedeutenden Sinkens der Löhne
während der Krisis von 1847 sind oben angegeben. Im folgenden
Kapitel werden wir andere Beispiele derselben Art anführen. In der
neuesten Zeit ist von einem Sinken der Löhne um die Hälfte in den
Perioden der Geschäftsstockung gar keine Rede mehr. Die normalen
Löhne der Trade-Unionisten schwanken sehr wenig, wie das aus der
nachstehenden Tabelle zu ersehen ist^).
Das Steigen der Löhne der Ziegler in den Jahren 1874 — 1877
zeigt am besten, wie wenig die Geschäftsstockung auf die Löhne
eingewirkt hat. Erst im Jahre 1878 begann die Krisis, unter der die
Industrie schon einige Jahre gelitten hatte, auch eine Wirkung auf
die Löhne auszuüben. Ebenso ist von einem Einfluss der Depression
der 80 er Jahre auf die Löhne der Ziegler gar nichts zu merken.
i) Vgl. Fourth Report on Trade Unions, 1891.
~ 295
Operative
Bricklayers
Society
Amalgamated
Society of Car-
penters and
Amal gamated
Engin eers
Steam Engine
MakersSociety
Glass Bottle
Makers Socie-
ty
Joiners
-§?
T5 g
в
t— 1
Wochenlöhne
(im Sommer)
Wochenlöhne
[/} t/}
■4-1 -i-i
Wochen-
lühne
Wochen-
löhne
с "53
Wochen-
löhne
sh. d.
sh. d.
sh.
sh.
sh.
i8;i
18-37 8
20-37 8
3^5
24—36
1,3
22—36
0,58
30
1,93
1872
20 -39 9
20-37 2V2
1.3
26—36
0,9
24—36
0,53
33
0,73
187л
der gleiche
20 — 40
1,0
1,1
24-36
0,65
36
0,49
i874
24—39 4\'2
21—42 4
0,87
1,6
26 - 36
0,81
l d. gleiche
0,85
1,16
2,63
:875
1876
24—40 i'/,
24—45 5
20—42
20 — 42 4
0,82
0,81
d. gleiche
2,4
3,6
. d. gleiche
1,2
2,0
33
1877
der gleiche
der gleiche
1,1
4.7
2,7
33
6,1
1878
24—42 47,
20-41 7
2,5
6,5
4'7
30
7,3
1879
1880
1881
\ der gleiche
20-42 4
7,6
6,3
4,9
24-36
> d. gleiche
13,3
5,9
3,5
24—36
\ d, gleiche
10,1
3,5
2,1
27
\ d. gleiche
13,4
11,4
5,16
1882
der gleiche
3,0
26-38
1,8
26-38
1,1
1
7,3
1883
20—40
3,2
2,3
1,4
30
4,23
1884
i88s
• der gleiche
> der gleiche
4,0
6,1
5,1
6,2
2,6
4.4
6,26
5,3
1886
20—42 4V2
7,8
• d. gleiche
7,4
, d. gleiche
5>8
7,5
1887
5,8
6,3
5«8
} d. gleiche
6,2
1888
1889
/ der gleiche
5,5
3,2
4,2
1,9
2,6
0,93
5,14
4,37
1890
1,9
1,6
30-38
0,67
*
2,9
Es ist sehr lehrreich, die Veränderung der normalen Löhne
der Trade-Unionisten mit den Schwankungen in der Zahl der arbeits-
losen Mitglieder der Gewerk vereine zu vergleichen. Die Zahl der Arbeits-
losen schwankt, wie aus den angeführten Daten zu ersehen ist, sehr be-
deutend, sie wirkt aber auf die Löhne fast gar nicht ein. So ist im
Jahre 1879 die Zahl der Arbeitslosen in der Tischlergewerkschaft
stark gestiegen, die Löhne sind aber dieselben geblieben. Die Zu-
nahme der Arbeitslosigkeit im Jahre 1886 hat sogar ein Steigen der
Löhne der Tischler nicht verhindert. Bei den Maschinenbauern sind
die Löhne nur im Jahre 1879 gesunken, während sie alle anderen Jahre
unverändert blieben oder sogar zunahmen, obwohl der Prozentsatz
der Arbeitslosen oft ein sehr hoher war.
Für die neueste Zeit sind allgemeinere Daten über die Ver-
änderung der Löhne der breiten Arbeitermassen vorhanden. Um-
seitig folgen die bezüglichen Daten für die Jahre 1893 — 1899^).
I) Vgl. The Labour Gazette, 1900, N0, i.
— 2дЬ —
Anzahl der
Durchschnittliche Veränderun-
Tm
Arbeiter, deren
gen in den Wochenlöhnen
Jahre
Löhne eine
pro
Kopf
Veränderung
erfahren haben
Steigen
Sinken
sh. d.
sh. d.
1893
549 977
- 5V2
— —
1894
670 386
— —
I 4V,
1895
436718
— —
I 3^/o
1896
607 654
- 10V2
—
1897
597 444
I o'U
— —
1898
I 015 169
I 7
— —
1899
I III 197
I 67,
— —
Trotz der schweren Arbeitslosigkeit sind die Löhne im Jahre
1893 nach den Daten des Berichtes etwas gestiegen. Während der
zwei nachfolgenden Jahre sanken die Löhne; aber dieses Sinken war
im Vergleich zum Sinken der Löhne während der früheren Krisen
ganz unbedeutend. Die Löhne sanken im Durchschnitt um etwas
mehr als i wSchilling pro Woche, d h. wahrscheinlich bedeutend
weniger als um 5 ^/q.
In dieser Stabilität der Löhne trotz der Arbeitslosigkeit besteht
der wesentliche Unterschied zwischen der heutigen Arbeitslosigkeit
und der der früheren Zeit. Dieser Unterschied ist hauptsächlich dem
Umstand zu danken, dass die Arbeiter organisiert sind. Obwohl die
Zahl der nicht organisierten Arbeiter die der organisierten bei weitem
übertrifft, so kommen die Vorteile der Organisation in gewisser Be-
ziehung der gesamten Arbeiterklasse zu gute. Der englische Arbeits-
markt stellt schon nicht mehr eine chaotische Ansammlung von
Arbeitern dar, die durch nichts miteinander verbunden werden und die
miteinander als Verkäufer ihrer Arbeitskraft konkurrieren. Eine ver-
hältnismässig kleine Gruppe von Trade-Unionisten regelt die Be-
dingungen des Arbeitsvertrages für die ganze übrige Masse der ge-
lernten und zum Teil auch der ungelernten Arbeiter, und die Fabrik-
gesetze beschränken die Konkurrenz unter den Arbeitern von einer
anderen Seite. Die Unterstützungsvereine (Friendly Societies) wie
die Konsumvereine stärken gleichfalls die ökonomische Macht des
englischen Arbeiters. In derselben Richtung wirkt auch die allge-
meine Erhöhung des Standard's of life des Arbeiters. Daher treffen
die Krisen der neuesten Zeit mit ihrer vollen Wucht nur die
schwächeren Arbeiter, üben aber nicht den früheren niederdrückenden
Einfluss auf die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit aus.
KAPITEL II.
Der Chartismus.
Die Arbeitslosenbewegungen während der Geschäftsstockung der 20 er Jahre. — Die
Zerstörung der Webemaschinen im Jahre 1826 in Blackburn und anderen Städten. — Die
Arbeitslosigkeit des Jahres 1829. — Der Chartismus. — Der Zusammenhang des Chartis-
mus mit der Arbeitslosigkeit. — Das neue Armengesetz. — Die Agitation gegen dasselbe.
— Die Entstehung einer Agitation zu Gunsten der „Volkscharte". — Der innere Wider-
spruch zwischen dem politischen Programm des Chartismus und seinen ökonomischen Ursachen.
— Die \^ertreter der politischen Richtung im Chartismus. — Die Vertreter der sozialen
Strömung. — Das Fehlen eines positiven sozialen Reformprogramms. — Die Chartisten-
meetings. — Die erste nationale Petition der Chartisten. — Die Rede D Israelis im Par-
lament. — Die Arbeitslosigkeit und die Notlage der Bevölkerung zu Beginn der 40 er Jahre.
— Die zweite nationale Petition. — Der Verfall des Chartismus zur Zeit der Wieder-
kehr des industriellen Aufschwungs. — Der ,,Agтaфlan" von O'Connor. — Romantisch-
utopische Elemente im Chartismus. — Das letzte Auflodern des Chartismus während der
Arbeitslosigkeit von 1848.
Das zweite Viertel dieses Jahrhunderts war von schweren
Handelskrisen gekennzeichnet, auf welche andauernde Arbeitslosig-
keiten folgten. Eine Arbeitslosigkeit in akuter Form muss soziale Un-
zufriedenheit und Arbeitslosen bewegungen hervorrufen. In diesem
Kapitel werden wir solche Bewegungen, welche mit den Handels-
krisen der 2 о er, 30 er und 40 er Jahre im Zusammenhang standen,
darzustellen versuchen.
Die Krisis von 1825 rief eine Arbeitslosigkeit hervor, die mit
einigen Unterbrechungen bis zum Jahre 1830 andauerte. Die Arbeits-
losigkeit war besonders schwer unter den Arbeitern der Textil-
industrie, hauptsächlich unter den Baumwoll- und Seiden webern.
So gab es in Macclesfield, dem Centrum der Seidenweberei Lancas-
hires, Ende Januar gegen 9 — loooo Arbeitslose. In Conglton (Cheshire)
wurde im Jahre 1825 auf 5325 Seiden Webstühlen gearbeitet; im Februar
1826 nur noch auf 2275. Die Anzahl der beschäftigten Seidenarbeiter
ging von 13999 3.uf 5860 zurück. Insgesamt erreichte die Anzahl der
Arbeitslosen 1 1 893. Von der Stimmung unter den Arbeitslosen
— 298 —
konnte man sich nach den in der Stadt angeschlagenen Plakaten
eine Vorstellung machen; da hiess es: „Brot oder Blut" — „Keine
Arbeit, nieder mit dem Könige!" u. s. w. In Spitalfield erreichte die
Zahl der arbeitslosen Seidenweber 18000. In einer ganzen Reihe
von Städten — London, Bradford, Manchester, Macclesfield , Leeds,
Blackburn und anderen — wurden Komitees zur Unterstützung der
notleidenden Arbeiter gebildet.
Im März 1826 haben in Macclesfield Unruhen unter den
Arbeitern stattgefunden. Während einiger Tage sammelten sich die
Weber in den Strassen an, wo sie auf die Entscheidung der Regierung
über die Erlaubnis der Einfuhr seidener Stoffe nach England warteten.
(Die Seiden weber waren, ebenso wie die Fabrikanten, heftige Gegner
der liberalen Zollreformen von Huskisson und erwarteten von der
Zulassung französischer Seidenstoffe auf den englischen Markt den
Untergang der englischen Seidenindustrie.) Als am i. März bekannt
wurde, dass die Regierung den Aufschub dieser Erlaubnis nicht
bewilligen wollte, begannen die Weber in ihrer Wut Laternen zu zer-
schlagen und Bäckereien zu plündern. Am anderen Tage wurden
die Ruhestörungen fortgesetzt. Die Arbeitslosen schlugen Fenster
ein und plünderten alles, was sie konnten. Der Aufruhr wurde nur
durch Hinzuziehung von Dragonern gebändigt.
Einen noch grösseren Umfang erreichten die Ruhestörungen
der arbeitslosen Baumwollweber in Blackburn. Diese Unruhen
bildeten einen der letzten Versuche der englischen Arbeiter, gegen
das b'abriksystem durch Zerstörung der Maschinen zu kämpfen.
Wie die Seidenweber die Ursache ihrer Notlage in der liberalen
Zollpolitik der Regierung sahen, so erkannten die Baumwollhandweber
mit grösserem Recht als ihren am meisten gefährlichen und schonungs-
losen Feind die Webemaschinen. Am 18. April stürzte sich ein
Haufen von Handwebern auf eine Baumwollwebefabrik in der Um-
gegend von Blackburn, auf der mechanische Webstühle aufgestellt
waren; es kam aber nur zum Zerschlagen der Fensterscheiben, da
die Soldaten weitere Zerstörungen verhinderten. Am 24. April
wiederholten sich jedoch die Ruhestörungen mit viel ernsterem
Charakter. In vier Fabriken in der Umgegend Blackburns wurden
alle mechanischen Webstühle zerstört. Dann zogen dieselben Haufen
in einer Anzahl von einigen Tausend Mann nach Blackburn hin.
Gegen 500 Mann waren mit Piken bewaffnet, einige hatten Gewehre
oder Pistolen bei sich. Die Menge stürzte sich sofort auf eine Fabrik
und vernichtete die Webemaschinen. Dasselbe wiederholte sich auch
mit einer anderen Fabrik. Es waren wenige Soldaten zur Stelle,
— 299 —
und trotz des Feuers, das sie eröffneten, wodurch einige Arbeiter
getötet wurden, konnten sie mit der Menge nicht fertig werden.
Alle Dampfwebstühle in Blackburn und Umgegend wurden zerstört.
Die Ereignisse in Blackburn haben ähnliche Auftritte im ge-
samten I.ancashire veranlasst. Die Weber überfielen die Fabriken
und zerstörten die Webemaschinen. In Manchester wurde eine
Fabrik in Brand gesteckt. Das Militär schoss, und die Zahl der
Getöteten und Verwundeten war keine geringe. Die Centren der
Ruhestörungen waren Manchester, Wigan, Bolton und Blackburn.
Die Unruhen hielten mehr als eine Woche an, wobei insgesamt
17 Fabriken überfallen und gegen 1000 Webemaschinen zerstört
wurden. Schliesslich wuchs die Menge der Angreifer auf viele
Tausende an. wSie zerstörte nicht nur die Maschinen, sondern sie
plünderte auch die Bäckereien und beraubte alle vorübergehenden
anständig gekleideten Leute.
Die Ruhestörer setzten sich fast ausschliesslich aus den arbeits-
losen Baumwollhandwebern zusammen, deren Lage eine verzweifelte
war. In Blackburn allein erreichte die Zahl der arbeitslosen Weber
einschliesslich ihrer Familien 14 Tausend Köpfe, d. h. mehr als die
Hälfte der Bevölkerung, die in Blackburn 22 Tausend betrug. Die
Arbeitslosen erhielten eine Unterstützung in der Form von Nahrungs-
mitteln, aber diese war so kärglich, dass „The Times" in ihrem Leit-
artikel vom 18. April ohne Umschweife erklärte: „Kurzum, die
Arbeiter Blackburns sterben vor Hunger."
Die Stimmung der Arbeiter, die diese Unruhen gezeitigt hat,
kann man nach einer Petition beurteilen, die die Handweber der
Stadt Bolton an den Kolonialminister Lord Bathurst gerichtet haben.
In dieser Petition baten die Weber, ihnen Hilfsmitteln für die Aus-
wanderung aus England zu gewähren. „Der Wunsch, aus der Heimat
auszuwandern", so hiess es in der Petition, „sei nicht ein momentaner Be-
schluss, hervorgerufen durch die äusserste Notlage, in der die Petenten
sich augenblicklich befänden, sondern er sei nach reiflicher Ueberlegung
gefasst. Einige von ihnen erinnerten sich der Zeit, wo sie genug ver-
dienen konnten, um sich im Alter zu erhalten und um ihre Familie
zu ernähren. Ursachen, die nicht von ihnen abhingen, hätten diesen
Wohlstand in den Zustand eines äussersten Elends verwandelt. Sie
stünden jetzt auf der niedrigsten Stufe, auf der sich jemals menschliche
Wesen befunden hätten, und seien tiefer ins Elend gesunken als, wie
die Geschichte zeige, jemals irgend ein Teil der industriellen Be-
völkerung in der früheren Zeit . . . Die Hilfe, die durch freiwillige
Spenden geleistet würde, sei zu unbedeutend, und ihre Annahme sei
— зоо —
zudem mit dem natürlichen Unabhängigkeitsgefühle unvereinbar . . .
Es sei dies ein schrecklicher Zustand, wenn ein freier Mann durch
seine Arbeit nicht genügend für seine Ernährung verdienen könne;
aber noch schrecklicher sei es, wenn man sogar eine so karg bezahlte
Beschäftigung nicht erlange ^)."
Die Unruhen in Lancashire versetzten die englische Gesellschaft
in eine äusserste Bestürzung. In London wurde sofort ein Central-
komitee für Arbeitslosenunterstützung gebildet, das in den drei Jahren,
1826 — 1829, die bedeutende Summe von 232 Tausend Pfund auf-
gebracht hat Ausserdem brachten zahlreiche lokale Komitees für
denselben Zweck grosse Summen auf
Die zwei darauffolgenden Jahre brachten eine gewisse Ver-
besserung, aber das Jahr 1829 war ein fast ebenso schweres wie das
Jahr 1826. In Lancashire begannen wieder Unruhen unter den
Arbeitslosen, die von einer Zerstörung der Maschinen und von einer
Plünderung der Läden begleitet waren. Im P'rühling wurde die
Arbeitslosigkeit in Manchester besonders schwer. Am 3. Mai stürzte
sich ein Haufen Handweber auf die Fabriken, bemächtigte sich ihrer,
zerstörte die Maschinen und verbrannte eine Fabrik bis auf den
Grund vor den Augen der PoHzei. Am nächsten Tage erfolgte die
Plünderung von Bäckereien und Esswarenläden.
Fast zur selben Zeit fanden Ruhestörungen der Wollweber in
Rochdale statt, die gleichfalls von einer Zerstörung der Maschinen
begleitet waren. Als einige von den Arbeitern, die an dem Angriff
auf die Fabriken beteiligt waren, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt
wurden, griff die Menge das Gefängnis an. Das überwachende
Militär gab Feuer, und erst nach einigen Salven, die 5 Mann auf
der Stelle getötet und 25 verwundet haben, zerstreute sich die
Menge.
Von dem Umfang der Not im Herbste 1829 kann man sich
nach den folgenden Beispielen eine Vorstellung machen. In Burnsley
nahm Ende August das Komitee der Weber eine Untersuchung der
Lage der Arbeiter auf. Es stellte sich heraus, dass von 3703 Web-
stühlen nur 170 volle Zeit, 1689 zeitweise, 1844 aber gar nicht be-
schäftigt wurden. Im September haben in diesen Städten Ruhe-
störungen von Seiten der Arbeitslosen stattgefunden, wobei eine
Fabrik in Brand gesetzt und einige Häuser der Fabrikanten ge-
plündert wurden.
In Macclesfield standen 993 Häuser leer und 34 Fabriken
arbeiteten nicht.
i) The Times, 1826, vom 20. Mai.
— 30I —
In Huddersfield, das eine Bevölkerung von 29 Tausend hatte,
verdienten 660 Arbeiter i Schilling pro Tag, 420 7 d. pro Tag,
-439 5V2 d. pro Tag und 13226 nicht mehr als 2Y2 d.
Wie sehr die Löhne, selbst der besser bezahlten Fabrikarbeiter,
unter dem Einfluss der Arbeitslosigkeit heruntergegangen waren,
davon giebt uns einen Begriif der Avichtige Streik in Stockport und
anderen benachbarten Städten, der durch die seitens der Fabrikanten
erfolgte Ankündigung einer weiteren Lohnreduktion für die Baum-
wollenspinner hervorgerufen war; die Löhne der Baumwollenspinner
waren nämlich bereits im Vergleich zu denen des Jahres 1828 um
30 7o gesunken, jetzt sollten sie wieder um 5 — 25^0 herabgesetzt
werden. Der Streik breitete sich auf alle Nachbarstädte aus, insge-
samt stellten 30 — 40 Tausend Arbeiter die Arbeit ein^).
Die Arbeitslosigkeit Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre
war von der grössten politischen Bewegung der englischen Arbeiter-
klasse der Neuzeit begleitet. Der Chartismus war, wie wir es in
folgendem zu zeigen versuchen werden, zum bedeutenden Teil aus
dieser Arbeitslosigkeit entstanden. In der ganzen Geschichte der
Arbeiterklasse in England hatte es noch keine so schwere Epoche
gegeben wie diese Jahre. Gerade in dieser Zeit geschah die endgiltige
Verdrängung der Hausweberei durch die Fabrikweberei. Hundert-
tausende von Arbeitern, die seit jeher gewohnt waren, in ihren
Kottagen auf Hand Webstühlen zu arbeiten, waren zum äussersten
Grad der Verelendung gebracht worden. Dazu kam eine ganze
Reihe anderer Umstände, die die Lage der Haus- wie der Fabrik-
arbeiter noch mehr verschlechterten. Erstens die aussergewöhnlich
andauernde Geschäftsstockung. Nur im Jahre 1838 war der Handel
belebt. Das ganze übrige Jahrfünft von 1837 — ^^4^ bedeutete für
denselben eine vollständige Stockung. Diese Stockung war begleitet
und zum Teil hervorgerufen durch eine Reihe von Missernten in
England, die auf gute Erntejahre Anfang der 30er Jahre folgten.
Die Missernten haben nicht nur eine Verarmung des platten Landes
hervorgerufen, sondern indirekt auch auf die industriellen Arbeiter
höchst niederdrückend gewirkt, indem sie das Getreide verteuerten
und eine intensive Auswanderung der ländlichen Bevölkerung nach
den Städten hervorriefen, was ein Sinken der Löhne der städtischen
Arbeiter zur Folge hatte.
i) Alle oben angeführten Daten sind der Zeitung „The Times" — den Nummern
vom 16., 27., 29., 30. Januar, 4,, 16. Februar, 2., 4., 20. März, 4., 18., 30. April 1826;
vom 4., 18. Mai, 29. September 1829; vom 27. Februar 1830 — entnommen.
i02
Sodann hat zur Vergrösserung der Last dieser Arbeitslosigkeit
die Reform der Armengesetze im Jahre 1834 bedeutend beigetragen;
dank dieser Reform gingen die Arbeiter der gewohnten Unterstützung
seitens des Kirchspiels verlustig, solange sie in ihrem eigenen Heime
verblieben. Diese Reform war die wichtigste soziale Massregel des
reformierten Parlaments. Ihr Zweck war eine möglichst grosse Ein-
schränkung der Ausgaben für Armenunterstützung; als Mittel dazu
sollte es dienen, dass die Erhaltung einer Unterstützung an möglichst
lästige Bedingungen für die Armen geknüpft wurde. Mit dem
Eintritt in ein Arbeitshaus (das im vollen Sinne des Wortes ein
Gefängnis mit schwerer Zwangsarbeit war) wurden der Mann von
der Frau, die Eltern von den Kindern getrennt. Da aber für die
älteren Arbeiter das Leben auf Kosten des Kirchspiels das fast un-
vermeidliche Los war (wir werden weiter unten sehen, dass sogar
heute noch nahezu die Hälfte der älteren Arbeiter ohne eine Unter-
stützung seitens der Armenadministration nicht auskommen kann), so
kann man sich leicht vorstellen, welch eine Entrüstung solche Mass-
nahmen bei den Arbeitern hervorrufen mussten. Im Arbeitshaus
wurde während des Essens die Unterhaltung verboten; seine
unglücklichen Insassen hatten nicht das Recht, das Arbeitshaus zu
verlassen, nicht einmal an Sonntagen, um in die Kirche zu
gehen u. s. w. u. s. w.
Thomas Attwood, der Führer der Radikalen in Birmingham, be-
zeichnete die betreffende Bill während ihrer Beratung im Parlament als
„schamloseste Plünderung der armen Leute". Der berühmte Cobbett
drückte sich über die Bill noch schärfer aus. „Wenn die armen
Leute in der Not ihres gesetzlichen Rechtes auf Unterstützung ver-
lustig gehen," sagte er in einer der Parlamentssitzungen, „welches
natürliche oder menschliche Gesetz kann sie dann des Rechtes be-
rauben, sich anzueignen, wessen sie bedürfen, um nicht Hungers
zu sterben? Raub und Gewaltthaten werden notwendig sein . . . .
Er (Cobbett) sei überzeugt, dass das Parlament dieses Gesetz nicht
annehmen werde, und sollte sich irgend ein Parlament in Zukunft
dazu entschliessen, so würde das einen Kampfruf gegen die Kottage
bedeuten, auf den nur, wenn die Vorsehung es wolle, ein Kampf-
ruf gegen die Paläste antworten werde." Das Unterhaus liess sich
aber durch diese Drohungen nicht einschüchtern, und die Bill wurde
in der dritten Sitzung mit einer Majorität von 187 gegen 50 ange-
nommen ^).
I) Hansard's Parlamentary Debatcs, 1834, Vol. 24, S. 1052.
— ЗОЗ —
Eine interessante Rede zu Gunsten der Bill hielt im Oberhause
Lord Brougham, der wahre Urheber der Reform. Bei der so
grossen Unpopularität Malthus' in weiten Kreisen der englischen
Gesellschaft war ein gewisser Mut erforderlich, um sich oifen als
seinen Anhänger zu bekennen, wie das Lord Brougham gethan hat.
Seine Rede war eine wahre Dithyrambe zu Ehren Malthus'. Broug-
ham nannte ihn „den klügsten, den gelehrtesten und den tugend-
haftesten Menschen, eine Zierde der Gesellschaft, in der er lebe,
einen Gegenstand der Bewunderung seitens der Vertreter der Wissen-
schaft, unter denen er die erste und die glänzendste Leuchte sei . . .
Jede Art Wohlthätigkeit mit wenigen Ausnahmen — erklärte ferner
Brougham — widerspreche den Prinzipien der politischen Oekonomie.
Selbst Greise verdienten keine Unterstützung; da das Alter einen
jeden ereile, so müssten alle umsichtigen Leute, so lange sie Kräfte
hätten, genügend sparen, um sich im Alter erhalten zu können. Da-
her müssten die Asyle für alte Männer und Frauen streng genommen
als schädlich für die Gesellschaft bezeichnet werden; immerhin werde
ihre schlechte Wirkung noch durch ihre guten Seiten gemildert.
Jedoch widerspreche eine andere Art der Wohlthätigkeit, zu der er
(Brougham) jetzt übergehe, ganz entschieden allen gesunden Prin-
zipien; er meine die Kinderasyle, mögen sie nun vom Staate oder
von Privatpersonen errichtet werden. Solche Asyle, mit Ausnahme
der für die Waisen bestimmten, seien ein wahrer Uebelstand; am
allerschlimmsten aber seien die Findelhäuser. Diejenigen, von denen
die Armengesetze der Königin Elisabeth ausgingen, wären in der
Gesellschaftswissenschaft nicht bewandert; ihnen sei das wahre Be-
völkerungsgesetz unbekannt gewesen, sie könnten nicht voraussehen,
dass eines Tages Malthus kommen und das menschliche Geschlecht
über diesen wichtigen, aber bis jetzt noch schlecht verstandenen
Wissenszweig aufklären würde; sie kannten das wahre Prinzip nicht,
auf dem man Präventivmassregeln gegen eine übermässige Ver-
mehrung der Bevölkerung aufbauen müsse" i).
Der Cynismus dieser Erklärungen kam nur ihrer Naivetät
gleich. Wenn man auch mit Brougham darin einverstanden wäre,
dass Leute, die nicht arbeiten und nicht sparen wollen, keine Unter-
stützung verdienen, so bliebe doch eine sehr wichtige P>age, für die
sich der ehrwürdige Lord nicht im geringsten interessierte, die aber
für den Arbeiter die wichtigste war, nämlich, auf welche Weise
eine Beschäftigung zu finden, wenn der Unternehmer eine solche
i) Hansard's Parliamantary Debatcs 1834, Vol. 25, S. 221, 224, 229.
— 304 —
nicht gewährt. Der Arbeiter suchte nichts anderes als Arbeit, aber
gerade dieselbe konnte er oft nirgends anderswo als im Arbeitshause
finden. Dann aber erhielt er keine produktive Arbeit, sondern nur
eine Arbeitslast, die ein rein neg'atives Ziel hatte — den Aufenthalt
im Arbeitshause für seinen unfreiwilligen Insassen möglichst drückend
zu machen.
„Um mit allen Leiden Englands zu endigen — schrieb aus Anlass
der neuen Armengesetze Carlyle -- giebt es nur ein Mittel, die Ver-
weigerung der Unterstützung ausserhalb des Arbeitshauses. England
lag krank und unzufrieden, kraftlos auf seinem Schmerzenslager,
finster und von tiefer Verzweiflung erfüllt, unbesonnen und unüber-
legt, — und da erscheint, wie Hyperion der Länder des Orients, die
Administration der Armengesetze und sagt: es sollen Arbeitshäuser
da sein und in ihnen Brot und Wasser des Kummers geben! Es
war das eine einfache Erfindung- wie alle wahrhaft grossen Erfin-
dungen. Und siehe da, überall, wo sich die Mauern eines Arbeits-
hauses erheben, verschwindet das Eilend und das Leid aus dem
Gesichtskreise, es verschwindet ganz, wie einige hoffen, und wird
zu nichte; Arbeitsamkeit, Nüchternheit, Ueberfluss, Steigerung der
Löhne, Friede auf Erden und der allgemeine Wohlstand treten un-
vermeidlich — nach den Berichten der Administration der Armen-
gesetze — mehr oder minder rasch zur Freude aller Parteien ein" ^).
Unter solchen Bedingungen war es ganz natürlich, dass die
Arbeitslosigkeit, die auf die Krise von 1836 folgte und mehrere
Jahre hindurch anhielt, eine massenhafte Verelendung der x\rbeiter-
klasse verursachte und eine äusserste Unzufriedenheit und Erregung
unter den breiten Bevölkerungsgeschichten hervorrief.
Die Handelskrisis von 1836 führte sofort zu einer ganzen Reihe
von wStreiken. Anfang November begann ein Streik in Staffordshire,
der die Schliessung der meisten Fabriken in diesem Bezirk zur Folge
hatte. Gegen 40 Tausend Arbeiter wurden auf das Pflaster gesetzt.
In Preston führte der Streik in einigen Baumwollfabriken gleichfalls
zur Schliessung aller übrigen Fabriken, und 15 Tausend Arbeiter
blieben beschäftigungslos. Eine ähnliche massenhafte Einstellung der
Produktion erfolgte auch in vielen anderen Städten Lancashires
(Oldham, Ashton u. s. w.). Die Unternehmer, die die Vorteile einer
Einstellung der Produktion während einer Geschäftsstockung sehr
gut verstanden, traten solidarisch auf, und der Streik in einer Fabrik
zog die Schliessung aller übrigen nach sich.
i) Thomas Carlyle, Chartism., London 1840, S. 16.
— 305 —
Im Jahre 1837 erfolgte der epochemachende Streik der Spinner
in Glasgow, in dessen Verlauf ein Arbeiter auf offener Strasse ge-
tötet wurde, wie man annahm, von den Mitgliedern eines Gewerk-
vereins. Obwohl das letztere durchaus nicht bewiesen war, wurden
mehrere Arbeiter zur Zwangsarbeit auf einige Jahre verurteilt. Unter
den besitzenden Klassen entstand eine energische Bewegung gegen
die Gewerkvereine. Die massenhaften Streiks des Jahres 1837
endigten zu Ungunsten der Arbeiter und führten in einigen Fällen
zum Zusammenbruch der Arbeiterorganisationen, die sie unterstützt
hatten. Das Ende der 30er Jahre war überhaupt eine Zeit der
rückläufigen Bewegung des Trade-Unionismus. „Die Mitgliederzahl
der noch am Leben befindlichen Trade-Unions, sagen S. und B. Webb,
nahm reissend ab. Die Gewerkschaft der englischen Steinmaurer,
vielleicht die stärkste der damaligen Verbindungen, stürzte sich im
Jahre 1841 in absoluten Bankerott durch einen verhängnisvollen
Streik ... Es brach fast um dieselbe Zeit der gleich starke oder
noch stärkere Verein der schottischen Steinmaurer zusammen. Die
Gewerkschaften in Glasgow waren infolge der unglücklichen Vor-
kommnisse des Jahres 1837 i^ völlige Desorganisation geraten. Die
Textilarbeiter Eancashires gaben kein Lebenszeichen von sich,
während im Wachsen begriffene Verbindungen, wie die der Eisen-
giesser, die der Dampfmaschinenbauer und Mühlenbauer und die der
Kohlenschmiede, durch die schweren Anforderungen der arbeitslosen
Mitglieder an ihre Kassen lahm gelegt wurden. Die geistige Ver-
fassung der arbeitenden Klassen war nicht günstiger als der Zustand
der Geschäfte. Grimmige Unzufriedenheit und bitterer Verdruss sind
die charakteristischen Merkmale dieser Periode'' i).
Der Trade-Unionismus machte dem Chartismus Platz. Der
Trade-Unionismus erfordert für seinen Erfolg eine günstige Lage
des Arbeitsmarktes. Die Jahre der Arbeitslosigkeit werden stets
durch die Abnahme der Zahl der Mitglieder der Gewerkschaften und
durch die Schwächung der organisatorischen Bewegung überhaupt
gekennzeichnet. Dagegen erstarken in Perioden der Depression die
politischen Bestrebungen der Arbeiterklasse. Die schwerste Arbeits-
losigkeit dieses Jahrhunderts war von der revolutionärsten Arbeiter-
bew^egung, dem Chartismus, und zugleich von einem vollständigen
Verfalle des Trade-Unionismus begleitet.
Den unmittelbaren Anlass zur Chartistenagitation hat der Kampf
I) Sidney und Beatrice Webb, Die Geschichte des britischen Trade-Unionismus.
Deutsch von R. Bernstein, S. 137.
T u g а n - В а r а n 0 w s к у , Die TTan(l(,'lskrisen . 20
— зоб —
gegen das neue Armengesetz gegeben^). Es hat wohl kaum je
irgend ein Gesetz einen solchen Hass unter der Bevölkerung hervor-
gerufen wie dieses. Während des Jahres 1837 wurden in ga.nz
England Protestmeetings gegen das neue Gesetz abgehalten und
Petitionen um seine Abschaffung eingereicht. Und das kann nicht
Wunder nehmen, da die, denen die Ausführung des Gesetzes oblag,
alles gethan haben, um diesen Hass zu verdienen. Die Unterstützung
im Arbeitshause wurde unter solchen Bedingungen gewährt, dass nur
die äusserste Not einen Menschen veranlassen konnte, zu dieser Hilfe
seine Zuflucht zu nehmen. Eines der höheren Mitglieder der Admi-
nistration der Armengesetze, Dr. Kaye, erklärte geradezu auf
einem öffentlichen Meeting: „Unser Zweck ist, die Arbeitshäuser den
Gefängnissen so ähnlich wie möglich und den Aufenthalt darin so
lästig wie möglich zu machen" ^). Mit den Arbeitern stimmten in
der Entrüstung gegen das neue Gesetz auch viele gutherzige
Menschen aus den besitzenden Klassen überein. Die Petitionen, die
von allen Seiten an das Unterhaus (dem Unterhause gingen allein
während einer Session 333 Petitionen mit 268000 Unterschriften zu
Gunsten einer vollständigen oder partiellen Abschaffung des Gesetzes
zu^); dagegen liefen zu Gunsten des Gesetzes nur 35 Petionen mit
952 Unterschriften ein), an das Oberhaus und an den König ge-
richtet wurden, atmeten alle dieselbe Entrüstung. Das neue Gesetz
wird als „unwürdig eines christlichen Landes" bezeichnet, als ein
„despotisches", „grausames", „tyrannisches" Gesetz. Das Arbeitshaus
wird ein Gefängnis genannt, eine „neue ßastille", in der man mit den
Armen wie mit den Verbrechern, die der strengsten Strafe würdig sind,
umgeht . . . „Ein Resultat dieser Massregel muss," lesen wir in einer
Petition, „der Kampf der Armen gegen die Reichen und die voll-
ständige Entfremdung der Armen gegenüber der Regierung dieses
Landes sein^)." '
i) „Obwohl der gegenwärtige erregte Zustand der Arbeiter im Norden nicht auf
eine Ursache zurückgeführt werden kann, ist es doch zur Genüge bekannt, dass gerade
diese freche und grausam heuchlerische Massregel (das neue Armengesetz) die Geduld der
arbeitenden Klasse erschöpft und diese zum offenen Kampfe herausgefordert hat ... Im
Norden wurde dieses ungeheuerliche Gesetz als eine Schöpfung der Todfeinde des Volkes
betrachtet, und im Kampfe gegen dasselbe haben sich unsere nördlichen Brüder erhoben : Sie
haben diesem Gesetze eine Feindschaft bis aufs Messer geschworen." The Poor Law and
the Movement. The London Democrat, 1839, Nr. 2. Diese Zeitschrift wurde von J.
Harney herausgegeben — einem der extrem revolutionären Chartisten. Der Liebimgsheld
Harneys war Marat.
2) Hansards Parliamentary Debatcs, 1838, Vol. 41, S. 10 14.
3) Rede Fieldens im Parlament. Hansards Pari. Debates, 1837, Vol. 39, S. 956.
4) The Times, 24. März 1837.
— 307 —
Die Administration der Armengesetze begann sofort nach ihrer
Entstehung in weitem Umfang die Arbeiter aus den landwirtschaft-
lichen Bezirken nach den industriellen, auf Bestellung der Fabrikanten,
zu transportieren. In Manchester wurde ein spezielles Bureau er-
richtet, in dem jeder F^ibrikant so viel Arbeiter bestellen konnte, als
er brauchte: diese wurden ihm dann als lebende Ware aus den land-
wirtschaftlichen Bezirken geliefert. Zwar waren diese Auswanderungen
der Arbeiter „freiwillige", die ländlichen Arbeiter gingen darauf ein.
Aber die freiwillige Einwilligung war in Wirklichkeit eine Fiktion,
da die Administration die Macht hatte, die Arbeiter zur Auswanderung
zu zwingen: sie brauchte dazu bloss ihnen die seitens des Kirch-
spiels g'ewährte Unterstützung zu entziehen und sie in einem Arbeits-
hause unterzubringen. Es ist selbstverständlich, dass für die in-
dustriellen Arbeiter solche Massenauswanderungen der Landarbeiter
nach den Städten eine Herabdrückung des Standard's of life in der
Stadt bedeuteten, v^^enn auch nicht bis auf das Niveau des Landes,
so doch eine bedeutende Herabdrückung.
Die Opposition gegen das neue Gesetz war in den industriellen
Bezirken viel heftiger als in den landwirtschaftlichen, obwohl die
schlimmsten Wirkungen dieses Gesetzes geiade in den landwirtschaft-
lichen Bezirken zu verzeichnen waren. Der Fabrikant Fielden,
einer der Führer der Bewegung zu Gunsten des i о stündigen Arbeits-
tages, erklärte im Unterhaus, dass die Arbeiter Lancashires nie eine
Anwendung des Gesetzes von 1834 i" ihrer Gegend zulassen w^erden
und dass, falls ein solcher Versuch in dem Bezirk, wo er wohne,
gemacht würde, er selbst sich an die Spitze derer stellen w^ürde, die dem
Gesetze einen offenen Widerstand leisten würden. Und in der That
stiess die neue Administration der Armengesetze in den industriellen
Bezirken nicht selten auf den hartnäckigsten Widerstand der Be-
völkerung. In einigen Fällen konnten die Agenten dieser Adminis-
tration sich nur durch Flucht vor dem Zorne der Volksmassen retten.
Diese Opposition hat gewisse praktische Resultate gehabt, sie be-
wegte nämlich die Administration bei der Anw^endung des Gesetzes
von seinen strengen Bestimmungen bedeutend abzuweichen. In
einigen industriellen Bezirken behielt die neue Administration sogar
das frühere System der Armenunterstützung bei. Die Unterstützung
arbeitsfähiger Leute ausserhalb des Arbeitshauses hat thatsächlich
nicht aufgehört. Schon der Ueberfiuss an Arbeitslosen in der
Periode 1837 — 1842 machte es unmöglich, alle Arbeitslosen in Arbeits-
häuser unterzubringen, da diese völlig überfüllt waren.
Aber alle diese Konzessionen konnten die Bevölkerung mit dem
2Ö*
— 3o8 —
neuen System der Armenunterstützung nicht versöhnen. Im Novem-
ber 1837 rief die Einführung des neuen Gesetzes in Bradford (in
Yorkshire) einen ernsthaften Zusammenstoss des Volkes mit dem
Mihtär hervor. Die Aufruhrakte wurde vorgelesen und einige
Escadrons ^""er Kavallerie attakierten die Menge, die sich mit
Steinwürfen verteidigte. Schliesslich griffen die Soldaten zum
Seitengewehr.
Mittlerweile wuchs die Arbeitslosigkeit beständig. Besonders
entsetzlich war die Lage der Baumwollhandweber in Lancashire und
der Seiden Weber in Spitalfield. In Birmingham, dem Centrum der
Eisen Warenproduktion, war die Arbeitslosigkeit auch sehr stark. Im
März sandten die Fabrikanten und die Händler dieser Stadt eine
Deputation an die Regierung mit der Bitte, entschiedene Massnahmen
zu ergreifen, um der Notlage cibzuhelfen . . . „Wenn nicht sofort von
der Regierung solche Massnahmen getroffen werden," hiess es in der
Petition, „so wird ein bedeutender Teil der Bevölkerung beschäf-
tigungslos bleiben i)".
Die Agitation des Jahres 1837 war hauptsächlich gegen das
neue Armengesetz gerichtet. Fast jede Nummer des „Bronterre's
National Reformer", einer Zeitschrift, die von Bronterre O'Brienne
herausgegeben wurde (später einem der hervorragendsten Chartisten-
führer), enthält glühende Geisselungen dieses Gesetzes. So lesen wir
in der ersten Nummer vom 7. Januar 1837: „Unsere Arbeiterklasse,
sowohl die Land- wie die industriellen Arbeiter, sind durch die Gier
der Unternehmer bereits auf einen so niedrigen Zustand gebracht,
dass sie gerade noch dem vollständigen Untergang entgehen; aber
das Geldungeheuer (Money monster) ist noch nicht gesättigt. Als
letztes Mittel hat dieses Ungeheuer ein neues Armengesetz geschaffen,
um die Arbeiter auf das niedrigste Lebensniveau herabzudrücken.
Dieses Gesetz behandelt die Opfer der Armut so, wie in anderen
Ländern die verurteilten Verbrecher behandelt werden; dieses Gesetz
giebt die Kleidung des Verbrechers, die Kost des Verbrechers und
das Gefängnis des Verbrechers einem erschöpften Manne, dessen
Arbeit das Ungeheuer bereichert hat und dessen Schuld nur darin
besteht, dass er das Ungeheuer nicht vor 100 Jahren erwürgt hat . . .
Das sind die letzten Mittel des industriellen England ... Ja, meine
Freunde, das neue Armengesetz ist der letzte blutige Versuch des
Geldungeheuers, den zusammenbrechenden Aufbau dieses menschen-
mörderischen Systems aufrecht zu erhalten, des schonungslosen
i) Bronterres National Reformer, Nr. II, 1837.
— 309 —
Systems, das Euch inmitten des von Euch selbst geschaffenen Reich-
tums zu Armen macht i)."
BekanntUch hatte die berühmte „Charte" der Chartisten einen
durchaus politischen Charakter. Sie bestand aus 6 Punkten. Allge-
meines Wahlrecht für erwachsene Männer, geheime Stimmenabgabe,
Aufhebung des Vermögenscensus für Abgeordnete, gleichmässige
Wahlbezirke, Diäten der Abgeordneten und einjährige Legislatur-
periode, das waren diese Punkte.
Ihre Entstehung war die folgende. Im Jahre 1836 wurde in
London ein Arbeiterverein „The London Working Men Association"
gebildet, der den Charakter eines radikalen politischen, ausschliesslich
für Arbeiter bestimmten, Klubs hatte. Dieser Verein hat mit der
Hilfe einiger politischen Radikalen die berühmten 6 Punkte ausge-
arbeitet, die später zur „Volkscharte" wurden. Im Februar 1837 hat
der Verein auf einem öffentlichen Meeting vorgeschlagen , sich an
das Parlament mit einer Petition um Bewilligung dieser Forderungen
zu wenden. Während des Jahres 1837 haben diese Forderungen
jedoch allgemeine Aufmerksamkeit nicht auf sich gelenkt und haben
keine energische Agitation hervorgerufen. Anfang Mai 1838 wandte
sich die Association mit einer Adresse an andere ähnliche Associa-
tionen, indem sie die 6 Punkte als „Volkscharte" empfahl. Es ist
höchst charakteristisch, dass eine Zeit lang die „Charte" im „Nor-
thern Star", dem Organ des einflussreichsten Führers der Chartisten,
O'Connor's, gar nicht vermerkt war. Erst mit dem Sommer 1838
tritt die „Volkscharte" als Hauptgegenstand der Agitation in den
Vordergrund.
Die politischen b'orderungen der „Charte" weisen auf einen
Zusammenhang des Chartismus mit dem politischen Radikalismus hin,
der mit der Parlamentsreform von 1832, die die politische Herrschaft
der bürgerlichen Klasse begründete, bei weitem nicht befriedigt w^ar.
Den Arbeitern gewährte diese Reform kein Stimmrecht, und sie
hatten vollen Grund , sich als getäuscht zu betrachten. Ihrer
äusseren Form nach bildete die Chartistenbewegung eine Fortsetzung
der politischen Agitation um das allgemeine Stimmrecht, die seit dem
18, Jahrhundert in England fortdauerte.
Seinem inneren Inhalt nach war dennoch der Chartismus keine
politische, sondern eine durchaus soziale Bewegung. Die berühmten
6 Punkte der Charte haben nur deshalb die Arbeitermassen so rasch
um sich gruppiert, weil die gesetzgeberische Thätigkeit des refor-
I) A. a. o.
— 3 ' ^ —
mierten Parlaments (und besonders das neue Armengesetz) in den
Volksmassen die Ueberzeugung hervorgerufen hatte, dass der Not-
stand, welcher wahrhaftig unerträglich war, sich in einem gewissen
Zusammenhang mit der Herrschaft der bürgerlichen Klasse im Par-
lament befand. Das allgemeine Stimmrecht wurde durch die Arbeiter-
massen als ein mächtiger Hebel zur Steigerung ihrer wirtschaftlichen
Lage betrachtet.
Mit vollem Rechte haben die Gegner des neuen Armengesetzes
des öfteren im Parlament auf den Zusammenhang hingewiesen, der
zwischen diesem Gesetz und der Agitation zu Gunsten des allge-
meinen Wahlrechts bestehe. Gerade das Gesetz von 1834, clas der
Zeit seiner Einführung nach mit einer aussergewöhnlich andauernden
und schweren Arbeitslosigkeit, welche die Trade -Unionistische
Organisation der Fabrikarbeiter fast zerstörte, zusammenfiel, rief im
Volke die Erregung gegen das Parlament hervor, die im Chartismus
zum Ausdruck kam.
Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die leitenden Zeit-
schriften der Chartisten im Anfange der Chartisten а gitation in den
Jahren 1837 — 1838 zu lesen. Das Armengesetz spielt in ihnen die
bei weitem hervorragendste Rolle. The Northern Star, das Organ
von Fergus O'Connor, mit dessen Namen der Chartismus in erster
Linie verknüpft ist, giebt der Kritik dieses Gesetzes einen noch
grösseren Raum als die oben citierte Zeitschrift O'Brien's. The
Northern Liberator führt auch einen ständigen Krieg gegen das
Armengesetz. Protestmeetings und Protestpetitionen gegen dieses
Gesetz waren mächtige Vorgänger der Meetings und Petitionen der
Chartisten. Selbst der grossen Zahl ihrer Teilnehmer nach konnten
einige dieser Meetings den Vergleich mit den 'grossartigsten Meetings
der Chartisten aushalten.
Die Idee der nationalen Petitionen und der kolossalen Prozes-
sionen als Kampfmittel gegen das Parlament entstand gerade auf
dem Boden der Agitation gegen das Armengesetz. O'Brien sagt
(То the Radical and Social Reformers of Great Britain and Ireland.
National Reformer, 1837, ^^' 5)» <^^ss O'Connor ihn zu Anfang Fe-
bruar 1837 ^^^ <^бп Gedanken gebracht habe, anstatt einer grossen
Anzahl von kleinen Petitionen gegen das Gesetz von 1834 ^^^
Parlament eine Petition im Namen sämtHcher Armen Englands in
Begleitung einer Prozession von 200000 Mann vorzulegen.
Die Entrüstung gegen das neue Armengesetz brachte Arbeiter-
massen in Bewegung, und die Arbeitslosigkeit und die Not ver-
wandelte diese Entrüstung in eine Flamme, die mit einem Male das
— 311 —
ganze Land erfasste. Noch zu Beginn des Jahres 1837 warf O'Brien
den Arbeitern Gleichgiltigkeit gegenüber dem allgemeinen AVahl-
rechte л'ог: „Ihr habt," so schrieb er, „keine kühnen Anstrengungen
gemacht, um das Wahlrecht zu erobern; Ihr habt keine grossen
Demonstrationen zu diesem Zwecke veranstaltet; allerdings habt Ihr
manchmal Petitionen in diesem Sinne eingereicht, aber dieser Petitionen
waren zu wenige, und sie waren zu schwach und unentschieden in
ihrer Ausdrucksweise, nur wenige von ihnen waren kühn und ge-
bieterisch, zudem wurden sie niemals gleichzeitig in grosser Anzahl
eingereicht. Ihr sagt darin, dass Ihr Steuern zahlt, dass Ihr in der
Miliz zu dienen verpflichtet seid und vielen anderen unkonsequenten
Unsinn, aber Ihr habt nie mit Entschiedenheit Eure Forderungen
aufgestellt, als Leute, die ein gleiches, ja sogar höheres Recht haben
als ihre Unterdrücker . . . Ihr habt Euch selbst in Euren besten
Tagen damit begnügt. Eure Sache in die Hände weniger Demagogen
zu legen, die, wie ehrlich und kühn sie auch sein möchten, nichts
ohne eine allgemeine Volksbewegung, die von Euch ausgehen soll,
erreichen konnten i)."
Etwas über ein Jahr, nachdem diese Zeilen geschrieben waren,
da waren Millionen englischer Arbeiter in Bewegung geraten, wur-
den kolossale Meetings und Demonstrationen veranstaltet, und die
Volkscharte, deren Inhalt in einer Forderung des allgemeinen Wahl-
rech^ts bestand, wurde mit unbeschreiblichem Enthusiasmus von der
Arbeiterklasse Englands begrüsst. Was hat sich denn verändert?
Warum haben die englischen Arbeiter ihre politische Apathie von
sich geworfen, welcher neue Geist ist in ihnen eingekehrt, wie kam
es, dass ihre Versammlungen immer mehr an die der französischen
Revolutionäre des vorigen Jahrhunderts erinnerten? Ist der eng-
lische Arbeiter ein anderer Mensch geworden?
Nein, er ist derselbe geblieben, der er auch früher war. Der
Chartismus leuchtete plötzlich in einer hellen Flamme auf, die den
gesamten sozialen Bau Englands zu verschlingen drohte, und erlosch
eben so schnell. Die Ursachen des Chartismus waren vorübergehender
Natur: die schwere Not und Arbeitslosigkeit, das hat dem englischen
Volke den Schrei der Verzweiflung entrissen, der der Chartismus war.
Der Notstand war zu unerträglich, und die Volksmassen kamen
in Bewegung und forderten politische Rechte. Aber die Not in
ihrer akuten Form ging vorüber, und die Welle der industriellen
i) Bronterre's National Reformer, Nr. i, 1837.
— 312 —
Flut trug rasch die revolutionäre Stimmung des englischen Arbeiters
mit sich fort. Der Chartismus war in der englischen Geschichte wie
ein hell aufleuchtender Meteor, der keine Spur hinterlässt.
Wir haben hier nicht die Geschichte des Chartismus zu schreiben,
obwohl das auch eine dankbare Aufgabe gewesen wäre! Selten
hat eine historische Bewegung so viel Heroismus und Begeisterung
zu Tage gefördert wie diese. Das alles kann aber für den Histcjriker
die schw^achen Seiten der Bewegung nicht verdecken. Schon das
Programm des Chartismus ist charakteristisch, ein ausschliesslich
politisches Programm, während die Bewegung einen vollkommen
socialen Charakter trug. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Damit, dass der Chartismus eine rein negative Bewegung, eine
Bewegung des Protestes und weiter nichts war. Die Volksmassen
bedurften irgend einer P^ahne, um die sie sich scharen konnten. Eine
solche Fahne wurde die „Volkscharte". Aber sie war auch nicht
mehr als eine Fahne; ein positives Programm hat die Bewegung nie
besessen. In den Augen der Chartisten war die Eroberung des all-
gemeinen Wahlrechts nur ein Mittel für die ökonomische Umgestal-
tung der Gesellschaft, für die Rettung der breiten Volksmassen aus
dem Elend, unter dem sie litten. Aber auf welchem Wege sollte
das geschehen? Welche ökonomischen Massnahmen sollte das neue,
durch das Volk erwählte Parlament ergreifen? Das wussten die
Chartisten selbst nicht. Der Chartismus, der eine Frucht der . rein
ökonomischen Unzufriedenheit war, konnte trotzdem kein positives
ökonomisches Programm ausarbeiten.
Die Führer der Chartisten empfanden tief die Leiden des Volks;
sie erkannten richtig die Ursachen dieser Leiden, aber sie wussten
nicht die Mittel, um sie zu heilen. Sie klammerten sich an das
radikale politische Programm, weil es für alle verständlich war und
eine einfache Entscheidung für alle Fragen gab. „Lasst nur das
Volk sein Parlament wählen, gebt ihm die politische Macht in die
Hände, und es wird sich selbst helfen können." Das war die Ant-
wort der Chartisten.
Aber das war keine Antwort, sondern ein Zugeständnis seiner
eigenen Unfähigkeit eine solche zu geben. Das Volk kannte die
betreffenden Mittel noch weniger als seine Führer.
So ist es begreiflich, dass die Erfolge des Chartismus ephemere
sein mussten. Die Volksmassen wurden zum Chartismus durch
ökonomische Notlage getrieben, man schlug ihnen jedoch politische
Reformen vor. Solange die Not sich nicht verminderte, waren die
Massen bereit, sich um jedes beliebige Banner zu scharen, wenn es
— 313 —
nur ein Banner des Protestes war. Aber die Not in ihrer akuten
Form ist vorübergegangen, und das Volk hat das Banner ver-
lassen.
Warum hat nun der Chartismus kein radikales und zugleich
positives ökonomisches Programm ausgearbeitet? Weil ein solches
Programm in den 30er Jahren unmöglich war. Es war das die Zeit
der energischen Entwickelung des noch jungen und mächtigen
Kapitalismus einer- und des utopischen Socialismus andererseits.
Radikale ökonomische Reformen waren unmöglich und wären auf
Versuche, die Entwickelung des Kapitalismus zu hemmen, hinaus-
gelaufen, auf Versuche, die keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten
und nicht fähig gewesen wären, die Eeiden des Volkes zu erleich-
tern. Gerade einen solchen Charakter hatte, wie wir unten weiter
sehen werden, der berühmte „Landplan" von O'Connor.
Also hing der Chartismus trotz seiner raschen Erfolge sozu-
sagen in der Euft. Die organisatorische Arbeiterbewegung ging
ihren Lauf vom Chartismus ganz unabhängig. Diese kam um jene
Zeit in England hauptsächlich in drei Formen zum Ausdruck: im
Trade-Unionismus, in der Agitation zu Gunsten der Zehnstundenbill
und im Owenitischen Socialismus, der anfing, die Form einer Ge-
nossenschaftsbewegung anzunehmen. Alle diese Bewegungen hatten
tiefe Wurzeln in den socialen Verhältnissen Englands und haben zu
Resultaten von grösster Bedeutung geführt. Der Chartismus konnte
sich mit keiner von diesen Bew^egungen verschmelzen, weil er der
Ausdruck des leidenschaftlichen Protestes der Volksmassen gegen die
unerträglichen Existenzbedingungen des Augenblicks war, die Fabrik-
gesetzgebung, das Genossenschaftswesen und der Trade-Unionismus
aber langsame und entfernte Resultate in der Zukunft versprachen,
während Hilfe, und zwar radikale Hilfe, sofort nötig war.
Am nächsten stand der Chartismus noch der Bewegung für
den Erlass einer Zehnstundenbill. Fiel den, dem es beschieden Avar,
diese grosse Reform im Parlament durchzusetzen, äusserte sich auf vielen
Meetings zu Gunsten der „Volkscharte". Oastier, der energische,
einflussreiche und populäre Leiter der ausserparlam entarischen Agi-
tation für den Erlass dieses Gesetzes, war kein Chartist, er stand
jedoch in naher Beziehung zu den Führern des Chartismus, er schrieb
in Chartistenzeitungen, er trat in Chartistenmeetings auf. Aber
immerhin unterschied sich prinzipiell die Bewegung zu Gunsten einer
Beschränkung des Arbeitstages schon dadurch vom Chartismus, dass
sie keine Reform des Parlaments verlangte, dass sie es durchaus
für möglich hielt (und zwar mit vollem Recht), ihre Ziele unter dem
— 3^4 —
bestehenden Parlament zu erreichen. Oastier war seinen politischen
Ueberzeugungen nach nicht einmal Liberaler, er bekannte sich als
Tory. Ebenso gehörten auch andere Führer der Bewegung für
die Zehnstundenbill — Sadler und Lord Ashley — zu den Konser-
vativen.
In der Chartistenpresse und in öffentlichen Versammlungen
spielte die Forderung der Verkürzung des Arbeitstages der Fabrik-
arbeiter eine geringe Rolle, jedenfalls eine viel geringere als der Kampf
gegen das neue Armengesetz.
Die Chartistenbewegung hatte so zu sagen zwei Wurzeln.
Erstens verlangte eine kleine Gruppe von politischen Radikalen unter
den besitzenden Klassen und besser bezahlten Arbeitern politische
Reformen. Als Vertreter dieser Gruppe der Chartisten können aus
der bürgerlichen Klasse Thomas Attwood^), aus der Arbeiter-
klasse Lovett, der Sekretär der Londoner „Working Men Associa-
tion", gelten. Lovett war ein typischer, intelligenter, englischer
Arbeiter, durchaus kein Revolutionär, ein nüchterner und vorsichtiger
Mann, keineswegs den Kapitalisten feindselig gesinnt und mit ihnen
Hand in Hand zu gehen bereit, der es aber zugleich sehr gut ver-
stand, die Interessen seiner Klasse energisch zu vertreten. Lovett
stand der Trade-Unionistischen Bewegung sehr nahe und war einer
der Hauptorganisatoren ihrer Verteidigung während der Agitation
gegen den Trade-Unionismus nach dem Glasgower Streik von 1837.
In seiner Autobiographie bedauert es Lovett bitter, dass, dank
O'Connor, Stephens und Oastier, der Bund der Radikalen aus der
bürgerlichen Klasse mit der Arbeiterklasse zerfallen würde. Nach
seiner Darstellung haben die Mittelklassen, solange die genannten
Personen an der Chartistenbewegung nicht teilgenommen hatten, der
Forderung des allgemeinen Wahlrechts nicht nur keinen Widerstand
geleistet, sondern sie sogar unterstützt. Und in der That waren die
berühmten 6 Punkte unter dem unmittelbaren Einfluss der bürger-
lichen Parlamentsradikalen entstanden'^).
1) Im neuesten Buch über den Chartismus von John Tildsley „Die Entstehung
der Chartistenbewegung" (Jena, 1898) wird mit Recht auf die grosse Bedeutung des Bir-
minghamer politischen Bundes, an dessen Spitze Attwood stand, für die Organisierung des
Chartismus als einer politischen Bewegung, hingewiesen.
2) Lovett war einer der fruchtbarsten Schriftsteller unter den Chartisten. Seine
gemässigte Gesinnung wird durch eine kleine Schrift gekennzeichnet, die er zusammen mit
einem anderen Chartisten im Jahre 1840, während er im Gefängnis sass, geschrieben hat:
„Chartism, а new Organisation of the People, by William Lovett, Cabinet-Maker, and
John Collins, Tool-Maker", London 1840. In dieser Schrift empfiehlt Lovett den Char-
tisten die Gründung einer nationalen Association für Selbstbildung. Diese Association sollte
- 315 —
Attwood und Lovett brachten hauptsächlich die politische
Strömung des Chartismus zum Ausdruck. Das rein sociale Element
wurde am schärfsten durch Stephens vertreten. Stephens bekannte
sich nicht zum Chartisten, er war nicht nur kein politischer Radi-
kaler, sondern er hielt sich sogar für einen Tory. Uebrigens trug
gerade dieser Tory am meisten bei zur Entstehung jener rein demo-
kratischen Massenbewegung, in die sich der Chartismus bald ver-
wandelte. Trotz seines Torysmus ist es Stephens' und Oastler's
mehr als irgend jemand anders Schuld, dass der Chartismus einen
revolutionären Charakter annahm. Der Ausgangspunkt der Stephens-
schen Agitation war nicht die „Charte", der er gleichgültig gegen-
überstand, sondern der Kampf gegen die Unterdrückung der Ar-
beiter in den Fabriken und insbesondere der Kampf gegen das neue
Armengesetz. Das war eben die sociale Wurzel des Chartismus.
Für Eovett reduzierte sich der Chartismus auf eine Reform des
Parlaments, für Stephens auf guten Lohn und massige Arbeit.
Stephens war der erste von den Chartisten, der von der
Regierung wegen Anstiftung des Volkes zum Aufstand verfolgt und
zu einer langen Gefängnishaft verurteilt worden ist. Dieser sanfte,
religiöse Mann, um nach seinem Porträt zu urteilen, mit kindlichem
und naiven Gesicht, wurde eine Zeitlang für den Führer der revo-
lutionären Partei der Chartisten, der Partei der „physischen Gewalt"
den ZAveck haben, für Arbeiter Bibliotheken, Vorlesungen und öffentliche Vorträge, Schulen,
elementare und höhere, einzurichten, Bücher zu drucken u. s. w. Dadurch hofft Lovett im
Lande eine der ,, Charte" günstige öffentliche Meinung zu schaffen und das allgemeine Stimm-
recht ohne jegliche Störung des Friedens zu erreichen. Im VorAvort zu dieser Schrift be-
müht sich Lovett, die mittleren Klassen davon zu überzeugen, dass die Charte für sie nichts
Gefährliches darstellt. „Die Vermutung, dass das allgemeine Stimmrecht ein Ueberwiegen
der Arbeiterklasse im Unterhause zur Folge haben werde, wird durch die Erfahrungen der
anderen Länder nicht bestätigt. Die Arbeiterklassen haben selbst in Amerika nicht eine
solche Machtstellung, obwohl dort der Reichtum und die gesellschaftliche Stellung eines jeden
viel weniger Bedeutung haben als bei uns. Die enormen Vorteile der allgemeinen Stimm-
abgabe für das Volk bestehen darin, dass sie dem Volke die besten Mittel ziu" Selbst-
bildung an die Hand giebt, dass sie den menschlichen Geist energisch darauf hindrängt, die
Ungerechtigkeit des öffentlichen Lebens zu beseitigen und die Volksvertreter zu bewegen,
die Gesetze zu verbessern und die Bedingungen für einen allgemeinen Wohlstand zu schaffen,
wie das den Wünschen der aufgeklärten öffentlichen Meinung entspricht. Alles das erwarten
wir von der Verwirklichung der Volkscharte" (Einleitung, 21). AVenn aber die Charte den
Arbeitern kein Uebergewicht gewähren wird, warum wird das Parlament anders als früher лvirken?
Lovett hat eben den sozialen Charakter der Chartistenbewegung nicht begriffen, лvegen seines
stetigen vStrebens, die besitzenden Klassen für die Sache der Arbeiter zu gewinnen. Bald
nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wendete er sich namens der Association, an deren
Spitze er stand, mit einem Manifest an die ,, mittleren Klassen", in dem er für einen „herz-
lichen Bund der Mittelklassen mit den Arbeitern" eintrat (Autobiography, 262).
— 3i6 —
gehalten. Aber er war wohl kaum unaufrichtig, als er vor Gericht
seine Zugehörigkeit zu den Chartisten in Abrede stellte. Stephens
erhob einen Protest gegen die Bedrückung des Volkes, die vor seinen
Augen geschah, erhob Protest gegen das neue Armengesetz, das er
nicht nur grausam und der englichen Verfassung widersprechend
fand, das er nicht nur als eine Verletzung des alten Rechtes des
englischen Volkes erkannte, Hilfe vom Kirchspiele im Notfalle zu
erhalten, sondern das er auch für unchristlich hielt, für eine Zer-
störung der Familie, „für eine Trennung derer, die Gott selbst ver-
einigt hat". Er rief das Volk zu den Waffen auf, zum Schutze der
Religion und der uralten Rechte des englischen Volkes.
O'Brien und O'Connor haben versucht, den socialen Protest
der arbeitenden Klassen gegen die Notlage und gegen den uner-
träglichen ökonomischen Druck mit den politischen Forderungen der
Radikalen zu vereinigen, aber dieser Versuch scheiterte darum, weil
ein natürlicher Zusammenhang zwischen den beiden Momenten fehlte.
Das alte Armengesetz hatte an so vielen nicht zu beseitigenden
Mängeln gelitten, dass es keinesfalls wiederhergestellt werden konnte;
das war jedoch die einzige gesetzgeberische Massregel, die man als
Mittel zur Linderung der Not vorschlagen konnte. Die Geschäfts-
stockung und der Verfall der alten Gewerbeformen konnten durch keine
Gesetze beseitigt werden, ihre Ursachen lagen dazu zu tief. Es waren
keine praktischen Mittel vorhanden, um den unglücklichen Hand-
webern, die den bedeutendsten Teil der Lancashirer Arbeiter
bildeten, zu helfen, da ihre Leiden durch das Wachstum der Gross-
industrie verursacht waren. Ebenso konnten auch die anderen socialen
Krankheiten jener Zeit keine Heilung finden. Die Reform des Par-
laments, die O'Brien und O'Connor der Volksbewegung auf ihre
Fahne geschrieben hatten, war kein wirksames Mittel, die zweifellos
vorhandenen Uebelstände zu beseitigen. Das war eben der letzte
Grund des endgiltigen Scheiterns der ganzen Chartistenbewegung.
Zu Beginn des Jahres 1853 war die Chartistenagitation, wie ge-
sagt, hauptsächlich gegen das neue Armen gesetz gerichtet. In Lan-
cashire und anderen industriellen Bezirken bildeten sich spezielle
Associationen für den Kampf gegen dieses Gesetz — Anti-Poor-Law-
Associations. In Manchester wurden Delegiertenkonkresse dieser
Associationen veranstaltet. Auf einem von diesen Kongressen wurden
49 Petitionen um Abschaffung des Gesetzes eingereicht. Die meisten
Petitionen trugen je einige Tausend Unterschriften.
Der Geistliche Stephens sagte auf einem Meeting auf Anlass
eines solchen Kongresses, dass ein Arbeiter ihm ein Messer gezeigt
I
— 317 —
habe, mit dem er entschlossen gewesen sei. den Wärter des Ar-
beitshauses zu töten , wenn dieser ihn von seiner Frau trennen
wollte. „Zuerst glaubten die Leute nicht, sagte Stephens, dass ein
solches Gesetz überhaupt ausgeheckt werden konnte, nicht einmal
von dem teuflischsten Wesen, das jemals gelebt hat; sie glaubten nicht,
dass eine Regierung in unseren Tagen sich dazu entschliessen könnte,
zumal eine Reformregierung, die ihr Vertrauen genoss, an der die
Hoffnnngen und Erwartungen der Hälfte des Landes hingen; sie
dachten nicht, dass eine Regierung, die so viel Versprechungen ge-
geben, einen so niedrigen Treubruch geübt hätte. Aber jetzt sind
sie genötigt, daran zu glauben, denn eine Grafschaft nach der anderen,
eine Stadt nach der anderen, ein Dorf nach dem anderen und eine
Hütte nach der anderen gesehen hat, wie der Feind sich nähert . . .
Und dieselben Leute, die früher nicht an die Möglichkeit eines solchen
Gesetzes glauben konnten, haben sich jetzt von seiner Existenz über-
zeugt; sie verstehen es vollkommen und hassen es aus ganzem Herzen.
Sie haben geschworen, ohne jedwede Organisation, irgend welcher
Art — ein jeder für sich selbst, Männer, Frauen, Kinder — sie haben
geschworen im Namen Gottes, im Namen ihrer Frauen und Kinder,
Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, sie haben geschworen,
lieber tausend Mal in den Tod zu gehen, als sich zu trennen, als in
ein Gefängnis gesteckt zu werden, als die Freiheit einzubüssen, als
auf Befehl der Regierung zu hungern . . . kann denn die Regierung,
die Polizei, das Militär, können alle Heere der feindlichen Mächte
der Macht des Volkes widerstehen, wenn unsere Frauen und unsere
Töchter vor unseren Füssen liegen, um Schutz und um Rache flehend?
Noch einmal schwöre ich vor dem Himmel und vor Euch, niemals in
irgend einer Form mich diesem Gesetze zu unterwerfen i)."
, Einige Tage nach diesem Meeting, am 20. Februar, reichte
БЧеЫеп dem Parlament 142 Petitionen um Abschaffung des Gesetzes
von 1834 ein. Aber die Torys und die Whigs waren einmütig. Der
Antrag Fieldens wurde mit 309 Stimmen gegen 17 abgelehnt.
Und da erfüllte sich, was Cobbet während der Beratung des
Gesetzes von 1834 im Parlament vorhergesagt hatte: ein Kampfschrei
durchtoste das ganze Land. Die Forderung des Abschaffens eines
grausamen Gesetzes macht kühneren Forderungen Platz. Das Volk
muss selbst über seine Geschicke entscheiden, nieder mit den Torys
und mit den Whigs, mit diesen „blutigen" Whigs, wie man sie zu
jener Zeit nannte. Die Volkscharte, darin liegt die Rettung des
i) The Northern Star, 1838, Nr. 13.
— 3IÖ —
Volkes. Wozu soll man sich mit Petitionen an ein Parlament wenden,
das aus Reichen besteht? Nur Arme können die Armen verstehen,
es lebe das Volksparlament, das jährlich von der gesamten Bevölkerung
des l.andes gewählt wird!').
Die Volksmasse kam mit einem Mal in Bewegung. Am 28. Mai
hat in Glasgow das erste von den koUassalen Chartistenmeetings
stattgefunden, die sich später so oft im ganzen Lande wiederholt
haben. Gegen 200000 Mann — vorzugsweise Arbeiter — hatten am
Meeting teilgenommen'^). 40 Musikorchester begleiteten die Pro-
zessionen, hunderte von Flaggen wehten über die Menge. Der erste
Platz unter den Rednern auf diesem Meeting gehörte Thomas
Attwood, einem der einflussreichsten Männer im J^ande, dem Leiter
der Volksbewegung zu Gunsten der Parlamentsreform von 1832.
„Wenn zwei Millionen Menschen sich vornehmen das allgemeine
Stimmrecht zu erlangen, sagte er, und zu diesem Zwecke in einen
Generalstreik treten, welche Regierung kann einer solchen Demon-
stration stand halten?"
Bald darauf kommen auch in Manchester und anderen Städten
Meetings zusammen. In Manchester erklärte Fielden, dass „eins
von beiden geschehen müsse, das neue Armengesetz werde ent-
weder durch das Parlament, oder durch eine Revolution abgeschafft
werden. Er (Fielden) zweifele nicht daran, dass spätestens in zwei
Jahren die jährliche Parlamente, das allgemeine Wahlrecht und die
geheime Stimmabgal.^ erreicht sein werden". Stephens erklärte
unter unbeschreiblichem Enthusiasmus der Mengen: „In einer Aus-
dehnung von drei Meilen von meinem Hause befinden sich in den
Wohnungen der Arbeiter nicht weniger als 5000 Stück verschiedener
Waffen. Ich wünsche nur, dass die 5000 sich um das fünfzigfache
vermehren . . . Das Land braucht energische und tapfere Leute ^mit
Waffen in den Händen, Leute, die ausrufen könnten: „wir werden
eher auf dem Schlachtfelde den letzten Blutstropfen vergiessen, als
uns diesem teuflischen Gesetze unterordnen"^).
Von dieser Zeit an wächst die Chartistenbewegung weit über
die Agitation gegen das Armengesetz hinaus. „Die Volkscharte",
i) Lovett bemerkt mit vollem Rechte, dass die Bewegung in den industriellen Be-
zirken ursprünglich ausschliesslich gegen das Armengesetz gerichtet war und sich erst be-
deutend später der Erreichung der „Volkschaite" zugewandt hat. Lovetts Autobiographie, 172.
2) Es sei hier übrigens bemerkt, dass alle Zahlenangaben über die Beteiligung auf
den Chartistenmeetings von den Chartisten selbst stammen und zweifellos bedeutend über-
trieben sind.
3) The Northern Star, Nr. 30, 1838.
— 3^9 —
als Mittel, alles Elend des Volkes zu heben, bemächtigt sich der
Geister von Millionen der Arbeiter. Die Führer der Bewegung selbst
waren über die Schnelligkeit ihres Wachstums erstaunt. Es war
noch nicht lange her, dass Bronterre O'Brien sich über den poli-
tischen IndifFerentismus des englischen Arbeiters beklagt hatte, und
schon fand in Newcastle im Juni 1838, am Tage der Krönung der
Königin Victoria, eine der wichtigsten politischen Demonstrationen
der Arbeiterklasse statt, die England jemals gesehen hatte. Die Zahl
der Versammelten war zwar geringer als die in Glasgow (sie betrug
gegen 80000); aber die allgemeine Stimmung war viel entschiedener
und die Sprache der Redner viel kühner. Auf den Fahnen waren
Inschriften der folgenden Art:
Fr ее dorn.
When once more her hosts assemble,
T.et the tyrants only tremble;
Smile they at tbis idle threat?
Crimson tears may follow yet ^).
Auf dem Meeting wurde eine Resolution angenommen , dass
man mit allen Mitteln, nicht nur mit gesetzHchen, wie einer der
Redner ausdrücklich betont hatte, das allgemeine Stimmrecht erringen
müsse.
Während dieses Meetings defilierten vor den Augen der Menge
Detachements der Kavallerie und der Infanterie, die eine Kanone
mit sich führten, vorbei; es schien, als ob es mit Absicht gethan
würde, um die Leute zu unvernünftigen Handlungen zu provozieren.
Aber die Menge gab den erwünschten Anlass nicht, und so kam es
nicht zu einem Zusammenstoss.
Es folgte nun eine Reihe von Chartistenmeetings in den ver-
schiedenen Städten Englands; das grösste derselben fand in Birming-
ham statt (an diesem nahmen gegen 200000 Personen teil). Das
Londoner Meeting war eines der am wenigsten geglückten. Ueber-
haupt trat der Chartismus in London viel schwächer auf als in der
Provinz.
Auf dem Meeting in Birmingham gab Attwood unter anderem
die Antwort auf die allerwichtigste Frage, wozu die Durchsetzung
der „Charte" führen müsse. Die Antwort ist^ äusserst charakteristisch
als das ökonomische Programm des rechten Flügels der Chartisten
i) Freiheit.
Wenn ihre Auserwählten sich versammeln,
Dann sollen die Tyrannen zittern.
Sie lachen über diese leere Drohung?
Mit blutigen Thräiien werden sie das bezahlen.
— 320 —
(The Birmingham Political Union, an deren Spitze Attwood stand,
war die bedeutendste radikale Organisation Englands): „Was muss
unser Ziel sein, führte Attwood aus, wenn sich das Parlament in
unseren Händen befinden wird? Vor allem werden wir die Korngesetze
aufheben (Beifall). Wir müssen die Kornpreise ins Gleichgewicht
mit den Arbeitslöhnen bringen, und wenn- wir die Gesetze über die
Goldwährung aufgehoben haben, werden wir die Preise der Arbeit
den mit Preisen der Nahrungsmittel in Uebereinstimmung bringen.
Damit werden wir allen Klassen der Bevölkerung eine Wohlthat er-
weisen. Dann werden wir uns dem Armengesetze zuwenden. Es
darf sich auch nicht einen Monat halten (Beifall) . . . Das ist unser
grosses Ziel. Und endlich müssen wir auch die Fabrikgesetze revi-
dieren" 1).
Und das ist alles. Man kann nicht sagen, dass sich diese Aus-
führungen durch Klarheit auszeichnen, insbesondere dort, wo von den
Preisen des Getreides, der Arbeit und der Goldwährung die Rede
ist. Attwood gehörte zu den Anhängern des „billigen Geldes" und
hielt die Wiederherstellung der Goldwährung in England im Jahre 1819
für die Wurzel alles Uebels. Jedenfalls enthält das Attwoodsche
Programm nichts, was irgendwie an den Socialismus erinnert. Einige
von den Forderungen Attwoods wurden sehr bald im Parlament
durchgesetzt. Um die Korngesetze abzuschaffen, war es nicht nötig,
grosse politische Reformen auf die Fahne der Chartisten zu schreiben.
Auch andere Redner sprachen auf diesem Meeting von der
Rettung des Volkes durch Rückkehr zur Papierwährung. Es braucht
nicht hinzugefügt zu werden, dass das alles von einem niedrigen
Niveau des ökonomischen Verständnisses zeugte.
Allerdings brachte Attwood nur die Anschauungen der einen,
der bürgerlichen Gruppe der Chartisten zum Ausdruck. Aber die
übrigen Chartisten auf dem Meeting, die die Annäherung an die
Birminghamer Radikalen freudig begrüssten, sprachen kein einziges
Wort gegen das ökonomische Programm derselben.
Zwar gab es unter den Chartisten eine andere, eine mehr
zum Socialismus neigende Strömung, aber auch das war ein sehr
unklarer, verworrener und utopischer Socialismus, von einem vor-
zugsweise agrarischen Charakter. О 'Brie n war vielleicht der-
jenige unter den Chartisten, der am bewusstesten die socialistische
Richtung vertrat. Schon vor Beginn der Chartistenbewegung war
er Herausgeber des bekannten socialistisch gefärbten radikalen
I) The Northern Star, 1838, Nr. 39.
— 32 1 —
Arbeiterorgans „The Poor Man's Guardian". Im Jahre 1836 über-
setzte O'Brien Buonarottis Geschichte der Verschwörung Babeufs;
im Л^orwort sagte er, dass er die Anschauungen Buonarottis voll-
kommen teile 1). Er war ein entschiedener Anhänger der Verstaat-
lichung des Grund und Bodens und entwickelte in seinen nach-
folgenden Arbeiten ein ganzes Programm der sozialen Umgestaltung,
wobei ausser der Verstaatlichung des Grund und Bodens ein neues
System des Austausches und eine neue Organisation der Geld-
cirkulation die Hauptrolle spielten. Im sozialen System O'Briens
lässt sich der Einfiuss der Gedanken R. Owens erkennen. iVllerdings
hatte O'Brien seine eigene Utopie, die übrigens in keiner Hinsicht
an die Utopie seines grossen Zeitgenossen Owens heranreichte.
Solche Utopien haben dennoch eine sehr geringe Rolle in der Char-
tistenbewegung gespielt. Sie waren weit entfernt von den realen
Aufgaben der Arbeiterbewegung jener Zeit. Das erkannte auch
O'Brien, indem er während des grössten Aufschwungs der Char-
tistenbewegung energisch betonte, dass der Streit über den Zukunft-
staat augenblicklich nur ein rein theoretisches Interesse haben könne,
da die reale Aufgabe der Bewegung in der Erreichung bestimmter
politischer Reformen bestehe.
Für die Charakteristik des Chartismus als einer sozialen Be-
wegung sind die Reden von Stephens und O'Connor auf dem
Riesenmeeting in Manchester am 25. September 1838 von grossem
Interesse. Von der Stimmung des Volkes, das sich in einigen
Hunderttausenden auf diesem Meeting versammelt hatte, kann man
sich eine Vorstellung machen nach den Bildern und Inschriften auf
den dort entrollten Fahnen. Auf einer Fahne z. B. sah man eine
Hand mit einem Dolch; die dazu gehörige Inschrift lautete: „Ihr,
Tyrannen, wollt uns dazu zwingen?" Auf einer anderen war die
Abschlachtung der Arbeiter in Manchester im Jahre 18 19 dargestellt
mit der Inschrift: „Der Mord fordert seine Sühne" u. s. w. Stephens
und O'Connor haben es versucht, dem Volke zu erklären, wozu
das allgemeine Wahlrecht führen wird. Stephens äusserte sich
folgendermassen : „Die Frage der allgemeinen Stimmabgabe sei im
i) „Das Buch Buonarotti's enthält eme der besten mir bekannten Darstellungen
der grossen politischen und sozialen Prinzipien, die ich solange Zeit in Poor Man's Guardian
und anderen Schriften verteidigt habe .... Ich war über die Uebereinstimmung der Ideen
Buonarottis mit den meinigen so erstaunt, dass ich sofort den Entschluss fasste, das Buch
zu übersetzen und so dem englischen Leser die Doktrinen Poor Man's Guardian's in einer
neuen Form darzustellen." Buonarottis History of Babeufs Conspiracy for Equality. London
1836. Vorwort S. ХГП.
Tugan-Baranowsky, Die Handelskrisen. 21
— 322 —
letzten Grunde eine Messer- und Gabelfrage. Wenn man ihn frage,
was er unter einer allgemeinen Stimmabgabe verstehe, werde er
antworten: das Recht eines jeden Menschen in diesem Lande auf
eine bequeme Wohnung für sich und seine Familie, ein nahrhaftes
Mittagsessen, nicht mehr Arbeit, als die Gesundheit zulasse, und
solche Löhne, die die Möglichkeit geben könnten, alle vernünftigen
Forderungen des Menschen zu befriedigen" (stürmischer Beifall).
Auf einem anderen Meeting, das in Liverpool stattfand, fügte
Stephens diesen Ausführungen noch folgendes hinzu: „Es gebe
ein wichtigeres und fundamentaleres Prinzip , als jede Regie-
rungsform. Es sei das die Frage des Gleichgewichts zwischen
Armut und Eigentum, des Gleichgewichts zwischen den als Kapital
fungierenden Arbeitsprodukten und der Arbeit selbst, die 'allen
Reichtum schaffe ... In einer Republik wie in einer Monarchie müsse
diese Frage früher oder später die ganze Aufmerksamkeit der tYeunde
des Volkes und der Politiker auf sich lenken . . . Niemand habe das
Recht, mehr als seine Mitmenschen zu besitzen, so lange es Leute
gebe, die das Notwendigste entbehren . . . Die Arbeiter verlangten
einen gerechten Lohn für nicht übermässige Arbeit. Sei denn diese
Forderung so unbegründet oder so masslos i)?"
Aber wiederum setzt Stephens nicht auseinander, wie die
Erfüllung dieser Forderung zu erreichen sei. Die Volkscharte sei
notwendig, um die ökonomischen Bedürfnisse der Arbeiter zu be-
friedigen. Aber welche Massnahmen sollen den Wohlstand des
Volkes herbeiführen? Darin eben besteht die Frage, auf die Stephens
in seiner langen Rede nichts zu antworten hat.
O'Connor äusserte etwas anderes. „Wenn das Volk vom
Parlament mittels des allgemeinen Wahlrechts Besitz ergreife, was
solle man dann thun? Dann solle man dafür sorgen, dass die Steuern
den Bedürfnissen des Staates entsprechen. Die Menschen seien sehr
freigebig, wenn sie andere mit Steuern belegen, aber wenn das Volk
sich selbst mit Steuern belegen würde, so würde ein jeder selbst Soldat
werden, um die kostspielige Armee, die die Geldmittel des Landes
verschlinge, in Friedenszeiten zu ersparen; statt eine Staatskirche zu
unterhalten, würde ein jeder durch freiwillige Gliben für die religiösen
Einrichtungen sorgen, die seinem Gewissen am nächsten stünden.
Das seien einige der Volksrechte, die das allgemeine Stimmrecht ver-
wirklichen würde '^)."
i) The Northern Star, No. 47, 1838.
2) The Northern Star N0. 46, 1838.
— 323 —
Hiernach weist O'Connor noch beiläufig darauf hin, dass die
Gewerkvereine ganz frei werden müssen, und damit sind seine
Ausführungen erschöpft. Verminderung der Steuern durch Be-
seitigung der stehenden Armee und der Staatskirche, KoaHtionen-
freiheit und, selbstverständHch , Abschaffung des Armengesetzes
von 1834, das ist alles, was die „Charte" dem Volke bringen muss.
Zweifellos ist das sehr wenig. Es ist handgreiflich, dass weder
Stephens noch OXonnor eine bestimmte Vorstellung davon hatten,
auf welche Weise man der schrecklichen Notlage abhelfen könne,
die den Chartismus ins Leben gerufen hat.
Ebenso unbestimmt sind die ökonomischen Forderungen der
Chartisten in ihrer ersten nationalen Petition, die im Herbst 1838
verfasst W4irde. Die Petition beginnt mit einem Hinweis darauf, dass,
trotz dem Ueberfluss an Gaben der äusseren Natur, die Bevölkerung
schwere Leiden zu ertragen habe. „Ihre Petenten erliegen unter der
Last der Steuern, und diese werden immer noch von unseren Herren
als ungenügend bezeichnet. Die Händler und Industriellen befinden
sich am Rande des Ruins. Die Arbeiter hungern. Das Kapital
wirft keinen Profit ab, und die Arbeit wird nicht entlohnt. Das
Haus des Handwerkers ist leer geworden und die Kammer des
Wucherers ist gefüllt. Im Arbeitshause ist kein Platz mehr vor-
handen, die Fabrik aber steht leer. Ihre Petenten haben mit grösster
Sorgfalt nach den Ursachen des Notstandes gesucht, der so schwer
und so andauernd auf ihnen laste. Diese Ursachen können nicht in
der Natur oder in dem Willen der Vorsehung bestehen . . . Sie (die
Petenten) erklären dem Unterhause ehrerbietigst, dass dieser Zustand
nicht fortdauern dürfe. Sie sagen dem Hause, dass das Kapital des
Unternehmers nicht des angemessenen Profits, dass die Arbeit des
Arbeiters nicht der angemessenen Belohnung beraubt werden dürfe.
Dass die Gesetze, die die Nahrung teuer, das Geld knapp und die
Arbeit billig machen, beseitigt werden müssen. Dass die Steuern
auf das Eigentum, nicht aber auf die produktive Thätigkeit, gelegt
werden müssen . . . Als Vorbedingung dieser und anderer notwendiger
Massnahmen, als einziges Mittel, das die Interessen des Volkes
schützen könnte, verlangen ihre Petenten, dass der Schutz der In-
teressen des Volkes diesem selbst anvertraut würde'-)."
Darauf folgen die Punkte der „Charte". In dieser Petition tritt
die innere Schwäche des Chartismus mit voller Anschaulichkeit her-
1) The Northern Star, N0. 46, 1838.
2) Gamrnage, 88.
21
— 324 —
vor. Die Petition beginnt mit einem Hinweis auf die schwere öko-
nomische Lage des Landes. Ueber die Ursachen dieser Notlage
wird gar nichts gesagt. Die Massnahmen zur Beseitigung dieser
Notlage werden auch ganz unbestimmt skizziert. Die Verminderung
der Steuern, die Abschaffung der Korngesetze und die Reform des
Geldsystems, nur das kann die Petition der Regierung vorschlagen,
dafür stellt sie aber mit voller Entschiedenheit die Forderung einer
radikalen Parlamentsreform auf.
Sehr charakteristisch ist in dieser Petition auch das vollständige
Fehlen irgend eines Gedankens, der sich dem Sozialismus nähere.
Das Kapital und die Arbeit werden in gleichem Masse als recht-
mässige Momente des Wirtschaftslebens erkannt, die mit gleichem
Rechte auf eine „angemessene" Entlohnung Anspruch erheben können.
Der Punkt über die Abschaffung „der Gesetze, die das Geld knapp
machen", ist vollständig dem Birminghamer Programm von Attwood
entnommen.
In dieser Petition fällt auch das gänzliche Uebergehen des
neuen Armengesetzes und der Fabrikgesetze auf, der wichtigsten
sozialen Forderungen, die die Arbeitermassen aufgestellt haben. Es
findet das seine Erklärung wahrscheinlich darin, dass die Petition
vom Birmingham er politischen Vereine verfasst wurde, einem Vereine
bürgerlicher Radikaler i). Attwood, der an der Spitze dieses Ver-
eines stand, war im höchsten Grade bemüht, die Mittelklassen auf
die Seite der Chartisten zu ziehen, und daher wurden in diese
Petition nur solche Forderungen aufgenommen, die auf die Sympathie
dieser Klassen rechnen konnten.
Es ist interessant, bei dem Verhalten der Chartisten den Korn-
gesetzen gegenüber zu verweilen. In dieser höchst wichtigen Frage
herrschte unter den Chartisten durchaus keine Einigkeit. Der rechte
Flügel der Chartisten stand der Agitation gegen die Korngesetze
sympathisch gegenüber. Aber O'Brien und darauf O'Connor
traten dieser Agitation gegenüber äusserst feindselig auf. O'Brien
behauptete, dass unter den herrschenden politischen Verhältnissen
alle Vorteile der Abschaffung der Korngesetze der Klasse der
Geldkapitalisten, den Creditoren, zum Nachteile der Arbeiter und
der Schuldner, zufallen würden. Das Sinken der Getreidepreise
würde namentlich von einem Sinken der Löhne begleitet werden.
Da aber die Kaufkraft des Geldes infolge der Verbilligung der
i) Nach Lovett war die Petition von Douglas, dem Verleger des Birminghamer
Journals, verfasst. Autobiography, S. 201.
— 325 —
Nahrungsmittel entsprechend wachsen würde, so würde sich die
Last aller fixierten Zahlungen und Steuern vermehren. Unter
solchen Umständen sei die Abschaffung der Kornzölle gleichbe-
deutend mit der Expropriation der gesamten arbeitenden und pro-
duzierenden Bevölkerung zu Gunsten der Geldkapitalisten. Die Ab-
schaffung der Kornzölle müsste von anderen Massnahmen be-
gleitet werden, die den Kapitalisten die Möglichkeit, sich alle
\^orteile dieser Abschaffung anzueignen, nehmen sollten und da
nur ein durch allgemeines Stimmrecht erwähltes Parlament sich
zu solchen Massnahmen entschliessen könnte, so wäre, nach der
Meinung O'Briens, eine sofortige Aufhebung der Korngesetze für
die Interesse der Arbeiterklasse schädlich.
Während des Herbstes 1838 wurden Chartistenmeetings zahl-
reicher abgehalten als jemals. Nicht selten w^urden sie mitten in der Nacht
bei Fackelschein veranstaltet. Viele erschienen bewaffnet. Auf einem
solchen nächtlichen Meeting fragte Stephens, ob die Anwesenden
bewaffnet seien. Es ertönten einige Schüsse. „Und das ist alles?"
fragte Stephens. Man antwortete ihm mit einer ganzen Salve.
Als Stephens vorschlug, dass diejenigen, die sich entschlossen hätten,
Waffen anzuschaffen, die Hände erheben sollten, erhoben sich die Hände
aller Anwesenden, und wieder erfolgten einige vSalven. Die Regie-
rung machte solchen Auftritten ein rasches Ende, indem sie nächt-
liche Meetings verbot und Stephens verhaftete.
Am 4. Februar 1839 trat in London der erste nationale Kon-
vent der Chartisten zusammen, an dem 53 Delegierte, Vertreter der
Chartistengruppen aus verschiedenen Teilen des Landes teilnahmen.
Dieser Konvent sollte ein Volksparlament bilden und gegenüber dem
nur von einem kleinen Bruchteile der Bevölkerung gewählten Par-
lamente im Westminsterhause tagen. Wir werden bei der Thätigkeit
dieses Konvents nicht verweilen. Viele Chartisten waren damit un-
zufrieden, dass ihre Vertreter eine ebenso übermässige Redelust
zeigten wie die Parlamentsmitglieder im Westminsterhaus. Die
Delegirten der industriellen Bezirke des Nordens, des Hauptbollwerks
des Chartismus, wiesen ganz entschieden auf die Arbeitslosigkeit und
die Notlage der arbeitenden Klasse als auf die eigentliche Ursache
des Chartismus hin. So erklärte der Delegierte Bussey, der Ver-
treter von einigen Hunderttausenden Yorkshirer Arbeitern, dass „die
Ursache des Chartismus die entsetzliche Armut sei. Bevor diese
Ursache beseitigt würde, könne man auf eine Wiederkehr des Friedens
nicht rechnen." Seine Rede schloss er, indem er die bekannten
Stephensschen Worte variierte: „Hätten wir nur eine gute Kleidung,
— 32б —
eine gute Wohnung und ein nahrhaftes Mittagsessen, so hätte uns
unsere Regierungsform nicht im mindesten gekümmert" ^). Der New-
castler Delegierte, Lowry, sagte auf einem anderen Meeting: „Die
Chartistenagitation sei einem Notstande entsprungen , einem entsetz-
Hchen und allgemeinen Notstande, unter dem das ganze Volk leide . . .
Als Vertreter der Arbeiterklassen des Nordens erkläre er (Lowry),
dass sie nicht warten könnten und auch nicht warten wollten 2)."
Gammage, der Geschichtsschreiber des Chartismus, der sich auch
selbst an der Bewegung energisch beteiligte, sagt: „Die Anhänger
der „physischen Gewalt^' unter den Mitgliedern des Konvents kamen
zu ihrer Stellungnahme durch die äusserste Unzufriedenheit der
Arbeiterklassen, insbesondere in den industriellen Bezirken, die durch
den akutesten, durch keine Hoffnungen auf Besserung gemilderten
Notstand hervorgerufen wurde. Dieser Notstand bildete einen
häufigen Gegenstand der Besprechungen des Konvents^)." Und in
der That, einer der wärmsten Anhänger der „physischen Gewalt",
Marsden, ein Handweber, hat persönlich unter der allgemeinen
Arbeitslosigkeit stark gelitten, und nach seiner eigenen Anerkennung
musste er mit seiner Familie während einiger Zeit hungern. Viele
Redner wiesen auf ähnliche Fälle des äussersten Elends auch in
anderen Arbeitszweigen hin'^).
Die nationale Petition, mit 1280000 Unterschriften bedeckt,
wurde dem Unterhaus durch Attwood am 14. Juni vorgelegt. Im
Juli fanden in Birmingham grosse Unruhen statt. Die Menge leistete
dem Militär heftigen Widerstand, zerstörte einige Läden und ver-
brannte einige Häuser. Herzog von Wellington sagte aus diesem
Anlass im Oberhaus, er habe viele Städte gesehen, die im Sturm
genommen worden seien, aber keine einzige Stadt habe so grausam
gelitten wie Birmingham. Natürlich war diese Erklärung äusserst
übertrieben. Auf die Unruhen folgten Verhaftungen vieler Chartisten-
führer.
Einige Tage zuvor, am 12. JuH, brachte Attwood im Unter-
hause den Antrag ein, die nationale Petition der Chartisten in einer
speziellen Kommission einer Erörterung zu unterziehen. Die Rede
Attwood 's und die nachfolgenden Debatten geben sehr viel zur
Verständigung des wahren Charakters des Chartismus.
i) The Northern Star, 1839, N0. 65.
2) A. a. O., N0. 66.
3) Gammage, 108.
4) The Northern Star, 1839, N0. 68.
— 327 —
Attwood hat darauf hingewiesen, dass nicht nur die Arbeiter
schwere Entbehrungen erfahren, sondern alle industriellen Klassen des
Landes unter der andauernden Geschäftsstockung zu leiden haben.
Diese Geschäftsstockung stand, nach der Auffassung von Attwood, in
einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufnehmen der Bar-
zahkmgen im Jahre 1819; die Interessen sowohl der Arbeiter wie
der Unternehmer stimmen in dieser Hinsicht vollkommen überein.
„Er sei überzeugt, dass der Wohlstand und die Befriedigung der
Arbeiterklasse ohne die geringste Schädigung der Interessen anderer
Gesellschaftsklassen oder Ungerechtigkeit für irgend jemand anderen
erreicht werden könnten. Das Land könnte beständige Handels-
sch\vankungen nicht ertragen . . . Die 1 200000, die die Petition
unterzeichnet hätten, erklärten damit, sie hätten ein Recht, durch
ehrliche Arbeit zu leben, dass man ihnen aber dieses Recht ver-
weigere; zugleich erklärten sie, dass die industriellen Schwankungen zu
kurzen Perioden einer zweifelhaften Blüte, aber zu andauernden Perio-
den einer unzweifelhaften Not führen." Nach der Ansicht Attwoods
brachte die Petition nicht nur die Forderungen der Arbeiter, sondern
auch der meisten Angehörigen der Mittelklassen, der Gewerbtreiben den
und der Händler zum Ausdruck. Für die Unternehmer sei die Ge-
schäftsstockung noch schlimmer als für die Arbeiter.
Fielden, der den Antrag Attwoods unterstützte, sprach auch
über die Geschäftsstockung, unter der besonders stark Lancashire
sowie überhaupt die industriellen Bezirke litten. „Und wodurch sei
die Krisis in den Manufakturbezirken hervorgerufen?" Durch
schlechte Gesetze oder jedenfalls dadurch, dass das Parlament nicht
gewillt ist, gute Gesetze zu schaffen.
Attwood gab also ein Hilfsmittel an, das Papiergeld; Fielden
aber hat auf kein Hilfsmittel hingewiesen und begnügte sich mit
dem Konstatieren der übrigens unbestreitbaren Thatsache des Not-
standes infolge der Geschäftsstockung. Die von Attwood einge-
nommene Position war jedoch so schwach, dass es der Regierung,
die vom Lord Rüssel vertreten wurde, keine Mühe machte, ihn zu
widerlegen. Die Rede Lord Russeis war für Attwood vernichtend.
„Der verehrte Gentleman," erklärte Rüssel, ,, betrachte die Petition
hauptsächlich vom Standpunkte der ökonomischen und sozialen Lage
des Volkes. Was die politische Seite der Frage anlange, so halte
sich der verehrte Gentleman bei diesem Punkte wenig auf . . . Viele
meinten, dass das allgemeine Wahlrecht das Volk glücklich machen
werde. Aber er (Rüssel) denke, dass diese Auffassung auf einem
fundamentalen Irrtum beruhe. Der verehrte Gentleman sage: „Er
- 32S —
sei für das allgemeine Wahlrecht, denn bis wir es nicht haben
würden, würde das Parlament uns heute Wohlstand bringen, morgen
aber uns in den Notstand stürzen." Er (Rüssel) könne sich aber
keine Regierungsform vorstellen . . . die dem ganzen Lande eine
stetige und ununterbrochene PrOvSperität sichere, die in einem in-
dustriellen Handelslande sowohl den niedrigen Stand der Löhne
und den daraus entspringenden Notstand, unter dem am schwersten
die unteren Klassen der Bevölkerung leiden, wie jene abwechselnden
Schwankungen von Wohlstand zu Not, die in allen Ländern der ge-
nannten Art zu beobachten seien, vorbeuge. Man sehe die Ver-
einigten Staaten Amerikas an. Sie hätten das allgemeine Wahlrecht.
Wer würde aber behaupten, dass die Vereinigten Staaten frei von
diesen Schwankungen oder frei von Not seien? . . . Weder das all-
gemeine Wahlrecht noch irgend eine andere Form des Wahlrechts
könne Gesetze schaffen, die dem Volke einen ständigen Wohlstand
sichern."
Darauf ging Rüssel über zur Analyse des speziellen Mittels,
den Notstand zu lindern, das Attwood empfohlen hatte. Voraus-
gesetzt, dass dieses Mittel wirksam wäre, gebe es einen Grund zur
Annahme, dass die Parlamentsreform zu seiner Durchführung führen
würde? Rüssel berief sich auf die Erklärungen der einflussreichsten
Chartistenführer, wieFergus O'Connor, Lovett, Collins, Frostu.a.,
gegen das Papiergeld. So wurde in einem Chartisten manifeste den
Arbeitern unter anderem gesagt: „Unter den verschiedenen Mass-
nahmen, mittels derer man Euch knechten will, giebt es keine
drückendere als das Papiergeld." Daher habe Attwood mit seinem
Glauben an die Papierwährung vom allgemeinen Wahlrecht nichts
zu hoffen.
Die interessanteste und geistreichste Rede hielt während
dieser Debatte Disraöli. Er wies darauf hin, dass die Chartisten-
bewegung durchaus nicht durch das Streben der Arbeiter zu poli-
tischen Rechten hervorgerufen sei. „Die politischen Rechte hätten
einen so abstrakten Charakter, ihre Folgen wirken so entfernt auf
die Volksmasse zurück, dass sie, nach seiner (Disraöli s) Ansicht,
niemals zur Entstehung einer grossen Volksbewegung führen könnten."
Dennoch halte es Disraöli gleichfalls für unmöglich, den Chartismus
auf rein ökonomische Ursachen zurückzuführen. „Es gebe etwas,
das zwischen ökonomischen und politischen Ursachen stehe," erklärte
er, „und das sei es gerade, was diese grosse Bewegung geschaffen
habe . . . Die wahre Ursache dieser letzteren sei die Ueberzeugung
eines Teiles der Bevölkerung, dass ihre bürgerlichen Rechte verletzt
— 329 —
seien. In den letzten Jahren habe zweifellos eine Verletzung der bür-
gerlichen Rechte des englischen Volkes stattgefunden. Er gehöre nicht
zu denen, die da denken, die Volkscharte sei allein aus dem neuen
Armengesetze entstanden. Aber er glaube doch, dass zwischen dem
einen und dem anderen ein enger Zusammenhang bestehe . . . Die
alte Konstitution habe einem geringen Teil der Nation politische
Rechte übergeben. Aber die politischen Rechte seien einer geringen
Klasse von Personen nur unter gewissen Bedingungen anvertraut
gewesen: diese Personen sollten nämhch die bürgerlichen Rechte der
grossen Majorität schützen. Das hätte nicht nur ihre Ehre erfordert;
die Organisation der Gesellschaft sei derart gewesen, dass Personen, die
mit politischen Rechten- versehen wurden, zugleich bestimmte Verpflich-
tungen übernähmen, die sie ausführen müssten. Jetzt sei ein be-
deutender Teil der politischen Macht einer neuen Klasse von Personen
übertragen, die diese grossen öffentlichen Verpflichtungen nicht auf
sich genommen hätten. Nur die Erfüllung grosser Pflichten habe
vormals den grossen sozialen Einfluss geschaffen; die neue Klasse
aber, die die politischen Rechte erhalten habe, sei nicht mit der
Volksmasse durch Erfüllung von sozialen Pflichten verknüpft ge-
wesen . . . Wohin habe das geführt? Diejenigen, die die politische
Macht erworben hätten, ohne ihre notwendigen Vorbedingungen und
Verpflichtungen zu erfüllen, hätten sich natürlich bemüht, sich nach
MögHchkeit aller Ausgaben und Sorgen zu entledigen. Nachdem sie
eine solche Lage erreicht hätten, um derentwillen andere bereit
wären, Ausgaben zu tragen und keine Sorgen zu scheuen, seien sie
bemüht gewesen, die Vorteile der Situation, ohne jeglichen Nachteil
für ihren Geldbeutel und ohne jegliche Verausgabung ihrer Zeit,
auszunutzen. Das erste habe zu einem Bestreben, die Staatsausgaben
einzuschränken, das zweite zu einer ständigen Einmischung der
Regierung geführt. Aber er (Disraeli) behaupte, dass man nicht
eine billige und centralisierte Regierung haben und zugleich die
bürgerlichen Rechte des englischen Volkes erhalten könne ... Er
glaube, dass darin die wahre Ursache des Chartismus bestehe . . .
Ein bedeutender Teil der Bevölkerung habe erkannt, dass ihre
bürgerlichen Rechte verletzt seien. Das neue Armengesetz sei eine
solche Verletzung dieser bürgerlichen Rechte gewesen. Man könne
nicht leugnen, dass das neue Armengesetz auf einem Prinzipe beruhe,
das alle sozialen Pflichten des Staates negiere. Dieses Gesetz schreibe
den Notleidenden vor, sich um Hilfe nicht an die nächsten Nachbarn,
sondern an die entfernte Regierungsgewalt zu wenden. Dieses Gesetz
sage dem unglücklichen Arbeiter, er habe kein gesetzliches Recht
— ЗЗО —
auf eine Unterstützung, die Unterstützung, die er erhalte, sei Sache
der Wohlthätigkeit. Und er (Disraöli) glaube, dass die Unzufrieden-
heit, die durch diese Veränderungen hervorgerufen sei, diejenige
Kraft gewesen wäre, welche die Partei des Aufruhrs zu ihren
Zwecken ausgenutzt habe. So sei die Chartistenbewegung ent-
standen ... Er erkenne an, dass die nationale Petition von dem
grossen Irrtume ausgehe, dass das soziale Unglück durch politische
Rechte geheilt werden könne; dieser Irrtum aber werde nicht von
den armen Chartisten allein geteilt i)."
Disraeli hat viel mehr Verständnis für die Ursachen des
Chartismus bewiesen als irgend ein anderer Staatsniann jener Zeit.
Sehr fein und richtig ist seine Bemerkung über die Gleichgiltigkeit
der Volksmasse gegenüber politischen Rechten und über die Be-
deutung der bürgerlichen Rechte. Gerade in diesem Unterschied
zwischen den politischen und den bürgerlichen Rechten liegt der
Schlüssel zum Verständnis der gesamten neuesten politischen Ge-
schichte Englands. Der englische Arbeiter zeigte stets einen auf den
ersten Blick unbegreiflichen Indifferentismus gegenüber seinen poli-
tischen Rechten. Nur in der Epoche des Chartismus sind die poli-
tischen Rechte als Fahne einer Volksbewegung entrollt worden.
Aber Disraeli hatte durchaus recht, wenn er sagte, das sei nur
eine Aeusserlichkeit, die Kraft des Chartismus liege aber nicht in
der politischen Unzufriedenheit.
Nirgends in der Welt hat die Arbeiterklasse soviel Mut und
Beharrlichkeit in der Verteidigung ihrer Interessen bewiesen wie in
England. Nirgends in der Welt haben die Arbeiter eine so mächtige
Klassenorganisation geschaffen wie in England, nirgends haben die
Arbeiter auch einen solchen politischen Einfluss gehabt wie in Eng-
land. Und doch hat der englische Arbeiter erst seit kurzer Zeit
politische Rechte erhalten, sogar heute besitzt er sie noch nicht in
vollem Umfange, da England ein allgemeines Wahlrecht immer noch
nicht kennt. Warum hat nun der englische Arbeiter im Gegensatz
zu seinen Brüdern auf dem Kontinent seine Energie nicht auf die
Eroberung politischer Rechte gerichtet? Gewiss, wenn der englische
Arbeiter nur einen geringen Teil jener Energie und Beharrlichkeit,
mit der er beständig seinen ökonomischen Kampf führt, für den
politischen Kampf aufgewendet hätte, so wäre das allgemeine Wahl-
recht in England schon längst eine vollzogene Thatsache.
i) Hansard's Parliamentaiy Debates. 1839- Vol. 49.
— 331 —
Die Erklärung dieser Erscheinung liegt im folgenden: dem
eng'lischen Arbeiter fehlen die Beweggründe, die den Arbeiter auf
dem Kontinent auf den politischen Kampf hindrängen. Die Volksmasse
auf dem Kontinent machte Revolutionen, um ihre bürgerlichen
Freiheiten auszudehnen. In England war die bürgerliche Freiheit in
ihren Hauptzügen schon längst erreicht, und keine Erweiterung des
Wahlrechtes konnte zu dieser Freiheit etwas Wesentliches hinzufügen.
Daher konnten die politischen Reformen die englische Volksmasse
nicht lebhaft berühren; auch bei einem aristokratischen Parlament
fühlte sich der englische Arbeiter als ein ebenso freier Mensch wie
bei einem demokratischen.
Der Chartismus war ein grossartiger Versuch, die b^rderung
politischer Rechte für das Volk mit den realen Volksbedürfnissen zu
verknüpfen. Jedoch da diese Bedürfnisse ökonomischer Art waren
und der sociale Gedanke jener Zeit keine ernsthaften und ausführ-
baren Massregeln zur Befriedigung dieser Bedürfnisse ausgearbeitet
hatte, so musste dieser Versuch schliesslich scheitern i). Solange die
Arbeitslosigkeit einen grossen Umfang hatte, hielt sich die Volks-
masse an die „Charte", als an eine Fahne des Protestes. Aber eine
Wiederbelebung des Handels genügte, um den Chartismus ver-
schwinden zu lassen.
Die schwierige Stellung Attwoods im Parlament kennzeichnet
grell den inneren Widerspruch, unter dem der Chartismus litt, den
Widerspruch zwischen dem politischen Programm der Bewegung und
ihren sozialen Wurzeln. Der Antrag Attwoods, die Chartisten-
petition einer Parlamentskommission zur Erörterung zu unterbreiten,
wurde mit einer Majorität von 235 Stimmen gegen 46 abgelehnt.
Am 4. November 1839 erfolgte ein ernsthafter Versuch eines
offenen Aufruhrs seitens der Chartisten. Frühmorgens drangen
i) Die Aufhebung des neuen Armengesetzes war die einzige praktische von den
Chartisten vorgeschlagene Massregel, die in der That erst nach einer radikalen Reform des
Parlaments verwirklicht werden konnte, da beide Parteien, die Tories und die Wighs, an
dem neuen Gesetz unbedingt festhielten. Aber erstens hat die heftige Opposition gegen
das Gesetz in den industriellen Bezirken in bedeutendem Masse ihr Ziel erreicht: das Gesetz
wurde in diesen Bezirken so vorsichtig gehandhabt, dass der Unterschied gegenüber dem
früheren Zustand, dem vor 1834, nicht gross war. Zweitens aber bezog sich dieses Gesetz
immerhin nur auf einen Teil der Arbeiterklasse. Der grösste Teil der Arbeiter in den
industriellen Grafschaften hatte auch unter dem alten Gesetze keinerlei Unterstützung seitens
der Kirchspiele bezogen, da er so etwas für eine Schande hielt. Insbesondere galt das für
die Vertreter der gelernten Arbeit. Daher, wie wichtig dieses Gesetz auch gewesen sein
mochte, es bot für die Volksmassen doch nicht einen genügenden Anlass, um den gesamten
englischen Staatsbau zu zerstören und das Parlament auf demokratischer Grundlage neu auf-
zubauen.
-^ 332 — .
einige Tausend Bergarbeiter in die Stadt Newport, um unter An-
wendung von Gewalt das städtische Gefängnis zu besetzen und die
dort gefangen gehaltenen Chartistenführer zu befreien. Viele waren
bewaffnet mit Gewehren, Piken, Heugabeln. Die Menge, an deren
Spitze der ehemalige Richter Frost stand, beabsichtigte anscheinend
von der Stadt Besitz zu ergreifen und dadurch das Signal zu einem
allgemeinen Aufruhr zu geben, der gleichzeitig in Yorkshire aus-
brechen sollte. Ein Detachement Militär leistete Widerstand. Es er-
folgte ein gegenseitiges Beschiessen, wobei 10 Chartisten auf der
Stelle getötet und gegen 50 verwundet wurden. Der Aufstand
wurde kurzer Hand niedergeschlagen.
Ueber die Stimmung, die diesen verzweifelten und hoffnungs-
losen Versuch hervorrief, kann man sich auf Grund des folgenden
Briefes eines der getöteten Chartisten, eines Jünglings von 18 Jahren,
eine Vorstellung machen. Dieser unbekannte Held der Freiheit
schrieb folgendermassen:
„Pontipool, Sonntag Nachts, am 4. November 183g. Teure
Eltern, ich hoffe, dass Ihr Euch in guter Gesundheit befindet,
wie zur Zeit auch ich bin. Diese Nacht gehe ich in den ruhm-
vollen Kampf um die Freiheit, und wenn es dem Herrn gefallen
wird, mein Leben zu erhalten, werde ich Euch sehen . . . Wenn
aber nicht, bedauert mich nicht, ich sterbe für eine edle Sache.
Auf Wiedersehen. Ganz der Euere George Shell" i).
Die Organisatoren des Newport er Aufstandes — Frost, Williams
und Jones — wurden zum Tode verurteilt, aber die Regierung er-
setzte dieses Urteil durch eine lebenslängliche Deportation mit Zwangs-
arbeit. Im Jahre 1840 befanden sich fast alle Führer der Chartisten
im Gefängnis und die Bewegung schien aufzuhören.
Die Regierung feierte einen Sieg; viele glaubten, der Chartis-
mus sei begraben. Aber tiefere Beobachter des Volkslebens sahen,
dass die Geschichte des Chartismus noch nicht zu Ende ist.
„Wir wissen - führte Carlyle aus — dass der Chartismus,
wie die Zeitungen versichern, erloschen ist; dass die Reformregierung
„die Chimäre des Chartismus in der glücklichsten und wirksamsten
Weise zerstört hat". So sagen die Zeitungen, aber leider weiss der
grösste Teil der Arbeiter, dass nur die „Chimäre" des Chartismus,
nicht aber der Chartismus selbst, in Wirklichkeit vernichtet ist. Die
unzusammenhängende und plumpe Gestalt, in der der Chartismus
I) Gammage, 163.
— 333 —
zuletzt vor den Augen der Welt erschienen war, ist vernichtet wor-
den, oder, richtiger, sie ist von selbst, unter ihrer eigenen Schwere,
zusammengebrochen, den Naturgesetzen folgend. Aber das innere
Wesen des Chartismus ist nicht untergegangen. Der Chartismus be-
deutet eine bittere Unzufriedenheit, die wütend und wahnsinnig ge-
worden ist — die anormale Lage oder anormale Stimmung der Ar-
beiterklassen Englands. Das ist der neue Name für einen Zustand,
der viele Namen gehabt hat und noch mehr haben wird. Das Wesen
des Chartismus ist tief begründet und weit verbreitet, es ist nicht
von heute und wird nicht heute oder morgen untergehen" 4.
Die Arbeitslosigkeit und der Notstand vermehrten sich bis Ende
1842. Wie gross die Verelendung der Arbeiterklasse in dieser Zeit
war, kann man danach beurteilen, dass im Jahre 1841 ein privates
Hülfskomitee für Arbeitslose in Birmingham Unterstützung an mehr
als 40000 Personen ausgeteilt hat, aber eine Unterstützung im mini-
malsten Umfang — 1^/2 d. pro Kopf in der Woche. Die Arbeiter
mit Familien verdienten in Birmingham nicht mehr als 6 — 11 Sh.
pro Woche 2). wSolche Komitees wurden auch in vielen anderen
Städten gegründet.
Die Lage der Arbeiter in Stockport im September 1841 wird
im Northern Star folgendermassen geschildert; „Die Stadt stellt ein
Bild des Elendes und der Verzweiflung dar. Hunderte von Arbeitern
gehen in den Strassen umher, ohne Nahrung zu haben und ohne zu
wissen, wo solche aufzutreiben. Tausende von Familien haben ihr
Hab und Gut versetzt und all ihre Kleidungsstücke verkauft, um sich
Brot zu kaufen, andere haben alles losgeschlagen und sind nach
Amerika ausgewandert. Niemand erinnert sich, dass man je eine
solche allgemeine Hungersnot und ein solches Elend erlebt habe. Eine
grosse Fabrik, die gegen tausend Arbeiter beschäftigte, ist geschlossen
worden, und es ist keine Hoffnung vorhanden, dass sie die Arbeit
wieder aufnimmt. Die Weber in einer anderen Fabrik sind am
Sonnabend in einen Streik eingetreten, aber die Arbeitslosen sind so
sehr bestrebt, Beschäftigung zu finden, dass schon am Dienstag
die Fabrik mit einem vollständigen Arbeiterpersonal arbeitete"^). Die
Gesamtzahl der Arbeitslosen in Stockport erreichte 5 — 7 Tausend.
In Leeds wurde im Herbst ein Komitee gebildet, um die Zahl
der Arbeitslosen festzustellen. Das Komitee unternahm eine Arbeits-
losenzählung durch eigens dazu eingesetzte Zähler. Es stellte sich
i) Chartism, S. 2.
2) Hansard 's Parliamentary Debates, 1841, vol. 58, S. 15 19, 1546.
3) Northern Star, N0. 201, 1841.
— 334 —
heraus, dass, obwohl nicht die gesamte Bevölkerung von Leeds gezählt
wurde, an Arbeitslosen mit ihren Familienmitgliedern i6 156 Köpfe re-
gistriert wurden. In seinem Bericht sagt das Komitee unter anderem :
„Die Zähler waren in vielen Fällen gezwungen ihre Tabellen auszu-
füllen, indem sie diese auf ihre Knie legten, da es in der Wohnung
an jeglichem Möbelstück, auf das die Tabellen hätten gelegt werden
können, vollständig fehlte; in sehr vielen Phallen bestand die Wohnung
nur aus 4 feuchten Wänden ohne jegliche Möbel" ^).
In der kleinen Stadt Mansfield war die Not besonders gross
unter den Strumpfwirkern. Die Zahl der Arbeitslosen wuchs während
des ganzen Herbstes und erreichte gegen Ende November einen
solchen Umfang, dass gegen 1000 Weber (einschliesslich ihrer Fami-
lienmitglieder) ohne jegliche Subsistenzmittel blieben.
Die Arbeitslosen veranstalteten Prozessionen in der Stadt und
schickten Deputationen zu den reichen Stadtbewohnern, indem sie um
Hilfe nicht baten, sondern Hilfe forderten. Der diese Thatsachen mit-
teilende Korrespondent bemerkt dazu: „der Chartismus verbreitet sich
überall ebenso schnell wie der Notstand, der Bankerott und der
Ruin".
Aus Blackburn wurde in dem nicht chartistischen Lokalblatte
— der Blackburn Gazette — folgendes mitgeteilt: „Die Lage der
besitzlosen Leute in dieser Stadt und ihrer Umgebung ist wirk-
lich traurig. Selbst wenn genügend Arbeit vorhanden ist, ist die
Lage der Handweber derart, dass sie Mitleid hervorrufen kann; aber
gegenwärtig, wo die Löhne ausserordentlich niedrig sind und es sehr
schwer oder ganz unmöglich ist, Arbeit zu finden, dazu die Witterung
noch sehr hart ist, haben ihre Leiden die äusserste Grenze erreicht.
Die reichen Einwohner der Stadt haben sich genötigt gesehen, ein
Hilfskomitee zu bilden'^ ^j.
In Schottland war die Eisenindustrie in eine vollständige
Stockung geraten. Die Unternehmer beschlossen, ein Viertel aller
Hochöfen auszulöschen. Nach dem Glasgow Chronicle waren nicht
weniger als die Hälfte der Arbeiter in den Kattundruckfabriken
Schottlands ohne Arbeit. „Was die Weber anbelangt" bemerkt die-
selbe Zeitung „so sind sie schon so lange im Zustande einer Ver-
elendung, und wir haben schon so oft auf diese Thatsache hingewiesen,
dass wir uns heute hier nicht aufzuhalten brauchen. Die Notlage
nimmt jetzt einen allgemeinen Charakter an."
i) Northern Star, N0. 206, 1841.
2) The Northern Star, N0. 212, 1841,
— 335 —
In Nottingham haben die Arbeitslosen Meetings und Prozes-
sionen in der Stadt veranstaltet. Die Zahl der Arbeitslosen betrug
mehr als 5000. In Sheffield war auch ein Viertel der Hochöfen er-
loschen. Weekly Dispatch teilte mit: „In dem Umkreise von
20 Meilen um Manchester herrschen Not und Hunger.'' In Man-
chester bildete sich unter dem Vorsitz des Bürgermeisters ein
Hilfskomitee für Arbeitslose. Aehnliche Komitees bildeten sich in
London, Derby, Nottingham, Leicester und vielen anderen englischen
und schottischen Städten.
In Spitalfield standen mehr als ein Drittel der Webstühle still.
In Preston gab es gegen 2000 Arbeitslose. In Vigan hat das
Arbeitslosenkomitee 795 Arbeiterfamilien registriert; es hat sich
herausgestellt, dass ungefähr ein Drittel volle Arbeit hatten, ein
Drittel halb beschäftigt, ein Drittel ganz unbeschäftigt waren. Ueber
die Lebensverhältnisse der unbeschäftigten oder halbbeschäftigten
Arbeiter geben die folgenden Zahlen einen Begriff: von diesen
schliefen 1104 Personen zu je 3 in einem Bette, 712 zu je 4, 200 zu
je 5, 156 zu je 6, 66 zu je 7 und 8 in einem Bett. „Aber sehr viele
von diesen armen Leuten hatten weder Betten noch Betttücher und
schliefen einfach auf dem nackten Fussboden. ^^q der sogenannten
Betten hatten wohl kaum ein Recht auf diese Benennung; sie be-
standen in ihrer grossen Mehrzahl aus Bündeln alten Strohs, Heus
u. s. w., in Säcken aus roher Leinwand . . . ohne Bettdecken irgend
welcher Art . . . Die einen haben ihre Bettwäsche versetzt, die
anderen haben sie verkauft, um für sich und ihre hungernden
Kinder Nahrung zu kaufen. In einigen Häusern" so teilten die
Verfasser des Berichtes mit" haben die Kinder während unseres
Besuches bitter geweint, und als wir fragten, warum sie weinten,
haben sie uns geantwortet: aus Hunger, sie hätten heute kein Stück-
chen Brot gegessen." (Northern Star, Nr. 215.)
In Leigh standen von den 7000 Seidenwebstühlen gegen 3000
müssig. Von den Baumwollwebern arbeitete nur die Hälfte. In
Hyde hatten 4000 Arbeiter in den Baumwollfabriken eine vollständige
oder partielle Beschäftigung, 1700 aber waren ganz ohne Beschäfti-
gung (Northern Star, Nr. 215).
Die Arbeitslosigkeit zu Beginn der 40er Jahre war von einem
sehr bedeutenden Sinken der Löhne begleitet. So waren in Hyde
die Löhne in den Baumwollfabriken in den Jahren 1839 — 1S41 ^^^
12^/0 gesunken, in Mossley standen die Löhne zu Beginn der 40 er
i) The Northern Star, N0. 206.
— ззб —
Jahre im Vergleich zu denen am Beginn der 30 er Jahre für die
Baum Wollfabrikarbeiter um 25 %, für die WoUenfabrikarbeiter sogar
um 45 ^/0 niedriger. In Leigh waren die Löhne der Baumwollhand-
weber seit 1836 um 20 — 25 % gesunken; in Vigan erhielten die
Baumwollweber im Jahre 1835 7 Schillinge, im Jahre 1841 aber nur
noch 5 SchilHnge pro Woche. Die Löhne der Spinner und der
Maschinenweber waren um 20 ^o gesunken. Die Löhne der Spinner
in Preston waren um lo^o» die der Weber um 25^^/0 gesunken. In
Glossop waren in den Jahren 1836 — 1841 die Löhne der Spinner um
25%, die der Maschinenweber um 14% gesunken (Northern Star,
Nr. 215).
Die angeführten Daten stammen nicht von den Arbeitern her.
Sie sind aus den Berichten ausgezogen, die auf einem Riesenmeeting
in Manchester verlesen wurden. Dieses Meeting wurde Ende
Dezember 1841 von der Liga gegen die Korngesetze veranstaltet.
Es haben daran alle bedeutenderen Fabrikanten von Manchester
sowie die parlamentarischen Vertreter der verschiedenen Bezirke des
Baumwollrayons teilgenommen.
Am 20. September erklärte im Unterhaus der Vertreter von
Rochdale, Crawford, dass „das Elend in Rochdale einen Umfang
erreicht habe, der einen jeden mit Entsetzen erfüllen müsse". Nach
seinen Ausführungen gab es in dieser Stadt 136 Personen, die 6 d.
wöchentlich verdienten, 290, die 10 d., 508 i SchilHng, 855 i Schil-
ling 6 d. und 1500 I Schilling 10 d. pro Woche verdienten.
Der Notstand war so gross, dass die Frage der Unterstützung
der Notleidenden im Parlament öfters auftauchte, wenn auch ohne
jedwedes praktische Resultat. Schon am 24. September, als der
Notstand noch nicht akut geworden war, wurde im Parlament durch
den Abgeordneten Stewart eine Petition der Einwohner von Paisley
eingereicht, in der erklärt wurde, dass in dieser kleinen Stadt
605 ArbeiterfamiHen infolge des Bankerottes und der Schliessung
einiger Baumwollfabriken die Arbeit verloren hätten. In einer
anderen Stadt, in Johnstone, führten von 16 Fabriken in der Stadt
nur 4 die Arbeit weiter. In den Maschinenfabriken arbeitete nur
ein Viertel der früheren Arbeiterzahl. Ungefähr im selben Verhältnis
hatte sich auch die Zahl der Arbeiter in den Steinkohlengruben ver-
mindert. Die Petition endigte mit den Worten: „Da sich der Winter
naht, glauben die Petenten, dass sie ihre öffentliche Pflicht nicht er-
füllen würden, wenn sie nicht die Aufmerksamkeit des Parlaments
auf diese Sachlage lenkten, damit das Parlament in der ernsthaftesten
Weise den Notstand in diesem sowie in den anderen industriellen
— 337 —
Bezirken des Königreichs zu berücksichtigen beliebe. Das Haus
wolle daher der gegenwärtigen gedrückten Lage des Landes seine
ernste Beachtung schenken und rasche Hilfsmassregeln ergreifen, die
es für notwendig erachte."
Während der nachfolgenden Debatten erklärten einige Mitglieder,
dass in den anderen Gegenden die Not noch grösser sei. So mussten
in Manchester gegen 8000 Personen mit dem Bettellohn von 15 d.
pro Kopf in der Woche leben.
Das Jahr 1842 war für die Arbeiter noch schAverer als das
vorangegangene. Aus allen Centren der Manufakturindustrie kamen
Nachrichten von der äussersten Verelendung der Arbeiterklasse.
Mehrmals wurden sogar Fälle von Hungersnot verzeichnet. In Car-
lisle hat das Hilfskomitee für die Arbeitslosen Anfang Januar einen
Bericht vorgelegt, demzufolge es in der Stadt 309 Familien gab, die
aus insgesamt 1146 Personen bestanden und die ein bestimmtes Ein-
kommen überhaupt nicht hatten, 334 Familien (1465 Personen), die
weniger als i Schilling pro Familie, 411 Familien (1623 Personen),
die weniger als i Schilling pro Kopf in der Woche hatten; 157
Familien (692 Personen) hatten pro Kopf weniger als 2 Schillinge
und 140 Familien (635 Personen) weniger als 3 Schillinge in der
Woche 1).
In den Baumwollbezirken war die Arbeitslosigkeit besonders
gross. In Stockport bildete sich ein Hilfskomitee für Arbeitslose unter
Vorsitz des Bürgermeisters. Nach der Mitteilung des Komitees standen
gegen ein Drittel der Dampfmaschinen in der Stadt und in deren
Umgebung im Januar 1842 still. Die Gesamtzahl der Arbeitslosen
erreichte 9000 Mann (ohne Familienmitglieder). „Eine Folge dieser
Arbeitslosigkeit waren die Leiden aller Klassen der Bevölkerung, deren
Interessen mit der Industrie verknüpft sind, und die beispiellose Not-
lage und die Entbehrungen der Arbeiterklassen; diese Entbehrungen
haben heute einem Umfang erreicht, von dem man sich auf Grund
der nackten statistischen Daten keine Vorstellung machen kann.
Ehrliche Leute, die bereit sind zu arbeiten, sind genötigt, mit ihren
ganzen Familien Dorfbettler zu werden, oder Tag aus Tag ein von
der Hilfe der Nachbarn zu leben . . . Viele sterben buchstäblich
Hungers." Von 8218 Arbeitsfähigen, die vom Komitee registriert
wurden, hatten nur 1204 volle Beschäftigung; 2866 hatten eine teil-
weise Beschäftigung und 4148 waren beschäftigungslos. Der durch-
schnittliche Wochenverdienst von 15 823 Personen (beiderlei Geschlechts
I) Northern Star, No. 217, 1842.
Tugan-Baranowsky, Die Handelskrisen. 22
— 338 -
und jeglichen Alters) betrug nur i Schilling 4^Д d. pro Kopf. Das
Einkommen derer, die eine volle Beschäftigung hatten, erreichte nur
7 Schilling 6Y2 d. pro Woche i).
Im Januar 1842 erhielten in Paisley 17000 Personen Unter-
stützung vom Wohlthätigkeitskomitee 2). In Bolton bildete sich gleich-
falls ein ähnliches Komitee, das im Januar 6167 Personen, deren
Wocheneinkommen iiY4d. betrug, Unterstützungen austeilte; 828 Per-
sonen, die um Hilfe baten, erhielten keine Unterstützung, weil ihr
Wocheneinkommen i Schilling 9Y4 d. pro Kopf betrug. Von 50 Fa-
briken arbeiteten nur 20 die volle Zeit. Das Komitee besichtigte die
Wohnräume von 1013 Familien (5035 Köpfe); von diesen besassen
nur 950 Familien Betten. Insgesamt hatten diese Glücklichen 1553
Betten, d. h. weniger als 2 Betten pro Familie. Der grösste Teil der
Betten hatte keine Matratzen, Bündel von Stroh ersetzten diese; diese
5053 Personen waren im Besitze von nur 2876 Bänken, i38oTischen,
642 Stühlen; 425 Menschen schliefen auf dem nackten Fussboden.
Dr. В о wring, der diese Thatsache dem Parlament mitteilte, sagte,
dass es „in vielen Strassen von Bolton keinen einzigen Einwohner
gebe (die Häuser ständen leer), Hunderte von Familien schliefen
direkt auf der Erde, Tausende hätten nicht genügend Brot, um zu
leben". In Manchester gab es 5492 leerstehende Häuser, 681
unvermietete Läden und 116 Fabriken, die die Arbeit eingestellt
hatten ^).
Das alles führte zur Wiederbelebung des Chartismus. „Die
Centralorganisation der Chartisten — die National Charter Association
— befand sich", sagt Gammage, „niemals in einem so blühenden
Zustand wie im Jahre 1842^)". Die neue Petition der Chartisten, die
am 2. Mai 1842 dem Unterhause eingereicht wurde, trug 3315752
Unterschriften. Allerdings stammten nicht alle Unterschriften von
erwachsenen Männern, es waren viele Kinder und Frauenunterschriften
dabei. Duncombe, der die Petition dem Parlament einreichte, sagte,
sie sei von mehr als einer Million Familien unterzeichnet. Da die
erste Petition fast ausschliesslich von erwachsenen Männern unter-
zeichnet war, so brachte die zweite Petition wahrscheinlich die Forde-
rung eines eben so grossen Teiles der Bevölkerung zum Ausdruck
wie die erste.
1) A. a. O.
2) Hansards Parliamentary Debates, 1842, Vol. LX, S. 178,
3) Л. a. O. S. 701.
4) Gammage, 213.
— 339 —
Das Haus lehnte mit 287 Stimmen gegen 49 den Antrag von
Duncombe ab, den Petenten zu gestatten, ihre Beschwerden dem
Parlament mündlich vorzutragen.
Die zweite Petition der Chartisten atmet schon einen ganz an-
deren Geist als die erste. Die radikale wStrömung hat die Oberhand
gewonnen, von einer Furcht, die besitzenden Klassen zu reizen, ist
keine Spur mehr vorhanden. Die Petition weist auf die beispiellose
Not der Bevölkerung hin . . . „Tausende aus dem Volke sterben von
Not . . . Die Petenten, die sich wohl bewusst sind, dass das Elend
zu Verbrechen führt, sehen mit Staunen und Unruhe, wie schlecht
die Unterstützung der Alten , der Armen und Kranken besorgt
ist; mit dem Gefühl der Entrüstung sehen sie, dass das Parlament
das neue Armengesetz in Kraft behalten will, trotz zahlreicher
Belege dafür, dass dieses Gesetz im Widerspruch zur Konstitution
steht, dass es einen unchristlichen Charakter hat und einen höchst
verderblichen Einfluss auf die Löhne und das Leben der Unterthanen
dieses Landes ausübt." Die Petition weist auf den Steuerdruck hin
und auf die Ungerechtigkeit, dass die königliche Familie und höhere
kirchliche Würdenträger kolossale Einkommen beziehen, während
viele Arbeiter sich mit einigen Pences pro Kopf am Tage begnügen
müssen. Das häufige Verbot von öif entlichen Meetings wird als un-
konstitutionell bezeichnet, ebenso wie die Verstärkung des Polizei-
kontingents. „Die Bastillen für die Armen seien demselben Geiste
wie die Polizeiposten entsprungen, dem Bestreben einer unverant-
wortlichen Minorität die Majorität zu bedrücken und hungern zu
lassen."
Die Unterhaltung einer zahlreichen ständigen Armee sei eine
Last für das Volk, gegen das diese Armee gerichtet ist. „Die Pe-
tenten bedauern, dass die Arbeitszeit, insbesondere in den Fabriken,
über das Mass dessen, was der Mensch ertragen kann, hinausgeht
und dass die Löhne für die Arbeit in den ungesunden Verhältnissen
einer Fabrik nicht genügen, um die Gesundheit zu erhalten und dem
Arbeiter diejenigen Annehmlichkeiten zu verschaffen, die nach einer
Verausgabung von physischer Energie so notwendig sind. Die Pe-
tenten lenken die Aufmerksamkeit des Parlaments auf die Bettel-
löhne der landwirtschaftlichen Arbeiter und empfinden ein Gefühl der
Entrüstung und des Entsetzens, wenn sie das geringfügige Ein-
kommen derer sehen, deren Arbeit Nahrung für die gesamte Be-
völkerung schafft. Die Petenten bedauern tief das Vorhandensein
von Monopolen aller Art in diesem Lande, und indem sie die Steuer
auf die notwendigsten Konsumtionsgegenstände, die hauptsächlich von
22*
— 340 —
der Arbeiterklasse konsumiert werden, entschieden verurteilen, sind
sie zugleich der Ansicht, dass die Aufhebung der Monopole allein
die Arbeiter aus ihrer elenden Lage nicht emporheben wird, solange
das Volk nicht selbst die Macht erlangt hat, was erst allen Monopolen
und Unterdrückungen jeder Art ein Ende machen wird; die Petenten
weisen auf die bestehenden Monopole des Wahlrechts, des Papier-
geldes, des Maschinen- und Grundbesitzes, der Presse, der Kirche,
des Transportwesens und viele andere Monopole hin, die zu zahl-
reich sind, um sie alle aufzuzählen; alle diese Monopole werden durch
die Klassengesetzgebung geschaffen."
Darauf fordert die Petition die Aufhebung der Staatskirche und
die Bildung eines besonderen Parlaments für Irland. Als die erste
Vorbedingung zur \^erwirklichung aller dieser Massnahmen bezeichnet
die Petition die Reform des Parlaments auf Grund der 6 Punkte der
Volkscharte i).
Diese Petition hat einen Zwiespalt unter den Chartisten her-
vorgerufen: die meisten schottischen Chartisten haben sich geweigert,
sie zu unterzeichnen. Ihre Einwendungen bezogen sich auf drei
Punkte: auf die Bildung eines unabhängigen irischen Parlaments,
auf das neue Armengesetz und auf das Fehlen in der Petition einer
Forderung, die Kornzölle abzuschaffen. Die öffentliche Meinung in
Schottland billigte die Agitation gegen des neue Armengesetz (das
nur auf England sich bezog) nicht und sympatisierte sogar mit dem
Gesetz, als einem Mittel, das legahsierte Bettlertum einzuschränken.
Als ein wichtiger Fehler der Chartisten muss ihre Stellung zu
den Korngesetzen bezeichnet werden. In den 40er Jahren haben sie
unter dem Einfluss von O'Connor gegen die Bewegung zu Gunsten
der Abschaffung dieser Gesetze sehr energisch gekämpft, obwohl die
Aufhebung der Kornzölle im unmittelbaren Interesse der industriellen
Arbeiter lag. Allerdings hatten die Leiter der Liga zur Abschaffung
der Korngesetze die Interessen der Fabrikanten im Auge, aber in
diesem P'alle fielen die Interessen der Fabrikanten und die der
Fabrikarbeiter vollkommen zusammen. Der Hass gegen die Fabrikanten
verblendete die Chartistenführer.
Ueberhaupt hat sich die allgemeine Stimmung der Chartisten
im Jahre 1842 bedeutend in der Richtung einer grösseren An-
näherung an den Soziahsmus verändert. Die Gegenüberstellung von
hungernder Arbeitermasse und reichen Fabrikanten ist das gewöhnliche
Thema der Chartistenredner. Der glühende Hass gegen das Fabrik-
i) The Northern Star, N0. 205, 1841.
— 341 —
System, der Hinweis auf die verderbliche Wirkung der Maschinen,
auf die \^erkehrtheit der Handelspohtik der Regierung, die bestrebt
sei, nur den Aussenhandel zu erweitern, statt um die Ausdehnung
des inneren Marktes zu sorgen, all das füllte die Spalten des Haupt-
organs der Chartisten, The Northern Star. Die neue Stimmung der
Chartisten kann durch die folgende Rede O'Connors, die er auf
einem Meeting im Juli 1842 gehalten hat, gekennzeichnet werden.
„Wir wollen nicht das Eigentum zerstören," erklärte O'Connor,
„und jemanden des Lebens berauben, sondern nur für uns und unsere
Familien den gebührenden Anteil an dem bekommen, was die frei-
gebige Vorsehung für das Wohl aller geschaffen hat. Lasst irgend
jemand blicken auf den Reichtum und die Armut, welche uns um-
geben, und jedermann wird gestehen, dass es auf dieser Insel niemals
so viel Geld und so viel Not, so viel Reichtum und so viel Elend
gegeben hat wie heute. Wem gehört aber dieser kolossaler Reich-
tum? Den Besitzern des Wahlrechts, den Handelsherren und
Fabrikanten. Aber es ist handgreiflich, dass niemand mit seiner
persönlichen Arbeit Millionen gewinnen kann; er kann diese Millionen
nur durch die Arbeit anderer bekommen ... Es giebt etwas, was
eine besondere Aufmerksamkeit auf sich lenken muss: es ist das die
Verbreitung der Maschinen, die in bedeutendem Masse den Not-
stand hervorgerufen haben, unter dem das Land jetzt leidet . . ." Er
(O'Connor) erinnere sich an ein Meeting in Manchester, auf dem
Mr. Cobden anwesend war. Ein Handweber, namens Butterworth,
verurteilte daselbst die Einführung der mechanischen Webstühle, die
viele von seinen Brüdern der Arbeit beraubt hätten. „Wie," sagte
Cobden, „Sie möchten die Maschinen vernichten?" — „Nein," ant-
wortete ButterAvorth, „Ihr könnt meinetwegen mit Euren Maschinen
essen, mit Euren Maschinen trinken, mit Euren Maschinen ins Bett
gehen, mit Euren Maschinen aufstehen, aber Eure Maschinen sollen
mir nicht den Rock vom Leibe ziehen" i).
Der Northern Star führte im Jahre 1842 in einer ganzen Serie
von Artikeln einen Kampf gegen die „extension of commerce party",
die Partei der Erweiterung des Handels; er legte dar, dass der
Aussenhandel bei weitem nicht eine solche Bedeutung habe, wie ihm
zugeschrieben werde, und dass der innere Markt wichtiger sei als der
äussere, dass gerade die Entwickelung des Aussenhandels das Elend
hervorgerufen habe.
i) Northern Star, No. 245, 1842.
— 342 —
Im August 1842 führte die äusserste Not zu einem Massenstreik
und zu grossen Unruhen in Lancashire. Anfang August hatten
einige Fabrikanten von Lancashire die Löhne der Arbeiter herab-
gesetzt. Das hatte die Einstellung der Arbeit in einer ganzen Reihe
von Fabriken zur Folge. Die Arbeiter erklärten, sie würden die
Arbeit nicht wieder aufnehmen, ehe die „Volkscharte" das Gesetz des
Landes geworden sei. Die Fabrikanten verhinderten aber keineswegs
die Ausbreitung des Streiks. Nach einer verbreiteten Version wäre
der Streik durch die Liga zur Abschaffung der Korngesetze hervor-
gerufen, die in dieser Weise auf die Regierung einwirken und sie
bewegen wollte, die Korngesetze abzuschaffen. Allerdings hat sich
die Bewegung mit erstaunlicher Geschwindigkeit in Lancashire aus-
gebreitet. Am 9. August begaben sich Tausende von Arbeitern aus
den umliegenden Ortschaften nach Manchester, zerstreuten sich über
die ganze Stadt und zwangen alle Fabriken der Stadt, die Arbeit ein-
zustellen. Von den Krämern verlangte die Menge Geld und Brot,
und die erschrockenen Krämer waren genötigt, diese unfreiwilligen
Almosen zu gewähren. Drei Tage hindurch waren in Manchester
alle Fabriken geschlossen.
Die Chartisten waren von dieser Bewegung ganz überrascht.
Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass sie sie nicht hervor-
gerufen haben. Aber als der Streik schnell um sich griff, beschlossen
die Chartistendelegierten, ihn auszunutzen und die vStreikenden zu
unterstützen.
Mittlerweile breitete sich der Streik über alle umliegenden
Städte aus. Arbeiter massen brachten mit Gewalt die Arbeit zum
Stillstand, warfen die Fenster der Fabriken ein, misshandelten sogar
in einigen Fällen die Verwalter und die Fabrikanten und verlangten
von den Krämern Geld oder Brot. Bald erfolgten Zusammenstösse
mit dem Militär. In Staleybridge gaben die Soldaten Feuer, einige
wurden getötet, viele verwundet. In anderen Städten gelang es dem
Mihtär, die Menge auseinander zu treiben, ohne zu den Waffen zu
greifen.
Zu gleicher Zeit stellten in Staffordshire Tausende von Ar-
beitern in den Steinkohlengruben , infolge einer Lohnreduktion,
die Arbeit ein. Auch in Staffordshire hielten die Streikenden die
Ordnung nicht lange aufrecht. Ein Privathaus wurde geplündert
und verbrannt. „Die reichen Klassen erfasste ein panischer Schrecken.
Grosse Volksmengen durchzogen die Strassen; die ganze Umgegend
befand sich in äusserster Erregung" (Gammage 227).
— 343 -
Trotzdem war der Streik bei weitem kein allgemeiner, wie das
die Chartisten wollten, und beschränkte sich auf Lancashire, York-
shire und Staffordshire. Er endigte rasch ohne jedweden Erfolg.
Die Chartistenführer wurden verhaftet, obwohl sie am wenigsten
für die Unruhen verantwortlich zu machen waren. Der Northern
Star schob von Anfang an die Schuld am Streik auf die Liga
zur Abschaffung der Korngesetze und legte dar, wie unvernünftig
der Streik sei. Wahrscheinlich war der Streik eine rein elemen-
tare Bewegung, die durch die verzweifelte Lage der Arbeiter her-
vorgerufen wurde, eine Bewegung, die von niemand organisiert
wurde und keinen bestimmten Zweck verfolgte. Man kann wohl
kaum annehmen, dass die Liga zur Abschaffung der Korngesetze
und die Fabrikanten mit Bewusstsein eine solche Bewegung vor-
bereiten konnten, die vor allem sie selbst mit Gefahr bedrohte.
Nach diesem Streik trat für eine lange Zeit ein Stillstand in
der Chartistenbewegung ein. Vom Herbst 1842 an beginnt die Lage
der Industrie sich zu heben. Die akute Periode der Arbeitslosigkeit
war abgeschlossen, und der Chartismus verliess mit einer erstaunlichen
Schnelligkeit die Bühne.
Die Periode des industriellen Aufschwungs von 1843 — 1846 be-
deutete den vollständigen Verfall des Chartismus. Die Chartisten
führten ihren Kampf gegen die „Liga" weiter, aber ohne jeden Er-
folg. O'Connor hatte im Jahre 1844 3,uf einem Meeting eine per-
sönliche Auseinandersetzung mit Cobden und Bright, erlitt aber,
wie der Geschichtsschreiber des Chartismus und zugleich einer seiner
Führer, Gammage anerkennt, eine vollständige Niederlage. In der
That war es schwer, etwas dagegen zu erwidern, dass in einem
industriellen Lande, wie England, die Verbilligung des Getreides nicht
nur die Industrie beleben, sondern auch die Lage des Arbeiters heben
muss. Gegen den überzeugenden Nachweis, dass es für den Ar-
beiter besser sei, das Brod billig als teuer zu bezahlen, waren alle
oft sehr beredten Aufrufe O'Connors zur Eroberung vor allem der
politischen Macht wirkungslos. Allerdings gelang es weder O'Connor
noch sonst einem der Chartistenführer, zu beweisen, dass die Auf-
hebung der Kornzölle vor der Verwirklichung der Prinzipien der
Charte für die Arbeiterklasse nicht von Vorteil sei.
Das vollständige Einschlummern der Chartistenbewegung unter
den Volksmassen gab den Chartistenführern die Müsse, sich soziale
Reformpläne zu überlegen und sie auszuarbeiten. Die beiden her-
vorragendsten Führer, O'Connor und O'Brien, haben ein jeder
seine eigene Utopie ausgedacht. Die Utopie O'Briens war nicht
— 344 —
auf eine Verwirklichung in der nächsten Zukunft berechnet und
hatte keine praktische Bedeutung. Daher werden wir dabei nicht
länger verweilen. Ihr Hauptinhalt bestand in der Forderung der
Boden Verstaatlichung, und das ist für sie bezeichnend. Der Char-
tismus, als soziale Bewegung, hatte einen rein negativen Charakter
nnd brachte die in der Periode der industriellen Revolution und
der Verdrängung der Kleinproduktion durch die Grossproduktion
ganz begreifliche Feindseligkeit der Arbeiterklasse gegen das Fa-
briksystem zum Ausdruck. Die Sehnsucht nach dem Lande wirft
ein helles Licht auf die utopischen und romantischen Elemente des
Chartismus.
Einen ebenso romantisch-utopischen Charakter^ wenn auch in
einer anderen Form, hatte der berühmte „Agrarplan" O'Connors.
Dieser Plan gewann rasch eine grosse Popularität und wurde auf
einer Konferenz der Chartistendelegierten in Birmingham im Jahre 1843
angenommen: unter dem Zeichen des „Agrarplans" führte der Char-
tismus den Kampf bis zu seinem endgültigen Zusammenbruch. Der
„Agrarplan" von O'Connor verdient daher eine ausführliche Be-
trachtung, als Ausdruck der ökonomischen Desiderata der mächtig-
sten Volksbewegung, die England in der neuesten Zeit gekannt hat.
Die Grundanschauungen O'Connors über die Agrarfrage
sind in einem umfangreichen Artikel in der von ihm heraus-
gegebenen Zeitschrift „The Labourer", unter dem Titel „A Treatise
on the Small Proprietary System" (Labourer, 1847, 0 dargestellt
worden. O'Connor erklärt da, er sei ein entschiedener Gegner des
Kommunismus, aber ein PYeund des Genossenschaftswesens. Er sei
ein Feind von kleinen Farmen, die in Pacht gegeben werden, aber
ein Freund des kleinen Grundbesitzes. O'Connor glaubt, dass der
kleine Grundbesitz die Produktivität des Landes ausserordentlich ver-
mehren müsse, und beruft sich auf das Beispiel der belgischen Bauern.
„Ich bin ein Gegner der öffentlichen Speiseanstalten, der öffentlichen
Bäckereien und der öffentlichen Wäschereien", sagt er, offenbar auf
Fourier anspielend. „Ich bin für das Prinzip meum und tuum —
mein und dein^)."
Der Plan O'Connors war von ausserordentlicher Einfachheit.
Die Arbeiter sollten eine Gesellschaft bilden zum Ankauf von
Ländereien. Aber wo sollten sie dazu Geld hernehmen? Die Ver-
wirklichung seines „Agrarplanes" wollte O'Connor nicht, wie die Auf-
hebung der Kornzölle, bis zum Siege der „Volkscharte" verschoben sehen.
I) The Labourer, I, S. 157.
— 345 —
Die ganze Sache konnte sofort beginnen: man brauchte nur 2000 £
anzusammehi, und die Operationen mit dem Ankauf der Ländereien
konnte man anfangen.
Diese 2000 Pfund werden durch Subskription gesammelt. Wer
ein Stück Land von zwei Acres erhalten will, bezahlt 2 £ 12 wSchil-
ling 4 d. , wer 3 Acres erhalten will, zahlt 3 £ 18 Schilling 6 d.
und für 4 Acres 5 £ 4 Schilling 8 d. Das Los entscheidet, wem von
den Aktionären die Bodenanteile zufallen. Der glückliche Gewinner
muss eine bestimmte Rente an die Gesellschaft zahlen, 5% von dem
gesamten verausgabten gesellschaftlichen Kapital. So erhalten die
Aktionäre eine gute Dividende auf ihre Aktien. Das gekaufte Gut
wird verpfändet, für das gelöste Geld wird ein neues gekauft, auf
dem Bodenanteile anderen Aktionären zugewiesen werden u. s. w.^).
Wenn wir daran denken, dass dieses Projekt P'abrikar heitern
vorgeschlagen wurde, so kann man seine praktische Bedeutung er-
messen. Höchst charakteristisch ist es dass ein so naives Projekt
eine Zeitlang zweifellosen Erfolg hatte. In drei Jahren, bis zum
Beginn des Jahres 1848, gelang es O'Connor, von den Arbeitern
die grosse Summe von 94184 £ einzusammeln, bei etwa gegen
100 000 Zeichnern. Einige Güter wurden in der That gekauft und
in kleine Parzellen zerschlagen.
O'Connor sprach die feste Ueberzeugung aus, dass die Fabrik-
industrie in England ihren Höhepunkt erreicht habe und infolge der
Unmöghchkeit einer weiteren Ausdehnung des auswärtigen Marktes
einem allmähligen Verfall entgegen gehe. Man müsse nach einem
Mittel suchen, die Fabriken durch eine andere Erwerbsquelle zu er-
setzen. Die kleine Bauern Wirtschaft müsse eine solche Quelle werden.
In der Zukunft müssen sich, wie ehemals, verschiedene Gewerbe mit
dem Ackerbau verbinden, der kleine Ackerbautreibende müsse nicht
nur seine Nahrungsmittel, sondern auch die Kleidungsstücke produ-
zieren. „Die Wohnung eines jeden Bauern muss während der langen
Winterabende der Ort einer lebhaften Hausindustrie werden. Der
Schneider oder der Schuhmacher werden ihrer Kunst deswegen nicht
verlustig gehen, weil sie gelernt haben, mit der Schaufel umzugehen.
Sie werden Fabrikate herstellen, um sie in der von der Feldarbeit
nicht ausgefüllten Zeit zu verkaufen 2)." „Der Ackerbau", so wurde
im Northern Star erklärt," muss die Grundlage der Volkswirtschaft
bilden und dem grössten Teil der Bevölkerung Beschäftigung geben.
Die Industrie aber muss eine untergeordnete Stelle einnehmen."
i) The Labourer, vol. III, S. 56 und Vol. IV, S. 26.
2) The Labourer, 1848, Vol. IV, S. 140.
— 34б —
Die Popularität des „Agrarplanes" von O'Connor deckt uns
die tiefsten Ursachen des Chartismus auf. Der Chartismus war eine
Reaktion der engHschen Arbeiterklasse gegen die industrielle Re-
volution und das Fabriksystem. „Back to the Land" — „Zurück
aufs Land!" war die Kampfeslosung O'Connors. Und dieser Ruf
fand einen mächtigen Widerhall bei der englischen Arbeiterklasse,
die auf die Wiederbelebung der bereits in England untergegangenen
Bauernwirtschaft hoffte. Daraus tritt der prinzipielle Unterschied
zwischen dem Chartismus und der heutigen sozialdemokratischen
Arbeiterbewegung klar hervor. Auf der Fahne des Chartismus
stand „Zurück" und nicht „Vorwärts", der Chartismus suchte sein
Ideal nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit^).
Jede reelle Kraft hat der Chartismus bereits in der Mitte der
40 er Jahre verloren. Die temporäre Auferstehung des Chartismus
im Jahre 1848, die unmittelbar durch die Handelskrisis von 1847
und die neue schwere Arbeitslosigkeit hervorgerufen war, war nur
das letzte Aufflackern der erlöschenden Flamme 2).
Seit dem Heibst 1847 begannen die englischen Fabriken die
Arbeit einzustellen; in vielen Städten Lancashires brachen Streiks
aus infolge des Sinkens der Löhne. Die Streiks waren von stürmi-
schen Auftritten begleitet. So fand Anfang Oktober in Blackburn
ein Zusammenstoss der Arbeiter mit der PoHzei statt, und zwar deshalb,
weil die Arbeiter die Arbeit der NichtStreikenden verhindern wollten.
Nur die Ankunft des Militärs machte den Unruhen ein Ende.
Am ig. Oktober arbeiteten nach den offiziellen Daten in den
Fabriken Manchesters die volle Zeit 18 5 16, nicht volle Zeit 12 198,
arbeitslos waren 10341=^).
II Nach Brentanos Vorgange ist es Mode geworden, eine Analogie zwischen
der Chartistenbewegung und der heutigen sozialdemokratischen Bewegung zu ziehen und aus
dem Misserfolg des Chartismus auf die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie zu schHessen.
Diese Analogie ist jedoch höchst irreführend. Der Chartismus war eine ganz eigenartige
Arbeiterbewegung, die nur in England möglich war und die unter ganz anderen sozialen
Bedingungen sich entwickelte als die heutigen sozialistischen Bewegungen in verschiedenen
Ländern. Der fundamentalste Unterschied besteht darin, dass der Chartismus keine sozialistische
Bewegung war und kein positives soziales Programm ausarbeiten konnte, ausser den uto-
pischen agrarischen Projekten O'Connors und O'Briens. Es heisst den Thatsachen Gewalt
anthun, wenn man das Scheitern des Chartismus als ein Argument gegen die Sozialdemo-
kratie benutzt.
2) Sidney Webb bemerkt ganz richtig: ,,In der ganzen Periode von 1837 — 48
ist die Chartistenbewegung stärker und schwächer geworden nahezu genau in dem Masse,
wie die Not der Bevölkerung zu- und abgenommen hat." Sidney Webb, Labour in the
longest Reign. London 1899, S. 9.
3) The Manchester Examiner, vom 20. Oktober 1847.
— 347 —
In anderen Städten Lancashires war die Lage noch schlechter.
So hat z. B. in Wigan von 20 Fabriken nur eine die volle Zeit ge-
arbeitet. In Ashton waren infolge des allgemeinen Streiks alle
Fabriken geschlossen. In vielen Städten wiederholten sich Meetings
und Prozessionen von Arbeitslosen, ganz wie im Jahre 1842. Ueber-
all bildeten sich Hilfskomitees für die Arbeitslosen. In Glasgow war
die Lage besonders schwierig. Anfang Dezember arbeiteten nur vier
Baumwollspinnfabriken volle Zeit, 36 nicht volle Zeit und 16 standen
still. In Todmorden „waren die Strassen von Arbeitslosen überfüllt.
Ihre ausgemergelten Gestalten waren entsetzlich anzusehen. Alle
Fabriken, mit Ausnahme einer einzigen, standen entweder still oder
arbeiteten nicht die volle Zeit" i)- I" Paisley lebten Mitte Dezember
3—4000 Mann nur durch private Unterstützung. In Spitalfield hatten
Ende 1847 gegen zwei Drittel der Weber keine Beschäftigung 2).
Bald erfolgten Arbeitslosenunruhen, die einen besonders stürmi-
schen Charakter in Glasgow annahmen. Die Strassen der Stadt
durchzog ein sehr grosser Haufen Arbeitsloser mit den Rufen: „Brot
oder Revolution!" Einige Läden wurden geplündert. Besonders ge-
litten haben die Bäckereien und Waffenläden. Die Polizei hatte
nicht die Macht, mit der Menge fertig zu werden. Erst die Salven
des nach der Stadt gerufenen MiHtärs machten den Unruhen ein
Ende. Aehnhche Scenen wiederholten sich in den anderen Fabrik-
städten. Die Februarrevolution in Frankreich goss Oel ins P^euer.
Der Chartismus war wieder gleichsam auferstanden. Von den Ur-
sachen, die diese Bewegung, von der alle annahmen, sie habe auf-
gehört, wieder ins Leben gerufen haben, kann man sich ein Bild
machen nach den Reden der Chartistendelegierten, die am 4. April 1848
zu ihrem Konvent zusammentraten. Die meisten Berichte der
Konventsmitglieder handeln vom Notstand und der Arbeitslosigkeit
in den wichtigsten Industriecentren.
So erklärte z. B. der Delegierte Stevenson im Namen des
nördlichen Lancashires: „Man dürfe den Leuten, die Hungers sterben,
nicht Geduld predigen. Er wolle der Regierung die Ueberzeugung
beibringen, dass die Bevölkerung in Lancashire nicht gewillt sei, zu
Tausenden zu sterben, ohne zu murren, in einem Lande, das von
Reichtum überfüllt sei. Die Scenen, denen er beiwohnen müsse,
seien in der That entsetzlich. Die ausgemergelten, Gerippen ähn-
lichen Wesen, die sein Haus mit Bitten um Almosen belagerten,
1) The Northern Star, 1847, N0. 528.
2) A. a. O. 1847, N0. 533.
— 348 -
könnten sogar ein Herz von Stein erweichen." Der Delegierte
Hittchin sagte: „Nirgends habe das Volk solche Entbehrungen
erlitten, wie sie Wigan zu Teil geworden seien . . . Fast alle
F'abriken ständen leer . . . Die Bevölkerung in Wigan glaube, dass
sie genug gelitten habe , und dass man wieder anfangen müsse
zu arbeiten, wenn man auch gezwungen wäre, um das zu er-
reichen, zur physischen Gewalt zu greifen; das sei immer noch
besser, als eine solche Not zu ertragen." lieber Oldham berichtete
der Delegierte Kydd: „In dieser Stadt herrsche eine allgemeine Un-
zufriedenheit. Der Notstand sei so schwer und so lange andauernd,
dass die Bevölkerung ganz den Verstand verloren habe. Der be-
ständige Hunger sei für sie schlimmer als der Tod." Der Delegierte
Donowan „zeichnete ein trauriges Bild der Leiden der Arbeiter in
Manchester, von denen loooo gar keine Arbeit hätten. Jedes Mittel
sei ihnen recht, um die Charte zu erkämpfen". Nach dem Bericht
von Edmund Jones aus Liverpool „hätten dort circa loooo Leute
20 Wochen hindurch keinerlei Beschäftigung. Liverpool stehe vor
einem Bankerott oder einer Revolution". Ein anderer Delegierter
aus Liverpool, Smith, bestätigte das und erklärte: „Wenn der
Petition um die Charte nicht statt gegeben werde, so würde man
sich diese erkämpfen, und sei es mit dem Bajonett." Der Delegierte
Aston sagte: „Northampton leide unter Geschäftsstockung, und man
sei dort zu dem Schlüsse gekommen, dass nur die Volkscharte
normale Zustände wieder herstellen könne . . . Die Arbeiter seien
entschlossen, um jeden Preis die Charte sich zu erobern." Der Dele-
gierte Tottersal erklärte: „Die Lage der Bevölkerung in Bury sei
die denkbar entsetzlichste, das Einkommen der Leute sei so gering-
fügig, dass diese nahe am Hungertode ständen, und das mache sie
zu allem fähig. Alles schare sich um die Charte, und man könne
mit l^estimmtheit sagen, dass diese niemals früher einen solchen
Enthusiasmus hervorgerufen habe wie jetzt." Der Delegierte John
West meinte: „Die Arbeiter müssten jetzt von der Hälfte ihres
sonstigen Einkommens leben oder vielmehr mit einem solchen Ein-
kommen hungern . . . Die Bevölkerung von Stockport habe be-
schlossen, keine Petitionen mehr einzureichen." Richard Mars den
sagte: „Vor 10 Jahren sei die Lage schlecht gewesen; jetzt sei sie
noch zehnmal schlechter ... Er malte ein entsetzliches Bild der
Leiden des Volkes im nördHchen Lancashire . . . und führte einige
Fälle von Hungertod an." Der Delegierte Bavingtone führte aus;
„Das Elend und der Notstand erreichten Entsetzen erregende
I
— 349 —
Dimensionen; er habe die Volksmasse noch nie in einer solchen
Erregung gesehen, das Volk sei entschlossen, was es auch kosten
möge, sich sein Recht zu erobern" ^).
In einem ähnlichen Ton sprachen auch die andern Delegierten
des Konvents. Die Stimmung des Konvents war derart, dass
O'Brien, der auch ein Mandat hatte, dieses niederlegte und das in
der folgenden Weise vor seinen Wählern rechtfertigte: „Nachdem er
gesehen habe, dass der Konvent hauptsächlich aus Vertretern von
Bezirken zusammengesetzt sei, deren Bevölkerung sich in der ent-
setzlichsten Lage befinde, — viele hätten buchstäblich gehungert — , nach-
dem er von einem Delegierten gehört habe, dass unter der Be-
\^lkerung, die ihn entsandt hätte, viele nicht mehr als einen Penny
pro Tag hätten, dass in anderen Gegenden Leute mit grossen
Familien nicht mehr als 4 oder 5 Schilling täglich verdienen könnten,
sei er (O'Brien) zu der Ueberzeugung gelangt, dass ein Konvent,
der bei einer solchen Lage der Bevölkerung gewählt sei, nicht die
nötige Besonnenheit wahren könne und zu einem Zusammenstoss der
Bevölkerung mit der Regierung führen müsse" 2).
Man könnte vielleicht die Richtigkeit dieser Mitteilungen be-
zweifeln, da sie von Personen ausgingen, die natürlich geneigt waren,
die Verhältnisse in dem denkbar düstersten Lichte darzustellen.
Aber hier haben wir auch eine Beschreibung der Notlage, die einem
ganz konservativen Organ, nämlich den Times, entnommen ist.
In dieser Zeitschrift finden wir einen Brief eines Geistlichen
aus Nottingham, wo es hiess: „Ich denke, dass ein bedeutender Teil
der Bevölkerung der Stadt beinahe buchstäblich hungert . . . einer
meiner Gehilfen, der während der Hungersnot der letzten Jahre in
Irland war, sagt, er habe in Irland nicht einen grösseren Notstand
gesehen als jetzt in Nottingham . . . Die meisten Möbel und Sachen
der Arbeiter sind versetzt oder verkauft, und, als ich mich erkundigte,
warum so viele Kinder in der Schule fehlten, erfuhr ich, dass sie
nichts anzuziehen hätten, womit sie in die Schule gehen könnten."
Ein anderer Geistlicher schrieb in den Times: „Meiner Ansicht nach
hatte während der letzten 18 Monate die Hälfte der Arbeiter nur
gerade so viel, um nicht im buchstäblichen Sinne des Wortes vom
Hunger zu sterben . . . Ich zögere nicht, zu erklären, dass eine
solche Sachlage die Arbeiter dahin treiben muss, sich jeder Be-
1) Alle diese Aussagen sind den Konventberichten entnommen, die im Northern
Star, 1848, N0. 546 zum Abdruck gelangt sind.
2) The Northern Star, No. 547.
— 350 —
wegung anzuschliessen, die überhaupt eine Verbesserung ihrer Lage
ihnen verspricht." Ein dritter GeistHcher schrieb: „Ich kann ohne
Zaudern sagen, dass, soweit ich weiss, die Notlage unter den unteren
Klassen der Bevölkerung allgemeiner und schwerer als jemals früher
ist . . . Es giebt keine Worte, um die Entbehrungen und das Elend
im gegenwärtigen Augenblick zu schildern. Viele hungern buch-
stäblich."
In derselben Nummer von The Times lesen wir im Leit-
artikel: „In allen unseren Städten befindet sich die Industrie in voll-
kommener Stockung ... Es giebt nichts Traurigeres als die Berichte
über die Lage der Bevölkerung in den nördlichen Städten. Dort
findet eine Massennot statt, die man mit lokalen Hilfsmitteln bei
weitem nicht mildern kann i)".
Aus Anlass anderer ähnlicher Thatsachen finden wir in einem
anderen Leitartikel der Times eine feine Bemerkung, die als Schlüssel
zu den neuesten Volksbewegungen in England gelten mag. „Man
kann als ein Axiom der englischen Politik anerkennen, dass jede
bedeutende politische Bewegung in den breiten Massen der Be-
völkerung auf einen Mangel an Beschäftigung hindeutet. Wenn die
englische Bevölkerung genügend zu thun hat, so kümmert sie sich
nicht um die Politik, so lange bis sie wieder mehr freie Zeit hat.
Die Arbeiter denken an die Politik nur dann, wenn sie nicht gut
bezahlt werden, und keine volle Beschäftigung finden."
Am IG. April reichte O'Connor dem Parlament die dritte
nationale Petition der Chartisten ein. Man erwartete, dass die Ein-
reichung der Petition von einer kolossalen Chartistenprozession von
einigen looooo Personen begleitet sein würde. Da die Angelegen-
heit sich im Revolutionsjahre 1848 abspielte, so befürchtete die Re-
gierung und die besitzenden Klassen von England die Wiederholung
der Pariser Ereignisse in London. Man traf die äussersten Vorsichts-
massregeln. Der Tower war abgesperrt und mit Militär besetzt,
einige Batterieen waren aus Woolvich herbeigeholt und in verschiedenen
Stadtteilen untergebracht, das Militär wurde mobil gemacht und mehr
als 150000 Privatpersonen boten der Regierung ihre Dienste an
als freiwiUiges Polizeikommando, um im Falle der Not die Ordnung
wieder herzustellen.
Alle diese ausserordentlichen Massnahmen erwiesen sich aber
als unnötig. An der Chartistenprozession beteiligten sich nur einige
i) The Times, vom 29. April 1848.
2) The Times, vom 24. April 1848.
у.
— 351 —
loooo Mann, die sich vollkommen friedlich verhielten und keinen
Anlass zum Einschreiten des Militärs gaben. Die nationale Petition
um die 6 Punkte der Volkscharte wurde dem Parlament von O'Connor
eingereicht, der erklärte, dass diese Petition 5700000 Unterschriften
trüge. Die enorme Zahl der Unterschriften flösste selbst den Feinden
der Bewegung Achtung ein. Aber der Zauber dieser Zahl wurde
bald zerstört. Die Petition wurde einer speziellen Kommission über-
geben, die die Unterschriften nachzählte und erklärte, es seien ihrer
unter der Petition nur 1975496 und dabei seien viele Unterschriften
noch offenbar fiktive. So standen unter der Petition die Unterschriften
der Königin Victoria, des Herzogs von Wellington und viele andere,
die ohne Zweifel erdichtet waren. Es erfolgte eine peinliche Scene im
Parlament, wänrend derer O'Connor der Lüge bezichtigt, von Be-
leidigungen überhäuft und, was noch schlimmer, in den Augen des
ganzen Landes lächerlich gemacht wurde. So erlosch unter allge-
meinen Gelächter das letzte Auflodern des Chartismus.
Nach dem 10. April verlässt der Chartismus die politische Bühne.
Die Chartistenmeetings dauerten fort, solange die Arbeitslosigkeit
dauerte; aber allgemein hat man eingesehen, dass der Chartismus jeg-
liche politische Bedeutung verloren habe . . .
Trotzdem sind die vierziger Jahre durchaus nicht so spurlos für
die soziale Geschichte Englands vorübergegangen. Die wichtigsten
sozialen Reformen Englands stammen von dieser Zeit her. Es ge-
nügt darauf hinzuweisen, dass im Jahre 1847 ^ür Frauen und Minder-
jährige in den Fabriken der gesetzliche Zehnstundentag eingeführt
worden ist; man denke ferner an die Aufhebung der Korngesetze
im Jahre 1846, an die Einführung der Einkommensteuer im Jahre
1842, an die Bankreform von 1844 u. s. w. Aber der unmittelbare
Zweck des Chartismus, die radikale Umgestaltung der englischen
politischen Konstitution in extrem demokratischem Geiste, ist auch
heute noch nicht entfernt erreicht. Bis heute kennt England kein
allgemeines Wahlrecht. Von den 6 Punkten der „Charte" ist nur einer
— die geheime Stimmenabgabe — vollständig verwirklicht. Die Ur-
sache des Misserfolges des Chartismus besteht darin, dass, wie
oben gezeigt, diese Bewegung einen inneren Widerspruch in sich
einschloss: obgleich sie ihrer Entstehung und ihrem Endziele nach
eine soziale Bewegung war, konnte sie doch kein positives sozial-
ökonomisches Programm schaffen i). Die Versuche, ein solches Pro-
1) Vgl. J. Tildsley, Die Entstehung der Chartistenbewegiing, S. 131 ff.
— 352 —
gramm zu schaffen (der „Agrarplan" O'Connors), haben nicht nur
einen utopischen, sondern auch einen romantisch-reaktionären Charakter
gehabt. Da ihm aber ein positives Programm sozialer Reformen fehlte,
so konnte der Chartismus auch nicht sein pohtisches Programm ver-
wirklichen. Die radikale politische Umgestaltung der politischen
Konstitution Englands konnte nur durch grosse soziale Ziele berech-
tigt werden — und solche aufzustellen, war der Chartismus nicht
imstande.
KAPITEL III.
Der Baumwollhimger.
Die Bedeutung des Baumwollhungers für die Fabrikanten und die Arbeiter. — Die
Arbeitslosigkeit. — Der Kampf der Arbeiter gegen die obligatorische Arbeit. — Die Parla-
mentsdebatten. — Die Stellung von Bright. — Die Gleichgültigkeit der Fabrikanten gegen-
über den Leiden der Arbeiter. — Die Verteidigung der Interessen der Fabrikanten durch
Cobden. — Die von der Regierung und von den besitzenden Klassen zur Linderung der
Not getroffenen Massregeln. — Die Rede Gladstones. — Die Arbeiterunruhen in Staley-
bridge und anderen Städten. — Die Bewegung zu Gunsten der Auswanderung. — Der
hartnäckige Widerstand der Fabrikanten dieser Bewegung gegenüber. — Die öffentlichen
Arbeiten. — Die Folgen des Baumwollhungers.
Der Baumwollhunger der 60 er Jahre hat, worauf im ersten Teile
dieses Buches hingewiesen wurde, keine allgemeine Stockung der
englischen Industrie hervorgerufen. Wie bereits erwähnt, haben von
dem Baumwollhunger die Baumwollfabrikanten und -händler, die, wie
man erwarten sollte, das Unglück in erster Linie mit seiner Wucht
hätte treffen müsste, nicht nur nicht gelitten, sondern sogar gewonnen.
Nur die kleineren Fabrikanten wurden durch die Krisis ruiniert.
Die meisten von ihnen haben die Krisis nicht überstanden. Da-
gegen führte der Baumwollhunger zur Bereicherung der grossen Fabri-
kanten. Mitte 1861 haben sich in England sehr bedeutende Vorräte an
unverkaufter Rohbaumwolle und Baumwollwaren angehäuft. Die Ein-
stellung der Zufuhr der amerikanischen Rohbaumwolle hat ein ausser-
ordentliches Steigen der Preise dieser Vorräte zur Folge gehabt.
Nach einigen Berechnungen müssten die englischen Baumwollfabri-
kanten und -händler an der Rohbaumwolle (infolge des Steigens ihrer
Preise) über 19 Millionen Pf. St. und an den Baumwollfabrikaten
über 16 MiUionen Pf. St, insgesamt über 35 Millionen Pf. St. ge-
wonnen haben. Diesen kolossalen Gewinn haben die Lancashirer
Kapitalisten während der zwei ersten Jahre des Baumwollhungers
eingestrichen. Arnold, der Geschichtsschreiber des Baumw^ollhungers,
der gegen die Fabrikanten durchaus nicht feindlich gesinnt ist, be-
Tugan-Baiaiiowsky , Die Handelsknsen. -3
-- 354 —
merkt aus diesem Anlass: „36 Millionen Profit! Wenn wir sogar
annehmen, dass die Produktion der letzten zwei Jahre (man befindet
sich im Jahre 1864. M. T.-B.) keinen Gewinn gegeben hat — und solch
eine Annahme wäre doch geradezu komisch, so können sich die Industri-
ellen bei der Einschränkung der Produktion immer noch trösten, da
diese ihnen diesen unerwarteten Wohlstand erzeugt hat ^)."
Viele Lancashirer Kapitalisten haben also unter dem Baumwoll-
hunger nicht gelitten, sondern bedeutend gewonnen. Wer wurde
nun durch diesen Hunger getroffen ? Hauptsächlich die Arbeiter.
Die Lancashirer Arbeiter standen in den 60 er Jahren, ebenso wie
heute, an der Spitze der englischen Arbeiterklasse. Sie erhielten
die höchsten Löhne, waren unter ihren Klassengenossen die intelli-
gentesten und bestorganisierten. Schon zu dieser Zeit haben
sie es erreicht, dass die Verträge über die Arbeit, die Löhne, die
Arbeitsstunden u. s. w. durch eine kollektive Vereinbarung mit dem
Unternehmer abgeschlossen wurden. Viele von ihnen hatten Erspar-
nisse in den Sparkassen, nicht wenige besassen ihre eigenen Cottages.
Der Prozentsatz der Paupers war in Lancashire bedeutend niedriger
als im übrigen Lande. Die Unabhängigkeit und der Stolz der Lan-
cashirer Arbeiter liess sie eine staatliche Unterstützung verschmähen,
und viele von ihnen litten lieber Not, als dass sie die Unterstützung
seitens der Armenadminstration annahmen.
Und diese Arbeiterklasse war es gerade, die für einige Jahre
jedwede Subsistenzmittel verlieren sollte. Vom Herbst 1861 an wächst
die Zahl der Arbeitslosen in den .Baumwolldistrikten. In der ersten
Zeit war die Administration der Armenunterstützung die einzige Hilfs-
quelle. Am II. November wandte sich der Präsident der Armen-
unterstützung Villiers mit einem Cirkular an die lokalen Armen-
behörden, indem er auf die Notwendigkeit hinwies, ausserordent-
liche Hilfsmassregeln zu treffen. Ende des Jahres begann man auch
private Hilfskomitees zu bilden.
Seit dem Januar 1862 nimmt die Arbeitslosigkeit bedrohliche
Dimensionen an, insbesondere in den kleinen Städtchen Lancashires,
deren Bevölkerung fast ausschhesslich von der Arbeit in Baumwoll-
1) R. Arnold, The History of the Cotton Famine. London 1864, S. 83. Die
ausserordentliche Bereicherung grosser Lancashirer Kapitalisten infolge des Baumvvollhungers
wird auch von anderen bestätigt. ,,Es ist ebenso sicher wie ein Grundsatz der Mathematik,
sagt W. Torrens, dass die plötzliche Schliessung der amerilcanischen Häfen sich
für die grosse Klasse der Lancashirer Kapitalisten als ein bedeutender Gewinn erwiesen hat,
indem sie den Preis der gewaltigen Vorräte, die sich in ihren Händen befanden, verdoppelte."
ЛУ. Т. Torrens, Lancashires Lesson. London 1864.
— 355 —
fabriken lebte. Fast in jedem dieser Städtchen bildeten sich örtliche
Unterstützungskomitees, die dem Arbeiter entweder mit Geld oder mit
Anweisungen an die Geschäfte, in denen sie nach Wahl Waren be-
kommen konnten, Hilfe leisteten.
Im Frühjahre 1862 erreichte die Einschränkung der Produktion
einen solchen Umfang, dass z. B. im April in Manchester von den
47 504 Arbeitern, die in den Fabriken der Stadt beschäftigt waren,
nur 23722 volle Zeit arbeiteten; 15393 waren halb beschäftigt und
8369 ganz arbeitslos. In Blackburn und Umgegend haben von 154
Fabriken nur 16 volle Zeit gearbeitet, 23 aber die Arbeit ganz ein-
gestellt; von 40000 Arbeitern sind 8459 ganz beschäftigungslos ge-
blieben, und die bedeutende Mehrzahl der übrigen arbeitete nur 2 bis
4 Tage in der Woche i).
Die Hilfsmittel, die am Orte gesammelt werden konnten, reichten
nicht aus. Einige Londoner Zeitungen, und insbesondere The Times
begannen eine Agitation zu Gunsten einer nationalen Organisation
der Arbeitslosenunterstützung. Vom Frühjahre 1862 an wurden in
den Times eine ganze Reihe von Artikeln, unterzeichnet: „A Lan-
cashire lad" (Ein Lancashirer Junge) zum Abdruck gebracht. Der
Verfasser dieser Artikel, ein gewisser Whit taker, schilderte die Not-
lage in Lancashire in lebendiger und ungekünstelter Sprache. Seine
Briefe machten auf das Publikum einen starken Eindruck, und die
wSpenden liefen rasch ein. Unter dem unmittelbaren Einfluss dieser
Briefe bildete sich Ende April unter dem Vorsitz des Lord Mayors
ein Centralkomitee zur Unterstützung der notleidenden Arbeiter
(The Lancashire and Cheshire Operatives Relief Fund). In fol-
genden Worten beschreibt z. B. Whittaker die Notlage in Lan-
cashire in einem Brief an den Lord Mayor: „Es wird einem schwer,
die Wohnungen der Leute, die man kennt und achtet, obwohl sie
einfache Arbeiter sind, ohne jedwede Einrichtung und ohne Möbel
zu sehen, zu bemerken, wie man die Lieblingsbücher und -bilder, eins
nach dem anderen in den erstbesten Laden trägt, um sich Nahrungs-
mittel von schlechter und für die Ernährung völlig ungenügender
Qualität zu kaufen. Aber all das ist noch nicht das schlimmste. In
vielen Cottages hat man gar nichts mehr, was man noch verkaufen
könnte, unsere Mütter und Schwestern müssen zum Betteln greifen,
und manchmal müssen sie an eine Thür klopfen, hinter der eine eben
so grosse Not verborgen ist wie bei ihnen zu Hause. Die Väter und
die Brüder aber betrachten sich als glücklich, wenn es ihnen gelingt,
I) The Manchester Guardian, vorn 9. April 1862.
23^
— 35б —
einen oder zwei Schillinge am Tage durch Strassenkehren oder
Steineklopfen zu verdienen . . . Ich besitze nicht die Kraft, alles, was
ich sehe, so beredt zu schildern, wie ich es gern möchte. Das, was
ich sehe und höre, ist unbeschreiblich. Es ist das Elend, das
äusserste Elend, dem um jeden Preis abgeholfen werden muss^)".
Das Komitee unter dem Vorsitz des Lord Mayors wurde die
Centralstelle für die Sammlung von Spenden aus dem ganzen Lande.
Nach einigen Tagen bildete sich ein ähnliches Komitee auch in Man-
chester unter dem Vorsitze des Bürgermeisters (Manchester Central
Relief Comittee).
Um dieselbe Zeit beginnt unter den Arbeitern eine energische
Agitation gegen die Praxis der Armenbehörden. Die P'abrik-
arbeiter hatten ihren Gewohnheiten, ihrer Lebensweise nach nichts
Gemeinsames mit den gewöhnlichen Insassen der Arbeitshäuser. Ge-
wöhnt, an Maschinen zu arbeiten, nicht so sehr mit den Muskeln als durch
konzentrierte Aufmerksamkeit, erwiesen sich die Lancashirer Arbeiter
nicht fähig, die rohen und schweren Arbeiten auszuführen (wie z. B.
das Steineklopfen mit schweren Hammern), die ihnen von den
Armenbehörden vorgeschrieben wurden. Kein Wunder, dass die
Arbeiter einen hartnäckigen Kampf gegen die Administration der Armen-
unterstützung begannen. Ende April veranstalteten die Arbeitslosen
Manchesters ein stark besuchtes Meeting, auf dem sich 2 — 3000 Arbeiter
versammelten, um gegen den labour test, die von den lokalen Behörden
vorgeschriebene obligatorische Arbeit Protest, zu erheben'^). Aehn-
liche Meetings wurden auch in anderen Städten Lancashires abge-
halten. So haben in Staleybridge mehr als 3000 Arbeiter auf einem
Meeting einmütig beschlossen, sich an die Regierung mit einer Pe-
tition um Abschaffung dieser obligatorischen Arbeit zu wenden.
Unter dem Einfluss dieser Agitation wandte sich eine Deputation
von Parlamentsvertretern Lancashires an Villiers mit der Bitte, in
Sachen der Armenunterstützung Wandel zu schaffen. Villiers ant-
wortete ausweichend und versprach nichts Bestimmtes.
Im Mai wurde die Frage der Unterstützung der Arbeiter Lan-
cashires im Parlament aufgerollt. In der Sitzung vom 9. Mai lenkte
A. Egerton, der Vertreter des südlichen Lancashire, die Aufmerk-
samkeit des Parlaments auf den Notstand in Lancashire. Nach seinen
Ausführungen erreichte die Zahl der Arbeitslosen in Lancashire
58000, und eine bedeutend grössere Zahl arbeitet nicht volle Zeit.
i) A. a. O. vom 28. April 1862.
2) Manchester Guardian, vom 28. April 1862.
— 357 —
Die Unzufriedenheit der Arbeiter mit den schweren Bedingungen,
unter denen die Unterstützung seitens der lokalen Behörden geleistet
werde, wachse immer an. Angesichts dessen erachte er es für nötig,
den Präsidenten der Administration der Armengesetze Villi er s zu
fragen, ob die Regierung es nicht für nötig halte, die Bedingungen, unter
denen die Unterstützung erteilt werde, zu mildern. Der Vertreter
des nördlichen Lancashire Pott er behauptete, die Zahl der Arbeits-
losen sei viel bedeutender, und erreiche looooo. Unter der Ein-
stellung der Fabrikproduktion hätten nicht allein die Arbeiter, son-
dern auch viele andere Klassen der Bevölkerung zu leiden. So drohe
den meisten kleinen Händlern der völlige Ruin. Villiers erklärte
namens der Regierung, dass die lokalen Behörden die vollständige
Möglichkeit hätten, die Bedingungen, unter denen die Unterstützung
erteilt werde, zu mildern, dass keine Aenderung in der Praxis der
Administration der Armenunterstützung erforderlich sei und dass die
Regierung die Thätigkeit der lokalen Behörden vollständig gut-
heisse.
Sehr charakteristisch für den englischen bürgerlichen Radikalis-
mus ist die Haltung, die in dieser Frage von dem berühmten Bright
eingenommen wurde. Bright war vor allem bemüht, den Eindruck
von dem Umfange des Notstands abzuschwächen. Nach seiner Ansicht
war unter den Korngesetzen zu Beginn der 40 er Jahre die Not in
Lancashire viel stärker gewesen. Bright verteidigte energisch die
lokalen Behörden, die nach seinen Ausführungen das Vertrauen
ihrer steuerzahlenden Wähler besässen und am kompetentesten \vären,
wenn es sich um die Verwendung der Summen handelte, die von
den Ortsbewohnern aufgebracht wurden. Nach der Ansicht Brights
„w^ürde die Regierung mit wahrer Weisheit und entsprechend den
Forderungen der Humanität verfahren, wenn sie sich möglichst wenig
in die Verfügung der lokalen Behörden über die Verausgabung der
ihnen anvertrauten Summen einmischte".
Die nationale Organisation der Unterstützung der Arbeiter be-
trachtete Bright sehr ungünstig: „Er widersetze sich jedweden Hilfs-
massregeln grossen Stiles in der Art einer Bildung eines centralen
Komitees in London oder einer Einmischung der Regierung in die
Thätigkeit der lokalen Armenbehörden, das würde nur den Paupe-
rismus in Lancashire vermehren und sich auch sonst als äusserst ver-
derblich erweisen; wenn es aber jemand im Königreich gebe, der
den Notleidenden helfen wolle, so möge er ruhig ohne jedweden
Lärm, wo die Not herrsche, Geld schicken, wie viel er könne, ohne
jedoch kolossale nationale Fonds zu bilden".
. - 358 -
Hibbert, der Abgeordnete von Oldham, sprach sich energisch
für die Abschaffung des labour test aus. Ebenso erkannte der Ab-
geordnete von Manchester Bazley an, dass die strenge Handhabung
des Armen gesetzes gemildert werden müsse.
Wie immer haben die Tories, die Vertreter der Interessen der
Grundbesitzer, den Beschwerden der Arbeiter gegenüber viel mehr
Aufmerksamkeit gezeigt als die liberalen Fabrikanten. Nach einigen
Tagen (am 12. Mai) wurde dieselbe Frage der Hilfsmassregeln für
die notleidenden Arbeiter Lancashires im Oberhause erörtert, und die
Hauptforderung der Arbeiter, die Abschaffung der obhgatorischen
Arbeit, fand warme \^erteidiger unter den hochgeborenen Mitgliedern
dieses Hauses. Graf Shaftesbury erklärte: ,.Er sei nicht dagegen,
dass obligatorische Arbeit von denen verlangt werde, die aus Träg-
heit und weil sie nicht arbeiten wollten, beschäftigungslos seien.
Aber man müsse daran denken, dass die Arbeiter sich im Zustande
einer äussersten Not nicht durch ihre Schuld befänden. Sie wollten
arbeiten, und gerade bei dem gegenwärtigen Zustande des Handels,
wo sich für sie keine Arbeit fände und sie infolgedessen genötigt
seien , um Hilfe zu bitten , sei die Forderung einer obligatorischen
Arbeit äusserst grausam und ungerecht. Besonders gelte das für
die Baumwollarbeiter, von denen in der Fabrik eine feine Arbeit
verlangt werde, welche nicht durch Hände ausgeführt werden könne,
die durch gewöhnliche Handlangerarbeit unempfindlich geworden
seien. Solche Leute zu zwingen. Steine zu klopfen, heisse nicht nur
sie zu überflüssigen Leiden aussetzen, sondern sei in vielen Fällen
gleichbedeutend damit, dass sie der Erwerbsmöglichkeit überhaupt
beraubt würden, wenn der Handel sich von neuem belebe. Ebenso
hiesse es die Gesundheit eines Menschen aufs Spiel setzen, wenn
man ihn, der sonst nur an die hohe Temperatur einer Fabrik ge-
wohnt sei, zwinge, unter freiem Himmel manchmal im strömenden
Regen zu arbeiten.''
Namens der Regierung antwortete Granville, der darauf hin-
wies, dass die lokalen Behörden das Recht hätten, nach Gutdünken
Hilfe zu leisten, ohne obligatorische Arbeit zu verlangen, und dass
die Regierung den lokalen Behörden volle Freiheit des Handelns
gewähren wolle ^).
Unter dem Eindrucke dieser Debatten betraute die Regierung
eines der obersten Mitglieder der Armenadministration, Farn all, mit
der Untersuchung der Thätigkeit der lokalen Behörden der Armenunter-
i) Hansards Parliamentary Debates, Vol. CLXVI.
— 359 —
Stützung und versah ihn zu diesem Zwecke mit sehr weitgehenden
VoHmachten. Die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der Thätigkeit
der Behörden war sehr gross. In Blackburn weigerten sich gegen
looo Arbeiter, die im Arbeitshaus mit Steineklopfen beschäftigt
waren, entschieden, die Arbeit fortzusetzen, und erneuerten die Arbeit
erst, nachdem ihnen die verlangten Konzessionen gemacht worden
waren ^). Die Protestmeetings gegen die obligatorische Arbeit dauerten
in allen bedeutenden Städten Lancashires fort. Die Aufgabe Farn а 11s
bestand darin, die örtlichen Behörden zu veranlassen, unter Ver-
meidung jedweder Verletzung des Armengesetzes, die Unterstützungs-
bedingungen zu erleichtern. Diese Mission wurde von ihm mit einem
gewissen Erfolg durchgeführt; er hat vieles beseitigt, was die Un-
zufriedenheit der Arbeiter erregt hatte.
Während des Sommers nahm der Notstand zu. Im Juli waren
von den 355000 Arbeitern in den Textilfabriken Lancashires und
Cheshires 80000 ganz beschäftigungslos und die übrigen arbeiteten
zum grössten Teil nicht volle Zeit. Da aber von allen Seiten des
Landes Spenden rasch hinflössen, so gab es eigentlich keine Hungersnot.
Die arbeitende Bevölkerung wurde nur plötzlich ihres gewöhnlichen
Komforts beraubt und sank auf die Stufe der Paupers herab, aber
direkt einen Mangel an Nahrungsmitteln litt sie doch nicht. Dadurch
wird jene auf den ersten Blick auffallende Thatsache erklärt, dass
der „Baumwollhunger" sehr wenig auf die Sterblichkeit der Be-
völkerung eingewirkt hat (siehe Tabelle auf der Seite. 283). Die
Lancashirer Arbeiter gehörten nicht zu jenen Leuten, die ruhig
Hungers sterben können. Die Regierung und die öffentliche Meinung
fürchteten im höchsten Grade eine Bewegung unter den Arbeitern.
Und als es sich zeigte, dass die Arbeiter sich ruhig verhielten,
richtete die Regierung alle Anstrengungen dahin, die Anlässe zur
Störung dieser Ruhe zu beseitigen. In vielen Städten Lancashires
begannen die Behörden Unterstützungen ohne jedwede Forderung
einer obligatorischen Arbeit zu gewähren. Aus den Lobreden auf
die „mannhafte Ruhe" der Arbeiter, mit der die bürgerliche Presse,
die öffentlichen Versammlungen und das Parlament die Arbeiter um
die Wette überhäuften, war deutlich die Angst vor den Arbeitern
herauszuhören; alle waren bewusst, dass diese Ruhe nur durch die
Erleichterung des Loses der Arbeiter erkauft werden könne.
Es ist bezeichnend, dass gerade die Fabrikanten die ge-
ringste BereitwiUigkeit zeigten, irgend welche Opfer zu Gunsten
I) The Manchester Weekly Times vom /. Juni 1862.
— Збо —
der Arbeiter zu bringen. Die konservativen Zeitungen waren von
Klagen über die Gleichgiltigkeit der „Baumv^ollkönige" gegenüber
den Leiden derselben Leute, die ihre Reichtümer geschaffen hatten,
erfüllt. Und in der That verhielten sich die Lancashirer Fabrikanten
mit einem erstaunlichen Indifferentismus gegenüber der Agitation zu
Gunsten der Unterstützung der notleidenden Arbeiter, die ganz
England und sogaT viele englische Kolonien erfasste. So sagt
Arnold: „Die Fabrikanten zeigten sich nicht geneigt, an Subscrip-
tionen zu Gunsten der Notleidenden teilzunehmen. Die Hälfte der
Zeitungen des Landes . . . beschwor sie, den Leiden ihrer Nächsten
ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, und verwies sie auf ihre Pflicht.
Aber weder Ueberredung noch Hohn übte irgend einen Eindruck
aus. Man kann sagen, dass derselbe Mangel an Rohstoffen, der
unter den Arbeitern jene Not hervorrief, den Kapitalisten grossen
Vorteil brachte. Und, wie immer in solchen Fällen, zeigten die, welche
durch diese Sachlage gewonnen hatten, wenig Sympathie für die, welche
darunter litten." Hieraus zieht Arnold den Schluss, dass „der
kommerzielle Geist die Grossmut ertöte" i). Es handelt sich hier
dennoch natürlich nicht um den „kommerziellen Geist"; die edlen
Lords, die von der Geschäftswelt so weit entfernt sind, zeigten unter
analogen Bedingungen dieselbe Gleichgiltigkeit gegenüber ihren
Farmern und Arbeitern.
Allerdings unterliegt es keinem Zweifel, dass die Lancashirer
Fabrikanten sich ihren Arbeitern gegenüber äusserst teilnahmlos
verhalten haben. Die konservativen Zeitungen benutzten die Ge-
legenheit, um ihre Entrüstung über die Grausamkeit der Vertreter
des industriellen und des Handelskapitals zum Ausdruck zu bringen.
So lesen wir z. B. in den Times die folgenden in der That beredten
Zeilen: „Die Baumwolle kommt nicht, es ist keine Arbeit da, die
Arbeiter sterben Hungers; und wenn es jemanden in der Welt giebt,
der gegenüber alledem gleichgiltig ist, der kein Wort sagt und kein
Lebenszeichen von sich giebt, so ist es der Fabrikant. Die Fabrikanten
sind ebenso unthätig wie ihre Maschinen, ebenso kalt wie ihre
Kessel, oder sind sie abwesend, man weiss nicht wo. Allerdings
kommt von ihnen keine Hilfe . . . Die Baumwolllords sind mit ihrer
Baumwolle verschwunden" 2).
Das Wachstum der Not veranlasste die Regierung, auf ihr
passives Verhalten gegenüber den Leiden der Arbeitsmassen zu ver-
1) Arnold, 263 — 264.
2) Citiert nach Arnold, 200.
— 3^1 —
ziehten. Am 22. Juli braehte Villiers eine Bill ein, die den einzelnen
Kirchspielen und Distrikten, die unter dem Baumwollhunger gelitten
hatten, das Recht gab, die Summen für den Unterhalt der Armen,
unter gewissen Bedingungen, unter alle Kirchspiele, die zu denselben
Distrikten gehören, oder unter allen Distrikten der Grafschaft zu
verteilen. Auf diese Weise konnte man die Last der Ausgaben für
die Armenunterstützung gleichmässiger unter den einzelnen Kirch-
spielen und Distrikten einteilen.
Die Stellung der Lancashirer Fabrikanten und ihrer Freunde
im Parlament dieser Bill gegenüber ist höchst charakteristisch.
Cobden unterzog die Bill der schärfsten Kritik, weil sie die Lage
der Steuerzahler in Lancashire keineswegs erleichtere. Nach Cobden s
Meinung konnten die Fabrikanten die Last der immer wachsenden
Ausgaben für den Unterhalt der Armen nicht ertragen, da ihre
Fabriken geschlossen seien. Nach der Rede Cobdens könnte es
scheinen, dass die wahren Dulder niemand anders als die Fabrikanten
seien . . . ,.Die meisten Baumwollfabriken," erklärte er, „gehörten
Personen, die verhältnismässig wenig Kapital besassen. Die Namen
der grossen Fabrikanten könnten leicht aufgezählt werden, aber die,
die hartnäckig kämpften, die durch ihre Sparsamkeit und ihren Er-
findungsgeist, durch Einführung neuer Maschinen und durch Erhöhung
der Produktivität ihrer Fabriken die Macht und die Grösse dieses
Landes geschaffen hätten, zählten nach Tausenden . . . Das Parla-
ment müsse alles thun, um dem Ruin dieser Leute vorzubeugen,
da die Möglichkeit der Wiederherstellung des Wohlstandes dieses
Landes davon abhänge, ob sie noch in der Lage würden sein, den
Arbeitern Arbeit zu geben. Welche Massregel sei aber mehr ge-
eignet, diese Klasse der Bevölkerung zu vernichten, als die, welche
die Regierung vorschlage?"
Angesichts dessen schlug Cobden vor, die Summen für die
Armenunterstützung durch öffenthche Anleihen aufzubringen. Das
würde den Fabrikanten die auf ihnen liegende Last der Arbeits-
losenunterstützung erleichtern. In demselben Sinne sprachen sich
auch andere Vertreter Lancashires aus. Einige люп ihnen forderten
sogar eine nationale Unterstützung der Lancashirer Arbeiter. Offen-
bar verdrängte die Furcht, die Arbeitslosen aus eigenen Mitteln er-
halten zu müssen, sehr rasch in den Herzen der liberalen Anhänger
der Selbsthilfe und des Freihandels ihre sonstige Antipathie gegen
die staatliche Vormundschaft.
Die wahre Tendenz aller dieser Anträge wurde sehr richtig,
von Lord Palmerstone während der dritten Lesung der Bill am
— Зб2 —
ЗО. Juli gekennzeichnet. „In Wirklichkeit," erklärte er von den
Gegnern der Bill, „wollen sie die ganze Last von den Reichen auf
die Armen überwälzen ... In diesen Grafschaften (Lancashire und
Cheshire) gebe es kolossale Kapitalisten, und einige von ihnen —
er müsse das mit Bedauern konstatieren — verkauften und exportierten
aus dem Lande, während die Bevölkerung vor ihren Thüren gehungert
und man noch schlimmere Leiden in der Zukunft erwartet habe
— dieselben Rohstoffe, die die Fabriken im Gange erhalten und den
Arbeitern Beschäftigung geben sollten. Müssten denn alle diese
Leute von den Ausgaben für den Unterhalt der Armen ausgenommen
werden? Warum sollten sie nicht hinzugezogen werden zur Linderung
der Leiden, die vor ihren Augen geschahen, wenn sie alle Mittel
dazu hätten? Nicht nur hätten diese Fabrikanten kolossale Ver-
mögen erworben, sondern auch alle Gutsbesitzer jener Distrikte
hätten von der Entwickelung der Baumwollindustrie in der Graf-
schaft sehr gewonnen, und es sei nur berechtigt, dass die Grafschaft
in ihrer Gesamtheit zur Erhaltung ihrer Arbeitslosen herangezogen
werde . . . F> denke, es sei ganz gerecht, alle laufenden Ausgaben
der Grafschaft durch die laufenden Einnahmen zu decken, statt in
die Armengesetze ein neues Prinzip der Geldanleihen für laufende
Ausgaben einzuführen."
Trotzdem war die Opposition der Lancashirer Fabrikanten so
heftig, dass die Regierung nachgeben musste und die Bill nur mit
wesentlichen Abänderungen durchging; es wurde nämlich den
Distrikten überlassen, die Ausgaben für die Armenunterstützung
durch eine Anleihe zu decken, wenn diese Ausgaben eine bestimmte
Summe erreichten. Die Fabrikanten haben gesiegt.
Das Oberhaus verhielt sich sehr missbilligend gegenüber der
Nachgiebigkeit der Regierung. Graf von Malmesbury hielt eine
lange Rede gegen die Abänderungen der Bill. „Wenn die Arbeiter
so viel Mut und Geduld unter dem Druck der schweren Leiden an
den Tag gelegt hätten, so hätten auch die Steuerzahler dieser
reichen Grafschaften eine annähernd ähnliche Geistesstärke bekunden
müssen. Schicke es sich denn für diese Steuerzahler, sich an das
Parlament mit der Bitte um Hilfe zu wenden?'' Nach der Meinung
des edlen Lords bestand der beste Ausweg aus der schwierigen Lage,
in der sich Lancashire befand, in der Heranziehung nicht nur des un-
beweglichen, sondern auch des beweglichen Besitzes, des Handels-
und des Geldkapitals zur Zahlung von Steuern für die Armen. Die
Fabrikanten beschwerten sich über die übermässige Last der Aus-
gaben für den Unterhalt der Armen, aber in vielen landwirtschaft-
— з^з —
liehen Distrikten seien die üblichen Steuern für die Armen viel
schwerer.
Noch energischer sprach I>ord Kingsdown: „Eine Fabrik nach
der anderen würde errichtet," erklärte er mit Pathos, „und eine zahl-
reiche Bevölkerung wäre zusammengerufen, um kolossale Vermögen
zu schaffen, die die Besitzer dieser Fabriken erworben hätten. Sei es derer
würdig, die diese Bevölkerung zusammengerufen hätten, die dieser
I Bevölkerung Beschäftigung gegeben und aus der Arbeit dieser Be-
völkerung ihre Profite gezogen hätten, dass sie im ersten Augenblick,
wo von ihnen einige Opfer für die Unterstützung der Armen verlangt
würden, händeringend um Hilfe flehten und a.uf die künftigen
Generationen die Last abwälzen wollten, die sie selbst tragen
j müssten? ... Er empfinde Scham beim Anhören dieser Bitten.
Was würden die Fabrikanten Lancashires wohl sagen, wenn infolge
eines Notstandes in den landwirtschaftlichen Bezirken der Vorschlag
j gemacht worden wäre, die Steuerlasten auf die benachbarten in-
dustriellen Bezirke überzuwälzen? Als die Korngesetze abgeschafft
würden, hätten viele darauf hingewiesen, dass die landwirtschaftlichen Be-
zirke schwere Not litten. Was würde auf derartige Hinweise geantwortet?
Dass die landwirtschaftHche Bevölkerung sich eine andere Beschäfti-
gung suchen würde und dass ein jeder für sich selbst die Ver-
antwortung tragen müsse" ^).
Trotz der heftigen Opposition vieler Lords ging die Bill aber
|i durch und wurde zum Gesetz.
Mittlerweile dauerte in Manchester der hartnäckige Kampf der
Arbeiter gegen die lokalen Behörden wegen der obligatorischen
Arbeit fort. In anderen Städten Lancashires hatten die Behörden
I schon lange nachgegeben, aber in Manchester wollten sie nicht
ihre übliche Art, wie sie Unterstützung erteilten, aufgeben. Im
August haben einige sehr zahlreich besuchte öffentliche Arbeiter-
meetings stattgefunden, auf denen der (später von vielen Behörden,
darunter auch von dem in Manchester acceptierten) Vorschlag ge-
macht wurde, die obligatorische Arbeit durch einen Unterricht der
Arbeiter in Schulen für Erwachsene zu ersetzen. Die Arbeiter, die
in den Farmen und den Arbeitshäusern der Armenbehörden be-
schäftigt waren, veranstalteten öffentliche Protestdemonstrationen,
machten Umzüge durch die Stadt, aber mit vollständiger Aufrechter-
haltung der Ordnung. Eine spezielle Arbeiterdeputation wurde abge-
sandt, um der Regierung eine Petition zu überreichen, die um
i) Hansards Parliamentary Debates, Vol. CLXVIll.
— Зб4 —
Milderung der Bedingungen, unter denen die Unterstützung erteilt
wurde, bat. Die Deputation wurde von dem Premier-Minister und
von einigen anderen Mitgliedern der Regierung sehr liebenswürdig
empfangen, erreichte aber keine bestimmten Resultate.
Die Protestmeetings gegen die obligatorische Arbeit dauerten
während des ganzen Herbstes 1862 fort. Allmählich nahmen sie
einen bedrohlichen Charakter an. Auf dem Meeting vom 10. Oktober
in Manchester, an dem einige Tausend Arbeiter teilnahmen, wurde
eine Resolution angenommen, welche die vollständige und unverzügliche
Abschaffung der obligatorischen Arbeit und die Erteilung der Unter-
stützung in Geldform und nicht zur Hälfte in Geld, zur Hälfte
in Naturalien , wie das bisher geschah , verlangte. Einer der
Redner, ein gewisser Evans, erklärte: „Wenn man will, dass
das Eigentum geachtet wird, so muss man sofort d'ose teuflische
und ungerechte obligatorische Arbeit beseitigen . . . Die Arbeiter
sollen, statt in die Farmen und Arbeitshäuser zu gehen, um Hanf
zu brechen, in Schulen und Bibliotheken gehen . . . Die Arbeit ohne
jedwede Entschädigung widerspricht den Gesetzen der politischen
Oekonomie . . . Wir haben unsere Meinung schon wiederholt aus-
gesprochen, die Geschichte besagt aber, dass die Nichtbeachtung der
öffentlichen Meinung schlimme Folgen hat. In Rochdale wird
keine obligatorische Arbeit verlangt; wozu hat das geführt? Zur
Verminderung der Sterblichkeit. Es kann also nicht Wunder nehmen,
dass in Manchester die Sterblichkeit seit dem Beginn der Krisis um
60 — 70% höher ist als in anderen Gegenden" i).
Die anderen Redner sprachen in demselben Ton, indem sie auf
die Notwendigkeit hinwiesen, den Arbeitern, statt sie die schwere Arbeit
verrichten zu lassen, Heber Unterricht zu erteilen. „W^enn dieses
Meeting sein Ziel nicht erreicht," so erklärte einer der Redner, „so
müssen wir stärker an der Thür klopfen und mit einer Volksmasse
von Zehntausenden unter Musikbegleitung die Strassen Manchesters
durchziehen."
Schliesslich erreichte die Agitation ihr Ziel. Eine der Ein-
richtungen, die am meisten zur Unzufriedenheit der Arbeiter beigetragen
hatten, nämlich, dass die Unterstützung von der Armenadministration zur
Hälfte in Geld und zur Hälfte in Naturalien verabfolgt wurde, wurde
durch eine Verfügung der Centraladministration der Armengesetze
beseitigt, wonach die Unterstützung nur noch in Geld verabfolgt
werden durfte. Vom November an begannen die Behörden in
i) The Manchester Weekly Times, vom 11. Oktober 1862.
\ — 3^5 —
Manchester, der Forderung der Arbeiter gemäss, die obligatorische
Arbeit durch den Unterricht der Arbeiter in eigens dazu errichteten
Schulen zu ersetzen. In diesen Schulen lernten die Arbeiter
Lesen, Schreiben und Rechnen. Evans, der Redner auf dem
Meeting vom lo. Oktober, wurde von den Behörden eingeladen, an
der Organisation solcher Schulen teilzunehmen^). Die Arbeiterinnen
wurden im Nähen unterrichtet; die Gründung von Nähschulen war
zweifellos ein sehr glücklicher Gedanke. Diese Schulen erwiesen der
Bevölkerung einen grossen Nutzen und verbreiteten sich rasch in
ganz Lancashire. Es ist interessant und bezeichnend für die Lebens-
verhältnisse des englischen Arbeiters, dass ein bedeutender Teil der
Arbeiterinnen (nach dem Fabrikinspektor A. Redgrave gegen ein
Drittel) gar nicht nähen konnte. Sie nahmen zum ersten Male in
ihrem Leben die Nadel zur Hand und wussten zuerst gar nicht, wie
sie zu handhaben; sie zogen die Nadel durch das Gewebe, indem sie
sie auf den Tisch drückten. Die Mütter vieler Kinder hatten früher
niemals mit einer Nadel zu thun gehabt. In kurzer Zeit haben sie
aber das Nähen erlernt, und natürlich hat sich diese einfache Kunst
in ihrem Haushalt als sehr nützlich erwiesen.
Bis Ende 1862 nahm die Arbeitslosigkeit zu, und entsprechend
nahm auch die Zahl derer zu, die eine Unterstützung aus der einen
oder der anderen Quelle erhielten , von Armenbehörden oder privaten
Wohlthätigkeitskomitees. Trotz der Arbeitslosigkeit, obwohl alle
Ersparnisse der Arbeiterklasse zu dieser Zeit gänzlich erschöpft waren,
erhielten alle Notleidenden eine Unterstützung, die zwar armselig
war, aber doch genügte, um sie vor dem Hunger zu schützen. Der
verhältnismässig unbedeutende Einfluss des Baumwollhungers auf die
Zunahme der Sterblichkeit in Lancashire ist der beste Beweis dafür,
das von einem „Hunger" im buchstäblichen Sinne des Wortes keine
Rede sein konnte. Es ist interessant, dass die früheren Perioden
einer Geschäftsstockung — die Jahre 1842, 1847 ^^^ 1^57 — von
einer viel stärkeren Sterblichkeit der Bevölkerung begleitet waren.
i) Es ist bezeichnend für die englischen Verhältnisse, dass die Behörden Manchesters sich
mit grosser Achtung über die Thätigkeit Evans aussprachen. In der Sitzung der lokalen Armen-
j behörden am i. Januar 1863 erklärte der Vorsitzende: ,,Mr. Evans, einer der ständigen
il Teilnehmer der Arbeitslosendeputationen während des ganzen vorangegangenen Jahres, ein
Mann von grossen Fähigkeiten und einer von denen, die am entscheidensten eine Unter-
; Stützung seitens des Kirchspiels zurückvi^eisen , der erste, der den Gedanken angeregt hat,
Unterrichtsklassen für die Unterstützungsempfänger zu errichten , hat unlängst von den Armen-
i' behörden den Auftrag erhalten, an der Errichtung der Klassen mitzuarbeiten, und erfüllt
;i mit grossem Taktgefühl und mit Einsicht seine neuen Pflichten." The Manchester Examiner
' and Times vom 2. Januar 1863.
- Зб6 —
obwohl die Arbeitslosigkeit im Jahre 1862, ihrem Umfange nach, beispiel-
los war. Aber gerade der höchst bedeutende Umfang der Arbeitslosig-
keit bewirkte auch, dass man ausserordentliche Hilfsmassregeln er-
griff. Diese Massregeln waren, wie aus dem oben Dargelegten zu
ersehen ist, durch den Entschluss der Lancashirer Arbeiter erzwungen,
die Ruhe und die „Achtung vor dem Eigentum" nur in dem Falle
zu bewahren, wenn die besitzenden Klassen alles Mögliche thäten,
um sie während der Arbeitslosigkeit zu unterstützen.
Der Geschichtschreiber des Baumwollhungers Arnold be-
dauert, dass die Arbeiter es so ansahen, als ob sie eine staatliche
Pension während der Dauer des Baumwollhungers zu erhalten hätten ^j.
Zweifellos betrachteten die Arbeiter die Unterstützung nicht als ein
Almosen, sondern als ihr gutes Recht, das sie bereit waren zu ver-
teidigen. Sie hielten sich durchaus nicht für Paupers und wehrten
sich mit Erfolg dagegen, als Paupers behandelt zu werden. Und
nur w^eil die Arbeiter eine solche Haltung einnahmen, entgingen sie
dem Schicksal, während dieser Zeit thatsächlich zu hungern. Ihre
Ruhe, für die sie von allen Seiten so gepriesen wurden, bedeutete am
allerwenigsten eine Apathie oder eine hoffnungslose Unterwerfung
unter das Schicksal, eine Bereitwilligkeit, alles zu ertragen. Im
Gegenteil, unter dieser Ruhe fühlte man den festen Entschluss der
Arbeiter, ihr Recht auf ein menschliches Dasein mit allen Mitteln zu
schützen, sich ihrer Freiheit, ihrer Unabhängigkeit, ihrer Würde, falls
jemand sie antasten sollte, zu wehren.
Im Dezember 1862 erreichte die Arbeitslosigkeit ihren Höhe-
punkt in Bezug auf die ganze Periode, die wir jetzt betrachten. Am
6. Dezember erhielten in Lancashire und Cheshire 271983 Personen
beiderlei Geschlechts eine Unterstützung seitens der Armenbehörden
und genossen 236310 Personen Unterstützung von privaten Wohl-
thätigkeitskomitees, die in der ganzen von der Not betroffenen
Gegend zerstreut waren (insgesamt waren gegen 170 solcher Komitees
thätig). Während des Jahres 1862 stieg der Prozentsatz der Paupers
von 2,9 auf 13,7 7o ^^^ Gesamtbevölkerung der industriellen Distrikte.
Aber in einzelnen Distrikten war der Prozentsatz der Paupers noch
viel höher. So bildeten die Paupers Ende November im Verhältnis
zur Bevölkerung: in Ashton under Lyne 25^/0, in Preston 20 ^o-
in Manchester 20%, in Blackburn 19^/0 u. s. w. 2). Von den
i) Arnold, 197.
2) Report on Agencies and Methods for Dealing with the Unemployed. London
1893, S. 390.
— Зб7 —
270 Tausend Arbeitern, die von den Armenbehörden eine Unter-
stützung erhielten, arbeiteten nur 12527 in den Arbeitshäusern.
Nach der Berechnung Farnalls hatten die Distrikte, die unter
dem Baumwollhunger gelitten haben, eine Bevölkerung von 1984955;
von dieser Bevölkerung arbeiteten 533959 Personen in Baumwoll-
fabriken oder in Fabriken, die in der einen oder anderen Weise mit
der Baumwollindustrie verbunden waren. Ende Januar waren von
diesen Arbeitern 247230 ganz beschäftigungslos, 165600 arbeiteten
nicht volle Zeit und nur 121 129 hatten volle Arbeit i).
Die Massenarbeitslosigkeit gab den Fabrikanten die Möglich-
keit, die Löhne um 10—20% herabzusetzen. In einer Rede, die er
auf einem Meeting in Chester hielt, eröffnete Gladstone den жЛ.г-
beitern die angenehme Aussicht auf ein weiteres Sinken der Löhne.
Nachdem er der Ruhe der Arbeiter das gewohnte Lob gespendet
hatte, wies Gladstone sie auf die folgende Perspektive hin: „es
ständen ihnen neue Prüfungen bevor. Sie seien aus der Lage von
gut bezahlten Arbeitern in die Lage von Arbeitern, die eine Unter-
stützung vom Kirchspiel erhielten , übergegangen, dabei habe sich
die Achtung vor ihnen nicht nur vermindert, sondern sie sei vielmehr
gestiegen. Er hoffe, dass sie bald wieder aus der Lage derer, die
eine Unterstützung erhielten, in die Lage von gut bezahlten Arbeitern
übergehen würden. Aber das werde nicht mit einem Male vor sich
gehen. Jetzt gestalte sich die Lage des Arbeitsmarktes so, dass die
Unternehmer, oder richtiger diejenigen Unternehmer, die von dem
Sturm, der über sie hinweggebraust, nicht gebrochen seien, genötigt
sein würden, nur niedrige Löhne zu zahlen. Sich mit diesem nied-
rigen Lohne zu begnügen, die Arbeit bei einem gesunkenen Lebens-
niveau wieder aufzunehmen , das werde die neue Prüfung für die
Arbeiter sein. Mögten sie nun diese Prüfung als eine unvermeidliche
annehmen, mögten sie auf die Stimme des Stolzes nicht hören, und
diese Prüfung solle die letzte sein 2)".
Also, den Arbeitern stand eine Prüfung nach der andern bevor,
und als Endergebnis war ein allgemeines Sinken der Löhne auf
längere Zeit vorauszusehen. Die Fabrikanten sollten noch ein Mal
durch den Baumwollhunger Gewinne einheimsen: in der ersten Zeit
des „Hungers" erzielten sie grosse Gewinne durch die Verteuerung
der Baumwolle, und gegen das Ende des Hungers sollten sie durch
das Sinken der Löhne gewinnen. Und die Arbeiter sollten bei alle-
i) Farnalls Report vom 21 Januaiy 1863. App. to Annual Report Poor Law Com.,
s. 55—56.
2) The Manchester Wetkly Times, vom 3. Jan. 1863.
- Зб8 - .
dem, nach der Meinung von Gladstone, eine „mutvolle Ruhe" be-
wahren und die ohnedies schwierige Lage ihrer Unternehmer durch
unmässige Forderungen nicht noch schwerer gestalten.
Indessen waren die Arbeiter selbst anderer Meinung. Entgegen
der Erwartung Gladstones hörten sie „der Stimme des Stolzes".
Schon seit Ende 1862 beginnt unter den Arbeitern eine Bewegung,
die die Fabrikanten nicht wenig erschreckte und erzürnte. Die Ar-
beiter beabsichtigten nicht mehr und nicht weniger als fortzugehen!
Ja, fortzugehen, das undankbare Vaterland zu verlassen und so allen
Prüfungen zu entgehen, deren Ende nicht abzusehen war. Mit grosser
Beunruhigung erfuhren die Lancashirer Fabrikanten aus den offiziellen
Berichten, dass im Jahre 1862 die Zahl der Auswanderer, die sich in
Liverpool einschifften, bedeutend gewachsen war. Und dazu wan-
derten gerade die besten Arbeiter aus, die Aufseher, die Spinner, die
früher hohe Löhne erhalten hatten und einen hohen Stand der tech-
nischen Fertigkeit besassen. Die Fabrikanten erblickten eine unange-
nehme Perspektive vor sich; wenn nun in der That eine Massenemi-
gration der Lancashirer Arbeiter beginnen wollte? Wer wird dann
in den Fabriken arbeiten? Die Arbeit in einer Baumwollfabrik er-
fordert grosse Vorbereitung und Kunstfertigkeit. Die Lanca-
shirer x\rbeiter haben in einer langen Reihe von Generationen diese
Fertigkeit ausgebildet. Sie waren Spezialisten, Virtuosen ihrer Ar-
beit. Ohne sie würden die Spinn- und Webemaschinen ebenso un-
beholfene Massen von Stahl und Eisen sein wie die Dampfkessel
ohne Kohlen.
Mittlerweile erhielt die Emigrationsbewegung eine unerwartete
Unterstützung. Die australischen Kolonien zeigten die grösste Be-
reitwilligkeit, die Lancashirer Arbeiter, denen es in der Heimat so
schlecht ging, aufzunehmen. Im Januar setzte die Provinz Canterbury
in Neuseeland eine Summe von 10 000 Pfund Sterling aus, um die
Auswanderung der notleidenden Arbeiter aus England nach dieser
Kolonie zu fördern. Das gab den Anstoss zu einer allgemeinen
Bewegung der Lancashirer Arbeiter zu Gunsten einer Auswanderung.
Auf einer ganzen Reihe von Meetings nahmen die Arbeiter ein-
stimmig Resolutionen zu Gunsten einer Massenemigration an. Ein
besonders zahlreiches Meeting wurde in Blackburn am 27. Januar
unter dem Vorsitz des Aldermanns von Blackburn Cunningham veran-
staltet. „Die Regierung hat einen Tadel verdient," sagte einer der
Redner, „weil sie die Anstrengungen, die von der Aristokratie und
von den Grundbesitzern im ganzen Lande gemacht werden, um die
Lage derer zu verbessern, die unter der BaumwoUkrisis gelitten
- Зб9 —
haben, gar nicht unterstützt hätte. Die Regierung habe nichts ge-
than, um den Tausenden von Arbeitern zu helfen, die von der
Privatwohlthätigkeit lebten. Es sei die Pflicht der Regierung, in
Perioden eines ausgedehnten Notstandes, wie der heutige, für die
Bevölkerung zu sorgen, selbst wenn das nur durch eine Ueber-
siedelung aller überflüssigen Arbeiter nach den Kolonieen erreicht
werden könnte, wo die Arbeiter Beschäftigung finden könnten."
Einstimmig wurde die folgende Resolution angenommen: „In-
dem die Anwesenden den edlen Anstrengungen aller derer, die zur
Unterstützung der Arbeitslosen mitgewirkt hätten, die schuldige
Anerkennung zu teil werden lassen, fühlen sie sich zugleich ver-
pflichtet, infolge des unbefriedigenden Zustandes der wichtigsten
Industrie am Orte, alle möglichen Mittel zu suchen, um eine be-
deutende Zahl überschüssiger Arbeiter aus diesem Distrikt zu ent-
fernen, was als das wirksamste Mittel gelten dürfe, die Lage der
Arbeiter zu verbessern, sowie die Steuerlast und die iVusgaben der
Hilfskomitees zu vermindern" i).
Zugleich wandte sich das Meeting mit einem Vorschlag an das
Londoner Komitee, eine Auswanderung der Lancashirer Arbeiter nach
den Vereinigten Staaten zu organisieren. Nach der Meinung der
Mitglieder des Meetings konnte in einem halben Jahre die Aus-
wanderung von loooo Arbeiterfamilien aus Lancashire organisiert
werden.
Aber für eine Auswanderung waren vor allem Geldmittel er-
forderlich, über die die verelendeten Arbeiter Lancashires nicht ver-
fügten. Damit die Auswanderungsbewegung einen weiten Umfang
annehme, war eine direkte Unterstützung dieser Bewegung durch
Geldmittel erforderlich. Man könnte voraussetzen, dass es bei den
kolossalen Summen, die zur Unterstützung der Lancashirer Arbeiter
gesammelt wurden (während der ganzen Dauer des „Hungers"
wurden ungefähr 2 Millionen Pfund Sterling an Privatspenden auf-
gebracht) , nicht schwer fallen könnte , einen Fonds für die Aus-
wanderung zu bilden Da die Regierungen der Kolonieen gern einen
bedeutenden Teil der Ausgaben für die Auswanderung der englischen
Arbeiter auf sich nahmen , so genügte eine Summe von einigen
Pfund pro Mann, um den Arbeitern die Möglichkeit auszuwandern zu
geben. Die Erhaltung der Arbeitslosen auf öffentliche Kosten während
vieler Monate war viel teuerer. Und es unterliegt keinem Zweifel,
dass, wenn die Armenbehörden und die Wohlthätigkeitskomitees
i) The Manchester Examiner and Times, vom 28. Jan. 1863.
Tugan-Baran owsky . Die Handelskrisen. ^4
— 370 —
in dieser Angelegenheit sich durch Erwägungen rein finanzieller Art
leiten lassen hätten, sie gern diese Methode, die Last des Unterhaltes
der Arbeitslosen los zu werden, benutzt hätten.
Was die Arbeiter anlangt, so wünschten diese nichts Besseres.
Also sollte man glauben, dass die Organisation der Auswanderung
in weitem Umfang mit grosser Leichtigkeit vor sich gegangen wäre.
Jedoch nichts Derartiges geschah. Trotz der immer wachsenden
Agitation der Arbeiter zu Gunsten einer Auswanderung blieben die
Regierung und die Privatwohlthätigkeitskomitees dieser Agitation
gegenüber völlig taub. Wenn die Auswanderung für die Arbeiter
der beste Ausweg aus einer ganz unerträglichen 'Lage w^ar, so war sie
das Schlimmste, was die Kapitalisten nur befürchten konnten. Dem
Drängen der Arbeiter gegenüber waren die Fabrikanten entschlossen,
alles Mögliche zu thun, um nur die Auswanderung zu verhindern.
In einem Brief an die Redaktion des „Manchester Daily Exa-
miner" (vom 6. Februar 1863) bringt der Sekretär der Cotton Supply
Association, Haywood, eine Berechnung, wonach die Auswanderung
von 50000 BaumvvoUarbeitern für die „Industrie" und für das ganze
Land einem jährlichen Verlust von 4 Millionen Pfund Sterling gleich-
käme. „Vor zwei Jahren," fährt Haywood fort, „war ein Mangel
an Arbeitern in den P'abriken fühlbar. Sobald der amerikanische
Krieg beendigt sein wird, wird jede Spindel und jeder Webstuhl in
Bewegung kommen; und selbst eine partielle Auswanderung würde
dazu führen, dass nicht genug Arbeitshände für die Produktion vor-
handen sein würde." Es wäre viel vorteilhafter für die Nation,
während dreier Jahre alle Arbeiter auf öffentliche Kosten zu unter-
halten, als ihnen die Möglichkeit zu geben, auszuwandern. „Die Aus-
wanderung der Arbeiter fördern hiesse eine im höchsten Masse
selbstmörderische Politik treiben, insbesondere trifft das für die Aus-
wanderung der Spinner zu. Die Auswanderung eines Spinners
führt dazu, dass zehn Hilfsarbeiter arljeitslos werden; es ist viel
schwerer, einem Arbeiter die Fertigkeit beizubringen, auf einer
Spinnmaschine zu arbeiten, als ihn irgend eine andere Fabrikarbeit
zu lehren."
Wir haben gesehen, dass die Haltung der Lancashirer Fabri-
kanten während der ganzen Zeit des ßaumwoUhungers ganz konse-
quent war und den „gesunden Prinzipien der politischen Oekonomie",
wie man damals sagte, vollkommen entsprach. Die Fabrikanten kümmer-
ten sich um ihre Interessen und um nichts weiter. Der Baumwollhunger
brachte ihnen enorme Gewinne und pauperisierte die Arbeiter; trotzdem
.iL
— 371 —
griffen die Fabrikanten, als die Arbeiter sich an sie um Hilfe
wandten, nur mit der grössten Unlust in den Geldbeutel. Jeder
für sich und Gott für uns alle, das war ihre Devise. Aber nun
wollten die Arbeiter auch einmal an sich denken und das Vaterland,
wo sie keine Beschäftigung fanden, verlassen. Da fingen die
Fabrikanten an, zu wehklagen und sich auf das Interesse des Landes
zu berufen. Es stellte sich heraus, dass die Arbeiter nicht das Recht
hätten, das Land zu verlassen, da ohne sie die Fabriken stille stehen
würden. Es stellte sich heraus, dass die Auswanderung fördern
„eine selbstmörderische PoHtik treiben" hiesse. Aber wohin sind
denn die „gesunden Prinzipien der politischen Oekonomie" geraten?
Ist denn die „free trade" nicht das fundamentalste von diesen Prin-
zipien? Waren denn die Arbeiter, indem sie den Wunsch äusserten
auszuwandern, nicht gerade der Regel gefolgt, „ihre Ware auf dem
vorteilhaftesten Markte zu verkaufen"? Warum sollten die Arbeiter
für die Interessen der Fabrikanten sorgen, die eine Erhöhung der
Löhne befürchteten? Warum sollten die Wohlthätigkeitskomitees in
der Auswahl der Form der Hilfe sich nicht durch die gesunde
kommerzielle Berechnung leiten lassen, das grösste Mass von Hilfe
mit der geringsten Summe von Geldmitteln zu leisten, sondern durch
die Rücksicht auf „die bleibenden Interessen des Landes", mit
anderen Worten, der Fabrikanten?
Wir sehen also, wenn es an den Geldbeutel herantritt,
versagt jede Theorie. Die Fabrikanten haben die ernste Gefahr ge-
fühlt, die ihnen von der Auswanderung der Arbeiter drohte, und die
Argumente „der politischen Oekonomie" haben für sie ihre gewohnte
Kraft verloren.
Der citierte Arnold gerät in Entrüstung über den Unverstand
der Arbeiter, die auf eine Förderung der Auswanderung durch die
örtlichen Wohlthätigkeitskomitees (d. h. durch die Fabrikanten)
hofften. „Zu erwarten, dass der Fabrikant, für den die Arbeiter
einen Bestandteil des Kapitals bilden, das in seinen Lancashirer
Fabriken angelegt ist, zu der Entfernung der Arbeiter aus dem
Lande beitragen soll, das ist der Höhepunkt des Unsinns. Wie
Pharao wäre der Fabrikant eher bereit, vieles zu ertragen, als sein
Volk zu entlassen; er würde lieber für dieses Volk die ganze Summe
aufbringen, die für den Unterhalt der Arbeitslosen notwendig ist,
er würde lieber drei- oder viermal mehr Steuern für den Unterhalt
der Armen bezahlen, er würde lieber Baumwolle zu jedem beliebigen
24*
— 372 —
Preise kaufen, um den Arbeitern Beschäftigung in den Fabriken zu
verschaffen" ^).
Zu so extremen Massregeln zu greifen lag übrigens keine Not-
wendigkeit vor. Die Massenauswanderung w^ar ohne Geldhilfe von
ausserhalb unmöglich, der Geldbeutel befand sich aber in den Händen
der Fabrikanten. Man brauchte nur den Geldbeutel geschlossen zu
halten, und die Sache war erledigt.
Alle Versuche der Arbeiter, von den örtlichen Komitees Geld
für die Auswanderung zu erhalten, blieben erfolglos. Die privaten
Komitees weigerten sich entschieden, in irgend einer Form die Aus-
wanderung zu unterstützen. Ebensowenig Bereitwilligkeit, den Armen
zu helfen, zeigten auch die Armenbehörden, obw^ohl es durch Gesetz
gestattet wurde, Beiträge für die Auswanderung der Paupers in der
Höhe von lo Pfund Sterling pro Kopf zu gewähren.
Trotzdem wuchs die Agitation zu Gunsten der Auswanderung
immer mehr an. Die Arbeiter veranstalteten Meetings und reichten
dem Parlament Petitionen in diesem Sinne ein. Ein wenig Geld-
unterstützung erhielt die Auswanderungsbewegung von den Kolonieen.
An Neu-Seeland schlössen sich Victoria und Queensland an; jede von
diesen Kolonieen setzte je 5000 Pfund Sterling zu diesem Zwecke aus.
Die Kolonialagenten versuchten mehrfach, das Manchester Central Execu-
tive Comitee zu veranlassen, einen Teil seiner Geldmittel für die Aus-
wanderung auszusetzen. Das Komitee weigerte es entschieden; es
wusste, wie Arnold bemerkt, dass, „wenn es darauf einginge, es sich
in direkten Widerspruch zu den Wünschen fast aller Spendeleister
am Orte setzen würde ■^)".
Mittlerweile begannen die Arbeiter sich etwas schlechter auf-
zuführen. Man hatte zu sehr ihre Vernunft und Ruhe ge-
lobt. Ende März 1863 fanden in einer ganzen Reihe von kleinen
Fabrikstädtchen Lancashires ernsthafte Unruhen statt. Die Unruhen
begannen in der Stadt Staleybridge und wurden dadurch hervor-
gerufen, dass das örtliche Wohlthätigkeitskomitee die Unterstützung
von 3 Schilling 4 d. pro Kopf in der Woche auf 3 Schilling herab-
setzte und zugleich die Unterstützung, die bisher in Geld angewiesen
wurde, zum Teil in Naturalien verabfolgte. Diejenigen, die eine Unter-
stützung erhielten, weigerten sich entschieden, dieselbe in geringerem
Umfange anzunehmen, gingen auf die Strasse, verjagten die Polizei
und plünderten die Geschäftsräume des Komitees. Die Häuser, in
1) Arnold, 343—344.
2) Arnold, 389.
— 373 —
denen die Mitglieder des Komitees wohnten, mussten ein wahres
Bombardement von Steinen über sich ergehen lassen. Die Menge
nahm vollkommen von der Stadt Besitz und plünderte viele Läden
hauptsächlich die von Nahrungsmitteln. Gegen Abend wurde Militär
in die Stadt citiert, aber nicht in genügender Anzahl. Die Unruhen
erneuerten sich während der folgenden Tage und kamen hauptsäch-
lich in der Plünderung von I.äden zum Ausdruck. Erst als Ver-
stärkung anlangte, gelang es dem Militär, nach einigen Kavallerie-
attacken die Strassen der Stadt zu säubern und die Ordnung wieder
herzustellen.
Aehnliche Unruhen fanden auch in anderen Städten statt. Die
Menge plünderte die Läden, warf nach der Polizei mit Steinen. Die
Bewegung war nicht organisiert und verfolgte kein bestimmtes Ziel
(nur in Staleybridge trugen die Unruhen den Charakter eines Pro-
testes gegen die Handlungen des Wohlthätigkeitskomitees), sie zeigte
nur die Gährung in der Masse der Arbeitslosen , deren Geduld
erschöpft zu sein schien.
Diese Ereignisse beunruhigten natürlich die öffentliche Meinung
und die Auswanderungsfrage wurde in der Presse und in den
I Komitees mit grösserer Leidenschaftlichkeit als je zuvor diskutiert.
Die Arbeiter fuhren fort, dem Parlament und den Wohlthätigkeits-
komitees Petitionen um Unterstützung der Auswanderung einzureichen.
Einige Hundert Arbeiter Blackburns wandten sich mit derselben
Bitte an das Centralkomitee in London, indem sie ihre Bereitwillig-
keit auszuwandern erklärten. Das Londoner Komitee war überhaupt
viel unabhängiger vom Einflüsse der P^abrikanten als die Komitees in
Manchester. Viele von den Mitgliedern desselben drangen darauf,
dass man sofort zur Unterstützung der Auswanderung der Arbeiter
5000 Pfund Sterling anwiese. Andere Mitglieder des Komitees waren
dagegen. Nach ihrer Meinung musste „eine bedeutende Auswanderung
von Leuten, die in der wichtigsten Industrie Lancashires und Che-
shires beschäftigt sind, notwendigerweise der Bevölkerung dieses
Teiles des Landes einen ernsten und dauernden Schaden zufügen" i).
Zu einem endgiltigen Beschluss kam das Komitee nicht.
Sofort nach den Unruhen in Staleybridge erschien in den Times
ein interessanter Brief des bekannten christlichen Sozialisten Kings-
ley. „Was geschehen musste", schrieb Kingsley, „ist geschehen.
Die Lancashirer Arbeiter fingen an, die Unterstützung als ihr Recht
zu betrachten, und es entstanden Unruhen. Wie ist nun der Sach-
i) Manchester Weekly Times, vom 28 March 1863.
— 374 —
verhalt? Der amerikanische Krieg ist nicht beendet und nähert sich
auch nicht seinem Ende; die Baumwolle wird nicht in das Land im-
portiert, der Arbeitsmarkt in Lancashire muss einige Jahre hindurch
überfüllt bleiben. Die Fabrikanten sind geneigt, diese Ueberfüllung
auszunutzen, um die Löhne herabzusetzen, wenn die Arbeit wieder
beginnt, und widersetzen sich daher der Auswanderung der Arbeiter.
Sie haben natürlich das Recht, die Ueberfüllung des Marktes in
ihrem Interesse auszunutzen und die Arbeiter in England zu halten,
aber natürhch auf ihre eigenen Kosten. Sie haben nicht das Recht,
das auf fremde Kosten zu thun. Ich bitte die englische Gesell-
schaft, den Hilfskomitees ein für alle Mal es zu verstehen zu geben,
dass sie ein solches Verhalten nicht zulassen w^erde, dass sie es nicht
erlauben werde, dass sich die Spenden gegen diejenigen wenden, für
die sie gegeben worden sind; dass sie alles Mögliche thun werde, um
die Lage des Arbeitsmarktes in Lancashire zu erleichtern, indem sie
den Arbeitern die Möglichkeit geben wird, nach den Kolonieen aus-
zuwandern . . . Wenn aber die P'abrikanten Arbeitshände brauchen,
so können sie diese aus Irland beziehen, wie sie das schon des (■)fteren
zu ihrem grossen Vorteil gethan haben i)."
Die Arbeitslosenunruhen dauerten fort. Ende April wiederholten
sich in Preston dieselben Scenen in geringerem Umfang wie in
Staleybridge. Diesmal war die Bewegung nicht gegen ein Wohl-
thätigkeitskomitee, sondern gegen die lokalen Armenbehörden ge-
richtet. Die Arbeiter weigerten sich, die Arbeit auszuführen, die ihnen
die Behörden verschrieben, sie veranstalteten einige Tausend Mann
stark einen Umzug in der Stadt, plünderten einige Läden und bom-
bardierten mit Steinen die Häuser, wo die ihnen unangenehmen
Mitglieder der Administration wohnten. Es wurde MiHtär herbeige-
rufen, aber es kam nicht zu einem Zusammenstoss mit demselben.
In Stockport und Wigan wurden seitens der Arbeiter auch
Versuche gemacht, Unruhen hervorzurufen, aber es kam nur zu Pro-
testumzügen in den wStrassen der Stadt und zu einigen eingeworfenen
Fenstern. Das alles zeigte, dass die Gärung unter den Arbeitern
immer zunahm; das Parlament musste endlich seine Aufmerksamkeit
darauf lenken.
Mit der Vertretung ihrer Interessen im Parlament betrauten die
Arbeiter den Abgeordneten Ferrand, einen Tory, der sich ener-
gisch an der Durchsetzung des Zehnstundengesetzes beteiligt hatte.
27 Delegierte der Arbeiter von Lancashire und Cheshire begaben sich
I) Manchester Weekly Times, vom 4 April 1863.
— 375 —
zu Ferrand mit der Bitte, im Parlament die Frage der Hilfsmass-
nahmen für die Arbeiter aufzurollen.
Ferrand versprach den Arbeitern, sie zu unterstützen, und löste
sein A^ersprechen ehrlich ein. Seine in der Sitzung vom 27. April
zur Verteidigung der Arbeiter gehaltene Rede war ein wahrer An-
klageakt gegen die Fabrikanten. Ferrand wies darauf hin, dass die
Arbeiter keine Vertreter im Parlament hätten, daher sei das Parlament
verpflichtet, sich mit um so grösserer Aufmerksamkeit ihren Interessen
zuzuwenden.
Ferrand erinnerte das Parlament an so viele charakteristische
Thatsachen aus der Geschichte der Fabrikarbeit in England. Die
Lancashirer Fabrikanten zeigten durchaus nicht zum ersten Mal die
Neigung, ihre Arbeiter wie Sklaven zu behandeln. Anfang der 30er
Jahre hätten die Baumwollfabriken ihre Produktion so erweitert, dass
ein Mangel an Arbeitern eingetreten würde. Was hätten nun die Fabri-
kanten gethan? Sie hätten sich an die Administration der Armengesetze
mit dem Vorschlag gewendet, dass die Kirchspiele die „überschüssige
Bevölkerung" der landwirtschaftlichen Distrikte nach Lancashire zum
Arbeiten in den Fabriken versetzen möchen. Mit Einwilligung der
Administration würden zu diesem Zwecke spezielle Agenten einge-
setzt. In Manchester würde ein spezielles Bureau eingerichtet, in
dem die Verzeichnisse der Arbeitslosen in den landwirtschaftlichen
Distrikten mitgeteilt würden. Die Fabrikanten hätten sich an dieses
Bureau gewendet und die Arbeiter nach ihrem Belieben gewählt. Die Ar-
beiter würden dann wie Vieh nach Manchester transportiert. Die Sache
hätte den Charakter eines wahren Handelsgeschäftes. „Dem Parlament
werde es schwer fallen, es zu glauben" — sagte Ferrand — „er versichere
aber, dass dieser Handel mit Menschenfleisch geblüht hätte: die Ar-
beiter würden ebenso regelmässig den Fabrikanten verkauft, wie die
Sklaven den Plantagenbesitzern in den Vereinigten Staaten verkauft
würden, nur mit dem Unterschiede, dass sie nicht versteigert würden."
Und noch vor kurzer Zeit, im Jahre 1861, am Vorabend des Baum-
wollhungers, sei eine Fabrikantendeputation nach London gekommen
und hätte, sich an Villiers mit der Bitte gewendet, die Kinder der
Paupers für die Lancashirer Fabriken benutzen zu dürfen. Villiers hätte
geantwortet, dass er die Anschauungen der Deputation vollkommen teile
und nicht daran zweifele, dass ihr Vorschlag für die armen Kinder so-
wohl wie für die Armenbehörden im höchsten Grade von Nutzen sei.
„Er wolle die Lancashirer Arbeiter," fuhr Ferrand fort, „nicht
über ihr Verdienst loben. Er denke, dass es dieselben Leute seien
wie in den Jahren 1841, 1842 und 1848. Wenn ein Aufruhr be-
- 376 -
ginne, könne niemand seiner Herr werden, und das Parlament wisse,
dass es einen Aufruhr riskiere . . . Die Arbeiter würden gerne
für einen ausreichenden Lohn eine Arbeit annehmen , aber sie
wollten nicht in der Lage der Paupers sein; sie wollten nicht
4— 6 Stunden täglich für einen Bettellohn arbeiten. Sie wollten wie
Engländer behandelt werden . . . Man könne nicht erwarten, dass
Fabrikaufseher und geschickte Arbeiter, die früher hohe Löhne er-
halten hätten, die Reinigung v^n Strassen, Kanälen und Wasserleitungen
gerne übernehmen. Sie bitten, dass man ihnen helfe auszuwandern,
und er hoffe, dass der edle Lord (der Premier-Minister Palmerstone)
sich ihren Bitten gegenüber wohlwollend verhalten würde ... Er
rate den Baumwollfabrikanten, sich mit der Bill, betreffend den
8 stündigen Arbeitstag, einverstanden zu erklären. Wenn sie das
thun würden, werde man zweifellos viele P'abriken öffnen können, die jetzt
geschlossen seien . . . Die Fabrikanten sagten, das Land habe kein
Recht, von ihnen ein Teilchen ihres Kapitals, ihrer Maschinen, ihrer
Fabriken zu verlangen. Aber sie müssten sich daran erinnern, dass
sie selbst während der letzten zwanzig Jahre verlangt hätten, dass viele
Industriezweige ihnen zum Opfer gebracht würden. Und das würde
erfüllt; es würde ihnen die Seiden- und die Bandindustrie zum Opfer
gebracht und viele Handge werbe . . . Der verehrte Vertreter Roch-
dales (Cobden) hätte wiederholt an diesem Orte während der Beratung
der Korngesetze versichert, er trete für das Recht des Arbeiters ein,
über seine Arbeit nach seinem Gutdünken zu verfügen. Er hätte gesagt:
„Ihr habt nicht das Recht, den Arbeiter zu binden. Er hat eben-
so ein Recht auf PVeihandel mit seiner Arbeit, wie wir das Recht
des Freihandels mit unseren baumwollenen Waren haben." Schön,
sie verlangten jetzt den Freihandel für ihre Arbeit. Sie verlangten,
dass man ihnen erlaube fortzugehen. Aber das Parlament wisse,
dass sie zu arm seien, um ohne fremde Hilfe fortzugehen. Ohne
Hilfe des Parlaments hätten sie nicht die Mittel, um fortgehen zu
können" ^).
Alle diese Argumente haben auf die Regierung sehr wenig
Eindruck gemacht. Sie lehnte entschieden jedwede Unterstützung
der Auswanderung ab, drückte aber die Bereitwilligkeit aus, sofort
der Organisation von öffentlichen Arbeiten in weitem Umfange näher
zu treten, die arbeitslosen erwachsenen Männern in Baum wollbezirken
Beschäftigung für guten Lohn geben könnten. Villiers erklärte,
die Regierung werde sofort in die Notstandsdistrikte einen speziellen
I) Hansards Parliamentary Debates, Vol. CLXX.
— 377 —
Bevollmächtigten senden (den Ingenieur Rawlinson), der an Ort
und Stelle untersuchen solle, welcher Art Arbeiten vorgenommen
werden könnten; nach Einholung des Berichtes versprach die
Regierung, sofort dem Parlament eine Bill über die öffentlichen
Arbeiten vorzulegen.
In der That brachte die Regierung schon im Juni eine Bill ein,
die sie ermächtigte, einen Kredit in der Höhe von i 200000 Pfund
Sterling (später wurde diese Summe auf i 850000 erhöht) aus den
Mitteln der Staatskasse den Munizipalbehörden der Baum wollbezirke
zu eröffnen zum Zwecke der öffentlichen Arbeiten. Die Bill ging
ohne wesentliche Opposition durch. С ob den verteidigte die Bill und
bekämpfte die Auswanderung, indem er sich darauf berief, dass die
Auswanderung von schweren Folgen für die Arbeiter selbst begleitet
sein Avürde. (Aber die Arbeiter waren ja erwachsene Männer, sie
standen für ihre Handlungen voll ein und konnten selbst darüber
entscheiden, ob sie auswandern sollen oder nicht!) Ferra nd beharrte
dabei, dass die öffentlichen Arbeiten ungenügend seien und verlangte
eine Organisation der Auswanderung von 100 000 Personen, d. h. von
etwa einem Viertel der Arbeitslosen. „Die Arbeiter selbst," erklärte
er bei der zweiten Lesung der Bill am 26. Juni, „seien heute der-
massen bestrebt auszuwandern, dass, wenn genügend wSchiflfe für die
Auswanderung \^rhanden wären, die gesamte Fabrikbevölkerung
jenseits des Oceans fliehen würde. Wer könnte es wagen, die un-
bestreitbare Thatsache zu leugnen, dass die Arbeiter auswandern
wollten? Wer widersetze sich aber diesen Wünschen? Die Herren
Villiers und С ob den, dieselben Herren, die früher Führer der Liga
zur Abschaffung der Korngesetze gewesen wären und die heute die Inter-
essen der Fabrikanten verteidigten, welche miteinander festen Bund ge-
schlossen hätten, um die Auswanderung zu verhindern! Die Arbeiter
seien des Hungers und der Armut müde, sie erbitten, um auswandern
zu können, nur eine einzige Million von den vielen Millionen, die,
wie vor kurzer Zeit der Finanzminister (Gladstone) rühmend hervor-
gehoben hätte, in den letzten Jahren durch ihre Arbeit dem Reichtum
des Landes hinzugefügt worden seien."
Die anderen konservativen Abgeordneten haben diese Gelegen-
heit benutzt, um ihre alten Kämpfe mit den Freihändlern zu erneuern.
Der Abgeordnete Bentinck wiesineiner langen Rede darauf hin, dass die
Versprechungen der Free-Traders nicht in Erfüllung gegangen seien und
dass der Freihandel ein grausames Fiasko erlitten habe, da das Parlament
jetzt über die Frage der Unterstützung der Fabrikbevölkerung be-
raten müsse, die eine beispiellose Not leide: „Die grossen Fabrikanten
- 378 -
Lancashires," sagte Bentinck, „seien gegen diese Auswanderung,
weil eine solche, nach ihrer Meinung, im Falle einer Belebung der
Baumwollindustrie, einen Mangel an Arbeitern hervorrufen würde.
Andererseits, behaupteten Leute, die mit der Sache besser vertraut
seien, dass die Auswanderung für die Arbeiter das einzige Rettungs-
mittel sei"i).
Zu Gunsten der Auswanderung sprach sich auch Adderley
aus, aber die Annahme der Regierungsvorlage wurde durch diese
Opposition nicht verhindert. Indessen, während im Parlament über
die Frage der Unterstützung der Lancashirer Arbeiter verhandelt
wurde, fing der Notstand an, sich ohne Hilfe von irgend einer Seite
zu vermindern; obwohl die Blockade der südlichen Staaten fortdauerte,
obwohl die amerkanische Baumwolle, wie früher, für den englischen
Fabrikanten beinahe unzugänglich war, nahmen viele Baumwoll-
fabrikanten die Arbeit wieder auf, indem sie die amerikanische
Baumwolle durch indische, ägyptische und andere Sorten ersetzten,
deren Zufuhr um ein Mehrfaches zunahm. Die schwerste Zeit war
vorbei. Im Sommer 1863 erhielten bereits gegen die Hälfte der
Baumwollarbeiter wieder Arbeit in den Fabriken. Die öffentlichen
Arbeiten, die im Herbst' begannen, konnten keine grosse Bedeutung
für die Verminderung der Arbeitslosigkeit haben, da sie nur einigen
Tausend Personen Arbeit gewährten. Trotzdem sank die Zahl der
Personen, die öffentliche Unterstützung erhielten, wie das aus den
folgenden Zahlen zu ersehen ist:
Anzahl der Personen, die regelmässig unterstützt wurden-):
Januar 456 786
Februar 440 529
März 426 411
April 364419
Mai 294 281
Juni 256 230
September 184 625
Dezember 180 900 1
Der Baumwollhunger nahte sich seinem Ende. Es ist interes-
sant, dass die Ausgaben für die Unterstützung der Arbeitslosen
hauptsächlich durch private Spenden gedeckt waren. Bis zum
30. Juni sind private Spenden in der Höhe von insgesamt 1974203
Pfund Sterling gesammelt worden; die Mehrausgaben für den Unter-
halt der Armen in den. Baumwollbezirken erreichten aber in derselben
Zeit ungefähr 625000 Pfund Sterling. Der bei weitem grössere Teil
i) Hansards Parliamentary Debates, Vol. CLXX.
2) Annual Register 1863. The Distress in tlie Cotton Manufacturing Districts.
— 379 —
von Privatspenden wurde ausserhalb der Baumwollbezirke gesammelt,
in diesen letzteren hatte die Subskription insgesamt 626433 Pfund
Sterling ergeben ^).
Die öffentlichen Arbeiten begann man zu einer Zeit, wo das
grösste Bedürfnis nach ihnen schon vorbei war. Die Arbeiten be-
standen hauptsächlich in der Durchlegung und Pflasterung neuer
Strassen, in der Anlage von Kanälen und Wasserleitungen, in dem
Bau von Parkanlagen u. s. w. Besonders achtete man darauf, dass,
indem man den Arbeitslosen Beschäftigung verschaffte, doch nichts
unternommen wurde, was den betreffenden Gegenden nicht zugleich
zu gute kam. Und wie es scheint, wurde diese Aufgabe mit vollem
Erfolge gelöst. Nach allgemeiner Anerkennung haben sich die
öffentlichen Arbeiten in Lancashire, die erst im Jahre 1866 abge-
schlossen wurden, als sehr nützlich für das Land erwiesen. Die
Geldmittel, die für diese Arbeiten vom Staate verausgabt worden
waren, wurden von den Gemeinden, die es geliehen bekommen
hatten, pünktlich zurückbezahlt. Im ganzen haben sich an diesen
Arbeiten 8324 Arbeiter beteiligt, die mit ihren Familien eine Be-
völkerung von 30 — 40000 Personen repräsentierten.
Der Leiter der öffentlichen Arbeiten, Rawlinson, sagt von
diesen: „vSie haben einigen Tausenden nüchterner und energischer
Leute eine nützliche Beschäftigung verschafft. Viele von diesen Leuten
haben neue Arbeiten erlernt und sind, dank der Arbeit unter freiem
Himmel, gesunder und stärker geworden. Manche sind zu ihrer
früheren Beschäftigung zurückgekehrt, viele sind nach anderen
Gegenden ausgewandert und finden einen Erwerb durch Arbeit
ausserhalb des Fabrikgebäudes, andere fahren hier am Orte mit ihrer
neuen Arbeit fort und wollen nicht mehr in die Fabrik zurück-
kehren" 2).
Obwohl die akute Periode des Baumwollhungers im Jahre 1863
beendigt war, dauerte die Abeitslosigkeit doch noch viele Monate
fort. Zum Sommer 1864 erhielten noch immer mehr als 100 000 Per-
sonen eine Unterstützung seitens der Armenbehörden.
Es ist höchst wahrscheinlich, dass, wenn vom ^Sommer 1863 an
die Arbeitslosigkeit unter dem Einflüsse der Wiederaufnahme der
Fabrikarbeiten keine Einschränkung erfahren hätte, die Lancashirer
Arbeiter eine Organisation der Auswanderung in grossen Stil vom
Parlament erzwungen haben würden. Die öffentliche Meinung
i) Arnold, 493, 98.
2) Report of Robert Rawlinson vom 12. June 1866.
■ — з8о -
neigte sich der Auswanderung zu als dem einzigen Mittel, ernst-
haften Unruhen in Lancashire vorzubeugen. Das Londoner
Komitee, das unter dem Vorsitze des Lord Mayors tagte,
bewilligte schliesslich 5000 Pfund Sterling, die als Anfang eines
speziellen Auswanderungsfonds dienen sollten. Einige Tausend
Fabrikarbeiter wurden mit Hilfe von Kolonialagenten aus Lancashire
nach verschiedenen australischen Kolonieen geschickt. Aber einen
grossen Umfang hat die Emigrationsbewegung aus Lancashire nicht
angenommen, weil die Lancashirer Fabriken endlich ihre Thüren
öffneten, die Maschinen wieder in Bewegung kamen und die Arbeiter
wieder Zutritt zur Arbeit erhielten, die ihnen so lange Zeit vorent-
halten gewesen war. Die Fabrikanten wurden von dem schreck-
lichen Alpdruck des „Massenausgangs" der Arbeiter, der sie viele
Monate lang bedrückt hatte, befreit, und alles begann nun allmählich
wieder in das frühere Geleis zurückzukehren. Die Zahl der Aus-
wanderer aus dem Vereinigten Königreich wuchs im Jahre 1864 im
Vergleich zu dem vorangegangenen Jahr sehr stark (im Jahre 1863
betrug die Gesamtzahl der aus dem Vereinigten Königreich aus-
gewanderten britischen Unterthanen 97763, im Jahre 1864 aber
192864), jedoch diese Zunahme der Auswanderung wurde nur in un-
bedeutendem Masse durch die Zunahme der Auswanderung der
Lancashirer Fabrikbevölkerung hervorgerufen. Es hat nämlich nach
einer von dem Unterstützungskomitee in Manchester angestellten
Berechnung die in der Lancashirer Baumwollindustrie beschäftigte
Arbeiterbevölkerung im Jahre 1863 um 33969 abgenommen, wobei
18244 ausgewandert oder nach anderen Gegenden des Landes über-
gesiedelt sind und 15725 eine andere Beschäftigung am Orte gefunden
haben. Das bedeutende Wachstum der Auswanderung im Jahre 1863
findet seine Erklärung hauptsächlich in der ausserordentlichen Zu-
nahme der irischen Auswanderung, wie das aus einem Ueberblick
über die Nationalität der Auswanderer, die sich in Liverpool ein-
geschifft haben, zu ersehen ist^).
1862 1863
Engländer 13 185 28 548
Schotten 830 3 176
Iren 22418 61312
36 433 93 036
Aber selbst die unbedeutende Auswanderung der Baum-
wollarbeiter, die stattfand, ist nicht ohne einen gewissen Einfluss auf
den Arbeitsmarkt in den Baum wollbezirken geblieben. Schon im
i) Reports of Inspectors of Factories, 31. Oct. 1863, S. 93.
- 38i -
Jahre 1865 wurden aus vielen Gegenden Klagen der Fabrikanten
über einen Mangel an Arbeitern und über die Notwendigkeit, die
Löhne zu erhöhen, laut. So teilt der Fabrikinspektor Jones in diesem
Jahre mit: „Als Hauptursache des Mangels an Arbeitshänden (in Bol-
ton) kann man die Auswanderung aus Bolton betrachten, die zur
Zeit des Beginns der Panik stattgefunden hat . . . die Löhne stiegen
überall, ohne dass sich die Unternehmer dem sehr widersetzten". In
Stockport war gleichfalls ein Mangel an Arbeitern fühlbar, und die
Unternehmer mussten die Löhne erhöhen. Aus Burnley wurden auch
Mitteilungen über Lohnerhöhungen gemacht u. s. w. ^).
Die Arbeiter waren also der neuen „Prüfung" entgangen, die
ihnen ihr guter Freund Gladstone vorausgesagt hatte, und die in
der Geschichte Englands beispiellose Arbeitslosigkeit, die durch den
Baumwollhunger hervorgerufen war, hat nicht zu einem dauerndem
Sinken der Lebenshaltungen des Lancashirer Arbeiters geführt.
i) Reports of Inspectors of Factories, 30 Apr. 1865, S. 19 — 20.
KAPITEL IV.
Die neuesten Arbeitslosenbewegungen.
Die Arbeitslosigkeit in den 70 er Jahren. — Die Streiks der Baumwollarbeiter im
Jahre 1878. — Der Rückgang des Trade Unionismus. — Neue Richtungen in der Arbeiter-
bewegung Englands seit den 80er Jahren. — Die Arbeitslosigkeit in der 80er Jahren. —
Die Agitation der ,, Sozial-demokratischen Federation". — Die Unruhen in London am
8. Februar 1886. — Die Steigerung des Einflusses der „Sozial-demokratischen Federation".
— Die Arbeitslosenmeetings auf dem Trafalgar Square. — Der „blutige Sonntag". — Die
Arbeitslosigkeit in den 90 er Jahren. — Die Arbeitslosenmeetings. — Die öffentlichen
Arbeiten. — Die Streiks. — Die Arbeitslosenzählungen.
Die Arbeitslosigkeit der 70er Jahre, die ihren Höhepunkt in den
Jahren 1878 — 1879 erreichte, hat keine bedeutende Arbeitslosenbe-
wegung hervorgerufen. Trotzdem zeugte der Verlauf der Streiks
in Lancashire im Jahre 1878 von einer Gärung und bedeutenden
Erregung der Volksmassen unter dem Einfluss des lange andauernden
Notstandes. So haben in Blackburn Anfang Mai jenes Jahres ernste
Arbeiterunruhen in den Baumwollfabriken stattgefunden, als Folge
eines unglücklichen Streiks, der durch die Ankündigung einer Herab-
setzung der Löhne seitens der Unternehmer herbeigeführt wurde.
x\ls es sich herausstellte, dass die Unternehmer die von den Ar-
beitern aufgestellten Bedingungen nicht annehmen wollten, stürzte
sich ein Haufen von einigen Tausend Arbeitern auf die Fabriken
und schlug deren Fenster ein. Das Haus eines Fabrikanten, des
Vorsitzenden der örtlichen Fabrikantenassociation , wurde verbrannt.
Die Polizei konnte mit den Streikenden nicht fertig werden , sie
musste Militär zu Hilfe rufen. In einer anderen Lancashirer Stadt,
in Burnley , wurde gleichfalls ein Laden verbrannt , im Flecken
Oswaldtwhistle überfielen die Arbeiter das Haus eines Fabrikanten,
und die Polizei gab Feuer, wobei 5 Mann verwundet wurden.
Der Riesenstreik der Baumwollarbeiter im Jahre 1878 ist auch
dadurch bemerkenswert, dass in ihm der Gegensatz im Verhalten der
Arbeiter und der Unternehmer den Krisen gegenüber mit Klarheit
- 383 -
zum Ausdruck kam. Die Arbeiter willigten nämlich in eine Herab-
setzung der Löhne ein, aber nur unter der Bedingung, dass die Ar-
beit in den Fabriken auf 4 Tage in der Woche beschränkt werde.
Die Einschränkung der Produktion war nach der Meinung der Ar-
beiter notwendig, um den Markt von einer Ueberfüllung mit unver-
kauften Waren zu bewahren. Dagegen beharrten die Fabrikanten
auf einer Herabsetzung der Löhne ohne jedwede Einschränkung der
Produktion, da sie bei einer Einschränkung der Produktion durch
das müssig stehende Kapital Schaden litten. Die Arbeiter erliessen
im Juni 1878 ein Manifest, in dem sie unter anderem das Folgende
erklärten: „Die Unternehmer schlagen eine Lohnreduktion bis zum
Belauf von 10% ^^^- Wir auf der anderen Seite haben behauptet,
dass eine Reduzierung der Lohnsätze weder die überschüssigen Stoffe
vom Markt hinwegräumen noch uns über die Schwierigkeit hinw^eg-
helfen könne, die aus der begrenzten Zufuhr des Rohmaterials er-
wachsen. Indes dies war die Theorie der Unternehmer, und wir
haben in verschiedenen Phasen des Kampfes die folgenden Vor-
schläge gemacht, als Basis für die Schichtung dieses höchst unheil-
vollen Kampfes: i. Eine Lohnreduzierung von 10% bei 4 Tagen Ar-
beit die Woche, oder von 5 ^Д bei einer Arbeitswoche von 5 Tagen,
bis die Ueberfüllung des Tuchmarktes und die durch den Baumwoll-
mangel hervorgerufenen Schwierigkeiten hinweggeräumt sind"^).
Die Arbeitslosigkeit war so stark, dass im Dezember 1878 in
j Manchester allein gegen 40000 Personen von einem privaten Hilfs-
I komitee Unterstützung erhielten. Aehnliche Komitees bildeten sich
in Liverpool, Bristol, Exeter, Wolverhampton, Southampton, Birken-
head, Ashton (under Lyne) und anderen Städten. In Cheadle und
Congleton war mindestens die Hälfte der Arbeiter beschäftigungslos,
und die Mehrzahl der übrigen arbeitete nicht volle Zeit. Im südlichen
Staifordshire und im östlichen Worcestershire arbeiteten nur 40 von
160 Hochöfen und 130 Eisenfabriken standen still"^). Sidney und
Beatrice Webb sagen, dass „die Jahre 1878 — 1880 in fast allen Ge-
werben eine grosse Zunahme in der Zahl der Streiks sahen, von denen die
meisten mit völliger Niederlage der Arbeiter endigten. Einschneidende
Lohnreduktionen erfolgten in allen Industrieen ^)". Das Sinken der
Löhne wurde nicht selten von Лпег Verlängerung des Arbeitstages
begleitet. Einige Hundert Gewerkschaften hörten auf zu existieren,
i) Sidney und Beatrice Webb, Die Geschichte des Britischen Trade-Unionismus.
j Deutsch von R. Bernstein, S. 291.
2) Annual Register, 1878.
3) Die Geschichte der Britischen Irade-Unionismus, S. 293.
- 384 -
weil sie nicht imstande waren, ihren arbeitslosen Mitgliedern Unter-
stützung zu gewähren. „In der That markierte das Jahr 1879 so
ausgesprochen den Tiefstand der Gewerkschaftsbewegung, wie die
Jahre 1873 und 1874 die Hochflut der Prosperität bezeichnet hatten.
Die ökonomischen Prüfungen, die der Trade-Unionismus 187g durch-
machte, können nur mit denen verglichen werden, die er in den Jahren
1839 — 1842 überstehen musste i)".
Aber wie schwer die Leiden auch gewesen waren, die von den
englischen Arbeitern Ende der 70er Jahre ertragen wurden, so haben
sie doch keine politische Bewegung unter den englischen Arbeitern
hervorgerufen. Die 70er Jahre waren nach Sidney und Beatrice
Webb die Zeit der vollständigen Herrschaft des Liberalismus in
den Köpfen der englischen Arbeiter. Der englische Arbeiter war
von dem Glauben an die Unfehlbarkeit des Prinzips des laisser-faire
auf dem politischen wie auf dem sozialen Gebiete durchdrungen. Die
industrielle Depression der 80 er Jahre machte diesem Glauben ein
Ende. Seit dieser Geschäftsstockung beginnt eine neue Epoche in
der Geschichte der englischen Arbeiterbewegung.
„Vor 10 Jahren," schrieben Sidney und Beatrice Webb im
Jahre 1894, „waren alle Beobachter darin einig, dass die Trade-Unions
von Grossbritannien einen undurchdringlichen Schutzwall gegen die
sozialistischen Pläne bilden, würden. Heute finden wir die ganze
Trade-Unionswelt von kollektivistischen Ideen durchsetzt und, wie die
„Times" feststellt, die Gewerkschaftskongresse von der sozialistischen
Partei beherrscht. Diese Revolution in den Ansichten ist das Haupt-
ereignis in der Gewerkschaftsgeschichte der jüngsten Zeit 2)".
Und zwar hat diese Revolution zur Zeit der Geschäfts-
stockung der 80 er Jahre stattgefunden. Unter den rein ideellen Ein-
flüssen schreiben Sidney und Beatrice Webb dem Buche Georges
„Fortschritt und Armut" eine besondere Bedeutung zu. Der Einfluss
dieses Buches wurde noch verstärkt durch die persönliche Agitation
Georges während seines Aufenthalts in England in den Jahren
1884— 1885.
Am 17. Januar 1885 versammelten sich auf dem Platze vor der
Londoner Börse gegen 2000 Personen, um Henry George zu hören,
der versprochen hatte, ein Mittel zu zeigen um die Arbeitslosigkeit
zu bekämpfen. Die Rede Henry Georges war ebenso geistreich und
schön wie alles, was er sprach und schrieb. „Es ist darauf hingewiesen
i) A. a. o., S. 295.
2) A. a. O., S. 318.
- 385 -
worden — sagte er — dass gegen ein Siebentel der Erdkugel
der britischen Flagge unterthan ist. Das ist wahr, doch werde ich
sagen, wie Tiberiiis Gracchus den Römern vor 2000 Jahren gesagt
hatte: „Männer Roms, man nennt Euch Gebieter der ganzen Welt,
und doch giebt es keinen .einzigen Zoll Erde, den Ihr Euer Eigen
nennen könntet!" Was für Rechte haben sie in England? (Zurufe
aus der Menge: „gar keine!") Ja, gar keine, ausser dem Rechte, sich
selbst Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr zu verkaufen.
Dieses Meeting ist zusammengetreten, um Klarheit über die Frage
der Geschäftsstockung zu gewinnen. Es ist die Zeit gekommen, wo
die Leute auf den Strassen und in den Werkstätten dieser P>age
ihre Aufmerksamkeit zuwenden und sich mit ihr beschäftigen müssen.
Man darf sie nicht den königlichen Kommissionen, den gelehrten
Professoren überlassen . . . Kann man darüber im Zweifel sein,
worin die Ursachen der Geschäftsstockung liegen? Die Leute der
Klasse, die ich erwähnt habe, weisen auf die Ueberproduktion als auf
die Ursache der Geschäftsstockung hin. Aber die Ueberproduktion
ist Unsinn. Es sind nicht zu viele Produkte vorhanden. In dieser
Versammlung giebt es keinen einzigen, der nicht mehr Reichtum
haben wollte, als er hat; warum häufen sich denn die Waren in den
Läden an? Einfach aus dem Grunde, weil die Leute, die sie brauchen,
sie nicht kaufen können. Sie haben nichts, womit sie sie bezahlen
könnten, weil sie keine Arbeit haben. Und warum haben sie keine
Arbeit? Weil die Produktivkräfte der Natur, der Grund und Boden
für sie unzugänglich sind."
Das Meeting nahm eine Resulution an, in der es hiess, dass
die Arbeitslosigkeit „eine Folge davon sei, dass die Leute des gleichen
Rechts auf die von Gott geschaffenen Produktivkräfte beraubt seien'*,
und dass „die Anwesenden sich verpflichteten, mit allen Mitteln für
das ganze Volk das ihm angeborene Recht auf Grund und Boden
zu verlangen ^)".
Dieses Meeting leitete nun eine Reihe von anderen Arbeits-
losenmeetings ein, die einen mehr stürmischen Charakter trugen.
Am 16. Februar begaben sich die Arbeitslosen in einer Anzahl
von 3—4000 Personen in einem Umzug die Ufer der Themse entlang
zum Parlamentsgebäude mit Fahnen, auf denen Sprüche geschrieben
waren, wie: „Freiheit, Gleichheit und Brüderhchkeit," „Vox popuh,
vox Dei" u. s. w.
l) The Times vom 19. Januar 1885.
Tugiin-ßaranowsky , Die Haudelskiisen. 25
— 386 —
Die Polizei wollte die Menge nicht an das Gebäude des
Ministeriums der Lokalverwaltung heranlassen, aber die Menge brach
sich Bahn und bestand darauf, dass ihre Deputation von Russell,
dem Parlamentssekretär des Ministeriums, empfangen wurde. Die
Deputation bat die Regierung, sie möge die lokalen Behörden ver-
anlassen, öffentliche Arbeiten zu organisieren und die Arbeitszeit in
allen Staatswerkstätten zu verkürzen. Während der Unterhandlungen
mit Russell brachte die Menge Hochrufe auf die soziale Revolution
aus und versuchte, jedoch ohne Erfolg, in das Gebäude einzudringen.
Nur mit grosser Mühe gelang es der Polizei, die Strassen vor
dem Gebäude des Ministeriums zu säubern. Als die Deputation
zurückgekehrt war und mitgeteilt hatte, dass Russell sich geweigert
habe, irgend welche Versprechungen abzugeben, nahm das Meeting
die folgende, von John Burns vorgeschlagene, Resolution an: „Das
Arbeitslosenmeeting sieht, nachdem es die Antwort gehört hat, die
seiner Deputation vom Ministerium der Lokalverwaltung gegeben
wurde, in der Weigerung, öffentliche Arbeiten zu organisieren, ein
Todesurteil für Tausende von Arbeitslosen und hält Russell und die
einzelnen Mitglieder der Regierung einzeln und in ihrer Gesamtheit
für schuld an dem Morde derer, die während der nächsten Wochen
sterben können und deren Leben noch gerettet werden könnte,
wenn die Regierung entsprechend dem Vorschlag der Deputation
gehandelt hätte^'^).
Am i6. März wurde in London unter dem Vorsitz des Lord
Mayors ein Komitee gebildet zum Zwecke der Untersuchung der
Ursachen der Arbeitslosigkeit und der Mittel, mit denen den Arbeits-
losen geholfen werden könnte. Dem Komitee traten als Mitglieder
der Kardinal Manning, der bekannte Nationalökonom Howell
und viele andere bei. Das Komitee legte nach einem Jahr einen
Bericht über die Londoner Arbeitslosigkeit vor, unternahm aber
keine praktischen Schritte.
Die Arbeitslosigkeit nahm aber beständig zu. Auf dem inter-
nationalen Gewerkschaftskongress vom Jahre 1886 beschrieb James
Mawdsley, der vorsichtige und massige Führer der Baumwollspinner
von Lancashire, die Lage der englischen Arbeiter in folgenden
Worten: „Die Löhne seien gesunken und eine Menge Arbeiter ohne
Beschäftigung . . . Alltäglich würden Flachsspinnereien geschlossen . . .
Sämtliche Baugewerbe befänden sich in schlechter Lage . . . Die
Eisen giessereien hätten mit Schwierigkeiten zu kämpfen, und ein
1) The Times \om 17. Februar 1885.
- 3^7 -
Drittel der Schiffszimmerleute seien ohne Beschäftigung . . . Die
Dampfmaschinenfabrikation sei ebenfalls flau . . . Angesichts der so
gestiegenen Zahl von Arbeitslosen drehe sich die ganze Frage natür-
lich darum, ob irgend welche Aussicht auf Besserung vorhanden sei.
Ihm scheine es, dass, so lange der gegenwärtige Gesellschaftszustand
zu bestehen fortfahre, keine Aussicht auf Besserung vorhanden sei" ^).
Während des ganzes Jahres 1886 fanden fortgesetzt Arbeits-
losendemonstrationen statt. Gleich zu Beginn des Februar begab
sich eine Deputation vieler Arbeiterverbände zum Lord Mayor mit
der Bitte, eine Subskription zu Gunsten der Arbeitslosen zu eröffnen.
Der Lord Mayor willigte ein, und die Subskription wurde sofort
eröffnet.
Und es war in der That notwendig, etwas zu Gunsten der
Arbeitslosen zu unternehmen, wie das die Ereignisse der nächsten
Tage zeigten. Am 8. Februar veranstalteten einige Arbeiterorgani-
sationen, die Beziehungen mit den Tories unterhielten und der Liga
zum Zwecke der Abschaffung des Freihandels angeschlossen waren,
ein Meeting auf dem Trafalgar Square. Aber das Meeting nahm einen
ganz anderen Charakter an, als seine Veranstalter erwarteten. Um
die Nelsonsäule versammelte sich eine enorme Monge von einigen
Zehntausend Leuten, der übrige Teil des Platzes war von Zuschauern
überfüllt. Die meisten von den Versammelten hatten durchaus keine
Neigung, die protektionistischen Resolutionen der Veranstalter des
Meetings zu unterstützen; die Tribünen, von denen die Redner
sprachen, wurden umgeworfen, und die Freunde der „Sozialdemo-
kratischen Federation'^ wurden die Herren des Meetings. Als Ver-
treter der „Federation" sprachen Burns, Hyndman, Champion u.a.
Nach Beendigung des Meetings entfernte sich die Menge zuerst in
einer ziemlich friedlichen Stimmung. Burns, mit einer roten Fahne
in der Hand, wurde von einigen Männern auf den Schultern getragen.
Als aber die Menge vor den Fenstern der prächtigen Klubs der
Hauptstadt war, flogen in die Fenster der Klubs Steine, und kurze
Zeit darauf waren auf dem Wege, den die Menge ging, in allen
Klubhäusern, ohne Unterschied der Partei, die Fenster eingeworfen.
Nachdem wurden einige Läden geplündert. Die Polizei war für
solche in den Strassen Londons noch nicht dagewesenen Scenen
nicht vorbereitet und erwies sich als ganz machtlos, mit der Menge
fertig zu werden, die in einem zerstörenden Strom die reichsten
Strassen Londons durchzog und sich endlich zerstreute, ohne auf
I) S. und B. W'ebb, Die Geschichte des Bridschen Trade-Unionismus, S. 322.
25*
ihrem Wege einem ernsthaften Widerstand zu begegnen. Der Leit-
artikel der „Times" sagte aus diesem Anlass: „Das waren die bedroh-
hchsten Unruhen in den vielen Jahren, vielleicht waren es sogar die
schlimmsten, deren man sich überhaupt erinnern kann." Als die
Hauptschuldigen bezeichnete die „Times" Hyndman und Burns,
insbesondere den letzteren, der der Menge in etw^as variierter Form
den berühmten Ausspruch der aufständischen Lyoner Arbeiter wieder-
holt hatte: „Besser kämpfend zu sterben, als Hungers zu sterben".
„Wenn solche Unruhen, wie die gestrigen — schrieb die „Times" —
keine gesetzliche Verfolgung nach sich ziehen werden , werden
sie sich bei der ersten passenden Gelegenheit, und zwar in noch
grösserem Umfang, wiederholen. Wenn die Herren Hyndman
und Burns noch nicht verhaftet sind, so müssen sie noch heute ver-
haftet werden"^).
Alles das rief eine ausserordentliche Erregung in London her-
vor. Die Kaufleute des West-ends befürchteten eine Wiederholung
der Plünderung und beinahe einen Volksaufstand. Viele von ihnen
durften einige Zeit nicht die Läden in den Strassen, in denen der
Ueberfall seitens der Menge stattgefunden hatte, öffnen, die anderen
ergriffen verschiedene Vorsichtsmassregeln, um sich bei einem Ueber-
fall verteidigen zu können. Einige Entrüstungsmeetings wurden
sofort organisiert; auf diesen Meetings verlangte man die Vorladung
Hyndmans und Burns vor Gericht.
Nach einigen Tagen wurde London von einer Panik erfasst
und im Centrum der Stadt wurden fast alle Läden geschlossen; es
hatte sich das Gerücht verbreitet, dass eine Wiederholung der Plün-
derung vom 8. Februar, aber in einem grösseren Umfang, bevorstehe
und dass Zehntausend Arbeitslose sich auf das Centrum der Stadt
hinbewegten. Und in der That waren in London in verschiedenen
Orten bedeutende Mengen von Arbeitslosen mit sehr bedrohlichen
Absichten versammelt. Aber die Polizei war vorbereitet, und es
kam nicht zu einer Zerstörung der Läden. Aehnhche Zusammen-
rottungen des Volkes in den Strassen Londons um den Traf al gar
Square wiederholten sich zum grossen Entsetzen der vornehmen
Bevölkerung West-ends noch einige Tage hindurch. Die Panik war
so stark, dass die Besitzer der grossen Magazine in der City ihre
Angestellten bewaffneten und ein P>eiwiUigenregiment dem Lord
Mayor seine Dienste für den Notfall anbot.
Die Unruhen vom 8. Februar waren jedoch durchaus nicht das
Resultat eines grausamen Beschlusses der SoziaHsten, die reichste
i) The Times vom 9. Februar 1886.
- 389 —
Stadt in der AVeit einer Plünderung auszuliefern, wie das die er-
schrockenen Londoner Kaufleute annahmen. Weder Burns noch
Hyndman haben die Menge zu einer Plünderung aufgereizt. Die
Plünderung war das Resultat der Erregung von hungrigen Leuten,
die die Abwesenheit der Polizei als eine Gelegenheit zur Plünderung
benutzten.
Sobald sich die Nachricht von der Londoner Demonstration
im Lande verbreitete, wurden überall Arbeitslosen meetings abgehalten.
In Birmingham hätte ein Meeting beinahe zu Ruhestörungen, in der
Art der Londoner, geführt, aber die Behörden machten rechtzeitig ein
ganzes Detachement berittener Polizei mobil. Die Arbeitslosenumzüge
wurden in Birmingham streng verboten und sofort von der Polizei zer-
streut. Den Läden geschah nichts, aber ihre Besitzer zogen es vernünf-
tigerweise vor, sobald sich die Menge näherte, die Läden zu schliessen.
Der Bürgermeister von Birmingham, der sich kurz zuvor hartnäckig
geweigert hatte, eine Subskription zu Gunsten der Arbeitslosen zu
eröffnen, gab sofort nach und die Subskription wurde eröffnet. In
Jarmouth verlief das Arbeitslosenmeeting sehr stürmisch und der
Polizei wurde von den Manifestanten etw^as zugesetzt. In Sheffield
fand auch ein sehr grosses Arbeitslosenmeeting statt, in Leicester ein
Zusammenstoss der Streikenden mit der Polizei.
Durch die Ereignisse vom 8. Februar wurde nicht nur Eng-
land, sondern ganz Europa stark betroffen. So schrieb z. B. das Or-
gan der gemässigten Republikaner in Frankreich, „Le Temps", das
Folgende: „Die sozialistischen Unruhen in London, die in dieser Stadt
eine solche Panik hervorgerufen haben, haben auf das Festland
keinen geringen Einfluss ausgeübt. Sie haben uns als etw^as ganz
Unerwartetes betroffen. Es ist etwas ganz Neues im politischen
Leben Englands ... Es scheint, das alle civilisierten Völker sich all-
mählich einer grossen Krisis nähern und dass die schlechten Beispiele,
die sozialistischen Prinzipien und die schädlichen Ideen sich von
einem Ende Europas und Amerikas zum anderen ausbreiten" i).
Die „Kölnische Zeitung" verzeichnete schadenfroh, dass jetzt auch
England aus eigener Erfahrung die Gefahr der Ausbreitung der
sozialistischen Doktrinen kennen gelernt habe.
Die „Neue Freie Presse" wies mit vollem Recht auf den Zu-
sammenhang dieser Unruhen mit der Geschäftsstockung hin und
meinte, dass nur die Rückkehr des industriellen Aufschwungs das
i) Le Temps vom lo. Februar 1886.
— 390 —
Wachstum des Radikalismus in England aufhalten Avürde. Ueber-
haupt legten alle Zeitungen des Kontinents den Londoner Ereignissen
eine grosse Bedeutung bei, als dem Ausdruck einer tiefen Unzu-
friedenheit und Erregung der englischen Arbeitermasse.
Das unmittelbare Resultat der Londoner Unruhen war der be-
deutende Zufluss von Spenden für die Arbeitslosen. In der Woche,
die der Demonstration vorangegangen war, hatte die vom Lord
Mayor eröffnete Subskription zu ihren Gunsten nur 3000 Pfund
Sterling ergeben. Die folgende Woche ergab 30000 Pfund Sterling.
Ende März erreichte der zur Verfügung des Lord Mayors stehende
Fonds 76000 Pfund Sterling.
Die Regierung verhielt sich den Unruhen gegenüber auch nicht
passiv: sie organisierte öffentliche Arbeiten, um den Arbeitslosen
Beschäftigung zu geben, entliess zugleich den Inspektor der Lon-
doner Polizei Henderson, und stellte die 4 Führer der Demonstra-
tion, Burns, Hyndmann, Champion und Williams vor das
Gericht.
Die Geschworenen sprachen jedoch alle 4 Angeklagten frei.
Am 21. Februar veranstaltete die „Sozialdemokratische Federa-
tion" wieder ein kolossales Arbeitslosenmeeting im Hyde Park. An
diesem Meeting nahmen nach den Berichten der Zeitungen 50 bis
75000 Personen teil (Die „Justice", das Organ der „Sozialdemokratischen
Federation" nannte sogar 100 — 120000). Das Meeting verlief fried-
licher, obwohl einige Ebenster eingeschlagen wurden und ein kleines
Scharmützel mit der berittenen Polizei stattfand, die nach dem „Daily
Chronicle" (vom 22. Б'еЬгиаг i886) „mit einer wahren Bashi-buzukenvvut
und mit einem offenbaren Rachedurst die Menge attackierte und sie
auseinandertrieb".
Dieses neue Arbeitslosenmeeting brachte die Frage der Zweck-
mässigkeit der öffentlichen Meetings überhaupt auf die Tagesordnung.
Im Oberhause schlug Lord Lamington, der von anderen erblichen Ge-
setzgebern unterstützt wurde, vor, die Sonntagsmeetings in den Parks und
den öffentlichen Plätzen zu verbieten. Die Regierung antwortete aus-
weichend, und die Frage wurde vertagt. Am 12. März wurde die
Frage der Arbeitslosenunterstützung im Unterhause aufgerollt. Der
Abgeordnete von Leeds Dawson brachte die folgende Resolution
ein: „Angesichts der herrschenden Geschäftsstockung und der be-
deutenden Anzahl von Arbeitslosen, findet das Parlament, dass für
die Regierung die Zeit gekommen sei, die notwendigen öffentlichen
Arbeiten vorzunehmen, und zwar zunächst die Errichtung kleiner
Häfen an verschiedenen Punkten des Ufers, in die kleine Schiffe bei
.» iH
— 391 —
einem Sturm flüchten könnten (harbours of refuge)". Diese Reso-
lution wurde von einigen Mitgliedern unterstützt, stiess jedoch auf eine
heftige Opposition seitens Chamberlains, Balfours, Bradlaughs
und anderer, und der Antragsteller nahm sie zurück. Trotzdem
müsste die Regierung der Arbeitslosigkeit ihre ernsthafte Aufmerk-
samkeit zuwenden und forderte Anfang März in einem Cirkular an
die lokalen Behörden dieselben auf, öffentliche Arbeiten für Arbeitslose
zu organisieren. Derartige Arbeiten wurden in vielen Gegenden Eng-
lands veranstaltet.
Während des ganzen Frühlings fanden in vielen Städten Englands
Riesenmeetings von Arbeitslosen statt, von denen die in Manchester
und Glasgow besonders stark besucht waren.
Die Arbeitslosenbewegung von 1886 lenkte die Aufmerksam-
keit aller auf eine neue soziale Macht in England, den Sozialismus.
An der Spitze der Agitation^ zu Gunsten der Arbeitslosen stand näm-
lich die „Sozialdemokratische Federation". Diese Organisation, die
einige Jahre zuvor entstanden war, spielte zuerst gar keine Rolle im
öffentlichen Leben Englands. Die Namen von Hyndman und von
Burns (der letztere entzweite sich bald mit der „Federation") waren
I dem grossen Publikum vor der Demonstration vom 8. Februar ganz
unbekannt. Nach dieser Demonstration wurden sie in der ganzen
Welt berühmt, und der Einfluss der „sozialdemokratischen Federation"
wuchs ausserordentlich, wenn auch nur auf kurze Zeit.
Die Erfolge der Federation beruhten hauptsächlich auf Ursachen
vorübergehender Natur, und zuerst auf der Arbeitslosigkeit, welche
immer zur Steigerung des Radikalismus führt. Die Führer der Federation
betrachteten ihre Erfolge natürlich anders. Der Leitartikel im „Justice"
vom 6. Mai 1886 ist der Uebersicht der Thätigkeit der Federation im
vergangenen Jahre gewidmet und ist von kühnsten Hoffnungen erfüllt:
„Wir haben nie auf solche Erfolge gehofft", gesteht der Verfasser des
Artikels. „ . . . Man kann wenig Beispiele solches schnellen Fort-
schrittes, welchen unsere Sache aufweist, anführen . . . Gestern, ein
kleiner Haufen wenig bekannter Leute, heute die rote Fahne auf
dem Carlton Club, morgen das sozialdemokratische England.
Gestern — eine Nacht, heute — Morgendämmerung, morgen — der
volle Tag.'^
Leider aber wussten Hyndman und seine Freunde nicht, wie
ephemär diese Erfolge waren. Es genügte kurze Zeit des Auf-
schwungs, um die Federation in ihre alte Lage der Unbekanntbeit
zurückzuführen.
— 392 —
Allerdings war der Einfluss der Federation während der Ar-
beitslosenagitation des Jahres 1886 sehr gross. Das am 29. August
auf dem Trafalgar Square abgehaltene Meeting zeugte deutlich davon,
welche Bedeutung die „Sozialdemokratische Federation" erreicht hatte.
Dieses Meeting wurde in einer Angelegenheit berufen, die unmittelbar
nur die Federation berührte, nämlich, um einen Protest gegen die Ver-
urteilung Williams, eines der Mitglieder der Federation, zur Ge-
fängnishaft auszusprechen. Trotzdem sammelte sich auf dem Trafalgar
Square wieder eine enorme Menge, 40 — 60000, an. Hyndman wurde
von der Menge besonders warm begrüsst: während einiger Minuten
konnte er wegen Applaus und Zurufen nicht sprechen.
Mit dem Eintreten des Herbstes wurde die Agitation der Fede-
ration unter den Arbeitslosen erneuert. Die Federation beschloss
am 9. November, am Tage des Amtsantrittes des Lord Mayors, wo
ganz London sich versammelt, um dei; Umzug des Lord Mayors
und seines Gefolges mit anzusehen, einen Riesenumzug der Arbeits-
losen zu veranstalten. Bei der Ansammlung einer solchen Menge
von Leuten war natürlich zu erwarten, dass der Arbeitslosenumzug
zu ernsthaften Unruhen und zu einem Zusammenstoss mit der Polizei
führen würde. Die ganze Presse sah diesem Tag mit grosser Be-
sorgnis entgegen. Die „Justice" dagegen erwartete den 9. November
als einen bedeutsamen Moment, wo die Macht der „Sozialdemokratischen
Federation" in London sich in ihrem vollen Glanz zeigen werde.
„Die gesamte Arbeiterklasse Londons", schreibt die „Justice" in
ihrem Leitartikel vom 30. Oktober 1886, „verlangt von der „Sozialdemo-
kratischen Federation", dass sie ihre Entrüstung zum Ausdruck bringe
und ihre Unzufriedenheit organisiere. Das wollen wir nun thun, das ist
es, was der Demonstration vom 9. November eine so grosse Bedeutung
verleiht ; sie wird nicht nur das Elend und die Leiden der Arbeitslosen
zum Ausdruck bringen, sie wird auch der Beginn des grossen Klassen-
kampfes am Ende des 19. Jahrhunderts sein. London ist vom Norden
bis zum Süden, vom Osten bis zum Westen in eine so grosse Er-
regung geraten wie noch niemals, solange diese Generation besteht.
Möge nun London sich an die Spitze der ruhmvollen Bewegung für
die endgiltige Befreiung der Arbeiter der ganzen Welt stellen."
Am 9. November hat jedoch nichts Derartiges stattgefunden.
Die Polizei verbot das Arbeitslosen meeting und traf allerhand Mass-
regeln gegen die Verwirklichung des Umzuges. Die City hatte den
Charakter einer belagerten Stadt. Die Läden waren geschlossen,
überall wurden Detachements von Militär und Polizei postiert. Das
beabsichtigte Meeting der Arbeitslosen konnte nicht stattfinden, und
— 393 —
nur ein kleiner Haufen von Leuten mit roten Fahnen brach sich
Bahn zur Nelsonsäule und nahm eine Resolution an, die die Re-
gierung ersuchte, die Bedingungen, unter denen die Unterstützung
seitens der Armenbehörden ausserhalb des Arbeitshauses gewährt
werde, zu mildern, die lokalen Behörden zu veranlassen, möglichst
bald öffentliche Arbeiten zu organisieren, in den Staatsbetrieben den
Arbeitstag zu verkürzen und sich in Verbindung mit den Regierungen
der anderen Staaten zu setzen über eine allgemeine Herabsetzung des
Arbeitstags. Im grossen und ganzen war die Demonstration entschie-
den misslungen.
Trotzdem erfuhr derEinfluss der „Sozialdemokratischen Federation"
auf die Arbeitslosen keine Abschwächung. Das Arbeitslosenmeeting
vom 2 1 . November auf dem Traf algar Square war das am stärksten
besuchte von allen. Die „Justice" behauptete, dass das die grösste Ar-
beiterdemonstration war, die London jemals gesehen hatte. Die Redner
sprachen von fünf Tribünen aus. Das Meeting verlief ganz friedlich
und nahm die gewohnten Resolutionen an, durch die die Regierung
aufgefordert wurde, energische Massregeln zur Linderung der Arbeits-
losigkeit zu treffen.
Dieses Meeting hatte unter anderem die Zunahme der Agitation
unter der wohlhabenden Londoner Bevölkerung zu Gunsten eines
Verbotes der öffentlichen Versammlungen auf dem Trafalgar Square
zur Folge. Eine in diesem Sinne abgefasste Petition wurde dem
Parlament überreicht; in ihr Avurde es unter anderem ausgeführt,
dass „in der letzten Zeit verschiedene Gruppen mit entgegengesetzten
Anschauungen gleichzeitig Meetings auf dem Platze abgehalten hätten,
was zu grossen Ruhestörungen und Unruhen geführt hätte ... In-
folgedessen seien viele von den Petenten genötigt, des öfteren ihre
Läden zu verbarrikadieren und den Handel ganz still stehen zu lassen."
Die „Times" unterstützte nicht nur in ihrem Leitartikel vom 25. De-
zember diese Petition , sondern fand sogar, dass man angesichts der
drohenden Haltung der Arbeitslosen noch mehr anstreben müsse,
nämlich das Verbot der öffenthchen Meetings in den Mittelpunkten
der grossen Städte überhaupt.
Somit drohte England eine wesentliche Einschränkung der
politischen Freiheit, die in so hohem Grade in die Sitten des eng-
lischen öffentlichen Lebens eingedrungen ist. Das Verhalten der
einflussreichsten englischen Zeitung in dieser Frage zeigte, dass die
Arbeitslosendemonstrationen einen sehr starken Eindruck auf die
öffentliche Meinung gemacht und eine ernsthafte Unruhe unter den
besitzenden Klassen erzeugt hatten.
— 394 —
Die Agitation unter den Arbeitslosen dauerte fort. Arn i. Januar
waren an vielen Punkten der Hauptstadt Arbeitslosenumzüge zu den
Arbeitshäusern organisiert. Diese Demonstration hatte jedoch keinen
grossen Erfolg.
Im Februar 1887 begann die Arbeitslosigkeit ein wenig nach-
zulassen. Trotzdem war noch im März die Arbeitslosigkeit äusserst
schwer, wie aus der offiziellen statistischen Untersuchung der Arbeits-
losigkeit zu ersehen ist, die im März 1887 vorgenommen wurde.
Diese Untersuchung erstreckte sich auf einige Bezirke Londons mit
einer Bevölkerung von 125 313 Personen. Die Enquete kam dadurch
zustande, dass man alle Einwohner dieser Bezirke persönlich befragte.
Es stellte sich heraus, dass von den 29451 männlichen Arbeitern
27 Yq arbeitslos waren. In einigen Industriezweigen war der Prozent-
satz der Arbeitslosen ein höchst bedeutender, so hatten unter den
Dockarbeitern 55 ^/q keine Beschäftigung, unter den im Schiffsbau
beschäftigten Arbeitern 44 ^Д , unter den Schreinern und Maurern
37^0' unter den Malern 33%. Von den Mechanikern waren 20^/0
arbeitslos, von den Schmieden 26%, von den Möbelarbeitern 20^/0,
von den Arbeitern in den Tabakfabriken 27 ^/q. In einer besseren
Lage befanden sich die Schuhmacher {17% Arbeitslose), die Buch-
binder (12 7o), die Uhrmacher (13 ^/0), die Gepäckträger an der Eisen-
bahn (6 ^/q) und andere. Von allen aufbezählten Arbeitern waren
während der Periode von Oktober 1886 bis März 1887 nicht weniger
als 53% mehr oder minder lange Zeit arbeitslos ^).
Selbst bis Herbst 1887 dauerte noch die Notlage. Einige Jahre
des industriellen Stillstandes hatten alle die unbedeutenden Erspar-
nisse des Arbeiters erschöpft. Allmählich wurde es unter den
Arbeitslosen üblich, die Nächte auf dem Trafalgar Square zuzubringen.
Zuerst nächtigten dort einzelne, dann zehn und schliesslich sogar
Hunderte . . . Im Centrum Londons, im reichsten Bezirke, angesichts
der prächtigen Häuser der Hauptstadt, hat sich das finstere und
obdachlose Elend, wie in seiner gewohnten Behausung, einquartiert.
Von der Stimmung dieser arbeitslosen und obdachlosen Menge кгшп
die folgende Scene eine Vorstellung geben.
Am 12. Oktober erschien im Gerichtsgebäude auf der Bow-
street bei dem Richter Sir James Ingham eine Deputation von
fünf Mann namens einer zahlreichen Menge Arbeitsloser, die sich
auf der Strasse angehäuft hatten, und auf die Frage, was sie wollten,
1) Tabulations of the Statements made by Men living in certain Selected Districts
of London in March 1887. London 1887.
71.
— 395 —
erklärte einer von der Deputation namens seiner Kollegen, „dass sie
Arbeit brauchten, dass sie sich in jeder Weise bemüht hätten, Arbeit
zu suchen, aber sie nicht finden könnten, und dass viele von ihnen
meinten, es sei besser, als das alles zu ertragen, den Richter zu
bitten, sie auf drei Monate ins Gefängnis zu stecken. Sie zögen das
Gefängnis dem Umherirren in den Strassen und den Nächten auf
dem Trafalgar Square vor". Zwischen dem Richter und der Deputation
entspinnt sich nun der folgende Dialog:
Sir James Ingham: „Wer sind Sie?"
— „Ich bin ein Schneider und seit vier Wochen arbeitslos."
Sir James: „Haben Sie sich an das Kirchspiel um Hilfe ge-
wendet?"
— „Nein, statt dessen bitte ich Sie mich ins Gefängnis zu
stecken ! Im Gefängnis behandelt man die Leute besser als im
Arbeitshause."
Sir James: „Jeder von Euch weiss sehr gut, dass das Gericht
Eure Bitte nicht erfüllen kann. Das Gericht kann niemand ins Ge-
fängnis stecken, wenn er das nicht durch eine Verletzung des Ge-
setzes verdient hat . . . Meine Antwort ist die folgende: ich habe
nicht das Recht, Euch ins Gefängnis zu stecken."
— „Habe ich das Recht, Euer Gnaden noch eine Frage vor-
zulegen ?"
Sir James: „Bitte sehr."
— - „Die Arbeitslosen sind derselben Meinung, wie auch Euer
Gnaden, dass man sie nicht ins Gefängnis stecken wird, wenn sie
kein Verbrechen begangen haben, wie z. B. die Plünderung einer
Bäckerei. Sie wollen wissen, wenn ein Mann in einem blauen Rock
mit hellen Knöpfen (ein Polizeibeamter) es bestätigt, dass sie die
Fenster zerschlagen und die Bäckereien geplündert hätten, ob Sie
dann diese Bitte erfüllen würden?"
Sir James: „Ihr seid äusserst dreist, dass Ihr mir hier solche
Fragen stellt. Bitte, entfernt Euch!^'
Die Deputation gerät in Erregung. Man ruft: „Wir wollen
nicht Hungers sterben! Wir wollen Arbeit! Steckt uns ins Ge-
fängnis!"
Sir James: „Ihr verdient kein Mitleid. Entfernt Euch aus dem
Gerichtsgebäude."
Die Deputation entfernt sich und kehrt zur Menge, die sie auf
der Strasse erwartet, zurück. Die Menge zieht ab; vorangetragen
— 39б —
wird ihr eine Fahne mit der Inschrift: „Wir wollen Arbeit oder
Brot" 1).
Im Oktober begannen die x\rbeitslosenmeetings auf dem
Trafalgar Square sich fast jeden Tag zu wiederholen. Die Arbeits-
losenmengen versammelten sich mit Fahnen, umgaben die Säule, auf
deren Spitze der alte Nelson steht, und hörten Reden an. Die
schwarze P'ahne, das Symbol des Elends und der Verzweiflung, ver-
drängte fast vollständig die rote. Nach Beendig'ung des Meetings
durchzog die Menge in einem Umzug die Strassen der Stadt.
Die Polizei, an deren Spitze jetzt Sir Charles Warren stand,
verhielt sich gegenüber den Manifestanten sehr herausfordernd und
grob. Am 17. Oktober säuberte die Polizei den Trafalgar Square
nach einem Handgemenge, während dessen viele, sowohl aus der
Menge, wie von den Polizeibeamten, zu Schaden kamen. Am
18. Oktober erfolgte ein neuer Zusammenstoss mit der Polizei in
einem noch grösseren Umfang im Hyde Park.
Der charakteristische Unterschied zwischen der Arbeitslosen-
bewegung von 1886 und von 1887 bestand darin, dass sie im
Jahre 1887 eine fast elementare war, ohne jedwede Beteiligung der
„Sozialdemokratischen Federation". Die Arbeitslosen mengen, die
täglich auf dem Trafalgar Square zusammenflössen , waren von
niemand organisiert und nur von dem einen Wunsch vereinigt,
möglichst laut und stark ihre Not bekannt zu geben. Die Redner,
die auf diesen Meetings sprachen , waren meist ganz unbekannte
Arbeiter, deren Namen plötzlich in die Spalten der Zeitungen
kamen, um wieder spurlos zu verschwinden. Das konservative
Ministerium und der neue Chef der Londoner Polizei, Sir Charles
Warren, zeigten viel mehr Entschlossenheit in ihrer Handlungsweise
gegenüber den Arbeitslosen, als die Regierung Gladstones während
der Demonstration vom 8. Februar 1886. Am 21. Oktober erschien
die Polizei um Mitternacht auf dem Trafalgar Square und entfernte
einige Hundert Männer und Frauen, die kein Obdach hatten und in
kalten Herbstnächten gewohnt waren, auf den steinernen Bailustraden
und Bänken des Platzes zu schlafen. Der Trafalgar Square sollte
weder am Tage noch in der Nacht ein Sammelplatz der Armen sein.
Trotzdem fanden Arbeitslosenmeetings auf dem Trafalgar Square
und in anderen Gegenden Londons fast täglich weiter statt, meist
ohne eine voraufgegangene Organisation. Die Arbeitslosenmengen,
die infolge eines aufgezwungenen Müssigganges sich langweilten und
i) The Times vom 13. Oktober 1887.
— 397 —
durch die Not zu leiden hatten, waren gewohnt, überall in London,
wo sich nur die Möglichkeit bot, sich zu versammeln. London nahm
ein ganz ungewöhnliches Aussehen an — das Aussehen einer Stadt,
die am Vorabend einer sozialen Katastrophe steht. Jede Nummer
einer beliebigen Londoner Zeitung jener Tage war mit der Beschrei-
bung von Zusammenstössen der Polizei mit der Menge angefüllt.
„Riots in London" (Unruhen in London), „Police and Mob" (Die
Polizei und dieA^olksmenge) — Artikel mit solchen Titeln füllten die
Spalten der „Times". Seit 1848, seit dem Zusammenbruch des Char--
tismus nach seinem letzten Auflodern , hatte London nicht mehr
einen solchen Zustand der äussersten Aufregung und Unruhe
erlebt. Die Wolken ballten sich zusammen, in der Luft lag ein
Gewitter.
Das konservative Ministerium war durchaus nicht geneigt, eine
solche Sachlage zu dulden. In der Person Warrens hatte es eine
„eiserne Faust". Die besitzenden Klassen Londons verlangten ener-
gische Massregeln gegen die Arbeitslosenansammlungen. Schon ein
Jahr früher, im November 1886, hatten sich über 5000 der einfluss-
reichsten und wohlhabendsten Kaufleute und Einwohner West-ends
mit einer Petition um das Verbot der öffentlichen Versammlungen
auf dem Trafalgar Square an das Parlament gewandt. Eine ganze
Reihe von Meetings vermögender Leute nahmen Resolutionen in
demselben Sinne an. Am 3. November 1887 verlangte ein sehr ein-
flussreiches Meeting unter dem Vorsitz eines Mitgliedes des Parla-
ments die Einstellung der Meetings auf dem Trafalgar Square.
„Die ständige Wiederholung der Demonstrationen auf dem
Trafalgar Square und im West-end," erklärte einer der Redner auf
dem Meeting, „habe jetzt einen so ernsthaften Charakter angenommen,
dass die Einwohner (West-ends), die diese Demonstrationen fast zwei
Jahre lang ertragen hätten, keinen anderen Ausweg mehr wüssten, als
wirksame Massregeln zur Einstellung dieser Demonstrationen zu ver-
langen" i). Alle konservativen Zeitungen sprachen sich in demselben
Sinne aus. Die Regierung beschloss, diesen Wünschen nachzu-
kommen, und durch eine Verfügung von Sir Charles Warren vom
8. November wurden die Meetings auf dem Trafalgar Square ver-
boten.
Diese Verfügung führte zu einem blutigen Zusammenstoss der
Menge mit dem Militär in den Strassen Londons am 13. November.
Die Verletzung seitens der Regierung eines der fundamentalsten
i) The Times vom 4. November il
- 398 -
Rechte des englischen Bürgers, des Rechtes auf öffentliche Ver-
sammlungen, war eine wesentliche Einschränkung der politischen
Freiheit, an die man sich in England so gewöhnt hat. Die Ver-
fügung vom 8. November vereinigte alle liberalen und radikalen
Elemente Londons. Um dagegen Protest zu erheben, beschlossen
die radikalen Associationen von London, am ersten kommenden
Sonntag, am 13. November, auf dem Traf al gar Square ein Ent-
rüstungsmeeting aus Anlass der Verhaftung des irischen Politikers
O'Brien zu veranstalten.
Dieses Meeting war eine wahre Schlacht, die zwischen der viel-
tausendköpfigen Menge und der Polizei und dem Militär geschlagen
wurde. Schon von früher Morgenstunde an war der Trafalgar Square
von der Polizei besetzt. Eine zusammenhängende Kette von Schutz-
leuten von mehr als 2000 Mann umringte den Platz in einer ununter-
brochenen dunkeln Linie. In den benachbarten Strassen bewegten
sich Detachements der berittenen Polizei. In der Nähe standen
einige Escadrons der berittenen Garde und einige Abteilungen der
Garde zu Fuss bereit. Das alles erschreckte jedoch die Demon-
stranten nicht. Nachmittags begannen die Strassen, die um den
Platz herumlagen, sich zu füllen. Aus den Vororten Londons kamen
immer neue und neue Umzüge mit Fahnen, und um 3 Uhr waren
alle Strassen in der Nähe mit Volksmassen dicht gefüllt. Ein hef-
tiger Zusammenstoss mit der Polizei begann. Die Menge überfiel
die Polizei mit vStöcken, eisernen Stangen, Steinen, ja sogar mit
Messern. Die berittenen Polizisten wurden von den Pferden herunter-
gezogen. Ein kleiner Haufen von Demonstranten, mit Burns und
Cunninghame Graham an der Spitze, machten einen verzweifelten
Versuch, zur Nelsonsäule vorzudringen, aber ohne Erfolg. In allen
umliegenden Strassen gab es ein Handgemenge, in dem viele Poli-
zisten, noch mehr aber die Demonstranten verwundet wurden. Die
Pohzei blieb überall Sieger und der Trafalgar Square blieb eine un-
zugängliche leere Insel inmitten eines wogenden Menschenmeeres.
So ging es fort bis 4 Uhr. Die Menge konnte nicht zur
Nelsonsäule durchbrechen, aber sie wuchs immer an, sie ging nicht
auseinander und führte wütende Attacken gegen die Polizei aus.
Der Abend näherte sich, die Lage wurde immer ernsthafter, da mit
dem Eintritt der Dunkelheit es schwerer gewesen wäre, den Platz
zu schützen. Es wurde Verstärkung verlangt. Die königliche Garde,
beritten und zu Fuss, trat aus der Kaserne heraus und begann die
Strassen zu säubern. Die Soldaten drangen mit aufgepflanztem
Bajonett vor. Das Militär wurde von bürgerhchen Behörden begleitet,
- 399 -
die im Notfalle die Aufruhrakte verlesen sollte, damit man von den
Schiesswaffen Gebrauch machen könnte. So weit kam es aber nicht.
Dem Militär und der Polizei gelang es, die Strassen zu säubern, und
der Trafalgar Square blieb in den Händen der Polizei.
Am anderen Tag beglückwünschten die konservativen Zeitungen
die Regierung und Warren zu dem errungenen Sieg. „Infolge der
von wSir Charles Warren getroffenen musterhaften Massregeln",
schrieb die „Times" in ihrem Leitartikel, „sowie auch infolge der
Geschicklichkeit und der Energie, mit denen diese Massregeln von
seinen Untergebenen ausgeführt worden sind, ist der entschlossene
Versuch, die Hauptstadt der Macht eines Haufens von Taugenichtsen
auszuliefern, fehlgeschlagen . . . Wer den gestrigen Kampf gesehen hat,
kann am besten den Dienst schätzen, der von Sir Charles Warren
g-eleistet ist . . . und den enormen Umfang des Unglücks, wenn der
Kampf anders ausgegangen wäre. Diese wilden Mengen belebte
nicht der Enthusiasmus für das Recht der freien Rede, nicht die
Ueberzeugung von der Unschuld O'Briens, nicht irgend eine ernst-
hafte Ueberzeugung oder eine ehrliche Absicht überhaupt. Es war
das einfach ein Durst nach Unruhe, eine Hoffnung auf Plünderung
und ein Aufstand einer rohen tierischen Kraft gegen die Herr-
schaft des Gesetzes . . . Die Zerstörung eines im voraus vorbereiteten
Planes, die notw^ endigsten Grundlagen der Ordnung zu vernichten und
London durch Auslieferung seiner Strassen in die Hände von Ver-
brechern zu terrorisieren, das ist gestern von Sir Charles Warren
erreicht worden" ^).
Der „blutige Sonntag", wie ihn die „Justice" genannt hat, war
ein entschiedener Sieg der Regierung. Die Versuche, Ansammlungen
auf dem Trafalgar-Square zustande zu bringen, wiederholten sich auch
in den folgenden Tagen, sie waren aber so schwach, dass die Re-
gierung sie ohne jegliche Mühe unterdrücken konnte. Die rote und
die schwarze Fahne hörten auf, den Einwohnern Londons Entsetzen
einzuflössen.
Wie sich die besitzenden Klassen gegenüber den Ereignissen
vom 13. November verhielten, davon kann man sich eine Vorstellung
machen, wenn man hört, dass während der folgenden wenigen Tage
mehr als 3500 Freiwillige sich meldeten, um im Notfalle das Amt
eines Schutzmannes zu übernehmen. Nach der „Times" gehörten diese
freiwilligen Schutzleute hauptsächlich der mittleren und höheren Klasse
an. Selbst Lords hielten es für ihre Pflicht, ihre Dienste als frei-
i) Die ,, Times" vom 14. November il
— 400 — •
willige Polizisten anzubieten. Jedoch hatte man gar nicht nötig, von
diesen Diensten Gebrauch zu machen, da die Agitation zu Gunsten
der Arbeitslosen auf dem Trafalgar Square die Hauptschlacht ver-
loren hatte.
Die Londoner x\rbeitslosen fuhren fort, in verschiedenen Ge-
genden Meetings abzuhalten, aber nicht entfernt so grossartige, wie
im Oktober und November. Die öffentliche Meinung interessierte
sich wenig für diese Meetings, nachdem am 13. November die Möglich-
keit vollständig erwiesen war, mit der ganzen Arbeitslosenbewegung
fertig zu werden. Das Eintreten eines industriellen Aufschwungs im
Frühling 1888 setzte die Arbeitslosenbewegung, die eine Zeit lang
einen für England beunruhigenden Charakter angenommon hatte, von
der Tagesordnung ab.
Die Arbeitslosigkeit der 80 er Jahre hat eine sehr grosse Be-
deutung für die Entwickelung der sozialen Verhältnisse Englands
gehabt. Eine ganze Reihe von Parlamentskommissionen widmete
sich dem Studium der so krass zu Tage getretenen Volksnot. Eine
besondere Bedeutung unter diesen Kommissionen hatte die Kommission
des Oberhauses zur Prüfung der Ausbreitung des sogenannten Sweating-
Systems — der äussersten Ausbeutung der Arbeit in vielen Zweigen
der Hausindustrie. Diese Kommission förderte erstaunliche und geradezu
unglaubliche Thatsachen der Unterdrückung des Arbeiters zu Tage
— eines richtigen Hungerlohnes und einer immensen Dauer des Arbeits-
tags. Private Forscher wandten sich gleichfalls den Fragen der Not
des Volkes zu. Die grösste Bedeutung unter diesen Forschungen
hatte, wie S. und B. Webb mit Recht bemerken, die in den Annalen
der Wissenschaft ohne Beispiel dastehende Arbeit des reichen Londoner
Kaufmanns Charles Booth, der die Lebensverhältnisse der Londoner
Bevölkerung untersucht hat, eine Arbeit, von der wir noch weiter
unten sprechen werden.
„Die Wirkung der auf diese Weise angeregten Erhebungen war
ein unberechenbarer Anstoss zu sozialen Reformen. Zum grössten
Teil waren sie in der Erwartung unternommen worden, dass eine
ernsthafte und wissenschaftliche Untersuchung den Ausnahmecharakter
der von den Philantropen blossgelegten und von den neuen Agitatoren
freigebig citierten peinlichen Vorkommnisse beweisen würde. Aber
zur wahrhaften Ueberraschung sowohl der Oekonomen wie der
Trade-Unionsführer wurden die Schwarzmalereien der Sensations-
schriftsteller und der Sozialisten von den Statistiken im ganzen ge-
nommen als gerechtfertigt erwiesen. Die Fälle unverdienten Elends
erwiesen sich als nicht blos zufällige Ausnahmen eines allgemeinen
— 40 1 —
Zustandes massigen Wohlbehagens, sondern als typische Beispiele für
die Durchschnittsexistenz grosser Massen der Bevölkerung."^) Der
optimistische Liberalismus, der in den 60 er und 70 er Jahren nicht
nur in den besitzenden Klassen Englands, sondern auch unter den
Arbeiterführern herrschte, machte einer ganz anderen sozialen Welt-
anschauung Platz. Burns, Tom Mann, Tillet, die hervorragendsten
Charaktere unter den Arbeiterführern, v^aren von dem neuen Geiste
durchdrungen und Vliesen die englische Arbeiterbe w^egung auf eine
neue Bahn. Der sogenannte neue Trade-Unionismus wurde die Ver-
körperung dieser neuen Richtung, und die Resolutionen der Gev^^erk-
sckaftskongresse zu Gunsten des Achtstundentages, der Vergesell-
schaftung der Produktionsmittel u. s. w. waren der Ausdruck dieses
neuen Geistes.
Die Erneuerung der Arbeitslosigkeit im Jahre 1892 führte zur
Erneuerung der Arbeitslosenbewegungen, wenn auch zweifellos in
schwächerem Umfang. Seit dem Herbst 1892 fanden Arbeitslosen-
meetings in Tower Hill in London fast jeden Tag statt. Auf diesen
Meetings versammelte sich eine Volksmenge von Hunderten, manch-
mal von Tausenden von Arbeitslosen ; nach Schluss der Meetings ver-
anstaltete die Menge Umzüge mit vorangetragenen roten Fahnen.
Diese Umzüge führten nicht selten zu Zusammenstössen mit der
Polizei.
Am 13. November 1892, am fünften Jahrestag des „blutigen
Sonntags", veranstalteten die Arbeiterorganisationen Londons auf dem
Trafalgar Square ein kolossales Arbeitslosenmeeting, auf dem sich
einige Zehntausend Menschen versammelten. Das Ministerium
Gladstones verhinderte dieses Meeting nicht. Das Meeting nahm zwei
Resolutionen an: die erste begrüsste die Wiedereroberung seitens der
Bevölkerung von London des „Rechtes auf öffentliche Meetings auf
ihrem historischen Forum", die zweite lautete: „in Erwägung, dass die
Zahl der Arbeitslosen in London und im Vereinigten Königreich sich
täglich vermehrt und während dieses Winters eine beispiellose zu
werden droht, in der ferneren Erwägung, dass überall öffentliche
Arbeiten verlangt werden, wendet sich das Meeting an die Regierung
und die öffentlichen Institutionen mit dem Vorschlag, solche Arbeiten
zu veranstalten und so denen Beschäftigung zu verschaffen, die nicht
durch ihre Schuld ohne Beschäftigung sind, sondern infolge einer
ungerechten Gesetzgebung und des bestehenden kapitalistischen
Systems." ^)
i) S. und B. ЛУеЬЬ, Die Geschichte des Britischen Trade-Unionismus, S. 324.
2) The Times vom 14. November 1892.
Tugan -Baruno WS ky , Die Handelskrisen. 26
— 402 —
Unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Agitation versandte
die Regierung am 14. November ein Cirkular an die Organe der
Lokalverwaltung, das folgenden Inhalt hatte: „Aus den Mitteilungen,
die das Ministerium der Lokalverwaltung erhalten hat, geht hervor,
dass gegenwärtig in verschiedenen Teilen des Landes eine bedeutende
Not sich bemerkbar macht infolge des Mangels an Beschäftigung,
und es scheint wahrscheinlich, dass während des bevorstehenden
Winters diese Sachlage allgemeiner und schwieriger sein wird. Das
Ministerium ist davon überzeugt, dass es in den Reihen derer, die
gewöhnlich die Hilfe des Kirchspiels nicht suchen, Leute giebt, die
schwere Entbehrungen leiden und, wenn die Geschäftsstockung fort-
dauern wird, liegt genügender Grund zur Befürchtung' vor, dass sehr
viele Leute, die gewöhnlich ständig Arbeit haben, in den Nothstand
geraten. Das Unabhängigkeitsgefühl, das so viele Arbeiter ver-
anlasst, lieber allerhand Opfer zu bringen, als sich der Schmach des
Pauperismus auszusetzen, verdient die grösste Sympathie und Achtung,
und es liegt im Interesse der gesamten Gesellschaft, dieses Gefühl
mit allen möglichen Mitteln aufrecht zu erhalten."
Mit Rücksicht hierauf schlug die Regierung den Organen der
Lokalverwaltung vor, zur Unterstützung der Notleidenden öffentliche
Arbeiten in der Art von Pflasterung und Durchlegung neuer Strassen,
Einrichtung von Wasserleitungen u. s. w. vorzunehmen.
Das Cirkular vom 14. November bewirkte, dass in 96 Ortschaften
die Munizipalbehörden öffentliche Arbeiten veranstalteten. In weitestem
Umfang wurden diese Arbeiten in London organisiert, — aber auch
hier wurden dadurch nicht mehr als einige Tausend Arbeiter be-
schäftigt. Insgesamt fanden bei diesen Arbeiten in den 77 wichtigsten
Punkten Englands 26875 Arbeiter eine Beschäftigung^).
Im allgemeinen erwiesen sich die städtischen öffentlichen Arbeiten
in den Jahren 1892 — 93 keineswegs als ein glückliches Experiment.
So sagen die Verfasser des „Report on Agencies and Methods for
Dealing with the Unemployed," 1893: „die vSchlüsse, die man aus den
Experimenten vieler Ortsbehörden während des verflossenen Winters
ziehen kann, sind durchaus negativer Art. Die spezifische Gefahr,
die dem Erfolge der zeitweiligen städtischen Arbeiten droht, besteht
darin, dass man zu diesen Arbeiten jene Gattung von Arbeitslosen
nicht heranziehen kann, deren Arbeitslosigkeit einen nur vorüber-
gehenden Charakter hat, zugleich aber können diese Arbeiten wohl
i) Third Report 011 Distress from Want of Ernployment, Aussage von Llewellyn
Smith, Q. 4723.
— 4^3 —
I kaum so organisiert Averden, dass sie den chronisch Arbeitslosen
ständig Beschäftigung geben könnten" i).
Die Arbeitslosenmeetings dauerten während des ganzen Winters
1892 — 1893 und 1893 — 94 fort. Im Unterhause regte einer der
wenigen parlamentarischen Arbeitervertreter, Keir Hardie, des
öfteren die Frage der Arbeitslosenunterstützung an, aber ohne jedwedes
praktische Resultat. Als ein Mittel, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen,
bezeichnete Hardie die Einführung des 8 stündigen Arbeitstages und
die weitere Ausdehnung von öffentlichen Arbeiten jeder Art.
Die Geschäftsstockung der 90 er Jahre war auf dem europäischen
Festlande durch eine wahre Epidemie von anarchistischen Attentaten
gekennzeichnet. Diese Epidemie stand in einem unbestreitbaren
Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit. In England erfuhr die
Agitation der Anarchisten auch eine Verstärkung; die Arbeitslosen-
meetings endigten nicht selten mit Zummenstössen der Sozialisten mit
den Anarchisten. Die gewöhnliche Phraseologie der Redner auf
diesen Meetings war derart, dass sie manchmal Interpellationen im
Parlamente seitens der konservativen Abgeordneten zur Folge hatte,
die sich darüber wunderten, wie es die Regierung zulassen könnte,
dass die Redner die Menge öffentlich zu Plünderung, Brandstiftung
und sogar zum Mord reicher Leute aufforderten ; natürlich hatte das
alles keine ernsthafte Bedeutung und Hess nur auf die erregte
wStimmung der Arbeitermassen schliessen. Die Arbeitslosigkeit musste
notwendigerweise eine solche Stimmung hervorrufen, und Bernard
Shaw hatte zweifellos recht, wenn er in seiner Schilderung der
Thätigkeit der Fabiangesellschaft erklärte: „der Geist der Insurrektion
wird bei der nächsten Geschäftsstockung eben so sicher wieder er-
scheinen, wie die Sonne morgen früh wieder aufgehen wird." ^)
Man kann durchaus Kautsky beistimmen, wenn er sagt:
„In der relativen Bedeutung vom ökonomischen und politischen
Kampfe lässt sich eine gewisse Fluktuation verfolgen, ähnlich der
Wellenbewegung der kapitalistischen Industrie. So wie diese wechselt
zwischen Prosperität und Krisis, so finden wir auch in der Politik
Zeiten grosser Kämpfe, raschen Fortschreitens auf politischem Gebiet,
— Zeiten politischer „Revolution" — wechselnd mit Zeiten politischer
Stagnation, in denen die Entwickelung der ökonomischen Organisationen,
die soziale „Reform" in den Vordergrund gerät .... Die Zeiten der
Prosperität sind naturgemäss jene, in denen die allgemeine gesell-
i) Report, S. 236 — 237.
2) Bernard Shaw, The Fabian-Society: ЛVhat it has done. London 1892, S. 10
26*
— 4^4 —
schaftliche Unzufriedenheit am geringsten, und das Streben, durch
eigene Kraft sich emporzuarbeiten, am aussichtsreichsten, das Be-
dürfnis nach Anrufung des Staats am schwächsten. Nicht bloss die
Kapitalisten, sondern auch die Arbeiter legen da geringeren Wert
auf die Politik und grösseren auf ökonomische Unternehmungen und
Organisationen, die sofort greifbare Vorteile versprechen. In der
Krisis schwindet die Aussicht, auf dem Boden der reinen Oekonomie
vorwärts zu kommen, die mächtigste ökonomische Potenz, der Staat
muss helfen, des Staates muss man sich bemächtigen, um wieder festen
Boden unter den P^üssen zu bekommen, die gesellschaftliche Un-
zufriedenheit wächst, alle Gegensätze verschärfen sich und alles drängt
auf den politischen Kampf hin.''^) Wie aus unserer Darstellung der
sozialen Wirkungen der englischen Handelskrisen hervorgeht, ist der
Einfluss des industriellen Cyklus auf die Politik in England ganz
auffallend.
Die Jahre 1892 — 93 waren durch Riesenstreiks gekennzeichnet,
unter denen vornehmlich der Streik der Kohlengräber der centralen
Grafschaften, der Zahl der Streikenden nach, ohne Beispiel dasteht.
Ueber 300000 Kohlengräber traten in den Streik ein, da sie in die
Herabsetzung der Löhne, die von den Unternehmern beabsichtigt
war, nicht einwilligen wollten. Da die Steinkohlen ein für eine ganze
Reihe von Produktionszweigen notwendiges Produkt darstellen, so
hat man berechnet, dass der Kohlengräberstreik zu der Arbeits-
einstellung von insgesamt beinahe einer Million Arbeitern geführt
hat. Dieser Streik ist nicht nur seinem Umfang nach von historischer
Bedeutung. Während desselben wurde auch zum ersten Male von
breiten Schichten der Arbeiterschaft ein ganz neues Prinzip, das
Prinzip der living wages — des Arbeitslohnes, der für das Leben
notwendig ist — aufgestellt. Die Unternehmer beharrten auf der
Herabsetzung der Löhne, da die Preise der Kohlen gesunken waren.
Die Arbeiter leugneten diese letztere Thatsache nicht, behaupteten
jedoch, dass, wie niedrig der Preis des Produktes und wie geringfügig
die Profite der Unternehmer auch sein möchten, die Löhne nicht unter
das, was für eine menschenwürdige Existenz notwendig sei, sinken
dürften. Der Streik endigte mit einem Kompromiss.
Die Depression dauerte bis 1895. Der Anfang des Jahres 1895
brachte sogar noch eine plötzliche Zunahme der Arbeitslosigkeit unter
dem Einflüsse einer ganz besonderen Ursache, des heftigen Frostes,
der in England Ende Januar eingetreten w^ar. Dieser Frost machte
i) Bernstein und das sozialdemokratische Progrannni, S. 163, 164.
— 405 —
fast überall alle Arbeiten, die unter freiem Himmel ausgeführt
werden mussten, unmöglich und beraubte viele Arbeiter ihrer Be-
schäftigung.
Um diese Zeit veranstaltete der Rat der Londoner Gewerk-
schaften mit Hilfe der ,, Unabhängigen Arbeiterpartei" (die in der
Periode der Arbeitslosigkeit der 90er Jahre — im Jahre 1893 —
entstanden war) eine sehr interessante Arbeitslosenzählung in West
Ham (einem der Londoner Bezirke). Diese Zählung wurde bis zum
20. Januar 1895 vollendet. Es stellte sich heraus, dass es in West
Ham bei einer Bevölkerung von ungefähr 250000 10 140 Arbeitslose,
darunter gegen 1000 Frauen gab. An männlichen Arbeitern, die
volle Beschäftigung in West Ham hatten, wurden 28383 gezählt,
an Arbeitern, die eine vorübergehende, zufällige Beschäftigung hatten
6176. Die Arbeitslosen bildeten mithin über 20% ^^^ männlichen
Arbeiterbevölkerung. Von den 9000 beschäftigungslosen männlichen
Arbeitern waren gegen 2000 gelernte Arbeiter — Maschinenbauer,
Kupferschmiede, Schiffbauer, Matrosen u. s. w. i).
Während des Winters 1 894-— 1895 wurden in den wichtigsten
Städten Englands öffentliche Arbeiten für Erwerbslose organisiert.
Private Wohlthätigkeitskomitees waren auch in vielen Gegenden
thätig und halfen den Arbeitslosen meist durch Verteilung von
Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken, Heizungsmaterial u. s. w. Man
muss in Betracht ziehen, dass, wenn auch die Arbeitslosigkeit in den
Jahren 1894 — 1Ö95 nicht entfernt so bedeutend war wie im Winter
1892 — 1893, man doch bereits den dritten Winter seit Beginn der
Arbeitslosigkeit zählte. Die Mittel der Arbeiter waren erschöpft,
und daher wurde die Not stärker, obwohl der Zustand des Arbeits-
marktes günstiger war.
Anfang 1895 waren in Liverpool, nach den Angaben des
Sekretärs der Gewerkschaft der Dockarbeiter, gegen 18000 Arbeits-
lose, in Leeds gegen 8000. in Glasgow auch gegen 8000, in
Birmingham zählte die Arbeitslosendeputation 15000 Arbeitslose.
Keir Hardie behauptete, dass es im gesamten Vereinigten König-
reich gegen 1750000 Arbeitslose ausser den Paupers gegeben habe,
aber natürlich können solche Behauptungen, die nur auf einem all-
gemeinen Eindruck beruhen, auf einen wenn auch nur entfernten
Grad von Genauigkeit keinen Anspruch erheben ^).
1) First Report from the Select Committee on Distiess from Want of Employment.
1895. Aussage von Percy Alden und Keir Hardie.
2) Vgl. die Aussage von Keir Hardie sowohl wie Appendix No. 5 im First
Report on Distress from Want of Employment.
— /\o6 —
In Liverpool fanden die Arbeitslosenmeetings eben so häufig
statt wie in London und trugen gleichfalls einen stürmischen
Charakter. Auf diesen Meetings wurden nicht selten Reden in einem
solchen Ton gehalten, dass die Liverpooler Polizei in einen nervösen
Zustand geraten musste. Es kam zu Handgemengen, und die Liver-
pooler Polizei verbot, ähnlich wie die Londoner Polizei im Jahre 1887,
Meetings auf dem Platze vor dem Gebäude der Börse abzuhalten.
Am 13. Februar gelang es Hardie, durchzusetzen, dass das
Parlament eine Kommission einsetzte zur Untersuchung des durch
die Arbeitslosigkeit entstandenen Notstandes und der Mittel gegen die
Arbeitslosigkeit. Aber das Parlament weigerte sich, eine kurze Frist
zur Vorlegung des Berichtes der Kommission zu bestimmen, wie das
Hardie verlangt hatte. Wie zu erwarten war, legte daher die Kom-
mission ihren Bericht erst vor, als der Notstand bereits vorüber war.
Der letzte dieser Berichte ist von einer anderen Kommission vorge-
legt worden, die vom neuen Parlament im Jahre 1896 eingesetzt
wurde, als die englische Industrie bereits entschieden in die Phase
eines Aufschwungs eingetreten war, dessen Ende wir uns heute
nähern.
Schlussbetrachtungen.
Die Arbeitslosigkeit als eine notwendige Erscheinung der kapitalistischen Wirtschfts-
ordnung. — Schwankungen in der Zahl der arbeitslosen Mitglieder der Gewerkvereine in den
verschiedenen Produktionszweigen. — Die Arbeitslosigkeit unter den Metallarbeitern. —
Schwankungen nach Saisons und nach den Phasen des industriellen Cyklus. — Warum
sind die cyklischen Schwankungen am stärksten in der Produktion der Produktionsmittel? —
VerschAvindet die Arbeitslosigkeit mit der Weiterentwickelung des Kapitalismus ? — Die
Reservearrriee des Kapitalismus nach den Untersuchungen von Booth. — Die Arbeits-
losigkeit der alten Leute, — Die Unfähigkeit des Kapitalismus, die gesamten Produktiv-
kräfte der Gesellschaft auszunutzen.
Die vorliegende Arbeit sollte beweisen, dass der industrielle
Cyklus, welcher die periodischen Krisen zeitigt, eine notwendige und
unvermeidliche Bewegungsform der kapitalistischen Industrie ist.
Aber die Krisen sind ein memento mori 'für die kapitalistische Wirt-
schaftsordnung. In den Krisen, sagt Engels, hat „die ökonomische
Kollision ihren Höhepunkt erreicht, die Produktionsweise rebelliert
gegen die Austauschweise, die Produktionskräfte rebellieren gegen
die Produktionsweise, der sie entwachsen sind" ^).
Die Stockung der Industrie kommt auf dem Arbeitsmarkte in
der Arbeitslosigkeit zum Ausdruck. Was besagen nun die That-
sachen für die Arbeitslosigkeit in England? Verschwindet die
Arbeitslosigkeit mit der Entwicklung des Kapitalismus oder nicht?
Die Arbeitslosigkeit ist eine derart komplizierte Erscheinung,
dass sie nicht Gegenstand einer genauen statistischen Berechnung
sein kann. Trotzdem haben die englischen Statistiker ein gutes
Merkmal gefunden, um nicht die absolute Grösse der Arbeitslosigkeit,
wohl aber ihre Veränderungen in den verschiedenen Zeiten lu be-
stimmen. Dieses Merkmal ist der Prozentsatz der arbeitslosen Mit-
glieder der Gewerkvereine, die von diesen Vereinen unterstützt
werden. Die Bedeutung dieses Merkmals wird dadurch abgeschwächt,
dass bei weitem nicht alle Gewerkvereine solche Unterstützungen
gewähren und dem englischen Arbeitsdepartement die entsprechenden
i) Herrn Eugen Düh rings Umwälzung der Wissenschaft, 3. Aufl., S. 297.
— 4o8 —
Daten zustellen. Ausserdem giebt dieses Merkmal keinerlei Hinweis
auf die Arbeitslosigkeit unter der breiten Masse der nicht organi-
sierten Arbeiter. Da wir aber kein anderes Merkmal besitzen, müssen
wir dieses benutzen.
In dem angeführten Diagramm (S. 409) sind für die Jahre
1887 — 1899 die Schwankungen im englischen Export und im Pro-
zentsatz der arbeitslosen Mitglieder der Gewerkvereine in einigen
Industriezweigen nach den Daten des englischen Arbeitsdepartements
zusammengestellt.
Die cyklischen Schwankungen in der Zahl der Arbeitslosen
treten auf diesem Diagramm mit voller Klarheit hervor. Wir sehen,
dass diese Schwankungen den Schwankungen des Exports genau
entgegengesetzt verlaufen. Daraus können wir auf die Ursache der
Schwankungen der Arbeitslosigkeit schliessen. Diese letzteren stehen
offenbar in einem Zusammenhang mit den Phasen des industriellen
Cyklus.
Halten wir uns bei jeder dieser Kurven der Arbeitslosigkeit
auf. Die Kurve der Arbeitslosigkeit in den Industriezweigen, die die
Instrumente und die Produktionsmittel der kapitalistischen Industrie
erzeugen, schwankt am stärksten und am regelmässigsten. Der in-
dustrielle Cyklus kommt in ihr zum klarsten Abdruck. Die beiden
anderen Kurven der Arbeitslosigkeit schwanken in viel schwächerem
Grade.
Wir sehen, dass zur Zeit der letzten Periode der Arbeitslosig-
keit am Anfang der 90 er Jahre in so wichtigen Produktionszweigen
wie der Maschinenbau, der Schiffbau und die Metallbearbeitung (die
erste Kurve) der Prozentsatz der Arbeitslosen mehr als 1 1 % betrug.
Wenn wir die Veränderungen in der Zahl der Arbeitslosen im letzten
Jahrzehnt vergleichen, werden wir keine Verbesserung bemerken.
Wenn man nach der Zahl der Arbeitslosen in der Maschinenbau-
industrie urteilt, war die Arbeitslosigkeit der Jahre 1893 — 1894 sogar
stärker als die des Jahres 1887. Der neueste industrielle Aufschwung,
der sich heute seinem Ende nähert, ist durch eine grössere Arbeits-
losenzahl gekennzeichnet als der Aufschwung am Ende der 80er
Jahre.' Nur in der Bauindustrie sehen wir etwas anderes: die Zahl
der Arbeitslosen sinkt im allgemeinen, und die letzten Jahre sind
durch einen sehr unbedeutenden Prozentsatz der Arbeitslosen charak-
terisiert.
Aber, wie gesagt, der Prozentsatz der Mitglieder der Gewerk-
vereine, die als Arbeitslose eine Unterstützung erhalten, bringt die
wirkliche Zahl der Arbeitslosen durchaus nicht zum Ausdruck.
40Q
in Millionen
Pf.St.
I
Proceatsatz
derArbeitslosen
Prozentsatz der arbeitslosen
Mitglieder
Wert der Ausfuhr
der Trade Unions
der Produkte
des Vereinigten
Jahre
Maschinen- und
Buchdrucker- und
Königreichs
Schiffbau und die
Buchbinder-
Bauindustrie
(in Millionen
Metallbranche
gewerbe
Pfd. St.)
1887
9,4
2,9
5,9
222
1888
6,0
2,4
5,5
235
1889
2,3
2,5
3,3
249
1890
2,2
2,2
2,2
264
1891
4,1
4,0
2,5
247
1892
1.1
4,3
3,0
227
1893
11,4
4,1
3,8
218
1894
1 1,2
5,6
4,1
216
1895
8,2
4,9
3,8
226
1896
4,2
4,3
1,8
•240
1897
4,8
3,9
1,6
234
1898
4,0
3,7
1,3
233
1899
2,4
3,9
1,5
255
— 4IO —
Erstens haben bei weitem nicht alle arbeitslose Mitglieder der Ge-
werkvereine, die solche Unterstützung gewähren, das Recht auf
diese Unterstützung. So hatten nach dem Report on the Unemployed
nur 50 Yo d^r Mitglieder der SchifFbaugewerkschaft einen Anspruch
auf diese Unterstützung, von den Eisengiessern hatten diesen An-
spruch 88 ^/oi es giebt auch andere Ursachen, welche dazu führen, dass
die wirkliche Zahl der arbeitslosen Mitglieder der Gewerkvereine die
Zahl derer, die eine Unterstützung erhalten, bedeutend übertrifft.
Vor allem aber muss man nicht vergessen, dass den Gewerkvereinen
nur eine unbedeutende Minderheit der Arbeiter angehört, und zwar
haben nach den letzten Daten den Ge werk vereinen nur 2 1 ^/q der
erwachsenen männlichen Arbeiter des Vereinigten Königsreichs und
12^/0 der erwachsenen Arbeiterinnen angehört. Wenn wir die land-
wirtschaftlichen Arbeiter ausnehmen, so steigt die Zahl der männlichen
Arbeiter, die den Gewerkvereinen angehören, auf 25 ^/q. Unter den
Bergarbeitern gehören gegen 36 ^/0 Gewerkvereinen an, unter den
Arbeitern der Textilindustrie 27 ^o ^^- s. w.
Die Prozentsätze der Arbeitslosen in unserem Diagramm be-
sagen gar nichts über die Arbeitslosigkeit unter der breiten Masse
der nicht organisierten Arbeiter. Zwar unterliegt der Maschinenbau
bedeutend stärkeren Schwankungen als andere Industriezweige, und
wenn in der Maschinenbauindustrie der Prozentsatz der arbeitslosen
Mitglieder der Gewerkschaften in den Jahren 1893 — 1894 mehr als
1 1 Yq betrug, so dürfen wir daraus noch nicht schliessen, dass in den
anderen Industriezweigen der Prozentsatz der Beschäftigungslosen
unter den organisierten Arbeitern ebenso gross war. Aber anderer-
seits kann es keinem Zweifel unterliegen, dass unter den nicht
organisierten Arbeitern die Arbeitslosigkeit viel stärker ist als
unter den organisierten. In den Arbeiterorganisationen befinden
sich die leistungsfähigeren Arbeiter, die Arbeitslosigkeit muss aber
mit ihrer Wucht am schwersten die schwächsten treffen. Wenn die
Nachfrage nach Arbeit sinkt, so müssen am ehesten diejenigen
Arbeiter die Beschäftigung verlieren, deren Arbeit am wenigsten
produktiv ist. Daher kann man mit voller Zuversicht behaupten, dass
unter den nichtorganisierten Arbeitern die Arbeitslosigkeit viel stärker
sein muss als unter den organisierten, aber um wieviel stärker, dafür
fehlen selbst annähernde Daten.
Als eine gewisse Grundlage für eine Vorstellung von dem
wirklichen Umfang der Arbeitslosigkeit können die im vorigen
Kapitel angeführten Daten der Arbeitslosenzählungen in einigen Be-
zirken Londons in den Jahren 1887 und 1894 dienen. Wir erinnern
p
— 411 —
daran, dass nach den Daten der ersten Zählung 27 %' "^ch denen
der zweiten Zählung über 20% ^^^ männlichen Arbeiter arbeitslos
waren.
Auf Grund dieser Zählungen darf man annehmen, dass der
Prozentsatz der Arbeitslosen unter der industriellen Bevölkerung in
den Jahren der Geschäftsstockung ein sehr hoher ist und jene nicht
sehr bedeutenden Zahlen, die in den Berichten der Gewerkvereine
verzeichnet werden, weit hinter sich zurück lässt.
Wir wollen jedoch zur detaiUierten Betrachtung der Schwan-
kungen der Arbeitslosigkeit in den einzelnen Industriezweigen zurück-
kehren. Wir haben gesehen, dass die cyklischen Schwankungen am
schärfsten in den Produktionszweigen, die Produktions- und Transport-
mittel produzieren, zum Ausdruck kommen. Dieselbe Erscheinung be-
obachten wir, wenn wir mit den Jahresschwankungen des Prozent-
satzes der Arbeitslosen die Saisonschwankungen der Arbeitslosigkeit
je nach der Jahreszeit vergleichen.
In der auf S. 412 angeführten Tabelle ist diese Zusammenstel-
lung für jeden Produktionszweig gemacht^).
Die horizontalen Zahlenreihen bringen die cyklischen (Jahres)-
Schwankungen zum Ausdruck, die vertikalen Reihen, die Saison-
(Monats-) Schwankungen. In der Bauindustrie sind die Saison- und
die cyklischen Schwankungen beinahe gleich stark. Die grösste
Zahl der Arbeitslosen in der Bauindustrie ist im Januar zu beob-
achten (4,7 ö/o, wenn wir die Durchschnittszahl für sieben Jahre nehmen),
die geringste Zahl der Arbeitslosen haben wir im August (1,9%).
Die Jahresschwankungen sind um einiges stärker als die Monats-
schwankungen: im Jahre der grössten Arbeitslosigkeit (1894) waren
durchschnittlich 4,1 % Arbeitslose und im Jahre der geringsten
Arbeitslosigkeit (1898) 1,3 Vo- I^ der Metallbranche sind dagegen
die Monatsschwankungen ganz geringfügig: der Monat der grössten
Arbeitslosigkeit, der Dezember (8,3 % Arbeitslose), übertrifft nur um
ein weniges den Monat der geringsten Arbeitslosigkeit, den Juni
(6,3 % Arbeitslose). Zugleich aber sind die cyklischen Schwan-
kungen sehr gross (11,4 — 4,0%). Im Buchdruckerei- und Buch-
bindereigewerbe sind die Saison- sowohl wie die cyklischen Schwan-
kungen unbedeutend.
Also die grössten cykhschen Schwankungen finden in der
Metallbranche statt. Leider können wir in diesem Falle nur drei
Industriezweige miteinander vergleichen, weil nur für diese Zweige
l) Nach dem Fifth Annual Abstract of Labour Statistics.
— 4' -2
1892
i893
1894
1895
1896
1897
1898
Im Durch-
schnitt für
7 Jahre
Prozentsatz der Arbeitslosen in der Bauindustrie
Ende :
Januar .
Februar .
März .
April . .
Mai . .
Juni
Juli . .
August
September
Oktober .
November
Dezember
3.3
3,8
4,4
4.5
2,8
2,3
2,3
2,1
2,1
2,4
3,2
3,0
6,1
7,3
8,2
3,7
2,4
2,0
5,0
4,4
10,1
2,5
2,0
1,7
3,8
3-,8
4,9
2,6
1,2
1,6
2,5
3,1
3,3
1,5
1,0
1,1
2,5
3,6
2,5
1,6
0,8
1,2
2,6
3,8
2,5
1,5
^,5
1,2
2,8
3,6
2,4
1,8
1,3
1,0
2,8
3,2
1,8
1,1
1,2
0,9
3,1
3,6
1,6
1,3
»,4
0,9
3,9
3,8
1,9
0,9
1,7
0,9
4.0
4,2
2,1
0,9
1,6
1,1
6,5
5,7
3,8
2,1
2,8
1,8
3,8
4,1
3,8
1,8
1,6
1,3
4,7
4,2
3,2
2,4
2,1
2,2
2,2
1,9
2,0
2,2
2,4
3,7
Im Durchschnitt pro Jahr
3,0
2,8
Prozentsatz der Arbeitslosen im Maschinen-
und in der Metallbranche
und Schilfbau
Ende :
Januar .
Februar .
März . .
April . .
Mai . .
Juni . .
Juli . .
August
September
Oktober .
November
Dezember
5,5
6,1
7,2
7,5
7,2
7,0
7,3
7,1
7,3
8,7
10,5
1 1,1
12,0
1 1,6
10,8
10,4
10,5
10,0
10,7
11,4
12,2
12,2
12,4
12,6
10,7
9,7
10,5
10,1
10,0
9,9
12,0
12,5
12,4
12,3
11,5
12,3
11,4
10,7
9,2
8,7
8,1
7,8
7,5
7,3
7,2
7,6
6,4
6,7
5,7
4,7
4,1
3,8
3,8
3,7
3,7
4,1
4,7
4,2
3,8
3,9
3,5
3,1
2,9
2,9
2,5
2,9
3,4
4,8
6,7
7,9
8,0
8,7
Ы
7,0
4,5
4,0
3,2
3,1
3,3
3,3
3,1
3,0
2,6
3,2
8,1
7,6
7,0
6,8
6,5
6,3
6,8
7,2
7,7
8,0
7,9
8,3
Im Durchschnitt pro Jahr
7,7
11,4
11,2
8,2
4,3
4,8
4,0
7,4
Prozentsatz der Arbeitslosen in Buchdruckereien und
Buchbindereien
Ende:
Januar .
Februar .
März .
April . .
Mai . .
Juni
Juli . .
August
September
Oktober .
November
Dezember
4,6
5,0
2,9
2,9
2,3
3,4
3,2
4,3
4,3
Ы
6,3
3,7
Im Durchschnitt pro Jahr 4,3
3,8
3,3
2,8
2,6
2,6
2,8
3,0
6,3
6,3
5,2
3,8
6,0
6,1
5,7
5,4
4,9
6,0
6,4
6,1
7,5
6,5
5;I
3,7
4,5
4,1
5,7
5,3
4,8
4,9
5,4
5,6
5,5
4,1
6,7
5,7
3,8
2,5
4,1
4,9
5,4
4,9
4,6
4,4
4,8
4,8
3,8
5,6
5,0
3,4
2,3
3,0
4,3
4,8
4,4
3,6
3,7
3,4
4,4
3,1
5,3
5,4
3,5
2,5
3,1
3,9
4,9
3,6
3,0
3,1
3,6
3-8
3,0
4,6
4,6
3,3
2,4
2,9
3,7
5,0
4,5
3,9
3,9
4,0
4,4
3,8
5,8
5,4
4,6
3,4
4,0
4,4
413 —
das englische Arbeitsdepartement Daten über die Arbeitslosen zahl
veröffentlicht. Man kann jedoch ein indirektes Merkmal finden, um
die Intensität der cyklischen Schwankungen in allen wichtigsten
Produktionszweigen zu bestimmen. Als dieses Merkmal können die
Daten über die jährlichen Veränderungen der Löhne in den ver-
schiedenen Produktionszweigen gelten. In der folgenden Tabelle
ist für das Jahrfünft 1893 -1897 für verschiedene Produktions-
zweige der Prozentsatz der Arbeiter zusammengestellt, deren Löhne
sich im Laufe des Jahres verändert haben i).
Produktionsart
Prozentsatz der Zahl der Arbeiter, deren Löhne
sich während des Jahres verändert haben, zu der
Gesamtzahl der Arbeiter, die im betreffenden
Industriezweig beschäftigt sind.
1893
1894
1895
1896
1897
10,8
10,1
24.7
29,8
23,4
18,7
0,8
0,7
0,6
0,3
0,3
0.5
5,0
2,5
1.9
3-3
0,7
0,8
Im Durch-
schnitt für
5 Jabre
Bauindustrie
Erz- tmd Kohlengewinnung ....
Metallbearbeitung, Maschinen- und Schiff-
bau
Textilindustrie
Konfektionsindustrie
Buchdruckgewerbe
Holzindustrie
Glas- und Keramische Industrie .
Chemische Industrie, Nahrungsmittel- und
Tabakindustrie
SA
3^,9
1 1,0
4,4
0,6
0,4
0,2
0,1
0,1
4,0
64,2
5,3
1,2
0,9
o<3
0,4
1.9
0,03
3.0
39.0
4.5
1,3
0,3
0,2
0.5
2,2
0,2
6,7
38,9
12, Ь
1.7
o,5
0.3
1,7
1.9
0,4
Diese Tabelle zeigt, dass den grössten Schwankungen ausgesetzt
sind die Löhne in den Produktionszweigen, die Produktionsmittel er-
zeugen, insbesondere die in der Erz- und Steinkohlenindustrie und in
der Metallbranche. In der Textilindustrie, wie in anderen Zweigen
der die Konsumtionsmittel produzierenden Industrie sind die Schwan-
kungen der Löhne ganz geringfügig.
Diese Daten stimmen vollkommen mit der in diesem Buch dar-
gelegten Krisentheorie überein. Wie dem Leser erinnerlich sein
dürfte, werden nach dieser Theorie die periodischen Krisen durch
eine periodische Schaffung des gesellschaftlichen stehenden Kapitals
hervorgerufen. Wäre diese Theorie richtig, so müssten die grössten
cyklischen Schwankungen sich in der Produktion von Maschinen und
Werkzeugen (in dem, was Bagehot die instrumental trades ge-
nannt hat), und in der Produktion von Metallen und Steinkohlen, die
für die Maschinen Bau- und Heizungsmaterial bilden, zeigen. Und
das ist in der That der Fall.
i) Nach dem Report and Statistical Tables relating to Changes in Rates of Wages
and Hours of Labour in the United Kingdom in 1897, 1898.
— 414 —
Es ist interessant etwas bei dem Baugewerbe zu verweilen.
Wir haben oben gesehen, dass im Baugewerbe die cykHschen
Schwankungen der Arbeitslosigkeit nicht bedeutend sind. Die letzten
Jahre sind im Baugewerbe durch einen ausserordentlich niedrigen
Prozentsatz der Arbeitslosen gekennzeichnet. Die Daten über die
Pföhe der Löhne im Baugewerbe (wir führen diese Daten nicht an)
zeigen, dass das Baugewerbe die einzige Industrie ist, in der in den
letzten Jahren die Löhne ununterbrochen stiegen in den Jahren der
Depression sowie des Aufschwungs. Die so überaus günstige Lage
der Bauindustrie erklärt sich dadurch, dass die Bauindustrie nicht
für den Weltmarkt, sondern ausschliesslich für den lokalen Markt
arbeitet; sie hat die Konkurrenz des Auslandes nicht zu fürchten
und durch den Stempel „Made in Germany" wird sie nicht bedroht.
Zugleich wird die Nachfrage nach der Bauarbeit nicht nur durch
den Zustand der Industrie, sondern auch durch das Wachstum der
Bevölkerung bestimmt Da aber das Wachstum der Bevölkerung
viel gleichmässiger als das Wachstum der Industrie vor sich geht, so
leidet auch das Baugewerbe von Geschäftsstockung weniger als z. B.
der Maschinenbau, der die Produktionsmittel der Industrie her-
stellt. Das Baugewerbe, das gleichzeitig Produktionsmittel (Werk-
stätten) und Konsumtionsmittel (Wohnungen) erzeugt, vereinigt in
sich die Züge der beiden Hauptabteilungen der Industrie (der Pro-
duktion von Produktionsmitteln und der von Konsumtionsmitteln),
und daher werden die cyklischen Schwankungen in der Bauindustrie,
obwohl sie ganz klar zum Ausdruck kommen, nicht so gross wie im
Maschinenbau und der Metall- und Steinkohlenproduktion.
Sind die in diesem Buche niedergelegten Anschauungen über
die Ursachen der Krisen in der kapitalistischen Wirtschaft richtig,
so kann nichts irrtümlicher sein als die Ansicht, die von einigen
Schriftstellern (z. B. von Bernstein) neuestens ausgesprochen wird,
dass die neueste Entwicklung des Kapitalismus die Gefahr des
periodischen Eintretens von Krisen beseitigt habe. Allerdings haben
die Krisen des früheren Typus aus Gründen, auf die oben hingewiesen
wurde, in England aufgehört. Die früheren Krisen glichen einem
Sturmwinde, der rasch über das Land hinfegte und alles auf seinem
Wege zerstörte, aber eben so schnell wieder verschwand. Jetzt ist
die Krisis nicht mehr ein akuter Krankheitsanfall, sondern eine sich
in die Länge ziehende Krankheit; so war z. B. die Weltkrisis von
1857 eine wahre ökonomische Katastrophe, die in kurzer Zeit die
Handelsthätigkeit der gesamten kapitalistischen Welt gestört und sie
beinahe zu einem vollständigen Stillstand gebracht hat. Alles schien
— 4^5 —
zusammengebrochen und darniedergefallen zu sein. Aber bereits
nach einem Jahre waren die Spuren der Krisis fast verwischt und
i die Industrie war belebter als je zuvor. Daher nimmt es nicht Wunder,
? dass die alten Krisentheoretiker (allerdings aus der Zahl der Apologeten
\ der kapitalistischen Wirtschaftsweise, wie J. B. Say) die Krisen mit
einem Gewitter verglichen, das Bäume bricht, aber die Atmosphäre
> reinigt und die Felder erfrischt. Jedoch auf die Krisen der Gegenwart
würde selbst ein eingefleischter Optimist, der immer bereit wäre zu
jubeln und auf das Bestehende Lobeshymnen zu singen, nicht eine
solche Charakteristik anwenden. In England gab es keine Handels-
katastrophe zu Beginn der 80 er Jahre, und trotzdem befand sich
die Industrie ungefähr vier Jahre hindurch in der schwersten Stockung.
Ebenso rief der Zusammenbruch der Firma Bar in g im Jahre i8go
keine allgemeine Erschütterung des englischen Kredites hervor, und
trotzdem zog sich die Geschäftsstockung über 3 bis 4 Jahre hin. Die
Börsenpanik und die Bankerotte treffen mit ihrer Wucht die Unter-
nehmer und die besitzenden Klassen; unter einer Geschäftsstockung
leiden am schwersten die Arbeiter. Daher kann man sagen, dass
ein Vergleich zwischen den Krisen der Gegenwart und denen der
fünfziger und sechziger Jahre nicht zu Gunsten der Krisen des neuen
Typus ausfällt.
Viele glauben, dass die Krisen durch das weitere Wachstum
•von verschiedenerlei Unternehmerverbänden, Kartellen, Syndikaten,
Trusts beseitigt werden können, da diese die Tendenz haben, direkt
oder indirekt die nationale Produktion zu regeln. Wir sind durch-
aus nicht geneigt, die Bedeutung solcher Verbände zu unterschätzen;
ihre allgemeine Verbreitung ist in unseren Augen der beste Beweis
für den Bankerott des Prinzips der freien Konkurrenz im Wirtschafts-
leben der Gegenwart und für die Notwendigkeit einer planmässigen
Organisation der gesellschaftlichen Produktion. Die Kartelle stellen
einen höchst bedeutenden Fortschritt der kapitahstischen Wirtschaft auf
dem Wege der Konzentration des Betriebes dar. Aber immerhin halten
wir es für ganz unmöglich^ dass die Kartelle den industriellen Cyklus
aufheben. Ein Kartell kann in einem einzelnen Industriezweig eine
planmässige Organisation der Produktion einführen; aber das gegen-
seitige Verhältnis solcher organisierten Produktionszweige bleibt
ebenso unorganisiert und planlos wie früher. Die Kartelle ver-
hindern durchaus nicht, dass das Eisenbahnnetz heute, wie früher,
stossweise erweitert wird, dass das neue gesellschaftliche stehende
Kapital nicht allmählig von Jahr zu Jahr, sondern periodisch geschaffen
wird. Der ganze Mechanismus der Akkumulation des freien Leih-
— 4i6 —
kapitals bleibt durch die Kartelle unberührt. Der industrielle Cyklus
ist im inneren Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung" be-
gründet — und nur die Aufhebung der kapitalistischen Wirtschaft
kann der periodischen Wiederkehr der Depressionen vorbeugen. Zwar
können die Kartelle die Schroffheit des Uebergangs von Aufschwung
zu Stockung mildern. Die Kartelle können das Sinken der Warenpreise
durch plan massige Einschränkung der Produktion abschwächen. Die Ein-
schränkung der Produktion ist aber für die Arbeiter gleichbedeutend
mit einer Arbeitslosigkeit. Gerade die Einschränkung der gesell-
schaftlichen Produktion ist ja der Uebelstand, gegen den angekämpft
werden muss. Gegen diesen Uebelstand sind die Kartelle machtlos.
Die Bedeutung der Kartelle für die Unternehmer besteht eben darin,
dass sie die Last der Depression von den Unternehmern auf die
Arbeiter abwälzen, wobei sie mit Erfolg die Interessen der Unter-
nehmer durch Regulierung der Preise der Produkte schützen, wovon
ja die Profite des Kapitalisten abhängen. Nur in dem Falle könnten
die Kartelle den industriellen Cyklus aufheben, wenn sie nicht nur
die einzelnen Indusriezweige, sondern auch die Akkumulation des
gesamten gesellschaftlichen Kapitals und seine planmässige Anlage
in den verschiedenen Industriezweigen regelten, und zwar nicht nur
in einzelnen Ländern, sondern in der gesamten kapitalistischen Welt-
wirtschaft überhaupt. Kann man aber eine solche Wirtschaftsordnung
als möglich betrachten? Das wäre ein Kollektivismus in Interessen
der wenigen Kapitalisten. Die Arbeiterklasse wäre unter solchen Be-
dingungen der organisierten Kapital! stenklasse gegenüber ganz ohn-
mächtig, welche das gesamte gesellschaftliche Leben in ihrem Interesse
regeln würde. Auf dem Wege einer Verwirklichung einer solchen
Wirtschaftsordnung ständen grössere Schwierigkeiten da, als auf
dem Wege der Verwirklichung des Sozialismus, da die sozialistische
Organisation der Volkswirtschaft ihrer Idee nach eine Organisation
im Interesse der grossen Mehrzahl der Bevölkerung werden muss,
während die kapitalistische Organisation nur im Interesse der kleinen
Minorität der Bevölkerung geschehen kann. Daher muss man eine
kapitalistische Organisation der Volkswirtschaft als eine wahre Utopie
betrachten. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung muss planlos
bleiben.
Vermindert sich die Arbeitslosigkeit in der neuesten Phase der
Entwickelung der enghschen Wirtschaft? Die Statistik kann darauf
keine Antwort geben, aber viele Umstände veranlassen uns, vielleicht
das Gegenteil anzunehmen.
— 4^7 —
Einige hervorragende Forscher des englischen Wirtschaftslebens
> stehen dabei uns zur Seite. So erklärt z. B. Hobson: „Der allge-
meine Zustand des Arbeitsmarktes in England ist durch eine Ver-
mehrung der Schwankungen gekennzeichnet und die unproduktive Ver-
ausgabung von Arbeitskraft ist gegenwärtig grösser als vor 50
( Jahren." 1) Charles Booth erklärte vor der Parlamentskommission,
: die die Arbeitslosigkeit im Jahre 1895 zu untersuchen hatte, dass,
* nach seiner Meinung, „die verbesserte Organisation der Industrie
■ unbestritten nach einer grösseren Stetigkeit der Beschäftigung hin-
strebe. Aber auf diesem Wege wird sie unmittelbar gegen die
Arbeitslosen wirken. Sie schafft eine grössere Zahl von Arbeitslosen,
, sie begünstigt die besseren Arbeiter. Je grösser der Teil der Arbeit,
die regelmässig ausgeführt wird, desto weniger bleibt für solche übrig,
die unregelmässig arbeiten. Das ist es gerade, was die Lage der
rein zufälligen Arbeiter verschlechtern muss. Vor dem Dockerstreik
hielt es die A^erwaltung der Docks für sehr vorteilhaft, dass sich zur
Arbeit in den Docks möglichst viele Mitbewerber meldeten. Seit
dem Streik hat sich das geändert, und der Vorsitzende des Ver-
einigten Komitees der Docks, Mr. Hubbard, macht alle Anstrengungen,
um die Zahl der zufälligen Arbeiter zu vermindern. Er ist stets be-
müht, die Arbeit, die den regulären Arbeitern zufällt, zu vermehren.
Die Folge davon ist offenbar die, dass für die irregulären Arbeiter
immer weniger und weniger Arbeit übrig bleibt, und diesen Umstand
kann man als eine der Ursachen der Not betrachten, die im East-end
von London herrscht." 2)
In demselben Sinne sprach sich auch der Chef des englischen
Arbeitsdepartements, LlewellynSmith, aus, einer der besten Kenner
der sozialen Verhältnisse Englands. „Ich bin davon überzeugt, sagte
er, dass im allgemeinen die meisten Schritte in der Richtung nach
einer plan massigeren Organisation der Industrie die Tendenz haben,
die Beschäftigten strenger von den Unbeschäftigten zu trennen, d. h.
die Arbeitslosigkeit, wenn es erlaubt ist, sich so auszudrücken, auf
eine geringere Anzahl von Leuten zu konzentrieren, wobei dann diese
während einer längeren Periode keine Arbeit haben." Die weiteren
Aussagen Smiths zeigen, dass die Tendenz der neuesten Zeit nach
seiner Meinung dahin gehe, dass die Arbeitslosigkeit in wachsendem
Grade mit ihrer ganzen Wucht die weniger geschickten Arbeiter
treffe. Es findet gewissermassen eine natürliche Zuchtwahl statt.
i) Hobson, The Problem of the Unemployed, S. 35.
2) Third Report on Distress from Want of Employment. Aussage von Charles
Booth.
Tugan-Baranowsky , Die Handelskrisen. 27
„Eine planmässigere Organisation, sagt Smith, hat die Tendenz, die
Arbeit für die b^ähigen zu erweitern und die Lage der tiefer
Stehenden zu verschHmmern.'^ i)
Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass die kapitalis-
tische Wirtschaftsweise heute wie früher eine industrielle Reserve-
armee erzeugt, deren Vorhandensein eine der Bedingungen der
weiteren Entwickelung der kapitalistischen Industrie ist. Die be-
deutsamen Arbeiten von Charles Booth, der eine detaillierte Unter-
suchung der Lebensverhältnisse der Londoner Bevölkerung angestellt
hat, liefern uns vorzügliches Material, um über den Charakter dieser
Reservearmee zu urteilen. Booth teilte namentlich die gesamte
Londoner Bevölkerung in 8 Klassen ein. Die niedrigste Klasse A,
das sind die Barbaren, die mitten in unserer Civilisation leben, Ver-
brecher und halbe Verbrecher, Vagabunden, Leute, die keine
Wohnung haben, die nächtigen, wo es sich gerade trifft, die ohne
eine bestimmte Beschäftigung leben und keine Beute verachten. Das
ist die niedrigste Stufe auf der sozialen Leiter. „Ihr Leben, sagt
Booth, ist ein Leben, das zwischen äusserster Not und zufälligem
Ueberfluss hin- und herschwankt.'* Auf diese Klasse entfällt nach
der Berechnung von Booth nur gegen i ^/o der Londoner Bevölkerung,
da aber diese Leute nicht gezählt werden können, so ist es möglich,
dass ihrer bedeutend mehr sind. Dann folgt die Klasse B, sehr arme
Leute, mit einem zufälligen Erwerb. Sie bilden die Klasse der
chronischen Arbeitslosen, da die durchschnittliche Dauer ihrer Be-
schäftigung drei Tage pro Woche nicht überschreitet. In dieser
Klasse sind auch viele unverbesserlich und für dife Civilisation ver-
loren. „Sie ertragen die Regelmässigkeit und die Langeweile einer
civilisierten Existenz nicht," sagt Booth. „Sie wären wohl kaum
bereit, eine ganze Woche zu arbeiten, selbst wenn sie dazu die
Möglichkeit hätten." Auf diese Klasse entfallen 8,4 ^/0 der Londoner
Bevölkerung.
Von diesen beiden Klassen ist die Klasse А für die Gesellschaft
nicht nur unnütz, sondern zweifellos direkt schädlich; sie grebt der
Gesellschaft nichts, aber sie macht bedeutende Ausgaben erforderlich,
um die Gesellschaft vom sozialen Schlamm zu reinigen, der sich in
den unteren Räumen des prächtigen Gebäudes des Kapitalismus
anhäuft. Die Klasse В ist nach Booth, wenn auch nicht schädlich,
so doch ganz überflüssig. Die Arbeit dieser Klasse ist so wenig
produktiv, dass sie ohne Mühe von den höheren Klassen der Arbeiter
i) A. a. O., Aussage von Llewellyn Smith.
— 4^9 —
ausgeführt werden könnte. Also, bilden ganz überflüssige oder sogar
schädliche Elemente, die sich in den sozialen Tiefen ablagern, nach
Booths Berechnung" beinahe lo ^/q der Bevölkerung Londons.
Alles das ist ein ständiger und stabiler Bodensatz des Kapi-
talismus, der sich nicht höher erheben kann. Die Leute dieser Klasse
haben keine Zukunft, sie sind endgültig dem Untergang verfallen.
Die erbarmungslose soziale Ordnung hat sie zerdrückt und vernichtet,
in Wilde oder Halbwilde verwandelt, ihre Seele, und nicht selten
auch ihren Körper verunstaltet, und es bleibt ihnen nur übrig, sich
in ihr Geschick zu fügen oder einen Guerillakrieg gegen ihren Feind,
die gegenwärtige Gesellschaft, zu führen.
Obwohl aber die Existenzverhältnisse die Menschen dieser
Klasse unfähig zu jedweder konstanter Arbeit gemacht haben, beruht
ihr Fallen durchaus nicht auf ihren persönlichen Eigenschaften.
Was treibt die Leute in die Zahl der Verbrecher oder der chronisch
Arbeitslosen? Nach Booth finden in der Trunksucht nicht mehr als
14^/0 der Fälle der äussersten Not in East-end ihre Erklärung; Krank-
heit oder physische Schwäche erklären 10 ^/0 dieser Fälle, eine zu grosse
Zahl von Familienangehörigen 8 ^Д. Alle übrigen Fälle aber lassen
sich nicht in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den persönlichen
Eigentümlichkeiten der Armen bringen. Es ist selbstverständlich,
dass diese Leute im Kampf ums Dasein die am mindesten starken
und befähigten sind. Sie haben diesen Kampf nicht ausgehalten
und sind gefallen. Trotzdem aber liegt die Ursache ihres Fallens vor
allem in der Grausamkeit des Kampfes selbst.
Die dritte Klasse С hat ein wechselndes kleines Einkommen.
Diese Klasse (die ihrer Zahl nach der vorangegangenen ungefähr
gleich ist) wird am schwersten durch die Handelskrisen getroffen.
Die zu dieser Klasse gehörenden verlieren die Arbeit während der
Dauer der Krisen und erhalten sie wieder, wenn der Warenmarkt
sich belebt. Sie bilden eigentlich die disponible Reservearmee des
KapitaHsmus, aus der die thätige Armee des Kapitalismus in den
Jahren des industriellen Aufschwungs wird, während die zwei ersten
Klassen für die Zwecke der kapitalistischen Industrie fast nutzlos
sind. Zusammen mit der Klasse D, die ein kleines regelmässiges
Einkommen hat, verweist Booth die Klasse С in die Gruppe „Armut."
Das gewöhnliche Einkommen dieser beiden Klassen übertrifft nicht
21 Schilling pro Woche. Die Klassen С und D bilden 22.7 % der
Londoner Bevölkerung.
Also auf alle vier Klassen, von denen die beiden niedrigeren
die Gruppe der äussersten Armut, und die beiden höheren die
27*
l\20
Gruppe der Armut darstellen, entfällt gegen 1/3 der Londoner Be-
völkerung. Gegen die Hälfte der Bevölkerung entfällt auf Arbeiter
mit einem Einkommen über 21 Schilling pro Woche. Auf die
höheren und mittleren Klassen (die nicht zu physischen Arbeitern
gehören) entfallen 17,4^0 der Bevölkerung von London i).
So differenziert sich also die Londoner Bevölkerung nach der
Untersuchung von Booth. Gegen 1/3 der Bevölkerung in einer
Zahl von über 1300000 gehört zu den Armen und äussersten
Armen, auf die wohlhabenden Klassen entfällt weniger als 1/5 der
Bevölkerung.
Die Untersuchungen von Booth haben ein neues und grelles
Licht auf die Struktur der englischen Gesellschaft auch von einer
anderen Seite geworfen, nämlich von der des Pauperismus. Die Zahl
der Paupers, der Leute, die vom Staate den Unterhalt beziehen, da
sie keine anderen Existenzmittel haben, ist in England verhältnis-
mässig nicht gross. In den letzten Jahren schwankt sie um 800000,
d. h. um etwa 3 ^o der Bevölkerung. Es ist das ein verhältnismässig
unbedeutender Prozentsatz. Man darf aber nur nicht vergessen, dass,
da der englische Arbeiter der Gegenwart es für die grösste Schmach
ansieht, eine Unterstützung vom Kirchspiel zu erhalten, der niedrige
Prozentsatz der Paupers noch nicht darauf schliessen lässt, dass die
Zahl der Fälle äusserster Not unbedeutend ist.
Aber, wie gesagt, die Arbeiten von Booth haben ein ganz
neues Licht auf den englischen Pauperismus geworfen. Namentlich
war Booth der glückliche Gedanke gekommen, die Verteilung der
Paupers nach dem Alter zu untersuchen und sie mit den entsprechen-
den Altersgruppen der gesamten Bevölkerung zu vergleichen. Dabei
benutzte Booth die Daten über die Zahl der Paupers nicht für einen
bestimmten Tag (den i. Januar oder den i. Juli, wie die gewöhn-
liche Statistik des Pauperismus in England geführt wird), sondern für
das ganze Jahr, d. h. über die Gesamtzahl der Personen, die während
des Jahres mehr oder minder lange Zeit Unterstützungen von den
Armenbehörden erhalten.
Es ergab sich die folgende auffallende Tabelle:
Anzahl der Paupers in England im Jahre 1892 auf je 1000
der Bevölkerung des betreffenden Alters:
Unter 16 Jahren .... 51 Von 70—74 „ ... 313
Von 16—59 Jahren ... 32 „ 75 — 79 » ... 394
„ 60 — 64 „ ... 132 Uebcr 79 Jahren . . . . 413
„ 65—69 „ ... 206
l) Vgl. Charles Booth, Life and Labour of the People of London, Vol. IL
London 1892.
— 421 —
Wenn man sämtliche Paupers, die mehr als 65 Jahre alt sind,
zusammennimmt, so beträgt ihre Zahl 29,2 % der Bevölkerung des
betreifenden Alters in England. Mit anderen Worten, beinahe ein
Drittel der alten Leute in England sind Paupers! Da es aber in den
höheren und mittleren Klassen der Bevölkerung gar keine Paupers
giebt, so muss man, nach Booth, annehmen, dass für die Arbeiter-
klassen das Verhältnis der Zahl der Paupers über 65 Jahre 40 oder 45 %
zur Gesamtzahl ihrer Altersgenossen beträgt, d. h. beinahe die Hälfte i).
Also beinahe die Hälfte der Arbeiter, die das Unglück gehabt
haben, alt zu werden, ist verurteilt, ihr Leben als Paupers zu be-
schliessen! Und das in dem reichsten Lande der Welt, in England!
Der Kapitalismus kennt gegenüber dem Schwächsten kein Erbarmen:
die Alten können nicht mehr arbeiten, und man wirft sie hinaus, л¥1е
untauglichen menschlischen Schutt, der seine Schuldigkeit gethan hat
und jetzt niemand mehr nütz ist, — ins Arbeitshaus.
Mit dem Wachstum der Konkurrenz wird das Leben immer
schwerer, immer früher wird die Arbeitskraft durch das Kapital
konsumiert und hört auf von dem Arbeitsmarkte aufgenommen zu
werden. „In vielen Industriezweigen, sagt Hobson, so z. B. im
Bergbau, unter den Matrosen, Spinnern, in der Metallbranche, im
Maschinenbau ist es für einen Mann von 40 — 50 Jahren thatsächlich un-
möghch, eine gesicherte Beschäftigung zu finden. Trotz aller seiner Be-
mühungen, das Aussehen eines nicht alten Mannes zu bewahren, fühlt
ein solcher Arbeiter, dass die Arbeit seinen Händen entgleitet; seine
Geschicklichkeit und Erfahrung können ihn nicht vor der Konkurrenz
der jungen Generation retten, die ihn in der Schnelligkeit der Arbeit
und in der Muskelenergie überholt. In den idealen Konstruktionen der
Zukunftsgesellschaft", fährt Hobson fort, „wird es nicht selten an-
genommen, dass 20 oder 25 Jahre, die Periode der grössten Ent-
wickelung der Kräfte des Mannes und der Frau, eine vollkommen
genügende Zeit seien, um die Arbeitskraft des Menschen zum Nutzen
der Gesellschaft zu verwenden. Unter den heutigen Verhältnissen
bildet die frühzeitige zwangsweise Entfernung von der Arbeit, die
nicht einem ehrenvollen und gesicherten Wohlstand der Erholung
Platz macht, sondern einem erniedrigenden Bettelkampf um gering-
fügige und zufällige Existenzmittel, die dazu noch immer unsicherer
werden, je mehr das Alter zunimmt, eine der erschütterndsten Formen
des Problems der Arbeitslosigkeit'* ^).
1) Charles Booth, The Aged Poor in England and Wales. London 1894,
S. 42, 420.
2) The Problem of the Unemployed, 16. Daraufhaben vor Hobson noch Booth und
viele andere hingewiesen. Vgl. Geoffrey Drage, The Problem of ihe Aged Poor, S. 43 — 44.
422
Und diese Arbeitslosigkeit erfährt nicht nur keine Einschränkung,
sondern sie nimmt in der neuesten Zeit noch zu. Charles Booth,
zweifellos der kompetenteste Gewährsmamn, sagt darüber das folgende:
„In den grossen Industriecentren befinden sich heute die alten Leute
zweifellos in einer schlechteren Lage als vor 20 Jahren. Die alten
Leute leiden infolge der wachsenden Schwierigkeit, eine Beschäftigung
zu finden. Dieselben Verhältnisse, die die Lage der Jungen ver-
bessert haben, wirken gegen die Alten. Die Kinder haben freilich
in vielen Fällen heute mehr die Möglichkeit den Eltern zu helfen,
aber sie haben, wie man befürchten kann, oft weniger Lust dazu."
Es ist interessent, dass, nach Booth, es „in Bezug auf die Beschäf-
tigung von Leuten in einem hohen Alter auf dem platten Lande
besser als in der Stadt und bei den PVauen besser als bei den
Männern steht . . ." „Auf dem Lande erhalten die alten Leute ihre
Kraft längere Zeit und selbst, wenn sie schon schwach und siech
geworden sind, können sie doch irgend welche landwirtschaftliche
Arbeiten ausführen. In der Stadt werden sie nicht nur früher
schwach, sondern sie werden schon noch früher für unfähig zur
Arbeit gehalten. Die Arbeitsperiode ist auf dem Lande um 10 Jahre
länger als in der Stadt" ^).
Also die Arbeitslosigkeit in mannigfaltigen Formen, die vor-
übergehende und zufällige Arbeitslosigkeit, welche bei jedem Zustand
des Arbeitsmarktes für jeden besonderen Arbeiter eintreten kann, die
länger andauernde Arbeitslosigkeit, die sich ganze Monate und Jahre
hindurch hinzieht, je nach den Phasen des industriellen Cyklus, die
chronische Arbeitslosigkeit des Auswurfs der gegenwärtigen Gesell-
schaft, des sozialen Bodensatzes des Kapitalismus, die Arbeitslosigkeit
von Leuten, die das reife Alter überschritten haben, und die von
Greisen — alle diese Formen der Arbeitslosigkeit stellen einen spezi-
fischen Zug des Kapitalismus dar, als einer bestimmten historischen
Wirtschaftsordnung. Kann nun der Kapitalismus, solange er er selber,
d. h. eine Wirtschaftsordnung bleibt, die darauf begründet ist, dass
der wirtschaftliche Prozess von individuellen Unternehmern geleitet
wird, welche die Arbeit durch Lohnarbeiter verrichten lassen, sich
des industriellen Cyklus, der chronischen Reservearmee von Arbeits-
losen, der Arbeitslosigkeit der alt gewordenen Arbeiter u. s. w. ent-
ledigen? Die Theorie sowohl wie die Erfahrungen sprechen dagegen.
Die Theorie beweist, dass der industrielle Cyklus im inneren Wesen
des Kapitalismus begründet ist und dass die industrielle Reserve-
i) The Aged Poor, S. 321, 331, 332.
— 423 —
armee eine notwendige Vorbedingung des Wachstums der kapitalis-
tischen Industrie ist. Die Erfahrung zeigt, dass die Arbeitslosigkeit
mit der weiteren Entwickelung der Industrie durchaus keine Ein-
schränkungen erfährt und sogar in mancher Hinsicht noch schwe-
rere Formen annimmt.
Es giebt allerdings Mittel zur Bekämpfung, freilich nicht der
Arbeitslosigkeit selbst, wohl aber des Notstandes, der durch die
Arbeitslosigkeit erzeugt wird. Aber wie beschränkt ist die Wirkungs-
sphäre dieser Mittel! Die Gewerkvereine sind die einzigen Organi-
sationen , die mehr oder minder erfolgreich danach streben , die
Leiden der Arbeitslosigkeit abzuschwächen. Auf die Thätigkeit der
Arbeiterorganisationen in England muss auch die unbestrittene That-
sache zurückgeführt werden, dass, obgleich die Arbeitslosigkeit in
der neuesten Phase der Entwickelung der englischen Wirtschaft nicht
abgenommen, sondern vielleicht noch zugenommen hat, die durch die
Arbeitslosig'keit hervorgerufene Not sich zweifellos stark vermindert
hat. Aber immerhin darf die Bedeutung der Gewerkvereine in
diesem Sinne nicht überschätzt werden. Die Perioden der Arbeits-
losigkeit stellen zugleich Perioden der Schwächung der Arbeiter-
organisationen dar, da die Arbeitslosenunterstützung die Vereinskassen
ausserordentlich belastet und viele Vereine, die diese East nicht aus-
halten können, liquidieren müssen. Aber die staatliche Versicherung
gegen die Arbeitslosigkeit? Eine solche giebt es, abgesehen von
einigen schwachen Versuchen dieser Art, die in der allerletzten Zeit
in einigen Kantonen der Schweiz gemacht werden, nirgends. Aber
auch die staatliche Versicherung gegen die Arbeitslosigkeit ist einmal
machtlos, etwas gegen die Hauptursache des Uebels — die Arbeits-
losigkeit selbst — auszurichten, dann aber kann sie den Arbeitslosen
keine ausgedehnte Hilfe gewähren, ohne eine bedeutende Ver-
mehrung der Steuerlast oder eine bedeutende Verringerung des
Arbeitslohnes der beschäftigten Arbeiter hervorrufen.
Wenn aber eine solche staatliche Versicherung gegen die
Arbeitslosigkeit wirklich in weitem Umfang organisiert werden würde,
so würde das nun einen sehr entschiedenen Schritt in der Richtung
zum Sozialismus bedeuten. Die Versicherung gegen die Arbeitslosig-
keit wird natürlich mit einem Arbeitsnachweis für Arbeitslose ver-
knüpft. Aber vv'ann könnte der Staat die Verpflichtung übernehmen,
den Arbeitslosen Beschäftigung nachzuweisen? Nur dann, wenn er
den Weg der Verstaatlichung der Produktion und der Produktions-
mittel betritt.
— 424 —
Die Frage der Arbeitslosigkeit wird erst dann verschwinden,
wenn die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die auf einem jeder
Organisation baren freien Spiel der privaten Interessen beruht, sich
in eine harmonische Wirtschaftsorganisation verwandelt, in der die
Interessen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft den Interessen
des Ganzen untergeordnet werden. Es muss besonders betont werden,
dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht imstande ist, die
Arbeitslosenfrage zu lösen. Die periodische und chronische Arbeits-
losigkeit ist ein unvermeidliches Ergebnis der Entwickelungsgesetze
des Kapitalismus, ein Resultat der ihm immanenten Widersprüche.
Die Arbeitslosigkeit aufheben kann man nur auf eine Art — durch
Aufhebung der kapitalistischen Wirtschaftsweise.
Das Vorhandensein einer Arbeitslosenreservearmee des Kapi-
talismus ist zugleich der krasseste und zwingendste Beweis für die Un-
fähigkeit des Kapitalismus, die gesamten Produktivkräfte der Gesell-
schaft auszunutzen. Man vergesse nicht, dass die kapitalistische Arbeits-
losigkeit durchaus nicht dadurch entsteht, dass das Kapital, über das
die Gesellschaft verfügt, zu gering ist, um den Arbeitern Be-
schäftigung zu verschaffen. Nein, die Paradoxie der kapitalistischen
Arbeitslosigkeit besteht darin, dass die Leute infolge eines Ueber-
flusses an Produktionsmitteln keine Beschäftigung finden. Wegen
eines zu grossen Reichtums stehen die Maschinen still und die
Arbeiter können keine produktive Thätigkeit verrichten. Das hört
sich gerade so an, als ob alle sozialen Bedürfnisse befriedigt seien
und die Gesellschaft keine neuen Produkte brauche, als ob das droit
а la paresse — das Recht auf Faulheit — verwirklicht sei. In
Wirklichkeit ist aber die Masse der Bevölkerung eines mehr elemen-
taren Rechtes — des Rechtes auf Arbeit — beraubt, dadurch be-
raubt, dass die Minorität der Bevölkerung das Monopol auf die
Produktionsmittel besitzt.
In der Arbeitslosigkeit tritt also die spezifische Beschränktheit
des Kapitalismus, als einer historisch bedingten Produktionsweise, zu
Tage. Alle historischen Wirtschaftssysteme sind gefallen, weil sie
nicht zu beseitigende Hindernisse für eine weitere Entwickelung der
gesellschaftlichen Produktivkräfte in sich schlössen. Die Sklaven-
wirtschaft gab die Möglichkeit, innerhalb einer geschlossenen Einzel-
wirtschaft die Produktion zu erweitern und eine höchst detaillierte
Arbeitsteilung darin einzuführen, sie war aber mit den weiteren Fort-
schritten der industriellen Technik ganz unvereinbar, da die Produk-
tivität der Sklavenarbeit nicht eine gewisse, ziemhch niedrige Grenze
überschreiten konnte.
- 42Ö —
Die Feudahvirtschaft war mit der Entwickelung des Warenaus-
tausches und einer iiusg*edehnten interncitionalen ^Arbeitsteilung un-
vereinbar. Der Kapitalismus lässt eine unvergleichlich höhere Stufe
der Entwickelung der gesellschaftlichen Produktivkräfte erreichen.
Trotzdem stösst auch der Kapitalismus auf eine Grenze, die er
nicht zu überschreiten vermag*. Diese Grenze ist die Unmöglichkeit
für den Kapitalismus , die Produktivkräfte der Gesellschaft in
ihrem vollen Umfang" auszunutzen. — Daraus geht die Notwendig-
keit einer weiteren Entwickelung der kapitalistischen Wirtschaftsord-
nung Ьег\юг: der Kapitalismus bildet eine ebenso vorübergehende
Phase der Entwickelung" der menschlichen Wirtschaft, wie jene Wirt-
schaftsformen, die dem Kapitalismus vorangegangen sind, jetzt aber
schon der Geschichte angehören.
Dnick von Ant. Kämpfe in Jeiu.
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