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Full text of "Substanzbegriff und Funktionsbegriff : Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik"

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SUBSTANZBEGRIFF  UND 
FUNKTIONSBEGRIFF 


Untersuchungen  über  die  Grundfragen 
der  Erkenntniskritik 

von 


ERNST  CASSIRER 


il 


VERLAG  VON  BRUNO   CASSIRER 
BERLIN  1910 


Vorwort. 

Die  erste  Anregung  zu  den  Untersuchungen,  die  dieser 
Band  enthält,  ist  mir  aus  Studien  zur  Philosophie  der  Mathe- 
matik erwachsen.  Indem  ich  versuchte,  von  Seiten  der  Logik 
aus  einen  Zugang  zu  den  Grundbegriffen  der  Mathematik  zu 
gewinnen,  erwies  es  sich  vor  allem  als  notwendig,  die  Be- 
griffsfunktion selbst  näher  zu  zergliedern  und  auf 
ihre  Voraussetzungen  zurückzuführen.  Hier  aber  machte  sich 
alsbald  eine  eigentümliche  Schwierigkeit  geltend:  die  her- 
kömmliche logische  Lehre  vom  Begriff  zeigte  sich  in  ihren 
bekannten  Hauptzügen  als  unzureichend,  die  Probleme,  zu 
denen  die  Prinzipienlehre  der  Mathematik  hinführt,  auch  nur 
vollständig  zu  bezeichnen.  Die  exakte  Wissenschaft 
war  hier,  wie  sich  mir  immer  deutlicher  zu  ergeben  schien,  zu 
Fragen  gelangt,  für  welche  die  Formensprache  der  tradi- 
tionellen Logik  kein  genaues  Correlat  besitzt.  Der  sachliche 
Gehalt  der  mathematischen  Erkenntnisse  wies  auf  eine  Grund- 
form des  Begriffs  zurück,  die  in  der  Logik  selbst  nicht  zu 
klarer  Bezeichnung  und  Anerkennung  gekommen  war.  Ins- 
besondere waren  es  Untersuchungen  über  den  Reihenbegriff 
und  den  Grenzbegriff  (deren  spezielles  Ergebnis  übrigens  in 
die  allgemeineren  Erörterungen  dieses  Buches  nicht  aufge- 
nommen werden  konnte),  die  diese  Überzeugung  in  mir  be- 
festigten und  damit  zu  einer  erneuten  Analyse  der  Prinzipien 
der  Begriffsbildung  selbst  hindrängten. 

Allgemeinere  Bedeutung  gewann  das  Problem,  das  hier- 
durch bezeichnet  war,  freilich  erst  dann,  als  es  sich  zeigte,  daß 
es  sich  keineswegs  auf  das  Gebiet  der  Mathematik  beschränkt, 
sondern  von  hier  aus  auf  das  Ganze  der  exakten  Wissen- 
schaften übergreift.     Die  Systematik  dieser  Wissenschaften 


gewinnt  eine  verschiedene  Gestalt,  ie  nacMem  man  sie  gleich- 
sam unter  verschiedenen  logischen  Perspektiven  betrachtet. 
So  mußte  nunmehr  der  Versuch  gemacht  werden,  von  dem 
einmal  gewonnenen  Gesichtspunkt  aus,  den  Formen  der 
Begriffsbildung  in  den  einzelnen  Disziplinen  —  in  der  Arith- 
metik, wie  in  der  Geometrie,  in  der  Physik,  wie  in  der  Chemie  — 
nachzugehen.  Hier  genügte  es  für  den  Gesamtzweck  der 
Untersuchung  nicht,  einzelne  Beispiele  aus  den  besonderen 
Wissenschaften  zur  Stütze  der  logischen  Theorie  heranzu- 
ziehen, sondern  es  mußte  versucht  werden,  sie  in  der  Gesamt- 
heit ihres  prinzipiellen  Aufbaus  zu  verfolgen,  um  hierbei  die 
einheitliche  Grundfunktion,  von  welcher  dieser  Aufbau  be- 
herrscht und  zusammengehalten  wird,  immer  bestimmter 
heraustreten  zu  lassen.  Die  Schwierigkeiten,  die  der  Durch- 
führung jedes  derartigen  Planes  entgegentreten,  habe  /ich 
mir  nicht  verhehlt;  wenn  ich  mich  dennoch  zuletzt  entschloß, 
ihn  in  Angriff  zu  nehmen,  so  tat  ich  es,  weil  sich  mir  immer 
deutlicher  zeigte,  eine  wie  reiche  und  wichtige  Vorarbeit  für  , 
ihn  in  den  Einzelwissenschaften  selbst  bereits  geleistet,  war \^ 
Immer  bewußter  und  energischer  hat  sich  insbesondere  inner- 
halb der  exakten  Wissenschaften  das  Interesse  der  Forscher 
von  den  besonderen  Zielen  zu  den  philosophischen  Grundlagen 
zurückgewandt.  Hier  gewinnt  daher,  wie  immer  man  über 
die  Ergebnisse  dieser  Forschungen  im  Einzelnen  urteilen  mag, 
die  logische  Aufgabe  als  solche  überall  eine  reiche  und  un- 
mittelbare Förderung,  Die  folgenden  Darlegungen  haben  dem- 
gemäß überall  gesucht,  sich  auf  die  geschichtliche  Entwicklung 
der  Wissenschaften  selbst  und  auf  die  systematische  Dar- 
stellung ihres  Gehalts  durch  die  großen  Forscher  zu  stützen. 
So  sehr  sie  von  Anfang  an  darauf  verzichten  mußten,  die 
Gesamtheit  der  Probleme,  die  sich  hier  aufdrängen,  in 
ihre  Betrachtung  aufzunehmen,  so  sollte  doch  andererseits 
der  spezielle  logische  Gesichtspunkt,  unter  welchem  sie  stehen, 
im  Einzelnen  bewährt  und  durchgeführt  werden.  Was  der 
Begriff  seiner  einheitlichen  Leistung  nach  ist  und  bedeutet, 
ließ  sich  nur  aufweisen,  wenn  diese  Leistung  durch  die 
wichtigsten  wissenschaftlichen  Problemgebiete  hindurch  ver- 
folgt und  in  allgemeinen  Umrissen  dargestellt  wurde. 


VI 


1^ 


Eine  neue  und  weitere  Fassung  erhielt  die  Aufgabe  so- 
dann, sobald  von  den  rein  logischen  Grundbestimmungen  zum 
Begriff  der  Wirklichkeitserkenntnis  fortge- 
schritten wurde.  Der  ursprüngliche  Gegensatz  entfaltete  sich 
jetzt  zu  einer  Mehrheit  verschiedener  Probleme,  die  indes 
durch  den  gemeinsamen  Ausgangspunkt,  von  welchem  sie 
ihren  Anfang  nehmen,  auf  einander  hp'/raen  und  zu  einer  gedank- 
lichen Einheit  verknüpft  sind.  Wo  immer  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  des  Denkens 
und  Seins,  der  Erkenntnis  und  der  Wirklichkeit  gestellt  wird, 
da  ist  sie  bereits  in  ihrem  ersten  Ansatz  von  bestimmten 
logischen  Voraussetzungen,  von  einer  bestimmten  An- 
sicht über  die  Natur  des  Begriffs  und  des  Urteils  geleitet  und  be- 
herrscht. Jede  Änderung  in  dieser  Grundansicht  muß  daher 
mittelbar  zugleich  eine  eingreifende  Änderung  jener  allge- 
meineh~Fragestellung  nach  sich  ziehen.  Das  System  der 
Erkenntnis  duldet  keine  isolierte  „formale"  Bestimmung, 
die  nicht  im  Ganzen  der  Erkenntnisaufgaben  und  Lösungen 
weiterwirkte.  Die  Auffassung,  die  man  einmal  von  der  Grund- 
form des  Begriffs  gewonnen  hat,  greift  daher  unmittelbar  in 
die  Beurteilung  der  sachlichen  Fragen  ein,  die  "man  her- 
kömmlicher Weise  der  ,, Erkenntniskritik"  oder  der  „Meta- 
physik" zuweist.  Wie  diese  Fragen  sich  vom  Standpunkt  der 
allgemeinen  Ansicht,  die  in  der  Kritik  der  exakten  Wissen- 
schaft gewonnen  wurde,  umgestalten  und  wie  damit  zugleich 
ihre  Lösung  eine  neue  Richtung  nimmt,  versucht  der  zweite 
Teil  des  Buches  zu  zeigen.  Beide  Teile  gehören  daher,  wiewohl 
sie  ihrem  Gehalt  nach  weit  von  einander  abzustehen  scheinen, 
der  philosophischen  Grundabsicht  nach  durchaus  zusammen: 
sie  suchen  ein  und  dasselbe  Problem  darzustellen,  das  sich 
von  einem  festen  Mittelpunkt  aus  immer  mehr  ausdehnt 
und  immer  weitere  und  konkretere  Gebiete  in  seinen  Kreis 
aufnimmt.  "• 

Berlin,  im  Juli  1910. 

Ernst  Cassirer 


VII 


INHALTS-VERZEICHNIS. 

ERSTER  TEIL. 
DINGBEGRIFFE  UND  RELATIONSBEGRIFFE. 

Erstes    Kapitel: 
Zur  Theorie  der  Begriffsbildimg.  Seite 

Der  Begriff  in  der  Aristotelischen  Logik.  —  Aufgabe  und  Natxir  der 
Gattungsbegriffe.  —  Das  Problem  der  Abstraktion.  —  Die  meta- 
physischen Voraussetzungen  der  Aristotelischen  Logik.  —  Der 
Substanzbegriff  in  der  Logik  und  Metaphysik 3 

Die  psychologische  Kritik  des  Begriffs  (Berkeley).  — Die  Psychologie  der 
Abstraktion.  —  Abstraktion  und  Reproduktion.  —  Mills  Analyse  der 
mathematischen  Begriffe.  —  Mängel  der  psychologischen  Abstraktions- 
theorie. —  Die  Formen  der  Reihenbildving. —  Elemente  und  Funk- 
tionen. —  Die  Stellung  des  Dingbegriffs  im  System  der  logischen 
Grundrelationen 11 

Das  negative  Verfahren  der  „Abstraktion".  —  Der  mathematische 
Begriff  und  seine  „konkrete  Allgemeinheit".  —  Die  Kritik  der 
Abstraktionstheorien  (Lambert  u.  Lotze).  —  Gegenstände  „erster" 
und  „zweiter  Ordnung".  —  Die  Mannigfaltigkeit  der  gegenständlichen 
„Intentionen".  —  Reihenform  und  Reihenglied 23 

Zweites  Kapitel: 
Die  Zahlbcgriffe. 

I.  Die  Mängel  der  sensualistischen  Ableitung.  —  Das  System  der 
Arithmetik. —  Freges  „Grundlagen  der  Arithmetik".  —  Die  Zahl 
und  die  „Vorstellung"  —  Vorstellungsinlialte  und  Vorstellungs- 
akte    . 35 

II.  Die  logische  Begründung  des  reinen  Zahlbegriffs  (Dedekind).  — 
Die  Logik  der  Relationen.  —  Der  Begriff  der  Progression.  — 
Die  Zahl  als  Ordnungszahl.  —  Die  Theorien  von  Helmholtz  und 
Kronecker.  —  Kritik  der  nominalistischen  Ableitungsversuche     46 

IX 


Seit 

III.  Zahlbegriff  und  Klasaenbegi'iff .  —  Russeis  Theorie  der  Kardinal- 
zahl. —  Mächtigkeit  und  Äquivalenz.  —  Ivritik  der  „Klassen"- 
Theorien.  —  Die  logische  Definition  der  Null  und  der  Eins.  — 
Die  Voraussetzungen  des  Klassenbegi'iffs.  —  Gattungsbegriff 
und  Relationsbegriff 57 

IV.  Die  Erweiterungen  des  Zalilbegriffs.  —  Gauß'  Theorie  der  nega- 
tiven und  imaginären  Zahlen.  —  Geometrische  und  arith- 
metrische  Begründung.  —  Dedekinds  Erklärung  der  Irrational- 
zahl. —  Der  Begriff  des  „Schnitts".  —  Die  Zahl  als  Ausdruck 
der  Ordnvings-  und  Reihenform 70 

Das  Problem  der  transfiniten  Zalilen.  —  Der  Begriff  der 
Mächtigkeit.  —  Die  Erschaffung  der  transfiniten  Ordnungs- 
zahlen. —  Die  zwei  „Erzeugungsprinzipe"  der  Zahl  (Cjuitor)   .       80 


Drittes    Kapitel: 
D«r  Raumbe^^riff  und  die  Geometrie. 

I.  Begriff  und  Gestalt.  —  Die  Methodik  der  antiken  Geometrie.  — 
Raumbegriff  und  Zahlbegriff.  —  Formbegriffe  und  Reihen- 
begriffe. —  Das  Grundprinzip  der  analytischen  Geometrie.  — 
Die  Infinitesimal- Geometrie.  —  Größen  und  Funktionen  .  .  88 
II.  Die  Geometrie  der  Lage.  —  Anschauung  und  Denken  in  den 
Prinzipien  der  Geometrie  der  L«kge.  —  Steiner  und  Poncelet  — 
Die  Abhängigkeit  geometrischer  Gestalten  —  Der  Begriff  der 
„Korrelation".  —  Das  Prinzip  der  Kontinuität  bei  Poncelet  und 
Chasles.  —  Induktion  und  Analogie.  —  Das  Imaginäre  in  der 
Geometrie.  —  Seinswert  und  Verknüpfungswert  der  geome- 
trischen Elemente 99 

Metrische  und  projektive  Geometrie.  —  Der  Begriff  des 
Doppelverhältnisses.  —  Die  Staudtsche  Konstruktion.  —  Die 
projektive  Metrik  (Cayhiy  und  Klein).  —  Raumbegi'iff  und 
Ordnungsbegriff.  —  Geometrie  und  Gruppentheorie 112 

III.  Die  Kombinatorik  als  reine  „Formenlehre"  (Leibniz).  —  Qualität 
und  Quantität.  —  Ordnung  vmd  Maß.  —  Die  Geometrie  als  reine 
„Beziehungslehro"  (Hilbert).  —  Die  Synthese  der  erzeugenden 
Relationen.  —  Graßmanns  Ausdehnungslehre  und  ihre  logischen 
Prinzipien.  —  Die  Formen  des  Calculs.  —  Infinitesimal- Analysis 
und  Relations-Analysis.  —  Die  Logik  des  Idealismus  und  das 
System  der  Mathematik 119 

IV.  Das  Problem  der  Metageometrie.  —  Rationale  und  empirische 
Begründung  der  geometrischen  Begriffe.  —  Pasch's  empi- 
ristisches   System.    —   Idealismus   und    Empirismus.    —    Der 


I 


Seite 
mathematische  imd  der  sinnliche  Raum.  —  Die  begrifflichen 
Grundbestinimungen   des   reinen   Raumes.    —    Geometrie   und 
Wirklichkeit 132 


Viertes    Kapitel: 
Die  naturwissenschaftliche  Begriffsbildung. 

I.   Naturbegriffe    und    Konstruktionsbegriffe.   —  Das    Ideal    der 

reinen  Beschreibimg 148 

II.  Die  Voraussetzungen  des  Zählens  und  Messens.  —  Der  Begriff 
des  Mechanismus,  —  Der  geometrische  Begriff  der  Bewegung.  — 
Das  „Subjekt"  der  Bewegung.  —  Die  Bewegung  als  mathe- 
matische „Idee." 152 

Der  Grenzbegriff  und  seine  Bedeutimg  für  die  Naturerkenntnis. 

—  Idealistische  und  empiristische  Deutung  der  Grenzbegriffe.  — 
P.  du  Bois  Reymonds  Theorie.  —  Das  Problem  der  „Existenz".  — 
Verhältnis  von  Wahrheit  und  Wirklichkeit 161 

III.  Das  Problem  der  physikalischen  Methode  und  seine  Geschichte. — 
Der  Erfahrungsbegriff  des  Altertums  (Piaton  und  Protagoras).  — 
Naturbegriff  und  Zweckbegriff.  —  Teleologie  und  Mathematik.  — 
Der  Begriff  der  Hypothese  bei  Kepler  und  Newton.  —  Der  Er- 
fahrungsbegriff der  mathematischen  Physik.  —  Die  logische 
und  die  ontologische  „Hypothese" 17.S 

IV.  Robert  Mayers  Methodik  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis. 

—  Hypothesen  und  Naturgesetze.  —  Die  Voraussetzungen  der 
physikalischen  „Messung".  —  Das  physikalische  „Faktum"  und 
die  physikalische  „Theorie".  —  Die  Gex<,ännung  der  Maßeinheiten. 

—  Das  Problem  der  Zeitmessung.  —  l')er  Begriff  der  Konstanten. 

—  Die  Bewährung  der  physikaliscVien  Hypothesen 184 

Das  Motiv  der  Reihenbildung  —  Die  physikalischen  Reihen- 
begriffe. —  Zahlbegriff  und  Naturbegriff 195 

V.  Die  Entwicklung  des  Dingbegriffs.  —  Der  Substanzbegriff  in  der 
Ionischen  Naturphilosophie.  —  Die  Verdinglichung  der  sinnlichen 
Qualitäten  (Anaxagoras  und  Aristoteles). — Chemie  und  Alchymie. 

—  Das  System  der  Gattungsbegriffe  und  die  Physik  der  sinn- 
lichen  Qualitäten  (Bacon) 200 

Das  System  der  Atomistik.  —  Atomistik  und  Zahlenlehre.  — 
Galileis  Begründung  des  Atombegriffs.  —  Der  Stoß  der  Atome 
und  das  Postulat  der  Kontinuität.  —  Das  „einfache"  Atom  bei 
Boscovich  und  Fechner.  —  Der  Atombegriff  und  die  Differential- 
rechnung. —  Die  Wandlungen  des  Atombegriffs 205 

XI 


Seite 
Der  Begriff  der  Materie  und  der  Begriff  des  Äthers.  —  Die 

logische    Form   der    physikalischen    Objektbegriffe.    —  „Wü'k- 

Uche"  und  „nicht  wirkliche"  Elemente  in  den  physikalischen 

Objektbegriffen  —  Materie  und  Idee 216 

VT.  Die  Begriffe  des  Raumes  imd  der  Zeit  —  Newtons  Begriffe  des 
absoluten  Raumes  und  der  absoluten  Zeit.  —  Das  Bezugs- 
system der  reinen  Mechanik.  —  Der  Ersatz  des  absoluten 
Raumes    durch   den   Fixsternhimmel.    —  Das  Trägheitsgesetz. 

—  Absoluter  und  idealer  Raum.  —  Streintz'  Begriff  des  ,,Funda- 
mentalkörpers".  —  Ivritik  des  Streintz'schen  Versuches.  —  Die 
Theorie  C.  Neumanns :  der  Körper  Alpha.  —  Physik  und  Ontologie. 

—  Raum  und  Zeit  als  mathematische  Ideale.  —  Der  absolute 
und  der  .intoUigiblo"  Raum:  Newton  und  Leibniz.  —  Heinrich 
Hertz'  Sj-stem  der  Mecheuiik.  —  Konstruktionen  und  Konven- 
tionen.   .    , 226 

VII.  Der  Begriff  ier  Energie.  —  Der  Ener{  ^  obegrif f  i'nd  die  Sinnes- 
qualitäten. —  Energiebegriff  und  Zahlbe^Tiff.  —  Der  Maßbegriff 
der  Arbeit.  — -  Die  Energie  als  reiner  R^  lationsbegriff.  —  Die 
formalen  Voraxissetzungon  der  Energetik.  —  Die  Methode  der 
physikalischen  „Abstraktion"  (Rankines  Ableitung  der  Ener- 
getik). —  Das  Abstraktionsproblom  in  der  modernen  Logik.  — 
Der  Grundbegri«?  der  Äquivalenz.  —  Die  Energie  als  Ding- 
begriff imd  als  Oi^Jnungsbegriff.  —  Energetik  und  Mechanik.  — 
„Begriffe"  und  „Bi.>der".  —  Die  Forderung  der  Homogeneität   .     249 

VIII.  Das  Problem  der  Bej^iffsbildung  in  der  Chemie.  —  Die  Chemie 
der  sinnlichen  Qualitativ».;  diePhlogistontheorie.  —  Das  Gesetz  der 
bestimmten  Proportionen  >(J.  D.  Richter).  —  Daltons  Gesetz  der 
multiplen  Proportionen.  -^  Die  Entwicklung  des  chemischen 
Atombegriffs.  —  Der  Atomd  jj^iff  als  Verhältnisbegriff.  —  Der 
„regulative"  Gebrauch  des  A;. 'vtnbegrif f s 270 

Der  Begriff  der  Valenz  und  die  ^Vypentheorie.  —  Die  logischen 
Momente  des  chemischen  Typenbegriffs.  —  „Chemischer"  und 
„molekularer"  Typtis.  —  Der  Begriff  des  „Radikals"  und  die 
Theorie  der  „zusammengesetzten  Radikale" 281 

Die  Umbildung  der  chemischen  Systemform.  —  Das  perio- 
dische System  der  Elemente.  —  Die  Pöduktion  in  der  che- 
mischen Begriffsbildung.  —  Chemie  und  Mathematik    ....   287 

IX.   Der  naturwissenschaftliche  Begriff  und  die  „W^irklichkeit".  — 
Rickerts  Theorie  der  natxirwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  — 


XII 


Seite 
Kritik  der  Rickertschen  Theorie.  —  Begriff  und  Anschauung.  — 
Wortbedeutungen  und  mathematische  Begriffe.  —  Der  Begriff 
als  Reihenprinzip,  —  Das  Allgemeine  und  das  Besondere.  — 
Der  Begriff  als  Ausdruck  von  Einzelverhältnissen.  —  Das 
Problem  der  naturwissenschaftlichen  Konstanten.  —  Größen- 
werte  und  Größenverhältnisse 292 


ZWEITER  TEIL. 

DAS    SYSTEM    DER    RELATIONSBEGRIFFE 
UND  DAS  PROBLEM  DER  WIRKLICHKEIT. 

Fünftes    Kapitel: 
Zum  Problem  der  Induktion. 

I.   Das  Problem  des  „Einzelfalles".  —  Der  Einzelfall  und  das  Gresetz. 

—  Das  „Gedankenexperiment".  —  Die  Voraussetzung  der  To- 
talität der  Fälle.  —  Die  Theorie  des  empirischen  Urteils  bei 
Locke  und  Mach.  — -  Wahrnehmung  oind  Urteilsfunktion.  — 
Das  Postulat  der  notwendigen  Bestimmtheit.  —  Das  „Ewigkeits- 
moment" in  den  empirischen  Urteilen.  —  Die  „Integration"  des 
Einzelfalles.  —  Wahrnehmvmgs-  und  Erfahrungsurteile.  — 
Diskrete  und  kontinuierliche  „Ganze".  —  Die  Erfahrung  als 
Aggregat  und  als  System.  —  Induktion  mid  Invariantentheorie. 

—  Die  begrifflichen  Voraussetzungen  des  „Naturobjekts".  ■ — 
Induktion  und  Analogie 313 

II.  Induktion  und  Analysis,  „kompositive"  und  „resolutive" 
Methode.  —  Das  Experiment  als  Mittel  der  Analyse.  —  Die 
Zerlegung  in  „Relationsschichten".  —  Das  Grundverhältnis  der 
„allgemeinen"  und  der  „besonderen"  Relationen.  —  „Isolation" 
und  „Superposition".  —  Die  Relations- Synthese  in  der  Mathe- 
matik und  in  der  Erfahrtmgswissenschaft.  —  Gesetze  und 
Regeln.  —  Die  Konstanz  und  Eindeutigkeit  des  Geschehens.  • — 
Der  Begriff  des  „Grundes"  und  die  mathematischen  Not- 
wendigkeits-Relationen. —  Die  beiden  Grundtypen  des  Wissens  .  334 
III.  Das  Problem  der  Naturgesetze.  —  Gesetze  und  Konstanten.  — 
Die  Grundform  der  Erfahrung.  —  Materiale  und  formale  Konti- 
nuität der  Erfahrungsphasen.  —  Die  „Invariantentheorie  der 
Erfahrung"  und  der  Begriff  des  „Apriori" 351 

XIII 


Seite 
Sechstes    Kapitel: 
Der  Begriff  der  Wirklichkeit 

I.  Die  Scheidung  der  „subjektiven"  und  der  „objektiven"  Wirk- 
lichkeit. —  Die  Bedeutung  des  Objektbegriffs.  —  Veränderliche 
und  dauernde  Erfahrungselemente.  —  Die  Subjektivierung 
der  Sinnesqualitäten.  —  Die  Stufenfolge  in  den  Graden  der 
Objektivität.  —  Die  Forderung  der  Kontinuität  des  „Gegen- 
standes". —  Die  logische  Abstufung  der  Erfahrungsinlialte.  — 
Die  Organisation  der  Erfahrung.  —  Das  Problem  der  „Trans- 
scendenz".  —  Das  „Transscendieren"  der  sinnlichen  Empfindung  359 

Der  Begriff  der  „Repräsentation".  —  Die  Theorie  der  sinn- 
lichen „Species".  —  Die  „Ähnlichkeit"  des  Bewußtseins  und 
des  Gegenstandes.  —  Die  Umbildung  des  Repräaentations- 
begriffs.  —  Der  Fortschritt  zUm  „Ganzen  der  Erfahrung".  —  Ver- 
hältnis von  Wahrheit  und  Wirklichkeit 373 

II.  Der  Begriff  der  Objektivität  und  das  Problem  des  Raumes.  — 
Das  Problem  der  „Lokalisation".  —  Die  Projektionstheorie  und 
ihre  Mängel.  —  Die  Entstehiuig  der  Raumvorstellung.  — 
Begriff  und  Wahrnehmung  bei  Helmholtz.  —  Der  Reihenbegriff 
und  der  empirische  Gegenstand.  —  Die  Gliederung  in  Ob- 
jektivitätskreise. —  „Projektion"  und  „Selektion"  ....  380 
m.  Gegenstand  und  Urteilsfunktion.  —  Beharrlichkeit  und  Wieder- 
holbarkeit. —  Dfis  Problem  des  „Transsubjektiven".  —  Der 
falsche  Begriff  der  „Subjektivität".  —  Die  „objektiven"  Voraus- 
setzungen des  Ichbegriffs.  —  Die  Korrelation  des  Ichbewußtseins 
und  des  Gegenstandsbewußtseins  und  der  „kritische  Realismus". 
—  Der  Gegenstand  und  die  Denknotwondigkeit.  —  Der  Begriff 
des  Denkens  im  System  des  kritischen  Idealismus.  —  Die  Gegen- 
ständlichkeit innerhalb  der  reinen  Mathematik.  —  Das  „Ge- 
gebene" und  die  Denkfunktion.  —  Der  Begriff  der  Materie  und 

das  Transscendenzproblem — 389 

IV  Die  Zeichentheorie.  —  Zeichen  und  Bild.  —  Das  Gesetzliche  der 
Erscheinung.  —  Helmholtz'  Theorie  der  „Relativität".  — 
Logische  und  ontologische  Fassung  des  Relativitätsgedankens.  — 
Der  physikalische  Begriff  der  Wirklichkeit.  —  Die  Einheit  des 
physikalischen  Weltbildes 402 

Siebentes  Kapitel: 
SubjektiTität  und  Objektivität  der  Relationsbegriffe. 

Die  Funktionsformen  der  rationalen  und  empirischen  Erkenntnis.  — 
Die   Wechselbeziehung   der  „Form"    und    der    „Materie"    der  Er- 

XIV 


Seit« 
kenntnis.  —  Der  Bestand  der  „ewigen  Wahrheiten".  —  Leibniz  und 
Bolzano.  —  Der  Wahrheitsbegriff  der  modernen  Mathematik  .  .  410 
Die  Relationsbegriffe  und  die  Aktivität  des  Ich.  —  Das  Problem  des 
Pragmatismus.  —  Wahrheit  und  NützHchkeit.  —  Die  UnvoUendbar- 
keit  der  Erfahrung  und  der  kritische  Wahrheitsbegriff.  —  Die  Wirk- 
Hchkeit  als  „projektierte  Einheit".  —  Kontinuität  und  Konvergenz 
der  Erfahrungsphasen.  —  Die  Doppelform  des  Begriffs 421 

Achtes  Kapitel: 
Zur  Psychologie  der  Relationen. 

I.  Die  logischen  Relationen  vmd  das  Problem  des  Selbstbewußt- 
seins. —  Piatons  Psychologie  der  Relationsbegriffe.  —  Aristoteles' 
Lehre  vom  Koivöv.  —  Die  Psychologie  der  „Verhältnisgedanken" 

bei  Leibniz  und  Tetens 433 

Der  Begriff  des  „Einfachen"  in  der  neueren  Psychologie.  — ■ 
Die  Verdinglichung  der  „einfachen"  Empfindungen.  —  Das 
Problem  der  „Gestaltqualität".  —  Die  psychologische  Theorie 
der  Gestaltqualitäten.  —  „Empfindungen"  nnd  „Anschau- 
ungen"  439 

IL  Meinongs  Theorie  der  „fundierten  Inhalte".  —  „Phänomenale" 
und  „metaphänomenale"  Gegenstände.  —  Die  „Gegenstände 
höherer  Ordnung".  —  Der  Streit  zwischen  Empirismus  und 
Nativismus.  —  Wahrnehmungsmoment  und  Urteilsmoment.  — 
Die  Psychologie  der  Raumvorstellung.  —  Die  Funktionen  der 
Zuordnung  und  Verknüpfung.  —  Die  Psychologie  des  Denkens.  — 
Logik  und  Psychologie  der  Relationen 449 


XV 


Ernst  Cassirer 
Substanzbegriff  und  Funktionsbegriff 


4 


Erster  Teil 
Dingbegriffe  und  Relationsbegriffe 


Erstes  Kapitel 
Zur  Theorie  der  Begriffsbildung 

Die  neue  Stellung,  die  die  Philosophie  der  Gegenwart 
allmählich  zu  den  Grundlagen  des  theoretischen  Wissens  ge- 
winnt, bekundet  sich  nach  außen  hin  vielleicht  nirgends 
deutlicher,  als  in  der  Umbildung,  die  die  Hauptlehren  der 
formalen  Logik  in  ihr  erfahren  haben.  In  der  Logik 
allein  schien  die  philosophische  Gedankenentwicklung  endlich 
zu  einem  sicheren  Halt  gelangt  zu  sein;  —  in  ihr  schien  ein 
Gebiet  abgegrenzt  zu  sein,  das  gegen  alle  die  Zweifel,  die  sich 
immer  von  neuem  gegen  die  verschiedenen  erkenntnis- 
theoretischen Standpunkte  und  Lehrmeinungen  rich- 
teten, gesichert  blieb.  Das  Urteil  Kants,  daß  hier  der  stetige 
und  sichere  Gang  der  Wissenschaft  endgültig  erreicht  sei, 
schien  somit  bewährt  und  befestigt.  Selbst  die  weitere  Be- 
trachtung, daß  die  Logik,  wie  sie  seit  Aristoteles  keinen 
Schritt  rückwärts  tat,  so  auch  keinen  Schritt  vorwärts  zu  tun 
vermochte,  mußte  unter  diesem  Gesichtspunkt  als  eine 
Bestätigung  ihres  eigentümlichen  Gewißheitscharakters  gelten. 
Von  dem  eigentlichen  Leben,  von  der  steten  Umgestaltung 
alles  gegenständlichen  Wissens  unberührt  schien  sie 
allein  sich  gleichförmig  und  einförmig  zu  behaupten. 

Verfolgt  man  indessen  genauer  den  Gang,  den  die  wissen- 
schaftliche Entwicklung  in  den  letzten  Jahrzehnten  genommen 
hat,  so  ergibt  sich  auch  für  die  formale  Logik  alsbald  ein 
anderes  Bild.  Überall  zeigt  sie  sich  von  neuen  Fragestellungen 
erfüllt  und  von  neuen  gedanklichen  Tendenzen  beherrscht. 
Von  der  Arbeit,  die  die  Jahrhunderte  hier  für  die  Formulierung 
der  Grundlehren  geleistet  haben,  scheint  mehr  und  mehr  ab- 
zubröckeln;  —   während   auf   der   andern   Seite  jene   neuen 

Cassirer,  Substanzbegriff  1  1*  3 


großen  Gebiete  von  Problemen  hervortreten,  die  sich  aus  der 
Berührung  mit  der  allgemeinen  mathematischen  Mannig- 
faltigkeitslehre ergeben.  Immer  mehr  erweist  sich 
diese  Lehre  als  der  gemeinsame  Zielpunkt,  dem  verschieden- 
artige logische  Fragestellungen,  die  man  zuvor  gesondert  zu 
verfolgen  pflegte,  gleichmäßig  zustreben  und  durch  dtn  sie 
ihre  ideelle  Einheit  empfangen.  Damit  aber  wird  die  Logik 
zugleich  aus  ihrer  Absonderung  befreit  und  wiederum  kon- 
kreten Aufgaben  und  Leistungen  zugeführt.  Denn  der  Gesichts- 
kreis der  modernen  Mannigfaltigkeitslehre  bleibt  nicht  auf 
die  rein  mathematischen  Probleme  beschränkt,  sondern  er- 
weitert sich  zu  einer  allgemeinen  Betrachtung,  die  sich  bis  in 
die  spezielle  Methodik  der  Naturerkenntnis  hinein  erstreckt 
und  bewährt.  Der  systematische  Zusammenhang,  in  welchen 
die  Logik  auf  diese  Weise  einbezogen  wird,  aber  verlangt  zu- 
gleich eine  erneute  Prüfung  ihrer  Voraussetzungen.  Der 
Schein  unbedingter  Sicherheit  schwindet;  die  Kritik  beginnt 
nunmehr  sich  auch  solchen  Lehren  zuzuwenden,  die  selbst 
gegenüber  tiefen  prinzipiellen  Wandlungen  des  allgemeinen 
Erkenntnisideals  ihren  geschichtlichen  Bestand  fortdauernd 
und  scheinbar  unverändert  zu  behaupten  vermochten.  — 

Die  Aristotelische  Logik  ist  in  ihren  allgemeinen 
Prinzipien  der  getreue  Ausdruck  und  Spiegel  der  Aristoteli- 
schen Metaphysik.  Erst  im  Zusammenhang  mit  den  Über- 
zeugungen, auf  welchen  diese  letztere  ruht,  läßt  auch  sie  sich 
in  ihren  eigentlichen  Motiven  verstehen.  Die  Auffassung 
vom  Wesen  und  von  der  Gliederung  des  Seins  bedingt  die 
Auffassung  der  Grundformen  des  Denkens.  In  der  weiteren 
Ausbildung  der  Logik  beginnen  sich  freilich  die  Beziehungen 
zu  der  speziellen  Form  der  Aristotelischen  0  n  t  o  1  o  g  i  e 
zu  lockern;  aber  die  Verknüpfung  mit  ihren  allgemeinen  Grund- 
anschauungen bleibt  nichtsdestoweniger  erhalten  und  tritt 
an  bestimmten  Wendepunkten  der  geschichtlichen  Entwicklung 
immer  von  neuem  in  charakteristischer  Deutlichkeit  hervor. 
Schon  die  grundlegende  Bedeutung,  die  der  Theorie  des  Be- 
griffs im  Aufbau  der  logischen  Erkenntnisse  zugewiesen 
wird,  weist  auf  diesen  Zusammenhang  zurück.  Die  modernen 
Bestrebungen  zur  Reform  der  Logik  haben  freilich  versucht. 


die  überlieferte  Rangordnung  der  Probleme  an  diesem  Punkte 
umzukehren,  indem  sie  der  Lehre  vom  Begriff  die  Lehre  vom 
Urteil  vorangehen  lassen.  Aber  so  fruchtbar  sich  dieser 
Gesichtspunkt  auch  erwies,  so  vermochte  er  sich  doch  gegen- 
über der  systematischen  Tendenz,  von  der  die  alte  Einteilung 
beherrscht  war,  nicht  dauernd  in  voller  Reinheit  zu  behaupten. 
Der  gedankliche  Zwang,  unter  dem^auch  all  jene  Neuerungs- 
versuche noch  standen,  machte  sich  alsbald  darin  geltend, 
daß  in  die  Urteilslehre  selbst  sich  immer  wiederum  Züge  ein- 
drängten, die  nur  aus  der  herkömmlichen  Theorie  des  Gat- 
tungsbegriffs völlig  zu  verstehen  und  zu  begründen  waren. 
Die  Vorherrschaft  des  Begriffs,  die  man  zu  beseitigen  suchte, 
war  somit  implicit  wiederum  anerkannt:  nicht  der  sachliche 
Schwerpunkt  des  Systems,  sondern  nur  die  äußere  Gliederung 
seiner  Elemente  hatte  sich  verschoben.  Alle  kritischen  Ver- 
suche einer  Umformung  der  Logik  müssen  sich  daher  zunächst 
auf  diesen  einen  Punkt  konzentrieren :  die  Kritik  der  for- 
malen Logik  faßt  sich  in  eine  Kritik  der  allgemeinen  Lehre 
von  der  Begriffsbildung  zusammen. 

Die  Hauptzüge  dieser  Lehre  sind  bekannt  und  bedürfen 
keiner  eingehenden  Darlegung.  So  schlicht  und  klar  sind  ihre 
Voraussetzungen,  so  sehr  stimmen  sie  mit  den  Grundannahmen 
überein,  die  die  gewöhnliche  Weltansicht  durchgehend  braucht 
und  betätigt,  daß  sich  für  eine  kritische  Nachprüfung  hier 
kaum  irgendwo  eine  Handhabe  darzubieten  scheint.  •  Nichts 
anderes  wird  in  der  Tat  vorausgesetzt,  als  das  Dasein  der 
Dinge  selbst  in  ihrer  zunächst  unübersehbaren  Mannigfaltig- 
keit und  das  Vermögen  des  Geistes,  aus  dieser  Fülle  der 
individuellen  Einzelexistenzen  diejenigen  Momente  heraus- 
zuheben, die'  einer  Mehrheit  von  ihnen  gemeinsam  zu- 
gehören. Indem  wir  auf  diese  Weise  die  Objekte,  die  durch 
den  gemeinsamen  Besitz  ein  und  derselben  Eigenschaft  ge- 
kennzeichnet sind,  zu  Klassen  vereinigen  und  dieses  Verfahren 
fortschreitend  auf  den  höheren  Stufen  wiederholen,  entsteht 
uns  allmählich  eine  immer  festere  Ordnung  und  Gliederung 
des  Seins  je  nach  der  Abstufung  der  sachlichen  Ähnlich- 
keiten, die  sich  durch  die  Einzeldinge  hindurchziehen. 
Die  wesentlichen  Funktionen,  die  das  Denken  hierbei  betätigt. 


* 


sind  also  lediglich  die  des  Vergleichens  und  Unter- 
scheidens  gegebener  sinnlicher  Mannigfaltigkeiten.  Die 
Reflexion,  die  zwischen  den  besonderen  Objekten  hin 
und  her  geht,  um  sich  der  wesentlichen  Züge,  in  denen  sie 
übereinstimmen,  zu  versichern,  führt  von  selbst  zur  Ab- 
straktion, die  eben  diese  verwandten  Züge  losgelöst 
von  aller  Beimischung  mit  ungleichartigen  Bestandteilen 
rein  für  sich  erfaßt  und  heraushebt.  So  wird  durch  diese  Auf- 
fassung —  und  dies  scheint  ihr  eigentümlicher  Vorzug  und  ihre 
Rechtfertigung  zu  sein  —  die  Einheit  des  natürlichen 
Weltbildes  nirgends  gestört  und  gefährdet.  Der  Begriff 
tritt  der  sinnlichen  Wirklichkeit  nicht  als  ein  Fremdartiges 
gegenüber,  sondern  er  bildet  einen  Teil  eben  dieser  Wirk- 
lichkeit selbst;  einen  Auszug  dessen,  was  in  ihr  unmittelbar 
enthalten  ist.  Die  Begriffe  der  exakten  mathematischen 
Wissenschaft  stehen  in  dieser  Hinsicht  mit  den  Begriffen  der 
beschreibenden  Wissenschaften,  die  es  lediglich  mit 
der  übersichtlichen  Ordnung  und  Klassifikation  des  Gegebenen 
zu  tun  haben,  völlig  auf  gleicher  Stufe.  Wie  wir  den  Begriff 
des  Baumes  bilden,  indem  wir  aus  der  Gesamtheit  der  Eichen, 
Buchen  und  Birken  usw.  die  Menge  der  gemeinsamen  Merk- 
male herausheben,  so  bilden  wir  in  genau  derselben  Weise 
etwa  den  Begriff  des  ebenen  Vierecks,  indem  wir  eine  Be- 
schaffenheit isolieren,  die  sich  im  Quadrat  und  Rechteck,  im 
Rhombus  und  Rhomboid,  im  symmetrischen  und  asymmetri- 
schen Trapez  und  Trapezoid  tatsächlich  vorfindet  und  die 
sich  hier  unmittelbar  anschaulich  aufweisen  läßt*.i  Die  be- 
kannten Hauptsätze  der  Begriffstheorie  ergeben  sich  auf  dieser 
Grundlage  von  selbst.  Jede  Reihe  vergleichbarer  Objekte 
besitzt  einen  höchsten  Gattungsbegriff,  der  alle  die  Be- 
stimmungen, in  welchen  diese  Objekte  übereinkommen,  in 
sich  faßt;,  während  anderseits  innerhalb  dieser  höchsten 
Gattung  durch  solche  Eigenschaften,  die  nur  einem  Teil 
der  verglichenen  Elemente  zugehören,  Artbegriffe  verschieden 
hoher  Stufe  defini,ert  werden.  Wie  man  von  einer  Art  zur 
höheren  Gattung  emporsteigt,  indem  man  auf  ein  bestimmtes 

*  Vgl.  z.  B.  Drobiöch,    Neue  Darstellting  der  Logik,    4.  Aufl., 
Leipzig  1875,  §  16ff.;Überweg,  System  der  Logik,  Bonn  1857,  §  51  ff. 


% 


Merkmal,  das  bis  dahin  festgehalten  wurde,  verzichtet  und 
damit  ein  größeres  Gebiet  von  Objekten  in  den  Umkreis  der 
Betrachtung  aufnimmt,  so  vollzieht  sich  umgekehrt  die 
Besonderung  der  Gattung  durch  die  fortschreitende  Hinzu- 
fügung neuer  inhaltlicher  Momente.  Nennt  man  demnach 
die  Anzahl  der  Merkmale  eines  Begriffs  die  Größe  seines 
Inhalts,  so  wird  diese  Größe  wachsen,  wenn  man  vom 
höheren  Begriff  zum  niedrigeren  herabsteigt  und  damit  die 
Anzahl  der  Arten,  die  man  dem  Begriff  untergeordnet  denkt, 
vermindert;  —  während  sie  abnehmen  wird,  wenn  diese 
Anzahl  sich  durch  den  Aufstieg  zu  einer  höheren  Gattung 
vermehrt.  .  Dem  weiteren  Umfang  entspricht  daher  eine 
fortschreitende  Beschränkung  des  Inhalts,  so  daß  schließlich 
die  allgemeinsten  Begriffe,  zu  denen  wir  gelangen  können, 
keinerlei  auszeichnende  Eigentümlichkeit  und  Bestimmtheit 
mehr  besitzen.  Die  „Begriffspyramide",  die  wir  kraft  dieses 
Verfahrens  aufbauen,  endet  nach  oben  hin  in  der  abstrakten 
Vorstellung  des  „Etwas",  einer  Vorstellung,  die  eben  in  ihrem 
allumfassenden  Sein,  kraft  dessen  jeglicher  beliebige  Denk- 
inhalt unter  sie  fällt,  zugleich  von  jeder  spezifischen  Be- 
deutung   gänzlich  entleert  ist.  —    y^ 

An  diesem  Punkte  indes,  zu  dem  die  traditionelle  logische 
Lehre  vom  Begriff  mit  innerer  Notwendigkeit  hingedrängt 
wird,  muß  sich  sogleich  der  erste  Zweifel  gegen  ihre  ausnahms- 
lose Geltung  und  Anwendbarkeit  regen.  Wenn  das  Ziel, 
auf  welches  diese  Methode  der  Begriffsbildung  schließlich 
hinausführt,  gänzlich  ins  Leere  fällt:  so  müssen  sich  auch 
gegen  den  gesamten  Weg,  der  hier  gewiesen  wird,  Bedenken 
erheben.  Ein  derartiger  Abschluß  bliebe  unverständlich, 
wenn  die  einzelnen.  Schritte  die  Forderung  erfüllten,  die  wir 
an  jede  fruchtbare,  konkret-wissenschaftliche  Begriffsbildung 
zu  stellen  pflegen.  Was  wir  vom  wissenschaftlichen  Begriff 
zunächst  verlangen  und  erwarten,  ist  dies,  daß  er  an  Stelle 
der  ursprünglichen  Unbestimmtheit  und  Vieldeutigkeit  des 
Vorstellungsinhalts  eine  scharfe  und  eindeutige  Bestim- 
mung setzt, j' während  hier  umgekehrt  die  scharfen  Grenzen 
sich  zu  verwischen  scheinen,  je  weiter  wir  das  angegebene 
logische  Verfahren  verfolgen.     Und  selbst  vom  immanenten 


Standpunkt  der  formalen  Logik  aus  entsteht  sogleich  ein 
neues  Problem.  Wenn  alle  Begriffsbildung  darin  besteht, 
daß  wir  von  einer  Mehrheit  von  Objekten,  die  uns  vorliegt, 
nur  die  übereinstimmenden  Merkmale  herausheben,  während 
wir  alle  übrigen  fallen  lassen,  so  ist  klar,  daß  durch  eine  der- 
artige Reduktion  an  die  Stelle  der  ursprünglichen  anschau- 
lichen Gesamtheit  ein  bloßer  Teilbestand  ge- 
treten ist.  Dieser  Teil  aber  erhebt  den  Anspruch,  das  Ganze 
zu  beherrschen  und  zu  erklären.  Der  Begriff  würde  jeglichen 
Wert  verlieren,  wenn  er  lediglich  die  Aufhebung  der 
besonderen  Fälle,  von  deren  Betrachtung  er  ausgeht,  und 
gleichsam  die  Vernichtung  ihrer  Eigenart  bedeuten  wollte.\ 
Der  Akt  der  Negation  soll  vielmehr  der  Ausdruck  einer  durch- 
aus positiven  Leistung  sein:  was  zurückbleibt,  soll  nicht  nur 
ein  beliebig  herausgegriffener  Teil,  sondern  ein  ,, wesentliches" 
Moment  sein,  durch  das  das  Ganze  bestimmt  wird. 
Der  höhere  Begriff  will  den  niederen  verständlich  machen, 
indem  er  den  Grund  seiner  besonderen  Gestaltung  auf- 
deckt und  für  sich  hinstellt.  Die  herkömmliche  Vorschrift 
für  die  Bildung  der  Gattungsbegriffe  aber  enthält  in  sich 
keinerlei  Gewähr,  daß  dieses  Ziel  wahrhaft  erreicht  wird. 
In  der  Tat  verbürgt  uns  nichts,  daß  die  gemeinsamen 
Merkmale,  die  wir  aus  einem  beliebigen  Komplex  von  Objekten 
herausheben,  auch  die  eigentlich  charakteristischen  Züge 
enthalten,  die  die  Gesamtstruktur  der  Glieder  des  Komplexes 
beherrschen  und  nach  sich  bestimmen.  Wenn  wir  —  um  ein 
drastisches  Beispiel  L  o  t  z  e  s  zu  gebrauchen  —  Kirschen  und 
Fleisch  unter  die  Merkmalgruppe  rötlicher,  saftiger,  eßbarer 
Körper  unterordnen,  so  gelangen  wir  hiermit  zu  keinem 
gültigen  logischen  Begriff,  sondern  zu  einer  nichtssagenden 
Wortverbindung,  die  für  die  Erfassung  der  besonderen  Fälle 
nichts  bedeutet  und  leistet.  Somit  zeigt  es  sich,  daß  die  all- 
gemeine formale  Vorschrift  für  sich  allein  nicht  genügt,  daß 
vielmehr  überall  zu  ihrer  Ergänzung  stillschweigend  auf  ein 
anderes  gedankliches  Kriterium  zurückgegriffen  wird. 
Im  System  des  Aristoteles  liegt  dieses  Kriterium 
deutlich  zutage:  die  Lücke,  die  in  der  Logik  zurückbleibt,  wird 
auch  hier  wiederum  durch  die  Aristotelische  Metaphysik 


8 


alsbald  ergänzt  und  ausgefüllt. '  Die  Lehre  vom  Begriff  ist  das 
eigentliche  Bindeglied,  das  beide  Gebiete  aneinander  kettet. 
Für  Aristoteles  zum  mindesten  ist  der  Begriff  kein  bloßes  sub- 
jektives Schema,  in  welchem  wir  die  gemeinsamen  Elemente 
einer  beliebigen  Gruppe  von  Dingen  zusammenfassen.  Diese 
Heraushebung  des  Gemeinsamen  bliebe  ein  leeres  Spiel  der  Vor- 
stellung, wenn  nicht  der  Gedanke  zugrunde  läge,  daß  dasjenige, 
was  auf  diese  Weise  gewonnen  wird,  zugleich  die  reale  Form 
sei,  die  den  kausalen  und  teleologischen  Zusammenhang 
der  Einzeldinge  verbürgt.  Die  echten  und  letzten  Gemein- 
samkeiten der  Dinge  sind  zugleich  die  schöpferischen  Kräfte, 
aus  denen  sie  hervorgehen  und  denen  gemäß  sie  sich  gestalten. 
Der  Prozeß  der  Vergleichung  der  Dinge  und  ihrer  Zusammen- 
fassung nach  übereinstimmenden  Merkmalen,  wie  er  sich 
zunächst  in  der  Sprache  ausdrückt,  führt  nicht  ins  Un- 
bestimmte, sondern  endet,  richtig  geleitet,  in  der  Feststellung 
der  realen  Wesensbegriffe.  Das  Denken  isoliert  nur  den  A  r  t  - 
t  y  p  u  s  ,  der  in  der  einzelnen  konkreten  Wirklichkeit  als 
tätiger  Faktor  enthalten  ist  und  der  den  mannigfaltigen, 
besonderen  Gestaltungen  die  allgemeine  Prägung  verleiht,  y 
Die  biologische  Gattung  bezeichnet  zugleich  das  Ziel,  nach 
welchem  die  einzelne  Lebensform  hinstrebt,  wie  die  immanente 
Kraft,  von  der  ihre  Entwicklung  geleitet  ist.  Die  logische 
Form  der  Begriffsbildung  und  der  Definition  kann  nur  im 
Hinblick  auf  diese  Grundverhältnisse  des  Realen  festgestellt 
werden.  Die  Bestimmung  des  Begriffs  durch  seine  nächst- 
höhere Gattung  und  durch  die  spezifische  Differenz  gibt  den 
Fortschritt  wieder,  kraft  dessen  die  reale  Substanz  sich 
successiv  in  ihre  besonderen  Seinsweisen  entfaltet.,  So  ist  es 
dieser  Grundbegriff  der  Substanz,  auf  den  auch 
die  rein  logischen  Theorien  des  Aristoteles  dauernd  bezogen 
bleiben.  Das  vollständige  System  der  wissenschaftlichen 
Definitionen  wäre  zugleich  der  vollständige  Ausdruck  der 
substanziellen  Kräfte,    die  die  Wirklichkeit  beherrschen  *. 


*  Zu  den  metaphysischen  Voraussetzungen  der  Aristotelischen  Logik 
vgl.  bos.  P  r  a  n  1 1 ,  Geschichte  der  Logik  im  Abendlande  I ;  Tren- 
delenburg, Geschichte  der  Kategorienlohre ;  H.  M  a  i  e  r  ,  Die 
Syllogistik  des  Aristoteles,  II,   2,  Tübingen  1900,  S.  183  ff. 


Die  spezifische  Fassung  der  Aristotelischen  Logik  ist 
somit  bedingt  durch  die  spezifische  Fassung  seines  Seins- 
begriffs. Zwar  hat  Aristoteles  selbst  verschiedene  Arten 
und  Bedeutungen  des  Seins  voneinander  klar  geschieden: 
und  es  ist  die  wesentliche  Aufgabe  seiner  Kategorien- 
lehre, diese  Sonderung  des  Seins  in  seine  verschiedenen 
Unterarten  zu  verfolgen  und  deutlich  zu  machen.  So  wird 
denn  auch  von  ihm  das  Sein,  das  die  bloße  Beziehung  im 
Urteil  bezeichnet,  von  der  dinglichen  Existenz,  das  Sein 
der  begrifflichen  Synthese  von  dem  des  konkreten  Subjekts 
ausdrücklich  getrennt.  Dennoch  bleibt  in  all  diesen  Versuchen 
einer  schärferen  Gliederung  der  logische  Vorrang  des  Substanz- 
begriffs unbestritten.  Nur  an  gegebenen  und  existierenden 
Substanzen  sind  die  mannigfachen  Seinsbestimmungen  denkbar. 
Nur  an  einem  festen  dinglichen  Substrat,  das  primär  vorhanden 
sein  muß,  können  die  logisch-grammatischen  Arten  des  Seins 
überhaupt  ihren  realen  Halt  und  Grund  finden.  Quantität 
und  Qualität,  Raum-  und  Zeitbestimmungen  bestehen  nicht 
an  und  für  sich,  sondern  lediglich  als  Eigenschaften  an  abso- 
luten, für  sich  bestehenden  Wirklichkeiten.»  Vor  allem  aber 
ist  es  die  Kategorie  der  Relation,  die  durch  diese  meta- 
physische Grundlehre  des  Aristoteles  zu  einer  abhängigen 
und  untergeordneten  Stellung  herabgedrückt  wird.  Die 
Relation  bleibt  dem  eigentlichen  Wesensbegriff  gegenüber 
unselbständig;  sie  kann  ihm  nur  nachträgliche  und  äußere 
Modifikationen  zufügen,  die  seine  eigentliche  ,, Natur"  nicht 
berühren.  /  Damit  aber  gewinnt  die  Aristotelische  Lehre 
von  der  Begriffsbildung  einen  charakteristischen  Zug,  der 
in  all  den  mannigfachen  Wandlungen,  die  sie  erfahren  hat, 
unverändert  geblieben  ist.  Das  kategoriale  Grundverhältnis 
des  Dinges  zu  seinen  Eigenschaften  bleibt  fortan 
der  leitende  Gesichtspunkt,  während  alle  relativen  Be- 
stimmungen nur  insofern  in  Betracht  gezogen  werden,  als  sie 
sich  zuletzt,  durch  Vermittlungen  irgendwelcher  Art,  in 
Zustände  an  einem  Subjekt  oder  an  einer  Mehrheit  von 
Subjekten  umdeuten  lassen.  In  den  Handbüchern  der  for- 
malen Logik  bekundet  sich  diese  Ansicht  darin,  daß  hier  in 
der  Regel  die  Verhältnisse  oder  Beziehungen  zu  den  ,,außer- 

10 


wesentlichen"  Merkmalen  eines  Begriffs  gerechnet  werden, 
die  somit  in  seiner  Definition  ohne  Schaden  fortbleiben 
können.  Hier  tritt  bereits  eine  methodische  Sonderung  von 
eingreifender  Bedeutung  hervor:  je  nach  dem  verschiedenen 
Wertverhältnis,  das  zwischen  Dingbegriff  und  Re- 
lationsbegriff angenommen  wird,  unterscheiden  sich 
—  wie  sich  immer  deutlicher  zeigen  wird  —  die  beiden 
typischen  Hauptformen  der  Logik,  die  ins- 
besondere in  der  modernen  wissenschaftlichen  Entwicklung 
einander  gegenüberstehen.  / 

Legt  man  diesen  allgemeinsten  Maßstab  zugrunde,  so 
erkennt  man  ferner,  daß  die  wesentliche  prinzipielle 
Voraussetzung,  auf  die  Aristoteles  seine  Logik  gründet, 
auch  die  speziellen  Grundlehren  der  Peripatetischen  Meta- 
physik überdauert  hat.  In  der  Tat  ist  aller  Kampf  gegen  den 
Aristotelischen  ,, Begriffsrealismus"  gerade  an  diesem  ent- 
scheidenden Punkte  wirkungslos  geblieben.  Der  Streit  zwischen 
Nominalismus  und  Realismus  betrifft  nur  die  Frage  nach  der 
metaphysischen  Wirklichkeit  der  Begriffe,  während 
die  Frage  nach  ihrer  gültigen  logischen  Definition 
außer  Betracht  bleibt.  Die  Realität  der  „Universalien"  steht 
in  Frage:  was  aber  ohne  allen  Zweifel,  wie  durch  ein  still- 
schweigendes Übereinkommen  der  streitenden  Parteien  fest- 
steht, ist  eben  dies,  daß  der  Begriff  als  universale  Gattung, 
als  gemeinsamer  Bestandteil  in  einer  Reihe  gleichartiger  oder 
ähnlicher  Einzeldinge  aufzufassen  ist.  Ohne  diese  beider- 
seitige Grundvoraussetzung  wäre  aller  Streit  darüber,  ob 
jenes  Gemeinsame  eine  gesonderte  tatsächliche  Existenz 
besitze  oder  nur  in  und  mit  den  Sonderdingen,  als  anschau- 
liches Moment  sich  aufweisen  lasse,  innerlich  unverständlich./ 
Und  auch  die  psychologische  Kritik  des  ,, abstrakten" 
Begriffs  bringt  hier,  so  radikal  sie  auf  den  ersten  Blick  er- 
scheinen mag,  keine  wahrhafte  Umwandlung.  Man  kann  es 
bei  Berkeley  bis  ins  einzelne  verfolgen,  wie  sehr  seine 
Skepsis  gegen  den  Wert  und  die  Leistungsfähigkeit  des 
abstrakten  Begriffs  zugleich  den  dogmatischen  Glauben  an 
die  Gültigkeit  der  gewöhnlichen  Erklärung  des  Begriffs 
in   sich  schließt.      Daß   der  echte  wissenschaftliche  Begriff, 

11 


daß  insbesondere  die  Begriffe  der  Mathematik  und 
Physik  möglicherweise  eine  andere  Aufgabe  und  Leistung 
zu  erfüllen  haben,  als  sie  ihnen  in  dieser  scholastischen  Er- 
klärung zugewiesen  wird:  dieser  Gedanke  wird  nicht  erfaßt*. 
In  der  Tat  ist  in  der  psychologischen  Ableitung  des  Begriffs 
das  traditionelle  Schema  nicht  sowohl  verändert,  als  vielmehr 
nur  auf  ein  anderes  Gebiet  übertragen. .  Waren  es  zuvor  die 
äußeren  Dinge,  die  verglichen  und  aus  denen  ein  gemein- 
samer Bestand  herausgehoben  werden  sollte,  so  wird  nunmehr 
das  gleiche  Verfahren  nur  auf  die  Vorstellungen  als 
ihre  seelischen  Korrelate  übertragen.  Der  Prozeß  ist  gleichsam 
nur  in  eine  andere  Dimension  versetzt,  indem  er  aus  dem 
Gebiet  des  Physischen  in  das  des  Psychischen  übergetreten  ist, 
während  sein  allgemeiner  Ablauf  und  seine  Struktur  die  gleichen 
geblieben  sind.  Wenn  mehrere  zusammengesetzte  Vor- 
stellungen einen  Teil  ihres  Inhalts  gemeinsam  haben,  so 
entsteht  aus  ihnen  nach  den  bekannten  psychologischen 
Gesetzen  der  Miterregung  und  Verschmelzung  des  Gleich- 
artigen ein  Inhalt,  in  dem  lediglich  die  übereinstimmenden 
Bestimmungen  festgehalten,  alle  anderen  dagegen  verdrängt 
sind**.  *  Es  wird  auf  diese  Weise  kein  neues  Gebilde  von 
selbständiger  und  eigenartiger  Bedeutung  geschaffen,  sondern 
lediglich  eine  bestimmte  Einteilung  des  bereits  vorhandenen 
Vorstellungsbestandes  erreicht,  indem  gewisse  Momente  in 
ihm  durch  einseitige  Richtung  der-  Auf.m. erksamkeit 
betont  und  von  ihrer  Umgebung  schärfer  abgehoben  werden. 
Den  „substantiellen  Formen",  die  bei  Aristoteles  das  letzte 
Ziel  dieser  vergleichenden  Tätigkeit  darstellen,  entsprechen 
nunmehr  bestimmte  Grundelemente,  die  sich  durch  das  ge- 
samte Gebiet  der  Wahrnehmungen  und  ,,Perzeptionen*' 
hindurchziehen.)  Und  noch  schärfer  und  nachdrücklicher 
tritt  jetzt  die  Behauptung  hervor,  daß  nur  diese  ,, absoluten", 
für  sich  bestehenden  Elemente  den  eigentlichen  Kern  des 
Gegebenen  und  „Wirklichen"  ausmachen.   Wiederum  wird  die 


*  Näheres  liiorüber  in  meiner  Schrift  über  das  Erkenntnisproblem 
in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der  neueren  Zeit,  Bd.  II,  Berlin  1907, 
S.  219  ff. 

**  Vgl.  z.  B.  Überweg,  a.  a.  O.  §  51. 

12 


I 


Rolle  der  Relation  so  weit  als  möglich  beschränkt :  gegen 
Hamilton,  der  bei  aller  Anerkennung  der  Berkeleyschen 
Theorie  dennoch  auf  die  eigentümliche  Leistung  des  be- 
ziehenden Denkens  hinweist,  betont  J.  Stuart  Mill 
ausdrücklich,  daß  der  eigentliche  positive  Bestand  jeder 
Beziehung  doch  immer  nur  in  den  einzelnen  Gliedern  liege, 
die  durch  sie  verknüpft  werden,  und  daß  somit,  da  diese 
Glieder  nur  in  individueller  Besonderung  gegeben  sein  können, 
auch  von  einer  allgemeinen  Bedeutung  der  Relation  keine 
Rede  sein  könne*.  Der  Begriff  existiert  nicht  anders, 
denn  als  Teil  eines  konkreten  Vorstellungsbildes  und  mit  allen 
Merkmalen  eines  solchen  Vorstellungsbildes  behaftet;  was 
ihm  den  Schein  selbständigen  Wertes  und  einer  unabhängigen 
psychologischen  Eigenart  verleiht,  ist  lediglich  der  Umstand, 
daß  unsere  Aufmerksamkeit,  die  in  ihrer  Leistung  beschränkt 
ist,  niemals  das  Ganze  dieses  Bildes  vollständig  zu  erleuchten 
vermag  und  sich  notgedrungen  auf  einen  bloßen  Auszug 
beschränken  muß.  Das  Bewußtsein  des  Begriffs  löst  sich 
für  die  psychologische  Analyse  in  das  Bewußtsein  einer  Vor- 
stellung oder  eines  Vorstellungsteils  auf,  die  assoziativ  mit 
irgendeinem  Wortbild  oder  einem  anderen  sinnlichen  Zeichen 
verbunden  sind. 

Die  ,, Psychologie  der  Abstraktion"  enthält  somit  den 
eigentlichen  Schlüssel  für  den  logischen  Gehalt  jeglicher 
Begriffsform.  Die  schlichte  Fähigkeit  der  Reproduktion 
einmal  gegebener  Vorstellungsinhalte  ist  es,  auf  welche  dieser 
Gehalt  schließlich  zurückgeht.  Abstrakte  Gegenstände  ent- 
stehen in  jedem  vorstellenden  Wesen,  dem  sich  in  wiederholten 
Wahrnehmungen  gleiche  Bestimmungen  des  Wahrgenommenen 
dargeboten  haben**.»  Denn  diese  Bestimmungen  bleiben  nicht 
auf  den  einzelnen  Moment  der  Wahrnehmung  beschränkt, 
sondern  hinterlassen  irgendwelche  Spuren  ihres  Bestandes 
in  dem  physisch-psychischen  Subjekt.  Indem  diese  Spuren, 
die  in  dem  Zeitraum  zwischen  der  wirklichen  Wahrnehmung 
und  der  Erinnerung  als  unbewußt  anzusehen  sind,  durch  neu 


*  Mill,    An   Examination   of    Sir  William   Hamiltons   Philosophy, 
London  1865,   S.  319. 

**  Vgl.  bes.  B.  Erdmann,  Logik,  2.  Aufl.,   S.  65  ff.,   88  ff. 

13 


auftretende  Reize  ähnlicher  Art  wiederum  erweckt  werden, 
bildet  sich  allmählich  ein  immer  festerer  Zusammenhang 
zwischen  den  gleichartigen  Elementen  successiver  Wahr- 
nehmungen heraus.  .  Das  Unterscheidende  tritt  mehr  und 
mehr  zurück;  es  bildet  schließlich  nur  noch  einen  schatten- 
haften Hintergrund,  von  dem  sich  um  so  deutlicher  die  kon- 
stanten Züge  abheben.  Die  fortschreitende  Verdichtung 
dieser  übereinstimmenden  Züge,  ihre  Verschmelzung  zu  einem 
einheitlichen  untrennbaren  Ganzen,  macht  das  psychologische 
Wesen  des  Begriffs  aus,  der  somit  seinem  Ursprung  wie  seiner 
Funktion  nach  nichts  anderes  als  ein  Inbegriff  von  Gedächtnis- 
residuen ist,  die  uns  von  den  Wahrnehmungen  wirklicher 
Dinge  und  Vorgänge  zurückgeblieben  sind.  Die  Wirklichkeit 
dieser  Residuen  erweist  sich  darin,  daß  sie  im  Wahrnehmungs- 
akt selbst  eine  eigentümliche  und  selbständige  Wirksam- 
keit ausüben,  sofern  jeder  neu  auftretende  Inhalt  ihnen 
gemäß  aufgefaßt  und  umgedeutet  wird.  \  So  stehen  wir  hier 
—  wie  von  den  Vertretern  dieser  Anschauung  gelegentlich 
selbst  betont  wird  —  auf  einem  Standpunkt,  der  dem  des 
mittelalterlichen  „Konzeptualismus"  nahe  verwandt  ist:  die 
sachlichen  und  sprachlichen  Abstrakta  können  aus  den  Wahr- 
nehmungsinhalten abgeleitet  werden,  weil  sie  in  ihnen  als 
konstante  gemeinsame  Bestandteile  aktuell  enthalten  sind. 
Nur  darin  besteht  der  Unterschied  der  ontologischen  und  der 
psychologischen  Betrachtungsweise,  daß  die  ,, Dinge"  der 
Scholastik  das  im  Denken  abgebildete  Seiende  bedeuten, 
während  die  Gegenstände,  von  denen  hier  die  Rede  ist,  nicht 
mehr  sein  wollen  als  VorsteUungsinhalte. 

So  wichtig  indessen  dieser  Unterschied  vom  Standpunkt 
der  Metaphysik  erscheinen  mag,  so  wird  doch  durch 
ihn  die  Fassung  und  der  Inhalt  des  rein  logischen 
Problems  nicht  berührt.  Bleibt  man  im  Umkreis  dieses  Pro- 
blems stehen,  so  zeigt  sich  hier  in  der  Tat  eine  gemeinsame 
Grundüberzeugung,  die  in  allen  Umgestaltungen  der  Frage 
unverändert  und  scheinbar  unangreifbar  beharrt.  Aber 
gerade  an  diesem  Punkt,  der  allem  Streit  der  Lehrmeinungen 
zunächst  entzogen  scheint,  beginnt  nunmehr  die  eigentliche 
methodische  Schwierigkeit.     Ist  die  Theorie  des  Begriffs,  die 

14 


% 


hier  entwickelt  wurde,  ein  zureichendes  und  getreues  Abbild 
des  Verfahrens,  das  in  den  konkreten  Wissenschaften  geübt 
wird?  Umfaßt  und  beherrscht  sie  alle  Einzelzüge  dieses  Ver- 
fahrens und  vermag  sie  sie  in  ihrem  Zusammenhang  wie  in 
ihrer  spezifischen  Besonderung  darzustellen ?  Für  die  Ari- 
stotelische Theorie  zum  mindesten  muß  diese  Frage 
verneint  werden.  /Die  „Begriffe",  die  Aristoteles  letzten  Endes 
sucht  und  auf  die  sein  Interesse  vornehmlich  gerichtet  ist, 
sind  die  Gattungsbegriffe  der  beschreibenden  und  klassi- 
fizierenden Naturwissenschaft.  Die  „Form"  des  Ölbaums, 
des  Pferdes,  des  Löwen  gilt  es  zu  ermitteln  und  festzusetzen. 
Wo  er  das  Gebiet  der  biologischen  Betrachtung  ver- 
läßt, da  vermag  sich  seine  Theorie  des  Begriffs  alsbald  nicht 
mehr  völlig  natürlich  und  zwanglos  zu  entfalten.  Insbesondere 
sind  es  die  Begriffe  der  Geometrie,  die  von  Anfang  an 
der  Einordnung  in  das  gewöhnliche  Schema  widerstehen. 
Der  Begriff  des  Punktes,  der  Linie,  der  Fläche  läßt  sich  nicht 
als  unmittelbarer  Teilbestand  des  physisch  vorhandenen 
Körpers  aufweisen  und  sich  somit  nicht  durch  einfache  ,, Ab- 
straktion" aus  ihm  herauslösen.  Schon  gegenüber  diesen  ein- 
fachsten Beispielen,  die  die  exakte  Wissenschaft  liefert,  sieht 
sich  daher  die  logische  Technik  vor  eine  neue  Aufgabe  gestellt. 
Die  mathematischen  Begriffe,  die  durch  genetische  Definition, 
durch  die  gedankliche  Feststellung  eines  konstruktiven 
Zusammenhangs  entstehen,  scheiden  sich  von  den  empirischen, 
die  lediglich  die  Nachbildung  irgendwelcher  tatsächlicher  Züge 
in  der  gegebenen  Wirklichkeit  der  Dinge  sein  wollen.  Wenn  im 
letzteren  Falle  die  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  an  und  für  sich 
vorhanden  ist  und  nur  auf  einen  abgekürzten,  sprachlichen 
oder  begrifflichen  Ausdruck  zusammengezogen  werden  soll, 
so  handelt  es  sich  im  ersteren  umgekehrt  darum,  die  Mannig- 
faltigkeit, die  den  Gegenstand  der  Betrachtung  bildet,  erst 
zu  schaffen,  indem  aus  einem  einfachen  Akt  der  Setzung 
durch  fortschreitende  Synthese  eine  systematische  Ver- 
knüpfung von  Denkgebilden  hervorgebracht  wird.  Der 
bloßen  ,, Abstraktion"  tritt  daher  hier  ein  eigener  Akt  des 
Denkens,  eine  freie  Produktion  bestimmter  Relations-Zu- 
sammenhänge gegenüber.    Es  ist  begreiflich,  daß  die  logische 

15 


Abstraktionstheorie,  bis  in  ihre  moderne  Gestaltung  hinein, 
immer  wieder  versucht  hat,  diesen  Gegensatz  zu  verwischen: 
denn  an  diesem  Punkt  entscheidet  sich  die  Frage  nach  ihrem 
Wert  und  ihrer  inneren  Einheit.  Aber  dieser  Versuch  selbst 
führt  alsbald  zu  einer  Umbildung  und  Selbstzersetzung  der 
Theorie,  zu  deren  Gunsten  er  unternommen  wird.  Die  Lehre 
von  der  Abstraktion  verliert  hier  entweder  ihre  universelle 
Gültigkeit  oder  den  spezifischen,  logischen  Charakter,  der 
ihr  ursprünglich  eignete. 

So  sucht  etwa  M  i  1 1 ,  um  die  Einheit  des  obersten 
Erklärungsprinzips  zu  wahren,  auch  die  mathematischen 
Begriffe  und  Wahrheiten  lediglich  als  den  Ausdruck  konkreter 
physischer  Tatbestände  zu  deuten.  Der  Satz,  daß  1  +  1  =  2 
ist,  beschreibt  lediglich  eine  Erfahrung,  die  sich  uns  in  der  Zu- 
sammenfügung von  Dingen  aufgedrängt  hat;  er  würde  in  einer 
anders  gearteten  Welt  von  Objekten,  in  einer  Welt 
etwa,  in  der  durch  die  Verbindung  zweier  Dinge  jedesmal 
von  selbst  ein  drittes  entstünde,  jede  Bedeutung  und  Gültigkeit 
verlieren.  Das  gleiche  gilt  von  den  Axiomen  über  räumliche 
Verhältnisse:  ein  „rundes  Viereck"  beißt  uns  nur  darum  ein 
widersprechender  Begriff,  weil  es  sich  uns  in  ausnahms- 
loser Erfahrung  gezeigt  hat,  daß  ein  Ding  in  dem  Augenblick, 
in  welchem  es  die  Eigenschaft  der  Rundheit  annimmt,  die 
Eigenschaft  der  Viereckigkeit  verliert,  so  daß  der  Beginn  der 
einen  ,, Impression"  mit  dem  Aufhören  der  anderen  unlöslich 
verbunden  ist.  So  scheinen  kraft  dieser  Erklärungsweise 
Geometrie  und  Arithmetik  von  neuem  in  bloße 
Aussagen  über  bestimmte  Gruppen  von  Vo.rstellungs- 
b  i  1  d  e  r  n  aufgelöst.  Aber  diese  Auffassung  versagt,  wenn 
M  i  1 1  weiterhin  versucht,  den  Wert  und  die  eigentümliche 
Bedeutsamkeit  zu  begründen,  die  gerade  jenen  spe- 
ziellen Erfahrungen  des  Z  ä  h  1  e  n  s  und  Messens  im 
Ganzen  unserer  Erkenntnis  eignet.  Hier  wird  vorerst  auf  die 
Genauigkeit  und  Treue  der  Phantasiebilder  hingewiesen, 
die  wir  von  den  räumlichen  und  zahlenmäßigen  Verhältnissen 
bewahren.  Die  reproduzierte  Vorstellung  ist  in  diesem  Falle 
der  ursprünglichen,  wie  uns  eine  vielfältige  Erfahrung  gezeigt 
hat,  in  allen  Stücken  ähnlich;  das  Bild,  das  der  Geometer  ent- 

16 


wirft,  entspricht  in  seinen  Einzelheiten  vollständig  dem 
ursprünglichen  Eindruck,  nach  welchem  es  entworfen  ist.i 
So  erscheint  es  begreiflich,  daß  wir,  um  zu  neuen 
geometrischen  oder  arithmetischen  Wahrheiten  zu  gelangen, 
nicht  jedesmal  erneuerter  Wahrnehmungen  physischer  Objekte 
bedürfen:  das  Gedächtnisbild  vermag  dank  seiner  Schärfe  und 
Klarheit  den  sinnlichen  Gegenstand  selbst  zu  ersetzen.  Aber 
diese  Erklärung  wird  alsbald  von  einer  anderen  gekreuzt. 
Die  eigenartige  „deduktive"  Gewißheit,  die  wir  den  mathe- 
matischen Sätzen  zuschreiben,  wird  jetzt  darauf  zurückgeführt, 
daß  wir  es  in  diesen  Sätzen  niemals  mit  Aussagen  über  kon- 
krete Tatsachen,  sondern  nur  mit  Beziehungen  zwischen 
hypothetischen  Gebilden  zu  tun  haben.  Es  gibt  keine 
realen  Dinge,  die  mit  den  Definitionen  der  Geometrie  genau 
übereinstimmen :  es  gibt  keinen  Punkt  ohne  Größe,  keine  voll- 
kommen gerade  Linie,  keinen  Kreis,  dessen  Radien  sämtlich 
gleich  sind.  Und  nicht  nur  die  aktuelle  Wirklichkeit,  sondern 
selbst  die  Möglichkeit  derartiger  Inhalte  muß  vom 
Standpunkt  unserer  Erfahrung  aus  bestritten  werden:  sie  ist 
zum  mindesten  durch  die  physische  Beschaffenheit  unseres 
Planeten,  wenn  nicht  durch  die  des  Universums  ausgeschlossen. 
Nicht  minder  aber  als  die  physische  ist  auch  die  psychische 
Existenz  den  Gegenständen  der  geometrischen  Defini- 
tionen versagt.  Denn  auch  in  unserem  Geiste  findet  sich 
niemals  die  Vorstellung  eines  mathematischen  Punktes,  sondern 
immer  nur  die  der  kleinsten  sinnlichen  Ausdehnung;  auch  hier 
,, begreifen"  wir  niemals  eine  Linie  ohne  Breite,  da  doch  jedes 
geistige  Bild,  das  wir  entwerfen  können,  uns  immer  nur  Linien 
von  bestimmter  Breite  zeigt*..  Man  sieht  sogleich,  wie  diese 
Doppelerklärung  sich  selbst  aufhebt.  Auf  der  einen  Seite 
wird  aller  Nachdruck  auf  die  Ähnlichkeit  zwischen  den 
mathematischen  Ideen  und  den  ursprünglichen  Impressionen 
gelegt;  auf  der  anderen  aber  zeigt  sich  sogleich,  daß  eine  der- 
artige Ähnlichkeit  zum  mindesten  für  diejenigen  Gebilde, 
die  in  der  mathematischen  Wissenschaft 
selbst    allein   als   „Begriffe"   definiert  und   ausgezeichnet 

*  Vgl.  M  i  1 1 ,  A  System  of  Logic,  7  th  edit.,  London  1868,  Buch  II, 
Cap.  5  und  Buch  III,  Cap.  24. 

Cassirer,  Substanzbegriff  2  17 


werden,  nicht  besteht  und  nicht  bestehen  kann.  Diese  Gebilde 
können  nicht  durch  bloße  Aussonderung  aus  den  Tatsachen 
der  Natur  und  der  Vorstellung  gewonnen  sein,  weil  sie  in  der 
Gesamtheit  dieser  Tatsachen  kein  konkretes  Gegenbild  be- 
sitzen. 1  Die  „Abstraktion",  wie  sie  bisher  verstanden  wurde, 
verändert  in  der  Tat  den  Bestand  des  Bewußtseins 
und  der  gegenständlichen  Wirklichkeit  nicht,  sondern  setzt 
in  ihm  nur  bestimmte  Grenzlinien  und  Einteilungen;  sie 
scheidet  die  Bestandteile  des  Sinneseindrucks,  aber  sie  fügt 
ihnen  kein  neues  Datum  hinzu.  In  den  Definitionen  der  reinen 
Mathematik  aber  ist,  wie  Mills  eigene  Entwicklungen  lehren, 
die  Welt  der  sinnlichen  Dinge  und  Vorstellungen  nicht  sowohl 
wiedergegeben,  als  vielmehr  umgestaltet  und  durch  eine  anders- 
artige Ordnung  ersetzt.  Verfolgt  man  die  Art  und  den  Weg 
dieser  Umbildung,  so  heben  sich  hierbei  bestimmte  Formen 
der  Beziehung,  so  hebt  sich  ein  gegliedertes  System  streng 
unterschiedener  gedanklicher  Funktionen  heraus,  die 
durch  das  einförmige  Schema  der  ,, Abstraktion"  nicht  be- 
zeichnet, geschweige  begründet  werden,  i  Und  dieses  Ergebnis 
bestätigt  sich  auch  dann,  wenn  man  sich  von  den  rein  mathe- 
matischen Begriffen  zu  denen  der  theoretischen  Physik  hin- 
überwendet. Denn  auch  sie  weisen  in  ihrem  Ursprung  —  wie 
sich  im  einzelnen  verfolgen  läßt  —  den  gleichen  Prozeß  der 
Umformung  der  konkret  sinnlichen  Wirklichkeit  auf, 
den  die  traditionelle  Lehre  nicht  zu  rechtfertigen  vermag; 
auch  sie  wollen  nicht  lediglich  Abbilder  des  Wahrnehmungs- 
bestandes schaffen,  sondern  an  Stelle  der.  sinnlichen 
Mannigfaltigkeit  eine  andere  setzen,  die  bestimmten  theoreti- 
schen Bedingungen  entspricht*.  — 

Aber  selbst,  wenn  man  von  der  Form  der  exakten 
Begriffe  zunächst  absieht,  so  birgt  doch  das  naive  Weltbild 
selbst,  auf  das  die  traditionelle  logische  Auffassung  sich  vor- 
nehmlich beruft  und  stützt,  zuletzt  in  sich  das  gleiche  Problem. 
Die  Begriffe  der  mannigfachen  Arten  und  Gattungen 
sollen  uns  entstehen,  indem  die  „Ähnlichkeiten"  der  Dinge 
allmählich  das  Übergewicht  über  ihre  Verschiedenheit  erlangen ; 


*  Näheres  s.  bes.  Cap.  IV. // 

18 


—  indem  sie  allein,  dank  ihres  häufigen  Auftretens,  sich  dem  v 
Geiste  einprägen,  während  die  individuellen  Unterschiede, 
da  sie  von  Fall  zu  Fall  wechseln,  die  gleiche  Festigkeit  und 
Dauer  nicht  zu  gewinnen  vermögen.  Die  Ähnlichkeit  der 
Dinge  aber  vermag  offenbar  nur  dann  fruchtbar  und 
wirksam  zu  werden,  wenn  sie  als  solche  erfaßt  und  be- 
urteilt wird.  Daß  die  ,, unbewußten"  Spuren,  die  von 
einem  früheren  Wahrnehmungsbild  in  uns  zurückgeblieben 
sind,  einem  neuen  Eindruck  tatsächlich  gleichartig  sind,  bleibt 
für  den  Prozeß,  um  den  es  sich  hier  handelt,  so  lange  gleich- 
gültig, als  beide  Elemente  nicht  als  ähnlich  erkannt  sind.« 
Damit  aber  ist  zunächst  als  Grundlage  aller  „Abstraktion" 
ein  Akt  der  Identifikation  anerkannt.  Dem  Denken 
wird  eine  eigentümliche  Funktion  zugestanden,  einen  gegen- 
wärtigen Inhalt  auf  einen  vergangenen  zu  beziehen  und  beide 
in  irgendeiner  Hinsicht  als  identisch  zu  erfassen.  Diese  Syn- 
these, die  die  beiden  zeitlich  getrennten  Zustände  mit- 
einander verknüpft  und  in  eins  setzt,  besitzt  in  den  ver- 
glichenen Inhalten  selbst  kein  unmittelbares  sinnliches  Korrelat. 
Je  nach  der  verschiedenen  Art  und  Richtung,  in  der  sie  sich 
vollzieht,  kann  vielmehr  der  gleiche  sinnliche  Stoff  in  sehr  ver- 
schiedene begriffliche  Formen  gefaßt  werden.  Auch  die 
Psychologie  der  Abstraktion  muß  zunächst  die  Forderung 
stellen,  daß  die  Wahrnehmungen  sich  für  die  logische  Be- 
trachtung in  „Ähnlichkeitsreihen"  ordnen  lassen.  Ohne 
einen  derartigen  Prozeß  der  Aufreihung,  ohne  das  Durchlaufen 
der  verschiedenen  Momente  könnte  das  Bewußtsein  ihrer 
generischen  Zusammengehörigkeit  und  somit  der  abstrakte 
Gegenstand  nicht  entstehen.  Dieser  Übergang  von  Glied  zu 
Glied  aber  setzt  offenbar  ein  Prinzip  voraus,  nach  dem  er 
erfolgt,  und  durch  das  die  Art  der  Abhängigkeit,  die  zwischen 
jedem  Glied  und  dem  nächstfolgenden  besteht,  festgestellt 
wird.  Somit  zeigt  es  sich  auch  von  dieser  Seite,  daß  alle 
Begriffsbildung  an  eine  bestimmte  Form  der  Reihen- 
bild u  n  g  gebunden  ist.  Wir  nennen  ein  Mannigfaltiges 
der  Anschauung  begrifflich  gefaßt  und  geordnet, 
wenn  seine  Glieder  nicht  beziehungslos  nebeneinanderstehen, 
sondern  gemäß  einer  erzeugenden   Grundrelation  von  einem 

2*  19 


bestimmten  Anfangsglied  aus  in  notwendiger  Folge  hervor- 
gehen. Die  Identität  dieser  erzeugenden  Relation, 
die  bei  aller  Veränderlichkeit  der  Einzelinhalte  festgehalten 
wird,  ist  es,  die  die  spezifische  Form  des  Begriffs  ausmacht. 
Ob  aus  der  Festhaltung  dieser  Identität  der  Beziehung  da- 
gegen zuletzt  ein  abstrakter  Gegenstand,  ein  allgemeines 
Vorstellungsbild  sich  entwickelt,  in  dem  die  ähnlichen 
Züge  vereint  sind,  ist  lediglich  eine  psychologische  Nebenfrage, 
die  die  logische  Charakteristik  des  Begriffs  nicht  berührt.. 
Die  Entstehung  eines  derartigen  Gemeinbildes  kann  durch  die 
Art  der  erzeugenden  Relation  ausgeschlossen  sein,  ohne  daß 
damit  das  entscheidende  Moment  der  eindeutigen  Ablei- 
tung jedes  Moments  aus  dem  vorhergehenden  aufgehoben 
wäre.  Man  erkennt  in  diesem  Zusammenhange,  daß  der 
eigentliche  Mangel  der  Abstraktionstheorie  in  der  Einseitigkeit 
besteht,  mit  der  sie  aus  der  Fülle  der  möglichen  Prinzipien 
wechselseitiger  logischer  Zuordnung  lediglich  das  Prinzip  der 
Ähnlichkeit  herausgreift.  In  Wahrheit  wird  sich  zeigen, 
daß  eine  Reihe  von  Inhalten,  um  begrifflich  erfaßt  und  geordnet 
zu  heißen,  nach  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  ab- 
gestuft sein  kann:  sofern  nur  der  leitende  Gesichtspunkt 
selbst  in  seiner  qualitativen  Eigenart,  im  Aufbau  der  Reihe 
unverändert  festgehalten  ist.  So  können  wir  etwa  neben 
Ähnlichkeitsreihen,  in  deren  einzelnen  Inhalten  ein  gemein- 
samer Bestandteil  gleichförmig  wiederkehrt,  Reihen  setzen, 
in  denen  zwischen  jedem  Glied  und  dem  darauf  folgenden 
ein  bestimmter  Grad  des  Unterschiedes  obwaltet; 
so  können  wir  die  Glieder  nach  Gleichheit  oder  Ungleichheit, 
nach  Zahl  und  Größe,  nach  räumlichen  und  zeitlichen  Be- 
ziehungen oder  nach  ihrer  kausalen  Abhängigkeit  geordnet 
denken.  Entscheidend  ist  in  jedem  Falle  lediglich  die  Not- 
wendigkeits-Relation, die  damit  geschaffen  wird, 
und  für  die  der  Begriff  nur  der  Ausdruck  und  die  Hülle  ist, 
nicht  die  Gattungs  Vorstellung,  die  sich  unter  beson- 
deren Umständen  nebenher  einstellen  mag,  die  aber  in  die 
Definition  nicht  als  wirksamer  Bestandteil  eingeht.  / 

So    führt    die    Analyse    der    Abstraktionstheorie    selbst 
auf  ein  tieferes  Problem  zurück.    Die  „Vergleichung"  der  In- 

20 


halte,  von  der  hier  die  Rede  ist,  ist  zunächst  nur  ein  vager 
und  vieldeutiger  Ausdruck,  der  die  Schwierigkeit  der  Frage 
verdeckt.  In  Wahrheit  sind  es  sehr  verschiedene  k  a  t  e  - 
goriale  Funktionen,  die  hier  unter  einem  bloßen 
Sammelnamen  vereinigt  sind.  Und  die  eigentliche  Aufgabe, 
die  der  logischen  Theorie  gegenüber  einem  bestimmten  Begriff 
zukommt,  besteht  eben  darin,  diese  Funktionen  in  ihrer  Eigen- 
tümlichkeit darzulegen  und  ihre  formalen  Grundmomente  zu 
entwickeln.  Die  Abstraktionstheorie  verdunkelt  diese  Aufgabe, 
indem  sie  die  kategorialen  Formen,  auf  welchen  alle  Bestimmt- 
heit des  Wahrnehmungsinhalts  beruht,  mit  Teilen  eben  dieses 
Wahrnehmungsinhalts  selbst  verwechselt.  Und  doch  lehrt 
schon  die  einfache  psychologische  Besinnung,  daß 
die  ,,  Gleichheit"  zwischen  irgendwelchen  Inhalten  nicht  selbst 
wiederum  als  ein  neuer  Inhalt  gegeben  ist;  daß  Ähnlichkeit 
oder  Unähnlichkeit  nicht  als  ein  eigenes  Element  der 
Sinnesempfindung  neben  Farbe  und  Ton,  Druck-  und  Tast- 
empfindungen erscheinen.  Das  gewöhnliche  Schema 
der  Begriffsbildung  bedarf  daher  auch  in  seiner  äußeren 
Gestalt  einer  eingreifenden  Umformung:  denn  in  ihm  sind  die 
dinglichen  Eigenschaften  und  die  reinen  Momente  der  Be- 
ziehung unterschiedslos  miteinander  verquickt  und  auf  ein 
und  dieselbe  Stufe  gestellt.  »  Ist  dies  einmal  geschehen,  so 
kann  es  freilich  scheinen,  als  beschränke  sich  die  Aufgabe  des 
Denkens  darauf,  aus  einer  Reihe  von  Wahrnehmungen  a  «, 
aß,  a  7  . . . .  das  gemeinsame  Element  a  herauszulösen.  In 
Wahrheit  aber  ist  der  Zusammenhang  der  Glieder  einer 
Reihe  durch  den  Besitz  einer  gemeinsamen  ,, Eigenschaft" 
nur  ein  sehr  spezielles  Beispiel  der  logisch-möglichen  Zu- 
sammenhänge überhaupt.  Die  Verknüpfung  der  Glieder 
wird  in  jedem  Falle  durch  irgendein  allgemeines  Gesetz  der 
Zuordnung  geschaffen,  kraft  dessen  eine  durchgängige 
Regel  der  Abfolge  festgestellt  wird.  Was  den  Elementen  der 
Reihe  a,  b,  c. . .  ihren  Zusammenhalt  verleiht,  ist  nicht  selbst 
ein  neues  Element,  das  mit  ihnen  sachlich  verschmolzen 
wäre,  sondern  es  ist  die  Regel  des  Fortschritts,  die  als  ein  und 
dieselbe  festgehalten  wird,  gleichviel  an  welchen  Gliedern  sie 
sich  darstellt.     Die  Funktion  F(a,  b),  F(b,  c) . . .   die  die  Art 

21 


der  Abhängigkeit  zwischen  den  aufeinanderfolgenden  Gliedern 
festsetzt,  ist  augenscheinlich  nicht  selbst  als  Glied  der  Reihe 
aufzeigbar,  die  ihr  gemäß  entsteht  und  sich  entwickelt.  Die 
Einheit  des  Begriffsinhalts  kann  somit  aus  den  besonderen 
Elementen  des  Umfangs  nur  in  der  Weise  ,, abstrahiert" 
werden,  daß  wir  uns  a  n  ihnen  der  spezifischen  Regel,  durch 
die  sie  in  Beziehung  stehen,  bewußt  werden :  nicht  aber  derart, 
daß  wir  diese  Regel  aus  ihnen,  durch  bloße  Summierung 
oder  Fortlassung  von  Teilen  zusammensetzen.  »  Was  der 
Theorie  der  Abstraktion  Halt  verleiht,  ist  somit  lediglich  der 
Umstand,  daß  sie  die  Inhalte,  aus  welchen  der  Begriff  sich 
entwickeln  soll,  selbst  nicht  als  unverbundene  Be- 
sonderheiten voraussetzt,  sondern  sie  bereits  still- 
schweigend in  der  Form  einer  geordneten  Mannigfaltigkeit 
denkt.  Der  ,, Begriff"  aber  ist  damit  nicht  abgeleitet,  sondern 
vorweggenommen:  denn  indem  wir  einer  Mannigfaltigkeit 
eine  Ordnung  und  einen  Zusammenhang  ihrer  Elemente  zu- 
sprechen, haben  wir  ihn,  wenn  nicht  in  seiner  fertigen  Gestalt, 
so  doch  in  seiner  grundlegenden  Funktion  bereits  voraus- 
gesetzt. 

Zwei  verschiedene  Richtungen  der  Betrachtung  sind  es 
vor  allem,  an  denen  diese  logische  Vorwegnahme  unmittelbar 
deutlich  wird.  Es  ist  einerseits  die  Kategorie  des  Ganzen 
und  seiner  Teile,  anderseits  die  Kategorie  des  Dinges  und 
seiner  Eigenschaften,  die  in  der  gewöhnlichen  Lehre 
von  der  Entstehung  der  Gattungsbegriffe  zur  Anwendung 
kommen.  Daß  Objekte  als  Zusammenfassungen  einzelner  Merk- 
male gegeben  sind  und  daß  die  Gesamtgruppen  derartiger 
Merkmale  sich  in  Teile  und  Unterteile  gliedern,  die  ver- 
schiedenen von  ihnen  gemeinsam  sein  können:  das  bildet  hier 
die  selbstverständliche  Grundannahme.  In  Wahrheit  aber 
ist  damit  das  „Gegebene"  nicht  lediglich  beschrieben,  sondern 
gemäß  einem  bestimmten  begrifflichen  Gegensatz  beurteilt 
und  geformt.  Sobald  dies  aber  erkannt  ist,  muß  es  auch 
sogleich  deutlich  werden,  daß  wir  hier  bei  einem  bloßen  An- 
fang stehen,  der  über  sich  selbst  hinausweist.  •  Die  kategori- 
alen  Akte,  die  wir  durch  den  Begriff  des  Ganzen  und  des 
Teils,  des  Dinges  und  seiner  Eigenschaften  bezeichnen,  stehen 

22 


nicht  isoliert,  sondern  gehören  einem  System  logischer 
Kategorien  an,  das  sie  indessen  keineswegs  vollständig  aus- 
messen und  erschöpfen.  Wir  können  versuchen,  nachdem  wir 
uns,  in  einer  allgemeinen  logischen  Theorie  der  Relationen, 
einen  Gesamtplan  dieses  Systems  verschafft  haben,  von  hier 
aus  seine  Einzelheiten  zu  bestimmen;  nicht  möglich  ist  es 
dagegen,  unter  dem  eingeschränkten  Gesichtspunkt  be- 
stimmter Beziehungen,  die  in  der  naiven  Weltansicht  bevor- 
zugt sind,  einen  Überblick  über  das  Ganze  möglicher  Weisen 
der  Verknüpfung  zu  gewinnen.  Die  Kategorie  des  Dinges  er- 
weist sich  hierzu  schon  dadurch  als  untauglich,  daß  wir  in  der 
reinen  Mathematik  ein  Wissensgebiet  besitzen,  in  welchem 
von  Dingen  und  deren  Beschaffenheiten  prinzipiell  ab- 
gesehen wird,  indessen  Grundbegriffen  daher  auch  nicht  irgend- 
welche Gemeinsamkeiten  der  Dinge  festgehalten  sein  können. 
An  diesem  Punkt  enthüllt  sich  zugleich  eine  neue  und 
allgemeinere  Schwierigkeit,  die  die  traditionelle  logische  Lehre 
bedroht.  Wenn  wir  lediglich  der  Vorschrift  folgen,  die  hier 
für  den  Aufstieg  vom  Besonderen  zum  Allgemeinen  gegeben 
wird,  so  zeigt  sich  das  paradoxe  Ergebnis,  daß  das  Denken, 
indem  es  von  den  niederen  Begriffen  zu  höheren  und  um- 
fassenderen aufsteigt,  sich  hierbei  in  bloßen  Negationen 
bewegt.  Der  wesentliche  Akt,  der  hierbei  vorausgesetzt  wird, 
soll  darin  bestehen,  daß  wir  gewisse  Bestimmtheiten,  an  denen 
wir  zunächst  festhielten,  fallen  lassen;  daß  wir  von  ihnen 
absehen  und  sie  als  gleichgültig  aus  dem  Kreise  der  Betrach- 
tung ausscheiden.  Die  glückliche  Gabe  des  Vergessens, 
die  unserm  Geist  eignet,  seine  Unfähigkeit,  die  individuellen 
Unterschiede  der  Fälle,  die  tatsächlich  immer  vorhanden  sind, 
wirklich  zu  erfassen,  ist  es,  die  ihn  zur  Begriffsbildung  befähigt. 
Wären  alle  Erinnerungsbilder,  die  uns  von  vergangenen 
Wahrnehmungen  zurückgeblieben  sind,  völlig  scharf  bestimmt, 
würden  sie  uns  den  entschwundenen  Inhalt  des  Bewußtseins 
in  seiner  ganzen  konkreten  Lebendigkeit  zurückrufen,  so 
könnte  es  niemals  dahin  kommen,  daß  die  Erinnerungs- 
vorstellung mit  einem  neu  auftretenden  Eindruck  als  völlig 
gleichartig  aufgefaßt  würde  und  so  mit  ihm  zu  einer 
Einheit  verschmelzen  könnte.    Erst  die  Unsicherheit  der  Re- 

23 


Produktion,  die  niemals  das  Ganze  des  früheren  Eindrucks, 
sondern  nur  seine  verschwimmenden  Umrisse  festhält,  er- 
möglicht diese  Zusammenfassung  an  und  für  sich  ungleich- 
artiger Elemente.  So  beginnt  alle  Begriffsbildung  damit,  an 
Stelle  der  individuellen  Anschauung  ein  verallgemeinerndes 
Gesamtbild,  an  Stelle  der  wirklichen  Wahrnehmung  ihre  ver- 
stümmelten und  verblaßten  Reste  zu  setzen*.  Hält  man 
an  dfeser  Auffassung  fest,  so  gelangt  man  demnach  zu  dem 
seltsamen  Ergebnis,  daß  alle  logische  Arbeit,  die  wir  an  die 
gegebene  Anschauung  wenden,  nur  dazu  dient,  sie  uns  mehr 
und  mehr  zu  entfremden.  Statt  zu  einer  tieferen  Erfassung 
ihres  Gehalts  und  ihrer  Struktur  würden  wir  nur  zu  einem 
oberflächlichen  Schema  gelangen,  in  welchem  alle  eigentüm- 
lichen Züge  des  besonderen  Falles  ausgelöscht  wären. 

Gegen  eine  derartige  Konsequenz  aber  schützt  wiederum 
die  Betrachtung  derjenigen  Wissenschaft,  in  welcher  die 
Schärfe  und  Klarheit  der  Begriffsbildung  ihre  höchste  Stufe 
erreicht.  In  der  Tat  scheidet  sich  an  diesem  Punkt  aufs 
deutlichste  der  mathematische  Begriff  vom  o  n  t  o  - 
logischen  Begriff.  In  dem  methodischen  Kampf  um 
die  Grenzen  der  Mathematik  und  Ontologie,  der  in  der  Philo- 
sophie des  18.  Jahrhunderts  geführt  wurde,  ist  denn  auch 
dieses  Verhältnis  gelegentlich  zu  besonders  prägnantem  und 
glücklichem  Ausdrück  gelangt.  ,  In  seiner  Kritik  der  Logik 
der  Wolffischen  Schule  bezeichnet  es  L  a  m  b  e  r  t  als  den 
entscheidenden  Vorzug  der  mathematischen  ,, Allgemein- 
begriffe", daß  in  ihnen  die  Bestimmtheit  der  speziellen 
Fälle,  für  die  sie  angewendet  werden  sollen,  nicht  aufgehoben, 
sondern  in  aller  Strenge  aufrecht  erhalten  wird.  Wenn  der 
Mathematiker  seine  Formeln  allgemeiner  macht,  so  hat  dies 
lediglich  den  Sinn  und  die  Tendenz,  die  spezielleren  Fälle  nicht 
nur  alle  zu  haben,  sondern  sie  aus  der  allgemeinen  Formel 
herleiten  zu  können.  Diese  Möglichkeit  der  Hecleitimg 
~äber  ist  bei  den  logischen  Schulbegriffen  nicht  ersichtlich: 
denn   da   diese,   gemäß   der  gewöhnlichen   Vorschrift,    durch 


*  Man  vgl.  hierzu  z.  B.  Sigw^art,  Logik,  2.  Aufl.,  S.  50  f.;  sowie 
H.  M  a  i  e  r  ,  Psychologie  des  emotionalen  Denkens,  Tübingen  1908,  S.  168  ff. 

24 


Weglassen  des  Besonderen  entstanden  sein  sollen,  so 
wurde  die  Wiederherstellung  der  besonderen  Mo- 
mente und  Gesichtspunkte  den  Gehalt  des  Begriffs  selbst  auf- 
zuheben scheinen.  So  wird  dem  ,,P  hilosophen"  das 
Abstrahieren  freilich  sehr  leicht,  die  Bestimmung  des  Spezialen 
aus  dem  Allgemeinen  dagegen  desto  schwerer:  denn  beim 
Abstrahieren  hat  er  alle  Sondermerkmale  derart  fortgelassen, 
daß  er  sie  nicht  mehr  wiederzufinden  und  noch  weniger  die 
Abwechslungen,  deren  sie  fähig  sind,  genau  abzuzählen  ver- 
mag*. Diese  schlichte  Bemerkung  enthält  in  der  Tat  den  Keim 
zu  einer  tiefen  und  folgenreichen  Unterscheidung.  Das  Ideal 
des  wissenschaftlichen  Begriffs  tritt  hier  der 
schematischen  Gattungsvorstellung,  die  ihren  Ausdruck  im 
bloßen  sprachlichen  Wortzeichen  findet,  gegenüber-v 
Der  echte  Begriff  läßt  die  Eigentümlichkeiten  und  Besonder- 
heiten der  Inhalte,  die  er  unter  sich  faßt,  nicht  achtlos  beiseite, 
sondern  er  sucht  das  Auftreten  und  den  Zusammenhang  eben 
dieser  Besonderheiten  als  notwendig  zu  erweisen.  Was 
er  gibt,  ist  eine  universelle  Regel  für  die  Verknüpfung  des 
Besonderen  selbst.  So  können  wir  von  einer  allgemeinen 
mathematischen  Formel  —  etwa  von  der  Formel  der  Kurven 
zweiter  Ordnung  —  zu  den  speziellen  geometrischen  Gebilden 
des  Kreises,  der  Ellipse  usw.  gelangen,  indem  wir  einen  be- 
stimmten Parameter,  der  in  ihr  auftritt,  als  veränderlich  be- 
trachten und  ihn  eine  stetige  Reihe  von  Größenwerten  durch- 
laufen lassen.  Der  allgemeine  Begriff  erweist  sich  hier  zugleich 
als  der  inhaltsreichere;  wer  ihn  besitzt,  der  vermag  aus  ihm 
alle  mathematischen  Verhältnisse,  die  an  dem  besonderen 
Problem  auftreten,  abzuleiten,  während  er  anderseits  dieses 
Problem  nicht  isoliert,  sondern  in  kontinuierlicher  Verknüpfung 
mit  anderen,  also  in  seiner  tieferen  systematischen  Bedeutung 
erfaßt.  Die  Einzelfälle  sind  nicht  von  der  Betrachtung  aus- 
geschieden, sondern  als  völlig  bestimmte  Stufen  im  all- 
gemeinen Prozeß  der  Veränderung  fixiert  und  festgehalten. 


*  S.  Lambert,  Anlage  zur  Architektonik  oder  Theorie  des  Ein- 
fachen \ind  des  Ersten  in  der  philosophischen  und  mathematischen  Er- 
kenntnis, Riga  1771,  §  193  ff.  Vgl.  m.  Schrift  über  das  Erkenntnisproblem 
in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der  neueren  Zeit,    Bd.  II,    S.  422  f. 

25 


Wiederum  zeigt  es  sich  hier  von  einer  neuen  Seite,  daß  nicht 
die  „Allgemeinheit"  eines  Vorstellungsbildes,  sondern  die 
Allgemeingültigkeit  eines  Reihenprinzips  das  charakte- 
ristische Moment  des  Begriffs  bildet.  Wir  heben  aus  der 
Mannigfaltigkeit,  die  uns  vorliegt,  nicht  irgendwelche  ab- 
strakten Teile  heraus,  sondern  wir  schaffen  für  ihre  Glieder 
eine  eindeutige  Beziehung,  indem  wir  sie  durch  ein 
durchgreifendes  Gesetz  verbunden  denken.  Und  je  weiter 
wir  hierin  fortschreiten,  je  fester  dieser  Zusammenhang  nach 
Gesetzen  sich  knüpft,  um  so  deutlicher  tritt  auch  die  ein- 
deutige Bestimmtheit  des  Besonderen  selbst  zutage,  r  So 
gelangt  —  um  nur  ein  einzelnes  bezeichnendes  Beispiel  zu 
gebrauchen  —  die  Anschauung  unseres  Euklideischen  drei- 
dimensionalen Raumes  nur  zu  um  so  schärferer  Auffassung, 
indem  wir  in  der  modernen  Geometrie  zu  ,, höheren"  Raum- 
formen emporsteigen,  da  auf  diese  Weise  erst  das  gesamte 
axiomatische  Gefüge  dieses  unseres  Raumes  sich  in  voller 
Deutlichkeit  heraushebt. 

Neuere  Darstellungen  der  formalen  Logik  haben  versucht, 
diesem  Sachverhalt  Rechnung  zu  tragen,  indem  sie  —  im 
Anschluß  an  eine  bekannte  Unterscheidung  Hegels  — 
der  abstrakten  Allgemeinheit  des  Begriffs  die  konkrete  All- 
gemeinheit der  mathematischen  Formel  gegenüberstellen.^ 
Abstrakte  Allgemeinheit  kommt  der  Gattung  zu,  sofern  sie, 
an  und  für  sich  gedacht,  alle  Artunterschiede  fallen  läßt; 
konkrete  Allgemeinheit  dagegen  dein  Gesamtbegriff, 
der  das  Besondere  aller  Arten  in  sich  aufnimmt  und  es 
nach  einer  Regel  entwickelt.  „Wenn  z.  B.  die  Algebra  die 
Aufgabe,  zwei  ganze  Zahlen  zu  finden,  deren  Summe  gleich  25, 
und  von  denen  die  eine  durch  2,  die  andere  durch  3  teilbar  sei, 
dadurch  löst,  daß  sie  die  zweite  durch  die  Form  6z-(-3  aus- 
drückt, wo  z  nur  die  Werte  0,  1,  2,  3  haben  kann,  und  woraus 
von  selbst  für  die  erste  die  Form  22  —  6z  folgt,  so  sind  dies 
Formen  von  konkreter  Allgemeinheit.  Denn  sie  sind  allgemein, 
weil  sie  das  allen  gesuchten  Zahlen  gemeinsame  Bildungs- 
gesetz darstellen,  sie  sind  zugleich  konkret,  weil,  wenn  man 
z  successiv  die  bezeichneten  vier  Werte  gibt,  aus  diesen  Formen 
die  gesuchten  Zahlen  selbst  als  Arten  derselben  folgen.    Das- 

26 


selbe  gilt  überhaupt  von  jeder  mathematischen  Funktion 
einer  oder  mehrerer  Variablen.  Denn  jede  Funktion  stellt 
ein  allgemeines  Gesetz  dar,  das  vermöge  der  successiven 
Werte,  welche  die  Variable  annehmen  kann,  zugleich  alle 
einzelnen  Fälle,  für  die  es  gilt,  unter  sich  begfeift*".  Wird 
dies  aber  einmal  anerkannt,  so  eröffnet  sich  damit  zugleich 
für  die  Logik  ein  völlig  neues  Gebiet  der  Untersuchung.  Der 
Logik  des  Gattungsbegriffs,  die,  wie  wir  sahen,  unter  dem 
Gesichtspunkt  und  der  Herrschaft  des  Substanzbegriffs  steht, 
tritt  jetzt  die  Logik  des  mathematischenFunk- 
tionsbegriffs  gegenüber.  Das  Anwendungsgebiet  dieser 
Form  der  Logik  aber  kann  nicht  im  Gebiet  der  Mathematik 
allein  gesucht  werden.  Vielmehr  greift  hier  das  Problem 
sogleich  auf  das  Gebiet  der  Naturerkenntnis  über: 
(denn  der  Funktionsbegriff  enthält  in  sich  zugleich  das  all- 
gemeine Schema  und  das  Vorbild,  nach  welchem  der  moderne 
Naturbegriff  in  seiner  fortschreitenden  geschichtlichen  Ent- 
wicklung sich  gestaltet  hat.  — 

Ehe  wir  indessen  daran  gehen,  den  Aufbau  der 
Funktionsbegriffe  innerhalb  der  Wissenschaft  selbst 
zu  verfolgen  und  damit  die  veränderte  Auffassung  des  Begriffs 
an  konkreten  Beispielen  zu  bewähren,  läßt  sich  schließlich  die 
Bedeutung  des  Problems  in  einer  charakteristischen  Wendung 
aufweisen,  die  die  Theorie  derAbstraktion  selbst 
in  neuerer  Zeit  genommen  hat.*  Überall  zeigt  sich  hier  ein 
neues  Motiv,  das  in  konsequenter  Durchbildung  und  Aus- 
führung dazu  führen  muß,  die  Fragestellung  über  die  tradi- 
tionellen Gesichtspunkte  hinauszutreiben.  Eine  Andeutung 
dieses  Motivs  findet  sich  zunächst  in  den  skeptischen  Be- 
merkungen, die  L  0  t  z  e  der  gewöhnlichen  Lehre  von  der 
Abstraktion  entgegengehalten  hat.  Die  wirkliche  Praxis  des 
Denkens  geht  —  wie  er  ausführt  —  in  der  Bildung  der  Begriffe 
keineswegs  den  Gang,  den  diese  Lehre  ihr  vorschreibt:  denn 
sie  begnügt  sich  niemals  damit,  bei  dem  Fortgang  zum  All- 
gemeinbegriff die  besonderen  Merkmale  ohne  Ersatz 
wegzulassen.    Wenn  wir  aus  der  Zusammenfassung  von 


Drobisch,  Neue  Darstellung  der  Logik,   S.  22. 

27 


Gold,  Silber,  Kupfer,  Blei  den  Begriff  des  Metalls  bilden, 
so  können  wir  dem  abstrakten  Gegenstand,  der  uns  auf  diese 
Weise  entsteht,  zwar  nicht  die  besondere  Farbe  des 
Goldes,  nicht  den  besonderen  Glanz  des  Silbers,  noch 
etwa  das  Gewicht  des  Kupfers  oder  die  Dichtigkeit  des  Bleis 
zusprechen;  nicht  minder  unzulässig  aber  wäre  es,  wenn  wir 
die  Gesamtheit  aller  dieser  Einzelbestimmungen  einfach 
von  ihm  verneinen  wollten.  Denn  zur  Charakteristik  des 
Metalls  reicht  offenbar  nicht  die  Vorstellung  aus,  daß  es  weder 
rot  noch  gelb  sei,  weder  dieses  noch  jenes  spezifische  Gewicht, 
diese  oder  jene  Härte  und  Dichtigkeit  besitze,  sondern  es 
muß  der  positive  Gedanke  hinzutreten,  daß  es  in  irgend- 
einer Weise  jedenfalls  gefärbt,  in  irgendeinem  Grade 
jedenfalls  hart,  dicht  und  glänzend  sei.  Und  analog  würden 
wir  den  allgemeinen  Begriff  des  Tieres  nicht  erhalten, 
wenn  wir  in  ihm  jede  Erinnerung  an  die  Momente  der  Fort- 
pflanzung, der  Selbstbewegung  und  Respiration  deshalb 
fallen  ließen,  weil  sich  keine  Form  der  Fortpflanzung,  der 
Atmung  usw.  angeben  läßt,  die  allen  Tierarten  gemeinsam 
wäre.  Nicht  die  einfache  Weglassung  der  Merkmale 
Pi  P2>  ^1  ^2'  die  in  den  verschiedenen  Arten  verschieden  sind, 
kann  also  die  Regel  bilden,  sondern  immer  müssen  an  Stelle 
der  weggelassenen  besonderen  Bestimmungen  die  allgemeinen 
Merkmale  P  und  Q  eingesetzt  werden,  deren  Einzelarten  p^  p^ 
un  d  qi  qa  sind.  Das  bloß  negative  Verfahren  dagegen  würde 
zuletzt  zur  Vernichtung  aller  Bestimmtheit  überhaupt  führen, 
so  daß  unser  Denken  von  dem  logischen  Nichts,  das  der  Be- 
griff alsdann  bedeutete,  keinen  Rückweg  zu  den  konkreten 
Sonderfällen  zu  finden  vermöchte  *. »  Man  sieht,  wie  L  o  t  z  e 
sich  hier  dem  Problem,  das  Lambert  am  Beispiel  der 
mathematischen  Begriffe  scharf  und  bestimmt  formuliert 
hatte,  von  einer  neuen  Seite  her,  auf  Grund  psychologischer 
Erwägungen,  nähert.  Denkt  man  die  Vorschrift,  die  hier 
gegeben  wird,  zu  Ende,  so  führt  sie  ersichtlich  auf  die  Forderung, 
an  Stelle  des  einzelnen  Merkmals,  das  bei  der  Begriffsbildung 
fortfällt,  den   Inbegriff    ins  Auge  zu  fassen,  dem  jenes 


*  Lotze,  Logik,   2.  Aufl.,  Leipzig  1880,   S.  40  f. 

28 


Merkmal  als  vereinzelte  Bestimmung  angehört.;  Wir  können 
von  der  besonderen  Färbung  absehen,  wenn  wir  nur  die 
Gesamtreihe  der  Farben  überhaupt  als  Grund- 
schema festhalten,  in  bezug  auf  welches  wir  den  Begriff,  den 
wir  bilden,  bestimmt  denken.  Dieser  Inbegriff  aber  wird  uns 
dargestellt,  indem  wir  an  Stelle  konstanter  Einzel- 
merkmale variable  Termini  einsetzen,  die  uns  die  ganze 
Gruppe  möglicher  Werte,  die  die  verschiedenartigen  Merk- 
male annehmen  können,  repräsentieren.  So  zeigt  sich  hier, 
daß  der  Fortfall  der  Sonderbestimmungen  nur  scheinbar 
ein  rein  negativer  Prozeß  ist.  In  Wahrheit  wird,  was  auf  diese 
Weise  vernichtet  zu  werden  scheint,  in  anderer  Form  und 
unter  einer  anderen  logischen  Kategorie  fest- 
gehalten. Solange  man  alle  Bestimmtheit  in  konstanten  Merk- 
malen, in  Dingen  und  ihren  Eigenschaften  erschöpft  glaubt, 
so  lange  scheint  freilich  jede  begriffliche  Verallgemeinerung 
zugleich  eine  Verkümmerung  des  begrifflichen  Inhalts  zu  be- 
deuten. Aber  je  mehr  der  Begriff  gleichsam  von  allem  ding- 
lichen Sein  entleert  wird,  um  so  mehr  tritt  auf  der  andern  Seite 
seine  eigentümliche  funktionale  Leistung  hervor.  Die  festen 
Eigenschaften  werden  durch  allgemeine  Regeln  ersetzt,  die 
uns  eine  Gesamtreihe  möglicher  Bestimmungen  mit  einem 
Blick  überschauen  lassen.  Diese  Verwandlung,  diese  Um- 
setzung in  eine  neue  Form  des  logischen  „Seins"  bildet  die 
eigentlich  positive  Leistung  der  Abstraktion.  Wir  gehen  von 
einer  Reihe  a  ai  ßi,  a  ag  ß2»  a  a^h-  •  -  nicht  unmittelbar  zu 
ihrem  gemeinsamen  Bestandteil  a  über,  sondern  denken 
uns  das  Ganze  der  Einzelglieder  «  durch  einen  veränderlichen 
Ausdruck  x,  das  Ganze  der  Glieder  ß  durch  einen  veränder- 
lichen Ausdruck  y  gegeben.  Auf  diese  Weise  fassen  wir  das 
Gesamtsystem  in  einem  Ausdruck  a  x  y  ...  zusammen,  der 
durch  stetige  Abwandlung  in  die  konkrete  Allheit  der  Reihen- 
glieder übergeführt  werden  kann  und  uns  daher  den  Aufbau 
und  die  logische  Gliederung  des  Inbegriffs  vollgültig  darstellt. 
Diese  Wendung  des  Gedankens  läßt  sich  selbst  in  solchen 
Darstellungen  der  Logik  verfolgen,  die  ihrer  Grundtendenz 
nach  an  der  traditionellen  Lehre  von  der  Abstraktion  fest- 
halten.   Bezeichnend  hierfür  ist  es  z.  B.,  wenn  E  r  d  m  a  n  n  , 

29 


nachdem  seine  psychologische  Theorie  des  Begriffs  bereits 
abgeschlossen  vorliegt,  bei  der  Betrachtung  der  mathemati- 
schen Mannigfaltigkeiten  sich  zur  Einführung  eines  neuen 
Gesichtspunkts  und  einer  neuen  terminologischen  Festsetzung 
gedrängt  sieht.  Die  erste  Phase  jeder  Begriffsbildung 
—  so  wird  jetzt  gelehrt —  besteht  freilich  darin,  daß  irgendein 
Allgemeines  vermöge  der  Gleichförmigkeit,  mit  der  sein 
Inhalt  in  dem  wechselnden  Besonderen  wiederkehrt,  selb- 
ständig herausgehoben  wird;  —  aber  diese  Gleichförmigkeit 
des  Gegebenseins  ist,  wenngleich  die  ursprüngliche,  so  doch 
nicht  die  einzige  Bedingung,  die  uns  lehrt,  die  Gegen- 
stände unseres  Vorstellens  gegeneinander  zu  begrenzen.  Im 
Fortschritt  des  Denkens  wird  vielmehr  das  Bewußtsein  der 
Gleichförmigkeit  durch  das  Bewußtsein  der  Zusammen- 
gehörigkeit ergänzt  und  berichtigt:  und  so  weit  geht 
diese  Ergänzung,  daß  wir  scliließlich,  um  irgendeine  begriffliche 
Fixierung  zu  treffen,  auf  die  vielfältige  Wiederholung  des 
„gleichen"  Inhalts  in  keiner  Weise  mehr  angewiesen  sind. 
„Wo  immer  im  entwickelten  Vorstellen  ein  zusammengesetzter 
Gegenstand  sich  in  unserer  Wahrnehmung  einfindet,  der  sich 
als  wohlbegrenztes  Glied  in  eine  Vorstellungsreihe  einordnet, 
eine  neue  Nuance  der  Reihe  bunter  Farben,  eine  neue  che- 
mische Verbindung  der  Reihe  bekannter  Verbindungen  von 
ähnlicher  Konstitution:  da  genügt  die  einmalige  Bildung, 
um  ihn  in  dieser  seiner  Bestimmtheit  als  Glied  der  Reihe 
festzuhalten,  auch  falls  er  nie  wieder  zu  unserer  Wahrnehmung 
gelangen  sollte"*. /Den  Gegenständen  der  Sinneswahrnehmung, 
die  wir  als  ,,  Gegenstände  erster  Ordnung"  bezeichnen  können, 
treten  jetzt  ,,  Gegenstände  zweiter  Ordnung"  gegenüber, 
deren  logische  Eigenart  lediglich  durch  die  Form  derZu- 
sammenfassung,  aus  der  sie  hervorgehen,  bestimmt 
ist.  Überall  dort,  wo  wir  irgendwelche  Gegenstände  unseres 
Denkens  zu  einem  Gegenstand  zusammenfassen,  haben 
wir  damit  einen  neuen  „Gegenstand  zweiter  Ordnung"  ge- 
schaffen, dessen  gesamter  Gehalt  sich  in  den  Beziehungen  aus- 
drückt,  die   durch  den  Akt  der  Vereinigung  zwischen   den 


B.  Erdmann,  Logik,  2.  Aufl.,  S.  158  f. 


30 


Einzelelementen  hergestellt  werden.  Durch  diese  Betrach- 
tungsweise aber,  zu  der  Erdmann,  wie  er  selbst  hervorhebt, 
durch  die  Probleme  der  modernen  Mengenlehre  hin- 
geführt wird,  ist  das  bisherige  Schema  der  Begriffsbildung 
bereits  durchbrochen:  denn  an  Stelle  der  Gemeinsamkeit 
von  Merkmalen  ist  es  jetzt  der  ,, Verflechtungszusammen- 
hang" von  Elementen,  der  über  ihre  Vereinigung  zu  einem 
Begriff  entscheidet.  Und  dieses  Kriterium,  das  hier  nur  nach- 
träglich und  als  sekundäres  Moment  eingeführt  wird,  erweist 
sich  bei  näherer  Analyse  in  der  Tat  als  das  eigentliche  logische 
Prius:  denn  wir  sahen  bereits,  daß  die  „Abstraktion"  richtungs- 
und  steuerlos  bliebe,  wenn  sie  die  Elemente,  aus  denen  sie  den 
Begriff  herausliest,  nicht  von  Anfang  an  durch  eine  bestimmte 
Relation  verknüpft  und  kraft  ihrer  geordnet  dächte.  — -* 
Allgemein  tritt  jetzt,  je  tiefer  das  rein  logische  Wesen 
der  Relations-  und  Mannigfaltigkeitsbegriffe  sich  erschließt, 
zugleich  mehr  und  mehr  das  Bedürfnis  einer  neuen  psycho- 
logischen Fundierung  hervor.  Fallen  die  Gegenstände, 
von  denen  die  reine  Logik  handelt,  mit  den  individuellen 
Wahrnehmungsinhalten  nicht  schlechthin  zu- 
sammen, sondern  besitzen  sie  eine  eigene  Struktur  und 
,, Wesenheit",  so  muß  notwendig  die  Frage  entstehen,  in 
welcher  Art  diese  Wesenheit  uns  zum  Bewußtsein  kommt 
und  durch  welche  Akte  sie  erfaßt  wird.  Es  ist  klar,  daß  bloß 
sinnliche  Erlebnisse,  wie  sehr  man  sie  auch  gehäuft  und 
kompliziert  denken  mag,  für  diese  Leistung  niemals  zureichen 
können.  Denn  das  sinnliche  Erlebnis  betrifft  ausschließlich 
einen  bestimmten  Einzelgegenstand  oder  eine  Mehrheit  solcher 
Einzelgegenstände:  alle  Summierung  von  Sonderfällen  aber 
schafft  niemals  die  spezifische  Einheit,  die  im 
Begriff  gemeint  ist.  Die  Lehre  von  der  Aufmerk- 
samkeit als  dem  eigentlichen  schöpferischen  Vermögen 
der  Begriffsbildung  verliert  demnach,  gegenüber  einer  tieferen 
Phänomenologie  der  reinen  Denkvorgänge,  jeglichen  Halt. 
Denn  die  Aufmerksamkeit  trennt  oder  verbindet  nur  Bestand- 
teile, die  in  der  Wahrnehmung  bereits  gegeben  sind;  sie 
kann  dagegen  diesen  Bestandteilen  keinen  neuen  Sinn  geben 
und  ihnen  keine  neue  logische  Funktion  verleihen.   Ein  solcher 

31 


Wandel  der  Funktion  aber  ist  es,  der  Wahrnehmungs-  und 
Vorstellungsinhalte  erst  zu  Begriffen  im  logischen  Sinn  um- 
schafft. Es  ist,  auch  vom  Standpunkt  der  rein  deskriptiven 
Analyse  der  Bewußtseinsvorgänge,  etwas  anderes,  ob  ich  dieses 
oder  jenes  Einzelmerkmal  an  einem  Dinge  ergreife,  ob  ich 
etwa  aus  dem  Wahrnehmungskomplex  eines  Hauses  seine 
bestimmte  rote  Färbung  heraushebe,  oder  aber  ob  ich  auf 
„das"  Rot  als  Spezies  hinblicke.  Es  ist  etwas  anderes,  ob  ich 
von  der  Zahl  „Vier"  mathematisch  gültige  Urteile  fälle 
und  sie  dadurch  in  einen  objektiven  Zusammenhang  von 
Relationen  einreihe,  oder  ob  mein  Bewußtsein  auf  eine  kon- 
krete Ding-  oder  Vorstellungsgruppe  von  vier  Elementen 
gerichtet  ist.  Die  logische  Bestimmtheit  der  „Vier"  ist  durch 
ihre  Einreihung  in  ein  ideelles  und  somit  zeitlos  gültiges 
Ganze  von  Beziehungen,  durch  ihre  Stelle  im  mathematisch 
definierten  Zahlsystem  gegeben;  diese  Form  der  Bestimmtheit 
aber  vermag  die  sinnliche  Vorstellung,  die  sich  notwendig 
immer  auf  ein  individuelles  Jetzt  und  Hier  beschränkt, 
nicht  wiederzugeben.  *  So  drängt  die  Psychologie  des  Denkens 
hier  zur  Setzung  eines  neuen  Moments.  Neken  dasjenige, 
was  der  Inhalt  seinem  materialen  sinnlichen  Gehalt'nach  ist, 
tritt  dasjenige,  was  er  im  Zusammenhang  der  Erkenntnis 
bedeutet;  und  diese  seine  Bedeutung  erwächst  ihm 
aus  den  wechselnden  logischen  „Aktcharakteren",  die  sich 
an  ihn  heften  können.  Diese  Aktcharaktere,  die  den  sinn- 
lich einheitlichen  Inhalt  differenzieren,  indem  sie  ihm  ver- 
schiedene gegenständliche  „Intentionen"  aufprägen,  sind  auch 
psychologisch  ein  völlig  ursprüngliches  Moment;  es  sind 
eigene  Weisen  des  Bewußtseins,  die  auf  das  Bewußtsein 
der  Empfindung  oder  Wahrnehmung  in  keiner  Weise  zurück- 
führbar sind.  Will  man  jetzt  noch  davon  sprechen,  daß  die 
„Abstraktion"  es  ist,  det  der  Begriff  sein  Dasein  verdankt, 
so  besagt  dies  doch,  gegenüber  der  herkömmlichen  sensualisti- 
schen  Lehre,  etwas  völlig  anderes:  denn  jetzt  ist  die  Ab- 
straktion nicht  mehr  ein  gleichförmiges  und  unterschieds- 
loses Bemerken  gegebener  Inhalte,  sondern  sie  bezeichnet 
den  einsichtigen  Vollzug  der  verschiedenartigsten,  selbst- 
ständigen   Denkakte,    deren   jeder    eine    besondere    Art    der 


32 


Deutung    des  Inhalts,  eine  eigene  Richtung  der   Gegen- 
standsbeziehung in  sich  schließt*.  / 

Somit  schließt  sich  der  Kreis  der  Betrachtung,  indem 
wir  nunmehr  von  selten  der  „subjektiven"  Analyse,  von  der 
reinen  Phänomenologie  des  Bewußtseins  her  auf  dieselbe 
grundlegende  Unterscheidung  geführt  werden,  deren  Geltung 
sich  uns  bereits  früher,  innerhalb  der  ,, objektiven"  logischen 
Untersuchung  ergeben  hatte.  Gegenüber  der  empiristischen 
Lehre,  die  die  „Gleichheit"  bestimmter  Vorstellungs- 
inhalte als  eine  selbstverständliche  psychologische  Tatsache 
hinnimmt  und  für  die  Erklärung  des  Prozesses  der  Begriffs- 
bildung verwendet,  ist  mit  Recht  darauf  verwiesen  worden, 
daß  von  Gleichheit  irgendwelcher  Elemente  nur  dann  mit 
Sinn  geredet  werden  kann,  wenn  bereits  eine  bestimmte 
,, Hinsicht"  festgestellt  ist,  in  welcher  die  Elemente  als  gleich 
oder  ungleich  bezeichnet  sein  sollen.  Diese  Identität  der 
Hinsicht,  des  Gesichtspunkts,  unter  welchem  die 
Vergleichung  stattfindet,  ist  jedoch  ein  Eigenartiges  und 
Neues  gegenüber  den  verglichenen  Inhalten  selbst.  Der  Unter- 
schied zwischen  diesen  Inhalten  einerseits  und  zwischen  den 
begrifflichen  ,,  Spezies",  durch  die  wir  sie  geeint  denken, 
ist  ein  nicht  weiter  zurückführbarer  Tatbestand;  er  ist  kate- 
gorial  und  gehört  zur  „Form  des  Bewußtseins".  Es  ist  in  der 
Tat  der  charakteristische  Gegensatz  von  Reihenglied 
und  Reihenform,  der  hier  eine  neue  Ausprägung  findet. 
Der  Inhalt  des  Begriffs  läßt  sich  in  die  Elemente  des 
U  m  f  a  n  g  s  nicht  auflösen,  weil  beide  nicht  in  einer  Linie 
liegen,  sondern  prinzipiell  verschiedenen  Dimensionen  an- 
gehören. Die  Bedeutung  des  Gesetzes,  das  die  Einzel- 
glieder verknüpft,  ist  durch  die  Aufzählung  noch  so  vieler 
Fälle  des  Gesetzes  nicht  zu  erschöpfen;  denn  bei  dieser 
Aufzählung  fiele  gerade  das  erzeugende  Prinzip  fort, 
das  die  einzelnen  Glieder  zu  einem  funktionalen  Inbegriff 
verknüpfbar  macht.  Kenne  ich  die  Relation,  durch  welche 
a  b  c . . .  geordnet  sind,  so  kann  ich  sie  durch  Reflexion  heraus- 

*  Zwoa  Ganzen  vgl.  bes.  H  u  s  s  e  r  1 ,  Logische  Untersuchungen, 
Band  2,  (Halle  1901),  Nr.  II:  Die  ideale  Einheit  der  Species  und  die  neueren 
Abstraktionstheorien. 

Cassirer,  Substanzbegriff  3  33 


lösen  und  zum  gesonderten  Gegenstand  des  Denkens  machen; 
dagegen  ist  es  unmöglich,  aus  dem  bloßen  Beisammensein  von 
a,  b,  c  in  der  Vorstellung  die  Eigenart  der  verknüpfenden 
Relation  zu  gewinnen.  (S.  ob.  S.  20 ff.)  Der  Gefahr,  den  reinen 
Begriff  zu  verdinglichen,  ihm  eine  selbständige  Wirklich- 
keit neben  den  Einzeldingen  anzuweisen,  kann  diese  Auf- 
fassung nicht  unterliegen.  Die  Reihenform  F(a,  b,  c. . .),  die 
die  Glieder  einer  Mannigfaltigkeit  verknüpft,  läßt  sich  offenbar 
nicht  in  der  Art  eines  einzelnen  a  oder  b  oder  c  denken,  ohne 
damit  ihres  eigentlichen  Gehalts  verlustig  zu  gehen.  Ihr  „Sein" 
besteht  ausschließlich  in  der  logischen  Bestimmtheit,  kraft 
welcher  sie  sich  von  anderen  möglichen  Reihenformen  0,W. . . 
in  eindeutiger  Weise  unterscheidet;  und  diese  Bestimmtheit 
kann  immer  nur  in  einem  synthetischen  Akt  der  Definition, 
nicht  in  einer  einfachen  Anschauung,  ihren  Ausdruck  finden.  — 
Mit  diesen  Betrachtungen  ist  die  Richtung  der  folgenden 
Untersuchung  vorgezeichnet.  Die  Gesamtheit  und  die  Stufen- 
folge der  reinen  ,, Reihenformen"  liegt  im  System  der  Wissen- 
schaften, insbesondere  im  Aufbau  der  exakten  Wissenschaft, 
vor  uns.  Hier  findet  daher  die  Theorie  ein  reiches  und  frucht- 
bares Gebiet,  das  unabhängig  von  jeder  metaphysischen 
oder  psychologischen  Voraussetzung  über  das  ,, Wesen"  des 
Begriffs,  lediglich  seinem  logischen  Gehalt  nach  untersucht 
werden  kann.  Diese  Selbständigkeit  der  reinen  Logik  aber  be- 
deutet keineswegs  ihre  Isolierung  innerhalb  des  philosophischen 
Systems.  Schon  ein  flüchtiger  Überblick  über  die  Ent- 
wicklung der  „formalen"  Logik  konnte  uns  zeigen,  wie  hier 
allmählich  die  dogmatische  Starrheit  der  traditionellen  Formen 
sich  zu  lösen  beginnt.  Und  die  neue  Form,  die  sich  jetzt  heraus- 
zubilden beginnt,  bedeutet  zugleich  die  Form  für  einen  neuen 
Inhalt.  Psychologie  und  Erkenntniskritik,  das  Problem  des 
Bewußtseins  wie  das  Problem  der  Wirklichkeit 
nehmen  an  diesem  Prozeß  teil.  Denn  innerhalb  der  Grund- 
probleme gibt  es  nirgends  absolute  Trennungen  und  Grenz- 
scheiden: jede  Umgestaltung  eines  im  echten  und  fruchtbaren 
Sinne  „formalen"  Begriffs  zieht  hier  zugleich  eine  neue  Auf- 
fassung des  gesamten  Gebietes  nach 'sich,  das  durch  ihn  be- 
herrscht und  geordnet  wird. 

34 


Zweites  Kapitel: 
Die  Zahlbegriffe. 
I. 

Unter  den  Grundbegriffen  der  reinen  Wissenschaft  steht 
der  Begriff  der  Zahl  historisch  wie  systematisch  an  erster 
Stelle.  An  ihm  entwickelt  sich  zuerst  das  Bewußtsein  von 
dem  Wert  und  der  Bedeutung  der  Begriffsbildung  überhaupt. 
Im  Gedanken  der  Zahl  scheint  alle  Kraft  des  Wissens,  alle 
Möglichkeit  der  logischen  Bestimmung  des  Sinnlichen  be- 
schlossen. Nichts  von  den  Dingen  wäre  erfaßbar,  weder  in 
ihrem  Verhältnis  zu  sich  selbst,  noch  zu  anderen,  wenn  die 
Zahl  nicht  wäre  und  ihr  Wesen.  Dieser  Pythagoreische  Satz 
bleibt  durch  alle  Wandlungen  der  philosophischen  Frage- 
stellung hindurch  seinem  eigentlichen  Gehalt  nach  unverändert. 
Der  Anspruch,  in  der  Zahl  die  Substanz  der  Dinge  zu  er- 
fassen, tritt  freilich  allmählich  zurück;  aber  zugleich  vertieft 
und  verschärft  sich  die  Einsicht,  daß  in  ihr  die  Substanz  der 
rationalen  Erkenntnis  wurzelt.  Auch  nachdem  man  auf- 
gehört hat,  in  ihm  den  metaphysischen  Kern  der  Objekte  zu 
sehen,  bleibt  der  Zahlbegriff  noch  immer  der  nächste  und 
getreueste  Ausdruck  der  rationalen  Methodik  überhaupt. 
In  ihm  spiegeln  sich  daher  die  prinzipiellen  Gegensätze  in  der 
Grundauffassung  der  Erkenntnis  unmittelbar  wider.  Das 
allgemeine  Ideal  des  Erkennens  erhält  hier  eine  bestimmtere 
Formung,  in  welcher  es  sich  nunmehr  erst  in  voller  Klarheit 
heraushebt  und  abgrenzt. 

So  ist  es  verständlich,  wenn  uns  sogleich  an  der  Schwelle 
der  Algebra  derselbe  typische  Widerstreit  entgegentritt, 
der  sich  innerhalb  des  Gebiets  der  Logik  verfolgen  ließ. 
Folgen  wir  der  herkömmlichen  logischen  Ansicht,  so  muß 
erwartet  werden,  daß  es  bestimmte  Grundeigenschaften  der 
Objekte  sind,  die  sich  uns  in  den  Zahlbegriffen  offenbaren. 

3*  35 


Die  Theorie  der  ,, Abstraktion"  verfügt,  streng  genommen, 
über  keinen  anderen  Gesichtspunkt:  wie  die  Gegenstände 
sich  nach  Größe  und  Gestalt,  nach  Geruch  und  Geschmack 
unterscheiden,  so  müssen  sie,  ihr  zufolge,  auch  eine  bestimmte 
Beschaffenheit  an  sich  tragen,  die  ihnen  ihren  Zahlcharakter 
aufprägt.,  Der  Begriff  der  ,,Zwei"  oder  der  „Drei"  wäre  somit 
aus  einer  Mehrheit  gegenständlicher  Gruppen  in  derselben 
Weise  abgesondert,  wie  der  Begriff  einer  bestimmten  Farbe 
aus  der  Vergleichung  der  farbigen  Wahrnehmungsdinge  ent- 
springt. I  Es  ist  folgerecht,  wenn  auf  diesem  Standpunkt  der 
Betrachtung  alle  Aussagen  über  Zahlen  und  Zahlenverhältnisse 
als  der  Ausdruck  bestimmter  physischer  Eigenschaften  der 
Objekte  angesehen  werden.  In  der  modernen  Entwicklung 
des  Empirismus  ist  diese  latente  Konsequenz  zuerst  in  voller 
Schärfe  zutage  getreten.  So  stellt  der  Satz,  daß  2  +  1=3  ist, 
nach  J.  St.  M  i  1 1 ,  keine  bloße  Definition,  keine  bloße  Fixie- 
rung des  Sinnes  dar,  den  wir  mit  dem  Begriff  der  Zwei  und  der 
Drei  zu  verbinden  haben:  sondern  er  berichtet  von  einem 
empirischen  Tatbestand,  den  unsere  räumliche  Wahrnehmung 
uns  bisher  stets  in  derselben  Weise  dargeboten  hat.  Immer 
ist  es  uns  gelungen,  sobald  wir  drei  Dinge  in  einer  bestimmten 
Anordnung  —  etwa  in  der  Form  o  "  o  —  vor  uns  sahen,  sie 
in  Teilgruppen  von  der  Art  oo,  o  zu  zerlegen.  Drei  Kiesel- 
steine machen,  wenn  sie  in  zwei  getrennten  Haufen  vor  uns 
liegen,  auf  unsere  Sinne  nicht  denselben  Eindruck,  als  wenn  sie 
zu  einem  Haufen  vereinigt  sind:  —  die  Behauptung,  daß 
das  Wahrnehmungsbild,  das  im  ersten  Fall  entsteht,  sich 
durch  eine  bloße  räumliche  Umordnung  seiner  Teile  stets  in 
das  zweite  Wahrnehmungsbild  überführen  läßt,  ist  daher 
keineswegs  ein  nichtssagender  identischer  Satz,  sondern 
eine  induktive  Wahrheit,  die  uns  durch  frühe  Erfahrung 
bekannt  geworden  und  seither  beständig  befestigt  worden  ist. 
Solche  Wahrheiten  bilden  die  Grundlage  der  Wissenschaft 
von  der  Zahl.  Der  Schein  der  Idealität,  der  dieser 
Wissenschaft  anhaftet,  muß  daher  schwinden.  Die  Sätze 
der  Arithmetik  verlieren  ihre  bisherige  Ausnahmestellung: 
sie  rücken  auf  die  gleiche  Linie  mit  sonstigen  physikalischen 
Beobachtungen,   die  wir  über  Trennungen   und   Zusammen- 


86 


Setzungen  innerhalb  der  Körperwelt  gemacht  haben.  Denn 
wie  könnte  es  auch  sinnvolle  und  gültige  Urteile  geben, 
die  sich  nicht  auf  sinnfällige  Tatsachen  bezögen  ?  Der  Begriff 
der  Zehn  bedeutet  entweder  nichts  oder  er  bezeichnet  einen 
bestimmten  gleichbleibenden  Totaleindruck,  der  sich  immer 
wieder  an  Gruppen  von  zehn  Körpern,  zehn  Tönen,  zehn 
Pulsschlägen  wiederfindet.  Und  daß  die  verschiedenartigen 
Eindrücke,  die  wir  auf  diese  Weise  aus  der  Betrachtung 
der  Gegenstände  gewinnen,  unter  sich  ein  System  bilden, 
in  welchem  gewisse  konstante  Beziehungen  obwalten,  ist  eben- 
falls ein  Satz,  der  lediglich  empirische  Gewißheit  besitzt: 
eine  anders  geartete  Wirklichkeit,  eine  neue  physische  Um- 
gebung, in  die  wir  hineinversetzt  würden,  könnte  uns  den  Satz, 
daß  2x2  =  5  ist,  ebenso  geläufig  und  selbstverständlich 
machen,  als  er  uns  jetzt  unbegreiflich  und  widersinnig  er- 
scheint*. — / 

Schon  hier  beim  ersten  Schritt  in  das  Gebiet  der  exakten 
wissenschaftlichen  Probleme  zeigt  es  sich  in  voller  Deutlichkeit, 
welche  sachliche  Bedeutung  und  Tragweite  scheinbar  bloß 
formellen  logischen  Differenzen  innezuwohnen  vermag.  Denn 
wie  immer  man  Mills  Theorie  der  arithmetischen  Grund- 
prinzipien beurteilen  mag:  das  eine  ist  anzuerkennen,  daß 
sie  mit  zwingender  Notwendigkeit  aus  seiner  allgemeinen 
Auffassung  des  Begriffs  hergeleitet  ist.  Um  so  bezeichnender 
ist  es,  daß  diese  erste  Durchführung  des  Gedankens  alsbald 
zu  einem  unmittelbaren  Widerstreit  gegen  das  Faktum  der 
wissenschaftlichen  Arithmetik  selbst  hinführt.  Wo  immer 
in  der  neueren  Mathematik  versucht  wurde,  dieses  Faktum 
zu  zergliedern  und  zu  begründen,  da  mußte  man  es  zunächst 
von  dem  Trugbild  unterscheiden,  das  hier  gezeichnet  ist;  — 
da  mußte  man  die  logische  Struktur  der  reinen  Zahlenlehre 
mit  aller  Energie  und  Schärfe  von  der  Mill'schen  Arithmetik 
der  „Kieselsteine  und  Pfeffernüsse"  absondern.  In  der  Tat 
wäre,  wenn  Mills  Ableitung  zu  Recht  bestände,  damit  den 
arithmetischen  Begriffen  gerade  jene  Bestimmtheit 
geraubt,  die  ihren  eigentlichen  Wert  und  Gehalt  ausmacht. 

*  Vgl.  M  i  1 1 ,  System  of  Logic,  Buch  II,  Cap.  6 ;  An  examination  of 
S.  WiUiam  Hamütons  Phüosophy,  S.  67  ff. 

37 


Der  logische  Unterschied  von  Zahlen  wäre  begrenzt  und  ge- 
bunden durch  die  psychologische  Unterscheidungsfähigkeit, 
die  wir  in  der  Auffassung  gegebener  Mengen  von  Objekten 
erlangt  haben.  Daß  diese  Folgerung  einen  Widersinn  in  sich 
schließt,  läßt  sich  indessen  leicht  erkennen.  Die  Zahl  753684 
ist  von  der  ihr  unmittelbar  vorausgehenden  oder  folgenden 
Zahl  ebenso  bestimmt  und  deutlich  unterschieden,  wie  es 
die  Drei  von  der  Zwei  oder  Vier  ist;  aber  wer  vermöchte  den 
„Eindruck"  aufzuweisen,  der  die  Anschauung  der  entsprechen- 
den konkreten  Mengen  voneinander  scheidet?  Und  wie  hier 
der  charakteristische  Inhalt  der  Zahlbegriffe  verloren  geht, 
so  verlieren  sie  auf  der  andern  Seite  die  Weite  und  Freiheit 
cTer  Anwendung,  die  ihnen  wesentlich  ist.  Die  Synthesis 
des  Zählens  kann  sich  nach  Mill  nur  dort  betätigen,  wo  die 
Verknüpfung  oder  Trennung,  die  sie  setzt,  an  den  physischen 
Objekten  tatsächlich  ausführbar  ist;  wo  die 
Dinge  selbst  sich  in  sinnlich-räumliche  Gruppen  zusammen- 
fassen und  auseinanderlegen  lassen.  Die  wechselnden  Bilder, 
die  von  den  verschiedenen  Gruppen  in  uns  entstehen,  bilden 
das  eigentliche  und  unentbehrliche  Substrat  aller  Aussagen 
über  Zahlenverhältnisse.  Außerhalb  des  Gebiets  der  räum- 
lichen Anschauung,  in  welchem  diese  aktuellen  Verbindungen 
und  Trennungen  allein  möglich  sind,  wäre  somit  den  Zahl- 
begriffen ihr  eigentliches  Fundament  entzogen.  In  Wahrheit 
sprechen  wir  indessen  nicht  nur  von  der  Zahl  der  Körner  eines 
Haufens,  sondern  auch  von  der  Zahl  der  Kategorien,  von  der 
Zahl  der  Keplerschen  Gesetze  oder  von  der  Zahl  der  Energie- 
faktoren: alles  Gegenstände,  die  sich  nicht  gleich  Kieselsteinen 
an-  und  auseinanderlegen  lassen.  „Es  wäre  in  der  Tat  wunder- 
bar," —  so  bemerkt  Frege  in  seiner  drastischen  und  treffenden 
Kritik  derMill'schen  Lehre  —  ,,wenn  eine  von  äußeren  Dingen 
abstrahierte  Eigenschaft  auf  Ereignisse,  auf  Vorstellungen, 
auf  Begriffe  ohne  Änderung  des  Sinnes  übertragen  werden 
könnte.  Es  wäre  gerade  so,  als  ob  man  von  einem  schmelz- 
baren Ereignisse,  einer  blauen  Vorstellung,  einem  salzigen 
Begriff,  einem  zähen  Urteile  reden  wollte.  Es  ist  ungereimt, 
daß  am  Unsinnlichen  vorkomme,  was  seiner  Natur  nach 
sinnlich  ist.    Wenn  wir  eine  blaue  Fläche  sehen,  so  haben  wir 


38 


einen  eigentümlichen  Eindruck,  der  dem  Worte  „blau"  ent- 
spricht; und  diesen  erkennen  wir  wieder,  wenn  wir  eine  andere 
blaue  Fläche  erblicken.  Wollten  wir  annehmen,  daß  in  der- 
selben Weise  beim  Anblick  eines  Dreiecks  etwas  Sinnliches 
dem  Worte  „Drei"  entspräche,  so  müßten  wir  dies  auch  in 
drei  Begriffen  wiederfinden;  etwas  Unsinnliches  würde  etwas 
Sinnliches  an  sich  haben.  Man  kann  wohl  zugeben,  daß  dem 
Worte  ,, dreieckig"  eine  Art  sinnlicher  Eindrücke  entspreche, 
aber  man  muß  dabei  dies  Wort  als  Ganzes  nehmen.  Die  Drei 
darin  sehen  wir  nicht  unmittelbar,  sondern  wir  sehen  etwas, 
woran  eine  geistige  Tätigkeit  anknüpfen  kann,  welche  zu 
einem  Urteile  führt,  in  dem  die  Zahl  3  vorkommt*." 

Wenn  die  Absurditäten,  in  die  die  sensualistische  Auf- 
fassung der  Zahlbegriffe  zuletzt  unaufhaltsam  verwickelt, 
nicht  sogleich  in  der  ersten  Ableitung  unmittelbar  zutage 
treten,  so  liegt  der  Grund  hierfür  darin,  daß  diese  geistigen 
Tätigkeiten,  diese  Leistungen  des  Urteils  auch  hier  nicht 
gänzlich  ausgeschaltet,  sondern  stillschweigend  geduldet  wer- 
den. Nur  die  ersten  Wahrheiten  der  Arithmetik,  nur  die 
elementarsten  Formeln  sollen  das  Ergebnis  unmittelbarer 
Beobachtung  physischer  Tatbestände  sein,  während  die 
wissenschaftliche  Form  der  Algebra  nicht  auf  dem  stets 
erneuten  Zufluß  von  Wahrnehmungstatsachen,  sondern  auf 
der  „V  erallgemeinerung"  des  primitiven  sinnlichen 
Grundbestands  beruhen  soll.  Dieser  Begriff  aber  schließt 
wiederum  alle  Rätsel  ein,  für  die  die  Theorie  eine  Lösung  ver- 
sprach. Versucht  man,  ihm  einen  scharfen  und  eindeutigen 
Sinn  zu  geben,  so  müßte  er  sich  alsbald  in  eine  Mehrheit 
unterschiedener  intellektueller  Funktionen  zer- 
legen, die  beim  Aufbau  des  Zahlenreiches  beteiligt  sind.  Wenn 
es  möglich  sein  soll,  Beobachtungen,  die  wir  an  kleineren 
Komplexen  von  Objekten  gemacht  haben,  fortschreitend  auf 
größere  und  immer  größere  zu  übertragen  und  die  „Eigen- 
schaften" der  folgenden  nach  Analogie  der  früheren  zu  be- 
stimmen: so  setzt  dies  voraus,  daß  zwischen  den  verglichenen 
Fällen  irgendeine  Form  der  Beziehung    und  der  A  b  - 

*  Prege,  Die  Grundlagen  der  Arithmetik.  Breslau  1884,  S.  31  f; 
zum  Ganzen  vgl.  bes.  S.  9  ff,  S.  27  ff. 

39 


hängigkeit  besteht,  kraft  deren  der  eine  aus  dem  andern 
ableitbar  ist.  Wir  hätten  nicht  das  Recht,  irgendeine  Be- 
stimmung, die  uns  an  einer  individuellen  Menge  ent- 
gegengetreten ist,  auf  Mengen  von  mehr  oder  weniger 
Elementen  auszudehnen,  wenn  wir  sie  nicht  sämtlich  als  ihrer 
„Natur"  nach  gleichartig  begriffen : i  diese  Gleich- 
artigkeit aber  besagt  nichts  anderes,  als  daß  sie  durch  eine 
eindeutige  Regel  miteinander  verknüpft  sind,  die  es  ge- 
stattet, in  fortgesetzter  identischer  Anwendung 
derselben  Grundrelation  von  der  einen  Mannig- 
faltigkeit zur  andern  zu  gelangen.  Ohne  die  Annahme  eines 
derartigen  Zusammenhangs  müßten  wir  in  der  Tat  darauf  ge- 
faßt sein,  daß  jede  Einheit,  die  wir  zu  einer  gegebenen  Menge 
hinzufügen  oder  die  wir  von  ihr  wegnehmen,  die  gesamte 
Beschaffenheit  der  Menge  derart  ändert,  daß  von  dem  Ver- 
halten der  einen  kein  Schluß  auf  irgendeine  andere  mehr  zu- 
lässig wäre.  Die  neuen  Einheiten  würden  alsdann  wie  eben- 
soviele  besondere  physische  Umstände  oder  Kräfte 
wirken,  die  das  Gesamtbild  völlig  umgestalten  und  in  seinen 
Grundzügen  aufheben  könnten.  Kein  überall  anwendbares 
Gesetz,  keine  durchgehende  Beziehung  würde  mehr  die 
Glieder  des  Zahlenreiches  zusammenschließen;  vielmehr  wäre 
jeder  arithmetische  Satz  für  jede  einzelne  Zahl  besonders 
durch  Beobachtung  und  Wahrnehmung  zu  erweisen.  Die 
sensualistische  Theorie  vermag  dieser  Folgerung  nur  dadurch 
zu  entgehen,  daß  sie  unvermerkt  in  eine  andere  Richtung 
der  Betrachtung  abbiegt.  Die  Forderung  der  Verallgemeine- 
rung der  primitiven  Zählerfahrungen  enthält  wiederum, 
wenngleich  verhüllt,  jene  Funktion  der  Allgemeinheit  der  Zahl- 
begriffe, die  durch  die  Erklärung  beseitigt  werden  sollte. 
Der  Weg  zu  einem  rein  deduktiven  Aufbau  des  Zahlenreiches 
ist  damit  wieder  frei  geworden:  es  genügt  hierfür  die  Einsicht, 
daß  dieselben  gedanklichen  Verfahrungsweisen,  die 
sich  für  jede  Theorie  im  Fortschritt  zu  den  höheren  arithmeti- 
schen Gebilden  als  unentbehrlich  ferweisen,  bereits  in  der 
Bestimmung  der  Elemente  die  notwendige  und  hinreichende 
Grundlage  bilden.  In  der  Konsequenz,  der  die  sensualistische 
Lehre  zuletzt  wider  Willen  unterliegt,  bietet  sich  der  erste 

40 


Ausblick  auf  eine  einheitliche  methodische  Ableitung,  die  die 
Fundamente  und  den  Aufbau,  der  sich  auf  sie  gründet,  aus 
einem   gemeinsamen   Prinzip    übersieht   und   gestaltet.    < 

Zuvor  indessen  scheint  sich  noch  ein  anderer  Weg  dar- 
zubieten, die  geforderte  Beziehung  der  Zahlaussagen  zum 
empirischen  Dasein  der  Dinge  wiederum  herzustellen.  Versagt 
die  Ansicht,  daß  alle  arithmetischen  Urteile  auf  physische 
Gegenstände  gehen  und  in  ihrer  Geltung  an  sie  geknüpft 
bleiben:  so  bleibt  dennoch  eine  andere  Klasse  von 
Wirklichkeiten  zurück,  in  denen  wir  nunmehr  erst 
das  wahrhafte  Urbild  der  Zahlbegriffe  zu  erfassen  scheinen. 
Nicht  die  Außendinge,  sondern  das  „Bewußtsein"  selbst  in 
seiner  eigentümlichen  und  ursprünglichen  Daseinsweise  bildet 
den  Quell  dieser  Begriffe;  nicht  ein  materielles,  sondern  ein 
geistiges  Sein  ist  es,  das  sie  umspannen  und  darstellen 
wollen.  Die  ganze  Weite  und  Allgemeinheit  des  Zahlbegriffs 
scheint  sich  ihm  hier  aufs  neue  zu  erschließen.  Als  Vor- 
stellung, als  psychische  Wirklichkeit  bleibt 
die  Zahl  von  all  den  Beschränkungen  frei,  die  ihr  auferlegt 
werden  mußten,  solange  sie  noch  als  Ausdruck  stofflicher 
Sonderexistenzen  und  ihrer  Verhältnisse  galt.  Man  erkennt, 
wie  sich  hier  an  einem  Sonderproblem  dieselbe  gedankliche 
Wendung  wiederholt,  die  uns  früher  innerhalb  der  allgemeinen 
logischen  Theorie  entgegentrat.  Der  Begriff  verzichtet  darauf, 
unmittelbar  die  äußere  Realität  in  ihrem  absoluten  Sein 
nachzubilden;  aber  an  Stelle  dieser  Realität  tritt  ihre  Er- 
scheinungsform in  unserem  Geiste.  Der  Akt  der  Zählung  gibt 
nicht  die  Verhältnisse  der  Dinge  an  sich  selbst,  sondern  nur  die 
Art  wieder,  wie  sie  sich  in  der  Auffassung  durch  unser  Ich 
reflektieren. 

Aber  auch  in  dieser  Umformung  bleibt,  so  sehr  sie  das 
Problem  weiterführt,  zunächst  noch  ein  Moment  zurück, 
das  sie  mit  der  sensualistischen  Ableitung  teilt.  Die  Zahlen- 
lehre gelangt  auch  jetzt  nicht  zu  selbständiger  logischer 
Begründung;  sondern  sie  bildet,  wie  sie  zuvor  als  Spezialfall 
der  Physik  erschien,  nunmehr  einen  Anhang  zur  Psycho- 
logie (vgl.  oben  S.  11  ff.).  Für  die  Psychologie  indessen  be- 
deutet die   „Vorstellung"   zuletzt   nichts   anderes    als    einen 

41 


bestimmten  seelischen  Inhalt,  der  in  den  Einzelsubjekten 
/  je  nach  besonderen  Umständen  entsteht  und  auf  dieselbe 
//  Weise  wiederum  vernichtet  wird:  einen  Inhalt,  der  in  ver- 
schiedenen Individuen  verschieden  ist  und  der  auch  für  ein 
und  dasselbe  Subjekt,  nachdem  er  einmal  verschwunden, 
niemals  in  völlig  gleichförmiger  Art  wiederkehrt.  '  Was  hier 
gegeben  ist,  ist  somit  immer  nur  eine  zeitlich  be- 
grenzte und  determinierte  Wirklichkeit, 
nicht  aber  ein  Bestand,  der  sich  in  unveränderlicher  logischer 
Identität  festhalten  ließe.  In  der  Erfüllung  eben  dieser  letzteren 
Forderung  aber  besteht  aller  Sinn  und  aller  Wert  der  reinen 
Zahlbegriffe.  Der  Satz,  daß  7  +  5  =  12  ist,  berichtet  von 
keiner  Verkettung  von  Vorstellungserlebnissen,  wie  sie  sich  in 
denkenden  Individuen  bisher  abgespielt  haben  oder  auch 
künftig  ausnahmslos  abspielen  werden;  sondern  er  stellt 
einen  Zusammenhang  fest,  der,  nach  dem  Platonischen  Aus- 
druck, die  Sieben  und  Fünf  ,,an  sich"  mit  der  Zwölf  ,,an  sich" 
verbindet.  Der  Gegenstand,  auf  den  dies  Urteil  sich  richtet, 
besitzt  bei  all  seiner  Idealität  eine  völlig  eindeutige  Be- 
stimmtheit, die  ihn  von  den  wandelbaren  Inhalten 
der  Vorstellung  streng  unterscheidet.  Das  psychologische 
Bild  der  Zwei  mag  sich  bei  dem  einen  mit  räumlichen 
Nebenvorstellungen  verbinden,  bei  dem  andern  von  ihnen  frei 
sein;  es  mag  jetzt  lebhafter,  jetzt  matter  erfaßt  werden:  — 
so  wird  doch  durch  all  diese  Differenzen  die  arithmetische 
Bedeutung  der  Zwei  nicht  berührt*.  Was  ein  Begriff 
„ist"  und  bedeutet:  dies  kann  nicht  anders  ermittelt  werden 
als  dadurch,  daß  wir  ihn  als  Träger  und  Ausgangspunkt 
bestimmter  Urteile,  als  Inbegriff  möglicher  Relationen  auf- 
fassen. Begriffe  sind  identisch,  wenn  sie  sich  in  allen  Aussagen, 
in  welche  sie  eingehen,  durch 'einander  ersetzen  lassen;  wenn 
jede  Beziehung,  die  von  dem  einen  gilt,  auch  auf  den  andern 
übertragbar  ist.  Wendet  man  indessen  dieses  Kriterium  an, 
so  tritt  sogleich  die  ganze  Divergenz  zwischen  dem  logischen 
Gehalt  des  Zahlbegriffs  und  dem  psychologischen  Begriff  der 
Vorstellung  hervor.     Die  charakteristischen  Grundrelationen, 


*  Vgl.  hierzu  wiederum  F  r  e  g  e  ,  a.  a.  O.  S.  37. 
42 


die  in  der  Zahlenreihe  obwalten,  sind  als  Eigenschaften  an 
gegebenen  Vorstellungsinhalten  nicht  denkbar.  Es  hat  keinen 
Sinn,  von  einer  ,, Vorstellung"  zu  sagen,  daß  sie  größer  oder 
kleiner  als  eine  andere,  daß  sie  das  Doppelte  oder  Dreifache 
von  ihr,  daß  sie  durch  eine  andere  teilbar  sei  usf.  Und  nicht 
minder  weist  die  Forderung  der  Unendlichkeit  der 
Anzahlen  über  jede  derartige  Auffassung  hinaus:  denn  alles 
„Sein"  der  Vorstellung  geht  in  ihrem  unmittelbaren 
Gegebensein,  in  ihrem  tatsächlichen  Vollzug  auf.  Sind  die 
Zahlen  Wirklichkeiten  im  individuellen  Bewußtsein,  so  können 
sie  nur  in  endlicher  Menge  ,, vorhanden",  d.  h.  in  diesem 
Bewußtsein   als  gesonderte  Elemente  realisiert  sein.  — 

Indessen  scheint  diese  Kritik  in  dem  Gegensatz,  den  sie 
zwischen  den  reinen  Zahlbegriffen  und  den  psychologischen 
Vorstellungsinhalten  feststellt,  das  Gebiet  des  psychischen 
Daseins  selbst  nicht  nach  seiner  vollen  Bedeutung  und  Weite 
ergriffen  zu  haben.  Das  Charakteristische  der  Zahl  —  so 
ließe  sich  mit  Recht  einwenden  —  läßt  sich  nur  deshalb  nicht 
in  irgendeinem  besonderen  und  isolierten  Bewußtseinsinhalt 
aufzeigen,  weil  hier  eine  allgemeine  Voraussetzung  vorliegt, 
die  die  Entstehung  und  Bildung  von  Inhalten 
überhaupt  beherrscht  und  leitet.  Der  Akt,  durch  den  wir 
irgendeine  Einheit  abgrenzen  und  die  Synthese,  in  der  wir 
derartige  Einheiten  zu  neuen  Gebilden  zusammenfassen, 
bilden  die  Bedingung,  unter  der  allein  von  einer  Mannig- 
faltigkeit von  Elementen  und  ihrem  Zusammenhang  die  Rede 
sein  kann.  Die  Tätigkeit  der  Unterscheidung  und  Ver- 
knüpfung, nicht  irgendein  besonderer  Inhalt,  der  aus  ihr  erst 
nachträglich  resultiert,  kann  daher  allein  das  gesuchte  psycho- 
logische Korrelat  der  Zahlbegriffe  sein.  Nicht  Objekte, 
sei  es  der  äußeren  oder  der  inneren  Wirklichkeit,  sondern 
Akte  derApperception  sind  es,  an  welche  die  Zahl- 
bestimmung anknüpft  und  auf  die  ihr  eigentlicher  Sinn 
zurückgeht.  Die  „Allgemeinheit",  die  den  reinen  Zahlbegriffen 
eignet,  läßt  sich  von  hier  aus  in  einer  neuen  Richtung  ver- 
stehen und  begründen.  Auch  der  Sensualismus  erkennt  diese 
Allgemeinheit  an;  —  aber  er  faßt  sie  seiner  Grundansicht 
gemäß  wie  ein  dingliches  Merkmal,  das  sich  gleichmäßig  über 

43 


einen  Kreis  von  besonderen  Objekten  verbreitet.  „Alle 
Zahlen,"  so  heißt  es  bei  M  i  1 1,  „müssen  Zahlen  von  Etwas 
sein,  und  es  gibt  nichts  dergleichen,  wie  eine  abstrakte  Zahl. 
Aber  obwohl  immer  Zahlen  von  Etwas,  können  sie  nichts- 
destoweniger Zahlen  von  jedem  Beliebigen  sein.  Sätze  über 
Zahlen  haben  daher  die  bemerkenswerte  Eigentümlichkeit, 
daß  sie  sämtliche  Dinge  überhaupt  betreffen,  sofern  sie  auf 
alle  Gegenstände  und  alle  Arten  der  Existenz  gehen,  die  uns 
durch  Erfahrung  bekannt  sind*."  Die  mathematische 
Eigenschaft  der  Zählbarkeit  der  Dinge  wird  also  hier  in  der- 
selben Weise  wie  irgendeine  physische  Eigenschaft  ermittelt: 
wie  wir  in  durchgängiger  Vergleichung  der  Einzelfälle  lernen, 
daß  alle  Körper  schwer  sind,  so  finden  wir  mittels  einer  analogen 
Methode  die  zahlenmäßige  Bestimmtheit  an  ihnen  vor.  Man 
erkennt  indes,  daß  die  Behauptung  der  Universalität  der  Zahl, 
sofern  sie  sich  auf  ein  derartiges  Verfahren  gründet,  in  Wahr- 
heit erschlichen  ist;  denn  nichts  verbürgt  uns,  daß  diejenigen 
Fälle,  die  sich  unserer  Erfahrung  entzogen  haben,  die  gleiche 
Eigenschaft  wie  die  tatsächlich  beobachteten  aufweisen  und 
sich  somit  den  arithmetischen  Gesetzen  fügen. i  Erst  die  tiefere 
und  reifere  psychologische  Ableitung  der  Zahlbegriffe  aus 
dem  Grundakt  der  apperzeptiven  Verknüpfung  und  Sonderung 
überhaupt  gewinnt  hier  einen  neuen  Gesichtspunkt  der  Be- 
gründung. Für  sie  heißt  die  Zahl  allgemein,  nicht  weil  sie  als 
fertiger  Bestandteil  in  jedwedem  Einzelnen  enthalten 
ist,  sondern  weil  sie  eine  konstante  Bedingung  für 
die  Beurteilung  jedes  Einzelnen,  als  eines  solchen, 
darstellt.  DasBewußtsein  dieser  Allgemeinheit  wird  nicht  durch 
das  Durchlaufen  einer  unbestimmten  Mehrheit  von  Fällen 
erworben,  sondern  ist  bereits  in  der  Erfassung  jedes  einzelnen 
von  ihnen  vorausgesetzt:  denn  die  Zuordnung  dieses  Einzelnen 
zu  einem  umfassenden  Ganzen  ist  nur  dadurch  möglich, 
daß  der  Gedanke  imstande  ist,  eine  Regel,  deren  er  sich  einmal 
versichert  hat,  gegenüber  allen  Verschiedenheiten  und  Besonde- 
rungen  ihrer  Anwendung,  wiederzuerkennen  und  in  begriff- 
licher  Identität    festzuhalten.  — 


♦  Mill,  A  System  of  Logic,  Buch  II,  Cap.  6,  §  2. 
44 


Auch  in  diesem  Ableitungsversuch,  der  von  den  fertigen 
Vorstellungs  inhalten  zu  den  Akten  zurückgeht,  aus 
denen  sie  sich  bilden,  wird  indessen  das  eigentliche  logische 
Problem  der  Zahl  nicht  sowohl  gelöst,  als  vielmehr  nur  um 
einen  Schritt  zurückgeschoben.  Denn  welchen  konstruktiven 
Wert  man  den  reinen  Denkakten  immer  beilegen  mag,  so 
bleiben  sie  doch,  in  ihrem  rein  psychologischen  Sinne  ge- 
nommen, stets  Geschehnisse,  die  in  der  Zeit  kommen 
und  gehen.  Auch  sie  gehören  somit  einem  bestimmten  indivi- 
duellen Bewußtseinsverlauf  an,  wie  er  hier  und  jetzt  unter 
den  besonderen  Bedingungen  des  jeweiligen  Moments  von- 
statten geht.  Damit  aber  wiederholt  sich  die  frühere  Frage. 
Nicht  zeitlich  begrenzte  Wirklichkeiten  sind  es,  deren  Ver- 
hältnis in  den  arithmetischen  Urteilen  ausgesprochen  und  fest- 
gestellt wird,  sondern  über  das  gesamte  Gebiet  des  Denk- 
geschehens hinaus  greift  hier  der  Gedanke  zu  einem  Bereich 
idealer  Gegenstände  über,  denen  er  eine  dauernde  und  un- 
veränderliche Grundform  zuerkennt.  Diese  Grundform  ist  es, 
kraft  deren  jegliches  Element  der  Zahlenreihe  mit  jedem  an- 
deren nach  ein  für  allemal  feststehenden  systematischen 
Regeln  zusammenhängt.  Wie  die  Eins  sich  mit  der  Zwei, 
die  Zwei  mit  der  Drei  verknüpft  usf.,  und  wie  gemäß  dieser 
Verknüpfung  jener  gesamte  logische  Komplex  von  Sätzen 
entsteht,  die  in  der  reinen  Arithmetik  vorliegen:  dies  wird 
nicht  durch  eine  psychologische  Zergliederung  der  Akte  der 
Vorstellungsbildung  ermittelt.  Der  Aufbau  und  die  objektive 
Begründung  dieses  System-Zusammenhangs  gehört  einer 
völlig  anderen  Methode  an*.  Diese  Methode  ist  freilich  zu- 
nächst eine  bloße  Forderung,  deren  Erfüllung  noch 
durchaus  problematisch  erscheinen  muß.  Denn  welches  Mittel 
der  Begründung  bleibt  uns  für  einen  Begriff,  wenn  wir  ihn 
weder  als  Abbild  einer  äußeren,  noch  einer  inneren,  weder  als 
physisches  noch  als  psychisches  Sein  fassen  wollen?  Indessen 
ist  diese  Frage,  die  sich  unwillkürlich  stets  aufs  neue  vordrängt, 
doch  nur  der  Ausdruck  einer  bestimmten  dogmatischen 
Ansicht  vom  Wesen  und  von  der  Leistung  des  Begriffs.    Nicht 


*  Näheres  hierüber  s.  unt.,  bes.  Cap.  VIII. 

45 


nach  dieser  Grundansicht  läßt  sich  das  System  der  arith- 
metischen Begriffe  und  Sätze  abschätzen,  sondern  um- 
gekehrt findet  die  formal-logische  Betrachtung  hier  eine 
Schranke  und  einen  Maßstab  an  eben  diesem  System,  das  sich 
aus  selbständigen  inhaltlichen  Voraussetzungen  entwickelt 
und  allmählich  festgestellt  hat. 


II. 


y. 


Die  Entwicklung,  die  die  wissenschaftliche  Arithmetik 
in  den  letzten  Jahrzehnten  genommen  hat,  ist  dadurch 
charakterisiert,  daß  schärfer  als  je  zuvor  die  Forderung  hervor- 
trat, den  Zahlbegriff  seinem  vollständigen  Gehalt  nach  aus 
rein  logischen  Prämissen  abzuleiten.  Die  Wissenschaft  des 
Raumes  schien  der  Anschauung,  schien  bisweilen  selbst  der 
empirischen  Wahrnehmung  anheirnfajlen  zu  sollen:  um  so 
energischer  aber  kam  nunmehr  der  Gedanke  zur  Geltung, 
daß  alle  Bestimmungen  der  Zahl  sich  ohne  jede  Berufung 
auf  sinnliche  Objekte,  ohne  jede  Anlehnung  an  konkrete 
meßbare  Größen  „durch  ein  endliches  System  einfacher 
Denkschritte"  begründen  lassen  müssen.  In  dieser  Herleitung 
der  Arithmetik  aus  der  Logik  aber  wird  diese  selbst  bereits 
in  einer  neuen  Gestalt  vorausgesetzt.  „Verfolgt  man  genau," 
so  beginnt  D  e  d  e  k  i  n  d  seine  Deduktion  des  Zahlbegriffs, 
,,was  wir  bei  dem  Zählen  der  Menge  oder  Anzahl  von  Dingen 
tun,  so  wird  man  auf  die  Betrachtung  der  Fähigkeit  des 
Geistes  geführt,  Dinge  auf  Dinge  zu  beziehen,  einem  Ding 
ein  Ding  entsprechen  zu  lassen,  oder  einTDing  durch  ein  Ding 
abzubilden,  ohne  welche  Fähigkeit  überhaupt  kein  Denken 
möglich  ist./  Auf  dieser  einzigen,  auch  sonst  ganz  unentbehr- 
lichen Grundlage  muß  .  .  die  gesamte  Wissenschaft  der  Zahlen 
errichtet  werden*."  Hier  scheint  ganz  im  Sinne  der  tradi- 
tionellen logischen  Doktrin  von  einer  Mehrheit  von  Dingen 
und  von  dem  Vermögen  des  Geistes,  sie  abzubilden,  aus- 
gegangen zu  werden  — ;  aber  dennoch  zeigt  es  sich  bei  tieferem 
Eindringen    sogleich,    daß    die    überlieferten    Bezeichnungen 


*  Dedekind,  Was  sind  iind  was  sollen  die  Zahlen  ? 
Bratmschweig  1893,  S.  VIII. 

46 


2.  Aufl., 


selbst  einen  neuen  Gehalt  und  eine  neue  Bedeutung  gewonnen 
haben.  Die  ,, Dinge",  von  denen  in  der  weiteren  Ableitung  die 
Rede  ist,  werden  nicht  als  selbständige  Existenzen  vor  jeder 
Beziehung  als  vorhanden  gesetzt,  sondern  sie  erhalten  ihren 
gesamten  Bestand,  soweit  er  für  den  Arithmetiker  in  Betracht 
kommt,  erst  in  und  mit  den  Beziehungen,  die  von  ihnen 
ausgesagt  werden.  Sie  sind  Relationsterme,  die 
niemals  losgelöst,  sondern  nur  in  idealer  Gemeinschaft  mit- 
einander „gegeben"  sein  können,  i  Und  auch  das  Verfahren 
der  „Abbildung"  hat  nunmehr  eine  charakteristische  Wand- 
lung erfahren.  Denn  jetzt  handelt  es  sich  nicht  mehr 
darum,  eine  begriffliche  Kopie  der  äußeren  Eindrücke  zu 
schaffen,  die  ihnen  in  irgendwelchen  Einzelzügen  entspricht: 
sondern  die  Abbildung  besagt  nichts  anderes,  als  die  gedank- 
liche Zuordnung,  durch  die  wir  übrigens  ganz  ver- 
schiedenartige Elemente  zu  einer  systematischen  Einheit  ver- 
knüpfen. Hier  kommt  lediglich  die  Vereinigung  von  Reihen- 
gliedern durch  ein  Reihenprinzip,  nicht  ihre  Übereinstimmung  in 
irgendeinem  sachlichen  Teilbestand  in  Frage.  Nachdem  durch 
eine  ursprüngliche  Setzung  ein  bestimmter  Ausgangspunkt 
fixiert  ist,  werden  alle  weiteren  Elemente  dadurch  gegeben, 
daß  eine  Beziehung  (R)  angegeben  wird,  die  in  fortgesetzter 
Anwendung  alle  Glieder  des  Komplexes  erzeugt.  So  entstehen 
Systeme  und  Systemgruppen  in  strenger~T)egnfflicher  Gliede- 
rung, ohne  daß  doch  ein  Element  mit  dem  andern  irgendwie 
durch  sachliche  Ähnlichkeit  verbunden  zu  sein  braucht. 
Die  ,, Abbildung"  schafft  kein  neues  Ding,  sondern  eine  neue 
notwendige  Ordnung  zwischen  Denkschritten  und  Denk- 
gegenständen. — 

Dedekind  hat  in  seiner  Schrift:  ,,Was  sind  und  was 
sollen  die  Zahlen"  gezeigt,  wie  auf  Grund  dieser  einfachen 
Prinzipien  der  vollständige  Aufbau  der  Arithmetik  und  die 
erschöpfende  Darstellung  ihres  wissenschaftlichen  Gehalts 
möglich  ist.  Wir  verfolgen  die  mathematische  Entwicklung 
dieses  Gedankens  nicht  in  ihren  Einzelheiten,  sondern  begnügen 
uns  —  da  der  Zahlbegriff  uns  hier  nicht  um  seiner  selbst  willen, 
sondern  nur  als  Beispiel  für  die  Gestaltung  der  reinen 
„Funktionalbegriffe"  interessiert  — ,  lediglich  ihre  wesentliche 

47 


Tendenz  herv^orzuheben.  Die  Voraussetzungen  für  die 
Ableitung  des  Zahlbegriffs  sind  in  der  allgemeinen  Logik 
der  Relationen  gegeben.  Betrachten  wir  das  Ganze 
der  möglichen  Beziehungen,  nach  welchen  eine  Reihe  von 
Denksetzungen  gegliedert  sein  kann,  so  treten  uns  hier  zu- 
nächst gewisse  formale  Grundbestimmungen 
entgegen,  die  bestimmten  Klassen  von  Relationen  gleich- 
mäßig zukommen  und  sie  von  anderen  Klassen  verschiedener 
Struktur  unterscheiden.  Ist  etwa  irgendeine  Beziehung 
zwischen  zwei  Gliedern  a  und  b  gegeben,  die  wir  symbolisch 
durch  den  Ausdruck  a  R  b  bezeichnen  können,  so  kann  sie 
zunächst  derart  beschaffen  sein,  daß  sie  in  gleicher  Weise 
zwischen  b  und  a  gilt,  so  daß  aus  der  Geltung  von  a  R  b  auch 
bRa  folgt.  Wir  nennen  in  diesem  Falle  die  Relation  ,, sym- 
metrisch" und  unterscheiden  sie  einerseits  von  der  nicht- 
symmetrischen Beziehung,  in  der  die  Geltung  von  aRb 
die  von  bRa  zwar  zuläßt,  aber  nicht  notwendig  fordert,  ander- 
seits von  der  asymmetrischen  Beziehung,  in  der  eine 
derartige  Umkehrung  nicht  möglich  ist,  also  aRb  und  bRa 
nicht  miteinander  bestehen  können.  Eine  Beziehung  heißt 
weiterhin  transitiv,  wenn  daraus,  daß  sie  zwischen  je 
zwei  Gliedern,  a  und  b,  b  und  c  besteht,  ihre  Geltung  auch  für 
a  und  c  folgt;  sie  heißt  nicht-transitiv,  wenn  diese 
Übertragung  nicht  notwendig  und  intransitiv,  wenn 
sie  durch  die  Natur  der  betrachteten- Beziehung  ausgeschlossen 
ist*.  Diese  Bestimmungen,  die  im  allgemeinen  Relations- 
Kalkül  weitreichende  Anwendung  finden,  kommen  hier  zu- 
nächst nur  insofern  in  Betracht,  als  auf  ihnen  die  schärfere 
Definition  dessen  beruht,  was  wir  unter  der  Ordnung 
eines  bestimmten  Inbegriffs  zu  verstehen  haben.  Es  ist  in 
der  Tat  ein  naives  Vorurteil,   wenn  man  die  Ordnung,   die 


♦  Russell,  auf  den  diese  Unterscheidungen  zurückgehen,  ver- 
deutlicht sie  an  den  verschiedenen  verwandtschaftlichen  Beziehungen: 
die  Beziehung,  die  im  Begriff  ,, Geschwister"  voriiegt,  ist  symmetrisch  und 
trsmsitiv,  die  Beziehung  „Bruder"  nicht  symmetrisch  tmd  transitiv;  die 
Beziehung  ,, Vater"  asymmetrisch  und  intransitiv  usw.  —  S.  hierzu  und 
zum  Folgenden:  Russell,  The  Principles  of  Mathematics,  I,  Cam- 
bridge 1903;  vgl.  auch  meinen  Aufsatz:  Kant  und  die  moderne  Mathe- 
matik, Kant  Studien  XII,  1  ff. 

48 


1 


zwischen  den  Elementen  einer  Mannigfaltigkeit  besteht, 
wie  etwas  Selbstverständliches  betrachtet,  das  gleichsam 
durch  das  bloße  Dasein  der  Einzelglieder  schon  unmittelbar 
gegeben  sei.  In  Wahrheit  haftet  sie  nicht  an  den  Elementen 
als  solchen,  sondern  an  der  Reihenrelation,  durch  die  sie  ver- 
knüpft sind,  und  alle  ihre  Bestimmtheit  und  ihre  spezifische 
Eigenart  leitet  sich  aus  dieser  Reihenrelation  her.  Die  nähere 
Untersuchung  ergibt,  daß  zuletzt  stets  irgendeine  tran- 
sitive und  asymmetrische  Beziehung  erfordert 
wird,  um  den  Gliedern  eines  Inbegriffs  eine  bestimmte  Ordnung 
aufzuprägen*. 

Betrachten  wir  nunmehr  eine  Reihe,  die  ein  erstes 
Glied  besitzt  und  für  die  ein  bestimmtes  Gesetz  des  Fortschritts 
derart  festgestellt  ist,  daß  zu  jedem  Glied  ein  unmittelbar 
nachfolgendes  gehört,  mit  dem  es  durch  eine  eindeutige, 
transitive  und  asymmetrische  Beziehung  verknüpft  ist, 
die  im  Ganzen  der  Reihe  überall  dieselbe  bleibt,  so  haben  wir 
in  einer  derartigen  ,, Progression"  bereits  den  eigentlichen 
Grundtypus  aller  Gegenstände  erfaßt,  mit  denen  die  Arith- 
metik es  zu  tun  hat.  Alle  Sätze  der  Arithmetik,  alle  Opera- 
tionen, die  sie  definiert,  beziehen  sich  lediglich  auf  die  all- 
gemeinen Eigenschaften  der  Progressionen;  sie  gehen  daher 
niemals  unmittelbar  auf  ,, Dinge",  sondern  auf  die  ordinalen 
Beziehungen,  die  zwischen  den  Elementen  bestimmter  In- 
begriffe obwalten.  Die  Definitionen  der  Addition  und  Sub- 
traktion, der  Multiplikation  und  Division,  die  Erklärung  der 
positiven  und  negativen,  der  ganzen  und  gebrochenen  Zahlen 
lassen  sich  rein  auf  dieser  Grundlage  —  und  ohne  daß  ins- 
besondere auf  die  Verhältnisse  konkreter  meßbarer  Objekte 
zurückgegangen  würde  —  entwickeln.  Der  ganze  „Bestand" 
der  Zahlen  beruht  nach  dieser  Ableitung  auf  den  Verhältnissen, 
die  sie  in  sich  selber  aufweisen,  nicht  auf  der  Beziehung 
zu  einer  äußeren  gegenständlichen  Wirklichkeit:  sie  bedürfen 
keines  fremden  „Substrats",  sondern  halten  und  stützen  sich 
wechselseitig,  sofern  jedem  Glied  durch  das  andere  die  Stelle 
im  System    eindeutig  vorgeschrieben  ist.     „Wenn  man," 


*  Näheres  hierüber  bei  Russell,  a.  a.  O.  Cap.  24  und  25. 
Cassirer,  Substanzbegriff  4  49 


so  definiert  Dedekind  —  „bei  der  Betrachtung  eines 
einfach  unendlichen  durch  eine  Abbildung  90  geordneten 
Systems  N  von  der  besonderen  Beschaffenheit  der  Elemente 
gänzlich  absieht,  lediglich  ihre  Unterscheidbarkeit  festhält 
und  nur  die  Beziehungen  auffaßt,  in  die  sie  durch  die  ordnende 
Abbildung  rp  zueinander  gesetzt  sind,  so  heißen  diese  Elemente 
natürliche  Zahlen  oder  Ordinalzahlen  oder 
auch  schlechthin  Zahlen  und  das  Grundelement  1  heißt 
die  Grundzahl  der  Zahlenreihe  N.  In  Rücksicht 
auf  diese  Befreiung  der  Elemente  von  jedem  anderen  Inhalt 
(Abstraktion)  kann  man  die  Zahlen  mit  Recht  eine  freie 
Schöpfung  des  menschlichen  Geistes  nennen.  Die  Beziehungen 
oder  Gesetze,  welche  ...  in  allen  geordneten  einfach  unend- 
lichen Systemen  immer  dieselben  sind,  wie  auch  die  den 
einzelnen  Elementen  zufällig  gegebenen  Namen  lauten  mögen, 
bilden  den  nächsten  Gegenstand  der  Wissenschaft  von 
denZahlen  oder  der  Arithmetik  "*.  •  Vom  logischen 
Standpunkt  aus  ist  es  von  besonderem  Interesse,  daß  hier 
der  Begriff  und  Terminus  der  „Abstraktion"  offenbar  in  einer 
neuen  Bedeutung  verwendet  wird.  Der  Akt  der  Abstraktion 
richtet  sich  nicht  auf  die  Absonderung  eines  dinglichen  Merk- 
mals, sondern  er  zielt  darauf  ab,  daß  wir  uns  den  Sinn 
einer  bestimmten  Relation  unabhängig  von  allen  Einzelfällen 
der  Anwendung  rein  für  sich  zum  Bewußtsein  bringen.  Die 
Funktion  der  ,,Z  a  h  1"  ist  ihrer  Bedeutung  nach  unabhängig 
von  der  inhaltlichen  Verschiedenheit  der  Gegenstände, 
die  gezählt  werden  können;  diese  Verschiedenheit 
kann  und  muß  daher  außer  acht  bleiben,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  lediglich  die  Bestimmtheit  dieser  Funktion  zu  ent- 
wickeln. Hier  wirkt  daher  die  Abstraktion  in  der  Tat  als  eine 
Befreiung:  sie  bezeichnet  die  logische  Konzentration 
auf  den  Relationszusammenhang  als  solchen  unter  Abweisung 
aller  psychologischen  Nebenumstände,  die  sich  im  subjektiven 
Vorstellungsverlauf  herandrängen  mögen,  die  aber  kein  sach- 
lich-konstitutives    Moment    dieses    Zusammenhangs    bilden.i 


*  D  e  d  e  k  i  n  d  ,  a.  a.  O.  §  6.  —  Über  den  Begriff  der  „Abbildung"  s. 
oben  S.  — ;  über  die  Definition  des  „einfach  unendlichen  Systems"  siehe 
Dedekind,  a.  a.  O.  §  5  und  6. 

60 


Man  hat  gegen  Dedekinds  Ableitung  bisweilen  eingewandt, 
daß  hier  für  die  Zahl  im  Grunde  gar  kein  unterscheidender 
Inhalt  zurückbleibe,  der  ihre  Eigentümlichkeit  gegenüber 
anderen  reihenförmig  geordneten  Gegenständen  bezeichnete. 
Da  in  ihrer  Begriffsbestimmung  lediglich  die  allgemeinen 
Momente  der  „Progression"  festgehalten  sind,  so  gelte,  was 
hier  von  der  Zahl  ausgesagt  werde,  für  jede  Progression 
überhaupt:  es  sei  also  einzig  die  Reihenform  selbst, 
nicht  dasjenige,  was  als  M  a  t  e  r  i  a  1  in  sie  eingeht,  was  hier 
definiert  werde.  Sollen  die  Ordinalzahlen  überhaupt  etwas  sein, 
so  müssen  sie  —  wie  es  scheint  —  irgendeine  , »innerliche" 
Natur  und  Beschaffenheit  besitzen,  so  müssen  sie  sich  von 
anderen  Wesenheiten  durch  irgendein  absolutes  Merkmal 
unterscheiden,  in  der  Art  wie  Punkte  von  Augenblicken  oder 
Farben  von  Tönen  verschieden  sind*.  Aber  dieser  Einwand 
verkennt  das  eigentliche  Ziel  und  die  Grundtendenz  von 
Dedekinds  Begriffsbestimmung.  Was  hier  zum  Ausdruck 
kommt,  ist  eben  dies,  daß  es  ein  Gefüge  idealer  Gegenstände 
gibt,  deren  gesamter  Inhalt  in  ihren  gegenseitigen  Beziehungen 
erschöpft  ist.  Die  „Essenz"  der  Zahlen  geht  in  ihrem  Stellen- 
wert auf**.  Und  der  Begriff  der  Stelle  selbst  muß  hier  zunächst 
in  größter  logischer  Allgemeinheit  und  Weite  gefaßt  werden. 
Die  Unterscheidbarkeit  der  Elemente,  die  zu  fordern  ist, 
beruht  auf  rein  begrifflichen,  nicht  auf  sinnlich-anschaulichen 
Bedingungen.  Selbst  die  Anschauung  der  reinen  Zeit, 
auf  die  Kant  den  Zahlbegriff  gründet,  ist  hier  zunächst  noch 
nicht  erfordert.  Wir  denken  uns  die  Glieder  der  Zahlenreihe 
allerdings  als  geordnete  Folge;  aber  dieser  Begriff  der  Folge 
enthält  nichts  von  der  konkreten  Bestimmtheit  der  zeitlichen 
Succession  in  sich.  Die  Drei  „folgt"  auf  die  Zwei  nicht,  wie 
etwa  auf  den  Blitz  der  Donner,  da  beide  keine  zeitliche  Wirk- 
lichkeit, sondern  lediglich  idealen  logischen  Bestand  besitzen. 
Der  «Sinn  des  Folgens  beschränkt  sich  darauf,  daß  die  Zwei 


*S.  Russell  a.  a.  O.,  §  242. 
**  Zur  Ableitung  der  Zahl  als  reiner  „Reihenzahl"  vgl.  bes.  die 
Darstellung  von  G.  F.  L  i  p  p  s  (Philosoph.  Studien,  hg.  v.  Wundt,  Bd.  III), 
sowie  die  neuesten  Darlegungen  N  a  t  o  r  p  s  ,  die  diesen  Gedanken  mit 
besonderer  Klarheit  und  Eindringlichkeit  durchführen.  (Die  logischen 
Grundlagen  der  exakten  Wissenschaft,"  Lpz.  1910,  Kap,  3  u.  4.) 

4*  51 


als  P  r  ä  m  i  s  s  e  in  die  Begriffsbestimmung  der  Drei  eingeht; 
daß  die  Bedeutung  des  einen  Begriffs  erst  erhellt,  wenn  die 
des  anderen  feststeht,  i  Die  niedere  Zahl  ist  der  höheren  „vor- 
ausgesetzt": aber  dies  bezeichnet  nicht  das  physische  oder 
psychologische  Früher  und  Später,  sondern  ein  reines  Ver- 
hältnis der  begrifflich  systematischen  Abhängigkeit.  Was 
die  „spätere"  Stelle  kennzeichnet,  ist  der  Umstand,  daß  sie 
auf  komplexere  Weise  durch  Anwendung  der  erzeugenden 
Relation  aus  der  Grundeinheit  hervorgeht  und  somit  die 
Elemente,  die  ihr  vorangehen,  als  logische  Bestandteile  und 
Phasen  in  sich  aufnimmt. «  So  setzt  die  Zeit  —  wenn  man 
darunter  die  konkrete  Form  des  ,, inneren  Sinnes"  versteht  — 
zwar  die  Zahl,  aber  nicht  umgekehrt  die  Zahl  die  Zeit  voraus. 
Die  Arithmetik  kann  dann  und  nur  dann  als  die  Wissenschaft 
der  reinen  Zeit  definiert  werden,  wenn  man  zuvor  —  wie  es 
z.  B.  Hamilton  tut  —  aus  dem  Begriff  der  Zeit  selbst 
alle  inhaltlichen  Sonderbestimmungen  entfernt  und  lediglich 
das  Moment  der  „Ordnung  im  Fortschritt"  festgehalten  hat  *. 
Gerade  dies  erweist  sich  nunmehr  als  der  methodische  Vorzug 
der  Zahlwissenschaft,  daß  in  ihr  das  „Was"  der  Elemente, 
die  einen  bestimmten  fortschreitenden  Zusammenhang  bilden, 
außer  Betracht  bleibt  und  lediglich  das  „Wie"  dieses  Zu- 
sammenhangs berücksichtigt  wird.  Damit  tritt  uns  zum  ersten 
Male  ein  allgemeines  Verfahren  entgegen,  das  für  die  gesamte 
Begriffsbildung  der  Mathematik  von  entscheidender  Be- 
deutung ist.  Wo  immer  ein  System  von  Bedin- 
gungen gegeben  ist,  das  sich  in  verschiedenen  Inhalten 
erfüllen  kann,  da  können  wir,  unbekümmert  um  die  Ver- 
änderlichkeit dieser  Inhalte,  die  Systemform  selbst  als  In- 
variante festhalten  und  ihre  Gesetze  deduktiv  ent- 
wickeln. Wir  erschaffen  dadurch  ein  neues  ,, objektives" 
Gebilde,  das  in  seiner  Struktur  von  aller  Willkür  unabhängig 
ist:  aber  unkritische  Naivität  wäre  es,  den  Gegenstand, 
der  auf  diese  Weise  entsteht,  mit  den  sinnlich  wirklichen  und 


♦  über  William  Hamiltons  Definition  der  Algebra  als  „Science 
of  pvire  time  or  order  in  progression"  und  ihre  Beziehung  zum  Kantischen 
Zeitbegriff  vgl.  m.  Aufsatz  „Kant  und  die  moderne  Mathematik",  Kant- 
Studien  XII,  34  f. 


wirksamen  Dingen  zu  verwechseln.  Diesem  Gegenstand 
können  wir  nicht  empirisch  seine  „Eigenschaften"  ablesen; 
und  wir  bedürfen  dessen  nicht,  da  er  in  all  seiner  Bestimmtheit 
vor  uns  steht,  sobald  wir  einmal  die  Relation,  aus  der  er 
erwächst,  in  ihrer  Reinheit  ergriffen  haben.  — 

So  grundlegend  indessen  das  begriffliche  Moment  der 
Ordnung  auch  ist,  so  ist  doch  in  ihm  der  gesamte  Inhalt 
des  Zahlbegriffs  nicht  erschöpft.  Wir  gelangen  zu  einer  neuen 
gedanklichen  Wendung,  sobald  die  Zahl,  die  bisher  als  bloße 
logische  Abfolge  von  Denksetzungen  abgeleitet  wurde, 
als  Ausdruck  der  Vielheit  verstanden  und  verwendet 
werden  soll.  Dieser  Übergang  von  der  reinen  Ordnungszahl 
zur  Kardinalzahl  wird  von  den  verschiedenen  ordinalen 
Theorien  der  Arithmetik,  wie  sie-,  neb,eh  Dedekind, 
insbesondere  Helmholtz  und  Kronecker  entwickelt 
haben,  im  allgemeinen  übereinstimmend  vollzogen.  Ist  irgend- 
ein endliches  System  gegeben,  so  können  wir  es  auf  den  zuvor 
entwickelten  Inbegriff  der  Zahlen  in  bestimmter  und  ein- 
deutiger Weise  beziehen,  indem  wir  jedem  Element  des 
Systems  eine  und  nur  eine  Stelle  dieses  Inbegriffs  entsprechen 
lassen.  Wir  gelangen  auf  diese  Weise,  indem  wir  der  vor- 
geschriebenen festen  Ordnung  der  Stellen  folgen,  schließlich 
dazu,  dem  letzten  Gliede  des  Systems  eine  bestimmte 
Ordinalzahl,  «,  zuzuordnen.»  Dieser  Akt  der  Zuordnung  aber, 
der  das  Verfahren  abschließt,  faßt  zugleich  alle  seine  früheren 
Phasen  in  sich:  denn  da  der  Fortschritt  von  i  zun  nur  auf  eine 
einzige  Art  erfolgen  kann,  so  gibt  hier  das  Ziel,  zu  dem  wir 
gelangen,  gleichzeitig  die  gesamte  Operation,  durch  die  hin- 
durch wir  es  erreichen,  in  ihrer  spezifischen  Bestimmtheit 
wieder.  Die  Zahl  n,  die  zunächst  als  Charakteristik  des  letzten 
Elements  gewonnen  wurde,  läßt  sich  also,  in  einer  anderen 
Richtung  der  Betrachtung,  zugleich  als  eine  Charakteristik 
des  Gesamtsystems  ansehen :  wir  nennen  sie  die 
Kardinalzahl  des  betrachteten  Systems  und  sagen 
von   diesem   nunmehr,    daß    es    aus   n  Elementen   bestehe*,  "j 


*  Vgl.   bes.   Dedekind,   Was  sind  und  was  sollen  die  Zahlen, 
§  161,  S.  54. 

53 


^-^ 


»Hierbei  ist  allerdings  vorausgesetzt,  daß  es  eine  und  nur  eine 
Kardinalzahl  der  gegebenen  Menge  geben  könne,  daß  also  die 
Stelle,  auf  die  wir  zuletzt  treffen,  von  der  Ordnung, 
in  welcher  wir  die  Glieder  der  Menge  nacheinander  betrachten 
und  herausheben,  unabhängig  sei.  Diese  Voraussetzung  kann 
indessen  —  wie  insbesondere  Helmholtz  gezeigt  hat  — 
ohne  die  Annahme  irgendeines  neuen  Postulats  aus  den 
Prämissen  der  ordinalen  Theorie  in  aller  Strenge  bewiesen 
werden;  sobald  man  nur  an  der  Bedingung  festhält,  daß 
die  betrachtete  Mannigfaltigkeit  ein  endliches  System 
bildet.  Auch  die  Definitionen  der  arithmetischen  Grund- 
operationen können  nunmehr  ohne  Schwierigkeit  auf  die 
neue  Zahlart  übertragen  werden.  So  bedeutet  etwa  innerhalb 
der  reinen  Ordnungszahl  die  Bildung  der  Summe  (a  +  b), 
daß  wir,  von  a  ausgehend,  um  b  Schritte  , .weiterzählen", 
d.  h.,  daß  wir  die  Stelle  der  Reihe  bestimmen,  zu  der  wir 
gelangen,  indem  wir  die  auf  a  folgenden  Zahlen  gliedweise 
den  Elementen  der  Reihe  1 2  3 ..  .b  zuordnen.  Diese  Er- 
klärung bleibt  ohne  weiteres  in  Kraft,  wenn  wir  zur  Addition 
der  Kardinalzahlen  übergehen;  es  zeigt  sich,  daß  aus  der 
Zusammenfassung  der  Elemente  zweier  Mengen,  denen  die 
Kardinalzahl  a  und  b  zukommt,  eine  neue  Menge  C  hervor- 
geht, in  der  die  Anzahl  der  Glieder  durch  die  Zahl  (a  4-  b) 
in  der  zuvor  bestimmten  Bedeutung  angegeben  wird.  Die 
Betrachtung  der  „Kardinalzahlen"  läßt  uns  somit  keinerlei 
neue  Eigenschaft  und  keine  neue  Beziehung  entdecken,  die 
sich  nicht  zuvor  aus  dem  bloßen  Moment  der  Ordnung  hätte 
gewinnen  lassen:  nur  dies  wird  erreicht,  daß  die  Formeln, 
die  die  ordinale  Theorie  entwickelt  hat,  eine  weitere  Anwend- 
barkeit gewinnen,  indem  sie  nunmehr  gleichsam  in  zwei  ver- 
schiedenen Sprachen  gelesen  werden  können  *. 

Wenn  somit  durch  den  Übergang,  der  sich  hier  vollzieht, 
kein  eigentlich  neuer  mathematischer  Inhalt  ge- 
schaffen wird,  so  ist  es  nichtsdestoweniger  unverkennbar, 
daß  in  der  Bildung  der  Kardinalzahl  eine  neue  logische 
Funktion    sich  betätigt.    Wenn  in  der  Theorie  der  Ord- 

*  Helmholtz,  Zählen  und  Messen,  erkenntnistheoretisch  be- 
trachtet.    (Philosoph.  Aufsätze,   Ed.  Zeller  gewidmet,  Lpz.  1887,    S.  33.) 

54 


nungszahl  die  Einzelschritte  als  solche  festgestellt  und  in 
eindeutiger  Folge  entwickelt  wurden,  so  tritt  jetzt  die  Forde- 
rung ein,  die  Reihe  nicht  nur  nacheinander  in  ihren  einzelnen 
Elementen,  sondern  als  ideelles  Ganzes  zu  erfassen.  Das 
vorangehende  Moment  soll  durch  das  folgende  nicht  einfach 
verdrängt  werden,  sondern  seinem  gesamten  logischen  Gehalt 
nach  in  ihm  aufbehalten  bleiben,  so  daß  der  letzte  Schritt  des 
Verfahrens  zugleich  alle  vorhergehenden  und  das  Gesetz, 
das  sie  wechselseitig  verknüpft,  in  sich  faßt.  Erst  in  dieser 
Synthese  vollendet  sich  die  bloße  Folge  der  Ordnungs- 
zahlen zum  einheitlichen,  in  sich  geschlossenen  System, 
in  welchem  jedes  Glied  nicht  nur  für  sich  steht,  sondern  zu- 
gleich den  Aufbau  und  das  formale  Prinzip  der  Gesamtreihe 
repräsentiert.  ^ 

•  Sind  aber  diese  beiden  logischen  Grundakte,  auf  denen 
alle  Unterscheidung  und  alle  Verknüpfung  von  Zahlen  beruht, 
'•'einmal  anerkannt,  so  bedarf  es  keiner  weiteren  speziellen  Vor- 
aussetzung mehr,  um  das  Gebiet  und  den  Operationskreis 
der  Arithmetik  zu  bestimmen.  Die  Forderung  einer  rein 
rationalen  Ableitung,  die  von  aller  Anlehnung  an  die  empiri- 
schen Verhältnisse  physischer  Objekte  absieht,  ist  daher  er- 
füllt. Freilich  ist  gerade  dieser  auszeichnende  Grundcharakter 
in  der  Beurteilung  der  ,, ordinalen"  Theorie  der  Zahl  häufig 
verkannt  worden.  Die  Begründung  der  Theorie,  wie  sie  z.  B. 
von  Helmholtz  gegeben  wurde,  muß  in  der  Tat  zu  der 
Auffassung  führen,  daß  hier  zunächst  konkrete  Mengen  von 
Gegenständen  als  gegeben  vorausgesetzt  werden  und  daß  alle 
Leistung  des  Denkens  sich  darin  erschöpfe,  für  diese  Ver- 
schiedenheit der  Dinge  eine  entsprechende  Verschiedenheit 
von  Zeichen  einzuführen.  „Zeichen"  aber  sind  als  solche 
zunächst  selbst  nichts  anderes,  als  Gruppen  wahrnehmbarer 
Objekte,  die  sich  durch  ihre  Gestalt  und  Stellung  sichtbar 
voneinander  unterscheiden.  Von  der  unmittelbaren  Be- 
schaffenheit der  Dinge  scheinen  wir  demnach  in  den  Aussagen 
über  Zahlenverhältnisse  nur  deshalb  absehen  zu  können, 
weil  wir  die  Wirklichkeit  der  Objekte  zuvor  durch  die  ihrer 
sinnlichen  „Abbilder"  ersetzt  haben.  Nicht  ein  Absehen  von 
den  physischen  Gegenständen,  sondern  umgekehrt  eine  Ver- 

55 


dichtung  und  Konzentration  ihres  sinnlichen  Gehalts  wäre 
somit  der  echte  Anfang  der  Zahlbildung.  Jede  derartige  Aus- 
legung, die  durch  die  Darstellung,  die  die  Theorie  der  Ordinal- 
zahl bei  verschiedenen  Mathematikern  erfahren  hat,  bisweilen 
nahegelegt  zu  werden  scheint,  widerspricht  indessen  in 
Wahrheit  ihrer  eigentlichen  und  tieferen  logischen  Tendenz. 
Die  „Zeichen",  die  hier  geschaffen  werden,  würden  auf- 
hören Zeichen  zu  sein,  würden  ihre  charakteristische  Leistung 
verlieren,  wenn  sie  lediglich  nach  dem,  was  sie  sinnlich  sind, 
nicht  nach  dem,  was  sie  gedanklich  bedeuten,  beurteilt 
würden.  Was  auf  diese  Weise  übrig  bliebe,  wären  in  der  Tat 
nur  gewisse  ,, Bilder",  die  wir  auf  ihre  Form  und  ihre  Größe, 
ihre  Lage  und  ihre  Färbung  untersuchen  könnten:  kein  noch 
so  extremer  mathematischer  „Nominalismus"  aber  hat  jemals 
tatsächlich  versucht,  den  Gehalt  der  gültigen  Urteile 
über  Zahlen  in  Aussagen  von  dieser  Art  und  Beschaffenheit 
umzudeuten.«  Nur  die  Zweideutigkeit  in  der  Verwendung  des 
Begriffs  des  Zeichens,  nur  der  Umstand,  daß  darunter  bald  das 
bloße  Dasein  eines  sinnlichen  Inhalts  verstanden  wird,  bald 
der  ideale  Gegenstand,  der  durch  ihn  bezeichnet  wird, 
ermöglicht  die  Rückführung  auf  das  nominalistische  Schema. i 
L  e  i  b  n  i  z  ,  dessen  ganzes  Denken  doch  auf  den  Plan  einer 
„allgemeinen  Charakteristik"  konzentriert  ist,  hat  daher 
gegenüber  den  formalistischen  Theorien  seiner  Zeit  den  logischen 
Sachverhalt,  der  hier  zugrunde  liegt,  mit  aller  philosophischen 
Klarheit  bezeichnet.  Die  „Basis"  der  Wahrheiten  liegt, 
wie  er  ausspricht,  niemals  in  den  Zeichen,  sondern  in  den  ob- 
jektiven Beziehungen  zwischen  den  Ideen.  Wäre  es  anders, 
so  müßten  wir  so  viele  Formen  der  Wahrheit  unterscheiden, 
als  es  Weisen  der  Bezeichnung  gibt.  Unter  den  modernen 
Mathematikern  hat  sodann  vor  allem  F  r  e  g  e  in  eindringender 
Einzelkritik  dargetan,  wie  die  Arithmetik  der  Zeichen  sich 
nur  dadurch  am  Leben  zu  erhalten  vermag,  daß  sie  sich  selber 
untreu  wird.  An  die  Stelle  der  leeren  Symbole  tritt  im  Ver- 
lauf der  gedanklichen  Entwicklung  wiederum  unvermerkt 
der  Gehalt  der  arithmetischen  Begriffe*. 

*  F  r  e  g  e  ,  Grundgesetze  der  Arithmetik,  Bd.  II  (Jena  1903),  S.  69  ff., 
S.  139  u.  s. 

66 


{ 

1 


Die  nominalistische  Darstellung  bildet  daher  auch  in 
der  Theorie  der  reinen  Ordnungszahlen  nur  eine  äußere  Hülle, 
die  man  abstreifen  muß,  um  zum  eigentlichen  logischen 
und  mathematischen  Kern  des  Gedankens  vorzudringen. 
Ist  dies  aber  einmal  geschehen,  so  sind  es  rein  rationale 
Momente,  die  man  zurückbehält:  denn  ,,0  r  d  n  u  n  g"  ist 
nichts,  was  sich  in  den  sinnlichen  Eindrücken  unmittelbar  auf- 
weisen ließe,  sondern  etwas,  das  ihnen  erst  kraft  gedanklicher 
Relationen  zukommt.  So  bedarf  denn  auch  die  Theorie  in  ihrer 
reinen  Durchführung  nicht,  wie  man  ihr  entgegengehalten 
hat  *,  der  Voraussetzung  einer  Menge  physisch  gegebener 
Einzeldinge.  Die  Mannigfaltigkeiten,  die  sie  zugrunde 
legt,  sind  nicht  empirisch  vorhandene,  sondern  ideell  de- 
finierte Inbegriffe,  die  nach  einer  konstanten  Regel  aus  einem 
einmal  festgesetzten  Anfang  fortschreitend  konstruiert  werden. 
In  dieser  Regel  wurzeln  auch  alle  die  echten  „formalen" 
Bestimmungen,  die  die  Zahlenreihe  auszeichnen  und  sie  zum 
Grundtypus  eines  begrifflich  erkannten  und  beherrschten  Zu- 
sammenhangs überhaupt  machen. 

III. 

Blickt  man  jedoch  auf  die  tatsächliche  Entwicklung, 
die  die  moderne  mathematische  Prinzipienlehre  genommen 
hat,  so  kann  es  scheinen,  als  s6i  in  allen  bisherigen  Bestim- 
mungen gerade  das  wesentliche  Moment  außer  Betracht 
geblieben,  in  dem  die  logische  Charakteristik  der  Zahl  sich 
erst  vollendet.  Wo  immer  man  versucht  hat,  den  Zahlbegriff 
in  rein  „logische  Konstanten"  aufzulösen,  da  wurde  man  auf 
den  Klassenbegriff  als  seine  notwendige  und  hin- 
reichende Voraussetzung  zurückgeführt.  Die  Analysis  der 
Zahl  schien  erst  dann  abgeschlossen,  wenn  es  gelungen  war, 
allen  Sondergehalt  der  Zahl  aus  der  allgemeinen 
Funktion  des  Begriffs  überhaupt  herzuleiten :  — 
begriffliche  Formung  aber  bedeutete  wiederum  nach  der 
herrschenden  logischen  Grundüberzeugung  nichts  anderes  als 
die  Zusammenfassung  der  Gegenstände  in  Arten  und  Gat- 
tungen vermöge  der  Subsumption  unter  generelle  Merkmale.  ) 

*  Vgl.  Couturat,De  Tlnfini  mathematique,  Paris  1896,  S.  318  ff. 

57 


So  mußte  aus  dem  Zahlbegriff,  um  ihn  gedanklich  zu 
bewältigen,  zuvor  alles  entfernt  werden,  was  sich  diesem 
Grundschema  nicht  einfügt.  Hier  aber  entsteht  für  die  Theorie 
zunächst  eine  prinzipielle  Schwierigkeit.  Betrachten  wir 
nicht  den  Gedanken  der  Zahl  überhaupt,  sondern  den  Begriff 
dieser  und  jener  bestimmten  Zahl,  so  haben  wir  es 
in  ihm  nicht  mit  einem  logischen  Allgemeinbegriff, 
sondern  mit  einem  Individualbegriff  zu  tun.  Es  handelt 
sich  hier  nicht  um  die  Angabe  einer  Gattung,  die  in  beliebig 
vielen  Einzelexemplaren  gegeben  sein  kann,  sondern  um  die 
Fixierung  einer  eindeutig  bestimmten  Stelle  innerhalb  eines 
Gesamtsystems.  Es  gibt  nur  eine  Zwei,  nur  eine  Vier  und 
beiden  kommen  bestimmte  mathematische  Eigenschaften  und 
Merkmale  zu,  die  sie  mit  keinem  anderen  Gegenstand  teilen,  i 
Soll  trotzdem  die  Reduktion  des  Zahlbegriffs 
auf  den  Klassenbegriff  möglich  sein,  so  muß  hier- 
für ein  anderer  Weg  eingeschlagen  werden.  Um  zu  bestimmen, 
was  die  Zahl  ihrem  reinen  Wesen  nach  ,,ist",  suchen  wir  nicht 
sie  selbst  unmittelbar  in  inhaltlich  einfachere  Bestandteile 
zu  zerlegen,  sondern  fragen  zunächst,  was  die  Gleichheit 
von  Zahlen  bedeutet.  Sobald  einmal  festgestellt  ist, 
unter  welchen  Bedingungen  wir  zwei  Mengen  hinsichtlich 
ihrer  Zahl  als  gleichwertig  betrachten,  ist  damit 
zugleich  mittelbar  die  Eigenart  des  Merkmals  bestimmt, 
das  wir  in  beiden  als  identisch  annehmen.  Das  Kriterium 
für  die  Gleichzahligkeit  zweier  Mengen  aber  besteht  darin, 
daß  es  möglich  ist,  eine  bestimmte  Relation  anzugeben, 
durch  welche  sich  die  Glieder  der  beiden  Mengen  einander 
wechselseitig  eindeutig  zuordnen  lassen. 
Kraft  dieses  Verfahrens  der  Zuordnung  stiften  wir  unter 
den  unendlich  vielen  möglichen  Klassen  von  Gegenständen 
bestimmte  Zusammengehörigkeiten,  indem  wir 
Gruppen,  die  sich  auf  diese  Weise  miteinander  verknüpfen 
lassen,  zu  je  einem  Gesamtkomplex  vereinigen.  Wir  fassen, 
mit  andern  Worten,  alle  Mannigfaltigkeiten,  für  die  ein 
solches  Verhältnis  der  „Äquivalenz"  oder  der  eindeutigen 
Zuordnung  der  Glieder  besteht,  in  eine  Gattung  zusammen, 
während  wir  Mengen,   bei  denen  diese  Bedingung  nicht  er- 


58 


füllt  ist,  als  verschiedenen  Gattungen  zugehörig  betrachten. 
Ist  dies  geschehen,  so  kann  weiterhin  jede  Einzelmenge 
hinsichtlich  des  Merkmals  der  Äquivalenz  als  vollständiger 
Repräsentant  ihrer  Gesamtgattung  betrachtet  werden:  denn 
da  sich  zeigen  läßt,  daß  zwei  Mengen,  die  einer  dritten 
äquivalent  sind,  es  auch  untereinander  sind,  so  genügt 
es,  von  einem  vorgegebenen  Inbegriff  M  nachzuweisen,  daß 
er  sich  irgendeiner  Menge  des  Gesamtkomplexes  Glied 
für  Glied  zuordnen  läßt,  um  darin  die  Gewißheit  zu  besitzen, 
daß  das  Gleiche  für  alle  Mengen  des  betreffenden  Komplexes 
gilt.  Indem  wir  nun  die  gemeinsame  Beziehung,  die  alle 
Inbegriffe  eines  derartigen  Komplexes  untereinander  be- 
sitzen, herauslösen  und  als  für  sich  denkbaren  Gegenstand 
auffassen,  haben  wir  damit  dasjenige  Moment  gewonnen, 
das  wir  in  gewöhnlicher  Ausdrucksweise  als  die  Zahl  jedes 
dieser  Inbegriffe  bezeichnen.  ,,Die  Anzahl,  welche  dem  Be- 
griffe F  zukommt"  —  so  definiert  demnach  F  r  e  g  e,  auf  den 
diese  Ableitung  in  ihren  Grundzügen  zurückgeht  — ,  ,,ist  der 
Umfang  des  Begriffes:  gleichzahlig  dem  Begriffe  F."  Wir 
fassen  den  Gedanken  der  Anzahl  eines  Begriffs,  indem  wir  die 
Gegenstände,  die  unter  ihn  fallen,  nicht  für  sich  allein  be- 
trachten, sondern  zugleich  mit  ihnen  auch  alle  diejenigen 
Klassen  ins  Auge  fassen,  deren  Elemente  zu  denen  des  be- 
trachteten Inbegriffs  im  Verhältnis  der  eindeutigen  Zuordnung 
stehen.  — 

Es  ist  somit  das  Charakteristische  dieser  Auffassung, 
daß  sie  dasjenige,  was  in  der  gewöhnlichen  Ansicht  lediglich 
als  das  Kriterium  der  Anzahlgleichheit  erscheint,  als 
das  eigentlich  konstitutive  Merkmal  heraushebt,  auf  dem 
aller  Inhalt  des  Zahlbegriffs  selbst  beruht.  Wenn  der  her- 
kömmliche Weg  darin  besteht,  die  einzelnen  Zahlen  als  ,, ge- 
geben", als  bekannt  vorauszusetzen  und  dann  auf  Grund 
dieser  Bekanntschaft  über  ihre  Gleichheit  oder  Ungleichheit 
zu  entscheiden,  so  gilt  hier  das  umgekehrte  Verfahren.  Das 
Verhältnis,  das  in  der  Gleichung  ausgesagt  wird,  ist 
das  allein  Bekannte;  während  die  E  1  e  m  e  n  t  e  ,  die  dieses 
Verhältnis  eingehen,  in  ihrer  Bedeutung  zunächst  noch  un- 
bestimmt sind  und  erst  kraft  der  Gleichung  allmählich  be- 

59 


stimmbar  werden.  „Unsere  Absicht  ist,"  —  so  schildert  Frege 
das  allgemeine  Verfahren  —  „den  Inhalt  eines  Urteils  zu  bilden, 
der  sich  so  als  eine  Gleichung  auffassen  läßt,  daß  jede  Seite 
dieser  Gleichung  eine  Zahl  ist.  Wir  wollen  also ...  mittels 
des  schon  bekannten  Begriffs  der  Gleich- 
heit das  gewinnen,  was  als  gleich  zu  be- 
trachten is  t."  Hier  ist  in  der  Tat  eine  methodische 
Tendenz,  die  aller  mathematischen  Begriffsbildung  zugrunde 
liegt,  scharf  bezeichnet:  das  „Gebilde"  soll  seinen  gesamten 
Bestand  aus  den  Relationen  erhalten,  die  es  erfüllt  (vgl.  oben, 
S.52f.).  Nur  die  eine  Frage  bleibt  zurück,  ob  in  der  Beziehung 
der  Äquivalenz  zwischen  Klassen  wirklich  eine  Relation 
erfaßt  ist,  die  logisch  einfacher  ist  als  das  Ganze  der  Funk- 
tionen, die  in  der  ordinalen  Theorie  zur  gegliederten  Reihe 
der  Ordnungszahlen  hinführen.  Ein  Fortschritt  der  Analyse 
wäre  offenbar  nur  dann  erreicht,  wenn  es  gelänge,  von  allen 
diesen  Funktionen  gänzlich  abzusehen  und  dennoch  auf  einem 
neuen  Wege  den  vollständigen  Aufbau  des  Zahlenreichs  und 
seiner  Gesetze  zu  erreichen.  Auf  diesen  Punkt  also  muß  sich 
fortan  die  kritische  Untersuchung  konzentrieren:  ist  die  Ab- 
leitung der  Zahlenreihe  aus  dem  Klassenbegriff  tatsächlich 
vollzogen  oder  bewegt  diese  Ableitung  sich  in  einem  Zirkel, 
indem  sie  stillschweigend  bereits  Begriffe  aus  eben  dem 
Gebiet  voraussetzt,  das  sie  zu  deduzieren  unternimmt  *  ?  / 
Mit  der  empiristischen  Anschauung  vom  Wesen  der  Zahl, 
die  sie  aufs  schärfste  bekämpft,  begegnet  die  Theorie,  die 
hier  entwickelt  wird,  sich  dennoch  in  einem  formalen 
Momertt:  auch  sie  faßt  die  Zahl  als  eine  ,, gemeinsame  Eigen- 
schaft" gewisser  Inhalte  und  Inhaltsgruppen.  Nur  sind  die 
Substrate  der  Zahlaussagen,  wie  nachdrücklich  betont  wird, 
nicht  in  den  sinnlich  physischen  Dingen  selbst,  sondern  lediglich 


*  Das  Problem,  um  das  es  sich  hier  handelt,  ist  in  der  neueren  logisch- 
mathematischen  Literatur  lebhaft  diskutiert  worden:  ich  verweise  für  die 
positive  Darlegung  der  Theorie  besonders  auf  die  Schriften  von  Frege, 
Kussell  und  Peano;  für  die  Kritik  auf  B.  Kerry,  Über  An- 
schauung und  ihre  psychische  Verarbeitung,  Viertel jahrsschr.  f.  wissensch. 
Philos.  XI,  287  ff ;  H  u  s  s  e  r  1 ,  Philosophie  der  Arithmetik,  I,  Halle  1891, 
S.  129  ff. ;  Jonas  C  o  h  n  ,  Voraussetzungen  tmd  Ziele  des  Erkennens, 
Leipzig  1908,  S.  158  ff. 

60 


in  den  Begriffen  dieser  Dinge  zu  suchen.  Jedes  Urteil  über 
Zahlenverhältnisse  legt  nicht  den  Objekten,  sondern  ihren 
Begriffen  bestimmte  Merkmale  bei,  durch  die  sie  in  Klassen 
von  eigentümlicher  Beschaffenheit  geschieden  werden.  ,,Wenn 
ich  sage:  die  Venus  hat  0  Monde,  so  ist  gar  kein  Mond  oder 
Aggregat  von  Monden  da,  von  dem  etwas  ausgesagt  werden 
könnte;  aber  dem  Begriffe  ,, Venusmond"  wird  dadurch 
eine  Eigenschaft  beigelegt,  nämlich  die,  nichts  unter  sich  zu 
befassen.  Wenn  ich  sage:  „der  Wagen  des  Kaisers  wird  von 
vier  Pferden  gezogen,"  so  lege  ich  die  Zahl  vier  dem  Begriffe 
„Pferd,  das  den  Wagen  des  Kaisers  zieht",  bei."  Dieser  Um- 
stand allein  erklärt  denn  auch  die  universelle  Anwendbarkeit 
der  Zahlaussage,  die  sich  gleich  sehr  auf  Stoffliches  und  Un- 
stoffliches, auf  innere  und  äußere  Erscheinungen,  auf  Dinge, 
wie  auf  Ereignisse  und  Handlungen  erstrecken  kann.  Diese 
scheinbare  Mannigfaltigkeit  des  Gebiets  des  Zählbaren  erweist 
sich  bei  schärferer  Betrachtung  als  strenge  Gleichförmigkeit: 
denn  die  Zahlangabe  geht  niemals  auf  die  heterogenen  Inhalte 
selbst,  sondern  auf  die  Begriffe,  unter  die  sie  gefaßt  sind, 
betrifft  somit  stets  dieselbe  logische  Wesenheit.  Wie  dies 
genauer  zu  verstehen  ist,  hat  die  frühere  Entwicklung  dar- 
getan: den  Begriffen  wird  eine  gewisse  Zahlbestimmung  auf- 
geprägt, wenn  sie  mit  anderen,  zu  denen  sie  im  Verhältnis  der 
gegenseitig  eindeutigen  Zuordenbarkeit  der  Umfangselemente 
stehen,  zu  Klassen  zusammengefaßt  werden. 

Diesen  Darlegungen  gegenüber  aber  muß  sich  zunächst 
ein  Einwand  aufdrängen.  Die  Theorie,  die  hier  vertreten 
wird,  will  keineswegs  einen  Allgemeinbegriff  der  Zahl  will- 
kürlich ersinnen,  sondern  die  eigentliche  Funktion  aufweisen, 
die  die  Zahl  im  wirklichen  Ganzen  der  Erkenntnis  besitzt. 
Gerade  dies  wird  gegenüber  der  Auffassung,  die  von  der 
reinen  Ordnungszahl  ausgeht,  als  eigentümlicher  Vorzug 
betont,  daß  die  ,, logischen"  Eigenschaften  der  Zahl,  die  hier 
abgeleitet  werden,  zugleich  unmittelbar  diejenigen  sind, 
die  für  ihren  ,,  Gebrauch  im  täglichen  Lebfen"  bestimmend  und 
wesentlich  sind.  « Der  künstlichen  Ableitung,  die  lediglich  die 
Zwecke  der  arithmetischen  Wissenschaft  ins  Auge  faßt,  soll 
gleichsam  eine  natürliche  entgegentreten,  die  gleichzeitig  den 

61 


konkreten  Anwendungen,  die  wir  von  der  Zahl  machen, 
gerecht  wird.  Eine  schärfere  Untersuchung  zeigt  indessen, 
daß  dieses  Ziel  nicht  erreicht  wird:  denn  was  hier  logisch  de- 
duziert wird,  fällt  mit  dem  eigentlichen  Sinn,  den  wir  mit 
den  Zahlurteilen  in  der  tatsächlichen  Erkenntnis  verbinden, 
in  keiner  Weise  zusammen.  Beschränken  wir  uns  lediglich  auf 
die  bisherigen  Festsetzungen,  so  werden  wir  durch  sie  zwar 
in  den  Stand  gesetzt,  verschiedene  Gruppen  von  Elementen 
zusammenzustellen  und  unter  einem  bestimmten  Gesichts- 
punkt als  gleichartig  aufzufassen;  aber  damit  ist  einstweilen 
über  ihre  ,,Zahr'  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  noch 
keinerlei  zureichende  Bestimmung  gewonnen.  Unser  Denken 
könnte  in  der  Tat  beliebig  viele  „äquivalente"  Mengen  durch- 
laufen und  in  ihrem  wechselseitigen  Verhältnis  betrachten, 
ohne  daß  sich  ihm  in  diesem  Prozeß  irgendwie  das  charakte- 
ristische Bewußtsein  der  reinen  Zahlbegriffe  ergäbe.  Die 
spezifische  Bedeutung  der  „Vier"  oder  der  ,, Sieben" 
kann  niemals  aus  der  bloßen  Nebeneinanderstellung  noch 
so  vieler  Vierer-  oder  Siebenergruppen  resultieren :  es  sei  denn, 
daß  schon  zuvor  die  einzelnen  Gruppen  als  bestimmt 
gegliederte  Folgen  von  Elementen,  also  als  Zahlen  im  Sinne 
der  ordinalen  Theorie,  erfaßt  worden  sind.  Das  „Wieviel" 
der  Elemente  im  gewöhnlichen  Sinne  läßt  sich  durch  keine 
logische  Umdeutung  in  eine  bloße  Aussage  über  das  ,,  Gleich- 
viel" verwandeln;  es  bleibt  als  selbständige  Frage  und  Auf- 
gabe der  Erkenntnis  zurück. «  Die  Betrachtung  dieser  Aufgabe 
aber  führt  zu  einem  tieferen  methodischen  Gegensatz  zurück, 
der  zwischen  den  beiden  Auffassungen  der  Zahl  besteht. 
Es  ist  die  Grundeigentümlichkeit  der  ordinalen  Theorie, 
daß  in  ihr  die  Einzelzahl  niemals  etwas  für  sich  allein  bedeutet, 
daß  ihr  nur  als  Stelle  im  Gesamtsystem  ein  fester 
Wert  zukommt.  Die  Definition  der  einzelnen  Zahl  bestimmt 
zugleich  und  unmittelbar  das  Verhältnis,  in  welchem  sie  zu 
den  übrigen  Gliedern  des  Gebiets  steht,  und  dieses  Ver- 
hältnis läßt  sich  nicht  wegdenken,  ohne  daß  damit  zugleich 
der  Gesamtgehalt  des  besonderen  Zahlbegriffs  verloren  ginge. 
In  der  allgemeinen  Ableitung  der  Kardinalzahl,  die  wir  hier 
betrachten,  ist  dieser  Zusammenhang  aufgehoben.    Auch  sie 

62 


muß  freilich  notwendig  darauf  bedacht  sein,  ein  festes  Prinzip 
der  Anordnung  der  Einzelzahlen  aufzustellen  und  logisch 
zu  deduzieren;  aber  der  Sinn  der  Elemente  soll  dennoch  vor 
dieser  Ordnung  und  unabhängig  von  ihr  feststehen.  Die 
Glieder  sind  als  die  gemeinsame  Eigentümlichkeit  gewisser 
Klassen  bestimmt,  noch  bevor  irgendetwas  über  das  Verhält- 
nis ihrer  Abfolge  feststeht.  In  Wahrheit  aber  ist  es  eben  das 
Moment,  das  hier  zunächst  ausgeschaltet  wird,  worin  der 
eigentliche  Zahl  Charakter  wurzelt.  Die  Begriffsbildung, 
auf  welche  die  Zahl  zurückgeht,  ist,  ihrer  eigentlichen  Tendenz 
nach,  nicht,  wie  es  nach  der  herkömmlichen  Abstraktions- 
theorie der  Fall  sein  müßte,  auf  die  Heraushebung  des 
Gleichartigen,  sondern  auf  die  Heraushebung  und 
Festhaltung  der  Verschiedenheit  gerichtet.  Die  Betrachtung 
von  Mengen,  die  sich  einander  gegenseitig  eindeutig  zuordnen 
lassen,  kann  zur  Absonderung  eines  identischen  Merkmals 
in  ihnen  führen;  aber  dieses  Merkmal  ist  an  sich  noch  nicht 
,,Zahr',  sondern  nur  eine  nicht  näher  bestimmte  logische 
Eigenschaft.  Es  wird  zur  Zahl  erst,  indem  es  sich  von  anderen 
Merkmalen  desselben  logischen  Charakters  abhebt,  indem  es 
zu  ihnen  in  ein  Verhältnis  des  „Früher"  oder  ,,  Später",  des 
„Mehr"  oder  „Weniger"  tritt.  Selbst  diejenigen  Denker, 
die  die  Erklärung  der  Zahl  durch  äquivalente  Klassen  am 
strengsten  und  folgerichtigsten  durchgeführt  haben,  betonen 
daher,  daß  diese  Erklärung  für  die  methodischen  Zwecke 
der  reinen  Mathematik  im  Grunde  unerheblich  sei.  Was  der 
Mathematiker  an  der  Zahl' betraclitet,  das  sind  lediglich  die 
Eigenschaften,  auf  denen  die  Ordnung  der  Stellen  beruht. 
Die  Zahl  mag  an  sich  selbst  sein,  was  sie  will:  für  Analysis 
und  Algebra  kommt  sie  einzig  dadurch  in  Betracht,  daß  sie 
sich  rein  und  vollständig  in  der  Form  einer  „Progression" 
darstellen  und  entwickeln  läßt  *.  Wird  dies  aber  einmal  zu- 
gestanden, so  ist  damit  streng  genommen  der  Streit  über  den 
methodischen  Vorrang  der  Ordnungszahl  bereits  aufgehoben: 
denn  wo  ließe  sich  eine  sicherere  Auskunft  über  das  „Wesen" 
der  Zahl  im  erkenntniskritischen  Sinne  gewinnen,  als  in  ihrem 
allgemeinsten  wissenschaftlichen  Gebrauch? 

*  Russell,  §  230.  —  Zum  Begriff  der  Progression  s.  ob.  S.  49. 

63 


Und  auch  die  Berufung  auf  die  Bedeutung,  die  wir  mit 
dem  Zahlbegriff  im  vorwissenschaftlichen  Denken  verbinden, 
hält  hier  nicht  stand.  Die  psychologische  Analyse 
zum  mindesten  bietet  keine  Stütze  der  Theorie.  Jede  Re- 
flexion auf  den  eigentlichen  Tatbestand  des  Denkens  läßt 
vielmehr  sogleich  den  inneren  Unterschied  zwischen  dem  Ge- 
danken der  Äquivalenz  und  dem  der  Zahl  klar  hervor- 
treten. Wäre  die  Zahl  das,  was  sie  nach  dieser  Ableitung 
allein  sein  soll,  so  bliebe  es  noch  immer  eine  eigentümlich 
verwickelte  und  schwierige  Aufgabe,  den  Prozeß  aufzuweisen, 
kraft  dessen  ein  derartiger  Begriff  im  Bewußtsein  entsteht 
und  festgehalten  wird.  Denn  die  Zahl  bedeutet  hier  eine 
Beziehung  zwischen  inhaltlich  gänzlich  heterogenen  Klassen, 
die  durch  kein  weiteres  Moment,  als  eben  die  Möglichkeit  der 
gegenseitigen  Zuordnung,  verbunden  sind.  Welches  gedank- 
liche Motiv  bestände  aber,  derart  ungleichartige  Gruppen 
überhaupt  aufeinander  zu  beziehen;  welchen  Sinn  hätte  es, 
etwa  die  Klasse  der  Jupitermonde  mit  der  der  Jahreszeiten, 
die  Menge  der  Kegel  im  Kegelspiel  mit  der  der  Musen  zusammen- 
zustellen! Eine  derartige  Vergleichung  ist  verständlich, 
nachdem  bereits  auf  anderem  Wege  der  „Zahlwert"  für 
jede  dieser  Klassen  und  dadurch  mittelbar  eine  Überein- 
stimmung zwischen  ihnen  festgestellt  ist;  hier  dagegen,  wo 
dieser  Wert  nicht  vorausgesetzt  wird,  sondern  aus  der  Ver- 
gleichung erst  gewonnen  werden  soll,  entbehrt  diese  selbst 
jeder  festen  Direktive  und  Richtschnur.  Man  hat  der  Theorie 
der  Äquivalenz  vorgehalten,  daß  sie  einem  ,, extremen  Re- 
lativismus" Vorschub  leiste,  sofern  hier  die  Bestimmtheit  der 
Zahl  eine  Beschaffenheit  sein  soll,  die  einer  Menge  nicht  an 
sich  selbst,  sondern  lediglich  im  Verhältnis  zu  anderen  Mengen 
zukommen  soll.  Dieser  Vorwurf  ist  indes  zum  mindesten  zwei- 
deutig: denn  der  Zahlbegriff  kann  in  der  Tat,  in  jeder  Form  der 
Ableitung,  nichts  anderes,  als  einen  reinen  Relationsbegriff  be- 
deuten. Nur  das  Gebiet  und  gleichsam  der  logische  Ort  der  Rela- 
tion ist  hier  verschoben :  denn  während  es  sich  in  der  ordinalen 
Theorie  um  ideelle  Setzungen  handelt,  die  sich  wechselseitig 
aufeinander  beziehen,  soll  hier  j  ede  einzelne  dieser  Setzungen 
aus  einem  Verhältnis  gegebener  ,,Klassen"  abgeleitet  werden,  r 

64 


Die  Voraussetzungen,  die  hierbei  zugrunde  liegen,  treten 
am  deutlichsten  hervor,  sobald  dazu  übergegangen  wird, 
unter  diesem  Gesichtspunkt  eine  strenge  logische  Definition 
der  einzelnen  Zahlwerte  zu  geben  und  die  Bedingungen 
festzustellen,  unter  welchen  wir  zwei  dieser  Werte  als  un- 
mittelbar aufeinanderfolgend  bezeichnen  wollen.  Schon  in  der 
Erklärung  der  Null  zeigen  sich  erhebliche  Schwierigkeiten : 
denn  es  hat  offenbar  keinen  Sinn,  von  der  wechselseitigen 
eindeutigen  Zuordnung  der  Glieder  verschiedener  Klassen 
noch  in  dem  Fall  zu  sprechen,  daß  diese  Klassen,  ihrer  De- 
finition nach,  keine  Glieder  besitzen.  Aber  selbst  wenn  diese 
Schwierigkeit  durch  komplizierte  logische  Umdeutungen  des 
Begriffs  der  Äquivalenz  gehoben  werden  könnte*,  so  tritt 
der  Zirkel  in  der  Erklärung  doch  alsbald  wiederum  deutlich 
hervor,  sobald  zur  Definition  der  ,,Eins"  fortgeschritten  wird. 
Was  es  heißt,  ein  Element  als  ,,eins"  aufzufassen,  das  wurde 
hier  schon  von  Anfang  an  als  bekannt  vorausgesetzt;  denn  die 
„Gleichzahligkeit"  zweier  Klassen  wurde  lediglich  dadurch 
erkannt,  daß  wir  jedem  Element  der  ersten  Klasse  eins  und 
nur  eins  der  zweiten  zuordneten.  Freilich  ist  diese  Bemerkung, 
so  einfach,  ja  so  trivial  sie  zu  sein  scheint,  vielfach  bestritten 
worden.  Es  ist  etwas  anderes  —  so  hat  man  eingewandt  — 
ob  ich  die  Zahl  Eins  in  ihrer  strengen  arithmetischen  Be- 
deutung oder  ob  ich  sie  nur  in  dem  vagen  Sinne  nehme, 
den  der  unbestimmte  Artikel  bezeichnet:  lediglich  dieser 
letztere  Sinn  aber  wird  vorausgesetzt,  wenn  ich  aufgefordert 
werde,  irgendein  Glied  einer  Klasse  u  herauszugreifen  und  es 
auf  ein  Glied  einer  andern  Klasse  v  zu  beziehen.  ,,Daß  jedes 
Individuum  oder  jedes  Glied  einer  Klasse  in  gewissem  Sinne 
eins  ist,"  so  heißt  es  z.  B.  bei  Russell,  „ist  natürlich 
unbestreitbar,  aber  es  folgt  daraus  nicht,  daß  der  Begriff  der 
„Eins"  vorausgesetzt  ist,  wenn  wir  von  einem  Individuum 
sprechen,  i     Wir    können    vielmehr    umgekehrt    den    Begriff 


*  Vgl.  über  diesen  Punkt:  Frege,  Grundlagen  der  Arithmetik 
S.  82  ff. ;  Russell,  S.  113  nebst  der  Kritik  von  Kerry,  Viertel  - 
jahrsschr.  f.  wiss.  Philos.  XI,  287  ff.  sowie  von  Poincar6,  Science 
et  Methode,  Paris  1908,  Livr.  II.  —  Zur  Kritik  Freges  s.  jetzt  auch 
Natorp,  a.  a.  O.,  S.  112  ff. 

Cassirer,  Substanzbegriff  5  65 


des  Individuums  als  den  grundlegenden  ansehen,  von  welchem 
der  Begriff  Eins  abgeleitet  ist."  Unter  diesem  Gesichtspunkt 
wird  die  Bedeutung  der  Aussage,  daß  eine  Klasse  u  „e  i  n" 
Glied  (in  arithmetischem  Sinne)  besitze,  dahin  bestimmt, 
daß  diese  Klasse  nicht  Null  ist  und  daß,  sobald  u  und  y  u's  sind, 
X  mit  y  identisch  ist.  Eine  analoge  Bestimmung  soll  sodann 
den  Begriff  der  gegenseitig  eindeutigen  Beziehung  zwischen 
Termen  fixieren:  R  ist  eine  derartige  Beziehung,  wenn  für 
den  Fall,  daß  z  und  x'  zu  y  die  Beziehung  R  haben,  und  x  die 
Beziehung  R  zu  y  und  y'  besitzt,  sowohl  x  und  x'  als  auch 
y  und  y  identisch  sind  *.  Es  ist  jedoch  leicht  ersichtlich, 
daß  hier  die  logische  Funktion  der  Zahl  nicht  sowohl  ab- 
geleitet, als  vielmehr  lediglich  auf  kunstvolle  Art  um- 
schrieben ist.  Denn  um  die  Erklärungen,  die  hier  gegeben 
werden,  zu  verstehen,  wird  zum  mindesten  erfordert,  daß  ein 
Terminus  x  gedanklich  festgehalten  und  als  mit  sich  selbst 
identisch  erfaßt  werde,  während  er  gleichzeitig  auf  einen 
anderen  Terminus  y  bezogen  und  je  nach  den  besonderen 
Bedingungen  mit  ihm  als  übereinstimmend  oder  als  von  ihm 
verschieden  beurteilt  werden  soll.  Legen  wir  indessen  dieses 
Verfahren  der  Setzung  und  Unterscheidung  zugrunde,  so 
haben  wir  damit  nichts  anderes  getan,  als  die  Zahl  im  Sinne 
der  ordinalen  Theorie  vorweggenommen.  So  wird  z.  B. 
die  Klasse  von  2  Gegenständen  von  Russell  durch  die  Be- 
dingungen definiert,  daß  sie  überhaupt  Termini  besitzt  und 
daß,  wenn  x  einer  ihrer  Termini  ist,  es  einen  anderen  von  x 
verschiedenen  Terminus  y  der  Klasse  gibt;  während  weiter- 
hin, wenn  x,  y  verschiedene  Termini  der  Klasse  u  sind  und  z 
von  X  und  y  verschieden  ist,  jede  Klasse,  zu  der  z  gehört,  sich 
von  u  unterscheidet.  Man  sieht,  wie  hier,  um  die  Erklärung  zu 
vollenden,  die  Elemente  x,  y  z  in  fortschreitender  Sonde- 
rung erschaffen  und  damit  mittelbar  bereits  als  erstes, 
zweites,  drittes...    Glied   unterschieden   werden   müssen. 

Allgemein  müssen  wir,  um  die  verschiedenen  Zahlen  in 
die  Form  einer  bestimmt  geregelten  ,, Progression"  zu  bringen 
—  und  erst  diese  Form  ist  es,  auf  der,  wie  wir  sahen,  ihre 


•  Russell,  §  124—126,  §  496.     Frege,    Grundlagen    S.    40  ff. 

66 


Bedeutung  und  ihr  wissenschaftlicher  Gebrauch  beruht  — 
ein  Prinzip  besitzen,  das  uns  gestattet,  wenn  irgendeine 
Zahl  n  gegeben  ist,  die  nächsthöhere  zu  definieren.  Dieses 
Verhältnis  der  „Nachbarschaft"  zwischen  2  Zahlen  wird  nun 
nach  der  Theorie  dadurch  bestimmt,  daß  wir  die  entsprechen- 
den Klassen  u  und  v  miteinander  vergleichen,  indem  wir  ihre 
Elemente  gliedweise  einander  zuordnen:  findet  es  sich  hierbei, 
daß  in  der  einen  Klasse  (v)  ein  Glied  zurückbleibt,  das  keine 
entsprechende  Abbildung  in  der  anderen  (u)  besitzt,  so  werden 
wir  V  relativ  zu  u  als  nächsthöhere  Klasse  bezeichnen.  Auch 
hier  wird  also  gefordert,  daß  wir  den  Bestandteil  von  v,  der 
sich  den  Gliedern  von  u  eindeutig  zuordnen  läßt,  zunächst 
für  sich  als  ein  Ganzes  herausheben,  um  von  ihm  sodann  das- 
jenige Glied,  das  bei  dieser  Form  der  Beziehung  unverbunden 
bleibt,  als  ein  anderes  „zweites"  abzuheben.  Somit  wird 
im  Grunde  auf  genau  dieselbe  nintellektuellen  Synthesen 
zurückgegriffen,  auf  denfen  in  der  Theorie  der  Ordnungszahl 
der  Fortschritt  von  einer  Einheit  zur  nächsten  beruht:  und 
nur  darin  liegt  der  methodische  Unterschied,  dal3  diese  Syn- 
thesen dort  als  freie  Setzungen  erscheinen,  während  sie 
hier  der  Anlehnung  an  gegebene  Klassen  von  Ele- 
menten bedürfen  *.  —  / 

Daß  aber  in  dieser  Auffassung  die  logische  Ordnung 
der  Begriffe  in  der  Tat  verkehrt  ist,  ergibt  sich  aus  einer 
letzten  entscheidenden  Erwägung.  Die  Bestimmung  der  Zahl 
durch  die  Äquivalenz  von  Klassen  setzt  voraus,   daß   diese 


*  Um  die  Beziehung  zu  erklären,  in  der  je  zwei  benachbarte  Glieder 
der  natürUchen  Zahlenreihe  zueinander  stehen,  geht  z.  B.  F  r  e  g  e  von 
dem  Satz  aus:  ,,e3  gibt  einen  Begriff  F  und  einen  unter  ihn  fallenden 
Gegenstand  x  der  Art,  daß  die  Anzahl,  welche  dem  Begriffe  F  zukommt, 
n  ist  und  daß  die  Anzahl,  welche  dem  Begriffe  „  „unter  F  fallend,  aber  nicht 
gleich  a;"  "  zukommt,  m  ist": —  dieser  Satz  wird  als  gleichbedeutend  damit 
erklärt,  daß  n  in  der  natürlichen  Zahlenreihe  unmittelbar  auf  m  folgt. 
(A.  a.  O.  S.  89.)  Hier  wird  also  innerhalb  des  Inbegriffs  F  eine  Unter- 
scheidung getroffen,  indem  ein  einzelnes  Glied  x  herausgehoben  und 
den  übrigen  gegenübergestellt  wird:  die  Gesamtheit  dieser  übrigen  wird 
dann  zur  Definition  der  benachbarten,  „nächstniederen"  Zahl  verwandt. 
Es  handelt  sich  somit  auch  hier  n\ir  um  eine  Umschreibung  der  „populären" 
Begriffsbestimmung,  wonach  jedes  Glied  der  Zahlenreihe  von  der  benach- 
barten durch  „Hinzufügung"  bzw.  das  Fehlen  einer  „Einheit"  unter- 
schieden ist. 

6*  67 


Klassen  selbst  als  eine  Mehrheit  gegeben  sind.  Der 
Begriff  der  „Ähnlichkeit"  von  Klassen,  auf  den  die  Bedeutung 
der  Kardinalzahlen  gegründet  wird,  verlangt  zum  mindesten 
die  Betrachtung  zweier  Inbegriffe,  die  durch  eine  bestimmte 
Relation  miteinander  verknüpft  sind.  Man  hat  betont,  daß 
es  zur  Herstellung  dieser  eindeutigen  Beziehung  nicht  er- 
forderiich  sei,  daß  die  Glieder  der  beiden  Mannigfaltigkeiten 
zuvor  einzeln  durch  Abzahlung  bestimmt  seien,  es  genüge 
vielmehr  die  Angabe  eines  allgemeinen  Gesetzes,  das  irgend- 
e  i  n  Element  der  ersten  Mannigfaltigkeit  mit  irgend- 
einem der  zweiten  in  Verbindung  setze.  Aber  selbst,  wenn 
wir  diesem  Gesichtspunkt  gemäß  darauf  verzichten  könnten, 
die  Einzelklassen,  die  wir  miteinander  vergleichen,  zuvor 
in  sich  selbst  numerisch  zu  gliedern,  so  bliebe  doch  stets  der 
Umstand  zurück,  daß  wir  die  Inbegriffe  als  Ganzes 
einander  entgegensetzen  und  sie  eben  damit  auch  als  „zwei" 
verschiedene  auffassen  müssen.  Man  mag  entgegnen,  daß 
diese  Verschiedenheit  durch  den  rein  logischen  Unterschied 
der  Klassenbegriffe  unmittelbar  gegeben  und  somit 
keiner  weiteren  Ableitung  fähig  und  bedürftig  sei.  Damit 
aber  wären  wir  von  den  Klassen  selbst  zurückgeführt  auf  die 
erzeugenden  Relationen,  auf  welchen  sie  beruhen, 
und  denen  sie  ihre  Abgrenzung  und  Bestimmtheit  verdanken. 
Der  Unterschied  in  den  Inbegriffen  reduziert  sich  auf  den 
Unterschied  der  begrifflichen  Gesetze,  aus  welchen  sie  hervor- 
gegangen sind.  Von  diesem  Punkt  aus  aber  läßt  sich,  wie 
sich  zeigte,  unmittelbar  und  ohne  den  Umweg  über  den 
Klassenbegriff  das  System  der  Zahlen,  als  reiner  Ordnungs- 
zahlen, ableiten:  denn  hierzu  wird  nichts  anderes  erfordert 
als  die  Möglichkeit,  eine  Folge  reiner  Denksetzungen  durch  die 
verschiedene  Beziehung  zu  einem  bestimmten  Grundelement, 
das  als  Ausgangspunkt  dient,  zu  unterscheiden.  Die  Theorie 
der  Ordnungszahl  stellt  also  in  der  Tat  gleichsam  das  prin- 
zipielle Minimum  dar,  auf  das  in  keiner  logischen  Ableitung 
des  Zahlbegriffs  verzichtet  werden  kann;  während  die  Be- 
trachtung äquivalenter  Klassen  zwar  für  die  Anwen- 
dungen dieses  Begriffes  von  größter  Bedeutung  sind, 
aber  nicht  zu  seinem  ursprünglichen  Inhalt   gehören.  — 

68 


Zugleich  aber  mündet  hier  der  Streit  der  mathematischen 
Theorien  wiederum  in  die  allgemeine  logische  Prin- 
zipienfrage ein,  die  für  uns  den  Ausgangspunkt  bildete. 
In  den  verschiedenen  Deutungen  des  Zahlbegriffs  wiederholt 
sich  noch  einmal  der  allgemeine  Kampf  zwischen  der  Logik 
der  Gattungsbegriffe  und  der  Logik  der  Re- 
lationsbegriffe. Gelänge  es,  den  Begriff  der  Zahl  aus 
dem  der  Klasse  abzuleiten,  so  wäre  damit  in  der  Tat  die  tra- 
ditionelle Form  der  Logik  von  einem  neuen  Ausgangspunkt 
her  befestigt.  Die  Einordnung  des  Einzelnen  in  die  Hierarchie 
der  Gattungen  würde  nach  wie  vor  das  eigentliche  Ziel  alles 
Erkennens,  des  empirischen  sowohl  wie  des  exakten,  be- 
zeichnen. In  den  Versuchen  der  Begründung  der  logischen 
Theorie  der  Kardinalzahlen  ist  dieser  Zusammenhang  bisweilen 
deutlich  sichtbar  geworden.  Fasse  ich  etwa  den  Gedanken 
„Zwei  Menschen",  so  habe  ich  damit  —  nach  Russell  — 
das  logische  Produkt  des  Begriffs  „Mensch"  und  des  Begriffs 
,,Paar"  (couple)  gebildet  —  und  der  Satz,  daß  es  zwei  Menschen 
gibt,  besagt  nichts  anderes,  als  daß  ein  Komplex  gegeben  ist, 
der  gleichzeitig  der  Klasse  „Mensch"  und  der  Klasse  „Paar" 
angehört*.  An  diesem  Punkte  zeigt  es  sich,  daß  die  Theorie 
den  kritischen  Grundgedanken,  von  dem  sie  ausging,  nicht  zu 
vollkommener  Durchführung  gebracht  hat.  F  r  e'g  e  und 
Russell  betrachten  es  als  den  entscheidenden  Vorzug 
ihrer  Lehre,  daß  in  ihr  die  Zahl  nicht  als  eine  Eigenschaft 
an  physischen  Dingen,  sondern  als  Aussage  über  eine  bestimmte 
Beschaffenheit  von  Klassen  erscheint,  daß  hier  also  nicht  mehr 
die  Objekte  als  solche,  sondern  die  Begriffe  von  diesen 
Objekten  das  Fundament  des  Zahlurteils  bilden  (s.  oben, 
S.  38  ff.).  Daß  mit  dieser  Umwandlung  gegenüber  der  sensua- 
listischen  Auffassung  eine  außerordentliche  Befreiung  und 
Vertiefung  gewonnen  ist,  ist  unbestreitbar.  Dennoch  genügt 
es  nicht,  den  rein  begrifflichen  Charakter  der  Zahl- 
aussage zu  betonen,  solange  noch  Dingbegriffe  und 
Funktionsbegriffe  völlig  auf  eine  Stufe  gestellt 
werden.     Die  Zahl  erscheint  alsdann  nicht  als  der  Ausdruck 


*  Russell,  a.a.O.,  §  111. 

69 


der  Grundbedingung,  die  die  Setzung  jeglicher  Mehrheit 
erst  ermöglicht,  sondern  als  ein  Merkmal,  das  an  der  gegebenen 
Mehrheit  der  Klassen  haftet  und  sich  aus  ihr  durch  Verglei- 
chung  absondern  läßt.  So  wiederholt  sich  der  Grundmangel 
aller  Abstraktionstheorien :  was  als  rein  kategorialer  Ge- 
sichtspunkt die  Begriffsbildung  leitet  und  beherrscht, 
das  sucht  man  irgendwie  als  inhaltlichenBestand- 
t  e  i  1  in  den  verglichenen  Objekten  selbst  wiederzufinden. 
(S.  ob.  S.  31  ff.)  Die  Theorie  erweist  sich  zuletzt  als  der 
subtile  und  konsequent  durchgeführte  Versuch,  mit  dem 
allgemeinen  Schematismus  der  Gattungsbegriffe  ein  Problem 
zu  bewältigen,  das  seiner  Bedeutung  und  seinem  Umfang  nach 
einem  neuen  Gebiete  angehört  und  einen  anderen  Begriff  der 
Erkenntnis  voraussetzt*.  — 

IV. 
Die  bisherigen  Versuche,  den  Charakter  des  Zahlbegriffs 
und  das  Prinzip  der  Zahlbildung  festzustellen,  haben  indessen 
die  Frage  noch  nicht  in  derjenigen  Allgemeinheit  und  Weite 
erfaßt,  die  sie  durch  die  Entwicklung  der  modernen  Mathe- 
matik gewonnen  hat.     Es  ist  die  Zahl  in  ihrer  primitivsten 

*  Freilich  sind  es  nicht  ledigUch  logische  Gesichtspunkte,  sondern 
zugleich  speziellere  m  a  t  h  e  m  a  tische  Gründe  gewesen,  die  zu  der 
Erkläning  der  Zahl  durch  die  Äqmvalenz  der  Klassen  hingeführt  haben. 
Erst  auf  dieser  Grundlage  schien  es  möglich,  eine  Theorie  zu  schaffen, 
die  sich  nicht  von  vornherein  auf  die  endlichen  Zahlen  beschränkt,  sondern 
„endliche"  und  „vinendliche"  Zahlen  in  einer  einzigen  Ableitung  umfaßt 
luid  beherrscht.  Das  Moment  der  gegenseitigen  eindeutigen  Zuordnung 
von  Mengen  erschien  von  fundamentaler  Bedeutvmg,  da  es  auch  dann  be- 
stehen bleibt,  wenn  man  die  Endlichkeit  der  Inbegriffe  und  damit  ihre 
„Abzählbarkeit"  —  im  Sinne  der  gewöhnlichen  Auffassung  des  Zählakts 
als  des  successiven  Fortschritts  von  Einheit  zu  Einheit  —  fallen  läßt.  So 
fruchtbar  sich  indessen  der  allgemeine  Gesichtspunkt  der  „Mächtigkeit", 
der  in  diesem  Zusammenhange  entsteht,  gezeigt  hat:  so  ist  doch  danüt 
keineswegs  erwiesen,  daß  er  mit  dem  Begriff  der  Zahl  zusammenfällt. 
Die  rein  mathematischen  Leistungen  des  Mächtigkeitsbegriffs  bleiben 
offenbar  unberülirt  davon,  ob  man  in  ihm  das  ursprüngliche  Prinzip 
der  Zahl  oder  nur  ein  abgeleitetes  Ergebnis  sieht,  das  seinerseits  eine 
andere  begriffliche  Erklärung  der  Zahl  bereits  voraussetzt.  Die  Eigen- 
schaften, die  den  endlichen  und  den  transfiniten  Zahlen  gemeinsam 
sind,  enthalten  keineswegs  als  solche  bereits  das  wesentliche  Moment  der 
Zahlbildung  überhaupt:  das  „stmimum  genus"  im  Sinne  der  Gattungs- 
logUc  ist  auch  hier  mit  dem  begrifflichen  Ursprung  der  Erkenntnis  nicht 
gleichbedeutend.     (Zum  Problem  des  Transfiniten  vgl.  unten  S.  80  ff.) 

70 


Gestalt  und  Bedeutung,  auf  welche  der  Ableitungsversuch 
der  Klassentheorie  wie  der  ordinalen  Theorie  sich  beziehen. 
Der  Standpunkt  der  Pythagoreer  ist  noch  nicht  prinzipiell 
verlassen:  die  „Anzahl"  im  engeren  Sinne  als  der  ganzen 
Zahl  bildet  noch  immer  das  eigentliche  und  ausschließliche 
Problem.  Das  wissenschaftliche  System  der  Arithmetik  aber 
schließt  sich  erst  in  den  Erweiterungen  ab,  die  der  Begriff 
der  Zahl  durch  die  Einführung  des  Gegensatzes  der  positiven 
und  negativen,  der  ganzen  und  gebrochenen,  der  rationalen 
und  irrationalen  Zahlen  erfährt.  Sind  diese  Erweiterungen 
—  wie  bedeutende  Mathematiker  behauptet  haben  —  lediglich 
künstliche  Umbildungen,  die  nur  aus  dem  Gesichtspunkt  der 
Anwendungen  erklärt  und  gerechtfertigt  werden  können, 
oder  stellen  sie  Äußerungen  derselben  logischen  Funk- 
tion dar,  die  schon  die  erste  Setzung  der  „Anzahlen" 
beherrscht  ? 

Die  Schwierigkeiten,  denen  die  Einführung  jeglicher 
neuen  Zahlart,  denen  die  Begriffe  des  Negativen  und  Irratio- 
nalen sowohl,  wie  der  des  Imaginären  immer  wieder  begegnet 
sind,  erklären  sich  leicht,  wenn  man  erwägt,  daß  in  all  diesen 
Umbildungen  das  eigentliche  Substrat  der  Zahlaussagen 
sich  mehr  und  mehr  zu  verflüchtigen  drohte.  Die  Anzahlen 
in  ihrem  allgemeinsten  Grundsinne  können  unmittelbar  durch 
wahrnehmbare  Gegenstände  als  „real"  und  somit  als  gültig 
aufgewiesen  werden.  Die  Bedeutung  der  „Zwei"  oder  „Vier" 
bildet,  wie  es  scheint,  kein  ernsthaftes  Problem,  da  doch  die 
empirische  Welt  der  Dinge  uns  allenthalben  Gruppen  von 
zwei  und  vier  Dingen  unmittelbar  darbietet.  Mit  der  ersten 
Verallgemeinerung  und  Weiterführung  des  Zahlbegriffs  aber 
schwindet  dieser  dingliche  Gehalt,  auf  den  die  naive  Auf- 
fassung sich  vornehmlich  stützt  und  beruft.  Der  Begriff  und 
die  Bezeichnung  der  „imaginären"  Zahl  ist  der  Ausdruck 
eines  Gedankens,  der  seinem  ersten  Ansatz  nach  bereits 
in  jeder  der  neuen  Zahlarten  wirksam  ist  und  der  ihr  das 
charakteristische  Gepräge  gibt.  Es  sind  Urteile  und  Aussagen 
über  „N  icht-Wirkliche  s",  die  hier  dennoch  einen 
bestimmten,  unentbehrlichen  Erkenntnis  wert  für  sich 
in  Anspruch  nehmen.    Diesen  Zusammenhang  und  damit  das 

71 


allgemeine  Prinzip,  auf  das  alle  die  verschiedenen  Methoden  der 
„Z  hlerweiterung"  überhaupt  zurückgehen,  hat  Gauss  in 
einer  Anzeige,  in  der  er  sich  das  Ziel  setzt,  die  echte  ,, Meta- 
physik des  Imaginären"  zu  begründen,  in  vollster  Schärfe  und 
Bestimmtheit  ausgesprochen.  ,, Positive  und  negative  Zahlen", 
so  heißt  es  hier,  „können  nur  da  eine  Anwendung  finden,  wo  das 
Gezählte  ein  Entgegengesetztes  hat,  was  mit  ihm  vereinigt  der 
Vernichtung  gleich  zu  stellen  ist.  Genau  besehen  findet  diese 
Voraussetzung  nur  da  statt,  wo  nicht  Substanzen  (für  sich 
denkbare  Gegenstände),  sondern  Relationen  zwischen  je  zwei 
Gegenständen  das  Gezählte  sind.  Postuliert  wird  dabei, 
daß  diese  Gegenstände  auf  eine  bestimmte  Art  in  eine  Reihe 
geordnet  sind,  z.  B.  A,  B,  C,  D. . .,  und  daß  die  Relation  des 
A  zu  B  als  der  Relation  des  B  zu  C  usw.  gleich  betrachtet 
werden  kann.  Hier  gehört  nun  zu  dem  Begriff  der  Entgegen- 
setzung nichts  weiter  als  der  Umtausch  der  Relation 
so  daß,  wenn  die  Relation  (also  der  Übergang)  von  A  zu  B 
als  +  1  gilt,  die  Relation  von  B  zu  A  durch  —  1  dargestellt 
werden  muß.  Insofern  als  eine  solche  Reihe  auf  beiden  Seiten 
unbegrenzt  ist,  repräsentiert  jede  reelle  ganze  Zahl  die  Re- 
lation eines  beliebig  als  Anfang  gewählten  Gliedes  zu  einem 
bestimmten  Gliede  der  Reihe."  Die  Ableitung  der  Imaginär- 
zahl beruht  dann  weiterhin  darauf,  daß  die  Gegenstände, 
die  wir  untersuchen,  nicht  mehr  als  in  einer  Reihe  geordnet 
zu  denken  sind,  sondern  daß  es  zu  ihrer  Ordnung  der  Be- 
trachtung einer  Reihe  von  Reihen  und  damit  der 
Einführung  einer  neuen  Einheit  (+  i,  — i)  bedarf.  Hier  tritt, 
abgesehen  von  allen  Einzelheiten  der  Deduktion,  der  beherr- 
schende logische  Gesichtspunkt  in  aller  Deutlichkeit  hervor. 
Der  Sinn  der  erweiterten  Zahlbegriffe  läßt  sich  nicht  fassen, 
solange  man  dabei  beharrt,  das,  was  sie  bedeuten  an  Sub- 
stanzen, an  für  sich  denkbaren  Gegenständen  aufzeigen 
zu  wollen;  aber  er  enthüllt  sich  sofort,  sobald  man  in  ihnen 
den  Ausdruck  reiner  Beziehungen  sieht,  durch  welche 
die  Verhältnisse  in  einer  konstruktiv  erschaffenen  Reihe 
geregelt  werden.  Eine  negative  Substanz,  die  zugleich 
Sein  und  Nichtsein  bedeuten  müßte,  wäre  eine  contradictio 
in  adjecto;  eine  negative  Beziehung    ist  nur  das  not- 

72 


wendige  logische  Korrelat  des  Relationsbegriffs  überhaupt, 
da  jede  Relation  von  A  zu  B  sich  zugleich  als  eine  solche  von 
B  zu  A  darstellen  und  aussprechen  läßt.  Betrachtet  man 
daher  die  erzeugende  Relation  (R),  auf  der  der  Übergang 
von  einem  Glied  der  Zahlenreihe  zum  nächstfolgenden  beruht, 
so  ist  gleichzeitig  durch  sie  auch  ein  Verhältnis  des  folgenden 
Gliedes  zum  vorangehenden  gesetzt,  also  eine  zweite  Fort- 
schrittsrichtung definiert,  die  wir  als  die  Umkehrung  der  ersten 
oder  als  inverse  Relation  (r)  auffassen  können.  Die  posi- 
tiven und  negativen  Zahlen(+a,  —  a)  erscheinen  jetzt  ledig- 
lich als  ein  anderer  Ausdruck  für  den  Fortgang  in  diesen 
beiden  Beziehungsrichtungen  (r»,  r^).  Aus  dieser 
Grundauffassung  leiten  sich  sodann  all  die  rechnerischen 
Operationen,  innerhalb  des  auf  diese  Art  erweiterten  Zahl- 
gebiets in  einfacher  Weise  ab:  sie  alle  gründen  sich  auf  den 
Charakter  der  reinen  Zahl  als  Beziehungszahl  und  bringen 
ihn  zu  immer  deutlicherer  Entfaltung  *. 

Wiederum  soll  diese  Entwicklung  nicht  in  allen  ihren  be- 
sonderen Phasen,  sondern  nur  an  einzelnen  typischen 
Beispielen  verfolgt  werden,  an  denen  die  logische  Tendenz  des 
Gedankens  zum  besonders  klaren  Ausdruck  gelangt.  Es  ist 
vor  allem  die  Ableitung  der  Irrationalzahl,  in  welcher  das  neue 
Prinzip  sich  bewährt.  Zwei  Wege  sind  es  zunächst,  auf  welchen 
eine  Deduktion  des  Irrationalen  versucht  werden  kann.  Wir 
können  von  den  Verhältnissen  zwischen  gegebenen  geometri- 
schen Strecken  oder  aber  von  der  Forderung  der  Auflös- 
barkeit bestimmter  algebraischer  Gleichungen  ausgehen.  Die 
erstere  Methode,  die  bis  auf  Weierstraß  und  D  e  d  e  - 
k  i  n  d  fast  ausschließlich  herrschte,  gründet  die  neue  Zahl 
auf  den  Raum  und  damit  auf  Beziehungen,  die  sich  an 
meßbaren  Objekten  vorfinden.  So  scheinen  es  hier  wiederum 
Erfahrungen  an  physisch-räumlichen  Gegenständen  zu  sein, 
die  den  Prozeß  der  mathematischen  Begriffsbildung  beherr- 
schen und  ihm  seine  Richtung  vorschreiben.  Indessen  zeigt 
es  sich  alsbald,   daß   zum  mindesten  die  Berufung  auf   die 


•    *  Vgl.  hierzu  bes.  die  eingehende  Darlegung  und  Begründxing  dieses 
Zusammenhangs  bei  Natorp,  a.  a,  O.,  Cap.  3  u.  4. 

73 


Verhältnisse  konkreter  empirischerDinge  an  diesem 
Punkte  versagen  muß.  Die  Maßverhältnisse  von  Dingen 
werden  uns  nur  durch  Beobachtung  und  somit  nur  innerhalb 
der  Grenzen,  die  durch  die  Beobachtungsfehler  gesetzt  sind, 
bekannt.  Eine  völlig  exakte  Bestimmung  in  diesem  Gebiet 
zu  suchen  und  zu  fordern,  hieße  die  Natur  der  Frage  selbst 
verkennen.  So  ist  denn  offenbar  das  gewöhnliche  System 
der  Bruchzahlen  bereits  ein  in  jeder  Hinsicht  aus- 
reichendes gedankliches  Instrument,  um  alle  Aufgaben,  die 
sich  innerhalb  dieses  Bereiches  ergeben  können,  vollständig  zu 
beherrschen.  Da  es  innerhalb  dieses  Systems  keinen  kleinsten 
Unterschied  gibt,  vielmehr  zwischen  zwei  noch  so  nahen 
Elementen  sich  stets  wieder  ein  neues  Element  angeben  läßt, 
das  dem  Inbegriff  angehört,  so  bietet  sich  hier  eine  begriffliche 
Differenzierung  dar,  die  in  den  beobachtbaren  Ver- 
hältnissen der  Dinge  niemals  erreicht,  geschweige  überboten 
werden  kann.  Die  Maßbeziehungen,  auf  die  die  äußere  Er- 
fahrung uns  hinleitet,  können  uns  somit  niemals  den  Begriff 
des  Irrationalen  in  seiner  strengen  mathematischen  Bedeutung 
aufzwingen:  vielmehr  muß  dieser  Begriff  von  innen  heraus 
aus  den  Forderungen  des  systematischen  Zusammenhangs 
der  mathematischen  Erkenntnisse  selbst  entstehen  und  be- 
gründet werden.  Nicht  die  Körper  der  physischen  Wirklich- 
keit, sondern  allenfalls  die  rein  idealen  Strecken  der  Geo- 
metrie können  somit  das  gesuchte  Substrat  für  die  Ableitung 
des  Irrationalen  abgeben.  Das  neue  Problem  erwächst  nicht 
an  der  Auffassung  gegebener,  tatsächlich  vorhandener  Größen, 
sondern  aus  den  Gesetzen  bestimmter  geometrischer  Kon- 
struktionen. Ist  dies  aber  einmal  erkannt,  so  muß 
sich  die  weitere  Forderung  erheben,  die  Konstruktion,  die 
sich  bei  keinem  Ableitungsversuch  entbehren  läßt,  rein  aus 
d e m  G r u n d p r i n z  i  p  derZahl  selbst  heraus 
zu  führen  und  als  notwendig  zu  erweisen.  Die  Verschiebung 
der  Frage  von  der  Zahl  auf  den  Raum  würde  die  Einheit  und 
Geschlossenheit  des  Systems  der  Algebra  selbst 
aufheben. 

Die    gewöhnliche    algebraische    Methode,    die    die    irra- 
tionalen  Werte   als    Lösungen    für    bestimmte    Gleichungen 

74 


einführt,  bleibt  freilich  unzureichend,  da  in  ihr  die  Auf- 
stellung eines  Postulats  mit  dessen  Erfüllung  ver- 
wechselt wird.  Denn  abgesehen  davon,  daß  sich  unendlich 
viele  irrationale  Werte  angeben  lassen,  die  als  Wurzeln  alge- 
braischer Gleichungen  nicht  darstellbar  sind  —  so  wird  doch 
durch  eine  derartige  Erklärung  jedenfalls  nichts  darüber 
entschieden,  ob  der  Gegenstand,  der  durch  sie  geschaffen 
wird,  ein  eindeutig  bestimmter  ist,  oder  ob  es 
mehrere,  untereinander  verschiedene  Werte  gibt,  die  der 
bezeichneten  Bedingung  genügen.  Die  vollkommene  De- 
finition darf  daher  das  ideelle  Objekt,  auf  das  sie  hinzielt, 
nicht  nur  nach  irgendeinem  einzelnen  Merkmal,  das 
ihm  zukommt,  bezeichnen,  sondern  muß  es  in  seiner  vollen 
charakteristischen  Eigenart,  kraft  deren  es  sich  von  allen 
andern  unterscheidet,  erfassen  und  bestimmen.  Diese  Eigenart 
aber  ist  für  jeden  Zahlwert  vollständig  gegeben,  wenn  zugleich 
mit  seiner  Ableitung  seine  Stelle  im  Gesamtsystem  und  somit 
sein  Verhältnis  zu  den  übrigen  bekannten  Gliedern  des  Zahlen- 
reiches fixiert  ist.  Dieses  Stellenverhältnis  faßt  alle  sonstigen 
Eigenschaften,  die  der  einzelnen  Zahl  nur  immer  beigelegt 
werden  können,  von  Anfang  in  sich,  da  alle  diese  Eigen- 
schaften erst  nachträglich  aus  ihm  hervorgehen  und  durch 
es  begründet  werden.  — 

Am  reinsten  tritt  dieser  logische  Leitgedanke  der  De- 
duktion in  der  bekannten  Dedekind  sehen  Erklärung 
der  irrationalen  Zahlen  als  „Schnitte"  hervor.  Denkt  man 
sich  zunächst  die  Gesamtheit  der  rationalen  Brüche 
gegeben,  wobei  der  Bruch  als  Verhältniszahl  definiert 
und  ohne  Anlehnung  an  meßbare  und  teilbare  Größen  aus 
der  Betrachtung  reiner  Ordnungsbeziehungen  abgeleitet 
wird*,  so  wird  durch  jedes  einzelne  Element  a,  das 
wir  aus  diesem  Inbegriff  herausgreifen  können,  der  Inbegriff 
selbst  in  zwei  Klassen  31  und  33  zerlegt.  Die  erste  dieser 
Klassen  umfaßt  alle  Zahlen,  die  kleiner  als  a  sind  (d.  h.  ihm 
in  der  systematischen  Ordnung  des  Inbegriffs  voran- 
gehen);  die  zweite  alle  Zahlen,   die  „größer"   als  o   sind 


Näheres  hierüber  z.  B.  bei  RuBsell,  §  144  ff.,  §  230. 

75 


(d.  h.  auf  a  folgen).  Wenn  indessen  die  Angabe  jeder  einzelnen 
Bruchzahl  zugleich  implicite  eine  derartige  Scheidung  des 
Gesamtsystems  in  sich  schließt,  so  gilt  doch  nicht  die  Um- 
kehrung dieses  Satzes:  denn  nicht  jeder  streng  definierten 
und  eindeutigen  Scheidung,  die  sich  gedanklich  vollziehen 
läßt,  entspricht  ein  bestimmter  rationaler  Wert.  Betrachtet 
man  etwa  irgendeine  positive  ganze  Zahl  D,  die  indessen 
nicht  das  Quadrat  einer  ganzen  Zahl  sein  möge,  so  wird  sie 
immer  zwischen  zwei  Quadratzahlen  liegen,  so  daß  sich  also 
eine  positive  ganze  Zahl  A  von  der  Art  angeben  läßt,  daß 
-r^*<  D  <  (^-f- 1)*.  Faßt  man  jetzt  alle  Zahlen,  deren  Qua- 
drate kleiner  als  D  sind,  zu  einer  Gesamtklasse  9t  zusammen, 
während  man  sich  alle  Zahlen,  deren  Quadrat  größer  als  D  ist, 
zu  einer  Klasse  33  vereinigt  denkt,  so  gehört  jeder  nur  immer 
angebbare  rationale  Wert  einer  dieser  Klassen  zu,  so  daß  die 
Einteilung,  die  hier  vollzogen  ist,  das  System  der  Rational- 
zahlen vollständig  erschöpft.  Dennoch  gibt  es,  wie  sich  zeigen 
läßt,  innerhalb  dieses  Systems  kein  Element,  das  diese  Sonde- 
rung hervorbringt,  das  also  größer  als  alle  Zahlen  der  Klasse  % 
und  kleiner  als  alle  Zahlen  der  Klasse  S5  wäre.  Wir  haben 
somit  durch  eine  begriffliche  Vorschrift  —  der  sich  übrigens 
beliebig  viele  andere  an  die  Seite  stellen  lassen  würden  — 
eine  völlig  scharfe  und  klare  Beziehung  zwischen  Zahl- 
klassen erreicht,  für  deren  Wiedergabe  dennoch  in  der  bisher 
definierten  Mannigfaltigkeit  kein  einzelner  Zahlwert  zur  Ver- 
fügung steht.  Dieser  Umstand  ist  es,  der  uns  nunmehr  zur 
Einführung  eines  neuen  ,, irrationalen"  Elements  veranlaßt: 
eines  Elements,  das  keine  andere  Funktion  und  Bedeutung  hat 
als  den,  diese  Bestimmtheit  der  Einteilung 
selbst  begrifflich  zu  repräsentieren.  Die  neue  Zahl  ist 
somit  in  dieser  Form  der  Ableitung  nicht  willkürlich  ersonnen, 
noch  wird  sie  als  bloßes  „Zeichen"  eingeführt;  sondern  sie  er- 
scheint als  der  Ausdruck  eines  komplexen  Ganzen  von  Re- 
lationen, die  zuvor  in  begrifflicher  Strenge  abgeleitet  wurden. 
Sie  stellt  von  Anfang  an  einen  bestimmten  logischen  Be- 
ziehungsgehalt dar  und  läßt  sich  in  ihn  wiederum  auflösen. 
Man  hat  gegen  die  Ableitung  Dedekinds  von  philoso- 
phischer wie  mathematischer  Seite  häufig  den  Einwand  er- 

76 


hoben,  daß  sie  eine  unerweisliche  Forderung  in  sich  schließe. 
Für  den  Fall  irgendeiner  vollständigen  Einteilung  des  Systems 
der  Rationalzahlen  werde  hier  die  Existenz  eines  und 
nur  eines  Zahlelements,  das  diese  Einteilung  vollzieht,  nicht 
bewiesen,  sondern  lediglich  auf  Grund  eines  allgemeinen 
Postulats  behauptet.  In  der  Tat  legt  die  Darstellung 
Dedekinds  dieses  Bedenken  nahe,  sofern  sie  zur  Verdeut- 
lichung des  Grundgedankens  zunächst  von  geometrischen 
Analogien  ihren  Ausgang  nimmt.  Die  Stetigkeit  der 
geraden  Linie  läßt  sich,  wie  hier  ausgeführt  wird, 
durch  die  Bedingung  zum  Ausdruck  bringen,  daß,  wenn  alle 
Punkte  der  Geraden  in  zwei  Klassen  zerfallen,  derart,  daß 
jeder  Punkt  der  ersten  Klasse  links  von  jedem  Punkt  der 
zweiten  Klasse  liegt,  ein  und  nur  ein  Punkt  der 
Geraden  existiert,  welcher  diese  Einteilung  aller 
Punkte,  diese  Zerschneidung  der  Geraden  in  zwei  Stücke, 
hervorbringt*.  Die  Annahme  dieser  Eigenschaft  der  Linie 
wird  von  Dedekind  selbst  als  ein  Axiom  bezeichnet,  durch 
welches  wir  erst  der  Linie  ihre  Stetigkeit  zuerkennen,  durch 
welches  wir  die  Stetigkeit  in  sie  ,, hineindenken".  ,,Hat 
überhaupt  der  Raum  eine  reale  Existenz,  so  braucht  er  doch 
nicht  notwendig  stetig  zu  sein;  unzählige  seiner  Eigenschaften 
würden  dieselben  bleiben,  wenn  er  auch  unstetig  wäre.  Und 
wüßten  wir  gewiß,  daß  der  Raum  unstetig  wäre,  so  könnte 
uns  doch  wieder  nichts  hindern,  falls  es  uns  beliebte,  ihn 
durch  Ausfüllung  seiner  Lücken  in  Gedanken  zu  einem  stetigen 
zu  machen;  diese  Ausfüllung  würde  aber  in  einer  Schöpfung 
von  neuen  Punkt-Individuen  bestehen  und  dem  obigen 
Prinzip  gemäß  auszuführen  sein**."  Bei  einer  derartigen 
Entgegensetzung  des  ,, Idealen"  und  „Realen"  kann  in  der 
Tat  der  Gedanke  entstehen,  daß  irgendeine  Begriffs- 
bestimmtheit die  sich  uns  in  der  Verfassung  des 
Zahlenreiches  aufdrängt,  darum  noch  keine  Seins-Be- 
stimmtheit in  sich  zu  schließen  brauche.  Der  Fortschritt 
von  einem  ideellen  systematischen  Zusammenhang  zur 
Existenz    eines    neuen    Elements    scheint    eine  ^ezraßaatj 


*  Dedekind,  Stetigkeit  und  irrationale  Zahlen,  2.  Aufl.,  Braun- 
schweig 1892,  S.  9  ff. 
**  a.  a.  O.,  S.  12. 

77 


eig  SXXo  -fivog  in  sich  zu  schließen.  In  Wahrheit  aber 
handelt  es  sich  hier  um  keinen  unberechtigten  Übergang, 
weil,  zum  mindesten  innerhalb  des  Bereichs  der  Zahl,  die 
gesamte  dualistische  Trennung  von  idealem  und  realem  Sein, 
von  ,, Essenz"  und  ,, Existenz"  hinfällig  wird.  Wenn  beim 
Räume  sich  eine  derartige  Sonderung  zwischen  dem  Inhalt 
der  freien  geometrischen  Konstruktionen  und  dem,  was  er  in 
der  Natur  der  Dinge  ,,ist",  allenfalls  festhalten  ließe:  im  Gebiet 
der  reinen  Zahl  verliert  sie  jeglichen  Sinn.  Keine  Zahl 
—  die  ganze  so  wenig  wie  die  gebrochene  und  irrationale  — 
„ist"  etwas  anderes  als  das,  wozu  sie  in  bestimmten  begriff- 
lichen Definitionen  gemacht  worden  ist.  Die  Forderung,  daß, 
wenn  immer  ein  vollständiger  ,,  Schnitt"  des  rationalen  Zahl- 
systems vorliegt,  eine  und  nur  eine  Zahl  ,, existiert",  die  ihm 
entspricht,  kann  daher  keinen  fragwürdigen  Nebensinn  in  sich 
schließen.  Was  hier  völlig  unzweideutig  gegeben  ist,  ist  zu- 
nächst die  Bestimmtheit  derEinteilung  selb  st: 
wir  können,  wenn  durch  irgendeine  begriffliche  Regel  das 
rationale  System  in  zwei  Klassen  Ä  und  93  sich  sondert, 
von  jedem  seiner  Elemente  mit  Sicherheit  entscheiden, 
ob  es  der  einen  oder  der  anderen  Klasse  zugehört  und  weiterhin 
zeigen,  daß  bei  dieser  Alternative  kein  Glied  unberücksichtigt 
bleibt,  die  getroffene  Einteilung  also  eine  vollständige  und 
erschöpfende  ist.  Der  „Schnitt"  selbst  hat  somit  als  solcher 
unzweifelhafte  logische  „Realität",  die  ihm  nicht  erst  durch 
ein  Postulat  gewährleistet  zu  werden  braucht.  Ferner  aber 
ist  auch  die  Ordnung,  in  der  die  verschiedenen  Schnitte 
sich  folgen,  keine  willkürliche,  sondern  ihnen  durch  ihren 
ursprünglichen  Begriff  eindeutig  vorgeschrieben.  Wir  nennen 
von  zwei  Schnitten  (%  93)  und  (St',  93')  den  ersten  größer  als 
den  zweiten,  lassen  ihn  also  auf  diesen  folgen,  wenn  sich  irgend- 
ein Element  a  angeben  läßt,  das  der  Klasse  91  in  der  ersten, 
der  Klasse  95'  in  der  zweiten  Einteilung  angehört.  Somit 
existiert  ein  festes,  allgemein  gültiges  Kriterium,  das  über  die 
Reihenfolge  der  einzelnen  Schnitte  entscheidet.  Damit  aber 
ist  zugleich  den  so  erschaffenen  Gebilden  der  reine  Z  a  h  1  - 
Charakter  aufgeprägt.  Denn  die  Zahl  besitzt  nach  ihrer 
ursprünglichen  Erklärung  keinerlei  spezifisch-inhaltliche  Merk- 

78 


male,  sondern  ist  lediglich  der  allgemeinste  Ausdruck  der 
Ordnungs-  und  Reihenform  überhaupt:  wo  immer  also  eine 
derartige  Form  sich  festhalten  läßt,  da  findet  ihr  Begriff  Auf- 
nahme und  Anwendung.  Die  Schnitte  „sind"  Zahlen,  weil  sie 
in  sich  eine  streng  gegliederte  Mannigfaltigkeit  bilden,  in 
welcher  die  relative  Stellung  der  Elemente  nach  einer  begriff- 
lichen Regel  feststeht. 

Nicht  darum  also  handelt  es  sich  in  der  Schöpfung 
der  neuen  irrationalen  Elemente,  daß  irgendwie  ,, zwischen" 
den  bekannten  Gliedern  des  rationalen  Zahlsystems  noch 
das  Sein  anderer  Elemente  vermutet  oder  gefordert 
werde  —  diese  Fragestellung  bliebe  in  der  Tat  in  sich 
selbst  sinnlos  und  unverständlich  —  sondern  darum, 
daß  über  der  Ordnung  des  anfänglich  gegebenen  Inbegriffs 
ein  anderes  komplexeres  System  reihenförmig  abgestufter 
Bestimmtheiten  sich  erhebt.  Dieses  System  umfaßt  den 
früheren  Inbegriff  und  nimmt  ihn  in  sich  auf:  denn  das  Kenn- 
zeichen der  Aufeinanderfolge,  das  für  die  „Schnitte"  angegeben 
ist,  gilt  unmittelbar  auch  für  die  rationalen  Zahlen  selbst, 
die  sich  ja  sämtlich  als  Schnitte  auffassen  und  darstellen 
lassen.  Somit  ist  jetzt  ein  übergreifender  Gesichtspunkt 
gefunden,  nach  welchem  die  wechselseitige  Stellung  aller 
Glieder  des  alten  wie  des  neuen  Systems  sich  bestimmt.  Man 
sieht,  wie  hierin  der  Grundgedanke  der  ordinalen  Theorie  der 
Zahl  sich  bewährt.  Der  Gedanke,  die  Zahl  aus  der  s  u  c  - 
cessivenAddition  vonEinheiten  entstehen  zu 
lassen  und  in  dieser  Operation  ihre  eigentliche  begriffliche 
Wesenheit  zu  begründen,  muß  jetzt  aufgegeben  werden.  Ein 
derartiges  Verfahren  enthält  zwar  e  i  n  Prinzip,  geordnete 
Inbegriffe  hervorgehen  zu  lassen,  aber  keineswegs  das  Prinzip 
der  Erschaffung  solcher  Inbegriffe  schlechthin.  Die  Ein- 
führung des  Irrationalen  ist  zuletzt  nichts  anderes  als  der 
allgemeine  Ausdruck  dieses  Gedankens:  sie  gibt  der  Zahl 
die  ganze  Freiheit  und  Weite  einer  Methode  der  Ordnungs- 
bildung überhaupt  wieder,  ohne  sie  auf  irgendeine  inhaltlich 
bestimmte  Einzelrelation  zu  beschränken,  kraft  deren 
sich  Glieder  in  geregelter  Folge  setzen  und  entwickeln  lassen. 
Das  begriffliche  „Sein"   der  Einzelzahl  geht  hierbei  immer 

79 


reiner  und  deutlicher  in  ihre  eigentümliche  begriffliche  Funk- 
tion auf:  denn  wenn  nach  der  gewöhnlichen  Auffassung, 
an  die  auch  die  Deduktion  Dedekinds  zunächst  anknüpft, 
eine  gewisse,  an  sich  bereits  gegebene  und  vorhandene  Zahl, 
zugleich  einen  bestimmten  Schnitt  im  Gesamtsystem  ,, be- 
wirkt", so  wird  zuletzt  umgekehrt  eben  diese  „Wirkung" 
zur  notwendigen  und  hinreichenden  Bedingung,  um 
von  der  „Existenz"  einer  Zahl  zu  sprechen.  Das  Element 
kann  aus  dem  Relationszusammenhang  nicht  herausgelöst 
werden,  da  es  in  sich  selbst  nichts  anderes  als  eben  diesen 
Zusammenhang  bedeutet  und  ihn  gleichsam  in  verdichteter 
Form  zum  Ausdruck  bringt. 

Eine  neue  Wendung  nimmt  der  allgemeine  Gedanke, 
auf  dem  die  Bildung  der  Zahl  beruht,  wenn  man  vom  Gebiet 
der  endlichen  Zahlen  zu  dem  der  transfiniten 
Zahlen  übergeht.  Zugleich  häufen  sich  nunmehr  die  eigent- 
lichen philosophischen  Schwierigkeiten :  denn  der 
Begriff  des  Unendlichen,  der  hier  im  Mittelpunkt  steht, 
gehört  seit  jeher  nicht  minder  dem  Herrschaftsbereich  der 
Metaphysik,  als  dem  der  Mathematik  an.  So  hat  denn  auch 
C  a  n  t  o  r  selbst,  indem  er  in  seinen  grundlegenden  Unter- 
suchungen das  System  der  transfiniten  Zahlen  schuf,  zugleich 
alle  die  scholastischen  Gegensätze  des  Potentiell-  und  Aktuell- 
Unendlichen,  des  Infiniten  und  Indefiniten  wiederum  herauf- 
beschworen*. Hier  scheinen  wir  somit  endgültig  von  der  Frage 
nach  der  reinen  Erkenntnisbedeutung  der  Begriffe  zu  den  Pro- 
blemen des  absoluten  Seins  und  seiner  Beschaffenheit  hin- 
übergedrängt zu  werden.  Der  Begriff  des  Unendlichen  scheint 
die  Schranke  der  Logik  und  den  Grenzpunkt  zu  bezeichnen, 
an  dem  sie  sich  mit  einem  anderen  Gebiet,  das  außerhalb  ihrer 
Sphäre  liegt,  berührt. 

Und  dennoch  gehen  die  Aufgaben,  die  zur  Schöpfung 
des  transfiniten  Zahlenreiches  führen,  mit  zwingender  Not- 
wendigkeit aus  rein  mathematischen  Voraussetzungen  hervor. 


*  Vgl.   bes.    C  a  n  t  o  r  ,   Zur   Lehre  vom  Transfiniten.      Gesammelte 
Abhandl.  aus  der  Zeitschr.  f.  Pliilosophie  u.  philos.  Kritik.    Halle  a.  S.  1890. 

80 


Sie  entstehen,  sobald  man  den  Grundbegriff  der  „Äquivalenz", 
der  schon  das  Kriterium  für  die  Anzahlgleichheit  endlicher 
Mengen  bildete,  derart  verallgemeinert,  daß  er  zum  Vergleich 
unendlicher  Inbegriffe  fähig  wird.  Zwei  Inbegriffe  heißen  uns 
—  gleichviel,  ob  die  Zahl  ihrer  Elemente  begrenzt  oder  un- 
begrenzt sein  mag  —  äquivalent  oder  von  gleicher  ,, Mächtig- 
keit", wenn  sich  ihre  Glieder  wechselseitig  eindeutig  einander 
zuordnen  lassen.  Die  Anwendung  dieses  Kriteriums  kann 
offenbar  bei  unendlichen  Mengen  nicht  derart  erfolgen,  daß 
wir  ihre  Elemente  einzeln  einander  gegenüber  stellen, 
sondern  setzt  voraus,  daß  sich  eine  allgemeine  Regel 
angeben  läßt,  durch  welche  die  durchgängige  Korrelation 
festgestellt  und  in  einem  Blick  überschaut  wird.  So  sind  wir 
sicher,  daß  jeder  geraden  Zahl  2  n  eine  ungerade  2  n-f  1  ent- 
spricht und  daß,  wenn  wir  hierbei  n  alle  beliebigen  ganz- 
zahligen Werte  annehmen  lassen,  die  beiden  Mengen  der  geraden 
und  ungeraden  Zahlen  erschöpfend  dargestellt  und  eindeutig 
aufeinander  bezogen  sind.  Der  Begriff  der  Mächtigkeit, 
der  auf  diese  Weise  eingeführt  ist,  erhält  indessen  spezielleres 
mathematisches  Interesse  erst,  sobald  sich  zeigt,  daß  er  in 
sich  selbst  einer  Differenzierung  und  Abstufung  fähig  ist. 
Bezeichnet  man  alle  Inbegriffe,  deren  Elemente  den  Gliedern 
der  natürlichen  Zahlenreihe  sich  eindeutig  zuordnen  lassen, 
als  solche  ersterMächtigkeit,  so  entsteht  die  Frage, 
ob  in  ihnen  das  Ganze  möglicher  Mannigfaltigkeiten  sich  er- 
schöpft, oder  aber  ob  sich  Mengen  angeben  lassen,  die  in  bezug 
auf  das  angegebene  Merkmal  eine  andere  Stellung  einnehmen. 
Das  letztere  ist  nun,  wie  bewiesen  wird,  in  der  Tat  der  Fall: 
während  der  Fortschritt  von  den  positiven  ganzen  Zahlen 
zur  Gesamtheit  der  rationalen  Zahlen  keine  Änderung  in  der 
Mächtigkeit  bedingt  und  das  gleiche  selbst  dann  gilt,  wenn 
wir  das  System  der  rationalen  zum  System  der  algebraischen 
Zahlen  erweitern,  so  nimmt  der  Inbegriff  einen  neuen  Cha- 
rakter an,  sobald  wir  ihm  weiterhin  das  Ganze  der  trans- 
zendenten Zahlen  hinzufügen  und  ihn  damit  zu  der  Mannig- 
faltigkeit der  reellen  Zahlen  überhaupt  ergänzen.  Diese 
Mannigfaltigkeit  stellt  somit  eine  neue  Stufe  dar,  die  sich 
über  der  ersten   erhebt;   denn  sie  faßt  einerseits   Inbegriffe 

Cassirer,  Substanzbegriff  6  81 


erster  Mächtigkeit  in  sich,  während  sie  anderseits  über  sie 
hinausgeht,  da  bei  dem  Versuch  der  Zuordnung  ihrer  Elemente 
zu  denen  der  natürlichen  Zahlenreihe  stets  eine  Unendlichkeit 
unverbundener  Glieder  zurückbleibt*.  Die  Einführung  der 
transfiniten  Zahlen  «i  und  «o  will  lediglich  diesen  charakte- 
ristischen Grundunterschied  festhalten.  Die  neue  Zahl  besagt 
auch  hier  nichts  anderes  als  einen  neuen  Gesichtspunkt, 
nach  welchem  unendliche  Inbegriffe  sich  ordnen  lassen.  Ein 
komplexerer  Gehalt  an  Unterscheidungsmerkmalen  ergibt 
sich,  wenn  man  den  transfiniten  Kardinalzahlen,  die 
sich  lediglich  auf  die  Angabe  der  Mächtigkeit  unendlicher 
Mengen  beschränken,  das  System  der  zugehörigen  Ordnungs- 
zahlen zur  Seite  stellt,  das  uns  entsteht,  sobald  wir  die  be- 
trachteten Mengen  nicht  lediglich  hinsichtlich  der  Anzahl 
der  Elemente  vergleichen,  sondern  zugleich  die  Stellung 
der  Glieder  im  Inbegriff  in  Betracht  ziehen.  Wir  sprechen 
zwei  wohlgeordneten  Mengen  MundN**  dieselbe  Ordnungszahl 
oder  denselben  ,, Ordnungstypus"  zu,  wenn  sich  die  Elemente 
beider  unter  Festhaltung  der  Abfolge,  die 
für  beide  Inbegriffe  gilt,  einander  gegenseitig  eindeutig  zu- 
ordnen lassen:  so  daß  also,  wenn  E  und  F  Elemente  von 
M,  El  und  Fl  die  entsprechenden  Elemente  von  N  sind,  die 
Stellung  von  E  und  F  in  der  Succession  der  ersten  Menge  in 
Übereinstimmung  ist  mit  der  Stellung  von  Ei  und  Fi  in  der 
Succession  der  zweiten  Menge.  Geht,  mit  anderen  Worten, 
in  der  ersten  Menge  E  vor  F  voraus,  so  muß  auch  in  der 
zweiten  Ej  vor  Fj  vorausgehen***.  Während  somit  bei  der  Ver- 
gleichung  der  Mächtigkeit  zweier  Mannigfaltigkeiten  von 
jeder  beliebigen  Anordnung  ihrer  Glieder  Gebrauch  gemacht 
werden  konnte,  sind  wir  bei  Feststellung  ihres  Ordnungstypus 
an  eine  bestimmt  vorgeschriebene  Art  der  Aufeinanderfolge 
gebunden.     Sprechen  wir  nun  allen  Reihen,  die  sich  gemäß 


*  Einige  nähere  Ausführungen  in  m.  Aufsatz  „Kant  und  die 
moderne  Mathematik"  (Kant- Studien  XII,  21  ff.);  für  alle  Einzelheiten 
muß  auf  die  dort  angeführte  Literatur,  sowie  bes.  auf  C  a  n  t  o  r  s  eigene 
Darstellung  in  den  „Mathemat.  Annalen"  verwiesen  werden. 

**  Zxu"  Definition  der  „wohlgeordneten  Menge"  s.  C  a  n  t  o  r  ,  Grund- 
lagen einer  allgemeinen  Mannigfaltigkeitslehre,   §  2. 

***  C  a  n  t  o  r  ,  a.  a.  O.,  §  2,  S.  5. 

82 


der  angegebenen  Bedingung  der  Folge  der  natürlichen  Zahlen 
eindeutig  zuordnen  lassen,  den  Ordnungstypus  w  zu,  so 
können  wir  weiterhin,  indem  wir  solchen  Reihen  in  ihrer 
Gesamtheit  je  1,  2  oder  3  Glieder  hinzufügen,  Reihen  vom 
Typus  w  +  l,  10  -{-  2,  w  +  3  bilden,  weiterhin  aber  durch 
Vereinigung  zweier  oder  mehrerer  Inbegriffe  vom  Typus  tu 
die  Ordnungstypen  2  w,  3  w,  ...  n  w  erschaffen,  um  sodann, 
in  immer  weiterer  Anwendung  dieses  Verfahrens,  zur  Kon- 


n 


struktion  der  Typen  w^,  to^,  .  .  .  w  ,  ja  auch  w^,  ^  usf. 
überzugehen.  Und  es  sind  keineswegs  bloß  willkürliche 
Symbole,  die  hiermit  eingeführt  werden,  sondern  Bezeich- 
nungen begrifflicher  Bestimmtheiten  und  Unterschiede, 
die  im  Gebiet  der  unendlichen  Mannigfaltigkeiten  tatsächlich 
gegeben  und  unzweideutig  aufweisbar  sind.  Die  Form  der 
Zählung  ist  auch  hier  nur  der  Ausdruck  einer  notwendigen 
logischen  Differenzierung,  die  erst  durch  jene  Form 
ihre  klare  und  vollständige  Fassung  erhält.  — 

Die  metaphysischen  Probleme  des  Aktual-Unendlichen 
treten  bei  dieser  Form  der  Ableitung  gänzlich  zurück.  Denn 
es  handelt  sich  —  wie  man  mit  Recht  betont  hat*  —  bei 
den  neuen  Zahlgebilden  nicht  sowohl  um  ,, unendliche  Zahlen", 
als  vielmehr  um  ,, Zahlen  von  etwas  Unendlichem";  —  um 
mathematische  Ausdrücke,  die  wir  uns  schaffen,  um  be- 
stimmte unterscheidende  Charaktere  an  unendlichen  In- 
begriffen aufzufassen  und  festzuhalten.  Die  Konflikte,  die 
sich  aus  der  Verknüpfung  der  Begriffe  „Unendlichkeit"  und 
„W  i  r  k  1  i  c  h  k  e  i  t"  ergeben,  liegen  demnach  hier,  wo  wir 
uns  durchaus  im  Gebiet  rein  ideeller  Setzungen  bewegen, 
noch  völlig  fern.  In  zweifacher  Form  können  diese  Konflikte 
sich  darstellen,  je  nachdem  sie  von  der  Seite  des  Objekts  oder  des 
Subjekts,  von  der  Welt  oder  von  der  Tätigkeit  des  erkennenden 
Ich  aus  betrachtet  werden.  In  der  ersteren  Hinsicht  wird  die 
Unmöglichkeit  des  Aktual-Unendlichen  dadurch  erwiesen, 
daß  die  Gegenstände,  auf  die  der  Zählakt  sich  richtet 
und  die  er,  wie  es  scheint,  voraussetzen  muß,  stets  nur  in 

*    S.  K  e  r  r  y  ,    System  einer  Theorie   der  Grenzbegriffe,   Leipzig  iind 
Wien  1890,  S.  68  f. 

6*  83 


begrenzter  Anzahl  gegeben  sein  können.  Gleichviel,  welche 
Weite  und  welchen  Umfang  wir  der  abstrakten  Zahl  zu- 
sprechen mögen:  das  Gezählte  muß  stets  in  bestimmten 
Grenzen  eingeschlossen  gedacht  werden,  da  es  uns  nicht 
anders,  als  vermöge  der  Erfahrung,  die  von  Einzelheit  zu 
Einzelheit  fortschreitet,  zugänglich  ist.  Auf  der  andern  Seite 
ist  es  die  psychologische  Synthese  des  Zähl- 
akts selbst,  die  das  Aktual-Unendliche  ausschließen 
soll:  kein  „endlicher  Verstand"  vermag  unbegrenzt  viele  Ein- 
heiten tatsächlich  zu  durchlaufen  und  zueinander  successiv 
hinzuzufügen.  Beide  Einwände  aber  verlieren  gegenüber  dem 
„Transfiniten",  wenn  wir  es  auf  seine  streng  mathematische 
Bedeutung  beschränken,  ihr  Recht.  Die  ,, Materie"  des 
Zählens  steht  hier  unbegrenzt  zur  Verfügung,  da  sie  selbst 
nicht  empirischer,  sondern  logisch-begrifflicher  Natur  ist. 
Nicht  Aussagen  von  Dingen,  sondern  Urteile  über  Zahlen 
und  Zahlenbegriffe  sind  es,  die  zusammengefaßt 
werden:  so  daß  der  „Stoff",  der  etwa  vorausgesetzt  wird, 
selbst  nicht  als  äußerlich  gegeben,  sondern  als  in  freier  Kon- 
struktion entstanden  zu  denken  ist.  Ebensowenig  aber  ist 
der  psychologische  Vollzug  besonderer,  isolierter  V  o  r  s  t  e  1  - 
lungsakte  und  ihre  nachträgliche  Summierung  hier  in 
irgendeiner  Weise  erfordert.  Der  Begriff  des  Transfiniten 
dient  vielmehr  dem  umgekehrten  Gedanken:  er  stellt  die 
Unabhängigkeit  des  reinen  logischen  Gehalts  der  Zahl 
von  der  ,, Zählung"  —  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  — 
dar.  Schon  für  die  Begründung  der  Irrationalzahl  war  es  un- 
umgänglich, unendliche  Zahlenklassen  zu  betrachten,  die 
lediglich  durch  eine  allgemeine  begriffliche  Vorschrift  in  der 
Totalität  ihrer  Elemente  dargestellt  und  überblickt,  nicht 
aber  gliedweise  abgezählt  werden  konnten.  Die  neue  Zahl- 
kategorie bringt  diesen  fundamentalen  Unterschied  zu  all- 
gemeinster Anerkennung.  Cantor  unterscheidet  ausdrücklich 
die  „logische  Funktion",  in  der  das  Transfinite  sich  begründet, 
von  dem  Verfahren  der  successiven  Setzung  und  Vereinigung 
von  Einheiten.  Die  Zahl  w  ist  nicht  das  Ergebnis  solchen 
immer  erneuten  Hinzutuns  einzelner  Elemente,  sondern  sie  will 
lediglich  der  Ausdruck  dafür  sein,  daß  der  ganze  unbeschränkte 

84 


Inbegriff  der  natürlichen  Zahlen,  in  welchem  es  kein  „letztes 
Glied"  gibt,  „in  seiner  natürlichen  Succession  dem  Gesetze 
nach  gegeben  sei".  ,,Es  ist  sogar  erlaubt,  sich  die  neu  ge- 
schaffene Zahl  w  als  G  r  e  n  z  e  zu  denken,  welcher  die  Zahlen 
1,  2,  3,  . . .,  V,  ....  zustreben,  wenn  darunter  nichts  anderes 
verstanden  wird,  als  daß  co  die  erste  ganze  Zahl  sein  soll, 
welche  auf  alle  Zahlen  v  folgt,  d.  h.  größer  zu  nennen  ist, 
als  jede  der  Zahlen  v  . . .  Die  logische  Funktion,  welche  uns 
w  geliefert  hat,  ist  offenbar  verschieden  von  dem  ersten 
Erzeugungsprinzip,  ich  nenne  sie  das  zweite  Erzeugungs- 
prinzip ganzer  realer  Zahlen  und  definiere  dasselbe 
näher  dahin,  daß  —  wenn  irgendeine  bestimmte  Sukzession 
definierter  ganzer  realer  Zahlen  vorliegt,  von  denen  keine 
größte  existiert  —  auf  Grund  dieses  zweiten  Erzeugungsprinzips 
eine  neue  Zahl  geschaffen  wird,  welche  als  Grenze  jener 
Zahlen  gedacht,  d.  h.  als  die  ihnen  allen  nächst  größere  Zahl 
definiert  wird*." 

Im  Grunde  freilich  ist  dieses  „zweite  Erzeugungsprinzip" 
nur  deshalb  zulässig  und  fruchtbar,  weil  es  kein  völlig  neues 
Verfahren  darstellt,  sondern  nur  die  Tendenz  eines  Gedankens 
weiterführt,  der  für  jede  logische  Begründung  der 
Zahl  überhaupt  unerläßlich  ist.  Die  Betrachtung  der 
Eigenschaften  äußerer  Dinge  wie  diejenige  einzelner  psychi- 
scher Inhalte  und  Vorstellungsakte  erwies  sich  als  unfähig, 
auch  nur  die  Reihe  der  ,, natürlichen"  Zahlen  in  ihrer  gesetz- 
lichen Ordnung  aufzubauen  und  zum  vollen  Verständnis  zu 
bringen.  Hier  bereits  war  es  nicht  das  bloße  Hinzutun  von 
Einheit  zu  Einheit,  das  die  Begriffsbildung  beherrschte; 
vielmehr  zeigte  es  sich,  daß  die  einzelnen  Glieder  der  Zahlen- 
reihe und  somit  ihr  gesamter  Umfang  nur  dadurch  zur 
Ableitung  kommen  konnte,  daß  ein  und  dieselbe  erzeu- 
gende Relation,  als  inhaltlich  identisch 
erfaßt  und  durch  alle  Abwandlungen  der  besonderen  An- 
wendung hindurch  festgehalten  wurde.  Es  ist  der  gleiche 
Gedanke,  der  jetzt  nur  zu  schärferer  Ausprägung  gelangt. 
Wie  die  unendliche  Vielheit  der  natürlichen  Zahlen  zuletzt 
durch    einen  Begriff,  durch  ein  allgemein  gültiges  Prinzip 

*  Cantor,   Grundlagen  §  11,  S.  33. 

85 


gesetzt  ist,  so  läßt  sich  ihr  Gehalt  wiederum  in  einen 
Begriff  zusammenziehen.  Für  das  mathematische  Denken 
wird  die  fundamentale  Beziehung,  die  die  Allheit  der  Glieder, 
die  aus  ihr  hervorgehen  können,  in  sich  schließt,  selbst 
wiederum  zu  einem  neuen  Element,  zu  einer  Art  Grund- 
einheit, von  welcher  eine  neue  Form  der  Zahlbildung  ihren 
Ausgang  nimmt.  Der  gesamte  unendliche  Inbegriff  der  natür- 
lichen Zahlen  wird,  sofern  er  „dem  Gesetze  nach  gegeben", 
d.  h.  als  Einheit  zu  betrachten  und  zu  behandeln  ist,  zum 
Ansatz  für  einen  neuen  konstruktiven  Aufbau.  Über  der  ersten 
Ordnung  erheben  sich  andere  und  komplexere,  die  jene  als 
Material  brauchen  und  zugrunde  legen.  Von  neuem  zeigt  sich 
somit  die  Befreiung  des  Begriffs  der  Zahl  von  dem  Begriff  der 
kollektiven  Vielheit.  Die  ,,Zahr'  t«  als  Aggregat 
einzelner  Einheiten  auffassen  und  darstellen  zu  wollen,  wäre 
widersinnig  und  würde  ihren  eigenen  Begriff  aufheben.  Da- 
gegen bewährt  sich  auch  hier  die  ordinale  Betrachtungsweise: 
denn  im  Begriff  einer  neuen  Setzung,  die  auf  alle  Elemente 
der  natürlichen  Zahlenreihe  folgt,  liegt  kein  Widerspruch, 
sofern  nur  daran  festgehalten  wird,  daß  diese  Allheit  logisch 
in  einem  einzigen  Begriff  zu  übersehen  und  zu  erschöpfen 
ist. 

Auch  das  Problem  der  Unendlichkeit  der  Zeit  kann 
hier  zunächst  noch  völlig  außer  Betracht  bleiben.  Denn 
der  Sinn  des  „Folgens"  in  einer  Reihe  ist  von  dem  der  kon- 
kreten Zeitfolge  unabhängig.  Wie  die  Drei  auf  die  Zwei  nicht 
im  Sinne  des  Nacheinander  von  Ereignissen  folgt,  sondern 
mit  diesem  Verhältnis  lediglich  der  logische  Umstand  bezeich- 
net werden  soll,  daß  die  Definition  der  Drei  die  der  Zwei 
„voraussetzt",  so  gilt  das  gleiche  in  noch  strengerer  Bedeutung 
für  die  Beziehung  zwischen  den  transfiniten  und  den  endlichen 
Zahlen.  Daß  die  Zahl  w  „nach"  allen  endlichen  Zahlen  der 
natürlichen  Zahlenreihe  zu  setzen  ist,  bedeutet  zuletzt  lediglich 
eine  derartige  begriffliche  Abhängigkeit  in  der  Folge  der  Be- 
gründung. Die  Urteile,  in  welche  das  Transfinite  ein- 
geht, erweisen  sich  als  komplexe  Aussagen,  die  durch  die 
Analyse  auf  Verhältnisbestimmungen  unendlicher  Inbegriffe 
„natürlicher"  Zahlen  zurückgeführt  werden.    In  diesem  Sinne 

86 


herrscht  denn  auch  zwischen  dem  einen  und  dem  anderen 
Gebiet  eine  durchgängige  begriffliche  Kontinuität. 
Die  neuen  Gebilde  sind  „Zahlen",  sofern  sie  einmal  in  sich  selbst 
eine  vorgeschriebene  Reihenform  besitzen,  sodann  aber  be- 
stimmten Gesetzen  rechnerischer  Verknüpfung  ge- 
horchen, die  denen  der  endlichen  Zahlen  analog  sind,  wenn- 
gleich sie  nicht  in  allen  Punkten  mit  ihnen  übereinstimmen*. 
Nicht  von  außen  her  werden  somit  die  neuen  Gebilde 
des  Negativen,  des  Irrationalen  und  Transfiniten  dem  Zahl- 
system eingefügt,  sondern  sie  erwachsen  aus  der  stetigen  Ent- 
faltung der  logischen  Grundfunktion,  die  schon  in  der  ersten 
Anlage  des  Systems  sich  wirksam  erwies.  Eine  neue  prin- 
zipielle Wendung  aber  tritt  ein,  sobald  dem  in  sich  selbst 
fertigen  und  geschlossenen  Inbegriff  der  reellen  Zahlen  die 
komplexen  Zahlensysteme  gegenübertreten.  Jetzt  handelt 
es  sich  —  gemäß  der  ,, Metaphysik  des  Imaginären",  die 
Gauss  entwickelt  und  begründet  hat  —  nicht  mehr  darum, 
die  allgemeinsten  Gesetze  der  Ordnung  in  einer  Reihe  fest- 
zustellen, sondern  um  die  Zusammenfassung  einer  Mehrheit 
von  Reihen,  deren  jede  durch  eine  bestimmte  erzeugende 
Relation  gegeben  ist,  zu  einer  Einheit  der  Bestimmung. 
Mit  diesem  Fortgang  zu  einer  mehrdimensionalen  Mannig- 
faltigkeit treten  logische  Probleme  hervor,  die  ihre  vollständige 
Ausprägung  erst  außerhalb  der  Grenzen  der  reinen  Zahlen- 
lehre im  Gebiet  der  allgemeinen  Geometrie  finden. 


*  Näheres   zur   Arithmetik    des   Transfiniten    z.  B.  bei   Russell, 
I  286,  §  294  f. 


87 


Drittes  Kapitel: 
Der  Raumbegriff  und  die  Geometrie. 

Die  Entwicklung  des  Zahlbegriffs  und  die  fortschreitende 
logische  Umbildung,  die  er  erfuhr,  zeigte  sich  von  einem  all- 
gemeinen Grundmotiv  beherrscht,  das  allmählich  zu  immer 
bestimmterem  Ausdruck  gelangte.  Der  Gehalt  des  Zahl- 
begriffs konnte  erst  vollständig  erfaßt  werden,  nachdem  das 
Denken  sich  entwöhnt  hatte,  für  jede  seiner  Bildungen  eine 
Entsprechung  im  konkreten  Dasein  zu  suchen.  Die  Zahl 
erwies  sich  in  ihrer  allgemeinsten  Bedeutung  als  eine  kom- 
plexe gedankliche  Bestimmtheit,  die  in  der  Beschaffenheit 
der  physischen  Gegenstände  kein  unmittelbares  sinnliches 
Abbild  besitzt.  So  notwendig  es  indessen  im  Aufbau  der  mo- 
dernen Analysis  und  Algebra  wird,  diese  Entwicklung  zu  voll- 
ziehen, so  kann  es  dennoch  scheinen,  als  stelle  sich  in  ihr 
nur  ein  künstlicher  Umweg  des  Denkens,  nicht  aber  das 
ursprüngliche  und  gleichsam  natürliche  Prinzip  der 
wissenschaftlichen  Begriffsbildung  dar.  Rein  und  vollständig 
scheint  dieses  Prinzip  nur  dort  zutage  zu  treten,  wo  das 
Denken  sich  nicht,  wie  im  Bereich  der  Zahl,  lediglich  nach 
selbstgeschaffenen  Gesetzen  betätigt,  sondern  seinen  Wert 
und  Halt  in  der  Anschauung  sucht.  Hier  allein  liegt 
denn  auch  für  jede  logische  Theorie  des  Begriffs  die  kritische 
Entscheidung.  Ein  begriffliches  Gebilde  mag  noch  so  fein  ge- 
sponnen,- noch  so  folgerecht  und  widerspruchslos  aus  ursprüng- 
lichen gedanklichen  Voraussetzungen  aufgebaut  sein:  es 
erscheint-  dennoch  leer  und  ohne  Gehalt,  solange  es  unsere 
Anschauung  nicht  vertieft  und  bereichert.  Hält  man  aber 
einmal  dieses  Kriterium  fest,  so  tritt  damit  der  Gegensatz 
der    logischen    Grundansichten    in   ein    neues    Licht.       Das 

88 


Muster,  dem  die  Theorie  zu  folgen  hat,  liegt  fortan 
nicht  ausschließlich  in  der  Algebra,  sondern  reiner  und  ur- 
sprünglicher in  der  Geometrie  vor  uns.  Nicht  die  Zahl- 
begriffe, sondern  die  Raumbegriffe  sind  es,  die  kraft 
ihrer  unmittelbaren  Beziehung  zur  konkreten  Wirklichkeit 
als  das  eigentliche  Vorbild  zu  gelten  haben. 

In  der  Tat  tritt  sogleich  in  den  geschichtlichen  Anfängen 
der  Logik  dieser  sachliche  Zusammenhang  aufs  stärkste  hervor. 
Begriff  und  Gestalt  sind  Synonyma :  sie  fließen 
in  der  Wortbedeutung  des  €ldo<;  zu  einer  unterschiedslosen 
Einheit  zusammen.  Das  sinnlich  Mannigfaltige  ordnet  und  glie- 
dert sich,  indem  sich  aus  ihm  bestimmte  räumliche  Formen 
herausheben,  die  durch  alle  Verschiedenheit  hindurchgehen 
und  sich  in  ihr  als  gleichbleibende  Züge  behaupten.  In  diesen 
Formen  besitzen  wir  das  feste  Grundschema,  kraft  dessen 
wir  mitten  im  Wandel  der  sinnlichen  Dinge  ein  Ganzes  un- 
veränderlicher Bestimmtheiten,  einen  Bereich  des  „immer 
Seienden"  ergreifen.  So  wird  die  geometrische  Gestalt 
zugleich  zum  Ausdruck  und  zur  Bewährung  des  logischen 
Typus.  Der  Grundgedanke  der  Gattungslogik  ist  von 
einer  neuen  S^ite  her  befestigt:  und  diesmal  ist  es  nicht  die 
populäre  Weltansicht,  noch  der  grammatische  Bau 
der  Sprache,  sondern  die  Struktur  einer  fundamentalen 
mathematischen  Wissenschaft,  worauf  er  sich  stützt.  Wie  wir 
den  Umriß  der  sichtbaren  Gestalt  als  identisch  wiedererkennen, 
gleichviel,  an  welchem  sinnlichen  Stoff  sie  uns  entgegen- 
tritt oder  in  welchem  Maßstab  wir  sie  entworfen  denken: 
so  gilt  es  allgemein,  die  obersten  Gattungen  aufzustellen, 
denen  das  Seiende  seine  gleichartige  begriffliche  Prägung, 
denen  es  die  konstante  Wiederkehr  bestimmter  Einzelzüge 
verdankt.  — 

Der  Zusammenhang,  der  hier  hervortritt,  ist  keineswegs 
ausschließlich  für  die  Fassung  der  logischen  Probleme  be- 
deutsam geworden;  er  hat  auch  in  der  wissenschaftlichen 
Entwicklung  der  Geometrie  selbst  entscheidend  nachgewirkt. 
Die  synthetische  Geometrie  des  Altertums  zeigt  sich  von  der 
Grundanschauung  beherrscht,  die  in  der  formalen  Logik 
ihren   allgemeinen  Ausdruck  findet.      Die  ,,  Gattungen"   des 

89 


Seienden  können  nur  dann  in  voller  Schärfe  erfaßt  werden, 
wenn  sie  wechselseitig  gegeneinander  streng  geschieden  und 
auf  einen  bestimmten,  ein  für  allemal  fixierten  Kreis  von 
Inhalten  eingeschränkt  werden.  Somit  bilden  auch  die  ver- 
schiedenartigen geometrischen  Gestalten  je  einen  abgegrenzten 
Bezirk  von  unveränderlicher  Eigenart.  Nicht  sowohl  auf  die 
Einheit  der  Grundformen  als  vielmehr  auf  ihre  strenge  Unter- 
scheidung ist  das  Interesse  der  Beweisführung  zu- 
nächst gerichtet.  Die  Ansicht  freilich,  daß  dem  mathemati- 
schen Geiste  der  Griechen  das  Problem  der  Veränderung 
überhaupt  fremd  geblieben  sei,  ist  durch  die  fortschreitende 
Erforschung  der  geschichtlichen  Quellen  mehr  und  mehr 
widerlegt  worden.  Nicht  nur  haben  sie  den  Begriff  der  Zahl 
bereits  in  aller  Schärfe  erfaßt,  so  daß  auch  das  Irrationale 
ihm  eingefügt  und  unter  ihm  befaßt  wird,  —  dasEphodion  des 
Archimedes  zeigt  auch  in  voller  Klarheit,  wie  innig  das  grie- 
chische Denken  dort,  wo  es  frei  den  Weg  der  methodischen 
Entdeckung  ging,  sich  mit  dem  Begriff  der  Stetigkeit  durch- 
drungen und  damit  das  Grundverfahren  der  Analysis  des 
Unendlichen  selbst  vorweggenommen  hat*.  Aber  gerade, 
wenn  man  sich  dies  gegenwärtig  hält,  wird  um  so  mehr  der 
Abstand  deutlich,  der  hier  zwischen  der  Methode  der  Ent- 
deckung und  der  Methode  der  wissenschaftlichen  Dar- 
stellung zurückbleibt.  Die  Darstellung  steht,  wie  man 
nunmehr  bemerkt,  unter  dem  Druck  bestimmter  logischer 
Theorien,  von  dem  sie  sich  nicht  gänzlich  zu  befreien  vermag. 
Da  Kreis  und  Ellipse,  Ellipse  und  Parabel  nicht  dem  gleichen 
sichtbar-anschaulichen  Typus  angehören:  so  können  sie, 
wie  es  scheint,  im  strengen  Sinne  auch  nicht  unter  die  Einheit 
eines  Begriffs  fallen.  So  sehr  daher  die  geometrischen  Ur- 
teile, die  wir  über  beide  Gebiete  fällen  können,  sich  in- 
haltlich berühren  und  einander  entsprechen  mögen,  so  handelt 
es  sich  doch  hier  nur  um  eine  sekundäre  Ähnlichkeit  des  Ver- 
haltens, nicht  um  eine  ursprüngliche  logische  Identität.  Die 
Begründung  für  beide  Arten  von  Aussagen  ist  in  jedem 


♦  Vgl.  hierzu  bes.  die  Darstellung  von  Max  Simon,  Geschichte 
der  Mathematik  im  Altert iim  in  Verbindung  mit  antiker  Kulturgeschichte, 
Berlin  1909,  bes.  S.  256,  274  ff,  373. 

90 


Falle  streng  getrennt  zu  geben:  sie  erhält  ihre  Geltung  und 
Notwendigkeit  erst,  wenn  sie  einzeln  aus  dem  jeweilig  be- 
trachteten Begriff  und  seiner  spezifischen  Struktur  heraus 
gewonnen  ist.  Jede  Verschiedenheit  in  der  Lage  und  An- 
ordnung der  gegebenen  und  gesuchten  Linien  eines  Problems 
stellt  somit  den  Beweis  vor  eine  neue  Frage;  jeder  Differenz 
im  anschaulichen  Gesamtverhalten  der  Figur  entspricht  eine 
Differenz  der  Auffassung  und  Ableitung.  Ein  Problem, 
das  die  neuere  synthetische  Geometrie  durch  eine  einzige  all- 
gemein anwendbare  Konstruktion  löst, -muß  bei  ApoUonius 
in  mehr  als  achtzig,  ^^  nur  durch  die  Lage  unterschie^eiie^älle 
zerlegt  werden*.  Die  Einheit  der  konstruktiven  Prinzipien 
der  Geometrie  tritt  zurück  hinter  der  Besonderung  ihrer 
Einzelgestalten,  deren  jede  für  sich  als  eine  eigene  nicht  weiter 
zurückführbare  Wesenheit  aufgefaßt  und  begriffen  werden 
will. 

Die  Umgestaltung,  die  die  Geometrie  in  der  neueren 
Zeit  erfährt,  beginnt  mit  der  Einsicht  in  den  philosophi- 
schen Grundmangel  dieses  Verfahrens.  Es  ist  kein  Zufall, 
daß  die  neue  Form  der  Geometrie,  so  sehr  sie,  insbesondere 
durch  Fermat,  im  einzelnen  vorbereitet  war,  erst  durch 
Descartes  ihre  endgültige  Fixierung  erhält. •  Die  Reform 
der  Geometrie  konnte  erst  zu  vollständiger  Durchführung 
gelangen,  nachdem  ein  neues  Ideal  der  Methode  in 
aller  Klarheit  erfaßt  war.  Die  Methode  Descartes'  aber  ist 
überall  darauf  gerichtet,  eine  eindeutige  Ordnung  und 
Verknüpfung  zwischen  allen  Einzeläußerungen  des 
Denkens  herzustellen.  Nicht  der  Inhalt  eines  bestimmten 
Gedankens  entscheidet  über  seinen  reinen  Erkenntniswert, 
sondern  die  Notwendigkeit,  kraft  deren  er  aus 
letzten  ursprünglichen  Grundsätzen  in  lückenloser  deduktiver 
Folge  hergeleitet  ist.  Die  erste  Vorschrift  alles  rationalen 
Wissens  muß  somit  darin  bestehen,  die  Erkenntnisse  derart 
zu   gliedern,    daß   sie    eine    einzige,    in    sich    ab- 


*  S.  hierzu  R  e  y  e ,  Die  sjoithetische  Geometrie  im  Altertum  tmd  in 
der  Neuzeit.  (Jahresberichte  der  Deutschen  Mathematik.  -  Vereinigung. 
XI.  (1902)  S.  343  ff.)  —  Vgl.  auch  m.  Schrift.  Leibniz*  System  in  seinen 
wissensch.  Grundlagen,  Marburg  1902,  S.  220  ff. 

91 


geschlossene  Reihe  bilden,  innerhalb  deren  es  keine 
unvermittelten  Übergänge  gibt.  Kein  Glied  darf  hier  als 
gänzlich  neues  Element  zu  den  vorangehenden  hinzutreten, 
sondern  es  muß  schrittweise  aus  den  früheren  nach  einer  be- 
stimmten Regel  hervorgehen.  Was  immer  ein  Gegenstand 
menschlicher  Erkenntnis  werden  kann,  untersteht  notwendig 
dieser  Bedingung  der  stetigen  Verknüpfung,  so  daß  es  keine 
noch  so  entlegene  Frage  geben  kann,  die  wir  nicht  auf  diesem 
Wege  im  Fortgang  von  Grad  zu  Grad  zu  erreichen  und  völlig 
zu  beherrschen  vermöchten.  Dieser  schlichte  Gedanke, 
auf  den  der  „Discours  de  la  m^thode"  sich  aufbaut,  fordert 
und  bedingt  sogleich  eine  neue  allgemeine  Grundkonzeption 
der  Geometrie.  Geometrische  Erkenntnis  im  strengen  Sinne 
ist  nur  dort  vorhanden,  wo  die  Einzelobjekte  nicht  als  ge- 
sonderte Gegenstände  der  Untersuchung  unterbreitet  werden, 
sondern  ein  Verfahren  gegeben  ist,  nach  welchem  die  All- 
heit dieser  Objekte  konstruktiv  erzeugbar  ist.  Die  gewöhn- 
liche synthetische  Geometrie  aber  scheitert  gerade  an  dieser 
Forderung:  denn  ihr  Gegenstand  ist  das  isolierte  Raum- 
gebilde, dessen  Eigenschaften  sie  in  unmittelbarer  sinnlicher 
Anschauung  ergreift,  dessen  systematischen  Zusammenhang 
mit  anderen  Gebilden  sie  aber  niemals  vollständig  darzulegen 
vermag.  An  dieser  Stelle  tritt  mit  innerer  philosophischer 
Notwendigkeit  der  Gedanke  der  Ergänzung  des 
Raumbegriffs  durch  den  Zahlbegriff  ein. 
Das  Tagebuch  Descartes',  in  dem  sich  die  Entwicklung  seines 
Grundgedankens  verfolgen  läßt,  enthält  hierfür  einen  be- 
zeichnenden Ausdruck.  ,,Die  Wissenschaften  in  ihrem  jetzigen 
Zustand  sind  maskiert  und  würden  erst,  wenn  man  ihnen  die 
Maske  abnimmt,  in  voller  Schönheit  erscheinen:  wer  die 
Kette  derWissenschaften  überschaut,  dem 
wird  es  nicht  schwerer  fallen,  sie  im  Geiste  zu  behalten  als 
die  Reihe  der  Zahle  n*."  Das  ist  somit  das  Ziel,  das 
die  philosophische  Methode  sich  setzt:  daß  sie  alle  Gegenstände, 
auf  die  sie  sich  richtet,  in  der  gleichen  Strenge  der  systemati- 
schen Verknüpfung  wie  das  Ganze  der  Zahlen  begreift./  Hier 

*  Descartes,  Oeuvres  in^dites,  publ.  par  Foucher  de  Careil,  Paris  1859, 
8.4. 

92 


liegt  —  von  dem  Standpunkt  aus,  den  die  exakten  Wissen- 
schaften zur  Zeit  Descartes'  erreicht  haben  —  die  einzige 
Mannigfaltigkeit  vor,  die  von  einem  selbstgesetzten  Anfang 
aus  nach  immanenten  logischen  Gesetzen  aufgebaut  ist,  die 
somit  für  das  Denken  keine  prinzipiell  unlösbaren  Fragen 
in  sich  bergen  kann.  Die  Forderung,  die  Raumgebilde  als 
Zahlgebilde  darzustellen  und  sie  in  diesen  zum  voll- 
ständigen Ausdruck  zu  bringen,  kann,  wenn  man  sie  unter 
dem  Gesichtspunkt  der  Cartesischen  Ontologie  be- 
trachtet, befremdlich  scheinen:  denn  in  dieser  bedeutet  die 
,, Ausdehnung"  die  wahrhafte  Substanz  der  Naturdinge, 
also  einen  ursprünglichen,  nicht  weiter  zurückführbaren 
Grundbestand  des  Seins.  Aber  die  Analyse  des  Seins  muß 
an  dieser  Stelle  hinter  der  Analyse  der  Erkenntnis  zurück- 
treten. Wir  können  den  Raum  nur  dadurch  zu  völliger 
exakter  Begreiflichkeit  bringen,  daß  wir  ihm  den- 
selben logischen  Charakter  aufprägen,  der  bisher 
allein  der  Zahl  eignete.  Nicht  als  bloß  technisches  Instrument 
der  Messung  wird  hier  die  Zahl  ergriffen  und  angewandt, 
sondern  ihr  tieferer  Wert  liegt  darin,  daß  in  ihr  allein  das 
oberste  methodische  Postulat,  das  alle  Erkenntnis  erst 
zur  Erkenntnis  macht,  sich  vollkommen  erfüllt.  Die  Um- 
setzung der  Raumbegriffe  in  Zahlbegriffe  erhebt  daher  zu- 
gleich das  Ganze  der  geometrischen  Forschungen  auf  ein 
neues  gedankliches  Niveau.  Die  substantiellen  F  o  r  m  - 
begriffe  der  antiken  Geometrie,  die  in  starrer  Absonderung 
einander  gegenüberstanden,  verwandeln  sich  kraft  dieser 
Übertragung  in  reine  ,,R  eihenbegriff  e",  die  nach 
einem  bestimmten  Grundprinzip  aus  einander  erzeugbar 
werden.  So  ist  es  in  der  Tat  eine  echte  philosophische  ,, Re- 
volution der  Denkart",  auf  die  die  wissenschaftliche  Ent- 
deckung der  analytischen  Geometrie  sich  stützt.  Die  tra- 
ditionelle Logik  schien  unangreifbar,  solange  ihr  das  Verfahren 
der  antiken  synthetischen  Geometrie  als  unmittelbare  Be- 
stätigung und  Verkörperung  ihrer  Grundsätze  zur  Seite  stand; 
erst  die  Umbildung  des  Gehalts  der  Geometrie  schafft  Raum 
für  eine  neue  Logik  der  Mannigfaltigkeiten,  die  über  die 
Grenzen  der  Syllogistik  hinausgreift.  — 

93 


Dreser  Zusammenhang  hebt  sich  noch  schärfer  heraus, 
wenn  man  die  spezielle  Ausführung  betrachtet,  die  die  analy- 
tische Geometrie  bei  Descartes  erhält.  Auch  hier  zeigt  es  sich, 
daß  die  scheinbar  individuelle  Form  der  Darlegung  in  Wahrheit 
Züge  von  allgemeingültiger  Bedeutung  in  sich  faßt,  die  sich, 
wenngleich  in  anderer  Fassung  und  Einkleidung,  durch  die 
gesamte  philosophische  Geschichte  der  Geometrie  hindurch 
behauptet  haben.  Der  Grundbegriff,  auf  den  Descartes  seine 
Betrachtungen  aufbaut,  ist  der  Begriff  der  Bewegung. 
Vom  Standpunkt  der  bisherigen  Gesamtauffassung  liegt 
schon  hierin  ein  Problem.  Denn  nur  die  Einzelfigur, 
die  in  festen  abgeschlossenen  Grenzen  vor  uns  steht,  scheint 
der  wahrhaft  bestimmten  begrifflichen  Auffassung  zugänglich, 
während  der  Übergang  einer  Gestalt  in  die  andere  uns 
wiederum  in  das  Chaos  der  bloßen  Vorstellung,  in  das  sinnliche 
Reich  des  „Werdens"  zurückzuwerfen  droht.  In  der  Tat 
kann  es  zunächst  den  Anschein  haben,  als  werde  durch  die 
Anerkennung  des  Bewegungsbegriffs  in  die  Cartesische  Geo- 
metrie, entgegen  ihrer  eigentlichen  Grundtendenz,  ein  rational 
nicht  völlig  beherrschbares  Element  eingeführt.  Die  Be- 
wegung führt  sofort  auf  die  Frage  des  sich  bewegenden  „Sub- 
jekts" zurück;  setzt  aber  dieses  Subjekt  nicht  den  materiellen 
Körper,  also  ein  rein  empirisches  Moment  voraus?  Dieses 
Bedenken  schwindet  indessen,  sobald  man  die  Funktion, 
die  hier  dem  Begriff  der  Bewegung  zugewiesen  wird,  im  ein- 
zelnen verfolgt  und  analysiert.  Die  verschiedenen  Gestalten 
der  ebenen  Kurven  entstehen  dadurch,  daß  wir  einem  be- 
stimmten Punkt,  den  wir  als  Grundelement  fixieren, 
relativ  zu  einer  vertikalen  und  einer  horizontalen  Achse 
verschiedene  Arten  des  Fortschritts  vorschreiben.  Aus  der 
Festhaltung  und  Vereinigung  dieser  Fortschrittsarten  muß 
sich  die  Bestimmtheit  der  Linien,  die  auf  diese  Weise  als 
,, Bahnen"  von  Punkten  erzeugt  werden,  zuletzt  vollständig 
und  eindeutig  ableiten  lassen.  Hier  bezeichnet,  wie  man 
sieht,  die  Bewegung  nicht  einen  konkreten,  sondern  einen 
lediglich  idealen  Vorgang:  sie  ist  der  Ausdruck  der  Synthese, 
in  welcher  eine  successive  Mannigfaltigkeit  von  Lagebestim- 
mungen,  die  durch  irgendein   Gesetz  zusammenhängen,   zur 

94 


Einheit  eines  räumlichen  Gebildes  zusammengefaߣ  wird. 
Wie  vorher  der  Begriff  der  Zahl,  so  dient  auch  hier  der 
Begriff  der  Bewegung  nur  als  Beispiel  des  allgemeinen 
Reihenbegriffs.  Der  einzelne  Punkt  der  Ebene  wird 
zunächst  durch  den  Abstand  bezeichnet,  den  er  von  zwei 
festen  Graden  hat  und  erhält  hierdurch  seine  feste  systema- 
tische Stelle  innerhalb  der  Gesamtheit  der  möglichen  Lagen 
angewiesen.!  Die  so  gewonnenen  Punkt- Individualitäten  aber, 
die  durch  eindeutige  Zahlwerte  charakterisiert  sind,  bleiben 
nicht  schlechthin  nebeneinander  stehen,  sondern  werden 
durch  irgend  welche  komplexen  Regeln  derZuordnung 
in  verschiedener  Weise  aufeinander  bezogen  und  dadurch  zu 
einheitlichen  Gestalten  verknüpft.  Die  Vorstellung  der  ,, Be- 
wegung" der  Punkte  ist  nichts  anderes  als  das  sinnliche  Symbol 
für  diese  logischen  Akte  der  Zuordnung.  Die  anschauliche 
geometrische  Linie  löst  sich  kraft  dieses  Verfahrens  in  eine 
reine  Wertfolge  von  Zahlen  auf,  die  durch  eine  bestimmte 
arithmetische  Regel  miteinander  verknüpft  sind.  Alle  sinnlich 
aufweisbaren  Eigenschaften,  kraft  deren  wir  die  eine  Linie 
von  der  andern  unterscheiden,  wie  etwa  die  Konstanz  oder 
der  Wechsel  in  ihrer  Richtung  und  Krümmung,  müssen, 
sofern  sie  zum  exakten  begrifflichen  Ausdruck  gelangen 
sollen,  als  Eigentümlichkeiten  dieser  Wertfolgen  aussprechbar 
sein.  Die  Vermittlung  des  Bewegungsbegriffs  dient  also  in 
Wahrheit  nicht  den  Zwecken  der  Veranschaulichung,  sondern 
denen  der  fortschreitenden  Rationalisierung:  die  fertige  ge- 
gebene Form  wird  gleichsam  zerbrochen,  um  aus  einem  arith- 
metischen Reihengesetz  von  neuem  zu  entstehen.  Wie  streng 
diese  allgemeine  Forderung  aufrecht  erhalten  wird,  zeigt  sich 
in  Descartes'  Begründung  besonder  charakteristisch  darin, 
daß  sie  es  ist,  die  das  Gebiet  des  Geometrischen  selbst 
bestimmt  und  abgrenzt.  Die  ,, transzendenten"  Kurven 
werden  ausgeschaltet,  weil  bei  ihnen  —  nach  den  technischen 
Hilfsmitteln,  über  die  Descartes  verfügt  —  der  geforderte 
logische  Aufbau,  die  Ableitung  aus  den  Verhältnissen  reiner 
Zahlenregeln,  unmöglich  scheint.  Diese  Kurven,  die  ihrer 
anschaulichen  Bildung  nach  keinerlei  Ausnahmestellung  ein- 
nehmen, werden  dennoch  aus  der  Geometrie  verwiesen,  weil 

95 


sie  sich  der  neuen  Definition  des  geometrischen  Begriffs, 
durch  die  er  zuletzt  auf  eine  Gesamtheit  elementarer 
Rechnungsoperationen  zurückgeführt  wird,  nicht  fügen. 

Damit  aber  zeigt  sich  freilich  zugleich  die  Schranke  der 
Cartesischen  Geometrie,  die  in  der  weiteren  geschichtlichen 
Entwicklung  überschritten  werden  mußte.  Ein  neues  Ideal 
des  Begreifens  war  hier  gestellt;  aber  noch  vermochte 
dieses  Ideal  nicht  die  Gesamtheit  der  wissenschaft- 
lichen Fragen  zu  umspannen,  die  bisher  unter  dem  Namen  der 
Geometrie  vereinigt  waren.  Die  Strenge  der  Begriffsbildung 
mußte  durch  den  Ausschluß  wichtiger  und  weitreichender 
Gebiete  erkauft  werden.  Der  Weg  des  logischen  Fortschritts 
ist  daher  jetzt  eindeutig  vorgeschrieben.  Die  Auflösung  der 
Raumbegriffe  in  Reihenbegriffe  bleibt  der 
leitende  Gesichtspunkt;  aber  das  System  der  Reihenbegriffe 
muß  derart  vertieft  und  verfeinert  werden,  daß  dadurch  nicht 
nur,  wie  bisher,  ein  enger  Ausschnitt,  sondern  das  Gesamt- 
gebiet der  möglichen  räumlichen  Gestaltungen  übersehbar 
und  beherrschbar  wird.i  Diese  Forderung  ist  es,  kraft  deren  die 
Cartesische  Geometrie  sich  mit  innerer  Notwendigkeit  zur 
Infinitesimal-Geometrie  erweitert.  Hier  erst 
tritt  die  neue  Form  der  Begriffsbildung,  die  die  analytische 
Geometrie  in  ihren  allgemeinen  Umrissen  erkennen  ließ,  in 
vollkommener  Fassung  hervor.  Wiederum  wird  von  der  Be- 
trachtung einer  Grundreihe  x^x^ x„    ausgegangen,    der 

durch  eine  bestimmte  Regel  eine  andere  Reihe  von  Werten 
VxVi  • '  'V  n  zugeordnet  ist.  Aber  diese  Zuordnung  beschränkt 
sich  nicht  mehr  auf  die  gewöhnlichen  algebraischen  Ver- 
fahrungsweisen,  auf  die  Addition  und  Subtraktion,  Multi- 
plikation und  Division  von  Zahlen  oder  Zahlenstrecken, 
sondern  sie  umfaßt  jede  mögliche  Form  gesetzlicher  Ab- 
hängigkeit von  Größen  überhaupt.  Der  Zahlbegriff  erfüllt 
und  durchdringt  sich  mit  dem  allgemeinen  Funktionsbegriff: 
und  erst  dieses  Zusammenwirken  beider  Begriffe  gestattet  es, 
den  Gesamtgehalt  der  Geometrie  in  logischer  Vollendung 
darzustellen.  In  dem  Fortschritt  zur  Differential- Geometrie 
aber  tritt  zugleich  ein  neues  Moment  entscheidend  hervor. 
Es   ist   eine     unendliche    Mannigfaltigkeit    begrifflicher 

96 


Zuordnungen,  aus  deren  Vereinigung  erst  die  Kurve  als 
begriffliche  Gesamtheit  resultiert.  Daß  diese  Unendlichkeit 
der  Bestimmungsstücke  nicht  zu  einer  Auflösung  jeglicher 
Bestimmung  führt,  daß  es  vielmehr  möglich  ist,  sie  wiederum 
zur  Einheit  eines  geometrischen  Begriffs  zusammen- 
zuschließen :  das  kommt  erst  in  der  Methode,  deren  die  Infini- 
tesimal-Analysis  sich  bedient,  zu  voller  Klarheit.  Wenn  in  der 
analytischen  Geometrie  der  einzelne  Punkt  der  Ebene  wesent- 
lich durch  die  Zahlwerte  seiner  Koordinaten  x  und  y  bestimmt 
ist,  so  wird  jetzt,  kraft  der  Differentialgleichung  f(x,  y,  y')  =  0, 
jedem  derart  gegebenen  Punkte  zugleich  eine  bestimmte  Rich- 
tung des  Fortschritts  zugeordnet  und  die  Aufgabe 
besteht  nunmehr  darin,  aus  dem  Inbegriff  dieser  F  o  r  t  - 
Schrittsrichtungen  das  Ganze  einer  bestimmten 
Kurve,  mit  allen  Besonderheiten  ihres  geometrischen  Verlaufs, 
zu  rekonstruieren.  Die  Integration  der  Gleichung  bedeutet 
nichts  anderes,  als  die  Synthese  dieser  unendlich  vielen 
Richtungsbestimmtheiten  zu  einem  einheitlichen,  zusammen- 
hängenden Gebilde.  Ebenso  ordnet  eine  Differentialgleichung 
zweiter  Ordnung  f(x,  y,  y',  y")  =  0  jedem  Punkt  und  seiner 
Fortschreitungsrichtung  zugleich  einen  bestimmten  Krüm- 
mungsradius zu,  wobei  wiederum  die  Aufgabe  entsteht, 
aus  der  Gesamtheit  der  auf  diese  Weise  gewonnenen  Werte  der 
Krümmung  die  Form  der  Kurve  als  Ganzes  abzuleiten*. 
Die  Elemente,  auf  die  hierbei  zurückgegangen  wird, 
und  die  geometrisch  durch  den  Begriff  der  Richtung  und 
Krümmung  bezeichnet  werden,  sind,  ihrem  allgemeinsten 
Ausdruck  nach,  offenbar  nichts  anderes  als  einfache  Reihen- 
Prinzipien,  die  wir  in  ihrer  Gesamtheit  und  ihrer 
gesetzlich  geregelten  Veränderung  auffassen.  ^ 

Denken  wir  etwa,  im  Sinne  der  Infinitesimal-Analysis, 
den  Raum,  den  ein  bewegter  Körper  durchmißt,  als  Integral 
seiner  Geschwindigkeiten  dar^^estellt,  so  besteht  das  Ver- 
fahren, das  wir  hierbei  anwenden,  darin,  daß  wir  in  jeden 
Moment  der  tatsächlich  vor  sich  gehenden  Bewegung  zugleich 
ein   bestimmtes    Gesetz   des   Fortschritts   hineinlegen,    durch 

*  Vgl.  hrz.  F.  Klein.  Einleitung  in  die  höhere  Geometrie,  Autogra- 
phierte  Vorlesung,  Göttingen  1893,  I,  143  ff. 

Cassirer,  Substanzbegriff  7  97 


welches  der  Übergang  zu  den  folgenden  Raumpunkten  ein- 
deutig bestimmt  sein  soll.  Die  ,,  Geschwindigkeit",  die  ein 
Körper  an  einem  bestimmten  Punkte  seiner  Bahn  in  einem 
gegebenen  Zeitmoment  besitzt,  läßt  sich  begrifflich  nicht 
anders  fassen  und  darstellen  als  durch  die  vergleichende 
Gegenüberstellung  und  wechselseitige  Beziehung  je  einer 
Reihe  von  Raumwerten  und  Zeitwerten.  Sie 
ist,  rein  logisch  betrachtet,  keine  absolute  Eigen- 
schaft des  bewegten  Dinges,  sondern  lediglich  der 
Ausdruck  für  dieses  wechselseitige  Abhängigkeitsverhält- 
nis. Wir  nehmen  an,  daß  der  Körper,  wenn  in  dem  betrach- 
teten Punkte  jede  äußere  Einwirkung  auf  ihn  aufhörte, 
fortan  gleichförmig  in  bestimmt  angebbarer  Weise  fort- 
schreiten, d.  h.,  daß  er  nach  Ablauf  einer  gewissen  Zeit 
tj  die  Strecke  Sj,  nach  Ablauf  einer  Zeit  tj  =  2  t^  die  Strecke 
2  s,  usw.  durchmessen  haben  würde.  In  alledem  handelt  es 
sich  nicht  darum,  die  wirkliche  Bewegung  des  Körpers 
durch  Angabe  der  einzelnen  Stellen,  die  er  durchläuft,  be- 
grifflich nachzuzeichnen,  sondern  seine  Bahn  rein  ideell 
au  den  verschiedenen  Gesetzen  der  möglichen  Zu- 
ordnung von  Raum-  und  Zeitpunkten  zu  konstruieren.  Die 
einzelnen  Werte  innerhalb  der  mannigfachen  Reihen  werden 
niemals  tatsächlich  angenommen,  da  die  Gleichförmigkeit 
der  Bewegung  aktuell  niemals  verwirklicht  ist;  aber  nichts- 
destoweniger bedarf  der  Gedanke  notwendig  dieser  hypo- 
thetischen Werte  und  Wertfolgen  um  sich  das  komplexe  Ganze, 
der  wirklichen  Bahn  völlig  durchsichtig  zu  machen.  Das 
gleiche  gilt  von  dem  Verfahren,  dessen  sich  die  Analysis  des 
Unendlichen  im  Gebiete  der  Geometrie  bedient.  Die  Kurve 
wird  auch  hier  zunächst  als  eine  bestimmte  Ordnung  von 
Punkten  aufgefaßt;  aber  diese  Ordnung,  die  in  ihrer  un- 
mittelbaren Gegebenheit  eine  sehr  verwickelte  Reihenform 
darstellt,  wird  begrifflich  gegliedert,  indem  sie  als  eine  Mannig- 
faltigkeit einfacher  Reihengesetze  aufgefaßt  wird,  die 
sich  gegenseitig  bestimmen.  Die  konkrete  fertige  Gestalt 
zerlegt  sich  in  einen  Inbegriff  virtueller  Bestimmungs- 
gründe, die  von  Punkt  zu  Punkt  als  verschieden  anzusetzen 
sind.  Die  geometrische  Form,  die  vom  Standpunkt  der  direkten 

98 


Anschauung,  den  auch  die  elementare  synthetische  Geometrie 
noch  teilt,  als  etwas  schlechthin  Bekanntes  und  unmittelbar 
Erfaßbares  schien,  erscheint  hier  durchaus  als  ein  vermitteltes 
Ergebnis.  Das  Gebilde  ist  gleichsam  aufgelöst  in  mannig- 
fache Relationsschichten,  die  sich  übereinander  lagern  und  die 
sich  kraft  der  bestimmten  Form  der  Abhängigkeit,  die  zwischen/ 
ihnen  besteht,  zuletzt  zu  einem  Ganzen  determinieren. 
Damit  aber  eröffnet  sich  zugleich  der  Ausblick  auf  ein 
Problem  von  umfassender  Bedeutung.  Die  Konstruktion  der 
Kurve  aus  der  Gesamtheit  ihrer  Tangenten,  wie  die  Infinite- 
simal-Geometrie  sie  lehrt,  ist  nur  ein  Beispiel  für  ein  Ver- 
fahren von  allgemeinerer  Anwendbarkeit.  Alle  mathematische 
Begriffsbildung  setzt  sich  in  der  Tat  eine  doppelte  Aufgabe: 
die  Aufgabe  der  Analyse  eines  bestimmten  Relations- 
zusammenhangs in  elementare  Relationstypen  oder 
aber  die  Synthese  dieser  einfachen  Typen  und  Bildungsgesetze 
zu  Relationen  höherer  Ordnung.  Die  Analysis 
des  Unendlichen  ist  logisch  bereits  eine  erste  und  vollkommene 
Ausprägung  dieser  Richtung  der  Betrachtung.  Denn  schon 
in  ihr  wächst  die  mathematische  Unters-uchung  über  die  bloße 
Betrachtung  der  Größen  hinaus  und  wendet  sich  einer 
allgemeinen  Theorie  der  Funktionen  zu.  Die  „Elemente", 
die  hier  zu  neuen  Einheiten  verknüpft  werden,  sind  selbst 
nicht  extensive  Größen,  die  als  ,, Teile"  zu  einem  Ganzen 
zusammentreten,  sondern  es  sind  Funktionsformen,  die  einan- 
der gegenseitig  bestimmen  und  sich  damit  zu  einem  System 
von  Abhängigkeiten  zusammenschließen.  Bevor  indessen 
diese  Entwicklung,  die  der  modernen  Mathematik  ihr  eigent- 
liches Gepräge  gibt,  weiter  verfolgt  wird,  müssen  wir  uns  zu 
den  speziellen  Problemen  der  Geometrie  zurückwenden; 
denn  in  den  philosophischen  Kämpfen  um  die  Methode, 
die  hier  geführt  werden,  treten  zugleich  die  Anfänge  einer 
neuen  und  allgemeingültigen  logischen  Frage- 
stellung deutlich  hervor.  / 

IL 

Zu    einem    streng     prinzipiellen    Aufbau    ihres    Gebiets 
und  zu  wahrhafter  Freiheit  und  Universalität  ihrer  Methoden 

7*  99 


ist  die  neuere  Geometrie  erst  gelangt,  indem  sie  von  der  Geo- 
metrie des  Maßes  zur  Geometrie  derLage  fortschritt. 
Gegenüber  der  analytischen  Geometrie  Descartes'  scheint 
dieser  Schritt  eine  Reaktion  zu  bedeuten.  Die  Anschauung 
tritt  nun  wieder  wie  in  der  antiken  synthetischen  Geometrie 
in  ihre  Rechfe  ein.  Nicht  indem  wir  sie  soviel  als  möglich 
beschränken  und  durch  bloße  rechnerische  Operationen  zu 
ersetzen  suchen,  sondern  indem  wir  sie  in  ihrer  ganzen  Weite 
und  Selbständigkeit  wiederherstellen,  ergibt  sich  uns  die 
eigentlich  logische,  die  streng  deduktive  Gestaltung  der 
Raumwissenschaft.  So  lenkt  die  Entwicklung  wieder  vom  ab- 
strakten Zahlbegriff  zum  reinen  Formbegriff  zurück.  Daß 
hierin,  im  philosophischen  Sinne,  ein  neues  Motiv  liegt,  hat 
Descartes  selbst  empfunden  und  ausgesprochen.  Er  sieht 
in  den  Methoden  Desargues',  die  den  ersten  Ansatz  zur 
projektiven  Behandlung  und  Auffassung  der  Raumgebilde 
enthalten,  den  Hinweis  auf  eine  allgemeine  ,, Metaphysik 
der  Geometrie"*.  Verfolgt  man  diese  ,, Metaphysik"  indessen 
weiter,  so  scheint  sie  seinen  eigenen  Tendenzen  und  Folge- 
rungen unmittelbar  zu  widerstreiten.  In  der  Tat  vermochte 
sich  die  neue  Auffassung  nur  in  hartnäckigen  Kämpfen  gegen 
das  Vorrecht  und  die  Alleinherrschaft  der  analytischen 
Methoden  allmählich  durchzusetzen.  Die  Kritik  dieser  Me- 
thoden setzt  bereits  bei  Leibniz  ein  und  wird  in  seiner  Grund- 
legung der  Analysis  der  Lage  zu  einem  ersten  Abschluß  geführt. 
Schon  hier  wird  der  Analysis  vorgehalten,  daß  sie  das  all- 
gemeingültige Ordnungsprinzip,  dessen  sie  sich  rühmt, 
nicht  innerhalb  des  Gebiets  selbst,  das  es  zu  ordnen  gilt, 
zu  fixieren  vermag,  sondern  daß  sie'  hierzu  auf  einen  fremden 
und  dem  betrachteten  Gegenstand  äußerlichen  Gesichtspunkt 
zurückgreifen  muß.  Die  Beziehung  eines  räumlichen  Gebildes 
auf  die  beliebig  gewählten  Koordinatenachsen  trägt  in  die 
Bestimmung  ein  Moment  subjektiver  Willkür  hinein;  die 
begriffliche  Eigenart  der  Form  wird  nicht  auf  Grund  von 
Merkmalen,  die  rein  in  ihr  selbst  liegen,  festgestellt,    sondern 


*  S.  Descartes'  Brief  an  Mersenno  vom  9.  Januar  1639.     Correspon- 
dance^  ed.  Adam-Tannery,  II,   490. 

100 


durch  eine  zufällige  Relation  ausgedrückt,  die  je  nach  der 
Wahl  des  angenommenen  Bezugssystems,  verschieden  aus- 
fallen kann.  Ob  unter  all  den  verschiedenen  jGrleichungen, 
die  gemäß  diesem  Verfahren  zum  Ausdruck  eines  räumlichen 
Gebildes  verwendet  werden  können,  die  relativ  einfachste 
ergriffen  wird,  hängt  vom  individuellen  Geschick  des  Rechners, 
also  von  einem  Moment  ab,  das  der  strenge  und  eindeutige 
Gang  der  Methode  auszuschließen  strebte.  Soll  dieser  Mangel 
beseitigt  werden,  so  muß  ein  Verfahren  gefunden  werden, 
das  in  begrifflicher  Strenge  mit  den  analytischen  Methoden 
ebenbürtig  ist,  anderseits  aber  die  rationale  Vertiefung 
lediglich  in  den  Grenzen  des  Geometrischen  selbst  und  mit 
den  Mitteln  des  reinen  Raumes  erreicht.  Die  räumlichen 
Grundformen  sollen  wieder  als  das,  was  sie  „an  sich  selbst" 
sind,  erfaßt  und  ohne  Umdeutung  in  abstrakte  Zahlverhält- 
nisse in  ihrer  eigenen  Gesetzlichkeit  verstanden  werden**,  t 

Dennoch  führt  auch  von  diesem  Standpunkt  der  Frage- 
stellung aus  —  und  dies  ist  das  philosophisch  Charakteristische 
und  Bedeutsame  —  kein  Weg  zur  Betrachtungsweise  der 
antiken  Elementargeometrie  zurück.  Die  Rückkehr  zur 
anschaulichen  Erfassung  der  Figur  schafft  hier  nur 
ein  scheinbares  Bindeglied:  denn  der  Inhalt  dessen,  was 
jetzt  unter  der  geometrischen  ,, Anschauung"  verstanden  wird, 
.hat  sich  vertieft  und  umgestaltet.  Wenn  man,  um  in  dem 
philosophischen  Kampf  der  Meinungen  ein  festes  Kriterium 
zu  gewinnen,  den  Versuch  unternimmt,  die  wissenschaftlichen 
Begründer  der  neueren  Geometrie  nach  dem  Sinne  zu  befra- 
gen, den  sie  mit  dem  Begriff  und  Terminus  der  „An- 
schauung" verbinden  —  so  ergibt  sich  hier  zunächst  ein 
eigentümlich  zwiespältiges  Verhalten.  Während  Jakob 
Steiner,  der  hierin  seinem  Lehrer  und  Vorbild  Pesta- 
lozzi folgt,  nicht  müde  wird,  das  logische  Recht  und  die 
Fruchtbarkeit  der  reinen  Anschauung  zu  preisen,  während 
er  und  seine  Schüler  daher  den  Mangel  der  gewöhnlichen 
synthetischen  Geometrie  eben    darin  erblicken,    daß    sie   die 


**  Näheres   hierüber   in   der   Darstellung   von   Leibniz'    Entwurf   der 
„Analysis  situs",  s.  Leibniz'  System  in  s.  wiss.  Grundlagen,  Kap.  III. 

101 


Anschauung  nur  in  eingeschränktem  Sinne,  nicht  in  der  ganzen 
Freiheit  und  Weite  ihrer  Bedeutung  brauchen  lehrt*,  findet 
sich  in  dem  Grundwerk  Poncelets  zunächst  eine  durch- 
aus entgegengesetzte  logische  Tendenz  ausgeprägt,  f  Der  Wert 
der  neuen  Methode  wird  darin  gesucht,  daß  in  ihr  die  geo- 
metrische Schlußfolgerung  sich  völlig  ungehindert 
ergehen  kann;  daß  sie,  ohne  durch  die  Schranken  der  sinn- 
lichen Darstellbarkeit  irgendwie  beengt  zu  werden,  ins- 
besondere auch  imaginäre  und  unendlich  ferne 
Elemente,  denen  keine  individuelle  geometrische  ,, Existenz" 
zukommt,  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtungen  zieht  und  erst 
dadurch  zu  einer  völligen  rationalen  Geschlossenheit  der  Ab- 
leitung gelangt.  Der  Gegensatz,  der  hier  in  der  Formulierung 
des  Grundgedankens  besteht,  schlichtet  sich  jedoch,  sobald 
man  die  nähere  Ausführung  verfolgt,  die  dieser  Gedanke 
beiderseits  erhält.  Auch  dort,  wo  die  Geometrie  der  Lage 
rein  und  ausschließlich  auf  die  Anschauung  gegründet  wird, 
ist  darunter  nicht  das  Haften  an  der  einzelnen,  sinnlich  ge- 
gebenen Figur,  sondern  die  freie  konstruktive  Erzeugung  von 
Gestalten  nach  einem  bestimmten  einheitlichen  Prinzip 
verstanden.  Die  verschiedenen  sinnlich  möglichen  Fälle 
einer  Figur  werden  nicht,  wie  in  der  griechischen  Geometrie, 
besonders  erfaßt  und  untersucht,  sondern  alles  Interesse 
konzentriert  sich  auf  die  Art,  wie  sie  wechselseitig  auseinander 
hervorgehen.  Sofern  eine  einzelne  Gestalt  betrachtet  wird, 
steht  sie  niemals  für  sich  allein,  sondern  als  Symbol  des  Ge- 
samtzusammenhangs, dem  sie  angehört  und  als 
Ausdruck  für  den  gesamten  Inbegriff  von  Gestaltungen, 
in  welche  sie,  unter  Festhaltung  bestimmter  Regeln  der  Um- 
formung, überführbar  ist.  Die  „Anschauung"  geht  hier  also 
niemals  auf  die  besondere  Figur  mit  ihrem  zufälligen 
Eigengehalt,  sondern  ist  —  im  Sinne  Jakob  Steiners  —  auf 
die  Ermittlung  der  Abhängigkeit  geometrischer  Ge- 
stalten   voneinander    gerichtet**.       Die    Einzel terme    treten 


*  S.  z.  B.  Reye,  Die  synthetische  GJeometrie  im  Altertum  und  in 
der  Neuzeit,  a.  a.  Ö.  S.  347. 

**  S.  die  Vorrede  zu  J.  Steiners  Schrift:  Systemat.  Entwicklung 
der  Abhängigkeit  geometrischer  Gestalten  voneinander,  Berün  1832: 

102 


auch  hier  zurück  gegenüber  der  systematischen  Relation, 
die  sie  vereinigt.  Schon  die  Ableitung  der  Grundgebilde 
bringt  dies  zum  Ausdruck,  sofern  etwa  die  einzelne  Grade 
nicht  für  sich,  sondern  als  Element  eines  Strahlenbüschels 
oder  die  einzelne  Ebene  als  Element  eines  Ebenenbüschels 
definiert  wird.  Allgemein  zeigt  es  sich  jetzt,  daß  der 
fundamentale  methodische  Gesichtspunkt,  der  zur 
Entdeckung  der  analytischen  Geometrie  hinleitete,  hier  nicht 
sowohl  beseitigt,  als  vielmehr  festgehalten  und  im  Gebiet 
des  Räumlichen  selbst  zu  neuer  fruchtbarer  Anwendung 
gebracht  wird.  Das  Motiv  der  Zahl  ist  ausgeschaltet; 
aber  um  so  reiner  tritt  jetzt  das  allgemeine  Motiv  der  Reihe 
hervor.  Wir  sahen,  wie  bei  Descartes  selbst  die  Zahl  nicht 
schlechthin  um  ihres  eigenen  Gehalts  willen  als  Grundprinzip 
ausgezeichnet,  sondern  nur  darum  festgehalten  wurde,  weil 
sie  als  reinster  und  vollkommener  Typus  einer  logisch  ge- 
ordneten Mannigfaltigkeit  überhaupt  galt.  Die  Strenge  des 
deduktiven  Zusammenhangs  schien  nur  durch  die  Vermittlung 
der  Zahl  auf  den  Raum  übertragen  werden  zu  können  (s.  oben, 
S.  92f).  Man  begreift,  daß  von  hier  aus  eine  neue  prinzipielle 
Aufgabe  entstehen  mußte,  die  dennoch  in  strenger  Kontinuität 
an  die  Leistungen  der  analytischen  Geometrie  anknüpft. 
Der  konstruktive  Aufbau  der  räumlichen  Gebilde  aus  ur- 
sprünglichen Grundbeziehungen  bleibt  als  unverbrüchliche 
Forderung  bestehen,  aber  dieser  Forderung  gilt  es  nunmehr 

„Gegenwärtige  Schrift  hat  es  versucht,  den  Organismus  aufzudecken, 
durch  welchen  die  verschiedenartigsten  Erscheinungen  in  der  Raumwelt 
miteinander  verbunden  sind.  Es  gibt  eine  geringe  Zahl  von  ganz  einfachen 
Fundamentalbeziehungen,  worin  sich  der  Schematismus  ausspricht,  nach 
welchem  sich  die  übrige  Masse  von  Sätzen  folgerecht  und  ohne  alle  Schwierig- 
keit entwickelt.  Durch  gehörige  Aneignung  der  wenigen  Grundbeziehungeu 
macht  man  sich  zum  Herrn  des  ganzen  Gegenstands ;  es'  tritt  Ordnung  in 
das  Chaos  ein,  und  man  sieht,  wie  alle  Teile  naturgemäß  ineinander  greifen, 
in  schönster  Ordnung  sich  in  Reihen  stellen  und  verwandte  zu  wohlbegrenzten 
Gruppen  sich  vereinigen.  Man  gelangt  auf  diese  Weise  gleichsam  in  den 
Besitz  der  Elemente,  von  welchen  die  Natur  ausgeht,  um  mit  möglichster 
Sparsamkeit  und  auf  die  einfachste  Weise  den  Figuren  unzählig  viele 
Eigenschaften  verleihen  zu  können.  Hierbei  macht  weder  die  synthetische 
noch  die  analytische  Methode  den  Kern  der  Sache  aus,  der  darin  besteht, 
daß  die  Abhängigkeit  der  Gestalten  voneinander  und  die  Art  und  Weise 
aufgedeckt  wird,  wie  ihre  Eigenschaften  von  den  einfacheren  Figuren  zu 
den  zusammengesetzteren  sich  fortpflanzen." 

103 


mit  rein  geometrischen  Mitteln  und  ohne  den  Umweg  über  die 
Begriffe  des  Maßes  und  der  Maßzahl  Genüge  zu  tun. 

Die  Entwicklung,  die  hiermit  einsetzt,  ist  bis  ins  einzelne 
hinein  von  logischen  Gesichtspunkten  beherrscht  und 
geleitet.  In  besonderer  Deutlichkeit  tritt  dies  bei  P  o  n  c  e  1  e  t 
hervor,  der  in  dem  Streit,  den  er  um  die  Prinzipien  seiner 
Disziplin  zu  führen  hat,  mit  wachsender  Schärfe  und  Be- 
stimmtheit auf  die  philosophischen  Fundamente  zurückweist. 
Gegenüber  der  Kritik,  die  die  Pariser  Akademie,  die  ins- 
besondere C  a  u  c  h  y  an  den  philosophischen  Voraussetzungen 
seines  Werkes  geübt  hatte,  betont  er  nachdrücklich,  daß  es 
sich  in  diesen  Voraussetzungen  nicht  um  einen  Nebenpunkt, 
sondern  um  die  eigentliche  Wurzel  der  neuen  Auffassung 
handle.  Er  macht  sich  das  Wort  Newtons  zu  eigen,  daß  in  der 
Geometrie  die  Methode  der  Entdeckung  alles 
bedeute,  so  daß,  wenn  diese  einmal  gefunden  und  sichergestellt 
ist,  die  Ergebnisse  sich  von  selbst  als  reife  Frucht  darbieten*. 
Die  Lehre  von  den  projektiven  Eigenschaften  der  Figuren 
will  somit  keine  bloß  materiale  Erweiterung  des  Gebiets 
der  Geometrie  sein,  sondern  sie  will  ihr  ein  neues  Prinzip 
der  Forschung  und  Erfindung  zuführen**.  (  Hierbei  gilt  es 
als  der  erste  und  notwendige  Schritt,  das  geometrische  Denken 
aus  der  Enge  der  sinnlichen  Ansicht  mit  ihrem  ängstlichen 
Haften  an  den  Besonderheiten  der  gerade  gegebenen  indivi- 
duellen Figur,  zu  befreien.  Wenn  Descartes  der  antiken 
Mathematik  vorhielt,  daß  sie  den  Geist  nicht  zu  schärfen 
vermöge,  ohne  gleichzeitig  die  Einbildungskraft  durch  die 
enge  Anlehnung  an  die  sinnliche  Gestalt  zu  ermüden,  so 
hält  Poncelet  durchaus  an  diesem  Vorwurf  fest.  Die  echte 
synthetische  Methode  kann  zu  diesem  Verfahren  nicht  wieder 


*S.    Poncelet,    Trait^    des    propriötös    projectives    des    figures, 
2e  Edition,  Paris  1865,  I,  S.  356;  II,  S.  357. 

♦*  „La  doctrine  des  propriöt^s  projectives,  celle  de  la  perspective- 
relief,  le  principe  ou  la  loi  de  continuit6,  enfin  la  th6orie  des  polaires  r6ci- 
proques  et  la  th6orie  des  transversales  ötendue  aux  lignes  et  surfaces  courbes, 
ne  forment  pas  simplement  des  classes  plus  ou  moins  öt^ndues  de  problemes 
et  de  theoremes,  mais  con&tituent  proprement,  pour  la  G6om6trie  pure  des 
principes,  des  möthodes  d'investigation  et  d'invention,  des  moyens  d'exten- 
sion  et  d'exposition,  dans  le  genre  de  ceux  qu'on  a  nomm6  principes  d'ex- 
haustion,  raöthode  des  infinirnent  petita  etc."    (A.  a.  O.  II,  S.  5.) 

104 


zurückgreifen.  Sie  wird  sich  den  analytischen  Methoden 
nur  dann  als  ebenbürtig  erweisen,  wenn  sie  sie  an  Weite 
und  Allgemeingültigkeit  erreicht,  diese  Universalität  der 
Betrachtungsweise  dagegen  zugleich  aus  rein  geometrischen 
Voraussetzungen  gewinnt.  Diese  doppelte  Aufgabe  wird  er- 
füllt, sobald  wir  die  besondere  Gestalt,  die  wir  untersuchen, 
nicht  selbst  als  den  konkreten  Gegenstand  der  For- 
schung betrachten,  sondern  in  ihr  nur  einen  ersten  Ansatz- 
punkt sehen,  von  dem  aus  wir  kraft  einer  bestimmten 
Regel  der  Variation  ein  gesamtes  System  möglicher 
Gestaltungen  deduktiv  herleiten.  Die  Grundrelationen,  die 
dieses  System  charakterisieren  und  die  in  jeder  Einzelgestalt 
gleichmäßig  erfüllt  sein  müssen,  bilden  erst  in  ihrer  Gesamtheit 
das  wahre  geometrische  Objekt.  Was  der  Geometer  betrachtet, 
das  sind  nicht  sowohl  die  Eigenschaften  einer  gegebenen 
Figur,  als  das  Netz  von  Korrelationen,  in  welchem 
sie  mit  anderen  verwandten  Bildungen  steht.  Wir  nennen 
eine  bestimmte  räumliche  Gestaltung  einer  anderen  korrelativ 
zugeordnet,  wenn  sie  durch  stetige  Umformung  eines  oder 
mehrerer  ihrer  Lageelemente  aus  ihr  ableitbar  ist:  wobei 
jedoch  die  Voraussetzung  gilt,  daß  gewisse  räumliche  Grund- 
beziehungen, die  als  die  allgemeinen  Bedingungen  des  Systems 
anzusehen  sind,  unverändert  bleiben.  Die  Kraft  und  Schlüssig- 
keit des  geometrischen  Beweises  ruht  dann  stets  in  jenen 
Invarianten  des  betreffenden  Inbegriffs,  nicht  in  dem, 
was  den  einzelnen  Gliedern  als  solchen  eigentümlich  ist. 
Diese  Auffassung  ist  es,  die  Poncelet  philosophisch  durch 
den  Ausdruck  des  Kontinuitätsprinzips  bezeichnet, 
das  er  weiterhin,  schärfer  und  genauer,  als  Prinzip  der 
Permanenz  dermathematischenRelationen 
formuliert.  Die  einzige  Forderung,  von  der  wir  ausgehen, 
läßt  sich  begrifflich  dahin  aussprechen,  daß  es  möglich  ist, 
die  Geltung  bestimmter  ein  für  alle  Mal  definierter  Beziehungen 
auch  gegenüber  einem  Wechsel  im  Inhalt  der  einzelnen  Be- 
ziehungsglieder, der  besonderen  Relata  festzuhalten.  Wir 
beginnen  damit,  die  Figur,  die  wir  geometrisch  untersuchen, 
in  einer  allgemeinen  Lage  zu  betrachten,  sie  also  nicht  von 
Anfang  an  in  all  ihren  einzelnen  Teilen  festzulegen,  sondern  ihr 

105 


innerhalb  eines  bestimmten  Umkreises,  der  durch  die  Be- 
dingungen des  Systems  bezeichnet  ist,  Änderungen  ihrer 
einzelnen  Teile  zu  gestatten.  Wenn  diese  Änderungen  von 
einem  bestimmten  Anfangspunkt  aus  stetig  verlaufen,  so 
werden  die  systematischen  Eigentümlichkeiten,  die  wir  an 
der  einen  Figur  entdeckt  haben,  auf  jede  folgende  „Phase" 
übertragbar  sein,  so  daß  schließlich  Bestimmungen,  die  sich 
am  Einzelfall  bewährt  haben,  fortschreitend  auf  die  Gesamt- 
heit der  aufeinanderfolgenden  Glieder  ausgedehnt  werden 
können.  I 

Deutlich  zeigt  sich  in  diesen  Ausführungen  Poncelets 
das  Ringen  nach  einem  exakten  und  allgemein  gültigen 
Ausdruck  des  neuen  Gedankens.  Vor  allem  ist  er  bemüht, 
das  Verfahren  der  Relations-Übertragung,  das  er  zugrunde 
legt,  vor  jeder  Verwechslung  mit  einem  bloßen  Analogie- 
oder  Induktionsschluß  zu  schützen.  Die  Induktion 
geht  vom  Besonderen  aufs  Allgemeine;  sie  sucht  eine  Mehrheit 
einzelner  Fakta,  die  sie  als  einzelne  und  somit  ohne 
notwendige  Verknüpfung  beobachtet  hat,  hypothetisch  zu 
einem  Ganzen  zu  vereinen.  Hier  aber  ist  das  Gesetz  der  Ver- 
knüpfung nicht  nachträglich  erschlossen,  sondern  es  liegt 
ursprünglich  zugrunde,  so  daß  kraft  seiner  auch  der  einzelne 
Fall  erst  in  seinem  Gehalt  bestimmbar  wird.  Die  Bedingungen, 
denen  der  gesamte  Inbegritf  unterwerfen  wird,  stehen  vorweg 
fest,  und  alle  Besonderung  ist  nur  dadurch  erreichbar,  daß 
ihnen  unter  Wahrung  ihres  Gehalts  ein  neuer  Faktor  als 
einschränkende  Bestimmung  hinzugefügt  wird.  Wir  be- 
trachten die  metrischen  und  projektiven  Beziehungen  von 
Anfang  an  nicht  in  der  Art,  in  der  sie  sich  in  irgendeiner 
besonderen  Figur  verkörpern,  sondern  nehmen  sie  in  einer 
gewissen  Weite  und  Unbestimmtheit,  die  ihnen  einen  Spiel- 
raum der  Entwicklung  läßt*.  Es  mag  zunächst  auffallend 
und  paradox  erscheinen,  daß  diese  Unbestimmtheit 
des  Ausgangspunkts  den  Grund  für  die  Fruchtbarkeit  des 
neuen  Verfahrens  und  für  seine  Überlegenheit  gegenüber  den 
antiken  Methoden  enthalten  soll.     Indessen  zeigt  es  sich  als- 


♦  Trsitö  des  propriötöa  projectives.     S.  XIII  f.,  XXI  f. 

106 


bald,  daß  der  Ausdruck  des  Gedankens  hier  unter  den  Zwei- 
deutigkeiten der  traditionellen  logischen  Schul- 
sprache zu  leiden  hat,  in  welcher  Begriffsgehalt  und 
Vorstellungsgehalt  nicht  streng  geschieden  sind,  und  in  der 
daher  immer  von  neuem  der  identische  und  streng  eindeutige 
Sinn  einer  begrifflichen  Regel  in  ein  abstraktes  und  schemen- 
haftes Gattungsbild  zu  verschwimmen  droht.  Was 
vom  Standpunkt  der  Vorstellung  als  Unbestimmtheit  er- 
scheint, weil  es  die  individuellen  Züge  des  Bildes  zurück- 
tretenläßt, das  erscheint  vom  Standpunkt  des  Begriff  s  als  Grund 
jeglicher  genauen  und  scharfen  Determination,  sofern  in  ihm 
die  allgemeingültige  Vorschrift  zur  Bildung  des  Einzelnen 
enthalten  ist.  Zwischen  dem  „Allgemeinen"  und  „Besonderen" 
besteht  hier  in  der  Tat  durchaus  dasjenige  Verhältnis,  das 
alle  echte  mathematische  Begriffsbildung  charakteri- 
siert: der  allgemeine  Fall  sieht  von  den  besonderen  Bestim- 
mungen nicht  schlechthin  ab,  sondern  er  bewahrt  in  sich  die 
Fähigkeit,  sie,  in  ihrer  konkreten  Totalität  vollständig  aus 
einem  Prinzip  heraus  zu  entwickeln  und  zu  überschauen. 
(Vgl.  oben,  S.  24 f .)  Es  sind,  wie  Poncelet  betont,  niemals 
bloße  Eigenschaften  der  Art,  sondern  Eigenschaften  der 
Gattung,  von  deren  Betrachtung  die  projektive  Be- 
handlung eines  Gebildes  ihren  Ausgang  nimmt;  die  „Gattung" 
aber  bezeichnet  hier  lediglich  einen  Bedingungs-Zu- 
sammenhang, dem  alles  Einzelne  eingeordnet  ist, 
nicht  ein  losgelöstes  Ganzes  von  Merkmalen,  die  in  ihm 
gleichmäßig  wiederkehren.  Der  Schluß  geht  von  den  Eigen- 
schaften der  Verknüpfung  auf  die  des  Verknüpften,  von  den 
Reihenprinzipien  auf  die  Reihenglieder.  —  / 

Diese  Eigenart  der  Methode  tritt  am  klarsten  an  dem 
Grundverfahren,  dessen  sie  sich  bedient,  hervor.  Die  wich- 
tigste Form  der  Korrelation,  durch  welche  verschiedenartige 
Gebilde  miteinander  verknüpft  werden,  liegt  im  Verfahren  der 
Projektion.  Die  wesentliche  Aufgabe  besteht  in  der  Heraus- 
hebung derjenigen  „metrischen"  und  „deskriptiven"  Momente 
einer  Figur,  die  in  ihrer  Projektion  unverändert  fortbestehen. 
Alle  Gestalten,  die  in  dieser  Weise  auseinander  hervorgehen 
können,  bilden  für  die  Betrachtung  eine  unteilbare  Einheit; 

107 


sie  sind  im  Sinne  der  reinen  Geometrie  der  Lage  nur  ver- 
schiedene Ausprägungen  ein  und  desselben  Be- 
griffs, Hier  wird  es  unmittelbar  ersichtlich,  daß  die  Zuge- 
hörigkeit zu  einem  Begriff  nicht  von  irgendwelchen  generischen 
Ähnlichkeiten  der  Einzelexemplare  abhängig  ist,  sondern 
lediglich  ein  bestimmtes  Prinzip  der  Umformung  voraussetzt, 
das  als  identisch  festgehalten  wird.  Die  Gestalten,  die  wir 
auf  diese  Weise  zu  einer  ,,  Gruppe"  vereinen,  können,  in  ihrer 
sinnlich  anschaulichen  Struktur,  einem  völlig  verschiedenen 
„Typus"  zugehören;  ja  sie  können  sich  jeder  Zuweisung 
zu  einem  derartigen  Typus  entziehen,  sofern  ihnen  überhaupt 
keine  geometrische  Existenz  im  Sinne  der  direkten 
Anschaubarkeit  mehr  entspricht.  Das  neue  Kriterium  der 
geometrischen  Begriffsbildung  erweist  sich  hier  in  seiner 
allgemeinen  Bedeutung:  denn  dieses  Kriterium  ist  es,  auf 
dem  die  Zulassung  des  Imaginären  in  die 
Geometrie  zuletzt  beruht.  Allgemein  lassen  sich,  mit 
Poncelet,  drei  verschiedene  Grundformen  des  Verfahrens 
der  „Korrelation"  unterscheiden.  Wir  können  eine  bestimmte 
Figur,  die  wir  als  Ausgangspunkt  wählen,  in  eine  andere  über- 
führen, indem  wir  alle  ihre  einzelnen  Teile  sowie  deren  wechsel- 
seitige Ordnung  festhalten,  so  daß  der  Unterschied  also  aus- 
schließlich in  der  absoluten  Größe  der  Bestimmungs- 
stücke besteht.  In  diesem  Falle  werden  wir  von  einer  d  i  - 
r  e  k  t  e  n  Korrelation  sprechen  können,  während  für  den 
Fall,  daß  die  Ordnung  der  einzelnen  Teile  sich  in  der 
abgeleiteten  Figur  vertauscht  oder  umkehrt,  nur  von  einer 
, .indirekten"  Korrelation  gesprochen  werden  soll.  Schließlich 
aber  —  und  dies  ist  methodisch  der  interessanteste  und 
wichtigste  Fall  —  kann  die  Umformung  auch  in  der  Weise 
vor  sich  gehen,  daß  gewisse  Elemente,  die  in  der  anfänglichen 
Gestalt  als  reale  Bestandteile  aufweisbar  waren,  im  Verlauf 
des  Gesamtprozesses  völlig  verschwinden.  Betrachten  wir 
etwa  einen  Kreis  und  eine  Gerade,  die  ihn  schneidet,  so 
können  wir  dieses  geometrische  System  durch  stetige  Ver- 
schiebungen derart  umgestalten,  daß  die  Gerade  zuletzt 
ganz  außerhalb  des  Kreises  fällt  und  somit  die  Schnittpunkte, 
sowie  die  ihnen  entsprechende  Richtung  der  Radien  durch 

108 


imaginäre  Werte  auszudrücken  sind.  Die  Zuordnung  der  ab- 
geleiteten Figur  zur  ursprünglichen  verknüpft  jetzt  nicht 
mehr  tatsächlich  vorhandene  und  für  sich  aufzeigbare,  sondern 
lediglich  gedachte  Elemente;  sie  hat  sich  in  eine  rein  ideale 
Korrelation  aufgelöst. 

Aber  eben  diese  idealen  Korrelationen  können  nicht  ent- 
behrt werden,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Geometrie 
zu  einem  einheitlichen  und  geschlossenen  Ganzen  zu  ge- 
stalten. Der  Mangel  der  antiken  Methoden  besteht  eben 
darin,  daß  sie  auf  dieses  logische  Grundmittel  verzichten 
und  somit  nur  Größen  von  absoluter  und  gleichsam  physi- 
scher Existenz  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtung  ziehen. 
Die  neue  Ansicht  muß  mit  diesem  Verfahren  brechen,  weil 
sie  von  vornherein  nicht  die  einzelne  Gestalt  in  ihrem  sinn- 
lichen Dasein,  sondern  die  verschiedenen  Weisen  der  Ab- 
hängigkeit, die  zwischen  Gestalten  bestehen  können,  als  das 
eigentliche  Objekt  der  geometrischen  Untersuchung  definiert 
(s.  S.  102).  Unter  diesem  Gesichtspunkt  aber  stehen  reelle 
und  imaginäre  Elemente  einander  wesentlich  gleich:  denn 
auch  die  letzteren  sind  der  Ausdruck  vollkommen  gültiger 
und  wahrer  geometrischer  Beziehungen.  Dass  unter 
bestimmten  Bedingungen  gewisse  Elemente  einer  Figur  fort- 
fallen und  zu  bestehen  aufhören :  dies  ist  schon  an  und  für  sich 
keine  bloße  negative  Erkenntnis,  sondern  enthält  eine  frucht- 
bare und  durchaus  positive  geometrische  Einsicht.  Weiterhin 
aber  dienen  die  imaginären  Zwischenglieder  überall  dazu, 
den  Einblick  in  den  Zusammenhang  reeller  geo- 
metrischer Gestaltungen  zu  erschließen,  die  ohne  diese  Ver- 
mittlung als  heterogen  und  beziehungslos  einander  gegenüber- 
stehen würden.  Diese  ideelle  Kraft  der  logischen  Ver- 
knüpfung ist  es,  die  ihnen  ein  volles  Recht  auf  ein  ,,Sein" 
im  logisch-geometrischen  Sinne  sichert.  Das  Imaginäre  hat 
Bestand,  sofern  es  eine  logisch  unentbehrliche  Funktion 
im  System  der  geometrischen  Sätze  erfüllt.  Die  einzige 
„Wirklichkeit",  die  wir  sinnvollerweise  von  ihm  erwarten 
und  fordern  können,  geht  in  dem  Wahrheitsgehalt  auf,  den 
es  in  sich  birgt:  in  dem  Gehalt  an  gültigen  Sätzen  und 
Urteilen,    den  es  zum  Ausdruck  bringt.     Es  wiederholt 

109 


sich  hier  im  Bereich  der  Geometrie  derselbe  Prozeß,  den  wir 
bereits  im  Bereich  der  Zahlen  verfolgen  konnten:  aus  der  Fest- 
haltung bestimmter  Relationen  entstehen  neue  ,, Elemente", 
die  aber  den  früheren  als  wesentlich  gleichartig  und  eben- 
bürtig zur  Seite  treten,  weil  auch  diese  zuletzt  keinen  tieferen 
und  festeren  Grund  besitzen,  als  er  in  der  Wahrheit  von 
Relationen    besteht  (s.  ob.  S.  78  ff). 

Betrachten  wir  etwa  —  um  ein  einfaches  Beispiel 
der  gewöhnlichen  Geometrie  zu  brauchen  —  zwei  Kreise 
in  einer  Ebene,  so  ist  für  den  Fall,  daß  sie  sich  schnei- 
den, in  der  Geraden,  die  ihre  beiden  Schnittpunkte 
verbindet,  ein  neues  Gebilde  von  bestimmten  Eigen- 
tümlichkeiten gegeben.  Die  Punkte  dieser  Geraden  —  die  wir 
als  „gemeinschaftliche  Sehne"  der  beiden  Kreise  bezeichnen  — 
sind  dadurch  ausgezeichnet,  daß  die  Tangenten,  die  sich  von 
ihnen  aus  an  die  Kreise  legen  lassen,  einander  gleich  sind. 
Die  geometrische  Beziehung  aber,  die  damit  gesetzt  ist, 
läßt  sich  auch  für  den  Fall,  daß  die  Kreise  einander  nicht 
mehr  schneiden,  sondern  gänzlich  auseinanderfallen,  verfolgen 
und  zum  begrifflichen  Ausdruck  bringen.  Auch  in  diesem 
Falle  nämlich  existiert  stets  eine  Gerade  —  die  sogen. ,, Radikal- 
achse** der  beiden  Kreise  — ,  die  die  zuvor  angegebene  charakte- 
ristische Bedingung  erfüllt  und  in  diesem  Sinne  als  die 
ideale  gemeinschaftliche  Sehne  der  zwei  Kreise  bezeichnet 
werden  kann,  die  ihre  beiden  ,, imaginären**  Durchschnitts- 
punkte enthält.  Hier  wird  also  zunächst  ein  bestimmtes 
anschauliches  Element  durch  gewisse  begriffliche  Eigenschaften, 
die  ihm  zukommen,  ausgedrückt  und  vollständig  ersetzt: 
und  diese  logische  Bestimmtheit  wird  auch  dann  fest- 
gehalten, nachdem  das  Substrat,  an  dem  sie  zuerst 
zur  Entdeckung  und  Auszeichnung  kam,  geschwunden  ist. 
Wir  gehen  von  dem  Fortbestand  der  Beziehung  aus  und  er- 
schaffen definitorisch  in  den  imaginären  „Punkten**  die 
„Subjekte**,  von  denen  die  Beziehung  ausgesagt  wird.  Die 
Fruchtbarkeit  dieses  Verfahrens  aber  bewährt  sich  darin, 
daß  damit  ein  systematischer  Zusammenhang  zwischen 
Gebilden  gestiftet  wird,  der  es  erlaubt,  Sätze,  die  an  dem 
einen   gefunden  und  bewiesen  sind,  auf  ein  anderes  zu  über- 

110 


tragen,  an  dem  sie  unmittelbar  nicht  ersichtlich 
waren*.  Neben  den  besonderen  inhaltlichen  Relationen 
aber  sind  es  vor  allen  Dingen  gewisse  allgemeine  formalen 
Bestimmungen,  durch  welche  die  „uneigentlichen"  Elemente, 
die  die  Geometrie  erschafft,  mit  den  ,, eigentlichen"  Punkten 
verknüpft  sind.  Das  Prinzip  der  „Permanenz  der  formalen 
Gesetze"  ist  in  der  Tat,  noch  ehe  es  in  der  Algebra  als  Recht- 
fertigung der  verallgemeinerten  Zahlbegriffe  gebraucht  wurde, 
durch  Poncelet  von  rein  geometrischen  Gesichtspunkten  aus 
eingeführt  und  begründet  worden.  Der  unendlich  ferne 
Punkt,  in  dem,  gemäß  der  projektiven  Raumansicht,  zwei 
parallele  Gerade,  und  die  unendlich  ferne  Gerade,  in  der 
zwei  parallele  Ebenen  sich  schneiden,  sind  logisch  berechtigte 
Begriffsbildungen,  nicht  nur  weil  sie  konzentrierte  Aussagen 
über  bestimmte  Lagebeziehungen  darstellen,  sondern  vor 
allem,  weil  sich  zeigen  läßt,  daß  auch  diese  neuen  Gebilde 
den  geometrischen  Axiomen,  soweit  sie  auf  Maßverhält- 
nisse nicht  Bezug  nehmen,  völlig  gehorchen.  Damit  ist  eine 
übergreifende  Wahrheitsinstanz  gegeben,  der  „eigentliche" 
und  „uneigentliche"  Punkte  in  gleicher  Weise  gemäß  sein 
müssen.  Die  neuen  Elemente  sind  —  wie  es  Poncelet  gelegent- 
lich scharf  und  bezeichnend  formuliert  —  paradox  in  ihrem 
Objekt,  aber  sie  sind  nichtsdestoweniger  durchaus  logisch 
in  ihrer  Struktur,  sofern  sie  zu  strengen  und  unbestreit- 
baren Wahrheiten  hinführen**. 


*  So  läßt  sich  z.  B.,  wenn  irgendwölche  drei  Kreise  in  einer  Ebene 
Jen  sind  und  wir  für  je  zwei  von  ihnen  die  „Radikalachsen"  kon- 
struieren, leicht  zeigen,  daß  die  so  entstehenden  drei  Linien  sich  in  einem 
Punkte  schneiden;  daraus  aber  ergibt  sich  weiterhin  sofort,  daß  das  gleiche 
auch  für  den  speziellen  Fall  der  drei  gemeinschaftlichen  Sehnen  sich  wirklich 
schneidender  Kreise  gilt  usf.  Die  reellen  Eigenschaften  der  reellen  gemein- 
schaftlichen Sehnen  werden  also  im  Hinblick  auf  die  „idealen"  Sehnen 
entdeckt  und  begründet.  Vgl.  hierzu  C  h  a  s  1  e  s  ,  Apercu  historique  sur 
l'origine  et  le  d^veloppement  des  methodes  en  G6om6trie,  2.  Ausg.,  Paris 
1875,  S.  205  ff.,  S.  auch  Hankel,  Die  Elemente  der  projektivischen 
Geometrie,  Leipzig  1875,   S.  7  ff. 

**  Zum  Ganzen  vgl.  bes.  Poncelet,  Considörations  philosophiques 
et  techniques  sur  le  principe  de  continuitö  dans  les  lois  g6om6triques  §  III. 
(Applications  d' Analyse  et  de  G6om6trie,  Paris  1864,  S.  336  ff.),  sowie 
Traite  des  proprietös  projectives  I,  S.  XI  ff.,  66  ff.  —  Zur  Bezeichnung  des 
Kontinuitätsprinzips  als  Prinzip  der  „Permanenz  der  geometrischen  Re- 

111 


Die  Entwicklung  der  projektiven  Geometrie,  die  hier 
nicht  im  einzelnen  verfolgt  werden  kann,  hat  sodann  die 
philosophischen  Grundgedanken,  auf  denen  sie  sich  gründet, 
zu  immer  schärferer  Darstellung  gebracht.  Je  mehr  es  gelang, 
die  Geometrie  der  Lage  aus  selbständigen  Voraus- 
setzungen aufzubauen,  um  so  reiner  trat  auch  der  allgemeine 
logische  Charakter  und  die  logische  Bedeutung  des  neuen  Ver- 
fahrens hervor.  Der  konstruktive  Fortgang,  in  welchem  wir 
von  den  einfachen  Begriffen  des  Punktes  und  der  Geraden 
aus  in  strenger  Ableitung  das  Ganze  des  projektiven  Raumes 
erzeugen,  knüpft  zunächst  an  die  Betrachtung  der  harmoni- 
schen Punktpaare  an.  Dabei  wird  in  der  ersten  Phase  der 
projektiven  Geometrie  die  harmonische  Lage  von  vier  Punkten 
auf  einer  Geraden  zunächst  noch  ausschließlich  vermittels  des 
Begriffs  des  Doppelverhältnisses  eingeführt  und  er- 
läutert: die  Punkte  a,  b,  c,  d  bilden  eine  harmonische  Folge, 
wenn  das  Verhältnis  der  Strecke  a  b  zu  b  c  demjenigen  der 
Strecke  ad  zu  cd  gleich  ist.  Diese  Erklärung  setzt  indes 
ersichtlich  die  Messung  und  Vergleichung  bestimmter  Ab- 
stände voraus  und  ist  somit  ihrem  Wesen  nach  selbst  rein 
metrischer  Natur;  wenn  sie  dennoch  der  Geometrie 
der  Lage  zugrunde  gelegt  werden  kann,  so  beruht  dies  nur 
darauf,  daß  sie  eine  Maßbeziehung  darstellt,  die  sich  bei 
jeder  projektiven  Umformung  der  gegebenen  Figur  unver- 
ändert erhält.  Immerhin  ist  hier  der  Maßbegriff  nicht  aus- 
geschaltet, sondern  als  unabgeleiteter  Bestandteil  in  die 
Grundlagen  aufgenommen.  Zu  einer  unabhängigen  und  streng 
einheitlichen  Darstellung  gelangt  die  projektive  Geometrie 
erst,  wenn  auch  diese  letzte  Schranke  beseitigt  ist,  wenn  also 
die  Bestimmtheit,  die  sich  metrisch  als  Doppelverhältnis 
charakterisiert,  auf  rein  deskriptivem  Wege  gewonnen  und 
festgehalten  wird.  Das  entscheidende  Verfahren  hierfür  ist 
in  der  bekannten  S  t  a  u  d  t  'sehen  Vierseitskonstruktion 
gegeben.       Wir    bestimmen    zu    drei    gegebenen    kollinearen 


lationen"  s.  Applicat.  S.  319;  Traitö  II,  357;  der  gleiche  Gedanke  ist  in 
anderer  Wendung  von  Chasles  in  seinem  „Principe  des  relationa  con- 
tingentes"  ausgesprochen  worden.  (Apercu  historique  S.  204  ff.,  357  ff., 
368  ff.) 

112 


Punkten  a  b  c  den  vierten  harmonischen  Punkt  d,  indem  wir 
ein  Vierseit  derart  konstruieren,  daß  zwei  Gegenseiten  durch  a, 
eine  Diagonale  durch  b  und  die  beiden  anderen  Gegenseiten 
durch  c  gehen:  der  Schnittpunkt  der  zweiten  Diagonale 
des  Vierseits  mit  der  Geraden  a  b  c  ist  der  verlangte  Punkt  d, 
der  durch  diese  Methode  eindeutig  bestimmt  wird, 
da  sich  beweisen  läßt,  daß  die  angegebene  Konstruktion  stets 
dasselbe  Ergebnis  liefert,  gleichviel  welches  Vierseit,  sofern 
es  nur  den  angegebenen  Bedingungen  genügt,  man  zugrunde 
legt*.  Damit  ist  ohne  jede  Anwendung  metrischer  Hilfs- 
begriffe durch  ein  Verfahren,  das  lediglich  das  Ziehen  gerader 
Linien  benutzt,  eine  fundamentale  Relation  der  Lage  fest- 
gestellt. Das  logische  Ideal  eines  rein  projektiven  Aufbaus  der 
Geometrie  ist  somit  auf  eine  einfachere  Bedingung  zurück- 
geführt: es  wäre  erfüllt,  sobald  sich  zeigen  ließe,  daß  es  lediglich 
kraft  dieser  ersten  Grundbeziehung  und  ihrer  wiederholten 
Anwendung  möglich  ist,  sämtliche  Punkte  des  Raumes  zur 
Ableitung  zu  bringen  und  ihnen  eine  bestimmte  eindeutige 
Ordnung  aufzuprägen,  die  sie  zu  Gliedern  eines  syste- 
matischen Inbegriffs  macht. 

Der  Nachweis  hierfür  ist  in  der  Ausgestaltung,  die  die 
projektive  Geometrie  durch  C  a  y  1  e  y  und  Klein  erfahren 
hat,  in  der  Tat  erbracht  worden.  Wir  gewinnen  hier  ein  all- 
gemeines Verfahren,  das  uns  gestattet,  alle  Punkte  des  Raumes, 
die  sich  von  einer  gegebenen  Anfangssetzung  aus  durch  fort- 
schreitende harmonische  Konstruktionen  erzeugen  lassen, 
bestimmten  Zahl  werten  zuzuordnen  und  ihnen  auf 
diese  Weise  eine  feste  Stellung  innerhalb  einer  allgemei- 
nen Reihenordnung  zuzuweisen.  Gehen  wir  zunächst  von  drei 
Punkten  in  einer  Geraden  a,  b,  c  aus,  denen  wir  die  Werte 
0,  1,  <=o  zuordnen,  so  können  wir  vermöge  der  Staudtschen 
Vierseitkonstruktion  den  vierten  harmonischen  Punkt  zu 
ihnen  finden,  dem  wir  die  Zahl  2  entsprechen  lassen,  weiterhin 
einen  neuen  Punkt  bestimmen,  der  mit  den  Punkten  1,  2,  <=>  ein 
harmonisches  Quadrupel  bildet  und  diesem  den  Wert  3  bei- 
legen, bis  wir  schließlich  vermöge  dieses  Verfahrens  eine  un- 

*v.  Staudt,  Geometrie  der  Lage,  Nürnberg  1847,   §  8,   S.  43  ff. ; 
R  e  y  e  ,   Die  Geometrie  der  Lage,  4.  Aufl.,  Leipzig  1899,  I,  S.  5. 

Cassirer,  Substanzbeg:riff  g  113 


endliche  Mannigfaltigkeit  einfacher  Lagebestimmungen  ge- 
winnen, deren  jede  einer  ganzen  Zahl  eindeutig  zugeordnet  ist. 
Diese  Mannigfaltigkeit  läßt  sich  sodann  weiterhin  in  dem 
Sinne  ergänzen,  daß  sie  zu  einer  überall  dichten  Menge  wird, 
in  der  jedes  Element  einer  bestimmten  rationalen,  positiven 
oder  negativen  Zahl  entspricht.  Der  Übergang  zum  Punkt- 
kontinuum  vollzieht  sich  von  hier  aus  auf  Grund  einer 
weiteren  gedanklichen  Forderung,  die  dem  Postulat  analog  ist, 
durch  welches  Dedekind  in  seiner  Theorie  die  irrationalen 
Zahlen  als  „Schnitte"  einführt.  Wir  gelangen  damit  zu  einer 
vollständigen  Skala,  auf  Grund  deren  sich  eine  einheitliche 
projektive  Metrik  entwickeln  läßt,  in  welcher  die 
elementaren  Operationen,  wie  Addition  und  Subtraktion, 
Multiplikation  und  Division  von  Strecken  rein  geometrisch 
definiert  sind.  Auch  der  Fortgang  zu  Gebilden  von  höherer 
Dimension  bietet  keine  prinzipielle  Schwierigkeit;  er  erfolgt, 
indem  wir  die  Betrachtung,  die  sich  zunächst  auf  die  Punkte 
einer  Geraden  beschränkte,  auf  zwei  oder  mehrere  Gerade 
ausdehnen*. 

Die  Durchführung  dieses  Gedankens  hat  vornehmlich 
technisch-mathematisches  Interesse:  darüber  hinaus  aber  tritt 
jetzt  auch  ein  allgemeines  philosophisches  Ergebnis, 
auf  welches  schon  die  Anfänge  der  neueren  Geometrie  vor- 
ausweisen, deutlich  hervor.  Die  Einfügung  der  Raumbegriffe 
in  das  Schema  der  reinen  Reihenbegriffe  ist  hier  endgültig 
vollzogen.  Die  Bezeichnung  der  einzelnen  Raumpunkte 
durch  entsprechende  Zahlwerte  könnte  allerdings  zunächst 
den  Anschein  erwecken,  als  wären  es  dennoch  Größenbegriffe, 
Begriffe  von  Längen  und  Abständen,  die  bei  dieser  Ableitung 
verwendet  werden.  In  Wahrheit  aber  wird  die  Zahl  hier  nur 
in  ihrem  allgemeinsten  logischen  Sinne:  nicht  als  Ausdruck 
der  Messung  und  Vergleichung  von  Größen,  sondern  als 
Ausdruck    der   Ordnung    in     der    Folge     gebraucht. 

*  Für  alle  Einzelheiten  dieser  Betrachtungsweise,  deren  Prinzip 
hier  nur  angedeutet  werden  sollte,  vgl.  F.  Klein,  Vorlesungen  über 
Nicht-Euklid^he  Geometrie,  2.  Abdruck,  Göttingen  1893,  S.  315  ff., 
338  ff.,  sowie  Math.  Annalen  IV,  573  ff.  —  Zur  projektivenMetrik 
8.  auch  Weber-Wellstein,  Encyklopädie  der  Elementar-Mathematik, 
Bd.  II,  §  18. 

114 


Es  handelt  sich  nicht  um  die  Zusammensetzung  oder  Teilung 
von  Strecken-  und  Winkelgrößen,  sondern  einzig  um  die  Unter- 
scheidung und  Abstufung  der  Glieder  einer  bestimmten  Reihe, 
deren  Elemente  selbst  als  reine  Lagebestimmungen  definiert 
sind.  Hier  bewährt  es  sich,  daß  in  der  allgemeinen  logischen 
Grundlegung  die  Zahl  als  reine  Ordnungszahl  entwickelt 
und  von  jeder  Bindung  an  meßbare  Größen  freigehalten 
wurde.  Die  Forderung,  die  bereits  Descartes  gestellt 
hatte,  ist  damit  auf  einem  neuen  Wege  erfüllt.  Die  Ordnung 
der  Raumpunkte  ist  in  derselben  Weise  begriffen 
wie  die  der  Zahlen.  Zwar  bleiben  beide  Gebiete  ihrer  Wesen- 
heit nach  streng  geschieden:  die  „Essenz"  der  Figur  geht 
nicht  mehr  unmittelbar  in  die  der  Zahl  auf.  Aber  eben  in  dieser 
relativen  Selbständigkeit  der  Elemente  wie  der  Grund- 
beziehung tritt  der  Zusammenhang  in  der  allgemein  de- 
duktiven Methodik  klar  hervor.  Wie  bei  der  Zahl 
lediglich  von  einer  ursprünglichen  Einheitssetzung  ausgegangen 
wurde,  aus  der  sich  sodann  vermöge  einer  bestimmten  er- 
zeugenden Relation  die  Allheit  der  Glieder  in  fester  Ordnung 
entwickelte,  so  wird  hier  zunächst  eine  Verschiedenheit  von 
Punkten  und  ein  bestimmtes  Lageverhältnjis  zwischen  ihnen 
postuliert  und  in  diesem  ersten  Ansatz  bereits  ein  Prinzip  ent- 
deckt, dessen  allseitige  Anwendung  den  Inbegriff  der  möglichen 
räumlichen  Setzungen  aus  sich  hervorgehen  läßt.  Man  hat 
diesem  Zusammenhang  gemäß,  die  projektive  Geometrie 
mit  Recht  als  die  allgemeine  ,, apriorische"  Grundwissenschaft 
vom  Raum  erklärt,  die  an  rationaler  Strenge  und  Reinheit 
der  Arithmetik  gleichzustellen  sei*.  Der  Raum  ist  hier  in  der 
Tat  lediglich  in  seiner  allgemeinsten  Form  als  ,, Möglichkeit 
des  Beisammen"  überhaupt  abgeleitet,  während  über  seine 
spezielle  axiomatische  Struktur,  insbesondere  über  die  Geltung 
des  Parallelen-Axioms  zunächst  noch  keine  Entscheidung 
gefällt  ist.  Vielmehr  läßt  sich  zeigen,  daß  je  nach  der  Hinzu- 
nahme besonderer  ergänzender  Bedingungen  die  allgemeine 
projektive  Maßbestimmung,  die  hier  entwickelt  wurde,  sich 
nacheinander    mit    den   verschiedenen   Parallelentheorien   in 


*  Vgl.  Russell,    The    foundations  of  Geometry,    Cambridge    1897, 
S.  118. 

8*  115 


Beziehung  setzen  und  sich  somit  zur  speziellen,  „parabolischen", 
„elliptischen"  oder  „hyperbolischen"  Maßbestimmung  fort- 
führen läßt*.  — 

So  hebt  sich  aus  der  Mannigfaltigkeit  der  geo- 
metrischen Methoden  die  einheitliche  Grundform  der  geo- 
metrischen Begriffsbildung  immer  deutlicher  und 
präziser  heraus.  Die  logischen  Kennzeichen  dieser  Form 
bleiben  bestehen  und  erhalten  sich  durch  allen  Wechsel  der 
besonderen  Anwendungen  hindurch.  Man  kann  sich  diese 
Kennzeichen  nochmals  zum  Bewußtsein  bringen,  wenn  man 
die  allgemeinste  Fassung  betrachtet  zu  der  der  moderne 
Begriff  der  Geometrie  gelangt  ist.  Der  Anschluß  der  Geo- 
metrie an  die  Gruppentheorie  bildet  hier  den  letzten, 
für  die  Gesamtcharakteristik  entscheidenden  Schritt.  Schon 
die  Definition  der  ,,  Gruppe"  enthält  ein  neues  und  wichtiges 
logisches  Moment,  sofern  in  ihr  nicht  sowohl  ein  Ganzes  von 
einzelnen  Elementen  oder  Gebilden  als  vielmehr  ein  System 
von  Operationen  zu  einer  gedanklichen  Einheit  zu- 
sammengefaßt wird.  Ein  Inbegriff  von  Operationen  bildet 
eine  Gruppe,  wenn  mit  irgend  zwei  Operationen  immer  auch 
deren  Verknüpfung  in  ihm  vorkommt,  so  daß  also  die  suc- 
cessive  Anwendung  verschiedener,  dem  Inbegriff  angehöriger 
Transformationen  immer  nur  zu  Operationen  zurückführt, 
die  schon  ursprünglich  in  ihm  enthalten  waren.  In  diesem 
Sinne  bilden  etwa  alle  geometrischen  Umformungen,  die  sich 
dadurch  ergeben,  daß  wir  die  Elemente,  die  wir  betrachten, 
irgendwelche  Bewegungen  in  einem  gewöhnlichen  dreidimensio- 
nalen Räume  ausführen  lassen,  eine  Gruppe:  da  das  Resultat 
zweier  aufeinanderfolgender  Bewegungen  sich  hier  stets  auch 
durch  eine  einzige  Bewegung  darstellen  und  erreichen  läßt**. 
In  diesem  Begriff  der  Gruppe  aber  ist  nunmehr  ein  allgemeines 
Klassifikationsprinzip  gewonnen,  kraft  dessen 
die  verschiedenen  möglichen  Formen  der  Geometrie  unter  einem 
einheitlichen  Gesichtspunkt  vereint  und  in  ihrem  symmetri- 
schen Zusammenhang  überschaut  werden  können.  Stellen 
wir  uns  zunächst  die  Frage,  was  überhaupt  unter  einer  „geo- 

♦  Vgl.  F.  Klein,  Mathem.  Annalen  IV,   575  ff. 
♦♦  Vgl.  F.  K  I  e  i  n  ,  Einleitung  in  die  höhere  Geometrie  II,   S.  1  ff. 

116 


metrischen**  Eigenschaft  zu  verstehen  ist,  so  finden  wir, 
daß  wir  solche  und  nur  solche  Eigenschaften  als  geometrische 
bezeichnen,  die  von  gewissen  räumlichen  Transformationen 
nicht  berührt  werden.  Die  Sätze,  die  die  Geometrie  von  einem 
bestimmten  Gebilde  entwickelt,  bleiben  unverändert,  wenn 
wir  dieses  Gebilde  seine  absolute  Lage  im  Raum  wechseln, 
wenn  wir  die  absoluten  Größen  seiner  Bestimmungsstücke 
im  selben  Verhältnis  wachsen  oder  abnehmen  lassen,  oder 
wenn  wir  schließlich  den  Sinn  der  Anordnung  der  einzelnen 
Teile  umkehren,  indem  wir  an  Stelle  der  ursprünglichen 
Figur  eine  andere  treten  lassen,  die  sich  zu  ihr  wie  ihr  Spiegel- 
bild verhält.  Der  Gedanke  der  Unabhängigkeit  gegenüber 
all  diesen  Umformungen  muß  zu  der  Anschauung  der  indivi- 
duellen Einzelgestalt,  die  uns  als  Ausgangspunkt,  dient, 
hinzutreten,  um  dieser  Gestalt  wahrhafte  Allgemeinheit 
und  damit  erst  eigentlich  geometrischen  Charakter  zu  ver- 
leihen. ,,  Geometrie  unterscheidet  sich  eben  dadurch  von 
Topographie,  daß  nur  solche  Eigenschaften  des  Raumes 
geometrisch  heißen,  welche  bei  einer  gewissen  Gruppe  von 
Operationen  ungeändert  bleiben."  Hält  man  diese  Erklärung 
fest,  so  bietet  sich  von  hier  aus  sogleich  ein  Ausblick  auf  sehr 
verschiedenartige  Möglichkeiten  des  Aufbaus  geometrischer 
Systeme,  die  logisch  sämtlich  als  gleichberechtigt  zu  gelten 
haben.  Denn  da  wir  in  der  Wahl  der  Transformationsgruppe, 
die  wir  für  die  Untersuchung  zugrunde  legen,  nicht  von  vorn- 
herein gebunden  sind,  diese  Gruppe  vielmehr  durch  Hinzu- 
nahme neuer  Bedingungen  erweitern  können,  so  ist  damit 
ein  Weg  bezeichnet,  von  einer  bestimmten  Form  der  Geo- 
metrie durch  einen  Wechsel  des  Grundsystems,  auf  das  wir 
alle  Aussagen  bezogen  denken,  zu  einer  anderen  Struktur  über- 
zugehen. Betrachten  wir  z.  B.  die  gewöhnliche  metrische 
Geometrie  durch  die  zugehörige  Hauptgruppe  räumlicher 
Änderungen,  also  durch  die  angegebenen  Operationen  der 
Bewegung,  der  Ähnlichkeitstransformation  und  der  Spiegelung 
charakterisiert,  so  können  wir  sie  alsbald  zur  projektivischen 
Geometrie  erweitern,  indem  wir  dieser  Hauptgruppe  noch 
den  Inbegriff  aller  projektiven  Umformungen  hinzufügen 
und  die  Eigenschaften  betrachten,  die  sich  gegenüber  diesem 

117 


erweiterten  Kreis  von  Änderungen  als  konstant  erweisen. 
In  der  gleichen  Weise  lassen  sich  sodann  —  wie  F.  K  1  e  i  n  im 
einzelnen  dargetan  hat  —  die  verschiedensten  Arten  der  Geo- 
metrie methodisch  begründen  und  ableiten,  indem  wir  von 
der  zunächst  betrachteten  Hauptgruppe  durch  irgendeine 
bestimmte  Vorschrift  zu  einem  umfassenderen  System  über- 
gehen. Allgemein  besteht  die  Aufgabe  jeder  dieser  Geometrien 
darin,  sobald  eine  Mannigfaltigkeit  und  in  derselben  eine 
Transformationsgruppe  gegeben  ist,  die  auf  die  Gruppe  be- 
zügliche Invariantentheorie    zu  entwickeln*. 

Diese  universelle  Betrachtungsweise  wirft  zugleich  auf 
das  prinzipielle  Verhältnis,  das  die  Begriffe  der  Konstanz 
und  der  Veränderung  in  der  Grundlegung  der  Geo- 
metrie eingehen,  helles  Licht.  Wir  sahen,  wie  seit  den  An- 
fängen der  griechischen  Mathematik  die  philosophische  Frage 
immer  wieder  zu  diesem  Verhältnis  zurückkehrte.  War  einmal 
die  Geometrie,  nach  dem  Platonischen  Wort,  als  die  Lehre  vom 
„immer  Seienden"  bestimmt;  stand  es  fest,  daß  nur  von  dem, 
was  stets  in  der  gleichen  Weise  sich  verhält,  ein  exakter 
Beweis  möglich  sei:  so  konnte  fortan  die  Veränderung 
zwar  als  Hilfsbegriff  geduldet,  aber  nicht  als  selbständiges 
logisches  Prinzip  gebraucht  werden.  Das  Gebiet  des  Wer- 
dens bezeichnete  einen  Bezirk,  innerhalb  dessen  der  reine 
mathematische  Gedanke  keine  Kraft  mehr  besitzt  und  der 
somit  der  Unbestimmtheit  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
preisgegeben  schien.  Es  zeigte  sich  indes,  wie  gerade  diese 
Auffassung,  die  dazu  bestimmt  war,  alle  sinnlichen  Mo- 
mente aus  der  Begründung  der  reinen  mathematischen  Er- 
kenntnis auszuscheiden,  innerhalb  der  Geometrie  zuletzt 
in  entgegengesetzter  Tendenz  wirkte.  Die  geforderte  starre 
Konstanz  der  anschaulichen  Raumform  beengte  zugleich  die 
Freiheit  der  geometrischen  Deduktion:  die  Betrachtung 
blieb  in  der  Einzelfigur  befangen,  statt  sich  zu  den  letzten 
Gründen    des   gesetzlichen    Zusammenhangs    der   besonderen 


*  Für  «die  Einzelheiten  muß  wiederum  auf  F.  K 1  e  i  n  s  Erlanger 
Programm  von  1872:  Vergleichende  Betrachtungen  über  neuere  geome- 
trische Forschungen  (wieder  abgedruckt:  Math.  Annalen  43,  1893,  S.  63  ff.) 
verwiesen  werden. 

118 


Gestalten  zu  erheben.  Erst  nachdem  der  Begriff  der  Ver- 
änderung durch  die  A  n  a  1  y  s  i  s  kritisch  geprüft  und  be- 
glaubigt war,  konnte  hier  eine  neue  Entwicklung  einsetzen. 
Diese  Entwicklung  erhält  in  der  Gruppentheorie  'hren  syste- 
matischen Abschluß :  denn  hier  ist  die  Veränderung  als  Grund- 
begriff anerkannt,  während  ihr  anderseits  feste  logische 
Grenzen  gezogen  sind.  Die  Platonische  Erklärung  bewährt  sich 
nunmehr  in  einem  neuen  Sinne.  Die  Geometrie  handelt,  als 
Invariantentheorie,  von  bestimmten  unwandelbaren  Be- 
ziehungen: aber  diese  Unwandelbarkeit  läßt  sich  in  keiner 
Weise  bestimmen  und  festhalten,  ohne  daß  wir,  gleichsam 
als  ideellen  Hintergrund,  den  Gedanken  bestimmter  Grund- 
änderungen fassen,  denen  gegenüber  sie  gilt  und  sich  behauptet. 
Die  unveränderlichen  geometrischen  Eigenschaften  sind  dies 
nicht  an  und  für  sich,  sondern  immer  nur  mit  Bezug  auf  einen 
Inbegriff  möglicher  Transformationen,  den  wir  implicit 
voraussetzen.  Konstanz  und  Veränderlichkeit  erscheinen 
daher  hier  als  durchaus  korrelative  Momente :  nur 
durch  und  miteinander  sind  beide  definierbar.  Der  geo- 
metrische ,, Begriff"  erhält  seinen  identischen  und  eindeutigen 
Sinn  erst  durch  die  Angabe  der  bestimmten  Gruppe  von 
Änderungen,  mit  Rücksicht  auf  die  er  konzipiert  ist.  Der 
Bestand,  von  dem  hier  die  Rede  ist,  bezeichnet  keine  absolute 
Eigenschaft  gegebener  Objekte,  sondern  er  gilt  stets  nur  relativ 
zu  einer  bestimmten  gedanklichen  Operation,  die  wir  als 
Bezugssystem  wählen.  Hier  kündigt  sich  bereits  ein  Be- 
deutungswandel in  der  allgemeinen  Kategorie  der  Substan- 
tialität  an,  der  im  Fortgang  der  Untersuchung  immer 
deutlicher  zutage  treten  wird :  die  Beharrlichkeit 
bezieht  sich  nicht  auf  die  Fortdauer  von  Dingen  und  ding- 
lichen Beschaffenheiten,  sondern  sie  bezeichnet  die  relative 
Selbständigkeit  bestimmter  Glieder  eines  funktionalen  Zu- 
sammenhangs, die  sich  im  Vergleich  zu  anderen 
als  unabhängige  Momente  erweisen. 

III. 
Die   Entwicklung   der   modernen   Mathematik   hat   sich 
immer    genauer    und    bewußter    dem    Ideal    genähert,    das 

119 


L  e  i  b  n  i  z  für  sie  aufgestellt  hat.  Innerhalb  der  reinen 
Geometrie  zeigt  sich  dies  am  deutlichsten  an  dem  all- 
gemeinen Begriff  des  Raumes,  der  sich  hier 
allmählich  herausbildet.  Die  Zurückführung  der  metrischen 
Verhältnisse  auf  projektive  verwirklicht  den  Leibnizschen 
Gedanken,  daß  der  Raum,  noch  ehe  er  als  Quantum 
bestimmt  wird,  in  seiner  ursprünglichen  qualitativen 
Eigenart  als  ,, Ordnung  im  Beisammen"  (ordre  des  coexistences 
possibles)  begriffen  werden  muß.  Die  Kette  der  harmonischen 
Konstruktionen,  durch  welche  die  Punkte  des  projektiven 
Raumes  erzeugt  werden,  liefert  das  Bild  dieser  Ordnung, 
deren  Wert  und  deren  vollständige  Erkennbarkeit 
eben  darin  wurzelt,  daß  sie  nicht  als  sinnlich  vorhandene  er- 
griffen, sondern  im  Fortgang  relativer  Setzungen  durch  den 
Gedanken  aufgebaut  wird*.  Der  Anschauung  mögen 
■wir  immerhin  die  elementaren  Inhalte  der  Geometrie: 
den  Punkt,  die  Gerade,  die  Ebene,  entnehmen  können;  aber 
all  das,  was  sich  auf  die  Verknüpfung  dieser  Inhalte 
bezieht,  muß  rein  begrifflich  abgeleitet  und  eingesehen  werden 
können.  In  diesem  Sinne  versucht  die  neuere  Geometrie 
selbst     eine     Beziehung,    wie    die    allgemeine    Relation    des 


*  Eb  ist  von  geschichtlichem  Interesse,  daß  das  logische  Problem 
einer  Metrik,  die  sich  auf  rein  projektiven  Verhältnissen  aufbaut,  tatsächlich 
bereits  von  Leibniz  erfaßt  worden  ist.  Gegen  Leibniz'  Definitionen  des 
Raumes  als  einer  Ordnung  im  Nebeneinander,  der  Zeit  als  einer  Ord- 
nung im  Nacheinander  erhebt  C  1  a  r  k  e  ,  der  für  Newtons  Erklärung 
des  absoluten  RaumoA  und  der  absoluten  Zeit  eintritt,  den  Einwand,  daß 
sie  gerade  den  wesentlichen  Gehalt  beider  Begriffe  nicht  treffe.  Raum 
und  Zeit  seien  vor  allen  Dingen  Quantitäten,  was  Lage  \ind 
Ordnung  nicht  sind.  Leibniz  erwidert  hierauf,  daß  auch  innerhalb 
reiner  Ordnungsbeziehungen  Größenbestimmungen  möglich  sind,  sofern 
ein  vorangehendes  Glied  vom  folgenden  unterschieden  und  die  ,, Ent- 
fernung" zwischen  beiden  begrifflich  definiert  werden  kann.  „Die  relativen 
Dinge  haben,  ebensogut  wie  die  absoluten,  ihre  Größe;  so  haben  z.  B.  in 
der  Mathematik  die  Verhältnisse  oder  Proportionen  ihre  Größe,  die  durch 
die  Logarithmen  gemessen  wird ;  dennoch  aber  sind  und  bleiben  63  Re- 
lationen." (Leibniz,  Hauptschriften  zur  Grundlegvmg  der  Philosophie,  I, 
Philo?.  Bibl.  107,  S.  189  f.)  Man  erkennt  hier  den  Hinweis  auf  eine  Frage, 
die  sich  in  der  modernen  Grundlegung  der  projektiven  Metrik  wiederholt 
hat:  denn  in  dieser  wird  in  der  Tat  die  , .Distanz"  zwischen  zwei  Punkten 
durch  den  Logarithmus  eines  bestimmten  Doppel  ver- 
hältnisses definiert  und  gemessen.  (Vgl.  Klein,  Vorlesungen  über 
Nicht-Euklidische  Geometrie,  S.  65  ff.) 

120 


„Zwischen",  die  zunächst  ein  nicht  weiter  zerlegbarer  sinn- 
licher Bestand  zu  sein  scheint,  von  dieser  Gebundenheit  zu 
befreien  und  zu  freier  logischer  Anwendung  zu  erheben. 
Was  diese  Relation  bedeutet,  muß,  abgesehen  von  dem 
wechselnden  sinnlichen  Material,  an  welchem  sie  sich  dar- 
stellt, durch  bestimmte  Axiome  der  Verknüpfung  fest- 
gelegt werden:  und  von  diesen  Axiomen  allein  empfängt  sie 
denjenigen  Gehalt,  mit  welchem  sie  in  die  mathematische 
Deduktion  eingeht.  Kraft  dieser  Erweiterung  vermögen 
wir  den  Begriff  des  Zwischen  von  den  anschaulichen  Inhalten, 
an  welchen  wir  ihn  zuerst  erfaßten,  unabhängig  zu  machen 
und  ihn  nunmehr  auch  auf  solche  Reihen  anzuwenden,  in 
welchen  das  Verhältnis,  das  er  bezeichnet,  kein  unmittelbares 
anschauliches  Korrelat  mehr  besitzt*. 

Diese  Auffasung  aber  wirkt  nunmehr  weiter,  indem  die 
spezifische  Ordnung  des  räumlichen  Neben-  und  Auseinander 
sich  einem  allgemeinen  System  der  möglichen  Ordnungen  über- 
haupt einzugliedern  strebt.  Wieder  ist  es  die  L  e  i  b  n  i  z  'sehe 
Grundkonzeption  der  Mathematik,  zu  der  wir  uns  hierbei 
zurückgeführt  sehen.  Die  Mathematik  ist  danach  nicht 
die  allgemeine  Wissenschaft  der  Größe,  sondern  der 
Form,  nicht  der  Quantität,  sondern  der  Qua- 
lität. Die  Kombinatorik  wird  damit  zur  eigentlichen 
Grundwissenschaft:  sofern  man  unter  ihr  nicht  die  Lehre 
von  der  Zahl  der  Verbindungen  gegebener  Elemente, 
sondern  die  universelle  Darstellung  der  möglichen  Weisen 
der  Verknüpfung  überhaupt  und  ihrer  wechsel- 
seitigen Abhängigkeit  versteht**.  Wo  immer  eine  bestimmte 
Weise  der  Verknüpfung  gegeben  ist,  die  wir  in  gewissen 
Grundregeln   und  Axiomen   aussprechen  können,   da  ist  im 


*  Näheres    hierüber    bei   Pasch,    Vorles.  über  neuere  Geometrie, 
§  1  und  9. 

**  ,,Hinc  etiam  prodit  ignorata  hactenus  vel  neglecta  subordinatio 
Algebrae  ad  artem  Combinatoriam,  seu  Algebrae  Speciosae  ad  Speciosam 
generalem,  seu  scientiae  de  formulis  quantitatem  significantibus  ad  doc- 
trinam  de  formulis,  seu  ordinis  similitudinis  relationis  etc.  expressionibus 
in  Universum,  vel  scientiae  generalis  de  quantitate  ad  scientiam  generalem 
de  qualitate,  ut  adeo  speciosa  nostra  Mathematica  nihil  aliud  sit  quam 
specimen  illustre  Artis  Combinatoriae  seu  speciosae  generalis.  L  e  i  b  n  i  z  , 
Math.  Schriften,  hg.  v.  Gerhardt,  VII,  61. 

121 


mathematischen  Sinne  ein  identisches  „Objekt**  fixiert.  Die 
Relationsstruktur  als  solche,  nicht  die  absolute  Beschaffenheit 
der  Elemente  macht  den  eigentlichen  Gegenstand  der  mathe- 
matischen Betrachtungs-  und  Untersuchungsweise  aus.  Zwei 
Urteilskomplexe,  von  denen  der  eine  etwa  von 
Geraden  und  Ebenen,  der  andere  von  Kreisen  und  Kugeln 
eines  bestimmten  Kugelgebüsches  handelt,  gelten  vom  Stand- 
punkt dieser  Betrachtungsweise  einander  als  äquivalent, 
sofern  sie  denselben  Gehalt  begrifflicher  Abhängigkeiten 
bei  einem  bloßen  Wechsel  der  anschaulichen  „Subjekte", 
für  welche  die  Abhängigkeiten  ausgesagt  werden,  in  sich 
schließen.  In  diesem  Sinne  lassen  sich  die  „Punkte",  von 
denen  die  gewöhnliche  Enklideische  Geometrie  handelt, 
nacheinander  mit  Kugeln  und  Kreisen,  mit  inversen  Punkt- 
paaren eines  hyperbolischen  oder  elliptischen  Kugelgebüsches 
oder  auch  mit  bloßen  Zahlentripeln  ohne  spezifische  geo- 
metrische Bedeutung,  vertauschen,  ohne  daß  der  deduk- 
tive Zusammenhang  der  einzelnen  Sätze,  die  wir 
für  diese  Punkte  entwickelt  haben,  dadurch  in  sich  selbst 
verändert  würde*.  Dieser  Zusammenhang  bildet  somit  eine 
eigene,  rein  formale  Bestimmtheit,  die  sich  von  der  materialen 
Grundlage,  an  der  sie  jeweilig  auftritt,  loslösen  und  für  sich 
in  ihrer  Gesetzlichkeit  feststellen  läßt.  Die  besonderen  Ele- 
mente werden  in  der  mathematischen  Begriffsbildung  nicht 
nach  dem,  was  sie  an  und  für  sich  sind,  sondern  stets  nur  als 
Beispiele  für  eine  bestimmte,  allgemein  gültige  Form  der 
Ordnung  und  Verknüpfung  erfaßt:  die  Mathe- 
matik zum  mindesten  kennt  an  ihnen  kein  anderes  ,,Sein" 
als  dasjenige,  was  ihnen  kraft  der  Teilhabe  an  dieser  Form 
zukommt.  Denn  dieses  Sein  allein  ist  es,  das  in  die  Be- 
weisführung, in  den  Prozeß  des  Folgerns  und  Schlie- 
ßens  eingeht  und  das  somit  der  vollen  Gewißheit  zu- 
gänglich ist,  die  die  Mathematik  ihren  Objekten  verleiht. 
Zum  schärfsten  Ausdruck  gelangt  diese  Auffassung  der 
Methode  der  reinen  Mathematik  in  dem  Verfahren,  das  H  i  1  - 


*  Vgl.  hierzu  die  sehr  instruktiven  Beispiele  und  Erläuterungen  bei 
W  e  1 1  8  t  e  i  n  ,  Encyklopädie  der  Elem.  Mathematik,  Bd.  II,  Buch.  1, 
Abschn.  2. 

122 


b  e  r  t  zur  Darstellung  und  Ableitung  der  geometrischen 
Axiome  angewandt  hat.  Gegenüber  der  Euklidischen  Be- 
griffsbestimmung, die  die  Begriffe  des  Punktes  oder  der 
Geraden,  von  denen  sie  ausgeht,  als  unmittelbare  Ge- 
gebenheiten der  Anschauung  nimmt  und  die  ihnen  somit  von 
Anfang  an  einen  bestimmten  unabänderlichen  Inhalt  auf- 
prägt, wird  hier  der  Bestand  der  ursprünglichen  geometrischen 
Objekte  ausschließlich  durch  die  Bedingungen  bestimmt, 
denen  sie  gehorchen.  Den  Anfang  bildet  ein  gewisser  Kreis 
von  Axiomen,  die  wir  festlegen  und  deren  Verträglichkeit 
miteinander  wir  erweisen.  Alle  Beschaffenheiten,  die  wir  den 
Elementen  zusprechen,  fließen  lediglich  aus  diesen  Regeln 
ihrer  Zusammengehörigkeit,  die  wir  zugrunde  gelegt  haben. 
Der  Punkt,  die  Gerade  bedeutet  uns  nichts  anderes,  als 
ein  Gebilde,  das  mit  anderen  seinesgleichen  in  Beziehungen 
steht,  wie  sie  durch  gewisse  Axiomgruppen  definiert  sind. 
Lediglich  diese  systematische  „Komplexion"  der  Elemente, 
nicht  ihre  Einzelbestimmtheit,  wird  hier  als  Ausdruck  ihrer 
Wesenheit  gebraucht  und  festgehalten.  In  diesem  Sinne 
hat  man  mit  Recht  die  Hilbertsche  Geometrie  eine  reine 
Beziehungslehre  genannt*.  Eben  hierin  aber 
bildet  sie  den  konsequenten  Abschluß  einer  Denkrichtung, 
die  wir  in  ihren  rein  logischen  Momenten  von  den  ersten  An- 
fängen der  Mathematik  her  verfolgen  konnten.  Es  kann 
freilich  zunächst  wie  ein  Zirkel  erscheinen,  wenn  der  Inhalt 
der  geometrischen  Grundbegriffe  einzig  und  allein  durch  die 
Axiome,  denen  sie  gemäß  sind,  bestimmt  werden  soll:  denn 
setzen  diese  Axiome  zu  ihrer  Formulierung  nicht  wiederum 
bereits  irgendwelche  Begriffe  voraus?  Diese  Schwierigkeit 
löst  sich  indessen,  sobald  nur  zwischen  dem  psychologischen 
Anfang  und  dem  logischen  Grund  völlig  scharf  unter- 
schieden wird.  Im  psychologischen  Sinne  ist  es  freilich  zu- 
treffend, daß  wir  uns  den  Sinn  einer  bestimmten  Relation 
immer  nur  an  irgendwelchen  gegebenen  Relations- 
termen,  die  als  ,, Fundamente"  der  Beziehung  dienen, 
vergegenwärtigen  können.     Aber  diese  Termini,  die  wir  zu- 


*  W  e  1 1  s  t  e  i  n  ,  a.  a.  O.  S.  116. 

123 


nächst  der  sinnlichen  Anschauung  verdanken,  bezeichnen 
keinen  absoluten,  sondern  einen  veränderlichen  Bestand. 
Wir  legen  sie  nur  als  hypothetischen  Ansatz  fest;  alle  nähere 
Bestimmung  aber  erwarten  wir  von  der  Einordnung 
in  die  mannigfachen  Bedingungskomplexe,  in  die  sie  suc- 
cessiv  eintreten.  Erst  durch  diesen  gedanklichen  Prozeß 
wird  der  gleichsam  provisorische  Inhalt  zum  festen  logischen 
Gegenstand.  Die  Gesetze  der  Verknüpfung  bezeichnen  daher 
das  eigentliche  ixqöxeqov  tfj  (pvaet^  während  die  Elemente 
in  ihrer  scheinbaren  Absolutheit  doch  nur  ein  JtqöxeQov  ftQoq 
^uäz  bedeuten.  Die  Anschauung  scheint  den  Inhalt  als  los- 
gelösten, sich  selbst  genügenden  Bestand  zu  ergreifen;  aber 
sobald  wir  daran  gehen,  diesen  Bestand  im  U  r  t  e  i  1  zu 
fixieren,  löst  es  sich  in  ein  Gewebe  relativer  Setzungen  auf, 
die  einander  wechselseitig  stützen.  Begriff  und  Urteil  kennen 
das  Einzelne  nur  als  Glied  und  gleichsam  als  Punkt  einer 
systematischen  Mannigfaltigkeit,  die  hier 
somit,  wie  im  Gebiet  der  Arithmetik,  als  das  eigentliche  logische 
Prius  gegenüber  allen  besonderen  Setzungen  erscheint  (vgl. 
oben,  S.  88).  Die  Bestimmung  der  Individualität 
der  Elemente  steht  daher  nicht  am  Anfang,  sondern  am  Ende 
der  Begriffsentwicklung;  sie  ist  das  logische  Ziel,  dem  wir 
uns  durch  die  fortschreitende  Verknüpfung  allgemein  gültiger 
Beziehungen  annähern.  Das  Verfahren  der  Mathematik 
weist  hier  auf  ein  analoges  Verfahren  der  theoretischen 
Naturwissenschaft  voraus,  für  welches  es  den 
Schlüssel  und  die  Rechtfertigung  enthält.     (S»  Kap.  V.) 

Von  hier  aus  wird  es  verständlich,  daß  der  Schwerpunkt 
des  mathematischen  Systems  sich  innerhalb  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  beständig  in  bestimmter  Richtung  ver- 
schiebt. Der  Kreis  der  Objekte,  auf  die  die  Betrachtungsweise 
der  Mathematik  anwendbar  und  übertragbar  ist,  weitet  sich: 
bis  es  zuletzt  völlig  deutlich  wird,  daß  die  Eigenart  der  Me- 
thode an  keine  besondere  Klasse  von  Gegenständen  ge- 
bunden und  in  ihr  begrenzt  ist.  Die  ,,Mathesis  universalis" 
soll  in  dem  philosophischen  Sinn,  den  sie  bei  Decartes  erhält, 
das  Grundinstrument  für  alle  Aufgaben  bilden,  die  sich  auf 
Ordnung    und  Maß    beziehen.     Aber  schon  bei  Leibniz 

124 


tritt,  wie  sich  zeigte,  an  die  Stelle  dieses  Nebeneinanders 
zweier  verschiedener  Momente  ein  Verhältnis  logischer  Über- 
und  Unterordnung:  die  Lehre  von  den  möglichen,  begrifflich 
verschiedenen  Arten  der  Verknüpfung  und  Zuordnung  wird 
zur  Voraussetzung  der  Wissenschaften  von  der  meßbaren  und 
teilbaren  Größe*.  Die  neuere  Mathematik  bringt  diesen 
Gedanken  zu  immer  schärferer  Ausprägung.  Schon  der  Fort- 
schritt der  projektiven  Geometrie  ließ  ein  Gebiet  erkennen, 
das  das  Ideal  der  mathematischen  Darstellung  unabhängig 
von  allen  Hilfsmitteln  der  Messung  und  Größenvergleichung 
in  sich  verwirklicht.  Die  Metrik  selbst  wird  hier  aus  rein 
qualitativen  Beziehungen  abgeleitet,  die  lediglich  das  Stellen- 
verhältnis der  Raumpunkte  betreffen.  Noch  bezeichnender 
tritt  sodann  die  Ausdehnung  der  Mathematik  über  ihre 
traditionellen  Grenzen  in  der  Gruppentheorie  her- 
vor, deren  unmittelbares  Objekt  nicht  Größen-  oder  Lage- 
bestimmungen, sondern  ein  Inbegriff  von  Ope- 
rationen bildet,  die  in  ihrer  wechselseitigen  Abhängigkeit 
untersucht  werden.  Hier  erst  ist  in  der  Tat  das  oberste  und  uni- 
verselle Prinzip  erreicht,  von  dem  aus  sich  das  Gesamtgebiet 
der  Mathematik  als  Einheit  übersehen  läßt.  Die  Aufgabe  der 
mathematischen  Betrachtung  besteht  ihrem  allgemeinen  Sinne 
nach  nicht  darin,  gegebene  Größen  zu  vergleichen,  zu 
teilen  oder  zusammenzusetzen,  sondern  die  erzeugenden 
Relationen  selbst,  auf  denen  die  Möglichkeit  jeglicher 
Größensetzung  beruht,  zu  isolieren  und  ihr  Verhältnis  gegen- 
einander zu  bestimmen.  Die  Elemente  und  alles,  was  sich  aus 
ihnen  aufbaut,  erscheinen  als  Ergebnisse  bestimmter  ur- 
sprünglicher Regeln  der  Verknüpfung,  die  sowohl  für  sich  in 
ihrer    eigentümlichen    Struktur,    als    in    der    Bestimmtheit, 


*  Vgl.  ob.  S.  121,  Anm.  2;  s.  auch  Leibniz'  Hauptschriften  (Phil.  Bibl. 
Bd.  107),  Leipzig  1904,  S.  5,  S.  50,  S.  62. —Für  die  moderne  Auffassung 
ß.  Russell,  Principles  of  Mathematics  S.  158  u.  419:  „Quantity,  in  fact, 
though  philosophers  appear  still  to  regard  it  as  very  essential  to  Mathe- 
matics, does  not  occur  in  pure  Mathematics,  and  does  occur  in  many  cases 
not  at  present  amenable  to  mathematical  treatment.  The  notion  which 
does  occupy  the  place  traditionally  assigned  to  quantity  is  o  r  d  e  r."  Vgl. 
hierzu  Gregor  1 1  e  1  s  o  n  s  Definition  der  Mathematik  als  Wissenschaft 
der  geordneten  Gegenstände".     (S.  Revue  de  M^taphysique,"   XII,  1904.) 

125 


die  sich  aus  ihrem  Zusammentreten  und  ihrer  Durchdringung 
ergibt,  zu  untersuchen  sind.  Die  mannigfachen  Algorithmen, 
die  die  neuere  Mathematik  ausgebildet  hat:  die  Graßmann- 
sche  Ausdehnungslehre,  Hamiltons  Theorie  der  Quater- 
nionen,  die  projektive  Streckenrechnung,  sind  nur  ver- 
schiedene Beispiele  dieses  logisch  allgemeingültigen  Ver- 
fahrens. Der  methodische  Vorzug  all  dieser  Ver- 
fahrungsweisen  besteht  eben  darin,  daß  der  „Calcul"  hier  zu 
völlig  freier  und  selbständiger  Betätigung  gelangt:  daß  er 
nicht  mehr  auf  die  Zusammensetzung  von  Quantitäten 
beschränkt  bleibt,  sondern  sich  unmittelbar  der  Synthese 
von  Relationen    zuwendet. 

Daß  diese  Synthese  das  eigentliche  Ziel  der  mathemati- 
schen Operationen  bildet,  konnten  wir  im  Größengebiet  selbst 
bereits  in  der  Entwicklung  der  Analysis  des  Unendlichen  ver- 
folgen. (S.  ob.  S.  96  f.)  Jetzt  aber  erweitert  sich  das  Gebiet 
der  Betrachtung:  denn  als  Grundlage  kann  jedes  beliebige 
Element  dienen,  sofern  es  nur  möglich  ist,  aus  ihm  kraft  der 
wiederholten  Anwendung  einer  bestimmten,  gedanklich  fixier- 
ten Grundbeziehung  ein  neues  Gebilde  hervorgehen  zu  lassen. 
Lediglich  diese  Möglichkeit  der  Determination  ist  es, 
die  im  Calcul  festgehalten  wird  und  die  die  notwendige  und 
hinreichende  Bedingung  für  ihn  bildet.  Die  Festigkeit  und 
Sicherheit  des  deduktiven  Gefüges  ist  an  kein  besonderes 
Element  gebunden.  Wir  können  das  eine  Mal,  wie  in  Graß- 
manns  geometrischer  Charakteristik  und  der  Quaternionen- 
theorie  Produkte  von  Punkten  oder  von  Vektoren  betrachten, 
wir  können,  wie  in  M  ö  b  i  u  s'  baryzentrischem  Kalkül  die 
Punkte  außer  durch  ihre  verschiedene  Lage  im  Räume, 
durch  verschiedene  Massenwerte  charakterisiert  sein  lassen, 
wir  können  Strecken  oder  Dreiecksflächen,  Kräfte  oder 
Kräftepaare  auf  irgendeine  Weise  miteinander  zusammen- 
fassen und  das  Resultat,  das  sich  hieraus  ergibt,  rechnerisch 
feststellen*.  In  allen  diesen  Fällen  handelt  es  sich  nicht  darum, 
ein  gegebenes  „Ganze"   in  seine,   ihm  gleichartigen  ,, Teile" 


*  Näheres  über  diese  verschiedenen  Rechnungsweisen  bei  White- 
head,  Universal  Algebra  I,  Cambridge  1898  sowie  bei  H.  Hankel, 
Theorie  der  komplexen  Zahlensysteme,  Leipzig  1867. 

126 


zu  zerlegen  oder  es  aus  diesen  wiederum  zusammenzusetzen, 
sondern  die  allgemeine  Aufgabe  besteht  in  der  Verknüpfung 
irgendwelcher  begrifflicher  Bedingungen  des  Fortschritts  in 
einer  Reihe  überhaupt  zu  einem  eindeutigen  Ergebnis.  Ist 
einmal  ein  Ausgangselement  bestimmt  und  ein  Prinzip  an- 
gegeben, kraft  dessen  wir  von  ihm  aus  in  gleichmäßigem 
Fortgang  zu  einer  Mannigfaltigkeit  anderer  Elemente  ge- 
langen können,  so  wird  auch  die  Zusammenfassung  mehrerer 
derartiger  Prinzipien  eine  Operation  sein,  die  sich  auf  feste 
systematische  Regeln  bringen  läßt.  Wo  immer  ein  derartiger 
Übergang  von  einfachen  zu  komplexen  Reihen  möglich  ist, 
da  ist  damit  ein  neues  Gebiet  deduktiv-mathematischer  Be- 
stimmung abgegrenzt.  — 

Dieser  allgemeine  Grundgedanke,  der  sich  in  strenger 
Abfolge  aus  Descartes'  und  Leibniz'  philosophischem  Ideal 
der  jjMathesis  universalis"  entwickelt  hat,  scheint  es  gewesen 
zu  sein,  der  auch  zu  einer  der  wichtigsten  und  fruchtbarsten 
Konzeptionen  der  neueren  Mathematik:  zu  Hermann  G  r  a  ß  - 
m  a  n  n  s  Ausdehnungslehre  hingeleitet  hat.  Die  allgemeinen 
Erwägungen,  die  Graßmann  seinem  Werke  vorausgeschickt 
hat,  mögen,  als  mathematische  Definitionen  betrachtet, 
in  der  Tat  bisweilen  unzureichend  und  dunkel  erscheinen: 
aber  sie  zeichnen  dennoch  einen  in  sich  klaren  methodi- 
schen Entwurf,  dessen  Bedeutung  durch  die  weitere 
Entwicklung  der  Probleme  erläutert  und  bestätigt  worden  ist*. 
Das  Ziel,  das  Graßmann  sich  stellt,  besteht  darin,  die  Wissen- 
schaft des  Raumes  zum  Range  einer  allgemeinen  F  o  r  m  - 
Wissenschaft  zu  erheben.  Der  Charakter  der  reinen 
Formwissenschaften  aber  wird  dadurch  bestimmt,  daß  in 
ihnen  der  Beweis  nicht  über  das  Denken  selbst  hinaus  in 
eine  andere  Sphäre  übergeht,  sondern  rein  in  der  Kombination 
der  verschiedenen  Denkakte  verharrt.  Diese  Forderung  ist  in 
der  Wissenschaft  der  Zahl  erfüllt:  denn  alle  Besonderheit 
innerhalb  des  Zahlgebiets  läßt  sich  in  der  Tat  aus  dem  In- 
begriff geordneter  Setzungen,  denen  die  Zahlreihe  selbst  erst 


*  S.  hierüber  bes.  V.  Schlegel,   Die  Graßmannsche  Aiisdehnungs- 
lehre.    Ztschr.  f.  Mathem.  u.  Physik,  Bd.  41,  1896. 

127 


ihre  Entstehung  verdankt,  vollständig  ableiten.  Es  gilt  nun- 
mehr, für  die  Geometrie  einen  ebenso  ,, unmittelbaren  Anfang" 
zu  gewinnen,  wie  er  innerhalb  der  Arithmetik  bereits  gegeben 
und  gesichert  ist*.  Zu  diesem  Zweck  muß  auch  hier  von  der 
gegebenen  extensiven  Mannigfaltigkeit  selbst  auf  ihre  ein- 
fachen ,, Erzeugungsweisen"  zurückgegangen  werden,  gemäß 
denen  das  Mannigfaltige  erst  vollkommen  zu  überblicken 
und  zu  begreifen  ist.  Schon  innerhalb  der  gewöhnlichen 
Darstellung  der  geometrischen  Elemente  pflegt  man  von  einer 
genetischen  Erzeugung  der  Linie  aus  dem  Punkte,  der  Fläche 
aus  der  Linie  zu  sprechen:  aber  was  hier  als  bloßes  Bild  ge- 
meint ist,  das  muß  nunmehr,  um  als  Ausgangspunkt  der 
neuen  Wissenschaft  dienen  zu  können,  eine  streng  begriff- 
liche Fassung  und  Deutung  erhalten.  Die  anschaulich 
räumlichen  Verhältnisse  mögen  den  ersten  Anlaß  bieten, 
sich  zu  den  rein  begrifflichen  Beziehungen  zu  erheben;  aber 
sie  erschöpfen  nicht  deren  eigentlichen  Gehalt.  Statt  des 
Punktes,  d.  h.  des  besonderen  Ortes  setzen  wir  nunmehr  das 
Element,  worunter  nur  ein  Besonderes  schlechthin, 
aufgefaßt  als  verschieden  von  anderem  Besonderen,  verstanden 
werden  soll.  Ein  eigentümlicher,  spezifischer  Inhalt  ist  damit 
noch  nicht  gesetzt:  „es  kann  daher  hier  noch  gar  nicht  davon 
die  Rede  sein,  was  für  ein  Besonderes  dies  denn  eigentlich  sei 
—  denn  es  ist  eben  das  Besondere  schlechthin  ohne  allen 
realen  Inhalt  —  oder  in  welcher  Beziehung  das  eine  von  dem 
anderen  verschieden  sei  —  denn  es  ist  eben  schlechtweg  als 
Verschiedenes  bestimmt,  ohne  daß  irgendein  realer  Inhalt, 
in  bezug  auf  welchen  es  verschieden  sei,  gesetzt  wäre**." 
Ebenso  sehen  wir  bei  den  Änderungen,  denen  wir  das 
Grundelement  unterworfen  denken,  von  jeder  speziellen 
Charakteristik  noch  ausdrücklich  ab  und  halten  lediglich 
den  abstrakten  Gedanken  fest,  daß  aus  einem  ursprünglichen 
Anfang  durch  stete  Wiederholung  ein  und  derselben  Operation 
eine  Mannigfaltigkeit  von  Gliedern  hervorgeht.     Wenngleich 


♦  S.  Graßraann,  Die  lineale  Ausdehnungslehre:  ein  neuer  Zweig 
der  Mathematik  (1844).  GeB.  mathemat.  u.  physikal.  Werke,  Leipzig  1894, 
I,  S.  10,  S.  22. 

♦*  Ausdehnungslehre,  a.  a.  O.,  S.  47. 

128 


daher  die  konkrete  Ausführung  der  Graßmannschen  Aus- 
dehnungslehre sich  zunächst  auf  die  Betrachtung  ganz  be- 
stimmter Transformationsweisen  beschränkt,  so  greift  doch 
der  universelle  Entwurf  von  Anfang  an  weiter.  Hier  handelt 
es  sich  nur  um  diejenige  Leistung,  die  uns  als  die  allgemeinste 
Funktion  des  mathematischen  Begriffs  überhaupt  entgegen- 
trat: um  die  Angabe  irgendeiner,  qualitativ  bestimmten  und 
einheitlichen  Regel,  die  die  Form  des  Übergangs  zwischen  den 
Gliedern  einer  Reihe  bestimmt.  „Das  Verschiedene  muß 
nach  einem  Gesetze  sich  entwickeln,  wenn  das  Erzeugnis  ein 
bestimmtes  sein  soll.  Die  einfache  Ausdehnungsform 
ist  also  die  Form,  welche  durch  eine  nach  demselben  Gesetze 
erfolgende  Änderung  des  erzeugenden  Elements  entsteht; 
die  Gesamtheit  aller  nach  demselben  Gesetz  erzeugbaren 
Elemente  nennen  wir  ein  System  oder  ein  G  e  b  i  e  t*." 
In  gleicher  Weise  entstehen  Systeme  höherer  Stufen,  indem 
wir  verschiedene  Grundänderungen  miteinander  verknüpfen 
in  der  Art,  daß  zunächst  aus  dem  Anfangselement  durch  eine 
bestimmte  Umformung  eine  gewisse  Mannigfaltigkeit  ent- 
wickelt und  sodann  die  Gesamtheit  ihrer  Glieder  einer  neuen 
Umformung  unterworfen  wird.  Da  nun  die  Gebiete,  die  wir 
betrachten,  uns  nicht  als  anderweitig  bereits  gegebene 
gelten,  sondern  lediglich  durch  die  Regel  ihres  Aufbaus  für 
uns  bekannt  und  bestimmt  sind,  so  ist  klar,  daß  diese  Regel 
zureichen  muß,  auch  alle  ihre  Merkmale  erschöpfend  darzu- 
stellen und  begrifflich  zu  beherrschen.  — 

Diese  allgemeinen  Festsetzungen  erhalten  sofort  eine 
genauere  mathematische  Bedeutung,  sobald  Graßmann  daran 
geht,  die  verschiedenen  möglichen  Verknüpfungsarten  im 
einzelnen  zu  entwickeln  und  durch  die  formalen  Bedingungen, 
denen  sie  gehorchen,  gegeneinander  abzugrenzen.  Es  ergibt 
sich  nunmehr  eine  ausgeführte  Lehre  über  die  „Addition" 
und  „Subtraktion"  gleichartiger  oder  ungleichartiger  Ände- 
rungen, über  äußere  und  innere  Multiplikation  von  Strecken 
und  Punkten  usf.,  wobei  alle  diese  Operationen  mit  den  gleich- 
namigen algebraischen  Verfahrungsweisen  lediglich  in  gewissen 


♦  Ausdehnungslehre  S.  28. 
Cassirer,  Substanzbegriff  9  129 


formalen  Eigentümlichkeiten,  wie  in  der  Unterordnung  unter 
das  assoziative  oder  distributive  Gesetz,  übereinstimmen, 
an  und  für  sich  aber  völlig  selbständige  Bestimmungsweisen 
darstellen,  durch  die  aus  irgendwelchen  Elementen  ein  neues 
Gebilde  eindeutig  determiniert  wird.  Wir  schreiten  von  den 
relativ  einfachen  Formen  der  „Erzeugung",  die  wir  defini- 
torisch  festgelegt  haben,  zu  immer  komplexeren  Weisen 
des  Aufbaus  eines  Mannigfaltigen  aus  bestimmten  Grund- 
beziehungen fort.  Ist  ein  Anfangsglied  %  gesetzt  und  zugleich 
eine  Mehrheit  von  Operationen  R^  Rj  R3  . . .  bezeichnet, 
die  es  successiv  in  verschiedene  Werte  a^  a^  a,,  a\  a'^  a'^  usf. 
überführen,  so  sollen  nunmehr  das  Ergebnis  der  Zusammen- 
fassung dieser  Operationen  und  die  verschiedenen  möglichen 
Typen  dieser  Zusammenfassung  deduktiv  abgeleitet  werden. 
Die  Betrachtungen,  die  Graßmann  seinem  Werke  voraus- 
schickt, schaffen  daher  in  der  Tat  ein  allgemeines  logisches 
Schema,  dem  sich  auch  die  verschiedenen  Algorithmen, 
die  sich  unabhängig  von  der  Ausdehnungslehre  entwickelt 
haben,  einordnen  lassen:  denn  sie  stellen  nur  von  einer  neuen 
Seite  her  den  Gedanken  fest,  daß  die  eigentlichen  „Elemente" 
des  mathematischen  Calculs  nicht  sowohl  Größen  als  vielmehr 
Relationen  sind. 

Überblickt  man  nunmehr  das  Ganze  dieser  Entwick- 
lungen, so  erkennt  man  zugleich,  wie  in  ihnen  der  Grund- 
gedanke des  logischen  Idealismus  sich  fort- 
schreitend befestigt  und  vertieft  hat.  Mehr  und  mehr  ist  die 
Tendenz  der  neueren  Mathematik  darauf  gerichtet,  die  ,, ge- 
gebenen" Elemente  als  solche  zurückzudrängen  und  ihnen 
keinen  Einfluß  auf  die  allgemeine  Form  der  Beweisführung 
zuzugestehen.  Jeder  Begriff  und  jeder  Satz,  der  im  eigent- 
lichen Beweisgang  gebraucht  und  nicht  lediglich  zur  anschau- 
lichen Verdeutlichung  verwandt  wird,  muß  rein  und  voll- 
ständig aus  den  Gesetzen  des  konstruktiven  Zusammenhangs 
begründet  und  eingesehen  werden.  Die  Logik  der  Mathematik, 
wie  Graßmann  sie  versteht,  ist  in  der  Tat  im  strengen 
Sinne  ,, Logik  des  Ursprungs".  Cohens  Logik  der  reinen 
Erkenntnis  hat  den  Gedanken  des  Ursprungs,  auf  dem  sie 
sich   aufbaut,    an   den   Prinzipien   der    Infinitesimal- 

130 


rechnung  entwickelt*.  Hier  ist  in  der  Tat  das  erste 
und  markanteste  Beispiel  der  allgemeinen  Betrachtungsweise 
gegeben,  die  vom  Größenbegriff  zum  Funktionsbegriff,  von 
der  ,,  Quantität"  zur  ,,  Qualität"  als  dem  eigentlichen  Funda- 
ment zurückleitet.  Eine  erneute  Bestätigung  gewinnt 
sodann  das  logische  Prinzip,  das  hier  festgestellt  ist,  im 
Fortgang  zu  den  übrigen  Problemgebieten  der  modernen 
Mathematik.  Sie  alle,  wie  verschieden  sie  ihrem  Inhalt 
nach  sein  mögen,  weisen  in  ihrem  Aufbau  auf  den  Grund- 
begriff des  Ursprungs  zurück.  Die  Forderung,  die  dieser 
Begriff  stellt,  ist  überall  dort  erfüllt,  wo  die  Glieder  einer 
Mannigfaltigkeit  aus  bestimmten  Reihenprinzipien  abgeleitet 
und  durch  sie  erschöpfend  dargestellt  sind.  Die  verschieden- 
artigsten Formen  des  ,,Calculs"  gehören,  soweit  sie  dieser 
Bedingung  genügen,  dem  gleichen  logischen  Typus  an, 
wie  sie  denn  auch  in  ihrer  Fruchtbarkeit  für  die  Probleme 
der  mathematischen  Naturwissenschaft  miteinander 
übereinkommen.  So  hat  M  ö  b  i  u  s  seinen  allgemeinen  Cal- 
cul  zu  einem  streng  rationalen  Aufbau  der  Statik  ver- 
wendet, während  Maxwell  von  den  Grundbegriffen 
der  Vektorenrechnung  aus  die  Elemente  der  Mechanik 
entwickelt  hat**.  Der  systematische  Zusammenhang  der 
Operationen  bleibt,  einmal  abgeleitet,  in  der  Tat  un- 
verändert erhalten,  wenn  wir  etwa  an  Stelle  von  Geraden- 
stücken Kräfte,  an  Stelle  bestimmter  Streckenprodukte 
Kräftepaare  einsetzen  und  damit  jedem  geometrischen  Satz, 
der  sich  ergeben  hat,  unmittelbar  einen  mechanischen  zu- 
ordnen. Die  Einordnung  der  Infinitesimal-Analysis  in  den 
umfassenden  Zusammenhang  der  ,,Relations-Analysis"  über- 
haupt dient  zugleich  der  Feststellung  und  Begrenzung  ihres 
eigenen  Problems.  Der  Begriff  des  ,, Unendlich-Kleinen" 
hat  —  trotz  aller  Proteste  der  idealistischen  Logik  —  immer 
von  neuem  zu  dem  Mißverständnis  geführt,  als  solle  hier  die 
Größe  nicht  sowohl  aus  ihrem  begrifflichen  Prinzip    v  e  r  - 


*  Cohen,    Logik  der  reinen  Erkenntnis,  s.  bes.  S.  102  ff. 
**  S.  M  ö  b  i  u  s  ,  Lehrbuch  der  Statik  (T.  I,  1837),  vgl.  bes.  H  a  n  k  e  1 , 
Theorie  der  komplexen  Zahlensysteme,  Abschn.  VII ;  M  a  x  w  e  1 1  ,  Substanz 
u.  Bewegixng,  dtsch.  v.  Fleischl,   2.  Abdr.,  Braunschw.  1881. 

9*  131 


standen  als  vielmehr  aus  ihren,  wenngleich  verschwin- 
denden Teilen  zusammengesetzt  werden.  Damit 
aber  wird  die  eigentliche  Frage  verkannt  und  verschoben: 
denn  nicht  darum  handelt  es  sich,  den  letzten  substantiellen 
Bestand  der  Größe  aufzuzeigen,  sondern  lediglich  einen 
neuen  logischen  Gesichtspunkt  ihrer  Bestimmung  zu 
finden.  Dieser  Gesichtspunkt  aber  tritt  scharf  hervor,  wenn 
man  dem  Verfahren  der  Infinitesimalrechnung  die  anderen 
möglichen  Formen  der  mathematischen  „Determination** 
zur  Seite  stellt.  Wenn  etwa,  wie  im  baryzentrischen  Calcul, 
einfache  Punkte  addiert  oder  die  Summe  zweier  gerichteter 
Strecken  durch  die  Diagonale  des  aus  ihnen  gebildeten  Paralle- 
logramms dargestellt  wird,  —  wenn  vom  Produkt  zweier  oder 
dreier  Punkte  oder  vom  Produkt  eines  Punktes  und  einer 
Strecke  gesprochen  wird:  so  wäre  es  widersinnig,  all  diesen 
Operationen  den  gewöhnlichen  „arithmetischen**  Sinn  unter- 
zulegen. Die  Beziehung  des  „Ganzen**  zu  den  ,, Teilen*', 
die  es  zusammensetzen,  ist  hier  ausgeschaltet  und  durch  die 
allgemeine  Beziehung  des  Bedingten  zu  den  einzelnen 
Momenten,  die  es  gedanklich  konstituieren,  ersetzt.  Die 
Scheidung,  die  schon  Leibniz  klar  und  bestimmt  hervor- 
gehoben hat,  wird  nunmehr  unvermeidlich:  der  ,, Zerlegung 
in  Teile'*  tritt  allgemein  die  „Auflösung  in  Begriffe"  gegenüber, 
die  als  universelles  Grundmittel  allenthalben  die  Sicherheit 
und  den  Fortschritt  der  reinen  Deduktion  verbürgt.  — 

IV. 

Die  Erweiterung,  die  das  System  der  Euklideischen  Geo- 
metrie durch  die  metageometrischen  Untersuchungen 
und  Spekulationen  erfahren  hat,  fällt,  rein  inhaltlich  be- 
trachtet, außerhalb  des  Umkreises  unserer  Untersuchung. 
Denn  hier  handelt  es  sich  nicht  darum,  die  Ergebnisse 
der  Mathematik,  so  bedeutsam  und  fruchtbar  sie  auch  vom 
Standpunkt  der  Erkenntniskritik  sein  mögen,  darzustellen, 
sondern  lediglich  das  Prinzip  der  mathematischen  Begriffs- 
bildung zu  bestimmen.  Aber  auch  unter  diesem  einge- 
schränkten Gesichtspunkt  wird  es  unumgänglich,  auf  das 
Problem    der  Metageometrie  einzugehen:  denn  eben  dies  ist 

132 


das  Eigentümliche  dieses  Problems,  daß  es  nicht  lediglich 
den  Gehalt  der  mathematischen  Kenntnisse,  sondern  die 
Auffassung  von  ihrem  Grund  und  ihrem  Ursprung 
umgestaltet  hat.  Unab weislich  drängt  sich  jetzt  die  Fra- 
ge hervor,  ob  die  Ansicht,  die  bisher  vom  mathematischen 
Begriff  gewonnen  wurde,  den  neuen  Aufgaben  gegenüber, 
die  sich  von  dieser  Seite  her  erschließen,  standhält.  Daß 
hier  eine  berechtigte  Ausdehnung  des  anfänglichen  Pro- 
blemgebiets der  Geometrie  vorliegt,  steht  nunmehr,  bei 
Philosophen  wie  Mathematikern,  außer  Frage:  um  so 
notwendiger  aber  wird  es  zu  untersuchen,  ob  der  neue  Inhalt 
die  logische  Form  der  Geometrie  gesprengt 
oder  aber  sie  bewahrt  und  gefestigt  hat.  — 

Die  Antwort,  die  die  Mathematik  selbst  hierauf  erteilte, 
schien  eine  Zeitlang  endgültig  festzustehen:  allgemein  war  es 
der  empirische  Charakter  der  geometrischen  Begriffe, 
der  aus  den  metageometrischen  Untersuchungen  gefolgert 
wurde.  Veroneses  „Grundzüge  der  Geometrie  von 
mehreren  Dimensionen",  die  zuerst  einen  vollständigen  ge- 
schichtlichen Überblick  über  alle  kritischen  Versuche  zur  Er- 
neuerung der  geometrischen  Prinzipienlehre  enthalten,  sprechen 
es  als  die  gemeinsame  Überzeugung  der  wissenschaftlichen 
Forscher  aus,  daß  zum  mindesten  die  gewöhnliche  Geometrie 
des  dreidimensionalen  Raumes  lediglich  auf  die  Erfahrung 
gegründet  sei*.  Geht  man  indessen  näher  auf  die  Motive  und 
Gründe  ein,  aus  denen  heraus  die  einzelnen  Forscher  diese 
Entscheidung  gefällt  haben,  so  erkennt  man  alsbald,  daß  hier 
nur  eine  scheinbare  Einheit  der  Auffassung  vorliegt.  Es  ist, 
als  hätte  die  Geometrie,  sobald  sie  den  Boden  der  philoso- 
phischen Spekulation  betrat,  ihr  eigentümliches  Vorrecht, 
die  Begriffe,  die  sie  gebraucht,  in  einem  streng  eindeutigen 
Sinn  zu  verwenden,  eingebüßt.  Die  ganze  Unbestimmtheit, 
die  dem  Erfahrungsbegriff  selbst,  in  seinem  populären  Ge- 
brauch, anhaftet,  tritt  jetzt  alsbald  zutage.  Eine  empirische 
Begründung  der  mathematischen  Begriffe  wäre  im  strengen 

*  Veronese,  Grundzüge  der  Geometrie  von  mehreren  Dimen- 
sionen und  mehreren  Arten  geradliniger  Einheiten.  Deutsche  Aiisg. ;  Leipzig 
1894,   S.  VIII,  Anm.  1. 

133 


Sinne  nur  dort  gegeben,  wo  der  Nachweis  erbracht  würde, 
daß  der  gesamte  Gehalt,  der  ihnen  eignet,  in  konkreten  Wahr- 
nehmungen wurzelt  und  aus  ihnen  ableitbar  ist.  Das  einzig 
konsequente  empiristische  System  der  Mathematik  ist  daher 
von  Pasch  aufgebaut  worden,  sofern  er  versucht,  die  elemen- 
taren Gebilde,  wie  den  Punkt  und  die  Gerade,  nicht  sogleich 
in  exakter  begrifflicher  Gestaltung  einzuführen,  sondern 
sie  zunächst  lediglich  in  derjenigen  Bedeutung  zu  nehmen,  die 
sie  für  die  sinnliche  Empfindung  allein  besitzen  können. 
Die  erfolgreiche  Anwendung,  welche  die  Geometrie  fort- 
während in  den  Naturwissenschaften  und  im  praktischen 
Leben  erfährt  —  so  führt  Pasch  aus  —  kann  nur  darauf 
beruhen,  daß  ihre  Begriffe  zunächst  genau  den  tatsächlichen, 
in  der  Beobachtung  gegebenen  Objekten  entsprechen.  Erst 
nachträglich  ist  dieser  ursprüngliche  Inhalt  mit  einem  Netze 
von  künstlichen  Abstraktionen  übersponnen  worden,  wodurch 
zwar  ihr  theoretischer  Ausbau  gefördert,  dem  funda- 
mentalen Wahrheitsgehalt  ihrer  Sätze  jedoch  nichts  hinzugefügt 
wurde.  Verzichtet  man  auf  diese  Abstraktionen,  kehrt  man 
entschlossen  wiederum  zu  den  eigentlichen  psychologischen 
Anfängen  zurück,  so  bleibt  der  Geometrie  der  Charakter  der 
Naturwissenschaft  erhalten,  vor  deren  anderen  Teilen  sie 
sich  nur  dadurch  auszeichnet,  daß  sie  eine  sehr  geringe  Anzahl 
von  Begriffen  und  Gesetzen  direkt  aus  der  Erfahrung  zu  ent- 
nehmen braucht,  alles  andere  dagegen  der  Entwicklung  dieses 
einmal  aufgenommenen  Stoffes  überlassen  kann.  Der  ,, Punkt" 
ist  in  dieser  Auffassung  nichts  anderes  als  ein  materieller 
Körper,  der  sich  innerhalb  der  jeweilig  gegebenen  Beobach- 
tungsgrenzen nicht  mehr  als  teilbar  erweist,  während  die 
Strecke  aus  einer  endlichen  Anzahl  derartiger  Punkte 
zusammengesetzt  ist.  Die  Geltung  der  geometrischen  Grund- 
sätze unterliegt  demgemäß  bestimmten  Einschränkungen, 
die  durch  die  Natur  der  geometrischen  Objekte  als  bloße 
Wahrnehmungsgegenstände  gefordert  sind.  So  ist  dem  Satze, 
daß  man  zwischen  zwei  Punkten  stets  eine  gerade  Strecke 
und  nur  eine  ziehen  kann,  der  Vorbehalt  hinzuzufügen, 
daß  die  betrachteten  Punkte  nicht  zu  nahe  beieinander  liegen 
dürfen;  nur  für  diesen  Fall  bleibt  auch  der  Lehrsatz  in  Kraft, 

134 


daß  sich  zwischen  zwei  gegebenen  Punkten  stets  ein  dritter 
einschalten  läßt,  während  er  seine  Gültigkeit  verliert,  sobald 
wir  über  eine  gewisse  Grenze,  die  sich  freilich  nicht  in  voll- 
kommener Schärfe  angeben   läßt,  hinausgehen*. 

Alle  diese  Ausführungen  sind  von  dem  einmal  gewähl- 
ten Ausgangspunkt  aus  durchaus  folgerecht:  aber  es 
zeigt  sich  alsbald,  daß  es  nicht  möglich  ist,  durch  sie 
den  Grundriß  des  Gesamtgebäudes  der  wissenschaftlichen 
Geometrie,  wie  er  sich  geschichtlich  gestaltet  hat,  wahr- 
haft zu  gewinnen.  Von  der  Annahme  der  ,, eigentlichen" 
Punkte,  die  tatsächliche  Objekte  der  Beobachtung  dar- 
stellen, sieht  man  sich,  um  den  Beweisen  wahrhafte 
Strenge  und  Allgemeinheit  zu  geben,  zur  Setzung  „uneigent- 
licher" Gebilde  gedrängt,  die  zuletzt  nichts  anderes  sind,  als 
ein  Ergebnis  eben  jener  ideellen  Konstruktionen, 
die  man  ursprünglich  auszuschalten  versuchte.  Die  Begriffe 
vollständig  bestimmter  Punkte,  Geraden  und 
Ebenen  werden  auch  hier  gebraucht  und  dienen  zur  Grundlage 
für  die  Definition  derjenigen  Elemente,  bei  denen  die  geo- 
metrische Idee  nur  ungefähr  und  annähernd  realisiert  ist. 
Jede  Näherungsgeometrie  muß  mit  Voraussetzungen  operie- 
ren, die  sie  der  „reinen"  Geometrie  entnimmt;  sie  kann  nicht 
zur  Ableitung  von  Methoden  dienen,  von  denen  sie  viel- 
mehr nur  eine  spezielle  Anwendung    ist**. 

Der  Versuch  einer  empirischen  Begründung  der  Geo- 
metrie sieht  sich  demnach  auf  einen  neuen  Weg  hingewiesen. 
Veronese,  der  an  diesem  Versuch  zunächst  festhält, 
gibt  dem  Gedanken  doch  alsbald  eine  neue  Wendung,  indem 
er  betont,  daß  die  geometrische  „Möglichkeit"  nicht  allein  auf 
die  direkte  äußere  Beobachtung,  sondern  ebensowohl  auf 
,, geistige  Tatsachen"  zu  basieren  sei.  Die  geometrischen 
Axiome  sind  nicht  Abbilder  der  wirklichen  Verhältnisse 
der  Sinneswahrnehmung,  sondern  sie  sind  Forderungen, 
vermöge  deren  wir  in  die  ungenaue  Anschauung  genaue  Aus- 
sagen  hineinlegen.      Der   Rohstoff,    den   uns   die   sinnlichen 


*  Pasch,  Vorlesungen  über  neuere  Geometrie,   S.  17  f. 
**  Vgl,  hierzu  die  Kritik  des  Pasch' sehen  Systems  bei  Veronese, 
S.  655  ff.  und  bei  W  e  1 1  s  t  e  i  n  ,  a.  a.  O.,  S.  128  f. 

136 


Eindrücke  liefern,    muß,    um  als  Ansatz   für   mathematische 
Betrachtungen   brauchbar  zu   werden,    durch   unseren    Geist 
verarbeitet  werden:  und  dieses  ,, subjektive"  Element  ist  es, 
das  in  der  reinen  Mathematik,  der  Geometrie  und  der  rationalen 
Mechanik    den    Vorrang   vor    dem    ,, objektiven"    behauptet. 
Wenngleich  somit  auch  hier  die  Geometrie  nach  wie  vor  als 
exakte     Experimentalwissenschaft      bestimmt 
wird,  so  ist  doch  die  logische  Rolle  der  Erfahrung  eine  völlig 
andere  geworden.     Wir  gehen  von  ,, empirischen  Vorbetrach- 
tungen",  von   gewissen    Grundtatsachen   der  sinnlichen   An- 
schauung aus:   aber  diese  Tatsachen  gelten   uns,   nach  dem 
Platonischen  Wort,  nur  als  das  „Sprungbrett",  von  dem  aus 
wir  uns  sogleich  zur  Betrachtung  von  allgemeinen  Bedingungs- 
zusammenhängen  erheben,   die  im   Bereich  des   Wahrnehm- 
baren keinerlei  Korrelat  mehr  besitzen.   Die  sinnlichen  Inhalte 
bilden   somit   zwar   den   ersten   Anlaß,    aber   keineswegs   die 
Grenze  der  mathematischen  Begriffsbildung,  noch  den  eigent- 
lichen Bestand  dessen,  was  in  ihr  gewonnen  wird.    Sie  dienen 
als  erste  Anregung:  aber  sie    gehen  als  solche  in  das  Ganze 
der  deduktiven  Begründung,    das  gänzlich  unabhängig 
zu  gestalten  ist,  nicht  ein.     Mit  dieser  Feststellung  aber  ist 
das  Problem,  vom  Standpunkt  der  Erkenntniskritik, 
bereits  entschieden:  denn  diese  fragt  nicht  nach  den  Anfängen 
der  Begriffe,  sondern  lediglich  nach  dem,  was  sie  als  Elemente 
der  wissenschaftlichen  Begründung  bedeuten  und  wert  sind. 
So    ist    es    denn    auch    eine    specifische    Leistung     des 
Intellekts,    auf  die  man  sich  zuletzt  zur  Ableitung  der 
Geometrien  von  mehreren  Dimensionen  berufen  muß.    In  dem 
System  von  Pasch  ist,  wie  Veronese  bemerkt,  die  mehrdi- 
mensionale Geometrie  zwar  nicht  a  posteriori,  aber  doch  a  pri- 
ori, d.  h.  zwar  nicht  tatsächlich,  aber  doch  methodisch  ausge- 
schlossen.    Denn  die  Daten  der  Beobachtung  versagen  sich  je- 
dem Versuch,  in  ein  Gebiet,  das  jenseit  unserer  räumlichen  An- 
schauungsmöglichkeiten liegt,  vorzudringen.    Was  hierzu  erfor- 
dert wird,  ist  stets  ein  reiner  Akt  der  Konstruktion:  eine  mög- 
liche,, geistige  Handlung",  in  der  wir  über  das  Gegebene  hinaus- 
greifen, wobei  indes  das  neue  erzeugte  Element  von  vornherein 
dadurch  bestimmt  ist,  daß  wir  es  gewissen  allgemeinen  Re- 

136 


lationsgesetzen  unterworfen  denken.  Da  die  Axiome,  Sätze 
und  Beweise  der  Geometrie  von  Anfang  an  der  Bedingung 
gehorchen  mußten,  kein  nicht  definiertes  Anschauungselement 
zu  enthalten,  so  muß,  auch  wenn  wir  auf  die  Anschaulichkeit 
überhaupt  verzichten,  zum  mindesten  ein  rein  hypothetischer 
Zusammenhang  abstrakter  Wahrheiten  zurückbleiben,  der 
in  sich  selbst  der  begrifflichen  Untersuchung  zugänglich  ist. 
„Will  man  uns,"  so  fügt  Veronese  hinzu,  ,,der  hier  ausge- 
sprochenen Ideen  wegen  Rationalisten  oder  Idealisten 
nennen,  so  nehmen  wir  den  Titel  zum  Unterschied  von  denje- 
nigen, welche  dem  mathematischen  und  geometrischen  Geist 
ungerechtfertigterweise  die  größtmögliche  logische  Freiheit 
verweigern  wollen  und  sich  z.  B.  bei  jeder  neuen  Hypothese 
fragen,  ob  sie  eine  wahrnehmbare  Darstellung  z.  B.  in  der 
Geometrie  eine  wahrnehmbare  rein  äußere  Darstellung  besitze 
oder  nicht.  Wir  nehmen  den  Titel  aber  nur  unter  der  Be- 
dingung an,  daß  ihm  keinerlei  eigentlich  philosophische  Be- 
deutung beigelegt  wird."  Die  ,, eigentlich  philosophische" 
Bedeutung,  die  hier  abgewehrt  wird,  soll  —  wie  die  Berufung 
auf  P.  du  Bois  Reymond  beweist  *  —  lediglich  die  Hyposta- 
sierung  der  mathematischen  Ideale  zu  einer  Art  absoluter 
Existenzen  bezeichnen:  ihr  rein  begrifflicher  Hypothesen- 
Wert  aber  wird  hiervon  nicht  berührt**. 

Die  logische  Freiheit,  die  damit  für  die  geometrischen 
Begriffe  gefordert  ist,  aber  kann  sich  nicht  lediglich  auf  die- 
jenigen unter  ihnen  beziehen,  die  mit  mehr  als  dreidimensio- 
nalen Räumen  operieren,  sondern  sie  muß  —  sofern  eine  wahr- 
hafte Einheit  der  Grundlegung  erzielt  werden  soll  —  bereits  in 
den  Methoden  der  gewöhnlichen  Euklideischen  Geometrie 
anerkannt  werden.  Wäre  wirklich  der  ,, Punkt"  dieser  Geo- 
metrie nur  das  Bild  eines  außerhalb  des  Gedankens  existieren- 
den Objekts,  ,,weil  es  äußere  Gegenstände  gibt,  welche  uns 
direkt  (!)  die  Vorstellung  des  Punktes  liefern  oder  sie  in  uns 
erwecken  und  ohne  welche  es  den  eigentlich  sogenannten 
Punkt  nicht  gibt"***,  so  wäre  die  Stetigkeit  des  Aufbaus  der 


*  Näheres  hierzu  s.  Kap.  IV,  S.  162  ff. 
**  S.  Veronese,    a.  a.  O.,   S.  VIII  ff.,  XIII  ff.,   S.  658,   687  usw. 
♦**  Veronese,  a.  a.  O.  S.  VU,  vgl.  S.  225  f. 

137 


Geometrie  durchbrochen:  denn  welche  begriffliche  Analogie 
und  Verwandtschaft  besteht  zwischen  Elementen,  die  das 
Abbild  vorhandener  Dinge  sind,  und  solchen,  die  rein  aus 
„geistigen  Handlungen"  resultieren?  Und  umgekehrt:  wenn 
jene  intellektuellen  Verfahrungsweisen  ausreichen,  das  Element 
einer  n-dimensionalen  Mannigfaltigkeit  zu  setzen  und  zu  be- 
gründen, welche  Schwierigkeit  hat  es  noch,  kraft  ihrer  zugleich 
den  speziellen  Fall  der  drei  Dimensionen  zu  gewinnen?  In  der 
Tat  heben  sich  gerade  dann,  wenn  man  den  Euklideischen 
Raum  mit  den  anderen  möglichen  ,, Raumformen*'  zusammen- 
hält, seine  eigentümlichen  begrifflichen  Kennzeichen 
scharf  hervor.  Wenn  er  vom  Standpunkt  der  Metageometrie 
leicht  als  bloßer  Anfang,  als  gegebenes  Material  für  weiter- 
gehende Entwicklungen  aufgefaßt  wird,  so  bedeutet  er 
vom  Standpunkt  der  Erkenntniskritik  nichtsdestoweniger 
bereits  das  Ende  einer  komplizierten  gedanklichen  Opera- 
tionsreihe. Die  psychologischen  Untersuchungen 
über  den  Ursprung  der  Raumvorstellung,  —  auch  diejenigen, 
die  in  rein  sensualistischer  Tendenz  unternommen  wurden  — 
haben  dies  mittelbar  bestätigt  und  zur  Klarheit  gebracht. 
Sie  zeigen  unverkennbar,  daß  der  Raum  unserer  Sinnes- 
wahrnehmung mit  dem  Raum  unserer  Geometrie  nicht  gleich- 
bedeutend, sondern  gerade  in  den  entscheidenden,  konstitu- 
tiven Merkmalen  von  ihm  getrennt  ist.  Für  die  sinnliche 
Auffassung  ist  jede  Unterscheidung  des  Ortes  notwendig 
an  einen  Gegensatz  im  Inhalt  der  Empfindung  geknüpft. 
„Oben"  und  „unten",  ,, rechts"  und  ,, links"  sind  hier  nicht 
gleichwertige  Richtungen,  die  ohne  Änderung  miteinander 
vertauschbar  wären,  sondern  sie  bleiben,  da  ihnen  völlig  ver- 
schiedene Gruppen  von  Organempfindungen  entsprechen, 
qualitativ  eigenartige,  nicht  weiter  aufeinander  reduzierbare 
Bestimmtheiten.  Im  Raum  der  Geometrie  dagegen  sind  alle 
diese  Gegensätze  aufgehoben.  Das  Element  als  solches  besitzt 
keinen  spezifischen  Inhalt  mehr,  sondern  alle  Bedeutung  er- 
wächst ihm  lediglich  aus  der  relativen  Stellung,  die  es 
im  Gesamtsystem  einnimmt.  Der  Grundsatz  der  durch- 
gängigen Homogeneität  der  Raumpunkte  vernichtet 
alle   Unterschiede,   die  —  wie   die  Differenz   des   Oben  und 

138 


Unten  —  lediglich  das  Verhältnis  der  äußeren  Dinge  zu  unserem 
Körper,  also  zu  einem  einzelnen,  empirisch  gegebenen  Objekt 
betreffen*.  Die  Punkte  sind,  was  sie  sind,  nur  als  Ansatz- 
punkte möglicher  Konstruktionen:  wobei  die  Forderung 
besteht,  daß  die  Identität  dieser  Konstruktionen  sich 
bei  aller  Verschiedenheit  des  Ausgangselementes  erkennen  und 
festhalten  lasse.  Auch  die  weiteren  Momente  des  geometrischen 
Raumes,  auch  seine  Stetigkeit  und  Unendlich- 
keit beruhen  auf  der  gleichen  Grundlage :  sie  sind  in  keiner 
Weise  in  den  räumlichen  Empfindungen  bereits  gegeben, 
sondern  beruhen  auf  ideellen  Ergänzungen,  die  wir  an  ihnen 
vornehmen.  Der  Schein,  als  sei  die  Stetigkeit  des  Raumes 
eine  sinnlich-phänomenale  Eigenschaft,  ist  durch  die  tiefere 
mathematische  Analyse  des  Kontinuums,  die  durch  die 
moderne  Mannigfaltigkeitslehre  durchgeführt  worden  ist,  end- 
gültig beseitigt  worden.  Der  Begriff  des  Kontinuums,  den  der 
Mathematiker  voraussetzt  und  der  in  seinen  Deduktionen  ge- 
braucht wird,  ist  aus  jenem  unbestimmten  Bilde  des  Raumes, 
das  die  sinnliche  Anschauung  uns  darbietet,  in  keiner  Weise 
zu  gewinnen.  Dieses  Bild  vermag  gerade  die  letzte  entschei- 
dende Differenz,  durch  die  sich  stetige  Mannigfaltigkeiten 
von  anderen  unendlichen  Inbegriffen  abheben,  niemals  zur 
Darstellung  zu  bringen:  keine  noch  so  scharfe  sinnliche  Unter- 
scheidungskraft vermöchte  noch  irgendwelche  Verschieden- 
heiten zwischen  einer  stetigen  und  einer  diskreten  Mannig- 
faltigkeit zu  entdecken,  sofern  die  Elemente  der  letzteren 
„überall  dicht"  liegen,  d.  h.  zwischen  je  zwei  beliebig  nahen 
Gliedern  sich  immer  noch  ein  Glied  angeben  läßt,  das  der 
Menge  selbst  angehört**.  Wie  das  Gebiet  der  rationalen 
Zahlen  sich  durch  eine  Folge  von  Denkschritten  all- 
mählich zum  kontinuierlichen  Inbegriff  der  reellen  Zahlen  er- 


*  Näheres  über  die  Unterscheidung  des  „homogenen"  geometrischen 
Raumes  vom  inhomogenen  und  „anisotropen"  physiologischen  Räume  bei 
Mach,  Erkenntnis  u.  Irrtum,  Leipzig  1905,  S.  331  ff. ;  vgl.  hierzu  bes. 
die  Darlegungen  von  Stumpf,  Zur  Einteilung  der  Wissenschaften 
(Abhandl.  der  Berliner  Akademie  d.  Wiss.,  1906,  S.  71  ff). 

**  Erläuterungen  und  Beispiele  hierzu  bes.  bei  Huntington, 
The  Continuum  as  a  type  of  order,  Annais  of  Mathematics,  2«  ser.,  t.VI.u.VII 
(vgl.  a.  m.Aufs.  „Kantu.  die  moderne  Mathematik",  Kant- Studien  XII,  15ff.). 

139 


weiterte,  so  geht  auch  der  Raum  der  Sinnlichkeit  erst  durch 
eine  Reihe  gedanklicher  Umprägungen  in  den  unendlichen, 
homogenen  und   stetigen  Begriffsraum  der  Geometrie  über.  — 

Es  ist  somit  eine  seltsame  Anomalie,  wenn  man  aus  der 
Möglichkeit  der  Metageometrie  auf  die  empirische  Bedingtheit 
des  Euklideischen  Raumes  geschlossen  hat.  Die  Euklideische 
Geometrie  hört  nicht  auf,  ein  rein  rationales  System 
von  Bedingungen  und  Folgerungen  zu  sein,  wenngleich  sich 
zeigen  läßt,  daß  neben  ihr  andere  Systeme  denkbar  sind, 
die  der  gleichen  logischen  Strenge  der  Verknüpfung  fähig 
sind.  Gegen  die  Kantische  Auffassung  der  Geometrie 
sind  auf  Grund  derselben  Prämissen,  die  aus  der  meta- 
geometrischen Betrachtungsweise  geschöpft  wurden,  merk- 
würdigerweise zwei  völlig  entgegengesetzte  Einwürfe  laut 
geworden.  Wenn  man  auf  der  einen  Seite  von  diesen  Prämissen 
aus  die  Reinheit  und  Apriorität  des  Raumes  bestritt,  so 
wurde  anderseits  eingewandt,  daß  in  Kants  eigener  Dar- 
stellung eben  die  apriorische  Freiheit  der  mathematischen 
Begriffe  und  ihre  mögliche  Ablösung  von  jeder  sinnlichen  Ver- 
deutlichung nicht  genügend  zum  Ausdruck  gekommen  sei. 
Daß  Kant  die  Axiome  in  der  „reinen  Anschauung**  „gegeben" 
sein  lasse:  dies  sei  nur  zu  erklären  „aus  jenem  Erdenrest  von 
Sensualismus,  der  dem  Kantschen  Idealismus  noch  anhaftet*". 
Von  diesen  beiden  entgegengesetzten  Einwänden  besitzt 
lediglich  der  letztere  einen  völlig  konsequenten  und  klaren 
Sinn.  Nicht  der  empirische,  sondern  der  logische  Charakter 
der  Grundbegriffe  ist  durch  die  moderne  Erweiterung  des 
Gebiets  der  Mathematik  bestätigt  und  von  einer  neuen  Seite 
her  beleuchtet  worden.  Die  Rolle,  die  man  jetzt  noch  der 
Erfahrung  zusprechen  mag,  liegt  niemals  in  der  Be- 
gründung der  einzelnen  Systeme,  sondern  in  der  Aus- 
wahl, die  wir  zwischen  ihnen  zu  treffen  haben.  Da  alle 
Systeme  —  so  folgert  man  —  der  logischen  Struktur  nach 
gleichwertig  sind,  so  bedarf  es  eines  Prinzips,  das  uns  in  ihrer 
Anwendung  leitet:  und  dieses  Prinzip  kann,  da  es  sich  hier 
nicht  mehr  um  bloße  Möglichkeiten,  sondern  um  den  Begriff 
und  das  Problem  des  Realen  selbst  handelt,  nirgends  anders 

♦  Wel  1  8  t  e  i  n ,  a.  a.  O.  S.  146. 

140 


als  in  der  Beobachtung  und  dem  wissenschaftlichen  Ex- 
periment gesucht  werden.  Das  Experiment  dient  somit 
zwar  niemals  als  Beweis  oder  auch  nur  als  Stütze  des  mathe- 
matischen Begründungs-Zusammenhangs,  der  vielmehr  rein 
aus  sich  selbst  feststehen  muß :  aber  es  weist  den  Weg  von  der 
Wahrheit  der  Begriffe  zu  ihrer  Wirklichkeit.  Die  Beobachtung 
schließt  die  Lücke,  die  die  rein  logische  Bestimmung  zurück- 
gelassen hatte:  sie  führt  von  den  vieldeutigen  Raumformen 
der  Geometrie  zu  dem  eindeutigen  Raum  der  physischen 
Gegenstände.  — 

Diese  Auffassung  führt  indessen  bereits  über  die  Grenzen 
der  reinen  Mathematik  hinaus  und  endet  bei  einem  Problem, 
das  seine  vollständige  Bestimmung  erst  durch  die  erkenntnis- 
kritische Zergliederung  des  Verfahrens  der  Physik  erhalten 
kann.  Es  ist  die  Frage  nach  der  Methode  und  dem  Erkenntnis- 
wert des  physikalischenExperiments  selbst, 
die  jetzt  in  den  Mittelpunkt  der  Betrachtung  rückt.  Wenn 
man  vom  Experiment  die  Bestätigung  oder  Widerlegung  eines 
bestimmten  Inbegriffs  mathematischer  Hypothesen  erwartet, 
so  ist  es  hierbei  wesentlich  im  Baconischen  Sinne  des 
„experimentum  crucis"  verstanden.  Die  Erfahrung  und  die 
Hypothese  gehören  danach  getrennten  Gebieten  an:  jede  steht 
für  sich  und  kann  für  sich  allein  in  Funktion  treten.  Die 
„reine"  Erfahrung,  die  abgelöst  von  jeder  begrifflichen  Voraus- 
setzung gedacht  ist,  wird  zum  Richter  über  den  Wert  oder 
Unwert  einer  bestimmten  theoretischen  Annahme  aufgerufen. 
Die  kritische  Zergliederung  des  Erfahrungsbegriffs  zeigt  da- 
gegen, daß  die  Trennung,  die  hier  vorausgesetzt  wird,  einen 
inneren  Widerspruch  in  sich  schließt.  Niemals  steht  auf  der 
einen  Seite  die  abstrakte  Theorie,  während  ihr  auf  der  andern 
Seite  das  Beobachtungsmaterial,  so  wie  es  an  und  für  sich  und 
ohne  jegliche  begriffliche  Deutung  sich  ausnimmt,  gegenüber- 
steht. Vielmehr  muß  dieses  Material,  wenn  anders  wir  ihm 
irgendeine  Bestimmtheit  zusprechen  sollen,  stets  bereits  die 
Züge  irgendeiner  begrifflichen  Formung  in  sich  tragen.  Wir 
können  den  Begriffen,  die  es  zu  prüfen  gilt,  die  Erfahrungs- 
daten niemals  als  nakte  ,,Fakta"  entgegenstellen:  sondern  es 
ist  zuletzt  stets  ein  bestimmtes  logisches  System  der 

141 


Verknüpfung  des  Empirischen,  das  an  einem  anderen  der- 
artigen System  gemessen  und  von  ihm  aus  beurteilt  wird.* 
Ist  aber  das  messende  Experiment  in  dieser  Weise  stets  an 
ein  Ganzes  von  Voraussetzungen  gebunden,  in  welchen  sowohl 
rein  geometrische  Grundannahmen  über  den  Raum,  wie  kon- 
kret physikalische  Annahmen  über  das  Verhalten  der  Körper 
einbegriffen  sind,  so  ist  es  klar,  daß  von  ihm  innerhalb  des 
Widerstreits  der  geometrischen  Systeme  zum  mindesten  niemals 
eine  eindeutige  Entscheidung  zu  erwarten  ist.  Wo  immer  ein 
experimentell  gewonnener  Maßwert  dem  Werte,  der  auf  Grund 
der  deduktiven  Theorie  zu  fordern  wäre,  widerspricht,  da 
bleibt  es  uns  überlassen,  ob  wir  die  geforderte  Einstimmigkeit 
zwischen  Begriff  und  Beobachtung  dadurch  wiederherstellen, 
daß  wir  den  mathematischen  oder  aber  den  physikalischen 
Teil  unserer  abstrakten  Hypothese  einer  Änderung  unter- 
werfen. Und  dieses  letztere  Verfahren  ist  es,  zu  dem  der 
Gedanke  sich  zweifellos  zunächst  entschließen  würde.  Die 
mögliche  Variation  der  Bedingungen  folgt  selbst  bestimmten 
Regeln  und  ist  an  eine  gewisse  Abfolge  gebunden.  Ehe  wir 
daran  gehen  würden,  auf  Grund  der  Ergebnisse  astronomischer 
Messungen  von  der  Geometrie  Euklids  zur  Geometrie 
Lobatschefskis  überzugehen,  hätten  wir  zunächst  zu  versuchen, 
dem  neuen  Resultat  durch  eine  veränderte  Auffassung  der 
physikalischen  Gesetzeszusammenhänge  Rechnung  zu  tragen, 
indem  wir  etwa  die  Annahme  der  streng  geradlinigen  Fort- 
pflanzung des  Lichts  einer  Revision  unterziehen.  Dieser 
Sachverhalt  ist  in  den  Kämpfen  um  die  Prinzipienlehre  der 
Geometrie  von  philosophischer  Seite  immer  wieder 
aufs  neue  hervorgehoben  worden;  aber  es  scheint,  daß  er  erst 
durch  die  Darlegungen  Poincar6s,  die  in  dieser  Hin- 
sicht in  der  Tat  entscheidend  sind,  auch  innerhalb  der  Mathe- 
matik zum  Bewußtsein  und  zu  immer  allgemeinerer  An- 
erkennung gelangt  ist.  Alle  unsere  Erfahrungen  —  so  hebt 
Poincar6  mit  Recht  hervor  —  beziehen  sich  stets  nur  auf  das 
Verhältnis  der  Körper  untereinander  und  ihre  wechselseitigen 
physikalischen  Wirkungen,  niemals  aber  auf  das  Verhältnis, 


*  Vgl.  hier  die  eingehendere  Begründting  in  Kap.  IV,  bes.  Abachn.  IV. 
142 


das  die  Körper  zum  reinen  geometrischen  Räume,  oder  das 
die  Teile  dieses  Raumes  unter  sich  selbst  besitzen.  Es  ist 
daher  vergeblich,  Belehrungen  über  das  „Wesen"  des  Raumes 
von  einem  Verfahren  zu  erwarten,  das  gemäß  seiner  gesamten 
Tendenz  und  Anlage  auf  eine  völlig  andere  Fragestellung  hin- 
zielt. Da  die  Objekte,  von  welchen  die  Erfahrung  handelt, 
von  gänzlich  anderer  Art  als  die  Gegenstände  sind,  von  denen 
die  Aussagen  der  Geometrie  gelten  wollen  —  da  der  Versuch 
an  materiellen  Dingen  die  idealen  Kreise  oder  Geraden  niemals 
unmittelbar  berührt  und  trifft  —  so  gelangen  wir  auch  auf 
diese  Weise  niemals  zu  einer  Entscheidung  zwischen  den 
verschiedenen  Wegen,  die  die  geometrische  Begriffsbildung 
einzuschlagen  vermag*.  — 

Somit  sehen  wir  uns,  wenn  die  Wahl  zwischen  den  mannig- 
fachen Systemen  nicht  gänzlich  der  subjektiven  Willkür 
anheimgegeben  bleiben  soll,  wiederum  vor  die  Aufgabe  gestellt, 
ein  rationales  Kriterium  der  Unterscheidung  zu  ent- 
decken. Die  logische  Widerspruchslosigkeit,  die 
all  diesen  Systemen  zukommt,  ist  lediglich  eine  negative  Be- 
dingung, die  sie  sämtlich  miteinander  teilen.  Aber  innerhalb 
der  Gemeinsamkeit,  die  hierdurch  begründet  ist,  sind  die 
Differenzen  im  prinzipiellen  Aufbau  und  in  der 
relativen  Einfachheit  dieses  Aufbaus  nicht  ausgelöscht.  Vom 
Standpunkt  des  Satzes  der  Identität  und  des  Widerspruchs 
mag  der  Gedanke  der  Heterogeneität  des  Raumes 
dem  der  Homogeneität  in  der  Tat  gleich  zu  stehen 
scheinen;  aber  es  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß 
nichtsdestoweniger  innerhalb  der  rationalen  Systematik  des 
Wissens  der  Begriff  der  Gleichförmigkeit,  in  den  ver- 
schiedensten Gebieten,  überall  dem  der  Ungleichförmigkeit 
vorausgeht.  Das  Ungleichförmige  wird  im  Fortschritt  der 
konstruktiven  Synthesen  stets  aus  dem  Gleichförmigen 
durch  Hinzufügung  einer  neuen  Bedingung  gewonnen 
und  stellt  somit  eine  komplexere  gedankliche  Bildung 
dar.  Die  Form  des  Euklideischen  Raumes  ist  somit  in  der 
Tat  in  demselben   Sinne  ,, einfacher"   als    irgendeine    andere 


Vgl.  Poincarö,  La  Science  et  l'Hypothese,  Chap.  3 — 5. 

143 


Raumform,  wie  innerhalb  der  Algebra  ein  Polynom  ersten 
Grades  einfacher  ist  als  ein  Polynom  zweiten  Grades*. 
In  der  Ordnung  des  Wissens  zum  mindesten  besteht  hier 
eine  notwendige  und  "eindeutige  Abfolge:  diese  Ordnung  des 
Wissens  aber  ist  es,  durch  die  wir,  in  der  erkenntniskritischen 
Betrachtung,  die  Ordnung  der  Gegenstände  bestimmen. 
Die  Differenzen  zwischen  dem  Euklideischen  Raum  und  dem 
Raum,  wie  er  sich  in  der  Hypothese  Lobatschefskis  oder 
Riemanns  darstellt,  treten  erst  dann  heraus,  wenn  wir  Teile 
dieser  Räume,  die  eine  bestimmte  Größe  über- 
schreiten, einander  gegenüberstellen.  Beschränken 
wir  uns  dagegen  auf  das  erzeugende  Element  all  dieser 
Räume,  so  ist  hier  die  Unterscheidung  aufgehoben.  Für  die 
Maßbestimmung  im  Infinitesimalen  gilt  somit  ohne  weiteres 
die  Euklideische  Norm,  die  sich  eben  damit  im  prinzipiellen 
Sinne  als  die  eigentlich  grundlegende  erweist.  Sie  stellt  das 
erste  und  fundamentale  Schema  auf,  an  welches  alle  anderen 
Konstruktionen  anknüpfen  und  über  dem  sie  sich  erheben. 
Die  Gleichförmigkeit  des  Euklideischen  Raumes  ist  in  der 
Tat  nur  der  Ausdruck  dafür,  daß  er  lediglich  als  reiner  Re- 
lations-  und  Konstruktionsraum  gefaßt  ist,  alle  sonstige  inhalt- 
liche Bestimmtheit  aber,  die  auf  einen  Unterschied  der  ab- 
soluten Größen  und  der  absoluten  Richtung  führen 
könnte,  von  ihm  ferngehalten  ist**.  Sofern  in  der  reinen 
Geometrie  absolute  Größenbestimmungen  überhaupt  setzbar 
und  zulässig  sind,  so  stützen  sie  sich  doch  stets  auf  einen 
allgemeinen  Relationszusammenhang,  der  zuvor  unabhängig 
entwickelt  worden  ist  und  der  durch  sie  nur  im  einzelnen, 
durch  Hinzufügung  besonderer  Bedingungen,  näher  bestimmt 
wird.  — 

So  bleibt  der  Euklideische  Raum  freilich  eine  begriffliche 
Hypothese,  die  sich  einem  System  möglicher  Hypo- 
thesen überhaupt  einreiht:  aber  er  besitzt  nichtsdestoweniger 

*  Vfjl.  P  o  i  n  c  a  r  6,  a.  a.  O.  S.  61. 
♦•  Vgl.  z.B.  Graßmann,  Ausdehnungslehre  von  1844,  §22: 
„Die  Einfachheit  des  Raumes  wird  ausgeea^  in  dem  Grundsatze:  Der 
Raum  ist  an  allen  Orten  und  nach  allen  Richtungen  gleich  beschaffen, 
das  heißt  an  allen  Orten  und  nach  allen  Richtungen  können  gleiche 
Konstruktionen  vollzogen  werde  n.*' 

144 


innerhalb  dieses  Systems  einen  eigentümlichen  Vorzug  des 
Wertes  und  der  Geltung.  Aus  einem  Inbegriff  reiner  logisch- 
mathematischer Formen  greifen  wir  eine  Mannigfaltigkeit, 
die  bestimmten  rationalen  Forderungen  entspricht, 
heraus  und  versuchen  mit  ihrer  Hilfe  die  Bestimmtheit  des 
Realen  darzustellen  und  durchsichtig  zu  machen.  Damit 
aber  ist  freilich  nicht  ausgeschlossen,  daß  neben  dem  Grund- 
system auch  die  komplexeren  Systeme  eine  bestimmte  Sphäre 
der  Anwendung  besitzen,  in  der  auch  sie  zu  konkreter  Be- 
deutung gelangen.  Zunächst  nämlich  sind  die  Ergebnisse, 
zu  denen  diese  Systeme  hinleiten,  vielfach  selbst  einer  Deutung 
und  Umsetzung  fähig,  die  ihnen,  wenigstens  mittelbar,  zur 
anschaulichen  Darstellung  verhilft.  Die  Verhältnisse  der 
Lobatschefskischen  Geometrie  finden,  wie  B  e  1 1  r  a  m  i  ge- 
zeigt hat,  ihre  genaue  Entsprechung  und  Abbildung  in  der 
Geometrie  der  pseudosphärischen  Flächen,  die  selbst  einen 
besonderen  Ausschnitt  aus  der  gewöhnlichen  Euklideischen 
Geometrie  darstellt;  —  während  der  ,, elliptischen  Geometrie" 
der  Ebene,  wie  R  i  e  m  a  n  n  sie  entwickelt  hat,  die  Geometrie 
der  Kugeloberfläche  innerhalb  des  Euklideischen  Raumes 
von  drei  Dimensionen  entspricht.  Und  auch  dann,  wenn  wir 
zu  Systemen  höherer  Dimensionen  übergehen,  bricht  diese 
Möglichkeit  der  Rückbeziehung  nicht  ab.  Wir  können  wiederum 
innerhalb  unseres  Anschauungsraumes  selbst  Gebilde  aus- 
wählen, die  in  allen  ihren  gegenseitigen  Bestimmungen  den 
abstrakten  Regeln  gehorchen,  die  für  irgendeine  mehrdimen- 
sionale Mannigfaltigkeit  abgeleitet  und  bewiesen  worden  sind. 
So  bildet  etwa  die  Mannigfaltigkeit  aller  Kugeln  eine  lineare 
Mannigfaltigkeit  von  vier  Dimensionen,  deren  Form  sich  in 
der  allgemeinen  Geometrie  untersuchen  und  feststellen  läßt*. 
Aber  selbst  wenn  wir  auf  diese  Zurückführung  auf  bekannte 
räumliche  Verhältnisse  und  Probleme  verzichten,  so 
ist  damit  die  Möglichkeit,  die  Sätze  der  Nicht-Euklideischen 
Geometrie  derart  zu  interpretieren,  daß  ihnen  ein  bestimmter 
konkreter  ,,Sinn"  entspricht,  nicht  ausgeschlossen.  Denn  alle 
diese  Sätze  sprechen  nur  ein   Ganzes  von  Beziehungen  aus. 


♦  Näheres  bei  W  e  1 1  s  t  e  i  n  ,    a.  a.  O.  S.  102. 
Cassirer,  Substanzbegriff  \q  X45 


während  sie  über  den  Charakter  der  Einzelglieder,  die  in 
diese  Beziehungen  eingehen,  keine  endgültige  Bestimmung 
treffen.  Die  Punkte,  von  denen  sie  handeln,  sind  nicht  selb- 
ständige Dinge,  denen  an  und  für  sich  irgendwelche  Be- 
schaffenheit zukäme,  sondern  sie  sind  lediglich  die 
vorausgesetzten  Termini  der  Relation  selbst  und  erhalten 
in  ihr  und  durch  sie  erst  all  ihre  Eigenart.  (Vgl.  ob.  S.  123  ff.) 
Wo  uns  daher  irgendein  Inbegriff  entgegentritt,  der  den 
Regeln  der  Verknüpfung  in  irgendeiner  dieser  allgemeinen 
Beziehungslehren  gemäß  ist,  da  ist  damit  —  gleichviel,  welche 
qualitativen  Merkmale  seine  Elemente  aufweisen  mögen 
und  ob  sie  sich  räumlich  veranschaulichen  lassen  —  ein  Gebiet 
der  Anwendung  der  abstrakten  Sätze  nachgewiesen 
und  abgegrenzt.  Sofern  die  Physik  uns  Systeme  darbietet, 
die  zu  ihrer  vollständigen  Darstellung  eine  Mehrheit  von 
Bestimmungsstücken  erfordern,  läßt  sich,  un- 
abhängig davon,  ob  diese  Bestimmungsstücke  eine  räum- 
liche Deutung  zulassen,  von  einem  Mannigfaltigen  mehrerer 
„Dimensionen"  sprechen,  das  gemäß  den  zuvor  entwickelten 
deduktiven  Gesetzen  dieser  Mannigfaltigkeiten  zu  beurteilen 
und  zu  behandeln  ist. 

In  jedem  Fall  aber  ergibt  sich  nunmehr,  daß  die  rein 
rationale  Form  der  geometrischen  Begriffsbildung, 
wie  sie  sich  fortschreitend  immer  genauer  festgestellt  hat, 
durch  die  metageometrischen  Betrachtungen  nicht  bedroht, 
sondern  vielmehr  bestätigt  wird.  Selbst  wenn  man  allen 
Zweifeln  Eingang  verstattet,  die  durch  diese  Betrachtungen 
geweckt  werden  mögen:  so  betreffen  diese  Zweifel  doch  niemals 
den  eigentlichen  Grund  der  Begriffe,  sondern  stets  nur  die 
Möglichkeit  ihrer  empirischen  Anwendung.  Daß  die  Er- 
fahrung, in  ihrer  jetzigen  wissenschaftlichen  Gestalt, 
nirgends  einen  Anlaß  darbietet,  über  die  Euklideische  ,, Raum- 
form" hinauszuschreiten,  wird  hierbei  übrigens  auch  von  den 
radikalsten  empiristischen  Kritikern  ausdrücklich  zuge- 
standen*. Vom  Standpunkt  unserer  heutigen  Kenntnisse 
—  so  schließen  auch  sie  —  sind  wir  zu  dem  Urteil  berechtigt, 


*  S.  Enriques,    Problemi  della  Scienza,  Bologna  1906,  S.  293  ff . 
146 


daß  der  physische  Raum ,, positiv  als  Euklideisch  anzusehen  ist". 
Nur  die  Möglichkeit  sollen  wir  uns  nicht  verschließen, 
in  einer  entfernten  Zukunft  vielleicht  einmal  auch  hier  einen 
Wandel  eintreten  zu  lassen.  Wenn  sich  irgendwelche  sicher 
festgestellte  Beobachtungen  bieten,  die  mit  unserem  bisherigen 
theoretischen  System  der  Natur  nicht  übereinstimmen  und 
die  auch  durch  keine  noch  so  weitgehende  Veränderung  in  den 
physikalischen  Grundlagen  dieses  Systems  mit  ihm 
in  Einklang  zu  setzen  sind,  wenn  somit  alle  begrifflichen  Ab- 
änderungen innerhalb  eines  engeren  Bezirks  bereits  ver- 
geblich versucht  worden  sind:  dann  erst  darf  der  Gedanke 
eintreten,  ob  nicht  die  verlorene  Einheit  durch  einen  Wechsel 
der  „Raumform"  selbst  wieder  hergestellt  werden  könne. 
Aber  selbst  wenn  man  mit  derartigen  Möglichkeiten 
rechnet,  so  würde  hierdurch  doch  nur  der  Satz  bestätigt, 
daß  —  sobald  man  den  Boden  der  Wirklichkeits- 
bestimmung betritt  —  keine  Setzung,  wie  zweifellos 
sie  immer  erscheinen  mag,  den  Anspruch  auf  absolute 
Gewißheit  erheben  darf.  Nur  die  reinen  Bedingungs- 
zusammenhänge selbst,  die  die  Mathematik  aufstellt, 
gelten  unbeschränkt,  während  die  Behauptung,  daß  es 
Existenzen  gibt,  die  diesen  Bedingungen  in  allen  Stücken  ent- 
sprechen, stets  nur  relative  und  somit  problematische  Be- 
deutung besitzt.  Das  System  der  allgemeinen  Geometrie 
beweist  indes,  daß  diese  Problematik  den  logischen  Charakter 
des  mathematischen  Wissens  als  solchen  nicht  berührt. 
Es  zeigt,  daß  der  reine  Begriff  für  alle  nur  erdenklichen 
Änderungen  in  der  empirischen  Beschaffenheit  der  Wahr- 
nehmungen seinerseits  vorbereitet  und  gerüstet  ist;  die 
universellen  Reihenformen  bieten  die  Handhabe,  jegliche 
Ordnung  des  Empirischen  zu  verstehen  und  logisch  zu  be- 
herrschen. 


10*  147 


Viertes  Kapitel: 
Die  naturwissenschaftliche  Begriffsbildung. 

I. 
Die  logische  Natur  der  reinen  Funktionsbegriffe  findet  im 
System  der  Mathematik  ihre  deutlichste  Ausprägung  und 
ihren  vollkommensten  Beleg.  Hier  ist  ein  Gebiet  freiester 
und  universeller  Betätigung  erschlossen,  in  der  das  Denken 
über  alle  Schranken  des  „Gegebenen"  hinauswächst.  Die 
Gegenstände,  die  wir  betrachten  und  in  deren  objektive 
Natur  wir  einzudringen  suchen,  haben  kein  anderes  als  ein 
ideales  Sein;  alle  Beschaffenheiten,  die  wir  von  ihnen  aus- 
sagen können,  fließen  einzig  und  allein  aus  dem  Gesetz  ihrer 
ursprünglichen  Konstruktion.  Aber  gerade  an  diesem  Punkt, 
an  dem  die  Produktivität  des  Denkens  sich  am  reinsten  ent- 
faltet, scheint  zugleich  seine  eigentümliche  Schranke 
zutage  zu  treten.  Die  mathematischen  Konstruktionsbegriffe 
mögen  innerhalb  ihres  engeren  Bereichs  fruchtbar  und  unent- 
behrlich .sein:  aber  es  fehlt  ihnen,  wie  es  scheint,  ein  wesent- 
liches Moment,  um  als  Beispiel  für  den  ganzen  Umkreis  der 
logischen  Aufgaben,  um  als  Typus  für  die  Beschaffenheit  des 
Begriffs  überhaupt  zu  dienen.  Denn  so  sehr  die 
Logik  sich  im  „Formalen"  beschränkt,  so  ist  dennoch  in  ihr 
der  Zusammenhang  mit  den  Problemen  des  Seins  nirgends 
abgebrochen.  Die  Struktur  und  Verfassung  des  Seins  ist  es, 
die  der  Begriff,  die  das  logisch  gültige  Urteil  und  Schluß- 
verfahren treffen  wollen.  Die  Aristotelische  Auffassung 
und  Begründung  der  Syllogistik  setzt  diesen  Gedanken  überall 
voraus:  die  Ontologie  gibt  den  Grundplan  für  den  Aufbau 
der  Logik  ab.  (S.  ob.  S.  4 ff.)  Ist  dies  aber  der  Fall,  so 
kann  die  Mathematik  nicht  länger  als  Vorbild  und  Muster 
gelten,  da  gerade  ihr,  die  sich  streng  innerhalb  des  Gebiets 

US 


ihrer  selbstgeschaffenen  Bildungen  hält,  die  Sorge  um  das 
Sein  prinzipiell  fernbleibt.  Die  Verschiedenheit  zwischen  den 
„Gattungsbegriffen"  im  Sinne  der  traditionellen  logischen 
Auffassung  und  den  mathematischen  Konstruktionsbegriffen 
mag  somit  freilich  zugestanden  werden:  aber  man  könnte 
versucht  sein,  diese  Verschiedenheit  dadurch  zu  erklären, 
daß  innerhalb  der  Mathematik  die  letzte  und  ab- 
schließende Leistung  des  Begriffs  nicht  erstrebt  und 
demgemäß  nicht  erreicht  werde.  Die  freiwillige  Beschränkung, 
die  wir  uns  in  ihr  auferlegen,  ist  berechtigt;  —  aber  sie  würde 
zum  methodischen  Fehler  werden,  sobald  wir  versuchen  wollten, 
von  dem  engen  Bezirk  aus,  den  wir  uns  hier  abgesteckt  haben, 
das  Ganze  der  logischen  Probleme  zu  bestimmen.  Die  Ent- 
scheidung über  Art  und  Richtung  der  Logik  kann  nicht  durch 
eine  Betrachtungsweise  erfolgen,  die  einseitig  im  Ideellen 
verharrt.  Vielmehr  sind  es  die  wahrhaften  Seinsbegriffe, 
sind  es  die  Aussagen  über  die  Dinge  und  ihre  wirklichen  Be- 
schaffenheiten, die  hier  den  eigentlichen  Maßstab  zu  bilden 
haben.  Die  Frage  nach  der  Bedeutung  und  der  Funktion 
des  Begriffs  erhält  erst  an  den  Naturbegriffen  ihre 
endgültige  und  abgeschlossene  Formulierung. » 

Geht  man  indessen  von  dieser  Fassung  des  Problems  aus, 
so  scheint  sich  die  Lösung  alsbald  zugunsten. der  traditionellen 
logischen  Auffassung  zu  verschieben.  Die  Naturbegriffe 
kennen  keine  andere  Aufgabe  und  dürfen  keine  andere  kennen, 
als  die  gegebenen  Wahrnehmungstatsachen  nachzubilden  und 
ihren  Gehalt  in  abgekürzter  Form  wiederzugeben.  Hier  ist 
es  die  Beobachtung  allein,  auf  der  Wahrheit  und  Gewißheit 
des  Urteils  beruhen;  hier  bleibt  keine  schöpferische  Freiheit 
und  Willkür  des  Denkens  übrig,  sondern  die  Art  des  Begriffs 
ist  von  vornherein  durch  die  Art  des  Materials  bestimmt 
und  vorgeschrieben.  Je  mehr  wir  uns  von  den  eigenen  Bil- 
dungen, von  den  eigenen  ,,  Idolen"  des  Geistes  freimachen, 
um  so  reiner  stellt  sich  uns  das  Bild  der  äußeren  Wirklichkeit 
dar.  Die  passive  Hingabe  an  das  Objekt  ist  es,  was  hier  dem 
Begriff  erst  seine  Kraft  und  Wirksamkeit  zu  sichern  scheint. 
Damit  aber  stehen  wir  wiederum  gänzlich  innerhalb  der 
allgemeinen   Grundauffassung,   die  ihren  logischen  Ausdruck 

149 


in  der  Theorie  der  Abstraktion  gefunden  hat. 
Der  Begriff  ist  nur  die  Kopie  des  Gegebenen;  er  bezeichnet 
nur  gewisse  Züge,  die  in  der  Wahrnehmung  als  solcher  vor- 
handen und  aufzeigbar  sind.  (Vgl.  ob.  S.  6.)  Die  all- 
gemeine Auffassung  vom  Sinn  und  von  der  Aufgabe  der 
Naturwissenschaft  entspricht  denn  auch  durchaus  dieser 
Anschauung.  Der  gesamte  Gehalt  und  die  Sicherheit  des 
naturwissenschaftlichen  Begriffs  hängt  danach  von  der  Be- 
dingung ab,  daß  er  kein  Element  enthält,  das  nicht  innerhalb 
der  Welt  der  Wirklichkeit  sein  genaues  Gegenstück  besitzt. 
Die  Theorie  mag  freilich,  um  eine  bestimmte  Erscheinungs- 
gruppe vollständig  darzustellen,  gewisse  hypothetische 
Momente  aufnehmen  und  verwenden;  aber  auch  für  diesen  Fall 
gilt  die  Forderung,  daß  jeder  Bestandteil,  der  auf  diese  Weise 
eingeführt  wird,  sich  zum  mindesten  in  einer  möglichen 
^//t  Wahrnehmung  beglaubigen  und  rechtfertigen  lassen  muß. 
Die  Hypothese  bezeichnet  nur  eine  Lücke  unseres  Wissens; 
sie  bedeutet  die  Annahme  bestimmter  Empfindungsdaten,  die 
uns  bisher  durch  keine  direkte  Erfahrung  zugänglich  waren, 
die  aber  nichtsdestoweniger  ihrer  Beschaffenheit  nach  den 
wirklich  wahrgenommenen  Elementen  als  durchaus  gleich- 
artig angesehen  werden.  Die  vollkommene  Er- 
kenntnis könnte  auf  dieses  asylum  ignorantiae  verzichten: 
für  sie  würde  die  Wirklichkeit  klar  und  übersichtlich  in  tat- 
sächlichen Wahrnehmungen  gegeben  und  erschöpft  sein.   ♦ 

Die  gesamte  moderne  Philosophie  der  Physik  stellt  sich 
auf  den  ersten  Blick  lediglich  als  die  immer  strengere  und  kon- 
sequentere Durchbildung  dieser  Grundansicht  dar.  In  dieser 
Ansicht  allein  schien  die  Möglichkeit  gegeben,  Erfahrung  und 
naturphilosophische  Spekulation  scharf  gegeneinander  ab- 
zugrenzen, schien  somit  eine  notwendige  Bedingung  bezeiclmet 
zu  sein,  durch  die  der  wissenschaftliche  Begriff  der 
Physik  erst  zur  Bestimmtheit  und  Vollendung  gelangt.  Dem 
metaphysischen  Ideal  der  Naturerklärung  tritt  jetzt  die  be- 
scheidenere Aufgabe  gegenüber,  das  Wirkliche  vollständig 
und  eindeutig  zu  beschreiben.  Wir  greifen  nicht  mehr 
über  das  Gebiet  des  Empfindbaren  hinaus,  um  die  unerfahr- 
baren  absoluten  Ursachen  und  Kräfte  zu  entdecken,  auf  denen 

160 


die  Mannigfaltigkeit  und  die  Veränderung  unserer  Wahr- 
nehmungswelt beruht.  Den  Inhalt  der  Physik  bilden  vielmehr 
einzig  und  allein  die  Phänomene  selbst  in  der  Form, 
in  der  sie  uns  unmittelbar  zugänglich  sind.  Farben- 
und  Toneindrücke,  Geruchs-  und  Geschmacksempfindungen, 
sinnliche  Muskelgefühle  und  Druck-  und  Berührungswahr- 
nehmungen sind  das  einzige  Material,  aus  welchem  auch  die 
Welt  des  Physikers  sich  aufbaut.  Was  diese  Welt  mehr  zu 
enthalten  scheint,  was  in  Begriffen,  wie  Atom  oder  Molekül, 
Äther  oder  Energie,  hinzugebracht  wird,  das  ist  in  Wahrheit 
kein  prinzipiell  neues  Element,  sondern  nur  eine  eigentümliche 
Verkleidung,  in  welcher  die  Sinnesdaten  auftreten.  Die 
durchgeführte  logische  Analyse  führt  auch  diese  Begriffe 
auf  das  Maß  ihrer  Bedeutung  zurück,  indem  sie  sie  als  Symbole 
für  bestimmte  Eindrücke  und  Komplexe  von  Eindrücken 
wiedererkennt.  Die  Einheit  der  physikalischen  Methodik 
scheint  erst  hierdurch  wahrhaft  gesichert  zu  werden:  denn 
jetzt  sind  es  nicht  mehr  heterogene  Bestandteile,  aus  denen  sie 
sich  zusammensetzt,  sondern  im  Allgemeinbegriff  der  Empfin- 
dung ist  nunmehr  gleichsam  der  gemeinschaftliche  Nenner 
fixiert,  auf  den  alle  Aussagen  über  die  Realität  sich  zuletzt 
reduzieren  lassen  müssen.  Was  sich  dieser  Zurückführung  ent- 
zieht, das  erweist  sich  eben  damit  als  ein  willkürlich  ein- 
geführter Faktor,  der  im  endgültigen  Ergebnis  wieder  zu 
verschwinden  hat.  Das  Ziel  einer  Philosophie  der  Physik 
wäre  erreicht,  wenn  wir  jeden  Begriff,  der  in  eine  physikalische 
Theorie  eingeht,  in  eine  Summe  von  Wahrnehmungen  auf- 
lösen und  durch  diese  Summe  ersetzen,  wenn  wir  von  den  ge- 
danklichen Abkürzungen,  als  welche  sich  alle  Begriffe 
zuletzt  erweisen,  wieder  den  Rückweg  zur  konkreten  Fülle  der 
empirischen  Einzeltatsachen  vollziehen  könnten.  Die  Aus- 
schaltung aller  Elemente,  die  kein  direktes  sinnliches  Korrelat 
in  der  Welt  der  wahrnehmbaren  Dinge  und  Vorgänge  besitzen, 
wäre  demnach  das  eigentliche  logische  Ideal  der  Physik.« 
Wie  immer  man  indes  über  die  Rechtfertigung- 
dieses  Ideals  urteilen  mag:  schon  seine  Fassung  enthält  eine 
Zweideutigkeit,  die  es  zunächst  zu  beseitigen  gilt.  Die  Schilde- 
rung  des    tatsächlichen    Bestandes    der    physikalischen 

161 


Theorien  verquickt  sich  mit  einer  allgemeinen  Forderung, 
die  an  eben  diese  Theorien  gestellt  wird.  Welches  der  beiden 
Momente  ist  hier  das  ursprüngliche  und  maßgebende?  Ist  es 
lediglich  das  wirkliche  Verfahren  der  Wissenschaft  selbst,  das 
hier  nur  auf  seinen  einfachsten  und  kürzesten  Ausdruck  gebracht 
wird,  oder  wird  umgekehrt  dieses  Verfahren  an  einer  all- 
gemeinen Theorie  des  Erkennens  und  der  Wirklichkeit  ge- 
messen, die  über  seinen  Wert  entscheiden  soll?  In  diesem 
letzteren  Falle  wäre,  wie  immer  auch  das  schließliche  Ergebnis 
lautet,  die  Methode  der  Betrachtung  nicht  prinzipiell 
geändert.  Wieder  wäre  es  jetzt  eine  bestimmte  Metaphysik 
der  Erkenntnis,  die  der  Physik  die  Wege  zu  weisen  suchte. 
Die  Entscheidung  in  dieser  Frage  kann  nur  gewonnen  werden, 
wenn  man  dem  Gange  der  physikalischen  Forschung  selbst 
folgt  und  die  Leistung  des  Begriffs,  die  sich  hier  betätigt, 
unmittelbar  in  ihrer  Wirksamkeit  betrachtet.  Dieselbe  Un- 
befangenheit, die  der  positivistische  Kritiker  gegenüber  den 
Tatsachen  der  Sinneswahrnehmung  verlangt,  muß  auch  gegen- 
über den  komplexeren  Tatsachen  des  Wissens  gefordert 
werden.  Auch  hier  besteht  die  erste  Aufgabe  darin,  das 
„Faktische"  der  naturwissenschaftlichen  Theorie  selbst  rein 
aufzufassen,  ehe  über  den  Wert  oder  Unwert  der  Wirklichkeits- 
ansicht, die  sie  enthält,  entschieden  wird.  Ist  diese  Theorie 
in  der  Art,  wie  sie  geschichtlich  vorliegt,  in  der  Tat  nur  eine 
Sammlung  von  Beobachtungen,  die  sich  wie  an  einem  Faden 
nebeneinander  aufreihen,  oder  enthält  sie  Momente  in  sich, 
die  einem  anderen  logischen  Typus  angehören  und 
somit  eine  andere  Begründung  verlangen?  — 

II. 

Schon  das  erste  und  auszeichnende  Merkmal,  das  sich 
bei  der  Betrachtung  jeder  naturwissenschaftlichen  Theorie 
unmittelbar  aufdrängt,  birgt  eine  eigentümliche  Schwierigkeit, 
sobald  man  es  vom  Standpunkt  der  allgemeinen  logischen  Grund- 
forderung der  Beschreibung  des  Gegebenen 
betrachtet.  Die  Theorien  der  Physik  empfangen  ihre  Bestimmt- 
heit erst  von  der  m  a  t  h  e  m  a  t  i  s  c  h  e  n  F  o  r  m  ,   in  der  sie 

152 


sich  darstellen.  Die  Funktion  des  Z  ä  h  1  e  n  s  und  Messens 
ist  unentbehrlich,  um  auch  nur  den  Rohstoff  an  „Tatsachen" 
herbeizuschaffen,  die  durch  die  Theorie  wiedergegeben  und 
in  ihr  vereinigt  werden  sollen.  Von  ihr  absehen  hieße  zugleich 
die  Sicherheit  und  Klarheit  der  Tatsachen  selbst  aufheben. 
So  selbstverständlich  indessen,  ja  so  trivial  dieser  Zusammen- 
hang erscheinen  mag:  so  paradox  ist  er  im  Grunde,  sobald 
wir  auf  die  allgemeinen  Erwägungen  über  das  Prinzip  der 
mathematischen  Begriffsbildung  zurückblicken.  Immer  schärfer 
und  deutlicher  hatte  es  sich  gezeigt,  daß  aller  Inhalt,  der  den 
mathematischen  Begriffen  eignet,  auf  einer  reinen  Kon- 
struktion beruht.  Das  Gegebene  der  Anschauung  bildet 
lediglich  den  psychologischen  Ausgangspunkt:  mathematisch 
erkannt  ist  es  erst,  sobald  es  einer  Umdeutung  unter- 
worfen worden  ist,  durch  die  es  in  eine  andere  Form  der 
Mannigfaltigkeit  umgeprägt  wird,  die  wir  nach  rationalen 
Gesetzen  hervorbringen  und  beherrschen  können.  Jede  der- 
artige Umdeutung  aber  muß  offenbar  dort  verworfen  werden, 
wo  es  sich  lediglich  um  die  Auffassung  des  Gegebenen  als 
Gegebenen  in  seiner  eigentümlichen  individuellen 
Struktur  und  Beschaffenheit  handelt.  Für  die  Aufgabe  der 
Naturerkenntnis,  im  positivistischen  Sinne  des 
Wortes,  also  ist  der  mathematische  Begriff  nicht  sowohl 
ein  rechtmäßiges  und  notwendiges  Instrument,  das  wir 
neben  Experiment  und  Beobachtung  zur  Anwendung  bringen 
können,  als  vielmehr  eine  ständige  Gefahr.  Heißt  es  nicht 
das  unmittelbare  Dasein,  das  sich  uns  in  der  Sinnesempfindung 
erschließt,  verfälschen,  wenn  wir  es  dem  Schema  unserer 
mathematischen  Begriffe  unterwerfen  und  damit  die  empirische 
Bestimmtheit  und  Gebundenheit  des  Seins  wiederum  in  die 
Freiheit  und  Willkür  des  Denkens  aufgehen  lassen? 

Und  dennoch  ist  diese  Gefahr,  so  klar  sie  auch  durch- 
schaut werden  mag,  niemals  zu  umgehen  oder  zu  beseitigen. 
Der  Physiker  mag  sie  als  empiristischer  Philosoph  noch 
so  eindringlich  schildern:  er  ist  ihr  unmittelbar  von  neuem 
verfallen,  sobald  er  sich  als  wissenschaftlicher  Forscher 
betätigt.  Es  gibt  keine  exakte  Konstatierung  eines  räumlich- 
zeitlichen  Faktums,    das   nicht   die  Anwendung   bestimmter 

153 


Zahlen  und  Maße  in  sich  schließt.  Man  könnte  an  G^r 
Schwierigkeit,  die  hierin  liegt,  vorbeisehen,  wenn  es  sich  hierbei 
lediglich  um  die  elementaren  Begriffe  und  Gebilde  der  Mathe- 
matik handelte.  Wenn  das  erste  Keplersche  Gesetz  der 
Planetenbewegung  von  der  reinen  geometrischen  Definition 
der  Ellipse  als  Kegelschnitt,  das  dritte  von  den  arithmetischen 
Begriffen  des  Quadrats  und  des  Kubus  Gebrauch  macht, 
so  mag  hierin  zunächst  kein  erkenntnistheoretisches  Problem 
gesehen  werden:  gilt  doch  der  naiven  Auffassung  Zahl  und 
Gestalt  selbst  als  eine  Art  physischer  Eigenschaft,  die 
den  Dingen  ebenso  wie  ihre  Farbe  oder  ihr  Glanz  und  ihre 
Härte  anhaftet.  (Vgl.  oben,  S.  36.)  Je  mehr  indes  im  Fort- 
schritt der  mathematischen  Begriffsbildung  dieser  Schein 
zerstört  wird,  um  so  nachdrücklicher  tritt  die  allgemeine  Frage 
hervor.  Denn  gerade  die  komplexen  mathematischen  Begriffe, 
die  keineriei  Möglichkeit  einer  unmittelbaren  Realisierung 
im  Sinnlichen  mehr  besitzen,  sind  es,  die  im  Aufbau  der 
Mechanik  und  Physik  fortdauernd  zur  Geltung  kommen. 
Konzeptionen,  die  sich  ihrem  Ursprung  und  ihrer  logischen 
Beschaffenheit  nach  völlig  von  der  Anschauung  trennen 
und  sie  prinzipiell  überschreiten,  führen  zu  fruchtbaren 
Anwendungen  innerhalb  der  Anschauung  selbst  zurück.  Dieses 
Verhältnis,  das  in  der  Analysis  des  Unendlichen  seinen 
prägnantesten  Ausdruck  findet,  bleibt  dennoch  nicht  auf  ihr 
Gebiet  beschränkt.  Selbst  eine  so  abstrakte  gedankliche 
Schöpfung  wie  das  System  der  komplexen  Zahlen  liefert  einen 
neuen  Beleg  dieses  Zusammenhangs:  wie  denn  z.  B.  K  u  m  m  e  r 
den  Gedanken  durchgeführt  hat,  daß  die  Beziehungen,  die 
innerhalb  dieses  Systems  obwalten,  in  den  Verhältnissen 
chemischer  Verbindungen  ihr  konkretes  Substrat  besitzen. 
,,Der  chemischen  Verbindung  entspricht  für  die  komplexen 
Zahlen  die  Multiplikation;  den  Elementen  oder  eigentlich 
den  Atomgewichten  derselben  entsprechen  die  Primfaktoren; 
und  die  chemischen  Formeln  für  die  Zerlegung  der  Körper 
sind  genau  dieselben  wie  die  Formeln  für  die  Zerlegung  der 
Zahlen.  Auch  selbst  die  idealen  Zahlen  unserer  Theorie 
finden  sich  in  der  Chemie,  vielleicht  nur  allzuoft,  als 
hypothetische  Radikale,  welche  bisher  noch  nicht  dargestellt 

154 


worden    sind,    die    aber,    sowie  die  idealen  Zahlen,   in  den 

Zusammensetzungen    ihre  Wirklichkit    haben Diese 

hier  angedeftteten  Analogien  sind  nicht  etwa  als  bloße 
Spiele  des  Witzes  zu  betrachten,  sondern  haben  ihren  guten 
Grund  darin,  daß  die  Chemie,  so  wie  der  hier  behandelte  Teil 
der  Zahlentheprie,  beide  denselben  Grundbegriff,  nämlich 
den  der  Zusammensetzung,  wenngleich  innerhalb  verschiedener 
Sphären  des  Seins  zu  ihrem  Prinzipe  haben*."  Eben  diese 
Übertragung  von  Gebilden,  deren  ganzer  Inhalt  aus  einer 
Verknüpfung  rein  ideeller  Konstruktionen  stammt,  auf  die 
Sphäre  des  konkret-tatsächlichen  Seins  aber  bildet  das  eigent- 
liche Problem.«  Es  zeigt  sich  schon  hier,  daß  es  eine  eigen- 
tümliche Verflechtung  ,, wirklicher"  und  —  ,, nicht-wirklicher" 
Elemente  ist,  auf  denen  jede  naturwissenschaftliche  Theorie 
beruht.  Sobald  wir  nur  einen  Schritt  über  die  erste  naive 
Beobachtung  vereinzelter  Tatsachen  hinaus  tun,  sobald  wir 
nach  der  Verknüpfung  und  dem  Gesetz  des  Wirk- 
lichen fragen,  haben  wir  damit  bereits  die  strengen  Grenzen, 
die  die  positivistische  Forderung  uns  vorschreibt,  überschritten. 
Wiederum  müssen  wir,  um  diese  Verknüpfung  auch  nur 
scharf  und  adäquat  bezeichnen  zu  können,  auf  ein 
System  zurückgreifen,  das  nur  allgemeine  hypothetische  Zu- 
sammenhänge von  Gründen  und  Folgen  entwickelt,  auf  die 
,, Wirklichkeit"  seiner  Elemente  dagegen  prinzipiell  ver- 
zichtet. Auch  diejenige  Form  der  Erkenntnis,  der  die  Aufgabe 
zufällt,  das  Wirkliche  zu  beschreiben  und  bis  in  seine  feinsten 
Fasern  bloßzulegen,  beginnt  mit  einer  Abkehr  von  eben  dieser 
Wirklichkeit  und  ihrem  Ersatz  durch  die  Symbole  des  Zahl- 
und  Größengebiets.  — 

Schon  die  erste  Phase  jeglicher  wissenschaftlicher  Natur- 
theorie überhaupt  bringt  dies  zum  unzweideutigen  Ausdruck. 
Der  exakte  Begriff  der  Natur  wurzelt  im  Gedanken  des 
Mechanismus  und  ist  erst  auf  Grund  dieses  Gedankens 
erreichbar.  Die  Naturerklärung  mag  in  ihrer  späteren  Ent- 
wicklung versuchen,  sich  von  diesem  ersten  Schema  zu  be- 


*  Grelles   Journal,  Bd.  35,    S.  360;  oit.  nach  Hankel,   Theorie   der 
komplexen  Zahlensysteme  S.  104. 

155 


freien  und  ein  weiteres  und  allgemeineres  an  seine  Stelle  zu 
setzen:  dennoch  bleibt  die  Bewegung  und  ihre  Gesetze 
das  eigentliche  Grundproblem,  an  dem  zuerst  das  Wissen 
zur  Klarheit  über  sich  selbst  und  seine  Aufgabe  gelangt.  Die 
Wirklichkeit  ist  vollständig  erkannt,  sobald  sie  in  ein  System 
von  Bewegungen  aufgelöst  ist.  Diese  Auflösung  aber  kann 
niemals  gelingen,  solange  die  Betrachtung  im  Umkreis  der 
bloßen  Wahrnehmungsdaten  beharrt.  Bewegung  im  all- 
gemeinen wissenschaftlichen  Sinn  ist  nichts  anderes  als  ein 
bestimmtes  Verhältnis,  das  Raum  und  Zeit  eingehen. 
Raum  und  Zeit  selbst  aber  werden  als  Glieder  dieses  Grund- 
verhältnisses nicht  mehr  in  ihren  unmittelbaren,  psychologi- 
schen und  ,, phänomenalen"  Eigenschaften,  sondern  in  ihren 
streng  mathematischen  Bestimmungen  vorausgesetzt. 
Solange  wir  unter  dem  Raum  nichts  anderes  als  eine 
Summe  verschiedener  Gesichts-  und  Tasteindrücke  verstehen, 
die  sich,  je  nach  den  besonderen  physiologischen  Bedingun- 
gen, unter  denen  sie  zustande  kommt,  qualitativ  voneinander 
unterscheiden,  solange  ist  in  ihm  keine  ,, Bewegung"  im  Sinne 
der  exakten  Physik  möglich.  Diese  verlangt  als  Grundlage 
den  stetigen  und  homogenen  Raum  der  reinen 
Geometrie:  Stetigkeit  und  Gleichförmigkeit  aber  eignen 
niemals  dem  Beisammen  der  sinnlichen  Eindrücke  selbst 
sondern  nur  derjenigen  Mannigfaltigkeitsform,  zu  der  wir 
sie  kraft  bestimmter  gedanklicher  Forderungen  konstruktiv 
umschaffen.  (S.  oben,  S.  139.)  So  wird  denn  auch  die  Be- 
wegung selbst  von  Anfang  an  in  diesen  Kreis  einer  rein 
begrifflichen  Bedingtheit  hineingezogen.  Nur  scheinbar 
bildet  sie  ein  direktes  Faktum  der  Wahrnehmung,  ja  das 
Grundfaktum,  das  alle  äußere  Beobachtung  uns  zuerst  dar- 
bietet. Der  Wechsel  der  Empfindungen,  die  qualitative 
Verschiedenheit  successiver  Vorstellungsinhalte  mag  allenfalls 
auf  diese  Weise  erfaßbar  sein:  ab^r  dieses  Moment  allein 
genügt  keineswegs,  um  den  strengen  Begriff  der  Bewegung, 
dessen  die  Mechanik  bedarf,  zu  begründen.  Hier  wird  neben 
der  Verschiedenheit  die  Einheit,  neben  der  Veränderung  die 
Identität  gefordert:  und  diese  Identität  wird  niemals  durch  die 
bloße  Beobachtung  verbürgt,  sondern  schließt  eine  eigentüm- 

156 


liehe  Leistung  des  Denkens  in  sich.  Die  einzelnen  Orte  des 
Mars,  die  Kepler  nach  den  Beobachtungen  Tycho  de  Brahes 
zugrunde  legt,  enthalten  für  sich  allein  nicht  den  Gedanken  der 
Marsbahn:  und  alle  Häufung  einzelner  Lagebestimmungen  ver- 
möchte zu  diesem  Gedanken  nicht  fortzuführen,  wenn  hier 
nicht  von  Anfang  an  ideelle  Voraussetzungen  wirksam  wären, 
durch  die  die  Lücken  der  tatsächlichen  Wahrnehmung  ergänzt 
und  ausgefüllt  werden.  Was  die  Empfindung  darbietet,  ist 
und  bleibt  eine  Mehrheit  leuchtender  Punkte  am  Himmel :  erst 
der  reine  mathematische  Begriff  der  Ellipse,  der  zuvor  kon- 
zipiert sein  muß,  schafft  dieses  diskrete  Aggregat  zum  stetigen 
System  um.  Jede  Aussage  über  die  einheitliche  Bahn  eines 
bewegten  Körpers  schließt  die  Angabe  einer  Unendlich- 
keit möglicher  Stellen  in  sich:  das  Unendliche  aber  kann 
offenbar  als  solches  nicht  wahrgenommen  werden,  sondern 
entsteht  erst  in  der  gedanklichen  Synthese  und  in  der  Anticipa- 
tion  eines  allgemeinen  Gesetzes.  Erst  indem  wir  kraft  dieses 
Gesetzes  eine  Bestimmtheit  schaffen,  die  die  Allheit  der 
konstruktiv  erzeugbaren  Raum-  und  Zeitpunkte  umfaßt, 
sofern  sie  jedem  Moment  der  stetigen  Zeit  eine  und  nur  eine 
Lage  des  Körpers  im  Räume  zuordnet,  ist  damit  die  Bewegung 
als  mathematisches  Faktum  gewonnen,  r 

So  zeigt  es  sich  hier  von  einer  neuen  Seite  her,  daß 
schon  der  erste  Zugang  zur  Mechanik  von  Voraus- 
setzungen abhängt,  die  über  das  sinnlich  Erfahrbare  hin- 
ausgreifen. Die  bekannte  Kirchhoffsche  Definition,  die  als 
Aufgabe  der  Mechanik  die  vollständige  und  eindeutige  Be- 
schreibung der  in  der  Natur  vor  sich  gehenden  Bewegungs- 
vorgänge bezeichnet,  mag  in  dem  Sinne,  den  ihr  Urheber 
mit  ihr  verband,  völlig  zu  Recht  bestehen,  ohne  daß 
darum  doch  die  philosophischen  Folgerungen  irgend 
gerechtfertigt  wären,  die  aus  ihr  gewöhnlich  gezogen  werden. 
Kirchhoff  selbst  läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  die  „Be- 
schreibung", auf  die  er  hinzielt,  die  exakten  mathematischen 
Grundgleichungen  der  Bewegung,  und  in  ihnen  die  Begriffe 
des  materiellen  Punktes,  der  gleichförmigen  und  veränderlichen 
Geschwindigkeit  sowie  der  gleichförmigen  Beschleunigung 
zur   Voraussetzung   hat.      Alle   diese   Begriffe   können   dem 

157 


mathematischen  Physiker  mit  gutem  Grund  als  feste  und 
unmittelbare  Data  gelten;  aber  sie  sind  es  keineswegs  im 
Sinne  der  Erkenntnistheorie.  Denn  für  sie  gibt  es  eine  „Natur", 
in  welcher  Bewegungen  als  beschreibbare  Objekte  sich 
vorfinden,  nur  als  ein  Ergebnis  einer  durchgängigen  gedank- 
lichen Umformung  des  Gegebenen.  Diese  mathematische 
Umformung,  die  der  Physiker  als  vollzogen  voraussetzt, 
bildet  in  Wahrheit  das  eigentliche  und  ursprüngliche  Problem. 
Ist  einmal  der  Gedanke  der  Stetigkeit  und  Gleichförmigkeit 
des  Raumes  sowie  der  exakte  Begriff  der  Geschwindigkeit 
und  Beschleunigung  erfaßt  und  begründet,  so  läßt  sich  in  der 
Tat  mit  Hilfe  dieses  logischen  Materials  das  Ganze  der  mög- 
lichen Bewegungserscheinungen  völlig  übersehen  und  seiner 
Form  nach  beherrschen:  aber  um  so  dringender  erhebt  sich 
nunmehr  die  Frage  nach  den  intellektuellen  Mitteln,  kraft 
deren  dieses  Ergebnis  erreicht  wird. 

Am  schärfsten  tritt  diese  ideelle  Bedingtheit  hervor, 
sobald  man  vom  Prozeß  der  Bewegung  zur  Begriffs- 
bestimmung des  Subjekts  derBewegung  übergeht. 
Wieder  scheint  es,  als  müsse  dieses  Subjekt  sich  direkt  in 
der  Wahrnehmung  aufweisen  lassen:  ist  es  doch  der  Körper, 
ist  es  doch  ein  Komplex  greifbarer  und  sichtbarer  Eigen- 
schaften, dem  die  Bewegung  als  Merkmal  zugesprochen  wird. 
Der  schärferen  begrifflichen  Analyse  treten  indessen  schon 
an  diesem  Punkt  eigentümliche  Schwierigkeiten  entgegen. 
Um  als  Subjekt  der  Bewegung  zu  gelten,  muß  der  empirische 
Körper  zuvor  selbst  eindeutig  bestimmt  und  gegen  alle  anderen 
Gebilde  unterschieden  und  abgegrenzt  sein.  Solange  er  selbst 
nicht  in  feste  und  unverrückbare  Grenzen  eingeschlossen  ist, 
durch  die  er  aus  seiner  Umgebung  herausgehoben  und  als 
Ganzes  von  individueller  Form  erkannt  wird  —  so  lange 
vermag  er  auch  keinen  konstanten  Bezugspunkt  der  Ver- 
änderung abzugeben.  Die  Körper  unserer  Wahrnehmungs- 
welt aber  genügen  nirgends  dieser  Bedingung.  Sie  verdanken 
ihre  Bestimmtheit  lediglich  einer  ersten  und  oberflächlichen 
Zusammenfassung,  in  welcher  wir  Raumteile,  die  mit  an- 
nähernd denselben  sinnlichen  Merkmalen  behaftet  scheinen, 
zu  einem  Ganzen  vereinen.     Wo  eine  derartige  Zusammen- 

158 


fassung  anfängt  und  endet,  ist  mit  absoluter  Genauigkeit 
niemals  zu  bestimmen;  ein  schärferes  sinnliches  Unter- 
scheidungsvermögen würde  uns  dort,  wo  zwei  verschiedene 
Körper  sich  zu  berühren  scheinen,  einen  beständigen  wechsel- 
seitigen Austausch  von  Teilen  und  somit  eine  stete  Ver- 
schiebung der  Grenzflächen  erkennen  lassen.  Erst  indem  wir 
dem  Körper  eine  strenge  geometrische  Form  bei- 
legen und  ihn  auf  diese  Weise  aus  dem  Umkreis  des  bloß 
Wahrgenommenen  zur  Bestimmtheit  des  Begriffs  erheben, 
hat  er  diejenige  Identität  erlangt,  die  ihn  zum  „Träger" 
der  Bewegung  tauglich  macht.  Und  wie  hier  der  genaue 
Abschluß  des  Körpers  gegenüber  allen  Bestandteilen  der 
äußeren  Umgebung  verlangt  wird,  so  ist  auf  der  anderen  Seite 
zu  fordern,  daß  er  in  sich  selbst  eine  strenge  Einheit  darstellt. 
Sobald  wir  seine  einzelnen  Teile  gegeneinander  verschiebbar 
denken,  ist  die  oberste  Bedingung  der  Eindeutigkeit  des 
Bezugspunkts  wiederum  verletzt :  an  Stelle  der  einen 
Bewegung  sind  so  viele  verschiedene  getreten,  als  es  selb- 
ständig verschiebbare  Partikeln  gibt.  Somit  muß  ein  System 
zugrunde  gelegt  werden,  das,  wie  es  nach  außen  abgeschlossen 
ist,  so  auch  in  sich  selbst  keiner  weitergehenden  Differenzierung 
und  Zerfällung  in  eine  Mehrheit  unabhängig  beweglicher  Sub- 
jekte fähig  ist.  Der  ,, starre"  Körper  der  reinen  Geometrie 
muß  an  die  Stelle  des  wahrnehmbaren  Körpers  und  seiner 
schrankenlosen  Veränderlichkeit  gesetzt  werden,  wenn  die 
Grundlegung  der  exakten  Bewegungslehre  gelingen  soll. 

In  der  Tat  ist  die  Notwendigkeit  einer  derartigen  Um- 
formung des  Problems  von  den  Anhängern  der  Theorie  der 
,, Beschreibung"  selbst  ausdrücklich  anerkannt  und  hervor- 
gehoben worden.  Vor  allem  ist  es  Karl  P  e  a  r  s  o  n  ,  der 
in  seinem  Werk  über  die  ,,  Grammatik  der  Wissenschaft" 
diesen  Prozeß  mit  Klarheit  und  Nachdruck  geschildert  hat. 
Es  sind  —  wie  er  ausführt  —  niemals  die  Inhalte  der  Per- 
zeption  als  solche,  die  wir  als  Grundlagen  für  die  Urteile 
der  reinen  Mechanik,  als  Ansatzpunkte  für  die  Aussprache 
der  Bewegungsgesetze  brauchen  können.  Alle  diese  Gesetze 
können  vielmehr  mit  Sinn  nur  von  den  idealen  Grenz- 
gebilden  ausgesagt  werden,  die  wir  begrifflich  an  Stelle 

159 


der  empirischen  Daten  der  Sinneswahrnehmung  setzen.  Be- 
wegung ist  ein  Prädikat,  das  niemals  unmittelbar  auf  die 
,, Dinge"  der  uns  umgebenden  Sinnenwelt  anwendbar  ist, 
sondern  einzig  allein  von  jener  anderen  Klasse  von  Ob- 
jekten gilt,  die  der  Mathematiker  ihnen  in  seiner  freien  Kon- 
struktion substituiert.  Sie  ist  ein  Faktum  nicht  der  Emp- 
findung, sondern  des  Denkens;  —  nicht  der  ,,Perzeption", 
sondern  der  „Konzeption".  „So  befremdend  es  auf  den  ersten 
Blick  erscheinen  mag,  so  ist  es  nichtsdestoweniger  wahr, 
daß  unser  Geist  sich  vergebens  abmüht,  die  Bewegung  von 
Etwas  klar  zu  denken,  wenn  dieses  Etwas  nicht  ein  geometri- 
scher Punkt  oder  ein  Körper  ist,  der  von  kontinuieriichen  Ober- 
flächen begrenzt  ist.  Der  Geist  sträubt  sich  durchaus  gegen 
den  Gedanken  jeder  anderen  Bewegung  als  die  dieser  reinen 
Denkschöpfungen,  die  nur  Grenzen  bezeichnen,  die  sich  im 
Gebiet  der  Perzeption  niemals  tatsächlich  aufzeigen  lassen." 
Gruppen  sinnlicher  Eindrücke  können  sich  verändern,  können 
alte  Bestandteile  verlieren  und  neue  gewinnen,  können  sich 
zu  neuen  Gruppen  zusammensetzen:  aber  alle  diese  Wand- 
lungen bezeichnen  noch  in  keiner  Weise  den  eigentlichen 
Gegenstand  der  Mechanik.  „Nur  in  der  Region  des  Be- 
griffs können  wir  im  strikten  Sinne  von  der  Bewegung 
der  Körper  sprechen:  denn  hier  und  nur  hier  sind  es  geome- 
trische Formen,  die  in  der  absoluten  Zeit  ihre  Lage  wechseln, 
d.  h.  sich  bewegen."  Die  Widersprüche,  in  welche  sich  die 
Mechanik  häufig  verwickelt  hat  und  die  insbesondere  in  den 
Versuchen  zutage  getreten  sind,  die  allgemeinen  mechanischen 
Gesetze  auf  die  Bewegungen  des  Äthers  anzuwenden, 
erklären  sich  zum  größten  Teil  daraus,  daß  man  die  beiden 
Erkenntnissphären,  die  hier  einander  gegenüber- 
stehen, nicht  scharf  und  bestimmt  voneinander  schied.  Diese 
Widersprüche  schwinden,  sobald  man  gelernt  hat,  sinnliche 
und  begriffliche  Momente  nicht  unmittelbar  ineinander  zu 
wirren,  sobald  man  darauf  verzichtet,  eine  gedankliche 
Schöpfung,  die  auf  die  Herstellung  einer  wissenschaftlichen 
Ordnung  der  Phänomene  abzielt,  selbst  als  phänomenalen  Einzel- 
inhalt anschauen  zu  wollen.  Was  wir  in  der  Physik  allein  ver- 
mögen, ist  der  Aufbau  einer  Welt  von  geometrischen  Formen, 


160 


die  in  der  Mannigfaltigkeit  von  Bewegungen,  die  wir  ihnen 
zusprechen,  die  komplexen  Einzelphasen  unserer  sinnlichen 
Erfahrung  mit  wunderbarer  Genauigkeit  wiedergeben  und  zur 
Darstellung  bringen.  Sobald  wir  aber  diese  ganze  Gedanken- 
welt wiederum  unmittelbar  in  die  sinnliche  Welt  hinein- 
verlegen, sobald  wir  die  logischen  Momente,  die  sie  vor- 
aussetzt, direkt  in  Bestandteile  der  Wirklichkeit  umdeuten, 
die  als  solche  durch  die  Empfindung  zu  erfassen  wären,  sind 
wir  damit  wiederum  all  den  Antinomien  verfallen,  die 
jeder  Art  des  Dogmatismus,  dem  physikalischen  sowohl  wie  dem 
metaphysischen,  notwendig  anhaften*.  Alle  diese  Ausführungen 
Pearsons  sind  vortrefflich:  aber  man  fragt  sich  vergebens, 
wie  unter  diesen  Voraussetzungen  die  Mechanik  noch  länger 
als  rein  beschreibende  Wissenschaft  aufgefaßt  werden 
kann.  Kann  es  noch  eine  Beschreibung  der  Wahrnehmungs- 
inhalte heißen,  wenn  an  ihre  Stelle  ein  Inbegriff  geometrischer 
Ideale  gesetzt  wird,  die  als  solche  der  Welt  unserer  Per- 
zeptionen  notwendig  fremd  sind?  Wenn  die  Aufgabe  einer 
wahrhaft  ,, objektiven"  Beschreibung  darin  besteht,  das  Ge- 
gebene so  getreu  als  möglich  aufzufassen  und  keinen  Einzelzug 
hinzuzufügen  oder  wegzulassen:  so  ist  es  hingegen  gerade  eine 
derartige  Veränderung  des  anfänglichen  Bestandes,  was  den 
Charakter  und  den  Wert  des  begrifflichen  Verfahrens  der  Physik 
ausmacht.  Statt  der  bloßen  passiven  Wiedergabe  sehen  wir 
hier  einen  aktiven  Prozeß  vor  uns,  der  das  zunächst  Gegebene 
in  eine  neue  logische  Sphäre  überführt.  Es  wäre  eine  eigen- 
tümliche Weise,  das  Vorgefundene  zu  beschreiben,  wenn  wir 
uns  zu  diesem  Zweck  in  lauter  Begriffen  bewegten,  die  selbst 
auf  keine  Weise  mehr  —  ,, vorgefunden"  werden  können. 
Die  Frage  nach  der  Eigenart  der  naturwissenschaftlichen 
Grundbegriffe  mündet  hier  in  ein  allgemeineres  Problem  ein. 
Wir  sahen,  wie  der  erste  Schritt  der  naturwissenschaftlichen 
Begriffsbildung  darin  besteht,  an  Stelle  der  Glieder  einer  be- 
stimmten sinnlichen  Mannigfaltigkeit  die  ideale  Grenze 
einzuführen,  die  diese  Mannigfaltigkeit  abschließt.  Das 
Recht     einer    derartigen    Grenzsetzung    aber   vermag    die 

*  S.    Pearson,     The     Grennmar     of    Science,     Second     edition, 
London  1900,    S.  198  ff.,  S.  239  ff.,  282.  325  u.  s. 

Cassirer,  Substanzbegriff  U  161 


Naturwissenschaft,  solange  sie  sich  rein  innerhalb  ihres  Bezirks 
hält,  nicht  mehr  vollständig  zu  erweisen:  sondern  es  ruht  auf 
allgemeinen  logischen  Prinzipien.  Der  Gewinn,  der  aus 
dieser  Zurückführung  der  Frage  gezogen  werden  kann,  ist 
indessen  gering,  solange  die  Logik  und  die  Erkenntnistheorie 
selbst  an  diesem  Punkte  nicht  zur  Klarheit  durchgedrungen 
sind.  Mehr  als  irgendwo  aber  scheinen  beide  hier  in  unlöslichen 
Schwierigkeiten  befangen:  und  der  einzige  Ausweg,  der  dem 
klaren  Denken  bleibt,  scheint  darin  zu  bestehen,  die  Anti- 
nomien, die  sich  an  diesem  Punkte  aufdrängen,  nicht  sowohl 
zu  lösen,  als  sie  vielmehr  in  ihrer  Unlösbarkeit  zu  verstehen 
und  anzuerkennen.  In  der  Tat  ist  diese  Entscheidung  in 
neuerer  Zeit  von  einem  namhaften  Mathematiker  ausdrücklich 
vertreten  worden.  Die  Betrachtung  der  mathematischen  Grenz- 
begriffe führt  nach  ihm  zu  einem  metaphysischen 
Grundproblem  zurück,  das,  wie  alle  Probleme  dieser  Gattung, 
nicht  mehr  nach  strengen  objektiven  Kriterien,  sondern  nur 
nach  der  subjektiven  Neigung  des  einzelnen  Forschers  zu  ent- 
scheiden ist.  Die  „allgemeine  Funklioncntheorie",  wie  Paul 
d  u  B  o  i  s-R  e  y  m  o  n  d  sie  entwickelt  hat,  beleuchtet  diesen 
Dualismus  allseitig;  aber  sie  verzichtet  von  Anfang  an  darauf, 
ihn  zu  schlichten.  Wenn  wir  uns  die  Frage  stellen,  ob  zu  be- 
stimmten gegebenen  Vorstellungsfolgen,  wie  etwa  zu  den 
einzelnen  Ziffern  eines  Dezimalbruchs,  eine  genaue  Grenze 
existiert,  die  denselben  Bestand  besitzt,  wie  die  Glieder  der 
Folge  selbst,  so  ist  die  Antwort,  die  wir  auf  sie  geben,  nicht 
mehr  allein  durch  logische  und  mathematische  Erwägungen 
eindeutig  zu  bestimmen.  Das  schlichte  mathematische  Problem 
führt  uns  mitten  hinein  in  den  Streit  zweier  allgemeiner 
Weltanschauungen,  die  sich  unversöhnlich  gegen- 
überstehen. Es  gilt  zwischen  diesen  beiden  Weltanschauungen 
zu  wählen:  es  gilt,  entweder  mit  dem  Empirismus  nur 
dasjenige  als  vorhanden  zu  setzen,  was  sich  einzeln  in  der  wirk- 
lichen Vorstellung  aufweisen  läßt  oder  aber  mit  dem  Idea- 
lismus die  Existenz  von  Gebilden  zu  behaupten,  die  den 
gedachten  Abschluß  bestimmter  Vorstellungsreihen  bilden, 
aber  niemals  selbst  unmittelbar  vorzustellen  sind.  Der  Mathe- 
matiker ist  außer  stände,  für  eine  dieser  beiden  Grundansichten 

162 


den  Sieg  herbeizuführen;  alles  was  er  tun  kann  und  tun  muß, 
um  Klarheit  in  die  Grundlagen  der  Analysis  zu  bringen,  ist, 
ihn  bis  in  seine  letzten  gedanklichen  Wurzeln  zu  verfolgen. 
Die  Lösung  des  Rätsels  ist,  daß  es  ein  Rätsel  bleibt  und  bleiben 
wird.  „Die  ausdauerndste  Beobachtung  unseres  Denkvorgangs 
—  so  heißt  es  bei  d  u  B  o  i  s-R  e  y  m  o  n  d  —  und  seiner 
Beziehungen  zur  Wahrnehmung  führt  eben  nicht  darüber 
hinaus,  daß  es  zwei  durchaus  verschiedene  Auffassungsweisen 
gibt,  welche  gleiches  Anrecht  darauf  haben,  als  Grund- 
anschauungen der  strengen  Wissenschaft  zu  gelten,  weil  keine 
von  ihnen  ungereimte  Ergebnisse  liefert,  wenigstens  solange 
es  sich  um  reine  Mathematik  handelt...  Immerhin  bleibt 
es  eine  höchst  befremdliche  Erscheinung,  daß,  nachdem  alles, 
was  die  Wahrheit  verbergen  konnte,  hinweggeräumt,  und  man 
erwarten  durfte,  endlich  ihr  Bild  klar  und  unzweideutig  zu 
erblicken,  sie  unter  zweierlei  Gestalt  vor  uns  erscheint.  Der, 
welcher  zuerst  durch  wasserhellen  Kristall  das  doppelte  Bild 
des  einfachen  Gegenstandes  bemerkte,  mag  es  nicht  ergriffener 
seinen  Freunden  gezeigt  haben,  als  ich  heute  am  Ende  sorg- 
fältigsten und  unverdrossensten  Überlegens  die  doppelte 
Anschauungsweise  über  die  Grundlagen  unserer  Wissenschaft 
vor  dem  Leser  zu  entwickeln  mich  entschließen  muß*." 

Es  verlohnt  sich  in  der  Tat  dem  Ursprung  dieses  eigen- 
tümlichen Ergebnisses  nachzuspüren;  denn  hier  stehen  wir  an 
einem  Punkte,  der  zugleich  einen  entscheidenden  Wende- 
punkt aller  Erkenntniskritik  darstellt.  Die  alte  Frage  nach 
dem  Verhältnis  von  Begriff  und  Existenz,  von  Idee 
und  Wirklichkeit  tritt  uns  hier  noch  einmal  in  einer 
eigentümlichen  und  originellen  Fassung  entgegen.  Freilich 
muß  sich  sogleich  das  Bedenken  erheben,  ob  der  Gegensatz, 
der  hier  zwischen  „Empirismus"  und  „Idealismus"  konstruiert 
wird,  auf  einer  vollständigenEinteilung  beruht, 
ob  er  das  Ganze  der  möglichen  Denkweisen  umspannt 
und  in  sich  befaßt.  Nur  in  diesem  Falle  wäre  die  Antinomie 
unlösbar;  während  sie  sogleich  an  Schärfe  verlieren  würde, 
wenn  sich  zeigen  ließe,  daß  es  Problemgebiete  gibt,  die  dem 

*  Paul  du  Bois-Reymond,  Die  allgemeine  Funktionentheorie, 
Tübingen  1882,   S.  2  f. 

11*  163 


Gegensatz,  von  dem  hier  ausgegangen  wird,  völlig  entrückt 
und  daher  in  ihrer  logischen  Struktur  und  Gültigkeit  von 
seiner  Auflösung  unabhängig  sind.  In  Wahrheit  zeigt  es  sich 
schon  in  den  ersten  Entwicklungen  du  Bois-Reymonds,  daß 
es  nicht  der  Mathematiker,  sondern  der  Philosoph  und  Psycho- 
loge ist,  der  hier  zu  Wort  kommt.  Was  in  aller  Welt  könnte  auch 
„die  ausdauernde  Beobachtung  unseres  Denkvorgangs 
und  seiner  Beziehungen  zur  Wahrnehmung"  für  die  Lösung 
irgendeines  besonderen,  spezifisch  mathematischen 
Problems  fruchten?  Ist  doch  die  reine  Mathematik  eben  da- 
durch charakterisiert,  daß  sie  von  allen  derartigen  Unter- 
suchungen über  den  Denkvorgang  und  seine  subjektiven 
Bedingungen  vollständig  absieht  und  sich  lediglich  den  Denk- 
gegenständen  als  solchen  und  ihrem  objektiv-logischen 
Zusammenhang  zuwendet.  Die  Art,  in  der  der  Begriff  der 
Existenz  innerhalb  der  Mathematik  allein  auftritt,  be- 
stätigt diese  ausschließende  Richtung  des  Interesses.  Der 
Algebraiker,  der  von  der  ,, Existenz"  der  Zahlen  e  und  it 
spricht,  will  damit  zweifellos  kein  Faktum  der  äußeren, 
physischen  Wirklichkeit  bezeichnen;  aber  ebensowenig  ist 
es  das  Vorkommen  bestimmter  Vorstellungsinhalte  in  irgend- 
welchen wahrnehmenden  und  denkenden  Subjekten,  was 
damit  behauptet  werden  soll.  Wäre  dies  der  Sinn  der  Aussage, 
so  fehlte  vom  mathematischen  Standpunkte  aus  jedes  Mittel, 
sie  nachzuprüfen  und  zu  bewähren:  denn  nur  das  Experiment 
und  die  verallgemeinernde  Induktion  gestatten  es,  über  reale 
Vorkommnisse  im  psychischen  Leben  der  Individuen  eine 
Entscheidung  zu  treffen.  Die  Existenz  der  Zahl  e  besagt  nichts 
anderes,  als  daß  durch  die  Reihe,  die  wir  zu  ihrer  Definition 
verwenden,  eine  und  nur  eine  Stelle  innerhalb  des  idealen 
Zahlensystems  objektiv   notwendig  und  eindeutig  festgelegt 

^  1      1 

wird.     Denken  wir  uns  die  allgemeine  Vorschrift  1+— -f-— -f. 

1 

...   (in  inf.)  gegeben,  so  wird  durch  sie  das  Ganze 


1    ^-S    ' 

der  rationalen  Zahlen  in  zwei  streng  geschiedene  Klassen 
zerlegt,  deren  eine  alle  Elemente  umfaßt,  die  von  der  Reihe, 
wenn  sie  genügend  weit  fortgesetzt  wird,  irgend  einmal  über- 

164 


schritten  werden,  während  die  andere  diejenigen  Elemente 
enthält,  bei  denen  dies  nicht  der  Fall  ist.  Durch  diese  voll- 
ständige Einteilung,  die  sie  im  Gebiet  der  Rationalzahlen 
bewirkt,  gewinnt  die  Reihe  zu  den  Gliedern  dieses  Gebiets 
ein  bestimmtes  Verhältnis,  indem  sie  selbst  sich  zu  ihnen 
in  die  Beziehung  des  „Vor"  oder  „Nach"  und  somit  des 
„Kleiner"  und  „Größer"  setzt.  Die  Gültigkeit  all  dieser 
Beziehungen  ist  es  allein,  was  uns  berechtigt,  von  einer  „Zahl"  e 
zu  sprechen  und  was  das  gesamte  „Sein",  den  vollständigen  und 
in  sich  abgeschlossenen  Bestand  dieser  Zahl  ausmacht.  (Vgl. 
ob.  S.  79f.)  Die  Bestimmtheit,  die  auf  diese  Weise  entsteht, 
ist,  wenngleich  rein  ideell,  so  doch  im  Prinzip  von  keiner  anderen 
Art,  als  sie  auch  den  ganzen  und  gebrochenen  Zahlen  eignet: 
wie  denn  der  Wert  von  e  von  dem  jeder  anderen  Zahl,  so 
nahe  sie  e  immer  liegen  mag,  genau  so  streng  und  scharf 
unterschieden  ist,  als  es  die  Werte  von  1  und  1000  sind.  Auf 
das  Vermögen,  Vorstellungen  auseinanderzuhalten 
und  einander  ähnliche  Einzelinhalte  der  Perzeption 
im  Bewußtsein  zu  unterscheiden,  wird  hier  in  keiner  Weise 
zurückgegangen;  es  handelt  sich  auf  beiden  Seiten  um  reine 
Begriffe,  die  durch  die  logischen  Bedingungen,  die 
ihnen  ihre  Definition  auferlegt,  hinlänglich  gegeneinander 
abgegrenzt  sind. 

Anders  scheint  es  freilich  zu  liegen,  sobald  wir  uns  von  dem 
algebraischen  Sinn  der  Grenze  zu  ihrer  geometrischen  Be- 
deutung wenden.  Die  Existenz  eines  Punktes  scheint  in 
der  Tat  nicht  anders  gesichert  werden  zu  können,  als  durch 
ein  Verfahren,  das  uns  erlaubt,  ihn  in  der  Anschauung 
aufzuweisen  und  von  anderen  Lageelementen  zu  unterscheiden. 
Hier  aber  machen  sich  sogleich,  auf  Grund  des  psychologischen 
Prinzips  der  Unterschiedsschwelle,  bestimmte  Schranken  des 
weiteren  Fortschritts  fühlbar.  Bleiben  wir  auf  dem  Stand- 
punkt des  „Empiristen"  stehen,  halten  wir  also  daran  fest, 
daß  wir  nur  dort  berechtigt  sind,  ein  besonderes  ,,Ding" 
anzunehmen,  wo  uns  zu  seiner  Darstellung  eine  besondere 
Vorstellung  zur  Verfügung  steht,  so  sehen  wir,  daß  unter 
dieser  Voraussetzung  das  Dasein  eines  Grenzpunktes  für 
irgendeine  bestimmte   konvergente   Punktfolge   aus   der  Be- 

165 


trachtung  der  Folge  selbst  niemals  erwiesen  werden  kann. 
Denken  wir  uns  etwa  die  einzelnen  Zahlwerte  einer  konver- 
genten Reihe  durch  Punkte  auf  der  Abscissenachse  dargestellt, 
so  werden  alle  diese  Punkte,  je  weiter  wir  in  der  Reihe  fort- 
schreiten, einander  immer  näher  und  näher  rücken,  bis  schließ- 
lich unsere  Anschauung  kein  Mittel  mehr  besitzt,  sie  noch 
weiterhin  voneinander  zu  sondern.  Die  verschiedenen  Termini 
werden  von  einem  bestimmten  Gliede  an  ununterscheidbar 
und  fließen  ineinander  über;  wir  sind  demnach  auch  außer 
Stande,  endgültig  zu  entscheiden,  ob  derjenige  Punkt,  der 
dem  algebraischen  Grenzwert  der  Reihe  entspricht,  als  be- 
sonderes geometrisches  Individuum  existiert,  oder  aber  nur 
diejenigen  Lagebestimmungen  Realität  besitzen,  die  sich 
algebraisch  durch  die  Glieder  der  Reihe  selbst  zum  Ausdruck 
bringen  lassen.  „Man  fordert  auch",  so  bemerkt  du  Bois- 
Reymond,  „in  der  Tat  Unmögliches,  wenn  eine  aus  den  ge- 
gebenen Punkten  herausgegriffene  Punktfolge  einen  zu  den 
gegebenen  nicht  gehörigen  Punkt  bestimmen  soll.  Für  so 
undenkbar  halte  ich  dies,  daß  ich  behaupte,  keine  Denkarbeit 
werde  einen  solchen  Beweis  für  das  Dasein  des  Grenzpunktes 
je  einem  Gehirn  abfoltern  und  vereinigte  es  Newtons  Divi- 
nationsgabe.  Eulers  Klarheit  und  die  zermalmende  Gewalt 
Gaussischen  Geistes*." 

Es  ist  völlig  zutreffend,  daß  all  diese  Mächte  nicht  genügen 
würden,  den  geforderten  Beweis  zu  erbringen:  denn  mit  der 
bloßen  Fragestellung,  die  hier  versucht  wird,  haben  wir 
uns  bereits  außerhalb  des  Bereichs  der  reinen  Mathematik 
gestellt.  Das  Dasein  von  Punkten  in  dem  Sinne,  in  dem 
es  hier  genommen  wird,  zu  „beweisen",  wird  niemand  ver- 
suchen, der  sich  jemals  auch  nur  die  kritischen  Widerlegungen 
des  ontologischen  Arguments  völlig  deutlich  gemacht  hat. 
Der  tiefere  Grund  aller  Mißverständnisse  und  Widersprüche 
aber  liegt  auch  hier  in  der  Unbestimmtheit  und  Vieldeutigkeit, 
in  der  der  Seinsbegriff  selbst  genommen  wird.  Das 
„Sein"  der  geometrischen  Punkte  ist  prinzipiell  nicht  von 
anderer  Art  und  gehört  keinem  anderen  logischen  Bereich  an, 


*  Allgemeine  Funktionentheorie  S.  66  f. 

166 


als  das  der  reinen  Zahlen.  Der  Aufbau  der  geometrischen 
Mannigfaltigkeit  vollzieht  sich,  wie  sich  zeigte,  nach  durchaus 
analogen  Gesetzen,  wie  die  systematische  Entwicklung  des 
Inbegriffs  der  Zahlen.  Hier  wie  dort  wird  von  einer  ideellen 
Einheitssetzung  ausgegangen  und  hier  wie  dort  vollzieht  sich 
der  gedankliche  Fortschritt  derart,  daß  wir  alle  Elemente, 
die  mit  dem  ursprünglichen  durch  eine  eindeutige  begriffliche 
Beziehung  oder  durch  eine  Kette  solcher  Beziehungen  ver- 
knüpft sind,  in  das  System  aufnehmen.  Wir  sahen,  wie  von 
diesem  Standpunkt  aus  auch  das  Paradoxon  der  imaginären 
und  unendlich-fernen  Punkte  sich  löste:  so  wenig  diese  Punkte 
irgendeine  geheimnisvolle  „Wirklichkeit"  im  Räume  für  sich 
in  Anspruch  nehmen  konnten,  so  sehr  erwiesen  sie  sich  anderer- 
seits als  Ausdruck  gültiger  räumlicher  Relationen*.  Ihr  Sein 
erschöpfte  sich  in  ihrer  geometrischen  Bedeutung  und  Not- 
wendigkeit. (Vgl.  ob.  S.  109 ff.)  Diese  Notwendigkeit 
ist  es  denn  auch,  die  der  echte  „Idealismus"  allein  für  die 
Gebilde  der  reinen  Mathematik  fordern  und  in  Anspruch 
nehmen  kann.  Der  Idealist  im  Sinne  du  Bois-Reymonds 
hingegen  geht  über  eine  derartige  Forderung  weit  hinaus. 
,,Die  grundlegende  Anschauungsweise  des  idealistischen 
Systems,"  so  heißt  es  hier,  ,,ist  also  die  wirkliche  Existenz 
nicht  allein  des  Vorgestellten,  sondern  der  aus  den  Vor- 
stellungen unwillkürlich  folgenden  Anschauungen. . .  Der 
Idealist  glaubt  an  das  irgendwie  beschaffene  Vorhandensein 
unwahrnehmbarer,  unvorstellbarer,  durch  unseren  Denk- 
vorgang erzeugter  Wortabschlüsse  von  Vorstellungsfolgen**." 
Hier  spricht,  wie  man  leicht  erkennt,  ein  „Idealist",  der  sich  von 
dem  Gegner,  dem  ,, Empiristen",  das  Konzept  hat  verrücken 
lassen,  indem  er,  wie  dieser,  nur  das  „Vorhandene"  als  wahr 
anerkennt.  Die  gesamte  Antinomie,  die  die  „Allgemeine 
Funktionentheorie"  aufrollt,  löst  sich,  sobald  man  diese 
Verwechslung  vonWahrheit  undWirklich- 

*  Vgl.  hierzu  noch  die  treffende  Kritik,  die  B.  K  e  r  r  y  an  der  Lehre 
P.  du  Bois  Reymonds  geübt  hat:  System  einer  Theorie  der  Grenzbegriffe, 
Lpz.  u.  Wien,  1900,  S.  175  ff. 

**  Allgemeine  Funktionentheorie  S.  87.  vgl.  die  Schrift  du  Bois-Rey- 
monds „Über  die  Grundlagen  der  Erkenntnis  in  den  exakten  Wissen- 
schaften, Tübingen  1890,   S.  91. 

167 


k  e  i  t     aufhebt,     die    den    Verfechtern    beider    Thesen    ge- 
meinsam ist.  — 

Die  Folgen  dieser  Verwechslung  treten  noch  schärfer 
als  in  der  rein  mathematischen  Diskussion,  in  der  Auf- 
fassung der  naturwissenschaftlichen  Grundbegriffe  hervor. 
Auch  diese  Begriffe  sind  in  den  gleichen  Widerstreit  hinein- 
gezogen; auch  sie  schreiten  beständig  über  das  Gegebene 
hinweg,  ohne  daß  dieser  unvermeidliche  Fortgang  sich  kritisch 
rechtfertigen  und  begründen  ließe.  Wir  können  auf  die  Be- 
griffe des  absolut  starren  Körpers,  auf  die  Begriffe  des  Atoms 
oder  der  Fernkraft  nicht  verzichten,  wenngleich  wir  anderer- 
seits jede  Hoffnung  aufgeben  müssen,  in  irgendwelchen 
Bestandteilen  der  äußeren  Wahrnehmungswelt  einen  un- 
mittelbaren Beleg  für  sie  zu  finden.  Noch  eindringlicher  macht 
sich  daher  hier  das  Bewußtsein  der  Schranke  geltend,  die 
allem  unseren  Erkennen  kraft  seiner  Natur  und  Wesenheit 
gesetzt  ist.  Immer  von  neuem  sehen  wir  uns  auf  unvor- 
stellbare Elemente  geführt,  die  hinter  der  bekannten  und  uns 
zugänglichen  Welt  der  sinnlichen  Erscheinung  liegen,  und 
immer  wieder  zeigt  es  sich  zugleich,  daß  wir  ihnen,  sobald 
wir  sie  zu  fassen  und  zu  zergliedern  suchen,  keinen  verständ- 
lichen Sinn  abzugewinnen  vermögen.  „Unser  Denken,  das 
in  nebelhaft  gleichförmigem  Vordringen  sich  abmüht,  kommt 
dabei,  wie  gelähmt,  nicht  von  der  Stelle".  Das  Organ 
für  die  Wirklichkeit  ist  und  bleibt  uns  versagt.  „Wir  sind  im 
Gehäuse  unserer  Wahrnehmungen  eingeschlossen  und  für  das, 
was  außerhalb  ist,  wie  blindgeboren.  Nicht  einen  Schimmer 
können  wir  davon  haben,  denn  der  Schimmer  gleicht  doch 
schon  dem  Licht:  „was  aber  entspricht  im  Wirklichen  dem 
Licht"?*  Diese  radikale  Skepsis,  in  die  hier  die  Darstellung 
der  Grundlagen  der  exakten  Erkenntnis  ausmündet,  ist  eine 
folgerechte  und  bezeichnende  Konsequenz.  Auf  dem  Boden 
dieser  Anschauung  besitzen  wir  in  der  Tat  kein  „Organ" 
mehr  für  das  Wirkliche:  denn  die  notwendigen  Begriffe, 
die  die  eigentlichen  Organe  für  die  logische  Auffassung  und 


*  P.  du  Bois-Reymond    Über  »iie  Gnindlagen  der  Erkenntnis  in  den 
exakten  Wissenschaften,  Abschn.  Vm. 

168 


Beherrschung  der  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen  bilden, 
sind  jetzt  selbst  in  geheimnisvolle  Realitäten  jenseits  der 
Phänomene  verwandelt. 

Ist  indessen  diese  Verwandlung  einmal  durchschaut, 
so  lichten  sich  wiederum  die  Nebel,  die  sich  hier  immer  dichter 
um  das  reine  Bild  der  naturwissenschaftlichen  Wirklichkeit 
zu  legen  drohten.  Dieses  Bild  entsteht  freilich  erst  durch  einen 
Prozeß  der  Idealisierung,  in  welchem  die  unbestimmten  Daten 
der  Empfindung  durch  ihre  strengen  begrifflichen  Grenzen 
ersetzt  werden.  Aber  die  Behauptung  der  objektiven  Geltung 
dieses  Prozesses  ist  nicht  mit  der  Behauptung  einer  neuen 
Klasse  von  Objekten  einerlei.  ,, Unser  Denkgebiet,"  so 
behauptet  du  Bois-Reymonds  „Idealist",  ,, enthält  nicht 
allein  die  Mosaik  des  Wahrnehmbaren  und  die  daraus  durch 
den  Denkprozeß,  also  durch  Deformation  und  Kombination  ab- 
geleiteten Vorstellungen  und  Begriffe,  sondern  es  wohnt  uns 
die  unerschütterliche  Überzeugung  inne. . .  vom  Vorhanden- 
sein gewisser  Dinge  außerhalb  des  Vorstellungssystems*." 
Dieser  Satz  ist  zweifellos  zutreffend,  sofern  unter  dem  „Vor- 
stellungssystem" nichts  anderes  als  die  Masse  gegebener 
Perzeptionen,  als  der  Inbegriff  der  Farben  und  Töne,  der  Ge- 
schmäcke  und  Gerüche,  der  Druck-  und  Berührungsempfin- 
dungen verstanden  wird.  Aber  die  Ergänzung  dieses 
,, Mosaik  des  Wahrnehmbaren"  kann  nicht  in  der  Art  geschehen, 
daß  wir  neue  ,, unsinnliche"  Dinge  in  diese  erste  empirische 
Wirklichkeit  einfach  einschieben:  denn  dadurch  würden  die 
Teile  des  Mosaik  zwar  enger  und  dichter  aneinander  heran- 
rücken, aber  trotzdem  keine  andere  Form  des  Zu- 
sammenhangs, keine  tiefere  Verknüpfung  gewinnen. 
Das  Aggregat  sinnlicher  Dinge  muß  auf  ein  System  notwendiger 
Begriffe  und  Gesetze  bezogen  und  in  dieser  Beziehung  zur 
Einheit  zusammengeschlossen  werden.  Dieser  Prozeß  des 
Denkens  aber  erfordert  freilich  mehr  als  die  bloße  Kom- 
bination und  Deformation  von  Vorstellungsbestandteilen; 
er  setzt  eine  selbständige  und  konstruktive  Betätigung  voraus, 
wie  sie  sich  in  der  Schöpfung  der  Grenzgebilde  am  deutlichsten 


*  Allgemeine  Funktionen theorie,  S.  110  f. 

169 


bekundet.  Diese  Form  der  Idealisierung  aber  muß  auch  der 
,, Empirist"  zugestehen;  denn  ohne  sie  würde  die  Wahr- 
nehmungswelt nicht  nur  ein  Mosaik,  sondern  ein  wahrhaftes 
Chaos  sein.  Es  ist  ein  bloßes  Mißverständnis,  wenn  er  be- 
hauptet, er  erkenne  nicht  die  absolut  genaue  Gerade,  die 
absolut  genaue  Ebene,  sondern  immer  nur  mehr  oder  weniger 
genaue  Gerade,  mehr  oder  weniger  genaue  Ebenen  als  be- 
stehend an.  Denn  schon  diese  Unterscheidung  verschiedener 
Stufen  der  Genauigkeit  setzt  die  Vergleichung  mit  der 
exakten  Idee  voraus,  deren  grundlegende  Funktion 
hier  somit  durchaus  bestätigt  wird.  Das  „Sein"  der  Idee  aber 
geht  in  dieser  ihrer  Funktion  auf  und  bedarf  keiner  anderen 
Stütze  und  keines  anderen  Beweises.  Auch  die  naturwissen- 
schaftlichen Idealbegriffe  behaupten  nichts  über  ein  neues 
Reich  getrennter  absoluter  Objekte,  sondern  sie  wollen  die 
unentbehrlichen  logischen  Richtlinien  festsetzen, 
vermöge  deren  allein  die  vollständige  Orientierung  innerhalb 
der  Mannigfaltigkeit  der  Phänomene  selbst  gelingt.  Sie 
gehen  über  das  Gegebene  nur  hinaus,  um  die  gesetzlichen 
Strukturverhältnisse  des  Gegebenen  um  so  schärfer  zu  er- 
fassen. 

Sobald  daher  der  Empirist,  wie  bei  du  Bois-Reymond, 
das  Idealisieren  als  durchaus  berechtigt  bezeichnet 
und  nur  erklärt,  vor  dem  Ideal  selbst  Kehrt  zu 
machen*,  ist  damit  aller  Streit  im  Grunde  geschlichtet. 
Denn  der  Bestand  des  Ideals,  der  kritisch  allein  behauptet 
und  vertreten  werden  kann,  besagt  nicht  mehr  als  die  objektiv 
logische  Notwendigkeit  des  Idealisierens.  Daß  es  sich  hier 
aber  um  eine  derartige  Notwendigkeit,  nicht  um  ein  will- 
kürliches Spiel  der  Phantasie  handelt,  tritt  um  so  schärfer 
hervor,  je  tiefer  der  Begriff  des  Gegenstandes  selbst 
analysiert  und  in  seine  Bedingungen  zerlegt  wird.  Es  ist 
vergeblich,  die  ideellen  Grenzen,  die  wir  bestimmten  Folgen 
auf  Grund  bestimmter  begrifflicher  Kriterien  zuordnen,  als 
bloße  Wortabschlüsse  zu  deuten,  denen  kein  reeller 
oder  logischer   Gehalt  entspricht.      „Das  Vollkommene",   so 


*  Allgemeine  Funktionen theorie  S.  118. 
170 


wird  behauptet  —  „kann  auf  keine  Weise  als  bildliche  Vor- 
stellung aufgefaßt  werden.  Da  es  jedoch  in  unser  Denken  ein- 
geht und  darin  Verwendung  findet  . . .  und  da  unser  Denken 
nun  einmal  in  der  Succession  von  Vorstellungen  besteht,  so 
muß  es  doch  irgendwie  Vorstellung  sein  und  ist  es  auch, 
nämlich  —  als  W  o  r  t.  Die  Folge  der  gegenständlichen  Vor- 
stellungen des  Genauen  hat  also  als  Abschluß  ein  Wort  für 
etwas  Unvorstellbares*."  Dieser  Nominalismus  aber  ver- 
sagt für  die  Deutung  der  Grenzbegriffe,  wie  er  schon  für  die 
Erklärung  der  reinen  Zahlbegriffe  versagte.  (S.  ob.  S.  55  ff.) 
Denn  gerade  die  charakteristische  Bedeutung  und  die  eigent- 
liche Leistung  des  Grenzbegriffs  ist  hier  offenbar  aus- 
geschaltet. Zwischen  dem  Grenzglied  und  den  Reihengliedern 
bestehen  bestimmte  Beziehungen,  die  als  solche  mathe- 
matisch feststehen  und  sich  nicht  nach  Belieben  umwandeln 
lassen.  Die  ,,Zahr'  e  steht  zu  den  andern  Zahlen,  die  aus  den 
Partialsummen  der  definierenden  Reihe  gewonnen  werden, 
in  gewissen  numerischen  Verhältnissen;  sie  ordnet  sich 
mit  ihnen  in  eine  Reihe,  in  der  jedem  Element  seine  Stellung, 
sein  Früher  oder  Später  unabänderlich  zugewiesen  ist.  Hat 
es  einen  Sinn,  derartige  Relationen  der  Ordnung  in  der  Folge, 
des  Größer  und  Kleiner  von  Elementen  auszusagen,  deren 
eines  als  aktuelles  und  somit  psychologisch  bedeutungsvolles 
Vorstellungsbild  genommen  werden  soll,  während  sein  Korrelat 
in  einem  bloßen  Wortklange  bestehen  soll?  Vollgültige 
mathematische  Beziehungen  kann  es  nur  zwischen 
Ideen  und  Ideen,  nicht  zwischen  Ideen  und  Worten  geben.  — 
Aus  diesem  Zusammenhang  mit  der  Logik  der  Mathematik 
läßt  es  sich  nunmehr  schärfer  begründen  und  verstehen, 
warum  jeder  Versuch,  die  naturwissenschaftlichen  Begriffe 
als  bloße  Aggregate  von  Wahrnehmungstatsachen  zu  deuten, 
notwendig  mißlingen  muß.  Keine  naturwissenschaftliche 
Theorie  bezieht  sich  unmittelbar  auf  diese  Tatsachen 
selbst,  sondern  auf  die  ideellen  Grenzen,  die  wir  gedanklich 
an  ihre  Stelle  setzen.  Wir  untersuchen  den  Stoß  der  Körper, 
indem  wir  die  Massen,  die  aufeinander  einwirken,  als   v  o  1 1  - 

*  Grundlagen  der  Erkenntnis,    S.  80;    vgl.  Allgemeine    Funktionen- 
theorie S.  95. 

171 


kommen  elastisch  oder  unelastisch  betrachten;  wir  stellen 
das  Gesetz  der  Fortpflanzung  des  Druckes  in  Flüssigkeiten 
fest,  indem  wir  den  Begriff  eines  vollkommenen  Flüssigkeits- 
zustandes fassen,  wir  prüfen  die  Beziehungen,  die  zwischen 
dem  Druck,  der  Temperatur  und  dem  Volumen  der  Gase 
bestehen,  indem  wir  von  den  ,, idealen"  Gasen  ausgehen  und 
somit  gleichsam  ein  hypothetisch  ersonnenes  Modell  den 
direkten  Empfindungsdaten  entgegenhalten.  ,,  Solche  Extra- 
polationen auf  den  Idealfall,"  —  so  gesteht  selbst  ein  so  über- 
zeugter „Positivist",  wie  Wilhelm  Ostwald  zu  —  „sind  ein 
ganz  allgemein  angewandtes  Verfahren  in  der  Wissenschaft, 
und  ein  sehr  großer  Teil  der  Naturgesetze,  insbesondere  alle 
quantitativen  Gesetze,  d.  h.  solche,  welche  eine  Be- 
ziehung zwischen  meßbaren  Werten  ausdrucken,  haben  nur 
für  den  Idealfall  genaue  Geltung.  Wir  stehen  somit  hier  vor 
der  Tatsache,  daß  viele,  und  unter  ihnen  die  wichtigsten 
Naturgesetze,  für  Bedingungen  ausgesprochen  sind  und  gelten, 
die  in  der  Wirklichkeit  überhaupt  nicht 
vorkomme  n*."  Das  Problem,  das  hier  gestellt  ist, 
greift  indessen  weiter,  als  es  in  dieser  ersten  Formulierung  den 
Anschein  hat.  Bestände  das  Verfahren  der  Naturwissenschaft 
nur  darin,  für  die  direkt  beobachtbaren  Erscheinungen  ihre 
ideellen  Grenzfälle  einzusetzen,  so  könnte  man  versuchen, 
dieser  Methode  durch  eine  einfache  Erweiterung  des  positivisti- 
schen Schemas  gerecht  zu  werden.  Denn  die  Objekte,  mit 
denen  es  die  theoretische  Naturbetrachtung  zu  tun  hat, 
scheinen  danach,  wenngleich  sie  außerhalb  des  eigentlichen 
Gebiets  der  empirischen  Wahrnehmung  fallen,  dennoch  mit 
den  Gliedern  dieses  Gebiets  in  derselben  Linie  zu  liegen; 
die  Gesetze,  die  wir  aussprechen,  scheinen  nicht  sowohl  eine 
Umformung,  als  eine  bloße  Weiterführung  bestimmter  wahr- 
nehmbarer Verhältnisse  darzustellen.  In  Wahrheit  indessen 
läßt  sich  das  Verhältnis  zwischen  den  theoretischen 
und  den  faktischen  Grundelementen,  auf  denen  die 
Physik  ruht,  nicht  in  dieser  einfachen  Weise  beschreiben. 
Es  ist  eine  weit  komplexere  Beziehung,   es  ist  eine  eigen- 


♦  Ostwald,  Grundriß  der  Naturphilosophie  (Reclam),   S.  55. 
172 


tümliche  Verschlingung  und  wechselseitige  Durchdringung 
der  beiden  Momente,  die  im  tatsächlichen  Aufbau  der  Wissen- 
schaft obwaltet,  die  daher  auch  logisch  einen  schärferen  Aus- 
druck für  das  Verhältnis  zwischen  Prinzip  und  Tatsache 
verlangt. 

III. 

A  In  der  erkenntnistheoretischen  Diskussion  über  die  Grund- 
lagen der  Naturwissenschaft  begegnet  man  häufig  der  Ansicht, 
daß  das  Ideal  der  reinen  Beschreibung  der"  Tatsachen  eine 
spezifisch  moderne  Errungenschaft  bedeute.  Hier  erst,  so 
meint  man,  sei  die  Physik  zu  wahrhafter  Klarheit  über 
ihr  eigentümliches  Ziel  und  über  ihre  intellektuellen  Mittel 
gelangt,  während  zuvor,  bei  allem  Reichtum  der  Ergebnisse, 
dennoch  der  Weg,  der  zu  diesen  Ergebnissen  hinführte, 
im  Dunkeln  lag.  Die  Scheidung  der  ,, Physik"  und  ,, Meta- 
physik", die  prinzipielle  Ausschaltung  aller  Faktoren,  die 
keiner  empirischen  Beglaubigung  fähig  sind,  gilt  als  das  ent- 
scheidende Werk  der  kritisch-philosophischen  Arbeit,  die 
die  neuere  und  neueste  Forschung  geleistet  hat.  Diese  Ansicht 
bedeutet  indessen  eine  Verkennung  des  stetigen  Ganges, 
in  dem  die  Physik  ihre  heutige  Gestalt  erreicht  hat.  Das 
Problem  der  Methode  hat  ihr  von  ihren  ersten  wissen- 
schaftlichen Anfängen  an  dauernd  lebendig  vor  Augen  ge- 
standen und  nur  in  dem  Ringen  um  dieses  Problem  erwuchs 
ihr  zugleich  die  volle  Herrschaft  über  das  Tatsachengebiet, 
auf  das  sie  sie  richtet.  Die  Reflexion  und  die  produktive 
wissenschaftliche  Arbeit  sind  hier  niemals  streng  voneinander 
geschieden  gewesen,  sondern  haben  einander  wechselseitig 
gefördert  und  erleuchtet.  Und  je  weiter  man  diese  Reflexion 
zurückverfolgt,  um  so  deutlicher  tritt  in  ihr  ein  grundlegender 
Gegensatz  von  Betrachtungsweisen  hervor.  Dieser  Gegen- 
satz besteht  in  den  modernen  Erörterungen  noch  ungeschwächt 
fort;  aber  er  erhält  seine  volle  Schärfe  und  Bestimmtheit  erst, 
wenn  man  ihn  auf  seine  allgemeinen  systematischen  und 
geschichtlichen  Quellen  zurückverfolgt. 

Wie  die  neuere  Forschung  das  Vorurteil,  daß  den  Griechen 
der  wissenschaftliche    Gebrauch  des  Experiments    ver- 

173 


schlössen  geblieben  sei,  mehr  und  mehr  zerstört  hat,  so  läßt 
sich  auch  der  theoretische  Kampf  um  die  Prinzipien  des 
Erfahrungswissens  mit  voller  Sicherheit  bereits  in  der  antiken 
Philosophie  erkennen.  Der  Widerstreit,  der  hier  einsetzt, 
wirkt  überall  auf  das  Ganze  der  spekulativen  Grundauffassung 
zurück.  Es  wird  in  einem  unvergleichlichen  und  unvergeß- 
lichen Bilde  im  Platonischen  Höhlengleichnis 
festgehalten.  Es  gibt  für  den  menschlichen  Geist  gegenüber 
den  Phänomenen  der  Sinnenwelt,  die  gleich  Schatten  an  ihm 
vorüberschweben,  zwei  Arten  der  Betrachtung  und  Beurteilung. 
Die  eine  begnügt  sich  damit,  lediglich  die  F  o  1  g  e  der  Schatten- 
bilder selbst  aufzufassen;  ihr  Vor  und  Nach,  ihr  Früher  oder 
Später  festzuhalten.  Gewohnheit  und  Übung  befähigen  uns 
allmählich,  in  der  Abfolge  der  Erscheinungen  gewisse  Regel- 
mäßigkeiten zu  unterscheiden  und  bestimmte  Verbindungen 
zwischen  ihnen  als  gleichmäßig  wiederkehrend  zu  erkennen, 
ohne  daß  dieser  Zusammenhang  uns  in  seinen  Gründen 
irgend  verständlich  würde.  Der  gemeine  Verstand  und  die 
Weltansicht,  die  sich  auf  ihn  stützt,  bedarf  dieser  Gründe 
nicht:  beiden  ist  es  genug,  wenn  sie  kraft  der  empirischen 
Routine,  die  sie  sich  angeeignet  haben,  im  Stande  sind,  beim 
Auftreten  des  einen  Ereignisses  das  kommende  vorauszusehen 
und  es  in  den  Kreis  der  praktischen  Berechnung  zu  bannen. 
Die  philosophische  Einsicht  aber  beginnt  mit  der  Abkehr 
von  jeder  derartigen  Betrachtungsweise:  sie  setzt  die  ,,Um- 
wendung"  der  Seele  selbst  zu  einem  anderen  Ideal  der  Er- 
kenntnis voraus.  Nicht  die  Erscheinungen  in  der  bloßen 
Folge  ihres  Abfließens,  sondern  die  ewigen  und  unveränder- 
lichen Vernunftgründe,  aus  denen  sie  hervorgehen,  sind  der 
alleinige  Gegenstand  des  Wissens.  Diese  Vernunftgründe, 
dieses  Reich  der  \6{oi  in  den  Erscheinungen  selbst  rein  und 
unverfälscht  zu  erfassen,  bleibt  freilich,  nach  Piaton,  dem 
Denken  versagt.  Wer  einmal,  wie  im  Gebiete  der  Mathe- 
matik, das  Wesen  der  Einsicht  in  das  Notwendige  er- 
faßt hat,  der  kehrt  daher  nur  gezwungen  und  widerstrebend 
zur  Betrachtung  eines  Gebiets  zurück,  in  dem  die  gleiche 
Strenge  der  Verknüpfung,  infolge  des  fließenden  und  unbe- 
stimmten Charakters  der  Objekte  selbst,  niemals  erreichbar 

174 


ist.  Die  empirische  Kenntnis  der  Abfolge  der  Phänomene 
ist  in  diesem  Sinne  nicht  die  Ergänzung  und  Erfüllung  der 
reinen  Ideenerkenntnis,  sondern  sie  dient  gleichsam  nur  als 
der  dunkle  Hintergrund,  von  welchem  die  Klarheit  des  rein 
begrifflichen  Forschens  und  Wissens  sich  um  so  schärfer  ab- 
heben   soll. 

Daß  diese  Gegenüberstellung  übrigens  keine  bloße  ge- 
dankliche Konstruktion  bedeutet,  sondern  daß  in  ihr  zugleich 
ein  konkreter  geschichtlicher  Gegensatz,  der  zu  Pia- 
tons Zeiten  bereits  ausgebildet  vorlag,  in  prinzipieller  Schärfe 
dargestellt  und  festgehalten  wird,  ist  äußerst  wahrscheinlich*. 
In  jedem  Falle  ist  die  gesamte  spätere  Entwicklung  der 
naturwissenschaftlichen  Forschung  im  Altertum  von  dieser  Pla- 
tonischen Scheidung  beherrscht.  Sie  ist  es,  die  in  dem  Kampf 
zwischen  den  ,, empirischen"  und  den  „rationalen"  Ärzten, 
der  die  griechische  Heilkunde  durchzieht,  allenthalben  nach- 
klingt. Aber  je  weiter  die  Forschung  sich  nunmehr  der  Er- 
kundung und  Sicherung  der  Einzeltatsachen  zuwendet,  um 
so  mehr  verschiebt  sich  damit  das  Wertverhältnis  und  die 
Rangordnung  des  Wissens.  Die  wissenschaftliche  Empirie 
schafft  sich  ihren  Ausdruck  in  der  skeptischen  Er- 
kenntnislehre, in  welcher  eben  derjenige  Zug,  der 
für  Piaton  als  der  dauernde  Mangel  alles  Erfahrungs- 
wissens galt,  als  seine  grundlegende  positive  Bedeutung  und 
Eigenart  behauptet  wird.  Das  Wesen  der  Dinge  zu  durch- 
schauen und  aus  einem  allgemeingültigen  Vernunftprinzip 
zu  verstehen,  ist  dem  Wissen  freilich  nicht  gegeben.  Was  uns 
übrig  bleibt,  ist  einzig  und  allein  die  Beobachtung  des  gewöhn- 
lichen Ablaufs  der  Erscheinungen,  die  es  uns  ermöglicht, 
das  eine  Phänomen  als  Z  e  i  c  h  e  n  für  ein  anderes  zu  brauchen. 
Die  Aufgabe  der  Wissenschaft  erfüllt  sich  in  der  Gruppierung 
und  Sichtung  derartiger  Zeichen,  deren  jedes  eine  bestimmte 
Erinnerung  in  uns  weckt  und  somit  unsere  Erwartung  des 
Künftigen  in  feste  Bahnen  lenkt.  Die  realen  Ursachen  des 
Geschehens  bleiben  uns  daher  freilich  verschlossen;  aber  wir 
bedürfen  ihrer  nicht,  da  das  eigentliche  und  endgültige    Ziel 

*  Vgl.  hrz.  N  a  t  o  r  p  ,    Forschungen   zur  Geschichte  des  Erkenntnis- 
problems  im  Altertum,  Berlin  1884,  S.  146  ff. 

175 


aller  Theorie  in  den  praktischen  Folgen  für  unser  Handeln 
liegt.  Diese  Folgen  aber  bleiben  wesentlich  dieselben,  gleich- 
viel, ob  wir  die  Art,  in  der  ein  Ereignis  aus  dem  andern  hervor- 
geht, logisch  begreifen  oder  nur  die  Tatsache  eines  bestimmten 
empirischen  Beisammen  oder  einer  bestimmten  empirischen 
Folge  als  solche  hinnehmen  und  uns  bei  ihr  beruhigen.  — 

Indessen  läßt  es  sich  bei  Piaton  selbst  bereits  erkennen, 
daß  der  „Schnitt",  den  er  zwischen  dem  rationalen  und 
empirischen  Wissen  vollzieht*,  keine  eindeutige  und  voll- 
ständige Disjunktion  für  das  Gesamtgebiet  der  Erkenntnis 
schafft.  Das  empirische  Wissen,  das  sich  mit  der  Reihenfolge 
der  „Schatten"  genügen  läßt,  ist  in  äußerster  Schärfe  charakte- 
risiert; in  der  Charakteristik  seines  idealen  Widerspiels  dagegen 
bleibt  eine  Unbestimmtheit  zurück.  Dieser  Umstand  ist  um  so 
bedeutsamer,  als  er  in  der  geschichtlichen  Fortbildung  des 
Problems  immer  von  neuem  zutage  getreten  ist.  Die  sachliche 
Ausgleichung  und  Entscheidung  wurde  erschwert,  solange 
nur  das  eine  Glied  sicher  bestimmt  war,  das  andere  dagegen 
in  zwei  verschiedene  Bedeutungen,  zwischen  denen  die  Be- 
trachtung wechselte,  auseinanderfiel.  Was  Piaton  dem 
Wissen  um  die  bloße  Abfolge  der  Erscheinungen  ent- 
gegensetzt, das  ist  zunächst  der  Einblick  in  ihren  teleolo- 
gischen Zusammenhang.  Wahrhafte  Erkenntnis  des 
Naturgeschehens  besitzen  wir  nicht,  solange  wir  es  nur  als 
gleichgültige  Zuschauer  vor  uns  einfach  abrollen  lassen, 
sondern  sie  erschließt  sich  uns  erst,  wenn  wir  den  Gesamt- 
verlauf des  Geschehens  als  ein  zweckmäßig  gegliedertes 
Ganze  überschauen.  Wir  müssen  verstehen,  wie  ein  Moment 
das  andere  fordert;  wie  alle  Fäden  sich  wechselseitig  in- 
einanderschlingen,  um  sich  schließlich  zu  einem  Gewebe, 
zu  einer  einzigen  Ordnung  der  Naturerscheinungen  zusammen- 
zuknüpfen. Es  ist  der  ethische  Idealismus  des  Sokrates, 
der  in  dieser  Anschauung  der  Natur  lebendig  bleibt.  So  wenig 
das  Verharren  des  Sokrates  im  Kerker  erklärt  werden  kann, 
wenn  man  die  Lage  und  Stellung  seiner  Muskeln  und  Sehnen 
beschreibt,  ohne  die  sittlichen  Vernunftgründe  zu  betrachten. 


*  Vgl.  bes.  Republik,  509  D  ü. 
176 


die  ihn  dazu  bestimmen,  dem  Gesetz  zu  gehorchen:  —  so 
wenig  kann  ein  einzelnes  Ereignis  wahrhaft  begriffen  werden, 
solange  seine  Stelle  im  Gesamtplan  der  Wirklichkeit  nicht 
klar  bezeichnet  ist.  Versuchen  wir  etwa  den  Umstand,  daß  die 
Erde  im  Mittelpunkt  der  Welt  sich  frei  schwebend  erhält  zu 
erklären,  so  kann  uns  hierfür  kein  sinnliches  Binde- 
mittel, kein  körperlich-mechanischer  Wirbel  oder  irgendeine 
andere  Ursache  derselben  Art  genügen;  sondern  „das  Gute 
und  Richtige"  allein  ist  es,  was  als  der  letzte  und  entscheidende 
Grund  des  Zusammenhalts  aufzuweisen  ist*.  Das  sinnliche 
Sein  muß  auf  seine  idealen  Gründe  zurückgeführt  werden; 
den  Abschluß  des  Ideenreiches  aber  bildet  die  Idee  des 
Guten,  in  die  somit  all  unser  Begreifen  zuletzt  notwendig 
einmündet.  Dieser  Ableitung  der  Naturerscheinungen  aus 
Zwecken  steht  dagegen  bei  Piaton  selbst  zugleich  eine 
andere  Anschauung  gegenüber.  Sie  wurzelt  in  Piatons  Auf- 
fassung der  Mathematik,  die  ihm  als  das  „Mittlere"  zwischen 
den  Ideen  und  den  Sinnendingen  gilt.  Die  Umbildung  der 
empirischen  Zusammenhänge  in  ideale  kann  dieses  Mittel- 
glied nicht  entbehren.  Der  erste  und  notwendige  Schritt 
besteht  überall  darin,  das  sinnlich  Unbestimmte,  das  als 
solches  nicht  zu  fassen  und  in  feste  Grenzen  einzuschließen  ist, 
in  ein  quantitativ  Bestimmtes,  durch  Maß  und 
Zahl  Beherrschbares  zu  verwandeln.  Es  sind  vor  allem  die 
späteren  Platonischen  Dialoge,  wie  etwa  der  Philebus,  die 
diese  Forderung  am  klarsten  entwickeln.  Das  Chaos  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  muß  durch  die  Anwendung  der  reinen 
Quantitätsbegriffe  in  feste  Grenzen  gebannt  wer- 
den, ehe  es  zum  Objekt  der  Erkenntnis  werden  kann.  Wir 
dürfen  nicht  bei  dem  unbestimmten  „Mehr"  oder  , »Weniger", 
bei  dem  „Stärker"  und  ,, Schwächer",  das  wir  in  der  Empfin- 
dung zu  verspüren  meinen,  stehen  bleiben,  sondern  müssen 
überall  zu  exakten  Maßen  des  Seins  und  des  Geschehens 
vorzudringen  streben.  In  diesen  Maßen  ist  uns  das  Sein  be- 
griffen und  erklärt**.  Hier  stehen  wir  somit  vor  einem  neuen 
Wissensideal,  das  freilich  für  Piaton  selbst  mit  seinem  teleolo-« 

*  Vgl.  Phaedon  99  f.,  109. 
**  Vgl.  PhilebuB  16,  24  f. 

Cissirer,  Substanzbegriff  12  177 


gischen  Gedanken  in  unmittelbarem  Einklang  steht  und  sich 
mit  ihm  zu  einer  einheitlichen  Grundauffassung  verbindet. 
Das  Sein  ist  nur  insoweit  ein  Kosmos,  ein  zweckmäßig 
gegliedertes  Ganze,  als  es  in  seinem  Bau  von  strengen  mathe- 
matischen Gesetzen  beherrscht  wird.  Die  mathematische 
Ordnung  ist  zugleich  die  Bedingung  und  der  Urgrund  des 
Bestandes  der  Wirklichkeit;  die  zahlenmäßige  Bestimmtheit 
des  Universums  ist  es,  die  die  sichere  Bürgschaft  für  seine 
innere  Selbsterhaltung  enthält.  — 

Schon  bei  Aristoteles  indessen  scheiden  sich  die 
beiden  Gedankenreihen,  die  für  Piaton  unlöslich  verbunden 
sind.  Das  mathematische  Motiv  tritt  nunmehr  in  den  Hinter- 
grund; und  so  ist  es  einzig  die  Teleologie,  die  Lehre  von  den 
Zweckursachen,  die  als  begriffliches  Fundament  der  Physik 
zurückbleibt.  Das  äußere  Geschehen  und  seine  quantitative 
Gesetzesordnung  spiegelt  nur  den  dynamischen  Prozeß  wieder, 
kraft  dessen  die  absoluten  Substanzen  sich  erhalten  und  sich 
entwickeln.  Das  empirisch-physikalische  Verhalten  der  Körper 
folgt  im  letzten  Grunde  aus  ihrem  Wesensbegriff,  aus  dem 
immanenten  Zweck,  der  ihnen  durch  ihre  Natur  gesetzt 
ist  und  den  sie  fortschreitend  zu  erfüllen  streben.  So  ordnen 
sich  die  Elemente  im  Weltall  nach  dem  Grade  ihrer  Ver- 
wandtschaft, indem  diejenigen,  die  in  irgendeiner  Qualität 
miteinander  übereinstimmen,  sich  nebeneinander  lagern;  so 
behält  jeder  Körper  die  Tendenz  nach  seinem  ,, natürlichen 
Orte",  der  ihm  durch  seine  Beschaffenheit  vorgeschrieben  ist, 
auch  nachdem  er  gewaltsam  von  ihm  getrennt  worden  ist. 
Hier  enthüllen  sich  die  wahrhaften  und  inneren  Ursachen 
jeglichen  physischen  Zusammenhangs,  während  die  mathe- 
matische Betrachtungsweise,  die  nicht  bis  zu  den  Gründen, 
sondern  nur  bis  zu  den  Maßen  des  Seins  gelangt,  nur  die 
„Accidentien"  trifft  und  auf  ihren  Umkreis  beschränkt  bleibt. 
Damit  aber  ist  ein  neuer  Gegensatz  geschaffen,  der  fortan 
in  der  Geschichte  weiterwirkt.  Die  Einheit  der  teleolo- 
gischen und  mathematischen  Betrachtungsweise,  die  noch  in 
Piatons  Natursystem  bestand,  ist  aufgehoben  und  an  ihre 
Stelle  ist  ein  Verhältnis  der  Über-  und  Unterordnung  getreten. 
Die  Grenzlinie  hat  sich  nunmehr  verschoben:  denn  jetzt  ist 

178 


es  nicht  nur  die  sinnliche  Beobachtung  zufälliger  empirischer 
Regelmäßigkeiten,    sondern    selbst    die    exakte    Darstellung 
des  Geschehens  in  reinen  Größenbegriffen,  die  von  der  höchsten 
idealen  Erkenntnis  aus  den  obersten  Ursachen  ausgeschlossen 
wird.    Jetzt  erst  gewinnt  daher  der  Kampf  zwischen  empiri- 
scher und  spekulativer  Naturbetrachtung  seine  ganze  Schärfe. 
Die  mathematische  Physik  der  neueren  Zeit  versucht  zunächst 
ihr  Recht  und  ihre  Selbständigkeit  dadurch  zu  erweisen,  daß  sie 
in  der  philosophischen  Grundlegung  von  Aristoteles  wieder  auf 
Piaton  zurückgeht.    Es  ist  vor  allem  Kepler,  für  den  diese 
Wendung  charakteristisch  ist*.  Mit  aller  Energie  und  Klarheit 
wendet  er  sich  gegen  eine  Auffassung,  die  den  Mathematiker 
zum  bloßen  Rechner  erniedrigen  und  ihn  von  der  Gemeinschaft 
der  Philosophen,   von   der  Entscheidung  über   die    Gesamt- 
struktur des  Universums  ausschließen  will.      Die  absoluten 
Substanzen  und  ihre  inneren  Kräfte  bleiben  dem  mathemati- 
schen Physiker  freilich  unbekannt  und  müssen  ihm  unbekannt 
bleiben,    sofern   er,    frei   von   allen   fremdartigen    Interessen, 
lediglich    seiner    eigenen    Aufgabe    nachgeht:    aber    die    Ab- 
wendung von  diesem  Problem  bedeutet  keineswegs  das  Ver- 
harren in  der  gewöhnlichen  empirischen  Betrachtungsweise, 
die  sich  mit  der  bloßen  Ansammlung  vereinzelter  Tatsachen 
begnügt.  Die  mathematische  Hypothese  knüpft  zwischen 
diesen  Tatsachen  ein  ideelles  Band;  sie  schafft  eine  neue 
Einheit,  die  nur  durch  das  Denken  geprüft  und  beglaubigt, 
nicht  aber  unmittelbar  durch  die  Empfindung  gegeben  werden 
kann.     So  grenzt  die  wahrhafte  Hypothese  das  Gebiet  der 
mathematischen  Physik  nach  zwei  verschiedenen  Richtungen 
ab.    Sie  erweitert  die  unmittelbare  Erfahrung  zur  Theorie, 
indem   sie   die   Lücken,    die   die   direkte   Beobachtung  läßt, 
ergänzt   und   an    Stelle   vereinzelter   sinnlicher   Daten   einen 
stetigen  Zusammenhang  begrifflicher  Folgen  setzt.     Aber  sie 
verharrt  anderseits  dabei,  diesen  Zusammenhang  von  Folgen 
lediglich   als   einen   Zusammenhang   und   eine   systematische 
Abhängigkeit  von  Größen  darzustellen.  Der  mathematische 

*  Die  genaueren  Belege  für  die  folgende  geschichtliche  Darstellung 
sind  in  m.  Schrift  über  daa  „Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  u. 
Wissenschaft  der  neuen  Zeit",  I  258  ff,  308  ff,  II  322  ff.  gegeben. 

12*  179 


Ausdruck  der  Hypothese,  die  algebraisch-geometrische 
Gestalt,  in  der  sie  sich  darstellt,  macht  zugleich  das  Ganze 
ihrer  Bedeutung  aus.  Wenn  Kepler  für  das  Recht  der  Hypo- 
these eintritt,  so  geschieht  es,  weil  er  ihre  entscheidende  Leistung 
an  eine  andere  Stelle  als  die  gewöhnliche  spekulative  Natur- 
philosophie verlegt.  Nicht  um  den  Übergang  vom  mathema- 
tisch fixierten  Phänomen  zu  seinen  absoluten  Ursachen 
handelt  es  sich;  sondern  um  den  Übergang  von  den  ersten, 
begrifflich  noch  unbearbeiteten  Wahrnehmungstatsachen  zum 
quantitativen  „Verständnis"  der  Wirklichkeit.  Der  wissen- 
schaftliche Physiker  kann  die  Frage  nach  den  letzten ,, Kräften", 
aus  denen  das  Sein  sich  gestaltet  hat,  auf  sich  beruhen  lassen; 
aber  um  so  mehr  muß  sein  Streben  darauf  gerichtet  sein, 
von  einer  bloßen  Sammlung  von  Beobachtungen  zu  einer  all- 
gemeinen ,,  Statik  des  Universum  s",  zu  einer  Be- 
herrschung der  durchgreifenden  harmonischen  Ordnung,  die 
in  ihm  waltet,  zu  gelangen.  Diese  Ordnung  ist  es,  die  nicht 
unmittelbar  von  den  Sinnen,  sondern  allein  vom  mathemati- 
schen Intellekt  ergriffen  und  begriffen  wird.  Der  rechtmäßige 
Anteil  des  Begriffs  besteht  nach  dieser  Grundauffassung 
nicht  darin,  daß  er  den  Zugang  zu  einer  neuen  unsinnlichen 
Wirklichkeit  erschließt,  sondern  daß  er  an  der  Wirklichkeits- 
konzeption der  mathematischen  Empirie  selbst 
an  seinem  Teile  mitarbeitet  und  ihr  die  bestimmte  logische 
Form  gibt. 

Nicht  ohne  vielfältige  Schwankungen  und  ohne  innere 
Schwierigkeiten  vermochte  indessen  die  Physik  selbst  in 
ihrer  Geschichte  zu  dieser  Fassung  des  Grundproblems  vor- 
zudringen. Die  besonderen  historischen  Bedingungen,  unter 
denen  sich  die  neuere  Naturwissenschaft  entwickelt  hat, 
machen  es  verständlich,  daß  zunächst  weniger  der  positive 
als  der  negative  Teil  der  neuen  Aufgabe  in  den  Mittelpunkt 
der  Betrachtung  rückt.  Die  Abwehr  der  metaphysischen 
Ansprüche  ist  es,  die  die  Theorie  zunächst  zu  leisten  hat: 
und  diese  Abwehr  kann  nur  dadurch  geführt  werden,  daß  die 
empirischen  Grundlagen  der  exakten  Wissenschaft 
immer  genauer  und  deutlicher  bloßgelegt  werden.  Die  logischen 
Faktoren    treten    zurück,    solange    das   Bemühen,    die   reine 

180 


Erfahrung  gegen  das  Eindringen  der  Metaphysik  zu 
schützen,  alle  philosophischen  Kräfte  in  Anspruch  nimmt. 
Man  begreift  unter  diesem  Gesichtspunkt  den  Umschwung 
in  der  allgemeinen  Grundanschauung,  der  sich  beim  Über- 
gang von  Kepler  zu  Newton  vollzieht.  Kepler  greift, 
so  nachdrücklich  er  gegenüber  der  Metaphysik  der  substan- 
tiellen Formen  die  Rechte  der  empirischen  Forschung  verficht, 
in  der  endgültigen  Konzeption  seines  Weltbildes  dennoch 
wiederum  auf  die  mathematische  Teleologie  Piatons  zurück. 
Die  mathematischen  Ideen  sind  die  ewigen  Vorbilder  und 
„Archetypen",  nach  welchen  der  göttliche  Weltbaumeister 
das  All  geordnet  hat.  So  droht  hier,  je  tiefer  wir  uns  in  die 
exakte  Struktur  und  in  die  exakten  Voraussetzungen  der 
Physik  versetzen,  die  strenge  Grenzlinie  zwischen  Erfahrung 
und  Spekulation  sich  wiederum  zu  verwischen.  Dieser  Gefahr 
vor  allem  suchen  Newtons  „Regulae  philosophandi"  zu  be- 
gegnen. Die  Induktion  wird  nunmehr  in  voller  Bestimmt- 
heit als  die  einzige  Quelle  der  physikalischen  Gewißheit 
bezeichnet.  Diejenigen  Eigenschaften  der  Körper,  die  —  wie 
die  Beobachtung  und  der  wissenschaftliche  Versuch  uns 
lehren  —  weder  vermehrt  noch  vermindert  werden  können 
und  die  allen  Körpern  gemeinsam  zukommen,  sind  es,  die 
in  ihrer  Gesamtheit  für  uns  das  Wesen  der  Körper  aus- 
machen. Dieser  Ausdruck  besagt  also  nichts  weiter  und  kann 
nichts  anderes  besagen,  als  eine  empirische  Verallgemeinerung 
bestimmter  Wahrnehmungstatsachen.  In  diesem  Sinne, 
aber  auch  nur  in  diesem,  können  wir  die  Schwere  als  eine 
„wesentliche"  Eigenschaft  der  Materie  auffassen:  sofern  wir 
kein  Experiment  kennen,  das  uns  veranlassen  könnte,  ihr 
empirisch  allgemeines  Vorkommen  zu  bezweifeln.  Die  Frage 
nach  dem  Grunde  der  wechselseitigen  Anziehung  der  kosmi- 
schen Massen  darf  dagegen  den  Physiker  als  solchen  nicht 
beschäftigen  und  zu  spekulativen  Hypothesen  verlocken: 
denn  für  ihn  ist  die  Attraktion  nichts  anderes  als  ein  bestimmter 
Zahlwert,  der  das  Maß  der  Beschleunigung  enthält,  die  der 
Körper  in  jedem  Punkte  seiner  Bahn  erfährt.  Das  Gesetz, 
nach  welchem  dieser  Wert  sich  von  Punkt  zu  Punkt  ändert, 
enthält  die  Antwort  auf  alle  Fragen,   die  in  bezug  auf  die 

181 


„Natur"  der  Schwere  mit  wissenschaftlichem  Recht  gestellt 
werden  können.  Newtons  erste  Anhänger  und  Schüler  sind  es, 
die  diese  Erklärungen  verallgemeinern  und  auf  das  Gesamt- 
gebiet der  Naturwissenschaft  übertragen.  Bei  ihnen  tritt 
zum  erstenmal  die  Forderung  einer  Physik  ohncHypo- 
t  h  e  s  e  n  in  prinzipieller  Schärfe  hervor,  wie  denn  hier  auch 
der  technische  Ausdruck  der  Beschreibung  der  Phänomene 
zuerst  geprägt  wird.  Als  Grundfehler  der  Methodik  wird  es 
jetzt  bezeichnet,  wenn  man  versucht,  physikalische  Er- 
klärungen nach  dem  Muster  logischer  Definitionen  zu  gestalten; 
wenn  man  statt  von  der  Beobachtung  und  Sammlung  von 
Einzelfällen  von  der  Hierarchie  der  Begriffe  und  Gattungen 
ausgeht.  Definitionen,  die  den  Anspruch  erheben,  den  Grund 
und  das  Wesen  irgendeines  Naturvorganges  aufzudecken, 
müssen  der  Physik  fern  bleiben;  sie  bilden  kein  Instrument 
der  Erkenntnis,  sondern  stellen  lediglich  ein  Hemmnis  für 
die  unbefangene  Erfassung  der  Erscheinungen  dar,  auf  welcher 
der  ganze  Wert  der  Physik  als  Wissenschaft  beruht. 

Die  weitere  geschichtliche  Entwicklung  läßt  indessen, 
schon  innerhalb  der  Newtonischen  Schule  selbst,  das  Pro- 
blematische dieses  scheinbaren  Abschlusses  der  Methodenlehre 
klar  hervortreten.  Wenn  der  Physik  der  Gebrauch  der  Hypo- 
these in  jedem  Sinne  verwehrt  sein  soll,  so  müssen  aus  ihr 
alle  Elemente,  die  im  Gebiet  der  Wahrnehmung  kein  un- 
mittelbares Abbild  besitzen,  entfernt  werden.  Die  Ver- 
wirklichung dieser  Forderung  aber  würde,  wie  sich  im  weiteren 
Fortgang  immer  deutlicher  zeigt,  nichts  Geringeres  bedeuten, 
als  die  Auflösung  der  Newtonischen  Mechanik  selbst  und 
ihrer  systematischen  Verfassung.  Die  Begriffe  des  abso- 
luten Raumes  und  der  absoluten  Zeit,  die 
Newton  an  die  Spitze  seiner  Deduktionen  stellt,  verlieren 
jegliche  rechtmäßige  Bedeutung,  wenn  man  sie  mit  den 
logischen  Maßen  und  Kriterien  mißt,  die  Newtons  Methoden- 
lehre allein  zuläßt  und  zur  Verfügung  stellt.  Und  doch  sollen 
es  eben  diese  Begriffe  sein,  auf  denen  die  Möglichkeit  zwischen 
wirklicher  und  scheinbarer  Bewegung  zu  unter- 
scheiden, auf  denen  somit  der  Begriff  der  empirisch-physika- 
lischen Realität   selbst  beruht.    Der  tiefere  Grund  dieser 

182 


Antinomie,  die  innerhalb  der  Grenzen  des  Newtonischen 
Systems  unlösbar  ist,  liegt  in  der  Unbestimmtheit,  in  der  der 
Begriff  der  Hypothese  selbst  hier  genommen  wird.  Ari- 
stoteles und  Descartes,  die  Metaphysik  der  sub- 
stantiellen Ursachen  wie  der  erste,  wenngleich  unvollkommene 
Entwurf  einer  vollständigen  mechanischen  Welterklärung 
sollten  hier  gemeinsam  getroffen  werden.  So  werden  die  An- 
nahmen über  irgendwelche  ,, dunklen  Qualitäten"  der  Dinge 
nicht  mit  voller  Sicherheit  von  den  theoretischen 
Grund  gedanken  getrennt,  auf  denen  die  Abgrenzung  des 
Problems  der  Physik  und  die  Definition  ihres  empirischen 
Gebiets  und  Umfangs  selbst  beruht.  Eben  diese  Zweideutigkeit 
aber  ist  es,  die  trotz  aller  Versuche  zu  schärferer  erkenntnis- 
theoretischer Fassung  der  Frage  auch  in  der  modernen  Dis- 
kussion noch  keineswegs  überwunden  ist.  Sie  findet  ihren 
schlagenden  Ausdruck  im  Begriff  der  Beschreibung  selbst. 
Denn  unter  diesem  Losungswort  vereinigen  sich  physikalische 
Forscher,  die  lediglich  in  dem  Widerspruch  gegen  die  spekula- 
tive Metaphysik  miteinander  übereinstimmen,  in  der  positiven 
Auffassung  von  der  logischen  Struktur  der  Physik  aber 
völlig  voneinander  abweichen.  Ein  Forscher  wie  D  u  h  e  m  , 
der  mit  größter  Energie  und  Schärfe  den  Gedanken  durchführt, 
daß  jede  bloße  Konstatierung  eines  physikalischen  Faktums 
bestimmte  theoretische  Voraussetzungen  und  somit  einen 
Inbegriff  physikalischer  Hypothesen  in  sich  schließt,  tritt 
hier  unmittelbar  an  die  Seite  eines  ,, Empirismus",  der  gerade 
auf  der  Verkennung  dieses  fundamentalen  Doppelverhältnisses 
beruht.  So  wirkt  die  Schwierigkeit,  die  der  Physik  von  ihrer 
geschichtlichen  Entwicklung  her  anhaftet,  noch  ungeschwächt 
weiter.  Der  berechtigte  und  notwendige  Kampf  gegen  die 
Ontologie  führt  zu  einer  Verdunklung  des  schlichten 
logischen  Tatbestandes.  Die  philosophische  Kritik  der 
Grundlagen  muß  hier  vor  allem  auf  eine  strenge  Scheidung 
der  beiden  sachlich  heterogenen  Fragen  dringen,  die  die  Ge- 
schichte zusammengeführt  und  auf  lange  Zeit  unlöslich  mit- 
einander verbunden  hat.  Noch  immer  wird  von  hervorragenden 
wissenschaftlichen  Forschern  das  Verhältnis  von  Physik 
und   Logik    in   einer   Weise   beschrieben   und   formuliert, 

183 


als  ständen  wir  noch  mitten  in  dem  Streite  zwischen  Newton 
und  W  o  1  f  f  ,  der  der  Philosophie  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts sein  Gepräge  gegeben  hat.  Dieser  Streit  darf  in- 
dessen als  erledigt  gelten:  denn  die  L  o  g  i  k  selbst  hat  sich  in 
ihrer  Erneuerung  und  kritischen  Gestaltung  der  metaphysischen 
Ansprüche  begeben.  Gerade  vom  Standpunkt  dieser  Erneuerung 
aber  zeigt  es  sich  zugleich  deutlich,  daß  der  „Phänomena- 
lismus"  eines  Newton  mit  demjenigen,  den  die  antike  Skepsis 
entwickelt  und  vertreten  hat,  begrifflich  nicht  auf  derselben 
Stufe  steht.  Es  entsteht  die  Aufgabe,  genauer  zu  untersuchen, 
auf  welchen  Momenten  die  Unterscheidung  der  beiden  An- 
sichten beruht,  die  doch  beide  in  der  Einschränkung  der 
Physik  auf  das  Gebiet  der  ,, Erscheinungen"  übereinkommen. 
Der  Begriff  der  Erscheinung  selbst  ist  ein  anderer,  je  nachdem 
er  auf  den  unbestimmten  Gegenstand  der  Sinneswahrnehmung 
oder  auf  das  theoretisch  konstruierte  Objekt  der  mathemati- 
schen Physik  angewandt  wird:  und  eben  die  Bedingungen  dieser 
Konstruktion  sind  es,  die  die  erkenntnistheoretische  Frage 
immer  von  neuem  herbeirufen. 

IV. 

Der  Entdecker  des  Grundgesetzes  der  neueren  Natur- 
wissenschaft fügt  sich  in  seinen  methodischen  Ansichten 
durchaus  der  Reihe  der  großen  Forscher  ein,  die  mit  der 
Renaissance  ihren  Anfang  nimmt.  Robert  Mayer  be- 
ginnt mit  der  gleichen  theoretischen  Fixierung  der  Aufgabe 
der  Physik,  die  sich  in  den  verschiedensten  Wendungen  bei 
Galilei  und  Newton  findet.  Es  zeigt  sich,  daß  bei  aller  sachlichen 
Erneuerung  der  Physik,  die  das  Energieprinzip  mit  sich  bringt, 
die  logische  Stetigkeit  nicht  unterbrochen  wird.  ,,Die  wich- 
tigste, um  nicht  zu  sagen  einzige  Regel  für  die  echte  Natur- 
forschung ist  die:  eingedenk  zu  bleiben,  daß  es  unsere  Aufgabe 
ist,  die  Erscheinungen  kennen  zu  lernen,  bevor  wir  nach 
Erklärungen  suchen  oder  nach  höheren  Ursachen  fragen 
mögen.  Ist  einmal  eine  Tatsache  nach  allen  ihren  Seiten  hin 
bekannt,  so  ist  sie  eben  damit  erklärt  und  die  Aufgabe  der 
Wissenschaft  ist  beendigt.  Mag  auch  dieser  Ausspruch  von 
einigen  für  trivial  erklärt,  von  anderen  mit  noch  so  vielen 

184 


Gründen  bekämpft  werden,  so  bleibt  doch  gewiß,  daß  diese 
Grundregel  bis  auf  die  neueste  Zeit  herab  nur  allzuoft  ver- 
nachlässigt wird,  daß  aber  alle  spekulativen  Operationen 
selbst  der  glänzendsten  geistigen  Kapazitäten,  die  statt 
von  den  Tatsachen  als  solchen  Besitz  zu  ergreifen,  sich  über 
dieselben  erheben  wollen,  bis  jetzt  nur  taube  Früchte  getragen 
haben*."  Es  ist  genau  dieselbe  Sprache,  die  Kepler  gegen 
die  Alchymisten  und  Mystiker  seiner  Zeit,  die  Galilei  gegen  die 
Peripatetische  Schulphilosophie  geführt  hatte.  Wie  aus 
der  verschwindenden  Bewegung  Wärme  entsteht  oder  wie 
Wärme  sich  wiederum  in  Bewegung  wandelt:  diese  Frage 
lehnt  Robert  Mayer  ebenso  ab,  wie  Galilei  die  Frage  nach  der 
Ursache  der  Schwere  von  sich  gewiesen  hatte.  „Was  Wärme, 
was  Elektrizität  usw.  dem  inneren  Wesen  nach  sei,  weiß  ich 
nicht,  so  wenig  als  ich  das  innere  Wesen  einer  Materie  oder 
irgend  eines  Dinges  überhaupt  kenne;  das  weiß  ich  aber, 
daß  ich  den  Zusammenhang  vieler  Erscheinungen  viel  klarer 
sehe,  als  man  bisher  gesehen  hat,  und  daß  ich  über  das,  was 
eine  Kraft  ist,  helle  und  gute  Begriffe  geben  kann."  Dies 
aber  ist  alles,  was  von  der  empirischen  Forschung  irgend  zu 
verlangen  ist.  „Die  scharfe  Bezeichnung  der  natürlichen 
Grenzen  menschlicher  Forschung  ist  für  die  Wissenschaft  eine 
Aufgabe  von  praktischem  Wert,  während  die  Versuche, 
in  die  Tiefen  der  Weltordnung  durch  Hypothesen  einzudringen, 
ein  Seitenstück  bilden  zu  dem  Streben  der  Adepten."  Im 
Lichte  dieser  Auffassung  sind  es  zuletzt  lediglich  Zahlen, 
sind  es  die  quantitativen  Grundbestimmungen  des  Seins  und 
Geschehens,  die  als  unerschütterlicher  Bestand  der  Forschung 
zurückbleiben.  Eine  Tatsache  ist  verstanden,  wenn  sie  ge- 
messen ist:  „eine  einzige  Zahl  hat  mehr  wahren  und  blei- 
benden Wert  als  eine  kostbare  Bibliothek  von  Hypothesen**." 
Hier  ist  neben  der  Abweisung  falscher  Problemstellungen 
zugleich    ein     neues   Problem   von   bleibender   Bedeutung 


*  Robert  Mayer,  Bemerkungen  über  das  mechanische  Aequivalent, 
der  Wärme,  (Mechanik  der  Wärme,  hg.  von  Weyrauch,  3  Aufl., 
Stuttgart  1893,   S.  236. 

**   S.  Mayers   Briefe    an    Griesinger    (Kleinere    Schriften    u.   Briefe, 
hg.  von  Weyrauch,    Stuttgart  1893,  S.  180,  226  u.  f.). 

185 


bezeichnet.  Eine  Erscheinung  soll  als  erklärt  gelten, 
wenn  sie  vollständig  und  nach  allen  Seiten  bekannt  ist. 
Diese  Definition  muß  in  der  Tat  ohne  Einschränkung  zu- 
gestanden werden:  aber  hinter  ihr  erhebt  sich  alsbald  die 
weitere  Frage,  unter  welchen  Bedingungen  ein  Phä- 
nomen als  bekannt  im  Sinne  der  Physik  zu  gelten  hat.  Die 
„Bekanntschaft"  mit  einer  Erscheinung,  die  die  exakte  Wissen- 
schaft vermittelt,  ist  offenbar  mit  der  bloßen  sinnlichen 
Kenntnisnahme  eines  isolierten  sinnlichen  Tatbestandes  nicht 
einerlei.  Ein  Vorgang  ist  erst  dann  erkannt,  wenn  er  der 
Gesamtheit  des  physikalischen  Wissens  widerspruchslos 
eingefügt  ist;  wenn  sein  Verhältnis  zu  verwandten  Gruppen 
von  Phänomenen  und  schließlich  zum  Inbegriff  der  Er- 
fahrungstatsachen überhaupt  eindeutig  festgestellt  ist.  Jede 
assertorische  Behauptung  einer  Wirklichkeit  schließt  daher 
hier  zugleich  eine  Aussage  über  bestimmte  gesetzliche  Re- 
lationen, schließt  die  Geltung  allgemeiner  Regeln  der  Ver- 
knüpfung ein.  Indem  die  Erscheinung  auf  einen  festen 
Zahlausdruck  gebracht  wird,  gelangt  dadurch  diese  lo- 
gische Relativität  nur  zur  klarsten  Bezeichnung.  Die  konstanten 
Zahlwerte,  durch  welche  wir  einen  physikalischen  Gegenstand 
oder  ein  physikalisches  Ereignis  bestimmen,  besagen  nichts 
anderes  als  seine  Einordnung  in  einen  allgemeinen  Reihen- 
Zusammenhang.  Die  einzelne  Konstante  bedeutet  nichts 
für  sich  selbst;  ihr  Sinn  wird  erst  durch  die  Vergleichung  und 
unterscheidende  Verknüpfung  mit  anderen  Werten  festgestellt. 
Damit  aber  ist  zugleich  auf  bestimmte  logische  Voraus- 
setzungen hingewiesen,  die  aller  physikalischen  Zählung  und 
Messung  zugrunde  liegen  —  und  diese  Voraussetzungen  bilden 
die  echten  „Hypothesen",  die  von  keinem  naturwissenschaft- 
lichen Phänomenalismus  mehr  bestritten  werden  können.  Die 
,, wahre  Hypothese"  bedeutet  nichts  anderes  als  ein  Prinzip 
und  ein  Mittel  der  Messung  selbst.  Sie  tritt  nicht  ein,  nach- 
dem die  Erscheinungen  bereits  als  Größen  erkannt  und 
geordnet  sind,  um  ihnen  nachträglich  eine  Vermutung  über 
ihre  absoluten  Gründe  hinzuzufügen,  sondern  sie  dient  der 
Ermöglichung  dieser  Ordnung  selbst;  sie  überspringt  das 
Gebiet  des  Faktischen  nicht,  um  in  ein  transzendentes  Jen- 

186 


seits  überzugreifen,  sondern  sie  bezeichnet  den  Weg,  auf  dem 
wir  von  der  sinnlichen  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen 
zur  intellektuellen  der  Maße  und  Zahlen  gelangen. 

0  s  t  w  a  1  d  hat  in  seiner  Polemik  gegen  den  Gebrauch 
der  Hypothese  allen  Nachdruck  auf  den  Unterschied  zwischen 
der  Hypothese  als  Formel  und  der  Hypothese  als  Bild 
gelegt.  Formeln  enthalten  lediglich  algebraische  Ausdrücke; 
sie  sprechen  nur  Verhältnisse  zwischen  Größen  aus,  die  der 
direkten  Messung  und  somit  der  unmittelbaren  Verifikation 
durch  die  Beobachtung  fähig  sind.  Bei  den  physikalischen 
Bildern  dagegen  fehlt  jedes  Mittel  einer  derartigen  Nach- 
prüfung. Freilich  erscheinen  auch  diese  Bilder  selbst  oft 
im  Gewände  mathematischer  Darstellung,  so  daß 
das  angegebene  Merkmal  der  Unterscheidung  auf  den  ersten 
Blick  nicht  zureichend  scheint.  Aber  es  gibt  in  jedem  Falle 
ein  einfaches  logisches  Verfahren,  das  stets  zu  einer  klaren 
Sonderung  führt.  „Wenn  jede  in  der  Formel  auftretende 
Größe  für  sich  meßbar  ist,  so  handelt  es  sich  um  eine  dauernde 
Formel  oder  ein  Naturgesetz....,  treten  dagegen  in  der 
Formel  Größen  auf,  welche  nicht  meßbar  sind,  so  handelt  es 
sich  um  eine  Hypothese  in  mathematischer  Gestalt  und  in  der 
Frucht  sitzt  der  Wurm*."  So  berechtigt  indessen  die  Forderung 
der  Meßbarkeit  ist,  die  hier  erhoben  wird,  so  irrig  ist  es,  die 
Messung  selbst  als  ein  rein  empirisches  Verfahren  anzusehen, 
das  in  der  bloßen  Wahrnehmung  und  mit  ihren  Mitteln  zu 
vollenden  wäre.  Die  Antwort,  die  hier  gegeben  ist,  bedeutet 
nur  die  Wiederholung  der  eigentlichen  Frage:  denn  das  ge- 
zählte und  gemessene  Phänomen  ist  nicht  der  selbstverständ- 
liche, unmittelbar  gewisse  und  gegebene  Ausgangspunkt, 
sondern  das  Ergebnis  bestimmter  begrifflicher  Operationen, 
die  es  im  einzelnen  zu  verfolgen  gilt.  In  der  Tat  zeigt  es  sich 
sogleich,  daß  der  bloße  Versuch  der  Messung  Postulate  in 
sich  schließt,  die  innerhalb  des  Gebiets  unserer  Sinneseindrücke 
niemals  erfüllt  sind.  Wir  messen  niemals  Empfindungen  als 
solche;  sondern  stets  nur  die  Objekte,  auf  die  wir  sie 
beziehen.    Selbst  wenn  man  der  Psychophysik  die  Meßbarkeit 


*  Ostwald,  Vorlesungen  über  Naturphilosophie,  Lpz.  1902,  S.  213  f. 

187 


der  Empfindung  zugestehen  wollte,  so  bliebe  dennoch  diese 
Einsicht  unberührt,  denn  auch  unter  dieser  Voraussetzung 
ist  es  deutlich,  daß  der  Physiker  zum  mindesten  es  niemals 
mit  den  Farben  oder  Tönen  als  sinnlichen  Erlebnissen  und 
Inhalten,  sondern  einzig  und  allein  mit  Schwingungen,  daß 
er  es  nicht  mit  der  Wärme-  oder  Berührungsempfindung, 
sondern  mit  Temperatur  und  Druck  zu  tun  hat. 
Keiner  dieser  Begriffe  aber  läßt  sich  als  einfache  Kopie  von 
Tatsachen  der  Wahrnehmung  verstehen.  Blickt  man  auf 
diejenigen  Faktoren,  die  bei  der  Messung  der  Bewegung 
beteiligt  sind,  so  ist  hier  die  allgemeine  Entscheidung  bereits 
gegeben:  denn  es  zeigte  sich  bereits,  daß  die  physikalische 
Definition  der  Bewegung  selbst  nicht  festgestellt  werden 
konnte,  ohne  den  sinnlichen  Körper  durch  den  geometrischen 
Körper,  die  sinnliche  Ausdehnung  durch  die  ,,intelligible" 
stetige  Ausdehnung  des  Mathematikers  zu  ersetzen.  Von  den 
Inhalten  der  Perception  mußte  zu  ihren  begrifflichen  Grenzen 
übergegangen  werden,  ehe  von  Bewegung  und  ihren  exakten 
Maßen  im  strengen  Sinne  überhaupt  die  Rede  sein  konnte. 
(S.  oben  S.  158  ff.)  Nicht  minder  ist  es  eine  reine  begriffliche 
Konstruktion,  wenn  wir  einem  ungleichförmig  bewegten 
Körper  in  jedem  Punkte  seiner  Bahn  eine  eindeutig  bestimmte 
Geschwindigkeit  zusprechen:  eine  Konstruktion,  die 
zu  ihrer  Begründung  nichts  Geringeres  als  die  gesamte  logische 
Theorie  der  Infinitesimal-Analysis  voraussetzt.  Aber  auch 
dort,  wo  wir  der  direkten  Empfindung  näher  zu  stehen, 
wo  wir  von  keinem  anderen  Interesse  beherrscht  scheinen, 
als  die  Unterschiede,  die  sie  uns  darbietet,  in  einer  festen 
Skala  zu  verzeichnen,  treten  die  theoretischen  Grundmomente, 
die  hierbei  erfordert  werden,  deutlich  hervor.  Es  ist  ein 
weiter  Weg  von  der  unmittelbaren  Empfindung  der  Wärme 
zum  exakten  Begriff  der  Temperatur.  Das  unbestimmte 
Stärker  und  Schwächer  des  Eindrucks  bietet  nirgends  eine 
Handhabe  und  einen  Ansatz  zur  Gewinnung  fester  Zahlwerte. 
Wir  müssen  von  der  subjektiven  Wahrnehmung  zu  einem 
objektiven  funktionalen  Zusammenhang  zwischen  Wärme 
und  Ausdehnung  übergehen,  um  auch  nur  das  Grundschema 
der  Messung  festzustellen.    Lassen  wir  etwa  einer  bestimmten 

188 


Ausdehnung  des  Quecksilbers  den  Wert  von  0  Grad,  einer 
anderen  den  Wert  von  100  Grad  entsprechen,  so  müssen  wir, 
um  die  Strecke,  die  zwischen  den  beiden  auf  diese  Weise 
bezeichneten  Punkten  liegt,  in  weitere  Teile  und  Unter- 
teile zu  zerlegen,  die  Voraussetzung  machen,  daß  die  Unter- 
schiede der  Temperatur  denen  der  Ausdehnung  des  Queck- 
silbers direkt  proportional  zu  setzen  sind.  Diese 
Annahme  aber  ist  zunächst  nichts  als  eine  Hypothese,  die 
durch  die  empirische  Beobachtung  nahe  gelegt,  aber  uns 
keineswegs  durch  sie  allein  gebieterisch  aufgedrängt  wird. 
Gehen  wir  von  den  festen  Körpern  zu  den  flüssigen,  vom 
Quecksilberthermometer  zum  Wasserthermometer  über,  so 
wäre  hier  zum  Zweck  der  Messung  die  einfache  Formel  der 
Proportionalität  durch  eine  komplexere  Formel  zu  ersetzen, 
gemäß  welcher  sodann  die  Zuordnung  bestimmter  Temperatur- 
werte und  bestimmter  Volumenwerte  zu  erfolgen  hätte*. 
Man  erkennt  bereits  an  diesem  Beispiel,  wie  selbst  die  ein- 
fachste quantitative  Fixierung  eines  physischen  Tat- 
bestandes diesen  alsbald  in  ein  Netzwerk  theoretischer  Vor- 
aussetzungen einbezieht,  außerhalb  deren  nicht  einmal  die 
Frage  nach  der  Meßbarkeit  des  Vorgangs  gestellt  werden 
könnte. 

Es  ist  die  philosophische  Arbeit  der  physikalischen 
Forscher  selbst,  die  diese  erkenntnistheoretische  Einsicht 
zu  immer  größerer  Klarheit  erhoben  hat.  Vor  allem  ist  es 
D  u  h  e  m  ,  der  diese  Wechselbeziehung,  die  zwischen  dem 
physikalischen  Faktum  und  der  physikalischen  Theorie  ob- 
waltet, auf  den  einfachsten  und  schärfsten  Ausdruck  gebracht 
hat.  Der  Gegensatz  zwischen  der  naiven  sinnlichen  Beob- 
achtung, die  sich  lediglich  im  Gebiet  der  konkreten  Wahr- 
nehmungstatsachen hält  und  dem  wissenschaftlich  geleiteten 
und  kontrollierten  Experiment  erfährt  bei  ihm  eine  über- 
zeugende und  lebendige  Schilderung.  Verfolgen  wir  in  Ge- 
danken den  Gang  einer  experimentellen  Untersuchung,  denken 
wir  uns  z.  B.  in  das  Laboratorium  versetzt,  in  welchem 
Regnault  seine  bekannten  Versuche  zur  Prüfung  des  Mariotte- 

*  Vgl.  hierüber  die  treffenden  Ausführungen  von  G.  Milhaud,  La 
Rationnel,  Paris  1898,  S.  47  ff. 

189 


sehen  Gesetzes  anstellt,  so  sehen  wir  uns  hier  zunächst  freilich 
einer  Summe  direkter  Beobachtungen  gegenüber,  die  wir  ein- 
fach wiederholen  können.  Aber  die  Erzählung  dieser  Be- 
obachtungen ist  es  keineswegs,  was  den  Kern  und  den  eigent- 
lichen Sinn  der  physikalischen  Ergebnisse  Regnaults  aus- 
macht. Was  der  physikalische  Forscher  objektiv  vor  sich 
sieht,  sind  gewisse  Zustände  und  Veränderungen  in  seinen 
Meßinstrumenten.  Aber  die  Urteile,  die  er  fällt,  beziehen 
sich  nicht  auf  diese  Instrumente,  sondern  auf  die  Gegenstände, 
die  durch  sie  gemessen  werden  sollen.  Nicht  vom  Stand  einer 
bestimmten  Quecksilbersäule  wird  berichtet,  sondern  ein 
Wert  der  „Temperatur"  wird  festgestellt;  nicht  eine  Änderung, 
die  im  Manometer  vor  sich  ging,  sondern  eine  Variation  des 
Drucks,  unter  dem  das  beobachtete  Gas  steht,  wird  ver- 
. zeichnet.  Dieser  Übergang  von  dem,  was  die  Wahrnehmung 
des  individuellen  Moments  unmittelbar  darbietet  zu  der  Form, 
die  die  Elemente  in  der  physikalischen  Aussage  schließlich 
erhalten,  macht  die  eigentümliche  und  charakteristische 
Leistung  des  naturwissenschaftlichen  Begriffs  aus.  Der  Wert 
des  Volumens,  das  ein  Gas  einnimmt,  der  Wert  des  Druckes, 
unter  dem  es  steht,  und  der  Grad  der  Temperatur,  den  es 
besitzt,  sind  sämtlich  keine  konkreten  Objekte  und  Eigen- 
schaften, die  wir  etwa  den  Farben  und  Tönen  an  die  Seite 
stellen  könnten:  sondern  es  sind  „abstrakte  Symbole",  die 
lediglich  die  physikalische  Theorie  wieder  mit  den  wirklich 
beobachteten  Tatsachen  verknüpft.  Der  Apparat,  kraft  dessen 
das  Volumen  des  Gases  festgestellt  wird,  setzt  nicht  nur  die 
Prinzipien  der  Arithmetik  und  Geometrie,  sondern  auch  die 
abstrakten  Grundsätze  der  allgemeinen  Mechanik  und  der 
Himmelsmechanik  voraus;  die  exakte  Definition  des  Druckes 
fordert  zu  ihrem  vollen  Verständnis  das  Eindringen  in  die 
tiefsten  und  schwierigsten  Theorien  der  Hydrostatik,  der 
Elektrizitätslehre  usw.  Zwischen  den  Phänomenen,  die  im 
Verlauf  eines  Experiments  wirklich  beobachtet  werden  und 
dem  endgültigen  Ergebnis  dieses  Experiments,  wie  der  Physiker 
es  formuliert,  liegt  also  eine  äußerst  komplexe  intellektuelle 
Arbeit:  und  diese  ist  es  erst,  die  aus  einem  Bericht  über  ein- 
malige   Geschehnisse    ein    Urteil    über   Naturgesetze    macht. 

190 


Noch  deutlicher  tritt  diese  Abhängigkeit  jeder  praktischen 
Messung  von  bestimmten  prinzipiellen  Grundannahmen,  die 
als  allgemeingültig  hingestellt  werden,  hervor,  wenn  man 
erwägt,  daß  das  eigentliche  Fazit  des  Versuches  niemals  direkt 
zutage  liegt,  sondern  erst  durch  eine  kritische  Diskussion, 
die  auf  die  Ausschaltung  der  Beobachtungsfehler  gerichtet  ist, 
ermittelt  werden  kann.  Kein  Physiker  experimentiert  und 
mißt  in  Wahrheit  mit  dem  Einzelinstrument,  das  er  sinnlich 
vor  Augen  hat;  sondern  er  schiebt  ihm  in  Gedanken  ein 
ideales  Instrument  unter,  in  dem  alle  zufälligen  Mängel, 
die  dem  besonderen  Werkzeug  notwendig  anhaften,  aus- 
geschaltet sind.  Messen  wir  etwa  die  Intensität  eines  elektri- 
schen Stromes  durch  die  Tangentenbussole,  so  müssen  die 
Beobachtungen,  die  wir  zunächst  an  einem  konkreten  Einzel- 
apparat machen,  ehe  sie  physikalisch  verwendbar  sind,  zuvor 
auf  ein  allgemeines  geometrisches  Modell  bezogen  und  über- 
tragen werden.  An  die  Stelle  eines  Kupferdrahtes  von  be- 
stimmter Stärke  setzen  wir  eine  strenge  geometrische  Kreis- 
linie ohne  Dicke,  an  die  Stelle  des  Stahls  der  Magnetnadel, 
der  eine  bestimmte  Größe  und  Form  aufweist,  setzen  wir 
eine  unendlich  kleine,  horizontale  magnetische  Achse,  die  ohne 
Reibung  um  eine  vertikale  Achse  beweglich  ist:  und  erst  die 
Gesamtheit  dieser  Umformungen  erlaubt  es  uns,  die  beobach- 
tete Abweichung  der  Magnetnadel  in  die  allgemeine  theoretische 
Formel  der  Stromintensität  einzutragen  und  damit  den  Wert 
der  letzteren  zu  bestimmen.  Die  Korrekturen,  die  wir  beim 
Gebrauch  jedes  physikalischen  Instruments  vornehmen  und 
notwendig  vornehmen  müssen,  sind  also  selbst  ein  Werk  der 
mathematischen  Theorie:  diese  letztere  ausschalten,  hieße 
die  Beobachtung  selbst  um  ihren  Sinn  und  ihren  Wert  bringen.* 
Von  einer  anderen  Seite  her  tritt  uns  diese  Verknüpfung 
entgegen,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen,  daß  jede  kon- 
krete Messung  zuvor  die  Fixierung  bestimmter  Einheiten 
verlangt,  die  sie  als  konstant  zugrunde  legt.     Die  Konstanz, 


*  Vgl.  hierzu  die  ausgezeichnete  Darstellung  von  Duhem,  in  der 
dieser  Zusammenhang  bis  ins  Einzelne  aufgedeckt  und  nach  allen  Seiten 
hin  beleuchtet  wird  (La  Theorie  Physique,  son  objet  et  sa  structure, 
Paris  1906.) 

191 


die  hier  gefordert  wird,  aber  ist  niemals  eine  Eigenschaft, 
die  dem  Wahrnehmbaren  als  solchem  anhaftet,  sondern  sie 
wird  ihm  erst  auf  Grund  begrifflicher  Postulate  und  Defini- 
tionen verliehen.  Die  Notwendigkeit  derartiger  Setzungen 
tritt  besonders  an  dem  fundamentalen  physikalischen  Maß- 
problem, am  Problem  der  Zeitmessung,  hervor.  Die 
Zeitmessung  muß  von  Anfang  an  auf  all  die  sinnlichen  Hilfen 
verzichten,  die  der  räumlichen  Messung  zur  Verfügung  zu  stehen 
scheinen.  Wir  können  nicht  eine  Zeitstrecke  zu  einer  anderen 
hinbewegen  und  beide  in  direkter  Anschauung  miteinander 
vergleichen,  da  gerade  das  charakteristische  Grundmoment 
der  Zeit  darin  besteht,  daß  zwei  Teile  von  ihr  niemals  zugleich 
gegeben  sind.  So  bleibt  uns  nur  die  begriffliche  Vermittlung, 
die  durch  den  Rückgang  auf  die  Bewegungserscheinungen 
ermöglicht  wird.  Für  die  abstrakte  Mechanik  heißen  die- 
jenigen Zeiten  gleich,  in  denen  ein  sich  selbst  überlassener 
materieller  Punkt  gleiche  Weglängen  beschreibt.  Wieder 
finden  wir  uns  hier  dem  Begriff  des  Massen  p  u  n  k  t  e  s  , 
also  einem  rein  ideellen  Grenzbegriff  gegenüber  und  wieder 
ist  es  die  hypothetische  Annahme  eines  allgemeingültigen 
Prinzips,  das  die  Setzung  des  Grundmaßes  erst  er- 
möglicht. Das  Trägheitsgesetz  geht  als  begrifflicher  Bestand 
in  die  Erklärung  der  Zeiteinheit  ein.  Man  könnte  versuchen, 
diese  Bedingtheit  abzustreifen,  indem  man  von  der  rationalen 
Mechanik  zu  ihren  empirischen  Anwendungen  übergeht  und 
hier,  im  Gebiet  der  konkreten  Phänomene  selbst,  eine  streng 
gleichförmige  Bewegung  festzuhalten  sucht.  Die  tägliche 
Umdrehung  der  Erde  bietet,  wie  es  scheint,  die  verlangte 
Gleichförmigkeit  in  aller  Vollkommenheit,  die  für  die  Ziele 
der  Messung  nur  immer  in  Betracht  kommt,  dar.  Die  Einheit 
wird  uns  hier  durch  das  Intervall,  das  zwischen  zwei  aufein- 
anderfolgenden Kulminationen  desselben  Sternes  liegt,  direkt 
gegeben.  Die  genauere  Betrachtung  läßt  indessen  die  Differenz, 
die  zwischen  idealem  und  empirischem  Zeitmaß  jederzeit 
zurückbleibt,  sogleich  klar  hervortreten.  Die  Ungleich- 
heit der  Sterntage  ist  es,  die  jetzt  vielmehr  auf  Grund 
theoretischer  Erwägungen  gefordert  und  durch  empirische 
Gründe  bestätigt  wird.     Schon  die  Reibung,  die  durch  den 

192 


beständigen  Wechsel  von  Ebbe  und  Flut  entsteht,  bedingt 
eine  allmähliche  Verminderung  der  Rotationsgeschwindigkeit 
der  Erde  und  somit  eine  Verlängerung  der  Sterntage.  Von 
neuem  entgleitet  uns  das  gesuchte  genaue  Maß  und  wir  sehen 
uns  zu  weiter  zurückliegenden  begrifflichen  Festsetzungen 
gedrängt.  Sie  alle  aber  erhalten  ihren  Sinn  nur  durch  die 
Beziehung  auf  irgendein  physikalisches  Gesetz,  das  wir  still- 
schweigend in  ihnen  mitdenken.  So  hat  man  neuerdings  als 
exakte  Einheit  der  Messung  die  Zeit  vorgeschlagen,  in  welcher 
die  Emanation  des  Radiums  ihre  Radioaktivität  verliert, 
wobei  das  Exponentialgesetz,  nach  welchem  die  Abnahme 
der  Wirkung  erfolgt,  als  Grundlage  dient.  Analog  sind  es  die 
Prinzipien  und  Theoreme  der  Optik,  die  man  voraussetzt, 
um  etwa  die  Wellenlänge  bestimmter  Lichtstrahlen  als  Funda- 
ment der  Längenmessung  einzuführen.  Immer  ist 
es  somit  der  Versuch,  gewisse  Gesetze  als  allgemeingültig 
festzuhalten,  der  uns  in  der  Wahl  der  Einheiten  leitet.  Wir 
setzen  die  empirisch  zunächst  völlig  ,, gleichen"  Sterntage 
als  ungleich,  um  das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie  auf- 
recht zu  erhalten.  Die  wahrhaften  Konstanten  sind 
daher  im  Grunde  —  wie  man  mit  Recht  betont  hat  —  nicht 
die  dinglichen  Maßstäbe  und  Maßeinheiten  selbst,  sondern 
eben  diese  Gesetze,  auf  die  sie  bezogen  und  nach  derem  Vorbild 
sie  konstruiert  sind*.  — 

Die  naive  Auffassung,  daß  die  Maße  der  physischen 
Dinge  und  Vorgänge  ihnen  gleich  sinnlichen  Eigenschaften 
anhaften  und  gleichsam  von  ihnen  nur  abgelesen  zu  werden 
brauchen,  wird  daher  mit  dem  Fortschritt  der  theoretischen 
Physik  mehr  und  mehr  zurückgedrängt.  Damit  aber  ändert 
sich  zugleich  das  Verhältnis  von  Gesetz  und  Tatsache.  Denn 
die  Erklärung,  daß  wir  zu  Gesetzen  gelangen,  indem  wir 
einzelne  Fakta  vergleichen  und  messen,  enthüllt  sich  jetzt 
als  ein  logischer  Zirkel.    Das  Gesetz  kann  nur  darum  aus  der 


*  Vgl.  Henri  P  o  i  n  c  a  r  6  ,  La  mesure  du  temps,  Revue  de  M6taphysique 
et  de  Morale  VI,  1898.  Über  die  theoretischen  Voraussetzungen  der  Be- 
stimmung der  Maßeinheiten  vgl.  bes.  Lucien  Poinoar6,  Die  moderne 
Physik  dtsch.  v.  Brahn,  Lpz.  1908,  sowie  Wilbois,  L'Esprit  positif, 
Revue  de  M6taph,  IX  (1901.) 

Cassirer,  Substanzbegriff  13  193 


Messung  hervorgehen,  weil  wir  es  in  hypothetischer  Form 
in  die  Messung  selbst  hineingelegt  haben.  So  paradox  dieses 
Wechselverhältnis  erscheinen  mag,  so  genau  bezeichnet  es 
das  logische  Kernproblem  der  Physik.  Die  begriffliche  Vor- 
wegnahme des  Gesetzes  ist  nicht  widersprechend,  weil  sie 
nicht  in  der  Form  einer  dogmatischen  Behauptung, 
sondern  lediglich  als  ein  erster  gedanklicher  Ansatz  erfolgt; 
weil  sie  nicht  eine  endgültige  Antwort,  sondern  lediglich  eine 
Frage  in  sich  schließt.  Erst  wenn  es  auf  Grund  dieses  Ansatzes 
gelingt,  das  Ganze  der  Erfahrungen  zu  einer  lückenlosen 
Einheit  zu  verknüpfen,  ist  sein  Wert  und  sein  Recht  erwiesen. 
Aber  dieses  Recht  kann  andererseits  freilich  nicht  dadurch 
gesichert  werden,  daß  wir  jede  Hypothese,  jede  theoretische 
Konstruktion  unmittelbar  in  einer  einzelnen  Erfahrung, 
in  einem  besonderen  sinnlichen  Eindruck  bewähren.  Auch 
die  Gültigkeit  des  physikalischen  Begriffs  beruht  nicht  auf 
seinem  Gehalt  an  wirklichen,  direkt  aufzeigbaren  Daseins- 
elementen,  sondern  auf  der  Strenge  der  Ver- 
knüpfung, die  er  ermöglicht.  In  diesem  Grundcharakter 
bildet  er  die  Erweiterung  und  Fortsetzung  des  mathema- 
tischen Begriffs.  (Vgl.  oben  S.  109  f.)  Der  einzelne 
Begriff  kann  daher  niemals  für  sich  allein  an  der  Erfahrung 
gemessen  und  beglaubigt  werden,  sondern  er  erhält  diese 
Bestätigung  stets  nur  als  Glied  eines  theoretischen  Ge- 
samtkomplexes. Seine  „Wahrheit"  bekundet  sich  zunächst 
in  den  Folgerungen,  zu  denen  er  hinführt;  in  dem  Zu- 
sammenhang und  der  systematischen  Geschlossenheit  der 
Erklärungen,  die  er  ermöglicht.  Jedes  Element  bedarf  hier 
des  anderen  zu  seiner  Stütze  und  Rechtfertigung;  keines 
läßt  sich  aus  dem  Gesamtorganismus  herauslösen  und  in  dieser 
Sonderung  darstellen  und  prüfen.  Wir  besitzen  nicht  physi- 
kalische Begriffe  und  physikalische  Tatsachen  in  reinlicher 
Scheidung,  so  daß  wir  aus  dem  ersteren  Gebiet  ein  Glied 
herausheben  und  versuchen  könnten,  ob  ihm  ein  Abbild  im 
zweiten  entspricht:  sondern  wir  besitzen  die  ,, Tatsachen" 
nur  kraft  der  Gesamtheit  der  Begriffe,  wie  wir  die 
Begriffe  anderseits  nur  mit  Rücksicht  auf  die  Totalität  der 
möglichen  Erfahrung  konzipieren.    Es  ist  der  Grundfehler  des 

194 


Baconischen  Empirismus,  daß  er  diese  Korrelation 
nicht  begriff;  daß  er  die  „Fakta"  gleichsam  als  abgelöste, 
für  sich  bestehende  Wesenheiten  dachte,  die  unser  Denken 
nur  so  getreu  als  möglich  nachzubilden  hätte.  Die  Leistung 
des  Begriffs  erstreckt  sich  hier  nur  auf  die  nachträgliche 
Zusammenfassung  und  Darstellung  des  empirischen  Materials; 
nicht  auf  die  Sicherung  und  Nachprüfung  dieses  Materials 
selbst*.  So  hartnäckig  diese  Auffassung  sich  innerhalb  der 
Erkenntnistheorie  der  Naturwissenschaft  erhalten  hat:  so 
viele  Zeichen  weisen  doch  darauf  hin,  daß  die  Physik  selbst 
in  ihrer  modernen  Gestalt  sie  endgültig  überwunden  hat. 
Auch  diejenigen  Denker,  die  mit  allem  Nachdruck  betonen, 
daß  die  Erfahrung  in  ihrer  Gesamtheit  die  höchste  und 
letzte  Kontrolle  aller  physikalischen  Theorien  bildet,  ver- 
werfen den  naiven  Baconischen  Gedanken  des  „experimentum 
crucis".  Die  „reine"  Erfahrung  im  Sinne  einer  bloßen  in- 
duktiven Sammlung  vereinzelter  Beobachtungen  vermag  nie- 
mals das  Grundgerüst  der  Physik  abzugeben:  denn  ihr  ist 
die  Kraft  der  mathematischen  Formgebung  versagt.  Erst 
wenn  das  rohe  Faktum  durch  ein  mathematisches  Symbol 
dargestellt  und  ersetzt  ist,  beginnt  die  intellektuelle  Arbeit 
des  Begreifens,  die  es  mit  der  Gesamtheit  der  Phänomene 
systematisch  verknüpft**. 

Faßt  man  jedoch  das  Endergebnis,  zu  dem  die  Analyse 
der  physikalischen  Theorie  notwendig  hindrängt,  in  dieser 
Form,  so  bleibt  nichtsdestoweniger  eine  Paradoxie  zurück. 
Wozu  dient  alle  Begriffs  arbeit  der  Physik,  wenn  wir  zuletzt 
erkennen  müssen,  daß  alle  Komplikation  der  Untersuchungs- 
methoden uns  von  dem  konkreten  Faktum  der  Anschauung 
in  seiner  sinnlichen  Lebendigkeit  nur  mehr  und  mehr  ent- 
fernt? Verlohnt  sich  dieser  ganze  Aufwand  wissenschaftlicher 
Mittel,  wenn  das  endgültige  Ziel  kein  anderes  ist  und  sein  kann, 
als  Tatsachen  in  Symbole  zu  verwandeln?  Der  Vorwurf, 
den  die  moderne  Physik  in  ihrer  Entstehung  gegen  die 
Scholastik    erhob,    daß    sie  die  Betrachtung  der  Sachen 


*  Näheres  hierüber  s.  Erkenntnisproblem  II,  125  ff. 
**  Vgl.  hrz.  bes.  Duhem,  La  Th6orie  Physique  S.  308  ff. 


13*  195 


durch  die  der  Namen  ersetze,  droht  jetzt  auf  sie  selbst 
zurückzufallen.  Nur  eine  neue  Namengebung  scheint 
hier  erreicht,  durch  die  wir  uns  der  wahren  Wirklichkeit  der 
Empfindung  mehr  und  mehr  entfremden.  Man  hat  diese 
Konsequenz  in  der  Tat  bisweilen  gezogen:  man  hat  die  Not- 
wendigkeit, zu  der  die  physikalische  Theorie  uns  hin- 
führt, in  Gegensatz  zu  der  Evidenz  und  Wahrheit  gestellt, 
die  uns  im  Erleben  individueller  Einzeltatsachen  zum  Be- 
wußtsein kommt.  Diese  Trennung  beruht  indessen  selbst 
auf  einer  falschen  Abstraktion:  sie  versucht,  zwei  Momente 
gegeneinander  zu  isolieren,  die  durch  die  Voraussetzun- 
gen der  Begriffsbildung  selbst  unlöslich  auf- 
einander hingewiesen  sind.  Der  Weg  der  mathemati- 
schen Begriffsbildung  war  —  wie  sich  im  Gegensatz  zu  der 
traditionellen  logischen  Lehre  zeigte  —  durch  das  Verfahren 
der  Reihenbildung  bestimmt.  Nicht  darum  handelte 
es  sich,  aus  einer  Mehrheit  gleichartiger  Eindrücke  das  Ge- 
meinsame herauszuschälen,  sondern  ein  Prinzip  fest- 
zustellen, kraft  dessen  das  Verschiedene  auseinander 
hervorgeht.  Die  Einheit  des  Begriffs  bekundete  sich  nicht 
in  einem  festen  Bestand  an  Merkmalen,  sondern  in  der  Regel, 
durch  welche  die  bloße  Verschiedenheit  als  eine  gesetzliche 
Abfolge  von  Elementen  dargestellt  wurde.  (Vgl.  oben  S.  18  ff.) 
Die  Betrachtung  der  physikalischen  Grundbegriffe  bestätigt 
und  erweitert  diese  Auffassung.  Alle  diese  Begriffe  erscheinen 
nunmehr  als  ebensoviele  Mittel,  das  „Gegebene"  in 
Reihen  zu  fassen  und  ihm  innerhalb  dieser  Reihen 
seine  feste  Stelle  anzuweisen.  Der  wissenschaftliche  Versuch 
leistet  diese  letzte  endgültige  Fixierung;  aber  damit  sie  möglich 
ist,  müssen  die  Reihenprinzipien  selbst,  müssen  die  Ge- 
sichtspunkte, unter  denen  die  Vergleichung  und  Zu- 
ordnung der  Elemente  erfolgt,  theoretisch  festgestellt  und 
begründet  sein.  Das  einzelne  Ding  ist  für  den  Physiker  nichts 
anderes,  als  ein  Inbegriff  physikalischer  Konstanten:  außer- 
halb dieser  Konstanten  besitzt  er  keine  Möglichkeit  und  keine 
Handhabe,  die  Besonderheit  eines  Objekts  zu  bezeichnen. 
Wir  müssen  dem  Gegenstand  ein  bestimmtes  Volumen  und 
eine  bestimmte  Masse,  ein  bestimmtes  spezifisches  Gewicht, 

196 


eine  bestimmte  Wärmekapazität,  eine  bestimmte  elektrische 
Leistungsfähigkeit  usf.  zusprechen,  um  ihn  von  anderen 
Objekten  zu  unterscheiden  und  ihn  einer  festen  begrifflichen 
Klasse  einzuordnen.  Die  Messungen,  die  hierzu  erforderlich 
sind,  aber  setzen  voraus,  daß  das  Moment,  unter  dem  die 
Vergleichung  erfolgt,  zuvor  in  begrifflicher  Strenge  und 
Genauigkeit  erfaßt  ist.  Dieses  Moment  ist  niemals  in  dem 
anfänglichen  Eindruck  mitgegeben,  sondern  es  muß  theo- 
retisch erarbeitet  werden,  um  sodann  auf  das  Mannigfaltige 
der  Wahrnehmung  angewandt  zu  werden.  Die  physikalische 
Zerlegung  des  Gegenstandes  in  die  Gesamtheit  seiner  numeri- 
schen Konstanten  ist  somit  keineswegs  gleichbedeutend  mit 
der  Zerfällung  eines  sinnlichen  Dinges  in  die  Schar  seiner 
sinnlichen  Merkmale:  sondern  es  sind  neue  und  eigenartige 
Kategorien  der  Beurteilung,  die  hinzugebracht  werden 
müssen,  um  diese  Gliederung  zu  vollziehen.  Erst  in  dieser 
Beurteilung  wandelt  sich  der  konkrete  Eindruck  zum  physi- 
kalisch bestimmten  Objekt.  Die  sinnlich  dingliche  Qualität 
wird  zum  physikalischen  Gegenstand,  indem  sie  sich  in  eine 
reihenförmige  Bestimmtheit  umsetzt.  Aus  einer  Summe  von 
Eigenschaften  wird  das,, Ding"  jetzt  zu  einem  mathematischen 
Inbegriff  von  Werten,  die  im  Hinblick  auf  irgendeine  Ver- 
gleichsskala fixiert  sind.  Die  verschiedenen  physikalischen 
Begriffe  bestimmen  jeder  für  sich  eine  derartige  Skala  und  er- 
möglichen somit  eine  immer  innigere  Verknüpfung  und  Zuord- 
nung der  Elemente  des  Gegebenen.  Das  Chaos  der  Eindrücke 
formt  sich  in  ein  System  von  Zahlen:  aber  diese  Zahlen  er- 
halten ihre  Benennung  und  somit  ihre  spezifische  Bedeutung 
erst  aus  dem  Inhalt  der  Grundbegriffe,  die  als  allgemeingültige 
Maßstäbe  theoretisch  festgelegt  sind.  Man  begreift  erst  in 
diesem  logischen  Zusammenhang  den  ,, objektiven"  Wert,  der 
der  Umbildung  des  Eindrucks  in  das  mathematische  ,,  Symbol" 
zukommt.  In  der  symbolischen  Bezeichnung  ist  freilich 
die  besondere  Beschaffenheit  des  sinnlichen  Eindrucks  ab- 
gestreift; aber  es  ist  alles  dasjenige  festgehalten  und  für  sich 
herausgehoben,  was  ihn  als  Systemglied  kennzeichnet. 
Das  Symbol  besitzt  sein  vollgültiges  Korrelat  nicht  in  irgend- 
welchen Bestandteilen  der  Wahrnehmung  selbst,  wohl 

197 


aber  in  dem  gesetzlichen  Zusammenhang,  der  zwischen 
ihren  einzelnen  Gliedern  besteht:  dieser  Zusammenhang  aber 
ist  es,  der  sich  immer  deutlicher  als  der  eigentliche  Kern  des 
Gedankens  der  empirischen  ,, Wirklichkeit"  selbst  enthüllen 
wird.  — 

Von  einem  anderen  Standpunkt  läßt  sich  das  Verhältnis, 
das  hier  zugrunde  liegt,  beleuchten,  wenn  man  an  die  gewöhn- 
liche psychologische  Fassung  der  Begriffstheorie  anknüpft. 
In  der  Sprache  dieser  Theorie  löst  sich  das  Problem  des 
Begriffs  in  das  Problem  der  ,,apperzeptiven  Verknüpfung" 
auf.  Der  neu  auftretende  Eindruck,  der  zunächst  als  Einzelnes 
erfaßt  wird,  gelangt  zu  begrifflichem  Verständnis  erst  kraft 
der  apperzeptiven  Deutung  und  Einordnung,  die  er  erfährt. 
Fehlte  diese  Bezogenheit  des  Einzelnen  auf  die  Gesamtheit 
der  Erfahrung,  so  wäre  damit  die  „Einheit  des  Bewußtseins" 
selbst  aufgehoben  —  so  würde  der  Eindruck  nicht  länger  zu 
,, unserer"  Welt  der  Wirklichkeit  gehören.  Man  kann  im  Sinne 
dieser  Auffassung  die  verschiedenen  physikalischen  M  a  ß  - 
begriffe,  die  die  naturwissenschaftliche  Theorie  ent- 
wickelt, als  die  eigentlichen  und  notwendigen  Apperzep- 
tionsbegriffe für  jede  empirische  Kenntnis  überhaupt 
bezeichnen.  Ohne  sie  gäbe  es  in  der  Tat,  wie  sich  gezeigt  hat, 
keine  Einstellung  des  Tatsächlichen  in  Reihen  und  somit 
keine  durchgängige  wechselseitige  Bestimmung  zwischen  seinen 
einzelnen  Gliedern.  Wir  besäßen  alsdann  das  Faktum  immer 
nur  als  einzelnes  Subjekt,  ohne  irgendein  Prädikat 
angeben  zu  können,  durch  das  wir  es  näher  zu  umgrenzen 
vermöchten.  Erst  indem  wir  das  Gegebene  unter  irgend- 
einen Leitgedanken  der  Messung  stellen,  gewinnt 
es  feste  Gestalt  und  Prägung,  gewinnt  es  klar  umgrenzte 
physikalische  ,, Eigenschaften".  Selbst  bevor  noch  sein 
Einzel  wert  innerhalb  jeder  der  möglichen  Vergleichungs- 
reihen empirisch  festgestellt  ist,  ist  jetzt  doch  seine  not- 
wendige Zugehörigkeit  zu  irgendwelchen  von  diesen  Grund- 
reihen erkannt  und  damit  bereits  das  vorbereitende  Schema 
zu  seiner  näheren  Bestimmung  geschaffen.  Die  deduktive 
Vorarbeit  schafft  eine  Übersicht  über  die  möglichen  Weisen 
der  exakten  Zuordnung;    während  die  Erfahrung  bestimmt, 

198 


welcher  von  den  möglichen  Arten  der  Verbindung  für 
den  vorliegenden  Fall  anwendbar  ist.  Das  wissen- 
schaftliche Experiment  findet  stets  eine  Mehrheit  von  Wegen 
vor,  die  die  Theorie  gebahnt  hat  und  zwischen  denen  es 
nunmehr  eine  Auswahl  zu  treffen  gilt.  Kein  Inhalt  der 
Erfahrung  kann  uns  daher  jemals  als  etwas  schlechthin 
Fremdartiges  gegenübertreten:  denn  schon  indem  wir 
ihn  zum  Inhalt  unseres  Denkens  machen,  indem  wir  ihn 
in  räumliche  und  zeitliche  Beziehungen  mit  anderen  Inhalten 
setzen,  haben  wir  ihm  damit  das  Siegel  unserer  allgemeinen 
Verknüpfungsbegriffe,  insbesondere  der  mathematischen  Re- 
lationen, aufgedrückt.  Die  Materie  der  Wahrnehmung  wird 
nicht  erst  nachträglich  in  irgendeine  begriffliche  Form  ge- 
gossen; sondern  der  Gedanke  dieser  Form  bildet  die  not- 
wendige Voraussetzung,  um  auch  nur  irgendeine  Gestalt 
der  Materie  selbst,  um  irgendwelche  konkrete  Bestimmungen 
und  Prädikate  von  ihr  aussagen  zu  können.  Jetzt  kann  es 
daher  nicht  mehr  befremden,  daß  auch  die  wissenschaftliche 
Physik,  je  weiter  sie  in  das  „Sein"  ihrer  Objekte  vorzudringen 
strebt,  immer  nur  gleichsam  auf  neue  Schichten  von  Zahlen 
und  Zahlenwerten  stößt.  Sie  entdeckt  keine  absoluten  meta- 
physischen Qualitäten;  sondern  sie  sucht  die  Beschaffenheit 
des  Körpers  oder  des  Vorgangs,  den  sie  untersucht,  dadurch 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  daß  sie  immer  neue  ,, Parameter"  in 
seine  Bestimmung  aufnimmt.  Ein  solcher  Parameter  ist  die 
Masse,  die  wir  einem  einzelnen  Körper  beilegen,  um  uns 
das  Ganze  seiner  möglichen  Veränderungen  und  sein  Ver- 
halten gegenüber  äußeren  Bewegungsantrieben  rational  ver- 
ständlich zu  machen,  oder  die  E  i  g  e  n  e  n  e  r  g  i  e  ,  die  wir 
als  charakteristisch  für  den  augenblicklichen  Zustand  eines 
gegebenen  physikalischen  Systems  ansehen.  Das  Gleiche  aber 
gilt  für  alle  die  verschiedenen  Größen,  durch  welche  Physik 
und  Chemie  fortschreitend  den  Körper  der  Wirklichkeit 
bestimmen*.  Je  tiefer  man  sich  in  dieses  Verfahren  versenkt, 
um  so  reiner  tritt  hierbei  die  Eigenart  der  naturwissenschaft- 
lichen Dingbegriffe  und  ihr  Unterschied  von  den  metaphysi- 

*  Vgl.  hrz.  die  treffenden  Ausführungen  von  G.  F.  Lipps.  Mythen- 
bildung und  Erkenntnis,  Lpz.  1907,  S.  211  ff. 

199 


sehen  Substanzbegriffen  hervor.  Die  Naturwissenschaft  hat 
in  ihrer  Entwicklung  überall  an  die  Form  dieser  letzteren 
angeknüpft;  aber  sie  hat  zugleich  in  ihrem  eigenen  Fortschritt 
diese  Form  mit  einem  neuen  Gehalt  erfüllt  und  sie  auf  eine 
andere  Stufe  der  Begründung  emporgehoben. 

V. 

Der  logische  Gedanke  der  Substanz  steht  an  der  Spitze 
der  wissenschaftlichen  Weltbetrachtung  überhaupt;  er  ist  es, 
der  geschichtlich  die  Grenzscheide  zwischen  Forschung  und 
Mythos  vollzieht.  Erst  in  dieser  Leistung  gewinnt  die  Philo- 
sophie ihren  eigenen  Anfang.  Der  Versuch,  die  Mannigfaltigkeit 
der  sinnlichen  Wirklichkeit  aus  einem  einzigen  Urstoff  ab- 
zuleiten, enthält  eine  allgemeingültige  Forderung  in  sich, 
die,  wie  unvollkommen  sie  zunächst  auch  erfüllt  werden  mag, 
dennoch  der  charakteristische  Ausdruck  einer  neuen  Denk- 
weise und  einer  neuen  Fragestellung  ist.  Das  Sein  wird  erst  jetzt 
zum  geordneten  Ganzen,  das  nicht  von  außen  durch  fremde 
Willkür  gelenkt  wird,  sondern  in  sich  selbst  die  Gewähr 
seines  Bestandes  trägt.  Der  neue  Gedanke  aber  kann  zunächst 
seine  Bestätigung  nirgend  anders  suchen,  als  in  dem  Umkreis 
der  sinnlichen  Dinge  selbst,  die  allein  den  festen,  positiven 
Inhalt  der  Wirklichkeit  auszumachen  scheinen.  Die  Wahr- 
nehmung bietet  hier  —  da  die  begriffliche  und  kritische 
Arbeit  der  Forschung  noch  nirgends  eingesetzt  hat  —  die 
einzige  feste  Grenze,  die  zwischen  der  Realität  und  den 
mythisch-poetischen  Erdichtungen  scheidet.  So  ist  es  irgendein 
empirisch  aufweisbarer  Einzelstoff,  dem  jetzt  die  Bedeutung 
der  „Substanz"  aufgeprägt  wird.  Aber  schon  innerhalb  der 
Jonischen  Naturphilosophie  selbst  beginnen  sich  Tendenzen 
zu  regen,  die  über  diese  Auffassung  hinausdrängen.  Das 
Anaximandrische  Prinzip  des  oTteiQov  erhebt  sich  bereits 
in  logischer  Freiheit  über  den  Kreis  der  unmittelbaren  Wahr- 
nehmungswirklichkeit. Es  enthält  den  Hinweis  auf  den 
Gedanken,  daß  dasjenige,  was  den  Ursprung  des  sinnlichen 
Seins  bilden  soll,  mit  ihm  nicht  von  gleicher  Beschaffenheit 
sein  kann.  Es  kann  mit  keiner  einzelnen  stofflichen  Qualität 
behaftet   sein,    da   alle   Einzelqualitäten   sich   erst   aus   ihm 

200 


entwickeln  sollen.  So  wird  es  zu  einem  Sein  ohne  bestimmte 
sinnliche  Unterscheidungsmerkmale,  in  dessen  gleichartiger 
Struktur  die  Gegensätze  des  Warmen  und  Kalten,  des  Feuchten 
und  Trocknen  noch  ungesondert  nebeneinander  liegen.  Das 
Gebiet  des  Stofflichen  überhaupt  ist  damit  indes  nicht  ver- 
lassen; vielmehr  ist  es  gerade  die  reine  Abstraktion  des  Stoffes 
selbst,  die  in  dem  unendlichen  und  bestimmungslosen  Urstoff 
Anaximanders  zur  ersten  deutlichen  Ausprägung  gelangt.  — 
Das  Problem  der  besonderen  Qualitäten  und 
Eigenschaften  ist  jedoch  in  diesem  ersten  Lösungsversuch 
nicht  überwunden,  sondern  erst  gestellt.  Wenn  die  Gegensätze 
sich  durch  ,, Ausscheidung"  aus  dem  gleichartigen  Urprinzip 
entwickeln  sollen,  so  bleibt  die  Art,  in  der  diese  Differenzierung 
erfolgt  und  der  Anstoß,  der  zu  ihr  hinführt,  zunächst  völlig 
im  Dunkeln.  Die  Frage,  die  hierin  liegt,  bildet  den  Antrieb 
für  die  weitere  Entwicklung  der  spekulativen  Naturphilo- 
sophie. Die  Einheit,  die  Anaximander  in  seinem  Prinzip 
des  Unendlichen  gesetzt  hatte,  stellt  sich  lediglich  als  eine 
logische  Vorwegnahme  dar,  die  der  genauen  Begründung 
entbehrt.  So  muß  der  Gedanke  nunmehr,  um  an  diesem 
Punkt  zur  Klarheit  durchzudringen,  scheinbar  den  entgegen- 
gesetzten Weg  einschlagen.  Die  wahrhafte  Unendlichkeit 
des  Urstoffes  bekundet  sich  nicht  sowohl  in  seiner  gleich- 
förmigen und  unterschiedslosen  Struktur,  als  vielmehr  in  der 
unbegrenzten  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  an  qualitativen 
Unterschieden,  die  er  in  sich  birgt.  Es  ist  das  Natursystem 
des  Anaxagoras,  das  diese  Tendenz  zum  Abschluß 
bringt.  Hier  tritt  zugleich  mit  der  ersten  Festsetzung  eines 
allgemeinen  bewegenden  Prinzips  auch  die  physikalische  Er- 
klärung der  Einzelqualitäten  in  eine  neue  Phase  der  Be- 
trachtung ein.  Es  ist  vergeblich,  das  Besondere  aus  dem 
Allgemeinen  ableiten  zu  wollen,  wenn  es  nicht  in  irgendeiner 
Form  in  ihm  bereits  gesetzt  und  enthalten  ist.  So  werden  die 
mannigfachen  erscheinenden  Beschaffenheiten  der  Körper, 
von  deren  Dasein  und  deren  Unterschieden  die  Sinne  uns 
Kunde  geben,  nunmehr  auf  dauernde  und  absolute  Eigen- 
schaften der  Materie  als  auf  ihren  eigentlichen  Ursprung 
zurückgedeutet.     Das  Feuchte  und  das  Trockene,  das  Helle 

201 


und  Dunkle,  das  Warme  und  Kalte,  das  Dichte  und  Dünne 
sind  sämtlich  Grundeigenschaften  der  Dinge  selbst:  und  auf 
der  Art  und  dem  quantitativen  Verhältnis,  in  denen  diese 
Eigenschaften  sich  mischen,  beruhen  alle  Verschiedenheiten 
und  Gegensätze  der  zusammengesetzten  sinnlichen  Sub- 
stanzen, wie  der  Luft  und  des  Wassers,  des  Äthers  und  der 
Erde.  Hierbei  sind  es  stets  alle  elementaren  Grundbeschaffen- 
heiten, die  in  ihrer  Gesamtheit  in  jegliche  Zusammensetzung 
eingehen  und  die  auch  in  den  kleinsten  stofflichen  Teilen, 
so  weit  wir  die  Zerlegung  auch  fortsetzen  mögen,  noch  als 
enthalten  zu  denken  sind.  Was  den  besonderen  Stoffen  ihr 
unterscheidendes  Gepräge  gibt,  ist  nicht  dies,  daß  sie  irgend- 
eines der  qualitativen  Elemente  isoliert  enthalten, 
sondern  daß  es  in  der  Zusammensetzung  vorherrscht, 
so  daß  in  der  gewöhnlichen  populären  Betrachtung  die  übrigen 
Faktoren,  die  in  Wahrheit  niemals  fehlen  können,  praktisch 
außer  Betracht  bleiben  dürfen.  In  diesem  Sinne  ist  ,, Alles  in 
Allem":  jedes  noch  so  kleine  Partikel,  jeder  physische  Punkt 
selbst  stellt  einen  Inbegriff  unendlich  vieler  Qualitäten  dar, 
die  sich  in  ihm  durchdringen.  Die  spezielle  Ausführung  dieser 
Lehre  bietet  lediglich  geschichtliches  Interesse:  aber  auch 
abgesehen  hiervon  enthält  sie  ein  Moment  von  typischer 
Bedeutung,  das  denn  auch  seither  im  Fortgang  der  Physik 
immer  wieder  zutage'getreten  ist.  Die  Analyse  des  Anaxagoras 
bezweckt,  hinter  die  konkreten  sinnlichen  Objekte,  wie  sie 
sich  der  Anschauung  zunächst  darbieten,  zu  ihren  begrifflichen 
Prinzipien  zurückzugehen:  aber  sie  fixiert  den  Gehalt  dieser 
Prinzipien  in  Ausdrücken,  die  selbst  durchaus  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  entnommen  sind.  Beschaffenheiten  und 
Gegensätzlichkeiten  der  Empfindung  werden  hier  unmittelbar 
zu  dinglichen  Gründen  umgedeutet,  die  an  sich  bestehen 
und  für  sich,  wenngleich  in  Gemeinschaft  mit  anderen  Ur- 
sachen derselben  Art,  zu  wirken  vermögen.  Die  bunte  Viel- 
heit der  empfindbaren  Qualitäten  wird  also  beibehalten; 
ja  sie  wird  bewußt  zur  Unendlichkeit  gesteigert.  Jeder  dieser 
Beschaffenheiten,  die  in  der  Erscheinung  hin  und  her  zu  gehen, 
zu  entstehen  und  zu  vergehen  scheinen,  entspricht  in  Wahr- 
heit ein  unveränderliches  substantielles  Sein.    Daß  irgendeine 

202 


sinnliche  Grundeigenschaft  an  einem  Subjekt  neu  entsteht 
oder  an  ihm  verschwindet,  ist  eine  bloße  Täuschung,  die  die 
oberflächliche  Betrachtung  der  Dinge  uns  vorspiegelt:  jede 
dieser  Eigenschaften  b  e  h  a  r  r  t  vielmehr  und  wird  nur 
zeitweilig  durch  andere,  die  hinzutreten,  für  unseren  Blick 
gleichsam  verdeckt.  So  liegt  hier  in  der  Tat  der  charakte- 
ristische Versuch  vor,  das  beharrende  Sein,  das  der  Gedanke 
fordert,  zu  konstruieren,  ohne  aus  dem  Umkreis  des  „Ge- 
gebenen" herauszutreten.  Es  ist  nicht  mehr,  wie  in  der 
Jonischen  Naturphilosophie,  ein  einzelner  empirischer  Stoff, 
wie  die  Luft  oder  das  Wasser,  der  den  dauernden  Bestand  der 
Dinge  darstellt;  wohl  aber  geht  dieser  Wert  auf  die  Gesamt- 
heit der  Eigenschaften  über,  aus  denen  jene  Körper  resultieren, 
und  die  an  ihnen  kraft  der  Wahrnehmung  aufzeigbar  sind. 
Die  Hypostase  dieser  Eigenschaften  läßt  ihre  Natur 
dennoch  ungeändert;  sie  erhalten  dadurch  zwar  eine  veränderte 
metaphysische  Bedeutung,  treten  aber  aus  dem  Cha- 
rakter des  Sinnlichen  prinzipiell  nicht  heraus.  — 

Auch  die  Aristotelische  Physik  stellt  in  dieser 
Hinsicht  keine  innere  Wandlung  dar.  Die  Grundqualitäten 
sind  hier  wiederum  auf  eine  kleine  Anzahl  zusammengezogen: 
statt  der  unendlich  vielfältigen  „Samen"  der  Dinge  sind  es 
nunmehr  lediglich  die  Eigenschaften  des  Warmen  und  Kalten, 
des  Feuchten  und  Trockenen,  aus  deren  Zusammensetzung 
die  vier  Elemente:  Wasser  und  Erde,  Luft  und  Feuer  ent- 
stehen sollen.  Die  Natur  dieser  Elemente  bestimmt  die 
Eigenart  der  Bewegungen,  die  sie  ausführen,  und  damit 
den  Gesamtplan  und  die  Ordnung  des  Weltalls.  So 
ruht  auch  der  Bau  dieser  Physik  auf  dem  gleichen  Ver- 
fahren der  Umsetzung  relativer  Eigenschaften  der  Empfin- 
dungen in  absolute  Eigenschaften  der  Dinge.  Mit  besonderer 
Schärfe  und  Deutlichkeit  tritt  die  Anschauung,  die  hier  zu- 
grunde liegt,  in  ihren  geschichtlichen  Folgen  hervor.  Die  ge- 
samte Naturwissenschaft,  insbesondere  die  gesamte  Chemie 
und  A 1  c  h  y  m  i  e  des  Mittelalters  werden  erst  verständlich, 
wenn  man  sie  im  Zusammenhang  mit  den  logischen  Vor- 
aussetzungen des  Aristotelischen  Systems  betrachtet.  Die 
Erhebung  der  Qualitäten  zu  gesonderten  Wesenheiten, 

203 


die  vom  Sein  des  Körpers  verschieden  und  somit  wenigstens 
im  Prinzip  von  einem  Körper  auf  den  anderen  übertragbar 
sind,  bildet  hier  die  herrschende  Grundanschauung.  Die 
Eigenschaften,  die  einer  Klasse  von  Dingen  gemeinsam  sind 
und  die  somit  die  Grundlage  für  die  Bildung  eines  bestimmten 
Gattungsbegriffs  abgeben,  werden  zugleich  als  p  h  y  - 
s  i  s  c  h  e  Bestandteile  abgesondert  und  zu  selbständiger 
Existenz  erhoben.  Die  festen  Körper  unterscheiden  sich 
von  den  flüssigen  und  flüchtigen  durch  die  Anwesenheit  einer 
bestimmten  absoluten  und  ablösbaren  Eigenschaft,  die  ihnen 
innewohnt:  der  Übergang  in  einen  anderen  Aggregatzustand 
bedeutet  den  Verlust  dieser  Qualität  und  die  Aufnahme  einer 
neuen  dinglichen  Einzelnatur.  So  läßt  sich  etwa  Quecksilber 
in  Gold  verwandeln,  indem  wir  ihm  successiv  die  beiden 
,, Elemente",  auf  denen  seine  Flüssigkeit  und  seine  Flüchtigkeit 
beruhen,  entziehen  und  sie  durch  andere  Beschaffenheiten 
ersetzen.  Allgemein  genügt  es,  um  irgendeinen  Körper  in 
einen  anderen  überzuführen,  die  verschiedenen  ,, Naturen" 
derart  zu  beherrschen,  daß  man  imstande  ist,  sie  nacheinander 
der  Materie  aufzuprägen.  Die  Umwandlung  der  Metalle  in- 
einander wird  gemäß  dieser  Grundanschauung  gedacht  und 
dargestellt.  Man  beraubt  den  Einzelkörper  seiner  individuellen 
Merkmale,  die  als  ebensoviele  selbständige  Substanzen  in 
ihm  gedacht  werden;  man  löst  etwa  von  dem  Zinn  sein  Knir- 
schen, seine  Schmelzbarkeit,  seine  Weichheit  los,  um  es  da- 
durch dem  Silber,  von  dem  es  durch  all  diese  Eigenschaften 
zunächst  getrennt  ist,  zu  nähern.  Die  Gesamtansicht, 
auf  der  diese  Naturauffassung  beruht,  tritt  noch  in  der  neueren 
Zeit  in  der  Physik  B  a  c  o  n  s  deutlich  hervor.  Bacons  Formen- 
lehre geht  auf  das  Axiom  zurück,  daß  dasjenige,  was  die 
generische  Gemeinsamkeit  einer  Gruppe  von  Körpern  aus- 
macht, als  abtrennbarer  Bestandteil  in  ihnen  irgendwie  vor- 
handen und  nachweisbar  sein  muß.  Die  Form  der  Wärme 
besteht  als  ein  eigentümliches  Etwas  und  sie  ist  es,  die  allen 
warmen  Dingen  innewohnt  und  durch  ihre  Anwesenheit 
bestimmte  Wirkungen  in  ihnen  hervorruft.  Die  Aufgabe 
der  Physik  erschöpft  sich  darin,  die  komplexen  sinnlichen 
Einzeldinge  in  eine  Schar  abstrakter  und  einfacher  Qualitäten 

204 


aufzulösen  und  aus  ihnen  zu  erklären.  Die  Hypothesen  des 
Wärmestoffes,  wie  die  Annahme  der  besonderen  elektrischen 
oder  magnetischen  Fluida  zeigen,  wie  langsam  auch  in  der 
modernen  Naturwissenschaft  diese  Auffassung  zurückgedrängt 
worden  ist*.  Insbesondere  ist  es  die  Begriffsbildung  der 
Chemie,  in  welcher  sie  immer  von  neuem  in  verschiedenen 
Formen  hervortrat.  Jedes  Element  der  älteren  Chemie 
ist  zugleich  der  Träger  und  gleichsam  der  Typus  einer  be- 
stimmten hervorstechenden  Eigenschaft.  So  ist  der  Schwefel 
der  Ausdruck  der  Verbrennbarkeit  der  Körper,  das  Salz  der 
Ausdruck  ihrer  Löslichkeit,  während  das  Quecksilber  die 
Gesamtheit  der  metallischen  Eigenschaften  in  sich  faßt 
und  darstellt.  Immer  sind  es  hier  gewisse  gesetzliche  Re- 
aktionen, für  die  unmittelbar  ein  dingliches  Substrat 
eingesetzt  wird.  Die  Eigenschaft  der  Brennbarkeit,  die  wir 
an  einer  Anzahl  von  Körpern  sinnlich  zu  erfassen  und  wahr- 
zunehmen scheinen,  verdichtet  sich  in  der  Annahme  des 
Phlogistons  zu  einem  besonderen  Stoff,  der  den  Körpern 
beigemischt  ist:  und  diese  Annahme  ist  es,  aus  welcher  der 
gesamte  Aufbau  der  Chemie  vor  Lavoisier  mit  innerer  Not- 
wendigkeit folgt.  — 

Neben  der  Entwicklung,  die  hier  in  ihren  allgemeinen 
Zügen  verfolgt  wurde,  aber  steht  von  Anfang  an  eine  andere 
Grundauffassung  des  physischen  Seins  und  Geschehens. 
Schon  die  antike  Wissenschaft  hat  dieser  Auffassung  im 
System  derAtomistik  einen  vollendeten  Ausdruck 
gegeben.  Die  Atomistik  geht  in  ihren  geschichtlichen  Voraus- 
setzungen —  durch  Vermittlung  des  Eleatischen  Systems  — 
auf  die  Grundform  der  Pythagoreischen  Lehre  zurück. 
Der  Grundbegriff  des  leeren  Raumes,  von  dem  Demokrit 
ausgeht,  ist  direkt  dem  xevöv  der  Pythagoreer  entnommen. 
Hier  stehen  wir  daher  bereits  vor  einer  veränderten  Richtung 
der  Denkart.  Das  Sein  wird  nicht  mehr  unmittelbar  in  den 
sinnlich  wahrnehmbaren  Qualitäten  gesucht  noch  in  dem, 
was  ihnen  etwa  als  absolutes  Korrelat  und   Gegenbild  ent- 

*  Vgl.  hrz.  die  vortreffliche  Darstellung  bei  E.  Meyerson,  Identit^ 
et  R6alit6,  Paris  1908,  S.  300  ff.;  s.  auch  Berthelot,  Les  origines  de 
P  Alchimie,  Paris  1885,  S.  206  ff.,  279  ff.  u.  s. 

205 


spricht,  sondern  es  geht  in  dem  reinen  Begriff  derZahl 
auf.  Die  Zahl,  auf  der  alle  Verknüpfung  und  alle  innere 
Harmonie  der  Dinge  beruht,  ist  eben  darum  zugleich  als 
die  Substanz  der  Dinge  zu  bezeichnen :  denn  sie  ist  es, 
die  ihnen  allein  eine  bestimmt  erkennbare  Wesenheit  verleiht. 
Der  mystische  Überschwang,  mit  dem  dieser  Gedanke  in 
seiner  ersten  Konzeption  ergriffen  wird,  tritt  in  der  Fortbildung 
der  griechischen  Wissenschaft  mehr  und  mehr  zurück,  um 
zuletzt  einer  rein  methodischen  und  rationalen  Begründung 
zu  weichen.  Im  atomistischen  System  ist  diese  Wendung 
vollzogen:  was  für  die  Pythagoreer  als  abstrakte  Forderung 
feststand,  ist  hier  in  einem  konkreten  Aufbau  der  Mechanik 
verkörpert.  Die  sinnlichen  Eigenschaften  der  Dinge  werden 
nunmehr  aus  dem  wissenschaftlichen  Weltbild  verwiesen; 
nur  der  „Satzung"  nach,  nur  in  der  ungeprüften  „subjektiven" 
Auffassung  gibt  es  ein  Süßes  und  Bitteres,  ein  Farbiges  und 
Farbloses,  ein  Warmes  und  Kaltes.  Für  die  Darstellung  der 
objektiven  Wirklichkeit  dagegen  sind  alle  diese  Beschaffen- 
heiten zu  verwerfen,  da  keine  von  ihnen  einer  exakten  M  a  ß  - 
bestimmung  und  damit  einer  wahrhaft  eindeutigen 
Fixierung  fähig  ist.  So  bleiben  als  die  ,, wirklichen"  Merkmale 
der  Dinge  nur  diejenigen  zurück,  die  im  Sinne  der  reinen 
Mathematik  bestimmbar  sind.  Das  abstrakte  Zahlschema 
der  Pythagoreer  aber  wird  jetzt  durch  ein  neues  Moment 
ergänzt,  kraft  dessen  es  erst  seine  volle  Fruchtbarkeit  zu 
entfalten  vermag.  Um  von  der  Zahl  zum  stofflich  physischen 
Dasein  zu  gelangen  bedürfen  wir  der  Vermittlung  und  des 
Durchgangs  durch  den  Raumbegriff.  Der  Raum  selbst 
ist  indes  hier  in  einem  Sinne  genommen,  der  ihn  gleichsam 
zum  reinen  Sinnbild  der  Zahl  stempelt.  Er  bietet  sich  all  ihren 
Bestimmungen  dar  und  erfüllt  alle  ihre  wesentlichen  Be- 
dingungen. Sein  charakteristischer  Grundzug  ist  demnach 
die  unbedingte  Gleichförmigkeit  seiner  Teile:  alle 
inneren  Unterschiede  haben  sich  in  einen  bloßen  Stellen- 
Unterschied  aufgelöst.  Die  Differenzen,  die  im  unmittelbaren 
Wahrnehmungsraum  bestehen,  sind  völlig  abgestreift,  so  daß 
jeder  Einzelpunkt  nur  noch  den  gleichwertigen  Ausgangs- 
punkt   für    geometrische    Beziehungen    und    Konstruktionen 

206 


bedeutet.  Wird  nunmehr  das  Wirkliche  unter  diesen  Gesichts- 
punkten bestimmt,  so  bleibt  von  ihm  nur  dasjenige  zurück, 
was  es  zu  einer  numerischen  Ordnung,  zu  einem  quantitativ 
gegliederten  Ganzen  macht.  Eben  hierin  wurzelt  das  Recht 
und  die  Bedeutung  des  Atombegriffs:  die  Welt  der 
Atome  ist  nichts  anderes,  als  die  abstrakte  Darstellung  der 
physischen  Wirklichkeit,  sofern  an  dieser  nichts  anderes  als 
reine  Größenbestimmungen  festgehalten  werden. 
In  diesem  Sinne  hat,  noch  an  der  Schwelle  der  modernen 
Physik,  Galilei  die  Atomistik  verstanden  und  begründet. 
Im  Begriff  der  Materie  —  so  führt  er  aus  —  liegt  nichts  anderes, 
als  daß  sie  von  dieser  oder  jener  Gestalt,  in  diesem  oder 
jenem  Ort,  daß  sie  groß  oder  klein,  in  Bewegung 
oder  in  R  u  h  e  begriffen  ist.  Von  allen  sonstigen  Merkmalen 
dagegen  können  wir  absehen,  ohne  dadurch  den  Gedanken 
der  Materie  selbst  aufzuheben.  Keine  logische  Notwendigkeit 
zwingt  uns,  sie  weiß  oder  rot,  süß  oder  bitter,  wohl-  oder  übel- 
riechend zu  denken;  vielmehr  sind  alle  diese  Bezeichnungen 
bloße  Namen,  denen,  da  sie  sich  nicht  auf  exakte  Zahlen- 
werte zurückführen  lassen,  auch  kein  festes  objektives  Korrelat 
entspricht.  Die  Substanz  des  physikalischen  Körpers  er- 
schöpft sich  in  dem  Inbegriff  der  Eigenschaften,  die  Arithmetik 
und  Geometrie,  sowie  die  reine  Bewegungslehre,  die  auf  beide 
zurückgeht,   an  ihm  entdecken  und  feststellen.  — 

Mit  dieser  Hinwendung  zur  Atomistik  ist  indessen  das 
Problem  nur  in  allgemeinen  Ausdrücken  gestellt,  aber  noch 
keineswegs  vollständig  gelöst.  Denn  das  Atom  selbst  be- 
zeichnet keinen  festen  physischen  Tatbestand,  sondern  eine 
logische  Forderung;  es  ist  daher  selbst  kein  unveränderlicher, 
sondern  vielmehr  ein  variabler  Ausdruck.  Es  ist  interessant 
zu  verfolgen,  wie  in  den  Wandlungen,  die  der  Atombegriff 
selbst  im  Laufe  der  Zeiten  erfährt,  das  gedankliche  Motiv, 
dem  er  seine  Entstehung  verdankt,  weiterwirkt  und  sich  zu 
immer  größerer  Klarheit  durchringt.  Im  Atom  Demokrits 
ist  die  Auflösung  der  sinnlichen  Bestimmungen  noch  nicht 
zur  vollen  Durchführung  gelangt.  Die  Atome  unterscheiden 
sich  hier  —  wenn  man  den  bekannten  Bericht  des  Aristoteles 
zugrunde  legt  —  nicht  nur  ihrer  Stellung  und  Lage,  sondern 

207 


auch  ihrer  Größe  und  Gestalt  nach:  sie  besitzen  somit  selbst 
verschiedene  Ausdehnung  und  verschiedene  Form,  ohne  daß 
ein  Grund  dieses  Unterschiedes  aufweisbar  wäre.  Vor  allem 
aber  tritt  in  dem  Maße,  als  die  dynamische  Wechsel- 
wirkung der  Atome  zum  eigentlichen  Problem  wird, 
die  logische  Notwendigkeit  hervor,  jedes  Atom  mit  einer 
absoluten  Härte  zu  begaben,  kraft  deren  es  alle  anderen 
von  seiner  räumlichen  Sphäre  ausschließt.  Die  Gegensätze 
des  Harten  und  Weichen  wie  des  Leichten  und  Schweren 
werden  somit  wieder  unmittelbar  in  die  objektive  Natur- 
betrachtung aufgenommen:  ein  Rest  der  wahrnehmbaren 
Merkmale  des  Körpers  ist  erhalten  und  mit  den  Bestimmungen, 
die  das  mathematische  Denken  aussondert,  auf  eine  Stufe 
gestellt.  Die  Folgen  dieses  Dualismus  treten  im  Fortgang  der 
Lehre  alsbald  deutlich  hervor.  Sie  verdichten  sich  zu  einer 
eigentlichen  Antinomie,  sobald  man  das  Verhältnis  betrachtet, 
das  sich  nunmehr  zwischen  dem  physikalischen  Grundbegriff 
des  Seins  und  dem  physikalischen  Grundgesetz  des  Ge- 
schehens ergibt.  Dieses  Gesetz  fordert,  wenn  wir  es  ledig- 
lich in  seinen  Anwendungen  auf  die  Mechanik  betrachten,  für 
jeden  Übergang  der  Bewegung  von  einem  Körper  auf  einen 
anderen,  daß  die  Gesamtsumme  der  lebendigen  Kraft  unver- 
ändert bleibt.  Versucht  man  indessen  diesen  Gesichtspunkt  auf 
die  Darstellung  des  Stoßes  der  Atome  anzuwenden, 
so  ergibt  sich  alsbald  eine  eigentümliche  Schwierigkeit.  Be- 
trachtet man  die  Atome  als  vollkommen  harte  Körper, 
so  sind  ihre  Eigenschaften  und  Wirkungsweisen  nach  dem 
Verhalten  zu  bestimmen,  das  wir  empirisch  unmittelbar  an 
unelastischen  Massen  beobachten  können:  bei  jedem  Zu- 
sammenstoß vollkommen  oder  zum  Teil  unelastischer  Körper 
aber  zeigt  sich  ein  bestimmter  Verlust  an  lebendiger  Kraft. 
Die  Theorie  muß,  um  diesen  Widerspruch  gegen  das  Er- 
haltungsgesetz auszugleichen,  die  Annahme  machen,  daß  ein 
Teil  der  lebendigen  Kraft  von  den  Gesamtmassen  auf  ihre 
Teile  übergegangen  ist,  daß  die  „molare"  Energie  sich  in 
„molekulare"  umgesetzt  hat.  Diese  Erklärung  aber  versagt 
ersichtlich  für  die  Atome  selbst,  da  diese  ihrem  Begriff  nach 
als  streng  einfache  Subjekte  der  Bewegung  zu  denken  sind, 

208 


bei  denen  jede  Möglichkeit  einer  weiteren  Zerlegung  in  Teile 
und  Unterteile  fehlt. 

Die  kinetische  Atomistik  hat  auf  verschiedene  Weise  ver- 
sucht, diesen  Widerspruch  in  den  Grundlagen  selbst  zu  be- 
seitigen, ohne  daß  ihr  dies  jemals  in  völliger  Strenge  gelungen 
wäre*.  Und  ein  zweites,  nicht  minder  schwerwiegendes 
Bedenken  ergibt  sich,  wenn  man  die  Forderungen,  die  sich 
aus  dem  Postulat  der  Kontinuität  des  Geschehens  er- 
geben, der  Mechanik  der  Atome  entgegenhält.  Die  Änderung 
der  Geschwindigkeit,  die  zwei  absolut  harte  Körper  im  Moment 
ihres  Zusammenstoßes  erfahren,  kann  nur  in  einem  plötzlichen 
Übergang  bestehen,  in  einem  Sprung  von  einem  Größenwert 
zu  einem  anderen,  der  von  ihm  um  einen  festen,  endlichen 
Betrag  verschieden  ist.  Wird  etwa  ein  langsamerer  Körper 
von  einem  schnelleren  eingeholt  und  schreiten  beide  nach 
dem  Stoß  mit  einer  gemeinsamen  Geschwindigkeit  fort, 
die  durch  den  Satz  der  Erhaltung  der  algebraischen  Summe 
der  Bewegungsgrößen  bestimmt  wird,  so  läßt  sich  dieses 
Ergebnis  nur  dadurch  darstellen,  daß  wir  dem  einen  Körper 
eine  unvermittelte  Abnahme,  dem  anderen  eine  unvermittelte 
Zunahme  der  Geschwindigkeit  zusprechen.  Diese  Annahme 
aber  führt  dahin,  daß  wir  im  Moment  des  Stoßes  selbst  keinen 
eindeutigen  Wert  der  Geschwindigkeit  mehr  für  beide 
Massen  zu  fixieren  vermögen  und  daß  somit  hier  eine  Lücke 
der  mathematischen  Bestimmung  des  Gesamtvorgangs  zurück- 
bleibt**. Die  Verteidiger  der  extensiven  Atome  haben  auf  Ein- 
wände dieser  Art  bisweilen  erwidert,  daß  hier  an  das  hypo- 
thetische Bild,  auf  welches  die  Mechanik  gestützt  werden  soll, 
ein  falscher  Maßstab  angelegt  werde.  Der  Widerspruch 
stamme  lediglich  daher,  daß  den  Atomen,  die  nichts  als 
rationale  Setzungen  des  Denkens  sein  wollen,  gewisse  Eigen- 


*  Zur  Kritik  des  S  e  c  c  h  i '  sehen  Lösungsversuches,  wonach  der  Ver- 
lust an  lebendiger  Kraft,  der  beim  Stoß  absolut  harter  Körper  eintreten 
muß,  dadurch  aufgewogen  wird,  daß  ein  Teil  der  Rotationsbewegung 
der  Atome  sich  in  fortschreitende  Bewegung  umsetzt  vgl.  S  t  a  1 1  o  ,  Die 
Begriffe  u.  Theorien  der  modernen  Physik,  deutsche  Ausg. Lpz.  1901,  S.34  ff. ; 
zur  allgemeinen  Kritik  des  Atombegriffs  vgl.  bes.  Otto  Buek,  Die 
Atomistik  und  Faradays  Begriff  der  Materie,  Berlin  1905. 

**  Näheres  hierüber  s.  Erkenntnisproblem  II,  394  ff. 

Cassirer,  Substanzbegriff  14  209 


Schäften  zugesprochen  werden,  die  einzig  uud  allein  aus  der 
Analogie  der  sinnlichen  Körper  unserer  Wahrnehmungswelt  ge- 
folgert sind.  Eben  diese  Analogie  aber  sei  vom  Standpunkt  der 
erkenntnistheoretischen  Betrachtung  zu  verwerfen.  Nicht 
das  Verhalten  der  empirischen  Körper  unserer  Umgebung, 
sondern  die  allgemeinen  Gesetze  und  Prinzipien  der  Mechanik 
seien  die  Norm,  nach  welcher  der  Inhalt  des  Atombegriffs 
zu  gestalten  sei.  Für  ihn  sind  wir  somit  nicht  auf  bloße  vage 
Vergleiche  mit  direkt  beobachtbaren  Erscheinungen  an- 
gewiesen, sondern  wir  bestimmen  auf  Grund  begrifflicher 
Forderungen  die  Bedingungen,  denen  das  eigentliche  ,,  Sub- 
jekt** der  Bewegung  zu  genügen  hat.  Wir  dürfen  daher  nicht 
fragen,  ob  es  für  absolut  starre  Körper  möglich  oder  un- 
möglich sei,  beim  Zusammenstoß  dem  Gesetz  der  Erhaltung 
der  Energie  zu  genügen,  sondern  wir  setzen  umgekehrt  die 
Gültigkeit  dieses  Gesetzes  als  Axiom  fest,  an  welches  wir  in 
der  theoretischen  Konstruktion  der  Atome  und  ihrer 
Bewegungen  gebunden  bleiben.  Die  Vereinbarkeit  dieser 
Konstruktion  mit  den  sonstigen  Grundannahmen  der  ratio- 
nellen Mechanik,  nicht  aber  die  Gleichartigkeit  der  Atom- 
bewegungen mit  irgendwelchen  Vorgängen  der  uns  bekannten 
physischen  Wirklichkeit  hat  die  Regel  zu  bilden,  die  uns 
allein  leiten  darf*.  Diese  Entgegnung  ist  prinzipiell  durchaus 
zutreffend:  aber  gerade  wenn  man  sie  völlig  zu  Ende  denkt, 
sieht  man  sich  auch  von  der  logischen  Seite  her  zu  derjenigen 
Umbildung  des  Atombegriffs  gedrängt,  die  die  Naturwissen- 
schaft seit  Boscovich  vollzogen  hat.  An  Stelle  der 
ausgedehnten,  wenngleich  unteilbaren  Partikel  tritt  jetzt 
der  schlechthin  einfache  Kraftpunkt.  Man  sieht,  wie 
die  Reduktion  der  anschaulichen  Eigenschaften,  die  bereits 
für  Demokrit  charakteristisch  war,  hier  einen  weiteren  Schritt 
vorwärts  getan  hat.  Auch  die  Größe  und  Gestalt  der 
Atome  sind  nunmehr  geschwunden:  was  sie  unterscheidet, 
ist  lediglich  die  Stelle,  die  sie  sich  wechselseitig  im  System 
der  dynamischen  Wirkungen  und  Gegenwirkungen  anweisen. 
Zur  Negation  der  sinnlichen   Qualitäten  gesellt  sich  die  Ne- 


*  S.  Lasswitz,   Geschichte  der  Atomistik  II,  380  ff. 
210 


gation  der  Ausdehnung,  damit  aber  überhaupt  jeglicher  inhalt- 
lichen Bestimmtheit,  durch  die  sich  ein  empirisches  „Ding'* 
noch  von  einem  andern  unterscheidet.  Alle  selbständigen, 
für  sich  bestehenden  Eigenschaften  sind  jetzt  völlig  aus- 
gelöscht; was  zurückbleibt,  ist  lediglich  die  Relation  eines 
dynamischen  Beisammen  im  Gesetz  der  gegenseitigen  An- 
ziehung und  Abstoßung  der  Kraftpunkte.  Denn  daß  die 
Kraft  selbst,  wie  sie  hier  verstanden  wird,  sich  in  den 
Begriff  des  Gesetzes  auflöst,  daß  sie  lediglich  der  Ausdruck 
einer  funktionalen  Größenabhängigkeit  sein  will,  wird  von 
Boscovich  und  nach  ihm  von  F  e  c  h  n  e  r  energisch 
betont.  Das  Atom,  das  in  seiner  Entstehung  auf  den  reinen 
Zahlbegriff  zurückgeht,  ist  hier  nach  mannigfachen  Um- 
formungen wieder  zu  seinem  Ursprung  zurückgekehrt:  es 
bedeutet  nichts  anderes  als  ein  Glied  in  einer  systematischen 
Mannigfaltigkeit  überhaupt.  Aller  Inhalt,  der  ihm  zu- 
gesprochen werden  kann,  stammt  aus  den  Beziehungen, 
deren  gedachter  Mittelpunkt  es  ist. 

Die  wissenschaftliche  Entwicklung,  die  der  Begriff  des 
Atoms  in  der  neueren  und  neuesten  Physik  erfahren  hat, 
bestätigt  durchaus  diese  Auffassung.  In  dem  Kampf  zwischen 
Atomistik  und  Energetik  hat  Boltzmann 
die  Notwendigkeit  der  atomistischen  Hypothese  aus  dem 
Grundverfahren  der  theoretischen  Naturwissenschaft  selbst, 
aus  dem  Verfahren  des  Ansatzes  der  Differentialgleichungen, 
abzuleiten  versucht.  Will  man  sich  keiner  Illusion  über  die 
Bedeutung  einer  Differentialgleichung  hingeben,  so  kann 
man  —  wie  er  ausführt  —  nicht  im  Zweifel  sein,  daß  das 
Weltbild,  das  hiermit  gesetzt  ist,  in  seinem  Wesen  und  seiner 
Struktur  wiederum  ein  atomistisches  sein  muß.  ,,Bei  näherem 
Zusehen  ist  die  Differentialgleichung  nur  der  Ausdruck  dafür, 
daß  man  sich  zuerst  eine  endliche  Zahl  zu  denken  hat;  dies  ist 
die  erste  Vorbedingung,  dann  erst  muß  die  Zahl  wachsen, 
bis  ihr  weiteres  Wachstum  nicht  mehr  von  Einfluß  ist.  Was 
nützt  es,  die  Forderung,  sich  eine  große  Zahl  von  Einzelwesen 
zu  denken,  jetzt  zu  verschweigen,  wenn  man  bei  Erklärung 
der  Differentialgleichung  den  durch  dieselbe  ausgedrückten 
Wert  durch  jene  Forderung  definiert  hat?"    Wer  also  glaube, 

U*  211 


die  Atomistik  durch  Differentialgleichungen  los  zu  werden, 
der  sehe  den  Wald  vor  lauter  Bäumen  nicht*.  Diese  Form 
der  Begründung  ist  vom  Standpunkt  der  Erkenntniskritik 
von  höchstem  Interesse:  denn  nicht  aus  den  Tatsachen 
der  empirischen  Naturbetrachtung,  sondern  aus  den  Be- 
dingungen der  Methodik  der  exakten  Physik  selbst  soll 
hier  die  Notwendigkeit  des  Atombegriffs  abgeleitet  werden. 
Ist  dies  aber  der  Fall,  so  wird  damit  freilich  zugleich  deutlich, 
daß  der  ,, Bestand",  der  auf  diesem  Wege  für  das  Atom  ge- 
sichert wird,  kein  anderer  sein  kann,  als  er  allgemein  den 
reinen  mathematischen  Grundbegriffen  eignet.  So 
verwahrt  sich  denn  auch  Boltzmann  ausdrücklich  gegen  die 
Annahme,  als  solle  durch  seine  Deduktion  die  absolute 
Existenz  der  Atome  erwiesen  werden:  nur  als  Bilder 
für  die  exakte  Darstellung  der  Phänomene  seien  sie  zu  ver- 
stehen und  anzuwenden**.  Gerade  unter  dieser  Voraussetzung 
aber  tritt  zuletzt  wiederum  die  Notwendigkeit  hervor,  wenn 
anders  das  „Büd"  seine  völlige  Schärfe  und  Genauigkeit 
gewinnen  soll,  vom  extensiven  Korpuskel  zum  ein- 
fachen Massenpunkt  überzugehen.  Das  Verfahren  der 
Infinitesimalrechnung,  auf  das  Boltzmann  sich  stützt,  drängt 
selbst  auf  diesen  Übergang  hin.  Geht  man  zunächst  von  der 
Vorstellung  bestimmter  endlicher  Größen  aus  und  läßt  diese 
alsdann,  um  zum  Ansatz  der  Differentialgleichungen  zu 
gelangen,  stetig  abnehmen,  so  findet  dieser  Prozeß  seinen 
mathematischen  Abschluß  erst  dann,  wenn  wir  die  Größen, 
die  wir  betrachten,  gegen  den  Grenzwert  Null  konvergieren 
lassen,  während  im  Sinne  der  Atomistik  stets  ein  konstanter 
Wert  angebbar  wäre,  über  den  das  ideelle  Verfahren  nicht 
hinauszugehen  vermöchte,  ohne  sich  in  Widersprüche  mit 
der  Wirklichkeit  der  Erscheinungen  zu  verwickeln.  Solange 
man  bei  Größen  bestimmter  Ausdehnung  stehen  bleibt, 
ist  damit,  so  klein  man  sie  auch  wählen  mag,  noch  keine  ein- 


*  Boltzmann,  Über  die  Unentbehrlichkeit  der  Atomistik.  Anna- 
len  der  Physik  und  Chemie  N.  F.  Bd.  60,  S.  231  ff.  (Populäre  Schriften, 
Lpz.  1905,  S.  141  ff.) 

**  Vgl.  Boltzmann,   Ein  Wort   der  Mathematik  an  [die  Energetik 
(Pop.  Schriften  S.  129  ff.). 

212 


deutige  logische  Bestimmung  getroffen;  es  besteht  bei  aller 
physischen  Unteilbarkeit,  die  man  annimmt,  doch  stets  die 
gedankliche  Möglichkeit,  den  Körper  weiter  zu  zerlegen 
und  den  mannigfachen,  an  sich  unterscheidbaren  Unter- 
gruppen verschiedene  Geschwindigkeiten  beizulegen.  Erst 
wenn  man  zum  materiellen  Punkt  fortschreitet, 
ist  diese  Unbestimmtheit  gehoben  und  damit  ein  festes  Subjekt 
der  Bewegung  geschaffen.     (Vgl.  ob.  S.  158  ff.) 

Von  Seiten  der  Energetik  hat  man  daher  gegen  Boltzmann 
eingewandt,  daß  der  Begriff  des  materiellen  Punktes,  wie  ihn 
die  Mechanik  zugrunde  legt,  nicht  dadurch  aus  dem  Körper 
hervorgehe,  daß  von  der  Ausdehnung  tunlichst  oder 
selbst  gänzlich  abgesehen  wird,  sondern  dadurch,  daß  man  von 
der  drehenden  Bewegung  absieht.  „Haben  wir 
andere  als  rein  fortschreitende  Bewegungen  zu  berücksichtigen, 
so  zerlegen  wir  die  Körper  in  Teile,  die  . . .  mit  Atomen  gar 
nichts  zu  tun  haben,  in  Volumelemente,  mit  denen  wir  uns 
dem  nur  fortschreitend  bewegten  materiellen  Punkte  in 
beliebiger  Annäherung  zu  nähern  vermögen*."  Hier  ist  in 
der  Tat  ein  wichtiges  logisches  Moment  bezeichnet:  die  Ein- 
fachheit des  Punktes  wird  um  der  Einfachheit  der  Bewegung 
willen  angenommen.  Die  Annahme  des  einfachen,  in  sich  nicht 
weiter  zerlegbaren  Körpers  ist  nur  ein  methodischer  Umweg, 
um  zur  Abstraktion  der  einfachen  Bewegung  vorzudringen. 
In  diesem  Sinne  ist  das  ,,Atom"  seiner  physikalischen 
Grundbedeutung  nach  nicht  als  Teil  des  Stoffes,  sondern 
als  Subjekt  für  bestimmte  Veränderungen  definiert  und 
gefordert.  Nur  als  gedachter  Ansatzpunkt  für  mögliche 
Relationen  geht  es  in  die  Betrachtung  ein.  Wir  zerlegen 
die  komplexen  Bewegungen  in  elementare  Vorgänge,  für 
welch  letztere  wir  sodann  die  Atome  als  hypothetische  Sub- 
strate einführen.  Demnach  handelt  es  sich  in  erster  Linie 
nicht  um  die  Herauslösung  letzter  Grund  bestandteile 
der  Dinge,  sondern  um  die  Festlegung  bestimmter  einfacher 
Grund  prozesse,  aus  denen  die  Mannigfaltigkeit  des 
Geschehens  abgeleitet  werden  soll.     Man  versteht  es  daher, 

*  S.    Helm,    Die    Energetik    und    ihre    geschichtl.    Entwicklung. 
Leipzig  1898,  S.  215. 

213 


wenn  das  Atom  in  seiner  modernen  physikalischen  Anwendung 
mehr  und  mehr  das  Moment  der  Stofflichkeit  abstreift; 
wenn  es  sich  in  Wirbelbewegungen  im  Äther  auflöst,  die  aber 
vermöge  ihrer  Eigenart  die  Bedingungen  der  Unzerstörlichkeit 
und  der  physischen  Unteilbarkeit  erfüllen.  Der  Forderung  der 
Identität,  die  allerdings  unausweichlich  ist,  wird  hier 
nicht  mehr  durch  irgendwelche  materiellen  Substrate,  sondern 
durch  dauernde  Bewegungsformen  genügt.  All- 
gemein zeigt  es  sich,  daß,  sobald  irgendein  physikalischer 
Vorgang,  der  bisher  als  einfach  galt,  unter  einen  neuen  Gesichts- 
punkt gestellt  wird,  kraft  dessen  er  als  Ergebnis  einer  Mehrheit 
von  Bedingungen  erscheint,  auch  das  Substrat,  das  man  ihm 
zugrunde  legte,  sich  alsbald  spaltet.  Sobald  die  Trägheit 
uns  nicht  mehr  als  eine  schlechthin  absolute  Eigenschaft 
der  Körper  erscheint,  sondern  sich  ein  Weg  darbietet,  sie 
kraft  der  Gesetze  der  Elektrodynamik  abzuleiten,  zerfällt 
damit  das  bisherige  materielle  Atom  und  löst  sich  in  ein 
System  von  Elektronen  auf.  Die  neue  Einheit,  die  auf 
diese  Weise  gewonnen  wird,  kann  indessen  selbst  wieder  nur 
als  relative  und  somit  im  Prinzip  veränderliche  gedacht  werden. 
Die  schärfere  Zergliederung  der  physikalischen  Beziehungen 
führt  zu  immer  neuen  Bestimmungen  und  Differenzierungen 
innerhalb  ihrer  Subjekte.  So  kann  man  sagen,  daß  der  Inhalt 
des  Atombegriffs  als  veränderlich  zu  gelten  hat,  während 
die  Funktion,  die  ihm  zukommt,  den  jeweiligen  Stand 
der  Erkenntnis  zu  fixieren  und  auf  seinen  prägnantesten  ge- 
danklichen Ausdruck  zu  bringen,  allerdings  beharrt.  Nur  der 
Ansatzpunkt  der  Anwendung  verschiebt  sich:  das  Verfahren 
der  Einheitssetzung  selbst  aber  bleibt  konstant.  Die  „Ein- 
fachheit" der  Atome  ist  im  Grunde  selbst  ein  rein  logisches 
Prädikat:  sie  wird  bestimmt  nicht  durch  die  Beziehung  auf 
unsere  sinnliche  Unterscheidungsfähigkeit,  noch  mit  Rücksicht 
auf  die  physikalisch-technischen  Mittel  der  Zerlegung,  sondern 
im  Hinblick  auf  die  gedankliche  Analyse  der 
Naturerscheinungen.  Jeder  Fortschritt  dieser  Analyse,  jede 
Einordnung  großer  Gesamtgebiete  in  einen  neuen  Zusammen- 
hang —  wie  sie  in  der  modernen  Physik  insbesondere  auf 
Grund    der    Erscheinungen    der    Radioaktivität    ermöglicht 

214 


worden  ist  —  verändert  zugleich  unsere  Anschauung  von  der 
„Konstitution"  der  Materie  und  von  den  Elementen,  aus 
denen  sie  sich  aufbaut.  Die  neue  inhaltliche  Einheit,  die  wir 
fixieren,  ist  stets  nur  der  Ausdruck  des  relativ  höchsten 
und  umfassendsten  Gesichtspunktes  der  Be- 
urteilung für  den  Inbegriff  der  physikalischen  Dinge 
und  Vorgänge  überhaupt. 

Eine  analoge  Entwicklung  bietet  sich  dar,  wenn  man 
vom  Begriff  der  Materie  zu  dem  zweiten  Grund-  und 
Hauptbegriff  der  Naturwissenschaft,  zum  Begriff  des  Äthers 
übergeht.  Die  Schwierigkeiten,  die  sich  hier  zunächst  ergeben, 
stammen  ebenfalls  daher,  daß  man  in  diesen  Begriff,  um 
ihm  einen  bestimmten  Gehalt  zu  geben,  gewisse  Grund- 
merkmale aufnehmen  muß,  die  anfangs  unmittelbar  aus  dem 
Vergleich  mit  den  Gegenständen  der  Sinneswahrnehmung 
gewonnen  sind.  Der  Äther  erscheint  demnach  als  eine  voll- 
kommene Flüssigkeit,  die  aber  anderseits  mit  gewissen 
Eigenschaften  der  vollkommen  elastischen  Körper  ausgestattet 
ist.  Aus  der  Verbindung  dieser  beiden  Momente  aber  ergibt 
sich  zunächst  kein  völlig  einheitliches  Bild:  der  Grenzfall 
selbst  zeigt  ein  verschiedenes  Ansehen,  je  nachdem  wir  uns 
ihm  in  der  einen  oder  anderen  Richtung  nähern,  je  nachdem 
wir  ihn  also  von  verschiedenen  empirischen  Ausgangspunkten 
her  durch  fortschreitende  Idealisierung  zu  erreichen  suchen. 
Der  Widerstreit,  der  hier  entsteht,  findet  erst  dann  seine 
prinzipielle  Lösung,  wenn  man  sich  entschließt,  auf  jede 
unmittelbare  sinnliche  Veranschaulichung  des  Äthers 
zu  verzichten  und  ihn  lediglich  als  begriffliches  Symbol 
für  bestimmte  physikalische  Grundbeziehungen  zu  brauchen*. 
Wir  finden  eine  physikalische  Erscheinung,  wie  etwa  eine 
bestimmte  Lichtwirkung  an  einem  gewissen  Punkte  des 
Raumes  vor,  während  wir  ihre  ,, Ursache"  an  einen  davon 
entfernten  Raumpunkt  zu  verlegen  haben.  Um  einen  stetigen 
Zusammenhang  zwischen  diesen  beiden  Zuständlich- 
keiten  herzustellen,  fordern  wir  nunmehr  für  sie  eine  Ver- 
mittlung, indem  wir  den  Zwischenraum  stetig  mit  bestimmten 

*  Vgl.  hierüber  z.  B.  Pearson,  The  Grammar  of  Science,  S.  178  ff., 
262  ff. 

215 


Qualitäten,  die  durch  reine  Zahlwerte  ausdrückbar  sind, 
erfüllt  sein  lassen.  Der  Inbegriff  derartiger  numerischer 
Bestimmtheiten  ist  die  eigentliche  Grundkonzeption,  die  wir 
im  Gedanken  des  Äthers  festhalten.  Der  einheitliche  und 
streng  homogene  Raum  wird  hier  fortschreitend  differenziert, 
indem  wir  in  ihn  gleichsam  ein  Gewebe  von  Zahlen  ein- 
zeichnen. Diese  Abstufung  der  einzelnen  Lage  -  Elemente 
und  ihre  Einreihung  in  verschiedene  mathematisch  -  physi- 
kalische Grundreihen  ist  es,  die  ihnen  einen  neuen  Inhalt 
verleiht.  Der  „leere"  Raum,  der  nur  ein  einzelnes  Prinzip 
der  Anordnung  darstellt,  wird  jetzt  gewissermaßen  überdeckt 
von  einer  Fülle  anderer  Bestimmungen,  die  aber  sämtlich 
dadurch  zusammengehalten  sind,  daß  zwischen  ihnen  be- 
stimmte funktionale  Abhängigkeiten  bestehen.  Alles  was 
die  Physik  vom  „Sein"  des  Äthers  lehrt,  läßt  sich  in  der 
Tat  zuletzt  auf  Urteile  über  derartige  Verknüpfungen  zurück- 
führen. Wenn  gemäß  der  elektromagnetischen  Theorie  des 
Lichtes  die  Identität  des  Lichtäthers  mit  demjenigen  Äther, 
in  dem  sich  die  elektromagnetischen  Wirkungen  fortpflanzen, 
behauptet  wird,  so  geschieht  dies,  weil  die  Gleichungen, 
auf  die  man  in  der  Untersuchung  der  Lichtschwingungen 
geführt  wird,  mit  denjenigen,  die  sich  für  die  dielektrische 
Polarisation  ergeben,  in  ihrer  Form  identisch  sind,  und  weil 
ferner  die  numerischen  Konstanten,  vor  allem  die  Konstante 
für  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit,  beiderseits  überein- 
stimmen*. Die  Annahme  des  gleichen  Substrats  ist 
auch  hier  nur  eine  andere  Bezeichnung  für  die  durchgängige 
Analogie  der  mathematischen  Verhältnisse:  für  die  Zu- 
sammenhänge, die  zwischen  den  Werten  der  optischen  und 
elektrischen  Konstanten  bestehen.  Je  umfassender  und  be- 
wußter daher  der  Gebrauch  wird,  den  die  Physik  vom  Begriff 
des  Äthers  macht,  um  so  klarer  zeigt  sich  auch  hier,  daß  der 
Gegenstand,  der  damit  bezeichnet  werden  soll,  nicht 
als  gesondertes,  für  sich  wahrnehmbares  Einzelding,  sondern 
nur  als  die  Vereinigung  und  Konzentration  objektiv  gültiger, 
meßbarer  Beziehungen  gemeint  sein  kann. 

♦  S.  Henri  Poincarö,  Elektrizität  und  Optik,  Deutache  Ausgabe, 
Berlin  1891,  S.  159  ff. 

216 


überblickt  man  jetzt  nochmals  die  Wandlungen,  die  der 
naturwissenschaftliche  Substanzbegriff  von  seinen  ersten 
spekulativen  Anfängen  an  erfahren  hat,  so  tritt  in  voller 
Deutlichkeit  das  einheitliche  Ziel  heraus,  dem  er  zustrebt. 
Es  muß  zunächst  wie  eine  wahrhafte  Verarmung  der 
Wirklichkeit  erscheinen,  wenn  man  sieht,  wie  hier  dem  Gegen- 
stand mehr  und  mehr  alle  Daseins- Qualitäten  abgestreift 
werden;  wie  er  nicht  nur  seine  Farbe,  seinen  Geschmack, 
seinen  Geruch,  sondern  allmählich  auch  seine  Gestalt  und 
Ausdehnung  verliert,  und  zum  bloßen  ,, Punkt"  zusammen- 
schrumpft*. Das  „Stück  Wachs",  das  Descartes  seiner 
bekannten  Analyse  des  Gegenstandsbegriffs  zugrunde  legt, 
wandelt  sich  aus  einem  festen  warmen,  hellen,  duftenden  Ding 
in  eine  bloße  geometrische  Figur  von  bestimmten  Umrissen 
und  Dimensionen.  Und  auch  bei  dieser  Rückführung  bleibt 
der  gedankliche  Prozeß  nicht  stehen:  er  gelangt  nicht  eher 
zur  Ruhe,  als  bis  auch  die  Ausdehnung  selbst  sich  in  die  bloße 
Erscheinung  der  einfachen  und  unteilbaren  Kraftzentren 
aufgelöst  hat.  Diese  fortschreitende  Umbildung  muß  un- 
verständlich scheinen,  sobald  man  das  Ziel  der  Naturwissen- 
schaft darein  setzt,  eine  möglichst  vollkommene  Kopie 
der  äußeren  Wirklichkeit  zu  gewinnen.  Jede  neue  theoretische 
Konzeption,  die  sie  einführt,  würde  die  Wissenschaft  alsdann 
immer  weiter  von  ihrer  eigentlichen  Aufgabe  entfernen: 
das  empirische  Dasein,  das  sie  festhalten  und  unverfälscht 
bewahren  soll,  droht  ihr  umgekehrt,  kraft  der  eigentümlichen 


*  Vgl.  z.  B.  die  Charakteristik  des  „Elektrons",  also  des  Grtind- 
elements  der  „Materie",  bei  Lucien  Poincarö,  Die  moderne  Physik, 
S.  249:  „Somit  muß  das  Elektron  als  eine  der  Materie  entbehrende  einfache 
elektrische  Ladung  betrachtet  werden.  Unsere  ersten  Untersuchungen 
hatten  uns  veranlaßt,  ihm  eine  tausendmal  geringere  Masse  zuzuschreiben, 
als  die  eines  Wasserstoffatoms  ist,  ein  sorgfältigeres  Studium  zeigt  uns  nun, 
daß  diese  Masse  nur  eine  Fiktion  war;  die  elektromagnetischen  Erschei- 
nungen, die  eintreten,  wenn  man  das  Elektron  in  Bewegung  setzen  oder 
seine  Geschwindigkeit  wechseln  lassen  will,  haben  die  Wirkung,  gewisser- 
maßen die  Trägheit  vorzutäuschen,  und  diese  auf  seiner  Ladung  beruhende 
Trägheit  hatte  uns  irregeführt.  Das  Elektron  ist  also  einfach  ein  kleines 
bestimmtes  Volurpen  an  einem  Punkt  des  Äthers,  das  besondere  Eigen- 
schaften besitzt,  und  dieser  Punkt  pflanzt  sich  mit  einer  Geschwindigkeit 
fort,  die  die  Geschwindigkeit  des  Lichtes  nicht  übersteigen  kann.  —  Vgl. 
auch  E.  Meyerson,  Identitö  et  Röalitö,  S.  228 ff. 

217 


Methode,  deren  sie  nicht  entraten  kann,  unter  den  Händen 
zu  zerrinnen.  Hier  ist  in  der  Tat  kein  Ausgleich  möglich;  die 
Schärfe  und  die  vollkommene  rationale  Durchsichtigkeit 
der  Zusammenhänge,  die  sie  entwickelt,  wird  nur  mit  dem 
Verlust  der  unmittelbaren  dinglichen  Realität  erkauft.  Dieses 
Wechselverhältnis  aber  enthält  zugleich  die  eigentliche  Lösung 
des  Problems.  Erst  dadurch,  daß  die  Wissenschaft  darauf 
verzichtet,  ein  direktes  sinnliches  Abbild  der  Wirklichkeit 
zu  geben,  vermag  sie  eben  diese  Wirklichkeit  selbst  als  eine 
notwendigeVerknüpfung  von  Gründen  und  Folgen 
darzustellen.  Nur  indem  sie  aus  dem  Kreise  des  Gegebenen 
heraustritt,  schafft  sie  sich  die  gedanklichen  Mittel,  die 
Gesetzlichkeit  des  Gegebenen  darzustellen.  Denn  die  Mo- 
mente, auf  denen  die  gesetzliche  Ordnung  der  Wahrneh- 
mungen beruht,  liegen  niemals  als  Einzelbestandteile  in 
den  Wahrnehmungen  selbst.  Bestände  der  Sinn  der  Natur- 
wissenschaft darin,  die  Wirklichkeit,  die  in  konkreten  Empfin- 
dungen gegeben  ist,  nur  einfach  zu  wiederholen,  so  wäre  dies 
in  der  Tat  ein  vergebliches  und  nutzloses  Bemühen:  denn 
welches  noch  so  vollkommene  Bild  vermöchte  das  Original 
an  Schärfe  und  Genauigkeit  zu  erreichen?  Die  Erkenntnis 
bedarf  einer  derartigen  Verdoppelung  nicht,  die  doch  die  logi- 
sche Form,  in  der  sich  uns  die  Wahrnehmungen  darbieten, 
unverändert  lassen  würde.  Statt  hinter  der  Welt  der 
Perzeptionen  ein  neues  Dasein  zu  erdichten,  das  doch 
immer  nur  aus  den  Materialien  der  Empfindung  aufgebaut 
sein  könnte,  begnügt  sie  sich  damit,  die  allgemeingültigen 
intellektuellen  Schemata  zu  entwerfen,  in  welchen  die  Be- 
ziehungen und  Zusammenhänge  der  Perzeptionen  sich  voll- 
ständig darstellen  lassen  müssen.  Atom  und  Äther,  Masse 
und  Kraft  sind  nichts  anderes  als  Beispiele  derartiger  Schemata, 
die  ihre  Aufgabe  um  so  genauer  erfüllen,  je  weniger  sie  in  sich 
selbst  von  direktem  Wahrnehmungsgehalt  bewahrt  haben. 
So  erhalten  wir  zwei  gesonderte  Gebiete  und  gleichsam 
zwei  verschiedene  Dimensionen  des  Begriffs:  den  Begriffen, 
die  ein  Dasein  bezeichnen,  stehen  die  Begriffe  entgegen, 
die  lediglich  eine  mögliche  Form  der  Verknüpfung  zum  Aus- 
druck bringen.     Dennoch  ist  es  kein  metaphysischer  Dua- 

218 


lismus,  der  hier  entsteht,  denn  so  wenig  zwischen  den  Gebilden 
beider  Gebiete  irgendeine  direkte  Ähnlichkeit  besteht, 
so  notwendig  sind  sie  wechselweise  aufeinander  bezogen. 
Die  Ordnungsbegriffe  der  mathematischen  Physik  haben 
keinen  anderen  Sinn  und  keine  andere  Funktion,  als  dem 
vollkommenen  gedanklichen  Überblick  über  die  Beziehungen 
des  empirischen  Seins  zu  dienen.  Wird  dieser  Zusammenhang 
zerrissen,  so  entsteht  eine  doppelte  Antinomie.  Hinter  der 
Welt  unserer  Erfahrungen  erhebt  sich  ein  Reich  absoluter 
Substanzen,  die,  selbst  eine  Art  von  Dingen,  dennoch  allen 
Erkenntnismitteln,  mit  denen  wir  sonst  die  Dinge  der  Er- 
fahrung erfassen,  unzugänglich  bleiben.  Das  ,, wahrhaft 
Wirkliche"  der  Physik:  das  System  der  Atome  und  Fernkräfte, 
bleibt  prinzipiell  unverständlich.  Es  drängt  sich  uns  die 
unabweisliche  Vorstellung  auf  von  etwas  ewig  unvorstellbar 
Vorhandenem,  das  wir  doch,  da  wir  in  dieses  „extraphänome- 
nale Jenseits"  nicht  übergreifen  können,  niemals  zu  erreichen 
vermögen.  So  verblaßt  die  Welt  der  unmittelbaren  Erfahrung 
zum  Schatten;  während  andererseits  das,  was  wir  für  sie  ein- 
tauschen, als  ewig  unbegreifliches  Rätsel  vor  uns  stehen  bleibt. 
„Die  mannigfaltigen  Formen  des  Absoluten  sind  nicht  etwa 
Fenster  unseres  Vorstellungssystems,  welche  einen  Ausblick 
in  die  extraphänomenale  Welt  gestatten,  sie  lehren  nur, 
wie  undurchdringlich  die  Mauern  unseres  intraphänomenalen 
Gefängnisses  sind."  Die  Physik  selbst  führt  in  ihrem  stetigen 
und  notwendigen  Fortschritt  auf  ein  dauernd  unerforschliches 
Gebiet:  auf  eine  ,, terra  nunc  et  in  aeternum  incognita"*. 
Auf  der  andern  Seite  wird  es  unbegreiflich,  wie  wir  mit  unseren 
physikalischen  Begriffen,  die  lediglich  durch  ein  Überschreiten 
des  ,, Vorstellungssystems"  entstanden  sind,  zu  eben  diesem 
System  wieder  zurückkehren,  wie  wir  hoffen  können,  es  auf 
Grund  von  Gedanken  zu  beherrschen,  die  im  bewußten  Wider- 
spruch zu  seinem  eigentlichen  Inhalt  geschaffen  worden  sind. 
Alle  diese  Zweifel  lösen  sich  indessen,  sobald  man  die  physikali- 
schen Begriffe  nicht  mehr  für  sich,  sondern  gleichsam  in  ihrer 
natürlichen    Genealogie,    also    im    Zusammenhang    mit    den 

*   S.    P.   du   Bois-Reymond,    Über   die   Grundlagen   der   Er- 
kenntnis in  den  exakten  Wissenschaften,  S.  112  ff.     (Vgl.  oben,  S.  162 ff.) 

'  219 


mathematischen  Begriffen  betrachtet.  In  der  Tat 
führen  sie  nur  den  Prozeß  fort,  der  in  diesen  letzteren  angelegt 
ist  und  der  hier  zur  vollen  Klarheit  gelangt.  Der  Sinn  des 
mathematischen  Begriffs  ließ  sich  nicht  fassen,  solange  man 
für  ihn  noch  irgendein  Vorstellungs-Korrelat  im  Gegebenen 
suchte;  er  trat  erst  hervor,  sobald  man  ihn  als  Ausdruck  einer 
reinen  Beziehung  erkannte,  auf  der  die  Einheit  und 
die  kontinuierliche  Verknüpfung  der  Glieder  einer  Mannig- 
faltigkeit beruht.  Auch  die  Funktion  des  physikalischen 
Begriffs  wird  erst  in  dieser  Umwendung  deutlich.  Je  mehr  er 
auf  jeden  selbständig  perzipierbaren  Inhalt  verzichtet,  je 
mehr  er  alles  Bildliche  von  sich  abstreift,  um  so  schärfer 
hebt  sich  seine  logisch-systematische  Leistung  heraus.  (Vgl. 
oben,  S.  195  ff.)  Was  das  ,,Ding"  des  populären  Weltbildes  an 
Eigenschaften  verliert,  das  wächst  ihm  an  Beziehungen  zu: 
denn  jetzt  steht  es  nicht  mehr  isoliert  und  ruht  auf  sich  allein, 
sondern  ist  mit  der  Gesamtheit  der  Erfahrung  durch  logische 
Fäden  unlöslich  verknüpft.  Jeder  Einzelbegriff  ist  gleichsam 
einer  dieser  Fäden,  an  dem  wir  die  wirklichen  Erfahrungen 
aufreihen  und  mit  künftigen  möglichen  verknüpfen.  Die 
Gegenstände  der  Physik:  die  Masse  wie  die  Kraft, 
das  Atom  wie  der  Äther,  können  nicht  mehr  als  ebensoviele 
neue  Realitäten,  die  es  zu  erforschen  und  in  deren  Inneres 
es  einzudringen  gilt,  mißverstanden  werden,  sobald  sie  einmal 
als  die  Instrumente  erkannt  sind,  die  der  Gedanke  sich  schaffen 
muß,  um  das  Gewirr  der  Erscheinungen  selbst  als  gegliedertes 
und  meßbares  Ganze  zu  überschauen.  So  ist  es  nur  eine 
Wirklichkeit,  die  uns  gegeben  ist,  die  uns  aber  in  verschiedener 
Weise  zum  Bewußtsein  kommt,  indem  wir  sie  das  eine  Mal 
in  ihrer  sinnlichen  Anschaulichkeit,  aber  zugleich  in  ihrer 
sinnlichen  Vereinzelung  betrachten,  während  wir  auf  dem 
Standpunkt  der  Wissenschaft  nur  diejenigen  Momente  an  ihr 
festhalten,  auf  denen  ihre  intellektuelle  Verknüpfung  und 
„Harmonie"  beruht.  — 

Die  Geschichte  der  Physik  läßt  erkennen,  wie  diese 
eigentümliche  Durchdringung  des  Sinnlichen  mit  dem  Ge- 
danklichen auch  von  den  großen  empirischen  Forschern  selbst 
allmählich  immer  klarer  als  bewußte  logische  Einsicht  erfaßt 

220 


und  ausgesprochen  wird.  Demokrit,  der  zuerst  ein  all- 
gemeines Grundschema  der  wissenschaftlichen  Naturerklärung 
erschafft,  ergreift  auch  alsbald  das  philosophische  Problem, 
das  in  ihm  latent  ist.  Die  Bewegung  verlangt  zu  ihrer  Dar- 
stellung das  Leere:  der  leere  Raum  selbst  aber  ist  kein 
sinnlich  Gegebenes,  keine  dingliche  Wirklichkeit.  Somit  wird 
es  unmöglich,  das  wissenschaftliche  Denken,  wie  der  Eleatische 
Idealismus  es  versucht  hatte,  lediglich  auf  das  Sein  zu 
beziehen  und  an  das  Sein  zu  ketten :  sondern  das  Nicht- 
S  e  i  n  wird  ein  ebenso  notwendiger  und  unumgänglicher 
Begriff.  Die  gedankliche  Beherrschung  der  empirischen 
Wirklichkeit  selbst  ist  ohne  diesen  Begriff  nicht  zu  erreichen. 
Die  Eleaten  haben  mit  ihrer  Abweisung  dieses  Begriffs  nicht 
nur  das  Denken  eines  fundamentalen  Hilfsmittels  beraubt: 
sie  haben  die  Phänomene  selbst  zerstört,  indem  sie  sich 
die  Möglichkeit  nahmen,  sie  in  ihrer  Mannigfaltigkeit 
und  Veränderlichkeit  zu  verstehen  und  anzuerkennen.  Der 
Gedanke  des  Nicht- Seins  bedeutet  somit  keine  dialektische 
Erdichtung:  sondern  er  wird  umgekehrt  als  einziges  Mittel 
ergriffen,  um  das  Recht  der  Physik  gegenüber  den  Übergriffen 
eines  spekulativen  Idealismus  zu  schützen.  Gerade  dann, 
wenn  man  in  den  Tatsachen  selbst  den  höchsten  Maß- 
stab für  alle  begrifflichen  Konzeptionen  sieht,  wenn  man  kein 
anderes  Ziel  der  Begriffe  anerkennt,  als  das  Faktum  der 
Bewegung  und  somit  der  Natur  verständlich  zu  machen,  muß 
man  zugestehen,  daß  in  diesem  Faktum  ein  Moment  ein- 
geschlossen liegt,  das  sich  der  direkten  Anschauung  ent- 
zieht. Der  leere  Raum  ist  für  die  Phänomene  notwendig, 
wenngleich  er  nicht  die  gleiche  sinnliche  Form  des  Daseins 
wie  die  konkreten  Einzelerscheinungen  besitzt.  Im  Begreifen 
des  Wirklichen  kommt  diesem  sinnlichen  „Nichts"  dieselbe 
Stelle  und  dieselbe  unverbrüchliche  Gültigkeit  wie  dem 
,, Etwas"  zu:  firj  fiälXov  rb  dkv  ij  xo  f^rjöev*.    Das  Sein,  das  dem 


*  Vgl.  Aristoteles  de  generatione  et  corruptione  A  8,  325  a:  iiloig  yaQ 
tiov  aQxaliov  eöo^e  xo  ov  i^  aväyxijq  ^'v  flvai  xal  axtvTjZOV.  xo  fj,6v  yaQ  xsvov 
ovx  ov,  xivTj&Tjvai  d'ovx  av  övvaoS-at  fXT]  ovxog  xevov  xexiOQio/nevov  .  .  .  ix 
fikv   ovv  xovxcav   xwv  Xoyatv   wtsgßävxsq  x^v  alad-TjOiv  xal  naQiöovxe^  avx^v 

221 


wissenschaftlichen  Prinzip  im  Unterschied  von  irgend- 
welcher konkreter  Gegebenheit  eignet,  gelangt  hier 
geschichtlich  zum  ersten  Male  zu  klarer  Absonderung*.  Der 
physikalischeBegriff  grenzt  sich  in  einer  doppelten 
Entgegensetzung:  sowohl  gegenüber  der  metaphysischen  Spe- 
kulation, wie  gegenüber  der  unmethodischen  sinnlichen  Wahr- 
nehmung seine  Sphäre  ab.  Der  geometrische  Raum  dient 
hierbei  als  Beispiel  und  Typus  der  reinen  Relationsbegriffe 
überhaupt.  Wie  er  es  ist,  der  die  Atome  erst  zur  Einheit 
zusammenschließt  und  Bewegung  und  Wechselwirkung  zwi- 
schen ihnen  ermöglicht,  so  kann  er  allgemein  als  Sinnbild 
für  diejenigen  Grundsätze  gelten,  auf  denen  der  Zusammen- 
hang des  Wirklichen  und  Gegebenen  beruht,  ohne  daß  sie 
selbst  Teile  der  anschaulichen  Wirklichkeit  bilden.  Die 
Sinne,  die  in  den  „konventionellen"  und  subjektiven  Gegen- 
sätzen des  Warmen  und  Kalten,  des  Süßen  und  Bittern 
befangen  sind,  vermögen  das  Ganze  der  Objektivität  nicht  zu 
erschöpfen.  Denn  dieses  Ganze  vollendet  sich  erst  in  den 
mathematisch  funktionalen  Abhängigkeiten,  die  ihnen,  da 
sie  am  Einzelnen  haften,  unzugänglich  bleiben.  — 

Die  Physik  der  neueren  Zeit  hat  diese  Grundgedanken 
unverändert  bewahrt;  denn  wie  Galilei  als  experimenteller 
Forscher  direkt  wiederum  an  Archimedes  anknüpft, 
so  geht  er  in  seiner  philosophischen  Gesamtansicht  auf  D  e  m  o  - 
k  r  i  t  zurück.  Er  beschreibt  und  ergänzt  wie  Demokrit 
den  Gedanken  der  Natur  durch  den  Gedanken  der  Notwendig- 
keit: in  den  Umkreis  der  naturwissenschaftlichen  Forschung 
gehören  nur  ,,die  wahren  und  notwendigen  Dinge,  die  sich 
unmöglich  anders  verhalten  können".    Der  Begriff  der  Wahr- 


cuc  X(p  Xoycj)  Siov  caioXov^elv  %v  xal  axhrjxov  ro  nav  elval  <pttai  xal  aneigov 
fvioi  .  .  .  Afvxinnoq  S't/siv  o'itjS^t]  Xöyovg  oltiveg  ngog  t^v  aiad-r]aiv  ofxoXo- 
yoifxeva  Xiyovxeq  oix  avatg^aovoiv  ovre  yivsaiv  ovxe  (pS-OQav  oine  xlvrjaiv 
xal  t6  nXrjS^og  rä>v  ovxwv.  o/noXoyTjoai  6h  tavra  /xev  xoiq  «paivofievotg,  xoTq  da 
ro  ?v  xaraaxevcctiOvaiv  wq  ovx  av  xIvtjoiv  ovaav  avev  xevov,  z6  xe  xfvbv  /ütj 
ov  xal  xov  ovxoq  ov&hv  fii]  6v  tpjjaiv  elvai.  xo  yag  xvgltüq  ov  naßnX.rjQEg  ov. 
♦  Zur  geschichtlichen  und  systematischen  Bedeutiing  des  Begriffs 
des  /XT]  ov  8.  C  o  h  e  n  ,  Piatons  Ideenlehre  und  die  Mathematik,  Marburg 
1879;  Logik  der  reinen  Erkenntnis,   S.  70  u.  s. 

222 


heit  aber  bleibt  auch  ihm  vom  Begriff  der  Wirklichkeit  ge- 
schieden. Wie  die  Sätze  des  Archimedes  über  die  Spirale 
richtig  bleiben,  auch  wenn  es  keinen  Körper  in  der  Natur 
gibt,  der  sich  spiralförmig  bewegt,  so  dürfen  wir  in  der  Grund- 
legung der  Dynamik  von  der  Voraussetzung  einer 
gleichförmig  beschleunigten  Bewegung  gegen  einen  bestimmten 
Punkt  hin  ausgehen  und  alle  Folgerungen,  die  sich  hieraus 
ergeben,  begrifflich  ableiten.  Stimmt  sodann  die  empirische 
Beobachtung  mit  diesen  Folgerungen  überein,  so  daß  also 
in  der  Bewegung  der  schweren  Körper  dieselben  Verhältnisse 
sich  wiederfinden,  die  die  Theorie  aus  der  hypothetischen 
Annahme  entwickelt  hat,  so  können  wir  ohne  Gefahr  des 
Irrtums  die  Bedingungen,  die  zunächst  rein  gedanklich  fixiert 
wurden,  in  der  Natur  als  erfüllt  ansehen;  aber  selbst,  wenn 
dies  Letztere  nicht  der  Fall  wäre,  würden  unsere  Sätze  nichts 
von  ihrer  Geltung  verlieren,  da  sie  an  und  für  sich  keine  Aus- 
sagen über  Existenz  enthalten,  sondern  nur  an  gewisse  ideelle 
Prämissen  bestimmte  ideelle  Schlußfolgerungen  knüpfen. 
In  Galileis  Darstellung  und  Verteidigung  seines  obersten 
dynamischen  Prinzips  kommt  dieser  allgemeine  Gedanke 
sogleich  zu  bezeichnender  Anwendung.  Das  Trägheits- 
gesetz besitzt  für  ihn  durchaus  den  Charakter  eines  mathe- 
matischen Grundsatzes,  der,  wenngleich  seine  Folgen  auf 
Verhältnisse  der  äußeren  Wirklichkeit  anwendbar  sind, 
doch  keineswegs  selbst  eine  direkte  Abbildung  eines 
empirisch  irgendwie  gegebenen  Sachverhalts  bedeutet.  Die 
Bedingungen,  von  denen  er  spricht,  sind  aktuell  niemals  ver- 
wirklicht; sie  sind  nur  kraft  der  ,,resolutiven  Methode" 
gewonnen  und  festgesetzt.  Wenn  daher  Simplicio  —  in  einer 
Stelle  des  ,, Dialogs  über  die  beiden  Weltsysteme"  —  bereit  ist, 
die  unbeschränkte  Fortdauer  der  Bewegung  eines  sich  selbst 
überlassenen  Körpers  auf  der  Horizontalebene  zuzugestehen, 
sofern  nur  der  Körper  selbst  von  genügend  dauer- 
haftem Stoff  ist,  so  wird  ihm  von  Salviati- Galilei  bedeutet, 
daß  diese  Voraussetzung  für  den  eigentlichen  Gehalt  des 
Beharrungsprinzips  ohne  Belang  ist:  die  stoffliche  Beschaffen- 
heit des  besonderen  Körpers  selbst  ist  lediglich  ein  zufälliger 
und  äußerer  Umstand,  der  bei  der  Ableitung  und  dem  Beweis 

223 


des  Prinzips  in  keiner  Weise  benutzt  wird.  Wie  für  Demokrit 
der  leere  Raum,  so  ist  für  Galilei  die  Trägheitsbewegung  zwar 
ein  Postulat,  das  wir  für  die  wissenschaftliche  Dar- 
stellung der  Erscheinungen  nicht  entbehren  können,  aber  nicht 
selbst  ein  konkreter,  sinnlich  aufweisbarer  Vorgang  der 
äußeren  Wirklichkeit.  Sie  bezeichnet  eine  Idee,  die  zum 
Zwecke  der  Ordnung  der  Erscheinungen  konzipiert  ist,  aber 
mit  diesen  Erscheinungen  selbst  methodisch  nicht  auf  der 
gleichen  Stufe  steht.  Daher  bedarf  diese  Bewegung  denn  auch 
keines  wirklichen,  sondern  lediglich  eines  gedachten  Substrats: 
die  ,, materiellen  Punkte"  der  Mechanik,  nicht  die  empirischen 
Körper  unserer  Wahrnehmungswelt  bilden  die  eigentlichen 
Subjekte  für  die  exakte  Aussprache  des  Prinzips.  Wir  sehen, 
wie  hier  die  neuere  Wissenschaft  Demokrits  Grundgedanken 
festgehalten  hat,  um  dennoch  in  bestimmtem  Sinne  über  ihn 
hinauszuschreiten:  denn  was  dort  für  den  Begriff  des  Leeren 
ausgeführt  wurde,  das  überträgt  sich  auf  den  Begriff  der 
Materie  selbst,  auf  das  Tta^utk^QBi  ov.  Auch  die  Materie  im 
Sinne  der  reinen  Physik  ist  kein  Gegenstand  der  Wahrnehmung, 
sondern  der  Konstruktion.  Die  festen  Umrisse  und  die  geo- 
metrische Bestimmtheit,  die  wir  ihr  geben  müssen,  sind  allein 
dadurch  möglich,  daß  wir  über  das  Gebiet  der  Empfindungen 
zu  deren  ideellen  Grenzen  fortschreiten.  Die  Materie, 
mit  der  die  exakte  Wissenschaft  es  allein  zu  tun  hat,  existiert 
somit  niemals  als  „Perzeption",  sondern  stets  nur  als  „Kon- 
zeption". „Wenn  wir  den  Raum  als  objektiv  und  die  Materie 
als  dasjenige  ansehen,  was  ihn  erfüllt  —  so  heißt  es  bei  einem 
modernen  physikalischen  Schriftsteller  streng  „empiristischer" 
Richtung  —  so  haben  wir  damit  eine  Konstruktion  geschaffen, 
die  in  der  Hauptsache  auf  geometrischen  Symbolen  ruht. 
Wir  projizieren  die  Begriffe  der  Form  und  des  Volumens 
vom  Gebiet  des  Denkens  in  das  der  Wahrnehmung  und  wir 
sind  so  sehr  an  diese  Begriffselemente  gewöhnt,  daß  wir  sie 
mit  Realitäten  der  Wahrnehmung  selbst  verwechseln.  In 
Wahrheit  ist  es  das  begriffliche  Volumen  und  die  begriffliche 
Form,  die  den  Raum  erfüllt:  und  ihr  allein,  nicht  aber  den 
sinnlichen  Eindrücken,  können  wir  Bewegung  zusprechen*." 
*  Pearson,  The  Grammar  of  Science,  S.  250  f. 

224 


So  folgt  der  Begriff  der  Materie  dem  gleichen  Gesetz,  das  all- 
gemein die  logische  Entwicklung  der  naturwissenschaftlichen 
Prinzipien  beherrscht.  Die  sinnlichen  Merkmale,  die  ihm 
anhaften,  bilden  jetzt  keinen  wesentlichen  Bestand  seiner 
Bedeutung  mehr.  Selbst  das  Moment  der  ,,  Schwere",  das 
zunächst  einen  unentbehrlichen  Bestandteil  auszumachen 
scheint,  tritt  zurück  und  wird  in  dem  Übergang,  der  sich  vom 
Begriff  der  Materie  zum  reinen  Begriff  der  Masse  vollzieht, 
ausgeschaltet.  Von  der  Masse  aber  gelangen  wir  weiter  zum 
bloßen  Massenpunkt,  der  nur  noch  durch  einen  bestimmten 
Zahlenwert,  durch  einen  bestimmten  Koeffizienten  gekenn- 
zeichnet und  unterschieden  ist.  Die  Materie  selbst  wird  zur  — 
Idee,  indem  sie  sich  immer  deutlicher  auf  die  idealen  Kon- 
zeptionen einschränkt,  die  durch  die  Mathematik  geschaffen 
und  beglaubigt  werden. 

VI. 

Der  Aufbau  des  Systems  der  reinen  Mechanik  kann  sich 
logisch  auf  verschiedene  Weise  vollziehen,  je  nach  der  Art  und 
Anzahl  der  Grundbegriffe,  von  denen  man  ausgeht.  Während 
die  klassische  Mechanik,  die  in  Newtons  Prinzipien  zum  ersten 
Abschluß  gelangt,  sich  auf  den  Begriffen  von  Raum  und  Zeit, 
Masse  und  Kraft  aufbaut,  ist  in  modernen  Darstellungen 
an  Stelle  dieses  letzteren  Begriffs  der  Begriff  der  Energie 
getreten.  Die  Prinzipien  der  Mechanik  von  Heinrich 
Hertz  haben  schließlich  eine  neue  Anschauung  durch- 
geführt, indem  sie  sich  lediglich  auf  die  Festsetzung  dreier 
unabhängiger  Grundbegriffe:  des  Raumes,  der  Zeit 
und  der  Masse  stützen  und  von  hier  aus,  indem  neben  den 
sinnlich  wahrnehmbaren  Massen  unsichtbare  Massen  eingeführt 
werden,  den  Inbegriff  der  Bewegungserscheinungen  als  ver- 
ständliches und  gesetzmäßiges  Ganzes  abzuleiten  suchen. 
Schon  in  dieser  Mehrheit  möglicher  Ausgangspunkte  bekundet 
es  sich,  daß  das  ,,Bild*',  das  wir  uns  von  der  Naturwirklichkeit 
entwerfen,  nicht  von  den  Daten  der  Sinneswahrnehmung 
allein,  sondern  von  gedanklichen  Gesichtspunkten  und  Forde- 
rungen abhängt,  die  wir  an  sie  heranbringen.  Unter  ihnen  sind 
es  insbesondere  Raum   und  Zeit,    die  in  den  verschieden- 

Cassirer,  Substanzbegriff  15  225 


artigen  Systemen  gleichmäßig  wiederkehren  und  die  daher 
den  unveränderlichen  Bestandteil,  die  eigentliche  Invariante 
für  jede  theoretische  Grundlegung  der  Physik  bilden.  Diese 
Unveränderlichkeit  ist  es,  vermöge  deren  beide  Begriffe 
der  ersten  Betrachtung  selbst  wie  sinnliche  Inhalte  erscheinen: 
da  die  Empfindung  niemals  außerhalb  dieser  Formen  erscheint 
und  umgekehrt  diese  Formen  selbst  niemals  abgetrennt  von 
ihr  gegeben  sind,  so  führt  die  psychologische  Vereinigung 
und  Durchdringung  beider  Momente  zunächst  notwendig 
auch  zu  ihrer  logischen  Gleichsetzung.  Schon  die  Anfänge 
der  theoretischen  Physik  bei  Newton  führen  indes  zu  einer 
Aufhebung  dieser  scheinbaren  Einheit.  Raum  und  Zeit 
—  so  wird  jetzt  ausdrücklich  hervorgehoben  —  sind  etwas 
anderes,  wenn  wir  sie  in  der  Art  der  unmittelbaren  Empfindung 
und  wenn  wir  sie  in  der  Art  mathematischer  Begriffe  fassen. 
Und  lediglich  dieser  letzten  Auffassung  wird  eigentlicher 
Wahrheitswert  zugestanden.  Der  absolute  unbeweg- 
liche Raum  und  die  absolute  streng  gleichförmig  verfließende 
Zeit  sind  die  wahrhafte  Wirklichkeit,  während  der  relative 
Raum  und  die  relative  Zeit,  die  die  äußere  und  innere  Wahr- 
nehmung uns  darbieten,  nur  sinnliche  und  daher  ungenaue 
Maße  für  die  empirischen  Bewegungsvorgänge  bedeuten. 
Aufgabe  der  physikalischen  Forschung  ist  es,  von  diesen  sinn- 
lichen Maßen,  die  für  praktische  Zwecke  genügen,  wieder 
zu  den  Realitäten,  die  durch  sie  bezeichnet  und  aus- 
gedrückt werden  sollen,  vorzudringen.  Gibt  es  objektive 
Naturerkenntnis,  so  muß  sie  uns  die  zeitlich-räumliche  Ordnung 
des  Alls  nicht  nur  in  der  Art  darstellen,  wie  sie  einem  empfin- 
denden Individuum  von  seinem  relativen  Standort  aus  er- 
scheint, sondern  wie  sie  an  sich  und  in  schlechthin  allgemein- 
gültiger Weise  besteht.  Der  reine  Begriff  allein  verbürgt 
diese  Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit,  weil  er  von 
aller  Verschiedenheit,  die  in  der  physiologischen  Beschaffenheit 
und  in  der  besonderen  Stellung  der  Einzelsubjekte  begründet 
ist,  abstrahiert. 

In  der  Definition  des  Raumes  und  der  Zeit  und  in  der 
Entgegensetzung  des  sinnlichen  und  des  mathematischen 
Gehalts    beider    Begriffe    liegt    daher    erkenntnistheoretisch 

226 


nichts  Geringeres  als  die  erste  wissenschaftliche  Fixierung 
des  Problems  der  Objektivität  überhaupt.  Freilich 
läßt  sich  dieses  Problem  hier  noch  nicht  in  seiner  ganzen 
Ausdehnung  überblicken:  aber  die  entscheidende  Vorbereitung 
dafür  wird  an  diesem  Punkt  getroffen*.  Man  begreift  es  daher, 
daß  an  dieser  Frage,  stärker  als  an  jeder  anderen,  die  philo- 
sophischen Gegensätze  in  der  Grundauffassung  der 
Physik  zur  Ausprägung  und  zur  Aussprache  gelangen  müssen. 
Der  Streit  um  die  Prinzipien  hat  immer  wieder  auf  die  New- 
tonische Gestaltung  der  Raum-  und  Zeitlehre  zurückgegriffen, 
um  hier  zugleich  die  Entscheidung  für  den  allgemeinen  Weg 
der  Begründung  zu  finden.  Was  bedeuten  die  Begriffe 
des  absoluten  Raumes  und  der  absoluten  Zeit,  wenn  die  Er- 
fahrung uns  doch  niemals  sichere  Beispiele  dieser  Begriffe 
zu  geben  vermag?  Kann  ein  Gedanke  irgendeinen  physikali- 
schen Wert  beanspruchen,  wenn  wir  prinzipiell  darauf  ver- 
zichten müssen,  ihm  eine  unzweideutige  Anwendung 
in  der  uns  zugänglichen  Wirklichkeit  zu  geben?  Daß  wir  in 
der  reinen  Mechanik  Gesetze  für  absolute  Bewegungen  ent- 
wickeln, muß  als  ein  unfruchtbares  gedankliches  Spiel  er- 
scheinen, solange  kein  untrügliches  Kennzeichen  angegeben 
wird,  das  uns  gestattet,  über  den  absoluten  oder  relativen 
Charakter  einer  tatsächlichen  Bewegung  zu  ent- 
scheiden. Die  abstrakte  Regel  besagt  für  sich  allein  nichts, 
wenn  nicht  zugleich  die  Bedingungen  bekannt  sind,  unter 
denen  wir  sie  konkret  anwenden  können,  indem  wir  ihr  be- 
stimmte empirische  Einzelfälle  subsumieren.  In  der  New- 
tonischen Formulierung  aber  bleibt  hier  in  der  Tat  ein  Wider- 
streit zurück.  Die  Gesetze  der  Naturwissenschaft,  die 
samt  und  sonders  als  Induktionen  aus  gegebenen  Tatsachen 
verstanden  werden  sollen,  beziehen  sich  zuletzt  auf  Gegen- 
stände, die,  wie  der  absolute  Raum  und  die  absolute 
Zeit,  einer  anderen  Welt  als  der  der  Erfahrung  angehören, 
da  sie  als  die  ewigen  Attribute  der  unendlichen  göttlichen 
Substanz  gedacht  sind.  Diese  metaphysische  Bestimmung 
tritt  im   weiteren   Fortgang   der   Naturwissenschaft   zurück: 

*  Näheres  zum  Problem  der  „Objektivität"  s.  später  bes.  Kap   VI 
und  VII. 

15*  227 


aber  der  logische  Gegensatz,  auf  den  sie  sich  gründet, 
ist  damit  nicht  geschlichtet.  Immer  von  neuem  entsteht  die 
Frage,  ob  wir  in  die  Grundlegung  der  Mechanik  nur  solche 
Begriffe  aufzunehmen  haben,  die  direkt  von  den  empirischen 
Körpern  und  ihren  wahrnehmbaren  Beziehungen  ent- 
lehnt sind,  oder  ob  wir  über  diesen  Umkreis  des  empirischen 
Daseins  in  irgendeiner  Richtung  hinausschreiten  müssen, 
um  die  Gesetze  dieses  Seins  als  vollständige  und  geschlossene 
Einheit  zu  begreifen. 

In  diesem  Problem  konzentriert  sich  fortan  die  eigentliche 
Schwierigkeit.  Die  erkenntnistheoretische  Diskussion  der 
mechanischen  Begriffe  hat  diese  Schwierigkeit  nicht  prägnant 
und  scharf  genug  bezeichnet,  indem  sie,  dem  Gange  der  Ge- 
schichte folgend,  ausschließlich  den  Gegensatz  des  ,, Ab- 
soluten" und  ,, Relativen"  in  den  Mittelpunkt  der  Betrachtung 
rückte.  Dieser  Gegensatz,  der  dem  Gebiet  der  0  n  t  o  1  o  g  i  e 
entstammt,  bringt  die  methodischen  Fragen,  die  hier 
zur  Entscheidung  drängen,  nicht  zum  adäquaten  Ausdruck. 
Zunächst  nämlich  ist  leicht  zu  ersehen,  daß  auch  der  „ab- 
solute" Raum  und  die  ,, absolute"  Zeit,  wenn  anders  sie  mit 
Newton  als  mathematische  Konzeptionen  gedacht 
werden  sollen,  nicht  jede  Art  der  Beziehung  von  sich  aus- 
schließen können.  Gerade  dies  ist  ja  der  eigentliche  Charakter 
aller  mathematischen  Setzungen,  daß  keine  von  ihnen  etwas 
für  sich  selbst  bedeutet,  sondern  jede  einzelne  nur  im  Zu- 
sammenhang und  in  durchgängiger  Verknüpfung  mit  der 
Gesamtheit  der  übrigen  zu  verstehen  ist.  So  ist  es  denn 
in  der  Tat  widersinnig,  einen  ,,Ort"  begreifen  zu  wollen, 
ohne  ihn  zugleich  auf  einen  anderen  von  ihm  verschiedenen  zu 
beziehen  — *  einen  Zeitmoment  fixieren  zu  wollen,  ohne  ihn 
als  Punkt  innerhalb  einer  geordneten  Mannigfaltig- 
keit zu  denken.  Das  „Hier"  erhält  seinen  Sinn  stets  nur 
mit  Bezug  auf  ein  ,,Da"  und  „Dort",  das  ,,  Jetzt"  nur  im  Hin- 
blick auf  ein  Früher  oder  Später,  das  wir  ihm  entgegenstellen. 
Keine  physikalische  Bestimmung,  die  wir  nachträglich  in 
unsere  Begriffe  des  Raumes  und  der  Zeit  aufnehmen,  kann 
diesen  ihren  logischen  Grundcharakter  antasten.  Sie  sind 
und  bleiben  Relationssysteme    in  dem   Sinne,   daß 

228 


jede  besondere  Setzung  in  ihnen  stets  nur  eine  einzelne  Stelle 
bezeichnet,  die  ihren  vollen  Gehalt  erst  durch  die  Verknüpfung 
erhält,  in  welcher  sie  mit  der  Allheit  der  Reihenglieder  steht. 
Auch  der  Gedanke  der  absoluten  Bewegung  widerspricht 
nur  scheinbar  dieser  Grundforderung.  Kein  physikalischer 
Denker  hat  jemals  diesen  Begriff  in  einem  Sinne  genommen, 
daß  dadurch  die  Rücksicht  auf  jedesBezugssystem 
überhaupt  ausgeschaltet  werden  sollte.  Nur  über  die 
Art  dieses  Bezugssystems,  nur  darüber,  ob  es  als  materiell 
oder  immateriell,  als  empirisch  gegeben  oder  als  ideelle  Kon- 
struktion zu  gelten  habe,  bestand  Streit.  Die  Forderung  der 
absoluten  Bewegung  bedeutet  nicht  den  Ausschluß  jeglichen 
Korrelats,  sondern  enthält  vielmehr  eine  Annahme  über  die 
Natur  diesesKorrelats  selbst,  das  hier  als  der 
„reine"  Raum,  losgelöst  von  jedem  stofflichen  Inhalt,  be- 
stimmt wird.  Damit  erst  tritt  das  Problem  aus  seiner  vagen, 
dialektischen  Fassung  heraus  und  gewinnt  einen  festen  physi- 
kalischen Gehalt.  Diejenige ,, Relativität",  die  mit  jeder  wissen- 
schaftlichen Setzung  überhaupt  unzertrennlich  verbunden  ist, 
kann  jetzt  völlig  außer  Betracht  bleiben:  sie  bildet  die  all- 
gemeine und  selbstverständliche  Voraussetzung,  die  aber  eben 
darum  für  die  Lösung  irgend  einer  besonderen  Frage 
ohne  Belang  ist.  Solche  Sonderfragen  aber  sind  es,  die  hier 
zur  Entscheidung  stehen.  Vor  allem  gilt  es,  Klarheit  darüber 
zu  gewinnen,  ob  Raum  und  Zeit  in  der  Bedeutung,  in  welcher 
die  Physik  sie  nimmt,  nur  Aggregate  aus  sinnlichen  Eindrücken 
oder  aber  selbständige  gedankliche  ,, Formen"  sind;  ob  das 
System,  auf  welches  die  Grundgleichungen  der  Newtonischen 
Mechanik  sich  beziehen,  als  empirischer  Körper  aufweisbar 
ist,  oder  aber  nur  ein  ,, gedachtes"  Sein  besitzt.  Sobald  wir 
uns  für  das  letztere  entscheiden,  tritt  ferner  die  weitere 
Aufgabe  hervor,  eine  Vermittlung  zwischen  den  idealen 
Anfängen  der  Physik  und  ihren  realen  Endergebnissen  zu 
suchen.  Die  sinnlichen  und  gedanklichen  Momente,  die  zu- 
nächst in  der  Abstraktion  einander  gegenüberstehen,  bedürfen 
wiederum  der  Vereinigung  unter  einem  allgemeinen  Gesichts- 
punkt, kraft  dessen  ihr  Anteil  an  dem  einheitlichen  Begriff 
der  Objektivität  sich  bestimmt. 

229 


Auf  den  ersten  Blick  kann  es  freilich  scheinen,  als  bedürfe 
es,  um  alle  diese  Fragen  zu  beantworten,  keiner  komplizierten 
logischen  Mittelglieder.  Die  Antwort,  die  der  Empirismus 
bereit  hält,  entgeht  allen  Schwierigkeiten,  indem  sie  die 
Probleme,  um  die  es  sich  hier  handelt,  in  bloße  Täuschungen 
auflöst.  Das  Beharrungsprinzip  wird  freilich  sinnlos,  sobald 
wir  in  ihm  nicht  stillschweigend  die  Beziehung  auf  irgend  ein 
Koordinatensystem  mitdenken,  an  dem  die  Fortdauer  der 
gleichförmigen  und  geradlinigen  Bewegung  nachweisbar  wird. 
Aber  dieses  unentbehrliche  Substrat  brauchen  wir  nicht  in 
mühsamen  begrifflichen  Deduktionen  erst  festzustellen,  da 
die  Erfahrung  es  uns  von  selbst  unzweideutig  aufdrängt. 
Der  Fixsternhimmel  bietet  uns  ein  Bezugssystem, 
an  welchem  das  Phänomen  der  Trägheitsbewegung  jederzeit 
in  derjenigen  Genauigkeit,  deren  Erfahrungsurteile  überhaupt 
fähig  sind,  demonstriert  werden  kann.  Es  ist  ein  verfehltes 
Verlangen,  hierüber  hinauszufragen;  es  ist  müßig,  sich  eine 
Vorstellung  darüber  machen  zu  wollen,  welche  Gestalt  der 
Trägheitssatz  annehmen  würde,  wenn  wir  die  Beziehung  auf 
die  Fixsterne  ausschalten  und  ein  anderes  System  an  deren 
Stelle  setzen  wollten.  Welche  Bewegungsgesetze  gelten  würden, 
wenn  die  Fixsterne  nicht  beständen  oder  wenn  wir  der  Möglich- 
keit beraubt  wären,  unsere  Beobachtungen  an  ihnen  zu 
orientieren,  darüber  fehlt  uns  jede  Möglichkeit  des  Urteils, 
weil  es  sich  hier  um  einen  Fall  handelt,  der  in  der  tatsächlichen 
Erfahrung  niemals  verwirklicht  war.  Die  Welt  ist  uns  nicht 
zweimal:  das  eine  Mal  in  Wirklichkeit,  das  andere  Mal  in 
Gedanken  gegeben;  sondern  wir  haben  sie  so  hinzunehmen, 
wie  sie  sich  uns  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung  darbietet, 
ohne  danach  zu  forschen,  wie  sie  uns  unter  anderen  Bedin- 
gungen, die  wir  logisch  fingieren,  erscheinen  würde*.  In 
dieser  Lösung  des  Problems,  die  Mach  gibt,  ist  in  der  Tat  die 
Konsequenz,  zu  der  die  empiristische  Grundanschauung  hin- 
drängt, mit  aller  Entschiedenheit  gezogen.  Jedes  wissenschaft- 
lich-gültige  Urteil    erhält  demnach   seinen    Sinn  nur  als 


*  S.  hierzu  Mach,    Die  Mechanik  in  ihrer  Entwicklung ;    Die  Ge- 
schichte und  die  Wurzel  des  Satzes  von  der  Erhaltung  der  Arbeit,   S.  47  ff. 


230 


Aussage  über  ein  konkretes,  tatsächlich  vorliegendes  Da- 
sein. Der  Gedanke  vermag  lediglich  den  Anzeigen  der 
Empfindung,  die  uns  dieses  Dasein  erschließen,  nachzugehen; 
aber  er  vermag  an  keiner  Stelle  über  sie  hinauszugreifen 
und  bloß  mögliche,  bisher  nicht  gegebene  Fälle  in  den  Kreis 
seiner  Betrachtung  zu  ziehen.  Diese  Folgerung  aber,  die  von 
der  angenommenen  Voraussetzung  aus  unabweislich  ist, 
widerstreitet  —  wie  sich  bereits  allseitig  gezeigt  hat  —  dem  an- 
erkannten Tatbestand  des  wissenschaftlichen  Verfahrens  selbst. 
Die  theoretischen  Grundgesetze  der  Physik  sprechen  durchweg 
von  Fällen,  die  in  der  Erfahrung  niemals  gegeben  waren,  noch 
auch  in  ihr  gegeben  sein  können:  denn  in  der  Formel  des 
Gesetzes  ist  das  eigentliche  Wahrnehmungsobjekt  durch  seine 
ideale  Grenze  ersetzt  und  vertreten  (s.  oben,  S.  171  f.).  Die 
Einsicht,  die  hier  gewonnen  wird,  geht  somit  niemals  allein 
aus  der  Betrachtung  der  wirklichen,  sondern  auch  der  mög- 
lichen Bedingungen  und  Umstände  hervor;  sie  umfaßt 
nicht  nur  das  aktuelle,  sondern  zugleich  das  ,, virtuelle" 
Geschehen.  Im  Prinzip  der  virtuellen  Geschwindigkeiten, 
das  seit  Lagrange  die  eigentliche  Grundlage  der  analyti- 
schen Mechanik  bildet,  ist  dies  zum  schärfsten  Ausdruck 
gekommen.  Die  Verschiebungen  eines  materiellen  Systems, 
die  hier  ins  Auge  gefaßt  werden,  brauchen  keineswegs  tat- 
sächlich ausführbar  zu  sein;  ihre  „Möglichkeit"  bedeutet 
lediglich,  daß  wir  sie  gedanklich  in  Ansatz  bringen  können, 
ohne  dadurch  zu  einem  Widerspruch  gegen  die  Bedingungen 
des  Systems  geführt  zu  werden.  Die  Weiterbildung,  die  das 
Prinzip  innerhalb  der  Physik  erfahren  hat,  hat  auch  dieses 
methodische  Moment  immer  deutlicher  hervortreten  lassen. 
In  der  Entwicklung  der  modernen  Thermodynamik  ist  das 
Prinzip  der  virtuellen  Veränderungen  von  seiner  anfänglichen 
Einschränkung  auf  mechanische  Vorgänge  befreit  und  zu 
einem  allgemeineren  Grundsatz  umgestaltet  worden,  der  alle 
Gebiete  der  Physik  gleichmäßig  umfassen  soll.  Unter  einer 
virtuellen  Änderung  eines  Systems  wird  jetzt  nicht  nur  eine 
infinitesimale  räumliche  Verschiebung  seiner  einzelnen  Teile, 
sondern  auch  eine  unendlich  kleine  Erhöhung  oder  Erniedri- 
gung  der  Temperatur,    eine   unendlich   kleine   Umwandlung 

231 


in  der  Verteilung  der  Elektrizität  auf  der  Oberfläche  eines 
leitenden  Körpers,  kurz  jede  elementare  Zu-  oder  Abnahme 
einer  der  variablen  Größen  verstanden,  die  den  Gesamt- 
zustand des  Systems  charakterisieren,  sofern  sie  gemäß  den 
allgemeinen  Bedingungen,  die  das  System  zu  erfüllen  hat, 
zulässig  ist.  Ob  die  betreffende  Umwandlung  physisch 
vollziehbar  ist,  ist  hierbei  gleichgültig;  denn  der 
Wahrheitswert  unserer  theoretischen  Folgerungen  besteht 
völlig  unabhängig  von  dieser  Möglichkeit  einer  unmittelbaren 
Realisierung  unserer  gedanklichen  Operationen.  ,,Wenn  man 
im  Verlauf  der  Deduktionen'*,  so  bemerkt  D  u  h  e  m  ,  ,,die 
Größen,  auf  welche  sich  die  Theorie  bezieht,  bestimmten 
algebraischen  Umformungen  unterwirft,  so  hat  man  sich 
hierbei  nicht  zu  fragen,  ob  diese  Rechnungen  einen  physi- 
schen Sinn  haben,  ob  also  die  einzelnen  Maßmethoden 
sich  direkt  in  die  Sprache  der  konkreten  Anschauung  übersetzen 
lassen  und  in  dieser  Übersetzung  wirklichen  oder  möglichen 
Tatsachen  entsprechen.  Sich  eine  derartige  Frage  zu  stellen, 
hieße  vielmehr  sich  einen  völlig  irrigen  Begriff  vom  Wesen 
einer  physikalischen  Theorie  machen*."  Die  Entdeckung 
und  die  erste  Formulierung  des  Beharrungsprinzips 
bestätigt  durchaus  diese  Auffassung.  Galilei  zum  min- 
desten läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  das  Prinzip  in  dem 
Sinne,  in  welchem  er  es  nimmt,  nicht  aus  der  Betrachtung 
einer  besonderen  Klasse  empirisch  wirklicher  Bewegungen 
hervorgegangen  ist.  Er  würde  auf  den  Einwand,  daß  für  den 
Bestand  des  Trägheitsgesetzes  die  dauernde  Existenz 
der  Fixsterne  vorausgesetzt  werde,  sicherlich  die  gleiche 
Antwort  erteilt  haben,  die  er  in  einem  ähnlichen  Fall  dem 
Simplicio  gibt:  die  Wirklichkeit  der  Fixsterne  gehört,  ebenso 
wie  die  des  bewegten  Körpers  selbst,  nur  zu  den  ,, zufälligen 
und  äußerlichen"  Bedingungen  des  Versuchs,  von  denen  die 
eigentliche  theoretische  Entscheidung  nicht  abhängt.  In 
jenes  „mente  concipio",  mit  welchem  Galilei  seine  allge- 
meinen Erörterungen  beginnt,  geht  das  Dasein  der  Fix- 
sterne   nirgends   ein.      Der    Begriff    der    geradlinigen    und 


*  S.  Duhem,    L'övolution  de  la  M6caiüque,  Paris  1903,  S.  211  ff. 
232 


gleichförmigen  Bewegung  wird  hier  rein  in  abstrakt-phorono- 
mischer  Bedeutung  eingeführt:  er  ist  nicht  auf  irgendwelche 
materielle  Körper,  sondern  lediglich  auf  die  ideellen  Schemata 
bezogen,  wie  Geometrie  und  Arithmetik  sie  darbieten.  Ob 
die  Gesetze,  die  wir  aus  derartigen  idealen  Konzeptionen 
folgern,  auf  die  Wahrnehmungswelt  anwendbar  sind, 
darüber  muß  freilich  in  letzter  Linie  das  Experiment  ent- 
scheiden: der  logische  und  mathematische  Sinn  der  hypo- 
thetischen Gesetze  selbst  aber  steht  unabhängig  von  dieser 
Form  der  Bewährung  im  Aktuell- Gegebenen  fest*. 

Um  die  Form  der  Ableitung,  die  hier  von  Galilei  tat- 
sächlich angewandt  wird,  logisch  zu  rechtfertigen,  braucht 
man  sich  übrigens  zuletzt  nur  auf  Mach  selbst  zu  berufen. 
In  seiner  Entwicklung  der  allgemeinen  Methoden  der  Physik 
nimmt  das  ,,  Gedankenexperiment"  eine  bedeutsame  Stellung 
ein.  Alle  wirklich  fruchtbaren  physischen  Versuche  haben,  wie 
er  betont,  Gedankenexperimente  zu  ihrer  notwendigen  Vor- 
bedingung. Wir  müssen  den  Erfolg,  den  eine  bestimmte  An- 
ordnung des  Versuchs  verspricht,  wenigstens  in  allgemeinen 
Zügen  voraussehen,  wir  müssen  die  möglichen  bestimmenden 
Umstände  gegeneinander  abwägen  und  begrifflich  abwandeln, 
um  der  Beobachtung  selbst  eine  bestimmte  Richtung  zu 
geben.  Dieses  Verfahren  der  gedanklichen  Variation 
der  für  ein  gewisses  Ergebnis  mitbestimmenden  Faktoren 
ist  es  vor  allem,  das  uns  erst  eine  völlig  klare  Übersicht 
über  das  Gesamtgebiet  der  Tatsachen  selbst  verschafft.  Hier 
erst  tritt  die  Bedeutung  jedes  einzelnen  Moments  klar  hervor; 
hier  erst  gliedert  sich  der  Wahrnehmungsbestand  zu  einem 
geordneten  Komplex,  in  welchem  wir  die  Bedeutung,  die  jeder 
Teil  für  den  Aufbau  des  Ganzen  besitzt,  klar  erfassen.  Die 
wesentlichen  Züge,  von  denen  sein  gesetzliches  Verhalten 
abhängt,  sondern  sich  von  den  zufälligen,  die  beliebig  wechseln 
können,  ohne  daß  unsere  eigentliche  physikalische  Schluß- 
folgerung dadurch  berührt  würde**.    Man  braucht  alle  diese 


*   S.  hierzu    oben,    S.  163  ff. ;    zum    Ganzen  vgl.  jetzt  bes.  die  Aus- 
führungen Natorps  (a.  a.  O.  S.  356  ff.). 

**  Vgl.  Mach,  Erkenntnis  und  Irrtum,  Leipzig  1905,  „Über  Gedanken- 
experimente", S.  180  ff. 

233 


Erwägungen  nur  auf  die  Entdeckung  und  Aussprache  des 
Trägheitsprinzips  anzuwenden,  um  sofort  zu  erkennen,  daß 
die  eigentümliche  Geltung  dieses  Prinzips  an  irgend  ein  be- 
stimmtes materielles  Bezugssystem  nicht  gebunden  ist.  Selbst 
wenn  wir  das  Gesetz  zunächst  für  den  Fixsternhimmel  bewährt 
gefunden  hätten,  so  stünde  nichts  im  Wege,  es  von  dieser 
Bedingtheit  loszulösen,  indem  wir  uns  zum  Bewußtsein  bringen, 
daß  wir  das  ursprüngliche  Substrat  beliebig  variieren  lassen 
können,  ohne  daß  dadurch  Sinn  und  Inhalt  des  Gesetzes 
selbst  irgendwie  berührt  würde.  Denn  die  Voraussetzung, 
auf  der  Machs  anfänglicher  Einwand  beruht,  daß  nämlich 
das  Denken  niemals  über  den  Kreis  der  gegebenen 
Einzeltatsachen  hinauszublicken  vermöge,  ist  jetzt  verlassen: 
die  Methode  des  ,,  Gedankenexperiments"  erschließt  uns  eine 
eigentümliche  Aktivität  des  Denkens,  die  von  den  wirklichen 
Fällen  zu  den  möglichen  übergreift  und  auch  von  ihnen  eine 
Bestirrlmung  zu  geben  unternimmt.  In  der  Tat  würde  offenbar 
der  logische  Gehalt  des  Beharrungsgesetzes  ungeändert  bleiben, 
auch  wenn  sich  im  Laufe  der  Erfahrung  Gründe  fänden, 
die  uns  veranlassen  würden,  den  Fixsternen  selbst  bestimmte 
Bewegungen  zuzuschreiben.  Die  Sätze  der  reinen  Mechanik 
würden  mit  dieser  Einsicht  nichts  von  ihrer  Geltung  verlieren, 
sondern  wären  in  dem  neuen  System  der  Orientierung,  das 
wir  alsdann  zu  suchen  hätten,  vollständig  aufbehalten.  Eine 
solche  Übertragung  aber  wäre,  selbst  in  Gedanken, 
unmöglich,  wenn  diese  Sätze  nur  die  Verhältnisse  wiedergäben, 
die  den  bewegten  Körpern  relativ  zu  einem  besonderen  empiri- 
schen Bezugssystem  zukommen.  Mach  selbst  muß,  seiner 
ganzen  Voraussetzung  nach,  den  Fixsternhimmel  nicht  nur 
als  einen  Bestandteil  ansehen,  der  in  die  begriffliche  For- 
mulierung des  Trägheitsgesetzes  eingeht,  sondern  ihn 
geradezu  als  einen  der  kausalenFaktoren  auffassen, 
von  denen  die  Beharrungsbewegung  abhängig  ist*.     In  einer 


*  „Ein  freier  Körper  von  einem  Momentankräftepsiar  angegriffen, 
bewegt  sich  derart,  daß  sein  Zentralellipsoid  bei  festgehaltenem  Mittel- 
punkt an  der  zur  Kräftepaarebene  parallelen  Tangentialebene  ohne  zu 
gleiten  abrollt.  Dies  ist  eine  Bewegung  infolge  der  Trägheit.  Hierbei  macht 
nun  der  Körper  die  sonderbarsten  Wendungen  gegen  die  Himmelskörper. 

234 


Formel,  die  lediglich  die  Beziehung  und  Wechselwirkung 
zwischen  bestimmten  physischen  Objekten  zum  Ausdruck 
bringt,  aber  ließe  sich  offenbar  der  eine  der  beiden  Faktoren 
nicht  durch  einen  anderen  ersetzen,  ohne  daß  dadurch  die 
Relation  selbst  eine  völlig  neue  Gestalt  erhielte.  Hinge  die 
Wahrheit  des  Beharrungsgesetzes  von  den  Fixsternen  als 
diesen  bestimmten,  physischen  Individuen  ab,  so 
wäre  es  logisch  unverständlich,  wie  wir  jemals  daran  denken 
könnten,  diese  Anknüpfung  fallen  zu  lassen  und  zu  anderen 
Bezugssystemen  überzugehen.  Das  Trägheitsprinzip  wäre 
in  diesem  Falle  nicht  sowohl  ein  allgemeiner  Grundsatz  für  die 
Bewegungserscheinungen  überhaupt,  als  vielmehr  die  Aus- 
sage über  bestimmte  Eigenschaften  und  „Reaktionen"  eines 
gegebenen  empirischen  Inbegriffs  von  Gegenständen  —  und 
wie  sollten  wir  erwarten  dürfen,  daß  die  physischen  Beschaffen- 
heiten, die  wir  an  einem  konkreten  Einzelding  aufgefunden 
haben,  von  ihrem  eigentlichen  ,, Subjekt"  losgelöst  werden 
und  auf  ein  anderes  übergehen  könnten?  In  jedem  Falle 
erkennt  man  aus  diesem  Beispiel,  daß  auch  hier  Empirismus 
und  Empirie  auseinander  gehen:  der  Sinn,  den  das  Trägheits- 
prinzip nach  den  empiristischen  Voraussetzungen  allein  haben 
könnte,  entspricht  in  keiner  Weise  der  Bedeutung,  die  es 
in  der  wissenschaftlichen  Mechanik  seit  deren  Anfängen  gehabt 
und  der  Funktion,  die  es  hier  tatsächlich  erfüllt  hat.  Die 
logische  Grundform  der  Mechanik  ist  hier  nicht  begriffen 
und  erklärt,  sondern  vielmehr  verworfen. 

Den  gleichen  prinzipiellen  Einwänden  unterliegt  jeder 
Versuch,  dem  Beharrungsgesetz  dadurch  eine  feste  Stütze 
zu  geben,  daß  man  das  Bezugssystem,  auf  das  es  hinweist, 
irgendwie  in  dinglicher  Wirklichkeit  als  vorhanden  aufzeigt. 
Eine  bekannte  Erklärung,  die  S  t  r  e  i  n  t  z  im  einzelnen 
durchzuführen  gesucht  hat,  bestimmt  als  dieses  Bezugssystem 


Meint  man  nun,  diese  Körper,  ohne  welche  man  die  gedachte  Bewegung 
gar  nicht  beschreiben  kann,  seien  ohne  Einfluß  auf  dieselbe  ?  Gehört  das, 
was  man  offen  oder  versteckt  mit  nennen  muß,  wenn  man  eine  Erscheinung 
beschreiben  will,  nicht  zu  den  wesentlichen  Bedingungen,  zu  dem  Kausal- 
nexus derselben  ?  Die  fernen  Himmelskörper  haben  in  unserem  Beispiel 
keinen  Einfluß  mehr  auf  die  Beschleunigung,  wohl  aber  auf  die  Geschwindig- 
keit."    (Mach,  Erhaltung  der  Arbeit,  S.  49.) 

235 


jeden  beliebigen,  empirisch  gegebenen  Körper,  sofern  der- 
selbe die  doppelte  Bedingung  erfüllt,  keine  Drehbewegung  zu 
vollführen  und  keiner  Einwirkung  einer  äußeren  Kraft  unter- 
worfen zu  sein.  Die  Abwesenheit  der  Drehbewegung  läßt  sich 
stets  an  bestimmten  Maßinstrumenten,  die  Streintz  mit  dem 
Namen  eines  ,, gyroskopischen  Kompasses"  bezeichnet,  un- 
zweideutig nachweisen;  denn  jede  „absolute"  Rotation  eines 
Körpers  setzt  sich  in  irgendwelche  physikalische  Wirkungen 
um,  die  direkt  wahrgenommen  und  gemessen  werden  können. 
Was  das  zweite  Moment,  die  Abwesenheit  von  äußeren  Kraft- 
wirkungen betrifft,  so  ist  hier  freilich  niemals  eine  gleich 
unmittelbare  und  positive  Entscheidung  möglich:  wir  müssen 
uns  einfach  mit  der  Feststellung  begnügen,  daß,  so  oft  in  der 
Bewegung  eines  Punktes  bezüglich  eines  Körpers  von  un- 
veränderlicher Richtung  eine  Abweichung  von  der  Gerad- 
linigkeit oder  Gleichförmigkeit  beobachtet  wurde,  es  bisher 
stets  gelungen  ist,  irgendwelche  äußere  Körper  anzugeben, 
die  durch  das  Lageverhältnis,  in  welchem  sie  zu  dem  bewegten 
Punkt  selbst  oder  zu  dem  angenommenen  Bezugssystem 
stehen,  als  Ursache  dieser  Abweichung  erscheinen.  Bezeichnen 
wir  nun  einen  Körper,  der  durch  die  beiden  angegebenen  Grund- 
bestimmungen, durch  die  Abwesenheit  der  Drehbewegung 
und  durch  die  vollkommene  Unabhängigkeit  von  allen  um- 
gebenden Massen  charakterisiert  ist,  als  Fundamental- 
Körper  (FK),  so  besitzen  wir  in  jedem  derartigen  Körper 
ein  geeignetes  System,  in  bezug  auf  welches  die  dynamischen 
Differentialgleichungen,  die  die  Physik  zugrunde  legt,  erfüllt 
sind.  Diese  Gleichungen,  die  in  der  Art,  in  der  sie  gewöhnlich 
formuliert  werden,  eine  logische  Unbestimmtheit  in  sich 
schließen,  haben  jetzt  einen  festen  und  eindeutigen  Sinn 
erhalten;  das  Trägheitsprinzip  insbesondere  läßt  sich  nunmehr 
in  der  Form  aussprechen,  daß  jeder  sich  selbst  überlassene 
Punkt  sich  hinsichtlich  eines  Fundamentalkörpers  in  gerader 
Linie  und  mit  konstanter  Geschwindigkeit  bewegt*.  Auch 
dieser  Ableitungsversuch  beruht  indessen,  wie  sich  leicht  ergibt, 


*  Vgl.  die  näheren  Ausführungen  bei  Streintz,   Die  physikalischen 
Grundlagen  der  Mechanik,  Leipzig  1883,  S.  13  ff.,  22  ff. 

236 


auf  einer  Umkehrung  des  eigentlichen  logischen  und  geschicht- 
lichen Verhältnisses.  Bestände  Streintz'  Erklärung  zu  Recht, 
so  wären  die  mechanischen  Grundsätze  lediglich  Induktionen, 
die  wir  an  einzelnen  Körpern  mit  bestimmten  physikalischen 
Eigenschaften  bewährt  gefunden,  und  die  wir  sodann  für  alle 
Körper  derselben  Art  als  wahrscheinlich  angenommen  haben. 
Der  Anspruch  auf  strenge  Allgemeingültigkeit,  den 
diese  Grundsätze  erheben,  bliebe  alsdann  völlig  unverständ- 
lich. Es  ließe  sich  nicht  begreifen,  mit  welchem  Rechte  wir 
sie  den  beobachteten  Tatsachen,  als  Forderungen  ent- 
gegenhalten, die  unserer  Erklärung  die  Richtung  vor- 
schreiben, statt  umgekehrt  die  Prinzipien,  die  ja  nur  kraft 
bestimmter  Einzelbeobachtungen  gewonnen  sind,  alsbald  um- 
zugestalten, sobald  sie  mit  den  neuen  Erfahrungen  nicht  mehr 
im  Einklang  stehen.  Aber  auch  wenn  man  hiervon  absieht, 
wäre  die  Erwägung  entscheidend,  daß  der  Fundamental- 
körper selbst  und  das  Fundamental-Koordinatensystem  als 
empirische  Fakta  niemals  vorgefunden  werden  könnten, 
wenn  die  Bedeutung  beider  nicht  zuvor  in  ideeller  Kon- 
struktion festgestellt  worden  wäre.  Die  scheinbar 
reinen  Induktionen,  die  Streintz  an  die  Spitze  seiner  Er- 
örterungen stellt,  sind  bereits  geleitet  und  beherrscht  von 
den  Grundgedanken  der  analytischen  Mechanik  selbst.  Nur 
unter  der  Voraussetzung  dieser  Gedanken  leuchtet  die  Be- 
deutung ein,  die  den  beiden  Momenten,  durch  welche  der 
Fundamentalkörper  bestimmt  ist,  zukommt:  die  Abwesen- 
heit der  Drehbewegung,  sowie  die  Unabhängigkeit  von  jeder 
äußeren  Kraftwirkung  bilden  die  empirischen  Kriterien, 
an  denen  wir  erkennen,  ob  ein  bestimmter  gegebener  Körper 
den  Voraussetzungen  der  Theorie,  die  wir  zuvor  selbständig 
entwickelt  haben,  gemäß  ist.  Das  Merkmal,  kraft  dessen 
wir  feststellen,  ob  ein  Einzelfall  unter  ein  bestimmtes  Gesetz 
subsumierbar  ist,  ist  aber  von  den  Bedingungen,  auf 
denen  die  Gültigkeit  des  Gesetzes  selbst  beruht,  logisch  streng 
geschieden.  Nicht  aus  Beobachtungen  an  bestimmten  Körpern, 
denen  wir  die  Eigenschaft,  keiner  fremden  Einwirkung  zu 
unterliegen,  gleichsam  sinnlich  ablesen  konnten,  ist  die  Idee 
der  Beharrung  entstanden;  sondern  umgekehrt  erklärt  es  sich 

237 


erst  auf  Grund  dieser  Idee,  daß  wir  nach  Körpern  dieser  Art 
suchen  und  ihnen  eine  bevorzugte  Stellung  im  Aufbau 
unserer  empirischen  Wirklichkeit  zuweisen.  So  schließt  der 
Streintzsche  Versuch,  sofern  er  eine  wahrhafte  Grund- 
legung der  Mechanik  sein  will,  in  der  Tat  einen  Zirkel  ein, 
denn  in  den  Experimenten  und  in  den  empirischen  Lehr- 
sätzen selbst,  die  hier  an  die  Spitze  treten,  liegt  bereits  die 
stillschweigende  Anerkennung  der  Grundsätze,  die  erst  de- 
duziert werden  sollen.  Die  analytische  Mechanik  ist,  wie  die 
Geschichte  lehrt,  ohne  diese  Experimente  zustande  gekommen, 
während  umgekehrt  der  bloße  Gedanke  dieser  Experi- 
mente nur  auf  dem  Boden  dieser  Mechanik  entstehen  konnte*. 
Hält  man  also  an  der  Forderung  fest,  daß  das  Trägheits- 
gesetz notwendig  an  irgend  ein  materielles  Bezugssytem 
angelehnt  werden  müsse,  so  bleibt  schließlich,  wenn  man  zu- 
gleich die  rationale  Gestalt  der  Mechanik  erklären  will,  in  der 
Tat  nur  der  Ausweg  zurück,  einen  unbekannten,  in  der  Er- 
fahrung nicht  gegebenen  Körper  anzunehmen,  und  im  Hin- 
blick auf  ihn  die  dynamischen  Grundgleichungen  zu  erklären. 
Die  Durchführung  dieses  Gedankens  ist  zuerst  von  C.  N  e  u  - 
mann  in  seiner  Schrift  über  die  Prinzipien  der  Galilei- 
Newtonschen  Theorie  versucht  worden,  in  der  neben  der 
Erörterung  des  physikalischen  Grundproblems  auch  die 
methodische  Hauptfrage  zu  besonders  deutlicher  Aus- 
prägung gelangt  ist.  Das  Galileische  Prinzip  bedarf  nach  Neu- 
mann, um  in  seinem  begrifflichen  Sinn  erfaßt  zu  werden, 
notwendig  der  Setzung  eines  bestimmten  Daseins-Hinter- 
grundes. Nur  in  einer  Welt,  in  welcher  an  irgend  einer  uns 
unbekannten  Stelle  des  Raumes  ein  absolut  starrer,  in  seiner 
Gestalt  und  seinen  Dimensionen  für  alle  Zeiten  unveränder- 
licher Körper  existiert,  sind  die  Sätze  unserer  Mechanik  ver- 
ständlich. „Jene  Worte  des  Galilei,  daß  ein  sich  selber  über- 
lassener  materieller  Punkt  in  geraderLinie  dahingeht, 
treten  uns  entgegen  als  ein  Satz  ohne  Inhalt,  als  ein  in  der  Luft 
schwebender  Satz,  der  (um  verständlich  zu  sein)  noch  eines 


*  Vgl.  hierzu  bes.  die  Kritik  des  Streintzschen  Versuches  bei  H  ö  f  1  e  r  , 
Studien  zur  gegenw.  Philosophie  der  Mechanik,  Leipzig  1900,  S.  136  f. 

238 


bestimmten  Hintergrundes  bedarf.  Irgendein  spezieller  Körper 
im  Weltall  muß  uns  gegeben  sein,  als  Basis  unserer  Beurteilung, 
als  derjenige  Gegenstand,  mit  Bezug  auf  welchen  alle  Bewe- 
gungen zu  taxieren  sind  —  nur  dann  erst  werden  wir  mit 
jenen  Worten  einen  bestimmten  Inhalt  zu  verbinden  imstande 
sein.  Welcher  Körper  ist  es  nun,  dem  wir  diese  bevorzugte 
Stellung  einräumen  sollen  ?  . . .  Leider  erhalten  wir  auf  diese 
Frage  weder  bei  Galilei  noch  bei  Newton  eine  bestimmte 
Antwort.  Wenn  wir  aber  das  von  ihnen  begründete  und  bis 
auf  die  heutige  Zeit  mehr  und  mehr  erweiterte  theoretische 
Gebäude  aufmerksam  durchmustern,  so  können  uns  seine 
Fundamente  nicht  länger  verborgen  bleiben.  Wir  erkennen 
alsdann  leicht,  daß  sämtliche  im  Universum  vorhandene  oder 
überhaupt  denkbare  Bewegungen  zu  beziehen  sind  auf  ein 
und  denselben  Körper.  W  o  dieser  Körper  sich  befindet, 
welche  Gründe  vorhanden  sind,  einem  einzigen  Körper  eine 
so  hervorragende,  gleichsam  souveräne  Stellung  einzuräumen, 
—  hierauf  allerdings  erhalten  wir  keine  Antwort*."  Man 
sollte  nicht  erwarten,  die  Beweisart,  kraft  deren  hier  die 
Existenz  dieses  einzigartigen  Körpers  dargetan  wird,  der 
von  Neumann  als  ,, Körper  Alpha"  bezeichnet  wird,  mitten 
in  der  Physik  anzutreffen.  Denn  sie  ist  in  der  Tat  rein  o  n  t  o  - 
logischer  Art:  die  Forderung  eines  einheitlichen  logischen 
Bezugspunktes  verdichtet  sich  zur  Behauptung  eines  empirisch 
unerkennbaren  Daseins.  Und  diesem  Dasein  kommen, 
obwohl  es  selbst  materieller  Natur  sein  soll,  wiederum  alle 
diejenigen  Prädikate  zu,  die  auch  sonst  das  ontologische 
Argument  zu  verleihen  pflegte:  es  ist  unveränderlich,  ewig 
und  unzerstörbar.  Wenn  aber  hier  aus  bloßem  Denken  ein 
Sein  mit  absoluten  Eigenschaften  gefolgert  wird,  so  zeigt  sich 
anderseits  zugleich  der  umgekehrte  Zug,  daß  die  Begreiflichkeit 
unserer  ideellen  Konzeptionen  von  bestimmten  Beschaffen- 
heiten des  Seins  abhängig  gemacht  ist.  Man  denke  sich  den 
Körper  Alpha  durch  irgendeine  Naturmacht  vernichtet: 
und  die  Sätze  der  Mechanik  müßten  aufhören,  für  uns  nicht 


*  Carl  N  e  u  m  a  n  n  ,    Über  die  Prinzipien  der  Galilei-Newtonschen 
Theorie,  Leipzig  1870,  S.  14f. 

239 


nur  anwendbar,  sondern  sogar  —  verständlich  zu  sein. 
Der  Begriff  der  strengen  Unveränderlichkeit  der  Richtung, 
der  Begriff  der  gleichförmigen  Bewegung  von  bestimmter 
Geschwindigkeit,  den  die  mathematische  Theorie  uns  geliefert 
hat,  wäre  nunmehr  mit  einem  Schlage  um  all  seinen  Sinn 
gebracht.  So  würden  sich  hier  an  ein  Geschehen  in  der  äußeren 
Welt  nicht  nur  bestimmte  physische,  sondern  auch  die  merk- 
würdigsten logischen  Folgen  anknüpfen;  so  hinge 
es  vom  Sein  oder  Nichtsein  eines  aktuellen  räumlichen  Dinges 
ab,  ob  unsere  grundlegenden  mathematischen  Hypothesen 
in  sich  selbst  irgendeine  Bedeutung  besitzen.  Wie  aber  sollten 
wir  jemals  zu  einem  begründeten  Urteil  über  eine  physi- 
kalische Wirklichkeit  gelangen,  wenn  nicht  zuvor  der  Sinn 
dieser  allgemeinen  mathematischen  Grundprädikate  feststeht? 
Auf  alle  diese  Fragen  könnte  es  zuletzt  nur  eine  Antwort 
geben.  Nicht  die  Existenz  des  Körpers  Alpha  —  so 
könnte  man  erwidern  —  wohl  aber  die  Annahme  dieser 
Existenz  ist  es,  woran  die  Geltung  unserer  mechanischen 
Begriffe  hängt.  Diese  Annahme  aber  kann  uns  niemals  ver- 
wehrt werden:  sie  ist  ein  reines  Postulat  unseres  wissenschaft- 
lichen Denkens,  das  hierin  allein  seinen  eigenen  Normen  und 
Regeln  gehorcht.  Eine  derartige  Antwort  aber  würde  das 
Problem  sogleich  auf  einen  völlig  neuen  Boden  stellen.  Steht 
es  in  unserer  Macht,  mit  ideellen  Annahmen  zu  schalten, 
so  begreift  man  nicht,  warum  dieses  Verfahren  auf  die  Setzung 
physischer  Dinge  eingeschränkt  sein  soll.  Statt  des 
Körpers  Alpha  könnten  wir  alsdann  —  in  logisch  allein 
einwandfreier  und  verständlicher  Weise  —  den  reinen  Raum 
selbst  setzen  und  ihn  mit  bestimmten  Eigenschaften  und  Be- 
ziehungen ausstatten.  So  haben  wir  uns  auch  hier  im  Kreise 
bewegt:  die  innere  Konsequenz  des  Gedankens  führt  genau 
zu  demjenigen  Ausgangspunkt  zurück,  an  dem  die  ersten 
Zweifel  und  Bedenken  gegenüber  der  Formulierung  der 
mechanischen  Prinzipien  einsetzten. 

Man  entgeht  in  der  Tat  dem  Dilemma  erst  dann,  wenn 
man  sich  entschließt,  die  gedanklichen  Forderungen,  statt  sie 
im  Verlauf  der  Deduktion  in  verhüllter  Form  irgendwie  ein- 
zuführen, in  voller  Klarheit  an  den  Anfang    zu  stellen. 

240 


Der  absolute  Raum  und  die  absolute  Zeit  der  Mechanik  schließen 
sowenig  irgendwelche  Daseinsrätsel  in  sich,  als  dies  bei  der 
reinen  Zahl  der  Arithmetik  oder  bei  der  reinen  Geraden  der 
Geometrie  der  Fall  ist.  Sie  entstehen  in  genauer  und  stetiger 
Fortführung  dieser  Grundbegriffe:  wie  denn  Galilei  stets 
aufs  schärfste  betont,  daß  die  allgemeine  Bewegungslehre 
ihm  keinen  Zweig  der  angewandten,  sondern  der 
reinen  Mathematik  bedeute.  Die  phoronomischen 
Begriffe  der  gleichförmigen  und  der  gleichförmig  beschleunigten 
Bewegung  enthalten  ursprünglich  nichts  von  der  sinnlichen 
Beschaffenheit  materieller  Körper,  sondern  fixieren  lediglich 
eine  bestimmte  Beziehung  zwischen  Raum-  und  Zeitgrößen, 
die  gemäß  einem  ideellen  Konstruktionsprinzip  erzeugt  und 
aufeinander  bezogen  sind.  So  können  wir  uns  denn  auch  für 
die  Aussprache  des  Trägheitsprinzips  zunächst  lediglich 
auf  ein  gedachtes  Bezugssystem  stützen,  dem  wir  alle  jene 
Bestimmungen  zuschreiben,  die  hier  erfordert  sind.  Wir 
erschaffen  kraft  begrifflicher  Definitionen  ein  räumliches 
,,Inertialsystem"  und  eine  „Inertialzeitskala",  und  legen  beide 
aller  weiteren  Betrachtung  der  Bewegungserscheinungen  und 
ihrer  wechselseitigen  Beziehungen  zugrunde*.  So  entfällt  die 
Hypostasierung  des  absoluten  Raumes  und  der  absoluten 
Zeit  zu  transzendenten  Dingen;  zugleich  aber  bleiben  beide 
als  reine  Funktionen  bestehen,  kraft  deren  erst  eine 
exakte  Erkenntnis  der  empirischen  Wirklichkeit  möglich 
wird**.  Die  Festigkeit,  die  wir  dem  ursprünglichen  und  ein- 
heitlichen Bezugssystem  zuschreiben  müssen,  ist  keine  sinnliche, 
sondern  eine  logische  Eigenschaft;  sie  bedeutet,  daß  wir  sie 
im  Begriff  festgelegt  haben,  um  sie  durch  alle  Umformungen 
der  Rechnung  hindurch  als  identisch  und  unveränderlich  an- 
zusehen. Das  ideelle  Achsensystem,  auf  das  wir  hinblicken, 
genügt  somit  in  der  Tat  der  Grundforderung,  die  für  das 
„Fundamental-Koordinatensystem"  die  Unabhängigkeit  von 

*  Näheres  über  die  mathematische  Konstruktion  des  „Inertial- 
systems"  bei  Ludwig  Lange,  Die  geschichthche  Entwicklung  des 
Bewegungsbegriffs,  Wundts  Phüos.  Studien  III,  (1886),  S.  390  ff.,  677  ff. 
**  S.  Erkenntnisproblem  II,  344,  356  f.,  559  ff. ;  vgl.  jetzt  hierzu  beson- 
ders die  vortrefflichen  Ausführungen  von  E  d  m.  König,  Kant  xmd  die 
Naturwissenschaft,  Braunschweig  1907,  S.  129  ff. 

Cassirer,  Substanzbeg^iff  16  241 


allen  äußeren  Kräften  verlangt:  denn  wie  vermöchten  Kräfte 
auf  —  Linien,  auf  rein  geometrische  Gebilde  zu  wirken? 
Indem  wir  diese  Linien  in  unserer  gedanklichen  Abstraktion 
als  schlechthin  konstant  betrachten,  entwickeln  wir  hieraus 
ein  allgemeines  gesetzliches  Schema  für  mögliche  räumliche 
Veränderungen  überhaupt.  Ob  dieses  Schema  auf  die  Wirk- 
lichkeit der  physischen  Dinge  und  Vorgänge  anwendbar  ist, 
vermag  freilich  zuletzt  nur  die  Erfahrung  zu  lehren.  Aber 
auch  hier  ist  es  niemals  möglich,  die  Grundhypothesen  zu 
isolieren  und  sie  einzeln  in  konkreten  Wahrnehmungen  als 
gültig  aufzuzeigen,  sondern  wir  können  immer  nur  mittelbar  in 
dem  gesamten  Verknüpfungszusammenhang,  den  sie  zwischen 
den  Phänomenen  herstellen,  ihr  Recht  aufweisen.  (S.  oben, 
S.  193  ff.)  Wir  entwickeln  rein  theoretisch  die  Bestimmungen 
der  „Inertialsysteme",  und  die  mathematischen  Folgerungen, 
die  sich  an  sie  anschließen.  Soweit  irgendein  empirisch  ge- 
gebener Körper  sich  diesen  Bestimmungen  gemäß  zu  verhalten 
scheint,  sprechen  wir  auch  ihm  „absolute!'  Ruhe  und  absolute 
Festigkeit  zu:  d.  h.  wir  behaupten,  daß  ein  sich  selbst  über- 
lassener  materieller  Punkt  sich  in  bezug  auf  ihn  geradlinig 
und  gleichförmig  bewegen  müsse.  Aber  wir  sind  uns  zugleich 
darüber  klar,  daß  diese  Forderung  in  der  Erfahrung  niemals 
exakt,  sondern  stets  nur  in  bestimmter  Annäherung  erfüllt 
sein  kann.  So  wenig  es  eine  wirkliche  Gerade  gibt,  die  alle 
Eigenschaften  des  reinen  geometrischen  Begriffs  erfüllt, 
so  wenig  gibt  es  einen  wirklichen  Körper,  der  in  allen  Stücken 
der  mechanischen  Definition  des  Inertialsystems  entspricht. 
So  bleibt  stets  die  Möglichkeit  offen,  durch  die  Wahl  eines 
neuen  Bezugspunktes  eine  nähere  und  genauere  Überein- 
stimmung zwischen  dem  System  der  Beobachtungen  und  dem 
System  der  deduktiven  Schlußfolgerungen  herzustellen.  Diese 
Relativität  ist  es,  die  freilich  unabweislich  ist:  denn  sie  liegt 
im  Begriff  des  Erfahrungs- Gegenstands  selbst.  Sie  ist  der 
Ausdruck  des  notwendigen  Abstandes,  der  zwischen  den 
exakten  gedanklichen  Gesetzen,  die  wir  formulieren,  und  ihrer 
empirischen  Erfüllung  bestehen  bleibt.  Daß  irgendein  System 
gegebener  Körper  —  wie  etwa  das  System  der  Fixsterne  — 
in  Ruhe  ist,  das  bedeutet  somit  nicht  eine  Tatsache,  die  sich 

242 


direkt  durch  Wahrnehmung  oder  Messung  feststellen  läßt, 
sondern  es  besagt,  daß  hier  in  der  Körperwelt  ein  Paradigma 
für  bestimmte  Grund-  und  Lehrsätze  der  reinen  Mechanik 
gefunden  ist,  an  welchem  sie  sich  gleichsam  anschaulich 
demonstrieren  und  darstellen  lassen.  Der  Fixsternhimmel 
steht  mit  den  bewegten  Körpern  der  Wirklichkeit  in  Be- 
ziehungen, die  sich  dem  Zusammenhang  dieser  Sätze  völlig 
einordnen  und  in  ihm  einen  erschöpfenden  Ausdruck  finden. 
Der  einzelne  materielle  Anknüpfungspunkt,  an  den  wir 
gleichsam  unsere  Bewegungsgleichungen  heften,  mag  sich 
daher  verändern:  die  Grundrelation  auf  einen  bestimmten 
Inbegriff  von  Gesetzen  der  Mechanik  und  Physik  aber  bleibt 
konstant.  Analog  ersetzen  wir  das  nicht  völlig  genaue  Zeit- 
maß, das  die  Sterntage  uns  darbieten,  durch  ein  genaueres, 
indem  wir  uns  auf  das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft,  wie 
auf  das  Gravitationsgesetz  stützen:  als  ,, absolut"  exakt  gilt 
uns  diejenige  Zeiteinheit,  deren  Anwendung  uns  gestattet, 
einerseits  den  Widerspruch  gegen  die  theoretischen  Forde- 
rungen des  Energieprinzips,  anderseits  den  Gegensatz  zwischen 
dem  nach  dem  Newtonschen  Gesetz  berechneten  und  dem 
tatsächlich  beobachteten  Wert  der  säkularen  Beschleunigung 
des  Mondes  zu  beseitigen*.  So  bleibt  freilich  auch  den  physi- 
kalischen Begriffen  des  absoluten  Raumes  und  der  absoluten 
Zeit  eine  Beziehung  anhaften.  Die  Bedeutung  dieser  Begriffe 
besteht  nicht  darin,  daß  sie  jegliche  Relation  abstreifen, 
sondern  darin,  daß  sie  den  notwendig  geforderten  Bezugs- 
punkt vom  Materiellen  ins  Ideelle  verlegen.  Das  System, 
auf  das  wir  hinblicken  und  an  dem  wir  unsere  gedankliche 
Orientierung  suchen,  ist  kein  einzelner,  wahrnehmbarer 
Körper,  sondern  ein  Inbegriff  theoretischer  und  empiri- 
scher Regeln,  von  dem  die  konkrete  Gesamtheit  der 
Phänomene  als  abhängig  gedacht  wird. 

Diese  Bedeutung  der  Grundbegriffe  des  absoluten  Raumes 
und  der  absoluten  Zeit  ist  bereits  von  Leibniz  in  ihren  all- 
gemeinen Zügen  festgestellt  worden.  Ihm  sind  beide  Begriffe 
nur  ein  anderer  Ausdruck  für  die  durchgängige  örtliche  und 


*  S.  H.  Poincare,  La  mesiire  du  temps  (vgl.  oben,  S.  192  f.). 

16*  243 


zeitliche  Bestimmtheit,  die  wir  für  alles  Sein  und 
Geschehen  fordern  müssen.  Diese  Bestimmtheit  muß  ver- 
langt werden,  auch  wenn  es  keinen  streng  gleichförmigen 
Ablauf  irgendeines  tatsächlichen  Naturereignisses,  noch  irgend- 
einen festen  und  unbeweglichen  Körper  im  Weltall  gibt. 
Sie  ist  theoretisch  stets  erreichbar:  denn  man  kann  stets  die 
ungleichförmigen  Bewegungen,  deren  Gesetz  man  kennt, 
auf  gedachte  gleichförmige  Bewegungen  beziehen  und 
auf  Grund  dieses  Verfahrens  die  Folgen  der  Verknüpfung  ver- 
schiedener Bewegungen  vorausberechnen*.  Das  Verhältnis 
zwischen  Theorie  und  Erfahrung,  das  hier  angenommen  wird, 
hat  in  der  neueren  Zeit  seine  prägnanteste  Ausprägung  in 
Heinrich  Hertz'  System  der  Mechanik  gefunden.  Die 
Darstellung  von  Hertz  nimmt  Raum  und  Zeit  zunächst 
lediglich  in  dem  Sinne,  in  dem  sie  sich  der  „innerenAnschauung** 
darbieten.  Die  Aussagen,  die  von  ihnen  gemacht  werden, 
sind  ,, Urteile  a  priori  im  Sinne  Kants";  jede  Berufung  auf 
die  Erfahrung  an  sinnlich  wahrnehmbaren  Körpern  bleibt 
ihnen  fremd.  Erst  im  zweiten  'Buch,  in  welchem  von  der 
Geometrie  und  Kinematik  zur  Mechanik  der  materiellen 
Systeme  übergegangen  wird,  werden  die  Zeiten,  Räume 
und  Massen  als  Zeichen  äußerer  empirischer  Gegenstände 
gedacht,  deren  Eigenschaften  indessen  den  Eigenschaften 
nicht  widersprechen  dürfen,  die  wir  zuvor  den  gleichbenannten 
Größen  als  Formen  unserer  inneren  Anschauung  oder  durch 
Definition  beigelegt  hatten.  „Unsere  Aussagen  über  die  Be- 
ziehungen zwischen  Zeiten,  Räumen  und  Massen  sollen  daher 
nicht  mehr  allein  den  Ansprüchen  unseres  Geistes  genügen, 
sondern  sie  sollen  zugleich  auch  möglichen,  insbesondere  zu- 
künftigen Erfahrungen  entsprechen.  Diese  Aussagen  stützen 
sich  daher  auch  nicht  mehr  allein  auf  die  Gesetze  unserer  An- 
schauung und  unseres  Denkens,  sondern  außerdem  auf  vor- 
angegangene Erfahrung."  Indem  wir  nämlich  innerhalb  jedes 
Gebiets  feste  Maßeinheiten  zugrunde  legen,  nach  denen  wir 
die  empirischen  Räume,  Zeiten  und  Massen  miteinander  ver- 
gleichen, gewinnen  wir  damit  ein  allgemeines  Prinzip  der  Zu- 


*  Leibniz,  Nouveaux  Essais,  Livr.  II,  chap.  1 4. 

844 


Ordnung,  kraft  dessen  wir  nunmehr  den  konkreten  sinnlichen 
Empfindungen  und  Wahrnehmungen  bestimmte  mathema- 
tische Symbole  eindeutig  entsprechen  lassen  und  damit  die 
gegebenen  Eindrücke  in  die  Zeichensprache  unseres  inneren 
gedanklichen  Bildes  übertragen.  Die  Unbestimmtheiten, 
die  diesen  Festsetzungen  der  letzten  Einheitsmaße  notwendig 
anhaften,  sind  nicht  Unbestimmtheiten  unserer  Bilder,  auch 
nicht  unserer  Abbildungs-  und  Korrelationsgesetze,  sondern  es 
sind  Unbestimmtheiten  der  abzubildenden  äußeren  Erfahrung 
selbst.  „Wir  wollen  damit  sagen,  daß  wir  durch  tatsächliche 
Bestimmung  mit  Hilfe  unserer  Sinne  doch  keine  Zeit  genauer 
festlegen  können,  als  sie  sich  messen  läßt  mit  Hilfe  der  besten 
Chronometer,  keine  Lage  genauer,  als  sie  sich  beziehen  läßt 
auf  ein  mit  dem  entfernteren  Fixsternhimmel  ruhendes 
Koordinatensystem,  keine  Masse  genauer,  als  die  besten  Wagen 
sie  uns  liefern*."  Während  also  bei  den  Gebilden,  die  aus 
den  Gesetzen  der  Anschauung  und  des  Denkens  von  uns  er- 
zeugt sind,  die  vollkommene  Fixierung  aller  Elemente  erreicht 
ist,  ist  sie  im  Gebiet  der  empirischen  Erscheinungen  lediglich 
gefordert.  Wir  messen  die  ,, Wirklichkeit"  unserer  Erfahrungen 
beständig  an  der  ,, Wahrheit"  unserer  abstrakten  dynamischen 
Begriffe  und  Grundsätze.  Die  Weltordnung,  die  wir  unter 
der  Voraussetzung  der  Ruhe  des  Fixsternhimmels  konstruieren, 
ist  uns  die  wahre  Ordnung  der  Dinge,  sofern  alle  tatsächlich 
beobachtbaren  Bewegungen  in  bezug  auf  dieses  Grundsystem 
bisher  stets  in  höchster  Annäherung  den  Axiomen  entsprachen, 
durch  welche  die  Mechanik  den  Begriff  der  ,, absoluten  Be- 
wegung" charakterisiert.  Sollte  einmal  diese  Bedingung  sich 
nicht  mehr  erfüllt  zeigen,  was  wir  durchaus  als  möglichen  Fall 
in  den  Kreis  unserer  Berechnungen  und  Voraussetzungen 
aufnehmen  müssen,  so  würden  diese  Axiome,  so  würde  also 
das  Ideal,  nach  welchem  die  Konstruktion  erfolgt  ist,  in  seinem 
Sinn  völlig  unversehrt  bleiben;  nur  seine  empirische  Ver- 
wirklichung wäre  an  eine  andere  Stelle  gerückt. 

Der  absolute  Raum  ist  daher  —  wenn  darunter  nicht  der 
abstrakte   Raum   der   Mechanik,    sondern   die   eindeutig   be- 

*  Heinrich   Hertz,     Die    Prinzipien   der  Mechanik,    S.  53  ff., 
S.  157  ff. 

245 


stimmte  Ordnung  der  Körperwelt  selbst  bezeichnet  wird  — 
allerdings  niemals  endgültig  gegeben,  sondern  stets  nur  ge- 
sucht. Aber  hierin  liegt  keine  Minderung  seiner  objektiven 
Bedeutung  für  unsere  Erkenntnis:  denn  auch  der  relative 
Raum  bedeutet,  wie  sich  bei  schärferer  Analyse  zeigt,  niemals 
eine  Gegebenheit  im  Sinne  eines  dogmatischen  ,, Positivismus". 
Auch  wenn  wir  irgendwelche  körperliche  Massen  in  ihren 
wechselseitigen  Lagen  und  ihren  relativen  Abständen 
betrachten,  sind  wir  damit  über  die  Grenzen  der  sinnlichen 
Eindrücke  bereits  hinausgeschritten.  Wenn  wir  von  „Distanz" 
sprechen,  so  meinen  wir  damit  streng  genommen  kein  Ver- 
hältnis zwischen  sinnlichen  Körpern,  da  diese,  je  nachdem 
man  den  einen  oder  anderen  Punkt  ihres  Volumens  zum 
Ausgangspunkt  der  Messung  nimmt,  ja  sehr  verschiedene 
Entfernungen  untereinander  besitzen  können.  Um  hier  zu 
einem  eindeutigen  geometrischen  Sinne  zu  gelangen, 
müssen  wir  vielmehr  an  die  Stelle  einer  Beziehung  von  Körpern 
eine  Beziehung  zwischen  Punkten  setzen,  indem  wir  etwa 
die  Gesamtmasse  der  Körper  auf  die  Schwerpunkte  reduziert 
denken.  Wir  müssen  somit  die  direkte  empirische  Anschauung 
bereits  vermittels  der  reinen  geometrischen  Grenzbegriffe 
geformt  und  umgestaltet  haben,  um  auch  nur  über  die  relative 
Lage  zweier  materieller  Systeme  eine  völlig  sichere  Aussage 
machen  zu  können.  Die  positivistischen  Bedenken  gegen  den 
, .reinen"  Raum  und  die  „reine"  Zeit  der  Mechanik  beweisen 
daher  nichts,  weil  sie  zu  viel  beweisen  würden:  sie  müßten, 
konsequent  zu  Ende  gedacht,  auch  jede  Darstellung  physisch 
gegebener  Körper  in  einem  geometrischen  System,  in  welchem 
es  feste  Lagen  und  Entfernungen  gibt,  verwehren.  Der 
physische  Raum  der  Körper  bedeutet  eben  keine  getrennte 
Wesenheit,  sondern  ist  erst  kraft  des  geometrischen  Raumes 
der  Linien  und  Abstände  möglich.  Auch  für  dieses  Verhältnis 
hat  L  e  i  b  n  i  z  ein  besonders  treffendes  und  prägnantes  Wort 
geprägt.  Es  ist  freilich  richtig  —  so  führt  er  aus  —  daß  im 
Begriff  des  Körpers  mehr  gesetzt  ist,  als  im  Begriff  des  bloßen 
Raumes;  aber  es  folgt  hieraus  nicht,  daß  die  Ausdehnung, 
die  wir  an  den  Körpern  wahrnehmen,  von  der  idealen  Aus- 
dehnung der  Geometrie  in  irgendwelchen  Bestimmungen  ver- 

246 


schieden  sei.  Auch  die  Zahl  ist  etwas  anderes  als  der  Inbegriff 
gezählter  Dinge,  während  doch  die  Vielheit  als  solche  stets 
ein  und  dasselbe  bedeutet,  gleichviel  ob  wir  sie  rein  begrifflich 
definieren  oder  sie  uns  in  irgendeinem  konkreten  Beispiel  ver- 
anschaulichen. ,,In  demselben  Sinne  kann  man  auch  sagen, 
daß  man  sich  nicht  zwei  Arten  der  Ausdehnung:  die  abstrakte 
des  Raumes  und  die  konkrete  der  Körper  vorzustellen  hat: 
denn  das  Konkrete  empfängt  seine  Beschaffenheit  erst  durch 
das  Abstrakte*."  Wir  zeichnen  die  Daten  der  Erfahrung  in 
unser  konstruktives  Schema  ein  und  gewinnen  damit  ein 
Bild  der  physischen  Wirklichkeit:  aber  dieses  Bild  bleibt 
dennoch  immer  Entwurf,  nicht  Kopie  des  Seins 
und  erhält  sich  daher  beständig  wandlungsfähig,  wenngleich 
seine  Hauptzüge  durch  die  Begriffe  der  Geometrie  und 
Phoronomie  feststehen. 

Freilich  scheint,  wenn  wir  in  dieser  Weise  unsere 
Aussagen  über  Wirklichkeit  auf  vorangegangene  Kon- 
struktionen begründen,  damit  zugleich  ein  Moment  der 
Willkür  in  unsere  wissenschaftliche  Betrachtung  zu- 
gelassen. Man  hat  diesen  Schluß  tatsächlich  gezogen,  indem 
man  die  Begriffe  des  ,,Inertialsystems"  und  der  „Inertial- 
zeitskala"  als  bloße  Konventionen  bezeichnet  hat, 
die  wir  zum  Zweck  der  leichteren  Übersicht  über  die  Tat- 
sachen einführen,  die  aber  in  keinem  empirischen  Faktum 
selbst  ein  unmittelbar  objektives  Korrelat  besitzen**. 
In  einer  Untersuchung  über  die  Bedingungen  der  Zeitmessung 
hat  sodann  P  o  i  n  c  a  r  6  die  allgemeine  Folgerung  hieraus 
in  aller  Entschiedenheit  gezogen.  Wenn  wir  irgendeine  Natur- 
erscheinung als  absolut  gleichförmig  erklären  und  alle  anderen 
an  ihr  messen,  so  sind  wir  in  unserer  Wahl  niemals  von  außen 
schlechthin  bestimmt  und  gezwungen:  kein  Zeitmaß  ist 
wahrer  als  irgendein  beliebiges  andere,  sondern  alles,  was  wir 
zu  seiner  Begründung  anführen  können,  beschränkt  sich  darauf, 
daß  es  bequemer  ist.  Die  Frage,  die  hiermit  aufgeworfen 
ist,  läßt  indes  im  Zusammenhang  der  bisherigen  Untersuchung 


*  S.  Leibniz,  Nouveaux  Essais,  Livr.  II,  Chap.  4. 
**  Vgl.  Ludwig  Lange  ,    a.  a.  O.;  s.  auch  den  Aufs.:  Das  Inertial- 
Bystem  vor  dem  Forum  der  Naturforschung,  Philoe.  Studien,  Bd.  II. 

247 


noch  keine  endgültige  Antwort  zu;  denn  sie  greift  vom  Bereich 
der  Wissenschaft  in  ein  methodisch  fremdes  Gebiet  über.  Die 
Wissenschaft  besitzt  kein  höheres  Kriterium  der  Wahrheit 
und  kann  kein  anderes  besitzen,  als  die  Einheit  und  Geschlossen- 
heit im  systematischen  Aufbau  der  Gesamterfahrung.  Jede 
andere  Fassung  des  Gegenstandsbegriffs  liegt  außerhalb  ihres 
Bereichs;  sie  müßte  sich  selbst  ,,transzendieren",  um  auch 
nur  das  Problem  einer  andersartigen  Gegenständlichkeit 
in  Gedanken  fassen  zu  können.  Die  Scheidung  zwischen  einer 
„absoluten"  Wahrheit  des  Seins  und  einer  „relativen"  Wahr- 
heit der  wissenschaftlichen  Erkenntnis,  die  Trennung  zwischen 
dem,  was  vom  Standpunkt  unserer  Begriffe  und  dem,  was 
an  sich  selbst  durch  die  Natur  der  Sache  notwendig  ist, 
bedeutet  selbst  bereits  eine  metaphysische  Satzung,  die, 
ehe  sie  als  Maßstab  gebraucht  werden  kann,  auf  ihr  Recht 
und  ihre  Geltung  zu  prüfen  ist.  Die  Bezeichnung  der  ideellen 
begrifflichen  Schöpfungen  als  ,, Konventionen"  hat  somit  zu- 
nächst nur  eine  verständliche  Bedeutung:  sie  enthält  den 
Hinweis  und  die  Anerkennung,  daß  der  Gedanke  sich  in  ihnen 
nicht  lediglich  aufnehmend  und  nachbildend  verhält,  sondern 
eine  eigentümliche  und  ursprüngliche  Selbsttätigkeit 
entfaltet.  Diese  Selbsttätigkeit  ist  indessen  keineswegs 
unbeschränkt  und  zügellos:  denn  ihre  Bindung  ist,  wenngleich 
nicht  in  einer  einzelnen  Wahrnehmung,  so  doch  im 
System  der  Wahrnehmungen,  in  ihrer  Ordnung  und  ihrem 
Zusammenhang,  gegeben.  Diese  Ordnung  ist  freilich  niemals 
in  einem  einzigen  Begriffssystem,  das  jede  andere  Wahl  aus- 
schließt, festzulegen,  sondern  läßt  stets  verschiedenen  Möglich- 
keiten der  Darstellung  Raum:  aber  eben  indem  unsere  ge- 
dankliche Konstruktion  sich  erweitert  und  neue  Momente  in 
sich  aufnimmt,  zeigt  es  sich,  daß  sie  hierbei  nicht  nach  Willkür 
verfährt,  sondern  ein  bestimmtes  Gesetz  des  Fortschritts 
befolgt.  Dieses  Gesetz  bleibt  das  letzte  erreichbare  Kriterium 
der  ,, Objektivität";  denn  es  verbürgt  uns,  daß  in  dem  Weltbild 
der  Physik,  dem  wir  auf  diesem  Wege  zustreben,  alle  Zufällig- 
keiten der  Beurteilung,  wie  sie  sich  vom  subjektiven  Stand- 
punkt des  einzelnen  Beobachters  aus  unausweichlich  ergeben, 
mehr  und  mehr  ausgeschaltet  werden,  und  daß  an  ihre  Stelle 

248 


diejenige  Notwendigkeit  tritt,  die  allgemein  den  Kern 
des  Objektbegriffs  selbst  ausmacht*. 

VIT. 

Raum  und  Zeit,  so  unentbehrlich  sie  zum  Aufbau 
der  empirischen  Wirklichkeit  sind,  gelten  dennoch  nur  als  die 
allgemeinen  Formen,  in  denen  diese  sich  darstellt.  Sie 
sind  die  fundamentalen  Ordnungen,  in  welche  sich  das  Reale 
einfügt,  aber  sie  bestimmen  nicht  den  Begriff  des  Realen 
selbst.  Um  die  an  und  für  sich  leeren  Formen  mit  konkretem 
Inhalt  zu  erfüllen,  bedarf  es  eines  neuen  Prinzips.  Von  Demo- 
krits  Begriff  der  Materie  an,  die  als  das  7tafj.7tXrJQEi  ov  dem 
leeren  Raum  entgegengesetzt  ist,  ist  dieses  Prinzip  in  ver- 
schiedene Bezeichnungen  zu  fassen  versucht  worden,  bis  es 
seine  abschließende  logische  Fixierung  in  dem  modernen  Ge- 
danken der  Energie  gefunden  hat.  Hier  scheinen  wir  zum 
ersten  Mal  auf  dem  Boden  der  Wirklichkeit  zu  stehen;  hier 
tritt  uns  ein  Sein  entgegen,  das  alle  Bedingungen  wahrhafter 
und  unabhängiger  Existenz  erfüllt,  indem  es  sich  unzerstörlich 
und  ewig  erhält.  So  ist  es  denn  in  der  Tat,  neben  allen  spezifisch 
physikalischen  Gründen,  ein  erkenntnistheoreti- 
scher Vorzug,  den  die  Energetik  für  sich  in  Anspruch 
nimmt.  Das  Atom  und  die  Materie,  die  für  die  ältere 
Naturwissenschaft  den  eigentlichen  Typus  des  Objektiven  aus- 
machen, gehen  dennoch  bei  schärferer  Zergliederung  der  Daten 
und  Bedingungen  unserer  Erkenntnis  in  bloßen  Abstraktionen 
auf.  Sie  sind  Begriffsmarken,  die  wir  unseren  Eindrücken  an- 
heften, die  sich  aber  an  realer  Bedeutung  niemals  mit  der 
unmittelbaren  Empfindung  selbst  messen  können.  In  der 
Energie  erst  erfassen  wir  das  Wirkliche,  weil  das  Wir- 
kende selbst.  Hier  schiebt  sich  kein  bloßes  Symbol  mehr 
zwischen  uns  und  die  physischen  Dinge;  hier  befinden  wir 
uns  nicht  mehr  im  Gebiet  des  bloßen  Denkens,  sondern  im 
Gebiet  des  Seins.  Und  wir  brauchen,  um  dieses  letzte  Sein 
zu  ergreifen,  keinen  Umweg  über  komplizierte  mathematische 
Hypothesen  mehr,  sondern  es  offenbart  sich  uns  direkt  und  un- 


Vgl.  hierzu  später  Kap,  VI  und  VII. 

249 


gesucht  in  der  Wahrnehmung  selbst.  Was  wir  empfinden, 
ist  ja  in  Wahrheit  nicht  die  rätselhafte,  an  sich  völlig  un- 
bestimmte Materie,  die  wir  als  „Träger"  der  sinnlichen  Eigen- 
schaften voraussetzen,  sondern  es  sind  die  konkreten  Ein- 
wirkungen, die  von  den  Außendingen  auf  uns  geübt  werden. 
„Was  wir  sehen,  ist  nichts  als  die  strahlende  Energie,  welche 
auf  der  Netzhaut  unseres  Auges  chemische  Arbeiten  bewirkt, 
die  als  Licht  empfunden  werden.  Wenn  wir  einen  festen 
Körper  tasten,  so  empfinden  wir  die  mechanische  Arbeit, 
die  bei  der  Zusammendrückung  unserer  Fingerspitzen  und 
gegebenenfalls  auch  der  des  getasteten  Körpers  verbraucht 
wird.  Riechen  und  Schmecken  beruhen  auf  chemi- 
schen Arbeitsleistungen,  die  in  den  Organen  der  Nase  und  des 
Mundes  stattfinden.  Überall  sind  es  Energien  oder  Arbeiten, 
deren  Betätigung  uns  davon  Kunde  gibt,  wie  die  Außenwelt 
geordnet  ist,  und  welche  Eigenschaften  sie  hat,  und  die  Ge- 
samtheit der  Natur  erscheint  uns  unter  diesem  Gesichtspunkte 
als  eine  Austeilung  räumlich  und  zeitlich  veränderlicher 
Energieen  in  Raum  und  Zeit,  von  der  wir  in  dem  Maße  Kenntnis 
erhalten,  als  diese  Energieen  auf  unsern  Körper,  insbesondere 
auf  die  für  den  Empfang  bestimmter  Energieen  ausgebildeten 
Sinnesorgane  übergehen.*"  Das  „Ding"  als  ein  passives  und 
gleichgültiges  Substrat  der  Eigenschaften  ist  somit  jetzt  be- 
seitigt. Der  Gegenstand  i  s  t  das,  als  was  er  sich  uns  allein 
gibt:  eine  Summe  tatsächlicher  und  möglicher  Wirkungsweisen. 
Mit  diesem  Gedanken  ist  allerdings  eine  Bestimmung,  die  rein 
der  philosophischen  Reflexion  angehört,  in  die  Grundlagen  des 
naturwissenschaftlichen  Denkens  aufgenommen;  aber  damit 
ist  zugleich  deren  Leistung  begrenzt  und  erschöpft.  Fortan 
können  alle  bloß  spekulativen  Gesichtspunkte  um  so  strenger 
ausgeschlossen  und  die  Betrachtung  lediglich  auf  die  Wieder- 
gabe des  empirisch  Tatsächlichen  beschränkt  werden.  Je 
reiner  diese  Aufgabe  erfüllt  wird,  um  so  klarer  erblicken  wir, 
ohne  alle  abstrakten  und  begrifflichen  Hüllen,  nunmehr  die 
Urrealität   selbst. 

Ein  Bedenken  freilich  muß  sich  sogleich  gegen  diese 
Auffassung  erheben.   Gleichviel  welche  physikalischen  Vorzüge 

*  Ostwald,   Vorles.  über  Naturphilosophie,  S.  159  f. 

250 


der  Begriff  der  Energie  vor  dem  der  Materie  und  des  Atoms 
besitzen  mag:  logisch  stehen  jedenfalls  beide  auf  derselben 
Stufe  und  gehören  der  gleichen  Sphäre  der  Betrachtung  an. 
Dies  bekundet  sich  vor  allem  negativ  in  dem  gleichen  Abstand, 
den  beide  gegenüber  dem  Sinnlich- Gegebenen  bewahren.  Daß 
„Energieen"  gesehen  oder  gehört  werden  können:  dieser  Ge- 
danke ist  offenbar  nicht  weniger  naiv,  als  der  Gedanke,  daß 
die  „Materie"  der  theoretischen  Physik  sich  direkt  tasten 
und  mit  Händen  greifen  lasse.  Was  uns  gegeben  ist,  sind 
qualitative  Unterschiede  des  Empfindungsinhalts:  des  Warmen 
und  Kalten,  des  Hellen  und  Dunkeln,  des  Süßen  und  Bittern; 
nicht  aber  die  numerischen  Differenzen  von  Arbeitsgrößen. 
Indem  wir  die  Empfindungen  auf  derartige  Größen  und  ihren 
wechselseitigen  Ausgleich  zurückdeuten,  haben  wir  daher  an 
ihnen  genau  die  gleiche  Umsetzung  in  eine,  ihnen  fremde 
Sprache  vollzogen,  die  die  Energetik  der  mechanischen 
Weltanschauung  zum  Vorwurf  macht.  Eine  Wahrnehmung 
messen  heißt  bereits  sie  in  eine  andere  Form  des  Seins  um- 
prägen; heißt  bereits,  mit  bestimmten  theoretischen  Voraus- 
setzungen des  Urteils  an  sie  herantreten  (s.  S.  187  ff.).  Der 
Vorzug,  den  die  Energetik  hier  vor  der  Mechanik  behaupten 
könnte,  kann  also  niemals  darin  bestehen,  daß  sie  sich  dieser 
Voraussetzungen  enthält,  sondern  daß  sie  sie  klarer  und  schärfer 
in  ihrer  logischen  Bedingtheit  durchschaut.  Nicht  darum 
kann  es  sich  handeln,  die  „Hypothese"  gänzlich  auszuschalten, 
sondern  nur  darum,  sie  nicht  mehr  —  gleich  dem  dogmatischen 
Materialismus  —  in  eine  absolute  Beschaffenheit  der  Dinge 
umzudeuten. 

Faßt  man  die  Aufgabe  in  dieser  Weise,  so  zeigt  es  sich 
in  der  Tat,  daß  die  Energetik  von  Anfang  an  ein  Motiv  in  sich 
enthält,  das  sie,  mehr  als  jede  andere  physikalische  An- 
schauung, vor  der  Gefahr  der  unmittelbaren  Verdinglichung 
der  abstrakten  Prinzipien  zu  bewahren  vermag.  Ihr  Grund- 
gedanke geht,  erkenntnistheoretisch  betrachtet,  nicht  in 
erster  Linie  auf  den  Begriff  des  Raumes,  sondern  auf 
den  der  Zahl  zurück.  Zahlenwerte  und  Zahlenverhältnisse 
sind  es,  auf  die  hier  die  theoretische  wie  die  experimentelle 
Beobachtung  gleichmäßig  eingestellt  sind  und  in  denen  der 

251 


eigentliche  Kern  des  Grundgesetzes  besteht.  Die  Zahl  aber 
kann,  wenn  man  nicht  zur  Mystik  des  Pythagoreismus  zurück- 
kehren will,  nicht  wohl  als  Substanz  mißverstanden 
werden,  sondern  sie  bezeichnet  lediglich  einen  allgemeinen 
Gesichtspunkt,  durch  welchen  wir  das  sinnlich  Mannigfaltige 
im  B  e  g  r  i  f  f  als  einheitlich  und  gleichartig  setzen.  Die 
Entwicklung  des  Energiegedankens  bietet  ein  konkretes 
physikalisches  Beispiel  für  diesen  allgemeinen  Erkenntnis- 
prozeß. Wir  sahen,  daß  der  erste  Schritt  der  mathematischen 
Objektivierung  des  Gegebenen  darin  bestand,  es  unter  be- 
stimmte Reihenbegriffe  zu  fassen.  Erst  indem  es  in  diesem 
Sinne  „festgestellt**  wird,  indem  ihm  ein  eindeutiger  Platz 
in  einer  nach  irgendeinem  Gesichtspunkt  geordneten  und  ab- 
gestuften Mannigfaltigkeit  zugewiesen  wird,  wird  das  Ge- 
gebene damit  zum  Gegenstand  wissenschaftlicher  Betrachtung. 
Aber  die  eigentliche  Aufgabe  der  Naturerkenntnis  ist  damit 
noch  nicht  erschöpft,  ja  prinzipiell  noch  nicht  in  Angriff  ge- 
nommen. Die  Einbeziehung  des  Sinnlich-Mannigfaltigen 
in  Reihen  von  rein  mathematischem  Aufbau  bleibt  solange 
unzureichend,  als  diese  Reihen  selbst  noch  gesondert 
nebeneinander  stehen.  Solange  dies  der  Fall  ist,  ist  das  ,,Ding** 
der  populären  Erfahrung  selbst  noch  nicht  vollständig  in 
seinem  logischen  Bestand  begriffen.  Es  ist  nicht  genug, 
wenn  wir  jede  einzelne  physikalische  und  chemische  Eigen- 
schaft in  einem  reinen  Zahlenwert  zum  Ausdruck  bringen 
und  den  Gegenstand  als  ein  Ganzes  derartiger  „Parameter"  dar- 
stellen. Denn  das  Objekt  will  mehr  sein,  als  eine  bloße  Summe 
von  Eigenschaften;  es  will  die  Einheit  der  Eigenschaften 
und  somit  ihre  wechselseitige  Bedingtheit  und  Abhängigkeit 
bedeuten.  Soll  diese  Forderung  in  der  Wissenschaft  ihren 
adäquaten  Ausdruck  finden,  so  muß  nach  einem  Prinzip 
gefragt  werden,  das  uns  gestattet,  die  verschiedenen  Gesamt- 
reihen, in  die  wir  den  Inhalt  des  Gegebenen  zunächst  geordnet 
haben,  wiederum  untereinander  durch  ein  einheitliches 
Gesetz  zu  verknüpfen.  Wärme,  Bewegung,  Elektrizität, 
chemische  Verwandtschaft  bezeichnen  zunächst  nur  gewisse 
abstrakte  Typen,  auf  die  wir  das  Ganze  unserer  Wahrneh- 
mungen beziehen.     Um  von  ihnen  wiederum  zu  einer  Dar- 

252  f 


Stellung  des  realen  Vorgangs  selbst  zu  gelangen,  bedarf  es 
einer  durchgängigen  Vermittlung,  kraft  deren  alle  diese  ver- 
schiedenen Gebiete  wiederum  zu  Gliedern  eines  übergeordneten 
Systems  werden. 

Von  diesem  Punkte  aus  läßt  sich  sogleich  die  allgemeine 
Bedeutung  und  Leistung  des  Grundgedankens  der  Energetik 
überblicken.  Der  Aufbau  der  mathematischen  Physik  ist  im 
Prinzip  vollendet,  wenn  es  gelingt,  ebenso  wie  wir  die  Glieder 
der  Einzelreihen  gemäß  einer  exakten  numerischen  Skala 
geordnet  haben,  auch  eine  konstante  zahlenmäßige  Beziehung 
zu  entdecken,  die  den  Übergang  von  einer  Reihe  zur  andern 
regelt.  Erst  wenn  dies  geschehen,  ist  der  Weg  von  jedem 
Glied  zu  jedem  andern,  gleichviel  welcher  Reihe  es  an- 
gehören mag,  bestimmt  und  durch  feste  Regeln  der  Ab- 
leitung vorgeschrieben.  Nun  erst  zeigt  es  sich,  wie  in  der  Tat 
die  Fäden  des  mathematischen  Zusammenhangs  des  Ge- 
schehens allseitig  geknüpft  sind,  so  daß  kein  Element  ohne  Ver- 
bindung bleibt.  Diese  Beziehung  wird  empirisch  zunächst 
an  dem  Verhältnis  der  Äquivalenz  von  Bewegung  und  Wärme 
festgestellt;  aber  sie  greift,  einmal  ermittelt,  sogleich  über 
diesen  ersten  Ansatz  hinaus.  Der  Gedanke  erstreckt  sich  als 
allgemeine  Forderung  alsbald  auf  die  Allheit  der  mög- 
lichen physischen  Mannigfaltigkeiten  überhaupt.  Das  Energie- 
gesetz enthält  die  Anweisung,  jedem  Glied  einer  Mannig- 
faltigkeit ein  und  nur  ein  Glied  in  einer  beliebigen  anderen 
zuzuordnen,  sofern  jedem  ,, Quantum"  der  Bewegung  ein 
Quantum  der  Wärme,  jedem  Quantum  der  Elektrizität  ein 
Quantum  chemischer  Verwandtschaft  entspricht  usf.  Im 
Maßbegriff  der  Arbeit  sind  alle  diese  Größenbestimmungen 
auf  einen  gemeinsamen  Nenner  bezogen.  Ist  aber  einmal 
ein  derartiger  Zusammenhang  festgestellt,  so  läßt  sich  nun- 
mehr jeder  numerische  Unterschied,  den  wir  innerhalb  der 
einen  Reihe  finden,  in  den  zugehörigen  Werten  irgendeiner 
anderen  Reihe  vollständig  ausdrücken  und  wiedergeben. 
Die  Vergleichseinheit,  die  wir  hierfür  zugrunde  legen,  kann 
beliebig  wechseln,  ohne  daß  das  Ergebnis  dadurch  berührt 
würde.  Sind  zwei  Elemente  eines  Gebiets  insofern  einander 
gleich,  als  ihnen  in  irgendeiner  Reihe  physischer  Quali- 

253 


täten  derselbe  Betrag  der  Wirkung  entspricht,  so  muß  diese 
Gleichheit  aufrecht  erhalten  bleiben,  auch  wenn  man  zum 
Zweck  ihrer  zahlenmäßigen  Vergleichung  auf  eine  beliebige 
andere  Reihe  übergeht.  In  dieser  Forderung  erschöpft  sich 
bereits  der  wesentliche  Inhalt  des  Erhaltungsprin- 
zips: denn  jede  Arbeitsgröße,  die  „aus  Nichts"  entstände, 
würde  das  Prinzip  der  wechselseitig  eindeutigen  Zu- 
ordnung aller  Reihen  durchbrechen.  Will  man  den  Zu- 
sammenhang schematisch  darstellen,  so  haben  wir  hier  eine 
Anzahl  von  Reihen  A,  B,  C,  deren  Glieder  aia^^z- -  -  ^n» 
bj  bj  b,  ...  bn,  Ci  Cj  Cj  ...  Cn  in  einem  bestimmten  physikali- 
schen Austauschverhältnis  stehen,  derart,  daß 
irgendein  Glied  von  A  durch  ein  bestimmtes  anderes  in  B 
oder  C  ersetzt  werden  kann,  ohne  daß  die  Wirkungs- 
fähigkeit des  betreffenden  physikalischen  Systems,  in  dem 
dieser  Ersatz  vorgenommen  wurde,  dadurch  geändert  wird. 
Dieses  Verhältnis  der  möglichen  Substitution  be- 
zeichnen wir  kurz  damit,  daß  wir  nicht  jedem  Einzelglied 
stets  die  ganze  Fülle  der  entsprechenden  Äquivalente  zu- 
ordnen, sondern  daß  wir  ihm  ein  für  allemal  einen  bestimmten 
Wert  ,,der"  Energie  zusprechen,  der  alle  diese  Zuordnungen 
in  einen  einzigen  prägnanten  Ausdruck  zusammenfaßt.  Wir 
messen  die  verschiedenen  Systeme  nicht  direkt  an  und  in- 
einander, sondern  erschaffen  zu  diesem  Zwecke  eine  ge- 
meinsame Vergleichsreihe,  auf  die  sie  gleich- 
mäßig bezogen  werden.  Daß  wir  für  diese  Vergleichsreihe 
herkömmlicher  Weise  die  mechanische  Arbeit  wählen,  ist 
vor  allem  in  technischen  Umständen  begründet,  da  die  Um- 
setzung der  verschiedenen  ,, Energiearten"  in  diese  Grundform 
relativ  leicht  ausführbar  und  exakt  meßbar  ist;  an  und  für 
sich  aber  könnte  jede  beliebige  Einzelreihe  als  Ausdruck 
für  die  Gesamtheit  der  möglichen  Relationen  zugrunde  gelegt 
werden.  In  jedem  Falle  zeigt  es  sich,  daß  die  Energie  in  dieser 
Form  der  Ableitung  nirgends  als  ein  neues  Ding,  sondern 
als  ein  einheitliches  Bezugssystem  erscheint,  daß  wir 
der  Messung  zugrunde  legen.  Alles  was  sich  von  ihr  mit 
wissenschaftlichem  Grund  und  Recht  aussagen  läßt,  erschöpft 
sich  in  den  quantitativen  Beziehungen  der  Äquivalenz,  die 

254 


zwischen  den  verschiedenen  Gebieten  der  Physik  obwalten. 
Die  Energie  tritt  nicht  als  ein  neues  gegenständliches  Etwas 
den  schon  bekannten  physischen  Inhalten,  wie  Licht  und 
Wärme,  Elektrizität  und  Magnetismus,  zur  Seite,  sondern  sie 
bedeutet  lediglich  eine  objektiv  gesetzmäßige  Korrelation,  in 
welcher  alle  diese  Inhalte  stehen.  Ihr  eigentlicher  Sinn  und 
ihre  Funktion  liegt  in  den  Gleichungen,  die  sie  zwischen 
verschiedenartigen  Gruppen  von  Vorgängen  herstellen  lehrt. 
Es  wäre  die  gleiche  dogmatische  Verwechslung,  die  die  Energe- 
tik dem  Materialismus  vorwirft,  wenn  man  das  Prinzip,  das  die 
eindeutige  quantitative  Zuordnung  der  Gesamtheit  der  Phä- 
nomene fordert,  selbst  in  die  Form  eines  Einzeldinges,  ja 
in  die  Form  ,,des"  Dinges,  der  einen  allumfassenden  Substanz 
kleiden  wollte.  Die  Wissenschaft  zum  mindesten 
weiß  von  einer  solchen  substantiellen  Umformung  nichts  und 
vermag  sie  nicht  zu  verstehen.  Die  I  d  e  n  t  i  t  ät ,  zu  der 
auch  sie  hinstrebt  und  zu  der  sie  die  verstreuten  Einzel- 
phänomene verknüpft,  hat  ihr  stets  die  Form  eines  obersten 
mathematischen  Gesetzes,  nicht  aber  eines  allumfassenden 
und  somit  im  letzten  Grunde  eigenschafts-  und  bestimmungs- 
losen Gegenstandes,  Die  Energie  als  Einzelding  gefaßt, 
wäre  ein  Etwas,  das  zugleich  Bewegung  und  Wärme, 
Magnetismus  und  Elektrizität  und  doch  auch  nichts  von  dem 
allen  wäre;  während  sie  als  Prinzip  nichts  anderes  als  einen 
gedanklichen  Gesichtspunkt  bezeichnet,  nach  welchem  alle 
diese  Phänomene  meßbar  werden  und  sich  somit  bei  aller 
sinnlichen  Verschiedenheit  ein  und  demselben  Verknüpfungs- 
zusammenhang einfügen. 

An  diesem  Punkte,  an  welchem  wir  mitten  in  den  natur- 
philosophischen Streitfragen  der  Gegenwart  stehen,  drängt 
sich  indessen  zugleich  eine  allgemeine  logische  Be- 
merkung auf.  So  paradox  es  auf  den  ersten  Blick  erscheinen 
mag,  so  macht  sich  selbst  hier,  wo  die  Betrachtung  völlig  den 
Tatsachen  hingegeben  scheint,  die  Nachwirkung  all- 
gemeiner logischer  Theorien  geltend.  Ob  man  die  Energie  als 
Substanz  oder  aber  als  den  Ausdruck  einer  kausalen 
Relation  begreift,  das  hängt  schließlich  von  der  allge- 
meinen Vorstellung  ab,  die  man  sich  vom  Wesen  der  natur- 

255 


wissenschaftlichen  Begriffsbildung  überhaupt  macht. 
So  frei  der  physikalische  Forscher  hier  der  Natur  selbst 
gegenüberzustehen  meint,  so  läßt  sich  dennoch  zeigen,  daß 
auch  im  Aufbau  und  in  der  Fassung  der  Energetik  Motive 
wirksam  gewesen  sind,  die  ihren  eigentlichen  Ursprung  in 
bestimmten  ,, formalen"  Grundüberzeugungen  haben.  Man 
erkennt  an  dieser  Stelle  von  neuem,  wie  tief  die  Probleme  der 
„Form"  in  die  der  „Materie"  eindringen  und  wie  nachhaltig 
hier  ihr  Einfluß  bleibt.  Zwei  verschiedene  Grundansichten 
waren  es,  die  am  Problem  des  Begriffs  einander  gegen- 
überstanden. Die  eine,  die  in  der  traditionellen  Logik  herr- 
schend geblieben  ist,  stützt  den  Begriff  auf  das  Verfahren  der 
Abstraktion:  d.  h.  auf  die  Herauslösung  eines  identischen  oder 
ähnlichen  Bestandteils  aus  einer  Mehrheit  gleichartiger  Wahr- 
nehmungen. Der  Inhalt,  der  auf  diese  Weise  gewonnen  wird, 
ist  streng  genommen  von  der  gleichen  Beschaffenheit  und 
Natur,  wie  die  Gegenstände  selbst,  von  denen  er  abgelöst  ist: 
er  bezeichnet  eine  Eigenschaft,  die  zwar  im  allgemeinen  nicht 
isoliert  besteht,  die  aber  doch  an  diesen  Gegenständen  stets 
als  ein  Teilmoment  von  ihnen  aufweisbar  ist  und  somit  hier 
ein  konkretes  Dasein  besitzt.  Der  Begriff  ist  danach  die 
„Vorstellung  vom  Gemeinsamen" :  er  ist  die  Zusammenfassung 
derjenigen  Einzelzüge,  die  bestimmten  Klassen  von 
Objekten  gleichmäßig  zukommen.  Dieser  Auffassung  trat 
indessen  eine  andere  gegenüber,  die  sich  vor  allem  auf  die 
Analyse  der  mathematischen  Begriffe  stützte.  Hier  wurde 
nicht  darauf  ausgegangen,  das  Gegebene  durch  Vergleichung 
in  Klassen  zu  scheiden,  deren  einzelne  Exemplare  sämtlich  in 
bestimmten  Merkmalen  übereinkommen,  sondern  es  durch  ein 
gesetzliches  Verfahren  aus  einer  ursprünglichen  Einheits- 
setzung erst  aufzubauen;  hier  wurden  nicht  sowohl  einzelne 
seiner  Teile  abgetrennt  und  herausgehoben,  als  vielmehr 
die  Zusammenhänge  und  Beziehungen,  auf  denen  seine 
systematische  Verknüpfung  beruht,  in  ihrer  eigentüm- 
lichen Relations-Struktur  untersucht.  (Vgl.  oben  bes.  S.  18  ff. 
und  107  ff.)  Die  Bedeutung  dieses  Gegensatzes  zeigt  sich  jetzt 
von  einer  neuen  Seite:  denn  er  ist  es,  der  sich  noch  in  der 
modernen  Diskussion  über  den  Sinn  und  die  Formulierung  des 


256 


Energieprinzips  deutlich  bemerkbar  macht.  R  a  n  k  i  n  e  , 
der  zuerst  den  Namen  und  den  Begriff  einer  allgemeinen 
„Energetik"  geschaffen  hat,  geht  in  der  Abhandlung,  die 
der  ersten  Begründung  des  neuen  Gedankens  gewidmet 
ist,  von  rein  methodischen  Betrachtungen  aus.  Die 
Physik  ist,  wie  er  ausführt,  von  den  rein  abstrakten  Wissen- 
schaften, wie  etwa  der  Geometrie,  dadurch  charakteristisch 
unterschieden,  daß  die  Definitionen,  die  wir  der  Entwicklung 
einer  abstrakten  Wissenschaft  zugrunde  legen,  nicht  not- 
wendig irgend  welchen  existierenden  Dingen  entsprechen  und 
die  Theoreme,  die  wir  aus  ihnen  ableiten,  somit  nicht  notwendig 
Gesetze  realer  Vorgänge  und  Phänomene  sein  müssen, 
während  der  echte  naturwissenschaftliche  Begriff  nichts 
anderes  sein  will,  als  die  Bezeichnung  bestimmterEigenschaften, 
die  einer  Klasse  wirklicher  Objekte  gemeinsam 
sind.  Um  solche  Eigenschaften  herauszulösen,  gibt  es  im  all- 
gemeinen einen  doppelten  Weg.  Wir  können  einmal  kraft 
einer  rein  ,,abstraktiven  Methode"  aus  einer  Mannigfaltigkeit 
gegebener  Dinge  oder  Phänomene  denjenigen  Inbegriff  von 
Bestimmungen  absondern,  der  allen  Gliedern  der  Klasse  ge- 
meinsam ist  und  der  ihnen  in  ihrer  sinnlichen  Erscheinung 
unmittelbar  zukommt  —  oder  aber  hinter  die  Erscheinung 
selbst  zu  bestimmten  Hypothesen  zurückgehen,  die 
uns  die  Erklärungsgründe  für  das  betreffende  physikalische 
Tatsachengebiet  liefern  sollen.  Nur  das  erste  Verfahren  ent- 
spricht indes  in  aller  Strenge  den  Forderungen  der  wissenschaft- 
lichen und  philosophischen  Kritik.  Denn  nur  hier  sind  wir 
sicher,  daß  wir  die  Beobachtungen  durch  keine  willkürliche 
Deutung  verfälschen;  nur  hier  bleiben  wir  rein  im  Gebiet 
der  Tatsachen  selbst  stehen,  die  wir  zwar  in  bestimmte  Klassen 
gliedern  und  einteilen,  denen  wir  aber  keinen  fremden  Zug 
hinzufügen.  Es  ist  der  prinzipielle  Vorzug  der  neuen  Wissen- 
schaft der  Energetik,  daß  sie  sich  von  Anfang  an  lediglich 
dieses  reinen  abstraktiven  Verfahrens  bedient.  Sie  deutet  die 
Erscheinung  der  Wärme  nicht  auf  molekulare  Bewegungen, 
die  Erscheinung  des  Magnetismus  nicht  auf  irgend  ein  hypo- 
thetisches Fluidum  zurück,  sondern  sie  faßt  beide  lediglich 
in  die  schlichte  Form,  in  welcher  sie  sich  der  Wahrnehmung 

Cassirer,  Substanzbegriff  17  257 


darbieten.  „Statt  die  verschiedenen  Klassen  physikalischer 
Vorgänge  in  irgend  einer  dunklen  Weise  aus  Bewegungen  und 
Kräften  zusammenzusetzen,  wollen  wir  lediglich  die  Eigen- 
schaften hervorheben,  die  diese  Klassen  gemeinsam  besitzen 
und  auf  diese  Weise  umfangreichere  Klassen  definieren, 
die  wir  durch  passende  Termini  bezeichnen.  Auf  diese  Weise 
werden  wir  schließlich  zu  einem  Inbegriff  von  Prinzipien  ge- 
langen, die  auf  alle  physischen  Erscheinungen  überhaupt 
anwendbar  sind  und  die,  da  sie  lediglich  induktiv  aus  den 
Tatsachen  selbst  abgeleitet  sind,  frei  von  der  Ungewißheit  sind, 
die  selbst  solchen  mechanischen  Hypothesen,  deren  Folge- 
rungen durch  die  Erfahrung  bereits  vollständig  bestätigt 
erscheinen,  beständig  anhaftet." 

Das  erste  Ergebnis,  dem  wir  auf  diesem  Wege  der  Unter- 
suchung begegnen,  ist  der  allgemeine  Begriff  der  Energie  selbst. 
Er  bezeichnet  nichts  anderes,  als  die  Fähigkeit,  Veränderungen 
hervorzubringen:  und  diese  Fähigkeit  ist  die  allgemeinste  Be- 
stimmung, die  wir  an  den  Körpern  unserer  Wahrnehmungs- 
welt noch  unterscheiden  können  und  ohne  welche  sie  aufhören 
würden,  für  uns  physische  Phänomene  zu  sein.  Gelingt 
es  uns  daher,  bestimmte  universelle  Gesetze  über  diese  Eigen- 
schaft zu  entdecken,  so  müssen  diese  unter  gehöriger  Berück- 
sichtigung der  besonderen  Umstände  anwendbar  sein  auf 
jeden  Zweig  der  Physik  überhaupt  und  ein  System  von  Regeln 
darstellen,  denen  jedes  Naturgeschehen  als  solches  gehorcht*. 
Die  Art,  in  der  Rankine  zur  Aufstellung  und  Begründung 
dieser  Regeln  gelangt,  geht  lediglich  die  geschichtliche  Ent- 
wicklung der  Physik  selbst  an**:  von  allgemeinstem  philoso- 
phischem Interesse  aber  ist  die  logische  Form  und  Einkleidung, 
die  er  für  seinen  Gedanken  wählt.  Die  Gesetze  der  Energie 
verdanken,  wie  man  sieht,  ihre  Allgemeingültigkeit  dem  Um- 
stand, daß  die  dingliche  Eigenschaft,  die  wir 
mit  diesem  Namen  bezeichnet  haben,  überall  im  physischen 

*  Rankine,  Outlines  of  the  Science  of  Energetics.  Proceedings 
of  the  Philosophical  Society  of  Glasgow.  Vol.  III,  London  und  Gleisgow  1855, 
S.  381  ff. 

**  Vgl.  über  Rankine  bes.  Helm,  Die  Energetik,  S.  110  ff.,  sowie 
A.  R  e  y  ,  La  Theorie  de  la  Physique  chez  les  Physiciens  contemporains. 
Paris  1907,  S.  49ff. 

258 


Universum  verbreitet  ist  und  jedem  Körper  als  solchem 
irgendwie  anhängt.  Kein  Teil  der  Realität  vermag  sich  diesen 
Gesetzen  zu  entziehen,  weil  er  als  real  nur  durch  eben 
dieses  auszeichnende  Merkmal  gekennzeichnet  ist.  Diese 
Form  der  Ableitung  bedingt  somit  bereits  die  allgemeine 
gedankliche  Kategorie,  unter  welche  hier  die  Energie 
gefaßt  wird.  Sie  steht  mit  den  wahrnehmbaren  Dingen, 
deren  wesentlichen  Bestand  sie  ausmacht,  prinzipiell  auf  der- 
selben Stufe;  sie  ist  gleichsam  die  konkrete  Dinglichkeit  selbst: 
das  eine  unzerstörliche  und  ewige  Sein.  — 

Vom  Standpunkt  der  Erkenntnistheorie  läßt  sich  freilich 
sogleich  die  Lücke  aufweisen,  die  nicht  sowohl  in  Rankines 
Physik,  wie  in  seiner  Methodenlehre  zurückbleibt.  Die  all- 
gemeinste Eigenschaft,  durch  die  nach  ihm  die  Gegenstände 
der  physischen  Wirklichkeit  ausgezeichnet  sind,  besteht  in  der 
Fähigkeit,  Wirkungen  zu  erzeugen  und  Wirkungen  zu 
empfangen.  Die  Dinge  erhalten  ihren  eigentlich  objektiven 
Charakter  erst,  indem  sie  zugleich  als  Glieder  aktueller  oder 
möglicher  Kausalverhältnisse  aufgefaßt  werden. 
Gerade  die  vorurteilslose  „abstraktive"  Analyse  aber,  die 
Rankine  als  Ideal  der  echten  Wissenschaft  ansieht,  lehrt 
zweifellos,  daß  Kausalität  kein  Merkmal  ist,  das  an  den 
Wahrnehmungen  selbst  als  unmittelbarer  Bestandteil  auf- 
weisbar ist.  Die  rationalistische  wie  die  empiristische  Kritik 
kommen  zum  mindesten  in  dem  einen  Ergebnis  überein, 
daß  es  keine  direkten  Impressionen  gibt,  die  den 
Begriffen  Ursache  und  Wirkung  entsprechen.  Ist  somit  die 
Abstraktion,  wie  sie  hier  verstanden  wird,  nur  eine  Sonderung 
und  Gruppierung  im  Wahrnehmungsstoff  selbst,  so  ist  es  klar, 
daß  ihr  gerade  dasjenige  Moment  entgehen  müßte,  auf  welches 
hier  der  Begriff  der  Energie  gegründet  wird.  Und  selbst  wenn 
man  zugestehen  wollte,  daß  die  „Wirkungsfähigkeit"  der 
Körper  eine  Qualität  an  ihnen  ist,  die  ihnen,  wie  jede  andere 
sinnliche  Beschaffenheit,  wie  ihre  Farbe  oder  ihr  Geruch 
anhaftet,  so  wäre  damit  das  eigentliche  Problem  noch  nicht 
bewältigt.  Für  den  Aufbau  der  Energetik  handelt  es  sich 
nicht  darum,  daß  diese  Wirkungsfähigkeit  überhaupt  kon- 
statierbar, sondern  daß  sie  in  exaktem  Sinne  meßbar 

17*  259 


ist.  Sobald  wir  aber  wiederum  nach  den  Methoden  fragen, 
durch  die  die  zahlenmäßige  Bestimmung  dieser  Fähig- 
keit ermöglicht  wird,  sehen  wir  uns  damit  wiederum  auf 
einen  Inbegriff  gedanklicher  Konzeptionen  und  Bedingungen 
zurückgewiesen,  die,  wie  sich  allseitig  gezeigt  hat,  in  dem 
rein  abstraktiven  Verfahren  keine  hinreichende  Stütze  finden. 
Die  mathematische  Grundlegung  der  Energetik  schließt 
bereits  wiederum  alle  jene  Methoden  der  „Reihenbildung" 
in  sich,  die  sich  aus  dem  gewöhnlichen  Gesichtspunkt  der 
Abstraktion  niemals  erschöpfend  begründen  lassen. 

Die  moderne  Logik  hat  allerdings  an  die  Stelle  des  alten 
Abstraktionsprinzips  ein  neues  gesetzt,  das  hier  als  geeignete 
formale  Anknüpfung  dienen  könnte.  Sie  geht  hierbei  charakte- 
ristischer Weise  nicht  von  Dingen  und  ihren  gemeinsamen 
Eigenschaften,  sondern  von  Beziehungen  zwischen 
Begriffsgegenständen  aus.  Ist  irgend  eine  symmetrische  und 
transitive  Relation  R  für  eine  Anzahl  von  Gliedern  a,  b,  c  ... 
definiert  (so  daß  also  aus  der  Beziehung  a  R  b  und  b  R  c 
auch  die  Beziehungen  b  R  a,  c  R  b  und  a  R  c  folgen*),  so 
läßt  sich  der  Zusammenhang,  der  auf  diese  Weise  geschaffen  ist, 
stets  auch  in  der  Art  zum  Ausdruck  bringen,  daß  wir  eine 
neue  Wesenheit  x  einführen,  die  zu  jedem  Glied  unserer  an- 
fänglichen Reihe  in  einer  bestimmten  Beziehung  R'  steht. 
Die  möglichen  Verhältnisse  zwischen  den  Reihengliedern 
lassen  sich  jetzt  dadurch  bezeichnen  und  darstellen,  daß 
wir,  statt  die  Glieder  unmittelbar  untereinander  zu  vergleichen, 
von  jedem  die  Beziehung  zu  diesem  x  feststellen,  also  die 
Relationen  aR'x,  bR'x,  cR'x  ..  bilden.  Die  Relation  R' 
ist  hierbei  eine  asymmetrische,  viel-eindeutige  Beziehung, 
so  daß  die  Glieder  a,  b,  c  zu  keinem  anderen  Term  als  x  in 
der  bezeichneten  Relation  stehen  können,  während  x  um- 
gekehrt mit  mehreren  Gliedern  in  der  entsprechenden  Be- 
ziehung R'  stehen  kann**.  Ein  Beispiel  für  dieses  Verfahren 
besitzen  wir  etwa  an  demjenigen  Verhältnis  zwischen  Reihen, 


*  Zum  Begriff  der  transitiven  und  S3Tnmetri8chen  Relation,  s.  oben, 
Cap.  II. 

*  *  Näheres    hierüber    bei    Russell,    Principles    of    Mathematics, 
S.  166,  219  ff.  usw. 

260 


das  wir  als  ihre  „Ähnlichkeit"  bezeichnen.  Zwei  Reihen  8 
und  s'  heißen  im  ordinalen  Sinne  einander  ähnlich,  wenn 
zwischen  ihnen  eine  gegenseitig  eindeutige  Beziehung  derart 
besteht,  daß  zu  jedem  Glied  von  s  ein  Glied  von  s'  gehört 
(und  umgekehrt),  und  daß,  wenn  in  der  Folge  s  ein  Glied  x 
einem  Glied  y  vorangeht,  auch  das  Korrelat  von  x  in  s'  (x') 
dem  Korrelat  von  y  (y')  vorangeht.  Hier  besitzen  wir  eine 
symmetrische  und  transitive  Relation,  durch  die  eine  Mehrheit 
von  Reihen  s,  s'  s"  ...  s^**^  usf.  verbunden  sein  kann.  Auf 
Grund  dieser  Relation  erschaffen  wir  nunmehr,  kraft  des 
Prinzips  der  Abstraktion,  einen  neuen  Begriff,  den  wir  als 
den  gemeinsamen  Ordnungstypus  aller  dieser 
Reihen  bezeichnen.  Wir  sprechen  sämtlichen  Reihen,  die  auf 
diese  Weise  miteinander  verbunden  sind,  ein  und  dieselbe 
begriffliche  Eigenschaft  zu;  wir  ersetzen  den  Inbegriff 
der  Zuordnungen  durch  die  Annahme  eines  identi- 
schen Merkmals,  das  allen  Reihen  gleichmäßig  anhaftet. 
Es  ist  indessen  klar,  daß  wir  damit  nicht  den  Anspruch  erheben, 
ein  neues,  an  und  für  sich  bestehendes  Ding  entdeckt  zu 
haben,  sondern  daß  damit  nur  ein  gemeinsamer  ideeller 
Bezugspunkt  geschaffen  ist,  in  Hinblick  auf  den  wir 
nunmehr  unsere  Aussagen  über  die  Verhältnisse  der  gegebenen 
Reihen  prägnanter  fassen  und  gleichsam  zu  einem  einzigen, 
konzentrierten  Urteilsausdruck  verdichten  können. 
Wenden  wir  nunmehr  dieses  Ergebnis  auf  die  physika- 
lische Begriffsbildung  an,  so  tritt  einer  der  wesentlichen  Züge 
des  modernen  Energiebegriffs  sogleich  deutlich  hervor.  Auch 
hier  gehen  wir  zunächst  von  der  Feststellung  bestimmter 
Abhängigkeiten  zwischen  empirisch-physikalischen  Reihen  aus. 
Wir  entdecken,  daß  Mannigfaltigkeiten,  die  zunächst  ab- 
gesondert und  unabhängig  nebeneinander  zu  stehen  scheinen, 
durch  eine  Beziehung  der  „Äquivalenz"  miteinander  ver- 
bunden sind,  kraft  deren  einem  Wert  in  der  einen  Reihe 
ein  und  nur  ein  Wert  der  anderen  entspricht.  Wir  erweitern 
diesen  Zusammenhang,  indem  wir  immer  mehr  Gebiete  des 
physischen  Geschehens  in  den  Kreis  unserer  Betrachtung 
ziehen,  bis  wir  schließlich,  auf  Grund  der  Beobachtung  und 
allgemeiner    deduktiver    Erwägungen,    den    Schluß    ziehen, 

261 


daß  immer,  wenn  irgendwelche  beliebige  Gruppen  physika- 
lischer Erscheinungen  gegeben  sind,  zwischen  ihnen  bestimmte 
Äquivalenzverhältnisse  obwalten  müssen.  Hier  ist  also  in 
der  Tat  eine  durchgängige,  transitive  und  symmetrische  Re- 
lation zwischen  physischen  Inhalten  gegeben*:  und  die 
Geltung  dieser  allgemein  anwendbaren  Beziehung  ist  es  erst, 
die  dazu  führt,  ein  neues  Sein  einzuführen,  indem  wir  jedem 
einzelnen  Glied  der  verglichenen  Reihen  einen  bestimmten 
Arbeitswert,  einen  gewissen  Betrag  der  Energie 
eindeutig  zuordnen.  Dieses  Sein  aber  würde  offenbar 
um  jede  Bedeutung  gebracht,  sobald  wir  es  von  dem  gesamten 
Urteilszusammenhang  loslösen  wollten,  in  dem  es  entstanden 
ist.  Der  Bestand,  der  in  ihm  gesetzt  ist,  ist  nicht  der  einer 
isolierten  sinnlichen  Eigenschaft,  die  wir  für  sich  wahr- 
nehmen können,  sondern  er  ist  der  Bestand  bestimmter 
Verbindungsgesetze.  Man  erkennt  indessen  an  dieser  Stelle 
von  neuem,  wie  tiefdringende  sachliche  Gegensätze  sich  hinter 
den  Kämpfen  um  den  logischen  Schematismus  verbergen 
können.  Folgt  man  der  traditionellen  Abstraktionslehre, 
so  wird  man,  wie  das  Beispiel  Rankines  zeigt,  fast  notwendig 
zu  einer  substantiellen  Auffassung  der  Energie  gedrängt, 
während  die  funktionale  Theorie  des  Begriffs  ihr  natür- 
liches Korrelat  in  einer  funktionalen  Bestimmung  der  obersten 
physikalischen  „Realität"  selbst  findet.  Die  Betrachtung, 
die  in  dem  einen  Falle  in  der  Setzung  einer  dinglichen  Be- 
schaffenheit endet,  die  allen  Körpern  gemeinsam  sein  soll, 
endet  im  anderen  Falle  in  der  Schöpfung  eines  höchsten  ge- 
meinsamen Maßbegriffes  für  alle  Veränderungen  über- 
haupt. — 

Die  Energetik  hat  in  einigen  ihrer  Vertreter  die  letztere 
logische  Wendung  bereits  vollzogen.  Hier  muß  vor  allem  an 
Robert  Mayer  selbst  erinnert  werden,  der  dem  neuen 
Begriff,  den  er  einführt,  zugleich  auch  seine  allgemeine  theo- 
retische  Stelle  bestimmt  hat.     Die  Verwandlung    der 


♦  Bezeichnet  man  die  Relation  der  Äquivalenz  mit  A,  so  folgt  er- 
sichtlich aus  aAb,  auch  bAa,  wie  andererseits  die  Geltung  von  a Ab  und 
bAc  auch  die  von  aAc  in  sich  schließt;  die  Bedingung  der  Symmetrie 
und  Transitivität  ist  also  erfüllt. 

262 


Kraft  in  Bewegung,  der  Bewegung  in  Wärme,  bedeutet  ihm, 
wie  er  ausdrücklich  betont,  nichts  anderes  als  die  Fixierung  der 
Tatsache,  daß  hier  zwischen  je  zwei  verschiedenen  Gruppen 
vom  Phänomenen  hin  und  her  bestimmte  quantitative  Bezie- 
hungen stattfinden.  ,,Wie  aus  der  verschwindenden  Bewegung 
Wärme  entstehe,  oder  nach  meiner  Sprechweise,  w  i  e  die  Bewe- 
gung in  Wärme  übergehe,  darüber  Aufschluß  zu  verlangen, 
wäre  von  dem  menschlichen  Geiste  zu  viel  verlangt.  Wie  das 
verschwindende  O  und  H  Wasser  gebe,  warum  nicht  etwa  eine 
Materie  von  andern  Eigenschaften  daraus  entstehe,  darüber 
wird  sich  wohl  kein  Chemiker  den  Kopf  zerbrechen;  ob  er 
aber  den J Gesetzen,  denen  seine  Objekte,  die  Materien  unter- 
worfen sind,  nicht  näher  kommt,  wenn  er  einsieht,  daß  die  ent- 
stehende Wassermenge  sich  präzis  aus  der  verschwindenden 
Menge  von  O  und  H  finden  lasse,  als  wenn  er  sich  keines  solchen 
Zusammenhangs  bewußt  ist,  dies  wird  keine  Frage  sein*." 
,,Im  Sinne  ihres  Begründers",  so  bemerkt  Helm  mit  Recht 
zu  dieser  Stelle,  „ist  die  Energetik  ein  reines  ,,Beziehungstum" 
und  will  nicht  ein  neues  Absolutes  in  die  Welt  setzen.  Wenn 
Veränderungen  eintreten,  so  besteht  doch  zwischen  ihnen 
diese  bestimmte  mathematische  Beziehung  —  das  ist  die 
Formel  der  Energetik,  und  gewißlich  ist  das  auch  die  einzige 
Formel  aller  wahren  Naturerkenntnis."  ,,So  oft  sich  der 
Forschergeist  beruhigt  auf  das  Faulbett  irgend  eines  Ab- 
soluten gelegt  hat,  so  war  es  gleich  um  ihn  getan.  Es  mag  ein 
behaglicher  Traum  sein,  daß  in  den  Atomen  unser  Fragen  Ruhe 
finden  könne,  aber  es  bleibt  ein  Traum.  Und  ein  Traum  wäre 
es  nicht  minder,  wollten  wir  in  der  Energie  ein  Absolutes  sehen 
und  nicht  vielmehr  den  zurzeit  schlagendsten  Ausdruck  quanti- 
tativer Beziehungen  zwischen  den  Naturerscheinungen**."  So 
wird  die  Energie,  je  weiter  der  Fortschritt  der  Erkenntnis  geht, 
gleich  dem  Atom  um  so  mehr  jedes  sinnlichen  S  a  c  h  - 
g  e  h  a  1 1  s    entkleidet  (vgl.  ob.  S.  217  ff).     Am  deutlichsten 

*  Mayer  an  Griesinger  (Kleinere  Schriften  und  Briefe,  S.  187). 
**  Helm,  Die  Energetik,  S.  20,  362.  Die  gleiche  Definition  der 
Energie  als  eines  bloßen  „Kausalmaßes"  besonders  bei  H.  Driesch, 
Naturbegriffe  und  Natururteile,  Leipzig  1904,  sowie  bei  H  ö  f  1  e  r  ,  Zur 
gegenwärtigen  Naturphilosophie.  Berlin  1904.  (Abh.  zur  Didaktik  u. 
Philos.  der  Naturwiss.,  Heft  2.) 

263 


tritt  diese  Entwicklung  am  Begriff  der  potentiellen 
Energie  hervor,  der  schon  in  seiner  allgemeinen  Benennung 
auf  ein  eigentümliches  logisches  Problem  hinweist.  Es  liegt, 
wie  Heinrich  Hertz  betont  hat,  bereits  eine  besondere 
Schwierigkeit  in  der  Annahme,  daß  die  angeblich  substanz- 
artige Energie  in  so  verschiedenen  Daseinsweisen,  wie  es  die 
kinetische  und  potentielle  Form  sind,  existieren  soll.  Zudem 
aber  widerstrebt  die  potentielle  Energie  in  der  Art,  in  der 
sie  gewöhnlich  gefaßt  wird,  jeder  Definition,  welche  ihr  die 
Eigenschaften  einer  Substanz  beilegt:  denn  die  Menge  einer 
Substanz  müßte  notwendig  eine  positive  Größe  sein,  während 
die  Gesamtheit  der  in  einem  System  enthaltenen  potentiellen 
Energie  unter  Umständen  auch  durch  einen  negativen  Wert 
auszudrücken  ist*.  Ein  derartiges  Verhältnis  erklärt  sich 
in  der  Tat  nach  der  Gaus  s'schen  Theorie  des  Negativen 
nur  dort,  wo  das  Gezählte  ein  Entgegengesetztes  hat,  d.  h. 
aber  „wo  nicht  Substanzen  (für  sich  denkbare  Gegenstände), 
sondern  Relationen  zwischen  je  zwei  Gegenständen  das  Ge- 
zählte sind."     (S.  oben,  S.  72.) 

Selbst  dort,  wo  die  Energie  —  wie  es  auch  bei  Robert 
Mayer  der  Fall  ist  —  zunächst  als  ein  einheitliches  und 
unzerstörliches  Objekt  eingeführt  wird,  nimmt  daher 
eben  diese  Kategorie  des  Objekts  allmählich  eine  neue  Be- 
deutung an,  um  dem  neuen  Inhalt,  der  ja  in  einer  doppelten 
Seinsform  auftritt,  gerecht  werden  zu  können.  ,,Das  Erhoben- 
sein eines  Kilogramms  auf  5  Meter,"  so  erläutert  nunmehr 
R.  Mayer  seinen  Gedanken,  ,,die  Bewegung  eines  solchen  Ge- 
wichtes mit  einer  Geschwindigkeit  von  10  Meter  in  einer 
Sekunde,  sind  ein  und  dasselbe  Objekt;  eine  solche  Bewegung 
kann  auch  wieder  in  die  Gewichtserhebung  übergehen,  hört 
dann  aber  natürlich  auf,  Bewegung  zu  sein,  wie  die  Gewichts- 
erhebung nicht  mehr  Gewichtserhebung  ist,  wenn  sie  in  Be- 
wegung übergegangen  ist**."  Wenn  hier  das  bloße  Erhobensein 
über  eine  gewisse  Niveaufläche  mit  dem  Fall  über  eine  be- 
stimmte Distanz,   wenn  also  ein  bloßer  Zustand  mit  einem 


*  S.  H.  H  e  r  t  z  ,  Die  Prinzipien  der  Mechanik,  S.  26. 
♦*  Mayer,  Kleinere  Schriften  und  Briefe,  S.  178. 


264 


zeitlichen  Prozeß  identisch  gesetzt  wird,  so  zeigt  sich 
darin  nur  um  so  deutlicher,  daß  an  beide  kein  unmittelbarer 
dinglicher  Maßstab  angelegt  wird,  daß  sie  nicht  nach  irgend- 
welcher Ähnlichkeit  der  sachlichen  Beschaffenheit,  sondern 
lediglich  als  abstrakte  Maßwerte  miteinander  verglichen 
werden.  Die  beiden  Momente  sind  „dieselben",  nicht  weil  sie 
irgend  ein  gegenständliches  Merkmal  miteinander  teilen,  son- 
dern weil  sie  als  Glieder  derselben  Kausalgleichung  auftreten 
können,  also  unter  dem  Gesichtspunkt  der  reinen  Größen- 
bestimmung einander  substituierbar  sind.  Wir  beginnen  mit 
der  Entdeckung  eines  exakten  zahlenmäßigen  Verhältnisses 
und  setzen  als  Ausdruck  dieses  Verhältnisses  jenen  neuen 
,,  Gegenstand",  den  wir  Energie  nennen.  Damit  ist  gegenüber 
der  Atomistik  in  der  Tat  eine  neue  prinzipielle  Wendung  voll- 
zogen. Der  eigentliche  Vorzug  der  Energetik  vor  den  ,, mecha- 
nischen" Hypothesen  wird  von  ihren  Anhängern  gewöhnlich 
darin  gesehen,  daß  sie  in  größerer  Nähe  der  gegebenen  Wahr- 
nehmungstatsachen verbleibt,  sofern  sie  gestattet,  zwei  quali- 
tativ verschiedene  Gebiete  von  Naturerscheinungen  zuein- 
ander in  Beziehung  zu  setzen,  ohne  sie  zuvor  in  Bewegungs- 
vorgänge aufgelöst,  damit  aber  ihrer  spezifischen  Besonderheit 
entkleidet  zu  haben.  Die  Vorgänge  bleiben  in  ihrer  Beschaffen- 
heit unberührt,  da  all  unsere  Aussagen  lediglich  auf  ihren 
kausalen  Zusammenhang  abzielen.  Aber  gerade  dieser  aus- 
schließliche Rückgang  auf  die  numerische  Regel  der  Beziehung 
schließt  andererseits  ein  neues  gedankliches  Moment 
in  sich.  Das  Atom  erscheint,  wenngleich  seine  rein  begriffliche 
Bedeutung  sich  allmählich  immer  schärfer  abhebt,  zuletzt 
doch  immer  noch  als  das  Analogon  und  gleichsam  als  das 
verkleinerte  Modell  des  empirisch-sinnlichen  Körpers,  während 
die  Energie  ihrem  Ursprung  nach  bereits  einem  anderen 
Gebiet  angehört.  Sie  vermag  die  Ordnung  zwischen  der 
Allheit  der  Phänomene  zu  stiften,  weil  sie  selbst  mit 
keinem  einzelnen  von  ihnen  auf  gleicher  Stufe  steht; 
weil  sie,  von  jedem  konkreten  Dasein  entlastet,  nur  ein  reines 
Verhältnis  wechselseitiger  Abhängigkeit  zum  Ausdruck  bringt. 
Der  Anspruch  der  Energetik,  die  verschiedenen  Gruppen 
physikalischer    Vorgänge    in    ihrer  Eigenart    zu    verstehen, 

265 


statt  sie  in  mechanische  Vorgänge  umzudeuten,  in  denen 
all  ihre  individuellen  Züge  ausgelöscht  sind,  erscheint  jetzt 
vom  erkenntnistheoretischen  Standpunkt  aus  zugleich  be- 
grenzt, wie  innerhalb  eines  bestimmten  Umkreises  gerecht- 
fertigt. In  der  Tat  eröffnet  sich  hier  die  allgemeine  logische 
Möglichkeit,  die  Natur  zum  System  zu  gestalten,  ohne 
daß  wir  für  dieses  System  prinzipiell  die  Darstellung  in  einem 
einheitlichen  anschaulichen  Bilde,  wie  es  der  Mechanismus 
darbietet,  fordern  müßten.  Aber  es  ist  ein  Irrtum,  wenn  man 
in  dieser  Tendenz  zu  einer  ,, qualitativen"  Physik  zugleich  eine 
Umwendung  zur  allgemeinen  Aristotelischen  Weltansicht  zu 
erkennen  geglaubt  hat.  „Wir  sind  gezwungen,"  so  schildert 
ein  hervorragender  moderner  Vertreter  der  Energetik  diese 
Wandlung,  ,,in  unsere  Physik  andere  Züge  als  die  rein  quan- 
titativen Elemente,  von  denen  der  Geometer  handelt,  auf- 
zunehmen und  somit  zuzugestehen,  daß  die  Materie  Quali- 
täten hat;  wir  müssen  auf  die  Gefahr  hin,  daß  man  uns 
der  Rückkehr  zu  den  verborgenen  Vermögen  der  Scholastik 
beschuldigt,  dasjenige,  wodurch  ein  Körper  warm  oder  hell, 
elektrisch  oder  magnetisch  ist,  als  eine  ursprüngliche  und 
nicht  weiter  zurückführbare  Eigenschaft  in  ihm  anerkennen; 
wir  müssen  mit  anderen  Worten  auf  alle  Versuche,  die  seit 
der  Zeit  Descartes',  unaufhörlich  erneuert  worden  sind,  ver- 
zichten und  unsere  Theorien  wiederum  an  die  wesentlichsten 
Begriffe  der  Peripatetischen  Physik  anknüpfen."  Aber  die 
weitere  Ausführung  des  Gedankens  beseitigt  sogleich  den 
Schein  eines  tieferen  Zusammenhangs.  Die  Qualitäten  des 
Aristoteles  sind  etw^as  völlig  anderes,  als  die  Qualitäten  der 
modernen  Physik:  denn  wenn  jene  nur  hypostasierte  sinnliche 
Eigenschaften  bezeichnen,  so  sind  diese  bereits  durch  das 
gesamte  Begriffssystem  der  Mathematik  hin- 
durchgegangen und  haben  hierdurch  eine  neue  logische  Form 
und  Beschaffenheit  erhalten.  Worauf  die  Energetik  verzichtet, 
ist  nur  die  „Erklärung"  der  einzelnen  Qualitätsart  aus  be- 
stimmten mechanischen  Bewegungen;  woran  sie  dagegen 
festhält  und  was  für  sie  die  Bedingung  ihres  eigenen  Anfangs 
ist,  ist  der  Ausdruck  der  Qualität  in  einer  bestimmten  Zahl, 
die  sie  vollständig  repräsentiert  und  für  unsere  Betrachtung 

266 


ersetzt.  Die  Frage,  ob  Wärme  Bewegung  ist,  kann  daher 
in  der  Tat  zurücktreten,  sofern  nur  gleichzeitig  die  un- 
bestimmte Empfindung  des  Wärmer  und  Kälter  durch  den 
Begriff  des  exakten  Grades  derTemperatur  ersetzt 
und  in  ihm  erst  objektiviert  wird.  Was  hier  von  der  Qualität 
zurückbehalten  ist,  ist  daher  nicht  ihre  sinnliche  Bestimmtheit, 
sondern  lediglich  die  Eigentümlichkeit  ihrer  mathematischen 
Reihenform.  Wir  können  —  so  betont  D  u  h  e  m  selbst,  dem 
das  Urteil  über  den  Zusammenhang  zwischen  der  energetischen 
und  der  Peripatetischen  Physik  entnommen  ist*  —  eine 
Theorie  der  Wärme  entwickeln,  wir  können  den  Ausdruck 
„Quantität  der  Wärme"  definieren,  ohne  hierbei  den  spezifi- 
schen Wahrnehmungen  des  Kalten  und  Warmen 
irgend  etwas  zu  entlehnen**.  In  dem  Schema  der  theoretischen 
Physik  ist  das  bestimmte  empirische  System,  das  wir  unter- 
suchen, durch  einen  Inbegriff  von  Zahlwerten  ersetzt,  die 
seine  verschiedenen  quantitativen  Elemente  zum  Ausdruck 
bringen.  (S.  ob.  S.  198  f.)  Die  Energetik  zeigt,  daß  diese 
Form  der  zahlenmäßigen  Ordnung  nicht  not- 
wendig daran  geknüpft  ist,  daß  die  Dinge  und  Vorgänge, 
die  wir  betrachten,  zuvor  in  letzte  anschauliche  Teil- 
elemente zerlegt  und  aus  ihnen  wieder  zusammengesetzt 
worden  sind.  Die  allgemeine  Aufgabe  der  mathematischen 
Fixierung  läßt  sich  durchführen,  ohne  daß  diese  Art  der 
konkreten  Zusammenfügung  eines  Ganzen  aus  seinen 
Einzelteilen  erforderlich  wäre. 

In  dieser  Auffassung  aber  bringt  die  Physik  nur  einen 
Gedanken  zum  Abschluß  und  zur  Anwendung,  der  zuvor 
bereits  in  der  allgemeinen  Prinzipienlehre  der  Mathematik 
zur  Anerkennung  gelangt  war.  Es  gibt  eine  „Physik  der 
Qualitäten"  und  kann  eine  solche  geben,  weil  und  sofern  es 
eine  Mathematik  der  Qualitäten  gibt.  Die  allmähliche  Aus- 
bildung dieser  letzteren  ließ  sich  bereits  in  den  allgemeinen 
Hauptzügen  verfolgen.  Von  L  e  i  b  n  i  z  an,  der  zuerst  das 
Wesen  der  Mathematik  in  einer  Lehre  von  den  möglichen 


*  Duhem,    L'6volution  de  la  Möcanique,  S.  197  f.,  ebenso  urteilt 
H.  Driesch,  Naturbegriffe  und  Natururteile,  S.  51  ff. 
**  D  u  h  e  m  ,    a.  a.  O.,  S.  233  f. 

267 


deduktiven  Verknüpfungsformen  überhaupt  sieht  und  der 
daher  eine  Ergänzung  der  gewöhnlichen  Algebra,  als  der 
Wissenschaft  der  Quantität,  durch  eine  allgemeine  Wissen- 
schaft von  der  Qualität  (scientia  generalis  de  qualitate) 
fordert,  bis  zur  modernen  projektiven  Geometrie  und  zur 
Gruppentheorie  führt  hier  ein  durchaus  stetiger  Weg.  Deutlich 
tritt  in  dieser  gesamten  Entwicklung  hervor,  daß  es  weite 
und  fruchtbare  Gebiete  gibt,  die  der  mathematischen  Be- 
stimmung vollkommen  zugänglich  sind,  ohne  daß  ihre 
Objekte  extensive  Größen  sind,  die  durch  wiederholte  additive 
Setzung  ein  und  derselben  Maßeinheit  entstanden  sind.  Schon 
die  projektive  Streckenlehre  zeigt,  wie  es  möglich  ist,  die 
Elemente  einer  räumlichen  Mannigfaltigkeit  in  eindeutige 
Beziehung  zu  festen  Zahlwerten  zu  setzen  und  ihnen  kraft 
dieser  Korrelation  eine  bestimmte  Ordnung  aufzuprägen, 
ohne  doch  den  gewöhnlichen  metrischen  Begriff  der  Distanz 
zur  Anwendung  zu  bringen.  (S.  oben,  S.  111  ff.)  Dieser  Gedanke 
wird  von  der  allgemeinen  Energetik  nunmehr  auf  die  Gesamt- 
heit der  physikalischen  Mannigfaltigkeiten  übertragen.  Es 
genügt  zur  zahlenmäßigen  Fassung  des  Geschehens,  wenn 
für  die  einzelnen  Qualitäten  je  eine  bestimmte  Skala  der  Ver- 
gleichung  geschaffen  wird  und  wenn  ferner  die  Werte  innerhalb 
dieser  verschiedenen  Skalen  durch  ein  objektives  Gesetz 
einander  wechselseitig  zugeordnet  werden.  Diese  Beziehung 
aber  läßt  sich  unabhängig  von  jeder  mechanischen  Deutung 
der  einzelnen  Erscheinungsgruppen  erreichen  und  festhalten. 
Der  Vorwurf,  der  häufig  gegen  die  Energetik  erhoben  worden 
ist,  daß  sie  die  H  o  m  o  g  e  n  e  i  t  ä  t  des  Geschehens  ver- 
nichte, sofern  in  ihr  die  Natur  in  gesonderte  Klassen  von 
Phänomenen  zerfalle,  ist  daher  nicht  zutreffend.  Denn 
„gleichartig"  sind  —  wenn  wir  die  mathematischen 
Artbegriffe  als  Ausgangspunkt  und  Muster  der  Beurteilung 
wählen  —  nicht  nur  solche  Inhalte,  die  irgendwelche,  für  sich 
angebbare  anschauliche  Merkmale  miteinander  teilen,  sondern 
es  fallen  unter  diese  Bezeichnung  alle  Gebilde,  die  nach  irgend 
einer  feststehenden  begrifflichen  Regel  auseinander  ab- 
leitbar sind.  (Vgl.  bes.  ob.  S.  106  ff.)  Diesem  Kriterium 
aber  wird  hier  genügt:  der  Zusammenhang  nach  Begriffen, 

268 


der  durch  die  Äquivalenzwerte  zwischen  den  verschiedenen  Rei- 
hen geschaffen  wird,  gibt  eine  nicht  minder  feste  logische  Ver- 
knüpfung, als  die  Zurückf ührung  auf  ein  gemeinsames  mechani- 
sches Modell.  Die  gedankliche  Forderung  der  Homogeneitätist 
somit  sowohl  in  der  energetischen  wie  in  der  mechanischen 
Auffassung  der  Naturvorgänge  wirksam:  nur  darin  besteht 
der  Unterschied,  daß  sie  sich  das  eine  Mal  zu  ihrer  Durch- 
führung rein  auf  den  Begriff  der  Zahl  stützt,  während  sie 
das  andere  Mal  zugleich  den  Begriff  des  Raumes  fordert. 
Der  Streit  zwischen  diesen  beiden  Auffassungen  kann  end- 
gültig nur  durch  die  Geschichte  der  Physik  selbst  entschieden 
werden;  denn  nur  hier  kann  es  sich  zeigen,  welche  Betrach- 
tungsweise schließlich  den  konkreten  Aufgaben  und  Pro- 
blemen am  besten  gerecht  zu  werden  vermag.  Abgesehen 
hiervon  aber  behält  die  Energetik  in  jedem  Falle  ein  hervor- 
ragendes erkenntnistheoretisches  Interesse,  sofern  hier  ver- 
sucht ist,  gleichsam  das  Minimum  derBedingungen 
festzustellen,  unter  denen  von  einer  „Meßbarkeit"  der  Er- 
scheinungen überhaupt  noch  gesprochen  werden  kann*. 
Wahrhaft  allgemein  sind  nur  diejenigen  Prinzipien  und  Regeln, 
auf  denen  die  zahlenmäßige  Fixierung  eines  Einzelgeschehens 
überhaupt  und  seine  zahlenmäßige  Vergleichung  mit  jedem 
anderen  Geschehen  beruht.  Die  Vergleichung  aber  setzt  nicht 
voraus,  daß  wir  zuvor  irgend  eine  Einheit  des,, Wesens"  —  etwa 
zwischen  Wärme  und  Bewegung  —  entdeckt  hätten;  sondern 

*  Man  hat  gegen  die  logische  Möglichkeit  des  Zieles,  das  die  allgemeine 
Energetik  sich  stellt,  bisweilen  eingewandt,  daß  jede  Messung  irgend- 
welcher Dinge  oder  Vorgänge  die  Voraussetzung  in  sich  schließe,  daß  sie 
sich  aus  gleichartigen  Teilen  zusammensetzen  und  sich  daher  durch  wieder- 
holte Addition  ein  und  derselben  Grundeinheit  darstellen  lassen.  Jedes 
Maß  sei  notwendig  eine  Bestimmung  der  Ausdehnung;  die  Beziehung  auf 
die  Maßeinheit  enthalte  daher  bereits  die  Umsetzung  aller  qualitativen 
Unterschiede  in  extensive  Streckendifferenzen  und  somit  die  Reduktion 
auf  ein  räumlich  -  mechanisches  Bild.  (Vgl.  R  e  y  ,  La  Theorie  de  la 
Physique  chez  les  Physiciens  contemporains,  S.  264,  286  u.  s.)  Der  Begriff 
des  „Maßes"  selbst  ist  indessen  hier  offenbar  zu  eng  gefaßt.  Versteht  man 
unter  der  „Messung"  einer  Mannigfaltigkeit  nur  ihre  mathematische  Be- 
stimimung  überhaupt,  d.  h.  die  Zuordnung  ihrer  Elemente  zu  den  einzelnen 
Gliedern  der  Zahlenreihe,  so  zeigt  die  Mathematik  selbst,  daß  eine  derartige 
Zuordnung  auch  dort  möglich  ist,  wo  die  Gegenstände  des  betreffenden 
Inbegriffs  sich  nicht  aus  räumlichen  Teilen  zusammensetzen  und  auf- 
bauen lassen. 

269 


umgekehrt  beginnt  die  mathematische  Physik  damit, 
sich  der  exakten  numerischen  Beziehung  zu  versichern,  um 
auf  Grund  davon  die  Gleichartigkeit  auch  solcher  Vorgänge 
zu  behaupten,  die  sinnlich  aufeinander  in  keiner  Weise  zurück- 
führbar sind.  Daß  die  verschiedenen  Formen  der  Energie 
„an  sich",  kinetischer  Natur  sind,  ist  daher  ein  Satz,  den  die 
Erkenntnistheorie,  die  lediglich  auf  die  Grundmomente  des 
Wissens,  nicht  auf  die  des  absoluten  Seins  gerichtet  ist, 
nicht  zu  vertreten  vermag;  ihren  Forderungen  ist  vielmehr 
genug  getan,  sobald  ein  Weg  gezeigt  ist,  jedes  physikalische 
Geschehen  auf  mechanische  Arbeitswerte  zu  beziehen 
und  somit  einen  Komplex  von  Zuordnungen  zu 
schaffen,  in  welchem  jeder  Einzel  Vorgang  nunmehr  seine 
bestimmte  Stelle  erhalten  kann.  Zu  einer  schlechthin  „hypo- 
thesenfreien" Darstellung  des  Naturgeschehens  kann  es  freilich 
auch  auf  diesem  Wege  nicht  kommen:  denn  die  Übertragung 
in  die  Sprache  der  abstrakten  Zahlbegriffe  schließt  nicht 
minder  wie  diejenige  in  die  Sprache  der  Raumbegriffe  eine 
theoretische  Umbildung  des  empirischen  Wahrnehmungs- 
stoffes in  sich.  Aber  es  bleibt  von  logischem  Wert,  hier  die 
allgemeinen  Voraussetzungen  in  aller  Strenge  von  den  be- 
sonderen Annahmen  zu  scheiden,  und  die  „metaphysischen", 
weil  mathematischen  Anfangsgründe  der  Natur- 
erkenntnis von  denjenigen  speziellen  Hypothesen  zu  sondern, 
die   nur   der  Bearbeitung   irgend  eines  Einzelgebiets  dienen. 

VIII. 
Die  Darstellung  der  Begriffsbildung  innerhalb  der  exakten 
Naturwissenschaft  bleibt  auch  nach  der  logischen  Seite  hin 
so  lange  unabgeschlossen,  als  sie  nicht  neben  den  physikali- 
schen Begriffen  die  Grundbegriffe  der  Chemie 
in  den  Kreis  ihrer  Betrachtung  zieht.  Das  erkenntnistheore- 
tische Interesse,  das  diese  Grundbegriffe  darbieten,  beruht 
vor  allem  auf  der  eigentümlichen  Mittelstellung,  die  sie  ein- 
nehmen. Die  Chemie  scheint  zunächst  mit  rein  empirischen 
Beschreibungen  der  einzelnen  Stoffe  und  ihrer  Zusammen- 
setzung zu  beginnen;  aber  je  weiter  sie  fortschreitet,  um  so 
mehr    strebt    auch    sie    zu     konstruktiven    Begriffs- 

270 


bildungen  hin.  In  der  physikalischen  Chemie  ist  dieses  Ziel 
sodann  in  der  Tat  erreicht:  ein  bedeutender  Vertreter  dieser 
Disziplin  kann  es  geradezu  als  den  verbindenden  Grundzug 
von  Physik  und  Chemie  bezeichnen,  daß  beide  sich  die  Systeme, 
die  sie  untersuchen,  auf  Grund  der  empirischen  Daten  selbst 
schaffe  n*.  Sofern  die  Chemie  diese  ihre  moderne  Form 
bereits  erreicht  hat,  steht  sie  daher  logisch  auf  keinem  anderen 
Boden,  als  die  Physik  selbst.  Ihre  Grundgesetze,  wie  etwa 
die  Gibbs'sche  Phasenregel  oder  das  Gesetz  der  chemischen 
Massenwirkung,  gehören  demselben  rein  mathematischen 
Typus  an,  wie  irgendwelche  Sätze  der  theoretischen  Physik. 
Es  gewährt  indessen  ein  besonderes  Interesse  zu  verfolgen, 
wie  das  Ideal,  das  in  dieser  letzteren  schon  von  ihren  ersten 
Anfängen  an,  schon  in  Galilei  und  Newton  verwirklicht  ist, 
hier  nur  allmählich  und  schrittweise  erreicht  wird.  Die 
Grenzen  des  rein  empirischen  und  des  rationalen  Wissens 
treten  gerade  in  der  stetigen  Verschiebung,  die  sie  in  diesem 
Fortgang  der  chemischen  Erkenntnis  erfahren,  mit  besonderer 
Deutlichkeit  hervor.  Die  Mittelglieder  und  damit  die  Bedin- 
gungen des  exakten  Verstehens  heben  sich  nunmehr  immer 
schärfer  ab.  Die  Kraft  der  wissenschaftlichen  Formgebung 
wird  besonders  eindringlich  an  dem  gleichsam  spröderen 
Material,  mit  welchem  die  Chemie  arbeitet.  Die  Physik 
hat  es  zuletzt  doch  nur  scheinbar  mit  Dingbegriffen 
zu  tun;  denn  ihr  Ziel  und  ihr  eigentliches  Gebiet  bilden  die 
reinen  Gesetzesbegriffe.  Die  Chemie  erst  stellt 
das  Problem  des  Einzeldings  in  aller  Entschiedenheit 
in  den  Vordergrund.  Die  besonderen  Stoffe  der  empiri- 
schen Wirklichkeit  und  ihre  besonderen  Eigenschaften  sind  es, 
die  hier  den  Gegenstand  der  Frage  bilden.  Der  „Begriff" 
aber  enthält  gerade  in  der  spezifischen  Bedeutung,  die  er  in 
Mathematik  und  Physik  besitzt,  keine  Handhabe  für  dieses 
neue  Problem.  Denn  er  ist  hier  nur  das  Symbol  für  eine 
bestimmte  Form  der  Verknüpfung,  das  jeden  materialen 
Sonderinhalt  mehr  und  mehr  von  sich  abgestreift  hat;  er 
bezeichnet  nur  die  Art  einer  möglichen  Zuordnung,  nicht  das 


*  S.  Nernst,  Die  Ziele  der  physikalischen  Chemie.  Göttingen  1896. 

271 


„Was"  der  Elemente,  die  einander  zugeordnet  werden  sollen. 
Handelt  es  sich  hier  lediglich  um  eine  Lücke,  die  durch  neu 
hinzutretende  Bestimmungen,  welche  indes  der  gleichen 
logischen  Richtung  des  Denkens  angehören,  ausgefüllt  werden 
kann  oder  muß  an  dieser  Stelle  eine  prinzipiell  andere  Grund- 
form der  Erkenntnis  überhaupt  anerkannt  und  eingeführt 
werden  ? 

Diese  Frage  läßt  sich  nur  beantworten,  wenn  man  dem 
konkreten  geschichtlichen  Gang  der  chemischen  Lehren 
selbst  folgt;  nicht  um  im  einzelnen  den  unübersehbaren 
Reichtum  ihres  Inhalts  zu  erfassen,  sondern  um  sich  die 
großen  logischen  Richtlinien  deutlich  zu  machen,  nach  welchen 
sie  fortschreiten.  In  der  Tat  heben  sich  hier  alsbald  von  selbst 
wenige  allgemeine  Hauptzüge  heraus,  nach  welchen  die  Ent- 
wicklung sich  bei  all  ihrer  Mannigfaltigkeit  gliedern  und  über- 
sehen läßt.  Die  ältere  Form  der  chemischen  Elementenlehre, 
die  bis  auf  Lavoisier  vorherrscht  und  die  ihren  letzten 
charakteristischen  Ausdruck  noch  in  der  Phlogiston-Theorie 
gefunden  hat,  faßt  das  Element  als  eine  Gattungseigenschaft 
auf,  die  allen  Gliedern  einer  bestimmten  Gruppe  gemeinsam 
anhaftet  und  ihren  wahrnehmbaren  Typus  bestimmt.  Die 
Elemente  sind  hierbei  nur  die  Bezeichnung  und  Hypostase 
der  besonders  hervorstechenden  sinnlichen  Qualitäten.  So 
verleiht  der  Schwefel  durch  seine  Anwesenheit  in  einem 
beliebigen  Körper  diesem  die  Grundeigenschaft  der  Ver- 
brennbarkeit,  das  Salz  die  Eigenschaft  der  Löslichkeit, 
während  das  Quecksilber  der  Träger  der  metallischen 
Eigenschaften  ist,  die  wir  empirisch  an  irgendwelchen  Stoffen 
vorfinden*.  Diese  Auffassung  wird  erst  dort  prinzipiell  über- 
wunden, wo  neben  die  Aufgabe,  die  Körper  nach  ihren 
gattungsmäßigen  Beschaffenheiten  zu  sondern  und  in  Klassen 
zu  scheiden,  die  andere  tritt,  zu  exakten  quantitativen 
Aussagen  über  ihre  gegenseitigen  Reaktionen  zu  gelangen. 
Die  Forderung  strenger  Zahlbestimmungen  bildet  auch  hier 
den  entscheidenden  Wendepunkt.  Das  Gesetz  der  bestimmten 
Proportionen,   in  welchen  die  verschiedenen  Elemente 

*  S.  Ostwald,  Leitlinien  der  Chemie,  S.  4  ff ;  vgl.  auch  Meyerson, 
Identit^  et  R6alit6,  S.  213  ff. 

272 


sich  mit  einander  verbinden,  bildet  den  ersten  Ausgangspunkt 
der  modernen  chemischen  Theorie.  Es  ist  interessant, 
daß  dieses  Gesetz  zunächst  völlig  unabhängig  von  jeder 
Auffassung  über  die  Konstitution  der  Materie,  insbesondere 
unabhängig  von  der  atomistischen  Hypothese,  konzipiert  wird. 
In  der  ersten,  noch  unfertigen  Form,  in  welcher  es  zuerst  von 
J.  D.  R  i  c  h  t  e  r  ausgesprochen  wird,  besagt  es  zunächst 
nichts  anderes  als  die  Geltung  bestimmter  harmonischer  Be- 
ziehungen, die  zwischen  verschiedenen  Reihen  von  Körpern 
gelten.  Betrachten  wir  eine  Reihe  von  Säuren  A^  Ag  A3  ... 
und  eine  Reihe  von  Basen  B^  B2  B3,  so  waltet  zwischen  beiden 
ein  bestimmtes  Verhältnis  ob,  das  sich  dadurch  ausdrücken 
läßt,  daß  wir  jedem  Glied  der  ersten  Reihe  eine  bestimmte 
Zahl  mi  m2  mg  ...  zuordnen,  während  wir  den  Gliedern  der 
zweiten  Reihe  andere  konstante,  durch  die  Beobachtung  zu 
ermittelnde  Zahlwerte  Uj  n^  n.^  entsprechen  lassen.  Die  Art, 
in  der  sich  irgend  ein  Element  der  ersten  Reihe  mit  einem 
Element  der  zweiten  verbindet,  ist  durch  diese  Zahlen  ein- 
deutig bestimmt:  die  beiderseitigen  Massen,  nach  welchen 
irgend  eine  Säure  Ap  mit  irgend  einer  Basis  Bq  zusammen- 
tritt, verhalten  sich  wie  die  entsprechenden  Zahlwerte  mp 
und  nq.  Näher  versucht  Richter  nachzuweisen,  daß  die 
Massenreihe  der  Basen  eine  arithmetische,  die  der  Säuren 
eine  geometrische  Reihe  bilde,  und  daß  somit  hier  eine  Gesetz- 
lichkeit stattfinde,  wie  sie  analog  für  die  Entfernungen  der 
Planeten  von  der  Sonne  angenommen  worden  ist*.  Dieser 
Gedanke  hat  sich  empirisch  nicht  als  zutreffend  erwiesen; 
aber  er  ist  nichtsdestoweniger  in  seiner  allgemeinen  Tendenz 
bezeichnend  und  bedeutungsvoll.  Es  ist,  wie  man  sieht, 
die  allgemeine  Pythagoreische  Grundansicht  von  der  ,, Har- 
monie" des  Alls,  die  hier  an  der  Wiege  der  neueren  Chemie 
steht,  wie  sie  an  der  Wiege  der  neueren  Physik  stand.   In  dieser 


*  Zu  den  folgenden  Daten  aus  der  Geschichte  der  Chemie  vgl.  neben 
den  bekannten  allgemeinen  Geschichtswerken  besonders  W  u  r  t  z  ,  La 
Theorie  atomique,  Paris  1879;  Duhem,  Le  Mixte  et  la  combinaison 
chimique.  Paris  1902,  Lothar  Meyer,  Die  modernen  Theorien  der 
Chemie,  5.  Aufl.,  Breslau  1884;  Ladenburg,  Vorträge  über  die  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Chemie,  3.  Aufl. ;  Bratmschweig  1902.  —  Über 
Richter    s.  bes.  Duhem,  S.  69  ff.,  L  a  d  e  n  b  u  r  g  ,    S.  53  ff. 

Cassirer,  Substanzbegriff  28  273 


Hinsicht  ist  Richter  —  wenn  man  nicht  auf  das  Ganze  der 
Leistungen,  sondern  lediglich  auf  die  allgemeine  Geistes- 
richtung sieht  —  in  der  Tat  mit  Kepler  zu  vergleichen, 
mit  dem  er  den  Grundgedanken  der  durchgängigen  zahlen- 
mäßigen Verfassung  des  Universums  teilt,  die  sich  bis  in  alle 
Einzelgebiete  des  Geschehens  fortsetzt.  — 

Die  Fassung,  die  das  Gesetz  der  konstanten  Verbindungs- 
zahlen bei  seinem  eigentlichen  wissenschaftlichen  Begründer 
erhält,  fügt  allerdings  dieser  allgemeinen  Grundanschauung 
sogleich  einen  neuen  konkreten  Zug  hinzu.  Sachlich  ist  auch 
hier  zunächst  nur  ausgesprochen,  daß  es  für  jedes  Element 
eine  charakteristische  Äquivalenzzahl  gibt  und  daß,  wenn 
je  zwei  oder  mehrere  Elemente  in  eine  Verbindung  eingehen, 
ihre  Massen  sich  wie  ganze  Vielfache  dieser  Grundzahlen 
verhalten.  Aber  diese  Regel  der  „multiplen  Proportionen"  ver- 
schmilzt bei  D  a  1 1  o  n  sogleich  mit  einer  bestimmten  Deutung, 
die  ihr  gegeben  wird  und  geht  nur  in  der  besonderen  Gestalt, 
die  sie  hierdurch  empfängt,  in  das  Ganze  der  chemischen 
Lehren  ein.  Der  Begriff  des  Verbindungsgewichts  wandelt 
sich  zu  dem  des  Atomgewichts.  Das  Gesetz  der  multiplen  Pro- 
portionen bedeutet  nunmehr,  daß  die  Atome  der  verschiedenen 
einfachen  Körper  durch  ihre  Massen  unterschieden  sind, 
während  innerhalb  derselben  chemischen  Gattung  das  Atom 
stets  unwandelbar  ein  und  dieselbe  konstante  Masse  auf- 
weist, die  somit  hinreicht,  um  einen  bestimmten  einfachen 
Grundstoff  in  seiner  Eigenart  zu  charakterisieren.  An  die  Stelle 
der  empirisch  ermittelten  Proportionalzahlen  der  einzelnen 
Körper  sind  Aussagen  über  eine  wesentliche  Beschaffenheit 
ihrer  letzten  konstitutiven  Bestandteile  getreten.  Da  indessen 
all  unser  Wissen  stets  nur  die  Verhältnisse  betrifft, 
nach  welchen  die  Elemente  in  die  Verbindungen  eingehen, 
so  ist  von  hier  aus  noch  kein  unzweideutiger  Rückschluß 
auf  die  absoluten  Zahlen  der  Atomgewichte  möglich. 
Wir  könnten,  wenn  wir  das  Atomgewicht  des  Wasserstoffs 
als  Vergleichseinheit  wählen,  ohne  den  bekannten  Tatsachen 
der  Zusammensetzung  zu  widersprechen,  das  des  Sauerstoffs, 
statt  durch  den  Wert  0=  16,  durch  den  Wert  0=8  be- 
stimmen, wobei  wir  nur  in  all  unseren  Formeln  die  Zahl  der 

274 


Sauerstoff atome  zu  verdoppeln  hätten;  wir  könnten  successiv 
die  Werte  S  =  8,  16,  32  . . .  als  Atomgewicht  des  Schwefels 
ansetzen,  sofern  wir  nur  die  chemischen  Formeln  überein- 
stimmend nach  einer  dieser  Grundannahmen  gestalten,  also 
etwa  den  Schwefelwasserstoff  je  nach  der  Wahl,  die  wir 
treffen,  bald  durch  den  Ausdruck  H  S^,  bald  durch  H  S  oder 
Hg  S  bezeichnen  würden.  Die  Entscheidung  zwischen  all 
diesen  zunächst  möglichen  Ansätzen  erfolgt  auf  Grund  mannig- 
facher Kriterien,  die  in  der  Geschichte  der  Chemie  selbst 
erst  allmählich  erarbeitet  werden.  Eines  der  wichtigsten 
Kennzeichen  bietet  hier  die  Avogadrosche  Regel,  nach  welcher 
gleiche  molekulare  Massen  verschiedener  Verbindungen,  im 
vollkommenen  Gaszustand  unter  denselben  Bedingungen 
des  Drucks  und  der  Temperatur,  das  gleiche  Volumen  ein- 
nehmen. Neben  die  Bestimmung  der  Atomgewichte  aus 
der  Dampfdichte,  die  hierdurch  ermöglicht  wird,  tritt  sodann 
ihre  Bestimmung  aus  der  Wärmekapazität,  die  sich 
auf  das  Dulong-Petitsche  Gesetz,  sowie  diejenige  aus  dem 
Isomorphismus,  die  sich  auf  den  Mitscherlichschen 
Satz  stützt,  daß  die  gleiche  Krystallform,  die  verschiedene 
Verbindungen  besitzt,  auf  eine  gleiche  Anzahl  auf  gleiche 
Art  verbundener  Atome  in  ihnen  zurückweist.  Erst  die 
Gesamtheit  aller  dieser  verschiedenen  Gesichtspunkte,  die 
sich  wechselseitig  bestätigen  oder  korrigieren,  ergibt  schließlich 
nach  mannigfachen  Versuchen  eine  einheitliche  Tabelle  der 
Atomgewichte  und  legt  damit  den  Grund  zu  einer  eindeutigen 
chemischen  Formelsprache*. 

Die  Entwicklung,  die  hierin  zum  Abschluß  gelangt, 
bietet,  abgesehen  von  ihren  Einzelheiten,  auch  logisch  ein  all- 
gemeines Problem  dar.  Würde  man  lediglich  die  einzelnen 
Forscher  befragen,  die  an  ihr  mitwirken,  so  scheint  sie  freilich 
für  sie  alle  zunächst  nur  einen,  völlig  eindeutigen  und  klar 
bestimmten,  Sinn  zu  besitzen.  Die  objektive  Existenz  der  ver- 
schiedenen Arten  von  Atomen  wird  vorausgesetzt:  nur  ihre 
Eigenschaften  gilt  es  noch  zu  ermitteln  und  quan- 
titativ schärfer  zu  umgrenzen.     Je  weiter  wir  fortschreiten 

*  Näheres  hierüber  bes.  bei  Lothar  Meyer,  Buch  I,  Abschn.  II — IV ; 
cf .  O  s  t  w  a  1  d  ,  Gnindriss  der  allgemeinen  Chemie,  4.  Aufl.  Lpz.  1909. 

18*  275 


und  um  so  mehr  verschiedene  Gruppen  von  Phänomenen 
wir  in  den  Kreis  unserer  Betrachtung  ziehen,  um  so  deutlicher 
tritt  der  Reichtum  und  die  Bestimmtheit  dieser  Eigenschaften 
heraus.  Das  substantielle  „Innere"  der  Atome  enthüllt  sich 
und  gewinnt  für  uns  feste  und  greifbare  Gestalt.  Wir  ver- 
folgen, insbesondere  in  der  entwickelten  chemischen  Kon- 
stitutionsformel, wie  die  Atome  sich  nebeneinander  lagern 
und  sich  wechselseitig  zu  einem  einheitlichen  Aufbau  des 
Moleküls  verknüpfen;  wir  sehen,  wie  sie  in  ihrem  Zusammen- 
treten durch  ihre  Zahl  und  ihre  relative  Lage  einen  bestimmten 
Grundriß  der  Gestaltung  erzeugen,  der  sich  z.  B.  in  der  Krystall- 
form  ausprägt.  Geht  man  indessen  der  näheren  empirischen 
Begründung  all  dieser  Aussagen  nach,  so  verschiebt  sich  als- 
bald das  allgemeine  Bild.  Das  Atom  ist,  wie  jetzt  sogleich 
deutlich  wird,  niemals  der  gegebene  Ausgangspunkt, 
sondern  immer  nur  der  Endpunkt  unserer  wissenschaft- 
lichen Aussagen.  Der  inhaltliche  Reichtum,  den  es  im  Fortgang 
der  wissenschaftlichen  Forschung  gewinnt,  geht  daher  im 
Grunde  niemals  es  selbst  an,  sondern  bezieht  sich  auf  ein 
andersartiges  empirisches  ,,  Subjekt".  Indem  wir 
scheinbar  das  Atom  selbst  in  seinen  mannigfachen  Bestim- 
mungen und  Zuständen  erforschen,  haben  wir  damit  zugleich 
eben  diese  verschiedenen  Gruppen  von  Zuständen  zueinander 
in  ein  neues  Verhältnis  gesetzt.  Wir  sprechen  von  der  Anzahl 
der  Atome,  die  in  einem  bestimmten  Volum  einer  gas- 
förmigen Substanz  enthalten  sind  und  drücken  damit  in 
Wahrheit  eine  Beziehung  aus,  die  nach  dem  Gesetz  von  Gay 
Lussac  zwischen  dem  numerischen  Wert  der  Dichtigkeit 
der  Gase  und  dem  Wert  ihrer  Verbindungsgewichte  besteht; 
wir  sprechen  den  Atomen  aller  einfachen  Körper  dieselbe 
Wärmekapazität  zu  und  bezeichnen  damit  die  Tatsache, 
daß,  wenn  wir  die  Verbindungsgewichte  der  chemischen 
Elemente  in  eine  Reihe  a  a'  a"  . .  an,  die  Zahlen  für  ihre 
spezifische  Wärme  in  eine  andere  Reihe  b  b'  b"  .  .  .  b  n 
ordnen,  zwischen  diesen  beiden  Reihen  eine  eindeutige  Zu- 
ordnung besteht,  sofern  die  Produkte  a  b,  a'  b',  a"  b"  usf. 
denselben  konstanten  Wert  besitzen.  Die  eigentümliche 
logische  Funktion,    die  der  Atombegriff,  abgesehen 

276 


von  allen  metaphysischen  Behauptungen  über  die  Existenz 
der  Atome  besitzt,  tritt  in  diesen  Beispielen  deutlich  hervor. 
Das  Atom  fungiert  hier  gleichsam  als  der  gedachte  einheitliche 
Mittelpunkt  eines  Koordinaten-Systems,  dem  wir  alle  Aus- 
sagen über  die  mannigfachen  Gruppen  chemischer  Eigen- 
schaften eingeordnet  denken.  Die  verschiedenen  und  an- 
fänglich heterogenen  Mannigfaltigkeiten  von  Bestimmungen 
gewinnen  einen  festen  Zusammenhang,  indem  wir  jede  von 
ihnen  auf  dieses  gemeinsame  Zentrum  zurückbeziehen.  Nur 
scheinbar  wird  daher  hier  die  einzelne  Eigenschaft  an  das 
Atom  als  ihren  absoluten  „Träger"  angeknüpft,  so  daß  damit 
das  Ganze  der  Relation  als  abgeschlossen  und  vollendet  gelten 
könnte.  In  Wahrheit  handelt  es  sich  darum,  die  verschiedenen 
Reihen  nicht  sowohl  auf  das  Atom,  als  vielmehr,  durch  den 
Mittelbegriff  des  Atoms  hindurch,  wechselseitig  auf 
einander  zu  beziehen.  Wieder  zeigt  sich  hier  der 
gleiche  gedankliche  Prozeß,  der  uns  bereits  früher  entgegen- 
trat: die  komplizierten  Verhältnisse  zwischen  bestimmten 
Inbegriffen  werden,  statt  daß  wir  jeden  Inbegriff  einzeln 
mit  allen  übrigen  vergleichen,  dadurch  zum  Ausdruck  ge- 
bracht, daß  wir  sie  sämtlich  in  Beziehung  zu  ein  und  dem- 
selben identischen  Terminus  setzen.  (Vgl.  ob.  S.  260  ff.) 
Der  Versuch,  das  Atomgewicht  der  einzelnen  Elemente 
eindeutig  zu  bestimmen,  nötigt  dazu,  immer  neue  Gebiete 
chemisch-physikalischer  Phänomene  als  Kriterien  heranzu- 
ziehen. In  dem  Maße  als  diese  Bestimmung  fortschreitet, 
weitet  sich  daher  auch  der  Kreis  der  empirischen  Relationen 
selbst.  Denken  wir  uns  diesen  Fortschritt  vollendet,  so  wäre 
somit  gerade  in  den  ,, absoluten"  Atomgewichten  das  Ganze 
der  möglichen  Verhältnisse,  die  die  Sonderreihen 
unter  sich  eingehen  können,  befaßt  und  ausgedrückt.  Der 
eigentlich  positive  Ertrag,  den  die  chemische  Erkenntnis  hier 
gewinnt,  besteht  in  der  systematischen  Gliederung  eben  dieser 
Verhältnisse  selbst.  Das  zunächst  verstreute  Tatsachen- 
material organisiert  sich  nunmehr;  es  steht  nicht  mehr  be- 
ziehungslos nebeneinander,  sondern  ordnet  sich  um  einen 
festen  Mittelpunkt.  Indem  wir  die  Beobachtungen  über  die 
Dampfdichte,    über   die  Wärmekapazität,    über  den  Isomor- 

277 


phismus  usf.  sämtlich  an  ein  und  dasselbe  Subjekt  an- 
heften, treten  sie  damit  selbst  erst  in  wahrhafte  begriffliche 
Wechselwirkung.  Aber  freilich  ist  es  nicht  der  einzige  logische 
Wert  dieses  „Subjekts",  daß  es  nur  nachträglich  die  ge- 
wonnenen Erfahrungen  beschreibt  und  zusammenfaßt.  Die 
Vereinigung,  die  hier  geschaffen  ist,  wirkt  vielmehr  zugleich 
unmittelbar  produktiv;  sie  schafft  ein  allgemeines 
Schema  auch  für  die  künftigen  Beobachtungen  und 
weist  diesen  eine  bestimmte  Richtung  an.  Der  Gang  der 
Wissenschaft  würde  schleppend,  ihre  Darstellung  würde  um- 
ständlich und  mühsam  werden,  wenn  sie  jedesmal,  ehe  sie 
an  ein  neues  Tatsachengebiet  herantritt,  sich  die  Fülle  des 
bereits  gewonnenen  empirischen  Materials  explizit  wieder- 
holen und  in  all  seinen  Einzelzügen  vergegenwärtigen  müßte. 
Indem  der  Atombegriff  hier  eine  gedankliche  Konzentra- 
tion aller  dieser  Züge  schafft,  bewahrt  er  ihren  wesentlichen 
Gehalt,  während  doch  andererseits  alle  Kräfte  des  Denkens 
nunmehr  für  die  Erfassung  des  neuen  Erfahrungsinhalts  frei 
werden.  Der  Inbegriff  des  empirisch  Bekannten  verdichtet 
sich  gleichsam  in  einem  einzigen  Punkt,  und  von  diesem  Punkt 
gehen  nun  all  die  verschiedenen  Richtlinien  aus,  nach  denen 
unsere  Erkenntnis  ins  Unbekannte  weiterschreitet.  Gegen- 
über den  neu  zu  entdeckenden  Mannigfaltigkeiten  fungieren 
die  bereits  gefundenen  und  gesetzlich  fixierten  als  eine  feste 
logische  Einheit:  und  diese  Einheit  des  prinzipiellen  An- 
knüpfungspunkts ist  es,  die  unsere  Setzung  eines  letzten 
identischen  Subjekts  für  die  Allheit  der  möglichen  Eigen- 
schaften erklärt  und  ermöglicht. 

Die  Bedeutung,  die  der  allgemeine  Substanzbegriff  inner- 
halb des  tatsächlichen  Prozesses  der  Erfahrung  besitzt, 
tritt  an  diesem  Beispiel  klar  hervor.  Die  empirische  Er- 
kenntnis kann  diesen  Begriff  nicht  entbehren;  wenngleich 
ihr  eigentlich  philosophischer  Fortschritt  darin  be- 
steht, ihn  als  Begriff  zu  verstehen  uiid  zu  würdigen. 
Die  lebendige  und  unmittelbare  Arbeit  der  Forschung  selbst 
steht  hier  freilich  von  Anfang  an  auf  einem  anderen  Stand- 
punkt, und  erfaßt  das  Problem  gleichsam  von  einer  anderen 
Seite  als  die  rein  erkenntnistheoretische  Betrachtung.   Worauf 

278 


sie  hinblickt  und  was  ihr  Interesse  fesselt,  sind  die  neuen 
Tatsachengebiete,  die  es  zu  erschließen  gilt,  während  sie  die 
bekannten  Tatsachen  als  einen  gegebenen  Bestand  nehmen 
darf,  der  als  solcher  keiner  weiteren  Analyse  bedarf.  Der  In- 
begriff des  „Faktischen"  in  diesem  Sinne  steht  als  solcher 
fest;  er  bildet  ein  ruhendes  Substrat,  das  fortan  den  Grund- 
stock für  alle  weiteren  Beobachtungen  abgibt.  Das  jeweilig 
Erreichte,  das  eben  erst  Gewonnene,  muß  der  Forschung 
alsbald  wiederum  als  ein  Gesichertes  und  Vorhandenes  gelten; 
denn  nur  dadurch  schafft  sie  sich  die  Möglichkeit,  das  Gebiet 
des  Problematischen  an  eine  andere  Stelle  zu  verlegen,  es 
gleichsam  immer  weiter  fortzurücken,  so  daß  stets  neue 
Fragen  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtung  eintreten.  Der  passive 
Bestand,  den  die  Wissenschaft  an  einzelnen  Stellen 
fixiert,  ist  daher  ein  Moment  in  ihrer  eigenen  Aktivität. 
Somit  ist  es  in  der  Tat  berechtigt  und  unvermeidlich,  wenn 
sie  eine  Fülle  erfahrungsmäßiger  Relationen  in  einen  einzigen 
Ausdruck,  in  die  Annahme  eines  einzelnen  dinglichen  „Trägers", 
zusammenfaßt.  Die  kritische  Selbstbestimmung  des  Denkens 
muß  indessen  dieses  Produkt,  wenngleich  sie  es  für  bestimmte 
Zwecke  der  Erkenntnis  als  notwendig  begreift,  dennoch 
wiederum  in  seine  einzelnen  Faktoren  zerlegen:  denn  ihr 
Blick  ist  nicht  nach  vorwärts  auf  die  Gewinnung  neuer  objek- 
tiver Erfahrungen,  sondern  nach  rückwärts  auf  den  Ursprung 
und  die  Gründe  der  Erkenntnis  gerichtet.  Beide  Richtungen 
lassen  sich  niemals  unmittelbar  vereinen:  die  Bedingungen 
der  wissenschaftlichen  Produktion  sind  andere,  als  es 
die  der  kritischen  Reflexion  sind.  Wir  können  die 
Funktionen  zum  Aufbau  der  Erfahrungswirklichkeit  nicht  zu- 
gleich betätigen  und  sie  zur  selben  Zeit  als  solche  betrachten 
und  beschreiben.  Dennoch  aber  sind  beide  Gesichtspunkte, 
ist  somit  der  bewußte  Wechsel  des  Standpunktes  der 
Betrachtung  erforderlich,  um  die  Erkenntnis  als  Ganzes 
in  den  Motiven  ihres  Fortschrittes  wie  in  den  dauernden 
logischen  Bedingungen  ihres  Bestandes  zu  beurteilen.  Auf 
der  Spannung  und  dem  Gegensatz,  der  hier  zurückbleibt, 
beruht  doch  zugleich  die  eigentümliche  Bestimmtheit, 
die  der  Erkenntnis  zukommt.      So  läßt  es  sich  verstehen, 

279 


daß  auch  der  chemische  Begriff  des  Atoms,  je  nach  dem  Wege, 
auf  welchem  man  sich  ihm  nähert,  eine  verschiedene  Gestalt 
zeigt.  Für  die  erste  naive  Betrachtung  erscheint  das  Atom 
als  ein  fester  substantieller  Kern,  an  dem  sich  nacheinander 
für  uns  verschiedene  Eigenschaften  unterscheiden  und  aus- 
sondern lassen;  während  umgekehrt  vom  Standpunkt  der 
Erfahrungskritik  aus  eben  jene  „Eigenschaften"  und  ihre 
wechselseitigen  Verhältnisse  die  eigentlichen  empirischen 
Daten  bilden,  zu  deren  Ausdruck  der  Begriff  des 
Atoms  erschaffen  wird.  Das  gegebene  Tatsachenmaterial 
wird  zugleich  mit  dem  noch  zu  erforschenden,  das 
begrifflich  vorweggenommen  wird,  in  einem  einzigen 
Brennpunkt  vereinigt,  der  jedoch,  gemäß  einer  natürlichen 
Täuschung,  statt  als  bloß  ,, virtueller"  Punkt,  alsbald  als  ein 
einheitliches  reelles  Objekt  erscheint.  So  ist  das  Atom  der 
Chemie  eine  „Idee"  in  dem  strengen  Sinne,  den  Kant 
diesem  Terminus  gegeben  hat  —  sofern  es  in  der  Tat  ,, einen 
vortrefflichen  und  unentbehrlich  notwendigen  regulativen 
Gebrauch"  besitzt,  „nämlich  den  Verstand  zu  einem  gewissen 
Ziele  zu  richten,  in  Aussicht  auf  welches  die  Richtungslinien 
all  seiner  Regeln  in  einem  Punkt  zusammenlaufen,  der,  ob  er 
zwar  nur  eine  Idee  (focus  imaginarius),  d.  i.  ein  Punkt  ist,  aus 
welchem  die  Verstandesbegriffe  nicht  wirklich  ausgehen, 
indem  er  ganz  außerhalb  der  Grenzen  möglicher  Erfahrung 
liegt,  dennoch  dazu  dient,  ihnen  die  größte  Einheit  neben 
der  größten  Ausbreitung  zu  verschaffen*."  Diese  Leistung 
bleibt  dem  Atombegriff  als  dauerndes  Charakteristikum  er- 
halten, auch  wenn  sein  Inhalt  sich  vollkommen  wandelt, 
also  z.  B.,  wie  in  der  neueren  Physik,  das  Atom  der  Materie 
zum  Atom  der  Elektrizität,  zum  Elektron  wird.  Gerade  eine 
derartige  Wandlung  bestätigt,  daß  das  Wesentliche  des  Be- 
griffs nicht  in  irgendwelchen  materialen  Eigenschaften  besteht, 
sondern  daß  er  ein  Formbegriff  ist,  der  sich  je  nach  dem 
Stande  unserer  Erfahrung  mit  mannigfachem  konkreten  Inhalt 
zu  erfüllen  vermag. 


•  Kritik  der  reinen  Vernunft,  2.  Aufl.,  S.  672. 
280 


Der  zweite  wichtige  Schritt  der  chemischen  Begriffs- 
bildung, nachdem  der  allgemeine  Gedanke  des  Atoms  kon- 
zipiert und  die  Werte  für  die  Atomgewichte  der  einzelnen 
Elemente  im  allgemeinen  festgestellt  sind,  besteht  darin, 
die  mannigfachen,  zunächst  völlig  getrennten  Bestimmungen, 
die  hierdurch  gewonnen  sind,  nach  gedanklichen  Gesichts- 
punkten zu  verknüpfen  und  zu  Klassen  bestimmter  Eigenart 
zusammenzustellen.  Die  empirischen  Tatsachen,  die  zunächst 
zu  derartigen  relativen  Unterscheidungen  und  Zusammen- 
fassungen innerhalb  des  Gesamtsystems  hinführen,  sind  in  den 
Verhältnissen  der  chemischen  Substitution  gegeben. 
Verfolgt  man,  wie  die  Atome  verschiedener  einfacher  Körper 
sich  in  den  Verbindungen  ersetzen  und  wechselweise  für  ein- 
ander eintreten  können,  so  ergeben  sich  hierbei  bestimmte 
Grundregeln,  die  diese  Form  der  Beziehung  regeln.  Die  Form 
des  Austausches  läßt  sich  durch  gewisse  Zahlwerte, 
die  wir  jedem  Element  beilegen  und  die  nunmehr  zu  der  Zahl 
seines  Verbindungsgewichts  hinzutreten,  ein  für  allemal  fest- 
halten und  ausdrücken.  Nimmt  man  das  Atom  des  Wasser- 
stoffs als  Einheit,  so  zeigt  sich  etwa,  daß  ein  Chloratom  in 
bestimmten  Verbindungen  je  ein  Atom  des  Wasserstoffs  zu 
ersetzen  vermag,  während  ein  Sauerstoffatom  stets  an  die 
Stelle  von  2,  ein  Stickstoffatom  an  die  Stelle  von  3,  ein  Kohlen- 
stoffatom an  die  Stelle  von  4  Atomen  Wasserstoff  tritt. 
Damit  ist  ein  weiterer  Gesichtspunkt  der  Zuordnung  der  ein- 
zelnen Elemente  zu  einander,  eine  neue  charakteristische  Kon- 
stante für  jeden  einfachen  Körper  geschaffen.  Die  ,, Valenz" 
der  Elemente  ist  der  Ausdruck  einer  bestimmten  Grund- 
beschaffenheit in  ihnen,  die  ihnen  unabhängig  von  ihrer 
chemischen  Verwandtschaft  zukommt.  Ordnen  wir  nunmehr 
die  chemischen  Verbindungen  gemäß  dem  neuen  Prinzip, 
das  sich  uns  hier  darbietet,  so  treten  sie  in  verschiedene 
Haupttypen  auseinander,  wobei  die  Glieder,  die  dem- 
selben Typus  angehören,  dadurch  charakterisiert  sind,  daß 
sie  sämtlich  aus  einer  bestimmten  Grundform  durch  fort- 
schreitende Substitutionen  ableitbar  sind,  die  sich  gemäß 
den  Regeln  über  die  Wertigkeit  der  einzelnen  Atome  voll- 
ziehen. — 

281 


Der  Begriff  des  „Typus"  kommt  hier  wiederum  nicht 
in  seiner  Bedeutung  für  die  speziellen  Aufgaben  der  Chemie, 
sondern  nur  als  Paradigma  für  bestimmte  logische  Ver- 
hältnisse in  Betracht.  Er  weist  in  der  Tat  in  voller  Deutlichkeit 
die  charakteristischen  Grundzüge  auf,  die  die  Analyse  des 
exakten  naturwissenschaftlichen  Begriffs  bereits  im  allgemeinen 
festgestellt  hat.  Auch  der  chemische  Typenbegriff  ist  nicht 
nach  dem  Muster  der  Gattungsbegriffe,  sondern  nach  dem 
der  Reihenbegriffe  gestaltet.  Die  verschiedenen  Verbindungen, 
die  unter  einem  Haupttypus  befaßt  werden,  verdanken  diese 
Zusammenstellung  weder  der  äußeren  Ähnlichkeit  in  ihren 
sinnlichen  Eigenschaften,  noch  der  unmittelbaren  Verwandt- 
schaft in  ihren  chemischen  Funktionen.  Sie  gehören  zu- 
sammen, sofern  sie  kraft  der  Beziehung,  die  zwischen  der 
Valenz  der  einzelnen  Atome  besteht,  ineinander  übergeführt 
werden  können,  wobei  indes  die  entfernteren  Glieder  der 
Reihe  zu  den  näheren  keine  andere  Analogie  mehr  dar- 
zubieten brauchen,  als  sie  eben  durch  dieses  Ableitungsgesetz 
selbst  hergestellt  wird.  Nur  allmählich  hat  sich  in  der  Ge- 
schichte der  Chemie  der  Typenbegriff  vom  Begriff  der  chemi- 
schen Analogie  losgelöst*.  Der  erste  Schritt  zu  dieser  Trennung 
liegt  schon  in  dem  Grundverhältnis  der  Substitution  selbst 
vor,  sofern  hier  Elemente,  die  ihrer  Natur  und  Eigenart  nach 
völlig  verschieden  scheinen,  sich  einander  ersetzen  können. 
Der  Gedanke  der  Substitution,  wie  er  zuerst  von  Dumas 
formuliert  wird,  wird  daher  unter  diesem  Gesichtspunkt 
zunächst  von  Berzelius  als  paradox  und  widerspruchs- 
voll zurückgewiesen :  das  Chlor  kann  nicht  in  irgend  einer  Ver- 
bindung für  den  Wasserstoff  eintreten,  da  es,  nach  der  Theorie 
des  elektrochemischen  Dualismus,  die  Berzelius  vertritt, 
negativ  elektrisch  ist,  während  dem  Wasserstoff  positive 
Elektrizität  zukommt.  Je  mehr  indessen  die  Theorie  der 
Substitution  sich  Bahn  bricht,  um  so  mehr  gewinnt  umgekehrt 
die  Anschauung  Raum,  daß  auch  völlig  unähnliche  Körper 
sich   in   gewissen   Verbindungen   ohne  Änderung   der   Natur 


*  Näheres  hierüber  bes.  bei  D  u  h  e  m  ,  Le  Mixte,  S.  97  ff.,  W  u  r  t  z  , 
a.  a.  O,  S.  189  ff. 

282 


der  Verbindung  vertreten  können.  Noch  schärfer  treten  die 
Konsequenzen  dieser  Ansicht  hervor,  sobald  nicht  allein  die 
Elemente,  die  sich  einander  substituieren  lassen,  einzeln  ein- 
ander gegenübergestellt,  sondern  die  ganze  Gruppe  von 
Körpern,  die  aus  wiederholten  Substitutionen  hervorgehen 
können,  näher  betrachtet  wird.  Auch  hier  wird  anfangs  die 
Forderung  der  Analogie  aufrecht  erhalten,  bis  weitere  Unter- 
suchungen zu  dem  Schluß  drängen,  daß  die  Reihen,  die  auf 
diese  Weise  entstehen,  Glieder  enthalten  können,  die  in  all 
ihren  wahrnehmbaren  Eigenschaften  und  ihren  wesentlichen 
chemischen  Bestimmungen  voneinander  völlig  abweichen. 
Dem  ,, chemischen  Typus",  wie  Dumas  ihn  aufgestellt 
und  für  den  er  ähnliche  Haupteigenschaften 
aller  Glieder  gefordert  hatte,  tritt  jetzt  der  „molekulare  Typus" 
Regnaults  entgegen,  der  Körper  sehr  verschiedener 
Eigenschaften,  die  man  sich  durch  Substitution  auseinander 
entstehend  denken  kann,  in  sich  faßt.  Die  Bedingungen, 
auf  denen  nunmehr  die  Einheit  des  Typus  beruht,  ent- 
sprechen also  durchaus  denjenigen,  die  wir  im  Gebiet  der 
mathematischen  Begriffsbildung  verwirklicht 
fanden.  Wie  sich  hier  geometrische  Systeme  und  Gruppen 
von  Systemen  ergaben,  deren  Glieder  nicht  durch  irgend  welche 
anschauliche  Einzelzüge,  die  ihnen  gemeinsam  sind,  sondern 
lediglich  durch  die  eindeutige  Regel  der  Relation,  die  von 
Glied  zu  Glied  obwaltet,  miteinander  zusammengehalten  wer- 
den, so  gilt  das  gleiche  auch  hier.  Die  „Valenz"  der  einzelnen 
Elemente  stiftet  unter  ihnen  eine  derartige  Beziehung,  die 
in  ihrer  fortgesetzten  Anwendung  bestimmte  Inbegriffe  von 
charakteristischem  Reihen-Typus  erschafft.  Die  gesetzliche 
Abwandlung  dieses  ,, Parameters"  erzeugt  und  begründet  die 
Form  des  Begriffs,  die  somit  ebenfalls  nicht  auf  einer  Gleich- 
artigkeit im  Inhalt  des  Verknüpften,  sondern  in  der  Art 
der  Verknüpfung  beruht. 

Der  chemische  Begriff  unterscheidet  sich  hierbei  vom 
mathematischen  freilich  darin,  daß  die  Relation,  kraft  deren 
von  einem  Glied  zum  andern  fortgegangen  wird,  bei  dem 
letzteren  rein  konstruktiv  festgestellt  ist,  während  das  Verhält- 
nis der  Äquivalenz  als  eine  empirische  Beziehung  zwischen 

283 


den  verschiedenen  Elementen  entdeckt  wird.  Sieht  man  hin- 
gegen von  diesem  Unterschied  des  Ursprungs  ab,  so  erkennt 
man,  daß,  nachdem  einmal  das  entscheidende  Merkmal  der 
Vergleichung  gewonnen  ist,  die  weitere  Begriffsbildung  nun- 
mehr auf  beiden  Seiten  genau  die  gleiche  Richtung  einschlägt. 
Auch  hier  gilt  es,  nachdem  erst  ein  allgemeines  Moment  der 
Zuordnung  fixiert  ist,  dieses  Moment  durch  die  gesamte 
Mannigfaltigkeit  der  durch  die  Beobachtung  gegebenen 
Stoffe  hindurchzuführen  und  diese  somit  aus  einem  Aggregat 
zu  einem  System  zu  gestalten,  innerhalb  dessen  wir  das  In- 
einandergreifen und  die  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen 
Glieder  nach  festen  Regeln  begreifen.  Die  Typentheorie 
bildet  in  dieser  Hinsicht  den  ersten  Ansatz  zur  chemischen 
Deduktion,  sofern  sie  lehrt,  die  Mannigfaltigkeit  der 
Körper,  unter  Festhaltung  weniger  allgemeiner  Grundprin- 
zipien, von  gewissen  Anfangspunkten  an  aufzubauen  und 
um  gewisse  Mittelpunkte  zu  gruppieren.  Das  sinnlich  Hetero- 
gene gestaltet  sich  jetzt  homogen,  indem  wir  es  mit  bestimmten 
Zahl-Verhältnissen  durchdringen.  Dieses  letztere  Moment  ist 
auch  hier  entscheidend;  denn  es  bildet  das  eigentlich  aus- 
zeichnende Merkmal  der  wissenschaftlichen  Fassung  der 
chemischen  Grundbegriffe.  Die  „Valenz",  die  den  einzelnen 
Atomen  zugesprochen  wird,  muß  zunächst,  wenn  sie  als  eine 
dingliche  Qualität  in  ihnen  aufgefaßt  wird,  wie  eine  wahrhafte 
qualitas  occulta  erscheinen.  Wir  kennen  die  eigentümliche 
Beschaffenheit  des  Chloratoms  nicht,  kraft  deren  es  sich  nur 
mit  einem  Atom  Wasserstoff  zu  verbinden  vermag,  wir 
wissen  nicht,  durch  welchen  Zwang  getrieben  das  Sauerstoff- 
atom mit  2,  das  Kohlenstoffatom  mit  4  Atomen  des  Wasser- 
stoffs zusammentritt.  Und  dieses  Rätsel  wird  nicht  gelöst, 
wenn  man  zur  Erklärung  der  verschiedenen  relativen  Wertig- 
keiten auf  die  Bewegungszustände  der  einzelnen 
Atome  zurückgreift,  die  einander  derart  angepaßt  oder  derart 
entgegengesetzt  sein  sollen,  daß  sie  stets  nur  in  einem  ganz 
bestimmten  Verhältnis  miteinander  verschmelzen  können*. 
Denn  auch  hier  wird  ein  schlechthin  Unbekanntes  und  empirisch 


♦  Cf.  W  u  r  t  z  ,  La  Theorie  atomique,  S.  175. 

284 


in  keiner  Weise  Nachweisbares  an  Stelle  der  allein  bekannten 
Austauschverhältnisse  gesetzt.  Was  jedoch  den  Valenzbegriff 
der  Chemie  von  allen  scholastischen  Qualitäten  scheidet, 
ist  eben  der  gedankliche  Verzicht,  den  er  in  sich  schließt. 
Er  will  nicht  in  die  substantielle  Natur  der  Verbindung 
von  Atom  und  Atom  eindringen,  sondern  lediglich  die  Tat- 
sachen dieser  Verbindung  nach  allgemeingültigen  quantitativen 
Ordnungsprinzipien  darstellen.  Die  chemische  Konstitutions- 
formel scheint  freilich  zunächst  ein  direktes  anschauliches 
Bild  der  Reihenfolge  und  Stellung  darzubieten,  die  die  Atome 
selbst  gegeneinander  einnehmen;  aber  was  sie  zuletzt  leistet, 
ist  in  Wahrheit  nicht  eine  derartige  Erkenntnis  der  letzten 
absoluten  Elemente  der  Wirklichkeit,  sondern  vielmehr  die  all- 
seitige Gliederung  der  Körper  und  Stoffe  der  Erfahrung. 
Die  Formel  einer  bestimmten  Verbindung  lehrt  uns  nicht 
nur  diese  selbst  in  ihrer  Zusammensetzung  kennen,  sondern 
ordnet  sie  verschiedenen  typischen  Grundreihen  ein  und  weist 
damit  auf  das  Ganze  derjenigen  Gebilde  voraus,  die  durch 
Substitution  aus  der  gegebenen  Verbindung  entstehen  können. 
Das  einzelne  Glied  wird  zum  Repräsentanten  der  Gesamt- 
gruppen, denen  es  angehört  und  die  aus  ihm  durch  die  gesetz- 
liche Variation  bestimmter  Grundbestandteile  hervorgehen 
können.  Indem  die  Konstitutionsformel  diese  Verbindung 
herstellt,  ist  sie  freilich  eben  dadurch  zugleich  der  echte 
wissenschaftliche  Ausdruck  der  empirischen  Realität 
des  Körpers:  denn  diese  besagt  nichts  anderes,  als  die  durch- 
gängige objektive  Verknüpfung,  in  welcher  ein  individuelles 
„Ding"  oder  ein  besonderes  Ereignis  mit  dem  Inbegriff  der 
wirklichen  und  möglichen  Erfahrungen  überhaupt  steht. 
(Vgl.  hierzu  bes.  Kap.  6.) 

Von  besonderer  Wichtigkeit  wird  der  Gedanke  der  Sub- 
stitution, wenn  er  nicht  mehr  allein  auf  einzelne  Atome, 
sondern  auf  ganze  Atomgruppen  angewandt  wird. 
Die  Theorie  der  „zusammengesetzten  Radikale",  die  jetzt 
entsteht,  wird  zur  eigentlichen  Grundlage  der  organischen 
Chemie.  Als  Radikal  wird  hierbei  —  gemäß  der  Definition 
L  i  e  b  i  g  s  —  der  nicht  wechselnde  Bestandteil  in  einer  Reihe 
von  Verbindungen  betrachtet,  sofern  er  sich  in  diesen  ersetzen 

285 


läßt  durch  andere  einfache  Körper,  oder  sofern  sich  in  seinen 
Verbindungen  mit  einem  einfachen  Körper  dieser  letztere  aus- 
scheiden und  durch  Äquivalente  von  anderen  einfachen 
Körpern  vertreten  läßt.  Über  die  Art,  in  welcher  die  Radikale 
in  den  Verbindungen  ,, existieren",  aber  herrscht  anfangs 
Streit.  In  der  „Kerntheorie"  Laurents  wird  das  Ver- 
hältnis zunächst  in  einem  durchaus  realistischen  Sinne  auf- 
gefaßt und  beschrieben.  Die  Kerne  sind  als  solche  in  einer 
Mehrheit  von  Körpern,  die  aus  ihnen  durch  Verbindung  mit 
anderen  Atomen  entstehen,  vorhanden;  sie  präexistieren 
den  komplexeren  Gebilden.  Durch  die  weitere  Fortbildung 
der  Theorie  aber  wird  diese  Anschauung  mehr  und  mehr 
zurückgedrängt.  Indem  insbesondere  Gerhardt  darauf 
hinweist,  daß  es  möglich  ist,  zwei  Radikale  in  einer  Ver- 
bindung anzunehmen,  wird  damit  der  Gedanke  an  die  reale 
Existenz  abgesonderter  Gruppen  zunichte.  Da  die  Formeln 
der  Chemie  nur  bestimmte  Struktur-  und  Reaktionsverhält- 
nisse in  Gleichungen  ausdrücken  sollen,  da  sie  also  nicht  dar- 
stellen sollen,  was  die  Körper  an  und  für  sich  sind,  sondern 
nur  was  sie  waren  oder  werden  können,  so  steht 
—  wie  nunmehr  betont  wird  —  nichts  im  Wege,  mehrere 
rationelle  Formeln  für  ein  und  denselben  Körper  aufzustellen, 
je  nachdem  man  seinen  Zusammenhang  mit  der  einen  oder 
der  anderen  Gruppe  von  Verbindungen  zum  Ausdruck  bringen 
will.  Der  Streit  über  die  Natur  und  die  absolute  Beschaffenheit 
der  Radikale  ist  damit  geschlichtet;  denn  sie  erscheinen  nun- 
mehr nur  noch  als  Ergebnisse  gewisser  ideeller  Zerlegungen, 
die  wir  vornehmen  und  die  je  nach  dem  herrschenden  Ge- 
sichtspunkt der  Vergleichung,  den  wir  zugrunde  legen, 
verschieden  ausfallen  können.  Das  Radikal  besitzt  jetzt 
keine  selbständige  Wirklichkeit  mehr,  sondern  soll  nur,  wie 
Gerhardt  selbst  ausdrücklich  hervorhebt,  „die  Beziehungen 
ausdrücken,  in  denen  sich  Elemente  oder  Atomgruppen 
ersetzen"*.  Wir  stehen  damit  am  Beginn  einer  Auffassung, 
die  allgemein  darauf  verzichtet,  die  Frage  zu  beantworten. 


♦  Gerhardt,  Trait6  de  Chimie  organique ;  zit.  nach  Ladenburg, 
O.,  S.  235.    (Vgl.  S.  194  ff.) 


286 


ob  und  wie  die  Elemente  in  den  Verbindungen,  die  sie  eingehen, 
als  solche  fortexistieren,  um  statt  dessen  lediglich  die  meß- 
baren Relationen,  die  zwischen  dem  Anfangs-  und  Endzustand 
eines  chemischen  Umwandlungsprozesses  bestehen,  zu  ent- 
decken und  gemäß  allgemeinen  Regeln  darzustellen.  Sobald 
aber  diese  Phase  erreicht  ist  ordnet  sich  die  Chemie  dem 
allgemeinen  Grundplan  der  Energetik  ein*,  und  tritt 
damit  aus  dem  Kreise  der  empirisch  beschreibenden  Wissen- 
schaften in  das  Gebiet  der  mathematischen  Natur- 
wissenschaft hinüber. 


Ehe  indessen  diese  Einreihung  der  Chemie  in  ein  all- 
gemeineres wissenschaftliches  Problem  sich  vollzieht,  treten 
schon  innerhalb  ihrer  selbst  bestimmte  Gesichtspunkte  und 
Tendenzen  hervor,  die  auf  diese  Umbildung  der  System- 
form hindeuten.  Die  erste  Phase  der  Bestimmung  der  stoff- 
lichen Mannigfaltigkeit  war  dadurch  gekennzeichnet,  daß  jedes 
Element  durch  den  Wert  seines  Atomgewichts  charakterisiert 
wurde.  Jedem  einfachen  Körper  kommt  nunmehr  —  nach  dem 
Leibniz'schen  Ausdruck  —  eine  bestimmte  ,, charakte- 
ristische Zahl"  zu:  und  diese  Zahl  gilt  implicit  als  dasjenige, 
was  die  gesamte  Fülle  seiner  empirischen  Eigenschaften 
begrifflich  zum  vollkommenen  Ausdruck  bringt.  Diese  Dar- 
stellung der  stofflichen  Mannigfaltigkeit  in  einer  Mannigfaltig- 
keit von  Zahlen  aber  enthält  bereits  den  Hinweis  auf  ein  neues 
Problem.  Wie  es  der  eigentliche  methodische  Vorzug  des 
Zahlgebiets  ist,  daß  jedes  Glied  in  ihm  aus  einer  ursprünglichen 
Anfangssetzung  nach  bestimmten  einheitlichen  Regeln  her- 
geleitet und  konstruktiv  entwickelt  ist,  so  greift  diese 
Forderung  nunmehr  auch  auf  alle  die  physikalischen  und 
chemischen  Bestimmungen  über,  die  als  abhängig  von  be- 
stimmten Zahlwerten  erkannt  sind.  Auch  sie  dürfen  nicht 
länger  als  ein  regelloses  Beisammen  gedacht  werden,  sondern 


*  Über  die  „energetische"  AuffassTing  und  Behandlung  der  Chemie 
s.  bes.  O  s  t  w  a  1  d  ,  Elemente  und  Verbindungen,  Faraday- Vorlesung, 
Leipzig  1904;  sowie  D  u  h  e  m  ,  Le  Mixte,  Kap.  IX  und  X, 

287 


müssen  in  ihrer  Abfolge  und  ihrer  allmählichen  Veränderung 
durch  ein  exaktes  Gesetz  darstellbar  sein. 

Diese  allgemeine  Forderung  findet  ihre  erste  Erfüllung 
in  der  Aufstellung  des  periodischen  Systems  der 
Elemente.  Die  verschiedenen  Eigenschaften  der  einfachen 
Körper,  ihre  Härte  und  Dehnbarkeit,  ihre  Schmelzbarkeit 
und  Flüchtigkeit,  ihre  Leitungsfähigkeit  für  Wärme  und 
Elektrizität  usf.  erscheinen  jetzt  als  periodische  Funktionen 
ihrer  Atomgewichte.  Denkt  man  sich  die  Gesamtheit  der 
Elemente  in  eine  Reihe  geordnet,  so  findet  sich,  daß  beim 
Fortgang  in  dieser  Reihe  die  Eigenschaften  der  einzelnen 
Elemente  sich  von  Glied  zu  Glied  ändern,  daß  aber  nach  dem 
Durchlaufen  einer  bestimmten  Periode  die  gleichen  Eigen- 
schaften wiederkehren.  Der  Ort  jedes  Elements  in  dieser 
systematischen  Grundreihe  ist  es  also,  wovon  sein  physikalisch- 
chemisches „Wesen",  seine  Beschaffenheit  bis  ins  Einzelne 
abhängig  ist.  Einer  der  Hauptbegründer  des  periodischen 
Systems,  Lothar  Meyer,  hat  zugleich  die  neue  prin- 
zipielle Wendung,  die  in  ihm  vorliegt,  klar  bezeichnet. 
Der  „Stoff*  ist  jetzt  aus  dem  Gebiet  der  naturwissenschaft- 
lichen Konstanten  in  das  Gebiet  der  Variablen 
übergegangen.  „Bis  jetzt  wurden  in  der  Physik  als  variable 
Größen,  von  denen  die  Erscheinungen  abhängen,  besonders 
Ort  und  Zeit,  ferner  unter  Umständen  Wärme,  Temperatur, 
Elektrizität  und  einige  andere  Größen  in  die  Rechnung  ein- 
geführt; der  Stoff  erschien,  in  Maß  und  Zahl  ausgedrückt, 
in  den  Gleichungen  nur  als  Masse,  seine  Qualität  machte  sich 
nur  dadurch  geltend,  daß  die  in  den  Differential-  oder  den 
Bedingungsgleichungen  auftretenden  Konstanten  für  jede 
Art  des  Stoffes  einen  anderen  Wert  erhielten.  Diese  von 
der  s  t  o  f  f  1  i  c  h  e  n  N  a  t  u  r  d  e  r  S  u  b  s  t  a  n  z  e  n  ab- 
hängigen Größen  als  Variable  zu  behan- 
deln, war  bisher  nicht  üblich  geworden;  aber  dieser  Fort- 
schritt ist  jetzt  gemacht  worden.  Man  hat  zwar  auch  bisher 
schon  in  den  physikalischen  Erscheinungen  den  Einfluß  der 
stofflichen  Natur  der  Materie  berücksichtigt,  indem  man  die 
physikalischen  Konstanten  für  die  verschiedensten  Sub- 
stanzen bestimmte.     Aber  diese  stoffliche  Natur  blieb  stets 

288 


etwas  Qualitatives;  es  fehlte  die  Möglichkeit,  diese  funda- 
mentale Variable  in  Zahl  und  Maß  ausgedrückt  in  die  Rech- 
nung einzuführen.  Zu  dieser  Einführung  ist  jetzt  ein,  wenn  auch 
noch  sehr  primitiver  Anfang  gemacht  worden,  indem  der 
Nachweis  geführt  wurde,  daß  der  Zahlenwert  des  Atom- 
gewichts die  Variable  ist,  durch  welche  die  substantielle  Natur 
und  die  von  ihr  abhängigen  Eigenschaften  bestimmt  werden*." 
Das  Qualitative  der  einzelnen  Stoffe  wird  mathematisch 
faßbar  und  beherrschbar,  indem  ein  Gesichtspunkt  entdeckt 
wird,  nach  welchem  es  sich  in  Reihen  von  bestimmtem  Fort- 
schreitungsgesetz  ordnet.  Die  Bedeutung  dieses  Gesichts- 
punkts tritt  vor  allem  darin  hervor,  daß  nunmehr  Glieder  der 
Mannigfaltigkeit, .  die  empirisch  bisher  nicht  bekannt  waren, 
auf  Grund  des  allgemeinen  systematischen  Prinzips  ge- 
fordert und  vorausgesagt  werden  können  und  daß  die 
fortschreitende  Erfahrung  diese  Forderung  bestätigt.  — 

Das  deduktive  Moment,  das  damit  in  die  Chemie 
eintritt,  läßt  sich  am  deutlichsten  in  seiner  Eigenart  erfassen, 
wenn  man  es  mit  dem  Ideal  der  Deduktion  vergleicht,  wie  es 
einerseits  in  der  spekulativ-metaphysischen  Naturbetrachtung, 
andererseits  in  der  mathematischen  Physik  ausgeprägt  ist.  In 
der  Geschichte  der  Philosophie  ist  es  gerade  das  Stoff- 
p  r  0  b  1  e  m  ,  dem,  abgesehen  von  seiner  naturphilosophischen 
Seite,  wiederholt  eine  wichtige  erkenntnistheoretische  Rolle 
zufiel.  So  entwickelt  etwa  Locke  am  Beispiel  der  chemischen 
Erkenntnis  der  Grundstoffe  und  ihrer  Eigenschaften  seine 
gesamte  Auffassung  von  den  Aufgaben  wie  von  den  Grenzen 
der  naturwissenschaftlichen  Forschung.  Wahrhaftes  Wissen 
gilt  ihm  nur  dort  als  erreichbar,  wo  es  möglich  ist,  allgemein- 
gültige Einsichten  in  notwendigeVerknüpfungen 
zu  gewinnen.  Nur  dort,  wo  alle  Eigenschaften  des  Gegen- 
standes aus  seiner  ursprünglichen  Natur  vollkommen  ver- 
ständlich und  gewiß  sind,  wo  es  also  möglich  ist,  aus  der 
Bekanntschaft  mit  dem  Gegenstand  alle  seine  Beschaffen- 
heiten unmittelbar  zu  erschließen  und  a  priori  zu  bestimmen, 
kann   von   eigentlicher   Erkenntnis,    im   strengen    Sinne   des 


*  L  o  t  h  a  r  M  e  y  e  r  ,  a.  a.  O.,  S.  176. 
Cassirer  Substanzbegriff  19  289 


Wortes,  geredet  werden.  Dieser  Forderung  aber,  die  in  all 
unsern  „intuitiven"  Urteilen  über  mathematische  Verhältnisse 
erfüllt  ist,  versagt  sich  unser  naturwissenschaftliches  Wissen. 
Hier,  wo  wir  es  lediglich  mit  der  Sammlung  und  Beschreibung 
verschiedener  Wahrnehmungstatsachen  zu  tun  haben,  bleibt  es 
auf  immer  unmöglich,  jene  Abhängigkeit  der  Einzel- 
glieder voneinander  herzustellen,  durch  die  sie  allein  zu  einem 
rational  verbundenen  und  begriffenen  Ganzen  werden  könnten. 
So  viele  Eigenschaften  irgend  einer  Substanz  man  auch  durch 
Beobachtung  und  Versuch  entdecken  mag,  so  ist  doch  damit 
die  Frage  nach  ihrem  inneren  Zusammenhang  um  keinen 
Schritt  weitergeführt.  Wenn  wir  noch  so  viele  Merkmale 
des  Goldes,  seine  Dehnbarkeit,  seine  Härte,  seine  Feuer- 
beständigkeit usf.  zusammenstellen,  so  können  wir  doch  von 
ihnen  aus  keine  einzige  neue  Bestimmung  entdecken, 
so  können  wir  niemals  die  Form  der  Verknüpfung  ver- 
stehen, kraft  deren  bestimmten  Merkmalen  der  einen 
Art  stets  bestimmte  andere  einer  anderen  Art  entsprechen. 
Eine  derartige  Einsicht,  die  unsere  Kenntnis  der  Natur  erst 
zu  echter  Wissenschaft,  wie  sie  in  der  Mathematik  vorliegt, 
erheben  würde,  wäre  nur  dann  möglich,  wenn  wir,  statt 
lediglich  Beobachtungen  über  das  empirische  Beisammen 
oder  die  empirische  Unverträglichkeit  von  Merkmalen  zu 
sammeln,  das  Problem  „am  andern  Ende"  anfassen  könnten; 
wenn  wir  von  irgendeiner  Wesensbestimmung  des  Goldes  aus- 
gehen könnten,  um  aus  ihr  die  Gesamtheit  der  sekundären 
Eigenschaften  deduktiv  abzuleiten*.  Die  moderne  Wissen- 
schaft hat  das  Ideal,  das  Locke  hier  entwirft,  zum  Teil  erfüllt; 
aber  sie  mußte  freilich  zuvor  diesem  Ideal  selbst  einen  neuen 
Sinn  verleihen.  Sie  stimmt  mit  Locke  darin  überein,  daß  die 
Ableitung  der  Einzelmerkmale  eines  Stoffes  aus  seiner  „sub- 
stantiellen Wesenheit"  die  Aufgabe  des  exakten  und  empiri- 
schen Wissens  übersteigt;  aber  sie  verzichtet  darum  nicht 
auf  jeden  begrifflichen  Zusammenhang  der 
empirischen  Daten  selbst.  Sie  faßt  die  Vielheit 
der  Elemente  in  eine   Grundreihe  zusammen,  deren   Glieder 


*  Locke,  Essay  on  human  understanding,  Buch  IV,  Kap.  6. 
290 


tSI 


nach  einem  bestimmten  Prinzip  aufeinanderfolgen  und  be- 
stimmt sodann  die  einzelnen  Eigenschaften  der  Körper  als 
Funktionen  ihrer  Stellung  in  dieser  Reihe.  Wie  aus  der  an- 
genommenen Grundeigenschaft  die  weiteren  Merkmale  folgen, 
wie  aus  einem  bestimmten  Atomgewicht  sich  eine  bestimmte 
Dehnbarkeit  und  Härte,  Schmelzbarkeit  und  Flüchtigkeit  er- 
gibt, das  bleibt  freilich  auch  hier  unbeantwortet;  nichts- 
destoweniger aber  wird  das  Faktum  dieser  Abhängigkeit  selbst 
zu  dem  Versuch  benutzt,  auf  Grund  bestimmter  allgemeiner 
Daten  gewisse  spezielle  Beschaffenheiten  zu  berechnen 
und  vorherzusagen.  Die  funktionale  Verknüpfung,  die  hier 
geschaffen  wird,  enthält  daher  freilich  weniger,  als  die  meta- 
physische Einsicht  aus  den  letzten  Wesensgründen,  aber  sie 
bietet  zugleich  mehr  als  eine  bloß  empirische  Zusammen- 
stellung unverbundener  Einzelheiten.  Die  Ordnung  der 
Elemente,  die  nunmehr  entsteht,  bietet  wenigstens  ein  A  n  a  - 
logon  der  Mathematik,,  also  ein  Analogon  der 
exakten  und  ,, intuitiven"  Erkenntnis.  In  das  absolute  Sein 
der  Körper  dringen  wir  dadurch  freilich  nicht  tiefer  ein; 
aber  wir  erfassen  jetzt  schärfer  die  Regeln  ihres  systematischen 
Zusammenhangs.  (Vgl.  oben,  S.  276  ff.)  Zugleich  aber  führt 
diese  Lösung  alsbald  zu  einer  neuen  Frage.  Es  entsteht  das 
Problem,  die  Atomgewichte,  die  zunächst  nur  als  diskrete 
Werte  eingeführt  waren,  durch  stetige  Abwandlung  aus- 
einander hervorgehen  zu  lassen  und  das  Gesetz  zu  bestimmen, 
nach  welchem  bei  einer  derartigen  Variation  die  abhängigen 
Eigenschaften  sich  ändern  müßten.  Denken  wir  uns  diese 
Aufgabe  gelöst,  so  wären  wir  damit  logisch  in  eine  andere 
Form  der  Begriffsbildung  eingetreten:  statt  einer  Anzahl  von 
Regeln  über  das  Zusammenbestehen  von  Eigenschaften  be- 
säßen wir  nunmehr  ein  einheitliches,  mathematisch  dar- 
stellbares Gesetz  der  kausalen  Abhängigkeit  zwischen  den 
Änderungen  verschiedenartiger  Größen.  Die  Atomgewichte, 
in  denen  wir  die  Eigenart  und  die  Besonderheit  der  Elemente 
ausdrücken,  ständen  jetzt  nicht  mehr  als  gegebene  starre 
Einzelwerte  nebeneinander,  sondern  ließen  sich  in  ihrer  Ent- 
stehung auseinander  verfolgen.  Der  chemische  Begriff  wäre 
damit  in  den  physikalischen  Begriff  übergegangen.  Die  neueste 

19*  291 


Phase  der  Naturwissenschaft,  die  aus  der  Betrachtung  der 
Erscheinungen  der  Radioaktivität  hervorgegangen  ist,  scheint 
diese  Wendung  bereits  unmittelbar  zu  bezeugen:  denn  für  sie, 
die  eine  stetige  Umwandlung  der  Elemente  ineinander  annimmt, 
ist  der  einzelne  Stoff  in  all  seiner  sinnlichen  Abgeschlossen- 
heit dennoch  nur  der  Durchgangspunkt  in  einem  bestimmten 
dynamischen  Prozeß.  Indem  das  chemische  Atom  sich  in 
ein  System  von  Elektronen  auflöst,  verliert  es  damit  die  ab- 
solute Festigkeit  und  Unveränderlichkeit,  die  ihm  bisher  zu- 
gesprochen wurde  und  erscheint  als  ein  bloß  relativer  Ruhe- 
punkt —  als  ein  Einschnitt,  den  der  Gedanke  im  stetigen  Fluß 
des  Geschehens  setzt.  Wie  immer  man  über  das  positive 
Recht  derartiger  Annahmen  urteilen  mag:  in  jedem  Falle 
zeigen  sie  in  charakteristischer  Deutlichkeit  den  Weg,  auf 
dem  der  wissenschaftliche  Begriff  fortschreitet.  Die  chemische 
Forschung  beginnt  damit,  eine  Mehrheit  tatsächlicher  Beobach- 
tungen, die  zunächst  noch  unverbunden  nebeneinander  stehen, 
in  festen  Zahl-  und  Maßbestimmungen  zu  fixieren.  Aber  diese 
durch  die  Beobachtung  gewonnenen  Zahlwerte  ordnen  sich 
alsbald  zu  Reihen,  die  nach  einer  Regel  fortschreiten  und 
in  denen  daher  die  folgenden  Glieder  aus  den  vorangehenden 
bestimmbar  sind.  Indem  aber  auf  diese  Weise  die  empirischen 
Mannigfaltigkeiten  sich  in  rationale  umgestalten,  entsteht 
dadurch  zugleich  die  Aufgabe,  die  Gesetzlichkeit  der  Struk- 
turverhältnisse auf  ein  tiefer  liegendes  kausales 
Gesetz  des  Geschehens  zurückzuführen  und  in  ihm 
erschöpfend  zu  begründen.  In  dieser  fortschreitenden  Be- 
wältigung des  empirischen  Materials  tritt  zugleich  die  Eigenart 
des  logischen  Prozesses  hervor,  kraft  dessen  der  Begriff,  indem 
er  den  Tatsachen  gehorcht,  zugleich  die  intellektuelle  Herr- 
schaft über  die  Tatsachen  gewinnt. 

IX. 

Das  eigentlich  methodische  Interesse  der  chemi- 
schen Begriffsbildung  liegt  darin,  daß  in  ihr  das  Verhältnis 
desAllgemeinen  zumBesonderen  in  eine  neue 
Beleuchtung  gerückt  wird.  Die  Betrachtung  der  physika- 
lischen Begriffe  und  Methoden  läßt  zunächst  nur    eine 

292 


Seite  dieses  fundamentalen  Verhältnisses  klar  hervortreten. 
Das  Ziel  der  theoretischen  Physik  sind  und  bleiben  die  all- 
gemeinen Gesetze  des  Geschehens.  Die  besonderen  Fälle 
wollen,  sofern  sie  in  den  Kreis  der  Betrachtung  gezogen  werden, 
nur  als  Paradigmen  gelten,  an  denen  diese  Gesetze  darzustellen 
und  zu  erläutern  sind.  Je  weiter  indessen  diese  wissenschaft- 
liche Aufgabe  verfolgt  wird,  um  so  schärfer  wird  nunmehr  die 
Trennung,  die  zwischen  dem  System  unserer  Begriffe 
und  dem  System  des  Wirklichen  entsteht.  Denn  alle 
,, Wirklichkeit"  bietet  sich  uns  in  individueller  Gestalt  und 
Formung  und  somit  in  einer  unübersehbaren  Mannigfaltigkeit 
von  Einzelzügen  dar,  während  alles  Begreifen,  gemäß 
seiner  Grundfunktion  eben  in  der  Abwendung  von  dieser 
konkreten  Totalität  der  Einzelzüge  besteht.  Wiederum  tritt 
unverhüllt  jene  Antinomie  hervor,  die  bereits  im  Natursystem 
des  Aristoteles  ihren  ersten  bezeichnenden  Ausdruck  ge- 
funden hat.  Alles  Wissen  will  Wissen  vom  Allgemeinen  sein 
und  vollendet  sich  erst  in  diesem  Ziele,  während  das  wahrhafte 
und  ursprüngliche  Sein  nicht  dem  Allgemeinen,  sondern  den 
individuellen  Substanzen  in  der  dynamischen  Stufenfolge 
ihrer  Verwirklichung  zukommt.  Die  geschichtlichen  Kämpfe, 
die  während  des  Mittelalters  und  bis  weit  in  die  neuere  Zeit 
hin  um  das  Aristotelische  System  geführt  werden,  erklären 
sich  größtenteils  aus  diesem  Gesichtspunkt:  der  Widerstreit 
des  ,, Nominalismus"  und  „Realismus"  stellt  nur  eine  Weiter- 
bildung des  Problems  dar,  das  bereits  in  den  ersten  Anfängen 
der  Aristotelischen  Metaphysik  und  Erkenntnislehre  latent  ist. 
In  der  Philosophie  der  Gegenwart  hat  der  Gegensatz, 
der  hier  zugrunde  liegt,  seine  schärfste  Ausprägung  in 
Rickerts  Theorie  der  naturwissenschaftlichen  Begriffs- 
bildung gefunden.  Die  Richtung  des  Denkens  auf  den  „Be- 
griff" hin  und  die  Richtung  auf  das  Wirkliche  schließen  hier 
wechselweise  einander  aus.  Denn  in  dem  Maße,  als  der  Begriff 
seine  Aufgabe  fortschreitend  erfüllt,  weicht  das  Gebiet  der 
anschaulichen  Einzeltatsachen  mehr  und  mehr  zurück.  Die 
Vereinfachung,  die  er  gegenüber  der  intensiven 
und  extensiven  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  vornimmt,  be- 
deutet  zugleich  eine  ständige  Verarmung    ihres  Wirk- 

293 


lichkeitsgehalts.  Das  Endziel,  dem  die  Körperwissenschaften 
ebenso  wie  alle  anderen  Naturwissenschaften  zustreben, 
besteht  in  einer  Entfernung  der  empirischen  Anschauung 
aus  dem  Inhalt  ihrer  Begriffe.  Die  Wissenschaft  schließt 
somit  nicht  die  Kluft  zwischen  den  „Gedanken"  und  den 
„Tatsachen",  sondern  sie  selbst  ist  es,  die  diese  Kluft  erst 
schafft  und  die  sie  ständig  erweitert.  „Welches  auch  immer 
der  Inhalt  der  Begriffe  sein  mag,  zur  empirischen  Welt  des 

Anschaulichen  steht  er  im  entschiedensten   Gegensatz 

Das  Individuelle  im  strengen  Sinne  verschwindet  bereits  durch 
die  primitivste  Begriffsbildung,  und  schließlich  kommt  die 
Naturwissenschaft  darauf  hinaus,  daß  alle  Wirklichkeit  im 
Grunde  genommen  immer  und  überall  dieselbe  ist,  also  gar 

nichts  Individuelles  mehr  enthält Dies  aber  ist  durchaus 

nicht  der  Fall,  und  sobald  wir  nur  daran  denken,  daß  jedes 
Stück  der  Wirklichkeit  sich  in  seiner  anschaulichen  Gestaltung 
von  jedem  andern  unterscheidet,  und  daß  ferner  das  Einzelne, 
Anschauliche  und  Individuelle  die  einzige  Wirklichkeit  bildet, 
die  wir  kennen,  so  muß  uns  auch  die  Tragweite  der  Tatsache, 
daß  alle  Begriffsbildung  die  Individualität  der  Wirklichkeit 
vernichtet,  zum  Bewußtsein  kommen.  Wenn  nämlich  nichts 
Individuelles  und  Anschauliches  in  den  Inhalt  der  natur- 
wissenschaftlichen Begriffe  eingeht, '  so  folgt  daraus,  daß 
nichts  Wirkliches  in  sie  eingeht.  Die  Kluft  zwischen  den 
Begriffen  und  den  Individuen,  die  durch  die  Naturwissenschaft 
hervorgebracht  werden  muß,  ist  also  eine  Kluft  zwischen  den 
Begriffen  und  der  Wirklichkeit  überhaupt*." 

Besteht  indessen  diese  logische  Folgerung  zu  Recht:  so  ist 
die  wissenschaftliche  Forschung  selbst  über  das  Ziel,  dem  sie 
zustrebt,  bisher  in  einer  seltsamen  Selbsttäuschung  befangen 
gewesen.  Denn  alle  die  großen  exakten  und  empirischen 
Forscher  glaubten  und  glauben  noch,  daß  die  Aufgabe  ihrer 
Wissenschaft  darin  besteht,  das  Wirkliche  selbst  mehr  und 
mehr  mit  der  Erkenntnis  zu  durchdringen  und  zu  immer 
bestimmterer    Anschauung    zu    erheben.       An    Stelle 


•  Rickert,    Die   Grenzen   der   naturwissenschaftlichen   Begriffs- 
bildung,  Tübingen  und  Leipzig  1902,  S.  235  ff. 

294 


einer  zufälligen  und  fragmentarischen  Betrachtung  der  Dinge, 
die  sich  für  jeden  individuellen  Beobachter  anders  darstellt, 
sollte  ein  vollständiger  Überblick  über  sie,  an  Stelle  des  eng- 
begrenzten naiven  Weltbildes  eine  umfassende  Einsicht  ge- 
wonnen werden,  die  uns  die  feineren  Strukturverhältnisse  des 
Wirklichen  erst  erschließt  und  sie  bis  ins  einzelne  verfolgen 
läßt.  Wie  aber  ließe  sich  dieser  Forderung  genügen,  wenn 
das  logische  Instrument,  dessen  die  Forschung  sich  bedient, 
wenn  der  naturwissenschaftliche  Begriff  ihr  unmittelbar 
widerstreitet?  Was  unseren  Blick  für  die  Einzelheiten 
der  empirischen  Anschauung  schärfen  sollte,  das  stumpft 
ihn,  wie  wir  jetzt  erkennen  müssen,  vielmehr  ab;  was  unsere 
Kenntnis  der  Tatsachen  zu  befestigen  und  zu  erweitern  schien, 
das  entfernt  uns  vielmehr  immer  weiter  von  dem  eigentlichen 
Kern  des  ,, Tatsächlichen"  selbst.  Das  begriffliche  Verständnis 
der  Wirklichkeit  kommt  der  Vernichtung  ihres  charakte- 
ristischen Grundgehalts  gleich.  So  eigentümlich  dieses  Ergeb- 
nis indessen  berühren  mag:  so  zwingend  folgt  es  in  der 
Tat  aus  den  Prämissen,  die  Rickerts  Theorie  zugrunde  legt. 
Ist  der  Begriff,  gemäß  der  herrschenden  logischen  Lehre  nichts 
anderes  als  eine  „Vorstellung  vom  Gemeinsamen",  so  ist 
und  bleibt  er  unfähig,  das  Besondere  als  Besonderes  zu 
erfassen.  Seine  Funktion  ist  alsdann  nicht  wesentlich  von 
der  des  Wortes  verschieden,  mit  der  sie  denn  auch  von 
Rickert,  der  hierin  S  i  g  w  a  r  t  folgt,  zunächst  völlig  auf 
eine  Stufe  gestellt  wird.  Alles  Vorgestellte  wird  —  wie  Sigwart 
ausführt  —  entweder  als  einzeln  existierend  oder  aber  abgesehen 
von  den  Bedingungen  seiner  Einzelexistenz  vorgestellt  und 
heißt  alsdann  insofern  allgemein,  als  das  Vorgestellte, 
wie  es  rein  innerlich  gegenwärtig  ist,  in  einer  beliebigen  Menge 
von  einzelnen  Dingen  oder  Fällen  existierend  gedacht  werden 
kann.  Der  Ausdruck  für  diesen  innerlich  gegenwärtigen 
Gehalt  des  Vorgestellten  ist  d  a  s  W  o  r  t  als  solches.  Wie 
nun  etwa  dem  Wort  ,, Vogel"  kein  völlig  bestimmter  anschau- 
licher Gehalt  entspricht,  vielmehr  darin  nur  gewisse  unsichere 
Umrisse  der  Gestalt  zugleich  mit  der  vagen  Vorstellung 
der  Flugbewegung  festgehalten  sind,  so  daß  ein  Kind  auch 
den  fliegenden  Käfer  oder  Schmetterling  als  Vogel  bezeichnen 

295 


kann:  so  gilt  das  gleiche  ursprünglich  für  alle  unsere  All- 
gemeinvorstellungen. Auch  sie  sind  nur  möglich,  weil  wir 
neben  den  konkreten  und  in  sich  vollendeten  Sinneswahr- 
nehmungen auch  über  unvollständigere  und  weniger  genaue 
Bewußtseinsinhalte  verfügen.  Die  Unsicherheit  der  Erinne- 
rungsbilder, die  wir  von  unseren  tatsächlichen  Empfindungen 
zurückbehalten,  bringt  es  mit  sich,  daß  sich  im  wirklichen 
Prozeß  des  Bewußtseins  neben  den  lebendigen  und  unmittelbar 
gegenwärtigen  sinnlichen  Anschauungen  stets  abgeblaßte 
Reste  von  ihnen  finden,  die  nur  den  einen  oder  anderen  Zug 
von  ihnen  aufbewahrt  haben:  und  diese  letzteren  sind  es, 
die  das  eigentliche  psychologische  Material  zum  Aufbau 
der  begrifflichen  Allgemeinvorstellungen  enthalten.  Die 
Fähigkeit  einer  Vorstellung,  auf  nicht  bloß  räumlich  und 
zeitlich,  sondern  inhaltlich  Verschiedenes  angewendet  zu 
werden,  ist  zunächst  mit  ihrer  Unbestimmtheit  ge- 
geben: ,,je  unbestimmter,  desto  leichter  die  Anwendung". 
Der  scheinbare  Reichtum  der  Begriffsfunktion,  die  immer 
neue  und  immer  entlegenere  Elemente  in  den  Kreis  der  Ver- 
gleichung  hineinzuziehen  vermag,  beruht  also  vielmehr  auf 
der  Armut  des  psychologischen  Substrats,  an  welches  sie 
anknüpft.  Auch  der  wissenschaftliche  Begriff  entsteht  auf 
dem  gleichen  Wege  und  unter  den  gleichen  Bedingungen. 
Sein  Unterschied  von  den  naiven  Begriffen  der  Sprache 
und  der  populären  Weltansicht  besteht  nur  darin,  daß  das 
Verfahren,  das  dort  unbewußt  wirksam  ist,  hier  mit  kritischem 
Bewußtsein  geübt  wird.  Wenn  die  Wege  der  natürlichen, 
sich  selbst  überlassenen  Abstraktion  sich  vielfältig  ver- 
schlingen und  kreuzen,  wenn  somit  hier  niemals  zu  einem 
völlig  festen  und  eindeutigen  Ergebnis  zu  gelangen  ist, 
so  besteht  die  Leistung  der  Wissenschaft  darin,  diese  Viel- 
deutigkeit aufzuheben,  indem  sie  für  die  Auswahl  des  Wahr- 
nehmungsmaterials bestimmte  Vorschriften  aufstellt,  die  sie 
in  allgemeingültigen  Definitionen  fixiert.  Die  verschiedenen 
Abstraktionsgebilde  erhalten  damit  gegeneinander  eine  sichere 
Abgrenzung,  indem  jedes  von  ihnen  einen  einzigen  Kreis 
von  Merkmalen  umfaßt:  und  diese  Konstanz  und  allseitige 
Unterscheidung    eines    mit    einem    bestimmten    Worte    be- 

296 


zeichneten  Vorstellungsgehalts  ist  es,  was  das  Wesen  des  Be- 
griffs ausmacht*.  Die  Entfernung  von  der  lebendigen  An- 
schauung der  Einzeltatsachen  aber  ist  jetzt  noch  größer 
geworden  als  zuvor.  Denn  bei  den  Wortbedeutungen  steht 
die  konkrete  Vorstellung  der  Inhalte,  die  sie  bezeichnen  sollen, 
doch  immer  noch  im  Hintergrund  des  Bewußtseins,  wenn- 
gleich sie  sich  nicht  zu  ausdrücklicher  Klarheit  zu  erheben 
braucht,  während  der  wissenschaftliche  Begriff,  je  reiner 
er  sich  gestaltet,  sich  um  so  mehr  von  diesem  letzten 
Rest  der  Anschauung  befreit.  Er  wird  dadurch  zu  einem 
völlig  übersehbaren  und  für  unser  Denken  beherrschbaren 
Ganzen,  aber  er  muß  freilich  andererseits  darauf  verzichten, 
die  Wirklichkeit,  die  stets  nur  in  individueller  Form  vor- 
handen und  erfaßbar  ist,  zu  ergreifen  und  wiederzugeben.  — 
Was  in  dieser  Deduktion  zunächst  auffällt,  ist  der  Um- 
stand, daß  sie  den  naturwissenschaftlichen  Begriff,  den  sie 
kritisiert,  zuvor  von  dem  Zusammenhang  loslöst,  in 
welchem  er  logisch  entsteht  und  aus  dem  er  fortdauernd 
seine  eigentliche  Kraft  schöpft.  Die  exakten  naturwissen- 
schaftlichen Begriffe  setzen  nur  einen  gedanklichen  Prozeß 
fort,  der  bereits  innerhalb  der  reinen  mathematischen 
Erkenntnis  wirksam  ist.  Die  Kritik  der  populären  Wort- 
bedeutungen trifft  daher  diese  Begriffe  nicht,  da  sie 
von  Anfang  an  auf  einem  anderen  Boden  stehen  und  in  völlig 
anderen  Voraussetzungen  wurzeln.  Die  theoretischen  Begriffe 
der  Naturwissenschaft  sind  keineswegs  bloß  gereinigte  und 
idealisierte  Wortbedeutungen;  denn  ihnen  allen  haftet  ein 
Moment  an,  das  demWort  als  solchem  völlig  fremd  ist.  Sie  ent- 
halten, wie  sich  gezeigt  hat,  durchgehend  den  Hinweis  auf 
ein  exaktes  Reihenprinzip,  das  uns  anweist,  das 
Mannigfaltige  der  Anschauung  in  bestimmter  Weise  zu  ver- 
knüpfen und  gemäß  einem  vorgeschriebenen  Gesetz  zu  durch- 
laufen. Für  den  „Begriff"  in  diesem  Sinne  aber  besteht  die 
Antinomie  nicht,  auf  die  Rickert  seine  Beweisführung  stützt. 
Hier  kann  keine  unüberbrückbare  Kluft  zwischen  dem  „AU- 


*  S.  hierzu  S  i  g  w  a  r  t ,  Logik^  I,  45  ff.,  I,  325  u.  s. ;  vgl.  Rickert, 
a.  a.  O.,  S.  32  ff.,  47  ff.    (S.  auch  Kap.  I.) 

297 


gemeinen"  und  dem  „Besonderen"  entstehen,  da  das  All- 
gemeine selbst  keine  andere  Bedeutung  und  keine  andere 
Funktion  hat,  als  eben  den  Zusammenhang  und 
die  Ordnung  des  Besonderen  selbst  zu  er- 
möglichen und  zur  Darstellung  zu  bringen.  Denkt  man  das 
Besondere  als  Reihenglied,  das  Allgemeine  als  R  e  i  h  e  n- 
p  r  i  n  z  i  p  ,  so  ist  alsbald  deutlich,  daß  beide  Momente, 
ohne  ineinander  überzugchen  und  sich  inhaltlich  irgendwie 
miteinander  zu  vermischen,  doch  in  ihrer  Leistung  durch- 
gehend aufeinander  angewiesen  sind.  Es  ist  nicht  einzusehen, 
daß  irgend  ein  konkreter  Inhalt  seiner  Besonderheit  und  An- 
schaulichkeit verlustig  gehen  müßte,  sobald  er  mit  anderen 
gleichartigen  Inhalten  in  verschiedene  Reihen-Zusammen- 
hänge gestellt  und  insofern  ,, begrifflich"  gefaßt  und  geformt 
wird.  Das  Gegenteil  ist  vielmehr  der  Fall:  je  weiter  diese 
Formung  fortschreitet  und  je  mehr  Beziehungskreise  es  sind, 
in  die  das  Besondere  eintritt,  um  so  schärfer  hebt  sich  auch 
seine  Eigenart  ab.  Jeder  neue  Gesichtspunkt  der 
Relation  —  und  der  Begriff  ist  nicht  mehr  als  ein  solcher 
Gesichtspunkt  —  läßt  zugleich  an  ihm  eine  neue  Seite,  eine 
neue  spezifische  Beschaffenheit  hervortreten.  Hier  trifft 
somit  die  Logik  mit  der  Auffassung  der  konkreten  Wissenschaft 
selbst  wiederum  zusammen.  Jeder  echte  naturwissenschaft- 
liche Begriff  beweist  in  der  Tat  seine  Fruchtbarkeit  eben 
darin,  daß  er  einen  Weg  zu  neuen,  bisher  nicht  bekannten 
Gebieten  von  ,, Tatsachen"  weist.  Er  wendet  sich  nicht 
von  dem  besonderen  Material  der  Anschauung  ab,  um  es  zu- 
letzt gänzlich  aus  den  Augen  zu  verlieren,  sondern  er  bezeichnet 
stets  eine  Richtung,  die  uns,  weiter  verfolgt,  immer  neue 
Besonderheiten  im  Mannigfaltigen  der  Anschauung  kennen 
lehrt.  So  ist  etwa  der  chemische  „Begriff"  eines  bestimmten 
Körpers  durch  seine  Konstitutionsformel  gegeben, 
in  der  er  als  besonderer  Stoff  in  seiner  eigentümlichen  Struktur 
aufgefaßt,  zugleich  aber  den  verschiedenen  chemischen 
,, Typen"  eingeordnet  und  damit  in  ein  bestimmtes  Ver- 
hältnis zu  der  Gesamtheit  der  übrigen  Körper  gerückt  wird. 
Die  gewöhnliche  chemische  Formel,  die  nur  im  allgemeinen 
seine  Zusammensetzung,  nicht  aber  die  Art  des  Aufbaus  der 

298 


einzelnen  Elemente  wiedergibt,  wird  hier  durch  eine  Fülle 
neuer  Beziehungen  bereichert.  Die  allgemeine  Regel,  die  wir 
jetzt  besitzen,  gestattet  zugleich  zu  verfolgen,  in  welcher  Weise 
und  nach  welchem  Gesetz  der  gegebene  Stoff  in  andere  über- 
geht: sie  schließt  nicht  nur  die  Form  seines  Daseins  in  einem 
bestimmten  Moment,  sondern  die  Allheit  seiner  möglichen 
räumlich-zeitlichen  Phasen  in  sich.  Je  weiter  die  chemische 
Begriffsbildung  fortgeht,  um  so  schärfer  prägt  sich  somit  die 
Fähigkeit  der  Unterscheidung  des  Besonderen  aus. 
Stoffe,  die  vom  Standpunkt  des  unentwickelten  Begriffs 
als  gleichartig  —  weil  als  , .isomer"  —  zu  bezeichnen  waren, 
treten  vom  Standpunkt  des  entwickelten  Begriffs  deutlich 
auseinander  und  grenzen  sich  bestimmt  in  ihrer  Eigentümlich- 
keit ab.  So  treffen  wir  hier  nirgends  auf  jene  vage  „All- 
gemeinheit", die  den  populären  Wortbedeutungen  anhaftet. 
Das  besondere  Reihenglied,  dessen  Stellung  im  Ganzen  des 
Systems  bestimmt  werden  soll,  kann  als  solches  durchaus  er- 
halten bleiben;  —  zugleich  aber  besitzt  die  Relation,  kraft  deren 
es  mit  anderen  zu  einer  Gesamtgruppe  zusammengefaßt  wird, 
eine  scharf  ausgeprägte  Bedeutung,  in  welcher  sie  sich 
von  anderen  Beziehungsformen  unterscheidet.  Nur  die 
Allgemeinheit  des  verschwommenen  Gattungsbildes 
bedroht  das  Einzelne  in  seiner  Eigenart,  während  die  All- 
gemeinheit des  bestimmten  Relationsgesetzes  diese  Eigen- 
art festigt  und  allseitig  kenntlich  macht.  — 

Die  Kritik  R  i  c  k  e  r  t  s  trifft  somit  zuletzt  nur  eine 
Form  der  Begriffsbildung,  die  er  selbst  als  ungenügend  erkennt 
und  zurückweist.  Sie  steht  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
,,Subsumtionstheorie"*,  die  doch  andererseits  für  die  positive 
Begründung  der  exakten  Begriffe  abgelehnt  wird. 
Erkennt  man  mit  Rickert  an,  daß  alle  Dingbegriffe 
der  Naturwissenschaft  die  Tendenz  in  sich  tragen,  sich  mehr 
und  mehr  in  reine  Beziehungsbegriffe  umzu- 
gestalten, so  ist  damit  zugleich  implicit  zugestanden,  daß  der 
eigentliche  logische  Wert  der  Begriffe  nicht  an  der  Form  der 

*  Vgl.  hierzu  die  treffenden  kritischen  Bemerkungen  von  M. Frisch- 
eisen-Köhler, Die  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffs- 
büdung,  Arch.  f.  System.  Phüosophie  XII  (1906),  S.  225  ff. 

299 


abstrakten  „Allgemeinheit"  haftet.  „Ein  wertvolles  Glied 
in  den  auf  die  Erkenntnis  des  Ganzen  der  Körperwelt  ge- 
richteten Bestrebungen,"  so  heißt  es  bei  Rickert  selbst,  „kann 
eine  Wissenschaft  nur  sein,  wenn  sie  schon  in  den  ersten  An- 
sätzen zu  den  Bildungen  ihrer  Begriffe  das  endgültige  Ziel 
aller  Naturwissenschaft  im  Auge  hat,  die  Einsicht  in  die 
naturgesetzliche  Notwendigkeit  der  Dinge.  Hat  sie  aber  dieses 
Ziel  im  Auge,  dann  wird  sie  überall  die  rein  klassifikatorische 
Begriffsbildung  sobald  wie  möglich  zu  verlassen  streben, 
d.  h.  sie  wird  sich  niemals  bei  Begriffen  begnügen,  die  bloße 
Merkmalskomplexe  sind,  sondern  es  wird  jede  Zusammen- 
fassung von  irgend  welchen  Elementen  zu  einem  Begriff 
immer  unter  der  Voraussetzung  geschehen,  daß  die  zusammen- 
gefaßten Elemente  entweder  direkt  in  einem  naturgesetzlich 
notwendigen,  d.  h.  unbedingt  allgemeingültigen  Zusammen- 
hange stehen,  oder  in  ihrer  Zusammenstellung  wenigstens 
Vorstufen  zu  solchen  Begriffen  abgeben,  in  denen  ein  natur- 
gesetzlich notwendiger  Zusammenhang  zum  Ausdruck  kommt. 
Gewiß  bildet  die  Beziehung  der  Welt  der  Bedeutungen  auf  die 
Welt  der  Anschauungen  unser  Erkennen,  wenigstens  soweit 
es  sich  um  ein  Erkennen  im  Sinne  der  Naturwissenschaften 
handelt,  aber  gerade  darum  können  die  Bedeutungen  nicht 
Vorstellungen,  sondern  müssen  ihrem  logischen  Wert  nach 
Urteile  sein,  die  Gesetze  entweder  enthalten  oder  vorbereiten*." 
Gegenüber  diesen  klaren  Ausführungen  läßt  sich  der  kritische 
Punkt  in  Rickerts  Theorie  alsbald  bezeichnen:  der  Schwer- 
punkt der  Betrachtung  wird  hier  fälschlich  von  der  Not- 
wendigkeit der  begrifflichen  ,, Bedeutungen"  in  die  Allgemein- 
heit der  Gattungsvorstellungen  verschoben.  Nur  von  ,, Vor- 
stellungen" kann  gesagt  werden,  daß  sie,  je  allgemeiner  sie 
werden,  um  so  mehr  an  anschaulicher  Schärfe  und  Klarheit 
einbüßen,  bis  sie  schließlich  zu  bloßen  Schemen  ohne  eigent- 
lichen Wirklichkeitsgehalt  verkümmern.  Urteile  dagegen 
bestimmen  das  Einzelne  um  so  genauer,  in  einen  je  weiteren 
Umkreis  der  Vergleichung  und  Zuordnung  sie  es  einbeziehen. 
Das  Wachstum  des  Umfangs  geht  hier  mit  der  Bestimmung 


*  a.  a.  O.,  S.  71,  73. 
300 


des  Inhalts  parallel  (s.  oben,  Kap.  I).  Die  Allgemeingültigkeit 
eines  Urteils  bezeichnet  ja  nicht  eine  Quantität  des  Urteils- 
subjekts, sondern  eine  Qualität  der  Urteilsverknüpfung, 
so  daß  auch  Urteile  über  Einzelnes  durchaus  allgemeingültig 
sein  können.  Der  Satz  S  ist  P  besagt  in  diesem  Falle  nicht, 
daß  die  Eigenschaft  P  in  einer  Mehrheit  von  Subjekten  gleich- 
mäßig enthalten  ist,  sondern  daß  sie  diesem  besonderen 
Subjekt,  ihm  aber  unbedingt  und  mit  objektiver  Notwendig- 
keit zukomme.  Indem  wir  also  das  Gegebene  der  Sinnes- 
empfindung kraft  der  naturwissenschaftlichen  Gesetze  in  ein 
Notwendiges  umdenken,  haben  wir  damit  an  seinem  materialen 
Inhalt  nichts  geändert,  sondern  es  lediglich  unter  einen 
neuen  Gesichtspunkt  der  Beurteilung  gestellt.  Nicht  ein 
Ganzes  ,, individueller"  Dinge  geht  hier  in  ein  Ganzes  ,, all- 
gemeiner" Dinge  über:  sondern  ein  relativ  loses  Nebeneinander 
empirischer  Bestimmungen  fügt  sich  zu  einem  System  objektiv 
gültiger  Verknüpfungen  zusammen.  Nicht  eine  eigene  Art 
von  Gegenständen  wird  erschaffen;  sondern  ein  und  derselben 
Erfahrungswirklichkeit  wird  eine  neue  kategoriale  Form 
aufgeprägt.  Der  Übergang  zur  ,, Allgemeinheit"  ist  daher 
gleichsam  ein  sekundäres  Moment,  das  nicht  die  eigentliche 
Grundtendenz  der  Begriffsbildung  trifft;  er  ist,  sofern  er 
eintritt,  nur  ein  Symptom  und  Ausdruck  für  jenen  Über- 
gang zur  Notwendigkeit,  der  durch  die  Aufgabe  der  natur- 
wissenschaftlichen Erkenntnis  selbst  gesetzt  und  gefordert  ist*. 


*  Eine  mittelbare  Bestätigting  dieser  Ansicht  finde  ich  nachträgUch 
in  der  neuesten  Darstellung  der  Rickertschen  Theorie,  die  die  soeben  er- 
schienene Schrift  von  Sergius  Hessen,  ,, Individuelle  Kausalität"  enthält 
(Ergänzungshefte  der  Kantstudien,  Nr.  15,  Berlin  1909).  Hessen  imter- 
scheidet,  um  den  Gegensatz  zwischen  der  naturwissenschaftlichen  und  der 
historischen  Begriffsbildung  scharf  hervortreten  zu  lassen,  zwei  verschiedene 
Formen  der  Kausalität.  Die  Kausalität,  wie  die  Naturwissenschaft  sie 
behauptet  und  für  ihre  Erklärungen  zugrunde  legt,  geht  in  dem  Gedanken 
der  allgemeinen  Gesetzmäßigkeit  auf.  Ein  Ereignis  kausal  begreifen,  heißt 
im  Sinne  dieser  Auffassung  es  unter  allgemeine  Gesetze  substimieren : 
was  auf  diese  Weise  erkannt  wird,  wird  somit  niemals  in  seiner  schlechthin 
einmaligen  und  unwiederholbaren  Eigenart,  sondern  immer  nur  als  Exemplar 
eines  Gattungsbegriffs  erfaßt  und  dargestellt.  Der  Gehalt  des  Kausal- 
gedankens überhaupt  aber  ist  durch  dieses  einseitige  naturwissen- 
schaftliche Schema  nicht  erschöpft.  Denn  Ursächlichkeit  bedeutet  ihrem 
letzten  Grunde  nach  nichts  anderes  als  die  „Notwendigkeit  der  zeitlichen 

301 


In  einer  Hinsicht  freilich  bleibt  die  Trennung 
zwischen  dem  naturwissenschaftlichen  Begriff  und  der  „Wirk- 
lichkeit", wie  sie  uns  in  den  sinnlichen  Eindrücken  gegeben 
ist,  bestehen.  Keiner  der  Grundbegriffe  der  Naturwissenschaft 
läßt  sich  als  Bestandteil    der  sinnlichen  Wahrnehmung 


Aufeinanderfolge  der  Wirklichkeitsstücke**:  eine  solche  Notwendigkeit 
aber  müssen  wir  auch  dort  postulieren,  wo  wir  es  mit  der  Abfolge  rein 
individueller  Ereignisse  zu  tun  haben,  die  somit  niemals  in  genau 
derselben  Weise  wiederkehren  können.  Die  spezifisch  ,, historische  Kau- 
salität*' gründet  sich  auf  die  Anwendung  dieses  Gesichtspunktes;  ihr  Bogriff 
entspringt,  sobald  wir  in  ein  einmaliges  zeitlich  determiniertes  Geschelien, 
ohne  es  als  einen  Sonderfall  allgemeiner  Gesetze  begreifen  zu  wollen,  dennoch 
den  Gedanken  der  Notwendigkeit  imd  Eindeutigkeit  des  Verlaufs  hinein- 
legen. (Vgl.  H  e  8  8  e  n  ,  a.  a.  O.,  bes.  S.  32  ff.,  S.  73  ff.,  u.  s.)  Hier  zeigt  sich 
jedenfalls,  daß  für  den  naturwissenschaftlichen  und  den  historischen  „Be- 
griff** dennoch  eine  übergreifende  Einheit  besteht,  aus  welcher  beide 
sich  ableiten :  und  diese  Einheit  wird  durch  den  Gedanken  der  Not- 
wendigkeit konstituiert.  Bei  Hessen  selbst  wird  diese  Notwendigkeit 
zvmächst  in  die  „objektive  Wirklichkeit*'  verlegt,  die  als  solche  von  jeder 
Form  der  begriffliclien  Deutung,  gleichviel  ob  sie  in  der  Richtung  der 
naturwissenschaftliclien  oder  der  geschichtlichen  Begriffe  erfolgt,  prinzipiell 
frei  gedacht  werden  soll.  Eine  genauere  erkenntnistheoretische  Analyse 
ergibt  indes,  daß  eben  diese  Wirklichkeit  nicht  im  Sinne  einer  absoluten 
metaphysischen  Existenz  zu  nehmen,  sondern  als  eine  regulative 
Idee  aufzufassen  ist,  die  unsere  verschiedenen,  methodisch  auseinander- 
gehenden Konzeptionen  auf  ein  gemeinsames  Ziel  hin  dirigiert.  (Vgl.  bes. 
S.  88  ff.)  Es  zeigt  sich  somit,  mit  anderen  Worten,  daß  die  methodologische 
Unterscheidung  der  „allgemeinen**  Naturbegriffe  von  den  „individuellen" 
Gescliichtsbegriffen  einen  Zusammenhang  zwischen  beiden  nicht 
ausschließt,  sondern  vielmehr  fordert:  was  vom  Standpunkt  der  „All- 
gemeinheit" logisch  auseinanderfällt,  das  strebt  wiederum  zusammen, 
sobald  wir  diesen  Standpunkt  mit  dem  der  Notwendigkeit  vertauschen. 
Halten  wir  diesen  letzteren  Gedanken  als  den  eigentlich  ursprünglichen 
und  entscheidenden  fest,  so  wird  ferner  deutlich,  daß  auch  der  Unter- 
schied im  Grade  der  „Allgemeinheit"  selbst  sich  niemals  zu  einem  un- 
bedingten Gegensatz  zu  steigern  vermag.  Sofern  wir  die  Idee  der 
Notwendigkeit  auf  ein  besonderes  zeitliches  Geschehen  anwenden,  sofern 
wir  also  behaupten,  daß  dieses  individuelle  A  dieses  individuelle  B 
notwendig  foraert  und  nach  sich  zieht,  so  ist  eben  in  dieser  Feststelliuig 
eines  einmaligen  Sachverhalts  ziigleich  ein  Moment  des  Allgemeinen 
implicit  mitgesetzt.  Denn  in  diesem  Urteil  ist  zwar  der  Fall,  daß  der 
Gesamtkomplex  A  jemals  in  genau  derselben  Bestimmtheit  wiederkehrt, 
ausgeschlossen ;  zugleich  aber  ist  in  ihm  ausgesagt,  daß,  w  e  n  n  A  sich 
in  dieser  Weise  wiederholte,  damit  B  und  nur  B  als  wirklich  gefordert  wäre. 
Wer  also  in  der  Geschichte  mehr  sieht  als  eine  bloße  positivistische  „Be- 
schreibung** des  Nacheinander  verschiedener  Ereignisse,  wer  auch  ihr  eine 
besondere  Art  des  kausalen  Urteils  zugesteht :  der  hat  diese 
Form  des  „Allgemeinen"  in  ihr  bereits  anerkannt.  Die  Allgemeinheit  haftet 
nicht   an   dem   kategorischen,    sondern   an  dem   hypothetischen   Teil   der 

302 


aufweisen  und  durch  einen  unmittelbar  entsprechenden  Ein- 
druck belegen.  Immer  deutlicher  hat  es  sich  vielmehr  gezeigt, 
daß  das  naturwissenschaftliche  Denken,  je  weiter  es  seine 
Herrschaft  ausdehnt,  um  so  mehr  zu  begrifflichen  Konzep- 
tionen gedrängt  wird,  die  im  Gebiet  der  konkreten  Empfin- 
dungen kein  Analogon  mehr  besitzen.   Nicht  nur  hypothetische 


je :  die  Form  des  Zusammenhangs  von  A  und  B  wird 
ideell  ins  Allgemeine  projiziert,  wenngleich  die  einzelnen  Elemente  nur 
eine  einmalige  Wirklichkeit  besitzen  mögen.  Der  historische  Begriff, 
der  diese  Wirklichkeit  zu  fassen  versucht,  bezieht  sich  mittelbar  auf  die 
universelle  Form  der  Notwendigkeit,  wie  andererseits  der  exakte  natur- 
wissenschaftliche Begriff,  der  zunächst  der  Ausdruck  eines  allgemein  gültigen 
Relationszusammenhangs  sein  will,  eine  Bewährung  und  Anwendung 
im  zeitlich  bestimmten  Einzelfalle  sucht.  Nur  die  Richtung  der  Be- 
ziehung des  ,, Besonderen"  auf  das  ,, Allgemeine"  ist  somit  verschieden, 
während  die  Korrelation  der  beiden  Momente  sich  in  beiden  Fällen 
als  notwendig  erweist. 

Hier  handelt  es  sich  also  nicht  um  einen  Gegensatz  zwischen  dem 
,, Begriff"  schlechthin  und  der  absoluten  ,, Wirklichkeit",  sondern  um  eine 
Unterscheidung,  die  sich  rein  innerhalb  des  Systems  der  Begriffe  selbst  hält. 
Hessen  selbst  hebt  diesen  Umstand  und  damit  den  begrifflichen  Cha- 
rakter, der  auch  der  Geschichte  eignet,  nachdrücklich  hervor.  ,,Die 
entgegengesetzte  Meinung,  welche  die  Geschichte  zu  einer  anschaulichen 
Wissenschaft  machen  und  sie  mit  der  Wirklichkeit  verknüpfen  will,  macht 
sich  eines  historischen  Begriffsrealismus  schuldig,  der 
ebenso  gefährlich  ist,  wie  der  naturwissenschaftliche."  Auch  die  historischen 
Begriffe  sind  ,,im  allgemeinen  Produkte  einer  mehr  oder  weniger  starken 
Abstraktion"  und  somit  als  solche  ebensowenig  anschaulich  wie  die 
Begriffe  der  Natvirwissenschaften.  ,,Als  individualisierende  Kulturwissen- 
schaft bedeutet  Geschichte  eine  Entfermuig  von  der  Wirklichkeit ;  prinzipiell 
steht  sie  der  letzteren  ebenso  nah  wie  die  Naturwissenschaften,  auch  sie 
arbeitet  mit  Begriffen,  vmd  zwar  —  mit  individuellen  Begriffen.  Dem 
historischen  Begriffsrealismus  gegenüber  muß  das  besonders  betont  werden." 
( S.  2  7  f  f . )  Hier  zeigt  es  sich  von  einer  anderen  Seite  her,  daß  die  Trennung 
des  naturwissenschaftlichen  Begriffs  vom  historischen  auf  der  anderen  Seite 
eine  bestimmte  Verknüpfung  zwischen  beiden  voraussetzt :  die 
Begriffsfunktion  als  solche  muß  in  ihrer  einheitlichen  Grundform 
verstanden  und  abgeleitet  sein,  ehe  die  Differenzierung  in  verschiedene 
Begriffsarten  einsetzen  kann.  Diese  Grundform  aber  liegt  nicht  im^  Gattungs- 
begriff, sondern  im  Reihenbegriff,  der  für  jegliche  Art  der  ,, For- 
mung" des  anschaulich  Gegebenen  unentbehrlich  ist.  Die  Einordnung  des 
Einzelnen  in  einen  übergreifenden  Gesamtzusammenhang,  die  sich  immer 
deutlicher  als  das  eigentliche  Ziel  der  natiirwissenschaf tlichen  Begriffsbildung 
herausgestellt  hat,  bildet  eine  wesentliche  Aufgabe  auch  der  geschichtlichen 
Begriffe.  Diese  ,, Einordnung"  kann  unter  mannigfachen  Gesichtspunkten 
und  gemäß  verschiedenen  Motiven  erfolgen:  sie  besitzt  nichtsdestoweniger 
logisch  übereinstimmende  Züge,  die  sich  als  das  Wesen  „des"  Begriffs  be- 
stimmen und  herausheben  lassen. 

303 


Begriffe,  wie  das  Atom  oder  derAether,  sondern  rein  empirische 
Begriffe,  wie  Materie  oder  Bewegung,  lieferten  den  Beleg  dafür, 
daß  die  wissenschaftliche  Forschung  neben  den  ,, gegebenen" 
Elementen  der  Wahrnehmung  die  rein  idealen  und  in  keiner 
direkten  Erfahrung  aufzeigbaren  Grenzbegriffe,  daß 
sie  neben  dem  „Wirklichen"  das  ,, Nicht-Wirkliche"  nicht  zu 
entbehren  vermag.  (S.  oben,  S.  159 ff.)  Aber  es  wäre  nichts- 
destoweniger ein  Mißverständnis,  wenn  man  annähme,  daß 
die  exakte  Wissenschaft  sich  durch  diesen  eigentümlichen 
Grundzug  ihrer  Begriffsbildung  den  Aufgaben,  die  das  empi- 
risch-konkrete Dasein  ihr  stellt,  mehr  und  mehr  entfremdet. 
Gerade  in  dieser  scheinbaren  Abkehr  von  der  Wirklichkeit 
der  Dinge  strebt  sie  ihr  vielmehr  auf  einem  neuen  Wege  zu. 
Eben  jenen  Begriffen,  die  keinen  direkt  aufweisbaren  an- 
schaulichen Gehalt  mehr  besitzen,  kommt  dennoch  eine 
unentbehrliche  Funktion  für  die  Gestaltung  und  den 
Aufbau  der  anschaulichen  Wirklichkeit  zu.  Die  Bestimmungen, 
zu  deren  Ausdruck  die  naturwissenschaftlichen  Grundbegriffe 
geschaffen  sind,  haften  den  empirischen  Gegenständen  freilich 
nicht  wie  wahrnehmbare  Eigenschaften,  wie  ihre 
Farbe  oder  ihr  Geschmack  an;  aber  sie  sind  andererseits 
Verhältnisse  eben  dieser  empirischen  Gegenstände 
selbst.  Die  Urteile,  die  hier  geprägt  werden,  sind  daher, 
so  wenig  sie  selbst  sich  ihrem  Inhalt  nach  in  bloße  Aggre- 
gate von  Sinneseindrücken  auflösen  lassen,  in  ihrem  Ge- 
brauch doch  wiederum  auf  das  Ganze  dieser  Eindrücke, 
dem  sie  systematische  Form  zu  geben  suchen,  bezogen.  Der 
methodische  Gegensatz  steigert  sich  daher  niemals  zum 
metaphysischen:  denn  das  Denken  trennt  sich  von  der  An- 
schauung nur,  um  mit  neuen  selbständigen  Hilfsmitteln 
zu  ihr  zurückzukehren  und  sie  dadurch  in  sich  selbst  zu  be- 
reichern. Jede  Beziehung,  die  die  Theorie  entdeckt  und  in 
mathematischer  Form  ausgeprägt  hat,  weist  jetzt  zugleich 
einen  neuen  Weg  vom  Gegebenen  zum  noch  nicht  Gegebenen, 
von  den  wirklichen  zu  den  ,, möglichen"  Erfahrungen.  Es  ist 
somit  freilich  zutreffend,  daß  die  Relationsbegriffe  der  Natur- 
wissenschaft kein  unmittelbares  Abbild  in  den  Einzeldingen 
besitzen:  aber  was  ihnen  widerstrebt,  ist  nicht  sowohl  das 

304 


Moment  der  Einzelheit,  als  vielmehr  das  Moment 
der  Dinglichkeit.  Sie  ermöglichen  und  verbürgen  die 
Einsicht  in  Einzel  Verhältnisse,  wenngleich  sie  sich 
niemals  in  der  Art  isolierter  Objekte  anschauen  lassen. 
So  bedeutet  etwa  die  „Energie*'  nicht  ein  gleichartiges 
Ding,  in  dem  alle  inneren  Unterschiede  der  verschiedenen 
Energiearten  aufgehoben  wären,  sondern  ein  einheitliches 
Prinzip  der  Verknüpfung,  das  sich  als  solches  nur  am  qualitativ 
Verschiedenen  selbst  bewähren  kann.  Die  Identität  der 
Reihenform  —  und  diese  ist  es,  die  sich  hinter  jeder  Annahme 
identischer  Objekte  in  der  Naturwissenschaft  verbirgt  — 
ist  nur  an  der  Mannigfaltigkeit  der  Reihenglieder,  die  als 
solche  bewahrt  werden  muß,  aufzeigbar.  Zwischen  der  all- 
gemeinen Geltung  der  Prinzipien  und  dem  besonderen  Dasein 
der  Dinge  besteht  somit  kein  Widerspruch:  weil  zwischen 
beiden  im  letzten  Grunde  kein  Wettstreit  stattfindet.  Sie 
gehören  verschiedenen  logischen  Dimensionen  an,  so  daß 
keines  versuchen  kann,  sich  unmittelbar  an  die  Stelle  des 
anderen  zu  setzen. 

Wiederum  erhält  das  Problem,  um  das  es  sich  hier  handelt, 
eine  schärfere  Fassung,  sobald  man  es  auf  den  Boden  der 
Mathematik     zurückversetzt*.       Man    hat    gegenüber 


*  Die  „konkrete  Allgemeinheit",  die  den  mathematischen  Begriffen 
zukommt  (vgl.  oben,  Kap.  I),  ist  gelegentlich  auch  vom  Standpunkt  der 
Rickertschen  Grundanschauung  aus  ausclrücklich  anerkaiuit  luid  hervor- 
gehoben worden.  „Die  für  die  begriffliche  Erkenntnis  bestehende  Kluft 
zwischen  Allgemeinem  und  Besonderem"  —  so  heißtes  in  L  a  s  k  s  Schrift 
„Fichtes  Idealismus  und  die  Geschichte"  —  mithin  die  Irrationalität,  wird 
in  der  mathematischen  Anschauung  überbrückt  durch  die  Möglichkeit  der 
Konstruktion.  Die  einzelnen  Verwirklichungsfälle  des  mathematischen 
Begriffs  können  durch  den  Begriff  selbst  erzeugt  werden.  Vom  Begriff  des 
Kreises  gelangt  man  durch  Konstruktion  zur  mathematischen 
Individualität  des  einzelnen  Kreises,  dringt  also  vom  Allgemeinen  her  bis 
zum  letzten  Rest  des  Individuellen  vor  . . .  Auch  in  der  Mathematik  ist  das 
anschauliche  Objekt  ein  Einzelnes,  Konkretes,  Gegebenes,  aber  ein  apriori, 
nicht  ein  aposteriori  Gegebenes,  wie  das  Materiale  der  Empfindtmg ;  es  ist  — 
ein  logisches  Unikum!  —  individuell  einmalig  und  doch  zugleich  apriori 
konstruierbar."  (S.  40  f.)  Man  sieht  auch  hier,  daß  die  Kritik  Rickerts 
eine  andere  Gestalt  erhalten  hätte,  wenn  sie  von  Anfang  an  und  mit  voller 
Entschiedenheit  die  naturwissenschaftlichen  Begriffe  statt  als  Ergebnisse 
der  „abstraktiven"  Begriffsbildung,  als  Erzeugnisse  der  konstruk- 
tiven   mathematischen   Begriffsbildung   gefaßt   hätte.       Die   Einsicht, 

Cassirer  Substanzbegriff  20  305 


Rickerts  Auffassung  mit  Recht  auf  die  bedeutsame  Rolle 
hingewiesen,  die  der  Feststellung  bestimmter  Größentatsachen, 
bestimmter  numerischer  Konstanten  im  Aufbau 
der  Naturwissenschaft  zukommt*.  Erst  wenn  die  Werte 
dieser  Konstanten  in  die  Formeln  der  allgemeinen  Gesetze 
eingesetzt  werden,  erhält  damit  die  Mannigfaltigkeit  der 
Erfahrungen  jenes  feste  und  eindeutige  Gefüge,  das  sie  zur 
„Natur*'  stempelt.  Der  wissenschaftliche  Bau  der  Wirklichkeit 
ist  erst  vollendet,  wenn  neben  die  allgemeinen  Kausal- 
gleichungen bestimmte  empirisch  festgestellte  Größenwerte 
für  besondere  Gruppen  von  Vorgängen  treten;  wenn  also 
etwa  das  allgemeine  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie  durch 
die  Angabe  der  festen  Äquivalenzzahlen  ergänzt  wird,  nach 
welchen  der  Energieaustausch  zwischen  zwei  verschiedenen 
Gebieten  erfolgt.  Diese  Zahlen  sind,  wie  Robert  Mayer 
es  ausgesprochen  hat,  die  gesuchten  Fundamente  einer  exakten 
Naturforschung**.  Die  bestimmte  Zahl  aber  durchbricht 
das  herkömmliche  logische  Schema,  das  den  Begriff  nur  als 
allgemeinen  Gattungsbegriff  kennt,  der  eine  Mehrheit  von 
Exemplaren  unter  sich  faßt.  Die  „Zwei",  die  „Vier"  existiert 
nicht  als  Gattung,  die  in  allen  konkreten  Zwei-  oder  Vierheiten 
von  Gegenständen  verwirklicht  ist,  sondern  sie  ist  als  festes 
Glied  in  der  Folge  der  Einheitssetzungen  nur  einmal  da, 
wenngleich  andererseits  kein  Zweifel  darüber  bestehen  kann, 
daß  sie  kein  sinnliches,  sondern  ein  rein  begriffliches  ,,Sein*' 
besitzt.  (S.  hierzu  Kap.  II.)  Auch  von  dieser  Seite  her  zeigt 
es  sich  somit,  daß  dem  Wissenschaftlichen  Begriff  als  solchem 

die  hier  für  die  Mathematik  gewonnen  ist,  hätte  sich  dann  notwendig  auf 
die  Physik  übertragen  müssen:  denn  eben  darin  hegt  das  eigen tUche  Problem, 
daß^ie  Mathematik  keineswegs  ein  „logisches  Unücimn"  ist  und  bleibt, 
sondern  daß  sie  mit  der  ihr  eigentümlichen  Begriffsform  fortschreitend  auch 
die  ,, besonderen"  Naturwissenschaften  erfüllt.  In  der  Form  der  physika- 
lischen „Indtiktion",  durch  die  wir  das  empirisch  Wirkliche  erfassen,  ist 
bereits  die  Form  der  mathematischen  ,, Deduktion"  enthalten  und  wirksam, 
ist  somit  die  gleiche  methodische  Bewältigung  des  Besonderen  durch  das 
Allgemeine  geleistet.     (Vgl.  bes.  Kap.  5.) 

*  S.  R  i  e  h  1 ,  Logik  und  Erkenntnistheorie  (,,Die  Kultur  der  Gegen- 
wart", I,  6,  S.  lOlf.);  vgl.  bes.  Frischeisen-Köhler,  a.a.O. 
S.  255. 

**  R.  M  a  y  e  r ,  Bemerkungen   über  das  mechanische  Äquivalent  der 
Wärme  (1851)    (Die  Mechanik  der  Wärme,  S.  237.) 

306 


die  Feststellung  des  Einzelnen  keineswegs  versagt  ist;  wenn- 
gleich er  andererseits  das  Einzelne  niemals  isoliert,  sondern 
nur  als  besonderes  Element  einer  geordneten  Mannigfaltigkeit 
erfaßt.  Statt  zu  abstrakten  und  leeren  Gattungen  des  Seins 
und  Geschehens  aufzusteigen,  sucht  die  Forschung  die  empiri- 
schen Konstanten,  die  sie  gefunden  und  die  durchaus  ein- 
deutige Zahlen- Individualitäten  darstellen,  kraft  notwendiger 
Gesetze  zu  Reihen  zu  verknüpfen*.  Die  ,,  Strukturverhält- 
nisse", die  neben  den  Gesetzen  der  kausalen  Abhängigkeit 
das  wesentliche  Objekt  der  naturwissenschaftlichen  Betrach- 
tung ausmachen,  werden  schließlich,  wie  insbesondere  das 
Beispiel  der  chemischen  Erkenntnis  lehrt,  auf  bestimmte 
Zahlen  zusammengezogen,  die  ihrerseits  wieder  als  geregelte 
Folgen  zu  verstehen  gesucht  werden.  Die  Theorie  betrachtet 
und  umgrenzt  die  möglichen  Formen  des  Reihenzusammen- 
hangs überhaupt,  während  die  Erfahrung  die  bestimmte 
Stelle  bezeichnet,  die  ein  empirisch  „wirkliches"  Sein 
oder  ein  empirisch  wirklicher  Vorgang  innerhalb  dieses  Zu- 
sammenhangs einnimmt.  Im  entwickelten  naturwissenschaft- 
lichen Weltbild  sind  beide  Momente  untrennbar  miteinander 
vereint:  das  Allgemeine  der  Funktionsregel  stellt  sich  hier 
nur  in  der  Besonderheit  konstanter  Zahlwerte,  die  Be- 
sonderheit der  konstanten  Zahlen  nur  in  der  Allgemeinheit 
eines  Gesetzes  dar,  das  sie  wechselseitig  verknüpft.  Auch 
innerhalb  der  besonderen  Wissenschaften  wiederholt  und 
bestätigt  sich  diese  Wechselbeziehung.  Keine  naturwissen- 
schaftliche Disziplin  verzichtet  auf  die  Feststellung  einzelner 
Tatsachen;  und  keine  kann  diese  Feststellung  ohne  ent- 
scheidende Mitwirkung  des  Gesetzesgedankens  vollziehen. 
Auch  dort,  wo  von  dem  Gegensatz  der  historischen  Individual- 
begriffe  und  der  naturwissenschaftlichen  Gattungsbegriffe 
ausgegangen  wird,  muß  daher  ausdrücklich  zugestanden 
werden,  daß  dieser  gedanklichen  Sonderung  keine  reale 
Trennung  in  den  Wissenschaften  selbst  entspricht.  Überall 
greifen  die  beiden  Motive  ineinander  über:  und  nur  nach  der 


*  Vgl-  hrz.  jetzt  besonders  A.  Görland,  Aristoteles  und  Kant  be- 
züglich der  Idee  der  theoretischen  Erkenntnis  untersucht.  Gießen  1909. 
(Pliilos.  Arbeiten  hrg.  von  Cohen  u.  Natorp  II,  2.)     S.  433 ff. 

20*  307 


Vorherrschaft  des  einen  oder  anderen  läßt  sich  die 
Stellung  einer  besonderen  Wissenschaft  im  allgemeinen  System 
der  Erkenntnis  bemessen  und  feststellen.  Ist  dem  aber  so, 
so  wird  es  fraglich,  mit  welchem  Rechte  wir  eine  Art  der 
Problemstellung  und  Problembehandlung,  die  sich  als  solche 
auf  die  mannigfachsten  Disziplinen  verteilt,  noch  durch  den 
Namen  einer  von  ihnen  bezeichnen  und  charakterisieren 
können.  Wenn  wir  alle  jene  Verfahrungsweisen  der  Wissen- 
schaft, die  auf  die  Gewinnung  des  rein  , .Tatsächlichen" 
gerichtet  sind,  unter  dem  einen  Gattungsbegriff  des  ,, Histori- 
schen" zusammenfassen:  so  ist  damit  noch  keineswegs  erwiesen, 
daß  der  so  entstandene  Begriff  eine  wahrhafte  metho- 
dische Einheit  darstellt.  Denn  die  Feststellung  des 
Tatsächlichen  erfolgt  in  den  verschiedenen  Sonderwissen- 
schaften unter  sehr  verschiedenen  Bedingungen.  Immer  ist 
es  die  allgemeine  Theorie  der  betreffenden  Sonder- 
disziplin, die  hierbei  notwendig  vorausgesetzt  wird  und  die 
auch  dem  Tatsachenurteil  erst  sein  bestimmtes  Gepräge  gibt. 
So  schließt  jedes  astronomische  „Faktum"  in  seiner  Formulie- 
rung und  Aussprache  den  gesamten  Begriffsapparat  der 
Mechanik  des  Himmels,  weiterhin  aber  die  Grundlehren  der 
Optik,  ja  alle  wesentlichen  Teile  der  theoretischen  Physik 
überhaupt  in  sich  ein  (s.  oben,  S.  189  ff.).  Methodisch  ist  somit 
der  „historische"  Teil  jeder  Wissenschaft  mit  ihrem  „theoreti- 
schen" Teil  kraft  einer  wahrhaften  innerlichen  Abhängigkeit 
verknüpft,  während  andererseits  zwischen  den  beschreibenden 
Teilen  zweier  verschiedener  Disziplinen  nur  ein  loser 
Zusammenhang  besteht.  Die  Einheit  ist  hier  nicht  prinzipieller, 
sondern  lediglich  klassifikatorischer  Art.  Das  Verfahren, 
kraft  dessen  die  Astronomie  ihre  Tatsachen  gewinnt,  gehört 
begrifflich  zusammen  mit  dem  Verfahren,  in  welchem  sie 
ihre  allgemeinen  theoretischen  Grundkonzeptionen  entwirft: 
—  aber  es  scheidet  sich  scharf  und  bestimmt  von  dem  Wege, 
auf  welchem  beispielsweise  die  Biologie  zur  Bestimmung 
und  Sichtung  ihres  empirischen  Materials  gelangt.  Auch  hier 
erweist  es  sich  als  unmöglich,  den  Schnitt,  den  wir  durch  unsere 
Erkenntnisse  legen,  in  der  Weise  zu  führen,  daß  auf  die  eine 
Seite  rein  das  Allgemeine,  auf  die    andere    rein  das  Be- 

308 


sondere  zu  stehen  käme:  nur  das  Verhältnis  der  beiden  Mo- 
mente, nur  die  Funktion,  die  das  Allgemeine  am  Besonderen 
erfüllt,  ergibt  einen  wahrhaften  Einteilungsgrund.  — 

Daß  diese  Funktion  in  keiner  ihrer  Betätigungen  zu  Ende 
gelangt,  daß  sie  vielmehr  hinter  jeder  Lösung,  die  sie  zu  geben 
vermag,  eine  neue  Aufgabe  entstehen  sieht,  ist  freilich 
zweifellos.  Hier  bewährt  in  der  Tat  die  ,, individuelle"  Wirk- 
lichkeit den  Grundcharakter  der  Unerschöpflichkeit.  Aber  es 
bildet  zugleich  den  charakteristischen  Vorzug  der  echten 
wissenschaftlichen  Relationsbegriffe,  daß  sie  diese  Aufgabe 
•trotz  ihrer  prinzipiellen  Unabschließbarkeit  in  Angriff  nehmen. 
Jede  neue  Setzung  bildet,  indem  sie  sich  mit  den  voran- 
gegangenen verknüpft,  einen  neuen  Schritt  zur  Deter- 
mination des  Seins  und  Geschehens.  Das  Einzelne 
bestimmt  als  unendlich  ferner  Punkt  die  Richtung  der  Er- 
kenntnis. Dieses  letzte  und  höchste  Einheitsziel  weist  freilich 
über  den  Kreis  der  naturwissenschaftlichen  Begriffe  und 
Methoden  hinaus.  Das  „Individuum"  der  Naturwissenschaft 
umfaßt  und  erschöpft  weder  das  Individuum  der  ästhetischen 
Betrachtung  noch  die  sittlichen  Persönlichkeiten,  die  die 
Subjekte  der  Geschichte  bilden.  Denn  alle  Besonderheit  der 
Naturwissenschaft  geht  in  der  Entdeckung  eindeutig  be- 
stimmter Größenwerte  und  Größenverhält- 
nisse auf,  während  die  Eigenart  und  der  Eigenwert,  den 
der  Gegenstand  in  der  künstlerischen  Betrachtung  und  in  der 
ethischen  Beurteilung  gewinnt,  außerhalb  ihres  Gesichts- 
kreises liegen.  Aber  diese  Abgrenzung  der  verschiedenen 
Methoden  des  Urteils  schafft  dennoch  keinen  dualistischen 
Gegensatz  zwischen  ihnen.  Der  naturwissenschaftliche  Begriff 
leugnet  und  vernichtet  das  Objekt  der  Ethik  und  Ästhetik 
nicht,  wenngleich  er  es  mit  seinen  Mitteln  nicht  aufzubauen 
vermag;  er  verfälscht  die  Anschauung  nicht,  wenngleich  er  sie 
mit  Bewußtsein  unter  einem  vorherrschenden  Gesichts- 
punkt betrachtet  und  eine  einzelne  Form  der  Bestimmung 
an  ihr  heraushebt.  Die  weiteren  Betrachtungsweisen,  die 
sich  über  ihm  erheben,  stehen  daher  zu  ihm  nicht  sowohl 
im»  Widerspruch,  als  in  einem  Verhältnis  der  gedanklichen 
Ergänzung.      Auch  sie  gehen   nicht   auf  das   Einzelne 

309 


als  losgelöstes  und  isoliertes  Element,  sondern  sie  schaffen 
neue  und  inhaltsvolle  Gesichtspunkte  der  Verknüpfung. 
Es  ist  eine  neue  Zweckordnung  des  Wirklichen,  die  jetzt 
neben  die  bloße  Größenordnung  tritt  und  in  der  das  In- 
dividuum erst  seine  volle  Bedeutung  gewinnt.  So  sind  es, 
logisch  gesprochen,  verschiedene  Beziehungsformen,  in  die 
hier  das  Einzelne  aufgenommen  und  kraft  deren  es  gestaltet 
wird:  der  Widerstreit  des  „Allgemeinen"  und  „Be- 
sonderen" löst  sich  in  einen  Fortschritt  komplemen- 
tärer Bedingungen  auf,  die  erst  in  ihrer  Gesamtheit 
und  ihrem  Zusammenschluß  das  Problem  des  Wirklichen  zu 
fassen  vermögen. 


310 


Zweiter  Teil 

Das  System  der  Relationsbegriffe  und  das 
Problem  der  Wirklichkeit 


A    Fünftes  Kapitel. 
Zum  Problem  der  Induktion. 

I. 

Der  eigentliche  Ertrag  der  methodischen  Analyse  der 
naturwissenschaftlichen  Erkenntnis  liegt  darin,  daß  sie  dem 
Gegensatz  des  Allgemeinen  und  Besonderen  seine  meta- 
physische Schärfe  nimmt.  Das  Gesetz  und  die  Tatsache 
erscheinen  nun  nicht  mehr  als  die  beiden  für  immer  getrennten 
Gegenpole  des  Wissens;  sondern  sie  stehen  in  lebendigem 
funktionalen  Zusammenhang,  indem  sie  sich  zueinander  wie 
Mittel  und  Zweck  verhalten.  Es  gibt  kein  empirisches  Gesetz, 
das  nicht  auf  die  Verknüpfung  der  gegebenen,  wie  auf  die 
Erschließung  nicht  gegebener  Gruppen  von  Tatsachen  ginge; 
wie  auf  der  anderen  Seite  jede  „Tatsache"  bereits  im  Hinblick 
auf  ein  hypothetisches  Gesetz  festgestellt  ist  und  durch  diese 
Rücksicht  erst  ihre  Bestimmtheit  erhält.  Die  empirische 
Naturwissenschaft  selbst  hat  daher,  seit  sie  zuerst  in  den 
„stetigen  Gang  einer  Wissenschaft"  eingelenkt  ist,  an  dem 
Streit,  den  die  philosophischen  Parteien  um  die  Rechte  der 
,,  Induktion"  und  ,, Deduktion"  führten,  keinen  erheblichen 
Anteil  mehr  genommen.  Sie  mußte,  sobald  sie  ihr  eigenes 
Verfahren  prüfte,  begreifen,  daß  es  sich  hier  um  eine  falsche  und 
künstliche  Trennung  von  Erkenntnisweisen  und  Erkenntnis- 
wegen handePt,  die  ihr  beide  schon  in  der  Festsetzung  ihres 
ursprünglichen  Bestandes  gleich  unentbehrlich  sind.  Das 
Grundmotiv,  das  aller  Metaphysik  derErkenntnis 
eigen  ist,  tritt  hier  wiederum  deutlich  hervor.  Was  im  Er- 
kenntnisprozeß selbst  als  unlösliche  Einheit  von  Bedingungen 
erscheint  und  wirksam  ist,  das  wird  in  der  Betrachtungsweise 

313 


der  Metaphysik  zu  einem  Widerstreit  von  Dingen  hypostasiert. 
Dauer  und  Veränderung,  Sein  und  Werden, 
Einheit  und  Vielheit,  die  sämtlich  nur  Teilmomente 
bestimmter  fundamentaler  Erkenntnisweisen  bezeichnen,  treten 
auf  diese  Weise  in  unbedingte  Gegensätze  auseinander. 
So  steht  denn  auch  in  der  Philosophie  der  Natur  dicht  neben 
der  Metaphysik  des  Allgemeinen  eine  Metaphysik  des  Be- 
sonderen. Wenn  dort  Begriffe,  die  als  Ausdruck  des  not- 
wendigen Zusammenhangs  der  Erfahrungen  dienen,  zu  selb- 
ständigen Wirklichkeiten  erhoben  werden,  so  wird  hier  die 
einfache  Empfindung  in  ihrer  individuellen  Eigenart  zum 
Träger  und  Inhalt  der  echten  Wirklichkeit.  Der  reale  Gehalt 
des  Daseins,  der  jeder  Analyse  stand  hält,  wird  allein  in  den 
isolierten  Eindrücken  und  ihrer  qualitativen  Beschaffenheit 
gesucht:  die  fortschreitende  begriffliche  Einsicht  dient  nur 
dazu,  diesen  Grundbestand  immer  reiner  herauszuheben 
und  alle  Aussagen  über  das  Sein  immer  vollkommener  in  ihn 
aufgehen  zu  lassen. 

Soll  dieser  Forderung  in  aUer  Strenge  genügt  werden, 
so  muß  vor  allem  das  Motiv  der  Vereinzelung  scharf 
und  klar  durchgeführt  werden.  Alle  Urteile,  die  wir  fällen, 
können  und  dürfen  nunmehr  nichts  anderes  bedeuten,  als  die 
Feststellung  eines  hier  und  jetzt  gegebenen  Tat- 
bestandes, der  lediglich  in  dieser  seiner  räumlich-zeitlichen 
Besonderung  ergriffen  wird.  Eine  Behauptung,  die  diesen 
Kreis  durchbricht,  fiele  damit  wiederum  dem  Gebiet  der 
bloßen  Fiktion  anheim.  Die  Geltung,  die  irgendein  wahres 
Urteil  für  sich  in  Anspruch  nehmen  darf,  muß  somit  in  strengem 
Sinne  auf  den  Zeitpunkt  der  Urteilsfällung  eingeschränkt 
werden:  denn  wie  die  Wahrnehmung  als  realer  Vorgang  über 
diesen  Zeitpunkt  nicht  hinausdringt,  so  muß  auch  der  Begriff, 
wenn  er  sich  nicht  von  ihrer  Bestimmtheit  entfernen  will, 
diese  ihre  natürliche  Schranke  anerkennen.  Gegenwärtige 
und  vergangene  Empfindungen  sind  es,  die  den  Kern  aller 
unserer  Urteile,  der  rationalen  wie  der  Tatsachenurteile,  aus- 
machen. Schon  das  letztere  Moment  droht  freilich  bereits 
das  allgemeine  Grundschema  zu  durchbrechen:  denn  auch 
die  Vergangenheit  „ist"  für  das  Bewußtsein  nicht  mehr  in 

314 


dem  gleichen  Sinne,  in  dem  hier  der  Begriff  der  Wirklichkeit 
genommen  wird.  Wenn  wir  einen  zeitlich  gegenwärtigen  Ein- 
druck mit  anderen  zusammenhalten,  die  in  einem  früheren 
Zeitpunkt  das  Bewußtsein  erfüllt  haben,  so  haben  wir  damit 
bereits  den  ersten  Schritt  vom  „Gegebenen"  ins  „Nicht- 
Gegebene"  getan.  Immerhin  mag  dieser  Schritt  noch  als 
gefahrlos  gelten,  sofern  nur  angenommen  wird,  daß  die  er- 
innerte Wahrnehmung  der  tatsächlichen  in  allen  sachlichen 
Bestandteilen  durchaus  ähnlich  ist.  Das  Vergangene,  das 
hier  vor  uns  hintritt,  wird  alsdann  trotz  seiner  zeitlichen 
Ferne  dennoch  als  gegenwärtig  und  in  aller  Be- 
stimmtheit des  unmittelbaren  Eindrucks  erfaßt.  Es  sind 
tatsächliche  und  reproduzierte  Wahrnehmungsinhalte,  auf 
deren  Vergleichung  der  alleinige  Bestand  des  Urteils  beruht. 
Der  konsequente  ,, Empirismus"  muß  diese  Folgerung 
gleichmäßig  auf  alle  Gebiete  des  Wissens  ausdehnen.  Mathe- 
matik und  Physik,  Physik  und  Biologie,  stehen  unter  diesem 
Gesichtspunkt  gleichwertig  nebeneinander:  denn  es  ist  nicht 
die  Analyse  des  Gegenstands,  sondern  die  psychologische 
Zergliederung  des  Urteilsaktes  selbst,  die  zu  dieser  Erklärung 
hingeführt  hat.  Die  Form  des  Urteils  muß  überall  die  gleiche 
sein,  weil  das  Material  der  Vorstellungen,  auf  dem  diese  Form 
wesentlich  und  ausschließlich  beruht,  für  die  verschiedenen 
Disziplinen  der  Erkenntnis  stets  ein  und  dasselbe  bleibt. 
Die  Methode  der  Beobachtung  und  des  Versuches  ist  un- 
abhängig davon,  ob  wir  mit  den  Dingen  selbst  oder  aber  mit 
unseren  Vorstellungen  und  Erinnerungen  der  Dinge  experi- 
mentieren. Ist  etwa  —  um  ein  Beispiel  M  a  c  h  s  zu  brauchen  — 
die  geometrische  Aufgabe  gestellt,  in  ein  rechtwinkliges 
Dreieck  mit  den  Katheten  a  und  b  und  der  Hypotenuse  c  ein 
Quadrat  einzuschreiben,  dessen  einer  Eckpunkt  mit  dem 
Scheitel  des  rechten  Winkels  zusammenfällt,  während  die 
drei  übrigen  Ecken  auf  den  Seiten  a,  b  und  c  liegen  sollen: 
so  wird  der  Gedanke,  um  die  Lösung  dieser  Aufgabe  zu  finden, 
die  gegebenen  Bedingungen  zunächst  einem  Versuch  unter- 
werfen. Denken  wir  uns  etwa,  vom  Scheitel  des  rechten  Winkels 
aus,  auf  einer  der  beiden  Katheten  irgendeine  beliebige, 
willkürlich    angenommene    Strecke    abgetragen    und   zu   ihr 

315 


das  entsprechende  Quadrat  konstruiert,  so  wird  dessen 
Eckpunkt  im  allgemeinen  nicht  auf  die  Hypotenuse,  son- 
dern rechts  oder  links  von  ihr,  außerhalb  oder  innerhalb 
der  Dreiecksfläche  zu  liegen  kommen.  Zwischen  diesen  beiden 
an  und  für  sich  möglichen  Fällen  besteht,  wie  sich  ferner  zeigt, 
ein  stetiger  Übergang,  sofern  wir  durch  kontinuierliche  Ver- 
größerung der  anfangs  gewählten  Strecke  den  Endpunkt 
aus  der  einen  Lage  im  Innern  des  Dreiecks  in  die  andere, 
außerhalb  des  Dreiecks,  überführen  können.  Diese  Ver- 
schiebung aber  kann  wiederum,  wie  die  Anschauung  un- 
mittelbar lehrt,  nicht  anders  vor  sich  gehen,  als  daß  hierbei 
die  Hypotenuse  als  die  Grenzlinie,  die  die  beiden  Teile  der 
Dreiecksebene  sondert,  einmal  berührt,  also  auf  ihr  ein  Punkt 
bezeichnet  wird,  der  nunmehr  den  durch  die  Aufgabe  ge- 
forderten Punkt  darstellt.  „Solche  tatonnierende  Son- 
dierungen der  Vorstellungsgebiete,  in  welchen  wir  die  Lösung 
der  Aufgabe  zu  suchen  haben,  gehen  naturgemäß  der  voll- 
kommenen Lösung  voraus.  Das  vulgäre  Denken  mag  sich 
auch  mit  einer  praktisch  zureichenden  annähernden  Lösung 
begnügen.  Die  Wissenschaft  fordert  die  allgemeinste,  kürzeste 
und  übersichtlichste  Lösung.  Diese  erhalten  wir,  indem  wir 
uns  erinnern,  daß  alle  eingeschriebenen  Quadrate 
die  von  dem  Durchschnittspunkt  der  a  und  b  ausgehende 
Winkelhalbierende  als  Diagonale  gemein  haben.  Zieht  man 
also  von  diesem  bekannten  Punkt  aus  diese  Winkel- 
halbierende, so  kann  man  von  deren  gefundenem  Durchschnitts- 
punkt mit  c  aus  ohne  weiteres  das  gesuchte  Quadrat  ergänzen. 
So  simpel  auch  dieses  mit  Absicht  gewählte  . . .  Beispiel  ist, 
so  bringt  es  doch  das  Wesentliche  jeder  Problemlösung,  das 
Experimentieren  mit  Gedanken,  mit  Er- 
innerungen   ...zu  klarem  Bewußtsein*." 

Zugleich  indessen  deckt  freilich  eben  dieses  Beispiel 
eine  latente  Voraussetzung  auf,  auf  der  der  gesamte  Gedanken- 
gang beruht.  Die  „Erinnerung"  im  strengen  psychologischen 
Sinne  vermag  keine  neuen  Inhalte  zu  produzieren;  —  sie  ver- 
mag nur  zu  wiederholen,   was   die  sinnliche   Vorstellung   als 


*  Mach,  Erkenntnis  und  Irrtum,  S.  39  f. 
316 


solche  einmal  dargeboten  hat.  Sie  kann  somit  diejenigen 
Fälle,  die  wir  uns  anschaulich  vergegenwärtigt  haben,  wieder 
ins  Bewußtsein  zurückrufen  —  aber  völlig  unverständlich 
bleibt  es,  wie  sie  irgendeine  Aussage  über  eine  Allheit 
von  Gestalten  wagen  kann,  ohne  zuvor  die  besonderen  Exem- 
plare einzeln  durchlaufen  zu  haben.  Gerade  dies  aber  ist 
in  dem  vorliegenden  Falle  durch  die  Natur  der  Aufgabe 
selbst  ausgeschlossen:  die  Zahl  der  möglichen  Quadrate 
ist  unendlich  und  somit  für  die  konkrete  sinnliche  Einbildungs- 
kraft schlechthin  unerschöpflich.  Das  Erinnerungsurteil  als 
solches  vermag  niemals  die  unendliche  Allheit  möglicher, 
sondern  stets  nur  die  begrenzte  Vielheit  wirklicher  Fälle  zu 
überblicken.  Soviel  Punkte  der  Winkelhalbierenden  wir 
immer  untersucht  haben  mögen,  so  können  wir  doch,  wenn 
wir  uns  allein  der  geschilderten  Methode  des  Experimentierens 
mit  Vorstellungen  und  Erinnerungen  überlassen,  niemals  ent- 
scheiden, ob  auch  der  nächste  Punkt,  den  wir  herausgreifen, 
die  gleiche  Eigentümlichkeit,  wie  die  zuvor  beobachteten  auf- 
weisen werde.  Nichts  vermag,  auf  diesem  Standpunkt  der 
Betrachtung,  die  Annahme  zu  hindern,  daß  sich  in  weiterem 
Fortschritt  Punkte  der  Winkelhalbierenden  finden  werden, 
die  der  gestellten  Bedingung  nicht  genügen  oder  aber,  daß  es 
umgekehrt  Punkte  gibt,  die  die  Bedingung  erfüllen,  ohne  darum 
dieser  Linie  anzugehören.  Den  Charakter  der  Notwendigkeit 
und  Eindeutigkeit  erhält  somit  die  Lösung  erst  dann,  wenn  wir 
über  die  einzelnen  Beispiele  auf  das  Verfahren  der  Kon- 
struktion zurückgreifen,  in  welcher  die  Winkelhalbie- 
rende entsteht  und  in  dem  sie  all  ihre  mathematischen  Eigen- 
schaften ein  für  allemal  gewinnt.  Indem  wir  uns  dieser  ein- 
heitlichen Regel  der  Konstruktion  bewußt  werden,  ergreifen 
wir  damit  zugleich  die  Gesamtheit  der  Bestimmungen 
des  fertigen  Gebildes,  da  diese  Bestimmungen  erst  kraft  des 
erzeugenden  Gesetzes  bestehen  und  aus  ihm  in  voller  Strenge 
beweisbar  sind.  Hier  geht  der  Weg  nicht  von  der  Mehrheit 
der  Einzelfälle  zum  verknüpfenden  Gesetz,  sondern  von  der 
Einheit  des  geometrischen  Verfahrens  zu  den  Besonderheiten 
der  Anwendung.  Erst  damit  wird  eine  Beziehung  gesetzt, 
die  nicht  nur  für  das  gegenwärtige  Vorstellungsbild,  wie  es 

317 


sich  im  Bewußtsein  vorfindet,  gelten  will,  sondern  darüber 
hinaus  einen  dauernden  idealen  Verknüpfungszusammenhang 
behauptet;  es  wird  ein  Satz  festgestellt,  der  nicht  von  diesem 
oder  jenem  individuellen  Dreieck  mit  den  besonderen  Be- 
schaffenheiten seiner  Gestalt  und  Lage,  sondern  von  ,,dem 
Dreieck"  schlechthin  gelten  will.  Gleichviel,  wie  dieser  An- 
spruch sich  schließlich  rechtfertigen  mag:  schon  als  bloßes 
psychologisches  Phänomen  durchbricht  er  das  Schema 
der  Erkenntnis,  über  welches  die  konsequente  sensualistische 
Ansicht  allein  verfügt. 

So  mußten  denn  gerade  solche  Denker,  die  innerhalb  der 
Psychologie  die  Forderung  des  „radikalen  Empirismus" 
am  entschiedensten  verkünden,  eben  von  diesem  Stand- 
punkt aus  den  logischen  und  methodischen  Unterschied, 
der  hier  vorliegt,  unumwunden  anerkennen.  Der  unbefangene 
Ausspruch  der  ,, reinen  Erfahrung"  lehnt  sich  in  diesem  Punkte 
immer  wieder  gegen  die  dogmatischen  Folgerungen  des  Sen- 
sualismus auf.  Die  vorurteilslose  Analyse  der  Tatsachen 
der  Erkenntnis  zeigt  in  aller  Deutlichkeit,  daß  die  Zurück- 
führung  der  mathematischen  und  logischen  Relationen  auf 
Aussagen  über  das  häufige  empirische  Beisammen  einzelner 
Vorstellungsinhalte  ein  vergebliches  Bemühen  bleibt.  Diese 
Relationen  berichten  nichts  darüber,  ob  und  wie  oft  be- 
stimmte Erfahrungsinhalte  in  Raum  und  Zeit  sich  nebenein- 
ander vorgefunden  haben,  sondern  stellen  einen  notwendigen 
Zusammenhang  zwischen  idealen  Gebilden  fest,  dessen  Geltung 
von  allen  Änderungen  in  der  Welt  der  existierenden  sinnlichen 
Objekte  unberührt  bleiben  soll.  Einen  logischen  oder  mathe- 
matischen Satz  als  bloße  Wiedergabe  einzelner  aktueller 
„Eindrücke"  und  ihrer  empirischen  Verhältnisse  deuten, 
heißt  daher,  in  dem  Bestreben,  seinen  Ursprung  auf- 
zudecken, seine  eigentliche  Meinung  und  Bedeutung  ver- 
fälschen: heißt  ihm  einen  Sinn  zuschreiben,  den  er  gemäß 
der  Natur  des  Subjekts,  auf  das  er  sich  bezieht,  weder  besitzt 
noch  besitzen  kann.  Keine  metaphysische  Konstruktion  ver- 
mag das  psychologische  und  logische  Phänomen  dieses 
Unterschiedes  zu  beseitigen:  die  „Relationen  zwischen  Ideen" 
bleiben  von  rein  tatsächlichen  Feststellungen  über  das  Bei- 

318 


sammen    und    die    Folge    einzelner    empirischer    Merkmale 
prinzipiell  getrennt*. 

Je  schärfer  indessen  diese  Trennung  durchgeführt  wird, 
um  so  mehr  tritt  andererseits  die  Eigenart  des  rein 
empirischen  Urteils  hervor :  und  diese  Eigenart  scheint 
nunmehr  in  der  Tat  in  nichts  anderem  zu  bestehen,  als  in  der 
bewußten  Einschränkung  der  Geltung  der  Urteilsverknüpfung 
auf  den  zeitlichen  Moment  der  Urteilsfällung.  In  diesem 
Sinne  ist  das  Verhältnis  der  beiden  Arten  von  Wahrheiten 
bereits  von  Locke  gefaßt  worden.  Der  Grundsatz  der  Un- 
veränderlichkeit  derselben  Beziehungen  zwischen  den  gleichen 
intellektuellen  Gegenständen  ist  es,  worauf,  nach  ihm,  die 
Gültigkeit  der  mathematischen  Erkenntnisse  beruht.  Was 
von  einem  Dreieck  bewiesen  ist,  das  ist  sogleich  und  ohne 
weitere  Vermittlung  auf  alle  Dreiecke  übertragbar:  denn 
die  einzelne  anschauliche  Vorstellung  des  Dreiecks  steht  im 
Beweis  nicht  für  sich  selbst,  sondern  will  nur  ein  zufällig 
herausgegriffenes  besonderes  Sinnbild  für  einen  allgemein- 
gültigen und  dauernden  Sachverhalt  sein.  Bei  allen 
Urteilen,  die  über  das  Gebiet  unserer  intellektuellen  Vor- 
stellungen auf  die  Existenz  der  Dinge  hinaus- 
gehen, aber  ist  uns  dieser  Ausblick  versagt.  Die  äußeren 
Dinge  künden  sich  uns  nicht  anders  an  und  bringen  sich  auf 
keinem  anderen  Wege  zum  Bewußtsein,  als  in  den  sinnlichen 
Eindrücken,  die  sie  in  uns  erregen:  ihre  Gewißheit  kann 
daher  auch  von  keiner  anderen  Art  sein,  als  die  dieser  Ein- 
drücke selbst.  Der  Bestand  der  Sinnesempfindung  aber 
reicht  nicht  weiter  als  ihre  unmittelbare  Gegenwart. 
Ist  sie  einmal  entschwunden,  so  ist  uns  damit  zugleich  das 
einzige  Kriterium,  das  wir  für  die  Existenz  des  Dinges  besaßen, 
genommen  und  damit  allen  Aussagen  über  die  näheren  Be- 
schaffenheiten und  Merkmale  dieser  Existenz  der  Boden  ent- 
zogen.    Urteile  über  das  Dasein  der  Dinge  besitzen  daher 


*  Daß  gerade  die  echte  psychologische  „Empirie"  diese  Trennung 
durchaus  bestätigt  und  aufrecht  erhält,  geht  mit  besonderer  Deutlichkeit 
aus  der  Polemik  hervor,  die  James  an  diesem  Punkt  gegen  Spencer 
und  M  i  1 1  richtet.  (The  Principles  of  Psychology,  London  1901,  bes.  Vol.  II, 
645,  654,  661  u.  s.) 

319 


stets  nur  relative  und  eingeschränkte  Wahrheit;  denn  so 
überzeugend  und  evident  sie  uns  erscheinen  mögen,  solange 
wir  der  direkten  Empfindung  hingegeben  sind,  so  wenig 
haben  wir  eine  sichere  Gewähr,  daß  das  momentane  Zeugnis 
der  Empfindung  sich  jemals  streng  in  derselben  Weise  wieder- 
holen werde.  Notwendige  Erkenntnis  gibt  es  demnach  nur 
von  solchen  Gegenständen,  die,  gleich  den  Objekten  der  reinen 
Mathematik,  auf  jede  konkrete  Wirklichkeit  verzichten; 
während  in  dem  gleichen  Augenblick,  in  welchem  diese  Wirk- 
lichkeit in  den  Kreis  unserer  Betrachtung  einbezogen  wird, 
auch  der  Charakter  des  Wissens  eine  völlige  Umbildung  er- 
fährt. — 

So  einleuchtend  jedoch  diese  Unterscheidung  ist,  wenn 
man  sie  lediglich  vom  abstrakten  Standpunkt  der  Erkenntnis- 
theorie erwägt,  so  bietet  sie  dennoch  ein  schwieriges  Problem 
dar,  sobald  man  ihr  das  konkrete  Verfahren  der  Naturwissen- 
schaft gegenüberstellt.  Die  Schilderung,  die  Locke  hier  ent- 
wirft und  die  seither  mit  geringen  Abwandlungen  häufig 
wiederholt  worden  ist,  könnte  allenfalls  als  ein  richtiger  Aus- 
druck für  dasjenige  erscheinen,  was  die  rein  empirisch-induk- 
tiven Sätze  der  Naturwissenschaft  sein  sollten:  aber 
sie  trifft  sicherlich  nicht  das,  was  sie  in  Wirklichkeit  sind. 
Kein  Urteil  der  Naturwissenschaft  beschränkt  sich  darauf, 
zu  konstatieren,  welche  sinnlichen  Eindrücke  sich  im  Bewußt- 
sein eines  einzelnen  Beobachters  in  einem  bestimmten,  streng 
begrenzten  Zeitpunkt  zusammengefunden  haben.  Gibt  es 
Urteile,  die  hiervon  sprechen,  so  sind  sie  den  erzählenden 
Urteilen  der  Psychologie,  nicht  den  theoretischen  und  be- 
schreibenden Urteilen  der  allgemeinen  Naturwissenschaften 
zuzurechnen.  Wie  der  Mathematiker,  der  von  den  Relationen 
zwischen  geometrischen  Gestalten  oder  zwischen  reinen  Zahlen 
handelt,  in  seine  Aussagen  nichts  über  die  Beschaffenheit 
der  besonderen  Vorstellungsbilder  einfließen  läßt,  in  welchen 
er  sich  diese  Verhältnisse  sinnlich  darstellt,  so  geht  auch  der 
Forscher,  der  das  Ergebnis  einer  experimentellen  Unter- 
suchung ausspricht,  über  einen  einfachen  Bericht  seiner 
besonderen  individuellen  Wahrnehmungserlebnisse  beständig 
hinaus.    Was  er  feststellt,  ist  nicht  die  Abfolge  und  das  Spiel 

320 


gewisser  Sinneseindrücke,  die  in  ihm  aufgetaucht  sind,  um 
wiederum  in  Nichts  zu  verschwinden,  sondern  die  konstanten 
J.Eigenschaften"  konstanter  Dinge  und  Vorgänge.  Freilich 
liegt  bei  diesem  Fortgang  von  dem  bloßen  Prozeß  der  Sinnes- 
empfindung zu  bestimmten  ,, objektiven"  Behauptungen  der 
metaphysische  Begriff  der  ,, Transzendenz"  noch  völlig 
fern.  Die  Umformung,  die  sich  hier  vollzieht  und  die  erst 
das  naturwissenschaftliche  Urteil  erschafft  und  ermöglicht, 
gibt  den  Sinnesdaten  nur  insofern  eine  neue  Seinsform, 
als  sie  ihnen  eine  neue  Erkenntnisform  aufprägt. 
Dieses  letztere  Moment  läßt  sich  völlig  unabhängig  von  allen 
weitergehenden  metaphysischen  Behauptungen,  die  man  nach- 
träglich daran  knüpfen  mag,  heraussondern  und  festhalten. 
Es  ist  in  erster  Linie  eine  neue  Art  der  zeitlichen  Gel- 
tung, die  jetzt  dem  Urteil  zugesprochen  wird.  Auch  das 
einfachste  Urteil  über  irgendeinen  empirischen  Sachverhalt 
spricht  diesem  einen  Bestand  und  eine  Dauer  zu,  die 
das  flüchtige  sinnliche  Erlebnis  als  solches  nicht  zu  erreichen 
und  nicht  zu  gewährleisten  vermag.  Der  Satz,  daß  Schwefel 
bei  einer  bestimmten  Temperatur  schmilzt,  daß  Wasser  bei 
einer  bestimmten  Temperatur  gefriert,  bedeutet  —  abgesehen 
von  den  mannigfachen  theroetischen  Voraussetzungen,  die 
im  bloßen  Begriff  der  „Temperatur"  eingeschlossen  sind  — 
schon  in  seiner  schlichten  Aussprache  eine  Feststellung, 
die  auf  keinen  isolierten  zeitlichen  Moment  beschränkt  sein 
will.  Er  enthält  die  Behauptung,  daß,  so  oft  auch  immer  die 
Bedingungen,  die  im  Subjektsbegriff  zusammengefaßt  sind, 
sich  verwirklicht  finden,  die  Folgen,  die  der  Prädikatsbegriff 
aussagt,  stets  und  notwendig  an  sie  geknüpft 
sein  werden.  Der  Augenblick  der  unmittelbaren  Wahr- 
nehmung erweitert  sich  für  den  Gedanken  zum  Ganzen  des 
Zeitverlaufs,  der  nunmehr  in  seiner  Gesamtheit  wie  mit  einem 
Blicke  überschaut  wird.  Diese  logische  Funktion  ist  es, 
die  jeglichem  Experiment  erst  seine  eigentümliche  Beweis- 
kraft verleiht.  Jede  wissenschaftliche  Entscheidung,  die 
wir  auf  ein  Experiment  gründen,  stützt  sich  auf  die  latente 
Voraussetzung,  daß  das,  was  hier  und  jetzt  als  gültig  befunden 
wird,  auch  für  alle  Orte  und  alle  Zeiten  gültig  bleibt,  sofern 

Cassirer.  Substanzbegriff  21  321 


die  sonstigen  Bedingungen  des  Versuchs  ungeändert  bleiben. 
Erst  kraft  dieses  Prinzips  wandelt  sich  die  „subjektive" 
Tatsache  der  sinnlichen  Wahrnehmung  in  die  „objektive" 
Tatsache  des  wissenschaftlichen  Urteils.  So  bestätigt  es  sich 
von  einer  neuen  Seite  her,  wie  sehr  —  nach  dem  Goetheschen 
Wort  —  alles  Faktische  schon  Theorie  ist:  denn  erst  der 
Gedanke  der  notwendigen  Bestimmtheit  des 
Geschehens  ist  es,  der  dazu  führt,  eine  einzelne  vor- 
überrauschende Beobachtung  gleichsam  zum  Stehen  zu  bringen 
und  sie    als  Faktum  „festzustellen".  — 

Auch  solche  Forscher,  die  ausschließlich  auf  dem  Boden 
der  empirischen  , .Tatsachen"  zu  stehen  glauben  und  die  jede 
Selbständigkeit  des  Intellekts  gegenüber  den  Daten  der  un- 
mittelbaren Wahrnehmung  verwerfen,  haben  daher  die  Eigenart 
dieser  gedanklichen  Funktion  ausdrücklich  bezeugt.  Durch 
alle  vermeintliche  Skepsis  hindurch  dringt  bei  ihnen  bis- 
weilen der  Ausdruck  dieser  einheitlichen  Grundüberzeugung. 
„Die  Beziehungen  zwischen  den  verschiedenen  Erscheinungen", 
so  heißt  es  etwa  bei  O  s  t  w  a  1  d,  „die  einmal  erkannt  worden 
sind,  bleiben  als  unzerstörbare  Bestandteile  aller  künftigen 
Wissenschaft  bestehen.  Es  kann  vorkommen,  und  kommt 
sogar  sehr  häufig  vor,  daß  die  Form,  in  welcher  jene  Be- 
ziehungen zuerst  ausgesprochen  worden  waren,  sich  als  un- 
vollkommen erweist,  daß  die  Beziehungen  nicht  als  ganz 
allgemein  aufrecht  zu  erhalten  sind,  sondern  sich  anderen 
Einflüssen,  die  sie  ändern,  unterworfen  erweisen,  an  die  man 
bei  ihrer  Entdeckung  und  ersten  Formulierung  nicht  hat 
denken  können,  weil  sie  unbekannt  waren.  Aber  wie  sich  die 
Wissenschaft  auch  umgestalten  möge,  ein  bestimmter  unver- 
lierbarer Rest  jener  ersten  Erkenntnis  bleibt  bestehen,  und 
eine  einmal  von  der  Wissenschaft  erworbene  Wahrheit  hat  in 
solchem  Sinne  ein  ewiges  Leben,  d.  h.  sie  besteht  so  lange, 
als  menschliche  Wissenschaft  bestehen  wird*."  Dieses  Moment 
der  „Ewigkeit"  ist  auch  den  empirischen  Urteilen  über  Tat- 
sachen eigen.  Kein  Zusammenhang  zwischen  Beobachtungen, 
der  einmal  objektiv  festgestellt  ist,  kann  im  weiteren  Fortgang 


*  Ofltwald,  Gnindriß  der  Naturphilosophie,  S.  15. 

322 


1 


der  Untersuchung  schlechthin  vernichtet  werden.  Die  neuen 
Tatsachen,  die  wir  auffinden,  verdrängen  die  früheren  Er- 
fahrungen nicht  in  jedem  Sinne,  sondern  fügen  ihnen  nur 
bestimmte  begriffliche  Determinationen  hinzu.  Und 
diese  Umwandlung  betrifft  im  Grunde  nicht  sowohl  die 
Urteilsverknüpfung  als  solche,  als  vielmehr  das  Subjekt, 
auf  das  sie  sich  bezieht.  Denken  wir  uns  etwa  einen  gewissen 
Stoff  durch  die  Angabe  seiner  physikalischen  und  chemischen 
Merkmale  und  Reaktionen  bestimmt,  so  wird  durch  irgend- 
welche Gegeninstanzen,  die  sich  im  Laufe  der  fortschreitenden 
Beobachtung  einstellen,  durch  irgendeine  Änderung,  die  er 
in  seinem  Verhalten  zeigt,  der  zuvor  behauptete  Zusammen- 
hang von  Bestimmungen  noch  keineswegs  als  solcher  auf- 
gelöst. Wäre  das  empirische  Urteil  auf  den  Zeitmoment  be- 
zogen und  an  ihn  gebunden,  so  müßte  hier  ein  einfaches  Ver- 
hältnis der  Vernichtung  und  Neuschöpfung  gelten :  der  spätere 
Augenblick  würde  den  früheren  und  mit  ihm  alle  die  „Wahr- 
heiten", die  ja  nur  für  ihn  fixiert  und  ausgesprochen  waren, 
aufheben.  Wie  er  sich  im  realen  Verlauf  des  Geschehens  an 
seine  Stelle  setzt,  so  würde  er  auch  eine  innere  Veränderung 
der  empirischen  Gesetzlichkeit  der  Dinge  in  sich 
schließen.  In  Wahrheit  aber  besitzt  für  uns  jeder  Körper  eine 
identische  Struktur  und  Beschaffenheit,  die  wir  ihm  ein 
für  allemal  zusprechen.  Die  abweichenden  Ergebnisse  bringen 
wir  daher  niemals  dadurch  zum  Ausdruck,  daß  wir  annehmen, 
ein  und  derselbe  Körper  habe  sich  in  seinen  Grundeigenschaften 
gewandelt,  sondern  dadurch,  daß  wir  eben  die  Identität  des 
beobachteten  Gegenstands  selbst  in  Frage  stellen.  Was  wir 
jetzt  vor  uns  sehen,  das  ist  uns  nicht  mehr  dasselbe 
empirische  Objekt,  das  sich  uns  zuvor  darbot,  sondern  es  gilt 
uns  durch  irgendwelche  Bedingungen,  die  es  zu  ermitteln  und 
festzustellen  gilt,  modifiziert.  So  wird  nicht  die  Wahrheit 
des  früheren  Urteils  ,,S  ist  P"  bestritten  und  durch  den 
Gegensatz  ,,S  ist  nicht  P"  entkräftet:  sondern  es  wird,  unter 
Aufrechterhaltung  des  ersten  Satzes,  die  Umwandlung  ver- 
folgt, die  das  Urteil  erfahren  muß,  wenn  S  in  S'  übergeht. 
Der  Fortschritt  der  Beobachtungen  birgt  daher  zugleich  einen 
steten  Fortschritt  der  Analyse  in  sich:  er  scheidet  Fälle,  die 

21*  323 


der  ersten  vagen  Betrachtung  als  völlig  gleichartig  erscheinen, 
immer  schärfer  und  genauer  und  hebt  die  charakteristischen 
Differenzen  jedes  Einzelfalls  heraus.  Denkt  man  sich  diese 
Arbeit  der  Analyse  abgeschlossen  und  damit  völlig  bestimmte 
Subjekte  gewonnen,  so  würde  diese  Eindeutigkeit  des 
Subjekts  auch  die  Eindeutigkeit  und  Notwendigkeit  des 
Urteilszusammenhangs  in  sich  schließen.  Das  Moment  der 
Ungewißheit,  das  die  empirischen  Urteile  gegenüber  den 
rationalen  enthalten,  betrifft  daher  immer  nur  die  Subsumption 
des  gegebenen  unter  den  ideal  bestimmten  Fall.  Nicht  dies 
ist  fraglich,  ob  einem  streng  umgrenzten  Inhalt  a  das  Prä- 
dikat b  zukommt  oder  nicht,  sondern  ob  ein  gegebener  Inhalt 
alle  Bedingungen  des  Begriffs  a  erfüllt  oder  etwa  durch  einen 
davon  verschiedenen  Begriff  a'  zu  bestimmen  ist.  Nicht  ob  a 
wahrhaft  6,  sondern  ob  das  x,  das  die  bloße  Wahrnehmung 
uns  liefert,  wahrhaft  a  ist,  bildet  das  Problem.  Hier  liegt  der 
eigentliche  Vorrang  der  mathematischen  Begriffsbildung: 
denn  die  Gegenstände  dieser  Begriffsbildung  sind  nichts 
anderes,  als  das,  wozu  unsere  ideale  Konstruktion  sie  gemacht 
hat,  während  jeder  empirische  Inhalt  unbekannte  Bestim- 
mungen in  sich  birgt,  von  ihm  also  niemals  mit  voller  Sicher- 
heit zu  entscheiden  ist,  welchem  der  verschiedenen  hypotheti- 
schen Begriffe,  die  wir  zuvor  konzipiert  und  in  ihre  Folgerungen 
entwickelt  haben,  er  einzuordnen  ist.  — 

Die  Analyse  des  empirischen  Urteils,  die  Locke  versucht 
hat,  erweist  sich  damit  als  innerlich  unzureichend:  denn  sie 
verhüllt  jenes  Moment  der  Notwendigkeit  derVer- 
knüpfung,  das  auch  der  Aussage  über  Tatsachen  eigen 
ist  und  ihr  erst  ihren  wahrhaften  Halt  verleiht.  Kant, 
für  den  diese  Notwendigkeit  zum  eigentlichen  Grundproblem 
geworden  ist,  zeigt  sich  in  der  ersten  Einführung  seiner 
kritischen  Frage  dennoch  in  einem  Punkte  noch  von 
Locke  abhängig.  Die  Unterscheidung  der  Wahrneh- 
mung s  -  und  Erfahrungsurteile,  auf  die  er  sich 
stützt,  hat  nicht  sowohl  unmittelbar  sachliche,  als  didaktische 
Bedeutung:  sie  knüpft  an  die  sensualistische  Auffassung  des 
Urteils  an,  um  ihr  einen  neuen  Sinn  und  eine  tiefere  Deutung 
abzugewinnen.       Empirische    Urteile,    sofern    sie    objektive 

324 


Gültigkeit  haben,  sollen  Erfahrungsurteile,  diejenigen  aber, 
die  nur  subjektiv  gültig  sind,  bloße  Wahrnehmungsurteile 
heißen.  Der  letztere  Begriff  deckt  und  umfaßt  somit  alles  das, 
was  der  dogmatische  Empirismus  als  das  eigentliche  Kenn- 
zeichen und  den  Charakter  der  Erfahrung  selbst  ansieht. 
Das  ,,Wahrnehmungsurteir'  zum  mindesten  ist  nichts  anderes 
und  will  nichts  anderes  sein  als  ein  Bericht  über  ein  momentanes 
und  individuelles  Erlebnis:  es  verknüpft  Subjekt  und  Prä- 
dikat nicht  nach  irgendeinem  Gesichtspunkt  der  gedanklichen 
Abhängigkeit  und  Zusammengehörigkeit,  sondern  greift  beide 
nur  derart  auf,  wie  sie  sich  zufällig  in  einem  einzelnen  Be- 
wußtsein nach  den  „subjektiven"  Regeln  der  Assoziation 
zusammenfinden.  Wir  konstatieren  in  ihm  nur  das  Bei- 
sammen zweier  Inhalte,  ohne  sie  in  irgendein  Verhältnis 
wechselseitiger  Bedingtheit  zu  setzen.  Je  weiter  in- 
dessen die  Kantische  Unterscheidung  fortschreitet,  um  so 
mehr  zeigt  es  sich,  daß  das  Wahrnehmungsurteil  in  dieser 
Fassung  nur  ein  methodisch  konstruierter  Grenzfall 
sein  will,  der  den  neu  gewonnenen  Begriff  der  wissenschaft- 
lichen Objektivität  durch  seinen  Gegensatz  beleuchten  soll, 
der  aber  keine  reale  Trennung  der  Urteile  selbst  in  zwei 
heterogene  Klassen  mit  sich  führt.  Jedes  Urteil  beansprucht, 
so  sehr  es  seinen  Subjektsbegriff  einschränkt,  innerhalb  dieses 
selbstgewählten  engeren  Umkreises  ein  bestimmtes  Maß 
objektiver  Geltung.  Es  begnügt  sich  niemals  mit  der  Fest- 
stellung eines  bloßen  Nebeneinander  von  Vorstellungen, 
sondern  stiftet  zwischen  ihnen  eine  funktionale  Zuordnung, 
so  daß  immer,  wenn  der  eine  Inhalt  gegeben  ist,  der  andere 
uns  als  gefordert  gilt.  Das  ,,Ist"  der  Kopula  ist  der  Ausdruck 
dieser  Verknüpfung,  die  somit  als  unentbehrlicher  Faktor 
auch  in  jede  Aussage  über  einen  empirisch  einzelnen  Gegen- 
stand eingeht.  Der  Satz,  daß  der  Körper  schwer  ist,  will 
nicht  sagen,  daß,  so  oft  ich  bisher  einen  Körper  getragen  habe, 
eine  bestimmte  Tast-  und  Druckempfindung  sich  eingestellt 
habe,  sondern  er  will  einen  Zusammenhang  feststellen,  der 
im  Objekt  gegründet  ist  und  ihm  unabhängig  vom  Zustand 
dieses  oder  jenes  empfindenden  Individuums  zukommt.  Auch 
das  einzelne,   „aposteriorische"   Urteil  enthält  daher  in   der 

325 


Notwendigkeit  des  Zusammenhangs,  die  es  behauptet,  jederzeit 
einen  „apriorischen"  Einschlag*.  In  der  endgültigen  Fassung 
des  Systems  der  Erfahrung  ist  demnach  der  Hilfsbegriff 
des  bloßen  Wahrnehmungsurteils  überwunden  und  aus- 
geschaltet. Zwar  kann  auch  das  Einzelne  alsEinzelnes 
Gegenstand  einer  wissenschaftlichen  Aussage  sein,  so  daß 
ein  hier  und  jetzt  gegebener  Zustand  des  Seins  den  Inhalt  des 
Urteils  ausmacht.  Aber  auch  in  diesem  Falle  treten  wir  nicht 
aus  dem  Gebiet  der  objektiven  Notwendigkeit  in  das  der 
bloßen  ,, Zufälligkeit"  über,  sondern  wir  versuchen  umgekehrt, 
das  Besondere  selbst  als  notwendig  zu  begreifen,  indem  wir 
ihm  innerhalb  des  kausalen  Geschehens,  das  von  eindeutigen 
Gesetzen  beherrscht  wird,  seine  feste  Stelle  anweisen.  Der 
Kreis  des  Notwendigen  selbst  verengt  sich  und  zieht  sich  zu- 
sammen, bis  er  zu  immer  näherer  Bestimmung  des  scheinbar 
,, Zufälligen"  zureichend  wird.  In  diesem  Sinne  bestimmen  wir 
etwa  die  astronomische  Lage  und  Stellung  der  Himmelskörper 
für  einen  gegebenen  einmaligen  Zeitpunkt,  indem  wir  hierbei 
die  allgemeingültigen  Relationen,  die  die  Prinzipien  der 
Mechanik  sowie  das  Gravitationsgesetz  uns  darbieten,  zugrunde 
legen.  Nicht  die  schlechthin  isolierte  zeitliche  Setzung  als 
solche,  sondern  die  Einordnung  eben  dieser  Setzung  in  den 
Gesamtverlauf  des  Geschehens  bildet  auch  hier  das  eigentliche 
Ziel  der  „Induktion".  — 

Das  „Geheimnis  der  Induktion",  von  dem  man  oft 
gesprochen  hat,  beginnt  daher  nicht  erst  dort,  wo  wir  aus  einer 
Mehrheit  von  Beobachtungen  einen  Schluß  auf  die 
Allheit  der  Fälle  ziehen,  sondern  es  ist  bereits  in  der  Fest- 
stellung irgendeines  Einzelfalles  vollständig  und  un- 
geteilt enthalten.  Die  Lösung  des  Problems  der  Induktion 
kann  nur  in  dieser  Erweiterung  seines  Inhalts  gesucht  werden. 
In  der  Tat  wäre  es  nicht  zu  verstehen,  wie  die  bloße  Wieder- 
holung und  Nebeneinanderreihung  von  Einzelbeobachtungen 
dem  Besonderen  irgendeine  neue  logische  Würde  verleihen 
sollte.  Die  bloße  Anhäufung  von  Elementen  vermag  diesen 
keine    völlig    veränderte    begriffliche    Bedeutung    zu    geben; 


*  Vgl.  Kritik  der  reinen  Vernunft,  2.  Aufl.,  S.  141  f. 
326 


sie  vermag  nur  die  Bestimmungen,  die  im  Element  selbst 
bereits  gesetzt  sind,  zu  größerer  Deutlichkeit  zu  erheben. 
Schon  im  einzelnen  Fall  muß  ein  Moment  verborgen  liegen, 
das  ihn  über  seine  Begrenzung  und  Isolierung  hinaushebt. 
Die  Funktion,  kraft  deren  wir  einen  empirischen  Inhalt  über 
die  Grenzen,  in  denen  er  uns  zeitlich  gegeben  ist,  weiter- 
verfolgen und  ihn  für  alle  Punkte  der  Zeitreihe  in  seiner 
Bestimmtheit  festhalten,  bildet  somit  den  eigentlichen  Kern 
des  induktiven  Verfahrens.  Die  Beziehung,  die  sich  uns 
zunächst  nur  für  einen  einzigen,  unteilbaren  Moment  kund  tut, 
wächst  über  ihre  anfängliche  Sphäre  hinaus,  bis  sie  die  Ge- 
samtheit der  künftigen  Zeitpunkte  in  irgendeiner  Weise 
bestimmt.  So  schließt  bereits  jegliches  Einzelurteil  ein  Motiv 
der  Unendlichkeit  in  sich,  sofern  der  Inhalt,  der  in 
ihm  gesetzt  ist,  sich  auf  die  Totalität  der  Zeiten  überträgt 
und  gleichsam  in  beständiger  identischer  Neuerzeugung  durch 
diese  Totalität  hin  sich  fortsetzt.  Das  dauernde  empirische 
Objekt  samt  seinen  konstanten  empirischen  Eigenschaften 
ist,  mathematisch  ausgedrückt,  immer  erst  das  Integral 
der  momentanen  Beschaffenheiten,  von  denen  der  einzelne 
Versuch  uns  Kunde  gibt.  Der  logische  Prozeß  der  Integration 
aber  wäre  nicht  möglich,  wenn  nicht  auch  hier  im  Element 
bereits  die  Beziehung  auf  das  Ganze  läge,  d.  h.  wenn  nicht 
der  wechselnde  Inhalt  der  Erfahrung,  so  zersplittert  und 
vereinzelt  er  sich  scheinbar  darbieten  mag,  doch  stets  den 
Hinweis  auf  ihre  gleichbleibende  gesetzliche  Form  in  sich 
schlösse.  Kraft  dieses  Hinweises  erweitert  sich  der  beschränkte 
räumlich-zeitliche  Umkreis  der  Erfahrungen,  der  uns  allein 
zu  Gebote  steht,  zur  Probe  und  zum  Sinnbild  für  die  syste- 
matische Verfassung  der  Wirklichkeit  überhaupt.  Nur 
wenn  wir  uns  alle  Glieder  des  Geschehens  durch  not- 
wendige Relationen  verknüpft  denken,  können  wir  irgendeine 
einzelne  Phase,  die  wir  herausheben,  als  Darstellung  und 
Symbol  des  Gesamtprozesses  und  seiner  durchgehenden 
Regel  brauchen.  Diese  symbolische  Bedeutung  aber  ist  es, 
die  jeder  Induktionsschluß  für  sich  in  Anspruch  nimmt: 
die  einzelne  Bestimmung  selbst,  die  der  sinnliche  Eindruck 
darbietet,  wird  ihm  zur  Norm,  die  in  dem  gedanklichen  Aufbau 

327 


der  empirischen  Wirklichkeit  als  dauernder  Grundzug  er- 
halten bleiben  muß.  Jede  besondere  Erfahrung,  die  nach  den 
objektiven  Verfahrungsweisen  und  Kriterien  der  Wissenschaft 
festgestellt  ist,  setzt  sich  zunächst  gleichsam  absolut:  was  das 
methodisch  geleitete  und  gepriifte  Experiment  einmal  gelehrt 
hat,  kann  nie  wieder  völlig  der  logischen  Vernichtung  anheim- 
fallen. Die  Aufgabe  der  Induktion  besteht  darin,  alle  diese 
verschiedenen  Aussagen,  die  sich  vielfältig  zu  kreuzen  und 
einander  zu  widersprechen  scheinen,  insofern  zu  vereinen, 
als  jeder  von  ihr  eine  ganz  bestimmte  Geltungssphäre  zu- 
gewiesen wird.  Was  für  die  gewöhnliche  sinnliche  Auffassung 
ein  identischer  Bestand  von  Bedingungen  ist,  an  die  jedoch 
bald  der  eine,  bald  der  andere  Erfolg  geknüpft  ist,  das  tritt 
hier  in  bestimmt  geschiedene  Sonderfälle  auseinander,  die  in 
irgendeinem  theoretisch  aufzeigbaren  Umstand  variieren  und 
deren  Abweichung  voneinander  daher  selbst  als  notwendig 
begriffen  wird.  — 

Im  Verhältnis  des  induktiven  Einzelfalles  zur  Gesamtheit 
der  wissenschaftlichen  Erfahrung  wiederholt  sich  daher  eine 
Bestimmung,  die  sich  überall  dort  feststellen  läßt,  wo  das 
Problem  vorliegt,  ein  ,,  Ganzes"  zu  definieren,  das  nicht 
lediglich  die  Summe  seiner  Teile,  sondern  ein  syste- 
matischer Inbegriff  ist,  der  aus  den  Beziehungen 
zwischen  ihnen  hervorgeht.  Die  Logik  scheidet  von  alters 
her  zwischen  „diskreten"  und  ,, kontinuierlichen"  Ganzen. 
In  den  ersteren  gehen  die  Teile  voran  und  sind,  unabhängig 
von  der  Verknüpfung,  die  sie  nachträglich  eingehen,  als 
isolierte  und  selbständige  Bestandstücke  möglich  und  auf- 
zeigbar. Das  ,, Element"  des  Kontinuums  dagegen  widerstrebt 
einer  derartigen  Vereinzelung:  es  erhält  seinen  Inhalt  erst 
von  der  Beziehung  zu  der  Gesamtheit  des  Systems,  dem  es 
angehört  und  büßt,  abgetrennt  von  ihm,  jede  Bedeutung  ein. 
So  läßt  sich  etwa  eine  Linie  als  eine  unendliche  Mannigfaltig- 
keit von  Punkten  definieren;  aber  diese  Definition  ist  nur 
dadurch  möglich,  daß  der  „Punkt"  selbst  zuvor  als  Ausdruck 
einer  reinen  Lage-Relation  gefaßt,  die  Beziehung  des  räum- 
lichen ,, Beisammen"  mit  anderen  gleichartigen  Elementen 
also  fertig  in  ihn  hineingelegt  wird.   Im  gleichen  Sinne  läßt  sich 

328 


sagen,  daß  das  Gesetz  der  Erfahrung  nur  darum  aus  den 
einzelnen  Fällen  „resultiert",  weil  es  in  jedem  von  ihnen 
bereits  stillschweigend  mitgesetzt  ist.  Das  einzelne  empirische 
Urteil  enthält  als  unentwickelte  Forderung  bereits  den  Ge- 
danken der  durchgängigen  Bestimmtheit  des  Naturgeschehens, 
der  im  vollendeten  System  der  Erfahrung  als  abgeschlossenes 
Ergebnis  vorliegt.  Jede  Aussage  über  ein  bloßes  Beisammen 
von  empirischen  Bestimmungen  zielt  schon  auf  den  Gedanken 
hin,  daß  diese  Bestimmungen  irgendwie  ineinander 
gegründet  sind,  wenngleich  die  Form  dieser  Abhängigkeit 
nicht  unmittelbar  bekannt,  sondern  erst  fortschreitend  zu  er- 
mitteln ist.  Wie  dem  einzelnen  Punkt  der  allgemeine 
Relationscharakter  der  Lage  und  der  Distanz  anhaftet, 
so  haftet  daher  der  einzelnen  Erfahrung  bereits  der  universelle 
Gesetzescharakter  an.  Das  Einzelne  ist  nicht  anders  als  im 
Zusammenhang  mit  anderen  örtlichen  und  zeitlichen,  näheren 
oder  entfernteren  Elementen  erfahrbar;  und  diese  Art 
des  Zusammenhangs  setzt  ein  System  der  Raum-  und 
Zeitstellen,  sowie  ein  einheitliches  Ganzes  der  kausalen  Zu- 
ordnungen voraus.  Der  Tatbestand  a  ist  uns  nur  in  funktio- 
naler Form  als  f  (a),  rp  (ß),  ^  (•()  zugänglich,  wobei  f,  cp,  \p 
die  verschiedensten  Weisen  der  räumlich  -  zeitlichen,  sowie 
der  ursächlichen  Verknüpfung  bezeichnen.  Der  logische 
Akt  der  ,,  Integration",  der,  wie  sich  zeigte,  bereits  in 
jedem  echten  Induktionsurteil  mitwirkt,  enthält  daher  jetzt 
keine  Paradoxie  und  keine  innere  Schwierigkeit  mehr:  die 
Erweiterung  des  Einzelnen  zum  Ganzen,  die  hierin  zu  liegen 
scheint,  ist  möglich,  weil  die  Beziehung  zum  Ganzen  von 
Anfang  an  im  Einzelfall  nicht  ausgeschaltet,  sondern  fest- 
gehalten ist  und  nur  der  gesonderten  begrifflichen  Heraus- 
hebung bedarf. 

Die  Tendenz  auf  einen  unveränderlichen  Bestand,  der 
im  Kommen  und  Gehen  der  sinnlichen  Phänomene  festzu- 
halten ist,  eignet  daher  dem  induktiven  Denken  nicht 
minder,  als  dem  mathematischen  Denken:  beide  sind  nicht 
ihrem  Ziele  nach,  sondern  durch  die  Mittel,  deren  sie  sich  in 
der  Verfolgung  dieses  Zieles  bedienen,  voneinander  geschieden. 
Wir  konnten  in  der  Entwicklung  der  geometrischen  Methoden 

329 


verfolgen,  wie  alle  die  mannigfachen  Richtungen,  in  denen 
das  moderne  geometrische  Denken  sich  bewegt,  sich  zur 
Einheit  zusammenschließen,  sofern  sie  unter  dem  allgemeinen 
Gesichtspunkt  der  „Invariantentheorie"  gestellt  und  von 
ihm  aus  charakterisiert  werden.  Jede  spezielle  Ausprägung 
der  Geometrie  ist  jetzt  einer  bestimmten  Gruppe  von  Trans- 
formationen, die  sich  streng  bezeichnen  und  gegeneinander 
abgrenzen  lassen,  als  zugehörige  Invariantentheorie  zugeordnet. 
Der  Gedanke  der  Konstanz  und  der  der  Verände- 
rung zeigten  sich  schon  hier  wechselweise  durcheinander 
bedingt:  nur  im  Hinblick  auf  mögliche  Veränderungen 
ließen  sich  die  dauernden  Zusammenhänge,  die  die  Geometrie 
behauptet,  aussprechen  und  formulieren.  (S.  ob.  S.  116  ff.) 
Jetzt  erscheint  dieses  fundamentale  logische  Verhältnis  in 
einem  neuen  Licht.  Auch  jegliche  Aussage  über  eine  empirische 
Zusammengehörigkeit  von  Elementen  stellt  eine  Behauptung 
dar,  die  unabhängig  vom  jeweiligen  absoluten  Raum- 
oder Zeitpunkt  gelten  soll.  Maxwell  hat  gelegentlich 
dem  allgemeinen  „Kausalgesetz"  eine  Wendung  gegeben, 
in  welcher  es  diese  Forderung  zum  Ausdruck  bringt.  Der 
Satz,  daß  gleiche  Ursachen  immer  gleiche  Wirkungen  her- 
vorbringen, hat,  wie  er  ausführt,  solange  keinen  scharf  aus- 
geprägten Sinn,  als  nicht  feststeht,  was  unter  gleichen  Ur- 
sachen und  gleichen  Wirkungen  zu  verstehen  ist.  Da  jedes 
Ereignis  nur  einmal  stattfindet  und  daher  schon  durch  den 
Zeitpunkt  seines  Auftretens  völlig  individualisiert  und  von 
allen  anderen  unterschieden  ist,  so  kann  die  Gleichheit, 
von  der  hier  die  Rede  ist,  niemals  im  Sinne  einer  absoluten 
Identität,  sondern  nur  relativ  zu  einem  bestimmten  Gesichts- 
punkt gemeint  sein,  der  der  ausdrücklichen  Hervorhebung 
und  Formulierung  bedarf.  Der  eigentliche  Kern  des  Kausal- 
prinzips liegt  in  der  Behauptung,  daß,  wenn  die  Ursachen 
sich  voneinander  bloß  hinsichtlich  des  absoluten  Raumes 
und  der  absoluten  Zeit  unterscheiden,  dasselbe  auch  für  die 
Wirkungen  gilt:  ,,der  Unterschied  zwischen  zwei  Ereignissen 
hängt  nicht  ab  von  dem  reinen  Unterschiede  der  Zeiten  oder 
der  Orte,  in  denen  und  an  denen  sie  stattfinden,  sondern  nur 
von  Unterschieden  in  dem  Wesen,  der  Konfiguration  oder  der 

330 


Bewegung  der  betreffenden  Körper"*.  Hier  tritt  deutlich 
hervor,  daß  auch  der  Inhalt,  auf  den  das  physikalische  Urteil 
sich  richtet,  zunächst  in  Gedanken  einer  bestimmten  Änderung 
unterworfen  wird,  und  daß  das  Urteil  darauf  geht,  diejenigen 
Momente  an  ihm  herauszuheben  und  abzulösen,  die  durch 
diese  Veränderung  nicht  berührt  werden,  sondern  sich  gleich- 
artig behaupten.  Wie  wir  als  geometrische  Eigenschaften 
eines  bestimmten  Gebildes  alle  diejenigen  Merkmale  seiner 
Gestalt  bezeichnen,  die  ihm  unabhängig  von  seiner  absoluten 
Lage  im  Räume  und  von  der  absoluten  Größe  der  Bestimmungs- 
stücke zukommen,  so  greift  eine  analoge  Betrachtungsweise 
hier  auf  die  Zeit  über.  Ein  funktionales  Verhältnis  f  (a,  b), 
das  nur  für  einen  Zeitpunkt  t^  oder  für  eine  Mehrheit 
diskreter  Zeitwerte  tj,  tg,  tg  . . .  direkt  festgestellt  ist,  wird 
von  dieser  Einschränkung  losgelöst  und  der  Abhängigkeit 
von  irgendeinem  einzelnen  Zeitpunkt  der  Beobachtung 
entrückt.  Jeder  beliebige  Zeitmoment  gilt  uns,  sofern  die 
übrigen  Bedingungen  ungeändert  bleiben,  mit  demjenigen, 
der  uns  zunächst  gegeben  ist,  als  äquivalent,  so  daß 
der  jetzige  Moment  zugleich  eine  Entscheidung  für  die  ver- 
gangenen und  künftigen  enthält.  Auch  alle  Erfahrung  ist 
demnach  auf  die  Gewinnung  bestimmter  ,, invarianter"  Be- 
ziehungen gerichtet  und  gelangt  erst  in  ihnen  zu  ihrem  eigent- 
lichen Abschluß.  Der  Gedanke  des  empirischen  Natur  - 
Objekts  entsteht  und  begründet  sich  erst  in  diesem  Ver- 
fahren: denn  es  gehört  zum  Begriff  dieses  Objekts,  daß  es  sich 
im  Fortschritt  der  Zeit  „mit  sich  selbst  identisch"  erhält. 
Wir  müssen  freilich  jeden  Naturgegenstand  prinzipiell  be- 
stimmten physischen  Änderungen,  die  durch  äußere 
Kräfte  an  ihm  hervorgerufen  werden,  unterworfen  denken: 
aber  die  Reaktion  auf  diese  Einwirkungen  selbst  ließe  sich 
nicht  in  gesetzlicher  Form  darstellen,  wenn  wir  ihn  nicht 
logisch  als  gleichbleibend,  als  ausgestattet  mit  denselben 
Grundeigenschaften  und  Merkmalen  festhalten  und  gleichsam 
rekognoszieren  könnten.  Mitten  in  dem  zeitlichen  Chaos  der 
Empfindungen  schaffen  wir,   über  die  Zeit  hinwegblickend. 


♦  Maxwell,   Substanz  und  Bewegung,  Artikel  XIX. 

331 


feste  Verbindungen  und  Zuordnungen,  und  diese  sind  es, 
die  das  Grundgerüst  der  empirischen  Tatsächlichkeit  aus- 
machen. 

Somit  ist  es  stets  eine  Funktion  des  Urteils,  die  uns  der 
Beständigkeit  des  empirischen  Seins  versichert.  Und  dieser 
Sachverhalt  findet  seinen  Ausdruck  nicht  nur  in  den  In- 
duktionen der  mathematischen  Physik,  sondern  tritt  auch 
innerhalb  der  beschreibenden  Naturwissenschaft  deutlich 
hervor.  Auch  hier  zeigt  die  tiefere  Analyse,  wie  sehr  die  bloße, 
scheinbar  rein  rezeptive  Klassifikation  des  Einzelnen  von 
ideellen  Voraussetzungen,  die  sich  auf  die  Struktur  des  Ganzen 
beziehen,  durchsetzt  und  beherrscht  ist.  Für  die  Physiologie 
und  für  das  Gesamtgebiet  der  „experimentellen  Medizin" 
hat  insbesondere  Claude  B  e  r  n  a  r  d  dieses  Wechselverhältnis 
von  Idee  und  Beobachtung  allseitig  beleuchtet.  Ohne  einen 
ideellen  Gesichtspunkt  der  Vergleichung,  ohne  die  begriffliche 
Anticipation  einer  möglichen  Ordnung  läßt  sich  die 
Ordnung  des  „Wirklichen"  und  Tatsächlichen  nicht  gewinnen. 
So  zweifellos  es  ist,  daß  die  endgültige  Feststellung  dieser 
Ordnung  der  Erfahrung  zu  danken  ist,  so  ist  es  doch  auch 
hier  der  Gedanke,  der  das  Schema  der  Erfahrung  zuvor  ent- 
worfen haben  muß.  Auch  die  Induktion  der  beschreibenden 
Wissenschaften  ist  daher  stets  eine  ,, provisorische  Deduktion". 
,,Man  kann,  wenn  man  will,  das  zweifelnde  Denken  des 
experimentellen  Forschers  induktiv  nennen,  während  man 
die  apodiktischen  Behauptungen  des  Mathematikers  als 
Deduktion  bezeichnet:  aber  dies  ist  alsdann  nur  ein  Unter- 
schied, der  die  Gewißheit  oder  Ungewißheit  des  Ausgangs- 
punktes unserer  Schlußfolgerungen  betrifft,  nicht  die  Art, 
in  der  diese  Folgerungen  selbst  fortschreiten.  Das  Prinzip 
des  Folgerns  bleibt  in  beiden  Fällen  das  gleiche,  wenngleich 
der  Weg  des  Folgerns  in  zwiefacher  Richtung  durchlaufen 
werden  kann:  „es  gibt  für  den  Geist  nur  eine  Art  des 
Schließens,  wie  es  für  den  Körper  nur  eine  Art  des  Gehens  gibt"*. 
Diese  Einheit  der  Grundlage  tritt  besonders  deutlich  in  jenen 
Grenzgebieten  hervor,  in  denen  das  Denken  der  Mathematik 

♦Claude  Bernard,  Introduction  k  l'ötude  de  la  mödicino 
expörimentale,  Paris  1865,  bes.  S.  83  ff . 

332 


und  das  der  experimentellen  Forschung  sich  gleichsam  berühren. 
Wir  sahen,  wie  der  Fortschritt  des  geometrischen  Denkens 
darauf  gerichtet  war,  die  besondere  anschauliche  Eigen- 
art der  Gebilde,  auf  die  die  Untersuchung  sich  bezieht,  im 
Beweis  mehr  und  mehr  zurücktreten  zu  lassen.  Nur  der 
Relationszusammenhang  zwischen  den  Elementen  als  solcher, 
nicht  die  individuelle  Beschaffenheit  dieser  Elemente  selbst, 
erwies  sich  als  das  eigentliche  Objekt  der  geometrischen 
Betrachtung.  Mannigfaltigkeiten,  die  für  die  Anschauung 
schlechthin  ungleichartig  sind,  konnten  demnach  in  Eins 
gesetzt  werden,  wenn  und  sofern  sie  Beispiele  und  Aus- 
prägungen derselben  Regeln  der  Verknüpfung  darboten.  Ein 
entsprechendes  logisches  Verfahren  ist  es,  von  dem  auch  die 
Begriffsbildung  der  exakten  Physik  sich  beherrscht  zeigt. 
Man  hat  von  jeher  den  Analogieschluß  als  einen 
wesentlichen  Bestandteil  der  physikalischen  Methodik  und 
insbesondere  des  induktiven  Verfahrens  gekennzeichnet,  und 
kein  Geringerer  als  Kepler  ist  es,  der  ihn  als  seinen  getreuesten 
Führer  und  Lehrer,  dem  kein  Geheimnis  der  Natur  ver- 
borgen bleibt,  preist*.  Der  wissenschaftliche  Wert  der 
Analogie  aber  bleibt  unverständlich,  solange  man  sie  lediglich 
auf  eine  sinnliche  Ähnlichkeit  zwischen  Einzelfällen  stützt. 
Ist  es  doch  gerade  die  Aufgabe  der  theoretischen  Physik, 
kraft  deren  sie  sich  von  der  naiven  Betrachtung  scheidet, 
Fälle,  die  in  der  direkten  Wahrnehmung  einander  ähnlich  und 
gleichartig  erscheinen,  voneinander  zu  sondern,  indem 
sie  analytisch  immer  tiefer  in  die  Bedingungen  ihrer  Ent- 
stehung   eindringt**.      Die    echte  und  wahrhaft  fruchtbare 


*  Kepler,  Paralipomena  in  Vitellionem,  Kap.  IV,  4  (Op.  II,  187). 
—  Zum  Begriff  der  Analogie  vgl.  Mach,  Erkenntnis  und  Irrtum,  S.  218  ff. 
**  Ein  Beispiel  hierfür  bei  D  u  h  e  m  ,  La  Theorie  Physique,  S.  32  f. : 
,,La  Physique  experimentale  nous  fournit  les  lois  toutes  ensemble  et,  pour 
ainsi  dire,  sur  un  meme  plan  ....  Bien  souvent,  ce  sont  des  causes  tout 
accidentelles,  des  analogies  toutes  superficielles  qui  ont  conduit  des  obser- 
vateurs  a  rapprocher,  dans  leurs  recherches,  une  loi  d'une  autre  loi.  Newton 
a  fixe  dans  un  meme  ouvrage  les  lois  de  la  dispersion  de  la  lumiere  qui 
traverse  un  prisme  et  les  lois  des  teintes  dont  se  pare  une  bulle  de  savon 
simplement  parce  que  des  couleurs  eclatantes  signalent  aux  yeux  ces  deux 
sortes  de  ph^nomenes.  La  theorie,  au  contraire,  en  d6veloppant  les  ramifica- 
tions  nombreuses  du  raisonnement  deductif  qui  relie  les  principes  aux  lois 

333 


Analogie  beruht  denn  auch  nicht  auf  einer  sinnlichen  Über- 
einstimmung der  Merkmale,  sondern  auf  einer  begrifflichen 
Übereinstimmung  im  Relationsgefüge.  Wenn  wir,  in  der 
elektro-magnetischen  Theorie  des  Lichts,  Elektrizität  und 
Licht  als  gleichartige  Phänomene  betrachten,  so  gründet  sich 
diese  Behauptung  nicht  auf  eine  Übereinstimmung,  die  die 
Wahrnehmung  an  ihnen  erfassen  könnte,  sondern  auf  die 
Form  der  Gleichungen,  die  wir  beiderseits  als 
quantitativen  Ausdruck  der  Erscheinungen  feststellen,  sowie 
auf  die  Beziehungen  zwischen  den  numerischen  Konstanten, 
die  für  beide  Gebiete  charakteristisch  sind.  (S.  ob.  S.  216.) 
Der  Vergleich  beruht  somit  nicht  auf  einer  bloß  unbestimmten 
Ähnlichkeit,  sondern  auf  einer  wahrhaften  Identität 
des  mathematisch  faßbaren  Bedingungszusammenhangs:  und 
diese  Identität  ist  es,  die,  ebenso  wie  in  der  reinen  Mathematik, 
als  logische ,,  Invariante"  herausgehoben  und  für  sich  betrachtet 
wird.  Die  „Analogie",  die  zunächst  noch  am  Sinnlich-Einzelnen 
zu  haften  scheint,  geht  daher  —  wofür  wiederum  die  Lehre 
Keplers  das  klassische  Beispiel  bietet  —  mehr  und  mehr 
in  die  mathematische  ,, Harmonie"  über:  in  die  Anschauung 
der  einheitlichen  quantitativen  Strukturgesetze,  die,  nach  der 
Voraussetzung,  von  welcher  die  exakte  Physik  geleitet  ist, 
das  Ganze  des  Seins  beherrschen  und  damit  auch  das  scheinbar 
Entfernteste  zur  Einheit  zusammenschließen. 

IL 
Die  erste  Leistung,   die  von  dem  induktiven  „Begriff" 
im  strengen  Sinne  dieses  Wortes  gefordert  wird,  besteht  darin, 
daß  er  die  Mannigfaltigkeit  der  Beobachtungen,  die  sich  zu- 
nächst als  ein  bloßes  beziehungsloses  Nebeneinander 

exp^rimentales,  6tablit  parmi  celles-ci  un  ordre  et  une  Classification;  il  en 
est  qu'elle  röunit,  6troitement  serröes,  dans  un  meme  groupe;  il  en  est 
qu'elle  söpare  les  unes  des  autres  et  qu'elle  place  en  deux  groupes  extreme- 
ment  öloign6s  . . .  Ainai,  pres  des  lois  qui  rögissent  le  spectre  fourni  par  un 
prisme,  eile  ränge  les  loia  auxquelles  ob^issent  les  couleurs  de  rarc-en-9iel ; 
ni£Üs  les  lois  selon  lesquelles  se  succedent  les  teintes  des  anneaux  de  Newton 
vont,  en  une  autre  r6gion,  rejoindre  les  lois  des  franges  döcouvertes  par 
Young  et  par  Fresnel.  .  .  .  Les  lois  de  tous  ces  ph6nomenes  que  leurs 
6clatantes  couleurs  confondaient  les  uns  avec  les  autres  aux  yeux  du  simple 
observateur,  sont,  par  lea  soins  du  th6oricien,  classöes  et  ordonnöes." 

334 


einzelner  Elemente  darstellt,  in  irgendeine  feste  Reihen- 
f  o  r  m  umsetzt.  Man  kann,  um  den  Sinn  dieser  Aufgabe  zu 
verdeutlichen,  an  gewisse  elementare  Probleme  der  Arithmetik 
anknüpfen,  die  für  das  logische  Verhältnis,  um  das  es  sich 
hier  handelt,  ein  genaues  Beispiel  und  Analogon  bilden. 
Ist  etwa  irgendeine  Folge  von  Zahlen  gegeben,  die  gemäß 
einer  bestimmten,  jedoch  zunächst  noch  unbekannten  Regel 
miteinander  zusammenhängen,  so  muß,  zur  Ermittlung  dieser 
Regel,  die  gegebene  Folge  zunächst  in  einen  Komplex  von 
Reihen  aufgelöst  werden,  die  relativ  einfacheren  Bildungs- 
gesetzen gehorchen.  Haben  wir  etwa  die  Folge  der  vierten 
Potenzen  1,  16,  81,  256,  625  ....  vor  uns,  so  läßt  sich  die 
Beziehung,  durch  die  hier  die  einzelnen  Reihenglieder  ver- 
knüpft sind,  dadurch  feststellen,  daß  wir  zunächst  die  Diffe- 
renzen zwischen  ihnen  und  weiterhin  die  Differenzen  dieser 
Differenzen  usf.  bilden,  bis  wir  schließlich  bei  einer  einfachen 
arithmetischen  Reihe,  mit  einem  konstanten  Unterschied 
zwischen  den  Einzelgliedern  stehen  bleiben.  Damit  sind  wir 
zu  einem  völlig  bekannten  und  völlig  beherrschbaren  Reihen- 
typus zurückgekehrt  und  haben  zugleich  den  Weg  bezeichnet, 
auf  welchem  wir,  von  dieser  Grundform  aus  durch  immer 
kompliziertere  Mittelstufen  hindurch,  die  gegebene  Reihe 
wiederum  erreichen  können.  Diese  steht  somit  jetzt  in 
den  Bedingungen  ihrer  Struktur  und  in  allen  einzelnen 
Phasen  ihres  Aufbaus  deutlich  vor  uns;  sie  ist  durch  die 
Zurückführung  auf  die  Vorstufen  ihrer  Bildung  für  uns 
gleichsam  durchsichtig  geworden  und  trägt  denselben 
Charakter  der  Notwendigkeit  des  Fortschritts  von  Glied 
zu  Glied  an  sich,  der  die  primitiven  Reihen  auszeichnet. 
Die  gleiche  ,,resolutive  Methode",  die  hier  im  Gebiet  der 
Zahlen  geübt  wird,  kennzeichnet  den  echten  wissenschaftlichen 
Induktionsschluß.  Der  gegebene  Bestand,  den  die  unmittelbare 
Beobachtung  darbietet,  erscheint  für  den  Gedanken  zunächst 
gleichsam  undurchdringlich;  er  kann  nur  schlechthin  konsta- 
tiert, aber  nicht  aus  einfachen  Anfängen  gemäß  bestimmten, 
identisch  festgehaltenen  Fortschreitungsregeln  abgeleitet 
werden.  Aber  die  wahrhafte,  theoretisch  geschulte  und  ge- 
leitete Induktion  bleibt  niemals  bei  dieser  ersten  Feststellung 

335 


stehen.  Sie  ersetzt  das  tatsächliche  Beisammen  sinnlicher 
Daten  durch  einen  andersartigen  Zusammenhang,  der  zwar 
rein  materiell  betrachtet  ärmer  an  Bestandteilen  erscheint, 
der  sich  jedoch  zugleich  dem  Prinzip  seiner  Gestaltung 
nach  klarer  überschauen  läßt.  Jedes  Experiment,  das  wir 
anstellen  und  auf  welches  wir  unsere  induktiven  Schlüsse 
gründen,  wirkt  bereits  in  dieser  Richtung.  Denn  der  wissen- 
schaftliche Versuch  hat  niemals  das  unbearbeitete  Material 
der  sinnlichen  Wahrnehmung  zu  seinem  eigentlichen  Gegen- 
stand, sondern  setzt  an  seine  Stelle  ein  Ganzes  von  Bedin- 
gungen, das  er  selbst  konstruiert  und  dem  er  seine  Grenzen  vor- 
geschrieben hat. 

Das  Experiment  geht  daher  streng  genommen  niemals 
auf  den  wirklichen  Fall,  wie  er  hier  und  jetzt  in  aller  Fülle 
seiner  besonderen  Bestimmungen  vorliegt,  sondern  auf  einen 
idealen  Fall,  den  wir  ihm  substituieren.  Die  eigentlichen 
Anfänge  der  wissenschaftlichen  Induktion  bieten  hierfür 
bereits  das  klassische  Beispiel.  Das  Gesetz  des  Falles  der 
Körper  wird  von  Galilei  nicht  ermittelt,  indem  er  beliebige 
Beobachtungen  an  sinnlich-wirklichen  Körpern  zusammen- 
stellt, sondern  indem  er  den  Begriff  der  gleichförmigen  Be- 
schleunigung hypothetisch  fixiert  und  als  gedankliches  Grund- 
maß den  Tatsachen  entgegenhält*.  Dieser  Begriff  liefert  ihm 
für  gegebene  Zeitwerte  eine  Folge  von  Raum  werten,  die  nach 
einer  festen,  ein  für  allemal  übersehbaren  Regel  fortschreiten. 
Und  von  dieser  Regel  aus  muß  nunmehr  versucht  werden, 
zu  dem  tatsächlichen  Vorgang  der  Wirklichkeit  vorzudringen, 
indem  wir  fortschreitend  die  komplexen  Bestimmungen, 
die  anfangs  ausgeschaltet  blieben,  wie  etwa  die  Abänderung 
der  Beschleunigung  mit  der  Entfernung  vom  Erdmittelpunkt, 
die  Verzögerung  durch  den  Luftwiderstand  usf.,  wiederum 
in  die  Betrachtung  einbeziehen.  Wie  wir  in  dem  arithmetischen 
Beispiel  von  der  einfachen  Grundreihe,  in  der  die  Differenzen 
zwischen  den  Gliedern  konstant  sind,  zu  Reihen  zweiter, 
dritter,  vierter  Ordnung  fortgingen,  so  zerlegt  sich  uns  jetzt 


*  Näheres  hierüber :  Erkenntnisproblem  I,  294  sowie  bes.  bei  Honigs- 
w  a  1  d  ,    Beiträge  zur  Erkenntnistheorie  u.  Methodenielire,  Leipzig  1906. 

336 


das  Wirkliche  in  verschiedene  Relationsordnungen,  die  gesetz- 
mäßig miteinander  zusammenhängen  und  sich  fortschreitend 
einander  bedingen.  Der  sinnliche  Schein  der  Einfachheit 
des  Phänomens  weicht  einem  streng  begrifflichen  System 
der  Über-  und  Unterordnung  von  Beziehungen.  Gegenüber 
dem  mathematischen  Begriff  aber  zeigt  sich  jetzt  der  charakte- 
ristische Unterschied,  daß  der  Aufbau,  der  innerhalb  der 
Mathematik  zu  einem  festen  Ende  gelangt,  innerhalb  der 
Erfahrung  prinzipiell  unabschließbar  bleibt.  So 
viele  „Schichten"  der  Beziehung  wir  auch  übereinander 
sich  erheben  lassen  mögen  und  je  näher  wir  damit  auch  allen 
Einzelumständen  des  wirklichen  Vorgangs  kommen  mögen, 
so  bleibt  doch  stets  die  Möglichkeit  offen,  daß  irgendein  mit- 
bestimmender Faktor  des  Gesamtergebnisses  außer  Rechnung 
blieb  und  erst  durch  den  weiteren  Fortschritt  der  experimen- 
tellen Analyse  zur  Entdeckung  gelangen  wird.  Jeder  Abschluß, 
den  wir  hier  vollziehen,  besitzt  somit  nur  den  relativen  Wert 
einer  vorläufigen  Fixierung,  die  das  Gewonnene  nur  darum 
festhält,  um  es  zugleich  als  Ansatzpunkt  für  neue  Bestim- 
mungen zu  brauchen.  Die  Ungewißheit,  die  damit  zurück- 
zubleiben scheint,  aber  betriff t  wiederum  nicht  die  Beziehungen, 
die  innerhalb  der  einzelnen  Reihen  festgestellt  worden 
sind,  sondern  sie  tritt  erst  dort  hervor,  wo  das  Ganze 
dieses  theoretischen  Aufbaus  den  tatsächlichen  Beobachtungen 
gegenübertritt.  Ein  Widerspruch,  der  sich  hierbei  ergibt, 
wird  daher  nicht  dadurch  gehoben,  daß  wir  die  prinzipiellen 
Grundlagen  der  früheren  Versuche  aufgeben,  sondern  daß 
wir  diesen  Versuchen  neue  Faktoren  hinzufügen,  die  das  erste 
Ergebnis,  das  sie  berichtigen,  zugleich  in  einer  neuen  Be- 
deutung festzuhalten  gestatten.  Die  Wahrheit  der  ein- 
zelnen Bestimmungsstücke  bleibt  im  allgemeinen  —  sofern 
von  subjektiven  Irrtümern  der  Beobachtung  abgesehen  wird  — 
unangetastet;  nur  die  Zulänglichkeit  dieser  Be- 
stimmungsstücke für  die  Erklärung  der  komplizierten  tatsäch- 
lichen Verhältnisse  der  Wirklichkeit  ist  es,  die  stets  aufs  neue 
in  Frage  gestellt  wird.  Aber  gerade,  indem  er  diese  Frage 
offen  läßt,  beweist  der  induktive  Begriff,  daß  die  Richtung, 
die  er  nimmt,   nicht  von  der  Wirklichkeit  hinweg,  sondern 

Cassirer,  Substanzbegrif  22  337 


immer  genauer  zu  ihr  hinführt.  Die  „allgemeinen"  Relationen, 
die  er  zunächst  heraushebt,  enthalten  zwar  für  sich 
allein  genommen,  die  besonderen  Merkmale  noch  nicht, 
aber  sie  leugnen  sie  ebensowenig.  Vielmehr  lassen  sie 
von  Anfang  an  Raum  für  sie  und  deuten  auf  ihre  künftige 
mögliche  Bestimmung  voraus.  Das  Fallgesetz  Galileis  bedarf, 
um  die  Phänomene  des  Falls  bei  einem  bestimmten  Luftwider- 
stand darzustellen,  keiner  Berichtigung  seines  Gehalts,  sondern 
lediglich  einer  begrifflichen  Erweiterung,  die  schon  in  seiner 
ursprünglichen  Fassung  prinzipiell  zugelassen  und  vor- 
gesehen ist. 

Der  naturwissenschaftliche  „Begriff*  sieht  daher  in 
diesem  Sinne  keineswegs  von  dem  Besonderen  ab,  sondern 
immer  schärfer  auf  das  Besondere  hin.  Jede  allgemeingültige 
Beziehung,  die  er  feststellt,  enthält  bereits  die  Tendenz  in  sich, 
sich  mit  anderen  Beziehungen  zu  verknüpfen,  um  kraft  dieser 
Durchdringung  mehr  und  mehr  zur  Beherrschung  des  Ein- 
zelnen tauglich  zu  werden.  Jede  der  Grundreihen,  aus  welchen 
ein  komplexeres  Gesetz  sich  aufbaut,  bezeichnet  für  sich 
genommen  freilich  nur  einen  bestimmten  Umkreis  von  Be- 
dingungen. Es  kann  indes  keine  Rede  davon  sein,  daß  diese 
Bedingungen  von  dem  konkreten  Gesamtvorgang,  der  aus 
ihrer  Totalität  sich  ergibt,  nur  teilweise  oder  ungenau 
befolgt  werden;  vielmehr  müssen  sie  insgesamt  vollständig 
und  ohne  Einschränkung  erfüllt  sein,  wenn  die  gegebene  Folge 
möglich  sein  soll.  Ein  neuer  Gesichtspunkt  der  Betrachtung, 
der  nachträglich  hinzutritt  und  der  das  Phänomen,  das  wir 
untersuchen,  zu  einem  neuen  Kreis  von  Tatsachen  in  Be- 
ziehung setzt,  ändert  daher  nichts  am  Sinn  und  Wert  der 
früheren  Bestimmungen.  Nur  das  Eine  wird  gefordert,  daß 
die  Relationen,  die  wir  auf  diese  Weise  fortschreitend  fest- 
stellen, miteinander  verträglich  sind:  und  diese  Ver- 
träglichkeit ist  im  Prinzip  bereits  dadurch  verbürgt,  daß  die 
Bestimmung  des  besonderen  Falls  auf  Grund  der  Bestimmung 
des  allgemeinen  Falles  erfolgt  und  dessen  Geltung  daher  still- 
schweigend voraussetzt.  Denken  wir  uns  einen  Einzelvorgang 
als  Synthese  verschiedener  Gesetze,  so  hört  die  Frage,  wie  das 
Besondere    am  Allgemeinen    „Teil    haben"   könne,    auf,    ein 

338 


metaphysisches  Problem  zu  sein :  denn  nunmehr  gilt 
uns  das  Allgemeine  nicht  mehr  als  ein  dinglich  Vorhandenes, 
das  als  sachlicher  Bestandteil  irgendwie  in  das  Einzelne  ein- 
geht, sondern  als  ein  logisches  Moment,  das  in  einem 
umfassenderen  Inbegriff  von  Beziehungen  implizit  mitgesetzt 
ist.  Wir  bestimmen  ein  einzelnes  Naturereignis  A  durch  Ein- 
reihung in  verschiedenartige  funktionale  Zusammenhänge 
f  (A,  B,  C  . . . ),  9  (A,  B',0...)  \p{K  B",  C" . . . )  usf.  und  denken 
es  kraft  dieser  Einordnung  den  Regeln  all  dieser  Zusammen- 
hänge unterworfen.  Die  „Teilhabe"  des  Einzelnen  am  All- 
gemeinen erscheint  somit  nicht  rätselhafter,  als  die  logische 
Grundtatsache  selbst,  daß  überhaupt  verschiedene  Bedin- 
gungen sich  gedanklich  zu  einem  einheitlichen  Ergebnis  zu- 
sammenfassen lassen,  in  welchem  jede  von  ihnen  ganz  erhalten 
ist.  Nicht  wie  das  Einzelne  seiner  ,,  Substanz"  nach  aus  dem 
Allgemeinen  hervorgeht  und  von  ihm  sich  ablöst,  bildet 
jetzt  mehr  die  Frage,  sondern  wie  es  der  Erkenntnis 
möglich  ist,  die  Regeln  universeller  Zusammenhänge,  die  sie 
gewonnen  hat,  derart  in  Beziehung  zu  setzen  und  wechsel- 
seitig durcheinander  zu  determinieren,  daß  daraus  die  begriff- 
liche Einsicht  in  die  besonderen  Verhältnisse  des  physisch 
Wirklichen  sich  ergibt.    (Vgl.  ob.  S.  300  ff.)  — 

Daß  in  dieser  Aufgabe  das  eigentliche  Problem  der  In- 
duktion beschlossen  ist,  tritt  innerhalb  der  Erkenntnistheorie 
der  neueren  Naturwissenschaft  an  vielen  Stellen  deutlich 
zutage.  Die  beiden  Grundrichtungen  naturwissenschaftlicher 
Betrachtung,  die  Galilei  bereits  als  „resolutive"  und 
„kompositive"  Methode  einander  gegenübergestellt  hat,  sind 
in  der  modernen  Diskussion  bisweilen  als  die  Prinzipien  der 
,, Isolation"  und  ,,Superposition"  voneinander  geschieden 
worden*.  Das  erste  Ziel  der  experimentellen  Forschung  besteht 
darin,  das  Phänomen,  dem  die  Untersuchung  sich  zuwendet, 
als  reines  Phänomen  und  frei  von  allen  zufälligen  Neben- 
umständen zu  gewinnen.  Während  die  Wirklichkeit  uns  eine 
vielfältige  Mischung  heterogener  Umstände  zeigt,  die  untrennbar 


*  S.  Volkmann,    Erkenntnis  theoretische  Griindzüge  der  Natur- 
wissenschaft, Leipzig  1896. 

22*  339 


ineinander  verwoben  und  verwirrt  scheinen,  fordert  der 
Gedanke  die  gesonderte  Betrachtung  jedes  einzelnen  Moments 
und  die  genaue  Bestimmung  des  Anteils,  der  ihm  in  der 
Struktur  des  Ganzen  zukommt.  Nur  durch  eine  künstliche 
Scheidung  des  tatsächlich  Verbundenen,  nur  durch  die  Her- 
stellung besonderer  Versuchsbedingungen,  die  es  gestatten, 
die  einzelnen  Faktoren  für  sich  allein  in  ihrer  Wirksamkeit 
zu  beobachten  und  zu  verfolgen,  ist  dieses  Ziel  erreichbar. 
Erst  nachdem  diese  Vereinzelung  streng  durchgeführt  ist, 
gewinnt  auch  die  konstruktive  Zusammensetzung  ihre  Klarheit 
und  Schärfe.  Indem  wir  die  Teilsysteme  miteinander  ver- 
knüpfen und  sie  gleichsam  sich  übereinander  lagern  lassen, 
entsteht  uns  damit  wiederum  das  vollständige  Bild  des  Gesamt- 
vorgangs, das  jedoch  nunmehr  nicht  nur  in  der  Art  einer  ein- 
heitlichen Totalanschauung,  sondern  als  ein  differenziertes 
Begriffsganzes  erscheint,  in  welchem  die  Art  der  Abhängigkeit 
zwischen  den  Einzelmomenten  fest  bestimmt  ist.  Wird  die 
Aufgabe  der  physikalischen  Induktion  in  diesem  Sinne  gefaßt, 
so  zeigt  sich  hierin  von  einer  neuen  Seite,  daß  die  mathe- 
matische Betrachtungsweise  nicht  sowohl  als  Gegensatz, 
wie  als  notwendiges  Korrelat  der  induktiven  Begriffs- 
bildung zu  gelten  hat.  Denn  eben  jene  Synthese  von 
Relationen,  die  hier  gefordert  wird,  und  die  als  wesent- 
licher Bestand  in  die  experimentelle  Forschung  selbst  eingeht, 
findet  ihre  letzten  abstrakten  Grundlagen  und  die  Gewähr 
ihrer  allgemeinen  Gültigkeit  im  System  der  Mathematik. 
Nicht  die  Zusammensetzung  von  Größen,  sondern  die 
Verknüpfung  und  wechselseitige  Bestimmung  von  Be- 
ziehungen bildet,  wie  sich  gezeigt  hat,  das  Objekt  der 
Mathematik,  sofern  sie  in  der  ganzen  Weite  und  Universalität 
ihres  Begriffs  gefaßt  wird.  (S.  oben,  S.  125  ff.)  Die  Aufgaben 
der  beiden  Forschungsrichtungen  berühren  sich  also  hier  in 
einem  gemeinsamen  Punkt:  wenn  das  Experiment  unent- 
behrlich ist,  um  ein  zunächst  ungeschiedenes  Wahrnehmungs- 
ganze in  seine  einzelnen  konstituierenden  Elemente  zu  zerlegen, 
so  gehört  andererseits  der  mathematischen  Theorie  die  Be- 
stimmung der  Form  an,  kraft  deren  diese  Elemente  sich 
wiederum    zu    einer    gesetzlich    beherrschbaren    Einheit    zu- 

340 


sammenschließen.  Das  System  der  ,, möglichen"  Relations- 
synthesen, das  in  der  Mathematik  vorgängig  entwickelt  ist, 
bietet  die  Handhabe  und  das  Grundschema  für  die  Ver- 
knüpfungen, die  der  Gedanke  am  Stoff  des  Wirklichen  ver- 
sucht. Das  Experiment  gibt  in  seinem  Ergebnis  Antwort 
darauf,  welcher  der  möglichen  Beziehungszusammenhänge 
in  der  Erfahrung  tatsächlich  verwirklicht  ist:  aber  diese  Antwort 
kann  nur  erfolgen,  sofern  die  Frage  zuvor  klar  und  eindeutig 
gestellt  ist,  und  dieser  Prozeß  der  Fragestellung  geht  auf 
Konzeptionen  zurück,  kraft  deren  die  unmittelbare  An- 
schauung nach  begrifflichen  Gesichtspunkten  sich  scheidet 
und  gliedert.  Ist  das  Wirkliche  als  Ergebnis  elementarer 
Abhängigkeitsreihen  dargestellt,  die  einander  decken  und 
durchdringen,  so  hat  es  damit  bereits  prinzipiell  die  Form 
eines  mathematisch  bestimmbaren  Gefüges  erlangt*.  — 

Wenn  daher  das  Prinzip  der  ,,  Isolation"  und  ,,Super- 
position"  gelegentlich  dadurch  erklärt  und  begründet  werden 
soll,  daß  alles  Wirkliche  nur  die  Summe  von  Äußerungen 
einzelner  Naturgesetze  darstellt  und  aus  diesen  als  hervor- 
gegangen zu  denken  ist,  so  verhüllt  diese  Wendung  bereits 
den  eigentlichen  erkenntnistheoretischen  Sinn  des  Gedankens**. 
Nicht  um  den  Ursprung  der  Dinge,  sondern  um  den  Ursprung 
und  die  Beschaffenheit  unserer  Einsicht  in  die  Dinge  kann 
es  sich  hier  allein  handeln.  Das  „Wirkliche",  wie  es  im  sinn- 
lichen Eindruck  erfaßt  wird,  ist  nicht  an  und  für  sich  bereits 
eine  „Summe"  verschiedenartiger  Elemente,  sondern  steht 
zunächst   als   schlechthin   einfaches   und   unzerlegtes    Ganzes 


*  Eine  neue  Bestätigung  und  eine  außerordentlich  klare  Dar- 
stellung hat  dieses  Grundverhältnis,  wie  ich  nachträglich  sehe,  soeben  durch 
einen  modernen  Physiker  erhalten.  S.  H.  Bouasse,  Physique  generale 
in  dem  Sammelband:  De  la  Methode  dans  les  sciences,  Paris  1909:  „La 
physique  ne  separe  pas  l'etude  des  formes  de  l'etude  des  faits;  la  deduction 
prevoit  les  faits  que  l'experience  confirme."  ,,Qu'est-ce  donc  qu'expliquerl 
C'est  tout  uniment  faire  rentrer  un  fait  dans  une  forme.  Le  fait  est  explique 
lorsqu'il  apparait  identique  ä  un  des  phenomenes  qu'engendre  un  des  ces 
sorites  indefinis  que  nous  appelons  theories  ou  formes . . .  La  physique 
n'est  donc  pas  mathematique,  parce  qu'on  y  trouve  des  algorithmes  algebri- 
ques;  toute  experience  devant,  en  definitive,  entrer  dans  une  forme,  toute 
forme  se  developpant  naturellement  sous  les  symboles  mathematiques, 
toute  physique  est  mathematique  (a.  a.  O.,  S.  76  f.,  91,  100). 
**  S.  V  o  1  k  m  a  n  n  ,  a.  a.  O.  S.  89. 

341 


vor  uns.  Diese  ursprüngliche  „Einfalt"  der  Anschauung 
wandelt  sich  erst  unter  der  logisch  zergliedernden  Arbeit  des 
Begriffs  zu  einer  inneren  Vielgestaltigkeit  um.  Der  Begriff 
ist  somit  hier  ebenso  der  Quell  der  Vielheit,  wie  er  sonst 
allenthalben  als  der  Quell  der  Einheit  erscheint.  Indem  wir 
einen  einzelnen  Vorgang  successiv  verschiedenen  Systemen 
einordnen,  deren  allgemeine  Struktur  sich  mathematisch- 
deduktiv ableiten  läßt,  geben  wir  ihm  damit  eine  immer  weiter- 
gehende Bestimmtheit,  sofern  damit  seine  Stellung  in  dem 
allgemeinen  Orientierungsplan  unseres  Denkens  immer  genauer 
bezeichnet  wird.  Der  Fortschritt  des  Experiments  geht  hier 
Hand  in  Hand  mit  der  fortschreitenden  Universalität  der 
Grundgesetze,  aus  welchen  wir  die  empirische  Wirklichkeit 
erklären  und  aufbauen. 

Man  hat  bisweilen  auf  den  methodischen  Unterschied  hin- 
gewiesen, der  zwischen  bloßen  ,, Regeln"  der  Naturerkenntnis 
und  zwischen  den  wahrhaft  allgemeinen  „Gesetzen"  der 
Natur  besteht.  Die  Keplerschen  Induktionen  über  die  Pla- 
netenbewegung bezeichnen  nur  verallgemeinerte  ,, Regeln" 
des  Geschehens,  während  das  fundamentale  Gesetz,  auf  das 
sie  sich  gründen,  erst  in  Newtons  Theorie  der  Gravitation 
erreicht  wird*.  Hier  finden  wir  in  der  Tat  die  Ellipse  nicht 
bloß  als  die  wirkliche  Form  der  Marsbahn  vor,  sondern  über- 
sehen mit  einem  Blick  das  Ganze  der  „möglichen"  Bahn- 
formen. Der  Newtonische  Begriff  einer  Zentralkraft,  die 
gemäß  dem  Quadrat  der  Entfernung  abnimmt,  führt  zu  einer 
vollständigen  Disjunktion  der  empirischen  Fälle  überhaupt. 
Der  Übergang  dieser  Fälle  ineinander  ist  nunmehr  im  voraus 
fest  bestimmt:  die  Größe  der  Anfangsgeschwindigkeit  des 
bewegten  Körpers  entscheidet  —  unabhängig  von  der  Richtung 
dieser  Geschwindigkeit  —  ob  die  Form  seiner  Bahn  eine 
Ellipse  oder  eine  Hyperbel  oder  Parabel  ist.  So  schließt  das 
„Gesetz"  der  Gravitation  das  Tatsachengebiet,  das  von  ihm 
beherrscht  wird,  in  sich  selbst  ab  und  weist  ihm  eine  strenge 
Gliederung  zu,  während  die  bloß  empirisch  erkannte  Regel 
der   Planetenbewegung   die   besonderen    Fälle   nur   als   loses 


*  S.  V  o  1  k  m  a  n  n  ,  a.  a.  O.,  S.  59. 
342 


Nebeneinander  ohne  scharfe  Begrenzung  stehen  läßt.  Im 
tatsächlichen  Fortgang  der  Wissenschaft  sind  indes  die  beiden 
Betrachtungsweisen,  die  sich  auf  diese  Weise  logisch  sondern 
lassen,  nirgends  in  aller  Strenge  getrennt,  sondern  greifen 
unmerklich  ineinander  über.  Die  ,, Regel"  enthält  in  sich 
bereits  die  Tendenz,  sich  zur  Form  des  Gesetzes  zu  erheben; 
wie  andererseits  die  begriffliche  Vollendung,  die  das  Gesetz 
erreicht,  insofern  eine  bloß  provisorische  Setzung  bleibt,  als 
sie  stets  ein  hypothetisches  Moment  in  sich  birgt. 
Wir  stehen  vor  demselben  scheinbaren  Zirkel,  der  uns  überall 
im  Verhältnis  von  Gesetz  und  Tatsache  entgegentritt.  Denken 
wir  uns  die  Bewegung  der  Planeten  durch  Zentralkräfte 
bestimmt,  die  im  umgekehrten  Quadrat  der  Entfernung  wirken, 
so  zeigt  es  sich,  daß  die  Form  des  Kegelschnitts  für  ihre 
Bahn  notwendig  ist;  —  daß  indessen  diese  Bestimmung 
über  Art  und  Größe  der  Anziehung  „wirklich"  statt  hat, 
kann  selbst  nicht  anders,  als  durch  diese  methodische  Not- 
wendigkeit, durch  die  Fähigkeit  dieser  Annahme,  die  Be- 
obachtungen einheitlich  zu  verknüpfen  und  in  bestimmtem 
Sinne  zu  begrenzen,  dargetan  werden.  (Vgl.  ob.  S.  193  ff.) 
Zwingt  uns  dereinst  die  Erfahrung  durch  neues  Material, 
das  sie  uns  zuführt,  von  dieser  Annahme  abzugehen,  so 
vermag  der  reine  Begriff  als  solcher  hiergegen  freilich  nichts 
auszurichten;  aber  auch  in  diesem  Falle  geht  die  Form 
des  empirischen  Begriffs  keineswegs  zugleich  mit  seinem  be- 
sonderen Inhalt  unter.  Wir  fordern  für  das  neue  Gebiet, 
das  sich  uns  nunmehr  erschließt,  alsbald  den  gleichen  gedank- 
lichen Abschluß  und  suchen  diesen  Abschluß  in  einem  neuen 
Gesetz,  das  dem  früheren  übergeordnet  ist,  zu  vollziehen. 
Das  veränderte  Material  bedingt  eine  veränderte  Weise 
der  Verknüpfung,  wobei  indes  die  allgemeine  Funktion 
dieser  Verknüpfung,  die  Herleitung  des  Einzelnen  aus  einem 
obersten  Reihenprinzip,  das  wir  zugrunde  legen,  die  gleiche 
bleibt.  — 

Diese  Funktion,  nicht  ihre  jeweilige  und  wechselnde 
konkrete  Ausprägung  in  besonderen  Lehrsätzen,  ist  es,  was  im 
Begriff  der  Erfahrung  selbst  gesetzt  ist  und  daher  zu  den 
eigentlichen   „Bedingungen   ihrer   Möglichkeit"   gehört.      Ist 

343 


irgendeine  Reihe  von  Beobachtungen  aj  aj  aj  . .  .au  gegeben, 
so  bietet  sie  der  Betrachtung  alsbald  eine  doppelte  Aufgabe 
dar.  Wir  können  einerseits  versuchen,  das  Material  dieser 
Reihe  durch  Interpolation  und  Extrapolation  zu  bereichern, 
indem  wir  zwischen  die  gegebenen  Glieder  hypothetische 
Mittelglieder  einschieben  oder  aber  die  Reihe  über  ihre  anfäng- 
lichen Grenzen  hinaus  weiter  verfolgen.  Daneben  aber  gilt  es, 
die  Mannigfaltigkeit  der  Glieder  in  einer  letzten  Identität 
zusammenzufassen,  indem  eine  Regel  angegeben  wird,  durch 
die  der  Übergang  von  aj  zu  a„  von  a,  zu  aj  usf.  bestimmt 
und  einem  festen  Prinzip  unterworfen  wird.  Wenn  man  das 
erste  Verfahren  vorzugsweise  als  das  der  „Induktion",  das 
zweite  als  das  der  „Deduktion"  bezeichnen  mag,  so  ist  doch 
deutlich,  daß  beide  einander  wechselseitig  bedingen  und  auf- 
einander hinarbeiten.  Die  Ergänzung  der  Reihe  durch  Ein- 
führung neuer  Einzelglieder  erfolgt  bereits  in  der  Richtung 
auf  das  einheitliche  Gesetz  der  Ableitung,  das  dem  Denken 
hierbei  als  Problem  vorschwebt.  Die  Auswahl  und  Sichtung 
des  Materials  steht  unter  der  Leitung  einer  aktiven  Urteilsnorm. 
Wir  versuchen,  durch  eine  gegebene  Folge  von  Beobachtungen 
ein  Gesetz  von  bekannter  begrifflicher  Struktur  gleichsam 
hindurchzuführen  und  bemessen  die  Wahrheit  dieses  Gesetzes 
danach,  ob  es  ihm  gelingt,  Stellen,  die  die  unmittelbare  Wahr- 
nehmung leer  gelassen  hat,  seinerseits  zu  bezeichnen  und  auf 
ihre  Ausfüllung  durch  künftige  Versuche  vorauszudeuten. 
In  diesem  Sinne  verknüpft  Kepler  die  Angaben  über  die 
Marsörter,  die  ihm  durch  die  Forschung  Tycho  de  Brahes 
geliefert  sind,  nacheinander  durch  die  verschiedensten  geometri- 
schen Kurven,  die  er  als  bekannte  ideelle  Normen  den  Tat- 
sachen gegenüberstellt,  bis  er  schließlich  zu  der  Ellipse  als 
derjenigen  Linie  gelangt,  die  die  größte  Mannigfaltigkeit  von 
Beobachtungen  aus  dem  relativ  einfachsten  geometrischen 
Fortschrittsprinzip  abzuleiten  gestattet.  Daß  diese  Arbeit 
indes  niemals  zu  einem  absoluten  Abschluß  gelangt, 
geht  schon  aus  der  Natur  der  Aufgabe  selbst  hervor:  denn 
so  viele  Punkte  der  Planetenbahn  uns  auch  gegeben  sein 
mögen,  so  ist  es  doch  stets  möglich,  sie  durch  beliebig  viele 
Linien  von  verschiedenartiger,  komplizierter  Gestalt  zu  ver- 

344 


binden.  Nur  die  eine  methodische  Forderung  bleibt  hierbei 
bestehen,  daß,  so  notwendig  komplexe  Annahmen  für  die 
Darstellung  eines  begrenzten  konkreten  Tatsachen- 
gebietes sich  erweisen  mögen,  in  der  letzten  Analyse  des 
Naturgeschehens  überhaupt  auf  bestimmte  einfache  Grund- 
regeln zurückzukommen  ist:  —  der  Art  vergleichbar,  wie  wir 
arithmetische  Reihen  beliebig  hoher  Ordnung  allmählich  auf 
den  Grundtypus  der  Reihe  mit  konstanter  Differenz 
der  Glieder  zurückführen.  — 

Diese  Rückführung  des  mannigfachen  und  rastlos  wech- 
selnden Wahrnehmungsstoffes  auf  letzte  konstante 
Grundverhältnisse  muß  auch  der  radikalste  ,, Empi- 
rismus" ohne  Einschränkung  zugestehen:  denn  die  Annahme 
dieser  Grund  Verhältnisse  ist  dasjenige,  was  ihm  vom  Begriff 
des  ,, Objekts",  also  vom  Begriff  der  Natur  selbst,  einzig  und 
allein  übrig  bleibt.  ,,Ein  Körper",  so  heißt  es  bei  Mach, 
„sieht  bei  jeder  Beleuchtung  anders  aus,  bietet  bei  jeder 
Raumlage  ein  anderes  optisches  Bild,  gibt  bei  jeder  Temperatur 
ein  anderes  Tastbild  usw.  Alle  diese  sinnlichen  Elemente 
hängen  aber  so  miteinander  zusammen,  daß  bei  derselben 
Lage,  Beleuchtung,  Temperatur  auch  dieselben  Bilder  wieder- 
kehren. Es  ist  also  durchaus  eine  Beständigkeit  der  Ver- 
bindung der  sinnlichen  Elemente,  um  die  es  sich  hier  handelt. 
Könnte  man  sämtliche  sinnliche  Elemente  messen,  so  würde 
man  sagen,  der  Körper  besteht  in  der  Erfüllung  gewisser 
Gleichungen,  welche  zwischen  den  sinnlichen  Elementen  statt 
haben.  Auch  wo  man  nicht  messen  kann,  mag  der  Ausdruck 
als  ein  symbolischer  festgehalten  werden.  Diese  Gleichungen 
oder  Beziehungen  sind  also  das  eigentlich  Beständige.  Die 
logische  Entwicklung  der  Naturwissenschaft  geht  demnach 
mehr  und  mehr  dahin,  daß  die  ursprünglichen  naiven  Stoff- 
vorstellungen als  unnötig  erkannt  werden,  so  daß  man  ihnen 
höchstens  den  Wert  veranschaulichender  Bilder  beimißt, 
als  das  eigentlich  Substanzielle  in  den  Erscheinungen  dagegen 
die  quantitativen  Beziehungen,  die  zwischen  ihnen  obwalten, 
erkennt.  ,,In  dem  Maße  als  die  Bedingungen  einer  Erscheinung 
erkannt  werden,  tritt  der  Eindruck  der  Stofflichkeit  zurück. 
Man  erkennt  die   Beziehungen  zwischen   Bedingung  und   Be- 

345 


dingtem,  die  Gleichungen,  welche  größere  oder  kleinere  Gebiete 
beherrschen,  als  das  eigentlich  Bleibende,  Substanzielle,  als 
dasjenige,  dessen  Ermittelung  ein  stabiles  Weltbild  ermöglicht*." 
Bis  hierher  stimmt  der  moderne  Empirismus  mit  der  kritischen 
Auffassung  vom  Sinn  und  von  der  fortschreitenden  Tendenz 
der  Naturerkenntnis  noch  völlig  überein.  Was  wir  auch  nur 
an  der  Materie  kennen  —  so  hatte  insbesondere  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  unzweideutig  gelehrt  —  sind  lauter  Ver- 
hältnisse, aber  es  sind  darunter  selbständige  und  beharrliche, 
dadurch  uns  ein  bestimmter  Gegenstand  gegeben  wird**.  Der 
Gegensatz  setzt  erst  dort  ein,  wo  dieser  Begriff  der  Beharrlich- 
keit selbst,  auf  den  der  Begriff  des  Objekts  zurückgeführt  ist, 
in  seiner  logischen  Bedeutung  und  seinem  logischen  Ursprung 
näher  bestimmt  werden  soll.  Ist  die  Beständigkeit  eine 
Eigenschaft  der  sinnlichen  Eindrücke,  die  ihnen  un- 
mittelbar anhaftet,  oder  stellt  sie  erst  das  Ergebnis  einer 
intellektuellen  Arbeit  dar,  kraft  deren  wir  das  Gegebene 
im  Sinne  bestimmter  logischer  Forderungen  allmählich  um- 
formen? Die  Antwort  hierauf  kann  nach  den  früheren  Ent- 
wicklungen nicht  zweifelhaft  sein.  Die  Beharrung  liegt  niemals 
in  der  sinnlichen  Erfahrung  als  solcher  bereits  fertig  vor, 
da  diese  vielmehr  nur  ein  Konglomerat  der  verschieden- 
artigsten, auf  einen  einzigen  Zeitpunkt  beschränkten  und 
niemals  völlig  gleichartig  wiederkehrenden  Eindrücke  dar- 
stellt. Sie  tritt  erst  in  dem  Maße  hervor,  als  es  uns  gelingt, 
das  Sinnlich-Mannigfaltige  zum  Mathematisch-Mannigfaltigen 
umzugestalten,  d.  h.  es  aus  bestimmten  Grundelementen 
nach  Regeln,  die  wir  unveränderlich  festhalten,  hervorgehen 
zu  lassen.  Die  Art  der  Gewißheit,  die  diesen  Regeln  zukommt, 
ist  von  der  Gewißheit  der  einzelnen  Empfindung  deutlich 
geschieden.  Es  ist,  schon  vom  Standpunkt  einer  bloßen 
„Phänomenologie"  der  Bewußtseinstatsachen  aus,  etwas  völlig 
anderes,  ob  verschiedene  Inhalte  des  Bewußtseins  lediglich 
tatsächlich  aufeinander  folgen  oder  ob  der  folgende  ,,aus" 
dem  vorhergehenden  nach  ein  und  demselben  durchgehenden 


*  Mach,    Die  Prinzipien  der  Wärmelehre,  Leipzig  1896,  S.  422  ff. 
♦*  Kritik  der  reinen  Vernunft,  2.  Aufl.,  S.  341. 


346 


logischen  Prinzip  erkannt  wird.  L  e  i  b  n  i  z  hat  zur 
Verdeutlichung  dieses  Unterschiedes  gelegentlich  auf  Beispiele 
der  Zahlentheorie  verwiesen,  die  das  allgemeine  Verhältnis, 
um  das  es  sich  hier  handelt,  in  der  Tat  in  aller  Schärfe  kenn- 
zeichnen. Denken  wir  uns  etwa  die  Reihe  der  Quadratzahlen 
gegeben,  so  können  wir  hier  zunächst  rein  empirisch  durch 
Anstellung  mannigfacher  Proben  den  Umstand  feststellen,  daß 
die  Differenzen  der  einzelnen  Glieder  durch  die  fortschreitende 
Reihe  der  ungeraden  Zahlen  1,  3,  5,  7  . . .  darstellbar  sind. 
Auf  Grund  dieser  Tatsache  läßt  sich  erwarten,  daß, 
wenn  wir  von  dem  zuletzt  geforderten  Gliede  der  Reihe 
der  Quadratzahlen  ausgehen  und  dieses  Glied  um  die  ent- 
sprechende ungerade  Zahl  vermehren,  wiederum  eine  Quadrat- 
zahl sich  ergeben  werde:  aber  nichts  berechtigt  uns,  diese 
psychologische  Erwartung  einer  logischen  Notwendigkeit 
gleich  zu  achten.  So  viele  Glieder  vielmehr  bereits  erprobt 
worden  und  der  Regel  entsprechend  gefunden  worden  sind, 
so  bleibt  es  doch  stets  möglich  und  zulässig,  daß  von  einer 
bestimmten  Stelle  ab  die  bisherige  konstante  Art  des  Fort- 
schritts unterbrochen  wird.  Keine  noch  so  große  Häufung 
von  Beobachtungen  an  einzelnen  Zahlen  vermag  uns  jemals 
eine  neue  Form  der  Gewißheit  zu  erschließen,  die  uns  in  dieser 
Hinsicht  sicher  stellt.  Diese  Form  der  Gewißheit  aber  wird 
sogleich  gewonnen,  sobald  wir,  statt  von  der  Durchzählung 
der  Einzelglieder  der  Reihe,  von  ihrem  „allgemeinen"  Gliede, 
d.  h.  von  dem  ein  für  allemal  identischen  Bildungsgesetz,  aus- 
gehen. Die  Formel  (n  -\-  ip  —  n^  =  2  n  -\-  1  zeigt  mit  einem 
Schlage  und  ohne  daß  es  hierzu  einer  Mehrheit  von  Proben 
bedürfte,  die  konstante  und  notwendige  Beziehung, 
die  zwischen  dem  Fortschritt  der  Quadratzahlen  und  dem 
der  ungeraden  Zahlen  besteht.  Diese  Formel  gilt,  sobald  sie 
einmal  erfaßt  ist,  für  jedes  b  e  1  i  e  b  i  g  e  n,  da  in  ihrer 
Ableitung  und  ihrem  Beweis  auf  die  Besonderheit  irgendeines 
bestimmten  Zahlwertes  nirgends  Rücksicht  genommen  ist, 
der  besondere  Wert  also  beliebig  variieren  kann,  ohne  den 
Sinn  und  die  Bedeutung  des  Beweises  selbst  anzutasten. 
Jetzt  erst  ist  der  Inbegriff  der  Quadratzahlen  und  der  der  un- 
geraden  Zahlen   in   ein    System   aufgenommen,    in   welchem 

347 


der  eine  durch  den  anderen  erkannt  wird,  während  zuvor 
beide,  auf  eine  so  große  Strecke  hin  wir  die  wechselseitige 
Entsprechung  auch  verfolgen  mochten,  dennoch  lediglich 
neben  einander  stehen  blieben. 

Der  gleiche  grundlegende  Unterschied,  der  sich  hier 
ergibt,  aber  läßt  sich  auch  hei  jedem  echten  physikalischen 
Grundgesetz  aufweisen.  Betrachten  wir  ein  Gesetz,  wie  das 
Galileische  Fallgesetz  oder  das  Mariottesche  Gesetz,  so  werden 
hier  die  zusammengehörigen  Werte  der  Räume  und  Zeiten, 
des  Drucks  und  des  Volumens  nicht  einfach  nebeneinander 
registriert,  sondern  sie  gelten  als  durcheinander  bedingt. 
Eine  Liste  von  Zahlenwerten,  in  der  zu  jedem  einzelnen  Wert 
des  Drucks  der  entsprechende  Wert  des  Volumens,  zu  jedem 
einzelnen  Wert  der  Zeit  der  entsprechende  Fallraum  ver- 
merkt wäre,  würde  rein  materiell,  was  die  bloße  Tatsachen- 
kenntnis angeht,  all  das  leisten,  was  die  mathematische 
Funktionsregel  uns  nur  immer  zu  geben  vermag:  und  doch 
würde  jede  solche  Anhäufung  einzelner  numerischer  Daten 
gerade  das  charakteristische  Moment  vermissen  lassen,  auf 
welchem  die  Bedeutung  des  Gesetzes  beruht.  Denn  hier 
wäre  gerade  das  entscheidende  Moment  fortgefallen:  die 
Art  der  Bestimmung,  kraft  deren  die  eine  Größe 
aus  der  andern  hervorgehend  gedacht  wird,  bliebe  in  Dunkel 
gehüllt,  selbst  wenn  das  Ergebnis  dieser  Bestimmung 
richtig  verzeichnet  wäre.  Diese  Weise  der  Bestimmung  tritt 
in  der  quantitativen  Gleichung  scharf  hervor:  denn  diese 
zeigt,  durch  welche  rein  algebraischen  Operationen,  deren  all- 
gemeingültige Regeln  feststehen,  der  Wert  der  abhängigen 
Variabein  aus  dem  Wert  des  Arguments  zu  gewinnen  und  zu 
errechnen  ist.  Und  diesem  mathematischen  Zusammenhang 
läßt  die  physikalische  Theorie  sodann  einen  objektiv-kausalen 
entsprechen:  die  Werte  der  Funktion  gehören  zugleich  mit 
denen  der  unabhängig  Veränderlichen  einem  gemeinsamen 
Grundsystem  von  Ursachen  und  Wirkungen,  von  Bedingungen 
und  Bedingtem  an,  und  sind  daher  mittelbar  derart  mitein- 
ander verknüpft,  daß  die  Setzung  der  einen  die  der  anderen 
notwendig  nach  sich  zieht.  Auch  hier  stellen  wir  nicht  den 
einzelnen  Wert  der   einen  Reihe   dem  einzelnen  der  anderen 

348 


einfach  gegenüber,  sondern  versuchen,  wenigstens  hypothe- 
tisch, beide  Reihen  in  ihrem  Bildungsgesetz  und  somit  in  der 
Totalität  ihrer  möglichen  Bestimmungen  zu  erfassen  und  mit- 
einander zu  vergleichen.  Die  methodisch  geleitete  Induktion 
strebt  diesem  Ziele  zu,  indem  sie  dasjenige,  was  die  Erfahrung 
nur  als  ein  komplexes  Beisammen  von  Gliedern  kennt, 
als  eine  Resultante  einfacherer  Abhängigkeitsreihen  darstellt, 
die  indes  ihrerseits  nach  dem  strengen  Verhältnis  des  mathe- 
matischen „Grundes"  zur  mathematischen  ,, Folge"  fort- 
schreiten. 

Diese  Anwendung  der  Begriffe  des  Grundes  und  der 
Folge  hält  sich  offenbar  von  allen  metaphysischen  Neben- 
gedanken frei.  Auch  hier  gilt  es,  der  Theorie  der  ,, Beschrei- 
bung" gegenüber,  den  reinen  logischen  Charakter  der 
Beziehung  von  Grund  und  Folge  aufrecht  zu  erhalten,  ohne 
diesen  Charakter  ins  Ontologische  umzudeuten.  (Vgl.  oben, 
S.  183  f.)  Einen  Naturvorgang,  wie  der  mathematische  Phäno- 
menalismus es  will,  in  quantitativen  Gleichungen  ,, be- 
schreiben", heißt  zugleich  ihn  in  jedem  wissenschaftlich  nur 
irgend  zulässigen  Sinne  ,, erklären":  denn  die  Gleichung 
selbst  ist  das  Muster  einer  rein  begrifflichen  Einsicht.  Haben 
wir  einen  gegebenen  Inbegriff  von  Beobachtungen  durch 
„Superposition"  mehrerer  Grundreihen  mathematisch  dar- 
gestellt, so  haben  wir  damit  freilich  unsere  Kenntnis  von  den 
absoluten  und  transzendenten  Ursachen  des  Geschehens 
nicht  vermehrt;  wohl  aber  ist  es  ein  neuer  Typus  des 
Wissens,  zu  dem  wir  uns  damit  erhoben  haben.  Wir 
begreifen  nunmehr  zwar  nicht  den  Zwang  in  den  Dingen, 
der  aus  einer  bestimmten  Ursache  eine  bestimmte  Wirkung 
hervortreibt;  aber  wir  verstehen  den  Fortschritt  von  jeg- 
lichem Einzelschritt  der  Theorie  zum  nächstfolgenden  in 
derselben  Strenge  und  Genauigkeit,  in  der  wir  die  Umformung 
irgendeiner  Größenbeziehung  in  eine  andere,  die  ihr  logisch 
äquivalent  ist,  begreifen.  Der  Begriff  der  „Beschreibung" 
ist  daher  nur  dann  berechtigt  und  zulässig,  wenn  man  einen 
aktiven  Sinn  in  ihn  hineinlegt.  Eine  Gruppe  von  Phäno- 
menen beschreiben  heißt  alsdann  nicht  lediglich  rezeptiv  die 
sinnlichen  Eindrücke  verzeichnen,  die  wir  von  ihr  empfangen, 

349 


sondern  es  heißt  sie  gedanklich  umprägen.  Unter  den  theo- 
retisch bekannten  und  entwickelten  Formen  des  mathe- 
matischen Zusammenhangs  —  also  etwa  unter  den  Gestalten 
der  reinen  Geometrie  —  soll  eine  derartige  Auswahl  getroffen 
und  eine  derartige  Zusammensetzung  gefunden  werden,  daß 
in  dem  Inbegriff,  der  auf  diese  Weise  entsteht,  die  hier  und 
jetzt  gegebenen  Elemente  als  konstruktiv  abgeleitete 
Elemente  erscheinen.  Das  logische  Moment,  das  hiermit 
gegeben  ist,  verleugnet  sich  denn  auch  in  den  Theorien  des 
Empirismus  nicht:  unter  wie  verschiedenen  Namen  es  sich 
hier  auch  immer  verbergen  mag.  Die  ,, Anpassung  der  Vor- 
stellungen an  die  Wirklichkeit"  setzt  eben  den  Begriff  dieser 
Wirklichkeit  selbst  und  damit  ein  Ganzes  intellektueller 
Forderungen  voraus.  Vor  allem  ist  es  das  Prinzip  der  Ein- 
deutigkeit des  Geschehens,  in  welchem  all 
diese  Forderungen  sich  zuletzt  zusammenfassen.  ,,Ich  bin 
überzeugt,**  so  heißt  es  bei  Mach  selbst,  „daß  in  der  Natur 
nur  das  und  so  viel  geschieht,  als  geschehen  kann,  und  daß 
dies  nur  auf  eine  Weise  geschehen  kann.**  Alles  physische 
Geschehen  wird  demnach  durch  die  augenblicklich  wirksamen 
Umstände  vollständig  bestimmt  und  daher  nur  in  einer 
Weise  vor  sich  gehen  können*.  Analysiert  man  indes  die 
Gründe  eben  dieser  Überzeugung,  so  wird  man  damit 
implizit  auf  alle  jene  Grundgedanken  zurückgeführt,  die  die 
sensualistische  Grundlegung  explizit  verleugnet.  Der  Gedanke 
der  Eindeutigkeit  und  der  „Stabilität**  des  Seins  liegt  offenbar 
nicht  in  dem  Inhalt  der  Wahrnehmungen  selbst,  so  wie  sie 
uns  im  ersten  unmittelbaren  Erleben  gegeben  sind,  sondern 
er  bezeichnet  das  Ziel,  dem  die  wissenschaftliche  Denkarbeit 
diesen  Inhalt  mehr  und  mehr  anzunähern  strebt.  Dieses  Ziel 
ist  nur  dann  erreichbar,  wenn  es  gelingt,  in  dem  Wechsel 
der  Empfindungen,  deren  jede  von  der  anderen  verschieden  ist 
und  deren  jede  in  ihrer  Bedeutung  und  Wahrheit  zunächst  nur 
auf  einen  einzigen  Zeitmoment  beschränkt  ist,  gewisse  gleich- 
bleibende  Relationen   der   Verknüpfung   festzuhalten,    deren 


*  Mach,     Prinzipien  der  Wärmelehre,    S.  392  f. ;   cf.   Analyse  der 
Empfindungen,  2.  Aufl.,  S.  222  ff. 

350 


Regeln  wir  uns,  unabhängig  von  der  Veränderlichkeit  des 
jeweiligen  Materials,  zum  Bewußtsein  bringen  können.  In 
dem  Maße,  als  das  geschieht,  entsteht  und  festigt  sich  der 
wissenschaftliche  Begriff  der  Natur.  Die  biologische  Be- 
gründung der  Erkenntnistheorie  dagegen  sucht  in  dem  Ge- 
danken, daß  alles  Erkennen  eine  fortschreitende  Anpassung 
an  das  Sein  darstellt,  die  Konstanz  des  Seins  festzuhalten, 
ohne  die  Behauptung  dieser  Konstanz  in  einem  zugehörigen 
Mittel  des  Wissens  rechtfertigen  zu  können.  Man  spricht 
von  einer  Beständigkeit  unserer  Umgebung,  aus  der  sich  eine 
entsprechende  Beständigkeit  der  Gedanken  entwickeln  soll: 
aber  man  übersieht,  daß  mit  dieser  Beständigkeit  der  Um- 
gebung zuletzt  nichts  anderes  gemeint  und  gesagt  ist,  als 
das  Bestehen  fester,  im  letzten  Grunde  mathematisch  formu- 
lierbarer, Funktionsverhältnisse  zwischen  den  Elementen  der 
Erfahrung.  Neben  dem  Inhalt  dieser  Elemente  ist  also  jetzt 
eine  Form  ihrer  Verknüpfung  anerkannt,  die  jedenfalls  auf  die 
materialen  Gegensätze  der  Empfindung  selbst,  auf  das  Helle 
und  Dunkle,  das  Süße  und  Bittere  usf.  in  keiner  Weise  mehr 
zurückführbar  ist.  Damit  aber  ist  aller  Streit  im  Grunde  ge- 
schlichtet. Daß  der  Gedanke  des  konstanten  Gesetzes  für  die 
Definition  des  Naturobjekts  selbst  unentbehrlich  ist, 
wurde  bereits  von  Anfang  an  zugestanden  und  hervorgehoben; 
es  bleibt  nur  übrig,  einzusehen,  daß  dieser  Gedanke  ein  voll- 
kommen selbständiges  Moment  der  Erkenntnis  ist, 
das  jeder  Reduktion  auf  angeblich  „einfache"  Sinneseindrücke 
widerstrebt.  Die  fortschreitende  Analyse  führt  zu  einer  immer 
genaueren  Bestätigung  dieses  Grundunterschiedes:  die  logische 
Eigenart  der  reinen  Relationsbegriffe  tritt  in  dem  Maße  schärfer 
hervor,  als  sie  selbst  sich  zu  einem  festen  System  ordnen 
und  sich  in  dem  ganzen  Reichtum  ihrer  Verzweigungen  und 
ihrer  wechselseitigen  Abhängigkeiten  darstellen. 

III. 

Die  beiden  Grundmomente,  auf  denen  das  Verfahren  der 
Induktion  beruht:  die  Gewinnung  einzelner  ,, Tatsachen'* 
und  die  Verknüpfung  dieser  Tatsachen  zu  Gesetzen  gehen, 
wie  sich  gezeigt  hat,  auf  ein  und  dasselbe  Motiv  des  Denkens 

351 


zurück.  In  beiden  Fällen  ist  die  Aufgabe  gestellt,  aus  dem 
Flusse  der  Erfahrung  Bestandteile  herauszuheben,  die  sich  als 
Konstanten  der  theoretischen  Konstruktion  brauchen 
lassen.  Schon  die  Feststellung  irgendeines  einzelnen,  zeitlich 
begrenzten  Ereignisses  wies  diesen  Grundzug  auf:  schon  sie 
verlangte,  daß  wir  in  dem  an  und  für  sich  veränderlichen 
Geschehen  gewisse  gleichbleibende  Bedingungszusammen- 
hänge zu  ergreifen  und  festzuhalten  vermögen.  (S.  321  ff.) 
Die  wissenschaftliche  Erklärung  irgendwelcher  verwickelter 
Erscheinungsgruppen  durch  die  ,,  Isolation"  und  ,,Super- 
position"  einfacher  Grundbeziehungen  führt  sodann  die  Auf- 
gabe, die  hier  gestellt  ist,  um  einen  Schritt  weiter.  Wir  ent- 
decken nunmehr,  in  den  letzten  empirischen  ,, Naturgesetzen", 
gleichsam  Konstanten  höherer  Ordnung,  die 
sich  über  dem  bloß  faktischen  Bestand  der  Einzeltatsachen, 
der  in  bestimmten  Größenwerten  fixiert  ist,  erheben.  Dennoch 
gelangt  das  allgemeine  Verfahren,  das  hier  überall  wirksam  ist, 
auch  in  diesem  Ergebnis  nur  scheinbar  zur  Vollendung.  Die 
„Grundgesetze"  der  Naturwissenschaft,  die  zunächst  die  ab- 
schließende ,,Form"  alles  empirischen  Geschehens  in  sich  dar- 
zustellen scheinen,  dienen,  unter  einem  anderen  gedanklichen 
Gesichtspunkt  angesehen,  alsbald  wiederum  nur  als  das 
Material  einer  weitergehenden  Betrachtung.  Auch  diese 
„Konstanten  zweiter  Stufe"  lösen  sich  im  ferneren  Prozeß 
der  Erkenntnis  wiederum  in  Variable  auf.  Sie  gelten  nur 
relativ  zu  einem  bestimmten  Erfahrungskreis  und  müssen 
somit  gewärtig  sein,  sobald  dieser  Kreis  selbst  sich  ausdehnt, 
zugleich  in  ihrem  Gehalt  zu  wechseln.  So  stehen  wir  hier  vor 
einem  unaufhaltsamen  Fortgang,  in  welchem  die  feste  Grund- 
gestalt des  Seins  und  Geschehens,  die  wir  soeben  gewonnen 
zu  haben  glaubten,  wiederum  zu  zerrinnen  scheint.  Alles 
wissenschaftliche  Denken  ist  beherrscht  und  durchdrungen 
von  der  Forderung  unveränderlicher  Elemente,  während  auf 
der  anderen  Seite  das  empirisch  Gegebene  stets  aufs  neue 
dieses  Verlangen  vereitelt.  Wir  ergreifen  das  beharrliche  Sein 
nur,  um  es  wieder  zu  verlieren.  W^as  wir  Wissenschaft  nennen, 
erscheint  unter  diesem  Gesichtspunkt  nicht  als  die  Annäherung 
an  irgendeine  „stehende  und  bleibende"  Wirklichkeit,  sondern 

352 


nur  wie  eine  stets  sich  erneuernde  Illusion,  eine  Phantasma- 
gorie,  in  der  jeweilig  ein  neues  Bild  alle  früheren  verdrängt, 
um  selbst  alsbald  vor  einem  anderen  zu  verschwinden  und 
zunichte  zu  werden.  — 

Gerade  dieser  Vergleich  aber  weist  zugleich  auf  eine  not- 
wendige Schranke  hin,  die  der  radikalen  Skepsis  gesetzt  ist. 
Selbst  die  Bilder  im  individuellen  Vorstellungsleben,  denen 
hier  die  Einzelphasen  der  Wissenschaft  verglichen  werden, 
besitzen  untereinander,  so  bunt  und  vielfältig  sie  aufeinander 
folgen  mögen,  doch  stets  eine  bestimmte  innere  Form  des 
Zusammenhangs,  ohne  welche  sie  sich  nicht  als  Inhalte  ein 
und  desselben  Bewußtseins  auffassen  ließen.  Sie  alle  stehen 
zum  mindesten  in  geordneter  zeitlicher  Verknüpfung, 
in  einem  bestimmten  Verhältnis  des  Früher  und  Später: 
und  dieser  eine  Zug  genügt,  um  ihnen,  durch  alle  Vielfältigkeit 
der  individuellen  Gestaltung  hindurch,  einen  gemeinsamen 
Grundcharakter  aufzuprägen.  So  sehr  die  einzelnen  Elemente 
ihrem  materialen  Bestände  nach  voneinander  abweichen 
mögen,  so  müssen  sie  sich  doch  in  jenen  Bestimmungen  be- 
gegnen, auf  welchen  die  Reihenform,  an  der  sie  sämtlich 
teil  haben,  beruht.  Selbst  in  der  losesten  und  lockersten 
Succession  von  Gliedern  wird  das  vorangegangene  Glied  durch 
den  Eintritt  des  folgenden  nicht  schlechthin  vernichtet; 
sondern  es  erhalten  sich  gewisse  Grundbestimmungen,  auf 
denen  die  Gleichartigkeit  und  Gleichförmigkeit  der  Reihe 
beruht.  In  den  aufeinanderfolgenden  Phasen  der  Wissen- 
schaft ist  sodann  diese  Forderung  aufs  reinste  und  voll- 
ständigste erfüllt.  Jede  Veränderung,  die  sich  im  System 
der  wissenschaftlichen  Begriffe  vollzieht,  stellt  zugleich  die 
dauernden  Strukturelemente,  die  wir  diesem  System  zu- 
sprechen müssen,  in  helles  Licht,  da  sie  sich  nur  unter  Vor- 
aussetzung eben  dieser  Elemente  feststellen  und  beschreiben 
läßt.  Denken  wir  uns  das  Ganze  der  Erfahrung,  so  wie  es 
sich  auf  irgendeiner  bestimmten  Stufe  der  Erkenntnis  dar- 
stellt, gegeben,  so  bildet  dieses  Ganze  niemals  ein  bloßes 
Aggregat  von  Wahrnehmungsdaten,  sondern  ist  nach  be- 
stimmten theoretischen  Gesichtspunkten  in  sich  selbst  ge- 
gliedert   und    zur    Einheit    gestaltet.       Daß    ohne    derartige 

Cassirer,  Substanzbegriff  23  353 


Gesichtspunkte  keine  einzige  Aussage  über  Tatsächliches, 
insbesondere  keine  einzige  konkrete  Maßbestimmung 
möglich  wäre,  hat  sich  bereits  allseitig  gezeigt.  (Vgl.  bes. 
S.  186  ff.)  Fassen  wir  also  den  Inbegriff  der  Erfahrungs- 
erkenntnis in  einem  beliebigen  Zeitpunkt  ins  Auge,  so  können 
wir  ihn  in  der  Form  einer  Funktion  darstellen,  die  uns  die 
charakteristische  Beziehung  wiedergibt,  kraft  deren  wir  die 
Einzelglieder  in  ihrer  wechselseitigen  Abhängigkeit  geordnet 
denken.  Wir  erhalten,  allgemein  gesprochen,  irgendeine  Form 
F  (A,  B,  C,  D  ....),  wobei  indessen  daran  festzuhalten  ist, 
daß  dasjenige,  was  in  diesem  Ausdruck  zunächst  als  E 1  e  m  e  n  t 
erscheint,  in  einer  anderen  Betrachtungsweise  sich  möglicher- 
weise als  ein  sehr  komplexer  Zusammenhang  erweist,  so  daß 
also  das  Glied  A  durch  f(ai,  aj, ...  an),  das  Glied  B  durch 
qp  (bi  b,  ...  bn)  usf.  zu  ersetzen  wäre.  So  entsteht  ein  kom- 
plexes Ganze  ineinandergreifender  Synthesen,  die  ein  be- 
stimmtes Verhältnis  der  Über-  und  Unterordnung  gegenein- 
ander bewahren.  Zwei  Erscheinungsgebiete  A  und  B  werden 
zunächst  je  in  einem  besonderen  Gesetz  ip^  (a^,  a^,  a^), 
ip2  {ßv  ßi*  ßi*  •  •  •)  zusammengefaßt,  diese  Gesetze  sodann 
wiederum  untereinander  in  einer  neuen  Relation  <P  (i/Zi,  ipz) 
verknüpft,  bis  wir  schließlich  zu  einer  allgemeinsten  Beziehung 
gelangen,  die  jedem  Einzelfaktor  hinsichtlich  des  anderen 
seine  bestimmte  und  eindeutige  Stelle  zuweist.  Die  Grund- 
form F  zerlegt  sich  für  den  Gedanken  in  ein  Gefüge  von- 
einander abhängiger  Bestimmungen,  das  symbolisch  etwa 
durch  einen  Ausdruck  F  [<l>i  {%  %),  0,  (^^3  W^),  Og . . .]  zu  be- 
zeichnen wäre.  Findet  es  sich  nun,  daß  irgendeine  völlig 
sicher  gestellte  Beobachtung  mit  den  Bestimmungen,  die  auf 
Grund  dieser  allgemeinsten  theoretischen  Formel  zu  erwarten 
und  zu  errechnen  sind,  nicht  übereinstimmt,  so  bedarf  diese 
Formel  einer  Berichtigung,  die  aber  nicht  wahllos  jedes 
beliebige  Element  aus  ihr  herausgreifen  kann,  sondern  einem 
bestimmten  Prinzip  des  methodischen  Fort- 
gangs untersteht.  Die  Umgestaltung  erfolgt  gleichsam 
,,von  innen  nach  außen":  es  werden  zunächst,  unter  Fest- 
haltung der  umfassenderen  Relationen  F,  Oi,  O^  usf.  die 
speziellen  Beziehungen  'f'i,  ^^  . . .  umgeformt  und  ver- 

354 


sucht,  auf  diese  Weise  die  lückenlose  Übereinstimmung 
zwischen  Theorie  und  Beobachtung  wiederum  herzustellen. 
Die  Einschiebung  von  Mittelgliedern,  der  Ansatz  neuer 
Experimente  erfolgt  in  der  gedanklichen  Tendenz,  die  um- 
fassenderen Gesetze  zu  wahren  und  zu  „retten",  indem  das 
abweichende  Ergebnis  nunmehr  aus  ihnen  selbst, 
unter  Einfügung  eines  neuen  bestimmenden  Einzelfaktors, 
als  notwendig  abgeleitet  wird. 

Die  Erhaltung  einer  allgemeinen  ,,Form"  der  Gesamt- 
erfahrung ist  also  hier  ohne  weiteres  deutlich;  aber  sie  ergibt 
sich  auch  dann,  wenn  die  notwendige  Revision  von  den 
„Tatsachen"  und  den  rein  empirischen  ,, Regeln"  ihrer  Ver- 
bindung auf  die  Prinzipien  und  Grundsätze  selbst 
übergreift.  Auch  diese  Grundsätze,  wie  sie  etwa  Newton 
an  die  Spitze  seiner  Mechanik  stellt,  dürfen  uns  nicht  als 
schlechthin  unveränderliche  Dogmen  gelten,  sondern  als 
die  jeweilig  einfachsten  gedanklichen  ,, Hypothesen",  durch 
welche  wir  die  Einheit  der  Erfahrung  stiften.  Wir 
gehen  von  dem  Inhalt  dieser  Hypothesen  nicht  ab,  so- 
lange noch  irgendeine  weniger  eingreifende  Variation,  die 
also  ein  abgeleitetes  Moment  betrifft,  den  Einklang 
zwischen  Theorie  und  Erfahrung  wiederherzustellen  vermag: 
hat  dieser  Weg  sich  aber  endgültig  als  ungangbar  gezeigt, 
so  sieht  sich  die  Kritik  nunmehr  zu  den  Voraussetzungen 
selbst  und  zu  der  Forderung  ihrer  Umgestaltung  zurück- 
gewiesen. Jetzt  ist  es  somit  die  „Funktionsform"  selbst, 
die  in  eine  andere  übergeht:  aber  dieser  Übergang  selbst 
bedeutet  niemals,  daß  die  eine  Grundgestalt  absolut  ver- 
schwindet, während  eine  andere  an  ihrer  Stelle  absolut  neu 
entsteht.  Die  neue  Form  soll  die  Antwort  auf  Fragen 
enthalten,  die  innerhalb  der  älteren  entworfen  und  formuliert 
worden  sind:  schon  dieser  eine  Zug  aber  setzt  zwischen 
beiden  einen  logischen  Zusammenhang  und  weist  auf  ein 
gemeinsames  Forum  der  Beurteilung  hin,  dem  beide  unter- 
stehen. Die  Veränderung  muß  einen  bestimmten  Bestand 
von  Prinzipien  unangetastet  lassen;  denn  lediglich  die  Sicherung 
dieses  Bestandes  ist  es,  um  derentwillen  sie  überhaupt  unter- 
nommen wird  und  die  ihr  das  eigentliche  Ziel  weist.    Da  wir 

23*  355 


niemals  den  Inbegriff  der  Hypothesen  an  sich  mit  den  nackten 
Tatsachen  an  sich  vergleichen,  sondern  stets  nur  e  i  n  hypo- 
thetisches System  von  Grundsätzen  einem  anderen,  um- 
fassenderen und  radikaleren,  gegenüberstellen  können,  so 
bedürfen  wir  für  diese  fortschreitende  Vergleichung  ein  letztes 
konstantes  Maß  in  obersten  Grundsätzen,  die  für  alle  Er- 
fahrung überhaupt  gelten.  Die  Identität  dieses  logischen 
Maßsystems  bei  allem  Wechsel  dessen,  was  dadurch  gemessen 
wird,  ist  es,  was  der  Gedanke  fordert.  In  diesem  Sinne  will 
die  kritische  Erfahrungslehre  in  der  Tat  gleichsam  die  all- 
gemeine Invariantentheorie  derErfahrung 
bilden  und  damit  eine  Forderung  erfüllen,  auf  welche  die 
Charakteristik  des  induktiven  Verfahrens  selbst  immer  deut- 
licher hindrängt.  Das  Verfahren  der  „Transzendental- 
philosophie" kann  an  diesem  Punkte  dem  der  Geometrie 
unmittelbar  gegenübergestellt  werden:  wie  der  Geometer  an 
einer  bestimmten  Figur  die  Beziehungen  heraushebt  und 
untersucht,  die  bei  bestimmten  Transformationen  ungeändert 
bleiben,  so  werden  hier  diejenigen  universellen  Formelemente 
zu  ermitteln  gesucht,  die  sich  in  allem  Wechsel  der  besonderen 
materialen  Erfahrungsinhalte  erhalten.  Als  solche  Form- 
elemente, die  somit  in  keinem  Erfahrungsurteil  und  in  keinem 
System  solcher  Urteile  fehlen  können,  werden  die  „Kate- 
gorien" des  Raumes  und  der  Zeit,  der  Größe  und  der  funk- 
tionalen Abhängigkeit  von  Größen  usf.  festgestellt.  Und 
auch  die  Methode,  die  hierbei  geübt  wird,  weist  das  gleiche 
„rationale"  Gepräge  auf,  wie  es  uns  in  der  Mathematik  ent- 
gegentrat. Wie  wir  dort,  um  die  Unabhängigkeit  einer  be- 
grifflichen Beziehung  von  bestimmten  Änderungen  festzu- 
stellen, nicht  darauf  angewiesen  waren,  alle  diese  Änderungen 
wirklich  zu  vollziehen  und  tatsächlich  zu  durchlaufen,  wie 
es  vielmehr  genügte,  lediglich  die  Richtung  der  Änderung 
ein  für  allemal  ins  Auge  zu  fassen,  um  die  Entscheidung  zu 
treffen*,  so  gilt  das  Gleiche  auch  hier.  Wir  stellen  fest,  daß 
der  Sinn  bestimmter  Erfahrungsfunktionen  von  einem 
Wechsel  in  dem  materialen  Inhalt,  in  welchem  sie  sich  aus- 


♦  Vgl.  oben,  S.  317  f. 
356 


prägen,  prinzipiell  nicht  betroffen  wird:  wie  z.  ß.  die  Geltung 
einer  räumlich-zeitlichen  Abhängigkeit  der  Elemente  des 
Geschehens  überhaupt,  die  sich  im  allgemeinen 
Kausalgesetz  ausspricht,  von  jeder  Änderung  in  den 
besonderen  Kausalsätzen  unberührt  bleibt.  Das  Ziel 
der  kritischen  Analyse  wäre  erreicht,  wenn  es  gelänge,  auf 
diese  Weise  das  letzte  Gemeinsame  aller  möglichen  Formen 
der  wissenschaftlichen  Erfahrung  herauszustellen,  d.  h.  die- 
jenigen Momente  begrifflich  zu  fixieren,  die  sich  im  Fortschritt 
von  Theorie  zu  Theorie  erhalten,  weil  sie  die  Bedingungen 
jedweder  Theorie  sind.  Dieses  Ziel  mag  auf  keiner  gegebenen 
Stufe  des  Wissens  vollständig  erreicht  sein :  als  Forderung 
bleibt  es  nichtsdestoweniger  bestehen  und  bestimmt  in  der 
stetigen  Entfaltung  und  Entwicklung  der  Erfahrungssysteme 
selbst  eine  feste  Richtung.  — 

Der  streng  begrenzte  sachliche  Sinn  des  „a  priori"  tritt 
in  dieser  Betrachtungsweise  deutlich  hervor.  Apriorisch 
können  nur  jene  letzten  logischen  Invarianten 
heißen,  die  jeder  Bestimmung  naturgesetzlicher  Zusammen- 
hänge überhaupt  zugrunde  liegen.  Eine  Erkenntnis  heißt 
a  priori,  nicht  als  ob  sie  in  irgend  einem  Sinne 
vor  der  Erfahrung  läge,  sondern  weil  und  sofern  sie  in 
jedem  gültigen  Urteil  über  Tatsachen  als  notwendige  Prä- 
misse enthalten  ist.  Zergliedern  wir  ein  derartiges  Urteil, 
so  finden  wir  neben  dem,  was  es  unmittelbar  an  sinnlichen 
Beobachtungsdaten  enthält  und  was  von  Fall  zu  Fall  ver- 
schieden ist,  einen  gleichbleibenden  Bestand:  gleichsam  ein 
System  von  „Argumenten",  zu  denen  die  betreffende  Aussage 
einen  zugehörigen  Funktionswert  darstellt.  Dieses  Grund- 
verhältnis ist  in  der  Tat  von  keinem  noch  so  entschlossenen 
„Empirismus"  jemals  im  Ernst  geleugnet  worden.  Wenn  etwa 
die  evolutionistische  Erfahrungslehre  Gewicht  darauf  legt, 
daß  die  Zeitempfindung  und  Zeitvorstellung  sich  „in  der 
Anpassung  an  die  zeitliche  und  räumliche  Umgebung"  ent- 
wickelt, so  enthält  dieser  gewiß  unbestrittene  und  unbestreit- 
bare Satz  in  dem  Begriff  der  „Umgebung",  den  er  voraussetzt, 
bereits  alle  diejenigen  Momente  in  sich,  die  hier  in  Frage 
kommen.    Es  ist  darin  vorausgesetzt,  daß  es  eine  feste,  objek- 

357 


tive  Zeitordnung  „gibt"  und  daß  die  Ereignisse  in  ihr  nicht 
beliebig  und  nach  Willkür  einander  folgen,  sondern  nach  einer 
bestimmten  Regel  „auseinander"  hervorgehen.  Die  Wahrheit 
dieser  Grundannahmen  muß  feststehen,  wenn  der  Gedanke 
der  Evolution  irgendwelches  Recht,  ja  irgendwelchen  Sinn 
behalten  soll:  und  diese  Wahrheit  eines  Urteilszusammenhangs, 
nicht  die  Existenz  irgendwelcher  Vorstellungen  in  uns,  ist  es, 
auf  welche  der  Begriff  des  Apriori  in  seiner  reinen  logischen 
Bedeutung  allein  anwendbar  ist.  Nicht  vom  Dasein  psychischer 
Inhalte,  sondern  von  der  Geltung  bestimmter  Relationen 
und  von  ihrer  Über-  und  Unterordnung  ist  in  ihm  einzig  die 
Rede.  Der  Raum,  nicht  die  Farbe  ist  ein  „Apriori"  im  Sinne 
der  kritischen  Erkenntnislehre,  weil  nur  er  eine  Invariante 
für  jegliche  physikalischeKonstruktion  bildet. 
Je  schärfer  indessen  hier  wiederum  der  Gegensatz  zwischen 
Wahrheit  und  Wirklichkeit  hervortritt,  um  so  deutlicher 
zeigt  es  sich  auf  der  anderen  Seite,  daß  er  eine  ungelöste  Frage 
in  sich  birgt.  So  notwendig  die  Sonderung  beider  Momente 
ist,  so  unabweislich  ist  es  andererseits,  sofern  die  Erkenntnis 
sich  zum  einheitlichen  System  vollenden  soll,  eine  Vermittlung 
zwischen  ihnen  anzunehmen.  Gibt  es  —  so  muß  jetzt  gefragt 
werden  —  innerhalb  der  Erkenntnis  selbst  einen  Weg,  der  uns 
von  den  reinen  logischen  und  mathematischen  Bedingungs- 
zusammenhängen bis  zum  Problem  der  Wirklichkeit  hin- 
führt? Und  wenn  ein  solcher  Weg  gezeigt  werden  kann: 
welche  neue  Bedeutung  ist  es,  die  das  Problem  selbst  hierdurch 
gewinnt,  und  welche  Richtung  seiner  Lösung  wird  dem 
Denken  damit  gewiesen? 


358 


Sechstes  Kapitel. 
Der   Begriff  der  Wirklichkeit. 

I. 

Das  charakteristische  Verfahren  der  Metaphysik  besteht 
nicht  darin,  daß  sie  das  Gebiet  der  Erkenntnis  überhaupt 
überschreitet  —  denn  außerhalb  dieses  Gebiets  gäbe  es  für 
sie  nicht  einmal  mehr  Stoff  zu  möglichen  Fragestel- 
lungen—  sondern  daß  sie,  im  Gebiet  der  Erkenntnis  selbst, 
zusammengehörige  Gesichtspunkte,  die  nur  in  bezug  aufein- 
ander bestimmt  sind,  voneinander  abtrennt  und  somit  das 
Logisch-Korrelative  in  ein  Dinglich- Gegensätzliches  umdeutet. 
(Vgl.  oben,  S.  313f.)  An  keiner  Stelle  tritt  dieser  Zug  so  deutlich 
hervor  und  an  keiner  Stelle  ist  er  so  bedeutsam  und  folgen- 
reich, wie  in  der  alten  Grundfrage  nach  dem  Verhältnis  des 
Denkens  und  Seins,  des  Subjekts  und  Objekts 
der  Erkenntnis.  Dieser  eine  Gegensatz  birgt  bereits  alle 
anderen  in  sich  und  läßt  sich  fortschreitend  in  sie  entfalten. 
Sind  einmal  die  „Dinge"  und  der  „Geist"  begrifflich 
geschieden,  so  treten  sie  alsbald  auch  in  zwei  getrennte 
räumliche  Sphären,  in  eine  Innen-  und  Außenwelt  aus- 
einander, zwischen  denen  es  keine  verständliche  kausale 
Vermittlung  gibt.  Und  immer  schärfer  prägt  sich  nunmehr 
der  Widerstreit  aus:  wenn  die  Objekte  nur  als  Vielheit 
Bestand  haben,  so  ist  dem  Subjekt  die  Forderung  der  Ein- 
heit wesentlich,  wenn  zum  Wesen  der  Wirklichkeit  das 
Moment  der  Veränderung  und  der  Bewegung 
gehört,  so  sind  es  dagegen  Identität  und  Unwandel- 
bar k  e  i  t ,  die  vom  echten  Begriff  gefordert  werden.  Keine 
dialektische  Lösung  vermag  diese  Trennungen,  die  sich 
bereits  in  der  ursprünglichen  Formung  der  Grundgedanken 

359 


vollzogen  haben,  jemals  wieder  völlig  aufzuheben:  die  Ge- 
schichte der  Metaphysik  wechselt  zwischen  den  gegensätz- 
lichen Tendenzen  ab,  ohne  daß  es  ihr  gelingt,  die  eine  aus  der 
anderen  abzuleiten  und  auf  sie  zurückzuführen.  — 

Und  dennoch  bildet  zum  mindesten  das  System  des 
Erfahrungswissens  eine  ursprüngliche  Einheit,  die 
sich  all  jenen  Gegensätzen  zum  Trotz  als  solche  erhält  und 
behauptet.  Der  stetige  Gang  der  Wissenschaft  wird  durch 
die  wechselnden  Schicksale  der  Metaphysik  nicht  von  seinem 
Ziele  abgelenkt.  Über  die  Richtung  dieses  Fortschritts 
muß  sich  also  Klarheit  gewinnen  lassen,  ohne  den  Dualismus 
der  metaphysischen  Grundbegriffe  bereits  vorauszusetzen. 
Sofern  dieser  Dualismus  auf  die  Erfahrung  anwendbar 
sein  soll,  ist  zugleich  zu  fordern,  daß  er  sich  rein  aus  ihr 
und  ihren  eigentümlichen  Prinzipien  verständlich  machen 
lasse.  Somit  lautet  die  Frage  nicht  länger,  welche  Trennung 
im  Absoluten  den  Gegensätzen  des  ,,  Innen"  und  ,, Außen", 
der  „Vorstellung"  und  des  ,,  Gegenstands"  zugrunde  liegt, 
sondern  lediglich,  aus  welchen  Gesichtspunkten  und  welcher 
Notwendigkeit  heraus  das  Wissen  selbst  zu  diesen 
Scheidungen  gelangt.  Sind  diese  Begriffe,  um  deren  Trennung 
und  Wiedervereinigung  sich  alle  Geschichte  der  Philosophie 
gemüht  hat,  lediglich  gedankliche  Phantome  oder  bleibt  für 
sie  im  Aufbau  der  Erkenntnis  eine  feste  Bedeutung  und 
Leistung  zurück? 

Befragt  man  die  unmittelbare  Erfahrung,  die  noch  von 
keinem  Moment  der  Reflexion  durchsetzt  ist,  so  zeigt  es  sich, 
daß  ihr  der  Gegensatz  des  „Subjektiven"  und  „Objektiven" 
noch  völlig  fremd  ist.  Für  sie  gibt  es  nur  eine  Stufe  des 
„Daseins"  schlechthin,  die  alle  Inhalte  gleichmäßig  und 
unterschiedslos  in  sich  befaßt.  Was  hier  und  jetzt  vom  Be- 
wußtsein aufgefaßt  wird,  das  ,,ist"  damit  und  ist  genau  in  der 
Form,  in  der  es  sich  der  direkten  Erfahrung  darbietet.  Zwischen 
den  Erfahrungen  insbesondere,  die  sich  auf  den  eigenen  Körper 
des  Individuums  und  denen,  die  sich  auf  die  ,, äußeren" 
Dinge  beziehen,  besteht  noch  keinerlei  feste  Scheidewand. 
Selbst  die  Zeitgrenze  der  einzelnen  Erfahrungen  verschwimmt: 
das  Vergangene  ist,  sofern  es  in  die  Erinnerung  aufgenommen 

360 


ist,  ebenso  vorhanden  und  damit  ebenso  „wirklich",  als  es 
das  Gegenwärtige  ist.  Die  mannigfachen  Inhalte  ordnen  sich 
gleichsam  in  einer  Ebene:  noch  gibt  es  keine  bestimmten 
Gesichtspunkte,  die  irgendeinen  Vorrang  des  einen  vor  den 
andern  begründen  könnten.  Will  man  zur  Charakteristik 
dieser  Stufe  den  Gegensatz  des  Subjektiven  und  Objektiven 
überhaupt  gebrauchen  —  was  nur  im  übertragenen  und  un- 
eigentlichen Sinne  geschehen  kann  —  so  müßte  man  ihr  das 
Merkmal  durchgängiger  Objektivität  zusprechen:  denn  in  ihr 
besitzen  die  Inhalte  noch  jene  Passivität,  jene  fraglose  und 
unzweifelhafte  Gegebenheit,  die  wir  mit  dem  Gedanken  des 
„Dinges"  zu  verknüpfen  pflegen.  Aber  freilich  hebt  schon 
der  erste  Anfang  der  logischen  Reflexion  diesen  Eindruck  der 
vollkommenen  Einheit  und  Geschlossenheit  auf.  Die  Ent- 
zweiung, die  jetzt  beginnt  und  die  sich  im  weiteren  Fort- 
gang immer  schärfer  ausprägt,  liegt  bereits  in  den  ersten  An- 
sätzen der  wissenschaftlichen  Weltbetrachtung  verborgen. 
Die  Grundtendenz  dieser  Betrachtung  geht  dahin,  die  sinn- 
lichen Daten  nicht  einfach  hinzunehmen,  sondern  sie  in  ihrem 
Werte  zu  unterscheiden.  Die  einmalige  flüchtige  Be- 
obachtung wird  mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund  gedrängt: 
was  zurückbehalten  werden  soll,  sind  nur  jene  „typischen" 
Erfahrungen,  die  in  immer  gleichbleibender  Weise  und  unter 
Bedingungen,  die  sich  allgemein  formulieren  und  feststellen 
lassen,  wiederkehren.  Indem  die  Wissenschaft  das  Gegebene 
aus  bestimmten  Prinzipien  zu  gestalten  und  abzuleiten 
unternimmt,  muß  sie  eben  damit  das  anfängliche  Verhältnis 
der  Koordination  aller  Erfahrungsdaten  aufheben  und  ein 
Verhältnis  der  Über-  und  Unterordnung  an  seine  Stelle 
treten  lassen.  Jeder  kritische  Zweifel  aber,  der  sich  gegen  die 
allgemeine  Gültigkeit  irgendeiner  Wahrnehmung  richtet,  trägt 
im  Keime  zugleich  die  Spaltung  des  Seins  in  eine  „subjektive" 
und  „objektive"  Sphäre  in  sich.  Die  Analyse  des  Erfahrungs- 
begriffs hat  bereits  zu  demjenigen  Gegensatz  hingeführt, 
der  dazu  berufen  ist,  an  dieser  Stelle  die  metaphysische 
Scheidung  von  Subjekt  und  Objekt  abzulösen,  indem  er 
ihren  wesentlichen  begriffliche  n  Gehalt  in  sich  auf- 
nimmt. 

361 


Das  Ziel,  dem  alle  empirische  Erkenntnis  zustrebt, 
liegt,  wie  sich  zeigte,  in  der  Gewinnung  letzter  Invarianten, 
die  die  notwendigen  und  konstitutiven  Faktoren  jedes  Er- 
fahrungsurteils bilden.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  be- 
trachtet, erscheinen  indessen  die  mannigfachen  empirischen 
Aussagen  alsbald  von  sehr  verschiedenem  Werte.  Neben 
lockeren  assoziativen  Verbänden  von  Wahrnehmungen,  die 
nur  jeweilig  unter  besonderen  Umständen,  also  etwa  unter 
bestimmten  physiologischen  Bedingungen,  zusammentreten, 
finden  sich  feste  Verknüpfungen,  die  für  irgendeinen  Ge- 
samtbereich von  Gegenständen  schlechthin  gültig  sind  und 
ihm,  unabhängig  von  den  Differenzen,  die  durch  den  be- 
sonderen Ort  und  den  bestimmten  Zeitpunkt  der  Beob- 
achtung gegeben  sind,  ein  für  allemal  zukommen.  Wir 
finden  Zusammenhänge,  die  sich  in  jeder  ferneren  experi- 
mentellen Prüfung  und  durch  alle  scheinbaren  Gegeninstanzen 
hindurch  behaupten,  die  somit  im  Flusse  der  Er- 
fahrung beharren,  während  andere  wiederum  zerfließen 
und  sich  verflüchtigen.  Die  ersteren  sind  es,  die  wir  im 
prägnanten  Sinne  „objektiv"  nennen,  während  wir  die  letzteren 
mit  dem  Ausdruck  des  ,, Subjektiven"  bezeichnen.  Objektiv 
heißen  uns  zuletzt  diejenigen  Elemente  der  Erfahrung,  auf 
denen  ihr  unwandelbarer  Bestand  beruht,  die  sich  also  in 
allem  Wechsel  des  Hier  und  Jetzt  erhalten;  während  das- 
jenige, was  diesem  Wechsel  selbst  angehört,  was  also  nur 
eine  Bestimmung  des  individuellen,  einmaligen  Hier  und 
Jetzt  ausdrückt,  dem  Kreise  der  Subjektivität  zugerechnet 
wird.  Aus  dieser  Ableitung  des  Grundunterschiedes  aber  ergibt 
sich  sogleich,  daß  er  lediglich  relative  Bedeutung  besitzt. 
So  wenig  es,  für  einen  jeweilig  erreichten  Stand  unserer  Er- 
kenntnis, absolut  konstante  Elemente  der  Erfahrung  gibt, 
so  wenig  gibt  es  absolut  veränderliche  Elemente.  Ein  Inhalt 
kann  als  veränderlich  nur  erkannt  werden  mit  Bezug  auf 
einen  anderen,  der  ihm  gegenübertritt  und  der  für  sich  zu- 
nächst dauernden  Bestand  in  Anspruch  nimmt;  wobei 
indes  stets  die  Möglichkeit  bestehen  bleibt,  daß  auch  dieser 
zweite  Inhalt  in  einem  dritten  seine  Korrektur  findet,  und 
daß  er  somit  nicht  mehr  als  der  wahrhafte  und  vollständige 

362 


Ausdruck  der  Objektivität,  sondern  als  bloßer  Teilausdruck 
des  Seins  gilt.  Hier  handelt  es  sich  also  nicht  um  eine  starre 
Scheidewand,  die  zwei  voneinander  ewig  getrennte  Gebiete 
der  Wirklichkeit  auseinanderhält,  sondern  um  eine  beweg- 
liche Grenze,  die  sich  im  Fortgang  der  Erkenntnis  selbst 
beständig  verschiebt.  Die  gegenwärtige  Phase  erscheint  der 
vergangenen  gegenüber  ebenso  sehr  als  „objektiv",  wie  sie 
sich  der  späteren  gegenüber  als  „subjektiv"  erweist.  Nur 
dieser  wechselseitige  Akt  der  Berichtigung  selbst,  nur  die 
Funktion,  die  die  Entgegensetzung  zu  erfüllen  hat,  bleibt 
bestehen,  während  der  materiale  Inhalt  der  beiden  Gebiete 
in  steteni  Fluß  begriffen  ist.  Der  räumliche  Ausdruck 
der  Grenzscheidung,  die  Zerlegung  des  Seins  in  eine  Innen- 
und  Außenwelt  ist  daher  schon  darum  unzureichend  und  irre- 
führend, weil  er  dieses  Grundverhältnis  verdunkelt;  weil 
er  an  die  Stelle  einer  lebendigen  Wechselbeziehung,  die  sich 
zugleich  mit  der  fortschreitenden  Erkenntnis  selbst  voll- 
zieht und  konstituiert,  eine  fertige  und  absolut  abgeschlossene 
Sonderung  der  Dinge  setzt.  Der  Gegensatz,  um  den  es  sich 
handelt,  ist  nicht  räumlicher,  sondern  gleichsam  dynamischer 
Natur:  er  bezeichnet  die  verschiedene  Kraft,  mit  welcher 
Erfahrungsurteile  der  steten  Nachprüfung  durch  Theorie 
und  Beobachtung  standhalten,  ohne  in  ihrem  Inhalt 
dadurch  geändert  zu  werden.  In  diesem  sich  stetig  erneuernden 
Prozeß  scheiden  immer  mehr  Gruppen  aus,  die  uns  anfangs 
als  „feststehend"  galten  und  die  jetzt,  da  sie  die  Probe  nicht 
bestanden,  diesen  Charakter,  der  das  Grundmerkmal  aller 
Objektivität  ausmacht,  verlieren.  Aber  es  handelt  sich, 
wie  jetzt  immer  klarer  hervortritt,  bei  diesem  Übergang  ins 
Subjektive  nicht  um  eine  Veränderung,  die  die  Substanz  der 
Dinge,  sondern  lediglich  um  eine  solche,  die  die  kritische 
Bewertung  von  Erkenntnissen  erfährt.  Die  „Dinge"  werden 
dadurch  nicht  zu  bloßen  „Vorstellungen"  herabgedrückt, 
sondern  ein  Urteil,  das  zuvor  unbedingt  zu  gelten  schien, 
wird  nunmehr  auf  einen  bestimmten  Kreis  von  Bedingungen 
eingeschränkt. 

Man  kann  sich  dieses  Verhältnis  alsbald  verdeutlichen, 
wenn  man  an  das  bekannteste  Beispiel  für  diesen  Übergang 

363 


der  Objektivität  in  die  Subjektivität,  an  die  Entdeckung  der 
„Subjektivität  der  sinnlichen  Qualitäten"  denkt.  Schon 
bei  Demokrit,  der  diese  Entdeckung  zuerst  vollzieht, 
bedeutet  sie  im  Grunde  nichts  anderes,  als  daß  die  Farben  und 
Töne,  die  Gerüche  und  Geschmäcke  einen  eigentümlichen 
Erkenntnischarakter  erhalten,  kraft  dessen  sie  aus  der  wissen- 
schaftlichen Konstruktion  der  Wirklichkeit  ausscheiden.  Sie 
gehen  von  der  ^rtjaltj  ^via^ri  in  die  öxot/t;  -[viü^it}  über;  sie 
trennen  sich  von  den  rein  mathematischen  Ideen  des  Raumes, 
der  Gestalt,  der  Bewegung,  denen  fortan  allein  physikalische 
„Wahrheit"  zugesprochen  wird.  Trotzdem  bedeutet  diese 
Abgrenzung  nicht,  daß  ihnen  jeder  Anteil  am  Sein  über- 
haupt abgesprochen  wird:  vielmehr  wird  ihnen,  die  früher 
als  Zeugen  der  Wirklichkeit  schlechthin  galten,  nur  ein 
engeres  Gebiet  abgesteckt,  innerhalb  dessen  sie  jedoch  ihre 
volle  Geltung  bewahren.  Die  gesehene  Farbe,  der  gehörte 
Ton  ist  und  bleibt  ein  ,, Wirkliches":  nur  besteht  diese  Wirk- 
lichkeit nicht  für  sich  und  isoliert,  sondern  resultiert  von  dem 
Zusammenwirken  des  physikalischen  Reizes,  und  des  zu- 
gehörigen Organs  der  sinnlichen  Empfindung.  Die  Quali- 
täten fallen  also,  indem  sie  als  subjektiv  erklärt  werden, 
zwar  aus  der  Welt  der  „reinen  Formen",  die  die  mathematische 
Physik  entwirft,  nicht  aber  aus  der  Natur  als  solcher  heraus: 
denn  eben  jenes  Verhältnis  physikalischer  und  physiolo- 
gischer Bedingungen,  auf  welchem  sie  beruhen,  macht  selbst 
einen  Teil  der  „Natur"  aus,  deren  Begriff  sich  ja  erst  in  der 
wechselseitigen  kausalen  Abhängigkeit  der  Einzelelemente 
erfüllt.  Das  gleiche  gilt,  wenn  man  über  den  Kreis  der  sekun- 
dären Qualitäten  hinaus,  bis  zu  den  Illusionen  und  Sinnes- 
täuschungen zurückgeht.  Wenn  wir  den  geraden  Stab  im 
Wasser  gebrochen  erblicken,  so  ist  auch  dies  kein  wesenloser 
Schein,  sondern  ein  Phänomen,  das  in  den  Gesetzen  der 
Lichtbrechung  ,, wohlbegründet"  ist,  das  somit  einen  be- 
stimmten komplexen  Zusammenhang  von  Erfahrungsmomenten 
zu  völlig  zutreffendem  Ausdruck  bringt.  Der  Irrtum  beginnt 
erst,  wenn  wir  eine  Bestimmung,  die  für  ein  einzelnes  Glied 
gilt,  auf  den  Gesamtkomplex  übertragen  und  somit  ein  Urteil, 
das  unter  bestimmten  Einschränkungen  als  gültig  befunden 

364 


wurde,  auf  die  Erfahrung  als  Ganzes,  losgelöst  von  jeder 
beschränkenden  Bedingung,  anwenden.  Daß  der  Stab  ge- 
brochen ist,  ist  ein  gültiges  Erfahrungsurteil,  sofern  nämlich 
die  Erscheinung,  auf  die  es  sich  bezieht,  sich  als  not- 
wendig begründen  und  ableiten  läßt;  —  nur  müssen  wir 
diesem  Urteil  gleichsam  einen  logischen  Index  beigeben, 
der  die  besonderen  Bedingungen  seiner  Geltung,  von  denen 
sich  nicht  abstrahieren  läßt,  bezeichnet  und  festlegt. 

Faßt  man  das  Ganze  dieser  Betrachtungen  zusammen, 
so  tritt  die  Stufenfolge  in  den  Graden  der  Objektivität 
deutlich  hervor.  Solange  man  bei  dem  metaphysischen  Unter- 
schied des  Innen  und  Außen  stehen  bleibt,  ist  damit  ein 
Gegensatz  gegeben,  der  schlechthin  keine  Vermittlung  zuläßt. 
Hier  gilt  nur  ein  einfaches  Entweder  —  Oder:  wie  ein  Ding 
nicht  gleichzetig  an  zwei  verschiedenen  Stellen  des  Raumes 
sein  kann,  so  kann  das  „Innere"  nicht  in  irgendeinem  Be- 
tracht zugleich  ein  „Äußeres"  sein,  und  umgekehrt.  In  der 
kritischen  Fassung  der  Frage  dagegen  ist  diese  Beschränkung 
aufgehoben.  Der  Gegensatz  ist  nicht  mehr  zweigliedrig, 
sondern  mehrgliedrig,  sofern  —  wie  sich  gezeigt  hat  —  ein 
und  derselbe  Erfahrungsinhalt  subjektiv  und  objektiv  heißen 
kann,  je  nachdem  er  relativ  zu  verschiedenen  logischen  Be- 
zugspunkten genommen  wird.  Die  sinnliche  Wahr- 
nehmung bedeutet,  der  Halluzination  und  dem  Traume  gegen- 
über, den  eigentlichen  Typus  des  Objektiven,  während  sie, 
an  dem  Schema  der  exakten  Physik  gemessen,  zu  einem 
Phänomen  werden  kann,  das  keine  selbständige  Eigenschaft 
der  „Dinge"  mehr,  sondern  nur  einen  subjektiven  Zustand 
des  Beobachters  ausdrückt.  In  Wahrheit  handelt  es  sich  hier 
stets  um  eine  Beziehung,  die  zwischen  dem  relativ  engeren 
und  dem  relativ  weiteren  Erfahrungskreis,  zwischen  relativ 
abhängigen  und  relativ  unabhängigen  Urteilen  besteht.  Damit 
aber  ist  von  selbst  statt  einer  bloßen  Zweiheit  von  Bestim- 
mungen, eine  Wertfolge  gegeben,  die  nach  einer  be- 
stimmten Regel  fortschreitet.  Jedes  Glied  weist  nunmehr  auf 
ein  folgendes  hin  und  fordert  es  zu  seiner  Ergänzung.  Schon 
in  der  populären  und  vorwissenschaftlichen  Betrachtung 
lassen  sich  die  ersten,  wichtigen  Phasen  dieser  Entwicklung 

365 


erkennen.  Wenn  wir  einen  sinnlichen  Eindruck,  der  uns  hier 
und  jetzt  in  ganz  bestimmter  Nuancierung  gegeben  ist, 
etwa  als  „rot"  oder  „grün"  bezeichnen,  so  liegt  schon  dieser 
primitive  Urteilsakt  in  jener  Richtung  vom  Variablen  zum 
Konstanten,  die  für  alle  Erkenntnis  wesentlich  ist.  Schon 
hier  wird  der  Inhalt  der  Empfindung  vom  momentanen 
Erlebnis  losgelöst  und  diesem  als  selbständig  gegenübergestellt: 
er  erscheint  dem  einzelnen  zeitlichen  Akt  gegenüber,  in  dem 
er  erfaßt  wird,  als  ein  gleichbleibendes  Moment,  das  sich  in 
identischer  Bestimmung  festhalten  läßt.  Aber  diese  gedank- 
liche Festigung,  die  auch  im  Einzeleindruck  latent  ist  und 
ihm  erst  einen  eigentlichen  Bestand  verleiht,  bleibt  dennoch 
weit  zurück  hinter  dem,  was  im  Dingbegriff  der  ge- 
wöhnlichen Erfahrung  geleistet  ist.  Hier  genügt  es  nicht, 
sinnliche  Wahrnehmungen  schlechthin  zusammenzunehmen, 
sondern  neben  diese  bloße  Vereinigung  des  Gegebenen  muß 
ein  Akt  der  logischenErgänzu  ng  treten.  DerGegen- 
stand  der  Erfahrung  wird  als  ein  kontinuierliches 
Sein  gedacht,  dessen  Fortbestand  in  jedem  Punkte  der  stetigen 
Folge  der  Zeitmomente  als  notwendig  postuliert  wird. 
Was  die  direkte  Wahrnehmung  uns  darbietet,  sind  dagegen 
stets  nur  isolierte  Bruchstücke,  sind  nur  völlig  diskrete 
Werte,  die  in  keiner  Zusammenfassung  ein  stetiges  Ganzes 
ausmachen.  Das  wahrhaft  „Gesehene"  und  „Gehörte"  gibt 
nur  unzusammenhängende,  zeitlich  auseinanderfallende  Massen 
von  Perzeptionen,  während  der  Begriff  des  ,,  Gegenstandes" 
die  vollkommene  Erfüllung  der  Zeitreihe,  also  streng  genommen 
die  Setzung  eines  unendlichen  Inbegriffs  von  Elementen, 
verlangt.  Somit  tritt  auf  dieser  zweiten  Stufe  das  allgemeine 
Verfahren  der  Umformung  und  Bereicherung  des  Gegebenen 
auf  Grund  der  logischen  Forderung  seiner  durchgängigen 
Verknüpfung  bereits  in  voller  Schärfe  hervor.  Die  Fort- 
bildung dieses  Verfahrens  ist  es  sodann,  worauf  die  Wissen- 
schaft ihre  Definition  der  Natur  und  des  Naturobjekts  gründet. 
Die  logischen  Ansätze,  die  schon  im  Erfahrungsbegriff  der 
gewöhnlichen  Weltansicht  vorlagen,  werden  jetzt  bewußt  auf- 
genommen und  in  methodischer  Absicht  weitergeführt.  Die 
,, Dinge",  die  nunmehr  entstehen,  erweisen  sich,  je  deutlicher 

366 


sie  in  ihrem  eigentlichen  Gehalt  erfaßt  werden,  immer  mehr 
als  metaphorische  Ausdrücke  für  dauernde  Gesetzeszusammen- 
hänge der  Phänomene  und  somit  für  die  Konstanz  und  Kon- 
tinuität der  Erfahrung  selbst.  Um  diese  Festigkeit  und 
Stetigkeit,  die  in  keinem  sinnlich  wahrnehmbaren  Objekt 
jemals  völlig  erfüllt  ist,  zu  erreichen,  sieht  sich  der  Gedanke 
zu  einem  hypothetischen  Unterbau  des  empirischen  Seins 
hingeführt,  der  aber  keine  andere  Funktion  besitzt,  als  die 
beständige  Ordnung  innerhalb  dieses  Seins  selbst  darzustellen. 
(Vgl.  oben,  S.  217  ff.)  Somit  ist  es  ein  lückenloser  Fortgang,  der 
von  den  ersten  Stufen  der  Objektivierung  bis  zu  ihrer  vollen- 
deten wissenschaftlichen  Gestalt  hinführt.  Der  Abschluß 
dieses  Prozesses  wäre  erreicht,  sobald  es  uns  gelungen  wäre, 
zu  jenen  letzten  Konstanten  der  Erfahrung  überhaupt  vor- 
zudringen, die,  wie  sich  zeigte,  zugleich  Voraussetzung  und 
Ziel  der  Forschung  bilden.  Das  System  dieser  unveränderlichen 
Elemente  bildet  das  Muster  der  Objektivität  überhaupt;  — 
sofern  dieser  Terminus  rein  auf  eine  Bedeutung  einge- 
schränkt wird,  die  der  Erkenntnis  völlig  faßbar  und  erreich- 
bar ist.  — 

Wie  das  ,,Ding  an  sich"  in  die  bloße  ,, Vorstellung"  über- 
geht, wie  das  absolute  Dasein  sich  in  das  absolute  Wissen 
wandelt,  bleibt  daher  freilich  ein  unergründliches  Problem: 
aber  mit  dieser  Frage  haben  wir  es  in  der  kritisch  geklärten 
Fassung  des  Gegensatzes  des  Subjektiven  und  Objektiven 
auch  nirgends  zu  tun.  Wir  messen  hier  die  Vorstellungen  nicht 
an  den  absoluten  Gegenständen,  sondern  es  sind  verschiedene 
Teilausdrücke  ein  und  derselben  Gesamterfahrung,  die  ein- 
ander wechselseitig  als  Maßstab  dienen.  Jede  Teilerfahrung 
wird  danach  befragt,  was  sie  für  das  Gesamtsystem  bedeutet: 
und  diese  Bedeutung  ist  es,  die  ihr  das  Maß  der  Objektivität 
bestimmt.  So  handelt  es  sich  hier  im  letzten  Grunde  nicht 
darum,  was  eine  bestimmte  Erfahrung  ,,ist",  sondern  um 
das,  was  sie  „wert  ist",  d.  h.  welche  Leistung  ihr,  als  besonderem 
Baustein,  im  Aufbau  des  Ganzen  zukommt.  Auch  die  Traum- 
erlebnisse sind  von  den  wachen  Erlebnissen  nicht  durch  einen 
ganz  spezifischen  ,, Dingcharakter"  unterschieden,  der  ihnen 
als  ein  für  allemal  erkennbares  Merkmal  anhaftete.    Auch  sie 

367 


besitzen  eine  Art  des  „Seins",  sofern  sie  in  bestimmten  physio- 
logischen Bedingungen,  in  „objektiven"  körperlichen  Zu- 
ständen gegründet  sind;  aber  dieses  Sein  reicht  nicht 
über  den  Umkreis  und  über  die  Zeitspanne  hinaus,  innerhalb 
deren  diese  Bedingungen  erfüllt  sind.  Die  Einsicht  in  den 
subjektiven  Charakter  des  Traumes  bedeutet  nichts  anderes 
als  die  Wiederherstellung  einer  logischen  Abstufung 
zwischen  den  Bewußtseinsinhalten,  die  sich  vorübergehend  zu 
verwischen  drohte.  Und  so  ist  es  allgemein  die  immer  strengere 
Organisation  der  Erfahrung,  der  der  Gegensatz  des 
Subjektiven  und  Objektiven  in  seiner  fortschreitenden  Ent- 
wicklung dient.  Wir  suchen  an  Stelle  der  veränderlichen 
Inhalte  dauernde  Inhalte  zu  gewinnen;  aber  wir  werden  uns 
zugleich  bewußt,  daß  jeder  Ansatz,  den  wir  in  dieser  Richtung 
unternehmen,  die  Grundforderung  nur  zum  Teil  erfüllt 
und  daher  der  Ergänzung  in  einer  neuen  Setzung  bedarf.  So 
gelangen  wir  zu  einer  Folge  über-  und  untergeordneter  Mo- 
mente, die  gleichsam  die  verschiedenen  komplementären 
Phasen  für  die  Lösung  ein  und  derselben  Aufgabe  darstellen. 
Keine  dieser  Phasen  —  auch  diejenigen  nicht,  die  von  dem 
Ziel  am  weitesten  entfernt  bleiben  —  kann  gänzlich  entbehrt 
werden;  aber  keine  stellt  auch  einen  schlechthin  unbedingten 
Abschluß  dar.  So  können  wir  freilich  die  Erfahrung  von 
den  Dingen  niemals  mit  den  Dingen  selbst,  so  wie  sie 
an  und  für  sich  und  losgelöst  von  allen  Bedingungen  der  Er- 
fahrung etwa  angenommen  werden,  vergleichen;  wohl  aber 
können  wir  einen  relativ  engeren  Aspekt  der  Erfahrung  selbst 
durch  einen  weiteren  ersetzen,  der  die  gegebenen  Daten  unter 
einem  neuen  allgemeineren  Gesichtspunkt  ordnet.  Die 
früheren  Ergebnisse  werden  dadurch  nicht  entwertet,  sondern 
vielmehr  innerhalb  einer  bestimmten  Geltungssphäre  be- 
stätigt. Jedes  spätere  Glied  der  Reihe  hängt  mit  den  früheren, 
an  deren  Stelle  es  sich  setzt,  notwendig  zusammen,  sofern  es 
die  Antwort  auf  eine  Frage  geben  will,  die  in  ihnen  latent  ist. 
Wir  stehen  hier  vor  einem  ständig  sich  erneuernden  Prozeß, 
der  nur  relative  Haltpunkte  kennt:  und  diese  Haltpunkte 
sind  es,  die  uns  den  jeweiligen  Begriff  der  „Objektivität" 
definieren.  — 

368 


Auch  die  Richtung,  in  welcher  dieser  Weg  der  Er- 
fahrung durchschritten  wird,  ist  derjenigen,  die  nach  den  ge- 
wöhnlichen metaphysischen  Voraussetzungen  zu  erwarten 
wäre,  unmittelbar  entgegengesetzt.  Vom  Standpunkt  dieser 
Voraussetzungen  ist  es  das  Subjekt,  sind  es  die  Vorstellungen 
in  uns,  die  uns  anfangs  allein  gegeben  sind  und  von  denen  wir 
uns  erst  mühsam  den  Zugang  zur  Welt  der  Objekte  zu  bahnen 
haben.  Die  Geschichte  der  Philosophie  lehrt  indes,  wie  alle 
Versuche,  die  in  dieser  Hinsicht  unternommen  werden,  ver- 
sagen: haben  wir  uns  einmal  in  den  Kreis  des  ,,  Selbstbewußt- 
sein" eingeschlossen,  so  kann  keine  Bemühung  des  Denkens, 
die  ja  selbst  vollständig  diesem  Kreise  angehört,  uns  wieder 
über  ihn  hinausführen.  Der  Kritik  der  Erkenntnis  dagegen 
stellt  sich  die  Aufgabe  umgekehrt:  für  sie  lautet  das  Problem 
nicht,  wie  wir  vom  ,, Subjektiven"  zum  ,, Objektiven",  sondern 
wie  wir  vom  „Objektiven"  zum  ,, Subjektiven"  gelangen. 
Sie  kennt  keine  andere  und  keine  höhere  Objektivität, 
als  diejenige,  die  in  der  Erfahrung  selbst  und  gemäß  ihren 
Bedingungen  gegeben  ist.  Somit  fragt  sie  nicht,  ob  das  Ganze 
der  Erfahrung  objektiv  wahr  und  gültig  ist  —  da  hier  bereits 
ein  Maßstab  vorausgesetzt  würde,  der  in  der  Erkenntnis 
niemals  gegeben  sein  kann  — ,  sondern  nur,  ob  ein  bestimmter 
Sonderinhalt  einen  dauernden  oder  vergänglichen  Bestandteil 
in  eben  diesem  Ganzen  ausmacht.  Es  handelt  sich  nicht  darum, 
das  System  in  seiner  Gesamtheit  seinem  absoluten  Werte 
nach  abzuschätzen,  sondern  einen  Wertunterschied  zwischen 
seinen  einzelnen  Faktoren  zu  treffen.  Die  Frage  nach  der 
Objektivität  der  Erfahrung  überhaupt  beruht  im  Grunde 
auf  einer  logischen  Illusion,  von  der  die  Geschichte  der  Meta- 
physik auch  sonst  mannigfache  Beispiele  liefert.  Sie  steht 
prinzipiell  auf  derselben  Stufe,  wie  etwa  die  Frage  nach  dem 
absoluten  Ort  der  Welt:  denn  wie  in  dieser  ein  Verhältnis, 
das  nur  für  die  einzelnen  Teile  des  Universums  in  ihrer  wechsel- 
seitigen Beziehung  Geltung  hat,  fälschlich  auf  das  Universum 
als  Ganzes  übertragen  wird,  so  wird  hier  ein  begrifflicher 
Gegensatz,  der  bestimmt  ist,  die  einzelnen  Phasen  der  empiri- 
schen Erkenntnis  zu  unterscheiden,  auf  die  gedachte  Allheit 
dieser  Phasen  und  ihre  Aufeinanderfolge  angewandt.     Jeder 

Cassirer,  Substanzbegriff  24  369 


besonderen  Erfahrung  kommt  das  volle  Maß  der  „Objektivi- 
tät" zu,  solange  sie  nicht  durch  eine  andere,  die  ihr  gegenüber- 
tritt, verdrängt  und  berichtigt  wird.  In  dem  Maße,  als  diese 
ständige  Prüfung  und  Selbstkorrektur  fortgesetzt  wird,  mehrt 
sich  daher  der  Stoff  dessen,  was  aus  der  endgültigen 
wissenschaftlichen  Auffassung  der  Wirklichkeit  ausscheidet, 
wenngleich  es  innerhalb  eines  beschränkten  Umkreises  sein 
Recht  bewahrt.  Bestandteile,  die  zunächst  unentbehrlich 
und  konstitutiv  für  den  Begriff  des  empirischen  Seins  selbst 
scheinen  —  wie  der  spezifische  Inhalt  der  einzelnen  Empfin- 
dungen —  verlieren  diese  vorherrschende  Stellung  und  be- 
sitzen fortan  keine  zentrale,  sondern  nur  noch  eine  periphere 
Bedeutung.  Die  Bezeichnung  eines  Elementes  als  „subjektiv" 
kommt  ihm  daher  keineswegs  ursprünglich  zu,  sondern  sie 
setzt  ein  kompliziertes  Verfahren  der  gedanklichen  und  empiri- 
schen Kontrolle  voraus,  das  erst  auf  relativ  hoher  Stufe 
erreicht  wird.  Sie  entsteht  erst  in  der  wechselseitigen  Kritik 
der  Erfahrungen,  in  der  sich  der  veränderliche  Bestand  vom 
dauernden  abscheidet.  Das,, Subjektive"  ist  nicht  der  gegebene 
selbstverständliche  Ausgangspunkt,  von  welchem  aus  nun 
in  einer  spekulativen  Synthese  die  Welt  der  Objekte  zu 
erreichen  und  zu  konstruieren  wäre,  sondern  es  ist  erst  das  Er- 
gebnis einer  Analyse,  die  den  Bestand  der  Erfahrung 
selbst,  die  also  die  Geltung  fester  gesetzlicher  Relationen 
zwischen  Inhalten  überhaupt,  voraussetzt.  — 

Der  Fortgang  dieser  Analyse  wird  deutlich,  wenn  man 
auf  das  Verhältnis  des  „Allgemeinen"  zum  ,, Besonderen" 
zurückblickt,  das  schon  in  der  Begriffsbestimmung  des  in- 
duktiven Urteils  hervortrat.  Jedes  Einzelurteil  —  so  zeigte 
sich  hier  —  nimmt  zunächst  und  ursprünglich  unbedingte 
Geltung  für  sich  in  Anspruch:  es  will  nicht  nur  hier  und  jetzt 
gegebene  Empfindungen  in  ihrer  individuellen  Eigentümlich- 
keit beschreiben,  sondern  einen  Sachverhalt  feststellen,  der 
unabhängig  von  allen  besonderen  zeitlichen  Umständen  an 
und  für  sich  als  gültig  gesetzt  wird.  Das  Urteil  blickt  als  solches 
und  kraft  seiner  logischen  Grundfunktion  über  den  Kreis 
des  jeweilig  Gegebenen  hinaus,  indem  es  einen  allgemein- 
gültigen   Zusammenhang    zwischen    Subjekt    und    Prädikat 

370 


behauptet.  (S.  oben,  S.  326  ff.)  Nur  auf  Grund  besonderer  Motive 
wird  der  Gedanke  dazu  geführt,  von  dieser  ersten  Forderung 
abzugehen  und  seine  Aussage  ausdrücklich  auf  einen  engeren 
Kreis  zu  beschränken.  Diese  Begrenzung  findet  nur  statt, 
sofern  sich  ein  Konflikt  zwischen  verschiedenen  empiri- 
schen Aussagen  ergibt.  Aussagen,  die  absolut  genommen, 
inhaltlich  unvereinbar  sein  würden,  werden  jetzt  in  Einklang 
miteinander  gesetzt,  indem  sie  auf  verschiedene  Subjekte  be- 
zogen werden;  —  indem  also  zum  mindesten  die  eine  von 
ihnen  sich  bescheidet,  nicht  die  ,, Natur"  der  Dinge  schlechthin, 
sondern  nur  von  einem  speziellen  Gesichtspunkt  aus  und  unter 
bestimmten  einschränkenden  Bedingungen  zum  Ausdruck 
zu  bringen.  Wie  die  einzelne  geometrische  Gestalt,  nach 
einem  bekannten  Satz  der  Kantischen  Raumlehre,  nur  durch 
Einschränkung  aus  dem  ,, einigen"  allbefassenden  Raum 
gewonnen  wird,  so  geht  das  besondere  Erfahrungsurteil  durch 
Einschränkung  aus  dem  einigen  Grundsystem  der  Erfahrungs- 
urteile überhaupt  hervor  und  setzt  dieses  System  voraus.  Es 
entsteht,  wenn  eine  Mehrheit  von  Erfahrungskreisen,  deren 
jeder  indessen  als  gesetzlich  völlig  bestimmt  gedacht  wird, 
sich  schneiden  und  sich  wechselweise  bestimmen.  Von  der 
schlechthin  isolierten  „Impression",  in  der  jeder  Gedanke  der 
logischen  Beziehung  ausgelöscht  ist,  führt  kein  Weg  zum 
Gesetz  hinüber:  dagegen  ist  es  völlig  verständlich,  wie  wir  auf 
Grund  der  allgemeinen  Forderung  einer  durchgehenden  gesetz- 
lichen Ordnung  der  Erfahrungen  dazu  geführt  werden,  einzelne 
Inhalte,  die  sich  dem  Gesamtplane  scheinbar  nicht  einfügen, 
zunächst  auszuscheiden,  um  sie  erst  nachträglich  aus  einem 
besonderen  Komplex  von  Bedingungen  abzuleiten. 

Es  ist  somit  die  logische  Differenzierung  der 
Erfahrungsinhalte  und  ihre  Einordnung  in  ein  gegliedertes 
System  von  Abhängigkeiten,  was  den  eigentlichen  Kern  des 
Wirklichkeitsbegriffs  bildet.  Dieser  Zusammenhang  wird 
von  einer  neuen  Seite  her  bestätigt,  wenn  man  den  logischen 
Grundcharakter  des  wissenschaftlichen  Versuchs,  der 
ja  der  eigentliche  Zeuge  der  empirischen  Wirklichkeit  ist, 
näher  ins  Auge  faßt.  Das  wissenschaftliche  Experiment  stellt 
niemals  einen  einfachen  Bericht  über  hier  und  jetzt  gegebene 

24*  371 


Wahrnehmungstalsachen  dar,  sondern  erhält  seinen  Wert 
erst  dadurch,  daß  es  die  Einzeldalen  unter  einen  bestimmten 
Gesichtspunkt  der  Beurteilung  rückt  und  ihnen  damit  eine 
Bedeutung  gibt,  die  sie  im  einfachen  sinnlichen  Erleben  als 
solchem  nicht  besitzen.  Was  wir  beobachten,  ist  etwa  ein 
bestimmter  Ausschlag  der  Magnetnadel,  der  unter  gewissen 
Bedingungen  erfolgt  ist;  was  wir  dagegen  als  Ergebnis  des 
Versuchs  aussagen,  ist  stets  ein  objektiver  Zusammen- 
hang theoretisch-physikalischer  Sätze,  der  weit  über  den  be- 
grenzten Tatsachenkreis,  der  uns  im  Einzelmoment  zugänglich 
ist,  hinausgreift.  Immer  muß  der  Physiker  —  wie  D  u  h  e  m 
es  vortrefflich  ausgeführt  hat  —  um  zu  einem  wirklichen 
Ertrag  seiner  Untersuchungen  zu  gelangen,  den  tatsächlichen 
Fall,  der  ihm  vor  Augen  steht,  zuvor  zum  Ausdruck  des  idealen 
Falls  umbilden,  den  die  Theorie  voraussetzt  und  erheischt. 
Damit  aber  wandelt  sich  ihm  das  einzelne  Instrument,  das  er 
vor  sich  hat,  aus  einer  Gruppe  sinnlicher  Merkmale  und  Eigen- 
schaften in  ein  Ganzes  ideeller  gedanklicher  Bestimmungen. 
Es  ist  jetzt  nicht  mehr  ein  bestimmtes  Werkzeug,  ein  Ding 
aus  Kupfer  oder  Stahl,  aus  Aluminium  oder  Glas,  auf  das  er 
in  seinen  Aussagen  hinblickt,  sondern  an  seine  Stelle  sind 
Begriffe,  wie  die  des  magnetischen  Feldes,  der  magnetischen 
Achse,  der  Stromintensität  usf.  getreten,  die  ihrerseits  wiederum 
nur  das  Symbol  und  die  Hülle  für  allgemeine  mathematisch- 
physikalische Beziehungen  und  Zusammenhänge  sind*.  Der 
charakteristische  Vorzug  des  Experiments  liegt  eben  darin, 
daß  hier  in  der  Tat  ein  Schlag  tausend  Verbindungen  schlägt. 
Der  beschränkte  Umkreis  von  Tatsachen,  der  uns  sinnlich 
allein  zugänglich  ist,  weitet  sich  vor  dem  geistigen  Blick 
zum  naturgesetzlichen  Zusammenhang  der  Phänomene  über- 
haupt. Die  unmittelbare  Anzeige  des  Augenblicks  wird  nach 
allen  Richtungen  hin  überschritten;  an  ihre  Stelle  tritt  der 
Gedanke  einer  allgemeingültigen  Ordnung,  die  im  Kleinsten 
wie  im  Größten  gleichmäßig  Geltung  besitzt  und  die  sich  daher 
auch  von  jedem  Einzelpunkte  aus  wiederum  rekonstruieren 
lassen    muß.       Erst    vermöge    dieser    Bereicherung     seines 


*  Duhem,  La  Theorie  Physique,  S.  251  f.,  vgl.  oben,   S.  190  ff. 

372 


unmittelbaren  Gehalts  wird  der  Inhalt  der  Wahrnehmung 
zum  Inhalt  der  Physik  und  damit  zum  „objektiv  wirklichen" 
Inhalt. 

Somit  haben  wir  es  hier  freilich  mit  einer  Art  „Trans- 
zendenz** zu  tun:  denn  der  einzelne  gegebene  Eindruck  bleibt 
nicht  schlechthin  was  er  ist,  sondern  wird  zum  Symbol  der 
durchgehenden  systematischen  Verfassung,  innerhalb  deren  er 
steht  und  an  welcher  er  in  bestimmtem  Maße  teil  hat.  Aber 
dieser  Fortschritt  verändert  wiederum  nicht  seine  metaphysische 
,,  Substanz",  sondern  lediglich  seine  logische  Form.  Was  zu- 
nächst isoliert  schien,  tritt  jetzt  zusammen  und  weist  wechsel- 
weise aufeinander  hin;  was  zuvor  als  einfach  galt,  das  offenbart 
jetzt  eine  innere  Fülle  und  Mannigfaltigkeit,  sofern  sich  zeigt, 
daß  sich  von  ihm  aus  in  kontinuierlichem  Fortschritt  und 
nach  völlig  bestimmten  Regeln  zu  anderen  und  wieder  anderen 
Daten  der  Erfahrung  gelangen  läßt.  Indem  wir  die  Einzel- 
inhalte auf  diese  Art  gleichsam  mit  immer  neuen  Fäden 
aneinander  knüpfen,  geben  wir  ihnen  damit  jene  Festigkeit, 
die  das  auszeichnende  Merkmal  der  empirischen  Gegenständ- 
lichkeit ausmacht.  Nicht  die  sinnliche  Lebhaftigkeit  des  Ein- 
drucks, sondern  dieser  innere  Beziehungsreichtum  ist  es,  was 
ihm  das  Kennzeichen  wahrhafter  Objektivität  aufprägt. 
Was  die  „Dinge"  der  Physik  über  die  Sinnendinge  hinaushebt 
und  ihnen  ihre  eigentümliche  Art  der  ,, Realität**  verleiht, 
ist  der  Reichtum  an  Folgerungen,  der  von  ihnen  ausgeht. 
Sie  bezeichnen  nur  verschiedene  Wege,  auf  welchen  wir  von 
einer  Erfahrung  zur  anderen  fortschreiten,  um  auf  diese  Weise 
schließlich  die  Gesamtheit  des  Seins  als  die  Gesamtheit  des 
Systems  der  Erfahrung  zu  überblicken. 

Der  Begriff  und  Terminus  der  Repräsentation, 
der  trotz  aller  Angriffe,  die  gegen  ihn  gerichtet  wurden,  in  der 
Geschichte  der  Erkenntnislehre  dauernd  eine  zentrale  Stellung 
behauptet  hat,  empfängt  hier  einen  neuen  Sinn.  Innerhalb  der 
metaphysischen  Lehren  ist  es  die  „Vorstellung**,  die  auf  den 
Gegenstand,  der  hinter  ihr  steht,  hinweist.  Das  ,, Zeichen" 
ist  somit  hier  von  gänzlich  anderer  Natur,  als  das  Bezeichnete 
und  gehört  einem  anderen  Bereich  des  Seins  an.  Eben  hierin 
aber  liegt  das  eigentliche  Rätsel  der  Erkenntnis.   Wäre  uns  der 

373 


absolute  Gegenstand  bereits  anderweit  bekannt,  so  ließe  es 
sich  allenfalls  verstehen,  wie  wir  seine  besondere  Be- 
schaffenheit aus  der  Art  der  Vorstellungen,  die  uns  von  ihm 
entstehen,  mittelbar  ablesen  könnten.  Haben  wir  uns  des 
Daseins  zweier  verschiedener  Grundreihen  einmal  ver- 
sichert, so  können  wir  versuchen,  kraft  eines  Analogieschlusses 
die  Verhältnisse,  die  wir  in  der  einen  Reihe  finden, 
auf  die  andere  zu  übertragen:  unbegreiflich  dagegen  bleibt  es, 
wie  wir  dazu  gelangen  sollten,  die  Existenz  der  einen 
Reihe  aus  Daten,  die  ganz  und  ausschließlich  der  anderen  an- 
gehören, zu  fordern.  Sobald  wir  die,  wenn  auch  nur  allgemeine 
Gewißheit  von  transzendenten  Dingen  jenseits  aller 
Erkenntnis  besitzen,  mögen  wir  daher  im  unmittelbaren 
Erfahrungsinhalt  nach  Zeichen  für  diese,  wenigstens  dem 
Begriff  nach  gegebene  Realität  suchen;  wie  dagegen  dieser 
Begriff  selbst  entsteht  und  was  ihn  notwendig  macht,  wird 
durch  die  Theorie  der  Zeichen  nicht  erklärt.  Diese  Grund- 
schwierigkeit tritt  denn  auch  in  die  Entwicklung  des  Re- 
präsentationsbegriffs immer  von  neuem  zutage.  In  der  antiken 
Atomistik  werden  die  ,, Bilder"  der  Dinge,  die  uns  von  ihrem 
Sein  Kunde  verschaffen,  selbst  als  stoffliche  Be- 
standteile gedacht,  die  sich  von  ihnen  loslösen  und  die 
auf  dem  Wege  zu  unseren  Sinnesorganen  mannigfache  phy- 
sische Veränderungen  erfahren.  Es  ist  —  wenngleich  in  ver- 
kleinertem Maßstabe  —  die  wirkliche  Substanz  der  Körper, 
die  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung  in  uns  eindringt  und  die 
mit  unserem  eigenen  Sein  verschmilzt.  Aber  diese  materia- 
listische Darstellung  vermag  das  logische  Ziel,  um  dessent- 
willen  sie  unternommen  wird,  nicht  zu  erreichen:  denn  die 
Einheit  des  Erfahrungsinhalts  ist  auch  hier 
nur  scheinbar  gewahrt.  Selbst  wenn  die  Dinge  gleichsam 
einen  Teil  ihrer  selbst  hergeben,  um  zur  Erkenntnis  zu  ge- 
langen, so  bleibt  es  doch  nach  wie  vor  dunkel,  wie  es  möglich 
ist,  diesen  Teil  nicht  nur  als  das,  was  er  an  und  für  sich  ist, 
sondern  als  Ausdruck  eines  umfassenden  Ganzen  zu 
nehmen.  Diese  Zurückdeutung  auf  das  Ganze  würde  stets  eine 
eigentümliche  Funktion  erfordern,  die  hier  nicht  abgeleitet, 
sondern    vorausgesetzt   ist.       Die   Aristotelisch-scholastische 

374 


Theorie  der  Wahrnehmung  scheint  daher  dem  eigentlichen 
psychologischen  Tatbestand  näher  zu  kommen,  wenn  sie 
diese  Funktion,  statt  sie  zu  erklären,  von  Anfang  an  postuliert. 
Der  ganze  Inhalt  der  ,, immateriellen  Spezies",  durch 
welche  wir  das  Sein  der  Dinge  erfassen,  geht  jetzt  im  Akt  der 
Repräsentation  selbst  auf.  Wir  erkennen  keinerlei  einzelne 
Bestimmungen  der  Spezies  selbst,  sondern  wir  erkennen  nur 
durch  sie  die  Verhältnisse  der  äußeren  Dinge:  ,,cognoscimus 
non  ipsam  speciem  impressam,  sed  per  speciem".  Die  ,, Ähn- 
lichkeit", die  zwischen  dem  Zeichen  und  dem  Bezeichneten 
anzunehmen  ist,  ist  daher  jetzt  nicht  mehr  derart  aufzufassen, 
als  gehörten  beide  derselben  logischen  Kategorie  an.  Die 
Spezies  stimmen  in  keinem  einzigen  sachlichenEinzel- 
m  e  r  k  m  a  1  mit  dem  Gegenstand,  auf  den  sie  hinweisen, 
überein,  da  sie  eben  nur  durch  diese  Operation  des  Hin- 
weisens  selbst,  nicht  durch  irgendwelche  dingliche  Beschaffen- 
heiten, in  denen  sie  anderen  Dingen  ,, ähnlich"  sein  könnten, 
gekennzeichnet  sind.  Die  Auffassung,  daß  sie  „formales 
similitudines  ac  veluti  picturae  objectoru  m" 
seien,  wird  daher  —  zum  mindesten  in  den  reifsten  und  kon- 
sequentesten Ausführungen  der  Theorie  bei  Suarez  —  aus- 
drücklich bekämpft  und  verworfen.  „Die  Verähnlichung  des 
Bewußtseins  mit  dem  Gegenstande  bedeutet  für  Suarez  nicht, 
daß  dadurch  in  das  Bewußtsein  Elemente  hineingebracht 
werden,  die  im  Objektverhältnis  zu  anderen  Funktionen 
des  Bewußtseins  stehen,  diesen  als  der  Gegenstand  sich  vor- 
täuschen, vielmehr  das  ist  seine  Meinung,  daß  sozusagen  das 
ganze  Bewußtsein  zu  einem  Erkenntnismittel  und  insofern 
zu  einem  Bilde  (besser  zu  einem  Ausdruck,  species  expressa) 
des  Gegenstandes  wird.  Das  Bewußtsein  vollzieht  eine 
Handlung,  gerät  in  eine  eigentümliche  Beschaffenheit,  die 
ohne  weiteres  bewirkt,  daß  es  sich  auf  den  wirklichen  Gegen- 
stand richtet.  Die  lebendige  Tätigkeit  des  Bewußtseins, 
die  das  vermittels  der  Spezies  wirkende  bewußtseinsfremde 
Objekt  erkennt,  ein  anschauendes,  nicht  ein  angeschautes 
wird   als    das    mit  dem   Gegenstand   Ähnliche   bezeichnet*." 

*  H.  Schwarz,    Die  Umwälzung  der  Wahrnehmungßhypothesen 
durch  die  mechaniache  Methode.    Leipzig  1895,  I,  S.  25;  vgl.  S.  12  ff. 

375 


Hier  tritt  also,  wenngleich  verhüllt  durch  die  scholastische 
Terminologie,  bereits  eine  wichtige  neue  Unterscheidung  her- 
vor. Die  Tatsache,  daß  ein  Element  auf  ein  anderes  ,, hin- 
weist" und  dieses  mittelbar  zur  Darstellung  bringt,  wird 
jetzt  nicht  mehr  durch  eine  besondere  Beschaffenheit  dieses 
Elements  selbst  erklärt,  sondern  auf  eine  eigentümliche 
Gesamtleistung  der  Erkenntnis  und  insbesondere  des  Ur- 
teils zurückgeführt.  In  prinzipieller  Strenge  freilich  vermag 
diese  Einsicht  nicht  festgehalten  zu  werden;  vielmehr  droht 
stets  von  neuem  das  funktionale  Verhältnis  des  Ausdrucks, 
auf  welches  hier  die  Analyse  hinführt,  sich  in  ein  dinglich- 
substantiales  Verhältnis  der  Teilhabe  an  gewissen  objek- 
tiven Merkmalen  zu  verwandeln.  Die  Spezies  werden  alsdann 
wiederum  zu  ,,  Spuren"  der  Dinge,  die  indes  nicht  mehr  den 
vollenSeinsgehalt,  sondern  nur  eine  abgeschwächte  „Wesenheit" 
besitzen.  DerWiderstre  t  dieser  beiden  Auffassungen  aber  bringt 
zuletzt  den  Begriff  der  ,, Repräsentation"  selbst  um  seinen 
bestimmten  und  eindeutigen  Sinn.  Um  die  Operation  des 
Ausdrucks  rein  hervortreten  zu  lassen,  muß  der  Inhalt,  der 
als  Zeichen  dient,  mehr  und  mehr  seines  Dingcharakters  ent- 
kleidet werden;  damit  aber  scheint  zugleich  die  objektivi- 
rende  Bedeutung,  die  ihm  zugesprochen  wird,  ihren 
Halt  und  ihre  beste  Stütze  zu  vertieren.  So  droht  die  Theorie 
der  Repräsentation  immer  von  neuem  der  Skepsis  zu  verfallen: 
denn  welche  Gewißheit  besteht  dafür,  daß  das  Symbol 
des  Seins,  das  wir  in  unseren  Vorstellungen  zu  besitzen  glauben, 
uns  seine  Gestalt  unverfälscht  wiedergibt,  statt  sie  gerade  in 
ihren  wesentlichen  Zügen  zu  entstellen?  — 

Die  neue  Bedeutung,  die  die  Erkenntniskritik  dem  Begriff 
der  Repräsentation  zuweist,  hebt  dieses  Bedenken  auf.  Jede 
besondere  Phase  der  Erfahrung  besitzt  in  der  Tat,  wie  jetzt 
erkannt  wird,  ,, repräsentativen"  Charakter,  sofern  sie  auf 
eine  andere  hinausweist  und  schließlich  im  geregelten  Fort- 
schritt auf  den  Inbegriff  der  Erfahrung  überhaupt  hinführt. 
Aber  dieser  Hinweis  betrifft  nur  den  Übergang  von  einem 
einzelnen  Reihenglied  zu  der  Totalität,  der  es  angehört  und 
zu  der  allgemeinen  Regel,  von  der  diese  Totalität  sich  beherrscht 
zeigt.     Die  Erweiterung  greift  also  nicht  in  ein  schlechthin 

376 


jenseitiges  Gebiet  über,  sondern  sucht  umgekehrt  eben  das- 
selbe Gebiet,  dem  die  besondere  Erfahrung  als  einzelner  Aus- 
schnitt angehört,  als  allseitig  bestimmtes  Ganze  zu  erfassen. 
Sie  stellt  das  Einzelne  in  den  Umkreis  des  Systems  ein.  Fragt 
man  aber  weiter,  woher  dem  besonderen  empirischen  Inhalt 
diese  Fähigkeit  eigne,  das  Ganze  zu  vertreten  und  darzustellen, 
so  liegt  hierin  bereits  eine  Umkehrung  der  Problemstellung. 
Die  Verbundenheit  der  Tatsachen  und  ihre  wechselseitige 
Beziehung  ist  das  Erste  und  Ursprüngliche,  während  ihre 
Isolierung  lediglich  das  Ergebnis  einer  künstlichen  Abstrak- 
tion darstellt.  Versteht  man  daher  die  Repräsentation  als 
Ausdruck  einer  ideellen  Regel,  die  das  Besondere,  hier  und 
jetzt  Gegebene,  an  das  Ganze  knüpft  und  mit  ihm  in  einer 
gedanklichen  Synthese  zusammenfaßt,  so  haben  wir  es  in  ihr 
mit  keiner  nachträglichen  Bestimmung,  sondern  mit  einer 
konstitutiven  Bedingung  alles  Erfahrungsinhalts  zu  tun. 
Ohne  diese  scheinbare  Repräsentation  gäbe  es  auch  keinen 
„präsenten",  keinen  unmittelbar  gegenwärtigen  Inhalt;  denn 
auch  dieser  besteht  für  die  Erkenntnis  nur,  sofern  er  ein- 
bezogen ist  in  ein  System  von  Relationen,  die  ihm  erst  seine 
örtliche  und  zeitliche,  wie  seine  begriffliche  Bestimmtheit 
geben.  So  wenig  daher  aus  dem  bloßen  Begriff  der  Erkenntnis 
sich  die  Notwendigkeit  ableiten  läßt,  ein  Sein  zu  setzen, 
das  außerhalb  jeder  Beziehung  zur  Erkenntnis  steht:  so 
notwendig  enthält  dieser  Begriff  eben  jene  Forderung  der  Ver- 
knüpfung, auf  die  die  kritische  Analyse  des  Realitätsproblems 
hinführt.  Der  Inhalt  der  Erfahrung  ist  uns  ,, objektiv"  ge- 
worden, sobald  wir  begriffen  haben,  wie  jegliches  Element  in 
ihm  sich  zum  Ganzen  webt.  Wollte  man  dieses  Ganze  selbst 
als  Illusion  bezeichnen,  so  bliebe  dies  ein  bloßes  Spiel  mit 
Worten:  denn  die  Unterscheidung  von  Wirklichkeit  und 
Schein,  die  hier  vorausgesetzt  wird,  ist  selbst  nur  i  m  System 
der  Erfahrung  und  unter  seinen  Bedingungen  möglich.  (Vgl. 
oben,  S.  362  ff.)  Auch  die  Frage  nach  der  ,, Ähnlichkeit"  des 
empirischen  Zeichens  mit  dem,  was  es  bezeichnet,  bietet 
jetzt  keine  Schwierigkeit  mehr  dar.  Das  Einzelmoment, 
das  als  Zeichen  dient,  ist  dem  Inbegriff,  der  bezeichnet 
wird,   zwar  nicht  materiell   ähnlich    —  denn   die  B  e  z  i  e  - 

377 


h  u  n  g  e  n  ,  die  den  Inbegriff  ausmachen,  lassen  sich  nicht 
durch  irgendeine  Einzelgestaltung  vollständig  ausdrücken 
und  „abbilden"  —  wohl  aber  besteht  zwischen  ihnen  eine 
durchgehende  logische  Gemeinsamkeit,  sofern  beide  prinzipiell 
demselben  Zusammenhang  derBegründung  an- 
gehören. Die  sachliche  Ähnlichkeit  wandelt  sich  in  begriffliche 
Korrelation:  die  beiden  Stufen  des  Seins  werden  zu  verschie- 
denen, jedoch  notwendig  einander  ergänzenden  Gesichts- 
punkten, unter  denen  der  Erfahrungszusammenhang  sich 
betrachten  läßt.  — 

Freilich  könnte  die  sensualistische  Erkenntnis- 
lehre versuchen,  diesen  Tatbestand,  ohne  ihn  zu  bestreiten, 
in  das  Schema  ihrer  Erklärung  einzufügen,  indem  sie  ihn 
auf  den  psychologischen  Grundbegriff  der  „Assoziation" 
zurückführt.  Dieser  Begriff  scheint  in  der  Tat  alle  Voraus- 
setzungen für  die  Deutung  und  Lösung  des  Realitätsproblems 
darzubieten:  da  er  über  den  Inhalt  der  einzelnen  Eindrücke 
hinweg  zu  festen  Verbindungen  zwischen  ihnen  hin- 
führt. Der  Mangel  der  Erklärung  aber  tiitt  sogleich  hervor, 
wenn  man  die  Form  der  Verbindung,  die  hier 
vorausgesetzt  wird  und  die  nach  den  Begriffen  der  Assoziations- 
Psychologie  allein  zulässig  erscheint,  näher  zergliedert.  Der 
,, Zusammenhang"  zwischen  den  einzelnen  Gliedern  der  Reihe 
bedeutet  hier  nichts  anderes  als  ihre  häufige  empirische 
Koexistenz.  Dies  Beisammen  der  einzelnen  Vorstellungen  ist  es, 
was  eine  Verbindung  zwischen  ihnen  nicht  sowohl  schafft, 
als  vielmehr  vortäuscht.  Kein  begriffliches  Prinzip,  das  sich 
in  strenger  logischer  Identität  aussprechen  und  feststellen 
ließe,  verknüpft  die  Elemente  der  Assoziationsreihen  zur 
Einheit.  Die  Wege  von  einem  zum  anderen  Element  sind  an 
und  für  sich  unbeschränkt:  welcher  von  diesen  Wegen  im 
wirklichen  psychologischen  Denken  eingeschlagen  wird,  hängt 
lediglich  von  den  voraufgehenden  psychischen  ,, Dispositionen", 
also  von  einem  Umstand  ab,  der  von  Moment  zu  Moment 
und  von  Individuum  zu  Individuum  als  wandelbar  an- 
zusehen ist.  So  geht  hier  gerade  jene  Beständigkeit  und  Ein- 
deutigkeit des  Zusammenhangs  verloren,  die  das  eigentliche 
Kennzeichen  im  Gedanken  der  Realität  ausmacht.     Die  Ge- 

378 


staltung  zum  „Objekt"  tritt  erst  mit  der  kritischen  W  e  r  t  - 
Ordnung  im  Begriff  zutage.  Gehen  wir  von  dem 
besonderen  Inhalt  der  Erfahrung  aus,  wie  er  im  Zeitmoment 
vorliegt,  so  sind  in  ihm  nicht  nur  bestimmte  Elemente  gegeben, 
sondern  zugleich  bestimmte  Richtlinien  vorgezeichnet, 
gemäß  denen  der  Gedanke  allmählich  die  einzelne  Phase  zum 
Gesamtsystem  zu  erweitern  vermag.  Der  Fortgang  bleibt 
nicht  der  individuellen  Willkür  überlassen,  sondern  er  gilt 
als  gesetzlich  gefordert.  Indem  die  Wissenschaft  den 
Inbegriff  dieser  Forderungen  immer  strenger  faßt  und  immer 
genauer  bezeichnet,  gewinnt  sie  damit  fortschreitend  erst 
den  Begriff  des  Wirklichen.  Daß  diese  Entwicklung  überall 
über  die  Sphäre  der  bloßen  Assoziation  hinausgreifen  muß, 
hat  sich  bereits  allseitig  gezeigt.  Die  Assoziation  vermag, 
im  günstigsten  Sinne  verstanden,  lediglich  die  Frage  zum 
Ausdruck  zu  bringen;  die  Antwort  dagegen  liegt  allein  in  den 
allgemeinen  Reihenprinzipien,  die  die  möglichen 
logischen  Übergänge  von  Glied  zu  Glied  im  voraus  deter- 
minieren und  unter  bestimmte  Gesichtspunkte  ordnen.  Die 
spezifische  Bedeutung  dieser  Gesichtspunkte  muß  theoretisch 
feststehen,  wenn  der  Fortgang  sich  nicht  ins  Un- 
bestimmte verlieren  soll.  Die  notwendigen  Leitbegriffe 
der  Assoziation  können  nicht  aus  dieser  selbst  entstehen, 
sondern  gehören  einem  anderen  Gebiet  und  einem  anderen 
logischen  Ursprung  an*. 

Allgemein  zeigt  es  sich  jetzt,  daß  das  Problem  der  Wirk- 
lichkeit, je  weiter  man  zu  seinen  einzelnen  Bedingungen 
vordringt,  um  so  deutlicher  wiederum  in  das  Problem  der 
Wahrheit  einmündet.  Ist  einmal  begriffen,  wie  die  Er- 
kenntnis zu  einer  Konstanz  bestimmter  Prädikate, 
zu  einer  gesetzlichen  Festigung  von  Urteilszusammen- 
hängen gelangt,  so  bietet  die  „Transzendenz",  die  dem 
Gegenstand  gegenüber  der  bloßen  Vorstellung  zuzusprechen 
ist,  keine  neue  prinzipielle  Schwierigkeit  mehr  dar.  Und 
auch  die  Mittel,  deren  sich  die  Erkenntnis  bedient,  erweisen 
sich  nunmehr  in  beiden   Gebieten  der  Fragestellung  als  die 


*  Vgl.  bes.  ob.  S.  18  u,  S.  346  ff. 

379 


gleichen.  Wie  die  eigentliche  Leistung  des  Begriffs  nicht 
darin  liegt,  daß  durch  ihn  ein  gegebenes  Mannigfaltige 
abstrakt  und  schematisch  „abgebildet"  wird,  sondern  darin, 
daß  er  ein  Gesetz  der  Beziehung  in  sich  schließt,  durch  welches 
ein  neuer  und  eigenartiger  Zusammenhang  des  Mannigfaltigen 
erst  geschaffen  wird,  so  zeigt  sich  hier  die  Form  der  Ver- 
knüpfung der  Erfahrungen  als  dasjenige,  was  die  veränderlichen 
„Eindrücke"  zu  konstanten  „Objekten"  umschafft.  Der  all- 
gemeinste Ausdruck  des  ,, Denkens"  trifft  also  in  der  Tat 
mit  dem  allgemeinsten  Ausdruck  des  „Seins"  zusammen: 
der  Gegensatz,  den  die  Metaphysik  nicht  zu  überwinden  vermag, 
schlichtet  sich,  wenn  man  auf  die  logische  Grundfunktion 
zurückgeht,  aus  deren  Anwendung  beide  Problemkreise  erst 
entstanden  sind  und  in  der  sie  daher  zuletzt  ihre  Erklärung 
finden  müssen. 


II. 

In  der  Geschichte  des  wissenschaftlichen  und  spekula- 
tiven Denkens  ist  das  Problem  der  Wirklichkeit  seit  jeher  un- 
löslich mit  dem  Problem  des  Raumes  verknüpft. 
So  eng  ist  dieser  Zusammenhang  und  so  ausschließlich  be- 
herrscht er  das  logische  Interesse,  daß  man  alle  Fragen,  die  sich 
an  die  Begriffsbestimmung  des  Wirklichen  knüpfen,  gelöst 
und  erledigt  glaubt,  sobald  es  gelungen  sei,  die  Frage  nach 
der  Realität  der  ,, Außenwelt"  endgültig  zu  entscheiden. 
Noch  die  ,, Kritik  der  reinen  Vernunft"  vermochte  sich  den 
Zugang  zu  ihrem  eigentlichen  Grundthema  nicht  anders  zu 
bahnen,  als  dadurch,  daß  sie  von  einer  Umformung  der  Theorie 
des  Raumes  ihren  Ausgang  nahm.  Damit  aber  entschied  sich 
bereits  zum  großen  Teil  das  Schicksal  ihrer  geschichtlichen 
Wirkung:  in  der  Auffassung  der  Zeitgenossen  und  Nachfolger 
konnte  nunmehr,  was  eine  Kritik  des  Erfahrungsbegriffs 
sein  sollte,  wiederum  als  eine  Metaphysik  des  Raumbegriffs 
mißverstanden  werden.  In  Wahrheit  gilt  es  auch  hier  die 
Ordnung  der  Probleme  umzukehren.  Nicht  von  einer  fest- 
stehenden Ansicht  über  die  ,, subjektive"  oder  „objektive" 
Beschaffenheit  des  Raumes  kann  ausgegangen  werden,  um 
danach  den  Begriff  der  Erfahrungswirklichkeit  überhaupt  zu 

380 


bestimmen,  sondern  die  obersten  und  allgemeingültigen  Prin- 
zipien des  Erfahrungswissens  sind  es,  nach  denen  auch  die 
Frage  über  die  „Natur',  des  Raumes  sich  zuletzt  ent- 
scheiden muß. 

Die  empirisch-physiologische  Betrachtung,  wie  sie  ins- 
besondere durch  Johannes  Müller  begründet  worden 
ist,  widerstreitet  dieser  Forderung,  sofern  sie  ein  Axiom  an 
die  Spitze  stellt,  das  selbst  unverhohlen  metaphysischen 
Charakter  trägt.  Was  wir  wahrnehmen  —  dies  wird  hier 
vorausgesetzt  —  sind  nicht  die  Dinge  selbst  in  ihrer  wirk- 
lichen Gestalt  und  ihrer  wirklichen  wechselseitigen  Lage  und 
Entfernung  voneinander,  sondern  es  sind  unmittelbar  nur 
gewisse  Bestimmungen  unseres  eigenen  Leibes.  Gegenstand 
der  Gesichtsempfindung  sind  nicht  die  äußeren  Objekte, 
sondern  es  sind  die  Teile  der  Netzhaut,  die  wir  in  ihrer 
realen  räumlichen  Größe  und  Ausdehnung  zu  erfassen  ver- 
mögen. Die  Aufgabe  der  Physiologie  des  Sehens  besteht 
darin,  den  Übergang  zu  schildern,  der  von  diesem  Bewußtsein 
der  Netzhautbilder  zur  Erkenntnis  der  räumlichen  Ordnung 
der  Gegenstände  hinführt.  Es  muß  gezeigt  werden,  wie  wir 
dazu  kommen,  Empfindungen,  die  nur  ,,in  uns"  gegeben 
sind,  nach  außen  zu  versetzen  und  sie  zu  einer  für  sich  be- 
stehenden Raumwelt  zusammenzufassen..  Stellt  man  das 
Problem  indessen  in  dieser  Form,  so  erweist  es  sich  alsbald 
als  unlösbar.  Alle  Versuche,  den  eigentümlichen  Vorgang  der 
„Projektion",  der  hier  angenommen  wird,  auf  „unbewußte 
Schlüsse"  zurückzuführen  und  aus  ihnen  zu  erklären,  bewegen 
sich  im  Zirkel :  sie  setzen  stets  schon  ein  allgemeines  Wissen 
von  jenem  „Außen"  voraus,  das  hier  erst  abgeleitet  werden 
soll.  In  der  Tat  gibt  es  keine  Phase  der  Erfahrung,  in 
der  uns  lediglich  die  Empfindungen  als  innere  Zustände 
und  losgelöst  von  jeder  ,, objektiven"  Beziehung  gegeben 
wären.  Die  Empfindung  in  diesem  Sinne  ist  keine 
empirische  Wirklichkeit,  sondern  lediglich  das  Ergebnis  einer 
Abstraktion,  die  auf  sehr  komplexen  logischen  Bedingungen 
beruht.  Der  Weg  geht  von  den  gesehenen  Objekten  zu 
der  Annahme  bestimmter  Nervenerregungen  und  ihnen  ent- 
sprechender Empfindungen  zurück;  er  führt  nicht  umgekehrt 

381 


von  den  an  sich  bekannten  Empfindungen  zu  Gegenständen 
hin,  die  ihnen  etwa  korrespondieren  mögen*.  So  ist  auch 
die  allgemeine  Form  der  Räumlichkeit,  also  das  Bei- 
sammen und  Auseinander  der  einzelnen  Elemente,  kein  ver- 
mitteltes Ergebnis,  sondern  eine  Grundbeziehung,  die  mit 
den  Elementen  selbst  gesetzt  ist**.  Nicht  wie  diese  Form 
an  und  für  sich  entsteht,  sondern  lediglich,  wie  sie  sich  in  der 
empirischen  Erkenntnis  näher  bestimmt  und  spezialisiert, 
kann  gefragt  werden.  Was  der  Erklärung  bedarf,  ist  nicht 
der  Umstand,  wie  wir  vom  Inneren  zum  Äußeren  gelangen  — 
denn  das  schlechthin  ,,  Innere"  ist  selbst  eine  bloße  Fiktion  — 
sondern  wie  wir  dazu  geführt  werden,  gewisse  Inhalte  der 
ursprünglichen  Außenwelt  nach  und  nach  als  ,,in  uns"  be- 
findlich anzusehen,  d.  h.  sie  nicht  nur  überhaupt  räumlich  zu 
bestimmen,  sondern  sie  in  eine  notwendige  Korrelation 
mit  unseren  körperlichen  Organen,  mit  bestimmten  Teilen 
unserer  Netzhaut  oder  unseres  Gehirns  zu  setzen.  (Vgl.  oben, 
S.  363  ff.)  Nicht  die  Lokalisation  schlechthin,  sondern  diese 
besondere  Lokalisation  ist  es,  was  es  zu  erklären  gilt: 
und  jede  derartige  Erklärung  muß  offenbar  die  allgemeine 
Relation  der  Räumlichkeit  bereits  zugrunde  legen.  — 

Den  Begriff  der  „Wirklichkeit"  bestimmen,  heißt  somit 
auch  hier  ein  Motiv  der  Differenzierung  auf- 
finden, das  uns  gestattet,  den  zunächst  gleichartigen  Inbegriff 
von  Erfahrungen  in  Gruppen  von  verschiedenem  Wert  und 
Gehalt  auseinanderzulegen.  Denken  wir  uns  etwa  die  ver- 
schiedenen Wahrnehmungsbilder,  die  wir  von  ein  und  dem- 
selben „Objekt",  je  nach  der  Entfernung,  in  welcher  wir  uns 
von  ihm  befinden  und  je  nach  der  wechselnden  Beleuchtung, 
empfangen,  in  eine  Reihe  zusammengefaßt,  so  läßt  sich,  vom 
Standpunkt  des  unmittelbaren  psychologischen  Erlebnisses 
aus,  zunächst  kein  Merkmal  angeben,  kraft  dessen  irgendeines 
dieser    mannigfach    wechselnden    Bilder    einen    Vorrang   vor 


*  Näheres  zur  psychologischen  Widerlegung  der  „Projektions- 
hypotheeen"  s.  bes.  bei  Stumpf,  Über  den  psychologischen  Ursprung 
der  Raiunvorstellung,  S.  184  ff, ;  sowie  bei  James,  Principles  of  Psycho- 
logy  II,  31  ff. 

•♦  Vgl.  unten  Kap.  8. 

382 


n 


einem  beliebigen  anderen  besitzen  sollte.  Erst  die  Gesamt- 
heit dieser  Wahrnehmungsdaten  bildet  ja  dasjenige,  was 
wir  die  empirische  Kenntnis  des  Objekts  nennen  und  für  diese 
Gesamtheit  ist  kein  einzelnes  Element  schlechthin  entbehrlich 
oder  überflüssig.  Keine  der  verschiedenen  perspektivischen 
Ansichten,  die  uns  nacheinander  entstehen,  kann  demnach 
den  Anspruch  erheben,  der  allein  gültige,  absolute  Ausdruck 
des  J.Gegenstandes  selbst"  zu  sein;  vielmehr  kommt  aller 
Erkenntniswert,  den  wir  einer  einzelnen  Wahrnehmung  bei- 
legen, ihr  nur  im  Zusammenhang  mit  anderen  Inhalten  zu, 
mit  denen  sie  sich  zu  einem  Erfahrungsganzen  zusammen- 
schließt. Und  dennoch  bedeutet  diese  Forderung  des  durch- 
gängigen Zusammenhangs  nicht  zugleich  die  durchgängige 
Gleichwertigkeit  der  einzelnen  Faktoren.  Zur 
Anschauung  einer  bestimmten  räumlichen  Form  gelangen 
wir  erst,  sobald  diese  Gleichwertigkeit  unterbrochen  wird. 
Wenn  wir  fragen,  was  unter  einem  nach  drei  Dimensionen 
ausgedehnten  Körper  zu  verstehen  ist,  so  werden  wir  —  wie 
Helmholtz  gelegentlich  ausführt  —  psychologisch  in  der 
Tat  zunächst  auf  nichts  anderes  geführt,  als  auf  eine  Reihe 
einzelner  Gesichtsbilder,  die  sich  gegenseitig  ablösen.  Die 
genauere  Analyse  zeigt  indessen,  daß  der  bloße  Ablauf  all 
dieser  Bilder,  so  viel  wir  ihrer  auch  immer  annehmen  mögen, 
für  sich  allein  niemals  die  Vorstellung  eines  körperlichen 
Objekts  zu  ergeben  vermöchte,  wenn  nicht  der  Gedanke  einer 
Regel  hinzuträte,  durch  welche  jedem  einzelnen  eine  be- 
stimmte Ordnung  und  Stellung  im  Gesamtkomplex  zu- 
gewiesen wird.  Die  Vorstellung  der  stereometrischen  Form 
spielt  in  diesem  Sinne  ,,ganz  die  Rolle  eines  aus  einer  großen 
Reihe  sinnlicher  Anschauungsbilder  zusammengefaßten  Be- 
griffs, der  aber  selbst  nicht  notwendig  durch  in  Worten 
ausdrückbare  Definitionen,  wie  sie  der  Geometer  sich  kon- 
struieren könnte,  sondern  nur  durch  die  lebendige  Vorstellung 
des  Gesetzes,  nach  dem  jene  perspektivischen  Bilder  einander 
folgen,  zusammengehalten  wird."  Diese  Gliederung  durch 
den  Begriff  aber  besagt  zugleich,  daß  die  verschiedenen 
Elemente  hier  nicht  bloß  wie  Teile  eines  Aggregats  neben- 
einander liegen,  sondern  daß  wir  jedes  von  ihnen  nach  seiner 

383 


systematischen  Bedeutung  abschätzen.  Auch  hier 
scheiden  wir  nunmehr  „typische"  Erfahrungen,  die  wir  als 
gleichartig  wiederkehrend  voraussetzen,  von  ,, zufälligen" 
Eindrücken,  die  nur  in  individuellen  Begleitumständen  ge- 
gründet sind.  Und  jene  Erfahrungen  sind  es,  die  wir  aus- 
schließlich zum  Aufbau  der  ,, objektiven"  Raumwelt  ver- 
wenden, während  wir  alle  Inhalte,  die  ihnen  widerstreiten, 
fernzuhalten  und  auszuschalten  bemüht  sind. 

Helmholtz'  Darstellung  hat  diesen  Prozeß  bis  ins  einzelne 
erleuchtet.  Hier  wird  zunächst  die  allgemeine  Regel  auf- 
gestellt, „daß  wir  stets  solche  Objekte  als  im  Gesichtsfelde 
vorhanden  uns  vorstellen,  wie  sie  vorhanden  sein  müßten, 
um  unter  den  gewöhnlichen  normalen  Bedingungen  des  Ge- 
brauchs unserer  Augen  denselben  Eindruck  auf  den  Nerven- 
apparat hervorzubringen."  Einer  Erregung,  die  unter  un- 
gewöhnlichen Bedingungen  eintritt,  wird  zunächst  jene  Be- 
deutung beigelegt,  die  ihr  zukommen  würde,  wenn  sie 
als  auf  gewöhnlichem  Wege  entstanden  zu  denken  wäre. 
„Um  ein  Beispiel  zu  benutzen,  nehmen  wir  an,  es  sei  der 
Augapfel  am  äußeren  Augenwinkel  mechanisch  gereizt  worden. 
Wir  glauben  dann  eine  Lichterscheinung  in  der  Richtung  des 
Nasenrückens  im  Gesichtsfelde  vor  uns  zu  sehen.  Wenn  bei 
dem  gewöhnlichen  Gebrauche  unserer  Augen,  wo  sie  durch 
von  außen  kommendes  Licht  erregt  werden,  eine  Erregung 
der  Netzhaut  in  der  Gegend  des  äußeren  Augenwinkels  zu- 
stande kommen  soll,  muß  in  der  Tat  das  äußere  Licht  von  der 
Gegend  des  Nasenrückens  her  in  das  Auge  fallen.  Es  ist  also 
der  eben  aufgestellten  Regel  gemäß,  daß  wir  in  solchem  Falle 
ein  lichtes  Objekt  in  die  genannte  Stelle  des  Gesichtsfeldes 
hinein  versetzen,  trotzdem  der  mechanische  Reiz  hierbei 
weder  von  vorn  vom  Gesichtsfelde  her,  noch  von  der  Nasen- 
seite des  Auges,  sondern  im  Gegenteil  von  der  äußeren  Fläche 
des  Augen  und  mehr  von  hinten  her  einwirkt*."  Die  einzelnen 
Beobachtungen  werden  also  gleichsam  abgestimmt  auf  einen 
bestimmten  Kreis  von  Bedingungen,  den  wir  als  konstant 
ansehen.   In  diesen  Bedingungen  besitzen^wir  ein  festes  Koordi- 


*  Helmholtz,    Handbuch  der  Physiolog.  Optik,  §  26,  S.  428. 
384 


^Sl 


naten-System,  auf  das  nunmehr  jede  besondere  Erfahrung 
stillschweigend  bezogen  wird.  Und  erst  kraft  dieser  eigen- 
tümlichen Deutung,  die  wir  dem  Material  der  Sinnesempfin- 
dungen geben,  entsteht  uns  das  Ganze  des  objektiven  Gesichts- 
und Tastraumes.  Dieses  Ganze  ist  niemals  der  bloße  tote 
Abdruck  einzelner  sinnlicher  Perzeptionen,  sondern  ein  kon- 
struktiver Aufbau,  der  unter  Festhaltung  bestimmter  all- 
gemeiner Grundregeln  erfolgt.  In  dem  Maße  als  nach  diesen 
Grundregeln  die  unveränderlichen  Momente  der  Erfahrung 
von  den  veränderlichen  Bestandteilen  sich  trennen,  erfolgt 
die  Scheidung  in  eine  objektive  und  subjektive  Sphäre. 
Und  es  unterliegt  auch  hier  keinem  Zweifel,  daß  die  Er- 
kenntnis der  Subjektivität  nicht  den  ursprünglichen  Aus- 
gangspunkt, sondern  eine  logisch  vermittelte  und  spätere 
Einsicht  darstellt.  Helmholtz  betont  ausdrücklich, 
daß  das  Wissen  um  die  Objekte  dem  Wissen  um  die 
Empfindungen  vorangeht  und  es  an  Klarheit  und 
Schärfe  bei  weitem  übertrifft.  Die  Empfindung  ist  unter  den 
gewöhnlichen  psychologischen  Bedingungen  des  Erlebens, 
so  ausschließlich  auf  den  Gegenstand  gerichtet  und  geht  so 
völlig  in  ihn  ein,  daß  sie  selbst  hinter  ihm  gleichsam  ver- 
schwindet. Die  Auffassung  einer  Empfindung  a  1  s  Empfindung 
ist  daher  immer  erst  das  Werk  einer  nachträglichen  bewußten 
Reflexion,  die  wir  auf  sie  richten.  Wir  müssen  stets  erst 
lernen,  unseren  einzelnen  Empfindungen  die  Aufmerksamkeit 
zuzuwenden  „und  wir  lernen  dies  für  gewöhnlich  nur  für  die 
Empfindungen,  die  uns  als  Mittel  zur  Erkenntnis  der  Außen- 
welt dienen".  „Während  wir  deshalb  in  der  objektiven  Be- 
obachtung einen  außerordentlichen  Grad  von  Feinheit  und 
Sicherheit  erreichen,  erlangen  wir  diesen  für  die  subjektiven 
Beobachtungen  nicht  nur  nicht,  sondern  wir  erlangen  sogar 
in  einem  hohen  Grade  die  Fähigkeit,  diese  zu  übersehen 
und  uns  in  der  Beurteilung  derObjekte  von 
ihnen  unabhängig  zu  erhalten,  selbst  wo  sie 
sich  durch  ihre  Stärke  leicht  genug  bemerklich  machen 
könnten*." 


♦  Helmholtz,    a.  a.  O.,  S.  432. 
Cassirer,  Substanzbegriff  25  385 


Was  hier  als  bloß  negative  Leistung,  als  ein  Akt  des  Über- 
sehens und  Vergessens  geschildert  wird,  ist  indessen  in  Wahr- 
heit jene  höchst  positive  Funktion  des  Begriffs, 
die  sich  bereits  allseitig  dargestellt  hat.  Es  ist  das  Festhalten 
der  identischen  Beziehungen  in  dem  wechselnden  Vor- 
stellungsinhalt, was  jede,  auch  die  früheste  Stufe  objektiv- 
gültiger Erkenntnis  kennzeichnet.  Das  schlechthin  Wandel- 
bare fällt  gleichsam  von  dem  momentanen  Inhalt  ab:  und  nur 
dasjenige  bleibt  zurück,  was  sich  in  dauernden  Gedanken 
befestigen  läßt.  Durch  die  zentrale  Richtung  des  Denkens 
wird  ein  gewisser  Kreis  von  Erfahrungen,  der  bestimmten 
logischen  Bedingungen  der  Konstanz  genügt,  aus  dem  Gewirr 
der  Erlebnisse  überhaupt  herausgehoben  und  als  „fester  Kern" 
des  Seins  ausgezeichnet.  Die  relativ  flüchtigen  Inhalte  da- 
gegen, in  denen  sich  keine  durchgängige  Bestimmtheit  der 
Erfahrung  überhaupt  ausdrückt,  können  für  diesen  ersten 
Aufbau  und  diese  erste  Bezeichnung  des  ,,  Wirklichen"  zunächst 
unbeachtet  bleiben.  Die  tiefere  Besinnung  lehrt  indes,  daß 
auch  diese  Elemente  aus  dem  Umkreis  der  Erfahrung  nicht 
schlechthin  herausfallen,  sondern  daß  auch  sie  eine  Stelle 
in  ihm  beanspruchen  dürfen,  sofern  ihre  Variation  selbst  nicht 
willkürlich  erfolgt,  sondern  bestimmten  Regeln  unterliegt. 
Jetzt  ist  es  daher  das  Veränderliche  selbst,  das  unter  einem 
neuen  Interesse  der  Erkenntnis  zum  Gegenstand  der  Be- 
trachtung gemacht  wird.  Diese  Erkenntnis  des  „Subjek- 
tiven" bedeutet  somit  in  Wahrheit  eine  Objektivierung 
höherer  Stufe,  die  in  einem  Material,  das  zunächst 
als  schlechthin  unbestimmt  bei  Seite  gelassen  wurde,  noch  ein 
Moment  der  Bestimmbarkeit  entdeckt.  Das  Gegebene  gliedert 
sich  jetzt  in  weitere  und  engere  Objektivitätskreise,  die 
deutlich  voneinander  abgehoben  und  nach  bestimmten  Ge- 
sichtspunkten abgestuft  sind.  Jede  Einzelerfahrung  wird 
nunmehr  nicht  nur  durch  den  materialen  Gehalt  an  Ein- 
drücken bestimmt,  sondern  durch  eine  eigentümliche  Funktion, 
die  sie  erfüllt,  sofern  die  einen  Erfahrungen  als  feste  Ko- 
ordinationsmittelpunkte dienen,  an  denen  wir  andere  messen 
und  deuten.  Auf  diese  Weise  schaffen  wir  bestimmte,  begrifflich 
ausgezeichnete  Zentren,  um  die  sich  die  Phänomene  ordnen 

386 


und  gliedern.  Die  einzelnen  Erscheinungen  fließen  nun  nicht 
mehr  einförmig  und  gleichförmig  ab,  sondern  begrenzen 
und  scheiden  sich  gegeneinander:  das  anfängliche  Flächenbild 
gewinnt  gleichsam  Vordergrund  und  Hintergrund.  Die  Sonde- 
rung in  verschiedene  Teilgebiete,  die  durch  ihre  systematische 
Bedeutung  voneinander  geschieden  sind,  nicht  die  ,, Pro- 
jektion" des  Innen  und  Außen,  erweist  sich  somit  auch  hier 
als  der  eigentliche  Ursprung  des  Begriffs  des  Gegenstandes. 
Jedes  Einzelne  erhält  einen  Index,  der  seine  Stellung  zum 
Ganzen  bezeichnet,  und  dieses  Kennzeichen  ist  es,  worin  sich 
sein  gegenständlicher  Wert  ansprägt.  Für  die  naive  Ansicht 
ist  es  das  „Ding",  das  von  Anfang  an  gegeben  ist  und  das 
in  jeder  unserer  Wahrnehmungen  immer  nur  zum  Teil  aus- 
gedrückt und  abgebildet  wird.  Auch  sie  setzt  somit  ein  Ganzes 
voraus,  mit  dem  wir  jede  besondere  Erfahrung  vergleichen 
und  an  dem  wir  ihren  Wert  messen.  Die  Forderung, 
die  hier  gestellt  ist,  bleibt  auch  vom  Standpunkt  der  kritischen 
Betrachtung  zu  Recht  bestehen.  Der  Mangel  der  naiven  Auf- 
fassung besteht  nicht  darin,  daß  sie  diese  Forderung  über- 
haupt erhebt,  sondern  daß  sie  Forderung  und  Erfüllung 
verwechselt;  —  daß  sie  die  Aufgabe,  die  die  Erkenntnis  zu 
vollziehen  hat,  als  bereits  gelöst  vorwegnimmt.  Das  Ganze, 
das  wir  suchen  und  auf  welches  der  Begriff  sich  richtet,  darf 
nicht  im  Sinne  eines  absoluten  Seins  außerhalb  jeder  möglichen 
Erfahrung  gedacht  werden;  es  ist  nichts  anderes  als  der 
geordnete  Inbegriff  dieser  möglichen  Erfahrungen  selbst.  — 
Die  moderne  Psychologie  der  Raumvorstellung  hat 
daher  an  die  Stelle  der  Projektionstheorie  eine  andere  Auf- 
fassung gesetzt,  die  den  Tatbestand  der  Erkenntnis,  wie  er 
unabhängig  von  allen  metaphysischen  Annahmen  sich  dar- 
stellt, reiner  und  schärfer  zum  Ausdruck  bringt.  Die  Vor- 
stellung des  ,, objektiven"  Raumes  ist  danach  nicht  ein  Werk 
der  „Projektion",  sondern  der  „Selektion":  sie  beruht  auf 
einer  begrifflichen  Auswahl,  die  wir  im  Bereich  unserer 
Sinneswahrnehmungen,  insbesondere  im  Gebiet  der  Gesichts- 
und Tasteindrücke,  vollziehen.  Wir  halten  in  der  homogenen 
Masse  dieser  Eindrücke  nur  jene  Inhalte  fest,  die  den  ,, nor- 
malen"  physiologischen   Bedingungen   entsprechen,   während 

25*  387 


wir  andere,  die  unter  außergewöhnlichen  Bedingungen  ent- 
stehen und  die  daher  nicht  die  gleiche  Wiederholbarkeit  wie 
jene  ersteren  besitzen,  mehr  und  mehr  zurückdrängen.  Indem 
auf  diese  Weise  unsere  Apperzeption  einen  bestimmten 
Umkreis  von  Erfahrungen  aus  dem  Fluß  der  übrigen  heraus- 
löst, gewinnt  dieser  eine  bevorzugte  Stellung.  Er  ist  es  nun- 
mehr, der  als  die  Realität  schlechthin  gilt,  während  alle 
übrigen  Inhalte  nur  insofern  Wert  behalten,  als  sie  als  „Zeichen" 
auf  diese  Realität  hinweisen.  Hier  ist  es  somit  kein  absoluter 
Seinsunterschied,  sondern  gleichsam  ein  Unterschied  der 
Betonung,  der  das  Objektive  vom  Subjektiven  sondert. 
Der  konstruktive  Aufbau  der  räumlichen  Wirklichkeit  enthält 
einen  Prozeß  der  logischen  Auslese  in  sich  und  wäre  ohne 
ihn  in  seinem  Ergebnis  nicht  verständlich.  Die  Masse  der 
räumlichen  „Perzeptionen"  organisiert  sich  allmählich  gemäß 
einem  bestimmten  Plane  und  gewinnt  in  dieser  Organisation 
feste  Gestalt  und  Fügung*.  Vom  Standpunkt  der  logischen 
Betrachtung  ist  es  von  besonderem  Interesse,  die  Leistung 
zu  verfolgen,  die  dem  Begriff  in  diesem  allmählichen 
Prozeß  der  Gestaltung  zukommt.  Helmholtz  selbst  rührt 
an  diese  Frage,  wenn  er  gelegentlich  betont,  daß  schon  die 
Vorstellung  einer  gesetzlichen  Verbundenheit  von  Einzel- 
inhalten, die  in  der  Zeit  aufeinanderfolgen,  ohne  eine  begriffliche 
Regel  nicht  möglich  sei.  „Durch  Erfahrung  können  wir 
offenbar  lernen,  welche  anderen  Empfindungen  des  Gesichts 
oder  der  anderen  Sinne  ein  Objekt,  welches  wir  sehen,  uns 
machen  wird,  wenn  wir  die  Augen  oder  unseren  Körper 
fortbewegen  und  jenes  Objekt  von  verschiedenen  Seiten  be- 
trachten, betasten  usw.  Der  Inbegriff  aller  dieser  möglichen 
Empfindungen  in  eine  Gesamtvorstellung  zusammengefaßt 
ist  unsere  Vorstellung  von  dem  Körper,  welche  wir 
Wahrnehmung  nennen,  so  lange  sie  durch  gegenwärtige 
Empfindungen  unterstützt  ist,  Erinnerungsbild,  wenn  sie 
das  nicht  ist.  In  gewissem  Sinne  also,  obwohl  dem  gewöhn- 
lichen Sprachgebrauch  widersprechend,  ist  auch  eine  solche 


*  Näheres  zur  Theorie  der  „Selektion"  s.   James,    Principles  of 
Psychology  U,  237  ff. 

388 


Vorstellung  von  einem  individuellen  Objekte  schon  ein  Be- 
griff, weil  sie  alle  die  möglichen  einzelnen  Empfindungs- 
aggregate umfaßt,  welche  dieses  Objekt  von  verschiedenen 
Seiten  betrachtet,  berührt  oder  sonst  untersucht,  in  uns  her- 
vorrufen kann*."  Man  sieht,  daß  Helmhol tz  sich  hier  zu  einer 
Ansicht  des  Begriffs  zurückgeführt  sieht,  die  der  traditionellen 
Logik  fremd  ist  und  die  ihm  selbst  daher  zunächst  paradox 
erscheint.  In  Wahrheit  aber  erscheint  gerade  hier  der  Begriff 
keineswegs  in  bloß  übertragener  und  abgeleiteter,  sondern  in 
seiner  echten  und  ursprünglichen  Bedeutung.  Der  „Reihen- 
begriff", im  Unterschiede  vom  ,,  Gattungsbegriff",  war  es,  der 
bereits  in  der  Grundlegung  der  exakten  Wissenschaften  ent- 
scheidend hervortrat,  und  der,  wie  sich  jetzt  zeigt,  auch  in 
den  weiteren  Anwendungen  fortwirkt  und  sich  als  Instrument 
der  objektiven  Erkenntnis  erweist.  — 

III. 

Die  psychologische  Analyse  der  Raumvorstellung  be- 
stätigt und  befestigt  somit  den  Begriff  der  Objek- 
tiv i  t  ä  t ,  der  sich  allgemein  aus  der  logischen  Analyse 
der  Erkenntnis  ergeben  hat.  Der  rätselhafte  Übergang 
zwischen  zwei  verschiedenen,  von  einander  ihrem  Wesen  nach 
getrennten  Sphären  des  Seins  verschwindet  nunmehr  und  an 
seine  Stelle  tritt  das  schlichte  Problem  des  Zusammenhangs 
und  Zusammenschlusses  der  einzelnen  Teilerfahrungen  zu 
einem  geordneten  Inbegriff.  Der  einzelne  Inhalt  muß,  um 
wahrhaft  objektiv  heißen  zu  können,  gleichsam  aus  seiner 
zeitlichen  Enge  herauswachsen  und  sich  zum  Ausdruck  der 
Gesamterfahrung  erweitern.  Er  steht  fortan  nicht  nur  für 
sich  selbst,  sondern  für  die  Gesetze  dieser  Erfahrung,  die 
er  an  seinem  Teil  zur  Darstellung  bringt.  Der  Moment 
bildet  jetzt  den  Ausgangspunkt  einer  gedanklichen  Kon- 
struktion, die  in  ihren  näheren  und  weiteren  Folgen  das 
Ganze  der  erfahrbaren  Wirklichkeit  bestimmt  und  umfaßt. 
Das  Verfahren  dieser  logischen  „Integration"  ließ  sich, 
seinen  Grundzügen  nach,  bereits  in  jedem  einfachsten  Urteil 


*  Handbuch  der  physiolog.  Optik,  2.  Aufl.,  S.  947  f. 

389 


über  „Tatsachen"  sichtbar  machen.  Überall  dort,  wo  auch 
nur  einem  einzelnen  Ding  eine  konkrete  besondere  Beschaffen- 
heit zugesprochen  wird,  waltet  bereits  der  Gedanke,  daß  der 
Zusammenhang,  der  damit  gesetzt  ist,  als  solcher  logisch 
beharrt.  Und  diese  Beharrung,  die  mit  der  Form  des 
Urteils  selbst  gesetzt  ist,  bewährt  sich  auch  dort,  wo  der 
Inhalt,  auf  den  die  Bestimmung  sich  richtet,  als  solcher 
veränderlich  ist.  In  der  einfachsten  schematischen  Bezeichnung 
des  Grundverhältnisses  genügte  es,  darauf  hinzuweisen,  daß 
in  jeder  beliebigen  Aussage:  a  ist  b  insofern  ein  Moment  der 
Dauer  eingeschlossen  ist,  als  damit  eine  Abhängigkeit 
festgestellt  wird,  die  nicht  nur  für  einen  einzelnen  Zeit- 
punkt gelten  will,  sondern  als  identisch  übertragbar  auf  die 
ganze  Folge  der  Zeitmomente  angesehen  wird.  Die  ,, Eigen- 
schaft" b  kommt  dem  „Ding"  a  nicht  nur  in  dem  bestimmten 
Zeitpunkt  t^,  in  welchem  sie  durch  den  Wahrnehmungsakt 
erfaßt  wird,  zu,  sondern  wird  für  die  ganze  Reihe  t^^t^t^ . . . 
festgehalten.  (S.  oben,  S.  321  ff,  355  ff.)  Somit  ist  es  hier  zu- 
nächst ein  und  dieselbe  Bestimmung,  die  als  schlecht- 
hin wiederholbar  gesetzt  und  im  Urteil  fixiert  wird. 
Zu  diesem  ursprünglichen  Akt  aber  vermag  weiterhin  ein 
anderer  hinzuzutreten,  in  welchem  nunmehr  die  Ver- 
änderung der  Einzelelemente  selbst  als  logisch  bestimmt 
gedacht  wird.  Wie  das  Urteil  dem  Subjekt  a  im  Zeitpunkt  Iq 
das  Prädikat  b  zugeschrieben  hat,  so  kann  es  ihm  im  Zeit- 
punkt ti  das  Prädikat  b',  im  Zeitpunkt  t^  das  Prädikat  b" 
zusprechen,  sofern  nur  daran  festgehalten  wird,  daß  dieser 
Wechsel  der  Merkmale  nicht  regellos  erfolgt,  sondern  durch 
zugehörige  Änderungen  in  einer  anderen  Reihe  gesetzlich 
bedingt  und  gefordert  ist.  Erst  damit  ergibt  sich  das  allgemeine 
Schema  für  den  Begriff  des  empirischen  ,,  Gegenstandes" 
selbst:  denn  der  wissenschaftliche  Begriff  eines  bestimmten 
Objekts  umfaßt,  in  seiner  ideellen  Vollendung  nicht  nur  die 
Gesamtheit  seiner  hier  und  jetzt  gegebenen  Merkmale,  sondern 
auch  die  Gesamtheit  der  notwendigen  Folgen,  die  sich 
aus  ihm,  unter  bestimmt  angebbaren  Umständen,  entwickeln 
können.  Wir  verknüpfen  eine  Reihe  zeitlich  getrennter  und 
inhaltlich  verschiedener  Zuständlichkeiten  durch  einen  ein- 

390 


heitlichen  Komplex  kausaler  Regeln:  und  diese  Verknüpfung 
ist  es,  die  dem  Einzelnen,  nach  dem  platonischen  Wort, 
erst  wahrhaft  das  Siegel  des  Seins  aufdrückt.  Der  Inhalt 
des  einzelnen  Zeitdifferentials  gewinnt  objektive  Bedeutung, 
sofern  aus  ihm  nach  bestimmter  Methodik  der  Inhalt  der 
Gesamterfahrung  sich  rekonstruieren  läßt.  — 

Im  Gegensatz  zu  diesem  kontinuierlichen  Prozeß,  durch 
welchen  die  anfänglich  fragmentarischen  und  unverbundenen 
Erfahrungen  sich  mehr  und  mehr  zu  dem  einen  System  der 
empirischen  Erkenntnis  gestalten,  sieht  sich  die  meta- 
physische Auffassung  an  irgendeiner  Stelle  notwendig  zu 
einer  Kluft  geführt,  die  das  Denken  nicht  mehr  zu  überbrücken, 
wenngleich  allenfalls  zu  überspringen  vermag.  Gerade  dort, 
wo  man  am  eifrigsten  bestrebt  ist,  die  Grenzen  der  bloßen 
,, Vorstellungswelt"  zu  durchbrechen,  um  zu  einer  Welt  der 
realen  ,, Dinge"  vorzudringen,  zeigt  sich  der  Mangel  aufs 
deutlichste  und  empfindlichste.  Indem  der  ,, transzendentale 
Realismus"  sich  die  Aufgabe  stellt,  die  Schlußfolgerungen  auf- 
zuweisen, die  vom  Gebiet  des  Subjektiven,  das  uns  anfangs 
allein  zugänglich  ist,  in  den  Bereich  des  „Transsubjektiven" 
hinüberführen,  ist  mit  dieser  Fragestellung  im  Grunde 
bereits  eine  Schranke  zwischen  Denken  und  Sein  aufgerichtet, 
die  fortan  durch  keine  logische  Bemühung  mehr  beseitigt 
werden  kann.  Daß  alles  Bewußtsein  sich  zunächst  nur 
auf  die  subjektiven  Zustände  des  eigenen  Ich  bezieht,  daß 
nichts  anderes,  als  eben  diese  Zustände  den  Inhalt  des  un- 
mittelbar Gegebenen  ausmachen,  wird  hier  als  eine 
Voraussetzung,  die  keiner  näheren  Prüfung  bedarf,  zugrunde 
gelegt.  Es  gibt  einen  Bezirk  der  ,,  Immanenz",  der  über  diese 
ersten  und  ursprünglichen  Daten  nirgends  hinausgreift:  es 
gibt  eine  Art  des  Selbstbewußtseins,  die  sich  aus- 
drücklich darauf  beschränkt,  lediglich  den  Inhalt  der  einzelnen, 
tatsächlich  vorhandenen  Impressionen  passiv  hinzunehmen, 
ohne  ihm  irgendein  neues  Element  hinzuzufügen,  oder  ihn 
logisch  nach  einem  bestimmten  begrifflichen  Gesichtspunkt 
zu  beurteilen.  Nur  dies  wird  behauptet  und  zu  erweisen 
gesucht,  daß  diese  erste  Stufe,  die  für  das  Ichbewußtsein  als 
hinlänglich  gilt,  in  keiner  Weise  genügt,  das  Bewußtsein  des 

391 


Gegenstandes  zu  begründen.  Insbesondere  ist  der 
Gegenstand  der  Naturwissenschaft,  wie  sich  in  der 
Tat  leicht  zeigen  läßt,  mit  diesen  primitiven  Mitteln  nicht  zu 
erschöpfen.  Die  Gegenstände,  von  denen  hier  die  Rede  ist, 
die  „Masse"  und  die  „Energie",  die  ,, Kraft"  und  die  Be- 
schleunigung, sind  von  allen  Inhalten  der  unmittelbaren 
Wahrnehmung  streng  und  unverkennbar  geschieden.  Wer 
daher  der  Wissenschaft  das  Recht  einräumt,  von  Objekten 
und  von  den  kausalen  Verhältnissen  der  Objekte  zu  sprechen, 
der  hat  damit  —  wie  nunmehr  weiter  gefolgert  wird  —  den 
Kreis  des  immanenten  Seins  bereits  verlassen,  um  in  den 
Bereich  der  „Transzendenz"  überzutreten. 

Man  mag  alle  diese  Folgerungen  bis  hierher  völlig  zu- 
gestehen: —  aber  ein  seltsamer  Irrtum  war  es,  wenn  man  ge- 
glaubt hat,  durch  sie  nicht  nur  den  psychologischen  Vor- 
stellungsidealismus, sondern  auch  den  kritischen  Idea- 
lismus in  seinem  Grunde  und  seiner  Wurzel  getroffen  zu 
haben.  Der  kritische  Idealismus  unterscheidet  sich  von  dem 
„Realismus",  der  hier  vertreten  wird,  nicht  dadurch,  daß  er 
die  gedanklichen  Postulate,  auf  welche  in  diesen  Deduktionen 
der  Begriff  des  objektiven  Seins  gegründet  wird,  ver- 
neint, sondern  umgekehrt  dadurch,  daß  er  sie  schärfer  faßt 
und  ihre  Wirksamkeit  bereits  für  jegliche,  auch  die 
primitivste,  Phase  der  Erkenntnis,  fordert.  Ohne  logische 
Grundsätze,  die  über  den  Inhalt  der  jeweilig  gegebenen  Ein- 
drücke hinausgreifen,  gibt  es  für  ihn  so  wenig  ein  I  c  h  - 
b  e  w  u  ß  t  s  e  i  n  ,  als  es  ein  Gegenstandsbewußt- 
sein gibt.  Was  daher  von  seinem  Standpunkt  aus  zu  be- 
streiten ist,  ist  nicht  sowohl  der  Begriff  der  „Transzendenz", 
als  vielmehr  der  Begriff  der  ,, Immanenz",  der  hier  voraus- 
gesetzt wird.  Der  Gedanke  des  Ich  ist  keineswegs  ursprüng- 
licher und  logisch  unmittelbarer,  als  der  Gedanke  des  Objekts, 
da  beide  nur  miteinander  bestehen  und  sich  nur  in  steter 
Wechselbeziehung  aufeinander  entwickeln  können.  Kein 
Inhalt  kann  als  „subjektiver"  gewußt  und  erfahren  werden, 
ohne  damit  einem  anderen,  der  ihm  gegenüber  als  der  objektive 
erscheint,  entgegengesetzt  zu  werden.  (Vgl.  oben,  S.  362.) 
Die    Bedingungen    und    Voraussetzungen    der    „objektiven" 

392 


Erfahrung  können  daher  nicht,  nachdem  die  subjektive  Welt 
der  Vorstellungen  bereits  besteht  und  in  sich  selbst  ihren 
Abschluß  gefunden  hat,  als  nachträgliche  Ergänzung  hinzu- 
gefügt werden,  sondern  sie  sind  bereits  in  ihrer  Setzung  mit- 
enthalten. Das  ,, Subjektive"  bedeutet  immer  nur  das  ab- 
strakte Teilmoment  einer  begrifflichen  Unterscheidung,  das 
als  solches  keinen  selbständigen  Bestand  besitzt,  weil  sein 
ganzer  Sinn  und  seine  ganze  Bedeutung  in  seinem  logischen 
Korrelat  und  Gegensatz  wurzelt. 

So  klar  dieser  Sachverhalt  erscheint,  sobald  einmal  die 
metaphysische  Differenz  des  Subjekts  und  Objekts  in  eine 
methodische  Unterscheidung  verwandelt  ist,  so  verlohnt  es  sich 
dennoch,  bei  ihm  zu  verweilen:  denn  hier  liegt  der  Kern  aller 
Mißverständnisse,  die  zwischen  den  verschiedenen  erkenntnis- 
theoretischen Richtungen  immer  aufs  neue  entstehen.  Der 
tiefere  Grund  dafür,  daß  Außen-  und  Innenwelt  als  zwei 
heterogene  Wirklichkeiten  einander  entgegengesetzt  werden, 
liegt  in  einem  analogen  Gegensatz,  der  zwischen  Erfahrung 
und  Denken  angenommen  wird.  Die  Gewißheit  der  reinen 
Erfahrung  gilt  von  der  des  Denkens  als  völlig  verschieden. 
Und  wie  beide  in  ihrem  Ursprung  getrennt  sind,  so  beziehen 
sie  sich  demgemäß  auch  auf  je  einen  besonderen  Kreis  von 
Objekten,  innerhalb  dessen  sie  alleinige  und  ausschließende 
Geltung  besitzen.  Die  reine  Erfahrung,  die  sich  von  jeder 
Beimischung  des  Begriffs  frei  hält,  ist  es,  die  uns  der  Zustände 
des  eigenen  Ich  versichert,  während  alle  Erkenntnis  des 
äußeren  Objekts  ihre  eigentliche  Gewähr  erst  kraft  der  Not- 
wendigkeit des  Denkens  empfängt.  Die  innere  Wahrnehmung, 
kraft  deren  das  Ich  sich  selbst  erfaßt,  besitzt  demnach  freilich 
eine  eigentümliche  und  in  ihrer  Art  unübertreffliche  Evidenz: 
aber  diese  Evidenz  wird  dadurch  erkauft,  daß  der  Inhalt, 
der  auf  diese  Weise  gewonnen  wird,  ein  schlechthin  individueller 
ist,  der  lediglich  in  der  einmaligen  Beschaffenheit,  in  der  er 
hier  und  jetzt  gegeben  ist,  ergriffen  wird.  Wenn  aus  unseren 
Vorstellungen  ,,alle  Denknotwendigkeit,  alles  logische  Ordnen 
entfernt  ist  und  sie  nur  in  einem  Zusammenrinnen  des  Ähn- 
lichen und  Gleichen  bestehen":  dann  und  nur  dann  darf  die 
Selbstgewißheit  sie  in  ihren  Dienst  stellen,  ohne  sich  damit 

393 


untreu  zu  werden.  Der  Anfang  jeder  Theorie  des  Erkennens 
muß  somit  darin  bestehen,  daß  wir  uns  allen  Zusammenhängen 
mit  den  Reichen  des  Geistes  und  der  Natur,  allem  Verkehr 
mit  den  Gütern  und  Gemeinschaften  der  Kultur  entschlagen, 
um  lediglich  dieses  unser  einzelnes  individuelles  Bewußtsein 
„in  seiner  ganzen  Blöße  und  Nacktheit"  festzuhalten.  Erst 
auf  diese  Weise  gelangen  wir  zu  einer  Gewißheitsart,  an  der 
das  Denken  in  keiner  Weise  beteiligt  ist,  — 
um  freilich  sogleich  einzusehen,  daß  sich  bei  ihr  nicht  stehen 
bleiben  läßt,  sondern  daß  sie  durch  logische  Annahmen  und 
Postulate,  kraft  deren  wir  einen  Gegenstand  der  Er- 
kenntnis setzen,  zu  erweitern  ist*.  Gerade  dieser  scheinbar 
gänzlich  voraussetzungslose  Anfang  aber  enthält  eine  Prä- 
misse in  sich,  deren  Recht  vom  Standpunkt  der  Logik  wie 
von  dem  der  Psychologie  aus  in  gleicher  Weise  unerweislich  ist. 
Der  Schnitt,  der  hier  zwischen  Wahrnehmung  und  Denken 
versucht  wird,  vernichtet  nicht  minder  den  Begriff  des  Be- 
wußtseins, wie  den  objektiven  Begriff  der  Erfahrung.  Alles 
Bewußtsein  verlangt  irgendeine  Art  der  Verknüpfung: 
und  jede  Form  der  Verknüpfung  setzt  eine  Relation  des  Ein- 
zelnen zu  einem  umfassenden  Ganzen,  setzt  eine  Einordnung 
des  individuellen  Inhalts  in  irgendeinen  Gesamtzusammenhang 
voraus.  So  primitiv  und  unentwickelt  dieser  Zusammenhang 
auch  gedacht  werden  mag:  er  läßt  sich  dennoch  niemals 
gänzlich  aufheben,  ohne  den  einzelnen  Inhalt  selbst  zu  zer- 
stören. Ein  schlechthin  regelloses  und  ungeordnetes  Etwas 
von  Wahrnehmungen  ist  daher  ein  Gedanke,  der  nicht  einmal 
als  methodische  Fiktion  vollziehbar  ist:  denn  die  bloße  Mög- 
lichkeit des  Bewußtseins  schließt  zum  mindesten  die  begriffliche 
Antizipation  einer  möglichen,  wenngleich  in  ihren  Einzelheiten 
noch  nicht  festgestellten  Ordnung  in  sich.  Bezeichnet  man 
daher  jedes  Moment,  das  über  die  bloße  unmittelbare  Ge- 
gebenheit der  Einzelempfindung  hinausgeht,  als  ,, transsub- 
jektiv", so  gilt  hier  der  paradoxe  Satz,  daß  nicht  nur  die 
Gewißheit    des    Objekts,    sondern    auch    die    Gewißheit    des 


*  S.  hierzu  V  o  1  k  e  1  t ,  Die  Quellen  der  menschlichen  Gewißheit. 
München  1906,  bes.  S.  15ff. ;  vgl.  Erfahrxing  und  Denken,  Leipzig  1878, 
Kap.  I. 

394 


Subjekts  ein  ,, transsubjektives"  Moment  in  sich  birgt.  Denn 
auch  das  bloße  ,, Wahrnehmungsurteil"  gewinnt  seine  Be- 
deutung erst  durch  den  Hinblick  auf  das  System  der  Er- 
fahrungsurteile und  muß  somit  die  gedanklichen  Bedingungen 
dieses  Systems  anerkennen.    (Vgl.  oben,  S.  325  f.) 

Bestimmt  man  daher  den  Gegenstand  nicht  als  eine 
absolute  Substanz  jenseits  aller  Erkenntnis,  sondern  als  das 
Objekt,  wie  es  sich  in  der  fortschreitenden  Erfahrung 
selbst  gestaltet,  so  gibt  es  hier  keine  ,, erkenntnistheoretische 
Kluft",  die  erst  mühsam,  durch  irgendein  Machtgebot  des 
Denkens,  durch  einen  ,, transsubjektiven  Befehl"  zu  über- 
winden wäre*.  Denn  dieser  Gegenstand  mag  vom  Stand- 
punkt des  psychologischen  Individuums  aus  immerhin 
,, transzendent"  heißen:  vom  Standpunkt  der  Logik  und 
ihrer  obersten  Grundsätze  aus  ist  er  nichtsdestoweniger  als 
rein  ,, immanent"  zu  bezeichnen.  Er  verbleibt  streng  in  dem 
Umkreis,  den  diese  Grundsätze,  den  insbesondere  die  all- 
gemeinen Prinzipien  der  mathematischen  und  natur- 
wissenschaftlichen Erkenntnis  bestimmen  und  abgrenzen. 
Dieser  schlichte  Gedanke  allein  aber  ist  es,  der  den  Kern 
des  kritischen  ,, Idealismus"  ausmacht.  Wenn  Volkelt  in 
seiner  Kritik  immer  von  neuem  hervorhebt,  daß  der  Gegen- 
stand nicht  in  der  bloßen  Empfindung  gegeben  ist,  sondern 
daß  er  erst  auf  Grund  der  Denknotwendigkeit 
gewonnen  wird**:  so  verficht  er  damit  die  eigenste  These 
eben  dieses  Idealismus  selbst.  Die  Idealität,  die  hier  allein 
behauptet  ist,  hat  mit  der  subjektiven  ,, Vorstellung"  nichts 
mehr  gemein;  sie  betrifft  lediglich  die  objektive  Geltung 
bestimmter  Axiome  und  Normen  der  wissenschaftlichen 
Erkenntnis.  Die  Wahrheit  des  Gegenstands  —  dies 
allein  ist  die  Meinung  —  hängt  an  der  Wahrheit  dieser 
Axiome  und  besitzt  keinen  anderen  und  festeren  Grund.  Es 
gibt  somit  freilich  im  strengen  Sinne  kein  absolutes,  sondern 
immer  nur  relatives  Sein:  aber  diese  Relativität  bedeutet 
ersichtlich  nicht  die  physische  Abhängigkeit  von  den  einzelnen 


*  Vgl.  V  o  1  k  e  1 1 ,    Quellen  der  menschlichen  Gewißheit,  S.  46  f.  usf. ; 
Erfahrung  und  Denken,   S.  186  ff. 

**   Quellen  der  menschlichen  Gewißheit,  S.  32  ff.  usf. 

395 


denkenden  Subjekten,  sondern  die  logische  Abhängigkeit 
vom  Inhalt  bestimmter  allgemeingültiger  Obersätze  aller 
Erkenntnis  überhaupt.  Der  Satz,  daß  das  Sein  ein  „Produkt" 
des  Denkens  ist,  enthält  somit  hier  keinerlei  Hindeutung 
auf  irgendein  physisches  oder  metaphysisches  Kausalverhältnis, 
sondern  er  bezeichnet  lediglich  eine  rein  funktionale  Beziehung, 
ein  Verhältnis  der  Über-  und  Unterordnung  in  der  Gültigkeit 
bestimmter  Urteile.  Wenn  wir  die  Definition  des 
„Gegenstandes"  zergliedern,  wenn  wir  uns  zu  klarem  Be- 
wußtsein bringen,  was  in  diesem  Begriff  gesetzt  ist, 
so  werden  wir  hier  notwendig  auf  gewisse  logische  Notwendig- 
keiten zurückgeführt,  die  somit  als  die  unentbehrlichen,  kon- 
stitutiven „Faktoren"  eben  dieses  Begriffs  erscheinen.  Die 
Erfahrung  und  ihr  Gegenstand  werden  in  der  Weise  von 
abhängigen  Variabein  aufgefaßt,  die  successiv  auf  eine  Folge 
logischer  , .Argumente"  zurückgeführt  werden :  und  diese  rein 
inhaltliche  Abhängigkeit  der  Funktion  von  ihren  Argumenten 
ist  es,  was  in  der  Sprache  des  Idealismus  als  die  Bedingtheit 
des  „Objekts"  durch  das  „Denken"  bezeichnet  wird.  (Vgl. 
bes.  oben,  S.  354  ff.) 

Diese  Art  der  Bedingtheit  aber  ist  so  unverkennbar, 
daß  sie  auch  auf  der  Gegenseite  ausdrücklich  hervorgehoben 
und  bezeugt  wird.  Die  sachliche  Notwendigkeit,  kraft 
deren  wir  aus  dem  Kreis  der  einzelnen,  unverbundenen  Empfin- 
dungen heraustreten,  um  uns  zu  dem  Gedanken  kontinuier- 
licher, durch  strenge  kausale  Regeln  miteinander  verknüpfter 
Gegenstände  zu  erheben,  ist,  wie  auch  hier  schließlich  zu- 
gestanden wird,  im  letzten  Grunde  eine  logische  Not- 
wendigkeit. „Es  geschieht  im  Namen  der  Vernunft, 
daß  die  Gewißheit  sachlicher  Notwendigkeit  mich  beherrscht 
und  zu  transsubjektiven  Annahmen  nötigt.  .  Alles,  was  wir 
Beurteilen,  Überlegen,  Denken,  Verstand,  Vernunft,  Wissen- 
schaft nennen,  würde  uns  an  der  Wurzel  untergraben  er- 
scheinen, wenn  wir  dieser  Gewißheit  zuwider  handelten." 
Unter  Seinsgültigkeit  soll  daher  nichts  anderes  verstanden 
werden,  als  „die  transsubjektive  Bedeutung,  die  wir  vermöge 
der  Denknotwendigkeit  dem  Inhalte  des  Urteils  geben*."    Die 

♦  V  o  1  k  e  1 1 ,   Die  Quellen  der  menschlichen  Gewißheit,  S.  33  u.  37. 

396 


allgemeingültigen  Regeln  der  Vernunft  sind  es  somit,  nach 
welchen  wir  den  Begriff  des  Seins  selbst  entwerfen  und  im 
einzelnen  bestimmen.  Das  Recht  sowohl,  wie  die  Grenze 
jeglicher  Art  von  ,, Transzendenz"  ist  damit  genau  bezeichnet. 
Am  klarsten  tritt  diese  Begrenzung  hervor,  wenn  man  hier 
den  Gegenstand  der  Erfahrung  mit  dem  Gegenstand  der  reinen 
Mathematik  vergleicht.  Auch  dieser  geht  ja  in  keiner  Weise 
in  einem  Komplex  von  sinnlichen  Empfindungen  auf;  auch  für 
ihn  ist  es  charakteristisch,  daß  er  das  Gegebene  in  einem 
gedanklichen  Entwurf,  der  keine  unmittelbare  Entsprechung 
in  irgendeinem  einzelnen  Vorstellungsinhalt  besitzt,  über- 
schreitet. Und  dennoch  bilden  die  Gegenstände  der  mathe- 
matischen Erkenntnis,  bilden  die  Zahlen  wie  die  reinen  Ge- 
stalten der  Geometrie  kein  eigenes  Gebiet  für  sich  bestehender, 
absoluter  Existenzen,  sondern  sind  nur  der  Ausdruck 
bestimmter  allgemeingültiger  und  notwendiger  ideeller  Zu- 
sammenhänge. Ist  diese  Einsicht  einmal  festgestellt,  so  läßt 
sie  sich  alsbald  auf  die  Objekte  der  Physik  übertragen,  die  ja, 
wie  sich  allenthalben  gezeigt  hat,  nichts  anderes  sind  als  das 
Ergebnis  und  der  Abschluß  einer  logischen  Arbeit,  in  der  wir 
die  Erfahrung  fortschreitend  gemäß  den  Forderungen  des 
mathematischen  Begriffs  umgestalten.  Die  „Transzendenz", 
die  wir  dem  physikalischen  Objekt  im  Unterschied  von  dem 
verfließenden  und  veränderlichen  Inhalt  der  Einzelwahr- 
nehmung zuschreiben,  ist  von  derselben  Art  und  beruht 
auf  den  gleichen  prinzipiellen  Gründen,  wie  die  Unterscheidung, 
kraft  deren  wir  die  mathematische  Idee  des  Dreiecks  oder 
Kreises  dem  einzelnen  anschaulichen  Bilde,  durch  welches  sie 
hier  und  jetzt  im  wirklichen  Vorstellen  repräsentiert  wird, 
entgegenstellen.  In  beiden  Fällen  erhebt  sich  das  momentane 
sinnliche  Bild  zu  einer  neuen  logischen  Bedeutung  und  Dauer; 
aber  in  beiden  Fällen  gilt  zugleich,  daß  vermöge  dieser  Schei- 
dung kein  gänzlich  fremdartiges  Sein  von  uns  ergriffen  wird, 
sondern  nur  bestimmten  Inhalten  ein  neuer  Charakter  begriff- 
licher Notwendigkeit  aufgeprägt  wird.  Dieselben  Bedingungen, 
auf  denen  der  Übergang  von  den  empirischen  Daten  des  Tast- 
und  Gesichtssinnes  zu  den  reinen  Gestalten  der  Geometrie 
beruht,  sind  notwendig  und  hinreichend  für  die  Umformung 

397 


des  Inhalts  der  bloßen  Perzeption  in  die  Welt  der  empirisch- 
physikalischen Massen  und  Bewegungen.  Hier  wie  dort  wird 
ein  konstanter  Maßstab  eingeführt,  auf  den  fortan 
das  Veränderliche  bezogen  wird:  und  diese  grundlegende 
Funktion  ist  es,  auf  der  die  Setzung  jedweder  Art  von  Objek- 
tivität beruht. 

Der  ,, Realismus"  ist  somit  allerdings  im  Recht,  wenn  er 
betont,  daß  das,  was  das  Urteil  zum  Urteil,  die  Erkenntnis  zur 
Erkenntnis  macht,  nicht  selbst  etwas  Gegebenes  ist,  sondern 
etwas,  das  zu  dem  Gegebenen  hinzukommt.  ,,\Vir  könnten  nie 
etwas  meinen,  wenn  wir  lediglich  auf  das  Gegebene  beschränkt 
wären;  denn  alle  Versuche,  mit  dem  Meinen,  mit  dem  Urteilen 
rein  im  Gegebenen  zu  bleiben,  würden  zu  Tautologien,  zu  sinn- 
losen Sätzen  führen.  Das  Urteil,  die  Erkenntnis  gehen  ihrem 
Sinne  nach  über  das  Gegebene  hinaus;  das  in  ihnen  Gemeinte 
ist  dem  Gegebenen  und  daher  ihnen  selbst,  sofern  sie  nur  als 
Gegebenes,  als  gegenwärtiger  psychischer  Inhalt  betrachtet 
werden,  transzendent.  Jeder  Gedanke  ...  ist  sich  selbst 
transzendent,  insofern  er  sich  selbst  nie  meinen  kann*." 
Diese  Sätze  sind  völlig  zutreffend:  aber  es  bedarf  nur  einer 
leichten  Änderung  der  Formulierung,  um  aus  ihnen  sofort 
eine  völlig  andere  Konsequenz  zu  entwickeln,  als  sie  hier 
gezogen  wird.  Wenn  wirklich  alles  Denken  „sich  selbst  trans- 
zendent" ist,  wenn  es  bereits  zu  seiner  ursprünglichen  Leistung 
gehört,  nicht  in  den  gegenwärtigen  Empfindungen  zu  beharren, 
sondern  über  sie  hinauszuschreiten:  so  gilt  zugleich  der  um- 
gekehrte Schluß.  Die  ,, Transzendenz",  die  kraft  des  Denkens 
begründet  und  erwiesen  werden  kann,  ist  keine  andere,  als  die- 
jenige, die  in  der  Grundfunktion  des  Urteils 
selbst  gesetzt  und  gewährleistet  ist**.      Der  „Gegenstand" 


♦  W.  F  r  e  y  t  a  g  ,    Der   Realismus  und  das  Transzendenzproblem, 
Halle  1902,  S.  123. 

**  Vgl.  Frey  tag,  a.a.O.,  S.  126:  „In  dieser  allgemeinen  Über- 
zeugvmg  von  der  objektiven  Natur  der  Wahrheit  liegt  aber  die  Transzendenz 
des  Urteils  als  notwendige  Voraussetzung  eingeschlossen.  Denn  wäre  das 
Urteil  nicht  transzendent,  hätte  es  keine  Bedeutung,  die  über  das  in  ihm 
Gegebene  hinausführt,  läge  all  seine  Bedeutung  in  dem,  was  es  als  psychischer 
Vorgang  ist,  so  würde  ja  die  Wahrheit  vom  Urteil  selbst  geradezu  gemacht 
werden;  gleichgültig,  ob  ich  urteile,  a  ist  b  oder  a  ist  nicht  b,  jedes  Urteil 

398 


ist  somit  genau  so  viel  und  genau  so  wenig  transzendent, 
als  es  —  das  Urteil  ist.  Damit  aber  ist  wiederum  die  Korrelation 
von  Erkenntnis  und  Gegenstand  im  kritischen  Sinne 
zugestanden:  denn  so  sehr  das  Urteil  den  bloßen  Inhalt  der 
eben  gegenwärtigen,  sinnlichen  Wahrnehmung  überschreitet, 
so  wenig  wird  man  behaupten  wollen,  daß  es  jenseits  der 
logischen  Grundsätze  der  Erkenntnis  überhaupt 
stehe.  Die  Abhängigkeit  von  diesen  Grundsätzen,  nicht  die- 
jenige von  irgendwelchen  konkreten  psychischen  Inhalten  oder 
Akten,  aber  war  es,  die  der  methodische  Idealismus  allein 
vertrat  und  forderte.  Die  „Immanenz"  im  Sinne  des  Psycholo- 
gismus muß  freilich  überwunden  werden,  um  zum  Begriff 
des  physikalischen  Objekts  vorzudringen,  aber  eben  dieses 
Objekt  selbst  gewinnt,  indem  es  den  Kreis  der  Empfindung 
überschreitet,  seinen  Bestand  in  begrifflichen  Re- 
lationen, von  denen  es  seinem  Wesen,  weil  seiner  Defini- 
tion nach  unablösbar  ist.  Der  psychologischen  Immanenz 
der  Eindrücke  tritt  nicht  eine  metaphysische  Transzendenz 
der  Dinge,  sondern  vielmehr  die  logische  Allgemeingültigkeit 
der  obersten  Erkenntnisprinzipien  gegenüber.  Daß  die  einzelne 
,, Vorstellung"  gleichsam  über  sich  selbst  hinausgreift,  daß 
alles  Gegebene  zugleich  etwas  bedeutet,  was  nicht  direkt 
in  ihm  selbst  liegt*,  ist  unbedingt  zuzugestehen:  aber  in  dieser 
„Repräsentation"  liegt,  wie  sich  bereits  gezeigt  hat,  kein 
Moment,  das  uns  über  die  Erfahrung  als  Gesamtsystem 
hinausführt.  Jedes  Einzelglied  der  Erfahrung  besitzt  insofern 
symbolischen  Charakter,  als  in  ihm  das  Gesamtgesetz,  das 
die  Allheit  der  Glieder  umschließt,  mitgesetzt  und  mit- 
gemeint ist.  Das  Besondere  erscheint  als  Differential,  das 
ohne  den  Hinweis  auf  sein  Integral  nicht  völlig  bestimmt  und 
verständlich  ist.  Der  metaphysische  „Realismus"  mißversteht 
diesen  logischen  Bedeutungswandel,  indem  er  ihn  als  eine  Art 
dinglicher  Transsubstantiation  auffaßt.     „Ein  Jegliches,  das 

würde  in  sich  richtig  sein,  weil  ja  im  ersten  eben  das  a  gemeint  wäre,  das 
tatsächlich  als  b  seiend  beurteilt  und  darum  auch  gegeben  wäre,  im  zweiten 
das  a,  das  tatsächlich  als  nicht  b  seiend  beurteilt  und  darum  auch  so  ge- 
geben wäre." 

*  Vgl.  hierzu  z.  B.  U  p  h  u  e  s  ,  Kant  und  seine  Vorgänger,  Berlin  1906, 
S.  336. 

399 


etwas  bedeuten  soll",  so  wird  hier  gefolgert,  „muß  etwas 
anderes  bedeuten,  als  es  ist;  denn  das,  was  es  ist,  ist  es  eben 
und  braucht  es  darum  nicht  erst  zu  bedeuten*.'*  Aber  dieses 
.Andere"  braucht  darum  in  keiner  Weise  etwas  sachlich, 
Heterogenes  zu  sein;  vielmehr  handelt  es  sich  hier 
um  eine  Beziehung  zwischen  verschiedenen  empirischen  In- 
halten, die  als  solche  einer  gemeinsamen  Ordnung  angehören. 
Diese  Beziehung  ist  dazu  bestimmt,  daß  wir  kraft  ihrer 
von  einem  gegebenen  Anfangspunkt  aus  das  Erfahrungsganze 
im  geregelten  Fortgang  durchschreiten,  nicht  dazu, 
daß  wir  es  überschreiten.  Das  beständige  Hinaus- 
greifen über  den  jeweilig  gegebenen  Einzelinhalt  ist  selbst  eine 
Grundfunktion  der  Erkenntnis,  die  sich  innerhalb  des  Gebiets 
der  Erkenntnisgegenstände  erfüllt  und  befriedigt.  Von  den 
philosophischen  Physikern  ist  es  insbesondere  F  e  c  h  n  e  r  , 
der  das  Problem,  das  hierin  liegt,  scharf  erfaßt  hat.  „Daß  in 
der  Welt  der  Erscheinung  immer  nur  Eins  mit  und  durch 
das  Andere  bestehen  kann,  kann  leicht  dazu  führen,  und  hat 
dazu  geführt,  allen  Erscheinungen  überhaupt  die  eigentliche 
Existenz  abzusprechen  und  als  letzten  haltbaren  und  Halt 
gewährenden  Grund  ihrer  wechselnden  Vielheit  an  sich  be- 
stehende, selbständig  seiende  feste  Dinge  dahinter  anzunehmen, 
die  mit  ihrem  Ansich  nie  in  die  Erscheinung  treten  können, 
vielmehr  den  ganzen  unselbständigen  Schein  der  Erscheinung, 
sei  es  durch  äußeres  Wechselwirken,  ineinander  hineinwerfen 
oder  durch  inneres  Wirken  in  sich  oder  aus  sich  heraus  er- 
zeugen. Denn,  sagt  man:  wenn  sich  Eins  hinsichtlich  des 
Grundes  seiner  Existenz  immer  nur  auf  das  Andere  berufen 
will,  so  fehlt  zuletzt  ein  Grund  für  alle  Existenz;  spricht  A, 
ich  kann  nur  bestehen,  sofern  B  besteht,  und  B  hinwiederum, 
ich  kann  nur  bestehen,  sofern  A  besteht,  so  haben  beide  sich 
zuletzt  auf  Nichts  berufen  . . .  Aber  statt  daß  A  und  B  den 
Grund  der  Existenz,  den  sie  nicht  einseitig  und  wechselseitig 
ineinander  finden  können,  nun  weiter  rückwärts  in  etwas 
hinter  sich  zu  suchen  haben,    was  ihrem  Schein  den  Grund 


*  E.  V.  Hartmann,    Das   Grundproblem  der  Erkenntnistheorie, 
S.  49. 

400 


und  Kern  gebe,  haben  sie  ihn  in  der  Totalität  zu  suchen, 
von  der  sie  beide  Glieder  sind;  das  Ganze  ist  der  Halt  und 
Kern  des  Ganzen  und  alles  Dessen,  was  darin ....  Im  Ganzen 
hat  man  allen  Grund  des  Einzelnen  zu  suchen,  nicht  in  etwas 
Einzelnem,  dahinter  noch  Anderem,  nach  dessen  Grunde  man 
von  neuem  zu  fragen  hätte;  doch  kann  man  untersuchen, 
nach  welchen  Regeln  sich  das  Einzelne  zum  Ganzen  fügt  und 
was  die  letzten  Elemente...  Was  wir  Objektives  an  einem 
materiellen  Dinge  finden  können,  beruht  immer  nicht  in  einem 
unabhängig  von  den  Wahrnehmungen,  Erscheinungen  rück- 
liegenden dunklen  Dinge  dahinter,  sondern  in  einem  über  die 
Einzelwahrnehmungen,  Einzelerscheinungen,  welche  das  Ding 
gewährt,  hinausreichenden  solidarisch  gesetzlichen  Zusammen- 
hang derselben,  von  dem  jede  Erscheinung  einen  Teil  ver- 
wirklicht*." So  deutlich  und  entschieden  diese  Sätze  indessen 
die  Abgrenzung  zwischen  Metaphysik  und  Physik  vollziehen: 
so  verrät  sich  dennoch  zuletzt  bei  Fechner  selbst,  in  der  Be- 
griffsbestimmung des  Objekts  der  Physik  noch  eine  innere 
Unklarheit.  Um  der  Auffassung  der  Materie  als  eines  völlig 
unbekannten  und  unbestimmten  Etwas,  das  den  sinnlich 
wahrnehmbaren  Eigenschaften  „zugrunde  liegt",  zu  entgehen, 
bestimmt  er  sie  durch  eben  diese  Eigenschaften  selbst:  die 
Materie  des  Physikers  ist,  „ganz  übereinstimmend  mit  dem 
gemeinsten  Sprachgebrauche",  nichts  anderes,  als  was  sich 
dem  Tastgefühl  bemerklich  macht.  So  wird  sie  gleich- 
bedeutend mit  dem  —  „Handgreiflichen".  Was  hinter  den 
Daten  des  Tastens  und  Fühlens  selbst  noch  liegen  mag, 
braucht  den  Physiker  nicht  zu  kümmern;  ihm  ist  die  Hand- 
greiflichkeit selbst  das  allein  Aufzeigbare,  durch  Erfahrung 
Faßbare  und  weiter  Verfolgbare:  und  dies  genügt,  dem  Begriffe 
die  für  seine  Zwecke  erforderliche  feste  Unterlage  zu  geben**. 
Hier  hat  also  der  Versuch,  die  metaphysischen  Bestandteile 
im  Begriffe  der  Materie  auszuschalten,  wiederum  dazu  geführt, 
auch  das  eigentümliche  logische  Moment  zu  beseitigen, 
das  für  ihn  charakteristisch  ist.  Die  kritische  Auffassung  steht 


*  Fechner,    Über  die  physikalische  und  philosophische  Atomen- 
lehre.    2.  Aufl.,  Leipzig  1864,   S.  111  ff. 
**  A.  a.  O.,   S.  106  f. 

Cassirer,  Substanzbegriff  26  4Q1 


zwischen  beiden  Ansichten  mitten  inne.  Sie  definiert  das 
Objekt  der  Naturwissenschaft  durch  die  Beziehung  auf  das 
„Ganze  der  Erfahrung":  aber  sie  ist  sich  zugleich  bewußt, 
daß  dieses  Ganze  sich  niemals  als  eine  bloße  Summe  einzelner 
Sinnesdaten  darstellen  und  begründen  läßt.  Nur  durch  die 
Setzung  ursprünglicher  Relationen,  deren  keine  sich  „hand- 
greiflich" gleich  einem  gegebenen  sinnlichen  Inhalt  aufzeigen 
läßt,  gewinnt  es  seine  Form  und  Gliederung;  —  und  einer 
der  mannigfaltigen  Ausdrücke  dieser  Relationen  ist  es,  der  im 
Begriff  der  Materie,  wie  in  dem  der  Kraft  oder  Energie  fest- 
gehalten wird.     (S.  oben,   S.  224  f.) 

IV. 

Die  Rückführung  des  Dingbegriffs  auf  einen  obersten 
Ordnungsbegriff  der  Erfahrung  beseitigt  eine  Schranke,  die 
sich  im  Fortschritt  der  Erkenntnis  immer  gefährlicher  auf- 
zurichten drohte.  Für  die  erste  naive  Wirklichkeitsansicht 
zwar  enthält  der  Begriff  des  Dinges  keinerlei  Rätsel  und 
Schwierigkeiten.  Der  Gedanke  braucht  nicht  allmählich 
und  kraft  komplizierter  Schlußfolgerungen  zu  den  Dingen 
vorzudringen;  sondern  er  besitzt  sie  unmittelbar  und  vermag 
sie  zu  ergreifen,  wie  unsere  körperlichen  Organe  des  Tastens 
das  körperliche  Objekt  umfassen  und  umspannen.  Aber 
dieses  naive  Vertrauen  wird  alsbald  erschüttert.  Der  Ein- 
druck des  Objekts  und  dieses  Objekt  selbst  treten 
auseinander:  an  die  Stelle  der  Identität  tritt  das  Verhältnis 
der  Repräsentation.  All  unser  Wissen,  so  vollendet  es  in  sich 
selbst  sein  mag,  liefert  uns  niemals  die  Gegenstände  selbst, 
sondern  nur  Zeichen  von  ihnen  und  ihren  wechselseitigen 
Beziehungen.  Immer  mehr  Bestimmungen,  die  zuvor  als  dem 
Sein  selbst  zugehörig  galten,  wandeln  sich  nunmehr  in  bloße 
Ausdrücke  des  Seins.  Wie  das  Ding  frei  von  all  den  Be- 
sonderungen  zu  denken  ist,  die  unseren  unmittelbaren  Sinnes- 
empfindungen anhaften,  wie  es  an  sich  selbst  weder  leuchtend 
noch  duftend,  weder  farbig  noch  tönend  ist,  so  müssen  weiter- 
hin —  in  dem  bekannten  Fortgang,  der  die  Geschichte  der 
Metaphysik  aufweist  —  auch  alle  räumlich-zeitlichen  Eigen- 

402 


Schäften,  so  müssen  Verhältnisse,  wie  die  der  Mehrheit  und 
der  Zahl,  der  Veränderlichkeit  und  der  Ursächlichkeit  von  ihm 
abgestreift  werden.  Alles  Bekannte,  alles  Erkennbare, 
tritt  in  einen  eigentümlichen  Gegensatz  zum  absoluten  Sein 
des  Gegenstandes.  Derselbe  Grund,  der  uns  der  Existenz 
der  Dinge  versichert,  prägt  ihnen  das  Merkmal  der  Un- 
begreiflichkeit auf.  Alle  Skepsis  und  alle  Mystik 
drängen  sich  fortan  in  diesen  einen  Punkt  zusammen.  Wie 
vielfältige  und  neue  Verhältnisse  der  „Erscheinungen"  uns  die 
wissenschaftliche  Erfahrung  immer  kennen  lehren  mag:  die 
eigentlichen  Gegenstände  scheinen  sich  in  ihnen  nicht  sowohl 
zu  enthüllen,  als  vielmehr  tiefer  und  tiefer  zu  verbergen.  — 
Alle  diese  Zweifel  und  Bedenken  schwinden  indes,  sobald 
man  sich  darauf  besinnt,  daß  eben  dasjenige,  was  hier  als  der 
unverstandene  Rest  der  Erkenntnis  erscheint,  in  Wahrheit 
in  jegliche  Erkenntnis  als  unentbehrlicher  Faktor  und  als 
notwendige  Bedingung  eingeht.  Einen  Inhalt  erkennen, 
heißt  ihn  zum  Objekt  umprägen,  indem  wir  ihn  aus  dem 
bloßen  Stadium  der  Gegebenheit  herausheben  und  ihm  eine 
bestimmte  logische  Konstanz  und  Notwendigkeit  verleihen. 
Wir  erkennen  somit  nicht  „die  Gegenstände"  —  als  wären 
sie  schon  zuvor  und  unabhängig  als  Gegenstände 
bestimmt  und  gegeben  — ,  sondern  wir  erkennen  gegen- 
ständlich, indem  wir  innerhalb  des  gleichförmigen 
Ablaufs  der  Erfahrungsinhalte  bestimmte  Abgrenzungen 
schaffen  und  bestimmte  dauernde  Elemente  und  Verknüpfungs- 
zusammenhänge fixieren.  Der  Begriff  des  Gegenstandes  ist 
in  diesem  Sinne  genommen,  keine  letzte  Schranke  des 
Wissens  mehr,  sondern  umgekehrt  eben  das  Grundmittel, 
kraft  dessen  es  all  das,  was  ihm  zum  feststehenden  Eigentum 
geworden  ist,  ausdrückt  und  sicherstellt.  Er  bezeichnet  den 
logischen  Besitzstand  des  Wissens  selbst,  —  nicht  ein  dunkles 
Jenseits,  das  sich  ihm  jetzt  und  für  immer  entzieht.  So  ist  das 
,,Ding"  nicht  mehr  die  unbekannte  Sache,  die  als  bloßer  Stoff 
vor  uns  liegt,  sondern  ein  Ausdruck  für  die  Form  und  den 
Modus  des  Begreifens  selbst.  All  das,  was  die  Metaphysik 
den  Dingen  an  und  für  sich  als  Eigenschaft  beilegt, 
erweist  sich  jetzt  als  ein  notwendiges  Moment  im  Prozeß  der 

26*  403 


Objektivierung.  Wenn  dort  von  der  Beharrlichkeit  und  der 
stetigen  Fortdauer  der  Gegenstände,  im  Unterschied  von  der 
Wandelbarkeit  und  der  Unterbrechung  der  Sinneswahr- 
nehmungen, gesprochen  wird,  so  erscheinen  hier  Identität 
sowohl  wie  Stetigkeit  als  Postulate,  die  der  fortschrei- 
tenden gesetzlichen  Verknüpfung  als  allgemeine  Richtlinien 
dienen.  Sie  bezeichnen  nicht  sowohl  die  sachlichen  Merkmale, 
die  erkannt  werden,  als  vielmehr  die  logischen  Werkzeuge, 
mit  denen  erkannt  wird.  Aus  diesem  Zusammenhang  heraus 
erklärt  sich  erst  die  eigentümliche  Wandelbarkeit,  die  sich  im 
Inhalt  der  wissenschaftlichen  Objektbegriffe  kundtut. 
Je  nachdem  die  ihrem  Ziel  und  Wesen  nach  einheitliche 
Funktion  der  Gegenständlichkeit  sich  mit  verschiedenem 
empirischen  Material  erfüllt,  entstehen  verschiedene  Begriffe  der 
physikalischen  Realität,  die  jedoch  nur  verschiedene  Stufen 
in  der  Erfüllung  ein  und  derselben  fundamentalen  Forderung 
darstellen.  Wahrhaft  unveränderlich  bleibt  lediglich  diese 
Forderung  selbst,  nicht  die  Mittel,  durch  die  sie  jeweilig 
befriedigt  wird. 

So  vermag  denn  die  Naturwissenschaft  auch 
dort,  wo  sie  am  Begriff  des  absoluten  Gegenstandes  festhält, 
zur  Bezeichnung  seines  Gehalts  zuletzt  kein  anderes  Ausdrucks- 
mittel zu  finden,  als  die  rein  formalen  Beziehungen,  auf  denen 
der  Zusammenhang  der  Erfahrung  beruht.  Besonders  prägnant 
tritt  dieser  Zug  in  der  Helmholtzschen  Zeichentheorie 
hervor,  die  eine  charakteristische  und  typische  Ausprägung 
der  allgemeinen  naturwissenschaftlichen  Erkenntnislehre  dar- 
stellt. Unsere  Empfindungen  und  Vorstellungen  sind  Zeichen, 
;y  nicht  Abbilder  der  Gegenstände.  Denn  vom  Bilde  ver- 
langt man  irgendeine  Art  von  Gleichheit  mit  dem 
abgebildeten  Objekt,  deren  wir  uns  hier  niemals  versichern 
können.  Das  Zeichen  dagegen  fordert  keinerlei  sachliche 
Ähnlichkeit  in  den  Elementen,  sondern  lediglich  eine  funk- 
tionale Entsprechung  der  beiderseitigen  Struktur.  Was  in 
ihm  festgehalten  wird,  das  ist  nicht  die  besondere  Eigenart 
des  bezeichneten  Dinges,  sondern  die  objektiven  Verhältnisse, 
in  denen  es  zu  anderen  gleichartigen  steht.  Die  Mannigfaltig- 
keit der  Empfindungen  ist  der  Mannigfaltigkeit  der  wirklichen 

404 


Gegenstände  derart  zugeordnet,  daß  jede  Verknüpfung,  die 
sich  in  dem  einen  Inbegriff  feststellen  läßt,  auf  eine  Ver- 
knüpfung in  dem  andern  hinweist.  Somit  erkennen  wir  kraft 
unserer  Vorstellungen  zwar  nicht  das  Wirkliche  schlechthin, 
in  seiner  isolierten  an  sich  seienden  Beschaffenheit,  wohl  aber 
die  Regeln,  unter  denen  dieses  Wirkliche  steht  und  denen 
gemäß  es  sich  verändert.  Was  wir  unzweideutig  und  als 
Tatsache  ohne  hypothetische  Unterschiebung  finden  können, 
ist  das  Gesetzliche  in  der  Erscheinung:  und  diese  Gesetz- 
mäßigkeit, die  für  uns  eine  Bedingung  der  Begreiflichkeit  der 
Phänomene  ist,  ist  zugleich  die  einzige  Eigenschaft,  die  wir 
unmittelbar  auf  die  Dinge  selbst  übertragen  können*.  Man 
sieht  indessen,  daß  auch  in  dieser  Auffassung  nicht  sowohl  ein 
gänzlich  neuer  Inhalt  gesetzt,  als  vielmehr  nur  ein  doppelter 
Ausdruck  für  ein  und  denselben  fundamentalen  Sach- 
verhalt geschaffen  ist.  Die  Gesetzlichkeit  des  Realen  besagt 
zuletzt  nichts  mehr  und  nichts  anderes  als  die  Realität  der 
Gesetze:  und  diese  besteht  in  der  unveränderlichen  Gültig- 
keit, die  sie  für  alle  Erfahrung,  abgesehen  von  allen  be- 
sonderen einschränkenden  Bedingungen  besitzen.  Indem  wir 
die  Zusammenhänge,  die  zunächst  als  bloße  Regelmäßigkeiten 
von  Empfindungen  erscheinen  konnten,  als  G  e  s  e  t  z  e 
der  Dinge  aussprechen,  haben  wir  damit  lediglich  eine 
neue  Bezeichnung  für  die  universelle  Bedeutung,  die  wir 
ihnen  zuerkennen,  geschaffen.  Der  bekannte  Tatbestand  wird, 
indem  wir  diese  Ausdrucksform  wählen,  nicht  seiner  Natur 
nach  geändert,  sondern  lediglich  bekräftigt  und  in 
seiner  objektiven  Wahrheit  bestätigt.  Die  Dinglichkeit 
ist  stets  nur  eine  derartige  Bestätigungsformel,  die  somit 
abgetrennt  von  dem  Ganzen  der  empirischen  Zusammen- 
hänge, die  durch  sie  beglaubigt  werden  sollen,  keine  Bedeutung 
mehr  besitzt.  Die  Gegenstände  der  Physik,  in  ihrem  gesetz- 
mäßigen Zusammenhang,  sind  daher  nicht  sowohl  ,, Zeichen 
von  etwas  Objektivem",  als  sie  vielmehr  objektive  Zeichen 
sind,  die  bestimmten  begrifflichen  Bedingungen  und  Forde- 
rungen genügen. 

*  Helmholtz,  Handbuch  der  physiolog.  Optik,  2.  Aufl.,  S.  586  ff., 
947  f.  u.  ö. 

405 


Daß  wir  die  Dinge  niemals  in  dem,  was  sie  für  sich 
allein  sind,  sondern  nur  in  ihren  wechselseitigen  Verhältnissen 
kennen:  daß  wir  nur  die  Relationen  der  Beharrung  und 
Veränderung  an  ihnen  festzustellen  vermögen,  ergibt  sich 
hieraus  von  selbst.  Aber  dieser  Satz  schließt  keine  der  skep- 
tischen Folgerungen  mehr  in  sich,  die  in  der  realistischen 
Metaphysik  mit  ihm  verknüpft  sind.  Geht  man  von  der 
Existenz  der  absoluten  Elemente  aus,  so  muß  es  wie  ein 
Mangel  des  Denkens  erscheinen,  daß  es  sich  dieser  Existenz 
niemals  völlig  rein  und  abgelöst  zu  bemächtigen  vermag.  Die 
Dinge  bestehen  nach  dieser  Auffassung  für  sich;  aber 
sie  werden  uns  nur  in  ihrer  Wechselwirkung,  die  die  Natur 
jedes  einzelnen  beeinträchtigt  und  verdunkelt,  bekannt. 
„Jede  Eigenschaft  oder  Qualität  eines  Dinges,"  so  formuliert 
Helmholtz  diese  Anschauung,  „ist  in  Wirklichkeit  nichts 
anderes,  als  die  Fähigkeit  desselben,  auf  andere  Dinge  gewisse 
Wirkungen  auszuüben...  Eine  solche  Wirkung  nennen  wir 
Eigenschaft,  wenn  wir  das  Reagens,  an  dem  sie  sich 
äußert,  als  selbstverständlich  im  Sinne  behalten,  ohne  es  zu 
nennen.  So  sprechen  wir  von  der  Löslichkeit  einer  Substanz, 
das  ist  ihr  Verhalten  gegen  Wasser;  wir  sprechen  von  ihrer 
Schwere,  das  ist  ihre  Anziehung  gegen  die  Erde;  und  ebenso 
nennen  wir  sie  mit  demselben  Recht  blau,  indem  dabei  als 
selbstverständlich  vorausgesetzt  wird,  daß  es  sich  nur  darum 
handelt,  ihre  Wirkung  auf  ein  normales  Auge  zu  bezeichnen. 
Wenn  aber,  was  wir  Eigenschaft  nennen,  immer  eine  Beziehung 
zwischen  zwei  Dingen  betrifft,  so  kann  eine  solche  Wirkung 
natürlich  nie  allein  von  der  Natur  des  einen  Wirkenden  ab- 
hängen, sondern  sie  besteht  überhaupt  nur  in  Beziehung  auf 
und  hängt  ab  von  der  Natur  eines  zweiten,  auf  welches  ge- 
wirkt wird*."  Man  hat  sich  auf  diese  Sätze,  in  denen  man 
die  treffendste  Formulierung  des  allgemeinen  Grundsatzes  der 
Relativität  sah,  berufen,  um  auf  Grund  derselben  die 
prinzipielle  Ausscheidung  aller  ontologischen  Bestandteile 


*  Helmholtz,  Die  neueren  Fortschritte  in  der  Theorie  des 
Sehens.  (Vorträge  und  Reden,  4.  A\ifl.,  Braunschweig  1896,  S.  321),  vgl. 
Physiologische  Optik»,  S.  589. 

406 


aus  den  Naturwissenschaften  zu  fordern*.  In  Wahrheit  indessen 
enthalten  auch  sie  noch  ein  unverkennbar  ontologisches 
Element.  Die  schärfere  Fassung  des  Prinzips  der  Relativität 
der  Erkenntnis  stellt  dieses  Prinzip  nicht  als  eine  bloße  Folge 
aus  der  allseitigen  Wechselwirkung  der  Dinge  hin,  sondern 
erkennt  in  ihm  eine  vorausgehende  Bedingung  für  den  Begriff 
des  Dinges  selbst.  Hierin  erst  besteht  die  allgemeinste  und 
radikalste  Bedeutung  des  Relativitätsgedankens.  Nicht  dies 
ist  die  Meinung,  daß  wir  stets  nur  die  Beziehungen  zwischen 
Seinselementen  denkend  erfassen  können,  wobei  diese  Elemente 
selbst  doch  immer  noch  als  ein  dunkler  für  sich  bestehender 
Kern  gedacht  sind,  sondern  daß  wir  nur  durch  die  Ka- 
tegorie der  Beziehung  hindurch  zur  Kategorie  des 
Dinges  gelangen  können.  Wir  erfassen  nicht  an  absoluten 
Dingen  die  Verhältnisse,  die  aus  ihrer  Wechselwirkung  resul- 
tieren, sondern  wir  verdichten  die  Erkenntnis  empirischer 
Zusammenhänge  zu  Urteilen,  denen  wir  gegenständliche  Gel- 
tung zusprechen.  Die  „relativen"  Eigenschaften  bedeuten 
demnach  nicht  im  negativen  Sinne  den  Rest  an  Dinglichem, 
den  wir  noch  gerade  zu  erfassen  vermögen,  sondern  sie  bilden 
den  ersten  und  positiven  Grund,  in  welchem  der  Begriff  der 
Wirklichkeit  selbst  wurzelt.  Es  bleibt  ein  Zirkel,  die  Relativität 
der  Erkenntnis  aus  der  durchgängigen  Wechselwirkung  der 
Dinge  erklären  zu  wollen,  da  eben  diese  Wechselwirkung 
vielmehr  nur  einer  jener  Relationsgedanken  ist, 
die  die  Erkenntnis  in  das  sinnlich  Mannigfaltige  hineinlegt, 
um  es  damit  zur  Einheit  zu  gestalten. 

Es  ist  von  besonderem  Interesse  zu  verfolgen,  wie  diese 
Grundanschauung  innerhalb  der  modernen  Physik  selbst 
allmählich  mehr  und  mehr  zu  methodischer  Klarheit  und 
Schärfe  gelangt.  Die  Darstellung,  die  neuerdings  ein  bedeu- 
tender Physiker  von  dem  Fortgang  und  den  allgemeinen  Zielen 
der  physikalischen  Methodik  gegeben  hat,  liefert  hierfür  einen 
charakteristischen  Beleg.  In  seiner  Schrift  über  die  Einheit 
des  physikalischen  Weltbildes  hat  Planck  in  einem  kurzen 
Entwurf   die   allgemeinen    Gesichtspunkte   bezeichnet,    nach 

*  Vgl.  Stalle,    Die  Begriffe   und  Theorien    der  modernen  Physik, 
dtsch.  Ausg.;  Leipzig  1901,  S.  131,   186  ff. 

407 


denen  die  stetige  Umbildung  der  physikalischen  Theorien 
sich  erklärt.  Wenn  die  erste  Stufe  unserer  physikalischen 
Definitionen  dadurch  gekennzeichnet  ist,  daß  der  Begriff 
hier  noch  unmittelbar  den  sinnlichen  Inhalt  der  Einzelemp- 
findung wiederzugeben  trachtet,  so  besteht  aller  weitere 
logische  Fortschritt  darin,  diese  Bedingtheit  mehr  und 
mehr  abzustreifen.  Die  Empfindung  als  solche  enthält  ein 
anthropomorphes  Element,  sofern  sie  notwendig 
eine  Beziehung  auf  ein  bestimmtes  Sinnesorgan,  also  auf  die 
spezifische  physiologische  Struktur  des  menschlichen  Or- 
ganismus in  sich  schließt.  Wie  dieses  Element  ständig  zurück- 
gedrängt wird,  um  schließlich  im  idealen  Entwurf  der  Physik 
gänzlich  zu  verschwinden:  dafür  bildet  die  Geschichte  der 
Naturwissenschaft  ein  einziges  fortlaufendes  Beispiel*.  Wel- 
chen Ersatz  aber  —  so  muß  nunmehr  gefragt  werden  — 
bietet  zuletzt  das  wissenschaftliche  Weltbild  für  diese  ver- 
lorenen Inhalte  dar ;  welcher  positive  Vorzug  ist  es,  auf 
dem  seine  Bedeutung  und  seine  Notwendigkeit  beruht? 
Hier  zeigt  es  sich  nun  alsbald,  daß  der  geforderte  Ersatz  nicht 
selbst  wiederum  in  einem  materialen,  sondern  lediglich  in 
einem  formalen  Moment  gegründet  sein  kann.  Indem  die 
Wissenschaft  dem  Reichtum  und  der  bunten  Mannigfaltigkeit 
der  unmittelbaren  Empfindung  entsagt,  gewinnt  sie  kraft 
dieses  Verzichtes,  was  sie  scheinbar  an  Inhalt  einbüßt,  an 
Einheit  und  Geschlossenheit  zurück.  Mit  der 
individuellen  Besonderung  der  Eindrücke  ist  auch  ihre  innere 
Ungleichartigkeit  verschwunden,  so  daß  Gebiete,  die  vom 
Standpunkt  der  Empfindung  aus  schlechthin  unvergleichlich 
sind,  nunmehr  als  Glieder  ein  und  desselben  Gesamtplanes 
in  wechselseitigem  Zusammenhang  begriffen  werden  können. 
Hier  allein  liegt  der  eigentümliche  Wert  des  wissenschaftlich- 
konstruktiven Aufbaus:  in  ihm  erscheint  durch  stetige  begriff- 


*  S.  Planck,  Die  Einheit  des  physikalischen  Weltbildes,  Vortrag, 
Leipzig  1909.  —  Die  Darstellung  der  Entwicklung  der  naturwissenschaft- 
lichen Begriffsbildung  im  vierten  Kapitel  (vgl.  bes.  S.  217  ff.)  war  bereits 
vollendet,  als  der  Plancksche  Vortrag  erschien;  um  so  freudiger  begrüße 
ich  es,  daß  durch  den  philosophischen  Teil  der  Ausführungen  Plancks 
das  Ergebnis,  zu  dem  diese  Darstellung  gelangt  ist,  in  allen  wesentlichen 
Punkten  bestätigt  und  von  einem  anderen  Gesichtspunkte  her  beleuchtetwird. 

408 


liehe  Mittelglieder  verbunden,  was  in  der  ersten  naiven 
Ansicht  fremd  und  beziehungslos  nebeneinander  liegt.  Je 
reiner  diese  Tendenz  sich  durchringt,  um  so  vollkommener  hat 
die  Forschung  ihre  Aufgabe  erfüllt.  ,,  Sehen  wir  genauer  zu, 
so  glich  das  alte  System  der  Physik  gar  nicht  einem  einzigen 
Bild,  sondern  viel  eher  einer  Gemäldesammlung;  denn  für 
jede  Klasse  von  Naturerscheinungen  hatte  man  ein  besonderes 
Bild.  Und  diese  verschiedenen  Bilder  hingen  nicht  miteinander 
zusammen;  man  konnte  eins  von  ihnen  entfernen,  ohne  die 
anderen  zu  beeinträchtigen.  Das  wird  in  dem  zukünftigen 
physikalischen  Weltbild  nicht  möglich  sein.  Kein  einziger  Zug 
desselben  wird  als  unwesentlich  fortgelassen  werden  können; 
jeder  ist  vielmehr  unentbehrlicher  Bestandteil  des  Ganzen 
und  besitzt  als  solcher  eine  bestimmte  Bedeutung  für  die 
beobachtete  Natur,  und  umgekehrt  wird  und  muß  jede  beob- 
achtbare physikalische  Erscheinung  in  dem  Bilde  einen  ihr 
genau  entsprechenden  Platz  finden."  Man  sieht,  daß  die 
Kennzeichen  der  echten  physikalischen  Theorie,  wie 
sie  hier  entwickelt  werden,  mit  den  Kriterien  der  empirischen 
Realität,  wie  sie  sich  aus  der  erkenntnistheoretischen 
Analyse  ergeben,  völlig  zusammenfallen.  ,, Einheit  in  bezug 
auf  alle  Einzelzüge  des  Bildes,  Einheit  in  bezug  auf  alle  Orte 
und  Zeiten,  Einheit  in  bezug  auf  alle  Forscher,  alle  Nationen, 
alle  Kulturen"  ist  es,  was  Planck  als  Grundbedingung  jeg- 
licher Theorie  der  Physik  fordert:  der  Inbegriff  und  die  Er- 
füllung aller  dieser  Forderungen  aber  ist  es  zugleich,  was  den 
eigentlichen  Sinn  des  Gegenstandsbegriffs  ausmacht.  Planck 
darf  daher  mit  Recht  seine  Grundanschauung  —  im  Gegensatz 
zu  der  phänomenalistischen  Ansicht,  die  bei  der  Gegebenheit 
der  bloßen  Empfindung  stehen  bleibt  —  als  ,, realistisch"  be- 
zeichnen: aber  dieser  „Realismus"  bildet  nicht  mehr  den  Gegen- 
satz, sondern  das  Korrelat  zum  recht  verstandenen  logischen 
Idealismus.  Denn  die  Unabhängigkeit  des  physikalischen  Ob- 
jekts von  allen  Besonderheiten  der  Empfindung  stellt  zugleich 
seine  Zuordnung  zu  allgemeingültigen  logischen  Grundsätzen 
in  helles  Licht:  nur  im  Hinblick  auf  diese  Grundsätze  der 
Einheit  und  Kontinuität  der  Erkenntnis  wird  der  Inhalt  des 
Objektbegriffs  selbst  gefunden  und  festgestellt. 

409 


Siebentes  Kapitel. 

Subjektivität  und  Objektivität  der 
Relationsbegriffe. 


Die  Analysis  der  Erkenntnis  endet  in  bestimmten  Grund- 
relationen, auf  denen  der  inhaltliche  Bestand  aller  Erfahrung 
beruht.  Weiter  als  bis  zu  diesen  allgemeinen  Beziehungen 
vermag  der  Gedanke  nicht  zurückzudringen:  denn  nur  in 
ihnen  ist  das  Denken  selbst  und  ist  ein  Gedachtes  möglich. 
Und  dennoch  kann  es  scheinen,  als  hätten  wir  uns  mit  dieser 
Antwort  im  Zirkel  bewegt.  Das  Ende  der  Untersuchung 
scheint  uns  an  denselben  Punkt  zurückzuführen,  an  welchem 
wir  zu  Anfang  standen.  Das  Problem  scheint  verschoben, 
aber  nicht  gelöst:  denn  der  Gegensatz  des  Subjektiven  und 
Objektiven  besteht  noch  immer  in  gleicher  Schärfe  fort. 
Auch  die  reinen  Relationen  unterliegen  derselben  Frage,  die 
sich  zuvor  auf  die  Empfindungen  und  Vorstellungen  richtete. 
Sind  sie  ein  Bestandteil  des  Seins  oder  sind  sie  bloße 
Gebilde  des  Denkens;  enthüllt  sich  in  ihnen  die  Natur 
der  Dinge  oder  sind  sie  nur  die  allgemeinen  Ausdrucksformen 
unseres  Bewußtseins,  also  nur  für  dieses  selbst  und  den 
Umkreis  seiner  Inhalte  gültig?  Oder  besteht  hier  eine  geheim- 
nisvolle praestabilierte  Harmonie  zwischen  dem  Geist  und 
der  Wirklichkeit,  kraft  deren  beide  notwendig  zuletzt  in  den- 
selben Grundbestimmungen  zusammentreffen  müssen? 

Es  genügt  indessen,  das  Problem  in  dieser  Weise  zu 
fassen,  um  alsbald  zu  bemerken,  daß  es  einem  Typus 
der  Fragestellung  angehört,  der  durch  das  Ergebnis  der 
vorangehenden  Untersuchung  prinzipiell  überwunden  ist. 
Das  „gemeinsame"  Gebiet,  in  dem  der  Gegensatz  von  Denken 

410 


und  Sein  ausgelöscht  sein  soll,  besteht  allerdings:  aber  es 
kann  nicht  mehr  in  einem  absoluten  Urgrund  aller  Dinge 
überhaupt,  sondern  lediglich  in  den  allgemeingültigen 
Funktionsformen  der  rationalen  und  empirischen 
Erkenntnis  gesucht  werden.  Diese  Formen  selbst  bilden  ein 
festgefügtes  System  von  Bedingungen:  und  nur  relativ  zu 
diesem  System  erhalten  alle  Aussagen  über  den  Gegenstand, 
wie  über  das  Ich,  über  Objekt  und  Subjekt  einen  verständ- 
lichen Sinn.  Es  gibt  keine  Objektivität,  die  außerhalb  des 
Rahmens  der  Zahl  und  Größe,  der  Beharrung  und  Veränderlich- 
keit, der  Causalität  und  Wechselwirkung  stünde:  alle  diese 
Bestimmungen  sind  nur  die  letzten  Invarianten  der  Erfahrung 
selbst  und  somit  aller  Wirklichkeit,  die  in  ihr  und  durch  sie 
feststellbar  ist.  Die  gleiche  Betrachtungs\yeise  aber  er- 
streckt sich  unmittelbar  auf  das  Bewußtsein  selbst:  ohne 
eine  zeitliche  Folge  und  Ordnung  von  Inhalten,  ohne 
die  Möglichkeit,  sie  zu  bestimmten  Einheiten  zusammen- 
zufassen und  sie  wiederum  in  unterschiedene  Vielheiten 
auseinanderzulegen,  ohne  die  Möglichkeit  endlich,  relativ 
konstante  Bestände  von  relativ  veränderlichen  zu  scheiden, 
besitzt  der  Gedanke  des  Ich  keine  angebbare  Bedeutung 
und  Anwendung.  Die  Analyse  lehrt  uns  mit  unzweideutiger 
Bestimmtheit,  daß  alle  diese  Relationsformen  in  den  Be- 
griff des  ,, Seins",  wie  des  ,, Denkens"  eingehen;  aber  sie  zeigt 
uns  niemals,  w  i  e  sie  sich  zusammenfügen,  noch  woher  sie 
ihre  Entstehung  ableiten.  Jede  Frage  nach  dieser  Entstehung, 
jedeZurückführung  der  Grundformen  auf  eine  Wirksamkeit  der 
Dinge  oder  auf  eine  Betätigungsweise  des  Geistes,  würde  eine 
deutliche  petitio  principii  in  sich  schließen:  denn  das  ,, Woher" 
ist  selbst  nichts  anderes  als  eine  bestimmte  Form  der  logischen 
Beziehung.  Ist  einmal  die  Kausalität  als  Relation 
verstanden  und  eingeordnet,  so  entfällt  jegliche  Frage  nach 
der  Kausalität  der  Relationen  überhaupt. 
Ihnen  gegenüber  läßt  sich  nur  noch  fragen,  was  sie  ihrem 
logischen  Sinne  nach  sind;  —  nicht  in  welcher  Weise  und 
von  welchen  Anfängen  aus  sie  geworden  sind.  Man  kann, 
nachdem  diese  Relationen  in  ihrer  Bedeutung  „feststehen", 
mit  ihrer  Hilfe  und  unter  der  Anleitung   der  Erfahrung  der 

411 


Entstehung  der  besonderen  Objekte  und  Vorgänge  nach- 
gehen: dagegen  ist  es  ein  hoffnungsloses  Beginnen,  sie  selbst, 
gleich  einer  entstehenden  und  vergehenden  empirischen 
Existenz,  auf  weiter  zurückliegende  Anfänge,  auf 
psychische  oder  physische  „Grundkräfte"  zurückführen  zu 
wollen.  — 

Damit  entfällt  zugleich  die  Möglichkeit,  die  „Materie" 
der  Erkenntnis  von  ihrer  „Form"  derart  zu  sondern,  daß  man 
beiden  einen  verschiedenen  Ursprung  im  absoluten  Sein 
zuweist;  indem  man  etwa  den  Ursprung  des  einen  Faktors 
in  den  „Dingen",  den  des  anderen  dagegen  in  der  Einheit 
des  Bewußtseins  sucht*.  Denn  alle  Bestimmtheit,  die 
wir  an  der  „Materie"  der  Erkenntnis  festhalten  können, 
kommt  ihr  lediglich  relativ  zu  irgendeiner  möglichen 
Ordnung  und  somit  zu  einem  formalen  Reihen- 
begriff  zu.  Die  einzelne  qualitativ  besondere  Empfindung 
empfängt  ihre  Eigenart  erst  durch  die  Unterscheidung  von 
anderen  bewußten  Inhalten,  denen  sie  gegenübersteht:  sie 
besteht  nur  als  Reihenglied  und  kann  nur  als  solches  wahrhaft 
gedacht  werden.  Das  Absehen  von  dieser  Fundamental- 
bedingung würde  nicht  nur  eine  größere  oder  geringere  ,, Un- 
bestimmtheit" ihres  Inhalts  zur  Folge  haben,  sondern  gänzlich 
ins  Leere  führen**.  Diese  unlösliche  logische  Correlation 
widerstreitet  jedem  Versuch,  das  Verhältnis,  das  hier  vorliegt, 
durch  zwei  getrennte  ursächliche  Faktoren  zu  erklären,  die 
man  als  für  sich  seiend  und  wirksam  annimmt.  Die  Materie 
ist  stets  nur  in  Bezug  auf  die  Form,  wie  andererseits  die 
Form  nur  in  Beziehung  auf  die  Materie  gilt.  Sieht  man 
von  dieser  Zuordnung  ab,  so  bleibt  für  beide  kein  ,, Dasein" 
mehr  übrig,  nach  dessen  Grund  und  Ursprung  sich  fragen 
ließe.  Die  materiale  Besonderung  der  empirischen  Inhalte 
kann  daher  niemals  zum  Beweis  für  die  Abhängigkeit  aller 


♦  Vgl.  hierzu  R  i  e  h  1 ,  Der  philosophische  &iticismu8  (bes.  II,  1, 
S.  285  ff.)  sowie  die  Darstellung  bei  Hönigswald,  Beiträge  zur  Er- 
kenntnistheorie u.  Methodenlehre,  Lpz.  1906.  —  Zum  Folgenden  vgl.  m. 
Kritik  dieser  Schrift:  Kant  Studien  XIV,  S.  91 — 98;  zum  Problem  der 
Größenkonstanten  s.  ob.  S.  306  ff. 

**  Vgl.  hrz.  jetzt  besonders:  G.  F.  Lipps,  Mythenbildung  und 
Erkenntnis,  Lpz.  1907,  S.  154  ff. 

412 


Gegenstandserkenntnis  von  einem  schlechthin ,,  transzendenten" 
Bestimmungsgrunde  angeführt  werden:  denn  diese  Bestimmt- 
heit, die  als  solche  unleugbar  besteht,  ist  nichts  anderes  als 
ein  Charakteristikum  der  Erkenntnis  selbst,  durch 
welches  ihr  Begriff  sich  erst  vollendet.  Bringen  wir  sie  auf 
ihren  reinsten  wissenschaftlichen  Ausdruck,  so  besagt  sie 
zuletzt  nichts  anderes,  als  die  Feststellung,  daß  es  zum  Aufbau 
der  Erfahrung  und  zur  Konstituierung  ihres  Objekts  nicht 
genügt,  bei  allgemeinen  Regeln  der  Verknüpfung,  bei 
universellen  Gleichungen  des  Naturgeschehens  stehen 
zu  bleiben,  sondern  daß  es  hierzu  zugleich  der  Kenntnis  be- 
sonderer Konstanten  bedarf,  die  nur  durch  die  experi- 
mentelle Beobachtung  sich  ermitteln  lassen.  Inwiefern  diese 
Konstanten  aber  mehr  als  die  empirische  Realität 
der  Erfahrungsobjekte  selbst  bezeugen,  inwiefern  sie  etwas 
über  ihre  absoluten  Grundlagen  enthüllen  sollen,  ist 
nicht  ersichtlich.  Denn  die  Besonderung  eines  Gesetzes 
setzt  doch  eben  dieses  Gesetz  selbst  voraus  und  ist  nur  in 
Beziehung  darauf  verständlich:  der  einzelne,  fixierte  Größen- 
wert bleibt  also  stets  in  dem  Umkreis  desjenigen  Seinsbegriffs, 
der  durch  die  allgemeinen  Grundsätze  der  Mathematik  be- 
zeichnet und  umgrenzt  wird.  Diese  Begrenzung  aber  ist 
es,  die  seine  wahrhafte  „Idealität'*  ausmacht:  eine  Idealität, 
durch  die  keine  korrelative  Zuordnung  zu  den  Vorstellungen 
und  Denkakten  der  psychologischen  Individuen,  sondern  zu 
den  allgemeinen  Prinzipien  und  Bedingungen  der  wissen- 
schaftlichen Wahrheit  behauptet  und  festgestellt  werden  soll. 
(S.  ob.  S.  395  f). 

Wenn  indessen  die  Frage  nach  der  metaphysischen 
Herkunft  dieser  Bedingungen  sich  als  ein  Mißverständnis 
erweist,  wenn  das  Problem,  ob  sie  aus  dem  Geist  oder  aus  den 
Dingen  oder  aus  einer  Wechselwirkung  beider  abzuleiten  sind, 
in  Nichts  zerrinnt:  so  ist  doch  der  alte  Gegensatz  des  ,, Sub- 
jektiven" und  „Objektiven"  hier  noch  nicht  in  jedem 
Sinne  geschlichtet  und  überwunden.  Vielmehr  scheint  er 
sich  aufs  neue  hervorzudrängen,  sobald  man  fragt,  welche 
spezifischen  Erkenntnismittel,  welche  Formen  des  Urteils  und 
des    beziehenden    Denkens    es    sind,    in    denen  wir  uns  die 

413 


reine,  an  sich  zeitlose  Geltung  der  ideellen  Grundsätze  zeit- 
lich, im  tatsächlichen  empirischen  Erlebnis,  zu  vergegen- 
wärtigen vermögen.  Man  kann  sich  versucht  fühlen,  um  der 
Strenge  und  Reinheit  der  logischen  Begründung  willen,  auch 
diese  Frage  völlig  auszuschalten  und  abzuweisen.  Die  „ewigen 
Wahrheiten"  —  so  erklärt  bereits  L  e  i  b  n  i  z  im  engsten 
Anschluß  an  Piaton  —  gelten  völlig  unabhängig  von  jeglichem 
Tatbestand  der  Wirklichkeit,  wie  immer  er  auch  beschaffen 
sein  möge.  Sie  stellen  lediglich  hypothetische  Systeme  von 
Folgerungen  dar,  sie  knüpfen  die  Geltung  bestimmter  Schluß- 
sätze an  die  Geltung  bestimmter  Obersätze,  ohne  darauf  Rück- 
sicht zu  nehmen,  ob  sich  in  der  Welt  der  empirischen  Dinge 
konkrete  Beispiele  dieser  abstrakten  Zusammenhänge 
finden  lassen,  ja  ohne  irgend  danach  zu  fragen,  ob  es  Individuen 
gibt,  in  deren  aktuellem  Denken  der  Übergang  von  den 
Prämissen  zu  den  Folgerungen,  der  hier  als  zu  Recht  bestehend 
behauptet  wird,  tatsächlich  jemals  vollzogen  worden  ist.  Die 
Wahrheiten  der  reinen  Zahlenlehre  würden  bleiben,  was  sie 
sind  —  selbst  wenn  es  nichts  gäbe,  was  gezählt  werden  kann, 
noch  irgend  jemand,  der  zu  zählen  verstünde*.  In  solcher 
äußersten  Prägnanz  vollzieht  sich  die  Abkehr  von  jeder  bloß 
psychologischen  Begründung  bei  den  eigentlichen  Klassikern 
des  Idealismus.  Sie  alle  neigen  jenem  Gedanken  zu,  der 
seinen  paradoxen  Ausdruck  in  Bolzanos  Conception  eines 
Reiches  der  „Sätze  und  Wahrheiten  an  sich"  gefunden  hat. 
Der  „Bestand"  der  Wahrheiten  ist  logisch  unabhängig  von 
der  Tatsache  ihres  Gedachtwerdens.  Was  etwa  die  Sätze  der 
reinen  Geometrie  bedeuten,  wie  sie  gemäß  einer  strengen  und 
notwendigen  Abfolge  aus  einander  hervorgehen  und  somit 
ein  ideales  Ganze  der  Bestimmung  ausmachen:  dies  läßt  sich 
vollkommen  ableiten  und  zur  Darstellung  bringen,  ohne  daß 
wir  auf  die  psychologischen  Akte  zurückgehen,  in  denen  wir 
uns  den  Gehalt  dieser  Sätze  zur  anschaulichen  oder  begriff- 
lichen Vorstellung  bringen.     Gleichviel  ob  diese  Akte  in  den 


*  S.  Leibniz,  Juris  et  aequi  elementa  (M  o  1 1  a  t ,  Mitteilungen 
aus  Leibnizens  ungedruckton  Schriften.  Lpz.  1893  S.  21  f;  vgl.  m.  Ausg. 
von  Leibniz'  Hauptschriften  zur  Grundlegung  der  Philosophie.  Lpz.  1904  ff., 
II,   S.  504  f.) 

414 


verschiedenen  Individuen  verschieden  oder  ob  sie  gleich- 
artig sind  und  somit  eine  konstante  Beschaffenheit  darbieten: 
in  keinem  Falle  ist  es  d  i  e  s  e  Beschaffenheit,  die  wir  meinen, 
wenn  wir  von  den  Objekten  der  Geometrie,  von  den  Linien, 
Flächen  und  Winkeln  sprechen.  Das  „Sein",  das  wir  diesen 
Objekten  beilegen,  bedeutet  keinerlei  zeitliche  Wirklichkeit, 
wie  sie  irgendwelchen  konkreten  physischen  oder  psychischen 
Inhalten  eignet,  sondern  lediglich  ihr  wechselseitiges  B  e  - 
stimmt-Sein:  es  besagt  die  objektive  Abhängigkeit  im 
Bereich  des  Gedachten,  nicht  irgendeinen  tatsächlichen 
kausalen  Zusammenhang  im  Gebiete  des  Denkens. 

Es  ist  insbesondere  die  moderne  Erweiterung  der 
Mathematik,  die  diesen  Sachverhalt  zu  voller  Klarheit 
gebracht  hat  und  die  damit  der  logischen  Theorie,  die  sich 
auf  ihn  stützt,  von  neuem  den  Boden  bereitet  hat.  Die 
Gebilde,  mit  denen  es  die  allgemeine  Mannigfaltigkeitslehre 
zu  tun  hat,  sind  echte  und  vollgültige  Objekte  der  Mathe- 
matik, die  deren  Begriff  erst  seinem  ganzen  Umfang  nach 
darstellen.  Der  systematische  Aufbau  dieser  Gebilde  aber 
läßt  sich  vollständig  entwickeln  und  darlegen,  ohne  auf  die 
komplexe  und  schwierige  psychologische  Nebenfrage  einzu- 
gehen, in  welchen  intellektuellen  Prozessen  wir  uns  die  Be- 
deutung der  unendlichen  Inbegriffe,  die  hier  den  Gegenstand 
der  Betrachtung  bilden,  vergegenwärtigen.  Da  ferner  alle 
Eigenschaften  dieser  Inbegriffe  durch  ihren  ursprünglichen 
Begriff  feststehen  und  ihnen  in  notwendiger  und  unabänder- 
licher Weise  zukommen,  so  bleibt  hier  für  irgendwelche 
willkürliche  Betätigung  des  Denkens  keinerlei  Raum 
übrig:  vielmehr  geht  das  Denken  ganz  in  seinem  Gegen- 
stand auf  und  wird  durch  ihn  bestimmt  und  geleitet. 
,,Man  nenne  es  wie  man  will"  —  so  spricht  sich  ein  moderner 
Vertreter  der  mathematischen  Logik  aus  —  ,,es  gibt  eine 
Welt,  die  bevölkert  ist  von  Ideen,  von  Inbegriffen,  von  Sätzen, 
von  Relationen  und  Abhängigkeiten,  die  in  endloser  Ver- 
schiedenheit und  Mannigfaltigkeit  vom  Einfachsten  beginnen 
und  bis  zum  Verwickeltsten  aufsteigen.  Diese  Welt  ist  nicht 
das  Produkt,  sondern  das  Objekt,  nicht  das  Geschöpf,  sondern 
die  Beute  des  Gedankens:  denn  die  Wesenheiten,  aus  denen 

415 


sie  besteht  —  wie  etwa  die  wahren  Sätze  —  sind  so  wenig 
identisch  mit  dem  Denken  dieser  Wesenheiten,  wie  der 
Wein  identisch  ist  mit  dem  Trinken  des  Weines.  Die  Ver- 
fassung dieser  außerpersönlichen  W^elt,  ihre  innere  ontologische 
Struktur  macht  den  wesentlichen  Charakter  und  die  Substanz 
der  Logik  als  einer  unabhängigen  und  außerpersönlichen  Form 
des  Seins  aus.  .  .  .  Wie  der  Astronom,  der  Physiker,  der 
Geologe  oder  irgend  ein  anderer  Naturforscher  die  Welt  der 
Sinne  in  seiner  Betrachtung  durchmißt,  so  schreitet  der  Geist 
des  Mathematikers,  nicht  in  übertragenem,  sondern  in  wört- 
lichem Sinne  im  Universum  der  Logik  vorwärts;  so  er- 
forscht er  alle  Höhen  und  Tiefen  nach  neuen  Tatsachen: 
nach  Ideen,  Klassen,  Verwandtschaften,  Abhängigkeiten.*" 
Diese  Sätze  umgrenzen,  sowohl  nach  der  positiven  wie  nach 
der  negativen  Seite  hin,  aufs  schärfste  das  Problem,  das  hier 
vorliegt.  Die  Notwendigkeit  der  allgemeinen  mathe- 
matischen Zusammenhänge  muß  unangetastet  bleiben:  und 
diese  Notwendigkeit  bildet  in  der  Tat  eine  eigentümliche 
Wesenheit,  einen  objektiven  Gehalt,  der  der  psychologischen 
Tätigkeit  des  Denkens  als  schlechthin  bindende  Norm  gegen- 
übersteht. Aber  steht  dieser  Gehalt  in  Wahrheit  auf  der- 
selben Stufe,  wie  die  sinnliche  Wirklichkeit,  von  der 
wir  lediglich  empirisch  Kenntnis  zu  erhalten  vermögen?  Sind 
die  „Tatsachen"  des  Mathematikers  nichts  anderes  und  wollen 
sie  nichts  mehr  bedeuten,  als  diejenigen,  die  etwa  der  ver- 
gleichende Anatom  und  Zoologe  in  der  Beschreibung  und  Ver- 
gleichung  verschiedenartiger  körperlicher  Strukturen  fest- 
stellt? Gerade  die  Logik  der  Mathematik  und  der  mathe- 
matischen Physik  ist  es,  die  jede  derartige  unmittelbare 
Gleichsetzung  der  exakten  und  der  rein  beschreiben- 
den Methoden  endgültig  verbietet.  Notwendigkeiten  können 
nicht  einfach  beschrieben,  nicht  schlechthin  als  solche  ,, vor- 
gefunden" werden:  denn  alles  bloß  Vorgefundene  gilt  eben 
nur  für  den  Moment,  für  welchen  es  festgestellt  wird  und  be- 
zeichnet somit  einen  empirisch -einmaligen  Tatbestand.  Die 
Frage  nach  den  intellektuellen  Operationen,    in  denen 

*  C.  J.  Keyser,  Mathematics  -^  a  Lecture  delivered  at  Columbia 
Umversity.     New  York  1907  S.  25  f. 

416 


jene  Notwendigkeiten  erfaßt  werden,  drängt  sich  daher  hier 
von  neuem  hervor.  Diese  Operationen  dürfen  uns  freilich  mit 
dem,  was  durch  sie  erkannt  wird,  niemals  unterschiedslos 
verschmelzen:  die  Gesetzlichkeit  des  Erkannten  ist  mit  der 
des  Erkennens  nicht  gleichbedeutend.  Dennoch  aber  bleiben 
beide  Gesetzlichkeiten  auf  einander  bezogen,  sofern  sie  zwei 
verschiedene  Aspekte  eines  allgemeinen  Problems  darstellen. 
So  besteht  zwischen  dem  Gegenstand  und  der  O  p  e  - 
rat  i  0  n  des  Denkens  in  der  Tat  ein  tieferes  und  intimeres 
Wechselverhältnis,  als  zwischen  dem  —  Wein  und  dem 
Trinken  des  Weins.  Wein  und  Trinken  sind  einander  nicht 
in  eindeutiger  Weise  zugeordnet;  —  wohl  aber  zielt  jeder  reine 
Erkenntnisakt  auf  eine  objektive  Wahrheit  hin,  die  er  sich 
gleichsam  gegenüberstellt,  wie  andererseits  der  Bestand  der 
Wahrheit  nur  kraft  dieser  Akte  und  durch  ihre  Vermittlung 
zum  Bewußtsein  gebracht  werden  kann. 

Es  gilt  daher  jetzt  von  dem  Begriff  der  ,, Objektivität" 
aus,  der  aus  der  Analyse  des  Gehalts  der  wissenschaftlichen 
Grundsätze  gewonnen  wurde,  den  Begriff  der  ,, Subjektivität" 
in  einem  neuen  Sinne  zu  bestimmen.  Die  allgemeine  Charak- 
teristik des  Gegenstands,  die  sich  ergab,  enthält  zugleich 
implicit  die  allgemeine  Antwort  auf  die  Frage,  welcher  Art 
die  gedanklichen  Mittel  und  Verfahrungsweisen  sind,  kraft 
deren  wir  zu  seiner  Kenntnis  gelangen.  Ein  Moment  ist 
es  vor  allem,  das  hier  entscheidend  hervortritt.  Solange  der 
Gegenstand  noch  schlechthin  das  „Ding"  in  der  gewöhn- 
lichen Bedeutung  des  naiven  Dogmatismus  war:  so  lange 
mochte  ein  einzelner  ,, Eindruck"  oder  eine  bloße  Summe 
derartiger  Eindrücke  genügen,  um  ihn  zu  erfassen  und  innerlich 
nachzubilden.  Diese  Art  der  Aneignung  aber  versagt,  nach- 
dem einmal  die  Geltung  bestimmter  logischer  Relationen  als 
notwendige  Bedingung  und  als  der  eigentliche  Kern  des  Gegen- 
standsbegriffs festgestellt  ist.  Denn  der  Gehalt  reiner  Be- 
ziehungen läßt  sich  niemals  in  bloßen  sinnlichen  Impressionen 
darstellen:  die  Gleichheit  oder  Ungleichheit,  die  Identität 
oder  Verschiedenheit  des  Gesehenen  und  Getasteten  ist 
nicht  selbst  etwas,   was  gesehen  oder  getastet  wird*.    Überall 

*  Näheres  hrz.  s.  Cap.  VIII. 
Cassirer,  Substanzbegriff  27  417 


muß  hier  von  der  passiven  Empfindung  auf  die  Aktivität  des 
Urteils  zurückgegangen  werden,  in  der  allein  der  Begriff  des 
logischen  Zusammenhangs  und  damit  der  Begriff  der  logischen 
Wahrheit  einen  zureichenden  Ausdruck  findet.  Den  Ge- 
danken des  Dinges  —  als  eines  Komplexes  sinnlicher  Eigen- 
schaften —  mag  man  sich  immerhin  dadurch  entstanden 
denken,  daß  diese  Eigenschaften  für  sich  wahrgenommen 
werden  und  vermöge  eines  automatischen  Mechanismus 
der  „Association"  wie  von  selbst  zusammenfließen:  der 
Gedanke  der  notwendigen  Verknüpfung  aber  bedarf,  um 
sich  überhaupt  psychologisch  bezeichnen  zu  lassen,  den  Hin- 
weis auf  eine  selbständige  Tätigkeit  des  Bewußtseins.  Der 
gesetzmäßige  Fortschritt  im  Urteil  ist  das  Korrelat  des  gesetz- 
mäßigen Zusammenhangs  der  Beziehungen,  die  sich  im  Be- 
griff des  Erkenntnisobjekts  zur  Einheit  zusammenschließen. 
Freilich  scheint  damit  der  Gehalt  der  Wahrheit,  und 
somit  zugleich  der  Gehalt  des  „Seins"  von  neuem  gleichsam 
in  Fluß  zu  geraten:  denn  was  eine  bestimmte  Wahrheit 
„ist",  können  wir  uns  nach  dieser  Gesamtanschauung  nicht 
anders  verdeutlichen,  als  dadurch,  daß  wir  sie  gedanklich 
nacherzeugen,  indem  wir  sie  aus  ihren  einzelnen 
Bedingungen  vor  uns  entstehen  lassen.  Aber  diese  „gene- 
tische" Ansicht  der  Erkenntnis  bildet  jetzt  keinen  Gegensatz 
mehr  zu  der  Forderung  eines  dauernden  Bestandes.  Denn 
die  Tätigkeit  des  Denkens,  auf  die  hier  zurückgegangen 
wird,  ist  selbst  nicht  willkürliche,  sondern  streng  geregelte 
und  gebundene  Tätigkeit.  Die  funktionale  Betätigung  des 
Denkens  verlangt  und  findet  ihren  Halt  in  einer  idealen 
Struktur  des  Gedachten,  die  ihm  unabhängig  von  jedem 
besonderen  zeitlich  begrenzten  Denkakt  ein  für  alle  Mal  zu- 
kommt. Beide  Momente  bestimmen  erst  in  ihrer  Durch- 
dringung den  vollständigen  Begriff  der  Erkenntnis.  Das 
Ganze  [unserer  intellektuellen  Operationen  ist  gerichtet  und 
gespannt  auf  die  Idee  eines  ,, stehenden  und  bleibenden" 
Geltungsbereichs  objektiv  notwendiger  Beziehungen.  So  zeigt 
sich,  daß  jedes  Wissen  gleichsam  ein  statisches  und  ein 
dynamisches  Motiv  in  sich  birgt  und  erst  in  dieser 
Vereinigung  seinen  Begriff  vollendet.     Es  verwirklicht  sich 

418 


4 


nur  in  einer  Aufeinanderfolge  logischer  Akte,  in  einer  Reihe, 
die  successiv  durchlaufen  werden  muß,  damit  wir  uns  der 
Regel  ihres  Fortschrittes  bewußt  werden.  Soll  aber  diese 
Reihe  selbst  als  Einheit  gefaßt  und  als  Ausdruck  eines 
identischen  Sachverhalts  genommen  werden,  der  durch 
sie,  je  weiter  wir  in  ihr  fortgehen,  immer  schärfer  und  genauer 
bezeichnet  wird:  so  ist  hierfür  erforderlich,  daß  wir  sie  selbst 
gegen  eine  ideelle  Grenze  konvergierend  denken.  Diese 
Grenze  ,,ist"  und  besteht  in  eindeutiger  Bestimmtheit;  wenn- 
gleich sie  für  uns  nicht  anders,  als  vermittels  der  einzelnen 
Reihenglieder  und  ihrer  gesetzlichen  Veränderung  er- 
reichbar ist.  Je  nachdem  wir  unseren  Standort  an  dem 
gedachten  Grenzwert  selbst  oder  aber  innerhalb  der  Reihe 
und  ihres  Fortgangs  wählen,  ergibt  sich  uns.  also  eine  ver- 
schiedene Auffassung,  wobei  indes  jeder  der  beiden  Aspekte 
den  anderen  zu  seiner  Ergänzung  verlangt  und  herbeiruft. 
Die  Veränderung  zielt  auf  eine  Konstanz  ab,  während 
andererseits  die  Konstanz  nur  an  der  Veränderung 
zum  Bewußtsein  kommen  kann.  Es  gibt  keinen  Akt  des 
Wissens,  der  nicht  auf  irgendeinen  festen  Gehalt  von  Be- 
ziehungen, als  seinen  eigentlichen  Gegenstand,  gerichtet  wäre; 
wie  andererseits  dieser  Bestand  sich  nicht  anders  als  in  Akten 
des  Wissens  belegen  und  zum  Verständnis  bringen  läßt. 

An  diesem  Punkte  scheiden  sich  am  deutlichsten  die  all- 
gemeinen Tendenzen,  die  die  erkenntnistheoretische  Diskussion 
der  Gegenwart  beherrschen.  Auf  der  einen  Seite  wird  die 
reine  Objektivität  des  Logischen  und  Mathematischen  dadurch 
aufrecht  zu  erhalten  gesucht,  daß  man  sich  prinzipiell  jeder 
Beziehung  auf  das  Denken  und  den  „denkenden  Geist" 
begiebt.  Zergliedern  wir  das  ideale  Gefüge  der  Mathematik, 
stellen  wir  das  Ganze  ihrer  Definitionen,  ihrer  Axiome  und 
Lehrsätze  klar  und  vollständig  heraus,  so  ist,  wie  man  betont, 
unter  den  „logischen  Konstanten'',  die  auf  diese  Weise  zuletzt 
übrig  bleiben,  der  Begriff  eines  denkenden  Subjekts,  dem 
dieser  gesamte  Zusammenhang  gegeben  wäre,  in  keiner 
Weise  mitenthalten.  Dieser  Begriff  gehört  demnach  nicht 
dem  Gebiet  der  reinen  Logik  und  Mathematik  selbst  an, 
er  ist  vielmehr  zu  jenen  „gänzlich  bedeutungslosen"  Konzep- 

27*  419 


tionen  zu  rechnen,  die  erst  durch  die  Vermittlung  der  Philo- 
sophie in  die  Wissenschaften  eingedrungen  sind*.  Damit 
entfällt  auch  jede  nähere  Beziehung  der  ideellen  Wahrheiten 
der  Mathematik  und  Logik  zur  Aktivität  des  Denkens:  viel- 
mehr wird  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  der  Geist,  wo 
immer  er  diese  Wahrheiten  ergreift,  sie  nur  receptiv  als  ge- 
gebenen Stoff  empfängt.  Er  ist  in  der  Erkenntnis  eines  be- 
stimmten Zusammenhangs  von  Schlußfolgerungen  so  völlig 
passiv,  wie  es  —  gemäß  der  gewöhnlichen  Auffassung  —  der 
Sinn  in  der  Wahrnehmung  sinnlicher  Objekte  ist**.  ,, Alles 
Erkennen  ist  nichts  als  ein  Anerkennen,  sofern  es  nicht  bloße 
Täuschung  sein  soll.  Die  Arithmetik  muß  genau  in  dem- 
selben Sinne  entdeckt  werden,  als  Columbus  West-Indien 
entdeckte  und  wir  schaffen  die  Zahlen  so  wenig,  als  er 
die  Indianer  erschuf.  Die  Zahl  ,,Zwei"  ist  kein  rein  geistiges 
Ding,  sondern  eine  Wesenheit,  die  den  Gegenstand  unseres 
Denkens  bilden  kann.  Was  immer  den  Gegenstand  unseres 
Denkens  bildet,  hat  ein  bestimmtes  Sein  und  dieses  Sein  ist 
die  Vorbedingung  dafür,  daß  es  gedacht  wird,  nicht  aber 
selbst  ein  Ergebnis  des  Denkens***."  Die  ,, Objektivität"  der 
reinen  Begriffe  und  Wahrheiten  wird  demnach  mit  der  der 
physischen  Einzeldinge  völlig  auf  eine  Stufe  gestellt.  Dennoch 
tritt  die  Differenz  zwischen  beiden  alsbald  wieder  scharf  hervor, 
sobald  man  sich  vergegenwärtigt,  daß  es  nicht  absolute,  sondern 
stets  nur  relative  „Gegenstände"  sind,  zu  denen  wir  innerhalb 
des  Umkreises,  der  Logik  und  Mathematik  allein  zu  gelangen 
vermögen.  Nicht  die  Zahl,  sondern  allenfalls  die  Zahlen 
bilden  eine  wahrhafte  „Wesenheit".  Das  Einzelne  erhält 
hier  seinen  Sinn  und  Gehalt  erst  vom  Ganzen:  —  dieses  Ganze 
aber  läßt  sich  niemals  wie  ein  ruhendes  Objekt  der  An- 
schauung  auf   einmal   vergegenwärtigen,    sondern   muß,    um 


*  Vgl.  Russell,  The  Principles  of  Mathematics  I,  S.  4:  Philo- 
sophy  asks  of  Mathematics :  What  does  it  mean  ?  Mathematics  in  the 
past  weis  unable  to  answer,  and  Philosophy  answered  by  introducing  the 
totally  irrelevant  notion  of  mind.  But  now  Mathematics  is  able  to  answer, 
so  f ar  at  loast  as  to  reduce  the  whole  of  its  propositiona  to  certain  funda- 
mental notions  of  logic. 

**  R  u  s  8  e  1 1 ,  a.  a.  O.  §  37,  S.  33. 
*♦♦  Russell,  a.  a.  O.   §  427,  S.    451. 

420 


wahrhaft  übersehen  zu  werden,  im  Gesetz  seines  Aufbaus 
erfaßt  und  durch  dieses  Gesetz  bestimmt  werden.  Um  die 
Zahlenreihe  als  Reihe  aufzufassen  und  sie  damit  erst  in 
ihrem  systematischen  Wesen  zu  durchdringen,  bedarf  es 
nicht  nur  eines  einzelnen  apperceptiven  Aktes,  wie  man 
ihn  etwa  für  die  Wahrnehmung  eines  besonderen  Sinnen- 
dinges als  genügend  ansieht,  sondern  stets  einer  Mannig- 
faltigkeit derartiger  Akte,  die  einander  wechselweise  bedingen. 
Immer  wird  hier  also  eine  Bewegung  des  Denkens 
erfordert,  die  jedoch  kein  bloßer  Wechsel  von  Vorstellungen 
ist,  sondern  in  der  vielmehr  das  einmal  Erreichte  festge- 
halten und  zum  Ausgangspunkt  neuer  Entwicklungen  ge- 
macht wird.  Die  Tätigkeit  selbst  ist  es  somit,  aus  der  die 
Anerkennung  eines  dauernden  Bestandes  von  Wahrheiten 
quillt.  Mitten  im  Akt  des  Produzierens  hebt  sich  für  den 
Gedanken  ein  bleibendes  logisches  Produkt  heraus,  sofern 
er  sich  bewußt  wird,  daß  dieser  Akt  selbst  nicht  willkürlich 
vor  sich  geht,  sondern  nach  konstanten  Regeln  erfolgt,  denen 
er  sich  nicht  zu  entziehen  vermag,  wenn  anders  er  in  sich 
selbst  Sicherheit  und  Bestimmtheit  gewinnen  soll.  — 

Die  ,,  Spontaneität"  des  Denkens  bildet  somit  nicht  den 
Gegensatz,  sondern  das  notwendige  Korrelat  derjenigen 
„Objektivität",  die  ihm  allein  erreichbar  ist.  Wird  diese 
Grundbeziehung  nicht  vollständig  erfaßt,  wird  einseitig  nur 
ein  einzelnes  Moment  von  ihr  betont,  so  muß  sich  alsbald 
ein  Rückschlag  einstellen,  der  nunmehr  die  Konstanz  des 
Logischen  selbst  gefährdet.  Aus  diesem  allgemeinen  Motiv 
heraus  läßt  sich  vielleicht  am  ehesten  der  Kampf  verstehen, 
der  von  Seiten  des  ,, Pragmatismus"  gegen  die  ,, reine  Logik" 
geführt  wird.  Soweit  freilich  der  Pragmatismus  in  nichts 
anderem  besteht,  als  in  der  Gleichsetzung  der  Begriffe  ,, Wahr- 
heit" und  „Nützlichkeit":  soweit  dürfte  man  ihn  getrost  dem 
allgemeinen  Schicksal  philosophischer  Schlagworte  überlassen. 
Was  zur  Verteidigung  dieser  Ansicht  vorgebracht  worden  ist, 
hält  sich  fast  ausschließlich  im  Bereich  des  rhetorisch-pole- 
mischen Stils  und  zerfällt,  sobald  man  versucht,  es  in  die 
nüchterne  Sprache  der  logischen  Begründung  zu  übertragen. 
Schon    der    Begriff    des    Nutzens    selbst    widerstrebt   jedem 

421 


Versuch  einer  scharfen  Begrenzung:  denn  bald  ist  es  das 
einzelne  Individuum  mit  seinen  besonderen  Wünschen  und 
Neigungen,  bald  ist  es  irgendeine  gemeinsame  gattungs- 
mäßige Struktur  des  Menschen,  in  Bezug  auf  welche  der  Nutzen 
festgestellt  und  gemessen  wird.  Gilt  das  Erstere,  so  bleibt 
gerade  das  entscheidende  Problem,  die  Möglichkeit  exakter 
wissenschaftlicher  Erkenntnis  ungelöst:  aus  individuellen 
Gefühlen  und  Trieben  baut  sich  so  wenig  wie  aus  individuellen 
Empfindungen  eine  Wissenschaft  der  Natur  auf,  da 
diese  vielmehr  auf  die  Ausschaltung  aller  rein  „anthropo- 
morphen"  Elemente  des  Weltbildes  gerichtet  ist.  (S.  S.407ff.) 
Soll  dagegen  das  Zweite  gelten,  so  ist  wiederum  ein  konstantes 
physisch  -  psychisches  Subjekt  mit  einer  gleichbleibenden 
Organisation  gesetzt,  das  sich  unter  Bedingungen,  denen 
selbst  eine  objektive  Regelmäßigkeit  zukommt,  entwickelt; 
es  ist  somit  der  gesamte  Begriff  des  Seins,  der  abgeleitet 
werden  sollte,  in  Wahrheit  bereits  vorweggenommen.  „Nütz- 
lichkeit" selbst  gibt  es  nur  in  einer  Welt,  in  der  nicht  beliebig 
aus  Jeglichem  Jegliches  hervorgeht,  sondern  in  der  be- 
stimmte Erfolge  an  bestimmte  Voraussetzungen  ge- 
bunden sind:  nur  innerhalb  des  Seins  und  innerhalb  einer 
eindeutigen  Ordnung  des  Geschehens  ist  der  Gesichtspunkt 
des  „Nützlich-Seins"  verständlich  und  anwendbar.  (Vgl. 
ob.   S.  350  f.) 

Indessen  treffen  freilich  derartige  Erwägungen  nicht  die 
feinere  und  subtilere  Fassung,  die  der  Pragmatismus  insbe- 
sondere durch  Dewey  und  seine  Schule  erhalten  hat.  Hier 
ist  das  Problem  zum  mindesten  von  jenen  Unklarheiten  und 
Zweideutigkeiten  befreit,  mit  denen  es  in  der  populären  philo- 
sophischen Diskussion  behaftet  bleibt.  Es  handelt  sich  —  wie 
nunmehr  klar  hervortritt  —  um  das  Verhältnis,  das  zwischen 
den  objektiv-gültigen  Sätzen  der  Wissenschaft  und  zwischen 
der  Aktivität  des  Denkens  anzunehmen  ist.  Denn  das 
Denken  selbst  ist  hier,  wie  sich  bei  näherer  Prüfung  ergibt, 
der  reine  und  vollgültige  Ausdruck  des  ,,Tuns"  geworden. 
„Praktisch"  heißt  unser  Folgern  und  Schließen,  unser  Unter- 
suchen und  Prüfen  nicht,  weil  es  notwendig  auf  die  Erreichung 
eines  äußeren  Zweckes  gerichtet  wäre,  sondern  lediglich 

422 


in  dem  Sinne,  daß  es  die  Einheit  alles  Gedachten 
ist,  die  als  letztes  Ziel  beständig  vor  uns  steht  und  unserem 
Erkennen  die  Richtung  weist.  Die  Wahrheit  irgendeines 
Einzelsatzes  läßt  sich  nur  danach  bemessen,  was  er  für  die 
Lösung  dieser  Grundaufgabe  des  Wissens,  für  die  fort- 
schreitende Vereinheitlichung  des  Mannigfaltigen  leistet.  Wir 
können  ein  Urteil  niemals  direkt  den  einzelnen  äußeren 
Gegenständen  gegenüberstellen  und  es  mit  diesen,  als  für  sich 
gegebenen  Dingen,  vergleichen;  sondern  wir  können  stets  nur 
nach  der  Funktion  fragen,  die  es  im  Aufbau  und  in  der  Deutung 
der  Gesamtheit  der  Erfahrungen  erfüllt.  ,,Wahr"  heißt 
uns  ein  Satz,  nicht  weil  er  mit  einer  festen  Realität  jenseit 
alles  Denkens  und  aller  Denkbarkeit  übereinstimmt,  sondern 
weil  er  sich  im  Prozeß  des  Denkens  selbst  bewährt  und  zu 
neuen  fruchtbaren  Folgerungen  hinleitet.  Seine  eigentliche 
Rechtfertigung  ist  die  Wirksamkeit,  die  er  in  der  Richtung  auf 
die  fortschreitende  Vereinheitlichung  entfaltet.  Jede  Hypo- 
these des  Wissens  besitzt  ihr  Recht  lediglich  im  Hinblick 
auf  diese  fundamentale  Aufgabe:  sie  gilt  in  dem  Maße,  als 
es  ihr  gelingt,  die  anfänglich  auseinanderliegenden  sinnlichen 
Daten  gedanklich  zu  organisieren  und  in  sich  einstimmig  zu 
gestalten*. 

Die  kritische  Auffassung  der  Erkenntnis  und  ihres 
Verhältnisses  zum  Gegenstand  wird  indessen  durch  alle  diese 
Ausführungen  nicht  getroffen:  denn  in  ihnen  ist  nur  ein 
Gedanke  fortgesponnen,  den  sie  selbst  von  ihren  ersten  An- 
fängen an  anerkennt  und  zugrunde  legt.  Auch  für  sie  emp- 
fangen die  Regriffe,  wie  sie  stets  aufs  neue  betont,  nicht  da- 
durch ihre  Wahrheit,  daß  sie  Abbilder  an  sich  vorhandener 
Wirklichkeiten  sind,  sondern  dadurch,  daß  sie  ideelle  Ordnungen 
ausdrücken,  die  den  Zusammenhang  der  Erfahrungen  her- 
stellen und  verbürgen.  Die  „Realitäten",  die  die  Physik 
setzt  und  behauptet,  reichen  über  diesen  Sinn  der  Ord- 
nungsbegriffe nicht  hinaus.  Sie  werden  begründet,  nicht 
indem  ein  besonderes  sinnliches  Sein  aufgewiesen  wird. 


*  Vgl.  hrz.  die  von  D  e  w  e  y  herausgegebenen  ,,Studies  in  Logical 
Theory"  (The  Decennial  Publications  of  the  University  of  Chicago,  First 
series.  Vol.  III,  Chicago  1903). 

423 


das  ihnen  „entspricht",  sondern  indem  sie  als  Mittel  der 
strengen  Verknüpfung,  und  somit  der  durchgängigen  rela- 
tiven Bestimmtheit  des  „Gegebenen"  selbst  erkannt  werden. 
(S.  ob.  S.  217  ff.)  Die  Anerkennung  dieses  Sachverhalts  aber 
schließt  nichts  von  den  Folgerungen  ein,  die  der  Prag- 
matismus an  ihn  zu  knüpfen  pflegt.  So  sehr  man  die  ,, instru- 
mentale" Bedeutung  der  wissenschaftlichen  Hypothesen  zu- 
gestehen und  betonen  mag:  so  handelt  es  sich  doch  hier  er- 
sichtlich um  ein  rein  theoretisches  Ziel,  das  mit  rein 
theoretischen  Mitteln  verfolgt  wird.  Der  Wille,  der  hier 
seine  Befriedigung  finden  soll,  ist  nichts  anderes,  als  der  Wille 
zum  Logischen  selbst:  nicht  irgendwelche  individuellen  Be- 
dürfnisse, die  von  einem  Subjekt  zum  andern  wechseln,  sondern 
die  allgemeingültigen  gedanklichen  Postulate  der  E  i  n- 
h  e  i  t  und  Stetigkeit  sind  es,  die  dem  Fortgang  der 
Erkenntnis  die  Richtung  weisen.  In  der  Tat  tritt  diese  Fol- 
gerung —  durch  alle  Zweideutigkeiten  im  Begriff  des  ,, Prak- 
tischen" hindurch  —  bisweilen  in  aller  Klarheit  zutage. 
James  selbst  betont,  daß  unser  Erkennen  einem  doppelten 
Zwange  unterliegt:  wie  wir  in  unserem  Tatsachenwissen  an 
die  Beschaffenheit  unserer  sinnlichen  Eindrücke  gebunden  sind, 
so  gibt  es  einen  „ideellen  Zwang",  der  unser  Denken  im  Gebiet 
der  reinen  Logik  und  Mathematik  bestimmt.  So  ist  etwa  die 
hundertste  Dezimalstelle  der  Zahl  n  ideell  voraus  bestimmt, 
mag  auch  niemand  sie  tatsächlich  ausgerechnet  haben.  ,, Unsere 
Ideen  müssen,  wenn  sie  nicht  endlosem  Selbstwiderspruch 
und  endloser  Täuschung  anheimfallen  sollen,  mit  den  Reali- 
täten übereinstimmen:  mögen  diese  Realitäten  nun  konkret 
oder  abstrakt,  mögen  sie  Tatsachen  oder  Prinzipien  sein*." 
Es  ist  klar,  daß  die  Annahme  eines  derartigen  , »ideellen 
Zwanges"  (coercions  of  the  ideal  order)  sich  in  nichts  mehr 
von  der  Annahme  eines  objektiven,  logischen  Wahrheits- 
kriteriums unterscheidet:  beides  sind  nur  verschiedene  Aus- 
drücke derselben  Sache.  Was  also  hier  geleistet  ist,  ist  keine 
Widerlegung  der  , .reinen  Logik",  sondern  allenfalls  eineWeiter- 
führung  der   Gedanken,   auf  denen  sie  beruht.     Nicht  eine 


♦  James,  Pragmatism,  New  York  1907,  S.  209  ff. 
424 


neue  Lösung,  sondern  ein  neues  Problem  wird  aufgestellt,  das 
in  den  ersten  allgemeinen  Ansätzen  zur  Begründung  des 
Wissens  zunächst  zurücktreten  durfte.  Die  universellen 
Wahrheiten  der  Logik  und  Mathematik  entziehen  sich  nicht 
nur  der  empiristischen  Begründung,  sondern  sie  scheinen 
auch  jede  Beziehung  zur  Welt  der  empirischen  Gegen- 
stände entbehren  zu  können.  Ihre  Apriorität  stützt  sich 
auf  ihre  ,, Daseinsfreiheit"  und  gilt  nur  in  dem  Maße,  als  diese 
Bedingung  erfüllt  ist.  In  dem  Augenblick,  in  dem  der  Ge- 
danke sich  der  empirischen  Existenz  der  Gegenstände  zu- 
wendet, scheint  er  sich  daher  von  dem  eigentlichen  Fundament 
seiner  Gewißheit  loszulösen.  Wahrhafte  Einsicht  in  die 
Notwendigkeit  eines  Zusammenhangs  läßt  sich  nur  dort 
erreichen,  wo  wir  darauf  verzichten,  irgend  etwas  über 
die  Wirklichkeit  der  Elemente,  die  in  die  Relation  ein- 
gehen, zu  behaupten  und  auszumachen*.  Dennoch  kann  es 
bei  dieser  unbedingten  Trennung  —  so  unentbehrlich  sie 
anfangs  aus  methodischen  Gesichtspunkten  erscheinen  mag 
—  nicht  bleiben:  da  schon  die  bloße  Möglichkeit  der  mathe- 
matischen Naturwissenschaft  ihr  widerstreitet. 
Denn  in  dieser  sind  die  beiden  Wissenstypen,  die  hier  einander 
entgegengestellt  werden,  wiederum  unmittelbar  auf  einander 
bezogen:  das  empirische  Sein  selbst  ist  es,  das  wir  in  der  Form 
rationaler  mathematischer  Ordnungen  zu  fassen  und  zu  be- 
greifen suchen.  Daß  diese  Forderung  niemals  bis  zu  einer 
letzten  definitiven  Erfüllung  geführt  werden  kann, 
ergibt  sich  freilich  aus  der  Natur  der  Aufgabe  selbst.  Denn 
das  Material,  das  hier  der  intellektuellen  Bearbeitung  unter- 
breitet wird,  liegt  selbst  niemals  fertig  als  ein  in  sich  vollendeter 
Schatz  von  „Tatsachen"  vor,  sondern  es  gestaltet  sich  erst  im 
Prozeß  des  Fortschritts  und  gewinnt  in  ihm  immer  neue 
Formen.  Es  ist  kein  konstantes,  sondern  ein  variables 
Datum,  das  eben  in  seiner  Variabilität:  in  der  möglichen 
Umformung,  die  es  durch  neue  Beobachtungen  und  Versuche 
erfahren  kann,  begriffen  und  gewürdigt  sein  will.  Aber  diese 
Variabilität,   die  zum  Wesen  des    Empirischen    selbst 

*  S.  hrz.  ob.  S.  319  f ;  vgl.  M  e  i  n  o  n  g  ,  Über  die  Stellung  der  Gegen- 
standstheorie  im  System  der  Wissenschaften,  Lpz.  1907,   §  5  ff. 

425 


gehört,  schließt  dennoch  kein  Moment  „subjektiver"  Willkür 
ein.  Die  Veränderung  selbst  ist  als  solche  bestimmt  und 
notwendig,  sofern  nicht  beliebig,  sondern  gemäß  einem  be- 
stimmten Gesetz  von  einem  Stadium  zum  andern  über- 
gegangen wird.  Man  pflegt  sich,  um  die  Relativität  des  Be- 
griffs der  empirischen  Wahrheit  zu  erweisen,  mit  Vorliebe 
auf  die  bloß  relative  Gültigkeit  unseres  astronomischen  Welt- 
bildes zu  berufen.  Da  die  absoluten  Bewegungen  der  Himmels- 
körper—  so  folgert  man — uns  in  keiner  Erfahrung  gegeben  sind, 
noch  jemals  gegeben  sein  werden,  da  wiralso  die  astronomischen 
Konstruktionen  niemals  mit  diesen  Bewegungen  selbst  zu- 
sammenhalten und  an  ihnen  erproben  können:  so  hat  es  keinen 
Sinn,  irgendeinem  System,  wie  etwa  dem  Kopernikanischen, 
vor  allen  anderen  den  Vorzug  der  „Wahrheit"  einzuräumen. 
Alle  Systeme  sind  gleich  wahr  und  gleich  wirklich,  weil  alle 
der  absoluten  Wirklichkeit  der  Dinge  gleich  fern  stehen  und 
nichts  anderes,  als  subjektive  Zusammenfassungen  von  Er- 
scheinungen bedeuten  wollen,  die  je  nach  der  Wahl  des  in- 
tellektuellen und  räumlichen  Standortes  verschieden  ausfallen 
können  und  müssen.  Der  Mangel  dieser  Schlußweise  aber 
liegt  deutlich  zutage:  denn  die  Aufhebung  des  absoluten  Maß- 
stabes schließt  in  keiner  Weise  die  Aufhebung  des  W  e  r  t  - 
Unterschiedes  der  verschiedenen  Theorien  selbst  ein. 
Dieser  bleibt  vielmehr  in  aller  Strenge  bestehen,  sofern 
nur  an  der  allgemeinen  Voraussetzung  festgehalten  wird,  daß 
die  wechselnden  Phasen  des  Erfahrungsbegriffes  nicht  schlecht- 
hin auseinander  liegen,  sondern  durch  logische  Beziehungen 
mit  einander  verknüpft  bleiben.  Der  Zusammenhang  und 
die  Konvergenz  der  Reihe  tritt  an  die  Stelle  des  äußeren 
Maßstabes  der  Realität:  beides  aber  läßt  sich,  analog  wie  im 
Arithmetischen,  rein  durch  den  Vergleich  der  Reihenglieder 
selbst  und  durch  die  allgemeine  Regel,  der  sie  in  ihrem  Fort- 
schritt folgen,  ermitteln  und  feststellen.  Diese  Regel  ist  auf 
der  einen  Seite  dadurch  gegeben,  daß  die  Form  der  Er- 
fahrung beharrt:  die  besonderen  Konfigurationen  im  Räume, 
die  wir  für  unsere  Konstruktion  des  Weltbildes  zugrunde 
legen,  wechseln,  während  Raum  und  Zeit,  Zahl  und  Größe 
als    Mittel    jeglicher    Konstruktion    erhalten    bleiben.     (Vgl. 

426 


ob.  S.  353  ff.)  Weiterhin  aber  sind  es  auch  gewisse 
materiale  Züge  des  Bildes,  die  beim  Übergang  von 
einem  Stadium  zum  folgenden  unberührt  bleiben:  die 
Variation  hebt  den  früheren  Bestand  nicht  schlechthin  auf, 
sondern  läßt  ihn  in  einer  neuen  Deutung  fortbestehen. 
Das  Ganze  der  Beobachtungen  Tycho  de  Brahes  geht  in  das 
System  Keplers  ein,  in  welchem  es  jedoch  nunmehr  in  neuer 
Weise  verknüpft  und  begriffen  erscheint.  Das  Recht  jeder 
derartigen  Verknüpfung  aber  messen  wir  nicht  an  den  Dingen 
selbst,  sondern  an  bestimmten  obersten  Prinzipien 
der  Naturerkenntnis,  die  wir  als  logische  Normen  festhalten. 
„Objektiv"  heißt  uns  die  räumliche  Ordnung,  die  diesen 
Prinzipien  entspricht,  die  also  z.  B.  gemäß  der  Voraussetzung 
und  den  Erfordernissen  des  Trägheitsgesetzes  von 
uns  aufgebaut  worden  ist.  (S.  ob.  S.  242  ff.)  Die  Zurück- 
führung  auf  derartige  oberste  Leitsätze  verbürgt  eine  innere 
Gleichartigkeit  des  Erfahrungswissens,  kraft  deren  sich  all 
seine  verschiedenen  Phasen  zum  Ausdruck  des  Einen 
Gegenstands  zusammenschließen.  Der  „Gegenstand"  ist 
daher  genau  so  wahr  und  so  notwendig,  wie  die  logische  Ein- 
heit der  Erfahrungserkenntnis;  —  aber  freilich  auch  um 
nichts  wahrer  und  notwendiger.  So  wenig  diese  Einheit 
jemals  fertig  vorliegt,  so  sehr  sie  vielmehr  stets  ,, projektierte 
Einheit"  ist  und  bleibt,  so  ist  doch  ihr  Begriff  darum  nicht 
minder  eindeutig  bestimmt.  Die  Forderung  selbst  ist  das 
Bleibende  und  Feststehende,  während  jegliche  Form  ihrer 
Erfüllung  wiederum  über  sich  selbst  hinausweist.  Die  Eine 
Wirklichkeit  kann  nur  als  die  ideale  Grenze  der  mannigfach 
wechselnden  Theorien  aufgezeigt  und  definiert  werden;  aber 
die  Setzung  dieser  Grenze  selbst  ist  nicht  willkürlich,  sondern 
unumgänglich,  sofern  erst  durch  sie  die  Kontinuität 
der  Erfahrung  hergestellt  wird.  Kein  einzelnes 
astronomisches  System,  das  Kopernikanische  so  wenig  wie 
das  Ptolemäische,  sondern  erst  das  Ganze  dieser  Systeme, 
wie  sie  sich  gemäß  einem  bestimmten  Zusammenhang  stetig 
entfalten,  darf  uns  demnach  als  Ausdruck  der  „wahren" 
kosmischen  Ordnung  gelten.  So  wird  hier  der  instru- 
mentale   Charakter     der    wissenschaftlichen     Begriffe     und 

427 


Urteile  nicht  bestritten:  diese  Begriffe  gelten,  nicht  sofern 
sie  ein  gegebenes  starres  Sein  abbilden,  sondern  sofern  sie 
einen  Entwurf  zu  möglichen  Einheitssetzungen  in  sich  sclüießen, 
der  sich  in  der  Ausübung,  in  der  Anwendung  auf  das  empirische 
Material  fortschreitend  bewähren  muß.  Aber  das  Instru- 
ment selbst,  das  zur  Einheit  und  damit  zur  Wahrheit  des 
Gedachten  hinführt,  muß  in  sich  fest  und  sicher  sein.  Besäße 
es  nicht  in  sich  selbst  eine  bestimmte  Stabilität,  so  wäre 
kein  sicherer  und  dauernder  Gebrauch  von  ihm  möglich;  es 
würde  beim  ersten  Versuch  zerbröckeln  und  sich  in  Nichts 
auflösen.  Wir  bedürfen  nicht  der  Objektivität  absoluter 
Dinge,  wohl  aber  der  objektiven  Bestimmtheit  des  Weges 
der    Erfahrung    selbst.  — 

Der  reale  Inhalt  des  Gedachten,  zu  dem  die  Er- 
kenntnis durchdringt,  entspricht  daher  in  der  Tat  genau  der 
aktiven  Form  des  Denkens  überhaupt.  Im  Bereich  der 
rationalen,  wie  im  Bereich  der  empirischen  Erkenntnis  ist  es 
die  gleiche  Aufgabe,  die  hier  gestellt  ist.  Im  Prozeß  der 
Erkenntnis  selbst  entsteht  und  festigt  sich  der  Gedanke  eines 
Grundbestandes  ideeller  Beziehungen,  der  als  solcher  sich 
selbst  gleich  und  von  den  zufälligen,  zeitlich  wechselnden 
Umständen  des  psychologischen  Erfassens  unberührt  bleibt. 
Die  Behauptung  einer  derartigen  Constanz  ist  jedem  Denkakt 
als  solchem  wesentlich;  nur  die  Art,  in  welcher  der  Beweis 
dieser  Behauptung  erbracht  wird,  begründet  den  Unterschied 
der  verschiedenen  Erkenntnisstufen.  Solange  wir  im  Gebiet 
der  rein  logischen  und  mathematischen  Sätze  verharren,  be- 
sitzen wir  ein  festgefügtes  Ganze  von  Wahrheiten,  die  un- 
veränderlich in  sich  selber  ruhen.  Jeder  Satz  ist  hier,  was 
er  einmal  ist,  für  immer;  er  kann  durch  andere,  die  zu  ihm 
hinzutreten,  ergänzt,  aber  nicht  mehr  in  seinem  eigenen 
Gehalt  umgeformt  werden.  Die  rein  empirische  Wahrheit 
aber  scheint  sich  dieser  Bestimmtheit  prinzipiell  zu  ent- 
ziehen: sie  ist  morgen  eine  andere,  als  sie  gestern  war 
und  bedeutet  somit  nur  einen  flüchtigen  Halt,  den  wir 
im  Wechsel  der  Vorstellungen  ergreifen,  um  ihn  alsbald 
wiederum  aufzugeben.  Und  dennoch  schließen  sich  beide 
Motive  trotz  aller  Gegensätzlichkeit  zuletzt  zu  einem  einheit- 

428 


liehen  Typus  des  Wissens  zusammen.  Nur  in  der  Abstraktion 
können  wir  die  schlechthin  dauernden  Momente  von  den  ver- 
gänglichen ablösen  und  ihnen  gegenüberstellen:  denn  die 
eigentliche  konkrete  Aufgabe  der  Erkenntnis  besteht 
darin,  das  Dauernde  für  das  Vergängliche  selbst  fruchtbar 
zu  machen.  Der  Bestand  der  ewigen  Wahrheiten  wird  zum 
Mitte],  im  Gebiet  der  Veränderung  selbst  Fuß  zu  fassen.  Das 
Veränderliche  wird  betrachtet,  als  ob  es  dauernd  wäre,  indem 
wir  versuchen,  es  als  Ergebnis  allgemeiner  theoretischer 
Gesetze  zu  verstehen.  So  wenig  der  Unterschied  der  beiden 
Faktoren  sich  daher  jemals  völlig  zum  Verschwinden  bringen 
läßt:  so  besteht  doch  in  dem  beständigen  Ausgleich,  der  sich 
von  einem  zum  andern  hin  vollzieht,  die  gesamte  Bewegung 
der  Erkenntnis.  Die  Veränderlichkeit  des  empirischen  Ma- 
terials erweist  sich  keineswegs  nur  als  ein  Hemmnis,  sondern 
zugleich  als  eine  positive  Förderung  des  Wissens.  Die  Gegen- 
sätze zwischen  der  mathematischen  Theorie  und  dem  In- 
begriff der  jeweilig  bekannten  Beobachtungen  wären  unaus- 
gleichbar,  wenn  es  sich  beiderseits  um  starre  unabänderliche 
Gegebenheiten  handelte.  Erst  indem  wir  uns  der  Bedingtheit 
unserer  empirischen  Kenntnisse  und  damit  gleichsam  der 
Bildsamkeit  des  empirischen  Materials,  mit  dem  die  Erkenntnis 
arbeitet,  bewußt  werden,  eröffnet  sich  die  Möglichkeit  einer 
Aufhebung  des  Widerstreits.  Der  Einldang  des  Gegebenen 
und  des  Geforderten  wird  hergestellt,  indem  wir  das  Gegebene 
im  Sinne  der  theoretischen  Forderungen  aufs  neue  durch- 
forschen und  damit  seinen  Begriff  erweitern  und  vertiefen. 
Die  Beständigkeit  der  idealen  Formen  hat  nunmehr  selbst 
keinen  rein  statischen,  sondern  zugleich  und  vorzüglich  einen 
dynamischen  Sinn:  sie  ist  nicht  sowohl  Beständigkeit  im 
Sein,  als  vielmehr  Beständigkeit  im  logischen  Gebrauch. 
Die  idealen  Zusammenhänge,  von  denen  Logik  und  Mathe- 
matik sprechen,  sind  die  gleichbleibenden  Richtlinien,  nach 
denen  die  Erfahrung  selbst  in  ihrer  wissenschaftlichen  Gestal- 
tung sich  orientiert.  Diese  Funktion,  die  sie  stetig 
erfüllen,  ist  ihr  dauernder  und  unverlierbarer  Gehalt,  der  sich 
gegenübej  allem  Wandel  des  zufälligen  Erfahrungsstoffes  als 
identisch  behauptet  und  bewährt. 

429 


Identität  und  Verschiedenheit,  Konstanz  und  Veränderung 
erscheinen  demnach  auch  von  dieser  Seite  her  als  zusammen- 
gehörige logische  Momente.  Zwischen  ihnen  einen  ab- 
soluten sachlichen  Gegensatz  statuieren,  hieße  nicht  nur 
den  Begriff  des  Seins,  sondern  den  des  Denkens  aufheben. 
Denn  das  Denken  erschöpft  sich  —  wie  sich  allseitig  gezeigt 
hat  —  nicht  in  der  Heraushebung  des  analytisch  Gemein- 
samen aus  einer  Mehrheit  von  Elementen,  sondern  erweist 
seine  eigenste  Bedeutung  erst  in  dem  notwendigen  Fort- 
gang, den  es  von  einem  Element  zum  andern  vollzieht. 
Verschiedenheit  und  Veränderung  bilden  demnach  keine 
prinzipiell  „denkfremden"  Gesichtspunkte*,  sondern  sie  ge- 
hören ihrer  Grundbedeutung  nach  der  eigentümlichen  Leistung 
des  Intellekts  selbst  an,  und  stellen  diese  erst  ihrem  vollen 
Umfang  nach  dar.  Wird  diese  korrelative  Doppelform 
des  Begriffs  selbst  verkannt,  so  muß  sich  alsbald 
wieder  zwischen  der  Erkenntnis  und  der  phaenomenalen  Wirk- 
lichkeit eine  unübersteigliche  Kluft  erheben.  Wir  stehen 
alsdann  wieder  vor  der  Grundansicht  der  Eleatischen  Meta- 
physik, die  in  der  Tat  in  modernen  erkenntniskritischen 
Untersuchungen  eine  interessante  und  bezeichnende  Erneue- 
rung erfahren  hat.  Um  die  Wirklichkeit  kraft  unserer  mathe- 
matisch-physikalischen Begriffe  zu  verstehen,  müssen 
wir  sie  —  wie  man  nunmehr  folgert  —  zuvor  in  ihrem  eigent- 
lichen Wesen,  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  und  Wandclbarkeit, 
vernichten.  Der  Gedanke  duldet  keine  innere  Ungleich- 
artigkeit  und  Veränderlichkeit  der  Elemente,  aus  denen  er 
sich  seine  Form  des  Seins  aufbaut.  Die  mannigfachen  physi- 
kalischen Qualitäten  der  Dinge  lösen  sich  ihm  daher  in  den 
Einen  Begriff  des  Aethers  auf,  der  selbst  nichts  anderes,  als 
die  Hypostasierung  des  leeren  eigenschaftslosen  Raumes 
ist;  die  lebendige  Anschauung  des  Zeitverlaufs  der  Ereignisse 
erstarrt  für  ihn  zur  Beharrung  letzter  absoluter  Größen- 
konstanten. Die  Natur  erklären,  heißt  somit  sie  als  Natur, 
als  mannigfaltiges  und  veränderliches  Ganze,  aufheben:  die 
ewig    gleichartige    unbewegliche    „Sphäre    des    Parmenides" 

*  Zum  Begriff  der  „Denkfremdheit"  s.  Jonas  Co  h  n ,  Voraussetzungen 
u.  Ziele  des  Erkennens,  Lpz.  1908,  bes.  107  ff. 

430 


bildet  das  letzte  Ziel,  dem  alle  Naturwissenschaft  sich  unver- 
merkt annähert.  Nur  dem  Umstand,  daß  die  Realität  den 
Bemühungen  des  Denkens  widersteht  und  ihnen  zuletzt  be- 
stimmte unübersteigliche  Schranken  setzt,  ist  es  zu  danken, 
daß  sie  sich  gegenüber  der  logischen  Nivellierung  ihres  Gehalts 
behauptet:  daß  in  der  Vollkommenheit  des  Wissens 
nicht  das  Sein  selbst  zum  Verschwinden  kommt*.  So  paradox 
diese  Konsequenz  erscheinen  mag:  so  genau  und  folgerecht 
ist  sie  aus  der  einmal  angenommenen  Erklärung  des  Intellekts 
und  seiner  eigentümlichen  Grundfunktion  abgeleitet.  Aber 
diese  Erklärung  selbst  verlangt  eine  Einschränkung.  Die 
Identität,  der  der  Gedanke  fortschreitend  zustrebt,  ist  nicht 
die  Identität  letzter  substantialer  Dinge,  sondern  die  Identität 
funktionaler  Ordnungen  und  Zuordnungen.  Diese  aber  schließen 
das  Moment  der  Verschiedenheit  und  Veränderung  nicht 
aus,  sondern  gelangen  erst  in  und  mit  ihm  zur  Bestimmung. 
Nicht  die  Mannigfaltigkeit  als  solche  wird  aufgehoben,  sondern 
es  ist  nur  ein  Mannigfaltiges  anderer  Dimension:  es  ist  das 
mathematisch-Mannigfaltige,  das  in  der  wissenschaftlichen 
Erklärung  an  die  Stelle  des  sinnlich-Mannigfaltigen  tritt. 
Was  der  Gedanke  fordert,  ist  somit  nicht  die  Auslöschung  der 
Vielheit  und  Veränderlichkeit  überhaupt,  sondern  ihre  Be- 
herrschung kraft  der  mathematischen  Kontinuität  von 
Reihengesetzen  und  Reihenformen.  Zur  Herstellung  dieser 
Kontinuität  aber  bedarf  das  Denken  des  Gesichtspunkts  der 
Verschiedenheit  nicht  minder,  als  es  des  Gesichtspunkts  der 
Identität  bedarf:  auch  er  ist  ihm  somit  nicht  schlechthin 
von  außen  aufgedrängt,  sondern  im  Charakter  und  in  der 
Aufgabe  der  wissenschaftlichen  „Vernunft"  selbst  gegründet. 
Indem  die  Analyse  die  gegebenen,  sinnlichen  Einzelqualitäten 
in  eine  Fülle  elementarer  Bewegungen  auflöst,  indem 
ihr  die  Wirklichkeit  des  ,, Eindrucks"  zur  Wirklichkeit  der 
„Schwingung"  wird,  zeigt  es  sich,  daß  der  Weg  der  Forschung 
nicht  lediglich  darin  besteht,  von  der  Vielheit  zur  Einheit, 
von  der  Bewegung  zur  Ruhe  überzugehen,  sondern  daß  auch 
die  umgekehrte   Richtung:   die  Aufhebung   der  scheinbaren 


*  S.  hrz.  E.Meyerson,  Identitö  et  Röalitö,  bes.  S.  229  ff. 

431 


Konstanz  und  Einfachheit  der  Wahrnehmungsdinge  nicht 
minder  berechtigt  und  notwendig  ist.  Erst  durch  diese  Auf- 
hebung hindurch  läßt  sich  zu  dem  neuen  Sinn  der  Identität 
und  der  Dauer  gelangen,  der  den  wissenschaftlichen  Gesetzen 
zugrunde  liegt.  Der  volle  Begriff  des  Denkens  stellt  somit 
die  Einstimmigkeit  des  Seins  wiederum  her:  die  Uner- 
schöpflichket  der  wissenschaftlichen  Aufgabe  ist  kein  Kenn- 
zeichen ihrer  prinzipiellen  Unlösbarkeit,  sondern  enthält  die 
Bedingung  und  den  Ansporn  zu  ihrer  immer  vollkommeneren 
Lösung  in  sich. 


I 


432 


Achtes  Kapitel. 

Zur  Psychologie  der  Relationen. 

I. 

Das  Problem  der  Erkenntnis  hat  uns  statt  zu  einem  meta- 
physischen Dualismus  der  subjektiven  und  der  objektiven 
Welt,  zu  einem  Inbegriff  von  Beziehungen  zurückgeführt, 
der  die  Voraussetzung  für  die  gedankliche  Entgegensetzung 
des  ,, Subjekts"  und  ,, Objekts"  selbst  enthält.  Vor  diesem 
Inbegriff  erweist  sich  die  herkömmliche  Trennung  als  un- 
durchführbar: er  ist  objektiv,  sofern  auf  ihm  alle  Constanz 
der  Erfahrungserkenntnis  und  somit  alle  Möglichkeit  des 
gegenständlichen  Urteils  beruht,  während  er  anderer- 
seits nur  im  Urteil  selbst  und  somit  in  der  Tätigkeit 
des  Denkens  zu  erfassen  ist.  Schon  von  hier  aus  zeigte  es  sich, 
daß  seine  Bestimmung  einer  doppelten  Methode  unterliegt 
und  auf  zwiefachem  Wege  versucht  werden  kann.  Was  diese 
Beziehungen  ihrem  reinen  logischen  Sinne  nach  sind,  kann 
lediglich  aus  der  Bedeutung  abgenommen  werden,  die  sie  im 
Gesamtsystem  der  Wissenschaft  gewinnen.  Jeder  Einzelsatz 
wird  innerhalb  dieses  Systems  an  einen  anderen  gebunden 
und  mit  ihm  verknüpft  und  die  Stellung,  die  er  damit  im 
Ganzen  der  möglichen  Erkenntnis  überhaupt  erhält,  weist 
ihm  das  Maß  seiner  Gewißheit  zu.  Die  Frage,  wie  dieses  Ganze 
selbst  in  den  erkennenden  Individuen  sich  verwirklicht, 
kann  und  muß  zurücktreten,  solange  es  sich  darum  handelt, 
den  reinen  Begründungszusammenhang  selbst  zu  verstehen 
und  in  seiner  Wahrheit  abzuleiten.  Die  Entwicklung  der 
Wissenschaft  selbst  drängt  dazu,  diese  Frage  in  den  Hinter- 
grund treten  zu  lassen:  die  Wissenschaft  schreitet  von  einem 
objektiv  gültigen  Satze  zu  einem  anderen  fort,  für  den  sie 
die  gleiche  Form  der  Geltung  in  Anspruch  nimmt,  ohne  von 
diesem  Wege  durch  psychologische  Betrachtungen  und  psycbo- 

Cassirer,  Substanzbegriff  ng  433 


logische  Zweifel  abgelenkt  zu  werden.  Und  dennoch  schafft 
gerade  dieser  unabhängige  Fortgang  zuletzt  auch  für  die 
Psychologie  selbst  ein  neues  Problem.  Es  zeigt  sich,  daß 
die  psychologische  Analyse  sofern  sie  vom  bloßen  sinnlichen 
Erlebnis  ausgeht  und  bei  seinem  Typus  zu  verharren  strebt, 
den  Aufgaben,  die  von  selten  der  Wissenschaft  beständig 
aufs  neue  gestellt  werden,  in  keiner  Weise  gerecht  zu  werden 
vermag.  Der  Gegenstand,  der  hier  deutlich  und  gesichert 
vorliegt,  fordert  zugleich  neue  psychologische  Mittel,  kraft 
deren  er  sich  beschreiben  läßt.  Und  so  führt  die  allgemeine 
Forderung  einer  Psychologie  der  Relationen 
zu  einer  Umbildung  der  psychologischen  Methode  überhaupt. 
Diese  Umformung  in  den  Prinzipien  der  Psychologie  bildet 
selbst  ein  wichtiges  erkenntnistheoretischesProblem :  es  zeigt  sich 
auch  hier,  daß  es  die  Art  der  Begriffsbildung  ist, 
die,  wie  in  den  übrigen  Gebieten,  eine  charakteristische  Ver- 
schiebung erfährt. 

Die  neuere  Psychologie  schien  eine  Zeitlang  das  Eigen- 
tümliche der  reinen  Relationsbegriffe  völlig  aus  dem  Auge 
verloren  zu  haben:  erst  seit  relativ  kurzer  Zeit  und  auf 
merkwürdigen  Umwegen  beginnt  sie  sich  ihm  wiederum  zu 
nähern.  Vom  geschichtlichen  Standpunkt  aus  liegt  hierin 
eine  seltsame  Anomalie:  denn  was  der  moderne  Psychologe 
leicht  als  das  Ende  seiner  Wissenschaft  betrachtet,  das  bildet 
in  Wahrheit  ihren  historischen  Anfang.  Der  Gedanke  der 
wissenschaftlichen  Psychologie  geht  geschichtlich  auf  P  1  a  t  o  n 
zurück.  Hier  erst  tritt  der  Seelenbegriff  aus  dem 
allgemeinen  Umkreis  des  Naturbegriffs  heraus  und 
gewinnt  eigene  und  selbständige  Züge.  Die  Seele  ist  nun  nicht 
mehr  der  bloße  Lebenshauch,  der  in  sich  selbst  das  Prinzip 
seiner  Erhaltung  und  Selbstbewegung  enthält,  sondern  sie 
geht,  von  dieser  allgemeinen  Bedeutung  aus,  in  die  Bedeutung 
des  Selbstbewußtseins  über.  Dieser  Übergang  aber 
wird  nur  dadurch  möglich,  daß  Piaton  sich  bereits  in  der 
reinen  Logik,  wie  in  der  reinen  Geometrie  und  Arithmetik 
seiner  notwendigen  Mittelglieder  versichert  hat.  Von  der  bloßen 
Wahrnehmung  als  solcher  führt  kein  Weg  zu  dem  neuen  Be- 
griff des  „Selbst",  der  hier  festgestellt  werden  soll.    Denn  die' 

434 


Wahrnehmung  erscheint  wie  ein  bloßer  Teil  des  Naturprozesses; 
sie  ist  —  wie  Empedokles  und  die  gesamte  ältere  Natur- 
philosophiesieschildern—  nichts  anderes,  als  der  Ausgleich,  der 
sich  zwischen  unserem  Körper  einerseits  und  den  materiellen 
Dingen  seiner  Umgebung  vollzieht.  Die  Seele  muß,  um  die 
körperlichen  Dinge  in  der  Wahrnehmung  zu  erkennen,  mit 
ihnen  von  gleicher  Art  und  Beschaffenheit  sein.  In  der  Aus- 
bildung, die  Piaton  im  Theaetet  dem  Satze  des  Protagoras 
gegeben  hat,  klingt  diese  Anschauung  noch  deutlich  nach: 
„Subjekt"  und  ,, Objekt"  verhalten  sich  zu  einander,  wie 
zwei  aufeinander  bezogene  und  abgestimmte  Bewegungs- 
formen, die  wir  jedoch  niemals  rein  und  selbständig  zu 
isolieren,  sondern  nur  in  ihrer  wechselseitigen  Bestimmung 
durch  einander  zu  erfassen  vermögen.  Wir  ergreifen  stets 
nur  das  Resultat,  ohne  es  in  seine  realen  Komponenten  zer- 
legen zu  können.  Aber  diese  Ansicht,  der  Piaton  auf  eine  kurze 
Strecke  hin  —  so  lange  es  sich  um  die  Zergliederung  der 
Sinnesempfindung  handelt  —  folgt,  wird  von  ihm  alsbald 
verlassen,  sobald  er  sich  der  Analyse  der  reinen  Begriffe  zu- 
wendet. Das  Bild  und  Analogon  der  physischen 
Wirkung  und  Gegenwirkung  muß  jetzt  versagen.  Einheit  und 
Verschiedenheit,  Gleichheit  und  Ungleichheit  sind  keine 
körperlichen  Gegenstände,  die  mit  körperlichen  Kräften  auf 
uns  eindringen.  So  ist  auch  die  Art,  in  der  ihnen  das  Ich 
gegenübertritt,  eine  von  Grund  aus  neue  und  eigentümliche. 
Das  Helle  und  Dunkle  mag  das  Auge,  das  Leichte  und 
Schwere,  das  Warme  und  Kalte  der  Tastsinn  unter- 
scheiden: aber  in  der  Gesamtheit  derartiger  sinnlicher 
Inhaltsunterschiede  erschöpft  sich  niemals  das  Ganze  der 
Erkenntnis.  Eine  Erkenntnis  ist  es,  wenn  wir  von  Farbe 
oder  Ton  sagen,  daß  jegliches  von  ihnen  ist,  daß  das  eine 
vom  andern  verschieden  ist,  daß  sie  beide  vereint  zwei 
sind.  Wenn  indessen  Sein  und  Nicht-Sein,  Ähn- 
lichkeit und  Unähnlichkeit,  Einheit  und 
Vielheit,  Identität  und  Gegensatz  objektiv 
unentbehrliche  Bestandteile  jeglicher  Aussage  sind,  so 
lassen  sie  sich  nichtsdestoweniger  durch  keinen  Wahrnehmungs- 
inhalt als  solchen  belegen:    denn  eben  dies  ist  ihre  Funktion, 

28»  435 


daß  sie  über  die  Besonderheit  all  dieser  Inhalte  hinausgreifen, 
um  eine  Verknüpfung  zwischen  ihnen  herzustellen,  an 
der  beide  im  gleichen  Sinne  Teil  haben,  die  aber  in  keinem  der 
beiden  Einzelelemente  als  solchem  direkt  aufzeigbar  ist.  Die 
Beziehung  zwischen  den  heterogenen  Gebieten  sinnlicher 
Wahrnehmung  wäre  nicht  erreichbar,  wenn  es  nicht  Gebilde 
gäbe,  die  sich  außerhalb  ihrer  Sonderbestimmtheit  und  somit 
ihrer  qualitativen  Gegensätzlichkeit  halten.  Diese  allgemein- 
gültigen Momente  sind  an  kein  spezielles  Organ  mehr 
gebunden  und  bedürfen  seiner  nicht:  vielmehr  ist  es  die 
Seele  selbst,  die  sie  rein  aus  sich  heraus  und  in  freier 
Gestaltung  gewinnt.  Und  hier  erst  gewinnt  der  Begriff  der 
Einheit  des  Bewußtseins  einen  festen  Halt  und 
eine  sichere  Grundlage.  Bleiben  wir  bei  dem  Inhalt  der  be- 
sonderen Empfindung  stehen,  so  bietet  sich  uns  nichts  als  ein 
Chaos  einzelner  Erlebnisse.  Wie  die  Helden  im  hölzernen 
Pferde,  so  liegen  hier  die  Wahrnehmungen  dichtgedrängt  in 
uns  zusammen:  aber  nichts  findet  sich,  was  sie  auf  einander 
beziehbar  macht  und  sie  zu  einem  identischen  Selbst 
zusammenschließt.  Der  wahrhafte  Begriff  des  Selbst  ist  an 
den  Begriff  des  Einen  und  Vielen,  des  Gleichen  und  Un- 
gleichen, des  Seins  und  Nicht-Seins  gebunden  und  findet 
erst  hier  seine  wahrhafte  Erfüllung.  Indem  wir  die  Wahr- 
nehmung unter  diese  Begriffe  fassen,  führen  wir  sie  damit 
in  eine  Idee  zusammen:  gleichviel  ob  wir  diese  Einheit 
als  „Seele"  oder  wie  immer  bezeichnen  mögen.  Die  „Seele" 
wird  somit  hier  gleichsam  als  der  einheitliche  Ausdruck  für 
den  Gehalt  und  die  systematische  Verfassung  der  reinen 
Relationsbegriffe  erdacht  und  gefordert.  Das  Grundproblem 
der  Psychologie  findet  seine  Bestimmung  im  Hinblick  auf  die 
Grundprobleme  der  reinen  Logik  und  Mathematik:  und  dieser 
Zusammenhang  ist  es,  der  den  Platonischen  Seelenbegriff  end- 
gültig von  der  orphischen  und  naturphilosophischen  Spekulation 
loslöst,  so  nahe  er  mit  dieser  zunächst  verbunden  erscheint. 
Die  Platonische  Auffassung  hat  in  Aristoteles'  Lehre  vom 
KoLvöv    zweifellos    nachgewirkt;    aber    ihr    Schwerpunkt   ist 


*  Vgl.  bes.  Theaetet  184  C.  ff. 
436 


hier  bereits  verschoben.  In  der  Einteilung  der  sinnlichen 
Wahrnehmungen  wird  davon  ausgegangen,  daß  jedem  Sinn 
ein  besonderer  Inhalt  angehört,  der  ihm  allein  eigentümlich 
ist  und  ihn  von  allen  anderen  unterscheidet.  So  kommt  dem 
Gesicht  die  Farbe,  dem  Gehör  der  Ton  als  ein  derartiges 
i'diov  zu,  während  der  Tastsinn  zwar  eine  Mehrheit  von 
Qualitäten  in  sich  faßt,  sich  aber  zu  jeder  einzelnen  von  ihnen 
in  gleicher  Weise,  wie  irgend  ein  Sinn  zu  seinem  bestimmten 
spezifischen  Inhalt  verhält.  Aber  diese  Art  der  Beziehung 
reicht  nicht  aus,  sobald  es  sich  darum  handelt,  Begriffen  wie 
Bewegung  und  Ruhe,  wie  Größe  und  Zahl  ihr  psychologisches 
Korrelat  zu  bestimmen.  Diese  Begriffe  stellen  ein  wahrhaft 
,,  Gemeinsames"  dar,  das  über  alle  Einzelunterscheidungen 
hinweggreift.  Der  Allgemeinheit  des  Gegenstandes  aber  muß 
—  wie  Aristoteles  nunmehr  weiter  folgert  —  eine  Allgemeinheit 
des  aufnehmenden  Organs  entsprechen.  Wenn  wir  etwa 
das  Weiße  mit  dem  Süßen  zusammenstellen  oder  beides  ein- 
ander entgegensetzen,  so  ist  es  notwendig  der  Sinn  selbst, 
der  diesen  Akt  der  Vergleichung  vollzieht:  denn  mit  welchem 
anderen  Vermögen  vermöchten  wir  Inhalte,  die  selbst 
rein  sinnlicher  Natur  sind,  zu  erfassen  ?  Aber  der  Sinn  fungiert 
hier  nicht  mehr  in  irgend  einer  Sonderbeschaffenheit,  als 
bloßes  Gesicht  oder  bloßer  Geschmack,  sondern  als  ,, Gemein- 
sinn" in  einer  umfassenden  Bedeutung.  Diesem  Gemeinsinn 
werden  alle  einzelnen  Daten  der  Wahrnehmung  zugeführt, 
um  in  ihm  gesammelt  und  auf  einander  bezogen  zu  werden*. 
Was  bei  Piaton  also  als  spontane  und  freie  Leistung  des 
„Bewußtseins  selbst"  gefaßt  wurde,  das  erscheint  hier 
als  eine  zugleich  abstrakte  und  sinnliche  Potenz,  in  der  all 
das,  worin  die  verschiedenen  Arten  und  Gebiete  der  Wahr- 
nehmung übereinstimmen,  zusammengefaßt  ist.  Diese  psycho- 
logische Entscheidung  entspricht  wiederum  der  logischen 
Grundansicht:  sie  beruht  auf  jener  Auffassung,  die  im  ,, Be- 
griff" zuletzt  nichts  anderes  als  eine  Summe  dinglicher 
Merkmale  sieht,  die  sich  in  einer  Mehrheit  von  Objekten 
gleichmäßig  vorfinden. 


*  Vgl.  bes.  Aristoteles,  nsQl  xpvxijs  H,  6,  418a;  III,  2,  426b. 

437 


Die  moderne  Psychologie  versucht  zunächst  nur  in 
vereinzelten  Ansätzen  zu  einer  neuen  Fassung  des  Problems 
vorzudringen.  L  e  i  b  n  i  z  greift  unmittelbar  wieder  auf 
Piaton  zurück,  wenn  er  betont,  daß  die  Inhalte,  die  die  tradi- 
tionelle Lehre  dem  „Gemeinsinn"  zuspricht,  daß  insbesondere 
Ausdehnung,  Gestalt  und  Bewegung  Ideen 
des  reinen  Verstandes  seien,  die  zwar  anläßlich 
sinnlicher  Eindrücke  sich  bilden,  aber  sich  in  ihnen  niemals 
erschöpfend  begründen  lassen.  In  der  neueren  deutschen 
Psychologie  ist  es  sodann  besonders  T  e  t  e  n  s  ,  der  diese 
Anregung  aufnimmt  und  sie  zu  einer  ausgebildeten  Theorie 
der  reinen  „Verhältnisgedanken'*  weiterführt.  Im  Ganzen 
aber  bleibt  hier  durchaus  das  Lockesche  Schema  herr- 
schend, nach  welchem  ein  Begriff  erst  dann  als  wahrhaft 
verstanden  und  abgeleitet  gelten  kann,  wenn  es  gelungen  ist, 
die  einfachen  Sinnesinhalte  darzulegen,  aus  welchen  er  sich 
zusammensetzt.  Auch  die  Ideen  der  ,, Reflexion",  die  anfangs 
eine  besondere  Stellung  einzunehmen  scheinen,  werden  zuletzt 
nach  diesem  Maßstab  gemessen.  Sie  besitzen  nur  insoweit 
wahrhaft  positiven  Gehalt,  als  sie  sich  unmittelbar  in 
einzelnen,  anschaulich  gegebenen  Vorstellungsbildern  zum 
Ausdruck  bringen  lassen.  Am  klarsten  tritt  dies  am  Begriff 
des  Unendlichen  hervor,  der  nur  darum  der  Kritik 
verfällt,  weil  es  sich  zeigt,  das  dasjenige,  was  er  will  und 
bedeutet,  im  tatsächlichen  Vorstellen  niemals  realisiert 
ist,  sondern  immer  nur  in  dem  Hinweis  auf  einen  unbegrenzt 
möglichen  gedanklichen  Fortschritt  besteht.  So  sehr  gerade 
die  allgemeine  Regel  dieses  Fortschritts,  vom  Standpunkt  der 
Logik  und  Mathematik,  den  Bestand  und  die  Wahrheit  des 
Unendlichen  ausmacht:  so  trägt  sie  doch  für  die  psychologische 
Betrachtungsweise  notwendig  den  Stempel  des  bloß  Negativen. 
Denn  innerhalb  dieser  Betrachtungsweise  ist  selbst  noch 
kein  zureichender  Ausdruck  für  die  Geltung  und  Eigenart 
der  Beziehungen  entdeckt.  Dennoch  kehrt  der  Gedanke 
dieser  Beziehungen,  so  sehr  er  zurückgedrängt  werden  mag, 
stets  von  neuem  wieder.  "Wie  ein  Schattenbild  von  unsicherer 
"Wesenheit  und  Herkunft  mischt  er  sich  stets  von  neuem 
unter  die  klaren  und  gewissen  Eindrücke  der  "Wahrnehmung 

438 


und  Erinnerung.  Wie  sehr  man  mit  Berkeley  über  die  Infini- 
tesimalgrößen der  Mathematik  als  die  ,,  Geister  abgeschiedener 
Quantitäten"  spotten  mag:  diese  Geister  wollen  sich  nicht 
bannen  lassen.  Die  Analyse  stößt  hier  auf  einen  letzten  Rest, 
den  sie  weder  zu  begreifen,  noch  zu  beseitigen  vermag.  Die 
Begriffe,  die  im  tatsächlichen  wissenschaftlichen  Gebrauch 
sich  als  wirksam  und  fruchtbar  erweisen,  gehen  niemals  in 
jene  Elemente  auf,  die  die  psychologische  Betrachtung  als  die 
alleinigen  Träger  der  „Objektivität"  kennt  und  anerkennt; 
■ —  ihre  Bedeutung  beruht  darauf,  daß  sie  sich  von  dem  Typus 
der  Realität,  der  hier  als  Muster  dient,  entfernen  und  ihn 
geflissentlich  überschreiten.  — 

Der  tiefere  Grund  dieses  Widerstreites  aber  liegt  darin, 
daß  die  psychologische  Kritik  an  diesem  Punkte  sich  von 
den  Voraussetzungen,  die  sie  bekämpft,  innerlich  noch  keines- 
wegs frei  gemacht  hat.  Der  Begriff,  gegen  den  sich  Locke 
am  schärfsten  und  eindringlichsten  wendet,  ist  der  Begriff 
der  Substanz.  Alle  Waffen  des  Spottes  werden  gegen 
die  Annahme  jenes  selbständigen,  abgesonderten  und  eigen- 
schaftslosen „Etwas"  aufgeboten,  das  man  als  „Träger"  der 
sinnlichen  Qualitäten  voraussetzt.  Immer  von  neuem  wird 
gezeigt,  wie  in  dieser  Annahme  die  eigentliche  Geltung  des 
Wissens  sich  verkehrt,  indem  die  „Erklärung"  für  dasjenige, 
was  uns  vom  Standpunkte  der  Erfahrung  das  Bekannteste 
und  Gewisseste  ist,  in  ein  gänzlich  Inhaltleeres  und  Unbe- 
kanntes verlegt  wird.  Ein  rätselhaftes  „Ich  weiß  nicht  was" 
wird  zum  begrifflichen  Grund  aller  wahrhaft  wißbaren 
Qualitäten  und  Eigenschaften  erhoben.  In  dieser  Polemik 
gegen  den  Substanzbegriff  glaubt  Locke  den  eigentlichen 
Kern  aller  Metaphysik  und  aller  scholastischen  Wirklichkeits- 
erklärung getroffen  zu  haben.  Und  das  Werk  der  Kritik 
scheint  beendet,  nachdem  H  u  m  e  ihr  Ergebnis  von  der 
äußeren  Erfahrung  auf  die  innere  übertragen  hat.  Wie  die 
Substanz  des  Dinges,  so  scheint  nunmehr  die  Substanz 
des  Ich  beseitigt:  es  sind  bloße  associative  Zusammen- 
hänge von  Vorstellungen,  die  an  beider  Stelle  treten.  Trotz 
alledem  bleibt  in  der  Ansicht  der  physischen  und  psychischen 
Wirklichkeit,  die  sich  auf  dieser  Grundlage  aufbaut,  der  all- 

439 


gemeinen  Kategorie  der  Substantialität  ihre  ent- 
scheidende Bedeutung  erhalten.  Nur  die  Anwendungen 
dieser  Kategorie  sind  andere  geworden,  während  sie  selbst 
unvermerkt  ihre  alte  Stellung  und  ihren  alten  Vorrang  be- 
hauptet. Die  Substantialität  der  ,,  Seele"  ist  nur  scheinbar 
beseitigt:  denn  sie  lebt  in  der  Substantialität  des  sinnlichen 
„Eindrucks"  fort.  Nach  wie  vor  herrscht  die  Überzeugung, 
daß  nur  dasjenige  als  wahrhaft  ,, wirklich"  und  als  Grund 
alles  Wirklichen  zu  gelten  habe,  was  für  sich  allein  steht  und 
rein  aus  sich  selbst,  als  isolierter  Bestand  faßbar  und  ver- 
ständlich ist.  Hier  liegt  das  Unveränderliche  und  Wesentliche 
aller  bewußten  Wirklichkeit  vor  uns,  während  alle  Ver- 
knüpfungen, die  sich  nachträglich  zwischen  den  besonderen 
Inhalten  einstellen,  eine  bloße  Zutat  des  Geistes  bilden,  und 
somit  nur  Ausdruck  eines  willkürlichen  Triebes  der  Einbildungs- 
kraft, nicht  aber  eines  objektiven  Zusammenhangs  der  Dinge 
selbst  sind.  Dieses  Ergebnis  bildet  gleichsam  die  negative 
Probe  für  die  Festigkeit,  die  die  substantielle  Auffassung  trotz 
allem  noch  besitzt.  Sobald  einmal  der  Versuch  unternommen 
wird,  die  reinen  Begriffe  der  Verknüpfung,  wie  insbesondere  die 
Begriffe  von  Ursache  und  Wirkung,  nicht  mehr  als  Eindrücke 
und  Abdrücke  von  Gegenständen  zu  denken,  —  so  schwindet 
auch  ihr  logischer  Gehalt.  Was  nicht  selbst  „Eindruck" 
ist,  das  ist  eben  damit  bloße  —  Fiktion:  und  diese  Fiktion 
gewinnt  nicht  dadurch  an  innerem  Wert,  daß  sie  in  der  „Natur" 
des  Geistes  selbst  gegründet  erscheint  und  sich  demnach  mit 
einer  Art  von  Allgemeinheit  und  Regelmäßigkeit  unter  be- 
stimmten Bedingungen  einstellt.  — 

Die  neuere  Psychologie  hat  lange  Zeit  versucht,  der 
skeptischen  Konsequenz  der  Humeschen  Lehre  zu  entgehen, 
ohne  die  Prämissen,  auf  denen  sie  ruht,  einer  durch- 
greifenden Änderung  zu  unterziehen.  Ihr  erwuchs  in  den 
eigenen  Begriffen,  mit  denen  sie  operierte,  eine  neue 
Form  der  , .Wirklichkeit",  die  zunächst  naiv  und  vertrauens- 
voll hingenommen  wurde.  Alle  Eigentümlichkeiten  der 
psychologischen  Analyse  wurden  jetzt  unmittelbar  als  Be- 
schaffenheiten in  das  psychische  Objekt  hineinverlegt. 
So    ergab    sich    hier    jene    Selbsttäuschung,    die    James 

440 


als  die  „psychologische  Täuschung"  schlechthin  (the  Psy- 
chologist's  fallacy)  aufgedeckt  und  beschrieben  hat.  Die 
Mittel,  deren  wir  uns  bedienen,  um  einen  bestimmten 
psychischen  Tatbestand  darzustellen  und  ihn  in  ein- 
facher Weise  mitteilbar  zu  machen,  werden  als  wirk- 
liche Momente  aufgefaßt,  die  in  diesem  Tatbestand  selbst 
enthalten  sind.  Der  Standpunkt  der  reflexiven  Beobachtung 
und  Zergliederung  schiebt  sich  unvermerkt  dem  Standpunkt 
des  wirklichen  Erlebnisses  unter*.  Die  Lehre  von  den  „ein- 
fachen" Grundelementen,  aus  denen  jeder  Zustand  des  Be- 
wußtseins sich  zusammensetzen  soll,  ist  ein  typisches  Beispiel 
dieser  Gesamtanschauung.  Die  letzten  Teile,  die  unser  Be- 
griff noch  zu  unterscheiden  vermag,  werden  zugleich  zu 
den  absoluten  Uratomen,  aus  denen  das  Sein  des  Psychi- 
schen sich  aufbaut.  Aber  dieses  so  gewonnene  Sein  bleibt 
trotz  allem  in  sich  selbst  zwiespältig.  Immer  wieder  zeigen 
sich  in  ihm  Merkmale  und  Eigentümlichkeiten,  die  aus  der 
bloßen  Summierung  der  Einzelteile  nicht  erklärt  und  ab- 
geleitet werden  können.  Je  weiter  die  Selbstbeobachtung 
fortschreitet  und  je  mehr  sie  sich  vorurteilslos  ihrem  eigenen 
Wege  überläßt,  um  so  mehr  drängen  die  neuen  Probleme 
zutage.  Es  ist  zunächst  noch  ein  eingeschränkter  Gesichts- 
punkt und  ein  spezielles  Interesse,  von  dem  aus  sie  ihre  erste 
Formulierung  erfahren.  Die  Fragen,  die  sich  psychologisch 
unter  dem  Begriff  der  Gestaltqualität  zusammen- 
fassen, geben  die  erste  Anregung  zu  einer  erneuten  Revision 
der  allgemeinen  Grundbegriffe.  Daß  nicht  jedes  räumliche 
oder  zeitliche  Ganze,  das  die  Erfahrung  uns  darbietet,  sich 
als  einfacher  aggregativer  Komplex  seiner  einzelnen  Teile 
darstellen  läßt,  tritt  hier  an  besonders  markanten  Beispielen 
hervor.  Wenn  unser  Bewußtsein  eine  einfache  Melodie 
verfolgt  und  auffaßt,  so  scheint  zunächst  aller  Inhalt,  der  ihm 
hierbei  gegenwärtig  ist,  in  der  Wahrnehmung  der  einzelnen 
Töne  zu  bestehen  und  aufgehen  zu  müssen.  Die  nähere 
Betrachtung  zeigt  indessen,  daß  eine  derartige  Beschreibung 
den  wahrhaften  Sachverhalt  nicht  trifft.    Wir  können  durch 


*  Vgl.  James,  Principles  of  Psychology  I,  196  ff.,  278  ff.,  u.  a. 

441 


Übergang  in  eine  andere  Tonart  sämtliche  Einzeltöne,  aus 
denen  die  Melodie  anfänglich  für  uns  bestand,  verschwinden 
lassen  und  durch  andere  ersetzen,  ohne  daß  wir  darum  auf- 
hören, sie  selbst  als  Einheit  festzuhalten  und  wieder- 
zuerkennen. Die  spezifische  Eigenart  und  die  charakteristische 
Beschaffenheit,  die  sie  für  uns  besitzt,  kann  somit  nicht  von 
der  Besonderheit  der  Elemente  abhängen,  da  sie  sich  jedem 
Wechsel  dieser  Besonderheit  gegenüber  als  solche  erhält  und 
behauptet.  Zwei  durchaus  verschiedene  Komplexe  von  Ton- 
empfindungen können  für  uns  dieselbe  Melodie  ergeben, 
wie  andererseits  zwei  Komplexe,  die  aus  inhaltlich  gleichen 
Elementen  bestehen,  zu  völlig  verschiedenen  Melodien  führen, 
sofern  diese  Elemente  in  ihrer  relativen  Folge  von  einander 
unterschieden  sind.  Der  gleiche  Gedanke  läßt  sich  sodann 
von  der  Einheit  der  „Tongestalten"  auf  die  Einheit  der 
„Raumgestalten*'  übertragen.  Auch  im  Räume  bezeichnen 
wir  bestimmte  Figuren  als  einander  „ähnlich",  fassen  sie  also 
ihrem  bloß  geometrischen  Begriff  nach  als  identisch 
auf,  wenngleich  sie  sich  auf  qualitativ  völlig  verschiedenen 
räumlichen  Einzelempfindungen  aufbauen.  Dieses  Bewußt- 
sein der  Identität  von  Ganzen,  die  doch  in  all  ihren 
einzelnen  Bestandstücken  von  einander  abweichen,  fordert, 
wenn  nicht  eine  besondere  Erklärung,  so  doch  eine  be- 
sondere psychologische  Kennzeichnung.  Der  Begriff  der 
Gestaltqualität  enthält  diese  Bezeichnung,  die  freilich  zunächst 
nur  das  Problem  abgrenzt,  ohne  noch  eine  bestimmte 
Lösung  dafür  zu  geben.  Was  die  mannigfachen  Vorstellungs- 
inhalte zu  einer  psychischen  Grundgestalt  verknüpft,  das  ist 
nicht  in  einem  dieser  Inhalte  selbst,  noch  in  ihrem  bloßen 
aggregativen  Beieinander  aufzufinden:  sondern  es  liegt  hier 
eine  neue  Leistung  vor,  die  sich  zugleich  in  einem  selbständigen 
Gebilde  von  bestimmt  aufweisbarer  Beschaffenheit  ver- 
körpert. Der  Bestand  derartiger  Gebilde  und  der  eigentümliche 
inhaltliche  Zuwachs,  der  damit  gegeben  ist,  ist  als  empirisches 
Datum  anzuerkennen,  gleichviel  von  welchen  theoretischen 
Voraussetzungen  aus  man  ihn  beurteilen  und  deuten  mag*. 

*  Vgl.  hrz.    bes.    Ehrenfels,     Über    Gestaltqualitäten,    Viertel- 
jahrschr.  f.  wiss.  Philos.,  XIV,  (1890),  S.  249  ff.,  sowie  Meinong,    Zur 

442 


Eine  solche  theoretische  Deutung  liegt  bereits  vor, 
wenn  man  die  Einheit,  die  den  komplexen  psychischen  Ge- 
bilden zukommt,  zwar  nicht  aus  dem  bloßen  Beisammen 
ihrer  Teile,  wohl  aber  aus  der  wechselseitigen  Wirkung, 
die  sie  gegen  einander  ausüben,  zu  erklären  unternimmt. 
Daß  die  Melodie  —  so  wendet  man  ein  —  gegenüber  den 
einzelnen  Tönen,  die  in  sie  eingehen,  als  ein  selbständiger 
Inhalt  erscheint,  ist  nicht  zu  bestreiten;  aber  zur  Erklärung 
dieser  Tatsache  ist  es  keineswegs  erforderlich,  neben  den 
gewöhnlichen  Empfindungs-  und  Vorstellungselementen  noch 
ganz  neuartige  einzuführen,  die  zu  ihnen  hinzukommen.  Ein 
Ganzes  bilden  heißt  im  psychologischen  Sinne  nichts  anderes, 
denn  als  Ganzes  wirken.  Nicht  nur  die  Teile  als  solche, 
sondern  auch  ihr  gesamter  Komplex  löst  stets  bestimmte 
besondere  Wirkungen  auf  unser  Gefühl  und  unsere  Vor- 
stellung aus:  und  diese  Wirkungen,  die  von  dem  Komplex 
ausgehen  und  somit  zugleich  von  der  Ordnung  der 
Elemente  innerhalb  desselben  abhängig  sind,  sind  es,  kraft 
deren  wir  über  die  Ähnlichkeit  oder  Unähnlichkeit,  die  Gleich- 
heit oder  Ungleichheit  ganzer  Inbegriffe  urteilen.  Diese 
Erklärung  scheint  in  ihrer  allgemeinen  Anwendung  zugleich 
jede  Annahme  besonderer  Relationsvorstellungen  und  Rela- 
tionsbegriffe entbehrlich  zu  machen.  Die  einfache  Wahr- 
nehmung ist  es  wiederum,  die  nicht  nur  über  sinnliche 
Beschaffenheiten,  wie  über  Farbe  und  Ton,  Geruch  und 
Geschmack  entscheidet,  sondern  die  uns  zugleich  über  Einheit 
und   Vielheit,   über  Beharrung  und   Veränderung,    über   die 


Psychologie  der  Komplexionen  u.  Relationen,  Zeitschr.  für  Psychologie  u. 
Physiologie  der  Sinnesorgane  II,  (1891),  S.  245  ff.  —  Die  psychologische 
Erörterung  des  Problems  der  ,,  Gestaltqualitäten"  hätte  zweifellos  an  all- 
gemeiner Bedeutvmg  gewonnen,  wenn  sie  näher  auf  die  entsprechenden 
logischen  Probleme,  die  sich  hier  unmittelbar  aufdrängen,  eingegangen 
wäre.  Wie  schon  die  angeführten  psychologischen  Beispiele  zeigen,  handelt 
es  sich  um  jenen  allgemeinen  Prozeß  der  Loslösung  und  selbständigen 
Setzung  des  Relationsgehalts,  der  insbesondere  für  weite  Gebiete 
der  Mathematik  charakteristisch  \ind  von  grundlegender  Bedeutung 
ist.  (Näheres  hierüber  Kap.  III,  bes.  S.  122  ff.).  Die  Möglichkeit,  eine 
Beziehung  ihrem  Sinne  nach  als  invariant  festzuhalten,  während  die 
Beziehungsglieder  die  mannigfachsten  Umformungen  erfahren,  wird  in 
den  rein  psychologischen  Erwägungen  nxxr  von  einer  neuen  Seite  her  be- 
leuchtet und  sichergestellt. 

443 


zeitliche  Folge  und  zeitliche  Dauer  der  Inhalte  belehrt.  Denn 
alle  diese  Bestimmungen  unterscheiden  sich  von  den  ein- 
fachen Sinneseindrücken  nur  dadurch,  daß  sie  die  „Wir- 
kungen" nicht  von  einzelnen  Reizen,  sondern  von  Reiz- 
komplexen sind.  Wie  eine  bestimmte  Ätherschwingung  in 
uns  den  Eindruck  einer  bestimmten  Farbe  hervorbringt, 
so  bringt  eine  bestimmte  Zusammenstellung  und  Ver- 
knüpfung von  Reizen,  die  unser  Bewußtsein  treffen,  in 
diesem  den  Eindruck  der  Ähnlichkeit  oder  Verschiedenheit, 
des  Wechsels  oder  der  Dauer  hervor.  So  können  wir  z.  B., 
wenn  verschiedene  Tonempfindungen  in  bestimmten  zeitlichen 
Abständen  nacheinander  in  uns  erregt  werden,  die  Länge  der 
dazwischenliegenden  Pausen  gegeneinander  abmessen  und 
daraufhin  bald  von  einer  rascheren,  bald  von  einer  lang- 
sameren Aufeinanderfolge  sprechen.  Es  bedarf  hierzu  keines 
besonderen  geistigen  Aktes  der  ,,Vergleichung"  zeitlicher 
Intervalle,  sondern  es  genügt  die  einfache  Annahme,  daß  von 
dem  Komplex  der  rascher  aufeinanderfolgenden  Einzeltönc 
eine  besondere  Wirkung  ausgeht,  die  von  der  Wirkung,  die 
bei  einem  weiteren  Abstand  der  Töne  eintritt,  verschieden  ist*. 
Verfolgt  man  indessen  diesen  Erklärungsversuch  zu  Ende, 
so  entdeckt  man  alsbald  den  erkenntniskritischen  Zirkel, 
den  er  in  sich  schließt.  Die  Gesamtheit  der  reinen  Relations- 
gedanken  wird  hier  auf  eine  tatsächliche  Wirkung  zurück- 
geführt, die  von  bestimmten  Mannigfaltigkeiten  ausgeht, 
während  doch  die  bloße  Anwendung  des  Gesichts- 
punktes von  Ursache  und  Wirkung  bereits  einen  speziellen 
Relationsgedanken  in  sich  schließt.  Nicht  derart  ist  das  Ver- 
hältnis, daß  wir  von  der  Kenntnis  bestimmter  ursächlicher 
Zusammenhänge  aus  zum  Verständnis  der  Beziehungsbegriffe 
überhaupt  geleitet  werden  könnten;  vielmehr  muß  umgekehrt 
dasjenige,  was  diese  Begriffe  bedeuten  und  meinen,  bereits 
vorausgesetzt  werden,  um  mit  Sinn  von  kausalen  Verknüpfun- 
gen der  Wirklichkeit  zu  sprechen.    Indem  die  psychologische 

*  S.  Schumann,  Zur  Psychologie  der  Zeitanschauung.  Ztschr. 
f.  Psychol.  XVII  (1889)  S.  106  ff.  —  Zur  Kritik  Schumanns  vgl.  bes.  die 
Ausführungen  M  e  i  n  o  n  g  s  ,  Über  Gegenstände  höherer  Ordnung  u.  deren 
Verhältnis  zur  inneren  Wahrnehnning.  Ztechr.  f.  Psychol.  XXI.  (1899) 
S.  236  ff. 

444 


Erklärung  von  tatsächlichen  Elementen  und  der  Aktion,  die 
sie  im  Ganzen  des  psychischen  Geschehens  ausüben,  ausgeht, 
hat  sie  bereits  all  das  vorweggenommen,  dessen  logische 
Rechtfertigung  in  Frage  steht,  Sie  setzt  eine  dingliche  Welt, 
in  der  verschiedenartige  objektiv  feststehende  Beziehungen 
obwalten,  an  den  Anfang  der  Betrachtung  —  während  es 
zuerst  den  Anschein  hatte,  als  könne  und  solle  diese  ganze 
Art  der  Wirklichkeit,  ohne  Hinzunahme  irgend  eines  anderen 
Bestandteiles,  aus  den  einfachen  Empfindungen,  als  den 
alleinigen  Daten  der  reinen  Erfahrung,  abgeleitet  werden. 
Diese  Umkehr  ist  freilich  nicht  befremdlich:  denn  sie 
stellt  sachlich  nur  jene  Rangordnung  der  Probleme  wieder 
her,  die  hier  im  ersten  Ansatz  der  Frage  zunächst  verkehrt 
wurde.  Was  uns  im  Gebiete  des  Bewußtseins  empirisch 
wahrhaft  bekannt  und  gegeben  ist,  sind  niemals  die  Einzel- 
bestandteile, die  sich  sodann  zu  verschiedenen  beobachtbaren 
Wirkungen  zusammensetzen,  sondern  es  ist  stets  bereits  eine 
vielfältig  gegliederte  und  durch  Relationen  aller  Art  geordnete 
Mannigfaltigkeit,  die  sich  lediglich  kraft  der  Abstraktion  in 
einzelne  Teilbestände  sondern  läßt.  Die  Frage  kann  hier  nie- 
mals lauten,  wie  wir  von  den  Teilen  zum  Ganzen,  sondern  wie 
wir  von  dem  Ganzen  zu  den  Teilen  gelangen.  Die  Elemente 
„bestehen"  niemals  außerhalb  jeglicher  Form  der  Verknüpfung, 
so  daß  der  Versuch,  die  möglichen  Weisen  der  Verknüpfung 
aus  ihnen  herzuleiten,  notwendig  im  Kreise  verläuft.  ,,Rear' 
im  Sinne  der  Erfahrung  und  des  psychologischen  Erlebnisses 
ist  stets  nur  das  Gesamtergebnis  selbst,  während  seine  einzelnen 
Komponenten  nur  den  Wert  hypothetischer  Ansätze  besitzen, 
deren  Wert  und  Recht  danach  zu  bemessen  ist,  ob  sie  in  ihrer 
Vereinigung  die  Gesamtheit  der  Phänomene  wiederum  dar- 
zustellen und  zu  rekonstruieren  vermögen.  — 

So  sind  denn  auch  innerhalb  der  psychologischen  For- 
schung selbst  die  spekulativen  Versuche,  den  Eigengehalt  der 
reinen  Beziehungen  zu  leugnen  und  ihn  durch  bloße  Kom- 
plexe von  Empfindungen  zu  ersetzen,  allmählich  verstummt. 
Das  Ideal  der  begrifflichen  „Erklärung",  das  hier  maßgebend 
war,  wurde  zwar  im  allgemeinen  festgehalten;  aber  man 
erkannte  und  sprach  es  aus,  daß  unsere  tatsächliche  Erfahrung 

445 


und  unsere  wirklichen  empirisch-psychologischen  Kenntnisse 
ihm  die  Erfüllung  versagen.  Wie  wir  bestimmte  Klassen 
einfacher  Empfindungen  als  letzte  Tatsachen  annehmen 
müssen,  so  müssen  wir  —  wie  nunmehr  erklärt  wurde  —  neben 
diesen  Gebieten  auch  gewisse  spezifische  Beziehungen,  wie  die 
der  Einheit  und  Mehrheit,  der  Ähnlichkeit  und  Verschieden- 
heit, des  räumlichen  Beisammens  wie  der  zeitlichen  Dauer  als 
grundlegende,  nicht  weiter  reduzierbare  Daten  des  Bewußt- 
seins anerkennen.  „Natürlich  heißt  dies  nicht"  —  so  bemerkt 
ein  Vertreter  dieser  Ansicht  —  „die  Dinge  erklären,  aber  es 
heißt,  ehrliche  Armut  dem  Schein  des  Reichtums  vorziehen"*. 
E  i  n  Rückweg  scheint  freilich  noch  übrig  zu  bleiben,  der  uns 
gestattet,  die  begriffliche  Mannigfaltigkeit  der  Beziehungen 
wiederum  in  die  Einheit  eines  einzigen  kausalen  Ursprungs 
aufzulösen.  Was  der  rein  psychologischen  Betrachtungsweise 
versagt  blieb,  scheint  hier  der  physiologischen  Er- 
klärung und  Deutung  gelingen  zu  können.  Die  allgemeinen 
Verhältnisbestimmungen,  die  sich  an  allen  Empfindungen, 
unbeschadet  ihrer  qualitativen  Verschiedenheit,  gleichmäßig 
wiederfinden,  erweisen  sich  eben  damit  als  ein  gemein- 
samer Bestand  des  Empfindungsinhaltes  als  solchen, 
für  den  nunmehr  auch  eine  entsprechende  Gemeinsamkeit 
in  den  zugehörigen  physiologischen  Prozessen  zu  fordern 
ist.  Diese  Übereinstimmung  in  den  physischen  Grundlagen 
jeder  Wahrnehmung,  gleichviel  welchem  besonderen  Gebiet 
sie  angehören  mag,  aber  ist  leicht  aufweisbar.  Die  Sinnes- 
organe samt  den  ihnen  zunächst  zugehörigen  nervösen 
Zentren  stellen  sich  freilich  zunächst  als  sehr  verschieden 
gebaute  und  verschieden  ausgestattete  Apparate  dar; 
aber  sie  bilden  nichtsdestoweniger  schließlich  doch  insofern 
eine  Einheit,  als  sie  sich  sämtlich  aus  demselben  Material, 
aus  nervösen  Elementen  nach  gewissen  in  sich  überein- 
stimmenden Prinzipien  aufbauen.  „Wirken  äußere  Reize 
auf  sie  ein,  so  müssen  die  in  ihnen  hervorgerufenen  Prozesse 
naturgemäß  verschieden  sein,  soweit  die  physikalisch-chemische 


♦Ebbinghaus,  Grundzüge  der  Psychologie,  2.  Aufl.,  Lpz.  1905, 
S.  462. 

446 


Beschaffenheit  der  Reize  und  die  ihr  angepaßte  Funktion  der 
ersten  Aufnahmeapparate  verschieden  ist.  Aber  zur  selben 
Zeit  müssen  jene  Prozesse  auch  gleich  oder  ähnlich  ausfallen, 
soweit  nämlich  in  der  Außenwelt  die  Verbindungsweise  der 
Reize  zu  einem  Ganzen  und  innerhalb  der  Sinnesorgane  die 
Grundeigenschaften  der  nervösen  Materie  und  die  allgemeinen 
Konstruktionsprinzipien  ihres  Aufbaus  dieselben  sind  .... 
In  der  besonderen  Eigenart  der  beim  Sehen,  Hören, 
Schmecken  stattfindenden  Erregungen  liegt  es,  daß  wir  ihre 
seelischen  Wirkungen  als  etwas  ganz  Disparates,  wie  Helles, 
Lautes,  Bitteres  empfinden;  —  in  den  übereinstim- 
menden Zügen  derselben  Erregungen,  daß  uns  alle  diese 
Eindrücke  je  nach  Umständen  als  dauernd  oder  intermittierend, 
sich  verändernd  usw.  bewußt  werden" .  Die  nervösen  Vorgänge, 
die  den  ,, Anschauungen"  des  Raumes  und  der  Zeit,  der  Ein- 
heit und  Mehrheit,  der  Konstanz  und  Veränderung  zugrunde 
liegen,  ,, stecken  also  in  ganz  denselben  Prozessen,  die  den 
Empfindungen  zugeordnet  sind,  aber  nicht  in  sämtlichen, 
sondern  nur  in  den  gemeinsamen  Eigentümlichkeiten  dieser 
Prozesse,  deren  nähere  Angabe  uns  freilich  noch  nicht  mög- 
lich ist"*. 

Diese  Erklärung,  die  auf  den  ersten  Blick  rein  mit  den 
Mitteln  moderner  naturwissenschaftlicher  Auffassung  operiert, 
lenkt  dennoch  ihrem  Prinzip  nach  wiederum  in  die  Bahnen 
der  Aristotelischen  Lehre  vom  „Gemeinsinn"  zurück.  Für 
die  Erfassung  der  Beziehungen  steht  zwar  nicht  wie  für  die 
der  einzelnen  Sinnesqualitäten  ein  besonderes  Organ  zur 
Verfügung;  wohl  aber  besteht  auch  hier,  eine  Art  gemeinsamen 
Organs,  kraft  dessen  wir  die  realen  Verhältnisse  der  äußeren 
Objekte  in  uns  aufnehmen.  Sollte  indessen  diese  ursächliche 
Erklärung  zugleich  eine  logische  Deduktion  der  Geltung  der 
Verhältnisbegriffe  bedeuten,  —  so  würde  auch  sie  eben  jenes 
vGTEQov  TCQÖreqov  in  sich  schließen,  dem  wir  zuvor  bereits 
begegnet  sind.  Denn  sie  muß,  um  die  Vorstellung  der 
Gleichheit  oder  Verschiedenheit,  der  Identität  oder  Ähnlich- 
keit zu  erklären,  offenbar  auf  die  Gleichheit  oder  Verschieden- 


♦  E  b  b  i  n  g  h  a  u  8  ,  a.  a.  O.  S.  442  f. 

447 


heit  in  den  Dingen,  spezieller  in  den  peripherischen  und 
zentralen  Organen  der  Wahrnehmung  zurückgehen.  Der 
Begriff  des  Seins,  von  dem  hier  ausgegangen  wird,  enthält 
also  bereits  alle  diejenigen  kategorialen  Bestim- 
mungen in  sich,  die  nachträglich,  auf  dem  Wege  der 
psycho-physiologischen  Ableitung  aus  ihm  wiederum  heraus- 
gezogen werden.  Der  Wahrheitsgehalt  dieser  Be- 
stimmungen muß  vorausgesetzt  werden;  wenngleich  die  Art, 
wie  sie  dem  individuellen  Subjekt  zum  Bewußtsein  kommen, 
einer  —  freilich  nur  hypothetischen  —  Erklärung  zugänglich 
sein  mag.  Weiterhin  aber  muß  jede  rein  physiologische 
Darstellung  des  Sachverhalts  denjenigen  Punkt  im  Dunkeln 
lassen,  der  hier  vor  allem  in  Frage  steht.  Eine  Identität 
oder  Gemeinsamkeit  in  den  äußeren  Reizen  reicht  niemals 
hin,  um  den  correlativen  Bewußtseinsausdruck  dieser  Ver- 
hältnisse zu  erklären.  Das  physisch  Gleiche  muß  als 
gleich  erkannt  und  beurteilt,  das  sachlich  Verschiedene  a  1  s 
verschieden  aufgefaßt  werden,  damit  es  zu  jener  Loslösung 
des  allgemeinen  Anschauungsinhalts  vom  besonderen  Emp- 
findungsinhalt kommt,  der  hier  angenommen  wird.  Die 
reinen  Bewußtseinsfunktionen  der  Einheits-  und  Verschieden- 
heitssetzung sind  somit  als  solche  niemals  zu  entbehren,  noch 
durch  den  Rückgang  auf  die  objektiven  physiologischen  Ur- 
sachen zu  ersetzen.  Die  Forderung  bleibt  bestehen,  daß  sie 
in  einer  Betrachtungsweise,  die  lediglich  innerhalb  der  psychi- 
schen Phänomene  selbst  verharrt,  ohne  zu  ihren  hypothetischen 
Gründen  zurückzugehen,  aufgewiesen  und  dargestellt  werden. 
Von  allen  Seiten  her  werden  wir  somit  immer  deutlicher  auf 
ein  zweites  großes  Gebiet  der  psychologischen  Untersuchung 
hingewiesen,  das  in  ihrem  ersten  Ansatz  zunächst  vernach- 
lässigt und  zurückgedrängt  war.  Der  Psychologie  der  Emp- 
findung tritt  die  Psychologie  des  Denkens  gegenüber,  die  von 
Anfang  an  von  einer  völlig  andersartigen  Formulierung  des 
Problems  und  von  einer  neuen  Wertordnung  zwischen  den 
„absoluten"  und  den  ,, relativen"  Elementen  des  Bewußtseins 
beherrscht  wird. 


448 


II. 

Die  allgemeinen  Probleme,  die  in  der  Lehre  von  den 
„Gestaltqualitäten"  eingeschlossen  sind,  sind  in  der  Um- 
bildung, die  diese  Lehre  in  der  Theorie  der ,, fundierten  Inhalte" 
erfahren  hat,  zu  schärferem  Ausdruck  gelangt.  Hier  zeigt 
es  sich  bereits  deutlicher,  daß  die  Fragen,  die  damit  in  die 
Psychologie  eintreten,  nicht  auf  eine  bloße  Erweiterung 
ihres  Gebiets,  sondern  auf  eine  innere  Umgestaltung  ihres 
Begriffs  hinzielen.  Es  sind  nunmehr  zwei  Formen  psychischer 
„Gegenstände",  die  einander  bestimmt  gegenübertreten.  Über 
den  einfachen  Empfindungen,  über  den  Qualitäten  der  ver- 
schiedenen Sinne  bauen  sich  „Gegenstände  höherer  Ordnung" 
auf,  die  von  jenen  Elementarinhalten  zwar  getragen  werden, 
und  ihrer  als  Stütze  bedürfen,  die  aber  in  ihnen  nicht  auf- 
gehen. Wir  können  freilich  von  Gleichheit  oder  Ver- 
schiedenheit, von  Einheit  oder  Mehrheit 
nicht  sprechen,  ohne  sie  als  Gleichheit  oder  Verschiedenheit, 
als  Einheit  oder  Mehrheit  von  Etwas  zu  denken.  Aber 
dieses  Etwas  kann  anderseits  beliebig  wechseln,  es  kann  als 
Farbe  oder  Ton,  als  Geruch  oder  Geschmack,  als  Begriff  oder 
Urteil  erscheinen,  —  von  welchem  allem  ja  Verschiedenheit 
oder  Einheit  aussagbar  ist  — ,  ohne  daß  dadurch  der  eigentliche 
Sinn  dieser  Grundgedanken  irgendwie  berührt  würde.  Die 
Unselbständigkeit,  die  den  reinen  Relationen  in  ihrem  tat- 
sächlichen Auftreten  und  gleichsam  in  ihrer  psychischen 
Existenz  anzuhaften  scheint,  schließt  somit  eine  vollkommene 
Selbständigkeit  ihrer  eigenartigen  Bedeutung  nicht  aus. 
Die  allgemein  gültigen  Relationen,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
existieren  nicht  als  zeitlich  oder  örtlich  abgegrenzte  Teile  der 
psychischen  oder  physischen  Wirklichkeit,  sondern  sie  „be- 
stehen" schlechthin  kraft  der  Notwendigkeit,  die  wir  be- 
stimmten Aussagen  zuerkennen.  Wer  vier  wirkliche  Gegen- 
stände vorstellt,  der  stellt  neben  ihnen  nicht  noch  die  Vierheit 
als  ein  besonderes  Stück  der  Wirklichkeit  vor,  wenngleich 
er  für  sein  Urteil  über  das  Zahl  Verhältnis  eine  bestimmte 
objektive  Wahrheit  und  Gültigkeit  in  Anspruch  nimmt. 
So  treten  allgemein  den  Beziehungen  zwischen  Existenzen 
reine  Idealrelationen  gegenüber:  und  diesem  Unter- 

Cassirer,  Substanzbegriff  09  449 


schied  entspricht  weiterhin  ein  charakteristischer  Gegensatz 
in  der  Rangordnung  der  Erkenntnisse,  die  sich  auf  diese 
Gegenstände  beziehen.  Wo  immer  das  Urteil  sich  auf  ein 
Objekt  der  tatsächlichen  Wirklichkeit  bezieht  und  an  ihm  eine 
einzelne  Bestimmung  bezeichnen  und  treffen  will,  da  bleibt 
es  notwendig  auf  ein  Hier  und  Jetzt,  also  auf  eine  Aussage 
von  bloß  empirischer  Geltung  beschränkt.  Diesem  Fall,  in 
welchem  wir  lediglich  einem  einzelnen  Dinge  eine  einzelne, 
durch  Erfahrung  bekannte  Beschaffenheit  zusprechen,  steht 
jedoch  der  andere  Fall  entgegen,  in  welchem  die  Art  der 
Abhängigkeit  zwischen  zwei  Elementen  a  und  b  durch  die 
„Natur"  der  Glieder  selbst  determiniert  und  eindeutig  vor- 
geschrieben ist.  Von  den  idealen  Relationen  dieser  Art  sind 
Urteile  möglich,  die,  um  in  ihrer  Wahrheit  erfaßt  zu  werden, 
nicht  der  Probe  durch  verschiedene,  successiv  durchlaufene 
Einzelfälle  bedürfen,  sondern  ein  für  alle  Mal  mit  der  Einsicht 
in  die  Notwendigkeit  des  Zusammenhangs  erkannt 
werden.  Den  empirischen  Urteilen  über  Erfahrungsgegen- 
stände stehen  somit  „apriorische**Urteile  über  die ,  Fundierungs- 
gegenstände"  zur  Seite.  Während  die  psychischen  „Phae- 
nomene",  wie  Farbe  oder  Ton,  nur  einfach  in  ihrem  Auftreten 
und  ihrer  Beschaffenheit  als  Tatsachen  konstatiert  werden 
können,  knüpfen  sich  an  die  „metaphaenomenalen*'  Gegen- 
stände, wie  Gleichheit  oder  Ähnlichkeit,  Urteile,  die  mit  dem 
Bewußtsein  zeitloser  und  notwendiger  Geltung  gefällt  werden. 
An  die  Stelle  einer  bloß  faktischen  Feststellung  tritt  hier  das 
systematische  Ganze  eines  Begründungs-Zusammenhangs, 
dessen  Elemente  sich  wechselseitig  bedingen  und  fordern*. 
Auch  diese  Theorie  indes,  so  energisch  sie  das  Problem- 
gebiet der  Psychologie  über  seine  herkömmlichen  Grenzen 
zu  erweitern  strebt,  steht  an  einem  Punkte  noch  unter 
dem  Einfluß  der  traditionellen  Begriffsbildung.  Sie  knüpft 
an  die  einfachen  Empfindungsinhalte  als  anerkannte  Daten 
an,  um  sich  von  ihnen  aus  den  Zugang  zu  den  komplexeren 
Gebilden  zu  bahnen.     Die  „Gegenstände  höherer  Ordnung" 


*  Näheres  zur  Theorie  der  „fundierten  Inhalte"  u.  der  „Gegenstände 
höherer  Ordnting'*  s.  bes.  bei  M  e  i  n  o  n  g  ,  Z.  f.  Psychologie  XXI,  182  ff.; 
vgl.  auch  Höf  Ter,  Zva  gegenw.  Naturphilosophie  S.  75  ff. 

450 


lassen  sich  von  irgendwelchen  Wahrnehmungselementen,  in 
denen  sie  fundiert  sind,  nicht  loslösen,  ohne  damit  jeglichen 
Halt  zu  verlieren.  Dagegen  gilt  zunächst  keineswegs  die 
Umkehrung  dieses  Satzes:  wenn  das  „Superius"  auf  die 
„Inferiora"  notwendig  angewiesen  ist,  so  sind  diese  ihrerseits 
dadurch  charakterisiert,  daß  sie  für  sich  bestehen  und  auf 
sich  allein  beruhen.  Die  Relationen,  die  sich  über  ihnen  auf- 
bauen, erscheinen  wie  ein  nachträgliches  Ergebnis;  ihr  Sein 
oder  Nicht-Sein  trägt  zum  Bestand  der  Elemente  nichts  bei 
und  vermag  ihn  weder  zu  begründen,  noch  zu  gefährden. 
Die  schärfere  Analyse  beseitigt  indessen  auch  diesen 
letzten  Schein  der  Selbständigkeit  des  Einfachen.  An  die 
Stelle  eines  Nacheinander,  einer  Über-  und  Unterordnung 
von  Inhalten  setzt  sie  ein  Verhältnis  strengster  Korrelativität. 
Wie  die  Beziehung  des  Hinblicks  auf  die  Elemente  bedarf, 
so  bedürfen  diese  nicht  minder  des  Hinblicks  auf  eine  Form 
der  Beziehung,  in  der  allein  sie  feste  und  konstante  Bedeu- 
tungen erlangen.  Jede  begriffliche  Aussage  über  ein 
,,Inferius*'  betrachtet  dies  bereits  unter  dem  Gesichtspunkt 
irgend  einer  Relation,  der  wir  den  betreffenden  Inhalt 
zuordnen.  Die  „Fundamente"  sind  stets  nur  als  Fundamente 
möglicher  Relationen  bestimmbar  und  bestimmt.  Was  hier- 
über zunächst  hinwegtäuscht,  ist  der  Umstand,  daß  das  Ganze 
der  Verhältnisbestimmungen,  in  die  ein  einzelner  Inhalt  ein- 
zutreten vermag,  in  ihm  zwar  irgendwie  angelegt,  aber  keines- 
wegs von  Anfang  an  tatsächlich  verwirklicht  ist.  Es  bedarf 
einer  Reihe  verwickelter  intellektueller  Operationen,  es  bedarf 
immer  erneuter  begrifflicher  Arbeit,  um  hier  den  „potentiellen" 
logischen  Gehalt  in  „aktuellen"  Gehalt  überzuführen.  Die 
Möglichkeit  indessen,  einen  Inhalt  von  dieser  oder  jener  be- 
grifflichen Einzelbestimmung  loszulösen  und  ihn  gleichsam 
vor  dieser  Bestimmung  zu  betrachten,  darf  nicht  dazu 
führen,  ihn  aller  Bestimmungsformen  überhaupt  zu  entkleiden. 
Nicht  nur  wenn  wir  die  sinnlichen  Phaenomene,  wenn  wir  die 
Farben  und  Töne,  die  Gerüche  und  Geschmäcke,  sondern 
auch  wenn  wir  jene  ,,metaphaenomenalen"  Gegenstände,  wie 
Vielheit  und  Zahl,  Identität  und  Verschiedenheit,  aufgehoben 
denken,    wäre   das   Bewußtsein   als    Bewußtsein    aus- 

29*  451 


gelöscht.  Sein  Bestand  wurzelt  lediglich  in  der  gegenseitigen 
Zusammengehörigkeit  der  beiden  Momente,  deren  keines 
daher  als  „erstes"  und  ursprüngliches  dem  anderen  voran- 
zustellen ist.  — 

Von  hier  aus  fällt  daher  auf  die  alte  psychologische  Streit- 
frage des  „Empirismus"  und  „Nativismus"  neues  Licht. 
Man  erkennt,  daß  auch  diese  Streitfrage  in  einer  ungeklärten 
Problemstellung  wurzelt.  Sind  die  gemeinsamen  Bestimmun- 
gen, die  an  den  Empfindungen  auftreten,  —  so  wird  gefragt  — 
sind  ihre  Einheit  und  Mehrheit,  ihre  räumliche  Anordnung, 
ihre  längere  oder  kürzere  zeitliche  Dauer  Merkmale,  die  ebenso 
unmittelbar  wie  die  Unterschiede  der  Empfindungen  selbst 
sind,  und  die  daher  mit  ihnen  zugleich  erfaßt  werden  —  oder 
bilden  sie  vielmehr  ein  späteres  Produkt  der  seelischen 
Vergleichung,  die  dem  Wahrnehmungsmaterial,  das 
als  solches  ungeordnet  ist,  erst  eine  bestimmte  Gestaltung 
aufprägt?  Ist  es  mit  anderen  Worten  eine  eigene  geistige 
Tätigkeit,  die  zu  diesen  Bestimmungen  führt  oder  sind  sie 
direkt  im  ersten  Wahrnehmungsakt  implicit  als  Bestandteile 
mitgegeben?  Es  sind  indessen  zwei  verschiedene  be- 
griffliche Gesichtspunkte,  die  in  diesen  Fragen  unvermerkt 
in  einander  übergehen.  Der  logischen  Trennung  von  Er- 
kenntnismomenten schiebt  sich  die  zeitliche  Trennung  im 
Auftreten  bestimmter  psychischer  Inhalte  unter:  und  beide, 
an  sich  völlig  heterogenen  Probleme  wurden  nunmehr  mit  und 
durch  einander  zu  lösen  versucht.  Indem  —  vom  Standpunkt 
des  „Nativismus"  aus  —  gezeigt  wird,  daß  schon  der  früheste 
Zustand  des  Bewußtseins,  der  sich  nur  immer  annehmen  oder 
erdenken  läßt,  irgend  eine  Form  der  räumlich-zeitlichen 
oder  der  begrifflichen  Verknüpfung  aufweist,  glaubt 
man  damit  den  logischen  Wert  der  Verknüpfungen  selbst  auf 
den  der  bloßen  Empfindung  reduziert  zu  haben.  Es  gibt  — 
so  folgert  man  nunmehr  —  ein  unmittelbares  Bewußtsein  der 
Relationen  in  derselben  Weise,  wie  es  ein  unmittelbares  Bewußt- 
sein von  Farben  oder  Tönen  gibt.  Wir  ergreifen  in  der  inneren 
Wahrnehmung,  im  bloßen  ,,feeling"  ebensowohl  die  Be- 
deutung des  „Und"  und  des  „Aber",  des  ,,Wenn"  und  des 
„Dadurch",  als  wir  durch  sie  von  dem  Inhalt  „Blau"  oder 

452 


„Kalt"  Kunde  erlangen.  Der  „actus  purus"  des  Verstandes 
erweist  sich  somit  als  entbehrlich,  da  alles,  was  er  hervor- 
bringen soll,  in  Wahrheit  bereits  in  den  ersten  Wahr- 
nehmungsdaten selbst  enthalten  ist*.  Will  man  diesem 
Gedanken  kritisch  gerecht  werden,  so  muß  man  die  allgemeine 
Tendenz,  von  der  er  beherrscht  wird,  von  der  speziellen 
Ausführung,  die  sie  erfährt,  unterscheiden.  Was  hier  vor  allem 
betont  werden  soll,  ist  dies:  daß  das  Ordnungsmoment  zu  dem 
Inhaltsmoment  in  keinem  zeitlichen  Verhältnis  des  Vor  und 
Nach,  des  Früher  oder  Später  steht.  Nur  die  Analyse  vermag 
an  dem  zunächst  einheitlichen  Material  des  „Gegebenen" 
diese  Unterscheidung  zu  treffen.  In  diesem  Sinne  ist  es  zu- 
treffend, daß  schon  der  elementarste  psychische  Tatbestand 
die  allgemeinen  Formelemente  in  sich  schließt.  Der  Schluß 
aber,  daß  diese  Elemente  somit  der  bloßen  Passivität 
des  Wahrnehmens  angehören,  wird  hierdurch  nicht  gerecht- 
fertigt. Vielmehr  gilt  hier  die  umgekehrte  Folgerung:  die 
Tatsache,  daß  es  für  uns  keinen  Inhalt  des  Bewußtseins  gibt, 
der  nicht  in  irgend  einer  Weise  gestaltet  und  gemäß  bestimmten 
Beziehungen  gegliedert  wäre,  beweist,  daß  der  Prozeß  des 
Wahrnehmens  von  dem  des  Urteils  nicht  zu  trennen  ist. 
Es  sind  elementare  Urteilsakte,  kraft  deren  der 
Einzelinhalt  als  Glied  einer  bestimmten  Ordnung  erfaßt  und 
damit  erst  in  sich  selbst  gefestigt  wird.  Wo  dies  geleugnet 
wird,  da  versteht  man  das  Urteil  selbst  nur  in  dem  äußer- 
lichen Sinne  einer  vergleichenden  Tätigkeit,  die  einem  bereits 
feststehenden  und  gegebenen  ,, Subjekt"  ein  neues  Prädikat 
nachträglich  hinzufügt.  Eine  derartige  Tätigkeit  erscheint 
freilich  dem  Stoff  gegenüber,  an  welchen  sie  anknüpft,  als 
zufällig  und  willkürlich:  gleichviel  ob  sie  ausgeübt  oder  unter- 
lassen wird,  so  bleibt  doch  dieser  Stoff,  was  er  einmal  ist  und 
behält  die  Merkmale,  die  ihm  vor  aller  logischen  Bearbeitung 
zukommen.  In  seiner  eigentlichen  Grundform  dagegen  be- 
deutet das  Urteil  nicht  einen  derartigen  Willkürakt,  sondern 
die  Form  der  objektivierenden  Bestimmung  überhaupt,  durch 


*    S,  Jamea,    The   Principles    of   Psychology   I,    244  f.;  vgl.  bes. 
n,  148. 

453 


welche  ein  Sonderinhalt  als  solcher  unterschieden  und  zu- 
gleich einer  Mannigfaltigkeit  systematisch  eingeordnet  wird. 
Von  dieser  Form  läßt  sich  nicht  absehen,  ohne  daß  damit 
auch  alle  qualitativen  inhaltlichen  Differenzen  verloren  gingen. 
Mögen  also  immerhin,  wenn  wir  auf  das  reine  Z  e  i  t  v  e  r  - 
h  ä  1 1  n  i  s  hinblicken,  die  Relationen  zugleich  mit  den 
Empfindungsinhalten  „vorgefunden"  werden:  so  gilt  doch 
darum  nicht  minder,  daß  eben  dieses  ,, Finden"  selbst  die 
elementaren  Formen  des  geistigen  Tuns  bereits  in  sich 
schließt.  Denken  wir  diese  Formen  aufgehoben,  so  würde 
damit  jede  Möglichkeit  einer  weiteren  Anwendung  des  Bewußt- 
seinsbegriffs selbst  schwinden.  Gleichviel  was  der  Inhalt 
alsdann  noch  an  und  für  sich  sein  und  bedeuten  möchte:  für 
uns,  für  die  Einheit  des  Selbst  wäre  er  nicht  vorhanden.  Denn 
das  Selbst  ergreift  und  konstituiert  sich  erst  in  irgendeiner 
Art  der  Betätigung.  Immer  sind  es  bestimmte  Weisen  der 
„Einheitsapperception",  an  die  die  Auffassung  bestimmter 
Relationen  zwischen  Gegenständen  psychologisch  notwendig 
geknüpft  ist*.  Somit  lehrt  die  unlösliche  Korrelation  der 
Empfindungen  mit  den  reinen  Verhältnisgedanken,  wenn  man 
sie  konsequent  weiter  verfolgt,  das  Gegenteil  von  dem,  was 
anfänglich  aus  ihr  gefolgert  wurde:  sie  zeigt  nicht  die  Passivität 
des  Ich  im  Erfassen  dieser  Gedanken,  sondern  umgekehrt  das 
Moment  der  Aktivität,  das  auch  jedem  Wahrnehmungs- 
prozeß eignet,  sofern  er  nicht  für  sich  allein  steht,  sondern 
dem  Ganzen  des  Bewußtseins  und  der  Erfahrung  an- 
gehört. Man  kann  in  der  Tat  versuchen,  die  Beziehungen 
aus  der  Sensation  abzuleiten:  aber  man  hat  alsdann  bereits 
in  die  Sensation  selbst  Bestimmungen  hineingelegt,  die  über 
den  isolierten  Einzeleindruck  hinausgehen.  Sie  ist  hier  nicht 
mehr  das  Abstraktum  der  ,, einfachen"  Empfindung:  sondern 
sie  bezeichnet  lediglich  den  anfänglichen,  noch  ungegliederten 
Bewußtseinsinhalt  überhaupt,  dem  indes  stets  bereits  be- 
stimmte Beziehungen  und  Verknüpfungen  wesentlich  sind,  die 
von  ihm  zu  anderen  Elementen  überführen. 


•  Vgl.  hrz.  vor  allem  die  Ausführungen  von  Th.  L  i  p  p  s ,  Ein- 
heiten und  Relationen,  Eine  Skizze  zur  Psychologie  der  Apperception, 
Lpz.  1902. 

454 


Noch  deutlicher  tritt  dies  bei  der  Betrachtung  des  spe- 
ziellen Problems  hervor,  das,  im  Streit  zwischen  „Empirismus" 
und  „Nativismus",  von  jeher  im  Mittelpunkte  der  Erörterung 
stand.  Das  Schicksal  der  verschiedenen  Theorien  entscheidet 
sich  vor  der  Frage  nach  dem  psychologischen  Ursprung  und 
der  psychologischen  Bedeutung  der  Raumvorstellung. 
Gelingt  es  den  Raum  aus  schlechthin  unräumlichen,  nur 
durch  ihre  Qualität  und  Intensität  unterschiedenen  Emp- 
findungen abzuleiten,  so  steht  prinzipiell  nichts  mehr  im  Wege, 
die  gleiche  Erklärung  für  all  die  verschiedenen  Grundarten  der 
Beziehung  überhaupt  durchzuführen.  Es  zeigt  sich  indessen 
alsbald,  daß  die  empiristische  Theorie,  indem  sie  es  unter- 
nimmt, die  Entstehung  der  Raumordnung  aus  dem  bloßen 
Material  der  Wahrnehmungen  und  den  einfachen  Grund- 
kräften der  associativen  Verknüpfung  zu  deduzieren,  hierbei 
ihrem  eigenen  methodischen  Ideal  untreu  werden  muß.  Denn 
es  kann  kein  Zweifel  darüber  sein,  daß  eine  solche  Entstehung, 
falls  sie  in  Wahrheit  anzunehmen  ist,  doch  in  unserer  tatsäch- 
lichen Erfahrung  nicht  aufweisbar  ist.  Jede  Erfahrung, 
wie  immer  sie  beschaffen  sein  mag,  weist  irgendeine  primitive 
Form  des  „Beisammen"  der  einzelnen  Elemente  und  damit 
das  spezifische  Moment  auf,  in  welchem  jede  noch  so  komplexe 
räumliche  Gestaltung  ursprünglich  wurzelt.  Versucht  man 
hinter  diesen  psychologischen  Tatbestand  zurückzugehen, 
versucht  man  zu  zeigen,  wie  die  Ordnung  selbst  aus  dem 
schlechthin  Ungeordneten  entsteht  und  sich  entwickelt,  so 
überläßt  man  sich  hierbei  einer  Hypothese,  die  in  zwiefacher 
Richtung  über  die  Grenzen  der  Erfahrung  hinausgeht.  Wir 
kennen  empirisch  so  wenig  eine  einfache,  in  keiner  Weise 
lokalisierte  Wahrnehmung,  wie  wir  andererseits  nichts 
von  einer  besonderen  Funktion  der  Seele  wissen,  durch  die  sie 
auf  Grund  unbewußter  „Schlüsse"  das  zuvor  Gestaltlose  zur 
Gestalt  umwandelt.  Wie  immer  man  über  das  methodische 
Recht  derartiger  Begriffe  urteilen  mag:  es  wäre  gefährlich 
und  irreführend,  sie  als  den  Ausdruck  konkreter  Tatsachen 
mißzu verstehen.  Auch  hier  somit  bleibt  die  Kritik  der 
„empiristischen"  Raumtheorien  —  wie  sie  in  der  neueren 
Psychologie    insbesondere    durch    Stumpf    und    James 

455 


geübt  worden  ist  —  im  Recht,  sofern  sie  betont,  daß  die  bloße 
„Association"  als  solche  keinen  neuen  psychischen  Inhalt  zu 
schaffen  vermöge.  Keine  bloße  Wiederholung  und 
Umstellung  der  Inhalte  vermöchte  ihnen  die  Räumlichkeit 
zu  verleihen,  wenn  diese  nicht  bereits  ursprünglich  in  ihnen 
irgendwie  gesetzt  und  angelegt  wäre*.  Aber  auch  hier  beweist 
die  zeitliche  Verbundenheit  der  beiden  Faktoren  keineswegs 
ihre  logische  Gleichwertigkeit.  Wenn  die  Erkenntnis- 
kritik die  Raum-  und  Zeitform  vom  Inhalt  der  Empfindung 
unterscheidet  und  sie  als  selbständiges  Problem  behandelt,  so 
bedarf  sie  hierbei  des  Gedankens  einer  realen  Getrennt- 
heit beider  in  irgendeinem  mythischen  Vorstadium  des 
Bewußtseins  in  keiner  Weise.  Was  sie  behauptet  und  vertritt, 
ist  lediglich  der  schlichte  Gedanke,  daß  die  Urteile,  die 
sich  auf  diese  Beziehungsformen  gründen  und  aufbauen,  einen 
eigenen  charakteristischen  Geltungswert  besitzen,  der  den 
bloßen  Aussagen  über  das  Dasein  einer  hier  und  jetzt  gegebenen 
Empfindung  versagt  ist.  Der  zunächst  einheitliche  Inhalt 
differenziert  sich,  indem  wir  erkennen,  daß  er  den  Ansatz  für 
zwei  verschiedene  Systeme  von  Urteilen  enthält,  die  ihrer 
D  i  g  n  i  t  ä  t  nach  getrennt  bleiben.  Je  nachdem  wir  an 
ihm  das  spezifische  Moment  einer  einzelnen  Wahrnehmung, 


♦  Vgl.  z.  B.  James,  a.  a.  O.,  II,  270,  279  u.  s.  —  Die  Nach- 
wirkung des  allgemeinen  Schemas  der  Associationspsychologie  zeigt  sich 
indessen  auch  bei  ihren  Ivritikern  in  dem  Umstand,  daß  sie  die  Ursprüng- 
lichkeit der  Haum  Ordnung  nur  dadurch  zu  beliaupten  vermögen,  daß 
sie  sie  zu  einem  eigenen  und  ursprünglichen  Wahrnehmvmgs  i  n  h  a  1 1  e 
verdichten.  Die  Raumordnung  —  so  f  iihrt  insbesondere  Stumpf  aiis  — 
wäre  nicht  faßbar  und  verständlich  ohne  einen  positiven  absoluten  Inhalt, 
der  ihr  zugninde  liegt.  Dieser  Inhalt  erst  verleiht  ihr  das  Eigentümliche, 
kr£ift  dessen  sie  sich  von  anderen  Ordnungen  xuiterscheidet.  ,,Um  die 
verschiedene  i  Ordnungen  von  einander  zu  unterscheiden,  müssen  wir 
überall  einen  besonderen  absoluten  Inlialt  anerkennen,  in  bezug  auf  welchen 
die  Ordnung  stattfindet.  Und  so  ist  auch  der  Raum  nicht  eine  bloße 
Ordnung,  sondern  eben  das,  wodurch  die  räumliche  Ordnvmg,  das  Neben- 
einander, sich  von  den  übrigen  unterscheidet."  (Über  den  psychologischen 
Ursprung  der  Raum  Vorstellung,  S.  15,  vgl.  S,  275.)  Es  sind  indessen 
zwei  verschiedene,  nicht  streng  von  einander  geschiedene  Gesichtspunkte, 
die  sich  in  diesem  Argimaent  vereinen.  Daß  jede  Beziehung  die  Beziehung 
von  Etwas  ist  urd  insofern  irgendwelche  „Fundamente"  voraussetzt,  euf 
denen  sie  sich  aufbaut,  mag  zutreffen,  —  wenngleich  auch  hier  daran  fest- 
zuhalten   ist,    daß    die  Abhängigkeit  eine  diu-chaus  wechselseitige  ist,  so 

456 


das  Blau  und  Rot,  das  Rauh  oder  Glatt  usf.  hervorheben  oder 
aber  lediglich  auf  die  allgemeinen  Verhältnisse  hinblicken, 
die  sich  zwischen  diesen  besonderen  Elementen  herstellen, 
entstehen  uns  Sätze,  die  einem  durchaus  verschiedenen  Typus 
der  Begründung  angehören.  Freilich  kann  die  Psycho- 
logie innerhalb  der  Grenzen  ihrer  Aufgabe,  kraft  deren  sie 
lediglich  das  Denken  als  zeitlichen  Vorgang,  nicht  aber 
den  Inhalt  des    Gedachten    beschreibt  und  zergliedert, 

daß  die  „Fundamente"  ebensosehr  der  Beziehung  bedürfen,  wie  diese  der 
Fundamente  bedarf.  Darin  aber  liegt  nicht,  daß  dasjenige,  was  die  Eigen- 
tümlichkeit eines  bestimmten  Ordnungsprinzips  ausmacht,  irgendwie  selbst 
wiederum  als  inhaltliches  Merkmal  der  geordneten  Elemente 
aufzeigbar  sein  muß.  Denn  würden  wir  dies  annehmen,  so  müßten  wir 
schließlich  dem  Inhalt  so  viel  besondere  „Qualitäten"  zusprechen,  als 
es  Arten  gibt,  ihn  mit  anderen  zu  verknüpfen  tmd  auf  andere  zu  be- 
ziehen. Nicht  nur  für  die  Raumordnung,  sondern  auch  für  die  Zeitordnung, 
weiterhin  aber  für  alle  Arten  quantitativer  oder  qualitativer  Vergleichung 
müßte  jetzt  ein  spezifischer  Wahrnehmungsbestand  gefordert  werden. 
Allgemein  aber  ist  es  nicht  ersichtlich,  wie  eine  bloße  Differenz  im  Inhalt 
der  verglichenen  Elemente  dazu  dienen  soll,  die  verschiedenen  möglichen 
Weisen  ihrer  Beziehung  zu  bestimmen  und  auseinanderzuhalten.  Sollen 
zwei  Ordnungen  als  Ordnungen  unterschieden  werden,  so  muß  es 
doch  wohl  irgendein  Mittel  des  Bewußtseins  geben,  kraft  dessen  sich  die 
Art  der  Verknüpfung  selbst  rein  als  solche  erfassen  und  gegen 
andere  abgrenzen  läßt.  Spricht  man  dem  Bewußtsein  die  Fähigkeit  zu, 
die  einfachen  Wahrnehmungsdaten  von  einander  zu  unterscheiden,  so 
sieht  man  nicht,  wie  man  ihm  die  gleiche  Fähigkeit  für  die  mannigfachen 
ursprünglichen  Funktionen  der  Zuordnung  versagen  kann.  Der 
tiefere  Grund  der  Schwierigkeit  scheint  hier  nicht  sowohl  in  der  Psychologie 
selbst,  als  in  der  gewöhnlichen  Auffassung  und  Definition  der  Logik  zu 
liegen.  Die  Logik  gründet  sich  in  ihrer  traditionellen  Gestalt  auf  den  Ge- 
danken der  Identität  und  sucht  auf  ihn  letzten  Endes  alle  Weisen  der 
Verknüpfxing  und  Schlußfolgerung  zurückzuführen.  Gilt  aber  die  Identität 
einmal  als  Ausdruck  der  Beziehungsform  schlechthin,  so  kann  freilich  die 
Verschiedenheit  der  Bezieh\xngen,  für  die  notwendig  ebenfalls 
eine  Ableitung  und  Erklärung  zu  fordern  ist,  lediglich  im  Inhalt  der  auf- 
ernanderbezogenen  Elemente  gegründet  werden.  Indessen  hat  gerade 
die  moderne  Gestaltung  der  Logik  dieser  Auffassung  den  Boden  ent- 
zogen, indem  sie  immer  deutlicher  gezeigt  hat,  daß  es  unmöglich  ist, 
die  verschiedener  Formen  des  Urteils  auf  den  einzigen  Typus  der 
Identität  zurückzuführen  (Näheres  hierüber  z.  B.  bei  Jonas  C  o  h  n  ,  Vor- 
aussetzungen und  Ziele  des  Erkennens,  S.  85  ff.).  Wie  man  sich  hier  zur 
Anerkennung  einer  ursprünglichen  Vielheit  verschiedenartiger  Relations- 
Synthesen  (R,  R',  R"  visf.)  genötigt  sieht,  die  aufeinander  nicht  wechsel- 
weise reduzierbar  sind,  so  muß  auch  die  psychologische  Betrachtung  zuletzt 
Unterschiede  anerkennen,  die  der  Art  und  Weise  der  „apperceptiven  Ver- 
knüpfung" selbst  angehören,  ohne  darum  in  einer  besonderen  Qualität  des 
Empfindungsinhalta  iliren  Ausdruck  zu  finden. 

457 


diesen  Prozeß  der  begrifflichen  Sonderung  nicht  mehr  in  seiner 
Gesamtheit  verfolgen  und  übersehen.  Erst  im  endgültigen 
Ergebnis  wird  die  Tendenz  des  Gesamtprozesses  klar;  erst 
das  völlig  entwickelte  und  nach  einheitlichen  rationalen  Prin- 
zipien gegliederte  System  der  Geometrie  enthält 
die  abschließende  Charakteristik  des  Raummoments.  Wenn- 
gleich indessen  die  Psychologie  diese  Charakteristik  nicht  mehr 
zu  begründen  vermag,  so  braucht  sie  ihr  doch  andererseits 
an  keinem  Punkte  zu  widersprechen.  Ihre  eigene 
Behandlung  der  Relationsprobleme  führt  sie  vielmehr  von 
selbst  mit  innerer  Notwendigkeit  zu  einem  Punkte  hin,  an 
welchem  eine  neue  Richtung  der  Betrachtung  einsetzt.  Die 
Scheidung  des  Relationsmoments  vom  Inhaltsmoment,  zu 
der  sie  sich  gedrängt  sieht,  bleibt  in  ihr  sozusagen  p  r  o  - 
1  e  p  t  i  s  c  h  und  erhält  erst  in  einem  erweiterten  Gebiet  ihre 
volle  Aufhellung  und  Bestätigung. 

Selbst  die  rein  empirisch-experimentelle  Betrachtung  der 
seelischen  Phänomene  weist  bezeichnenderweise  auf  eine 
derartige  Konvergenz  der  Probleme  hin.  Mehr  und  mehr 
tritt  hier  das  Bemühen  hervor,  die  Methode  des  Experiments 
nicht  lediglich  auf  die  Tatsachen  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
anzuwenden,  sondern  mit  ihrer  Hilfe  die  komplexen  Vor- 
gänge des  begrifflichen  Verstehens  in  ihren  Grundzügen 
festzustellen*.  Auch  hierbei  aber  zeigt  es  sich  immer  deut- 
licher, daß  nicht  die  anschaulichen  Sachvorstellungen,  nicht 
die  direkten  Wahrnehmungs  b  i  1  d  e  r  es  sind,  die  diesen 
Vorgang  stützen  und  tragen.  Das  Verständnis  des  einfachsten 
Satzes  verlangt,  eben  wenn  er  als  Satz,  in  seiner 
bestimmten  logisch  grammatischen  Struktur  erfaßt  werden 
soll,  Elemente,  die  sich  der  anschaulichen  Darstellung  schlecht- 
hin entziehen.  Die  bildlichen  Einzelvorstellungen  der  kon- 
kreten Objekte,  von  denen  die  Aussage  gilt,  können  mannig- 
fach wechseln  oder  auch  gänzlich  zurücktreten,  ohne  daß 
damit  die  Erfassung  der  einheitlichen  Bedeutung  des  Satzes 
gefährdet  würde.    Die  Begriffszusammenhänge,  in  denen  diese 


*  Eine  knappe  und  übersichtliche  Darstellung  dieser  psychologischen 
Forschungsrichtxuig  findet  sich  bes.  bei  Messer,  Empfindung  und 
Denken,  Lpz.  1908. 

458 


1 


( 


Bedeutung  wurzelt,  müssen  also  für  das  Bewußtsein  in  eigenen 
kategorialen  Akten  repräsentiert  sein,  die  als  selbständige, 
nicht  weiter  zurückführbare  Faktoren  jeglichen  geistigen  Er- 
fassens anzuerkennen  sind.  Der  Weg,  auf  welchem  die 
psychologische  Forschung  zu  dieser  Einsicht  gelangt  ist,  ist 
freilich  merkwürdig  genug;  und  er  kennzeichnet  wiederum  die 
geschichtliche  Bedingtheit  ihrer  Methode  und  Fragestellung. 
Nicht  in  seiner  selbstständigen  Tätigkeit,  wird  hier  das 
„Denken"  erfaßt  und  beobachtet;  sondern  in  der  Aufnahme 
eines  fertigen,  von  außen  dargebotenen  Inhalts  versucht  man 
seine  Eigentümlichkeit  festzustellen.  Daher  erscheint  denn 
auch  der  neue  Faktor,  der  auf  diesem  Wege  ermittelt  wird, 
eher  als  ein  paradoxer,  nicht  völlig  verstandener  Rest,  der 
bei  der  Analyse  zurückbleibt,  denn  als  eine  positve  und  eigen- 
tümliche Grundfunktion.  Die  erkenntniskritische  Betrach- 
tung dagegen  kehrt  dieses  Verhältnis  um:  denn  für  sie  ist  eben 
jener  problematische  ,,Rest"  das  eigentliche  Erste  und  „Ver- 
ständliche", von  dem  sie  ausgeht.  Sie  sucht  das  Denken  lÄciit 
dort  auf,  wo  es  den  Sinn  eines  schon  fertigen  Urteils-Zusammen- 
hangs bloß  receptiv  aufnimmt  und  in  sich  nachbildet,  sondern 
wo  es  einen  sinnvollen  Inbegriff  von  Sätzen  erschafft  und 
aufbaut.  Sobald  die  Psychologie  dieser  Richtung  der  Betrach- 
tung folgt  und  das  Denken  gleichfalls  in  der  konkreten  Gesamt- 
heit seiner  produktiven  Leistungen  betrachtet,  löst  sich 
auch  der  anfängliche  Gegensatz  der  Methoden  mehr  und 
mehr  in  eine  reine  Korrelation  auf:  die  Psychologie  selbst 
ergibt  nunmehr  den  Ansatz  der  Probleme,  die  ihre  fort- 
schreitende Lösung  in  der  Logik  und  in  ihrer  Anwendung 
auf  die  Wissenschaft  zu  suchen  haben. 


459 


MonotypeaaU  und  Drude  von  A.  Gerts  O.  m.  b.  H., 

Charlottenburg. 


1 


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