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Full text of "Süddeutsche Monatshefte"

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Sühbeutihe Adonashd 


23. Jahrgang April 1926 






Militärische 
Scnulung der Jugend 
im Ausland _ 


1 Nr 
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Amerika 
Rusland 
Frankreich 
England 
Polen 
Tschechien 
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II: 


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Ersie umiassende Darsiellung! 





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laödeutfche alonatenetie 8.0.6.9. Münden 


Bee &m. 1.50 Wierteljähel. Sm. 4.— 












Württemberger 


im Ausland bleiben in enger Verbindung mit ihrer Heimat und 
erhalten ein umfassendes, zuverlässiges Bild der dortigen poli- 
tischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse durch die 


Auslands - Wockhenausgabe 
des Schwäbifchhen Merfur 


Der seit 1785 in Stuttgart erscheinende Merkur ist bekannt als 
das Blatt der Schwaben, er hat im ganzen Lande seine eigenen Be- 
richterstatter, und die führenden Männer Württembergs nehmen 
in ihm Stellung zu allen schwäbischen Angelegenheiten 

















Man bestellt bei der 
Berfriebsabfeilung des Schwäbifchen Merkur in Sfuffgarf 







INVITES UENRRIEET 
Das Österbuch 
Da 















des Deutschen: 
DIE DEUTSCHEN TRÄUMEI 


Von Paul Nikolaus Gossmann und Karl Alexander von Müllt 


Das Buch deutscher Auferstehung, das Buch deutsche 
Gegenwart und Zukunft, geboren aus deutscher No! 


Eine Pressestimme aus vielen ähnlichen: „Der Inhalt ist unglaut 
lich aktuell... Aufgezeichnet von Männern, deren hervorragende 
geistiger Standpunkt und umfassende Kenntnis aller historische: 
soziologischen und mechanischen Triebkräfte des Weltgeschehen 
nicht minder als ihre echte Vaterlandsliebe und ihr im besteı 
Sinne überparteiliches Eingehen auf alle Volksschichten in ihre) 
Buche wirksam sind . .“ 


Preis Mark 2.50, vornehm gebunden Mark 3.50 
Zu haben in jeder Buchhandlung 


Buchverlag der Süddeutschen Monatshefte, Müncher 











































Fortschritt im Lügen 


T' einem früheren Jahrhundert, das vielen in gar zu hellem Lichte erstrahlt, konnte 
"2 man im kunstgetränkten Nürnberg täglich sehen, wie nackte Strafgefangene, von 
‚ihren Aufsehern mit Peitschen vorwärtsgetrieben, Schiffe die Pegnitz hinaufzogen. 
I. Wenn man an die Ausbildung der Folter in den verschiedenen Ländern denkt, an 
‚die Verließe, in denen man seine Mitmenschen gefangen hielt, so fragt man sich, ob 
es in der ganzen Natur etwas so Grausames gibt wie den Menschen. 

Ungerecht wäre es aber, jeden Fortschritt zu verkennen. Nicht nur, daß die Nerven 
schwächer geworden sind, und man öffentliche Folterungen und Verbrennungen doch 
nicht so genießen würde wie in früheren Zeitaltern, auch gegen geheime und unge- 
sehene Grausamkeiten lehnt sich das Menschlichkeitsgefühl doch ganz anders auf 
als früher. Nicht umsonst haben heldische Menschen im Kampfe gegen die Folter, 
‚gegen die Hexenprozesse, gegen die Mißhandlung von Geisteskranken, die Selbst- 
täuschung der teilnahmslosen Menge bekämpft, die schlummernde Menschlichkeit 
geweckt. Im Weltkrieg ist allerdings ein Rückschritt gegenüber den Kriegen desletzten 
j Jahrhunderts erfolgt. In Frankreich, Rumänien und Afrika hat die Marterung der 
| Gefangenen wieder die Form des Mittelalters angenommen. Daß der Weltkrieg 
weniger Leiden geschaffen hätte als frühere, kann man gewiß nicht sagen. Die Waffen 

sind indirekter geworden; der Chemiker, der ein neues Giftgas bereitet, der Bankier, 
der es finanziert, hat die Leiden nicht mehr so vor Augen wie in früheren Zeiten der 
ı Führer an der Spitze seiner Reiterschar. 

In einer Beziehung ist ein unbestreitbarer Fortschritt erfolgt: nie sind Werke der 
Selbstsucht so mit Worten der Liebe verkleidet worden wie in diesem Krieg. 
| Und so ist es auch seitdem geblieben. Man predigt in den ehemaligen Feindbund- 
staaten und den von ihnen geschaffenen neuen den Internationalismus und pflegt 








den Nationalismus. 

Wir sind weit davon entfernt, den fortschreitenden Nationalismus der Völker für 
‚einen Rückschritt der Menschheit zu halten. 

Gegenüber dem dynastischen Staat, dem Bürgerstaat, dem Klassenstaat ist der 
Nationalstaat etwas Höheres. 

Und auch das Volksheer ist gegenüber dem Söldnerheer früherer Jahrhunderte 
etwas Höheres. Es ist wie der Nationalstaat geeignet und berufen, die edlen Eigen- 
‚ Schaften der Menschen in ihrem Zusammenleben zu wecken und zu steigern. 

Also davon sind wir weit entfernt, die Entwicklung wie sie die militärische Jugend- 
ausbildung in der neuesten Zeit genommen hat, für einen Rückschritt zu halten. Für 
einen Rückschritt halten wir es nur, daß diese Militarisierung stattfindet unter gleich- 
zeitiger Veranstaltung von Abrüstungskonferenzen ; daßsie stattfindet bei den Völkern, 
die angeblich ausgezogen sind, um den deutschen Militarismus zu bekämpfen und 
die Welt mit einem — der Massenhaftigkeit und Indirektheit des Zeitalters ent- 
sprechenden — Maschinengewehrfeuer von meistgutbezahlten Artikeln über den ewigen 
Frieden überschütten, während sie ihre Jugend gleichzeitig außer in der Bedienung 
‚dieses Maschinengewehrs der Lüge, auch in denjenigen Waffen ausbilden, zu deren 
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ermeidung sie angeblich den Völkerbund gegründet haben. 
| 






FIN 


| 34 
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Militärische Schulung der Jugendim Ausland 


Die Westmächte und Amerika 


Von Oberst a. D. Max Blümner in Berlin-Wilmersdorf 


as Deutsche Reich darf nach dem Vertrag von Versailles seine Jugend nicht mili- 
tärisch ausbilden. Im Teil 5, Abschnitt III, Nr. 177, heißt es: 


„Die Unterrichtsanstalten, Universitäten, Kriegervereine, Schützengilden, die Sport- 
oder Wandervereine, überhaupt Vereinigungen jeder Art, ohne Rücksicht auf das Alter ihrer 
Mitglieder, dürfen sich mit keinen militärischen Dingen befassen. 

Es ist ihnen namentlich untersagt, ihre Mitglieder im Waffenhandwerk oder im Gebrauch 
von Kriegswaffen auszubilden oder zu üben oder ausbilden oder üben zu lassen. 

Diese Vereine, Gesellschaften, Unterrichtsanstalten und Universitäten dürfen in keiner Ver- 


bindung mit dem Kriegsministerium oder irgendeiner anderen militärischen Behörde stehen“. ! 


Da nun nach dem Vertrag (Einleitung zu Teil V) die Entwäffnung Deutschlands 


„eine allgemeine Rüstungsbeschränkung aller Nationen‘‘ einleiten soll, so müßten! 


unsere einstigen Kriegsgegner, wenn sie es ehrlich mit dem Friedensvertrag meinen, 















ebenfalls auf jegliche militärische Jugendausbildung verzichten. Wir werden in’! 


folgendem sehen, wie weit die drei großen Militärmächte Frankreich, England und 
die Vereinigten Staaten von Amerika dieser ihrer Vertragspflicht jetzt 7 Jahre nach 
Friedensschluß, nachgekommen sind. 


England 


as britische Reich war zum Schutze seines weltumspannenden Handels und seines 
D ausgedehnten Überseebesitzes immer darauf angewiesen, mehr Gewicht auf eine 
starke Kriegsflotte als auf ein großes Heer zu legen. Seine an der Verteilung der 
großen weltwirtschaftlichen Werte immer hervorragend beteiligte Politik aber 
verwickelte es immer häufiger in kriegerische Ereignisse, die mit der Zahlung von 
„Subsidiengeldern‘“ oder Hilfstruppen wie im 17. und 18. Jahrhundert nicht mehr 
aus.der Welt zu schaffen waren, sondern das Auftreten eines starken Heeres erfor- 
derten — soweit nicht andere Staaten bewogen wurden, für England die Kastanien 
aus dem Feuer zu holen. 

Die großen Festlandsmächte gingen zur allgemeinen Wehrpflicht über; England 
konnte dem nicht folgen, wollte es nicht seine meerbeherrschende Flotte vernachläs- 
sigen. Doch mußte es im gegebenen Augenblick schnell eine große Truppenmacht zur 
Hand haben, um sein Gewicht in die Wagschale zu werfen. So wußten denn seine weit- 
blickenden Staatsmänner das zum Staatsgedanken erzogene Volk zu veranlassen, 
neben dem kleinen Söldnerheer nach und nach ein weit verzweigtes Freiwilligenheer 
aufzubauen, das den Staatssäckel weniger belastet. Ein Heer von Freiwilligen aber 
würde bei der kurzen Dienstzeit nie ein brauchbares Kriegswerkzeug bilden, wenn es 
sich nicht aus jungen Leuten ergänzte, die von früh auf leiblich und seelisch zum 
Waffendienst ertüchtigt und militärisch hierzu vorbereitet sind. So griff man denn 
schon vor Jahrzehnten den Gedanken der militärischen Jugendausbildung wieder auf, 
der in Englands Geschichte am Ausgang des Mittelalters schon einmal eine Rolle 
gespielt und in neuerer Zeit Preußen zu seiner Erhebung gegen Napoleon befähigt hatte. 


Die ersten Anfänge dieser Bewegung sehen wir bereits am Schluß des Krim- 
krieges, als sich auf den höheren Lehranstalten junge Leute aus guten Familien 
(cadets) zu militärischer Ausbildung zusammenschlossen. Mit jedem Feldzug wuch- 
sen auch die Jugendverbände, Nach dem ägyptischen Unternehmen entstanden die 
Knaben-Brigade (The Boys Brigade) und andere Einheiten, nach dem Kriege im 
Sudan die Stadt- und Landbataillone (‚‚The Lads Drill Association‘, „The Church 
Lads Brigade‘‘), späterhin die Knaben-Schützenvereine (Miniature Rifle Clubs) und 
nach dem Burenkriege die Späherknaben (Boy Scouts) und andere Einheiten. 

Als die englischen Staatsmänner dann eine Auseinandersetzung mit Deutsch- 
land in ihre Rechnung einstellten, sicherte sich die englische Regierung ihren Einfluß 
auf diese Jugendbewegung; sie erkannte die bedeutendsten der Jugendverbände, 












Die Westmächte und Amerika 3 


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das „Officers Training Corps‘ und die „Cadets Corps“ staatlich an, unterstützte sie 

| "durch Staatsbeihilfen und förderte sie auf jede Weise, behielt sich aber dafür ein 

| Aufsichts- und Bestimmungsrecht über sie vor. 

‚© Je näher der Weltkrieg heranrückte, um so mehr setzten sich bedeutende Politiker 
und Generale wie Lord Rosebery, Lord Roberts, Kitchener u. a. für die Bewegung 
ein. General Seely forderte 1912, daß jeder Engländer eine gründliche Leibes- 

"ausbildung erhalte und schießen lerne. Der Marquis of Lansdown sagte 1913: 

„Wir müssen uns mit der leiblichen Ausbildung der Jungen in der Schule beschäfti- 

‚gen, dann werden wir genügend ausgebildete Männer haben, wenn das Land bedroht 

ı wird. Die Leibesausbildung kommt auch der industriellen Beschäftigung zugute.“ 
Im Weltkriege erntete England die Früchte der von Staat und Volk betriebenen 

Jugendausbildung; sie hat es ermöglicht, in kurzer Zeit aus dem unbedeutenden 

ı Söldnerheer ein kriegsbrauchbares Volksheer zu schaffen. 


| 
| ach Abschluß des Krieges verschwand in England wieder die allgemeine Wehr- 
| pflicht, die Bewegung der militärischen Jugendausbildung aber verbreitete 
"und vertiefte sich in gewaltigem Maße. In England allein (also ungerechnet die 
Kronländer Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika) genießen jetzt 650000 
' bis 700000 Knaben und Jünglinge eine militärische Jugendausbildung; mit den 
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Kronländern zusammen sind es 900000 bis I Million Jungmannen. 


Von den beiden staatlich anerkannten Verbänden sind die Jungmannen-Korps Jungma 


ı (Cadets Corps) die älteren und an Kopfstärke größeren. Sie bilden ihre Einheiten 
"aus Knaben der mittleren und niederen Schulen im Alter von 12 bis 18 Jahren 
‚und werden auch ergänzt aus den Industrieschulen, den Wohlfahrtsverbänden 
großer Fabriken, den Stadtbataillonen, sowie den Knabenbrigaden, den katholischen 
ı und jüdischen Jungmannen usw. 
| Ihr Zweck ist, gegenüber den zersetzenden Bestrebungen der Neuzeit, der Jugend 
den Gedanken des britischen Reiches einzuprägen, sie zum freiwilligen Heeresdienst 
vorzubereiten und somit eine Ersatzquelle für Unteroffiziere und Mannschaften des 
freiwilligen Heeres (Territorial-Army) zu bilden. Die „Cadet forces‘ gelten als ein Teil 
der Streitkräfte der Krone, obgleich ihre Angehörigen nicht den Militärgesetzen 
unterworfen sind und als Nichtkämpfer auch keinen Fahneneid leisten. Während sie 
kurz vor dem Kriege 251 Kompagnien mit 14399 Köpfen zählten, bestanden sie 
1921 aus 2318 Kompagnien mit 119706 Mitgliedern. 

. Die Einheiten werden, wie die Truppenteile des Territorialheeres, von den Graf- 
Schaftsausschüssen (Territorial Army county associations) aufgestellt und ver- 
waltet, die für jeden Jungmann 1 Mark jährlich als Verwaltungskosten erhalten. 
Die jedem Jungmann früher gewährte Staatsbeihilfe von jährlich 5 Mark wird 
seit 1923 aus Gründen der Sparsamkeit nicht mehr gezahlt. Die Einheiten haben 
das Vorrecht, den Truppenschauen beizuwohnen und erhalten freie Benutzung der 
Exerzierhäuser und Übungsplätze sowie der Lagerausrüstungen. 

Das Kriegsamt liefert ihnen auch die: Waffen sowie einen Teil der Uniformen 
nebst Ausrüstung und stellt ihnen Angehörige von Territorialtruppen und ehemalige 
Unteroffiziere des stehenden Heeres als Lehrpersonal zur Verfügung. Der Unterricht 
wird in jeder Woche in Turnhallen und Exerzierhäusern mehrstündig erteilt und er- 
streckt sich zunächst auf: die infanteristische Grundausbildung, dann auf Zielen 
und Gewehrschießen, Schanzen, Marschieren und Felddienst. Einmal jährlichhaben die 
‚Jungmannen eine 14tägige Lagerübung auf einem Truppenübungsplatz mitzumachen. 

Ein großer Teil der Kompagnien ist Territorialregimentern (1922 waren es 901 Kp.) 
‚oder dem Regiment Kings Royal Rifles des stehenden Heeres (1922: 606 Komp.) 
zugeteilt. Der Oberste Kriegsrat hat sogar eine amtliche Liste über die Jugendein- 
‚heiten, ähnlich der Rangliste des Heeres herausgegeben. 

ı = Im Kriege wurden die gereifteren Jungmannen bis November 1914 zur Bewachung 
' von Munitionsfabriken verwendet, darnach stellten sie Ehrenwachen bei fürstlichen 
Besuchen und Denkmalsenthüllungen sowie Ehrenkompagnien bei zahlreichen 
öffentlichen Feierlichkeiten, 


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korps 












4 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 


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Von 1915 bis 1918 wurden 47998 der ausgebildeten Jungmannen von Heer und 
Marine übernommen und 5692 von ihnen erhielten das Offizierspatent. Außerdem 
sollen viele Jungmannen, die nicht das vorgeschriebene Alter hatten, selbst solche 
von 141, Jahren, am Kriege teilgenommen haben, ja, verwundet worden sein. Zwei 
der Jungmannen erhielten das Viktoria-Kreuz. 1917 bis 1918 wurden 300 Jungman- 
nen (ohne Löhnung) bei Luftabwehrformationen verwendet, wo sie nach einer straffen 
Ausbildung Tag- und Nachtdienst versahen. (Hornsignale abgeben zur Warnung der 
Bevölkerung beim Nahen von feindlichen Luftschiffen und Flugzeugen.) 


\X Tenn es England im Kriege gelang, für seine umfangreichen Neuaufstellungen 

in so kurzer Zeit kriegsbrauchbare Soldaten aus den militärisch vorbereiteten 
jungen Leuten zu machen, so lag das zum guten Teil daran, daß England sich im 
Frieden ein zahlreiches, gut vorgebildetes Reserveoffizierkorps geschaffen hatte. 
Hierzu hatte ganz besonders das ebenfalls staatlich anerkannte Offiziersausbildungs- 
korps (Officers Training Corps) beigetragen, das sich aus Studenten und Schülern 
der Höheren Schulen ergänzt. Seine Aufgabe geht dementsprechend über die des 
Cadet-Corps hinaus; seine Jungmannen sollen nicht eine Rekrutenausbildung 
erhalten, sondern zu einem sicheren, selbstbewußten Auftreten und zum Führertum 
erzogen und letzten Endes zu Reserveoffizieren für das Freiwilligenheer (Territorial 
Army) oder für die Verstärkungsreserve (supplementary reserve) sowie zu aktiven 
Offizieren herangebildet werden. 

Das Korps hatte 1922 eine Kopfstärke von rd. 35000 Mann. Es untersteht be- 
züglich der Organisation und Aufsicht unmittelbar dem Kriegsamt, bezüglich des 
Unterrichts dem Chef des Generalstabes. Jede höhere Schule kann eine, jede Uni- 
versität mehrere Einheiten aufstellen, die aus mindestens I Offizier und 30 Jung- 
mannen bestehen müssen. Innerhalb der Divisionsbezirke werden die Einheiten durch 
einen Truppenteil betreut, der ihnen das Gerät, die Schießstände und Übungsplätze 
kostenlos zur Verfügung stellt. Die Divisionskommandeure der Territorialarmee, 
die aktive Offiziere sind, haben das Recht, die Jungmannen zu besichtigen. Der 
König nimmt regen Anteil an ihren Bestrebungen, der Prinz von Wales ist in ihren 
Reihen ausgebildet worden und bekleidet die Würde ihres Oberbefehlshabers. 

Das gesamte Korps besteht aus 2 Divisionen: der Jungdivision (Junior Divi- 
sion), die sich aus den Einheiten der höheren Schulen zusammensetzt, und der Alt- 
division (Senior Division) mit den Einheiten der Universitäten. Die Schüler 
werden im Alter von 14 bis 17, die Studenten im Alter von 17 bis 25 Jahren aufge- 
nommen. Der Eintritt ist freiwillig, doch müssen sich die Angehörigen der Alt- 
division durch Vertrag zu einer Mindestdienstzeit von 2 Jahren verpflichten. 

Die Mitglieder des Ausbildungskorps sind keine Militärpersonen und leisten Keinen 
Treueid; doch tragen sie im Dienst Uniform. Das Kriegsamt liefert ihnen Waffen 
und Ausrüstung und zahlte bis vor kurzem einem jeden eine Beihilfe von 50 Mark 
jährlich, die aber anscheinend im letzten Jahre herabgesetzt oder ganz fortgefallen ist. 

Ihre Ausbildung erfolgt durch Offiziere des stehenden oder des freiwilligen Heeres, 
die auf mehrere Jahre zu den Einheiten befehligt werden; bei der Jungdivision 
auch durch Lehrer, die Reserveoffiziere sind, und ehemalige Unteroffiziere., 

Im Heereshaushalt 1924/25 wurden 1235 Offiziere und Unteroffiziere als Ausbil- 
dungspersonal für das Offiziersausbildungskorps geführt. In jeder Woche finden 
einige Übungsstunden statt; außerdem muß jeder Jungmann jährlich in seinen 
Oster-, Sommer- oder Weihnachtsferien eine l4tägige Lagerübung auf einem Trup- 
penübungsplatz nach einem kriegsamtlichen Ausbildungsplan mitmachen sowie 
öfter an den Felddienstübungen der Truppen teilnehmen. 

Die infanteristisch geführte Ausbildung erstreckt sich auf Waffengebrauch und 
Bewegungen in Schul- und Gefechtsformationen, ferner auf Schießen, Felddienst, 
Taktik, Kartenlesen, Gebrauch des Kompasses und Leibesübungen. In der Jung- 
division werden die Jungmannen zum Zugführer, in der Altdivision auch zum 
Kompagnieführer herangebildet. Ihre Eignung hierzu können sie nach Ableistung 
der vorgeschriebenen Ausbildung, Erfüllung ihrer Schießklasse sowie Teilnahme an 








Die Westmächte und Amerika 


| 


' Feldübungen und der Besichtigung dartun. Die Ablegung der Prüfung verpflichtet 
| die jungen Leute jedoch nicht, eine Reserveoffiziersstelle im freiwilligen oder stehen- 
‚den Heere in Friedenszeiten zu übernehmen. 100 aktive Offiziersstellen werden jähr- 
"lich für die Studenten freigehalten, die mit dem Befähigungszeugnis vom Ausbil- 
| dungskorps ohne Besuch einer Kriegsschule eingestellt werden. 

\ Bei der Altdivision können auch besondere Einheiten für Artillerie, Reiterei oder 


| Pioniere aufgestellt werden. In den Reitereinheiten haben die Zöglinge ihre Dienst- 





pferde selbst zu stellen. 

| Im Jahre 1924 wurden 150 Jungmannen bei den Fliegerformationen des Heeres 
" ausgebildet, 180 auf der Pionierschule in Catham, 140 auf der Scheinwerferschule 
, Stokes Bay und 550 auf der technischen Schule für Jugendliche in Bealkley. In 
‚ diesem Jahre werden die Offiziers-Ausbildungskorps zwischen Juni und August 
‚ zu ihrer Belehrung die Artillerieschule besuchen. 





on den militärisch aufgezogenen Jugendverbänden, die zwar nicht staatlich an- 
erkannt sind und keine Zuwendungen erhalten, aber vom Staat gefördert 


Knaben- 
brigade und 
Jungmann- 


\ werden, sind die ältesten die Knabenbrigade (The Boy’s Brigade) und die Jung-4rlllgesellschatt 


" manndrillgesellschaften (The Lads Drill Associations), die, von alten Generälen und 
ı Staatsmännern gegründet und gepflegt, ihre Mitglieder aus mittleren und niederen 
| Schulen ergänzen, vaterländischen Geist und Lust zum Soldatenleben in ihnen 
\ wecken und sie in die Anfangsgründe militärischer Ausbildung einführen. 

| Weit verbreitet in Stadt und Land sind die von der Geistlichkeit oder vom Guts- 
' herrn innerhalb des Kirchspiels aufgestellten Kirchlichen Jugendvereine (The 
| Church Lads’ Brigade). Ihre Leitung liegt in den Händen der Geistlichen, die in 
England eine vaterländische Tätigkeit mit ihrer Würde wohl vereinbar, ja sogar 
für ihre Pflicht halten. Reserveoffiziere und ehemalige Unteroffiziere sorgen für die 
| militärische Ausbildung, die den verschiedenen Verhältnissen entsprechend auch sehr 
| verschiedenartig ist. Es wird geturnt, exerziert, geschossen und marschiert unter 
| Trommeln und Pfeifen. Höchste Verehrung gilt der englischen Flagge; zu Fahnen- 
 weihen erscheinen die Geistlichkeit und staatliche Würdenträger. 

Einen Teil des Jahres beziehen sie ein Ausbildungslager, dessen Einrichtung 
ihnen selbst gehört. Viele Brigaden haben auch Sportplätze, Badeanstalten und 
gut eingerichtete Vereinsräume, sogar eigene Turnhallen und Schießstände. 

Daß auf die Ausbildung im Schießen bei all diesen Jugendverbänden ganz be- 
sonderer Wert gelegt wird, ist bei der Vorliebe der Engländer für den Schießsport 
| —- ganz im Gegensatz zu Deutschland — nur natürlich. Seit mehreren Jahrzehnten 
bildeten sich, von Lord Roberts gefördert, Knabenschützenvereine (Miniature Rifle 
Clubs), die bis zu einer Gesamtzahl von 150000 Mitgliedern anwuchsen. Ihr Ziel 
ist eng begrenzt und mit geringen Mitteln erreichbar und doch für die schnelle 
Aufstellung und Ausbildung eines Volksheeres von Bedeutung. Unter Leitung 
eines für den Schießsport begeisterten Bürgers, Reserveoffiziers oder ehemaligen 
Soldaten werden den Jungen mit Kleingewehren die Grundeigenschaften des Schützen 
beigebracht: eine ruhige Hand, ein zielsicheres Auge, kaltes Blut. Die Heeresver- 
waltung steht der Bestrebung, die in London ihre Oberleitung hat, wohlwollend 
gegenüber, stellt Schießstände, nötigenfalls auch Schießpersonal zur Verfügung. 


eit mächtiger an Zahl und Bedeutung ist der Bund der Knabenkundschafter 
| (Boy Scouts), der von General Baden-Powel nach seinen Erfahrungen im Buren- 
Kriege gegründet wurdeund jetzt nachseiner Verbreitung über das ganze britische Reich 
einschließlich Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika bereits rund 300000 
Mitglieder zählt. Im Dezember 1925 fanden in London Besprechungen zwecks 
weiterer Förderung der Kundschafterbewegung an den Mittel- und Hochschulen 
statt. 
Der Endzweck des Bundes der Knabenkundschafter besteht darin, charakter- 
volle, entschlossene und gesunde Männer für die Landesverteidigung und tüchtige 
Bürger heranzubilden. Durch Kundschaften im Gelände, Naturbeobachtung und 





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Kirchliche 


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6 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 
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Lagerleben soll den Jungen Selbstvertrauen, Tatkraft und Gesundheit, Gemeinsinn 
und Ritterlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Vaterlandsliebe anerzogen werden. 
Schädlichen Einflüssen ferngehalten, werden die Schulentlassenen weiter erzogen 
und für einen Beruf vorbereitet Durch Verkehr zwischen den Kundschaftervereinen 
wird das Zusammengehörigkeitsgefühl des’ ganzen britischen Reiches gefördert, 


Ohne Ansehen von Stand, Glauben und Partei werden die Knaben im Alter von 
11 bis 18 Jahren aufgenommen; nach einer Probezeit, in der sie die Kundschafter- 
gesetze, den Gruß, die Bedeutung der Flagge und einige Leibesübungen erlernen, 
müssen sie bei ihrer Ehre geloben, alles daranzusetzen, um ihre Pflichten gegen Gott 
und den König zu tun, allezeit jedermann zu helfen und die Kundschaftergesetze zu 
befolgen. Diese lauten: 


1. Eines Kundschafters Ehre muß man trauen können, 

2. er ist treu dem König, seinem Lande, seinen Offizieren, seinen Eltern, seinen Arbeits 
gebern und allen, die im unterstellt sind; 

3. sich nützlich machen und anderen helfen, ist seine Pflicht; 

4. er ist allen ein Freund und jedem anderen Kundschafter ein Bruder, ohne Rücksicht auf 
die gesellschaftliche Stellung; 

5. er ist höflich; 

6. ist ein Tierfreund; 

7. gehorcht sofort und ohne Widerrede seinen Eltern, seinem Fähnleinführer und Kund 
schaftsmeister; 

8. ist guter Laune und pfeift auf alle Schwierigkeiten; | 

9. ist sparsam; 

10. ist rein in Gedanken, Worten und Taten. 


Eine Vorstufe zum Kundschafter ist der Wölfling (wolf cub) im Alter vom 8.—11. 
Jahre; er gelobt, treu seine Pflicht gegen Gott und König zu erfüllen, das Wolfs- 
gesetz zu befolgen und täglich eine gute Tat zu tun. 


Die älteren Jahrgänge werden bei höheren Leistungen als „Räuberkundschafter‘“ 
(rover scouts) für einen bestimmten Beruf vorbereitet. Nach Ablegung einer Prüfung 
erhalten sie ein Berufsabzeichen. Es gibt solche Abzeichen für Radfahrer, Schützen, 
Pfadfinder, Retter, Winker, Wanderer, Schwimmer, Entfernungsschätzer, Kranken- 
wärter usw. 


6—8 Kundschafter bilden ein Fähnlein (patrol), 2 oder mehr Fäh nlein einen Trupp 
(troop), dessen Ausbildung ein höheren Orts ernannter Kundschaftsmeister (scout- 
master) leitet. 6 Wölflinge machen einen Satz (six) und mehrere Sätze ein Rudel 
(pack) unter einem Wolfmeister. Ein Alträubergeselle bildet die Räuber aus. Für 
Manneszucht und gute Sitte sorgen die Kundschafter selbst durch ihren Ehrenhof. 


Alle Kundschafter haben eine besondere Tracht mit Abzeichen am Hut (Lilien, 
Wolfskopf, R. S.) sowie auf der Schulterklappe und der Brusttasche. Nach Ab- 
legung einer Prüfung in Leibesübungen, militärischen Leistungen und Fertigkeiten 
auf allen Gebieten des praktischen Lebens werden sie zu einer höheren Stufe und bei 
besonderen Leistungen zu Königskundschaftern befördert. 


Der Hauptkundschafter (Chief scout), General Baden-Powell, und ein Beirat 
nebst Vollzugsausschuß bildet das Reichshauptquartier in London. Ihm unterstehen 
die Gauverbände (County Scout Councils), die die einzelnen Kundschafter-Vereine (Boy 
Scout Associations) in den Landesteilen zusammenfassen, Die Vereine haben Selbst- 
verwaltung, wählen sich ihre Führer, die Vorsitzenden, Geschäftsführer, Schatzmeister, 
Schriftführer und Kundschaftsmeister selbst und bringen die Mittel zu ihrer Ver- 
waltung durch Sammlungen auf. Das fällt nicht schwer, da die Kundschafter sehr 
beliebt sind. König und Regierung sehen sie gern und ziehen sie zu Öffentlichen Feiern, 
Truppenschauen und Feldübungen heran. Die Heeresverwaltung stellt ihnen vom 
Freiwilligenheer das Ausbildungspersonal. | 


Ein bis zweimal wöchentlich üben‘die Trupps im Gelände und einmal im Jahre 
beziehen sie auf 8—14 Tage ein Lager. 





Die Westmächte und Amerika = e; 


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| Ihre militärische Betätigung besteht neben dem Marschieren, Anfertigen von Skiz- 


zen, Biwakieren und Abkochen hauptsächlich im Kundschafterdienst. Den Gegner 
'erspähen, sich tarnen (sich unbemerkbar machen), die feindlichen Kundschafter 
‚umgehen und täuschen, sich im unbekannten Gelände zurechtfinden mit und ohne 
Karte, bei Tag und bei Nacht, an die feindliche Abteilung heranpürschen, sie ab- 
‚schneiden, umzingeln, überfallen, das ist das Wesen ihrer „Kriegsspiele‘“, die die 
‚Knaben beweglich und aufmerksam machen, ihre Sinne schärfen, Mut, Ausdauer und 
Entschlußfähigkeit wecken. Bei den Felddienstübungen der Truppen erzieht man 
sie dazu, die einzelnen Waffen zu unterscheiden, die Stärke und Zusammensetzung 
einer Truppenabteilung zu erkunden, die Nummern der Truppenteile sowie Zeit 
und Ziele des Marsches festzustellen und darüber eine Meldung zu machen. 





ei den Seekundschaftern (Sea-Scouts) wird der Hauptwert auf seemännische 

Erziehung gelegt. Auch im Inlande können Trupps von Seekundschaftern ge- 
bildet werden. Ein Flußschiff oder Wohnboot, verankert im Fluß, Kanal oder in der 
See, bildet mit seiner Flotte von Segel-, Ruder- und Motorbooten, Einbäumen, 
Flössen u. a. m. den Mittelpunkt der Wassertätigkeit; dazu kommt an Land ein auf- 
getakelter Mast zum Aufentern, 


In ein paar Wochenstunden lernen die Jungen rudern, segeln, schwimmen, Lebens- 
rettung, Raketengebrauch, Kartenlesen, Winken und Loten sowie etwas Segelmachen, 
Schiffszimmern, elektrische und Bauarbeiten verrichten, Schiffbruchdienst, erste 
‚Hilfe bei Unglücksfällen, Lazarettdienst usw. Auch erhalten sie allgemeine Kennt- 
nis der Schiffsarten, des Schiffsdienstes, der Gezeiten, der Stern- und Wetterkunde, 
Die Seekundschaftsmeister sind für die Sicherheit ihrer Knaben verantwortlich. 


Im Kriege wurden Seekundschafter hart herangenommen und in großer Zahl 
als Winker, Köche, Brückenwärter, für erste Hilfeleistung usw. bei der Hilfsflotte 
verwendet, und an Land haben sie während des ganzen Krieges die Küstenwache 
übernommen. 


In Würdigung ihrer Kriegsleistungen hat die Admiralität die Seekundschafter 
amtlich anerkannt; jeder einzelne nach einer Besichtigung anerkannte Trupp wird 
in den Marinelisten geführt. Bei guter Besichtigung gibt die Admiralität eine Geld- 
beihilfe von 2 Schilling auf den Kopf der Mannschaft. Die Jungen sollen durchaus 
nicht Seekadetten werden, sondern sich ihren Charakter als Kundschafter bewahren. 


Die Küstenwacht-Stationen längs der ganzen Küste sind angewiesen, die See- 
kundschaftertrupps möglichst zu unterstützen; anderseits sollen die Trupps den 
Küstenwachen bei jeder Gelegenheit helfen, z B. bei einem Schiffbruch die Menge 
zurückhalten und beim Kentern eines Bootes Decken und Nahrung heranschaffen. 
Die einzelnen Küstenwachstellen haben meist die Vaterschaft über einen Seekund- 
schaftertrupp übernommen. 

Wieder werden die älteren Jahrgänge als Räuberseekundschafter eingehender aus- 
gebildet; sie stellen z. B. Raketentrupps an der Küste. 


Ddei all den aufgeführten Jugendverbänden ist (bis auf das Offiziersausbildungs- 
korps) eine Ausbildung als Flieger nicht vorgesehen. Den Jungmannen wird daher 
‚Gelegenheit gegeben, in den neuerdings durch Staatsbeihilfen unterstützten Klein- 
‚Alugzeugvereinen im Fliegen ausgebildet zu werden. Außer dem Zuschuß des Luft- 
ninisteriums an den Verein erhält jeder, der die Fliegerprüfung A ablegt, einen 
?reis von 400 M. 


Auf die Schießausbildung der gesamten Jugend wird in ganz Großbritannien 
yesonderer Wert gelegt. 1925 fand England ein großes Vergleichsschießen zwischen den 
Jungmannen aus den Kronländern und dem Mutterlande statt. Jedes Land stellte 
ine Mannschaft von 2000 seiner besten Schützen im Durchschnittsalter von 12—18 
‚Jahren und darunter zusammen. Die Ergebnisse befriedigten durchaus; man hofft, 
das Wettschießen in diesem Jahre in noch größerem Maßstabe durchführen zu 
tönnen. 







































































Die’Kron- 
länder 


Militärische Schulung der Jugendim Ausland 


Noch ist auf die christlichen Jünglingsvereine (Young Men Christian 
Association) hinzuweisen. Sie betreiben im Frieden zwar keine militärische Jugend- 
vorbereitung, sondern nur eine Ausbildung in Leibesübungen, großen Wanderungen 
und Krankenpflege, werden aber voraussichtlich wie im vergangenen, SO auch im 
zukünftigen Kriege ihre Jungmannen der Heeresverwaltung für gewisse Dienste in 
der Heimat zur Verfügung stellen, z. B. für Botengänge, Radfahrverbindung, Sani- 
tätsdienst, Alarmposten für Fliegerangriffe usw. 


um Schluß seien noch zwei Einrichtungen erwähnt, die einen militärisch ausge- 
bildeten Nachwuchs für Heer und Flotte liefern. Erstmals werden bei allen 
Truppenteilen Soldatenkinder, die sich zum Soldatenberuf eignen und das 15. Jahr 
überschritten haben, in gewisser Zahl angeworben, um als Musiker, Trommler, Pfeifer, 
Hornbläser, Schreiber oder Handwerker ausgebildet zu werden. Sie müssen sich 
zu einem 9jährigen Dienst verpflichten. 
Dann ist noch auf die große Zahl von englischen Schulschiffen hinzuweisen, die 
die Jungen zu Matrosen für Kriegs- und Handelsflotte heranbilden. Bemerkenswert 


ist, wie hierbei Landesverteidigung mit Wohltätigkeit verquickt wird. Eine Reihe’? 


von Schulschiffen wird nämlich von der Bevölkerung eines bestimmten Land- 
striches unterhalten, um auf ihn eltern- und heimatlose, aber unbescholtene Jungen 
in straffer militärischer Ausbildung dem Matrosenberufe zuzuführen. So betreuen 
z.B. die am Tyne anliegenden Gemeinden das Tyne Training Ship „Wellesley”, 
das seit 1868 immer 300 Jungen von 12 bis 16 Jahren zur Ausbildung an Bord hat. 









Die militärische Jugenderziehung hat in England nach dem Kriege von Jahr 


zu Jahr bessere Früchte getragen. Der Ersatz des letzten Jahres wird bezüglich 
seiner leiblichen Eignung, des sittlichen Standes und der Leistungsfähigkeit höher 
bewertet als die früheren Jahrgänge; zugenommen hat die Zahl der Studenten, 
die, abgesehen von den Offiziersanwärtern, einen ausgezeichneten Ersatz der 
älteren Unteroffiziere und Oberfeldwebel abgeben. 


uch die Kronländer Australien, Kanada, Neuseeland und Südafrika bilden ihre 

Jugend militärisch aus; was aber in England freiwillig geleistet wird, ist hier eine 
Pflicht; denn die Landesverteidigung beruht, außer auf einem kleinen Söldnerheer, 
auf der im Ernstfall zusammenberufenen Bürgerwehr. Nur die militärische Vor- 
bereitung in ihrer Jugendzeit befähigt die Bürger, sich bei den pflichtmäßigen 
kurzen Übungen in den Schießvereinen mit der Waffe vertraut zu machen. 

In Kanada hat die Jungmannbewegung nach dem Krieg einen großen Aufschwung 
genommen. 1924 verfügte sie über 1440 Kompagnien mit im ganzen 103561 Köpfen. 
Die militärische Unterweisung ist ein Pflichtfach in den Schulen und Hochschulen. 
Vom 12. bis 14. Jahre gehören die Jungmannen den Jungabteilungen (juniors), 
vom 14. bis 18. Jahre den Altabteilungen (seniors) an. Jährlich haben die Jüngeren 
100, die Älteren 150 vom Staate gelieferte Patronen zu verschießen. Am Ende der 
jährlichen Ausbildung werden alle noch in einem Übungslager 1 Woche lang gedrillt. 

Ähnlich ist die Sache in Australien. Die Jugendbataillone, 1900 Köpfe stark, 
sind den Bürgerwehrbataillonen angegliedert. Erst auf einer gründlichen Leibes- 
schulung wird die militärische Vorbereitung aufgebaut, die sich 1924 auf 118000 
junge Leute erstreckte. 

Neuseeland rechnet mit etwa 24000 Jungmannen, die in besonderen Ausbil- 
dungsstellen jährlich 50 Übungen und 6 Besichtigungen abzuleisten und ihre Schieß- 
bedingungen zu erfüllen haben. Vom 14. bis 16. Jahre werden sie einzeln, vom 16. 
bis 18. Jahre in Gruppen ausgebildet. Schließlich werden sie im 19. Lebensjahr 
in Ausbildungslagern, je nach ihrer Befähigung 2 bis 6 Wochen lang gedrillt, bis sie 
zur Einstellung in die Bürgerwehr geeignet sind. 

In Südafrika haben die jungen Leute im Alter vom 13. bis 17. Jahre nach Zu- 
stimmung der Eltern jährlich einen militärischen Lehrgang durchzumachen, der sich 
auf Gewehrschießen, Feldübungen, Kartenlesen, Gesundheitslehre, . Kundschaften, 
Abkochen, Herstellen von Tauen, Schwimmen usw. erstreckt und mit einem Drill 


Die Westmächte und Amerika 9 











m Übungslager abschließt. Auch werden Offiziersanwärter in besonderen Lehr- 
ızängen herangebildet. 1924 waren 36000 Jungmannen vorhanden. 

Im ganzen britischen Reich, wo wir auch hinsehen, eine zielbewußte Erziehung der 
‚sesamten Jugend zu künftigen Soldaten und Offizieren — unzweifelhaft ein gewal- 
tiger Militarismus mit vollem Einverständnis des Völkerbunds, des Hüters des Ver- 
‚tags von Versailles. 





Vereinigte Staaten von Amerika 


| \ dem Weltkrieg war man geneigt, und in gewissen Kreisenist man esheute noch, 

anzunehmen, daß der amerikanische Bürger, der so gern auf seine bürgerliche 
Freiheit pocht, Antimilitarist sei. Dem ist nicht so. Der Zwang der allgemeinen 
‚Wehrpflicht ist ihm freilich verhaßt; darum hat er diese durch den Krieg aufge- 
zwungene Einrichtung sofort nach Kriegsende wieder abgeschafft. Aber gerade, 
weil er sich im Frieden auf ein kleines Söldnerheer beschränken will, hält er eine 
leibliche und militärische Ausbildung der Jugend für unbedingt notwendig, damit 
sie in der Stunde der Gefahr bereit und fähig ist, das Vaterland zu verteidigen. 


" Die Auswertung dieser Erkenntnis geht schon bis in die Mitte des vorigen Jahr- 
hunderts zurück, als die sogenannten Militärschulen (military scools) entstanden, 
die nicht etwa Vorbereitungsschulen für den Berufssoldaten sind, sondern den 
jungen Leuten aus gutem Hause in einem 4jährigen Lehrgang die Führereigenschaften 
(anerziehen sollen, die man auch zum bürgerlichen Beruf-für nützlich hält. Diese vom 
Staat unterstützten und militärisch aufgezogenen Schulen habensich die vielgerühmte 
Kriegsschule von West-Point zum Vorbild gesetzt. 


Wie im britischen Reiche ergriff auch in den Vereinigten Staaten die Überzeugung 
von der Notwendigkeit einer militärischen Jugendausbildung immer weitere Kreise. 
Es bildeten sich nach und nach Jugendverbände, ähnlich wie in England. Zudem hat 
der Weltkrieg den Amerikanern mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß ein 
'neuzeitlicher Krieg die Einziehung aller wehrfähigen jungen Leute verlangt; sie in 
"kurzer Zeit zu kriegsfertigen Soldaten zu machen, erfordert bei den hohen Anfor- 
derungen des heutigen Waffendienstes nicht nur, daß sie im Frieden hierzu vorge- 
"bildet sind, sondern daß auch genügend Führer, d.h. Offiziere und Unteroffiziere 
der Reserve, für eine sachgemäße und schnelle Ausbildung schon im Frieden vor- 
handen sind; das letztere aber hat im Kriege gefehlt und ist der Grund dafür, daß 
Amerika erst beinahe ein Jahr nach der Kriegserklärung mit einer genügenden Zahl 
von kriegsfertigen Divisionen in den Krieg eingreifen konnte. Nach dieser Erfahrung 
' scheut sich die Regierung durchaus nicht, mit Zwangsmaßnahmen für die Heran- 
bildung der nötigen Führer zu sorgen. Man rechnet eben trotz Völkerbund und 
Schiedsgericht mit einem baldigen Zusammenstoß mit Japan. 


So sehen wir denn jetzt in Amerika trotz allen Schreiens über deutschen Militaris- 

mus mustergültige Einrichtungen einer weitverzweigten Jugendausbildung, die in 
den oberen Kreisen besonders durch die Überzeugung gefördert werden, daß die 

militärische Vorbereitung gute Bürger und zugleich Führernaturen erzieht. Dazu 
hat der Krieg in allen Volksschichten eine gewisse Freude am Zelt- und Lagerleben, 
an militärischen Übungen, am Schießen und am Trommelklang, am Wandern und 
' Austummeln in freier Luft zurückgelassen, was dem Zulauf zu den Jugendverbänden 
und den Übungslagern nur zugute kommt, 














(Regular-Army), der Bürgerwehr (National Guard) und den Organisierten Re- 
serven (Organized Reserve). Überdies rechnet das Wehrgesetz von vornherein mit 
2 Einrichtungen als den ‚„‚Gehilfen dieser Komponenten des Friedensheeres“, näm- 
lich mit dem Korps für Reserveoffiziersausbildung (R. O. T. C. = Reserve Officer 
Training Corps) und den Militärübungslagern für Bürger (C.M.T.C. = Citizens 
Military Training Camps). 


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as amerikanische Heer besteht im Frieden aus 3 Teilen: dem stehenden Heer 
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| Militärische Schulung der Jugend im Ausland (Südd, Monatshefte, 23, Jahrg., Heft 7) 2 

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Korps für 
Reserve- 
‚offiziersaus- 
bildung 








10 Militärische Schulung. der Jugend im Ausland 


enden innen 






Das Korps für die Reserveoffiziersausbildung ist dem englischen Offiziersausbil- 
dungskorps nachgebildet; was aber bei diesem freiwillig geleistet wird, ist bei jenem 
Pflichtfach auf den Gymnasien und den Universitäten und untersteht der Leitung 
des stehenden Heeres. Nur die vom Staat völlig unabhängigen Lehranstalten kön- | 
nen sich dem Zwange entziehen, wenn ihre Stiftung und Bestimmung einer militäri- 
schen Betätigung zuwiderläuft. Auf allen anderen Schulen aber wird der junge Mensch | 
auch gegen seinen Willen zum Reserveoffizier oder Reserveunteroffizier gemacht, 
was im „militaristischen Deutschland“ als unerhörter Eingriff in die persönliche 
Freiheit angesehen worden wäre. Der amerikanische Schüler und Student muß | 
sich sogar, wenn er für den Militärdienst tauglich ist, mit größtem Eifer der mili- 
tärischen Vorbereitung hingeben, da er sonst nicht die Befähigung zu dem erstrebten 
Berufe erhält. Es gibt in Schule und Universität eine Abteilung für Militärwissen- 
schaft und Taktik, der die zur Lehranstalt kommandierten Offiziere als „Lehrer der 
Militärwissenschaft und Taktik“ und Unteroffiziere als ‚militärische Hilfslehrer‘ 
angehören. Die Universitäten haben für die Militärwissenschaft sogar eine Fakultät 
geschaffen und dem Ältesten der militärischen Abteilung, einem Stabsoffizier, die- ' 
selben Rechte eingeräumt, wie den anderen Fakultätsleitern. | 

Die Zöglinge jeder höheren Lehranstalt und jeder Universität werden zu Kompa- | 
nien, Bataillonen und Regimentern zusammengestellt, deren Offiziers- und Unter- 
offiziersstellen mit den militärisch befähigtsten Zöglingen besetzt werden; sie stellen 
sogar ein Musikkorps auf. Der Kommandierende General des Bezirks hat die Pflicht 
und der Chef des Generalstabs und der Kriegsminister das Recht, diese Schüler- und 
Studenten-Bataillone zu besichtigen und Paraden über sie abzuhalten?). | 

Die Heeresverwaltung gibt die Ausbildungsoffiziere, stellt Truppen, Waffen 
und Munition, Gerät und Gelder für die Militärvorbereitung zur Verfügung und 
regelt ihren Dienst durch eine besondere Ausbildungsvorschrift. Leisten sich Mittel- 
schulen eine Reserveoffiziersausbildung, dann wirkt der Staat auch hier mit, be- 
schränkt sich aber dann auf Lieferung von’ Lehrern, Waffen und Munition. 

Auf die Schießausbildung wird besonderer Wert gelegt. Die jüngeren Schüler be- 
kommen ein leichteres Gewehr in die Hand, die älteren aber und die Studenten 
schießen mit dem eingeführten Infanteriegewehr. Zur Zeitersparnis haben die Uni- 
versitäten und die neueren Schulen ihren eigenen Schießstand im Erdgeschoß. Im 
Bedarfsfall stellt die Heeresverwaltung ihre Schießstände zur Verfügung. 

Wie in England heißen die Einheiten auf den Gymnasien und höheren Schulen 
„ Jungdivisionen“ ( Junior-Divisions); sie bilden die Schüler vom 14, bis 17. Lebens- 
jahr rein infanteristisch aus. Die militärische Betätigung wird durchaus nicht, wie 
man es in Deutschland zu nennen beliebt, als Soldatenspielerei angesehen, sondern 
von den jungen Leuten mit Ernst und Eifer betrieben. Es ist anerkennenswert, 
mit welcher Gewissenhaftigkeit die Schüleroffiziere ihres Amtes walten und mit 
welcher Mannszucht die übrigen sich fügen. 

Die Regierung und höheren Truppenstäbe verleihen den Schulen mit den besten 
Fortschritten Preise und Ehrentitel, z. B. ernannte kürzlich das 7. Armeekorps 
ein Gymnasium in Jova auf 4 Jahre zum „Ehrengymnasium des 7. Korpsbezirks“, 
Bei der Feier dieser Anerkennung wurde folgende, den Geist dieser Schülerdivisionen 
kennzeichnende Rede gehalten: ‚Chemie, Erdkunde, Algebra sind wertvoll und not- 
wendig als Unterrichtsfach; aber das Wichtigste ist doch die Kenntnis von der Ver- 
antwortlichkeit gegenüber Gott und dem Vaterlande, die Achtung vor der Flagge, 
vor Amerika und seinen Grundsätzen. Die älteren Schüler und Schulentlassenen 
sind berufen, das Vaterland in der Gefahr zu verteidigen; darum muß die mili- 
tärische Vorbereitung die wertvollste Tätigkeit der Schule sein.‘“ 




















1) Kürzlich griff jemand die Universität Nebraska in einem Flugblatt wegen ihres schreck- 
lichen Militarismus an; er wurde jedoch von den Studenten scharf abgewiesen; einer betonte, 
daß er bereits 2 Jahre die Ausbildung im R.O.T.C. mitmache und sich im Sommer im 
Übungslager drillen ließe, daß er aber voll auf seine Kosten gekommen wäre, was Zeit und 
Mühe anbeträfe. 









Die Westmächte und Amerika 11 


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‘ Die „Altdivisionen‘ (senior divisions) umfassen die Einheiten der Universitäten 
‚nd gleichgestellten Fachhochschulen. Die Ausbildung, die sich auf die ganze 
"studienzeit von 4 Jahren erstreckt, wird von vornherein waffenweise getrennt, 
(vobei nicht nur die Hauptwaffen Infanterie, Reiterei und Artillerie, sondern auch 
‚ioniere, Flieger, Kampfwagen- und Verkehrstruppen, sowie die Herstellung von 
‚Naffen und Munition und die militärärztliche Tätigkeit zu ihrem Rechte kommen. 
m Dienst haben die Jungmannen Uniform zu tragen, die ihnen geliefert wird. 
“nden ersten zwei Jahren werden den Studenten in wöchentlich 3 Stunden die Grund- 
jagen des Dienstes beigebracht (the basic course); die Ausbildung wird durch ein 
= bis 6wöchentliches Kommando zu einem Truppenübungslager des stehenden 
‚leeres ergänzt, währenddessen sie die vollen Gebührnisse eines Soldaten erhalten. 
'Mährend des 3. und 4. Studienjahres werden sie dann im Lehrgang der. Fortgeschrit- 
‚enen (Advanced course) in wöchentlich 5 Dienststunden und einer 4- bis 6wöchigen 
'Jbung im Lager eines Truppenteils zum Reserveoffizier herangebildet; haben sie 
‚ıre Befähigung hierzu dargetan, werden sie nach Abschluß des Studiums zum 
\,t. d. Res. ernannt und je nach Wunsch und Beurteilung auch in das stehende Heer 
bernommen. Im Juni 1924 zählte das R. O. T. C. mit sämtlichen Jung- und Alt- 
'ivisionen 101129 Jungmannen. An 125 Universitäten und höheren Schulen be- 
‚tanden 1925 sog. „Reserve-Offiziers-Fortbildungslehrgänge“, die von 125000 
‚lörern pflichtmäßig besucht wurden. Die Besucher erhielten eine Uniform und 
intschädigung für Auslagen. 

ie Ertüchtigung der ganzen übrigen Jugend, die nicht auf höheren Schulen und 
LI Universitäten gedrillt ist, der Angehörigen von Mittel- und Volksschulen und 
irer Schulentlassenen,wird getrost den Zivilbehörden überlassen, die volles Verständ- 
‚is hierfür haben und dabei durch den Sinn der amerikanischen Jugend für Sport 
nd Spiel und durch ihre Lehrer unterstützt werden. Diese sind selbst Führer und 
»erater des Schülersports, der nicht Höchstleistungen züchten will, sondern den 
‚eib stählen, den Charakter stärken und Führereigenschaften entwickeln soll, alles 
inge, die dem Waffendienst vorarbeiten. 
' Inhöherem Maße noch werden die für den Militärdienst notwendigen Eigenschaften 
nd der Wille zur Wehrhaftigkeit in den Verbänden der Knabenkundschafter 
‚Boy Scouts) groß gezogen, die von Roosevelt nach englischem Muster begründet 
nd vom Ministerium des Innern geleitet werden. Die Art ihrer Erziehung kennzeich- 
‘et sich durch ihren Leitspruch: „Leiblich stark, geistig rege und sittlich einwand- 
ei, Gott und dem Vaterland ergeben‘. Ihre Betätigung entspricht der der englischen 
'tundschafter, ihre Ausdehnung aber ist ungleich größer. Ihre Zahl kann, nach der 
re ihres jährlichen Handbuchs zu schließen, auf über eine Million geschätzt 
'erden. 








Knaben- 
kKundschafter 


' Des weiteren haben alle jungen Leute von ihrem 16. Lebensjahr an Gelegenheit Mititärübungs- 


 nter günstigen, verlockenden Bedingungen in einem Militärübungslager für Bürger 
‚Atizens Military Training Camp) eine mehrwöchige Militärausbildung zu genießen. 
‚lie Lager werden auf Anordnung des Kriegsministers in jedem Sommer in verschie- 
‚enen Teilen des Landes errichtet, um bei dem Fehlen der allgemeinen Wehrpflicht 
'och die Masse der wehrfähigen Bürger militärisch auszubilden. Allerdings ist die 
‚eilnahme an den Übungen freiwillig, aber durch eine geschickte, umfangreiche 
Verbung und durch die großen Vergünstigungen haben die Übungslager, zumal nach 
eruf und Schulbildung nicht gefragt wird, einen starken Zulauf. Die Reisekosten 
‚erden vergütet, Uniform, Ausrüstung und völlig freie Verpflegung und Unterkunft 
‚ir die Awöchige Übungszeit geliefert. 
"Das reizt nicht nur die waffenfreudigc Jugend, sondern lockt auch die Arbeits- 
sen und gewährt dem Beamten uud Angestellten eine kostenlose Sommerreise:—- 
. Von ausgewählten Offizieren verwaltet, suchen die Lager die jungen Bürger zu 
ner straffen Mannszucht zu erziehen und die Achtung vor den Gesetzen, den Ein- 
Chtungen des Staates und der amerikanischen Flagge zu fördern sowie das Verständ- 
# für eine gesunde Lebensweise-und soziales Empfinden zu vertiefen. 

2* 
| 





ager für 
Bürger 











12 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 


essen EEE ee EEE nn nenn Eee Te h 







Ausbildungspersonal und die erforderlichen Truppen werden vom Kriegsamt! 
zur Verfügung gestellt. 

Man unterscheidet 3 Lehrgänge, die nach den Farben der amerikanischen Flagge 
mit Rot, Weiß und Blau bezeichnet werden. 


Der „Rote Lehrgang‘ ist die eigentliche Rekrutenschule, in der die Teilnehmer 
(über 16 und unter 36 Lebensjahren) im Rahmen der Kompagnie infanteristisch 
ausgebildet werden. Da der reine Militärdienst den Bürgern der Vereinigten Staaten 
nicht behagen würde, wird durch viel Turnen und Sport besonders die leibliche 
Gewandtheit und Kräftigung gefördert. Es sollen hierdurch auch die Untauglichen 
und die älteren Jahrgänge körperlich wieder aufgefrischt werden (Remaking men). 
Im Übungslager MeCellan in Alabama wurden z. B. 120 junge Bürger, die als un- 
tauglich für den Heeresdienst befunden waren, zu einer Kompagnie zusammenge- 
stellt und nach einer mehrwöchigen Ausbildung als kräftige, kriegstaugliche Männer 
entlassen. Sie hatten an Gewicht, Brustumfang, Gewandtheit, geistiger Munterkeit 
zugenommen, ja sogar mit 4 Preiskompanien in Wettbewerb treten können. 


Diejenigen, die im roten Lehrgang mit Erfolg und Aussicht auf Beförderung 
geübt oder bei einer Division des R. O. T. C. die Grundausbildung. genossen haben; 
kommen im Alter zwischen 19 und 35 Jahren in die eigentliche Unteroffiziersschule, 
den „Weißen Lehrgang“. Hier werden sie nach Wahl für eine bestimmte Waffenart 
als Unteroffiziere vorgebildet, zu Einheiten dieser Waffe zusammengestellt odet 
Truppenteilen des stehenden Heeres angegliedert. | 


Im „Blauen Lehrgang“ werden schließlich diejenigen, die die Befähigung zum 
Unteroffizier haben und sich zum Reserveoffizier eignen, waffenweise getrennt 
zum Offizier geschult. 


Die Übungslager erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Im Jahre 1921 gat 
es nur 12 Lager mit 10000 Teilnehmern;.1924 waren es bereits 29 und 1925 sogai 
38 Lager (37 auf dem Festland, 1 auf Portorico), für die bereits im Mai 35000 Ein: 
schreibungen erfolgten. Im Sommer 1924 haben auber 34000 Offizieren etwa 27600( 
Mann in den Lagern militärisch geübt (dreimal die Stärke unserer Reichswehr) 
Hierzu war ein Ausbildungspersonal von 4705 Offizieren und 64510 Mann de: 
stehenden Heeres erforderlich. Neuerdings fordert das Kriegsministerium voit 
Kongreß eine Erhöhung der Kopfstärke des stehenden Heeres auf 150000 Mann 
um das Personal zur militärischen Jugenderziehung verstärken zu können. De 
erforderliche Bestand an Reserveoffizieren sei in Frage gestellt, wenn nicht durel 
Vermehrung der Ausbildungsmöglichkeiten für den Ersatz der ausscheidenden Re 
serveoffiziere mit Kriegserfahrung gesorgt werde; das gelte auch für die National 
garde. Darum bedürfe man großer Aufwendungen für die Übungslager der Frei 
willigen. Selbst wenn Amerika niemals wieder gezwungen werde, zu den Waffei 
zu greifen, seien die Übungslager von gewaltigem Wert für die Einimpfung de 
staatsbürgerlichen Grundsätze, Pflichten und Verantwortlichkeiten!). 


Auch hier das gleiche Ergebnis! Nichts von einer Erziehung der amerikanische; 
Jugend in völkerfriedlichem Geist! Im Gegenteil, sie erfreut sich des schärfste: 
Militarismus, als da sind: Militärausbildung als Pflichtfach in Schule und Universi 
tät, Schießstände in der Schule, eine militärische Fakultät in den Hochschuler 
Abhängigkeit des Staatsexamens von militärischen Leistungen und Zwang zuf 
Reserveoffizier. Wie würde sich das in Deutschland ausnehmen: Der Minister de 
Innern als Leiter der Wehrhaftmachung der Jugend, oder gar eine Parade der Knabe 
vor dem kommandierenden General? 






















1) Auf die Tatsache ist noch hinzuweisen, daß man in Amerika auch der leiblichen Ertüct 
tigung der weiblichen Jugend Verständnis entgegenbringt, um dem Volke gesunde Mütte 
zu erziehen. Die jungen Mädchen beteiligen sich in weit höherem Maße an einem gesunde 
Sport, auch am Schießsport, als in Deutschland. 


Die Westmächte und Amerika 13 





| Frankreich 


'Detrachten wir nun die Macht, die der geistige Urheber des Vertrags von Ver- 
3 sailles ist und seine strengste Durchführung fordert, sobald es Deutschland betrifft. 
‚ Trotz der oben erwähnten Verpflichtung zur Rüstungsbeschränkung und trotz 
ziederholter Abrüstungskonferenzen ist Frankreich unausgesetzt bemüht, seine 
‘ewaltige Rüstung immer weiter auszubauen. Durch den Rückgang der Bevölke- 
‚ungsziffer, der im Jahre 1919 bereits !/, Millionen betrug, ist es ihm aber außer- 
‚rdentlich schwer, die hochgeschraubte Kriegs- und Friedensstärke des Heeres 
"nd der Marine auf dieser Höhe zu erhalten; hat sie doch in den letzten Jahren schon 
‚aehrmals herabgesetzt werden müssen. Den Ausfall an weißen Franzosen suchte 
aan durch immer stärkere Einstellung von Farbigen zu ersetzen; doch auch dies 
‚at seine Grenzen. Unter den rd. 737000 Mann des Friedensheeres einschl. Kolonial- 
‚ruppen befinden sich zurzeit bereits 216751 farbige Franzosen, also mehr als ein 


\ 


I, was eine ernste Gefahr für das Heer darstellt (das zeigt sich z. B. jetzt in 





Marokko durch Zunahme der Überläufer angesichts der Siege Abd el Krims). 

Um also seine gewaltige Heeresstärke der Zahl und der Güte nach aufrechtzu- 

‚rhalten, benutzt Frankreich tatkräftig die zwei Mittel, die noch helfen können: 
‚ie Erhöhung der Geburtenziffer (durch Hebung der Volkskraft sowie durch Be- 
'Ohnungen, Familienmedaillen, Steuervergünstigungen, Lohnerhöhungen und son- 
‚tige Erleichterungen an kinderreiche Familien) und Hebung der nach dem Kriege 
‚tark gesunkenen ‚Tauglichkeitsziffer durch eine gesteigerte Ertüchtigung der 
‚Jugend. Mit der leiblichen Schulung für den Heeresdienst hat man eine weitgehende 
‚nilitärische Ausbildung der jungen Leute verknüpft, um die Mängel, die die aus 
inanziellen Gründen vorgenommene Herabsetzung der Dienstzeit von 3 auf 1%, 
"Jahre mit sich bringt, wieder auszugleichen. 
' Bei der seit 1871 betriebenen Vorbereitung eines Rachefeldzugs gegen Deutsch- 
and unterließ die französische Regierung nicht, die Jugend zum Haß gegen das 
'teutsche Volk zu erziehen und geistig und seelisch auf den Krieg einzustellen. 
"Nach und nach trat hierzu auch die leibliche militärische Ausbildung der jungen 
.eute. Wenn auch ihre gesetzliche Festlegung, die sogar der Sozialdemokrat Jaures 
kurz vor dem Kriege forderte, infolge des Kriegsausbruchs 1914 zunächst unterblieb, 
'o wurde doch die Ausbildung selbst während des Krieges durch ministerielle Ver- 
rdnungen immer mehr vertieft und erweitert, bis sie schließlich nach dem Kriege 
'lurch Gesetz erhärtet wurde (Rekrutierungsgesetz vom 1.4. 1923). Kriegsmini- 
'terium und Generalstab führen im Einvernehmen mit anderen Ministerien die 
')beraufsicht über diese Ausbildung und haben 1924 bis ins kleinste gehende Aus- 
'ührungsbestimmungen erlassen, die in einem „Entwurf zur allgemeinen Vorschrift 
N leiblichen Erziehung‘‘ niedergelegt sind!). 

Die Grundgedanken der Ausbildung sind folgende: Durch die leibliche Schulung 
ler jungen Mädchen sollen gesunde Mütter heranwachsen, damit die Geburtenzahl 
teigt und gesunde Kinder zur Welt kommen; durch eine sachgemäße Anleitung für 
‚lie Leibesübungen der gesamten Jugend vom 4. Lebensjahr an sollen die Kinder 
‚tesund und kräftig entwickelt und möglichst sämtliche jungen Männer zum Waffen- 
‚lienst befähigt werden; zugleich soll die Liebe zum Vaterlande und das Verständnis 
:ür die Wehrhaftigkeit gepflegt werden. Weiterhin sollen die Jünglinge schon soweit 
ım Waffendienst vorgebildet werden, daß sieim Kriegsfall die durch Verlust eingetre- 
enen Lücken der Mannschaften bzw. der Unteroffiziere und Offiziere nach kürzester 
Ausbildung ausfüllen können, sowie im Frieden trotz verkürzter Dienstzeit eine ge- 
ıteigerte Kriegsfertigkeit erreichen; auch soll durch weitere Leibesschulung die 
'Nehrhaftigkeit der Männer bis zum 35. Jahre erhalten werden. Letzten Endes 
'st das Ziel dieser Volkserziehung, die in der Familie beginnt, in der Schule fort- 
'esetzt und in Sportvereinen weitergeführt wird: die Hebung der Volkskraft, die 
steigerung der Bevölkerungszahl, kurz die Wiedergeburt der französischen Rasse. 














3) Projet de Reglement general d’education physique. 


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14 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 


Im Kriegsministerium besteht eine besondere Abteilung für leibliche Erziehung, 
Sport und Vorbereitung für den Heeresdienst, die für die gesamte Ausbildung ver 
antwortlich ist. Ihr ist der „Dienst für Leibeserziehung‘‘ unterstellt, der die ganze 
Ausbildung organisiert, die Lehrpläne aufstellt, die Verbindung mit den Lehrans 
stalten, den ausbildenden Vereinen und den besonderen Ausbildungsstellen der 
Armeekorps hält und für die Heranbildung und Auswahl der Lehrkräfte sorgt. 

Im Dezember 1924 hat sich unter dem Vorsitz des Generalkommissars für dere 
Krieg ein „Beratender Ausschuß für die militärische Jugendvorbereitung‘‘ gebildet 
dem die Leiter der großen Verbände und Gesellschaften für Jugendausbildung angeT 
hören. Der Ausschuß wird sich mit dem weiteren Ausbau und einer Verbesserung der 
militärischen Vorbereitung beschäftigen. i 

Die Ausbildung ist innerhalb des Korpsbezirks dem Kommandierenden General 
übertragen, dem ein Oberst als Leiter der Ausbildung zugeteilt ist. Ihm sind die 
an die Lehranstalten und Vereine abkommandierten Offiziere und die AusbildungsS 
stelle des Korps unterstellt. | 


Die Jugenderziehung wird in 3 Zeitabschnitte zerlegt: 


Il. Die grundlegende Leibesausbildung der Kinder vom 4. bis 13. Jahre (Education? 
physique dl&mentaire), 

. die fortgeschrittene Leibesausbildung für das 13. bis 18. Lebensjahr (Edu- 
cation physique secondaire), 

. die höhere Leibesausbildung vom 18. bis zum 30. bzw. 35. Lebensjahr (Edu 
cation physique supe£rieure), die mit der militärischen Ausbildung Hand in Hand! 
geht. 


it der grundlegenden Leibesausbildung greift der französische Staat rücksichtslos 
M' in die häusliche Erziehung ein und schreibt der Mutter vor, wie sie ihr Kind vo 
4. Lebensjahr an zu erziehen hat, wie sie durch bestimmte tägliche Übungen die 
Muskelkräfte, die Sinne, die Herztätigkeit, die Atmungsorgane, kurz, die gesamte 
leibliche Entwicklung der Knaben und Mädchen zu fördern und eine Falschentwicke 
lung wieder in richtige Bahnen zu leiten hat; die Erzieher werden genau angewiesen, 
wann, wie lange, in welchem Anzuge und wo die Übungen vorzunehmen sind 
46 für Kinder geeignete Spiele und 3 Sportarten sind beschrieben. Mit der Einschü 
lung des Kindes übernehmen hierfür vorgebildete Lehrer der Schule die vorgeschrie 
bene Ausbildung, die nach Leistungsfähigkeit und Alter in 4 Stufen zerlegt wird} 
Neben mannigfaltigen Turnübungen muß auch Spiel und Sport nach Vorschrift? 
betrieben werden. Für jedes Kind ist vom 4. Jahr ab ein Personalheft zu führen, 
in das der die Ausbildung überwachende Arzt seine Untersuchungen und die Be} ' 
merkungen über die Entwicklung des Kindes einträgt. Das Heft wird auch währenct | 
und nach dem Heeresdienst weitergeführt. 

Die französischen Schulen sind verpflichtet, neben der täglichen Turnstunde did 
Kinder zum Staatsgedanken und zur Volksgemeinschaft zu erziehen (das wird zu. 1 
treffender Weise nicht wie bei uns als Politik angesehen), sowie durch Auswahl des 
Lesestoffes, durch Schilderung von Kriegstaten und Verherrlichung der französischent 
Geschichte und des französischen Heeres die Vaterlandsliebe zu wecken, den Willere 
zur Wehrhaftmachung zu stärken und den Haß gegen Deutschland zu schürend! 

Am Ende der Ausbildung jeder Stufe haben die Kinder eine Prüfung im Laufen? 
Springen, Gewichttragen, Klettern, Werfen und Gleichgewichtsübungen abzulegen? 
nach Bestehen der Prüfung erhalten sie ein Zeugnis und werden in die nächste Aus? [ 
bildungsstufe versetzt. | 

Die fortgeschrittene Leibesübung, die ebenfalls für beide Geschlechter vorge: 
schrieben ist, umfaßt mit ihrer ersten Stufe das 13. bis 16., mit der 2. das 16. bis 187 


!) Wer auf dem französischen Kriegsschauplatz kämpfte, kennt die französische Art de” 
Geschichtsfälschung und Mißachtung deutschen Wesens bereits aus den französischen Schül- 
büchern der Vorkriegszeit. Vgl. Märzheft 1922 der S. M. ‚‚Hetzarbeit?““ und über ‚‚Das tran 
zösische Schulbuch von heute‘ das Märzheft 1926. 








N' 





| Die Westmächte und Amerika 15 





‚„‚ebensjahr. Der ganze Ausbildungsabschnitt bevorzugt die für die Bewegungen im 
ıelde und für den Gebrauch der Waffen förderlichen Übungen; daneben werden 
nel Lauf- und Ballspiele, allerhand Sport, Schwimmen, Boxen, Ringen, Jiu-jitsu 
| ısw. sowie Übungen zum Schärfen der Sinne vorgenommen. Auch hier berechtigt 
st die bestandene Prüfung zur Versetzung in die höhere Stufe, 

Die Schulentlassenen werden in vaterländischen Verbänden, Turn- oder Sport- 
‚tereinen weitergebildet oder in der Ausbildungsstelle des betreffenden Armeekorps. 
, Die höhere Leibesausbildung soll den jungen Leuten in der Zeit vom 18, bis zum 
‚0. bzw. 35. Lebensjahr durch Ausübung mannigfaltigen Sports in hohem Maße 
‚Kraft, Gewandtheit, Zähigkeit und Geschwindigkeit des Körpers geben; besonders 
‚vird der Marsch, das Klettern über alle Hindernisse, Schwimmen, Rudern, Fechten, 
‚Xadfahren und Schneeschuhlaufen geübt — alles nach den gleichen Vorschriften 
‚lie für den Truppendienst maßgebend sind. Die praktischen Übungen werden durch 
‚Interricht über Anatomie, Natur- und Gesundheitslehre und Massage sowie über 
‚lie Jugendausbildung in anderen Ländern und Militärerdkunde ergänzt. 

‚ Nebenher geht vom 18. Lebensjahr ab die Vorbereitung für den Militärdienst, 
‚lie nach dem Jahrbuch des Völkerbundes!) nicht wie die Leibesausbildung pflicht- 
‚näßig, sondern freiwillig sein soll. Nach dem Rekrutierungsgesetz aber darf niemand 
‚in Öffentliches Amt versehen oder als Staats- und Gemeindebeamter angestellt 
‚verden, der die militärische Jugendausbildung nicht durchgemacht hat, was natür- 
‚ich außerordentlich für die Teilnahme an der Jugensausbildung wirbt. Nach Äuße- 
jungen des General Nollet ist auch anzunehmen, daß in der von ihm ins Werk ge- 
'etzten Umgestaltung der Landesverteidigung und der Wehrpflicht die militärische 
‚Jugendvorbereitung zur Pflicht gemacht wird. 

‘ Sie wird vornehmlich an den höheren Lehranstalten, allen Universitäten, tech- 
"ischen Hochschulen, Lehrerseminaren, Kunstakademien, Schulen für Bergbau, 
„and- und Forstwirtschaft sowie an fast allen Fachschulen erteilt und ist an vielen 
lieser Lehranstalten seit langem Pflicht oder Ehrensache. 

‘Ferner wird die Ausbildung in ‚Gesellschaften für Leibesausbildung und mili- 
"ärische Vorbereitung‘ und anderen vom Ministerium anerkannten Vereinen vor- 
renommen. Diese erhalten kostenlos Bekleidung und Ausrüstung, Waffen und Muni- 
‚ion sowie Fahrtermäßigung. Die Jungmannen aber, die keiner Lehranstalt und 
seinem Verein angehören, werden in den in jedem Armeekorps bestehenden ‚‚Be- 
ärksstellenfür Leibesübungen‘ (centresregionaux d’instruction physique) vorbereitet. 

Wo die Vorbereitung auch stattfinden möge, sie soll den jungen Mann bis zu seinem 
Diensteintritt militärisch soweit heranbilden, daß die I4,jährige Dienstzeit ganz 
ler Erweiterung und Vertiefung seiner technischen Fähigkeiten und besonders seiner 
'aktischen Ausbildung gewidmet werden kann. 

Die Vorbereitung besteht zunächst in einer allgemeinen militärischen Ausbildung, 
‚lie den jungen Leuten den ersten militärischen Drill gibt, ihnen die Bedienung der 
'Naffen (Gewehr, Handgranate, Maschinengewehr, Geschütz, Kampfwagen), den 
‚3ebrauch des Schanzzeuges und das Verhalten im Felde beibringt, in ihnen vor allem 
‚lie geistigen und seelischen Eigenschaften eines Feldsoldaten, besonders die Manns- 
ucht entwickelt und sie im weiteren zu Führern erzieht. 

. Diese gründliche Ausbildung schließt mit einer von der Brigade des betreffenden 
3ezirks vorgenommenen Prüfung ab. Wer sie mit Erfolg besteht, erhält ein „Zeugnis 
iber die militärische Grundausbildung‘‘, das sich über seine Fähigkeiten, besonders 
iber seine Eignung zur Ausbildung als Reserveoffizier und Reserveunteroffizier aus- 
pricht. Die Inhaber des Zeugnisses können noch an einer Sonderausbildung teil- 
iehmen, die die Spezialisten der verschiedenen Waffen heranzieht, was eine wesent- 
iche Erleichterung des Aushebungsgeschäfts und eine Beschleunigung der Ausbil- 
lung bei der Truppe darstellt. Die Ausbildung geschieht nach Wahl als Berittener, 
(urner, Trommler, Pfeifer, Musiker, Schütze, Leichtathlet, Pionier, Handgranaten 








2) Societe des nations. Annuaire militaire. Geneve Spt. 1924. 








16 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 


TE TEE EEE TALENT EEE SEE EEE EEE EEE LEE EEE EEE EEE EEE EEE EEE EEE SEE ES EEE EEE Eu 
ee ee zo ET EEEEEEESEEEEEEEEREEEEEEEEREEREEREEEEEEHERREREEREREEREREEEETE 


werfer, Boxer, Eisenbahner, Aufklärer, Ringkämpfer, Radfahrer, Ruderer, Tele- 
graphist, Vermesser, am Kampfwagen, als Fechter, Schwimmer, beim Schallmeß- 
trupp, als Brieftaubenwart, Flieger. Über die nach Abschluß der Ausbildung von 
der Brigade vorgenommene Prüfung wird ebenfalls ein Zeugnis ausgestellt. 

Das Zeugnis über die militärische Grundausbildung berechtigt die Inhaber sich, 
innerhalb der Waffe, der sie bei der Aushebung zugeteilt werden, in gewissen Grenzen 
den Truppenteil zu wählen, bei dem sie dienen wollen. Während ihrer Dienstzeit 
tragen sie ein besonderes Abzeichen. Im Dienstalter werden sie den anderen voran- 
gestellt und bald als Gefreite oder Obergefreite ausgebildet; schon nach 4 Monaten 
Dienstzeit stehen sie zur Beförderung an. Ferner können sie noch während der 
Dienstzeit an der 6monatlichen Ausbildung der Reserveoffiziersanwärter teilnehmen, 
nach deren Beendigung sie zum Reserveoffizier oder Reserveunteroffizier befördert 
werden. Alle diese Vergünstigungen erinnern an die für unsere Einjährig-Freiwilligen. 

Das Zeugnis für die Sonderausbildung gibt den Inhabern ein Vorrecht bei der Aus- 
wahl der Spezialisten in der Truppe und steigert den Wert des Zeugnisses über die 
militärische Grundausbildung. 

Während der gesamten leiblichen und militärischen Erziehung werden die jungen 
Leute pflichtmäßig beraten von einem Arzt, der sie alle 2- bis 4mal jährlich unter: 
sucht und das Ergebnis in ihr Personalheft einträgt. - 

Die Lehrkräfte (Offiziere, Lehrer und Sportleute) werden für den Unterricht 
gründlich vorgebildet, entweder in der Hochschule für Leibesübungen, in der Militär- 
turnanstalt, in den Bezirksstellen für Leibesausbildung oder in besonderen Lehr- 
gängen. 1924 waren allein für die Jugendausbildung insgesamt 138 höhere Offiziere, 
114 Subalternoffiziere und etwa 600 Unteroffiziere tätig. Neuerdings werden auch 
die Reserveoffiziere zur militärischen Vorbildung der Jugend herangezogen. Der 
Chef des Generalstabes, General Debiney, wies bei der Jahresversammlung des 
Nationalverbandes der Reserveoffiziere ganz besonders darauf hin. Ihre Mitarbeit 
sei für die Erziehung des militärischen Nachwuchses so wertvoll, weil die Reserve- 
offiziere durch ihren bürgerlichen Beruf leicht Fühlung mit den auszubildenden 
Leuten halten könnten. Nach dem neuen Entwurf des Gesetzes über ‚die allgemeine 
Umgestaltung des Heeres“ sollen die Gendarmerie-Abteilungen im Frieden auch für 
die militärische Jugendvorbereitung bestimmt sein. 

Die für die Ausbildung notwendigen Räume und Plätze haben die Gemeinden, die 
Waffen, Schießstände und Übungsplätze die Truppenteile zur Verfügung zu stellen. 

Die den Schulen und Vereinen für die Ausbildung entstehenden Kosten sowik 
etwaige Haftpflichtentschädigungen trägt der französische Staat. Im vergangenen 
Jahre haben 9000 Schulen und 8000 Vereine eine derartige Staatsbeihilfe erhalten. 


s ist noch zu erwähnen, daß auch Frankreich einen großen Verband der Knaben- 

‚ kundschafter (,‚Scouts‘‘ und ‚Eclaireurs‘‘) hat, ähnlich wie in den angelsäch- 
sischen Ländern. Auch auf eine im Entstehen begriffene Organisation möchte ich 
hinweisen, „die Kinder des Generals Mangin‘, vermutlich Waisen von Gefallenen, 
für die in den französischen Zeitungen gesammelt wird und die aller Wahrschein- 
lichkeit nach militärisch erzogen werden. Auf die Militärvorschulen (&coles pr&mili- 
taires), die aus Militär-Kinderschulen (£coles militaires Heriot) und Militärvor- 
bereitungsschulen (&coles milit. pr&paratoires en principe 6) bestehen und durch 
völlig soldatische Erziehung von Unteroffizierskindern für einen Nachwuchs im 
Heere sorgen, möchte ich nicht weiter eingehen. 

Die hier geschilderte, gründlich und zwangsweise vorgenommene militärisch« 
Jugendausbildung paßt durchaus in den Rahmen jener, die gesamten Kräfte Frank- 
reichs erfassenden militärischen, wirtschaftlichen, industriellen und finanziellen 
Mobilmachung, und der Franzose denkt gar nicht daran, hierin abzurüsten. Im 
Gegenteil! General Nollet will, daß diese Ausbildung ‚die höchste Steigerung 
erfahre für den Fall, daß das Vaterland seine Kinder nochmals zu den Waffen rufen 
müßte,‘ Er bezeichnet sie als „die Vorbedingung für die Umgestaltung des Heeres; 
sie müsse die Hauptgrundlage der französischen Sicherheit bilden“. Man täuscht 





Die Westmächte und Amerika 17 


zwar dem Völkerbund gegenüber eine Abrüstung vor, indem man, durch die Be- 
'völkerungsabnahme gezwungen, die Zahl der Infanterie- und Kavallerie-Divisionen 
'nerabsetzt und die Dienstzeit verkürzt; dafür aber macht man die gesamte Jugend 
(durch gründliche Leibesausbildung wehrfähig, bildet sie ihrer Mobilmachung ent- 
sprechend aus (auch zu Offizieren und Unteroffizieren), beschafft für sie die Waffen 
ınd hält so viele Truppenrahmen (cadres) bereit, daß bei Mobilmachung jedermann 
'n die für ihn offen gehaltene Stelle eintreten und die Kriegsmaschine Frankreichs 
in wenigen Tagen in Betrieb gesetzt werden kann. 

v Also überall dasselbe, in England, Amerika und Frankreich! Was diese Staaten 
"laut Vertrag von Versailles in Deutschland verbieten — die Beschäftigung von Schulen, 
‚Hochschulen und Vereinen mit militärischen Dingen, die Ausbildung ihrer Mit- 
‘glieder im Waffenhandwerk und ihre Verbindung mit militärischen Behörden — 
(fordern und unterstützen sie im Widerspruch mit dem Friedensvertrag im eigenen 
(Lande aufs weitgehendste. Statt der im Vertrag geforderten „Rüstungsbeschrän- 
"kung aller Völker‘‘ und der von uns verlangten ‚moralischen Abrüstung‘‘, tragen sie 
ihren Militarismus bis in die Kleinkinderstube hinein, durchsetzen die ganze Schul- 
zeit damit und verfolgen den jungen Mann durch seine Studienzeit hindurch bis ins 
"35. Lebensjahr hinein mit einem Zwangsmilitarismus, wie er in so überwältigender 
‚Gestalt in der Weltgeschichte seinesgleichen nicht hat. 











| 


! Italien 


| Von Major a. D. AntonvonBelli in Berlin 

| ie Frage der Ertüchtigung der Jugend ist in Italien keine Nachkriegserscheinung. 
| Schon am7. Juni 1878 wurde die Verpflichtung zur Teilnahme am Turnunterricht 
‚in den Schulen durch eine Kgl. Verfügung geregelt. Spätere gesetzliche Bestimmungen 
‚für die körperliche Jugenderziehung entstammen den Jahren 1909 und 1910. 

‘ Allmählich und durch den Krieg beschleunigt, wurde die Verbindung zwischen 
‚körperlicher und vormilitärischer Erziehung immer enger. Im Jahre 1920 wurde 
‚eine Kommission eingesetzt, die Material zu neuen Vorschriften für die vormili- 
tärische Ausbildung sammelte. Im Januar 1923 wurde sodann das Wehrgesetz 
‚durch besondere Bestimmungen über die militärische Jugenderziehung ergänzt. 
' Im November 1925 ist es dem Fascismus gelungen, auch das Gebiet der Jugend- 
‚ausbildung an sich zu reißen und die ganze vormilitärische Erziehung der freiwilligen 
‚Miliz zu übertragen. 

| Die Schaffung eines besonderen Unterstaatssekretariats für körperliche Er- 
‚ziehung wird von verschiedenen Seiten gewünscht, soll auch geplant gewesen sein, 
‚ist aber bisher noch nicht erfolgt. Dieses Unterstaatssekretariat sollte dem Minister- 


‚präsidenten unmittelbar unterstehen. 


| berste Behörde in vormilitärischen Jugendangelegenheiten ist derzeit das Kriegs- 

ministerium, und zwar die Abteilung für körperliche Erziehung. Nächst dem 
 Kriegsministerium üben die örtlichen Kommandobehörden, die Generalkommandos 
"und Divisionskommandos die militärische Leitung aus. Neben der Militärbehörde 
‚haben die Inspektoren für Schießsport in jeder Provinz die Aufsicht. Im übrigen 
‚liegt die Ausbildung ganz in Händen der freiwilligen Miliz mit Ausnahme der Orte, 
wo deren Organisationen nicht vertreten sind. In diesem Falle treten Schützen- oder 
Sportvereine in die Lücke. 





" Die Teilnahme an der Ausbildung ist freiwillig. Die jungen Leute müssen das 
‚16. Lebensjahr vollendet haben. Die Eintragung erfolgt im Spätherbst. Die Zeitdauer 
‘der Ausbildung umfaßt 2 Jahre zu je 4 Monaten. Die Übungen finden in der Regel im 
Winter und Frühjahr statt und nehmen auf Schulunterricht und Prüfungen Rücksicht. 

Geübt wird an Sonn- und Feiertagen und abends. Ein Bataillon der Miliz hat bei- 
spielsweise folgende Zeiten angesetzt: Sonntags 8,30 bis 11,30 vorm. und jeden Don- 
nerstag 8,30 bis 10 Uhr abends. 





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18 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 2 
(er ERBE EEE 


Mit Genehmigung des Generalkommandos können jährlich Sommerkurse auf 
Truppenübungsplätzen stattfinden. Die Teilnehmerzahl ist auf 100 für jeden Divi- 
sionsbereich beschränkt. Die Militärbehörde kann für diese Kurse freie Verpflegung, " 
freie Eisenbahnfahrt zum Lager und zurück, Verabfolgung von Zelten, Decken, 
Tornistern, Kochgeschirren, einzelnen Bekleidungsstücken und ähnliches gewähren, 

Schüler, die sich bewährt haben, können an einem 3. und 4. Unterrichtsjahr teil- 
nehmen. Sie können dort auch, wenn sie Anlage dazu haben, zu Lehrern neuer Schüler 
bestimmt werden und tragen dann einen 3 mm hohen Silberstreifen am oberen und 
unteren Rande der Armbinde. Die Lehrtätigkeit wird inden Personalpapieren vermerkt. 

Die erwähnten Armbinden werden allen Schulen geliefert, ebenso Mützen nach 
Art jener der Bersaglieri. Sie dürfen nur im Dienst getragen werden. 

Der Lehrplan des ersten Jahres umfaßt: 

a) Unterricht. Allgemeine Soldaten- und Bürgertugenden, Kameradschaft, militärische 

Anstandsregeln, Ehrenbezeugungen. 
b) Körperliche Ausbildung. Freiübungen, Marsch, Lauf, Springen, Klettern, Wurf, 
Tragen von Lasten, Wettspiele. 

c) Exerzieren. Einzelausbildung ohne und mit der Waffe, Ehrenbezeugungen ohne und 

mit der Waffe, Handhabung und Behandlung des Gewehrs, Anschlag, Zielen, Schießen, 

d) Grundlagen der Gesundheitslehre. 


Der Lehrplan des zweiten Jahres umfaßt: 


a) Unterricht. Standortdienst und Wachdienst. 

b) Körperliche Ausbildung. Wiederholung des 1. Jahrgangs. 

c) Exerzieren. Gruppen- und Zugschule ohne und mit der Waffe. Ausnutzen des 
Geländes. Sicherung und Aufklärung auf Märschen und in Ruhe, Handgranatenwerfen, 
Schulschießen. 

d) Gesundheitslehre. Hilfeleistung bei Unfällen, Gasvergiftung, Erstickungsanfällen. 
Gasschutz. Kranken- und Verwundetentransport. 

Um den Wetteifer beim Turnen anzuspornen, sind für je 25 eingeschriebene Schüler 
eine silberne und zwei bronzene Medaillen als Preise ausgesetzt. 

In der zweiten Hälfte Mai findet in Rom jährlich ein Turnier der Jugend statt, 
Aus jedem Divisionsbezirk können daran 3 Riegen teilnehmen. Jede Riege ist 
12 Schüler stark. Eine besondere Kommission besichtigt die zur Teilnahme ange 
meldeten Riegen und wählt die drei besten aus. Es darf jedoch nicht mehr als eine 
demselben Leiter angehören. Die Reise findet auf Kosten der Militärverwaltung 
statt, ferner erhalten die Bewerber während ihres Aufenthaltes in Rom militärische 
Verpflegung und freie Unterkunft. 

Folgende Strafen können verhängt werden: Einfacher Tadel, Ausschluß von einer 
oder mehreren Übungsstunden, Ausschluß von der Prüfung, von Teilnahme an den 
Sommerübungen und von Turnieren. 


DD): Ergebnis der Ausbildung wird durch Prüfungen festgestellt. Für jede Pro- 
vinz wird hierzu eine Kommission bestimmt, die aus zwei höheren aktiven 
Offizieren, einem weiteren Offizier des Heeres, einem Offizier der Nationalmiliz 
und gegebenenfalls dem Leiter des Kurses besteht. Die örtlich zuständige Division 
setzt die Kommission ein. 

Die Prüfung erstreckt sich auf Freiübungen, Hoch- und Weitsprung, Klettern, 
Steinwerfen, Schnellauf, Voltigieren, Turnspiele, Exerzieren und Schießen. 

Die Sprünge müssen ohne Sprungbrett ausgeführt werden. Im ersten Jahr 
werden im Hochsprung 70 cm und im Weitsprung 3 m, im zweiten Jahre 90 cm und 








































3%, m als Mindestleistung gefordert. Im Schnellauf müssen 100 m in 17 Sekunden, 
im zweiten Jahre in 16 Sekunden zurückgelegt werden. Der zu werfende Stein ist 


5 kgschwer und muß mindestens 4 m weit geworfen werden, im zweiten Jahr 6 m weit. 

Das Ergebnis der Prüfung ist von Einfluß auf die Entschädigungen, welche der 
Staat gewährt. Es zählen nur jene Schüler, die bestanden haben. Für die ersten 
50 zahlt der Staat 12 Lire für den Kopf, für die nächsten 50 bis 100 Teilnehmer 
8 Lire und bei noch höherer Zahl 6 Lire. Das Geld fließt der Miliz oder dem den 
Kurs leitenden Verein zu. Außerdem kommt der Staat für die Munition auf. 





























“ Italien 19 
N —— — — 





ı Für die Teilnehmer an den Kursen hat das Bestehen der Prüfungen Vorteile 
während der Dienstzeit im Gefolge. Der Wichtigste ist die Möglichkeit, schon nach 
6 Monaten entlassen zu werden. Italien hält zwar noch an der 18monatigen Dienst- 
h zeit fest, entläßt aber alljährlich einen Teil der Mannschaften bereits nach 6 Monaten. 
ı Vorbedingung für diese Vergünstigung ist erfolgreiche Teilnahme an der vormili- 
| tärischen Ausbildung. 

Weitere Vorteile sind Beförderung zum Korporal nach dreimonatiger Dienstzeit 
vor den Kameraden, die nicht vorgebildet sind, und Zulassung zu den Reserve- 
‚offiziersanwärter- und Unteroffiziersschulen. 


n den Hochschulen sind Fortbildungskurse, meist unter Leitung von Offizieren 
A eingerichtet. Das Zeugnis über erfolgreiche Beteiligung befähigt zur Reserve- 
‚ offizierslaufbahn wie zur Verkürzung der Dienstzeit. 

ı Für Hörer der mathematischen, physikalischen und naturwissenschaftlichen 
ı Fakultät sind durch Kgl. Erlaß vom 23. Oktober 1924 Sonderkurse angeordnet, die 
"folgende Fächer umfassen: äußere Ballistik, innere Ballistik, Geschützmaterial, 
Funkentelegraphie, Kriegschemie und Schiffahrtskunde. Diese Kurse dauern ein 
ı Vierteljahr. Die Hochschüler sind verpflichtet, daran teilzunehmen und aus min- 
destens zwei Fächern Prüfungen abzulegen. Sie erhalten Zeugnisse, die ihnen bei 
der Beförderung zum Reserveoffizier angerechnet werden. 

ı Für die Fliegerwaffe sind vormilitärische Pilotenkurse von einem Jahr eingerichtet. 
ı Die Teilnehmer erhalten neben freier Verpflegung und Unterkunft Geldentschädi- 
| gungen von monätlich 100 bis 150 Lire und weitere Geldprämien bei der Aushebung. 


| AV" schon erwähnt, ist die Übertragung der gesamten vormilitärischen Erziehung 

| an die Miliz erst im November 1925 erfolgt. Es ist nicht zu bezweifeln, daß 

die ungemein rührige Werbetätigkeit der Schwarzhemden die Teilnahme der Jugend 

‚an den Übungen bedeutend steigern wird. 

| “ Fürst Gonzaga, der Kommandierende General der Freiwilligen Miliz, hat einem 
‚Vertreter des Impero gegenüber die Zahl der eingetragenen Teilnehmer an der vor- 

‚ anilitärischen Ausbildung mit 78000 angegeben. Er hat zuversichtlich angefügt: ‚Eine 
stattliche Zahl, wenn man bedenkt, daß die Miliz ihre Aufgabe erst vor einigen 
Monaten übernommen hat.“ Er hofft nach dieser Äußerung für die Zukunft auf 
höhere Teilnehmerzahlen. Diese Hoffnung erscheint berechtigt, denn das Jahr 1926 
hat der Jugendbewegung in Italien eine mächtige Förderung gebracht. 

Am 6. Februar hat die Kammer einstimmig das Gesetz über das nationale Werk 
der Balilla angenommen. Unter diesem Namen ist eine das ganze Land umfassende 
Organisation geschaffen, die alle vaterländischen Jugendvereinigungen unter einer 

gemeinsamen Spitze zusammenfaßt. Diese Spitze ist kein Geringerer als der Mini- 

sterpräsident selbst. Die Leitung hat ihren Sitz in Rom, in den Provinzen und 

Gemeinden wird sie durch Ausschüsse ausgeübt. Die Leiter sind ehrenamtlich ange- 

stellt. Den Grundstock der ganzen Organisation bilden die schon bestehenden 

Vereine Balilla und Avanguardia. Erstere, die dem neuen Werk den Namen gibt, 
befaßt sich mit den Jungen zwischen 8 und 14 Jahren, letztere mit den 14- bis 
18jährigen. Als oberste Altersgrenze sind 21 Jahre festgesetzt. 

Die Organisation überwacht die Lehr- und Erziehungsanstalten. Die Turnhallen 

und Sportplätze der öffentlichen Vereine stehen ihr zur Verfügung, auch sind ihr 

weitere Vorrechte eingeräumt. 

Das Ministerium des Innern steuert 1 Million Lire bei, daneben wird vieles durch 

Stiftungen und Sammlungen gedeckt. 

Die hohe Aufgabe des neuen nationalen Werkes ist die Erziehung der Jugend 
zu vaterländischen Tugenden und zu Soldaten. Die Tribuna sagt: „Da die Manns- 
zucht vor allem gehoben werden muß, ist eine militärische Ausbildung unbedingt 

‚notwendig. Dann wird die Jugend mit Soldatengeist in das Heer eintreten und seine 
Aufgaben viel besser erfassen.‘ Die ausgesprochen militärische Eigenart der Er- 
ziehung wird in der Presse wiederholt betont, und es darf nach der ganzen Lage 

in Italien angenommen werden, daß es nicht bei großen Worten bleibt. 



















20 Militärische Schulung der Jugend im Ausland 











Die Tschecho-Slowakei 


Von General der Infanterie a. D. Friedrich von Hurt in Gräfelfing bei München 


on den Kindern, die die hochweisen Väter des „Selbstbestimmungsrechtes der 

Völker‘ in Versailles und St. Germain in die Welt setzten, ist wohl das neue Reich 
der Tschechen die größte Mißgeburt. Es hat ungefähr die Form eines Fisches 
mit sehr großem Kopf und ohne Schwanzflosse. Der westliche Teil, Böhmen und 
Mähren, bildet eine geographische Einheit. Er ist der wertvollere Teil des Staates 
und besitzt große Bodenschätze, eine blühende, meist von den Deutschen ge- 
schaffene Industrie und eine ertragreiche Landwirtschaft. Der östliche Teil aber, 
die Slowakei, gehört seiner geographischen Struktur nach zu Ungarn, mit dem 
er auch vor dem Kriege vereinigt war. Die Slowakei ist ein Bergland mit agrar- 
ischem Charakter. Die vom Karpathenkamme von Nord nach Süd streichenden 
Gebirgszüge erschweren den Ost-Westverkehr bedeutend und damit auch die 
wirtschaftliche und strategische Verbindung mit dem westlichen Teile der Tschechei, 
Die Grenzen der Tschechei sind im Süden, Westen und Norden auf einer Ausdeh- 
nung von 1050 km (gleich Luftlinie München—Memel) von Ungarn, Deutschöster- 
reich, Bayern, Sachsen und Preußisch-Schlesien wie mit einer riesigen Zange um- 
klammert. Auch der Laie erkennt, daß deshalb die strategische Lage des Tschechen- 
reiches die denkbar ungünstigste ist. Um so mehr, als der Böhme die Deutschen und 
Ungarn von jeher als seine Todfeinde betrachtete und auch jetzt in seinem Größen- 
wahn alles tut, um diese Nachbarn gegen sich zu erbittern und mit Mißtrauen 
zu erfüllen. 

Bei der Zusammensetzung des neuen Reiches hat man sich selbstherrlich auch 
über ethnographische Gesichtspunkte hinweggesetzt. Der Tschechenstaat wird 
von etwa 14 Millionen Menschen bewohnt. Davon sind etwas weniger als die 
Hälfte Tschechen, fast 4 Millionen Deutsche, 1,7 Millionen Slowaken, eine halbe 
Million Ruthenen, 750000 Ungarn, 200000 Juden; das übrige sind Polen, Zigeuner, 
Südslaven und ausländische Staatsangehörige. Das Völkergemisch lebt keineswegs 
einträchtig zusammen. So ist es verständlich, wenn die tschechischen Staats- 
männer sich in den ausgedehnten Grenzen ihres Landes etwas unbehaglich fühlen, 
Die 6%, Millionen Tschechen fürchten sich vor den 62 Millionen Reichsdeutschen, 
trotzdem diese ja durch das Versailler Diktat wehrlos gemacht sind. Daß es so bleibe, 
hält man daher für eine tschechische Lebensfrage. Noch mehr Angst als vor Deutsch- 
land hat man vor dem unberechenbaren Koloß im Osten, der Sowjetunion. Das 
Anwachsen der kommunistischen Stimmen auf 1 Million bei den letzten Wahlen 
mußte Besorgnis erregen. Es ist nicht nur die Folge der wirtschaftlichen Not, 
sondern der Beweis einer wirksamen Propaganda der Bolschewisten. 

Es muß anerkannt werden, daß die tschechischen Staatsmänner die ihrem Lande 
drohenden Gefahren klar erkannt haben. Und uns Deutsche muß es- mit Neid 
erfüllen, mit welchem Zielbewußtsein und mit welcher Energie sie ihre Maßnahmen 
treffen, wobei sie von den nationalen Parteien und Vereinen tatkräftig unterstützt 
werden. Zunächst sucht man das Heil in Bündnissen.!) Sodann arbeitet man mit 
aller dem Tschechen so sehr eigentümlichen Rücksichtslosigkeit an der inneren 
Festigung des Staates. Sie soll einerseits erreicht werden durch"möglichst rasche 
Tschechisierung der Minderheiten, besonders der Deutschen, anderseits durch straffe 
Erziehung der Jugend zum tschechischen Staatsgedanken und zum Haß gegen die 
Gegner. Endlich hat man in richtiger Einschätzung der Wehrfähigkeit für den Staat 
eine starke Militärmacht geschaffen — unter liebevoller Leitung einer vielköpfigen 
französischen Militärmission und Beteiligung französischen Kapitals für die böhmische 
Rüstungsindustrie. Die Heeresausgaben betragen über ein Fünftel der Gesamtaus- 
gaben des tschechischen Staates, was natürlich die Leistungsfähigkeit des Landes weit 
übersteigt. Doch hat man auch hierfür einen Ausweg gefunden, indem man nach dem 





1) Vgl. den Aufsatz Militärpolitik im Aprilheft 1925 der S. M. „Die Tschechen‘“, 









| 
| 


| 


4 
f 


Die Tschecho-Slowakei 21 


Beispiel Frankreichs, Polens und fast aller anderen Staaten Europas zur Militari- 
sierung der gesamten Jugend übergegangen ist. Ihre vormilitärische Ausbildung 


soll. den Ausgleich schaffen für die durch die Wirtschaftslage veranlaßte Herab- 


"setzung der Heeresstärke und für die Verkürzung der Dienstzeit, Sie soll zugleich 


1 


|. 








der Welt den Willen zur Abrüstung vortäuschen, 


VRR 5 Jahren hat man begonnen, die Turn- und Sportvereine zu militarisieren, 
nachdem sie schon vor dem Kriege als Pflanzstätte nationalistischer Bestre- 


‚bungen gegen den habsburgischen Staat sich entwickelt hatten. Die Folge waren 


Verrat und Desertionen tschechischer Truppenteile im Weltkriege. Es bestehen drei 
große tschechische Vereinsgruppen: 


Die Sokols (zu deutsch Falken, Helden) sind ursprünglich Turnvereine. Sie sind 
territorial in Hauptgruppen, Bezirksgruppen und Ortsgruppen gegliedert. Seit 1920 
sind sie vom Staat mit Waffen ausgerüstet. Nach den neuesten Nachrichten 
gibt es 2400 Sokolvereine mit 380000 Mitgliedern. Nach früheren Angaben soll die 
Mitgliederzahl im Jahre 1925 bis auf 650000, d.i. ein Zehntel der tschechischen 
Bevölkerung, gestiegen sein. Es sind hier augenscheinlich auch die älteren, aktiv 


“nicht mehr tätigen Mitglieder beigezählt. Auch im benachbarten Auslande, be- 


sonders in Niederösterreich und Wien gibt es Sokolverbände. Jedem Besucher 
Wiens fallen die gut uniformierten, stramm auftretenden jungen Leute auf, 


Die Werbetätigkeit für die Sokols ist ungemein rege. Sie wird vom Staat und den 
Behörden eifrigst gefördert. Angehörige der Sokolverbände werden bei Anstellung 
im Staatsdienst, besonders in der Gendarmerie begünstigt. Unterstützungskassen 
und Verbände bieten bedürftigen Mitgliedern wirtschaftliche Vorteile. Alle Be- 
völkerungsschichten und Berufsklassen, vom Sohn des Arbeiters bis zu dem des 
höchsten Beamten sind in den Sokols vereinigt. An nationalen Festtagen und Feiern 
spielen die Sokols durch ihre Teilnahme an den Umzügen und Paraden eine große 
Rolle. In letzter Zeit bemüht sich die Regierung, auch in rein deutschen Orten 
Sokolvereine zu gründen, so z.B. in Köberwitz, Haatsch, Kuchelna, Strandorf u.a. 


Die militärischen Übungen der Sokols sind keine Spielerei, sie werden mit vollem 
Ernst unter Leitung geprüfter Lehrer oder von Offizieren und Unteroffizieren be- 
trieben. Schießen, Fechten und sonstige Waffenübungen, Kartenlesen, Marsch- 
und Felddienstübungen gehören zum „praktischen Turnbetrieb‘“. Alle Monate 
finden größere Übungen statt. Alle 6 Monate sind Übungen zusammengefaßter 
Orts- und Bezirksgruppen, bei welchen Offiziere benachbarter Standquartiere als 
Leiter und Abrichter mitwirken. Die Teilnahme an allen Übungen ist Pflicht. 
Es wird hierüber für jedes Mitglied ein Kontrollbuch geführt. Mehrmaliges unent- 
schuldigtes Wegbleiben wird mit Geld oder mit Ausschluß aus dem Verein bestraft. 


Den Sokols wird schon militärischer Wert beigemessen. Der Kriegsminister hat 
vergangenen Sommer die Sokolgemeinden aufgefordert, in jedem Bezirk Jugend- 
bataillone aufzustellen, die im Kriegsfall den Bahn- und Heimatschutz übernehmen 
sollen. Es sollten im ganzen 85 Bataillone mit rd. 85000 Mann gebildet werden, 
davon allein in Prag 32 Bataillone mit 27800 Mann. Sie sind mit dem Infanterie- 
karabiner und Bajonnet bewaffnet. Jeder Mann rückt mit 60 Patronen aus, 

So sind die Sokols bestimmt, das Rückgrat der nationaltschechischen Bestre- 
bungen und die Grundlage der Wehrkraft des Landes zu werden. Turnen, Sport, 
Waffen- und Felddienstübungen sollen eine körperlich gestählte, vaterländisch 
gesinnte und wehrhafte Jugend heranbilden. 

Der „tschechoslowakische Orel“ istin der Hauptsache eine kulturelle Vereini- 
eung zur körperlichen und moralischen Erziehung der Jugend und zur Pflege des 
kirchlichen und nationalen Geistes der erwachsenen Mitglieder. Auch diese Vereini- 
gung ist eine Stütze des tschechischen Nationalstaates. Der Gesamtverband zählt zur- 
zeit 70000 Mitglieder mit 30000 aktiven Turnern. Die von den Orels veranstalteten 
Feste und Theateraufführungen sind sehr beliebt und viel besucht, Der Orel 


















































22 Militärische Schulung der Jugend im Ausland 








wird von der Regierung ausgiebig unterstützt, ganz besonders auch im deutschen 
Sprachgebiet, um dort die Tschechisierung der Bevölkerung zu beschleunigen. 

Es ist bemerkenswert, daß auch dersozialdemokratische Turnvereinmit etwa 
35000 Mitgliedern staatliche Unterstützung genießt. Er wird also nicht zur natio- 
nalen Opposition gerechnet. Ohne Unterstützung würde er sich nur schwer behaupten 
können, da die Beiträge aus den armen Schichten des Volkes kaum ausreichend 
fließen. Der Verein pflegt Turnen und Sport in jeder Form, lehnt aber militärische 
Ausbildung ab. 

Auf dem Lande gibt es vielfach Reitervereine, Bauernkavallerie genannt. Sie 
sind militärisch organisiert, „zum "Schutz der Republik“ und werden von früheren 
Offizieren nnd Beamten geführt. Anläßlich der Prager landwirtschaftlichen Aus- 
stellung im Sommer 1925 hat ein solcher Trupp von 200 wohlausgerüsteten 
Reitern in guter Haltung und geführt von einem Ministerialrat Aufsehen erregt. 


IE hat es in der Tschechoslowakei auch noch deutsche Turn- und Schützen- 
_ vereine gegeben. Erstere zählen 120000 Mitglieder in 700 Vereinen. Die Schützen- 
vereine haben sich im „Schützennationalverband‘‘ zusammengeschlossen. Die Re- 
gierung ist im Begriff auf Grund der Bestimmungen des Wehrgesetzes diese Vereine 
zu tschechisieren oder im Falle der Weigerung aufzulösen. Sie wurden zunächst 
einzeln aufgefordert, die tschechische Militärsprache einzuführen, zu tschechischen 
Feiertagen und Festen auszurücken, ihre militärähnliche Uniform abzulegen oder 
sich in reine Wohltätigkeits- und Unterstützungsvereine umzuwandeln. Auch wurde 
ihnen mit der Einziehung ihres Besitzes, der besonders bei den Schützenvereinen 
nicht unbeträchtlich ist, gedroht. Im Hultschiner Ländchen wurden die Mitglieder 
deutscher Spiel- und Sportvereine, die auf den Gruben Anselm und Oskar beschäftigt 
sind, von den Steigern aufgefordert, den Sokolvereinen beizutreten. Leisten sie 
keine Folge, so wird ihnen eine schlechtere Arbeit zugewiesen und nehmen sie diese 
nicht an, werden sie entlassen. 


eute schickt sich die tschechoslowakische Regierung an, die militärische Vor- 

i bereitung der Schuljugend durch Gesetz einzuführen. Es war dies schon 1922 
geplant, ein hierzu ausgearbeiteter Gesetzentwurf wurde aber nicht Gesetz. Im 
Frühjahr v. Js. wurde auf Veranlassung des Komitees für nationale Verteidigung 
zur Bearbeitung eines neuen Entwurfes eine neue Kommission unter dem Vorsitz 
des durch seinen chauvinistischen Eifer bekannten Legionärgenerals Gajda berufen. 
Eine Vorlage wird der Volksvertretung demnächst zugehen. Die gesetzliche mili- 
tärische Vorbereitung der Jugend hat jetzt schon begonnen, so daß die 1927 
ins Heer eingereihten Männer 1 Jahr, die 1928 eintretenden 2 Jahre militärischer 
Vorübung mitbringen. Am 1. Oktober 1927 soll dann die l4monatige Dienst- 
zeit eingeführt und bis dahin auch das Offiziers- und Unteroffizierskorps etwas 
„abgebaut“ werden. Diese waren bisher allerdings sehr zahlreich. Nach dem 
Heereshaushalt für 1925 waren 10000 Offiziere, 11200 Rottmeister und 36000 
Unteroffiziere für 63000 Mann vorhanden, also fast für jeden Soldaten ein Vorge- 
setzter und für 6 Mann 1 Offizier. 


Die militärische Fachpresse bringt über den Gesetzentwurf folgende Angaben: 
Zur militärischen Vorbereitung sind alle körperlich und geistig tauglichen Staats- 
bürger der Tschechoslowakei und alle im Staate lebenden Personen, die keine andere 
Staatsangehörigkeit nachweisen können, gesetzlich verpflichtet. Und zwar vom 
18. Lebensjahr angefangen bis zum Tage des Eintritts in die Armee oder bis zu 
dem Tag, an dem die Aushebungskommission den Wehrpflichtigen als gänzlich 
untauglich erklärt. Über die Tauglichkeit entscheiden die Militärärzte. Die Melde- 
pflicht zur militärischen Ausbildung beginnt mit dem 1. Januar des Jahres, in dem 
der Pflichtige 18 Jahre alt wird. Die Meldung hat bei der Gemeinde zu er- 
folgen, in der er seinen ständigen Wohnsitz hat. Wer sie unterläßt oder sich der vor- 
militärischen Ausbildung entzieht, wird mit Freiheits- oder Geldstrafe bestraft. Die 
Standes- und Gemeindeämter haben bei der Durchführung des Gesetzes mitzuwirken. 


| 





Die Tscheeho-Slowakei 23 





Die vormilitärische Ausbildung erfolgt nach französischem Muster in den Schulen 
ind in Ausbildungszentren, die je nachdem für mehrere zusammengefaßte Schul- 
‚yezirke eingerichtet werden. Gemeinden, in welchen Ausbildungszentren errichtet 
‚werden, haben die nötigen Übungsplätze bereitzustellen. 

"Die Ausbildung erfolgt als Infanterist nach dem Infanterieexerzierreglement. 
‚sie dauert 2 Jahre. Jährlich sollen ihr 24 Samstage und 12 Sonntage gewidmet 
‚werden. Sie beginnt 1926 am 1. April. Lehrer und Abrichter sind Berufsoffiziere, 
zeserveoffiziere und Unteroffiziere oder Personen, die durch Ablegung einer Prüfung 
‚hre Eignung nachgewiesen haben. Die Lehrer an den Ausbildungszentren werden 
‚esonders bezahlt. Die Oberleitung nach einheitlichen Gesichtspunkten und die 
3esichtigungen sind Bezirks- und Divisionsinspektoren übertragen. Erstere für 
'eden Gerichtssprengel, letztere für jeden Divisionsbezirk. Divisionsinspekteure 
önnen nur Berufsoffiziere, Bezirksinspektoren auch Reserveoffiziere werden. 
Am Schluß der ganzen Ausbildung finden Prüfungen statt. Wer sich der Prüfung 
‚licht unterzieht und wer an der militärischen Vorbereitung nicht teilgenommen hat, 
‚auß zwei Monate länger im aktiven Heere dienen. Nach ‚‚Pravo Lidu‘ wird damit ge- 
echnet, jährlich etwa 150000 junge Leute von 19 bis 20 Jahren militärisch vorzubilden. 
‘Auf den Hochschulen werden in besonderen Ausbildungszentren die Studierenden 
u Reserveoffizieren vorbereitet. Die näheren Anordnungen werden sich wahr- 
‚cheinlich an die französischen und polnischen Vorschriften anlehnen. 

Über alle Teilnehmer an der militärischen Vorbereitung werden Qualifikations- 
sten geführt, die bei den militärischen Stellen aufbewahrt werden. 


9: Maßnahmen der tschechischen Regierung zur Militarisierung und nationalen 
_/ Festigung der Jugend sind — man mag über die angewandten Methoden sagen, 
‚as man will — jedenfalls das beste Mittel, die auseinanderstrebenden Volksteile 
u einer Nation zu vereinen und aus ihr in denkbar kürzester Zeit ein Volk in Waffen 
umachen. Dadurch, daß der Staat das wertvollste Gut eines Volkes, seine Jugend, 
rühzeitig fest in die Hand nimmt und nach einheitlichen, großen Gesichtspunkten aus 
ar körperlich tüchtige, charakterfeste, von Vaterlandsliebe und Staatssinn durch- 
Fungene, disziplinierte Männer heranzieht, die sowohl im Frieden, wie im Krieg 
er Allgemeinheit eine große Anzahl selbstbewußter, verständiger, opferfreudiger 
‘ührer stellen, begegnet man am wirksamsten allen äußeren und inneren Gefahren. 
lan hört, daß die maßgebenden tschechischen Kreise hoffen, in etwa 20 Jahren das 
stzige Völkergemisch zu einem einheitlichen, rein tschechischen Staat zusammen- 
uschmieden, in dem die tschechische Sprache allein herrscht und eine Irredenta 
erschwunden ist. Ob freilich das mit rücksichtsloser Gewalt und Willkür an- 
ewandte System der Nationalisierung dazu beitragen wird, den „Geist des Friedens 
nd der Versöhnung‘ unter den Völkern zu fördern, ist eine andere Frage. 





Polen 
Von Major Fritz Crato in Berlin 


»: Polen haben von jeher eine besondere Vorliebe für das Soldatenspielen gehabt. Geschichtliche 
Der polnische Volksmund bezeichnet als Sehnsucht jedes jungen Polen ‚ein Frtwicklung 
ferd und einen Säbel“. Das darf uns nicht verführen, diese militärische Leiden- 
‚haft als Spielerei zu nehmen. Der Wehrgedanke hat im polnischen Volk eine weite 
nd tiefe Resonanz, der es nicht an geschichtlichen Gründen fehlt. Die Geschichte 
olens ist Krieg gewesen von ihren Anfängen bis zur Aufteilung des alten Reiches, 
foberungen und Verteidigung des Gewonnenen nach außen, Thronfolgekämpfe 
nd Aufstände im Innern, Krieg und immer wieder Krieg. Was vor einiger Zeit eine 
merikanische Zeitung von Frankreich sagte, daß Imperialismus der Lebensge- 
anke dieses Staates sei und Militarismus seine Geschäftsmethode, gilt in gleichem 
laße von Polen. Dieses System hat Polen zum Niedergang geführt und ist mit dem 








Organisation 


der Ausbildung 


24 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 


LT 


neuen Reiche wieder erstanden. So kann es uns nicht wundern, daß auch während 
der 1%, Jahrhunderte des aufgeteilten Polens der militärische Ehrgeiz des Volkes 
so wenig eingeschlafen ist wie der nationale. 

Die Legionen Pilsudskis, die schon in den ersten Augusttagen 1914 organisiert, 
ausgebildet und ausgerüstet an der Seite der deutschen und österreichischen Truppen 
gegen Rußland marschierten, sind ebenso bekannt wie schon lange vor dem Kriege 
die amerikanisch-polnischen Turn- und Militärvereine, die später das Gros der auf 
Ententeseite kämpfenden Haller-Armee abgaben. Somit war, als das neue Polen 
entstand, der Gedanke einer militärischen Organisation und Ausbildung außerhalb 
des Heeres nicht neu. Eine Anzahl derartige Ziele verfolgender Verbände war vor- 
handen, sie nahm schnell stark zu. Die Entwicklung der Ereignisse sorgte dafür, dab 
die Volkstümlichkeit der Bewegung noch durch Erfolge gestärkt wurde. Es ist 
kein Zweifel, daß Polen Ost-Oberschlesien den Insurgentenverbänden verdankt, 
und es ist nicht zu leugnen, daß die polnische Mobilisation gegen Rußland im Jahre 
1920 durch die schnelle Verwendungsbereitschaft der Insurgentenverbände Hallers 
eine wesentliche Erleichterung erfuhr. Der tiefere Zweck der Verbände ist ein dop- 
pelter: Schutz gegen die Zerfalltendenz des mit nur 60% seiner Bevölkerung. pol- 
nischen, gänzlich unnatürlichen Staatsgebildes und Vorbereitung der noch immer 
nicht befriedigten polnischen Ausdehnungsabsichten in Richtung Litauen, Ost- 
preußen, Danzig und West-Oberschlesien. Natürlich müssen zur Verdeckung dieser 
Ziele nach französischem Vorbild die überall bekannten, wenn auch nirgends ge- 
glaubten Märchen von deutschen Angriffsabsichten gegen Polen den Vorwand her- 
geben. Wenn die Verbände nach der Schaffung des neuen Polens in erster Linie 
zunächst auf die Zusammenfassung und Weiterbildung der bereits gedienten Mann; 
schaften ausgingen, steht seit geraumer Zeit die Erfassung und Ausbildung der 
ungedienten Leute im Vordergrund, besonders des noch nicht wehrfähigen, heran- 
wachsenden Geschlechts. Der Gedanke der Vorbereitung der Jugend für spätereit 
Heeresdienst geht besonders seit dem großen Kriege durch die ganze Welt. Die 
Erfahrung, welche Bedeutung das sportgestählte Menschenmaterial Englands und 
Amerikas für die schnelle Aufstellung der Massenheere dieser Länder hatte, auf def 
anderen Seite die Einsicht der Gefahren des verweichlichenden Materialismüs 
liegen zu sehr auf der Hand, um irgendwo übersehen zu werden. Dazu kommen die 
finanziellen Schwierigkeiten, die, wie fast alle Staaten, so besonders auch Polen 
früher oder später zu einer Herabsetzung seiner Heeresstärke zwingen werden, 
ferner die Tatsache, daß sich hieraus und aus der Abneigung der sozialistischen Kreise 
gegen die militärische Dienstpflicht eine Kürzung der Dienstzeit ergeben wird, 
und schließlich, daß an den Soldaten der Zukunft ganz andere Anforderungen 44 
militärischem Können werden gestellt werden müssen als bisher. Über das ‚„Wie“ 
der notwendigen militärischen Erfassung der Jugend läßt sich streiten; ein Zuweil 
birgt sicherlich Gefahren; bei Polen liegt eine starke Neigung zur Übertreibung vor) 
der Gedanke an sich jedoch verdient jedenfalls unsere ernste Beachtung. 


FE‘: einheitliches Programm der Jugendvorbereitung hat in Polen weder hit 
sichtlich der Organisation noch der Art und Ziele der Ausbildung bisher bestart 
den; es ist jetzt in der Entwicklung. 

Bis zum Jahre 1922 ruhte die Bewegung fast ausschließlich auf den oben allge 
mein erwähnten Verbänden. Die verbreitetste und stärkste Organisation sind dis 
Schützenvereine. Sie stammen aus der Vorkriegszeit, finden sich in der Haupt 
sache in Galizien, zählen über 300000 Mitglieder, davon die Hälfte in Kampfver 
bänden, und verfügen über militärische Ausrüstung. Neben ihnen sind an zweite 
Stelle die Harcerze (Hartschiere — Bogenschützen) mit ca. 100000 Mitgliedert 
zu nennen, dann die Sokols (Falken) mit 50 bis 60000 Köpfen, die P.O.W. (geheim 
Kriegsorganisation in Kongreßpolen) aus russischer Zeit stammend, die Insurgente? 
in Ost-Oberschlesien, die Aufständischen und Krieger in Ost-Oberschlesien und Poset 
die Legions- und Hallerverbände, die Verbände ehemaliger Soldaten u.a. Auße 
den all diesen Verbänden angeschlossenen, militärische Ausbildung erhaltende: 








Polen 25 
nn non LEE EEE mess RBBBBBBBBBGL [SAH 


‚Jugendverbänden bestehen noch eine Anzahl selbständiger, nur Jungmannschaften 
umfassender Jugendvereine, die sich militärische Ziele gesetzt haben: die freiwillige 
polnische Jugendpartei, die Skouts (Pfadfinder), die Jungpolen, allerlei Jugendwehren 
"u. a.; es ist unmöglich, ihre genaue Zahl anzugeben. 


‚Zwar verfügen die Organisationen über eine große Zahl eigener, besonders vor- 
'gebildeter Lehrer; durch gegenseitige Aushilfe wird denen geholfen, die keine Lehrer 
‚haben. Auch konnten schon seit längerer Zeit in Garnisonorten Offiziere zur Aufsicht 
‚herangezogen werden. Die Erfolge der Ausbildung wurden durchwegs als gut aner- 
Kannt; trotzdem trat die Bewegung in ein neues, entscheidendes Stadium, das der 
‚methodischen Arbeit, als im Jahre 1922 die Regierung die Zügel ergriff. 


Der Anstoß ging aus naheliegenden Gründen vom Kriegsministerium aus, Kultus- 
und Innenministerium wurden beteiligt. Als nächstes Erfordernis der Stunde stellte 
das Kriegsministerium den Generalkommandos, Divisionen, Regimentern und Be- 
zirkskommandos Offiziere zur Verfügung, die in den territorialen Bereichen dieser 
Dienststellen die Verbindung mit zivilen Behörden, Verbänden und Bevölkerung, 
insonderheit mit auf den einschlägigen Gebieten führenden Persönlichkeiten aufzu- 
nehmen und sich für Rat und Tat als Organisatoren wie als Instrukteure anzubieten 
hatten. Die Maßnahme wurde mit großer Sympathie aufgenommen, die Offiziere 
fanden ein weites Feld der Tätigkeit, Dank und Anerkennung. Der bis dahin schon 
vorhandene, durch Unterstützung mit Instruktionsoffizieren, Waffen und mili- 
tärischen Einrichtungen gegebene, materielle Einfluß des Kriegsministeriums wurde 
allgemein und erhielt eine geistige Vertiefung. Das Kriegsministerium vermied es, 
in die organisatorische Selbständigkeit der Verbände einzugreifen und hat es bisher 
auch sonst verstanden, die sich von unten darbietende Begeisterung nicht durch öde 
Gleichmacherei zu ersticken. 


- Trotzdem schien es dem Kriegsministerium notwendig, seine führende Rolle in 
der Bewegung entscheidend zu sichern. Von größter Bedeutung in der militärischen 
Jugendausbildung ist die Frage der durch die Ausbildung zu erwerbenden Vergün- 
stigungen; die Wünsche gipfeln in einer Herabsetzung der späteren aktiven Dienst- 
zeit im Heer für die ausgebildeten Jungmannschaften. Zunächst scheint das Kriegs- 
ministerium dieser Forderung noch nicht allzu geneigt zu sein und vertröstet die 
jungen Leute mit der Aussicht auf kleinere Rechtsansprüche: bevorzugte Beför- 
derung, freie Wahl der Waffe und des Standortes für die Heeresdienstzeit, u. U. 
Befreiung von Reserveübungen und Anstellung im bürgerlichen Leben, bei dem 
aerrschenden Arbeitsmangel ein starkes Zugmittel. Die Bedeutung dieser Frage hat 
das Kriegsministerium zur Stärkung -seines Einflusses ausgenutzt, indem die Ver- 
yünstigungen, einerlei wie sie sich gestalten mögen, nur für Ausbildung in solchen 
Verbänden und durch solche Lehrer gewährt werden sollen, die vom Kriegsmini- 
sterium ausdrücklich anerkannt sind. 


Es ist notwendig, sich diese Zusammenhänge vor Augen zu halten, wenn es in 
Zukunft gelten sollte, sich von den politischen Beziehungen der Verbände und Jugend- 
rganisationen zur Regierung ein Bild zu machen; vorläufig richten sich die Bestre- 
Jungen des Kriegsministeriums nur auf zweierlei: organisatorisch auf die zahlen- 
näßige Stärkung der Bewegung, hinsichtlich der Ausbildung auf die Schaffung einer 
selbewußten, einheitlichen Methode. 

Auch mit der Heranziehung des Kultus- und Innenministeriums zu gemeinsamer 
Arbeit verfolgte das Kriegsministerium zwei Ziele: Ausnutzung der Organisationen 
dieser Behörden zur Verbreiterung der Grundlage der Bewegung und Entlastung 
les Heereshaushaltes durch Mitverteilung der für den Staat entstehenden Kosten 
auf die Etats der anderen Ministerien. So ist mit der Zeit erreicht worden, daß zu 
-eitern und Instrukteuren der Ausbildung nicht mehr nur Angehörige des aktiven 
Heeres (Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften) diesem entzogen werden müssen, 
sondern durch das Innenministerium bei Wojewodschaften, Bezirken, Kreisen und 
Städten Stellen für Leiter der Jugendausbildung (meist inaktive Offiziere) geschaffen 


Militärische Schulung der Jugend im Ausland (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 7) 3 















26 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 


ee. Jin] 
Penn nn TEE 





wurden, und vom Kultusministerium die gesamte Schulorganisation zur Verfügung 
gestellt werden konnte. 

Besonders letzteres war von großer Bedeutung, es führte durch planmäßige 
Erfassung der gesamten Schuljugend in ein ganz neues Stadium. Die Schulen 
hatten dem sportlich-militärischen Geist zunächst ziemlich verständnislos gegen- 
über gestanden, Konflikte zwischen geistigen und körperlichen Anforderungen waren 
an der Tagesordnung gewesen, geeignetes Lehrpersonal hatte gefehlt. Das änderte 
sich nun unter dem Druck und durch die Unterstützung der vorgesetzten Stellen 
langsam, aber stetig. Die Schüler hatten nun nicht mehr nötig, außerhalb der 
Schule Anschluß bei den Jugendabteilungen der Verbände zu suchen, die Stunden- 
pläne wurden auf die neue Ausbildung eingestellt, Lehrkräfte ausgebildet und über- 
wiesen, das Interesse der bisher fernstehenden Schüler wurde geweckt, der der Schule 
an sich eigene Sinn für Kameradschaft riß weitere Säumige mit, die Schuldisziplin 
tat das übrige, so daß schon heute in Polen wohl nur wenige höhere, Mittel-, Seminar- 
und Berufsschulen bestehen, deren Schüler nicht einer planmäßigen militärischen 
Ausbildung unterworfen sind. Selbst die Zöglinge der geistlichen Seminare sind 
nicht ausgenommen; wie sich die polnische Geistlichkeit, sogar von der Kanzel, rege 
an der Propaganda beteiligt, so wird auch durch Übungen der angehenden Diener 
Gottes in Schießen und Handgranatenwerfen das Gemüt der Polen nicht beunruhigt, 

Noch hinausgehend über den beabsichtigten allgemeinen Schulzwang zur mili- 
tärischen Vorbereitung ist seit dem Sommer 1925 auch obligatorische Einführung 
einer Uniform für die Schüler in vollem Gange. Die Uniform wird sich zusammen- 
setzen aus einer dunkel-erdfarbenen Bluse von militärischem Schnitt mit Umlege- 
kragen, aus gleichfarbigem Beinkleid und einer vierkantigen Mütze (Rogatka); am 
Kragen der Bluse werden Abzeichen die Schulanstalt erkennen lassen; das Bein- 
kleid soll für die unteren Klassen kurz, für die oberen (6., 7., 8.) nach Belieben 
lang oder kurz sein; ob Dienstgradabzeichen beabsichtigt sind, steht noch nicht fest; 
an mehreren Schulen sind die Uniformen bereits vorhanden. 

Hinsichtlich der inneren Organisation der militärischen Schulausbildung ist noch 
zu klären, ob nur eine allgemeine klassenweise Ausbildung beabsichtigt ist, oder ob 
daneben auch größere geschlossene Gruppen aus verschiedenen Klassen gebildet 
werden sollen; derartige Gruppen mit einer Untereinteilung in Kompagnien und 
Züge unter gewählten und bestätigten Führern sind an mehreren Schulen beob- 
achtet worden; die Schulabteilungen heißen allgemein Hufiec. 

Es liegt der Wunsch nahe, sich ein Bild von der ungefähren Zahl der in militäri- 
scher Ausbildung stehenden 15- bis 19jährigen Jugend Polens zu machen, ein Ver- 
such, der natürlich sehr schwer und mit Vorsicht aufzunehmen ist. Immerhin kann 
man für den augenblicklichen Stand nach verschiedenen Anhaltspunkten wohl 
sagen, daß zurzeit mit etwa 100000 jungen Mannschaften zu rechnen ist, und dab 
bei Fortschreiten der Schulausbildung und der der Verbände in einigen Jahren die 
Zahl bis auf 600000 Köpfe angewachsen sein wird. 

Trotz des vorhandenen Interesses fast der gesamten Bevölkerung für die Jugend: 
ausbildung und trotz des in den Schulen ausgeübten Zwanges kann die Bewegung 
naturgemäß die Unterstützung durch rege Propaganda, Feste mit Vorführungen; 
Ansprachen und Sammlungen, Anspannung der Presse, Filme usw., nicht ent- 
behren. Als Beispiel für die Opferfreudigkeit des Volkes kann dienen, daß kürzlich 
in einem Kreise 200000 Zloty (damals = 140000 GM.) aus freiwilligen Spenden 
zusammengekommen sind. Durchweg ist festzustellen, daß im Westen des Reiches 
und in den städtischen Bezirken Interesse und Tätigkeit reger sind als im Innern 
und Osten und auf dem Lande. Besonders wird über mangelndes Verständnis der 
Landbevölkerung, wie für alle staatlichen Fragen, so auch für die Jugendausbildung 
viel geklagt. Man ist eifrig bemüht, auch hier Wandel zu schaffen. 

Einem vorläufigen Abschluß der staatlichen Maßnahmen zum Aufbau der Jugend- 
ausbildung ist in absehbarer Zeit in der Beratung der betreffenden Gesetzentwürfe 
entgegenzusehen. Die Grundsätze desim Ministerrat bereits festgelegten Gesetzessind: 


E: R | | «Polen: = = Be 27 


1. Pflicht zur körperlichen Erziehung in allen staatlichen und privaten Schulen, einschließ- 
lich der Universitäten; 
. Zugänglichmachung der körperlichen Erziehung für die Jugend außerhalb der Schule 
durch staatliche Unterstützung der ermächtigten Verbände; 


2 
3. Pflicht zur militärischen Vorbereitung der männlichen Jugend vom 16. Lebensjahre 
an in allen Schulen usw.; | 

4. Zugänglichmachung der militärischen Vorbereitung für die männliche Jugend vom 16. Le- 
bensjahre aufwärts außerhalb der Schule durch staatliche Unterstützung usw.; 

5. Ermöglichung der Vorbereitung der weiblichen Jugend in den Schulen auf den Ge- 
bieten des Sanitäts-, Rettungs- und militärischen Fürsorgewesens durch Einführung 
von Wahlfächern in den Schulen, und außerhalb der Schulen durch staatliche Unter- 
stützung der Verbände; 

6. Aussicht auf die Gewährung von Vergünstigungen; 

7. Vorbereitung der Instrukteure durch ein Zentralinstitut; 

8. Pflicht der Gemeinden, Sport-, Schieß- und Übungsplätze zu schaffen. 


"Das Gesetz hat Rahmencharakter, von den Ausführungsbestimmungen ist zu- 
tächst nur die, dem endgültigen Gesetz bereits vorausgeeilte Schaffung eines ‚Obersten 
zates sowie von Wojewodschafts-, Bezirks- und städtischen Komitees für kör- 
jerliche Erziehung und militärische Vorbereitung‘ bekannt geworden. Der „Oberste 
tat“ wird beim Kultusministerium aufgestellt; er setzt sich zusammen aus Dele- 
ierten des Kultus-, Kriegs-, Innen- und Ministeriums für öffentliche Arbeiten, 
lazu Bevollmächtigten der Wojewodschafts-Komitees und besonders einbe- 
ufenen ärztlichen, sportlichen und militärischen Sachverständigen. Die Auf- 
‚aben des Rates sind in der Hauptsache: Weiterentwicklung der Jugendausbildung 
lurch Meinungsaustausch, Anregung, wissenschaftliche Untersuchungen, Verein- 
ıeitlichung der Ausbildungsmethoden und -ziele, Propaganda, Ausgabe von Wei- 


ungen an die Wojewodschaftskomitees und Kontrolle dieser Komitees. Die Auf-- 


yaben der Wojewodschafts-, Bezirks- und städtischen Komitees sind entsprechend. 


Es ist zu erwarten, daß bei der Besprechung des Gesetzes im Sejm sich lebhafte 
Jebatten entwickeln werden, ausgehend besonders von der Frage der Vergünsti- 
jungen und abzielend auf eine Herabsetzung der allgemeinen Heeresdienstzeit. 
irgendwelche ernste Schwierigkeiten sind für die Regierung nicht zu erwarten. 


F’ muß zugegeben werden, daß trotz militaristischer Begeisterung und wucherndem 
Chauvinismus.die Polen Verständnis dafür haben, daß nicht militärisches Können 
illein oder in der Hauptsache den Soldaten macht, sondern daß in erster Linie 
illgemeine physische Ausbildung und psychische Werte Bedingung für die Eignung 
“ur Stütze des Vaterlandes sind. 


So können wir die für Art und Ziele der Jugendausbildung aufgestellten allgemeinen 
zichtlinien als durchaus gesund bezeichnen: Erziehung zur Vaterlandsliebe, Ge- 
iorsam und Verantwortungsfreudigkeit, Stählung des Mutes, Bildung eines geraden, 
vornehmen Sinnes, Hebung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch Sport und 
Gymnastik, militärische Ausbildung in infanteristischem Schießen, Waffenkunde, 
deerwesen, Gelände- und Gefechtsübungen; allmählich kamen von Fall zu Fall 
weitere militärische Zweige hinzu. | 


Die körperliche Erziehung ist gründlich, sie trägt den Charakter wohl überlegten 
Aufbaues. Das Programm eines Unterrichtskurses für Lehrer und Lehrerinnen 
ler körperlichen Jugendausbildung lautet: 


I. Teil: Theoretisch. 


EL ee ee 16 Lehrstunde 
ea en. rk Pr 
N ur 8 5 
Erste Hilfe bei Unglücksfällen . . . . . 4:3 3» 
Theorie der körperlichen Erziehung . . . 6 B* 
- System. meth. körperl. Übungen . : . . 16 a 
Sport theoretisch und praktisch... . : ... 6.- ee 


3* 


Art der 
Ausbildung 















28 Militärische Schulung der Jugend im Ausland 
————e een 
















































II. Teil: Praktisch. 
Schwed. Gymnastik, 
Athletik, 
Sport, Turnen und Spiele, 
Fechten, 
Märsche, 
Selbstschutz (engl. Boxen). 

Die militärische Vorbereitung unterscheidet 3 Stufen: I. Infanteristische Rekruten 
ausbildung, 2. Erweiterung zur Kenntnis auch der Elemente der anderen Waffen 
3. Unterführerausbildung. Jede Stufe schließt mit einer Prüfung, nach deren Aus 
fall die Eignung zur Bekleidung militärischer Dienstgrade ausgesprochen wird. Ein 
zelausbildung und Ausbildung in Zügen und Kompagnien gehen Hand in Hand. 

Im allgemeinen erfolgt in Verbänden und Schulen die Ausbildung in Form vo: 
Übungsstunden (3 bis 4 wöchentlich), Übungsnachmittagen und Sonntagvormittage 
(1 mal wöchentlich) und von ein- oder mehrtägigen Übungen (1 mal monatlich). Zur 
erstenmal im Jahre 1922 wurden 6- bis 8wöchentliche Sommerlager für Jugendver 
bände eingerichtet; für solche Jungmannschaften, die an dieser Lagerausbildun! 
nicht teilnehmen konnten, fanden mehrwöchentliche Sommer- und Winterkurs; 
in den Garnisonen statt; ihre Besucher ergänzten sich in der Hauptsache aus de 
Landbevölkerung. Besonders die Sommerlager haben allgemeinen Anklang un 
Anerkennung gefunden. Sie führten außer zu guten militärischen Ausbildungs 
erfolgen durch den mehrwöchentlichen Aufenthalt in der frischen Luft, die gut 
Nahrung, die hygienischen Vorschriften und das rationelle Betreiben der Übunge 
um so mehr zur Hebung der Gesundheit, als sich die jungen Leute im Alter de 
besonderen Wachstums befanden; Beobachtungen haben gezeigt, daß Teilnehme 
zwischen 10 und 20 Pfund an Gewicht und bis zu 2cm an Wachstum gewannen 
Um die Liebe zur Heimat zu erwecken, legte man die Lager in landschaftlich schön 
Gegenden, an das Meer, in Wälder und ins Gebirge. Da die Unterbringung in Zelter 
ausnahmsweise in Städten und Dörfern erfolgte, konnte durch Wechsel in der Wat 
der Gegend dem Nebenzweck der Propaganda, der Interessierung der Bevölkerung 
Rechnung getragen werden. Die Einrichtung derartiger Lager hat von Jahr z 
Jahr zugenommen, 

1922: 39 Lager 2000 Teilnehmer 1924: 77 Lager 7000 Teilnehmer 
1923: 74 ,, 5000 i 1925: 85 ,, 8500 RT, 

Die Kurse unterstehen in jeder Beziehung den Generalkommandos bzw. de 
diesen nachgeordneten militärischen Dienststellen; sie sind vollkommen militärisc 
aufgezogen. Die Teilnehmer erhalten während der Übungszeit Bekleidung, Aus 
rüstung, Verpflegung und Löhnung wie zur Übung eingezogene Reservisten; fü 
die Übungszeit gelten die militärischen Gesetze. Ein Beispiel für die Tageseinteilun 
in einem Lager zeigt folgendes Bild: 

5 Uhr vorm. Wecken, anschließend Gebet und Instandsetzung des Lagers, 

Aufziehen der Wache, 

bis 11.30 Uhr Exerzieren oder Felddienst, 

12 Uhr mittags Befehlsausgabe, Essen und Ruhepause, 

3 Uhr nachm. Exerzieren, 

5 bis 7 Uhr nachm. Sport, Spiele und Baden, 

9 Uhr nachm. Zapfenstreich. 

Die Sommerlager ebenso wie die größeren Garnisonkurse schließen mit eine 
Besichtigung, die gleichzeitig eine Schaustellung für die Bevölkerung bildet. 

Der bis hierhin zu annähernder Einheitlichkeit gestaltete allgemeine Rahme 
für die Art der Ausbildung hat nicht allen Wünschen genügt. Die Fähigkeit de 
Polen, sich an eine Sache, für die er sich erwärmt, auch mit ganzer Begeisterun 
hinzugeben, hat zu mannigfachen Erweiterungen geführt und wird noch weiter 
Entwicklung bringen. 







































1) 80°, für Schulen; 20°/, für Universitäten und Verbände. 





Polen mit 29 


' 
| 
| | | 





' Zunächst traten zu den Waffen, an denen Ausbildung stattfand, zum Gewehr, 
‚ichten M.-G. und schweren M.-G. Geschütze hinzu. Im allgemeinen dürfte die 
'eschützausbildung in den Kasernen der Artillerie-Truppenteile erfolgen, ver- 
hiedentlich sind jedoch auch schon Geschütze in den Schulen beobachtet worden, 
an der Truppe für diesen Zweck auf längere Zeit leihweise zur Verfügung gestellt; das 
'shramt üben Unteroffiziere der Artillerie-Regimenter aus. 

“Kurse zur Ausbildung von Kavalleristen, auch Übungen berittener Jugend- 
Hbände kommen vor, sind jedoch selten. 

ı Für die Unterweisung der Jugend in der Gasabwehr wird stark Propaganda 
macht. Daß sich die Belehrung nicht auf die Technik der Gasabwehr beschränken, 
indern sich bald auf das ganze Gebiet des Gaskampfes ausdehnen wird, liegt auf 
»r Hand und wird nicht geleugnet. 

'In den Schulen will man, abgesehen von den schon an sich für physische und 
'llitärische Vorbereitung angesetzten Stunden auch die Pensen der anderen Lehr- 
‚cher durch Lehrstoffe von militärischer Bedeutung ergänzen. Es ist Einführung 
urgeschlagen in die Grundzüge der Ballistik, der Motorenkunde, der Pyrotechnik, 
‘r Topographie, der Kartographie, der Draht- und der drahtlosen Telegraphie und 
'r Telephonie. 

Auch die weibliche Jugend läßt der patriotische Ehrgeiz nicht ruhen. Neben 
T staatlich vorgesehenen Ausbildung im Kranken- und Fürsorgedienst ist die 
Iinrichtung von Nachrichtenkursen, bei denen nebenbei auch über Heerwesen und 
nnige sonstige militärische Dinge gelehrt wird, nichts Außergewöhnliches; im Sommer 
125 hat in Ostgalizien ein Sommerlager für weibliche Jugend bestanden. 


"Die polnische Liga für Luftfahrt hat im verflossenen Sommer auf dem Militär- 
ıagplatz in Bromberg ein Fliegerferienlager für die Schuljugend eingerichtet. 
ie Schüler erhielten wie in den anderen Sommerlagern außer Unterbringung Ver- 
‚legung, Bekleidung und Löhnung. Der Lehrplan sah folgende Fächer vor: 


. . Motorenlehre, 
| Bau der Apparate, 
Aero-Dynamie, 

Aero-Navigation, 

Orientierung aus der Luft, 

Kartographie, 

Geländekunde, 

Meteorologie, 
. Radiotelegraphie, 
. ‚Photographie, - 
| Verwendung der Luftwaffe für die Reichsverteidigung, 
Geschichte des Flugwesens, 
ji Lehre der Flugzeugwaffen und der militärischen Fliegerorganisation. 


Die Leitung des Kurses lag in der Hand eines älteren, erfahrenen Fliegeroffiziers, 
ıter gleichzeitiger Teilnahme eines Zivilleiters; Aufstiege fanden nicht statt; Schüler, 
e den Kurs mit Erfolg beendigten, sollen später zur Fliegerwaffe eingezogen werden. 








us allem Gesagten müssen wir uns bewußt werden, daß Polen unserem Vater- 

lande in der militärischen Vorbereitung der Jugend und durch. sie in der Ver- 
idigungsbereitschaft des Volkes weit voraus ist. Der Abstand wird sich von Jahr 
| Jahr vergrößern, je mehr bei uns die vorkriegs- und kriegsgedienten Jahrgänge 
das nicht mehr waffenfähige Alter übertreten, während bei den Polen allgemeine 
\enstpflicht und Jugendausbildung das Reservoir an ausgebildetem oder vorbe- 
itetem Soldatenmaterial dauernd wachsen lassen. Verschiedentlich schon hat die 
‘avorsichtigkeit prominenter polnischer Persönlichkeiten den für uns sehr inter- 
santen geheimen Gedanken dieser Männer verraten: Je mehr in Deutschland die 
ihl der noch kriegsgedienten Männer abnimmt, je günstiger dadurch für Polen das 
rsonelle Rüstungsverhältnis zu Deutschland wird, desto näher der Augenblick 
s polnischen Losschlagens zur Befreiung der unerlösten Gebiete. 


EEE ET | — u 
. 








30 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 








Sowjet-Rußland 
Von Ernst Drahn in Berlin 


ie Lust der Zerstörung ist eine schaffende Lust! Dies Wort des russischen Revo- 
lutionärs Michail Bakunin aus dem Anfang der 40er Jahre des vorigen Jahr- 
hunderts gibt wohl am besten den Charakter der letzten russischen Revolution und 
die damalige Grundstimmung der Bolschewisten wieder. Für den Westeuropäer 
ist diese naiv-wütende, schier kindlich-frohe Emsigkeit im Klarmachen des Grundes 
für den Aufbau eines Neuen ziemlich unfaßbar, man muß sie schon als einfache 
Tatsache zu den Rasseneigentümlichkeiten der Ostslawen rechnen. Sie in dieser 
Form, etwa in theoretischen Lehren, der modernen russischen Revolution einzu- 
ordnen, wäre kaum angängig. Mit dem föderativen Anarchismus eines Bakunin hat 
der Staatssozialismus der Bolschewiki, die „Diktatur des Proletariats‘‘, die folge- 
richtig, theoretisch auf den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels für die 
Übergangszeit von der gegenwärtigen zur zukünftigen sozialistischen Gesellschafts- 
form aufgebaut ist, nichts zu tun. Besonders macht sich dies bei der Organisation 
der Machtmittel in der Hand des Sowjetstaates bemerkbar, vor allem in der New- 
organisation des Heerwesens. Hier herrschen Gedankengänge, denen Friedrich 
Engels im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts Ausdruck verlieht) und die 
später Jean Jaur&s weiter ausarbeitete.?) 

Der gründlichen Zerstörung durch die russische Revolution fiel, wie vieles andere, 
das alte Heer anheim und der Neuaufbau der „Roten Armee‘‘ geschah von Grund 
aus. Ehe man jedoch an eine solche Aufgabe gehen konnte, mußte man sich mit be: 
helfsmäßiger Heeresorganisation begnügen. Es führte ein langer Weg von dei 
„Roten Garde“ zur „Roten Armee“, die im letzten Stadium.des für Sowjetrußland 
siegreich beendeten Bürgerkrieges auf die stattliche Zahl von über 5 Millionen Manit 
angewachsen war. Schon in diesen behelfsmäßig aufgestellten revolutionären 
Heeren hat das jugendliche Element seine nicht zu unterschätzende Rolle ge: 
spielt?). Noch vor Gründung des allrussischen kommunistischen Jugendverbande: 
(1918) haben örtliche Jugendverbände die ersten Formen der Bewaffnung des revo: 
lutionären Proletariats mitgeschaffen. Schon während des mißglückten Juli: 
aufstandes 1917 haben in Moskau und anderen Städten große Mengen Jugend: 
licher in den Reihen des ‚„Bewaffneten Schutzes‘ der kommunistischen Partei mit- 
gekämpft, auch die „Rote Garde‘, die wenig vor dem Oktober 1917 entstand, nahn 
in sich größere Teile der Jugend auf. Innerhalb dieser militärischen Organisation 
sind die Jugendlichen auf die Barrikaden des Oktober gegangen und haben im Auf: 
klärungs- und Stafettendienst organisatorisch wie praktisch viel geleistet. In det 
Tagen vor dem Brest-Litowsker Frieden, als die Arbeiterschaft Petersburgs zut 
Verteidigung der Hauptstadt alarmiert wurde, rückte die Hälfte des Petersburget 
Jugendverbandes, eine mehr als 10000 Mitglieder umfassende Truppe, an die Front: 
Auch die Moskauer Jugendorganisation sandte mehrere Tausend Mitglieder in: 
Kriegsgebiet zu verschiedentlicher Dienstleistung (Kurierdienst, Stabswachen, In 
tendanturarbeit und Freiwilligenwerbung). Nach dem Frieden mit Deutschlan! 
hat der Jugendverband bei der Gründung der eigentlichen „Roten Armee‘ mit: 
gewirkt. Er hat eine umfassende Propaganda in den breiten Massen der arbeitendet 
Jugend entwickelt. Der Verband selbst wurde durch Einführung einer für alle Mit 
glieder obligatorischen militärischen Ausbildung zu einem großen Depot für di 
„Rote Armee‘ umgestaltet. Die Hauptkadres gegen die Kräfte der „Konter 
Revolution‘ (vor Petersburg, am Don und in der Ukraine) wurden aus Jugendlichet 
BEIN Als während des Bürgerkrieges Schulen eingerichtet wurden, ;in,dene! 


) Friedrich Engels: Kann Europa abrüsten? Nürnberg 1893. 

?) Jean Jaur&s: Die neue Armee. Jena 1913. 

®) Lazar Schatzkin (Moskau): Die kommunistische Jugend Rußlands und die Rote Arme? 
Art. i. d. Internationalen Pressekorrespondenz. Berlin 1923. III. Jahrg., Nr. 165. 





 Sowjet-Rußland BEN | 31 


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militärische Führer (‚Rote Kommandeure‘“) aus den Reihen der Arbeiter und 
Bauern ausgebildet wurden, hat der Jugend-Verband Tausende seiner Mitglieder auf 
die militärischen Akademien gesandt. Das Wichtigste aber war die unmittelbare 
Unterstützung der Frontarmeen. jedesmal, wenn die militärische Lage für die 
Sowjettruppen schwierig wurde und Verstärkungen durch bewußte, opferwillige 
Kämpfer dringend nötig wurden, hat der Jugendverband Zehntausende seiner Mit- 
glieder an die Front gesandt. Solche Mobilisationen der jugendlichen Verbandsmit- 
glieder beruhten teils auf freiwilliger Werbung, teils auf Anordnung der Leitung. Z.B. 
wurden im Herbst 1919 30%, der Mitglieder ‘(auf einen Bericht von Trotzki an 
den II. Kongreß des R.K. I. V. hin) an die Front gegen General Denikin gesandt. 
Die in der Nähe der Front befindlichen örtlichen Gruppen der Organisation stellten 
ihre Mitglieder in corpore der Armeeleitung zur Verfügung; auch in dem vom 
Gegner besetzten Gebiet wurden der Roten Armee wertvolle Dienste geleistet und 
im Anschluß an die R.K.P. der Parteigängerkrieg organisiert. Weibliche Mit- 
glieder wurden im Sanitätsdienst untergebracht. Die Art der Verwendung der 
Jugendlichen war verschieden. Sie wurden entweder in die bestehenden Truppen- 
teile eingereiht oder in besonders dringender Gefahr als besondere Jugendtruppe 
organisiert. Dies geschah z. B. im Herbst 1919, wo ein Radfahrer-Bataillon während 
der Offensive des Generals Iudenitsch aus Jugendlichen aufgestellt wurde. 

Das sind die Nachrichten, die wir über die militärische Ausbildung und die Wirk- 
samkeit Jugendlicher aus der Zeit der Revolution und des Bürgerkrieges in der 
„Roten Armee“ aus der ersten Quelle des Berichtes des Vorsitzenden des Jugend- 
verbandes schöpften. Es geht daraus hervor, daß Sowjetrußland in seiner politischen 
Jugendorganisation eine Institution besitzt, deren Überlieferung eng mit der der 
„Roten Armee‘ verknüpft ist. Da die Mitgliederzahl ca. 1%, Millionen beträgt, so 
ist die kommunistische Jugendorganisation heute auch ein wichtiger Faktor für die 


‚militärische Vorbereitung. der Jugend. 


- Von April 1918 bis 1923. bestand außerdem die staatlich ins Leben gerufene 
militär-sportliche Organisation „Vsevobu®‘‘ (Abkürzung von Vseob$dee voennoe 
obudenie — allgemeiner kriegerischer Unterricht). Sie hatte es sich zur Aufgabe 
gemacht, die heranwachsende Jugend militärisch auszubilden und im kommuni- 
stischen Geiste zu erziehen. Die Organisation war über ganz Sowjetrußland ver- 
breitet und soll zuletzt, nach der „Rigaer Rundschau‘, sechs Millionen Mitglieder 
gezählt haben. Sie.hatte in den Arbeitsstätten selbst (Fabriken, Handelshäusern, 
fandwirtschaftlichen Betrieben) ihre „Zellen‘‘ aufgetan, diese Grundzellen waren zu 
„Lokal-“ und diese weiter zu „Rayonszellen“ zusammengeschlossen. Über dem 
Ganzen stand eine „Hauptzentral-Verwaltung‘‘ für Al-Rußland mit dem Sitz in 
Moskau. In jedem Ort hatte der „Vsevobue“ seinen Übungsplatz, auch waren 
passende Hallen oder Säle für ihn beschlagnahmt. Schon in der Zeit des Bürger- 
krieges leistete die Vereinigung gute Dienste, aber alle diese Maßnahmen waren 
dennoch nur, wie gesagt, behelfsmäßig gewesen. 1923 wurde die Organisation aufgelöst. 


Ft den Armee-Ersatz in der Zeit nach dem Bürgerkrieg wurde die Frage der mili- 
tärischen Ausbildung der Jugend erst wirklich aktuell, als man sich nach längeren 


"Beratungen darüber klar wurde, zu welchem militärischen System man für die 
nächste Zukunft übergehen müsse, um das zu teuere, große stehende Heer zu er- 
setzen. Zwei Heeresarten wurden bezüglich der Zweckmäßigkeit gegeneinander 


} 


abgewogen, nachdem sich die Unzweckmäßigkeit der geschlossenen Überführung 


‚ganzer Armeen in den Produktionsprozeß des Landes erwiesen hatte. Der Satz des 
„kommunistischen Manifestes‘“ von der „Errichtung industrieller Armeen‘ oder der 
"aAusführlichere in den „Forderungen der kommunistischen Partei Deutschlands“ 
(von 1848), „g4... Die Armeen sind in Zukunft zugleich Arbeitsarmeen, so daß das 


Heer nicht bloß, wie früher, verzehrt, sondern noch mehr produziert, als seine Unter- 
haltungskosten betragen ... .‘“ hatte seine Undurchführbarkeit in dieser allgemeinen 


"Fassung praktisch dargetan. Man mußte also zur umfassenden Demobilisation des 


Heeresapparates, wie er im Bürgerkriege bestand, schreiten. Man entschloß sich, 








2 Militärische Schulung der Jugend im Ausland 
———— m ne nn 


auf einen laufenden Bestand von rd. 600000 Mann herabzugehen. Die beiden Systeme 
der zukünftigen Heeresorganisation, die nun in Frage kamen, waren das kleine, aber 
in Ausbildung und Ausrüstung qualitativ erstklassige Heer oder das Volksheer nach 
einem milizähnlichen System. Trotz mancher Bedenken, die nicht zum wenigsten 
gegen die größeren Kosten, die naturnotwendige Kompliziertheit der Mobilmachungs- 
organisation und die Abhängigkeit von zu gering entwickelten Transportmitteln 
— bei einer milizartigen Heeresorganisation — laut wurden, entschloß man sich 
dennoch zu einer solchen Heeresorganisation. Vielleicht spielten dabei von neuem 
marxistische Überlieferungen mit. Ganz offen geben die Veröffentlichungen russischer 
Autoren’) zu, daß die „Rote Armee“ in ihrer jetzigen Stärke zur Kriegführung unge- 
eignet ist. Im Falle des Krieges müssen darum ihre Mannschaftsbestände Ergän- 
zungen erfahren, die den gegenwärtigen Bestand mehrfach übersteigen. „Die 
Kampffähigkeit dieser Armee wird hauptsächlich davon abhängen, wie ihre Reserve 
im Lande ausgebildet ist‘‘, äußert sich Trotzki in einem Aufsatz, den er zum fünf- 
jährigen Bestehen der „Roten Armee‘ veröffentlichte. Er führt weiter aus, daß 
die Lösung dieser Aufgabe in breiter Anwendung des Milizsystems liegt. Die Aufgabe 
ist also, eine Organisation zu schaffen, die es ermöglicht, bei kleinsten Ausgaben 
und geringster Entziehung der Bevölkerung vom normalen Leben, die Kampf- 
fähigkeit in jedem Augenblick zu sichern und die Verteidigung des Sowjetbundes mit 
den Waffen in der Hand uneingeschränkt in Kraft treten zu lassen. Die Milizarmee 
ist zu diesem Zweck nach territorialen Grundsätzen aufgebaut mit einem kleinen 
Kadre militärischer Organisatoren, entsprechend der wirtschaftlichen Organi- 
sation des Landes. Die Erfüllung der militärischen Dienstpflicht in einer solchen 
Armee entzieht die Bevölkerung nicht ihrer Arbeit. Die Grundlage erfolgreicher 
Mobilisation für Kriegszeiten dabei ist, daß schon in Friedenszeiten die militärischen 
Einheiten nach Wohnbezirken organisiert sind. Das System der militärischen Aus- 
bildung bei diesem Aufbau der Armee ist folgendes: 


I. Vorläufige, militärische Ausbildung der Jugend vor Einberufung zur aktiven 
Dienstpflicht, 

2. militärische Dienstleistung bei den Truppenteilen erster Ordnung, 

3. Dienstleistung bei den Truppenteilen zweiter Ordnung und 

4. bei denen der Reserve. 

Truppenteile erster Ordnung sind: 

l. Die Kadretruppenteile der „Roten Armee‘, die mit vollem Mannschaftsbe- 
stande ständig während der Dienstzeit unter Waffen sind, 

2. „Territoriale Divisionen“, die nur zum unbedeutenden Teil unter Waffen ge- 
halten werden, während die Hauptmasse des Mannschaftsbestandes nur 
periodisch auf kurze Zeit einberufen wird. (Dazu ein Bestand von Instruk- 
toren.) Jährlich geschieht dies auf einen Monat. 


Der Mannschaftsbestand der ersten Gruppe und der Stämme der zweiten soll heute 
610000 Mann betragen, der der sofort einzuziehenden ‚Territorialen‘‘ war in drei- 
facher Stärke der Kadretruppenteile geplant; es soll sich aber herausgestellt 
haben, daß vorläufig nur die doppelte Zahl der ‚Territorialen‘, im Verhältnis 
zu den Kadretruppen gerechnet, zur Verfügung steht. Die Armee ist in 17 Korps 
und 52 Divisionen eingeteilt, von denen allein 20 an der Westgrenze untergebracht 
sind. Die alte Institution der „Grenzwachen‘ ist beibehalten. Sie bestehen aus 
48 Bataillonen, Kavallerie und Fernsprechabteilungen in Stärke von 50000 Mann. 
Von den 52 Divisionen wurden zwei in territoriale Divisionen mit einem ständigen 
Bestande von 1500 Mann umgewandelt. Diese Stärke ist also der Stamm, zu dem 
ein beweglicher Bestand von je 13000 Mann hinzutritt, was ungefähr der Kriegs- 
stärke der Division entspricht. Außerdem sind territoriale Divisionen aufgestellt. 


!) Vgl. z.B. E. Mechonoschin, (Moskau): Neue Prinzipien im Aufbau der bewaffneten 
Kräfte des Sowjetbundes. Art. i. d. Internationalen Pressekorrenspondenz. Berlin 1923. 
III. Jg., Nr. 137. 































































| 

h | Sowjet-Rußland 33 
N en 

E. territoriale Division hat ihren Mannschaftsbestand einem Umkreis von 
"50 Werst zu entnehmen.) Die Dienstzeit der Territorialtruppen währt vom 21. Jahre 
‚ab 5 Jahre. Jährlich werden die Mannschaften 4- bis 5mal zu kurzen Übungen im 
(Tiuppenverband einberufen. Ebenso wie im kleinen stehenden Heer sind die ‚‚Terri- 
‚torialen“ in alle Waffengattungen geteilt. Die Aushebungsquote zur Einreihung in 
‚die Territorialen beträgt 30 bis 40%, der gesamten Rekrutenzahl. Der Rest erhält 
\keine weitere militärische Ausbildung als die, die er vor der Dienstzeit durchgemacht 
‚hat. Herbst 1923 war die erste dieser Aushebungen. Soviel über die Truppen der 
| Se ersten Ordnung. 


as ganze Wehrsystem erinnert an den Satz von Friedrich Engels: „Indem ich 

die gymnastische und militärische Ausbildung der gesamten männlichen Jugend 
‘zu einer wesentlichen Bedingung des Übergangs zum neuen System mache, schließe 
ich die Verwechslung des hier vorgeschlagenen Milizsystems mit irgendwelcher 
‘jetzt bestehenden Miliz, z. B. der schweizerischen, ausdrücklich aus“. Man hat die 
‚letzte Stelle noch dadurch unterstrichen, daß man neben der militärischen Aus- 
"bildung noch die politische eifrig pflegt. Man will in der Sowjetunion kein Volksheer im 
‚im gebräuchlichen Sinne schaffen, sondern eine Proletarierarmee, ein Heer der 
Arbeiter und armen Bauern. Ganz in diesem Sinne äußerte sich Trotzki am Anfange 
‚der Umformungsperiodet): 
' „Seine Armee errichtete Sowjetrußland aus Arbeitern und Bauern ’— Ausbeuter haben 
‚in der Armee keinen Platz. Zur Ausbildung der Rotarmisten und zur richtigen Führung 
und Organisierung der Armee wurden Tausende ehemaliger Offiziere herangezogen. . 
‚Gleichzeitig wurde während dieser fünf Jahre in den militärischen Schulen ein neuer Kom- 
|mandeurstand erzogen,. der mit den Arbeitern und Bauern in enger Fühlung steht. Die 
auf 600000 Mann beschränkte Armee verwandelt sich immer mehr in einen Kadre für mehrere 


‚Millionen starke proletarische und Bauernreserven. Wir beschreiten zugleich den Weg einer , 


immer breiteren Anwendung der Grundsätze des Milizsystems. Um so wichtiger, um so 
|lebensnotweniger ist für die Armee die weitere Entwicklung der vormilitärdienstlichen 
Vorbereitung und die unaufhörliche- Verbindung unserer bewaffneten Kräfte mit den arbei- 
‚tenden Massen, mit den lokalen Sowjets, mit den Gewerkschaften, mit dem Jugendverbande 
‚und mit den Organisationen der Kommunistischen Partei... Die unerschöpfliche Kraft 
‚der Roten Armee besteht in ihrem Glauben an ihre hohe Berufung; jeder Rotarmist wußte 
| und weiß es, daß... unsere Armee den Kampf um das Wohl der Arbeiter gegen ihre Aus- 
\beuter zur Aufgabe hat. Die Rote Armee ist der Schutz der Unterdrückten; die Rote Armee 
‚ist das Schwert der Rebellen!... Junge Kämpfer! Die fünf verflossenen Jahre sollen euch 
‚als Schule des großartigsten Heroismus dienen. Lernt von der Vergangenheit, bereitet euch 
‚auf die Zukunft vor!... Wir wollen den Frieden! Aber niemand weiß, wann der böse Wille 
‚des Feindes uns wieder zwingen wird, auf den Kampfplatz zu treten.... Die Kämpfer der 
‚Revolution dürfen den Soldaten des ne nicht nur nicht nachstehen, sondern im 
‚Gegenteil, sie müssen sie in allem übertreffen. . 

Die gleichen Gedanken werden immer von neuem wiederholt und abgewandelt. 
‚Außer dieser Politisierung der Armee betont man stets die Abhängigkeit des Miliz- 
‚systems von der Entwicklung der Produktionskräfte des Landes, von der Lage des 
‚gesamten Verkehrswesens und von der Entwicklung der Allgemeinbildung in den 
‚Arbeiter- und Bauernmassen. Ohne Frage ist das russische Wehrprogramm von 
‚zroßzügigstem Ausmaß. Es stellt aber an die Massen des niederen Volkes Anforde- 
‚rungen, für die heute kaum eine Grundlage vorhanden ist. Es wird optimistisch 
‚mit Zukunftsverhältnissen gerechnet, sowohl in der wirtschaftlichen Lage Rußlands, 
'als in der kulturellen und politischen Bildungsmöglichkeit und Empfänglichkeit 
'3ei den Massen. Es ist ein Wehrprogramm, das nicht isoliert im Staatsleben steht, 
‚sondern auf Tod und Leben mit dem ganzen Sein des Sowjetstaates verbunden ist. 
' Zu seiner Auswirkung würden nicht Jahre, sondern Jahrzehnte gehören. Die Ver- 
wirklichung wird daher wohl immer noch hinausgeschoben werden müssen und Not- 
|Jehelfe werden nach Notbehelfen den Gang der Dinge aufhalten. 





2) Befehl des Revolutionären Kriegsrates der Sowjetrepublik zum 5. Jahrestag der Roten 
|Armee. Internationale Pressekorrespondenz. Berlin 1923. . III. Jg., Nr. 33. 


| 











34 Militärische Schulung der Jugendim Ausland 








\X Tie aus dem Vorstehenden zu ersehen ist, hat man die erste militärische Vorbildung 

in die Schule verlegt. Schon Engels fordert für sein Milizsystem neben ‚‚Frei- 
und Gerüstturnen“ zur Stählung des Körpers und zur Ausbildung der Muskeln, in 
den Schulen militärische Exerzitien: 

„Den Jungen kann auf der Schule die Bildung und Bewegung militärisch geschlossener 
Trupps mit Leichtigkeit gelehrt werden... Die Bewegung im Zuge und in der Kompagnie 
lassen sich in jeder Schule einüben.... Die Führung und Richtung im Frontmarsch und 
Schwenken werden von Schuljungen spielend erlernt, sobald das Exerzieren systematisch mit 
ihnen betrieben wird. Wird ein guter Teil des Sommers zu Märschen und Übungen im Terrain 
verwandt, so wird Körper und Geist der Jungen nicht weniger dabei gewinnen als der Militär- 
fiskus.... Daß solche militärische Spaziergänge sich ganz besonders dazu eignen, Aufgaben 
des Felddienstes von Schülern lösen zu lassen.... Bei dem heutigen komplizierten Stand 
des Kriegswesens ist ohne militärische Vorbildung der Jugend an einen Übergang zum Miliz- 
system gar nicht zu denken... .“ 


Jaur&s verlangt in seinem „Gesetzentwurf‘t) ähnliches: 

„Art.4. Die Ausbildung der aktiven Armee erfolgt in drei Phasen: Vorbereitende Schulung 
der Knaben und Jünglinge, Rekrutenausbildung, regelmäßig wiederkehrende Waffen 
übungen. 

Art.5. Für die Knaben und Jünglinge im Alter von zehn bis zwanzig Jahren wird eine 
vorbereitende Schulung eingeführt.... Sie ist vor allem eine Erziehung zur Gesundheit 
und Gewandtheit, durch Turnen, Marschieren, rhythmische Bewegungen, Geschicklichkeits- 
und Behändigkeitsspiele und durch Schießübungen. Sie hat maßvolle, nicht zu übertreibende 
Sportübungen, die den Wetteifer anregen sollen, mit einem täglichen, rationellen Betrieb 
des Turnens zu verbinden, der die Aufgabe hat, in normaler Weise die Kraft des Organismus 
gemäß den Fähigkeiten des einzelnen zu entwickeln und körperliche Mängel zu beseitigen 
oder ihnen vorzubeugen... .“ 

In Rußland hat man offensichtlich beide sozialistische Autoren für die militärische 
Vorbereitung der Jugend zum Muster genommen. Sie tritt vor der Indienststellung 
bei den Territorialtruppenteilen in Erscheinung. 


1. Militärische Ausbildung in der Schule, 


2. Vor der Einberufung a) im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, b) im Alter 
von 18 bis 20 Jahren in zwei Stufen. 


Diese Stufen der militärischen Ausbildung unterstehen dem „Höchsten Sowjet 
für Körperkultur“. Nach dem Dekret vom 1. August 1923 ist „die Vorbereitung 
in der Schule ein untrennbarer Teil des allgemeinen Systems der Arbeitererziehung 
und Arbeiterbildung, die das Ziel hat, der Jugend in der Arbeitsschule und anderen 
Lehranstalten die allgemeine physische Erziehung zu geben, die den Anforderungen 
entspricht, welche an den künftigen Staatsbürger nicht nur als Arbeitspflicht, sonder 
auch als Militärdienstpflicht von der $, S. S. R. gestellt werden. Sie wird durch die 
Lehrkräfte und -mittel der Kommissariate für Volksgesundheit und Kriegswesen 
verwirklicht. Als Periode dieser militärischen Vorbereitung wird das Alter vor dem 
16. Jahr gerechnet.‘ 


Dieses Dekret und andere Maßnahmen zur militärischen Ausbildung scheinen 
keine genügenden Erfolge gezeitigt zu haben, denn Ende August 1924 wurde 
in einer Sitzung des „Revolutionären Kriegsrates‘“ die „Militarisierung‘‘ sämtlicher 
Lehranstalten beschlossen. Bei jeder Lehranstalt sollen militärische Formationet 
gebildet und die speziellen militärischen Lehranstalten ‚‚mobilisiert‘‘ werden, d.h. 
ihre Ausbildung soll intensiver gestaltet werden, bezügl. ihrer Ausrüstung und Bewäft 
nung ein dauernder Zustand der „Alarmbereitschaft‘ eintreten. Das Kommissariat 
für Volksbildung, vertreten durch Lunatscharskij, äußerte zwar den Wunsch, „‚die 
Militarisierung der Schulen bis 1928 zu verschieben“, doch wurde auf Verlangen 
von Bubnow, vom „Revolutionären Kriegsrat‘‘ und Frunse, dem kürzlich ver- 
storbenen Generalstabschef der ‚Roten Armee“, folgendes Programm angenommen‘ 


1) Jaures: Die neue Armee. Seite 485ff. 





Sowjet-Rußland | 35 
ann mn nn nn m nn nm nn ern mnonsenesr nern nennen nennen mmennednnmnnn onen room nn 


1. Die Schüler der Lehranstalten sind junge Leute, die jederzeit bereit sein müssen, dem 
' Rufe der Arbeiter- und Bauernregierung zu folgen, um die Arbeiterrepublik und das inter 
nationale Proletariat zu verteidigen, daher müssen sie ohne Rücksicht darauf, ob sie für die 
‚Einberufung zum militärischen Dienst in Betracht kommen oder nicht, militärisch ausge- 
‚bildet werden. 
‚= 2. Die Lehranstalten müssen selbständig organisierte, militärische Einheiten bilden, um 
‚im Falle eines inneren oder äußeren Krieges gegen die Feinde der Sowjetrepublik in den 
; Kampf zu ziehen. 
3. Die „Reinigung‘‘ und „Proletarisierung‘‘ der Lehranstalten, die sowohl im Gange, 
‚aber nicht beendet ist, dürfen die Durchführung der „Militarisierung‘ in keiner Weise hindern, 
‚denn jeder Staatsbürger muß, ohne Rücksicht auf seine Parteizugehörigkeit, militärisch 
‚ ausgebildet sein. 
„4. und 5. usw. 

Es wurde weiter festgesetzt, daß noch im Schuljahr 1924 mit der Ausführung des 

Programms begonnen wurde. / 

. Im einzelnen besteht das Programm aus zwei Teilen. Der erste Teil betrifft die 
Ausbildung in der Zeit vom 1.Oktober 1924 bis zum 31. Januar 1925. Er enthält: 
1. Formierung der Schüler sämtlicher Lehranstalten in militärische Einheiten und Unter- 
‚ weisung in den Grundprinzipien des Krieges. 

2. Infanteristische Ausbildung und Ausbildung mit der Schußwaffe. (Exerzieren in ge- 
' schlossener Ordnung und Übungen in der Schützenlinie.) 

3. Theorie des’ Schießens mit Gewehr und Selbstladepistole. 

4. Dienstreglement und das Wichtigste aus anderen Reglements. 
"Der zweite Teil betrifft die Ausbildung in der Zeit vom I. Februar bis I. Juni 1925. 
‘Er bestimmt: 
1. Theoretische Unterweisung im Maschinengewehr- und Handgranatenkampf. 

2 Theoretische Unterweisung bezüglich der Gaskampfmittel und deren Anwendung 
sowie der Vergasungsabwehrmittel. 

3, Unterricht über die Bedeutung und Anwendung der Luftflotte im Kriege. 

4. Theorie des Klassen- und Bürgerkrieges. 

5. Praktische Schießausbildung mit Gewehr und Maschinengewehr, desgleichen praktische 

‘Ausbildung im Werfen von Handgranaten. 

6. Felddienstübungen, Gefechtsschießen, Übungen im Stellungskrieg unter Anwendung 

‚ moderner, technischer Einrichtungen. 

Es handelt sich dabei um die Zöglinge von Mittel- und höheren Schulen in den 

oberen Klassen, von gewerblichen, Kunst- und technischen Schulen und um Hörer 

"der Hochschulen (Universitäten, Akademien usw.), bei denen schon eine gewisse 

körperliche und geistige Vorbildung vorausgesetzt und bei denen der eigentliche 

Dienst bei den Territorialen mit dieser Ausbildung vorweggenommen wird, so daß sie 
"später in Führerstellen einrücken können oder für einen oder den anderen Kursus, 

‘ die in drei Stufen (Subaltern-, höhere und Generalstabsoffiziere) zur Erziehung der 

| „Roten Kommandeure“ (Offiziere) eingerichtet sind, als Anwärter dienen können. 
Als geschlossene Formationen scheinen diese Schulkompagnien, wie man sie nennen 

‚könnte, so etwas wie Garde- oder Schützentruppen der Territorialen bilden zu sollen 

| oder als Ersatz- bzw. Ergänzungskompagnien unmittelbar dem stehenden Heer im 
Kriegsfall eingegliedert werden zu sollen. Sie gehören also eigentlich gar nicht mehr 

‘zur ersten Stufe der militärischen Jugendausbildung, sondern bilden eine Aus- 
bildungsklasse für sich, sowohl den Jahrgängen als der Qualität der Ausbildung nach. 

Die militärische Ausbildung der Zöglinge der Grundschulen — Arbeits- oder 
Elementarschulen — ist ihrem wirklichen Werte und ihren Erfolgen nach kaum ein- 
| zuschätzen. Örtlich und landschaftlich sind diese Schulen selbst von ganz verschie- 
-denem Erziehungswert. So äußerten amerikanische Schulmänner, daß ihnen in der 
‚ Sowjetunion sowohl die besten als auch die minderwertigsten Schulen vor Augen 
gekommen seien, die sie überhaupt kennengelernt hätten. Ähnlich verschieden wird 
'®s auch mit der militärischen Ausbildung an diesen Schulen stehen. Zur besseren 
| "Beeinflussung der geistigen Einstellung der Jugend hat man seit 1923 die mili- 
| tärisch organisierten, pfadfinderähnlichen „Pioniere“, d.h. Jugendvereine einge- 
\ 























36 Militärische Schulung der JugendimAusland 











richtet, die aber anscheinend mehr politischen als militärischen Zwecken dienstbar 
gemacht werden. Das öffentliche Auftreten der ‚Pioniere‘, die in geschlossener 
Truppe, Tamboure voran, sich zeigen, ist immerhin militärisch dem Eindruck nach, 
Solche Gruppen von ‚Pionieren‘ sind über die ganze Sowjetunion verstreut. 
Selbst aus dem fernen Buchara zeigte neulich ein Bild der deutschen kommuni- 
stischen Presse eine Gruppe von „Pionieren‘“. Im August 1923 soll ihre Zahl schon 
300000 überschritten haben. Eifrige Propaganda hat sie seitdem wohl stark vermehrt, 
Die zweite Stufe, die der „vorausgehenden militärischen Vorbereitung‘, die die 
jungen Leute im Alter von 16 bis 18 Jahren Übungen unterwirft, hat ebenso, wie die 
militärische Erziehung in der Volksschule (Arbeitsschule), die körperliche Aus- 
bildung der Jugend zum Ziel. Durch staatliche Kräfte wird diese Ausbildung, die 
außerhalb der Arbeitsstunden geschieht, geleitet und kontrolliert, doch beteiligen sich 
dabei auch eifrig die politischen Organisationen der R.K.P., die Jugendorgani- | 

































sationen, die Gewerkschaften und Genossenschaften durch besondere Vertreter, 

den örtlichen Verhältnissen entsprechend. Die Ausbildung geschieht in Verbänden, 

die sich an die Arbeitsstätten anschmiegen. Die Pflichtteilnehmer werden registriert, 
Die Militärverwaltung stellte ein bestimmtes Programm dieser Ausbildung auf. | 
Es handelt sich dabei um ein System, das schwedische Gymnastik, Dju-Djitsu und | 
Vorschriften aus dem „Ausbildungsgang der russischen Armee im Turnen von 1910“ 
miteinander verschmilzt. Die Pflichtzahl der abzuleistenden Turnstunden beträgt ° 
96 im Minimum. Ein gewisser sportlicher Wettbewerb in Turn- und Sportvereinen | 
wird eifrig gefördert, doch das Spezialistentum bekämpft. Man kann sich von der 
sportlichen Tätigkeit in Rußland schon heute ein gutes Bild machen, da die illu- 
strierten Zeitschriften der deutschen Kommunisten (‚„Sowjetrußland im Bild‘ — 
„Sichel und Hammer“ — „Der rote Stern‘) häufig Abbildungen von Sportfesten 
und sportlicher Betätigung sowie kurze Aufsätze dazu bringen. | 


ie dritte Stufe der Ausbildung (die zweite nach der Schulzeit), die junge 
Leute vom 19. Lebensjahr an bis zur Einberufung umfaßt, „Vorbereitung zur | 
Einberufung‘“ genannt, soll die körperliche Ausbildung vollenden und daneben 
die elementaren Kenntnisse der militärischen vermitteln. Die Ausbildung erfolgt in 
zwei getrennten Kursen. Der eine wird von Kommandierten der „Roten Armee‘ ' 
geleitet, der andere besteht in freiwilligen Übungen in Sportklubs, von denen auch | 
schon vorher die Rede war. Besondere Sektionen betätigen sich im Fußball, im | 
Schneeschuhsport, in der Leichtathletik, im Boxen u. a. m. Unter Berücksichtigung 
der erzieherischen Bedeutung des Sports werden die Wettkämpfe häufig militä- | 
rischerseits organisiert, zum Zwecke der Entwicklung kameradschaftlichen Gefühls, 
des Gemeinschaftssinns, der Disziplin usw. An elementaren, militärischen Übungen | 
wird besonders das Schießen gepflegt, das Umgehen mit der Waffe überhaupt 
und die Ausbildung im Schützengefecht. Es sind dafür bis zur Einberufung 10 Wochen 
im Höchstmaß bestimmt (160 Stunden jährlich). 
Die Ausbildung und das Gefechtsexerzieren findet im Gelände statt. In einer | 
Reihe von Militärbezirken ist dafür folgendes Reglement festgesetzt: | 
J. Infanteristische Ausbildung: 


























1. Vertrautmachung mit der Waffe. ..... 23 Stunden 
2. Grundlegende Kenntnisse für den Schützen 66 > 
3. Gefechtsmäßiges Einzelschießen . .. .. . 33 ” 
4. Gefechtsmäßiges Schnellfeuern in der Gruppe 12 NY 
5. Entfernungsschätzen (m.d. Auge) . .. .. 4 = 
6. Ausbildung im Felddienst. . . .. 2.2... 62 r 
7. Ausbildung im Schanzen u. in Spatenarbeiten 12 5 
SHEXErZIEIEI I I a RA Te 28 fe 
9.:.Handgränatenwerfen‘. = 5 57 2 2 ae 12 nn 
10. : Gefechtsyorbarelting 7. 2. ns 80 ne 






131: Garnisondienst ER 42.32 0 Da Ze 






Te tr a 


320 Stunden. 





















































Sowjet-Rußland 


‘Il. Die kavalleristische Ausbildung: 


Sie richtet sich im allgemeinen nach Me gleichen Einteilung unter Hinzufügung der Stunden 
für besondere Ausbildung mit dem Pferd. Allerdings herrscht vielfach Pferdemangel. Man 
begnügt sich in diesem Falle mit theoretischen Erklärungen. Die praktischen Übungen werden 
“durch Demonstration von Beispielen ersetzt. Die Zeiteinteilung ist folgende: 


Er rAusbiläung im'Schießen:. . ............. 70 Stunden 
2. Ausbildung im Felddienst . . . ...... 93 2 
Se 42 a; 
4. Kavalleristische Ausbildung . . . ..... 105 R 
5. Schanzen und Spatenarbeit . . .. ..... 6 7 
6. Unterricht in den Kriegsartikeln . . . .. 9 + 
EN LS ee a 30 er 
8. Politische Ausbildung . . . ... 2 2.2.. 60 7 


420 Stunden. 


Bei den anderen Waffengattungen (Artillerie, Pioniere, Eisenbahn- und Nach- 
richtentruppen) findet derselbe Unterricht statt. Nur sind die Unterrichtsstunden 
für Spezialfächer vermehrt, die anderen vermindert. Eine Ausbildung vor der 
Einberufung für die Marine, das Flugwesen und die neue chemische Waffe (Gaswesen), 
findet nicht statt. 1924 waren 7000 Ausbildungsstätten in Rußland eingerichtet. 
. Eine gesonderte Ausbildung erhalten außer den Zöglingen der Mittel- und Höheren 
- Schulen und der Hörer an den Akademien, die Besten aus den Vorbildungskursen der 16- 
bis 18jährigen, soweit sie über eine gute Gesundheit verfügen und keine körperlichen 
; Fehler haben. Außerdem ist die Kenntnis des Lesens, Schreibens und Rechnens 
‚für sie erforderlich. Diese jungen Leute werden vom 19. Jahre ab in Schießschulen 
‘der Infanterie oder Artillerie ausgebildet. Solche Schießschulen bestehen für die 
Infanterie in Jaroslaw, Kaluga, Jekaterinburg, Smolensk, Orel, Taschkent, Tiflis 


‘und Nischnij-Nowgorod, für die Artillerie in Moskau. Bei den Spezialschulen für 


‘technische Waffen werden Handwerker bevorzugt, deren gewerbliche Kenntnisse in 
das jeweilige Spezialgebiet schlagen. Für sie bestehen Vorbereitungsschulen: 


l. Ingenieurschule in Moskau, 

2. Schule für Eisenbahntruppen in Leningrad, 

3. Schule für Automobil- und Motorradtruppen in Leningrad, 
4. Sehule für Fliegertruppen in Leningrad. 


. Die Dauer der Ausbildung beträgt auf allen diesen Schulen ein Jahr. Wer den 

Kurs erfolgreich besucht hat, erhält eine Bescheinigung darüber. 

‘Wie aus diesen Ausführungen zu ersehen ist, wird die Hauptmasse der so von 
‚ Jugend auf Vorbereiteten, vorausgesetzt, daß die Kurse auch wirklich überall und 
„regelmäßig stattfinden, dereinst eine gute Territorial- Infanterie liefern, auch die berit- 
.tenen Truppen der Territorialen werden brauchbar sein, selbst in Gouvernements, 
. wo eine Überlieferung in kavalleristischer Ausbildung besteht (bei den Kosaken). Ob 
aber die Spezialwaffen bei den Territorialen einmal allen Anforderungen entsprechen 
‚ werden, ist eine Frage, die die Zukunft beantworten muß. Als Experiment von außen 
her betrachtet, ist das russische Milizwesen und besonders die damit eng verbundene 

| militärische Vorbereitung der Jugend für jeden Militär- und Schulmann von höchstem 

' Interesse. Aus den Erfolgen oder Mißerfolgen dabei wird sich vieles lernen lassen. 


ı Tür die Instrukteure der Voreinberufungsausbildung ist die „Schule für Marine 
und höhere militärische Pädagogik in körperlicher Ausbildung für das Führer- 
| personal der R.K.K.A.“ ins Leben gerufen worden. Zuletzt sei noch erwähnt, 
‚daß im November 1924 in Moskau „Die kriegswissenschaftliche Gesellschaft bei 
‚ der Kriegsakademie‘ in die Organisation „Kriegswissenschaftlicher Vereine‘ 
‚bei Fabriken und Hochschulen übergegangen ist. Zu Anfang 1925 waren an 
\14 Fabriken und 8 Hochschulen Moskaus Vereine dieser Art gebildet. Sie be- 
| zwecken die theoretische und praktische militärische Ausbildung von Arbeitern und 
| Studenten, dazu die Verbreitung militärischer Kenntnisse im Volk. Die Vereine 
| gliedern sich in Sektionen, die sich gesondert mit der Ausbildung der Vereinsmitglieder 


| 


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38 Militärische Schulung der Jugendim Ausland | 
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auf speziellen Gebieten befassen. Es bestehen solche für die Ausbildung im Schießen, 
im Verbindungsdienst, in der Aufklärung, im Sprengen, im Handgranatenwerfen, 
Geschützwesen, Gaskampf; auch der Ausbildung am Maschinengewehr ist eine 
Sektion gewidmet. Die Sektionen passen sich den Berufen an, so werden Metall- 
arbeiter vorwiegend am Maschinengewehr, im Spreng- und Handgranatenwesen 
ausgebildet. Studenten der Bergakademie und technischen Hochschulen im Ge- 
schütz- und Maschinengewehrwesen usw. Es sind direkte Vorbereitungskurse für 
die Militärakademien zur Ausbildung der „Roten Kommandeure‘ (Offiziere). 
Diese Spezialausbildung in den verschiedenen Sektionen soll gute Ergebnisse erzielt "| 
haben. Nur wird sich vielleicht bei weiterer Ausbreitung dieses Vereinswesens ein 
Mangel an qualifizierten Lehrkräften fühlbar machen, obwohl sich eine ziemliche’) 
Anzahl alter Berufsoffiziere in den Dienst der Sowjetrepubliken begeben hat. | | 

Von den Erfolgen der militärischen Jugendausbildung wird die künftige Schlag- 
fertigkeit des russischen Heeres entscheidend abhängen. Aber die geistigen Voraus- | 
setzungen in der Volksmasse für eine willige Bereitschaft zur Vaterlandsverteidi- 
gung sind im neuen. Rußland mindestens ebenso gegeben wie im zaristischen, 


Literatur über die Rote Armee 


Antonow-Owsejenko: Der Aufbau der Roten Armee in der Revolution. Hamburg, Carl) 
Hoym Nachf., 1923. 7 

Armee, Die Rote. Ein Sammelbuch. Hamburg, Carl Hoym Nachf., 1923. 

Armee, Die Rote, und die Armeen der imperialistischen Staaten. Int. Pressekorrespondenz, 
Wien, 1925. 5. Jahrg., S. 1589. 

Bergmann, H.-J. Smilga-L. Trotzki: Die russische sozialistische Rote Armee. Zürich, Inter- 
nationaler Verlag, 1920. 

Bermann: Die Ausbildung der Kommandantenkaders in der Roten Armee. Int. Presse- 
korrespondenz. Wien, 1925. 5. Jahrg., S. 1269. 

Beschlüsse, Die, des IX. Kongresses d. R. K. P. Leipzig, Frankes Verlag, 1920. Darin S. 28ff, 
und S. 65ff. 

Bucharin, N. und E. Preobraschensky: Das A.B.C. des Kommunismus. Hamburg, Carl 
Hoym Nachf., 1921. Darin ‚Das Wehrprogramm der Kommunisten“, S.200ff. | 

Gussew, S. J.: Die Lehren des Bürgerkrieges. Hamburg, Carl Hoym Nachf., 1921 u. Ö, 

Fenner, Heinz: Die Rote Armee. Berlin, Kulturliga, 1920. 

Frunse: Die internationale Lage und die Wehrmacht der Sowjetunion. Int. Pressekorrespoßg 
denz. Wien, 1925. 5. Jahrg., S. 1204. | 

Holitscher, Arthur: Drei Monate in Sowjetrußland. Berlin, S. Fischer, 1921. Darin „Das 
Rote Heer“. S.59ff. 

Jahrbuch für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung. 1922—1923, Hamburg, Carl Hoym 
Nachf. (1923), darin L. Trotzki: Die Rote Armee. S. 256ff. 
‚ 1923/24. Hamburg (1924), darin Antonos-Owsejenko: Die Rote Armee im Frieden. S.286ff, 

Kamenew L.: Unser Krieg mit d. weißen Polen. Russ. Korrespondenz. Berlin. III. Jahrg,, 
2. Band, Heft VII/X. 

—, Fünf Jahre Kampf. III. Jahrg., 2. Bd., Heft XI u. XII. 

Lenin, N.: Das Militärprogramm der proletarischen Revolution. Int. PressckörresnondEil 
Wien, 1924. 4. Jahrg., S. 1050. | 

Mechonoschin: Neue Prinzipien im Aufbau der bewaffneten Kräfte des Sowjetbundes. Int. 
Pressekorrespondenz. Berlin, 1923. 3. Jahrg., S. 1091. 

Merkblatt, Rotes, für die Krieger der Arbeiter- und Bauernarmee und der Roten Flotte _ 
über die wichtigsten Aufgaben des Kriegshandwerks. Hamburg, Carl Hoym Nachf., 1924, 

Poljak, W.: Die Rote Armee und ihre Presse. Russische Korrespondenz. Berlin. II. Jahrg, 
1. Bd., Heft IV u. V. | 

Popoff, Georg: Unter.dem Sowjetstern. Frankfurt a. M., Frankt. Sozietäts-Druckerei, 10 
Darin ‚Die Wahrheit über die Rote Armee‘. S$. Aaff. 

Rakowski, Ch.: Die Seele des Sieges. Hamburg, Carl Hoym Nachf., 1920. | 

Rußland. Bericht der englischen Gewerkschaftsdelegation nach Rußland u. d. Kaukasus, 
Berlin, Neuer deutscher Verlag, 1925. Darin ‚Die Rote Armee“. S. 107ff. 

Schatzkin: Die kommunistische aoecns Rußlands und die Rote Armee. Intern. Pressekof- 
respondenz. Berlin, 1923. 3. Jahrg., S. 1410, a 








L | | . Sowjet-Rußland 39 

| mM MEET EBEN TI TREE EEESDerBEEENERECRESRCEIEFORSTERSTTSPSETJESTABBerB TE BER STORIES BB RPEL IE ERFERBIGEB TEUTSTD Gem SETERSEBEFeST sen 

ichlapnikow, A.: Der Kampf um das Gewehr. Russische Korrespondenz. Berlin. III. Jahrg., 

' 1.Bd., Heft IV u. V. | 

‚mirnow, W.:-Die Rote Armee und ihre Aufgaben. Russ. Korrespondenz. Berlin. III. Jahrg., 

„= 1.Bd., Heft IV u. V. 

‚rotzki, L.: Die Geburt der Roten Armee. Wien, Verlag für Literatur und Politik 1924. 

-, Die Rote Armee und die Aufgaben der politischen Aufklärung. Russische Korrespondenz 

ı Berlin, II. Jahrg., 2. Bd., Heft XII. 

ı, Die Rote Armee der Sowjetrepublik auf der Wacht. Hamburg, Carl Hoym Nachf., 1922, 

=, Militärische Doktrin und pseudomilitärischer Doktrinarismus. „Die kommunistische 

Internationale“. Hamburg. I. Reihe, Heft XIX. SER 

—, Das fünfte Jahr — ein Lehrjahr. Russische Korrespondenz. Berlin. Il. Jahrg., 1..Bd., 

| Heft IV u. V. 

=, Die Lage Rußlands und die Aufgaben der Arbeiterjugend. Rede. Intern. Pressekorrespon- 

denz. Berlin, 1922. 2. Jahrg., S. 1379 u. 1403. 

|'uchatschewsky, M.: Die Rote Armee und die Miliz. Leipzig, Frankes Verlag, 1921. 

Vallmar: Die weiße und die rote Armee. Berlin, Verlag Junge Garde, 1921. | 

inowjew, G.: Die Sowjetmacht und der Offizierstand. Hamburg, Carl Hoym Nachf., 1920. 

‚Varin, S.: Die Lehren des Bürgerkriegs. Russ. Korrespondenz. Berlin. III. Jahrg., Il. Bd., 

| Heft IV u. V. 

‚um 5. Jahrestag der Roten Armee. Sondernummer der Int. Pressekorrespondenz. Berlin, 
1923. IV. Jahrg., S. 239/43. 








Komsomol und Pioneer 
Persönliche Eindrücke von der russischen Jugendausbildung 


Von Dr. Theodor Seibert in Hamburg 


weit. Folgender Beitrag, den uns ein Freund der S. M. zugehen ließ, der im Vor- 
jahr längere Zeit in Rußland verbracht hat, zeigt, daß die im vorstehenden Auf- 
satz entwickelten umfassenden Pläne der Bolschewiki in Bezug auf die Jugend- 
militarisierung noch wenig praktische Erfolge gezeitigt haben. Er hebt aber auch 
die aus der revolutionären Seele des bolschewistischen Systems herauswachsenden 
besonderen Hemmungen einer nationalen Militarisierung Rußlands hervor. 

D. Schriftl. 


BE gibt heute nur ein Land, das den Pazifismus nicht auf seine Fahnen geschrieben 
ED, hat und das nicht bei jeder Gelegenheit mit großer Pose den Ruf „Nie wieder 
‚Krieg!‘ ausstößt. Dies merkwürdige Land heißt Italien, und Herr Benito Mussolini 
\st der einzige Kriegstrompeter im internationalen Orchester der Friedensschalmeien. 
‚=ür die peinliche Tatsache, daß die biederen Musiker selbst das häßliche Kriegs- 
itewand noch nicht abgelegt haben, ja, daß sie es immer noch vervollkommnen, haben 
‚ie viele und treuherzige Erklärungen zur Hand. So auch das neue Rußland: die 
owjet-Union kann nicht abrüsten, weil sie auf allen Seiten von den bösen kapitali- 
tischen und imperialistischen Mächten bedroht ist. Leider! Denn wie gerne sie eS 
ae, hat erst jüngst Litwinow den Vorbetern des Pazifismus, den Amerikanern, 
| wieder erklärt. 
| 





Da in diesem Hefte nur eine Seite der Wehrpolitik beleuchtet wird, müssen wir 
‘ıns bezüglich des bolschewistischen Lehrsystems im Ganzen mit der Feststellung 
»egnügen, daß es wohl das großartigste und die Volkswehrkraft am meisten aus- 
chöpfende Wehrsystem ist, das je bestanden hat oder besteht. Es zieht alle Völker 
F alle Volksschichten der Roten Union bis auf den letzten Mann heran und hat 
ängere Dienstzeiten als irgend ein anderes Volksheer der Gegenwart. | 
Die Idee einer militärischen Vorschulung des Volkes. in der Jugenderziehung in 
\3owjetrußland:ist zwar theoretisch seit langem durchdacht, aber ihre Verwirklichung 
st über die ersten Ansätze bisher kaum hinausgekommen. Vor wenigen Wochen 
illerdings, bei der Feier des achtjährigen Bestehens der Roten Armee, wurde öffent- 
ich erneut auf die Notwendigkeit systematischerer Arbeit auf diesem Gebiet hin- 








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In der Sowjetunion ist der Weg von der Idee zur Verwirklichung besonders | 































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40 Militärische Schulung der Jugend im Ausland 


gewiesen: einer der fähigsten und bekanntesten der roten Generale, Tuchatschewski, 
entwickelte vor Pressevertretern sein Programm des Ausbaues der Landesverteidi- 
gung mit dem Ziele einer militärischen Ausbildung der Gesamtbevölkerung. Er 
erklärte, man müsse mindestens soweit kommen, daß im Falle der Not eine Volks- 
reserve mit ausreichenden militärischen Kenntnissen zur Verfügung stehe. Was bisher 
in dieser Richtung geschehen sei, nämlich die truppenmäßige Ausbildung der Pionier-] 
verbände (kommunistische Kindervereine), des Komsomol (kommunistische Ver- 
bände der Halbwüchsigen), der Sportvereine sei wenig und unbedeutend gewesen,# 
Während der Niederschrift dieser Zeilen erhält der Verfasser einen Bericht überf 
die soeben in Moskau stattfindende Tagung der Kriegswissenschaftlichen Gesellsthaft.! 
Der populäre rote Kavallerieführer Budjenny griff bei dieser Gelegenheit die Gedanken] 
Tuchatschewskis auf und plädierte für eine umfassende militaristische Propaganda} 
in den breiten Volksmassen und insbesondere in der Jugend. Der Marinekommissar! 
Sof, der zum gleichen Thema sprach, forderte zur Gründung von Wassersportver-S 
bänden bei den kommunistischen Jugendorganisationen auf; diese Verbände sollten? 
aber zum Unterschied von den rein sportlichen Vereinen sich mit den Fragen der‘ 
Kriegsmarine systematisch beschäftigen und ihre jugendlichen Mitglieder für den! 
späteren Dienst in der Roten Flotte vorbereiten. j 
Der militärische Charakter dieser russischen Jugendverbände, so wie sie bis jetzt) 
waren, wird tatsächlich in Europa überschätzt. Ich habe diese Buben und Mädchen: 
monatelang beobachtet bei ihren täglichen Umzügen, bei ihren Festen: über den! 
Gleichschritt und die roten Abzeichen hinaus scheinen sie keine „militärischen | 
Aspirationen‘‘ zu haben. Selbst die Jugendgruppen des Reichsbanners Schwarz-| 
Rot-Gold machen einen soldatischeren Eindruck als jene roten Jugendscharen. Es! 
ist natürlich nicht zu verkennen, daß schon das regelmäßige Zusammensein in einer | 
uniformen und öffentlich auftretenden Organisation die Heranwachsenden in gewisser, | 
besonders in seelischer Beziehung auf die Soldatenzeit, auf die Einfügung in eine große | 
Gemeinschaftsarbeit zu anderen als persönlichen Zwecken vorbereitet. Wenn, wie 
es den Anschein hat, nun die Staatsführung bewußter als bisher auf die wehrpolitische | 
Ausgestaltung der Jugendverbände hinarbeitet, dann könnten „Pioneer“ und „Kom-! 
somol“ allerdings zu einer sehr beachtenswerten Grundlage für die Militarisierung | 
des Volkes werden. 


ie Wehrhaftmachung aber wird unter dem bolschewistischen System immer be- 
D einträchtigt werden durch die Zeit, die Mühe und die Kosten, die man dort für 
rein politische Erziehung der Massen aufwendet. Wiederholt haben mir führende 
Bolschewiki gesagt, daß es ihnen bei der Roten Armee — und für die Jugend- 
organisationen wird es nicht anders sein — nicht so sehr auf ein Können ankommt, 
das zum Kampf mit modernen Großmächten befähigt, als auf ein Instrument zur | 
revolutionären Erziehung des Volkes und insbesondere des Bauerntums. Ich schätze, | 
daß in den Kasernen des Ostreiches mehr Zeit auf politischen und allgemeinen Unter- } 
richt verwendet wird als auf die rein militärische Ausbildung. In den großen, schönen 
Sommerlagern z. B., die ich gesehen habe, hat jede Kompagnie ihre „Wandzeitung‘““, | 
ihr eigenes Unterrichtszelt, ihre „Leninecke‘“ (d. i. eine Art Hausaltar). Es gibt } 
allerdings bereits Beispiele dafür, daß die Bolschewiki es verstehen, im Bedarfsfalle | 
die nationalen Instinkte ihrer Untertanen zur Erreichung ihrer Ziele auszuwerten, ) 
So ist es ihnen gelungen, im russisch-polnischen Krieg ‚eine allgemeine Volks- 
stimmung gegen Polen zu erzielen, die auch heute noch unvermindert vorhanden | 
ist. Und ausländische Besucher, die heute nach Rußland kommen, werden auch über: | 
rascht sein zu sehen, daß der stille und zähe Kampf der Sowjetmacht gegen das | 
britische Weltreich in den russischen Massen einen Widerhall gefunden hat, der 
weit über die eigentlichen bolschewistischen Kreise hinausreicht. Diese Dinge wird | 
man in Rechnung stellen müssen, auch wenn man der berechtigten Ansicht ist, daß | 
von einer Umstellung der bolschewistischen Psyche zu national-russischen oder gar | 
panslavistischen Ideen noch nicht gesprochen werden kann. 









Wissenschaftliche Rundschau 






































Wissenschaftliche Rundschau 


Neues zur Mystik 
Von Dr. Joseph Bernhart in München 


m gr 


Ds  Shhaltige Vorliebe der Gegenwart für die Dinge der Mystik trifft wohl nicht aus 
bloßem Zufall mit den vielen Anzeichen einer kommenden Umwälzung unseres Welt- 
| Sldes zusammen. Eben deshalb, weil die Mystiker auf das letzte Faßbare, den Quellpunkt 
| der menschlichen Konstitution sich einlassen, ist es unausbleiblich, daß sie sich mit den End- 
‚ragen aller jener Wissenschaften berühren, die entweder den Menschen allein oder die Welt 
‚als Ergebnis menschlicher Konzeption zum Gegenstand haben. Es wächst die Zahl der 
| Naturforscher, Ärzte, Psychoanalytiker und Mathematiker, die für ihre Findungen oder 
berzeugungen bestätigende Lichter von den alten, im Grunde immer gleichen, wenigstens 
\ıber zusammenklingenden Sätzen der Mystik aller Zeiten und Zonen empfangen. War jene 1 
h Vorliebe eine zeitlang mehr vom historischen und literarischen Interesse getrieben, so herrscht : | 
„n jüngster Zeit das sachliche vor, das weniger ästhetische Reizungen und fremde Schauer als 
‚Antworten auf drängende Fragen sucht. Ja, es ist unverkennbar, daß auch die historische 
| ‚Neigung für das Mittelalter und die gefühlsmäßig verwandte nach dem Osten hin dem instink- | 
N iven Bedürfnis nach einem Weltverständnis entspringen, das in der bunten Bewegtheit des 
| 'aum-zeitlichen Geschehens Verhüllung und Gleichnis des Bleibend-Eigentlichen sieht. Neue 
j Naturerkenntnis, Weitung des kosmischen Gefühls durch mechanische Verständigung mit dem 
|augenblicklichen Leben unseres Erdballs, dazu erschütternde Erfahrungen von der Frag- 
‚ würdigkeit dogmatischer Formulierungen des religiösen Glaubens, das alles führt der Mystik 
‚'eue Scharen zu. Was sie beiihr zu finden hoffen, ob pantheistische Beruhigung im Gefühl 
‘der Alleinsheit, die Poesie der Identität alles Seienden oder erkenntnismäßige Aufschlüsse 
iber das Gefüge des Daseins — wer kann es sagen? Als der mächtigste Trieb mag wohl die 
‚Fahndung ins Okkulte im Spiele sein, die mit Leidenschaft vom Objektiven her die Ant- 
"wort erwartet, daß den tiefsten Wünschen der Brust eine Wirklichkeit als Erfüllung ent- 
spricht. Man hätte von allen Atomen und Sternen her gern das Credo bezeugt, mit dem etwa 
| Maeterlinck seinen Fremden Gast beschließt: Jedenfalls ist es (heute) das erste Mal, seit der 
Mensch existiert, daß er dem Unbekannten gut gerüstet entgegentritt, wie es das erste Mal 
| jeit seinem Erwachen ist, daß sein Verstand auf einen Gipfel gelangt ist, wo er fast alles zu 
'Jegreifen vermag und wo er endlich Hilfe von außen erhalten und eine Stimme vernehmen 
wird, die nicht nur das Echo der seinen ist. 


Ne wird es bis zum jüngsten Tage Sache der persönlichen Stellung bleiben und auf dem 
unzugänglichen Forum, von dem her das Glauben wie Nichtglauben als Schicksal uns 
‚überkommt, entschieden werden: ob ein Mensch das ‚‚Andere‘“ als ein Du von Selbstand und 
‚fremder Hoheit oder als sein eigenes gespenstisches Geschöpf betrachtet. Im einen und im 
‚andern Falle kann sich Wissenschaft von sauberster Methode ans Werk begeben und bleibt 
doch nur blindes Werkzeug des letzten Ja oder Nein, das von jedem ohne sie ausgemacht wird 
— um nicht gar zu sagen: ohne ihn selbst. 
Da ist es lehrreich, die Schrift ‚Auf Wegen der Mystik‘ von Hermann Schwarz (Stanger, | 
Erfurt) mit Emil Mattiesens Einführung in die Metapsychologie der mystischen Erfahrung, 





uam 





"die vor kurzem unter dem Titel ‚‚Der jenseitige Mensch‘ (Berlin SW, de Gruyter) erschienen 
ist, zu vergleichen. Beide sind sie bezüglich des ‚‚Anderen‘‘ stark bewegt von der Frage Ob, 
"aber in der Deutung des letzten Unbekannten gehen sie auseinander: der Metaphysiker 
 arz nach der Richtung des ‚„‚kosmologisch nicht vorhandenen Gottes‘, der lediglich 
als Gottessehnsucht in unseren Herzen auf seine Selbsterschaffung bei uns harrt‘‘ und durch 
das Mittel der „Bilder und Gespenster‘, der „Fremdwerterscheinungen‘ in dem selbstlos 
len Sichüberlassenden hohen Lebensgehalt erzeugt, der Psychologe Mattiesen hingegen 
in der Richtung der empfängliehen Gewilltheit, das im Mystiker durchbrechende Über-Ich, den 
Jenseitigen, als mehr denn bloße ‚‚unterbewußte‘“ Wirklichkeit zu verstehen. Es gilt ihm nur, 
in groben Umrissen seinen Kernbegriff, eben diesen jenseitigen Menschen, zu gestalten, 
‚die „‚lebendigen Hintergründe“ und die seelische Überwältigung durch sie als die letzte Ur- 
sache der mystischen Erfahrung glaubhaft zu machen. Zu diesem Ende ist auf 800 Seiten 
-ein ungeheurer Stoff aufgerollt, durchsichtig gegliedert und mit behutsam fortschreitender 
"Gedankenführung von immer neuen Seiten her verwertet. Ein starkes Gewicht fällt auf die 
"Einschätzung und Deutung der neurotischen und hysterischen Symptome. Es stellt sich die 
Br; 

| 

| 


| 
4 
\ 
1 





" Erkenntnis heraus, daß es beim Durchbruch des jenseitigen Menschen nicht ohne Störung 
| oder Zerstörung des nervösen Gleichgewichts abgeht. Mag auch jede Art von Neurose im 


|| Militärische Schulung der Jugend im Ausland (Südd, Mons»tshafte, 23. Jahrg., Heft 7) 4 

















42 Wissenschaftliche Rundschau 
EEE EEE SIE EEE 


a e——————————————————— 





Rahmen metapsychischer Jenseitigkeit durchaus natürlich erscheinen und neurotische Inver- 
sion der Berührung des Menschen durch die übersinnliche Welt ebenso entgegenkommen, 
als sie umgekehrt unter dem Einfluß einer geschehenen oder doch angebahnten Berührung 
solcher Art leicht entsteht, so ist dieses „‚Krankhafte‘“‘ doch nicht für die unvermeidliche 
Beigabe mystischen Lebens zu halten. Ich erinnere hier daran, wie häufig in den Selbst-| 
bekenntnissen der Mystiker die unerschütterliche Gewißheit vom wirklichen Bestand der 
erlebten Welt des ‚Jenseits‘ beteuert wird, dann wiederum, oft bei denselben Gestalten, 
sich der Zweifel regt, ob sie nicht Opfer eines Trugs, meist wird er dem Teufel zugeschoben, | 
geworden sind. Davor sind auch starke Erscheinungen wie Theresia, Angela da Foligno u. a. 
nicht verschont geblieben — nicht zu reden von solchen, die Ekstasen und Visionen als lästig 
empfanden oder, wie Philipp Neri, als Kinderpossen erledigten. Aber selbst diese Zweifel und 
verächtlichen Gesten der Betroffenen sind kein Argument gegen den ‚, Jenseitigen‘, der in 
Frage steht; so wenig als die Selbstbezweiflung eines Genies etwas gegen seine Genialität 
beweist. Im Gegenteil scheint dieses freie, gesunde Belächeln kräftiger für ein Über-Ich zu 
zeugen als der pathetische Ernst der vom „, Jenseit‘“ her ganz Zerriebenen. Übrigens lag die 
erwähnte Einsicht Mattiesens von der Neurose als Ursache wie als Wirkung der Jenseit- 
Berührung auch den Mystikern des Mittelalters nicht fern. Ich erinnere nur an die Taulersche 
Predigt vom reißenden Netz der Leiblichkeit des gottergriffenen Menschen, wo auch das Wort; 
der visionären Hildegard von Bingen wiederkehrt: Gott wohnt nicht im gesunden Leibe. —-) 
Es wird die Aufgabe einer liebevollen Kritik sein, den imposanten Versuch Mattiesens, der das 
Dunkel des Abgrundes im Menschen mit der Fackel eines lauteren Eros der Erkenntnis be- 
treten hat, mehr und mehr zu fördern. | 


IE den aussichtslosen Erörterungen über den Begriff der Mystik scheinen sich die beiden! 
Lager, die erkennbar auseinander treten, immer noch nicht, ja immer weniger zu ver-} 
stehen. Die einen wollen ihren Begriff ganz auf das Geistige und Sittliche beschränken, die 
andern ziehen die Physis (die menschliche und die äußere in. ihren Wechselbezügen) in 
den Kreis des Mystischen oder verstehen sie als dessen Quell und Mitte, wobei der Begriff des 
Okkulten oder neuerdings Para-, auch Metapsychologischen und -physiologischen als der! 
weitere jene andere Mystik unter sich begreift. Der Gegensatz wird klar etwa mit der Nennung 
der Namen Eckhart und Swedenborg. Oder wir stellen die folgenden Definitionsversuche 
nebeneinander. Georg Siedel kommt bei seiner Untersuchung der Mystik Taulers zu dem 
Ergebnis: ‚‚Entledigung, Entleerung bis auf den Grund! Und dann, dann — ein anderes, 
neues Subjekt. Heraus aus sich! Frei für das andere! Aufleben eines anderen Subjekts 
im Menschen. Das ist formal der einzig richtige und mögliche Begriff für Mystik, wie er-sich 
gerade bei Tauler in absoluter Reinlichkeit ergibt... Taulers Mystik ist der durch bestimmte 
Disziplin erreicht geglaubte Eintritt des göttlichen Subjekts ins menschliche Subjekt...” 
Nun aber stellt der Verfasser seine religionspsychologische Bestimmung auch dem anderen 
Lager zur Verfügung: ‚‚Selbstverständlich muß material geschieden werden. Die hohe Gottes- 
mystik ist etwas anderes als Suggestion und Hypnotismus, formal aber gibt hier wie da das 
Leben im anderen Subjekt den psychologischen Hintergrund ab.‘ Dagegen nun Görres! 
„Die Mystik ist ein Schauen und Erkennen unter Vermittlung eines höheren Lichtes, und ein 
Wirken und Tun unter Vermittlung einer höheren Freiheit; wie das gewöhnliche Wissen und 
Tun durch das dem Geiste eingegebene geistige Licht und die ihm eingepflanzte persönliche: 
Freiheit sich vermittelt findet.‘ In dieser Bestimmung werden die ‚religiöse‘ und ‚„‚naturale‘ 
Mystik zugleich überwölbt. Dem Begriff nach scheidet Görres die beiden streng, aber er stellt 
auch die Tatsache fest, daß vor der „höchsten, umfassendsten Innerlichkeit‘‘ des religiösen 
Mystikers auch die psychische Natur in ihren tiefsten Geheimnissen‘‘, anderseits ‚‚das Geister- 
reich in seinen höheren überirdischen Gebieten‘ aufgeschlossen sind. Wir können, heißt es, 
auch der an sich tieferstehenden naturalen Mystik ‚‚kein Arg und keine Makel beilegen: 
denn die Kreatur ist von Gott ausgegangen, und alle Bezüge in ihr gehen daher zuletzt doch 
auf ihn zurück, und so kann an sich auch die Naturmystik der religiösen nicht entfremdet 
sein, sondern ist in ihr begriffen und bildet ihre kreatürliche Unterlage.“ 

Anlaß zur Erinnerung an diese Gegensätze und die Versuche zu ihrer Überbrückung ist 
die Mystiker-Sammlung, die der Inselverlag unter dem Titel ‚Der Dom‘ herausgegeben. 
Trotzdem die Bearbeiter, soweit sie in den manchmal allzu kargen Einleitungen ihre Meinung 
zu erkennen geben, von recht verschiedenem Holze sind, hat sich unter der Leitung von Hans 
Kayser, der selbst der Naturmystik das Wort spricht, ein eindrucksvolles Ganzes gestaltet, 
das mit dem noch ausstehenden Eckhart-Band und einer Görres-Auswahl unter dem Titel 
„Mystische Geschichten‘ zum Abschluß kommen wird. Unleugbar sind alle Vertreter durch 
ein inneres Band im Zusammenhang. Die früheste Erscheinung, die in ihrer Größe noch un- 
erkannte und auch vom Herausgeber weder ganz erhellte noch völlig umschrittene Hildegard 
































































































| Wissenschaftliche Rundschau 43 
ı„. Bingen befaßt in sich gleicherweise das mystisch-religiöse Trachten in die letzte Gott- 
‚gemeinschaft wie die erkannte und erlebte Verbundenheit der physischen Welt mit ihrem IR 
Verursacher. Danach folgen Seuse, Tauler, Ruysbroeck, der ‚Frankfurter‘ mit seiner deutschen ne 
‚Theologie, die alle wenigstens (wie Eckhart, ihr Meister) von der Ahnung erfüllt sind, daß der 

"treatürliche Kosmos in einen schicksalmäßigen Zusammenhang mit dem religiösen Rück- und 
\Zingang seiner Krone und Blüte, des Menschen, geknüpft ist und ihm gleichsam nach den 
"Augen sieht, zu welchem Ende er für seinen Teil das weltbedeutende Kampfspiel von Gnade A! 
ind Freiheit, Gott und Nicht-Gott führen wird. Der Geist jener Namen weht diesseits der Se 
\troßen Wendung zur Natur im 16. und 17. Jahrhundert auch durch das literarische Trümmer- Le $ 
verk Hamanns, der seinen guten Deutschen wohl immer ein Fremder bleiben wird, so leicht 

\s jetzt wäre, an der Hand des trefflich einführenden Bandes im „Dom“ ihm beizukommen. 
| Jas mystische Verständnis des Kosmos, mit dem unser neues Naturerkennen einsetzt, halb 
3ebet, halb Forschung, Morgenanbruch in der Alchimistenstube unter Choral- und Glocken- Be 
‚jetön, spricht aus den durchweg guten, wohl aber für die große Leserschaft rätselhaft dämmern- Bi ul 
"len Auswahlen aus Paracelsus, Jakob Böhme und Kepler. Sie alle erregt zu Erkenntnis und | 
"\ndacht „der Quell, dem entschwillt der Natur urewige Ader“. Noch einmal erwächst ihnen 
‘in gleichgesinnter Genosse in G. Th. Fechner, dem Verfasser der Natur-Metaphysik ‚„‚Zend- 
\\vesta“. Man darf wünschen und erwarten, daß seine vornehm-gläubige Naturbetrachtung 
|nehr noch als bis heute in der Zukunft einem Geschlecht in Fleisch und Blut übergehe, das die et 
‚seele an die Natur zu verlieren droht, die sie mit dem Geist erobert hat. Das gleiche ist zu IN ae 
\ioffen von dem neuerdings vielberufenen Theosophen Franz Baader, der die Gedanken 
‚einer geistigen Ahnen Jakob Böhme, Martinez Pasqualis und Saint-Martin auch als Gesell- 
chaftsdenker in der Wiedereingründung von Recht, Staat und Sitte ins Religiöse fruchten 
„aßt. Ein poetisches Begleitspiel ist der Dom-Reihe mit dem Bande „Mystische Dichtung 
„us sieben Jahrhunderten“ beigegeben. Abgesehen von Übersetzungsfehlern in niederdeutschen 
‚ "exten kann man sich des Bandes freuen. HieristeinChorus mysticusins Werk gesetzt, der durch- 
\veg reine Stimmen der Anbetung des Unergründlichen versammelt. Eine Lücke willsich mir im 
‚sanzen des Unternehmens nicht schließen. Kannman sich noch abfinden mit dem Fehlen des An- 

‚elus Silesius, der jetzt in der vollständigen kritischen Ausgabe von Hans Ludwig Held (Allge- “ 
I eine Verlagsanstalt, München, 3 Bände) vorliegt, auch des knorrigen Schwaben Sebastian N 
\tanck und des warmherzigen, innigen Gerhard Tersteegen, den Tim Klein in einer sorgfältigen 
‚uswahl bietet (Chr. Kaiser, München), so gewiß nicht mit der Abwesenheit des großen mn 
\berleiters vom Mittelalter zum modernen Denken: Nikolaus von Cues. In ihm ist der alte E04 
‚ılaube endgültig zu der frommen Bescheidung bei der Erkenntnis der Unerkennbarkeit IE 
i es Weltgrundes (docta ignorantia) angelangt und gibt die solcherweise rein mystisch dem "B 
| Veltgrund verbundenen Kräfte der Menschheit frei für die weite große Weltarbeit, die ganz 
‚on selbst diese Menschheit, ‚‚die in ihrem Schaffen nie über sich hinauskommt, weil alles, 
N ras sie schafft, zuvor schon in ihr gelegen war‘‘, unaufhörlich zurückweist auf den ihr überle- 
„enen, nur menschheitlich in ihr existierenden und erfaßten Weltgrund und die einzig seiner 


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„türdige agnostische Anbetung. Es ist hoch an der Zeit, diesem Vollstrecker oder doch Ver- 
‚'eter einer weltgeschichtlichen Wende, dem Giordano Bruno sein Bestes nur nachgebetet hat, 
‚adlich durch eine genügende Ausgabe und Darstellung seines Gesamtwerkes das gebührende 
wenkmal zu setzen. Man wird ihn alsdann als den zweiten Meister Eckhart erkennen, der 
„mst macht mit dem Wort des ersten: er gäbe gern seine Schauung dahin, hörte er einen 
‚ungernden Armen nach seiner Suppe rufen. 





sine unverhofft allgemeine Befreundung der Gegenwart mit dem Mittelalter hat uns mit IE ie ı 
literarischen Schönheiten auch verkannte Lebenswerte erschlossen. Noch aber wird es ' a 
ji Mühe kosten, die verbreitete Meinung aus der Welt zu schaffen, als ginge es hier um eine RE a 
, poche von geschlossener Einheit des Denkens und Sehens. Paul Landsberg hat in seiner “a 


‚elgelesenen Schrift ‚Die Welt des Mittelalters und wir‘‘ das Seine getan, diesen Irrtum 
‚ı befestigen. Temperament- und geistvoll sagt er viel Wahres, aber er baut nicht dem Miß- 





:TStändnis vor, als sei der grandiose Systemwille des 12. und 13, Jahrhunderts, der in den a 
''aposanten „Summen“ seinen Ausdruck gefunden, der Niederschlag einer geschichtlich IB: | 
'irklichen Einheit und Einigkeit. Man denke doch nur an die große Spannung zwischen den u 
‚ailosophischen Beherrschern Platon und Aristoteles und die labyrinthische Weite eines IE 


ugustinus, aus dem alle Gegensätze aller Jahrhunderte Wasser auf ihre Mühle schöpfen, | 
reiler aus einem seelischen Umfang ohnegleichen und einer Geisteswelt, die sich die unver- IN 5 
nbarsten Elemente der späteren Antike einverleibt hat, alle befriedigen kann. Schon die I 
Bekenntnisse“, die jetzt in Herman Hefeles Übertragung (Diederichs, Jena) prachtvoll \ f | 
‚'rlesen sind, vermitteln den Eindruck einer säkularen Erscheinung, die nicht nur Kämpfer IE 
'n die Eingründung des Ich in die Tiefe Gottes, vielmehr noch Kampfplatz der ewigen inneren 1# 


1 
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44 Wissenschaftliche Rundschau 
———— | 
Mächte der Menschheit gewesen ist. Wer sich gerne noch weiter umsehen will, kann esin meinens 
ausführlich eingeleiteten Augustinus-Lesebuch (Allgemeine Verlagsanstalt, München) oder 
in den beiden Bändchen ‚‚Augustinus, Das religiöse Leben“ von Otto Karrer (Arssacra, Joseph 
Müller, München), in denen: die gelehrteste Sachkenntnis aus der ganzen Breite des Schrift- 
bestandes ein klar gefügtes, sprachlich scharftreffendes Ganzes aufbaut. 


Man empfindet in Augustin bei aller Majestät des kontemplativen Horizonts den regsamen, 
nervös aktiven Untergrund des abendländischen Menschen, wenn man zum Vergleich etwa 
N. v. Arsenjews „‚Mystik und Ostkirche‘ (Reinhardt, München) heranzieht. Hier waltet zwar 
nicht der Quietismus, der dem Westen vorbehalten blieb als verständliche Reaktion gegen] 
das latente Fieber seines Aktivismus, aber die ruhige Schau des Ewigen im Spiegel der Medien 
Christus und Christum vergegenwärfigende Liturgie. Dieser östliche Geist hält sich an die! 
stabile Repräsentanz des Ewigen im fleischgewordenen Logos. Darum besteht hier ohne 
große Gefahr des Pantheismus und der aufgeregten Mensch-Gott-Vermengung ein gehaltenes) 
Bewußtsein des gläubigen Gegenüberseins mit der Hoffnung auf das große Ereignis der allge-) 
meinen Verklärung, die symbolisch (oder auch magisch) jetzt schon in Weihung und sakra-) 
mentaler Handlung vollzogen wird. Angesichts dieser Mystik gibt man Herder recht, de 
einmal meint, der ganze östliche Mensch werde verständlich aus der Bedeutungsfülle 
des hebräischen Wortes maschal, das heißt: gleichnisreden, Nachdruck geben, das Siege! 
haben, walten, Herrscher sein — wir könnten auch sagen: das Vergängliche als Gleichnis 
handhaben. 


In unserem Westen hat selbst die franziskanische Welle ein Schauspiel der Erregung g+ 
zeitigt. Zur Beruhigung und heiligen Freude greift man wohl nach den „Blümlein‘“ — ict 
empfehle hier das liebliche Bändchen „Legenda trium sociorum‘“ in J. Hamburgers feine} 
Übersetzung (Theatiner-Verlag, München) und R. Hammers franziskanisches Lebensbuecl! 
„Im Spiegel der Vollendung‘, das endlich den kostbaren Fund Paul Sabatiers, das Speculun 
perfectionis, in guter deutscher Sprache bietet (Kösel-Pustet, Regensburg) — aber neben den 
Eindringen der weltlichen Räson in die junge Gemeinde, wie sie in der dramatischen Gestal 
des Elias von Cortona verkörpert ist, zeigt sich sogar in so tiefergriffenen Adepten wie Jacopon 
da Todi ein leidenschaftlich umgetriebenes Wesen. Dieser enthusiastischen Figur, die sei 
den Tagen Ozanams mehr philologische als religiöse Behandlung erfahren hatte, sind au 
deutscher Seite jüngst zwei erfreuliche Gaben gewidmet worden. Hermann Preindl entwirt 
in der gehaltsatten Studie „Jacopone da Todi‘ (Vier Quellen-Verlag, Leipzig) ein psycho 
logisch tiefschürfendes Bild des Mannes, seiner Umwelt und seines (auch von d’Annunzi 
hochgepriesenen) dichterischen Werkes. Ein leises seelisches Übereinklingen des Verfasser 
mit seinem Gegenstand gibt dem bei aller Knappheit kulturgeschichtlich weitgerahmte 
Bildnis eine eigentümlich überzeugende Kraft. In der mit einem verständigen Nachwot 
versehenen deutschen Übertragung der „Lauden des Jacopone da Todi“ von H. Federman! 
(C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München) kommt der Dichter, dem wir wohl auch di 
Stabat mater verdanken, mit zwanzig Gedichten zu Wort. Die Übersetzung ist hier nich 
überall so glatt geraten wie in der einleitenden Wiedergabe der im besten italienischen Nove 
lenstil erzählten Lebensbeschreibung durch Giambattista Modio (1558). 


Wieviel ruhiger leuchtet der Spanier Johannes vom Kreuz! Dieser wahrhaft großen E 
scheinung, bei der die künstlerische und dichterische Kraft ebenbürtig ist der tiefen, rel; 
giösen Mächtigkeit, hat nun auch seine würdige deutsche Ausgabe gefunden (Theatine 
Verlag, München). Nur schade, daß der Übersetzer und Herausgeber noch auf Vorlage 
angewiesen war, die laut Baruzi, dem französischen Verfasser eines großen Werkes übı 
J. v. K., das in Deutschland eben erst bekannt wird, zum Teil mit einer ‚„‚timidite banalt 
von der Urschrift abweichen. Es stellt sich heraus, daß ängstliche Hände Wasser in den stark€ 
Wein gegossen. Immerhin, es bleibt genug des Echten, um den Freund und Seelenführer cd 
hl. Theresia — sie nannte den schmächtigen Mann freilich ihren kleinen Seneca — in sein 
fast unzugänglichen Erhabenheit zu erkennen. Noch erweisen die deutschen Katholike? 
wie verlautet, dem Großen nicht die Gunst, die sie dem sentimentalen Kleinkranr auf de 
literarischen Markt nicht versagen. Und ein gleiches Schicksal ist zu melden von dem ,‚Geis? 
lichen Tagebuch“ der Lucie Christine, einer um 1890 verstorbenen französischen Dame. Dies 
von R. Guardini herausgegebene und übersetzte Werk (Schwann, Düsseldorf) ist der laufe 
Niederschlag des Innenlebens einer katholischen Gattin und Mutter, geschrieben auf d 
Geheiß ihres Seelenführers, und der fühlbar aufrichtige Bericht einer mystisch begnadet® 
um letzte Reinheit, Größe und Abklärung kämpfenden Frau, die das vor Welt und GeseZ 
schaft verhüllte Kristall ihres Schatzes heil bis an die Schwelle bringt, wo sie die Welt, die 52 
liebte, weil sie Gottes ist, mit der geliebteren Ewigkeit vertauscht, | 














Wissenschaftliche Rundschau 45 





Es bleibt mir noch zu sagen, daß die Eckhart-Forschung und auch die große Gemeinde 
‚ler Eckhart-Frommen von der Hand Otto Karrers eine wertvolle Gabe zu erwarten hat. In 
urzem erscheint ein systematisch aufgebautes Gefüge der Gesamtlehre, das aus den hand- 
.ehriftlichen Schätzen in Cues viel Neues bringen wird (Joseph Müller, München). Ob die 
‚Auffassung des Autors, daß Eckhart im vollen Einklang mit der katholischen Lehre stehe, 
‚ich bestätigt, bleibt abzuwarten. 































ni 
Aus Zeit und Geschichte ni 


Aufruf des Bundes der Deutsch-Togoländer 4 
z. Z. Accra, Goldküste | N 


An 9. Januar 1926 hat die Koloniale Reichsarbeitsgemeinschaft zu Berlin der Deutschen 
Regierung gewisse koloniale Mindestforderungen zugestellt, denen vor und nach dem Ein- 
6 Deutschlands in den Völkerbund Rechnung getragen werden sollte. Die für uns Togo- 
ı Mader bedeutungsvollste jener Mindestforderungen hat in dem Verlangen gegipfelt, Deutsch- 
and zunächst als Mandatar über Togo, unser Vaterland, und Kamerun einzusetzen. 

Dieser Schritt der kolonialen Verbände Deutschlands ist bei uns mit unbeschreiblichem 
‘ubel aufgenommen worden. 

Ik So unendlich erfreulich und hoffnungsvoll diese Tat auch gewesen sein mag, so beherrscht 
‚'ns doch das Empfinden, als ob nicht alle Teile des deutschen Volkes das ganze ungeheuerliche 
| Maß von Not und Unterdrückung, das um unserer Zugehörigkeit zur deutschen Gemeinschaft 
‚nillen über uns gekommen ist, wie eine eigene offene Wunde verspürt hätten. Und deshalb 
enden wir uns hierdurch vermittelst der uns bekannten Presse unsres deutschen Mutterlandes 
.n alle Deutschen mit dem heißen Verlangen, daran mitzuarbeiten, daß man uns deutschen 
Kolonialvölkern endlich unsre Freiheit wiedergibt. 

‚ Tausende und aber Tausende in allen deutschen Schutzgebieten harren der Stunde, wo die 
.toße Mutter Deutschland sich ihrer Kinder wieder annehmen wird. i 
Wir sind Deutschlands unerschütterlich getreue Freunde, vielleicht seine einzigen in der £ 
‚anzen Welt, auch in der Not geblieben, aber wir, die Vertreter der unglücklichen Söhne und | 
„öchter von Deutschlands ‚‚Musterkolonie‘‘ sagen es Euch Deutschen allen: ‚Wir rufen Euch 

‚etzt, wir glauben an Euch, und wir können niemals annehmen, daß Eure Herzen aufgehört 

‚dtten, für uns deutsche Togoländer und alle übrigen deutschen Kolonialvölker zu ı schlegen 


Die Bundesleitung: 
| 


2 ii ? ne nn A PS nn Zn 2 Socan en. 
er EN Tee TEEN ea 


un Bon - 


a nt en nennen. nme 


Adotevi Blicon Johann A. Agboka 
Peter L. Lassey Anjou Olympio 
Gabriel Agboka Gabriel Attiogbe 
| Anastasius H. F. Bacson Aloysius D. Dagee 
‘=... Clemens Amatey Ludwig B. Ageboa | 


Michael Kwami Linus Broom 


Ein Amerikaner über Wilsons Politik während des Weltkrieges 
Von Alice Freifrau v. Bissing in Berlin 





Zn Zu 


| u den letzten Erscheinungen auf dem Gebiete der politischen Erinnerungen in Amerika 
12 gehört das Buch des Senators Henry Cabot Lodge ‚‚Der Senat und der Völkerbund‘“ 
| velches soeben bei Charles Scribner’s Sons in New York erschienen ist (1925). 

\ Die bedeutsame Stellung Lodges als Vorsitzender der Republikanischen Partei und als 
HTorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Senats, welchem er bereits 23 Jahre angehört 
jatte, gaben ihm Gelegenheit, die Persönlichkeit des Präsidenten Wilson näher kennen- IR 
"ulernen und seine Handlungsweise aus der Nähe zu prüfen. Senator Lodge war Republikaner 'E 
"ind als solcher politischer Gegner des von der Demokratischen Partei gewählten Präsi- } 
!ienten. Er bemüht sich aber, die politische Gegnerschaft nicht auf das persönliche Gebiet 
| erübergreifen zu lassen und in auswärtigen Angelegenheiten das Vaterland über die Partei 4 
‚u stellen. Dasselbe verlangt er oder setzt er auch bei dem Präsidenten der Vereinigten 'W | 
\itaaten voraus, und daß dies sich nicht in demselben Maße bewahrheitete, ist ein ernster iR 
h forwurf, den er immer wieder hervorhebt. Ja, er geht noch weiter und behauptet, daß Wilson # 


1 


‚ eine eigene Person noch über Vaterland und Partei stellt. 








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46 Aus Zeit und Geschichte 


ET ER ET EEE TEE ENT REST NT Dr EEE ET EEE EEE BRETTEN ERLERNTE TE EEE EEE ET EEE EEE EEE TE rer a, 












Die Gegensätze zwischen Wilson und Lodge traten im Verlauf des Weltkrieges immer | 
schärfer hervor. Die Sympathien von Lodge galten der Entente. Er hielt sich beim Aus- 
bruch des Weltkrieges in London auf, und in seinem ganzen Buche findet man kein einziges? 
deutschfreundliches Wort oder selbst irgendein Bemühen, den deutschen Standpunkt, wenig-| 
stens gleich demjenigen der Entente, zu verstehen. Auch im Lauf der Zeiten ändert sich | 
seine Gesinnung und Anschauung nicht. So beurteilt er also den Präsidenten Wilson lediglich | 
vom amerikanischen Standpunkt aus und sieht in jeder Neutralität, welche auch zugunsten | 
Deutschlands ausfallen könnte, eine Schädigung der Interessen seines Landes und eine un-| 
gerechte Benachteiligung der Entente. So bekämpfte er aus diesem Grunde den Ankauf 
der im Hafen von New York liegenden deutschen Schiffe, weil er dem deutschen Guthaben 
eine Bereicherung von 35 Millionen Dollars eingebracht hätte. 

Nach Torpedierung der ‚„Lusitania‘‘, welche Lodge selbstverständlich vom Standpunkt 
der Entente beurteilt, war die aufgeregte Volksstimmung einer Kriegserklärung gegen Deutsch- 
land günstig. Lodge betrachtete es als einen der größten politischen Fehler Wilsons, daß er 
diese Stimmung nicht ausnutzte, ja sogar in einer Rede vom 10. Mai 1915, drei Tage nach 
Versenkung des Schiffes, die Phrase prägte: ‚Ein Mann kann zu stolz sein, um zu kämpfen. 
Eine Nation kann so offenkundig in ihrem Recht sein, daß es dies den andern nicht durch 
einen Kampf um dieses Recht beweisen muß.‘ Lodge erkennt darin ‚‚einen Mangel an Kraft, 
an Patriotismus, an Mut und Selbstlosigkeit, welche in diesem Augenblick in demjenigen, 
welcher dazu berufen war, an der Spitze der amerikanischen Nation zu stehen, so bitter‘ 
notwendig waren‘, | 

Eine starke Waffe gegen Wilson bot sich der ihm feindlichen Partei durch die Indiskretion 
eines Beamten aus dem Kriegsministerium, welcher interessante Aufschlüsse über die Vorzi 
geschichte zu der scharfen Note Wilsons an Deutschland nach Versenkung der „Lusitania 
geben konnte und deren Verfasser in einem höchst zweifelhaften Licht erscheinen ließ. Es 
wurde behauptet, daß Präsident Wilson die sehr scharfe Note vom 13. Mai 1915 dadurch 
abgeschwächt hätte, daß man durch den österreichischen Botschafter, Dumba, das Aus: 
wärtige Amt in Berlin unter der Hand benachrichtigen ließ, diese Note sei nicht so ernst 
gemeint, sondern solle zur Beruhigung der anglo-amerikanischen Gemüter dienen. Wilson 
habe ferner der deutschen Regierung mitgeteilt, falls diese den Forderungen seiner 
Note nicht nachkomme, wolle er die ganze Angelegenheit nach Beendigung des Krieges) 
einem internationalen Gerichtshof unterbreiten. Bryan, der allein im Kabinett über dieses! 
„Postskriptum‘‘ Bescheid wußte, behielt seine Kenntnis nicht für sich, und so kam die Sache 
zu Ohren der anderen Minister, welche sich sofort zum Präsidenten begaben, um die Zurückt 
nahme des bereits auf dem Telegraphenamt befindlichen Schreibens zu fordern und durch: 
zusetzen. Bryan nahm seine Entlassung: Ob deshalb, weil er nicht „dicht gehalten‘, oder 
weil Bryan nur deshalb seine Einwilligung zu der scharfen Note gegeben, weil die abschwä-! 
chenden Mitteilungen gleichzeitig folgen sollten, entzieht sich dem Wissen Lodges. Natür- 
lich spielte diese zweideutige Haltung des Präsidenten in der Wahlkampagne eine führende 
Rolle und verbesserte die Beziehungen des Vorsitzenden der gegnerischen Partei zu Wilson 
nicht. Alle gegenteiligen Beteuerungen des Präsidenten, ebenso ein sehr geschickt, aber a 
zweideutig abgefaßtes Öffentliches Dementi, verfehlten ihren Zweck. 


jeo&® steht nicht allein in seiner Einschätzung der mangelhaften Wahrheitsliebe Wilsons 

und führt zur Bekräftigung seines Urteils die Erfahrungen Mr. Robert Edwin Annins an, 
der in seinem bei Dodd, Mead & Co 1924 erschienenen Buch ‚‚Woodrow Wilson, eine Charakter- 
studie“ (5.325 ff.) über die Umstände bei der Entlassung Lansings im Februar 1920 folgendes; 
berichtet: ‚Lansing wurde in einer Art und Weise entlassen, welche selbst die treuesten Are 
hänger des Präsidenten befremdete und Vorstellungen einiger Mitglieder des Kabinetts' 
hervorrief. Man hatte in Erfahrung gebracht, daß eine der letzten offiziellen Taten Lansings 
der Entwurf einer Note an die Alliierten gewesen, in welcher von der Verteilung der östlichen! 
Küsten des Adriatischen Meeres die Rede gewesen sei. ‚Die Note schloß,‘ so lautete eine) 
Nachricht des ‚Pertinax‘ im ‚Echo de Paris‘, ‚mit einer Drohung des Präsidenten, dab,! 
falls die Abmachungen der Alliierten sein Einverständnis nicht finden könnten, dieser den 
Vertrag von Versailles dem Senat nicht vorlegen würde“. — Man verstand in Amerika nicht, 
daß, nachdem der Präsident wiederholt leidenschaftlich der Welt versichert hatte, daß ‚‚das 
Nichtzustandekommen des Friedensvertrages die Zivilisation gefährden und das Herz der 
ganzen Welt brechen würde‘, er im letzten Augenblick diesen Vertrag zurückziehen könne, -— 
In Berücksichtigung dieser Stimmung erschien auch sofort in der ‚„Associated Press‘ vom! 
17. Februar ein in kräftigen Worten gehaltenes offizielles Dementi, welches diese Nachricht! 
als ‚eine absolute Unwahrheit‘ bezeichnete. Durch den genauen Wortlaut des Dementis! 
fiel die Anklare von Wilsons auf Lansings Schultern. Da man aber sehr schnell im Weißen 
















































Aus Zeit und Geschichte 47 








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iner Veröffentlichung dieses Dementi zurückgezogen und widerrufen. Dadurch wurde offen- 
‚ar, daß die Nachricht aus Paris auf Wahrheit beruhte. — Annin fügt dieser Berichterstattung 
„inzu, „daß wenige Präsidenten der Vereinigten Staaten so oft in betreff ihrer Wahrhaftig- 
"sit angezweifelt worden sind, wie der Präsident Wilson‘, und er bringt ein anderes Beispiel, 
‚ach welchem Wilson bei den Friedensverhandlungen den anwesenden Delegierten, und be- 


{ einsah, daß auch diese Lesart unhaltbar geworden war, wurde innerhalb einer Stunde nach 
\inders den rumänischen, erklärt habe, ‚daß der Frieden der Welt auf der bewaffneten 


| 


\ ‚acht beruhe, und wenn je die Grenzen, welche der Vertrag festlege, bedroht wären, auch 
«leamerikanische Armee und Flotte bereit seien, um die Integrität dieser Grenzen zu schützen“, 
N ‚an war in den Vereinigten Staaten über die eigenmächtige Zusage des Präsidenten in dieser 
dlitisch und grundsätzlich so weittragenden Angelegenheit mit Recht aufs äußerste erregt 
‚nd verlangte Auskunft und Aufschluß. Tumulty, der Privatsekretär Wilsons, entsandte 
‚fort ein Telegramm, in welchem er, sich auf die Autorität des Staatsoberhauptes stützend, 
|iese Behauptung des Pertinax ‚als absolut und unbedingt falsch‘ bezeichnete. Der Inter- 
allant, Senator Spencer, wandte sich daraufhin persönlich an den Präsidenten, welcher 
as Zeugnis Tumultys nochmals erhärtete und die Behauptung des Pertinax als ‚falsches 
yeugnis“ qualifizierte. Spencer verlangte nunmehr Einsicht in den stenographischen Bericht 
"ar 8. Vollsitzung in Versailles, wurde aber daraufhin beschieden, daß ‚‚ein solcher Bericht 
'n ganzen Lande nicht vorhanden sei‘ (7. Oktober 1920). 


' Die Freunde Wilsons waren aber baß entsetzt, als unter Hardings Präsidentschaft (im 

‚ärz 1921) die Sache nochmals zur Sprache kam und das gewünschte Stenogramm durch 

| (ughes dem Senator Spencer eingehändigt wurde. Es stellte sich heraus, daß 500 Exemplare 

as Protokolls der 8. Vollsitzung im Juli 1919 und weitere 300 Exemplare im Februar 1920 

af dem Ministerium vorhanden gewesen waren. In diesem Protokoll stand aber zu lesen: 

"Der Präsident der Vereinigten Staaten spricht Englisch: ..... ‚Und hinter diesem Ab- 

‚ommen liegt grundsätzlich die bedeutsame Tatsache, daß wenn die Abschneidungen (re- 

1 u) bestimmt sind, die Alliierten und Assoziierten Mächte Garantien bieten, dieselben 

t erhalten... Und allen diesen Transaktionen liegt die Voraussetzung z.B. Rumäniens, 

er Tschechoslowakei und Serbiens zugrunde, daß, falls irgendwelche Bedingungen dieser 

' bmachungen nicht eingehalten werden, die Vereinigten Staaten ihre Armee und ihre Flotte 

\ıtsenden werden, um darüber zu wachen, daß sie eingehalten werden‘ ...“ 

i So beleuchtet also Lodge einige Seiten der politischen Tätigkeit des Präsidenten Wilson . 
‚ns bleibt nur übrig, uns darüber zu wundern, daß von keinen Zweideutigkeiten des Prä- 
‚denten gegenüber der Entente zuungunsten Deutschlands während der offiziellen Neutra- 
(tät der Vereinigten Staaten die Rede ist; jedenfalls bleiben sie unerwähnt und sind aus 

en Erinnerungen Lodges, des Ententefreundes, nicht erkennbar. Wir Deutsche haben ge- 

ıngen Grund anzunehmen, daß Wilson bei der Einstellung seines Charakters nicht gegen 
| ns ebenso doppeltes Spiel getrieben wie mit den Verbündeten. Seine gelegentlichen Seiten- 

‚jrünge in der Politik, die zu unseren Gunsten ausgelegt werden könnten, stammen nicht 

on seinem Gerechtigkeitssinn oder seiner Deutschfreundlichkeit, sondern von seinem Wunsch 

‚le führende Persönlichkeit bei Austrag des Weltkrieges zu werden. 


| 


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Englische Bücher und Bücher über England 


f 
ie Tagebücher Sir Roger Casements!) sind kein neues Buch. Aber sie können den Deutschen 
nicht oft und nicht dringend genug zur Lektüre empfohlen werden. Die Tragödie des 
‚ischen Freiheitskämpfers ist für Deutschland ja auch ein kleines Wegstück ins Unglück. 
)ieser Mann kam nach Deutschland und bot seine volle Unterstützung im Kampf gegen den 
samen Feind England an und mußte es erleben, daß führende Persönlichkeiten der 
Kung nicht einmal besonderen Wert darauf legten, ihn zu empfangen. Er sagte Solf: ‚Sie 
‚ätten eine irische Politik als Teil Ihres Verteidigungsplanes gegen den englischen Überfall 
\aben müssen.‘ Hätte Solf ihm die Wahrheit sagen wollen, so hätte er sagen müssen, 
‚aß ein politischer Verteidigungsplan gegenüber England überhaupt nicht bestand. 
"asements Urteile über Deutschland sind auch heute noch Wahrheiten, die uns nachdenk- 

"ch stimmen müssen. Aber über das Buch ist nichts zu sagen, man muß es lesen. 


f indlay-Affaire. Auf Grund der Tagebücher und Korrespondenz dargestellt von Dr. Charles 


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"3 Sir Rog 1) Sir Roger Casement, Meine Mission nach Deutschland. während des Krieges und die 
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| ürry, Verlag Stephan Geibel, Altenburg. 








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48 Aus Zeit und Geschichte 


Die kleine Studie Löwensteins über Minderheitsregierung in England!) ist zwar schon 
im Herbst 1924 abgeschlossen, hat aber ohne Zweifel auch heute noch aktuelle Bedeutung. 
Die Arbeit, die sich vor allem mit der staatsrechtlichen Stellung der jetzigen konservativen 
Minderheitsregierung auseinandersetzt, zeigt, wie stark in England der Grundsatz der Volks- 
souveränität ist, wie leicht aber der Volkswille durch das sehr verwickelte Wahlverfahren ge- 
fälscht werden kann. In einem hat der Verfasser aber sicherlich nicht recht, es ist durchaus 
möglich, daß sich drei Parteien und mehr noch halten werden, aber siegreich wird immer 
wieder der Dualismus sein. Denn der Engländer wird den Vorteil der sachlichen Opposition, der 
mit dem Vorhandensein von mehreren Parteien verknüpft ist, niemals so hoch einschätzen, 
um dafür das ihm innerlich fremde kontinentale Koalitionssystem und die Abhängigkeit der 
Regierung von schwankenden Mehrheiten einzutauschen. Der Engländer ist zu lange an das 
in or out in Politik und Sport gewöhnt. 


Das unscheinbare Buch Baumeister des Friedens, das von der jetzigen Herausgeberin der 
Foreign affairs verfaßt ist?), enthält nicht mehr oder weniger als einen Abriß der Geschichte 
der pazifistischen Bewegung in England während des Weltkrieges. Es ist sehr bemerkenswert 
zu sehen, mit welchen Schwierigkeiten die Gruppe Morel zu kämpfen hatte. Sie hatte dei 
größten Teil der öffentlichen Meinung gegen sich, so daß es zu blutigen Zusammenstößen 
in den Versammlungen kam, sie konnte schließlich kaum noch Säle für ihre Veranstaltungen 
bekommen. Ihr Material wurde Herbst 1916 beschlagnahmt, ihr Führer Morel bekanntlich 
1917 verhaftet, weil er es gewagt hatte, seinem Freunde Romain Rolland Material in die Schweiz 
schicken zu wollen. Und wie sah es nun mit dem Landesverrat dieser Pazifisten aus? Sie 
wollten den Verständigungsfrieden unter Bedingungen, die sich ungefähr mit Wilsons 14 Punk- | 
ten deckten, die also für Deutschland ungleich ungünstiger als für die Entente waren. Ihre | 
Einstellung spricht deutlich aus einem Öffentlichen Briefe Herbst 1914, in dem es heißt: | 
„Flugschriften und Flugblätter mit Beweisen für die Richtigkeit der Politik sind bereits ver- 
faßt und sollen herausgegeben werden, sobald es die Kriegslage erlaubt, die öffentliche Auf- 
merksamkeit auf andere Dinge hinzulenken, als auf Verteidigungsmaßnahmen.‘‘ Wo wäre eine 
gleiche Rücksicht auf die militärische Lage bei der deutschen U. S.P. zu finden gewesen’? 
Bei uns konnte, von in- und ausländischen Agitatoren geführt, in der militärisch entschei- 
denden Zeit ein ständig wachsender Bevölkerungsteil vom Krieg als „Schwindel‘ sprechen: 


Das kleine tapfere Buch von Thomas Rhodes, The real Kühlmann?), ist zwar in England 
so gut wie unbeachtet geblieben, verdient aber um so mehr unsere Aufmerksamkeit. Rhodes 
war mit Kühlmann in seiner Londoner Zeit befreundet, er übernahm gleich bei Kriegsausbrucht 
dessen Wohnung. Da Lichnowskys pazifistische Gesinnung zu allgemein bekannt war, 
wurde Kühlmann als der eigentliche Sündenbock hingestellt. Rhodes verteidigt ihn sehr 
geschickt, ganz besonders gegen die völlig haltlosen Beschuldigungen, daß Kühlmann oe] 
unmittelbar vor dem Kriege mit den Irländern konspiriert habe. Wir notieren nebenbei des’ 
allgemeinen Interesses wegen, daß aus einem Brief Lichnowskys hervorgeht, daß sich dieser, 
noch immer damit beschäftigt, seine Denkschrift an ausländische Bekannte zu versender. 
Und mehr als dies, er hält seinen Standpunkt trotz mehrfacher ihm nachgewiesener Fehler, 
trotz der deutschen Akten aufrecht, 


Halle a.d.S. Dr. Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode. 


— ET 


Euindeihöttsrenermgis Großbritannien. Von Dr. Karl Löwenstein. München, J. Schwein 
Verlag 1925. 

2) Baumeister des Friedens. Von H. W. Swanwick. Halberstadt, Meyers Buchdruckerei, 1028, 

®) The real Kuhlmann. Von Thomas Rhodes. London, Noel Douglas, 1925. 













Tagebuch 


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"Die Methoden der französischen 
auswärtigen Politik 


| edes Volk zeigt seine Eigenart gerade auch 
‚J in den Methoden seiner auswärtigen Poli- 
‚ik. Der Engländer z. B. seine niedersächsi- 
‚iche Zähigkeit und seine (auch im Privatleben 
u unlich entwickelte) Fähigkeit, seinem 
"Nutzen rücksichtslos nachzugehen und doch 
„augleich den ‚Prinzipien‘, dem ‚‚Glauben‘, 
‚lem „Kampf gegen das Böse‘ zu dienen, das 
Nerkwürdigerweise, infolge irgendeines ge- 
.jeimnisvollen Naturgesetzes immer auch das 
.ür England Schädliche ist. Der Deutsche 
‚jleibt mit wenigen Ausnahmen michelhaft 
| ıuch in der auswärtigen Politik — naiv, ver- 
trauensselig, ohne jede Ahnung, wie der 
Mensch in Wahrheit aussieht, immer geneigt, 


ignen Worten Glauben zu schenken. 


Diebesondere Methode der französischen 
‚auswärtigen Politik ist die der Rechtsver- 
‚irehung, also ein Mißbrauch der unzweifel- 
‚art vorhandenen großen juristischen Be- 
"sabung des Franzosen. Es gilt das seit spä- 
‚testens den Tagen Philipps IV. des Schönen 
‚um 1300), also seit Frankreich ganz wesent- 
‚ich von Juristen regiert wird, d. h. wiederum, 
‚seitdem das keltisch-römische Blut das nor- 
‚dische allmählich aus der Regierung zu ver- 
‚drängen begann. Von da an ist es bis zur 
‚heutigen Stunde ein immer wiederholter 
! Kniff der Franzosen, unklare Rechtsverhält- 
‚nisse zu schaffen und so mittels Rechtsver- 
‘drehung recht eigentlich im Trüben zu fi- 
‚schen. Dadurch erzielte Frankreich bei zahl- 
„reichen Gelegenheiten sehr viel mehr, als es 
‚sonst in Friedensschlüssen oder anderen Ver- 
|trägen jemals erreicht hätte. Beispiele: eine 
Stadt wird französisch — unbeschadet ihrer 
| Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. In 
‚eine deutsche Stadt wird ein französischer Be- 
 amter als ‚Protector‘ der Bürgerschaft ent- 
‚eendt. Ein Reichsfürst wird, unbeschadet 
‚seiner Pflichten dem Reich gegenüber, fran- 
| zösischer Vasall. So schon im Mittelalter. — 
Die französischen Gesandten, die den west- 
fälischen Frieden verhandelten, erhielten die 
‚ Instruktion, im Elsaß unklare Rechtsverhält- 
| nisse zu schaffen. Die wollte man später aus- 
| nützen, um weit über das hinauszukommen, 
ı was 1648 zu erreichen gewesen wäre. Dieser 
ı Kniff hat sich auch vollkommen bewährt. 
Daß die Reunionen Ludwigs XIV. so recht 
eigentlich auf der gewagtesten Rechtsver- 
drehung beruhten, bedarf nicht des Beweises. 
Groß war auch Napoleon I. in der Schaffung 
Recntar Rechtsverhältnisse und in der 





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Rechtsverdrehung. Es wird von ihm ein 


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Tagebuch 


„Freistaat Danzig‘‘ geschaffen, der aber als 
Hafen des polnischen Staates (Warschau) 
dienen und ihm in Wahrheit unterworfen sein 
soll. (Man sieht: die heutigen Franzosen 
zeichnen sich nicht einmal durch Originalität 
aus!) Wenn wir also in der Gegenwart dar- 
unter leiden, daß die Franzosen in Rechts- 
verdrehung Unglaubliches leisten, so bedeutet 
das nichts Neues, wohl aber freilich eine Stei- 
gerunggegenüber ihrereigenen Vergangenheit. 

Zum Glück für die Völker Europas haben 
aber die Franzosen in ihrer auswärtigen Po- 
litik neben dieser äußerst gefährlichen Eigen- 
tümlichkeit noch eine zweite: Sie überspan- 
nen nach dem Siege jedesmal den Bogen... 


Tübingen. Adalbert Wahl. 


Friedrich der Große im Bilde 


er bekannte Friedrichforscher Professor 
Gustav Berthold V olz faßt in einer Bild- 
nissammlung ‚Friedrich der Große im Bilde 
seiner Zeit“ (bei K. F. Koehler, Leipzig) 


zum erstenmal alle bildlichen und plastischen , 


Darstellungen zusammen, die imstande sind, 
uns die äußere Erscheinung Friedrichs des 
Großen im Wandel seines Lebens vor Augen 
zu führen. Von dem ersten reizenden Jugend- 
bildnis mit der Schwester Wilhelmine bis zu 
einer bisher unveröffentlichten Wiedergabe 
der Totenmaske gibt es kaum ein Bild, zu 
dem der König ordnungsgemäß gesessen 
hätte. Darum weichen die zahlreichen ÖI- 
gemälde und Zeichnungen von Pesne, Kno- 
belsdorff, Graf, Cunningham u. a., die Kupfer- 
stiche und Radierungen von Chodowiecki, 
die Plastiken von Bandow und Schadow in 
der Auffassung so stark voneinander ab, daß 
den volkstümlichen Holzschnitten und Anek- 
dotenbildern, die nach dem Tode des Königs 
angefertigt wurden, ein weiter Spielraum für 
eigenwillige Betätigung geblieben ist. Fast 
mit jedem Bildnis ist eine die Persön- 
lichkeit des Königs kennzeichnende Episode 
verknüpft, die im textlichen Teile getreu 
festgehalten ist. Man hört von der Geschichte 
der Bilder, ihrer Entstehung und der Be- 
urteilung, die sie und ihre Schöpfer bei Fried- 
rich und den Zeitgenossen gefunden haben, 
und von der mit den Jahren wachsenden 
Abneigung Friedrichs des Großen, sich malen 
zu lassen. Die Veröffentlichung des Werkes 
bedeutet jedenfalls eine schöpferische Tat, 
die wesentlich dazu beitragen wird, das Bild 
des großen Königs von den heute üblichen 
parteiischen Entstellungen zu reinigen. A, H. 


























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Tagebuch 











Afrikanische Plastik 


Tber exotische Kunst ist im letzten Jahr- 
zehnt so viel geschrieben worden, daß wir 
damit regelrecht überfüttert wurden. Das Un- 
erfreulichste waren dabei jene Bilderbücher, 
dieihr Material aus allen Ecken und Enden der 
Welt der sog. ‚„‚Primitiven‘‘ herbeiholten und 
diesem Material einige Seiten Text beigaben, 
in dem die Verfasser ihre Unwissenheit über die 
Realien der betreffenden Völker hinter einem 
möglichst geschwollenen Geschwätz über die 
ästhetischen Werte der vorgeführten Bildwerke 
versteckten. Es gereicht dem Referenten des- 
halb zu besonderer Genugtuung, daß er von 
einem Buch sprechen kann, in dem sich ein 
Ethnograph, der etwas von Kunst versteht, 
über einen ganz bestimmten künstlerischen 
Vorwurf in einem gleichfalls ganz bestimmten 
Gebiet ausspricht. Eshandelt sich um das Buch 
Oskar Nuoffers: Afrikanische Plastik 


in der Gestaltung von Mutter und Kind (Reiß- | 


ner, Dresden, in der Bücherreihe ‚‚Religiöse 
Kunst‘). Es ist dem Verfasser auch vor- 
züglich gelungen, dieses kitzliche Thema ruhig, 
vorurteilslos, aber mit warmem aufrichtigem 





Interesse an dem Dargestellten und an den | 


darstellenden Künstlern, den Negern, zu be- | 


handeln. Und das war gar nicht leicht. Ein- 
mal fordert schon das Thema selbst, Mutter 


und Kind, sehr viel ruhiges Abwägen, weil wir | 
noch gar nicht recht wissen, was eigentlich 


dahinter steckt, und zum zweiten ist gerade die 
Negerplastik eine Kunstübung, an die man 
nicht mißtrauisch genug herangehen kann. 


Sagt doch selbst Einstein, der sich wohl am | 


gründlichsten mit afrikanischer Kunst abge- 
geben und viel dabei gelernt hat: ‚‚Beschäftigt 
man sich länger mit afrikanischer Kunst, so 
verstärkt sich das respektvolle Gefühl pein- 
licher Unsicherheit, und man möchte immer 
vorsichtiger werden.‘‘ Nun, es gibt Dinge aus 
Afrika, besonders aus dem, was man afrika- 
nisches Kunstgewerbe nennen kann, an denen 


man sich rückhaltslos freuen darf, und es gibt | 
andere, wo man sich förmlich schämt, daß | 


man so etwas noch als ‚Kunst‘ ansprechen 
soll. Aber, wie gesagt, Nuoffer hat vorsichtig 
abgewogen; er hat sich vor Überschätzung 
wie vor Unterschätzung zu hüten gewußt und 
wir halten es für das Hauptverdienst des 
Buches, daß es dem Verfasser gelungen ist, 
das Kunstwollen des Negers seinem Können 
gegenüber ins rechte Licht zu setzen. Auch 
das Äußere des Buches ist ansprechend: guter 
Druck, gutes Papier und gute Abbildungen; 
der Preis mäßig (gebunden M. 6,50, broschiert 
M.4,50). 


München. AO DTiLT 











Vaterländische Erziehung 


(7 der Infanterie a. D. Friedrich 
v. Hurt, der zu diesem Heft einen Beitrag 
geliefert hat, veröffentlicht einen etwas er- 
weiterten Vortrag über „Die vaterlän- 
dische Erziehung der Jugend im 
Ausland und bei uns‘, den er am 26. Mai 
1925 vor Führern der Vereinigten Vaterlän- 
dischen Verbände Bayerns gehalten hat, 
Die Schrift behandelt mit besonderer Aus- 
führlichkeit Frankreich, entsprechend seiner 
außergewöhnlichen Rührigkeit auf diesem 
Gebiet, sodann Polen, die Tschechoslowakei, 
Italien, England und die Vereinigten Staaten 
von Amerika. Aus diesem Überblick über 
die Maßnahmen des Auslandes zieht der Ver- 
fasser die Folgerungen für Deutschland. Un- 
sere heutige Lage, das Fehlen jeden Zwanges 


ı zur körperlichen Betätigung und fast jeder 


hygienischen Überwachung der Jugend, die 
Zersplitterung in zahllose Gruppen und Ver- 
eine, das alles zwingt uns zu einer entschie- 
denen Neueinstellung. Eine Änderung der 
herrschenden Zustände ist nach Ansicht des 
Verfassers nur dann herbeizuführen, wenn 
der Staat die Führung übernimmt, wenn die’ 
Schulen unbedingter als bisher in den Dienst 
der körperlichen Ertüchtigung gestellt und 
die Freiwilligenvereine staatlich anerkannt 
und unterstützt werden. Die lesenswerte 
Broschüre ist zum Einzelpreis von M. 0,20 
zu beziehen beim Verlag Volkskraft, Mün- 
chen 2 NO 7, Schönfeldstr. 11. | 


Gedanken 


In Weg, um das Wesen der Phantasie 
besser zu erkennen: die Witze der Phan- 
tasielosen sammeln. | 
* 
| 
Mystik ohne Gottesglauben: Idee zu er- 
leuchten ohne Lichtquell. Nichts ist ein 
schlagenderes Beispiel dafür, daß der Teufel‘ 
nur der Affe Gottes ist, als mystische Nel- 
gungen in einer von Grund aus materialistl- 
schen Zeit: was wir heute erleben. 
u | 
Manche Menschen werden nur durch die 
Organisation ihres Kehlkopfes verhindert, 
Muh zu schreien. | 
x 
Es ist ein großer Irrtum zu glauben, a 
bestimmte politische Einrichtungen nicht’ 
lange dauern werden, weil sie offensichtlich 
töricht und unheilvoll sind. Gerade ihre 
Schwächen können dazu beitragen, sie zu] 
erhalten — siehe das alte deutsche Reich von 
1648 bis 1806. Torheit schützt vor Alter 
nicht. K.A.v.M. 















































Derdeutfche Erzähler 


| 
| 


Das Hafenmaul 1 | 
Bon Iofef Magnus Wehner | 


18 der alte Rothofbauer fühlte, daß e3 mit ihm zu Ende gehe, fprach er zu feinem Sohne 
| und zu jeiner Tochter, die an feinem Sterbebett ftanden: 
Sr jeid jegt um die dreißig Jahre alt und fennt das Vaterunfer. Wenn hr alfo betet: 
‚Sib uns heute unfer täglich Brot — dann wit $hr, mas der Herr damit gemeint hat. Wenn 
a3 Mädchen heiratet, dann jolfjt du ihr von jelber ihr Heiratsgut geben, wie e8 Braud) ift. 
‚Ind heiratet fie nicht, dann follft du für fie forgen als für deine leibliche Schwefter. Beriprid) 
‚nir das in Die Hand hinein, mein Bub! Ein Gefchriebenes ift nicht da.“ 
Der Gterbende ftredte feine gelbe Hand aus dem Bette, und der Sohn drüdte fie fchen. 8 
‚inige Stunden darauf war der Vater tot. 100 
 Biwei Jahre jpäter, an einem Herbittage, fattelte der junge Rothofbauer feinen Braunen j 
‚md ritt über Land, um fich eine Braut zu fuchen. Al er jpät am Abend heimfam und in die 
"Rüche fchaute, fah er einen Mann bei feiner Schwefter ftehen und ihre Hand halten. Er fagte 
‚ein Wort, jondern fette fich ohne Guten Abend in die Stube an den Tiih. Kurz darauf 
‚tat der Mann herein und brachte vor, er wolle die Rothoftochter heiraten. Er jei zwar ein 
‚leiner Bauer, aber er werde fich mit dem Heiratögut, das ihm feine Braut zubringe, jchon 
o&hichaffen. Er erhielt zur Antwort, er folle in der nächjten Beit bei Tage wieder fommen. 
Fr lam auch öfter wieder, aber wenn er nur feinen Fuß auf den Hof feßte, fuhr ihn der Nothof- 
‚jauer an, was er denn jchon wieder Herumzufpionieren habe, und es fei ungehörig, daß er 
ie Leute von der Arbeit abhalte. Und je mehr feine Schwefter in ihn drang, er möge doch 
‚nodlich ihr Heiratzgut feitegen, defto lieber wurden ihm die fledigen Kühe, die Ader und 
‚Biefen, die jchönen Betten und Schränfe, die er feiner Schwefter hätte geben jollen. Und als 
'enun bald jelbjt heiratete und feine Frau brachte viel Habe mit, da Itand er fopfichüttelnd 
m doppelten Reichtum und mochte nun erft recht nicht3 hergeben. 

.-&3 fam ein Sommerabend. Das Bieh war abgefüttert, und der Bauer wollte über den 

of in3 Haus gehen, um zu fchlafen. Da fah er feine Schwefter im Graögarten ftehen und 
in winken. Er ging zu ihr und fpradh: 
„sch habe heute mein Teil gearbeitet, jett fannit du mir auch das bißchen Schlaf gönnen.” a 
. Die Schwefter antwortete: ae 
„Wenn ich nicht fchlafen kann, follft du auch nicht fchlafen. Jch will dir die Wahrheit jagen.” 
‘ Und fie lehnte fich an einen Birnbaum, hinter dem das Wetter leuchtete, und hielt dem 
‘Bruder bor, wie er fie behandle: „Und was du dem Bater auf dem Totenbett in die Hand Na 
jinein berjprochen haft, das tft dir jegt wie leere Spreu.” 
Der Bauer fah liftig zur Seite und fprach: ie Se 
„Du heirateft ja noch gar nicht. Worläufig jchleicht immer nur ein Sterl auf dem Hof herum, } 
‚on dem weiß ich nicht, mag er mit dir anfangen will, und weiß auch nicht, ob alles in Die 
„echten Hände fommt, wa3 ich dir mitgeben fol.“ 
' 6ie Iprachen noch lange gegeneinander, und der Bauer beredete jchließlich feine Schweiter, 
\ ie jolle exft Heiraten und fehen, wie fich ihr Mann bewähre. Schlage er gut ein, fo werde das 
Dochpeitägut ihon an den Mann fommen, eher aber nicht. 











EEE AEEEETERCTTE LEITET ZERTERENRENENT ER 











52 Derdeutjhe&rzähler 
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Und um den Unfrieden zu beenden, heiratete die Schweiter jenen Bauern, der nur Bl 
Kühe bejaf. 

Nach der Hochzeit Fam ihr Bruder öfter in den Abendftunden herüber auf ihren Hof, be- 
teuerte, das Hochzeitögut fei trefflich aufgehoben, die der feien mit frifcher Saat beftellf‘ 
und die Kühe bei befter Gefundheit; er wolle aber noch zujehen, wie jic) der Schwager made. | 
Sing aud gleich an zu Fritteln und zu nörgeln, daS und jene3 fei ungefchiet angepadt, und 
trieb fein Wefen fo lange, bis ihm der Schwager den Hof verbot. Da lachte er und jchlug nei 
auf die Tafchen. 

Sein Schwager ftarb in Furzer Zeit, und viele Leute gaben dem Rothofbauern die Chu 
an feinem frühen Tode. Aber diefer ließ nicht merken, daß er jich betroffen fühle, juchte 
vielmehr feine Schwefter, die feine Kinder hatte, zu überreden, fie jolle ihr Kleines Gut, dag 
fie geerbt, völlig in feine Hand geben und wieder auf feinen Hof zurüdfehren. Dort jolle fie 
eö gut haben bis an ihr Ende. Die Schwefter jchlug dies ab und hielt ihren Zorn zurüd. 

Da gebar die Nothofbäuerin einen Sohn. Er wurde in der Taufe Lorenz genannt. Zur 
Feier war aud) die Schweiter des Bauern geladen. Sie war in der legten Zeit in große Not 
geraten und hatte alles bi3 auf eine Kuh und ihr Häuschen verfaufen müfjen, um die nag) 
dem Tode ihres Mannes fic) regenden Schulden zu bezahlen. Gleichwohl erfchien fie zur Taufe 
in ihrem beften Staate, und als die Gefellfchaft um den Tifch faß und e3 follte gegefjen werden) 
da ftand fie auf und fpradh: „Heute will ich einmal beten.“ | 

Und fie fchlug das Kreuz und begann mit ftarfer Stimme dad Vaterunjer. Als jie aber 
gebetet hatte „Gib uns heute unfer tägliches Brot“, da brach fie ab und jprad) mit glühenden 
Augen zum Bruder: | 


„Wie du e8 dem Toten versprochen haft und haft eg nicht gehalten. Darum mußte noch einet 
fterben vor der Zeit, mein Mann, weil dein Herz hart war. Und darum fige ich im Elend 
und weiß nicht weiter vor Schuld und Ungeduld und könnte leicht wieder einen Mann habeu 
und mit ihm fchaffen, wenn dir noch ein Menfc trauen fönnte. Aber du bift, wie du bijt, und 
fennft Dich jelbft nicht mehr. Darum will ich mit meiner Kuh fo alt werden, biß ich erlebe, 
daß dir recht gejchieht.“ | 

Und fie wandte fich mit flatternden Gemwändern vom Tijch und verließ die totenjtille Stube. 
Die Leute fahen fie noch am Abend in einem Kornhaufen fißen und in ein Mauslodh ftarren. 
Sie fehrte von dort finfter auf ihren Hof zurüd, lebte in Armut ihre Tage und nährte jich von 
Mil und Brot. Das Kopftuch trug fie tief in der Stirn, ihre Nafe wurde fcharf und rümmie 
lich, der Mund 30g fich zufammen: und wenn fie in der Dämmerung nad) ihrer Gewohnheit 
in einem Bufch am Wege fauerte, da erfchrafen die Leute vor ihr, wenn fie plößlich herumfußt, 


\ er Heine Lorenz wuchs unterdeffen heran und wurde ein Grübler. Zu bäuerifchen Arbeiten 
fonnte ihn fein Vater nicht brauchen; wenn er das Vieh füttern follte, ftand er mandhmal 

eine Stunde lang unter feiner Gabel Klee wie unter einem Baume träumend im Hof. Die 
Leute nannten ihn das Hafenmaul, denn fein Mund war zur Hafenfcharte verwachjen. Cr 
machte fich aber nicht3 aus dem Spignamen, brachte vielmehr noch die Kinder des Dorfes 
gern damit zum Lachen. Dft lief er zur Muhme, vor der fich alle fürchteten; fie liebte ihren. 
Heinen Neffen über alles. AlS er aber auf da3 Lehrerfeminar fam, hatte er nur in den Ferien 
fnappe Zeit für fie, und als er fein Examen beftanden hatte und in feinem Geburt3dorf 
al3 Lehrer angeftellt wurde, da vergaß er völlig den Weg zu ihr. Er mußte jegt einen anderen 
Pfad: den Zluß Hinunter, an der großen hölzernen Brüce hinab ftand ein Kleines Fifcher- 
häuschen, in dem die fchtwarzäugige Lene wohnte, das fchönfte und ärmfte Mädchen im Dorf, 
eine Waije, die nur ein paar Ziegen im Stall hatte. Die beiden trafen fich oft heimlich; fie 
liebten fich innig und wollten bald heiraten. Niemand wußte davon, nur die Muhme; aber 
zu ihr ging Lorenz nicht, ebenjomwenig wie zu feinen Eltern, deren Hof immer mehr ver 
mwilderte. Der Bäuerin fielen die Kinder vor der Zeit aus dem Schoße, der Bauer tranl 
und überließ feinen Knechten dag Regiment. 


























Kojef Magnus Wehner: Das Hajenmaul 53 


RL TE EEE TE THE EEE ET FESTE FERIEN ERST EL BER OT EEE EEE TEE ZEMENT EEE TESTER EEE TEE TELEEETTEN 





reßten ihre Hände ineinander. Da mußte Lorenz plöglich lachen: Er ah den diden Drt3- 
‚iener auf der Brücke, wie er fich vergeblich abmühte, einen Haufen Leute ind Dorf zurüdzu- 
‚Heugen. Die Menge kümmerte fich nicht um ihn, fondern hob ihn, wie der Waljerwirbel 
| ine $eder, und trug ihn, den fetten Mann, über die dünne Brüde in den Hohlmweg hinauf, 
A deifen Tannen jchon der bleiche Mond Leuchtete. E& war wie ein luftiges Schattenjpiel. 
‚da wandte fich Rorenz jäh um; er hatte Lenes Hand auf feiner Schulter gefühlt. Sie jtand 
‚a mit zudenden Wimpern, blaß und zitternd, und |prach: 


| Lorenz und Lene faßen wieder einmal um die Dämmerung in den Weiden am Sluffe und 


‘ „Rorenz, hör nicht auf mich, was ich Dir jebt fage. Du mußt ja doch dorthin gehen, two die 
eute jet zufammenlaufen.“ 

Dann meinte fie heftig und fuhr unter Tränen fort: 

„&3 ift befjer, ich jage nicht3, fonft wird unfere Angft noch größer. Geh nur, Lieber, und 
omme in den nächiten Tagen nicht zu mir. Du mußt allein bleiben.” 

Auf der Brüde ftanden nod) einzelne Gruppen von Frauen, ihre Kinder auf dem Arm. 
‚ aie brachen das Gefpräch ab und wichen ftumm zurüd, al3 Lorenz an ihnen vorbeieilte. Die 
‚nohle war finiter. Wolfen jagten iiber den Mond, die Tannen fauften über die Ränder ber 
‚aohle herab, und Lorenz mußte fich wundern, daß feiner von den Bauern zurüdfam. 
' Nun war er auf der Heinen Hochebene, hinter deren jenfeitigem Abjturz die Stadt lag. 
‚Inter einer Föhre, die abgetrennt vom großen Wald einfam an der Straße ftand, jah er einen 
"bwarzen Haufen von Menjchen, die im Ring um den hageren Baum ftanden. Die Männer 
| jatten ihre Hüte abgenommen, die Frauen traten eine nad} der anderen in den Kreis, büdten 
‚Ich zu Boden und wichen dann erichroden zurüd. Lorenz ging langjamer. Als ihn die Männer 


tlannten, traten fie auseinander, und er ja in der Offnung des Walles, jomeit der Schatten. 


er Föhre reichte, eine gebeugte Zrau fnien, die ihr Kopftuch tief in die Stirn gezogen hatte. 
öte fniete unbeweglich und fchien zu beten. E3 war feine Muhme. Bor ihren Knien, das 
| welbe Geficht im vollen Monde, lag ausgeftredt ihr Bruder, fein Vater. Lorenz trat zögernd 
‚täher. Auf der Stirn des Vaterz lief zum Auge hin eine jchon vertrodnete Blutrinne. Die 
Icme lagen wie abgefnictt neben der Xeiche, der halbgeöffnete Mund ließ die Zähne jehen, 
| ein Zweifel, ver Rothofbauer war tot. Der jähe Anblid des Vaters lähmte Lorenz; exit als 
‚rer Bürgermeifter zu ihm trat und ihm fagte, der Tote müfje an feinem Plate bleiben, bis 
‚ra Gericht tomme, bat er die Zeute, fie möchten nach Haufe gehen, er und die Muhme wollten 
‚ie Totenmwacht halten. Mit mißtrauifchen Bliden auf die unbemweglich unter dem Baume 
‚niende Muhme entfernte fich die Menge. E3 wurde Mitternacht. Da ftand die Frau plöß- 
ich auf, fah Lorenz fcharf ins Geficht und pradh: 

„Du glaubit wohl auch), id) hätte deinen Vater umgebracht?“ 

| ‚Rein, Muhme,” antwortete Lorenz ruhig, „aber ich habe mir die ganze Zeit Gedanten 
Jarüber gemacht, mas jegt in deinem Herzen vorgeht. 

' Die Muhme trat ein wenig aus dem Schatten der Föhre und fprach in die Luft: 

| „Sebetet habe ich, da Baterunfer, mein Kind. Aber es ift jchlimm; über die Worte „Gib 
mg heute unfer tägliches Brot“ fomme ich nicht hinüber. Gott helfe mir davon, aber ich bringe 
3 nicht aus dem Halfe heraus. E3 liegt wie ein Stein da drinnen.“ 

' Und fie Hopfte an ihre Bruft und fuhr fort: 

| „Umgebracht hab’ ich ihn nicht. Ob ich aber jeyuld bin an feinem Tod, das ijt eine andere 
Sache. Weikt du, Qorenz, mad man jo manchmal in der Nacht denft und wünjcht, das mird 
um Fluch), ohne daß man davon meih.” 

. Rorenz antmwortete leije: 

\ „Sch jehe fon, Muhme, du vergibft dem Toten nicht.“ 

Rein,” fagte die Alte ftark, „er ift tot und foll büßen. Aber die noch leben, an die will 
f ih mich halten.” | 
Geh alfo zur Mutter und fprich mit ihr!” 


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54 Derdeutfhe Erzähler 


„gut Mutter? Der zittern wohl die Beine unter dem Leib. Die läßt ji) von ihrem Snecht 
halten, daß fie nicht umfällt. Sft fie etwa hier, wohin jie gehört?” 

Da ftand Lorenz auf und faßte die Hand jeiner Muhme. Cie mar Talt wie die einer Toten. 
Er fpradh: „So mill ich dir von dem Meinen geben, bi3 du zufrieden bijt.” 

Da faltete die Muhme ihren Rod auzeinander und jprad) bitter: | 

„Mach’ mich wieder jung, mein Kind, wenn du fannjt. Aber du fiehjt ja felber, daß e8 zu 

ät ift.“ 

EN fie raufte die Blätter von einem Schlehdornzmweig und ftreute fie auf den Bart des 
Toten. Dann ging fie ganz in den Schatten der Föhre zu Häupten der Leiche zurüd und 
iprach mit unheimlichem Ernte: 

„So muß dir einen guten Rat geben, Lorenz. Die Nacht wird immer größer in meinem 
Kopfe, und mir kann nur eins helfen: Laß jenes Mädchen fahren, das du heiraten willit. Dann) 
haben die Toten und die LXebendigen Ruhe.” 

Und fie deutete gegen den fchwarzen Bajaltfeljen, der im Mond über dem Dorfe ftand und 
fuhr fort: | 

„Dort am Stein war einjt der Vater deiner Schwarzen und tat der Mutter deines Mädchens 
Unrecht. Sch jah feine Art durd) die Tannen fchillern; fie fiel nicht auf das Haupt der Mutter, 
aber er hat fie doch langjam unter die Erde gebracht. Und man hat von feiner Buße gehört, 
folange er lebte. Aber fie muß kommen, ich will e& jo, hörft du, Lorenz, und folange ich 
atme, will ich, daß Necht und Rache gejchehe, jo wie dem, der da unter dem Baume liegt und 
fein Auge mehr hat. Sieh nur...“ 

Und fie büdte fi) zu dem Toten nieder und hielt die Hand über fein Geficht, daß fie Schat: 
ten warf: 

„Siehe, er rührt fich nicht, wenn ich ihm das Licht nehme, fo Klein ift er geworden.“ 

Dann trat fie wieder in den Baumjchatten zurüd und wartete auf Antwort. 

Lorenz erjchauerte. E3 ergriff ihn eiskalt, feine Muhme fei irr geworden. Er mwolite fliehen, 
aber jobald er die Augen erhob, um einen Weg zur Flucht zu erfpähen, trafen fie die fchwarze 
©ejtalt feiner Muhme, die wie ein Schatten ohne Falten und Glieder unter der Föhre ftand. 
Der Baum hörte auf zu jaufen, die Muhme fchien immer größer zu werdet. Da fank Lorenz 
endlich in die Knie zu Füßen feines Vaters und fing an zu beten, jo gut e8 feine Furcht er- 
laubte. Al3 die Muhme nach langer Zeit noch feine Antwort befommen hatte, z0g fie ihr 
Tuch tiefer in die Stirn, fiel unhörbar in die Knie und feßte ihr eintöniges Gebet fort, ohne) 
Lorenz noch eines Blides zu würdigen. | 

Das Gericht ftellte Raubmord feit. Der Nothofbauter war mit einer großen Geldfumme 
vom Biehfauf heimgelommen und in der Nähe des Gehölzes erfchlagen worden. Man nahm 
verjchiedene Landftreicher feft, auch bei der Schwefter des Toten hielt man Hausfuchung, 
eine Spur aber wurde nicht gefunden. Der Knecht, der mit der Rothofbäuerin ein Ver- 
hältni3 haben follte, wurde einen Monat lang im Gefängnis feftgehalten, mußte aber dann 
aud) wieder auf freien Fuß gejeßt werden. Er Faufte jich in der Nähe ein Heines Gut, umd 
als er jo Bauer geworden war, warb er um die Hand der verwitweten Rothofbäuerin. Zwei 
Jahre nach dem Tode des Bauern war die Hochzeit. 

tene hatte fi) in der ganzen Zeit von Lorenz ferngehalten und ihn immer abgemiefen,! 
two er ihr auch begegnete. Als e3 aber eines Tages im Dorfe hieß, fie wolle in der Stadt 
einen Dienft antreten, da ließ fi) Lorenz nicht mehr länger Hinhalten. Mit ungeftümer 
Leidenjchaft bejchwor er fie, feine Frau zu werden, und fie fagte weinend zu. Kaum abet 
hatte fie ihr Jatwort gegeben, da wich die Trauer von ihr. Sie hängte all ihre zurüdgehaltene 
Liebe an Lorenz, und e8 gab fein glüclichere3 Brautpaar in der Runde al3 die beiden. Der 
Pfarrer bot fie auf. 

Einige Tage vor der Hochzeit ging das Paar zu den wenigen Verwandten, um fie einzu: 
laden. &5 war jhon Abend geworden, als fie vor dem Haufe der Muhme ankamen. Sie 


P 














| Sojef Magnus Wehner: Das Hafenmaul 55 
Iten zuerit in ftummem Einverftändnis vorübergehen. Al Lorenz aber fah, mie ih in 
‚en ärmlichen Fenfterfcheiben das Abendrot jpiegelte, da entjchloß er fich anders. CS gab 
) men furzen Kampf. Lene ging endlich allein ihres Weges weiter; denn lie fürchtete fich 
‚ Kerart bor der Muhme, daß fie ihr auch auf der Straße ausgemwichen märe. 
| Al Lorenz die tannene Tür öffnete, faß die Muhme in der Hinterften Ede der Stube in 

‚nem gejchnißten Stuhl und hieß ihn von dort aus willfommen. Er lud lie verlegen zur 
i wchzeit, aber die alte Frau jchiwieg. Da wandte er ihr den Kopf zu und fah, daß jte ihre 
‚ichen Augen regungslos auf ihn geheftet hielt. Endlich fprad) fie fanft, aber beftimmt: 
| „arum bijt du die ganzen Jahre her nicht ein einziges Mal zu mir gefommen? ch hätte 
it manches jagen Tönnen. Aber du glaubft, du fannft mit deinen Büchern an Glüc und 
| nglüd vorbeifommen.“ 

1} Sie jtand auf, und alß fie jich bi8 and Gebälf der Dede aufrichtete, fchauderte e3 nr bot 
‚ mem Gejchlecht. Sie trat in den vorderen Teil der Stube, der im roten Abendrauche lag, 
| nd fuhr fort: 

„Es wäre bejjer gemwejen, Lorenz, du hätteft Geduld gelernt und hätteft die vom Waffer 
\1 Stieden gelafjen. shr eßt jegt einen toten Apfel, aber inwendig fitt der Tod und wartet, 

Bi: ihm einer fein Gefängnis aufbeißt.“ 
| Da jprach Lorenz zornig: 
| \ „3% habe dich zur Hochzeit Iaden wollen, Muhme, aber du gibft mir einen böfen Spruch 
' ‚ut heim. Wenn es aber fo fommt, wie du meinft, dann foll e8 mich nur treffen, ich fürchte 

uch nicht." 
| Da zog ji) die Muhme zufammen. Ihr Rüden Frümmte fich, ihr Geficht faltete fich unter 
m Kopftud, fie war wieder die böfe Alte vom Wegbufch. 

\ „Du fürchteft dich nicht,” fagte fie, „weil du blind bift. Aber die Augen werden dir nod) auf- 
| hen, und du mwirjt auch mich öfter jehen müffen, als dir lieb ift. Geh nun fort, fort!“ 

| Und jie jchlich zu ihrem Stuhl zurüd und erlofch in der Finfternis. Die Abendglode Scholl 
1er die Gajje. ALS fie ausgeflungen hatte, ging Lorenz. 

| Acht Tage Darauf wurde die Hochzeit gehalten. Die Leute wunderten fich, al die Muhme 
| ht erichien, und jprachen allgemein davon, daß fie Lorenz noch) einen Streich fpielen werde. 
ber man fah fie in der näcdhlten Beit felten. Kur Nachts verließ fie ihr Gehöft und ftreifte 
| rum. Die Leute hielten Lorenz und Lene für das glüdlichite Paar, wenn er aud) ein Hafen- 
‚aul habe und fie ungebührlich arm fei. Man fah die beiden felten auf der Straße und jo 

it jich vorerft Feine Gelegenheit zu einem Zufammenftoß mit der Muhme. 


| | 
| yo einer zweijährigen Ehe wurde Lene fchmanger. Shre Stunde lag im Mai. Das 
| 





ganze Dorf freute jich mit Yorenz. Dft jaßen die zwei in der milden Februartagen am 
enjter und jchauten nach dem Bajaltberge hinüber, bis die Sonne hinter dem fchwarzen 
In: zerihmolzen war. Oft auch) gingen fie im großen Schulgarten fpazieren und frod- 
| dien, al3 die Heden grün und gelb wurden. 
An einem milden Abend anfangs März ging Lene allein im Garten; Lorenz war in die Stadt 
| einer Gitung gegangen. Sie betrachtete da3 Sonnenbild, biß e3 Hinter dem fchmarzen 
‚fein de3 Bajaltberges verglühte, und fonnte fich aud) dann nocd) nicht von dem lieblich- 
‚wermütigen Unblid Iosteigen, als e8 rundum fchon violett dämmerte. Plößlich rafchelte 
mas im Garten. Sie glaubte das Kniftern eines leide gehört zu haben. Und fie Hatte 
'» noch nicht völlig umgemwandt, da griff fie in jähem Schreden nad) ihrem Herzen und be- 
dte darauf mit beiden Händen ihren Schoß. 
an der gegenliberliegenden Ede des Gartens unter den dürren Äften de3 grauen Sollunber- 
mes hodte die Muhme und Iugte unter dem fehwarzen Kopftuch feitlich zu ihr her. Sie 
‚idte unbemeglich wie ein auernder Raubvogel, nur ihre Hände rollten unruhig unter der 
hlrge. Lene war fo tödlich erfchroden, daß fie fein Wort herborbringen fonnte. Die Muhme 
tach heifer und fchnell: 


| 
| 
| 
Mm 










































56 Derdeutfhe Erzähler 
— 

„Ein fchöner fchwarzer, Kalter Abend, Lenchen, mas? Gar nicht recht zum Fiindertrage 
Komm’ jeß dich zu deiner Falten, fehwarzen Muhme auf den Boden. Sie fann dir pielleic 
dom Kindchen helfen. Eine Bank braucht’3 da nicht. Mad) rafch !” rief fie plöglich uı 
ichnellte auf. 

Da ftieß Lene einen gellenden Schrei auß, der in bie benachbarten Höfe fchallte, und fi 
ohnmächtig auf die Erde. Die Nachbarn trugen jie ind Haus. Die Muhme war wie ein Rau 
im Hollunder verfchwunden. Die Männer mußten Lene verjprechen, Lorenz nichtö von de 
Vorfall zu erzählen. 

Aber am nächften Mittag befam fie fo heftige Schmerzen im Schoße, Daß fie Lorenz bitte 
mußte, den Arzt zu holen. Lorenz eilte erfchroden in die Stadt und fam gegen Abend zurfi 
Der Arzt Ionnte erft in einigen Stunden fommen. Zene lag in ihrem Bett, ihre jchön: 
Zöpfe rollten über die Dede auf den Teppich. Lorenz hielt ihre Hand und fchaute jie u 
verivandt an. Sein Geficht zudte hilflos, und fein Mund glich verzweifelt einem Hajenmaı 
Plöglich fiel Lenes Haupt über feine Hände, und fie jprach) mit gebrochenem Schluchzei 

„Ah Lorenz, warum muß ich nur immer denfen, toir find nicht mehr lange zujammen‘ 

Lorenz ftrich ihr über den Kopf. Die dumpfe Traurigkeit, die feine Bruft bebrängte, fi 
ihn fein Wort finden. Lene richtete fich wieder auf, trodnete ihre Tränen und jagte bar 
ruhiger: 

„Ich mweiß jet, wovon meine Traurigkeit fommt: von den böfen, böjen Träumen.” 

Und als Lorenz fie heftig bat, ihm doc) die Träume zu erzählen, begann jie: 

„Weißt du, mir träumte, ich läge auf der Waldheide unter einem Ginfterbufch. Auf einm 
fam ein Huhn, fo groß wie ein Pfau, durd) dag Gras und legte ein Ei vor meine Füße. Ku 
darauf ftand, wie aus dem Boden gewacjen, eine alte Frau mit blutrotem, runzligen Gefic 
neben mir, hob das Ei auf und befahl mir, ich folle e8 ejfen. Sie jchlug auch gleich mit eine 
Steine dem Ei die Spihe ein, aber da roch e3 fo faul, daß ich mich efelte und fortfah. Trogde 
mußte ich e3 effen. Das war der erite Traum. 

Gleich darauf fah ich, ohne zu erwachen, einen dürren Baum mit breiten Aften vor m 
ftehen. In dem Baum ftieg ein Fuchs hin und her, und wenn ein Vogel in den Baum fl: 
und fang, dann fchlug er ihn mit der Take und ftedte ihn in einen Gad, der ihm am Hal 
hing. &8 famen aber viele Vögel, und der Sad wurde bald voll. Plöglich jtand aucd) die al 
Frau mit dem blutroten, runzligen Geficht wieder da. Gie jchlug den dürren Baum entzint 
machte ein großes Feuer daraus und hängte einen Keffel voll Wafjer darüber. Als das Wall 
im Keffel zijchte und kochte, rief fie dem Fuchs, und der holte alle Vögel aus dem Sad und gt 
fie dem alten Weibe in die Hand. Die Hand wurde immer größer und die Finger imm 
länger. Eie hatte endlich alle Vögel in der Hand und tauchte jie jo lange in das fochende Wajle 
bi3 ihnen die Füße verbrüht waren. Das war der zweite Traum. 

Zum dritten Male, als ich fchon bald wach war, träumte mir, ich ftünde in einem große: 
langen Gang. Darin waren recht und lintS viele Nifchen eingemwölbt. Und aus allen Rich: 
famen jchwarzgefleidete Leute heraus und machten einen Zug den ganzen Gang hinunte 
Einige von ihnen trugen Fadeln, denn e3 war Nacht, andere Fahnen, vorne jah ich ein: 
Garg, der oben einen Menfchenfopf hatte. Die Mufif fpielte eine Zeitlang jehr hell. WU 
einmal verjtummte fie. Und nun fah ich am Ende des Ganges in der Finjternig eine go} 
Orgel. Die fing an tief und traurig zu fpielen, der Garg fiel langfam in die Orgel hinn 
und alle wurde jchiwarz rundum, nur die Orgel brannte lichterloh. Das war mein legt 
Traum.” 

Lene erblaßte und jchaute voll fühen Dunfels ihren Gatten an. Beide rührten fich nic‘ 
und ed war Lorenz zum erjten Male, als fchaue er in die Tiefe der Welt. 

Der Arzt, der kurz darauf erfchien, unterfuchte Zene jehr genau. Er fragte fie ftreng, ı 
fie etwas Schweres gehoben habe oder ob ihrem LXeibe fonft Schaden gejchehen fei. Ab 
Lene verriet nicht, daß fie vor der Muhme zu Tod erfchroden war, fondern nidte geduldi 





Sojef Magnus Wehner: Daz Hafenmaul 57 





‚8 ber Arzt befahl, fie müfje heute noch in die Klinif der Stadt gebracht werden, denn das 
‚mbehen molle vor der Beit ing Leben. Sa, fie bat Lorenz fofort, al3 der Arzt gegangen war, 
n Suhrmerk zu bejorgen, und erjt als jie allein twar, brach fie in leifes Schluchzen aus. Sie 
| ‚eichelte alle Gegenjtände, die in Reichweite waren und nahm von ihnen ftummen Abfchied. 

' Der Wagen Inarrte im Hof. Der Wirt half Lene auf den Wagenfiß tragen. Dort nahm 
e Lorenz auf die Knie und jchlang die Arme um ihren Halß. 


‚Sie fuhren am Hauje der Muhme vorbei. Die Alte fchien hinter dem Fenfter zu lauern, 
as menigitens glaubte ihr fahles Geficht hinter den Scheiben zu jehen. Lene bog fich in 
'efem Augenblid völlig in feinen Arm hinein. Eine böje Ahnung durchfchauerte ihn, aber er 
"ib ihre nicht nach, fondern rief dem Wirte zu, er möge jchneller fahren. Und als fie auf die 
'oße Landitraße Famen und fahen die Sterne in den Apfelbäumen ftehen, da wurden fie 
nz ruhig. 

Sn der Klinik aber, als fie fich nad) der Aufnahme plöglich am Anfang eines langen weißen 
ange3 jahen, der in Zene3 Saal führen follte, wandte fich LZene zu Lorenz, der Abjchied 
hmen jollte, und fpradh: „Das ift der große, lange Gang...” 

Am anderen Morgen war er fon in aller Frühe da. Er hörte, Lene habe noch nicht ent- 
‚imden; die Wehen hätten ausgejeßt, und man müffe fie mit Einfprigungen fünftlich erzeugen. 
Senn er wolle, fünne er dort auf der Glasveranda warten. Er ging auf die Veranda, die 
er dem Garten Ding, und mwartete bi3 gegen Mittag. Da hörte er plößlich einen Wagen 
ıf dem Gang vorüberrollen. Er riß die Tür auf und fah Lene auf den Kiffen eines Roll- 
tes liegen. Sie jchlief, und jchlafend wurde fie in den Gebärraum gefahren. Der Wagen 
ihwand inter der grauen Doppeltür, die feinen Laut durch ihre Politer Ließ. 


Von Beit zu Zeit fam oder ging eine Schwefter, aber alle fagten dasjelbe: die Wehen Tießen 
', das Giebenmonatkindlein liege verkehrt, und wenn e8 bis zum Abend nicht gefommen 
4 müfje e8 der Arzt mit Gewalt holen. 


Die Sonne ging unter. Der Himmel verdunfelte fich. Lorenz betete. Gott erfchien ihm, 
n Mann mit großen Flügeln, der über dem Kranfenhaufe fchwebte. Aber Lorenz jah mit 
‚ntjeßen, daß er die Flügel eines Drachen trug. Er fuchte das Bild von feinen Augen fortzu- 
‚ipen, er kämpfte und betete. Da endlich ftieg der erfte Stern über der Dftede des Gartens 
‚npor und Lorenz jubelte ihm zu, als fei jebt alles gut. 
Die Hilfsichweiter winkte ihm num freundlich, er möge herausfommen, der Arzt wolle mit 
‚mijprechen. Der Arzt, ein großer ruhiger Mann, eröffnete ihm, es fei notwendig geworden, 
33 Kind gewaltfam zu entbinden. Er nidte nur. 
Da ging die Tür zum Gebärraum auf, und Lorenz verftummte plößlich. 
Erfah Lene auf ihrem Bette liegen, gelb und regung3los. Lichtblige, aus Glas und n- 
'tumenten von den großen Bogenlampen geriffen, tanzten grell und lautlos um den Marter- 
|G. Die Schweitern mifchten mit Tüchern Blut vom Boden. Die Oberjchweiter zählte 
27 Kreißenden ven Puls. Dann fchloß fich die Tür hinter dem Arzt, der fich noch einmal 
9r Lorenz verbeugte. Und während er im Gang wie ein Träumender wartete, während 
aus Gemäuer und Garten da3 Wilpern und Wehklagen zahllofer Stimmen zu hören glaubte, 
la drinnen Hinter den feitverfchloffenen Polftern die graufige Sitanei. 

! Dag Kindchen lag verfehrt, der Arzt gab jich große Mühe. 
Er narkotifierte die Gebärende und drüdte mit den Schweftern den fehmwangeren Leib. 
Da ftredte das Kindchen ein Händchen aus dem Schoße, ein magere3, gelbliches Händchen. 
Und meil eg ungemwiß war, ob es lebendig zur Welt fommen werde, nahm die Schweiter 
‚ne Schale mit Weihmwajjer und taufte das Kind auf das Händchen. 


Und meil fie nicht wußte, ob e3 ein Snabe oder ein Mädchen fei, fprach fie: „Sch taufe 
id, Sojeph oder Maria, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geijtes. 
‚ilitärische Schulung der Jugend im Ausland (Südd. Monatshefte, 23, Jahrg., Heft 7) 5 








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58 Derdeutjhe Erzähler 


Und endlich [choß e3 heraus aus dem zudenden Schoge. &3 jchien tot, und der Arzt erklär 
08 für tot. 3 wurde in ein Tuch gemwidelt und auf die Yenjterbanf gelegt. Yene abert 
im tiefften Schlafe ... . 

Das alles fagte man Lorenz. Er ging tapfer aus dem Haufe, Lene lebte! 

Am nächiten Morgen erfuhr er, Lene jei tot, das Sind lebe. 

&3 habe auf einmal gejchrien, und man habe ihm jchon Nahrung gegeben. Ob er e3 jeh: 
wolle? Und fchon ging ihm die Schmweiter voraus in einen von Kindern wimmelnden Gat 
nahm aus der Reihe der Bettchen ein Bündel und legte e5 Lorenz auf den Arm. Ein unendli 
fleineg, verrungelte3 Gejichtchen fchaute ihm entgegen. Er machte ihm zitternd ein Fr ü 
das Stirnhen und fuhr mit ihm und der toten Lene in jein Dorf zurüd. 


Die Leute wunderten fich über ihn, ald Zene begraben wurde. Er ftand jteif am Grab 
und als ihm die Xeute Beileid wünjchten, ließen fie feine Hand jchnell wieder fallen, deni j 
war falt wie Ei3. Die Muhme-fah man nicht auf dem Begräbnis. hr Geficht war in die] 
Zeit hart wie Stein, und die Leute im Dorf raunten, fie bereite ich jebt auf den legten Kamı 
mit Lorenz vor. 

Lorenz gab dem Kindchen eine Frau aus dem Dorfe. Er erfannte den Taufnamen, s 
ınan ihm in der Alinif gegeben hatte, nicht an, fondern nannte e3 nach feiner verftorbeng 
Frau Zene. &3 feimte wunderbar auf und gebieh troß feiner jieben Donate. Fa, im Kint 
überftand e3 fogar einige Krankheiten. Das ganze Dorf liebte das Heine Wejen, meil e& | 
tapfer zu leben trachtete, und manche Frauen, die auch Kinder hatten, ftanden oft nur desha 
am Abend unten am Zaun, um e3 jchreien zu hören. Wenn Lorenz bei ihm jaß, blidte ı 
flat, jpielte ihm mit den Händchen entgegen und lallte ihm feine Klagen und Freuden do 
So fam der Borfrühling des nächften Jahres, und Korenz fand wieder Nächte voll Schlaf ur 
ichweren Tsrieden?. 

Eines Abends im April, al3 die Pflegerin jchon gegangen mar, jtand plößlich die Muhr 
in der Stube an der Tür. Lorenz war erjchroden, al3 er jie jah, denn er hatte fie nicht fomme 
hören. Auch die Heine Lene, die in ihrem Körbchen jchlief, wurde unruhig. 


„Sch wollte nur,” fagte die Alte Ieife, „nach dem Heinen Lenchen fehen, ob e8 dir au 
gedeiht und wem e3 wohl ähnlich wird.“ | 
„Seb dich nur“, antwortete Lorenz. | 
Die Muhme jete jich umftändlich auf einen Stuhl, verftedte die Hände in ihrer Schr; 
und jah im Zimmer herum. Dann fchüttelte fie den Kopf und |prach flüfternd: 

‚sch moill dir etwas jagen, mein Bub. Hier fommt durch alle Türen der Wind Hereii 
da3 ijt nicht gefund für die Heinen Kinder. Ya, und was für ein Wind | 

Sie jtand auf und jchüttelte ihre Röde, und wirklich fuhr jegt ein Talter Windftoß durd 
Zimmer und bewegte die Vorhänge und das Tifchtudh. 

„aß deine Scherze, Muhme,” jprach jet Lorenz erregt. „Die Kleine hat den Wintt 
überjtanden, und ich werde fie wohl aud) in den Sommer hineinbringen.“ 

Die Muhme dudte fich wieder auf den Stuhl und fagte noch leifer: 

„Die Zähne, lieber Lorenz, die Zähne find jchlimm. Wenn fie durch die Zähne hindurd 
lommt und erjt ihr Brot beißen kann, dann fannft du wohl lachen. Aber ich glaube nich 
daß fie ji da dDurchwindet.” 

„Barum nicht?” 

Die Alte [chwieg. Jhre Hände arbeiteten unter der Schlirze. Dann fah fie plöglich Zorer 
an. shre Augen waren rot von Weinen und Alter. Sie fagte: 


„Weil jie feinen Schuß hat. Und darum bin ich gelommen und will dich bitten, daß du di 
Kleine zu mir herübertuft. Bei mir ift’S wärmer, und ich will fie Tag und Nacht matter 
Auf die fremden Leute ijt fein VBerlaß, weißt Du. Und ich hätte gerne etwas Kleines um mid 
weil mic) die Großen alle verlaffen Haben. ch will mich dann auch zufrieden geben.“ 






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\ Sofef Magnus Wehner: Das Hafenmaul 59 


EEE ESEL BEMESSEN REED EST ET EEE EEE ET LESE EEE ER EEE EEE TEN RE ET EEE WERL EA DEE LEOELN TALENT TEEN 








' Sie verjuchte zu jeufzen. Aber ihr Seufzer Hang wie Üchzen. Lorenz fah erft die Meine an, 
| mn fanf er in Nachdenken. 

„Du kannft ja dann immer zu mir herüberfommen“, fuhr die Muhme fort. Sie ihien zu 
| eln, aber ihr Lächeln dünfte Lorenz fchredlich in dem faltigen und verfchatteten Gefichte. 
EB Stand deshalb auf und fagte fiber ven Tifch hinüber; 

‚Rimm e3 mir nicht Frumm, Muhme, aber ich kann dir das Kind mit dem beften Willen 
h it geben. Sch muß e3 immer bei mir im Haufe haben, jonft könnte ich nicht Ieben.“ 
„Mir geht e3 auch jo”, fagte die Muhme bitter. 

„aan muß e3 wohl auch jo bleiben,“ erwiderte Lorenz. E3 fiel ihm jäh ein, was ihm die 
| te Muhme jchon an Unglüd vorausgefagt hatte, und er fchrieb ihr alles zur Schuld an, was 
m bisher gejchehen war. Deshalb dachte er auch nicht daran, was doch das einfachite ge= 
'efen wäre, die Muhme in fein Haus zu nehmen. 

| Die Alte verlor plöglich die Herrfchaft über ihr Haupt. E3 fiel ihr hinunter zwifchen die 
nie. Sie jchhluchzte und Ficherte in ihre Schürze: 

903 ijt das tägliche Brot, mein Bübchen! Heulen und allein fein, das ift mein tägliches 
tot, und das efj’ ich hinunter Tag und Nacht; und wenn’3 zu Gift und Galle wird, fan ich 
"a3 dafür? Sch wil’3 doch nicht, wahrhaftig nicht, und möchte mich lieber freuen als finiter 
‘in. Aber das hat er mir einmal abgeftritten, das tägliche Brot, dein Vater. Und du gönnit 
ii ir aud) feine Liebe. Aber der Steden, mit dem du fchlägft, läuft von felbft auf dich zurüd.” 

' Sie ftand auf, und ehe Lorenz noch recht gefehen hatte, war fie durch die Tür verfchwunden. 
| ur ein böjer Gerucd) lagerte noch im Zimmer. Lorenz lüftete daher das Tenfter, fchloß e3 
ser ihnell wieder, denn er fah die Muhme im Garten. Sie ftand im Holunder und blieg 
| it geblähten Baden gegen fein Haus. Al er aber in den Garten lief, um fie zu vertreiben, 

‚ar fie nicht mehr zu fehen. 

Sn der drittfolgenden Nacht gegen die zweite Morgenftunde, als ein hohler Sturm um 
18 Haus ging, wachte Lorenz auf. Lene fnurrte in ihrem Bettchen, und diefen Ton hatte er 
‚mdem Kinde noch nicht gehört. Am Morgen aber niefte fie und befam ichwer Atem. Der 
| rbeigeholte Arzt erklärte, das Kinurren fei ein Huften, man müffe das Kind vor Zug fchonen. 

‚orenz entließ die Wärterin und machte felbjt bei dem Körbchen. 

ı Am zweiten Tage befam Lene fleine Erftidungsanfälle; der Arzt ftellte doppeljeitige Qungen- 
‚tzlindung jejt und ermahnte Lorenz, er folle den Mut ja nicht finfen laffen, im Gegenteil, 
‚:jolle verfuchen, mit der Sleinen zu lachen und zu fcherzen. 

Am nädjten Tage ftrahlte die Eonne. Lene war fieberfrei und lag ah mit offenen 
In in ihrem Bettchen. Ya, fie lachte und zwitfcherte zumeilen mit ihrem Vater, Als 
| ’Dämmerte, wurde fie ftill, und Lorenz fchaute zum erften Male die unergründliche Schönheit 

‚ver Augen. In der Nacht, er wußte nicht, welche Zeit e8 war, fror ihn plößlich. Er fprang 
Ri und eilte ans Senjter. Da fanfen Wolfen an den Scheiben nieder, wirbelnde Wolfen 

‚m Schnee. Schnee ftrich um die fchwarzen Bäume und erfticte die Knojpen. 
| Lorenz wandte fich um. Sebt erft dachte er an Lene. Sie atmete furz und fehnell und 

‚.eß fich immer wieder mit Kleinen Schreien aus der Zuftnot hoch. Ein Schatten Eroch über 
| Gejihtchen. Sie jchlug mit den Händchen und fah den Vater manchmal fo an, als er- 
| arte fie von ihm Troit, al3 wifje fie, daß es jet zu Ende gehe, wenn er nicht helfe. 
| Da Ichludte er, da ihm die Bruft weh tat. Mit beiden Händen hielt er fich am Korbe und 

‚ugte jich über das verlöjchende Gefichtdhen. Dann, obwohl ihm der Schmerz die Zunge 
riteinerte, verfuchte er zu lachen und jeßt — v e3 ging noch — 309 er das Hafenmaul, mit 
m er al3 Junge die Kinder zum Lachen gebracht hatte. Und Lene fchlug die Augen auf. 
‚re fttahlte, Tränen liefen ihm liber3 Geficht. Da hörte er plöglich das Zenfter fnaden. Er 
| yaute faum hoch. Der Fenfterflügel ging langfam auf, er fah ein großes, fchneebededtes 
' opftuc draußen im Garten und darunter das lauernde Geficht feiner Muhme. Sie ftand 
| ‚nbeweglic) ftill, al3 das Zenfter ganz offen mar. = 








































60 Derdeutfhe Erzähler 
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(mern Een nmEEnEmense ES SBEETEESREEERERErORSTErererersreme 

Plöglich erkannte er tie Gefahr: die eisfalte Zugluft. Er ließ den Korb los. Da janfdieW 
wie ein Schatten zufammen und mar im Schnee verjchwunden. Er jchloß das Fenjter. Zittern 
ging er zur einen zurüd. Gie lag wehrlos da und röchelte, nun fonnte er nicht mehr lade 

Gegen Morgen ftarb die Heine Lene. 

Lorenz faß den ganzen Tag am Fenfter, jtarrte in den Schnee und feine Augen juchten i 
Stelle, in welche die Muhme in der vergangenen Nacht verjchwunden war. Am [pät 
Nachmittag erjt näherte er fich der Kleinen Toten. hr Gejiht war ganz gelb, die Aug 
halb geöffnet, die Heinen Lippen helltot. Zhr Mund jchien in ängjtlicher Zufriedenheit 
lächeln, als fei jeßt alle Not vorbei. 

Die Sonne verging im tauenden Schnee. C3 wurde grau in der Stube. Da jtand amt 
Tür plöglich die Muhme und fchaute Lorenz an. Er wollte auffpringen, aber die Hleine Rfı 
ftand dazmwijchen. Die Muhme [pradh: 

„&3 ift nur wegen dem Kind... Jch bin gelommen, um e3 zu holen.” | 

Lorenz ftarrte fie an. Er verftand nicht, was fie jagte. Da fam fie mit jchlurfenden Schritt! 
näher und fprach: „Du haft e8 mir nicht geben wollen, als e3 noch lebte, jegt jollit Du 
‚mir aber nicht mehr verjteden.‘ 

Und fie ftredte ihre hageren Arme aus und wollte das Sind aus dem Korbe nehmen! 

Aber Lorenz fam ihr zuvor. Er riß das Körperchen an fich und jprang davon. Da ließ I 
Alte ihre Arme finken. | 

Lorenz jeßte in den Hof und von da auf die Gafje. E3 war nod) hell, aber zufällig wat 
alle Leute im Stall oder in den Häufern. Er lief atemlos die Dorfgafje hinunter, bis er? 
legte Haus hinter fich hatte. Plöglich lag, bis in den grauen Himmel verjchneit, Der ungehet 
Berg vor ihm, eine unfahbare Kugel, über deren Rändern jchon die Nacht flimmerte, jchivi 
und unbeweglich. Keuchend eilte er hinauf. Der Raum jchymolz zwar, je höher er jtieg, 01 
einander, aber nur um unter den grauen Wolfenwänden eine Unzahl einförmiger jcym 
bededter Hügel zu enthüllen, auf denen nur die regelmäßigen Geländer neben den vermeht 
Pfaden fichtbar waren. Jm DOften ftand fchon die Nacht, ein Tor von [hwarzem Bajalt. 2 
er vor dem Walde angefommen mar, fah er fich um und erblidte die Muhme, die eben das Dı 
verließ und fchwanfend feine Spur verfolgte. Da brach) er in den Wald. Die Totenftil 
die das dichte und fast fchneelofe Haus erfüllte, war ihm noch unheimlicher ald das Schmweig 
der traurigen Schneehügel draußen. Nun jah er den Bafaltturm vor jich über dem Wr 
ftehen. Er fletterte die Furzen Säulen, die wie Stufen lagen, hinauf, jeßte fi) nieder] 
legte das Kind, ohne e3 arfzufchauen, über feine Stnie. | 

Da flog nach einer Weile in der Niederung des Waldes ein Rabe auf und Freijte um Die Tan 
die er foeben verlaffen hatte. Zugleich fing da unten ein Menjch an zu heulen. E3 war 
Muhme. Lorenz rührte fich nicht. Al3 die Stimme fchwieg, jtand er auf wie zu einer Hei 
lichen Reife und ging vorfichtig gegen da8 Dorf zurüd... Am anderen Tage fanden ihn i 
Bauern auf dem Friedhof unter dem Steinbild des Gefreuzigten, wie er ihm fein Finde 
gegenhob. Er war die ganze Nacht auf und ab gegangen und hatte feinen Schaden vom Ft 
genommen. Nad) dem Begräbnis verjchwand er fpurlog. Die Bauernburjchen aber trieb 
die Muhme aus dem Dorfe in den Berg, denn fie glaubten, die Alte bringe Unglüd, mo’; 
haufe. Im Frühling fand man zuweilen auf den Gräbern von Lene und ihrem Finde Shlüll 
blumen und zu DOftern fogar ein Heine VBogelneft mit gejprenfelten Ciern. 

Da trug man eines Tage3 eine Greifin zu Grabe. Die Träger ergriffen gerade, als L 
Priefter die Weihegebete gejprochen hatte, die Seile und wollten den Sarg in die Grube lajle 
Da erjcholl plöglich aus dem Dicicht der Tanne, die hinter dem Grabe mit vielen andereit D 
Drt umjäumte, ein leijes, vemütiges Lachen, die Hite bogen fich außeinander unddas verwilde 
Geficht ihres früheren Lehrers fchaute einen Augenblict aus der Höhe auf die erjchrodk 
Gemeinde. Dann jchlojjen fich die Afte wieder, und die Zeremonie fand ungeftört ihr Ei’ 





' | Sofef Magnus Wehner: Das Halermaul 61 








"Nach dem Begräbnis aber taten fich die Bauern zufammen, um Lorenz zu fangen und in 
‚> Srrenanftalt einzuliefern. Man hatte ihn in dem Berge gejehen, der dem Bajaltberg 
‚genüberlag und der auf feinem Gipfel eine Sapelle de3 Heiligen Michael trug. Die Bauern 
‚deten eine Kette und rüdten gejchlojien den Berg hinauf. MS fie vor der Kapelle an- 
men, jahen jie die Tür offen jtehen. Auf dem Altare brannten die Kerzen, und auf den 
tufen faß die Muhme, da3 Haupt in die Hände geftügt. Sie laufchte den Klängen der Heinen 
‚rgel auf der Bühne. Al das Spiel beendet war, erhob fie fich. Sie jtand einen Augen- 
id groß vor dem Altar und ging dann Lorenz entgegen, der die Stufen der Orgelbühne 
rablam. Die Bauern wichen zurüd, als die beiden aus der Kapelle traten. Sie gingen 
md in Hand auf den Friedhof hinunter und brachten auf den Gräbern die Nacht zu. Man 
itte beide das Vaterunfer mit lauter Stimme zu Ende beten. 


Die Muhme fehrte darauf unangefochten wieder in ihr Haus zurüd und ernährte Lorenz, 
ie fie e8 auch heimlich bei Nacht in ihrer Waldzeit getan hatte. Lorenz aber ging an einem 
‚onen Sommermorgen von ihr. Er wanderte bi3 an-die Mauern der Heinen Stadt, Die 
ne Wegftunde entfernt lag. Dort in der Mauer haufte in einem Berlies von Kalfiteinen der 
‚eife Geiger Kilian, der an Feiertagen über Land z0g und fromme Weifen vor den Häufern 
ielte. Al3 Lorenz ankam, hatte fich Kilian gerade zur Fahrt gerüftet. Er jchwenfte ven Geigen- 
E und fragte: „Nun, Lehrer, wollt Shr mit mir gehen?‘ 

„a“, jagte Lorenz. 

"Und fo zogen die beiden von Ort zu Ort. Später nahm auch Lorenz feine Geige aus dem 
aufe, alles übrige ließ er dort. Sie fpielten nun zu zweit vor den Häufern und auf den 
räbern, auch auf dem der Muhme, als fie geftorben war. Wenn ein Hafe in jener Gegend 
m Mund verzieht, dann jagen die Leute: „Seht nur, er betet: Gib uns heute unjer täg- 
he3 Brot.“ | 

Diefe Gefchichte erzählte mir mein Vater in dem Walde, der über dem Nothof liegt. ch) 
gte ihm, daß ich nicht verftehen Fönne, warum fich denn alles an Lorenz gerächt habe 
nd nicht an der Bäuerin, die bis zu ihrem Tode auf dem Hofe ihres Knechtes jap. 

„Weil die Muhme Lorenz am meiften liebte”, fagte mein Vater ernft. Dann ftiegen mir 
ı Gedanfen zu Tal. 


Mamynha 


Wiener Zeitroman von Eduard Paul Dangziy 


2, Fortfegung) 

Ylrampıya lächelte. Sie hatte au) Erminia und die Kinder gehört. Gleichfam der Boll- 
ftändigfeit wegen fagtefienoch, obgleich fie feine Bemühungen mit feinem Wejen nicht 

öllig im Einklang fand: „Auch meine Nufia ift um mic) ruhlos. Sie weicht oft nächtelang 

iht von meinem Bette. Dennoch dan?’ ich Ihnen, mein Namenlofer. Yhr Olaube tut jo gut, 

uch in feiner Wandelbarfeit. Auch wenn er mich verjtodt machen till gegen die Zeichen, 

aub gegen das vernehmliche Raufchen der verborgenen Quellen, von welchen mein Leben 

‚eipeift wird.” 

‚ Er verwies ihr allen Kleinmut mit einem hingebenden Lächeln. Er jagte: „Nicht Nufta 

Man Ihrem Bette wachen. Um fie brauen heimliche Fieber. Jhre jchwül brütende Angft 

drmt Bilder, die Sie erfchteden.“ 

- Auf Mamynhas Stirn war eine Furche gegraben. Geljam ftarr beharrte fie: ihr Mann 

‚ätte diefelben Bedenten, | | 

















Derdeutfhe Erzähler 





62 












Sehrbach errötete. „Wenn e3 diefelben fein können, Mamynha, ich empfinde fie ande 
Sie follen nicht mißverftehn. Auch wenn ich Sie bitte, Elifa zu fich zu nehmen. Nicht we 
e3 hr Kind ift, Mamynha, den ‚Engel‘ Elia.‘ 

Sie waren nicht mehr allein. Elifa hatt. die runden Arme fo feit um Mamynhas 9 
gelegt, al3 müßte die würgende Ohnmacht ihre Liebe bemweifen, Mamynha Fühte fie atemlol 
Mifter Woe ftand regungslos neben ihr. Nur feine großen, grauen Augen jahen mit feltfame 
Forfchen zu ihr auf. Bis fie aud) ihn an der Hand faßte. So ftanden fie lang. Erminia map 
Elifa aus den Armen der Mutter befreien. &8 lag eine eigenmillige Härte darin, wie jie di 
Arme Löfte und die Hinder zum Ejjen zwang. 

Fehrbach erzählte das buntefte Zeug, bis endlich ein Lächeln ums andere in den Kleine 
Gefichtern aufzudte. Heute würde er den ganzen Tag mit ihnen verbringen, verhieß er mi 
drängender Freude. Aber Erminia hielt fie no) an den Tifch gebannt, bis die Heinen Mäule 
ihre jchwere Arbeit getan hatten. 

Mamynha blieb auch im Garten bei ihnen. Alles war im Schein der belebenden Gomi 
erquict und gewandelt. Sehrbach erzählte Gejchichten. E83 machte nicht einmal Mühe, ihre 
Sinn für Mamynha und die Kinder gleich verlodend zu geftalten. Das Düjtre war an? 
gelöfcht. Gelbft al3 Mifter Woe ein tote3 Vöglein brachte, das aus engem Nejt gefallen jet 
mochte, war Fehrbac) vom allmächtigen Glanz des braufenden Lebens jo glüdlich und fisı 
geworden, daß die Schatten, welche mit diefem fcheinbar belanglofen Sindererlebnijje not 
einmal heraufbefchtworen, nicht ftandhalten fonnten. Mifter Woe wollte durchaus nic 
jterben. Zum erftenmal mochte in da3 Knabengehirn ein Strahl der Erkenntnis gelangt fei 
bon der Unbeftändigfeit alles Lebens. Auf fein gewöhnliches Snquirieren, ob auch er jterbi 
müßte, hatte Erminia verlegen gelächelt. Seiner Unnachgiebigfeit hatte fie endlich unwill 
entgegnet: ed müßten ja alle Menfchen fterben. Auch alle Tiere. Died war der Anftoß } 
feltijamem Aufruhr. Der Junge war wie von fiebernder Angft ergriffen. Mit beiden Hände 
an Mampynhas Schoß geflammert, forderte er mit wütendem Eigenmwillen: „Sch darf nic: 
fterben! ch will nicht fterben! Sch will Mamynda nie mehr anjehen, wenn ich aud) fterbe, 
muß.’ Mamynha war ratlos. Der rofige Schein auf ihrem Gefichte drohte Hinwegzufchwinder 

Da nahm Fehrbach den Zappelnden auf feine nie und ergriff die Heinen, geballten Händ: 
„Weißt du denn, Mifter Woe, woher du gefommen bit?” Die Frage ließ dad Weinen bei 
fidern. Die gebadeten Blice fahen forfchend zu Mamynha hinüber. Fehrbach fuhr for! 
‚3a, ja, von Mamynba bift du gefommen; weißt du noch, wie du bei ihr warft?” 

Die Augen wurden größer und größer. Khren leuchtend gefpannten Bogen vermochte: 
die Tränen nicht mehr zu erflimmen. | 

„Du weißt dich nicht zu erinnern, wie fchön e3 da bei Mamynha war? Man fpürte niet 
Schmerz oder Hunger. Man war vo Hein, wie dag tote Böglein, fo winzig. Man fchlief mı 
ganz tief und feft. Siehft du, jo wie du damala geichlafen haft in Mamyndha, fo fchläft me‘ 
twinber im Tode. So werden wir alle jchlafen, wenn wir gejtorben find. Nichts wiljen ve: 
uns und den andern, jo wie du von nicht3 gewußt haft bei Mamynha.“ 

Mifter Woe hatte die Hände um ihn gelegt. Sein Atem ging ruhig. Nur die großen Auge 
hatten die Schicfalsfrage an Fehrbachs Augen gerichtet: redeft du wahr? Da alle Ichweigjan 
und ernit blieben, fragte der Kleine: „Zt man dann wieder in der Mamynha 

Die herrliche Frau ergriff Fehrbachs Hand. Mit leifem, bebendem Drud auf diefe Han! 
lagte jie jeltfam verflärt: „Natürlich, Kind, Mamynba ftirbt ja zuerft.” Diefe Entgegnun: 
ließ ihn eine Handbewegung von jo anmutig fnabenhaiter Entjagung vollführen, als folk‘ 
fie irgendwie befagen: wenn Mamynha geftorben ift, ijt fo alles vorbei. 

Co war der Tag gerettet. Wie die große Mutter Natur zu geheimnisvollem Auzgleli 
Sonne und Dunfelheit jpendet und ihren Seelen und Geelchen mit weilem Wechjel be 
gegnet, jo hatte das Schidjal an diefem Tag nur Freude und Glück mehr zu fchenfen, gleichfan 
als Entjehädigung für den tränenreichen Morgen. In verivorrenein Spiel mit den Kinder 



















































































































Eduard Paul Danzzky: Mamyndha 63 





den ji Mamynhas und des Freundes Hände biöweilen zu Turzem Begegnen. &3 waren 
‘Hd Edvardos Hände... 


zes neun Uhr abends befanden fich Fehrbad) und Schober aufden Weg zu Thumaders 
Billa. Schober fragte mit grollender Gutmütigfeit: „Na, was haben Gie denn wieder 
‚jerichtet ?" Tehrbach erzählte mit jeltiam werbender Wärme von den Kindern. Wie er 
her niemals auf ihre wunderbaren Dffenbarungen bedacht gewefen, wie ihre Außerungen 
"adezu aufgezeichnet werden müßten. Er gab die Szene mit Mifter Woe in eigener Färbung 
n beiten. Wie er den Knaben gemwiffermaßen mit dem Sterben befreundet habe. Schober 
te feine rechte Hand auf des jungen Mannes Schulter und jagte mit wohlmwollender Sronie: 
ringen Gie dieje notwendige Nefignation auch dem alten Knaben bei, zu dem wir jeßt 
en.“ Tehrbadh lachte. Er falje es nicht gerade als feinen Beruf auf. Auch jei ihm der 
'unde und franfe Lebenötrieb durchaus verftändlich. Se tiefer man die Schönheit Diefer 
enartigen Welt durchdringe, defto fchwieriger jei wohl der Abjchied. Schober jchüttelte 
ı Kopf. Sie waren längft von der Hauptitraße des Drtes abgebogen und ftrebten 
ade vem Hügel zu, auf dem Thumayeı3 Befit fich erhob. Während ihnen das ftattliche 
enhaus entgegenleuchtete, das an beiden Seiten und wohl auch im Hintergrund bon 
jen Zhprejjen düfter umftanden war, wurde Schober3 Stimme wieder freundlich ver- 
mbar. Sie würden vielleicht auf dem NRüdweg, fallz fie gleich lang außhielten, über den 
idhied vom Leben fi) irgendwie einigen fünnen. | 

Sr drüdte den Knops der eleftrifchen Klingel. Ein Diener in Leibjägeruniform führte fie 
die gewaltige Diele, welche dem Anfcheine nach der geplanten Luftbarfeit dienftbar gemacht 
t. Der Raum war bereit zwanglos belebt und eine fchwirrende Unterhaltung im Gange, 
Ihe mit der gemütvoll verklärten Banalität des Schrammelquartett3 ein einiges Ganzes 
‚ab. Sehrbach fand in dem rauchdurchqualmten Raum einige auffallend fchöne Mädchen- 
'ihter. Bon befannten Phyfiognomien bot fi) nur Hofrat Krenelli und das Ehepaar 
Hier dar. Bevor er indes vom rafchen Überblide ganz unterrichtet war, nahm ihn eine junge, 
mode Verfon mit graugrünen Augen in Empfang, welche nach Art der zu Einfluß gelangten 
enftboten die Hausfrau vertrat. Sie bewegte fich in einer weißen Nonnentracht, einer 
antaftifchen Nachahmung der weiblichen Prämonftratenfer, mit einer fo urwüchfigen, Tind- 
en Weltlichkeit, daß das Koftümhafte ihres Charakter von den Angelommenen leicht 
tchichaut werden fonnte. Schober tätfchelte väterlich ihre beiden Wangen, die fie geradezu 
tbot. Sehrbach fah, daß ihr gejundes Geficht mit Sommerfproffen dicht überjät mar, 
ne daß e8 dem natürlichen Reiz ihrer Erfcheinung abträglich gewejen märe. 

Sie bahnte ihnen einen Weg zu dem Lager des Faiferlichen Rates, welches auf einer jehr 
siten Ottomane improbifiert war. Sein gelblicher, faft haarlofer Kopf in den hohen, weißen 
fen brücte mit erwartungsooller Lebendigkeit die Bereitwilligkeit aus, fie befonders mill- 
mmen zu heißen. Bon feinem übrigen Körper war augenblidtich nur die Iinfe Hand be» 
glich, welche fich ihnen mit fuchtelndem Eifer entgegenwarf. An einem Finger gligerte 
‚einem Platinreifen ein Solitär von erjtaunlicher Größe. 

Sie traten neben den vierteiligen Wandfchirm, deifen zwei Mittelftiide mit englifchen Gobelins 
übiert waren. „Laffen Sie fich nicht genieren, Schober“, mar die erfte Aufforderung. 
Ind auch Sie, mein Heiner Affifi, tun Sie fi) nad) Belieben hier um. Denfen Sie, mas Gie 
Men, nur gefälfigft nicht laut.” Das von hundert Falten Kinierte Geficht lachte mit einer 
achfam gelähmten Grimaffe, deren Wehmütigkeit Sehrbach manches zu denken gab. Er 
ftellte Grüße von der Mama der Frau Generaldirektor, überhaupt von den Damen. Thus 
aher verfuchte wieder zu lachen: „Die Familie der Mimofen. Na, fchade, daß fie nicht 
er jind — die jungfräulichen Seelen!” | 
Sehrbach nahm irgendwo Pla, da Schober wie unbeteiligt die riefige Halle durchichritt. 
thatte die Fähigkeit, ganze Gruppen von Menfchen wahrzunehmen, ohne daß e8 zum ©ruße 
m. ©o blißjchnell war fein Blid wieder anderöwo. 





























































54 Derdeutfhe Erzähler 


HET TEE NT TEN TEE TEE TITTEN EEE EEE EEE ERREICHEN 





Tehrbac ließ fich von der eigenartigen Umgebung allmählich gefangen nehmen. Hier oe 
betonter Reichtum. Üppige Gediegenheit. Dennoch Gejchmadsplagiate. Dem Eingan 
zunächft ragte in einer Ede, die dadurch ein Übergewicht befam, ein riefiger Ofen mit weiße 
Kacheln bekleidet, wie ein behaglicher Turm, dem eine Amphora aus GSteingut mit niede 
hängenden Girlanden aufgefegt war. Die getäfelten Wände waren bis an die Dede m 
Sagdtrophäen bededt: Krifeln, Gemeihen, Tierföpfen, jfelettiert und ausgejtopft, Auer- un 
Birkhähnen und einigen ausgejpannten Fächern aus den blaubeperlten Federn der Hähe 
Bon der Mitte de3 mit Holzjchnigerei verzierten Gemölbes hing ein mafjiver Zufter aus weil 
gebleichten Geweihjchaufeln der Damhirfche. Etwa in Kopfhöhe waren die Trophäen din 
eine herumgehende Neihe echter, jehr anjehnlicher Riedinger unterbrochen, alle in gleiche 
Rahmen aus gebeiztem Wacholder. Das Mobiliar war Chippendale, die wenigen Tifchchei 
welche au anderen Räumen entlehnt waren, trugen Heine Teppiche oder engliiche Gemet 
mit figürlihem Einschlag al3 Überzüge. 

Koch ehe Fehrbad den Überall zugänglichen Reichtum erfchöpft. Hatte, ftand Schmefte 
Henriette, die Diafonijfin, auf einmal vor ihm und bot Frankfurter Würfte an. Er griff zi 
gejpannt auf irgendein Heined Gejpräc mit dem weiblichen Haushofmeifter, von dem ı 
Auffchlüffe erhoffte. Sie lachte mit blendendweißen Yähnen: „Ein frugales Abenpeffei 
nicht wahr?” Er fragte, ob die Herrfchaften denn untereinander befannt wären? Sie hatt 
die riejige Topfichüffel niedergeftellt. „Die Mitwirkenden jchon“, antwortete fie beziehung: 
voll. „Aber Sie brauchen fich nicht zu ängftigen, Herr von Fehrbadh.” Shre Handbemwegin 
ließ ich gleich draftifch nur überfegen: bei ung fommt e3 auf folche Außerlichkeiten nicht ei 
Auch er mußte lachen, weil fie ängftigen fagte. Er machte alfo immer wieder den Eindru 
einer irgendwie wahrnehmbaren Jugendlichkeit. Wie alt, glaubte fie denn, daß er wäre 
Sie legte ihr Geficht in nachdenfliche Falten und fagte: „Genau dreißig.” Dann lachte | 
mit der Drolligfeit eine Bauernmädchens: „Aber ich weiß e3 natürlich von den Mädcheı 
die Dienftboten erzählen alles.” Sie überfprudelte plöglich von einer wichtigtuenden Be 
traulichkeit. „Seien Gie ja nicht zu eingebildet! Man hätfchelt Sie bei Kammz nur deshrl 
fo gegen alles Herfommen, weil Sie dem Bruder der Frau Generaldirektor jo ähnlich fei 
jollen wie ein Zwilling dem andern.” Sie war wieder fort. Von ihrem harmlofen Gefchwö 
fühlte er fich faft beunruhigt, befonders von dem Andeutungdvollen. Da war man alfo berei 
eine Angelegenheit Payerbachs, eine Hintertreppenfigur und der Held des Kolportagı 
tomang, den die Dienjtboten träumten. 

Endlicd) am Schober zu ihm mit zwei großen Potlalen, herrlichen Überfanggläfern ni 
tiefblumigem Wein. „Sie müffen entfprechend mittun, Heiner Fehrbach, im nüchterne 
Zuftand werden Sie mir verfagen.” Fehrbad) hatte fich rafch erhoben, um dem alten Hert 
den Zojtbaren Wein abzunehmen. Er hatte recht artig gedankt. Er hielte fchon aus, folan 
eö jeinem hohen Gönner gefiele. Dabei verbeugte er fich ungemein jungenhaft, fo daß Schobt 
ihn jehr familiär unterfaßte und Arm in Arm mit ihm ftehenblieb. Sie liberfahen das Ganyı 
als jtünden fie im erften Theaterparfett und mufterten die zurüdliegenden Reihen. Die Muf 
war auf einer vorhandenen, ftiloollen Eftrade untergebracht. E3 mochte, da e8 von dei 
hohen nach außen gebauchten Fenfter wie ein verftümmelter Exfer dalag, ala Arbeitsplätche 
einer erträumten Hausfrau gedacht fein. Schober winfte dem alten Gitarrefpieler zu, einei 
fehr anfprechenden Vorftadttyp. Fehrbach erflärte er: „Der legte erhaltene Partner de 
Brüder Schrammel.“ Während fie Hinfahen, empfingen fie die alten Wiener Weifen nid 
mehr al3 VBruchftüde. Der Iebenskräftige Ahythmus eines Ländlerd von Lanner jchwan 
ie ein paar jhöne Augenblide herum, pulfte in ihren Gliedern, in ihrem Herzen. Fehrber 
bat: „Wollen Sie mid) dem Hofrat Krenelli vorftellen”” 8 30g ihn eigentümlich zu dei 
fatalen Dreiblatt, welches in dem heiteren Mofait der Gefellfchaft die düftere Note abgal 
obgleich die drei tranfen, rauchten, lachten, wie alle andern. Spiter ftarrte gerade mi 
Hadernden Bliden zur Mufit. Schober fagte: „Wenn Sie durchaus wollen. Aber falls ©i 


h | Eduard Paul Danzziy: Mamynha 65 





‚amit nur eine Artigfeit verbinden, junger Mann, muß ich Sie aufflären, daß der bemwußte 
‚yerr vielleicht Damit rechnet, von Sshnen nicht beachtet zu werden.” Dennoch jchritt er im 
‚thythmus des Liedes zu den dreien, Dicht vor Fehrbadh. Der Herr Hofrat Hatte Schober 
nit Tonventionell ergebenem Lächeln empfangen, einem bewachten Lächeln, Das die fchlechten 
‚jähne nicht freigeben durfte. Fehrbadh8 Lorftellung wurde mit äußerjter Slüchtigfeit mahr- 
‚enommen. Sehrbach pürte während einer Sekunde zwei blutloje Finger in jeiner Hand. 
‚lud Frau Spiter mar abweijend, doch nicht ohne Neugier im Blid. Nur der Philharmoniker 
‚rich, nachdem jie einander begrüßt hatten, verlegen an Fehrbach8 Armen herab. Mit ver- 
‚prener Geite. Yehrbac) war abgefühlt. Dennoch fragte er mit jenem fichtbaren Aufwand 

n Höflichkeit, zu welchem die Jugend fich bisweilen aufrafft, wenn fie einer undanfbaren 
‚Iufgabe mit gebotener Ausdauer obliegen muß: wie fich der Kaiferliche Rat befände? Damit 

nan nicht unbewußt ihm länger, al3 notwendig wäre, zur LXaft fiele. 

- Krenelli war Über das Interview fehr verblüfft. Er antwortete mit der gleihen Höflich- 

eit, gleichham um das Abmweifende der Worte fanft auszugleichen: der Hausherr fühle jid) 
'n feiner Art ziemlich wohl, wie man übrigens jehen könne. Einen Augenblid mochte das 
‚Berantwortungsgefühl des Arztes, das fich irgendwie bezweifelt fah, in ihm regjam geworden 

ein. Er fegte um einen Ton zugänglicher hinzu: „Man muß einem jo eigentilligen Naturell, 

‚wenn e3 nicht feine Biegjamfeit einbüßen foll, mit größter Nachficht begegnen. Fühlt ein 

older Kranker feine körperliche Vitalität in Frage geftellt, dann tritt eben ein gejteigerteg 

Bedürfnis nach der noch möglichen, geiftigen Aktion zutage. E3 bejchwingt fidh die Phantajie, 

der man muß ihr Direft Dazu verhelfen. Schöngeiftige Lektüre eriftiert für den alten Herrn 

richt. Man fteht alfo einjeitigen Möglichkeiten gegenüber. Bergefjen Sie dies nicht, wenn Gie 

yen Damen zu Haufe Bericht erftatten.“ Er tat einen langen Zug aus jeinem Pokal, aus 

yem gerade zuvor Frau Spiber getrunken hatte, Hatte das Gefühl, eine regelrechte Kon- 
"ultation Hinter fich gebracht zu haben und ließ den Ürger darüber, daß fie ohne Entgelt erfolgt 

war, noch in unfreunclichen Worten mitklingen: „Vergefjen Sie bitte nicht !". | 

Schober, der fortwährend nervös auf einem Beine gewippt hatte, übernahm den Dank. 
Er fagte: „So ähnlich hat fi auch unfer Laienverftand unterrichtet, wir danken, Herr Hofrat! 
Übrigens erinnern ©ie fich no) foweit, Durch wer Schmweiter Henriette in Thumayers Haus 
gefommen ift? Ah — auf Zhre Empfehlung? Ja, ja, e3 jtimmt jchon, e3 ftimmt außer 
ordentlich.” Seine Blide taten unbefümmert beluftigt. Wehrbach befam nocd) das genuß- 
teihe Schauspiel: den unficher getworbenen Hofrat fich gegen Schober devot berbeugen 
zu fehen. Mit jener kritifchen Chrerbietung, welche gleichjam nach Der Bahlfähigfeit des 
Mienten mufifalifch geftimmt ift. Auc, Schober empfand e3. Während er Fehrbad) an den 
verlaffenen Tifch nachzog, jagte er mit einem Lächeln, das voll leidender Güte war: „Dies 
‚Kapbudeln muß Sie nun entjehädigen. Aber ich bin vielleicht im Unrecht, wenn ich gegen 
'diefe cheinheilige Baderzunft fo verftimmt bin. Sicher ift daran jchuld, daß in diejem Beruf 
die reichften Möglichkeiten zu aufrechtem Menfhentum liegen. Daß jede Unzulänglichkeit, 
‚die Moral oder da3 Metier betreffend, von ungeheuerlichfter Wirkung fein muß. Und zu 
wilfen, daß die Mehrzahl nicht3 al gejchäftstüchtige Scharlatane find, bejonders in unjerem 
"Tagen, das verbittert einen fo fehr, daß man vergikt, wie viel Großes, Unjchägbares die 
"Suten unter ihnen geleiftet haben. Lafjen Sie fic) natürlich nicht durch ein Erlebnis bejtimmter 
Art einfeitig machen wie ich. Vielleicht ginge e3 bei Zhnen aud) nie fo tief. Sie find jehr 
"beweglich. Glüdlicherweife!” Er trank und rauhte. In feinem fernen Blid war der Wider- 
ichein von etwa3 Unheilbarem. 

Fehrbad) war an diefem Abend, welcher für ihn nur der Abicluß eines ungewöhnlich 
"begebungsvollen Tages war, viel weniger bewacht. Er ftric) plöglich fanft über die fein- 
gliedtige Hand, die in troftlofer Unabänderlichkeit auf die Tifchfläche Hopfte. Schober lächelte 
wieder. „Sie find ein guter Kerl!“ fagte er. „Sie hören deshalb eine Heine Gefchichte, Die 
bisher nur vier Menfchen fennen. Die Beteiligten! Ihnen wird fie mand)ed Harmachen. 








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66 Derdeutjihe Erzähler 


Khnen fozufagen Lichter auffteden! Plaufchen Gie’3 aber nicht ohne Nötigung herum. Alfo: 
ich kannte eine fleine Baronin. Nicht gerade die große Leidenfchaft, nicht die fogenannte: 
‚Die oder feine!’ Aber immerhin eine charmante Dame, deren Dafein ich mit wachjendem 
Wohlmollen wahrnehmen mußte. Eine Dame, der ich immer öfter begegnete, wobei ic 
allein der verantwortliche Negijfeur der Zufälligkeit dDiefer Begegnungen war. Eine Dame, 
deren abjichtslofe Zutraulichfeit auch meinen abgefeimten Gfeptizismu3 und Egoismus 
langfam entwaffnete. &5 war eine jehr charmante Eleine Baronin. Nur ein wenig zu viel 
betriebjam für meinen ejchmad. Wenn eine Frau geiftig jo regjam tut, ftimmt gewöhnlich 
förperlich etwas nicht ganz. E3 jtellten jich auch jehr bald die Anzeichen ein: Schwäche, Appetit- 
Iofigfeit und Nikotinfucht. Mir hat die Heine Frau riefig leid getan. Die Freude über ihre 
erfolgreiche Wirffamfeit hatte fie nach diefer Richtung vollitändig blind gemacht. Sie lief 
jozujfagen Gefahr, die immerhin nicht wertlofen Refte ihrer Körperanmut ganz zu vergeuden, 
Da wollte ich blutiger Dilettant in der Menfchen- und Weltfenntnis, ftatt die arme Haut 
durch eine Heirat vom led zu Furieren, wozu ich langjam doch Mut befommen, zuerft für 
ihr vernadhläfligtes Wohlbefinden Sorge tragen. Gie werden vielleicht fchon erraten? Ya, 
ich drang in fie, zu einem befannten Heilfünftler zu gehen. Damald war gerade der Humbug 
Iyftematifcher ‚KKörperertüchtigung‘ aufgelommen. Na, wer denft denn daran, daß etias, 
wofür man ein Heidengeld zahlt, für die Beteiligten fo fchief ausgehen fönnte? Kurzum, die 
DBaronin war einverftanden. Sie wurde Furios gründlich unterfucht, was nicht-ohne Pein- 
lichfeiten ablief, wozu fie fich aber al3 vernünftiger Menfch mit einem beftimmten Ziel vor 
den Augen jchlieglich herbeigelajjen. Sie werden lachen, daß ich noch jede Einzelheit weiß, 
obwohl ich gar nicht dabei war. Obwohl ich’3 nur aus ihrer Erzählung fenne. Uber fürzen 
wir etwas ab. 3 war al3 erjte Notwendigfeit feitgeftellt worden, daß zunächft, um der drohen- 
den Degeneration der Brüfte methodisch abzuhelfen, Maffage und gemwiffe Beugungen, 
Dehnungen, Drehungen zu üben wären. Natürlich müßte dabei auf die Haltung des ganzen 
Körpers und vor allem der Beine entjprechend Bedacht genommen werden. Der feine Herr hatte 
aljo die in diejer Hinficht etwas naive Perjon folang im Evafoftüm unter dem mannigfachften 
Hofuspofus vor fich üben lafjfen, wobei feine Nachhilfe und allernächfte Nähe faft unvermeid- 
lich war, bis ihr nad) und nach Fünftlich erwärmtes Blut gegen die gleichfalls fehr methodifchen 
Heizungen zur Wolluft, die bei den Mafjagen mitunterliefen, vollftändig wehrlos war. Bei 
überreizten Damen ijt übrigens diefes gewiegte Verfahren überflüffig, ver Mann wollte aber 
ganz jiher gehen. Gie dürfen nicht aus dem Auge lafjen, da die Heine Baronin eine fehr 
bermögende Dame mar. ch hätte von dem Ganzen nie eine Ahnung befommen, jedenfalls 
nicht dor meiner Werbung — wenn mir nicht zufällig in einer Gejellfchaft der famoje Doktor 
Eijenbart jelbjt die Augen geöffnet hätte, einzig durch die unfagbar mwiderliche Art, wie et 
diefer Dame beim Eintreten die Hand gefüßt hatte. Mit jenem diskreten, feierlichen Über 
diehandbeugen. Wenn gemwilfe Männer feierlich werden, bleibt einem nur die Narkoje 
übrig. Der vornehme Engel hätte fich ohne ein beide bedrlidendes Einverftändnig niemals 
bon einem bezahlten Urzte jo die Hand füjjen laffen. Das empfand ich wie eine Offenbarung, 
Da ic) ein Freund des geraden Weges bin, fragte ich meinen erflärten Liebling, ob meine 
Vermutung nicht einiges auf fich hätte? Sie geftand mit der Offenheit der naiv Verführten 
und war nur Darüber verftört, daß ich mein Entfegen hinter der Frage verbarg, ob fie denn 
niemals dem Dann ins Geficht gefehn hätte? Dies war nämlic) das Unverftänplichfte: diefer 
Spezialift hatte jeit jeher ein grauenhaft häßliches, ein troftlos widerliches Geficht. Stellen 
Gie jic) ftatt der Augenbrauen zivei beinahe nadte, riefige Wülfte vor, die ein volles Öffnen 
ver Augen geradezu unmöglich machten. Er mußte nach Art der Kurzfichtigen die Augen 
immer halb zufammengefniffen halten. Man fagt, daß folche wulftartige Wölbungen über 
den Brauen neben niedriger Stirne den Verbrechertyp offenbaren, ich weiß e3 nicht, ich bin 
dem Himmel nur danfbar, daß der Mann diefe Wülfte hat, daß man feinem Blie nicht be 
gegnen muß. Denn jchlagen Sie meine Widerftandsfähigkeit nicht gering an, ich treffe den 










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[ Eduard Paul Dansziy: Mamynda 


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67 


Menichen nod) immer in Gejellichaft. Er verichangt fich jogar hinter einer gefälligen Schön- 
‚geiiterei, hinter künjtlerifhen Pafjionen, er drängt fich in alle irgendwie wertvollen Kon- 
‚yentifel. Aus diejen taufend Beziehungen flicht er fich ein undurchdringliches Neb, das feine 
Srbäemlichteit irgendwie jchübt, verbirgt. Denn fönnen Gie fih ein unfeinereg Gewerbe a 
yenten, ald das jenes Mannes, der fozujagen da3 Gebrechen, für dejfen Befeitigung und 0 
‚Heilung er bezahlt wird, zu feiner Befriedigung ausnugt? Mein Schügling it freilich vor ie 
hm glüclic behütet. Die Heine Baronin hat einen Baron gefunden, der die Geelenftärfe Ku 
‚at, für taufend Vorzüge den einen Nachteil in Kauf zu nehmen, denn er ijt vor der Heirat 
‚iber die bewußte ärztliche Behandlung einwandfrei aufgeklärt morden. ch habe mich leider 
‚m jolder antifen Größe nicht aufraffen Fünnen und mußte mic |päter auch noch dazu ber- 
‚tehen, meine Erfahrung ald Angelegenheit der beiden Eheleute allein zu betrachten. Das 
‚Jeißt, ich durfte den feigen Piraten, der fich ein Weib nicht anders zu erobern getraut al? a 
‚ur ärztlichen Kunftgriff, nicht einmal unjchädlich machen oder jein einbringliches Metier ji u 
‚jefährden.” ehrbach war tief erjchüttert. Er jagte: er begriffe num vieles. Aber Schober a 
hüttelte mit dem grauen, noch vollbehaarten Kopfe. „Nichts verftehn Gie, Heiner Fehrbadh ! I 
‚3 habe in den diverfen Kurorten noch ganz andere Dinge erlebt, aber ich will Zhr Find- u. 
‚iches Gemüt nicht allzu fehwer belaften. Trinken wir auf das Wohl der Heinen Baronin, 
‚je war die Schlechtefte nicht.” Gie fließen an. Yehrbadh jagte: „Der Hausherr fcheint Außer- 
‚jewöhnliches im Vorhalt zu haben, denn die jungen Schönheiten find plöglich verihtwunden, 
‚md man trifft verheigungsvolle Anftalten.” 
‚Die Mufifer hatten ihr Podium verlaffen und daneben an einem Trihe Plag genommeit. 
"Rach feierlichem Tufch fchwebte von irgendwo eine entzüdende Giebzehnjährige vor und beganıt 
‚men Spikentanz. E83 war eine anmutige Preisgabe wunderbar geformter und unirdifch 

‚selebter Glieder. Ein Capriccio von Nymphenbeinen. Die graziöje Bewegung und Ent» 

‚altung der Arme, de3 Körperz, der Füße war dem SKranfenlager de3 Hausherren zugemendet, 

‚3er mit zmwinfernden Augen dankte. An feiner Geite ftand Schweiter Henriette. Geine an 
‚bewegliche Hand war irgendwo in den weißen Gemwändern verfangen. Sn den Augen der uaen 
‚Schweiter flammte ein grüner, feuchter Schein zu dem rofigen Wunder auf der Ejtrade hinüber, wi 
Sn kurzen Paufen folgte Tanz auf Tanz. Bon fünf Balleteufen. Beitweije mechjelten 
‚ieim Solo- und Dreitanz. E3 war ein erlefened Schaufpiel. Fehrbach3 Augen waren gleich 
‚zebannt. Die feltfam Zultivierte Gebändigtheit diefer Kunft hielt Erotif und Lafzivität in 
‚mer fanften Verflärtheit. E3 war eine Apotheofe! Schober erflärte: „Es find Damen dom 
‚Dpernballet. Der alte Kauz läßt fich den Abend fchon etwas Toften.” Plöglich tönte auch 
203 Snallen von Champagnerpftopfen. Badwerf wurde gereicht. Brötchen mit erlejenen 
'Saumenteizen. Der Veuve Cliquot brachte erhöhte Stimmung. Das Schrammelquartett 
‚egann mit feurigen Weifen. Nationaltänze wurden vorgeführt in buntfarbigen, über- 
'adenen Trachten, die das Verlangen nach der Nadtheit des Trifot3 geheimnisvoll jchlirten. 
| Die Balleteufen, welche nicht gerade ihrer leichtfüßigen Kunft dienten, fchwebten in zierlihen 
‚Schritten oder Heinen Kreifeltänzen auf einem Fuß por den Kaiferlihen Nat, der für jede 
'3a8 pridelnde Kompliment de3 alten Kenners hatte. Danach waren fie jcherzend unter die 
"Bälte gemifcht, Fnabberten von rafchdargebotenem Badwerf und nippten aus den Fühlen Ic 
"Shampagnerfelchen. Auch an Schobers und Fehrbachs Tiichchen ftand auf einmal eine jchlanfe Nu 
'Bibelle mit glafigen Schwingen, da3 Trikot ein meitmafchiges Net aus zartejten Seide- El 
f üben. Sie neigte da3 mit grimfchillernden Fühlern masfierte Köpfchen und zmwitjcherte; 
13h tomme in bejonderer Sendung zu dem heiligen Franz von Afifi.” Schober bot ihr mit 
‚einer wiürdevolliten Grandezza einen Sit an. Sie jaß wie ein artiges Kind. Schober war 
| ehr befuftigt. Auf Sehrbach mweifend fagte er: fie wäre zwar am rechten Plage, denn der ''B 
‚Junge Mann an ihrer Seite ftelle mit einigem Gefchidl den bewußten Heiligen dar. Doc) jei ji: 
‚eine Enthaltfamfeit mehr erziwungener, alfo durchaus fraglicher Urt, e8 fehle ihm nur bie | 
| hürdige Bartnerin. Das heitere Gejchöpf, defien ungehemmte Einbildungsfraft fich ungemein 


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68 Derdeutfhe Erzähler 


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feicht und anmutig in dag zeitlos befchmwingte Wefen einfühlte, das fie verkörperte, jchuf einen 
Ihönen Sommertag über blauem Gemäfjer. Ein firrendes Seelen tanzte die Emigfeit von! 
wenig Minuten ihren Brauttanz. Fehrbach hatte das gefährliche Mouffieren desChampagners? 
im Blut. Seine junge, im Augenblid unbefchwerte Seele tanzte mit. Schober ftand in ftilfer 
Entzüctheit Pate. Zhn nahm die irgendwie doch entfinnlichte, lautere Freude völlig ge: 
fangen. E3 war nur ein Spiel von ganz lichten, filbernen Silben, ein Zlirren von Blidjunten, 
ein Raufch, der aus den Fingerfpigen vibrierte, fein rohes Taften, nicht die Tölpelhaftigfeit 
taumliger Geilheit. Dann war die Libelle entfchwunden. Nur ein Haud) ihrer ätherhaften] 
Berkörperung war in dem milden Parfum zurüdgelafjen, das gleichjam nur mehr an Dem] 
Slas verfangen war, aus dem fie getrunfen hatte. Cie ftand jchon verkleidet al3 Pußtajchöne 
in ungemein zierlichen, faltigen NRöhrenftiefeln aus rotem Saffianleder. Ein Cjardas ward} 
intoniert. Xhr Bliet war feltfam entfchelmt. Sie gab fic) den Anfchein von Melancholie. Der] 
junge, feurige Körper wies Dehnungen, fehweres Blut fiderte empor... Aus anderm 
Grunde ftieß Schober Fehrbad) an, der ganz Hingegeben war, der nur Augen für das werbende! 
Bild hatte. EI war irgendwie zu ihm hergefchenkt. Er fühlte e3 mit einer beflommenen! 
Empfängnisfreude. Aber von Schober ernüchtert, fah er Spiger, wie er plößlich dem Prime] 
geiger die Violine abnahm und den Efardas mit anderm Blut, mit Dunfler, lajtender Schwere! 
erfüllte. Er führte die Heurigenroutinierd wie ein Zigeunerprimas. Die Findliche Pußtar) 
Ihönheit improvifierte nach der ftimmungsvollen Wandlung feiner Klage und tanzte Die) 
Unermwedtheit des Mädchens, die fonvulfivifche Entflammung der Jungfrau! Er ging wie 
verloren von Tifch zu Tifeh, ald müßte er Unerklärliches, Unfagbares Unmillighorchenden] 
mit Bogen und Fiedel in Erinnerung bringen. Schmerzeswindungen, Borneswallen, daB 
Taften nad; einem Meffer, ohnmächtiges Hinjchleudern und neues, raubtierartiges Schleicher, 
Raferei — alles nur Sefundenträume der Bluthige. Und wieder Klagen, unmenjchliches, ent} 
manntes Schluchzen, tierhafter Trieb, an dem fandigen, heißen Boden Hinjchmwelend, gez 
zudt, gedudt, gähnend. Dann wieder Schellengeläute, ein Licht wie von blauen und weißen! 
Bergen, eine UÜrerinnerung. Fehrbad) hatte das Pußtamädel plößlich verloren. Sn jenem! 
Ihr war ein erftictter Schrei. Aus der Richtung, in welcher er den Hofrat wußte. Spißer 
hatte mit jchrillem Streich plöglich abgebrochen. Ein paar Takte vorher hatte er an dem Tije: 
feiner Frau gefpielt. Mit dem vulfanifchen Feuer feiner Beduinenaugen hatte er die Frau 
gleichfam zu bannen verfucht. Sie hatte trogdem den Arm, der leicht an Krenellis Schulter: 
geijchmiegt war, nicht weggezogen. Er hatte ihrem Blute noch aufgespielt. Das Blut fanntei 
nicht Mitleid. Sn der bligartigen Wut des mweinerhigten Gehirnes Hatte Spiter die Geige) 
in Krenellig Geficht gejchlagen. Niemand hatte den Vorgang in diefer ernüchterten Grellheil 
erichaut, nur Schober und Fehrbadh. Die andern hatte die Pußtafchöne mit dem Zauber 
der unjagbaren Gefügigkeit ihrer Körpergrazie umfponnen. Der Kleine Vorfall blieb ohne 
Solgen. Srenelli hatte da3 fahle Geficht mit den Fingern rajch übertaftet nad) einer Blut 
[pur. Die Furcht vor dem Skandal würgte in ihm alles andere nieder. Spier hatte fich nad 
dem Anfall in qualvollem Ekel niedergektümmt, wie ein den Schlag fürchtendes Tier. Daniı 
hatte er einen Augenblid entgeiftert die Geige angeftarrt. E83 war eine Saite gefprungent.) 
Er riß fie mechanifch ab. Uber der Tanz war geendigt. Das Pußtamädel hatte ven Miiyi 
Hang gejpürt: der Geigenton war das Srrlicht, dem fie über die Pußta gefolgt war in Die 
dumpfen, verjtectten Erdlöcher der Zigeuner, an Tod und Leben, an feltfamen Begierden) 
vorbei. Al3 der Ton abriß, hatte fie fich erlöfchend niedergeworfen. Alles war in zitterndern] 
Aufruhr. Man umbdrängte die Kleine, aber fie entfehtwand den Händen und Bliden. Schoberä 
Arm lag auf Fehrbach8 Schulter. In feinen Augen fedimmerte unerlöfte Vaterliebe. „Sehen! 
Sie, Ferry Tehrbad, hier ift in jedem Wunder der Mifklang. Sie müfjen Java erlebeit, 
Ferry !" Er jagte in unbewußter Formung des nur auf eines bedachten Ausdrudes: „Ferry“ 
Er fuhr fort: „Java, wo die Menfchen vom Licht entwaffnet find. Wenn Sie wollen, nehmen! 
wir die Eleine Libelle mit, obwohl ihrer dort zu Hunderten um die Geftade des Paradiejes] 








; Couard Paul Danzztyg: Mamynha 69 


Öwirren .E3 ift die Märcheninjel, die einzige, auf welcher der Pöbel nicht zu gedeihen vermag, 
"Jöchiten3 der importierte.” 
\ ie tranfen, troß des edlen Weines gedanfenbejchmwert. Java hatte Sehrbach jofort an 
‚Mamynha gemahnt. Mamynha! Konnte nicht auch fie diefelbe anmutig bejchwingte, zeitloje 
| Ribelle fein? Oh, mehr, viel mehr! Ein Ton ihrer Stimme fchmwang in ihm auf. „Jene: 
„Komm, o fomme bald“ aus dem Brahmzlied. Er fah fie als jeltfam gefejfeltes Lichtgefchöpf. 
"Die gefangene Nachtigall. Das ausblutende Herz. Seine Libelle mit abgerijjenen Flügeln. 
Wunderbar war er plöglic) vom Wein befeuert. Nun fand er den wahrhaften Mut zu ihr. 
Die lange ängftlich gehegte Täufchung jhtwand. Er mußte zu ihr, an ihrer ©eite, in ihrer 
Nähe ausharren. Mußte ihr Hilfe, Rettung bringen durch fein Wejen, feine Art. Db jie 
jeßt feine Gedanken fühlte? Wie er ihr nah war? Wie ihn die Libelle, der ungetrübte Haud) 
‚der Jugend zu ihr geführt hatte? Sure Jugend bedurfte der Entkerferung. Hr beider Wille 
genügte, ihr Vertrauen. Sein Gehirn hatte den gewohnten dithyrambijchen Schwung. 
ı Aber Schober rüttelte ihn feltfam auf. Als ob er dem beraufchten Rhythmus mit ftillerem, 
bedächtigerem Schritte gefolgt wäre, fagte er plößlich: „Da bringen fie daS der Heinen Elija 
md Mifter Woe mit” Er hatte aus einer Geitentafche zwei große Tafeln Mildhjchofolade 
‚gezaubert. Er drang fie Fehrbach mit wehmütigem Lächeln auf. „Es jind zwei eigenartige 
‚Seelen, Sie haben recht; wiewohl alle Kinder wahrscheinlich foldhe Wunder abgeben Tönnten, 
wenn man genug Zeit und Verwendung für ihre Außerung hätte. Natürlich) hängt aud) 
biel von den Eltern ab, aber ich glaube, e8 ift wie bei der empfindlichen Flora. Man fann jo 
ein Dürftiges, verfümmertes Pflänzchen aus feinem unergiebigen Erdreich ausgraben, freilich 
mit feinen Wurzeln, fanrı e3 in den richtigen Humus verfegen und ihm etwas Sonne zu- 
‚gänglih machen.“ | 
| Sehrbach nidte. Er hatte düftere Gedanken zu verjcheuchen. Was waren die Wurzeln? 
Er wurde beinahe hart. Er jpürte die Kinder als Fefjeln an den Boden, and Erdreich der 
‚haftenden, Hebenden Scholle, als Boten der eigenen Wandlung, Entäußerung, des Ber- 
zichtes, Boten de3 Todes! Dh, wie die neuen Knojpen den loder jigenden alten Blüten 
'Welfen und Abfterben bedeuteten! Wie die Fortfegung den Anfang erledigt, erfeßt macdjte! 
Schober mahnte zum Aufbrud. Er fagte: „Xhre Züge find häßlich geworden, Sie denten 
‘an Dinge, die Zhrem Wefen nicht gemäß find.“ Er erhob jidh. Auch Fehrbad) ftand auf. Etwas 
| Sremdes fiel von ihm ab. „Sie haben recht,“ jagte er betroffen, „ich mar in Gejtrüpp geraten”. 
Sie fchritten zu dem dicht umdrängten Lager des Hausherren, um für den genußreichen 
‚Abend zu danken. Thumayer mar jehr enttäufcht, daß fie Schon gehen wollten. Schober 
"jagte: „Sch fpreche nur für mich, gehen ©ie eigentlich mit ‚Ferry?‘ Tehrbad) erflärte, daß 
‚er von der Reichhaltigfeit des Dargebotenen geradezu erichöpft wäre. Man fei als frieblicher 
" Sandbemohner jolche außergewöhnliche Begebenheiten gar nicht gewöhnt. Aber man fei deshalb 
‚doppelt dankbar. Er verfprach, ji) dem alten Heren jehr bald für eine Pifettpartie zur VBer- 
‚ fügung zu Halten. 
ı Schmefter Henriette Fam ihnen entgegen. Gie jagte mit leifer Stimme: „Gehen Sie nur 
endlich, er muß wieder Ruhe befommen, Die andern merb’ ich fchon 103.” 
Schober und Fehrbac) entfernten fi) mit freundlichen Grüßen. Schober lachte plöglich: 
| „Es ift nicht Die unbefugtefte Totengräberin. Gleichwohl verfauft fie den Alten jozujagen 
| noch bei lebendigem Leib. Sie werden lachen über mein ernjtes Beteuent, daß die Reihen 
| jehr arme Teufel find.” Fehrbach brachte Schober nad) Haufe. Dann ftürmte er noch lange, 
"bis zum Morgengrauen die verlajjenen Xbege dahin... 

amynha hatte einige Befuche gemacht. Bei der Zamilie eines Feldmarjchalleutnants, 
bei Frau Naus und im Haufe eines Oberjten der Artillerie. Die Herrichaften hatten 
\ zubor in der Billa Elifa ihre Karten abgegeben; man hatte auch bereit3 einige freundliche 
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‚ Worte gemechjelt. Obgleich e3 über artige Komplimente, galante Redensarten und einige Tee- 
 Nachmittage nicht Hinausging, mußte fie diefe Gejellfchaftlichkeit ihres Mannes wegen au) 


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70 Derdeutfhe Erzähler 


in Payerbach pflegen. Man Hatte fie ausgefragt, warın der Generaldirektor einträfe. Sie 
hatte etwa3 befangen von feiner Überbürdetheit gefprochen. E3 war nun über zwei Wochen 
daß er unjichtbar blieb. Auch im Sekretariat des Tennisflubs war fie gewejen und hatte fin 
einige Tage abonniert. 

AS fie zurüdtem, fah fie ich fchon an der Gartentüre von der Mamain erwartet, mit jenem 
mütterlihen Lächeln, da3 vorbereitete und verbarg. Das Lächeln, mit welchem den Kindern 
bittere Medizin dargereicht wird. Mampynha faßte ihre Hand. „Was gibt e3, Mamain 
Die Mamain befchwichtigte: „Nichts, Mamynha! Dein Mann fommt mit dem Abendzug, 
Er hat telephoniert, daß er nicht mit dem Auto anfommt.” Mamynha war während einiger 
Sekunden entfärbt. Sie fagte: „Endlic!” Aber da3 Wort war entfeelt. 

Obgleid) alle vorbereitet war, traf fie noch einige Anordnungen, gefchäftig umfponnen! 
von den Dienftboten, welche ihrer Willfährigfeit einen befonderen Sinn gaben. Cs wen 
mit Geduld zum Ausdrud gebracht: für den Herrn! Auch die Kinder wurden gejucht und von 
den Mädchen umjtändlich bearbeitet, wobei Erminia und Karola das Hajtende, Erwartungs-) 
volle etiva3 dämpften. Aber auch fie waren heimlich erregt. Die Achtzigjährige wurde im: 
Vorbeigehen gemuftert, ob ihr fchwarzes Spigenfleid und der Wuft von befranften Tüchern! 
jauber und in gutem Stand war. Selbft beim Mittagstifch, welcher der herrlichen Sonne wegen! 
im Öartenhaus gededt war, jchwanden die Zeichen der allgemeinen Bebrüdtheit nicht ganz.! 
Nur die Kinder waren an der geheimnisvollen Spannung nicht mehr beteiligt. Sie aßen 
mit forglojer Heiterfeit und bedangen fich aus, daß Fehrbach zum Bahnhof mitgehen müßte, 
Mampnha jah mit feltfamer Erwartung in fein Geficht. Er fagte: „Sch habe eine Pifett-! 
partie verabredet, ich werde den Herrn Generaldirektor erft beim Souper begrüßen.” Ma: 
mpnha war erleichtert. Elifa fhmollte: „Du mußt mitgehen, Mann!” Sie verftand nicht)! 
dag Mamynda fie nicht unterftügte. Ir urzen Baufen verlangte jie immer wieder: ihr Mami 
müßte auch mit. Zehrbad) bemühte fich, auch den Stauengelichtern an der mildtätigen Sonne 
Anteil zu geben. Er erzählte von Thumayers Föftlicher Abendgejellichaft und wie fie ger 
endet. Er mußte defjen Lebenägier in fo heiterer, verjtändiger Art darzuftellen, dag Mamynda) 
bald ein Lächeln fand und mit allerlei Fragen in ihn drang nad) dem Verlauf des Abends, 
nach jeiner Teilnahme an dem Gebotenen. Er wurde nicht müde, die graziöfen Gejchöpfe: 
zu loben, ihre unnahahmlihe Kunft zu bewundern, zu betonen, wie e3 riefig bedauerlich‘ 
wäre, Daß die Damen nicht mitgefommen. &3 fei wirkliche Kunft dargeboten worden, Die 
immer dezent fei. Ex befchrieb mit Ihalfhafter Übertreibung, wie befonders eine Libelle 
von jo berüdender Natürlichkeit gewefen wäre, daf fie fein jeelifche3 Gleichgewicht ernftlich‘ 
bedroht hätte. Er mußte fie den Kindern genau bejchreiben. Ob fie noch hier wäre? erfundigte? 
ji) Mifter Woe. Dann fanden die Kinder in einem haotiihen Spielen mit Worten Die 
gauberformel: Mampnbalibelle. | 

Nac) dem fehiwarzen Kaffee blieb Mamynha mit einer Handarbeit im Garten. Sie ja 
auf einer Bank, Fehrbad) in einem Korbituhl vor ihr, während die Mamtain ganz nahe det 
Urne jaß. Sehrbad) war von der ftrahlenden Sonne jo ungeduldig nad) inniger Mitteilfamfeit, 
daß er ohne Vorbereitung begann: „Warum jind Sie jo bedrüdt, Mamynha?” Ein ver: 
wunderter, eigentümlich verwirrter Blie antwortete ihm. Er fuhr fort: „Sch weiß, daß oft! 
ein Gedanke genügt, eine bloße Ankündigung, um auf unfer Wefen düftre Schatten zu werfen; 
e8 bedarf nicht des Ereigniffes, nicht der Menfchen, die ung bedrüden. Aber liegt nicht alles 
an unjerem Willen zum Licht, zum Glüd? Wir haben noch jo viel Glüd vor ung, fommt mit 
en ee vor, daß ich auch den größten Erniedrigungen de3 Schidjal3 gewachlen zu 
ein glaube,“ 


(Fortfegung folgt.) 












































Der Dichter de3 Hafenmauls 


= 
| Der Dichter des „Hafenmaulg“ 


er Magnus Wehner ift am 14. November 1891 im Dorfe Bermbad) in ver Rhön geboren. | en 
DI Der Vater ift Lehrer, die Mutter Bauerntochter von einem Waldhof. Nach Voltzichule, IF 
‚ateinichule und Gymnafium bejuchte er tie Univerfität in Sena und in München. Aus dem hi 
| tiege Tehrte er mit einer [chweren VBerwundung zurüd. Er tauchte inniger in tie Vergangen- Se 
‚jeit der eigenen Seele und in die erjten heimatlichen Exlebniffe hinab. So [hlojjen jich alte u 1 
md junge Einvrüce zuerjt zu den Bildern einer arogen epifchen Dichtung zufammen. „Der #8 
‚Reiler Gottes‘ (1920) begleitet die Familie durch den ganzen Umfreis ihres Lebens. Sn den 1 
wei ©ejängen de3 „Vorhois‘ öffnet fich die heimatliche Landfchaft, dann führt der Weg durch M 

‚sie gotische Halle der Religion und mündet am Herzen ver Geliebten. Aber erft da3 bäuerliche 
Mutterhaus, dag im Mittelpunkt des anfchliegenven dreiteiligen Epos vom Leben und Tod 

| es Großvaters, des Bauern vom Waldhof fteht, beveutet endgültige Verföhnung und Heim- 

‚jefundenheit und der „glorreiche Berg“ überkrönt Natur und Ehriftentum in mythijcher Durch- 





. Su diefem Sinne fteht „Der blaue Berg“ (1922) über der Gefchichte des Jungen. Aus ver- Ih) 
‚jangener Generation droht der Schatten erblicher Belaftung auf feine Zukunft zu fallen. VE 
‚Fin Stüd Priefter und ein Stüc Bauer lebt in ihm. Davon find feine früheften Eindrüde IR } 
‚eltimmt, die ihm aus der Umgebung, dem Vaterhaus nahe dem Triedhof und aus dem | 
aften Umfrei3 von Epiel, Freundschaft und Liebe erwachjen, die fie) mancmal in Kicchhof3- 
‚jedanfen von einer fait an Gryphius erinnernden Schwermut verbohren und fich dann immer 
10 zu träumerifcher Vielfalt verflüchtigen. „Doch feiner ift anders im Traum, al er im 
‚Srund der ©eele ift“, fo rechtfertigt der Vater irgendwie den Sohn, der fich nie mit gang- | 
‚aren Erklärungen zufrieden geben will, der ohne Berftändnis für das Alltägliche immer an Bieı 
| a3 Unmahrfcheinliche zu glauben geneigt ift. E3 wimmelt in feiner VorftellungSwelt von Un- ; | 
‚jolden und Gelbitmördern, Teufeln und Schweden, Umgängern und Ahnfrauen. Aber e2 ift, Ri i | 
‚18 ob ihm aus folhem Umgang doch eine befondere Kraft herwüchfe. Ex übt überlegen be- 2 | : 

änftigenden Einfluß auf da3 Maßlofe in Menjh und Tier und erledigt jchrierige Gejchäfte '# | 
‚mit einem beachtensmwerten natürlichen Takt. Und ganz allmählich findet jich das Üppige und Be 
ıBerimorrene in exjte Fünftlerifche Formen, jo wie diefe Gejchichte jelbjt aus verjchiedeniten 
‚Anfägen eines geloderten Aufbaus in die Beruhigung einer organischen Form überleitet. | 
{ 


An diefem Punkt aber jchließt der Roman und an diefem Punkt auch verjelbitändigen jic) 
‚die Träume und Bifionen zu phantaftifchen Legenden und Novellen. Der Band „Die mäd) 
Hafte Stau” (1922) rundet Kindheitserinnerungen und überlommenes geijtige3 Out zu ©e- 
bilden, die formoollendet find, obwohl fie immer vielfagend jchließen, oder eigentlich überhaupt 
| nicht fchliegen. Sie find im weiten Bereich des Märchens anzufiedeln, aber jie liegen auch auf 
‚ber Linie einer Legendendichtung, die von Tied und Gottfried Keller Herfommt. Schon der „Öe- 
Kanye im „Weiler Gottes” brachte faum zufällig eine Erinnerung an da3 Tanzlegenddhen: | 
Maria, die am Himmelfahrtstag Urlaub nimmt, um zum Tanz zu gehen. xx den Umkreis en 
diejer Erzählungen gehört auch noch die „Tropfenlegende” (1923), die Gejdhichte bom Haupt» IB 
mann Longinus, der Chrifti Seite durchjticht und Durch herabfallende Hlutstropfen in einenan- Bd 
deren, fymbolifchen Sinne fehend wird als e8 die mittelalterlihe Legende gewollt hatte: Er H 
wird der treueite Streiter des Herrn. | \ 
Bis Hierherift uns das dichterifche Werk Wehners üiberblidbar.!) Ein Roman „Birge“, der für ul 
h Herbit 1923 angefüindigt war, ift biß Heute nicht erjchienen. Sn mehrfacher Hinficht Fortjegung I 
\de3 „Blauen Berge3” foll er die von mancher Zeindichaft, von Krieg und Unglüd bedroht: hi 








5m Delphinderlag Münden: Der Weiler Gottes; bei Albert Langen, Münden: Der Blaue Berg; IE 
ı Berlag Die Heimkehr Pafing: Die mächtigite Tran, Die Tropfenlegende; bei C.9. Bed, Münden, r 








72 Neueriheinungen 
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Siebe eines Studenten zu dem Bauernmädchen Birge zur glücklichen Vereinigung führen, 
technisch einen Schritt weiter ind Klar-Epijche, ins refleftionsloje Bild bedeuten, in dem Men- 
schen und Taten durch fich felber wirken. Der augenbliclich in Arbeit befindliche „QWulfant 
hat noch eine Abficht mehr: Den deutfchen Menjchen zu erziehen, jo wie e8 die großen Fran, 
zofen nach 1870 getan haben. Berjchiedene Dramen warten im Schreibtijch, das erjte Tommi 

titte März zur Uraufführung in Bonn. Ein Epos in Herametern „Mariä Höllenfahrt“ it Itäd, 
ieite aus Borlefungen befannt geworden. 

Das bisher legte, in der Sammlung „Stern und Unftern” (Bed, Münden) erfdjienene Werk 
eine hiftorifche Monographie über „Struenfee” zeigt die Darjtellungsgabe Wehners bon eineil 
neuen Seite. Nüchtern und fachlich, hält fie fich vom Romanhaften völlig frei, bezieht fich un) 
mittelbar auf die Quellen und hält dem Lefer den ungetrübten Spiegel einer Zeit vor, in da 
ein rascher Aufftieg den Ehrgeizigen Über die Flut von Lüge, Leidenfchaft, Herrfehfucht und 
Genuß emporhebt, bi3 mit faft baroder Gegenfäglichkeit ein ebenfo rajcher Sturz ihn vernichtet] 

Auch die Novelle „Das Hafenmaul“, die hier zum erftenmal veröffentlicht wird, zeigt den 
Dichter auf dem Weg zu neuen Bielen. Groß und düfter ift der Geift einer in beiten Über 
fteferungen ficd) bewegenden Dorfgejchichte verwirklicht, da3 Erbe Gottfried Kellers nach einen 
anderen Richtung hin weitergeführt. | 

München. Arthur Sübfcher | 


Teuerfheinungen 


einen beiden chinefiischen Bänden hat Eduard Fuchs, zufammen mit Baul Heilanb) 
= wiederum bei U. Zangen in Münden, Die deutijhe Fayencefultur folgen lafjen‘ 
175 ©. über die Fayencen, die Herjtellungsorte, Sammlungsmöglichkeiten heute und einjt 
mals ufmw., 8 farbige und 96 jchwarze Tafeln, 150 Abbildungen im Ganzen, Ganzleinen M. 38 
Fuchs Hat mit einem Spürfinn, der einzigartig it, wieder einmal ein Stieffind der Sammle 
ins [chönfte Licht gerüdt, und wiederum, tie bei der „Zang-Plaftif” und den „Dachreiterm‘ 
it fein einziges Mufeumsftüd darunter, fondern alle die prachtvollen wiedergegebenen Fayencer 
entitammen der Privatjammlung Heilands, die, zwiichen 4000 und 5000 Nummern um 
fajfend, die größte derartige Privatfjammlung in Deutjchland ift. Yaft alle alten deutfchen 
Tabrifen find vertreten, mit Yormen und Gegenftänden, von denen die wenigiten Sammle 
eine Ahnung Hatten, bejonders reich natürlich das 18. Jahrhundert. Von Georg Fudı 
ftammt die allgemeine fittengefchichtliche Einleitung mit ihren Ausbliden und Erfurfen in 
die verjchiedenften Lebensgebiete, von Heiland die Bejchreibung der einzelnen Tafeln. D: 
Band bedeutet einen Marfitein auf dem Gebiete, in bezug auf Tert, Auswahl, Befchreibung 
Wiedergabe und Ausftattung. 


Der Govethe-Kalender 1926 (Leipzig, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung) bietet di 
in den landläufigen Ausgaben fehlenden dramatischen Fragmente „Pandora“ und „Naufitao” 
legtere3 mit Erläuterungen über Plan, Anlaß und Beziehungen diefer Dichtung zu Gvethe: 
Leben. Bon den jonjtigen Beiträgen jei der an den Abdrud der Terzinen auf Schillers Schäde 
(1826) gefnüpfte Aufjaß de3 verdienftollen Herausgebers Karl Heinemann hervorgehoben! 
unter den Buchbejprechungen die über. die Urheberjchaft des hymnifchen Fragments „Di 
Natur“, da wohl in Goethes Werfe von ihm felbft aufgenommen ift, in den Korrekturen 
auch jeine Hand zeigt, tatjächlich aber allem Anfchein nach doch von dem Schweizer Tobler ill) 

Ein Mufter und Vorbild eines Gaufalenderz ift der „Mainbote von DOberfranften 1926‘ 
(Schulze, Lichtenfels, M. 1). E3 wäre zu wünfchen, daß jeder Stamm alljährlich ein gleidl 
trefflihe8 Heimatjahrbuch befäme, 

Nofenheim. Sojef Hofmiller. 
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Redaktionell abgeschlossen am 16. März 1926 


Verantwortlicher Herausgeber: Paul Nikolaus Cossmann in München. — Druck- und Buchbinderarbeitea 
. Oldenbourg, München. — Papier: Bohnenberger & Cie., Niefern bei Pforzheim 








Zur Deutung der sozialistischen Bewegung 


Von August Winnig in Potsdam 


ie Unterschiede zwischen der sozialistischen Bewegung der einzelnen Staaten 
D sind außerhalb des Sozialismus immer schärfer bemerkt und ernsthafter untersucht 
worden .als von den Sozialisten selber. Wohl haben auch die Sozialisten diese Unter- 
' schiede gesehen. Aber sie waren ihnen jederzeit unbequem, weil sie dem Schematis- 
. mus widerstrebten, zu welchem die materialistische Geschichtsauffassung notwendig 
| hatte führen müssen. Diese Unterschiede zeugten von der Einmaligkeit jedes Volks- 
"tums und seiner Lebenslinie und stellten damit die Voraussetzung in Frage, auf 
welcher der marxistische Internationalismus beruht. Diese Voraussetzung ist Gleich- 
läufigkeit der Interessen der „Proletarier aller Länder“. Muß man aber zugestehen, 
| daß im Leben eines jeden Volkes Kräfte von solcher Stärke weben und wirken, daß 
“sie selbst der sozialistischen Bewegung volkhaft bedingte Eigenformen aufzwingen, 
so wird damit die innere Wahrscheinlichkeit einer internationalen Solidarität der 
| Klassen hinfällig. Darum haben die Sozialisten diese Unterschiede immer als un- 
| bequem empfunden, und es hat sie nicht gereizt, sie näher zu untersuchen. Außer- 
‚ halb der sozialistischen Bewegung ist das öfter geschehen, und auch dieses Heft 
' mit seinen Aufsätzen über westeuropäischen Sozialismus darf als Beitrag dazu gelten. 
| Trotz aller Unterschiede ist die sozialistische Bewegung aller Länder aber doch 


l 
| 
in einem tieferen geschichtlichen Sinne verwandt. Sie stellt die Hauptform dar, 
in welcher sich das Hindrängen der neuentstandenen Schichtung des Lohnarbeiters 


| 


' zum geschichtsgestaltenden Wirken vollzieht. Dieses Drängen kennt auch andere 
"Formen. Aber keine hat es zu solcher Bedeutung gebracht, wie die sozialistische 
ı Bewegung. Zu dieser Verwandtschaft tritt eine zweite. In allen Ländern sind die 
‘ Theoreme, welche den Geist der sozialistischen Bewegung ausmachen, nicht von 
| der neuentstandenen Schicht des Lohnarbeiters, sondern von bürgerlichen 
‚Intellektuellen gefunden und formuliert worden. England bildet hier scheinbar eine 
' Ausnahme. Soweit diese Ausnahme nicht nur Schein ist, führt sie zu wertvollen 


‘ Aufschlüssen hin. Man wird dem Wesen der sozialistischen Bewegung nicht gerecht, 


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"wenn man sie schlechthin als Arbeiterbewegung nimmt und sie allein vom Arbeiter 
' ableitet und vom Arbeiter aus zu verstehen trachtet. Man darf diesen bürgerlichen 
" Antrieb an ihr nicht übersehen. Arbeitertümlich ist an dieser Bewegung alles, was 
| mit sozialwirtschaftlicher Selbsthilfe zusammenhängt, arbeitertümlich ist das Ge- 
 werkschafts- und Genossenschaftswesen, soweit es als wuchshafte Tat und nicht 
| als propagandistisch-spekulative Idee entstanden ist. Bürgerlich ist die Theorie, 
\ bürgerlich ist die politische und historische Zielsetzung, bürgerlich ist die ‚„proleta- 
rische“‘ Weltanschauung, welche diesen arbeitertümlichen Bildungen aufgepfropft 
"ist, Die Entwicklung des französischen Sozialismus läßt diese beiden Linien sehr 
| deutlich werden; der Richtungsstreit, aus dem die Geschichte des französischen 
‚ Sozialismus besteht, ist ein Streit der Intellektuellen, an dem einige Tausend Arbeiter 
nur als Statisten beteiligt waren. Der bürgerliche Einfluß auf die sozialistische Be- 
» wegung in den einzelnen Ländern scheint um so größer zu sein, je mehr die Zahl 
| der Intellektuellen den Bedarf der bürgerlichen Gesellschaft übersteigt. Was nicht 


' Die Sozialdemokratie in Frankreich und England (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 8) 6 


























74 Die Sozialdemokratiein Frankreichund England 
———————LLLLL6L—6—6—6—n 


durch Teilnahme an den Funktionen der bürgerlichen Gesellschaft Bindung und 
Sicherung des Daseins findet, sucht diese außerhalb, und ein Teil wird sich dann 
immer zum Führertum der neuaufsteigenden Schichtung drängen. Wenn sich in 
der Arbeiterbewegung Englands kein erheblicher Führereinschlag bürgerlicher Her- 
kunft nachweisen läßt, so erklärt sich das damit, daß England keine überschüssige ") 
Intelligenz hatte, sondern den bürgerlichen Nachwuchs in der Industrie, in Handel 
und Schiffahrt und in seinen Kolonien entsprechend verwenden konnte. Dafür 
haben Frankreich und Italien um so mehr, und der Charakter ihrer sozialistischen 
Bewegung zeugt davon. 


iese Zusammengesetztheit der sozialistischen Bewegung darf nicht übersehen 

werden, wenn man den geschichtlichen Sinn dieser Bewegung deuten will, 
Bleibt es dabei, daß die Aufwärtsbewegung der Arbeiterschichtung in Geist und 7 
Zielsetzung an die abgestoßene Bürgerlichkeit ihrer heutigen Führung gebunden ist, 
so kann von ihr niemals die Kraft zu einer großen, die Tiefen des Lebens ergreifenden 
Neuformung ausgehen. Denn der Geist, den die soziale Bewegung von dieser Bürger- 7 
lichkeit empfangen hat und weiter empfängt, ist bar der erneuernden Kräfte. Er 
ist eine spekulative Steigerung und Verzerrung des Geistes, der einst die bürgerliche 
Gesellschaft schuf. Er ist Verfall, nicht Erneuerung. Er ist Konstruktion, nicht 
Wachstum. Die heutige sozialistische Bewegung leidet an diesem Widerspruch, ’ 
daß sich hier die erneuernde Kraft einer jungen Schichtung mit dem Geiste des Ver- 
falls verbunden hat und dadurch zwar nicht aufhört, Kraft zu sein, aber doch nicht 
die schöpferische Kraft ist, nach welcher die Zeit dürstet. Dieser Widerspruch in 
der sozialistischen Bewegung ist nicht in allen Ländern gleich groß und gleich deut- 
lich. Aber er gehört zu ihrem heutigen Wesen und man wird dieses Wesen nicht ver- 
stehen, wenn man sich dieses Widerspruchs nicht bewußt ist. 


Der Sozialismus in Frankreich 


Von Geheimrat Dr. Karl Diehl, 
Professor für Volkswirtschaft an der Universität Freiburg i.B. 


ie sozialistische Bewegung in Frankreich weist die größten Unterschiede gegen 
D über der deutschen Bewegung auf. Während die Sozialdemokratie in Deutsch- 
land immer eine geschlossene Partei darstellte, die zuerst unter der geistigen Führung 7) 
von Lassalle, dann unter der von Marx stand, gab es in Frankreich immer eine große 
Anzahl sozialistischer Parteien und Richtungen, die sich heftig befehdeten. Während 
in Deutschland seit dem Tode Lassalles der Marxismus die unbedingte Alleinherrschaft 
in der Sozialdemokratie hatte, haben marxistische Ideen im französischen Sozialis- 
mus niemals eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Diese Eigenart des französischen 
Sozialismus hat ihre Ursache in der geschichtlichen Entwicklung der sozialistischen 
Ideen in Frankreich und in der ökonomischen Struktur Frankreichs. Von allen 
Ländern Europas ist Frankreich das Land, in dem zuerst sozialistische Ideen die Massen 
erfaßt haben. Die Revolution, auf die sie letzten Endes zurückgehen, war keine sozia- 
listische Umwälzung, sondern eine freiheitliche Bewegung, welche die Beseitigung 
der feudalen und zünftlerischen Fesseln bezweckte, die das Aufkommen der Bour= 
geosie hinderten. Nicht um den Kampf zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Besitz 
und Nichtbesitz handelte es sich, sondern um den Gegensatz zwischen den politischen ') 
Vorrechten des Adels und der Geistlichkeit einerseits, und der politischen Ohn- 
macht des dritten Standes anderseits. Dieser dritte Stand, der sich am 11. Juni 
1789 als Nationalversammlung konstituierte, setzte sich aus den verschiedensten 
Schichten der Bevölkerung zusammen: reiche Fabrikanten und Kaufleute, Gelehrte 
und Beamte zählten ebenso dazu wie Bauern und Arbeiter. Gemeinsam führten sie 
den Kampf gegen die Vorrechte in der Ämterbesetzung, der Besteuerung und andere 
Privilegien der bevorzugten Stände. a 51 





Karl Diehl: Der Sozialismus in Frankreich ’&) 
NETTE ERLEBEN TEE EEE EEE ET FE TTELTESSTERET TE ET TE ZIERT TE TEE EEE ERBETEN ALLE LITE TUN ETIEITURTLTEN 











‚araus, daß die wichtigste wirtschaftliche Rechtsinstitution, das Privateigentum, 
icht nur nicht angegriffen, sondern sogar als ‚unverjährbares Menschenrecht‘‘ 
klärt wurde. Die Menschenrechte, für die in der französischen Revolution ge- 
ämpft wurde, waren allgemeine Menschenrechte, die allen Menschen zuteil werden 
ollten; nicht etwa Rechte der arbeitenden Klassen. Auf Grund der naturrechtlichen 
‚leichheitstheorie zog man Schlüsse zugunsten der politischen Gleichstellung aller 
ürger, keineswegs irgendwelche Schlüsse mit sozialistischer Tendenz. Die Folge- 
‚ungen, die man aus den sog. Menschenrechten zog, waren nicht eigentumsfeindlich, 
‚ezweckten im Gegenteil eine Ausdehnung und Befestigung des Privateigentums. 

| Rousseau, der Begründer der Theorie von der Volkssouveränität, dessen Ideen 
‚on größtem Einfluß auf die französische Revolution waren, war keineswegs Sozialist. 
rotz vieler eigentumsfeindlicher Sätze in seinen Werken hat er sich an den ent- 
‚sheidenden Stellen für die Beibehaltung des Privateigentums ausgesprochen. 


| 

| 

en auch der Grundzug der französischen Revolution nicht sozialistisch war, 
| so fehlte es doch nicht an sozialistischen und kommunistischen Strömungen, 
.esonders in der Zeit des Terrorismus. Aber sie bildeten immer nur eine Unter- 
‚trömung. In Anknüpfung an die politische Egalitätstheorie Rousseaus wurde 
ine ökonomische Egalitätstheorie ausgebildet. Wie Rousseau aus der Lehre der 
atürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen die politische Gleichheit der 
‚sürger gefolgert hatte, so meinten einzelne Sozialisten und Kommunisten, daß aus 
er natürlichen Gleichheit und Freiheit der Menschen auch die Gleichheit des Be- 
itzes hervorginge. Der Grundsatz der „Egalit&‘“‘, der bis dahin nur für die politische 


= 


‚sleichheit geltend gemacht wurde, wurde in der terroristischen Epoche auch für den 
nesitz gefordert. Der Typus dieser Richtung war Marat, von dem der Ausspruch 
'errührt: „Die Gleichheit der Rechte führt zur Gleichheit der Genüsse und erst auf 
‚ieser Basis kann der Gedanke ausruhen‘, und der den anderen Satz ausgesprochen 
‚at: „Es wäre ein schlechter Vorteil, die Adelsaristokratie zu besiegen, um der Geld- 
‚ristokratie zu unterliegen‘. 

ı Erst Babeuf hat mit Zähigkeit und Energie die Egalitätstheorie auf die Spitze 
'etrieben und alle radikalen Elemente um seine revolutionär-kommunistische Fahne 
'esammelt. Er entwarf den Plan einer kommunistischen Gesellschaftsordnung und 
‚ettelte eine kommunistische Verschwörung an, die freilich verraten und unterdrückt 
'mrde. Mit dem Sturze der Babeufschen Verschwörung war für lange Zeit jede 
‚zialistisch-revolutionäre Bewegung verschwunden. Erst über 50 Jahre später, in 
‚er Februar-Revolution, trat eine eigentliche soziale Revolution hervor. 


.n dieser Zeit wurde versucht, alle Pläne der verschiedenen sozialistischen Rich- 
‚tungen, die in Frankreich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts aufgetreten waren, 


1 
' 





'ıdie Praxis zu überführen. In keinem Lande und zu keiner Zeit hat es so viele so- 


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‚jalistische Experimente gegeben wie damals. 
. 1. Die erste Maßnahme war die Aufnahme des „Rechtes auf Arbeit‘ in die neue 


\'anzösische Verfassung vom 25. Februar 1848. Es ist das erste und einzige Mal, daß 
‚ieses folgenschwere Recht den Bürgern eines Landes verfassungsmäßig gewähr- 
‚istet wurde. Die betreffende Proklamation lautet wörtlich: 


! 

| „Die provisorische Regierung der französischen Republik verpflichtet sich, die Existenz 
yes Arbeiters durch Arbeit zu garantieren. 

‘Sie verpflichtet sich, allen Bürgern Arbeit zu gewähren. 

, Sie erkennt an, daß sich die Arbeiter miteinander verbinden müssen, um den rechtmäßigen 
‚ttrag ihrer Arbeit zu genießen. 

h Die provisorische Regierung gibt die aus der Zivilliste fällige Million den Arbeitern, welchen 
‚ie gehört.“ 


Zur Durchführung des „Rechts auf Arbeit‘ wurde das Dekret vom 27. Februar 


1848 erlassen, das die Errichtung von Nationalwerkstätten anordnete. 
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76 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
Le 


2. Die Einrichtung von Arbeiterproduktivgenossenschaften mit Staatskredit, 
Zur Durchführung der Ideen von Louis Blanc wurde durch Dekret der Konsti- 
tuierenden Versammlung im Juli 1848 ein Betrag von 3 Millionen Frs. zur Unter- 
stützung von Arbeiterproduktivgenossenschaften bereitgestellt. Der Versuch miß- 
lang; von den 56 Arbeiterproduktivgenossenschaften, die Staatskredit erhielten,’ 
bestanden 1853 noch 9, Der Bericht, der am 5. Februar 1850 der Nationalversammlung 
vorgelegt wurde, fiel so ungünstig aus, daß keine weiteren Kredite gegeben wurden, 


3. Zur Begründung von Cabets Ikarien, einer kommunistischen Kolonie in Amerika); 
waren schon im Januar 1848 die ersten Teilnehmer ausgewandert. Es fanden noch 
4 weitere Expeditionen im November und Dezember 1848 statt, bald entstanden 
Streitigkeiten und Schwierigkeiten, die trotz wiederholten neuen Versuchen schließ-] 
lich Cabet zwangen, von seinem Plane abzusehen. 


4. Auch Blanqui benutzte die Gunst der damaligen Lage, um seine gewaltrevolu-) 
tionären Pläne mit seinen Freunden durchzuführen. Nachdem schon früher mehrere 
Blanquistische Verschwörungen bestanden hatten, trat diese Richtung jetzt von) 
neuem hervor. Vom ‚Club des Clubs“, der eine Versammlung von Mitgliedern aller) 
dieser Klubs darstellte, ging der Aufstand vom 15. Mai 1848 aus, wobei die Aufrührer 
in die Kammer drangen, die Volksvertreter aus dem Saal vertrieben und dann nach 
dem Hotel de Ville zogen, um eine neue Regierung zu proklamieren. Der-Aufstand 
wurde unterdrückt, die Anführer, darunter Blanqui, Barbes und Sobrier festgenommen.) 


5. Die Fourieristen machten Propaganda für die Verwirklichung der Ideen des} 
freiheitlichen Genossenschaftssozialismus, Pierre Leroux mit seinen Anhängern ver- 
kündete den religiösen Sozialismus, der vorher bereits von Saint Simon und den 
Saintsimonisten vertreten war. 


6. Zu allen diesen sozialistischen und kommunistischen Strömungen trat eine 
eigenartige Richtung hinzu, die für die spätere Entwicklung des französischen 
Sozialismus von großer Bedeutung werden sollte, der Mutualismus Proudhons, 
Proudhon war Gegner des Kapitalismus, aber zugleich Gegner des Sozialismus und 
Kommunismus. Er suchte durch seinen Mutualismus beide zu verschmelzen) 
Das Privateigentum sollte beibehalten, ja sogar soweit ausgedehnt werden, daf 
möglichst alle Bürger Privateigentümer würden. Es war ein ausgesprochen klein“ 
bürgerlicher Sozialismus. Das Privateigentum sollte aber von seinen Mißbräuchen! 
befreit werden durch eine große Geld- und Kreditreform. Das Geld sollte dureh 
Scheine, die auf Arbeitsstunden lauteten, der Zins durch unentgeltlichen Kredit 
ersetzt werden. Durch seine Tausch- und Volksbank wollte Proudhon dieses Zie) 
erreichen, indem er alle Produzenten zu einer großen Genossenschaft vereiniger 
wollte, die sich gegenseitig unentgeltlich Kredit gewähren und gleichzeitig unter 
einander an Stelle des Geldes die Scheine der Arbeitstauschbank benutzen sollten 
Auch diesen Plan suchte man im März 1848 zu verwirklichen; er mußte wieder 
aufgegeben werden, als Proudhon zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt wurde} 

So gab es damals in Frankreich sozialistische und kommunistische Pläne und 
Parteien in Hülle und Fülle. Zu großer Wirksamkeit konnten sie alle nicht kommen 
nachdem General Cavaignac in der Junischlacht 1848 dem französischen Prol? 
tariat eine entscheidende Niederlage beigebracht hatte. Für längere Zeit trater 
sozialistische und kommunistische Bestrebungen in den Hintergrund. 


rst im Kommuneaufstand 1871 trat von neuem eine große sozialrevolutionär 

Bewegung hervor, die abermals die große Zersplitterung des französischen 
Sozialismus zeigte. Es ist eine irrige Annahme, daß die französische Kommunt 
eine wesentlich von Karl Marx und der Internationale angezettelte Verschwörung 
gewesen sei: im Gegenteil, Karl Marx hatte sogar offiziell im Namen der Inter‘ 
nationale vor einer revolutionären Erhebung gewarnt. Die Kommune, die an 
28. März 1871 vor mehr als 200 000 Menschen feierlich proklamiert wurde, wa 
keine einheitlich organisierte Regierung mit festem Programm. Die Mitglieder d« 
Zentralkommitees gehörten den verschiedensten Parteischattierungen an; die 


































Karl Diehl: Der Sozialismus in Frankreich 77 








‚xompromißartigen Regierungshandlungen der Kommune trugen dieser vielfältigen 
Zusammensetzung Rechnung. Fünferlei Richtungen lassen sich unterscheiden, die 
‘hre Vertreter unter den 86 Mitgliedern des Kommunerates hatten: 


| 1. Die kommunalistische (föderalistische) Richtung. Ihre Anhänger erstrebten 
"m wesentlichen eine politische Reform im Sinne größerer kommunaler Freiheiten. 
= wollten Protest gegen die seit dem ersten Napoleon immer mehr gesteigerte 
Zentralisation einlegen, gegen die Ernennung der Maires durch die Staatsregierung 
"and ähnliche Verkümmerungen des kommunalen self- -government. War diese Rich- 
‘tung schon durch Proudhon stark beeinflußt, so stand eine andere völlig auf dem 
‘Boden seiner Doktrin und kann daher nach ihm bezeichnet werden: 
| 2. Die Proudhonistische (mutualistische) Richtung. Für sie sollte die Kommune 
nicht nur Erfüllung der föderalen Forderungen bringen, sondern auch sozialreforma- 
‚torische Maßregeln im Sinne des Mutualismus; noch einmal sollte die Verwirklichung 
‚der Tauschbank und des unentgeltlichen Kredits versucht werden: 
« 3. Auch die anarchistische Richtung (im Sinne des kommunistischen Anarchismus) 
‚anter Bakunins Führung wollte die Gelegenheit zur Durchführung ihrer radikalen 
‚Ideen benutzen. Sie lieferte ein blutiges Vorspiel zur Pariser Kommune durch die 
oner Kommune (September 1870). 
ı 4. Die Blanquistische Richtung war ebenso wie die anarchistische eine Partei der 
‚radikalen sozialen Revolution, und ebenfalls zahlreich unter den Kommunards ver- 
treten. Sie folgte blindlings der Fahne des alten Verschwörers Blanqui, dessen Taktik 
zinmal von Engels treffend so gekennzeichnet wird: ‚In seiner politischen Tätig- 
keit war er wesentlich ‚Mann der Tat‘, des Glaubens, daß eine kleine wohl organi- 
'sierte Minderzahl, die im richtigen Moment einen revolutionären Handstreich ver- 


sucht, durch ein paar echte Erfolge die Volksmasse mit sich fortreißen und so eine, 


‚siegreiche Revolution machen kann.“ 

5. Von der Marxistischen Richtung ist dem Kommuneaufstand nur geringe: För- 
‚derung zuteil geworden. Erst als die Bewegung nicht mehr zu hemmen war, hat die 
‚Internationale offiziell daran Anteil genommen. 


| ie weitere Entwicklung des französischen Sozialismus hat die Zersplitterung 
D immer von neuem bewiesen. Im Jahre 1872 ist die erste neue Lebensregung in 
‚der Arbeiterbewegung nach der Kommune zu verzeichnen: der Zusammenschluß 
‚mehrerer Arbeitergewerkvereine, der zuerst in der Form eines Bundes unter dem 
‚Namen Cercle de l’union syndicale ouvriere am 28. Mai 1872 versucht wurde. Der 
‚Bund hatte zum Zweck „une entente commune reglant les inter&ts divers des em- 
‚ployeurs et des employe&s“. Als die Regierung diesen Verein verbot, schlossen sich 
‚die Arbeitervereine in der Form zusammen, daß sie eine auf Gegenseitigkeit be- 
‚ruhende Kreditgesellschaft für Syndikalkammern und Kooperativgenossenschaften 
‚gründeten. Der Standpunkt dieses Verbandes war von vornherein mutualistisch, 
‚da er keinen Zins nahm und keine Dividende gewährte. 

" Die erste größere öffentliche Kundgebung der Arbeitervereine war der Arbeiter- 
| kongreß zu Paris vom 2. bis 10. Oktober 1876. Es war ein reiner Arbeiterkongreß mit 
| Ausschluß von Politikern und Theoretikern. Mit Ausnahme der Publizisten Barbaret 
‚und Desmoulins nahmen an dem Kongreß nur Arbeiterdelegierte teil. 360 Abge- 
‚ordnete von den Syndikatskammern und anderen Arbeitervereinen, die 1 100 000 
‚Arbeiter vertraten, beteiligten sich an dem Kongreß. Als wichtigstes Heilmittel 
| für die sozialen Notstände wurden die Arbeiterproduktivgenossenschaften empfohlen. 
‚ Trotz des Widerspruchs von Finance, der sich in seiner Kritik vielfach an Proudhon 
‚anlehnte und erklärte, daß die Genossenschaften aus den Besten der Arbeiter nur 
Bourgeois machten und nur auf ihren Gewinn bedacht seien, wurde eine Entschließung 
zugunsten der Genossenschaften vom Kongreß angenommen. 

‘ Ein zweiter Kongreß fand in Lyon vom 28. Januar bis 8. Februar 1878 statt. 
| War auch die Grundstimmung dieses Kongresses dieselbe wie die des ersten, so trat 
‚doch in bemerkenswerter Weise eine kollektivistische Minderheit hervor, welche die 
nur genossenschaftliche Betätigung der Arbeiter zurückwies. Ihr Wortführer 





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78 Die SozialdemokratieinFrankreich und England 
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Dapiert erklärte als einziges Heilmittel, daß die Arbeitsinstrumente und der Boden: 
„les proprietes collectives et inalienables de la masse” würden, und ein anderer Dele- 
eierter, Chabert, meinte: „le collectivisme c’est l’avenir“‘. Die Mehrheit blieb den 
alten Beschlüssen des ersten Kongresses treu. Wiederum sprach man sich gegen 
Staatshilfe und gegen den Kollektivismus aus. 

Auf dem folgenden Kongreß in Marseille 1879 war diese kollektivistische Richtung 
entschieden in der Mehrheit. Dieser Kongreß war nicht mehr ausschließlich ein 
Arbeiterkongreß, sondern ein sozialistischer, an dem auch viele Nichtarbeiter teil: 
nahmen. Starken Einfluß auf diese veränderte Ideenrichtung gewann besonders 
Jules Guesde, der im Jahre 1877 die Zeitschrift „L’Egalite“ begründete. Er stand! 
ebenso wie Brousse und Lafargue unter dem Einfluß marxistischer Ideen. So hielt 
von neuem eine Marxistische Strömung ihren Eingang in die französische Arbeiter-) 
bewegung und ihr großer Einfluß ‚zeigte sich bei den Verhandlungen des Marseiller! 
Kongresses. Hier vollzog sich-der Übergang von der älteren genossenschaftlichen zur 
radikalen sozialistischen Richtung. Der Kongreß nannte sich „Congr&s ouvrier 
socialiste de France‘ und nahm mit 73 gegen 27 Stimmen folgende Entschließung an?) 

„In Erwägung, daß die soziale Frage erst gelöst werden kann, wenn jedes menschliche 
Wesen die volle Befriedigung seiner Bedürfnisse und die volle Entwicklung seiner Fähigkeiten! 
erlangt hat, erklärt der Kongreß, daß das Privateigentum die Ursache der materiellen und 
geistigen Ungleichheit dieser Befriedigung ist und diese Entwicklung nicht gewähren kana 
und fordert die Kollektivierung des Bodens, der Bergwerke, der Maschinen, der Transport- 
mittel, der Gebäude und des Kapitalvermögens zugunsten der menschlichen Gesellschaft.“ 

Der Kongreß beschloß ferner, daß die Arbeiter sich als politische Klasse konsti- 
tuieren sollten, als „‚Parti ouvrier‘‘, welcher Name auch offiziell angenommen wurde. 
Ausdrücklich wurde entsprechend der sozialistischen Parteibildung in Deutschland! 
jeder Kompromiß mit anderen Parteien oder Klassen abgelehnt. Die Partei erhielt 
ihr Programm erst im folgenden Jahre 1880 auf dem regionalen Kongreß zu Paris. 


ie weit diese neugeschaffene Parti ouvrier davon entfernt war, eine einheitlich? 
politische Vertretung des französischen Proletariats zu sein, zeigte sich schoit 

kurz nach ihrer Gründung. Das erste Schisma trat bereits auf dem Kongreß it) 
Havre 1880 hervor. Die Mitglieder der Partei, die zur älteren genossenschaftlichen 
Richtung gehörten und von vornherein dem radikalen sozialistischen Programni 
der Partei gegnerisch gegenüberstanden, trennten sich von der Partei, hielten einen! 
eigenen kooperativistischen Kongreß in Havre ab, während die Mehrheit der Partei! 
ihren besonderen Kongreß in einem anderen Lokale abhielt. Die kooperativistisch® 
Partei hielt noch unter der Führung von Lyonnais und Barbaret einen Kongre‘ 
1881 in Paris und 1882 in Bordeaux ab und verlor dann jede Bedeutung. | 
Außer dieser genossenschaftlichen Gruppe waren noch andere Richtungen der 
französischen Arbeiterpartei vorhanden, die im Gegensatz zur Parti ouvrier standen!) 
Zunächst die Anarchisten. Nur das revolutionäre Programm der Parti ouvrier war 
die Ursache, warum eine Anzahl Anarchisten zuerst an der Gründung dieser Partei 
teilnahm und die Trennung von den Kooperativisten mitmachte. Im übrigen war der 
innere Gegensatz zwischen den Anarchisten und Marxisten viel zu groß, als daß avi 
die Dauer ein Zusammenarbeiten möglich gewesen wäre. Heftig bekämpften die An- 
archisten, wie Emile Gautier, Carlo Caffiero und Malatesta die politische Betätigung 
der Parti ouvrier, welche sie als reaktionär bezeichneten. Ihrerseits erhoben Guesdei 
und seine Anhänger schwere Anklagen gegen die Sterilität des Dynamits, des Pe- 
troleums und der Bomben. Infolge dieser Gegensätze zogen sich die Anarchisten} 
allmählich ganz von der Parti ouvrier zurück. Eine andere gegnerische Gruppe wurd? 
von einem Teil der infolge der Amnestie vom Jahre 1880 zurückgekehrten Kommunte- 
flüchtlingen gebildet. Während einige derselben sich der Parti ouvrier anschlossen, 
wie z. B. Malon, Joffrin und Allemanne, hielten andere gemäßigtere das Vorgehen det 
Parti ouvrier für zu radikal. Zu ihnen gehörten Longuet, Jourde und andere. Sie 
gründeten die „Alliance socialiste r&publicaine‘‘, deren Programm am 26. Oktober 
. 1880 erschien: „Man muß“, erklärten sie, „an alle Menschen mit gutem Willea 


















\ 


| Karl Diehl: Der Sozialismus in Frankreich 79 


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appellieren, welche sich vereinigen wollen, um praktische Reformen durchzuführen. 

Es handelt sich um das Jahr 1881, nicht um das Jahr 2000.‘ Als anzustrebendes 
"Ziel bezeichnete die Alliance, und darin zeigt sich deutlich der Gegensatz zu der 
' Marxistischen Richtung, den Triumph der sozialen Gerechtigkeit durch die Freiheit 
| mit der Wissenschaft als Grundlage und der Vernunft als Führerin. Bei den Wahlen 
‚ von 1881 kämpften die Kandidaten der Alliance und der Parti ouvrier in einzelnen 
. Wahlkreisen gegeneinander. Bald darauf löste sich die Alliance auf; ihre Mitglieder 
Kangen teils zur Parti ouvrier, teils zu den sogenannten Radikalen über. 
= Eine weitere Gruppe, die im Gegensatz zur parti ouvrier stand, waren die Blan- 
quisten. Die einflußreichsten waren nach der Kommune nach London geflüchtet und 
hatten dort die Gruppe „La commune r&volutionnaire‘‘ gegründet. Sie hielten nach 
wie vor an ihrer gewaltrevolutionären Taktik fest und kritisierten von diesem Stand- 
punkt aus die Internationale ebenso wie das gemäßigte Vorgehen des französischen 
Proletariats. Während der Marxist Guesde der ersten gemäßigten genossenschaft- 
‚ lichen Arbeiterbewegung in Frankreich nach der Kommune seine Sympathien nicht 
. versagte, richteten die Blanquisten heftige Angriffe gegen dieses „reaktionäre Vor- 
gehen“. In einer 1876 erschienenen Broschüre „Les Syndicaux et leur congres‘‘ 
\ wandten sie sich besonders gegen den ersten Arbeiterkongreß in Paris von 1876. In 
\ dieser von Vaillant und seinen Freunden verfaßten Schrift heißt es von den Mit- 
gliedern dieses Kongresses: „Was sie kennzeichnet, ist ihr Haß gegen die Re- 
; volution, und was auch die Differenzen ihrer Interessen sein mögen, dieser ge- 
'"meinsame Haß hält sie unmöglich zusammen; was sie auch zu den bürgerlichen 
\ Parteien sagen mögen, sie sind in der Arbeiterwelt die Hilfstruppen, die Stützen der 
\ Bourgeoisie“‘. Am 24. Juni 1881 konstituierten sich in Paris die Blanquisten unter 
Vaillant, Barbier, Sylvain u. a. als Partei unter dem Namen ‚Comite r&volutionnaire 
‘central. Seit dem Jahre 1898 führt sie den Namen „‚Parti socialiste r&volutionnaire‘“, 


| 

uch innerhalb der Parti ouvrier zeigten sich bald die größten Gegensätze. Der 
| für die Sozialisten ungünstige Ausfall der Wahl von 1881 — es entfielen im ganzen 
\ 50 000 Stimmen auf die Sozialisten — wurde von einzelnen Führern auf das zu doktri- 
‚ näre dogmatisch-marxistische Programm der Parti ouvrier zurückgeführt. Man ver- 
 Tangte ein mehr opportunistisches realpolitisches Verhalten und legte das Hauptgewicht 
\ auf sofort durchführbare soziale Reformen, die dem Arbeiter einleuchtende Vorteile 
‚ brächten. Die Hauptwortführer dieser Richtung waren Malon und Brousse. Malon er- 
‚ Klärte in der „Revue socialiste“: „Wir haben uns genug mit Phraseologie und ohn- 
 mächtigem Dogmatismus erfüllt, wir müssen in das Innere der Situation eindringen und 
‚ die Dinge sehen, nicht wie wir wünschten, daß sie wären, sondern wie siesind“, und von 
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| dem früheren Anarchisten Brousse stammen die Worte, die als programmatisch für die 
neue Richtung angesehen werden können und von denen der Name Possibilisten 
"stammt: „Wir geben lieber das bis jetzt Unternommene auf, das im allgemeinen zu 
* nichts führt, teilen das ideale Ziel in mehrere ernsthafte Etappen, verselbständigen 
irgendwie manche unserer Forderungen um sie endlich möglich zu machen, statt 
‚ uns durch auf der Stelle Treten zu ermüden oder wie im Ritter Blaubart auf allen 
| Windungen der Utopie sitzen zu bleiben und nie das Konkrete und Greifbare kom- 
| men zu sehen. Das ist die Politik des Möglichen.“ (,Proletaire‘‘ vom 19. 11.1881.) 
‘= Dazu kommen Zwistigkeiten in bezug auf die Taktik. Während Guesde getreu 
| den marxistischen Prinzipien eine streng zentrale absolutistische Gestaltung der 
| Partei und des Parteiprogramms verlangte, vertraten die Possibilisten die Forderung 
größerer Autonomie der Sektionen in den verschiedenen Landesteilen. Je nach den 
i örtlichen Verhältnissen sollte das sozialistische Programm seine Ausgestaltung im 
‚einzelnen erhalten. Diese Gegensätze traten schon auf dem Kongreß zu Rennes 1881 
hervor, wurden dort aber noch überbrückt. Dagegen kam es auf dem Kongreß zu 
Etienne”1882 zum offenen Bruch. Die Guesdisten trennten sich von den Possibi- 
‘ listen und hielten einen besonderen Kongreß in Roanne ab: „Nous avons brise‘‘, 
erklärten sie, „les possibilistes du congr&s pour sauver le programme d’ expropriation 
| donn& au Parti ouvrier par les congr&s de Marseille et de Havre“. Die neue Partei 
|‘ 
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80 Die SozialdemokratieinFrankreich und England 
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nannte sich zuerst „‚Parti ouvrier socialiste r&volutionnaire‘‘, dann seit 1883 „Fede- 


ration des travailleurs socialistes‘. Sie hielten an den Grundzügen des Programms 
der Internationale fest, überließen seine Ausgestaltung aber den einzelnen Wahlkreisen, 


Die Kluft, die zwischen den verschiedenen sozialistischen Parteien bestand, sollte 
wenigstens bei den internationalen Arbeiterkongressen überbrückt werden; doch 
gelang dies schon bei dem Kongresse zu Paris 1889 nicht. Trotzdem lange über die 
Bedingungen beraten wurde, unter denen sich die Possibilisten an dem Kongresse 
beteiligen könnten, kam keine Einigung zustande. Ein Redner aus Deutschland er- 
klärte: ‚Die Trade Unions und die Gewerkschaften sind nicht sozialistisch, und so 
gut wie wir uns von den unsozialistischen Vereinen a la Schulze-Delitzsch haben 
trennen müssen, müssen wir auch den anderen, den Franzosen, die Freiheit lassen, 
eine analoge Scheidung vorzunehmen“. Tatsächlich fanden infolgedessen zwei Kon- | 
gresse statt. Der eine von Marxisten und Blanquisten, der andere von Possibilisten |) 
und Gewerkvereinlern beschickt. „Welch großartiges Schauspiel‘, schrieb Malon 
in der Revue socialiste vom 15. August 1889, ‚wenn bei dieser feierlichen Gelegen- 7 
heit die feindlichen Parteien, die den französischen Sozialismus trennen, ihre Emp- 
findlichkeiten und Rivalitäten hätten vergessen können“, 


Doch auch innerhalb der Possibilistenpartei kam es zu einer Spaltung. Die Gegen- 
sätze werden bezeichnet durch die Namen Brousse und Allemanne. Allemanne war 
der Meinung, daß Brousse in seinem Paktieren mit der Bourgeoisie zu weit ginge, | 
zu wenig eine eigentlich proletarische Politik verfolge. Er warf den possibilistischen 
Abgeordneten vor: ‚Anstatt die revolutionäre Propaganda von der moralischen 
Autorität profitieren zu lassen, hielten es die Abgeordneten für wirksamer, sich mit 
den Fraktionen der .Bourgeoisie zu verständigen. Sie hörten nicht die immer schär- 
feren Beschwerden gewisser mächtiger Gruppen, die weniger Macht in der gemein- 
samen Wohnung und mehr Sorge um die proletarischen Forderungen wünschen‘, 
Mit einem Worte, es wurde den Possibilisten vorgeworfen, daß sie zu wenig Arbeiter- 
partei waren. Allemanne betrachtete als wichtigstes Kampfmittel den General- 
streik. Auf dem Kongreß zu Chatellerault kam es zum Bruche. Allemanne, Clement 
und Faillet wurden aus der Partei ausgeschlossen und gründeten die Parti ouvrier 
socialiste revolutionnaire. In der Regel aber werden die beiden Gruppen, in welche 
jetzt die Possibilistenpartei zerfiel, als Broussisten und Allemannisten bezeichnet. 


Aber auch unter den Allemannisten kam es zu Zerwürfnissen. Faillet und einige 
Gesinnungsgenossen, die mit der Taktik Allemannes nicht einverstanden waren, 
trennten sich von der Partei und vereinigten sich 1897 mit den Blanquisten zur 
Alliance communiste r&volutionnaire. In dem Statut dieser Alliance wird erklärt: 

„Einigen wir uns, um die wirtschaftliche und gewerkschaftliche Organisation des Prole- 
tariats wirksam zu unterstützen und um seine politische Aktion zu beschleunigen, entschlossen 
das Volk auf den revolutionären Weg zu führen, der am schnellsten die Eroberung seiner Frei- 
neit und Rechte durch die Einführung der direkten Regierung an Stelle der Regierung durch 
Abgeordnete sichern muß, entschlossen den Sturz der kapitalistischen Herrschaft und die 
Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Herbeiführung der sozialistischen Republik zu be- 
schleunigen, werden wir von jetzt ab unsere Bemühungen gemeinsam fortsetzen.“ 

Zu all diesen Gruppen kommt noch eine weitere, zahlenmäßig sogar recht bedeu- 
tende, hinzu, die Gruppe der sogenannten unabhängigen Sozialisten. Sie wurde ge- 
bildet von solchen Politikern, die zwar den Sozialismus in irgendeiner Form ver- 
treten, sich aber keiner Parteischablone fügen wollten. Zu dieser Gruppe gehörten 
z.B. Jaur&s und Millerand. Ihr Organ war die „Petite Republique‘“. 


Win ich die Parti ouvrier Frangais als marxistisch bezeichnet habe, so ist dies 
nicht im wörtlichen Sinne zu nehmen. Eine marxistische Partei nach Art der 
deutschen Sozialdemokratie ist diese Gruppe keineswegs; im Gegenteil hat sie, wenn 
sie auch im marxistischen Sinne begründet war, doch mehr und mehr im Hinblick auf 
die besonderen ökonomischen und politischen Verhältnisse Frankreichs eine Taktik 
verfolgt. die nicht mit den marxistischen Grundsätzen vereinbar ist. 





| 


N Karl Diehl: Der Sozialismus in Frankreich 81 
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Vor allem ist bedeutsam das Agrarprogramm, weil dieses in zweifellosem Wider- 
" pruch zur marxistischen Theorie steht. Dieses Agrarprogramm war auf dem Kongreß 
zu Marseille 1892 ausgearbeitet und auf dem Kongreß zu Nantes 1894 vervoll- 
auciet worden. In dem Agrarprogramm werden eine Anzahl Forderungen aufge- 
h tellt, welche die Erhaltung des kleinen bäuerlichen Grundeigentums bezwecken, z.B.: 
Artikel 4: Verteilung von Grundstücken durch die Gemeinde an nichtbesitzende 
‚Samilien mit dem Verbot, Arbeiter zu benutzen. Artikel 8: Ankauf von landwirt- 
‚chaftlichen Maschinen seitens der Gemeinden mit Staatshilfe, die den kleinen Be- 
nitzern umsonst zur Verfügung gestellt werden sollen, 
| Es fehlte nicht an Bestrebungen, die desperaten Elemente im französischen Sozia- 
'ismus zu einer gewissen Einigung zu bringen. Die erste Einigungsbestrebung 
‚m französischen Sozialismus zeigte sich gleich nach den Wahlen von 1893. Die so- 
stalistischen Abgeordneten schlossen sich zu der „Groupe socialiste‘ in der Kammer 
‚zusammen, die aber in keiner Weise eine einheitliche parlamentarische Fraktion dar- 
‚stellte. Im Gegenteil, die Selbständigkeit der einzelnen Parteien wurde vollständig 
"yewahrt, nur eine äußerliche Zusammenfassung war damit geschaffen. 
‚ Die Dreyfuß-Affäre und der Eintritt Millerands in das Ministerium führten zu 
‚aeuen Streitigkeiten unter den Sozialisten und schließlich wieder zu einer offiziellen 
‚Trennung der Partei. Auf dem Kongreß zu Lyon 1901 wurde die Trennung der 
‚französischen sozialistischen Partei herbeigeführt. Auf der einen Seite schlossen sich 
‚die Parti ouvrier Frangais (Guesdisten), die Parti socialiste revolutionnaire (Blan- 
quisten), die Alliance communiste (Failletisten) und einige autonome Föderationen 
zu der Parti socialiste de France zusammen. Auf der anderen Seite vereinigten sich 
‚die Federation des travailleurs socialistes (Broussisten) die Parti ouvrier socialiste 
evolutionnaire (Allemannisten), die Unabhängigen und einige autonome Föderatio- 
‚aen zu der Parti socialiste Frangais. Beide Parteien marschierten jetzt wieder ge- 
trennt, hatten ihr eigenes Programm und stellten getrennt ihre Kandidaten bei den 
"Wahlen auf. Die Hauptführer der Parti socialiste Francais waren Jaur&s und Briand. 

Ostern 1905 kam es zu einer äußerlichen Einigung zwischen der Parti socialiste 
‚Frangais und der Parti socialiste de France. Die Partei nahm den Namen an: 
‚Parti socialiste, section francaise de l’internationale ouvriere. Die Einigung war aber 
‚wesentlich zum Zwecke der gemeinsamen Wahltaktik geschaffen. Eine Anzahl von 
Mitgliedern der Parti socialiste Francais wollte sie nicht mitmachen. Sie bildeten eine 
besondere Gruppe, die sog. Unabhängigen Sozialisten. 
| as Bild der Zerrissenheit und Verworrenheit, welches somit der französische 
Sozialismus auch heute noch trotz der sog. Einigung darstellt, wird noch dadurch 
‚verstärkt, daß in neuerer Zeit außerhalb der parlamentarisch-politischen sozialisti- 
‚schen Parteien ein großer Teil der Arbeiterbewegung sich absichtlich von dieser 
| politisch-parlamentarischen Betätigung fernhält undseine eigenen Ziele verfolgt. Diese 
‚ Richtung nennt sich revolutionärer Syndikalismust). 
| Der revolutionäre Syndikalismus tritt vor allem in scharfe Opposition gegen 
'ede Art von politisch-parlamentarischer Betätigung. Sobald der Sozialismus, so wird 
irgumentiert, sich mit Hilfe des Stimmzettels durchzusetzen suche, komme er not- 
|wendigerweise zur Verflachung und zur Verbürgerlichung. Die parlamentarische 
Aktion führe immer zu Konzessionen und Kompromissen mit Parteien und Klassen, 
| lie auf die Erhaltung der bestehenden Ordnung bedacht seien. Die politisch- 
yarlamentarische Arbeit bewirke eine Stärkung des Staatsgedankens, denn selbst 
‚ngenommen, die politische Macht der sozialistischen Partei wäre so stark, um 
‚die Macht für sich zu haben, so müsse doch wieder ein Staat, wenn auch ein sozialisti- 
\scher, eingerichtet werden. Es trete nur eine neue Staatsform an Stelle der alten. 
Es sei aber zu bezweifeln, ob überhaupt auf dem Wege parlamentarischer Betäti- 
‚zung ein Sieg der Sozialisten je möglich wäre, denn wenn auch mit Hilfe des Stimm- 











1) Über das Wesen des Syndikalismus vgl. den Aufsatz von Franz Winkler, „Der Werde- 
‚sang der französischen Gewerkschaften‘ in diesem Heft. 


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82 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 7! 
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zettels schließlich eine Mehrheit der sozialistischen Partei erlangt sei, so wäre damit 
noch in keiner Weise eine solche ökonomische und geistige Kraft der Arbeiterschaft 
erreicht, daß der Sozialismus zu verwirklichen sei. Mit Hilfe von Politikern, selbst 
wenn sie den Klassenkampf auf ihre Fahnen schrieben, sei die Emanzipation des 
Proletariats nicht zu erreichen. 

Der revolutionäre Syndikalismus fordert an Stelle dieser indirekten Aktion durch 
Politiker die direkte Aktion der Arbeiter selbst. Die Taktik soll darin bestehen, daß, 
unabhängig von jeder bestehenden politischen Partei, eine Politik auf eigene Faust 
getrieben wird. Auf eigene Faust im wörtlichen Sinne genommen, denn der revo. 
lutionäre Syndikalismus will vor allen Dingen revolutionäre Politik betreibeit, 
Nicht revolutionär im Sinne fatalistischen Abwartens auf eine kommende Um: 
wälzung, auch nicht revolutionär nach der Methode von Attentaten und Putschent]) 
sondern revolutionär im Sinne fortdauernder Belästigung, Schädigung und Schika4 
nierung der Arbeitgeber und der herrschenden Staatsgewalt. Als solches Mittel 
empfiehlt der revolutionäre Syndikalismus vor allem: Boykott, Sabotage (Zerstö- 
rung von Maschinen und Werkzeugen), Cacanny-Politik (absichtliches Langsam“ 
arbeiten), partielle Kampfstreiks und endlich als Hauptmittel, das im Mittelpunkt 
der ganzen syndikalistischen Politik steht, den Generalstreik. 

Die Ideen des revolutionären Syndikalismus haben in wachsendem Maße ii 
der französischen Gewerkschaftsbewegung Eingang gefunden. Der Bund def 
Arbeitsbörsen bildet das Zentrum aller Syndikate, welche der Idee des Generalstreik®) 
huldigen, und namentlich hat Pelloutier agitatorisch für die Idee des General 
streiks gewirkt und überhaupt für die Ideen des revolutionären Syndikalismus außer: 
ordentlich geschickte Propaganda getrieben. Auf dem Kongreß zu Limoges 1895 
gaben sich die Gewerkschaften, die dam Generalstreik anhingen, eine neue Gesamt 
organisation, die Confederation generale du travail. 


ach dem Weltkriege sind zu den früheren Spaltungen noch neue hinzugekommeit) 
Nicht nur in der sozialistischen Partei, sondern auch bei den Syndikalisten ist 

es zu einer Trennung gekommen. Diese Spaltungen sind nicht durch das Auftreten 
neuer Theorien bewirkt worden, auch nicht durch das Auftreten neuer hervor 
ragender Führer, sondern sie waren nur das Zeichen dafür, daß sich die früher bereit 
vorhandenen Gegensätze auf die Dauer nicht überbrücken ließen. 
Vor dem Kriege hatte die französische Sozialistenpartei (Parti unifie) sich in ver“ 
schiedenen Manifesten und Erklärungen für eine energische Politik des Friedens 
und gegen jeden Krieg ausgesprochen. So war noch auf dem nationalen Kongreß 
der Parti nationaliste in Paris (14. bis 16. Juli 1914) eine Entschließung über die 
„Sicherung des Weltfriedens‘‘ angenommen worden, worin der Generalstreik ak 
bestes Mittel empfohlen wurde, um einen Krieg zu verhindern. Am 27. Juli 1914 
unmittelbar vor der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien brachte dit 
„Bataille syndicaliste‘‘ die Aufforderung: ‚„‚Peuple de Paris d&bout! Par ton attitude 
energique empeche la guerre! Pour ce soir sur les Boulevards!‘“ Die Pariser G* 
werkschaftsorganisationen forderten ebenfalls zu Boulevard-Demonstrationen gegen 
den Krieg auf. Den Tag darauf gab die sozialistische Gruppe des Parlaments die 
Erklärung ab, daß sie ihr Büro beauftrage, sich mit der Regierung ins Vernehmen] 
zu setzen, um ihr den festen Entschluß zum Frieden, von dem das Volk beseelt sei, 
zu übermitteln. Auch nach der Ermordung von Jaures, der bis zuletzt für die Au®) 
rechterhaltung des Friedens gewirkt hatte, wurden die Bemühungen zur Erhaltung’des 
Friedens durch die Sozialisten fortgesetzt. | 
Der Umschwung von der Friedens- zur Kriegsstimmung erfolgte nach dem Ein 
marsch der Deutschen in Luxemburg und der Kriegserklärung Deutschlands an 
Frankreich. Am 4. August 1914, am Tage der Beerdigung von Jaures, erschien in der 
„Bataille syndicaliste‘‘ ein Artikel „„Gegen das Faustrecht“, dieser schließt ‚contre 
le droit du ping, contre le militarisme germanique, il faut sauver la tradition demo- 
cratique et r&volutionnaire de la France“. Jetzt wurde immer mehr auch von det 
sozialistischen Partei die Parole ausgegeben: gegen den deutschen Militarismus, 












| Karl Diehl: Der Sozialismus in Frankreich 83 
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"nicht dem deutschen Volke, sondern dem deutschen Imperialismus gelte der Krieg. In 

der Sitzung vom 4. August 1914 wurden die von der Regierung vorgelegten Kriegs- 

‚Besetzentwürfe debattelos und einstimmig angenommen. Bei dem Begräbnis von 

| Jaures sagte ein Sozialist, er ( Jaures) hätte, wie wir, indem er Frankreich verteidigte, 

| die Überzeugung gehabt, das hohe Ideal unserer Partei von der menschlichen Brüder- 

"lichkeit zu verteidigen. Die Kriegsereignisse bewirkten zunächst eine noch festere 
"Einigung aller französischen Sozialisten. Sie schlossen sich zur „heiligen Organisation‘ 

zusammen, die alle Streitigkeiten unter den Parteien begraben sollte. In die Regierung 

wurden erst 2, dann 3 sozialistische Minister berufen. 

‚= Je länger der Krieg dauerte und je mehr das Verlangen nach Frieden hervortrat, 
um so mehr traten die grundsätzlichen Gegensätze zwischen den einzelnen Gruppen 
und Führern zutage, und schon während des Krieges ließen sich deutlich etwa 

'5 Richtungen unterscheiden, die auf dem nationalen Kongreß, der vom 6. bis 10. Ok- 
'tober 1918 stattfand, vertreten waren. 

1. Die Vierzig, so genannt nach den 40 Unterzeichnern der Entschließung von 
Branting, worin erklärt wird, daß der Nationalismus vor dem Sozialismus komme, 
"und daß die Klassenkämpfe durch die Zusammenarbeit der Klassen ersetzt werden 
müssen. Diese Partei, die zu Kompromissen mit den bürgerlichen Parteien geneigt 
war, verfügte nur über eine ganz geringe Zahl von Mitgliedern. Führer sind: Compere, 
Morel und Varenne, ihr Organ ist „La France libre‘“. 

2. Die Mehrheitler (Majoritaires). Sie heißen so, weil sie bis zum Kongreß 1918 die 
'Mehrheiten der Partei bildeten. Führer sind: Albert Thomas und Pierre Renaudel. 
| 3. Die Centristen. Diese 1916 gegründete Gruppe hatte den Zweck, die Spaltung 
der Partei zu verhindern und wollte dem Weltkapitalismus gegenüber eine einheit- 

liche Front bilden. Die Führer sind: Sembat und Cachin. 

ı 4. Die Minderheitler bilden den Kern der Opposition, sie sind jetzt bereits die Mehr- 
‚heit, Führer: Jean Longuet, Pressemanne und Frossard. | 

"5. Die Kienthaler vertreten das Programm von Zimmerwald und Kienthal und 

haben dementsprechend zwei Jahre hindurch die Kriegskredite abgelehnt. 


"TAN ie eigentliche Spaltung der Parteien trat erst später ein, infolge grundsätzlicher 
| D Verschiedenheiten in der Stellungnahme zum Bolschewismus. Auf dem Straß- 
‚burger Parteitag (Februar bis März 1920) erklärte die französische Sozialdemokratie 
offiziell ihren Austritt aus der 2. Internationale. 

Die erste Begeisterung für den Bolschewismus machte bald Streitigkeiten und 
und Kämpfen Platz, die sich um die Form des Anschlusses an Moskau drehten. Auf 
dem Parteitag in Tours (25. bis 29. Dezember 1920) erklärte sich der Führer der 
Minderheitler Longuet wieder als ein Anhänger der 3. Internationale, wollte aber 
die 21 von den Bolschewisten gestellten Bedingungen nicht anerkennen und sich nicht 
jedem Moskauer Diktate fügen. So kam es zur Trennung; auf der einen Seite stehen 
die „Kommunisten“, die den bedingungslosen Anschluß an Moskau fordern, auf 
der anderen die „sozialistische Partei‘, welche dieses ablehnt und zu der, außer 

Longuet und den Minderheitlern, auch die anderen Gruppen wie die Centristen und 

die Mehrheitler gehörten. Cachin war der Hauptvertreter für den Anschluß an Mos- 
'kau. Den äußeren Anlaß zur Spaltung gab die Abstimmung über die Forderung des 
'Bolschewisten Sinowjew, daß Longuet aus der Partei ausgeschlossen werden sollte. 
"Als die Ablehnung dieser Forderung von der Mehrheit verweigert wurde, kam es zur 
| Trennung; die Abstimmung ergab 2352 von 4763 vertretenen Mandaten für den 
" Anschluß an Moskau und 1022 dagegen. Jetzt gehört die große Mehrheit der soziali- 
\stischen Parteien Frankreichs zu den Kommunisten. Das Parteiblatt ‚Humanite‘“ 

ist in ihre Hände übergegangen. Die gemäßigte, der zweiten Internationale ange- 
| Schlossene Gruppe umfaßt noch 81 Departementsverbände mit 50 000 Mitgliedern. So 
hat der Bolschewismus in Frankreich gerade wie in anderen Ländern zersetzend auf 
’die Arbeiterbewegung gewirkt; er hat nicht zur Einigung, sondern zur Uneinigkeit 
unter den sozialistischen Parteien geführt. 


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84 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
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Die „Kommunistische Partei Frankreichs“ (Sektion der III. Internationale), ent- 
standen aus dem ‚‚Ausschuß der Kommunistischen Internationale‘ (Loriot und Mo- 
natte), wurde nach dem Sozialistenkongreß von Tours Dezember 1920 gegründet, 
Der Organisationskongreß fand Mai 1921 statt. Spaltungen taten der Partei ständig 
Abbruch, so daß sie bei den Wahlen 1925, die den Sozialisten Zuwachs brachten, 
stark verlor. | 

Die Sozialisten hatten 1923 50 000 Mitglieder, während sie 1919 150 000 hatten; 
die Kommunisten 1923 30 000, während sie 1920 178 000 Mitglieder hatten. Bei den 7 
Kammerwahlen 1924 erhielten die Sozialisten 104, die Kommunisten 26 Mandate, 


Vom 15. bis 18. August 1925 fand ein außerordentlicher Parteitag der französi- 
schen Sozialdemokraten statt. Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand die Be- 
sprechung über die Stellung der Partei gegenüber der Regierung. Während eine ) 
Minderheit gegen ein Zusammengehen mit der Regierung war, erklärte die vom 
Parteitag angenommene Mehrheitsentschließung, daß die Partei auch in Zukunft bereit 
sei, jede Regierung parlamentarisch zu unterstützen, welche die proletarischen For- 
derungen für die Friedenssicherung, ferner die Sanierung der Finanzen, steuerliche 
Gerechtigkeit, Sozialversicherung, Heeresreform und Demokratisierung des Unter- 7 
richtswesens ernstlich durchzuführen strebe, Sie werde sich dabei aber stets volle ') 
Handlungsfreiheit wahren und eine Beteiligung an Ministerien, die von anderen Par- | 
teien gebildet seien, ablehnen. 


enn somit die Zersetzung der Sozialdemokratie in Frankreich durch den Bolsche- 

X, wismus eine gewisse Ähnlichkeit mit den Vorgängen in der deutschen Sozial- 
demokratie aufweist, wo esebenfalls aus dieser Ursache zu einer Zersplitterung der 
Partei gekommen ist, so muß doch auf die grundsätzliche Verschiedenheit der sozia- | 
listischen Bewegungen in beiden Ländern hingewiesen werden. Diese Mannigfaltigkeit 
der Partei hat in Frankreich schon vor dem Weltkriege bestanden, und außerdem | 
hat zu keiner Zeit der Marxismus dort dieselbe Bedeutung erlangt wie in Deutsch- 
land. Ich nannte bereits die eine Ursache, die geschichtliche Entwicklung, die so 
viele Systemgründer aufwies. Daß aber besonders die marxistischen Lehren so | 
wenig Eingang in Frankreich gefunden haben, hat seine Ursache in der ökonomischen | 
Struktur Frankreichs und in gewissen Ideenströmungen, die dort die Oberhand haben. 


Zunächst ist Frankreich in viel größerem Maße als England und Deutschland ein | 
argrarisches Land; die ländliche Bevölkerung Frankreichs machte 1901 noch 60,2°/, der 
Gesamtbevölkerung aus; von 5705000 landwirtschaftlichen Betrieben im ganzen | 
gehörten 4843000 zur Größenklasse bis zu 10 ha, also zu den Kleinbetrieben; auf | 
100 in der Landwirtschaft tätige Personen kamen 54,1 Selbständige. Es ist nicht 
zu verwundern, daß in einem Lande, wo in solchem Umfange kleine selbständige 
Eigentümer und kleine selbständige Betriebe bestehen, eine Lehre keine große An- 
hängerschaft gewinnen kann, die behauptet, daß die kleinen und mittleren Betriebe 
rettungslos dem Untergange geweiht seien. So hat die marxistische Richtung in 
Frankreich auch, wie wir gesehen haben, allerlei Kompromisse an die Handwerker, 
Bauern usw. machen müssen, ohne jedoch damit den gewünschten Erfolg zu erzielen. | 
Aber es sind nicht allein diese objektiven wirtschaftlichen Verhältnisse, die das Ein- 
dringen des Marxismus erschweren; die geschichtliche Überlieferung wirkt ebenfalls | 
seinem Aufkommen entgegen. Das französische Volk ist viel zu sehr beherrscht von | 
den Erinnerungen an die Revolution und von den Ideen, von welchen sie getragen 
worden sind, als daß es der nüchternen evolutionären Katastrophentheorie Ge- ) 
schmack abgewinnen könnte. Es fehlt dem Marxismus irgendeine Idee, für die man 
sich begeistern könnte. Es fehlt ihm der Elan, den gerade der Franzose ungern ver- 
mißt. Alle die zahlreichen Sekten und Richtungen seit der französischen Revolution | 
haben bis heute noch ihre Spuren hinterlassen. Die starke Neigung des Franzosen | 
zum Politisieren fördert diese Sekten- und Parteibildung sehr. So ist es nicht zu er- 
staunen, daß eine so zahlreiche Menge von Fraktionen und Fraktiönchen sich gebildet 
hat und bis zum heutigen Tage immer noch neu bildet. Nicht zu vergessen ist auch, | 




















































Karl Diehl: Der Sozialismus in Frankreich 85 


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daß ein stark freiheitlicher Zug, der in Frankreich weit verbreitet ist, sich dem 
"autoritären Wesen des modernen Sozialismus gegenüber ablehnend verhält. 

| Aus der eingewurzelten liberal-individualistischen Grundstimmung heraus haben 
‚die sozialen Systeme, welche der Selbstbestimmung des Individuums großen Spiel- 
raum lassen, so viele Anhänger bis zum heutigen Tage gefunden. Daher die heute 
‚noch sehr starke anarchistische und halbanarchistische Bewegung in Frankreich und 
‚die Versuche, vermittelst sogenannter mutualistischer oder anderer genossenschaft- 
‚licher Gründungen die „soziale Frage‘‘ lösen zu wollen. Umgekehrt ist aber auch die 
| entgegengesetzte Strömung in Frankreich weit verbreitet, nämlich die, welche alles 
Heil vom Staate und von der Staatshilfe verlangt. Man meint, der Staat wäre in der 
| Lage, durch gewisse staatssozialistische Einrichtungen aller Not ein Ende zu be- 
‚reiten; daher auch eine gewisse Hinneigung zu den Ideen und Systemen Louis 
‚Blancs und anderer. Aber einerlei, ob mehr zur freiheitlichen oder mehr zur 
„staatssozialistischen Richtung gehörig, allen gemeinsam ist die Hingebung an 
‚die Republik und die nicht auszurottende Idee, daß die Republik, so wie sie dem 
Volke politische Freiheiten gewährt habe, auch große soziale Reformen durch- 
‚zuführen imstande wäre. So glauben die Sozialisten trotz der verschiedenen 
' Spaltungen in dem Punkte einig sein zu müssen, daß es vor allen Dingen gelte, die 
' Republik gegen alle Gefahren, die etwa von klerikaler oder monarchistischer Seite 
‚drohen, aufrechtzuerhalten. Diese Gedanken sind wiederum antimarxistisch, denn 
‚der Marxist betrachtet die Staatsreform als etwas Nebensächliches, weil es nur auf 
die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ankomme und weil diese 
‚sich unter allen möglichen Staatsformen finde. Die Sozialisten, welche glauben, 
"vor allem die Republik aufrechterhalten zu müssen, sind geneigt, mit anderen 
"politischen Gruppen zusammenzugehen, wenn diese nur ebenfalls den Schutz der 
"republikanischen Freiheiten zu garantieren suchen. Aus diesem ganzen Gedankengang 
\herausergibtsich die Neigung derfranzösischen Sozialistenzur demokratischen Reform- 
"politik statt zur Klassenkampfpolitik, wie sie der Marxismus fordert. Damit hängt 
auch ein stark nationaler Zug des französischen Sozialismus zusammen, der sich wieder- 
‚um schlecht mit den internationalen Ideen des Marxismus verträgt. 


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‚Der Werdegang der französischen Gewerkschaften 


Von Franz Winkler in München 


| as Niederreißen der Türme der Bastille war ein Symbol des Zusammenbrechens 
| der politischen Schranken, welche die beiden höheren Klassen, die Geistlichkeit 
‘und die Aristokratie von dem dritten Stand sonderten. Die Revolution schuf 
‚ politische Gleichheit und ökonomische Freiheit, also das, was man im vorigen Jahr- 
| hundert als Fortschritt‘ oder als Liberalismus bezeichnete. Das waren die äußeren 
ı Errungenschaften; jene, die im Innern der Menschen ihren Sieg feiern durften, können 
\ unter einem Sammelbegriff, Materialismus, zusammengefaßt werden. 

ı Es wurden nicht nur Schranken zwischen Klassen niedergerissen, sondern auch 
\ Bande zerrissen, die bisher gewisse Menschengruppen aneinander hielten. Jeder 
| Mensch sollte im Kampf ums Dasein auf sich selbst gestellt werden. Bauern, die 
| Jahrhunderte hindurch im Gutsherrn nicht nur den „sterilen Unterdrücker‘, son- 
, dern einen Helfer in der Not hatten, dessen Interesse dem ihrigen gleich war, wurden 
} im Augenblick ihrer Befreiung wirtschaftlich auf die Straße gesetzt, denn der, der 
‚ihnen früher beigestanden hatte, verließ sie am place de la Greve — oder saß 
"in England. Besser schien es dem Arbeiter zu gehen, der zwar auf dem Trümmer- 
‚ haufen der Zünfte und Gewerkvereine (Compagnonnages) Keinen Schutz mehr 
finden konnte, dem aber die aufsteigende Industrie oder die Armee unter die Arme 
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' griff. Das war jedoch nur im Anfang so. Eine Entwicklung der Industrie begann, 
 diein der Geschichte beispiellos dasteht. Der entfesselte Kapitalismus kannte keine 


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86 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
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Rücksicht, unter seinen Rädern wurde alles zermalmt, was sich nicht in seinen Dienst 
stellen wollte. Er griff die Klassen an, jetzt wirtschaftlich, drängte sich jedem auf 
und forderte Opfer von jedem Stand. Sein größtes Opfer war der Arbeiter. Er hatte 
ja nichts außer seiner Arbeitskraft, die er in den Dienst des Kapitalismus stellen 
mußte. Und diese Arbeitskraft wurde gesucht, denn die industrielle Entwicklung 
schuf neue Bedürfnisse, deren Befriedigung lockenden Gewinn versprach. Und doch 
konnte der Preis dieser Arbeitskraft nicht höher steigen, denn die wurzellos ge- 
wordenen Bauernsöhne drangen scharenweise zu den Industriestätten und bewirkten 
einen Wettbewerb, der jedes Aufkommen der Arbeiter aus ihrer trostlosen Lage un- 
möglich machte. Dazu kamen die neuen Erfindungen, die größten Feinde der da- 
maligen Arbeiter; vergebens zerschlugen sie Foultons Dampfschiff, die junge Bewegung 
des liberalen Kapitalismus ging überall als Sieger hervor. Der Arbeiter sah nur zu 
oft mit Sehnsucht auf seines Vaters ‚unterdrücktes Bauernleben‘ zurück und 
sarık tiefer und tiefer. Er begann zu fühlen, daß die Revolution für ihn nichts übrig 
hatte, doch wußte er noch nicht, wo es fehlte. Erst später wurde die Kraft der Massen 
erkannt. Man versuchte Gleichinteressierte in einer Gruppe zu versammeln und die 
anfänglich kümmerlichen Versuche brachten immer mehr Erfolge. Die Bewegung 
wuchs, und allmählich entstehen die bedeutendsten Institutionen des Lebens- 
kampfes der Arbeiter, die Gewerkschaften. 


ie Revolution der ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘‘, die die Zünfte und 

die Gesellenverbände auflöste, schuf strenge Gesetze gegen jede berufliche Ver- 
einigung der Arbeiter (1791), und diese konnten sich nur ausnahmsweise, geduldet, in 
kleinen Gruppen organisieren und nur mit dem betonten Zweck, sich gegenseitig in der 
Not zu unterstützen. Diese „Mutualites Professionelles“ nahmen Arbeiter aus einem 
Gewerbezweig auf, forderten ein Eintrittsgeld von 5 bis 10 Frs. und unterstützten als 
Gegenleistung die Mitglieder im Falle einer Krankheit oder Arbeitslosigkeit. In den 
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts haben sie sich sehr vermehrt, doch ihr 
Zusammenschluß war gesetzlich verboten. Sie hatten politisch oder ökonomisch 
keine Bedeutung; doch ihre erzieherische Tätigkeit ist nicht zu unterschätzen. Eine 
eigentliche Gewerkschaftstätigkeit ist aber noch nicht vorhanden. 


Diese Epoche wurde nach 30 Jahren überwunden und es kam der Gedanke der 
„Resistance“ auf. Die neueren Organisationen.waren schon von der Idee des Wider- 
standes beseelt, sie beschränkten sich nicht mehr auf blosse Unterstützung, sie wollten 
auch die Interessen der Arbeiter gegen den Arbeitgeber schützen. Sie wurden auf 
breiterer Grundlage organisiert, die Mitglieder wurden vor der Aufnahme auf ihre 
Zuverlässigkeit und Sitten geprüft und mußten vollständiges Stillschweigen ver- 
sprechen. Die charakteristischste dieser Vereinigungen ist die „Devoir mutuel de 
Lyon‘, welche die Arbeiter und Werkstättenvorsteher in sich vereinigte um der 
Lohndrückung durch die Arbeitgeber (Stofflieferanten) entgegenzuwirken. 


Wir sehen, daß die einzelnen Gewerkschaften sich bereits mit der wirtschaftlichen 
Verteidigung ihrer Mitglieder befassen. Ein größeres Ziel, das sie zum Angriff an- 
spornen hätte können, besaßen sie noch nicht, auch waren die vereinzelten Gewerk- 
schaften dazu zu schwach, materiell wie politisch. Doch konnte die Entwicklung nicht 
stehenbleiben. Die taktische Notwendigkeit des Zusammenarbeitens der vereinzelten 
Gewerkschaften wurde mehr und mehr erkannt und durch die Verbesserung 
der Transportmöglichkeiten gefördert, welche die Stätten der Industrie einander 
näher brachten. Das neue Ziel, die Besitzergreifung der Produktionsmittel, 
wurde aufgerichtet und Karl Marxens Buch gab die wissenschaftlich-theoretischen 
Grundlagen. Nun war der Kampf nicht nur wegen Lohnuneinigkeiten gegen den 
einzelnen Arbeitgeber gerichtet, sondern er galt dem ganzen ‚„Patronat‘“, dem 
System der Produktion, der ganzen Gesellschaftsordnung. Jeder Arbeiter war an 
diesem Kampfe gleich beteiligt und aus dieser Interessengemeinschaft entstanden 
die „Federations des metiers‘“ und die „Federations d’industrie‘“‘, welche die 
Arbeiter der gleichen Produktionszweige des ganzen Landes in sich auf- 









Franz Winkler: Der Werdegang der französischen Gewerkschaften 87 





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‚nahmen. 1) Später bildete man, um alle Lohnempfänger der französischen Industrie 
‚ineinem Lager zu vereinigen, die „Confederation general du Travail‘ (Limoges 1895), 
‚die dann Trägerin der syndikalistischen Ideen wurde. 


ie wahren Grundlagen der heutigen Gewerkschaften in Frankreich sind die 
Arbeiterbörsen (Bourses du Travail). Sie sind kennzeichnend für die französische 
ee echaftsbewegung, die ohne ihre Kenntnis nicht zu verstehen ist. 


‘Die Aufgabe der Arbeiterbörsen ist die örtliche Vereinigung der Gewerkschaften 
‚derselben Gemeinde oder desselben Departements. Sie sollen jederzeit in jedem 
"Gewerbezweig unterrichtet sein über die Zahl der Arbeitslosen, über die Lage der 
‚einzelnen Industriezweige, die Menge der hergestellten Güter und der notwendigen 
Güter in bezug auf die Bevölkerung ihres Bereichs. Auf diesem Wege nur wird 
‚es möglich sein, die Arbeit zu organisieren und so die Aufgabe zu erfüllen, welche die 
‚neue Gesellschaft von ihren Angehörigen fordert, die neue Gesellschaft der frei- 
willigen und freien Vereinigung der Produzenten, die aus diesen Arbeitsbörsen her- 
vorgehen wird?). 

, Schon im Jahre 1842 wurde der Gedanke eines Arbeitsvermittlungsamtes aufge- 
ı worfen, doch er hatte ebensowenig Erfolg, wie der zweite Versuch des Conseil Munici- 
'pal in Paris 1875. Erst im Jahre 1886 wurde der Seinepräfekt mit der Organisierung 
‚eines Arbeiter-Stellenvermittlungsamtes betraut, welches am 3. Februar 1887 in 
der rue J. J. Rousseau zum ersten Male seine Tore öffnete. Kurz darauf folgte 


diesem Beispiel auch die Provinz und es entstanden nacheinander die Arbeiter- 


'börsen in Toulon, Toulouse, St. Etienne, Lyon, Marseille usw. 


‘Im Jahre 1893 erschienen beim Kongreß zu St. Etienne die Delegierten von 10 Ar- 
beiterbörsen und gründeten die „Federation des Bourses du Travail‘. 3 Jahre später 
erschien an dieser neuen Kampffront der Proletarier Fernand Pelloutier, mit dessen 
"Namen nicht nur der Werdegang der Arbeiterbörsen, sondern auch die ganze Ge- 
ı werkschaftsbewegung in Frankreich unzertrennlich verbunden ist. Der fernblickende 
ı Mann erkannte die wahren Ziele und die erfolgreichsten Kampfmethoden und wies der 
‚ganzen Arbeiterbewegung eine neue Richtung. Seine Parole lautete: Allgemeiner 
‚Streik, antimilitaristische und antipatriotische Propaganda und rücksichtsloser 
| Kampf gegen den Arbeitgeber. Die Arbeiterbörsen waren unpolitisch, Anarchisten, 

‚ Sozialisten und jeder wurde aufgenommen um gegen ein Ziel, das ökonomische, 

orientiert zu werden, dessen letzter Akt die Besitznahme der Produktionsmittel sein 
‚sollte. Die Zahl der Arbeiterbörsen wuchs rasch, sie zählten 1898 51, 1900 57, mit 
1065 Gewerkschaften. Doch Pelloutier konnte die größten Erfolge seiner Tätig- 
‘keit nicht mehr sehen, denn er starb 1901. Ein Jahr später siegten seine Ideen 
| ‚und dieser Sieg fand seine Verkörperung in der großen Vereinigung aller organisierten 

Arbeiter im Congres national corporatif zu Montpellier. Die Arbeiterbörsen ver- 
drängten die „Guesdisten“, die auf parlamentarischem Wege für die Arbeiter 
| kämpfen wollten, und schmolzen in die Confederation generale du Travail hinein. 
ı Jetzt wurden erst die zwei großen Fundamente geschaffen, auf welche sich die 
I: G. T. aufbaute: 1. Die professionelle Organisation (Federation de metiers et 
|  Findustrie), 2. dieörtliche (Boursesdu Travail,späterUnions departementalesgenannt). 


| DD: Sieg der Syndikalisten über die „Possibilisten‘‘ war vollständig. Wohin der 
| neue Weg führen sollte, das wurde in der Charte d’Amiens niedergelegt, am 
ı XV. Congres national corporatif in Amiens vom 8. bis 16. Oktober 1906: 


1. Kampf gegen das Salariat und Arbeitgebertum. 

2. Dieser ist auf dem Wege des Klassenkampfes durchzuführen. 

‚8. Der Klassenkampf erfolgt in erster Linie auf wirtschaftlichem Gebiet und äußert sich 
‚vorwiegend in Lohnkämpfen und im Bestreben die täglichen Arbeitsstunden zu verkürzen. 





‚2 Arbeiter eines metiers sind solche, die dasselbe Produkt erzeugen, die einer Industrie 
‚solche, die denselben Stoff verwandeln. 
2) Pelloutier, Histoire des Bourses du Travail. 




























































































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8 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
——— EEE TEE ERESCHEEEETERESCEEEEEEn 








4. Endziel ist die Besitzergreifung von allen Produktionsmitteln, und die Schaffung dieser 
neuen Produktionsweise wird ihre Grundlage in den Gewerkschaften finden. 

Hinzu kommen noch die 1908 in Marseille niedergelegten Zielsetzungen, welche die 
politischen Ziele der Bewegung im Antimilitarismus und Antipatriotismus kenn- 







zeichnen. Man stellte die Richtlinien fest, nach welchen die Arbeiterschaft nur wirt- 


schaftliche, aber keine politischen Grenzen kennt. Der Arbeiter hat kein Vaterland; 
und da jeder Krieg als Attentat gegen die Arbeiterschaft betrachtet wird, so sagt 
das Protokoll des Kongresses ‚en cas de guerre entre Puissances, les travailleurs 
repondent ä la declaration de guerre par une declaration de gröve r&volutionnaire“, 


An diesen Dogmen wurde festgehalten und die neue Kampfmethode wurde ange- 


wendet. Streiks und blutige Zusammenstöße sind die Folge gewesen. Es entstand 


eine fürchterliche Armee im Staate, die ihre Waffen gegen den Staat richtete und 


die dann merkwürdigerweise doch auf die Seite des Staates trat. 


N); Erregtheit und Spannung, dieim Juli 1914 die Gemüter beherrschte, stieg auf 


ihren Höhepunkt, als man die Ermordung Jaures’ vernahm. Jaures war der auf- 


richtigste und begabteste Vorkämpfer der sozialistischen Ideen in Frankreich, und. 


mit seiner Person wurde der gefährlichste Gegner des Revanchegedankens beseitigt. 


Sein Mörder wurde für wahnsinnig erklärt, es erwies sich aber bald, daß manchmal 
auch Wahnsinnige einer Regierung gute Dienste erweisen können. Es kam die 


Beerdigung — am 4. August — und die kurzsichtigsten der Bürger erwarteten 
Rache und Revolution. Da trat Jaures’ Nachfolger, Jouhaux, am Grabe des er- 
mordeten Führers vor die Menge und begann zu sprechen. Er sprach leidenschaftlich, 
zündend — nicht gegen die Mörder, sondern gegen Deutschland und Österreich- 
Ungarn. „Deutschlands und Österreichs Herrscher, getrieben durch den Haß gegen 
die Demokratie, wollen den Krieg, wir aber werden helfen die Totenglocken läuten, 
welche das Ende ihrer Herrschaft verkündigen sollen. Wir werden die Soldaten der 
Freiheit sein.“ Die Regierung hatte gewonnen. (M. St. Leon: Les deux C, G. T., S. 19.) 

Merrheim, der Sekretär der Metallarbeiter, sagte später auf dem Kongreß in Lyon 
1919: „Man muß sich die damalige Lage vergegenwärtigen. Wir waren gänzlich 
machtlos. Die Arbeiterschaft von Paris war von einer fürchterlichen nationalistischen 
Krise heimgesucht, sie hätte sich wenig gekümmert, wenn die Regierung uns erschießen 
hätte lassen, ja sie selbst hätte uns niedergeschossen.‘“ Es scheint, daß dies tatsäch- 
lich der Fall war und daß man diese Tatsache auch als einen Beweis dafür betrachten 
muß, daß der Krieg nicht diesseits des Rheins erdacht worden ist, sondern daß eben 
in dieser Stimmung ein Beweis der Revanchehetze zu erblicken ist. 

So wurden also plötzlich die Internationalisten Nationalisten und die Antimilita- 
risten Soldaten. Und daß es ihnen, insbesondere den Führern, nicht zu schwer fiel, 
dieser „fürchterlichen Krise des Nationalismus“ nachzugeben, dafür sorgte die Re- 
gierung. Die Regierung Viviani schloß einen Pakt mit der C.G. T., in dem dieser 
versichert wird, daß man nicht nur von der Internierung der staatsgefährlichen 
Elemente, wie sie in dem Mobilisierungsplan vorgesehen war, absehen, sondern diese 
nur im Hinterlande in Fabriken verwenden werde. Außerdem wie das „Bulletin 
communiste‘“ vom 1. September 1921 schreibt: „Des fonctionnaires et des chefs 
ouvriers furent assures contre les risques de guerre, le gouvernement contre une 
Opposition en masse au grand crime de la mobilisation“. Jouhaux wurde Commissaire 
a la Nation und auch die meisten seiner Freunde stellten ihre Arbeitskraft der 
Regierung zur Verfügung. 

Dieses Bündnis dauerte allerdings nicht bis zum Ende des Krieges. Es wurde all- 
mählich gelockert, parallel mit dem Abflauen der Kriegsbegeisterung. Die Führer 
der C. G. T. begannen ihre Beziehungen zu den ausländischen Genossen wieder 
aufzunehmen. Trotzki schürte zwar in Paris, aber man ging doch nach Bern 
und Zimmerwald, wo mit Lenin und den deutschen Gewerkschaftsführern ver- 
handelt wurde. Aber man konnte zu keinem Ergebnis kommen, die Regierung war 
zu stark, Englands Truppen waren im Lande, und wenn sich auch später der Minister 
des Innern, Malvy, als schwach erwies, so mußte er dafür im Gefängnis büßen. 

























Franz Winkler: Der Werdegang der französischen Gewerkschaften 89 
Die Zeit nach dem Waffenstillstand brachte keine wesentlichen Ereignisse. Die 
eintretende Arbeitslosigkeit schuf allerdings manche Störungen, und die russische 
‚ Revolution hatte auch gewirkt. Die Führer der C. G. T. verhielten sich vorsichtig 
und warteten. Man wußte ja nicht, was noch geschehen würde. Es gab noch viele 
ungelöste Probleme, entstanden durch die Revolutionen und Friedensdiktate, deren 
weitere Entwicklung unübersehbar war. Erst als die russische Niederlage vor 
Warschau deutlich von der Schwäche der Extremisten sprach, da entschloß sich 
Jouhaux und wandte sich gegen den Kommunismus. Er wurde schon früher auch 
. von dem Kapitalismus unterstützt. Loucheur rief den Industriellen schon am 1. Mai 
1919 zu: „Sendet alle Leute zur C. G. T., ihr unterstützt damit Jouhaux, denjenigen 
der bremst‘. (Valois, La Reconstruction &conomique del’Europe, S. 140.) Tatsächlich 
erhielt Jouhaux das Vertrauen der Mehrheit, die sich scharf gegen die kommunistische 
Minderheit wandte. Man wollte vom Sowjet nichts wissen und lehnte das Befehls- 
gebungsrecht des „offiziellen Kommunismus‘ ab. Die Minderheit versammelte sich 
in St. Etienne im Juli 1922 und gründete die ‚„Confederation generale du Travail 
Unitaire“, welche seitdem zu der alten C. G. T. im schärfsten Gegensatz steht. 


as Ziel der C.G.T. U. ist: ‚Das Versammeln aller Lohnempfänger vorwiegend 

D auf wirtschaftlicher Grundlage zwecks Verteidigung ihrer materiellen und mora- 
lischen Interessen; die Verfolgung des Zieles Befreiung der Arbeitenden durch den 
‚Klassenkampf. Diese Befreiung kann nur durch die Umwandlung der heutigen Gesell- 

ı schaftsordnung erfolgen, vermittelst der Bekämpfung des Salariats und Patronats.“ 

Die C. G.T. U. besteht aus: 1. Den Gewerkschaften, gruppiert in den örtlichen 
Vereinigungen, 2. den Unions d&partementales, 3. den Unions regionales und 4. den 
Federations d’industrie. Sie wird nach den Weisungen verwaltet, welche am Gewerk- 
schaftskongreß im Herbst jeden zweiten Jahres beschlossen werden; in der Zwischen- 

zeit durch das Comit& confederal National und die Commission administrative. 
Erstere besteht aus den Delegierten der U. D. und der Föderationen (je I Vertreter 
pro U. D. u. F.), welche dritteljährig tagen; außerdem durch die C. A. Standort der 
C. G.T.U. ist in Paris, Rue Grange-aux-Belles 33. 

Ihre stärksten Föderationen sind: Federation nationale des travailleurs de chemins 
de fer (ca. 30 000 Anhänger), Federation postale unitaire (ca. 8500), Federation des 
Textiles (?) und die Federation unitaires des travailleurs du Livre (ca. 13 000). Die 
Zahl aller Mitglieder der C. G. T. U. wird wohl kaum über 150 000 betragen. 

Ihre größte Tageszeitung ist L’Humanite, außerdem besitzt sie noch eine große 
Anzahl von kleineren und sehr viele Fachzeitungen. Ihre Interessen in der Kammer 
werden von den 24 kommunistischen Abgeordneten verfochten. 

Man möchte glauben, daß die C. G. T. U. nach der Entzweiung nun einer Meinung 
ist im Kampfe gegen den Kapitalismus. Es ist aber nicht so. Die Mehrheit folgt den 
Befehlen der III. Internationale von Moskau, die Minderheit zersplittert sich in 
revolutionäre Syndikalisten, Föderalisten, Autonomisten und Anarchisten. 


enn wir vor einer offiziellen Deklaration der C. G. T. stehenbleiben, dann 

würden wir uns zunächst verwundert fragen: ‚Warum denn dieses Schisma? 
' „Die sagen ja dasselbe, was die C. G. T. U. sagt, sie weichen ja nicht mit einem Haar 
‚ von dem ab, was vor dem Kriege in der Charte d’Amiens ausgesprochen wurde.‘ 
' Dieses Rätsel wird sich aber bald lösen, wenn wir das Wollen und Tun der ein- 
zelnen Führer prüfen. Da finden wir ganz erhebliche Abweichungen von den Vor- 
' kriegszeiten. Als Beispiel seien nur zwei wichtige Ideenänderungen hervorgehoben, 
die des Generalstreiks und die des Antimilitarismus. 

Die C. G. T. von heute verwirft die „action directe‘“. Sie will auf Umwegen dort- 
hin kommen, wohin sie früher über Leichen hinweg trachtete (die Leichen sollten 
‚ nur nicht die der Führer sein). Jouhaux schreibt in seinem Buch: LaC. G. T. et le Syn- 
 dicalisme: „Die action directe ist nicht die gewaltsame Vorbereitung der Unordnung, 
der Aufruhre, der Barrikaden, sondern die Tatsache, daß die Arbeiter ihre Angelegen- 
heiten selbst regeln sollen, aus eigenen Kräften, daß sie den Vermittlerwert des 


Die Sozialdemokratie in Frankreich und England (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 8) 7 








90 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
RE BR a DE STREBEN ERBTDTNTR RSTET BE HEETEE TR DT NEN RETTET BE ER UNE ENTE nt ELTERN ur (ERBE SS EEE 


Staates leugnen (qu’ils nient la valeur intermediaire de l’&tat) und daß sie nur ge- 
willt sind, eine Aktion rein auf dem ökonomischen Gebiet zu führen.‘‘ Und über den 
Generalstreik sagt er, daß dieser nur dann möglich ist, wenn das Proletariat genügend 
reif ist, um die Welt nach seiner eigenen Weise umzugestalten. Das soll heißen: 
Jetzt ist es noch nicht genügend reif dazu. Und diese Umgestaltung hält auch Du- 
moulin — Sekretär der C. G. T. — für eine schwierige Aufgabe. ‚Alles ist noch nicht 
getan mit der Besitzergreifung der Fabriken,‘ schreibt er in „l’Atelier“ vom 19. Ja- 
nuar 1921. ‚Wem sollen sie denn dienen, wenn die Käufer fehlen? Was hat man 
davon, wenn man sich der Automobilfabriken und der Diamantenwerkstätten be- 
mächtigt, wenn die reichen Käufer uns boykottieren und nichts mehr kaufen?“ 

Eine ähnliche ‚‚Revision‘ erfuhr auch der Antimilitarismus. Früher hetzte man im 
„Manuel du Soldat‘ gegen die Armee ‚‚den Wachhund des Kapitalismus“ und stiftete 
zu Meutereien an. Heute ist es, wie Jouhaux selbst sagt (M. St. L&on, Les deux 
C.G.T.,S.63), „simplement une protestation contre l’armee.. c’est une manifestation 
contre le chauvinisme.‘ Chauvinisme, sagte Jouhaux, früher hieß er noch patriotisme. 


ieC. G.T. ist aufgebaut auf den 1. Federations nationales d’industrie, 2. Unions d6- 
partementales. Siegehört zur „Federationsyndicaleinternationale‘ (Amsterdam). 
Im Comite confed£ral national sind alle Gliedorganisationen vertreten, ihm obliegt 
die Verwaltung. Die Geschäftsführung erfolgt im Wege der Commission administra- 
tive und des Bureaus in der Rue Lafayette in Paris. Die Zahl der Mitglieder kann 
heute auf ca. 450 000 geschätzt werden (M.St. Leon). Sie betrug 1912 600 000 und 
1920 über 2000 000 (Jouhaux’ Angaben am VIII. Kongreß der Federation des 
Textiles im August 1922, Mülhausen). Offizielle Zeitungen sind „Voix du Peuple“ 
und „Droit ouvrier‘ (subventioniert), außerdem ‚l’Oeuvre“, Interessenvertretung 
in der Kammer erfolgt durch die 104 sozialistischen Deputierten, die auch manch- 
mal mit den 225 „radicaux socialistes‘“‘ (Herriot), die den Übergang zwischen dem 
bürgerlichen Bloc national und den Sozialisten bilden, zusammen gehen. 


ie „Christlichen‘“ Gewerkschaften (Confederation Frangaise des Travailleurs 

Chretiens), die auf katholischer Grundlage (Enzyklika Rerum novarum), aufge- 
baut sind, seien nur kurz erwähnt, weil sie dem Staat wenig Sorgen verursachen und 
deswegen auch nicht gefürchtet werden. Heute können sie in Frankreich in erster 
Linie als eine Hochburg des religiösen Gedankens betrachtet werden, was um so 
wichtiger ist, als 38 Millionen Franzosen nur auf dem Papier Katholiken sind. Die 
erste Gewerkschaft entstand in der Corporation de la Soierie Lyonnaise 1887. Heute 
besteht die C.F.T.C. aus 23 Unions regionales und 7 Föderations nationales de 
metiers und zählt insgesamt ca. 125 000 Mitglieder. 


en zukünftigen Weg der Gewerkschaftsbewegung kann man heute noch nicht 
D kennzeichnen. Die Gewerkschaften haben ihre Ideen und so auch ihre Bedeutung 
verloren. Ist das nur vorübergehend so? Die Frage bleibt vorläufig dahingestellt. 
Eines ist aber sehr wahrscheinlich, ihr Leben kann nur verlängert werden, wenn sie 
den bisherigen materialistischen Geist und die Idee des heute noch sehr unreifen 
Internationalismus über Bord werfen. Ihr Ziel haben sie nicht erreicht, wie es bisher 
noch keine soziale Bewegung erreicht hat. 

Die Gewerkschaften entstanden als Reaktion gegen einen oft verheerend wirkenden 
materialistisch-kapitalistischen Geist, der vielfach nur Haß und Erbitterung erwecken 
konnte und der durch Besitzungleichheiten ebenso hohe Wälle zog wie die politischen 
im 18. Jahrhundert. Und diese Wälle waren von einem materialistischen und sehr 
steifen privateigentumsrechtlichen Geist erbaut; sie wurden von den Gewerkschaften 
durchbrochen wie die politischen Wälle von der Revolution. Die Bewegung scheint 
sich heute auf dem absteigenden Ast zu befinden. Doch ich glaube nicht, daß es um 
die Institutionen geschehen ist. Der Fehler ist in der Ideenlosigkeit zu suchen. 

Die Sozialdemokraten sind angesichts der Unmöglichkeit der Verwirklichung ihres 
Programmes stehengeblieben und haben später den Rückzug angetreten. Das Bei- 
spiel sehen wir im Deutschen Reich. Die Kommunisten haben noch nichts eingesehen, 











Franz Winkler: Der Werdegang der französischen Gewerkschaften 91 


A nicht einmal was sie hätten sehen können, wenn sie nur gewollt hätten. Das Beispiel 
- ist Rußland. Und beide bekämpfen sich heute aufs schärfste. In diesem Kampfe 
7 sollen die Gewerkschaften verbluten ? 


Die Rettung wäre da — und es ist anzunehmen, daß sie auch nicht verschmäht 
wird, wenn die Gewerkschaften sich von ihrer heutigen Weltanschauung zu tren- 
nen. Wir gehen einer Zeit entgegen, die (die nationalen Grenzen schärfer denn je 
ausprägen wird. Der reine Materialismus wird verschwinden, um einer höheren Welt- 
anschauung den Weg zu räumen. Wenn die Gewerkschaften es fertigbringen, 


sie in sich aufzunehmen, und sich von nun an aufrichtig in den Dienst der Nation 
' stellen, um so mittelbar auch für das Wohl des Arbeiters zu sorgen, dann werden 


sie in der Zukunft nicht „die Feinde des Aufbaus‘ sein, wie sie Georges Valois 
nennt, sondern eine mächtige Stütze des Staates der nahen Zukunft, des nationalen 
Staates. In dieser Richtung können die ‚„Christlichen‘‘ als Wegweiser dienen, wie 
auf manchen anderen Gebieten die freien Gewerkschaften den christlichen voran- 
gegangen sind. 


Die Arbeiterbewegung in England 


Von Dr. Wilhelm Dieckmann in Potsdam 


ie englische Arbeiterbewegung muß in ihrer Eigenart und Besonderheit aus den 
Ursachen verstanden werden, die die soziale und kulturelle, politische und wirt- 
schaftliche Entwicklung und Gestaltung des englischen Staates und Volkes überhaupt 
bestimmt haben. Damit soll gesagt werden, daß sich der Emanzipationskampf 


| - der Arbeiterschaft, des in der und durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung ent- 


standenen und zu einem selbständigen sozialen Gebilde gewachsenen Proletariats 
in England unter anderen Bedingungen und in anderen Formen vollzogen hat 
und vollzieht, als etwa in Deutschland oder Frankreich, den beiden anderen in der 
modernen sozialen Bewegung führenden Ländern. Als typisches Merkmal der eng- 


lichen Bewegung hat bereits M. Heß in seinem 1841 erschienenen Hauptwerk ‚Die 


europäische Trierarchie‘ das politische Moment bezeichnet, während im deutschen 
Sozialismus die Idee der geistigen, im französischen die Idee der sittlichen Freiheit 


- verkörpert sei. Ähnliche Einteilungen sind wiederholt vorgenommen worden. So 


spricht auch W. Sombart von den drei „repräsentativen Typen“ und sieht in dem 
deutschen Sozialisten den im Banne von Lehrmeinungen stehenden Gelehrten, in 
dem französischen den im Banne von Personen stehenden Künstler und in dem 
englischen den im Banne von Tatsachen stehenden Kaufmann!). 

Es entspricht dem auf das Praktische gerichteten Charakter des Engländers und 
kennzeichnet daher das Wesen der englischen Arbeiterbewegung, daß sie nicht auf 
der Grundlage irgendeines papiernen theoretischen Systems aufgebaut, sondern aus 
der Realität der Verhältnisse herausgeboren und im Kampf mit dieser Realität 


groß geworden ist. Ebensosehr ist sie in ihrer Zielsetzung allen ideologischen, ge- 


schweige denn utopischen Anschauungen abhold. Diese grundlegenden Momente 
gilt es im Auge zu behalten, wenn man den Begriff des Sozialismus auf die englische 
Arbeiterbewegung überträgt. Gewiß sind in ihr vor allem in neuester Zeit in wach- 
sendem Maße dieselben sozialistischen Elemente lebendig, wie sie im Zeitalter des 
Kapitalismus überall in Erscheinung getreten sind und in der Marxschen Lehre 


ihr theoretisches System erhalten haben. Trotzdem läßt aber die geschichtliche 


und die soziologische Betrachtung der Arbeiterbewegung in England den englischen 
Sozialismus in seiner Eigenart und Selbständigkeit erkennen. Die marxistische 


- Theorie hat, obwohl ihr Urheber das ihr zugrunde liegende Tatsachenmaterial aus dem 


Zustand der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse des damaligen Englands ge- 
nommen hat, eine nennenswerte Anhängerschaft in England nie gefunden und wird sie 


1) Sombart, Der proletarische Sozialismus, 1924, Bd. II, S. 359. 





92 DieSozialdemokratiein Frankreich und England 


mm nme rn m nern ven mn mn nn mm m mn mern mare nn 


auch nie finden, weil sie der ganzen Charakterveranlagung des englischen Volkes 
wesensfremd ist. Nicht minder bezeichnend ist es, daß der Name Sozialismus, abge- 
sehen von einzelnen einflußlosen Parteigrüppchen, so gut wie gar nicht parteibildend 
gewirkt hat, daß in England dem Begriff Sozialismus gegenüber geradezu eine gewisse 
Scheu herrscht, die ihren Ausdruck darin findet, daß hier zur Bezeichnung des Inhalts 
der Arbeiterbewegung das Wort Labourismus (labourism) bevorzugt wird, obwohl 
beide Begriffe nicht ohne weiteres identisch sind. Der Sozialismus englischer Prägung 
ist vor allem nicht wie in Deutschland oder Frankreich ein Weltanschauungsproblem, 
das in unmittelbaren Zusammenhang mit Grundfragen des menschlichen Gesell- 
schaftslebens überhaupt gebracht wird, sondern letzten Endes ein Organisations- 
problem, für das der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit ausschlaggebend ist. 


iermit hängt zusammen, daß das revolutionäre Moment, das den kontinental- 
H europäischen Sozialismus wenigstens in seiner konsequenten Gestalt wesentlich 
kennzeichnet, keine entscheidende Rolle spielt oder richtiger gesagt diese Rolle aus- 
gespielt hat. Denn wiederum bezeichnenderweise war es England, das als erstes 
unter den kapitalistischen Ländern in der sogenannten Chartistenbewegung der 40er 
Jahre des 19. Jahrhunderts eine rein proletarische Bewegung mit stark sozialistisch- 
revolutionärem Einschlag erlebte. Im Chartismus, den S. Webb die heroische 
Epoche der englischen Arbeiterbewegung nennt, kam die dumpfe Verzweiflung 
der unter der rücksichtslosen Herrschaft des jungen Kapitalismus ausgebeuteten 
Arbeiterschaft zum elementaren Ausbruch. 

Wenn diese Bewegung schließlich ohne unmittelbare Nachwirkungen zusammen- 
brach, so hat sie doch Kräfte ausgelöst, die dem Schutz der Arbeiterschaft 
gegenüber kapitalistischen Auswüchsen durch sozialpolitische und sonstige staatliche 
Maßnahmen für die Folgezeit den Weg bereiteten. Für die englische Arbeiterschaft 
brachte der Ausgang der revolutionären Bewegung eine außerordentliche Ernüchte- 
rung, die sie dazu veranlaßte, sich mit der bestehenden politischen und wirtschaft- 
lichen Ordnung abzufinden und zu versuchen, durch Selbsthilfe und entsprechende 
geeignete Mittel innerhalb dieser Ordnung ihre soziale Lage zu verbessern. Diese 
Mittel der Selbsthilfe waren die Gewerkschaften und Genossenschaften, die in der 
sozialen Bewegung Groß-Britanniens eine ausschlaggebende Rolle spielen und Vor- 
bild auch für andere Länder wurden. In der Tat ist es den in den Trade Unions organi- 
sierten Arbeitern gelungen, an Hand der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel 
(Koalitionsfreiheit, Tarifverträge, Einführung besonderer Arbeitsmethoden, An- 
wendung gewerkschaftlicher Kampfmaßnahmen) ihre Stellung im wirtschaftlichen 
Interessenkampf dauernd günstiger zu gestalten und am Aufschwung des englischen 
Wirtschaftslebens teilzunehmen. Man muß allerdings berücksichtigen, daß der 
Trade-Unionismus, wenigstens in seiner ursprünglichen Form — und das ist wiederum 
kennzeichnend für das Wesen der sozialen Bewegung in England — keine eigentliche 
Massenbewegung war, sondern sich unter zünftlerischen Einflüssen in seiner Wirk- 
samkeit auf bestimmte Arbeiterkreise, und zwar auf die qualifizierten industriellen 
Arbeiter beschränkte, während man ursprünglich von einer gewerkschaftlichen 
Organisierung halbgelernter bzw. ungelernter oder gar weiblicher Arbeiter nichts 
wissen wollte. In dem Bestreben, die Lage dieser gehobenen Arbeiterschichten 
„durch Aufrichtung von Monopolen zum Zwecke der Einschränkung des Angebots 
von Arbeitskräften, gesichert durch Beschränkung der Lehrlingszahl, begrenzte Zu- 
lassung zu den Gewerben, strenge Umgrenzung der Arbeitszweige‘“!) zu verbessern, 
sah der Trade-Unionismus seine eigentliche Aufgabe. Im engen Zusammenhang mit 
dieser Exklusivität steht die starke Zersplitterung der gewerkschaftlichen Organi- 
sationen, die sich eifersüchtig und mißtrauisch gegenüberstehen und gemeinsamen 
Aktionen, geschweige denn einem gesamtwerkschaftlichen Zusammenschluß ab- 
geneigt sind. Trotz allem sind aber die Gewerkschaften, wenn man von den Ge- 
nossenschaften, deren Bedeutung ja auf einem anderen Gebiet liegt, absieht, bis 


!) Dopp, R. Mac Donald, 1923, S. 8. 











> indie neueste Zeit hinein die wichtigste Organisationsform gewesen, die aus der eng- 
" lischen Arbeiterbewegung herausgewachsen ist. Da sie aber ausschließlich auf die 
© Erreichung wirtschaftlicher Ziele eingestellt sind, ist es erklärlich, daß das politische 
- Moment in der englischen Arbeiterbewegung lange Zeit keine Rolle gespielt hat. Erst 
5 in der jüngsten Vergangenheit haben sich hierin grundlegende Wandlungen vollzogen. 


Mi D: Neuorientierung der englischen Arbeiterbewegung, zu der nicht zuletzt die Be- 
drohung der bisherigen weltwirtschaftlichen Monopolstellung Groß-Britanniens 
= durch die aufstrebende deutsche Konkurrenz und damit die Gefährdung der bis- 
 herigen sozialen Lage der englischen Arbeiterschaft wie des englischen Wirtschafts- 
- lebens überhaupt Veranlassung gegeben hat, setzte etwa zu Beginn der 80er Jahre 
- des 19. Jahrhunderts ein und zwar in doppelter Richtung. Je weniger die Gewerkschaf- 
ten durch ihr zähes Festhalten an überkommenen Methoden in der Lage waren, ange- 

.  sichts der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Lage der organisierten 
'  Arbeiterschaft sicherzustellen, je stärker infolge der Wendung der englischen Politik 
zum Imperialismus und der dadurch bedingten Neuorganisierung des englischen 
Wirtschaftslebens die Machtstellung des Unternehmertums gegenüber der Arbeiter- 
“ schaft anwuchs, desto lebhafter wurde in den Kreisen der Arbeiterschaft die Anpas- 
sung des Gewerkvereinswesens an die veränderten Verhältnisse gefordert. Parallel 
mit diesem inneren lief ein von außen kommender Druck, der von der bisher nicht- 
organisierten Arbeiterschaft, also hauptsächlich von den angelernten, ungelernten und 
! weiblichen Arbeitern ausging, deren volkswirtschaftliche Bedeutung angesichts der 
Notwendigkeit, die, gesamtwirtschaftliche Produktionskraft im Hinblick auf den 
' zunehmenden Wettbewerb voll einzusetzen, und infolge der technischen und 
wirtschaftlichen Entwicklung (Kohle und Eisen) sich ständig steigerte. Aus diesen 
Kreisen heraus erfolgte der Einbruch der jugendlichen und noch wenig disziplinierten, 
 unruhigen und unzufriedenen Elemente (hauptsächlich waren es die sich bald in 
'" machtvollen Organisationen zusammenschließenden Bergarbeiter, Eisenbahner und 
Transportarbeiter) in die bisher streng abgeschlossene Gewerkschaftswelt, zwang die 
' = Gewerkschaftsbürokratie zur Umwandlung ihrer aristokratisch-monopolistischen 
Tendenzen und führte zu Neubildungen, die auch organisatorisch von Bedeutung 
waren. Der Inhalt dieser Umgestaltung, die man unter dem Namen Neu-Unionismus 

,  zusammenfaßt, kennzeichnet sich durch eine zunehmende Radikalisierung, die in 
' einer schärferen Betonung des proletarischen Klassenbewußtseins und des Kampf- 
' charakters der Gewerkschaften, überhaupt in der Hervorhebung des unüberbrück- 
' baren Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit ihren Ausdruck fand. Dement- 
ı sprechend war die Gewerkschaftspolitik in ihrer Zielsetzung nicht mehr wie bisher 
| arbeitsfriedlich eingestellt, sondern suchte der organisierten Arbeiterschaft im ge- 
'  samtwirtschaftlichen Produktionsprozeß einen zunehmenden Einfluß zu verschaffen. 





A 


"Allerdings suchte sie dieses Ziel nicht auf revolutionärem Wege zu erreichen, sondern 
ı vermittelst der überlieferten gewerkschaftlichen Methoden, die allerdings den ver- 
ie änderten Verhältnissen entsprechend umgestaltet bzw. erweitert werden mußten, 
© insofern die Gewerkschaften ihre Aufgabe darin erblickten ohne Rücksicht auf son- 
|" stige Interessen — und seien sie auch allgemeinwirtschaftlicher oder sozialer Natur 
— die materielle Lage der organisierten Arbeiterschaft im Wirtschaftskampf zu 
heben und zu sichern. In zähem Ringen mit Staat und Unternehmertum, vielfach 
| unter Anwendung schärfster Kampfmittel wie Streiks, Boykotts usw., haben die Ge- 
| - werkschaften dieses Ziel mit unleugbarem Erfolg zu erreichen versucht. Die große 
soziale Gesetzgebung der Aera Lioyd George (1906 bis 1913), auch wenn sie nicht aus- 
schließlich dem wachsenden Einfluß der Arbeiterschaft ihre Entstehung verdankt, kenn- 
| zeichnet diesen Erfolg auf der einen Seite, während er anderseits in den zahllosen Zu- 
| geständnissen über Regelung der Arbeits- und Lohnbedingungen, die das in England 
'. vor dem Kriege stark zersplitterte Unternehmertum den Trade Unions machen mußte, 

seinen Ausdruck findet. Gerade diese sogenannten Gewerkschaftsregeln und 

-bräuche: Vereinbarungen über Arbeits- und Produktionsbeschränkungen (Ca- 
canny-System), über Beschränkungen in der Zulassung anderer Arbeitskräfte, über 























































94 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 


Einführung für die Arbeiter günstiger Lohnsysteme u. a. m., sind in Verbindung mit 
sonstigen technischen und organisatorischen Mängeln die Hauptursache dafür, daß 
die englische Wirtschaft den in dieser Beziehung fortgeschritteneren Ländern Deutsch- 
land und Amerika gegenüber ins Hintertreffen geriet. 


ber die Neueinstellung der englischen Arbeiterbewegung erschöpfte sich nicht 
IN allein in einer Umgestaltung der bisherigen Organisationsform, sie trug vielmehr, 
wozu die erwähnten sozialen Verhältnisse ebenfalls die Veranlassung gaben, ein neues, 
das politische Moment in sie hinein. Allerdings haben die mannigfachen Versuche 
die Arbeiterschaft politisch zu organisieren lange Zeit hindurch, hauptsächlich 
infolge des Widerstandes der Gewerkschaften keine nennenswerten Ergebnisse erzielt. 
Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es infolge verschiedener innerer und 
äußerer Umstände, diesen Widerstand wenigstens grundsätzlich zu brechen und erst 
seit 1906 besteht in der Labour Party eine politische Arbeiterpartei. So bedeutsam 
die Schaffung einer solchen Organisation für die künftige Entwicklung der sozialen 
Bewegung Groß-Britanniens geworden ist, so war sie ursprünglich doch keineswegs 
ein parteiorganisatorisches Gebilde, das sich etwa mit der sozialdemokratischen 
Partei Deutschlands vergleichen ließ. Bis zu ihrer Umgestaltung gegen Ende des 
Weltkrieges war sie überhaupt keine eigentliche Partei mit eigenem organisatorischen 
Apparat, sondern nur die politisch-parlamentarische Vertretung der Gewerkschaften, 
der außer diesen eine Reihe von kleineren oder größeren Vereinigungen mit arbeiter- 
freundlichen, sozialpolitischen Interessen korporativ angeschlossen waren. Bei dem 
überlieferten Dualismus des englischen Parteiwesens war ihr unmittelbarer politi- 
scher Einfluß daher verhältnismäßig gering, zumal die englische Staatskunst durch 
eine geschickte Politik gegenüber der Arbeiterschaft (Berufung von Arbeitervertretern 
in das Kabinett oder sonstige hohe Staatsämter) etwaigen oppositionellen Bestre- 
bungen wirksam entgegenzuarbeiten wußte. So war die Labour Party, die in den 
ersten Jahren nur verhältnismäßig wenig Mitglieder ins House of Commons entsenden 
konnte, gleichsam nur der verlängerte Hebelarm des Liberalismus. 

Wenn trotzdem während der letzten Vorkriegsjahre innerhalb der englischen 
Arbeiterschaft eine wachsende Unruhe um sich griff — Herknert) spricht sogar von 
„revolutionären Strömungen‘ — die in einem ungeheuren Anschwellen des Streik- 
fiebers ihren Ausdruck fand?), so war darin gewiß noch keine Bedrohung der be- 
stehenden sozialen und wirtschaftlichen Struktur zu sehen, immerhin zeigte sich 
hierin aber der zunehmende Einfluß vielfach von außen kommender Bestrebungen 
sozialistischer und syndikalistischer Natur, die die gesamte Arbeiterbewegung, 
häufig im Widerspruch zur offiziellen Gewerkschafts- oder Parteipolitik, in eine radi- 
kalere Richtung zu drängen suchten. 


ber erst der Weltkrieg hat Wirkungen ausgelöst, die für die Entwicklung der 
A sozialen Bewegung Großbritanniens und damit für das englische Staats- und 
Wirtschaftsleben überhaupt von entscheidender Bedeutung sind. Sie stehen im un- 
mittelbaren Zusammenhang mit der Rolle, die England im Weltkriege gespielt hat 
bzw. mit den Aufgaben, zu deren Lösung dieser Krieg Volk und Staat zwang, und die 
mit dem alten Mittel englischer Politik, andere Völker für mery old Englands Inter- 
essen bluten zu lassen, nicht zu lösen waren. Die Ausmaße, die der Weltkrieg an- 
nahm, erforderten eine bisher in der englischen Geschichte unerhörte eigene Aktivi- 
tät, die die volle Einsetzung der gesamten Volkskraft notwendig machten, eine Not- 
wendigkeit, die mit der individuellen Freiheit, auf der das englische Staats- und 
Wirtschaftsleben beruhte, in Widerspruch geraten mußte. Drei Aufgaben waren es 
insbesondere, deren Lösung die starke unmittelbare Beteiligung Englands am Kriege 
verlangte und deren Durchführung um so schwieriger war, je weniger die Struktur 
des sozialen und wirtschaftlichen Lebens darauf zugeschnitten war: 


!) Herkner, Die Arbeiterfrage, 8. Aufl., Bd. II, S. 348, 


®) Im Streikrekordjahr 1912 streikten 1,5 Millionen Arbeiter, wodurch ca. 41. Millionen 
Arbeitstage verloren gingen. 











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Wilhelm Dieckmann; Die Arbeiterbewegung in England 95 


EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEESEREEEEEEEEEEEEEEEEIEEEEREEEEEEEREEREEEEEEBSEEESEEEREBEEEE 


1. Die Schaffung eines organisatorisch und zahlenmäßig den Anforderungen der 
modernen Kriegführung entsprechenden Heeres, 

2. die Versorgung nicht allein des eigenen, sondern auch im wachsenden Maße der 
verbündeten Heere mit ausreichendem und brauchbarem Kriegsmaterial, 

3, die Sicherstellung des Ernährungsbedarfs für Heer und Heimat, die sich mit der 
zunehmenden Gefährdung der englischen Volkswirtschaft durch den deutschen 
U-Bootskrieg immer schwieriger gestaltete. 

Je mehr die erste, militärische Aufgabe, zu deren Lösung bekanntlich die Wehr- 
pflicht eingeführt wurde, gelernte Arbeitskräfte der produktiven Wirtschaft entzog, um 
soschwieriger wurde die Erfüllung der beiden anderen wirtschaftlichen Aufgaben, 
deren Bedeutung für die Kriegführung von Anfang an erkannt worden ist und deren 
Durchführbarkeit abhing von einer Umgestaltung der bisherigen Wirtschafts- 
maschinerie. Die in unmittelbarer Wechselbeziehung stehenden militärischen und 
wirtschaftlichen Notwendigkeiten zwangen daher zu einer erheblichen Steigerung des 
gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsgrades, die aber ihrerseits angesichts der 
Doppelseitigkeit des Kriegsproblems abhängig war von einer wesentlichen Erhöhung 
der Leistungs- und Ausnutzungsfähigkeit der einzelnen Arbeitskraft. Dieses Ziel 
war aber nur zu erreichen durch für englische Verhältnisse bisher unerhörte Ein- 
eriffe des Staates in das Volks- und Wirtschaftsleben, die zu einer weitgehenden be- 
hördlichen Monopolisierung und Reglementierung der Wirtschaft führten. Auf das 
System der englischen Kriegswirtschaft und ihren organisatorischen Apparat kann 
hier nicht näher eingegangen werden, obwohl ihre genaue Kenntnis erst die Entwick- 
lung der Arbeiterbewegung voll verständlich macht!). 

Der Zweck dieser neuen staatlichen Wirtschaftspolitik nämlich, die Steigerung des 
gesamt-wirtschaftlichen Produktivitätsgrades, den man vermittelst einer weitgehen- 
den Intensivierung der Volkswirtschaft durch Einführung und Anwendung rationeller 
Arbeitsmethoden unter sparsamster Verwendung von Produktionsmitteln und Ar- 
beitskräften, also durch höchstmögliche Rationalisierung des wirtschaftlichen 
Produktionsprozesses mit großem Erfolg zu erreichen suchte, bedingte, bei allem 
theoretischen Festhalten am Grundsatz der Freiwilligkeit, auf dem Wege der 
„‚Staatskontrolle‘“ die Einführung eines vom Staate ausgehenden organisatorischen 
Zwanges, der die Selbständigkeit und Bewegungsfreiheit des Unternehmertums wie 
der Arbeiterschaft erheblich einschränkte. So wichtig und geschickt zugleich es im 
Interesse der Durchführung der kriegswirtschaftlichen Aufgaben war, daß die Staats- 
kontrolle, wenigstens theoretisch, in ihrer Wirksamkeit auf private Sonderinteressen 
keine Rücksicht nahm, so war es doch unvermeidlich, daß die organisierte Arbeiter- 
schaft den behördlichen Zwang am fühlbarsten am eigenen Leibe zu spüren hatte, zu- 
mal die Kriegswirtschaftspolitik geradezu im Gegensatz zur bisherigen Gewerkschafts- 
praxis stand. Unter dem Druck der staatlichen Autorität sahen sich die Gewerk- 
schaften gezwungen, die mannigfachen Gewerkschaftsregeln und -gebräuche auf- 
zugeben, die irgendwie produktionshemmend waren, in denen aber gerade deswegen 
die Arbeiterschaft unantastbare Rechte und notwendige Voraussetzungen für die 
Sicherung ihrer sozialen Stellung sahen. Die in immer stärkerem Umfange zum 
Heeresdienst herangezogenen körperlich leistungsfähigen gelernten Arbeiter sahen 
sich ohne ausreichende Sicherung für die Zukunft durch ungelernte, jugendliche 
und vor allem weibliche Arbeitskräfte auf dem Wege der „Verdünnung‘‘ (dilution) 
aus ihren Arbeitsstellen verdrängt, während die kriegswirtschaftlich tätige Arbeiter- 
schaft überhaupt in ihrem Freizügigkeitsrecht stark beschränkt und in ihren Lohn- 
und Arbeitsbedingungen einer weitgehenden staatlichen Kontrolle unterworfen war. 
Dies ganze Zwangssystem in Verbindung mit mancherlei Mißgriffen auf dem Ge- 


1) Näheres über die englische Kriegswirtschaft H. Wolfe, Labour supply and Regulation, 
Oxford 1923. — H. Cole, Trade Unionism and Munitions, Oxford 1923. — C. Mendelssohn, Wand- 
lungen des liberalen England durch die Kriegswirtschaft. Tübingen 1921. — C. Leubuscher, 
Sozialismus und Sozialisierung in England, Jena 1921. Mein Aufsatz ‚‚Arbeiterbewegung und 
Sozialismus in England‘ im ‚Archiv für Politik und Geschichte‘‘ Heft 8, 10/11, Jahrg. 1924. 


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% Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
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biete des Rekrutierungs- und Reklamationswesens und verschärft durch die wach- 
sende Verschlechterung der Lebensverhältnisse löste zunehmende Verbitterung aus, 
die vielfach in unmittelbaren Widerstand durch Streiks umschlugt). So verschieden- 
artig die unmittelbaren Motive der zunehmenden labour unrest gewesen sein mögen, 
ihre eigentliche Ursache lag in der zwangsweise durchgeführten staatlich-organisa- 
torischen Umgestaltung oder wie es im Gewerkschaftsjargon hieß „Vermilitari- 
sierung‘ des Wirtschaftslebens. Daß dieser Intensivierungs- und Rationalisierungs- 
prozeß trotz allen der Arbeiterschaft gemachten gegenteiligen Versprechungen nicht 
nur auf die Kriegsdauer beschränkt bleiben würde, war den Arbeitern ebenso klar, wie 
seine Fortsetzung mit Rücksicht auf die erwartete Veränderung der weltwirtschaft- 


lichen Verhältnisse und Steigerung des internationalen Wettbewerbs nach dem Kriege 
in der Absicht der Regierung lag. 


ie Wirkung dieser Verhältnisse auf die Entwicklung der sozialen Bewegung Groß- 
britanniens zeigt sich vor allem in folgenden Momenten: 

I. Die mittelbare und unmittelbare Unterstützung der Regierungspolitik durch 
die Gewerkschaftsführer hatte wegen der wachsenden Abneigung weiter Kreise der 
Arbeiterschaft dieser Politik gegenüber eine zunehmende Entfremdung zwischen 
Führern und Masse zur Folge, die bereits während des Krieges zu Neubildungen 
führte. Die wichtigste dieser Neubildungen ist die sogenannte shop steward-Be- 
wegung, die mit unserer Betriebsrätebewegung der Nachkriegszeit Ähnlichkeit hat. 

2. Durch die Notwendigkeit, im Interesse der Kriegswirtschaft immer mehr unge- 
lernte und weibliche Arbeitskräfte heranzuziehen, wurde das Eindringen von Ele- 
menten, die bisher als nicht organisationsfähig galten, in die Gewerkschaften ge- 
fördert, wodurch diese eine innere Umbildung erfuhren?). 

3. Die für die künftige Entwicklung der sozialen Bewegung wohl wichtigste Wir- 
kung bestand in der Wandlung der bisher in Arbeiterkreisen maßgebenden sozial- 
ökonomischen Anschauung. Hatte die Kriegswirtschaft den Beweis für die Möglich- 
keit erbracht, das Wirtschaftsleben statt wie bisher auf privatwirtschaftlich-indi- 
vidualistischen auf gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen aufzubauen, so ergaben sich 
daraus Folgerungen, die für eine dauernde Neugestaltung des gesamtwirtschaftlichen 
Systems durch Sozialisierung, Nationalisierung oder, wie man in England mit Vor- 
liebe sagt, durch Erweiterung der demokratischen Kontrolle nutzbar gemacht 
werden Können. In dieser Beziehung sind besonders bedeutsam die Ansichten, die vor 
allem in der Nachkriegszeit der sogenannte Gildensozialismus entwickelt hat?). 


N die englische Arbeiterschaft ihrer Regierung bei der Durchführung der 

Kriegsaufgaben auch häufig ernste Schwierigkeiten gemacht hat, so lagen die 
Gründe doch durchweg auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, politische Momente 
haben keine nennenswerte Rolle gespielt. Gewiß gab es in der Arbeiterschaft ein- 
zelne Richtungen, die der englischen Kriegspolitik grundsätzlich ablehnend gegen- 
überstanden, gewiß fehlt es vor allem in den letzten Kriegsjahren nicht an mannig- 
fachen Symptomen, die auf ein Anwachsen der Friedensneigungen hinweisen. Aber 
die große Mehrzahl der Arbeiterschaft hat entsprechend dem einheitlichen nationalen 
Instinkt des englischen Volkes in allen lebenswichtigen Fragen der englischen Außen- 
politik sich hinter die Regierung gestellt: wiees auf den Kongressen der großen Arbeiter- 
organisationen immer wieder zum Ausdruck kam, kam für sie nur ein Friede in 
Betracht, der den englischen Interessen gerecht wurde. 





!) In England ist, wenigstens in den ersten Kriegsjahren, erheblich mehr als beispielsweise 
in Deutschland gestreikt worden. Die Zahl der an Streiks beteiligten Arbeiter beträgt für 
die 4 Kriegsjahre etwa 2,7 Millionen, die der verlorenen Arbeitstage etwa 17 Millionen. 

?) Die englischen Gewerkschaften zählen 1913: 3,7 Millionen männliche und 0,4 Millionen 
weibliche Mitglieder, 1918: 5,3 Millionen männliche und 1,2 Millionen weibliche Mitglieder. 

°») Über den Gildensozialismus siehe Cole, Labour in the Commonwealth 1918; Penty, 
Guilds and Social Crisis 1919; Cole, Social Theory 1920; ds., Guild socialism Restated 1920; 


Leubuscher, a. a. O., S. 61ff. Abgesehen von vereinzelten Ansätzen hat der Gildensozialismus 
bisher allerdings noch keine praktische Bedeutung erlangt. 










































Wilhelm Dieckmann: Die Arbeiterbewegung in England 


So wenig politische Momente in der englischen Arbeiterbewegung während des 


Krieges unmittelbar in Erscheinung getreten sind, so ist auf der anderen Seite die 
" Politisierung innerhalb der Arbeiterschaft durch den Krieg und seine Wirkungen 
außerordentlich gefördert worden. Um die in der Arbeiterschaft erwachten politi- 
"schen Bestrebungen einheitlich zusammenzufassen, wurde im Frühjahr 1918 die 
© Labour Party unter Einbeziehung der bestehenden politischen und gewerkschaft- 
lichen Organisationen zu einer selbständigen Partei mit einem eigenen organisatori- 
‘schen Apparat, allerdings in enger Anlehnung an den Gewerkschaftsorganismus 


ausgebaut. Inihrem auf den praktischen Folgerungen des Krieges fußenden Reformpro- 
gramm bezeichnet sie als ihr Ziel „auf der Grundlage des Gemeineigentums an den 
Produktionsmitteln und des bestgeeigneten Systems einer vom Volke ausgehenden 
Verwaltung und Herrschaft in jeder Industrie oder jedem Dienstzweig die politische, 
soziale und ökonomische Befreiung des Volkes durchzuführen, und zwar vor allem 
derjenigen, die zur Gewinnung ihres Lebensunterhalts auf ihre eigene Hand- und 
Kopfarbeit angewiesen sind.‘ | 

Auf eigene Füße gestellt, hat sich die Arbeiterpartei in der Nachkriegszeit infolge 
des großen Anwachsens ihrer Stimmenzahl zu einem für Gegenwart und Zukunft des 
englischen Staatswesens höchst bedeutsamen politischen Faktor entwickelt, eine 
Entwicklung, die bekanntlich bisher in dem ‚Intermezzo‘ der Labour-Regierung des 
Jahres 1924 ihren Höhepunkt fand. Damit ist die Labour Party aus der Stellung 


eines mehr oder weniger außerhalb stehenden kritischen Zuschauers in die für das 


englische Regierungssystem bedeutungsvolle verantwortliche Stellung des alter- 


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native Governments gerückt, wodurch naturgemäß die soziale Bewegung auf das 


stärkste beeinflußt wird. Auf der anderen Seite ist die englische Arbeiterbewegung 
der Nachkriegszeit beherrscht durch die großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, 
‘die sich aus dem Vertrag von Versailles ergaben und die ihren äußeren Ausdruck 


in der ungesunden Höhe der Arbeitslosenziffer finden. Im Kampf mit diesen Schwie- 


- rigkeiten haben die Gewerkschaften ihre Kräfte stark erschöpft. Erst in jüngster 


Zeit haben sie infolge der allmählichen Überwindung der internationalen Wirt- 


 schaftskrisis durch die mannigfachen Sanierungsbemühungen ihre Initiative wieder- 


erlangt. So sehr auch in dieser neu erstarkten gewerkschaftlichen Aktivität neue 
durch die Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit bedingte Gesichtspunkte 
wirksam sein mögen, so ist das heute wieder mehr als je offenkundig zutage tretende 
zähe Festhalten an den alten Methoden in der Praxis der Gewerkschaften für 
ihren konservativen Grundzug sehr bezeichnend. Augenblicklich macht sich in der 
englischen Arbeiterbewegung ein gewisser Gegensatz zwischen Partei und Gewerk- 
schaften bemerkbar, der aber kaum grundsätzlicher Natur ist. Er zeigt sich in der 
verschiedenartigen Stellungnahme einmal zum Dawesplan, den die Gewerkschaften 
als eine „Methode zur Versklavung der deutschen Arbeiter‘!) ablehnen, und zum 
russischen Problem. Im Gegensatz zur Parteipolitik suchen die Gewerkschaften, 
ohne daß man deswegen von einem Erstarken der kommunistischen Elemente im 
englischen Gewerkschaftswesen reden könnte, durch Entgegenkommen gegenüber 
dem allrussischen Gewerkschaftsrat eine Verständigung zwischen der Amsterdamer 
und Moskauer Gewerkschaftsinternationale herbeizuführen. So wenig diese Gegen- 
sätze, wie gesagt, grundsätzlicher Natur sind und etwa, wie es vielfach fälschlich ge- 
schieht, als Radikalisierung der Gewerkschaften gedeutet werden können, so wird 
es doch einer ebenso energischen wie weitblickenden Führung bedürfen, um die in der 
Einheitlichkeit beruhende Stoßkraft der Arbeiterbewegung nicht zu gefährden. 


1) Entschließung auf dem Gewerkschaftskongreß zu Scarborough im Herbst 1925. 


































33 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 


Der außerdeutsche Sozialismus im Kriege 
Von Major a. D. Erich Otto Volkmann in Berlin 


u einer Zeit, als die Gefahr eines allgemeinen Völkerkampfes den zünftigen Politi- 
7. kern noch fern schien, haben Marx und Engels bereits mit einem nahe bevor- 
stehenden Weltkriege wie mit einer unabänderlichen Tatsache gerechnet. Sie fürch- 
teten ihn nicht, erwarteten von ihm vielmehr eine Beschleunigung des Auflösungs- 
prozesses der kapitalistischen Welt. Daß das ‚„Weltproletariat‘ in diesem Kriege 
eine wichtige, vielleicht entscheidende Rolle spielen müsse, unterlag für sie keinem 
Zweifel. In der Arbeiterinternationale glaubten sie das Kampfinstrument zur Wah- 
rung der besonderen proletarischen Interessen geschaffen zu haben. 

In den Epigonen lebte nicht der gleiche, mit allen Mitteln rechnende Kampfes- 
wille und der gleiche starke Glaube weiter. Ihrer Meinung nach war der Krieg der 
sozialistischen Bewegung abträglich und barg unberechenbare Gefahren. Die soziali- 
stische Führerschaft war daher seit der Jahrhundertwende ausgesprochen pazifi- 
stisch eingestellt. Man suchte nach Mitteln,.um den immer drohender sich ankün- 
digenden Krieg durch den vereinigten Widerstand des Weltproletariats unmöglich zu 
machen. Die heftigen Auseinandersetzungen in der Frage des „Militärstreiks‘“, d.h. 
des Streiks der Rüstungsindustriearbeiter in den vom Krieg bedrohten Ländern, und 
die Unmöglichkeit zu einer befriedigenden Lösung zu kommen, ließen bereits die Kraft- 
losigkeit und Brüchigkeit der Arbeiterinternationalefür den Einsichtigen klarerkennen. 
Insbesondere hat Bebel mit starkem Wirklichkeitssinn vor Illusionen gewarnt!). Die 
Deutsche Partei wurde deshalb — ganz besonders laut von den Franzosen — der 
Lauheit und des Verrats am internationalen Gedanken geziehen. 

Wie recht Bebel mit seinen Zweifeln gehabt hatte, zeigte sich deutlich genug bei 
Ausbruch des Krieges. Wohl versuchten die Wortführer der Arbeiterinternationale 
durch tönende Kundgebungen, wie man sie seit 10 Jahren bei jeder politischen 
Spannung hörte, den Friedenswillen des Proletariats zu Gehör zu bringen. Aber in 
diesen herkömmlichen Methoden erschöpften sich die Anstrengungen. Man fand nicht 
einmal den Entschluß, rechtzeitig einen internationalen Kongreß einzuberufen, um 
sich über eine einheitliche Haltung des Weltproletariats schlüssig zu werden. Keine 
Stimme erhob sich für den „Militärstreik“. Niemand wußte andere wirksame 
Mittel vorzuschlagen, um den Sturm zu beschwören. 

Am ersten Tage des Krieges fand die Arbeiterinternationale, die trotz ihres lauten 
Gebahrens ihr Dasein letzten Endes doch nur der wohlwollenden Duldung der Landes- 
parteien verdankte, ihr ruhmloses Ende. Deutlicher denn je zeigte es sich, wie sehr 
das Schwergewicht der tatsächlichen Macht bei den Landesparteien selbst ruhte. Sie 
fühlten sich in allen großen Entscheidungen allein verantwortlich. An ihrer Haltung 
hing bei Ausbruch des Krieges das Schicksal des internationalen Gedankens. 

Er erlitt auch an dieser entscheidenden Stelle eine katastrophale Niederlage. 
Nur die italienischen und der größere Teil der russischen Sozialisten sind dem inter- 
nationalen Standpunkt einigermaßen treu geblieben. Überall sonst zerriß das Band, 
das die Proletarier aller Länder zusammenhalten sollte. In dunklem unwidersteh- 
lichem Drange folgten die Arbeitermassen der nationalen Fahne. Die Mehrzahl der 
Führer schloß sich, teils freiwillig, teils unfreiwillig an. 


S' unleugbar der Zusammenbruch des internationalen Gedankens, im ganzen 
betrachtet, auch war, so zeigten sich doch sehr bemerkenswerte Unterschiede in 


der Art, wie die verschiedenen sozialistischen Landesparteien sich zu dieser Erscheinung 
im einzelnen stellten. Diese Unterschiede sind nicht allein zu erklären durch die 
besonderen geschichtlichen Voraussetzungen der einzelnen Parteien und durch die 
politische und militärische Lage ihrer Länder während des Krieges, gründen sich viel- 
mehr vor allem auch auf die Völker- und Rassenpsyche und wachsen daher über das 
Zufällige und Äußerliche weit hinaus. 


!) Vor allem auf dem internationalen Kongreß in Stuttgart im Jahre 1907. 





Erich Otto Volkmann: Der außerdeutsche Sozialismus im Kriege 99 


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In einem Punkte fanden sich alle Parteien zusammen, nicht nur die der Entente- 


- länder, sondern auch die der neutralen Staaten, in der Verurteilung der deutschen 
© Sozialdemokratie. Dies ist um so auffallender, als wohl keine Partei vor und während 


des Krieges schwerer mit dem Problem des internationalen Gedankens gerungen hat 


"als gerade die deutsche. Und in keinem Lande, außer in-Rußland, wo besondere 
Verhältnisse vorlagen, ist der internationale Gedanke während des Krieges wieder so 


lebendig geworden und hat den Ausgang so stark beeinflußt wie hier. 

Seine Erklärung findet dieses Verhalten der ausländischen Sozialisten darin, dab 
es der überaus geschickten Propaganda der Entente sehr bald gelang, Deutschland als 
Störenfried, als Hort des Imperialismus und Militarismus und als ärgsten Feind der 
Demokratieund dessozialistischen Fortschritts hinzustellen. Esisteinbemerkenswertes 
Beispiel für die gewaltige suggestive Kraft einer gut geleiteten Propaganda und für 
die Auswirkung der Massenpsychose, daß die Ententesozialisten, denen bisher das 
zaristische Rußland als Erzfeind und als Herd der Reaktion gegolten hatte, sich jetzt 
in die gleiche Kampffront mit eben diesem Rußland stellten. Sie vollzogen eine voll- 
kommene Schwenkung. Den deutschen Sozialisten aber machten sie es zum bit- 
teren Vorwurf, daß sie „dem patriotischen Lockruf ihrer raubgierigen Regierung‘ ge- 
folgt seien, daß sie nicht den Kampf gegen das eigene Volk mit allen Mitteln der 
Empörung und der Gewalt aufgenommen hätten. Man beschimpfte sie, besonders in 
Frankreich, als Verräter an der proletarischen Sache und verlangte, daß sie als Zeichen 
der Reue und als ‚„‚Sühne‘‘ mitten im Kriege ihrem Volke in den Rücken fallen, den 
Frieden erzwingen, Elsaß-Lothringen ausliefern sollten. 

Welches Recht hatten die Ententesozialisten zu solchen maßlosen Forderungen ? 


ie französische Partei war vor dem Kriege jederzeit als Vorkämpferin des inter- 
D nationalen Gedankens aufgetreten. Der Militärstreik war ihr Lieblingskind. Bei 
Beginn des Krieges hat sie rücksichtsloser als jede andere Landespartei dem inter- 
nationalen Gedanken den Rücken gekehrt. Sie hat während des ganzen Krieges 
jeden Versuch der Wiederanbahnung internationaler Beziehungen am schroffsten ab- 
gelehnt. Es soll nicht geleugnet werden, daß Jaures, der „Friedensfreund‘, in den 
letzten Julitagen große und auch erfolgreiche Anstrengungen zur Erhaltung des 
Friedens gemacht hat. Man wird auch zugeben, daß die Pflicht zur Vaterlands- 
verteidigung für die französischen Sozialisten durch den deutschen Einbruch be- 
sonders brennend wurde. Aber man darf anderseits nicht vergessen, daß, als sie ihre 
Entscheidung trafen und sich geschlossen auf die Seite ihres Volkes stellten, noch 
keine Rede war von der Verletzung der belgischen Neutralität und von der „Über- 
schwemmung des heiligen französischen Bodens durch die deutschen Barbaren“. 
Diese hochwillkommene Bemäntelung ergab sich erst später. In Wahrheit folgte der 
französische Arbeiter einfach dem in ihm wohnenden starken und unzerstörbaren 
Patriotismus. Nichts kennzeichnet die glänzende Gabe der französischen Regiekunst 
besser als die Selbstverständlichkeit, mit der die schroffe Schwenkung gerade des 
französischen Sozialismus ins nationale Fahrwasser überall, auch im deutschen Lager, 
hingenommen wurde. Niemand regte sich darüber auf, daß der antinationale Anti- 
militarist Gustave Herv& bereits in den ersten Augusttagen seinen „sozialistischen, 
syndikalistischen und anarchistischen Freunden‘ zurief: „Zu allererst nationale 
Verteidigung .... Was ist die Pflicht der Sozialisten? Wie ein Mann zur Grenze 
marschieren, indem wir unseren Nationalisten das gewaltigste Beispiel der Tapferkeit 
und Disziplin geben.‘‘“ Kaum irgendwo hat die deutsche Sozialdemokratie der fran- 
zösischen Partei einen ernstlichen Vorwurf daraus gemacht, daß sie Ende August den 
alten Kampfgefährten von Marx, Guesde, und neben ihm Sembat in das Ministerium 
der nationalen Verteidigung eintreten ließ. Deutsche Sachlichkeit nahm auch keinen 
Anstoß an dem bei dieser Gelegenheit veröffentlichten, von glühendstem Patriotis- 
mus erfüllten Aufruf der Partei: Der Präsident der französischen Republik wisse, daß 
zu allen Zeiten und in schwerer Stunde, 1795 und 1870, gerade jene Menschen, gerade 
jene Sozialisten, gerade jene Revolutionäre es waren, in die die Nation ihr volles 
Vertrauen setzte. „Die Anwesenheit unserer Freunde im Schoße der Regierung ist 


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100 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
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für alle eine Gewähr, daß die republikanische Demokratie bereit ist, bis zum letzten 
Blutstropfen zu kämpfen.“ Und einige Monate später gab die sozialistische Fraktion 
im Parlament die Erklärung ab: „‚Getreu der Disziplin der Einigkeit, welche die Nation 
sich dem Feinde gegenüber auferlegt, hat die sozialistische Fraktion im Parlament 


auch nicht mit einem Wort die von allen Franzosen beschlossene Einheit trüben wollen‘, 


Wann und wo hätte die deutsche Sozialdemokratie ähnliche Worte gefunden ? 
Statt dessen bemühte man sich unermüdlich und zuweilen in demütigender Form, 
wenn auch völlig ergebnislos, bei den zornigen französischen Brüdern wenigstens 
Verständnis für das eigene Verhalten zu erwecken. Es gab unter den deutschen 
Sozialisten nicht wenige — unter ihnen war kein Geringerer als Bernstein —, die 
den französischen Standpunkt offen verteidigten und als Muster hinstellten, den 
deutschen Standpunkt aber, der sich sachlich doch eigentlich durch nichts vom 
französischen unterschied, in Grund und Boden verdammtent), Welcher Franzose 
hatte es gewagt, ähnlich zu handeln? 

Die belgischen Sozialisten wandelten in den Fußstapfen ihrer französischen 
Freunde. Vandervelde, der Vorsitzende des Internationalen Büros, wurde Kriegs- 
minister. Er verwaltete sein internationales Amt weiter. In welchem Sinne dies 
geschah, bedarf keiner Erläuterung. 


twas stärkeren Widerstand gegen das Überfluten des nationalen Gedankens 

_„ leisteten die englischen Sozialisten. Sie hatten es allerdings leichter, den Ereignissen 
gegenüber Kühl zu bleiben, als ihre festländischen Genossen. Die Insellage Groß- 
britanniens gewährte sicheren Schutz gegen die Gefahr eines Einfalls. Trotzdem 
machte doch nur eine Minderheit von der größeren inneren Freiheit, die die ge- 
schützte Lage des Landes bot, Gebrauch. Allen voran richtete die Independent 
Labour Party, der sozialistische Kern der englischen Arbeiterpartei, ein scharfes 
Manifest gegen die Politik der englischen Regierung: „Es ist nicht die serbische Frage 
oder die belgische Frage, die unser Land in den furchtbaren Kampf hineingezogen 
hat. Großbritannien führt nicht den Krieg wegen unterdrückter Nationen oder 
wegen der belgischen Neutralität. Auch wenn Deutschland die belgische Neutralität 
nicht unrechtmäßig gebrochen hätte, wären wir doch hinein gezogen worden. Wer 
glaubt, daß, wenn Frankreich in Verletzung der vertragsmäßigen Rechte nach Bel- 
gien eingedrungen wäre, um nach Deutschland zu gelangen, wir gegen Frankreich die 
Feindseligkeiten begonnen hätten ?“ 

Und Ramsay Macdonald, der Führer der Arbeiterfraktion im Unterhaus, gab 
in der großen historischen Sitzung vom 4. August die Erklärung ab: „Ich denke, daß 
Grey im Unrecht ist. Ich denke, daß die Regierung, für die er eintritt, im Unrecht ist. 
Ich denke, daß einstmals das Urteil der Geschichte ihnen Unrecht geben wird“. 

Aber dieses tapfere Bekenntnis einzelner Führer und der kleinen Independent 
Labour Party blieb ohne jede praktische Bedeutung. Sobald die Entscheidung über 
Krieg und Frieden gefallen war, gliederte sich auch die überwiegende Mehrzahl der- 
jenigen, die bisher den Krieg bekämpft hatten, in die nationale Front ein. Das Ver- 
halten der englischen Sozialisten in dieser Zeit ist kennzeichnend für die ruhige 
und selbstverständliche nationale Disziplin des Engländers überhaupt. Auch Macdo- 
nald, das Haupt der Opposition, kam zu dem Ergebnis: „‚Welches auch immer unsere 
Ansicht über den Ursprung des Krieges sein mag, jetzt müssen wir ihn durchkämpfen“, 
Am 15. Oktober gab der größte Teil der Führer der englischen Arbeiterbewegung die 
Erklärung ab, daß man an der Abwehr des deutschen Angriffs teilnehme. Man 
werde auch die Rekrutierungskampagne in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften 
tätig unterstützen. Deutschland müsse niedergeschlagen werden. 

Die Mehrzahl der deutschen sozialistischen Führer hatte sich nur unter harten Ge- 
wissenskämpfen, in der Erkenntnis, daß man sich in der Beurteilung der Massen ge- 
täuscht habe, einer Zwangslage gefügt. Die Franzosen und Engländer hatten es sich 
leichter gemacht. Die Franzosen waren in leidenschaftlicher Aufwallung ihrem unbe- 





!) Z.B. ‚Neue Zeit“ 30.7.15: Bernstein. Jean Ja'ıres, der Internationalist. 















































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." dem internationalen Ideal, was sie zu dieser Haltung bestimmte, als der in einer 


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Erich Otto Volkmann: Der außerdeutsche Sozialismus im Kriege 


3 zwinglichen patriotischen Empfinden gefolgt. .Die Engländer ließen sich wesentlich 


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‚I von ihrem gesunden politischen Instinkt leiten. 
36 Rußland erhoben die sozialistischen Führer schärfsten Einspruch gegen den 


Krieg. Es war allerdings vielleicht weniger das Gefühl der Verpflichtung gegenüber 


% blutigen Vergangenheit emporgewachsene tödliche Haß gegen den Zarismus. Selbst 
"die Niederlage des eigenen Volkes schien diesen im Feuer revolutionärer Leidenschaft 


“ und unaufhörlicher innerer Kämpfe gehärteten Männern nicht zu teuer, um das 


 Zarentum zu stürzen und ein neues Rußland aufzubauen. Dieser Kampfeswille wog 
um so schwerer, als der Krieg auch in den breiten Massen der russischen Arbeiter und 


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+4 


Bauern in hohem Maße populär war und als die Befreiung von dem wirtschaftlichen 
und kulturellen Einfluß des Deutschtums eins der wenigen Ziele war, für das sich die 
reaktionären, fortschrittlichen und revolutionären Parteien in gleicher Weise er- 
wärmten. Beim Zusammentritt der Duma am 8. August 1914 erhoben die sozialisti- 
schen Parteiorganisationen scharfen Protest gegen den Krieg und verließen vor der 
Abstimmung über die Kredite den Sitzungssaal. 
Kennzeichnend ist die Haltung der polnischen Sozialisten, bei denen sich der ein- 
gewurzelte Haß gegen den Zarismus mit der Hoffnung auf die Gewinnung der natio- 
nalen Selbständigkeit vermischte. Die Wirkungen waren indessen verschieden. Bei 


den galizischen Sozialisten trat das nationale Element schärfer hervor. Der Gedanke 
_ einer national-polnischen Erhebung in Russisch-Polen, der zur Bildung der polnischen 

'Legionen durch Pilsudski, den einstigen russisch-polnischen Sozialisten, führte, fand 
_ hier kräftige Förderung. Die russisch-polnische sozialistische Partei, der sich der 
jüdische Arbeiterbund anschloß, betonte zwar auch das Recht der Polen auf nationale 
Selbständigkeit, vertrat im übrigen aber viel stärker den internationalen Klassen- 
- kampfgedanken und sagte in erster Linie dem Nationalismus und Kapitalismus 


den Krieg an. Die deutsch-polnischen Sozialisten vertraten weder einen ausge- 
sprochenen revolutionär-marxistischen, noch einen aktiv sich auswirkenden national-. 
politischen Standpunkt. Sie hatten ja auch keine so selbständige Entwicklung vor 
dem Kriege gehabt, wie die polnischen Sozialisten in den Nachbarländern. 


uch die italienischen Sozialisten sprachen sich bei Ausbruch des Weltkrieges in 
Ä zahlreichen Manifesten gegen die Teilnahme am Kampfe an der Seite Deutschlands 
und Österreich-Ungarns aus. Sie hielten mit fast erstaunlicher Folgerichtigkeit und 
Standhaftigkeit trotz aller offen genug zur Schau getragenen Abneigung gegen 
Deutschland und gegen die deutsche Sozialdemokratie an ihrem kriegsfeindlichen 
Standpunkt fest, als in der breiten Masse des Volkes die Stimmung für den Krieg an 
der Seite der Entente immer mehr wuchs und als schließlich tatsächlich der Anschluß 
erfolgte. Diese Haltung entsprang aber auch hier weniger dem ‚internationalen 
Gewissen“ als vielmehr der besonders ausgesprägten pazifistischen Grundeinstel- 
lung des italienischen Sozialismus und der entschiedenen Ablehnung des imperiali- 
stischen Charakters der unter dem fadenscheinigen Deckmantel des sacro egoismo 
einhergehenden italienischen Politik. 

Im ganzen zeigte der internationale Sozialismus der kriegführenden Länder bei 
Beginn des Weltkrieges also folgendes Bild: Zum nationalen Gedanken abgeschwenkt 
war der französische, belgische, englische, deutsche und österreichische Sozialismus; 
am internationalen Bekenntnis, aus welchen Gründen auch immer, hielten fest 
die italienischen und die russischen Sozialisten, 

n diesem Zustand traten im weiteren Verlaufe des Krieges erhebliche Verände- 
I rungen ein. Sie lassen sich dahin kennzeichnen, daß überall da, wo die soziali- 
stischen Landesparteien in ihrer Masse sich national eingestellt hatten, mehr oder 
weniger starke international gerichtete Oppositionen sich bildeten, während umge- 
kehrt da, wo von vornherein international gerichtete Mehrheiten vorhanden waren, 


nationale Minderheiten emporwuchsen.?) 


2) Die deutschen Verhältnisse sind eingehend dargestellt in meinem Buch: ‚Der Marxismus 
und das deutsche Heer im Weltkriege.“ 





















1022 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
TE 

In Frankreich sind die ersten Anzeichen einer Opposition um die Mitte des Jahres 
1915 erkennbar. Seit dem Herbst 1915 lehnten sich die oppositionellen Führer an 
die Beschlüsse der Zimmerwalder Konferenz an, auf der zum ersten Male seit Kriegs- 
beginn die internationalen Tendenzen wieder einen Sammelpunkt gefunden hatten. 
Die Bewegung erstarkte vor allem in Mittel- und Südfrankreich ziemlich rasch. Sie 
fand Nahrung sowohl in den Parteiorganisationen wie in den Gewerkschaften. 
Schon Ende 1915 rechnete man, daß etwa !/, der französischen Sozialisten der 
Opposition angehörten. Später schätzte man ihre Zahl auf etwa 1, der Gesamtheit. 
Dies würde annähernd den deutschen Verhältnissen entsprechen. Allerdings wäre es 
irrig, wollte man die französische Opposition mit den deutschen Unabhängigen oder 
gar Spartakisten auf die gleiche Stufe stellen. Ihr Standpunkt entsprach eher dem 
der deutschen Mehrheit. An der unbedingten Pflicht zur Vaterlandsverteidigung 
bestand bei ihnen kein Zweifel. Sie lehnten nur die Forderung der französischen Mehr- 
heit nach einem völligen militärischen Sieg mit allen auf nationalem Gebiet liegenden 
Folgerungen ab und verlangten, daß man Friedensvorschläge, die mit der Ehre 
und den Interessen Frankreichs vereinbar seien, nicht von vornherein zurückweisen 
dürfe. Zu einer offiziellen Parteispaltung wie in Deutschland lag unter diesen Um- 
ständen in Frankreich während des Krieges kein Anlaß vor. 

Neben dieser gemäßigt internationalen pazifistischen Parteirichtung stand eine 
ausgesprochen revolutionäre kommunistische Gruppe. Über ihre Betätigung 
während des Krieges ist nicht allzuviel bekannt geworden. Man wird aber nicht 
fehl gehen, wenn man die großen Meutereien im französischen Heere im Mai und 
Juni 1917, die Frankreich für kurze Zeit an den Rand des Abgrundes brachten, 
wesentlich auf ihre propagandistische Tätigkeit mit zurückführt. Die französische 
Heeresleitung war durch ihre Überwachungsmaßnahmen über die revolutionäre 
und pazifistische Propaganda dieser radikalen sozialistischen und syndikalistischen 
Kreise, die sich mit besonderem Erfolg auf die Urlauber auf den Bahnhöfen und in 
den Zügen erstreckte, frühzeitig unterrichtet. Sie warnte die Regierung wiederholt 
und dringlich, fand aber nicht genügend Gehör. 

Die Meutereien wurden mit ebensoviel Geschick wie Tatkraft unterdrückt. Revo- 
lutionäre Vorgänge ähnlicher Art wiederholten sich nicht. Die Regierung war von 
jetzt ab auf der Hut. Der Ausgang des Krieges enthob sie aller weiteren Sorgen. 

In England, wo der internationale Gedanke nie heimisch gewesen ist, hat er auch 
während des Krieges von allen Ländern am wenigsten Fuß gefaßt. Der englische 
Arbeiter war eben immer und überall zu allererst Engländer. Sowohl die Gewerk- 
schaften wie die Mehrheit der sozialistischen Parteiorganisationen blieben während 
des Krieges in enger Bindung mit der Regierung. Einige Ministerposten waren 
dauernd durch Arbeiterführer besetzt. Dies hinderte nicht, daß der englische Arbeiter 
seine in jahrzehntelangen Kämpfen erworbenen, durch die scharfe Anspannung der 
Kriegswirtschaft anscheinend bedrohten wirtschaftlichen und sozialen Rechte mit 
äußerster Energie verteidigte. Nirgends nahm die Streikbewegung einen so großen 
Umfang an, wie gerade in England. Aber dies wurde als innerenglische Angelegenheit 
betrachtet. Gegen den äußeren Feind stand die Masse der englischen Arbeiterschaft 
fest neben der Regierung. 

Wohl gab es auch in England eine sozialistische Opposition. Ihr Führer war 
Macdonald. Den Mittelpunkt bildete die Unabhängige Arbeiterpartei. Sie war in 
erster Linie pazifistisch eingestellt und trat für einen Frieden ohne Annexionen und 
Entschädigungen ein. Lediglich ihr äußerster linker Flügel, die streng marxistische 
British Socialist Party, vertrat ausgesprochen revolutionäre Tendenzen. Im Juni 
1917 bildete sich nach dem Vorbilde der russischen Revolution ein Arbeiter- und 
Soldatenrat, der alle radikalen Elemente des englischen Proletariats umfassen 
sollte und dem auch Macdonald angehörte. Er verfolgte indessen keine revolutionären, 
sondern nur pazifistische Ziele, Politische Bedeutung kam diesen Vorgängen nicht zu. 

In Italien geriet Mussolini, der Chefredakteur des sozialistischen Hauptorgans 
„Avanti“ bereits im November 1914 in Konflikt mit der Partei. Er entfaltete eine 







































































"Erich Otto Volkmann: Der außerdeutsche Sozialismus im Kriege 103 


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mächtige und überaus wirksame Propaganda für den Eintritt Italiens in den Krieg. 
So stark sein Einfluß auf breite Schichten der Arbeiterbevölkerung aber auch sein 
mochte, so gelang es ihm doch nicht, die Parteileitung von ihrem kriegsfeindlichen 
" Standpunkt abzulenken. Die Gegensätze wurden so scharf, daß Mussolini am 24. No- 
" vember 1914 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Durch diese energische Handlung 
"sicherte sich der Parteivorstand für die ganze Dauer des Krieges die unbestrittene 
> Herrschaft und verhinderte die Entstehung einer starken Opposition im eigenen 
Lager. Die Partei spielte auf der Zimmerwalder Konferenz eine bedeutende Rolle 
und machte sich deren Beschlüsse im wesentlichen zu eigen. Sie war die einzige 
offizielle Partei, die geschlossen und ohne Schwankungen ihren gemäßigt internatio- 
nalen pazifistischen Standpunkt vom Beginn bis zum Ende des Krieges beibehalten hat. 

In Rußland war die anfängliche Einigkeit der sozialistischen Dumafraktion, 
in der sich bei Kriegsausbruch die Menschewisten und Bolschewisten wieder zu- 
 sammengeschlossen hatten, nicht von Dauer. Es bildete sich unter der Führung des 
alten Revolutionärs Plechanow bald eine ‚nationale Richtung, die mit der Re- 
sierung zusammen ging. Ihr gehörten ein großer Teil der Menschewisten sowie einige 
Sozialrevolutionäre und Bolschewisten an. Sie blieb indessen in der Minderheit. Die 
Masse der Sozialrevolutionäre und Bolschewisten arbeitete unbeirrt an der Unter- 
wühlung und am Sturz des Staates weiter. Es war die einzige Parteimehrheit, die 
"als tatsächlich revolutionär und im marxistischen Sinne international bezeichnet 
werden kann. Sie vertrat den Standpunkt, daß ‚der einen oder der anderen Koa- 
lition Sieg oder Niederlage unmöglich einen Fortschritt für die demokratische 
und sozialistische Bewegung bringen könne, daß ein Sieg Rußlands über Deutschland 
nur die russische Reaktion stärken und eine ständige Gefahr für die demokrati- 
“sche Bewegung in Europa sein würde. Man könne hinzufügen, daß eine Minderheit 
bestehe, die von diesem Standpunkt aus und im Interesse des Fortschritts den 
Sieg Deutschlands über Rußland herbeiwünsche‘t). 


aßt man das Ergebnis der Entwicklungfin den verschiedenen Ländern während des 
F Krieges zusammen, so ergibt sich: In Rußland allein gelangte der internationale 
Gedanke zur vollen Herrschaft. Es entstand der erste Versuch einer Staatsgründung 
auf internationaler marxistischer Grundlage. In Italien hielt die sozialistische Partei 
geschlossen an einem gemäßigt internationalen pazifistischen Standpunkt von Anfang 
bis Ende fest, war aber zu schwach, um auf den Verlauf der Ereignisse irgend eine 
Wirkung ausüben zu können. In Frankreich und England behaupteten die nationalen 
kriegbejahenden Richtungen das Feld. Die internationalen pazifistischen und revo- 
lutionären Strömungen eroberten in Frankreich einen Teil des verlorenen Geländes 
zurück. Sie vermochten aber nicht zu verhindern, daß der Kampf mit Hilfe der 
Mehrheit bis zum Untergang der Mittelmächte durchgeführt wurde. 
In Deutschland endlich gewann die internationale, teils pazifistische, teils ausge- 
sprochen revolutionäre Bewegung während des Krieges zwar nicht die Oberhand, 
- sie wurde aber so stark, daß sie auf die Gestaltung der Dinge beim Ausgang des 
Krieges einen nicht unbedeutenden Einfluß auszuüben vermochte und daß sie nach 
- dem Zusammenbruch den Versuch machen konnte, die Herrschaft zu erringen. 


1) Bericht des Organisationskomitees der Arbeiterpartei Rußlands. 


Mitgliederzahlen 
der deutschen sozialistischen Parteien 


1914 1918 1920 1923/24 1925 
S.P.D. 1085105 249411 1180208 1261 072 844485 
UDSSR; — ca. 100000 893 900 10000 ? 
K.P.D. > — 78715 225 000 ? 








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104 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England ® 


Pins 


Mitgliederzahlen 
der ausländischen sozialistischen Parteien 


Von Ernst Drahn in Berlin 


England:!) 1914 1918 1923/24 
Labour Party ... 1612000 3013000 3250 000 
EN L. P. ca. 60000 35 000 50 000 

— 4000 


Frankreich: 1914 1919 1921 1923/24 
S.D. 93208 150 000 40 000 50 000 
K.P.. — _ 131 477 25 000 


Italien: 1913 1921 1923 
S.D. 45000 113.000 16.000 
pe 70000 * 12000 Jetzueenal 


Rußland: 1907 1917 1924 

im April 78000 366 000 f 
Bolschewiki | 150000  P- Kin August 200.000 geien sind illegal 
Menschewiki M. 189 000 NEUN NR 
Sozialrevolution. 50000 geleitet. 


Jüdischer Bund 5384 
(i. Westrußland) 


Österreich: 1914 1919 1923 
S.D. 145024 332 391 590 000 
_— 8000 


Schweiz: 1919 1923 
54.000 37000 
— 4000 


Tschechei: 1921 1923/24 
330 000 150 000 
— 130.000 


Belgien:!) 1919 1923 
S.D. 131405 600.000 700000 ° 
K.P. Pe 1500 


Holland: 1913 1919 1923 
S.D. 25830 42.000 40 000 
a a3 2000 


1920 1923 
P. P. S. 60.000 30.000 
Kipa 6000 (illegal) 


Finnland: 1913 1919 1921/22 1923/24 
S. D. 71200 67 000 30000 ca. 25000 
K.P.. — — 40.000 illegal 


*) Die Organisation schließt Gewerkschaften in den politischen Verband ein. 















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. 2 Ernst Drahn: Mitgliederzahlen der wichtigsten sozialistischen Parteien 105 





Schweden: == 1913. 2.2°21920/21°. 1923 
| S.D. 75474 135.000 132.000 
i KB. 24.000 -12.000 
Dänemark: - 1913 1919 1923 
S.D. 50000 115.000 106.000 
| KPpo- 2 1200 
"Norwegen: 1914 1920 1921 1923 
S.D. 43525 110.000 L 25.000 
| Ep a 97.000 16.000 
Ver. Staaten: 1914 1919 1923 
| | S.D. 93519 104822 27.000 
K.P. —  (davon40000) 12000 
Argentinien: 1921 1923 
S.D. 8350 6000 
K.P. 5000 3000 
Bulgarien: 1913 1921 1923 
Engherzige (K.P,) 5000 40. 000 illegal 
Weitherzige , 2286 9000 10000 


Anmerkung: Die hier aufgeführten Zahlen sozialistischer Organisationen des Auslandes 


sollen nebeneinandergestellt ein Bild davon geben, welche Rolle die einzelnen Parteien in 


beiden Internationalen in den letzten Jahren gespielt haben. Aus der Nebeneinanderstellung 
geht im großen und ganzen hervor, daß wohl in jedem Land um die Jahre 1917/21 die S. D. 
= Hochkonjunktur zu verzeichnen hatte, daß dann die Moskauer Internationale fast alle Orga- 


nisationen der Einzelländer spaltete. Es entstanden überall mehr oder weniger starke kom- 


- munistische Parteien, dienach dem Willen der III. Internationale fest in der Hand der Moskauer 


Zentrale liegen sollten. Die wenigsten kommunistischen Parteien der Einzelländer konnten sich 


aber soweit zur Hingabe an Rußland und zur Aufgabe einer eigenen Politik entschließen; so ist die 


Abwanderung der Massen aus dem Moskauer Lager und das neue Wachstum der S.D., die vorher 


starke Einbußen in ihrem Mitgliederstand zu verzeichnen hatte, zu erklären. Im ganzen 


ergibt sich für die Jetztzeit das Bild, daß die getrennten Organisationen der S. D. und K.P. 
seit 1919/21 in ihren Gesamtmitgliederzahlen stagnieren oder Einbuße erlitten haben. 


Parlaments-Erfolge 


der Sozialdemokratie im Ausland 
Von Ernst Drahn in Berlin 


Rußland: In der Duma besaß zu Kriegsanfang die Sozialdemokratische 
Arbeiterpartei nur eine kleine Gruppe von sechs Abgeordneten entsprechend dem 
für sie ungünstigen Wahlrecht. Im Oktober 1917 wurden zum Räteparlament mit 
9 Millionen Stimmen nur Bolschewiki und Linke Sozialrevolutionäre gewählt, während 
die Konstituante Anfang 1918 eine Mehrheit von Sozialrevolutionären hatte. In der 
Folgezeit beherrschen die Bolschewiki die Räte-Kongresse. Andere Parteien sind 
unterdrückt, nur „Parteilose‘‘ sind noch vorhanden. 


Eensland: 1910 1918 1923 1924 
Lab. Party 505 690 2.244 945 4 348 370 5551549 Stimmen 
40 57 192 152  Abgeordn. 
(v. 670) | (davon Indep. | 
| L. P. 120). 
Kommunisten 56000 Stimmen 


5 Abgeordn. 


‚Die Sozialdemokratie in Frankreich und England (Südd. Monatshefte, 23, Jahrg., Heft 8) 8 





106 


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Die Sozialdemokratiein Frankreich und Eee 


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Frankreich: 1914 
(Kammerwahlen) 1397373 
Sozialdem. 102 
Kommun. 


1919 
1 840 000 


Italien: 1913 
Sozialdem. 883000 
52 (v.413) 
Reform. 
Kommun. 


1914 1919 
643 432 


44 70 
(36,6°/, d 
Wahlst. ) 


Belgien: 
Sozialdem. 


Kommun. 


1918 
Sozialdem. 22 
Kommun. 31143 

3 


Holland: 


1919 
1 615 800 


156 (v. 850) 


1924 

. Stimmen 
93 104 Abgeordn. 
15 26 


1921 
1638000 
123 


1924 
Stimmen 
Abgeordn. 
Abgeordn. 
Stimmen 
Abgeordn. 


1921 
660 378 


7 78 


‚(v. 186 Abg. (v. 187 Abg.) 
34 rd Wahlst,) 


1925 
Stimmen 
Abgeordn. 


1922 

20 Abgeordn. 
53657 Stimmen 
2 Abgeordn. 


(von 100 Abgeordneten.) 


1914 1919 
Sozialdem. — — 
19 38 

Kommun. — 


Schweiz: 


2 


1920 
1073 000 


Österreich: 
Sozialdem. 


69  (v.183) 
27000 (1%,) 


Kommun. 


Tschechei: 

Sozialdem. Tschech. . .. 
; Deutsche... 

Nationalsozialisten 

Kommunisten 

Sozialdem. Tschech. .. . 
Deutsche... 

Nationalsozialisten 

Kommunisten 


Sozialdem. 507815 (9,4°/,) 
54 


Kommun. 


Jüd. Bund 


1920 
1590 284 
600 201 


1922 
183000 (24°/,) Stimmen 
43 (v.189) Abgeordn. 
14 000 Stimmen 
2 (v.189) Abgeordn. 


1923 
1312000 Stimmen 
68 (v.165) Abgeordn. 
Stimmen 


1925 
631113 Stimmen 
411775 
609 095 
931 769 ER 
25 Abgeordn. 


„ 


” 


906 182 (10,3 %/, Stimmen 
41 Abgeordn. 
121453 (1,4°/,) Stimmen 
2 Abgeordn. 
81478 (0,9°%/,) Stimmen 
— Abgeordn. 













Ernst Drahn: Parlamentserfolge der Sozialdemokratie im Ausland 107 





Bulgarien: 1919 1923 


| Weitherz. S.D. 79000 27 000 Stimmen 
| u 38 29 Abgeordn. 
| | 'Kommunisten 120.000 210.000 Stimmen 
© 48  (v. 227) 40 (v.249) Abgeordn. 
" Dänemark: 1919 1920 1924 
j Sozialdem. — 389 653 469949 Stimmen 
38 48 55  Abgeordn. 
Kommun, — 5160 6219 Stimmen 
—- —  Abgeordn. 
Schweden: 1914 1920 1921 
Sozialdem. 265 669 194.000 630 855 Stimmen 
87 | 75 03 Abgeordn. 
Linke — 43 000 90 355 Stimmen 
— 7 7 Abgeordn. 
Kommun. — ou 56.241 Stimmen 


— = 6 d(v.230) Abgeordn. 


Norwegen: 1912 1921 
Sozialdem. 124594 (26°),) 83572 Stimmen 
E" 24 8 Abgeordn. 
% Kommun. 193497 Stimmen 
E 29 _Abgeordn. 
WFinnland: 1919 1920 1923 
U Sozialdem. 80210 64.297 Stimmen 
Unabh. Bien 50119 21 704 : 
78 18 15 Abgeordn, 
11 4 7 
Kommun. 24.849 45711 (10000 Stimmen 
ungültig) 
5 10 Abgeordn. 
Arbeiterpart. 99030 51 674 Stimmen 
12 12 Abgeordn. 


Die internationalen Gewerkschaften 


Von Ernst Drahn in Berlin 
Gewerkschafts-Mitglieder überhaupt: 


| 1900 1906 1909 1913 1918 

| 5818595 11301 933 14098 104 . 15 195 000 16 152 000 

| 1919 1920 1921 (Durchschn.) 1921 (Dez.) 1923 

| - 40188000 47 479 000 50 007 000 46273132 36 000 000 

- (42.040 000) | 
Amsterdamer Internationale (früher Internationales Sekretariat): 
1900 1903 1906 1909 1912 

Mitgl. 579990 3604163 5851215 9573493 12368 103 
Mitgl. (n.and, _- 5664705 5 807799 7 383 420 
Länder Quelle) — 15 18. 2.%. _ 


8*r 





Länder — 9 14 20 19 
















1088 Die Sozialdemokratie in Frankreich und England 
ne nn 


1913 1919 1920 1921 1923 
Mitgl. — 23 170.006 22701 103 21991 615 16490021 
Länder — 21 22 24 — 
Mitgl. 7702 368 — — (u.4686000sympath.) 13353000 
Länder 17 — — _— — 
Rote Gewerkschaftsinternationale (Moskau): 
1921 1923/25 
8 162000 8792000 u. 2911000 rev. Minderh. i. and. Organisat. 


bezw. 7069000 
(6 168000 sympath.) 


Christliche Gewerkschaften: 


1900 1903 1906 (1908 a. .d. I. int. Kongreß vertr.) 
405 914 497 375 764 937 (443000) - 
1909 1921. 1922 
1947 028 3759 106 2855 172 


Syndikalistische Organisationen: 


1900 1906 1909 1922/23 
1511096 1796011 2.374.676 1 185 384 
ca. 2500000 n.synd. Zählg, 
Gelbe Vereine: 
1900 1906 1909 1921 
80 000 724 500 1 221500 694.000 
Rein gewerkschaftliche Vereinigungen: 

1900 1906 1909 1921 

2441 595 3875007 4465 776 4422000 





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Westliche Demokratie und westlicher Sozialismus 
Von Dr. Julius Paul Köhler in Berlin 


ie modernen europäischen Geistesbewegungen treten mit der Renaissance in 
Erscheinung. Die Scholastik beendet die Herrschaft des naiven Intellektualis- 
mus, In Leibniz und in Spinoza ist das intellektualistisch-metaphysische Zeitalter 
bereits ganz modern zum Ausdruck gelangt. Das Naturrecht des 16. bis 17. Jahr- 
hunderts bleibt noch stark bestimmt von der Atmosphäre des universalen Geistes 
Alteuropas, dessen Träger das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war. 
Die europäische Geistesgeschichte verzeichnet einen äußerlich fortschreitenden 
Bewußtseinsprozeß der Völker, der einer fortgesetzten Zunahme ihrer Bevölke- 
rungen entspricht. Im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts ist dieser Prozeß 
von Kant, Herder, der politischen Romantik und ihrem universalistischen Syste- 
matiker Hegel, sowie dem deutschen Marxismus empfunden und gedeutet worden. 
Man darf dazu bemerken, daß dieser Bewußtseinsprozeß nicht geradlinig-mechanisch 
aufzufassen ist. Eine solche Vorstellung wäre dilettantischer Mißbrauch der Hegel- 
schen — wir würden heute sagen — Kulturkreis-Typik. Für Hegel war ja die germani- 
sche europäische Welt von Anfang an der geschichtliche Prozeß im Bewußtsein und 
Geltungsgefühl aller. Aber freilich zeigt auch die europäische Geschichte Wellen- 
bewegungen dieses Zustandes und Rückschläge in der sozialen Verfassung an. Mit 













( der Neuzeit entsteht die bevölkerungspolitische Gedrängtheit und die dadurch be- 
" dingte materielle Zivilisation. Damit eben beginnt wieder ein in großem Ausmaß 
‚ fortschreitender Bewußtseinsprozeß, und dieser ist hier gemeint. 


ia politischen Kern des damaligen Europas, das bereits sozial-individualistisch, völker- 
gesellschaftlich aufgeschichtet ist; gleichzeitig wirkt, wie schon bemerkt, die Uni- 
" versalität besonders durch die Leistungen des Humanismus weiter. 


| Ben Lage auf die Formel: Westen und Mitte bringen. Denn soziologische 
scheinlich. Nur das Temperament der einzelnen Gruppen, ihr Instinkt schafft die 


‚individuellen Ergebnisse ihres fortschreitenden Bewußtseinsprozesses und ihrer ge- 
- schichtlich-europäischen, politischen Leistungen. 


. politischen Struktur des Abendlandes zurück, die sein ureigenstes Werk ist. 
| | \X Testliche Demokratie und westlicher Sozialismus sind als Bewußtseinsäußerungen 


EB 
E . 


_ volks- und massenpolitische Epoche. 


- senden Bewußtseinszustandes ist das, was wir unter westlicher Demokratie und west- “ 
 Jichem Sozialismus verstehen, aber keineswegs anzuerkennen. Alt-Mitteleuropa hatte 
schon vor der englischen und französischen Revolution seine aufrüttelnden evolu- 


des geistig-politischen Geltungsdranges usw. sind ihr in gleicher Weise gemein!). 


starker Weise mit den Kasten und Klassen-Verbitterungen behaftet wie das deutsche 


- Eigenschaften natürlich auch wechselseitig entsprechen. Die Ideologien der nach- 


“ prozeß noch nicht. Der nationale Prozeß wurde in den territorialen gepreßt, der seine eigenen 


_ werden das wohl die Folgen der sehr früh erreichten inneren und äußeren Einheit 
"jener Völker sein, die sich darüber hinaus im ursprünglichen Gesamtbereich ihres 
“ geschichtlichen Daseins — der Nachfolgeschaften Alteuropas — in ihrer Weise satu- 
" rieren wollten. Aber es kommt noch mehr darin zum Ausdruck. In beiden zeigt sich 


‚dem Fluß seiner europäisch-universalen Lebendigkeit die Formen seines Charakters 
- gefunden. Es hatte damit eben seine Demokratie. Das, was wir hierbei Westen 
nennen, war zum mindesten in jener Zeit dasselbe, was wir als Mitte für uns selbst 


r ,' 






















































\ Julius Paul Köhler: Westliche Demokratie und westlicher Sozialismus 109 








Die geistig-politischen Fragestellungen des Abendlandes erwachsen aus dem 


Auch wir wollen hier vergleichsweise die damalige politische Realität der geistes- 


bereinstimmungen und Parallelen innerhalb der europäischen Völker sind augen- 


Die Entwicklung im Bewußtsein der Freiheit ist in ihren Wirkungen mit abhängig 
von dem psychologischen Gesamtwesen der einzelnen großen europäischen Gemein- 
schaftsgruppen. Die Geisteswoge, die aus einem gemeinschaftlichen Rahmen kom- 
mend angenommen werden darf, bildet in ihren intellektuell-subjektivistischen 
Etappen die modernen Nationen. Metaphysik und damit Universalität verwachsen 
mit ihnen. Der als europäisch empfundene Geistesstrom fließt deshalb in das Bett der 


zu einflußreichen europäisch-universalen Anregungen geworden. Letzten Endes 


zum erstenmal der Instinkt für die herannahende zivilisatorische, national-rationale, 


Als überragendes, geistesgeschichtliches Vorbild eines erhöhten, vorwärts wei- 


tionären und revolutionären Erscheinungen gehabt. Mögen die Besonderheiten 
zwischen jenen und dem geistigen Gesamthintergrund der deutschen Bauernkriege 
z. B. noch so sehr hervortreten: die Tatsachen des gruppenpolitischen Widerstandes, 


Das französische Volk hatte im Laufe langer Krisen und im Zusammenhang mit 





auch heute noch suchen: eben die der eigenen Art gemäße Form. 
Die französische, wie überhaupt westeuropäische Wesensart ist nicht in gleich 


Volksleben, in dem der einzelne und die Masse sich in ihren guten und schlechten 


drängenden Bevölkerungsschichten des Westens waren und sind deshalb auch in 
ihrem universalsten Ausmaß als europäische Forderung gleichzeitig. vaterländisch- 


1) Vielleicht hat die deutsche Nation in jenen Tagen die erste Möglichkeit eines neuzeitlichen 
europäischen : Ansatzes und Einflusses verspielt. Sie überwand ihren inneren Auflösungs- 


außenpolitischen Gesichtspunkte und damit entsprechende innere bevölkerungspolitische 
Gliederungen bezwang. Die Folge davon war, daß der fertige, einfache, für die innerpolitische 
Lage Deutschlands und die deutsche Wesensart zu problemlose Vorstoß aus den national 
bevölkerungspolitisch geschlosseneren Gebieten des Westens geistig-politisch gleichsam die 
europäische Vorhand erhielt. 





110 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 
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staatliche Erlebnisse. Für die persönlich-nationale Unmittelbarkeit der westlichen 
Demokratie und des westlichen Sozialismus spricht sogar Rousseaus ‚‚Contrat social‘, 
für den ebenso wie für Spinoza die Demokratie (bürgerliche Gesellschaft und Sozialis- 
mus) eine innerpolitische, schlechthin nationale Angelegenheit war. 

Die französische Revolution von 1789 ist die größte geistig- und macht-politische 
Mobilisierung des demokratisch-nationalen Westens. Sie zeichnete sich als franzö- 
sisch-nationales Erlebnis in den europäischen Raum ein. Sie beflügelte das eigene 
Volksleben und das Leben als Nation. Sie war nicht nur in der politischen Wirkung, 
sondern bereits im Ausgangspunkt eine nationale Angelegenheit, d. h. sie hatte eine 
vom Wesen des Volkes bestimmte Richtung, die in ihren Formen allgemein-gültig 
sein sollte. Ein merkwürdiger Universalismus übrigens. Die Idee eroberte den 
Raum, auf den sie stieß. Die Ideologie der französischen Revolution wurde damit zum 
geistigen Antrieb einer national-französisch empfundenen Volksbewegung. 

Niemals in seinen politischen Handlungen haben westliche Demokratie und 
westlicher Sozialismus diese Wesensgrundlagen verleugnet: „Weltbürgertum und 
Nationalstaat‘“, sagt Fr. Lenz!), „die im Frankreich der großen Revolution sich 
vereint, wurden in Deutschland als Widerspruch empfunden, Worte, welche in der 
Heimat werbend wirkten, verloren auf dem neuen Boden darum ihre Resonanz AB, 

Um das Verhältnis der westlichen Demokratie und des westlichen Sozialismus zur 
Nation vollkommen verständlich zu machen, bleibt es stets nötig, den ganzen geistes- 
geschichtlich-universalen Zusammenhang zu beachten, wobei dann eben auch auf 
den europäischen Charakter der Fragestellung verwiesen werden muß. 

An den geschichtlichen Vorgängen zeigt sich dies ungefähr so: Die westeuropäische 
Intellektualität beginnt — getragen von dem national-zivilisatorischen, rationalen 
Grundzug der Zeit — ihre geistig-politischen Angriffe und findet, wie Fr. Lenz nach- 
gewiesen hat, auf dem Boden der gesellschaftlichen Struktur Westdeutschlands und 
besonders des Rheinlandes in Gestalt der erwachenden Sozialkritik, die in beson- 
derem Maße durch die rationalistische Prägung jüdischer Intellektueller ihre Grund- 
pfeiler erhält, die Brücke in das ganze geistig-politische Gefüge Deutschlands. 

Praktisch wächst sich von jetzt ab die Frage: ‚‚Westliche Demokratie und west- 
licher Sozialismus in ihrer Stellung zur Nation“ gleichzeitig eben zu dem innereuropäi- 
schen völkergesellschaftlichen Problem schlechthin aus. Sie wird zur Grundfrage 
des modernen intellektualisierten Innereuropas und damit gleichzeitig der Zukunft 
des Abendlandes selbst, das politisch ja immer von dem Verhältnis Frankreichs zu 
Deutschland und umgekehrt bestimmt war. 

Zum Verständnis der nationalen Bedeutung der demokratischen und linkspar- 
teilichen Kräfte des Westens und vor allem Frankreichs wurde bereits auf den 
westeuropäischen Volkscharakter verwiesen. Er erscheint im Vergleich zur deutschen 
Wesensart unbeschwerter und damit ausgeglichener, verbindlicher. Die Oberschich- 
tenformung sah deshalb dort vielleicht einfachere zuverlässige Möglichkeiten ihrer 
Entwicklung vor sich?). 

Wieweit die Demokratie des Westens selbst in eine weitere Krise zu geraten droht, 
kann unerörtert bleiben. Der außenpolitische, eben universale Druck braucht ihr an 
und für sich keine Erschütterung zu bringen, da sie selbst stets national-universal war. 


k der europäischen Mitte sind die Verhältnisse verwickelter. Man darf das Ver- 
hältnis des Westens zur Mitte auch nicht auf eine rein verwaltungspolitische 
Formel bringen, wie es geschieht, indem der Staatsabsolutismus, der Zentralismus 
des Westens dem genossenschaftlichen Volkstumsaufbau der Mitte entgegengestellt 
wird. Das kann zu einer unklaren Föderations-Dezentralisationsromantik verführen. 
Richtig ist, daß die deutsche Demokratie, der deutsche Volksaufbau im Sinne des in 
sich selbst ausgegliederten Volkstums weiter zu entwickeln ist. Aber schon wieweit 
!) Fr. Lenz, „Die deutsche Sozialdemokratie“, Stuttgart 1923. 


®) So mag es auch kommen, daß Deutschlands gegenwärtige Struktur westlicher erscheint 
als der Westen selbst. 








































































































DB 


fr 


." europäische — Idee und beispielgebende Aufgabe Deutschlands nicht etwa ver- 
 neint sein. Es scheint aber infolge der modernen völker-gesellschaftlichen, subjek- 
. tivistisch-universalisierenden Aufschichtung Europas weitaus zweckmäßiger zu sein, 
- Deutschland geistig-politisch nicht mit einer rein mitteleuropäischen Idee zu ver- 
‚= koppeln. Denn die kleineren Völker Mitteleuropas z. B. haben im geistesgeschicht- 
> lichen Zusammenhang der Zeit, die intellektuell-metaphysisch ist und auf größtem 
‚“ Beziehungsradius beruht und eben noch weiterhin beruhen wird, ebenfalls ein sub- 
 jektives Gesicht, das sie mit Mißtrauen gegenüber einem geschlosseneren Mittel- 
europa erfüllt, und sie so immer wieder dem Westen nahebringt, der geistig-politisch 
auf diese Weise gleichsam eine angebliche europäische Zufluchtsstätte bleibt. 
Jenes Mitteleuropa mit dem Kristallisationspunkt Deutschland kann entstehen 
durch Druck auf seinen Raum. Die Dehnbarkeit der nationen- und weltverkehrs- 
gesellschaftlichen Zusammenhänge wird aber offenbar auch hier für noch lange Zeit 
labilere Zusammenhänge im Vordergrund lassen. Deutschland will nichts anderes als 
teilhaben an der europäischen Idee schlechthin; das heißt: an der wahren völker- 
gesellschaftlichen Zusammenarbeit im Sinne der lebendigen Verbundenheit der ge- 
schichtlich-volklichen Einzellagerungen im allgemeinen und des allgemeinen 
Strebens durch die volklichen Individualitäten. Diese Idee wird als ursprünglich 
europäische Gesittung planetarisch-weltpolitische Bedeutung erlangen. Geistig- 
politisch ist deshalb die Mitteleuropaidee ein psychologisch keineswegs genügender 
- Ausweg deutscher Bemühungen. Denn die moderne gedrängte und gleichzeitig doch 
- auch verkehrsgesellschaftlich verwickelte innere Verfassung der Völker und des 
internationalen Lebens wird immer stark subjektive, einzelbedingte Züge behalten; 
“dazu kommt, daß die persönlichkeitsbestimmte, wir sagten es schon, metaphysische 
 Intellektualität als Forderung wenigstens unüberwindbar erscheint und eine primi- 
tive, naive Gemeinschaftlichkeit verhindern wird. Die gekennzeichnete moderne 
Lage erfordert also ihre entsprechenden Formen auch in der Praxis des Völkerlebens: 
in der internationalen Politik. Eine zu weit getriebene Rezeption des romantisch ge- 
 sehenen Mittelalters kann sehr leicht den Blick für die vorwärtsweisende Gestaltung 
des heutigen Europas verdunkeln. Ganz abgesehen davon, daß jenes Mittelalter 
genug gruppenpolitisch-dezentralistische Gegensätze im kleineren Rahmen aufweist. 


etrachten wir nun den Aufmarsch derjenigen Parteien, die sich in Frankreich 

B demokratisch, linkspolitisch oder sozialistisch nennen. Am weitesten rechts 

stehen die „Republicains de Gauche‘“, denen Clemenceau angehörte und denen z. B. 

'  Tardieu und Le Trocquer zuzuzählen sind. Diese Gruppe fordert innenpolitisch soziale 

Solidarität unter Verwerfung des Klassenkampfes. Nach außen ist sie extrem 
annexionistisch. Ihnen schließt sich — nach „links‘“ gesehen — an die „Gauche - 
republicaine democratique‘‘ (Barthou, Maginot, Lefevre!), 

| Dieser benachbart sind die „R&publicains socialistes‘‘ mit Briand. Auch der ver- 
storbene, ursprünglich sozialistische Viviani gehörte dazu. 

| Der Oberkommandierende der früheren amerikanischen Besatzung am Rhein, 

j General Allen, erzählt in seinem Rheinland-Tagebuch, wie auch Viviani auf den 

Zerfall Deutschlands spekulierte, der von gemäßigten Kreisen u. a. durch monar- 


ur 


chistische Separatbewegungen in Süd- und Westdeutschland erhofft wurde. Auf der- 
artigen Gedankengängen, die Frankreich tatkräftig zu bewahrheiten versuchte, baute 
sich die französische Rheinlandpolitik auf. 

Wirtschafts- und sozialpolitisch erstrebt das Programm der Re£publicains sociali- 
stes die Beteiligung der Arbeiter an Aufsichtsräten und Betrieben der Fabriken und 
die sogenannten Arbeitsaktien. 

Der eigentliche Linksblock beginnt mit den Radikalsozialisten. Verfassungs- 
politisch sind sie demokratische Republikaner mit innerpolitisch stark zentralistisch- 
kollektivistischem Einschlag. Sie fordern Sozialisierung der Eisenbahnen, des Berg- 
baues, der Elektrizität und der Wasserkräfte; weiter treten sie für Monopole ein. 











112 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 


a Le 


Außenpolitisch sind sie französisch-national; sie erstreben den allgemeinen Frieden 
unter Wahrung und als Ausdruck der französischen Sicherheit. Was darunter ver- 
standen wird geht z. B. aus den weiter unten angegebenen Außerungen Herriots 
hervor. Die Ruhrbesetzung wurde von der Partei nicht mißbilligt. 

Links von den Radikalen stehen die Sozialisten (Section Frangaise de I’Inter- 
nationale Ouvriere). Sie fordern die Sozialisierung der großen Industrien und die 
Errichtung eines Milizheeres, Ablösung der Verbrauchs- und Umsatzsteuern durch 
Sozialisierungserträge und Steuern auf die Vermögen. Es handelt sich auch hierbei 
also um die immer wiederkehrende Erscheinung des „praktischen Sozialismus‘: 
um einen verwaltungspolitisch überspannten, wirtschaftlichen Zentralismus, der 
eben in Frankreich seine ideelle Heimat hat und hier mancherlei Parallelen zur 
sonstigen Staats- und Gesellschaftsverfassung Frankreichs bietet. Außenpolitisch 
ist ihr Verhalten immer auf eine untrennbare Verbundenheit selbstverständlicher 
französisch-nationaler Forderungen im Rahmen internationaler Verständigungs- 
bekundungen hinausgelaufen. Wenn dabei gewisse Intellektuelle des Westens den 
Sozialismus in ähnlichen rationalistischen und marxistischen Gedankengängen vor- 
tragen, wie das in Deutschland geschieht, so besagt das praktisch noch gar nichts, 
Denn Führer und Masse jener Parteien unterwerfen sich doch dem Einfluß der tragi- 
schen Konstellation, die um das Problem Deutschland-Frankreich kreist. Das be- 
weisen auch der Weltkrieg und die Nachkriegszeit bis heute. 

Ja, es läßt sich geradezu sagen, daß der ehedem so offensive ‚‚Universalismus“ der 
französischen Sozialisten in sich selbst von vornherein alle Gifte und Kräfte, die dem 
vaterländischen Ganzen der Nation schaden könnten, ausgeschieden hat. Er warb und 


wirbt in der gleich sentimental-koketten Art für Frankreich wie die Rhetorik der 
Rechtsparteien. 


ußenpolitisch passen sich die westlichen Linksparteien aem interfraktionellen 
Ä Druck von rechts immer an, wenn wir unter Vorbehalten eine Scheidung im deut- 
schen Sinne einmal durchführen wollen. Das heißt: in Wirklichkeit damit eben dem 
nationalen Ganzen. Die universalisierenden Formeln können darüber nicht hinweg- 
täuschen. Sie verstärken höchstens die diplomatische Stoßkraft Frankreichs, soweit 
die politische Öffentlichkeit zum Schaden der internationalen Sachlichkeit und 
Ehrlichkeit sich heute von der sterilen Phraseologie Pariser Advokaten und Journa- 
listen noch täuschen läßt. 

Der demokratische und sozialistische Gedanke des Selbstbestimmungsrechtes 
wird in verlogenster Weise verleugnet und mißdeutet. Ein radikal-sozialistisches 
Beispiel dafür ist das Verhalten Herriots!) in der elsaß-lothringischen Kulturpolitik. 
Von der EinstellungallerfranzösischenParteien gegenüber Deutschland ganz abgesehen. 

„Briand?), der eigentliche Vater des Generalstreikgedankens, Millerand und der 
Antimilitarist Herv& bereiten bei ihren Landsleuten jene Wandlungen vor, welche 
sie mit ihren deutschen Parteigenossen erst im Versailler Vertrag wahrhaftig nach- 
haltig zusammenführt“, schreibt Fr. Lenz in seiner Geschichte der deutschen Sozial- 
demokratie. Heute ist derselbe Briand der Führer einer Genfer Gruppe, die sich unter 
dem „Schutz“ diplomatischer Finessen — die ihre machtpolitischen Voraussetzungen 
in den „Friedens“-Diktaten haben — immer wieder als Gegner jeder gesunden 
europäischen Entwicklung bekundet, Briand ist, wenn auch nicht für Annexion, so 
doch für „Neutralisierung‘‘ und Autonomisierung des Rheinlandes eingetreten, 

„0 gut wie ein Danton,‘“ betont Fr. Lenz weiter, „verlangten Proudhon und Louis 
Blanc die Rheingrenze für ihr Vaterland.“ „Nach dem Sturz des zweiten Kaiser- 





*) Edouard Herriot, ursprünglich Literaturhistoriker, dann Maire von Lyon; 1912 bis 1919 
radikalsozialistischer Senator, 1920 Vorsitzender des radikalsozialistischen Parteivorstandes. 

?) A.B., ursprünglich Advokat und Herausgeber der Tageszeitung ‚La Lanterne‘‘, ist 
seit 1889 Deputierter. Anfangs war er Mitglied der sozialistischen Partei, später trat er zur 
„bürgerlichen Linken‘ über — was ja, wenn man die oben angegebenen Programme und 
Politik der Parteien untereinander vergleicht, nicht allzuviel bedeutet. 








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Julius Paul Köhler: Westliche Demokratie und westlicher Sozialismus 113 





" reiches (1870) errichteten die Pariser ein Regime der nationalen Verteidigung, weit 
- entfernt, sich zu unterwerfen oder abzurüsten, ließen sie dem Volkshaß wider die 
'" Feinde freie Bahn. Die französischen Mitglieder der Internationale erließen nach 
 Sedan einen Aufruf an ihre deutschen Genossen, der mit den Worten der Verfassung 
'" von 1793 die Deutschen über den Rhein zurückwies.‘‘ „Nationale Pflicht der Repa- 
" rationen erkannten die französischen Sozialisten nach 1870 nicht an.‘ 


Ein Victor Hugo fordert als „wahre Grenzen des größeren Frankreich‘ das linke 


R: Rheinufer in einem Atem mit den ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ (Fr. Lenz). 
Er bildet somit gleichsam die Brücke zum geistig-politischen Annexionismus der 
gegenwärtigen französischen Europaidee. 


In seiner großen Rede während der Genfer Völkerbundsversammlung im Herbst 


| | 1924 erklärte Herriot: „Zum Geist gehört die Macht“ und „durch Reden sind noch 
- nie politische Probleme gelöst worden‘. Er wollte damit das französisch eingestellte 


Genfer Protokoll verteidigen. In Deutschland hätte von allen bisherigen Sozialisten 
höchstens Lassalle so ähnlich sprechen können, was für sein Handeln im Rahmen des 
deutschen Volkes aber noch längst nicht verpflichtend gewesen wäre!). 

Mit Pathos focht Herriot während der Londoner Konferenz von 1924 für die fran- 
zösische Nation gegen die „Weltbankiers“‘, denen er politische Ziele zuschrieb. 
Herriot meinte also doch wohl das völker-gesellschaftlich aufgebaute Europa, trotz- 
dem er Reichsdeutschland in seinen offiziellen und inoffiziellen Äußerungen stets mit 
rein ökonomischen Gedankengängen abzutun suchte, indem er es als bedeutungs- 


volles europäisches Wirtschaftsfeld ansprach und als solches gelten ließ, — eine sehr 


durchsichtige Taktik des französischen Europäismus und ein geschicktes Einspielen 


- auf die Wirtschaftsideologien linkspolitischer deutscher Parteien. Die Weltpolitik 
“ des marxistischen Ökonomismus zu vertreten, blieb immer das besondere Vorrecht 

deutscher Sozialdemokraten. Das werden wir zum Schluß an zwei — man kann hier 
- ruhig sagen — klassischen Typen des französischen Sozialismus beweisen, an Herve?) 


und Jaures®). (Die vaterländisch-universalen Ansätze innerhalb der deutschen 
Sozialdemokraten sind vor und nach 1918 von vornherein zugunsten einer Bewegung 


 erstickt worden, die in echt michelhafter Verbissenheit sich machtpolitisch nur im 
 volksaufspaltenden, innerpolitischen Sinne betätigt, während sie außenpolitisch in 
absoluter geistiger Hörigkeit zum Westen verharrt. Gegenüber der Tragik des euro- 


päischen Problems — das als solches unbedingt besteht — betreibt die deutsche So- 


 zialdemokratie die angstvollste Vogel-Strauß-Politik.) 


an wird einwenden, daß Herv& kein Sozialist mehr sei. Er gehört seit dem Kriege 

der sozialistischen Internationale nicht mehr an. Trotzdem lassen wir ihn als Typ 
des französischen Sozialismus gelten, der in der Stunde vaterländischer Gefahr immer 
wieder Wortführer sein wird.- Interessant, zu lesen, wie er sich in einer Auseinander- 
setzung“) mit dem besiegten Deutschland und mit der sozialistischen Partei Frank- 
reichs — der ‚Vereinigten‘ — auf Jaures beruft. 


1) Gewiß, auch deutsche Sozialdemokraten, selbst ein Ledebour, erkennen vaterländisches 
Bewußtsein an. Leider verharren sie darin stets bei einem Ästhetizismus, dem jegliche politisch 
nationale Kraft, ganz im Gegensatz zum französischen Sozialismus, fehlt. Während der 
radikalsozialistische Kammerpräsident Painleve zurzeit eine Volksmilitarisierung vor- 


schlagen darf, verkümmern ähnliche Punkte im Programm der deutschen Sozialdemokratie. 
„Sie entpuppen sich hier als rein theoretische Floskeln. Die alte deutsche, volksmißmutige 


Michelhaftigkeit, die-einer westlich eingestellten ‚geistigen Führerschaft“ innerhalb. ihrer 
Reihen zum Opfer fällt, hat in ihrer Sehnsucht nach Allerweltseinheit (ohne Klarheit) anderes 
zu tun, als sich mit dem Kern der völker-gesellschaftlichen Dinge abzugeben. 

2) Gustave Herve, Lehrer, Advokat, gründete 1906 das sozialistische Organ „La guerre 
sociale‘; während des Krieges taufte er es in „La Victoire‘“ um. 

3) Jean Jaur&s, ursprünglich Professor der Philosophie an der Universität Toulouse, 
seit 1885 mit kurzen Unterbrechungen Deputierter, Führer der französischen Sozialisten. 
Am 31. Juli 1914 von einem Nationalisten (Villain) niedergeschossen. Begründer der „Hu- 
‚manite“. *) Gustave Herve, Die deutsch-französische Annäherung. — Briefe an die Deut- 
schen. Mit einer Vorrede von Burtzeff, Berlin 1920. 





BEN; 
















114 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 


I 


Einleitend vergleicht er die Lage Deutschlands nach 1919. mit derjenigen 
Frankreichs nach dem Wiener Kongreß. Er redet den Revolutionsdeutschen in 
kollegialer Form gut zu: genau wie Napoleon I., so habe jetzt Deutschland die ganze 
Welt gegen sich aufgebracht. Er preist die Zurückgewinnung Elsaß-Lothringens und 
fordert einen unbedingten Verzicht auf die polnischen Provinzen, die der ‚‚Friedens- 
vertrag‘ mit oder ohne Abstimmung ‚von eurem deutschen Vaterlande fortgerissen 
hat“ (5.5). Dann verlangt er die Ablehnung jeder Gemeinschaft mit den Urhebern (!) 
des Weltkrieges und demokratisch-republikanische Stabilisierung. Unter solchen Vor- 
aussetzungen stellt er — nach 10jähriger Bewährungsfrist — die Erlaubnis zur An- 
gliederung Deutsch-Österreichs wohlwollend in Aussicht, ebenso Kolonialmandate, 
Zu den französischen Sozialisten gewandt, fordert er den Jauresismus als „Revanche 
für Jaures“, Das heißt, die Abkehr von dem ‚„Fiasko“ der marxistischen Gedanken- 
gänge: 

„Keine Mißverständnisse mehr! Der Devise von Karl Marx ‚Proletarier aller Länder vereinigt 
euch‘ stellen wir entgegen den Ruf der heiligen Union, den Blanqui jeden Tag während der Be- 


lagerung von Paris ertönen ließ: ‚Franzosen aller Parteien und gesellschaftlichen Verhältnisse 
vereinigt euch‘!‘ 


„Unser neuer Sozialismus muß sich als hochnational proklamieren, da aber unser Patriotis- 
mus eine seiner Wurzeln in der französischen Revolution hat, so ist nicht zu befürchten, daß 
er jemals zu niedrigem Chauvinismus herabsinkt“ (S. 20). 

Für Herve& ist die Parole: „Vaterland und Menschheit“. Seine innenpolitisch-soziali- 
stischen Forderungen bilden, kurz gesagt, ein national-demokratisches Wirtschafts- 
programm: Betrieb und republikanisch-demokratische, vaterländische Betriebs- 
gemeinschaft. Das organische Prinzip der Mitte hat also offenbar auch im 
Westen seinen geistigen Nährboden. 

Diese vaterländisch-universale und personalistische Auffassung bildet einen fast 
mühelosen Übergang zu dem vaterländischen Rationalismus Jaures’, dem von 
Herve so oft zitierten. Herv& schreibt in der erwähnten Broschüre, daß Jaur&s nicht 
müde geworden sei, den Tag zu verfluchen, an dem der französische Sozialismus in 
die Gefolgschaft des Marxismus gekommen sei. Der deutsche Sozialismus habeEuropa 
überflutet!). Die geistig-politische Linie Jaures’ geht allerdings zielbewußt darauf 
hinaus, den Begriff der vaterländisch bewußten Persönlichkeit dem französischen 
Sozialismus nicht nur zu erhalten, sondern zu einer lebendigen Triebkraft im fran- 
zösischen Proletariat zu machen. Jaures hatte Mißtrauen gegen die vulgär-massen- 
politischen Formeln des Marxismus: Er wurzelt in der vaterländisch-revolutionären 
Linie des französischen Sozialismus, in der „Leidenschaft des revolutionären Pa- 
triotismus“, wie er selbst die Urkraft der französischen Revolution kennzeichnet?). 
Trotz der innerpolitischen Unterschiede und der ästhetisch-rationalisierenden Auf- 
machung und Empfindung ist also Jaures von Herv& nicht so weit entfernt. 


n seinem Buch über „Die neue Armee“ schreibt Jaures einleitend über „Mili- 


tärische Kraft und moralische Kraft“ Sätze, die die lebendige vaterländisch-univer- 
sale Synthese dieses französischen Sozialisten ohne weiteres erkennen lassen: 


„Mit den Fragen der nationalen Verteidigung und des internationalen Friedens beginne 
ich die Darlegung des Planes zu einer sozialistischen Organisierung Frankreichs, den ich der 





* 2) Ein deutscher Augur könnte nun einwenden, wo denn da die politisch-nationale Bedeu- 
tungslosigkeit oder Schädlichkeit des deutschen Marxismus bleibe, wenn sein geistig-politi- 
scher Einfluß überall so empfunden werde. In Wirklichkeit ist der abstrakte, vaterlandspole- 
mische Fanatismus des deutschen Michel im Auslande eben auf die Nerven gefallen. Ja, 
man suchte vielleicht sogar eine taktische Perfidie hinter dieser Michelei — da auch Sozialisten 
untereinander sich aus tragischen Gebundenheiten nicht lösen können —, während es dem 
deutschen Michel doch so furchtbar ernst mit seinem Anbiederungswillen war, derim Marxismus 
an und für sich schon in der Gefolgschaft des patriotischen Rationalismus der französischen 
Revolution bestand. Innenpolitische Ressentiments haben hier und da auftretende, aus der 
praktischen Erfahrung hervorgegangene Einsichten deutscher sozialdemokratischer Politiker 
immer wieder zu Tode dogmatisiert. 


?) Jaur&s, Jean, Die neue Armee, Jena Diederichs 1913, S. 393, 






















































hi 


2 


A 


Ka Julius Paul Köhler: Westliche Demokratie und westlicher Sozialismus 





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Kammer in Form von Gesetzentwürfen unterbreiten will. Es ist sowohl für den Sozialismus als 


"auch für die Nation von dringender Notwendigkeit, daß endlich festgesetzt werde, wie die 
“militärische Institution und die auswärtige Politik des republikanischen Frankreich gemäß 
den Ideen des Sozialismus beschaffen sein müssen. Um seinen Aufstieg zu absoluter sozialer 


” Gerechtigkeit zu beschleunigen und zu vollenden, um eine neue Ordnung der Dinge einzu- 


F 
Kr 
Kap 


- umschränkt herrscht, bedarf Frankreich vor allem des Friedens und der Sicherheit. Man 


führen oder auch nur ungehindert vorzubereiten, in der die Arbeit organisiert ist und un- 


E muß die Nation vor der unheilbringenden Ablenkung durch abenteuerliche Unterneh- 
“ mungen nach außen bewahren und muß verhüten, daß fremde Gewalten sie bedrohen. Die 
erste Aufgabe also für eine große Partei der sozialen Umwandlung, die entschlossen ist, ihr 


Ziel zu erreichen, ist diese: Wie kann man für Frankreich und die unsichere Welt, die es um- 


d 


gibt, die Friedensmöglichkeiten bis zum äußersten steigern? Und wenn trotz seiner Be- 
_ mühungen und trotz seines Willens, den Frieden zu wahren, das Land angegriffen wird, wie 
dann am besten die Aussicht auf Rettung, die Mittel zum Siege vermehren’? 


-.. Durch eine offenbare Politik der Klugheit, der Mäßigung und Redlichkeit, durch 
endgültiges Verwerfen von Gewaltunternehmungen, durch die gewissenhafte Annahme und 
Anwendung der neuen rechtsförmigen Mittel, die es ermöglichen, Konflikte ohne Gewalt- 
tätigkeit zu lösen; dann aber auch durch mutige Aufstellung eines so furchtbaren Verteidi- 
gungsapparates, daß selbst bei den Übermütigsten und Raubgierigsten jeder Angriffsgedanke 
im Keime erstickt wird, den Frieden sicher zu stellen — das ist wohl die höchste Aufgabe für 


die sozialistische Partei...“ 


Man sieht, die heutigen sozialistischen und radikalsozialistischen Verteidiger des mi- 
litärischen Apparates Frankreichs, die Feinde einer Abrüstungspolitik dürfen sich 


mit ihrer Phraseologie auch hierin Erben Jaures’ nennen, wenn auch nicht seines 
, 


Ber, 


Geistes! Das einige, ganze große Vaterland als natürliche Voraussetzung zur Mensch- 


- heit, die ideelle Triebkraft zur Führung usw., das alles lebt als Idee in Jaures und im 


französischen Sozialismus schlechthin: „Der Sozialist soll stets die Befreiung der 


 Besitzlosen mit dem Frieden der Menschheit und des Vaterlandes Hand in Hand 
gehen lassen“ (S. 2). Und über seine stark rationalisierende sozialistisch-demo- 
 kratische Lieblingsidee, die Miliz, meint er: 


„Durch die Lebensführung seiner eigenen Streiter und durch ... ihre Beharrlichkeit und 


ihren Eifer bei dem lebendigen Werke der militärischen Ausbildung, in den Turn- und Schieß- 
vereinen, bei den Manövern im Freien und den Übungen im wechselnden Gelände, deren 


Wirksamkeit an Stelle des fruchtlosen mechanischen Kasernendrills treten wird, durch seine 


_  unermüdliche Tätigkeit muß das Proletariat beweisen, daß es nicht aus furchtsamer Selbst- 


sucht, nicht aus knechtischer Feigheit und bürgerlicher Trägheit den Militarismus und den 
Krieg bekämpft, sondern daß es ebenso entschlossen und bereit ist, die volle, tätige Ent- 
faltung eines wahrhaft volkstümlichen und zweckmäßigen Armeesystems zu sichern, wie die 
Anstifter von Konflikten niederzuschlagen. Erst dann wird es ihm ein Leichtes sein, Ver- 
leumdungen zu trotzen, denn es wird mit der gesamten Kraft des historischen Vaterlandes die 
ideale Kraft des neuen Vaterlandes, die Menschheit der Arbeit und des Rechtes in sich tragen 
(S. 3f.). 


Jaures rettet so den vaterländischen Heroismus für das ganze sozialistische fran- 


 zösische Volk im Sinne seiner Synthese „Vaterland und Menschheit‘. Das vater- 


ländische Selbstbestimmungsrecht zu erringen, das mußte diesem Manne selbst- 
verständlich erscheinen. Wie würde er heute reden und handeln, wenn er ein Deut- 


- scher und Deutschland sein Vaterland wäre! Die „Organisation der nationalen Ver- 





nn teidigung‘ und „die Organisierung des internationalen Friedens“ sind ihm ‚„‚solidarisch 


verbunden‘ (S. 13). „Alles, was Frankreich tun wird, seine Kraft der Verteidigung 
zu stärken, wird die Friedensaussichten draußen in der Welt vermehren.“ Über 
die Idee und Triebkraft des Sieges schreibt er: 


„Das Vaterland, wie es uns die Geschichte überliefert hat, ist also der Rahmen und die 
Unterlage, aber es ist noch nicht allein die zum Siege begeisternde Kraft. (Jaur&s bemüht sich 
hier im Grunde genommen um die universale Idee Frankreichs.) Es ist der Baustein zum 
Herde, der Holzstoß zum Opferfeuer, aber es ist nicht die Flamme. Woher also wird Frank- 
reich bei voraussichtlichen oder möglichen Zusammenstößen der göttliche Funke kommen, 
der die Herzen entzünden soll? Der religiöse Glaube wird es nicht sein, denn General Langlois 
spricht von ihm wie von einer vergangenen Kraft, und er weiß sehr wohl, daß der christliche 
















tumskrise‘‘ (S. 388f.). 





116 Die Sozraldemokratiein Frankreich und England 
La 


Glaube, wie milde und erhaben er auch sein mag, in unserem Volke viel zu sehr vom Rationalis- 
mus und von der Kritik bekämpft wird, um in schweren Zeiten nationales Leben einhauchen 
zu können. 

Es wird auch nicht, wie in den Tagen der Revolution, die Begeisterung für die politische 
Freiheit sein, und auch nicht der Ehrgeiz, diese Freiheit der ganzen Welt zu schenken, indem man 
sie gegen die Welt verteidigt. Denn für uns ist diese Freiheit längst erworbenes Gut, und die 
Erfahrung hat uns gelehrt, daß man ihr eher schadet als nützt, wenn man sie mit der Waffe 
in der Hand hinaus zu tragen sucht. Und ich glaube auch nicht an einen Traum von Herrschaft 
und Obergewalt, der uns von Ludwig XVI. aus dem wirren Rausch der Revolution oder aus 
dem großen napoleonischen Abenteuer überkommen sein könnte. Denn zu jener Zeit war 
dieser Traum ungeheuerlich, heute wäre er obendrein einfältig. Sollte Frankreich etwa durch 
die Absicht, durch die Hoffnung, seine verlorenen Provinzen wiederzufinden in Begeisterung 
und in fieberhafte Erregung versetzt werden können? Sicher wäre es eine starke Versuchung, 
ein hohes Ziel, aber doch nicht hinreichend, den Krieg bis zur äußersten Steigerung von Frank- 
reichs Energien zu rechtfertigen und zu idealisieren; und nur darin läge eine Gewähr für den 
Sieg. ... Der Krieg der Vergeltung und Wiederherstellung, selbst wenn er siegreich wäre, würde 
die Ära der blutigen Zusammenstöße, der wechselseitigen Gewalttätigkeiten, die seit Jahrhun- 
derten Frankreich und Deutschland heimsuchen, nicht abschließen.“ (S. 9f.) 


Jaures sieht die kämpferische Idee Frankreichs, der Nation, inder ‚sozialen Aufgabe‘, 

Das ist der französische Sozialismus im Kerne seines volklichen Wesens: die Be- 
geisterung, die „‚Ideenraserei“ für die Nation. Die Deutschen Mitteleuropas lockten 
seinen geistig-politischen (und damit auch raumpolitischen) Annexionismus (siehe 
rheinische Probleme und französische Europapolitik!) indem sie ihn mit dem vater- 
landsmißmutigen Geschrei vom deutschen Absolutismus, Militarismus und der 
Unfreiheit geradezu auf sich zogen. Aus dieser Hörigkeit entstand die vaterländisch- 
außenpolitische Hilfslosigkeit der deutschen Sozialdemokratie gegenüber dem Westen. 
Und so steht der deutsche internationale Marxismus auch heute noch im Banne der 
weitergepflegten französisch-sozialistischen (oder östlichen) Rhetorik, hinter der sich 
gleichzeitig stets eine real abschätzende französische Politik verbirgt. Man höre weiter: 

»»- +. Wenn die Nation sich selbst verteidigt, verteidigt sie alle Familien, die Freiheit, die 
Sicherheit, die Würde aller. Und alle müssen ihrem Rufe folgen. Es ist die Gerechtigkeit selbst, 
die sie ruft. Sie lassen ihr Haus nicht im Stich: sie schützen und sie adeln es“ (S. 43). 

Jaure&s fordert die „tatsächliche Verwirklichung der Nation in Waffen“. Der 
„schlaffe Volksgeist würde aufgerüttelt und mit der bewaffneten Nation zugleich in 
Dingen der Armee die denkende Nation geschaffen‘ (S. 49), 


„Starke demokratische Milizen, die Kaserne nichts als eine Schule und das ganze Volk ein 
ungeheures, Kraftvolles Heer im Dienste der Volksautonomie und des Friedens — das wäre in 
militärischer Hinsicht die wirkliche Befreiung Frankreichs“ (S. 53). 


Das Milizsystem nennt er ein System, das „‚den stärksten Traditionen, den kühnsten 
Träumen der revolutionären Demokratie Frankreichs zu entsprechen scheint‘ (S. 188). 
Über das Verhältnis des Proletariats zur Nation äußert er sich folgendermaßen: 


»» «.. Das Proletariat steht also nicht außerhalb des Vaterlandes. Wenn das kommunistische 
Manifest von Marx und Engels im Jahre 1847 den berühmten, oft wiederholten und nach jeder 
Richtung ausgeschroteten Satz aussprach: ‚Die Arbeiter haben kein Vaterland‘, so bedeutete 
dies nur eine leidenschaftliche Laune, eine durch und durch paradoxe und übrigens unglückliche 
Antwort auf die Angriffe der patriotischen Bourgeois, die den Kommunismus der Zerstörung 
des Vaterlandes anklagten“ (S. 384)t). 

„In einer Zeit, da die Völker aller Länder gleichzeitig nationale Unabhängigkeit und 
politische Freiheit anstrebten, welche eine Bedingung der Revolution des Proletariats ist, war 
es der schlimmste Widersinn, zu behaupten, dem Proletariat sei das Vaterland gleichgültig. Um 
sich selbst demokratisch regieren zu können, müssen die Völker vor allem eine Einheit bilden; sie 
dürfen durch keinen Überrest der Feudalherrschaft zersplittert und abhängig gemacht sein, 
durch keine brutale Fremdherrschaft bedrückt werden‘ (S. 386). 

„Demokratie und Nation bleiben die wesentlichen Grundbedingungen jeder weiteren und 
höheren Entwicklung. Der starke und reiche Begriff Vaterland erhält so noch einen neuen, 
noch höheren und umfassenden Sinn. Die scheinbare Krise der Vaterlandsidee ist eine Wachs- 


") Vgl. den sozialdemokratischen Führer Crispien, der kein Vaterland kennt. 




















































Br Julius Paul Köhler: Westliche Demokratie und westlicher Sozialismus 117 | 


















w 1): Weltfriede und die vaterländische Autonomie sind für Jaurds wechselseitig 


verbunden. Aus seinen Ideen spricht nicht nur ein universaler Wille, sondern ein 


© vaterländisch-französischer Führungsstolz; die Lebendigkeit seines französischen 
‘- Empfindens macht diesen zum Ausgangspunkt seiner rationalen, völkergesellschaft- 
‚lichen Konzeptionen. Darüber hätte der Philosoph Jean Jaures sich selbst keiner 
‘= Täuschung hingeben können. Die Sicherheit seiner — an sich ethisch kraftvoll 
_ empfundenen — rationalistisch-internationalen Zielsetzungen gewann er wohl vor 


allem dadurch, daß seinem französischen Revolutionspatriotismus überall ein af- 


w geblich unfreies Festlandeuropa vorgeführt wurde, 


Seine rationale Ernsthaftigkeit soll nicht in Zweifel gezogen werden. Im prak- 


‚tischen Ergebnis bestand sie darin, inmitten der modern gedrängten politischen 


Welt und seiner Formen dem ganzen, einigen vielseitigen französischen Vaterlande 
die geistig-politische Führerschaft in Europa zu sichern und damit auch die materielle. 


" Seine Nachfolger haben praktisch nie diese Linie verlassen; sie sind mit ihrer 


Politik aber in geraden Gegensatz zu den internationalen Ideen Jaures’ geraten. 
Sie mißhandeln Europa, während sie in einer Rhetorik verharren, die zu konser- 
vieren dem französischen Sozialismus und Demokratismus nicht zuletzt durch die 
charakterlose Verhätschelung seitens seiner mitteleuropäischen und besonders 
deutschen Trabanten gelungen ist. Für diesen marxistischen Erfolg ist beispielsweise 


der opportunistische französische Sozialist Paul Boucour ein Beispiel. Auf der 


Waffenhandelskonferenz im Juni 1925 (Genf) erklärte er, daß, solange keine Sicher- 
heit bestehe, jedes Volk das Recht zur Bewaffnung habe. Es ergibt sich nach Lage 


der Sache daraus der auch für französische Sozialisten höchst einleuchtende Ge-. 


dankengang, daß Deutschlands Wille nach Gleichberechtigung soviel wie Unsicher- 


heit schlechthin bedeutet, gegen die man gerüstet sein müsse. 





Auch während der Völkerbundtagung 1925 hat Paul Boucour das hohe Lied der 
französischen Europapolitik gesungen: „Schiedsgericht, Sicherheit, Abrüstung‘“. 


Arm in Arm mit Briand verteidigt er die europäische Fortschrittsfeindlichkeit 


Frankreichs. Die vaterländisch-universale Ekstase kann es nicht lassen, Europa 


auch fernerhin im Lichte der französischen Ideologie zu sehen und alle Machtmittel 
- für sie zu erhalten und zu mobilisieren, trotzdem das Schicksal mit ehernen Schritten 
an die Tore dieses im völker- gesellschaftlichen Sinne unsittlich verstüämmelten und 
_ daher unmöglichen Europas pocht, 


Ausländischer und deutscher Sozialismus 
Von Dr. jur, et phil. Frie drich Lenz, ord. Professor an der Universität Gießen) 


Er Betrachtung, die den sozialistischen Parteien Westeuropas gewidmet ist, 
drängt die Frage auf, in welchem Verhältnis jene fremdländischen Bruderparteien 
zur deutschen sozialistischen Bewegung stehen. Wögen wirtschaftliche Gründe vor, 
wie die technisch-wirtschaftliche Geschichtsauffassung meint, so wäre ein gegenseiti- 


ges Geben und Nehmen zwischen denjenigen Ländern zu vermuten, die einen un- 


gefähr gleichen Grad ihrer wirtschaftlichen Reife erreicht haben; dies wären vor- 
nehmlich die romanisch-germanischen Völker in Europa und in Nordamerika. Dem 
ist-aber nicht so. 

Deutschland ist die Heimat zwar nicht des Sozialismus, wohl aber des marxistischen 
Systems. Schon dies ist auffällig angesichts des Einflusses, den Karl Marx geübt hat. 


Denn Deutschland war zur Zeit, da dies System entstand (1843—1848), Keineswegs 


die industriell fortgeschrittenste Nation; ja, es besaß damals — im Unterschied zu 
England, Frankreich oder Belgien — nicht einmal eine Volkswirtschaft im strengen 
Sinne dieses Worts. An anderer Stelle habe -ich ausführlich dargelegt, daß Marx 
aus staatlich-geistigen Antrieben sein Werk geschaffen hatte, bevor er noch Ricardo 
und die Mehrwert-Lehre kannte; auch glaube ich gezeigt zu haben, warum die von 








118 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 


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ihm geschmiedete Waffe gerade Deutschland, Rußland und Österreich hat fällen 
helfen — eben jene drei Kaiserreiche der Heiligen Allianz, denen Marx’ starker 
Haß bereits vor 1848 galt!). 

Dieser Staatengruppe mit ihren marxistischen Parteien ist also unter unserem 
Gesichtspunkt eine gewisse Schicksalsverbundenheit eigen; indem Rußland und 


die Mittelmächte (1890) auseinandertraten, haben sie sich im Sturz einander schließ- 


lich nachgezogen (1917—18). Es ist nur folgerecht, daß ihre sozialistischen Parteien 
im Staatszerfall innerlich zerbrachen: ihre Aufgabe, der revolutionäre Klassenkampf 
im Schoß jedes der drei Reiche, war ja erfüllt. Sie verloren nun in Mitteleuropa 
ihre internationale Stoßkraft, weil Deutschland und Österreich selber außenpolitisch 
kraftlos wurden. In Osteuropa aber erhebt sich aus Niederlage und Revolution ein 
neues Rußland, dem in seinem Kampf wider alles ‚„‚Westlerische“ die schärfsten Waf- 
fen der Marxschen Dialektik gerade recht sind. In die Ohnmacht und in die Armut 
ihres Vaterlandes hineingezwungen, teils der Zweiten Internationale auf der Sieger- 
seite und allen Dawesplänen des westlichen Finanzkapitals sich angleichend, teils 
von den drohenden Lockungen des bolschewisierten Moskau halb bezwungen — so 
steht die ehemals einige und international-revolutionär führende Sozialdemokratie 
unserer Heimat vor uns. Kein Phrasennebel und kein Tageskampf um innerdeutsche 
Parlamentsmacht täuscht darüber fort. 

Ganz anders gestaltete sich wieder das Schicksal jener westlichen Sozialismen, 
die den großen Krieg im Lager der Siegermächte miterlebten. Die Unterschiede in 
ihrem Parteiwesen erscheinen noch tiefgreifender, als die Verschiedenheit ihrer 


außenpolitischen Lage. Denn während Frankreich und Belgien sozialistische oder 
ehemals sozialistische Minister in ihre Kriegskabinette, nach Versailles wie in den 


Völkerbund entsandten, stellt die britische Arbeiterpartei ein geschichtlich wie 
politisch abgesondertes Gebilde dar, und die Vereinigten Staaten besitzen nicht ein- 
mal eine vergleichbare Erscheinung. Trotzdem alle vier Länder auf hochkapitalisti- 
scher Stufe stehen und außenpolitisch durch ihren Sieg verbunden scheinen. 


\W‘ ihr Verhalten zueinander, ist auch der Einfluß der westlichen Parteien auf un- 

sern eigenen Sozialismus grundverschieden. Nordamerika scheidet hier partei- 
politisch völlig aus; im übrigen ist seine und Englands Wirkung auf uns schwer zu 
schildern, da die britische Arbeiterpartei grundsätzlich auf dem Boden der Friedens- 
verträge steht und eben diese Konstellation nicht nur einzelne Parteien, sondern das 
gesamte Leben bei uns formt. Was haben wir allein von den Vereinigten Staaten 
gläubig hingenommen: von den vierzehn Punkten Präsident Wilsons bis zum Dawes- 
plan, vom Taylorismus bis zur Konjunkturforschung, vom Foxtrott (1919) bis zum 
Kaugummi und zur Niggerrevue! 

Wohl aber ist über den Einfluß der französischen Sozialisten auf uns etwas aus- 
zusagen. Wie alle Worte, die derart gebildet sind (Soziologie, Sozial-Demokratie) 
entstammt der Sozialismus jener gesellschaftlichen Gegnerschaft wider das herr- 
schende Regime, in der die Franzosen seit Ludwigs XIV. Tagen sich auszeichnen. Die 
französischen Sozialisten können ihren Stammbaum somit noch über die Revolution 
von 1789 zurückführen; Aufruf der gesellschaftlichen Klassen und ihrer Interessen 
zum Sturz der Regierung ist allen wechselnden Programmen eigen. Dem sozial- 
politischen verbindet sich nun ein außen-politisches Ziel: Frankreichs neuer Geist 
soll ganz Europa läutern und leiten; die Vereinigten Staaten von Europa, heute auch 
Pan-Europa genannt, gehören zum geistigen Rüstzeug des sozialistisch-demokrati- 
schen Franzosen. Heute sehen wir Frankreichs kontinentale Vorherrschaft, deren 
Muster eigentlich Napoleon I. schuf, von seinen Sozialisten eifrig verteidigt. 

Warum der französische Sozialismus unseren deutschen seit einem Jahrhundert 
bilden half, habe ich in meiner Deutschen Sozialdemokratie, wie gesagt, erläutert. 
Bemerkenswerter Weise kamen die Grundsätze der liberalen Wirtschaftslehre, nach 


1) Vgl. mein Werk „Staat und Marxismus“ (1. Teil, 2. Aufl. 1922; II. Teil 1924, Cotta). 
Ferner W. Sombarts „Proletarischer Sozialismus“ (2 Bde. 1924, G. Fischer). 

















Friedrich Lenz: Ausländischer und deutscher Sozialismus 119 


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denen sich die deutschen Regierungen seit 1795 etwa richteten, meist aus dem Eng- 
land des Adam Smith, mithin von dem staatlichen Gegenspieler Frankreichs. Um 


“ mich nicht zu wiederholen, führe ich einige Sätze unseres Ranke an, die sich an 


“ verstreuten Stellen seiner kleineren Schriften finden. 


Vorausgeschickt sei, daß „die Sitze der Kirchen- und Adelsherrschaft im alten 


 Reich‘‘ Hauptstätten der deutschen Demokratie im 19. Jahrhundert wurden; 
- hier haben namentlich Bebels und Liebknechts Anhänger seit 1866 Fuß gefaßt. 
" Der Rheinbund (1806—1813) ward zum ersten Tummelplatz kontinentalpolitischer 
" Gedanken; seit den Freiheitskriegen, die den radikalen deutschen Demokraten als 


Freiheitsvernichtungskriege erschienen, gingen diese kontinentalpolitischen Pläne 


"in den Kreis der Opposition hinüber. Die Julirevoluiton (1830), welche Frankreich 


Pr 


_ aus dem Bereich der Heiligen Allianz ausschied, bezeichnet zugleich den Beginn eines 
"deutschen Sozialismus. Ranke hat die Brücke, welche von Babeuf (1796) über Saint 


Simon zu den radikalen Sozialreformern im Bürgerkönigtum hinüberleitet, wohl 
gekannt. „Man wünschte nicht das Blut, aber die Institutionen von 1793 zurück. 
Ist es also ein Fortschritt zu nennen, wenn man so offenbar versucht, auf die Kon- 
stitution des Jahres 1793 zurückzukommen, welche sich als die unausführbarste 
von allen erwiesen hat ?“ 

Wie kam es nun, daß „‚deutsche Franzosen‘ den Kampf gegen die herrschenden Ge- 
walten auf das soziale Gebiet hinüberspielten? Ranke bezeichnet die siegreiche 


„Invasion von fremden Ideen“ mit den Grenzjahren 1818 und 1848. „Man sage nun, 


was man wolle, so ist es offenbar, daß die Ereignisse in Frankreich den Gang der 


- Dinge in Deutschland bestimmt und beherrscht haben.“ Die Macht des revolu- 
_ tionären Elements und die Erinnerungen an 1793, welche die Pariser Revolutionen 
_ von 1830 und von 1848 in Deutschland geweckt hätten, möge man beliebig „Ra- 
- dikalismus oder jakobinischen Sozialismus nennen“. Jedenfalls ist der Fortschritt, 
‚den die Forderung wirtschaftlicher Gleichheit über die Parole bloßer Rechtsgleichheit 
- bedeutet, dem Historiker Ranke bereits offenkundig: „Die Stürme des Jahres 1848 
gingen noch tiefer als die Revolution von 1830; sie waren zugleich sozialer Art.“ 


Das Sturmjahr 1848 hat dennoch den sozial-revolutionären Gedanken keinen Sieg 


- gebracht; eben hieran krankt ja noch unsere Republik von 1919, die ihren nationalen 


- Anspruch aus den Ideen der Paulskirche abzuleiten sich bemüht. Ranke kennzeich- 


net die Strömungen, welche noch heute unser parlamentarisches Leben leiten, schon 
im Mai 1848 mit den Worten: „Drei Welten stehen einander gegenüber: die des alten 
Staats, zurückgedrängt, in sich geschwächt, aber mit nichten besiegt — die konstitu- 
tionelle, die jedoch erst zur Repräsentation gelangen will — die radikale, welche die 
Begierden der Nichtbesitzenden in den Kampf ruft, von energischen Naturen geführt 
wird und Alles zu wagen entschlossen ist.“ Der abwägende Historiker betont, daß 
seit dem März 1848 „auch die handarbeitenden Klassen, welche allenthalben in 
Europa zum Bewußtsein einer faktischen Macht gekommen waren, auf einen Anteil 
an der Volksvertretung Anspruch machten, der ihnen nicht mehr versagt werden 


konnte.“ 
Der Widerstand, an dem der Ansturm von 1848 zerbrach, ging von den Monarchien 


der früheren Heiligen Allianz aus; Karl Marx, der von Köln her Preußen und Wien 
zu revolutionieren suchte, mußte 1849 vor ihnen über Paris nach London entweichen, 
wo er nunmehr sich seinen ökonomischen Lehren zuwandte. Friedrich Wilhelm IV. 
war der Herrscher jenes ‚„christlich-germanischen‘‘ Staats, den Marxens und Heinrich 
Heines Gesinnungsgenossen vorzüglich haßten; der russische Zar und Österreichs 
erneute Vorherrschaft im Deutschen Bund waren Preußens reaktionäre Stützen. Bis- 
marck änderte wohl das Verhältnis der drei Mächte zueinander, umgestürzt aber 
hat es erst die ‚‚Wilhelminische Periode‘ seit Bismarcks Fall (1890). „Die Gefahr, in 


welche Europa durch das Emporkommen der demokratisch-sozialistischen Dok- 


trinen und ihrer Folgen verwickelt wurde,‘“‘habe niemand klarer erkannt als Friedrich 
Wilhelm IV. Er habe Preußen dieser sozial-revolutionären Staatsfeindschaft ent- 
gegenzusetzen versucht: einem Evangelium, das den Krieg predigt, einem Koran 





120 Die Sozialdemokratiein Frankreich und England 

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der empörten Fabriken. Bis zur Vernichtung hat darum die Revolution, nach ihrem 
Erfolg von 1918, die Hohenzollern und ihre Verbündeten getroffen. | 


Vorerst ward entscheidend, daß Preußens Armee ihrem König treu blieb; indem 
Bismarck derart das Instrument erhielt, mit dem er seine Siege von 1864-1871 er- 
fechten konnte, hat die Niederwerfung des Aufstands von 1849 unsere staatliche 
Verfassung bis 1918 hin mitbestimmt. Ranke weist darauf hin, daß die deutsche Re- 
volution damals an der preußischen Armee gescheitert sei; an Versuchen, sie durch 
eine Bürgerwehr zu ersetzen, das Offizierskorps den radikalen Ideen zu unterwerfen, 
mit den Mannschaften zu ‚‚fraternisieren‘, habe es 1848/49 wahrlich weder in Preußen 
noch in Baden und Württemberg, in Bayern oder Sachsen gefehlt. Preußen warf 
diese Versuche 1849 nieder, ohne Österreichs oder Rußlands Hilfe dafür zu brauchen! 
Vergebens suchten W. Liebknecht und Bebel, Engels und Marx ähnliche Zersetzungen 
zu Bismarcks Zeit zu fördern. Erst der Niedergang von 1917—18 hat, mit den Mon- 
archien und unserer Macht zugleich, dies Instrument der Größe, unser Volksheer, 
zerbrochen. Ranke hat schon im März 1849 davor gewarnt, 


Anderseits verkannte dieser „politische Historiker“ keineswegs die positiven Auf- 
gaben, welche dem legitimen Staat aus der sozialen Frage — wie Gutzkow sie im 
„Jungen Deutschland‘ taufte — erwachsen. Ranke folgerte (1848) aus dem Be- 
stehenden eine Nährpflicht des Staats, ja eine auf dem Arbeitsrecht gegründete Bil- 
dung von „Arbeiter-Cohorten‘ (Arbeits-Armeen)! Unser Verhängnis ward vielleicht, 
daß Bismarcks Organisationspläne für eine korporativ verfaßte Volkswirtschaft an 
Bureaukratie und Parlament zerbrachen, während seine Nachfolger in der unmög- 
lichen Lösung der sozialen Frage nach der Quadratür des Zirkels suchten. Welch’ 
einzig hoher Wille zur nationalen Aufopferung und zur sozialen Versöhnung zer- 
schellte an der unmöglichen Konstellation, in welche das nach-bismarckische Deutsch- 
land sich hatte treiben lassen! Kein Wunder, daß nach dem Niederbruch die Gedan- 
ken des siegreichen Westens und des Ostens aufs Neue, stärker als einst 1830—1849, 
uns zu überfluten drohen. 


Wir brechen ab. Ein Hinweis auf die Möglichkeiten, unser Staats- und Partei- 
leben aus eigener Kraft trotz allem neu zu formen, würde den Rahmen und die 
Aufgabe dieser Zeilen überschreiten. 


BR RRAARRLLLLLLLLLLTLLTITTTTTITITTTTTILIIPTPTTTETTTTTTTTTTTTITTETTTTTTTTTTTITTOPTTTPTPTPETTEPTPTFTTTTRTRTTFRFRFFURFHRRRRRRRRRINNG 


Wissenschaftliche Rundschau 


Islamische Probleme 
Von Dr. Otto-Günther v. Wesendonk in Berlin 


Bi entscheidende Wendung in der Laufbahn Muhammeds ist sein Auszug von Mekka nach 

Medina, dem damaligen Jathrib, jene Hidschra vom 20. September 622, mit der die 
neue muslimische Zeitrechnung beginnt. Die Legende hat diesen Schritt später als eine 
Flucht des Religionsstifters vor der Bedrückung und Verfolgung durch die Heiden hingestellt. 
Dadurch erschienen Muhammed und die Seinen als Märtyrer. In Wirklichkeit hat Muhammed 


aber keineswegs aus Zwang, sondern aus wohlerwogenen politischen Gründen heraus seine | 


Vaterstadt und seinen Stamm, die Kuraisch, verlassen. 

In Mekka, einem wichtigen Handelsplatz mit dem als Wallfahrtsziel beliebten Heiligtum 
eines Gottes Hubal, herrschte der reiche und mächtige Stamm der Kuraisch, der von den 
aristokratischen Überlieferungen der Araber erfüllt war. Muhammed lebte in ärmlichen 
Verhältnissen, bis er durch seine Ehe einen gewissen Wohlstand erlangte. Sein Geschlecht, 
die Banu Häschim, zählte keineswegs zu den Vornehmen der Kuraisch. In der 43. Sure V. 30 
des Koran fragen die Zweifler an Muhammeds göttlicher Sendung: ‚Warum ist dieser Qurän 
nicht einem bedeutenden Manne aus einer der beiden Städte (Mekka und Tä’if) geoffenbart 
worden ?““ Die 93. Sure (V.6—-8) besagt: ‚Fand Er (Dein Herr) Dich nicht verwaist und nahm 
Dich auf? Und fand Dich irrend und leitete Dich? Und fand Dich arm und machte Dich reich %% 





Wissenschaftliche Rundschau 121 





Mit seinen Warnungen vor dem Jüngsten Gericht und mit der Predigt von einem einzigen 


‚" Gotte vermochte Muhammed bei den Kuraisch keinen Eindruck zu machen. Er galt als 








einer der nicht seltenen religiösen Schwärmer, ekstatischen Seher und von Dämonen be- 
sessenen Dichter, denen die adeligen Kuraisch wenig Beachtung zu schenken pflegten. Ganz 
ausgeschlossen erschien es, daß die stolzen Handelsherren von Mekka, die Beschützer des 
schwarzen Fetischsteines in der Ka‘aba, sich dem bescheidenen Emporkömmling unter- 
ordneten. Sein Anhang setzte sich außer aus einigen Verwandten und wenigen Männern 


- von Bedeutung wie Abu Bakr und Omar, aus Sklaven, Armen und jungen Leuten zusammen, 


jenen Elementen, die auch sonst religiösen Neuerern am ehesten lauschen. 


In Jathrib stritten hingegen zwei Stämme um die Macht, daneben sassen in der Dattel- 
palmenoase drei jüdische Stämme und noch mehrere kleinere Gruppen. Dort konnte Muham- 


- med mit seiner Gemeinde eine überparteiliche Gewalt bilden. Verhandlungen mit den christ- 


lichen Abessiniern, auf deren Hilfe gegen die Kuraisch Muhammed vielleicht gehofft hatte, 
schlugen fehl!). In Mekka war er noch der Ansicht, daß seine Lehre mit dem Christentum 
und Judentum identisch sei. Die Abessinier, denen es nur recht sein konnte, in Arabien 
Parteigänger zu besitzen, mögen Muhammeds Erwartung, auch von den Christen als der 
im Johannesevangelium verheißene Paraklet begrüßt zu werden, nicht unmittelbar enttäuscht 
haben. Auch später noch, als Muhammed sich von Medina aus an die Herrscher der Welt mit 
der Aufforderung zur Annahme des Islam gewandt haben soll, stellten sich die unter byzan- 
tinischer Verwaltung stehenden Kopten, die als Monophysiten Gegner der orthodoxen Staats- 
kirche sein mußten, freundlich zu ihm. 


Beust vollzog Muhammed den nach arabischen Anschauungen unerhörten Bruch mit 
seinem eigenen Stamme und fand Aufnahme in Jathrib, das den Namen Madinat-un-nabi, 
Stadt des Propheten, erhielt und Sitz der neuen Theokratie wurde. Was bei anderen Glaubens- 
formen das Werk von Generationen zu sein pflegt, der Übergang aus der Sphäre des Religiösen 
in die des Praktisch-Politischen, das hat Muhammed selbst vollzogen, nur wenige Jahre, 


nachdem er mit Visionen und göttlichen Offenbarungen hervorgetreten war. 


Das Eigenartige ist dabei, daß die Absage an die geheiligten Überlieferungen des Stammes 
auf religiösem Gebiet zu einer Annäherung an arabische Vorstellungen führte. Das politische 
Gebilde, das Muhammed in Medina errichtete, war für arabische Verhältnisse etwas Neues. An 
die Stelle der alten Stammesverbände rückte die islamische Gemeinschaft, der auch Sklaven, 
Schutzgenossen und Fremde angehören können. Den Adel der Stammesgeschlechter ersetzten 
Muhammeds Gefährten, die mit ihm Mekka den Rücken gekehrt hatten, und die in Medina 
neu gewonnenen ‚Helfer‘. Eingewurzelte Gewohnheiten der Araber, wie das bis dahin von 
Muhammed gestattete Trinken von Wein und das Glücksspiel wurden untersagt, zugleich auch 
grausame Unsitten abgestellt, wie das Lebendigbegraben neugeborener Mädchen. 

Bei der Berührung mit Juden und Christen, von deren Lehren er bislang nur eine ver- 
schwormmene Vorstellung aus mündlichen Berichten besaß, machte Muhammed die Erfahrung, 
daß beide Glaubensgemeinschaften ihn und seine göttliche Sendung ablehnten. Die Juden 
traf zeitweilig eine harte Verfolgung, Muhammed selbst fühlte sich erst jetzt bewogen, eine 
neue Religion zu verkünden, nachdem die Christen, Juden und sonstigen ‚Schriftbesitzer‘‘?) 
die ursprünglichen Offenbarungen verfälscht hätten. Träger dieser Religion sollte die ara- 
bische ’ummah sein, deren Begriff bei Muhammed sowohl die religiöse Gemeinde wie die Volks- 
gemeinschaft umfaßt. Übernationale Religionen waren den Orientalen fremd und unverständ- 
lich. Bei den Juden deckten sich Volk und Glauben, ebenso waren die Mazdaanhänger Perser. 
Die Christen wieder galten als Griechen, auch wenn sie Abessinier, Kopten oder gar Araber 
waren. Man sah in ihnen Parteigänger von Byzanz. Die ’ummah hat im Osmanischen Reich 
bis in die Neuzeit als ‚‚millet‘“ fortgelebt. 

1) Im 6. Jahrhundert hatten die Äthiopier im Einverständnis mit den Byzantinern dem 
südarabischen Reich ein Ende bereitet. Gegen das Ende des 6. Jahrhunderts eroberten die 
von den Südarabern zu Hilfe gerufenen Perser das von den Abessiniern besetzt gehaltene Ge- 
biet. Bereits im 4. Jahrhundert waren die noch heidnischen Abessinier in Südarabien einge- 
fallen, durch eine Erhebung der Südaraber aber wieder vertrieben worden. Seit der nach 
360 erfolgten Bekehrung der Abessinier zum Christentum bestanden enge Beziehungen zu 
Byzanz, an die in neuerer Zeit die russische Orthodoxie anzuknüpfen versucht hat. 

2) Als solche wurden heidnische Sekten angesehen, die Muhammed als Sabier bezeichnet. 
Zu diesen rechneten die Harränier in Syrien, die Mandaeer in Südmesopotamien und ähnliche 
Gemeinschaften. Auch die Mazdaisten wurden äls ‚‚Schriftbesitzer‘‘ behandelt, d. h. als 
Anhänger einer geduldeten Glaubensform. 


Die Sozialdemokratie in Frankreich und England (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft) 8 3 





122 Wissenschaftliche Rundschau 


EEE EEE EEE TE LEE TED TE EEE EN 


Das heidnische Heiligtum von Mekka mit seinen Wallfahrtsgebräuchen nahm Muhammed 
für den Islam in Anspruch, indem er behauptete, Abraham und sein Sohn Ismaäl, der Stamm- 
vater der Araber nach dem Alten Testament, hätten die Ka‘aba gegründet und ihre Riten 
eingesetzt. Muhammed erklärte, nur die Lehre des ersten ‚‚Hanifen‘“!) Abraham wieder- 
herstellen zu wollen. Damals wurde das Glaubensbekenntnis des Islam in einer gegen die 
Christen zugespitzten Form abgefaßt, Jesus als Sohn der Maria und Mensch hingestellt, die 
Lehre von der Dreieinigkeit ausdrücklich verworfen und ein Fluch über die Juden ausge- 
sprochen. Die 112. Sure des Koran lautet: „Sprich: Er ist der eine Gott, der ewige Gott. Er 
zeugt nicht und wird nicht gezeugt. Und kein ihm gleiches Wesen gibt es.‘ V 169 der 
4. Sure besagt u. a.: „Der Messias Jesus, der Sohn der Maria, ist der Gesandte Gottes, sein 
Wort, das er in Maria legte, und sein Geist. Glaubet also an Gott und an seinen Gesandten, 
aber sprecht nicht von einer Dreiheit.‘“ Und Sure 7 V. 166 wird den Juden wegen ihrer 
Sünden von Gott erklärt: ‚„Werdet zu Affen, ausgestossen aus der Menschheit! Da ver- 
kündete Dein Herr, er wolle wider sie (die Juden) Bedrücker bis zum Tage der Auferstehung 
entsenden, die sie mit schlimmer Pein verfolgen sollten,‘“ 

Die Gebetsrichtung wurde von Jerusalem nach Mekka verlegt, der Freitag zum Feiertag 
bestimmt, an Stelle der Posaune der menschliche Muezzin als Rufer zum Gebet bestellt, die 
typisch islamische Gebetsinschrift geschaffen, kurz, in jeder Hinsicht wurde die Besonderheit 
der neuen Religion unterstrichen. 

Die Verknüpfung des Islam mit den alten arabischen Heiligtümern auf dem Umwege 
über Abraham erleichterte zugleich den Mekkanern die Unterwerfung unter die Autorität Mu- 
hammeds, der schon den offenen Kampf gegen die Kuraisch aufgenommen hatte. Die alten, 
einträglichen Privilegien des Wallfahrtsortes und Marktplatzes Mekka wurden vom Islam 
anerkannt und die Kuraisch so mit dem neuen Glauben ausgesöhnt. Ein Meisterstück ge- 
schickter Diplomatie war die Art, wie Muhammed die Einwilligung der Mekkaner dazu erhält, 
daß er von Medina aus mit der islamischen Gemeinde die Wallfahrt nach Mekka unternehmen 
kann. Alle heiligen Stätten des Heidentums werden von Muhammed anerkannt und auf Abra- 
ham gedeutet. So konnte der Prophet ohne Schwertstreich in Mekka einziehen, als er zwei 
Jahre nach der ersten Wallfahrt wieder in Mekka erschien. 


F‘ ist eine alte Streitfrage, ob Muhammed in seiner späteren Zeit zu Medina eine Welt- 


religion habe stiften wollen oder ob seine Lehre auf die Araber beschränkt bleiben sollte. 
Von den die Christen und Juden umfassenden Bestrebungen ist er nach dem Auszug aus seiner 
Vaterstadt abgekommen und hat sich ganz auf die Araber eingestellt. So sehr er die alte 
Ungebundenheit durch eine straffere Zucht zu ersetzen suchte, so sehr war alles im ursprüng- 
lichen Islam doch auf arabische Verhältnisse abgestellt. 

Besonders zutage tritt dies bei der Behandlung der Frauenfrage. Wer den im Grunde 
ehefeindlichen und von asketischen Gedankengängen ausgehenden christlichen Maßstab anlegt, 
wird Muhammed in seinen Beziehungen zu den Frauen nie gerecht werden. Man kann nicht 
behaupten, nach dem Tode seiner ersten Gattin habe Muhammed den sittlichen Halt verloren. 
Ethik und Geschlechtsmoral nach abendländisch-christlichen Begriffen haben im Orient nichts 
miteinander gemein. Auch Muhammed hat eine Periode der Weltverneinung durchgemacht, 
hat sie aber rasch überwunden, als er sich vor praktische Aufgaben gestellt sah. Das christliche 
Mönchswesen hat Muhammed immer verworfen. Es gibt indische Heilige, die nach den 
höchsten übersinnlichen Zielen streben und sich trotzdem eingehend mit erotischen Pro- 
blemen befassen. Darin liegt für den Orientalen kein Widerspruch. Die Liebesspiele des 
Krischna, einer Form des Gottes Vischnu, mit einer Schar von Hirtinnen bilden in Indien in 
sehr freier Darstellung einen beliebten Gegenstand von literarischen und künstlerischen Werken 
mit religiösem Anstrich. 

Die semitischen Kulte kennen von alters her die Einrichtung der Tempeldienerinnen. Solche 
gab es auch bei der Ka‘aba von Mekka, ja die älteste Lebensbeschreibung des Propheten, 
die des Ibn Ishäk aus dem 8. Jahrhundert, läßt erkennen, daß Muhammeds eigene Mutter 
zeitweilig Tempeldienerin an der Ka‘aba war, wo neben dem Hubal drei ‚‚Töchter“, die „hoch- 
fliegenden Schwäne‘ oder „Kraniche“, verehrt wurden. 

Abgesehen von solchen religiösen Vorstellungen, die bei den Arabern eher mit antiken als mit 
Christlichen Anschauungen verglichen werden müssen, ist der Besitz von Frauen ein für das 
allgemeine Ansehen im Orient geradezu unerläßliches Attribut der Macht. Typisch ist etwa 
der Harem Salomos. Sobald sich Muhammed als weltliches Oberhaupt des Islam fühlte, 
war es demnach selbstverständlich, daß er sich mit Frauen umgab. 





*) Hanif nannte man religiös begeisterte Männer, die im heidnischen Arabien neue Glau- 
benslehren predigten und so gewissermaßen Vorläufer und Rivalen Muhammeds waren. 











Wissenschaftliche Rundschau 123 








Wenn er die Gewohnheiten der Araber nur sehr wenig abänderte, so ist doch eine Tatsache 
hervorzuheben, die vielleicht, ohne-daß der Religionsstifter mehr wollte, als die alte Stammes- 


- aristokratie unterhöhlen, für die Verbreitung des Islam als Weltreligion von weittragender 


Bedeutung wurde. Alle Kinder, solche von rechtmäßigen Ehefrauen wie von Sklavinnen, 
waren grundsätzlich gleichberechtigt, wie ja auch grundsätzlich keinUnterschied zwischen Mu- 
hammedanern überhaupt besteht. Nur durch: diese Weitherzigkeit ist es überhaupt möglich 


‚gewesen, daß die menschenleere arabische Halbinsel die Heere hervorbrachte, die weite Teile 
- der Welt überrannten. Die später umgedeuteten und als Beschränkung der Frauenzahl auf vier 
“angesehene Vorschrift des 3. Verses der 4. Sure lautet: ‚‚Und ist nicht zu fürchten, daß ihr 


Waisen schädigt, nehmt euch an Frauen, die euch gefallen, zwei oder drei oder vier. Fürchtet 
ihr aber dann noch, nicht gerecht zu handeln, dann begnügt euch mit einer oder nehmt Skla- 


- vinnen.‘“ In Zentralasien wie im Sudan, in Nordafrika und in Spanien haben sich arabische 


Stämme niedergelassen und ihre Eigenart lange bewahrt. 


n Medina ist aus der islamischen Gemeinde ein Heerlager geworden. Der Kampf auf dem 

Pfade Gottes, der sogenannte heilige Krieg, wurde zur frommen Pflicht. Muhammed selbst 
hat ihn nur in Arabien gegen Heiden und Juden geführt, vielleicht auch noch an das angren- 
zende Syrien gedacht. Seine Nachfolger, die Chalifen, haben den Herrschaftsbereich des 
Islam über Arabien hinaus ausgedehnt. 

Damit tritt das grundlegende Problerfi in den Vordergrund, das die Geschichte des Islam 
bis auf den heutigen Tag bestimmt. Eine für halbnomadische oder ganz nomadische Araber 
gedachte Lehre mit dürftigem religiösem Inhalt und einer den einfachen arabischen Verhält- 
nissen angepaßten theokratischen Staatsauffassung wird gewaltsam Völkern von älterer und 
höherer Kultur aufgezwungen. Wirkliche Anziehungskraft besaß der Islam von jeher nur 
für Völker auf einer ähnlichen sozialen Stufe wie der Araber des 7. Jahrhunderts. Die Berber 
und die Türkvölker, selbst die Mongolen Dschingis Chans in Persien, Mittelasien und Rußland, 
wurden der islamischen Sache gewonnen. Heute noch verzeichnet sie Fortschritte in Afrika. 

Die Berührung mit den alten Kulturvölkern, mit Persern, Indern, Griechen, spanischen 


 Westgoten und den Resten der vorderasiatischen Nationen mußte anderseits notgedrungen zu 


einer Änderung des Islam führen. Die arabische Kultur des Mittelalters, wie sie am Hofe 
des Abbassidenchalifen zu Bagdad, aber auch sonst in zahlreichen islamischen Mittelpunkten 
blühte, ist ein. Erzeugnis der Vermischung verschiedenster Einflüsse. Von höchster Bedeutung 
sind hierbei die Reste antiken Geisteswesens gewesen, die besonders auf dem Umwege über 
syrische Kanäle Aufnahme in die islamische Geisteswelt fanden. 

.Es war nicht leicht, diese fremdartigen Elemente in den beschränkten Rahmen des Islam 
zu pressen. Den eifrigen Theologen, Rechtsgelehrten, Philosophen, Mystikern und Natur- 
wissenschaftlern aller Art ist das Werk trotzdem gelungen. Wohl kaum eine menschliche 
Anschauungsweise ist zu erdenken, die nicht in den Koran durch Auslegen hineingelesen 
worden ist. Neben diesen Bestrebungen höherer Art machen sich die vom Islam unterdrückten 
Volkskulte geltend. Im streng monotheistischen Islam finden die Heiligenverehrung, die Der- 
wischorden mit ihren sonderbaren Gebräuchen sowie allerlei Wundersitten Raum. Gegen beide 
Richtungen, gegen die volkstümliche Überwucherung der Lehre wie gegen ihre Verwässerung 
durch die ‚‚Philosophen‘“, treten puristische Eiferer auf und fordern nach Art der Wahhabiten 
die Herstellung der ursprünglichen Doktrin Muhammeds. 

Die Einheit des Islam ist bereits wenige Jahre nach Muhammed gesprengt worden, als der 


. Kampf um den Chalifen Ali einsetzte. In den einzelnen Bezirken, in denen er herrschte, hat er 


sehr verschiedenartige Züge angenommen. Pantheistisch angehaucht erscheint er in Indien, 
mystisch und künstlerisch verklärt in Persien, ritterlich frei im maurischen Spanien. Finster 
fanatisch treten die Berber auf. Die Türken empfinden die kriegerische Seite der Lehre als 
ihrem Wesen entsprechend. So spiegelt jedes Volk sein Wesen in seiner Auffassung der 
114 Suren, in denen Muhammeds Aussprüche gesammelt wurden. 

Muhammed selbst hat sich nicht gescheut zu verkünden, daß die göttliche Offenbarung im 
geeigneten Zeitpunkt weniger Vollkommenes durch Besseres ersetze und daß daher einzelne 
Abschnitte des Koran auf das Geheiß Gottes hin abgeändert werden könnten. So konnte der 
Prophet seine Lehre den jeweils herrschenden Umständen anpassen. Die Tragödie der islami- 
schen Völker in der Neuzeit, die sie in die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit des 
technisierten Abendlandes zu führen droht, hat denn auch mit der religiösen Seite des Islam 
nur insofern zu tun, als die erstarrte Dogmatik bestimmter scholastischer Strömungen der 
Entwicklung zu modernen Verhältnissen im Wege stand. Auch andere orientalische Nationen, 
Chinesen und Hindus wie christliche Kaukasier und Abessinier, teilen das Schicksal des Islam. 
Nur Japan hat sich widerstandsfähig gemacht, indem es die mechanisierte Zivilisation des 


Westens annahm .ohne sein eigenes asiatisches Wesen allzusehr preiszugeben. 


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124 Wissenschaftliche Rundschau 
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Als reine Glaubensäußerung kann der Islam auch vom Christen, der seinen Wahrheits- 
gehalt bestreitet, anerkannt und für geschichtlich ebenso lebensfähig gehalten werden wie 
das Christentum, dessen Vorschriften zwar im Abendlande gern im Munde geführt, praktisch 
jedoch nicht beachtet werden. Der Islam als solcher befindet sich in seiner Verquickung des 
Staatlich-Sozialen mit dem Dogma auf der Stufe des mittelalterlichen Christentums. Da eine 
Priesterschaft und, abgesehen von Muhammed selber, ein geistliches Oberhaupt im Islam 
nie bestanden haben!), kam es zu keiner Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser, zu 
keiner Reformation, Renaissance und Aufklärung. Der Zusammenstoß einer mittelalterlich 
eingestellten islamischen Welt mit dem mechanisierten Westen mußte für dieMuhammedaner 
verhängnisvoll auslaufen, bis einzelne Nationen, wie die Türken, die Zeichen der Zeit erkannten 
und den Anforderungen des modernen Geistes Rechnung zu tragen bemüht waren. Daß dabei 
zu viel Altes beiseitegeschoben wurde, ist eine allen Reformbewegungen eigentümliche Er- 


scheinung. Die Möglichkeit eines Ausgleiches zwischen der islamischen Religion, die sich auf | 


das Gebiet des Glaubens zurückziehen muß, und den Notwendigkeiten des Kampfes ums 
Dasein in der heutigen Welt bestimmt die Zukunft des Islam. Wie die Christenheit als ge- 
schlossene Gemeinschaft in der Gegenwart ein versunkener Begriff ist, so gibt es auch keine 
islamische Welt mehr, sondern nur noch Völker muhammedanischen Bekenntnisses. Jede 
einzelne dieser Nationen muß, um bestehen zu können, selbständig ihren Weg gehen. 


Aus Zeit und Geschichte 


Wilhelm von Vietsch 
EinVorkämpfer 


(14. Februar 1877 bis 3. November 1925) 


13% berühmte Grabspruch des westöstlichen Divans scheint gerade auf manche der edelsten 

und vollendetsten Menschen nicht zuzutreffen: sie sind keine Kämpfer, wenigstens nicht 
im wörtlichen Sinne, weil sie den Gegner ohne Kampf bezwingen, durch die Überzeugungskraft 
ihres lauteren Wesens, durch das Charisma unbedingter Selbstlosigkeit und ethischer Über- 
zeugung. So erreichen sie oft wie von selbst, was gewaltsamen Naturen versagt bleibt, was 
sie selbst gar nicht bewußt erstreben: Herrschaft über Seele und Geist der anderen. 

Und doch behält Goethe Recht. Denn gerade solchen Menschen bleibt ein höherer, schwererer 
Kampf am wenigsten erspart. Ringen mit der eigenen Natur, Bezwingen von Fehlern und 
Schwächen, Strenge der Selbstzucht, unerbittliche Prüfung des eigenen Wollens und seiner 
Beweggründe, das ist der hohe Preis, um den allein jene scheinbar leichte Meisterschaft über 
andere erworben werden kann. Und niemand sieht bei seinem Nächsten die steilsten Stufen 
des Weges zur inneren Vollendung. 

Dies alles gilt für wenige so uneingeschränkt wie für den allzu früh Verschiedenen, dem auch 
wir an dieser Stelle dankbares Gedenken schulden, alseinem der selbstlosesten und hingebend- 
sten Vorkämpfer gegen die Kriegsschuldlüge. Er hat sich an diesem Kampfe nur zwei Jahre 
beteiligen können und hat doch weit mehr darin geleistet als die allermeisten ahnen, oder seine 
Bescheidenheit je zugeben würde. Er konnte soviel leisten, weil er auch dieser Aufgabe, wie 
allen, die das Leben ihm bot, rückhaltlos sein Bestes weihte: nicht nur seine ganze Arbeits- 
kraft, das verstand sich von selbst für einen Edelmann, der in den besten Überlieferungen alt- 
preußischen, adeligen Offizierstums aufgewachsen war. Was seinem Streben Weihe und wer- 
bende Kraft verlieh, war weit mehr als bloße Pflichterfüllung, war tiefer Glaube an die leben- 
dige Wesenheit des Staates, des Vaterlandes, dem seine Liebe diente. Und dieser Glaube 
wirkte doppelt überzeugend, weil er gepaart war mit einer seltenen Vielseitigkeit und Tiefe der 
Bildung, einem aus reicher Erfahrung und feinfühligster Toleranz gewobenen Verständnis für 
die Meinung anderer, die dadurch von selbst wieder Achtung vor seiner klaren, festen Über- 





zeugung gewannen. Wie dieser Überbeschäftigte stets Zeit für andere fand, so fand er auchin ° 


der Tiefe seiner Menschenliebe Verstehen selbst für Menschen und Tendenzen, die ihm in der 


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Seele zuwider sein mußten. Nicht das schwächliche Alles-Verstehen und -Verzeihen: dazu ö 


‘) Der Chalif ist nicht die geistliche Spitze des Islam, sondern der Nachfolger des Propheten 
in der Verwaltung, der Heerführung und der Rechtsprechung. Die geistige Autorität sucht 
seit der Mitte des 7. Jahrhunderts bei den Schriftgelehrten, den ’ulemä, die theologische und 
juristische Kenntnisse vereinigen. 








Aus Zeit und Geschichte 125 








war er viel zu altpreußisch unerbittlich mit sich selbst. Aber eben aus der Strenge seiner Selbst- 
zucht heraus vermochte er Gegner gelten zu lassen und eben dadurch wie kaum ein anderer zu 


beeinflussen. 


Sein Leben mag manchen mißlungen erscheinen, eine Kette verschiedenartigster Anfänge, 
denen die Vollendung versagt blieb. Nicht eigene Wankelmütigkeit, sondern verhängnisvolle 


Eingriffe des Schicksals haben ihn aus der Bahn geworfen, die er sich vorgezeichnet hatte. 


Die holländische Mutter, die Gymnasialzeit in Düsseldorf, wo sein Vater Rittmeister bei den 


"Ulanen war, mögen zuerst in dem Jüngling den Blick in die Ferne geweckt haben, den Drang 
"nach den Kolonien. Aber ehe erihm nachgab, hat er acht Jahre beim Augusta Garde-Grenadier- 


Regiment in Berlin gedient; keineswegs umsonst, denn die Prägung des preußischen Offiziers 
besten Stils ist ihm sein Leben lang erhalten geblieben. In Berlin hat er auch die Lebens- 
gefährtin gefunden, Eleonore von Pommer-Esche, in deren Hause dieselbe Selbstverständlich- 
keit wahrhaft adeliger Gesinnung herrschte wie bei Vietsch selbst. Und nichts verbindet zwei 
Menschen enger als Einmütigkeit im Selbstverständlichen. 


1903 verläßt er den aktiven Dienst, fängt mutig von vorne an; 1907 kann der neugebackene 
Referendar und Doktor juris die Reise nach Südwest antreten, schon dreißig Jahre alt. Aber 
diese Reife des Alters und der Erfahrung kommt ihm zugute, der Privatsekretär des Gou- 
verneurs in Windhuk wird bereits nach zwei Jahren Bezirksamtmann in Rehoboth, Herrscher 
über ein großes Gebiet, wo, nach den Worten, die Professor Ziekursch in Breslau an seiner 
Bahre sprach, ‚‚seine Charaktereigenschaften zur vollen Reife gediehen: unerschütterliche 
Ruhe, umsichtige Überlegung, rasche Entschlußkraft und zähe Ausdauer... und in der 
Stunde der Gefahr die selbstverständliche Kaltblütigkeit des preußischen Offiziers‘. 


Es traf sich, daß er im Sommer 1914 zu einer Dienstleistung ins Reichskolonialamt berufen 
war und dort den Kriegsausbruch erlebte. Schon im August 1914 wurde er mit der Bildung der 
Pressezensurabteilung beauftragt und nach fünfvierteljährigem Frontdienst im Westen im 
Dezember 1915 nach Berlin zurückgerufen, um die Presseabteilung beim Oberkommando in 
den Marken neu zu organisieren. So ist er bis zum Sommer 1918 Oberzensor sämtlicher Ber- 


liner Zeitungen gewesen, wohl das dornenvollste, mühseligste Amt, das sich denken läßt. Es 


forderte einen vollendeten Edelmann, eine unbedingt feste Hand, die aber auch verstand, 
mit Takt und Feingefühl einzugreifen. Wie Herr von Vietsch seiner Aufgabe gerecht wurde, 
dafür ist das schwerwiegendste Zeugnis ein Aufsatz Siegfried Jacobsohns im Achtuhrabend- 
blatt vom 20. November 1925 (Nr. 272; vgl. auch Weltbühne, 2. Dezember 1925, Nr. 48). 
Der schroffste Gegner und Verächter alles dessen, was Vietschs menschliche und soziale Grund- 
lagen bildete, hat die edle Gesinnung und hohe Bildung seines Gegners nicht nur offen aner- 
kannt, er ist auch seinem Zauber willig erlegen. 


[7 August 1918 hat der Generalstab diesen Musterzensor an die Berner Gesandtschaft ent- 
sandt, inder richtigen Erkenntnis, wie wertvoll er auf dem vielumstrittenen Boden der Propa- 
ganda sich betätigen könne. In Bern hat er den Zusammenbruch und das furchtbare Jahr 
1919 erlebt, um dann nach kurzem Dienst im Reichswanderungsamt im Juli 1921 den Ar- 
beitsausschuß Deutscher Verbände zu organisieren. Das war endlich eine Aufgabe 
nach seinem Herzen! Hier konnten sich seine heiße Vaterlandsliebe und sein Sinn für Wahr- 
heit und Gerechtigkeit ganz einsetzen in einer Arbeit, für die seine Kunst der Menschenbehand- 
lung und der Zauber seines selbstlosen Verstehens doppelt wertvoll waren. Wie viel er dazu 
beigetragen hat, der in ihren Anfängen etwas unbeholfenen Organisation Einheitlichkeit und 
klare Linie zu geben, das wissen ganz nur seine nächsten Mitarbeiter, deren vornehmster 
ihm in der Zeitschrift des Ausschusses ein schönes Denkmal gesetzt hat (Weg zur Freiheit, 
November 1925, S. 190). Es galt, unendliche Widerstände zu überwinden; einer einmütigen 
Haltung des deutschen Volkes zur Kriegsschuldfrage, wie sie allein zum Ziele führen kann, 
standen nicht nur Parteihader und innere Zerrissenheit im Wege. Schlimmer als dies alles, ver- 
hängnisvoller noch als die feindselige Propaganda gewisser ‚‚deutscher“ Gruppen war die allge- 
meine, müde und mürbe Gleichgültigkeit weitester Kreise gegenüber dem wichtigsten Schick- 
salsproblem des deutschen Volkes. Mühsamste, entsagungsvollste Kleinarbeit war vonnöten, 
Arbeit, von der kaum jemand etwas merkte und die doch den ganzen Einsatz einer bedeutenden 
diplomatisch und publizistisch geschulten Persönlichkeit forderte. Hier war Herr von Vietsch 
in seinem Element; die Sitzungen, die er leitete, in denen die Lauterkeit seines Wollens und 
die bezwingende Kraft seines Glaubens Vertreter der widerstrebendsten Richtungen zu vater- 
ländischem Streben zusammenführte, zählen zu meinen lehrreichsten, eindrucksvollsten 
Erinnerungen. Und es will wahrlich viel heißen, daß trotz allen Erschütterungen jener Jahre 
der Arbeitsausschuß Deutscher Verbände mehr als 700 Verbände, von der äußersten Rechten 


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126 Aus Zeit und Geschichte 
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bis zu den Sozialdemokraten, umfaßte, als Vietsch im August 1923 den Vorsitz niederlegte, 
um als Universitätskurator nach Breslau zu gehen. 

Wieder ein schwieriges, oft dornenvolles Amt, das die höchsten Anforderungen an Ver- 
ständnis und Takt, Umsicht und Energie stellt. Für Herrn von Vietsch hat es sofort zu einem 
beispiellosen Erfolg geführt: denn alles Mißtrauen schmolz vor dem Ernst seines Strebens, der 
Freudigkeit seiner Hilfsbereitschaft, der gütigen Menschenliebe, die er allen, auch den kleinsten 
entgegenbrachte. Sein altes Kolonialleiden wuchs gerade in diesen zwei Jahren zu entsetzlich 
qualvoller Todeskrankheit an. Aber auch unsägliche Schmerzen vermochten weder seinen 
klaren Geist noch die Güte seines Wesens zu trüben. Unerbittlich gegen sich selbst, voll Milde 
für andere hat er stets das Beispiel eines Christen und Edelmanns gegeben. 

Die Breslauer Hochschulen haben ihn geehrt und betrauert, wie das nur sehr selten einem 
Beamten nach jahrzentelanger Laufbahn zuteil wird. Die Trauerreden an seinem in der Aula 
der Universität aufgebahrten Sarge legen davon beredtes Zeugnis ab (sie sind auch im Druck 
erschienen). Man kann ihn nicht besser schildern als mit den Worten, die damals der Minister 
Becker sprach: ‚‚Inihm war eine ethische Kraft, die wirkte und zwang, ohne daß er es wußte 
und wollte.... Es war Liebe ohne Begehr. Niemand, der zu ihm kam oder den er aufsuchte, 
konnte sich diesem Zauber entziehen. Ein Mensch, der dieses Charisma besaß, bleibt unver- 
gessen, weil dieses Erlebnis seines Wesens unvergeßbar ist.‘ 


Halle. Georg Karo. 


Aus Zeitschriften 


D: Archiv für Politik und Geschichte beginnt mit Serienaufsätzen über den deutschen 

Flottenbau von dem Hallenser Historiker Hans Herzfeld (Heft 1/2, 1926). Wir möchten 
uns vorbehalten, abschließend eine eingehende Würdigung zu geben, denn wir sehen in dieser 
Arbeit den ersten größeren Versuch, auf Grund aller bisher greifbaren Quellen eine der um- 
strittensten Fragen deutscher Politik zu beantworten. Heute nur einige Worte. Herzfeld, dem 
wir bereits eine sehr wichtige Studie zur deutschen Rüstungsgeschichte verdanken (Die deutsche 
Rüstungspolitik vor dem Weltkriege), eine Arbeit, die jetzt umso aktueller wird, als unsere 
Gegner sichtbar bestrebt sind, einer deutschen Militärpartei alle Verantwortung für das von 
ihnen angerichtete Unheil zuzuschieben, geht mit einer bemerkenswerten Unabhängigkeit des 
Urteils vor, die wir als den größten Gewinn seiner Aufsätze ansehen. Er versucht zunächst den 
Nachweis, daß die Lage, in der sich Deutschland rüstungspolitisch 1898 befand, nicht an- 
dauern konnte, Denn Deutschland war damals kaum zu Lande imstande, den Zwei-Frontenkrieg 
gegen Frankreich und Rußland erfolgreich durchzufechten, geschweige denn zur See. Der 
Bau der Flotte gegen einen etwaigen Angriff dieser beiden Mächte war daher eine Notwendig- 
keit. Das Flottengesetz von 1900 bedeutete insofern eine Verschiebung, als die deutsche 
Flotte nun ‚‚gegen den stärksten Gegner zwar nicht die Garantie des Sieges in sich tragen, wohl 
aber den Angriff auf sie durch die Gefahr starker Schwächung des Angreifers zu einem für 
seine Machtstellung politisch bedenklichen Unternehmen machen sollte.“ 

Wir halten es auch für richtig gegenüber den Versuchen, die Friedlichkeit der deutschen 
Wirtschaft in der Vorkriegszeit gegen die Rüstungspolitik ins Feld zu führen, zu betonen, 
daß in dem wirtschaftlichen Herausdrängen ebenfalls ein aufreizendes Moment lag. Es ist dies 
um so notwendiger, als die entschiedenen Gegner der deutschen Flottenpolitik zu übersehen 
pflegen, daß keineswegs mit dem Verschwinden der deutschen Flotte der Weg für eine glatte 
Verständigung frei war. Dazu hätte sich auch unsere Wirtschaft innerlich umstellen müssen. 

Es ist recht lehrreich, daß gleichzeitig der frühere Botschafter Graf Wolff Metternich mit 
einigen einleitenden Worten seine Denkschrift über die Flottennovelle vom 10. Ja- 
nuar 1912 in den Europäischen Gesprächen veröffentlicht hat (Februar 1926). Der Poli- 
tiker muß natürlich das Recht haben, seine Politik ohne Rücksicht auf Ergebnisse. der 
Forschung zu verteidigen. Es ist auch noch zu früh, an die Denkschrift zur Flottennovelle 
im ganzen kritisch heranzutreten, da dazu der Abschluß der deutschen Aktenpublikation 
und das Erscheinen der englischen Dokumente abgewartet werden muß. Aber es läßt sich 
doch wohl sagen, daß Metternich die Tiefe des deutsch-englischen Gegensatzes unterschätzt 
hat; daß er die grundsätzlich deutsch-feindliche Politik Greys und seiner Hintermänner nicht - 
durchschaute. Wenn er in seiner Denkschrift von Rissen in der Entente sprechen zu können 
glaubt, ‚‚die sich schon vertieft hätten, wenn die öffentliche Meinung bei uns eine weniger 
drohende Haltung gegen England einnähme und die von dort aus hingestreckte Hand nicht 
absichtlich zurückwiese‘, so darf heute gesagt werden, daß von einer Lockerung der Entente 
keine Rede sein konnte, solange ein Grey die englische auswärtige Politik wesentlich bestimmte. 


Im Gegenteil waren unausgesetzte Bemühungen, sie zu festigen, nach den jetzt vorliegenden 
Tatsachen unverkennbar. N 



























































Tagebuch 








Tagebuch 


Aus dem besetzten Gebiet 


N“ den mir vorliegenden Nachrichten 


"N aus dem besetzten Gebiete äußern Entente- 
kreise ihre Befriedigung über die Fürsten- 
abfindung, den neuen Zankapfel, welchen 
die deutsche Sozialdemokratie hingeworfen 
habe, um eine Einheitsfront der Deutschen 
zu zerstören. Immer, wenn die Lage der 
Entente besonders schwierig sei, trete ein 
solcher Glücksfall ein. Die Entente habe auf 
die deutsche Sozialdemokratie in der Ver- 
gangenheit zählen und sich verlassen können 
und es sei nicht zu besorgen, daß dies nicht 
auch in Zukunft der Fall sein werde. Die 
Einführung der neuen Flagge an Stelle der 
alten schwarz-weiß-rot, die Gründung des 
Reichsbanners schwarz-rot-gold, die Hetze 
gegen die Tradition, gegen die Monarchie, 
gegen das alte und das neue Offizierskorps 
und gegen die Offizierpensionen, jetzt die 
Fürstenabfindung, seien gerissen ausgeklü- 
gelte Zankäpfel, besonders geeignet, die 
Deutschen niemals zu einer Einheitsfront 
kommen zu lassen. Bei dieser Einstellung der 
deutschen Sozialdemokratie und infolge der 
neidischen Charakteranlage der Deutschen, 
die keine Umstellung erwarten lasse, brauch- 
ten für die Zukunft keine Befürchtungen 
gehegt zu werden, vielmehr bestehe die 
Hoffnung fort, den Rhein doch schließlich als 
Grenze zu erringen. 


Konstanz. Reg.-Rat a.D. Fonck. 


Tschechisches Verbot der deutschen 
Schrift 


ie die Italiener in Südtirol, so verbieten 

jetzt die Tschechen in Deutschböhmen die 
deutsche Schrift. Der Oberste Verwaltungs- 
gerichtshof in Prag fällte kürzlich ein Urteil, 
das eine Kampfansage gegen die deutsche 
Schrift bedeutet. Dem Urteil liegt folgender 
Tatbestand zugrunde: Die Tschechei hat be- 
kanntlich eine Verordnungerlassen, die die An- 
bringung von Straßenschildern, Wegetafeln, 
Plakaten u. dgl. in Frakturbuchstaben unter- 
sagt. Gegen diese Verordnung legten die Orte 
Arnau und Gablonz Berufung ein. Diese wurde 
nun mit folgender Begründung abgewiesen: 
„Wenn eine Gemeinde nach dem Gesetz 
Nr. 266/1920 Ortstafeln anbringt, wirkt sie 


‘ damit als Organ der öffentlichen Verwaltung 


an einer Öffentlichen Einrichtung mit, wie 
es eben die Anbringung von Ortstafeln ist, 
und hat in dieser Richtung keine anderen 
Rechte als die, die ihr in den diese Einrich- 
tung regelnden Normen ausdrücklich zuge- 


standen sind. Das Gesetz gibt aber in dieser 
Richtung keine Rechte, sondern legt ihr nur 
Pflichten auf. Das Recht der Gemeinde, die 
Ortstafeln auch mit deutschen Aufschriften 
zu versehen, ist dadurch nicht berührt, daß 
diese Aufschriften in Lateinschrift ausgeführt 
sein müssen, da diese Schrift notorisch nicht 
nur geeignet ist, die deutsche Sprache aus- 
zudrücken, sondern auch im allgemeinen in 
dieser Sprache neben der Fraktur gebraucht 
wird.“ 

Dazu bemerkt die Prager Zeitung ‚‚Bo- 
hemia“: ,‚,Man braucht kein gelernter Deutsch- 
böhme zu sein, um für die Präzision der 
tschechischen Verwaltungstätigkeit und ihre 
Pedanterie gerade auf diesem Gebiet das 
eigentlich zugrunde liegende Motiv heraus- 
zufinden. Obwohl die Frakturschrift bis in die 
vierziger Jahre bei den Tschechen allgemein 
gebräuchlich war und obwohl sie aus Gründen 
der historischen Kontinuität in den Köpfen 
englischer, französischer, dänischer, ja sogar 
italienischer Zeitungen gang und gäbe ist, 
wird sie hierzulande als eine Äußerung des 
nationalen Kulturwillens empfunden, »als 
ein deutsches Symbol aufgefaßt und dement- 
sprechend mit allen Mitteln bekämpft. Wären 
die Franzosen z.B. bei der Frakturschrift 
geblieben, so fiele es heute keiner tschechi- 
schen Behörde ein, die Einheitlichkeit der 
Schrift bei der Ortsbezeichnung als -eine 
Staatsnotwendigkeit bis zum Verwaltungs- 
gerichtshof geltend zu machen. Aber alles, 
was auch nur im entferntesten das Signum 
deutscher Besonderheit trägt, muß. grund- 
sätzlich bekämpft werden und als Mittel 
dienen, die Hoheitsgewalt der Tschechen als 
der herrschenden Nation den zum Gehorsam 
und zur Gefügigkeit mit allen Mitteln ange- 
haltenen Deutschen bei jeder sich bietenden 
Gelegenheit zum Bewußtsein zu bringen.‘ 


München. Adolf Dresler. 


August Winnig 


der Mitarbeiter dieses Heftes, dessen Grund- 
schrift „Der Glaube an das Proletariat‘“ wir 
in unserem gleichnamigen Dezemberheft 1924 
brachten, hatsoeben im Milavida-Verlag, Mün- 
chen sein Werk unter dem Titel ‚‚Befreiung“ 
fortgesetzt. Essind diegroß geschauten Grund- 
lagen zur Schaffung einer wirklich deutschen 
Arbeiterbewegung und zur Befreiung der deut- 
schen Nation. Wir werden demnächst auf die 
hochbedeutsame Schrift (deren Preis übrigens 
nur fünfzig Reichspfennige ist) eingehender 
zurückkommen. 


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128 Tagebuch 


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Die Herrschaft der Fünfhundert 


W=® für seltsame Antworten erhielte man 
wohl bei einer Rundfrage nach der Zahl 
der Reichskabinette seit 1918 oder nach den 
Namen der Reichskanzler? An die höheren 
Schulen denken wir bei einer solchen Frage 
gar nicht, denn dort ist vor lauter Historie 
neuere deutsche Geschichte von der Reichs- 
gründung an bis heute immer noch Neben- 
sächlichkeit, wenn nicht hie und da einzelne 
Lehrerpersönlichkeiten den Zwang durch- 
brechen.Aber auchin weitenanderenSchichten 
der sogenannten Gebildeten sowohl wie der 
sogenannten Ungebildeten steht die Un- 
kenntnis der Grundlagen des heutigen politi- 
schen Lebens in merkwürdigem Gegensatz 
zu der seit 1918 immer wieder verkündeten 
Herrschaft des Volkes. Selbst die äußeren 
Vorgänge dieser Herrschaft, verkörpert im 
Parlamentarismus, sind kaum bekannt. Man 
horcht auf, wenn nun zum erstenmal einer 
vom Bau, der deutschnationale Abgeordnete 
Lambach, hier eine Bresche zu schlagen 
versucht mit seinem Buch ‚Die Herrschaft 
der Fünfhundert‘“‘ (Hanseatische Verlags- 
anstalt Hamburg). 


Um es gleich zu sagen, es handelt sich da 
nicht um die Herrschaft, sondern um die 
Tätigkeit der Reichstagsabgeordneten. Der 
Titel mag außer durch die Zugkraft auch 
ein wenig durch Ironie bestimmt sein. Ver- 
sachlichung des deutschen Parlamentaris- 
mus nennt der Verfasser als sein Ziel. 
Hierin liegt auch zunächst der praktische 
Wert des Buches begründet, mit seiner 
klaren Darstellung der Reichstagswahl, des 
Organismus des Reichstags, angefangen von 
den technischen Einrichtungen des Wallot- 
baues bis zu den Arbeiten der fünfzehn 
Ausschüsse, der Entstehung einer Gesetzes- 
vorlage und eines Gesetzes, der Sitzüber- 
sichten der Fraktionen in den bisherigen 
Wahlperioden und der Berufsstände innerhalb 
der Parteien, mit den Urwiedergaben von 
wichtigen Reichstagsdrucksachen und einigen 
Dutzend Augenblicksbildern, mit der ein- 
geflochtenen Geschichte des Reichstags seit 
1918. Das alles nehmen wir mit und erleben 
wir mit, den erfundenen, jeder und keiner 
Partei angehörenden Abgeordneten Müller- 
Hinterwalden durch ein Jahr seiner par- 
lamentarischen Tätigkeit von Wahl zur 
Wiederwahl begleitend, 


Das ist gewiß Versachlichung und leben- 
dige Sachlichkeit. Da sind keine Werturteile, 
sondern höchstens Fragen nach dem Für oder 
Wider. Da ist keine Theorie, sondern nur ein 
Bild der bewegten Oberfläche. Und doch 
ist dies kein Buch der Oberflächlichkeit. 
Denn ungewollt wird der Blick in die Tiefe 


ee eigens reilisechgieithisehsisidestishen te meinen enrennene renehenn 


geführt, weil von selbst vor dem Auge des 
Lesers immer wieder Bilder aus jüngster 
deutscher Geschichte seit Bismarck er- 
scheinen. So besonders in dem Abschnitt 
über die außerparlamentarische Einfluß- 
nahme auf die Gesetzgebung. Mit Er- 
schrecken spürt man, wie sehr dieser Organis- 
mus ‚Parlament‘‘ abhängig ist von seiner 
Außenwelt und ihren Kräften und Mächten. 
Was Oswald Spengler mitten im Kriege im 
ersten Band seines Hauptwerkes von den nur 
auf die Wirkung nach außen berechneten 
Scheinkämpfen der Parteien im Reichstag 
gesagt hat, tritt einem hier unwillkürlich 
wieder ins Bewußtsein. Aber gerade auch 
die Verfechter des heutigen Parlamentarismus 
loben und empfehlen dieses Buch eines 
Deutschnationalen, also eines programmati- 
schen Gegners, weil es ungerechtfertigte 
Vorwürfe gegen den Reichstag zurückweist 
und gute, kaum bezweifelte Sätze enthält 
wie den, daß es ‚‚vom tiefinnersten Gehalt 
der Persönlichkeit abhängt, ob einer in 
diesem Getriebe stark bleibt und allmählich 
zur Führung kommt oder ob er zermürbt und 
zermahlen wird.‘ Vor allem aber sehen jene 
eine Rechtfertigung des Parlamentarismus 
in der Feststellung ,‚,‚es wird gearbeitet‘. 
Sagt doch Lambach: ‚Mehr als die Hälfte 
aller Abgeordneten schuftet Tag für Tag 
regelrecht seine zwölf Stunden herunter“, 
Die Anpreisung dieser Schrift von dieser 
Seite her zeigt, wie sicher auch heute noch 
eine gewisse Demagogie ihrer Wirkung mit 
solchen Äußerlichkeiten auf die Masse ist, 
wenngleich es ihr im Angesicht der Tat- 
sachen von Jahr zu Jahr schwerer fällt, den 
Glauben an die Regierung des Volkes auf- 
rechtzuerhalten. Zitieren ist nicht schwer. 
Eine andere Stelle dieser wirklich der Ver- 
sachlichung dienenden Schrift besagt z.B.: 
„Ein und derselbe Mann beschließt also an 
einem einzigen Tag über: Wochenhilfe, 
Unfallrenten, Aufrichtung eines neuen Pran- 
gers, Devisenhandel, Aufhebung von Ge- 
fängnisstrafen, Schießen auf Flüchtlinge, 
Versorgungsangelegenheiten, Rechtsverhält- 
nisse elsässischer Beamter, Einkommensteuer, 
das Gehalt des Reichspräsidenten, unzählige 
andere Behörden, Bauten, Gehälter, Post- 
gebühren, Gewerbegerichte, Kaufmannsge- 
richte, Zustände in einer Strafanstalt, die er 
nie gesehen hat, Beseitigung der schwarz-weiß- 
roten Handelsflagge, Erhöhung der Diäten.‘ 

Wir aber empfehlen dieses Buch, weil es 
jeden, der nicht ganz blind und fühllos 
das letzte Jahrzehnt erlebt hat, erst recht 
vor die Frage stellt, ob dieses System 
für Deutschland das beste ist, ob dieses Mas- 
senwesen „Reichstag“, das über Nacht Re- 
gierungen stürzt, wirklich regieren, das heißt 





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_ aufbauen und Herr der Masse sein kann, 
Wir empfehlen es, weil es die ungeheuere 
Gefahr ahnen läßt, die in etwas zu tiefst Un- 
- deutschem liegt, in der verantwortungs- 
losen Herrschaft unseres Parlamentarismus. 
Es wird und soll für recht viele Betrach- 
tungen über die Staatsform den Ausgangs- 
- punkt bilden. Es wird länger bestehen, als 
die meisten dieser Betrachtungen, weil es 


erstmals kennzeichnende Lebensvorgänge der 


jüs 


deutschen Entwicklung festhält, die viel- 
leicht schon verschwunden sein werden, 


‚ehe sie von den Zeitgenossen begriffen sind. 


. darf. 
burg). Die Einleitung geht von einer Dar- 


München. Fritz Hasinger. 
Vom deutschnationalen 
 Handlungsgehilfen-Verband 


er deutschnationale Handlungsgehilfen- 
Verband hat vor kurzem einen Rechen- 


schaftsbericht für 1925 vorgelegt, der auf 


allgemeinere Beachtung Anspruch machen 
(Hanseatische Verlagsanstalt Ham- 


stellung der Stabilisierung unserer wirt- 
schaftlichen Verhältnisse aus und bespricht 
in diesem Zusammenhange die politischen 


 Erziehungsaufgaben, die der Verband als 
seine Pflicht ansieht. 


Es heißt dort: ‚Die 


_ wichtigste politische Erziehungsaufgabe, die 


' in. Deutschland zu leisten 


ist, muß die 


B ‚Stärkung des nüchternen, klaren Urteils sein. 
je mehr Nüchternheit und Klarheit unser 


ganzes Volk durchdringen, um so größer 


wird die tatsächliche Macht, die das ganze 


Volk ausübt. Die Führer der Volksschichten, 


- die am lautesten den Segen der vollkom- 


menen Demokratie betonen, verlassen sich 
leider bei den ihnen gestellten Aufgaben 
immer auf die suggestive Kraft des Schlag- 
worts, ob es nun Vollsozialisierung oder 
Fürstenabfindung heißt. Ohne sachliche 
Durchdringung seiner politischen und wirt- 
schaftlichen Probleme bleibt aber in jedem 


Volk seine Demokratie eine papierene Ange- 


legenheit zum Handgebrauchfür Demagogen.“ 


Der umfangreiche Bericht selbst äußert 
sich eingehend über die Wirtschaftspolitik, 
Sozial- und Gewerkschaftspolitik, Berufs- 
bildung und Organisation des Verbandes 
sowie über seine Wohlfahrtseinrichtungen. 
Er bringt zahlreiche Tabellen und Statistiken 
über die Entwicklung der Gehälter und 
Tarifverträge, über Lehrlingswesen usw. 
Das wertvolle Material zeigt die Angelegen- 
heiten des großen Wirtschaftsverbandes im- 


mer in weiterem Rahmen und gibt damit 


Gelegenheit, sich mit allen durch die sozialen 
Kämpfe, durch die Wirtschaftskrise, Preis- 
abbau, Bevölkerungspolitik und Bildungs- 
wesen aufgeworfenen Fragen gründlich zu 
beschäftigen. 


! 


Denn nina ing enden hnieimennephieneigtren ee 




































Tagebuch | 129 


Helden und Heldenverehrung 


I)‘: Begriffe des Heldentums können sehr 
verschiedenartig sein. Vom Straßen- 
jungen, der den Mut aufbringt, eine Laterne 
einzuschlagen, wenn gerade kein Schutzmann 
in der Nähe ist, bis hinauf zum notorischen 
Raufbold, der mit Umsichtigkeit und natür- 
lichem Instinkt die physisch Schwächeren zur 
Kühlung seines Mutes herauszufinden weiß, 
wird die Anwartschaft auf Heldentum gel- 
tend gemacht. In den entsprechenden Kreisen 
finden diese Helden ihre Verehrer und oft 
sogar in größerer Menge, als sie je das weniger 
lärmende Heldentum der Wahrheitkünder 
und ethischen Vorkämpfer gefunden hat. 
Auch heute läßt sich eben noch in der Arena 
leichter der weitklingende Ruhm erkämpfen 
als auf der Kanzel oder in der Gelehrtenstube! 

Je nach Volksbildung und Volkseigenart, 
wie auch nach der Differenzierung der Ge- 
sellschaftsschichten, untersteht der Begriff 
des Heldentums verschiedener Auslegung. 
Nur zu oft ist die Tat und ihr Erfolg höher 
bewertetalsihreethischenBeweggründe. Wenn 
z. B. die Serben denpolitischen Meuchelmörder 
Princip, der ja ethisch auf keiner höheren Stufe 
steht als Luccheni, Ravachol usw., zum Volks- 
helden erheben und ihm sogar ein Denkmal er- 
richten, so ist hierfür eben der ungeahnte 
Erfolg ausschlaggebend. Die in Südslawien 
beliebten Vergleiche dieses ,‚‚Volkshelden‘ 
mit Wilhelm Tell oder Andreas Hofer fallen 
in sich selbst zusammen, wenn man in Erwä- 
gung zieht, daß deren Tat sich gegen fremde 
Eindringlinge richtet, im offenen Kampfe und 
aus freiem ethischem Entschlusse geschah. 
Alles Dinge, deren sich der serbische ‚‚Volks- 
held‘ nicht im geringsten rühmen könnte, 
Schon die Sühne in ihrer Äußerlichkeit ist 
Symbol. Der Kugelregen in Hofers Helden- 
brust, der Henkerstrick um des Meuchel- 


mörders Princip Hals! Nach serbischen Be-. 


griffen tut dies jedoch dem Schönheitsbilde 
der ‚„‚Heldengestalt‘‘ keinen Abbruch, sondern 
umwebt diese sogar mit der Märtyrergloriole. 

Wie billig in verschiedenen Kreisen Süd- 
slawiens, hauptsächlich in den chauvinisti- 
schen, ganz vom französischen Vorbilde ab- 
hängigen, Heldenruhm zu erwerben ist, zeigt 
ein Vorkommnis aus letzter Zeit. 


Der deutsche Schriftsteller Alfred Kerr 
war von einer pazifistischen Gesellschaft in 
Paris zu einem Vortrage berufen worden. 
Dem Rufe stattgebend, hielt er denn auch 
vor einem großen Auditorium eine Rede, 
deren Ziel stärkere Annäherung der Frie- 
densfreunde und bessere Völkerverständi- 
gung war. Während des einstimmigen Bei- 
falls soll sich ein junger Serbe erhoben und 
laut in den Saal gerufen haben, daß Kerr 
der Urheber des Kriegsverses sei: 


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line. zur ansc an i machen nee se een ee eg oe 








130 Tagebuch 


nun 


Jeder Stoß — ein Franzos, 
Jeder Schuß — ein Ruß, 
Jeder Tritt — ein Britt, 

Alle Serben — müssen sterben! 


Die Wirkung soll denn auch so nieder- 
schlagend gewesen sein, daß Kerr bemüßigt 
gewesen sei, lautlos das Feld zu räumen. 

So berichteten wenigstens verschiedene ser- 
bisch-nationalistische Zeitungen und ver- 
öffentlichten in großen Lettern den Namen 
des tapferen Volksgenossen. Im Über- 
schwange ihres Triumphes vergassen sie 
freilich auch, auf die segensreiche Wirkung 
der französischen Auslandspropaganda zu 
verweisen, aus deren reichen Agitationsfonds 
eine Unmenge von ganz beachtenswerten 
Stipendien an balkanslawische Studenten, 
Künstler usw., zur Erleichterung des Stu- 
diums an französischen Schulen, ausgeworfen 
wird. Als Stipendiat der französischen Re- 
gierung darf man schon ein wenig den Chau- 
vinisten am Seinestrande zu Gefallen reden. 
Um so mehr als man dadurch ohne beson- 
deres Risiko Heldenruhm erntet, und in der 
Heimat verständnisinnige Verehrung findet. 


Bjelovar S.H. S. Artur Kully. 


Ein Bekehrter 


7 dem schönen Kanadabuch von Max 
Otto, das wir in unserem Februarheft 1925 
„„Überseedeutsche‘ angezeigt haben, liefert 
Karl Karger, 14 Jahre unter Englän- 
dern (1925, Selbstverlag des Verfassers, 
Breslau 2) ein beachtenswertes Gegenstück. 
Bis jetzt ist der erste Band erschienen, der 
die Auswanderungsschicksale des Verfassers 
bis zum Beginn seines Farmerdaseins behan- 
delt. Er beginnt, wie so manche Bücher 
ehemaliger Sozialisten, als. Bekenntnis eines 
Bekehrten, aber er ist in der glücklichen Lage, 
dieses Bekenntnis auf einen weiteren, zu 
vielfachen Vergleichen herausfordernden Um- 
kreis von Erfahrungen stützen zu können, 
als manche seiner ehemaligen Parteigenossen, 
bei denen enttäuschte Hoffnung oder persön- 
liche Gekränktheit für einen Gesinnungs- 
wechsel wesentlich bestimmend gewesen sind. 

Die hochtrabenden Redensarten Paul Löbes 
veranlassen den Sozialdemokraten und Frei- 
denker Karger mit einigen Gesinnungsge- 
nossen den „preußischen Ausbeuterstaat“ 
zu verlassen und es mit dem Land der demo- 
kratischen Freiheit zu versuchen. Er muß nur 
zu bald sehen, wie es mit dieser Freiheit in 
Wahrheit bestellt und wie wenig mit den 
Parteiphrasen anzufangen ist, die bisher 
seine Weltanschauung gebildet haben. Lehr- 
reich ist nun, wie sich ein vollständiger Ge- 
Sinnungswechsel auf Grund von kleinen und 








kleinsten persönlichen Erlebnissen vollzieht. 
Der Verfasser gewinnt im Ausland ganz all- 
mählich den Begriff der nationalen Würde 
zurück und kommt zu einer bitteren Abrech- 
nung mit der Sozialdemokratie. Er muß 
gewissermaßen noch einmal von vorne an- 
fangen. Sein Buch aber sucht diese innere 
Entwicklung in ihren einzelnen Phasen nach- 
zuzeichnen, auch in dem Sinne, daß es die 
Deutung von Land und Leuten nicht aus 
nachträglich gewonnenen höheren Gesichts- 
punkten unternimmt, sondern aus den un- 
mittelbaren Eindrücken, dem Räuspern und 
Spucken im eigentlichsten Sinn. Aber die 
Einsichten, die sich ergeben, sind deshalb 
kaum minder belangvoll, da sich das Wesen 
des Volkscharakters in jeder seiner Äuße- 
rungen kundgibt. Man darf die Fortführung 
des Werkes mit Spannung erwarten. A.H. 


Zur Wahrheit über Deutschsüdtirol 


I" der Schriftenreihe des Instituts für Sta- 
tistik der Minderheitsvölker an der Uni- 
versität Wien erscheinen zwei Hefte ‚‚Deutsch- 
südtirol. Drei Vorträge von Hans Voltelini, 
Alfred Verdroß und Wilhelm Winkler“, 
Voltelini, der auch für unser Sonderheft 
„Deutschsüdtirol‘““ (Oktober 1925) den ge- 
schichtlichen Aufsatz beigesteuert "hat, stellt 
in engem Rahmen die Geschichte Deutsch- 
südtirols dar. Die statistische Untersuchung 
Wilhelm Winklers umfaßt im wesentlichen 
die Jahre 1880 bis 1921. Sie zeigt, daß 1902 
in dem verlorenen Gebiet 252084 Deutsche 
wohnten. Bemerkenswert erscheint die Fest- 
stellung, daß der deutsche Bevölkerungsanteil 


rd. 32%, der welsche nur 18% Kriegstote 


aufweist, eine Tatsache, die ihren Einfluß 
auf die Bevölkerungsbewegung noch aus- 
üben wird. Die rechtliche Lage Deutsch- 
südtirols wird von Alfred Verdroß beleuch- 
tet. Schließlich gibt ein Anhang von Walter 
Steinhauser eine Untersuchung der Orts- 
namen, die das Alter deutscher Herrschaft 
und Siedlung in Südtirol sprachgeschichtlich 
nachweist.! 


Gedanken 


M anchmal ist es schwer, ernst zu bleiben, 
ohne lächerlich zu werden. 
* 

Auch in der Literatur vollziehen sich die 
Revolutionen meist in der Form, daß eine 
neue Despotie aufgerichtet wird. 

* 


Es ist in der Politik nicht anders als in der 
Chemie: ganz harmlose Stoffe werden durch 
Verbindung explosiv. K.A.v.M. 








nn 











































Derdeutfche@rzähfe 


Ehriftiane und Vier 
Bon Ernft Denzoldt 


Be und Hirondel, Adrian und Amadeus gingen von der Schule nad) Haufe. Sie 
lachten alle vier; Hermion aber, der jogar zuweilen ftehenblieb, lachte befonderz herzlich. 
Er legte dabei den Kopf zurüd und jchloß die Augen wie geblendet. Er mar, obgleich nicht 
älter, jchon viel größer als die andern und ein wenig jchmal. Sein mausgrauer Mantel 
itob im FSrühlingsmwind, ja feine ganze hagere Geftalt hatte immer etwas Wehendes, jo von 
fallenden Haarfträhnen, bewegten Händen und mwedelnden Schuhbändeln. SHirondel aber, 
der fcheu neben dem mwehenden Hermion ging, leuchtete nur. in ftiller Heiterkeit und blidte 
von einem zum anderen, fein Lächeln an ihrem Lachen neu zu erquiden, der Dunfelite unter ee 
ihnen. Adrian war Fein und weiß, feine Stimme war nod) hell und bejonders beim Lachen Be 
voll Melodie. In herber Anmut, wohlerzogen und fein gefleidet, jchritt er neben dem rauheren 
Amadeus. Diefer, der jo nebenbei einen Kiefel, gleich einem Ball vor fich hertrieb, lachte 
tief und troden in fich hinein. Und obwohl er jchöne, befonders wohlgeformte Zähne hatte, 
ichloß er manchmal mitten im Lachen den Mund, alg ob er jich ihrer jcyäme. 

Alle Sahen ein lächerliches Ereignis der vergangenen Schulftunde vor fich, eine der jeltjamen 
Begebenheiten, die die Melancholie der Sinaben — etwa in einer Mathematikjtunde — urplög- 
lich verwandelt, um jenes erjchütternde Gelächter göttlicher Anarchie zu entfejjeln, das ge- 
eignet erfcheint, Lehrer, Schule, Wiffenfchaft — wenn auch vielleicht nur für Augenblide — | 
gänzlich in Frage zu ftellen. Man lacht und die Gefahr mag beftehen, daß der verführerijche iR 
Klang die Harmonie des Chors bei doch jo offenbarer Ungleichheit der ftimmlichen Einzel- ; 
'  deiftung auch) etwa in einem der anliegenden Klafjenzimmer gehört werden fünnte. Und 
' man hört es in der Tat vielleicht während der Religionzftunde nebenan, etiva wenn von ber 
Heiligung die Rede ift, Hört es mit Neid und Sehnfucht. Des genügt zu hören, ohne zu 
wiffen warum, und des frommen, mwohlmeinenden Lehrers Wort berjtummt im Sturm 
Dionpfifcher Freude. So diesmal: Profefjor Strahl, der neue Lehrer für Mathematik, betritt 
die lafje und er tut dies auf eine abjonderliche, gar verdächtige Weife. Strahl, ein dürrer, 
'  ältlicher Menich, mit dünnem, peinlich gefräufeltem Bart- und Haupthaar und roja Geficht, 
| eine jcharfe Brilfe vor den Heinen, ängftlihen Augen. Profefjor Strahl hat — dies fieht 
| 








Amadeus, der in der erften Reihe figt, jofort — die Angemwohnheit, ehe er die Klinfe der 
Tür berührt — und wahrjcheinlich jeder Türe, wo e8 auch fei — feine Hand rudhaft zurüdzu- 
merfen, gejchieft den Hrmel zu faffen und aljo über ven Ballen zu zerren, daß die Hand beim 
Schließen der Türe gegen eine unmittelbare Berührung gejchügt erjcheint. Dazu berbreitet 
| er einen aufdringlichen Karbolgeruich jpitalifch um fich, um jo mehr, als er jofort befiehlt, 
| die Fenster zu fchließen. „Frühling ift [chädlich !" dies find feine Worte, und es geichieht. 
‘  Hermion prüft als erjter mißtrauifch die Luft und aucd Adrian erregt der Geruch), den er, 
mie er fpäter finfter erklärt, al3 den Geruch der Zahlen deutete, denn auch er tar ein Feind 
| der Mathematik. 

| Amadeus aber ift e8, der das Nätfel löft. „Bazillenfurcht” Inurrt er nach rechts und nad) 
finfs und erhebt fich bedeutend. „Nun, mein Freund?" fragt Strahl arglos. „Mir ift übel,“ 
| 


BEER ee 
eh 2 


KETTE SET) 


antwortet der Knabe, „es riecht fo.” Er zieht fein Tafchentuch und wedelt ji) Xuft zu. „”„ Übel?“ 
Strahl, der fich ihm freundlich genähert, weicht zurüid. „Gehen Sie, rajd, eilen Sie nah 














132 Derpdeutjhe Erzähler 
a m errne 
Haufe, ein für allemal: Brefthafte dulde ich nicht in meinem Unterricht. E3 fönnen Mafern fein, 
Cholera, Keuchhuften fogar !” Amadeus geht. In der Tür aber wirft er die Hand in auffälliger, 
verbächtiger Weife rudhaft zurlid, faßt den Armel, zerrt ihn über den Ballen und aljo gegen 
eine unmittelbare Berührung mit der Klinfe gefchlißt, öffnet er rafch die Türe. Hell Klingt 
zuerjt Adrian Findlich melodifches Lachen, Hermion fältt tief ein und die Klafje bricht aus 
in das große unfterbliche Lachen. Ahr fennt e3 alle. 

Dies war e3, und fie lachten noch und immer wieder von neuem, da fie an den VBorgärten 
der Villen entlang fchlenderten, im zarten Frühling, da der Himmel noch blaß mar, das 
Grüne nur ein Hauch über den Gebüfchen und die Schatten jo janft. „Er fieht die Bazillen 
frabbeln, er jchlägt mit der Fliegenflappe danach“, tief Hermion und blieb ftehen. „Srühling 
it Schädlih “ und fie lachten. 

Da gejchah es, daß Chriftiane des Wegs vorüberfam. Alle jahen fie und wie fchön fie war 
in ihrem ftillen fchwebenden Gang und ihre göpfe hingen fchwer herab zu ihren Händen, 
jahen auch ihr eficht und waren angefehen von einem ruhigen langfamen Blid, der ein wenig 
dunfel machte vor der Knaben Augen, fahen eine fühle, heitere Stirn, jahen den Mund aud,, 
da jie die Augen fchon niederfchlugen, einen beinahe großen, ahnungslofen Mund. Der 
Knabe Adrian grüßte in feiner tajhen, verbindlichen Art, denn er kannte jie von ungefähr. 
Hermion, der feinen Hut in der Hand trug, berneigte fich fogleich fchräg und ungefchidt. 
Hirondel fah befehämt zur Seite. Amadeus aber, der noc) immer etwas lachte, fah fie an und 
unterließ den Gruß. Chriftiane neigte die Stirn, ftumm, ohne zu lächeln, nur ein Schimmer 
ging über ihr Angeficht. So fchritt lie vorüber. 

Hermion wandte den Kopf zurücd, Ieife ihr nachgufehen und ihrem ftolgen, aufrechten Gang 
und errötete darüber. „Wie fchön fie ift“, jagte er und erfchraf. „Ya“, fagte Hirondel. Er 
hatte fie fchon von weitem fommen jehen, gerade auf fich zu. „Ein Tor nun zu fein, und fie 
[reitet hindurch“, dachte er, „ein Wald und lie geht darin.” Denn er dichtete heimlich. 
„ie heißt fie denn, du Fennit fie Iheint’s, Adrian!” fagte Amadeus. „Sie heißt halt Ehri- 
ftiane”, fagte Adrian und ratterte mit jeinem Lineal einen Zaun entlang. „Shriftiane 
jagte Hermion, er fang e8 beinahe und Hirondel jhrwieg. Da flug ihm Amadeus plöglich 
entichlojjen auf die Schulter. „Du bift’z! sang una!” rief er und lief fchon, die andern in 
ein für ihr Alter fchon zu fpätes Spiel fortreißend. Gie ftoben davon, ohne daß e3 Hirondel 
gelang, Hermion zu fangen, dem er folgte. Da gingenfie alfo zerjtreut Heim. Nur Amadeug, 
al3 er ungefehen war, fehrte um, Chriftiane zu folgen. Aber er fand fie nicht mehr und bummelte 
pfeifend nach Haufe. Er war hungrig von Schule und Wachstum und ftrich leife durch alle 
immer, nach Schofolade in mütterlichen Verfteden fuchend. Da er nicht3 fand, wartete er 
ind Senfter gelehnt, mißmutig aufs Mittagefjen. — 


Dreyer Vater handelte mit lebenden Vögeln, mit Kanarienvögeln, Bapageien, Eltern, 
mit Kafadus und Zebrafinfen. Als Hirondel durch den Laden das Haus betrat und immer 


noch die Stadt und das janfte Dadinjchreiten Chriftianens darin von ferne jpürte, fingen _ 


die Vögel an durcheinander zu rufen, denn fie Fannten ihn alle und er hatte ihnen niemal3 
etwas zuleide getan. Der uralte Nabe, der unverfäuflich war, lachte fogar, wie e8 jchien, 
und Hirondel ftedte ihm durch die Stäbe den Zeigefinger hin, daß er hineinbeiße, aber der 
Schwarze tat nur fo. Hirondel verhielt fich ftet3 etwas zwifchen den Käfigen und hörte, 
wie e3 Hang: Das Schlitten und Iheue Flattern, da3 Weben der harten Schnäbel, der ruhe- 
Ioje Takt von einer Stange zur andern und das Berbeißen der Körner. Immer blieb ein gelber 
glaum an Hirondels Kleidern, oder ein wenig Sand, ein paar Spelze. „Srondel“, jagte der 
Papagei und e3 roch warm nad) fernen Ländern. Schon auf der Treppe, einer alten Holz- 
treppe, die tief und voll unter den Schritten dröhnte, Dichtete Hirondel. „D Chriftiane 
in der Dämmerung“ — begann er wieder, als er in jeinem Zimmer faß, und fchrieb e3 heftig 
auf jein Löfchpapier, damit e3 nicht entfliehe. Bon ferne fang der Laden zu ihm herauf. 





1 
i 

























































Srnft Wenzoldt: Chriftiane und Vier 








- „Schön ift’3,“ fchrieb er dann, „Ichön ift’s, ach Chriftiane nachzufehen, wie fie züchtig in den 
Abend fchreitet.” Er fann dem „Schreitet‘‘ nach, ob es fich wandle und al3 Reim ihm begegne. 
 Reidet — jchreitet, breitet — fchreitet, verjuchte er. Aberes antwortete ihm nicht. Er durch- 
” ftrich, was er gefchrieben und den Blid auf feine Hand geneigt, als jtünde e3 hier, Tieß er die 


Worte: wandern und fic) begegnen. „Wie jcheu fie find, fie fennen einander nicht“, dachte er 
für einen Augenblid erwachend und wartete, daß fie jich beruhigten und gewöhnten. Dann 


jehrieb er: 

: An Chrijtiane. 

Schön ijt’3 mit Chriftianen, ach zu gehen, 

Da fie züchtig durch die Dämmrung jchreitet, 

Wie auf einer goldnen Kugel gleitet 

Sie dahin in janfter Harmonie. 

Schön ift’3 dann, fie manchmal anzujehen, 

Bu erröten leije, ach! wie jie. 

Er jchrieb e3 quer durch ein Papier, das mit allerhand Bahlen bededt war, fruchtlojen Be- 
rechnungen, jene Aufgabe zu löfen: Wenn ein Radfahrer um 6 Uhr 15 den Drt A verläßt... 

—— Hirondel Gejicht war gerötet und er las fein Gedicht dankbar, fajt ehrfürdtig. E83 


war, wie mern man geweint hat, wenn die Heiterfeit de3 Schmerzes jchon zu dDämmern 


beginnt und die Mutter fommt mit der Lampe und rührt nicht mehr daran. Auch) nachmittags 
bemegte ihn immer wieder Chriftianeng Schreiten und wie er ihr wohl wieder begegne. 
- Adrian fragen? Und dabei erröten und er wühte allez, alles! Was alles? wendet er ein. Er 
- Iegt jein Finn auf die Arme und ftarrt in den Schwarzen Blid feines Tintenfafjes. „Chriftiane“, 
- fagte er leife, und, al3 fönne er fich ausfenden und Chrijtiane vernähme ihn über Gärten und 
- Dächer, durch Menjchen und Mauern und horche auf Über einem Buche, bat erimmer wieder 


fie möge ihm begegnen. Er ward gläubig, fein Wunfch entjchwebe feinem Munde, jhmärme 


- aus und lajje fich endlich fanft und von ferne auf ihrem Scheitel nieder, jidere ein und 
— wandle fich in Chrijtianes fchöner Seele zu freundlichem Begehr: „ein wenig zu jpazieren”. 
Sie fteht auf, denkt Hirondel inbrünftig, geht zur Tür und langjam herab auf die Straße, wie 
- auf einer goldenen Kugel gleitet fie dahin. Und Hirondel macht fich auf, ihr alfo zu begegnen. 

EC3 waren viele Menfchen unterwegs und Hirondel des Wandel der Schönen ganz ge= 
wärtig, ja bemüht es ihm nachzutun, befragte mit fchlichternen Bliden alle Geftalten, aber 
e3 antwortete ihm nicht, reimte fich nicht damit. „Du bift es nicht und du auch nicht“, fagte 
er und ward erregt durch den Gedanken, alle fähen eg ihm an, daßerChriftiane juche. Und wenn 
ich ihr nun doch begegne, fie anreden? Hirondel ging langjamer und war drauf und dran, 
alle — mas alle3, dachte er wieder — aufzugeben. D, er wird e3 einfach nicht tun, nur fie 
grüßen, bon ferne, ganz von ferne, ald vermwechjle er fie. Ach, wenn er nun jchon ganz nahe 
war und hat fie doch überfehen? Su diefem Augenblic ah er fie wandeln. Gie mar es. ©ie 
trug einen rotbraunen Mantel, ein wenig ander3 al am Vormittag, und eine ziegelrote 
Mübe. Shr Geficht jah er nicht, wußte e3 ja faum und fie ging weit voraus. Dazwiichen 
maren viele fremde Menfchen. Aber niemand ging einen jo auftechten Gang und Hirondel 
folgte dankbar. „Chriftiane”, fagte er wieder, fcheu bedacht, daß feine Blide auch behutjam 
jeien, daß fie nicht davon betroffen fich wende und ihn erfenne, der jo heimlich ihr nad- 
ftellte. Da er fie aber faum und nur fo ferne fah, die nur Mantel und Mübe faft und nicht 
eigentlich mehr Chriftiane war, merkte er doch gleich, wie fein Herz hüpfte, gleichjam voraus 
eilte, und daß er — tie lächerlich e3 auch) war — jchludte, ja den Augenblid gleich einer köft- 
fichen Speife hinunterfchludte. Der Schönen folgend, erfann Hirondel wunderbare Gelegen- 
‘heiten, ihr ganz nahe zu fein, derart, daß etwa ein Betrunfener fich gegen Chriftiane unziemlich 

benehme. Hirondel wiirde ihr beifpringen, fie von dem Zudringlichen zu befreien. Dies ift 
nicht leicht, denn jener ift ein gefährlicher Gegner, groß und roh. Er jchlägt um fich und ver- 
mundet den ritterfichen Hirondel. Diejer — er jelbit aljo — biutet an der Stimme, dennod) 


ET EEREET EN © Pr 
Dee RANGE. De Oma a a la Tee 


in er ern y a. 
BERN hr Sa ya ER 


TERRY 





134 Derdeutjhe Erzähler 
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bringt er den Schurken zu Fall. Chriftiane, die bleich ift, führt er in einen Hauseingang, 
daß fie jich erhole, aber jie lächelt jchon wieder und fagt: „Wie danfe ich Shnen, mein Herr. 
D, Sie find verlegt, und um meinetwillen !” Sie bietet ihm ihr feines, weißes Tajchentuch 
an, fragt wie er heiße. Hirondel verjchwiege e8 gern, denn er fchämt fich immer jeines jeltfamen 
Namens. Dder: Chrijtiane geht am Fluffe, will eine fchöne Blume pflüden, fällt ins Waffer. 
Hirondel, der zufällig —, nein, fie joll nicht ing Waffer fallen und naf werden. Sndeilen geht 
Chriftiane bor ihm her und niemand beläftigt fie. Kein Fluß ift weit und breit, feine Blume. 
Nein, er wird ihr einen Vogel fchieen aus Vaters Kabinett, einen Papagei, einen der Ehriftiane 
jagt, und vielleicht Hirondel. Sie ahnt nicht, von wem der fchöne Bogel fommt, aber jie 
bejucht den Laden, das einzige Unternehmen diefer Art, Futter zu faufen. Gie ift entzückt 
und ihre Stimme Klingt jeltfam zu dem Pfeifen und Zwitfchern. DO Chrijtiane, fie war noch 
nie in einem jolhen Laden. Beim Uhrmacher, da alle Uhren durcheinander tiden und recht 
haben wollen, war e3 fchon feltfam genug, beinahe unheimlich. Aber hier ift alles Yebendig. 
Der Rabe zupft ein Haar aus den Zöpfen, fie lacht nur, aber Hirondel Ihimpft das Tier, 
nimmt ihm den zarten Raub und wird ihn fortan unter dem Ührendedel tragen. Aber da hört 
er jeinen Bater reden: „Echte Harzer Ware, die Dame, prima Qualität!” Und das Bild 
verjchließt jich befchämt. 

snztwiichen war Hirondel fchon nahe an Chriftiane herangefommen, da bog fie in eine 
Gajje und verfchwand in einem Haus. „Hier alfo mohnit du”, dachte der Verliebte und be- 
rührte die Klinke, die jie eben gehalten. Er las auch die Namen der Hausbewohner. Krıuorz, 
Offiztant; Mitius, Notar; Seidenpfühler, Arzt. 

Ad, Hirondel, fuche nicht diefe Namen mit Chriftiane zu verbinden, betrübe dich nicht, 
da jie jo fremd und beinahe lächerlich find. Chriftiane wohnt nicht hier, fie war e3 nicht, der 
du folgteft. Geh in den Bark zum See, dort ift jie und füttert Schwäne. Spute dich! Hirondel 
aber, glüdlich, troß der Namen — er entjchied fich für Mütius, weil eö wenigjtens fremdartig 
Hang — wandelte noch lange in der beginnenden Dämmerung, ehe er jich nach Haufe wandte. 
„Run Fann mir nichts Böfes gefchehen“, dachte er. „Dier ging fie und die Luft regt fich noch 
von ihrem Wandel berührt.“ Noch im Traum ging er hinter ihr her, die Chriftiane nicht war. 

ährend jo um Hirondel gefchah, fa Hermion in feinem Bimmer, bedacht, Chriftianeng 

Bild zu zeichnen. Er hatte einen großen, weißen Bogen vor ich aufgefpannt und während 
er noch den Bleiftift jpibte, fah er hinüber in das Weihe, als fei dort jchon das Antli, als 
Ziderjchein ihres Gefichtes in ihm. Und auch, wenn er die Augen jchloß, fich zu entfinnen, fah 
er eöin der roten Dämmerung der gefalteten Lider gleichjam aufblühen und wieder zerfließen. 
„ie |chön“, fagte er und begann e3 zu zeichnen mit blajjen, herben Linien. So ift die Stimm! 
Er jpürte fie förmlich und fpannte die eigene glatt zurüd unters Haar, wie ihm dann fei: 
Gemwölbt, wie unter einer Hand! Es war nicht Ichiierig nun das Haar zu umreißen, wie e3 
ji) jchied, und in milden Bogen, die Schläfen berührend, jchwer in Zöpfen, herabhing zu 
den Händen. Hermion zog feine Brauen ein wenig hoch, wie er e3 an Ehriftiane gefehen, da 
jie vorüberging, und er hielt den Stift ganz fcheu, als ex anhub, die Lider einzuzeichnen. E3 


tat wohl in feinen Händen, als e3 gefchah. Nun aber hatte er Angjt vor den Augen, denn ° 


darauf fam alles an. Kaum fichtbar merkte er an, mo jie jein jollten, umfuhr die Wangen, 
radierte ein wenig, al8 er die Nafenflügel zu breit nahm, begnügte fich aber dann, denn 
e3 hob den Auzdrud: jo als laufche fie dem fernen Duft einer Blume nach. Unter der Naje 
lag der Mund und Hermion war einen Augenblid verjucht, nur den Mund, Hügel und Tal 
einer Landjchaft gleich, groß über den ganzen Bogen zu zeichnen, janfte Schatten in der 


Tiefe, ruhende Herden an feinen Hängen, ihn felber fchlafend im Tal und berichwiegen von - 


ihr. US er fertig war, bis auf die Augen, bejann er jich, daß fie groß und braun waren, und 
ein matter Ölanz auf den dunflen Lidern fpiegelte. So zeichnete er, bis die Dämmerung über 
ihn fam (da Hirondel noch in den Straßen ging), prüfte das Ganze und füßte die weiße Stirn 
des Bildes feiner Hände. 























Ernit Penzoldt: Chriftiane und Bier 135 





madeus aber litt e3 gleich Hirondel nicht zu Haufe. Doch Juchte er nicht Chriltiane, Tief 
E nut fo durch den Park, jich felber davon. Denn ihn, den Rauhen, würde Chrijtiane doc) 
“nie lieben, und fchön dünfte ihm, fünnte er jich verwandeln, ein anderer fein und Chrijtiane 
liebe ihn dann. Hermion, den würde fie wohl lieben um feiner Heiterkeit willen und feines 
Angejichts. D Hermion zu jein! Alle jind fie jchön, nurtte er finfter, der unbefümmerte 
Hermion vor allem, und der poetijche Hirondel, ja Adrian auch, obgleich er jo mweiß ift, und 
nie jich feiner fhämt. Da er fo grollend im Parfe und an den freundlichen Weihern entlang 
ftampfte, jah er Chriftiane ftehen, wie fie die Schwäne fütterte. Und da er innehielt, zweifelnd, 
wohin er jich wenden folle, damit fie ihn nicht fähe, jah fie ihn jchon und er grüßte Jie zornig. 
Sie neigte die Stirn faum und arglos, nur ein Höflicher Schein flog über ihr Antlig. Amadeus 
aber ging grimmig weiter, fürchtend, fie fönne dennoch ihm nachjehen und feine Schritte 
wurden fteif und zähe. Das war doch zu ärgerlich! Endlich wagte er, fich umzujehen. Eine 
Weide neigte fich über den Weiher, fich darin zu fpiegeln und Amadeus lehnte fich über den 
Stamm, aljo gefchüßt durch das Gitter der Zweige, gleichjam verhängt, noch einmal Ehrijtiane 
zu fchauen. &3 Stand die Schöne noch immer am Ufer. Die Schwäne glitten vor ihr auf und 
ab und bogen eitel die Hälfe. Während er jo nad) ihr jpähte, die ganz der Anmut vermoben 
ichien, jpürte Amadeus fein Bild im Wafjer, wie es ihn nachmachte, und jah jich an. Er war 
durchfichtig. Kleine Fiiche Shwammen in feinem flüfjigen Haar und durch jein leije bemwegtes, 
‚ blafferes Augeficht. Ein wenig neigte er fich noch herab, ihm näher zu jein. Denn es warjeltiam 
und verfänglich, fich jo zu jehen und es doch nicht zu fein. „Scheußlich”, jagte er plöglich, [pudte 
mitten hinein und ging jeiner Wege. 


ndejjen Adrian ahnte liftig, mas den Freunden gejchah, da ihnen Chriftiane begegnete. 
Darüber lächelnd betrat er fein Elternhaus durch den Laden, einen jeltiamen Laden, ven 
Laden der fünftlichen Blumen. Damwar Goldregen, fertig und unmwandelbar, während erdraußen 
erit zaghaft begann, die Blüten aus gelber Geide, Rofen, die nie melften, von gelblihem Wad3, 
aber fie dufteten nicht. Aftern daneben aus Papier, Geranien, die zu rot waren, und alles zu 
deutlich. Die Luft war troden und roch nad) Staub, fein Waffer in den Vajen, und die 0 
Früchte, die auf prunfoollen Schalen ruhten, ungenießbar. E3 war mittags und ftillim Laden. an 
Adrian berlihrte die Aprikofenblüten, wie wirkliche. Sie rafchelten wie Papier. Da jah ji) 
der Knabe wieder in dent Spiegel, der den fünftlichen Garten verdoppelte, jah jich empfind- 
lich weiß, wie Marmor, mit dem rötlichen Haar, gleich einem andern, der fich ihm nahte, 
fühl und Schön inmitten der Summe der Jahreszeiten, einem gefäljchten Frühling, gejchmint- 
. ten Sommer, unvergänglichen Herbit, und der Schnee jchmolz nie auf den giftgrünen 
| Zannenzweigen. „Sch bin jchöner als du, Chrijtiane, und immer bei mir“, dachte er zärtlich 
und ging lächelnd über einen betrogenen Schmetterling, der jich Hierher verirrt, langjam 
feinem Bilde entgegen. Dann ftieg er, mitten auf dem roten Plüfchteppich geheud, unhörbar 
die breite weiße Treppe hinauf in fein Zimmer. Und er lächelte wieder, da ihm einfiel, 
daß Hirondel, al3 er noch Hein war und zu ihm in den Laden Fam, fich fürchtete vor jeinen 
Blumen. Und auch Hermion wurde immer traurig davon. 


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18 Hitondel abends fich eben anjchidte zu Bette zu gehen, erfchraf er über dem Gedanten, 

daß er außer dem ftillen Schreiten in der Erinnerung nichtS bejaß, da3 Chriftiane war, 
oder bon ihr, und daß er ihr fo, nun e3 Nacht wurde, nichts Freundliches tun fünne und jei es 
nur in einem Ding, einer ode, einer Blume aus ihren Händen. Oder in einem Tier! fro)- 
Iocte er heiter und fchlich fich Hinab in den Laden. E3 war nie ganz jtill darin, und da er, 
die Kerze mit der Hand fchügend, daß fie die Tiere nicht wede, als jet [chon Tag, leije Durch Die 
Gaffen zwiichen den Vogelhäufern umherging, flatterte e8 immer irgendwo, und einmal 
fam ein Guru, wie im Schlafe gejagt, von den Tauben her. Hirondel3 Schatten ging durch 
alle Käfige und Gitter, fich büdend und nidend, rajc) um eine Ede hujchend, über die Ichla- 
\ jenden Vögel Hin. Und auf einmal blieb er und Hirondel ftehen. Dort jaß jteif und edel 


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136 Der deutjhe Erzähler 
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in jeinem hohen Bauer, gerade in deffen Mitte auf der Spihe des dürren Ajtes, der fein 
Baum tar, ein fchlanfer brauner Turmfalfe. Er war noch) wach und fah Hirondel ernfthaft an, 
ohne ich zuregen. „Dufollit esfein, fomm’“, fagte Hirondel und nahm den Käfig herab, während 
ver Falke ein wenig die Flügel öffnete, fich im Site zu halten. Guru, machte die Taube 
wieder im Schlafe und ein Kanariendogel plufterte jih. Die Kerze in der einen Hand, den 
Käfig in der andern, ging er wieder borfichtig, daf; lie ihn nicht verrate, die alte Stiege hinauf, 
nun zu ruhen. Dies tat er alles um Chriftianeng willen, und da er lange im Dunkeln wach) 
lag, twar e3 jchön zu denfen, daß nahe der fchlanfe braune Valfe teil und edel, lautlos in feinem 
Käfig ja, unbewegt ins Finftere fchauend; davon träumte Hirondel auch, und daß der Falfe, 
da alles jo dunfel und auch die Stäbe des Käfigs nur noch Nacht waren, durch fie aufflog. 
Alle Menjchen in den Straßen machten ji) auf, ihn zu fangen. Sie waren alle jo dunfel 
angetan, daß e3 Flar war, fie hatten fich nur fo gejtellt, alö feien fie Nacht, den Falken zu 
betrügen und jegt wurden fie einzeln und e3 ward hell zwifchen ihnen. Hundert Arme griffen 
nad) dem geängftigten Vogel, der zwiichen ihnen flatterte, alS zwifchen Ihmarzen, ftürmifchen 
Bäumen, einem entlaubten Wald. Xhn zu retten griff Hirondel ihn, der fich redte und ftemmte 
zu entrinnen, mit beiden zitternden Händen, daß niemand ihn fähe in feinem Schoß. Der 
Falke blutete an der Stirn und hielt ganz fill. Warm floß das Blut über Hirondels Hände. 
„Du bijt verwundet und um meinettillen“, jagte Hirondel traurig und erwachte müde. 

Da er zur Schule ging, wartete Hermion an einer Straßenfreuzung auf ihn. Er hatte 
jeine Schulmappe Ioder unter dem Arm, dap fie ihm beinahe entglitt und lehnte, das eine 
Bein über das andere fchlagend, flatternd an einem Laternenpfahl. „Du,“ rief er fchon von 
weiten, „ich habe wieder was Neues gemacht.“ Denn er und Hirondel zeigten einander 
immer, was fie gedichtet und gezeichnet. „Sieh, das ift hübfch,“ fagte Hirondel, al3 er Chri- 
Itianens Bildnis betrachtete, „wer it e8 denn?” Hermion mußte lachen. „Aber, Hirondel, 
da8 ift Doc) das Mädchen von geftern !” „Ehriftiane ” fagte Hirondel und erfchraf, „toirklich, 
jieht fie denn fo aus?” „ch“, meinte Hermion, und rollte Chriftiane ein, „und ich fand es 
doc) jo ähnlich.” Sie fchwiegen daher bis zur Schule. Unter dem Tor aber Ihob Hirondel 
veritedt einen Zettel in Hermiong Hand. „Da”, fagte er rafch und rannte die ©tiege voraus. 
Hermion lag: 

„Schön ift’s, mit Chriftianen ach zu gehen...” 

„Schau,| hau“, fagte er laut und ging Hirondel nach. ALS er zu feinem Plage jchob, flüfterte 
er dem Errötenden zu: „Das mit der goldenen Kugel ift fein“. Und das freute Hirondel. 

E3 ift nicht fchön, Yiebend an Chrijtiane zu denken und dabei im Scähulzimmer zu fiken, 
in der bejtändigen Gefahr, aufgerufen zu werden, ja e8 ift ohne Würde, ihres reinen Bildes 
gemwärtig jchändlichen Tadel über fich ergehen lafjen zu müfjen, wie e8 heute Hirondel 
geihah. Sich vorzuftellen, Chriftiane jähe ihn fo, alles wäre vorbei. Häßlih waren auch 
Adrians Worte im Schulhofe — jeder fonnte e8 hören —: Ehriftiane fei doch ein fttammer 
Bejen. Das war gemein von ihm, troß de3 hellen melodifchen Zachens des Knaben. Und 
dann: „Sie ift eine Gans”, Inurrte Amadeus, errötete aber dabei. Er ftand bei Hermion, 
dennoch bemüht ihm ähnlich zu fehen, die nur ihm eigene Art nachzuahmen, feine fchmalen 
„ände zu bewegen, daß fie jelbjtändigen Wefen glichen, feinen Kopf zurücdzumerfen, daß 
die Haare fcheuten, neue Dinge zu fagen, wie jener. Was tut er nur, daß man ihn mag, 
troßdem er immer fo flattert? dachte Amadeus und bemunderte Hermion. „Du,“ flüfterte 
diefem Hirondel zu, „ich fann mir wohl vorftellen, wie Chriftiane Ipricht, ficher hat fie eine ° 


dunkle, ruhige Stimme, aber, tie fie ift, daß fie eg überhaupt tut, weißt du, Kartoffeln oder Ä 
gar Sauerkraut, das ift bei ihr einfach nicht auszudenfen.” „ga,“ jagte Hermion ernfthaft, |! 
„Ehrijtiane, zahnmehhabend zum Beifpiel.“ Hirondel fann finfter nach. Natürlich fie Eonnte ja 
nicht immer wie auf einer goldenen Kugel durch die Straßen gleiten. Und da fam ihm die 
Boritellung, wenn Chriftiane jest in dem Augenblid in den Schulhof träte unter die Knaben? 
E3 jagten de einander die Kleinen, ruhiger wandelten die Großen oder ftanden tiirdig 














Ks er = 


Ernit Benzoldt: Chriftiane und Vier 137 





n an den Bäumen. Hier ein Trubel und Zufammenftoß, dort abjeits ein Einfamer oder der 
bon aldem unbeirrte Gleichjchritt zweier Freunde. Ein ganz Kleiner verbeugte fich tief bor 
oem Rektor, der nach dem Rechten jah. Dies alles Firfternen, Blanetenbahnen, Kometen, 
Heinen Sonnenfyftemen gleich und dazu ihrer Sphären bielftimmiger Einklang, die weithin 

- hörbare Melodie des Schulhofes. Hier nun Chriftianeng ftille, fremde Exrfcheinung fchreitend 
jich zu denfen, den dunklen Blid geradeaus, o, ihre fühle, heitere Stimm, „und ihre Zöpfe 

hängen jchwer herab zu ihren ruhigen Händen“. So jah fie Hirondel beglüdt. Und da num 

 aljo der Schönen Geift Hierher befchiworen war, der ahnungslos Geliebten, daß die ihrer Anmut 
gewärtigen und dafür allzeit empfänglichen Seelen ihre Nähe mwahrnahmen, gedachte ihrer 
‚auch Hermion und träumte von einer Landichaft, ihr ähnlich, dunkle Weiher die Augen, 
Bangen und Mund liebliche Hügel und Täler, überwölbt von dem blafjen Himmel der Stirn, 
tein Angejicht aber, und dennoch Chriftiane ganz und fein. Wild aber und bedenklich waren 
Amadeu3’ Gedanken, der der Wonne nachjann, ihr unangenehm zu fein, der Luft, fie anzır- 
widern. Bornig lachend büdte er Adriang Naden und fprang im Grätfchiprung über ihn 
weg. „Ach ja”, rief Hermion und feste ihm nach. Auch Hirondel folgte. 
Lächelnd verließ fie fo der Geift der Anmut Chriftianens. | 


($: war Sommer geworden, ehe den Sinaben Ehriftiane wieder begegnete. Wohl war faft 
täglich Htrondel, nachdem er vergeblich gedichtet und dann feine Gedanken über Gärten 
und Häujer ausgejandt hatte, die Schöne von ferne zu bewegen, doch ein wenig zu fpazieren, 
durch die Straßen gewandert, jie wieder zu jehen. Wohl hatte er ftundenlang vor Notar Mitius’ 
Haus gewartet, Chriltiane zeigte fich nicht. Adrian, jo beiläufig, während fie Briefmarken 
tauchten, befragt, daß der Kleine fofort begriff, wußte die Wohnung nicht, nur ungefähr 
die Gegend, wie e3 jchien. Und der Familiennamen Mitius mar es beftimmt nicht, auch 
timmte das Mitiusfche Anwejen ganz und gar nicht mit der Öegend überein, die Adrian angab, 
„Du Armer,” fagte er zu dem Berliebten, „wenn ich mich bloß entjänne, woher fie mir über- 
haupt befannt ijt!” und Hirondel meinte: „Am Ende heißt fie nicht einmal Chriftiane 
Hermion juchte fie gar nicht, aber er zeichnete fie immer wieder. E3 wandelte fich ihr Bild 


jeltiam unter feinen Händen. Amadeus begnügte fich damit, Hermion ähnlicher geworden 


zu jein. Der neuie Gedanke, Ehrijtiane fönnte, nachdem er nun fchön fei, fich in ihn ver- 
lieben, beluftigte ihn. „Dann mag aber ich nicht“, lachte er Höhnifch und warf nach Hermions 
Art ven Kopf zurüd, daß feine Loden jcheuten. 

E3 war Sommer aljo, und der Fluß, der nämliche, aus deijen Fluten Hirondel die blumen- 
pflüdende Ehriftiane jchon gerettet Hatte, flo warm zwilchen den Wiefen und Kornfeldern, 


die jeiden glänzten und fluteten, wenn der Wind darüber hinlief. Auch die Kaben, da fie 


zum Baden gingen, hielten die Hände hinein, daß die Ühren fich neigten und fanft entzogen, 
das Haar der Erde, dazwischen Mohn und Zyanen blühten. Eine Blume Chriftiane zu nennen, 
wie Margariten oder Narziffen, darüber jann Hirondel, während Hermion den Kopf jchräg 
neigte und blinzelnd die Farben de Sommers genof. „E2 ift violett dabei und blond“, jagte 
er zu dem Korn. Hirondel horchte. Denn jedes Feld hatte feine eigene Melodie, fein Elingelte 
der Hafer, rauh raujchte der Weizen. Un einer Biegung des Flufjes, wo ein Kleiner Strand 
angejhwemmt war, da wollten fie baden und Amadeus begann noch im Gehen die Stramatte 


zu löjen, daß er der erite im Waffer jei. Ein wenig Hinter ihnen zufrieden, jchön zu fein, in 


einer loderen Zephirblufe, darin jich der Wind fing, und blauen, weiten Hojen, ging Adrian 
‚ und hielt manchmal jeine weiße Hand gegen die Sonne, daß fie erglühe, bi3 auf die dunfleren 

Schatten der Knöchelcden. Er wurde auch nie braun, wie die andern, namentlich Amadeus, 

fondern ftand, als er fich abjeit3 forgjam entfleidete, weiß und abjonderlich zwijchen den 
anderen. Da fie nun nadend und gleichfam verwandelt waren, anders gingen, ganz er- 
 leichtert und fofort viel heiterer und gedanfenlos, nur etwas fremd mit den Händen, für die 
3 feine Tafchen mehr gab, oder Bücher, die fie befchäftigten, bücten fie fich zum Waffer 
N und hoben auf davon, wie warın es jei. Sogar die Gefichter jahen anders aus und mehr dem 
| Die Sozialdemokratie in Kraubteich und England (Süddeutsche Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 8) 10 
























































138 Der deutjihe Erzähler 
BEE EEE EEE EEE ET | 





Körper verwandt. Amadeus natürlich ftand jchon naß und glänzend, dadurch noch brauner, 
mitten im Zluß und empfing die anderen mit Wafjergüiffen. Die Schlacht begann. Schreien 
und Lachen, Aufraufchen, Zontänen bon einem zum andern, Brüden aus Tropfen und 
Überjchüttetfein und flüchtige Regenbogen, Untertauchen, bis alle ganz zum Waller gehörten. 
NRuhiger [hwammen fie dann im Tiefen, da e3 fühl und grün von unten kam. Weiß, fait 
jilbern jah Adrian aus, der jich treiben ließ; feine Loden fchleppten nach. Amadeus Ihwamm 
gegen den Strom, obgleic) ihn die Sonne blendete und fein Geficht verzerrte. Aber zmwilchen 
den najjen Lippen leuchteten feine weißen Zähne. Auch Hirondel verfuchte e3 gegen den 
Strom, glitt aber bald, ermüdet fozufagen, in Hermions Kielwaffer, flugabmwärts. Dann 
aber, Amadeus ob jeines Braunfeins bewundernd, ftanden und lagen fie am Strand umber, 
mit Sand und Steinen [pielend und träumend. Adrian aber fchüßte feine Haut durch ein 
großes, janft bewegtes Badetuch und Amadeus ließ Steine flach zum andern Ufer über die 
Wellen jpringen. AS fich aber die Frage erhob, ob fie nochmals ing Wajjer wollten — Adrian 
verneinte e8 — und als fie noch unfchlüffig in der Sonne ftanden mit jener leijen Trauer 
vor dem jich nun Anziehenmüffen, fam unweit, flußabmwärts zwischen den heißen Stornfeldern, 
Ehriftiane gegangen. Sie war jchon ganz nahe, al8 die Knaben aufjahen, von ihrer Nähe 
berührt, wie von einem leifen Windhauch. Hermion, der e3 zuerft jpürte und den Kopf nad) 
ihr über Die Schulter wandte, verfchtwieg fie. In feiner Nadtheit hob er ein wenig die Hand. 
Da jah fie auch Hirondel, meinte ganz zu erröten und trat mit gejenktem Blid in Hermiong 
blajjen Schatten, davon befleidet zu fein. Nur Amadeus, gebräunt, der Überlegenheit 
jeiner Nadtheit plöglich bewußt, fandte ihr, vajch fich zum Wajjer beugend, da fie jchon vor- 
über war, einen Spriger nach. Aber die Tropfen regneten weit hinter ihr, ohne fie zu be- 
negen, ins Oras. Chriftiane hatte faum den Kopf geneigt, als hätte jie die Tropfen über fich 
fommen hören. Keiner aber jah ihr Lächeln. Hermion jogar begehrte e3 fast nicht mehr. 
„Das joll Ehriftiane fein?” wiederholte er für ji) Hirondel3 Worte von damals, als er fie 
wieder jah. Nein, fie glich feinen Bildern nicht mehr, darauf er jie liebte. „Du, das war 
jein Chriftiane“, fagte Adrian, der fich in feinem Bademantel, ganz wie in Kleidern, vor ihr 
verneigt hatte. „Ach, wirklich, war fie daS?" fagte Hirondel und trat aus dem Schatten, der 
leicht an ihm zu Boden herabglitt. Erft jeßt fah er Chriftiane nach, da jie zwischen geneigten 
Ühren ferner und ferner wurde, jtill dahin — ftill dahin — ach nicht fchreitend, nicht tandelnd, 
ja wie auf einem Fluffe ftehend und von ihm gefahren. Summer Heiner wurde Chriftiane, 
immer unfichtbarer und dann entfchwand fie ganz. Nur die heiße Quft zitterte noch von 
ihr am Saume der goldenen Felder. Als Hirondels Blick wieder in die Nähe zurüdfehrte, als 
ernocd) der Vorftellung nachfann, nun auch Hein und immer Heiner geworden zu fein durch 
die Zerne, wie eben Chriftiane und plößlich verihmwunden und nicht mehr da zu fein, jah er 
Amadeus und Hermion im Waffer miteinander ringen, bemüht, fi) gegenfeitig unterzu- 
tauchen. Adrian hatte den Mantel fallen Yaffen und tauchte eine Zigarette. Dabei jah er 
einer Zibelle zu, die über dem Ufer ftand mit großen, grünen Augen fchillernd, den feinen 
ähnlich. Plöglich rüdte fie ein wenig vor, ftand nochmals im Zluge ftill und glitt dann Hingend 
über das Wafjer davon. Hirondel fiel e8 auf, wie nadt Adrian eigentlich war, nadter, da er 
Dazu tauchte, und jo weiß; war, anders ala Hermion und Amadeus, vielleicht auch er. — 


Den hatte e3 gezeichnet, ganz wie e8 war, mit dünnen harten Gtrihen und alles 
etwasuntoirklich und fteif. Da war der Fluß, deffen Wellen gar findlich eben durch Wellen- 
Iinien dargeftellt waren, da war Adrian im Badetuch und malerifchem Faltenwurf. Hirondel 
lächelte, al3 er e3 betrachtete. Hermion war damit zu ihm gefommen und hatte auch gefragt, 
ob er noch dichte. Diefe Frage machte Hirondel erröten, worauf Hermion Yächelnd fragte, 
ob denn das eine fchamhafte Sache fei, ob vielleicht Dichten etwa Verliebtfein fei oder die 
gleiche organijche Grundlage habe? Hirondel, die Zeichnung in der Hand und etwas zerjtreut, 
eriwiderte, daß mar ja auch erröte — er menigitens täte e3 —, wenn man nadt gefehen tmürde, 
und er entzifferte von neuem Hermionz Hgeihnung. Das da war Hermion felbjt. Er konnte 














Ernft Penzoldt: Chriftiane und Vier 139 





- fi) am beiten. Er ftand am Ufer, die Hand ein wenig erhoben, ald wollte er Stille gebieten 
und — nun muß Hirondel lachen — „Das bin alfo ich“, fagte er und erfchraf dann. Auf 
‘dem Eindlichen Fluß jchwanm eine Kugel — „golden“ war Klein daneben gejchrieben — darauf 


jtehend aber war Chriftiane abgebildet, Chriftiane war eg, denn fchmwer fielen die Zöpfe herab 


‘zu ihren ruhigen Händen, an denen biel radiert war. Die vier Anaben am Ufer waren nadt. 


 Aud) Chriftiane war e8. „Nun?“ frug Hirondel. „Du, ja, das ift Hübjch, e8 hat dir wohl viel 


. Mühe gemacht?” jagte Hirondel. Aber während er fo redete, dachte er dunfel, ob 


Chriftiane denn auch wirklich nadt fei und immer, wie er und die andern nur befleidet fonft 


und jo. „Weißt du, Hermion,” fagte er dann furchtfam, „du haft fo viel Phantafie, ich habe 


— daran — noch garnicht gedacht.“ Er war nahe am Weinen, aber feine Augen gaben nichts her. 


KE Srühling, einen Sommer lang liebte Hirondel Chriftiane, ja im Herbit noch träumte 
er von ihr. Sm Herbit aber, da die Blätter müde wurden, brachte er einmal den braunen - 
Balken Chriftiane mit zu Hermion. Denn Hermion zeichnete Hirondel und nun fehon zum 
jiebten Male. Hirondel ging, wie immer, durch da3 Gemölbe der Apotheke, wo Hermions alter 
Vater den Kindern Gummizuder fchenkte. Oben an der Treppe wartete Hermion, der ihn 
jhon dur den Senfterjpiegel Hatte fommen fehen. Stille jaß Hirondel und ließ fich ab- 
zeichnen und e3 war wirklich jo, als ftröme fein Gejicht auf Hermions weißes Blatt hinüber. 


- Schon lange hing Ehriltianes erjtes Bild ehemals forglich verborgen, öffentlich an der Wand 


neben dem Bild, das „Chriftianens heimliche Landichaft” betitelt war. „Deine Augen“, fagte 
wohl einmal der zeichnende Hermion, „Deine Augen find am jchwerften und dann der Mund. 


‚Und dann weißt du, ein einziger Menjch genügt eigentlich und es ift alles darin. Wollen 





wir und aber nicht aufmachen, ein wenig zu [pazieren?” Denn Hirondel hatte ihm alles gefagt. 


Sie nahmen den Falfen mit und pfiffen bei Amadeus. Da war au) Adrian, der laut be- 


hauptete, Hermion und Amadeus würden einander immer ähnlicher. Sie fchlenderten zum Parf. 
Überall warChriftiane. Hier begegnete fie ihnen zum erften Male, hier fütterte fie die Schwäne, 
oort welfte die Blume, die heimlich ihren Namen trug. Aber auch Hirondel errötete nicht mehr. 


Dankbar und freundlich lächelte er ihrem Geift. Mitten im Bark ward der Käfig geöffnet. 


Hirondel nahm den braunen Falfen heraus und warf ihn in die Luft. „lieg“, riefen alle. Er 


fonnte e3 noch, fteil ftieg er empor und entfchwand mit heller Stimme rufend. 


Hermion und Hirondel, Adrian und Amadeus gingen nad) Haufe. Da gefchah es, daß 
Chriftiane des Wegs vorüberfam. Sie fahen fie alle. Sie war Schön in ihrem ftillen fchwebenden 
Gang — wie auf einer goldenen Kugel gleitet fie dahin, Dachte Hirondel — und ihre Zöpfe 
hingen jchwer herab zu ihren ruhigen Händen. Und da die Snaben fie aljo fommen fahen, 
grüßten fie tief. Ehrijtiane neigte die Stirn, arglos und ohne zu lächeln, nur ein Schimmer 
ging über ihr Angejicht. So jchritt fie vorüber. 


Mamynha 


Wiener Zeitroman von Eduard Paul Dangzty 


(3. Fortjegung) 

Te taffte fich fichtbar jchwer zu Worten auf. Sie ftarrte in die Blumen. 
„Am wieviel ift S$hre Zuverficht glüdlicher ald meine. Sch weiß, Daß ich diefe Bufunftö- 

ı träume im Leben nie verwirklicht jehen werde. Das einzige Glüd ift: daß man in folchen 

 Ztäumen bisweilen eine Zuflucht findet.” Fehrbach wurde jeltfam heiß. „Nur bei jenen 

 Unglüdlichen, “ rief er, „verwirklichen fich die Träume nicht, welche nicht den vollen, wahr- 


| haften Mut zu ihren Träumen haben, nicht mit der Snnigfeit der Kinder an ihren Träumen 


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140 Derdeutjhe Erzähler 








feftzuhalten vermögen. Alles, was wir uns jelbjt getreu münchen, begegnet uns fpäter 
wirklich in irgendeiner Form und Erfüllung.“ 


Sie hatte ein wehmütiges Lächeln, aber ihr Blie war dennoch erwartungsvoll. Gie faß | 


mit über den Fefjeln gefreuzten Beinen, die Hände im Schoß gefaltet und fah den Bildern 
entgegen, die er heraufbeichmwor. „Meine Kindheit war ein folch tiefgläubiges, wunderbar 
erleuchtete3 Wünjchen, dem der Zufall wie ein Bruder begegnen mußte. Jch entjinne mich, 
al3 jieben- oder achtjähriger Knabe plöglich einmal vor dem hohen Gitterwerf eines Schloffes 
geftanden zu haben. ES war wie der vermehrte Eingang zum Paradies. Ein riefiges Blumen- 
tondo mit jilberweißem Springbrunnen. Eine vom Schimmer de3 Abends gejpenftifch er- 
leuchtete Flucht von Fenftern. Der janfte Himmel mit rojenroten Wölfchen befät. Hinter 
den Blumen, hinter fremdartigem Strauchwerf da3 Lachen eines Mädchens, welches in 
jeinem ficheren Berjtede mein Staunen beluftigen mochte; wie der Ton, wie das verborgene 
Echo von etwas unjagbar Melodiihem! Alles zufammen hatte mein Snabenherz zu fo 
tomantiihem Yujammenkframpfen getrieben, daß mein Geficht fich in die Stäbe des Gitterz 
mit einer Kraft einpreßte, von der meine Haut Striemen behielt. Und auf einmal war eine 
janfte, unfäglich milde Erjcehlaffung in mir. Eine fühlbare Gemwißheit, daß ich diefem Kraben- 
munfjche wieder begegnen würde. ch jchied getröftet, wie von einem Reichtum, der mir 
gewiß war. Gerade zehn Jahre danach, ich Hatte eben glüdlich Matura gemacht, fand ich das 
Schloß wieder. E3 ftand in anderm Land, unter anderm Himmel. Aber ich lebte darin und 
hatte Bejig davon mehr als fein Befiger. Auch das Mädchenlächeln befaß ich und vor dent 
Schloßgitter jtand ein anderer Sinabe. ch hatte Luft, ihm das Geheimnis brüderlich preis- 
zugeben, doch er lief fort. Auch Völker fönnen fo träumen. Wiffen Sie, warum das jüdische 
Volk jo ftarf und unbeirrbar die Welt abweidet? Weil e3 Jahrtaufende den Traum des aus- 
erwählten Volkes geträumt. Jr jedem ift noch ein Schimmer von diefem Traum. Er ift wohl 
auf Weltlichfeit gerichtet, weil Macht und Reichtum Anteil an allem gibt, doch er ift da, in 
einigen jchon überjinnlich.“ 

Da er die ftarren Blide der Freundin umbdütert fah, war er haftiger Darauf bedacht, Gegen- 
ftändliches vorzubringen. „Ein anderes Beifpiel, Mamynha! Wir fpielten im Prater. Es 
war während der Zeit, da ich im Injtitut erzogen wurde. Während wir fpielfüchtige Zungen 
gerade wie blind den Ball durch das Geftrüpp der Beine de3 Gegners trieben, fchwebten 
zwei zierlihe Mädchen in braunen, englifhen Reitanzügen vorbei, ein milchtweißes Wind- 
jpiel führend. Ein Tier mit jenen ganz hohen, dünnen Beinen und herrlich gemölbten Rüden. 
Der Eindrud diefer fchönen, feinen Gefchöpfe auf mich war fo ftarf und tief, daß ich alles 
vergaß und ihnen nachitarrte, folange nur der Heinfte helle Fled von ihnen noch fichtbar war. 
sch war nicht mehr fähig zum Spiel, mein Traum hatte mich Franfhaft gebannt. Aber auc) 
hier war das Kranfhafte des Wunfches plöglich durch eine feltene Gewißheit verdrängt. Und 
num bin ic) vor furzer Zeit hoirklich mit zwei anmutigen Baronefjen, die mit ihrem Windfpiel 
bon der Reitallee beim Lufthaus famen, durch denfelben Prater gegangen. Blibartig, durch 
das Windjpiel erinnert, Habe ich in ihrer Gemeinfchaft jenes Befigen gefühlt, von welchen 
ich Damals geträumt. Denn ich war in jener Stunde ein Teil ihres Glüdes und fie ein Teil 
bon meinem. Bielleicht blieb ich davon fo jung, daß ich immer zur rechten Stunde meinen 


Zräumen begegnen durfte. Das Glüd ift wie ein Heiner Teich, an deifen Rand wir wie Kinder 


graben. Mit bebenden Händen graben wir Kanäle in ven Sand, auf einmal ergießt jich Das 
Wafjer in unjere Kanäle, wenn fie genug tief gegraben find. Glauben Sie, Mamynha, wir 
müjjen zuerjt die Kanäle graben.“ 

Mampnha hatte die Arbeit nicht mehr aufgenommen und nur feinen Worten gelaufcht. 
Sie beneidete ihn um die Straft, alles zu formen, was er empfand, und auch vem Zwiejpältigen 
ein helles, Hleidjames Gewand zu geben. Dennoch hatte fie fast ängjtlich auf das Ende feiner 
verfräumten PBhantajien gewartet. Auch fie mußte fprechen, mußte fich zur Klarheit durch- 
ringen, zu Klarheit für ihn und fie. „Haben Sie ganz bergejjen, daß Ihrer Fähigkeit zu träu- 















Eduard Paul Danzziy: Mamynha 141 


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- men nirgends ein belangbolles Hindernis aufgetürmt it? DO, ich weiß jchon, daß Sie wie Ruf 
# eine Freundin haben, und daß ein folches Verhältnis die gleiche Bindung wie eine Che be- 
‘deuten fanın. Aber ich lebe doch in einer Ehegemeinfchaft mit Hundertfältigen Fejjeln. Nehmen 
mir nicht Die Kinder allein das echt auf ausichweifende Träume? Wozu helfen denn die 
' Zräume und ihre waghaljige Feitigfeit, mern man den Weg nicht betreten, nie betreten 
darf, in welchen fie alle einmünden? Auch ich farın Beijpiele geben, wie ich in meiner Art 
den gleichen, jeltiamen Bermwirklichungen gegenüberftehe. Spiter hat jic) mir einmal an- 
‚vertraut, hat mir die erjte Treulofigfeit feiner Frau zerfnirscht und völlig gebrochen befannt. 
- Damals habe ich den Schimpf, den er bon der einen iber das ganze Gejchlecht ausgedehnt, 
x mit echter, reiner Entrüftung zurüdgemwiejen und ihm und mir und allen gejchworen, daß 
.eime wahrhafte Frau niemals ihrer Pflichten al3 Mutter und Gattin vergefjen darf.“ 
Tehrbach unterbrach fie beftürzt. „Denken Sie, bitte, zu Ende, was Spiher jelbjt dazu bei- 
getragen hat, dauernd und mit. Recht eines fo heiligen Mitgefühl würdig zu bleiben! Be- 
' mitleiden Sie den rächenden Mörder, Mamynha, wenn er die treulofe Frau tötet in einem 
 Augenblid des Efels über foldhen verächtlichen Treubruch mit der bejjeren Berforgung im 
Auge. Aber der heimliche Mörder, der fich nicht durch die voreilige Tat um die materiellen 
Vorteile des Treubruchs bringen will, verdient zu dem Mitleid, das Sie allem Unglüd jchenten, 
nicht auch noch Xhre Bereitwilligfeit, für die Schuld einer Mitfchmwefter einzutreten und fic) 
' Das dürftige Glüd zu verfagen, da3 Khnen die ehrlich befannte Gemeinfchaft mit geliebten 
 Menjchen gibt. Um fo mehr, Mamyndha, als im bejonderen Fall derjenige, dem durch gejell- 
 Shaftlihe Willküirafte Ihre wertvollen Gefühle zuftreben müffen, dafür legten Endes feine 
Verwendung hat.’ 
—  Mamynha war aufgeftanden. hr Gejicht war blutlos. Auch Fehrbach erhob jich. Gine 
 bejtimmte, fchredenspolle Furcht befiel ihn. Er hätte feine inneren, gleichfam erfühlten Er- 
. fenntniffe nicht jo brutal preisgeben dürfen. Aber fie überwand alles. Sie lächelte mwieder. 
„Sie meinen e3 gut,” fagte fie immer wieder. „Sie meinen e3 gut!" Sie jagte es wie zu 
ihrer eigenen Entlaftung. Dann fchüttelte fie mit wunderbarer Entfchiedenheit ihr ftrahlendes 
Köpfchen. Er müßte fich gefallen lajfen, daß fie vom Standpunkt des Hausmüttercheng jeiner 
idealen Schwärmerei die Tatfachen entgegenhielte. Er hätte ficher recht, mern das Materielle 
| und die weitverzweigten Abhängigkeiten ausgefchaltet blieben. Aber dürfte denn nach jeiner 
 wahrhaften Überzeugung ein rechtlich denfendes Mädchen, wenn e3 einem Mann vertrauenz- 
‚volle Gefolgjchaft fürs ganze Leben zugejagt und des Mannes jämtliche Kräfte auf die Gicher- 
'  ftellung diejes Verhältniffes feitgelegt hätte, die mit einem geheimen Vorbehalt tun? Etwa 
Die Treue nur der gefchenkten oder erwarteten Kinder wegen zu wahren, und wenn ihre An- . 
‘ jprliche vollauf befriedigt würden? Hingegen für alle jich ergebenden Enttäufchungen oder 
 mangelnde3 Berftändnis jich jchadlos zu halten? Würde un bejonders die Verantwortung 
ven Kindern gegenüber zu leicht genommen? 


Sehrbach mußte diefe grüblerifche Logik nicht mit dem richtigen Einwand zu treffen, daß 
im Einzelfalle nur die Stärke des Gefühls Entfeheidung brächte. Er jagte ungemein weich) 
und geduldig: „Spricht nicht fchon das Ängftlichgefügte, Franfhaft Zufammengetragene Jhrer 
Gründe dafür, daß Shre Sache verloren ift? Wir leben fo furze Zeit, daß Ahre Gedanken 
eher erichüttert al3 gejtügt werden müßten. Wie aber läßt fich damit Jhre wunderbare 

Religion von den Brüdern und Schweftern vereinen? Dieje Partner, Mamyndha, al3 welche 
ich die Brüder und Schweftern anjprechen muß, find uns doch nur zu gemiffen, jeltenen Beiten 
jo wirklich) nahe und für unfere Sehnfucht verfügbar, daß die befchränfte Geneigtheit, ihre 
Hilfe nur im Augenblid völliger Freiheit in Anfpruch zu nehmen, einem vollftändigen Ver- 
zichte gleichfäme. Denn wenn fie neben ung leben, verdächtigt und bloßgeftellt von den Hütern 
de3 Konventionellen, verfehrt fich dann nicht ihre Hilfsbereitfchaft in Ohnmacht, unfer Xeiden 

| an ihrer Treue gemeifen — nicht in verzehrende Dual? Mamynha! Wir ftehn in der Hu 








142 Derpdeutjhe Erzähler 
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eines guten Sternes, wern mir gerade im Zuftand fechifcher Gedrücktheit dem verläßlichen 
Partner begegnen.” 

Mampnha jehritt mit ihm auf und nieder in entfeßlicher Unentjchlofjenheit, ob fie all diefen 
Wahrheiten ftandhalten durfte? Ob fie ihm nicht irgendwie entfliehen fonnte? DO, er hatte 
in allem vecht, fie fühlte eg im Innerften. Wie wohl tat fein eifernder Glaube! Aber wie mar 
ihr zu helfen? Er wußte nicht alles, er fah nur mit feinen Augen. 

gum Glüd fam die Mamain auf fie zu, welche aus ihrer Erregtheit wahrgenommen haben 
mochte, daß jie dem Gejpräc mit Fehrbach irgendwie nicht mehr gewachfen war. An Mamains 
©eite jagte Mamynha: „Sie find Fhrer tätigen Sehnfucht ein befferer Anwalt al3 meiner 
leidenden, nichts gewärtigen. Die Brüder und Schmweftern meiner Religion find immer ver- 
fügbar. Sie machen mich nur noch mutlofer, wenn Sie mich fürchten laffen, Gefühle wären 
auf diejer Welt von jo furzem Beftand, daß uns der Bruder in jedem Augenblid entrijfen 
werden fünnte.” 

Jehrbad, jagte mit gläubigem, Hoffnungsfrohem Lächeln: „Dann ift unfer Kampf nicht 
vergeblich gefämpft worden, wenn Gie an die Beftändigfeit der Träume glauben, welche 
zum Glüd führen. Was ift Glüd, Mamynha? Vielleicht nicht nur die volle Bejahung unjeres 
3hs, jondern jchon die Dehnung, Erweiterung unferes Bemwußtfeins. Auf das Große, Wert- 
bolle warten ift vielleicht mehr Glüd als der Befik.“ 

Die Mamain hatte feine legten Worte fchon ganz gehört. Sie faßte beide an der Hand 
und jagte „Näo devemos despir tudo, meus pequenos pobres !“ 

Mamprıha flüchtete in das Haus. Sie war wieder jeltfam gefchäftig. Oft nahm fie Dinge 
in Die Hand und vergaß, einem fchmeichelnden Gedanken hingegeben, den Sinn ihrer Tätigkeit. 
Einige Male war jie bereits in dem Zimmer gemwefen, welches für ihren Mann beftimmt war. 
Hatte alles überprüft. Plöglich wurde fie ein Feines Bild getwahr, das auf dem Nachttifchchen 
Itand. Sie nahm e3 in die Hand. C3 ftellte den preißigjährigen Ingenieur dar vor feiner 
Werbung. C3 hatte früher in ihrem Zimmer geftanden. Den Dreißigjährigen. Yhr fprung- 
bafter Gedanfengang war verblüfft von der jeltfamen Übereinftimmung des Alters mit 
Vehrbadis Alter. Dreifig. Stand fie nun wirklich vor einem ähnlichen Lebensabichnitt, 
twie damals? Kam wieder eine Entfcheidung? Sie war erft jehsundzwanzig. hr Leben hatte 
erjt begonnen, jollte den vollen Ertrag bringen. Sept, mo fie flüger, einjehender, nachlichtiger 
war. Berträumt nahm fie ein paar Blüten aus den Vafen, welche die Kinder mit ihr für 
ven Papa gefüllt hatten. Sie ftedte fie an die filberne Nahmenverzierung des Eleinen Bildes. 
Dann juchte fie wieder die Kinder auf, nahm die Jaufe mit ihnen und ging um fechs Uhr 
zum Bahnhof. Den Hausmeifter hatte fie fchon borausgeichict. 


Hr Generaldireftor Fam pünktlich um jechs Uhr vierzig. Er nahm die Kinder mehrmals 
auf jeine Arme. Mit betonter Zärtlichkeit. Mamynhas Begrüßung wurde jehr förmlich 
und rajch erledigt. Er fagte: „Guten Abend, Lotte! Wie geht e5 meiner Mama?” Er jah 
nicht, wie [hön fie war, wie gut und hilfsbereit. sHre Züge erjchlafften zu ratlofer Trauer. 
Sie ging [hweigend neben ihm her, Elifa an ihre Hand nehmend, damit etwas ihre fchiweren 
Schritte befeuerte. Mifter Woe fchritt mit dem Papa, der väterlich-wohlmwollende Fragen an 
die Kleinen ftellte, bisweilen waren die Spigen nicht völlig verborgen. Die Kinder ant- 
mworteten ziemlich einfilbig, da ihre Phantafie von andern Dingen erfüllt war. Cie erzählten 
bom Garten, von der Mampnhalibelle und von Sehrbacdh. Mifter Woe erklärte: „ch habe 
nicht gewußt, Bapa, daß er ein wirklicher Dichter ift!” Der Generaldirektor tat jehr erheitert. 
„Und warum glaubft du, daß er ein wirklicher Dichter ift?” — „Er fann fo fchöne Gefchichten 
erzählen, wirkliche Gejchichten.” Da feine Antwort erfolgte, jagte Mijter Woe: „Elifa foll 
nicht immer ‚Mann‘ zu ihm fagen.“ Dasjelbe Schweigen. „Warum fragt du nicht, Papa, 
warum Elifa nicht Mann jagen fol” Der Seine gab endlich den Kampf auf. Er blinzelte 
eine heimliche Träne fort. Bis zur Villa wurde Fein Wort mehr getaujcht. Aber zu Haufe, 
nad) allgemeiner Begrüßung, während welcher der Generaldirektor ein jtetes Lächeln als 











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Eduard Paul Danzzfy: Mamynbha 143 








Masfe trug, zeigten ihm die Slinder die Zimmer. Mit rührender Umjtändlichkeit berührten 
fie alles, wa3 ander? war als im vergangenen Jahr. Auch in Fehrbachs Zimmer mußte er, 


geführt von ihnen, eintreten. Er jah nicht? al8 Blumen. Kun fiel die Maske. Zu Erminia, 


Mamtnha und der Mamain, welche den Kindern nachgeeilt waren, jagte er plöglich: „hr 
habt ihm da wohl ein zu warmes Net bereitet.” Während die Mamain und Erminta die 


- Sinder hinausführten, fagte Mamyndha: „Es ift dein Wille gemwefen, Leo! Herr von Fehr- 
- bach wird nicht um einen Tag länger bleiben, als dir recht ift.” Sie war tiefrot im Gejicht. 
- ©ie erinnerte fich, daß fie fein Bild furz vorher mit Blumen gefchmüdt hatte. Sie wollte 


ihn erinnern, daß er fein eigenes Zimmer noch gar nicht gejehen hätte. Aber er polterte mit 
einer humorvollen Brutalität: „Sa, ja, nun foll ich wieder irgendiwen verfürzen, joll ins 
Unrecht gegen Dich gejegt werden, weil du immer ein Spielzeug haben mußt, eine Frau 
mit zwei gefunden Kindern.” Mamynha war ratlos. Sie ging jchweigend in die Stüdhe. 

ALS Fehrbach erfchien, tat der Generaldirektor jehr aufgeräumt. Er fragte: „Wer ift denn 
eigentlich von uns beiden der Hausherr?””” Er verriet ihm eine Menge lohnender Spazier- 
gänge, von welchen er bejtimmt poetifche Cindrüde haben miürde. 

Das gemeinfame Abendefjen, an dem die Kinder nicht mehr teilnahmen, verlief unter 
heiteren Gefprächen. Alle trugen dazu irgendwie bei, um zu verbergen, daß der um die trau- 
liche Lampe verjammelte Streiß plößlich verwandelt und feiner gewohnten Yujammen- 
gehörigfeit gleichfam beraubt war. Alle zeigten die Bereittilligkeit von Schiffbrüchigen, 
die auf einer menschenleeren Snjel geftrandet waren, und irgendwie zufammenhelfen mußten. 
Nach vem Abendefjen rief der Generaldirektor ganz unvermittelt: „Kommen Sie, lieber Freund, 
mir gehen noch auf ein Glas Wein, Sie müffen einige unferer Honorationen fennen lernen.” 

Mamynha wagte einen leifen Einfpruch. Er wäre doch von der Bahnfahrt ermübdet, ob 
man nicht lieber etwa3 plaudern oder mufizieren follte? Er lachte fie jeltjam jtarr an. „Nun 
gönnt Shr mir ihn wohl auch ein paar Stunden?” Gie verjtand alles. ‘Ya, er jollte ihnen 
entzogen werden. Sollte nicht in ihrem Heinen Kreis zur Wirkung fommen vor dem Mann 
gegen den Mann. Fehrbach tat ihr leid. Aber fein heiterer Blid tröftete fie. Sein Handfuß 
war feurig. Shre Hand brannte. Sie trat ang Klavier und Öffnete eS. 

Die Herren fuchten dag Reftaurant auf, in welchem fich an diefem Abend ein Bollsjänger- 
paar borführte. Der Mann war jechzig, die Frau zmwijchen vierzig und fünfzig. ©ie traten 
beide in verfelben Fiafertracht auf, mit gelben, großfarierten Hojen, braunen Nöden und 
fichtgrauen, fteifen Hüten, die fie bei jedem Anlaß vom Kopf nahmen, um das Publifum zu 
befomplimentieren. Shre Stimmen waren gänzlich verblihen. Die Eindeutigfeit ihrer 
fasziven Bänkelgefänge widerte Fehrbad an. Er jprach ohne Belinnen dem Wein zu. Zum 
Glüc jagen einige ältere Leute an ihrem Tiich, Commergäfte, wie jie, mit denen Herr Kamm 
ein belebte3 Gefpräch führte, ohne Fehrbach irgendwie beteiligen zu fünnen. Yehrbach be- 
ichäftigte die feltfame Artiftenfataftrophe auf der Gartenejtrade. Die jchreienden, fuchtelnden, 
finnlos beweglichen Menfchentuinen, deren Humor erjtarrtes Inventar mar. Daß die Armen 
ihre Unzulänglichfeit nicht jpürten? Befonders die Frau machte ihn ratlos. AlS ob der ge- 
fühlte Verluft aller weiblichen Neize nur mehr in einer grotesfen Gemeinheit Erjaß finden 
fönnte. Eine ihrer Glanznummern war, daß fie fich in ven Vortrag eines Couplets teilten, 
indem der Mann den harmlofen Vers bis zum leten Wort fang, welches er verjchtwieg, als 
ichämte er ich; während die Frau für diefe Pointe, eine Durch den Reim vorbereitete Zote, 
mit einer Schamlofigfeit einfprang, welche das Obfzöne geradezu betonte. Dennoch wieherten 
die männlichen Zuhörer, und ein paar Damen taten in einer Weife verjchämt, melche fich 
nicht iS zum Proteft des Errötens aufjchwang, jondern nur die Aufmerkjamleit von der 
Sängerin auf ihre Verjchämtheit abzog. 

Sehrbach beobachtete die Vorgänge und Menjchen mit falt nüchterner Sadlichkeit. Vor 
allem den Generaldirektor. Er ftudierte feine Bewegungen, fein Lachen, feine zwiejpältige 
Anteilnahme. Wie feine Angemwidertheit mit fonventionellen Rüdfichten paftierte. Wie er 





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144 Derdeutjidhe Erzähler 


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zehnmal von feinem Glaje nippte, ohne zu trinken, nur um die Animiertheit der Umgebung 
noch zu betonen. Fehrbach3 Glas füllte er bejtändig nach. Fehrbach interefjierte alles an ihm, 
al3 müßte ihm unbedingt far werden, wie Mamynhas Mann war, ihr Bejiger, ihr Richter. 
Während einer Pauje in dem anfpruchsvollen Geipräc der Tijchgenofjen ftie Sehrbach 
mit ihm an. Er hätte bisher immer allein getrunfen, allerdings mit Abjicht, man vertrüge 
jonjt die zweifelhaften Darbietungen wirklich nicht; aber num müßte ihm jein freundlicher 
Birt endlich Bejcheid geben. Der Generaldirektor lachte mit einer Erinnerung an die Korps- 
brüderei. „Ex denn“, fagte er jovial. E3 am eine Hwielprache zuftande. Ein Frage- und 
Antwortjpiel mit behaglich verblüffenden Ergebniffen. Man nahm wahr, daß der andere 
gar nicht jo einfeitig oder für die eigenen Sntereffen und Sorgen unbrauchbar war. Der 
Kaufmann entdedte Reales im Schwärmer, der Künftler im anderen Gefichtspunfte von 
ideeller Bedeutung. Annäherungen vollzogen ji ohne Verpflichtungen für die Zukunft. 
Man nahm nur dad Wejensverwandte in Kauf. Aber Schranken fielen, willfürliche Be- 
grenzungen. Der Ältere war beruhigt, war zufrieden, zeigte in der gleichen, Ihichtenden 
Art Anteil an dem Lebenspları des Süngern. Er fonderte. Der Wein glich Iangjam das 
Gemütsniveau aus. Gefühlgfeligfeit Schwamm auf dem Geelenfpiegel wie eine Blafe. 

Der Generaldirektor jagte gerührt: „Wenn Elia jo weit wäre!” Die Blafe war geplagt. 
Konzentrifche Wellenkreife zirfelten ab. „Sie jagt ‚Mann‘ zu Khnen 

Sehrbadh8 Phantafie war emfig daran, die Brücke zu erhalten. E3 war nur ein fchwanfendes 
Brett. Er träumte: „Elifa ift das vollfommene Gefäß. Man muß nur abwarten, bereit- 
jtellen, nicht fcheuern, der vollfommene ‚nhalt fommt von jelbft: die foftbare Einheit in Form 
und Füllung.“ 

Der Generaldirektor folgte twidermillig. Er betonte: „Elifa wird zu weich werden. Gie 
ft Reinzucht der Frau; Lotte ift lebensuntüchtig.” Ex erfchraf darüber, daß er vor dem andern 
„Rotte” jagte. Er jchob das Weinglas von lich, als wäre es an diefer Entgleifung irgendiwie 
beteiligt. Um das Gefagte verjtändlich zu machen, ergänzte er behutjam: „Meine Frau ift 
die ideale Frau, die ideale Mutter — bei bolfftändiger Abgefchloffenheit. Die Menichen, das 
Stemde in jeder Geftalt, furzum alles von augen Eindringende verwirrt fie, macht fie un- 
licher; blendet, läßt Verheigungen eritehen, Unerfüllbarfeiten. Aber fie weiß, fühlt, daß 
e8 Unerfüllbarfeiten find, dies beruhigt.” 

Sehrbach war zum Widerfpruch gereizt. Die Wärme des Weinz im Gehirn hielt zurück. 
Er fürchtete zu viel zu jagen, lid) oder Mamynha bloßzuftellen. Für den Gatten wäre Ihon 
Schimpf, wenn der vermeinte Fremde jie bejjer verftünde. Er war noch wach genug, um 
da Gefahrvolle diefer Lodungen zu innerer Beleuchtung ganz zu durchfühlen. Er witterte 
die Falle, ftellte ein Ariom auf: „Cs gibt Frauen, deren Wefen aus fo jicheren, edlen Gejeh- 
mäßigteiten befteht, daß Schädliches an jte nicht heranfann, daß weder nächiter noch fremdejfter 
Einfluß an dem finnvollen Ableben ihres Dajeins etwas zu ändern vermag; die Frau General- - 
direftor gehört zu diefen unglüdlichen oder glüdlichen Frauen.” Er ttellte jie mit diefem 
gejellichaftlichen Rang gleichiam wieder an des Gatten Ceite, al3 wäre e8 eine Entwürdigung, 
von der Bertraulichfeit Gebrauch zu machen, mit welcher fieindem ajthausgefpräch als „Lotte“ 
aufgeführt war. So hatte e8 der Generaldirektor nicht mehr nötig, fich in Eraufen Beziehungen 
zu ergehen, er war der Befigende, er hatte den Schlüffel zu allen Zugängen. Er mifchte fich 
tajch in die allgemeine, Yaute Animiertheit der Tifchgenoffen, plätjcherte wohlgefällig in dem 
jeichten Gemäfjer der Unbiederung und Erfenntlichfeit, von welcher die Zeutjeligfeit de 
einflußreichen Induftriellen umjpült war. 

Schlag zwölf verließ er dag Reftaurant. Er fagte mit einem jentimentalen Lächeln für 
die Tiichgefellfchaft: „Heim zu Muttern.” Man begeiferte ihn mit verheißungspollen Kom- 
plimenten über die Schönheit der Frau. Pries an, was er vorfinden würde. ac) vierzehn- 
tägiger Asfefe. Fehrbach ftarıd Daneben, mwehrlos, von Übelkeit befallen. Er ftürmte voraus, 
Er entjchuldigte fich. Er müffe ji) ergehen. Ihm wäre nicht wohl. Der Generaldirektor drückte 





Eduard Paul Danzzky: Mamynha 145 





iym fameradjchaftlich die Hand. „Daß Sie fo wenig vertragen”, fagte er mit leifem Vorwurf. 
Sehrbach war wie einem Nachtwandler zumut. Er bog irgendivo von der Straße ab, rannte, 


SS) mins mar wie ein Samilienfeft gefeiert worden. Der Generaldirektor hatte zwar 
offiziell bedauert, daß Fehrbac für einige Tage eine Einladung auf den Semmering 
hatte annehmen müjjen, to jich gerade eine verwandte Familie aufhielt, aber die Art, mit 
welcher der pathetifche Hausherr plößlih Frau und Kinder in ungefchmälerter, gerührter 
Bejisfrende mit Aufmerfjamfeit und Zärtlichfeiten umgab, ließ erkennen, daß er den Gaft 
nicht vermißte. Natürlich war die Achtzigjährige dem Mittagtiich und dem Tee beigezogen, 
bon dem Generaldirektor eigenhänpig bedient worden. Er hatte dabei Mamyndha geftanden, 
3 jei geradezu eine Wohltat, einmal wieder unter fich, in trautem Familienfreis zu fein. 
Ein bejonder3 betonter Überfluß an guten Gerichten und der gleichfall3 hervorgehobene 
Reichtum der Aufmachung mußte das Gezmwungene der Freude, das Hußerliche der Zufammen- 
gehörigfeit verbergen helfen. Am Abend war der Generaldirektor wieder nad) Wien gefahren. 
Er hatte Mampynha beim Abjchied mit würdevoller Berjöhnlichkeit einigemal gefüßt, Hatte 
vor Anerkennung und Zufriedenheit gejtrahlt. „Du bift ja wieder vernünftig, Lotte” hatte 
er feitgeftellt. 

Mampynha Hatte am nächften Morgen ihr Zimmer nicht mehr verlaffen fönnen. Niemand 
wußte, warım. Mamain und die Schweitern waren verftändig genug, jie einige Zeit fich 
jelbft zu überlajjen; fie jpürten, daß jie irgendeiner Frife entgegenging, welche fie allein zu 
bemältigen wünjchte. Sie jchenkten ihre ganze Sorgfalt und Liebe den Kindern. 

Auch Fehrbahs Rüdkunft brachte nicht wejentliche Veränderungen. Nicht nur Mamyndhas 
Krankheit, an welcher er jeeliiche Konflikte vor allem beteiligt wußte, auch fein eigener Zuftand 
- forderte unnachgiebig, daß er die Flucht nach dem Semmering im Kammijchen Haufe irgendivie 
fortjegte, indem er jich ganz in jeine Urbeit vergrub. Da gleichzeitig ein paar Tage hindurch 
auch dag Wetter ans Haus fejjelte, wobei der feine, anhaltende Regen die Troftlofigfeit des 
Lebens irgendwie unterjtrich, war Ablenkung nicht zu befürchten. AB Mamynda nad) falt 
einer Woche ihrer freiwilligen Haft wieder erichien, jah fie ihn zum ©lüd noch jo gejanmelt 
und für das Wirkliche unempfindlich, daß e3 ihr leichter fiel, Die Zaft des Lebens wieder ganz 
auf fich zu nehmen. Der Mamain war nicht verborgen, daß dieje Laft plößlich verdoppelt 
war. E3 war rührenDd zu jehen, wie fie nun in unauffälliger Weife beitändig an ihrer ©eite 
war, jo Daß fich ihre ftärfere, weniger verwundbare Schulter unmerflich unterjchob und das 
Unbefannte mittrug. 

Troß des furchtbaren Ziwiejpalts, in welchem fi Mamynha befand, war fie nach feiner 
Arbeit gefpannt, nahm verftect daran teil mit der Furcht und Fürforge ihrer Mütterlichkeit. 
Wohl hatte fie fich alles anders gedacht, Hatte fich vorgeftellt, wie er ihr Bruchjtüde vertraut 
machen, gewilje Abjichten fundgeben, ihren Kat, ihr Einverftändnis ausforjchen, fie an dem 
Bormwärtsichreiten beteiligen würde. Aber, was hatte jie überhaupt noch zu hoffen? Wie 
freundlich hatte jie jich ver Schönheit diefer Welt einteilen, ihre Güte allgegenmwärtig machen 
wollen! Aber jo oft jie ihr Herz öffnete, jpannte, ihr Bemußtfein der größeren Aufgabe 
entgegenwachjen ließ, wurde jie tiefer, endgültiger angejchmiedet. Jhr Haus, dejjen lichtdurd)- 
flutete Räume noch vor furzem der Freude geöffnet waren, hatte die vumpfe Ruhe, Die 
ihmerzliche Geitilltheit einer Heilftätte. 

Mitten in diefen lebensfeindlichen Frieden der Billa Elija geriet das plößliche, von niemand 
vorhergejehene Auftreten Rufs. Er ftand mit einemmal im Salon, von den Kindern ftürmijd) 
begrüßt, welche ven Augenblid benugten, endlich von ihren gleichjam verbotenen Stimmen 
und ihren übrigen Betätigungsmöglichkeiten erlöfenden Gebrauch zu machen. Sie jchrien 
in allen Sprachen der Welt. Er rettete fich and Klavier und fpielte ihnen rajch in den Hödjiten 
Dftaven ein märchenhaftes Glodenthema vor, wobei er die Finger wie fich Freuzende Spring- 
brunnenftrahlen hohe Bögen bejchreiben ließ, jo daß die Heinen Schreihälfe aneinander 
geflammert fprachlos daftanden, bi3 Mamynha erjchien. Sie fam jchon mit einem bor- 


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Derdeutfhe Erzähler - 
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bereiteten Lächeln, da fie fein Spiel gleich erfannt hatte. Während fie ihm irgendwie erfte 
Rede jtehen mußte, führte er ein weißes Tüchlein an die Augen und trodnete die ungemollten 
Tränen. Beide waren der Schonungspollen Zufälligfeit diefer Tränen dankbar. Denn in- 
zwilchen hatten fie ihr wahres, inneres Lächeln gefunden. Auf trat jofort zu dem Noten- 
fajten und entnahm ihm ein Brahmsheft. Aus dem Borfpiel, in welchem er langfam in die 
ZTonart und Stimmung ded Liedes vordrang, ein oder das andere Motiv einflechtend, wußte 
jie, daß e3: „Wie Melodien zieht e8 mir leife durch den Sinn“ werden follte. Nach einer Heinen 
Paufe begannen fie. ‘hre Stimme fiel mit träumerifcher Entjchloffenheit ein. Das zweite: 
„Und jhmwebt wie Duft dahin“... war der erblaffende Traum ihrer Liebe. Ruf ftrich mit 
gleitenden Fingern gefjpenftifch über die Taften. Als rührte er an den Saiten einer verbor- 
genen, jehr edlen Harfe. Er lodte ihre Mufifalität. Ließ fie dann jelbft Heranflüchten. Denn 
Mufik ift wie ein Priefterornat, jede Geftalt vermag ihn auf ji zu nehmen und das Heilige 
darzuftellen. Gie ijt wie ein weitfallender Mantel, der den König und Bettler wohl Heidet. 
Der alle Wunden verbirgt. Man kann mit jedem Gefühl in Mufif aufgehen.. Sie ift nie 
eindeutig. Mampnha fchwelgte im Lied. hr Gefühl ergoß fich in eine eigenmwillige Form. 
Sie fang das „feuchte Auge” ohne Erinnerung, daß ihr eigenes vor dem gleichen Schidfal 
ftand, ohne Wiffen, daß Poefie unfere Seele nur wahrhaft zu ergreifen vermochte, wenn 
beider Anhalt übereinftinmte. 


Noch ehe der lebte Ton verflungen tar, ftand Sehrbad) in der Türe. Mit großen, feltfam 
erwachten Augen. Aber Ruf hatte die Kraft, rafch zu entjpannen. Er faßte die Menfchen 
und Ereigniffe, wenn e8 ihm not fchien, mit einer Sadlichkeit an, welche den Gefühlgüber- 
Ihmang jofort auflöfte, entmifchte. E3 war wie ein hemifcher Vorgang. Sein Einverftändnia 
mit den triebhaften Kräften und Anläffen der irgendwie fchwierigen Lage mar. indes nur 
verleugnet, nicht völlig verweigert, er erfparte nur ji) und den andern die demüitigende Über- 
rajchung, daß das verratene Gefühl Mipjtimmung brachte. Er wußte, daß edle Herzen, wenn 
ihnen ihr Glücd vorenthalten blieb, ihre Kämpfe haben mußten, aber wenn fie nach Art der 
Kinder ungebärdig tobten und Unbezwingbares erzwingen wollten, dann blieb nur diefe 
jinnlofe Kundgebung wirkffam — der Mißkang. Während ihr Warten, ihr gläubiges Harren 
die Gtrahlenftone der Verklärung trug, welche der Krone des Glüds mie eine Schwefter 
glich. Ruf fagte: „Grüß Gott, Heiner Dichter! Wir wollen in diejer vernünftigen Betätigung 
fortfahren. Die gnädige Frau ift fabelhaft disponiert.” 


CS mar allen dreien wohl. Mamynha jang noch einige Schumannlieder. Danach fiel 
Ruf ein Band Duette in die Hand; er Ihlug „Athalia” auf. Da Fehrbach einen leidlichen 
Zenor hatte, mußte er die eine Stimme übernehmen, während Mamynha den zweiten Bart 
jang... „Denn Kinder, die ihm folgfam jind, läßt er zu feinem Stieden fommen.“... Wie 
jehr aud) die tiefe Sentimentalität in ihnen VBerwandtes aufrühren twollte, fie blieben doch 
der fat nüchternen Mufizierfreudigfeit treu, mit welcher fie das ihnen neue Lied in Angriff 
genommen. &3 wurde ein ganz heller, befonders in den Zerzen jauchzender Hymmus an die 
Kinderzeit, zu welcher fie noch nicht völlig alle Zugänge verloren hatten. 


Dann zauberte Mamynha in rührender Erfenntlichkeit das Tandesübliche Bilchofsbrot 
und Kaffee mit Schlagobers, während die Freunde mit den Schmweftern und den Kindern 
ein unverfängliches Plaudern begannen und ab und zu auch) Gelegenheit fanden, fich nach 
ihrem eigenen Belieben zu verjtändigen. Man war jehr vergnügt. Während Tehrbach wieder 
an jeine Arbeit ging, wurde Ruf von Mamynha und den Kindern, da der Negen glücklich 
ausgejeßt hatte, bis an fein Hotel begleitet. Aber er vergalt e8 jogleich, indem er nach Ablegen 
des Negenmantel3 wieder auftauchte und faft den ganzen Weg mit ihnen zurüictmachte. Gie 
mochten ein bemegtes, gegenfeitig teilnehmende Gefpräch geführt haben, da die Kinder 
vollitändig zu Gtatiftenrollen verdammt, den fortwährenden Ermahnungen Ichließlich ent- 
liefen und lange vor Mamynha am Gartentor ankamen. 





Eduard Paul Danzzky: Mamynda | 147 


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Am andern Tag war wieder Sonne. Ulle Wege waren von hellgefleideten Menjchen 
begangen. Man fah durchaus freundliche, von der gereinigten Natur erbaute Gefichter. 
Auch die Stimmen waren heller, der wunderbaren Umgebung bedacht und angepaßt. 

Sehrbach war zu Schober zum Mittagefjen geladen, wo er Auf vorfand und die Brüder 
Somnenfchein. 8 gab eine Kuftige, übermütige Tafel, an der die mangelnde Hausfrau nur 
in fchelmischen Anefooten bejchiworen war, von welchen eingefleijchte Junggejellen immer 
einen unverfiegenden Vorrat haben. Da der Philharmoniker zum Leidwejen des Bruder 
Bankbeamten ftändig gegen die wohlmeinende Unterweifung des Baron Sinigge an Tafel- 
freudige verftieß, gedieh die Sigung am Ende zu fchallender Heiterkeit. Am Föftlichiten war, 
wenn die Ausftellungen des einen ebenfo verfehrt waren wie die Berfehlungen de anderen, 
oder wenn beide von Auf und Schober angeführt wurden, welche bisweilen ein Gericht 
abfichtlich ven feineren Tifchgepflogenheiten zutrog mißhandelten. Schober Liebensmwürdig- 
feit al3 Hausherr ging fo weit, daß er mit Ruf zu gleicher Zeit in Tränen ausbrach, als hätte 
er für das fondvulfioifche Lachen deffen Übel freiwillig übernommen. Nad) dem Ejjen wurde 
eine Stunde Bridge gefpielt und danach die ZJaufe in dem Jägerhaus des gefälligen Wirtes 
verabredet. Ruf und der Philharmoniker, welche für „Bergpartien” feinerlei Sympathien 
bezeigten, follten mit dem Wagen hingebracht werden, während Schober, der Banfbeamte 
und Fehrbad) die Wanderung zu Fuß antraten. 

Fehrbach ging beinahe allein. Er war irgendwie überflüffig, da das Gejpräd mit dem 
gepflegten Sonnenfchein die vorgezeichnete Linie der platonijchen Vertrautheit mit dem 
Sagdvergnügen und andern feigneurhaften Gebräuchen ftreng einhielt. Tehrbadh Tonnte 
den frifchgebadeten Wald mit träumerifcher Erregtheit betrachten. Auch nad) Belieben da 
und dort ettva8 verweilen. Er hatte eine fürmliche Leidenfchaft für die weichen, bizarren 
 Geflechte der Moofe. Überhaupt der Waldboden mit feinem Heiligen Modergerudh! Er} hien 
ihm die planvollite Werkftätte Gottes, die wunderbarfte Arbeitäfammer der Natur, in welcher 
fich ihre Mifchungen und Verdichtungen in Zahrtaufenden vorbereiteten und vollzogen. 

Schober war ftehen geblieben, um Fehrbach zu erwarten. Gie waren an einer Wegfreuzung 
angelangt. Er rief Fehrbacd) freundlich an: „Wollen Sie uns nicht an Shren Gedanfen teil- 
haben lafjen, Ferry Sehrbadh " 

Fehrbach war einen Augenblid jchwanfend. Da er indes ein Gejpräc, nur wahrhaft ent- 
wiceln konnte, wenn e8 an dem Gegenftand fefthielt, der ihn erregt hatte, jagte er: „Mit 
weht hier jo herrlich Tod und Ewigkeit in Brudereintracht entgegen.” Schober lachte: „so 
weiß, Fehrbach, da Spielen mit diefen Gedanfen hat einen eigenen Reiz, wenn man jo jung ft.“ 

Fehrbach antwortete ein wenig herausfordernd: „Sch Hoffe, meine Erfahrung davon wird 
mich im Alter weniger noch bedrüden. Ych glaube an eine Art Reinkarnation nad) dem Mufter 
der Seelenwanderung. Zch fehe das Zerfallen der Leiber, des Körperlichen, das jogenannte 
Bermweien. Kann aber irgend etwas verloren gehen in der Welt? Nehmen wir nicht die Ent- 
mifchungsprodufte wahr von allem Zerfallenen, Abfterbenden? Es find Bellen, jagen Die 
Weifen. Ein Bellenftaat ift zerfallen, feheinbare Anarchie ift eingetreten, Srgendiwie wird 
ein neuer Zufammenjchluß fich vollziehen. ch weiß e3 nicht, ich ahme nur, mie der Körper 
zerfällt, jo muß e8 auch mit dem Geift, der Seele oder dem Bemußtjein gejchehen. €3 
ift gebunden an eine bejtimmte Zufammenfegung, an ein chemilches Gemenge, welchem 
e3 innewohnt. Wenn aber nichts völlig verjchwinden, nur fich anders gruppieren, umoronen, 
ummandeln Tann, muß dann nicht auch Diefe Geele, diejes Bewußtjein in irgendeiner Form 
erhalten bleiben? Sch bin nicht jo anjpruchsvoll, e3 in jeiner Kompaftheit, fozujagen in 
Lebensgröße erhalten — borauszujegen, dagegen fcheint mir die zerfallene, umgejtaltete 
chemische Unterlage zu fprechen, welche fich nicht von dem Geiftigen, mit welchem e3 früher 
eine Einheit gebildet, fo abtrennen läßt, daß e8 zwar jelbft vollftändig aufgelöft wird, während 
der Geift noch über den ftofflichen Neften wie ein Phöniz jchwebend wartet, bi er aus der 
Ajche wieder neu erftehen mwirde können. Auch dies fcheint mir wenig wahrjcheinlich, daß 


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148 Derdeutjhe Erzähler 
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diefe entförperte, entmwejentlichte Seele irgendwo im All herumguitren oder mit einer größeren 
Einheit diefe8 Bemwußten im All wieder zujammenzufließen bermöchte, alfo gleichham in 
die Heimat zurüdfehrend, von melcher fie ausgegangen. Nein, ich bin befcheiden. Wenn 
meine Seele im Tode in gleicher Weife zerfiele oder gewandelt würde, wie der Leib? Biel- 
leicht ift diefe3 zerfallende Bemwußtfein noch reich genug, daß e3 in hundert Heineren Crijtenzen 
an einer neuen chemifchen Unterlage haftet? AI Lied einer Bogelfehle vielleicht, al Schwirren 
ver Biene? Srgendmwo lebt e3 und bleibt e3 erhalten.” 

Schober hatte ihn fanft untergefaßt und ihn auf eine fonnenbefchienene Waldblöße gezogen. 
Käfer, Müden, Bienen fchwirrten ihnen wie jinnlo3 entgegen, fie fpürten jie förmlich als 
ürfe, mit folcher Kraft taumelten fie an die Menjchenhaut, an das helle Gewand. Der 
Alte jagte: „Sie haben recht, Heiner Dichter. Wir befinden ung in einem jeltfjamen Heren- 
fejjel. Laffen wir aus ung zujammenbrauen, wa3 der gütigen Mutter Natur gefällt. Nur 
haben Gie mir das Moralifche ganz weggelajjen. Wenn alles fo willkürlich zerfällt, laffen 
Sie doc, wenigftens hoffen, daß e8 der edlen Seele nicht auf diefelbe Art ergeht wie dem 
rühllofen Schurken, welcher hier oben nur Elend und Leid gefät hat.“ 

Sehrbad) verftändigte fich durch ein Lächeln mit ihm, das wie ein Leuchten von Seele zu 
Seele war. Er fagte: „Auguftinus befennt dem Herrn: ‚So ift alles gut, was da it‘; er meint, 
jo weit e8 ein Wejen hat. Aber meine Theorie fchließt nicht Strafaktionen aus, denn ob ich 
aufgelöft — die Durchdringung der alten GSubftanzen mit neuen Wejenheiten — fo oder fo 
erlebe, ift nicht bedeutungslos. E3 gibt Erfcheinungsformen, welche wir als jchön, al3 wunder- 
bar und begehrenswert anjprechen, und wieder andere, welche jich und anderen Ekel und 
Dual find. Hier wird hoffentlich ein gerechteg Prinzip, das dem zerfallenden Wejen irgendwie 
eingeordnet ift, am Werke fein, denn wie Auguftinus an anderer Stelle fagt: ‚Die Veränder- 
lichfeit der veränderlichen Dinge (andere gibt e3 nicht, jei eingefchaltet!) ift aller Formen 
fähig!" Auch ift meine Erklärung nur die nüchternfte, unglücdflichite, venn alle anderen Mög- 
lichfeiten des Sortlebeng nad) dem Tode bieten dem edlen Bemußtjein die vollfommenite 
Beruhigung, Genugtuung. Wie herrlich wäre, wenn wir befreit von dem Srondienft, welchen 
wir dem Körper geleiftet, nach jeliger Entferferung — nur dem unendlichen Bemußtfein 
enigegenzufliegen hätten, würdig der Vereinigung mit ihm, durch nicht? mehr von ihm 
getrennt.” Nachdem fie noch einige geit durch den herrlichen Hohmwald gefchritten waren, 
öffnete fich der fchattende Dom gegen Weiten, und fie langten auf einer hügelförmigen Alm 
an, welche bereits den Blicten dag freundliche Jägerhaus darbot. Der Wagen jtand noch) davor, 
die Pferde wurden im Kreis herumgeführt. Der Jäger, ein herfulifch gebauter Steirer, 
fam ihnen entgegen, den Herrn vertraut tejpeftierend, die anderen freundlich bemwillfommend. 
An der Tür wartete feine yrau, ein Feines fchiwarzes Nejen, deffen Feuer von Arbeit nur 
gebändigt jchien. Man nahm an vorbereiteten Tisch im Freien Plab. Alles lechzte zuerft nach 
einem Trunf Waffer aus der dicht neben dem Haus einlaufenden Quelle. ‚ndes die Heine Frau 
zeigte fich bald mit großen, Ihweren Kannen, in welchen der würzige Kaffee, die heife Milch 
bereitjtanden; der Mann brachte frifchgefchleuderte Butter und jelbitgebadenes Schwarzbrot; 
Schober holte aus dem Smnern des DBlodhaufes eine Flafche alten Weing und herrliche Bi- 
garren. Die Brüder Sonnenfchein dehnten und ftredten lid mwohlig, der Philharmoniker 
jaß jogar in Hemdärmeln. Trogdem hatten fie die poetiichjten Wendungen für das jonnige 
Bläschen und deifen einzigartige Schönheit. Der Hunger machte empfänglich, die Gättigung 
gab ihre Zufriedenheit mit der Natur Fund. Nach) freundlichem, harmlofem Geihmwäß nidten 
die alten Herrn faft zu gleicher Zeit ein. 


(Bortjegung folgt.) 






SG 27 En ER 


Lellings Werfe bei Bong 


£effings Werte bei Bong 


enn das Deutjche Verlagshaus Bong & Co. in diefer Zeit eine Ausgabe von Lefjings 
Werfen in 20 Tertbänden vorlegt!), dem noch je ein Band Anmerkungen und Regifter 











® folgen foll, jo ijt e8 vor einem Verdachte gejchüßt: dem der Spekulation auf Inftinfte des 
— RBublifums. Crwägt man weiter, wieviel Geld in eine derartige Ausgabe hineingefteckt werden 


- muß, ehe nur der erjte Band Hinausgegeben werden Fann, jo fann man nicht umhin, den Mut 


zu bewundern, der dazır gehörte, fie ins Auge zu fafjen, und die Ausdauer, fie unter denkbar 


ungünjtigen Ausjichten durchzuführen. Die beiden Herausgeber, Julius PBeterfen und Walde- 


- mar von Dlöhaufen, haben zu dem bedeutenden Unternehmen einen Stab von Mitarbeitern 


gewonnen: den inzwilchen uns entrijjenen Karl Borinzki, Frik Budde, Albert Hirih, Walde- 


- mar Dehlfe, Walther Riezler, den verjtorbenen Alfred Schoene, Eduard Stemplinger und Leo- 
- pold Zicharnad. 


Ein Bild von der Ausgabe geben, heißt eines von Lejjing geben. Kaum für einen andern 
unjerer Großen gilt fo jehr das Wort: „Zeige dein Werk, verbirg dein Xeben!" Bezeichnender- 
weile wird der Umfang von Peterjens biographiicher Einführung vom Gejamtumfang der 
Einleitungen zu den einzelnen Gruppen um ein Mehrfaches übertroffen. Die eriten 6 Bände 


- umfafjen ungefähr das, was der Durdhichnittögebildete von Zejlings Werfen fennt, zum minde- 


ten dem Namen nach: Gedichte und Dramen, Literaturbriefe, Laofoon und Dramaturgie, 
Freimaurergejpräche und Erziehung des Menjchengefchlechtes. 
Aber wie lüdenhaft dies landläufige Bild von Leijing ist, zeigt die Tatjache, daß die genannten 


- Werke nicht einmal ein Drittel feiner gedrudten LXebenzleiftung darjtellen. Schon im 2. Teile 


de8 6. Bandes beginnt der unbekannte Lejjing, der uns, auch heute noch, genau foviel, vielleicht 


- im Gegenteil: heute jogar mehr denn je bedeutet und zu fagen hat, wie der befannte. Den 


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Anfang bilden die „WVorreden”, zu eigenen Sammlungen, zu Überjegungen, zu fremden 
Schriften; dDurchiveg von hohem Reize, jachlich, mehr noch perfönlich gehaltvoll, find fie am 


eheften mit Goethes Kleineren literarifchen Rezenfionen zu vergleichen. Ihnen folgt „Das 


- Neueite aus dem Neiche des Wibes", heute noch unjchägbar al Dokument der Kritik des 


franzöliihen Geiftes, mit Ausbliden in die eigene Literatur, und die „Briefe”. Darf man das 
„Meuefte" als Vorläufer der „Beilage zur Allgemeinen Zeitung“ betrachten, jo nehmen die 
„Briefe”, in ihrer zwanglofen Milchung gelehrten und jchönen Schrifttums, Erfcheinungen 
boriveg wie die „Deutjche Rundfchau” oder die „Süddeutichen Monatshefte". Shnen jchließt 
fi wie von felbit Band I an: „Zeitungsartikel und NRezenfionen”, aus dem man erjt einen 
Begriff von Leilings journaliftifcher Kleinarbeit erhält. 


Der „Iheatralijche Nachlaß” (10) läßt Blicke tun in die Werfitatt des Schaffenden Pramatikers: 


Die Themen von Grabbes Hannibal, Shiens Satilina kündigen fich an, aber auch Cosi fan tutte, 
Ihon Lejjing will Calderons „Leben ein Traum“ überjegen, das Fauftfragment fteht neben 
der Treulofen Witwe und den Hanswurjt-Plänen, die Werther-Parodie neben dem Hödjit 
merkwürdigen Plane vom barmherzigen Samariter, der dem „Nathan“ folgen, und in dem 


„ver Levit und der Priejter eine gar brillante Rolle fpielen” follte. Band 10: „Das Theater 


des Herrn Diderot” — Diderots Stüde überjegt mit allen Vor- und Nahimorten — fehlt 
fogar in der großen Hiftorifch-Eritifchen Ausgabe, ebenfo wie die Überfegungen von Voltaires 
Gedanken über die Trauer- und uftpiele der Engländer, und von Du Bo3’ „Bon den thea- 
traliichen Borftellungen der Alten“. Die Heineren dDramaturgijhen Schriften füllen, wie die 
über Dramen und Theater der Antike, je einen ftarfen Band, ebenfo wie die Schriften zur Hlafji- 
jhen Literatur, zur Gefchichte der Fabel, zur deutjchen Sprache und Xiteratur, zur antiken 
und zur modernen Kunftgejchichte. Sn vier Bänden ijt das Werk des Theologen und theolo- 
gilchen Herausgebers zufammengefaßt. Der legte Band bringt die philofophiichen Schriften, 
wobei wir bejonders dankbar jind für Die angefligten Gejpräche Leljings mit Jacobi; den Schluß 


1) Ganzleinen, holzfreies Bapier, Fadenheftung, echt Goldprejjung, jeder Band 4.80 Mark. 


















































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150 Lejlingd Werfe bei Bong 
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bilden die Dokumente des Wolfenbütteler Bibliothefar3 und die autobiggraphifchen Aufzeich- 
nungen. 

& gründlicher man die Ausgabe vornimmt, dejto Harer wird der Eindrud, daß hier eine der 
bedeutendjten editorijchen Leiftungen unferer Klaffikerbibliothefen überhaupt vorliegt. Die 
Einleitungen der Herren Herausgeber zu den einzelnen Abteilungen geben zugleich jeweils 
ein Stüd deutjcher, vielfad) europätjcher Geiftesgefchichte und einen Längsschnitt durch Lejling3 
Tebenswerk. Bejonders jeien Riezler3 meifterhaft Klare Dispofition des „Laofoon“ genannt, 
Peterjens Einleitung in der „Dramaturgie”, diejenigen Stemplinger zur antifen Literatur, 
Schönes zur antifen Kunftgejchichte, Zicharmads zu den theologischen und Olshaufens zu den 
philofophijhen Schriften. Wenn die Bongfche Ausgabe fo außerordentlich empfehlenswert 
ift, jo ift e8 vor allem auch) diejen Einleitungen zu danfen, die e8 verfchmähen, die Zejer 
durch eine „Schau“ zu blenden von der Art, wie ftrebfame Literaturhiftorifer fie [ehon im Semi- 
nar aus dem Füllfederhalter jchwigen, fondern die einfach fachlich find, fubftanzerfültt, Erfennt- 
ni3 nicht im Drafelton umnebelnd, fondern aus der Fülle tatfächlicher Kenntnis aufbauend. 
Steiner vielleicht von dem Giebengeftirn von Klopftoc bis Jean Paul ift der heutigen Literatur 
jo bitter not wie Leffing. 

Polgphonie ift eine mefentlich deutfche Eigenschaft. Ein großer Deutfcher ijt fein Sachmenfcd). 
zejling war eine nicht minder polyphone Natur ald Goethe. Erftaunt jehen wir, in wie zahl- 
reiche wiljenjchaftliche Difziplinen er eingreift: Religionswiljenschaft, Philofophie, Sprach- 
wifjenfchaft, Ajthetif, Literaturgefchichte, germanifche Philologie, Haffiiche Philologie und Alter- 
tumstwiljenjchaft, deutfche Kunftgefchichte: man denkt an Leibniz und an Goethe. Bei feinem 
unjerer Klafjifer, außer Goethe, haben wir fo unmittelbar dag Gefühl der Kontinuität, des 
Sortwirfens, der Unfterblichfeit des Geiftes wie bei Leffing. 


Rojenheim. $ojef Hofmiller. 





Ernft Denzoldt 


He Bildhauer, Graphifer und Dichter Ernft Penzoldt (geb. in Erlangen am 14. Juni 1892) 
it literarischen Kreifen zuerft durch einen Heinen Gedichtband „Der Ge fährte“(1922)!) 
befannt geworden, der in den Sahren Ipäterprefjioniftiicher Formlofigfeit durch feinen ge- 
pflegten Formiillen Aufjehen erregte. Er ging ftofflich allerdings faum über das Dafeinz- 
und Öotteserlebnis einer inbrünftigen Knabenfeele hinaus, der Haltung nad) faum über den 
Auf der Einfamfeit und mußte fo an eine gewiffe Erlebnigenge denfen lafjen, die jpäteren 
Wegen das noch Unbekannte vorbehielt. 

Erft der Band „FdHllen“ (1923) zeigte, wie fehr die Erlebnijfe der Kindheit die Ent- 
widlung Penzoldt3 geformt haben und wie tief die Urjprünge des ganzen Menfchen gerade 
in Ddiefer Zeit zu fuchen find. So Freifen feine Gedanken noc) um die längft vergangenen 
Dinge, die au3 der Ferne wirken wie etiva3 Unabänderliches, allgemein gültig Gemordenes, 
die zum Symbol erhoben werden und fich an Geftalten mit unmirflichen, preziöfen Namen 
heften. Eine fachliche, fchlichte, faft nüchterne Sprache fehreitet in Tnappen Cäbten vorwärts 
und jtrebt die flüchtigen Gefichte gleichfam in die Wirklichkeit zu zwingen. Dieje kurzen Ge- 
Ihichten mit ihrer Yeifen Melancholie find nicht Soyllen im Ihulmäßigen Einn des Vollglücks 
in ber Beichränfung. Vielleicht ift „Das Waiferrad“ die einzige, die der Begriffsbeftimmung 
yean Pauls noch ungefähr genügt. E3 handelt fich immer um ein wenig Unoronung und Leid, 
das am Ende, wenn da3 Ziel einer Sehnfucht erreicht, ein Traum verwirklicht ift, ausläuft 
in Ruhe und Befriedigung. Penzolots Geftalten Ieben nicht in fich gejchloffen. Sie fuchen 
außerhalb ihres ch Ergänzung und Erfüllung. Da verjchmilzt Wendeling Schatten mit dem 
Nadgeift. Da geht der Gefährte Angelus durch „Die lieben Träume“ und über Traummög- 


1) Erfchienen wie die anderen Werke Benzoldt3 im Verlag Ernft Heimeran, München. 





Ernit Benzoldt 151 





lichkeiten findet Albrecht eine erjte Brüde zu feinem neuen Gejpielen Gabriel, die ihm die 
- Beltimmtheit der perjönlichen Erfcheinung verjperren wollte. Solche Freundichaften aber, Die 
irgendwie im Senfeitigen begründet jind, dauern auch über den Tod hinaus. In Traum und 
Bilion jest fich die erlebte Gemeinjamfeit fort. „Der geflügelte Sinabe’ erjcheint nächtlich 
dem Lufas, und die Graufigfeit Der Wedefind’schen Kicchhofsizene wird hier von einer anderen, 
dDurchlichtig Haren Szene überftrahlt, in der die Schönheit eines jenjeitigen Lebens auf den 
Träumenden übergeht: „Wir fliegen und jind Ichön“. 

Die Schlofgefhichte „Der Schatten Amphion“ (1924) gibt dem Gemeinfchaftserleb- 

 niseinbeutig Richtung aufein gemildertes und rationalifiertes Doppelgängermotid in der Linie 

des Peter Schlemihl. Alle ungelebten Erlebniffe, alle Rünjche und Sehnjüchte legt der junge 
Hauglehrer in eine poetiiche Spee, vie er an feinen Echattenheftet und mit dem Namen Amphion 
nennt. Amphion folgt miide und nachgiebig den Heinen Schmerzen und Nöten feines Yebens- 
ganges und gehört zu der Gemeinschaft von Lehrer und Zögling jchlieklich wie ein dritter 
Kamerad. 

Mit ver MichelangeloNovelle „TommafoLavalieri” (M.N.N., Die Einkehr Ig.6, 
Nr.61/62) wird das nun geflärte Freundichaftserlebnis endlich objetiver an einem gejchicht- 
lichen Stojf gemefjen. Der noch ungeorudte „Windelmann“ folgt auf diejer Bahn, 
während die hier vorliegende Kindergefchichte „Chrijtiane und Bier“ zum erjtenmal an- 
dere Bereiche der Kinderjeele zu erjchliegen jtrebt. Der in Arbeit befindlihe Roman „Der 
Bmwerg‘“ aber geht von der Kindheit in eine jpätere Entwidlung. 


Münden. Arthur Hübjcher. 


Reuerfcheinungen 


(6 abarni. Herausgegeben und eingeleitet von Eduard Fuchs. Mit 29 Tertilluftrationen 
und 8Oin Originalgröße nachgezeichneten Lithographien. Großfolio, anzleinen M. 35. 
Der Verlag Albert Langen in München hat feinem Daumier nun den lang erwarteten Gavarni 
folgen laffen. Was an den Wiedergaben fogleich auffällt, ift, daß fie nicht mecdanijch photo- 
graphiert, fondern echte Lithographien find, jo echt, daß es nur Heiner Nachhilfen bedürfte, 
um fie al Originale in den Handel zu jchmuggeln. Cie find von Gavarnis Blättern jo wenig 
zu unterfcheiden, daß der Verlag, um jedem Mißbrauch vorzubeugen, jich genötigt jah, Die 
Blätter durd) die Berlagsinitialen al3 Wiedergaben Fenntlich zu machen. Der Zeichner, dem 
die erftaunliche Leiftung zu verdanken ift, heißt Paul Mechel. Zu diefem erjten Nobum: 
daß Gavarni genau mit denfelben technifchen Mitteln und genau auf diejelbe technijche Weile 
vorgelegt wird, wie bei feinen Lebzeiten, gefellt fi ein zweites: jo viele Originale find in 
Deutichland noch nie geboten worden. Zür die meiften Kunftfreunde war Gabarni ein 
bloßer Name; jeßt ift e8 möglich, fich 80 Blätter von ihm zu erwerben zu einem Preije, den 
man früher für den zehnten Teil hinlegen mußte. Über Gavarni etwas zu jagen, erübrigt 
fih. Eine Bemerkung aber läßt fich nicht unterdrüden: um tiebiel geiftreicher, lebenspoller, 
fünftlerifcher diefe Blätter find, als das Befte von vor dem Kriege bei ung. Liegt es zum Teil 
mit am Verfahren? Wenn man diefe famtartig tonigen Blätter eind ums andere bejieht, 
möchte man faft glauben, daß auch auf diefem Gebiete die Yortjchritte der Reproduktion den 
Rüdfchritt der Produktion nicht nur begleiten, jondern erzeugen. Denn — wenn aud) fein 
Gavarni darunter war — wenn wir die gleichzeitigen Jahrgänge der liegenden Blätter 
ducchfehen, haben wir dagfelbe Gefühl. Wenn diefer Band am Ende gar einem geborenen 
Zeichner zur Erkenntnis und Selbftentdedung verhelfen würde? Denn die Talente find immer 
da; nur die Vorbilder find meift jo jtupid... 

Bon einer eigentümlichen zarten Myftif erfüllt find die Gedichte von Ruth Schaumann: 
Der Knofpengrund, die im Theatinerverlag, München, erfchienen (geb. M. 3,50). Wer von 
Kilfe herkommt, hat das Gefühl, aus einer Fonftruierten Atmojphäre in eine erlebte zu 








152 Kenerjcheinungen 
 — — — — — — —  — — — — — — — = öö ömwmämä——— 


Ihreiten: diefe Gedichte find jo vein in fich befchloffen, daß man jeden Ton von Rilfes „Stunden- 
buch” daneben al3 äußerlich empfindet. 


Ruth Schaumann ift zugleich als Bildhauerin tätig, wie die 16 vorwiegend religiöfen 
„Werfblätter” (Verlag Deutjches Duidbornhaus, M. 6) dartun. An diefen Plaftifen unter- 
Iheidet man bald ein zeitftiliftiich, Jogar modijch Bedingtes von einem PBerjünlichen, das 
mit dem Berjönlichen der Dichtungen eins ift.- Wenn Ruth Schaumann diefe erprejltonijtiichen 
Beeinflufjungen der Zeit überwunden haben wird, fann fich ihr Berfönliches erft entfalten. 


Neue „Bücher der Roje”: Adalbert Stifter, Briefe, Schriften, Bilder, mit Ieben3- 
gejhichtlichen Verbindungen, mit 6 Tafeln in Kupfertiefdrud, davon fünf nach Olgemälden 
Stifter3. Kartoniert M. 3, Ganzleinen M. 5. Gottfried Keller, Briefe und Gedichte. Mit 
lebensgejchichtlichen Verbindungen. Preife wie oben. Jean Bau. Briefe von, an, über ihn. 
Mit lebensgejchichtlichen Verbindungen, einem Jean Baul-Bildnis und Anfichten feiner Wohn- 
jige. Kartoniert M. 4, Ganzleinen M. 6. ch empfehle jeit Jahren meinen Schülern der 
oberjten Klajjen des Gymnafiums, als Grundftod ihrer Eigenbücherei fich jeden Monat ab- 
wechjelnd einen braunen Langewiefche-Band (Bücher der Rofe) und einen blauen zu faufen; 
auf dieje Weife befämen fie Bücher, die fie ihr Leben lang freuten. Das Wejentliche ift, daß 
hinter beiden Buchreihen zwei Brüder ftehen, berjchieden an Neigungen und ntereffen- 
Iphären, gleich an Wille, zu wirken und Deutfchland zu dienen. 


Neue Gaben des Volfsverbands der Bücherfreunde. „Deutiche Plaftif” von Georg 
will, mit 32 Kunftbeilagen in Kupfertieforud, dazu 32 Abjchnitte Tert über das betreffende 
Kunftwerf, beginnend mit dem Hildesheimer Domportal und bis ins 18. Sahrhundert die 
Entwidlung an befonders bezeichnenden Werfen aufzeigend. Das Seitenftüd zu dem genau 
jo angeordneten Bande von Diülberg über veutjche Malerei. — Karl Federn, Das Zeitalter 
Dantes, mit Bildern in Kupfertiefdrud. Eine Umarbeitung des vor 25 Jahren zuerft erfchie- 
nenen und jeither wiederholt aufgelegten Werks, das zu den gediegenjten Einführungen über 
den Dichter, feine Zeit und Umwelt gehört. — Rudolf Schieftl, Fränkiiche Wanderungen. 
40 Bleiftiftzeihnungen, Landichaften und Figürliches, von einer gemwiljen Falligraphifchen 
Sauberkeit der Wiedergabe. — Silhouetten der Schweiter (Rofa Affing) von Varnhagen von 
Enje: acht entzlidende Scherenfchnitte aus der Biedermeierzeit. — Arthur Kampf, 20 Radie- 
tungen zu Shafejpeare in Handfignierter Mappe: ein Beweis, daß der B.d.B. auch auf dem 
©ebiete der Driginalgraphif Gediegenes bietet. — Des Priejterd Wernher 3 Lieder von der 
Magd, nach der Faffung der PBreußifchen Staatsbibliothek metrifch überjegt und mit ihren 
Bildern herausgegeben bon Hermann Degering. Dieje Bilder, eines der herrlichiten Denkfmale 
mittelalterlihen Buchjchmuds, in Gold, Blau, Rot und Grün, find originalgetreu mwieder- 
gegeben. Wohl das fchönfte Buch, das der B.d.B. bis jet herausgebracht hat, und neben 
„Der Nibelunge Not” das verdienftvollfte. — Arnold, Schlaraffenland (nad) Hans Sachß): ein 
Bilderbuch, das meinen Sindern immer wieder Spak macht, Bilder wie Verfe, die fie aus- 
wendig fünnen. — Aram, Der Goten Glüd und Ende: die ungeheure Gotenfaga nach PBro- 
fopius wirkungsvoll neu geftaltet, ebenfalls ein hervorragend verdienftlicher Band, von dem, 
tie von mand) anderen, nur zu bedauern ift, daß er für Höhere Schulen nicht einzeln angefchafft 
werden fann. Hierin: daß man immer die Jahresreihe mit in den Kauf nehmen muß, liegt 
m. &. der Schwache Bunkt des VB. gegenüber anderen Buch-Gemeinfchaften. 


Rofenheim. sojei Hofmiller. 


— Zn 


Redaktionell abgeschlossen am 22. April 1926 
Verantwortlicher Herausgeber: Paul Nikolaus Cossmann in München — Druck- und Buchbinderarbeiten 
R, Oldenbourg, München. — Papier: Bohnenberger & Cie., Niefern bei Pforzheim, 











Deutsche Jugendbewegung 


Von Dr. Ernst Kemmer in München 


ber das Schicksal Deutschlands entscheidet nicht die augenblickliche Notlage, 

entscheiden nicht die politischen Maßnahmen der Regierungen und der Parteien, 
“ die uns aus dieser Notlage befreien wollen, sondern letzten Endes die Frage, ob das 
deutsche Volk noch die gesunde Lebenskraft in sich trägt, die es in den Stand setzt, 
die Not von innen heraus in ihren Ursachen zu überwinden. Wir müssen eine Arbeit 
auf kurze Sicht und eine Arbeit auf weite Sicht leisten. Wir müssen mit den Kräften, 
die uns zur Verfügung stehen, in die Verhältnisse, wie sie gerade sind, eingreifen 
und nach bestem Wissen und Gewissen Politik machen. Wir können dabei Augen- 
blickserfolge erzielen oder Mißerfolge haben und können schließlich doch nur das 
Schicksal weiter erfüllen, das zum Untergang Deutschlands oder des Abendlandes 
führt. Aber eine Politik großen Stils werden wir nur dann durchführen Können, 
wenn wir zugleich auch auf weite Sicht zu arbeiten verstehen, wenn wir mit dem 
in die Tiefe eindringenden, aber auch weite Horizonte umfassenden Blick für die 
Zukunft neue Grundlagen zu schaffen vermögen, ohne dabei die Verbindung mit 
den in der Vergangenheit gewachsenen Kräften zu verlieren. 

Auf allen Gebieten des Lebens brechen schöpferische Kräfte hervor. Zu diesen 
Kräften, die dem Leben heute neue Bahnen weisen wollen, gehört auch die Jugend- 
bewegung. Freilich dürfen wir das Wort Jugendbewegung dabei nicht in dem allge- 
meinen Sinne verstehen, in dem wir es vielfach gebrauchen. Was man gemeinhin 
 Jugendbewegung nennt, das umfaßt zwei Richtungen, die zum Teil einander gerade- 

zu widersprechen. Die Jugendbewegung ist einmal in die Jugend hineingetragen 
worden, anderseits aus der Jugend selbst hervorgebrochen. Die Bewegung, die in 
die Jugend hineingetragen worden ist, geht von Erwachsenen aus. Sie ist ein Teil 
des großen Kampfes um die Jugend, der geführt wird, weil man an den Satz glaubt: 
„Wem die Jugend gehört, dem gehört die Zukunft“. Die Bewegung aber, die aus 
der Jugend selbst hervorgebrochen ist, strebt gerade nach Freiheit von der Herr- 
“schaft der Zwecke, sie will das Leben aus eigener Bestimmung und Verantwortung 
gestalten. Diese beiden Richtungen sind auch organisatorisch voneinander ver- 
schieden. Die eine umfaßt die Verbände, die wir im allgemeinen als Jugendpflege 
bezeichnen, die andere vertreten die Bünde, die wir Jugendbewegung im engeren 
Sinne nennen. Gleichwohl deckt sich die begriffliche Scheidung nicht vollständig 

mit der organisatorischen. Die Jugendbewegung im engeren Sinne wirkt auch in 
die Jugendpflegeverbände herein, und der Geist der Jugendpflege, der die Jugend 
für eine bestimmte Lebensauffassung erziehen will, hat auch die Jugendbewegungs- 
bünde erfaßt. Auch die Jugendbewegung treibt Jugendpflege. Sie kommt aber 
dabei zum Teil mit ihrem Wesen in Widerspruch. 

Auch innerhalb der Jugendbewegung im engeren Sinne gibt es zwei Richtungen. 
“ Die eine strebt nach Freiheit von der Herrschaft der Zwecke, weil sie überhaupt 
ungebunden sein will. Sie ist der letzte Ausläufer des modernen Subjektivismus 
und Individualismus. Die andere will deswegen von der Herrschaft der äußeren 
- Zwecke frei sein, weil sie eine Fälschung des Sinnes der Lebensordnung in ihr sieht. 
Ihr Ziel ist der im tiefsten Innern gebundene Mensch, der Ehrfurcht vor der gött- 
lichen Lebensordnung hat. Schöpferische Kräfte wohnen nur dieser Bewegung inne. 
Aber wiederum fällt die begriffliche Scheidung nicht mit der organisatorischen 
zusammen. Die Masse, die nur ihren Subjektivismus ausleben will und in der Jugend- 
bewegung eine günstige Gelegenheit dazu erblickt, hat sich allen Bünden angehängt, 
bestimmt das äußere Bild und hat die ganze Bewegung in Verruf gebracht. 

Gleichwohl sind in den Minderheiten, die die Jugendbewegung getragen haben, 
Kräfte wach geworden, die eine Neuschöpfung des deutschen Lebens erwarten 
Deutsche Jugendbewegung (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 9) 11 


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154 Deutsche Jugendbewegung 
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lassen. Diese Minderheiten stehen in allen Lagern. Es gibt hier kein Rechts und kein 
Links. Sie sind verbunden durch ein gemeinsames Lebensgefühl, durch eine orga- 
nische Lebensauffassung, und aus ihr entspringt die Erkenntnis, daß die Isolierung 
der Werte und die Atomisierung der Menschen, die das Leben in Fragmente aus- 
einandergerissen hat, überwunden werden muß in einer Synthese, die der natürlichen 
Rangordnung der Werte gerecht wird und dem Leben seinen Gemeinschaftscharakter 
wieder gibt. Diese organische Neugestaltung des Lebens soll sich auch auf Politik 
und Wirtschaft erstrecken. Die Jugendbewegung arbeitet darum nicht wie die Par- 
teien mit Kompromissen, sie strebt auch nicht nach Diktatur, sie will Synthese. Sie 
verwirft den rationalistischen Grundsatz der Gleichheit. Sie rechnet mit der Mannig- 
faltigkeit des Lebens, Aber sie verlangt Ergänzung und Zusammenfassung der ver- 
schiedenen Lebensfunktionen, der verschiedenen Werte und Rechte zu einem or- 
ganischen Ganzen. Sie will den organischen Volksbegriff als Grundlage der Politik. 
Sie verfaßt darum auch keine fertigen politischen Programme, Sie sieht in den 
Programmen Rationalismus, der entweder doktrinär und praktisch einflußlos ist 
oder darauf ausgeht, dem Leben Gewalt anzutun. Siesieht das Heilnicht im Programm, 
sondern im Menschen. Ihr Ziel ist Geist zu wecken, Menschen zu bilden, die Menschen 
in die Berufe und Einrichtungen hineinzustellen und die Berufe und Einrichtungen 
mit einem neuen Geiste zu erfüllen. 

Wer an den deutschen Geist glaubt, hält dieses Ziel für erreichbar. Er fühlt 
aber auch die Verpflichtung, Gelegenheit zu schaffen, daß die Menschen vom Geiste 
der Jugendbewegung hören und von ihm im Innern berührt werden. Diesem Ziel 
sollen ja auch die Aufsätze in diesem Hefte dienen, in denen Vertreter der ver- 
schiedenen Richtungen zu Worte kommen, so daß der Leser ein unmittelbares Bild 
heranwachsender deutscher Jugend erhält. Sie sollen Aufklärung geben über eine 
Sache, die verdient, im Volke und bei den verantwortlichen Stellen viel mehr Beach- 
tung zu finden, als es in Wirklichkeit der Fall ist. 

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uch die nationale Jugendbewegung ist einerseits Bewegung mit Jugendpflege 
A verbunden, anderseits reine Jugendbewegung. Sie geht von einer bestimmten 
Vorstellung von Nation und nationaler Größe aus und bringt diese Ideen von außen 
an die Jugend heran, sie sucht aber ebenso den Begriff von Nation und nationaler 
Größe und Wohlfahrt neu zu gestalten, 

Die nationale Jugendbewegung begann vor dem Kriege, als sich aus dem Gegensatz 
zwischen der Stellung, die das deutsche Volk zur Idee der Nation einnahm, und 
den politischen Forderungen, die die politische Lage der Nation stellten, eine starke 
Spannung entwickelte. Es war ja eines der großen Versäumnisse unserer Geschichte, 
daß das deutsche Volk nicht für den Nationalstaat erzogen wurde, der ihm durch 
das staatsmännische Genie Bismarcks geschenkt worden war. Man hat im ruhigen 
Gefühl einer auf realen Machtbesitz gegründeten Sicherheit den Kampf um die 
geistigen Ziele des nationalen Gedankens für nebensächlich gehalten und die pro- 
fessorenhaften Forderungen einer Nationalerziehung, wie sie schon Fichte erhoben 
hatte, in den Wind geschlagen. Man hat ruhig zugesehen, wie ein planmäßig ge- 
leiteter Ideenkampf dem deutschen Volke rationalistisches und materialistisches 
Denken in der Politik anerzog und nationales Denken und Fühlen vollends aberzog. 
Es hat freilich immer Kräfte gegeben, die in ihrem engeren Lebenskreise, in der 
Schule, in Vereinen und vor allem im Studententum positive nationale Arbeit 
geleistet haben, es ist insbesondere das geschichtliche Verdienst der Turnvereine, 
daß sie in ihrer praktischen Erziehung stets nationalen Forderungen Rechnung 
getragen haben. Aber als nun die Spannung, die zwischen dem Geist und der Ge- 
sinnung des Volkes und den tatsächlichen politischen Verhältnissen so groß geworden 
war, daß sich daraus eine Gefahr für unseren nationalen Bestand ergab, da ist in 
national wachen Kreisen der Wille lebendig geworden, den nationalen Gedanken 
selbst zur entscheidenden Macht in der Erziehung zu machen. Seitdem können wir 
erst von einer nationalen Jugendbewegung sprechen. Es war Jugendbewegung in 











Ernst Kemmer: Deutsche Jugendbewegung 155 








dem Sinne, daß sie von der jüngeren Generation ausging, die durch die Erfolge, die 
die ältere Generation errungen hatte, nicht gesättigt und deren Blick durch den 
- Glanz des äußeren Lebens, das uns umgab, nicht geblendet war, es wurde Jugend- 
bewegung aber auch in dem Sinne, daß sie an die Jugend sich wendete und in einer 
-vorbildlichen Jugendpflege sich auswirkte. 


Bla nationale Jugendbewegung ist bei uns in Bayern aus zwei Quellen hervorgebrochen. 
Fast zu gleicher Zeit und unabhängig voneinander ist die Pfadfinder- und die Wehrkraft- 
bewegung entstanden. 1910 wurde von jungen Offizieren, deren Blick weiter reichte als bis 
zu den Grenzen subalterner Pflichterfüllung, der Wehrkraftverein gegründet. Freilich, diese 
Offiziere haben die Krise, in der unser Volk und unser Staatsleben sich befand, von ihrer Seite 
aus gesehen. Sie haben als Rekrutenoffiziere die Erfahrung gemacht, daß unserer Jugend die 
elementaren Eigenschaften und Instinkte verlorenzugehen drohten, die sie brauchte, wenn sie 
einmal richtige Soldaten werden wollte. Und sie haben in ihrem weiteren Lebenskreis gesehen, 
daß auch unserem Volke im ganzen die elementaren Eigenschaften und Instinkte zu schwinden 
drohten, die ein Volk braucht, um seine Freiheit zu bewahren und sich im Kampf ums Dasein 
zu behaupten. Gerade die Jugend zwischen Schule und Heer, die den zersetzenden Einflüssen 
des modernen Lebens, ganz besonders in der Großstadt, schutzlos preisgegeben war, ist eine 
nationale Sorge für sie gewesen. Sie haben nicht den Drang in sich gefühlt, die Jugend zu 
militarisieren. Sie wollten auch nicht militärische Jugenderziehung treiben um der militäri- 
schen Ausbildung beim Heere vorzuarbeiten. Sie wollten nationale Gesinnung wecken, indem 
sie den Geist in der Jugend pflegten, der das Heer zur ersten nationalen Erziehungsanstalt er- 
hoben hatte. Dazu war es nicht notwendig, daß sie militärische Formen übernahmen und Sol- 
datenspielerei trieben. Aber ein Gefühl der Männlichkeit, ein stolzes Kraftbewußtsein, sozialen 
Geist und die Bereitschaft zu restloser Hingabe an das Ganze haben sie auch innerhalb des 
Rahmens der ewig gültigen Gesetze der Jugenderziehung zu wecken verstanden. 


Diese Wehrkraftbewegung ist eine durchaus bayrische Bewegung gewesen. Aber sie hat sich 
nahe berührt mit der Pfadfinderbewegung, die kurz vorher entstanden war und sich in 
rasch ausgreifender Entwicklung auf den weiten Boden des Reiches verpflanzt hatte. Die Pfad- 
finderbewegung entsprang nicht, wie die Wehrkraftbewegung, aus den Erlebnissen nationaler 
Not, die durch die marxistische Zersetzung des nationalen Geistes und durch die Verschärfung 
der sozialen Lage hervorgerufen war, sie sah die Not unserer Zeit von der allgemein mensch- 
lichen Seite an. Sie sah die Verluste des natürlichen Instinktlebens, die Verkümmerung 
wesentlicher Seiten des menschlichen Lebens, der Sinneskräfte, der praktischen Begabung, und 
erblickte darin eine Folge der modernen Zivilisation und des Stadtlebens, das den Menschen 
der Natur entfremdete. Sie ist aus den Erfahrungen entsprungen, die die Engländer in Kolonial» 
kriegen, insbesondere in den Burenkriegen gemacht hatten, die die natürliche Überlegenheit der 
von der Zivilisation nicht entarteten Naturvölker fühlbar werden ließen, aber sie ist dabei 
nicht stehen geblieben, sondern hat das praktische Problem, das sich aus den Kriegserfah- 
rungen ergeben hatte, zu einem allgemein menschlichen erweitert und sich auch die Überwin- 
dung der sittlichen Entartungserscheinungen des modernen Zivilisationsmenschentums zum 
Ziel gesetzt. Die Bewegung hat so von vornherein die Anlagen in sich getragen, zu einer 
allgemein menschlichen, europäischen oder internationalen Bewegung sich auszuweiten und 
sie hat dies auch getan. Aber die praktische Arbeit, die geleistet wurde, hatte doch großen 
nationalen Wert und darum ist sie auch von national denkenden Männern in den Dienst der 
nationalen Bewegung gestellt worden. Die vollwertigen Menschen, die die Pfadfinder erziehen 
wollten, das waren ja gerade die Menschen, die zur Verwirklichung der nationalen Aufgaben 
notwendig waren. Darum hat die Bewegung, auf Deutschland übertragen, von Anfang an in 
hohem Maß den Charakter einer nationalen Jugendbewegung bekommen. Sie hat sich eng 
mit der neuen Wehrkraftbewegung berührt und mit ihr auseinandergesetzt. Die beiden Be- 
wegungen haben, um sich nicht entgegenzuarbeiten, ihre Gebiete abgegrenzt. Die Wehr- 
kraftbewegung hat sich auf Bayern beschränkt und die Anfänge der Pfadfinderbewegung in 
Bayern in sich aufgenommen und dafür dieser in Norddeutschland freien Spielraum gelassen. 


5 Norddeutschland hatte sich indessen bereits eine andere Organisation gebildet, die äußerlich 
mit der Wehrkraftorganisation verwandt war, der Jungsturm. Man konnte seine Formatio- 
nen Jugendgruppen des Heeres nennen, wie man heute Jugendgruppen von Parteien und Ver- 
einen kennt. Sie entsprangen dem in Preußen lebendigen Soldatengeist und dienten dem Stolz 
des Preußen auf sein ruhmreiches Heer. Ihren Entstehungsgrund bildete also nicht das Er- 
lebnis nationaler Not, vielmehr die Freude am nationalen Besitz. Sie waren das Unternehmen 
von jungen Menschen, die mit instinktiver Sicherheit die Werte erkannten, die in dem Geist 


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156 Deutsche Jugendbewegung 
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des preußisch-deutschen Heeres beschlossen lagen, und in ihrer Erfüllung Befriedigung und 
Jugendglück fanden. Aber je mehr sie ausreifte, desto mehr hat sich diese Organisation mit 
der Erkenntnis nationaler Not erfüllt und ähnlich wie der bayerische Wehrkraftverein die Pflege 
einer bewußt vaterländischen und sozialen Gesinnung als vordringliche Aufgabe betrachtet. 

Indes die nationale Bewegung hatte noch weitere Kreise inihren Bann gezogen. Der Gedanke 
die Wehrkraft durch Erziehung zu steigern hatte in verschiedenen Organisationen Eingang 
gefunden und verschiedene praktische Formen angenommen. Schließlich ist aus der nationalen 
Not auch der Jungdeutschlandbund erwachsen, der von Generalfeldmarschall von der Goltz1911 
gegründet wurde. Und so wurden nun auch alle Jugendverbände, die nicht unmittelbar auf die 
nationale Bewegung zurückgingen, aber doch nationale Erziehungsarbeit leisteten, an diese 
große Bewegung angeschlossen. Die Turn- und Sport- und Wandervereine, die konfessionellen 
und Standesvereine, die über 30 an der Zahl im Jungdeutschlandbund vereinigt wurden, stell- 
ten ihre Arbeit jetzt bewußt auf den Wehrkraftgedanken ein. 


ie nationale Jugendbewegung konnte das Schicksal nicht mehr wenden. Was 
D sie durch ihre praktische Erziehungsarbeit zu erreichen suchte, das wurde bei 
der großen Probe, die unserem Volke damals gestellt war, bereits vom Schicksal 
vorausgesetzt. Das deutsche Volk hat seine Existenzfähigkeit als Großmacht 
nicht beweisen können. Es ist in einem beispiellos tiefen Fall zusammengebrochen 
und hat nicht nur seine Macht, sondern auch seine Ehre verloren. Aber gerade dieser 
unerwartet tiefe Fall hat auf der anderen Seite neue Energien geweckt. Die Gleich- 
gültigkeit und Feindseligkeit, mit der das deutsche Volk den nationalen Wert 
wegwarf, hat alle diejenigen, die wollten, daß das deutsche Volk noch eine Zukunft 
habe, mit der Erkenntnis erfüllt, daß jetzt von Grund aus neu angefangen werden 
müsse. Diese Erkenntnis hat einmal innerhalb der bereits bestehenden nationalen 
Jugendverbände den Erziehungswillen auf das geistige Gebiet gelenkt, um so mehr 
als die rein praktische Erziehungsarbeit durch die Verhältnisse seit der Revolution 
zur Einschränkung gezwungen wurde. In diesem Zusammenhang hat auch der 
bayerische Wehrkraftverein, der durch die Revolution in eine schwere Krisis ge- 
kommen war, sich in „ Jungbayern‘“ eine neue Organisation geschaffen. Zu gleicher 
Zeit aber wurde in Bayern und im Reich ein neuer nationaler Jugendbund für 
Jungen und Mädchen ins Leben gerufen, der sich Deutschnationaler Jugendbund 
nannte und sich besonders zum Ziele setzte, die starken sittlichen Kräfte und Ideale, 
die in der Geschichte der deutschen Vergangenheit nationale Bedeutung bekommen 
und sich vor allem in der Geschichte des brandenburgisch-preußischen Staates aus- 
gewirkt hatten, in der Jugend zu pflegen. 


ber weil der nationale Erneuerungswille immer wieder gebannt wurde von der 

Erkenntnis der Mängel und Schwächen unseres nationalen Wesens, faßte man 
das Problem noch tiefer an. Man sah, daß man die alten Ideale nicht einfach der’ 
Jugend und dem Volke aufpfropfen könne, man sah, daß erst der Geist unserer 
Zeit gewandelt und die Idee der Nation und des nationalen Staates von all den Män-' 
geln und Schäden befreit werden müßte, die sich in der Entwicklung des politischen, 
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ihr angehängt und von der Denk- 
und Gefühlsweise der nationalen Kreise Besitz genommen hatten. Darum ist die 
nationale Jugendbewegung nun in Verbindung gekommen mit einer anderen Jugend- 
bewegung, die bereits weiter in die Zeit vor dem Kriege zurückreichte als sie selbst, 
die aber ursprünglich nicht das Geringste mit ihr zu tun hatte, ja sich feindlich 
gegen sie stellte, nämlich mit der Wandervogelbewegung. 

Die Wandervogelbewegung war ursprünglich eine Freiheitsbewegung der Jugend. 
Sie kämpfte um das Recht der Jugend auf Jugend, sie sah in der Jugend einen 
eigenen Wert, der durch die Herrschaft der Zwecke, wie sie im modernen wirtschaft- 
lichen, staatlichen und gesellschaftlichen Leben bestand, nicht unterdrückt werden 
dürfte. Sie ist auf diese Weise in Gegensatz zu allen Bestrebungen gekommen, die 
das Leben der Jugend nationalen Zwecken und Zielen unterordnen wollte, wie sie 
zum Teil in der nationalen Jugendbewegung zum Ausdruck kamen, die gerade unter 
dem Einfluß des Krieges mehr und mehr rein militärischen Charakter angenommen 
hatte. Aber dieser Freiheitskampf der Jugend hat doch eine Bewegung entfesselt, 





Ernst Kemmer: Deutsche Jugendbewegung 157 





- die sich nicht mehr auf den Kampf um das Recht der Jugend beschränkte, sondern 
noch eine tiefere Bedeutung gewann, indem sie immer bewußter die Richtung nahm 
"auf die Bekämpfung der Schäden unserer modernen Zivilisation. Auf diesem Wege 
hat die Jugend die Schönheit und Wahrheit des von der modernen Zivilisation be- 
- drohten Volkstums ganz neu entdeckt und mit einer echten und wahren Liebe 
gepflegt. Sie hat wie die Romantik die Schönheit und Reinheit des Volkstums sich 
vor allem im Mittelalter darstellen sehen, der Zeit, wo die Renaissance noch nicht den 
" Bildungsgegensatz im Volke geschaffen und den Grund gelegt hatte zu der unseligen 
Kluft zwischen Volk und Gebildeten. Aber damit hat sie, ohne es zu wollen oder nur 
daran zu denken, der nationalen Bewegung den neuen Antrieb und Inhalt gegeben, 
der Voraussetzung für jede tiefere Erfassung des nationalen Gedankens ist, nämlich 
den Willen zur Volkstumsgestaltung. 

Aber das deutsche Schicksal ist widerspruchsvoll. Was für andere Völker, ins- 
besondere für die Slaven, die von deutscher Seite zumal durch die Lehren von Herder 
zu ihrem Volksbewußtsein erweckt worden waren, die Quelle des stärksten und 
lebendigsten Nationalismus geworden ist, das wurde für Deutschland ein Antrieb, 
den Nationalismus gerade zu überwinden. Mittelalter und Neuzeit traten auf einmal 
in der Gegenwart einander gegenüber. Menschen, die ihrer seelischen Struktur nach 
verschiedenen Zeitaltern angehörten, leben ja in der Gegenwart nebeneinander hin, 
die moderne Zivilisation breitet eine äußerliche Gleichheit darüber hin, aber in 
Zeiten der Erhebung, wenn die Seele sich in ihren Tiefen öffnet, werden die Form- 

kräfte auch vergangener Zeitalter wieder lebendig. 

Der deutsche Nationalismus der Gegenwart aber war ganz aus dem Geist der 
Neuzeit geboren. Er bejahte die Formkräfte, die zu der Entwicklung des von Bis- 
marck geschaffenen Reiches geführt, er bejahte die staatbildende Kraft, die 
den Geist des preußischen Beamtentums und des preußischen Heeres geschaffen, 
er bejahte auch den Geist der Aufklärung, der aus der Reformation hervorgewachsen 


und in der Philosophie des deutschen Idealismus und in der Dichtung der klassischen 


Periode ein das deutsche Selbstbewußtsein unendlich steigerndes Werk vollbracht 
hatte, er bejahte den Geist der nationalen Wirtschaft, der in wenigen Jahrzehnten 
den stolzen Bau der deutschen Industrie geschaffen hatte. Nun aber lebten 
die germanischen Heldenideale wieder mit ursprünglicher Macht in der deutschen 
Seele auf und sie sahen in der nationalen Wirtschaftsordnung, die auf die moderne 
Industrie sich aufbaute, einen einzigen großen Widerspruch zu der Lebensordnung, 
wie sie vor den Augen der Seele stand. Und ebenso lebte das Mittelalter in der 
deutschen Seele wieder auf, da es ein Reich gab, dessen Schwerpunkt am Rhein 
lag und nicht an der Elbe, da das Christentum eine lebendige Macht im Staate 
war und das Staatsleben von sittlichen Kräften getragen wurde und nicht von 
dem organisatorischen Mechanismus der Bureaukratie, da der Geist des Rittertums 
seine romantischen Kulturideale hervorgebracht, da der freie Geist des Bürgertums 
an Stelle des im Feudalismus untergegangenen, vom Bauerntum getragenen Volkes 
ein neues einheitliches Volkstum geschaffen hatte. Aber nun ist es einmal so bei 
uns Deutschen. Man hat scharfsichtig alle Mängel gesehen, die in der Entwicklungs- 
zeit des deutschen Nationalstaates sich in unserem gesellschaftlichen, kulturellen, 
wirtschaftlichen und staatlichen Leben ausbildeten. Aber weil man gefühlsmäßig 
zu urteilen gewohnt war und das deutsche Erbübel in sich trug, den Bruder zu hassen 
und trotz aller Hinneigung zu germanischen und mittelalterlichen und christlichen 
Kulturidealen dennoch der Eitelkeit des modernen Menschen verfallen war, hat 
man mit den Personen, die den Nationalismus vertraten, aber zugleich die Schäden 
der modernen Zeit in ihrem Wesen offenbarten, auch die Sache verworfen und den 
Nationalismus sozusagen für diese Schäden verantwortlich gemacht. 


o hat das tiefe völkische Erlebnis, das in der Wandervogelbewegung sich vollzog 
und auf der Tagung des hohen Meißners am 11. und 12. Oktober 1913 hinreißen- 


den Ausdruck gefunden hatte, keine Stärkung des nationalen Willens gebracht, 
sondern ist zu einem gefährlichen Element der Zersetzung geworden. Die Wander- 


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158 Deutsche Jugendbewegung | 
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vogelbewegung hat einmal im Kampf gegen die Schäden der modernen Zivilisation 
sich mit der international-demokratischen Lebensreformbewegung verbunden, auch 
im Nationalismus wie im Rausch Barbarei und Laster gesehen, die dem Stil eines 
reinen und geläuterten Menschentums nicht mehr entsprachen, sie hat eine mächtige 
katholische Bewegung aus sich hervorgebracht, die ihre geschichtlichen Ideale aus 
einer abgelaufenen Geschichtsperiode entlehnt und sich für den Gedanken eines 
katholischen Reiches begeistert.!) Sie hat ebenso eine sozialistische Jugendbewegung 
aus sich hervorgebracht, die sich zwar nicht gewerkschaftlich und wirtschaftlich 
an die Partei binden wollte, aber gegenüber der höheren Idee des Sozialismus, wie 
sie ihn verstand, in der staatlichen Vertretung des völkischen Gedankens nur Egois- 
mus sah und den Abstand der kulturellen völkischen Bewegung von den Formen des 
neustaatlichen Lebens nichtstark genug betonen konnte.2) Siehatsichimfreideutschen 
Lager aus dem Völkischen ins Gemeinmenschliche umgestellt und ist unter dem 
Einfluß des russischen Geistes dem Auflösungsdrang verfallen, der das abendländische 
Gesellschafts- und Staatsleben von Grund aus verwandeln wollte. 

Aber die Wandervogelbewegung hat aus sich auch eine nationale Bewegung 
hervorgebracht und diese stellte der radikalen Voraussetzungslosigkeit, die im 
problematisierenden freideutschen Lager zur Herrschaft gekommen war, den poli- 
tischen Willen zu Volk und Staat entgegen. Es ist die jungdeutsche Bewegung?). 
Sie ist im August 1919 auf dem Lauenstein begründet worden. Sie steht im Wider- 
streit mit allem Nationalismus, der mit volksfeindlichem Kastengeist gesättigt ist, 
sie steht darum auch im Widerspruch mit dem Staat, der abhängig geworden ist 
von internationalen Mächten des Kapitals und der Wirtschaft und vom nationalen 
Egoismus einzelner Klassen und Schichten. Aber sie bejaht gleichwohl mit aller 
Entschiedenheit den Staatsgedanken und fühlt daher die Pflicht, durch aktive Mit- 
arbeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einer Erneuerung des Staates zu dienen, 
die dann auch die Erneuerung des Volkes möglich macht. 


] nter dem Einfluß dieser jungdeutschen Bewegung vollzog sich nun auch innerhalb 


der nationalen Jugend, die nicht aus der Wandervogelbewegung hergekommen 


war, eine an Spannungen und Krisen reiche Auseinandersetzung zwischen Nation 
und Volk und zwischen Volk und Staat. Der neuzeitliche Geist staatlicher Willens- 
zucht, wie er im Preußentum verkörpert ist, und der schöpferische Kulturwille, wie 
er den tieferen seelischen Anlagen des deutschen Menschen entsprach, mußte nun 
in seinem inneren Widerstreit in der Seele der nationalen Jugend selbst durchge- 
kämpft werden. Die nationale Jugend war bisher von dem Inhalt ausgegangen, den 
der Begriff Nation in seiner geschichtlichen Entwicklung in der Neuzeit bekommen 
hatte, und sie hatte ihre Aufgabe nur darin gesehen, eben den geschichtlich gewor- 
denen Nationalstaat zu erhalten. Nun aber ist von der Jugendbewegung der Begriff 
Volk an sie herangetragen worden und er ist ihr in seiner ganzen überwältigenden 
Größe aufgegangen. Man sah, daß das Volk ein naturhaftes Gebilde sei und daß die 
Bindung durch das Blut eine ungleich größere, geheimnisvolle Macht und Bedeutung 
habe, als die äußerliche Vereinigung in einer Staatsbürgergemeinschaft, man sah, 
daß das deutsche Volk weit über die Grenzen der deutschen Nation hinausreiche 


und daß zum deutschen Volke auch alle Deutschen gehörten, die jenseits der Reichs- 


grenzen in dem großen mitteleuropäischen Lebensraum und darüber hinaus in Europa 
und Amerika und den übrigen Erdteilen wohnten, und daß zum deutschen Volke 
auch alle die Deutschen gehörten, die jemals über die deutsche Erde gewandelt 
und noch in Zukunft, so lange es noch eine deutsche Zukunft gibt, in die deutsche 
Blutsgemeinschaft hineingeboren werden. Man fühlte, daß sich daraus ungeheure 
Verpflichtungen der Vergangenheit und Zukunft gegenüber ergeben. 

Die nationale Jugendbewegung hat diesen Kampf und Widerstreit in sich ausge- 
fochten. Freilich, das Erlebnis vom Volk war zum Teil so elementar, daß darübe r 


!) Vgl. den Aufsatz von P. Theo Hoffmann in diesem Heft. 
2) Vgl. den Aufsatz von Ernst Drahn in diesem Heft. 
®) Vgl. den Aufsatz von Kurt Pastenaci in diesem Heft. 











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Ernst Kemmer: Deutsche Jugendbewegung 159 








auch bei ihr der Gedanke an den Staat und die staatsformenden und -erhaltenden 
"Kräfte zeitweilig ganz zurücktrat. Aber es ist anderseits doch auch in dem Geiste 
derer, denen das Wandervogelerlebnis zuteil geworden war, immer wieder als Re- 


aktion gegen den allzu romantischen Kult, der mit dem Geiste des deutschen Volks- 


‚tums und mit Lebensformen der deutschen Vergangenheit getrieben wurde, der 


harte staatliche Wille lebendig geworden, und es hat sich dann um so entschiedener 


"die Bereitschaft ergeben, auch die staatlichen Formkräfte zu bejahen, die den neu- 
zeitlichen Nationalstaat geboren, auch wenn sie mit romantischen Vorstellungen 
‚vom Geist deutscher Vergangenheit nicht in Einklang standen. 


Damit wurden die Grenzen der nationalen Jugendbewegung freilich fließend. 
Es vollzieht sich nun ein steter Wandel und eine fortwährende Umbildung, die nach 
außen das Bild der Auflösung und Zersetzung bietet, in Wirklichkeit aber nur Be- 
gleiterscheinung eines neuen Werdens ist. Dieser lebendige Umbildungsprozeß 
erschwert es aber zum Teil, von den einzelnen Bünden eindeutige Bestimmungen 
zu geben und die verschiedenen Richtungen klar gegeneinander abzugrenzen. 


er Geist der völkischen Wandervogelbewegung, der nun in dieschon bestehenden nationalen 

Jugendpflegeverbände eindrang, hat zunächst innerhalb des deutschnationalen Jugend- 
bundes und innerhalb des deutschen Pfadfinderbundes zu einer Spaltung geführt. Die Kreise, 
die den Willen zur Erneuerung des Volkstums aus gemeindeutschem und sozialem Geiste heraus 
innerhalb ihres Bundes nicht entschieden genug ausgeprägt fanden, und die Formen, in denen 
der nationale Gedanke von autoritativer Seite vertreten wurde, nicht anerkannten, haben sich 
losgelöst. So sind aus dem Deutschnationalen Jugendbund der Jungnationale Jugendbund 
und aus dem deutschen Pfadfinderbund die Neupfadfinderschaft und die Ringpfadfinder her- 
vorgegangen. Schließlich aber hat auch innerhalb der deutschnationalen Jugend diese Be- 
wegung an Boden gewonnen und dazu beigetragen, daß der Deutschnationale Jugendbund sich 
nun den Namen Großdeutscher Jugendbund beilegte. Den äußeren Anlaß zu dieser Um- 
benennung bildeten freilich die Mißverständnisse, denen der Deutschnationale Jugendbund 
ausgesetzt war, indem man in ihm vielfach eine Jugendorganisation der Deutschnationalen 
Volkspartei erblickte. Es kamen darin aber auch geistige Bewegungen zum Ausdruck, die sich 
innerhalb des Bundes durchgesetzt hatten. Heute steht die Sache so, daß sich zwischen diesen 
Jugendbünden keine scharfe Grenzlinie ziehen läßt. Wie der Großdeutsche Jugendbund neben 
der Pflege der besten und edelsten Überlieferungen des preußischen Staates und Heeres dem 
Geist der gemeindeutschen Jugendbewegung und dem großdeutschen Gedanken Einlaß gewährt 
hat, so hat umgekehrt der Jungnationale Bund in wesentlichen Teilen die Pflege des kulturellen 
Volksbewußtseins zurückgestellt gegenüber der vordringlichen Pflicht, den Staatsgedanken und 
den Wehrgedanken mit aller Entschiedenheit zu vertreten. Der Geist der Jugendbewegung 
hat ferner die auf nationaler Grundlage aufgebaute gewerkschaftliche Organisation des Deutsch- 
nationalen Handlungsgehilfenverbands erfaßt, der in enge Verbindung mit dem Jungdeutschen- 
Bund getreten ist und in den „Fahrenden Gesellen‘ sich eine Wanderorganisation im Stile der 
Jugendbewegung geschaffen hat. Der völkische Geist, den die Jugendbewegung geweckt hatte, 
hat ganz besonders die Studentenschaft, deren nationale Überlieferungen unbestritten sind, 
zu einem Zusammenschluß in einer neuen, machtvollen und von praktischem Arbeitswillen 
beseelten Organisation veranlaßt, die sich Hochschulring deutscher Art nennt und ihren Geist 
über den Rahmen ihres Verbandes hinaus auch da wirksam in Erscheinung treten ließ, wo 
besondere Fragen zu einer Trennung geführt oder den Anschluß verhindert haben. Der Geist 
der Jugendbewegung hat aber auch die Führung gewonnen bei den neueren Verbänden, die 
aus Selbstschutzorganisationen hervorgegangen sind, wie z. B. beim Bund Oberland und beim 
Jungdeutschen Orden. Daß das Wandervogel-Erlebnis sich auch mit dem Gedanken strenger 
Selbstzucht und mit der Pflege wertvoller nationaler Überlieferungen vereinigen läßt, das zeigen 
vor allem die akademischen Gildenschaften, die eine glückliche Verbindung von Jugendbewe- 
gung und Studententum hergestellt haben, das zeigen auch neue Wandervogelbünde, wie der 
weit verbreitete Adler- und Falkenbund, der eine durchaus monarchische Verfassung aufweist 
und der beim Wandervogel stark betonten Autonomie die freie und freudige Bereitschaft zu 
Unterordnung und Disziplin entgegengestellt. Ebenso hat die nationale Bewegung Einfluß 
gewonnen auf die konfessionelle Jugendbewegung, die in der Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit 
als pazifistische Organisation angesehen wird, weil die Kundgebungen der pazifistischen Rich- 
tung in ihr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit besonders auf sich gezogen haben, Es hat 
die Pflege bewußten Deutschtums, die innerhalb konfessioneller Bünde, wie z. B. bei Quick- 
born und Neudeutschland, oder bei den Köngenern und dem Bund deutscher Jugendvereine, 
geübt wird, nicht nur an sich dieselbe nationale Bedeutung, die dem völkischen Geist der 


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160 Deutsche Jugendbewegung 








Jugendbewegung überhaupt zukommt, sondern sie hat zum Teil bewußt nationale Formen 
angenommen und zu engerem Zusammenschluß der national gerichteten Kreise geführt. 


We wir von nationaler Jugendbewegung sprechen, dann sind aber auch die Organisationen 
zu nennen, die vom neuen Geiste der Jugendbewegung wenig oder gar nicht berührt sind, 
sondern in Verbindung mit politischen Parteien stehen, wie z. B. die Jugendgruppen der Deut- 
schen Volkspartei oder die Bismarckjugend der Deutschnationalen Volkspartei. Vor allem aber 
die der völkischen Partei nahe stehenden Jugendbünde, wie der völkische Jugendbund York 
und die Schilljugend. Hier kommt der staatliche Macht- und Freiheitswille besonders ent- 
schieden zum Ausdruck und hat einen neudeutschen Landsknechtsgeist erzeugt, der von 
aller Romantik und Sentimentalität frei ist. Aber auch hier wird neuerdings von maßgebenden 
Führern eine Verbindung mit dem Geist der Jugendbewegung gefordert und eine tiefe völkische 
Erneuerung aus Geist und Wille zum Ziel gesetzt. 

Im Zusammenhang mit der Vertiefung und Erweiterung der nationalen Jugendbewegung 
hat auch der Jungdeutschlandbund eine andere Zusammensetzung erfahren, die durch den 
starken Anteil der Jugendbewegung gekennzeichnet wird. Es sind ihm ganze Reichsverbände 
angeschlossen, wie der Großdeutsche Jugendbund, der Jungnationale Bund, der Großdeutsche 
Pfadfinderbund, in dem sich neuerdings der Deutsche Pfadfinderbund, die Neupfadfinder 
und die Ringpfadfinder zusammengeschlossen haben, der Bund deutscher Jungmannen, der 
Jungsturm, die Fahrenden Gesellen, der Deutsche Jugendbund Bismarck, ferner provinziell 
begrenzte Verbände wie Jungbayern, Jung-Württemberg, Jung-Schlesien, Jung-Berlin, 
Jugendbund von Alvensleben u. a. Außerdem sind an die Landesverbände des Bundes neben 
zahlreichen kleinen örtlichen Verbänden mit Teilen angeschlossen: Adler und Falken, Alt- 
wandervogel, Jungwandervogel, die Landbundjugend, Ostdeutscher Jünglingsbund, evangeli- 
sche Jungmännervereine, Bismarckjugend der Deutschnationalen Volkspartei, Jugendgruppen 
der Deutschen Volkspartei, Bund der Kaufmannsjugend im Deutschnationalen Handlungs- 
gehilfenverband, Jugendruderverbände u. a. Von weiblicher Jugend gehören ihm außer den 
mit den genannten Bünden vereinigten Jugendgruppen noch folgende Verbände an: Arbeits- 
kreis deutscher Jugend, Deutscher Jugendbund, Deutsch-akademischer Frauenbund, Jugend- 
gruppen des Deutsch-evangelischen Frauenbundes, Jugendgruppen des Königin-Luise-Bundes, 
Neulandkreis Berlin u. a. 


1); Geist der der freien Jugendbewegung erschlossenen nationalen Bünde hat 
nun, ohne dem freideutschen Übel des Problematisierens zu verfallen, die 
nationale Bewegung auch auf das weite Feld des Ideenkampfes geleitet. Die natio- 
nalen Jugendpflegeverbände im engeren Sinne haben freilich in der Stille ihre prak- 
tische körperliche und geistige Erziehungsarbeit fortgesetzt, ohne sich um Probleme 
zu kümmern. Sie haben wie der Sohn in Kleists Katechismus der Deutschen auf 
die Frage: Warum liebst du dein Vaterland ? nur geantwortet: Weil es mein Vater- 
land ist. Die Jugendbewegung aber hat getreu ihrer Überzeugung, daß der Zu- 
sammenbruch unseres politischen und nationalen Lebens durch Ideen verursacht 
wurde und daß in einer Zeit der Halbbildung die Herrschaft der Schlagworte und 
Vorurteile das entscheidende Hindernis für die Einstellung der gebildeten Schichten 
zum nationalen Gedanken geworden sei, einen Kampf mit der Herrschaft der Schlag- 
worte aufgenommen und in der Klärung des begrifflichen Inhaltes von Nation und 
nationalem Staat einen wesentlichen Teil der nationalen Aufgabe gesehen. Was 
unbeachtet von der Öffentlichkeit und den parteimäßig gerichteten Schichten unseres 
Volkes in diesem Schrifttum geleistet wurde, bedeutet tatsächlich in gewissem Sinne 
bereits die Erneuerung des deutschen Lebens und der deutschen Politik aus deutschem 
Geist heraus. Es sei hier vor allem das „Deutsche Volkstum‘, eine Monatsschrift 
von grundlegender Bedeutung, genannt, ferner die „ Jungdeutschen Stimmen“, die 
bereits 1921 ihr Erscheinen wieder einstellen mußten, und ihre Fortsetzung, die 
„Jungdeutschen -Rundbriefe‘, ferner der „Bannerträger‘, das Organ des Jung- 
nationalen Bundes, die „Nationale Jugend‘, das Organ des Deutschnationalen 
Jugendbundes, die „Deutschen Akademischen Stimmen‘, die indes 1924 ihr Er- 
scheinen auch wieder eingestellt haben, die „Deutschen Akademischen Blätter für 
das junge katholische Deutschland“, die „Schützen- und Wanderbriefe‘‘, das 
„Dritte Reich‘ des Bundes Oberland.! 

Die Jugendbewegung hat die geschichtlichen und politischen Fragen nicht mit Parteigeist 
sondern mit Wahrheitsliebe und Wirklichkeitssinn behandelt. Und darum hat sie die geschicht- 





| Ernst Kemmer: Deutsche Jugendbewegung 161 


'ichen Kräfte, die die nationale Gegenwart gestaltet haben, zu ihrem vollen Rechte kommen 
assen. Darum hat sie zur Geltung gebracht, daß der deutsche Nationalismus der Neuzeit auch 
us ewigen Kräften des deutschen Geistes erwachsen, daß der preußische Geist des Beamten- 
"ums und des Heeres, zu dem man sich so gerne in Gegensatz stellt, auch aus tief sittlichen 
Quellen des deutschen Gemüts gespeist wird und daß auch die gewaltige wirtschaftliche Ent- 
(wicklung der Neuzeit nicht möglich gewesen wäre ohne die sittliche Hingabe der Person an 
iberpersönliche Werte, die für den deutschen Menschen kennzeichnend ist. Sie hat zur Geltung 
‚gebracht, daß die tiefgreifenden Veränderungen, die der Geist des mit der Renaissance begin- 
‚aenden Zeitalters im wirtschaftlichen und politischen Leben mit sich brachte, das deutsche 
Volk zwangen, neue Formen des Lebens aus sich hervorzubringen und daß man diese Lebens- 
formen nicht ohne weiteres anklagen darf, weil sie sich von den Lebensformen der deutschen 
Vergangenheit unterscheiden. Sie hat auch geltend gemacht, daß die Schäden, die die neu- 
zeitliche Entwicklung begleiten, nicht auf Rechnung des deutschen Geistes und nicht auf Rech- 
"nung der Mächte, die bei uns in Deutschland in der Neuzeit die Führung gewannen, zu setzen 
‘seien, sondern aus dem Geist der Aufklärung sich herausbildeten, wie er in England und Frank- 
reich geprägt worden ist, und daß der Ursprung des modernen Nationalismus im eigentlichen 
‘Sinne, mit allen seinen üblen Begleiterscheinungen gerade in Frankreich und in der franzö- 
‚sischen Revolution zu suchen ist. Sie hat auch gegenüber den Angriffen, die immer gegen 
"Bismarck und die Hohenzollern gerichtet werden, darauf hingewiesen, daß die Entwicklung 
des neuen deutschen Kaiserreiches, die im Gegensatz zur westöstlichen Linie, auf der die deut- 
‚sche Geschichte ursprünglich verlaufen, auf einer ostwestlichen Linie vom deutschen Kolonial- 
‚boden aus sich vollzog und erst auf dem Umweg über einen starken preußischen Staat zum 
deutschen Reiche führte, nicht nur ein Werk Bismarcks und der letzten Jahrzehnte gewesen, 
sondern mit ihren Wurzeln weit in die Jahrhunderte zurückreicht, in denen mit dem Zusammen- 
.bruch der alten Königsmacht das neue Prinzip der einzelstaatlichen Fürstenmacht sich durch- 
setzte. Aber sie hat gleichwohl die universalistischen Bestrebungen sehr ernst genommen, 
| die zu dem egoistischen Machtgedanken des neuzeitlichen Nationalstaates in einem scharfen 
ı Gegensatz stehen und nun einmal aus dem deutschen Geistesleben nicht zu tilgen sind, mögen 
sie nun christlichen Charakter haben wie im deutschen Mittelalter oder kosmopolitischen wie 
"im 18. Jahrhundert oder von dem Gedanken einer großen wirtschaftlichen Organisation getra- 
\ gen sein, wie in den jetzt auf einen europäischen Staatenbund hinzielenden Bestrebungen. Sie 
hat sich um so mehr mit diesen universalistischen Bestrebungen auseinandergesetzt, als sie 
tief in dem germanischen und deutschen Rechtsbewußtsein wurzeln, das den Einzelnen immer 
nur als Teilhaber eines größeren Ganzen sieht und die Voraussetzung für Friede und Freiheit 
darin erblickt, daß jedem sein Recht wird. Und sie hat ebenso alle die Fragen sehr ernst 
genommen, die sich auf die Erneuerung des religiösen Geistes in unserem Volke beziehen und 
die religiöse Erneuerung als Vorbedingung einer nationalen betrachten. 





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Die nationale Jugendbewegung hat freilich in diesem Ideenkampf den Gegensatz 


zwischen den Formkräften, die das preußische und das deutsche geschichtliche Leben 


nun einmal gestaltet haben, aber den Reichtum des deutschen Lebens ausmachen, 


nicht ausgleichen können. Sie hat keine Norm für nationales Denken aufgestellt. 








preußischen Staatsgedanken in ihren freien Willen aufnahm. Und sie hat diese 
Synthese vollzogen im Geiste des nationalen Wehrgedankens, der diese Synthese 
als Lebensnotwendigkeit für das deutsche Volk erscheinen läßt. Sie hat damit den 
Weg gezeigt, auf dem allein wir uns zu einer Nation ausbilden Können. 


ie nationale Jugendbewegung befindet sich zurzeit in der Krisis, wie die Jugend- 
D bewegung überhaupt. Die Richtung, in der unser Leben sich entwickelt, bewegt 
sich gerade in entgegengesetzter Linie. Der Rationalismus, der unser ganzes poli- 
tisches Leben und unser ganzes Parteiwesen beherrscht, hält mit seinem mechani- 
sierenden Druck und Zwang alles, was Bewegung heißt, nieder, und der Kampf ums 
Dasein hat auch die wertvollsten Kräfte, die die Bewegung getragen haben, in ihren 
Bann gezogen. Die nationale Jugendbewegung verfügt nicht über die Mittel, die den 
zerstörenden Kräften in unserem Volksleben zur Verfügung stehen. Gleichwohl, 


‘ der politische Wille und die politische Einsicht, die in dieser Bewegung durch- 
ı gebrochen sind, sind Kräfte, die im Stillen weiterarbeiten, immer weitere Kreise 


Aber sie hat den Gegensatz zwischen den seelischen Erscheinungsformen des deutschen ° 
Volkes und den staatlichen Notwendigkeiten, den Gegensatz zwischen Preußisch 
und Deutsch, zwischen Potsdam und Weimar überwunden, indem sie unter voller 
' Bejahung der vielgestaltigen Fülle deutschen Kultur- und Stammeslebens den 


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162 Deutsche Jugendbewegung 


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erobern und schließlich einmal durchbrechen und auch an der Oberfläche unseres 
Lebens sich auswirken müssen. Die nationale Erziehungsarbeit, die unsere Re- 
gierung in den Zeiten des Glücks versäumt hat und die jetzt die Jugendbewegung 
mit ihren Mitteln nicht durchführen kann, haben nun die Feinde übernommen. 
Der praktische Anschauungsunterricht, den die Not unserer Zeit dem Volke gibt, 
drängt immer weiteren Kreisen mit zwingender Notwendigkeit die Erkenntnis auf, 
daß der tiefste Grund all der ungesunden Verhältnisse, die sich jetzt bei uns ent- 
wickeln und wegen deren wir uns selbst immer wieder gram sind, eben doch der 
Mangel an Lebensraum ist, und daß in der Zeit der Organisation des politischen und 
wirtschaftlichen Großbetriebes ein Volk, das leben und wachsen will, Macht braucht, 
um sich an dem Kampf um den Lebensraum beteiligen zu können. Damit ist der. 
Kern der nationalen Frage erschlossen. | 

Die nationale Jugendbewegung hat in ihrem engeren Lebenskreise bereits den 
Beweis geliefert, daß eine Volksgemeinschaft als Vorbedingung einer nationalen. 
Willensbildung möglich ist. Sie hat in der Jugend in kleinerem Umfang die Ver- 
bindungen bereits hergestellt, die in größerem Umfang in unserem ganzen Volke 
hergestellt werden müssen. Aus unseren Parteien eine Volksgemeinschaft zu bilden, 
ist ja eine bare Unmöglichkeit und darum erscheint uns der ganze Gedanke einer 
Volksgemeinschaft als Utopie. In der neuen Generation der Jugend hat aber diese 
Volksgemeinschaft bereits zum Teil Leben und Gestalt gewonnen. Die Annäherung, 
die sich zwischen der Jugend rechts und links, zumal zwischen den Jungdeutschen 
und den Jungsozialisten zu vollziehen begonnen hat, ist eine Verheißung und ein 
Symptom. Die nationale Jugendbewegung hat erfahren, was Volk sein heißt. Die 
nationale Jugend, die in der Bewegung steht, hat auch erfahren, was sozial sein heißt. 
Sie hat den Herrengeist und den Bildungsdünkel überwunden. Sie beteuert es nicht 
nur mit dem Wort, sie weiß auch im Herzen nichts mehr davon. Sie sieht in der 
werktätigen Jugend den gleichberechtigten Volksgenossen. Und die Jugend, die 
vom Sozialismus herkommt, aber in der Bewegung steht und ihre Selbständigkeit 
gegenüber der Partei bewahrt hat, hat erkannt, was die Nation ist. 

So ist die nationale Jugendbewegung, wenn wir sie als Ganzes nehmen, ein Beweis 
dafür, daß der Wille und die Kraft, eine Erneuerung unseres politischen Lebens 
hervorzubringen in unserem Volke noch lebendig ist. Erneuerungswille spricht sich 
einmal im Sinn und Ziel ihrer praktischen Bestrebungen aus. Sie will mit ihrer 
körperlichen Erziehungsarbeit nicht bloß praktischen Zwecken dienen, es darf 
darum diese auch nicht mit militärischer Jugenderziehung verwechselt werden, sie 
will vielmehr durch körperliche Erziehung die seelische Gesundheit erzielen, die 
nationalen Willen und völkischen Instinkt zur natürlichen Folge hat. Erneuerungs- 
wille wirkt sich vor allem durch den Ideenkampf aus, den sie um die Reinigung und 
Läuterung des nationalen Gedankens führt: Indem sie den Renaissancegeist tiber- 
winden will, der den Nationalismus der Neuzeit zu einer Geißel der Menschheit 
gemacht hat, indem sie an seiner Stelle die organische Lebensauffassung der Jugend- 
bewegung zur Geltung bringt, die eine soziale Rechtsordnung unter den Völkern 
fordert, gibt sie dem nationalen Gedanken wieder eine Prägung aus deutschem 
Geist. In dieser Fassung gewinnt der nationale Gedanke die Kraft, die Nation zu 
einigen und zum Kampf zu begeistern. In dieser Fassung läßt er sich aber auch 
mit den universalistischen Strebungen in Einklang bringen, die ein Erbteil des 
deutschen Geistes und der deutschen Geschichte sind. In dieser Fassung vollzieht 
sich die innere Verbindung von Nation und Volk, von Volk und Staat. Und es gibt 
dann keinen Unterschied zwischen nationaler und völkischer Bewegung. National ' 
und Großdeutsch sind eins geworden. 

Die nationale Jugendbewegung leistet also Arbeit auf weite Sicht. Sie greift 
nicht in das politische Leben der Gegenwart ein, sie schafft Grundlagen für die 
Zukunft. Einstweilen geht die Flut des politischen Lebens an ihr vorüber und spottet 
ihrer. Die Jugend aber lebt aus dem Glauben an die Zukunft. Sie lebt aus dem 


Glauben an den deutschen Nationalstaat der Zukunft, aus dem Glauben an das 
neue, das dritte Reich. 













Theo Hoffmann: Katholische Jugendbewegung 163 








Katholische Jugendbewegung 


Von P. Theo Hoffmann, $. J. in Köln 


F ist da und dort behauptet worden, daß „Katholische Jugendbewegung‘“ in sich 
‚L ein Widerspruch sei. Tatsache ist jedenfalls, daß die Jugendbewegung nicht auf 
zatholischem Boden gewachsen ist. Man mag zu Blühers Geschichte des Wander- 
ogels stehen wie man will, es ist nicht zu leugnen, daß sie die soziologischen Momente, 
velche den Wandervogel und damit die Jugendbewegung ins Leben riefen, fein 
'rschaut und dargestellt hat. Wenn man die dort dargestellten Ursachen der Jugend- 
jewegung sich vergegenwärtigt, dann wird man verstehen, daß der Katholik nicht 
"erade mit Unruhe festzustellen braucht, daß Jugendbewegung zunächst ein nicht- 
atholisches Gewächs ist. 

Jugendbewegung als Revolution setzt verrottete Zustände voraus. Zustände, wie 
ie uns Blüher in Steglitz schildert, hat der Katholizismus auch vor dem Kriege 
licht zu beklagen gehabt. Das soll kein Selbstlob sein. Es kommt zum Teil daher, 
laß im deutschen Katholizismus infolge seiner wirtschaftlichen und gesellschaft- 
'ichen Lage gar nicht die Möglichkeit zu solchen Spannungen gegeben war, wie sie 
ıns in Steglitz als typisch entgegentreten. Es war für den Vorkriegskatholiken 
virklich keine Empfehlung, wenn er mit seiner religiösen Betätigung Ernst machte. 
infolgedessen war der Gegensatz zwischen äußerer Betätigung und innerer Ein- 
itellung sicher nicht in dem Maße vorhanden wie anderswo. Sich als Katholik nach 
Ben hin zu bekennen, setzte tatsächlich auch das Dahinterstehen der ganzen 
ersönlichkeit voraus. Man sieht: das später so betonte Problem der Wahrhaftig- 
'<eit im Religiösen, wuchtete nicht mit so großer Last auf dem Katholiken. Ferner 
ıatten Gründe, die hier nicht zur Erörterung stehen, den meisten Katholiken den 
‚Weg in die höheren Kreise der Gesellschaft und damit auch in die dort vielerorts 
ierrschende Fassadenkultur unmöglich gemacht. Familien, wie die Lily Brauns 
„Memoiren einer Sozialistin‘‘) waren doch verhältnismäßig selten in ihrer unwahr- 
aaftigen Art: nach außen hin Repräsentation und Schein, innerlich ohne Kern. 
'Daß man dem Katholiken oft vorgeworfen hat, die Hinwendung zu profankultureller 
‚Betätigung sei ihm nicht in dem Maß gegeben wie seinem andersgläubigen Lands- 
mann, mag mit dazu beigetragen haben, daß der katholische Junge nicht so früh 
auf jene Bahnen geschoben wurde, in denen sich dem jugendlichen Auge nichts 
'anderes bot als Verdienst, Vorankommen usw. Wenn also Jugendbewegung ur- 
'jprünglich Protest war gegen religiöse und gesellschaftliche Verlogenheit, gegen 
'allzufrühes Töten des jungen Menschen im Berufsmenschen, so seien hier die Gründe 
angedeutet, weswegen diese Revolution nicht in katholischer Luft geboren wurde. 

Gewiß war auch der katholische Volksteil angesteckt von jener verdorbenen Luft, 
aber eines blieb ihm noch als letzter Halt: die Festigkeit und Unverrückbarkeit 
des Ideals. Unbedingte Wahrheits- und Offenbarungsreligion, wie sie der Katholizis- 
mus ist, bleibt bei allem Wechsel und Suchen und Tasten seiner Träger doch fest: 
die große objektive Norm, eben das Ideal. Darum fühlte sich der Katholizismus 
der Jugendbewegung der Meißner Formel gegenüber wesensfremd, Eine Weltanschau- 
ung, die’ das Subjekt vom Objekt, vom 'Absoluten her bestimmt, muß im Wider- 
|spruch stehen zu einer Lebensauffassung, die das Subjektive, Wahrhaftigkeit und 
' Selbstbetätigung in sich, zu den entscheidenden Lebenswerten stempeln will. Die 
Wahrheit geht dem Katholiken über die Wahrhaftigkeit, daher denn auch das an- 
|fängliche Einandermißverstehen bei bestem Willen. 
| Dann wäre vielleicht noch auf eine andere Erscheinung hinzuweisen, die es er- 
|klärlich macht, daß der Katholizismus längere Zeit der Jugendbewegung mit einer 
gewissen Zurückhaltung gegenüberstand. Allem, was nach Überbetonung, nach 
Schwarmgeisterei aussieht, steht er zunächst mit Kühle und Ruhe gegenüber. 
| Als Hüter Jahrtausende alter Weisheit und Form hält er sich allem neu aus dem 
Schoße der Zeit Ausbrechenden gegenüber zunächst zurück. Es ist nun einmal 
|'so, daß alles Neue notwendigerweise überbetont und überspitzt auftritt, da es sonst 








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164 Deutsche Jugendbewegung 








gar nicht beachtet würde. Da spricht der Katholizismus zunächst ein „Nein‘ 
und zwingt durch dieses Nein das Neue, sich mit dem Alten auseinanderzusetzen 
Maßlosigkeiten abzulegen. Erst wenn der in allem Neuen schlummernde golden: 
Wahrheitskern in dieser Auseinandersetzung herausgearbeitet ist, spricht der Katho 
lizismus sein ‚, Ja“ und fügt ihn als neuen Edelstein in die Katholizität seines Wahr 
heitsbesitzes ein. So tat es die katholische Kirche mit der griechischen Philosophie 
mit den Ergebnissen moderner Wissenschaften, so auch ist sie nun daran, es zu halter 
mit der Jugendbewegung. Klar und klarer hat sich allmählich herausgestellt, daf 
in der Jugendbewegung neben dem Negativen, dem Revolutionären, ein positivei 
Sinngehalt steckt. Wahrhaftigkeit, Selbstverantwortung, das Zertrümmern deı 
bisherigen Gesetzestafel ist der Jugendbewegung ja nicht Selbstzweck, sondern nuı 
ein Mittel, um sich frei zu machen für ihre große Sehnsucht: den neuen, den ganzen 
Menschen. Nur weil dieser von der Fassadenkultur unserer verkrusteten Gesell. 
schaft erdrosselt wurde, besonders von den Vertretern der älteren Generation, die 
sich damit abgefunden und nun junges unverdorbenes Leben zu gleicher Abfindung 
bringen wollte, nur deswegen griff die Jugend in einer Art Notwehr zur Axt. In 
diesem Sturm leuchtete immer klarer das Ziel auf: der neue Mensch und damit 
wurde die Jugendbewegung je länger je mehr Zielbewegung. Hier war der. Punkt, 
wo sich Katholizismus und Jugendbewegung begegnet sind. 


urch die erwachte katholische Jugend geht das frohe Bewußtsein, daß das, WO- 
9. dieandernnochringen, ihr ineinem voll erfaßten Katholizismusschon als Auf- 
gabe gestellt ist. Die katholische Jugendbewegung wehrt sich gegen die da und dort 
übliche Verengung des Begriffs „Katholisch‘“, gegen die Einschränkung dieses 
Wortes auf das rein Konfessionelle. Katholizität bedeutet ihr die Fülle der Werte, 
profane und geistliche, kulturelle und religiöse. Dem einseitigen, entwurzelten, 
zerrissenen Menschen von heute wieder den in sich geschlossenen harmonischen 
vollen Menschen entgegenzustellen, das ist ihr großes Wollen. Sie sieht den tiefsten 
Grund der Krankheit unserer Zeit mit der übrigen Jugendbewegung in dem Aus- 
einandergebrochensein unserer Kultur und des Menschen, der in ihr steht. Einen 
doppelten Riß glaubt sie feststellen zu müssen. Einen im Großen, draußen, einen im 
Persönlichen drinnen. Der eine stellt Gottesdienst gegen Weltdienst, gegen eine 
gottlose Wissenschaft, gottlose Politik, gottlose Wirtschaft, die seit der ‚Renaissance 
einsetzen und sich heute in ihren letzten Konsequenzen auswirken. 


Der andere klafft zwischen Berufstum und Menschentum. Der Beruf ist eine Last, 
die man trägt, so lange man muß, und dann abwirft, um sich für ein paar Stunden 
im Strudel der Vergnügungen zu ‚vergessen‘. Dieser äußeren und inneren Zer- 
rissenheit gegenüber setzt die katholische Jugendbewegung wieder die Totalität 
ihrer Auffassung. Sie betrachtet es als häretisch, eine autonome Wissenschaft, 
autonome Politik, autonome Wirtschaft aufzustellen. Es kommt darauf an, alle 
diese Dinge wieder — man möchte sagen — im kosmischen Zusammenhange zu 
schauen, einen Punkt zu finden, von welchem aus sie alle wieder geeint werden 
können. Dieser Mittelpunkt liegt für sie im Religiösen. 


Das Ideal der katholischen Jugendbewegung ist also nicht rein religiös, sondern 
die Harmonie des Religiösen und natürlich Schönen. Sie weiß, daß es ein vergeb- 
liches Unterfangen ist, an den zerrissenen Menschen von heute auch noch das Reli- 
giöse einseitig heranzutragen. Sie bekennt sich zu dem Satz Tertullians von der 
„anima naturaliter christiana‘“ und ist davon durchdrungen, daß wieder frucht- 
barstes Ackerland für das Religiöse aufgebrochen ist, wenn es dem Menschen von 
heute wieder gelingt, natürlich, schlicht und einfach zu werden. Erhabenstes Vor- 
bild dieser neuen Lebensgestaltung ist ihr Christus. Mag es Beruf und Sendung 
dieser und jener Jugendbewegung gewesen sein oder noch sein, die Menschen durch 
betonte Einseitigkeit aufzurütteln, das Höhere, Größere scheint der katholischen 
Jugendbewegung: diesen harmonischen Menschen still und schlicht unserer Zeit 
vorzuleben. So ist es nicht zu verwundern, daß z. B. die Neudeutsche Jugendbewe- 





























































» 





N Theo Hoffmann: Katholische Jugendbewegung 165 





tung nicht etwa einen Johannes in seinem einseitigen Eifer, seiner schroffen Ab- ae 
ehnung, sondern Christus in seiner vollendeten Harmonie zu ihrem Ideal erkoren hat. Be! 
‚. Diesem Christus als Idealmenschen, wie er einst durch Palästina gegangen ist, 1:8 
lt die große Liebe der Jugendbewegung, aber nicht nur seiner geschichtlichen ie 
Persönlichkeit, sondern auch seinem mystischen Fortleben. Jene uralte Lehre des 
‚a. Paulus von dem in seiner Kirche fortlebenden Christus ist, wie man wohl sagen 
kann, einer der Lieblingsgedanken der katholischen Jugendbewegung. Mit diesem 
Christus sakramental-seinshaft immer inniger sich zu verbinden und in dieser Ver- 
‚Jindung nicht nur immer inniger in Gott hineinzuwachsen, sondern auch unter- 
‚inander sich immer brüderlicher zusammenzuschließen, ist ihre große Sehnsucht. | 
‚Daher die zentrale Bedeutung der liturgischen Bewegung, die ja gerade dieses | 10 
‚jeinshafte, sakramentale Hineinwachsen in das Göttliche zum Kernstück ihrer Eli 
‚Bestrebungen gemacht hat.| 


| ies vorausgeschickt, erklären sich die folgenden Leitsätze des Neudeutschen e: El 
| Bundes, wie von selbst: 2 


Unser Ziel: Die neue Lebensgestaltung in Christus. 

“  Neudeutschland will eine Zielbewegung sein: Jugendliche Menschen sollen im Bunde reifen, 
"im späteren Leben innerlich katholisch zu sein und ebenso klar und bewußt für ihre katholischen 
"Grundsätze einzutreten. Wahres Apostolat ist ein Wesensmerkmal unseres Bundes. Also 
Lebensgestaltung in unserer eigenen Persönlichkeit und in unserer Umwelt. 

, Neu ist diese Gestaltung, weil sie geschieht auf dem Wege der gesunden Jugendbewegung. 
"In Christus als dem letzten Urbilde gewinnt diese neue Lebensgestaltung den heute vielfach 
verloren gegangenen Einklang zwischen Religion und Leben, Kirche und Kultur. 


" Unser Weg: 1. Sinn und Wille zu gesunder Jugendbewegung oder natürliche Grund- 
lagen der neuen Lebensgestaltung. 
"Sinn für Natürlichkeit. ‚‚Sinn‘“ bedeutet uns nicht eine Rassenanlage, sondern ein psycholo- ’ 
| gisches Empfinden für die seelenlose Unnatur unserer Zeit. Pflegen wollen wir diesen Sinn # 
" durch Singen, Wandern und Spiel, durch Pflege des Volkstums und des Verwurzeltseins I 
" mit unserer deutschen Heimat. All dies vertieft in uns die Liebe zu unserem Vaterlande. 

‘ Wille zur Tat. ND braucht schöpferische und schaffende Menschen. Der Drang zum Leben I 
| muß sich äußern in der praktischen, zielbewußten Arbeit in der Gruppe. Sie ist ein Prüfstein En 
' für die Bundestreue. Unser Vaterland ruft nach Menschen, die helfen wollen. 

Wille zur Gemeinschaft. Das große Ziel und unsere geringe Kraft verlangen einen festen 
Bund und feste Gruppen. Die nur auf Sympathie gebaute Gruppe ist eine Scheingemeinschaft 
‚ und entnervt. Wir wollen Bruderliebe und Bruderarbeit auch da, wo persönlich innere Bande 
' nicht vorhanden sind, und wir wollen treue Gefolgschaft dem Führer. Nur so gewinnt unsere 
" Gemeinschaft Stoßkraft. Diese Stoßkraft stellen wir in den Dienst der noch höheren Gemein- 
| schaft unseres Volkes. Als Deutsche sind wir alle Brüder. 

' Auf diesen seelischen Forderungen als der natürlichen Grundlage der neuen Lebensgestaltung 
baut sich in organischer Einheit und Vollendung das Reich der Übernatur, die Lebensgestaltung 
"in Christus. 

| 2, Ernster Wille zu innerlich echtem Katholischsein oder die übernatürliche Vollendung in 
' Christus. 





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| | 

\ Christus als Einzelpersönlichkeit ist das erhabenste Vorbild auch in allem rein menschlich N 
, Schönen und Feinen. Seinem gottmenschlichen Leben streben wir nach in einer bewußten, reli- 
ı giösen Selbsterziehung. Praktische Mittel sind vor allem ein inniges eucharistisches Leben, 

, Pflege der Liturgie, Marienminne, Exerzitien, Seelenführung. Die Nachahmung der Persön- ‘ 

| lichkeit Christi, der Sinn für das Übernatürliche ist uns die katholische Verklärung der For- FE 

\ derung: „‚Sinn für Natürlichkeit“. Eh 
Christus als Führer ruft seine Mannen im Bunde, die sein Zeichen tragen, zu treuer Gefolg- ’R 


rn en NETT er FEAR RER EHE ET un BER FL 
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schaft. Wir wollen seine Jünger sein, helfend und dienend unseren Brüdern. Unter seinem 
Banner kämpfen, leiden, siegen wir. 

| Christus als Haupt der Kirche. Die Kirche ist unsere ideale Gemeinschaft. In ihrem Vater- 
‚ haus geborgen bejahen wir sie in tiefster Liebe: Die katholische‘ Verklärung des Willens 
| zur Gemeinschaft. Freudig gehorchen wir unseren Bischöfen und hören auch gerne 
| ihren Rat. Besonderen Wert legen wir auf ein vertrauensvolles Verhältnis zum Katholi- 


| schen Priester. 


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166 Deutsche Jugendbewegung 


enn wir hier besonders auf die Neudeutschen Leitsätze hinweisen, so wolle 
\X wir damit die Neudeutschen nicht als die einzige katholische Jugendbewegun 
hinstellen. Schon ehe Neu-Deutschland, das ursprünglich im Jahre 1919 als kathc 
lischer Gymnasiasten-Verein gegründet war, in die Jugendbewegung einmündete 
bekanntesich auf katholischer Seite zur Jugendbewegung die „Großdeutsche Jugend 
und der ‚Quickborn‘. Der Quickborn, herausgewachsen aus den schon vor der 
Kriege bestehenden Buben- und Mädchen-Abstinenten-Gruppen, welche von der 
Franziskaner-Pater Elpidius gegründet waren, erlebte seinen Frühling gleich iı 
den ersten Nachkriegsjahren, wovon noch heute Schriften wie Guardinis „Wehende 
Geist‘“ zeugen. Es werden wohl heute an die 8000 sein, die sich im Quickborn zu 
sammengeschlossen haben und vor allem in dem Berliner Professor Romano Guardin 
ihren geistigen Mittelpunkt sehen. In ihrer Zeitschrift „Die Schildgenossen“ greif! 
die Bewegung über sich hinausgehend ins weitere Kulturleben ein. Auf Burz 
Rothenfels am Main hat sie sich auch äußerlich einen Brennpunkt geschaffen, von 
dem aus immer wieder Antriebe ins Land hinausgehen). 


Mehr noch als Neu-Deutschland und Quickborn verzichtet die Großdeutsche Jugend 
auf alles Organisatorische, eine verhältnismäßig kleine Schar starker Persönlich. 
keiten, die überall in ihrem Sinne Einfluß zu gewinnen sucht. In der Beilage ‚‚Groß- 
deutsche Jugend“, der Zeitschrift ‚‚Das heilige Feuer‘ und auch in der im Verlag 
der Scholle, Berlin, erscheinenden Zeitschrift „Frohes Leben‘ haben diese Kreise 
sich ein scharf tönendes Organ verschafft. 


Wie wir schon andeuteten, hat sich Neu-Deutschland nicht von Anfang an zur 
Jugendbewegung bekannt, der Durchbruch derselben in Neu-Deutschland erfolgt 
erst auf dem Bundestag von Normannstein Pfingsten 1922. Das Organ dieses etwa 
15000 Jungen (meist Schüler an höheren Lehranstalten) umfassenden Bundes, der 
im Gegensatz zu Quickborn und Großdeutscher Jugend ein reiner Jungen-Bund ist 
(also Mädchen ausgeschlossen), ist der „Leuchtturm“, Verlag Josef Bercker, München, 
neben den für die Jüngeren „Die Burg‘ aus demselben Verlag tritt. Die aus Neu- 
Deutschland herauswachsenden Studenten und Werktätigen schließen sich im 
Großen Neudeutschen Bund zusammen. Ihre Zeitschrift ist „Die Kreuzfahrt“, 


Es würde zu weit führen, noch den Durchbruch des Jugendbewegungsgedankens 
in den älteren katholischen Vereinen zu verfolgen, die sich in größeren oder kleineren 
Teilen vom neuen Geist erfassen und es dadurch mitunter zu Abtrennungen kommen 
ließen. So hat sich ein Großteil der katholischen werktätigen Jugend im „, Jung- 
born“ zu einer lebendigen Gemeinschaft zusammengefunden, so haben sich vor 
einigen Jahren vom Jungmännerverband in Düsseldorf die „Kreuzfahrer‘ getrennt. 
Hier und da hat sich auch wie überall in der deutschen Jugendbewegung ein starker 
Drang zu Partikularismus und Sonderbündelei gezeigt. Es wäre sehr bedauerlich, 
wenn die an sich wünschenswerte und notwendige Gliederung der katholischen 
Jugendbewegung sich zu einer wirklichen Trennung und Entfremdung der ein- 
zelnen Bünde auswachsen würde, eine Gefahr, vor der neuerdings Pater Noppel in 
den „Stimmen der Zeit“, Januar-Heft 1926, warnen zu müssen glaubt. Die be- 
dauerliche Folge solcher Trennungen wäre ja, daß die in der katholischen Jugend- ' 
bewegung aufgebrochenen Kräfte nicht ins Volksganze hineinströmten. Es wäre 
zu schade, wenn die mit Recht durch die Jugendbewegung gehende Flucht vor der 
Masse eine Flucht vor dem Volke würde, schade für die Jugend und schade für das 
Volk, dem sie einen zwar nicht immer bewußtwerdenden, aber wirksamen Beruhi- 
gungsvorwand geben würde, sich in der überkommenen Ruhe nicht stören zu lassen. 
Gerade in seiner Weltauffassung, die ihm durch das Dogma geboten wird, sind 
dem katholischen jugendbewegten Menschen ja die Anknüpfungspunkte gegeben, 
von denen aus die von der Jugendbewegung so sehr ersehnte Gemeinschaft 
wachsen muß. 


!) Vgl. den nachfolgenden Aufsatz eines Quickborners. 





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Josef Pfister; Wir Quickborner 


Wir Quickborner 


"ber Quickborn kann ich keine Öffentlichen Erklärungen abgeben. Das letzte Oster- Na Mi 
thing forderte als Voraussetzung der Bundangehörigkeit: katholischen Glauben, Jugend- 4 
ewegung und Abstinenz. Diese Voraussetzungen sind das einzige, was man allgemein gültig 
on Quickborn aussagen kann. ; 
"Die gegenwärtigen Verhältnisse Quickborns lassen sich aus den Herbsttagungen 24/25 und ei 
em dazwischenliegenden Osterthing begreifen. Drei Lebenskräfte des Bundes wirkten sich 4 j 





















































weils gesondert aus. Man kann sie bezeichnen als einen schöpferischen Willen zur Kultur, 
inen lehrhaften Willen zur Bildung, einen sittlichen Willen zum Gesetz. Ihre fruchtbare 
usammenordnung wäre erste Aufgabe des Bundes. Seine besondere Krise besteht darin, daß 
eunverbunden neben und gegeneinander wirken. Die Lösung dieser Krise bliebe somit zu- 
Jächst einer menschlichen Gesinnung, überlassen. Die eigentliche Entscheidung hängt aber 
on sachlichen Bestimmungen ab, zuletzt vom Leben der Jugendbewegung selbst. 


ie Herbsttagung 1924 sprengte die geistige Selbstgenügsamkeit des Bundes und gab den 

nach Gesamtkultur drängenden Menschen den Auslauf frei. Sie war ein notwendiges, 
Inmaliges Ereignis. Seltene Schaffensgemeinschaft zeichnete sie aus: Gebende und Nehmende 
‚aren kaum zu scheiden. Die Themata der meisten Kreise waren fast nur Vorwände, Brücken, 
im in neues Land zu kommen. 
‘ Für den Bund als geschlossene Gesellschaft hat sie nicht durchweg vorteilhaft gewirkt. Sie 
shlug das große Loch, durch das ein Teil der tüchtigsten Leute abgezogen ist. Ob der Grund 
‚ieser Abwanderung in dem ‚‚Lebensdrang‘‘ der einen oder dem Unverstand und der Mißgunst 
‚er andern zu finden ist, kann ich nicht entscheiden. 

} Die Herbsttagung 1925 war ein Gegenstück. Die Teilnehmer holten sich Belehrung, die 
Kursleiter gaben ihr Wissen dankbaren Hörern, jungvergnügte Geselligkeit entstand. Als wert- 
‚olles Bildungsmittel ist diese Tagungsart immer nötig. Die Notwendigkeit eines Lebens- 
rozesses aber fehlt ihr. 

Das Osterthing 1925 galt dem Bund. Abbau ‚‚jugendbewegter‘‘ Einbildungen und Neuordnung 
res Bundes waren seine Aufgaben, sachgemäße Einordnung in Lebensganzheitsein Richtgedanke, 
Sie erkennen in dieser Haltung die Triebkräfte der vorhergegangenen Tagung wieder, die 

ich diesmal kritisch auswirkten. Die ungeordneten Bundesverhältnisse und sehr trübe Er- 
ahrungen gaben den Beschlüssen eine Unbedingtheit, die lebendigen Entwicklungen gefähr- 
‚ch wurde. Verstehen Sie die folgenden Erklärungen also zeitbedingt! 

Der Bund vertritt keine politische, wirtschaftliche, lebensreformerische oder religiöse 
onderart. Er vollzieht keine öffentlichen Handlungen und unterhält keine Betriebe mehr. 
lie Quickborner werden auf Enthaltsamkeit von Alkohol und Nikotin verpflichtet. (Bisher 

‚rar nur die Enthaltsamkeit von Alkohol erklärter Brauch. Die Verschärfung ist beeinflußt 
'urch eine gefühlsmäßige Reaktion auf die anfängliche Ratlosigkeit des Things und auf 

‚nträge, die die Auflösung des Bundes forderten.) 
" Diese Erklärungen befreiten die wirklich Tätigen von lästigen Angriffen und Bundesverant- 
ortungen. Dem Bund wiesen sie einen Weg zu neuer Verinnerlichung. Er ging ihn nicht, 
ie Herbsttagung 1925, die den ‚‚Stillen im Lande‘ zugedacht war, hätte dann notwendiger 
(in müssen. Daß ihre Veranstalter heute allein den Ton angeben, darf Sie über eine tiefere 
‚eklemmende Resonanzlosigkeit nicht hinwegtäuschen. 

Ich darf hier ein Wort über jene Stillgetreuen einschalten. Da ihr Dasein nicht Öffentlich, 
'icht nach Tagungen und Artikeln meßbar ist, werden sie leicht übergangen. Sie sind die 
Ferborgenen Wurzeln, die jede gesunde Gemeinschaft nähren und halten. Ihnen fallen auch 
jeder die Früchte zu. Sie sind Hüter der Ideale, Zuflucht den in offenen Kämpfen oft Ver- 
weifelnden. Ihnen ist Bund und Jugendbewegung nur ein Ahnbild; ein Pfad zu einem 
inaussprechlichen Ideal. Man spürt es vielleicht, wenn man gut ist einander. 
1 Wer die gläubige Verbindung mit den Stillen verliert, stirbt der Gemeinschaft bald ab. Bloße 
Kulturarbeit und Neugeisterei halten keinen Bund von Menschen. Er muß wurzeln in gediege- 
Jam Menschentum, das durch Liebe, Bildung, Zucht und Treue lebendig wird. 
ü Dieser ethische Wille kennzeichnet die Anfangszeit der Jugendbewegung. Er meldete sich 
hieder stärker zu Ostern in Form des Abstinenzgesetzes. Da dieses uns ein sinnbildliches Opfer 
t, dessen Begründung jedem frei steht, sind wir keine Abstinenzbewegung. Die Enthaltsam- 
lsit von Giften als Zeichen der Bundangehörigkeit ist geschichtlich bedingt. Vielleicht naht 
I'hon die Zeit, die dieses Zeichen fällt. Eine unglückliche Entwicklung hat es, wenn nicht 
Jillentlich so doch tatsächlich, zur Entscheidung gesetzt über Menschen und über den Bund. \ 
jazu fehlt ihm aber die natürliche Berechtigung. Als Gesetz des freien Willens darf die Ent- e 
| altsamkeit keine tyrannische Klausel werden, die um Äußeres willen inneres Leben zerstört. 


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168 Deutsche Jugendbewegung 


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M* irrte sich, suchte man im Abstinenzgebot die Krise der Gegenwart. Wohl dient e 
allzuoft als bequemes Plänkelgebiet für persönliche Angriffe und Rechtfertigungen. Di: 
Grundfrage sucht den Sinn der Jugendbewegung,. 

Schroff setzen heute die Parteien ihre Folgerungen gegenüber. ‚Die Jugendbewegung ha 
ihre Aufgabe erfüllt, wir können auseinandergehen,“ erklären die einen. ‚‚Wohl ist die Empö 
rung zu Ende“ die andern, die Aufgabe bleibt. Wir haben sie nur anders zu erfüllen.‘ 

Die verschiedenen Überzeugungen hängen ab von den verschiedenen Auffassungen übe: 
Bund und Jugendbewegung. Versteht man sie nur als Auflehnung gegen eine bürgerlich: 
Zeit und den Aufstand neuer Ideale, rechnet man folglich nur einen bestimmten Menschenschut 
zu ihr, dann ist sie beendet. Die Quelle bricht sich nur einmal Bahn zum Licht. Wie die erster 
Wellen stets auch das Laufbett graben, so tragen die Menschen einer Durchbruchszeit auch 
lebenslang das Zeichen des Kampfes. Immer neue Durchbrüche haben sie zu vollziehen. Fän. 
den sie noch soviele Weggefährten, gebahnten Weg finden sie nicht. Müßten sie nicht verzwei- 
feln, müßten sie nicht versickern, drängten ihnen nicht jüngere Wellen nach? — 

Versteht man aber unter Jugendbewegung die neue Lebensquelle selbst, dann gehören auch 
die folgenden Generationen zu ihr. Freilich wird sie dann nur die besondere Form von etwas 
viel Tieferem. Das lebte schon vor ihr in einzelnen Menschen; neben und nach ihr formt es 
die Geister; es wurde in ihr die geschlossene Empörung, weil es einmal gewaltig ans Licht 
mußte. Für diese Auffassung ist Bund auch nicht mehr der trübe Brodelkessel aufbrechender 
Strudel. Er wird ein bewußt gelegter Kanal, der die Wildbäche einfängt zu gesammeltem 
Lauf und geordneter Arbeit. 

Damit ist auch die Frage beantwortet, ob Bund heute noch möglich sei. Sinnlos wäre er 
gewiß nicht. Ob notwendig, weiß ich nicht. Er hätte zwei Aufgaben zu erfüllen: Erziehung der 
Jüngeren und vernünftige Verwirklichung dessen, was man den ‚‚neuen Geist‘ zu nennen 
beliebte. Man sagt zwar, der gegebene Ort dafür seien die Berufs- und Lebenskreise, die Pfarr- 
und Ortsgemeinden. Diese schließen den Bund aber nicht aus. Er bietet im Gegenteil durch 
eine gewisse Gesinnungsgleichheit seiner Menschen viel günstigere Möglichkeiten. Er ist ja 
auch nur ein Mittel unter den vielen, die uns ein bestimmtes Menschenideal erfüllen helfen. 
Man zerbreche endlich den Glauben, Bund sei selbst Jugendbewegung. Ist er doch nur Boden, 
auf dem sich zusammengehörige Menschen leichter treffen können zu ihrer Arbeit, ihrer Freun- 
schaft, ihrer Not und ihrer Freude. 

Bisher riefen die Führer zum Sturm. Das war leicht. Menschenbildung ist eine schweig- 
samere, schwierigere Aufgabe! Sie darf nicht mehr fabrikmäßig wie bisher getrieben werden, 
da man den Quickborn aufs philosophische Maßbrett spannte und ihn wahllos mit liturgischen, 
kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und hygienischen Rezepten verdokterte. Mancher 
Fehler wäre gutzumachen, manche Schuld wäre abzutragen. 


Sie werden mich fragen, worin denn nun die ernste Daseinskrise der Jugendbewegung bestehe. 
Die beiden Auffassungen seien doch nur ein gradueller Unterschied eben von Auffassungen, 
aber keine Gefahr für wirkliches Leben. Das wirkliche Leben — dieses ist die Krise.! 


Wieder zog sich eine Führerschicht aus dem öffentlichen Leben des Bundes zurück, durch 
Beruf und Entwicklung genötigt. Mit ihr trat eine Generation in den stillen Hintergrund. 
Eine jüngere hatte sie nicht verdrängt. Es gähnt eine Leere. 

Ist sie Pause oder Ende? Bleibt die nächste Generation aus? Werden wir sie als gewandelte 
Jugendbewegung erkennen? Oder hat sie nur unser Äußeres? Die Zeichen lassen sich so 
deuten und so. Noch kann man nichts sagen. Darum das beklemmende Warten, darum die 
zersetzenden Zweifel, darum die Krise. 

Man hüte sich vor Schwarzseherei und vorschnellen Entschlüssen! Noch nicht haben jene, 
die alles im voraus wußten, das Recht, über die Jugendbewegung zu triumphieren. Noch 
nicht dürfen jene, die mit dem Bund schon fertig sind, über ihn erhaben tun. 

Zu Quickborns besten Eigenschaften gehörte die programmlose Selbstverständlichkeit seines 
Daseins, sein Gehorsam gegen aufkommende Notwendigkeiten. Sollte heute kein tieferes 
Gebot den Bund mehr fordern, sollten die Menschen fehlen, das Gehäuse mit Leben zu füllen, 
dann sei er ruhig gewesen. In unbekümmertem Glauben wollen wir tun, was die Stunde von 
jedem verlangt. Dieses ist gut.!) 


Münster i.W. Josef Pfister. ° 


!) Diese Zeilen sind vor dem Bundesthing Ostern 1926 geschrieben, das manche Voraussagen 
bestätigt hat. In richtiger Erkenntnis, daß der Großteil treibender Kräfte nicht mehr im’ 
Bunde ist, wurde dieser bis zu einer nächsten Tagung aufgehoben. Die „Bewegung“ soll sich 
wieder neu und ungehemmt durchsetzen können. | 








Jugendbewegung und Protestantismus 169 








Jugendbewegung und Protestantismus 
Von Lic. Dr. Leopold Cordier, Pfarrer in Elberfeld 


ugendbewegung ist der Wille der Jungen zum Neuanfang. Jeder Neuanfang 
3 muß mit dem Urdatum beginnen, muß den einen festen Pol in Rechnung setzen, 
dessen Leugnung Selbstauflösung bedeutet: das eigene Ich. Nicht als Selbstsucht 
steht die Autonomie am Eingang der Jugendbewegung. Es ist die naturgegebene 
Notwendigkeit, daß nicht die Tat, nicht die Welt, sondern zuerst das Ich gesucht 
wird, das sich im Wandervogeltum seine eigene Welt schafft und im Freideutschtum 
sich den Puls fühlt. Wer in diesem Sinne des Neuschaffenwollens nicht das eigene 
Schöpfer-Ich erlebt, wird Jugendbewegung im Grunde niemals verstehen können. 

Der Mensch der Jugendbewegung ist ausgezogen, mit dem Urgestein des Lebens 
die eigene Welt zu bauen, die ihm von Anfang an gegeben ist, und nun greifen in 
sein autonomes Leben alle die fremden Erlebnisreihen ein, die sein Eigenleben be- 
drohen; nun liegen die Baugeräte an seinem Wege, mit denen man seit alters Leben 
gebaut. Er muß den Wettstreit des Lebens aufnehmen, muß die Eisenträger prüfen, 
die von anderer Hand für die Brücke des Lebens gespannt sind, weil er mit ihnen 
zusammen über Lebensbrücken schreiten muß. In diesem Zusammenprall der 
Lebenskreise kommt es unverlierbar zur Geltung: ich bin kein freischwebendes, 
ruhendes, für sich seiendes Wesen, sondern ein in Beziehung gesetztes, schaffendes 
Ich! In dieser Erkenntnis steht heute die Jugendbewegung. 


m Ringen des zu seiner Größe und zu seiner Not erwachten Ich ist der Mensch 

der Jugendbewegung dem Protestantismus begegnet. Er entdeckt im Prote- 
stantismus die Größe und die Not des erwachten Ich, aber auch dessen Befreiung, 
er entdeckt den Rhythmus des Lebens, der ihm eigen ist, die Fieberschauer, die auch 
ihn ergriffen haben; zugleich aber auch einen Heiltrunk, der Genesung verspricht, 
einen Durchblick, der über die Krisen hinaushebt in Glauben und Verheißung. 

Der Protestantismus ist für die Jugend ein alter Bekannter. Auf dem Boden des 
Protestantismus hatte sich die erste Befreiung des jugendlichen Menschen vollzogen, 
hatte man das ‚„, Jugendalter‘ abgelöst vom „Kindheitsalter‘ und freigegeben gegen- 
über dem Erwachsenenzustand. Sonderbare Heilige sind es freilich vielfach gewesen, 
jene pietistischen Väter, die vom Herzpunkt her das jugendliche Alter zuerst zum 
selbständigen Lebenselement gemacht und das verselbständigte Lebensgefährt 
mit der schweren Last der jugendlichen Bekehrung befrachtet haben. Man sehe 
von der uns heute erschreckenden Form ab: eine Großtat ist es doch gewesen, daß 
der Pietismus das religiöse Leben der Jungen so verselbständigt, so hoch gewertet 
hat! Die Aufklärung hat diese Wertung ihrem Sinne gedeutet. Unsere großen 
Dichter und Denker konnten zu einer Gemeinde erwachender jugendlicher Geister 
und in ihrem Namen reden. Auf der Wartburg feierte eine erwachte Jugend ihr 
Fest und war sich bewußt, das Erbe der Reformation als geweihte Gabe in Händen 
zu tragen. Was „Bewegung“ ist in der evangelischen Jugendarbeit des 19. Jahr- 
hunderts, in den Jünglings- und Jungfrauenvereinen, in C. V. J.M. (Christlicher 
Verein junger Männer) und B. K.-Arbeit (Bibelkreis), hat sich immer erneut Trieb- 
kräfte schenken lassen aus der Verselbständigung jugendlicher Frömmigkeit auf 
dem Boden des Protestantismus. 

Der kurze Rückblick mag zur Erhärtung des Satzes genügen, daß der Prote- 
stantismus für das Urdatum der Jugendbewegung, für die Autonomie, den rechten 
Hintergrund zu bieten vermag. Der Protestant ist von Hause aus der Mensch der 
religiösen Selbstverantwortlichkeit. Er steht unmittelbar vor seinem Gott. Er 
kennt keine Zwischenschaltungen, die die Wirkung des göttlichen Kraftstroms ab- 
schwächen könnten. Damit ist ihm der höchste Adel zugesprochen, den es geben 
kann. Auf dem Boden des Protestantismus ist eine religiöse Meißnerformel gut denkbar. 

Aber diese religiöse Autonomie ist zugleich ein schwerstes Gericht. Der Prote- 
stantismus setzt den Menschen der denkbar größten Krisis aus: der Einsamkeit 


Deutsche Jugendbewegung (Süddeutsche Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 9) 12 


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170 Deutsche Jugendbewegung 








vor Gott. Einsamkeit vor Gott ist Leben oder Tod, ist letzte Leben-Setzung oder 
Verzweiflung. In der Einsamkeit vor Gott packt den Protestanten ein verzehrendes 
Fieber: kann ein Mensch überhaupt aufschauen zum Heiligen, muß er nicht ver- 
gehen vor dessen Angesicht? So vollzieht sich für den protestantischen Menschen 
in der unmittelbaren Nähe vor Gott jenes „Stirb und Werde‘; wir sterben an dem 
Ich, das sich in den Bereich Gottes hineinwagt, um es aus der Hand Gottes zu 
empfangen. Wir schreiten von der Autonomie, der Selbstbestimmung, zur Theo- 
nomie, der Gottbestimmtheit. Wir stehen vor dem letzten Grund des Protestantis- 
mus, der Gottbejahung des Sünders. Jesu Leben und Sterben ist nichts anderes 
als das Siegel auf die Bejahung einer irrenden, sündigen Welt durch den Gott, der 
sie liebt. So steht am Anfang des Protestantismus keine Tat des Menschen, der 
sich an die tätige Welt hingibt, keine Organisation, die uns in ihre Kraft aufnimmt, 
kein menschlicher Wille, der uns will, sondern die völlige Leere hier und die Fülle 
des ganz andern dort, das uns in seinen Willen und sein Wesen aufnehmen will. 
Es ist der Sterbensweg des Ich, das sich wie Mose hineinwagt in Gottes Feld, zum 
heiligen Busch, dem aber ein verzehrendes ‚Ich bin‘ entgegentritt, das den Willen 
fesselt, zerschlägt, neu gebiert, zur Auferstehung in Gottes Willen bringen will. 
Von diesem Todesgang aus treten wir dann frei und froh in die Bereiche des Lebens, 
„vor Pharao“, hin; wir empfangen die ganze Welt aus der Hand unseres Gottes, die 
„getroste Verzweiflung‘ führt in die Freiheit der Kinder Gottes. Das Wagnis 
der Autonomie im Protestantismus ist unter dem Kreuz in die Christonomie ver- 
wandelt: „Ich lebe, doch nun nicht ich, Christus lebet in mir““, 


n der Krisis der Jugendbewegung fand ein Flügel ‚ Jugendbewegter‘“ vom Erleb- 
I nis der Jugendbewegung aus den Weg zum Protestantismus. Es sind Menschen, 
die sich mit einer vorschnellen äußerlichen Lösung der Kulturkrisis der Gegenwart 
nicht zufrieden geben, sondern einen innerlichen Weg suchen. Die Kulturkrisis 
beginnt bereits ihre Schauer zu verlieren, sobald der junge Mensch wieder feste 
Inseln im Strom des Geschehens sieht, Gemeinschaftskreise und Werte, an denen 
mitzuarbeiten sich lohnt. Der neue Wille zum Volkstum ist ein Markstein in dieser 
Entwicklung. Eigengesetzlichkeit ist hier überdacht, übersteigert von einer dies- 
seitigen Fremdgesetzlichkeit. Die Eigengesetzlichkeit großer Gemeinschaftsgebilde 
umfängt den kranken Eigenwillen des Individuums und nimmt ihn in sich auf. 
Werden diese Eigengebilde höherer Ordnung, Volk, Staat, Menschheit, mit letzter 
Weihe umgeben, zu Gliedern einer großen göttlichen Weltordnung, erscheinen sie 
damit als gottbejaht, dann wird die Aufgabe des eigenen Selbst, die Hingabe an die 
Gemeinschaftsgüter zur religiösen Tat. Es kann dann im Grunde schließlich gleich- 
gültig sein, welche Gottheit sie bejaht, Wotan, Jahve oder Christus. Die Krisis 
des „jugendbewegten‘‘ Menschen ist mit dieser Auflösung des Urdatums der Jugend- 
bewegung überschritten. Der völkische Mensch steht jenseits dieser Fieberkurve — 
seine Nöte liegen auf anderem Lebensboden. 

Einem Teil der Jugend, die von der Autonomie herkommt, ist nicht der völkische 
Gedanke der Weg ins Freie, sondern erst der reformatorische Protestantismus. 
Ein Teil der Jugend hat das Erlebnis der Jungen von 1817 durchlaufen dürfen: das 
Zusammentreffen eines Frühlingssturms jugendlichen Geistes, eines ungestümen 
Autonomiebegehrens und des reformatorischen Gedankens! Das Zusammentreffen 
der beiden Linien vor hundert Jahren hat das reformatorische Gut nicht auszu- 
schöpfen vermocht. Man hat nur am Rande des Stromes gelebt, dem Strome selber 
keine Fracht anvertraut. Man verstand die Reformation nach seinem Autonomie- 
begehren, seinem geschichtsphilosophischen Blickfeld, und ließ sich darum vom 
reformatorischen Denken seine eigenen Gedanken ebensowenig zerschlagen wie die 
pietistischen und rationalistischen Lobredner die ihren. Das ist das Neue und Einzig- 
artige des reformatorischen Stromes, der im Zusammenhang mit den Reformations- 
gedanken unseres Jahrhunderts ergangen ist; er diente nicht nur dazu, die eigenen 
Felder neu zu berieseln, unserm kulturprotestantischen oder pietistischen Ver- 
ständnis des Evangeliums neue Nahrung zu geben: Der Strom ergoß sich auch über 





Leopold Cordier: Jugendbewegung und Protestantismus 171 





die Ufer, er riß wohlgepflegte Pflanzungen mit sich fort, er trieb neuen Grund an für 
neues Bauland. Vielen glücklichen Besitzern unserer Tage hat der reformatorische 
"Strom nur ihre eigenen guten Meinungen, wie sie glauben, zu bestätigen vermocht. 
Anderen war er das ganz Neue, die Erfüllung letzter Sehnsüchte. Zu diesen anderen 
zählte evangelische Jugend, die in der Jugendbewegung zum Urdatum des Ich 
‚geführt wurde und im reformatorischen Christentum zu dessen Überwindung. 


SI man sagen, mit welchem Zeitpunkt und an welchem Ort das Einmünden 
reformatorischer Gedanken in die Kreise der Jugend eingesetzt hat, dann mag 
die Antwort nicht ganz einhellig ausfallen. Die Geltendmachung reformatorischen 
Denkens war bereits in der Kritik enthalten, die ein auf Erweckung und Bekehrung 
einseitig eingestelltes Christentum gewisser Jugendverbände je und je gefunden hat. 
Eine Besinnung auf den Geist der Reformation, auf religiöse Selbstverantwortung, 
lag ohne Zweifel den Bewegungen zugrunde, die zur Begründung des B.d. J. (Bund 
deutscher Jugendvereine) geführt haben. Allein erst das Reformationsjubiläum 
1917 hat die Blicke vieler Jugend auf Luther gelenkt. Den einen hat er ihren Besitz 
bestätigt, die andern hat er zu neuem Wollen entfacht. Das ‚Erlebnis der Refor- 
mation‘‘ als eine Befreiung der Seele im Ringen um das Werden der Persönlichkeit, 
ihre ethische und religiöse Not, hat Erich Stange, der jetzige Reichswart der evange- 
lischen Jungmännerbünde, zuerst der D.C.S.V. (Deutsche Christliche Studenten- 
Vereinigung) und hernach in dem Büchlein ‚Übermorgen‘ dem evangelischen Jung- 
 männerwerk zu deuten versucht. Die ersten Blätter der „Neuen“ im B.K. (Bibel- 
kreis) trugen den bezeichnenden Titel ‚„Sola fide‘“ (Erfurter Führerblätter 1917). 
In diesen Jugendkreisen hat man wohl zuerst den ‚jungen‘ Luther von 1517 und 
1521 vom ‚alten‘ Luther von 1525 und später unterschieden. ‚Jung war der Re- 
formator, alt war der Generalsuperintendent von Sachsen‘. Zu einer klaren Losung; 
zum Bekenntnis zum ‚jungen Luther‘, kam es dann unter bewegter, im Kampfe 
stehender evangelischer Jugend und ihren Führern fast gleichzeitig Ende 1920 und 
Anfang 1921. Am 10. Dezember 1920, am 400. Jahrestag der Verbrennung der 
Bannbulle, fand sich ein Kreis jungevangelischer Pfarrer des westdeutschen Industrie- 
gebietes zu einer Arbeits- und Kampfgemeinschaft mit der Erklärung zusammen: 
„Wir erstreben im Geist des jungen Luther mit der neuen Jugend die Verjugend- 
lichung der evangelischen Kirche und eine Verinnerlichung des deutschen Volkes. 
Wir bekennen uns zu dem in der Gegenwart lebendigen Christus.‘ Die „Christ- 
deutsche Jugend‘ erinnert in der ersten Nummer der ‚Christdeutschen Stimmen‘, 
April 1921, für ihren Kampf um die Reinheit der Jugendbewegung an die Verbren- 
nung der Bannbulle und den Tag von Worms (18. April 1921) unter der Losung: 
„Mein Gewissen ist in Gottes Wort gefangen.‘ Sie bekennt sich zum ‚‚reformato- 
rischen Christentum‘. Manch einen hat die Ausgabe des Septembertestaments 
Luthers im Furche-Verlag (erschienen 1918) und hernach die Sonderausgabe der 
 Vorreden Luthers zum Neuen Testament durch Wilhelm Wibbeling (Neuwerk- 
Verlag, 1. Aufl., 1922, 2. Aufl. 1924) zur Entdeckung des ‚, Jungen Luther‘ geführt. 
Die Berufung auf ihn war zunächst ein Kennzeichen der neueren evangelischen 
' Jugendgruppen. Neuerdings redet man auch bei den älteren evangelischen Jugend- 
, verbänden vom „Jungen Luther‘. Eine allgemeine Besinnung auf die reformato- 
 rische Botschaft geht durch das evangelische Jungvolk. 
Man könnte im Blick auf die Einzelheiten von einer zufälligen Entdeckung Luthers 
' durch die Jugend reden oder doch wenigstens das Reformationsjubiläum die große 
| Zufälligkeit nennen. Das Zusammentreffen jugendlichen Strebens und reformato- 
rischer Gedanken bedeutet für diese Kreise keine Zufälligkeit. Viele Jugendliche 
sind in ihrer Frömmigkeit von einem Hochufer, der pietistisch-evangelistischen Fröm- 
migkeitsprägung, abgestoßen. Ist es verwunderlich, daß man auf die Dauer nicht 
mit einem allgemeinen religiösen Strome treiben will, sondern zu einem andern 
Ufer drängt? Es ist die Neuprägung unserer Frömmigkeit von der Reformation her, 
ein neuer Frömmigkeitsgehalt, der sich nicht auf unsere Erweckung und Bekehrung, 
sondern auf Gottes Begnadigung und Rechtfertigung als eigentliche Lebensgrund- 


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172 Deutsche Jugendbewegung 


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lagen gründet. Allein damit ist ja bereits ein Allerletztes genannt, das vielen noch 
gar nicht gleich zum Bewußtsein gekommen ist. 

Die Luther- und Calvin-Renaissance unserer Tage hat viel allgemeinere, näher- 
liegende Gründe: eine merkwürdige Gleichzeitigkeit der Situation; die Erschütte- 
rung der hergebrachten Autoritäten, die feierliche Autonomieerklärung der mensch- 
lichen Persönlichkeit, dort durch den Humanismus, hier durch eine idealistische 
Philosophie, das Ringen um ein neues Gemeinschaftsleben, mit einem Wort: Zeiten- 
wende! Die neue Jugend schaute Luther neu, mit den Augen ihrer Zeit, die seiner 
Zeit verwandt schien. Man versteht erst jetzt Conrad Ferd. Meyers Wort: „Sein 
Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet‘“. Man war fertig geworden mit der Kirche 
und ihrer glatten Dogmatik und kannte Luther und Calvin nur in der Verzerrung als 
Theologen mit abgeschliffenem Dogmatismus. Da führte eine neue theologische 
Schule über Sören Kierkegaard und Dostojewski, über Paradoxie und kollektives 
Denken zu dem alle Paradoxie tragenden, Welt und Menschen umspannenden 
Glauben der Reformatoren. Man fand das eigene Ringen um die Autonomie wieder 
im Ringen der Reformatoren mit den Fragestellungen des Humanismus. Man sah 
dies Ringen religiös ebenso bejaht in Luthers Kampf im Kloster: Wie kriege ich 
einen gnädigen Gott, wie verneint in der theologia crucis, in der Erkenntnis vom 
unfreien Willen. Man fand seine eigenen Spannungen wieder im Denken, im Fragen 
und Antworten der Reformatoren: keine glatte Lösung der Bibelfrage in Luthers 
„Vorreden‘, Bibelkritik und Bibelehrfurcht; keine glatte Vereinigung der Kirchen- 
frage, unsichtbare und sichtbare Kirche nebeneinander; kein „einschichtiges“ 
letztes Wort über den Menschen und sein Heil: selig in Hoffnung, Gemeinschaft der 
Sünder und Gemeinschaft der Heiligen; aber das alles und vieles andere nicht als 
„Dialektik“, nicht als ‚„Dualismus‘, sondern überbrückt, in eins gesehen im Monismus 
des Glaubens! Autonomie, aufgelöst in Theonomie — nicht in Heteronomie! Prote- 
stantismus, nicht mehr Perfektionismus, Moralismus, Kulturphilosophie, sondern 
schlicht und groß das Wagnis des Glaubens! Und von hier aus eine neue Schau der 
Welt des Berufes, der Menschheitsaufgaben. Im reformatorischen Denken sah man 
überallgroße Zusammenhänge,letzte Bezogenheiten,unmittelbare Gottesbegegnungen. 

Es kann nicht behauptet werden, daß man damit das volle Erbe der Reformation 
ins Licht gestellt und sich zu eigen gemacht habe. Vielfach ist es nur ein Feststellen 
des gleichen Seelenrhythmus. So nennt man den neuverstandenen Luther den 
„jungen‘ Luther, nicht nur, weil man in den Hauptschriften bis etwa 1525 dies 
Leben am bewegtesten fließen zu sehen glaubt, sondern weil man den eigenen jugend- 
lichen Pulsschlag an diesen Schriften mißt. Der ‚junge‘ Luther ist vielfach der 
jugendlich verstandene Luther. Unter seiner Führung geht der Weg von der Be- 
freiung des Ich zur metaphysischen Neusetzung des Ich im Gnadenerlebnis. Auf 
dem Boden der reformatorischen Frömmigkeit kann es nicht genügen, sich sein Ich 
durch fromme oder weltliche Beschäftigung setzen zu lassen. Hier wird es über- 
wunden in dem ganz andern, das uns ergreift, in Gott. 


amit ist auf dem Boden des reformatorischen Erlebens ein Weg gewiesen zur 
Überwindung der Krisis der Jugendbewegung. Die Krisis der Jugendbewegung 

ist die Krisis des autonomen Lebens. Autonomie mündet aus in alle die Krankheiten 
des Ich, die wir um uns sehen, in die Unrast der Versuche der Ichbefriedung durch 
Regungen und Bewegungen, die aus der Welt der Materie oder des Geistes über uns 
kommen, oder sie führt zu der Neusetzung des Ich in dem Widerfahrnis der Gnade. 
Vorgebildet an Blumhardt Vater und Sohn hat im Zusammenstrom mit refor- 
matorischen Gedanken eine neue Jugend das Wesen der Frömmigkeit neu entdeckt, 
eine gegenständliche, gotterschlossene Frömmigkeit, der es nicht um fromme Er- 
lebniszustände, aber um Verwirklichung des Willens Gottes an dieser dem Gericht 
verfallenen Welt geht. Eine Frömmigkeit, die das Geheimnis des unfreien Willens, 
ja gelegentlich die Dunkelheiten des Prädestinationsgedankens wagt und in Christus 
und der Aufrichtung seines Reiches in seiner Wiederkunft den Sinn der Weltentwick- 
lung sieht. Die so von neuem zu glauben wagen, bilden die Kette, den heimlichen 



















Leopold Cordier: Jugendbewegung und Protestantismus 173 


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Bund, den Kreis ums Feuer. Hier findet man neu den Sinn der Gemeinde: nicht 
Addition von Einzel-Ichs, die sich selber wollen, sondern Strahlenkranz um ein 


höheres Ich, das uns setzt und mit seinem Glanze überstrahlt. So gesehen, kann der 
Protestantismus in der evangelischen Jugendbewegung seine Verjüngung erfahren. 


Denn hier wie dort wird die zu ihrer Bewußtheit erwachte Ich-Persönlichkeit er- 
kannt, gekreuzigt und begnadigt!). 


Die Gliederung der evangelischen Jugendbewegung 
Von Wilhelm Dilger in Bonfeld b. Heilbronn 


D)“ organisierte christliche Jugend ist zahlenmäßig weitaus die größte. Sie umfaßt ein Heer 
von 450000 Menschen. Auch ihrer Bedeutung nach stellt sie ein beachtenswertes Stück 
des deutschen Geisteslebens dar. Die Zeiten sind vorüber, wo der ‚, Jünglingsverein‘ oder der 
„Jungfrauenverein‘ das Blümlein im verborgenen war. Wer die großen Tagungen erlebt hat: 
Dresden 1923, Hannover 1925, auch die der Mädchen in Marburg, Tübingen und Bremen, 
der kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier Großes am Werk ist. Der Grund liegt 


‘ darin, daß aus den nur der Jugendpflege dienenden Vereinen die ‚‚christusbewegte Jugend“ 


erwacht ist. Der Lebensstil, der diese Jugend bewegt, ist nicht die äußere Art: Kniehose und 


Wanderbluse ohne Kragen und Hut (obgleich dies von der idealistischen Jugendbewegung 
herübergenommen wird), wichtiger ist schon der an Stelle der Vereinsfahne getretene Wimpel 


| mit dem als öffentliches Bekenntnis wirkenden Kreuz und einem Bibelwort. Wertvoll ist die 


Einheitsfront mit der übrigen Jugendbewegung im Kampf gegen Alkohol und Nikotin. Neu 
ist die Ablehnung von Vereinssatzungen, die dem Gedanken der Führerschaft weichen müssen, 
ferner von Theateraufführungen und Festen, die durch familiäres Zusammensein in der Stille 
oder durch Kundgebungen im Freien ersetzt werden. Die Bezirksfeste heißen da und dort, um 
die Festseuche zu bekämpfen, Bezirkstreffen. Man vermeidet alles Nachmachen der weltlichen 
Vereinsmeierei. Darum betont man das ganz Andere. Von dort aus setzt die innere Bewegung 
dieser Jugend ein. Das ist in allen den verschiedenen Gruppen der christusbewegten Jugend 


| gemeinsam. Man kämpft gegen alles Formhafte, Erstarrte, Schematische; Lebensbejahung 





heißt die Losung. Sie wird aber nicht in fruchtloser Kritik gefunden, sondern in der „Lebens- 
wirklichkeit Jesu von Nazareth und seines Reiches“. Darum ist ihr alles tote Kirchentum ein 
Greuel. Als Erstarrung muß sie es ansehen, wenn zwischen dem, was die erwachsenen Christen 
sind und der Forderung Jesu ein allzugroßer Unterschied besteht. Christus ist die Kraft, durch 
die sie bewegt wird. In solcher Bewegung kann sie nicht Halt machen vor den schweren Volks- 
fragen der Gegenwart: sie fühlt die große Verantwortung auch hier um eine Lösung zu ringen. 
Nicht belehrend tritt sie gegenüber dem Alter auf, vielmehr ergreift sie das, was andere errun- 
gen haben, in harter Lebensarbeit. Die soziale und politische Not leidet sie bewußt mit. Ihr 
Meister stellt sie dorthin; von ihm getrieben, führt sie die Missionsaufgabe am gefallenen Bruder; 
durch ihn gestärkt, baut sie sich auf zum Bruderbund. 

Wenn wir versuchen, einen Überblick über die verschiedenen Gruppen der christusbewegten 
Jugend zu geben, so sei im voraus bemerkt, daß es äußerst schwierig ist eine scharfe Trennungs- 
linie zwischen den Organisationen zu ziehen, die zur christlichen Jugendbewegung zu rechnen 
und die nicht zu ihr zu rechnen sind. Auch die idealistische Jugend kennt Christus, und die 
Christliche Jugend ist nicht ohne Idealismus. Aber auch ihrem Aufbau nach ist die christliche 
Jugendbewegung so vielseitig, daß man mehrere Gruppen unter einem Wort zusammenfassen 


' muß, wodurch der Überblick leichter wird. Für die bekannten Trennungslinien der Christen- 


heit „positiv“ und „liberal‘‘ hat die christusbewegte Jugend kein Verständnis. Es wäre auch ein 
Verbrechen an der Jugend, wenn ihre Führer sie mit der ‚rabies‘“ der Dogmatiker vertraut 
machen würden. Aber doch finden wir drei verschiedene Typen, in denen der „Rhythmus des 
Jugendstils‘“ seine Besonderheit zeigt. Wir bezeichnen sie als willenmäßig, gedankenmäßig 
und gefühlsmäßig betont, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, welche Seite des Seelen- 
lebens bei der jeweiligen Gruppe im Vordergrund steht. 

1. An der Spitze der christl. Jugendbewegung steht die Deutsche Christliche Studenten- 
Vereinigung (D.C.S.V.). Der Wille, der sie beherrscht, heißt: die Königsherrschaft Jesu 


unter der akademischen Welt. Die Form der ‚Verbindung‘ wird abgelehnt, Couleur und Trink- Christusjugend 


sitten sind verpönt, auch wenn sie in „‚christlichen‘‘ Verbindungen bestehen. Missionarisches 


1) Die Ausführungen werden in dem Buche des Verfassers „Die evangelische Jugend und 
ihre Bünde‘, Band 2 der „Evangelischen Jugendkunde‘“, enthalten sein. 


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174 Deutsche Jugendbewegung 





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Wollen ist ihr Kennzeichen, ‚, Jesus den Studenten‘ ihr Kampfruf. Hand in Hand mit diesem 
„Willen für Christus‘ geht ein ehrliches Suchen und ein eifriges Forschen. Hier werden die 
Führer der Jungmännerbünde geboren. Die Geschäftsstelle ist in Berlin. 

Die Christlichen Verbindungen des ‚‚Schwarzburgbundes‘‘ und der ‚‚Wingolf“ können nicht 
zu der J.B. gerechnet werden, da die Form der ‚‚Verbindung‘‘ ein gesellschaftlicher Selbst- 
zweck ist und daher die ‚Bewegung‘ unmöglich macht. 

2. Die Deutsche Christliche Vereinigung studierender Frauen (D.C.V.S.F.) ist das weibliche 
Seitenstück zum D.C.S.V. Wenn auch das weibliche Gemüt hier in der Erfassung des Christ- 
lichen gepflegt wird, so darf doch auch der offen vorliegende Missionswille dieser Vereinigung 
nicht verkannt werden. 

3. Die Bibelkreise unter den Schülern höherer Lehranstalten (B.K.). Bezeichnend ist hier 
der Name. Wir sehen in das Missionsgebiet und in die Arbeit dieser Jugend. Alle Gymnasien, 
Realschulen und Seminare bilden das Feld der Betätigung. Diese Jugend ruft ihre Mitschüler 
auf: zurück zur Schrift! Litt diese Vereinigung in früheren Jahren unter einer gewissen pieti- 
stischen Enge, so ist auch hier der neue Lebensstil durchgedrungen. Weichliches und süß- 
liches Christentum ist verpönt, im Vordergrund steht ‚‚Unser Wollen“. Darin heißt es: ‚Wir 
wissen uns von unserem König mit einer Sendung an die höhere Schülerwelt beauftragt... 
mit dem ‚Tagesbefehl‘: Als solche seid auch ihr, meine Getreuen, nicht auf eine bequeme Land- 
straße gestellt. Auf ihr kann jedermann durchs Leben trotten. Ihr geht einen eng verschlun- 
genen Pfad, auf dem jeder Schritt vorwärts erkämpft werden muß. So ihr euren Weg richtig 
geht, schlagen euch die Dornen ins Gesicht und reißen euch die Hände blutig. Die Ausführung 
unserer Sendung ist kein Spiel und Scherz. Sie verlangt Mut und Mannhaftigkeit.‘“ — Wichtig 
ist ihnen der Kampf gegen alle Laster im Schülerleben, Liebelei, Trinkerei und Raucherei. 
Ihr Organ ist die ‚Neue Jugend“, 

4. Der dem B.K. entsprechende weibliche Zweig der J.B. heißt Mädchenbibelkreis (M.B.K.) 
oder genauer seit 1918: Deutscher Bund der Mädchenbibelkreise. Dieser Bund findet sein 
Arbeitsgebiet nicht nur unter den jungen Mädchen der gebildeten Kreise, sondern treibt auch 
Mission in Verbindung mit dem Deutschen Frauenmissionsbund. 1924 wurden die ersten zwei 
B.K.-Missionarinnen nach China ausgesandt. Die Losung heißt: die Jugend für Jesus! Ihr Ab- 
zeichen stellt ein brennendes Licht dar. Auch eine Bibelschule haben sie in ihrem Bundeshaus 
in Leipzig ins Leben gerufen. Ihre Zeitungen heißen: ‚‚Unser Blatt“ für die Älteren und 
„Kleine Lichter‘ für die Jüngeren. 

9. Unter der christlichen Jugendbewegung steht weitaus an erster Stelle: Der christliche 

Verein junger Männer. (C.V. J. M.). Die Gesamtorganisation Deutschlands (die eine Landes- 
gruppe im Weltbund bildet) heißt: Reichsverband evang. Jungmännerbünde Deutschlands 
und verwandter Bestrebungen. (1925: 193199 Mitglieder in 3349 Einzelvereinen.) Der Name 
allein schon verrät die neue Zeit, die in dieser Jugend angebrochen ist. Nicht mehr „ Jünglings- 
verein“ sondern ‚, Jungmännerverein“. Das neue Wollen bringt einer ihrer Führer in einem 
Lied zum Ausdruck: 
„Wir wollen Männer sein.‘ Aus der Jugendpflege des vergangenen Jahrhunderts ist das große 
Werk der bewegten Jugend hervorgegangen. Die Grundlage ist die ‚‚Pariser Basis von 1855“, 
die bei der Gründung des Weltbundes der christlichen Jünglingsvereine bestimmt wurde: „die 
christlichen Jünglingsvereine haben den Zweck, junge Männer miteinander zu verbinden, 
die Jesum Christum nach der Schrift als ihren Gott und Heiland anerkennen, inihrem Glauben 
und Leben seine Jünger sein und gemeinsam darnach trachten wollen, das Reich ihres Meisters 
unter jungen Männern auszubreiten.‘“ Heute ist an Stelle dieses langen Satzes die kurze Losung 
getreten: Königsherrschaft Jesu! Damit ist auch eine klare Scheidung gegenüber andern Ju- 
gendorganisationen gegeben. Der bewährte Führer der ev. Mannesjugend Deutschlands, 
Lic. Stange, drückt das Einzigartige dieser Jugendbewegung einmal so aus: 

„Es kommt zuletzt alles nur darauf an, daß wir Christus wirklich haben. Man kann ihn 
niemals haben wie einen toten Besitz oder wie eine geheimnisvolle Formel. Man kann ihn nur 
haben wie Jakob, der mit-dem Herrn rang — ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 
Daß dieses heilige Ringen um den Segen des Herrn und die demütige Beugung unter sein Kreuz 
nicht in unserem Werk verlorengehe, darauf kommt alles an. Demgegenüber ist alles neben- 
sächlich. So rufen wir in entscheidungsvoller Stunde unsere Vereine und Führer auf, sich klar 
und entschieden zu ihm zu stellen. Er, unsere Stoßkraft — er, unsere Eigenart — er, unsere 
Zukunft — er, unsere Einheit! In ihm allein das Einzigartige unseres Werkes!“ Und es ist 
ein einzigartiges Werk, was der C.V. J:M. erreicht hat. Denken wir nur an all die vielen Vereins- 
häuser (der Württ. Jungmännerbund besitzt allein 70 Häuser), wo die jungen Leute Wohnung, 
Verpflegung und Anschluß finden können, an die Soldatenheime, Ferienheime und Jugend- 
herbergen. In diesen Häusern werden Tausende von jungen Männern in der Großstadt vor 
dem Untergang bewahrt. Das Herzblatt im Vereinsleben ist die „Bibelstunde‘; hier ringt 





Wilhelm Dilger: Die Gliederung der evangelischen Jugendbewegung 175 


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die Jugend einen ehrlichen Kampf des Glaubens. Bezeichnend sind die Fragen, die da gestellt 
werden, z. B.: Durch wen ist uns der Sündenfall oder das 1. Buch Mose berichtet? Woher 
hat Kain sein Weib genommen, da er in ein anderes Land geflohen ist? Was heißt: Ps. 1, 5: 


- Darum bleiben die Gottlosen nicht im Gericht? Kann man nach Matth. 8, 22 einen Anstoß 


an dem Begräbnis unserer Toten nehmen? Heute interessieren besonders die Fragen der großen 
Volksnöte. Da sich im Verein Jugend aus allen Ständen der Bevölkerung zusammenschart, so 
fühlt man die Verantwortung der Überbrückung der sozialen Gegensätze in reichem Maß. 


 Parteipolitik wird rundweg abgelehnt, begeistert singen die jungen Scharen: ‚‚nicht Politik, 


Partei und Streit, nur Liebe heilt die Not der Zeit“. Und in der Tat: Bauern und Arbeiter 


finden sich hier in einer Bewegung zusammen. Von keiner Jugend wird so großzügig der Kampf 


gegen Schund und Schmutz in Wort und Bild geführt wie vom C.V. J.M. Die Stellung zu Volk 
und Vaterland ist eine heiß umstrittene Frage; die Jugend ringt hier um eine Klarheit, die 
einerseits der immer stärker werdenden völkischen Bewegung innerhalb des Vereins gerecht 
wird, andererseits der Fabrikjugend den Weg zu neuem Denken erleichtert. Auch eine starke 
pazifistische Flut ist in die Vereine eingedrungen. In Christus hat man diese Gegensätze ge- 
einigt. Die Einigungskundgebung von 1924 scheint uns aber aus dem Grunde noch keine 
Klarheit zu sein, als sie die vaterländische Not ausschließlich auf das sittliche und religiöse 
Gebiet abwälzt, wo es dann verhältnismäßig leicht ist als Christ Stellung zu nehmen. Gut wäre 
es, wenn auch von dieser Seite einmal ein deutliches Wort gesagt würde gegen die Kriegs- 
schuldlüge, gegen Dawesgutachten und Völkerbundsunrecht. Es gilt nicht nur ‚‚die Buße 
vor Gott zu bekennen‘, sondern auch den Mut haben, das Unrecht, das von fremden Völkern 
uns angetan worden und täglich angetan wird, mit den richtigen Worten zu zeichnen. Dies ist 
zu verschweigen, ist auch Sünde. Die Jugend fordert von ihren Führern eine klare vaterländi- 
sche Stellungnahme. Die völkische Notfrage zu lösen, wird wohl eine der dringendsten Gegen- 
wartsaufgaben im Bunde sein. Wahrscheinlich wird es so geregelt werden, daß vaterländische 
Gruppen (nach Dr. Horch ‚, Jungtrupp‘‘ genannt) innerhalb des Vereins sich bilden, die sich 
in ähnlicher Weise betätigen wie die vaterländischen Verbände. Daneben ist seither das 
Turnen nicht vernachlässigt worden, aber in den neu zu bildenden ‚, Jungtrupps‘ hofft Dr. 
Horch eine ‚„‚bewußte Disziplinierung des Vereins“. Wenn eine andere Lösung gefunden wird 
als die von H., so ist zu befürchten, daß ein Teil dieser Jugend in die vaterländischen Verbände 
abtreten wird. Die Richtlinien, die der Westbund betr. ‚unsere Stellung zu den vaterl. Verb.“ 
herausgegeben hat, helfen über die Schwierigkeit nicht hinweg, die Jugend fordert ‚auch mit 
Christus“ eine vaterländische Bewegung. Zu erwähnen ist noch, daß die vom C.V.J.M. betrie- 
bene Blättermission sehr viel Gutes unter der Jungmännerwelt bewirkt hat. Organe des 
C.V.J.M. sind der ‚‚Führerdienst‘, ‚‚der Ruf“, ‚der junge Tag‘‘, „die Jungschar‘, zum Ver- 
teilen geeignet ist ‚„Hindurch‘“. 

6. Der ev. Verband zur Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands (Jungfrauenvereine). 
1925: 184718 Mitglieder in 5444 Ortsgruppen). Ein Blick in das herrliche Liederbuch 
des Verbands ‚‚ein immer fröhlich Herz‘ weist uns auf ein Lied mit dem jeweiligen Vers- 
schluß ‚deutsche Jugend heraus!“. Das Motto des Verbands heißt: ‚der Herr ist unser Rich- 
ter, der Herr ist unser Meister, der Herr ist unser König; der hilft uns (Jes. 33, 22)“. In den 
Vereinen wirdneben der Bibelarbeit viel gesungen, die englischen Melodien haben keine Auf- 
nahme im Liederbuch gefunden, dagegen werden viele frohe Wanderlieder mit Begeisterung 
gelernt. Die Kampfgruppen gegen den Alkohol sind erst seit kurzem da. Die Zentralstelle 
ist im Burckhardthaus in Berlin-Dahlem, das nach dem um das Vereinswerk sehr verdienten 
Pfr. Burckhardt benannt ist. Heute wird der Verband von P. D. theol. Thiele geleitet, der 
eine Reihe von sehr tüchtigen Führerinnen zur Seite hat. Auch diese Jugend bewegen die 
großen Volksnöte: Klassenhaß, Parteinöte, Unsittlichkeit, Vaterlandselend. Sie wird wenigstens 
für das vaterländische Problem klare Richtlinien von ihren Führern erwarten. Zur geistigen 
Vertiefung der Mädchen tragen die ‚‚Freizeiten‘ viel bei. Der Verband besitzt schon eine statt- 
liche Anzahl von Häusern. In Württemberg wird gegenwärtig ein großes Jugendhaus erstellt 
(in Schmie bei Maulbronn), das neben einer Erholungsstätte zugleich auch eine auf christlicher 
Grundlage bestehende Haushaltungsschule beherbergen wird. Die Zeitschriften des Verbands 
sind: ‚„‚deutsche Mädchenzeitung‘‘, die ‚Weibliche Jugend‘, das Verteilblatt ‚Komm mit“ 
wird von 150000 jungen Mädchen gelesen. 

6a. Für die gebildete weibliche Jugend hat sich eine besondere Gruppe gebildet: die Weg- 
genossen, deren Ziele die gleichen sind wie die des Hauptverbands. Hier finden wir noch 
mehr Bewegung als in den Jungfrauenvereinen. Sehr schade ist es, daß die Mädchenbibelkreise 
nicht mit den Weggenossen zusammengehen und damit dem großen Verband angehören, durch 
den sie viel Bereicherung erfahren könnten. Zeitschriften der Weggenossen sind: ‚, Jugendweg“ 
und ‚‚Jugendruf“, Leiterinnen: Adelheid Crome, Elisabeth varı Randenborgh und Hulda 
Zarnack, die zugleich auch beim Verband mitarbeiten. 








176 Deutsche Jugendbewegung 
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7. Die Christliche Pfadfinderschaft. 1910 durch Dr. Kertz gegründet, hat diese Jugend sich 
zunächst in militärischen Formen bewegt. Die Neuregelung von 1921, wo das Militärische ab- 
gestreift wurde und mehr eine geistige, sittliche und sanitäre Erziehung festgesetzt wird, hat 
zu heftigen Kämpfen Anlaß gegeben. Viele forderten die alte Uniform. Seit 1925 wird unter- 
schieden zwischen Kreuzpfadfindern (die das Pfadfinderkreuz tragen dürfen) und den Spähern 
(den jugendlichen, die in den Pfadfindertugenden erst noch erzogen werden müssen). Man ist 
zurzeit noch in einem Übergangsstadium, die ‚‚militärische Frage“ in der christlichen Pfad- 
finderschaft wird wohl im Zusammenhang mit den Fragen der Gründung der ‚, Jungtrupps“ in 
den C.V.J.M. gelöst werden müssen. 

8. Die Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Vereine für Frauen und junge Mädchen in 
Deutschland (C.V.F.u.J.M.). So groß dieser wunderbare Titel, so klein ist die Bedeutung” 
dieses Verbands. Er ist eine weibliche Nachbildung der C.V. J.M., die wegen des großen Ver- 
bands für die weibliche Jugend wenig Aussicht auf weiteren Erfolg hat und deshalb innerhalb 
dieses Verbandes mehr leisten könnte. 1924 hatte diese Jugend eine Tagung in Lübeck. Ihre 
Zeitschrift heißt: ‚‚Frisches Wasser“, 


I)’ wesentlichen Unterschiede der willenmäßig und der gedankenmäßig eingestellten Gruppen 
sind die: bei den ersteren erzeugt das religiöse Erlebnis an Christus in erster Linie ein 
neues Wollen, nämlich ein ‚‚Christuswollen‘, daher das Motto ‚‚Königsherrschaft Jesu‘, mit 
der bewußten Beugung unter seinen Willen und dem Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit; bei 
den letzteren löst die Begegnung mit Christus zunächst ein neues Denken aus, ohne Beugung 
unter ihn, Jesus ist nicht der Herr und König, sondern der Lehrer für eine bessere Gestaltung 
des eigenen und des gemeinsamen Lebens. Zu ihnen gehören: 


1. Der Bund deutscher Jugendvereine (B.d.J.). Das Ziel dieser Jugend ist: ‚‚für den einzelnen 
christliche Charakterbildung durch Gesinnungsbildung; für die Gesamtheit Erziehung zum 
Gemeinschaftsbewußtsein in verantwortlicher Nächstenliebe.“ Sie hat 25000 Gruppen- und 
3000 Einzelmitglieder. 1919 wurde folgendes Programm aufgestellt: 


a) „Wir wollen eine Jugend, die im Bewußtsein eigener Verantwortlichkeit ihr und unseres 
Volkes Leben selbständig zu gestalten sucht; wir sind also bestrebt, allenthalben mehr 
und mehr aus Jugendpflege in Jugendbewegung hineinzuwachsen.“ 

b) „Wir wollen eine verinnerlichte, d.h. religiös gegründete, aber weltoffene, deutsche, 
aber politisch unparteiische Kulturbewegung zur Erneuerung unseres Volkes sein. Ins- 
besondere kämpfen wir für bessere geschlechtliche Sittlichkeit und deshalb gegen Alko- 
hol, Tabak und Kinounwesen.“ 

c) „Wir erstreben die bewußte Gestaltung eines reinen und offenen geselligen Verkehrs 
zwischen Jungen und Mädchen (gemeinsame Feste, Volkstänze, Treffahrten und Arbeits- 
gemeinschaften).‘“ 

d) ‚Wir wollen als Jugend an dem Bau einer freien Volkskirche mitarbeiten und erstreben 
eine wahre Volks- und Völkergemeinschaft aus dem Geiste Jesu.“ 


Neuerdings scheint aber diese Jugend auch zum ‚‚neuen Wollen‘ überzugehen und eine innere 
Verbindung mit dem C.V.J.M. herzustellen. In der Februarnummer ihrer Zeitschrift gibt 
R. Karwehl Richtlinien für eine neue religiöse Zielsetzung: an Stelle der Worte ‚„‚fromm“ 
und ‚„weltoffen“ treten die neuen ,‚Sündenerkenntnis‘ und ‚‚Gottesoffenheit“, Religiöse Roman- 
tik wird abgelehnt, eine Neuerfassung der biblisch reformatorischen Wahrheit erstrebt. 

2. Der Bund der Köngener (nach der württ. Gemeinde Köngen genannt) ist ein typischer 
Vertreter dieser Gruppe. Ihr Führer Prof. Dr. Hauer, Tübingen, hat den für den Bund maß- 
gebenden Satz geprägt: „Religion ist denken und leben.“ Mit kritischem Urteil steht man den 
christlichen Autoritäten gegenüber. Obgleich das Denken der wesentliche Bestandteil der 
Religion ist, will man eine Religion ohne Dogmatik. Diese Ablehnung stammt aus ihrem 
„Willen zur Wahrhaftigkeit‘. Ihr Ziel ist: omnia instaurare Christo. Doch sind die Meinungen 
verschieden, was darunter zu verstehen ist. Sie beschäftigen sich mit Christus-, fragen“, 
ohne eine Formulierung finden zu wollen, wer er war und ist. Auch der Pazifismus hat diese 
Jugend schon bewegt. Die Gefahren der Unsicherheit und Verschwommenheit geben sie selber 
zu. Die großen Hoffnungen, die einst ihr Führer auf diese Jugend gesetzt hat, sind nicht erfüllt 
worden. Ihrer Entstehung nach stammen sie vom württemb. B.K., seit 1924 haben sich von 
ihnen die Königsbühler unter Joachim Boeckh losgerissen, die sich den Neupfadfindern an- 
geschlossen haben. Dadurch ist ihr Einfluß bedeutend geschmälert worden. 

3. Der Neulandbund. Auch diese weibliche Jugendgruppe muß zu der verstandesmäßig 
eingestellten Christusjugend gerechnet werden, stammt sie doch von einem Studienkreis junger 
Mädchen in Frankfurt a. M., wo verschiedene Probleme in ernster Arbeit gelöst werden sollten. 
Seit dem Ende des Weltkriegs ist in dieser Jugend ein neues Streben erwacht: nationale Er- 





Wilhelm Dilger: Die Gliederung der evangelischen Jugendbewegung 177 


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neuerung. Da diese nicht mit menschlichen Geisteskräften, sondern von Christus erwartet 
wird, so können wir sie nicht zu den Idealisten rechnen, wie Albert Plag es in seinem Büchlein 
über die J.B. getan hat. Auch Christus (und vollends die Propheten) hat mit religiösen Kräften 
seinem Volke dienen und es ‚‚erneuern“ wollen. Das Streben nach ‚„‚erneuertem Christsein und 
nach wahrem Deutschtum“ ist kein Abbruch von der Lehre Jesu. 

4. Die Christdeutsche Jugend. Hier haben wir eine Absplitterung von der vorigen Gruppe 
vor uns. Auch diese lehnen mit Recht die Bezeichnung Idealisten ab. ‚Wir wollen uns ganz 
Gott ausliefern.‘‘ Aber doch überwiegt auch hier die Verstandesseite in der Psyche der Jugend- 
lichen. ‚Wir brauchen ein Wissen um die Zusammenhänge, das Wissen erzeugt Verpflichtung, 
d.h. Dankbarkeit, mitleidendes Verstehen, Güte des Urteils und Opfersinn.‘“ Auf ihrer Zen- 
tralstelle in der Burg Hohensolms bei Wetzlar wurde eine Volkshochschule ins Leben gerufen. 
Zeitschriften: ‚„‚Christdeutsche Stimmen“. 

5. Der Deutsch-evang. Verband sozialer Jugendgruppen. Wahlspruch ist Eph. 4, 6. Diese 
Jugend sieht in der Erfassung der sozialen Seite des christlichen Lebens seine Hauptaufgabe. 

6. Die Neuwerkler oder Schlüchterner. Nach Albert Plag ist in dieser Jugend der Übergang 
vom Idealismus (religiöse Gruppe innerhalb der demokratischen Partei) zum religiösen Radi- 
kalismus Karl Barths vollzogen. Ihre Führer sind Eberhard Arnold (frühere Herausgeber der 
Furche), Georg Flemmig und Hermann Schaft. Ihr Name ist nach ihrer Zeitschrift ‚Neuwerk‘ 
und der Tagung in Schlüchtern (Bez. Kassel) gebildet. Verheißungsvoll sind die Sätze ihres 
Strebens: ‚Letztlich bedeutet nichts anderes ‚Neues Werk‘ als das Lebenszeugnis von Jesus 
Christus, der Fleisch gewordenen Wahrheit das Zeugnis des Gekreuzigten und Auferstandenen.“ 
Auf ihrer Siedlung mit Gütergemeinschaft haben sie auch eine freie Volkshochschule gegründet. 


D' gefühlsmäßig eingestellte Christusjugend stellt sich im Jugendbund für entschiedenes en er 
Christentum (E.C.) dar. 1925 zählte diese Jugend in 1209 Bünden 51.000 Mitglieder. Die inuesteiter 
Geschäftsstelle ist in Friedrichshagen bei Berlin, Führer ist Pastor Schürmann. Die Losung Christusjugend 
heißt: ‚Ganz los von der Welt und ganz hin zum Sünderheiland Jesus Christus.‘ Ihre ‚Ent- 
schiedenheit‘‘ geht aber mehr von dem (oft vergewaltigten) religiösen Gefühl aus, als von 
einem mutigen Christuswollen. Die „‚Bekehrung‘ spielt in ihren Bibelstunden, Liedern, Ge- 
beten und im sonstigen Vereinsleben eine wichtige, zugleich aber auch verhängnisvolle Rolle. 
Die Grenzen zum Methodismus sind verwischt. Die englischen Melodien besorgen die Er- 
tegung des Herzens. Nur was zur „Seelenrettung‘“ dient, ist im Bund erlaubt. Die Gefahr 
der „‚Übergeistigkeit‘‘ ist groß. Das natürliche Empfinden leidet darunter, doch ist ihr Eifer 
für christliche Dienste bewunderungswürdig. Jedes Mitglied wird zu einer Arbeit herangezogen 
(Missionsdienst, Krankendienst, Schriftendienst). Die Jugend hat aber das Unzulängliche und 
Einseitige dieser Bewegung gefühlt. Die Selbstkritik, die im Dezemberheft ihrer Zeitschrift 
„Jugendhilfe“ geübt worden ist, hat in der ganzen christlichen Welt Deutschlands ungeheures 
Aufsehen verursacht. Die öffentliche Beichte wird als geistliche Prostitution verurteilt, die un- 
natürliche Übergeistigkeit als unjugendlich abgelehnt, die Oberflächlichkeit und Süßlichkeit der 
Bibelbetrachtungen und der Singsang gefühlserregender Melodien scharf verurteilt. Wenn diese 
Jugend solcher Kritik folgt, dann kann ein neues Wollen aus dem E.C. geboren werden. Ein Aus- 
weichen vor der Selbstkritik hat in der Jugendbewegung immer zu einer Erschlaffung und Er- 
starrung geführt. Das ist der Tod jeder J.B. Nur durch einAbrücken von der seitherigen Methode 
wird der E.C.Bund diesen Gefahren siegreich begegnen können. 

Zu der gefühlsmäßig eingestellten Christusjugend müssen wir auch noch die Jugendabteilun- 
gen der Ev. Gemeinschaft und der methodistischen Freikirche, ferner die Jugendgruppen der 
Heilsarmee rechnen. 


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Der Jungdeutsche Orden und die Jugendbewegung 


Von Kurt Pastenaci, Hauptschriftleiter der „Jungdeutschen“ in Berlin 


| DI Erfahrung hat uns Jungdeutschen immer wieder bewiesen, daß fast jeder, der zum ersten 

Male den Namen ‚, Jungdeutscher Orden“ hörte, sich darunter eine Organisation von Jugend- 
lichen vorgestellt hat, und dann erstaunt war, wenn er bei unseren Bruderabenden Männer im 
besten Alter fand und manches graue Haar sah. Der Jungdeutsche Orden besteht tatsächlich 
in der Mehrzahl aus Menschen, die den Krieg als Soldaten mitgemacht haben, er nimmt nur 
Brüder in seinen Reihen auf, die das 20. Lebensjahr überschritten haben. Nur seine Jung- 
gefolgschaften bestehen aus jungen Menschen unter 20 Jahren. Die Frage, warum das „Jung“ 
in seinem Namen besonders betont wird und was der Orden überhaupt mit Jugendbewegung 
zu tun hat, ist deshalb mehr als berechtigt und wird jedem Mitglied des Jungdeutschen Ordens 


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178 Deutsche Jugendbewegung \ 
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immer wieder gestellt. Jung in unserem Sinne kann ein Mann von 60 Jahren ebenso sein wie 
ein Jüngling von 20, und wir sind der Meinung, daß die weitaus größte Zahl der heute lebenden 
zwischen 20 und 30 Jahre alten Deutschen der alten Generation angehören und nicht als jung 
bezeichnet werden kann. Es kommt also nicht auf das Alter an, sondern auf die Art des Den- | 
kens, auf die Kraft des Hoffens und Wollens, auf die Frische der Arbeit und auf den Jugend- 
lichen Mut und das jugendlich kräftige Zufassen. 
Wenn nun die Jugendbewegung und der Jungdeutsche Orden miteinander in Vergleich 
gebracht werden sollen, so ist es wohl zunächst notwendig, festzulegen, was unter Jugendbewe- 
gung verstanden werden soll. Es ist wohl am einfachsten, die Jugendbewegung aus ihrer Ent- 
stehung heraus zu kennzeichnen und dabei den Wandervogel und die freideutsche Bewegung 
als den Stamm der Jugendbewegung anzusprechen. Der Wandervogel war eine revolutionäre 
Erscheinung, die sich im wesentlichen gegen den Zwang des Elternhauses und der Schule rich- 
tete und für die eigene freie Entwicklung der Jugendlichen eintrat. Im Fahrtenwesen, in 
Volkslied und Volkstanz, fand diese Bewegung die ihr gemäßen Formen; sie ward dabei zu: 
einer Kulturbewegung, deren Auswirkungen erst in unseren Tagen recht beginnen werden. 
Bezeichnender als die Bekenntnisformel des hohen Meissner: ‚‚Wir wollen unser Leben vor 
eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit gestalten“ ist für den Wandervogel und für 
die ganze Jugendbewegung einmal das Verhältnis der Menschen zueinander und dann die Art, 
wie ihre Führer entstanden. Die jungen Menschen fanden sich in treuer Kameradschaft und 
gegenseitigem Verstehen und Helfen ohne, ja oft im Gegensatz zur gesellschaftlichen Höflich- 
keit. Ihre Führer wuchsen aus ihnen heraus. Sie wurden weder gewählt noch durch die ältere 
Generation vorgesetzt und aufgezwungen. Die Führer wuchsen heran und waren mit einemmal 
da, und sie bewiesen ihr Führertum durch die Art ihres Führens. Die Jugendbewegung führte 
inihrer Entwicklung zu einer Entfaltung der einzelnen Persönlichkeiten und artete oft geradezu 
in Persönlichkeitskult aus. Der Gemeinschaftsgeist, der in den ersten Anfängen der Jugend- 
bewegung stark vertreten war, schwand immer mehr in der Entwicklung der einzelnen Men- 
schen zur Persönlichkeit. Damit ward aber auch der Wille zur gegenseitigen Einordnung und 
zum gemeinsamen Wirken und Kämpfen immer schwächer. Diese Krisis in der Jugendbewe- 
gung erhielt den letzten Stoß durch die Tatsache, daß die alten Wandervögel ins Mannesalter 
hineinwuchsen, in ihrem Beruf und im täglichen Leben vor neuen Aufgaben standen, denen 
ihr Wandervogelwesen nicht gewachsen war, und daß sie zudem durch die Jüngeren Mitglieder 
der einzelnen Jugendbewegungsbünde aus dem bisherigen Kreis herausgedrängt wurden, weil 
diese Jüngeren, dem Geist des Wandervogels und der Freideutschen entsprechend, ihre Führer 
aus den eigenen Reihen entnahmen und die Überlegenheit der Älteren oft als Bevormundung 
empfanden. Zwar schlossen sich die alten Wandervögel oder die älteren Angehörigen der 
sonstigen Jugendbewegung in neuen Bünden oder Kreisen zusammen, ohne aber bisher den 
rechten Gemeinschaftsgeist wiederzufinden, und ohne neue Aufgaben, die ihnen Daseinsinhalt 
und Kampfrückhalt gaben, zu erkennen und anzupacken. In letzter Zeit sind, wie durchaus 
betont werden muß, starke Gesundungserscheinungen in dieser Richtung bemerkbar. 


DD’: jungdeutsche Bewegung und mit ihr der Jungdeutsche Orden ist aus kleinen Anfängen 

heraus, ebenso wie die Jugendbewegung, immer stärker zur revolutionären Bewegung ge- 
worden, revolutionär nicht im Sinne der letzten deutschen „Revolution“, sondern in dem ur- 
sprünglichen Sinne des Durchbrechens eines neuen Lebenswillens und des Kampfes um eine 
neue Lebensart und Lebensgemeinschaft. Wie die Jugendbewegung, so ließ sich auch der 
Jungdeutsche Orden seine Führer nicht von außen her aufzwingen; er wählte sie auch nicht 
nach parlamentarischer Methode aus seinen eigenen Reihen; er ließ die Führermenschen, die 
sich im Kreis seiner Brüder befanden, heranwachsen und zwang sie dazu, sich zu bewähren. 
Und er fand einen Weg zur Führerwerdung, der theoretisch als System angesprochen werden 
könnte, ohne in der Praxis System zu sein. Der Jungdeutsche Orden verlangt von den Men- 
schen, die seine Gefolgschaften, Bruderschaften oder Balleien führen, einmal, daß sie das Ver- 
trauen der geführten Brüder besitzen, dann aber auch, daß sie von den höheren Führern in 
ihrem Amt bestätigt werden und vor allem natürlich, daß sie sich bei ihrer Arbeit und ihrem : 
Kampf bewähren. Im Zweifelsfalle haben die gleichgeordneten Führer die Entscheidung 
über Führereigenschaft und Führeramt. 

Wenn also sowohl im revolutionären Moment als auch in der Entstehung der Führerschaft 
starke Parallelen zur Jugendbewegung vorhanden sind, so ergeben sich doch erhebliche Unter- 
schiede in bezug auf den Gemeinschaftsgeist. Der Jungdeutsche Orden verlangt von seinen 
Mitgliedern, daß sie den Brudergeist immer tiefer erfassen und immer mehr in die Tat umsetzen. 
Der Brudergeist ist aber ein Geist des Zusammenlebens, des Zusammenwirkens, kurz ein Geist 
innigster Gemeinschaft. Wie schon der Name „Orden“ sagt, geht die Erziehung der einzelnen 
Mitglieder dahin, daß sie sich richtig aneinander anordnen und sich immer mehr ineinander 




































Kurt Pastenaci: Der Jungdeutsche Orden und die Jugendbewegung 179 


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‚einordnen. Daraus ergibt sich, daß die Disziplin im Jungdeutschen Orden nicht auf äußeren 
Befehlen beruht, sondern auf der Erkenntnis der Notwendigkeit einer rechten Ordnung, auf 
‚der Erkenntnis des rechten Platzes für jeden Bruder, auf einem tiefen Vertrauen der Gefolgs- 
‚leute zu ihren Führern, das nur durch einen starken Gemeinschaftsgeist erreicht wird. Im 
‚ Gegensatz zur Jugendbewegung geht die Entwicklung in der jungdeutschen Bewegung, also 
‚auf Vertiefung des Gemeinschaftsgeistes hin, ohne daß dabei der Entwicklung und Auswirkung 
‚der einzelnen Persönlichkeit der Raum zu sehr beschnitten wird. Der Gehorsam der Gefolgs- 
‚leute ihren Führern gegenüber ist nicht der berüchtigte Kadavergehorsam, seine Disziplin 
| wird nicht durch äußere Bestimmungen aufrechterhalten, sondern durch die inneren Werte 
‚der einzelnen wie der ganzen Gemeinschaft. 

ı Es kann als Beweis für die Kraft und den Wert einer Bewegung angesehen werden, wenn sie 
‚es erreicht, eigene Formen zu finden und ihrem Leben eine besondere Gestalt zu geben. Die 
‚ Jugendbewegung hatte eine solche Gestalt gefunden. Sie zeigte sich in den Fahrten, bei den 
‚ Nestabenden, in den Nächten am Feuer, im Wiederaufleben und Neuschaffen des Volksliedes 
und Volkstanzes. Der oberflächliche Beobachter mag beim Jungdeutschen Orden ein Eigen- 
(leben und eigene Formen zunächst nicht zu erkennen. Die Struktur des Ordens scheint dem 
„alten Deutschen Ritterorden entnommen zu sein, aus dessen Geschichte die Bezeichnung der 
“Führer, wie Großmeister, Komtur und Hochmeister, und die Bezeichnung einzelner Gruppen 
wie z. B. der Ballei, stammen. Wer aber näher zusieht, und wer sich einmal die Zeit nimmt, an 
‚dem Leben der Einheiten des Jungdeutschen Ordens teilzunehmen, der findet eine Menge eigen- 
| tümlicher Formen, z. B. in der Ausgestaltung der Bruderabende, in der Anrede der Brüder 
‚ aneinander, in dem Gruß Treudeutsch allewege, in den neuentstandenen Liedern, die sich an 
die alten Soldatenlieder ebenso anlehnen wie an die alten Volkslieder, und die doch etwas Neues 
"sind, und schließlich in der ganzen Haltung der in die Gemeinschaft hineingewachsenen Ordens- 
;brüder, Formen, die immer stärker zu einer Einheit zusammenwachsen. 


ie rechte Einstellung zur jungdeutschen Bewegung wird man natürlich nur dann finden, 
wenn man ihren Geist erkennt, und wenn man die Richtung ihres Willens und die Ziele, 
“die sie sich steckt, beobachtet und wertet. Was will der Jungdeutsche Orden? Die Antwort 
“ist leicht und doch schwer. Leicht für den, der die Zustände in unserem Volk mit klaren, 
unvoreingenommenen Augen sieht, schwer für den, der in einer Anschauungsweise, die der 
" Vergangenheit angehört, drinsteckt. Die Grunderkenntnis der jungdeutschen Bewegung 
ist die, daß die Menge der in den Grenzen des Deutschen Reiches lebenden Familien und Einzel- 
menschen kein Volk mehr ist; es ist eine Masse, die in Stände zerfallen, in Klassen zerspalten 
und von den Parteien auseinandergerissen ist. Die Einheit eines Volkes wird nicht allein durch 
"die Muttersprache und durch die politischen Grenzen gewährleistet, sondern durch das Be- 
wußtsein der Zusammengehörigkeit. Der Jungdeutsche Orden will also zunächst nichts 
weniger als mitschaffen an der Neuwerdung des deutschen Volkes. Er geht dabei von der 
Grundlage der Rasse und der Art aus, wobei Rasse und Art nicht als Gegensätzliches zu anderen 
' Rassen und anderen Arten gewertet werden, sondern als etwas Positives, das bestimmte Werte 
‚ enthält und die Grundlage für den Charakter eines Volkes abgibt. Durch die Erweckung und 
‚ Vertiefung des Brudersinnes und des Gemeinschaftsgeistes, durch die praktische Arbeit, die 
. dahin geht, Menschen der verschiedensten Stände, Klassen, Parteien und Gesellschaftsschich- 
| ten, Menschen der verschiedensten Erziehung, Kinderstube und Durchbildung, Menschen der 
; verschiedensten Berufe und Lebensführungen an einen Tisch zu zwingen und sie zu veran- 
| lassen, sich miteinander auszusprechen, einander ihre Nöte und Sorgen zu zeigen, einander zu 
‚ helfen und sich immer mehr zu verstehen und zu schätzen, durch diese Arbeit trägt der Jung- 
ı deutsche Orden dazu bei, daß unsere Staatsbürger wieder zu Brüdern des Volkes werden. 
| Es ist ganz selbstverständlich, daß dieser Wille zur Volkwerdung seinen Niederschlag in 
| neuen Gedanken über das kulturelle, wirtschaftliche und politische Leben des Volkes und des 
deutschen Vaterlandes finden muß. Nun würde es zu weit führen, all die Wege, die zur Über- 
windung der Not unserer Zeit vom Jungdeutschen Orden vorgeschlagen sind und von ihm selbst 
gegangen werden, hier zu schildern. Wer sich damit befassen will, der muß die im Jungdeut- 
schen Verlag, Berlin W 9, Potsdamerstr. 20, erschienenen Rüstzeuge sowie die in Berlin er- 
| 








scheinende große volksnationale Tageszeitung ‚‚Der Jungdeutsche‘ lesen und verfolgen, der 
muß sich außerdem mit dem Leben und der Arbeit der örtlichen Einheiten genau befassen. 
Nur soviel sei-hier gesagt, daß der Kampf des Ordens dahin geht, im kulturellen, wirtschaft- 
lichen und politischen Leben den heute leider maßgebenden Einfluß einzelner in Besitz von 
Geld und Gut befindlicher Interessengruppen, die nur ihren eigenen Zielen nachlaufen, ohne 
die großen Belange des Volkes zu wahren, auszuschalten und dem Staatsleben ebenso wie der 
Wirtschaft und dem Kulturleben deutschen Charakter aufzuprägen. Der Jungdeutsche Orden 
ist durch den Gemeinschaftsgeist und die Disziplin seiner Brüder und durch die Kraft und 


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180 Deutsche Jugendbewegung 
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Persönlichkeit seiner Führer, vor allem seines Hochmeisters Artur Mahraun, zu einer Macht 
geworden, die nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch im Ausland anerkannt wird, und 
mit der heute jeder politisch, wirtschaftlich oder kulturell arbeitende Mensch rechnen muß. 
Durch den Opfersinn seiner Brüder ist es ihm wohl als einzigem großen Verband möglich ge- 
wesen, sich von fremdem Geld völlig freizuhalten, und doch aus den Beiträgen und den Opfer- 
spenden seiner Brüder eine große Zeitung, sowie Zeitschriften und anderes mehr zu schaffen, 
das den Geist des Ordens nach außenhin vertritt, im Kampfe um die Ziele der jungdeutschen 
Bewegung als ernste Waffe gewertet werden muß und das Weiterwachsen und die Vertiefung 
des jungdeutschen Geistes gewährleistet. 


Der Hofgeismarkreis’der Jungsozialisten 
Von Walther G. Oschilewski in Berlin 


ie jungsozialistische Bewegung, d. i. die Organisation der jungen Mitglieder der 

Sozialdemokratischen Partei, kann in ihrer geschichtlichen und einmaligen 
Bedeutung nur verstanden werden, wenn man sie mit der Entwicklung der gesamten 
deutschen bündischen Jugend in Beziehung setzt. Allen Krisen, Irrtümern, Wand- 
lungen, die das Gesicht der deutschen Jugendbewegung oft bis zur Ungestalt zer- 
störten, haben sich auch die jungsozialistischen Gruppen im Reich nicht entziehen 
können. Das Schicksal, zwischen Gestern und Morgen ein zerstörendes, erneuerndes, 
aufbauendes Leben führen zu müssen, ist auch ihr Schicksal geworden. 

Schon vor dem Kriege wurde in einem Beschluß des Chemnitzer Parteitages 1912 
der älteren Parteigenossenschaft empfohlen, „durch geeignete Maßnahmen die 
jungen Arbeiter im Alter von 18 bis 21 Jahren für die Arbeiterorganisationen zu 
gewinnen‘. Diese Maßnahme, bei der Gewinnung jüngerer Altersklassen für die 
Arbeiter- Jugendbildungsgruppen schon erfolgreich angewandt, war das Produkt 
eines damals allgemein als notwendig empfundenen Organisierens der vorerst rein agi- 
tativ- und selbstsüchtig-pädagogisch eingestellten Sozialdemokratischen Partei. 
Für sie war damals Jugend kein Lebenszustand, sondern ein Objekt. Dieses Pflege- 
bedürfnis bestimmte den Grad der Explosion, welche, durch den Aufbruch der 
bürgerlichen Jugend vom Hohen Meißner 1913 beschleunigt, nach Kriegsende in 
der jungproletarischen Bewegung erfolgte. Die Sucht nach Selbständigkeit, nach 
einem eigenen Lebensraum, um wirklich Mensch und Kämpfer werden zu können, 
all das Fragen und Bangen, all das Richten- und Lösenwollen der Zwiespältigkeit 
des durch Stadt, Schule, Elternhaus und Erwerb vergewaltigten Lebens, zwang 
auch die proletarische Jugend, an der Erregung der zeitlichen Widerstände teilzu- 
nehmen. Sie tat dies um so elementarer, als sie in stärkerem Maße als die bürgerliche 
Jugend von den Hindernissen der Zeit umstellt war; zu der geistigen und körper- 
lichen Not kam die gesellschaftliche, die wirtschaftliche. Was Pädagogen wie Max 
Tepp, Gustav Wyneken, Natorp und die vielen Propheten sonderlichster Spielart 
wie Muck-Lamberty, Schulze-Sölde u. a. innerhalb dieser entwurzelten, körperlich 
wie geistig unerlösten Jugend noch erregen halfen, konnte nur geeignet sein, das 
aggressive Tempo zu beschleunigen. Von dieser inneren wie äußeren Notwendigkeit 
getrieben, entstanden allerorts jungsozialistische Vereinigungen, die entweder im 
Rahmen der Sozialdemokratischen Partei Vorbereitungs- und Bildungsgruppen 
oder in nur loser Verbindung mit dem Parteikörper Gemeinschaften, Arbeits- 
bünde, Kameradschaften bildeten. 

Im Jahre 1920 traf man sich erstmalig in Weimar anläßlich des ersten deutschen 
Arbeiterjugendtages. Was die Jungsozialisten in diesen Tagen mit den tausend 
jüngeren Kameraden zusammenband und diese Tage mit Lebensgläubigkeit und 
Eigenwilligkeit erfüllte, war nichts weiter als der Ausdruck eines jungen, lebendigen, 
freudigen Sozialismus. Es ist vielleicht nicht unangebracht, darauf hinzuweisen, wie 
sehr dieser bekenntnishafte, undogmatische, sich mehr von Gustav Landauer, den 
Romantikern und Utopisten nährende Sozialismus der wirkliche Lebenszustand 
der Jugend war und schon damals zu der orthodoxen marxistischen Terminologie 





Walther G. Oschilewski: Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten 181 


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‚wenn auch nicht im Widerspruch, so doch in einer sonderlichen Entfernung stand. 
War man bisher einem zum Teil veralteten, den Krankheiten des bürgerlich-ratio- 
"Aalistischen Aufklärungszeitalters verfallenen Bildungsbetriebs (Wissen ist Macht!) 
"auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, so begann nach den Tagen von Weimar das 
Bewußtsein der eigenen Zuständigkeit Gefühl zu werden. Ein Dasein voll Kampf 
‘und Freude, der Drang nach Bewältigung und Gestaltung dieses erst jetzt auige- 
fundenen vielfältigen Lebens, schien dieser Jugend wichtiger als eine von der älteren 
Parteigenossenschaft gewünschte und oft durch Zwang geforderte Fortsetzung eines 
geschichtlichen Bemühens. Nach einigen ernsthaften Versuchen in Berlin und 
anderen Orten, der von der Partei verlangten Organisation eine aus dem Geist der 
Jugendbewegung genährte freie, selbständige Bewegung entgegenzusetzen, fand 
dieses Wollen in den „Jungsozialistischen Leitsätzen‘ des Freundes Gustav Rad- 
bruch einen gesinnungsmäßigen und bekenntnishaften Ausdruck: 


1. Jugend ist nicht nur Vorstufe zum Leben, sondern ein Stück Leben mit selbsteigenem 
'Daseinsrecht. In dieser Gesinnung hat die bürgerliche ‚freideutsche Jugend“ die Sehnsucht 
nach ‚Jugendkultur‘ wachzurufen, ja, die neue Lebensform des jugendlichen Menschen 
zu verwirklichen gewußt, sich dann aber auf der Suche nach einem Inhalt für diese Form 
"gespalten und immer wieder gespalten. Die sozialistische Jugend erst hat die freideutsche 
Lebensform mit einem starken, einfachen, zukunftsicheren Inhalt erfüllt: Sozialismus auf 
jugendliche Weise zu leben, das ist der gemeinsame Sinn von Jungsozialismus und Arbeiter- 
jugend. Dieser gelebte Sozialismus schließt in sich ein neues Gemeinschaftsgefühl, ein neues 
Kulturgefühl, ein neues Lebens- und Weltgefühl. 

2. Hinter uns liegt das Zeitalter, dem in bürgerlichen und auch in sozialistischen Kreisen 
Persönlichkeit der letzte und höchste menschliche Wert war. Heute ruht alle Begeisterung, 
deren die Zeit fähig ist, auf dem Gedanken der Gemeinschaft. Wir sind den Weg gegangen, 
auf dem Goethes Wilhelm Meister von den ‚„Lehrjahren‘‘ zu den ‚‚Wanderjahren‘“ uns prophe- 
‚tisch vorangeschritten ist. Wir haben diesen Übergang vollzogen, indem wir uns das Erleb- 
nis, das dem sozialistischen Gedanken zugrunde liegt, immer klarer zum Bewußtsein gebracht 
haben — das Erlebnis, aus dem heraus wir einander „Genossen“ nennen. 

3, Nur auf dem Grunde der Gemeinschaft ist Kultur möglich. Das kapitalistische Zeitalter 
ist reich an Kulturpersönlichkeiten, reicher an Kulturwerken, entbehrt aber der Kulturge- 
meinschaft des ganzen Volkes. Ein ungeheures Mißverhältnis zwischen objektiver Kultur 
und persönlicher Bildung: kulturelle Überproduktion und doch kulturelle Massenarmut; der 
Gegensatz zwischen Gebildeten und Ungebildeten, in dem sich der Klassengegensatz der kapi- 
talistischen Gesellschaft am schärfsten zuspitzt; die individualistische Persönlichkeitskultur, in 
der sich die individualistische Wirtschaftsverfassung sichtbar widerspiegelt; der Wettbewerb, 
der das Kultur- wie das Wirtschaftsleben beherrscht, der ein rastloses Streben nach dem Ori- 
ginellen, Neuen, Niedagewesenen, statt schlicht und recht nach Wahrheit und Schönheit ent- 
fesselt und statt eines Stils nur zahllose Moden und Manieren zeitigt: das alles sind Züge, 
welche deutlich die kapitalistische Bedingtheit der Gegenwartskultur zeigen. Die stilvolle 


Einheitlichkeit eines mittelalterlichen Stadtbildes kann demgegenüber uns darüber belehren, 


wie eine Gemeinschaftskultur aussah und einmal wieder aussehen wird. 

4. Kultur gründet und gipfelt aber letzten Endes in einem bestimmten Lebens- und Welt- 
gefühl. Schon heute sind in der sozialistischen Jugend die Grundzüge eines neuen Lebens- 
und Weltgefühls deutlich erkennbar: eine inbrünstige Diesseitigkeit, eine tiefe Freude an der 
Natur, an der Schönheit und Kraft des eigenen Leibes, eine fast fanatische Lebensbejahung, 
die ihr Ja und Amen, ihr Trotzalledem letzten Endes über alle Dinge spricht. Man ist versucht, 
dieses neue Lebensgefühl, wie es in unseren Arbeiterdichtern stark und voll Ausdruck findet, 
als eine Religion anzusprechen — wenn auch Religion ohne Kirche und Bekenntnis, ohne Gott 
und Jenseits. 

5. Das alles ist gemeinsamer Geistesbesitz der Arbeiterjugend und des Jungsozialismus. 
Zueinander verhalten sie sich wie Sein und Bewußtsein, wie Leben und Denken. Den sozialisti- 
schen Gedanken, das neue Gemeinschafts-, Kultur-, Lebens- und Weltgefühl sich in angestreng- 
ter Geistesarbeit zu bewußtem Besitz zu machen und nach dem Bedürfnis eines neuen Ge- 
schlechts schöpferisch weiterzugestalten: das ist die besondere Aufgabe der Jungsozialisten. 


N aus den anfangs wenigen Gruppen eine an Zahl und geistiger Regsam- 
keit immerhin bedeutsame Bewegung entstanden war, traf man sich "321 in 
Bielefeld zum zweitenmal. Hier gruppierten sich die Auseinandersetzi'ngen um die 
nunmehr Problem gewordene Zugehörigkeit zur Sozialdemrkratischen Partei. 


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182 Deutsche Jugendbewegung 
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Nicht daß man ihr den Rücken kehren wollte, um gleich den vielen Wandervogel- 
bünden und Siedlungsgenossenschaften ein kultiviertes, höchst beschauliches Dasein 
zu führen — man verband nur seine Unzufriedenheit mit einem jugendstarken 
Gestaltungswillen. Der Geist der Zahlabende und der Agitationsbroschüren rief 
die jungen, noch nicht verrosteten Geister wach, man erfand den „sozialistischen 
Menschen“ und gebrauchte nicht gerade herzliche Worte des Dankes für die eigene 
Partei. Allen, denen die Jugendbewegung nicht eine zufällige Erscheinung, nicht 
nur ein unbestimmtes Bedürfnis nach billigem Protest, sondern Lebensstätte, 
Gemeinschaft, der Zustand eines neuen Lebensgefühles war, schien die Lösung, 
daß die Jungsozialisten nur junge Sozialdemokraten zu sein hätten, unbefriedigend, 
eine Verallgemeinerung und Vergewaltigung eigenwilliger Kräfte. Man schalt jene, 
die es ernst meinten, Freideutsche, Romantiker, Lebensreformer, umgekehrt diese 
die anderen: Dogmatiker, Phraseure und Bürger. Diese gegenseitigen Vorwürfe 
sind bekannte Vokabeln der deutschen Jugendbewegung. Man diskutierte durch 
die Jahre und Landschaften, jeder einzelne versuchte in einem ihm gemäßen Aus- 
schnitt der Lebensmöglichkeiten zufrieden zu werden, sei es in dem Bemühen um 
die Freigeld-Freiland-Wirtschaft, um den Kohlrabibau, im Klassenkampf oder 
in der Abstinenz, man vergaß darüber das wirklich Fordernde und Verpflichtende, 
Es sollte in den bisher nur chronologisch angesetzten Darlegungen gesagt werden, 
daß der scheinbar sinnlose, ja sogar oft dilettantische, lächerliche Wandel notwendig, 
weil er schöpferisch war (mit negativem Vorzeichen), und wirklich, weil er eine Jugend 
erzog, der diese einstmaligen Ernsthaftigkeiten nur noch Rudimente, nur noch 
Oberflächenerscheinungen sind. Eine Kameradschaft dieser Jungsozialistischen 
Bewegung, die sich nicht schämt, einst Teil und Wenig dieser Jugend gewesen zu 
sein, fand nach langen inneren Auseinandersetzungen (ähnlich wie eine Gruppe der 
Freideutschen) ihren Weg. Es war der Weg in die Politik. Es war das Bewußtsein 
des Reifwerdens zum Beruf der Politik! 


iese in ihrer Zielrichtung angedeutete Kameradschaft lud für die Östertage 1923 
D die Gesamtbewegung zu einer Tagung nach Hofgeismar, einem Geschichte 
gewordenen Ort der Jugendbewegung, oberhalb Kassels ein. Getragen von den aus 
innerem Zwange heraus erörterten Problemen „Volk und Staat‘, sollte diese Zu- 
sammenkunft den künftigen Weg der jungsozialistischen Bewegung entscheiden 
helfen. War Weimar ein Erwachen aus dem Gleichmaß einer auch dem proletari- 
schen Menschen nicht ferngebliebenen Bürgerlichkeit, so wurde Hofgeismar der 
Richtpunkt einer durch den Ruhreinfall im Ursprung verursachten vaterländischen 
Erregung junger Sozialisten und Sozialdemokraten. Es ist verständlich, daß es 
gerade die Freunde aus dem besetzten Gebiet, aus Rheinland und Westfalen sein 
mußten, dieser Tagung das Gesicht zu geben. Man war zu tief dem Schicksal des 
eigenen Volkes verhaftet, als daß die theoretischen, mehr agitativ gebrauchten 
(darum wohl nützlichen), aber in ihrer Wirkung auf die Massen und Geister Enttäu- 
schung bereitenden Abstraktionen des Marxismus alleiniges Erlebnis bleiben konnten. 
In diesen kämpferischen Ostertagen, da die Not, die die Herzen dieser Jugend zu- 
sammenpreßte, Erkenntnis wurde, Erkenntnis einer grauen deutschen, aber deshalb 
nicht weniger geliebten Wirklichkeit, eine Not, die nicht zu allerletzt noch eine 
wirtschaftliche war, sprang das Feuer der Empörung hoch, man erinnerte sich 
der aufgepflanzten Bajonette vor den Fabriken, Hochöfen und Gruben und schuf 
das Bewußtsein, daß Widerstand, heimlich gewollter Widerstand, der deutschen 
arbeitenden Jugend zu Ruhm und Ehr gegeben sei. Wer wollte sich dieses heiligen 
Zwanges entziehen? Man liebte den Boden, dem Goethe, Fichte, Arndt, Hölderlin 
Stimme waren, bis zur Verschmelzung und wollte keinem mehr die Hand reichen, 
der durch Untätigkeit und Feigheit half, ihn verlieren zu machen. Karl Bröger, 
Alma de l’Aigles, Gustav Radbruch, Paul Natorp u.a. sprachen. Es waren Be- 
kenntnisse, die ihre Streitbarkeit bewiesen, Echo und Entgegnung fanden. Staat 
sollte nicht mehr ein nur taktisch-opportunistisch bejahter Zweckverband sein, 
die Idee Volk nicht mehr ein dem kapitalistischen Bürgertum überlassenes, durch 








Walther G. Oschilewski: Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten 183 





as Bürgertum in Wirklichkeit persifliertes Privilegium, sondern was dem Sozialis- 
us in so vielen Herzen und Hirnen Wohnstatt schuf, verlangte nach einer Er- 
‚guerung von Grund auf, nach Einordnung all dieser seelischen, volkhaften Ver- 
‚urzelungen. Sozialismus: das war eine Altersversorgung kleiner Leute geworden, 
‚n Laubenkolonistenideal, eine Betstube. Die Jugend verlangte, daß sein Gesetz 
‚ynamisch sei, heroisch seine Gebärde. Man wollte den Staat nicht als einen 
'ergewaltigten, kommerziellen individualistischen Herrschaftsverband gewissen- 
"ser Spekulanten, sondern ihn für die Arbeiterklasse elastisch machen, ihn für das 
tbeitende Volk erobern helfen. Der Freund und treue Weggefährte der proleta- 
‚schen Jugend, der Dichter Karl Bröger, schuf mit seinem Vortrag „Deutscher 
‚lensch und deutscher Geist‘ die Grundlage zur Begeisterung für eine solche Auf- 
‚abe. Das Schicksal der Nation, das Erlebnis des nationalen Schicksals, so sprach er, 
ji auch der Arbeiterklasse nicht vorenthalten. So wie der 1. August 1914 einen 
ugenblick die Klassen aufhob angesichts der vaterländischen Not (und Bröger die 
orte schreiben ließ: „Herrlich aber zeigte es deine größte Gefahr, daß dein ärmster 
ohn auch dein getreuester war. Denk es, o Deutschland‘), so sei auch jetzt der 
‚roße geschichtliche Zeitpunkt gekommen, wo die freudige Bejahung der heiligen 
‘süter der Nation, die freudige Bejahung des werdenden sozialen Staates, der jungen 
‚eutschen Republik, alle proletarischen und sozialistischen Herzen einigen müßte, 
‘ Diese Gedanken und Bekenntnisse einer proletarischen Jugend waren das Kampf- 
zug jener Tage. Als am Osterfeuer Franz Osterroth seine Rede mit dem Ruf schloß: 
'Es lebe Deutschland!‘ stießen die Stimmungen und Gegensätze so stark aufeinan- 
‚er, daß hier schon der Grund zu den heimlichen Bünden der später sich zu be- 
„anderen Arbeitskreisen formierenden Ideengruppen geschaffen wurde. 

' So wurde für einen Teil der jungsozialistischen Bewegung die Politik zum Schick- 
al ihres Weges. Weil ihnen die Gestaltung der Wirtschaft in diesem Sinne eine 
‚ntergeordnete, auf Grund ihrer mechanischen Sonderheit nur utilitaristische Auf- 
'abe war, zu der man kein seelisches, nur materielles, im Höchstfalle sittliches 
'erhältnis haben konnte (was ihre Notwendigkeit nicht ausschließt), verfiel man der 
"agischen Verflochtenheit der Politik, ihrem verpflichtenden Zwange, und jene 
\ameradschaft, die Träger, Bekenner und Wortführer dieser Tagung gewesen war, 
»hon immer ein Bund von Heimlichen und Treuen, nannte sich von nun an Hof- 
eismarkreis der Jungsozialisten. 


aß dieser Aktivismus einer gesinnungsmäßig verbundenen Gruppe innerhalb 
| der Organisation, den Staat als den Leib des Volkes zu bejahen, eine Revision 
ter vulgärmarxistischer Anschauungen bedeutete und die theoretischen Grundlagen 
‚er Sozialdemokratie, vor allem die ihrer bisherigen Außenpolitik (die nie Politik, 
andern nur eine soziologische Absolutierung war) Korrigiert, neu fundiert werden 
‚ıußten, ist selbstverständlich. Der Gegenstoß blieb nicht aus — innerhalb der 
iewegung wie auch in der Partei. Ablehnung des von den Hofgeismarern gepflegten 
‚taats- und Nationalbewußtseins, Ablehnung des Staates als Herrschaftsinstrument 
agunsten einer (etwas billig formulierten) Gesellschaft überhaupt, ausgesprochene 
jonung internationaler Verbundenheit, Verschärfung des Klassenkampfes (wie 
ıan ihn versteht): das waren die Oppositionsäußerungen innerhalb der jungsozia- 
Wischen Bewegung. Es entstand, durch die besondere Fürsorge einiger Schüler des 
öttinger Professors Nelson, der Hannoveraner Kreis, so genannt seit einer Tagung 
a August 1924 in Hannover-Münden. 

Zwischendurch versuchte noch Artur Zickler mit wenigen dem Geist einer jungen 
eneration treugebliebenen (inzwischen aus der Gesamtbewegung ausgeschiedenen) 
ofgeismarern alle noch nicht Müdegewordenen, Versprengten, zu einem Orden außer- 
ılb der Bewegung zusammenzufassen. Diese wenigen Leute (zu denen sich auch 
nfang 1924 der Verfasser dieser Zeilen gesellte), geeint durch das Bekenntnis „dem 
jlitischen Willen der jungen Generation, der Idee des Deutschen Reiches, einer 
:uen Aristokratie der Arbeit, der erwachenden Nation und dem kommenden Führer- 
im“ dienen zu wollen, schufen sich in den Blättern der neuen Bereitschaft „Frei- 





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184 Deutsche Jugendbewegung 


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schar“ ein weithin Aufmerksamkeit erweckendes Sprachrohr. Die sieben erschienene: 
Nummern dieser Zeitschrift waren trotz aller Anfeindungen seitens der sozialistischei 
Bewegung ein Beitrag zur Gestaltwerdung eines neuen, in erster Linie national 
politischen, machtpolitischen Sozialismus der deutschen Arbeiterschaft. 

Die Reichskonferenz Ostern 1925 in Jena sollte zum letzten Male die Auseinander: 
setzung zwischen Hofgeismarern und Hannoveranern lautwerden lassen. Dr. Herman 
Heller, Leipzig, bemühte sich in seinem Vortrag ‚Staat, Nation und Sozialdemo: 
kratie‘‘, dessen Grundsätze in seinem Buch „Nation und Sozialismust)‘ niedergeleg‘ 
wurden, einer politischen, staatsbewußten Neuorientierung das Wort zu reden; de: 
geistige Wortführer der Hannoveraner und Neumarxist Prof. Dr. Max Adler, Wieri 
hielt das Korreferat. Die Konferenz endete mit einem entscheidenden organisa: 
torischen Sieg der Hannoveraner. Unwillig über eine verständnislose, dogmatische, 
engherzige und unkameradschaftliche Theoretisiererei, die nur in ihrer soziologischen 
Begründung den Hofgeismarern gewinnend schien, im Grunde aber apolitisch war, 
ging man aus Jena fort. Es war in den letzten Jahren alles gesagt, besprochen, 
bewiesen, bestritten, auseinandergekämpft und auseinandergeredet worden. Was 
sollte da noch fruchtbar für die Gesamtbewegung werden ? Die Reichsleitungssitzung 
vor einigen Monaten brachte einen nicht umsonst geführten Kampf zum Ende, 
Die bisher der Reichsleitung angehörigen Vertreter des Hofgeismarkreises verließen 
diese führende Körperschaft. Eingedenk der Nutzlosigkeit eines ferneren organi- 
satorischen Bemühens hat somit der Hofgeismarkreis in seiner bisherigen Form auf: 
gehört, politischer Arbeitskreis in der jungsozialistischen Bewegung zu sein, 





F’ ist versucht worden, eine objektiv unterrichtende Darstellung der jungsozialisti- 
schen Bewegung und ihres Hofgeismarkreises zu geben. Die Fortsetzung dei 
Überlieferungen des Kreises liegt in den Händen einiger Gruppen im Ruhrgebiet, 
einiger bisher in der Gesamtbewegung führend gewesener Freunde in Hamburg, hat 
allerorts verpflichtende Kameraden und wird im hauptsächlichsten Maße durch 
den Zuzug vieler Hofgeismarer an die Hochschule für Politik durch die Berlinet 
Gruppe getragen. Dieser zu eindeutiger Entscheidung gekommene Kreis (,‚ehe- 
maliger Hofgeismarer‘‘) wird nur ein politischer sein. Er wird sich nach Aufgabe 
der „Politischen Rundbriefe des Hofgeismarkreises‘ in absehbarer Zeit ein eigenes 
Organ des Widerstandes?) schaffen müssen, um fernerhin die sozialistische Bewegung 
immer und immer wieder erinnern zu können, worauf es ankommt. Während ein 
Teil der Hofgeismarer sich mit einer kulturpolitischen und pädagogischen Mitarbeit 
begnügen wird, ein anderer durch das soeben erschienene Werk Hendrik de Mans 
„Zur Psychologie des Sozialismus?)‘‘ angeregt, einem gegenmarxistischen, jungen, 
„religiösen‘‘ Sozialismus Schaffer und Gestalter stellen will, bekennt sich der treu- 
gebliebene zu den politischen Formulierungen künftiger deutscher Staats- und 
Außenpolitik seines Freundes Ernst Niekisch®). Immer daran denkend, daß es um 
die Erhaltung der Nation, der deutschen Republik geht, bemüht, diesen republika- 
nischen Staat, an dessen Verteidigung alle Freunde interessiert sind, in ein soziales 
(sozialistisches) Gebilde und in eine Machtrepräsentation der Werktätigen zu über- 
setzen, will diese Gruppe ausgesprochen politischer Aggressivität nichts weitet 
sein als das Gewissen der Sozialdemokratischen Partei. Feind dem bürgerlichen 
Pazifismus, feind jeder Duldsamkeit, die aus Deutschland ein Kolonialland feind- 
licher Mächte machen möchte, feind dem politischen Muckertum, den Allzusicheren, 
Allzusatten, freund der deutschen Sache, freund dem arbeitenden Volke, der Bereit- 
schaft deutscher Jugend! Politik ist ihr keine Weide grasender Kühe, sondern ein 
Kraftfeld. Moral keine Disziplin des Politischen. Macht der Arbeiterschaft ist ihr 


!) Arbeiterjugend-Verlag, Berlin SW 61.2 2) ‚‚Widerstand‘“, Blätter f. sozialist. u. national- 
revolut. Politik. In Verb. mit L. Obermayr und Otto Jacobsen herausg. von Ernst Niekisch. 
®) Verlag Eugen Diederichs in Jena. 1) ‚Der Weg der deutschen Arbeiterschaft zum Staat“ 
und ‚Grundfragen der deutschen Außenpolitik“. Verlag der Neuen Gesellschaft in Berlin- 
Hessenwinkel 













\ Walther G. Oschilewski: Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten 185 





\techt. Das Proletariat wird sich den deutschen Staat erobern müssen, weil es nicht 
‚sugnen kann, deutsches Proletariat zu sein; es wird die jahrhundertalte Herrschaft 
‚er Bourgeoisie ablösen und damit Repräsentant des deutschen Volkes sein. Ein 
oiches Bemühen heißen wir Klassenkampf. Es ist der einzig politische, der natio- 
ale. Das ist heute das Wenige und Große, was wir wollen. Als junge Sozialisten. 
ls Sozialdemokraten. 








| Jungsozialismus — Staat — Nation — Pazifismus 
Von Otto Jacobsen in Berlin! 


| 
‚Seron vor und während des Krieges bestand in manchen Gruppen der Arbeiterjugend die 
"\D Absicht, die älteren Jugendlichen innerhalb der Bewegung in besonderen Gruppen zusam- 
ie tesen. Ihnen genügten die Arbeiterjugendgruppen nicht mehr, sie waren geistig und 
ıhysisch darüber hinausgewachsen; andererseits war der Sprung aus der Jugendbewegung in 
‚tie Partei für sie zu groß. Ferner waren sie überzeugt davon, daß die Einflußlosigkeit der 
\leutschen Sozialdemokratie auf die Staatsgestaltung und auf nationale Lebensnotwendigkeiten 
\,urückzuführen sei auf den Mangel an geistiger Intensität und politische sowie dogmatische 
ingherzigkeit. (Bei dem radikalen Teil sah man die Schuld in der Aufgabe von Prinzipien 
'narxistischer Doktrin.) Diesen erlebten und empfundenen Mangel wollten sie beheben. Die 
Aufgabe konnte aber innerhalb der Partei nicht gelöst werden, da das geistige Leben in dieser 
ın ganz erheblichem Maße erstarrt war. Hinzu kommt noch, daß den meisten Jungsozialisten 
‚ie Partei zu materialistisch eingestellt war; auch hier bestand der Wille zur Umgestaltung. 
‚Die erste Zeit der Jungsozialistischen Bewegung war recht negativ, romantisch und unpoli- 
isch. Man kann diese Zeit bis Ende 1921 als ‚‚Spiegelmenschentum“ bezeichnen, d. h. man 
| ‚ah in den Spiegel, um zu sehen, wer man eigentlich war. Dieses Spiegelbild neuen Menschen- 
':ums wurde in Tiraden von Aufsätzen niedergelegt, die fast alle die Normalüberschrift trugen: 
‚Was wollen wir ?“. Erst später fingen einzelne an, sich mit den Problemen Marxismus und 
I smis auseinanderzusetzen und dies durchaus in dem Sinne des Buches von Hendrik 





ie Man, „‚Psychologie des Sozialismus‘, in welchem festgestellt wird, daß der Marxismus eine 
YJemmung des Sozialismus bedeutet usw. 1922, nach der Tagung in Hofgeismar ‚Staat— 
Volk—Nation‘“, begann die Politisierung der Bewegung. ‘Man setzt sich nun sehr intensiv 
nit den Problemen Staat, Volk und Nation auseinander. Aus diesen Zentralproblemen er- 
wachsen zwei einander grundsätzlich entgegengesetzte Einstellungen und Richtungen: die 
be die Staat, Volk und Nation bejahen (Hofgeismarer), die anderen, die verneinen und eine 





yloße Reaktion auf die Hofgeismargedanken sind (Tagung in Hannover 1924); diese sind die 
‚Gralshüter des Marxismus. Auf alle Fälle wurde die Bewegung politisch und schwamm nicht 
| nehr im romantischen ‚‚Sich-Selbst-Erkennen‘‘ und ‚‚Was wollen wir?“ herum. 


De grundlegende Unterschied zwischen uns und den marxistisch eingestellten Jungsoziali- 
| sten besteht darin, daß wir nicht daran glauben, daß der Sinn der Geschichte und der 
Kultur gesetzt, bestimmt und erzeugt wird aus der Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft. Unsere 
Auffassung geht dahin, daß der Sinn der Geschichte und Kultur gesetzt wird durch den Men- 


| schen, daß alles schafft, wirkt und Formung ist aus der Letztendigkeit des Individuellen. Natorp, 


‚sagt mit Recht: ‚‚Soziale Gesetze haben weder Sinne noch Grund anders als sofern sie selbst 
hervorgehen aus Einsicht, Wollen und Schaffenskräften der Individuen‘ (Sokrates, Plato). 
„Das muß endlich überwunden werden, mit dem fatalistischen Aberglauben an soziale Gesetze, 
die angeblich die individuelle Lage des einzelnen, äußerlich und innerlich unausweichlich 
bestimmen, ohne daß sie es in der Hand hätten, die Gesetze selbst zu wandeln, recht zu ge- 
'stalten und recht zu gebrauchen, damit muß vor allem gebrochen werden.‘‘ Des Menschen 
Schicksal entscheidet sich in ihm selbst; das metaphysische Verantwortungsbewußtsein — 
Ethik ist stärkste Gestaltungskraft. Mit dieser Einstellung streiten wir keineswegs die Not- 
"wendigkeit des Studiums und der Erkenntnis wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher 
"Verhältnisse und Bedingungen ab. Wir bestreiten aber, daß es eine genügende Aufgabe sein 
| könnte, die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft zu studieren (die nach Marx mit Naturnotwen- 
digkeit zum Sozialismus treibt), um lediglich die Erreichung eines Zieles zu beschleunigen. 
\ Weil wir an eine Zielsetzung durch den Menschen glauben, wissen wir, daß politische Leistung 
‘im Staat die Forderung unserer Zeit ist. Darum ist unser Denken politisch, unser Wille auf 
politische Gestaltung gerichtet, darum bejahen wir rückhaltlos Staat und Nation. Wir glauben 
‚wie Hendrik de Man daran, daß die nationale Differenzierung noch lange nicht ihren Abschluß 
erreicht hat, sondern daß sie noch in die Tiefe gehen wird. Die deutsche Arbeiterschaft steht 


|’ Deutsche Jugendbewegung (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 9) 13 












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186 | Deutsche Jugendbewegung 
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seit 1914 und dem heldenhaften passiven Abwehrkampf an Rhein und Ruhr nicht melı 
jenseits des Staates und der Nation. Wer aber den Willen zum Staat hat, dem wächst ei 
Verpflichtet-Sein der Nation gegenüber, der ist Volk-verbunden, ist oder wird Träger de 
Nationalidee. Wir haben den Glauben an das deutsche Proletariat, daß es seine Berufung eiri 
mal erkennen wird und die Führung ergreift zur Volkwerdung. Diese Einstellung hat uns auc! 
erkennen lassen, daß es grundsätzlicher Irrtum war, die Tatsache des Klassenkampfes zu ver: 
absolutieren und zu vergöttern, wie es die Radikalen tun. Die Bejahung von Volk und Staa 
entspringt der Tatsache, daß wir den Glauben vom Menschen ‚‚an sich‘ oder „schlechthin 
nicht teilen können. Wir wissen, daß der Mensch ist und wird durch seine Verbindung mit dei 
Nation; alle Kultur kann nur erwachsen auf der Grundlage des Nationalen-Volkhaften. Dit 
Nation erhält wiederum ihre Prägung, ihren Charakter durch Landschaft, Kultur, Sprache 
Blut und Schicksal (Geschichte). Wir wissen weiter, daß durch das Volk der Einzelmensct 
seinen Wert erhält und durch Einzelvolk (Plural) erst Menschheit sein kann. Nicht Volk 
Staatsvolk zu sein, war bisher unser Schicksal. Das war gut, daraus erwuchs Aufgabe an det 
Menschheit — Volk zu werden. Nur vereinzelt kam unser Volk-sein durch unbedingtes Ein 
stehen für niemals aufzugebende, letztlich rein seelische Gemeingüter, zum Ausdruck: 191 
Ruhrkampf. Und daran müssen wir festhalten: ‚‚Unser deutsches Volk, es ist vor allen anderen 
‚das Volk der Idee‘, jedenfalls das wissendste um sie, das klingt den anderen großsprecherisch; 

in Wahrheit ist es das demütigste, was ein Volk der Erde über sich aussagen kann“ ee 
Der Deutsche und sein Staat). 

An dieser Stelle sei, da es angebracht ist, ein weniges über den Klassenkampf gesagt. Na: 
tion und Volksgemeinschaft sind etwas Übergeordnetes — nicht Mittel, nicht Zweck 
— sondern Selbstzweck. Aus diesem Grunde bejahen wir positive Staatspolitik zur 
Schaffung der Nation, ohne Aufgabe des Klasseninteresses; denn die Klasse ist verbunden und 
verwachsen mit der Nation, weil doch alle Kultur und alle Äußerungen des Lebens nur er: 
wachsen können aus dem Volkstum, also dem Nationalen. Man beachte im Zusammenhang 
hiermit die verschiedenen Formen der sozialistischen Gesinnung in den verschiedenen Ländern: 
England = Gildensozialismus, Deutschland = Marxismus usw. Uns will scheinen, als ob die 
übermäßig starke Betonung des Klassenkampfes bedingt wird: erstens durch die Angst vor 
der Masse, zweitens durch den ungeheuer übersteigerten Glauben an die Masse, der es für 
möglich hält, daß alles durch die Masse im rechten Augenblick und im Sinne des Fortschrittes 
gelöst wird. Dabei sollte Erfahrung gelehrt haben, daß sobald Massenstimmung Politik er- 
heblich beeinflußt, erhebliche politische Fehler gemacht werden. 






er Staat ist das Subjekt der Politik, ihn sollen wir mit unserem Leben füllen, denn de 

Staat ist die Form eines Inhaltes — der Nation; beide sind nicht identisch, aber sie bedin- 
gen sich gegenseitig. Solche Erkenntnis bedeutet, daß der Staat der Hebel sein muß für die 
Neuordnung der Dinge im sozialistischen Sinne. Zielerreichung gibt es für den Sozialismüs 
nur dann, wenn die Auffassung Lassalles und Hegels begriffen worden ist, daß der Zweck des 
Staates ist, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung 
zu bringen. Aber diese Erkenntnis bedeutet mehr, sie bedeutet nämlich auch, daß anerkannt 
wird: unter gegebenen Verhältnissen mit der feindlichen Klasse gemeinsam zu handeln. 

Es gilt für heute und in aller Zukunft das Wort Hegels: „Ein geistig reifes Volk will sein 
eigener Gestalter sein, will sich im Staate selber erkennen, sich in den Staat hineinbilden.‘‘ 
Das ist Aufgabe am Volk, daß es seine Aufgabe löse, Auf keinen Fall gilt mehr die marxistische 
Auffassung vom Staat, daß er von selbst absterbe. Der Staat ist nicht nur eine Verwaltungs 
maschine, oder ein Herrschaftsinstrument, wie es viele Menschen, vor allem Sozialisten, auf 
Grund der Erfahrungen im alten Obrigkeitsstaat, immer noch glauben. Der Volksstaat erfüllt 
neue Aufgaben, zugewiesen vom Volk, nicht nur von einer Interessengruppe. Gemeinschaft und 
Persönlichkeit sind in diesem Sinne keine Gegensätze mehr, denn Gemeinschaft ist Volk (Ge+ 
folgschaft) und Führer (starke Individualität). Gefolgschaft ist aber nicht formlose Masse, sie 
trägt die Sehnsucht nach Formung in sich, diese vollzieht sich durch den Führer (Volk und 
Staat). Größtmögliche Persönlichkeitsausbildung und Dienst am Volk bedingen sich, einzelnet 
und Volk. Dann wird Staatsgesinnung, der Handeln folgt, Staatsgestaltung, aus letzten inner- 
lichen Bedingungen zur Idee. Jene Ideologie lehnen wir ab, die lediglich Verbrämung des‘ 
Zweckmäßigen, des Materiellen ist. Ideologie hemmt, Idee beseelt. Menschen müssen vom 
Staat besessen sein, wollen sie Volk sein und Aufgabe und Berufung lösen und erfüllen. | 


ann Kraft ist gefesselt, die deutsche Nation innerlich (Föderalismus) und äußerlich | 

(Friedensvertrag) zerstückelt. Deutschland steht unter dem Kuratel des Friedensvertrages 
und seiner späteren Ableger. Großzügig bekennen sich die Siegerstaaten zum Pazifismus, sie 
können es sich leisten. Sie wollen in Ruhe befestigen, was Gewalt ihnen gab, sie bejahen den 














Otto Jacobsen: Jungsozialismus — Staat — Nation — Pazifismus 187 


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| Völkerbund, weil sie in ihm den Ausschlag geben und ihre politischen Bestände nicht angetastet 
‚werden. Die Deutschen sind Pazifisten aus Resignation, sie bejahen den Völkerbund, weil 
sie nicht anders können, das ist der Unterschied. Keineswegs soll Pazifismus als Gesinnung 
| und die Idee des Völkerbundes abgelehnt werden. Wohl aber jener Pazifismus, der zum Prinzip 
Fallen Handelns erhoben wird, der unter anderem zu jener Selbstbezichtigung führte: ‚‚Wir sind 
‘die Schuldigen am Weltkrieg‘, der ferner dem grandiosen Ringen und Kämpfen der Gewalt- 
Hosigkeit und des Rechts gegen Gewalt und Unrecht verständnislos gegenüberstand. Selbst 
‚dieser Kampf, geboren aus innerer Gesundheit, aus dem Bekenntnis zu Deutschland, war die- 
‚sen Pazifisten zu viel. Es ist das Schicksal Deutschlands, aus taktischer Notwendigkeit in 
‘den Völkerbund einzutreten. Hüten wir uns davor, uns in eine Völkerversöhnung hineinzu- 
‘reden, die noch nicht besteht. Wir wollen sie. Deutschland darf in den Völkerbund nur ein- 
teten mit einer starken inneren Kampfeinstellung und dem Bewußtsein, daß der Völkerbund 
| Deutschland nur solange als ‚‚gleichberechtigt‘‘ ansieht, als die Entente in ihm die Macht hat 
‚und Deutschland, das von ihm gesetzte ‚‚Recht‘‘ schlechthin als Recht anerkennt, nicht am 
Grundsätzlichen Kritik übt und einschneidende Abänderungen zu fordern wagt. Sobald 
| Deutschland sich auflehnt, wird dieser Völkerbund ohne Rücksicht auf die ‚Selbstbestimmung 
‚der Völker‘ Deutschlands Bevormundung erweitern und mit Gewaltmitteln zu stützen wissen. 
' Nicht wagen werden sie dies, wenn wir endlich aufhören, einzelne zu sein und beginnen ein 
' Volk zu werden. Bisher war der Deutsche erst Bayer, Preuße, Schwabe, Sozialist, Demokrat, 
ı Deutschnational und dann auch noch Deutscher. Wir müssen aber erst Deutsche, dann alles 
andere sein., In diesem Sinne können wir von den anderen Einzelvölkern lernen. Wir bekennen 
uns in diesem Sinne auch zum Deutschland-Lied. Was der Verfasser des Liedes wollte, und 
‚so faßte es auch die damalige Jugend auf, war die Überwindung des föderalistischen ‚Ich 
| bin ein Preuße‘ und der Nationalhymnen im Deutschen Vaterlande. Das Ziel war ein einziges 
‚ Groß-Deutschland, Aufhebung der hemmenden Kleinstaaterei. Es bedingt auch heute die Ein- 
‚stellung aller, die Volk, Staat und Nation bejahen, die dem deutschen Volke wieder Geltung 


| verschaffen wollen. Großdeutschland — unser Ziel!). 

















Die sozialistische Arbeiterjugend 


Von Ernst Drahn in Berlin 





| 


| ie sozialistisch-proletarische Jugendbewegung in Deutschland ist verhältnis- 

mäßig jung. Man interessierte sich allerdings in der sozialdemokratischen Partei 
schon früh für die Schulbildung der Arbeiterjugend. Man suchte die Partei 1871 auf 
‘dem Parteitage in Dresden zu veranlassen, eine Sammlung von Jugendschriften 
herauszugeben, und 1874 forderte der Delegierte Tauscher auf dem Kongreß zu 
‚Coburg eine gute Jugendschrift. Aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts tat die 
Parteileitung in der Frage der Jugendorganisation nichts. Selbst 1905 erklärte das Vor- 
‚standsmitglied Pfannkuch auf dem Parteitage zu Jena, daß ‚die Frage der Organi- 
sation der jugendlichen Arbeiter noch nicht spruchreif“ sei. Das schloß natürlich 
nicht aus, daß sich schon früh sozialistische Jugendvereine bildeten. Eine frühe 
Nachricht über solche Vereinsbildungen vermittelt uns Ernst Heilmann in der 
„Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz‘‘, wo er aus der Zeit des Sozialisten- 
gesetzes berichtet: „Hohes Verdienst um den Wahlsieg (in Chemnitz 1881) hatte 
sich auch eine proletarische Jungmannschaft erworben, in der sich der Messerschmied- 
‚lehrling Emil Eichhorn (es ist dies der bekannte, spätere Berliner Polizeipräsident 
‚in der Revolution November 1918 bis Januar 1919), der Tischlerlehrling Bruno 
‚Mehnert und der Schuhmacherlehrling Fritz Reichert auszeichneten‘... Diese 
‚Organisation nahm nur eine Gemeinschaft wieder auf, die ihren Ursprung bis auf 
den Anfang der siebziger Jahre zurück hat. Johann Mosts faszinierende Beredsam- 
'keit hatte auch unter der Jugend gezündet und bewirkt, daß eine ganze Anzahl 
junger Leute sich unter der Führung von Heinrich Renk und Karl Riemann zu 
\einem „Kleisterklub‘ zusammenschlossen, der seine Hauptaufgabe in der unent- 











4) Zu verstehen mit Einschluß Österreichs, nicht etwa nur ein ‚Deutsches Reich“, wie es 
‚von Bismarck geschaffen aber nicht gewollt wurde. Er war auch zu sehr Preuße und Junker. 
‚Er verstand aber die Zeichen der Zeit und schuf das ‚‚Deutsche Reich‘. 
13* 


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188 Deutsche Jugendbewegung 








geltlichen Verbreitung der Versammlungsanzeigen erblickte. Unter verschiedenen 
Namen — „Vorwärts“ und Dramatischer Verein „Heinrich Heine‘ — hatte dann 
diese Jugendlichen-Vereinigung bis zum Ausnahmegesetz (1878) fortbestanden. 
Derartige frühe Jugendorganisationen muß es wohl auch an anderen Plätzen ge- 
geben haben, doch nahmen sie im 19. Jahrhundert niemals größeren Umfang an. 


rst im 20. Jahrhundert beginnt die eigentliche sozialdemokratische Jugend- 

bewegung. Der Anlaß war ein doppelter. Einmal spielt die fortschreitende 
Industrialisierung dabei eine Rolle, die den Lehrling immer mehr aus der häuslichen 
Gemeinschaft des Meisters nimmt, größere Massen Jugendlicher als ungelernte 
Arbeiter zu einer frühen Selbständigkeit bei geringem Verdienst führt und sie früh 
dem Daseinskampf zuführt,. Eine derartige Entwicklung macht es verständlich, 
daß der Wunsch nach Koalition laut wird, zum anderen war seit längerem in manchen 
Köpfen bei der Sozialdemokratie der Gedanke vorhanden, der auch bei Männern 
der Regierungen laut wurde: ‚Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft!“ Um der 
Sozialdemokratie nahestehende Jugendvereinigungen entstehen zu lassen, bedurfte 
es also nur des Anstoßes. In Norddeutschland stellten sich solchen Versuchen schon 
immer gesetzliche Schwierigkeiten in den Weg. In Süddeutschland war man tole- 
ranter. Es ist daher erklärlich, daß Süddeutschland mit zentralistisch gerichteten 
Jugendvereinsgründungen den Anfang machte. Österreich war in solchen Bestre- 
bungen schon früh voraufgegangen. In Wien gab es schon 1894 einen Verein jugend- 
licher Arbeiter, der seit Oktober 1902 ein Monatsblatt herausgab und bestrebt war, 
die in verschiedenen Städten Österreichs entstandenen Parallelorganisationen 
zusammenzufassen. Von diesem Verein aus gelang es dem österreichischen Sozial- 
demokraten Dannenberg mit anderen in Offenbach (Hessen) 1903 die erste auf ein 
oleiches Prinzip gestellte Jugendorganisation in Deutschland, den ‚„ Jugendbund‘“, 
mit 100 Mitgliedern!) zu gründen. 

In Deutschland begann sich der Mannheimer Rechtsanwalt Dr. Ludwig Frank, 
jener deutsche vaterländische Sozialist, der sich zu Anfang des Krieges als Land- 
sturmmann freiwillig zum Frontdienst meldete und bald in den Kämpfen 1914 an 
der elsaß-lothringischen Grenze fiel, für die Sache einer sozialistisch beeinflußten 
Jugendbewegung einzusetzen. Er gründete in Mannheim im September 1904 eben- 
falls einen „Verein junger Arbeiter“, Diesem Beispiel folgten bald verschiedene 
Orte Süddeutschlands. In diesen Vereinen herrschte, im Gegensatz zur gemäßigten 
Richtung, die die süddeutsche Sozialdemokratie von jeher einnahm, ein radikaler 
Ton, der sich nicht allein aus der Neigung der Jugend zu Extremen überhaupt 
erklärt, sondern vor allem aus den eifrigen Bemühungen Radikaler, auf die neue 
Bewegung, der die Partei- und Gewerkschaftsleitung kühl und sachlich gegenüber- 
stand, Einfluß zu gewinnen. Die lebhafte Agitation, die sich über die örtlichen 
Grenzen der jungen Vereine ausdehnte, bewirkte bald einen zentralen Zusammen- 
schluß dieser Vereine, der am Il. Februar 1906 auf einer in Karlsruhe tagenden 
Jugendkonferenz zustande kam. Es entstand der „Verband junger Arbeiter Deutsch- 
lands“ mit dem Sitz in Mannheim und der monatlich erscheinenden ‚, Jungen Garde‘, 
„Schutz den jungen Händen gegen Ausbeutung, Schutz den jungen Köpfen 
gegen Verdummung! — Wir gewinnen die Jugend für den Sozialismus; wir er- 
kämpfen für die Jugend den Sozialismus!“ Das war das Motto, unter dem der 
Sammelruf des ‚Verbandes junger Arbeiter Deutschlands“ an die Alters- und 
Klassengenossen erging. Sogar internationale Verbindungen suchte der Mann- 
heimer Verein schon früh. Der mit anderen deutschen Sozialdemokraten auf den 
„Internationalen Sozialistenkongreß‘ 1904 delegierte Rechtsanwalt Frank versuchte 
auf der dort stattfindenden Besprechung von Vertretern internationaler Jugend- 
organisationen eine nähere Fühlung mit ausländischen Jugendvereinigungen herzu- 
stellen, denn Belgien, Norwegen und Österreich hatten bereits lebensfähige Organi- 


1) Übrigens waren früher schon süddeutsche Arbeiterbildungsvereine mit ‚Jugendabtei- 
lungen‘ vorangegangen, so in Mühlheim a. M. 1898 und in Fürth 1903. 





Ernst Drahn: Die sozialistische Arbeiterjugend 189 
| 

‚sationen. Aus dieser wenn auch losen Verbindung stammt vor allem der anti- 
‚militaristische Zug, der sich in den frühen, süddeutschen Vereinen bemerkbar macht 
and der in Deutschland von Radikalen, wie Karl Liebknecht, besonders genährt 
wurde!). Neben dieser unzweideutig politischen Vereinstätigkeit tritt vor allem 
die Bildungstätigkeit der Vereine in den Vordergrund, bei der geschichtliche und 
naturwissenschaftliche Themata in der Richtung des historischen und des Darwin- 
‚schen Materialismus bevorzugt wurden. 1906 zählte der Verband 15, 1907 schon 
‚17 Ortsgruppen mit 3000 Mitgliedern. Damals konnte Mannheim selbst den Mit- 
‚gliederbestand seiner Ortsgruppe auf 270 und Stuttgart auf 233 angeben. Der 
‘Heilbronner Verein zählte 200. Allein Württemberg zählte 1908 900 Mitglieder, 
Elsaß-Lothringen 600. In den Hansastädten breitete sich der Verein ebenfalls aus, 
‚so zählte Hamburg 300, Königsberg in Preußen 250 Bezieher der ‚Jungen Garde“ 
‚und Sachsen allein 1908 2500. Die Zeitschrift stieg bis nahe an 11000 Bezieher 
‚überhaupt, die sie der neugegründeten „Arbeiter- Jugend‘ als Abonnentenstamm 
‚überlassen konnte, Der Verband gelangte zu einem Höchststand von 4500 Mit- 
‚gliedern, die sich 1908 auf 85 Ortsgruppen verteilten. 








$ Norddeutschland erwuchs die sozialistische Jugendbewegung ein wenig später 
"4 als in Süddeutschland und aus anderen Wurzeln. Die preußischen Vereinsgesetze 
erlaubten keine politische Jugendbewegung. Die sozialen und wirtschaftlichen 
"Momente mußten weit mehr den Anstoß geben als in Süddeutschland. So bestanden 
‘denn auch im Anfange dieses Jahrhunderts an verschiedenen Orten Lehrlings- 
abteilungen von Gewerkschaften, die besonderen, fachlichen Interessen ihre Ent- 
stehung verdankten. Die eigentliche sozialistische Jugendbewegung erhielt Anstoß 
‘aus dem Selbstmord eines infolge schlechter Behandlung durch seinen Meister 
lebensüberdrüssigen Schlosserlehrlings, dessen Fall Mitte 1904 von der sozialistischen 
"Presse Berlins lebhaft besprochen worden war. Der bekannte Reformist Eduard 
‚Bernstein war es, der, anknüpfend an den Fall, den allgemeinen Zusammenschluß 
"jugendlicher Arbeiter und Lehrlinge forderte, um besonders krasse Übelstände 
‘solidarisch abzuwehren. Im letzten Viertel des gleichen Jahres wurde denn auch 
der „Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Berlins“ gegründet, der zu 
"Anfang 1905 schon 500 Mitglieder zählte. Die Satzungen der neuen Vereinigung 
' gaben als Zweck des Zusammenschlusses die wirtschaftliche, rechtliche und geistige 
‘ Förderung ihrer Mitglieder an und schlossen politische und religiöse Ziele ausdrück- 
‘lich aus. Die praktische Tätigkeit des Vereins dehnte sich auf Bekämpfung von 
' Mißständen aus, auf Beratungsstellen, auf Überwachung der Ausführung der Be- 
stimmungen des Jugendschutzes und auf Bildungsbestrebungen. Bei solcher Tätig- 
keit wirkten als Berater ständig Angehörige der Sozialdemokratischen Partei mit. 
' Besonders interessierte sich für die Sache der Rechtsanwalt Kurt Rosenfeld in 
' Berlin. Schon zu Anfang des Jahres 1905 trat ein Vereinsorgan ins Leben, die von 
‘den Jugendlichen selbst geleitete Monatsschrift „Die arbeitende Jugend‘. Ihr 
* Inhalt entsprach den Zwecken des Vereins. Ihre Themata waren geschickt auf die 
soziale Tagesarbeit zugeschnitten, daneben wurden moderne Schriftsteller der 
passenden Richtung in der Literatur gepflegt. Aufsätze von Tolstoi, Darwin, Gorki, 
| Hauptmann u. a. m. fanden sich häufig in den Spalten, die auch die Ankündigungen 
"über organisatorische Arbeit, von Diskussionsabenden, Feiern und Vorträgen ent- 
hielten. Auch hier finden wir Themata im Geiste des historischen und naturwissen- 
-schaftlichen Materialismus bevorzugt. Diese eifrige Tätigkeit des Berliner Vereins 
‘wurde in der großen Presse bald bemerkt und fand ihre Kritiker, da sie sich häufig 
‘in Gegensatz zu den Zielen der Mitglieder von Innungen und Industrieverbänden 
- setzte — die sozialdemokratische Presse verhielt sich dagegen zu den Bestrebungen 
“der Jugendlichen abwartend. Gerade durch die gegnerischen Preßnotizen wurde der 
"neue „rote Lehrlingsverein‘‘, wie er häufig genannt wurde, in weiten Kreisen be- 





1) Vgl. K. L.’s Rede a.d. 1. Generalvers. d. Verbandes junger Arbeiter Deutschlands am 
24. VIII. 1906 zu Mannheim, in der ‚, Jungen Garde‘‘ 1904 abgedruckt. 


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kannt, und nicht zuletzt ist es auf diesen Umstand zurückzuführen, daß auch außer- 
halb Berlins, in Halle und Königsberg, ähnliche Vereinsgründungen ins Leben traten. 
In Berlin war der eifrigste Propagandist der Bewegung ein junger Rechtsanwalt-. 
angestellter, Franz Krüger, der spätere Bureaudirektor Eberts. 


Unter privater und behördlicher Verfolgung entwickelte sich parallel zur süd- 
deutschen auch die norddeutsche, bisher nur örtliche Jugendbewegung, so daß der 
Berliner Verein Anfang 1907 1268 Mitglieder zählte, von denen 770 Lehrlinge aus 
dem Handwerk waren. Die Zeitschrift des Berliner Vereins hatte unterdessen ihren 
örtlichen Anstrich abgelegt und wurde immer mehr ein zentrales Organ norddeutscher 
Jugendvereine. Sie wurde zuerst das bindende Glied. Erst im Dezember 1906 
erfolgte aus drei Vereinen der Zusammenschluß zur „Vereinigung der freien Jugend- 
organisationen Deutschlands“. Eine Zentralstelle wurde mit der Schriftleitung 
der „Arbeitenden Jugend‘ vereinigt. Schnell wuchs nun im Jahre 1907 die Zahl 
der Orte, die Jugendvereine gründeten und sich der Zentralstelle anschlossen. 
Anfang 1908 waren es 328 einzelne Vereine mit einem Mitgliederbestand von 3800 
geworden. Der stärkste Verein blieb nach wie vor Berlin mit über 1900 Mitgliedern, 
dann folgte mit 175 Altona und mit je 150 Kiel, Harburg, Köln, Solingen, München. 
Braunschweig, Frankfurt a.M., Magdeburg, Neumünster, Rostock hatten je 100. 


Die staatliche Aufsichtsbehörde widmete der Entwicklung des Jugendverbandes 
ihre besondere Aufmerksamkeit, doch fand sie selten Gelegenheit, bei Versamm- 
lungen auf Grund des Vereinsgesetzes einzuschreiten — im größten Ortsverein, in 
Berlin, überhaupt nicht. 


n diese Zeit des Aufschwunges nord- und süddeutscher Jugendvereinigungen 

brachte das entstehende Reichsvereinsgesetz ein neues Moment. Die radikale. 
politische Tätigkeit der Jugendvereinigungen im Süden, die sozialaufrüttelnde im 
Norden und nicht zuletzt das Interesse, das besonders radikale Sozialdemokraten 
der Bewegung widmeten und gegen die mit den vorhandenen Machtmitteln des 
Reiches und der Staaten trotz vielen Versuchen nichts auszurichten war, ließ Para- 
graphen entstehen, die ein Vorgehen gegen die freien Jugendorganisationen ermög- 
lichten. Daß man es bei dem Interesse für die Jugendorganisationen nicht nur mit 
der persönlichen Liebhaberei einzelner Sozialdemokraten zu tun hatte, bewiesen 
die seit 1906 auf den Parteitagen der Sozialdemokratie angenommenen Entschlie- 
Bungen, deren letzte 1907 offen verlangte: „‚Die Schaffung von Jugendorganisationen 
intensiver wie bisher zu betreiben, und zwar in der Weise, daß einige Parteigenossen 
beauftragt werden, in möglichst allen Orten des Reiches Versammlungen abzuhalten, 
in denen der Zweck und die Notwendigkeit der Jugendorganisationen erläutert 
und die Gründung eventuell in die Wege geleitet wird. Gleichzeitig die Parteipresse 
zu veranlassen, in dieser Richtung aufklärend zu wirken.‘ 


Das war ein Bruch mit der frühef en Praxis und stand entschieden im Gegensatz 
zur Haltung der Gewerkschaften, die auf dem Kongreß in Hamburg Mitte 1908 in 
einer Entschließung bekundeten, daß sie selbständige Jugendorganisationen nicht 
für erforderlich hielten. Allerdings war diese Entschließung wohl aus taktischen Grün- 
den gefaßt worden, weil die 8817 und 18 des am 8. April 1908 in der Schlußabstimmung 
angenommenen Reichsvereinsgesetzes, die von der Sozialdemokratie ebenso erfolg- 
los wie heftig bekämpft worden waren, auch für besondere, den Gewerkschaften nahe- 
stehende Jugendvereine und u. U. auch für die Gewerkschaften selbst eine Be- 
handlung als politische Vereine und damit die Gefahr der Auflösung in sich schlossen: 

„Personen, die das achtzehnte Lebenjahr noch nicht vollendet haben, dürfen nicht Mit- 
glieder von politischen Vereinen sein und weder in den Versammlungen solcher Vereine, sofern 
es sich nicht um Veranstaltungen zu geselligen Zwecken handelt, noch in öffentlichen politi- 
schen Versammlungen anwesend sein... 

Mit Geldstrafe ... wird bestraft: wer als Vorstand oder als Mitglied des Vorstandes eines 
Vereins entgegen den Vorschriften des $ 17 dieses Gesetzes Personen, die das 18. Lebensjahr 
noch nicht vollendet haben, in dem Vereine duldet... .“ 















| Ernst Drahn: Die sozialistische Arbeiterjugend 


Wie sich die Lage in dieser Zeit entwickelt hatte und wie nicht nur die Sozial- 
\lemokratische Partei, sondern auch die Gewerkschaften bald zu der Auffassung 
'tamen, daß nun auf Umwegen eine sozialdemokratische Jugendbewegung geschaffen 
verden müsse, zeigen die Verhandlungen der folgenden Sozialdemokratischen Partei- 
‚age. So berichtet der Parteivorstand Mitte September 1908 in Nürnberg: 


„Seit drei Jahren entstanden in Deutschland Jugendorganisationen mit ausgesprochen 
'sroletarischem Klassencharakter. Diese Jugendorganisationen waren weder von den Partei- 
‘Joch von den Gewerkschaftsorganisationen gegründet, sondern aus der Initiative einer An- 
ahl Genossen hervorgegangen. In Norddeutschland mußten sich die Organisationen der 
arbeitenden Jugend auf Lehrlingsschutz und Bildungsbestrebungen beschränken, weil die 
reaktionäre Vereinsgesetzgebung die Jugendlichen an politischer Betätigung hinderte. In 
Süddeutschland schlossen sich die Vereine der jungen sozialistischen Garde zu dem Verbande 
| 





| 


junger Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands zusammen, der dank der freieren Vereins- 
vesetzgebung Süddeutschlands sich auch mit der Diskussion politischer Fragen beschäftigen 
konnte. Von Anfang an wurden die Organisationen der Jugend von den Behörden mit Auf- 
merksamkeit verfolgt. Der ‚Verband junger Arbeiter‘ hatte vielfache Verfolgungen durch 
Polizei und Gericht zu erleiden. Eine im Geiste sozialistischer Weltanschauung geübte Er- 
ziehung und Bildung der Jugend ist den herrschenden Klassen verhaßt: So benutzten denn 
die Vertreter der bürgerlichen Parteien in der ‚liberalen‘ Blockzeit die Beratung des Vereins- 
| gesetzes, um den jugendlichen Arbeitern die Teilnahme an politischen Vereinen und politischen 
Versammlungen bis zum 18. Lebensjahr bei Strafe zu verbieten. Ein Verbot, das nicht einmal 
der Regierungsentwurf enthielt ... 

! Der Parteivorstand und die Generalkommission der Gewerkschaften haben sich vor und nach 
Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes (15. Mai 1908) mit der Frage der Organisation der 
 Jugenderziehung in gemeinsamen Sitzungen beschäftigt. 

In der Beratung wurde als notwendig anerkannt, daß sich die Partei und Gewerkschaften 
mehr um die Erziehung der Arbeiterjugend zu kümmern haben, als das bisher geschehen sei. 
Unsere politischen Gegner sind uns darin weit voraus. Sie marschieren zwar nach Konfessionen 
| getrennt. Gemeinsam ist ihnen aber das Ziel: durch ihre Veranstaltungen die jungen Arbeiter 
und Arbeiterinnen gegen den Einfluß der Sozialdemokratie immun zu machen. Wenn wir 
' den großen Vorsprung einholen wollen, den unsere Gegner in der. Beeinflussung der Arbeiter- 
jugend haben, so gilt es, die Massen der politisch und gewerkschaftlich organisierten Eltern 
für die Frage der Jugenderziehung zu interessieren. Unter Mitwirkung von Vertretern der 
Jugendlichen sollen deshalb in den einzelnen Orten die Parteiorganisationen und Gewerk- 
"schaften die zur Jugendbildung nötigen Veranstaltungen treffen ... Das Inkrafttreten des 
| Vereinsgesetzes hat dann politische Jugendorganisationen unmöglich gemacht. Der Partei- 
\ vorstand und die Generalkommission der Gewerkschaften einigen sich auf folgende Resolution, 
die dem Gewerkschaftskongreß vorgelegt wurde: 

Der Kongreß hält die Förderung der Bildungsbestrebungen der jugendlichen Arbeiter und 
Arbeiterinnen, insbesondere die Einführung in die politische und gewerkschaftliche Tätig- 
keit, für eine wichtige Aufgabe im Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse. 

Diese Aufgabe wird erreicht werden durch die Veranstaltung guter Vorträge, die der Er- 
kenntnis der Jugend angepaßt sind, und vor allem die Gebiete der Naturwissenschaft, Gesund- 
heitspflege, Literatur, Kunst, Technik, Rechtswissenschaft, Volkswirtschaft, Geschichte, 
Politik und gewerkschaftliche Tätigkeit umfassen. Daneben wird durch Veranstaltungen 
ernsten und heitern Inhalts Unterhaltung und Geselligkeit gepflegt werden können sowie für 
Sport und Spiel in den Grenzen die Betätigung zu erwecken sein, daß die Teilnahme hierzu 
nicht zu einer Übertreibung einer Sportexerziererei ausartet. 

Für diese Zwecke erscheint die Bildung einer besonderen Jugendorganisation nicht erforder- 
lich, vielmehr werden die Gewerkschaften für ihre jungen Mitglieder und Berufsangehörigen 
in besonderen Veranstaltungen die Bildung und Erziehung der Jugend im Sinne dieses Pro- 
gramms fördern.... 

Die Arrangements sind in den einzelnen Orten einer Kommission zu übertragen, die von dem 
Gewerkschaftskartell und der Parteiorganisation unter Hinzuziehung einiger Vertreter der 
jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen gebildet wird. 

Die wirtschaftliche Interessenvertretung und die Entscheidung über politische Parteifragen 
bleibt nach wie vor lediglich Aufgabe der gewerkschaftlichen bzw. politischen Organisation ..- 

Die sozialistische junge Garde Süddeutschlands hat am 3. Mai auf ihrer Darmstädter General- 
versammlung die Konsequenzen aus dem ‚liberalen‘ Ausnahmegesetz der Block-Ära gezogen 
und ... die Auflösung des ‚Verbandes‘ beschlossen ...“ 











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192 Deutsche Jugendbewegung 








amit war der Weg gefunden, die Klippen des Vereinsgesetzes zu umschiffen, 
D allerdings war er nicht nach dem Geschmack der norddeutschen Organisation, 
die hoffte, die Süddeutschen mit verändertem Programm in eine Einheitsorgani- 
sation aufnehmen zu können. Es gab noch manche Auseinandersetzung, ehe sich 
die bisher selbständige Jugendbewegung unmittelbar unter den Schutz der Partei 
und der Gewerkschaften stellte. Aus den Mitgliedern der Jugendvereine wurden ‚,Teil- 
nehmer‘ an Veranstaltungen, die eine neugebildete ‚Zentralstelle für die arbeitende 
Jugend“ (in der Friedrich Ebert das Sekretariat verwaltete) bzw. deren nach- 
geordnete Organe, die örtlichen ‚ Jugendausschüsse‘“ in die Wege leiteten. Die 
beiden Zeitschriften der nord- und süddeutschen Organisationen stellten ihr Er- 
scheinen ein. Es wurde ein neues Jugendblatt gegründet: die „Arbeiterjugend‘“, 
Die Zahl der örtlichen Jugendausschüsse wuchs von 1911 an rasch. Von 311 stieg 
sie auf 837 im Jahre 1914. Ebenso wuchs der Bezieherstamm der neuen Zeitschrift 
bis dahin auf 108300. Die Übernahme der finanziellen Verpflichtungen für die 
Jugendveranstaltungen durch Partei und Gewerkschaften führten zur schnellen 
Eröffnung von Hunderten von Jugendheimen und der Errichtung von kaum weniger 
Jugendbibliotheken. Eine eigene Literatur innerhalb der Verlagstätigkeit der 
Sozialdemokratischen Partei entstand, die sich nicht etwa nur auf Agitationsflug- 
blätter und Broschüren beschränkte, sondern neben Wander- und Liederbüchern 
auch belletristische Werke, dem Verständnis der Jugend angepaßt, ans Tages- 
licht gelangen ließ. „Die Rekrutenschulen der internationalen Sozialdemokratie“ 
waren somit erst durch das Reichsvereinsgesetz in klassischer Form begründet 
worden. Die wenigen noch vorhandenen Jugendvereine in Süddeutschland bil- 
deten in 38 Orten mit ca. 19000 gegenüber den ‚„Jugendausschüssen“ und ihrer 
„Teilnehmer‘ an den Veranstaltungen nur eine verschwindende Minderheit. Mit 
diesen über 100000 ‚Teilnehmern‘ marschierte Deutschland an der Spitze der 
sozialistischen Jugendbewegung aller Länder. Selbstverständlich fanden sich die 
staatlichen Behörden mit diesem Stande der Dinge nicht ohne weiteres ab, und so 
blieben Verfolgungen der in den „Jugendausschüssen‘ tätigen Personen und der 
„Teilnehmer“, besonders wenn sie Agitation für Veranstaltungen trieben, nicht aus. 
Durch diese behördlichen Maßnahmen, die Überlieferung aus der Zeit der süd- 
deutschen politischen Vereine und die in der neuen Jugendbewegung weiter sehr 
tätigen, radikalen Sozialdemokraten, wurde ein über den orthodoxen Marxismus 
hinausgehender, theoretisch-radikaler Zug in die ‚Jugendausschüsse‘“ und ihre 
Veranstaltungen getragen. Karl Liebknecht, die späteren Kommunisten Dunker 
und Höllein, die U. S. P.-Vertreter Rosenfeld, Lipinski, der radikale Österreicher 
Braun spielten ihre Rolle auch in den Jugendausschüssen und als ihre Vertreter 
auf den Parteitagen der Sozialdemokratie. Kurz, aus der selbständigen „Bewegung“ 
war die reine „Pflege“ der ‚, Jugendausschüsse‘‘ geworden. Was an Veranstaltungen 
geboten wurde, geht aus dem Bericht aus dem Jahre 1913/14 hervor. Danach 
fanden 237 Vortragsreihen und Kurse statt, die bis zu 20 Abende in Anspruch nahmen. 
Zu 4756 Einzelvorträgen kamen in ähnlichem Umfange künstlerische Veranstal- 
tungen, wissenschaftliche Führungen durch Museen und Institute, Ausflüge, Wan- 
derungen und Ferienspiele für Schüler. Schon im Jahre 1911 waren allein an Miete 
für Jugendheime 100000 Mk. ausgegeben worden und 1914 betrug der Gesamt- 
ausgabeetat von 383 Jugendausschüssen (unter 837) 236000 Mk. 


T: diese Entwicklung hinein brach der Krieg. Die Wirkung auf die „Teilnehmer“ 
an den Veranstaltungen der „ Jugendausschüsse‘‘ war verschieden. Vieleder Leiten- 
den begannen gern und willig, mit den Behörden an der militärischen Ausbildung der 
Jugend zu arbeiten, bis die Opposition in der Partei an diesem patriotischen 
Tun Anstoß nahm. Dies bewirkte, daß die Zentralstelle für die arbeitende 
Jugend durch ihren Sekretär Ebert sich gegen die Teilnahme an der militärischen 
Jugendausbildung aussprach und damit ihren Rückzug vor den Radikalen doku- 
mentierte. Trotzdem hatten sich von Jugendleitern aus 229 berichtenden Orten 
bis zum März 1915 insgesamt 783 Jugendleiter freiwillig zum Heeresdienst gemeldet 










Ernst Drahn: Die sozialistische Arbeiterjugend 193 
"(andere 1995 waren einberufen worden). Im Gegensatz dazu traten gleichfalls 
schon früh radikale Jugendgruppen in kriegsgegnerischem, revolutionärem Sinne 
‚tätig auf. So schon im Herbst .1914 eine Stuttgarter Jugendgruppe, die im Verein 
" mit dem heutigen Vorsitzenden der S. P..D., Crispien, die patriotische Haltung der 
Mehrheit im Parteivorstand bekämpfte. Auch aus der Nähe Berlins ist eine Ent- 
| schließung der Jugendgruppe Niederbarnim bekannt, die sich in ähnlicher Weise 
‚ aussprach wie die Stuttgarter. Wie sich die Dinge weiter gestalteten, sagt der 





| Bericht des Parteivorsitzenden an den Parteitag der Sozialdemokratie (Oktober 1917): 
„Wie die gesamte Arbeiterbewegung, so blieb auch die Jugendbewegung von Spaltungs- 
| versuchen nicht verschont. Schon kurz nach Beginn des Krieges setzten hier die Treibereien 
| gewissenloser, jeder Verantwortung baren Elemente ein. Diese Treibereien, deren Träger durch- 
| weg die älteren, der Jugendbewegung längst entwachsenen Jugendlichen wurden, führten 
zum Boykott der ‚Arbeiter- Jugend‘ und zur Loslösung von der ‚Zentralstelle‘ und damit zur 
Spaltung. Diese Spaltung wurde nicht allein von den Spartakusanhängern, sondern ... auch 
‘von den Anhängern der U.S.P. herbeigeführt ... Neben ... Abwehrmaßnahmen ist die 
' Zentralstelle ... tatkräftig im Interesse der arbeitenden Jugend tätig gewesen. Zur Frage 
der militärischen Jugendausbildung nahm sie unmittelbar nach Kriegsausbruch in einem be- 
‘ sonderen Rundschreiben in ablehnendem Sinne Stellung und berief, als trotzdem in einigen 
- Bezirken Deutschlands sich noch Unklarheit in dieser Frage zeigte, zum 29. Oktober 1914 
eine Konferenz der Bezirksleitungen ein, die nach eingehender Aussprache beschloß, die Be- 
teiligung an den militärischen Jugendkompagnien abzulehnen ... Dagegen stellte die Zentral- 
‚ stelle ... Leitsätze zur militärischen Erziehung der Jugend auf, die die positiven Forderungen 
enthielten, deren gesetzliche Durchführung eine ausreichende Erziehung der Jugend zur Wehr- 
| haftigkeit und körperlichen Tüchtigkeit gewährleisten würden... Auch gegen den Sparzwang 
. und die sonstigen die Jugend betreffenden Kriegsverordnungen der Generalkommandos 
' wandte sich die Zentralstelle wiederholt ...“ 
‘Wie der Krieg auf die Jugendorganisationen wirkte, zeigt unser beigegebenes 
N Zahlenmaterial. Nur soviel sei noch über die extreme Richtung in der Jugend- 
 propaganda erwähnt, daß besondere, vom Ausland in die größeren Städte Deutsch- 
"lands entsandte Emissäre, die Opposition nährten und im revolutionären Sinne 


durch Wort und Schrift beeinflußten!). 


| 
| T: der weiteren Entwicklung während des Krieges erlitt die Jugendbewegung 
| ebenso wie die sozialdemokratische Partei große zahlenmäßige Verluste. Ihr 
| Wiederaufbau vollzog sich bei günstigen Bedingungen in vereinsgesetzlicher Hinsicht 
. viel langsamer als bei der politischen Partei. Dazu kam eine vollständige Änderung 
in der Organisationsform. Sowie es die gesetzlichen Faktoren gestatteten, begann 
man, statt die lose Organisationsform der „Teilnehmer“ an den Veranstaltungen 
der „ Jugendausschüsse“ beizubehalten und Delegierten, Partei- und Gewerkschafts- 
mitgliedern die Leitung zu lassen, wieder, wie vor 1908, Jugendvereine zu gründen. 
In Auswirkung dieser Bestrebungen stellte im Jahre 1919 die „Zentralstelle 
für die arbeitende Jugend“ ihre Tätigkeit ein. Kurz vorher hatten die Gewerkschaften 
den Beschluß gefaßt, aus Neutralitätsgründen gegenüber den verschiedenen sozia- 
Histischen Parteien, ihre Mitglieder aus der „Zentralstelle“ und den „Jugendaus- 
schüssen“‘ der S.P.D. zurückzuziehen. Anstatt dieser Institutionen entstand der 
„Verband der Arbeiter- Jugendvereine‘ auf der ersten Reichskonferenz der ‚ Jugend- 
bezirksleitungen‘“ am 25. März 1919. Das Ausbreitungsgebiet dieses neuen Ver- 
bandes war wesentlich eingeschränkter als das der Zentralstelle. Nicht nur die 
Landverluste Deutschlands durch den Versailler ‚Friedensvertrag‘, sondern das 
Hervortreten von anderen sozialistischen Gruppen in der Jugendbewegung bewirkte 
dies ( Jugendorganisationen der Kommunistischen Partei, der U.S.P., der „Syndi- 
kalisten‘“) und auch die Gewerkschaften?) begannen in eigener Jugendbewegung 


1) Vgl. die Kriegsnummern der „Jugend-Internationale‘, ebenso die Schriften von Rück, 
Münzenberg, Breithaupt u. a. m. 

2) 1922 hatten von 50 Gewerkschaften 17 Verbände örtliche Jugendgruppen. In den meisten 
Orten waren Jugendgruppen von den Gewerkschaftskartells eingerichtet. Wie auf der 3. Kon- 
ferenz der Jugendvereine 1922 festgestellt wurde, war das Vereinsleben darin nur schwach. 


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194 Deutsche Jugendbewegung Fe 


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organisatorisch und werbend vorzugehen. So kam es denn, daß erst der Zusammen- 
schluß mit der (unabhängigen) „Sozialistischen Proletarierjugend‘“ mit allerdings 
geringer Mitgliederzahl, im Jahre 1923 (95000 + 10000) einen Mitgliederstand 
von rund 105000 brachte, der dem der letzten Zählung der Vorkriegszeit bei den 
„Teilnehmern der Jugendausschüsse‘ entspricht, während die 1472 „Ortsvereine‘ 
im gleichen Jahre die der ‚ Jugendausschüsse‘“ (1914 = 837) gewaltig übersteigen. 

Der so 1922 gebildete „Verband der Sozialistischen Arbeiterjugend“ schloß sich 
schon vorher mit den gewerkschaftlichen Jugendgruppen zum „Reichsausschuß 
der Arbeiterjugendorganisationen“ (,‚Rajo‘“) zusammen. Auf der Grundlage eines 
vereinbarten Mindestprogrammes verspricht diese Organisation mit vereinter Kraft 
die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterjugend wahrzunehmen. Es wurde in 
den letzten Jahren Stellung genommen zum Arbeitszeitgesetz, zum Fach- und Fort- 
bildungsschulwesen, zu Schülerräten, Lehrstellenvermittlung und Berufsberatung. 
Einen breiten Raum nahm, wie früher, in den Veranstaltungen des Verbandes die 
sog. Bildungstätigkeit (für den Sozialismus) ein: 








1921 1922 1923 





Vorträge, Leseabde. usw. 15 222 24 944 19 305 
Kellnehmer: . ..s » 503 789 587 414 499 212 
Feiern, Theaterbesuche, 
Unterhaltungsabende 13 550 23 447 18 640 
Teilnehmer: . . -.. 541 348 700 434 512 534 
Wanderungen, Sportver- 
anstaltungen . . . . 18 160 22 021 20 714 
Teilnehmer: . . .'. 509 460 479 622 517 468 


Außer der „Arbeiter- Jugend‘, die seit Beginn ihres Erscheinens von Karl Korn 
geleitet wird, und der Zeitschrift für die Jugendleiter (Der Führer) erscheinen jetzt 
schon 120 weitere Verlagsartikel (Gesamtauflagenhöhe der Verlagsartikel 1923 von 
317000 Stück). Für die Beschaffung von allem möglichen Material, das zum Betrieb 
der Jugendorganisation an Bureaubedarf, Spiel- und Sportartikeln usw. nötig ist, 
besteht eine „Einkaufzentrale‘“. 

Im Rahmen der allgemeinen Tätigkeit ist der „Verband“, der nun endgültig aus 
dem Stadium der ‚Pflege‘ in das der „Bewegung“ getreten ist, verschiedene „Arbeits- 
bündnisse‘“ eingegangen. Weiter gepflegt wurde das Zusammengehen mit Partei 
und Gewerkschaften, besonders mit dem „Ausschuß für sozialistische Bildungs- 
arbeit‘, mit der „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer‘, mit den 
„Sozialistischen Studenten‘, den ‚Arbeiter-Abstinenten‘ und ‚Arbeitersportlern‘“: 
Arbeit wird auch in den sozialdemokratischen ‚„Kindergruppen‘ geleistet. Mit 
der kleinen, aber regen Gruppe der ‚, Jungsozialisten‘“ besteht enge Zusammenarbeit. 

Der Verband gehört außerdem dem „Ausschuß der deutschen Jugendverbände“ 
an, einer Vereinigung, die aus gegen 40 deutschen Jugendverbänden gebildet ist 
und in der die gemeinsamen Interessen gewahrt werden. Zu diesem Ausschuß stellt 
die sozialdemokratische Jugend jeweils den zweiten Vorsitzenden. Die Jugend- 
organisation ist weiterhin dem ‚Verband für deutsche Jugendherbergen‘ ange- 
schlossen. Der Reichsverband hat übrigens selbst ein Gutschloß in Thüringen 
gepachtet, das für Ferienaufenthalte bestimmt ist. Die früher große Zahl der 
„Jugendheime“ in den Städten hat sich in der letzten Zeit wesentlich verringert, 
da den Jugendlichen jetzt städtische und staatliche Räume zur Verfügung stehen. 

Bezüglich der heutigen internationalen Beziehungen der deutschen Arbeiter- 
jugend sei erwähnt, daß sich 1921 eine „Sozialistische Jugend-Internationale‘‘ ge- 
bildet hat, der heute im Wettbewerb mit der III. Internationale die auf sozial- 
demokratischem (sog. zentristischem) Boden stehenden Jugendorganisationen von 
24 Staaten Europas und Amerikas angehören. Deutschlands Arbeiterjugend mar- 
schiert bezüglich der Mitgliedschaft und Verbreitung der Presse an der Spitze dieser 







































RR Ernst Drahn: Die sozialistische Arbeiterjugend | 195 
ereinigung, darum ist der Sitz des internationalen Sekretariats auch in Deutsch- 
nd. Diese neue Internationale gibt eine Monatsschrift „Sozialistische Jugend- 
ternationale‘“‘ heraus, deren Auflagenhöhe sich um 4000 bewegt. 

Außer den allgemeinen Interessen der Arbeiterjugend will diese Jugendinter- 
ıtionale ebenso wie die II. Internationale der Sozialdemokratie Völkerverbrüderung 
nd Kriegsgegnerschaft pflegen. | 

Trotz aller Ausbreitung der Arbeiterjugend-Vereins-Bewegung sind die Erfolge 
'örhältnismäßig gering, nicht nur gemessen an der konfessionellen Bewegung. Es 
't eine Schicht von höchstens 2—3%, der arbeitenden Jugend überhaupt, die von 
'er sozialdemokratischen Arbeiterjugend erfaßt wird. Es ist, mit Ch. J. Klumker zu 
den, „ähnlich wie die bürgerliche Jugendbewegung, eine Gemeinschaft Gleich- 
'erichteter, also eine Auswahl“. 


Statistisches über die sozialistische Arbeiterjugend 
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} REN RR ugend- | Biblio- ugend- 
Bezieherzahlen Mitglieder der Organisation nBen® Haken EN en 

















and: Se end Nordd.| Südd. | an Orten an Orten | an Orten 
(Mannh.) (Berlin) 
1906 | 5000 5 000 — 1500 
1907 6 000 8 500 — 3739| 3000 
1908 |ca.11000 | 10000 — 4 500 
1909 20 000 ca. 311 
1910 45 000 105 ca.122 360 
ı911 65 000 130 | 454 
1912 80 100 195 212 574 
1913 SEADOM AL 2 | Mal 655 
1914 108 300 104 000) 391 | 837 
1915 67 000 740 
1916 53 000 517 
1917 36 500 250 
1918 28 000 117 200 
1919 36643 | ca. 25 000 25; 117 300 
1920 45 000 60 000 850 (aufgel.) 
1921 54 000 70 000 0900 
1922 65 000 85 000 1 305 
1923 72 500 | ca. 105 000 1 472 
1924 56 000 110 6002) | ca. 1500 
1925 ca.55000 | ca. 950003) | 
| 


Literatur , 
Karl Korn, Die Arbeiterjugendbewegung. 3 Bde. Berlin 1923—1924. 


Dr. Vietor Engelhardt, Die deutsche Jugendbewegung als kulturhistorisches Phänomen. 
| Berlin 1923. (Diese Schrift enthält S. 123—131 einen „Führer durch die Literatur.) 
Wilhelm Schröder (und Dr. Rudolf Franz), Handbuch der sozialdemokratischen Partei- 
tage. 2 Bde. München 1910 u. 1915. (S. 223ff. des I. und S. 269ff. des II. Bandes. Vgl. 
auch die in diesem Werk angezogenen „Protokolle der Verhandlungen der sozialdemo- 
kratischen Parteitage und Gewerkschaftskongresse“. Ferner die Parteitagsprotokolle 


nach 1913.) Ä 


' Die Jugend der Revolution. Drei Jahre proletarische Jugendbewegung, 1918—1920. Berlin 


(1921), darin „Deutschland“, S. 351 ff. 


Karl Liebknecht, Reden und Aufsätze. Hamburg 1921. Darin „‚Der Kampf für die Jugend‘, 


S. 2ff. 


Ernst Heilmann, Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und dem Erzgebirge. Chem- 


nitz (o. J.). Darin S. 167/168. 


2) Davon ca. 17000 in Vereinen, ?) Dazu ca. 4000 Jungsozialisten. 


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196 Deutsche Jugendbewegung- = a | 





W. Münzenberg, Die sozialistischen Jugendorganisationen vor und während des Krieges. 
Berlin 1919. 

Fritz Rück, Vom 4. August bis zur russischen Revolution. Leipzig 1920. | 

Chr. I. Klumker, Jugendpflege und Jugendbewegung im Handwörterbuch der Staatswissen- 
schaften. 4. Aufl. Jena. V. Band. S. 528, 

Die Arbeiter- Jugend. Internationale. Berlin 1922, 

Über die revolutionierende Tätigkeit von Ausländern in der deutschen Arbeiterjugend-Bewe- 
gung: „Kriegsnummern der Jugend-Internationale‘‘ (Jugend-Internationale. Die el 
historischen Nummern der Kriegsausgabe 1915—1918). Neudruck. Berlin (1921). Darin 
besonders: I. H. Basel: Was ich in Deutschland sah und erlebte; Nr. 3, S. 4-6, unc 
E. A.: Kriegserlebnisse, in Deutschland; Nr. 6, S. 24. 


Die Mitgliederzahlen der Arbeiter-Jugend-Internationale 
Von Ernst Drahn in Berlin 


Deutschland siehe d. vorstehenden Aufsatz. (Zu den Arbeiter- Jugend-Vereinen kommen 
noch die Jugendabteilungen der Freien Gewerkschaften mit rd. 250000 Mitgliedern 1924.) 


Belgien. Feder. des jeunes Gardes (gegr. 1899, im Kriege ruhend, 1919 neu gegr.). 
1921 1922 1923 
Mitgl. 2059 8710 20000 Organ ‚Education Recreation“. 
Abteil. 105 200 
Bulgarien. Bulg. sozialistischer Jugendverband (gegr. 1921). 
1921 1922 1923 
Mitgl. 1000 2500 3200 Organ „‚Sozialistische Jugend‘ (5000 Aufl.). 
Dänemark. Danmarks socialdemokratiske Ungdom (gegr. 1906). 
197 1919 1920 1924 


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Mitgl. 722 2000 5000 10000 Organ ‚Rod Ungdom“. 
Abt. 14 20 15 100 
Deutsch-Österreich. Verband der soz. Arbeiterjugend Deutschösterreichs (gegr. 1906). 
1920 1922 
Mitgl. 25744 34632 
Abt. 187 232. Organ ‚‚Der jugendliche Arbeiter“. 
Finnland. Sos. dem. Työläisnuorisolütto Toimikunte (gegr. 1921). 
1922 
Mitgl. 3000 
Abt. 190. Organ ‚‚Tvöläisnuoriso‘“. 
Frankreich. Federation nationale des jeunes Gardes socialistes Frangais (gegr. 1920). 
1921 1924 


Mitgl. 900 3000 (u. „Junge Sozialisten‘‘). 
Georgien. „Verband der Jungen Marxisten Georgiens‘, gegr. 1919. Jetzt illegal. 


1919 1921 
Mitgl. 3000 7000. Organ ‚‚Die neue Spur“. 
Großbritannien. Socialist Sunday Shools. u. Guilds of Youth. 
1924 
Mitgl. 2000 
Abt. 50. Organ ‚‚The young Socialist“. 


Niederlande. Centrale van Arbeiders Jeugdverenigingen (gegr. 1901). 
1905 1920 1923 
Mitgl. 2735 6000 7160. Organ ‚Het jonge Volk“, 1921 14000 Aufl. 


Italien. Federazione Giovanile Socialista Unit. d’Italia (gegr. 1900). 
1908 1912 1917 1921 
Mitgl. ca. 3000 5398 8610 11590, zuletzt 18000, dann Zusammenbruch und 
nur noch kleine Reste. Organ ‚‚La Liberta“. 


Jugoslavien. Verband d. sozialistischen Jugend Jugoslaviens (gegr. 1923). 
1923 
Mitgl. 200 
Abt. 3 











Ernst Drahn: Die Mitgliederzahlen der Arbeiter- Jugend- Internationale "197 
Norwegen. Norges soc. dem. Ungdomsforbund (gegr. 1899). 
1900 





| 1922 1923 
Mitgl. 200 1000 ? 
Abt. 12 50. Organ „‚Arbeiterjugend‘‘ (Aufl. 3000). 
Schweden. Sverges Socialdem. Ungdomsförbund (gegr. 1898). 
... 1905 1917 1924 
Mitgl. 5100 1000 17000 
Abt. 39. Organ ‚Freiheit‘ (15000 Aufl.). 


h ‚Schweiz. ‚Verband der schweizerischen Jungburschvereine‘ (gegr. 1906) und ‚‚Sozialdem. 
teie Jugend‘. Die Organisationist jetztkommunistisch, nur einzelne S,D. Vereine bestehen noch. 


‚Spanien. Federation Nacional de Juventudes Socialistes (gegr. 1906). 


1909 1924 
Mitgl. 500 2000 
Abt. 20 50. 

Tschechoslovakei. 


‚1. Socialistischer Jugendverband f. d. deutschen Gebiete der Tschechoslovakischen Republik 
(gegr. 1920). 


1920 1924 
‘Mitgl. 30000 10000 
Abt. 250. Organ BERUHEN INBEUS, 
2. Ustredni vykonny vybov mlädore s. d. strany. d.v.Ü. 
1906 1924 
Mitgl. 3500 8000, dazu 50000 Jugendl. im Arbeiter Turnverein. 
Abt. 82. Organe: „Omladina‘‘ und „Mlädy Socialista‘. 
. 3, Mläder Soc. Sjednveni C. (gegr. 1923). 
Jh 1924 
Mitgl. 1200. 
. Nordamerika. Young Peoples Dep. of Soc. Party (gegr. 1921). 
1923 
Mitgl. 1000 
Abt. 30. 


Nach diesen Zahlen wird die Mitgliedschaft der Sozialdemokratischen Jugend-Internationale 

um 1923/24 auf knapp !/, Million zu schätzen sein. Dem Bericht des Il. Kongresses der ‚„‚Sozia- 
listischen Jugendinternationale“ in Amsterdam zu Pfingsten dieses Jahres ist zu entnehmen, 
daß ebenso, wie bei Gewerkschaften und sozialistischen Parteien, sich auch in der sozialistischen 
Jugendbewegung ein merklicher Rückgang an Mitgliedern bemerkbar macht. So sind die 
Zahlen nach den neuesten Feststellungen: von 95000 auf 70000 in Deutschland, in Deutsch- 
' Österreich von über 30 000 auf 20000, in Belgien auf 12000 und bei der deutschen Bewegung 
in der Tschechei gar auf 3500 zurückgegangen. Die Gesamtstärke der Sozialistischen Jugend 
hat international eine Einbuße von 250000 auf rund 200 000 erlitten. 


Die kommunistische Jugendbewegung 


| 
Von einem Kommunisten 


| D: Kommunistische Jugendbewegung in Deutschland ist zusammengefaßt unter 
8 dem Namen „Der Kommunistische Jugendverband Deutschlands“. 

Der Kommunistische Jugendverband Deutschlands ist der Kommunistischen 
- Jugendinternationale in Moskau angeschlossen, auf der Grundlage des demokrati- 
‚schen und föderalistischen Zentralismus. 

Die Kommunistische Jugendinternationale ist nicht in Rußland, sondern in 
Deutschland bzw. in der Schweiz entstanden. In Deutschland wurde im September 
1915 zum ersten Male die Zeitschrift „Die Kommunistische Internationale‘“ heraus- 
gegeben. Infolge des Sieges der russischen Revolution konstituierte sich jedoch die 
„Kommunistische Jugendinternationale‘ später in Moskau und gehört heute neben 
der „Roten Gewerkschaftsinternationale‘“ zu einem wesentlichen Bestandteil der 

„Kommunistischen Internationale“ überhaupt (Kommintern). 





























198 Deutsche Jugendbewegung 





Die Kommunistische Jugendbewegung ist hervorgegangen aus der Arbeiter: 
jugendbewegung der Vorkriegszeit. Als die Arbeiterjugendbewegung unter dei 
Führung des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Dr. Heinrich Schulz 
und unter der Führung von Karl Korn in das Lager des Imperialismus überging, 
als auch die Jugendorganisation der Vorkriegszeit offen reformistisch wurde, da 
sammelte sich die Opposition und schuf die organisatorischen Voraussetzungen für 
die jetzige Kommunistische Jugendinternationale. 

In der ersten Kriegsnummer der Zeitschrift „Die Kommunistische Jugendinter- 
nationale‘ finden wir als Mitarbeiter unter anderen: Lenin, Liebknecht, Sinowjew, 
Trotzki, Radek, Bucharin, Amstel, Münzenberg, Kollonty, Ollausen, Henriette 
Roland-Holst und außerdem auch Bernstein, Fritz Adler, Danneberg und Höglund. 
Die erste Nummer erschien in der Schweiz in einer Auflage von 10000, in Deutsch- 
land von 15000 und in Skandinavien von 20000 Stück. Sie enthielt Lenins historisch 
gewordenen Aufsatz: „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution“. 





ie Arbeiterjugendbewegung in Deutschland ist im Jahre 1904 entstanden. In 

diesem Jahre bildete sich ein „Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeite’ 
Berlins“, der die Keimzelle der späteren sozialdemokratischen Jugendorganisationen 
war. Die Ursache zu dieser Vereinsgründung in Berlin war bezeichnenderweise ein 
Lehrlingsselbstmord im Berliner Grunewald, der die Berliner Jungarbeiterschaft 
außerordentlich erregte. Im gleichen Jahre wurde ein ähnlicher Verein in Süd- 
deutschland ins Leben gerufen. Beide Vereine dehnten sich aus und gründeten neue 
Ortsgruppen. Der Berliner Verein legte das Hauptgewicht auf Lohnfragen, Jugend- 
schutz und Jugendrecht, der süddeutsche betrieb vor allem antimilitaristische Arbeit. 

Im Jahre 1906 gründeten die freien Gewerkschaften sog. Jugendsektionen. 1908 
wurde im Reichstag ein Reichsvereinsgesetz geschaffen, das den Jugendlichen 
unter 18 Jahren jede Beschäftigung mit Politik untersagte. Aber schon 1907 wurde 
auf einer internationalen Konferenz nach einem Referat von Karl Liebknecht die 
Jugendinternationale geschaffen. Karl Legien, der damalige Vorsitzende der 
„Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands‘, nannte in den „Sozialisti- 
schen Monatsheften‘ diese Organisation ein ‚verfehltes Unternehmen“, 

Infolge des Reichsvereinsgesetzes trat anstelle der selbständigen Jugendorgani- 
sation eine „Zentralstelle für die arbeitende Jugend‘ mit sog. „ Jugendausschüssen“ 
in den einzelnen Orten. Diese waren zusammengesetzt aus Vertretern von Partei und 
Gewerkschaften. AnderSpitze derZentralstelle standen FriedrichEbert undKarlLegien. 

Das eigentliche Schwergewicht der Jugendbewegung stand von vornherein in 
Opposition gegen diese ihr aufgezwungene Leitung. So war es auch möglich, daß 
auf der Berner Konferenz im April 1915 diese Opposition leicht gesammelt werden 
und sich mit der internationalen Propagandazeitung „Die Jugendinternationale“ 
an die Öffentlichkeit wenden konnte. 


ie beiden Faktoren, auf welche sich die Kommunistische Jugendbewegung 
D stützt, sind die soziale Lage der Arbeiterjugend und die Rolle der jungen Gene- 
ration in der Gesellschaft. 
I. 

Die Volkszählung vom Jahre 1907, die letzte umfassende Zählung, die wir besitzen, 
stellte in Deutschland 4326305 jugendliche Arbeiter, Angestellte und Lehrlinge 
beiderlei Geschlechts im Alter von 14—18 Jahren fest. Diese Zahlen haben sich 
inzwischen zweifellos verschoben, und man darf für die Gegenwart wohl 5 Millionen 
jugendliche Arbeiter, darunter I Million Lehrlinge, annehmen. 

Die Zahl der in den freien Gewerkschaften organisierten Jungarbeiter wurde im 
Jahre 1922 mit 496043 angegeben. Damals betrug die Zahl der Gesamtmitglied- 
schaft der freien Gewerkschaften 8 Millionen, heute beträgt sie 5 Millionen, man 
kann daher die gewerkschaftlich organisierten Jungarbeiter auf 250000 schätzen. 

Im „Verlag der Jugendinternationale‘ ist im Jahre 1923 ein Buch über „Die 
wirtschaftliche Lage und der wirtschaftliche Kampf der arbeitenden Jugend“ 





Die kommunistische Jugendbewegung 199 






\nerausgegeben worden, welches eigentlich die einzige sozialpolitisch größere Ver- 
\sffentlichung der Kommunistischen Jugendbewegung darstellt. Das Buch ist in 
iswei Abschnitte geteilt und enthält im ersten Teil eine sehr gute Übersicht über die 
"oziale Lage der Arbeiterjugend. Die Lohnfrage, die Lehrlingsfrage in Industrie 
ınd Handwerk, die Frage der ungelernten Arbeiter, die Frage Berufsberatung und 
"Berufseignung wird da behandelt. Ebenso auch die Frage der Arbeitszeit, der 
Nachtarbeit, der Ruhezeitarbeit, des Urlaubs usw. Dann ferner die Frage der 
"Berufsausbildung der Arbeiterjugend sowie die Folgen der kapitalistischen Aus- 
‚beutung an Leib und Seele der Arbeiterjugend. 

'" Das zweite Kapitel des Buches beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen 
‚ Jungen und Alten, mit den Gewerkschaften, mit den proletarischen Jugendorgani- 
‚sationen überhaupt und mit der mehr oder weniger programmatischen Stellung der 
‚Kommunistischen Jugendbewegung zu den sozialen und öffentlichen Fragen. 
| Dieses Buch unterrichtet am besten über das Wesen der Kommunistischen Jugend- 
bewegung und druckt am Schluß die Thesen des zweiten Weltkongresses der Kom- 
"munistischen Jugendinternationale ab. 

' Die Spanne vom zweiten Weltkongreß bis zur Gegenwart ist aber ungleich aktueller, 
‘da jener zweite Kongreß ungefähr gleichzeitig mit dem zweiten Kongreß der Kom- 
"mintern tagte, der im Jahre 1920 stattfand. 


| I. 
"Tntscheidend für die Ausgestaltung und Entwicklung der Kommunistischen 
| Jugendbewegung war der dritte Kongreß der Kommintern, den man den Kon- 
greß der Vorbereitung der Kommunistischen Propaganda bezeichnen kann. Dieser 
"Kongreß stand unter der Devise: „Heran an die Massen‘ und seine Beschlüsse 
‚ werden wesentlich bestimmend sein bis zum endgültigen Siege des Bolschewismus 
im Weltmaßstabe, er wird der hervorragendste Kongreß bleiben, weil auf ihm jene 
Richtlinien der Propaganda und Agitation festgelegt wurden, die als das Wesen 
der Methode des Bolschewismus zur Eroberung der Massen betrachtet werden müssen. 
In den Thesen, die auf diesem dritten Weltkongreß am 3. Juli 1921 festgelegt 
wurden, heißt es u. a.: 
- „Der imperialistische Krieg und die Stellung der sozialdemokratischen Parteien in den mei- 
' sten Ländern dazu mußten die Gegensätze zwischen den sozialdemokratischen Parteien und 
\ den internationalen revolutionären Jugendorganisationen vertiefen und zum offenen Konflikt 
treiben.“ 
Es wird dann weiter knapp dargelegt, wie es zur Entstehung der internationalen Jugend- 
. konferenz 1915 in Bern und 1916 in Jena kam. 
' In Absatz 3 wird dargelegt wie durch die Entstehung der K.I. und der K.P. in den einzelnen 
‘ Ländern sich die Rolle der revolutionären Jugendorganisation in der gesamten proletarischen 
Bewegung ändern mußte: „Die ökonomische Lage und die psychologische Eigenart der Ar- 
 beiterjugend macht sie für die kommunistischen Ideen leichter empfänglich und zeigt im revo- 
Iutionären Kampf einen größeren revolutionären Enthusiasmus, als die erwachsene Arbeiter- 
" schaft.“ Aber die Rolle der Avantgarde im Sinne des selbständigen politischen Auftretens 
und der politischen Leitung übernehmen die kommunistischen Parteien. 

Im 4. Punkt wird die Rolle der Kommunistischen Jugendorganisation dargelegt, die Massen 
der jugendlichen Arbeiter zu sammeln, sie kommunistisch zu erziehen und einzureihen in die 
kommunistische Kampffront. Neue Methoden der Agitation, die Einleitung und Führung 

von wirtschaftlichen Kämpfen durch die K. J. kommen in Betracht, die Bildungsarbeit muß 
erweitert und verstärkt werden. Eine wichtige Aufgabe ist die Zerstörung der zentristischen 
‚und sozialpatriotischen Ideologie in der Arbeiterjugend, ihre Loslösung von den sozialdemokra- 
‚ tischen Jugendpflegern und Führern. 
| In Punkt 5 heißt es: Das Verhältnis der K. J.O. zu den K.P. ist grundverschieden von dem 
der revolutionären Jugendorganisationen zu den sozialdemokratischen Parteien. In dem ge- 
' meinsamen Kampfe für eine rasche Durchführung der proletarischen Revolution ist die größte 
| Einheitlichkeit und strengste Zentralisation notwendig. 

Die K. J.O., die ihre eigenen Reihen nach den Gesetzen der strengsten Zentralisation zu 

‘organisieren begonnen haben, werden gegenüber der K.1. als Trägerin und Führerin der prole- 
tarischen Revolution eiserne Disziplin üben. 




















200 Deutsche Jugendbewegung 





ERTEILT ET ELITE TER TELLEET HATAEHETETEETTTENTE ENERNSENE FEIERTE EETLSERENSVERIRGTZEGEREE PRENTSOSEERNSESRENFEN 





Da zur erfolgreichen Führung des revolutionären Kampfes die stärkste Zentralisation und 
die größte Einheitlichkeit notwendig sind, soll in jenen Ländern, wo infolge der historischen 
Entwicklung eine große Abhängigkeit der Jugend von der Partei besteht, dieses Verhältnis 
in der Regel aufrechterhalten werden. Bei Differenzen zwischen beiden Organen entscheidet 
das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale in Gemeinschaft mit dem Exekt- 
tivkomitee der Kommunistischen Internationale in Gemeinschaft mit dem Exekutivkomitee 
der Kommunistischen Jugendinternationale. 

Und zum Schluß unter Punkt 7 heißt es: ‚‚In noch engerer Weise als das Verhältnis der 
K.1l. zu den K.P., ordnet sich das Verhältnis zwischen der K. J. I. und der K.I. Die Aufgabe) 
der K. J. I. besteht in der zentralisierten Leitung der kommunistischen Jugendbewegung, der 
Unterstützung und Förderung der Einzelverbände mit moralischen und materiellen Mitteln, 
der Schaffung neuer K. J.O., wo solche nicht bestehen, und der internationalen Propaganda für 
die kommunistische Jugendbewegung und ihr Programm. Die K. J.1. ist ein Teil der K.1. 
und unterordnet sich als solcher den Beschlüssen des Kongresses der K.I. und deren E.K. 
Im Rahmen dieser führt sie ihre Arbeit und wirkt als Vermittlerin des politischen Willens der 
K.1. in allen ihren Sektionen. Durch eine starke gegenseitige Delegation und ein enges dauern- 
des Zusammenarbeiten wird die ständige Kontrolle durch die K. J., und die fruchtbarste Arbeit 
der K.J.I. auf allen Gebieten ihrer Tätigkeit (Leitung, Agitation, Organisierung, Festigung 
und Stützung der K. J.O.) gesichert.‘ | 


ie Zeit nach dem dritten Weltkongreß der Kommintern wurde in Deutschland’ 
D gekennzeichnet durch eine zunächst langsam ansteigende Inflation, die be- 
kanntlich im Jahre 1923 ihre stärkste und zuletzt unhaltbare Zuspitzung erfuhr. 
Das ist die Zeit, in der jener alles beherrschende Grundsatz: „Heran an die Massen“, der 
auf dem dritten Weltkongreß aufgestellt worden war, praktisch verwirklicht wurde 

Es ist klar, daß in dieser Zeit auch der Kommunistische Jugendverband innerhalb 
der Jungarbeiterschaft ein mächtiger Faktor wurde. In dieser Zeit fanden die Ideen 
der Kommunistischen Jugendbewegung nicht nur in der Arbeiterjugend stärkeren 
Anklang, sondern auch in der bürgerlichen Jugendbewegung; vor allem in den frei- 
deutschen Gruppen gerieten große Teile unter den Einfluß kommunistischer Ideologie. 

Der weitumfassenden Agitation in dieser Hinsicht diente neben den Zeitschriften 
vor allem ein Büchlein, das von der K.J.I. herausgegeben war und Aufsätze zum 
Programm der Kommunistischen Jugendinternationale enthielt: „Die Grund- 
fragen der Kommunistischen Jugendbewegung‘“. 

Die Kommunistische Partei und Jugendbewegung hat auch in der Tat aus frei- 
deutschem Lager der Jugend eine Reihe von Kräften gewonnen, die allerdings 
schon früher kamen, wir nennen nur Alfred Kurella. 

Genau wie die Kommunistische Partei machte auch die Kommunistische Jugend 
im Jahre 1923 den Versuch, im sog. nationalen Lager Stimmen für sich zu werben. 
Diesem Zweck diente Kurellas Schrift: „Noch einmal: Deutsche Volksgemein- 
schaft, ein Wort an die bürgerliche Jugendbewegung‘“. Sie ist auch jetzt noch 
lesenswert oder besser gesagt wieder lesenswert, denn wir befinden uns in einer 
wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, die von derjenigen des Jahres 1923 
sich nicht wesentlich unterscheidet. Wir sind sogar der Meinung, daß die jetzige 
Krise ungleich schärfer sich zuspitzen dürfte als die Inflationskrise vom Jahre 1923. 

Doch das Jahr 1923 brachte noch nicht jenen objektiv revolutionären Zustand 
hervor, der von den damaligen subjektiven revolutionären Faktoren hätte bemeistert 
werden können. Oder mit anderen Worten: der subjektive revolutionäre Faktor 
war nicht stark genug, um die Dinge damals schon in seinem Sinne lenken zu können. 

Das führte zu starken Auseinandersetzungen der Kommintern und der K.P.D. 
Diese Auseinandersetzungen übertrugen sich auch auf die Jugendinternationale 
und die Kommunistische Jugendbewegung in Deutschland. 

Die Folgen dieses Oktoberzusammenbruchs von 1923 kamen auf dem fünften 
Weltkongreß der Kommintern und dem vierten Kongreß der Kommunistischen 
Jugendinternationale zum Ausdruck. 

Eine kleine Schrift: ‚Vom Verein zur Massenorganisation‘, die noch im Anfang 
des Jahres 1923 erschienen ist, war noch im wesentlichen propagandistisch gehalten 
und behandelte vor allem die Frage der Zellenarbeit der Kommunistischen Jugend 













































|; Die kommunistische Jugendbewegung 201 





"ın den Betrieben und den verschiedenen Arbeiter-Organisationen. Der vierte Kongreß 

‚ler Kommunistischen Jugendinternationale, der eine gewisse Ergänzung des 
‚ünften Kongresses der Kommintern darstellte, rückte das Grundsätzliche in den 

Vordergrund. Die Propaganda des „Leninismus‘‘ wurde zum eigentlichen Inhalt 
der gesamten Arbeit des Kommunistischen Jugendverbandes auch in Deutschland. 
| Die wichtigste Frage der proletarischen Revolution, die „Staatstheorie des Leni- 
„aismus‘‘ bildete gewissermaßen den Kern, um den sich alles andere gruppierte. 

‚Zwar nahm der fünfte Weltkongreß der Kommintern keine Revision der Beschlüsse 

‚des zweiten und dritten Weltkongresses der K.]J.I. vor, und er stellte auch fest, 

daß sich diese Beschlüsse nicht im Widerspruch zu den Kongreßbeschlüssen der 

"Kommintern ständen. Aber er stellte doch für die Arbeit der Kommunistischen 

1 bestimmte neue Richtlinien auf: 

1. Enge Anteilnahme der Jugendbewegung am Leben der K.P. und an den Kämpfen der 
Arbeiterklasse (politische Aktivität), 

. Reorganisierung auf der Grundlage der Betriebszellen, 

. aktive Arbeit in der bürgerlichen Armee und Kampf gegen die drohenden Kriege, 

. Vorbereitung auf die Aufgaben des Bürgerkrieges, 

. wirtschaftlich-gewerkschaftliche Arbeit, 

. Arbeit unter der Landjugend, 

. Erziehungsarbeit. 








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NIT B@DN 


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| 
! In einem besondern Punkt der Thesen des fünften Kongresses der Kommintern wurde auch den 


| kommunistischen Parteien die Unterstützung der Kommunistischen Jugendbewegung beson- 
ders dringend nahegelegt. 


Diese Beschlüsse der Kommintern hatten für die Beschlußfassung des ihm folgen- 
‚den vierten Kongresses der Kommunistischen Jugendinternationale weittragende 
"Bedeutung. Dieser vierte Kongreß stellte die Propaganda des „Leninismus‘ in den 
Vordergrund, dessen Grundprobleme folgendermaßen gekennzeichnet wurden: 
| 1. Imperialismus, nationale und koloniale Fragen, 
\ 2. die Arbeiterklasse und die Bauernschaft, 
N 3. der Staat, die proletarische Diktatur und Sowjetmacht, 
| 4. die Organisationsprinzipien des Bolschewismus, 

5. die Fragen der Taktik. 


| Der vierte Kongreß der Kommunistischen Jugendinternationale nahm dann 
Beschlüsse an, die ganz in der Linie der vom dritten Kongreß der Kommintern auf- 
gezeigten Notwendigkeiten lagen. Der Kommunistische Jugendverband wurde 
‚auf der Grundlage der Betriebszellen vollständig umgestellt, und zwar in Ausführung 
‚der Beschlüsse des vierten Kongresses. Eingehend beschäftigte sich der Kongreß 
‚mit der Arbeit in den Gewerkschaften, mit dem Kampf gegen den bürgerlichen 
/Militarismus und der Gefahr neuer imperialistischer Kriege. In diesen Beschlüssen 
‚ist jene außerordentlich wirkungsvolle Arbeit festgelegt worden, die später in der 
I keungsärbeit in der französischen Besatzungsarmee am Rhein ihren Ausdruck 
fand, oder besser gesagt: diese schon bestehende Tätigkeit erhielt durch die Be- 
\schlüsse des Kongresses ihre methodische Systematik. 


Weitere Beschlüsse des Kongresses beschäftigten sich mit der Arbeit auf dem Lande, 
‚insbesondere mit der Gewinnung der Landarbeiter und Kleinbauernjugend. 


Ein Programmentwurf wurde von dem Kongreß grundsätzlich bestätigt und zur 
Erörterung der Verbände gestellt. Der Entwurf selbst ist auch heute noch nicht 
zu einem Programm endgültig fertiggestellt worden. Der Kongreß beschäftigte 
‚sich noch weiter mit der Kolonialfrage und der Sportfrage. Die Thesen über die 
‚Sportfrage behandeln aber im wesentlichen die Propaganda in den Sportorgani- 
sationen. Es wird besonders hervorgehoben, daß in der „heutigen Kampfperiode 
‚der politische Grundunterricht und die Bekanntmachung mit der marxistisch- 
‚eninistischen Theorie viel wichtiger ist als die Befriedigung verschiedener Be- 
‚dürfnisse, welche sich die einzelnen Selbstzweckverbände zum Ziel gesetzt haben“. 


Deutsche Jugendbewegung (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 9) 14 














202 Deutsche Jugendbewegung 


Een 


Als Auswirkung der Oktoberniederlage 1923 und des fünften Weltkongresses fand 
auf dem Frankfurter Parteitage der K.P.D. ebenfalls eine grundsätzliche Neu- 
einstellung statt. Der Frankfurter Parteitag beschäftigte sich aber mit der Jugend- 
bewegung nicht, nur in einer allgemeinen Entschließung wurden auch der Kom- 
munistischen Jugendbewegung einige wenig belangvolle Leitsätze gewidmet. Der 
vierte Internationale Jugendkongreß hatte .diese Aufgabe schon vorweggenommen 
und selbständig die Schlußfolgerungen des Zusammenbruchs vom Jahre 1923 sowie 
auch der Beschlüsse des fünften Weltkongresses der Kommintern gezogen. 

Jedoch blieb auch der Kommunistische Jugendverband in Deutschland von den 
Zwistigkeiten innerhalb der gesamt-kommunistischen Bewegung nicht verschont, 
Der neunte Verbandskongreß des K.J.V.D., der kürzlich in Halle tagte, war an- 
gefüllt mit jenen Problemen, die in der Partei Gegenstand heftiger Auseinander- 
setzungen bildeten und durch den Ekkibrief offen zur Erörterung gestellt waren. 

Der Verbandstag beschäftigte sich daher auch in erster Linie mit parteitaktischen 
Fragen, aber er blieb dabei nicht stehen. Für die Tätigkeit des Kommunistischen‘ 
Jugendverbandes sind die übrigen Beschlüsse dieses Verbandstages weit wichtiger, 
als diejenigen zu den parteitaktischen Differenzen. Die von der Jugendzentrale 
dem Verbandstag vorgelegten Thesen über die nächsten Aufgaben der Agitation' 
und Propaganda, der Betriebszellenarbeit und der Reorganisation, zur wirtschaft- 
lich-gewerkschaftlichen Arbeit und Sportarbeit usw. enthalten im wesentlichen 
gewissermaßen die Vorbereitung eines neuen Sprungbrettes, um besser an die Massen 
herankommen zu können. Dieser Verbandstag bestätigte auch die Thesen über die 
Bolschewisierung der K.P. und die Frage der Arbeit unter der proletarischen Jugend. 
Diese Thesen bilden den Kern eines Programms derKommunistischen Jugendbewegung, 


Im ersten Teil dieser Thesen wird die Bedeutung der Arbeit unter den verschiedenen Schich- 
ten der Jungarbeiter behandelt. Im zweiten Teil das Verhältnis zwischen der K.P. und dem 
Jugendverband. Im dritten Teil die gegenwärtige Lage und die nächsten Aufgaben des K. J.V: 

a) Hebung der politischen Aktivität des Jugendverbandes: Im Mittelpunkt dieser Arbeit 
muß die Anwendung der Einheitsfronttaktik gegenüber den andern Arbeiterjugendorganisa- 
tionen (S.A. J., Arbeitersportorganisationen usw.) seitens des Jugendverbandes stehen. 

b) Beginn einer intensiven Gewerkschaftsarbeit: Der Jugendverband muß in allen Gewerk- 
schaften kommunistische Jugendfraktionen gründen, die einen Kampf um alle Positionen in 
den Jugendsektionen der Gewerkschaften führen und sein Hauptaugenmerk auf die Schaffung 
und Eroberung der gewerkschaftlichen Jugendvertrauensleute — Funktionäre — in den 
Betrieben richten. 

Diese Arbeit wird nur dann erfolgreich sein, wenn der- Jugendverband eine ganze Reihe von 
Spezialisten in der Gewerkschaftsarbeit (mit entsprechenden Kenntnissen und Erfahrungen) 
ausbildet, die als Leiter dieser Arbeit wirken können. 

c) Verstärkung der Betriebszellenarbeit: Diese Arbeit ist nur möglich, wenn der Jugend- 
verband in den ausschlaggebenden Betrieben gute Zellen hat. Darum muß der Jugendverband 
erstens die bereits bestehenden Zellen ausbauen, indem er viel mehr als bisher die Arbeit der 
Betriebszellen mit der gewerkschaftlichen Arbeit im Betrieb (Eroberung der gewerkschaft- 
lichen Vertrauensleute-Funktionen) verbindet. Zweitens muß der Jugendverband seine ;Ver- 
bindung mit den Großbetrieben verstärken, da er bis jetzt hauptsächlich Klein- und Mittel- 
betriebe erfaßt hat. 

d) Arbeit des Jugendverbandes in den Arbeitersportorganisationen: Die Arbeitersport- 
organisationen, die hauptsächlich jugendliche Arbeiter haben, und die an Wichtigkeit gleich 
hinter den Gewerkschaften stehen, müssen hauptsächlich vom Jugendverband bearbeitet 
werden. Der Fraktionsarbeit in diesen Organisationen muß größte Aufmerksamkeit gewidmet 
werden. 

e) Die Arbeit unter den gegnerischen Organisationen: Ein großer Teil der arbeitenden Jugend 
befindet sich in den Reihen gegnerischer Organisationen (S.A. J., Jungsozialisten, Christliche 
Jugendorganisationen usw.). Die genaueste Beobachtung dieser Organisationen seitens des 
K.J.V. und die Anwendung der Einheitsfronttaktik gegenüber solchen Organisationen, die 
größere Massen unsnahestehender Jugendlicher erfassen, ist dienächste Arbeit auf diesem Gebiete. 

f) Die Erziehungsarbeit im Jugendverband: spielt selbstverständlich eine große Rolle. Daztı 
gehört: Die Erziehung eines festen Funktionärkörpers und die Hebung des politischen Niveaus 
unserer Organisation durch die Veranstaltung eines guten politischen Grundunterrichts. 













































Die kommunistische Jugendbewegung 203 


EEE EIERN REIT CEEITTEEBR THE EEE U ET TEEREEEREN TEE ST BETT STREE SEAT RE EEE EEE OT EEE ET EEE EEE REN ECT BES NEE REEL ET ESEL UT EEE EIERN ET EN ERBE T BIETEN 
| En mens 








} g) Das Verhältnis des Jugendverbandes zum ‚‚Roten Jungsturm‘“: Der Jugendverband muß. 


seine Mitglieder im ‚Roten Jungsturm‘ zu Fraktionen zusammenfassen und eine ausgedehnte 
Werbearbeit innerhalb des R. ]. leisten. 


| '% diesen Thesen ist das Verhältnis des Kommunistischen Jugend-Verbandes zum 
"A „Roten Jungsturm‘“ näher umschrieben worden. Der K.J.V. nimmt gegenüber 
‘dem „Roten Jungsturm‘ die gleiche Haltung ein, wie zu allen übrigen Organisationen 
"der Arbeiterschaft. Es ist ihm zur Pflicht gemacht, auch hier Zellen zu bilden. 

ı Der Rote Jungsturm gehört zwar in den Rahmen des K.J.V., aber er ist organi- 
\satorisch doch völlig selbständig und bildet eine viel breitere Organisation als der 
"KR. J.V. selbst. Der „Rote Jungsturm‘“ hat eine große Anzahl bisher vollkommen 
indifferenter Jungarbeiter erfaßt. Seine Mitglieder sind höchstens zu zwanzig 
\ Prozent politisch und zu vierzig Prozent gewerkschaftlich organisiert. Er ist eine 
ausgesprochene Kampforganisation gegen die konterrevolutionären Verbände. 
Sein Kampf ist gerichtet gegen die drohende imperialistische Kriegsgefahr und das 
" drohende Arbeitsdienstpflichtgesetz. 

| Über seine Mitgliederzahl kann ebensowenig Bestimmtes mitgeteilt werden, wie 
"über die Mitgliederzahl des K. J.V., doch ist sie um mindestens fünfzig Prozent höher 
| als die des K.J.V.D. Der „Rote Jungsturm“ ist also gewissermaßen ein Organ des 
"K.J.V., um an breite Jungarbeiterschichten heranzukommen. 

| Der K. J.V. stellt sich die Aufgabe, innerhalb des ‚Roten Jungsturms‘‘ politische 
' Arbeit zu leisten und seine Mitglieder möglichst restlos für die freien Gewerkschaften 
zu gewinnen. Es ist das Bestreben des K.J.V., mindestens alle Funktionäre des 





„Roten Jungsturms‘ zu Mitgliedern des K.J. zu machen. 
| Der neunte Verbandskongreß des K. J.V. gab sich auch ein neues Verbandsstatut, 
| 

die Methode und Organisation seiner Propaganda deutlich ersichtlich ist. 

Der I. Teil enthält allgemeine Bestimmungen über den Verband selbst und sein Verhältnis 
"zur Kommunistischen Jugendinternationale. Der II. Teil beschäftigt sich mit’der Verbands- 
' mitgliedschaft. Mitglied können alle Jugendlichen im Alter von 14 bis 23 Jahren werden, 
ı wenn sie das Programm und die Satzungen der Kommunistischen Jugendinternationale und 
des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands anerkennen. Der III. Teil behandelt 
' den Aufbau des Verbandes. Besonders wichtig ist der $12. Er sieht folgende Organisations- 
F formen für Fabriken, Werkstätten, Bureaus, Läden, Gutshöfe, landwirtschaftliche Betriebe 
'vor: Zellen—Zellenversammlungen—Zellenleitungen. Für das Territorium einer kleineren 
' Stadt oder eines Dorfes: Ortsgruppe —Ortsgruppenmitgliederversammlung—Ortsgruppen- 
"leitung. Das Territorium einer Großstadt wird in Stadtteile (Distrikte) eingeteilt: Distrikt— 
\ Distriktsversammlung—Distriktsleitung. Für das Territorium eines Unterbezirks: Unter- 
bezirk—Unterbezirkskonferenz—Unterbezirksleitung. Für das Territorium eines Bezirks: 
 Bezirk—Bezirkskonferenz—Bezirksleitung. Für das Territorium des Reiches: Verband— 
' Verbandskongreß—Zentralkomitee, 

Im IV. Teil wird dann die Frage der Zellen behandelt, im V. Teil die Ortsgruppe, im VI. die 
Unterbezirksorganisation, im VII. die Bezirksorganisation, im VIII. die Reichskonferenz, im 
| IX. der Verbandskongreß, im X. das Zentralkomitee, 
| Im XI. Teil werden die Fraktionen behandelt (in Gewerkschaften, Arbeitersportvereinen 

und sonstigen Organisationen der Arbeiter und Bauernjugend), Teil XII beschäftigt sich mit 
der Verbandsdisziplin, Teil XIII mit den Finanzen und XIV enthält die Schlußbestimmungen. 
| 


Der K.J.V. gibt zwei Zeitschriften heraus, ein Kampforgan „Die Jugendinter- 
‚nationale‘ und eine Zeitschrift für Theorie und Praxis der Kommunistischen Jugend- 
bewegung „Der junge Bolschewik‘. Erstere erscheint im 7., letztere im 6. Jahrgang. 


f eben dem „Kommunistischen Jugendverband‘ besteht noch eine Organisation 
i der Kommunistischen Kindergruppen: „Der Jung-Spartakusbund“. Die 
‚Mitgliederzahl dieser Organisation wechselt, ist jedoch in Orten mit gut funktio- 
nierenden kommunistischen Parteigruppen verhältnismäßig sehr stark. Diese 
‚Kindergruppenbewegung wurde Weihnachten 1920 gegründet. Zielpunkt dieser 
‚Gründung war: „Eingliederung des Kindes in den Kampf und die Arbeit seiner 
Klasse“, womit gesagt war, daß die revolutionäre proletarische Erziehung nicht 
‚einseitig verstandesmäßig, sondern praktisch, nicht neutral, sondern politisch ist. 
14* 





us dem der organisatorische Aufbau des ganzen Jugendverbandes und auch wohl 


* TUR ÄE ER iq 
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4 











Deutsche Jugendbewegung 
— , GC, ———,——— 


Die damaligen Richtlinien stellten etwa f 
landläufigen bürgerlichen P 
der kleinbürgerlichen sozi 
mitten in der zerrissenen K 
schen Kämpfen schärfste 
pflanzen oder etwa Politi 
eine parteilose Erziehu 


olgende Zielpunkte auf: Bruch mit der 
und Autoritätsschule), Bruch auch mit 
listischen Reformpädagogik, die glaubt, man könnte 
lassengesellschaft, mitten in wirtschaftlichen und politi- 
es Friedenseiland ver- 


ädagogik (Lern- 


r Art das Arbeiterkind auf ein grün 
k und Klassenkampf vor dem Schultor stehenlassen und 


ngsarbeit leisten. Demgegenüber betonen die Richtlinien, 





Kind schon sehr gut teilnehmen kann am Kampfe seiner 


daß das proletarische 
Klasse, weil es an dem Le 
anderes als Einführung des Kindes 


ben seiner Klasse teilnimmt. Alle Erziehung ist nichts 
in seine gesellschaftlichen Funktionen. Für die 
Kindergruppenarbeit gilt daher die Erziehung der proletarischen Kinder: 

a) zur schöpferischen Initiative (Selbsthilfe und Akti 


entnervenden Wirkung der Armut und Lohnsklaverei, 
passiven Intellektualismus der bürgerlichen Lernschule. Keine Kinderpflege, 


vität des Kindes im Gegensatz zur 
zum mechanischen Drill und dem 
sondern Kinder- 


rogressive Selbstverwaltung, Kinderorganisationen, Arbeits- 


b) zur kollektiven Arbeit (p 
gemeinschaft, im Gegensatz zu 
der bürgerlichen Schule, zur individualistischen Reformpä 
Egoismus im bürgerlichen Erwerbs- 

c) zum proletarischen Klassenkamp 
tion des revolutionären Proletariats im Ra 
proletarische Klassenethik im Gegensatz zum bürgerlichen Moral- und Religi 
d.h. Eingliederung in die Klassenfront der Erwachsenen). 


den die Kindergemeinde künstlich atomisierenden Methoden 
dagogik und zum anarchischen 
und Familienleben); | 
f (aktive Teilnahme an Organisation, Agitation und Ak- 
hmen der kindlichen Fähigkeiten: angewandte 
onsunterricht, 





eine Schrift von 
Verlag 


1923. Für die Kommunistischen Kindergruppen 
“ eine für die 


Über die Kommunistische Kindergruppenbewegung orientiert 
Edwin Hoernle: ‚Die Arbeit in den Kommunistischen Kindergruppen“, 


Arbeiterbuchhandlung in Wien, 
erscheinen zwei Zeitschriften, eine für die Kinder: „Jung-Spartakus 
Gruppenleiter: „Das proletarische Kind”. 


er Kommunistischen Jugendinternationale, das in seinem Ent- 
im Dezember 1922 grundsätzlich 
tellt wurde, ist im Rahmen der 
nistischen Internationale‘ 1924 


as Programm d 
wurf auf dem III. Weltkongreß der K.].l. 
angenommen und zur Erörterung der Verbände ges 
„Materialien zur Frage des Progr 
herausgegeben worden. Es enthält folgende sozialpolitischen Forderungen: 


amms der Kommu 


chen Arbeiter und Arbeiterinnen bis zu 18 Jahren 
h völligem Verbot und schärfster Bekämpfung der 
Nationen und Farben sind: Mindestlöhne 


„Unsere Teilforderungen für alle jugendli 
unter Vorausschickung der Forderungen nac 
Kinderarbeit und Gleichstellung der Arbeit aller 
mit dem Existenzminimum als unterste Stufe. 


en Lohn für 


Arbeiter beiderlei Geschlechts gleich 
der Lehrlingslöhne im Laufe der Lehrzeit. 
Entlohnung für volle acht Stunden. 

h die Gewerkschaften. 


Für alle jugendlichen und erwachsenen 
gleiche Arbeit. Fortschreitende Staffelung 
Bei Durchführung des Sechsstundentags 
Tarifliche Bestimmung aller Jugendlöhne durc 


Izeit in die Arbeitszeit und ihre Bezahlung, 


Sechsstundentag bei Einrechnung der Berufsschu 
44stündige Sonntagsruhe. 


Jugendlichen bis zum vollendeten 20. Lebensjahre. 


Völliges Verbot der Akkordarbeit für alle 


Verbot der Akkordarbeit und der Hetz- und Antreibersysteme. 


des kostenlosen Aufenthaltes de: 


Bezahlter Vierwochenurlaub im Jahre und Ermöglichung 
Jugendlichen in Ferienheimen, Sanatorien usw. 


n vollendeten 20. Jahre in Gewerben unc 
dheitschädlich sind (Glasbläserei, Unter 


Verbot der Beschäftigung der Jugendlichen bis zuı 
Betrieben und zu Arbeiten, die für die Jugend gesun 
tagsarbeit in Bergwerken, bestimmte Zweige der chemischen Industrie u 


Existenzminimun 


Gleiche Arbeitslosenunterstützung für Jugendliche und Erwachsene. 
als Mindeststufe für die Arbeitslosenunterstützung. 





triebe und Lehrlingswerk 
die die Lehre unter 


Obligatorische Einstellung von jugendlichen Arbeitslosen in Be 
stätten bei Sicherung der Fortsetzung der Berufsbildung für Jugendliche, 


brechen müssen. 
In bezug auf Berufsbildung und Lehrlingswesen stellen wir folgende Forderungen: 


Obligatorische, unentgeltliche vollständige Berufsausbildung für alle Jugendlichen bis zun 


18. Lebensjahre. 








| Die kommunistische Jugendbewegung 205 
Be Ten ame nme memmenermbenHmnDnn UnmemnnnmmnmmboRSrSeene Serena emmnesstnrremnnm nenn 
Die Berufsausbildung muß auf dem praktischen Unterricht aufgebaut und nach den Grund- 
‚iätzen der Arbeitsschule (Werkstätten usw.) geregelt werden. Die Grundlage dazu ist die Schaf- 
‚ung von besonderen Lehrlingsabteilungen in den industriellen Betrieben. 

Schaffung von Sammellehrwerkstätten für eine Reihe von Handwerker und Kleinbetrieben, 
n denen ein Teil der Arbeitszeit verbracht wird. 

‚ Abschaffung der individuellen Lehrverträge und Einbeziehung der Lehrlinge in die Kollektiv- 
‚rerträge. 

Aufhebung der Lehrlingszüchtung durch scharfe Bestimmungen über das Recht, Lehrlinge 
u halten (Höchstzahl der Lehrlinge auf eine bestimmte Zahl von Arbeitern, strenge Bestrafung 
‚der Mißhandlung, Übertretung der Arbeitszeit und der Jugendschutzgesetze. 

Zweijährige Lehrzeit einschließlich Probezeit, die bei dem heutigen kapitalistischen Charakter 
der Arbeit völlig genügt. 

Verbot der Beschäftigung der Lehrlinge zu nichtberufsmäßiger Arbeit. 

Verbot des Kost- und Logiszwanges. 

Strenge Kontrolle des gesamten Lehrlingswesens durch die Organe der Arbeiterschaft (Ge- 
verkschaften, Betriebsräte). 

Mitbestimmung der Lehrlinge (Schüler) durch von ihnen gewählte Räte. 

Zur Schließung der Kampffront mit der erwachsenen Arbeiterschaft fordert die K. J.1.: 

Aktives und passives Wahlrecht der Jugendlichen zu den Betriebsräten. 

Bedingungslose und durch geringe Beiträge erleichterte Aufnahme der Jugendlichen in die 
Jewerkschaften und Gleichberechtigung in ihnen. 

Diese sozialpolitischen Forderungen sind, wie gesagt, nur ein geringer Teil des ge- 
amten Programmentwurfs. 

usammenfassend wollen wir noch einmal hervorheben, daß die Kommunistische 
Jugendbewegung eine durchaus willensbetonte Massenbewegung darstellt. Sie ist 
ine der stärksten Stützpunkte der kommunistischen Weltpropaganda und wird 
inmal eines der stärksten Fundamente der kommunistischen Weltordnung sein. 





Literatur über die Kommunistische Jugendbewegung: 


1. Günther Hopffe, Der Weg des Verbandes der Arbeiterjugendvereine Deutschlands. Ver- 
lag Junge Garde, Berlin. 
2. R. Schüller, Wirtschaftliche Lage und wirtschaftlicher Kampf der Arbeiterjugend. 
Verlag der Jugendinternationale, Berlin-Schöneberg 1923. 
3. Die Grundfragen der Kommunistischen Jugendbewegung. Verlag der Jugendinternatio- 
‚ ...nale, Berlin-Schöneberg. 
4. Richard Gyptner, Vom Verein zur Massenorganisation. Verlag der Jugendinternatio- 
nale, 1923. 
5. Die Lehren der Deutschen Ereignisse und die K. J.I. Verlag der Jugendinternationale., 
‚6. Alfred Kurella, Noch einmal: Deutsche Volksgemeinschaft (Ein Wort an die bürgerliche 
Jugendbewegung). Verlag der Jugendinternationale, 1923. 
7. Die Beschlüsse des ersten bis vierten Kongresses der Kommunistischen Jugend Deutsch- 
lands. Verlag der Jugendinternationale. 
(3. Sachverständigenabkommen — Arbeitsdienstpflichtjahr. Verlag Junge Garde, Berlin, 1924. 
9. Lenin, An die Jugend. Verlag der Jugendinternationale, 1925. 
0. W. Bulach, Der Russische Kommunistische Jugendverband und die Arbeiterjugend der 
Sowjetrepubliken. Verlag Jugendinternationale, 1925. 
. Jugendinternationale, Zeitschrift. Verlag Jugendinternationale. 
. Der Junge-Bolschewik, Zeitschrift. Verlag Junge Garde. 
3» Edwin Hoernle, Die Arbeit der Kommunistischen Kindergruppen. Verlag Arbeiter- 
| buchhandlung, Wien 1923. 
#. Jung-Spartakus, Zeitschrift. Verlag Jugendinternationale. 
). Das proletarische Kind, Zeitschrift. Verlag Jugendinternationale. 
). Internationale Jugendkorrespondenz. Verlag Jugendinternationale. 
. Protokolle der Kommunistischen Jugendverbandstage 1 bis 10. Verlag Kommunistische 
Jugendinternationale. 
), Thesen und Resolutionen des dritten Weltkongresses der Kommintern. Verlag Karl Hoym, 
Hamburg 1921. 
). Thesen und Resolutionen des fünften Weltkongrees. Verlag ebenda, 1924. 
), Materialien zur Frage des Programms zur Kommunistischen Internationale. Verlag Karl 
Hoym, Hamburg 1924. 


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206 Wissenschaftliche Rundschau 











Wissenschaftliche Rundschau 


Deutsche Ärzte und Krankenanstalten im Auslande 
Von Dr. Wahrhold Drascher in Stuttgart 


aleider keine wissenschaftliche Gesamtdarstellung über die Tätigkeit deutscher Ärzte im 
Auslande und das Ergehen deutscher Krankenanstalten vorhanden ist und auch die jähr- 
lichen Berichte noch nicht laufend zu. einem geschlossenen Ganzen verarbeitet werden, sO 
kann der hier gebotene Stoff natürlich nicht vollständig sein!): Läßt sich dieser Mangel für 
die Gegenwart durch Verfolgung der Krankenhausberichte einigermaßen beheben, so bleibt für 
die Vergangenheit unendlich viel hingebende Arbeit deutscher Ärzte in der Fremde vergessen, 
Wir können nur annehmen, daß deutsche Ärzte in den alten Niederlassungen der Hansa, den 
ersten deutschen Auslandsgemeinden, tätig waren; daß sie mit den deutschen Kaisern auf Rom- 
fahrten zogen und dort verblieben; daß sie mit den Kaufleuten und Kriegsleuten der Welser nach 
Venezuela kamen. Aber Sicheres darüber ist uns nicht überliefert. Erst als neben den Spaniern? 
auch andere Nationen sich in größerem Maße an der Kolonialpolitik beteiligten, folgten auch ' 
deutsche Ärzte ihren Spuren. Gleich der erste Name, den wir hier nennen wollen, ist einer 
von den ganz Großen: Engelbert Kämpfer, geboren 1651 zu Lemgo in Westfalen. Sein Name 
ist untrennbar mit der ersten Kenntnis Japans in Europa verknüpft. Er studierte Medizin, | 
Chirurgie und Botanik an verschiedenen deutschen Universitäten, ging später über Upsala 
als Gesandtschaftsarzt einer schwedischen Mission nach Moskau, von dort nach Persien; 
überall erwarb er sich durch seine ärztliche Tätigkeit Vertrauen, so daß er sogar als Leibarzt 
zum Fürsten von Georgien nach Tiflis berufen wurde. Dann bereiste er Vorderindien und langte. 
1689 in Batavia an, um ein Jahr später als Gesandtschaftsarzt von dort nach Japan zu gehett, 
das damals Fremden noch so gut wie verschlossen war. Seine Praxis brachte ihn mit den 
sonst mißtrauischen Japanern in Berührung und so entstand seine „‚Geschichte und Beschrei- 
bung Japans‘, die ihm allezeit einen Ehrenplatz sichern wird. 1716 starb er in seiner Heimat 
Lemgo, wohin er sich zurückgezogen hatte. Karl Oskar Thunberg, 1734 als Sohn deutscher 
Eltern in Jönköping geboren, trat 1741 als Oberchirurg in holländische Dienste, 1775 ging er 
nach Java und von dort aus ebenfalls als Gesandtschaftsarzt nach Japan, wo er die Leibärzte 
des Mikado mit der europäischen Medizin vertraut machte. Seine Reisen beschrieb er 1788/94; 
er galt als einer der besten Kenner japanischer Flora. Bezeichnenderweise war es auch ein 
dritter deutscher Arzt, Philipp Franz v. Siebold, der etwa 100 Jahre später, ebenfalls in hol- 
ländischen Diensten, von Batavia aus den Europäern jenes fremde japanische Wesen erschloß. 
Die Holländer haben in ihren Besitzungen auf gute Ärzte stets besonderen Wert gelegt und so 
wurde Siebold 1826 zum Arzt der holländischen Kolonie in Deschima bei Nagasaki ernannt. 
Siebold übte, obwohl es die Japaner nicht gerne sahen, im Geheimen eine große ärztliche Praxis 
aus; zum Dank dafür erteilten ihm seine Patienten vertrauliche Auskünfte über das damals für‘ 
Europäer noch streng verschlossene Land. 1828 wurde er deshalb von den Japanern gefangen 
gesetzt und mußte 1830 Japan ganz verlassen; erst 1861 hat er es als ärztlicher Berater des 
Shogun, des Generalstatthalters, wieder betreten. Als vierter dieser um Japan verdienten 
deutschen Ärzte ist Professor Dr. Erwin Baelz zu nennen, der um das Jahr 1876 nach Tokio 
kam und lange Jahre als Leibarzt des Mikado eine segensreiche Tätigkeit ausgeübt hat. Nun 
war es so weit, daß er nicht mehr im Gefolge der Holländer zu kommen brauchte, sondern 
daß der Deutsche als solcher freudige Anerkennung auch in fremden Ländern fand. Besonders 
Japan hat stets hohe Achtung vor der deutschen medizinischen Wissenschaft gehabt; seit der 
Öffnung des Landes für die europäische Zivilisation sind eine große Anzahl deutscher Ärzte, 
Wermich, Gierke, Schulz, Stieda, Dönitz und auch Robert Koch dort tätig gewesen. Bekannt- 
lich hat die Universität Tokio diesem deutschen Gelehrten sogar einen Heiligenschrein er- 
stellen lassen, um ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu geben. Der Krankenhausbetrieb wa: 
und ist in Japan im wesentlichen nach deutschem Muster eingerichtet und was noch wichtige: 
ist, sogar der Unterricht in der medizinischen Fakultät wird zum großen Teile in deutscher 
Sprache erteilt, was natürlich von weittragender Bedeutung ist. Auch nach dem Kriege sind 
die freundlichen Beziehungen zwischen den deutschen und japanischen Ärzten bald wieder auf- 
genommen worden; bekannt ist die Hilfe japanischer Mediziner für unsere Wissenschaft ir 
den Inflationsjahren. 








1) Viel Material. darüber enthalten die Bestände des Deutschen Ausland-Institutes in Stutt- 
gart. Es ist zum Teil auf der Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibes- 
übungen in Düsseldorf ausgestellt. 





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Außer in Niederländisch-Indien!) waren auch in Korea am Ende des 19. Jahrhunderts 
 eutsche Mediziner am Hofe des Kaisers tätig. Die ersten deutschen Ärzte, die nach China 
'amen, waren vielleicht die Gesandtschaftsärzte der großen preußischen Expedition 1859/62; 
| * bald werden sich im Maßstabe der sich allmählich vergrößernden deutschen Gemeinden 


Wissenschaftliche Rundschau 207 
| 


euie Kollegen dort niedergelassen haben; jedenfalls verfügte vor dem Kriege fast jede größere 
‘tadt über einen deutschen Arzt; in Shanghai arbeiteten und arbeiten sie in Form einer ge- 
| einsamen Ärztefirma, so daß für jedes Fach ein Spezialist zur Verfügung steht. Im Jahre 
‘907 wurde in Shanghai eine deutsche Medizinschule gegründet, die sich schnell entwickelte 
nd 1914 bereits 277 Schüler zählte. Nach dem Kriege, 1922, ist es gelungen, dieses aussichts- 
‚eiche deutsche Werk wieder aufleben zu lassen und zwar in enger Verbindung mit der deut- 
‚chen Technischen Hochschule in Shanghai; man hat dabei den Chinesen selbst einen größeren 
inteil an der Leitung der Schule eingeräumt als früher. Außerdem gab es natürlich vor dem 
Xriege noch eine ganze Reihe deutscher Krankenanstalten in Ostasien, die meistens von reli- 
iösen Gesellschaften gegründet und unterhalten wurden. Das Paulunhospital in Shanghai 
var zwar Hospital der deutschen Kolonie und auch das Hospital in Peking diente vorwiegend 
len Zwecken der Gesandtschaft; dafür war vor allem das Faberkrankenhaus (benannt nach 
lem Missionsarzt Dr. Faber) in Tsingtau in erster Linie für Chinesen bestimmt; überdies gab 
s noch eine Reihe Missionskrankenhäuser im Innern des Landes. Erwähnt sei auch der große 
\nteil der Marine an der Entwicklung der deutschen Medizin in Ostasien. In den 80er Jahren 
ntstand das deutsche Marinehospital in Yokohama, das zunächst nur für die Flotte bestimmt 
var, später aber ein willkommener Sammelplatz aller Deutschen Östasiens in Krankheits- 
ällen wurde. Nach Erwerbung von Tsingtau wurde das Lazarett dorthin verlegt und in groß- 
‚ügiger Weise mit den modernsten Erfindungen und Einrichtungen ausgestaltet. Im Laufe der 
Jahre wurde es zu einer Musteranstalt, an der viele verdienstvolle Marineärzte: Foerster, 
>rofessor Hoffmann u.a. wirkten; eine Anzahl deutscher Schwestern war ständig dort beschäftigt. 


ehen wir zu Afrika über, so tritt ganz von selbst der Arzt Dr. Schnitzler, später als Emin 
Pascha weltberühmt, vor unser geistiges Auge. Lange Jahre hat er in türkischen Diensten 
estanden; er war Hafenarzt in Antivari, dann in Trapezunt und Erserum und wurde 1875 als 
Shefarzt nach Ägypten berufen, von wo aus er ein Jahr später die Stätte seines eigentlichen 
Wirkens, den Sudan betrat. Hier war er in gleicher Stellung tätig, ehe er sich ganz den Re- 
rierungsgeschäften widmete. Neben ihm waren viele andere Afrikaforscher teils voll ausgebil- 
iete Ärzte, teils hatten sie aber soviel Medizin studiert, daß sie in leichteren Fällen eine ambu- 
ante Behandlung vornehmen konnten; eines der besten Mittel, um sich die Freundschaft der 
Zingeborenen zu sichern. InÄgypten blieben auch nach Emin Paschas Ausscheiden deutsche 
Ärzte tätig: so an dem 1885 gegründeten Victoriakrankenhaus in Kairo und am König-Wilhelm- 
Hospiz in der Nähe von Kairo. Auch an dem im gleichen Jahre ins Leben gerufenen Kranken- 
1aus in Teheran (Persien) wirkten Deutsche, ebenso wie in Abessinien (Dr. Stallmann). Be- 
;onders aber galt natürlich dem Heiligen Land unsere Aufmerksamkeit; bekannt war das Jo- 
aanniterhospital in Jerusalem, ferner gab es dort ein Deutsches Diakonissenhospital und ein 
Krankenhaus der kath. Borromäerinnen in Haifa. 
Seitdem Deutschland in die Reihe der afrikanischen Schutzmächte eingetreten war, bot sich 
n den Kolonien ein schönes Wirkungsfeld für unser Können. Über den vorzüglichen Sanitäts- 
lienst in unseren Kolonien gab es nur eine Stimme. 1914 wurden dort nicht weniger als 200 
Ärzte gezählt, von denen etwa die Hälfte auf Ostafrika und Kamerun entfielen; die Mehrzahl 
stand im Regierungsdienst, doch waren auch ungefähr 50 freie Ärzte darunter. Etwa 200 
männliche Pfleger und 100 Schwestern versahen den Dienst in den Krankenanstalten; im 
sleichen Jahre wurden allein in Deutsch-Ostafrika 50000 kranke Eingeborene behandelt. Die 
'oesonders für die Eingeborenen gebauten und eingerichteten Krankenhäuser waren außer- 
ordentlich beliebt; es gelang, nicht weniger als 3 Millionen Neger gegen die Pocken zu impfen, 
‚was wohl als hinreichender Beweis des entgegengebrachten Vertrauens gelten kann. Die Ver- 
‚dienste, die sich Koch auch dort erworben hat, sind bekannt. 5%/, Millionen M. hat das Reich 
‚allein 1913 für die Krankenhäuser und den Ärztedienst in seinen Kolonien ausgegeben; in 
Dar-es-Salam und Tanga, in Duala, Lome und Anecho, in Windhuk, Lüderitzbucht und Swa- 
'xopmund, in Rabaul und Herbertshöhe wie in Apia und anderen kleineren Stationen waren 
tattliche Europäerkrankenhäuser errichtet, die meist durch ihre Größe und ihr schmuckes 
‘Aussehen dem Ankommenden sofort in die Augen fielen. Besonders wurden natürlich die Tro- 
yenkrankheiten erforscht ; gleichsam als Ergänzung dieser Tätigkeit sind die großen Institute in 
Deutschland anzusehen, so das nunmehr 25 Jahre bestehende Institut für Schiffs- und Tropen- 


1) Vgl. Deutsches Jahrbuch für Niederl.-Indien 1925, wo sich S. 99ff. eine wertvolle Dar- 
stellung der Tätigkeit verdienter Deutscher vorfindet. 


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208 Wissenschaftliche Rundschau 











krankheiten in Hamburg, das unter Leitung von Professor Nocht steht und wohl die wichtigste 
Stelle zur Ausbildung von Tropenärzten ist. Hierhingehört auch das Institut für ärztliche Mission 
in Tübingen, 1906 durch die Freigebigkeit des Stuttgarter Dr. Lechler geschaffen, das unter 
dem Namen Tropengenesungsheim unter allen bekannt ist, die sich von Tropenkrankheiten in 
Deutschland erholen wollen; ferner ist das Missionsärztliche Institut in Würzburg zu nennen, 
das unter Leitung von Dr. Förster steht. 


N ach Nordamerika kamen viele deutsche Ärzte als Militärs; zusammen mit den Regimentern 
der deutschen Hilfstruppen, welche den Freiheitsversuch der Neuengländer niederschlagen! 
sollten. Besonders die Namen v. Spitzer und Wiesental sind dort unvergessen; dem ersteren,] 
der später bei Washington tätig war, wurde sogar ein Denkmal gesetzt. Aloys Lützenburg|] 
gründete ein Jahrzehnt später ein Hospital in New Orleans, das vorbildlich genannt wurde) 
und weit und breit den besten Ruf genoß. Besonders mühten sith auch die eingewanderten 
deutschen Ärzte, Vereinigungen zur wissenschaftlichen Fortbildung ihres Standes ins Leben zii) 
rufen. Die große Einwanderungswelle nach 1848 brachte viele deutsche Arzte, insbesondere) 
tüchtige Chirurgen, nach Nordamerika. Ihnen war es in erster Linie zu danken, daß bei Aus- 
bruch des Sezessionskrieges das Militärsanitätswesen auf einen einigermaßen den Anforderun-' 
gen entsprechenden Stand kam. Es würde zu weit führen, einzelne Namen zu nennen: bekannt 
ist bei jedem Tuberkuloseforscher der Name von Ruck, der als Tuberkulosespezialist Weltruf?! 
erlangte und auch sein ansehnliches Vermögen von 700000 Dollar in seinem letzten Willen dem 
von ihm ins Leben gerufenen Institut für Tuberkuloseforschung vermachte. Selbstverständlich‘ 
gibt es eine große Anzahl deutscher Krankenhäuser in Nordamerika, die aber im Kriege vielfach‘ 
infolge der Deutschenhetze ihren Namen Deutsches Hospital abändern mußten. Am bekann-' 
testen ist wohl das Lenox Hill Hospital in New York!), an dem heute wieder deutsche Ärzte 
tätigsind; ferner finden wir in Chicago, Cincinnati, Cleveland, Milwaukee, Newark, St. Francisco, 
St. Louis und Fort Wayne Krankenhäuser, dieihren deutschen Charakter gewahrthaben. Wasim' 
übrigen auch heute noch deutsche Leistung auf medizinischem Gebiet drüben bedeutet, dar- 
über gibt die „‚Minerva‘‘ mit ihren langen Listen deutscher Namen in den medizinischen Fakul- 
täten der dortigen Universitäten genügend Aufschluß. | 
Eine besondere Stellung hat sich der deutsche Mediziner in Südamerika zu schaffen gewußt. 
Dies kam vielleicht daher, daß das Aufblühen der Wissenschaft in Deutschland selbst zusam- 
menfiel mit dem Eindringen deutschen Geistes in die südamerikanischen Republiken. Fast 
jedes Land hat bedeutende Ärzte deutschen Stammes aufzuweisen. So weilte schon Anfang 
der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts der deutsche Reisende Ed. Poeppig monatelang als 
Plantagenarzt in Cuba; seine später erschienene Beschreibung der Westküste Südamerikas gibt 
uns heute noch wertvolle Aufschlüsse über die dortigen Krankheiten. Auch in späteren Jahr- 
zehnten verdanken wir die besten landeskundlichen Darstellungen südamerikanischer Länder 
den Federn deutscher Ärzte, die durch ihren Beruf mit allen Kreisen in Berührung kamen und 
auch der Naturgeschichte stets ihre Geheimnisse abzulauschen verstanden. 1855 kam E. Mid- 
dendorf nach Peru, wo er auf einer Reise nach Australien hängen blieb und dann 30 Jahre 
hindurch eine segensreiche Betätigung als Arzt in Lima fand. Von dort aus durchzog er in 
seiner freien Zeit das Land kreuz und quer und schenkte uns auf Grund seiner Erfahrungen ein 
großes dreibändiges Werk über Peru. 1869 kam Carl Martin nach Chile, wo er sich zunächst 
im deutschen Siedlungsgebiet am Llanquihuesee niederließ; er wirkte in Puerto Montt, neben 
seiner aufreibenden Kolonistenpraxis fand er noch Zeit, seine Landeskunde von Chile zu 
schreiben, die auch heute noch als eines der besten Bücher über Chile gilt. Aber es blieb 
nicht nur bei der Tätigkeit vereinzelter deutscher Ärzte. Sobald die deutschen Gemeinden in 
den größeren Städten wuchsen, machte sich der Wunsch nach der Errichtung deutscher Hospi- 
täler geltend. Überall entstanden deutsche Krankenvereine, deren letzter Wunsch es war, die 
für den Bau eines Krankenhauses nötigen Mittel zu sammeln. 1867 wurde in Buenos Aires, 
1875 in Valparaiso ein solcher Verein begründet und 1878 das deutsche Krankenhaus in Buenos 
Aires?). Schon ein Jahr früher, 1877, wurde das Deutsche Hospital in Valparaiso eingeweiht, 
das daher das älteste Koloniehospital Südamerikas ist und im vorigen Jahre das 50. Jubiläum 
seines Gründungsvereins feiern konnte®). Die Zahl der Patienten, die 1885 262, 1906 464 betrug, 
war 1924 auf 1369 gestiegen, unter denen etwa 370 Deutsche oder Deutsch-Chilenen waren, 
dagegen 586 Chilenen; die übrigen gehörten allen möglichen Nationen an. Sogar Franzosen 
waren darunter, wohl der beste Beweis, welches große Vertrauen alle Nationen dem leitenden 
deutschen Arzt Dr. Münich, der weit über Chiles Grenzen bekannt ist, entgegenbringen! 





1) Früher Deutsches Krankenhaus. 

2) Vgl. Festschrift zum 50 jährigen Bestehen des Deutschen Krankenhausvereins in Buenos 
Aires, erschienen ebendort 1917. 

3) Vgl. Festschrift zum 50 jährigen Bestehen des Deutschen Hospitals in Valparaiso, 1925. 








| Wissenschaftliche Rundschau 209 
LI  ———— —_— —— 
"Ähnliches wäre auch von den übrigen deutschen-Krankenhäusern zu berichten, von denen wir 
4 weitere in Chile (Santiago, Concepcion, Temuco, Valdivia), das genannte in Buenos Aires, 
und 2 weitere in Hohenau und Rosario finden, ferner in Brasilien die großen deutschen Kran- 
kenhäuser in San Paulo und Porto Alegre (im Bau) neben verschiedenen anderen, in Blumenau, 
‚ Joinville, Santa Cruz. In Mittel- und Südamerika finden wir Deutsche als Ärzte auf Plantagen 
‚und in Salpeterwerken tätig, und über ganz Südamerika verstreut wirken in allen größeren 
‚Städten und auch auf dem Lande deutsche Ärzte; wie stark sie auch die Kolonisation förderten, 
„beweist Dr. Blumenau, dessen Wirken in Südbrasilien unvergessen ist. Das steigende Selbst- 
‚bewußtsein der jungen, aufsteigenden Völker hat leider dazu geführt, daß deutschen Ärzten die 
Ausübung ihrer Praxis nur nach Ablegung des spanischen Examens gestattet zu werden pflegt, 
‚wobeigegen die Fremden mitziemlicher Schärfe vorgegangen wird. Die meisten drübengeborenen 
‚deutschstämmigen Ärzte legen deshalb zunächst ihre vorschriftsmäßigen südamerikanischen 
‚Prüfungen ab, ehe sie zu Studienzwecken und zur weiteren Ausbildung nach Europa gehen. Auf 
‚dem Gebiet der ärztlichen Ausbildung ringen die deutsche und französische Schule in Südamerika 
‚um den Sieg; wir Deutschen können dabei mit besonderem Stolz auf unsere schönen, sauberen 
und mit den modernsten Einrichtungen versehenen Krankenhäuser hinweisen, die ihren Zulauf 
‚in erster Linie den an deutscher Wissenschaft geschulten Ärzten verdanken. 


ehren wir nach Europa zurück, so verfügen natürlich die Deutschen in den 1918 verlorenen 
| Gebieten teilweise noch über ihnen gehörige Krankenanstalten. Doch hat der nationale 
‚ Kampf selbst hier nicht Halt gemacht und es ist erst kurze Zeit her, daß sich die Polen, ohne 
‚den endgültigen Spruch des eingesetzten Schiedsgerichtes abzuwarten, die deutschen Kranken- 
(häuser gewaltsam aneigneten und Ärzte und Pflegepersonal sofort auf die Straße setzten. 
‚Ähnliches wird auch aus Südtirol gemeldet, wo die Italiener es besonders auf die allgemein 
beliebten Landärzte abgesehen hatten, die eng mit Freud und Leid der Landbevölkerung ver- 
‘bunden waren. Vielen wurde die nachgesuchte italienische Staatsbürgerschaft verweigert 
und sie wurden zur Auswanderung gezwungen ; andere wurden ausgewiesen: ihre Stellen wurden 
mit italienischen Ärzten besetzt. Zurzeit bemühen sie sich, das Stadthospital in Brixen in 
die Hand zu bekommen, mit der Absicht, es später an eine italienische Gesellschaft zu ver- 
‚pachten; deutsche Ärzte würden dann wohl nach den bisherigen Erfahrungen nicht mehr 
geduldet werden. In Alt-Italien bestand seit den 70er Jahren ein deutsches Krankenhaus in 
Neapel, das aber auch dem Krieg zum Opfer gefallen ist. 
‘ Von den europäischen Hauptstädten hatten London und St. Petersburg vor dem Krieg 
‚größere deutsche Krankenhäuser, die natürlich im Krieg sämtlich geschlossen bzw. ihres 
‘deutschen Charakters entkleidet wurden. Letzthin ist es gelungen, den Hospitalfonds für den 
Bau eines deutschen Krankenhauses in Paris von der französischen Regierung wieder zurück- 
zuerhalten und man hofft, das Werk doch noch vollenden zu können. Das Deutsche Hospital 
in London wurde bereits 1845 in einem ehemaligen Säuglingsheim in Dalston eröffnet. Es erhielt 
sich aus wohltätigen Spenden und galt als so gut, daß ihm als einzigem deutschen Auslands- 
krankenhaus das Recht erteilt wurde, Medizinalpraktikanten zur Ableistung ihres praktischen 
Jahres bei sich einzustellen. Unter der Leitung des ausgezeichneten Chirurgen zum Busch, der 
von 1892/1914 dort wirkte, wurde es zu einer Musteranstalt, die 1913 nicht weniger als 2358 Pa- 
tienten aufnahm, darunter keineswegs nur Deutsche. Auch hier machte der Krieg seinen ver- 
derblichen Einfluß geltend; die deutschen Ärzte wurden durch Engländer, Schweizer und Öster- 
reicher ersetzt, erst letzthin sollen wenigstens wieder deutsche Hausärzte tätig sein. Der Besuch 
hat stark abgenommen; doch hoffentlich gelingt es in absehbarer Zeit, auch diese Anstalt wieder 
der deutschen Wissenschaft dienlich zu machen. Andere bekannte deutsche Ärzte in England 
waren Dr. Hermann Weber (1823—1918), Leibarzt der Königin Victoria, Dr. Günter, in gleicher 
Eigenschaft beim Prinzgemahl tätig, und Sir Felix Semon, ein bekannter Kehlkopfspezialist?). 
In deutschen Händen ist wieder das deutsche Alexanderhospital in St. Petersburg. 
‘Dieses wurde 1881 von Reichsdeutschen zur Erinnerung an den im gleichen Jahre ermordeten 
‚Alexander II. begründet. In den ersten 2 Jahren seines Bestehens wurden 19800 Kranke, 
‘davon 2340 Deutsche aufgenommen. Es war eine Lieblingsgründung der deutschen Kolonie 
‚in St. Petersburg und es hat ihm niemals an ideeller und materieller Unterstützung von dieser 
Seite gefehlt. 1917 wurde das Krankenhaus von der russischen Regierung geschlossen; 1918 
wurde es. den Deutschen zurückgegeben; aber schon im gleichen Jahre setzte die Beschlag- 
inahme wieder ein. Um ihr zu entgehen, stellte das Kuratorium den Sowjets das Hospital 
zur Verfügung; diese gestatteten, daß von ihnen bestätigte deutsche Ärzte dort arbeiten 
durften. Endlich, 1921, gelang es den Bemühungen des deutschen Gelehrten Prof. Mühlens, die 
russische Regierung zur Hergabe der Gebäude an das Deutsche Rote Kreuz zu veranlassen, 
‚das später dort eine Infektionsabteilung und eine solche für innere Krankheiten errichtet hat. 


1) Vgl. Dr. C. R. Hennings, Deutsche in England, Stuttgart 1923 (S. 103), 


































































" Wissenschaftliche Rundschau 
a Zz 


Die weitere Lebensfähigkeit wurde trotz mancher Schwierigkeiten bis heute gesichert. Auch 
das während des Krieges eingerichtete Deutsche Krankenhaus in Tiflis arbeitet heute noch 
weiter; dagegen hat in Konstantinopel die deutsche ärztliche Betätigung in größerem Um- | 
fang noch nicht wieder eingesetzt. 

Es wäre unrecht, diese Betrachtungen zu schließen, ohne dabei des Wirkens der Deutschen 
in Davos gedacht zu haben. 1897 wurde die erste deutsche Lungenheilstätte dort gegründet, 
der 1914 das Deutsche Haus in Agra (Tessin) folgte. Zum großen Teile waren es freiwillige” 
Gaben, welche es diesen Lungenheilstätten ermöglichten, auch viele minderbemittelte Kranke’ ' 
bei sich aufzunehmen. Der deutsche Konsul Dr. med. h. c. Burchard hat wohl den größten” 
Anteil an dieser wohltätigen Schöpfung, für die er unermüdlich und ohne sich und seine Mittel: } 
zu schonen, tätig war; daneben besteht noch die Kriegerkrankenheilstätte in Davos. 


W° oher kamen nun die Mittel für all diese Arbeit? Das Reich selbst gab verhältnismäßig 
wenig; hin und wieder, so beim Neubau des deutschen Krankenhauses in Madrid, dasnoch 
gerade vor Kriegsausbruch 1913 fertig wurde, leistete es wohl einen Zuschuß, im allgemeinen | 
waren die Krankenanstalten aber auf ihre Einnahmen oder die freiwilligen Spenden der deut- 
schen Auslandsgemeinden angewiesen; sehr oft stellten die Ärzte ihre Hospitalarbeit nur gering 
in Rechnung, da sie durch ausgedehnte Privatpraxis genügend verdienten. Anders lagen die’ 
Dinge natürlich bei den Kolonialgebieten, wo die sanitären Einrichtungen vom Reiche unter- | 
halten werden mußten. Die Stipendien wurden meist von den verschiedenen Landesregierun- 
gen vergeben, soweit solche überhaupt für Auslandszwecke zur Verfügung standen, nur in 
besonderen Fällen, wie bei Robert Koch, griff das Reich selbst ein. Seit dem Kriegsende ist 
die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft!) die Zentrale geworden, welche Auslands- 
stipendien zu vergeben hat. Es wäre sehr erfreulich, wenn die Lage es künftig gestattete, 
daß noch in viel höherem Maße als bisher deutsche Mediziner ins Ausland, dagegen Medizin 
Studierende anderer Erdteile, in denen sich eine moderne medizinische Wissenschaft erst‘ 
bildet, nach Deutschland kommen könnten; allerdings unter der Voraussetzung, daß unseren 
Ärzten im Ausland ihre Arbeit nicht unnütz und künstlich erschwert wird. 1 

Große Mittel werden auch von kirchlicher Seite zur Verfügung gestellt; allerdings ist die Zahl 
der deutschen ausgebildeten Missionsärzte gegenüber den Angelsachsen nur sehr gering. Die 
Zahl der katholischen im Auslandskommissionsdienst stehenden Schwestern wurde 1914 auf 
18000, die der evangelischen auf 8000 geschätzt. Die Neuaufnahme der Missionstätigkeit' 
eröffnet auch deutschen Ärzten ein neues und dankbares Arbeitsgebiet. 1 

Es ist nicht mit Unrecht gesagt worden, daß sich der Arzt zum Kulturpionier besonders eigne. 
Er ist stets willkommen, sein Beruf, der schärfste Beobachtung der Menschen verlangt, bringt 
ihn mit allen Volksschichten in Verbindung. Tier- und Pflanzenkunde sind ihm vertraut, 
seine wissenschaftliche Bildung befähigt ihn zur Beurteilung auch des geistigen Lebens. Von’ 
allen diesen Möglichkeiten haben unsere Landsleute draußen den besten Gebrauch gemacht; 
war doch im Kriege in Galizien und Polen, in der Türkei und in Palästina das Vertrauen 
zum deutschen Arzt unbedingt! Aber all unsere fachliche Tüchtigkeit hat die Allierten. 
nicht verhindert, ihren Bannfluch auch auf unseren ärztlichen Stand auszudehnen und 
jede wissenschaftliche Berührung zunächst strikt abzulehnen. Aber Leistungen beweisen 
mehr als Bannflüche. Davon werden sich auch unsere Gegner allmählich überzeugen müssen, 
besonders in den Orten, wo man lieber die deutschen Ärzte und Krankenhäuser aufsucht als 
die der eigenen Nationalität, weil man dort oft besser und billiger behandelt wird. 














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Aus Zeit und Geschichte N 


Benno von Siebert ‘F 


Am 10. Mai wurde unser großer Vorkämpfer in der 

Schuldfrage, Benno von Siebert, auf dem Münchener 

Waldfriedhof zur Erde bestattet. Etwa Folgendes 

sprach unser Freund Georg Karo am offenen Grabe: 

Ar diesem Grabe empfinden wir über die Teilnahme mit dem Schmerz der Familie und der 
nächsten Freunde weit hinausgreifend den Verlust, den wir Alle und unser Vaterland er- 
ieiden; einen jener tragischen Verluste, die in den letzten Jahren mehr als einmal Deutsch-- 


1) Vgl. das aufschlußreiche Buch von Prof. Dr. S. Schreiber, Deutsches Reich und deutsche 
Medizin 1926. 


"Aus Zeit und Geschichte | | 211 


a — 
ind unersetzlicher Söhne beraubt haben. Man sagt wohl oft, daß niemand unersetzlich sei, 
reil jedermanns Stelle irgendwie gefüllt werden muß. Richtiger wäre es zu sagen, daß keiner 
tirklich ersetzt werden kann, der höheren Wert besitzt, weil jeder solche Mensch einzig ist. 
inı Sarge Benno von Sieberts empfinden dies am tiefsten die, welche wie ich mit ihm ver- 
int waren im Kampfe für die Wahrheit und gegen die Verleumdung Deutschlands. Man hat 
'en deutschen Kämpfern bisweilen Tapferkeit in diesem Streite nachgerühmt: wie wenig gilt 
lies im Vergleich mit dem Mannesmut des allzu früh Entrissenen! Für uns andere ist alles 
ar, einfach und ohne Konflikte im Dienste des Vaterlandes. Wir ahnen kaum, welche inneren 
<ämpfe und Qualen ihm beschieden waren, der das vielgebrauchte Wort des Heilands, daß 
emand zween Herrn dienen kann, in seiner vollen Strenge erfaßt und befolgt hat. Das zeigt 
ein ganzes Wesen und Wirken, das ihn als echten Sohn seiner Heimat erweist. Denn die 
Jaltischen Edelleute sind nicht Russen deutscher Abstammung, wie oft gesagt wird, sondern 
0 gute und echte Deutsche, wie es deren nur irgendwo auf der Welt gibt. 

Vor Jahrhunderten sind ihre Vorfahren ausgezogen, ihrem Ideal dienend; indem sie das 

<reuz in den fernen Norden trugen, haben sie alle Gefahren und ungleichen Kämpfe auf sich 
renommen. Und dennoch verblassen ihre Taten vor den seelischen Kämpfen und der seelischen 
Tapferkeit, die viele ihrer Nachkommen bewiesen haben in dem stillem, von niemandem ge- 
‚ehenen Ringen um ihre eigene Seele und ihr Vaterland, wie es ihnen jüngst der Weltkrieg 
ıuferlegt hat. Ein leuchtendes Beispiel ist hier Benno von Siebert gewesen. Umso höher ist 
yei ihm die Civilcourage, die Bismarck so teuer war, zu werten, weil er von Natur zurückhaltend 
ınd leicht verwundbar, mit ritterlichem Feingefühl und diplomatischer Haltung begabt, An- 
rriffe und Verleumdungen doppelt stark empfinden mußte. Und dabei galt es für ihn erst einer 
Flut gehässiger, persönlicher Anwürfe Stand zu halten, ehe er in den Kampf gegen die Ver- 
ieumdung Deutschlands eintreten konnte. 
- Wer nicht zu seinen Nächsten zählte, der merkte von all diesen Kämpfen nichts. Er sah 
nur dieschlanke, adelige Gestalt und das ruhige ernste Gesicht des Forschers und Diplomaten, 
den diese doppelte Eigenschaft und die genaueste persönliche Kenntnis der Menschen und Um- 
stände, aus denen der Weltkrieg erwachsen, zu einem Verstehen befähigten, wie keinen anderen 
von uns. So ist Benno von Siebert seinen Weg gegangen als ein rechter deutscher Edelmann, 
und das bezwingende Ethos, das von seinem Wesen ausging, war und bleibt bedeutsamer noch 
als die wichtigen Werke, die ihm abzuschließen vergönnt waren: der schwerwiegende Band Di- 
plomatischer Aktenstücke und ausgezeichnete Heft „Einkreisung‘‘, der Süddeutschen Monats- 
hefte, denen hoffentlich bald sein Hauptwerk folgen wird. Wir beugen uns an diesem Grabe 
vor seinem Geist und geloben in seinem Sinne das Werk weiterzuführen, von dem er so früh 
abberufen wurde. 

Halle a. S. Georg Karo. 


Bismarcks Friedenspolitik 


Bimark der Mann von Blut und Eisen, der Staatsmann während dreier rasch aufeinander 
folgender Kriege und. der inneren Fehden mit dem Sozialismus und dem ultramontanen 
Gedanken, galt und gilt unendlich vielen als der dämonische Kämpfer, der überall einer fried- 
lichen Entwicklung, gerechtem Ausgleich im Weg stand, über den alle Deutschen und fremden 
„liberalen‘‘ Staatsmänner auf ihrem Weg stolperten. Er soll«der große Stein des Anstoßes 
gewesen sein, an dem die besten Absichten der europäischen Kabinette zerschellten. 
Diesem, wie er mir einmal gebeichtet hat, auch von ihm lange geglaubten Bismarck, stellt 
nun Dr. Japikse in seinem vor kurzem erschienenem Buch „Europa en Bismarcks Vredes- 
politik“ (A. S: Sigthoff Leiden) einen anderen Bismarck gegenüber, den leidenschaftlichen 
Friedensfreund und erfolgreichen Friedensbewahrer, der durch seine Bündnispolitik Deutsch- 
lands hart errungene Weltstellung vor Angriffen zu sichern sucht, der aber niemals um deut- 
scher Machterweiterung willen. den europäischen oder Weltfrieden gefährdet, freilich auch ent- 
schlossen ist Deutschland nicht die Kosten seiner Erhaltung tragen zu lassen. Wie sorgfältig 
wählt er den Augenblick, wo Deutschland, dem Wunsch weitester Kreise entsprechend, zur 
Kolonialmacht wird und damit in die Weltpolitik eingreift! Wie behutsam, fast zögernd geht 
er vor, er, der Frankreich, Italien neidlos als den geopolitisch glücklicher gelegenen reiche 
Kolonialentfaltung zugesteht. Er weiß, daß Deutschland als Kolonialmacht Englands be- 
darf, darum immer erneute Anknüpfungen nach dort. Aber die politische Verfassung Englands, 
das Mißtrauen seiner meisten Staatsmänner gegen die geringe deutsche Macht, die traditionel- 
len und kulturellen Bindungen führender Engländer an die französische Kultur und Politik, die 
zu geringen englischen Gegenleistungen, namentlich auch in bezug auf die Sicherheit unserer 





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212 Aus Zeit und Geschichte | 





Westgrenze lassen es nie zu einem Bündnis kommen. Dies um so weniger als Bismarck 

sich mit Recht immer den Weg zu einem deutsch-russischen Bündnis offen halten will. Die 
längste Zeit seiner Kanzlerschaft hat dies Bündnis auch in der einen oder anderen Form be- 
standen. Aber die russischen Politiker, deren Beschränktheit Japikse mit Recht immer wieder 
geißelt, übersahen die Lage nicht, sie blickten im Grund von der Weite ihres russischen Reiches 
her mit einer gewissen Geringschätzung auf das junge, eng begrenzte Deutsche Reich; sie ver- 
folgten ihre Ziele, den Besitz Konstantinopels und die unumschränkte Herrschaft im Schwarzen 
Meer und den Meerengen ohne Klugheit und Festigkeit. Sie konnten sich nicht entschließen 
Opfer dafür zu bringen und befolgten ebenso wenig Bismarcks Rat den Balkan vorbehaltlos 
in eine russische und eine Österreichische Interessensphäre zu teilen. Freilich taten das die 
österreichisch-ungarischen Minister ebensowenig: nicht zuletzt ist an der Rivalität Österreichs 
und Ungarns jede vernünftige Ordnung des Balkans geradeso gescheitert wie an der Launen- 
haftigkeit Rußlands. Bismarck, der sonst für völkische Gesichtspunkte nicht allzuviel übrig 
hatte, hielt zunächst aus politischen Erwägungen an dem Bündnis mit der Monarchie fest und 
war trotz manchem Ärger lange gewillt auch das Haus Habsburg zu erhalten und so dem Chaos | 
in Mitteleuropa vorzubeugen. Erst gegen Schluß seiner Amtsführung und seines Lebens schei- 
nen ihm Bedenken gekommen zu sein, ob nicht eine Aufteilung Österreichs unter Anschluß der 
deutschen Gebiete an das Reich unseren Interessen besser entspräche und ein verläßlicheres Ver- 
hältnis zu Rußland herbeiführen könne. 


Freilich wäre dazu nötig gewesen, daß die deutschfeindliche Richtung Katkows beseitigt 
würde und die im Grunde eher zu Deutschland neigenden Zaren fester in ihren Grundsätzen 
würden und den französischen Einflüsterungen sich weniger zugänglich zeigten. So verständig 
für den Augenblick auch manche französische Staatsmänner gewesen sein mögen, zu einer 
vorbehaltslosen Anerkennung des Frankfurter Friedens hat sich wohl keiner aufgeschwungen 
und angesichts der Volksstimmung aufschwingen dürfen. Bismarck hat bald eingesehen, daß 
auf Frankreich für uns nicht zu rechnen sei und dieser Überzeugung mit zunehmender Schärfe 
Ausdruck gegeben. Schreckte doch die französische Diplomatie bzw. ihre Hintermänner nicht 
einmal vor groben Fälschungen, wie den Briefen, die Fürst Ferdinand von Bulgarien an die 
Gräfin von Vlandern geschrieben haben sollte, zurück. Merkwürdig ist dabei, daß doch eigent- 
lich eine kurze Erklärung des Absenders wie der Adressatin Alexander III. über den Sach- 
verhalt leicht hätte aufklären können. 


F: ist nicht meine Absicht Japikses im Auftrag des Niederländischen Komitees für die 
Erforschung der Ursachen des Weltkrieges herausgegebenes Werk einer Kritik imeinzelnen zu 
unterziehen, auch nicht die leider zahlreichen Druckfehler und Verschreibungen namentlich 
in Zitaten aus fremden Sprachen anzumerken, die den Sinn gelegentlich beeinträchtigen. 
Jeder, der sich für die neueste Geschichte interessiert, sollte dies vortreffliche Werk eines 
hochangesehenen neutralen Geschichtsforschers aufmerksam lesen und sich der Rechtfertigung 
der deutschen Politik im Zeitalter der größten Machtentfaltung des Deutsches Reiches freuen. 
Nur eine Bemerkung sei zum Schluß noch gestattet. Alle großen Mächte, die in dem Menschen- 
alter von 1870 bis 1890 in die europäische Politik eingriffen, und auch die Vereinigten Staaten 
von Amerika und Japan, die erst nach Bismarcks Entlassung aktiv hervortraten, hatten 
positive Ziele: Rußland die Beherrschung Asiens und Konstantinopels mit den Meerengen, 
England die Sicherung seines weiten überseeischen Reichs durch Ausbau alter und Gewinnung 
neuer Stützpunkte, mit anderen Worten die Herrschaft zur See; daneben die Beherrschung des 
Nilgebiets und Südafrikas. Italien spielte mit der Wiedergewinnung der Irredenta, den An- 
sprüchen auf die Adria mit ihren Küsten, auf eine ausschlaggebende Stellung im Mittelmeer, wo- 
mit Kolonialbesitz in Nordafrika unbedingt verbunden sein mußte. Die alten Erinnerungen 
an die Weltherrschaft Roms werden mehr und mehr lebendig. Frankreich vergißt über einer 
gewaltigen kolonialen Ausbreitung, die seine Weltgeltung als England gleichberechtigt er- 
weisen soll, niemals die Rückforderung Elsaß-Lothringens. All diese Ziele waren geeignet weite 
Volkskreise zu begeistern. Hingegen die österreichisch-ungarische Monarchie, unser einziger 
ständiger Verbündeter, verzichtete auf jede überseeische Machtausdehnung und griff, auch wo 
sich die Gelegenheit in der Nähe bot, nur zögernd zu, wie die Geschichte der bosnischen 
Okkupation zeigt. Die ganze Sorge galt dem Niederhalten mächtiger fremder Einflüsse in 
der Nachbarschaft und der Verhinderung eines machtvolleren Staatengebildes auf dem Balkan. 
Mit solch negativer Politik, zumal wenn sie bisweilen sich täppisch als weitausgreifend gibt 
(der ‚‚freie Weg nach Saloniki‘‘, mit dem es doch nie wirklich ernst war), macht man sich wohl 
Feinde, aber keine begeisterten Anhänger auch im eigenen Volk. Und auf die Erhaltung des 
Bestehenden, für uns wie für andere, war unsere eigene Politik durchaus eingestellt. Wie die 
Dinge lagen, war es anders auch kaum möglich. Aber werbende Kraft hat das nicht, unser 








Aus Zeit und Geschichte 213 
— —— 


‚/olk verlor mehr und mehr jedes Interesse an der äußeren Politik, wandte sich um so eher der 
Inneren zu. Hier zerrissen die heftigen Kämpfe, unter ihnen der unselig geführte Kulturkampf, 
ier auch außenpolitisch manchen Rückschlag brachte, die nationale Einheit. An dem zu- 
‚lächst wenig bedeutenden überseeischen Besitz, der dann planlos und ohne politische Berech- 
lung vermehrt wurde, nahm unser Volk bis wenige Jahre vor dem Kriege keinen Anteil. 


Den Haag. Friedrich Wilhelm Frh. von Bissing. 





Jagows Antwort an Grey 


‚hagows Entgegnung an Grey (G. v. Jagow, England und der 'Kriegsausbruch, Verlag für 
‚J Kulturpolitik, Berlin 1925), dessen Memoiren uns seit dem vergangenen Jahre vorliegen!), 
‚st eine der wichtigsten Kundgebungen eines früheren leitenden deutschen Staatsmannes aus 
ien letzten Jahren, die weit mehr Beachtung verdiente, als sie bis jetzt gefunden hat. Im 
ıllgemeinen beschränkt sich Jagow darauf, handgreifliche Unrichtigkeiten Greys zu widerlegen, 
ıber es finden sich auch einige bisher unbekannte Einzelheiten, die von allgemeinem Interesse 
‚sind. Wirerwähnen das auf S.46erzählte Gesprächmit dem französischen Botschafter ( Juli 1914), 
yei dem dieser äußerte: ‚„‚Hier schreien sie, Frankreich habe ihn heraufbeschworen, während man 
In Paris sagen wird, Deutschland sei Schuld daran“. Grey zu widerlegen war nicht allzu 
‚schwer, denn dessen Darstellung der Julikrise ist nichts anderes als der mehr oder minder ge- 
schickte Versuch, die Aufmerksamkeit des Lesers von seiner damaligen Politik abzulenken. So 
schiebt der Memoirenschreiber die Ablehnung des Konferenzvorschlages durch Deutsch- 
and stark in den Vordergrund, während, wie Jagow feststellt, der Staatsmann Grey den 
deutschen Vorschlag eines direkten Meinungsaustausches zwischen Wien und Petersburg 
„für die beste Methode gehalten hat, die allen anderen vorzuziehen sei‘ (Blaubuch Nr. 67), 
ganz abgesehen davon, daß Grey selbst durchblicken läßt, er habe mit Schwierigkeiten wegen 
des Konferenzvorschlages in Deutschland gerechnet. Grey behauptet, um die Militärpartei zu 
belasten, Jagow habe später geäußert, die deutsche Regierung sei in den entscheidenden Tagen 
gegenüber den Militärs machtlos gewesen. Jagow weist es entschieden zurück, jemals eine 
derartige Äußerung gemacht zu haben (Seite 25). Greys Vorwurf, Deutschland habe nicht 
genügend auf seinen Verbündeten gedrückt, fällt auf ihn zurück. „Deutschland hat eine 
Sprache geführt, wie sie von ihm seinen Freunden gegenüber nicht geführt worden ist (S. 15). 
Man darf heute sagen: im Gegenteil, denn die Nr. 28 des englischen Blaubuches, die uns aus 
durchsichtigen Gründen bisher vorenthalten war (das Dokument ist jetzt bei Grey abge- 
druckt), zeigt einen starken Dolus Greys, er läßt den Russen indirekt sagen: Verhandlungen 
brauchten militärische Vorbereitungen nicht aufzuhalten, sie würden nötigenfalls einen Vor- 
sprung schaffen. 

Im Anhang sind die deutschen Dokumente zusammengestellt, die sich mit dem sogenannten 
Mißverständnis Lichnowskys vom 1. August 1914 befassen. Lichnowsky wollte ein Neutra- 
litätsangebot Englands verstanden haben, wenn Frankreich dem Kriege fern blieb. Über 
der ganzen Sache liegt noch ein gewisses Dunkel, denn wenn man auch bei der blinden 
Liebe Lichnowskys für Grey schwere Hörfehler für möglich halten kann, die Rollen Tyrells, des 
Privatsekretärs von Grey und des Königs von England sind unklar. Man kann sich nicht ganz 
des Eindrucks einer absichtlichen Verwirrung entziehen. Zum ersten Male kommt in Jagows 
Schrift auch ein Brief des Obersten House an den Kaiser vom 8. Juli 1914 an die Öffentlichkeit 
(jetzt auch bei House, Intimate papers, S. 278 abgedruckt). Grey legt in seinen Memoiren 
großes Gewicht darauf, die Eindrücke, die Wilsons intimer Berater bei seinem Aufenthalt in 
Deutschland unmittelbar vor dem Kriege erhielt, als möglichst ungünstig hinzustellen. Der 
Brief Houses ist ein unzweifelhafter Beweis dafür, daß House über die Aufnahme beim Kaiser 
sehr erfreut war. Auch wenn man manche Redewendungen auf Gepflogenheiten internationaler 
Höflichkeit schieben mag, es ist sicher, House hat einen starken Eindruck von der Friedens- 
liebe des Kaisers empfangen, auch später noch an dieser Ansicht festgehalten. Dagegen ist es 
richtig, daß er die ganze Atmosphäre als sehr nervös und gespannt empfunden hat und den Ein- 
fluß der militärischen Umgebung des Kaisers fürchtete. 


Halle a. S. Dr. Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode. 


1) Grey, Viscount of Falloden, Twenty Five Years, 1892—1916, London 1925. 


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214 Aus Zeit und Geschichte 


Aus Zeitungen und Zeitschriften 


T’ der Historischen Zeitschrift, Bd. 133, Heft 2, schreibt Eduard v. Wertheimer einen Auf- 
satz „Neues zur Geschichte der letzten Jahre Bismarcks‘. Wertheimer, der das politische 
Archiv des Auswärtigen Amtes, sowie die Akten des Zivilkabinettes im Geheimen Preußi} 
schen Staatsarchiv in Dahlem bei Berlin benützt hat, war in der Lage, in einigen Punkten 
unsere bisherige Kenntnis ganz wesentlich zu vertiefen. Unter anderem ist Seite 229 eind 
Unterredung Bismarcks mit dem württembergischen Staatsmann Freiherrn v. Mittnacht 
mitgeteilt, aus der hervorgeht, daß Bismarck sich ganz kurz nach der Entlassung mit be- 
merkenswerter Ruhe ausgesprochen hat (Mai 1890). Er sagte wörtlich zu Mittnacht: „Ich 
werde nicht dissentieren, sondern polemisieren. Herrn v. Caprivi, dessen Charakter ich hoch 
schätze, werde ich keine Ungelegenheiten bereiten‘. Der Kampf wurde erst durch den 
Affront so erbittert, der Bismarck dadurch geboten wurde, daß man anläßlich seines Besuches 
in Wien eine Audienz bei Kaiser Franz Joseph vereitelte. Alle Versuche, die später zur Aus- 
söhnung gemacht wurden, sind aus dem Ringen um die öffentliche Meinung zu ver- 
stehen. Ergreifend ist Wertheimers Schilderung des letzten Lebensjahres, es ist die Tragödie 
des großen Menschen, der das ersehnte Ende überlebt. „‚Dienstliche Pflichten liegen mir nicht 
ob, was ich als Zuschauer sehe, daran habe ich keine Freude, wenn ich noch länger lebe, wird 
es immer weniger der Fall sein,‘‘ klagte Bismarck 1897 einem Zuschauer. 


Nach einer Mitteilung des „Listin Diario“ vom 14./15. November 1925 hat der Botschafter 
Paul Lefaivre die Frage des Geheimvertrages neu aufgerollt, der 1897 zwischen Frankreich, 
England, Amerika und nachträglich Rußland abgeschlossen sein soll. Dieser Vertrag ist zuerst 
von dem Professor an der Universität Washington, Roland Usher in seinem 1913 erschieneneri 
Werk ‚„‚Pangermanismo‘“ erwähnt, 1918 dann von dem früheren Gesandtschaftsrat bei der 
amerikanischen Gesandtschaft in Tokio, Mr. Osborne, in dem Werk ‚Das Problem Japans‘ 
ausführlich wiedergegeben und im Anschluß daran in den ‚Ereignissen und Gestalten‘ 
Wilhelms II., dem der Verfasser noch unbekannt war, eingehend behandelt worden, Er sieht 
für den Fall eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich-England weitgehende Unter- 
stützung mit amerikanischen Rohstoffen und verarbeiteten Produkten, finanzielle Hilfelei- 
stung und ausgedehnten Schutz der Interessen zur See vor, wogegen Amerika gewichtige 
Zugeständnisse in Mittelamerika erhaltensoll. Bis heute sind bezeichnender Weise weder Usher 
noch Osborne irgendwie gemaßregelt worden. Dagegen hat man ihre Werke sorgfältig aus dem 
Verkehr gezogen. 

Im Märzheft der „Kriegsschuldfrage‘“ veröffentlicht Georges Demartial einen bedeutsamen 
Aufsatz über ‚Die Behandlung der Kriegsschuldfrage in Frankreich‘, der gleichzeitig in der 
amerikanischen ‚Current History‘ und in der französischen Zeitschrift „Evolution“ erscheint. 
Er zieht einen Vergleich zwischen dem Kampf Frankreichs im Dreyfußprozeß und dem 
Deutschlands in der Kriegsschuldfrage und kommt zu der Auffassung, daß die Akten von 
Locarno die stillschweigende Lossagung von dem Artikel 231 des Friedensvertrages sind, wie die 
Begnadigung von Dreyfuß seinerzeit die stillschweigende Anerkennung seiner Unschuld war. 
Dieselben Bedingungen aber, die damals nicht zugelassen hätten, daß man sich mit einer 
blossen Begnadigung von Dreyfuß zufrieden gab, erlaubten es heute nicht, daß man sich in 
der Kriegsschuldfrage bei dem Werk von Locarno beruhige. An den Völkerbund will Demartial 
erst glauben, wenn er an die Wände seines Versammlungssaales ein Gemälde malen läßt, 
das die Richter von Versailles darstellt, wie sie den Dolch in der Faust, auf Deutschland knien 
undschreien: Gestehe, daß du der einzige Kriegsschuldige bist, oder mangibt dirden Gnadenstoß. 


Die Gelben Hefte erscheinen ab April 1926 im Kommissionsverlag von R. Oldenbourg, Mün- 
chen. Unter den Beiträgen des letzten Halbjahres sind besonders erwähnenswert Franz Müllers 
klärende Untersuchung über „Katholizismus und Sozialismus‘, die Abhandlungen des Sonder- 
heftes 3—4 „Religion — Kirche — Papsttum“ und Max Buchners Studie „Der Marxismus im 
Weltkrieg‘‘, die weit mehr ist als eine bloße Rezension des Volkmann’schen Buches. 


Die Zeitwende, die jetzt im 2. Jahrgang erscheint, hat in der verhältnismäßig kurzen 
Zeit ihres Bestehens eine anerkannte Stellung im deutschen Geistesteben errungen. Die 
Leser dieses Heftes seien besonders auf den Aufsatz von Adolf Köberle über die Religiosität 
der katholischen Jugendbewegung (Jan. 1926) aufmerksam gemacht, der zugleich für die 
hohe geistige Warte dieser Monatsschrift zeugt. 

Wenigstens kurz hingewiesen sei noch auf die Veröffentlichungen des Weißen Ritter Ver- 
lags Berlin, der aus der freien bündischen Jugendbewegung nach dem Kriege hervorgegangen 
ist. Die wichtigsten dieser Bünde Altwandervogel, Großdeutscher Pfadfinderbund und Wander- 
vogel haben sich kürzlich, wie das Aprilheft der Führerzeitung „Der weiße Ritter‘ mitteilen 
kann, zu einem Bund der Wandervögel und Pfadfinder, der Deutschen Jungenschaft zu- 
sammengeschlossen. 










Was wird aus den Lügen von 
Versailles? 


Von Freiherrn Kurt v. Lersner 


\ /iele Jahre geht jetzt schon der Kampf 
W Deutschlands gegen die Lügen von 
lersailles: gegen die Lüge von der deutschen 
schuld am Kriege und gegen die Kolonial- 
‚üge. Seit Locarno hört man aber verhältnis- 
näßig sehr wenig von dem Kampfe gegen die 
schuldlüge. Auch bei der Regierung scheint 
lies Thema wieder völlig in den Hintergrund 
'eraten zu sein. Gewiß sind die Ansätze, die 
rom Ausland im Kampf gegen die Schuld- 
üge gemacht werden, erfreulich. Aber sie 
ind doch vorläufig nur so sporadisch und 
elten aufgetreten, daß man von einem wirk- 
ichen Bekämpfen der Schuldlüge im Aus- 
and noch in keiner Weise reden kann. Nie 
ınd nimmer, wenn das Ausland auch noch 
sanz anders in den Kampf gegen die Schuld- 
üge eintritt, wird aber die Führung in diesem 
Kampfe dem Ausland überlassen bleiben 
tönnen. Auch die Tätigkeit der ‚Süd- 
leutschen Monatshefte‘“, der übrigen Presse 
ınd der großen und kleinen deutschen Schuld- 
ragen-Organisationen ist, wie immer wieder 
yetont werden muß, zum Scheitern ver- 
ırteilt, wenn nicht die Reichsregierung sich 
nit aller Tatkraft dieser lebenswichtigen 
tage annimmt. Immer noch ist durch die 
Reichsregierung das Schuldanerkenntnis von 
Versailles nicht in der gebührenden und für 
lie Massen des In- und Auslandes verständ- 
ichen Form widerrufen und notifiziert. Es 
:rscheint völlig unverständlich, weshalb man 
liessen lebenswichtigen Kampf gegen die 
siftige Versailler Schuldlüge nicht auch auf 
seiten der Regierung mit allen Mitteln, mit 
ıller Energie betreibt. Jeder vernünftige 
Mensch im Auslande weiß, daß die Schuld 
Deutschlands am Kriege eine bewußte Kriegs- 
üge der Entente-Gewaltigen und Entente- 
Propaganda gewesen ist. Dadurch, daß die 
deutsche Reichsregierung immer noch nicht 
len moralischen Mut aufgebracht hat, in 
aller Deutlichkeit, in aller Klarheit, in aller 
Entschiedenheit die Schuldlüge zu bekämp- 
‘en, das Schuldanerkenntnis amtlich und 
Miziell zu widerrufen und zu notifizieren, 
wird die Schuldlüge künstlich am Leben ge- 
aalten. Wie oft hört man aus Amerika oder 
iest in Schreiben aus dem Auslande: ‚‚In 
ler Schuldfrage kann das deutsche Gewissen 
licht so rein sein, wie die Deutschen es vor- 
seben. Denn sonst hätte schon längst die 
deutsche Regierung die entscheidenden 
Schritte tun müssen.‘ 





Tagebuch 215 





Tagebuch 


Auch der Kampf gegen die Koloniallüge 
wird durch die Reichsregierung nicht mit der 
notwendigen Energie betrieben. Jetzt eben 
hat sich eine vortreffliche Gelegenheit ge- 
boten, um diesen Kampf aufzunehmen: Wir 
hören von Verhandlungen zwischen England 
und Italien über die Abtretung unserer ost- 
afrikanischen Kolonie an Italien. Im Reichs- 
tage haben sich die Vertreter der großen 
Parteien zwar einmütig gegen diese neue 
Schiebung der Entente erklärt, aber die 
Reichsregierung hat sich in Schweigen ge- 
hüllt, statt diese Gelegenheit zu einem kräf- 
tigen Vorstoß gegen die Koloniallüge und 
zum Anlaß für die Forderung zu benutzen, 
daß Deutsch-Ostafrika uns endlich wieder 
zurückgegeben wird. Noch schlimmer ist 
allerdings, daß man jetzt plötzlich von poli- 
tischer oder parlamentarischer Seite hört, 
daß Deutschland keinesfalls die Forderung 
auf Rückgabe unserer Kolonien erheben 
darf. Man verstimme damit England, Frank- 
reich und Italien. — Also wieder der alte 
deutsche Fehler! Kaum sind Deutsche 
mehrerer Parteien in einer Frage geschlossen 
und treten, wenn auch zaghaft, so doch ein- 


mütig gegen das Ausland auf, so tönt sofort. 


aus den Kreisen unserer Defaitisten und furcht- 
samen Politiker der Ruf: ‚Um 1 Gottes- 
willen, nur nicht fordern, nur nicht in London 
oder Paris die Machthaber verschnupfen!‘“ 
Wer heute noch glaubt, dadurch für Deutsch- 
land etwas zu erreichen, daß man auf freund- 
liche Laune und gutes Wetter in den Entente- 
ländern hofft, dem ist wahrhaftig nicht zu 
helfen. 


In jahrelanger, mühevoller Arbeit ist es 
gelungen, die gesamten bürgerlichen Parteien 
und auch einen Teil der Sozialdemokratie im 
Kampf gegen die Lügen von Versailles zu 
einigen. Trotzdem benutzt die Reichsre- 
gierung dies machtvolle Instrument nicht, 
sondern läßt jede Gelegenheit zur Vernich- 
tung der Schuldlüge vorübergehen. Ganz 
anders würden wir von London, Paris, 
Brüssel, Prag, Warschau, Rom behandelt 
werden, wenn die Entente wüßte, daß 
Deutschland sich nicht alles bieten läßt, und 
daß nicht nur die Rechtspresse, sondern das 
ganze amtliche Deutschland seine Stimme 
laut und deutlich ertönen läßt, wenn wir 
— wie jetzt bei den englisch-italienischen Ver- 
handlungen über Deutsch-Ostafrika — über- 
vorteilt oder betrogen werden sollen. 


Zu Kreuze kriechen bringt unser Vaterland 
nicht wieder vorwärts, sondern nur das rück- 
sichtslose Zerschlagen der Klippen, die unsern 
Wiederaufstieg versperren. 


EEE EEE ZEITEN EEE TEE TEL 





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ernennen üntigplaeviseerenei jehenpenhnutsenge uhren ren ca 








216 Tagebuch 








Christus in der bildenden Kunst 


alther Rothes Werk über „Christus, 

des Heilands Leben, Leiden, Sterben 
und Verherrlichung in der bildenden Kunst 
aller Jahrhunderte‘ (I. P. Bachem, Köln) 
erschien kürzlich in 7.—10. Auflage. Der 
Verfasser gliedert den fast unübersehbaren 
Stoff nach der im Titel angegebenen Vier- 
teilung, wobei die Darstellung in jedem Ab- 
schnitt immer wieder von den ältesten christ- 
lichen Kunstdenkmälern bis zu den Werken 
der neuesten Zeit geführt wird. Dieses Vor- 
gehen bedingt jedenfalls ermüdende Wieder- 
holungen, ganz abgesehen davon, daß der 
kunstgeschichtliche Zusammenhang zerstört 
wird. Man hat den Eindruck, daß ein prote- 
stantischer Verfasser vielleicht eine syste- 
matischere Lösung seiner Aufgabe versucht 
hätte. Über den Inhalt des Buches wird 
sich aber auch der protestantische Leser 
freuen, wenn er auch Einzelheiten bean- 
standen wird. Gebhardt, Thoma, Stein- 
hausen, Haueisen finden nicht die verdiente 
Anerkennung. Andererseits wird man dem 
Verfasser Dank wissen, daß er z.B. dem 
Wunsch eines Rezensenten nach mehr Bil- 
dern vom allerheiligsten Herzen Jesu nicht 
nachgekommen ist. Angehörige beider Kon- 
fessionen werden mit Interesse und Dankbar- 
keit sehen, wie die Kunst in immer neuer 
Weise zu allen Zeiten und bei den verschieden- 
sten Völkern (auch kennzeichnende Proben 
aus der slavischen Kunst sind aufgenommen) 
das Wesen des Größten, der über die Erde 
ging, zu erfassen sucht, und wie deutsche 
Künstler ihn und besonders sein Leiden und 
Sterben am tiefsten erfaßt haben. Etliche 
wollten allerdings nur Effekt ziehen auch aus 
diesem Leben und Sterben. Manche Predigt 
könnte viel gewinnen, wenn der Pfarrer 
dieses Buch zu seiner Meditation benützte, 
und vielen Laien könnte es zu einer nach- 
haltigen Predigt werden. Bei der Auswahl 
der Bilder hat natürlich jeder seine besonde- 
ren Wünsche, mancher findet vielleicht ganze 
Stilperioden und Kunstgattungen zu wenig 
berücksichtigt. Mir scheint im Hinblick 
auf die vom Verfasser verfolgte Absicht 
(er legt den Hauptnachdruck auf die Renais- 
sance und die neue Zeit) die Auswahl im 
ganzen gut getroffen zu sein. Die Beschrei- 
bung der Bilder ist im allgemeinen gelungen, 
wobei man zu bedenken hat, daß trotz allerlei 
gedruckten Anweisungen das auch heute 
noch keine leichte Kunst ist. Die Aus- 
stattung, die der Verlag dem Werk gegeben 
hat, ist gut. 


Bielefeld. Lic. Dr. Karl Hahn. 


Evangelische Jugendkunde 


ie evangelische Jugendbewegung stehi 

heute im Zeichen einer ernsthaften An: 
näherung der neuen Jugendbewegung un« 
der alten Jugendverbände. Man beginn! 
innerhalb der Bewegung die alte Jugend: 
arbeit ernster zu würdigen als bisher und 
innerhalb der alten Bestrebungen das letzti 
Wollen der verschiedenen jungen Richtungen 
und Gruppen hinter ihren oft verwirrenden 
Formen und Ausdrucksweisen aufzuspüren. 
Dieser Begegnung der evangelischen Jugend} 
alter und neuer Richtung will die ‚‚Evange 
lische Jugendkunde‘ von dem Mitarbeiter a 
diesem Heft, Lic. Dr. Leopold Cordier, dienen, 
deren erster Band als ‚„‚Quellenbuch zur Ge+ 
schichte evangelischer Jugendkunde‘“ voti 
kurzem im Verlag Friedrich Bahn, Schwerin 
i.M. erschienen ist. Er enthält ausgewählte 
Quellenstücke, die von den Anfängen evan- 
gelischer Jugendarbeit in der Reformations- 
zeit bis auf die Gegenwart führen und so die 
Möglichkeit zu eigenem Eindringen in das 
umfangreiche Material bieten, gleichzeitig 
aber dem zweiten Teil der Sammlung, der 
beschreibenden Darstellung der evangelischen 
Jugend und ihrer Verbände, in wesentlichen 
Stücken vorarbeiten. Es ist nur zu hoffen, 
daß das gründliche Werk, das in die Vielfalt 
des religiösen Wollens unserer Tage ganz neue 
Einblicke gewährt, bald Nachfolger für die 
anderen großen Zweige der Jugendbewegung 
finde, vor allem für den katholischen. A.H. 












Gedanken 


Kae der Geistesgeschichte: wie sich 
Qualität in Quantität umsetzt. 
* 


Ich glaube nicht, daß die Kritik an anderen 
uns in jener Welt angerechnet wird. 
* 


Die größte Feindin der Klugheit ist die 
Eitelkeit. 


* 


Bildung = Fremdwörter. 
& 


Gedanken sind immer neu. Ja, es ist eben 
das, was in unserem Vorstellungsverlauf net: 
ist, was wir Gedanken nennen. 

* 

Anführungszeichen ‚,...‘“ bei einzelnen 
Wörtern sind ein Versuch, das, was man durch 
die Mittel des Schriftstellers nicht ausdrücken 
kann, durch die Mittel des Schriftsetzers aus- 
zudrücken. 


* 
Zu großen Männern kommen große Dinge. 


* * * 








Derdeutfche Erzähler 


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| 
| 
| 





Oufanna 
Erzählung von Joahim Frhr. v. d. Solß 


| 

| 

LE der Steintreppe vor der Tür ihres Häuscheng, das bei der PBarkmauer ftand, und das 
A einen helltoja Anftrich und grüne Fenfterläden hatte, ja die alte Sujanna. Sie hielt 
| {ihrem Schoß einen Pappdedel und war damit befchäftigt, felchförmige Mohnfapfeln, deren 
'3ch blühende Gefährten in dem Vorgärtchen auf Hohen Stengeln ihre rotflammende fchtwarz- 
ündige Schönheit in der Abendfonne wiegten, zu öffnen und die Samentörner heraugzu- 
Shmen. hr Schoß beftand aus einem Rod, der die Regierungszeit Wilhelms II. über- 
‚wert hatte, und dem eine Maferung von unbeftimmbaren Schmußfleden, zahllofen Fikeln, 
‚liden und Wiederfliden und brüchigen Bolants, deren Beitimmung e3 war, noch brüchigere 
‚ntergründe zu verdeden, einen im großen und ganzen lilafarbenen Anfjpruch auf Poefie 
ben. Wenn fie aufjtand, mölbte jich diefer Rod als eine Krinoline um einen Bauch, wie ihn 
‚te Einderloje Jungfrauen oftmals haben, und den fie gleich einer ewigen Schwangerjchaft 
tabitätijch vor fich her trug. hr Scheitel endigte in ein Haarfnötchen, das wie ein Schneden- 
aus auf dem SHinterkopfe jaß; die rojafarbne Kopfhaut unter dem mehlig grauen. Haar 
nd die Schläfen hatten die Tönung des porphhrartigen Gefteind, das man aus den Bergen 
er Gegend brad). 

‚Während jie ging, hielt jie ihre Arme von den Hüften weg und jchlürfte jo aufrecht und 
, behutjam einher, al3 wolle jie e3 den paar Herzjchlägen, die ihr noch gegönnt waren, und 
ie eine immer beinah lebte Welle von Charme in ihre Wangen fendeten, leicht machen. 
Ran fonnte jagen, daß fie ihr Herz trug. Dagegen trug fie nicht ihr Kleid, fondern da3 fchien 
yr angewachlen, und die Borftellung, daß jie es je bei Tage oder bei Nacht verlaffen würde, 
yar jo unziemlich wie bei einer mhthijchen Göttin. 

Db jolches geihah, wußte niemand zu jagen. Denn die alte Sujanna, deren Familienname 
leich dem großer Männer aus der Gejchichte verblaßt war, haufte mutterjeelenallein in dem 
särtnerhaus. hr Leben war bis zu ihrem fiebenzigjten Jahre das einer fleifigen und 
yarfamen Dienjtmagd gemwejen. Der Riten, der jebt gerade wie bei einer Porzellan- 
igur ftand, Hatte jich unzähligemal auf den Wink verjchievener Hausfrauen gebüdt. 
8 der große Kanzler jtarb, betrugen die Erjparniffe Sufannas 5000 Mark; und um Die 
jeit, als das erjte Luftichiff des Grafen Zeppelin das Nheintal abwärts flog, hatte ihr 
sparkallenbucd) die Summe von 11000 Marf erreicht, wa3 mit dem tapferen Erfinder 
‚erglichen die Frucht einer ebenjo zähen und leidenjchaftlichen Ausdauer im Heinen dar- 
ellte. Eingedenf der elftaufend YJungfrauen blieb Sufanna bei diejer glücdhaften Biffer 
ehen und war eben daran, in Gemeinjchaft mit ihrer Schweiter, die eine ähnliche Laufbahn, 
doch nicht ohne Galligfeit, hinter fich gebracht hatte, einen friedlichen Hausftand für den 
‚tejt ihrer Tage zu begründen, al3 der Ftrieg ausbradh. Nun, jolange der Gejchügdonner 
‚on Verdun und vom Hartimannsweilerfopf allabendlich zu den Dörfern am Fuß des nörd- 
hen Schwarziwalde3 herübergrollte, glaubte Sufanna den Beltand aller Dinge jo wenig 
ejichert, daß jie ihren Plan aufichob und ihre legte Stellung in der gräflihden Familie 
1% Geichirrverwalterin nochmals aufnahm. WS Belohnung für ihre langjährigen Dienite 
ieß der Graf, al er das Belistum an die Gemeinde verfaufte, eine Klaufel in den Ver- 
Jeutsche Jugendbewegung (Südd, Monatshefte, 23, Jahrg., Heft 9) 15 


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218 Derdeutjhe Erzähler 





trag fegen, die der alten Sufanna da3 Wohnrecht in dem Gärtnerhaufe lebenslänglich fichert 
Dort zog fie ein und dort blieb fie und führte, nachdem ihre Schwefter geftorben war, ei 
jonderbares Einfiedlerleben, und fie ward defjen nicht inne, daß ihr Heines Kapital auf di 
Sparkaffe drunten allmählich zerrann. 

Leib und Geele, durd) das wifjenjchaftliche Denken der Europäer gejpalten, führten i 
der Perfon diefer Siebzigerin ein einträchtiges Dafein. Abhold allem PBatriotifchen, das naı 
ihrer Meinung nur den Jünglingen und wehrhaften Männern ziemte, hatte fie fich gegen de 
unaufhörlichen Gejhüßdonner dadurch verjchangt, daß fie fehmwerhörig wurde. Und al di 
Krankheit des fieglojen Volkes ihre Raffarme nach dem fleinen Schab ausftredkte, der Die Erni 
ihres Lebens war, mußte die alternde Geele fich zu helfen, indem fie ihren hellen Verftan 
mohltätig ummebelte, jo daß fortan weltliche Nachrichten und rechnerifche Borftellungel 
nicht mehr in den Bereich Sufannas gelangten. Dagegen wurde der Zaun ihres Gärtchent 
der gegen eine Kunde gefeit war, die jie unfehlbar getötet haben würde, von Schmetterlinge: 
und Vögeln und den Grüßen Borbeigehender überflogen, und eine Menge Tiere und Menfcher 
bat alltäglih um Einlaf. | 

E3 gefhah nämlich, Da die ehrmwürdige Kämpferin, die fo viele Luftren Iang ihren Rüden 
für andere gebüdt hatte, am Abend ihres Lebens fich der immer unterdrüdten Gelüfte dei 
Herrichens bewußt wurde, die jie nun auf eine ftille und wahrhaft großartige Weife befriedigte 
Sufjanna verjtand einige dunkle Künfte, deren Befiß fie, wäre fie um etliche Jahrhundert 
früher geboren worden, auf den Scheiterhaufen gebracht hätten. In einem fchmalen Bee 
an der Haugmauer, gerade unter ihren Fenftern, 30g fie Kräuter mit duftigen und heilfames 
Eigenjchaften, Thymian, Kamille, Salbei, Wermut, Pfefferminz und andere namenlofe 
Aus diefen Kräutern und aus Samenförnern und Baumrindfäften mifchte fie und braute fi 
nach uralten Rezepten Träne, die fie oft einen Winter lang gären ließ. Kranfe Kälber 
Pferde und die Menjchen jelbft waren ihre Patienten. Der Ruf von ihrer Kunft war ball 
allgemein, und fein Tag verging, wo nicht einer fie um ein Mittel heimfuchte. Manche: 
Großmütterhen aus dem Dorfe legte Hohen Wert auf den unverftändlich gemurmelten Spruc) 
der dem Balfanı mitgegeben wurde, und der Zuftrom mehrte fich noch, al der Mefner in 
Kirchdorf erklärte, daß er feine Errettung aus fchwerer Krankheit nächft dem Himmel unt 
feiner Fürbitterin dort, der HI. Therefa, dem Gefundbeten der alten Sufanna danfe. AZ fir 
Ihlieglich ein Bündel Spielkarten, dag fie von ihrer Straßburger Dienftzeit her befaß, erneil 
in Bewegung jeßte, fanden fich auch die jungen unverheirateten Mädchen nächtlichermweilt 
bei ihr ein, um etiwa3 au der Zukunft zu erfahren. Die Schädigung, die dem Arzte in Ordadı 
haufen durch diefe ftille unzünftige Wirffamfeit widerfuhr, war beträchtlich. 

Um die Zeit, al3 die Minifter der ehemals Friegführenden Staaten fi) auf Kongreffer 
zu berjammeln begannen, fing die alte Sufanna an nachzulaffen. Sie war faft taub geworden, 
fie vermechjelte die Menfchen untereinander und mit unbekannten Gejtalten aus den ver: 
Ihiedenen Stationen ihrer Dienftzeit, und wenn fie in ihren vielverfchlungenen Erzählungen 
eines Kaijer3 erwähnte, wußte der Zuhörer niemals vecht, ob er fich dabei den entthronten 
Herrjher Deutjchlands oder den dritten Napoleon oder Bonaparte oder etwa den eigenen 
Großvater der Erzählerin in verflärter Glorie vorzuftellen habe. 3 blieb nicht aus, daß mait 
auf den Verdacht Fam, fie möchte in derjelben Weife wie die Menfchen auch ihre Tränfe 
durcheinander mengen, und e3 zeigt von der Unvernunft der Leute, daß hierauf die Kund- 
Ichaft der alten Sufanna fich verlor; bald waren die Schulkinder, die neugierig am Zaun de3 
Gärthens ftehen blieben, ihre einzigen Befucher. 

Da aber die fühe Gewohnheit des Herrfcheng, die fie ala eine durchihre Künite in hunderterlei 
Geheimnifje Eingeweihte ausgiebig gefoftet hatte, in ihrer erlöfchenden Seele lebendig blieb, 
und indem fie fein anderes Mittel mehr befaß, um die abtrünnig Gewordenen aus dem Dorfe 
hervor auf die Höhe und vor ihre Haustüre zu Iodfen, an deren allernächiten Umfreis fie durd) 
ihre Schwäche gebunden war, erfand fie die Kunft des Gterbend. Die war einfach). 
















































Boadim Trhr. d. d. Sol: Gufanna 219 
ELLE EEEEEEEEEEEETEEEEEEEEETEEEEEEEEEEIEEEEEEEEEEEEREEEEEESEEEEEEEEEE 


nie brauchte jich nur einen Tag im Bette zu halten und fein Lebenszeichen von jich zu geben, 

| nd alöbald durdeilte da3 Gerücht, die alte Sufanna liege im Sterben, das Tal. &3 beiteht 
‚iberall, auf dem Dorfe jomohl wie in den Streifen der Gebildeten, ein gemwifjer Bund der 
| ternden PBerfonen, die fich fennen, und deffen Biel e3 ift einander fterben zu helfen. ©o fam 
‚2, daß bald etliche gleichalterige Weiblein in Sufannas Stube herummwirften, aus ©ebet- 
‚üchern vorlajen und die vorjchreitenden Symptome ihres Sterbeng zum Öegenftand einer 
rquidlichen ung machten, die zur noch innigeren Erquidung der Sterbenden 
elbft diente. Ya, durch Heine Bemwußtlofigfeiten oder durch ein gelindes Fieberphantafieren 
hrreichte fie e3, daß der hHochwürdige Herr Pfarrer jelbft, auf deffen Erfcheinung es ihr vor 
(llem ankam, in vollem Ornate und von dem Miniftrantenbüblein begleitet den Schloßberg 
vejtieg und fie mit dem troftipendenden Saframente verfah. 

Bweimal jhon hatte da3 wunderfame DI den Funfen ihres Lebens wieder angefacht, und 
ie hatte e3 verjtanden, dag fchwache Flämmlein ein drittes Mal fo funftreich zu beugen und 
ımgitlich fladern zu lafjen, ohne da3 Bemwußtfein der Dinge, die um fie herum gefchahen, 

‚inzubüßen, daß jie Dad Gemurmel der Klagemweiber, die Kopf an Kopf von ihrem Bette 
13 an Die Haustür ftanden, mit innigem Entzüden und ftolger Genugtuung über einen folchen 
‚Zulauf genoß. 

ı Durd) dies jeltene Erlebnis getröftet, und auch wohl der Befürchtung nachgebend, daß e3 
"Hr bei mehreren Wiederholungen ähnlich wie dem Knaben mit dem Wolf im Märchen er- 
‚ehen Tönne, hatte fie in der legten Zeit auf das Schaufpiel ihre eigenen Todes tapfer ver- 
| ichtet und war jo leidlich gediehen, daß die Geftalt de3 geiftlichen Herrn, der eben jett Ieib- 
‚aftig auf der Straße jenjeit3 der Barfmauer vorbeifchritt, fich unter dem Glanz der rötlich 
N zihauernden Sonnenjcheibe in ihren Furzfichtigen Augen als eine Himmlifche Erfcheinung 
wbzeichnete. rn der jehnfüchtigen Erwartung, daß ihr heut das Heil widerfahre, den Befuch 
ve3 geliebten Priefters ein einziges Mal ohne den gewaltigen Aufwand des Gterbend zu emp- 
‚angen, jtredte Sujanna ihre beiden zittrigen Arme aus; umfonft. Der Schwarze Rod ver- 
Bar wie eine Fata Morgana in den Reben. 








* 
* E23 
} ährend der Nacht Fam ein Gemitter auf, da zornig gegen die zähe Schwüle des Hod)- 
jommers jtritt, die jich vor den reinigenden Bligen in die Mulden der Weinberge und 
De die gewaltigen Laubfronen der alten Bäume in dem Park verfroch, big e8 Tag ward, 
md allenthalben aus ihren großen und Heinen und winzigen Behaufungen die Lebemwefen 
vieder zum Borfhein famen. — 
| Auf der Steintreppe fah die alte Sufanna in den Gluten der Mittagsfonne. Shre Hände 
‚daten i in dem Schoße gefaltet, ihr Kopf war ein wenig auf die Geite geneigt. Ihre Augen 
inter ben mimperlojen faltigen Lidern waren vorgequollen, fie fchienen angefogen bon dem 
‚leinen Schaufpiel, da3 fich neben ihr begab. 
\ Aug einer Nie, die im Laufe der Zeit zwifchen der oberen Stufe und dem Schwellenftein 
ntftanden war, froch ein Heer von Ameifen. Wie ein fehwarzer Strom fam e8 aus dem 
‚>palt und ergoß ein aufgeregtes Wimmeln über die fonnbeglühte Steinplatte. In Strahlen 
‚und in Ringen bewegte fich die Flut der aufgeregten Tiere; aus dem ruhelofen Rennen und 
‚Drängen aber ftrebten einzelne, die größer al3 die anderen maren und etwas Weißliches an 
ich hatten, allmählich an den Rand des Steine vor. Dort fpreizten fie ein filbriges Flügel- 
yaar und erhoben fich, zwei und fünf und mehrere zugleich in die Luft, die von dem warmen 
wicht bebte. Und während fie in den blühenden Sträuchern des Vorgärtcheng untergingen, 
am unerjhöpflich fieberhaft ein dunkler Nachichub aus der Rite des Mörtels. War e3 nicht 
‚in Krieg, der lautlofe Krieg eines Bolfez, ber fich hier auf der Heinen Ebene, der Schwelle 
zum Licht abjpielte? Wahrhaftig, e3 wurden feharenmweis die Herborfommenden zurüd- 
zejchlagen und wieder hineingedrängt in den Schacht zu ihrer Unterwelt, und ein zorniges 
15* 





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ERZENTEEZUEREEE STERN ZEN SCTTETER TE, 


RETERE 




















































Derdeutjde Erzähler 





Kachfluten der ungeflügelten Clenden drang jedesmal bi3 an den Kanb des Gteines y| 
fo oft eine Reihe glücheliger Flügeliehiwinger fi) in die Lüfte erhob. ’ 

Eros, oder wie fonjt wir Menjchen die Macht nennen, die aus einem dunklen dumpfei 
Mauerloch das herrliche jtreitende flügelichwingende LXeben befreit, jegneft du fo den legtei 
erlöfchenden Blict eines armen einfamen Weibleins? St eg ein Weib, ift e3 die Sungfrai 
Sufanna, die da jtirbt? Gie gleicht eher einem uralten Häuptling, der auf feiner Matt 
fit und auf den Tod harrt, und zu dejjen Ehren das junge Volk Kampffpiele aufführt. \ 
ift weder Weib noch Mann; was da ftirbt ift ein Menjc. 

„Sufanna!” ruft da eine Fräftige Stimme den Parfiveg herauf, „Sufanna!“, und de 
Pfarrer, den ein Gejchäft in Bormundfchaftsjachen des Weges führt, nähert fich der unberveg 
lich dajigenden Alten. Sujanna! AB fie ftumm verharrt, nimmt er ihren Kopf zwijchen jeir«! 
großen braunen Hände, richtet ihn zart auf und betrachtet ihn. Auf den weißen Lippen fiel 
ein dunfler Saft, und neben der alten Frau, auf dem Schwellftein jteht eine Schale von dei 
Ichönen dunfelblauen Porzellan, wie man e3 vor hundert Jahren in den Tälern des hoher 
Schwarzmwaldes anfertigte; in der Schale it eine brauntote Flüffigfeit, und eine dicke Hummel, 
die eben heranjchirrt, fcheint von dem bloßen Duft ergriffen und in das tödliche Naf hineitt 
gezogen zu werden. Der Pfarrer ergreift die Schale, riecht daran, Iutjcht den rafch hinein) 
getunften Finger ab und tirft fogleich einen verftehenden Bliet nad) den Mohnblumen hirc) 
über, die in dem VBorgärtchen ihre rotflammende Schönheit den heißen Sonnenftrahlen hire! 
heben; dann jchleudert er das Gefäß mit dem Gift weit hinaus ins Bufchwerf. Nachdem er eine 
Beile in ärgerlihem Nachdenken dageftanden, tritt er an den Körper heran, der indejfen gegen 
bie Kante des Schwellfteins gefunfen ift, fchiebt mit feinem Daumen die Lider über die Aug: 
äpfel der Entjchlafenen und fchlägt ein zorniges Kreuz oberhalb der Heinen Haarjchnede. 


























Mampynha 
Wiener Zeitroman von Eduard Paul Dansky 


j 
(4. Fortfeßung) 


Ls und Ruf umfchritten die Hütte, plauderten mit der Frau des Jägers und erhieften 
ztvei Deden in die Wieje getragen, auf welchen fie recht bequem lagen, die Augen um) 
DBlide im Blau des Himmels. Aus dem jpielenden Ton, mit welchem fie eben noch ihre Um-+ 
gebung humorvoll bevedet hatten, gerieten fie unverfehens auf ernfte Dinge. Fehrbach fonnte 
lich die jeltfame Veränderung in der Billa Elifa nicht deuten. Es Herrfche im Haus eine Gemitter- 
\hmwüle, welche fürmlich an den Nerven rijfe. Alle wären merfwirdig niedergedrüdt, wie 
einem unentwirrbaren Verhängnis preisgegeben. Wie Sternfchnuppen wären ihm alle 
zugeflogen — und ebenjo wären nun alle erlofchen. | 

Nach kurzer Bauje fuhr er fort: „Meine Arbeit ift Zuflucht, Vorwand, ich weiß mir fürs 
erjte nicht Rat noc) Hilfe; Dabei gerate ich durch meine Empfindlichkeit in ein — für Mamynhn 
vielleicht verächtliches, halzjtarrige8 Gehaben.“ 

Er erzählte die Gafthaugizene und wie er am Sonntag als exjter im Haus aufgeftanden und 
auf den Semmering geflohen wäre, wo er vier, fünf Tage gebraucht habe, um feine | 
tiederzuerlangen. 

Auf hatte aufmerffam zugehört. & jprach jehr ernit: „Ja, Shre Ungebärdigfeit ch 
janfte Naturen bisweilen in Verzweiflung ftürzen. Auch ich habe Sie teilweife überjchäßt. 
3 habe Zhnen Fähigkeiten zugetraut, welche Sie anfcheinend nicht haben. Gonft hätte 
ich bon dem Abenteuer glatt abgeraten. Dazu find Sie mir beide zu nah ans Herz gewachlen. 
Vermögen Gie denn nicht einfach da zu fein? Ohne beftimmte Wünihe? Wenigftens ohne 



















































- Eduard Paul Danzzky: Mambnha 221 


| Et 
\iefe unbeirtbare Berfefjenheit, mit welcher Sie auf der Erfüllung Jhrer Wünfche beharren? 8 
ie haben etwas Schönes angeftiftet, aber ich hätte e3 vorausfehen follen.” 
" Behrbach erjchraf. Ruf jcherze wohl nur, denn die wahren Gründe von Mampnhas Franf- 
after Erregung wüßte er Taum. 
Ruf troefnete fich die Augen. Er tat beluftigt. „Nein, Sie wunderbarer Piychologe, Die 
nahren Gründe fenne ich nicht, fie intereffieren mich gar nicht. Mir genügt zu willen, daß 
Sie die Arme durchaus erobern mußten, was ich al3 hr wahrhafter Freund nicht edel finde. 
.Sielleicht wäre dies auch anderen Leuten gelungen, wenn fie e3 Darauf angelegt hätten. 
‚ber — bringen Sie e3 übers Herz, einem angefetteten Tier Toftbare Lederbiffen vorzuhalten ? 
‚jaben Sie niemals beobachtet, wie fic) die Kette fofort ftraffer jpannt und der begehrlichen 
‚reatur tiefer ins Sleifch fchneidet? Und was, glauben Sie, ift Mamyrha gejchehen? Gie | 
‚eflagen die gejchmadlofe Brutalität, mit welcher der Generaldirektor auf feinem Traufchein 0 
‚eftanden? Sa, lieber Freund, er hat noch mehr getan. Was bleibt einem Ehemann übrig, Re 
‚nenn er feinen Befit gefährdet jieht? Die Kette fefter anzuziehen. Berftehen Sie dag nicht? 4 | 
‚Bährend er früher die Frau mwenigftens zeitmeife mit feiner gewalttätigen Zärtlichfeit ver- iu 
\hont hat, Haben Sie ihn zu einer energifchen Aktion veranlaßt. Dem Hahn ift der Kamm u 
\yeichwollen. O, der Mann ift gefcheit genug, um auf jeden Wettkampf mit Ihnen zu ver- 
Hichten. Er weiß, was allein jchon die Jugend gilt. Er läßt Sie hier ruhig walten und jchalten, 
\henn er weiß, wie feine Srau funktioniert, diejes beflagenswerte Meteor, das ihm vom Himmel 4 
‚gefallen ift. Er weiß, wenn er von ihr die eheliche Verpflichtung, ihre Schuld an den Exhalter Be 
| singetrieben hat, daß fie dann bettelarm ift, entweiht für den Gefährten ihrer Sehnjucht, ihrer h 
Seele, ihre wahren Wejeng.” 
f Sehrbach griff in die leere Luft, ein furchtbares Gefpenft zu verfcheuchen. Er war weiß 
m Geficht, einer Ohnmacht nahe. Nur die Schläfen haflten, dröhnten. Unfähig zu zufammen- 
‚hängender Nede fagte er: „ES ift nicht wahr, ift nicht möglich.” 
ı Ruf war ohne Mitleid. „Sie jegen bei dem Ehemann Edelmut boraug, ohne ferbft zu 
| twas Ähnlihem fähig zu fein. Denn die unzerreißbare Kette hatten Sie, mußten Sie am 
'aften Tage gefehen haben. Ye mehr Sie von diefer Frau bezaubert waren, defto unnad)- 
'giebiger mußten Sie den Mann, den Befiger vorausjegen. Oder wollten Sie ihn etmwa beifeite 
‚haffen? Was wollten Sie denn? Sollte ihn vielleicht darliber der. Schlag treffen, taß Sie 
‚die Kammihe Beaute begehrenswert fanden?” 
 Behrbad kam ein jeltiamer Gedante. Er fprach ihn fpielend aus, feine Erregtheit ver- 
‚bergend. „Dann muß Zhnen wohl am vernünftigften fcheinen, daß ich Payerbadh verlajje 
' Ruf war fichtlich erfchroden: „C3 wäre augenblidlic) geradezu ein Verbrechen.” 
| Dann waren die anderen bei ihnen. ©ie hatten beide, foweit e8 jeder vermochte, eine 
'heitere Miene aufgejett. Sie waren auch nicht entzweit, Das Leben hatte nur eine Kulifje Be 
\zwilchen fie gefchoben. Sie harten nur des Stichiwortes, das fie wieder zufammentief. Ben 
‚ Man trat in derjelben Ordnung den Rüdweg an, wie man hergefommen. Allerdings au 
noch im Angeficht des Blockhaufes vom Regen überrafcht, welcher ven Philharmoniker zu a 
jammernden Ausfällen verführte, indes der Banfbeamte den Unfall, der feinen gebügelten n 
bollftändig vermwüftete, mit gezwungenem Gleichmut hinnehmen mußte, um den 


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gefälligen Sagdheren nicht zu verdrießen. 

n einem der folgenden Regentage war Gifa Naus bei der Frau Generaldirektor zu Bejuc). 

Sie war gleich nach dem Mittageffen erfchienen mit ihren dreiMädchen, puppenartigen h 
Kindern, welche in den zugänglichen Räumen mit Mifter Woe und Elifa fpielten. Mijter \ 
oe war übrigens mit einem Brüdenbau jehr befchäftigt. Frau Gifa Hatte alles aufgeboten, A 
um die Hausfrau in Stimmung zu bringen. Sie folportierte mit poffierlicher Wichtigkeit 
‚Gefellfchaftsflatfch mit Ergänzungen ihrer fprunghaften Einbildungskraft, welche fich alles ; 
Imöglichft handgreiflich und verftändlich machte. Der Reihe nach) mußte ganz Payerbad) j 
‚herhalten. Danadı bat fie, Frau Lotte möge ihr die Zimmer zeigen. Sie dürfte Doch „Stau 














222 Derdeutjhe Erzähler 





Lotte” jagen? Mamynha nidte lächelnd. Sie nahm fie in den erjten Stod mit. Frau Gifa 
bewunderte alles. Nur den Toilettentifch fand fie zu ärmlich ausgeftattet. Sie hatte eine 
Nüftfammer bon fosmetiishen Baubermitteln, Tinfturen und Cremen vermutet. Chinin- 
wajjer, Kölnischwafjer und Ebermannjches Mundwajjer war alles. Auch die Nüchterndeit 
der Beleuchtungsförper vermunderte fie. „Wie vermag jich denn da Zhr Männchen mohl 
zu fühlen?“ fragte fie bezaubernd naiv. „Sch habe im Schlafzimmer Schirme von rofentoter 
Geide und ein erquijite3 Parfum. Das gibt eine unvergleichlicde Stimmung. Ach, mein 
Mann würde fich jonjt noch jeltener machen.“ 

Mampnha lächelte mit dem ganzen Aufwand ihrer Geduld. 

Beim Tee erjchien endlich Fehrbadh. Sie hatte ihn geradezu herbeigefehnt. Er war mit 
jeiner Arbeit jo weit gediehen, daß er fie am Abend zuvor hatte einweihen können. Erminin! 
und Carola waren von der Erotik und ftarfen Lebenskraft des Stückes feltfam aufgerüttelt) 
gemejen. Auch ihr hatte die Hauptgeftalt, ein Mädchen aus legten, unterften Schichten, das 
bis zur fchmiegjamen, vergötterten Freundin eines Wiener Hochtory fich aufgejchwungen, 
zur begehrten Weltdame, deretwegen Gejandte und Fürftlichfeiten in Todfeindichaft ge 
rieten, — Fehrbachd Wefen von neuer, fremder Seite gezeigt. Er verherrlichte die fanatifche 
Ztiebfraft, die elementare Leidenjchaftlichkeit. Er vergötterte, mas in ihr felbft erlojchen, 
ertötet war, denn die Geftalt der Gräfin —, welche von ihr Seele und Blut hatte, war Ver-| 
zicht, Einpuppung. Aber die Wahrhaftigkeit der Charaktere und Begebenheiten hatte fie 
mit allem ausgeföhnt, was zu wild, zu rüdjichtslos fchten. Mochte e8 immerhin ein Verjtoß 
gegen feinere Anfprüche fein, die Betwältigung des Stoffes war durchaus glücklich gelungen. 
Auch die Kataftrophe: das Wiederverfinfen im Elend, aus welchem fie ftammte, diefes Noch- 
tieferuntertauchen war wunderbar verftändlich gemacht. 

Sie überjann alles bliartig, da er ihr gegenüberjag und Frau Gifa mit übertriebener' 
Artigfeit von allem darreichte. Auch die Kinder hatten ihn wieder ganz in Befit. Er mußte 
aus Elifas Tafje trinken. Sie fagte: „Du mußt von mir trinken, Mann!” Frau Gifa fand 
die Stleine reizend Eofett. Mifter Woe verlangte eine Gefchichte. Er verficherte Frau Gifa, 
bie fich einmifchte, fie hätte noch feine einzige wunderschöne Gefchichte von einem lebenden 
Dichter gehört. Gie wurde begehrlich. Sie vereinigte ihre Bitten mit den Bemühungen der 
Kinder. Yhre drei Mädchen fahen ihn mit ihren dunfelblauen Augen fcheu an. Sie wagten 
nicht zu fprechen. Man fah, da fie für den Befuch ftrenge Weifungen hatten. Fehrbache 
plöglich trauriger Bliet fuchte eine Verftändigung mit Mamynha. Sie wich ihm aus. Er 
fühlte, wie fie zu ihm nur herüberfah, wenn er zur Seite gewendet war. Die drei Mädchen 
mit den dunfelblauen, heuen Augen gaben ihm feltfam zu denfen. Bei ihnen war auch das 
Weiße im Auge bläulich — ein Indigoton-Rätjel der Natur. Welche wunderbare, gebundene 
Anmut, troß diefer fcheinbar feelenlofen Mutter, diefem großen, fchon entzauberten Kind, 
Was würde aus ihnen werden? Gefährtinnen irgendeines Heinen Kaufmanns, der wie 
ihr Vater lebte, ihren Mädchenreichtum in einem, in zwei biS drei Jahren plünderte und fie 
dann irgendiwie abfand mit ein paar Kindern und dem, was Übrigblieb von Dirnen-, Bar- 
und Stammtifchgepflogenheiten. 

Er begann plöglich mit einer zwiefpältigen Paraphraje zu Mamynhas Lebenzjchieal, 
aber er verjchnörfelte alles Beiwerf fo kunftvoll, daß er ein ganz allgemeines Königinnen- 
gejchie darftellen fonnte, denn 8 fpielte natürlich an einem Hof. Dennoch hatte er die Kinder 
erichredt, fie atmeten Faum, fie ftarrten ihn nur verftändniglos an. Aber plöglich lachte Frau 
©ifa laut und befreiend. E3 lang, als ob e3 feines Anlafjes bedurft hätte. E8 war ein byite- 
tiicher Auffchrei, eine Eranfhafte Kasfade, ein Krampf. Fehrbach war beinahe verlegt. Un- 
beritand Fonnte ihn perjönlich verlegen. Er fragte: „Sie finden die Gefchichte amüjant, 
Gnädige?” „Ya,“ lachte fie, „riefig!” Aber ihre Blicde überfielen ihn ungeniert. „Was Gie 
den Kindern für Gejchichten auftiichen ! rief fie, die Beine zu hoch überfchlagend. An ihrem 
een mar eine Ruhelofigfeit, welche zu ihrem Gelächter aber auch zu ihrem gefunden Geficht 


























































Eduard Paul Danzzfy: Mamynha 233 


‚it paßte. Sie rüdte jo nahe an ihn heran, daß er jie jpürte. Sie fagte leife: „Sie jehen 
‚jung aus!” „Warum nicht?” fcherzte er. „Sie fennen da8 Leben“, antwortete fie verfonnen, 
‚täochenhaft. Nun fah er ihre drei Mädchen in ihrem Gejicht. 
- Mamynha erhob fich plöglich. Sie jah durch da3 Zenfter der Veranda, wie nach dem 
"Better. Gie ri einige Flügel auf. Wie wenn fie ungefunde Luft auslüften müßte. Der Regen 
‚atte aufgehört. Sie wendete fich an die Hleine Frau, die noch. immer irgendwie an Fehrbad) 
ing. „Wollen wir ein wenig an die Luft?” In ihrem [chönen Geficht war ein leidender Zug, 
er fie noch fchöner machte. Unerreichharer. Elifa Hängte fich bittend an. „Elifa will auch 
in die Luft!” Sehrbach nahm fie an die Hand. Mifter Woe z0g e3 vor, der armen Königin 
‚nen Balaft zu bauen. Elifa wurde angezogen. Sie war auf ihre winzigen Gallojchen jehr 
‚olz. Zur Sicherheit nahm man Negenmantel und Schirm. Fehrbady mußte Frau Oija 
on feinem Stücd erzählen. Mamynha hatte eine ablichtliche Andeutung gemadt. Gie 
‚Hritt, den Blid zu Boden gerichtet, wie unbeteiligt — nur Elifa8 Händchen warm und feit 
mjchliegend. Gleichwohl mar ihre Erregung grenzenlos. az wollte Fehrbah)? Was half 
ine Ratlofigfeit? Wozu erfand er Märchen, welche fie ganz niederdrüdten, ihm und ihr 
'offnungslofe Dual brachten? Er dachte nur an fie, unaufhörlich, unerbittlich. E3 war jo 
‚ut, daß die anderen diefe Gefchichte mitgehört hatten, daß fie nicht allein war. Ob er e8 
‚ewagt hätte, fie ihr allein zu erzählen? &3 mar nicht auszudenfen, mie ie verjagt hätte. 
‚um mußte fie diefem Kleinen, aufgejchlagenen Weibchenherzen noch dankbar fein, daß jie 
‚solie war ihres Schmerzes, ihrer Unficherheit. 
Die drei Mädchen, welche vorausgejchritten waren, hatten bon jelbjt den Weg nad) Haufe 
‚enommen. Man ftand auf einmal vor der Billa, in welcher die Naus wohnten. Yehrbacdh 
'atte fich fozufagen bereits verabfchiedet. Er [prach nur noch in dem gleichen, [pielenden Ton 
‚die die Heine Frau, tändelnd, aushorchend, gemiffe Möglichkeiten ausfoftend. Als Mamynha 
tachgefommen war, machten die drei Mädchen der Reihe nach ihre Knige. Frau Gija jtellte 
‚et, daß e3 ein fehr intereffanter Nachmittag gemwejen wäre. Frau Lotte müßte ihr Herrn 
on Fehrbad; hie und da zur Verfügung ftellen, fie würde ihn im Tennigfpiel ‚trainieren‘. 
Benn nur das grauenhafte Wetter vorbei wäre! 
 Mamynha und Sehrbac) hatten Elifa je an einer ihrer Heinen Hände gefaßt. Wenn Heine 
Bfüsen kamen, hoben fie die Kleine lachend drüber hinweg. Sie wollte fortwährend ihre 
Sallofchen ausprobieren, ob wirklich Fein Wafjer durchdringen Fönne. 
Sie fchlugen einen herrlichen Weg durch einen Jungwald ein, Der wie ein Zaubengang mar. 
sehrbad) war ganz ruhig, beinahe glüdlich, daß fie allein fo dahinwandern Tonnten. Den- 
‚och brach er das wohltätige Schweigen; obwohl er der Mahnung Rufs gedachte. Er mußte 
mr larheit Haben. Er fagte: „Wie lang hab ich auf diefe Stunde gewartet, Mamyndba !” 
Gie nictte faffungslos. Sie wußte nicht, wie fie feinen Worten hegegnen follte. Sie hatte 
Sehnfucht, ihn anzuhören, hatte Angjt, fich zu verraten, ihm alles zu jagen. Aber er ließ ihr 
ticht Zeit fich zu fafjen. Er fuhr chon mit einer zu warmen, heftigen Eindringlichkeit fort: 
‚Sch habe Shen einmal verjprochen, beinahe gefchworen: Jhre Nähe würde meine Phantajie, 
nein der Schönheit beftimmtes Leben fegnen ohne tieferen Anfpruch an Sie jelbit, Mamynha! 
'Nit feinem Wort, feinem Blic, hab ic) mich Damals zu jchwören vermeijen, würde ic) Shnen 
e läftig werden, Sie beftiirmen, beängftigen. D, mein Vorhaben war damals ebenjo edel- 
nütig als wahrhaft. Heute weiß ich, daß die jeltfamen Verwirrungen, unter welchen ich Sie 
ind mic) leiden fehe, mich wanfend gemacht, umgewandelt haben. Damals waren Gie 
in fo Harer Brunnen, daß Unzählige daraus erlabt werden konnten, heute hat ic) der rührend 
fare Spiegel getrübt, fo daß er Bild um Bild verzerrt zurüdtvirft. Daran muß ich immer 
jenfen; immer an Sie. Wundern Gie fich nicht, daß e3 nicht mehr Die reinen, gebeteten 
Bedanken find, welche man an eine gute Schweiter richtet. Jhrem Glüd wäre ich ehrfürchtig 
mögetwichen, Zhrem Leid muß ich zur Geite fein. Könnte ich Sie weiter al8 das ruhige, 
erne, über dem Leben fehmwebende Seal betrachten, ich fnäre munfchlos, Tönnte ©ie begleiten 














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224 Derdeutjhe&rzähler 1 
Pond 
wie ein Trabant feinen vorherrfchenden Stern. Aber ich jehe Sie eingejponnen in eine 
allzu reale Wirklichkeit, welche meine Zurüdhaltung nicht mehr verdient, welche ie under: 
ftändlich machen würde — auch in Fhren liebenden Augen.“ 

Mamynha unterbrad ihn. hr Herz war ganz zujammengefaltet. Leid A um ihre 
ichönen, geöffneten Lippen. hr Blid war troftlos. „Sch weiß alles, lieber Freund !” fagte 
fie, ihren herrlichen Naden wie dem Henker entgegenbeugend, „Darum müfjen Sie nicht weiter: 
iprechen. Die Vermwirrungen werden nur unerträglicher, unlösbarer. Ya, Sie haben recht, 
alles ift jo furchtbar anders geworden, daß ich Jhnen nun nicht Helfen fann, wie ich e3 einmel 
geträumt habe. Aber vielleicht vermögen Sie mein 2o3 zu mildern, indem Gie edel jind 
und die furchtbare Kluft nicht wahrnehmen.“ 

Er wurde erregter und in Erinnerung an Ruf Gefühlsanatomie unnachgiebiger: „Die 
Kluft nicht wahrnehmen wollen, Mampndha, heißt e8 nicht, unfere Begegnung auslöfchen, deut 
helliten Teil unjereö Lebens nichtig machen, einen peinlichen Srrtum feftitellen? Auf welcher 
Geite, Mamynha?” Sie wehrte mit einer hüllenlofen Verzweiflung ab. Wenn er doch ver? 
jtehen wollte, ohne daß fie es ausjprechen müßte. Aber er fah fie in dem fleinen Ringcafe 
ihr bejonderes Licht ausftrömen, da3 nur er wahrgenommen. Gah fie ihm zulächeln vor 
Anfang her — wie von immer, bon ewig. Er fagte mit einem heimlichen, innigen Ton vi 
der Stimme, ald ob er jie an etwas erinnern müßte: „Mamynha, Sie dürfen mich nicht ab+ 
wehren, ich bin nur ver Vorwand, dejjen Fhr wunderbares Wejen bedarf, um wieder blühen 
zu lönnen; nod) einmal, Mamynha! Wie der zu zarte Baum an feiner Stüße. Ach, unjete 
Liebe ift wie eine Gintagablume. % 

Kun lieg Sie ihn ruhig reden. Die Eindringlichkeit feiner Worte wirkte auf fie wie em 
mohltätiges Gift, entfernte, betäubte. Dennoch jchüttelte fie auf feine fajfungslofen Fragen 
nur ratlos den Kopf, ließ ich nicht überrafchen. Da er fie im drängenden Verlauf feiner 
unglüdlich-ftürmiichen Werbungen mit „Du“ anrief, jagte fie ganz fanft: „Sch laffe Sie all 
das liebe, dumme Zeug zufammenreden. Sie müjjen e3 wohl jagen, e3 erleichtert Sie?’ 
Aber er hielt plöglih an. Schon früher war ein eigenartiger Kampf mit fich jelbft an ihm 
verraten. Kun ließ fein verzüdter Blid beftimmte Befürchtungen zu. Auch fie war jo |hmwad), 
hilflos, im Grunde mwillenlos. Etwas Unmirkliches drohte ihr jegt. Zhr Blut brannte, verriet 
jich. Nein, nicht diefe wahnfinnige Umarmung mit der Züge zwifchen ihnen. Wie eine Kranke, 
welche von ihrem hoffnungslofen Zuftand endgültig unterrichtet worden, faßte fie Elifa, 
nahm fie Jan ihr Herz, damit Kind und Herz fich gegenfeitig fehüsten. Dann begann fie in dem 
gleichen Nichtandersfönnen, welches fie mit dDrohenderem Ausdrud in feinem flammenden 
Blid jah: fie habe fich ihrem Mann Hingegeben. Nicht aus Schwäche und Wolluft, nicht mit 
dem Mitleid eines Reftes von Gemeinjchaft, von gefühlter Angemwiejenheit aufeinander. 
Nur weil er jie Dazu gezwungen. Weil fie jonft den Freund hätte verlieren müffen. Ob er 
e3 denn nicht begriffe? Daß fie eine Gegenleiftung hätte erbringen müfjen. Daß ihr Mann. 
ja der Erhalter, ver Vater der Kinder wäre. Daß jie für die feinen, entlebendigten Freuden, 
welche er ihr gegönnt, dabei jah fie Fehrbac unfagbar wehmütig an, irgendwie bezahlen! 
müßte, mit der einzigen Münze, die bei ihrem Mann noch Kuröwert hätte. Zhr in ein wenig 
Schönheit und liebevolle Erwartung zufammengedrängtes Leben fönne doch nicht ein Almofen 
ihre Mannes fein. Auch hätte er von der Erfüllung diefer furhtbaren Pflicht ihr weiteres 
Bujammenleben abhängig gemacht. Die Entfcheidung aber wäre einigen Minuten der Nacht, 
während man mit überfpannten, erfchöpften Nerven, leidenden Sinnen gegen den Schlaf 
auf der einen, gegen den Efel auf der anderen Seite kämpfte — anheimgeftellt gemwefen. 
Und nun wäre alles vorbei, nun hätte fie auch ihn verloren. 

Sie jprad) ohne Haft, ohne Beflifjenheit: darüber hHinwegzufommen. Sie fprad) mit einer 
leifen, beharrlichen, furchtbar gemeifterten Deutlichfeit. Wie man in entjcheidenden Augen- 
bliden fpricht, weldhe von fchlaflofen Nächten vorbereitet find. Fehrbad) war traurig. Ruf 
Andeutungen hatten diefe Stunde vorausgenommen, obgleich feine Lebensgläubigfeit jich 








Eduard Paul Danzzky: Mamynha 225 








‚dagegen mit allen Kräften noch wehrte. Yon einem tiefen Gefühl verführt, verfuchte er 
auch fie mit dem edlen Pathos diefes Gefühls irrezumachen: 

 „&3 bindet mich nur ftärfer an dich, gütige Frau! Wenn nur ein Teil deines Schmerzes, 
deiner Erniedrigung um meinetmwillen gefchah, Mamynha! Er war der Knecht deines Körpers, 
‚aber deine Seele grüßte mich als ihren Herrn. Deine Seele darf immer zu mir flüchten, 
‚bei Tag und Nacht mir angehören. Sch weiß wohl, daß ich das Opfer nicht fordern darf, 
du mögejt ihn verlajjen und ganz mir anhängen. Nicht aus Furcht, der Prunf des Reichtums 
‚wäre unerjeglich oder |chon die Geborgenheit zu wertvoll. Nein imegen des anderen, was mir 
Mamynha nennen.“ 

Shre Stimme zitterte, eine Träne leuchtete in dem reinen Blau ihres Auges. „Sch danke 
dir, Einziger, Edvardo, daß du mich verftehft. Ja, ich fan ohne die Kinder nicht fein, nicht 
einmal in Gedanten, obgleich fie nur Vorwand find. — Und dann, nicht wahr, ich war jo 
abgejtogen von den anderen, die jich’3 leicht machten, die wie Spagen von überall nahmen, 

‘wo offener Tifch war. Wäre nicht jchredlich, wenn e3 mit mir fo endete, daß ich meinem 
‚Mann davonlief? Sch Habe Angjt vor der Kategorie. Jch fühle, wir hätten ung felbit auf- 
‚gegeben, wenn wir ung in die Kategorie geflüchtet.” 

Sehrbach Hatte fie nie jchöner gefunden al3 in diefer Stunde, in welcher ihr Geift mit jo 
edler Emfigkeit alle Selbftverftändlichfeiten zufammentrug, deren er habhaft werden konnte, 
um ihrem graufamen Schidfal wenigftens einen eingebildeten Sinn zu geben. OD, jeine 
Gedanten, begann Fehrbadh, folgten ihr ja willig, aber feine Wünjche vermöchte er noch nicht 
zu begraben. Er litte wohl mit ihr, fünne indes nicht alle Hoffnung aus feinem Wefjen mit 
jolhem unbarmherzigen Meijer ausjchneiden. Auch müffe er noch immer denken: mas jie 
al Sünde, als eine ihre Gemeinjchaft jchändende Unreinheit betrachte, daß all dies aus- 
getilgt werden fönnte durch eine reine, von der Natur und dem heiligften Gefühl gemollte, 
erlöjende Hingabe. 

Shre immer milder werdenden Züge waren plößlich von flammendem Rot überflojjen. 
Shre Stimme bebte eigentümlich: „Sch bringe nicht Glüd. Vielleicht wäre dann alles vorbei. 
Die Kinder der Welt wollen wilfen und wahrhaben, Teurer, daß die Sehnjucht der Männer 
um jo rafcher erichlaffe, je ftärker ihr Gefühl nach einem verwehrten Biel gejpannt gewejen. 
Haft du nicht jelbft von den beiden nebeneinander wandernden Wolfen gejprochen? Mamain 
hat e3 in erfahrener Güte fo treffend gefunden, daß fie nur nach dem zündenden Bliß ver- 
langten, und daß die Entladung ihrer gigantifchen Spannung nur mehr wunjchlojfe Waffer- 
berge zurüdließe.” 

En jprachen fie weiter, abwechjelnd Elifa auf ihren Arm nehmend, welche die ausdauernde 
Wanderung ander3 nicht bequem gefunden. AB Mamynha zum legtenmal das Kind aus 
jeinen Händen nahm, bededte er ihr ihren Armı mit Küffen, brachte fie nod) einmal zum Glühen. 
Sie jagte: „O mais povre de tudo! Ärmfter!” Aber ihr ratlofer Bli Hatte einen Schimmer 
bon Freude. AS fie zu Haufe anlangten, mitten unter den Frauen, welche wie eine weiße 

Wolfe neben dem Gartengrün fich abhoben, brachten fie über das ganze Haus Frieden, denn 
‚ihre jeltfame, heilige Eintracht war jogleich in allen vervielfältigt. Mamynha jegte beim 
"Souper wieder einmal die Wachglichter auf mit den Heliotropenen Seidenjchirmen. Jr der 
Mitte des Tifches ftand eine Altwiener Blumenfhüffel, in welche man nur Rofen aus Schobers 
Garten gefüllt hatte. Fehrbach mußte den Spender perjönlich Herüberbringen. E3 wurde 
‚ein heiterer, glüclicher Abend, in deffen Verlauf Fehrbach zum erjtenmal auch vor Schober 
‚Die neue Arbeit in endgültiger Faffung vorlag. Erft gegen Mitternacht, alS Fehrbach den alten 
Heren nach Haufe begleitete, geriet fein mühfam bewahrter Friede ind Wanfen. Schober hatte 
"von beendeten Vorbereitungen zur Abreife gejprochen, daß er nach wie vor Fehrbadh ein- 
‚lüde, mitzulommen, daß er feine Einladung diesmal von befferem Glüd gekrönt zu jehen 
"erwarte. Fehrbach hatte eine unheimliche Verlodung gefpürt, aber aud) ein myjtijche3 Ver- 
‚antwortungsgefühl, blikartige Bedenken, bligartige Verfuchungen ja zu jagen. Er fühlte 














226 Derdeutjhet&rzähler 








die Schicffalagabelung. Die beiden te, wie dünne Röhrchen, welche ein Platinfaden durch- 
lief. Welches würde aufleuchten? Er jagte: „est ift e8 um eine Spur unmöglicher gemorden 


al3 damals, lieber Baron, aber auch das Bedauern über den Verzicht ift größer geworden.“ 


Schober fchüttelte ungläubig den Kopf. „Schon wie Gie ‚jet‘ jagen, Ferry Fehrbadh, 
iit eine Offenbarung. Sie find der unheilbarfte Optimift, ven ich in jechzig Sahren erleben 
mußte. Unbelehrbar! Der Troß der Kinder hat manchmal heroische Anmut. it Abjage atı 





da8 Leben und feine Anfechtbarfeiten. it Neugier für die Entwidlung der Dinge nad) der |} 


anderen Geite. Aber bei Erwachjenen, welchen man Sie doc) irgendwie zuzählen muß, 
darf Diefe Spannung nicht ftärfer fein als die Kraft zu den möglichen Konflufionen.“ 
Tehrbach lächelte. „Sie haben mich auf meine mathematische Formel gebracht. Aber 
bermijjen Gie nicht das Fatum? Bis zum Abjchied war er feiner ganz ficher und voll wohl- 
tuender Heiterkeit. Exft ald er die jchlanfe Freundeshand zögernd entgegengeftredt jah, war 


ihm eigenartig zumute, Er jehwankte vor notwendig gefühlten Unbejonnenheiten, den 
Schober war ihm in jenem Augenblid unheimlich nahe; mehr al3 ein Vater; unberftändlich ” 


nahe. Er fragte verlegen: „Seh’ ich Sie noch?” Er wußte feine Anrede, e8 paßte in diefem ') 
Augenblid fein freundlich-fonventionelle8 Wort. Da gab ihn der andere frei. Fehrbad) 
fühlte e3, die Macht über ihn, die fpannende Durchftrömtheit, verlor fich, verflüchtete. Schober "| 


lachte: „Es ift im Grunde niemand ganz zu befehren. Die Javamenfchen leben hier, wenigjtens 


einer, den man dazu machen föünnte, indes die Curopäer, welche hierher paßten, genau an" 


Shre Stelle, Terry, da unten aus einem Fieber ins andere fallen, fich felbjt und das Paradies 
zerjtören. Aber e3 ift fein Austaufch möglich. Na, gute Nacht, Kleiner!” Er fagte den Gruß 


mit einer unfruchtbaren Geduld, welche Fehrbach mit Trauer erfüllte; aber er Füßte ihm nicht 


die Hand, wie er noch kurz vorher fich hatte abringen wollen. Er fchritt grüßend, winfend 

n die herrliche Nacht zurüd... 

sy legten Tage des Juni fahen Bayerbacı in feltfamem Aufruhr. Sn dem Heinen Gebirgs- 
paradie war plößlih an jede Wand ein Menetefel gejchrieben. Der Mord von 

Garajevo! Am 28. war alles von Entjegen gelähmt. Die Vermögenden fühlten fofort die 


Bedrohung, die bedenkliche Erjchütterung ihrer Sicherheit, welche fie bevorrechtet glaubten. 


Sahen auf einmal eine zielbewußte, fanatifche Zerfeßungsfreude am Werk, die auch vor 
den höchften Trägern der Ordnung und Macht nicht innehielt. Man erkannte die Ruhe des 
Bürgers als jchwanfende Funktion der Beziehungen des Erbhaufes zu Freund und Feind, fand 
diefe Beziehungen durch chronische Fehler der Politif überprüft, maß diefen Beziehungen 
franfhaft erhöhte Aufmerkfamfeit bei. Die Frauen fühlten das Grauenvoll-Sinnlofe darin, 
daß die Gefährtin, die Mutter mitgemordet. Die Männer jplirten mehr, vor allem die Offiziers- 


freife. Hier ftanden auch Frauen und Kinder dem Creignis anders gegenüber. Ein feit 


Generationen angefühlter Zufammenhalt mit der Dynaftie brachte eine phantaftifche Be- 
teiligtheit an dem Ganzen. Vernarbte Smpfpufteln brachen plößlich unter Fiebererjchei- 
nungen auf. Die Militärd empfanden in der finnlofen Attade den bejonderen Schimpf, den 
Schlag gegen die Monarchie, die Verhöhnung ihrer Machtmittel, vor allem der Armee. 
Gie fanden fich jelbft hHerausgefordert, perjönlich nicht ernft genommen. Für fie iiberdauerte 
die jhidjalhafte Wendung die Gedrüdtheit der erften Tage. Während die Bourgeoifie ducch 
ihre größere Beweglichkeit auch Über panikartige Weltvorgänge zu entfpannender Ruhe und 
Gemächlichkeit wieder zurücfand, die Erholung und Raft der Sommerfrifche geradezu eifriger 
in Anfpruch nahm, blieben die Dffiziere noch zufammengejchloffen, eröffneten die Clique, 
wurden abweijend, weil ihre perjünliche, anhaltende Erregtheit abjchloß. 

Aber das Leben wurde dennoch programmäßig abgefpielt, wenn auch auf der einen Geite 
mit weniger Behagen. Sport und Spiel wechjelte mit Gefellfchaftsausflügen folange, bis 
das Programm den Lebensinhalt verdrängte und fuliffenartig gegen die Außenwelt abgrenzte. 
Überall marfchierten die weißen Hofen des Militärs, die aufgejchlagenen Hemden der Tennig- 
jpieler, Seide, Wolle und Dohertymäntel. 
















































Eduard Paul Danzziy: Mampynha 227 





I Eine janftere Welle der Tennismanie war auch an die Villa Elifa gebrandet. Man jpielte 0 
‚mm jeden Tag einige Stunden, meift abwechjelnd. Nur Carola fand in ihrer Begabung be- An "1 
\onderen Anreiz, jpielte mit Fremden. Mamynha und Erminia hatten die Gejchiclichkeit 1 
‚anger Gewöhnung. Yehrbacdh fand fich mit Anftand in jede Partie, jtörte die Freude nicht, 
‚herdarb nicht3. In Wirklichkeit a3 er ven Menichen ihre Franfhafte Xebensgier ab, war ver- 
| Kömbert und auch gegen ihr Eonventionelles Gehaben nachfichtig. Seine Hußerungen, obwohl 
\jerausgefordert, fanden feine Echo. Zum erftenmal fam die Beftätigung, daß ihn der männ- 
‚ide Typ irgendwie ablehnte. Zwar mit Bedauern der täufchenden Haltung wegen, auch ne 
‚ihme Verftändnis, wie fein aufrührerifcher Realismus in der Nähe der Zrau Generaldirektor j j! 
\jebeihen Eonnte, aber doch mit der Entjchiedenheit der in ihrer Lebensauffaffung Bedrohten. IT 
' Sn den furchtbarften Zmwiefpalt war Frau Gifa geraten. Sie hatte mit ihm „brillieren‘‘ DL 
| vollen, aber ihre Garde du corps fand ihn ungenießbar. Sie jpielte am Tiebjten mit Offizieren, 4 u 
\heren Sorgen und geiftige Einftellung fie rafch übernommen. Sie überjprang die Tradition, i i 
jegnügte fich mit der Kommißpoefie aus zweiter Hand, baftardifierte ihre brave Bürger- 
| icheit zur Markfetenderin. Wenn fie mit Fehrbad) zufammentraf, errötete fie über ihre 
‚Schwäche für ihn. Er brachte fie gejchict in Verwirrung, wollte fie ehrlicher machen, gemiljer- \ 
naßen der anderen Geite üiberantiworten. Aber fie blieb unentichlojjfen, wollte beide Brüden. 3 
Ram an Sonntagen ihr Mann, blieb fie ängjtlich zu Haufe, da er ein wenig hinfte... h 
\ Die Bluttat von Sarajevo war in der Billa Elifa einjeitig menjchlich bewältigt worden. # 
‚Sehrbach hatte das ftille Grauen mit betont nüchterner Entwirrung des Ereignifjes in ein Hi 
paar Stunden zerjtreut. Er hatte gegen das überjchwengliche Bereden der Fürftenjchidjale 
‚einen gefunden Widermillen: „Man muß fich an feinen Kleinen Lebenskreis halten und ihn 
'zganz zu bemeiftern fuchen. Die übertriebene Beziehung zu den Großen und Herrjchenden 
hringt eine unmahre, von offiziellen Meinungen gebilligte Lebensauffafjung, welche das 
‚wertvolle Einzelgejchie teilweife aufhebt und e3 auch dort in Abhängigkeit hält, oo die Stunde 
Fi diejes größten Opfers gar nicht bedarf. Fürftenhäufer find ganz jelten und nur in elementaren 
Entwidlungsperioden die Verförperungen von Staatzideen, von Nationen. Man muß jic 
gegen Solche Unterfchiebungen mehren. Das tragifche Ende der Herzogin gibt entjchieden 
zu denken, da fie den ungewöhnlichen Aufftieg fo rajch mit dem Leben bezahlt hat. Aber Die 
Geborgenheit ihres früheren Standes gegen die Nähe des Thrones zu taujchen und unter 
‚dem ientimentalen Schimmer der morganatifchen Ehe Falte Pflichten auf fich zu nehmen, 
‚find perfönliche Zebenswagniffe, welche nicht das gejamte bürgerliche Mitleid jo einheitlich 
mobil machen dürfen, daß alle ihre nächften Sorgen zurüditellen und wie beim Verluft der 
nen Mutter oder Gattin Untröftlichkeit entwideln müßten. Man begreift wohl, wenn 
‚die Frau aus dem planvoll benachteiligten Volf über ein folches Ereignis in Tränen aus- 
bricht. E3 find gleichfam latente Tränen, welche vielleicht eines wahrhafteren Anlajjes wegen 
‚fchon lange fällig gemwefen, wobei noch Die unterbewußte Vorauzficht mitjpielt, daß jedes 
Zeid, welches die Großen trifft, gewöhnlich auf den Schultern des Volkes allein anlangt und 
‚laften bleibt. Ganz unverftändlich ift, daß Damen der Bourgeoifie über den Tod der erhöhten 
Frau weinen fonnten. Einer Fürftin, welche lebensfern ohne warme Teilnahme an menjch- \ 
lihen Schiefalen mit ganzem Ohr dem verführerifchen Lied der Macht gelaufcht und mit R 
mittelalterlihem Geift und Belotismus für die Kirche gewirkt. In folden Tränen jehe ich 
nicht die tiefere Ergriffenheit des Weibes, fondern eine allzubewegliche Bhantafie, welche das 
echte Gefühl gleichfam in eine Zmangslage bringt.“ 

Mamynha gab ihm darin teilmweife vecht: „Auch ich fehe das Tragifche einzig darin, daß 
vielleicht eine gute Mutter ihren Kindern entriffen wurde; aber wie unbemerkt werben foldhe 
Kataftrophen täglich im Leben vollzogen, ohne daß Taufenden eine ähnliche verfittete Trauer 
fir die Tote heimlich aufgehalft wird. Diefe Trauer muß im Wefen irgendwie begründet 
fein und darüber weiß man ficher zu wenig. Ob fie gezwungen oder freiwillig auf der Fahıt 

mit dem Gatten beftanden hat? Diefes dem Tode Tropen ift nicht ohne Größe. Man jagt, 











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228 Derdeutjihe Erzähler | 
———————————LLe 


fie feien nicht nur gewarnt, die Möglichkeit eines Überfalles fei ihnen geradezu ald Gemwißheit 
hingejftellt worden.‘ 

Fehrbach lächelte: „Sr Troß fann Größe fein, Mamynha, Heroismus! Wie bei Elifabeth. 
Dacıten Sie nicht an die [chöne, allem entfremdete Frau? Die Kaijerin unbeteiligt an Thron 
und Macht? Das herrliche, eigenmwillige Beto gegen Forderungen der Kafte, gegen Anjprüche 
der Zeit, welche nicht die ihre war? Vielleicht war ihr Tod allgemeiner Berluft, nicht für 
die Untertanen, fondern für die Menjchen.“ 

Fehrbach wußte gleichwohl, daß ihm die Frauen nicht unbedingt Gefolgichaft zu leijten 
vermochten, daß fie nur an ihrer Trauer eine beruhigende Seite finden, dieje Trauer zu dem 
Menichlichen herausgeführt jehen wollten. 

Sm Übrigen wurde dad Leben zu anjchlägigem Gedeihen. Man war mit dem Zuftand 
förmlich abgefunden. Auch die folgende Zeit wurde in der gleichen Gefühlsichwebe erihöpft, 
gemeinfam, aber ohne dringende Forderung aneinander. Man hatte Mut zu längeren Aus 
lügen nad Küb, Maria Schuß und dem Semmering. Schober3 plößliche Abreife brachte 
den Verluft eines geliebten Freundes, den man der unverhofften Zeitereignijfe wegen be- 
onder3 vermißte. Wie Fehrbach in geiftiger war er in mweltlicher Richtung Konglomerat. 
Sn der öfterreichifchen Nafjfe fonfervierter inftinftmäßiger Qu’i vive? nach allen Geiten; 
daher verftändnisvoll für die Eigenheiten und Anfprüche der anderen. Daß die Abreife ohne 
Abichted erfolgt war, ftand mit feinem Charakter in Einklang. Man nahm dazu nicht bejonders 
Stellung. Alle nährten die geheime Hoffnung, fein vorgefchritteneg Alter würde ihn bald 
azurüdfehren Yaffen; wenngleich niemand fich fchmeicheln durfte, einen perjünliden Anlap 
für diefe Rüdfehr ausfindig machen zu fönnen. 

Der Generaldireftor, der nun jeden Sonnabend erjchien, zeigte fich anjpruchsboll-heiter, 
nad) allen Seiten verfühnlich. Die tieferen Sorgen, welche die Zeitereigniffe in dem inter- 
nationalen Gefchäftsmann, dejjen Intereffen hauptjächlich auf dem Balkan lagen, aufwühlen 
mußten, waren jorgfältig eingefapfelt, aber immer greifbar. Er brachte einen jehenswerten 
Borrat an guten Dingen, welche die Frauen auf dem Land nicht zu bejorgen vermochten, 
jtedlte daS ganze Haus mit einer Betriebjamfeit an, welche die organische Verdauung der 
Gegenjäge unterbrach oder beichleunigte, je nach Erfordernis. Die Bewegtheit der Oberfläche 
ließ nirgends auf den Grund jehen. E3 war feltjam, wie eine Gemeinjchaft von Menjchen 
ichon gewandelt fein fonnte, wenn jeder in der wirklichen oder vermeintlichen Richtung feines 
Glüdes lebte. Da der Hausherr Mampyndha in feiner Weife bejaß, hatte ihre Schwärmerei 
da3 Bedrohliche eingebüßt. Die irgendwie verflärte Vertraulichkeit überfah er, da die Form 
peinlich gewahrt war. CGeeliiche Löfungen ftörten ihn nicht. Fehrbach war jcheinbar fein 
Draufgänger und die Ereignijje blieben in vem Gang,den man einigermaßen vorausgejehenhatte. 
Ver waren fie zu dritt auf dem Baumgartnerhaus, im Schneeberggebiet. Mamyndha 

in hellblauem Sportfoftüm aus rohem Leinen, der Generaldirektor und Fehrbad) inüblichen 
Lederhofen. E3 war eine feltfame Erprobung der Nerven, obwohl man nicht an Abgründen 
vorbeifam, welche Gefahr oder Verlodungen bieten konnten. Der Generaldirektor jchritt 
immer hinter ihnen, trieb fie gewiljermaßen vor jich her. Sie waren zu häufig bon Einzel 
Ihönheiten des Gebirges verführt, verloren ji) in jubtiler Betrachtung, waren dem Augen- 
blie Hingegeben. Er drängte zum Ziel, wollte die Raft nad) überwundenem Aufitieg, den 
Überblid von oben, das Totale, Die Ausblide auf Talfluchten, auf fteile Verfchiebungen, 
auf jonneüberglaftes Gejtein waren für ihn Verzögerungen, im übrigen auch zu nüchterne, 
geologische Begebenheiten, mit welchen er bejonderen Überfchwang nicht in gleichem Maße 
vereinbar fand. rgendwie bejtand der Verdacht in ihm, daß die beiden ihm etwas bor- 
machten, daß ihre verjonnene Empfänglichfeit verfappte Sehnjuchht nach einander wäre. 
Aber er bemältigte jolche bligartige Gedanfenverbindungen nicht feindfelig. Er wußte, daß 
die Jugend nicht anders konnte, wenigitens die beiden mit ihrer frankhaften Gefühlsbelaftung. 
©ein Berftändnis erftieg alle Gipfel männlicher Nachficht. Ir feinen Fugen Augen waren 





Br: 


Eduard Paul Danzzky: Mamyndha 229 





Fünitler und Frau Schon verwandt. In ihrem Ausweichen vor beftimmten Forderungen de3 
Lebens, in ihrer Sucht, das Wirkfliche nicht wirklich fehen zu wollen, myjtiiche Zaubereien 
mit allem vorzunehmen, Beritiegenheiten. Aber ihre Fäljchungen waren bereits unentbehr- 
lich. Er geitand ich, daß er ohne die rau nicht leben fünnte. Dhne ihre bezaubernde Anmut, 
ohne den romantischen Hofitaat, mit welchem jte jich und ihn umgeben. Sie hatte das Haus 
zujammengefunden; jedes Zimmer war ihre Schöpfung gemwejen; der gemeinjame Reichtum 
bon ihrem Gejchmad erlejen, ergänzt, verbollfommmet worden. Sein früheres Leben war an 
dem jebt nüchtern gemeijen: Galthauswirtichaft. Er war fremd, geduldet, eingefauft ge- 
weien, während er nun in dem Zauber des eigenen Haufes eine Hundertfältig verjponnene, 
täglich neugejtaltete Welt geoffenbart erhielt. Wohl mußte man ftet3 auf taujend Eigenheiten 
eingehn, immer gefaßt, felbitbewacht und bewußt fein; mußte zu den Unerbittlichfeiten der 
Kinder, die Frau mit inbegriffen, eine edle, hochherzige Miene machen; aber diefe Miene 
machte wirklich edler, generöfer, erhöhte das Lebensbewußtjein. Nur durfte man die Zügel 
nicht au3 der Hand lafjen. Er jah die zwei Menjchen vor fich, jeine Frau und Fehrbach. Shre 
rührende Freundichaft, ihr heimliches Einftehn für einander. Was hieß hier Freundichaft? 
&3 war eine recht unbeftimmte Begriffsfafjung. Ein hHundertdeutiges Wort. Ein mufifalifches 
Wort. Yeder bezog etwas anderes in diejes Wort, in dem irgendwie Begierde und halbes 
Beligen geiftig vollzogen war und noch mehr die Freude an der Bejahung. Freunde waren 
die Menichen, vor denen man immer recht hatte; auch wenn fie gerade von Freundichaft ver- 
anlaßt waren, uns unrecht zu geben. &3 gejchah dann mit einem erhebenden Appell an 
unfer eigentliches, gerechteres Wefen, an unjere wahrhafte Geljinnung. Er lächelte vor jich 
din. Sn joldem Sinn waren fie alle drei Freunde. Und dennoc) das irgendwie Geheßte in 
ihrem Blid, in ihren harmlojen Worten, in ihrer fpielenden, verdünnten Heiterkeit. Wenn 
fie zurüdjahen, war nicht Befremden in ihren Zügen, daß er da war und fie nicht aus ven 
Augen lie? Vielleicht auch die Hoffnung, ihn am Weg zu verlieren? Waren ihre wahren, 
beritedtten Gedanken nicht ergebene Anliegen an Gott, an das Schidjal? Ya, fol) ein Über- 
einfommen mit Gott wäre ein wunderbarer Ausweg! Nur hatte er jcheinbar nicht Luft, 
mitzumirfen, der Gott feiner Väter, dad mußte man ihnen irgendwie fchonend beibringen. 
Aber „Treunde” waren doch auch Menichen, vor denen man nicht auf der Hut jein mußte, 
Schmeerbottiche für die fauberen Ablagerungen gejtauten Gefühles. Nein, er tat ihnen jicher 
unrecht, den zwei Sindern. &3 war nur in gewiljem Grad unerträglich, daß man ji ein 
langes Leben hindurch plagen mußte, er näherte jich doch dem Fünfzigiten troß jeiner Fünf- 
undbierzig, um dann mit folchden Kindern Nachlicht üben zu müfjen. Daß die Frau nicht 
tafheren Schritt hielt. Hatte fich denn an dem PVerhältnijje irgend etwas geändert? Wie 
zum Scherz, ob der andere mehr wußte, rief er nad) vorne: „Sagen Sie, Herr von Fehrbad), 
wie fomımt diefer verdammte Hiatus zuftande? Zwei Alter bewegen fich von einem Lebens- 
punft gemeinfam durch ein Jahrzehnt, durch zwei Jahrzehnte hindurdh. Man heiratet zum 
Beilpiel eine zwanzigjährige Frau und ift jelbit jchon vierzig. Man lebt zehn oder zwanzig 
Sabre ganz annehmbar, aber auf einmal ftimmt die Sache nicht mehr. Man ift in den Augen 
der Frau auf einmal um zwanzig Jahre älter, zu alt geworden! Das Verhältnis ijt Doch 
dasjelbe geblieben?" 
 Fehrbach) war aus unklaren Träumereien gejcheucht. Er hatte mit Mambnha über bie 
Liebe zwifchen leiblichen Gefchwiftern gefprochen. Nun mußte er zu jolcher verfänglichen 
Stage Stellung nehmen. Er befam feine Zeit für den heiteren Ausweg aus diejer Bivang3- 
lage. Er rief mit einem um rajchen Kontakt bemühten Lächeln: „Die zwanzig Jahre, um 
welche man zuerft fchon älter gewejen, verehrter Herr Generaldirektor, die werden eben exit 
ipäter dazugefchlagen. Während der jchönen Jahre der Übereinftimmung, des Sichgenügens 
ift vielleicht Fein Anlaß geboten; aber einmal muß dieje Richtigftellung vollzogen werden.” 
Mamynha war ftehen geblieben. „Eine wahrhafte Frau wird diefe NRichtigitellung nie 
‚ohne Grund vollziehen”, fagte fie mit freundlicher Beftimmtheit, aber von einer eindring- 




















230 Derdeutjihe Erzähler 
—— Lee 
lichen Röte übergoffen; von der man nicht mußte, ob fie auß dem Blut gejtiegen oder ob Die 
feurige Sonne fie an ihre Haut gezaubert. Der Generaldirektor fniff ihr die rofigen Baden; 
„Was man nur hören wollte, Tottchen”, jagte er weich. 
Mamynha drang dennoch in Fehrbach, das frühere Gejpräcd fortzujegen. Sie fragte:” 
„Aber, wie erflären Sie das bisweilen furdhtbare Gefühl der Vereinfamung und Entfreme! 
dung? Die Möglichkeit: daß neue, blutferne Menjchen einem um jo viel näher gelangen 
fönnen? AB Schweftern und Brüder, welche doch irgendwie von eben dort herfommen 
mögen, wie wir? Mit ähnlicher Anlage, ähnlicher Borausfegung in Wejen und Blut?” 
Der Generaldirektor war fehr gefpannt. Er fchob fich, wo e3 anging, zwijchen die beiden, 
Fehrbach war vorfichtig. Sein Wiffen, fein bloßes Ahnung3vermögen hatte nicht die Ein 
dringlichfeit de3 grüblerifhen Bedenfens, feine Entvedungen waren ganz der Stimmung 
anheimgegeben, der Beziehungsmöglichfeit, welche er vorfand; ob fein Taften auf Fläche 
oder Spite geriet. Danad) wandelte fich die Fähigkeit, den richtigen Ausdrud zu finden, 
beftimmte fich wie von felbft die Form. Er fagte: „Man könnte die Wifjenjchaft zu Rat ziehen 
und unzählige Verbindungsmöglichkeiten anführen zmwifchen den männlichen und meiblichen 
Wefenheitäträgern; aber vielleicht gibt nur ein Gleichni3 erleuchtenden Aufihlupß. Man 
muß an Sefus denken, deifen Leben alles ausdrücdt, wa8 den ringenden Menjchen bejchäftigt 
Bon feiner Einfamfeit ift in allen Seelen ein Teil, welche durch eine dee, durch eine Ber 
gabung oder Berufung im Kampf, im Zwiefpalt mit ihrer Ummelt ftehen. Au) das Leben 
ann eine Spee fein, unfer bloße Dafein. Denken Sie den Menjhhenjohn, wie er jich allen 
zum Troft genannt, in der beflemmenden Enge de3 Proletenhäuschens von Nazareth. Er ift 
müde zurüdgefehrt von feinem heiligen Tagmwerf. In der Werfftätte leimend, hobelnd der 
Zimmermann, Miriam, die Mutter, mit häwßlichen Dingen bejchäftigt. Die Brüder: eins 
und Sofes empfangen den Schwärmer mit mißtrauender Scheu, welche den Andersgearteten 
icheelfüchtig belauert. Auf feine Grüße jchweigen fie beharrlich. Sie jpüren das Gnadenvolle 
feiner Worte, den Segen de3 Wohllautes feiner Seele wie einen Schimpf, denn auch Güte 
hebt Gleichheit auf, trennt ohne Abficht und Willen. Da auc) er jchweigt, erleuchtet von taufend 
Bildern, wird Sofes erbittert. ‚Und melcher ift alfo dein Bater, Zejus? Fühlit du nicht, 
daß du dein Blut fymähft und Hofef, den Vater, welchen fie den Zimmermann nennen?” 
Sefus ift wehrlos. Er fragt ftaunend: ‚Wo ift der Vater, Zofes?‘ Zofes eifert: ‚Wärft durreich, 
du mwüßteft, wo der Vater ift!‘ Darauf Sefus: ‚Sn mir ift der Vater, liebe Brüder!' ‚Daß 
du uns Brüder nennft,‘ entgegnet Sofes, ‚ift noch gnädig; aber [händeft du nicht au) Miriam, 
die Mutter, indem du von fremdem Vater fprichft, von feiner Macht Shmwärmft?‘ Und Zejus: 
‚sc jage Euch, mein Neich ift nicht von diefer Welt. Und ob Shr meine Brüder jeid oder 
Euch nur fo nennet, weiß ich nicht. Denn ift nicht der Vater in Euch, wie fönntet Shr als 
meine Brüder gelten? E3 fann die Stunde fommen, Zofes, in welcher Jhr mir jo fern jeid, 
du und Sefiaz, fo fern, al3 ob ich Euch niemal3 gefannt und gejehn! Sagte ich nicht, mein 
Neich fei anderer Art?‘ Hofes ift ihm fchon fern. Seine feuchten Hände zerhaden die Luft, 
al3 müßten fie die gemeinfame Atmofphäre irgendwie [palten; feine ©ebärde it tief ver« 
ächtlih. ‚Dein Kopf ift wire. &3 ift die Ausgeburt alberner Träume, in welche deine Seele 
verjtrict ift, vu Narr, du! Nun Spricht auch Jefiad, welcher den feltfamen Glanz in Sejut 
Augen gewahr wird: ‚Sei nicht fo hart mit ihm, Kofeg! Denn er ift frank und liebedürftig.* 
Aber Fofez ift unverföhnlich. ‚Was, Hilft er nicht dem Vater, wie wir? Scheint ihm indes 
unjer Handwerk zu gering und zimmerdumpf, was geht er nicht an den See, Nege zu binden, 
vielleicht auch Filche zu fangen und ihr Gedärm auszumeiden? Gelbit im Tempel mag er 
unter den Rabbis figen, ihre Gelehrfamteit teilen oder fie unterweijen, wenn er jo Hug ift.‘ 
Aus Yefus Spricht der fiebernde Geift: ‚Sch aber fage Euch, das neue Reich hebt an!‘ Die 
Brüder lachen jchrill... .“ 








(Fortjegung folgt.) 





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Neuerjcheinungen 231 


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Keuerfheinungen 


s er Berlag Dtto Duigom in Lülbed Tegt drei Reifebücher vor, die äußerlich Durch Gediegen- 
| heit von Drud und Ausstattung, innerlich durch die nicht alltäglichen Reijeziele etwas Ge- 
meinfames haben. Das erite ftammt von Wilhelm Prinz von Schweden und it be- 
itelt „Zwilchen zwei Kontinenten“. Die 1920 unternommene Reife hatte al3 Haupt- 
‚ziel das in Yucatan gelegene Auinenneft Tuloom, fodann füdlich Duirigna und Guatemala. 
Einen beinahe wigigen Gegenfaß zu der Schilderung der uralten Mayakultur bildet diejenige 
der guatemaliihen Nebolution, deren Zeugen die Teilnehmer an der. Erpedition waren. 
Nachdem Mittelamerika neben Südamerika in den Vordergrund unferes Interefjes gerüdt 
ift, wird das Buch viele Lefer finden. E3 ift fachlich und anregend, man erfährt daraus Neues. 
Unmittelbar daran fchließt fich der Band von Frib Klute: „Argentinien und Chile von 
heute. Land, Volk und Kultur“. Die Reife führte von Pernambuco— Rio Santos über 
Buenos Aires nach Nordpatagonien, durch den argentinischen Nationalpark des Gübdenz, 
über die Kordilleren nad) Santiago und Valparaifo, zu Schiff nad Antofagafta, in die 
modernen Kupferbergmwerfe und die alten Siedelungen in der Atacama-Wüfte und in das 
Galpeterland Taltal. Das dritte Reifebuhh „Unter dem Gluthimmel der Tropen” 
präjentiert fich eigenartig in Südfeebaft gebunden; fein Verfafjer ift der erfolgreiche [chmedifche 
Romandichter Sigfrid Siwer. Die Reife ging bon London nad) New-York, San Fran- 
zisfo, Honolulu, Auftralien, Java, Sumatra. Das Unternehmen mar injofern das inte- 
tejfantefte, al3 auf den Fidfcht-Infeln, in Neu-Süd-Wales und auf Sumatra Hauptzwed 
das Filmen war. Man lernt ein verhältnismäßig wenig europäifiertes Zeben fennen mit 
allerlei malerifhen Bräuchen. Simwerb fchreibt von den dreien am literarifcheften, wenn man 
auch nicht gerade auf den Gedanken fäme, daß e3 der Verfaffer der „Seelamb$“ ift, von Dem 
diefe tropifchen Feuilletonz ftammen. Bon Südamerifa geht auh Paul Rohrbady aus, 
deifen „Amerifa und mir“, wie die genannten Werke reich illuftriert, bei Buchenau. & 
Reichert in Berlin erfchien. Er hat darin auch Teile feines vergriffenen „Weltpolitifchen 
WanderbuchE” aufgenommen, und gibt eine Zufammenfaffung feiner vier Amerifareijen un- 
mittelbar vor und nad) dem Kriege. Er behandelt zunächjt Brafilien, die La Plata-Länder, 
Paraguay, Chile, Peru und Bolivia; fodann Mexiko, zum Schluffe Kanada, Yojemite, den 
großen Canyon, die Mormonen, da3 gefellfchaftliche, wilfenfchaftliche, familiäre Leben, den 
Trodenlegungshumbug, an welchem Gefete die Sprit-Schleichhändler am meiften interejjiert 
find, die Automobil, kultur“, die Einwandererfrage ufw. Er fpricht befonders auch von den 
deutschen Problemen in Amerika, in diefer Beziehung ftehen wir erft am Anfange. Wir 
müffen jede Möglichkeit ausnugen. Dazu gehört jedoch freilich, daß wir nicht, wie jo manche3- 
mal, dvenfbar unfähige Vertreter des Reichs ‚hinüberjchiden. 


Die Deutfhe Bud-Gemeinjhaft hat „Spanische Wanderungen” herausgebracht, bon 
Hanz Rofelieb, vem befannten Erzähler, mit einer Einleitung von Profefjor Helmolt: jeit dem 
Heinen, aber gewichtigen Bande von Zofef Bernhart (Kunftwart-Bücherei Bd. 18) wohl das 
Beite über Spanien. An 25 Kapiteln führt Rofelieb durd) das ganze Land mit all jeinen 
außerordentlichen Himatifchen, landfchaftlichen und provinziellen Verfchiedenheiten. Ein Band, 

‚deifen Anjichaffung auch den Büchereien unferer höheren Schulen ans Herz gelegt jei. Die 
Bunahme der Literatur über Spanien ift ein Zeichen für die allmähliche Abmwendung des 
fapitalftäftigen Reifepublifumg von Stalien; ein Vorgang, der fich Tangjam, aber mit Natur- 
notwendigfeit vollzieht. Wer eine fpanifche Reife plant, wird an Rofelieb einen ebenjo an- 
tegenden wie fundigen Führer finden. 


Heinrich Wölffling „Renaiffance und Barod”, feit Jahren im Buchhandel ichmerzlich 
bermißt, ift endlich, durch einen umfangreichen Kommentar vermehrt, bei Brudmann wieder 
erfchienen (geb. 15 M.). Über diefez grundlegende Werk ift nicht mehr zu jagen. Wer e3 Tennt, 


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232 Neuerjheinungen 
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riebt e3 von allen Büchern Wölfflins am meiften. In feinem fpürt man ihn fo perfönlich, fühl 
sich ihm jo nah. 

gu den „Wegen zu Jean Paul“, über die ich neulich fchrieb, gehört auch Walthe: 
Harichs vorzügliche Biographie, von den Erfcheinungen über den Dichter im Bentenarjahr: 
feines Zode3 wohl diejenige Die am geeignetiten ift, in feine äußere Biographie und inner: 
Welt einzuführen (Leipzig, Häffel, brojch. M. 15, Halbleinen M. 18,50). Das Werf ist nicht in 
dem frampfigen Stil gejchrieben, der das Lefen zahlreicher Bücher unferer Zeit zu einer Dun 
macht. Harich zeigt, Dak man recht wohl in die Tiefe gehen fann, ohne unverjtändlich zu 
werden. Wenn nicht alle Zeichen trügen, fteht Jean Paul ung heute näher denn die Yahrzehnte 
borher. Wir verjuchen, durch das zeitlich Bedingte und abfichtsvoll Schrullenhafte zu Jearı 
Paul, Dem erwigen Deutjchen, vorzudringen. Dabei leiftet ung dag Ichöne, Elare und bei alleı 
Begeilterung Eritiiche Werk Harich3 wertvolle Führerdienfte. 


Anton Bettelheims lang erwartete Buch über Balzac ift bei Bed erfchienen (480 ©. 
FUbd., geh. 14M., Ganzleinen 1EM.): Inhalt: Einleitung. BWerdezeit. Eritlinge. Freundin- 
nen. Die Anfänge der Menfchlichen Komödie. In Wien und in Stalien. Die Sjliade der Korrup- 
tion. Phantafien und Phantaftereien. Der Aufbau der Menfchlichen Komödie. Eva. Heirat 
und Ende. Die Nachfolge Balzacd. Namenverzeichnis. Quellen und Anmerkungen. — & 
wird wohl auf lange Zeit hindurch das Buch über Balzac bleiben. Keine der bisherigen Ver- 
öffentlihungen bringt foviel Tatfächliches, Feine beherrfcht den faft unüberfehbaren Stoff fo 
meijterhaft. Welche Arbeit, und zugleich welche Kunft fteet nur in den zahlreichen Jnhalts- 
angaben! &3 ift nämlich viel fchwerer, Inhaltsangaben zu machen, aus denen der Xejer etwas 
Politives erfährt, als ihn mit feierlichen Sprüchen zu hloroformieren, was fich zurzeit in 
Deutjchland eine „Schau“ heißt, wobei unfereiner unmillfürlic an den alten Barnum und 
jeine greatest show denft. Dieje fubftanzhafte Biographie Balzacz ijt ein Stüd Arbeit erften 
Ranges. Je genauer man das — übrigens auch vorzüglich Har gejchriebene — Werk fennen 
lernt, dejto mehr bewundert man die Energie, mit der Bettelheim fein widerborftiges Unter- 
nehmen durchführt, in ihrer Art ebenfalls eine Balzacfche Leijtung. Und je mehr Balzac gelejen 
wird, defto mehr Lefer werden das Bedürfnis fühlen, jih über den Schöpfer der Menjchlichen 
Komödie zu unterrichten, fein Leben, feine Arbeitöweije, feine Werke, über die Zufammen- 
hänge; da3 alle3 finden fie bei Bettelheim mit einer Genauigkeit, Überfichtlichfeit und, danf 
den jorgfältigen Regiftern, einer Zeichtigfeit, die nicht zu übertreffen find. Für die nächfte Auf- 
lage würde ich vorfchlagen, im Regifter Leben und Werke zu trennen, und die Titel franzöfiich 
und deutjch zu geben, außerdem 5. B. die ©. 117ff. behandelten Werke einzeln anzuführen. 
Bon bemerkenswerten Urteilen önnte das von H. St. Chamberlain (in „Lebenswege meines 
Denkens") nachgetragen werden. 


Leon Kellner, Reftoring Shafefpeare. Das urjprünglich in England erfchienene: 
Merk des ehemaligen Czernomwißer Univerfitätprofeffors ift eine Fritifche Analyfe der zahliofen 
falihen Lesarten aller Iandläufigen Shafejpeare-Ausgaben. Nachzumeifen, daß der Shafe- 
jpearejche Text von Berderbniffen ftroßt, war niemand berufener als der Schöpfer des gleich- 
fall3 bei Tauchniß erfchienenen Shafejpeare-Wörterbuchd. Ymmer nod) find Hunderte von 
Stellen unerklärt oder falfch erklärt. Kellner geht von einem Gedanken aus, der nicht anders 
denn als Ei des Kolumbus bezeichnet werden muß, nämlich daß dunkle Wörter, wenn anzlı- 
nehmen ift, daß der Tert verdorben fei, in die Elifabethanifche Schreibfchrift zurüdzuübertragen 
und bon da aus exit neue Vermutungen möglich find. Er fommt auf diefe Weife zu über- 
tajchenden Ergebniffen. Ein Regifter unterrichtet darüber. Kein Shafefpeare-Erklärer Fann 
an biejem Buche vorüber. (Tauchnik, Leipzig, geh. M. 6.) 


Rojenheim. Sojef Hofmiller. 
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, Redaktionell abgeschlossen am 23. Mai 1926 
Verantwortlicher Herausgeber: Paul Nikolaus Coßmann in München — Druck- und Buchbinderarbeiten: 
R. Oldenbourg, München. — Papier: Bohnenberger & Cie., Niefern bei Pforzheim. 

















Zur Entwicklung des Bolschewismus 
Von AlexanderElfenbein in Münden 


u den folgenschwersten Umwälzungen der Kriegs- und Nachkriegszeit gehört die 
Verschiebung in den internationalen Absatzmärkten. Deutschland hat darunter 


| besonders zu leiden, weil die rein wirtschaftlichen Veränderungen durch politische 
" Sperrmaßnahmen noch verschärft worden sind. Die neue wirtschaftliche Lage ist 
‚dadurch gekennzeichnet, daß wir zwar mehr arbeiten müssen als früher, daß aber 


die Erzeugnisse unserer Arbeit nur noch auf einem bedeutend verkleinerten Markt, 
und auch dort nur mit Schwierigkeiten, Aufnahme finden. Hervorgerufen ist diese Lage 


; inder Hauptsache dadurch, daßeine Reihe überseeischer Länder, vor allem die Vereinig- 


ten Staaten von Amerika, dann aber auch europäische Länder in den Kriegsjahren 


‚ eigene Industrien ins Leben gerufen hatten, die unter dem Schutz einer protektio- 


nistischen Politik die früher von uns bezogenen Waren selbst herstellten. 

Diese Tatsache, neben der allerdings noch andere Faktoren mitwirken, bildet den 
Ausgangspunkt der deutschen Wirtschaftskrise. Sie ist von unseren Industriellen 
längst erkannt, und alle Maßnahmen, die wir unter der Gesamtbezeichnung ‚‚Ratio- 


'nalisierung‘‘ zusammenfassen, sind nur der Versuch, unsere Ausfuhr aus dem erdrük- 


kenden Ring wirtschaftlicher und ‚politischer Sperrmaßnahmen herauszureißen. 


"Zur Erreichung dieses Zieles hat unsere Industrie eine Umstellung größten Stiles 
; vorgenommen, die noch bei weitem nicht beendet ist, und die darauf hinausläuft, 


durch Verbilligung der Produktion die fremden Märkte wiederzugewinnen und neue 


; zu erschließen. Es ist eine Art wirtschaftlicher Unterseebootskrieg, den wir führen 


müssen, um unter den Zollschranken und anderen Einfuhrerschwerungen hindurch 
in das feindliche Wirtschaftsgebiet vorzudringen. Daß dabei eine wirksamere Han- 
delspolitik, als wir sie bisher verzeichnen, mithelfen muß, sei nur nebenher bemerkt. 

Aber außer den Maßnahmen auf technischem und wirtschaftspolitischem Gebiet 
kommt noch ein Faktor in Betracht, der nicht aufmerksam genug im Auge behalten 
zu werden verdient. Wir stehen in unseren natürlichen und geschichtlichen Absatz- 
gebieten nicht nur neuen Industrien, sondern auch neuen Menschen und Ideen gegen- 
über. In großen Teilen der Welt, die früher ein wirtschaftliches, politisches und 
kulturelles Abhängigkeitsverhältnis von Europa als gegebene Tatsache ansahen, kön- 
nen wir eine immer wachsende Abwehrstellung gegen europäische Einflüsse und euro- 


päisches Übergewicht wahrnehmen. „Asien den Asiaten‘ lautet eines jener Schlag- 


worte, die uns das Erwachen von Völkern ankündigen, die bisher westeuropäischem 
Einflusse unterstanden, sich heute aber zu einer Front gegen Westeuropa zusammen- 
zuschließen versuchen. Zahlreich und verschieden sind die Unterabteilungen, in der 
diese Abwehr gegen Europa auftritt. In Indien sehen wir die Bestrebungen nach grö- 
ßerer politischer Selbständigkeit Hand in Hand gehen mit einer zielbewußten 
Industrialisierung dieses ursprünglich agrarisch eingestellten Landes. In China ist 
der Ausgang des erbitterten Kampfes der militärischen Führer untereinander noch 
nicht zu übersehen. Aber deutlich hebt sich auf dem Hintergrund des Bürgerkrieges 
der Wille zur Abschüttelung des europäischen Einflusses und zur Erlangung wirt- 
schaftlicher und finanzieller Unabhängigkeit ab (Zollautonomie). Auch in Zentral- 
asien können wir nationale Selbständigkeitsbestrebungen wahrnehmen, wenn auch 
in viel schwächerer Ausstrahlung. So in Afghanistan, wo nach Berichten von Reisen- 
den und Forschern die ersten Anzeichen eines erwachenden Volksbewußtseins in der 
Abwehr englischer und russischer Einflüsse sich bemerkbar machen. Ist es auch ver- 
früht, heute schon von einer panasiatischen Interessengemeinschaft zu reden, So 
dürfen doch auch die dahin führenden ersten Schritte nicht unterschätzt werden, 
zumal auchin Afrika gleichartige Bewegungenhervortreten. Der Rifkampf zeigt uns die 
Kraft dieser antieuropäischen Front auch gegen Militärstaaten wie Frankreich 
Entwicklung des Bolschewismus (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 10) 16 


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234 Entwicklung des Bolschewismus 


und Spanien. In Arabien hat der Ruf „Hedschas den Hedschaern“ in Ibn Saud 
einen kraftvollen Führer gefunden, der durch eine Personalunion mit dem Lande 
der Wahabiten den panarabischen Gedanken der Verwirklichung näherzubringen 
sucht. Eine Zusammenfassung der islamitischen Welt Afrikas stößt zwar auf das 
große Hemmnis innerer Spaltungen, die in religiösen Gegensätzen ihre Ursache haben, 
muß aber immerhin unter die Zukunftsmöglichkeiten eingestellt werden. Erinnern 
wir uns weiter, daß nach amerikanischen Zeitungsmeldungen wieder ein Weltkongreß 
der Negervölker geplant ist, auf dem die schwarze Welt für ihre bürgerliche Gleich- 
berechtigung den Kampf führen will), so sehen wir, daß rund um Europa ganz neue 
politische Ideen wach geworden sind. 


nter diesen Ideen, die sich heute gegen die westeuropäische Kultur richten, 
Ü) steht der Bolschewismus unstreitig obenan, denn er Kann außer auf eine neun- 
jährige Geschichte auch auf ein Herrschaftsgebiet verweisen, das nicht nur den ge- 
samten Osten Europas umfaßt, sondern darüber hinaus durch eine zielbewußte Propa- 
ganda auf alle Völkerschaften Asiens Einfluß zu gewinnen sucht. Das ist eine Tatsache, 
an der wir nicht vorbeikommen, obwohl alle, die als Kenner russischer Verhältnisse 
gelten oder sich dafür ausgeben, dem Bolschewismus nur kurze Lebensdauer zu- 
sprachen, wozu sie nach westeuropäischen Begriffen auch gewiß berechtigt waren. 
Es ist deshalb wichtig, sich über die Ursachen klar zu werden, die dem Bolschewis- 
mus eine so lange Lebensdauer und eine so gewaltige Ausdehnung sicherten, obwohl 
noch nichts von den verheißenen glücklichen Zuständen eingetreten ist. 

Man hat die Tatsache, daß ein Hundertmillionenvolk sich einem blutigen Terror 
anscheinend widerstandslos fügt, daraus erklären wollen, daß ja dasselbe Volk zwei 
Jahrhunderte auch das Tatarenjoch in stiller Duldung getragen hat, und daß der 
geistige Terror, den die Selbstherrschaft der Romanows drei Jahrhunderte übe; Ruß- 
land verhängte, den an sich weichen slavischen Charakter des russischen Volkes zu 
völliger Widerstandsunfähigkeit herabdrückte. Das sind Faktoren, die dem mit 
brutalster Gewalt eingeführten Bolschewismus psychologisch die Wege geebnet ha- 
ben; aber zur Erklärung seiner zähen Lebenskraft reichen sie-nicht aus. Man darf 
auch den Druck, den die gegenwärtigen Moskauer Gewalthaber ausüben, nicht mit 
jenem des Tatarenjochs vergleichen. Denn der Mongolen-Chan beschränkte sich 
darauf, einen demütigenden Jahrestribut zu erheben, ohne sich in die inneren Ange- 
legenheiten des Landes viel einzumischen. Und schließlich bedurfte es auch nur eines 
kräftigen Führers, wie es Johann III. war (1462—1505), um die politische Selbständig- 
keit des Landes wieder herzustellen. 

Man muß schon tiefer auf russische Verhältnisse eingehen, um Verständnis für 
den Boden zu gewinnen, auf dem sich der Bolschewismus aufgebaut hat und von dem 
aus seine Führer heute noch hoffen, die große Weltrevolution zustande zu bringen. 
In der Entwicklung Rußlands fehlt ein Glied, das in der Geschichte westeuropäischer 
Länder, und besonders Deutschlands, einen festen Wall gegen bolschewistische und 
kommunistische Experimente bildete — das Bürgertum. Das deutsche, aus dem 
mittelalterlichen Zunftwesen hervorgegangene und in der Schule einer jahrhunderte- 
langen Selbstverwaltung groß gewordene Bürgertum verkörpert eine stahlharte 
Überlieferung, die den Bolschewismus nicht nur grundsätzlich ablehnt, sondern auch 
stark genug ist, sich seiner Herrschaft zu widersetzen. Diese Überlieferung lebt nicht 
nur in den Schichten, die wir als „Mittelstand“ bezeichnen, sondern weit nach rechts 
und links darüber hinaus. Ja, selbst eine politische Partei, die, wie die Sozialdemo- 
kratie, den bürgerlichen Staat grundsätzlich bekämpft, besitzt doch einen so starken 
bürgerlichen Einschlag, daß sie die Moskauer III. Internationale und das ganze 
revolutionäre Völkerbeglückungssystem Leninscher Richtung schroff ablehnt. 

Ein solches Bürgertum gibt es in Rußland nicht und das ist der stärkste Grund für 
die einzig dastehende Tatsache, daß hundert Millionen Menschen jetzt bald ein 


1) Über die Anfänge dieser Bewegung vgl. den Aufsatz von Arthur Hübscher, Der 
Kampf um Marokko, Novemberheft 1925 der S. M. „Die Verständigung mit England‘, 















Alexander Elfenbein: Zur Entwicklung des Bolschewismus 235 








Jahrzehnt sich vor dem blutigen Terror einer kleinen Gruppe beugen. Es fehlt in 
Rußland jene soziale Schicht, die in jahrhundertelanger Arbeit einen materiellen und 
‚politischen Besitzstand erworben hätte, den sie unter keinen Umständen preiszu- 
geben bereit wäre. In diese große Lücke der gesellschaftlichen Entwicklung ist der Bol- 
'schewismus eingedrungen ohneGegendruck zuempfinden. DaserklärtseinelangeDauer, 


ie absolute Monarchie ist in Rußland nicht die älteste Staatsform. Ihr ist eine 

lange Periode vorangegangen, die den Anschein erwecken konnte, alsob im großen 
sarmatischen Tiefland sich eine ähnliche Entwicklung vollziehen würde, wie etwa im 
deutschen Süden, wo fürstlicher, städtischer und bäuerlicher Besitz die Grundlage für 
eine reichgegliederte Form staatlichen Lebens wurden. Neben den zahlreichen Teil- 
fürstentümern, die den früheren deutschen Kleinstaaten entsprechen, finden wir auch 
in Rußland bis in das 15. Jahrhundert hinein die Ansätze zur Bildung eines freien 
städtischen Bürgertums. Wie im Deutschen Reich die Lehnsherren dem Kaiser- 
tum gegenüber ihre Selbständigkeit zu wahren wußten, so schränkten in Ruß- 
land die Bojarengeschlechter auch die zarische Macht ein. Erst im 15. Jahrhun- 
dert erfuhr diese politische Schichtung einen Wandel. Johann III. hatte die Ab- 
hängigkeit vom Tatarenjoch beseitigt. Dieser große staatspolitische Erfolg wurde 
der Ausgangspunkt für eine innerpolitische Umgestaltung, die Johann III. 
und seine Nachfolger, vor allem Johann IV., der Schreckliche, mit größter Tatkraft 
 durchführten. Es handelte sich darum, das bisher wesentlich auf föderalistischer 
Grundlage aufgebaute Rußland in eine zentralistische Bureaukratie umzuwandeln, 
und zwar mit einer dominierenden Machtstellung (Moskaus). Erstmals erscheint im 
15. Jahrhundert der Titel „Selbstherrscher‘ für die Moskauer Zaren. Die Macht- 
vollkommenheit, die dieser byzantinischen Vorbildern entlehnte Titel ausdrückt, 
wird innerpolitisch allerdings erst allmählich verwirklicht. Aber von Anfang an 
bedeutet die Selbstherrschaft eine Kampfansage an alle Gewalten, die der absoluten 
Monarchie noch entgegenstanden. Die Beschränkung der Bojarenmacht, die Be- 
seitigung ständischer Rechte und die Niederwerfung des freien Bürgertums in den 
Städten bildeten die Etappen einer mit Blut geschriebenen Politik, die in anderthalb 
Jahrhunderten alle mit dem Zarentum wetteifernden Gewalten niederrang. Die 
„selbstherrschaft‘ erstickte die bürgerliche Gesellschaft in Rußland zu derselben 
Zeit im Keime, wo sie in Westeuropa bereits zu hoher Macht gelangt war. 


Seine Vollendung hat das autokratische System allerdings erst unter Peter d. Gr. 
gefunden. Das Werk dieses Herrschers gipfelte in der völligen Vernichtung 
des altrussischen Lebens in seiner geheiligten Überlieferung, seiner natürlichen 
Entwicklung und seinen staatspolitischen Formen. Auf den in seinen Tiefen 
erschütterten Rumpf wurde dann in größter Eilfertigkeit ein Überbau gesetzt, der 
dem russischen Leben völlig wesensfremd war, nämlich der ganze äußere Apparat 
absolutistischer Staatsmaschinerie, wie man ihn im westlichen Europa zu Anfang 
des 18. Jahrhunderts vorfand. Die Geschichte preist Peter d. Gr. ob dieser Tat als 
den großen Reformator seines Landes. Aber das russische Volk hat diese Reform 
niemals völlig verdaut, und die Slavophilen sind schwer zu widerlegen, wenn sie be- 
haupten, daß jene überstürzte Europäisierung, die die geschichtliche Entwicklung 
gewaltsam unterbrach, ein schweres Unglück für Rußland gewesen sei. Was in 
Westeuropa in Jahrhunderten herangereift war, sollte in. Rußland in Jahrzehnten 
nachgeholt werden, aber ohne die gleichen Voraussetzungen. Ein großes Zwischen- 
glied wurde übersprungen. Während in Westeuropa der Absolutismus allmählich 
in den bürgerlichen Staat überging, fehlte in Rußland die bürgerliche Gesellschaft, 
die den gleichen Prozeß hätte herbeiführen können. Hätte die zarische Selbst- 
herrschaft ständig den Gegendruck eines kraftvollen, aus der Selbstverwaltung her- 
vorgegangenen Mittelstandes empfunden, so wäre aus der Reibung beider aller 
Voraussicht nach eine beschränkte Monarchie mit demokratischem Einschlag hervor- 
gegangen, ganz sicher aber nicht der Bolschewismus. Die Selbstherrschaft hat diesen 
Gegendruck zerstört und dadurch den Boden für den Bolschewismus vorbereitet. 


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236 Entwicklung des Bolschewismus 











iese Besonderheit des russischen Gesellschaftsbildes erklärt aber nicht nur die 

Erfolge des Bolschewismus im früheren Zarenreich, sondern sie ist auch deshalb 
wichtig, weil sie die Richtung bestimmt, in der der Bolschewismus seine Propaganda 
auf andere Völker auszudehnen sucht. Das große politische Ziel Lenins, den west- 
lichen Industriestätten den Bolschewismus einzuimpfen und dadurch die Weltrevo- 
lution in Gang zu bringen, ist bekanntlich nicht erreicht worden. Der Westen 
hatte eine zu starke bürgerliche Staatsgesinnung, als daß die bolschewistische Pro- 
paganda hätte Erfolg haben können. Ganz anders liegen die Dinge im Osten. Bei 
den Völkern Zentralasiens, in China und in Indien ist eine der russischen ähnliche 
Gesellschaftsentwicklung vorhanden. Auch hier fehlt das große Zwischenglied Bür- 
gertum. Unvermittelt stehen sich eine kleine herrschende Klasse und die in materiel- 
ler und geistiger Abhängigkeit gehaltene Masse des Volkes gegenüber. Die Übertrag- 
barkeit bolschewistischer Staatsweisheit schien also hier ungleich günstigere Aus- 
sichten zu haben als bei dem Vorstoß nach Westeuropa. Insbesondere gilt das für 
China, wo die Emissäre Moskaus eine außerordentlich rührige Tätigkeit entfalten. 
Auf der letzten Tagung des Vollzugsausschusses der Moskauer III. Internationale 
ist nach einem Bericht in den ‚„Dernitres Nouvelles‘ beschlossen worden, das Schwer- 
gewicht der revolutionären Tätigkeit nach China, Indien und Zentralasien zu verlegen 
und unter Ausnutzung des Mossulkonfliktes den Gegensatz zwischen England und 
der Türkei kräftig zu fördern. Der günstige Boden, den besonders China mit seiner 
kulturell tief stehenden und schlecht bezahlten Arbeiterschaft für die Ausbreitung 
der Leninschen Lehre zu bieten schien, ist von der Sowjetregierung längst richtig 
erfaßt. In Moskau ist Ende vorigen Jahres auf den Namen des Dr. Sun Yat-sens, des 
verstorbenen ersten Präsidenten der chinesischen Republik, eine chinesische Uni- 
versität mit Radek als Rektor eröffnet worden. Die etwa 250 Zuhörer dieser Uni- 
versität gehören dem linken Flügel der Kuomintang-Partei an, die in Kanton ihren 
Hauptsitz hatte und die radikale Intelligenz Chinas repräsentiert. Die Aktivität 
ihrer Propaganda ist zwar durch die wechselnden militärischen Ereignisse zeitweilig 
geschwächt worden, sie wird aber von den Sowjetvertretern immer wieder mit jener 
Zähigkeit fortgesetzt, die den russischen Diplomaten im Verkehr mit asiatischen VÖöl- 
kern in einer Schule von Jahrhunderten zu eigen geworden ist. Gelingt es Moskau, 
Zentralasien, die Mandschurei und China in den Rahmen bolschewistischer Ideen 
zu spannen, so wäre das ein Vorgang von größter Tragweite, der nicht nur auf die 
Geschicke Asiens, sondern auch auf die Europas, und nicht zuletzt Deutschlands, 
zurückwirken müßte. Denn ein von der Sowjetregierung beherrschtes Asien würde 
dem gesamten Westen gegenüber eine Kampfstellung einnehmen und eine neue 
Grundlage für den Versuch einer Weltrevolution bilden. 

Welche Aussichten bestehen nun, daß der Bolschewismus seinen Siegeszug auf 
den asiatischen Erdteil ausdehnt und jene Völker, die wir als Kolonialvölker, 
im weitesten Sinne des Wortes, bezeichnen, für die Lehren Lenins gewinnt? Es ist 
heute kaum möglich, auf diese Frage eine Antwort zu geben, die von den tatsächlichen 
Ereignissen nicht widerlegt werden könnte. Selbst der bald zehnjährige Bestand der 
Bolschewistenherrschaft im europäischen Rußland gibt noch keinen Anhaltspunkt für 
die Beurteilung ihrer Lebensfähigkeit, denn in der ungeheuren sarmatischen Ebene 
mit ihrer schwachen und ungleich verteilten Bevölkerung und den ganz unzuläng- 
lichen Verkehrsverhältnissen vollziehen sich politische und soziale Wandlungen in 
einem viel langsameren Tempo, als in dem dicht bevölkerten europäischen Westen 
mit seiner auf einen engen Raum zusammengedrängten Bewohnerschaft. Der 
Zusammenhalt aller staatlichen Atome, aller Einzelpersönlichkeiten und gesell- 
schaftlichen Organisationen ist hier viel enger und daher auch aktiver als in Rußland. 
Unter den Romanows galt das Wort: Gott ist hoch und der Zar ist weit. Das heutige 
offizielle Rußland kennt zwar keinen Gott und der Zar ist auch nicht mehr da, aber 
die vis inertiae des Volkscharakters ist die gleiche geblieben, ebenso wie der geogra- 
phische Charakter des Landes, beides in gegenseitiger Bedingtheit. 





Alexander Elfenbein: Zur Entwicklung des Bolschewismus 237 








ollen wir nun wissen, ob wir den Bolschewismus als eine Epoche oder eine 
f Episode zu werten haben, so wird man zuerst seine Struktur, seine innere Festig- 
keit und Geschlossenheit zu prüfen haben. Der 13. Kongreß der kommunistischen 
Partei der U.d. S.S.R. hatte bereits die bemerkenswerte Tatsache offenbart, daß diese 
Geschlossenheit, wie sie bei der Begründung der Partei durch Lenin vorlag, ins Wan- 
ken geraten war, und der Ende Dezember 1925 in Moskau abgehaltene 14. Kongreß 
hat zu einer offenen Spaltung innerhalb der Partei geführt. Das Auseinanderfallen 
in zwei Gruppen kommunistischer Politik läßt sich am besten mit dem Erscheinen 
der revisionistischen Richtung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vergleichen. 
In der U.d.S.S.R. repräsentiert Sinowjew (Petersburg) den Leninismus in seiner 
‘starren orthodoxen Formulierung, während Stalin (Moskau) die sog. Neue Wirt- 
schaftspolitik (,,Nep‘‘) vertritt, die zu Konzessionen an das kapitalistische Wirt- 
schaftssystem geneigt ist. Auf dem 14. Kongreß ist bei der Abstimmung über die 
künftig einzuschlagende Politik Stalin mit 559 Stimmen gegen 65 Stimmen der 
orthodox-marxistischen Opposition, die von Sinowjew geführt wird, als Sieger her- 
‚vorgegangen. Worin besteht nun der grundlegende Unterschied zwischen beiden 
Richtungen? Lenin hatte geglaubt, den Kommunismus auf das städtische Arbeiter- 
proletariat stützen und mit dessen Hilfe durchführen zu können. In Westeuropa 
ist diese proletarische Revolution ohne Echo geblieben und-in Rußland selbst ist 
‘die Bedeutung des Industrieproletariats durch den zunehmenden Einfluß der bäuer- 
lichen Bevölkerung immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Rußland ist 
ein Agrarstaat, und rund 90%, seiner Bevölkerung sind Bauern, die ihren neuen Besitz- 
stand der Revolution verdanken und ihn durch Einflußnahme auf die Regierung zu 
sichern suchen. Diesen Einfluß haben die Bauern zunächst in den örtlichen Sowjets 
gewonnen, wo sich bald eine bäuerliche Oberschicht bildete, deren wirtschaftliches 
Übergewicht auch den mittleren bäuerlichen Besitz in ihren Interessenkreis zog. Auf 
dem 14. Kongreß hat der der Sinowjewgruppe angehörige Volkskommissar für Finan- 
zen, Sokolnikow, die wachsende Bedeutung der Bauerngruppe als bedrohliche 
Gefahr für den echten Bolschewismus scharf beleuchtet. Vom Standpunkt des ortho- 
doxen Leninismus mit Recht. Denn das Eindringen bäuerlicher Wirtschaftsinteressen 
in den auf das besitzlose Industrieproletariat aufgebauten Bolschewismus bedeutet 
eine Aushöhlung seines ursprünglichen Programms. Das ist ein Vorgang, dessen wei- 
tere Auswirkung man mit größter Aufmerksamkeit verfolgen muß. Denn die neue 
(revisionistische) Wirtschaftspolitik Stalins ist nicht in der Lage, sich einseitig auf die 
Industriearbeiterschaft zu stützen, sie muß vielmehr alle verfügbaren Kräfte für den 
wirtschaftlichen Wiederaufbau heranziehen und natürlich auch die stark überwie- 
gende bäuerliche Gruppe nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen Bedeutung berück- 
sichtigen. 

Aber auch noch in anderer Hinsicht bedeutet der Sieg der Revisionisten über die 
orthodoxe Richtung ein Abrücken vom starren Leninismus. Das geht deutlich aus 
der Behandlung der Industriefrage hervor. Denn die „Nep‘ hat sich die Aufgabe 
gestellt, eine staatlich geleitete Großindustrie zu schaffen, die allmählich in die Lage 
kommen soll, in möglichst großem Umfang jene Waren im Lande zu erzeugen, die 
Rußland bisher aus dem Ausland bezog!). Die Industrialisierung hat in erster Linie 
die Heranziehung einer Schwerindustrie im Auge, die Rußlands reiche Metallschätze 
erschließen und verwerten soll. Auch das Transportwesen erfordert nach Stalins 
Ansicht eine gründliche Reform. Die Nachfrage nach rollendem Material Kann nicht 
annähernd befriedigt werden; sie ist so groß, daß im laufenden Wirtschaftsjahr die 
vorhandenen Lokomotiven und Waggons nicht bloß zu 100%, sondern zu 120 bis 
130%, ausgenutzt werden müssen. Hier wird der heimischen Industrie eine große 
Aufgabe gestellt. Nicht minder auch auf dem Gebiet der Versorgung mit Heizmate- 
rial, wobei gleichzeitig die Technik gewaltig vervollkommnet werden soll, um einer 
Heizmaterialkrise vorzubeugen. Im April d. J. hat der Oberste Wirtschaftsrat in 


1) Vgl. den Aufsatz von Richard Ullrich in diesem Heft. 











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238 Entwicklung des Bolschewismus 
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Moskau Maßnahmen eingeleitet, die mit einer staatskapitalistisch organisierten In- 
dustrie schwer zu vereinen sind, aber gerade deshalb besondere Beachtung verdie- 
nen. Der oberste Wirtschaftschaftsrat will nämlich die Beteiligung auch des Privat- 
kapitals an der Industrie fördern. Das Privatkapital soll durch die Erlaubnis zum 
Bau kleiner Fabrikbetriebe und durch die Verlängerung der Pachtfristen für solche 
Pächter, welche die Produktion gut zu organisieren wissen, angeregt werden. Ferner 
werden den privaten Industriellen günstigere Kreditbedingungen in Aussicht gestellt, 
Um den privaten Unternehmungen vorteilhaft Rohstoffe zu liefern, soll eine eigene 
Aktiengesellschaft begründet werden, an der auch der Staat mit Kapital beteiligt 
ist. Wenn man diese Wege zur Industrialisierung Rußlands ins Auge faßt, so erkennt 
man leicht, wie stark die „Nep‘‘ den wirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung 
tragen muß, ohne danach zu fragen, ob das ursprüngliche kommunistische Programm 
dabei aufrechterhalten werden kann. Mit großer Offenheit hat der bereits erwähnte 
Volkskommissär Sokolnikow auf dem 14. Kongreß festgestellt, daß die bisherigen 
Mißerfolge der russischen Wirtschaft sich aus der Überschätzung der sozialistischen 
Elemente und der staatlichen Leitung der gesamten Volkswirtschaft ergeben. 

Die großkapitalistische Bauernwirtschaft und die Notwendigkeit zur Industriali- 
sierung des Landes müssen dazu führen, dem Privatkapital und dem privaten Unter- 
nehmergeist immer größere Bewegungsfreiheit zuzugestehen, Diese beiden Faktoren 
werden für die Entwicklung Rußlands in den nächsten Jahren ausschlaggebend sein. 
Man wird auch die Wechselwirkung verfolgen müssen, die die neue Wirtschaftspolitik 
auf die politische Form des Bolschewismus ausüben wird. Schon jetzt lassen sich 
Anzeichen wahrnehmen, daß in den bolschewistischen Wein mancher Tropfen Wasser 
geflossen ist. Vielleicht die markanteste Erscheinung dieser Art ist die langsam be- 
ginnende Abkehr vom Internationalismus. Auf dem Moskauer Kongreß der kom- 
munistischen Partei kam das recht deutlich zum Ausdruck. Stalin bekannte sich 
hier zu einem „nationalen Kommunismus“ und zu einem Gegner der III. Internatio- 
nale, deren Präsident Sinowjew, der Vertreter des orthodoxen „echten‘ Leninismus 
ist. Die III. Internationale ist dadurch begreiflicherweise in ihrer Aktionskraft ge- 
schwächt und in einen Gegensatz zu der offiziellen Parteipolitik geraten. Nirgends 
tritt das auch so augenfällig hervor, als in der Abneigung Stalins, die internationale 
kommunistische Propaganda finanziell zu unterstützen. Nach einem auf dem Kon- 
greß gestellten Antrag sollen nämlich die bisher den ausländischen kommunistischen 
Gruppen gewährten Unterstützungen allmählich eingeschränkt und bis 1930 gänz- 
lich eingestellt werden. Die kommunistische Welt-Einheitsfront als ideelle Vor- 
aussetzung für die Propaganda der III, Internationale ist damit dem Abbau ver- 
fallen. Der italienische Kommunist Bordiga, der auf dem Kongreß in offenbarer 
Übereinstimmung mit Stalin — wenn nicht gar in dessen Auftrag — einen scharfen 
Vorstoß gegen den Internationalismus unternahm, vertrat dabei Gedanken, die vom 
Standpunkt des orthodoxen Leninismus aus geradezu als ketzerisch hätten gelten 
müssen. Mit seiner These, daß eine mechanische Übertragung der Taktik des Mos- 
kauer Kommunismus der III. Internationale auf die kommunistischen Parteien 
des Auslandes abzulehnen sei, leiteteBordiga eine ‚Los von Moskau“-Bewegung ein, 
deren Folgen sich als Lockerungdes Zentralismusund der Parteidisziplin zeigen müssen. 

In politischer Hinsicht kann diese Absage an den Internationalismus als wichtig- 
stes Ergebnis des Parteikongresses vom Dezember 1925 angesehen werden. Die ortho- 
doxe und die revisionistische Richtung haben sich in offener Redeschlacht gemessen, 
die mit einem erdrückenden Siege der nationalen (revisionistischen) Gruppe endete. 
Der Bolschewismus ist nicht mehr der Bronzefels, als den ihn Lenin 1917 der west- 
europäischen Welt vorstellte, sondern ein durch innere Parteiungen zersetztes Ge- 
bilde. Offiziell wird ja allerdings die Fiktion aufrechterhalten, als sei die „Nep“ 
erst die eigentliche Erfüllung des alten und echten Leninismus und Marxismus, aber 
in Wirklichkeit bedeutet die Spaltung auf dem Parteikongreß, um ein Wort Bordigas 
zu gebrauchen, eine interne Revolution oder doch wenigstens eine Palastrevolution. 
Man wird diese Risse im Gebäude des Bolschewismus registrieren, ohne jedoch vor- 





Alexander Elfenbein: Zur Entwicklung des Bolschewismus 239 


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eilige Schlüsse auf ihre Auswirkung zu ziehen. Wenn Stalin versichert, daß er das 
- Eindringen des Kapitalismus in die Wirtschaft der U.d.S.S.R. nur als taktische Maß- 
nahme betrachte, um Rußland mit-Hilfe des Kapitalismus so zu kräftigen, daß es 
später den Ideen des Kommunismus mit um so größerem Erfolg in der ganzen Welt 
zum Siege verhelfen kann, so wird man das als billige politische Phrase buchen kön- 
nen, mit der der Führer der „Nep‘ die Zugeständnisse an den Kapitalismus dem Pro- 
 letariat genießbar machen und sich die politische Macht unter allen Umständen zu 
erhalten sucht. Denn was wir jetzt in Moskau sehen, ist ein rücksichtsloser Kampf 
um die Frage, welche der beiden Parteien sich die Zukunft zu sichern vermag. Das 
große Problem, von dessen Lösung die Entscheidung abhängt, besteht darin, den 
politischen und wirtschaftlichen Kommunismus zu einer Einheit zu bringen. Der 
politische Kommunismus, den wir schlechthin als Bolschewismus bezeichnen kön- 
nen, ist ein willkürliches Gebilde, die Verwirklichung einer Staatsidee, die den Idealen 
des Marxismus entlehnt ist, ohne Zusammenhang mit dem historisch Gewordenen, 
zugeschnitten auf die Auslieferung des Staates an das industrielle Proletariat. Es 
ist möglich, ein solches Staatsideal durch eine Revolution zu verwirklichen und durch 
blutigen Terror aufrechtzuerhalten. Es ist das in Rußland um so eher möglich, als 
dort, wie oben gezeigt, ein Gegendruck durch die bürgerliche Gesellschaft nicht statt- 
finden konnte. Dagegen fehlt es an jeglicher Erfahrung aus der Geschichte, daß ein 
Wirtschaftssystem des Kommunismus auch mit den stärksten Gewaltmitteln er- 
zwungen werden kann. Denn die Wirtschaft geht ihre eigenen Wege nach Gesetzen, 
die sich nicht willkürlich in eine politische Theorie hineinschieben lassen. Es ist vor 
allen Dingen unmöglich, ein Land von der räumlichen Ausdehnung Rußlands und 
inmitten einer kapitalistisch organisierten Welt nach kommunistischen Grundsätzen 
- zu leiten. Die Propaganda für die Weltrevolution ist wirtschaftlich ja auch nur aus 
dem Gesichtspunkt verständlich, daß es gelingt, mit dem Kapitalismus überall 
aufzuräumen und so. das stärkste Hemmnis für die kommunistische Wirtschaftsidee 
zu beseitigen. Dieser Erfolg ist dem Kommunismus bekanntlich nicht beschieden 
worden und die U.d.$.S.R. ist bereits heute genötigt, eine Brücke zum Kapitalismus 
zu schlagen durch Zugeständnisse an die Privatwirtschaft und das private und staat- 
liche Kapital des Auslandes. Die Parteiführer in Moskau wissen genau, daß sie sich 
die politische Macht nur erhalten Können, wenn sie sich entschließen, wesentliche Be- 
standteile des orthodoxen Kommunismus preiszugeben. Und sie sind bereit, diesen 
Preis zu zahlen. Das ist der Sinn der „Nep“, der neuen Wirtschaftspolitik Stalins. 
Die Zeit wird kommen, wo man auch zu einer Revision der politischen Dogmen wird 
schreiten müssen, um Wirtschaft und Politik in Einklang zu bringen. 


an könnte nun fragen, ob es der Moskauer Regierung, die ja offiziell an dem 

„hundertprozentigen‘ Kommunismus festhält, nicht dech gelingen wird, im 
asiatischen Osten durch intensive Propaganda für den Bolschewismus jene Erfolge zu 
erzielen, die ihr in Westeuropa versagt blieben. Eine Bolschewisierung Ost- und Süd- 
ostasiens würde der deutschen Ausfuhr in diese zukunftsreichen großen Länder- 
gebiete wahrscheinlich einen Riegel vorschieben und ebenso allgemein europäische 
Interessen berühren, schließlich aber auch in politischer Hinsicht für die Geschicke 
Europas nicht gleichgültig sein. Über die Größe dieser Gefahr läßt sich im Augen- 
blick kein sicheres Urteil abgeben. Moskau hat richtig und schnell erkannt, daß durch 
die Völker Asiens eine Bewegung geht, die manche Berührungspunkte mit der 
russischen Revolution hat und die Übertragung bolschewistischer Ideen erleichtert. 
Insbesondere gilt das für China, das mit aller Macht dahin strebt, aus der Reihe der 
Kolonialvölker herauszutreten und den europäischen Einfluß abzuschütteln. Bei 
diesem Ringen um die politische Selbständigkeit kann es sehr wohl sein, daß der 
Bolschewismus zeitweilig als willkommenes Kampfmittel angesehen wird, um im 
Innern die aus vergangenen Jahrhunderten stammende staatliche und gesellschaft- 
liche Ordnung zu sprengen und nach außen hin durch Anlehnung an Rußland 
sich eine Rückendeckung zu sichern. Ob China aber gewillt ist, den Bolschewismus, 
wenn er als Kampfmittel seine Dienste getan hat, auch als politisches System von 








240 Entwicklung desBolschewismus 





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Moskau zu übernehmen und eine kommunistische Wirtschaftspolitik zu betreiben, 
dafür bestehen zur Zeit keinerlei sichere Anzeichen. Wohl aber läßt der unverkennbar 
hervortretende nationale Einschlag in der ganzen chinesischen Bewegung darauf 
schließen, daß der Kommunismus der III. Internationale in China auf denselben 
Widerstand stoßen wird, wie er bereits jetzt in Rußland selbst in der ‚Los von 
Moskau“-Bewegung erkennbar geworden ist. 


Anmerkungen zu einer russischen Reise 


an kann heute kaum mehr behaupten, daß über die Zustände in der Sowjetunion 
M zu wenige Berichte von Augenzeugen vorlägen. Eine ganze Reihe von Publi- 
zisten aller möglichen Länder und der verschiedensten politischen Anschauungen 
istin den letzten Jahren in Rußland gewesen. Wenn wir uns trotzdem in der Beurtei- 
lung Sowjetrußlands und der Möglichkeiten, mit diesem Lande Verkehr irgend- 
welcher Art zu treiben, noch so unsicher fühlen, wenn uns das Wort Sowjet-Rußland 
immer noch kein so klares Bild vor das Auge ruft wie der Name jedes anderen Lan- 
des, so liegt das an den Widersprüchen, die die einzelnen Rußlandschilderer von- 
einander trennen. Leute, die lange im neuen Rußland leben, bestätigen, daß die jour- 
nalistischen Rußlandreisenden regelmäßig einer Fülle von Irrtümern unterlegen sind. 
Besonders deshalb, weil sie nicht lange genug in Rußland waren, oder weil sie das 
Land nur unter bolschewistischer Führung gesehen haben. 

Der Ausländer, der geladen mit einer Fülle von antibolschewistischen Übertreibun- 
gen, z. B. die Stadt Moskau betritt und sich an den Anblick der äußeren Schäden 
gewöhnt hat, fällt dann von einem Staunen ins andere, wenn er den riesigen Verkehr 
der Stadt, der nur mit dem der Londoner City vergleichbar ist, wenn er die Massen 
von Straßenbahnen, die zahlreichen sauberen Autobusse und die zahllosen Droschken 
dahinfluten sieht. Besucht er dann noch die großen Amtspaläste, die ausgezeichneten 
Theater und Konzerte, die eine oder die andere Musterfabrik, fährt er im eleganten 
und billigen internationalen Schlafwagen tagelang durch das Land, durchwandert er 
eine der zahlreichen Ausstellungen oder eines der prächtigen Museen, dann schmelzen 
seine Vorurteile wie Eis an der Sonne. Von allen möglichen Leuten, die alles weniger 
denn bolschewistenfreundlich waren, haben wir völlig verzerrte, und zwar meist viel 
zu günstige Urteile über den Bolschewismus und seinen Staat gelesen und gehört. 
Man sage nicht, den Verführungen einer zu kurzen Rußlandreise könne nur ein Un- 
gebildeter zum Opfer fallen; es sind nicht nur die Mitglieder der internationalen 
Arbeiterdelegation gewesen, die sich narren ließen: die europäischen und amerika- 
nischen Gelehrten, die am zweihundertjährigen Jubiläum der Petersburger Akademie 
im vorigen Sommer teilgenommen haben, haben sich um kein Haar besser bewährt! 
Es ist einem großen Teil von ihnen völlig entgangen, daß ein Staatswesen sehr wohl 
300 ausländische Professoren 8 Tage lang fürstlich bewirten kann und daß es dabei 
trotzdem nicht in Glück und Wohlstand zu schwelgen braucht. Um es kurz zu ma- 
chen: Es gibt nichts Schädlicheres für unsere Kenntnis über den neuen Osten, als 
wenn wir uns von jemand etwas erzählen lassen, der vier Wochen in Moskau oder 
in Leningrad gewesen ist. Da ist es viel nützlicher, sich eine bolschewistische Zei- 
tung, z. B. die Iwestija, zu abonnieren, denn in diesen Zeitungen, die die Selbstkritik 
des Systems eifrig pflegen, ist für den, der zwischen ihren Zeilen zu lesen gelernt.hat, 
sehr viel Wahrheit zu finden. 

Wer jedoch selbst etwas wenigstens für den Tag Gültiges, über Sowjetrußland 
sagen will, muß mindestens ein Jahr in diesem Lande reisen, muß nicht nur die Haupt- 
städte sondern auch das flache Land und die entlegene Provinz aufsuchen; 'er muß 
vor allem den Westen vergessen und sich in den so wesensverschiedenen Osten ein- 
fühlen. Wenn er dann mit gewissenhafter Kühle und strenger Selbstkritik zu Urteilen 
kommt, wird er sich vor Verallgemeinerungen hüten und sich bewußt sein, daß er für 
die Zukunft unbedingt Gültiges auch unter diesen Voraussetzungen nicht gesagt hat. 





| Anmerkungen zu einer russischen Reise 241 








Die folgenden Ausführungen sind diesem kritischen Geiste entsprungen. Wenn sie 
"deshalb nicht so sensationell aussehen wie die üblichen Rußlandschilderungen, 
so dürften sie vor diesen die Eigenschaft der Zuverlässigkeit voraushaben. 


Führer und Geführte 


| er Verwaltungsapparat des Roten Reiches unterscheidet sich in seinem Aussehen 
D wenig von dem anderer Länder. Er ist stark bureaukratisch, und nur in wenigen 
Abteilungen und in wenigen Köpfen ist etwas von dem geistigen Schwung zu spüren, 
von dem man sich Revolutionäre und Propheten beseelt denkt. Die große Masse 
der Staatsfunktionäre, die in den höheren Ämtern auch meist kommunistische Partei- 
mitglieder sind, scheint in langjähriger Amtstätigkeit etwas eingeschlafen zu sein 
und das Amt um des Amtes wegen, weniger im Hinblick auf die idealen Ziele zu 
lieben. Allerdings kann man auch heute noch eine ganze Reihe von Leuten kennen 
lernen, die ihre Revolutionsbegeisterung und den Glauben an das Hohe ihrer Sache 
unverändert bewahrt haben. Das sind die Leute, die jene ungeheuren Kraft- und 
Energieleistungen vollbringen, ohne welche es dem Bolschewismus niemals gelungen 
wäre, binnen 7 Jahren einen Staat zu zerstören und wieder aufzubauen, so wie 
er heute dasteht: Verwaltungstechnisch stabil und durchorganisiert. 


ID): Kraftleistung des Leninismus wird um so erstaunlicher, wenn man die Köpfe, 
die sie vollbracht haben, ansieht. Es sind wenige in unserem bürgerlichen, euro- 
päischen Sinne normale und sympathische Erscheinungen unter ihnen. Mit verein- 
zelten Ausnahmen scheinen die führenden Bolschewiki Leute zu sein, die früher einmal 
irgendwie im Leben Schiffbruch erlitten haben. Leute, die zum großen Teil der alten 
"führenden Klasse angehörten und mit ihr aus Gründen, die nicht immer in revolu- 
tionärer Gesinnung wurzelten, in Konflikt geraten sind: entlassene Beamte und Offi- 
ziere, verarmte Kaufmannssöhne, von der Universität weggeschickte Studenten, 
schlecht behandelte Juden ; viele mit körperlichen Gebrechen und geistigen Eigenarten. 

Man sollte beim Studium der russischen Revolution mehr auf die Tatsache achten, 
daß von ihren ursprünglichen Trägern nur wenige aus dem Proletariat, d. h. aus dem 
Arbeiterstand und dem Landarmentum, hervorgegangen sind. Der Bolschewismus 
unterscheidet sich dadurch wesentlich von den Arbeiterbewegungen des Westens, 
die, von den englischen Trade Unions an, zum größten Teil aus der Arbeiterschaft 
herausgewachsen und von Arbeitern geführt worden sind, auch wenn sie ihren Ideen- 
gehalt aus bürgerlich-ideologischem Lager, aus dem Marxismus, bezogen haben. In 
die russische Arbeiterschaft ist der revolutionäre Geist von jenem oben geschilderten 
Klüngel von außen hineingetragen worden, der seine Ideale und seine Rezepte in 
russischen und ausländischen intellektuellen Verschwörerzirkeliı ausbrütete. 

Der erste, der die russische Revolution theoretisch erfaßte, Fritz Gerlich!), hat 
auch praktisch recht behalten, wenn er den Bolschewismus als „Konsequenz des 
Marxismus“ darstellte. So haben auch die Bolschewiki recht, wenn sie Lenin als 
den einzigen wahren Nachfolger von Karl Marx bezeichnen und den Sozialisten der 
II. Internationale Abtrünnigkeit vorwerfen. 

Wir haben in den ersten Jahren der russischen Revolution geirrt, wenn wir Lenin 
und Trotzky und womöglich noch andere in einem Atemzug nannten. Man muß aller- 
dings den Leninkult in Rußland gesehen haben und die Vorgeschichte der russischen 
Revolution kennen, um zu ermessen, wie ausschließlich dieses weltgeschichtliche 
Ereignis Produkt des Kopfes und des Willens Lenin ist. Lenin wäre nicht das Genie 
gewesen, das er tatsächlich war, wenn sein Staat, wie manche erwartet haben, nach 
seinem Tode zusammengebrochen wäre. Es scheint zwar richtig zu sein, daß keiner 
der heutigen bolschewistischen Führer auch nur annähernd das Ausmaß Lenins er- 
reicht, aber Lenin dürfte sich dessen selbst bewußt gewesen sein: wohl aus diesem 
Grunde hat er im bolschewistischen Staatssystem eine Form geschaffen, die, stählern 


1) Vgl. Januarheft 1919 der S. M. „Bolschewismus“. 








vörchede Arme een 
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242 Entwicklung des Bolschewismus 
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und elastisch, seinen kleineren Nachfolgern auflange hinaus eine Stütze bieten konnte, 
(Auch Bismarcks europäische Konstruktion ist nicht unmittelbar nach seinem 
Tode zusammengebrochen.) | 
Man kann vielleicht sagen, daß, schematisch betrachtet, an Lenins Stelle das Neun- 
Männer-Komitee, das Politbureau, getreten ist und daß dieses seine Aufgabe | 
lediglich darin sieht, den Leninismus zu interpretieren. Der zeitweilige Hader im 
Politbureau, der vor einem Jahre zur Ausschaltung Trotzkis und jetzt zu der Sinow- 
jews geführt hat, ist bisher weniger ein Kampf um die Macht als ein ängstlicher Streit ' 
darüber gewesen, was Lenin in der oder jener Lage des Regimes getan hätte. 
Sowjetrußland ist ein Klassenstaat. Die Führerklasse haben wir zu skizzieren 
versucht. Sie ist nicht identisch mit der kommunistischen Partei, der tatsächlichen 
Trägerin der Staatsgewalt. So klein die Zahl der eingeschriebenen Parteimitglieder 
auch ist (etwa 500000), so ist es doch nicht so, daß alle russischen Kommunisten 
auch nur den Einfluß auf Gesetzgebung und Regierung ausübten wie jeder simple 
Wähler eines demokratischen Landes. Wohl wird die Führerschaft auch hier von 
unten herauf gewählt, d. h. die einzelnen Parteizellen in den Betrieben und in den 
Gemeinden wählen ihren Ausschuß, diese Ausschüsse die Gouvernementausschüsse 
usw. bis zum Zentral-Exekutiv-Komitee in Moskau hinauf, aber in Wirklichkeit 
werden die Kandidatenlisten doch meist von den oberen Parteiinstanzen den nächst 
unteren vorgeschlagen, so daß es kaum möglich ist, Leute an die Spitze hinauf zu 
wählen, die dem Politbureau nicht passen. Wir haben gerade in den letzten Monaten, 
bei der Abhalfterung Sinowjews, gesehen, daß die Zentralgewalten der Partei un- 
gebärdige Provinzorganisationen mit derben Worten oder durch Maßregelung ihrer 
Führer zur Raison zwingen oder sie auflösen, wie es mit verschiedenen Jugend- 
organisationen der Partei Anfang Februar 1926 geschehen ist. Es gibt also nicht ein- 
mal innerhalb der bolschewistischen Partei etwas wie eine Demokratie. 
Abhängiger aber noch als die Masse der russischen Kommunisten sind die Arbeiter 
und Bauern, die formellen Träger der Staatsgewalt. Weder in der russischen Ver- 
fassung noch in irgendeinem Gesetz gibt es eine bolschewistische Partei. Die von 
Arbeitern und Bauern gewählten Räte sind die angeblichen Herrscher des Landes. 
Hier ist sogar schon das Wahlsystem komisch. Nicht nur, daß es ebenso wie die Wahl- 
ordnung der Partei Instanz für Instanz wählt, so daß die Urwähler, d.h. das ar- 
beitende Volk, auf die Auswahl der Staatsführer überhaupt keinen Einfluß mehr 
haben; es ist sogar so, daß die Stimmen der Urwähler verschieden bewertet werden: 
die städtischen Stimmen zählen fünfmal so viel wie die ländlichen; die Arbeiter wer- 
den also fünfmal so hoch bewertet wie die Bauern. Hier zeigt sich schon rein äußer- 
lich, wie hohl die Phrase von der „Arbeiter-Bauern-Republik“ ist. Wenn die Arbeiter 
schließlich noch das Gefühl haben können, daß der Sowjetstaat ihr Staat ist, da er 
sich bemüht, ihnen in erster Linie seine Erfolge zugute kommen zu lassen, so ist 
das keineswegs bei den Bauern der Fall. Der bolschewistische Staat hat in den ab- 
gelaufenen acht Jahren seines Bestandes nicht nur nicht für die Bauern gelebt, son- 
dern er hat von ihnen gelebt, auf ihre Kosten, von ihrem Schweiße. Der russische 
Bauer war bisher die Melkkuh des Bolschewismus, und es scheint, daß er sich dessen 
bewußt ist. Die Bauernfragen sind es denn auch, die dem heutigen Sowjetrußland 
die größten Sorgen bereiten, und die Führer scheinen vor einem Jahre zu der Einsicht 
gekommen zu sein, daß ein Weiterarbeiten auf der bisherigen bauernausbeuterischen 
Grundlage unmöglich geworden ist. In Erkenntnis dieser Lage hat Moskau im Früh- 
jahr 1925 den größten Sprung seit Beginn der Revolution gemacht: es hat ‚„‚das Dorf 
entfesselt‘‘, d.h. den Steuerdruck gemildert, die Zwangseintreibung der Ackerfrüchte 
eingestellt, den bäuerlichen Privathandel erlaubt und das Wahlrecht etwas gemil- 
dert, um nur einige dieser folgenschweren Maßnahmen zu nennen. Daß diese libera- 
lere Bauernpolitik es nicht vermocht hat, im Erntejahr 1925 die Bauern zu willigeren 
Mitarbeitern am Roten Staate zu gewinnen, daß die Bauern ihr Getreide gar nicht oder 
nur zu Preisen hergaben, die eine Ausfuhr unmöglich machten, das ist ein furcht- 
barer Schlag für Moskau gewesen. Trotz dieser Enttäuschungen soll auf dem neuen 

















Anmerkungen zu einer russischen Reise 243 


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‚Wege weitergegangen werden. Die Bolschewiki haben, entgegen ihrer sonstigen Ge- 
‚"pflogenheit der Schönfärberei, offen bekannt, daß sie selbst den Mißerfolg der neuen 
Dorfpolitik verschuldet haben: weil es ihnen nicht gelang, die Staatsindustrie genü- 
‚gend leistungsfähig zu machen, um den bäuerlichen Warenhunger zu befriedigen. 
Die Reste der alten städtischen Bourgeoisie, die im Gegensatz zu ausländischen 
Ansichten in Rußland noch beträchtlich sind, bilden keine Gefahr mehr für den Be- 
. stand des Regimes. Der russische Bürger der alten Zeit ist in achtjähriger Verfolgung 
mürbe geworden. Man kann nicht jahrzehntelang nur trauern und Trübsal blasen. 
Der russische Bourgeois von ehemals ist heute im Durchschnitt froh, wenn ihn der 
Staat an einer seiner zahllosen Futterkrippen mitessen läßt. Freilich gibt es noch 
Leute, die leise auf einen raschen Sturz des Regiments hoffen, aber selbst diese 
wenigen denken dabei nur an ein Eingreifen von auswärtigen Mächten. Die große 
Masse der alten Intelligenz ist der Ansicht, daß eine langsame Entwicklung des Räte- 
staates zu liberaleren wirtschaftlichen und politischen Methoden und Einrichtungen 
das Wahrscheinlichste sein wird. 


as Institut der Tscheka (Tschreswitschainaja kommissia —= Außerordentliche 
Kommission) ist eine Einrichtung aus der Zarenzeit, der Ochrana (==!Schnez) 
nachgebildet und wie diese eine politische Geheimpolizei. Während aber die Ochrana 
keine eigene Gerichtsbarkeit besaß, ist die Tscheka befugt, selbst Urteile zu fällen 
und zu vollstrecken, allerdings nur zwei Arten von Urteilen: Todesstrafe und Depor- 
tation. Diese Beschränkung ist jedoch belanglos, da die Tscheka, wenn sie ihr Opfer 
nicht gerade verschicken oder erschießen will, es beliebig lange in ‚„Untersuchungs- 
haft“ behält. Die Tscheka macht keinen Versuch, aus ihrer Hauptaufgabe, der Ein- 
 schüchterung des Volkes, ein Hehl zu machen, im Gegenteil: ihre Methoden sind sorg- 
fältig und bewußt auf Terrorisierung abgestellt. So verhaftet sie z. B. nur selten 
öffentlich, d. h. in der Familie oder im Beisein von anderen Leuten, sondern verfolgt 
ihr Opfer im geheimen, bis sie es in irgendeinem Straßenwinkel einmal allein antrifft. 
Den Angehörigen der Verhafteten wird in der Regel keine Mitteilung von der Ver- 
haftung gemacht und auf Anfrage, ob eine Verhaftung erfolgt sei, auch keine Auskunft 
erteilt. Gründe für die Verhaftung werden häufig nicht einmal dem Verhafteten 
selbst angegeben. Wenn man die Tscheka mit der mittelalterlichen Inquisition ver- 
glichen hat, so tut man der letzteren unrecht: denn die Inquisitoren waren gehalten, 
ihre Häftlinge vor ein, wenn auch geheimes Tribunal zu stellen. Die Tscheka hat 
das nicht nötig. Sie hat weder ein Gerichtsverfahren noch teilt sie den Verurteilten 
Urteil und Begründung mit. Im Tschekagefängnis an der Lubianka in Moskau ist 
es z. B. so, daß der heimlich bereits Verurteilte aus der Zelle herausgeholt wird mit 
der Begründung, er solle wieder verhört werden. Er muß vorausgehen und bekommt = 
Weisung, in den oder jenen Raum einzutreten. In dem Augenblick, in dem er die 4 
Schwelle des Raumes überschreitet, wird er von hinten mit dem Revolver erschossen. 
Da diese Darstellung von verschiedenen Leuten in gleicher Form gegeben wird, kann 
man an ihrer Richtigkeit nicht gut zweifeln. 

Der terroristische Zweck der Tscheka wird, wie jeder Rußlandreisende bestätigen 
kann, erreicht. Es gibt kein Wort der russischen Sprache, das eine gleich faszinierende 
Wirkung auf den russischen Staatsbürger hat wie das Wort Tscheka. Sie ist die 
Macht, die Tag und Nacht ihren unsichtbaren, fürchterlichen Arm über ihn hält 
und jede Regung der Opposition im hintersten Winkel seiner Seele zurückhält. 
Nichts hat so zur Demoralisierung des russischen Volkes beigetragen wie die Tscheka, 
weil diese nicht nur jeden Einzelnen bedroht, sondern ihn zwingt, seine Freunde und 
Verwandten durch Aussagen zu gefährden. Dieses System hat die von Natur schon 
mißtrauischen Russen zur Unaufrichtigkeit und Gewissenlosigkeit erzogen. 

- Die sich langsam mehrenden Gerüchte über Konflikte zwischen der Tscheka und 
dem Rat der Volkskommissare und die allgemeine Entwicklungstendenz zur Mäßigung 
lassen hoffen, daß auch die Methoden der Tscheka mit der Zeit abgemildert werden. 
Ihren Namen, der im Auslande einen allzu schlechten Klang bekommen hat, hat sie 
bereits seit längerer Zeit in „G.P.U.‘“ verwandelt (Gosudarstwennoe Polititscheskoe 


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‚ Jung der Jugend im Ausland, S. 30 ff. 


Entwicklung des Bolschewismus 





Uprawlenje); d.h. „Staatliche politische Verwaltung‘ und klingt etwas harmloser. 
Die G.P.U. als „Staat im Staate‘“ zu bezeichnen, trifft nicht den Kern, denn sie 
macht keine eigene Politik. Sie besitzt jedoch eine eigene Armee von ungefähr 250000 


Mann, die mit allen Waffen ausgerüstet ist: Artillerie, Flieger, Pioniere usw. Es 
ist uns nicht ganz klar, was diese G.P.U.-Armee (die im Kriegsfalle dem Kriegsmini- 
ster untersteht) für einen Sinn im Rahmen der G.P.U. hat; denn ihre Mannschaften 
sind nicht ausschließlich Parteiangehörige, sondern werden, wie die der Roten 
Armee, aus allen Schichten der Bevölkerung rekrutiert. Wahrscheinlich stellt sie eine 
Art von Gardetruppe dar. 


Die Rote Armee macht, soweit man es von außen beurteilen kann, einen guten 


Eindruck. Das prächtige Menschenmaterial des russischen Bauernvolkes läßt die 
Truppe frisch und gesund erscheinen. Die Bewaffnung ist modern, die Großkampf- 
ausrüstung jedoch (Tanks, schwere Artillerie, Flieger) spärlich. In der Roten Armee 
dienen zahlreiche frühere zaristische Offiziere, die aber meist niedrigere Kommando- 


Er 


stellen bekleiden als im alten Heer. Gewöhnlich, besonders soweit sie verantwortliche 


Posten haben, ist ihnen ein sogenannter politischer Offizier beigegeben, der sie über- 
wacht und für die Erziehung der Soldaten zu guten Kommunisten sorgen soll. 
Wiederholt haben führende Bolschewiki gesagt, daß es ihnen bei der Roten Armee 
nicht so sehr auf eine Truppe ankomme, die mit modern bewaffneten Großmächten 
kämpfen kann, als auf ein Instrument zur revolutionären Erziehung der bäuerlichen 
Jugend. Das dürfte der Wahrheit entsprechen. In den Kasernen und großen 
Sommerlagern der Armee sieht man mehr politische Propaganda- als militärische 
Einrichtungen. Jede Kompagnie hat ihr eigenes Unterrichtszelt, ihre „Leninecke“ 
(eine Art von Hausaltar), ihre „Wandzeitungen‘ usw. Ob dieser in der Idee zweifel- 
los vortreffliche Propaganda-Apparat bei den auf ihr Dorf heimkehrenden Reser- 
visten nachhaltige Wirkung ausübt, ist heute noch kaum zu beurteilen?). 


Die Nationale Tatenpolitik 


in Wort über die Stellung des Judentums in Sowjet-Rußland. Es ist richtig, daß 

die Zahl der Juden im politischen und wirtschaftlichen Apparat des Staates außer- 
ordentlich hoch ist. Jedoch hat das Regime, das sorgfältig die Volksstimmung be- 
obachtet, einen gewissen Abbau des jüdischen Elements in der sichtbaren Führer- 
schaft vorgenommen; darüber hinaus aber muß man sagen, daß das Regime selbst 
kein ausgesprochen jüdisches Gesicht trägt. Auch ist es nicht so, daß die Juden 
anders oder besser behandelt würden als andere Nationalitäten der Sowjetunion. 
Jüdische Bürger, Kapitalisten und Schieber werden genau so schlecht behandelt wie 
russische oder grusinische oder tatarische. Trotz des überlieferten russischen Anti- 
semitismus besteht keine Judenfrage im europäischen Sinn; denn keinem Russen 
und keinem russischen Juden würde es einfallen, den letzteren als Nationalrussen zu 
bezeichnen; er ist eben Jude wie der andere Großrusse, der Dritte Ukrainer, Arme- 
nier usw. Die Vorherrschaft der Großrussen im alten Reich hat keine solche Ver- 
schmelzung der Nationalitäten gezeitigt wie im europäischen Westen. 


amit sind wir bei der Nationalitätenpolitik und scheuen uns nicht, zu sagen, 


daß die des Bolschewismus geradezu genial ist. Es kann keine Rede davon 
sein, daß die bolschewistische Pflege des Nationalstolzes dazu dienen solle, die 
einzelnen Völker gegeneinander auszuspielen und dadurch ungefährlicher zu machen. 
Natürlich widerspricht diese Pflege des Nationalstolzes dem kommunistischen Ideal 
und ist den Bolschewiki nur Mittel zu dem Zweck, die Einzelvölker, die besonders im 
asiatischen Süden vom Zarismus brutal unterdrückt wurden, dem System freundlich 
zu stimmen. Aber der Erfolg bleibt der gleiche: noch niemals sind die im russischen 
Reich vereinigten Völker so stolz auf ihr Volkstum gewesen wie heute. Die Ukrainer, 


1) Über die Allgemeine Wehrpflicht und die militärische Jugenderziehung vgl. die Auf- 
sätze von Ernst Drahn und Theodor Seibert im Aprilheft 1926 der S. M. „Militärische Schu- 





Anmerkungen zu einer russischen Reise 245 


———————ee——uLLLLLLLeeE nn 


die Georgier, die Turktataren Aserbeidschans, die Turkmenen, die Sarten, die Kir- 
'gisen, die Armenier — sie alle fühlen sich, trotz der auch ihnen meist unsympathi- 
schen bolschewistischen Revolution, Moskau für die Nationalitätenpolitik verbunden. 
Es ist nicht damit getan, die Bolschewiki für ihre aufrührerische Propaganda in 
Asien zu schelten; die beste Propaganda haben sie mit ihrer Nationalitätenpolitik 
gemacht, die in einem krassen, für die Bolschewiki durchaus günstigen Gegensatz zur 
"Unterdrückungspolitik der großen Mächte steht. Die Bolschewiki haben sich hier als 
bessere Psychologen erwiesen als die Staatsmänner in London, Paris und Rom. 


Die Tendenzen der bolschewistischen Wirtschaft 


DD: Bolschewiki unter Führung Lenins waren der Ansicht, daß sich der sozialisti- 
sche Staat nur aufbauen lasse, nachdem der alte kapitalistische völlig zerstört und 
atomisiert sei. Sie haben das in den Jahren von 1917 bis 1921 getan. Außer den Fa- 
brikmauern und einem Teil der Maschinen ist kaum etwas stehen geblieben. Die 
Fabrikherren, die Kaufleute, die Ingenieure wurden getötet, vertrieben, abgesetzt. 
Als die Bürgerkriegszeit vorüber war und die Macht des Regimes gefestigt, war die 
nationale industrielle Produktion auf etwa 10%, des Vorkriegsstandes gesunken. Wenn 
die Bolschewiki daher bei der Arbeiterschaft des Auslandes mit ihren riesigen Pro- 
zentzahlen über die wirtschaftlichen Fortschritte des kommunistischen Staates hau- 
sieren gehen, so verschweigen sie, daß diese Zahlen auf dem Tiefstand des Jahres 
1920 aufbauen, den sie selbst herbeigeführt hatten. Man kann vielleicht sagen, 
daß die industrielle russische Produktion im ganzen heute 50%, des Vorkriegsstandes 
erreicht hat. Wenn sie ehrlich wären, müßten die kommunistischen Propagandisten 
_ überdies gestehen, daß die industrielle Entwicklung Rußlands schon vor dem Kriege 
bescheiden war, den ungeheuren Naturschätzen und Volkskräften des Landes in keiner 
Weise entsprach. Erst in den letzten zwanzig Jahren vor dem Kriege hat die industrielle 
Entwicklung Rußlands eingesetzt, genährt von den französischen Rüstungsmilliarden. . 


Das, was heute in Rußland wieder erreicht worden ist, ist nahezu von selbst, ohne 
besondere Leistungen, wieder emporgewachsen, nachdem man die Kriege beendet 
hatte und die russische Erde wieder atmen ließ. Denn was im Einzelnen an bolsche- 
wistischen Wirtschaftsleistungen zu sehen ist, ist, abgesehen von der mit Energie 
durchgeführten Elektrifikation, zum größten Teil so dilettantisch und unpraktisch 
wie nur irgend möglich. Der ungünstige Eindruck, den die heutige Art der Bolsche- 
wiki, wirtschaftliche Unternehmungen aufzuziehen, macht, wird jedoch schon 
binnen weniger Jahre einem besseren weichen, denn mehr und mehr geben sie dem 
Druck der Warennot nach und bemühen sich, unter tapferem Verzicht auf kommu- 
nistisch-theoretische Prinzipien, die Produktion vorwärts zu treiben. Wenn auch 
noch keine Beweise für die Wiederzulassung privater industrieller Unternehmer 
vorhanden sind (die gesetzmäßig wieder möglich ist), so vermehren sich doch die 
kapitalistischen Arbeitsmethoden in den Staatsbetrieben. Der angeborenen Faulheit 
des russischen Arbeiters und seiner geringen Arbeitsintensität wird jetzt mit Mitteln 
begegnet, die nicht marxistisch, sondern amerikanisch sind: Akkordlohn und Gewinn- 
beteiligung für die Arbeiter, hohe Gehälter und Prämien aller Art für die Vorarbeiter, 
Techniker und Ingenieure. Alle intelligenten Kräfte des Landes werden heute wieder 
gesammelt und angestellt, nachdem die Bolschewiki erfahren haben, daß prole- 
tarische Gesinnung der Produktion nicht förderlich, häufig aber hinderlich ist. 
Gewiß stehen noch heute an der Spitze der Betriebe „rote Direktoren‘, d.h. ehemalige 
Arbeiter und Parteimitglieder, aber ihnen zur Seite stehen bereits überall die „weißen 
Direktoren‘, meist gelernte alte Ingenieure. Der „Spez“, das ist der Spezialist, ist 
eine der bedeutendsten Persönlichkeiten im Sowjetreich geworden, wobei das Speziali- 

"stentum meistens schon beim gelernten Arbeiter beginnt. Die „Speze‘“ beziehen 
Gehälter und Löhne, die selbst nach unseren Begriffen ansehnlich sind, im Gegensatz 
zu den Löhnen der gewöhnlichen Arbeiter, die immer noch stark hinter unseren Ar- 
beitslöhnen zurückstehen — absolut und in bezug auf die Kaufkraft! In die Staats- 

















246 Entwicklung des Bolschewismus 








betriebe auch wieder kaufmännisches Denken hineinzubringen, ist gleichfalls eine 
Aufgabe, für die der Bolschewismus gegenwärtig Mühe aufwendet. 


ie Unrentabilität der russischen Wirtschaft rührt zum Teil auch daher, daß viele 

Mittel und viel Energie zu ihrem propagandistischen Aufputz verschwendet wer- 
den: es ist z. B. nicht einzusehen, warum jedes kleine russische Nest amerikanische 
Feuerlöschzüge haben soll, wenn es den.Fabriken noch am notwendigsten Installa- 
tionsmaterial fehlt. Bürgerliche Gehirne werden auch kaum begreifen, warum man 
in Moskau mit ungeheuren Kosten eine riesige Automobilfabrik baut, in der alles, 
vom Roherz aus, hergestellt wird, während die Erzlager und die Kohle im Donbassin, 
1500 km von Moskau entfernt, liegen, und das Rohmaterial auf der Achse herange- 
bracht werden muß. Die Hauptsache ist eben auch hier, daß die Fabrik großartig 
aussieht und für Ausländer bequem zu besichtigen ist. 

Die über den Umfang der russischen Rüstungsindustrie im Ausland umlaufenden 
Gerüchte sind übertrieben. Sie sind es zum mindesten in bezug auf den Flugzeugbau ; 
hier kann man überhaupt vorläufig wohl kaum von einer russischen Eigenindustrie 
sprechen. Die große Masse der russischen Flugzeuge ist deutscher Herkunft. So hat 
z. B. die von der Firma Junkers in Moskau errichtete mustergültige Flugzeugfabrik 
etwas über hundert Apparate an die Rote Armee geliefert. Was an russischen selbst- 
gebauten Flugzeugen vorhanden ist, sind dürftige Nachbildungen älterer, meist 
englischer Typen. Der Flugmotorenbau steckt in den Kinderschuhen. Gerade auf 
dem Gebiet technischer Leistungen muß empfohlen werden, russischen Gerüchten 
gegenüber skeptisch zu sein. Der phantasievolle Russe ist zwar zu Erfindungen wohl 
befähigt, aber zu wenig energisch, um technische und wirtschaftliche Ideen rasch und 
ausgiebig zu verwirklichen. Er beweist in diesen Dingen eine groteske Unfähigkeit. 

Hier mag ein Wort über den Spieltrieb eingeschaltet werden, der der russischen 
Psyche eigen ist und bei den temperamentvollen Bolschewiki in besonderer Blüte 
steht. Was in diesem Lande in den letzten acht Jahren zusammenexperimentiert 
worden ist, wie unzählige Male auf den verschiedensten Gebieten die Richtung ge- 
ändert und dieselbe Sache immer wieder anders aufgezäumt worden ist, das zu schil- 
dern muß einem Satyriker vom Ausmaß Bernhard Shaws vorbehalten bleiben. Aber 
in dieser Energie verschleudernden Schwäche des Systems liegt auch eine Stärke: 
als schlecht oder unpraktisch Erkanntes wird viel unbekümmerter über Bord ge- 
worfen als in den bedächtigeren und schwerfälligeren alten Staaten. 


M: kann nicht generell den deutschen Wirtschaftsführern sagen: „Nehmt Konzes- 
sionen in Rußland“ oder „nehmt keine‘. Man kann ihnen nur sagen, daß der 
Abschluß eines Konzessionsvertrages eine ungeheure Geduld, größte Vorsicht und 
Sicherungen nach möglichst vielen Seiten voraussetzt. Es gibt heute Konzessionäre, 
landwirtschaftliche und industrielle, die erklären, man könne, wenn man nicht 100% 
verdienen wolle, ganz gut mit den Bolschewiki arbeiten. Am günstigsten sind wohl 
gemischt-wirtschaftliche Konzessionen, d.h. solche, an deren Erfolg die russische 
Wirtschaft unmittelbar interessiert ist. Jedenfalls ist es notwendig, daß die deutsche 
Wirtschaft — bei aller Vorsicht — ihre Beziehungen zur russischen Wirtschaft soweit 
wie möglich ausbaut, und sei es unter vorläufigem Verzicht auf Gewinne. 


in kluger Kenner des alten und des neuen Rußland sagte einmal, das neue sei un- 
_.’gefähr der gleiche Gewaltstaat, wie es das alte gewesen war, und viel mehr als 
die Vorzeichen hätte sich nicht geändert; aber das geschichtliche Verdienst der Bol- 
schewiki sei es, daß sie die fast noch im Urschlaf liegenden großen Volksenergien 
des Ostens geweckt hätten und die riesigen Naturschätze des nördlichen Asiens zu 
mobilisieren begännen. Wenn dieser Mann recht hat, dann braucht die Notwendigkeit 
der deutschen wirtschaftlichen Einfühlung in den neuen Osten nicht bewiesen zu 
werden. Schon jetzt sehen wir, daß trotz Stümperei und Spielerei, trotz größter 
Kapitalnot und mangelndem technischen Können, die wirtschaftliche Entwicklung 
vorwärts schreitet, Wir beobachten von Monat zu Monat deutlicher, daß die kapi- 
talistischen Staaten einschl. Amerikas dem östlichen Wirtschaftskomplex nicht mehr 





ur mut = Cramer = 100 ine 


Anmerkungen zu einer russischen Reise 247 


(EEE LEERE ESRERGETTFICENEERESSIENEEISKDEEERTEEGESEEBAEPREETREFGAEEEEREEREEEERER HEERES ERERIEGTREREESREESCHESTNLBREEURETRFGERISDENREERHERSETSAENGE RERTERELE ERGEBENDEN RESTE RERAREABEN BELEG KENBETERSSHTERREUTTRLERE 





‘o gleichgültig und ablehnend gegenüberstehen wie noch vor einem Jahre. Es genügt 
ıuf die langfristigen Lieferungskredite der britischen Industrie hinzuweisen, die 
yewiß alles weniger denn bolschewistenfreundlich gesinnt ist, und auf die umfang- 
eichen amerikanischen Engagements untereigener und unter deutscher Flagge. Radek, 
der geistreiche Schwätzer, hat einmal ein prophetisches Wort gesagt: „Der russische 
Bauer braucht nur zwei Zentimeter tiefer zu pflügen, um die Getreideversorgung 
der Welt völlig umzustoßen.‘“ Man braucht nicht so weit zu gehen wie der naive 
General von Schoenaich, der — ein typischer Vertreter jener eingangs gekenn- 
zeichneten Vierwochen-Reisenden — aus diesem Bonmot herausgerechnet hat, daß 
dann jeder Mensch auf der Erde täglich soundso viel Gramm Brot mehr essen 
könne; aber wohl kann man sagen, daß das russische Volk, wenn es die impulsiven 
Rippenstöße des Bolschewismus in eine anders geartete Wachheit umsetzt, binnen 
einigen Jahrzehnten von 120 auf 220 Millionen Menschen gewachsen sein wird. 
Kurz: der Osten ist angekurbelt und wird in Gang kommen. 


Ob der kommende Osten ein bolschewistisches Gesicht tragen wird oder nicht, 
wird wesentlich davon abhängen, ob die nächsten Jahre folgender These recht 
geben werden: „Der Aufbau Sowjet-Rußlands vollzieht sich im gleichen Tempo wie 
der Abbau des bolschewistischen wirtschaftlichen Sozialismus.‘‘ Wenn man bedenkt, 
daß das System vor acht Jahren rein kommunistisch begonnen hat, ohne Geldgebrauch, 
Privatwirtschaft, und daß heute Überstunden, Akkordlöhne, Prämiensystem, Gewinn- 
beteiligung, Banken, Trusts, ausländische Konzessionen bestehen, dann kann manhöch- 
stensnoch von Staatskapitalismus reden. Von einer völligen Wiederherstellung bürger- 
lich-kapitalistischer Verhältnisse wird allerdingsinRußland keine Rede sein können, um- 
soweniger,alsauchindenaltenkapitalistischen Staaten unter bürgerlichen Regierungen 
wirtschaftlicheUmwälzungenvorsichgegangensind,diesehrstark nachSozialismusoder 
doch nach wirtschaftlicher Hypertrophie des Staates riechen. Es wird vielleicht so sein, 
daß beide Wirtschaftssysteme, das kapitalistische und das sozialistische, einander 
etwas entgegenkommen werden. Den größeren Weg allerdings wird das bolsche- 
wistische System zu machen haben. So wie wir die Mehrzahl der Bolschewiki ein- 
schätzen, würden sie an einer solchen Entwicklung nicht Kummers sterben, wenn 
sie nur an der Macht bleiben, 


Wird der Bolschewismus leben? 


ie antibolschewistische Propaganda in Europa hat sich zu lange und zu aus- 
D schließlich auf äußerliche Dinge, wie den Terror, eingestellt, sie hat den Unter- 
gang des Bolschewismus zu oft prophezeit, als daß die europäischen Arbeiter ihr 
noch besonders zugänglich sein könnten. Die früheren Übertreibungen haben der 
Ill. Internationale das Spiel erleichtert. Die blinde Lobhudelei, der auch 
ein Teil der bürgerlichen Presse heute frönt, wirkt im gleichen Sinne. Überdies 
besitzt die III. Internationale in den von ihr begründeten, bezahlten und komman- 
dierten kommunistischen Parteien der europäischen Länder ein Instrument, wie 
es kaum je die Propaganda eines fremden Staates besessen hat: sind doch die kom- 
munistischen Parteien als legale parlamentarische Fraktionen an der Gesetzgebung 
der Staaten unmittelbar beteiligt. Aufklärung der europäischen Massen über das 
wahre Gesicht des Bolschewismus und vor allem über die unsozialistische Ent- 
wicklung, die er genommen nat, wird noch dadurch besonders behindert, daß diejenige 
europäische Presse, die am meisten Gehör bei den breiten Massen findet, das ist 
die sozialdemokratische, über keine unmittelbaren Nachrichtenquellen in Sowjet- 
Rußland verfügt, weil ihre Vertreter dort nicht zugelassen werden. Da sie aus 
bürgerlichen Zeitungen nicht gern etwas abdruckt, ist sie fast ausschließlich auf die 
menschewistische Emigrantenliteratur angewiesen, die ihrerseits meist wieder aus 
Quellen zweiten Ranges schöpft. Sie sollte bei Bekämpfung der kommunistischen Pro- 
paganda lieber nicht mehr so viel von der Tscheka als davon reden, was am bolsche- 
wistischen System nicht proletarisch, nicht arbeiterfreundlich bzw. nicht arbeiter- 


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248 Entwicklung des Bolschewismus 








günstig ist. Man sollte davon reden, daß es in Sowjet-Rußland wieder elegante Hotels 
für Wohlhabende bzw. Vielverdienende und Kaschemmen für das Volk gibt, man 
sollte sagen, daß Staats- und Parteifunktionäre und kapitalistische Ausländer im 
Roten Reich auf Schiff und Eisenbahn wieder I. Klasse fahren, während der gewöhn- 
liche Arbeiter und Bauer III. Klasse bzw. Zwischendeck reist. Man sollte die un- 
menschlichen Wohnungsverhältnisse in den Großstädten schildern und das grenzen- 
lose Elend der Hunderttausende von verwilderten obdachlosen Kindern, man sollte 
sagen, daß der russische Arbeiter nicht mehr nach Zeit, sondern nach Leistung be- 
zahlt wird, daß in den russischen industriellen Betrieben Überstunden gemacht 
werden (über den Achtstundentag hinaus), man sollte sagen, daß etwa nur ein 
Viertel der Arbeitslosen unterstützt wird und zwar nur etwa halb so hoch wie in 
Deutschland, und dergl. mehr. Vor allem sollte man peinlich bei der Wahrheit 
bleiben und ausschließlich bolschewistische Zeitungen zitieren, in denen man, wie 
früher schon gesagt, über alle diese Dinge genügend Material und Kritik findet. 


M' der Kritik am Bolschewismus allein aber wird es nicht getan sein. Indem 
man der Arbeiterschaft den Glauben an den Sozialismus an Hand seiner rus- 
sischen Verwirklichung zerstört, untergräbt man auch ihren Glauben an den So- 
zialismus überhaupt bzw. an die Führerschaft der II. Internationale, an die Sozial- 
demokratie. Es ist zweifelhaft, ob die Sozialdemokratie als Arbeiterführerin über- 
haupt noch zu retten ist, denn ihre Hauptschwäche im Kampf mit dem Kommunis- 
mus ist die, daß sie selbst nicht mehr an den Sozialismus glaubt. Die praktische 
Politik der europäischen Sozialdemokratie geht nicht mehr marxistischen Zielen 
nach, sondern kleinbürgerlichen. Damit wäre sie ein funktionell wertvolles In- 
strument echter Sozialpolitik geworden, deren Ziel die Verbürgerlichung des vierten 
Standes ist. Solange es aber die Sozialdemokratie nicht wagt, ihren Anhängern 
offen zu sagen: ihr sollt Kleinbürger werden mit allen Aufstiegsmöglichkeiten 
für die tüchtigsten eurer Kinder, solange wird sie in der Gefahr leben, von der 
bolschewistischen Agitation aufgerieben zu werden. 


ber nicht die Il. Internationale allein wird die Frage, ob der Bolschewismus 

fortleben werde, zu beantworten haben. Es wird darauf ankommen, ob das 
europäische Bürgertum die Zeichen der Zeit zu erkennen imstande ist. Die euro- 
päische Arbeiterbewegung ist im Grunde nichts anderes als die bürgerlich-revolu- 
tionäre Welle um die Wende des 18. Jahrhunderts, die auch erst mit Erreichung 
der Gleichberechtigung des aufsteigenden Standes verebbte.: Was aber den 
Arbeiterangriff auf die Gesellschaftsordnung verwickelt macht, ist der Umstand, 
daß der vierte Stand nicht so sehr um die ideelle Gleichberechtigung als um die 
Erreichung der Lebenshaltung der anderen Stände zu kämpfen hat; politische 
Vorrechte sind verschwunden, aber die soziale Gleichheit ist nicht hergestellt, weil | 
der Arbeitermasse die materiellen Mittel fehlen (ihrem größeren Teil wenigstens) 
um bürgerlich zu leben. Der arbeiterfremde Marxismus hat diesen Umstand be- 
nutzt, um die Arbeiterbewegung aus ihrer natürlichen Richtung abzulenken; das wahre 
Ziel des Arbeiters, das Bürgerwerden, ist aus seinem Oberbewußtsein verschwunden 
und hat dem Klassenkampf mit dem Ziel politischer Herrschaft Platz gemacht. 


Auf der anderen Seite ist leider das Denken des Bürgertums so von kaufmännischen 
Kalkulationsmethoden beherrscht, daß es die Forderung der sozialen Entwicklung, den 
Arbeitern einen größeren Anteil am Reinertrag der Produktion zu geben, ablehnen zu 
können glaubt. Die Ausrede, daß die gegenwärtige Wirtschaftslage eine Besserstellung 
der Handarbeiter nicht erlaube, wird von diesen nicht anerkannt, da sie auf Zeiten der 
Hochkonjunktur hinweisen können, in denen ihr Anteil am Gewinn auch nicht 
größer gewesen ist. Es wird auf die Dauer schwer halten, selbst berechtigte Spar- 
samkeit am Arbeitslohn gegen die natürliche Stoßkraft der aufstrebenden Arbeiter- 
massen zu verteidigen. Neue Wege müssen gefunden werden, wenn die soziale 
Bewegung nicht Revolution werden soll. 











- an ——_ En. 





Anmerkungen zu einer russischen Reise ; 249 





D; Zukunft nationaler Bewegungen vorauszusagen ist ein schwieriges Ding; denn 
bei ihnen spielen oft geistige und seelische Störungen sowie Persönlichkeitswerte 


eine ausschlaggebende Rolle. Soziale und wirtschaftliche Entwicklungen sind 
leichter abzuschätzen, denn sie folgen primitiven Gesetzen. Im bolschewistischen 
"System kreuzen sich diese beiden Hauptimpulse geschichtlichen Werdens. Auch der 
kommunistische Staat hat den Druck der primitiven wirtschaftlichen Kräfte em- 


pfunden. Daß er diesem Drucke nachgab, daß er nicht starr an seiner utopischen 


Wirtschaftsform festhält, ist eine für die Beurteilung der Zukunft Sowjet-Rußlands 
"wichtige Tatsache. Sie allein schon könnte als Antwort für die Frage genügen, warum 
das so oft totgesagte bolschewistische Rußland immer noch lebe. 


Der Bolschewismus als Wirtschaftssystem lebt heute in erster Linie deshalb noch, 


"weil er nicht mehr der ursprüngliche Bolschewismus ist, wie wir ihn aus den ersten 


Jahren der russischen Revolution kennen. Daß der Bolschewismus auch als poli- 
tisches System Lebensfähigkeit bewiesen hat, liegt zum Teil daran, daß seine 


Methoden, über die wir an anderer Stelle gesprochen haben, für die Völker Rußlands 
‚nicht alle neu gewesen sind. Der ordenhafte Aufbau der herrschenden kommu- 


nistischen Partei und das Tscheka-Institut ermöglichen in diesem dünn besiedelten 
Lande eine Überwachung aller Regungen der Volksseele, ja fast jedes einzelnen 
Staatsbürgers. Die geringe Bildung und die noch geringere Energie des Durchschnitts- 


"russen machen Verschwörungen in diesem Lande schwierig. 


Nichts ist bezeichnender für die Festigkeit des jetzt Bestehenden als die Mittel, 
von denen die Feinde des Bolschewismus seinen Sturz erhoffen: die in Rußland 
hoffen auf eine Intervention auswärtiger Mächte, und die im Ausland erwarten eine 
Gegenrevolution in Rußland. Wenn man sich erinnert, daß beide Mittel zusammen, 


"ausländische Interventionen und mächtige innere Gegenrevolutionen, nicht einmal 
"in den Jahren von 1918 bis 1921 den Bolschewismus zu stürzen vermochten, als er 


noch in den Kinderschuhen steckte und verwaltungsmäßig völlig unorganisiert war, 
woraus schöpft man dann noch die Hoffnung, ihn heute, als straff organisierte Macht, 
mit solchen Mitteln zu besiegen’? 

So wie die Dinge liegen ist ein plötzlicher Sturz der roten Herrschaft nur dann 
zu erwarten, wenn die oberste Führerschaft selbst sich ernstlich in die Haare geriete. 
Das Reich Lenins ist zwar nicht so sehr auf einen Einzelnen zugeschnitten, wie das 
alexandrinische oder das napoleonische Weltreich es war. Aber Diadochenkämpfe 
würden auch ihm gefährlich werden, denn sie würden alle inneren und äußeren Feinde 
des Sowjetreiches zu neuen Umsturzversuchen anspornen. Wenn wir also die 
bolschewistische Herrschaft für die Gegenwart und die nähere Zukunft als gesichert 
ansehen müssen, so ändert sich das Bild, wenn wir weiter vorausblicken. Wie werden 
die künftigen Führer aussehen? Was wird aus der Jugend, die ‘jetzt unter der bol- 
schewistischen Erziehung heranwächst und diese künftigen Führer stellen soll? 


ie Bolschewiki wissen, welche Bedeutung die Jugend für ihre Zukunft hat, und 
wenden ihrer Erziehung deshalb mehr Aufmerksamkeit zu als irgend etwas ande- 
rem. Sicher haben sie die Zahl der Schulen gewaltig vermehrt und in der Verminde- 


| rung’ der Analphabetenzahl große Erfolge erzielt. Die neue Generation wird auch weder 
| so stumpfsinnig noch so schmutzig sein, wie es die alte besonders auf dem Lande ist. 


Aber diese Jugend wird, buchstäblich vom Säuglingsalter an, so vollgestopft mit 
kommunistischer Propaganda, daß man sich nicht vorstellen kann, wo diese Kinder 
und Halbwüchsigen noch Zeit für ernstliches Studium herbringen sollen. Wenn 
man das anmaßende und selbstbewußte Gebahren der kleinen Knirpse sieht und den 
Schatz an Propagandaphrasen hört, von dem sie überquellen, dann kann man sich 
wohl denken, daß aus ihnen zwar einmal ausgezeichnete Bolschewiki hervorgehen 
werden, daß ihnen aber das Maß von Kenntnissen geistiger Schulung und Selbst- 
beherrschung fehlen wird, das die alten Bolschewiki aus bürgerlicher Herkunft 
und bürgerlicher Erziehung besitzen. Diese Kinder lernen vor allem eines nicht — 
gehorchen! Jedoch: es gibt kaum anpassungsfähigere Menschen. als die heutigen 
Entwicklung des Bolschewismus (Südd, Monatshefte, 23, Jahrg., Heft 10) 17 





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250 Entwicklung des Bolschewismus 


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Führer Rußlands; wer weiß daher, ob nicht auch binnen kurzem die Erziehungs- 
methoden radikal geändert werden ? 


nd schließlich soll man nicht vergessen, daß der Bolschewismus nur ein Glied 

jener Kette von großen Bewegungen ist, die seit der hunnischen Frühzeit stoß- 
weise über die Fläche des asiatischen Kontinents gebraust sind. Er trägt die Merk- 
male seines Ursprungslandes im Gesicht. Das große Neue an ihm ist, daß er sich 
nicht auf ein Einzelvolk stützt. Das macht ihn, in der Erscheinungsform der kom- 
munistischen Internationale, zu einer noch ernsteren Bedrohung für die europäische 
Halbinsel als die früheren asiatischen Vorstöße. Wenn es jedoch Europa gelingt, 
gesunde soziale Verhältnisse zu schaffen, dann werden wir das heutige Rußland 
nicht mehr als Drohung empfinden. 


Eindrücke von der räterussischen Wirtschaftspolitik 


Von Dr. jur. Rihard Ullric in Berlin 


\X Jirtschaftliche Forderungen und Probleme sind der Kern des russischen Kommu:- 

nismus. Der Ruf: Alles Land den Bauern! löste die kaiserliche Armee auf und 
spielte den Machthabern, die jetzt im Kreml sitzen, die Staatsgewalt in die Hand. 
Ein tragischer Kreislauf der Geschichte will es, daß die Lösung der Agrarfrage, die 
Gewinnung der Zufriedenheit der Bauernschaft schlechthin das Problem ist, das vom 
ersten Tage ihres Bestehens wie eine Nemesis über der Räteregierung schwebt, das 
seit 1917 die Dekretierungen, die Gesetzgebung und alle Partei- und Staatskongresse 
ausschlaggebend beherrscht. Das Studium der wirtschaftlichen Maßnahmen, Irr- 
tümer, Fehlschläge und Experimente führt am besten mitten hinein in das Wesen 
des Sowjetstaates, die Beurteilung seines politischen Schwergewichts und Erwä- 
gungen darüber, welche Rolle dieser Staat in der nächsten Zukunft spielen kann und 
ob seine Festigung nur scheinbar, vorübergehend oder von Dauer ist. 

Rußland hat der ganzen Welt den ungeheuren Dienst erwiesen, daß es sich her- 
gegeben hat als Versuchsfeld dafür, ob der Marxismus in seiner reinsten Durch- 
führung möglich oder ob die ganze Lehre von Marx eine Utopie ist. Es ist deshalb 
grundfalsch, mit vorgefaßten Meinungen, mit gefühlsmäßigen Urteilen an die Frage 
heranzutreten, Wenn man das Experiment der Bolschewisten zwar für ein Experi- 
ment, aber für ein Experiment von weltgeschichtlicher Bedeutung hält, wenn man 
sich vergegenwärtigt, daß die meisten alten Führer des Bolschewismus Männer sind, 
die ernst genommen werden müssen, weil sie fast ausnahmslos ihr ganzes Leben der 
Idee der materialistischen Weltanschauung gewidmet haben, denen der Begriff des 
Klassenkampfes, der sozialen und schließlich der Weltrevolution in Fleisch und Blut 
übergegangen ist, so wird man sich nicht damit zufrieden geben, die bolschewistische 
Revolution als das Werk von Verbrechern, Abenteurern oder Wahnwitzigen mit 
Schimpfwörtern oder moralischem Achselzucken abzutun. Daß sich solche Elemente 
massenhaft der Bewegung angeschlossen haben, soll nicht bestritten werden und ist 
nicht zu verwundern. Die Führer jedoch sind Idealisten des Marxismus. Dies fest- 
zustellen ist notwendig für die Beurteilung der wichtigsten Frage, ob sich die rus- 
sische Revolution unmerklich und gegen den Willen der Führer unter der Einwirkung 
der wirtschaftlichen Tatsachen aus ihrem Himmel der Utopien herab auf den Boden 
des Alltags entwickeln können wird, ob eine Evolution in dem Sinne möglich ist, daß 
diese eingefleischten Revolutionäre schließlich gute Bourgeois werden können. 

Die Beantwortung dieser Frage, die alle anderen umschließt, ist schwer. Es liegen 
allerdings Anhaltspunkte vor, aus denen man schließen könnte, daß sich auch 
die Bolschewisten den Gesetzen der Wirtschaft nicht entziehen können, daß sie 
durch Zugeständnisse über die allmähliche Milderung von Härten an die Lebens- 
formen der bürgerlichen Welt herangeführt werden. Fast regelmäßig schlägt aber 
nach solchen Korrekturen auch plötzlich wieder eine revolutionäre Welle durch, 


Richard Ullrich: Eindrücke von der räterussischen Wirtschaftspolitik 251 
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und alles, was man als Evolution hätte ansprechen können, fällt zusammen. Die 
Menschen sind und bleiben die Träger der Ereignisse. Die Menschen, die die russische 
Revolution führen, sind und bleiben Revolutionäre. Der Bolschewismus ist seinen 
wirtschaftlichen Bekennern nicht eine einfache politische Lehre. Sie sind von ihrer 
Idee wie von einer Religion mit einem fanatischen Glauben erfüllt. Die alte Garde 
des Bolschewismus ist ein Orden, so gut wie ein frommer Mönchsorden, mit Tradi- 
tion, Geschichte, Märtyrern und geheimen Femgerichten über jeden, der auch nur 
die geringsten Symptome des Abfalls, genannt der Gegenrevolution, zeigt. Lenin 
konnte mit Recht diesen innersten Kern der Partei als einen Monolith bezeichnen, 
als einen Granit, den nichts als der einst in Sibirien oder im Exil genährte Glaube an 
den Bolschewismus, zusammengeschmolzen hat. Es ist unmöglich zu sagen, ob dieser 
granitene Block sich freiwillig erweichen wird, oder ob jede Bewegung, die man in 
Westeuropa als Evolution anzusprechen geneigt ist, ihre Grenze findet an den 
letzten Zielen, die ein wahrer Bolschewik nie preisgeben wird. Die Zeit spielt eine 
ganz andere Rolle. Man rechnet mit einem halben, vielleicht einem ganzen Jahr- 
hundert. Wird das Versuchsobjekt, der russische Bauer, so lange stillhalten ? 


ie8 Jahre bolschewistischer Wirtschaftspolitik teilt man in zwei Perioden ein, die 

des reinen kriegerischen Kommunismus von 1917 bis 1921, die der neuen Wirt- 
schaftspolitik seit 1921. Eine dritte Periode soll sich nach den Absichten der bolsche- 
wistischen Wirtschaftsführer in diesem, spätestens im nächsten Jahre anschließen, 
nämlich die des Aufbaus des sozialistischen Staates, zu dem die mit Zugeständnissen 
an die bürgerliche Wirtschaftsordnung durchsetzte, jetzt laufende Periode nur ein 
Übergang, ein vorübergehender Rückzug sein soll. 

Die erste Periode, die des reinen Kommunismus, wird gekennzeichnet durch das 
Streben nach restloser Abschaffung jedes Eigentumsbegriffs, Verstaatlichung 
des gesamten Wirtschaftslebens, Beseitigung jedes Handels, Abschaffung des Geldes, 
Durchführung aller hierfür erforderlichen Maßnahmen mit Gewalt und Vernichtung 
des Bürgertums, der Grundbesitzer, der Träger der alten Staatsgewalt dadurch, daß 
man sie mit Stumpf und Stiel ausrottet. Tatsächlich hat die Verwirklichung des 
reinen Kommunismus zunächst in den ersten Monaten eine ganz andere Wendung 
genommen als beabsichtigt. Sie führte nicht zur Schaffung einer starken kommu- 
nistischen Zentralgewalt, sondern zum Chaos, zur Willkürherrschaft kleiner und 
kleinster Satrapien. Zwei Monate nach der bolschewistischen Revolution sah sich der 
oberste Volkswirtschaftsrat bereits gezwungen, der ‚wilden‘ Konfiskation von 
Fabrikunternehmen durch ein Dekret entgegenzutreten, demzufolge diese Konfis- 
kationen nur nach staatswirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen sollten und keine 
andere Behörde als der Oberste Volkswirtschaftsrat oder der Rat der Volkskommis- 
sare zur ihrer Verhängung befugt sein sollten. Die Sammlung der Dekrete über 
Konfiskationen, Nationalisierungen, Sequestrierungen, Requisitionen und Mono- 
polisierungen wurde vom Obersten Volkswirtschaftsrat zu einer Kodifikation zu- 
sammengefaßt. In der Einleitung zu dieser Kodifikation macht diese Behörde im 
Herbst 1918 freilich selbst die Einschränkung, daß sie nicht den Anspruch erhebe, 
Ihre Dekrete mit Gesetzeskraft auszustatten. Hierzu fehle ihr die Legitimation und 
die Macht. Die Masse der Dekrete, die der erste, das erste Jahr des Bolschewismus 
vom 25. Oktober 1917 bis zum 25. Oktober 1918 umfassende Band enthält, ist unge- 
1euer und unübersehbar. Soweit möglich, sind die Enteignungen durch die unteren 
Irgane registriert und in einem hundert Seiten umfassenden Verzeichnis beigefügt 
worden. Die Enteigner sind zum größten Teil nicht Behörden, sondern örtliche 
Komitees von Matrosen, Soldaten, Arbeitern. Die drei grundlegenden Dekrete aus 
der Zeit des reinen Kommunismus, von Lenin gezeichnet, sind das über die Natio- 
aalisierung des Grund und Bodens, über die Nationalisierung der Großindustrie und 
über die Nationalisierung des Handels. Wie gesagt, suchten die beiden letzten 
Dekrete der mit elementarer Wut vor sich gehenden Ausplünderung der Betriebs- 
mittel durch den Pöbel zuvorzukommen, die Enteignung zugunsten eines aufzu- 
Jauenden sozialistischen Staates in ein staatlich geregeltes, kontrolliertes System zu 


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252 Entwicklung des Bolschewismus 











bringen. Den großen Unterschied zwischen Theorie und Wirklichkeit, Absicht der 
Zentralregierung und Ausführung in der Provinz habe ich an einem praktischen 
Beispiel in Petersburg studieren können, an der Nationalisierung der größten Stapel- 
häuser der Hauptstadt, der Kokorowschen Speicher, die rund 250 Lagerhäuser um- 
faßten. Nachdem ein Dekret über den Begriff ‚„Herrenloses Gut‘ die Handhabe 
gegeben hatte, befahl am 8. August 1920 der Soldat Chimenko dem Matrosen Krescht- 
schelunjetz, die Lagerhäuser im Wege der Nationalisierung zu räumen. Was sich auf 
Grund dieses Befehls abgespielt haben mag, ergab das Bild, das die Lagerhäuser 
nachher boten. Die bolschewistischen Enteigner waren über ihr Opfer wie über eine 
willkommene Beute hergefallen und hatten zunächst in echt russischer Lust am 
Zerstören alles, was sie vorfanden, kurz und klein geschlagen. Was ich auf ehe- 
maligen Möbelspeichern an Polstermöbeln sah, war aufgeschnitten, zerhackt, 
systematisch vernichtet. Reihenweise lagen ganze Häuser voll eingeschlagener 
Schränke, Tische, ganze Scherbenhaufen von Spiegeln, Marmorplatten. Klaviere 
als Hobelbank oder mit besonderer Vorliebe als Klosett benutzt. Silber, Wäsche und 
besonders Teppiche, mit denen ein schwunghafter Handel auf Schmuggelschiffen 
nach Schweden betrieben wurde, wurden weggeschleppt. Vergebens suchte die Re- 
gierung mit unerbittlicher Strenge gegen diese Umwandlung des Bolschewismus in 
russisches Asiatentum vorzugehen. Ein Dekret vom Juli 21 nimmt gegen die Aus- 
plünderung von Staatsspeichern folgendermaßen Stellung: 


Dekret über die Maßnahmen zur Bekämpfung von Veruntreuungen aus Staats- 
speichern (Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Wzik vom 1.7.21, Nr. 54 N. 1): 


Um die zunehmenden Veruntreuungen aus den Staatsmagazinen zu bekämpfen 
und gegen Sowjetbeamte vorzugehen, die sich kraft ihrer Dienststellung an 
solchen beteiligen, ordnet das Vollzugskomitee an: 


l. Alle Provinzrevolutionstribunale, Militärtribunale, Eisenbahntribunale 
haben alle Personen, die folgender Vergehen beschuldigt werden, in leichteren 
Fällen mit mindestens drei Jahren Zuchthaus bei strenger Einzelhaft, bei er- 
schwerenden Umständen, wie massenhafte Diebstähle, mehrfache Wiederholun- 
gen usw. mit dem Tode durch Erschießen zu bestrafen. (Es werden die einzelnen 
Fälle von Unterschleifen angeführt.) 


2. Das Kassationstribunal des Wzik als oberste Appellationsbehörde hat alle 
Revolutionstribunale anzuweisen, alle Prozesse genannter Kategorie außer der 
Reihe nach dem vereinfachten Verfahren, das heißt ohne Zulassung einer 
Verteidigung oder von Zeugen, durchzuführen. 


3. Allen Gouvernementsvollzugskomitees ist vorzuschreiben, auf Grund der 
ihnen seit 22. Mai 1921 zustehenden Rechte keine Kassationsklagen oder Gna- 
dengesuche durchzulassen und das Urteil innerhalb 24 Stunden zu vollstrecken. | 

4. Als einzige Erwägung, die eine Abweichung von dieser Vorschrift gestattet, 
ist die soziale Herkunft und Klassenzugehörigkeit der Angeklagten und Ver- 
urteilten in dem Sinne zu untersuchen, daß gegen Personen proletarischer oder 
halbproletarischer Herkunft die Strenge der Repressalien gemildert werden 
darf, aber gegen Beamte und Vertreter der Welt der Spekulanten mit aller Un- 
erbittlichkeit und Strenge angewandt wird. 


Dieses blutige Dekret ist von Lenin selbst gezeichnet. Man soll also doch nicht 
versuchen, diesen Praktiker der Revolution als Gegner des Terrors hinzustellen. 

Auf dem Lande hatte der reine Kommunismus durch das Dekret über die Freigabe 
alles Herrenlandes zur Vernichtung der meisten Gutshöfe geführt. Die praktische 
Durchführung der Landverteilung ist bis heute nicht erfolgt. Immerhin kann man 
sagen, daß die Zeit der Güterenteignung wohl der einzige Augenblick in der ganzen 
russischen Revolution gewesen ist, in dem der Kommunismus das Dorf auf seiner 
Seite hatte. Sehr bald setzte der Widerstand der Bauern ein. Die von Anfang an 
auf die Umwerbung des städtischen Fabrikproletariats und auf die Industrie, als die 
keibgarde des Bolschewismus, eingestellte Wirtschaftspolitik vernachlässigte die 














Richard Ullrich: Eindrücke von der räterussischen Wirtschaftspolitik 253 


Interessen der Bauern. Bereits durch die Nationalisierung des Handels, die Abschaf- 
fung der Märkte, wurde das vom Markthandel lebende Dorf schwer getroffen. Als 
zur Sicherstellung der staatlichen Lebensmittelbewirtschaftung nach dem Muster 
der Kriegswirtschaft in Deutschland, die von Lenin als ganz besonders vorbildlich 
für den Kommunismus hingestellt worden ist, die Ablieferung des größten Teiles der 
Ernte angeordnet wurde, verweigerte die Bauernschaft den Gehorsam. Es kam zu 
den berüchtigten Zwangsrequisitionen durch die Tscheka, die rote Armee und beson- 
dere, hierfür eingerichtete Detachements. Trotzdem mit beispielloser Härte vorge- 
‘gangen wurde und das Blut in Strömen floß, versteifte sich der Widerstand des 
‚ Dorfes immer mehr, es kam zu Bauernaufständen in ganzen Gouvernements, be- 
sonders im Gebiet der Schwarzerde, vor allem in der Ukraine, deren Bauern an und 
' für sich selbständiger als die Großrussen sind. Eine Mißernte kam hinzu, deren 
| letzte wirtschaftliche Ursachen auch wieder im System des reinen Kommunismus und 
weniger in Klimatischen Verhältnissen lagen, es brach eine Hungersnot aus, wie sie 
Rußland noch nie erlebt hatte. 


| BE selbst machte in der Rede, in der er die Abkehr vom reinen Kommunismus 
| vorbereitete, das Geständnis, daß es bisher nicht gelungen sei, die Losung: Die 
‚Front zum Dorfe!, das heißt die Einführung des Kommunismus in die bäuerliche 
| Gedankenwelt, zu verwirklichen. Der Widerstand des Dorfes brachte die erste Etappe 
‚der bolschewistischen Wirtschaftspolitik zu Fall und bewies damit zugleich, wo der 
" Grundfehler des ganzen Systems liegt. Nämlich darin, daß sich dieses System in 
einem Lande, in dem mindestens 80%, der Bevölkerung Bauern sind, nicht auf diesen 
Teil, der den Grundstock des Volksvermögens, die Agrarprodukte, liefert, stützt, 
ndern auf den Teil, der zwar seit langen Jahrzehnten für die revolutionären 
‚Gedankengänge gewonnen ist, nämlich das städtische Proletariat, der aber in einer 
künstlich geschaffenen, der Kulturellen Rückständigkeit des Landes durchaus zuwider 
' konstruierten Industrie beschäftigt ist. 
0 Die drei mächtigen Feinde, mit denen der Bolschewismus seit seiner Entstehung 
| im stillen, aber zermürbenden Kampfe liegt. sind das internationale Kapital, der 
innere Markt und der nüchterne Bauernverstand, der sich um die utopistischen Reden 
den Teufel kümmert, sondern weiter nichts verlangt, als auf seiner eigenen Scholle 
sitzend für sein Getreide Preise zu erhalten, die den Bedürfnissen entsprechen. Der 
| Gewinnung des Bauern sollte nach Lenin die Nep, die neue Wirtschaftspolitik dienen. 
| Es ist gut sich jetzt zu vergegenwärtigen, daß Lenin Bestehen oder Zusammenbruch 
‚des Bolschewismus 1921 rund heraus davon abhängig gemacht hat, ob dies Ziel 
erreicht würde. Deshalb hat er auch die Neue Wirtschaftspolitik nicht als einen ersten 
Schritt zur Evolution gelten lassen, sondern nur als eine Atempause, nach der mit 
| neuer revolutionärer Kraft im Bunde mit der kommunistisch gewordenen Bauern- 
‚schaft der Kampf um die Weltrevolution beginnen sollte. 

Durch die neue Wirtschaftspolitik wurde, freilich unter sehr gewagten Bedingungen, 
der private Handel in gewissen, scharf überwachten Grenzen freigegeben. Der Markt 
wurde wieder geschaffen als die Arena, in der sich nach Trotzkis Worten der Kampf 
zwischen dem roten und dem weißen Kaufmann abspielen sollte. Es wurden allerlei 
' Versuche gemacht, der russischen Volkswirtschaft ausländisches Kapital zuzuführen 
ca Konzessionen, gemischte Gesellschaften, Verpachtungen. In engen Grenzen 

wurde der Eigentumsbegriff wieder anerkannt. Gesetzbücher über zivile Materien 
wurden geschaffen, freilich auch sie in ihrer Wirksamkeit beschränkt durch das Fort- 
bestehen der Dekrete aus der Zeit des kriegerischen Kommunismus. Alle diese Maß- 
nahmen waren von dem einen Gedanken getragen, Kapital in die Hand zu bekommen. 
Der Bolschewismus hatte, als er ans Ruder kam, eine zwar durch den Krieg ge- 
schwächte, in ihrer Organisation aber gegenüber dem Friedensstand eher verbesserte 
Volkswirtschaft vorgefunden. Die russische Statistik weist die höchsten Produk- 
‚ tionsziffern in den Jahren 1915/1916 auf, also ein Jahr vor dem Bolschewismus. 
Die Epoche des kriegerischen Bolschewismus hatte die Landwirtschaft wie die Indu- 
strie aufs schwerste geschädigt. Man hatte von den alten Vorräten gezehrt und auf 





























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254 Entwicklung des Bolschewismus | I 
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die Unterstützung durch die Einbeziehung anderer Industrieländer, besonders 
Deutschlands, in die Weltrevolution und die Verstärkung der russischen Industrie 
durch die deutsche gerechnet. Nachdem diese Hoffnungen getrogen hatten, wurde 
die Durchführung einer auf verschiedenen Gebieten für verschieden lange Ab- 
schnitte berechneten Planwirtschaft in Aussicht genommen. Die Planwirtschaft 
sollte das kommunistische Gegengewicht gegen den wieder zugelassenen freien Markt 
bilden. Trotzki, als Leiter der gesamten verstaatlichten Industrie führte aus, daß 
durch die schrittweise Durchführung des staatlichen Wirtschaftsplanes dem Markte, 
der Arena des Privatkapitalisten, allmählich der Boden entzogen werden sollte. 
Der Feind ist und bleibt das Bürgertum, seit der Vernichtung der reichen Bourgeoisie 
besonders das Kleinbürgertum in Handel, Handwerk und Hausindustrie. Der staat- 
liche Wirtschaftsplan soll die private Initiative, das private Interesse, die freie Kon- 
kurrenz allmählich ersetzen. Mit der endgültigen Befestigung des staatlichen Wirt- 
schaftsplanes werde dann die neue Wirtschaftspolitik absterben und die neueste 
Wirtschaftspolitik, der sozialistisch organisierte Staat, an ihre Stelle treten. Um zu 
zeigen, wie dieser allrussische Wirtschaftsplan gedacht war, führe ich nur einige 
Zahlen an: Er sollte durchgeführt werden für die Armee in fünf Jahren, für den 
Wiederaufbau Petersburgs, Moskaus und anderer Städte in zehn bis zwölf Jahren, 
für die Versorgung des Landes mit landwirtschaftlichen Maschinen in 10 Jahren, 
mit Motorpflügen sogar in 6 Jahren. Die Elektrifizierung Rußlands sollte in 10 bis 
15 Jahren durchgeführt sein. Alles gerechnet von 1922 an. Das für den Bestand des 
Kommunismus unentbehrliche Außenhandelsmonopol sollte für die Zeit der Über- 
gangswirtschaft Nep die Grundlage des Wirtschaftsplanes bilden. Geregelt wird die 
Planwirtschaft durch eine ganze Reihe von Wirtschaftsbehörden, in erster Linie den 
Obersten Volkswirtschaftsrat, den Rat für Arbeit und Verteidigung und den Rat der 
Volkskommissare. Oberster Grundsatz ist, die Industrie möglichst unabhängig vom 
Auslande zu machen, also die abgenutzten Fabriken durch Einfuhr von Maschinen 
wiederherzustellen und für alle diese Operationen eine neue stabile Valuta zu schaf- 
fen. Um diese Aufgaben durchführen zu können, mußte man sich Barmittel oder 
Kredite im Auslande verschaffen. ‚Unser Feind, verkündete Lenin, das inter- | 
nationale Kapital, soll uns dazu helfen, unseren Staat aufzubauen. Es soll uns die- 
nen, unsere Waffen gegen es zu schärfen.“ Daher setzt mit dem Beginn der Nep die’ 
Periode der Beteiligung Rußlands an den politischen Konferenzen im Auslande ein, 
um durch völkerrechtliche Anerkennung, Handelsverträge und andere diplomatische | 
Mittel Kapital zu bekommen. Tschitscherin begann seine Geschäftsreisen. Besonders '' 
galt es, die angelsächsischen Mächte, vor allem das klassische Land des Großkapitals, 
Amerika, umzustimmen. Alle Bemühungen sind bis jetzt vergeblich gewesen. 
Wenn, besonders in Amerika, immer wieder die Ablehnung von Anleihen mit den 
Gefahren der bolschewistischen Propaganda begründet worden ist, so ist dies sicher- 
lich nur die Form gewesen. Die wahren Gründe sind das mangelnde Vertrauen in 
die Haltbarkeit und Kreditwürdigkeit des kommunistischen Systems auch in der 
abgewandelten Form der Nep. Das völlige Mißlingen des Versuchs der Bolschewisten, | 
in den letzten englischen Generalstreik politische Elemente hineinzutragen, hat)’ 
bewiesen, daß wenigstens augenblicklich die bolschewistische Gefahr sehr gering ist. 


achdem die Anleihepolitik gescheitert war, mußte man versuchen auf andere) 

Weise für die Beschaffung von Kapital zusorgen. Mit jedem Jahre der Nep wurde 
der Bedarf an Kapital größer. Zur Deckung des Kapitalbedarfs blieb die Getreideaus- | 
fuhr und die Währungsreform für den Sowjetrubel, der jede Kreditwürdigkeitim Lande 
selbst verloren hatte. 1923 wurde der erste Versuch mit der Getreideausfuhr gemacht, 
1924 mußte sie wegen einer völligen Mißernte unterbleiben, 1925 hatte man zwar eine 
gute Durchschnittsernte, aus Gründen, die weiter unten untersucht werden sollen, 
konntemansieabernichtrealisieren. Das Mißlingen des Ausfuhr-und Wirtschaftsplanes 
1925 hat die schwierige Lage am Kapitalmarkt noch vermehrt. Wieweit sich auf dem 
inneren Markt eine Kapitalsbildung vollzieht, ist schwer zu übersehen und sicher 
auch der bolschewistischen Regierung nicht genau bekannt. Das Mißtrauen gegen die 





Richard Ullrich: Eindrücke von der räterussischen Wirtschaftspolitik 220 


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‚Kapitalfeindlichkeit der Regierung legt es der Bevölkerung nahe, über Ersparnisse 
nichts verlauten zu lassen. Zweifellos aber ist diese etwaige Neubildung von Kapital 
-im Verhältnis zum Staatsbedarf sehr gering. Dies erhellt u. a. aus der Durchführung 
der letzten inneren Anleihen. Um sie überhaupt unterzubringen, mußte das Finanz- 


ministerium auf die Zeichnungen bis zu 90%, Lombardkredit gewähren. 


Die Gründe dafür, daß die Getreidekampagne des letzten Jahres scheiterte, liegen 
wieder im bolschewistischen System. Das Ziel der Nep ist, Rußland in einen ge- 
'schlossenen Handelsstaat zu verwandeln. Dazu muß es mit den asiatischen Gebieten 
zu einer Einheit zusammengefaßt werden. Nur so kann Rußland aus einem Agrarland 
in ein Industrieland verwandelt, die russische Wirtschaft dann von der veralteten 
Wirtschaft der gleichgültigen Bauern unabhängig werden. Der Bau von Industrie- 
pflanzen, vor allem Baumwolle, dann Flachs, Hanf, Santonin und anderen Apotheker- 
pflanzen soll in den Vordergrund treten. Bis dies erreicht ist, muß die heimische 
Industrie durch das Außenhandelsmonopol gegen den Wettbewerb der ausländischen 
Industrie geschützt, die Einfuhr auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Bisher hat 
die Industrie aber gegenüber den auf sie gesetzten Erwartungen völlig versagt. 
Sie ist noch genau wie bei Beginn der Nep eine Zuschußwirtschaft geblieben. Immer 
noch bleibt ihre Erzeugung um 30%, hinter dem Friedensstand zurück und ihre Ent- 
wickelung hat sich von Jahr zu Jahr verlangsamt. Die Zuschußwirtschaft und das 
mühsame Aufsteigen verteuern die Erzeugung derart, daß das Dorf Industrie- 
produkte nur im Notfalle aufnehmen will und kann. Dieses Übel besteht nun schon 
seit 1923. Damals tauchte zum ersten Mal die Frage auf, wie man die ungesunde 
Preisspannung zwischen landwirtschaftlichen und Industrieerzeugnissen beseitigen 
könne. Die Schere, wie Trotzki den Unterschied zwischen den teuren Industrie- 
‚und den landwirtschaftlichen Erzeugnissen nannte, ist seitdem nicht mehr ver- 
schwunden. Um nur einigermaßen marktfähige Preise stellen zu können, mußte die 
Industrie dauernd Staatszuschüsse erhalten, und es war sehr zutreffend, als mir der 


leitende Ingenieur eines der größten Metallwerke Moskaus sagte, im Gegensatz zu 


seiner technischen Arbeit im Frieden sei jetzt seine Hauptarbeit, im Wettlauf um 


die staatlichen Zuschüsse nicht zu spät zu kommen. 


Dabei herrscht im Lande ein wahrer Warenhunger. Es fehlt einfach an allem, und 
eine gesund arbeitende Industrie müßte glänzende Beschäftigung haben. Das zweite 
Hindernis ist der Verteilungsapparat, der unter Ausschaltung des privaten Kauf- 


 manns möglichst in den Händen des Staates liegen soll. Wenn auch zugegeben werden 
muß, daß die Moral der meisten Kaufleute der Nep die jedes Inflationsschiebers 





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in Schatten stellt, und daß die drakonischen Maßregeln der Räteregierung gegen 
' diese Wucherer begreiflich sind, so hat sich doch herausgestellt, daß die Erfahrungen, 


die sie mit ihren roten Kaufleuten machte, nicht besser waren. .In den staatlichen 
Kleinhandelsorganisationen und den Genossenschaften entwickelten sich Zustände, 
über die man ganze Anekdotenbücher im Stile Gogolscher Satiren schreiben Könnte. 
Schmiergelder sind nun einmal das russische Erbübel und anscheinend unausrottbar. 
In einem Aufsatz der Iswestija wurde anfangs April ausgeführt, daß man endlich 
die Beamten erziehen müsse, die Staatsgelder nicht als vogelfrei zu betrachten. Das 
einzige Mittel dafür ist der Terror. Mit dem Terror will Dscherschinski auch die 
Industrie gesunden, die Preise drücken, die Produktion wirtschaftlicher gestalten. 

Vermag man wirtschaftliche Desorganisation durch Todesstrafen zu beseitigen ? 
Das Übel liegt doch vor allem an der Minderwertigkeit des ganzen Apparates. Bei- 
spiele hierfür liefern die amtlichen Berichte zu Tausenden. Nur einige, die sich 
auf die wichtigsten Führerposten beziehen, seien kurz angeführt. In einem Bericht 
der Ekonomitscheskaja Shisnj vom 12. Mai wird über die Wurzeln der wirtschaft- 
lichen Schwierigkeiten berichtet, daß der Oberste Volkswirtschaftsrat von den nach- 
geordneten Organen systematisch ausgenutzt und irregeführt wird. Die Planarbeit 
des Obersten Volkswirtschaftsrates umfaßt 70%, der gesamten Planwirtschaft der 
Räteunion. Die Anmeldungen der Rohmateriallieferungen, die durch dn OVR 
gehen, beweisen, daß diese allgemein ins Blaue hinein oder absichtlich mit einem gro- 





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256 Entwicklung des Bolschewismus 








Ben Aufschlag gemacht werden, um in Erwartung der doch zu erwartenden Abstriche 
doch noch auf die Kosten zu kommen. Die Anmeldungen erfolgen sowohl nach Ge- 
wicht als nach Preis. Zwischen beiden klaffen Unterschiede, die beweisen, daß von 
einem kaufmännischen Kalkül in der Geschäftsführung keine Rede ist. So ist es 
möglich, daß die von zwei Stellen für den Baumwolltrust eingereichten Forderungen 
um 200%, differierten. Andere ließen ohne Widerspruch eine Kürzung auf 1, der 
ursprünglichen Forderung zu. Die zentrale Industrieverwaltung des Nordwest- 
gebietes forderte 46 Millionen Rubel zur Ergänzung des Maschinenbestandes, ohne 
sich über die Notwendigkeit der Beschaffungen im klaren zu sein, nur um vom Staate 
erst einmal Geld herauszubekommen. 


as Versagen der roten Fabrikdirektoren wurde in einer Konferenz dieser Herren 
D in Moskau am 16. Maid. J. besprochen. Das wenige, was über diese Besprechung 
in die Öffentlichkeit gedrungen ist, genügt zur Kennzeichnung dieser verantwortlichen 
Leiter. Die metallurgischen Fabriken erklären, daß sie zum 1. April um mindestens 
10% hinter dem Wirtschaftsplan zurückbleiben. Die Textilindustrie hat zwar einen 
kleinen Überschuß erzielt, die Direktoren geben aber zu, daß sie es übersehen haben, 
rechtzeitig für Beschaffung von Rohmaterialien zu sorgen, so daß die Fabriken einige 
Zeit stillgelegt werden müssen. Die Arbeitsleistung und damit die Produktivität 
der Arbeit ist im Winterhalbjahr weiter zurückgegangen. Die Industrieprodukte 
müssen also nicht billiger, sondern teuerer werden. Die Direktoren verlangen Siebung 
der Arbeiterschaft, Verbot der Fabrikmeetings und Einführung einer scharfen Ar- 
beitsdisziplin. Massenhaft wurden Beispiele für unrationelles Wirtschaften der Direk- 
toren angeführt. Eine der größten Unternehmungen bestellt mit beschleunigter 
Lieferungsfrist 50 Werkzeugmaschinen, bei genauer Kontrolle stellt sich heraus, daß 
100 gleiche Maschinen noch unausgepackt irgendwo herumstehen. Die Einwendungen 
der Direktoren werfen manches Schlaglicht auf die Hemmungen, die in dem System 
der Diktatur des Proletariats liegen. Der Vorschlag, die Arbeitsdisziplin zu heben, 
fand allgemeinen Beifall, aber auch große Bedenken, wie sich die professionellen 
Verbände der Arbeiter dazu stellen würden. Die Verschwendung der Syndikats- 
verwaltungen bei sachlicher Unfähigkeit kam in den gleichen Tagen zur Sprache. 
Einige Dutzend, deren Methoden als Beispiele herausgegriffen wurden, haben un- 
glaubliche Summen für nutzlose, wahrscheinlich höchstpersönliche Zwecke liquidiert. 
So figuriert bei allen als gleichmäßig durchlaufender Posten der Betrag von etwa 
1, Million Goldrubel für Kommandierungen zu Studienzwecken im Laufe eines halben 
Jahres. Es wird festgestellt, daß die Sparerlasse, vor allem der so rigoros klingende 
von Dscherschinski, nur auf dem Papier stehen und noch ‚nicht einmal die Peri- 
pherie erreicht‘ haben. In einem Syndikat hat man alle Arbeit auf Spezialisten ab- 
gewälzt, bürgerliche Ingenieure, die dafür das zehnfache Gehalt beziehen, den roten 
Direktoren aber ein sorgenfreies arbeitsloses Leben verschaffen. In Nowosibirsk 
stellten die Revidenten der sibirischen Trusts fest, daß diese nicht eine praktische 
Maßregel zur Durchführung der Sparerlasse getroffen haben. Auf die Frage des Vor- 
sitzenden, was eigentlich zur Behebung der Wirtschaftsnot geschehen sei, erfolgte 
die einstimmige Antwort von den Plätzen: ‚Nichts.‘ 

Das Ergebnis dieser planlosen Planwirtschaft ist ein dauernder Verschleiß der 
Substanz, eine übermäßige Inanspruchnahme, der an sich schon viel zu kurzen 
Kapitaldecke. Um diese zu verlängern, hat der Staat zu immer neuen Notenemis- 
sionen und zum Schnapsmonopol gegriffen, beides Mittel sehr zweifelhafter Art, um 
darauf die oben geschilderten hochfliegenden Pläne aufzubauen. Bei der Inaugurie- 
rung der Nep, des „Staatskapitalismus‘‘ als Überleitungsform, wurde die Schaffung 
einer stabilen Valuta als deren Fundament bezeichnet. Mit besonderem Geräusch 
wurde 1924 verkündet, daß in dem Tscherwonjetz eine stabile, unerschütterliche Va- 
luta geschaffen sei. Der Tscherwonjetz wurde die Garantie für den Fortbestand des 
kommunistischen Staates genannt. Seit einem Jahre verschärft sich durch den pas- 
sivenWiderstand der Bauern dieWirtschaftskrise, seiteinem Jahrenimmt die Kaufkraft 
des Tscherwonjetz langsam aber ständig ab. Sieht man von den finanztechnischen 








d 








Richard Ullrich: Eindrücke von der räterussischen Wirtschaftspolitik 257 








Gründen für diese Erscheinung ab und faßt sie nur als Symptom der Stimmung des 


“Landes ins Auge, so ist sie der Beweis, daß die Nep abgewirtschaftet hat. Die Re- 


gierung sieht die Lage Klar und stellt ihre gesamte Politik, vor allem auch die äußere 


"darauf ein. Der von der Staatsbank festgesetzte Zwangskurs, der am freien Markte 


schon längst keine Geltung mehr hat, wird sich nicht immer halten lassen. Vorsichtige 
Beurteiler schätzen den Wert des Tscherwonjetz auf 75%, der amtlichen Notierung. 
Bleibt die Lage so, dann wird man im Herbst für diese entwerteten Geldscheine erst 


recht kein Getreide von den Bauern herausbekommen. Die Lage wird dann so ernst 


sein, daß die Räteregierung wieder vor dem Dilemma stehen wird, zwischen politi- 
scher Utopie und wirtschaftlicher Praxis zu wählen. 


Rußlands Industriewirtschaft 


Von Professor Dr. Hellmuth Wolff in Halle a. $. 


ie russische Volkswirtschaft ist erst durch das im Frühjahr 1921 beschlossene 
neue ökonomische Programm in Bahnen gelenkt worden, die eine wirtschaftliche 
Entwicklung erlaubten. Rußland steht gegenwärtig im fünften Jahre der neuen 


ökonomischen Politik (Nep); und es steht zugleich zum ersten Male wieder seit 





E — TERRA A 








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Kriegsende auf einer Höchstgrenze seines Wiederaufbaues; denn das war das Ziel 
der neuen Wirtschaftspolitik, die aus der Revolutionszeit hinübergeretteten Ein- 
richtungen wieder betriebsfähig zu machen, womit etwa ein Fünftel der Vorkriegs- 
industrie erreicht wäre. 

Rußlands Industrie hat in diesen Jahren zwei schwere Wirtschaftskrisen aus- 
halten müssen; die Mißernte in 1922, die die bäuerliche Kaufkraft verringerte, und 


die unmäßige Preissteigerung der Industrieprodukte (der Industrieindex stand im 
Herbst 1923 um 150 % über dem Agrarindex) ein Jahr darauf. Die im März 1924 
durchgeführte Währungsreform erlaubte eine starke Herabsetzung der Großhandels- 


preise, die für die wichtigsten Industriewaren etwa bei 30—32 % lag, bei den Tex- 
tilien sogar bei 40 %. Hierdurch wurde in 1924 die Kaufkraft des inneren Marktes 
so erheblich gesteigert, daß die russsiche Industrie seither vor neuen Erschütterungen 
bewahrt geblieben ist. Der Industrieindex steht gegenwärtig nur etwa 10 %, über 


' dem Agrarindex, was als normal anzusehen ist. 


Einer zielbewußten Ausfuhrpolitik verdankt Rußland die Aufbringung be- 


 deutender Ausfuhrmengen, für die als Gegenwert wichtige Industriefabrikate ein- 


geführt wurden, hauptsächlich landwirtschaftliche Maschinen, aber auch Werkzeug- 
maschinen, industrielle Aufbaumaschinen, Arzneimittel u.a. 


Der für 1925 vorgesehene Wirtschaftsplan ist nach den bisher vorliegenden Nach- 
richten jedoch nicht voll zur Ausführung gelangt. Als Gründe hiefür werden genannt: 
l. die Verkleinerung des Ernteertrages infolge ungünstiger Wetterverhältnisse, 
2. die steigende Selbstverbraucherkraft der bäuerlichen Bevölkerung, 3. die Zunahme 
der Viehpreise, die einen Teil der agraren Ausfuhr aufzehrt, 4. die Zurückhaltung 
von agraren Ausfuhrmengen durch die Bauern zum Zweck des Ankaufs landwirt- 
schaftlicher Maschinen und Geräte, an denen es gerade wegen des Aufschwungs der 
kleineren Landwirtschaft fehlt. 


Der zu Ende 1925 gewährte deutsche 300 Millionen-Kredit sollte die Ausfuhr- 
lücken Rußlands füllen, aber der Betrag war schon im Januar 1926 voll aufgebraucht. 
Für Deutschland brachte er eine vorübergehende Steigerung der industriellen Be- 
schäftigung, für Rußland eine neue Belastung, da die ihm von deutscher Seite für 
den genannten Betrag gegebenen Waren eine viel längere Umschlagsperiode haben 
als die deutsche Fabrikationsperiode. Deutschland schuf sozusagen Anlagewerte für 
Rußland, während der geldliche Ausgleich dafür sich in der kurzen Produktions- 
periode der damit beschäftigten deutschen Industrie vollziehen sollte. 


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258 Entwicklung des Bolschewismus 
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Es war für jeden denkenden Wirtschaftspolitiker klar, daß diese Dissonanz der 
Umschlagsperioden keinen dauernden Gewinn für beide Teile haben konnte, denn 
jedes gesunde Kreditverhältnis setzt eine gewisse Gleichartigkeit der Umschlagszeiten 


voraus. Nur der ungeheuren Kraft der verantwortlichen russischen Außenhandels-"; 
stellen ist es zu verdanken, daß die mit Hilfe der deutschen Reichsbankkredite an") 


die deutsche Industrie geleisteten Zahlungen sich im Rahmen der einmal ge- 


PD . 22 


troffenen Vereinbarungen hielten. Es wäre aber zu begrüßen, wenn die Lieferungen} 
an Rußland immer mehr in den Bereich börsenmäßiger Abschlüsse gelangten, ! 
und der auch früher immer gern gepflegte Warenwechsel in seine alten Rechte’! 


eintreten würde. 


ie russische Industrie ist vollkommen staatssozialistisch; nur das Handwerk und 
Din besonderen das der täglichen Nahrungsmittelbeschaffung dienende wie 
Bäcker, Metzger, ist nicht einer staatlichen Produktionskontrolle unterworfen, 
sondern sitzt als „Pächter“ in seinen bisher zu eigen besessenen Betrieben. Diese 
Kleingewerbetreibenden dürfen bis zu 16 Lohnarbeitern beschäftigen, so daß also 
auch die bekannten Moskauer Qualitätsbäckereien u. a. wie bisher arbeiten können. 
Statt der Gewerbesteuer zahlen sie jetzt eine einfache Gewerbebetriebspacht. 
Trotzdem hat es erhebliche Schwierigkeiten bereitet, die Handwerker zu veranlassen, 
auf ihren alten Stätten zu bleiben. Die übermäßige Zerstörung aller bürgerlichen 
Erwerbstätigkeit bis in den Anfang des Jahres 1921 hat sie mutlos gemacht. Erst 
die kostenlose Zuführung aller Betriebsmaterialien einschl. der nötigen Heizstoffe 
auf Grund der Bestimmungen des Rates der Volkskommissare vom 5. Juli 1921 
hat einen Wandel bewirkt. 
Mehr als die Hälfte der früheren Handwerker sind seither wieder in ihre alten Werk- 
stätten eingezogen, aber fast alle haben durch die Regierung Erleichterungen hier- 
bei erhalten. Die in diesen Kleinbetrieben beschäftigten Personen stellen etwa 8 % 


der gesamten gewerblichen Arbeiterschaft Rußlands dar; ein Anteil, der nach der‘) 


sonstigen Produktionsorganisation unter Berücksichtigung der starken bäuerlichen 
Selbstversorgung volkswirtschaftlich als voll ausreichend bezeichnet werden kann. 


Der staatlichen Kontrolle unterliegen in Rußland heute nur die sogenannten 


Zensurbetriebe, d. h. Betriebe mit mehr als 16 Arbeitern bei motorischen Einrich-'' 


tungen und mit mehr als 30 Arbeitern ohne motorische Einrichtungen, 


In diesen Betrieben waren beschäftigt Ende Dezember 1925 1,91 Millionen Arbeiter, | 


die im Monat Dezember 1925 eine Bruttoerzeugung im Werte von 296 Millionen 
Rubel (nach den Angaben der statistischen Abteilung des obersten Volkswirtschafts- 
rates), oder von 155 Rubel auf Monat und Mann oder 6,1 Rubel auf Tag und Mann 


herstellten. Gegenüber den Produktionswerten der vorhergehenden vergleichbaren‘! 


11, Jahre bedeutet diese Leistung eine Steigerung, da die Tagesleistung in 1924 || 


noch unter fünf Rubel Wert blieb. 


Es ist also eine langsame Zunahme der industriellen Arbeitsleistung zu ver- 
zeichnen, die erst ins rechte Licht gelangt, wenn wir feststellen, daß die Zahl der 
in der staatlichen Großindustrie beschäftigten Arbeiter von 1,43 Millionen Ende 1924 
auf 1,91 Ende 1925 gestiegen ist. Immerhin darf nicht übersehen werden, daß diese 
Zahlen für ein Land mit mehr als 110 Millionen Bewohnern nur einen Bruchteil der 
Leistungsfähigkeit des ganzen Volkes umfassen. Solange Rußland nicht mindestens 
etwa !/,, seiner Bevölkerung in der Industrie beschäftigt, wird es keine industrielle 
Selbständigkeit besitzen. Underst beinoch höherem AnteilkanneszueinemFabrikaten- 
ausfuhrland aufsteigen. 

Aber diesen falschen Ehrgeiz hat heute wohl niemand in Rußland; vielmehr will 
es Agrarprodukten- und Bergbauprodukten-Ausfuhrland sein und bleiben, worin 
seine weltwirtschaftliche Einstellung und Stärke beruht. 

Die russische Industrie wird in vier verschiedenen Unternehmungsformen be- 
trieben, einmal rein staatlich, zweitens genossenschaftlich, drittens privat und 


























Hellmuth Wolff: Rußlands Industriewirtschaft 259 








\ viertensimWegederKonzession (gemischt-wirtschaftlich). Inden wichtigsten Industrie- le 


|gweigen verteilen sich diese Unternehmungsformen folgendermaßen auf Betriebe: 


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| Industriezweige im Ganzen | staatlich Snaftlich privat konz. 
| ar a 
I. Mineralgewinnung und -verarbeitung . 690 589 | 56 44 | 1 Ei a 
2. Montanindustrie - 2 222.2... 698 En ee 
eattenindüustrie- . 2. ..... .%.. 91 89 Te 2 — j 
sa Metallverarbeitung . . . .. .... 612 348 137 126 1 Bi 
imansenmenbäu . ........... 0, 518 402 57 58 1 Bi 
Br Holzverarbeitung . . ... .....0. 826 670 95 53 8 
107. Chemische Industrie... .. .:... 286 222 29 34 1 h 
8. Nahrungs- und Genußmittel . . . . . 3396 1531 | 920 | 945 Br F 
ea Tederindüstrie n 2 2:22. 2.2.0... 520 O0 HE BT | OA i 
10. Baumwollindustrie .. . 2... 292 DE MIO KARA _ e 
Al. Wolleverarbeitung . ©... .... 146 112 12H AI 22 — ; 
| 12. Bekleidungsindustrie . ....... 440 228 197.4361%,..00 — 4 
ala Papierindustrie . 2 2... ». 20. e. 188 12470 15 49 us & 
| 14. Graphische Industrien... . - . - . 673 547 BI N 00 ar wen. 
\ 15. Krafterzeugung und Wasserversorgung 5922 | 564 | IDEE TR e a 
‚16. Andere Industrien. .... 2... 329 | 246 50 32 1 Ei 





| Zusammen | 102977 | 6782 | 1748 | 1754 | 13 


em a 


' Von diesen industriellen Betrieben, die zu Anfang 1926 in der Gesamtunion gezählt 
| worden sind, liegen 7056 im eigentlichen Rußland, 245 in Weißrußland, 2279 in 
der Ukraine, 431 in Transkaukasien, 93 in Turkmenistan, 193 in Usbekistan. 


ı Der durchschnittliche Monatslohn der gewerblichen Arbeiter hat eine beträcht- 
‚ liche Erhöhung erfahren; er ist von rund 40 Tscherwonezrubel zu Anfang 1925 
auf 51 Tscherwonezrubel im ersten Vierteljahr 1926 gestiegen. Die Löhne nehmen 
damit gegenwärtig etwa 17 %, des Wertes der Produktion ein. 


| Bir. vortrefflichen Einblick in die laufenden Aufgaben der russischen Wirt- 
| schaftspolitik gewährt der im März 1926 abgehaltene Kongreß der Staatsplan- 
| kommission der U.d.S.S.R. Der Gedanke der Planwirtschaft wird auf einem 
| sozialistischen Kongreß natürlich gar nicht erörtert, sondern nur die Ausführung der 
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Aufgaben einer Planwirtschaft. Hierdurch erscheinen sie sozusagen in voller Reinheit. 


Die Industrialisierung Rußlands soll danach bis zum Jahre 1929/30 durchgeführt 
‚ sein, in welchem Jahre gleichzeitig die landwirtschaftliche Anbaufläche auf die des 
Jahres 1913 mit etwa 112 Millionen Deßjatinen gebracht sein soll. Der Industrie 
ı sollen in diesen fünf Jahren noch rund fünf Milliarden Rubel Staatsunterstützung 
zuteil werden, damit Industrie und Landwirtschaft in ein möglichst festes Wirt- 
schaftsverhältnis gebracht werden, das gegenwärtig noch fehlt. Die Hauptaufgabe 
soll die Elektrifizierung sein, dann die Gewinnung vollwertiger Arbeitskräfte, 
schließlich die Erforschung der natürlichen Reichtümer des Landes, deren Ausfuhr 
ı solange nötig ist, als die eigene Konsumkraft sie nicht verzehren kann, und unter 
denen die Naphthaprodukte, Holz und Häute noch lange eine besonders große Rolle 
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260 Entwicklung des Bolschewismus 











Zur Lage der Wissenschaft in Rußland 


Von Carlo von Kügelgen in Berlin 


n der Theorie stellt der Bolschewismus die Wissenschaft hoch. Im Kampfe gegen 

die Religion wird sie ständig angerufen und ins Feld geführt und gibt die Grundlage 
für die scheinbar rationalistische Weltanschauung des Bolschewismus ab. In Wirk- 
lichkeit aber haben es die Wissenschaft und ihre Jünger im Sowjetbunde außer- 
ordentlich schwer. Während der Revolution feierte der Bolschewismus Triumphe 
über die Bourgeoisie, indem er ihre hervorragendsten Mitglieder aus der Geburts- 
aristokratie wie auch aus der Geistesaristokratie zu erniedrigenden Arbeiten zwang. 
Im ersten Rausche der proletarischen Herrschaft genossen die Sieger es sichtlich, 
wenn Professoren und andere Vertreter der „Intelligenz“ unter der Aufsicht 
müßiger Matrosen oder Schwerarbeiter sich mit Schneeschaufeln, Lastenschleppen 
und ähnlichen Arbeiten abmühten. Der Kontrast zwischen den Gestalten der 
zu körperlicher Arbeit ungeeigneten Männer und Frauen und dem Werk, an dem 
sie sich um eines Stückes Schwarzbrot willen abplagten, offenbarte augenfällig 
den großen sozialen Umschwung im Lande. Auch die Wissenschaftler, die im Amt 
gelassen wurden, erhielten derartige Hungerlöhne, daß sie zum großen Teil daran 
zugrunde gegangen sind; anderen gelang es über die Grenze zu fliehen. In Deutsch- 
land, den slavischen Staaten, in Paris und im Baltikum sitzen unverhältnismäßig viele 
Männer der Wissenschaft. In Prag besteht eine russische Hochschule, auch in Berlin 
und Paris haben die Emigranten Hochschulkurse eröffnet. 


Was von den in Rußland gebliebenen Wissenschaftlern die ersten schweren Jahre 
zum Teil im berüchtigten Haus der Wissenschaft durch Gorkis Vermittlung über- 
dauert hat, führt auch jetzt noch ein wenig beneidenswertes Dasein, denn das 
Monatsgehalt eines nichtkommunistischen Professors beträgt noch immer bloß 
etwa 60—70 Rubel, während ein verantwortlicher Parteiarbeiter laut Gesetz nicht 
mehr als 190 Rubel erhalten darf und das Monatsgehalt von Fabrikarbeitern bis 
120 Rubel steigt. Ich hörte kürzlich von einem glücklichen Professor, der durch 
Vorlesungen an verschiedenen wissenschaftlichen Instituten sein Monatsgehalt auf 
100 Rubel hinaufgebracht hatte und sehr stolz auf diesen Erfolg war. 


Dabei ist nicht zu leugnen, daß die Sowjetregierung die große Bedeutung der 
Wissenschaftler für den Wiederaufbau Sowjetrußlands erkannt hat, wenn diese 
Anerkennung meist auch auf die wissenschaftlichen ‚Spezialisten‘, besonders die 
Techniker beschränkt bleibt. Man erinnere sich, wie beim 200jährigen Jubiläum 
der Petersburger Akademie der Wissenschaften im August vorigen Jahres Vertreter 
der westeuropäischen Wissenschaft durch tönende Phrasen, luxuriöse Diners und 
andere Darbietungen über die Lage der Wissenschaft im Sowjetbunde völlig ge- 
täuscht wurden. Zur selben Zeit erschien ein Befehl des Zentralkomitees der Kom- 
munistischen Partei, in dem bessere Behandlung der Spezialisten (Professoren, 
Ingenieure, Ärzte usw.) anbefohlen wurde. Sie sollten auch in Bezug auf Besteuerung 
und Versorgung mit Wohnung Privilegien vor der übrigen Bourgeoisie genießen. 


Schon Lenin hatte versucht, den entfesselten Haß der Arbeitermasse gegen 
die bourgeoisen technischen Leiter und Spezialisten einzudämmen. Doch alle 
dahingehenden Proklamationen, Warnungen und Strafen haben es nicht ver- 
hindert, daß sie noch heute in den einzelnen Werken vielfach von den Arbeitern 
verfolgt und von den Behörden schikaniert und als Sündenböcke benutzt werden. 
Mehrfach hat der Selbstmord hervorragend tüchtiger und treuer Spezialisten zu 
Sensationsprozessen geführt. Ein derartiger Prozeß — es handelt sich um einen 
Arzt, den Kommunisten in den Selbstmord trieben — spielte sich im Mai d. A 
in Moskau ab und bewies, wie unleidlich noch vielfach die Lebens- und Arbeits- 
verhältnisse der Spezialisten unter den kulturfeindlich aufgehetzten Arbeitern und 
den örtlichen kommunistischen Machthabern sind. 





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Carlo von Kügelgen: Zur Lage der Wissenschaft in Rußland 261 








in besonders schwieriges Kapitel ist der Schulbesuch und die wissenschaftliche 
Ausbildung der Kinder bürgerlicher Eltern. Grundsatz ist, sie davon auszu- 


‘schließen. Schule und Hochschule sollen dem Proletariat dienen und eine neue 


Arbeiter- und Bauernintelligenz schaffen. Obgleich den Kindern der Spezialisten 


“und Wissenschaftler aus Anlaß des Akademiejubiläums Bevorzugung versprochen 


worden war, berichtete mir ein Professor einer russischen Universität ein paar 


“ Monate später, daß bei den Aufnahmen in den Schulen nach wie vor in erster Linie 
“die Kinder von Mitgliedern der Kommunistischen Partei, bzw. Mitglieder der 


Jugendverbände berücksichtigt würden; es folgen die Kindern von Fabrikarbeitern; 


an dritter Stelle stehen Bauernsöhne, wobei Mitglieder der kommunistischen Jugend- 
 verbände den besten Schülern vorgezogen werden, An fünfter Stelle folgen die 
Kinder von Lehrern, an sechster Kinder verantwortlicher Spezialisten, an letzter 
' sonstige Abkömmlinge der Bourgeoisie. Wie man hieraus ersieht, sind die Aussichten 
' der Söhne gebildeter Eltern zum Studium zu gelangen, auch heute äußerst gering. 


Freilich wird das Gesetz wie im alten Rußland auch im neuen von einer erfindungs- 


reichen Praxis durchlöchert. In Wirklichkeit soll der Prozentsatz von Kindern 





bürgerlicher Herkunft innerhalb der Studentenschaft größer sein, als es „gestattet“ 


ist. Ja, man sieht die nach Sibirien oder ins Innere abgeschobenen bourgeoisen 
' Studenten oft nach kurzer Zeit wieder in Moskau oder im hochschulreichen Peters- 
burg. Es wird auch höheren Orts immer klarer eingesehen, daß sich die „Pflege 
' der Wissenschaft“ nach den bisherigen Methoden nicht gut fortführen läßt. Neuer- 
 dingsist dieGleichstellung von Spezialisten- und Proletarierkindern angeordnet worden, 


A klaren Einblick in die wirkliche Lage der Wissenschaft in Rußland gibt, 
im Gegensatz zu den Festreden beim Jubiläum der Akademie der Wissenschaften, 


“ein kürzlich erschienener Aufsatz des ständigen Sekretärs der Akademie der Wissen- 


schaften Ssergei Oldenburg in den Moskauer „‚Iswestija“. Er gibt offen zu, daß nur 
wenige wissenschaftliche Arbeiter nachgeblieben seien, da viele junge und alte 
während des Krieges und der Revolution zugrunde gegangen seien und viele sich 
im Auslande befänden. Das größte wissenschaftliche Zentrum im Sowjetbund, 
Leningrad, zähle nicht mehr als 5000 wissenschaftliche Arbeiter, alle wissenschaft- 
lichen Techniker mitgerechnet. Unter diesen Umständen hänge alles von dem 
wissenschaftlichen Nachwuchs ab, und damit stehe es unzweifelhaft schlimm. 
Die Hochschulen bauen unausgesetzt ihre Programme und Organisationen um, ohne 
für die notwendigen wissenschaftlichen Arbeiter zu sorgen. Aus Mangel an Hoch- 
schullehrern werde die Arbeit bald stehenbleiben, da die alten Professoren aussterben. 


Man habe ja freilich Versuche gemacht, berichtet Oldenburg, ‚‚wissenschaftliche 
Aspiranten“ zu schaffen, aber wo man Tausende brauche, würden mit Mühe und 
planlos bloß Hunderte vorbereitet. Die ‚„wissenschaftliche Hauptverwaltung“ 
erhalte keineswegs genügend Mittel für die Hochschulen, Laboratorien usw., um 
die Arbeit nur einigermaßen befriedigend gestalten zu können. Zwölf Jahre, d. h. 
die Vorbereitungszeit von zwei wissenschaftlichen Generationen, seien so gut wie 
verloren, und die Bemühungen der Hochschule, sich den genügenden Professoren- 
nachwuchs heranzuziehen, seien undurchführbar. Die Studentenschaft, die jetzt 
aus den Arbeiterfakultäten (Rabfaki) komme, sei nur in Ausnahmefällen genügend 
ausgebildet und vorbereitet, um den Weg der Wissenschaft zu beschreiten. Immer 
wieder betont Oldenburg, daß die Heranziehung von echten Wissenschaftlern, 
besonders auch auf dem Gebiet der physiko-mathematischen- und Naturwissen- 
Schaften langwierig und kostspielig sei: man müsse daher den jungen Leuten, die 
diesen dornigen Weg beschreiten, auch etwas bieten. Daher solle man schnell an dieses 
Werk gehen, für das man bisher noch gar nichts getan habe. In unzähligen Enquöten 
sei Zeit, Papier und Tinte vergeudet worden, aber noch habe man nicht festgestellt, 
wieviel wissenschaftliche Arbeiter es in Leningrad und Moskau gebe. Wenn es nicht 
gelinge, wirkliche Gelehrte zu schaffen — schlechte Surrogate seien schlimmer als 
nichts — werde man wiederum, wie bei der Entstehung Rußlands ‚Waräger 


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262 Entwicklung des Bolschewismus 











aus dem Auslande‘“‘ rufen müssen, während wertvolles russisches Menschen- 


material zugrunde gehe. 
Oldenburg schließt in ernster Sorge um die Fortexistenz wissenschaftlicher 


Forschung in beschwörenden Tönen: Die Heranbildung wissenschaftlicher Arbeiter 


sei ebenso wichtig wie die Rote Armee, ihre Vernachlässigung bedrohe den Fort- 
bestand des Staates, indem sie den lebensnotwendigen Wiederaufbau unmöglich 
mache. Die ‚Iswestija‘“ erklärt dagegen bezeichnenderweise in einem Nachwort 
zu dem Hilferuf des führenden kommunistischen Wissenschaftlers: es komme wohl 
nicht so sehr auf den rein wissenschaftlichen Nachwuchs, wie auf die Beschaffung 
von Technikern, Ingenieuren und sonstigen praktischen Arbeitern an. Beide Prob- 
leme hingen freilich miteinander zusammen und sollten Gegenstand einer regen 
Erörterung werden. Wenn sich genügendes Material gesammelt habe, werde man 
die Schlußfolgerungen zu ziehen haben. 

Die Berufung technischer Kräfte aus dem Auslande ist neuerdings in beschränktem 
Maße in die Wege geleitet worden. Bei dem Niedergang der Wissenschaft in Rußland 
wird sie immer größeren Umfang annehmen müssen, wenn es dem Sowjetbunde 
gelingt, den wirtschaftlichen Aufbau fortzusetzen. Jedenfalls geht die Steigerung 
des Ansehens der Wissenschaft und ihrer Jünger von. rein praktischen Fragen aus. 
Die Bedürfnisse der Industrie und Landwirtschaft, die Ärztenot usw. geben den 
Anstoß zum Ruf nach Vermehrung „wissenschaftlicher Spezialisten“. Man suchte 
dem schreienden Mangel bisher dadurch abzuhelfen, daß man die Theorie zurück- 
stellte und sich auf die Beibringung der notwendigsten Kenntnisse beschränkte. 
Naturgemäß mußte dadurch das Niveau des Studiums außerordentlich sinken. 

Augenscheinlich wird noch viel Zeit vergehen, bevor man im proletarischen 
Staat die Lebenswichtigkeit der reinen Wissenschaft erkennt. Sollte diese Erkennt- 
nis durchdringen, wird die nächste Folge sein, daß man den vorhandenen wertvollen 
wissenschaftlichen Kräften trotz ihrer bürgerlichen Herkunft bessere Arbeits- und 
Lebensverhältnisse bietet. 


Die Weltlage im Spiegel der II. Internationale 


Nach den Originalberichten der Kommintern zusammengestellt 
Von Ernst Drahn in Berlin 


esondere geschichtliche Bedingungen haben das russische Proletariat zum 
„A)Vorkämpfer des revolutionären Proletariats der ganzen Welt gemacht. Es lebe 
die beginnende Revolution in Europa!“ Mit diesen Worten verabschiedete sich 
Lenin am 8. April 1917 von Westeuropa und gab zugleich die kurzen Grundsätze 
an, die seine Partei in der Außenpolitik zu befolgen gedachte. Die gleichen Sätze 
dem Sinne nach bilden die Grundlage zum Manifest der III. Internationale, die 
auf ihrem II. Kongreß aussprach: „Die Angelegenheit Sowjetrußlands wurde von 
der Kommunistischen Internationale zu ihrer eigenen gemacht. Das internationale 
Proletariat wird das Schwert nicht niederlegen, solange Rußland nicht ein Mitglied 
in der Föderation der Räterepubliken der ganzen Welt geworden ist. Der Bürgerkrieg 
steht in der ganzen Welt auf der Tagesordnung. Seine Fahne ist die Sowjetmacht‘“. 
Die III. Internationale identifiziert also ihre Politik mit derjenigen Sowjetruß- 
lands, und Sowjetrußland bestimmt durch die Art der Zusammensetzung der 
Leitung der IIl. Internationale ihre Politik. Es ist genügend bekannt, welche 
strenge Disziplin die Kommintern von den angeschlossenen Parteien verlangt. So 
sind die kommunistischen Parteien außerhalb Allrußlands als sichere Außenpösten 
des noch heute über 130 Millionen umschließenden Ostslavenreiches zu betrachten. 
In den Händen der Herrscher in Moskau vereinigen sich die Fäden des großen 
kommunistischen Netzes, das sich über den Erdball spannt, und auf den ent- 
sprechenden Zug am Leitseil reagieren die dienstbaren Geister in aller Welt. Mos- 

















Ernst Drahn: Die Weltlage im Spiegel der III. Internationale 263 


EEE EEE ETC EEE FREE 








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\ kau beruft sie von Zeit zu Zeit zusammen, um Berichte zu hören und Direktiven 
zu geben. Diese Kongresse der III. Internationale, die Sitzungen des erweiterten 
" Exekutivkomitees, sind also die besten Informationsgelegenheiten über die gesamte 
\ politische Weltlage; gesehen aus dem Gesichtswinkel der III. Internationale. Selbst- 
| verständlich kommt nicht alles aus den Sitzungen an die Öffentlichkeit und, wie in 
| der Diplomatie auch sonst üblich, stellen die Protokolle und Sitzungsberichte für 
die Öffentlichkeit Worte hin, die die wahren Gedanken häufig verschleiern sollen; 
| dennoch sind die offiziellen Äußerungen interessant genug. Man tut aber stets 
"gut, sich bei der Durchsicht an die Eingangssätze unseres Aufsatzes zu erinnern. 
' Auf dem IV. Kongreß 1923 wurde „Die Niedergangsperiode des Kapitalismus‘ durch 
Thesen festgestellt!). 

" Im Gegensatz zu Mittel-und Westeuropa habesich die internationale politische Lage 
' Sowjetrußlands in ungeheurem Maße gestärkt. In dem Chaos des verfallenden kapitali- 
‚ stischen Staatensystems stehe Sowjetrußland da als ein wachsender Machtfaktor in 
"Europa, dem nahen und fernen Osten. Trotz des Verspruchs der kapitalistischen Welt, 
 Sowjetrußland durch eine finanzielle Blockade zu erdrosseln, wird es imstande sein, an 
' seinen wirtschaftlichen Aufbau heranzugehen. Je mehr Sowjetrußland wirtschaftlich 
\ wieder aufsteht understarkt, umso mächtigerwird dieserhervorragendsterevolutionäre 
| Faktor der internationalen Politik an Einfluß wachsen. Im engsten Zusammenhang 
‚mit der Offensive des Kapitals steht die politische Offensive der Bourgeoisie gegen 
'' die Arbeiterschaft, wie sie sich am krassesten im internationalen Faszismus äußert. 
Sie geht dazu über, sich überall besondere weiße Garden zu schaffen, die sich 
speziell gegen alle revolutionären Bestrebungen des Proletariats richten. Das 
' kennzeichnende Merkmal des italienischen Faszismus, des „‚klassischen‘‘ Faszismus, 
‚besteht darin, daß die Faszisten nicht nur engere gegenrevolutionäre, bis an die 
' Zähne bewaffnete Kampforganisationen bilden, sondern auch versuchen, durch 
\ soziale Demagogie sich einen Boden in der Masse zu schaffen. Die Gefahr des Faszis- 
| mus besteht jetzt in vielen Ländern, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, fast in allen 
| Balkanländern, in Polen, in Deutschland (Bayern), in Österreich, in Amerika usw.“ 


| 


| FE: Jahr später, 1924, urteilte der V. Weltkongreß?): „Die besondere Krise West- 
| europas dauert an. Die Lage ist also objektiv revolutionär, wenn auch neben dem 
‚ vorherrschenden Zerfallprozeß des Kapitalismus sich gewisse Sanierungstendenzen 
\ zeigen. Das Neue in der gegenwärtigen Weltlage ist der Beginn einer demokratisch- 
| pazifistischen Phase, charakterisiert durch die Arbeiterregierung in England, den 
| Linksblock in Frankreich, durch die Einmischung Amerikas in die europäischen 
| Angelegenheiten, durch die Einmischung der ‚demokratischen‘ Bourgeoisie in 
| die Regierung in Japan, durch die Arbeiterregierung Staunings in Dänemark, durch 
' Widerspiegelung dieser Verhältnisse in Österreich, in der Tschechoslowakei, in 
" Polen, auf dem Balkan. Die demokratisch-pazifistische Aera hat zwar keine Ein- 
| schränkung der Rüstungen, keine Milderung der Klassenkämpfe gebracht: sie bringt 
‚lediglich eine weitere Verschärfung der bürgerlichen Weltreaktion... Nach dem 
\ Scheitern der faszistischen Methoden der Außenpolitik (Ruhrbesetzung), versucht 
| jetzt die Weltbourgeoisie das Reparationsproblem unter Führung des amerikanischen 
Finanzkapitals durchSachverständigengutachten zu lösen. Daß das Dawesgutachten 
eine Schlinge um den Hals aller Werktätigen in Deutschland und einer ganzen Reihe 
‚ anderer Länder ist, daß es keine Lösung des Problems bringt, daß die Gegensätze 
| innerhalb der kapitalistischen Welt infolge der Durchführung dieses Gutachtens 
noch schärfer aufeinanderprellen werden, das hat der V. Weltkongreß festgestellt. 
Er sagt, zur Zeit der Blüte der Demokratie und des Pazifismus, das Anbrechen einer 
\ neuen faszistischen Aera voraus. Die K. J. läßt sich vom Pazifismus dieser Aera 


— 


| 
} 





























) 


1) Vgl. „Thesen und Resolutionen des IV. Weltkongresses der kommunistischen Inter- 
nationale‘. Hamburg 1923, Carl Hoym Nachf. S. 6 ff. 
|| 3) Vgl. Die Ergebnisse des V.Weltkongresses der Kommunistischen Internationale. Hamburg 
1924, Carl Hoym Nachf. S. 7 ff. 











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264 Entwicklung des Bolschewismus 
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nicht beirren, bekämpft ihn und fährt in der Organisierung der. Weltrevolution - 


fort... Der V. Weltkongreß konkretisierte die Aufgaben der K.P. in der Nationali- 
täten- und Kolonialfrage... In den kolonialen und halbkolonialen Ländern sind 
die unterdrückten und ausgebeuteten Völker in den Kampf gegen den räuberischen 
Weltimperialismus getreten. Weltkrieg, Entwicklung der Produktivkräfte im 
eigenen Lande haben nationalrevolutionäre Bewegungen ausgelöst... Die Aufgabe 
der Kommunisten ist, diese nationalrevolutionären Bewegungen des erwachenden 
Ostens mit den revolutionären Kämpfen des Weltproletariats zu verknüpfen.‘ 


7: diesen Äußerungen nimmt neuerdings der Volkskommissar Rykow das Wort, 


wenn er im März über die ‚internationale Lage der Sowjetunion‘ schreibt?): 
„Das gesamte Europa — darunter auch London — befindet sich, abgesehen von 
Sowjetrußland, in mittelbarer oder unmittelbarer Abhängigkeit von dem immer 
mehr wachsenden amerikanischen Kapital. Es werden also die internationale Lage 
und die Richtung der weiteren Entwicklung der Weltpolitik durch folgende Haupt- 
faktoren bestimmt: 

Erstens durch den Aufschwung und die Festigkeit der wirtschaftlichen und 
politischen Stärke der Sowjetunion. 

Zweitens durch die wiederholten Krisen des europäischen Kapitalismus und 
seine wachsende Abhängigkeit von dem immer stärker werdenden amerikanischen 
Kapitalismus. 

Drittens durch die Ausbreitung der antiimperialistischen nationalen Befreiungs- 
bewegung in den kolonialen und halbkolonialen Ländern. 


Im Zusammenhang damit ist bereits eine Reihe politischer Umgruppierungen 
der kapitalistischen Staaten vor sich gegangen oder vorauszusehen. Im Verlauf des 
gesamten verflossenen Jahres war die internationale Politik der europäischen 
Bourgeoisie darauf gerichtet, Europa irgendwie zu einem Ganzen zusammenzu- 
schweißen. Aber alle diese Versuche stoßen unvermeidlich auf grundsätzliche Gegen- 
sätze. Die Tätigkeit des Völkerbundes ist die beste Beleuchtung der Befriedigungs- 
politik, der Politik zur Schaffung des Einheitsblöckes. Unter diesen Verhält- 
nissen wird das eingetretene Wachstum und insbesondere das Wachstumstempo 
der Sowjetunion ohne irgendwelche Hilfe von auswärts zu einem mächtigen Faktor 
in der Entwicklung der Weltpolitik. Dank diesem Umstande werden die Erfolg- 
aussichten interventionistischer Pläne verschiedener Art und die Schaffung eines 
der Sowjetunion feindlichen Blockes der kapitalistischen Märkte zweifelhaft. 
Anderseits hat die Festigung der Sowjetunion zu einer wachsenden Klassen- 
solidarität der breiten Massen des westeuropäischen Proletariats und der Sowjet- 





union geführt. Neben unserer de jure Anerkennung durch die kapitalistischen ! 


Staaten haben wir eine Anerkennung erhalten: Die der II. Internationale. 


Es wäre aber leichtsinnig, damit zu rechnen, daß eine solche Lage die Möglichkeit 
feindseliger Handlungen gegen die Sowjetunion ausschließt. Bei dem vor kurzem 
beseitigten Konflikt auf der China-Ost-Eisenbahn ist nicht der Konflikt an sich 
kennzeichnend, sondern das, was die uns feindlich gesinnten Staaten von ihm er- 
wartet hatten. Die gesamte uns feindliche Presse begann von rotem Imperialismus 


und bolschewistischer Angriffslust zu sprechen. Die öffentliche Meinung und die . 


Regierung der Sowjetunion werden Versuche solcher Art in gebührender Weise 
einzuschätzen und ihnen entschiedene Abwehr zu leisten wissen, 


In der letzten Zeit hat das Friedensgesäusel zu verstummen begonnen, und es 
traten im Gegenteil immer häufigere Tatsachen zu tage, die die zahlreichen Gegen- 
sätze im kapitalistischen Lager Europas kennzeichnen. Die Interessengegensätze 
haben sehr große Risse in demin Locarno errichteten Gebäude des verbürgten Friedens 
hervorgerufen. Locarno war vor allem ein neuer Versuch zur Isolierung der Sowjetunion. 





!) Vgl. Internationale Presse-Korrespondenz. Wien 1926, S. 590. 








Ernst Drahn: Die Weltlage im Spiegel der III. Internationale 265 


































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Kr ungefähr derselben Zeit als Rykow diesen Aufsatz schrieb, fand in Moskau 
vom 17. Februar bis 15. März eine Tagung des Exekutivkomitees der kommu- 
nistischen Internationale statt, die die Weltlage ganz ähnlich beurteilte, sich aber 
‚noch eingehender mit der Lage in den einzelnen Staaten beschäftigte. Die ‚Thesen 
über die aktuellen Probleme‘ !) sagen dazu, daß die „Stabilisierung des Kapitalis- 
jp fortlaufend, wie früher schon erkannt war, „relativ“ ist. Über die Vereinigten 
Staaten sagen die Thesen: „Die Hegemonie Amerikas in der Wirtschaft tritt 
\immer schärfer zutage. Obwohl nur 5 % der Erdoberfläche und nur 6,2 %, der 
| Gesamtbevölkerung der Erde umfassend, ist es über 50 %, der Weltproduktion der 
\ wichtigsten Erzeugnisse wie Kohle, Kupfer, Baumwolle, Eisen, Stahl, Naphtha 
‚und Automobile beteiligt. Es ist das größte Kapitalexportland der Welt. Durch 
‚ihre Kapitalausfuhr brechen sich die Vereinigten Staaten Bahn in alle Weltteile, 
darunter auch Europa, das immer mehr in Abhängigkeit vom amerikanischen 
ı Kapital gerät. Die Vormachtstellung des amerikanischen Kapitals in der Welt 
ist zur unbestreitbaren Tatsache geworden. Alle wichtigsten internationalen Ab- 
‚kommen der letzten Jahre, so das Washington-Abkommen, der Dawes-Plan, zum 
‘Teil auch das Locarno-Abkommen, tragen den unleugbaren Stempel der Hege- 
| monie des amerikanischen Imperialismus. Das ‚Verwachsen‘ des Staatsapparates 
mit den Trusts wird schon nicht mehr verheimlicht. Während aber das amerikanische 
Kapital Europa aussaugt, fördert es die Revolution in Europa. 


' England. Die Industriekrise und die chronische Arbeitslosigkeit verleihen 
| dem gesamten wirtschaftlichen Leben Englands nach wie vor ein charakteristisches 
| Gepräge. Die Passivität der Handelsbilanz wächst. Sie betrug 1922: 180 Millionen, 

1924: 344, 1925: 395,5 Pfund Sterling. Die Passivität der Handelsbilanz wird durch 
| unsichtbaren Export — Schiffahrts- und Bankgewinne, Gewinne des Auslandskapitals 
— gerade .noch ausgeglichen. England ist genötigt, 1. seinen Kampf gegen Amerika 
und Japan auf dem Stillen Ozean zu führen, 2. in Europa gegen Frankreich zu 
ı kämpfen, das während des Krieges einen mächtigen Schritt vorwärts in der Richtung 
‚der Entwicklung der Großindustrie getan hat, sowie gegen Deutschland — die 
‚ deutsche Industrie versucht erneut — und ist dazu gezwungen — mit der englischen 
| Industrie zu konkurrieren — endlich auch gegen Sowjetrußland — das Problem des 
ı Ostens. Die englischen Dominions befreien sich in dem Maße ihrer Industri- 
‚ alisierung immer mehr und mehr von dem Einflusse Londons. Das für die Kapital- 
 ausfuhr verfügbare Kapital Englands genügt den Bedürfnissen der Dominions: nicht, 
ı sodaß diese Kapital aus Amerika einführen müssen. Um der Tendenz der Lockerung 
des Zusammenhalts entgegenzutreten, versucht man zwischen England und den 
' Dominions ein System gegenseitiger Bevorzugung herzustellen. Die Ereignisse in 
‚China haben dem englischen Einfluß im Osten einen äußerst empfindlichen Schlag 
versetzt. Ungeachtet der teilweisen und episodischen Erholung der Wirtschaft 
\ auf einzelnen Gebieten ist festzustellen, daß sich die Kurve der wirtschaftlichen Ent- 
wicklung Englands in der Hauptsache dauernd abwärts bewegt, der politische Einfluß 
ı des englischen Imperialismus abnimmt. Die Arbeiterpartei macht eine anhaltende 
| Krise durch, die zur Stärkung des linken Flügels führt. Der Fortschritt in der Ent- 
| wicklung der englischen Arbeiterbewegung ist von weltgeschichtlicher Bedeutung. 


Frankreich. Neu ist die Tatsache, daß im verflossenen Jahre nun auch Frank- 
' reich in den Kreis der Länder getreten ist, die eine chronische Krise durchmachen. 
| Die schwere Finanzkrise Frankreichs ist ein Beweis dafür, daß die Lage des Kapita- 
/ lismus in diesem Lande, obwohl es als Siegerland aus dem imperialistischen Kriege 
| hervorgegangen ist, immer kritischer wird. Die Vorgänge in Marokko und Syrien 
| zeigen, daß die Herrschaft des französischen Imperialismus auch in seinen Kolo- 
"nialen Besitztümern untergraben wird. Somit tritt unmittelbar nach England nun 














1) Vgl. „Internationale Presse-Korrespondenz‘“. Berlin 1926, Nr. 68. — „Die Tagung d. 
ı E.K.K.I.“, daselbst ‚„Ausführlicher Bericht“. Nr. 31, 36, 37, 40, 42, 44, 49, 52, 54, 63. 


| Entwicklung des Bolschewismus (Südd. Monathefte, 23, Jahrg., Heft 10) 18 





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266 Entwicklung des Bolschewismus 








auch Frankreich in die Phase einer langwierigen Krise, in eine Phase des Nieder- 
ganges ein, die nur durch die sozialistische Revolution endgültig beseitigt werden kann. 


Deutschland. Die Wirtschaftslage Deutschlands wird durch den tiefgehenden 
Widerspruch zwischen der hohen Entwicklung seiner Produktivkräfte und seiner 
Lage als besiegtem und entwaffnetem Lande bestimmt. Die starke Entwicklung der 
Industrie, deren Produktionsfähigkeit den Bedarf des Inlandsmarktes weit über- 
schreitet, wie ihre monopolistische Zusammenballung zu Kartellen und Trusts 
treiben einer imperialistischen Politik zu. Die durch den Friedensvertrag erzwungene 
Abrüstung, die Kontrolle der Steuern, der Reichsbank und der Reichsbahn durch 
Ausländer, die Reparationstribute, das fortschreitende Eindringen des Auslands- 
kapitals und die Unmöglichkeit der Kapitalausfuhr, all das versetzt Deutschland 
in eine Abhängigkeit von den imperialistischen Mächten. Dieser Widerspruch muß zu 
Krisen führen. Noch vor einem Jahre konnte die Überwindung der Inflations- 
periode und die politische Stärkung der Bourgeoisie als das hervorragende Merkmal 
einer relativen Stabilisierung Deutschlands betrachtet werden. Die K. J. sah jedoch 
voraus, daß diese Stabilisierung in Wirklichkeit eine labile und zeitlich sehr be- 
schränkte sein müsse. Die Entwicklung der Dinge bewies die Richtigkeit der kommu- 
nistischen Analyse. Ungeachtet der ohne Zweifel beträchtlichen Vorteile, die der 
Dawes-Plan im letzten Jahre seines Wirkens durch ein teilweises Moratorium für 
die außenpolitische Lage geschaffen hatte, hat sich in dieser Zeit die relative Stabili- 
sierung zu einer außerordentlichen Krise verschärft. Sie äußert sich in einer ge- 
waltige Massen ergreifenden Arbeitslosigkeit und in Massencharakter annehmenden 
Bankrotten. Die erst einsetzenden Auswirkungen des Dawes-Planes werden die 
wirtschaftliche Lage noch weiter verschlechtern und damit zu weiterer Verschärfung 
der Krise führen. Der Dawes-Plan bedeutet nicht nur wachsende Verelendung für 
die breiten Massen des deutschen Volkes, sondern versetzt auch die deutsche 
Bougeoisie in große Schwierigkeiten. Die erste Voraussetzung zur Durchführung 
des Dawes-Planes wäre die Schaffung eines ständigen deutschen Ausfuhrüberschusses. 
Das ist nun aber angesichts der gegenwärtigen Absatzkrise auf dem ganzen Welt- 
markt nur durch eine Drosselung der Einfuhr an Fertigwaren und eine Herabsetzung 
des Konsums zu erreichen. Die heutige künstliche, auf Kosten der Arbeiterklasse 
entwickelte Konkurrenzfähigkeit Deutschlands muß notwendigerweise die Absatz- 
gebiete Frankreichs, Englands und anderer europäischer Länder einengen und 
damit die Krise in diesen Staaten verschärfen. Die deutsche Ausfuhr beginnt sich 
der überseeischen Länder zu bemächtigen und wieder Boden zu gewinnen. Die 
Tatsache, daß die Krise in der englischen Kohlenindustrie durch den Dawes-Plan 
verschärft wurde, ist allgemein bekannt. Der Dawes-Plan verschärft die Weltkrise 
und reproduziert im Verlaufe seiner Realisierung in Deutschland jede Krise auf 
erhöhter Stufenleiter. Eine teilweise Abschwächung der deutschen Wirtschafts- 
krise ist indessen selbst im Jahre 1926 nicht ausgeschlossen, dagegen eine wirkliche 
Stabilisierung. Eine solche ist nur auf dem Wege der proletarischen Revolution 
möglich. Die unaufhörlichen Regierungs- und Parlamentskrisen, das Anwachsen der 
monarchistischen Gefahr, die Krisen innerhalb der bürgerlichen Parteien und der 
Sozialdemokratie, der Bankerott des Parlamentarismus, die Linksschwenkung 
der Arbeitermassen, das Hinneigen der Kleinbürger in der Richtung einer Annäherung 
an die Arbeiterklasse, all das eröffnet den Kommunisten günstige Aussichten - 
für eine Eroberung der Massen. | 


Italien. Der Faszismus wurde im Laufe der Entwicklung dazu gezwungen, 
offen die Politik der Bourgeoisie und der Großagrarier zu vertreten. Ein Teil der 
Mittelschichten wurde enteignet, die Arbeiter verstärkter Ausbeutung unterworfen. 
Die Verschiebung seiner sozialen Grundlage zwingt den Faszismus eine Reihe dikta- 
torischer Maßnahmen gegen Arbeiter- und Mittelschichten durchzuführen. Der 
Faszismus sucht sich einen Ausweg durch eine imperialistische Politik, durch Ge- 
winnung neuer Kolonien und durch Drohen mit dem Kriege zu bahnen. Hierdurch 
aber wird Italien zum Spielball der Weltmächte, 
















































Ernst Drahn: Die Weltlage im Spiegel der III. Internationale 267 


" Polen. Die Thesen stellen die „katastrophale wirtschaftliche Lage“ fest und 4 u \ 


| rahren fort: „Den bürokratischen Apparat erschüttert eine noch nie dagewesene 
Zersetzung. Dazu ein System weißen Terrors. Die nationale Unterdrückung der 
| Ukrainer, Weißrussen, Juden, Litauer, Deutschen usw. erzeugt bei diesen wachsende FE 
"Empörung. Die Ausbeutung der Masse wird verstärkt, gleichzeitig verstärkt sich “eg 
‚der Steuerdruck und die Teuerung“. ne 
‚. Für Donau- und Balkanstaaten wird gleichfalls eine chronische Wirtschafts- 

'krise und die schlechte Lage der Bauernschaft festgestellt. In Griechenland und 5 
Bulgarien bereitet die große Zahl von eingewanderten Flüchtlingen (aus Rußland ?) in 
‚politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die nationalen Fragen sind durch . 
‚die Friedenverträge nicht gelöst. h 
Der Osten. Die national-revolutionäre Freiheitsbewegung im Osten hat ge- 
‚waltige Fortschritte gemacht. Auf dem Boden der einsetzenden Industrialisierung 
‚des Ostens gewinnen die dortigen Vorgänge erhöhte Bedeutung. Es lassen sich in 
‚diesem Freiheitskampfe der Völker des Ostens folgende Veränderungen verzeichnen: 
‚l. Eine verschärfte Form des Kampfes gegen die imperialistische Unterdrückung, 
‚die in Marokko und Syrien in offenen, bewaffneten Aufstand umschlug. 2. Um- 
‚tassender Massencharakter der national-revolutionären Bewegung in China. 3. 
Abrücken gewisser Schichten der Bourgeoisie Indiens, zum Teil Aegyptens und N 
Chinas von der nationalen Freiheitsbewegung nach der Seite der revolutionären, 1: 
‚anteren Schichten. 4. Selbständige Klassenaktion des revolutionären Proletariats a 
ın China. Die Bewegung in China beweist, wie unermeßlich die Reserven der prole- F 
‚tarischen Weltrevolution im Osten sind. Der äußerst starke Einfluß der russischen 
‚Revolution und der Ideen der Kommunisten auf die Entwicklung der Ereignisse Ei 
" China steht außer Zweifel. Ba 

Auch das lateinische Amerika kann und muß ein Stützpunkt der Freiheits- | 

yewegung gegen den Imperialismus der Vereinigten Staaten werden. 


Die Sowjetunion. In der S.S.S.R. gewahren wir einen stürmischen Auf- 
‚schwung der Wirtschaft und eine Festigung der wirtschaftlichen und politischen 
‚Macht des Proletariats. Trotz Festhaltens an einer Politik der Isolierung und Ein- 
| greisung der Union seitens der bürgerlichen Staaten und der Zerrüttung, die der 
‚Bürgerkrieg mit sich gebracht hatte, ist es der Sowjetunion gelungen, ihre Wirtschaft 
‚dis auf fast das Niveau der Vorkriegszeit zu bringen. Ungeachtet der in der inneren 
‚Entwicklung der Union noch vorhandenen Schwierigkeiten, hat der wirtschaftliche, 
\yolitische und kulturelle Aufbau, dem sich das Proletariat der Sowjetunion widmet, 
‚Jereits ein erhöhtes Interesse und die aufrichtige Sympathie breiter, immer um- 
‚fassenderer Schichten der Arbeiter in der ganzen Welt wachgerufen. Die Erfolge 
‚auf dem Gebiete des sozialistischen Aufbaues in der Sowjetunion verwandeln sich 
‚zur Zeit immer mehr in einen Maßstab der Erfolge des internationalen Sozialismus 
‚überhaupt. Die Sowjetunion wird zum Kraftzentrum, das die Proletarier aller 
"Länder um sich schart, zur Achse der internationalen proletarischen Revolution. 








ie gesamte internationale Lage wird heute beherrscht von dem grundlegenden 
| eek zweier Systeme, zweier Welten, die sich einstweilen in einem noch mehr 
yder weniger stabilen Gleichgewicht befinden: Der Welt des Kapitals, das Amerika 
Bi und der Welt der proletarischen Revolution, an deren Spitze die Sowjet- E 
‚ınion marschiert.!) N 
Der amerikanische Kapitalismus fährt fort, der Beherrscher der kapitalistischen 









Welt zu bleiben. Auf dem Gebiete der internationalen Politik zieht Amerika, sobald N | 
‚hm das notwendig erscheint, England als Verbündeten heran. Das bedeutet in- 0 
lessen durchaus nicht, daß nun innerhalb dieses Blockes etwa keine Gegensätze @ R 
‚rorhanden seien. Auch besagt das nicht, daß in der übrigen kapitalistischen Welt, | h 





1) Über die Lage und Politik Sowjetrußlands gibt allmonatlich in der Zeitschrift „‚Ost- 
Suropa“ Prof. Otto Hoetzsch einen eingehenden, sehr interessanten Bericht. 






18* 











268. Entwicklung des Bolschewismus 


die bis zu einem gewissen Grade Objekt des anglo-amerikanischen Blockes ist, nicht 
ebenfalls innere Gegensätze vorhanden seien. 

Die wirtschaftlichen Reibungen zwischen Amerika und England haben sich im 
Jahre 1925 sogar verstärkt. Sie bestehen im Stillen Ozean, in China, in Japan, 
in der Türkei, in Südamerika usw. Alles Gegensätze, die die Gefahr eines neuen 
Weltkrieges in sich bergen. England ist selbst Schuldner der Vereinigten Staaten, 
während die Vereinigten Staaten mit ihren die erste Stelle einnehmenden Produk- 
tionskräften und ihrer kolossalen Kapitalanhäufung zum Gläubiger fast der 
gesamten übrigen kapitalistischen Welt geworden sind. Die Vereinigten Staaten 
suchen nicht nur Absatz für ihre Waren, sondern weit mehr noch Märkte für die 
Kapitalausfuhr, während England einer chronischen Industriekrise und starker 
Arbeitslosigkeit ausgesetzt ist. Gestützt auf die Beihilfe der Vereinigten Staaten 
versucht das imperialistische England die Sowjetunion zu vereinsamen, deren Welt- 
handel zu behindern und bei der Erlangung von Auslandskrediten Hindernisse in 
den Weg zu legen. Es betreibt eine Politik der Einkreisung der Sowjetunion und 
rüstet sich zu einem Überfall auf die Republik der Sowjets. 

Dieses wirkliche Bild der Lage in der kapitalistischen Welt, dieser ungeheuere 
Komplex von Gegensätzen, die der Weltkrieg geschaffen, sollte im letzten Jahre 
durch eine Maske verhüllt werden, deren Sinn die Irreführung der werktätigen 
Massen ist. Diese Maske ist der Vertrag von Locarno. Der objektive Sinn des Ver- 
trages ist: 1. Der amerikanische Kapitalismus befestigt durch dieses Abkommen 
die Anerkennung seiner im Gegensatz zum gesamten kapitalistischen Europa ste- 
henden Interessen. Gleichzeitig mußte aber Amerika mit einer sauren Miene fest- 
stellen, daß Locarno einen ersten Versuch der ‚Schuldner‘ darstellte, sich im 
gewissen Sinne gegen dasselbe Amerika zu vereinigen. 2. Der englische Imperialis- 
mus verteidigt mittels dieses Paktes seine Sonderinteressen gegen Frankreich, 
3. Die französische Bourgeoisie schützt ihre Sonderinteressen gegenüber Deutschland. 
Gleichzeitig offenbart Locarno das Scheitern des Versuches Frankreichs, seine 
Hegemonie auf dem europäischen Kontinent zur Geltung zu bringen. 4. Der 
englische Imperialismus endlich baut mit Unterstützung des französischen Imperialis- 
mus mittels Locarno seine Front gegen die zu isolierende Sowjetunion auf und ver- 
sucht auch Deutschland für diese Politik zu gewinnen. 


BBs Weltbild, das die III. Internationale nach den Berichten ihrer Anhänger 
aus den verschiedenen Staaten gewinnt, wird am Schluß der ‚Thesen‘ durch den 
Ausblick ergänzt: „Immer mehr reift unter den breitesten Schichten der Werk- 
tätigen der ganzen Welt das Bewußtsein heran, daß man neue imperialistische 
Kriege allein durch eine proletarische Revolution vermeiden kann, daß die sicherste 
Bürgschaft gegen neue Kriege die Stärkung der Sowjetunion und der einzige Führer 
die kommunistische Internationale ist‘. 


Die deutsch-russische Freundschaft der Zukunft 


Von Wladimir Alexandrowitsch Suchomlinow, k. russ, Kriegsminister a. D. f 


General Suchomlinow, der bereits in unserem Märzheft 1925 ,,Aus 
belgischen Dokumenten‘ mit einem Beitrag über den Bolschewis- 
mus vertreten war, äußert sich im Nachfolgenden über die Ent- 
wicklungsmöglichkeiten Rußlands und Deutschlands, die früher 
oder später zu einer Annäherung zwischen beiden Staaten führen 
müssen. Der Aufsatz ist im Sommer 1925 geschrieben und wegen 
der Erkrankung des Verfassers nicht mehr zum Abdruck ge- 
langt. D. Schr. 


Free die unmögliche wirtschaftspolitische Lage Europas nach dem Weltkriege selbst die 
übrigen Erdteile in Mitleidenschaft, so ergibt sich daraus, wie zur Zeit nach den napoleoni- 
schen Kriegen, die Notwendigkeit, die Revision des Versailler Vertrages vorzunehmen, unter 
dessen Auswirkungen die friedliche Bevölkerung leidet, die an dem Ausbruch der Weltkata- 





































| Wladimir Alexandrowitsch Suchomlinow: Die deutsch-russische Freundschaft 269 
| a 


strophe keinen Anteil hat. Gewiß, in der Natur gibt es keine Wirkung ohne Ursache; offen- 
sichtlich widersinnig ist es jedoch, eine Streichholzfabrik für einen irgendwo ausgebrochenen 
"Brand verantwortlich zu machen. Angesichts der Notwendigkeit, einen Ausweg aus der ge- 
\ fährlichen politischen Lage zu finden, in der sich zurzeit fast sämtliche Länder seit dem 
\ Versailler Vertrage befinden, wird man hoffentlich zur Einsicht kommen, daß die Ansammlung 
| von Zündstoff nicht den militärischen Rüstungen allein zugeschrieben werden darf. Der 
"reiche Zündstoff wird schon durch die sozialen, wirtschaftspolitischen und kulturellen Voraus- 
setzungen der einzelnen Völker und deren Verkehr miteinander bedingt. 

Wenn ich die Sackgasse kennzeichnen sollte, in welche die Länder Europas geraten sind, so 
"würde ich sie mit dem Worte ‚‚Revanche‘‘ bezeichnen. Wie im Jahre 1871 die Abtrennung 
" Elsaß-Lothringens diese Stimmung in Frankreich hervorrief und die Riesenrüstungen Frank- 
reichs und dessen Bündnis mit Rußland zur Folge hatte, so wird auch heute diese Revanche- 
" stimmung auf der anderen Seite geschürt, trotz und vielleicht gerade wegen der Repressalien, 
die die Gegner Deutschlands aussinnen mögen. ... 


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\ Einsatz im Weltkriege lohnte. 
" "Unser Bündnis mit Frankreich zwang uns, alle Maßnahmen zu treffen, um unseren Ver- 
| pflichtungen in dieser Hinsicht nachzukommen. Etwa zwei Jahre vor Kriegsausbruch erklärte 
| mir der französische Militärattache, daß Frankreich der Konzentrierung bedeutender Truppen- 
teile an der deutschen Grenze große Bedeutung beimesse. Diese Forderung läßt sich nur 
\ durch die ständige Revanche-Idee erklären. 
| Seinerzeit hat Frankreich ungefähr das durchgemacht, was jetzt in Rußland vorgeht: die Mo- 
narchie wurde gestürzt, Ströme von Blut vergossen, es siegte die Losung „Freiheit, Gleichheit 
und Brüderlichkeit‘‘. Darauf erschien der ‚Konsul‘, der nachmalige Kaiser. 1871 bricht wieder 
" eine unruhige Zeit für Frankreich an, die Pariser Kommune. ... Heute stellt Frankreich eine 
Art monarchistischer Republik dar.... Dennoch erscheint Frankreich seine gegenwärtige 
isolierte Stellung nicht ungefährlich und sicher würde esgerne Rußland mit seiner 130-Millionen- 
| Bevölkerung als Verbündeten auf seiner Seite sehen. Dieses durchaus egoistische Interesse 
' Frankreichs kann jedoch für Rußland keinen wesentlichen Nutzen bringen. Die Erfahrungen 
des letzten Krieges haben deutlich gezeigt, daß wir von unseren früheren Verbündeten kein 
einziges Geschoß erhalten haben, während wir aus Rußland ganze Truppenteile nach Frank- 
reich zur Hilfe entsandten. 


| 

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| 

| 

| 

| 

| 

D° Weltkrieg hatte den Zusammenbruch zweier einst mächtiger Nachbarstaaten, wie RuB- 

land und Deutschland, zur Folge. Die Ansicht, daß diese beiden Länder, die durch die Kata- 

| strophe am meisten gelitten haben, eine Annäherung erstreben müssen, wird sich mit der Zeit 

| als logische Notwendigkeit durchsetzen. Diese beiden Länder ergänzen sich gegenseitig, was 
in dem einen reichlich vorhanden ist, fehlt dem anderen, von den Charaktereigenschaften 
bis zu den wirtschaftlichen Verhältnissen. Der gesunde Menschenverstand verlangt deshalb, 
diesen wirtschaftlichen Interessen den Vorrang zu geben und erst in zweiter Linie die Politik 

zu berücksichtigen. Bei einer derartigen Einstellung ist ein enges Zusammenarbeiten Deutsch- 

| lands und Rußlands auf wirtschaftlichem Gebiete eine Lebensnotwendigkeit. 

| Alles Naturwidrige ist weder lebensfähig noch von Bestand. Infolgedessen werden auch die 

jetzigen unnormalen Lebensbedingungen in Rußland eine Änderung erfahren müssen. Vor 

allem muß das pseudo-kommunistische Regierungssystem als unzulänglich anerkannt werden. 

Das russische proletarische Bacchanal verbreitet bereits einen Leichengeruch, aber gesunde 

Keime des normalen Lebens drängen schon aus dem blutdurchtränkten Boden hervor. 

| Trotz der Unzulänglichkeiten des zaristischen Regimes ist der Zustand, der zurzeit in Ruß- 

|" jand herrscht, als Rückschritt zu werten. Doch sind heute schon Anzeichen dafür vorhanden, 

| daß wieder Versuche gemacht werden, den Weg der wahren Zivilisation zu beschreiten. 

' Um den verfahrenen Wagen aus dem kommunistischen Morast zu ziehen, bedarf es nicht ge- 

ringer Zeit und großer Energie zielbewußter, politisch geschulter Männer. 


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270 Entwicklung des Bolschewismus 








Eine günstige Lösung der Frage der Zusammenarbeit Deutschlands und Rußlands wird für 
beide Länder von größter Bedeutung sein. Die Erfahrungen einer gemeinsamen Arbeit der Rus- 
sen und Deutschen in den deutschen Kolonien an der Wolga und in anderen Gebieten Ruß- 
lands Können diese Annahme nur bestätigen. Rußland ist ein ackerbautreibendes Land, reich 
an Rohstoffen und arm an technischen Mitteln zu ihrer Verarbeitung. Die Entwicklung der 
Industrie in Deutschland ist gewaltig, ebenso nimmt die Bevölkerung Deutschlands ständig zu, 
ohne daß genügend freies Land vorhanden wäre. Dies macht sich besonders seit dem Welt- 
kriege und dem Verlust der Kolonien bemerkbar. 


a enaben muß darauf hingewiesen werden, daß Deutschland, trotzdem es während 
unseres Krieges mit Japan nicht unser Verbündeter war, auf keine Weise uns gegenüber eine 
angriffslustige Haltung verriet, und die Beziehungen der beiden Monarchen blieben nach wie 
vor die freundschaftlichsten. Man war sich in Rußland dessen wohl bewußt und es gab bei 
uns nicht wenig Russen, die mit Deutschland sympathisierten, von chauvinistischen Neigungen 
verschont blieben und ein ruhiges, friedliches Leben sowie freundschaftliche Beziehungen zum 
unmittelbaren Nachbarn wünschten, mit dem uns schon damals enge Handelsbeziehungen und 
Interessen wirtschaftlicher und kultureller Art verbanden. Deshalb bin ich persönlich der 
Überzeugung, daß diedeutsche Politiknicht aggressiv war und daß diefürRüstungen verwendeten 
Summen unter dem Druck des sich vorbereitenden französischen Revancheaktes verausgabt 
wurden. DasVerhältnis DeutschlandszuRußland während desjapanischenKriegeserregte Frank- 
reichs Unzufriedenheit in hohem Maße, wovon sich Graf Witte gelegentlich eines Aufenthaltes 
in Paris 1905 überzeugen konnte. Unsere Verbündeten — und früheren Gegner im Krim- 
kriege — behandelten die Interessen Rußlands mehr denn leichtsinnig. Wie Graf Witte berich- 
tete, äußerten der Präsident der Republik Loubet und auch der Ministerpräsident Rouvier 
ihre Unzufriedenheit darüber, daß der russisch-japanische Kriegsich in die Länge zog; infolge- 
dessen sei Rußland, solange seine Streitkräfte im fernen Osten beschäftigt waren, für Frank- 
reich ein schwacher Verbündeter. 


Im selben Sinne war auch die öffentliche Stimmung gehalten. Das Verhalten des französi- 
schen Publikums nahm sogar unkorrekte Formen an: wenn Graf Wittesich sehen ließ, wurde 
ihm zugerufen: ‚Faites la paix“. Gerade im Unglück erkennt man bekanntlich seine wahren 
Freunde. Diese Episode dient einerseits als Beweis dafür, wie ein derartiges Bündnis einzu- 
schätzen ist, und anderseits dafür, daß Deutschlands Politik nicht aggressiv war, da es an- 
dernfalls die Isolierung Frankreichs benutzt hätte, um diesem erneut eine Niederlage beizu- 
bringen. Dies befürchteten stets die Franzosen und waren sich auch dessen bewußt, daß 
die Ereignisse von den britischen Inseln mit gespanntem Interesse verfolgt wurden. 


Wenn Frankreich, und insbesondere England, einen Krieg hätten vermeiden wollen, so hätte 
dieser 1914 auf diplomatischem Wege beigelegt werden können, wie dies ja bereits bei ver- 
schiedenen Konflikten der Fall gewesen war, die auf friedliche Weise erledigt wurden. 


D* Gedanke eines Dreibundes Rußland-Deutschland-Frankreich, mit dem sich auch Graf 
Witte seinerzeit trug, und über den er sich u. a. mir gegenüber äußerte, drängt sich un- 
willkürlich auch jetzt auf, denn er würde das Gespenst der Revanche verscheuchen. 


Die Annahme, daß die Kriegsgefahr endgültig überwunden sei, ist nicht ungefährlich: ein 
einziger Funke genügt, um den Brand wieder zu entfachen. Zurzeit gibt es genügend Zünd- 
stoff, der noch leichter in Flammen aufgehen und alles verzehren kann als 1914. 


Das politische Leben Europas hat noch lange nicht sein Gleichgewicht erreicht. Die wirt- 
schaftliche Lage ist zerrüttet und droht mit der Möglichkeit eines Bürgerkrieges und seinen 
furchtbaren Folgen, wie wir es an dem Beispiel Rußlands beobachten konnten. Die Lage, in 
der sich Deutschland nach dem Kriege befindet, ist dermaßen unhaltbar, daß auch hier eine 
Katastrophe nicht ausgeschlossen ist, wenn nicht Maßnahmen ergriffen werden, die nicht von 
Deutschland allein abhängig sind. Diese Gefahr wird nicht eher beseitigt werden können, 
als in Rußland eine wenn auch nur primitive Rechtsordnung sich durchsetzt und als Deutsch- 
land aus der Stellung eines über einem Abhang Schwebenden befreit wird. 








Wissenschaftliche Rundschau 





| Wissenschaftliche Rundschau 


Rußland im deutschen Schrifttum der Gegenwart (I) 
| Von Ernst Drahn in Berlin 


mäßig geringe Rolle. Wohl warben Schriftsteller wie Toolstoi und Dostojewski schon früh 
um die Gunst des deutschen Publikums und fanden sie. Wohl fanden politische Autoren 


| B: zur russischen Revolution spielte Rußland im deutschen Schrifttum eine verhältnis- 
“ dem Reiche des weißen Zaren seit Herzen und Bakunin auch in Deutschland Verleger; 


Schriftleiter an deutschen sozialdemokratischen Zeitungen gewannen starken Einfluß auf 
diese Bewegung. Verleger machten sich darüber hinaus seßhaft, die neben Übersetzungen 
auch russische Originalwerke verlegten (u. a. Ladyschnikow, Steinitz, Devrient). Kautsky, 
"dem Schriftleiter der sozialdemokratischen Zeitschrift „Die neue Zeit‘, der zeitweise rus- 
"sische Mitarbeiter stark bevorzugte, wurde sogar der allerdings satirisch gemeinte Vorschlag 
"gemacht, das Blatt nicht in deutscher, sondern in russischer Sprache herauszubringen. 

| Größeres Interesse in deutschen Veröffentlichungen fand Rußland aber erst seit dem Um- 
* sturz von 1917. Es war kein Wunder. In einem Zeitraum von kaum mehr als einem halben Jahr 
| wurde dergewaltige Abgrund, derzwischen absolutistisch-monarchistischer und proletarisch-dik- 
tatorischer Staats-, zwischen feudaler und sozialistischer Wirtschaftsform klafft, übersprungen. 
* Die Art der deutschen Veröffentlichungen während der Kriegszeit ist teilweise festgehalten 
Hin H. Praesent, „Bibliographie der wissenschaftlichen Arbeit im kriegsbesetzten Rußland‘, 
‚verzeichnet in der Leipziger Zeitschrift ‚Das deutsche Buch‘ 1923, Sonderheft ‚Rußland‘, 
\.S.54—57; was sonst zwischen 1917 und 1919 erschien, waren meistens Schriften, die sich 
| mit dem Kriege selbst oder in darstellender Weise mit der russischen Revolution beschäf- 
„tigten. Manche Titel aus dieser Zeit habe ich in meiner „Bibliographie des wissenschaft- 
lichen Sozialismus 1914—1922‘, die ich auf Wunsch des Russischen Volkskommissariats für 
Bildungswesen zusammenstellte (Berlin 1923), verzeichnet. Es ist darin auch Verschiedenes 
genannt, was die Russen in der Zeit, vom Herbst 1917 an, als Propagandaliteratur, sei es aus 
dem Promachos-Verlage in Bern, sei es aus dem Moskauer Verlage der deutschen Gruppe 
\ der R.K.P. im Kuriergepäck oder aus deutschen Geheimdruckereien hervorgehen ließen. 
\ Besonders auf diese Propagandaliteratur geht auch mein Aufsatz „Bibliographie der Front- 
| propagandaschriften deutscher Sprache“ (Entente) in den ‚Mitteilungen des Verbandes deut- 
scher Kriegssammlungen“, Berlin 1919,.5. 36 u. 128 ein, während W. Mautner im bibliogra- 
| phischen Anhang seines Werkes ‚‚Der Bolschewismus‘‘ (Stuttgart 1920), S. 354—368, neben 
' vielem Allgemeinen die deutsche Literatur in ihrer Gesamtheit zum Thema gehörig zusammen- 
| faßt. Verschiedenes aus dieser Literatur würdigte erst vor kurzem Elias Hurwicz in seiner 
ı Besprechung ‚‚Die Literatur über den Bolschewismus‘‘ (1918—1925) in der neuen Zeitschrift 
| „Osteuropa“ 1926, Heft 3, S. 144—157. Einen beachtenswerten Versuch in dieser Hinsicht 
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- stellt schon der 1919 vom Sekretariat zum Studium des Bolschewismus herausgegebene 
‘ „Führer durch die bolschewistische und antibolschewistische Literatur‘ dar. Er zeigt, wie 
, endlich nach dem November 1918 in Deutschland erkannte wurde, welchen Umfang die 
\ russische Propaganda angenommen hatte. Eine kurze Bibliographie des ‚„Bolschewismus“ 
, stellte ich für den gleichnamigen Artikel in der 4. Aufl. des Handwörterbuches der Staats- 


\; Sie sei als leicht erreichbar hier erwähnt. 


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| (a besondere Note erhielt die deutsche Literatur der Nachkriegszeit über Rußland aber 
* Lonicht allein durch die vielen Schriften, die von bolschewistischer oder antibolschewisti- 
scher Seite veröffentlicht wurden, sondern auch durch das massenhafte Auftreten schreibender 
| russischer Emigranten. Bis zum Ende der Inflationszeit in Deutschland entstand dadurch 
, ein Massenangebot von Literatur in russischer Sprache. Zum Zwecke der Herausgabe sol- 
cher russischer Bücher, Zeitschriften und Zeitungen wurden bis Ende 1923in Berlinallein 
\ ansechzig russische Verlage gegründet, die weit über 1000 Titel auf den Markt brachten. 
Sogar eine russisch-bibliographische Zeitschrift entstand 1921 unter dem Titel „Russkaja 
Kniga“ (Das russische Buch). Sie bestand nicht lange. Ihr Überrest ist die literarische 


| 2) Über Luthers „Geschichte der russischen Literatur‘ (Leipzig 1924) wurde schon im 
 Märzheft 1924, „Aus belgischen Dokumenten‘, S. 56 berichtet. 














ZU2 Wissenschaftliche Rundschau 
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Zeitschrift ‚‚Novaja russkaja kniga‘‘, die bei Ladyschnikow, Berlin, erscheint. Eine kleine 
Bibliographie, meist literarische Werke in deutscher Sprache enthaltend, stellt in der Zeit- 
schrift ‚Das Deutsche Buch“ 1923, Sondernummer ‚Rußland‘, der frühere Moskauer Dozent 
A. Luther (S.57—63) zusammen!). Heute ist von allen russischen Verlagen Deutschlands 
nicht viel mehr übrig als der alte Bestand. Sie zogen mit den Inflationsgenießern, die eg 
verstanden hatten, rechtzeitig sowohl aus Rußland als auch aus Deutschland ihr Schäfchen 
ins Trockene zu bringen, nach Paris oder zu ihren allslawischen Freunden in die Tschecho- 
Slowakei, von wo aus nun die drei Millionen russischer Emigranten aller politischen Rich- 
tungen mit Literatur versorgt werden. Deutsche Werke über Rußland erscheinen auch jetzt 
noch in großer Zahl. Ein Blick in die „Osteuropäische Bibliographie‘, herausgegeben vom 
Osteuropa-Institut in Breslau seit 1921, kann davon ebenso überzeugen wie die Benutzung 
des von E. Hanisch herausgegebenen Sammelwerkes: ‚Jahresberichte für Kultur und Ge- 
schichte der Slawen‘ (Breslau 1924 ff.). Hier sind aus dem ersten Jahrgang besonders wichtig 
die Artikel ‚Neue russische Memoirenliteratur seit 1918° aus der Feder des Hamburger 
Universitätsprofessors Salomon, des Breslauer Professors Friedrich Andreae: ‚‚Neue deutsche 
Darstellungen russischer Geschichte‘ und vom gleichen Verfasser: „Das bolschewistische 
Rußland in der deutschen publizistischen Literatur“. Der Herausgeber steuerte bei „Zur 
Bibliographie der vornehmlich in Deutschland erschienenen slawischen Belletristik und 
Literaturgeschichte‘‘. — Moderne sowjet-russische Belletristik und ihre Verfasser, getrennt 
nach verschiedenen Richtungen, kennzeichnet kurz und gut Franz Jung in seiner Schrift 
„Das geistige Rußland von heute‘ (Ullstein, Berlin). Einiges davon ist auch schon in deut- 
scher Übersetzung erschienen, so von neuer Poesie ein Heft mit Gedichten von Demjan 
Bednyj: Die Hauptstraße (mit Nachwort von Trotzki). Verlag für Literatur und Politik, 
Wien. Die eine Nennung mag genügen, denn über jedem Bändchen des Autors sollte das 
Wort des alten Berliner Polizeipräsidenten stehen: „Ich warne Neugierige!‘“‘ Wer die sang- 
baren Lieder des revolutionären Rußlands in ihrer Urwüchsigkeit daneben hält, wird sie der 
Kunstpoesie vorziehen. Mehr als aus dicken Bänden kann er daraus lernen. Ein ‚‚neues 
Kampfliederbuch“ ist „Rote Front‘ (Viva, Berlin); zu beachten darin ist „Die Schmiede“, 
„Warschawjanka“, „Russischer Rotgardistenmarsch‘“, ‚Die Rote Armee“, „Budjonyj 
Marsch“, „Dubinuschka“ u. a. m. Gesangsnoten sind daneben gesetzt. 

Wertvoll für die Kenntnis des Herganges der russischen Revolution sind auch die 
neuen realistischen Romane und Novellen Sowjetrußlands!). W. Iwanow schrieb „Farbige 
Winde“ und ‚„Panzerzug Nr. 14—69“. Diese Erzählungen führen in die Zeit der Kämpfe 
der Roten Armee gegen das Heer der provisorischen Regierung in Sibirien. Von W. Were- 
ssajews Roman ‚‚In der Sackgasse‘‘ war seinerzeit schon die Rede. Er spielt in der Krim. 
Nach verschiedenen Fronten führen zwei Bände „Russischer Erzählungen “, J. Lebedinskis 
„Eine Woche‘, P. Dorochows ‚Golgatha‘ und A. Sergegews ‚Unteroffizier Poskakuchin“. 
Sie sind sämtlich bei Carl Hoym Nachf. in Hamburg erschienen, jenem offiziellen Verlage 
der Moskauer III. Internationale, der seit 1920 viele hundert Werke und Broschüren kom- 
munistischen Inhalts zu billigen Preisen in Deutschland verbreitet. Neuerdings erst kommt 
eine literarische Zeitschrift im freiheitlich-neutralen Verlage von J. Ladyschnikow, Berlin, 


heraus, die auch der modernen russischen Realistik Pflege angedeihen läßt, die „Russische ’ 


Rundschau‘. — Wie gesagt, es ist Zeitgeschichte, was diese neue russische Literatur ver- 
mittelt. Die politische und wissenschaftliche Geschichtschreibung hat durch die Revolution 
ebenfalls starke Anregung erfahren. Es sind viele neue Werke entstanden und ältere über- 
setzt worden. Manche kleine Schrift kam bei Hoym heraus. Von größeren sind zu nennen 
das Buch des englischen Journalisten, ehemaligen Korrespondenten des „Manchester Guar- 
dian‘“, M. Philips Price: „‚Die russische Revolution‘‘, flott geschriebene Erinnerungen aus den 
Jahren 1917—1919. Noch wichtiger ist die ‚Geschichte der Kommunistischen Partei Ruß- 
lands (Bolschewiki)‘“ von G. Sinowjew, dem nächsten Mitarbeiter Lenins. Das Buch räumt 
mit mancher Legende auf, ist natürlich vom Parteistandpunkt aus geschrieben, darum aber 


erst recht wertvoll. Beide Werke sind bei Hoym, Hamburg, erschienen. Mautners „Bol- 


schewismus“, das gewiß treffliche Werk, das nun schon in mehreren Auflagen bei Kohl- 
hammer in Stuttgart erschienen ist, hat leider noch nicht von Sinowjews „Geschichte“ 
Nutzen ziehen können. Empfehlenswert zur Einführung ist auch die ‚Geschichte der jüng- 
sten russischen Revolution“ von E. Hurwicz, die vom „Firn-Verlag‘‘ an den Verlag Neue 
Erziehung, Berlin-Hessenwinkel, überging. Leider ist bisher nur ein erster Band erschienen, 
der bis in das Frühjahr 1920 reicht. Von den bekannteren Gegnern des Bolschewismus hat 
der kadettische Minister Professor P. N. Miljukow durch mehrere Werke Entlastungsversuche 


1) Über einige Werke wurde im Maiheft 1925 „Die Kriegsziele der Entente‘“, S. 53 berichtet. 








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Wissenschaftliche Rundschau 273 


unternommen. Wir wissen, welche verhängnisvoile Politik er 1916/17 trieb und wie er seit- 


‘dem zwischen englischer, deutscher, französischer und wer weiß welcher Einstellung hin 


und her schwankte. Sein erstes Buch hieß ‚‚Geschichte der Russischen Revolution‘ (Verlag 
„Renaissance‘“). Ein neues Werk von ihm hat sogar zwei Bände: „Rußlands Zusammen- 
bruch‘. Selbstverständlich hat auch Miljukow ein Recht, gehört zu werden, und bei kriti- 
scher Behandlung sind seine Bücher immer noch aufschlußreich. Sein letztes Werk erschien 
in der Deutschen ‚Verlags-Anstalt Stuttgart. An gleicher Stelle auch: A. v. Hedenströms ‚‚Ge- 


‘schichte Rußlands von 1878—1918“. Der Verfasser entstammt einer alten Familie Rigas 


und wirkt hier seit längerem als Dozent an der Universität. Er bemüht sich, erschöpfend zu 
sein. Mit dem ‚‚Proletarischen Marxismus‘‘ — um Sombarts Terminus zu gebrauchen — 
scheint er dabei quellenmäßig nicht so vertraut zu sein, daß eine einwandfreie Darstellung 
der sozialdemokratischen Bewegungen in Rußland entstehen könnte. Mit dieser Einschrän- 
kung kann sein Werk als durchaus verdienstvoll bezeichnet werden. Es ist übersichtlich 
und bequem angeordnet und gibt das Wissenswerte in flüssiger Darstellung. Der gleiche Verlag 
hat auch manches Russische herausgebracht. Z.B. liegt der erste Band von Karl Stählins 
„Geschichte Rußlands von den Anfängen bis zur Gegenwart‘ vor. Er reicht bis zur Geburt 
Peters des Großen. Hier äußert sich ganz gewiß ein Berufener, der sich seit Jahren mit 
der osteuropäischen Geschichte und Landeskunde beschäftigt. Die Darstellung in dem 
vorliegenden Bande ist auf die Werke erster russischer Geschichtschreiber aufgebaut, wie 
manche Note zum Text beweist. Im einzelnen gliedert sie sich in ‚Geographische Grund- 


\ Jagen und Gliederung der russischen Geschichte‘, „Bis zum Fall Kiews‘, ‚Teilfürstentümer 
unter der Tatarenherrschaft‘“, dann folgen eine Anzahl Kapitel, die den Aufstieg Moskaus 
‚ behandeln, wobei größere Abschnitte Iwan den Schrecklichen und die ersten Romanows 


uns näherbringen sollen. Karten erläutern den Text. Da die deutsche Literatur arm ist 
an Werken über den Beginn der russischen Geschichte, wird dieser Band Freunde finden. 


| Über Kljutschewskijs großes Werk, das übrigens auch von Stählin benutzt wurde, wird ge- 
'sondert berichtet werden. — Ein Sondergebiet der Geschichtswissenschaft weiß F. 


Dukmeyer lehrreich zu behandeln: Das Entstehen der russischen Literaturgeschichte in 


"Deutschland. Der Verfasser bringt diese Skizze im Rahmen seines Buches ‚Die Einführung 


Lermontows in Deutschland und des Dichters Persönlichkeit‘ (Berlin 1925). Eine große 
Anzahl von Textnoten bringen wichtige Exkurse zum Thema. Dukmeyer ist in guter Er- 
innerung als Verfasser des Werkes: „Die Deutschen in Rußland“ (Berlin 1916). Das gleiche 
Thema, modern projiziert auf „Die Wolgadeutschen‘, behandelt historisch und zeitgeschicht- 
lich ein Sonderheft (3. Jahrg. Nr. 1/2, 1926) der Zeitschrift das „Neue Rußland‘ (Berlin). 
Diese Hefte sind überhaupt wichtig für die Kenntnis der Kulturgeschichte Rußlands. Eine 
Erzählung, die die Zustände in der deutschen Wolgarepublik schildert, brachte B. Illes 
unter dem Titel: ‚„Stepans Teppich‘ beim Viva-Verlag Berlin heraus. 


M an hat neuerdings die Geschichtschreibung als Hilfsmittel der Gesellschaftswissenschaft 
bezeichnet, umgekehrt kann man die Soziologie als Teil der Geschichtswissenschaft 
ansprechen. Bei kaum einem Lande und Volk spielt die Kenntnis des gesellschaftlichen 
Lebens für die Beurteilung der geschichtlichen Ereignisse, der staatlichen Entwicklungs- 
formen u.a.m. eine so große Rolle wie bei Rußland und den Ostslawen überhaupt. Karl 
Nötzel hat uns ein großzügiges Werk beschert: ‚Die soziale Bewegung in Rußland, ein Ein- 
führungsversuch auf Grund der russischen Gesellschaftslehre‘‘ (Deutsche Verlags-Anstalt 
Stuttgart). ‚‚Es ist nicht immer nötig, daß das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn 
es geistig umherschwebt und Übereinstimmung bewirkt, wenn es wie Glockenton ernst-freund- 
lich durch die Luft wogt‘; dieses Goethewort setzt Nötzel seinem Werk voran. In der Tat 
bemüht er sich wissenschaftlich-analytisch mit so irrealen, flüchtigen Elementen zu arbeiten, 
wie die Töne sind, die von den Nervensträngen und dem Od der Ostslawen in Bewegung 
gesetzt werden. Er legt sie in einzelne Präparate gefaßt sozusagen auf den Tisch des Hauses. 
Ohne die Kenntnis der ‚‚Sozialen Bewegung‘ kann fast niemand die Geschichte Rußlands 
geistig durchdringen. Am wichtigsten scheinen mir die Kapitel zu sein, die die eigentliche 
„Soziale Bewegung in Rußland‘ und „Die Bedeutung der sozialen Bewegung in Rußland“ 
behandeln. Ein ähnliches, doch umgrenzteres Gebiet hat sich Professor F. Haase von der 
Breslauer Universität gewählt: ‚Die religiöse Psyche des russischen Volkes.“ Das Buch 
erschien bei Teubner in Leipzig in den ‚Quellen und Studien‘“ des Osteuropa-Instituts in 
Breslau, der Aufbau der Arbeit ist nicht nur aus psychologischem Material getätigt, auch 
kirchen- und kulturgeschichtliche Bausteine sind verwandt. ‚Der russische Bürgerkrieg 
und die russische Emigration 1917—1921“ wird von H. von Rimscha behandelt. Der Ver- 
fasser sucht seinen alten polnischen Adelstitel zu verdeutschen, wohl um als Deutsch-Balte 
eine bessere Konjunktur zu haben. Er hätte das nicht nötig gehabt, denn sein Buch ist, 














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274 Wissenschaftliche Rundschau 
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ich möchte sagen: trotzdem, ein durchaus brauchbarer Wegweiser (Frommansche Buch- 
handlung, Jena); rechtsgeschichtlich ist M. Langhansens Schrift: ‚Vom Absolutismus zum 
Rätestaat‘‘ (Hirschfeld, Leipzig). Die wichtigsten Züge des russischen Staatsrechts im Ver- 
laufe seiner Entwicklung, die staatsrechtliche Linie seit 1918 und die Bundesverfassung vom 
6. Juli 1923 sind in zeitlicher Folge hier entwickelt, wobei auf die Darstellung des Gegen- 
wartszustandes das Hauptgewicht gelegt ist. Finanzgeschichtliche Auseinandersetzungen hat 
ein weiteres Buch zum Ziel: „Die Währungsprobleme Sowjetrußlands‘“ von dem Moskauer 
Professor L. Jurowsky (R.L. Prager, Berlin). Schon aus dem Titel sieht man, daß es 
hauptsächlich Gegenwartsfragen behandeln will, aber notgedrungen mußte der Verfasser 
stark zurückgreifen, um in Deutschland verständlich zu werden. Seiner Arbeit ist diese 
Methode nur dienlich gewesen, und wir sind dank der Ausführungen Jurowskys nun in 
Deutschland über das Geldwesen des Sowjetstaates so unterrichtet, wie es bei der schwierigen 
Materie eben möglich ist. Das Buch ist aufgebaut nicht nur auf theoretische Anschauungen, 
sondern auf Grund der praktischen Tätigkeit, die der Verfasser als Chef der Valutaverwaltung 
der S.S.S.R. seit 1922 entwickelt hat. Eine Menge literarischer Kundgebungen hat bereits 
die Tätigkeit der Sozialrevolutionäre während der russischen Revolution hervorgerufen. Die 
S.R. unterschieden sich dadurch von den Sozialdemokraten aller Länder, daß sie glaubten, 
die politische und wirtschaftliche Gleichheit ohne Entwicklung des Industrialismus herbei- 
führen zu können und daß sie gleich vielen westeuropäischen Anarchisten den individuellen 
Terror, als Kampfmittel bevorzugten. Außer Bauern zählte die Partei besonders viele Ver- 
treter der Intelligenz zu Mitgliedern — die wildgewordenen Liberalen nannte sie ein russi- 
scher Publizist. Die gleichen Methoden, wie gegen das alte Regime, wandten nach der bol- 
schewistischen Revolution die S.R., aber diesmal unterstützt durch Ententegeldmittel, 
gegen ihre früheren Verbündeten an. Wie auch deutsche, offizielle Persönlichkeiten bei diesen 
Streitigkeiten umkamen, beweisen die Attentate auf General Eichhorn und den Grafen Mir- 
bach. Beide Meuchelmorde wurden von Sozialrevolutionären vollführt. Zwei Bücher ]J. 
Kachowskaja: Attentate auf Eichhorn und Denikin (erschienen im Verlage „Skythen“, 
Berlin, dem Verlag der linken Sozialrevolutionäre) und K. von Bothmer: Mit Graf Mirbach 
in Moskau (Osiandersche Buchhandlung, Tübingen) erzählen den Hergang der Ereignisse 
und außerdem manches andere von Interesse. Die Art, wie die Sozialrevolutionäre vom 
Herbst 1917 an in die hohe Politik eingriffen, erzählt neuerdings K. Kersten in seinem Werk: 
„Der Moskauer Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre‘“ (Verlag Die Schmiede, Berlin). 
Alle Aussagen im Prozeß zeigen, welche intensive Tätigkeit 1917/18 entwickelt wurde, eine 
neue Ostfront gegen die Bolschewiki, aber auch gegen Deutschland zu befestigen. Murman- 
küste, Ural, Wolga, das war die erste Linie, die man ziehen wollte. Alle Parteien Rußlands, 
von den Schwarzhundert bis zu den Sozialrevolutionären, dazu noch die Kriegsgefangenen 
tschechischer Nationalität wurden hiezu mobil gemacht. Den Sozialrevolutionären fiel dabei 
die Hauptaufgabe zu, in den großen Städten Aufstände zu entfachen. Der Mord am Grafen 
Mirbach sollte lediglich politische Schwierigkeiten zwischen Deutschland und Rußland 
schaffen.!) Es war gerade die Zeit, als der ehemalige Verhandlungsleiter auf deutscher Seite 
in Brest-Litowsk, Generalmajor Hoffmann, eine geheime Abmachung mit den russischen 
Volkskommissaren getroffen hatte, die auf deutsche Truppensendungen an die Murman- 
küste und auf die Besetzung Petersburgs zum Schutze der Bolschewistenherrschaft, deren 
Weiterbestehen auch durchaus im deutschen Interesse lag, hinzielten. So ist der Prozeß- 
bericht von hohem Interesse für die Geschichtsforschung. Bei dieser Gelegenheit sei ein kleiner 
Exkurs gestattet: General Hoffmann hat vor kurzer Zeit eine Schrift veröffentlicht, die 
unter dem Titel: ‚An allen Enden Moskau‘‘ — Das Problem des Bolschewismus in seinen 
jüngsten Auswirkungen — (Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1925) zum militärischen Vorgehen 
gegen Sowjetrußland auffordert. Es wirkt gewiß eigenartig, wenn der Schützer der Bol- 
schewiki von 1918 sich heute so energisch für ihre Ausrottung einsetzt. Er argumentiert: 
Rußland fehlt im Weltwirtschaftssystem. Es macht die nach dem Weltkrieg ohnehin schwie- 
rigen Verhältnisse noch schwieriger und verwirrt sie fortdauernd durch seine bolschewistische 
Propaganda. Es ist sogar wahrscheinlich, daß es in absehbarer Zeit mit Erfolg die Kolonien 
zum Befreiungskampf gegen die Großmächte aufstacheln wird, um dann das stark geschwächte 
Europa zu besiegen. General Hoffmann schlägt also einen völkerbundlichen Präventivkrieg 
gegen den Bolschewismus vor. Sein Buch wäre ganz gewiß geeignet, in dem heutigen, aller- 
dings nur latenten Friedenszustand der Welt wie eine Brandrakete zu zünden, wenn die 
Mächte, die es angeht, einig wären. Was der Verfasser über die aggressive Außenpolitik 





!) Vgl. die folgenden Enthüllungen über die Ermordung des deutschen Botschafters Grafen 
Mirbach in Moskau. 



















































































Wissenschaftliche Rundschau 275 


der Bolschewiki sagt, ist zum größten Teil richtig. Seine Beispiele könnten sogar durch 
“ manche vermehrt werden. Anders steht es mit der Frage, warum sich die Bolschewiki im 
| eigenen Lande zu halten vermögen. Die Antwort, die er findet: Durch brutale Gewaltherr- 
schaft! ist unbefriedigend. Bismarcks Wort von den Bajonetten, mit denen man alles Mög- 


liche machen kann, nur nicht daraufsitzen, gilt auch für Sowjetrußland. Es ist falsch, wenn 
der Verfasser meint, daß die Industriearbeiterschaft sich in der Hauptmasse in Opposition 


gegen die Sowjets befindet. Im Gegenteil, sie gerade stellt die Hauptmasse der Sowjet- 
 beamten, der Angehörigen der Roten Armee und wird von den Komitees verhätschelt. Mit 


den Bauern liegt die Sache so, daß die Bolschewiki ihren Jahrhunderte alten Land- 
hunger befriedigten und keine andere Partei ihnen die Gewißheit gibt, daß ihnen das 
Land der enteigneten Großgrundbesitzer im Falle der Übernahme der Regierung belassen 
wird. Wohl sind die Verhältnisse in Rußland drückend, aber das waren sie schließlich auch 
vor dem Kriege. Jedenfalls ist für den russischen Patrioten die Herrschaftsfähigkeit der 
Bolschewiki dadurch bewiesen, daß sie es verstanden haben, die Grenzen Rußlands, wenig- 
stens nach Osten und Südosten, über das Maß des Zarenreiches hinaus zu erweitern, wäh- 
rend den provisorischen Regierungen 1917 ein Randstaat nach dem andern aus den Händen 
glitt. Es scheint mir also der Hauptgrund der Lebensfähigkeit der Bolschewistenherrschaft 
in ihrer Anpassungsfähigkeit an die Wünsche, Gewohnheiten und die Denkweise der Ost- 
slawen zu liegen.!) 


Aus Zeit und Geschichte 


Zur Ermordung des deutschen Botschafters Grafen Mirbach in Moskau 


Vor einiger Zeit erschien im Russischen Staatsverlag in Moskau ein ‚„Rotbuch 
der Allrussischen Tscheka‘, das eine Reihe von Dokumenten aus der Tätigkeit dieser 
Institution auch auf internationalem Gebiete enthält. In der Folge wurde jedoch 
das Rotbuch, wohl wegen dieser Enthüllungen, von den Sowjetregierungen ein- 
gezogen und ist jetzt nur in ganz wenigen Exemplaren vorhanden. Aus einem 
uns zugänglich gemachten Stück haben wir die nachstehenden Enthüllungen 
über die Ermordung des Grafen Mirbach aus der Feder des Mörders, des linken 
Sozialrevolutionärs Jakob Blumkin, ins Deutsche übertragen. 


er deutsche Botschafter in Sowjetrußland, Graf Wilhelm Mirbach, wurde in Moskau im 

Deneschny pereulok in einem Salon der Botschaft etwa um 3 Uhr nachmittags am 6. Juli 
1918 ermordet. Der Mord wurde von mir, dem ehemaligen Mitglied der Allrussischen Tscheka und 
Mitglied der Partei der linken Sozialrevolutionäre, Jakob Blumkin, sowie vom Photographen 
der mir unterstellten Abteilung der Tscheka für Bekämpfung der internationalen Spionage, 
gleichfalls einem Mitglied der genannten Partei, Nikolaj Andrejew, vermittelst einer Bombe 
und eines Revolvers begangen. 

Die politische Entstehung dieses terroristischen Aktes ist in kurzen Zügen diese: Die 
Dritte Allrussische Tagung der Partei der linken Sozialrevolutionäre, die in Moskau Anfang 
Juli 1918 (fast gleichzeitig mit dem 5. Rätekongreß) stattfand, faßte zur äußeren Politik 
den Beschluß, ‚‚den für die russische wie für die Weltrevolution verhängnisvollen Brester 
Friedensvertrag in revolutionärer Weise zu vernichten‘. 

Diesen Willen des Parteitages und der hinter ihm stehenden Massen der Werktätigen 
entschloß sich das Zentralkomitee der Partei zu vollziehen durch einen Akt individuellen 
Terrors an einem der aktivsten und habgierigsten Vertreter der deutschen imperialistischen 
Ansprüche in Rußland, Graf Mirbach. 

Die Massen der Partei und deren oberstes Organ waren zwar anfänglich der Überzeugung, 
daß die Sowjetregierung und die bolschewistische Partei auf dem 5. Rätekongreß unter dem 
Druck der ihnen anhängenden linken Sozialrevolutionäre gezwungen sein werden, ihre Politik 
zu ändern. Soviel ich mich entsinne, herrschte diese Überzeugung auf seiten der linken Sozial- 
revolutionäre nicht nur beim Abschluß ihres 3. Parteitages, sondern auch bei der Eröffnung des 
5. Rätekongresses. Allein schon nach der ersten Sitzung des letzteren, am 4. Juli 1918, wurde 
es klar, daß die Sowjetregierung nicht im mindesten an eine Änderung ihrer Politik dachte, 
ja diese nicht einmal einer Kritik unterzogen wissen wollte.- Da entschloß sich das Zentral- 
komitee der linken Sozialrevolutionäre, den Beschluß ihres Parteitages zu vollziehen. 


1) Ein ergänzender Aufsatz über die deutschen Zustandsschilderungen Sowjetrußlands folgt 
im nächsten Heft. 














276 Aus Zeit und Geschichte 








I): ganze Organisation Ges terroristischen Aktes gegen Mirbach geschah in außerordent- 
licher Eile und nahm nur 2 Tage, nämlich die Zeit zwischen dem Abend des 4. und dem 
Mittag des 6. Juli, in Anspruch. Dies muß besonders betont werden, weil bisher von der 
Regierung, ihrer Partei und Presse unerschütterlich geglaubt wurde, die Ermordung des 
deutschen Botschafters sei von langer Hand vorbereitet worden. Diese Behauptung wird 
jedoch durch die folgenden Tatsachen widerlegt: 

Am Morgen des 4. Juli übergab ich dem Genossen Lazis, der an der Spitze der Abteilung 
der Allr. Tscheka zur Bekämpfung der Gegenrevolution stand, die Akten über eine An- 
gelegenheit, die seinerzeit viel Aufsehen erregte, nämlich über die von mir Mitte Juni d. J. vor- 
genommene Verhaftung des deutschen Spions, Herrn Robert Mirbach, Neffen des deutschen 
Botschafters, — eine Angelegenheit, die mir nın den Vorwand gab, am6. Juli eine Zusammen- 
kunft mit dem Grafen Mirbach nachzusuchen. Dadurch wird zweifelsfrei bewiesen, daß ich 
zwei Tage vor dem Morde von diesem noch keine reale Vorstellung besaß. 

Erst vor der Abendsitzung des Rätekongresses am 4. Juli wurde ich aus dem Großen 
Theater von einem Mitglied unseres Zentralkomitees zu einer politischen Aussprache gerufen. 
Während dieser Aussprache wurde mir erklärt, das Z.K. habe beschlossen, den Grafen Mirbach 
zu ermorden, um an die Solidaritätsgefühle des deutschen Proletariats zu appellieren, um ferner 
den Weltimperialismus, der bestrebt ist, die russische Revolution zu ersticken, einzuschüchtern, 
schließlich um die Sowjetregierung vor die vollzogene Tatsache des Bruches des Brester 
Friedens zu stellen und sie dadurch endlich zu der langersehnten Politik der Einmütigkeit 
und Unversöhnlichkeit im Kampfe um die internationale Revolution zu zwingen. Mir als 
Parteimitglied wurde hierbei befohlen, allen Weisungen des Z.K. Folge zu leisten und ihm 
meine Informationen über Graf Mirbach mitzuteilen. 

Ich war indessen mit der Ansicht der Partei und ihres Z.K. vollkommen einverstanden 
und erbot mich daher, den Plan des Aktes zu vollziehen. Zuvor aber stellte ich zwei mir sehr 
nahegehende Fragen: 

1. Glaubt das Z.K., daß im Falle der Ermordung Mirbachs dem russischen Botschafter 
in Deutschland, Genossen Joffe, eine Gefahr drohe? 

2. Das Z.K. garantiert, daß seine Pläne nicht über die Ermordung des deutschen Bot- 
schafters hinausgehen. 


In der gleichen Nacht wurde ich zur Sitzung des Z.K. geladen, in der der endgültige Be- 
schluß gefaßt wurde, die Ausführung des Aktes gegen Mirbach mir, Jakob Blumkin, und 
meinem Amtsgenossen und revolutionären Freund, Nikolaj Andrejew, anzuvertrauen, der 
die Stimmung der Partei gleichfalls vollauf teilte. In derselben Nacht wurde beschlossen, 
daß die Ermordung am nächsten Tage, den 5. Juli, geschehen sollte. Ich schlug hierzu den 
folgenden Plan vor. Ich würde mir vom Gen. Lazis die Angelegenheit des Robert Mirbach 
zurückerbitten, dann eine auf meinen Namen sowie auf den Namen Nikolaj Andrejews lau- 
tende Vollmacht ausfertigen des Inhalts, daß ich von der Allrussischen Tscheka, Andrejew 
aber vom Revolutionstribunal ermächtigt sei, in persönliche Verhandlungen mit dem 
diplomatischen Vertreter Deutschlands zu treten. Mit diesem Mandat würden wir uns in 
die Gesandtschaft begeben, eine Zusammenkunft mit dem Grafen Mirbach herbeiführen 
und während derselben den terroristischen Akt vollziehen. Allein dieser Plan scheiterte des- 
wegen, weil in einer so kurzen Frist die nötigen Vorbereitungen nicht getroffen werden 
konnten und auch die Bombe nicht fertig war. Man verschob daher die Sache auf den 6. Juli. 
An diesem Tage bat ich mir vom Genossen Lazis die Akten über Robert Mirbach, angeblich 
zur Durchsicht, aus. Dann erbat ich mirin der Kanzlei ein Formular und tippte darauffolgendes: 


„Die Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution 
ermächtigt ihr Mitglied, Jakob Blumkin, sowie den Vertreter des Revolutionstribunals, 
Nikolaj Andrejew, in unmittelbare Verhandlungen mit dem Herrn deutschen Botschafter 
in Rußland, Gr. Wilhelm Mirbach, über eine Angelegenheit einzutreten, die eine un- 
mittelbare Beziehung zum Herrn deutschen Botschafter selbst hat.‘ 


Vorsitzender der Kommission (Dserschinski) 
Sekretär (Xenophont). 


Die Unterschrift des Sekretärs habe ich selber, die Dserschinskis ein Mitglied der Z.K. 
gefälscht. Als der zweite Vorsitzende der Allrussischen Tscheka, Wjatscheslaw Alexandrowitsch, 
der von nichts wußte, ins Amt kam, bat ich ihn, auf die Vollmacht den Stempel der Tscheka 
zu drücken und mir ferner eine Order zum Empfang eines Automobils aus der Garage aus- 
zuhändigen. Hierauf erklärte ich ihm, daß ich in der gleichen Nacht, laut Auftrag des Z.K., 
den Grafen Mirbach ermorden werde. Aus der Tscheka fuhr ich nach Hause, ins Hotel Elite 
in der Neglinnyi-Passage, zog mich um und fuhr in das erste Haus der Sowjets. Hier, in 

















Aus Zeit und Geschichte 277 


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der Wohnung eines Mitglieds der Z.K., befand sich bereits Nikolaj Andrejew. Wir erhielten 
das Geschoß, zwei Revolver und die letzten Instruktionen. Ich versteckte meinen Revolver 
in der Aktentasche, während Andrejew die Bombe gleichfalls in seiner mit Papieren voll- 
gepfropften Aktentasche verbarg. Um 2 Uhr nachmittags traten wir aus dem „National“ 
' heraus. Der Chauffeur ahnte nicht, wohin die Reise gehen sollte. Ich gab ihm einen Re- 
volver und sagte ihm hierbei als Mitglied der Tscheka im Befehlston: ‚Hier haben Sie einen 
Revolver und Patronen; fahren Sie vorsichtig; an dem Hause, wo wir halten werden, lassen 
Sie den Motor immer weiter arbeiten. Sollten Sie einen Schuß und Lärm hören, so bleiben 
Sie ruhig.‘‘“ In unserer Begleitung befand sich ferner noch ein Chauffeur, ein Matrose aus 
‘dem Detachement von Popoff!), den ein Mitglied des Z.K. mitbrachte. Dieser Chauffeur 
‚schien zu wissen, was bevorstand. Er hatte eine Bombe bei sich. Vor der Botschaft sind 
wir um 2 Uhr 15 Min. angelangt. Auf unser Klingeln machte ein Portier, ein Deutscher, auf. 
Lange unterhandelte ich mit ihm in meinem schlechten Deutsch und begriff endlich, daß 
es Mittagszeit war und wir etwa 15 Minuten warten mußten. Wir setzten uns auf ein Sofa. 
Nach 10 Minuten trat zu uns aus den inneren Zimmern ein unbekannter Herr heraus. Ich 
wies ihm die Vollmacht vor und erklärte, ich sei ein Vertreter der Regierung und bitte, mich 
beim Grafen anzumelden. Er grüßte und ging weg. Gleich hierauf erschienen zwei jüngere 
Herren. Einer von ihnen wandte sich an uns mit der Frage: „Kommen Sie vom Genossen 
Dserschinski?“ — ‚Ja.‘ — „Bitte schön.“ Wir wurden durch ein Empfangszimmer, in 
dem die Mitglieder der Botschaft ausruhten, dann durch einen Saal in einen Salon geführt 
und zum Sitzen aufgefordert. Aus der Hin- und Widerrede erfuhr ich, vor mir nur den Bot- 
 schaftsrat Dr. Riezler, den späteren Nachfolger Mirbachs, sowie einen Dolmetscher zu haben. 
' Da berief ich mich auf den Text der Vollmacht und bestand darauf, eine persönliche Zu- 
sammenkunft mit dem Grafen Mirbach zu haben. Nach einigen Auseinandersetzungen ge- 
lang es mir, Dr. Riezler zu bewegen, sich zum Botschafter zu begeben und diesem vorzu- 
schlagen, mich doch zu empfangen. Gleich hierauf kehrte Dr. Riezler mit dem Grafen Mir- 
bach zurück. Wir setzten uns um einen Tisch herum, wobei Andrejew sich an der Tür setzte, 
um den Ausgang zu versperren. Nach einer Unterhaltung von etwa 25 Minuten, vielleicht 
auch länger, als mir der Augenblick geeignet schien, holte ich aus der Aktentasche den Re- 
volver, sprang vom Stuhl auf und feuerte hintereinander auf Mirbach, Riezler und den Dol- 
metscher. Sie stürzten nieder. Ich begab mich hierauf in den Saal. Währenddem stand 
Mirbach wieder auf und folgte mir gebückt in den Saal. An der Schwelle der beiden Zimmer 
trat jedoch Andrejew dicht an ihn heran und warf sich und ihm die Bombe unter die Füße. 
Sie explodierte aber nicht. Da stieß Andrejew den Mirbach in die Ecke (dieser stürzte) und 
begann, aus seiner Aktentasche den Revolver hervorzuziehen. Niemand betrat die Ge- 
mächer, in denen sich das alles abspielte, obwohl in dem anstoßenden Zimmer, als wir es 
durchschritten, sich Leute befanden. Nun erhob ich die auf dem Fußboden liegende Bombe, 
holte stark aus und schmiß sie herunter. Die Explosion war gewaltig. Der Luftdruck warf 
mich an die Fenster, deren Scheiben durch die Explosion zertrümmert waren. Ich sah, daß 
Andrejew durchs Fenster sprang. Mechanisch, instinktiv folgte ich ihm. Dabei brach ich 
mir aber das Bein, während Andrejew bereits auf der anderen Seite des Zaunes, auf der 
Straße war und sich in das Auto setzte. Kaum hatte ich begonnen, den Zaun zu erklettern, 
als vom Fenster aus Schüsse fielen. Ich erhielt eine Wunde am Fuß, vermochte jedoch über 
den Zaun zu klettern und kroch an das Auto heran. Niemand trat aus dem Gebäude hinaus. 
Der Wächter, der am Tor stand, floh in den Hof. So fuhren wir ab und entwickelten die 
größte Geschwindigkeit. Ich wußte nicht, wohin wir fuhren. Wir hatten uns mit keiner 
Wohnung versehen, da wir überzeugt waren, daß wir sterben würden. Unsere Fahrt leitete 
jetzt der Chauffeur aus dem Detachement von Popoff. Wir waren aufgeregt und müde. 
Es schwirrte mir durch den Kopf: Jetzt muß man in die Tscheka ... die Sache melden. End- 
lich, unverhofft,sahen wir uns im Trechswijatitelski pereulok, im Stabe des Popoff-Detachements. 


ren wir an die Flucht? Ich für meinen Teil jedenfalls nicht ... nicht im mindesten. 
Ich wußte, daß unsere Tat von der Regierung getadelt und angefeindet werden konnte, und 
hielt dann für notwendig, mich ihr zur Verfügung zu stellen, um durch das Opfer meines 
Lebens unsere volle Ehrlichkeit und opfermütige Ergebenheit für die Interessen der Revo- 
lution zu beweisen. Auch standen vor uns fragend die Massen der Arbeiter und Bauern, 
und wir waren ihnen eine Antwort schuldig. Außerdem erlaubte uns unsere Auffassung. über 
das, was als Ethik des individuellen Terrors bezeichnet wird, nicht an eine Flucht zu denken. 
Ja, vor der Tat hatten wir miteinander abgemacht, daß, wenn einer von uns verwundet werde, 


I) Dieses Detachement bestand aus Anhängern der Partei der linken Sozialrevolutionäre 
und spielte in den folgenden Ereignissen eine große Rolle. Anm. des Übers. 





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278 Aus Zeit und Geschichte 








der andere in sich den Mut finden sollte, ihn zu erschießen. Allein warum hatten wir dem 
Chauffeur befohlen, den Motor nicht abzustellen? — Es war für den Fall nötig, daß man 
uns nicht empfangen, aber unsere Vollmachten prüfen würde: dann müßten wir schnell in die 
Tscheka zurück, um dort das Telephon zu besetzen und die Spuren des Versuchs zu verwischen, 

Ich war also am linken Bein, unterhalb der Hüfte, verwundet. Dazu kam beim Sprung 
aus dem Fenster ein Bruch des Fußknöchels und des Knochenbands. Ich konnte mich nicht 
bewegen. Matrosen aus dem Popoff-Detachement trugen mich auf Händen aus dem Auto 
in das Stabsquartier. Hier wurde ich geschoren, rasiert, mit einem Soldatenmantel bekleidet 
und im Lazarett des Detachements untergebracht, das sich auf der gegenüberliegenden 
Straßenseite befand. 

Von diesem Augenblick an wurde ich mir selbst überlassen und erfuhr alles, was am 7. Juli 
passierte, im Krankenhaus aus den Zeitungen, sowie erst viel später, im September, aus 
Gesprächen mit einigen Mitgliedern des Z.K. 

Mit voller Bestimmtheit aber erinnere ich mich, daß, während ich im Lazarett lag, Genosse 
Dserschinski im Stabe erschien und meine Auslieferung verlangte. Sobald ich es erfuhr, 
bestand ich darauf, daß man ihn zu mir ins Lazarett hereinführen sollte, da ich die Absicht 
hatte, mich von ihm verhaften zu lassen. Mich verließ die ganze Zeit über nicht die uner- 
schütterliche Gewißheit, daß ich so aus Gründen geschichtlicher Notwendigkeit handeln 
mußte und daß die Sowjetregierung mich wegen der Ermordung eines deutschen Imperia- 
listen nicht hinrichten kann. Allein das Z.K. weigerte sich, meine Bitte zu erfüllen.... 

Am 8. Juli, als das Detachement!) sich zurückziehen mußte, wurde ich im Hof des Laza- 
retts vergessen. Von hier brachte mich, zusammen mit anderen Verwundeten, eine mir un- 
bekannte Krankenschwester im Auto nach dem städtischen Hospital. Hier nannte ich mich 
einen Rotgardisten Grigorij Bylow und gab, vor, bei dem Kampf mit dem Detachement von 
Popoff verwundet worden zu sein. Im Spital verblieb ich wohl bis zum 9. Juli. Am Abend 
dieses Tages gelang mir mit Hilfe einiger außerparteilicher Freunde, die meinen Aufenthalt 
erfahren hatten, die Flucht. Ich sage Flucht, weil alle Krankenhäuser in diesen Tagen unter 
Todesandrohung den Befehl erhielten, keinen Verwundeten zu entlassen. Ich hielt mich 
einige Tage lang in Moskau verborgen, reiste dann, etwa am 12., ab und langte, nach langem 
Umherfahren, in Rybinsk an. 

Hier blieb ich, unter dem Namen Awerbach, bis Ende August, um meinen Fuß zu heilen. 
Anfang September übernahm ich, unter dem Namen von Wischnewski, ein Amt im Kreis- 
kommissariat der Landwirtschaft in Kimry und gab gleichzeitig Privatstunden, da ich große 
Not litt. Die ganze Zeit über hatte ich nicht die geringste Fühlung mit der Partei. Diese 
wußte nicht einmal, wo ich war. Im Laufe des Septembers gelang es mir jedoch durch einen 
Zufall, mit dem Z.K. in Verbindung zu treten. Ich machte ihm den Vorschlag, mich schleu- 
nigst nach der Ukraine, in das Gebiet der deutschen Okkupation zu entsenden, um dort 
terroristische Arbeit zu verrichten. Hierauf erhielt ich den Befehl, nach Petrograd zu kom- 
men und dort die Entsendung abzuwarten. Ich lebte in völliger Zurückgezogenheit in der 
Umgebung Petrograds, in Gatschina, Zarskoje Selo usw. und verbrachte die Zeit mit litera- 
rischer Arbeit, mit Sammlung von Material über die Juliereignisse, über die ich ein Buch 
schreiben wollte. Im Oktober fuhr ich eigenmächtig, ohne Wissen des Z.K., nach Moskau, 
um die Abreise nach der Ukraine zu beschleunigen. Eine kurze Zeit lebte ich in Kursk, am 
5. November aber war ich bereits in Belgorod, im Machtbereich des Hetmans Skoropadski. 
In der Ukraine half ich mit, eine Anzahl von terroristischen Akten gegen die hervorragend- 
sten Führer der Gegenrevolution vorzubereiten. Diese Tätigkeit dauerte bis zum Sturze 
des Hetmans. Dann, unter dem ukrainischen Direktorium, als das Land unter die Diktatur 
von reichen Bauern und ukrainischen Schützen kam, arbeitete ich zugunsten der Wieder- 
aufrichtung des Sowjetregimes in der Ukraine. Im Auftrage der Partei organisierte ich, zu- 
sammen mit Kommunisten und Vertretern anderer Parteien, in Podolien Revolutionskomitees 
und Insurgentenbataillons, betrieb die Sowjetagitation unter Bauern und Arbeitern, war Mit- 
glied des geheimen Arbeiterrats von Kiew — kurz, ich widmete alle meine Kräfte dem Dienste 
der Revolution. 


14% die Ermordung Mirbachs hatte sich indessen eine komplizierte, vollkommen unklare, 

tragische Atmosphäre gebildet. Diesen Akt begriffen die Kommunisten nicht oder wollten 
ihn nicht begreifen und — was besonders wichtig war — auch die von ihnen unterrichteten 
westeuropäischen Sozialisten und Mitarbeiter der Internationale, beispielsweise die hollän- 
dische Sozialistin Henriette Roland-Holst, nannten ihn (in der Moskauer ‚„Prawda‘“ vom 
September) „verabscheuungswürdig“. Die Sowjetmacht und die kommunistische Partei 


1) Nach einem Gefecht mit Regierungstruppen. Anm. des Übers. 








Aus Zeit und Geschichte 279 





waren der Ansicht, daß die Schüsse in der deutschen Botschaft ein Signal zur Erhebung 
‚der linken Sozialrevolutionäre gegen die Revolution und die Sowjetregierung geben sollten, 
daß die Vollzieher des Mordes ‚Agenten des englisch-französischen Kapitals, die ehemals 
der Sowjetmacht dienten, dann aber sich dem Kapitalismus verkauften‘‘, seien (Befehl des 
 Zentralexekutivkomitees vom 6. Juli)!), der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, 
"Genosse Lenin, aber erklärte mich und Andrejew sogar kurz und bündig für ‚zwei Schufte‘“ 
(Befehl des Rates der Volkskommissare vom 6. Juli 3 Uhr nachm.). Diese Version über den 
“Moskauer Terrorakt wurde auch den Arbeitern und Bauern eingebläut. Das, was im Trech- 
'swjatitelski pereulok vor sich ging, wurde als Meuterei der linken Sozialrevolutionäre gekenn- 
‚zeichnet. Wegen des Kopfes von Mirbach, diesem titulierten Räuber, fielen viele mutige, ehr- 
‚liche und der Revolution ergebene Köpfe von Matrosen und Arbeitern, die der Partei der 
linken Sozialrevolutionäre angehörten. Die Partei wurde aus den Sowjets verjagt, zertrüm- 
ı mert, an vielen Orten der Republik für vogelfrei erklärt. Die Regierung faßte einen glühen- 
| den Haß gegen uns, das Z.K. und die Vollzieher des terroristischen Aktes wurden vor das 
 Revolutionstribunal als Verbrecher und sogar als agents provocateurs gestellt. Jeder Ver- 
| such unsererseits aber, die unverschuldeten Anwürfe zu entkräften, wurde unterbunden, ja 
"als neuer Angriff gegen die Sowjetmacht hingestellt. Diese ganze Lage war für uns tragisch 
‚und aussichtslos. An die Massen zu appellieren, war unmöglich, da damals der rote Terror 
‘systematisch durchgeführt wurde. In der Sowjetverfassung gibt es zwar eine Bestimmung, 
‚der zufolge die Russische Republik als Asyl für alle aus bürgerlichen und monarchistischen 
"Ländern aus politischen Gründen Ausgewiesenen erscheint und der Staat der Arbeiter und 
"Bauern sich daraus eine Ehre macht, den Beschützern der Internationale bei sich Gastrecht 
zu gewähren. Wir aber, die wir Internationalisten und Teilnehmer der Oktoberumwälzung 
waren, hatten keine Zuflucht in der von uns mitgeschaffenen sozialistischen Republik. 
So konnte es nicht lange dauern. 

Ich begreife wohl, daß im Juli die objektiven Umstände die Sowjetmacht zwangen, die 
"Ermordung Mirbachs und deren Teilnehmer scharf zu verurteilen, allein seit Juli waren Er- 
‚eignisse geschehen, die alle politischen Kombinationen von Grund aus änderten. Die deutsche 
| Revolution brach aus und zertrümmerte die Fesseln von Brest-Litowsk — so mußte also 
‚auch das Verhältnis der Sowjetmacht zu uns, die wir ja den Brester Vertrag gesprengt hatten, 
 gegenstandslos werden. Als dann aber auch in Ungarn der Staat in die Hände der Arbeiter 
"und Bauern geriet, da kam die Perspektive der Weltrevolution deutlich zum Vorschein; um 
‚ dieser Weltrevolution und nur um ihretwillen war aber der Kopf Mirbachs gefallen. Ferner 
‚bleibt die Frage unaufgeklärt, ob der 6. Juli der Tag eines Aufstands war. Mich mutet es 
‚ lächerlich und schmerzlich an, diese Frage aufzuwerfen. Ich weiß nur eins mit Bestimmtheit: 
‚ daß weder ich noch Andrejew uns jemals dazu hergegeben hätten, die Ermordung des deut- 
‚schen Botschafters als Signal zum Aufstand zu vollziehen. Hat uns also das Z.K. irregeführt 
| und hinter unserem Rücken eine Erhebung in Szene gesetzt? Ich werfe auch diese Frage 
‚in völliger Deutlichkeit auf, um bis zum Ende ehrlich zu bleiben. Ich genoß das Vertrauen 
der Partei, ich stand dem Z.K. nahe, und daher weiß ich, daß es ein solches nicht unter- 
| nehmen konnte. Die Partei und alle Denkenden in ihr beschäftigte stets der Gedanke, daß 
‚es unbedingt notwendig war, im Interesse der Revolution sich mit den Kommunisten wieder 
zu verständigen. Wenn eine solche Verständigung von den leitenden Mitgliedern der Partei 
‚ Jedoch nicht gefunden wurde, so ist es nichtihre Schuld. Was aber im Trechswijatitelski pereulok 
‚am 6. und 7. Juli vor sich ging, das war m. E. nur eine Selbstwehr der Revolutionäre. Aber 
‚auch dazu wäre es nicht gekommen, wollte das Z.K. mich ausliefern. Darin sehe ich aller- 
| dings seine große historische Schuld. Die ganze Schießerei, die Besetzung des Telegraphen- 
 amts, die Verhaftung der Genossen Lazis und Dserschinski durch die Aufständischen sowie 
| anderseits die Verhaftung der Spiridonowa?) und der linksrevolutionären Fraktion des Räte- 
| Kongresses durch die Regierung, — all das ist nichts anderes, als das Ergebnis der geladenen 
‚ Atmosphäre infolge des gewaltigen, unerwarteten Eindrucks, den die Ermordung Mirbachs 
‚ machte. Es ist kein Aufstand gewesen. Bisher konnte ich, der ich einer der unmittelbaren 
Teilnehmer jener Ereignisse war, infolge eines Verbots meiner Partei mich nicht der Re- 
gierung stellen, mich ihr anvertrauen und erfahren, worin sie eigentlich mein Verbrechen er- 
‚blickte. Ich, der ich mich der sozialen Revolution hingegeben und ihr in der Zeit ihrer 
\ı Weltoffensive mit bebendem Herzen gedient hatte, mußte abseits bleiben und eine Geheim- 
, existenz fristen. Ein solcher Zustand mußte aber für mich auf die Dauer stark anormal wer- 


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| 3) Über die Frage der Mitschuld französischer Diplomaten am Morde Mirbachs vgl. Nov.- 
Heft 1924 der S.M., „Wir deutschen Frauen“, S. 62. D. Schr. 
2) Eine hervorragende Führerin der linken Sozialrevolutionäre. Anm. d. Übers. 


1 
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| 











Aus Zeit und Geschichte 








den, angesichts meines glühenden Wunsches, für die Revolution weiter zu arbeiten. Da 
beschloß ich, mich der Tscheka als einem Organ der Sowjetmacht zu stellen, um diesem 
Zustand ein Ende zu machen. 


Kiew, den 17.—19. April 1919. Bürger der R.S.F.S.R. Jakob Blumkin. ö 

















































Is Abschluß der Angelegenheit enthält das ‚„Rotbuch‘ zwei weitere bezeichnende Dokus 
mente der bolschewistischen Justiz: 1 


Moskau, den 8. V. 1919. 


Die Untersuchungskommission An das Präsidium des Allrussischen Zentral- 
exekutivkomitees. 


An die Sonderkommission zur Untersuchung 
der Angelegenheit J. G. Blumkins. Bericht. 


Nach Vernehmung des Jakob Grigorjewitsch Blumkin, der sich, nachdem er vom Obersten 
Tribunal wegen der Ermordung des deutschen Botschafters Grafen Mirbach zur dreijährigen 
Gefängnisstrafe verurteilt worden, der Sowjetmacht stellte, ist die Unfpenu cn | 
sion zu der folgenden Ansicht gelangt: 19 


1. Blumkin glaubte, wie er behauptet, daß die Ermordung Mirbachs nicht zu einem Kriege | 
mit Deutschland führen und die Massen nur von der Ohnmacht des deutschen ee 
überzeugen würde. | 


2. Vor der Ermordung Mirbachs hat Blumkin von der Partei der linken Sozialrevolutionärd 
die Zusicherung verlangt, daß die geplante Aktion mit der Ermordung zu Ende sein wird? ; 
und keine weiteren Schritte im Zusammenhang mit diesem Terrorakt gegen die Sowjetmacht { 
unternommen werden, was ihm von den Mitgliedern der Z.K. denn auch kategorisch ver-' 
sprochen wurde. | 


3. Die von der Partei der linken Sozialrevolutionäre nach der Ermordung Mirbachs ver- 
anstaltete Meuterei gegen die Sowjetmacht wird von Blumkin verurteilt, und dieser lehnt 
kategorisch jede Verantwortung für die verbrecherischen Taten ab, die von der Partei trotz. 
des ihm gegebenen Versprechens begangen wurden. e 


4. Der Grund, der Blumkin bewogen hat, sich der Sowjetmacht zur Verfügung zu stellen, 

Si ist vor allem der Wunsch, die für ihn beleidigende Meinung, die sich über ihn als Vollzieher 
Fa des Terroraktes gegen Mirbach gebildet und zur Folge hatte, daß er in den „‚Iswestja‘‘ als 
„Schuft‘ bezeichnet wurde, zu entkräften und der Sowjetmacht seine Auffassung des Mordes \ 
auseinanderzusetzen. 

Auf die Aufforderung der Untersuchungskommission, für diese Behauptungen Beweisch 
beizubringen (als solche Beweise konnten die Briefe gelten, die Blumkin an Proschjan!) 
richtete und in denen er eine Erklärung der Handlungsweise der Partei nach der Ermor- ' 
dung Mirbachs forderte, ferner die Antwortschreiben Proschjans sowie die Briefe, die Blumkin 
während seines Aufenthalts im Gefängnis von Kiew von Parteimitgliedern erhielt), erklärt 
Blumkin, die Tatsache selbst, daß er sich freiwillig stellte, müsse als hinreichender Beweis 
der Aufrichtigkeit seiner Behauptungen angesehen werden. 

Glaubt man also der Behauptung Blumkins, daß er nichts zu tun habe mit den Handlungenl| 
der Partei der linken Sozialrevolutionäre, die ihn vielmehr irregeführt und die ee, | 
Mirbachs zum Aufstand gegen die Sowjetmacht benutzt hat, so hat er lediglich die Verant- 
wortung für den Vollzug des Terroraktes gegen Mirbach zu tragen, welche Verantwortung 
jedenfalls seine Einschließung im Gefängnis nicht notwendig macht. | 

Da jedoch Blumkin sich kategorisch weigert, seine Behauptung zu beweisen, daß er dem | 
nach der Ermordung Mirbachs von den linken Sozialrevolutionären veranstalteten Aufstand 
vollkommen fernstehe und ihn ablehne, hält es die Untersuchungskommission, angesichts 
der Politik der linken Sozialrevolutionäre in der Gegenwart, nicht für möglich, seinen durch‘ u 
keine Beweise erhärteten Behauptungen unbedingt Glauben zu schenken, und Sohlage daher vor: 
N 1. Blumkin zu enthaften, E 
1 2. die dreijährige Gefängnisstrafe, zu der er verurteilt ist, durch eine ebensolang wäh- 

i rende Kontrolle durch von dem Präsidium des Zentralexekutivkomitees bestimmte 

Personen zu ersetzen und ’ 
3. im Falle, daß Blumkin einer Kontrolle seines politischen Verhaltens ausweicht oder 

neue Handlungen gegen die Sowjetmacht unternimmt, unverzüglich das in der Sache 

der Ermordung Mirbachs vom Revolutionstribunal gefällte Urteil zu vollstrecken. 


Ei 


!) Ein Mitglied der Partei der linken Sozialrevolutionäre. Anm. d. Übers. 












| Aus Zeit und Geschichte 281 


URN EN BEE Een ERTL EP EEIENTER FE NEHEEEETETE VEREDELTER ICE RE ERITREA TEE EEE AT TEE NEL TAUFERS TEE NE EDEN, 





1: diesen Bericht folgte ein 
| Beschluß des Präsidiums des Allrussischen Zentralexekutivkomitees 
vom 16. Mai 1919. 


[ Angesichts der freiwilligen Meldung des J. G. Blumkin sowie der von ihm gegebenen aus- 
\'hrlichen ie der Ermordung des deutschen Botschafters Grafen Mirbach beschließt 
ıs Präsidium, J. G. Blumkin zu amnestieren. 


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| 

| Der Sekretär des Allrussischen Z.E.K. 
| A. Jenukidse. 
| 
j 


Eine amerikanische Geschichtsklitterung 
, Von Geheimrat Dr. Dietrich Schäfer, Prof. der Geschichte an der Universität Berlin 


as ist eine sehr milde Kennzeichnung der ungeheuerlichen Sammlung von Fälschungen 

und Verkehrtheiten, die der Sterling-Professor der Geschichte an Yale-University (New- 
aven, Conn.) Charles Seymour unter dem Titel The Intimate Papers of Colonel House 
‚3oston und New York) in zwei starken Bänden der Welt vorlegt. Ich muß gestehen, daß 
ir noch kein Geschichtswerk größeren Umfangs in die Hände gekommen ist, das so von 
endenz gestarrt hätte, mit einem solchen Aufwand von Unwahrhaftigkeit oder Unwissen- 
sit (man hat höchstens die Wahl zwischen beiden) niedergeschrieben worden wäre. 
! Colonel House ist eine während des Krieges vielgenannte, zweifellos auch einflußreiche 
‚ersönlichkeit. Prof. Seymours einleitende Auseinandersetzungen belehren uns über Her- 
‚aommen und Werdegang des Texas-Mannes niederländisch-englischer Abkunft, der es als 
Hinterwäldlerpolitiker‘‘ zu einem ‚‚Texas-Talleyrand‘‘ bringen sollte. Seine ersten Erfolge 
rang er als Wahlmacher, eine Betätigung, die ja so manchen Vereinigte Staaten-Politiker 
ti den Ring gebracht hat. Die Wahl Woodrow Wilsons im November 1912 hat besonders 
Ir gegen Hearst und Wallstreet durchgesetzt; kaum zwei Jahre früher hatte er den damaligen 
‚ouverneur von New Jersey entdeckt, ihn November 1911 zum erstenmal von Angesicht 
ıssehen. Während des Krieges ist er dann sein einflußreichster Berater gewesen, vor allem 
bi dem Gebiet der auswärtigen Politik, für das der Präsident zunächst wenig Teilnahme 
‚nd fast noch weniger Verständnis zeigte. Unter Houses Leitung erwarb er sich ‚‚unsterb- 
chen Ruhm‘, wie House selbst in seinen einleitenden Bemerkungen sich ausdrückt, An- 
yruch auf ‚Dankbarkeit und Bewunderung der Menschheit‘; er erntete den ‚‚unvergänglichen 
ııuhm der Begründung des Völkerbundes‘“, dieser unvergleichlichen Schöpfung ‚im Dienste 
er Menschheit‘. Zwischen Wilson und House vollzog sich ‚‚die seltsamste und folgenreichste 
‚erbindung zwischen zwei Männern, die je in menschlicher Geschichte stattfand‘. 
' Soldat ist Colonel House nie gewesen; er erhielt den Titel von einem Texas-Gouverneur 
shon lange vor dem Kriege. In den Vereinigten Staaten ist solches ja nicht ungewöhnlich. 


en Inhalt des Buches bilden Briefe und Aktenstücke, die ein Text verbindet. Der Kern 

ist ein mehr als 2000 Seiten umfassendes Tagebuch, das House allabendlich seiner Steno- 
pistin diktiert hat. Er hat dieses Material der Yale-Universität zur Verwahrung über- 
eben; so ist Professor Seymour Herausgeber geworden. Er druckt die Texte ab und ver- 
jindet sie durch Erläuterungen und Erörterungen. Eine chronologische Ordnung ist nur 
‚anz im allgemeinen innegehalten; der Inhalt ist für die Aufeinanderfolge maßgebend. So 
ommt die im Stoff liegende Tendenz noch schärfer zum Ausdruck. Sie ist von Anfang bis 
ı# Ende durchaus deutschfeindlich, deutschfeindlich mit einer Schärfe, die allenfalls in der 
orm, kaum aber in der Sache überboten werden kann. Man darf dem Buche glauben, daß 
‚louse einen entscheidenden Einfluß auf Wilsons auswärtige Politik gehabt hat. Nun, dieser 
tatgeber ist von vornherein auf das Ziel eingestellt: Deutschland darf nicht siegen. Wie 
in roter Faden durchzieht dieser Gedanke alle seine Äußerungen. 
| Warum nicht? Es ist der bekannte Jargon: Deutschland ist eine Militärmacht; es bedroht 
® Freiheit der Welt. Es rüstet fortgesetzt. Preußen hat 1866, Deutschland 187 1 Erobe- 
Iangen gemacht. Daß Frankreich und Rußland rüsteten, von England ganz zu schweigen, 
Koch mehr rüsteten als Deutschland, davon erfährt der Leser nichts. Auch nicht davon, 
(aß Deutschland durch seine mitteleuropäische Lage unendlich viel mehr gefährdet war 
ls seine Nachbarmächte im Osten und Westen. Preußen-Deutschland hat nacheinander 
| rei Kriege geführt. Daß die Vereinigten Staaten fast gleichzeitig den blutigsten, den opfer- 
lsichsten Krieg durchkämpften, den die Welt bis dahin jemals gesehen hatte, ihn führten, 
m ihrer staatlichen Einheit willen, die auch das alleinige Ziel der deutschen Kriege war, 


| ntwicklung des Bolschewismus (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 10) 19 





















































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282 Aus Zeit und Geschichte 
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muß der Leser selbst hinzudenken. Das Buch sagt darüber nichts. Deutschland hat Land 
eingenommen! Daß England, Frankreich und Rußland und die Vereinigten Staaten selbst in 
den Jahrzehnten vor dem Kriege viel mehr neuen Besitz erworben haben als Deutschland und 
keineswegs nur mit friedlichen Mitteln, verschweigt House wie sein Interpret. Man kann nicht 
wohl annehmen, daß es ihnen unbekannt geblieben ist. Eine so hanebüchene Unwissenheit 
kann man Männern, die Politiker und Historiker sein wollen, doch nicht zutrauen. 

Oder doch? Nicht mit einem Worte wird erwähnt, daß der Mord von Sarajewo Anlaß 
des Krieges wurde. Österreich will Serbien seines Besitzes und seiner Unabhängigkeit be- 
rauben und wird dabei von Deutschland unterstützt und angereizt. Daß die Serben durch 
zwei Jahrzehnte bestrebt waren, ihre Volksgenossen dem österreich-ungarischen Verbande 
zu entziehen, daß ihre Regierung dieses Streben trotz wiederholter gegenteiliger Zusagen 
fortgesetzt unterstützte, daß sie zuletzt den Mord von Sarajewo anstiftete, um zum Ziele 
zu gelangen, davon weiß, nach ihren Niederschriften zu urteilen, weder Herr House noch 
Herr Seymour etwas. Allerdings über serbisch-österreichische Beziehungen ist allgemeine 
Kenntnis nicht so verbreitet wie über deutsch-französische. 

Über diese redet House, als wenn Deutschland und Frankreich auf dem Monde lägen. 
Die französischen Staatsmänner denken nicht mehr an Rache für 1870; in den Verlust Elsaß- 
Lothringens hat man sich gefunden. Man denkt an nichts als Frieden. House weiß das ganz 
gewiß; man hat es ihmin Frankreich gesagt und Sir Edward Grey hat es bestätigt. Was braucht 
es weiter Zeugnis? Noch am 7. Juli 1914 schreibt er es dem Deutschen Kaiser!). „In Deutsch- 
land aber war durch ein Menschenalter von den Professoren der Geist des Angriffs gelehrt 
worden. Er herrschte in den militärischen Kreisen, hatte die Flotte ergriffen.“ 


W: war Amerikas Aufgabe gegenüber dieser Lage? House erkennt sie klar. Die Ver- 
einigten Staaten hatten in dem Jahrhundert, das seit dem Beginn ihrer anerkannten Selb- 
ständigkeit verfjossen war, alles Land von Ozean zu Ozean sich zu eigen gemacht, jede Art 
von Selbständigkeit unter ihr geschlossenes Staatswesen gebeugt. Sie hatten dann angefangen, 
ihre Macht über die begrenzenden Weltmeere auszubreiten, hatten an Asiens Ostküste Fuß 
gefaßt, auch zu Europa und seiner Nachbarschaft entwicklungsfähige Beziehungen geknüpft: 
Nun galt es nach House’s Meinung, und sie war zweifellos richtig, eine Stellung in den Welt- 
angelegenheiten zu gewinnen; sie war nicht nur richtig, sie war unumgänglich. Bäume wachsen 
nicht in den Himmel; aber es ist ebenso unmöglich, ihrem Wachstum Maß und Ziel zu setzen, 
wenn man sie nicht durch Beschneiden verkrüppeln will. So tragen lebenskräftige Staaten 
und Völker ein natürliches Streben nach Mehrung ihrer Macht und ihres Einflusses in sich. 

Für die Vereinigten Staaten war die Zeit gekommen, dem Grundsatz der Nichteinmischung 
in fremde Angelegenheiten (Washington’s no entangling alliances) den Abschied zu geben. 
Er war im Grunde genommen nie befolgt worden. Fast unmittelbar nach Anerkennung der 
amerikanischen Selbständigkeit hatte die Erweiterung der Grenzen des neuen Freistaates 
begonnen. Die Erklärung der Monroedoktrin war ein politischer Gewaltakt, wie er recht- 
loser und anspruchsvoller nicht oft begangen worden ist. Wer hatte denn die neue Repu- 
blik zum Oberaufseher des gesamten Kontinents gesetzt? Jetzt verlangte die gewaltige Aus- 
dehnung der mächtig gewachsenen und weitverzweigten amerikanischen Beziehungen Stel- 
lungnahme auch in außeramerikanischen Fragen. Ein panamerikanischer Vertrag war unter 
House’s lebhafter Beteiligung in Verhandlung. Der Form nach sollten in ihm die Vereinigten 
Staaten primus inter pares sein, in Wirklichkeit Lenker; sie konnten stets Mittel finden, ihrer 
Willen durchzusetzen. Dieser Vertrag sollte ein Vorbild werden für die Neuordnung der 
europäischen Staatenwelt, Muster für einen Völkerbund. House nimmt die Urheberschaft 
des Völkerbundgedankens für sich in Anspruch. | 

Echt amerikanisch verschwindet dabei das Interesse des eigenen Staates hinter wohl- 
klingenden Redewendungen. Es handelt sich nicht um irgendeinen Vorteil der Union, sondern 
nur um Förderung der Kultur, um Recht und Gerechtigkeit, um Menschlichkeit, Humanität. 
Sie werden vertreten von den Demokratien; autokratische Regierungen stehen ihnen im 
Wege, sind also zu bekämpfen. Dem geheimen Leiter der amerikanischen auswärtigen 
Politik, der hinter dem Präsidenten steht und dessen Art es ist, „die Dinge unter der Hand 
zu ordnen‘, entgeht es nicht, daß auch Demokratien macht- und besitzgierig sein können. 
Er läßt sich vom österreichischen Botschafter an „Englands gewaltige Macht‘ erinnern, 







*) Der Brief ist gerichtet an „S. Kgl. Maj., Kaiser von Deutschland, König von Preußen“. 
Der Herausgeber fügt hinzu: ‚Er trachtete immer nach diesem letzteren Titel, den ihm die 
Eifersucht der deutschen Fürsten vorenthielt.“ Seymour knüpft auch die Frage an: „War 
das unbewußte oder beabsichtigte Schmeichelei seitens des Obersten?“ Echt amerikanische 
Professorentüftelei über eine klarliegende Frage. 





| Aus Zeit und Geschichte 283 
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. der die Deutschlands nicht zu vergleichen sei, fügt aber hinzu, England ‚‚übe sie in vorwurfs- 
‚freier Weise, denn es stehe unter der Aufsicht einer Demokratie‘‘. Deutsche Macht ist ihm 
ı dagegen gleichbedeutend mit allgemeiner Herrschaft des Militarismus. Er erklärt, ein starkes 
‚ Deutschland zu wünschen; aber es muß ‚entmilitarisiert‘ sein. Wie er dieses Rätsel lösen 

will, bleibt sein Geheimnis. Man fragt auch hier wieder: „Strafwürdige Unwissenheit oder 
‚ böswillige Verleumdung?“ 


Es versteht sich von selbst, daß House sich alle die groben Greuellügen zu eigen macht, 
' denen, wie es jetzt vor der Welt klar liegt, zumeist durch schmachvolle Fälschungen ein Schein 
ı von Wahrheit gegeben worden ist. James Bryce, der sich als Träger unseres pour le merite 
‚nicht entblödete, die schandbaren Lügen über deutsche Greuel mit besonderem Eifer zu 
| Verbreiten, ist sein Freund, der „größte Engländer“. Der U-Boothandelskrieg wird aufs 
‚schärfste verurteilt, überhaupt die ‚‚teutonischen Kriegsmethoden“. Er teilt die Ansicht 
‚des amerikanischen Botschafters in London, Page, der schon im September 1914 der Mei- 
nung war, daß „die Zivilisation gerettet werden müsse, und daß dazu jede Aussicht fehle, 
solange der deutsche Militarismus nicht tot sei“. Die großen Demokratien werden die Welt 
auf den rechten Weg bringen! 


Das hindert aber nicht, daß House, um dieses Ziel zu erreichen, selbst Militarist wird. 
‚Es ist ihm klar, daß Politik letzten Endes doch nicht getrieben werden kann ohne Macht- 
mittel. Er drängt daher von Anfang an wieder und wieder auf Rüstungen; nur so kann 
Amerika beim Friedensschluß mitsprechen, ‚vernünftige Bedingungen‘ durchsetzen. Wie 
fast alle Pazifisten schreckt er nicht zurück vor dem Widersinn, ewigen Frieden durch Krieg 
'zu erzwingen. Amerika muß ein Gewicht in die Wagschale zu werfen haben; es kann der 
Freiheit, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit nur zum Siege verhelfen durch Macht. Daß 
es dabei auch seine Sonderinteressen wahrzunehmen hat, versteht sich von selbst; es sind 
ja nur die der Wahrheit und des Rechts. Es ist die gleiche Melodie, die Wilson in seinen 
messages so vortrefflich zu singen weiß, angeleitet, wie man aus den intimate papers her- 
auslesen kann, nicht zuletzt von House. Amerikanische oder auch britische Macht ist etwas 
‚ganz anderes als deutsche. Die zukünftige Wohlfahrt der Welt hängt an der britisch-ameri- 
kanischen- Freundschaft. 


Wie bei solcher Auffassung die Frage .der ‚Freiheit der Meere‘ beurteilt wird, bedarf kaum 
‚eines näheren Hinweises. Es fehlt nicht an abfälligen Bemerkungen über Englands Hand- 
‘habung des Seerechts, über seine willkürliche Störung des neutralen Handels. Aber der 

Gedanke, Amerikas Ansprüche auf freie Fahrt durchzusetzen, wie es die Union hundert 
Jahre früher in gleicher Lage versuchte, tritt gar nicht in den Gesichtskreis der Erörterungen, 
obgleich er in den Staaten selbst nicht so wenige Befürworter fand. Grundgedanke ist und 
‘bleibt: Deutschland darf nicht emporkommen; Amerikas Vorteil aber muß gewahrt werden. 
|House stimmt Briand zu, der erklärt, Deutschland würde friedlich die Welt erobert haben, 
wenn es nicht Krieg angefangen hätte, und er hat ein deutliches Gefühl dafür, daß Amerika 
nicht wünschen kann, Deutschland und England möchten zu nahe miteinander in Verbin- 
| dung kommen. Gegen Deutschland wird die „Freiheit der Meere“ in vollem Umfange in 
‘Anspruch genommen. Der Amerikaner kann reisen, wohin er will, unbekümmert um die 
| unvermeidlichen Gefahren des Krieges. Wie bei solcher Denkweise der Lusitania-Fall beur- 
teilt wird, versteht sich von selbst. Ein Versuch, den Hergang klarzulegen, wird nicht ge- 
ht. es handelt sich um eine ‚„Schändung der Menschheit“. ‚Die Alliierten stehen, wie 
ı Präsident Wilson zu sagen beliebt, ‚mit dem Rücken an einer Wand und kämpfen gegen 
wilde Tiere.‘“ House beliebt, die Deutschen „blutdürstige Ungeheuer‘ zu nennen, es wird 
"kein Schimpfwort gegen sie gespart. Daß über den Waffenhandel kein Wort verloren wird, 
| verstehtsichvonselbst;esfehlt nicht anStolzüberdieLeistungen, dieBrauchbarkeit des Materials. 


} er Untersuchungsausschüsse sind eingesetzt worden mit der Tendenz, ein Verschulden 

unserer politischen und militärischen Leiter während des Krieges festzustellen; man wollte 
die Urheber des November 1918 entlasten. Man kann schon jetzt sagen, daß die Arbeit zweck- 
‚los war; sie hat nichts von Belang zutage gefördert. Für die Frage der Friedensmöglich- 
‚keit liegt es nahe, in den Auseinandersetzungen und Handlungen des Amerikaners nach 
‚Auskunft zu suchen. Das Ergebnis ist, daß von Beginn des Krieges an eine für Deutschland 
‚erträgliche Friedensmöglichkeit nicht bestand. Es fehlt dem Amerikaner jedes Verständnis 
‚für die Lage, in die Deutschland durch den ihm aufgezwungenen Krieg versetzt war. Es 
konnte ihn nur führen mit dem Ziel einer besseren Sicherung gegen die Gefahr, mit der die 
‚Nachbarschaft gewaltiger feindlicher Mächte in Ost und West es unausgesetzt bedrohte. 
Das konnte nur erreicht werden durch Mehrung der eigenen Macht, nicht durch Annexionen, 
‚Einverleibung fremden Gebiets ins Reich (die sind in Deutschland von keinem Besonnenen 


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284 Aus Zeit und Geschichte 
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gefordert worden), sondern durch Sicherung deutschen Einflusses auf Nachbargebiete ohne 
Verschiebung der Herrschaftsgrenzen, wie solcher Einfluß von anderen Großmächten vor 
dem Kriege häufig genug geübt worden ist und als Ergebnis des Weltkrieges jetzt noch 
häufiger geübt wird. 

In den Aufzeichnungen von House fehlt jede Andeutung, daß ihm jemals die Möglichkeit 
einer solchen Forderung auch nur in den Sinn gekommen wäre. Er verlangt von vornherein 
Räumung Belgiens und volle Entschädigung für den „verbrecherischen‘‘ Einfall, dazu Ver- 
pflichtung zu ewigem Frieden. Mit Belgiens Haltung vor dem Kriege beschäftigt er sich 
schlechterdings nicht, auch nicht mit dem Zwang, der für Deutschland bestand, wenn es 
nicht von vornherein unterliegen wollte. Deutschland hat den Krieg von langer Hand vor- 
bereitet; House hat sich schon bei seinem Aufenthalt im Frühling 1914 über diese Vorberei- 
tungen gewundert und gestaunt über die Nachsicht der Nachbarn. Von Rüstungen Frank- 
reichs, das er doch auch besuchte, weiß er nichts, erst recht nicht von denen Rußlands. Man 
greift sich immer wieder an den Kopf und fragt: Ist dieser Mann ein Idiot oder sagt er bewußt 
die Unwahrheit, will er nicht sehen, was in sein System nicht paßt? Mehr als wunderlich 
sind seine Belege. Er wünscht in Berlin einmal das Vergnügen des Scheibenschießens zu 
genießen und begibt sich mit einem Gefährten auf einen Rummelplatz. Er findet den Scheiben- 
stand so besetzt, daß er nicht drankommt. Beweis für den kriegerischen Sinn des militärisch 
überhitzten deutschen Volkes! Wilson findet ‚die deutsche Philosophie selbstsüchtig und 
der Geistigkeit ermangelnd“. Über die deutschen Rüstungen zur Bewahrung des Friedens 
urteilt er: ‚Welche Torheit, ein Pulvermagazin einzurichten und zu riskieren, daß irgend 
jemand einen Funken hineinwirft.‘“ Das ist-das geistige Kaliber, das die Politik der Ver- 
einigten Staaten bestimmte. ‚Nur ein alliierter Sieg kann Amerika retten‘‘, ein deutscher 
„würde seiner Zivilisation eine andere Richtung geben, es zu einem Militärstaat machen‘. 
Es entgeht House nicht, daß Frankreich und Rußland mit ihren Landforderungen weit 
hinausgehen über das, was er für angemessen hält; aber das hindert ihn nicht, sich immer 
mehr auf ihre Seite zu neigen. Auch er ist bald für volle oder teilweise Rückgabe Elsaß- 
Lothringens; ein Statusquofriede war schon 1915 nicht mehr möglich. In Frankreich war man 
sich darüber völlig im klaren; man wußte, daß Amerika eine. Schwächung Frankreichs nicht 
zulassen würde. Er hält es für durchaus gerechtfertigt, daß man Deutschland durch Hunger 
zum Frieden zwingt. Deutlich wird auch, daß die Gegner die verschiedenen deutschen Frie- 
denserklärungen und Anerbietungen nur als Zeichen der Schwäche bewerteten. 


Für die Tatsache, daß Deutschland und seine Bevölkerung den Vereinigten Staaten von 
jeher freundlicher gegenüberstanden als irgendein anderes großes europäisches Volk, fehlt 


House wie auch Wilson jedes Gefühl. Ob auch jede Kenntnis? ‚Unsere Freundschaft mit 
Deutschland ist eine Sache der Vergangenheit‘, meint Staatssekretär Lansing. Es wird 
alles und jedes herbeigesucht, um Mißtrauen, Furcht, je nachdem auch Geringschätzung 
gegen Deutschland zu erregen. Seine leitenden Männer werden reichlich mit gehässigen oder 
abfälligen Bemerkungen bedacht, vor allem Tirpitz, doch auch Bethmann-Hollweg und 
selbst Bernstorff, der sich doch nach den intimate papers die größte Mühe gegeben hat, mit 


den amerikanischen Machthabern auf gutem Fuße zu bleiben. Vizekanzler Delbrück ist ein 


„preußischer Holzkopf“. Dem im England geäußerten Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit 
deutscher Diplomatie schließt House sich vorbehaltlos an. „Die Deutschen sind schlüpfrige 
Kunden (slippery customers).“ Er scheut nicht zurück vor gemeinen Verdächtigungen, 
Die Militärs ziehen Vorteil vom Kriege. Hindenburg bezog vor seinem Ausbruch 2000 Dollars 
jährlich, jetzt (Februar 1916) „‚ungefähr 25000 Dollars und hat einen Palast als Wohnung”, 
So ist es mit den Grundbesitzern, den Schwerindustriellen! 

House glaubt nicht daran, daß England um Belgiens willen Krieg führt. Es ist ihm auch 
eine Enttäuschung, daß die verbündeten Mächte die gleiche und noch größere Begehrlich- 
keit zeigen wie angeblich Deutschland. Er hat mitgearbeitet an den 14 Punkten, die in der 
Hauptsache schon im Januar 1917 festgelegt worden sind. Sie greifen wesentlich hinaus 
über das, was House ursprünglich für das Erstrebenswerte gehalten haben will. Aber sie 
sind dann weit überboten worden in den Abmachungen von Versailles. Wir werden unter- 
richtet, daß House wegen Erkrankung an ihnen nicht teilnehmen konnte. Wir Deutschen 
haben keinen Anlaß, das ernstlich zu bedauern. Er würde sich der Diplomatie der Entente 
gegenüber schwerlich leistungsfähiger erwiesen haben als sein Herr und Meister, wenn man 
den papers glauben darf, seiner Drahtpuppe. 








{ kann mir nicht denken, daß ein Deutscher, der Kenntnis nimmt von diesem Mach-! 
werke, es anders aus der Hand legen kann als voll tiefster Empörung über solche Giftmischung ! 


von Unwissenheit, Unwahrhaftigkeit und Deutschenhaß, übergossen mit echt englisch- 


amerikanischem cant. Er darf sich aber nicht der Täuschung hingeben, daß so gepfefferte 








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I Aus Zeit und Geschichte 285 


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Kost jenseits des großen Teiches keine Liebhaber finde. Ein Ranke ist unter Engländern 
und Amerikanern nicht möglich, auch nicht unter Franzosen und Italienern. Sie können 
‘Geschichte nur in ihrer Beleuchtung sehen. An gewissen Vorstellungen ist bei ihnen 
 schlechterdings nicht zu rütteln. Unter den Amerikanern wird stets ein weißer Rabe bleiben, 
‚ wer zuzugeben vermag, daß sein Volk jemals etwas anderes gewollt haben kann als Freiheit, 
"Menschlichkeit, Recht und Gerechtigkeit. Das Werk schließt mit einer Erklärung Wilsons, 
die diese Überzeugung zum Ausdruck bringt; der Herausgeber aber enthüllt deutlich das 
Ziel, das vorschwebte. Er nennt den Präsidenten der Vereinigten Staaten den ‚‚einfluß- 
reichsten Mann der Welt“. Wie wirkungsvoll die vertretenen Anschauungen amerikanischer 
Denkweise eingeimpft sind, belegt die Äußerung des Senators Owen, dessen vorurteilsfreie 
Darlegungen über die Urheber des Krieges mit Recht in Deutschland warme Anerkennung 
gefunden haben. Er sagt im Progressive (IX, 13, S. 294): ‚Was immer Ursache des Welt- 
krieges gewesen sein mag, der Fall der militärischen Dynastien der Romanows, der Hohen- 
zollern und Habsburger hat die Sache des demokratischen Regiments gefördert und für Welt- 
frieden und Gedeihen bessere Aussichten gegeben.‘ Auch er hat nicht begriffen, daß Volks- 
regierungen von jeher nachhaltiger und wirkungsvoller nach Machterweiterung gestrebt 
haben als Monarchien. 





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Französische Bücher zur Kriegsschuldfrage 


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F: ist sehr zu begrüßen, daß Demartials ‚Mobilmachung der Gewissen‘ jetzt in deutscher 
Übersetzung vorliegt!). Denn esist ein selten sympathisches Buch, weil jede Zeile von einem 
ungewöhnlich hohen Ethos durchdrungen ist. Hier hat sich wirklich einmal ohne jeden Neben- 
gedanken ein ehrlicher Mensch gegen die herrschende Lüge empört, und zwar zu einer Zeit, in 
der die Wahrheit überhaupt noch keine Konjunktur in Demartials Heimat hatte. Demartial 
will nicht Deutschenfreund sein, als Franzose schämt er sich der offiziellen Lügen seines Landes. 
- Jedes Kapitel trägt als Überschrift einen der gegen Deutschland erhobenen Vorwürfe und jeder 
' Abschnitt schließt auf Grund eines erdrückenden Beweisangebotes mit dem Ergebnis, daß 
gerade die gegen Deutschland erhobenen Anklagen den Beschuldiger selbst treffen. Gewiß, 
wir können dem Verfasser in der Grundidee nicht beipflichten, daß alle Verbrechen mit dem 
Kriege zusammenhängen und daß, um sie zu beseitigen, die Wurzel des Übels, der Krieg ausge- 
rottet werden muß. Denn wir meinen, es sei ein Trugschluß, dem Kriege alles Böse in die 
Schuhe zu schieben, ‚weil er nur von Grund aus aufwühlen, vielleicht abstumpfen, keineswegs 
die menschliche Natur völlig zu verwandeln vermag. Wir würden auch keineswegs die Ver- 
antwortung für begangene Verbrechen ablehnen, wie wir gewisse im Lager unserer Feinde 
vorgekommene Vergehen (wie zum Beispiel die Behandlung unserer Gefangenen durch die 
Franzosen) nicht zu entschuldigen vermögen. Doch das sind Meinungsverschiedenheiten, die 
den großen uneigennützigen Dienst nicht zu beeinträchtigen vermögen, den Demartials 
„Mobilmachung der Gewissen‘ der Sache der Wahrheit geleistet hat. 
Ebrays unsauberer Frieden hat eine ganz anders geartete Anlage?). Wir möchten der 
‚deutschen Übersetzung gegenüber bemerken, daß uns einige biographische Notizen über den 
Verfasser zu fehlen scheinen. Es genügt doch nicht zu wissen, daß wir es mit einem ehemaligen 
‘höheren französischen Beamten zu tun haben. Ebrays Buch ist, wenn man so sagen darf, 
politischer. Nicht die Ungerechtigkeit des Versailler Friedensdiktates allein, sondern die 
unübersteigbare Mauer, die es zwischen Frankreich und Deutschland aufrichtet, ist ihm schwerer 
Anstoß. Ebray ist überzeugter Anhänger einer Annäherung. Aber bei ihm, nicht bei Demartial 
ist der Gedanke kaum zu verscheuchen, daß der Sieg den Lauf seiner Feder mitbestimmt. 
' Würde er auch sonst den deutschen Standpunkt so gerecht würdigen? Wie dem auch sei, der 
. gegen das Gebäude des Friedens geführte Angriff wird von Ebray an der ganzen Front mit 
‚ außerordentlicher Heftigkeit und weitgestecktem Angriffsziel geführt. Die Kriegsschuld 
‚ ist bei ihm mehr Einleitung, die Verletzung der Deutschland im Wilsonprogramm gegebenen 
, Versprechungen Hauptthema. Ebray geht dabeisehr weitin dem Vergleich von Soll und Haben. 
Belgien und Elsaß-Lothringen fehlen nicht in der Rechnung, die er den Alliierten vorlegt, 
Ein zweiter Teil beschäftigt sich eingehend mit den zahlreichen Vertragsbrüchen der Entente. 
. Lang ist die Liste der Verletzungen, rücksichtslos wird die Heuchelei der bemäntelnden Phrase 


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1) Georges Demartial: „La guerre de 1914.‘ Comment on mobilisa les consciences. F. 
' Rieder et Cie. Paris 1922. Deutsch bei Reimar Hobbing, Berlin 1925. 
| 2) Alcide Ebray: ‚‚La paix malpropre. Versailles. Pour la r&conciliation par la verite.‘“ Milano 
‘ Societa Editrice ‚„‚Unitas‘‘ 1925. Deutsch im Verlag für Kulturpolitik, München 1925. 








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286 Aus Zeit und Geschichte 








entlarvt. In dem Abschnitt, in dem Ebray sich mit der internationalen Schuldenregelung be- 
faßt, zeigt er allerdings eine merkwürdige Fremdheit gegenüber machtpolitischen Zusammen- 
hängen. Allen Ernstes unterbreitet er den Vorschlag, Frankreich solle mit Kolonien seine 
Schuld an die V. St. einlösen. Vielleicht sind es diese bedenklichen Entgleisungen, die ihn 
keinen Verleger in Frankreich finden ließen. 

Wir würden die Schrift Marguerittes, Der Weg zum Frieden?), des Verfassers wegen kaum 
nennen. Wir möchten auch meinen, daß seine Schrift mehr rhetorisch wohlgeformte Sätze heraus- 
schleudert, als daß sie der Ausdruck inneren Ergriffenseins wäre. Weit wichtiger ist für uns 
der im Anhang beigegebene Aufruf der hundert französischen Intellektuellen, der im Sommer 
vorigen Jahres durch alle Zeitungen ging. Er ist ein sehr interessantes Symptom, denn zum 
ersten Mal ist hier im feindlichen Auslande in aller Öffentlichkeit festgestellt, daß die mora- 
lische Ächtung Deutschlands das stärkste Hindernis für einen wahrhaften Frieden sei. Die 
Unterzeichner fordern daher bekanntlich die Abschaffung des Schuld- und der Sanktions- 
paragraphen. 

Halle a. S. Dr. Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode. 


Deutsche Nöte 


Selbsterlebtes von den deutschen Träumern 


nvorbereitet politisch und wirtschaftlich war Deutschland in den Krieg gegangen, unter 
„, —/ falschen Voraussetzungen eines nahen Friedens wurde er politisch und wirtschaftlich fort- 
gesetzt und in immer beschleunigtem Maße, seit der russischen Revolution in einem Ver- 
änderungstaumel, wurden die Maßnahmen getroffen, die ausnahmslos und auf allen Gebieten 
Panikmaßnahmen waren... Bethmann würde noch auf der Fahrt zum Schafott dem Henker 
ein Staatssekretariat anbieten‘. 
Was hält Bethmann für seine Verdienste: Die Durchkreuzung des Tirpitzschen Flotten- 
programms, die Verzögerung der deutschen Mobilmachung Ende Juli 1914, den Versuch einer 
Verständigung mit Amerika, den Mangel an offensiven Kriegszielen‘“. 


„Freilich hat Bethmann jene Note Wilsons Ende Januar 1916 niemals veröffentlicht, 
durch deren Veröffentlichung er das ganze Volk nicht nur zum Aufflammen gebracht, sondern 
die Deutschamerikaner und Iren Amerikas geschlossen gegen den Präsidenten gestellt hätte.‘ 


„‚Geleistet für die Kriegsführung hatten beide Teile (Bethmann und der Reichstag) schlech- 
terdings nichts.‘ 

„Bethmanns Zeit war ein goldenes Zeitalter der Schieber in Regierung und Parlament, in 
Wirtschaftsleben und Presse.. Vor allem wurde Verantwortung abgeschoben.“ Ä 


„Eine einzige rückhaltslose Aufdeckung, etwa die nicht angedeutete, sondern klar gefaßte 
Mitteilung im Reichstag, daß ein dem deutschen Volk als spontane Äußerung des Grafen 
Zeppelin ausgegebener Brief dem greisen Grafen mit allen Mitteln des Druckes abgenötigt 
war, ja die bloße unverhüllte Mitteilung, daß von diesem Brief nur die Unterschrift und 
einige Korrekturen vom Grafen Zeppelin stammten, würde eine Scheidung der Geister herbei- 
geführt haben.“ 


as ist das? Das sind nur ein paar Stellen, und zwar die kürzesten, die den S. M. im 

August 1917 von der Vorzensur gestrichen wurden und die zusammen mit viel längeren, 
jetzt endlich zum erstenmal in dem Buche ‚‚Die deutschen Träumer“ (Verlag S. M.) zu lesen sind. 
Es enthält 27 Aufsätze von P. N. Cossmann und K. A. v. Müller, außerdem einen Brief an 
die Zensur vom 7. März 1918 und einen Brief an das K. B. Kriegsministerium vom 25. Sept. 
1918. Die Art, wie in Deutschland während des Krieges die Zensur gehandhabt wurde, war 
eine der Hauptursachen, warum wir den Krieg verloren. 

Für die Regierung, besser gesagt für Bethmann, war die Aufgabe der Zensur eine doppelte: 
Das Volk in Sicherheit zu wiegen und jede Kritik der Regierung zu ersticken. 

Als Graf Zeppelin seinen Vortrag im Reichstag hielt, bekamen ihn die S. M. wie alle größeren 
Zeitschriften und Zeitungen, im Wortlaut. Dieser Vortrag war die denkbar schärfste Kritik 
der dilettantenhaften Verwendung der Zeppeline gegenüber England mit positiven Vorschlägen, 
wie es wirklich gemacht werden müsse. Die Regierung gab hinaus, der Vortrag habe sich 
„im wesentlichen auf technische Einzelheiten beschränkt“. Der Graf weinte vor Zorn und 


*) Victor Margueritte: ‚Vers la paix, Appel aux consciences“. Andre Delpeuch, Paris 1925. 
Deutsch im Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1925. 








k Deutsche Nöte 287 


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sagte, er sei nur froh, daß er schon so alt sei, daß er den Frieden, den diese Politik zur Folge 
haben müsse, nicht mehr erleben werde. 

„Wir haben die Lehre schon während des Krieges auszusprechen versucht, ganz und halb 
erstickt durch die Zensur. Wir haben die politische Zensur umgangen so gut wir konnten. 
‚Durch blutige Ironie haben wir die Tatsachen, die dem deutschen Volk verheimlicht wurden, 
zu umschreiben versucht, mußten aber merken, daß Ironie in Deutschland nur von wenigen 
‚verstanden wird.“ So heißt es im Vorwort. 
: Ein Beispiel: Als die S. M. mit Angst merkten, daß die Deutschen anfingen, Wilson auf den 
(ein zu gehen, veröffentlichten sie im Heft ‚Amerika‘ (Juni 1916) den Aufsatz ‚Kultur- 
politik“ (schade, daß er in dem Band nicht mit abgedruckt ist!), in dem es u. a. hieß: ‚‚Die 
'tohe Beurteilung nach dem Erfolg ist hier wie überhaupt bei der Wertung menschlicher Hand- 
lungen nicht maßgebend, sondern die nach den kulturpolitischen Tendenzen... Sollte der 
Appell an das Gute in Wilson nicht wirksam sein, so trifft ihn die Verantwortung für jeden 
Deutschland erwachsenden Schaden... Gewiß wird es dem Präsidenten, der selbst kürzlich 
'aäinen Bund fürs Leben geschlossen hat, Eindruck machen, wenn ihm erneut zum Bewußtsein 
gebracht wird, wie schrecklich der von England völkerrechtswidrig geführte Krieg gegen 
Frauen und Kinder ist“. 

Diesen blutigen Hohn ließ die Berliner Zensur durchgehen, weil sie ihn gar nicht merkte. 
‚Sie merkte ebensowenig den Hohn des darauf folgenden Artikels ‚Die Menschlichkeit als 


‚Grundzug der amerikanischen Politik“. 
Aber das Betrübliche war: viele Leser merkten es auch nicht! Die Redaktion bekam 
‚‚mpörte Zuschriften wegen ihres ‚‚Gesinnungswechsels‘‘, besonders aber wegen der Photo- 
'zraphie vorne, die den grinsenden Wilson mit seiner grinsenden jungen Frau zeigte. Dieses 
‚Bild hätte die Betrachter warnen sollen: so sieht der Mann aus, auf den ihr im Begriffe seid, 
hereinzufallen, so sieht das Weib aus, das ihn beherrscht! 

' Die Redaktion bekam Zuschriften, warum sie im selben Hefte die Groteske von Gustav 
'Meyrink ‚‚Tschitrakarna, das vornehme Kamel‘ abdruckte, die jedem, der sie heute liest, 
‚als Prophezeiung des Versailler ‚‚Friedens‘‘ erscheinen wird, als die sie natürlich gemeint war. 
'Die Berliner Zensur merkte nichts. Sie merkte nicht einmal, daß im Inhaltsverzeichnis direkt 
‚antereinander stand: ‚‚Staatssekretär Delbrück. Reichskanzler Bethmann. Tschitrakarna, 
(las vornehme Kamel“. 

Wie die Zensur jede Kritik nicht nur der verantwortlichen Staatsmänner, sondern auch 
influßreicher Parlamentarier erstickte, dafür ebenfalls ein Beispiel: Die S. M. veröffentlichten 
Sriefe aus der Schweiz, in denen zwanglos und unauffällig, mit vielen Punkten (...), Rat- 
‚chläge und Warnungen ausgesprochen wurden; u. a. wurde besonders gewarnt, immer Erz- 
derger ins Ausland zu schicken, er richte nur Unheil an und erfreue sich geringer Achtung. 
Obwohl der Name nicht genannt, sondern durch (...) ersetzt war, wurde der Passus ge- 
‚strichen: Die Zensur wußte offenbar genau, welcher Mann nur Unheil anrichtete und sich 
eringer Achtung erfreute; diesen Mann deckte sie, vor diesem Schädling durfte nicht ge- 
warnt werden, nicht einmal in diskretester Form! Dabei pfiffen die Spatzen von allen Dächern, 
wie verheerend Erzbergers Geschwätzigkeit in Wien via Sixtus gewirkt hatte! 














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‚Soiche Beispiele gäbe es zu Hunderten und Tausenden. Wenn die deutschen Zeitungen, 
gleichviel welcher Partei, ihre Archive öffnen würden, so würde erst offenbar, welches Ver- 
‚arechen die Erwürgung der Wahrheit durch die Zensur war. Die Presse hat ihre Pflicht getan, 
‚anter Opfern, gefesselt und geknebelt. Ich kenne einen Schriftleiter, der Knall und Fall ent- 
assen werden mußte, weil er zuwahr schrieb: Die Zensur erzwang seine Entlassung durch die An- 
Irohung, dem betreffenden Verlag werde eingewinnbringenderständiger Druckauftragentzogen. 
Darum ist es ein Verdienst der beiden Herausgeber, daß sie endlich eine Anzahl ihrer Auf- 
ätze ohne Zensurstriche vorlegen, und ein besonderes: Verdienst, daß die beiden Briefe ans 
3ayer. Kriegsministerium beigegeven sind: Der erste wegen der Lichnowsky-Denkschrift, 
n dem es u.a. heißt: ‚‚Wir haben unter dem Schein einer militärischen Zensur eine antimili- 
ärische politische Zensur... Je länger die deutsche Regierung schweigt, desto wertvoller 
vird für das feindliche Ausland diese Waffe, desto stärker im Inland der Eindruck des schlech- 
en Gewissens, desto schwächer der Erfolg der eines Tages doch nicht mehr zu vermeidenden 
intgegnung... Jeder einzelne Deutsche wird bis in ferne Zeiten an den Folgen der gegen- 
'wärtigen Unterlassungen zu tragen haben... Keine Regierung der Welt hätte das (Gegen-) 
‚Material ungenützt gelassen... Viele Äußerungen von diesen Leuten (um Förster und Quidde) 
rersteht man erst, wenn man die Denkschrift kennt. Daß sie heimlich von Hand zu Hand 
ieht, erhöht ihre Wirkung. Daß sie nicht öffentlich genannt werden darf, gibt ihr den Stempel 
‚ler Authentizität und Unwiderleglichkeit... Während die Heeresleitung unsere Existenz 





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Y beschützt, während ihr die Möglichkeit genommen ist, sich zu äußern, werden diejenigen ver- 
Ä hindert, sich zu äußern, die für sie eintreten wollen... Während der Generalstab Unendliche: 
| für die Verteidigung Deutschlands leistet, darf sein Ansehen im Volk derart untergraber 
ae werden, daß er nach Schluß des Krieges in weiten Volkskreisen statt mit Dank mit Haß emp- 
fangen werden wird... Die Folge ist, daß wenn unser gutes, geduldiges Volk, das so Unend- 
liches in diesem Krieg geleistet und ertragen hat, über den Charakter unserer offiziösen Publi- 
zistik sich klar wird, es das Kind mit dem Bade ausschüttet, daß es irre wird, nicht nur an der 
| = einzelnen Maßnahmen, sondern an seinem Vaterland und an seinen Fürsten.‘ 

Der andere Brief ans Bayer. Kriegsministerium beginnt: „Wir sind überzeugt, daß in 
gegenwärtigen ernstesten Augenblick nur rückhaltlose Wahrheit das deutsche Volk möglicher 
weise noch retten kann‘ und schließt: ‚‚aber es handelt sich um Stunden. Wenn die schlimmer 
Nachrichten stückweise und nicht durch die Führer der Nation bekannt werden, ist alle: 
fl re verloren‘. Es erübrigt sich zu sagen, daß dieser Brief so erfolglos war wie der andere, in welchen 
{ sich Cossmann auf eine Eingabe vom 4. August 1916 bezieht! 
| Diese beiden Briefe machen das Buch ‚‚Die deutschen Träumer“ zu einem der wichtigster 
. Aktenstücke des verlorenen Krieges, besonders wenn man noch die vernichtende Charakteristil 
Bi Bethmanns in den von der Zensur gestrichenen, hier zum ersten Male veröffentlichten Stelle: 
M des Aufsatzes von 1917 hinzunimmt. 
| Was soll man von diesen Aufsätzen neues sagen? Vielleicht, daß sie heute womöglich noch 

tiefer, schneidender wirken als damals. Damals lasen wir sie noch mit einem Rest von Hoff 

nung. Heute erschüttert die Genauigkeit, mit der alles, was sie voraussagen, eingetroffen ist 

Jeder von ihnen bezeichnet irgendeinen entscheidenden Wendepunkt unseres Geschicks 

offenbart irgendeine verhängnisvolle Seite der politischen Instinktlosigkeit der Deutschen 

+ „‚Ist ein solches Volk lebensfähig ?‘‘ heißt die Überschrift eines Aufsatzes. Wie oft mußte maı 

ji: inzwischen diese Frage wiederholen! Heute, wo ich diese Zeilen schließe, lese ich, daß sich di: 
Rd deutschen Bergarbeiter schon überlegen, ob sie nicht mit den englischen gemeinsame Sach 
N. 1 machen sollen: mit denselben eiskalten Genossen, die bei keiner deutschen Not einen Finge 
art & rührten, nicht einmal als Frankreich das Ruhrgebiet besetzte! Solidarität kennt der englisch: 

4 EB; Arbeiter nur dann, wenn er sie braucht. Der deutsche gewährt sie ihm sogar dann, wenn si, 


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Br: 6 dem eigenen Land, wenn sie letzten Endes ihm selber schadet. ‚‚Ist ein solches Volk lebens 
a, 1 fähig?“ Keinem außerdeutschen Arbeiter auf der ganzen Welt fällt es ein, zum eigenen Nach 
B # teil international zu denken. Der russische Kommunist ist wütender Panrusse, der französisch: 
IM E\ ist Chauvinist, aber der deutsche, gehorsam jedem Pfiff vom Ausland, wartet nur auf ein: 
a \ internationale Parole, um sie blindverzückt auszuführen, selbst wenn er sich dadurch nu 
ji ’ ä ins eigene Fleisch schneidet. Deutsche Träumer! Deutsche Träumer! ‚‚Ist ein solches Voll 
N . lebensfähig ?“ 

4 Rosenheim. Josef Hofmiller. 


Von Ismen und andern Verwirrungen 
Plauderei von Dr. Adalbert Wahl, Professor der Geschichte an der Universität Tübinge: 


W' Älteren betrachten nicht ganz ohne Sorge die Art, in der viele aus der jüngeren Gene 
| ration von Arbeitern im Weinberge der Wissenschaft denken und schreiben. Nicht 
i daß wir ihnen die höchsten Fähigkeiten absprechen wollten! Nichts sollte uns ferner liegen 
F Sind es doch die vom Krieg verschonten Reste jenes besonders hochbegabten Geschlechts, da 
wir in den Jahren vor der großen Weltkatastrophe hoffnungsvoll heranwachsen sahen, un. 
von denen wir erwarteten, daß sie über uns hinauswachsen würden, durch und durch originell! 
en wie sie waren, und doch nicht in der programmäßigen, aber unfruchtbaren Weise revolutionär 
IH wie viele von ihnen sich unter dem Einfluß der gewaltigen Erschütterungen seither entwickel 
un haben. Freilich, von der Mißachtung der geduldigen Einzelforschung und -Untersuchung 
Hi wie sie sich unmittelbar nach der Revolution breitmachte, sind die besten von ihnen längs 
wieder zurückgekommen. Daß sie häufig mit neuen Fragestellungen an den Stoff herantreten 
erfüllt uns mit Genugtuung. Das aber müssen wir ihnen vorwerfen, daß sie sich vielfach i: 
unfruchtbare Streitereien um überspitzte Formulierungen stürzen, auf die im Grunde nebe: 
der Anschauung der Dinge wenig ankommt. Andere verschwenden ihre Kraft auf gewi/ 
häufig blendend geschriebene Essays, die doch unsere Wissenschaft selten vorwärts bringen 
in der zahllose immer neue großartige Probleme der Bewältigung durch Untersuchung harrer 
Wieder andere — sie mögen dieses harte Urteil verzeihen — verstehen es, mit vielen und meis 
nur scheinbar tiefsinnigen Worten recht wenig und noch weniger Klares zu sagen; nicht: 
scheinen sie mehr zu verabscheuen, als das Einfache im Denken und im Schreiben. Alle 




















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Deutsche Nöte 289 





das ist sichtlicher Anfang des Verfalls, womit aber — es sei wiederholt — nicht gesagt sein soll, 
daß dieses selbe Geschlecht nicht seiner Begabung nach in der Lage wäre, umgekehrt unsere 
Wissenschaft zum weiteren Aufstieg zu führen! 


Aber nicht mit diesen Sünden der Jugend, wenn anders hier Sünden wirklich richtig als 
solche gesehen sind, wollen sich die folgenden Seiten beschäftigen, sondern mit anderen, an 
denen wir Älteren unseren reichlich gemessenen Anteil haben. Man hat gesagt, daß manche 
Philosophien ihr Entstehen lediglich der mißverständlichen oder schwankenden Verwendung 
gewisser Worte und Begriffe verdanken. Ob diese Behauptung zutrifft, möchten wir hier 
nicht entscheiden. Sicher aber ist, daß die moderne deutsche (und außerdeutsche) wissen- 
schaftliche Literatur schwer unter derartig unklarer und schwankender Verwendung von 
Begriffen leidet. Selbst bei durchaus ernst zu nehmenden Autoren finden wir, daß sie vielfach 
denselben Begriff in verschiedenen Bedeutungen oder Bedeutungsschattierungen — manchmal 
auf derselben Seite — gebrauchen oder daß sie — ohne es zu sagen — dem Begriff eine Be- 
deutung oder Bedeutungsschattierung geben, die früher nicht üblich gewesen ist, oder gar daß 
sie den Begriff in durchaus unklarer und verworrener Weise anwenden. Auf den Nachweis 
derartiger Verwirrungen, soweit sie sich in der historischen und politischen Literatur finden, 
sollen die folgenden Zeilen verwandt werden. Sie beginnen mit einigen Ismen, dem alten 
Feind klaren und anschaulichen Denkens. 


mperialismus‘, ‚Zeitalter des Imperialismus“, unsere Wissenschaft strotzt seit einigen 
„4 Jahren von diesen Worten. Im Altertum, im Mittelalter, in der Neuzeit wird ein Imperialis- 
mus nach und neben dem andern entdeckt und verkündigt. Auch hervorragende Historiker 
glauben etwas Erhebliches und Klares zu sagen, wenn sie irgendeiner Zeit, einem Staat, einer 
Persönlichkeit imperialistische Tendenzen nachsagen. Sollten sie sich aber darin nicht irren? 
Wie liegen doch die Dinge mit diesem Begriff? Das Wort kam vor einigen Jahrzehnten in 
England auf, um die Bestrebungen zu bezeichnen, aus dem so locker gefügten britischen Welt- 
reich einen wirklichen Staat, ein empire zu machen, besonders die großen ‚Dominions“ 
Canada, Südafrika und Australien, die immer unabhängiger von dem Mutterland geworden 
waren, wieder enger mit ihm zu verbinden, so daß daraus ein ‚‚Größer-Britannien“ entstände, 
wie. dereinst ‚‚Groß-Britannien‘ aus der Vereinigung der ursprünglich auch nur ganz locker 
verbundenen Königreiche England, Schottland und Irland (Gedanken, die heute als völlig 
gescheitert zu betrachten sind). Mit Ausdehnungsbestrebungen hatte der Begriff also ursprüng- 
lich nichts zu tun. Ganz anders heute. Imperialismus wird vielfach gerade als identisch mit Aus- 
dehnungsdrang gebraucht. Dabei bezeichnen die einen nur die Ausdehnung über See als impe- 
rialistisch, andere auch wieder die europäische. Wieder andere meinen, esgehöre zum Wesen des 
imperialistischen Staates, daß er im Innern mehr oder weniger absolutistisch oder wenigstens zen- 
tralistisch regiert werde, wollen also auchinnerpolitische Merkmale für ihn finden, wodurch sie die 
Verwirrung noch vergrößern. Wo bliebe da der englische Imperialismus? Besonders schwer- 
wiegend — sogar praktisch-politisch — sind aber folgende Schwankungen: Imperialismus 
kann heißen: Das Bestreben, die Weltherrschaft zu erobern; ja man muß sagen, daß sprach- 
lich-geschichtlich diese Anwendung des Wortes noch verhältnismäßig am meisten berechtigt 
ist, in Anlehnung an das Imperium Romanum und unser mittelalterlichts Kaiserreich, das ja 
auch das Reich sein wollte. Anderen genügt aber der Drang nach kolonialer oder sonstiger 
Ausdehnung auch solcher Staaten, die niemals davon träumen konnten, die Weltherrschaft 
zu erringen, um sie imperialistisch zu nennen — Italien, Belgien, Deutschland. Gerade diese 
beiden Bedeutungen des Wortes gehen nun in der Literatur wild durcheinander — nicht zu 
unseren Gunsten: Man sah, daß Deutschland Kolonien erwarb, also konnte man es imperia- 
listisch nach der einen Definition des Wortes nennen. Dann legte man ihm einfach die andere 
Bedeutung unter, und sofort hieß es unsinnigerweise, Deutschland erstrebe die Weltherr- 
schaft. — Also, verehrte Schriftsteller, bitte niemals ‚‚Imperialismus‘‘ sagen, ohne vorher zu 
bestimmen, was Sie darunter verstehen und was nicht! Überhaupt sparsam sein mit dem Wort! 
Seine Verwendung hat überdies noch einen weiteren Nachteil. Es erweckt die falsche Vor- 
stellung, als ob es viele Zeitalter gegeben habe, die nicht imperialistisch gewesen, d. h. in denen 
die Staaten nicht die Neigung gehabt hätten, sich auszudehnen, und zwar auch über See, 
soweit es ihnen eben möglich war. Für die Zeiten von den achtziger Jahren bis zur Gegenwart 
liegt ‚allerdings insofern eine gewisse relative Berechtigung der Anwendung des Begriffs 
„Zeitalter des Imperialismus‘‘ vor, als vorher etwa zwei Menschenalter lang der Liberalismus 
herrschte, der in der Theorie — allerdings auch nur in der Theorie — jeder Ausdehnung, 
besonders über See abgeneigt war, der freilich das mächtige Anwachsen des englischen und 
französischen Kolonialreiches nicht gehindert hat. Auch wurde tatsächlich seit den achtziger 
Jahren der Wettbewerb schärfer, und zahlreichere Staaten beteiligten sich an ihm. 
































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290 Deutsche Nöte 
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Imperialismus und Sozialismus sind scheinbar Feuer und Wasser. In Wahrheit haben sie 
mehr gemein als sie ahnen; für uns kommt hier nur die eine Gemeinsamkeit in Frage, das 
eine gemeinsame Schicksal, daß beide Begriffe in durchaus unklarer und schwankender 
Weise verwendet zu werden pflegen. Also auch Sozialismus! Dieses Wort wird noch immer — 
z. B. von keinem geringeren als Spengler — in der alten Bedeutung verwendet, die es in 
Gegensatz zu ‚„‚Individualismus‘ stellt. Ein Sozialist ist nach dieser Auffassung eine Persön- 
lichkeit, die für das Ganze der Gesellschaft, im Gegensatz zu den Einzelmenschen eintritt, aus 
denen sie besteht. Meistens aber wird heutzutage Sozialismus mit Marxismus gleichgesetzt, 
also mit einer durch und durch individualistischen Geistesrichtung. Und weiter. Bald wird 
Sozialismus einfach in Gegensatz gestellt zu Kommunismus, dann wieder der letztere als eine 
besondere Abart des Sozialismus aufgefaßt. Welche namenlose Verwirrung! Sie aber wird 
noch größer, wenn man den ausländischen Sprachgebrauch, etwa den englischen oder fran- 
zösischen, mit in die Betrachtung hereinzieht, der ja auch natürlich den deutschen vielfach 
beeinflußt. ‚‚Socialist‘‘ bezeichnet in England (oder socialiste in Frankreich) sehr häufig 
lediglich eine Persönlichkeit, die sozialpolitische Interessen hat, und entsprechend ist natür- 
lich auch die Verwendung von socialism (socialisme). 

Auch dem eben erwähnten Individualismus geht es nicht besser. Wild durcheinander wird 
mit diesem Wort die Geistesrichtung der Renaissance und wieder der Romantik bezeichnet, 
die die freie Entfaltung des bedeutenden Menschen, die das Eigenartige, die Persönlichkeit 
will, und wieder die der französischen Revolution, die von dem Gleichheitswahn ausgehend, 
den Staat im Interesse der gleichen Individuen unterwerfen und auflösen will, und die schließ- 
lich zur Nummer, zur Masse und unfehlbar zur Knechtschaft der ‚‚Gleichen‘ führt. 

Schwer ist auch der Mißbrauch, der mit Partikularismus getrieben wurde und wird. Das 
Wort wird nicht nur für jene schädliche Eigenbrödelei der deutschen Staaten und Völker 
verwendet, die ursprünglich kein Reich wollte, und nach der Reichsgründung dem Reich 
nicht das zu geben geneigt war, wessen es bedurfte, sondern auch für das, was richtig ‚‚Födera- 
lismus‘‘ genannt wird, nämlich jenes gerade auch im Interesse der deutschen Einheit wie der 
deutschen Kultur so heilsame Bestreben, den bundesstaatlichen Charakter des Reichs, den 
staatlichen Charakter der Einzelstaaten aufrechtzuerhalten. 

Ein durch seine Verschwommenheit uns Deutschen besonders gefährlich gewordenes Schlag- 
wort ist bekanntlich Militarismus. Das Wortistin den sechziger Jahren wie die meisten Ismenin 
Frankreich aufgekommen — sie entsprechen dem romanischen Bedürfnis, zu verallgemeinern! — 
dann aber schon in den siebziger und achtziger Jahren im deutschen Reichstag vielfach benützt 
und zur Waffe für alle Feinde im In- und Ausland geschmiedet worden. Was heißt esnun aber? 
Etwa einen Monat nach der Revolution nach Hause zurückgekehrt, traf ich einen Herrn der 
bürgerlichen Linken, der als besonders feinsinnig und geistreich galt. Er drückte mir seine Be- 
friedigung über die Revolution aus. Alsich ihn um eine Begründung dieser Empfindung bat, ant- 
wortete er, sie habe doch den deutschen Militarismus zerstört. Darauf fragte ich ihn, was er 
denn darunter verstände. Es folgte erst ein verlegenes Schweigen; dann sagte er: die mili- 
tärische Strafrechtspflege. Ja, ja, wir Deutschen sind noch immer das Volk der Denker! 
Andere verstanden unter Militarismus die Tatsache, daß wir ein großes Heer hatten, das sie 
in ihren Wahnideen für unheilvoll hielten. Wieder andere behaupteten, daß der Geist unserer 
Armee sich auch in unseren sonstigen staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen wieder- 
finde — was zu unserem Segen ja zum Teil auch zutraf — und nannten diese Erscheinung 
verwerflichen Militarismus usw. 

Ganz schlimm steht es auch um Idealismus. In der Philosophie wird durch diesen Begriff 
bekanntlich eine Metaphysik bezeichnet, welche nur die Ideen als das wahrhaft Seiende auf- 
faßt, oder eine Erkenntnistheorie, nach der die Außenwelt nur im Bewußtsein existiert. 
Gegensatz ist dann der ‚‚Materialismus‘, der an die Wirklichkeit der Materie glaubt und auch 
den Geist aus ihr ableiten möchte. In dieser Bedeutung also stammt das Wort Idealismus 
von Idee her. Und nur so sollte es verwendet werden. Das ist aber bei weitem nicht der Fall. 


"Vielmehr kommt es unzählige Male in ganz anderer Bedeutung oder mit ganz anderer Ge- 


dankenschattierung vor. Vor dem Kriege, in jener Zeit, da das seelengute deutsche Bürgertum 
die Sozialdemokratie mit fast unvermischtem Wohlwollen zu betrachten, ja sie zu bewundern 
pflegte, konnte man von ihren Führern unzählige Male lesen: ‚‚In denen steckt doch noch 
Idealismus‘ — heute sagt das wohl keiner mehr — trotzdem doch natürlich allgemein bekannt 
war, daß die Sozialdemokraten extreme Materialisten waren, also das ‚‚konträre Gegenteil“ 
von Idealisten! Da liegt also eine von der ursprünglichen (und nach unserer Ansicht allein zu- 
lässigen) Verwendung von ‚‚Idealismus‘ weit abliegende Bedeutung vor. Es ist nicht anders: 
in weitaus den meisten Fällen wird Idealismus gebraucht, als ob es nicht von Idee, sondern 
von Ideal abgeleitet sei, also eine Richtung damit bezeichnet, die irgendeinem Ideal nach- 








Deutsche Nöte 291 


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jagt und wäre es das materialistischste. Der Gegensatz wäre dann etwa ‚‚Realismus“. Wenn 


‚wir nun weiter feststellen, daß die beiden Bedeutungen auch bei guten Autoren neben und 


durcheinander vorkommen, so können wir uns einen Begriff von der namenlosen Verwirrung 
machen, die die Folge sein muß. 

Es ist nun freilich zugegeben, daß es um andere Ismen besser steht. So z. B. gerade um 
Materialismus. Es pflegt ziemlich regelmäßig zwischen philosophischem und historischem 


‚und wieder zwischen theoretischem und praktischem Materialismus richtig unterschieden zu 
‚werden. Auch Liberalismus wird meist wenigstens leidlich korrekt angewandt, wenn auch 


nicht selten Ideen und Persönlichkeiten, die auf die konservative Seite gehören, oder wieder 
ausgesprochene Demokraten als liberal bezeichnet werden. Auch bei Nationalismus liegen die 


ı Dinge verhältnismäßig einfach. An diesem Begriff aber lassen sich, wie an zahllosen anderen, 


hübsche Beobachtungen darüber machen, was alles an Stimmungen mitschwingt, je nachdem 
der Begriff von Anhängern der Richtung benützt wird, die er bezeichnet oder aber von Gegnern. 
Von letzteren z.B. wird der Nationalismus als ‚‚engstirnige‘‘ Geistesverfassung gebrand- 
markt, die ihre Interessen auf ein Volk beschränke, statt es auf alles auszudehnen, ‚‚was 


„ Menschenantlitz trägt“ usw. Von den Anhängern dagegen als allein gesunde Richtung ver- 


herrlicht, die sich von internationaler Verschwommenheit und von der doch auf alle Fälle 


„zwecklosen Bemühung fernhält, alle Menschen gleichmäßig beglücken zu wollen usw. Daß 


ı derartige Stimmungen für und wider schließlich auch den Inhalt eines Begriffs stark beein- 


| 
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| 
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flussen, versteht sich von selbst. 
Den Nachweis der gefährlichen Unklarheit des Begriffs Naturalismus wollen wir den Kunst- 
historikern überlassen. 


ber nicht nur bei den fatalen Ismen steht es so schlimm, sondern auch bei zahllosen anderen 
Begriffen, die in fröhlicher Unbefangenheit gebraucht werden, als hätten sie nur eine 
ganz unmißverständliche Bedeutung. Wer hätte nicht schon den Fürsten Bismarck einen 
Realpolitiker genannt? Wer aber könnte klar und zugleich erschöpfend darlegen, was er denn 
unter diesem Wort versteht und was nicht? Der Verfasser dieser Zeilen hat einmal diese Frage 


einer größeren Anzahl von Gebildeten vorgelegt und das Ergebnis war weder erfreulich noch 


eindeutig. Denn es ergaben sich die verschiedensten zum Teil durchaus widerspruchsvollen 
Definitionen. Es ist nun keine Frage, daß man diesem Begriff, wie so vielen, am besten bei- 


ı kommt, wenn man von dem Gegensatz gegen eine andere Richtung ausgeht, die er darstellen 


| 





' soll. Sicherlich soll Realpolitiker — eine lobende Bezeichnung — den Gegensatz gegen einen 


Idealpolitiker ausdrücken, also eine Politik, die nicht von einem zu erreichenden Ideal aus- 
geht, ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit der Dinge zu nehmen (der res, die sich hart im 


ı Raume stoßen), sondern die eben von diesen res, von der gegebenen Lage ausgeht. Soweit 


herrscht wohl einigermaßen Übereinstimmung. Aber nun hört sie auf. Liegt in dem Wort 


auch das Lob, daß die Realpolitik nur Erreichbares erstrebt oder nicht? Oder wieder: Schließt 
' die Realpolitik nur die Illusion aus oder auch die Idee? Bezeichnet sie etwa nur ein ‚‚Fort- 


wursteln‘ und ewiges Flicken, statt einer Politik, die ein großes Ziel zu erreichen sucht? In 
Wahrheit liegt es auf der Hand, daß auch eine Politik, die der Ideen nicht ermangelt, Real- 
politik sein Kann, in dem Sinne daß sie von den gegebenen res ausgeht und sie niemals aus den 
Augen verliert. Daß z. B. gerade Bismarck, der große ‚‚Realpolitiker‘, in seiner auswärtigen 


ı Politik von 1871—1890 einer leitenden Idee folgte, kann doch heutzutage als feststehend gelten. 





Wie wenig sagt also in Wahrheit derjenige aus, der irgendeine Persönlichkeit Realpolitiker 
nennt, wenn er nicht hinzufügt, was er denn im einzelnen darunter versteht! ° 

Auch das Wort Humanität findet sich meist in jenem lauschigen Halbdunkel, das zahl- 
losen Schriftstellern offenbar so sympathisch und nützlich, ihren Lesern aber verhängnisvoll 
ist. Einmal bezeichnet es die menschlich schöne Gesinnung des Mit-Leidens und Mit-Fühlens 
mit den in irgendeiner Hinsicht Schwachen, den Elenden und Kranken, den Besiegten, den 
Armen usw. Dann aber wieder schwingen bei der Benützung des Wortes neben dem alten 
Schulbegriff der Humaniora, Stimmungen und Illusionen des 18. Jahrhunderts mit, wonach 
alle Menschen dem ‚‚Humanen“ gleich nahe stehen sollen und können, also z. B. der Fremde 
ebenso nahe wie der Volksgenosse usw. Nur so ist es z. B. erklärlich, daß heute so oft die merk- 


ı würdige Auffassung vertreten wird, als sei Humanität eine spezifisch liberale Erscheinung — 


als ob Ranke und Moltke, Roon und E. v. Manteuffel an wahrer Humanität von irgendeinem 
Liberalen übertroffen worden wären! 

Ganz schlimm steht es um Demokratie. Trotzdem doch hier die alte einfache Definition 
schon Platos vorliegt, die niemals hätte vergessen werden sollen!- Eine Demokratie ist die- 
jenige Verfassungsform, bei der die staatliche Gewalt von ‚‚den Vielen‘‘ (der Masse) ausgeübt 
wird. Im Altertum natürlich nur der Masse der Freien, woraus sich ja bekanntlich ergibt, 


ı daß eine griechische Demokratie neben einer modernen noch etwas einigermaßen Aristokra- 





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tisches war. Trotzdem — was ist alles im Laufe des 19. Jahrhunderts ‚Demokratie‘ genannt 


worden und wird noch so genannt! Hat man doch häufig bis zur Stunde sogar den Freiherrn | 


vom Stein wenigstens halb zur Demokratie rechnen wollen (der doch seinen Überzeugungen nach 





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gerade Aristokrat war) — bloß weil er den begüterten Teil des Bürgertums neben dem Adel | 
zur Verwaltung heranziehen und in zweiter Linie ständische Verfassungen zur Beratung | 


und zu einer maßvollen Beschränkung der Monarchie einführen wollte. Als ob die Beschrän- 
kung der Monarchie an sich ein demokratischer Gedanke wäre! Der kann doch ebenso gut 
extrem aristokratisch sein! Und doch sind unzählige Male die Vertreter der Einführung eines 
Zweikammersystems, wie es etwa die süddeutschen Staaten seit 1818/19 aufwiesen — eine 
erste Kammer ganz wesentlich altständisch-adlig zusammengesetzt und eine zweite nach einem 
engen Zensuswahlrecht gewählt und noch dazu gelegentlich die Vertreter des niederen Adels 
mit enthaltend — Demokraten genannt worden! Wiederum: Welche Verwirrung! In Wahr- 
heit sollte man von Demokratie doch nur da reden, wo erstens die Monarchie nicht nur be- 
schränkt, sondern entweder von der eigentlichen Regierung verdrängt (parlamentarische 
Monarchie) oder aber abgeschafft worden ist und wo zweitens an ihre Stelle die (allerdings fast 
immer nur scheinbare) Herrschaft aller oder fast aller Staatsbürger getreten ist. Freilich 
gehen der modernen Demokratie viele hervorragende Ahnen verloren, wenn ihr Begriff so 
klar bestimmt wird. Aber dieser Ahnenverlust sollte ihr lieber sein-als der gerechte Vorwurf, 
daß sie sich mit fremden Federn schmücke. 


Man könnte nun meinen, derartige Vieldeutigkeiten und Unklarheiten im Gebrauch von 
Schlagwörtern hingen mit ihrem Alter zusammen. Ein noch junger frisch aufgekommener 
Begriff sei in der Regel dieser Verderbnis noch nicht anheimgefallen. Allein es zeigt sich 
bei näherer Betrachtung, daß diese Vermutung mindestens nicht immer zutrifft. Erst seit 
wenigen Jahren hat sich „‚völkisch‘ verbreitet, und schon findet sich das Wort in den verschie- 
densten Bedeutungsschattierungen. In sehr zahlreichen Fällen heißt es nicht mehr und nicht 
weniger als das, was man früher mit „antisemitisch‘‘ zu bezeichnen pflegte; am anderen Pol 
findet sich die Verwendung genau im Sinne von „national“, von dem es ja wohl eine Ver- 
deutschung sein soll. Diese Verwendungen sind übrigens beide zu verwerfen; die eine beruht 
auf einer zu engen, die andere auf einer zu weiten Fassung des Wortsinnes. Besonders ist die 
Gleichsetzung mit ‚national‘ undurchführbar, wie gerade geschichtliche Betrachtungen 
lehren. Wir kennen z. B. zahllose Persönlichkeiten aus dem 19. Jahrhundert, die die Einigung 
Deutschlands mit Leidenschaft erstrebten, aber trotzdem immer wieder nach französischem 
Vorbild vorgehen wollten (Zentralismus, Nachahmung zahlreicher einzelner Gesetze und Ein- 
richtungen der französischen Revolution). Es ist nun ebenso untunlich, diesen den Ehren- 
namen „‚national‘ bestreiten zu wollen, wie auf der andern Seite sie ‚‚völkisch‘“ zu nennen, 
da der Völkische gerade die eigene Art hochhalten und an die eigene Geschichte anknüpfen 
will. So wäre es denn, wie ich schon einmal vorgeschlagen habe, am besten, „nationale‘“ 
Bestrebungen die zu nennen, die sich auf die Vereinigung möglichst aller Volksgenossen in 
einem Staate und auf die möglichste Befestigung und Kräftigung dieses Staates richten, 
„völkische‘‘ dagegen die, welche auf allen Gebieten das dem eigenen Volk und Staat Eigentüm- 
liche pflegen wollen. Aber, wie man sich zu diesem Vorschlag stellen mag, eines ist sicher: 
Auch der als Schlagwort noch junge Begriff ‚‚völkisch‘ ist durchaus nicht eindeutig. 


Sehr viel wäre über Kultur zu sagen. Aber die hierüber anzustellenden Betrachtungen 
würden den Rahmen der vorliegenden Erörterungen sprengen. Auch fehlt die in diesem Falle 
notwendige mühsame Untersuchung über die Geschichte des Begriffes Kultur fast ganz. Es 
sei nur an zweierlei erinnert: erstens, daß kaum eine ungenügende und schwankende Begriffs- 
bestimmung uns so viel leeres und unfruchtbares, vielfach auch schädliches Gerede gebracht 
hat, wie die von Kultur und daß der Begriff im Französischen fehlt, außer ironisch in An- 
führungsstrichen (um uns Deutsche zu verspotten), und daß er im Englischen nur im Sinne 
von „‚Persönlichkeitskultur‘‘ vorkommt (a cultured man, a man of high culture), während der 
Brite sonst nur von Zivilisation spricht. 


Was wollten die obigen Seiten? Nicht, daß die zahlreichen Ismen und sonstigen Schlag- 
wörter völlig vermieden werden. Sie sind ja wohl, wie man zu sagen pflegt, „unentbehrlich‘; 
aber sie sollten im Interesse der Anschaulichkeit des Denkens und Schreibens möglichst selten 
und im Interesse der Klarheit und Reinlichkeit nur unter Mitteilung des Sinnes verwendet 
werden, den der Autor ihnen beizulegen gewillt ist. An diesem Sinne sollte er dann aber auch 
unverbrüchlich festhalten, 














Tagebuch 293 








Tagebuch 


Von der Hans Thoma-Gesellschaft 


je Hans Thoma-Gesellschaft e. V. blickt 


mit dem Ablauf ihres dritten Geschäfts- 


jahres im Oktober 1925 auf wesentliche und 


ereignisreiche Wandlungen zurück. Der Ge- 
danke, in der Thoma-Gesellschaft die zer- 
streut lebenden Verehrer Thoma’scher Kunst 
und Geistigkeit zusammenzufassen, wurde 
zuerst 1922 zu Oberursel im Taunus verwirk- 
licht. Schon damals bezweckte man, die 
Sammlungen der Familien Dr. Eiser und 
Küchler als Ganzes zu erhalten und unteilbar 
der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die 
Inflationszeit hat den Geldgrundstock fast 
restlos vernichtet. So konnte die freie Thoma- 
Gesellschaft leider erst nach dem am 
7. November 1924 erfolgten Tode des Meisters 
durch eine Thoma-Gesellschaft e.V. mit 


' Statuten und einem geschäftsführendem 


Ausschuß ersetzt werden. Es gelang im 
Frühjahr 1925 die nötigen Räumlichkeiten 
im Hause Küchler, Frankfurt a. M., Öder- 
weg 116, sicherzustellen, um das gesammelte 
Thoma’sche Gut (Ölbilder, Graphik, An- 
denken, bibliographisches Material) an einem 
Ort zusammenzubringen. Am 2. Oktober 


1925 erfolgte unter zahlreicher Beteiligung 


die feierliche Eröffnung der Thoma-Samm- 
lung und des Archivs. Damit war die Grund- 
lage geschaffen, die es der Gesellschaft heute 
ermöglicht, die ihr gesetzten Ziele zu errei- 
chen: durch Vorträge und Ausstellungen zur 
Verbreitung von Thomas Kunst und geistiger 
Wesenheit beizutragen. Außer den wert- 
vollen, stets dankbar begrüßten Jahres- 
gaben (A.B.C.Buch, Kunstbüchlein von Tho- 
ma) und den zu ermäßigten Preisen für die 
Mitglieder zugänglichen Handzeichnungen 
Thomas konnte die Gesellschaft ihren Mit- 


‘gliedern bereits eine Reihe von Vergünsti- 


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gungen zuwenden. Sie kann mit Vertrauen 
und Hoffnung auf weitere, für ihre Sache 
ergebnisreiche Jahre in die Zukunft blicken, 
wenn sie von Mitgliedern und Freunden wie 
bisher treu unterstützt wird. 


Brief aus den Vereinigten Staaten 


Ein Leser schreibt uns: 


ah dem in meinem letzten Schreiben 
gegebenen Versprechen will ich versuchen 
Ihnen einige Beobachtungen zu schildern, die 
ich während meines nunmehr 2jährigen Auf- 
enthaltes in der Vereinigten Staaten von 
Nordamerika gemacht habe. 

Die amerikanische Regierung läßt es sich 


ı ganz besonders angelegen sein, die vielen 


Tausende von Einwanderern aus allen Teilen 
der Welt zu amerikanisieren. Dazu dienen 
in hervorragendem Maße die staatlichen 
Abendschulen (public night schools), welche 
von den die englische Sprache nicht beherr- 
schenden Einwanderern fleißig besucht wer- 
den. Die Unterrichtszeit von 7—9 Uhr 
abends ist unter Berücksichtigung der Berufs- 


 arbeitszeit (durchschnittlich bis 5 Uhr oder 


5,30 Uhr nachm.) sehr günstig gewählt. Ich 
selbst habe die public night schoolin..... 
im Wintersemester 1924/25 und diein..... im 
Wintersemester 1925/26 besucht. In meiner 
Klasse waren von den Schülern imersten Ort 90 
Deutsche, im zweiten ca. 65. Für die Ein- 
wanderer ist das wichtigste Fach natürlich 
zunächst die englische Sprache, später dann 
„Americanisation‘ d.h. Unterricht über 
Sitten und Gebräuche, Geschichte, Regierung 
und Verfassung der Vereinigten Staaten, 
in persönlicher Hinsicht bedeutet Americani- 
sation geistige, sittliche und kulturelle Än- 
derung des Individuums, eine Saat, die auf 
meinem Boden keine Früchte trug. Ich muß 
sagen, daß der Unterricht recht gut ist und 
in einer Form gehalten wird, die auf die Na- 
tionalität der Schüler Rücksicht nimmt. 
Selbstverständlich tritt in den Vordergrund 
die Belehrung darüber, daß Amerika die 
führende Nation der Welt ist, das Land der 
größten Entwicklung und des Fortschritts, 
die Heimat der meisten Erfindungen, das Land 
der Freiheit, die friedlichste Nation usw. 

Die meisten Schüler und Schülerinnen, die 
in ihrem Heimatlande durchwegs in sehr 
einfachen, wenn nicht dürftigen Verhältnissen 
gelebt haben, lassen sich leicht amerikani- 
sieren; zweifelsohne ist dabei ein ausschlag- 
gebender Punkt, daß die wirtschaftlichen 
Verhältnisse in Amerika eben doch wesentlich 
besser sind. Ubi bene, ibi patria. Man findet 
Arbeit, wenn man nur arbeiten will, Löhne 
sind ca. 2 bis 3mal so hoch wie in Deutschland, 
die Kosten des Lebensunterhaltes ca. 50 bis 
100°/, höher als in Deutschland, doch ist das 
Verhältnis von Durchschnittslohn zu Lebens- 
unterhaltkosten so, daß man sich ganz schön 
etwas zurücklegen kann. 


aha ist, wie ungeheuer schnell be- 
sonders die jüngeren Vertreterinnen des 
weiblichen Geschlechtes der amerikanischen 
Mode zum Opfer fallen. Nach ganz kurzer 
Zeit schon kann man sie kaum mehr erkennen, 
zuerst der Bubikopf, dann neueste Mode in 
der Kleidung, vielfach ein Pelzmantel — 
eben nur in Amerika erreichbar für ‚10 Doll. 
down and 2 Doll. a week‘, während für die 
Männer das Erste ein Auto ist, bei den äußerst 


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294 Tagebuch 





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günstigenTeilzahlungsbedingungen auch leicht 
zu erschwingen. 

Mode, Auto und Kino, das sind, etwas derb 
ausgedrückt, amerikanische Ideale. Auf 
geistigem Gebiet ist man nicht allzu an- 
spruchsvoll. Die Allgemeinbildung steht in 
Deutschland weit höher. Auch die Pflege 
der Künste hält keinen Vergleich mit ‚drüben‘ 
aus. Um eine gute Oper zu hören muß man 
schon nach Chicago oder New York fahren. 


M an macht dem deutschen Volk immer den 
Vorwurf des geringsten politischen Inter- 
esses. Ichmag hiernoch nichtgenügenden Ein- 
blick bekommen haben, aber meine bisherigen 
Beobachtungen ergeben eine starke unpoliti- 
sche Veranlagung der Masse. Eines aber kann 
ich nicht hoch genug anerkennen und be- 
wundern, das ist das Nationalbewußtsein des 
Amerikaners, seine Liebe und Treue zu seiner 
Flagge. Das Sternenbanner hängt in jedem 
einzelnen Klassenzimmer jeder Schule, weht 
auf jedem Öffentlichen und vielen Privat- 
gebäuden und die Nationalfarben sind in 
irgendeiner Form zur Verzierung des Raumes 
in fast allen Geschäften verwendet. 

Über die politischen Vorgänge in Europa 
bis zum Ausbruch des Weltkrieges und auch 
über die Verhandlungen seit dem Friedens- 
schluß ist die Allgemeinheit recht schlecht 
unterrichtet. Dies trifft auch für die Deutsch- 
amerikaner im allgemein zu. Gerade die ein- 
facheren Kreise, in denen ich verkehre, sind 
über die Wahrheit nicht aufgeklärt, sie haben 
ihr Wissen aus der Presse und diese stand ja 
seit Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 
großenteils unter englischem Einfluß. Auch 
heute merkt man das noch. ‘Soweit meine 
persönlichen Beobachtungen reichen, zeigt 
die Haltung der amerikanischen Presse heute 
wesentlich mehr Interesse an der deutschen 
Politik als vor 2 Jahren, ihre Kritik ist auch 
objektiver und doch ist ihre Vorliebe für 
den englischen und französischen Standpunkt 
nicht zu verkennen. Aus den letzten Be- 
richten über den Völkerbundsstreit in Genf, 
konnte man allerdings eine etwas deutsch- 
freundlichere Haltung herauslesen. 

Sehr sonderbar mutet es mich an, wenn ich 
höre, welche Vorstellung man in einfacheren 
Kreisen vielfach über ‚the old country“ 
hat. Da gibt es Leute, die sich die Zustände 
in Deutschland so vorstellen, wie sie meinet- 
wegen vor 1914 in Montenegro gewesen sind. 
So hat man mich schon oft gefragt, ob man 
in Deutschland auch automatisches Tele- 
phon und Radio hätte, ob es da auch Pull- 
man-Züge mit Schlaf- und Speisewagen 
gäbe usw. 

Solche Gelegenheiten benütze ich natürlich 
gerne, um auf die beträchtliche Unterlegen- 
heit des amerikanischen Handelsluftverkehrs 


im Vergleich zum europäischen hinzuweisen 
und dabei besonders die Überlegenheit des 
deutschen Luftverkehrs zu betonen, worüber 
ja amerikanische Zeitschriften selbst vor 
kurzem berichteten, daß 65°/, der gesamten 
Flugverkehrslinien der ganzen Welt in den 
Händen deutscher Organisationen liegen. 

Ich bestreite nicht, daß wir von Amerika 
lernen können, aber wir wollen uns auch des- 
sen bewußt sein, daß wir Deutsche noch viele 
Vorzüge voraus haben, die Amerika nicht 
kennt oder nicht zu schätzen weiß. Th.D. 


Kurd von Schloezer — 
Theodor Mommsen 


ber die Beziehungen zwischen Kurd von 

Schloezer und Theodor Mommsen macht 
uns Schloezers Neffe Dr. Paul Curtius in 
Berlin mit Bezug auf eine Stelle in den 
„Letzten römischen Briefen“ Kurd von 
Schloezers (S. 16) folgende Mitteilung: 

Von einer Freundschaft der beiden Männer 
kann um so weniger die Rede sein, als sie sich 
erst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhun- 
derts kennengelernt haben, wie aus dem 
nachstehenden, höchst amüsanten, geradezu 
gemütvollen Briefchen des früheren Reichs- 
tagsabgeordneten Dr. Georg von Bunsen, 
der mit Schloezer befreundet war, hervorgeht: 


„Berlin W., Postamt 30, den 28. Febr. 1882. 
Lieber Schloezer! 


Mommsen begeht den Irrthum, mich um 
eine Einführung bei Dir zu bitten; als wäre 
eine nöthig oder die meine von besonderer 
Wirkung! 

Aber das ist seine Sache. Mich freut die 
Gelegenheit, Dir eine Freude zu bereiten. 
Der Historiker sollte den Historiker kennen. 

Wundre Dich mit mir, so oft Du ihn 
siehst, über die Zartheit und Kindlichkeit 
des gefürchteten Mannes. 

Bleibe freundlich eingedenk 


Deines G. v. Bunsen.“ 


Gedanken 


Niemals ist in Deutschland so viel von Frei- 
heit die Rede gewesen wie seit dem Zusam- 
menbruch des Jahres 1918. Gleichzeitig 
blühte der schlimmste Servilismus, der gegen 


das Ausland. 
%* 


Noch viel schlimmer als die, die kein 
Substantiv ohne Adjektiv gebrauchen, sind 
die, die kein Adjektiv ohne Adverb gebrau- 


chen. 
% 





































Derdeutfihe@rzähler 


Die Mütter 10 
| Novelle von Hang Arthur Thies 


ajjen Sie mich vorerft mit ein paar Worten die Bauart der Häufer befchreiben, in denen fich a: 

dieje Gejchichte begeben hat; ich werde mich dann im Gang der Erzählung nicht zu unter- Er e j' 
brechen brauchen. | a 

3 bin im Herbit vor einem Jahre in ein Dachzimmer diefes Häuferblods eingezogen und Ki r 
habe die Einzelheiten de3 merfwürdigen Vorfalls teils jelbft beobachtet, teils durch Nachfragen way 
erfahren. ES ijt ein Häuferblod von quadratiichem Grundriß, in deffen Mitte fich der Hof be- Be 
findet. Die beiden vornehmften Häufer de3 Blodes find ein Efhaus und dag daran anftohende Ba 
jeitliche Haus, dejjen Bortal mit dem des Efhaufesin einer Front liegt. Die Wohn-und Reprä- Bo 
jentationsräume liegen nach vorn, die übrigen Zimmer nach hinten hinaus. $ e' 

sn dem Edhaus wohnt die verwittwete Kommerzienrätin Maciewsfa; in dem daran an- 
jtogenden geraden Bau die ebenfalls verwitwete Baronin von Merveldt. Bon den Front- 
jenftern aus Tönnen jich die beiden Damen nur bei ihren übrigen feltenen Ein- und Ausgängen R 
beobachten; Dagegen können fie über den Hof wechjelfeitig allerlei Einficht in ihr Leben ge- E 
winnen. &3 gibt da Kleine Anzeichen, deren Menge nur der überfieht, der mit anhaltendem % 
und eindringlichem Eifer daS Gegenüber beobachtet: herabgelafjene Vorhänge, die Zeiten ; 
der Fünftlihen Beleuchtung, gefchlojjene und geöffnete Fenfter und vieles dergleichen, was 
jich im Lauf der Zeit zu einem Shitem zufammenjcliegen läßt. 

Man wird fragen, was die Schilderung eines unfeinen Beobachtend mit der Gefchichte: 
zweier vornehmer Damen zu tun hat, wie die Kommerzienrätin und die Baronin find. 8 hat 
nichts mit Eiferfucht oder niedriger Neugier zu tun; e3 ift das Ergebnis eines fonderbaren 
Verhältnijjes und die Folge eines Borfallß, der einige Jahrzehnte zurücliegt. 

sn ihrer Jugend — damal3 befand fich an der Stelle, two heute die Häufer ftehen, ein Bar 
al3 Ende und Auslauf einer Allee — waren die beiden Damen Freundinnen gewefen. In 
jener Allee waren jie gefahren und geritten, in vem Park waren fie jpazierengegangen und 
hatten jich ihre Hoffnungen und ihre jugendlichen Gefühle mitgeteilt. Das gute Verhältnis 
zwijchen ihnen übertrug fich auf ihre Gatten, wenngleich, wie man jagt, ein leichter Abftand 
swiichen ihnen vom Augenblid der Berheiratung an entjtand. Die Männer follen jich eine Beit- 
lang öfter gefehen haben als die Frauen. Nach Jahren renkte fich das wieder ein. Zu diefer Zeit 
wurde der Park niedergefchlagen und der Häuferblod erbaut, in dem beide Familien al3bald 
die benachbarten Wohnungen bezogen. Al die Kinder — bei Maciewafi ein Sohn und bei 
Merveldt3 eine Tochter, beide fait gleichaltrig — in das gejelliehaftzfähige Alter famen, wurden 
die gejelligen Abende, die beide Familien gaben, häufiger al vorher. Da e3 nun ein — wenn 
auch unausgefprochenes — Zugeftändnis zwifchen ihnen war, eine Gefellfchaft zu veranftalten 
ohne mechjeljeitige Einladung, fo erregte e3 die Unruhe und das Mißtrauen beider Frauen, als 
nad) einiger Zeit Anzeichen dafür auftraten, daß zwischendurch Abende ohne die Anmwefenheit 
der Freunde jtattfanden. Welche Samilie mit diefer Ausjchliegung begonnen hat, weiß man 
nicht; e3 ift auch gleichgültig; denn die Aufklärung, die der jeltfamen Angelegenheit bald folgte, 
macht diefe Frage unwichtig. Die Urfache waren die Kinder. E3 war die Abficht der Frauen, 
eine jihtbar zwijchen den Kindern entjtehende Neigung rechtzeitig abzubiegen. Die Männer 








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296 Derdeutfhe Erzähler 


icheinen fich wenig an diejem Zwifchenspiel beteiligt zu haben; denn an dem entjcheidenden 
Abend machten fie auf jedermann den Eindrud jehr überrajchter und fofort zur Vermittlung 
bereiter Freunde. 

Auf einer Gefellichaft bei Merveldt3 fam es im Streije der Damen zu einer Unterhaltung, die 
anfänglich fcherzhaft, bald aber, nach abgefallenen Masken, mit tödlicher Zeidenfchaft geführt 
wurde. Die Berfuche der Frauen, die Kinder voneinander fernzuhalten, waren fehlgeichlagen; 
man mußte im Gegenteil bemerfen, daß jte fich häufiger ohne, al3 vordem mit Wijfen der Eltern 
trafen. Der Abend hatte erneut Gelegenheit zur Beiprechung des zärtlichen Berhältnijjes 
gegeben, indem Ellinor und Arthur — fo hießen die beiden — in einer Ede de3 Salons in 
eindringlichem Gefpräch fich abgefondert hielten. Man hatte feit langem beobachtet, daß Ellinor 
aus einem zarten in einen geradezu frankhaften Gejundheitäzuftand geraten mar und Arthur, 
von Natur leicht entzimdbar und erregt, ji) in der Verfolgung eraltierter deen verzehrte. 
Mütter verzeihen nicht, daß das Leben an ihren Kindern weiter gebiert. Vielleicht haben jie 
techt, eine Schuld darin zu fehen; ficherlich Haben fie unrecht, einen Schuldigen dafür zu juchen. 
Die Frauen Mereldt und Macierosfa aber griffen einander als Schuldigean. Frau Mactewöfa 
behauptete, die wachjende Überjpanntheit ihres Sohnes fei eine Folge des Verkehrs mit der 
frankhaften Ellinor; Frau von Merveldt machte die übertriebene Gedanfenwelt Arthurs dafür 
verantivortlich, daß Ellinor förperlich immer mehr litt und verfiel. Gefpräche, die in die Tiefe 
gehen, enden in den Perjonen; denn der Menjch ijt Die Tiefe aller Dinge; darum [pringen 
Gefpräche wie das gegenmärtige den Partnern wie Tlorette ins Herz. Xede der beiden 
Frauen wußte Geheimniffe von der andern; alle Die Heinen Bertrauenglofigfeiten und Ängite, 
die der Mutterfchaft vorangehen, hatten fie früher einander ausgeliefert. Damal hatten jie 
wechfelfeitig jede Beforgnis mit Zärtlichfeit empfangen und geftreichelt wie eine Franke Taube, 
um fie fchlieglich Teichtherzig in die Zukunft zu fchiefen — Die Zukunft war Gegenwart, die Tau- 
ben waren Geier geworden, und die Geheimnifje hatten jeharfe Schnäbel befommen. Wußte 
nicht jede, was für Bedrüdungen und Qualen, was für Lajten und Leiden aus der Reihe der 
Borfahren Hinter der andern ftanden! Die Maciewsfa war e3, die ala erite rief: „Mein Kind 
bat feinen Großvater, der an der Schwindfucht geftorben ift." Dies Wort glich einem Erdrutich. 
Die beiden Frauen befanden fich plöglich in einer Erdjchicht, die Sahrtaujende zurüdliegt, 
wo die Krauen ihre Kinder noch durch Dreinfegung der körperlichen Kräfte verteidigten. Gie 
glaubten, ihre Kinder zu ftärfen, indem fie die Gefundheit ihrer mütterlichen Zeiber poreinander 
rühmten. „Nur die Tochter eines Krrfinnigen wird Bewmeife diejer Art bevorzugen,” antwortete 
die von Merveldt mit zitternden Lippen. Die Maciervsfa war einer Ohnmacht nahe; aber jte 
hielt fi und erwiderte: „Jmmerhin hat der Jrrfinn ein Ende genommen; aber die Krankheit 
Scheint nicht zu Ende zu fein.” Sie zeigte hinliber zu Ellinor. Die von Merveldt erhob jich, 
maß; die Maciewsfa und fagte bleich aber jehr gefammelt: „Erinnern Gie fich, Li Anna Ma» 
cietwsfa, wie ic) Sie eines Morgens bei einem Wettritt in Der Allee fait zu Tode geritten 
hätte — ich reite Sie auch im Leben zu Tode, und wenn e8 durd) Sahrzehnte geht." — „Wir 
werden fehen," antwortete die Maciewgfa, und die war Das lebte Wort zwilchen den Frauen. 

Wieweit der Zwift der Mütter das Verhältnis der Kinder berührte, ift fraglich. Zu endgülti- 
gen Auswirkungen des unglücklichen Verhältniffes am es nicht mehr, indem Ellinor wenige 
Monate nachdem Arthur an die Front abberufen worden war, ftarb und Arthur jelber furze Zeit 
darauf fiel. Das Ende der Kinder trieb die Mütter nur tiefer und feiter in die Stellung, die 
fie an jenem verhängnisvollen Abend zum erftenmal eingenommen hatten. Die Baronin war 
überzeugt, daß Ellinor3 Leben lediglich an der Franfhaften Gefühls- und Geijtegrihtung zu- 
grunde gegangen war, die Arthur beim Abfchied in dem Mädchen hinterließ; die Kommer- 
zienrätin tvar nicht von dem Glauben abzubringen, daß Arthur jein Leben überdrüflig fort- 
geworfen hätte aus Verzweiflung über die in tödlicher Krankheit dahingegangene Geliebte. 
Wenn eine leichtfertige Mutter ihr fcharlachkrankes Kind mit dem gefunden Finde einer anderen 
Mutter fpielen läßt und diejes ftirbt an der Anfteeung: der Vorwurf des Mordes fan nicht 











Hans Arthur Thies:-Die Mütter 297 
LEERE namen 


leidenjchaftlicher außgeftoßen werden, als ihn die beiden Srauen Merveldt und Maciewäfa 


Ihweigend gegeneinander erhoben. Sie fahen fich beim Tode der Kinder ebenjomwenig wie 


| 








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borher; fie lajen die Nachrichten in den Zeitungen und fprachen nicht davon — Taum mit ihren 
Männern; aber unnachgiebiger noch al3 vorher trugen fie die Laft jenes feltfamen Bemeifes 
weiter, den jie dem Leben ihrer Kinder zu fchulden glaubten. 


Bon da an begann in’ den benachbarten Häufern ein heimlich fehweigfames Syftem von Be- 


obachtungen die Feniter, die Lichter, die Vorhänge zu erfaffen; obwohl die Dienjtboten längft 


gelernt hatten, daß fie bei ihrer Herrin Fein Wort über die ehemalige Sreundin erwähnen 
durften, waren Die grauen genau über jede leife Störung im Leben der andern unterrichtet, 
se älter fie wurden, defto ausgebreiteter und engmafchiger wurde dag Shitem; eine Begierde 


erwachte in jeder, jich bei Gejundheit zu erhalten und den Tag zu überleben, mo die andere 


Siehtum und Tod befiel, daß die Erwartung felber zu erniten Störungen der Gejundheit 
führte. Der Kommerzientat verunglücte tödlich auf einer Autofahrt: dies beraubte die beiden 
insgeheim Kämpfenden eines nicht unmwefentlichen Argumentes: der Lebenskraft und -Dauer 
ihrer Männer. Gie waren nun allein übrig, um den Beweis zu Ende zu bringen, 

Bei dem Unglüdsfall des Kommerzienrat3 waren die Frauen ettva ziweiundjechzig Jahre; der 
Zod de Baron erfolgte fünf Zahre fpäter, Die Jugendfreundinnen waren Greilinnen 
geworden. 

Eines Abends, al3 die Macierwsfa hinter dem Vorhang ihres Schlafzimmers ftand und zu den 
Senftern der Baronin hinüberjah, nahm fie eine ähnliche Veränderung wahr, wie fie beim Tode 


 deö Barons bemerkt hatte: es wurden drüben fehwarze Vorhänge vorgezogen und durch den 
‚ dichten Schleierftoff fielen Die Lichter zweier dreiarmiger Leuchter. ; 
i 


Eine jahrzehntelange Laft fiel von ihr; fie jchmwantte, hielt fich am Fenftervorhang und rif 


‚ Ihn nieder: &3 war gejhehen! Die Gegnerin war unterlegen. Der Beweis war zu Ende: fie, 


Li Anna Macievsfa, hatte dad Rennen gewonnen; nein, er: Arthur hatte gewonnen. 


AB fie jo am Boden lag, rijfen zwei Gefühle an ihr: follte fie jene Zrau, mit der fie ein ganzes 


\ eben erft in Liebe, dann in Haß verbunden gemejen war, ohne einen legten Blid in das Grab 


| 
j 
| 


ı gehen lajjen, oder jollte jie die maßlofe Schwelle, die in Jahrzehnten zwifchen den Türen der 


beiden Häufer gemwachjen war, zu überwinden verjuchen? 
Shre Dienerin fam und wollte mit ihr jprechen; fie verwies ihr mit einer Handbewegung 


jeden Laut. Gie ließ fich einen Sefjel an die Stelle bringen, wo fie gefallen war, und machte 


| 


‚jte jelber traurig und beladen Mutter gewejen war, — — — 





dort die Nacht, 


Sm Morgengrauen verloren die Lichter Hinter den [chrvarzen Vorhängen ihre Kraft; eine tiefe 


ı Unruhe begann die Schlafloje aufzumühlen: e3 mar ihr, als werde mit den fchwindenden Toten« 
| Terzen alle3, was fie gejehen hatte, unwahrfcheinlich, alß ftiege drüben hinter den Borhängen 


mit dem Tageslicht da3 Leben auf wie fonft. Sie Durchwanderte alle Zimmer, warf fich ihren 
Umhang über die Schultern, bereit, hinüberzueilen — nun aber nicht mehr aus der Verbunden» 
heit de3 Lebenz, fondern au dem ängftlichen Wunfch, fich ihres Sieges zu vergemiffern; 
aber immer nod) trieb eine zitternde Unruhe fie von Raum zu Raum. 


un Diefer Stimmung betrat fie den nad) der Straße zu gelegenen Salon und hörte auf der 


ı Straße da3 ungewohnt frühe Antollen eines Wagens: fie jah hinaus und erblidte vor dem Haufe 


Merveldt3 den Leichenmwagen. Diejer Anblic Löfte alles in ihr aus; taufend Erinnerungen jchlu- 
gen aus ihrem Herzen in hoher Flamme und riffen fie in diefe Bewegung; 

Sie rannte, von niemand gejehen und aufgehalten, die Treppe hinunter, über die Straße, 
an dem Leichenwagen vorbei in da3 Haus der Toten, die Treppe hinauf und fchellte; eine 


eritaunte Dienerin öffnete ihr, fie rafte an ihr vorbei und in das ihr wohlbefannte Schlaf- 
zimmer, two der Sarg ftehen mußte. Nur fie noch einmal fehen! hier fehen, wo alles gejchehen 


war und Abjhied nehmen von ihr, der Bejiegten, ver Mutter — der Freundin, die, ach, wie 


Entwicklung des Bolschewismus (Südd, Monatshefte, 23, Jahrg., Heft 10) 20 














vi Er 
I: 35 


298 Derdeutide Erzähler 


(EEE ERITREA EEE SCENE EEE EEE EEEESESEEEEEEEEEREEEETSEEREEREEEEENEEEET ESTER EREEEEEEREEEEEEEEEEEERERIEEESEREISEREBEREEEETREREESEEREEESSESEESEEREREEEEENEEEBBEEEEEEEREERGBENEREERESEREEENEEEENEEREEEEEE 
Ps nn nee 


Die Tür zum Schlafzimmer ftand offen. Da war der Sarg. Er jhwantte jhon auf den 
Schultern der Männer. Sie fehrie. Einer der Männer dudte id) unter diefem Schrei, und da 
— da Stand ihr gegenüber, Angeficht in Angeficht, groß und hoch neben Dem Sarge die von 
Merveldt: „Sie haben den Vorhang in ihrem Zimmer zu früh niedergerifjen,” jagte jte mit 
einer gebrochenen und falten Stimme, „ich lebe! ch habe meine Amme überlebt. Wollen 
Sie meine Amme jehen?“ 

Pas bei ven Hammerfchlägen diefer Worte in der Maciemwäfa vorgegangen ijt, weiß niemand. 

Sie it am gleichen Tage wie die Amme der Baronin bejtattet worden. 

Die Baronin felber ift in diefem Sommer, alfo etwa ein Vierteljahr nach dem Zode der 
Maciewsfa geftorben. Sie hat die legten Wochen ihre3 Lebens in dem Zimmer zugebracht, 
in dem jene merfwürdige Zufammentfunft ftattgefunden hatte. Die lebten Worte, Die Der Geel- 
forger von ihr vernahm, waren: „Aber drüben — nicht wahr — drüben wird — alle — Liebe 
— fein?” 


Dampynha 


Wiener Zeitroman von Eduard Paul Dangzfy 


(5. Fortjeung) 

Hi: Generaldirektor ermachte zuerft. Er jagte nachjichtig: „Das Zerjegende Jhres Gleich- 
nifjes ift mit einem originellen Mäntelchen drapiert, aber ‚jedem jein euique‘. Wer ohne 

die Kamilie ausfommen fan und will, joll e8 tun.” Mampynha war ernjt. Obmohl jie eigen- 

artig ergriffen war, Schwieg fie. Fehrbach fagte: „Vielleicht fehen Sie mehr darin, Herr 

Generaldirektor, al3 unbedingt notwendig ist. Jch glaube nur, daß in jedes Menjchen Bruft 

irgendeinmal da3 neue Reich anhebt, da in jedem der Vater fein fanrı, denn für jeden ijt 


der Bater ein anderer. Damit muß nicht Verachtung verbunden, die Abjage vollzogen fein. 


E83 ijt nur ein Troft für den Armen, welcher plößlich jpürt, daß er ohne Liebe ift, ohne Be- 
ziehung zur Sippe, während er ftürmifch nach denen verlangt, in welchen der gleiche Bater ift.“ 

Sie waren auf rüdfehrende Tourijten geftoßen, unverjehens hatten jie auch das Plateau 
erreicht, waren an der Küfte der Wirklichkeit geftrandet. Aber hier jeßte der fnechtiiche Zauber 
der deflorierten Natur ein, wie an allen Punkten der Erde, wo Romantik, Sonne und gute 
Luft zu unmittelbarem Berfjchleiß gelangen. Man ikt und zahlt das Panorama, e3 fteht 
gleihjam auf der Speijefarte. Gleichwohl verföhnt man ji) mit dem Betrieb, er ift eine 
Ihüchterne Kosmopole, das ältere Perfonal Verkörperung einer chronischen Weltläufigfeit. 
Wo man jonft dem Nucjad überantiwortet bliebe, der Diogenestonne des modernen Natur- 
menjchen, öffnet fich plößlich ein Tempel warmen Behagens, die Sozietät dringt in alle 
Höhen- und Breitegraden und ferviert dem weltflüchtenden Bürger Schweizerfäfe und Pilfner- 
bier mit einem feinen Durchichauen der lebten Ziele feiner Weltflucht. 

Die drei Unkömmlinge hatten mit Mühe einen Tifch gefunden. Mit Humorboller Anfpruchg- 
lofigfeit vollzogen fie den Anfchlug an die Verhältniffe, waren mit dem ausgiebigen Mahl 
zufrieden, ftellten fonntägliche Aufgezäumtheit feft, welche bis zum Abftieg anhielt. Da der 
Generaldirektor von dem Wirt befonders begrüßt morden, jogar ein Devotes Geleite empfing, 
war er jehr jiher geworden. Er vermochte Fehrbach jogar auf das heifle Gebiet der Frauen- 
liebe zu loden. In feine Frage hatte er eine anmutig gönnerhafte Teilnahme gelegt. „Wie 
ftehen Sie eigentlich zu den Frauen, von Fehrbah? Man will natürlich nicht indiskret fein. 
Wir haben ja ab und zu von Khrer grundfäglichen Auffaffung der Frau fehr intereffante 
Aufilüffe befommen. Aber im Leben, im konkreten Fall korrigiert fich wohl auch bei Menfchen 
Shrer Art das Grundfägliche nach befonderen Gegebenheiten.“ 













Eduard Paul Danszky: Mamynha 299 
a 
| Vehrbacdh lächelte glücklich. Er fühlte fih in die Natur einbezogen, von jedem heimlichen 
| Bid Mampynhas bereichert, der Einverftändniffe Fundgab. Shr beharrlicheg Schweigen ging 
| auf derjelben Linie, wie feine zur Mitteilung bereite Erregjamfeit. Er begann: „ch veritehe 
ı She Intereffe, Herr Generaldirektor! 3 deck jih in diefem Augenblid mit dem der Gejell- 
‚ Ihaft, welche die Beziehung zur Frau bernunftmäßig geregelt wünjcht, aber auch die Aus- 
‚nahme behaglich wahrnimmt, foweit jie fich nicht fataftrophenartig abtwidelt, Nun, die Schwär- 
‚mer in Shren Augen, welche weder in sHren Ansprüchen noch in der Art der Eroberung ein 
ı jeichte® Genügen zeigen, find von der tomantifchen Frau allein angezogen. Das Trieb- oder 
ı Ruzusweibchen ift ihnen zu wenig, vermittelt nur die Epifode, die tajche Entjpannung. Die 
| tomantijche Frau indes ift wie ein neugieriges Kind, das eine offene Gartentür findet, fie 
ı Fan e3 nicht unterlajjen einzutreten, ein Stüc de3 Weges langfam und träumend über den 
| Kied der fremden Öartenivege zu fchreiten. Schlägt ein Windftoß die Tür hinter ihr zu, 
‚ dann ift fie gefangen, ein Märchen vollzieht fich. Vielleicht bin auch ich jo ein verwunfchener 
Garten, der fchmeigend Daliegt und martet: wird fie eintreten, bleiben, von Baum zu 
Baum, von Beet zu Beet iwandernd, von allem ergriffen, alles ergreifend? Aber auf einmal 
erwacht fie, ein fatales Raufchen, irgend etwas Beängitigendes hat fie erfchredt, fie ehrt 
um, ift verloren. Das nächite mal will man Hüger fein, ift ungebärdig, nicht mehr der ruhige 
' Öarten. Sn den Kronen rütteln Phantaftiiche Stürme, bunte Überladenheit bietet ji) dar, 
' ein Labyrinth von berichlungenen, unentwirrbaren Wundern. Das Kind in der romantifchen 
| Frau ftaunt, blickt fcheu über die Mauer, aber die offene Tür wagt jie jchon faum zu durch 
 Iehreiten; denn die Seele der Frau it wie eine Membrane, fie gibt die Wellen weiter, die 
fie empfängt, wie man jie anhaucht, jo Haucht fie zurück!” 
Der Generaldireftor var jehr zufrieden. Er verließ das Konventionelle. Gr jagte zum 
' erftenmal: „Das ijt jehr traurig, Heiner Fehrbach.” Er hatte geradezu blibartig die Offenbarung, 
daß der blonde ziwiefpältige Menich ji wahrhaft dargeftelft, auch die Frau, feine Frau, 
in angängigem Bild gefangen hatte. ya, ja, Lotte war nicht zu dreiftem Eindringen in jolden 
| verrüdten Garten fähig, das ftimmte immerhin. Er fagte laut, mit feierlicher Erregung: 
ı „Ein gelungenes Bild, Fehrbah! Die richtige Frau hat entjchieden genug natürliche 
| Scheu den fremden Garten zu betreten, ich meine: ganz zu betreten. Eine gemille Neu- 
 gier mag fie ja bisweilen durch die Tür treiben, hm, ficher; das hat fie mit Kindern ge» 
| mein, aber fie fehrt entfchieden wieder um.” Er war geradezu erbaut von diejer Be- 
‚zubigung. Er erzählte Beifpiele von ungewöhnlichen Verhältniffen, von glüdlichen und 
unglüdlihen Ehen. Er bezog alles unter die plöglich gewonnene Einficht in das Wejen der 
Srau. Gtellte ein Gejeß auf, daß die tomantifche Frau gerade mit dem Mann der Wirklichkeiten 
‚am glüdlichiten fahre, denn die Schwärmer jeien, wie Fehrbadh unbedingt eriviejen hätte, 
‚offene Gärten; natürlich für jedermann einlabend, zugänglich. Sozufagen eine Falle für alle 
‚zomantifchen Frauen. Er wurde perjünlich, er lachte. Eine grotesfe Duldjamfeit ergoß fich 
‚über ben andern. „Shre Schaufpielerin, zum Beifpiel, Tehrbach, gewiß eine tomantifche 
| Frau? Fit fie noch in dem Garten, he? Noch allein? Auf Ehre und Gemilfen, Fehrbach?” 
‚Endlich hatte er ihn gefangen. Geine gejcheiten Augen blinzelten zu Mamynha, ihm war 
'zumut, al3 hätte er mit einem Schlag die gefährlichite Konkurrenz erledigt. Daß er feine Frau 
‚regt, eigentümlich erregt jah, beitätigte ihm feinen Sieg. 
ı  Sehrbadh war über den Ausfall betreten. D, e3 gab Hundert Antworten; aber irgendivie 
‚üblte er, daß ein Wettfampf mit Blopftellungen, daß fogar ein Plädoyer feiner unmürdig 
var. Sein Verhältnis zu Mamynha bedurfte nicht folder Parade. hre Begegnung war 
d einmalig-[hidfalhaft, daß der Vergleich mit früher, die Beziehung auf Vergangenes aus- 
yeichaltet blieb. Ex jagte fehr übermütig: „Sie haben recht, Herr Generaldirektor.” Herr 
tamm mar voll Anerkennung. „Sie find fonjequent, unheimlich Tonjequent, da3 gefällt mir. 
‚shre Träumereien befommen dDadurd) troß aller Widerfprüche eine brauchbare Seite.” Zu 


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300 Derdeutfhe Erzähler 
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feiner Frau gewendet fuhr er fort: „Interejjante Ergebniffe, Lotte, dein Heiner Dichter hat 
eine augenfällige Unterbilanz.“ 
Die Stimmung war fo brillant, daß fie in ber „Brein”, wo fie gegen Abend angelangt 
waren, zum Abendefjen verweilten, Wein tranfen und mit einem Wagen nad) Haufe fuhren. 
n diefer betriebfamen Art ging det größere Teil des Juli dahin. Je mehr Die gefpenftiichen 
Anzeichen der Kriegsgefahr mit fompafter Muskulatur fich wattierten, dejto mehr und 
fiebriger neigte man jic) vem Leben zu, fuchte und fand in ihm die mehmdtigen Beftätigungen 
der Perfönlichkeit. Aber in der zweiten Hälfte de Monats zeigte Mampynha plöglich eine 
Trauer, welche Fehrbach unergrümdbar wurde. Nach der frievvollen Abgefundenheit, in 
welcher fie endlich beide gelebt, war die Franfhafte Veränderung, die jich des anmutigen, 
edlen Ausdrudes ihrer Züge gemaltfam bemächtigt hatte, bejonder3 bedeutfam gemorden. 
Er hatte den tieferen Anlaß hierfür in gewilfen Nachrichten aus England vermutet, aber 
EHoardog Brief Schilderte nur den draftifchen Umjehmwung in der Stimmung der offiziellen 
Kreife; die Frauen waren davon eher beruhigt, weil fie ihn gemwifjermaßen ausgejchaltet 
fahen; er hatte eine doppelte Staatsbürgerfchaft, mar Brafilianer und Deuticher. Sein 
Beruf al Marineingenieur war aktuell, aber nach ihrer Meinung nicht fähig, ihn in gefahr: 
volle VBermwiclung zu ftürzen. Fehrbach erhielt auf feine tagen, auf fein inftändiges Bitten 
nur die eine Antwort, Mamynha fühle fich ernftlich Trank! Er iprach mit der guten Mamain, 
mit den Schweitern, wo er ihrer habhaft werden Fonnte, fie waren ratlos. Nur die Mamain 
strich ihm einmal verfonnen die Haare aus der Stirn und fagte in einem Ton, welcher Ein- 
gemeihtheit verriet: „Wollen mir abwarten!” Er war fo untröjtlich über die Verheerung, 
welche fich auf Mamynhas Geficht, in ihren glanzlofen Augen zeigte, daß er jelbit franf wurde. 
Das FZurhtbarfte an feiner Stimmung war, daß er nicht arbeiten konnte. Sein Kopf dröhnte, 
die Augen flimmerten, er war appetitlos. Die Kinder ermüdeten ihn unfäglich, der Ertrag 
der Sommerfrifche fehien plöglich aufgezehrt, Ruhe und Wohlbefinden rüdgängig gemadit. 
Da brachte ein Heines Erlebnis Entjpannung. An einem Rachmittag war er zu Thumayer 
gegangen, Er hatte fich ein paar Pulver holen wollen. Der Zaiferliche Rat hatte gejchlafen. 
Die Diakoniffin hatte ihn gleich auf ihr Zimmer geführt. Sie hätte eine vollftändige Hauz- 
apotheke. Natürlich Lönne er Pyramidon und Adalin haben, aber er dürfe fich nicht dran 
gewöhnen, Vielleicht Habe er nur zu wenig Bewegung? hr Zimmer war jehr puritanifch. 
Er ftellte eine merkwürdige Nüchternheit feit. Aber plögfich war fein Blid auf ihrem Geficht 
gelandet, angejaugt an die durchjcheinende Haut, deren verbünntes Milchweiß Die Sommer- 
Iproffen eigenartig herborhob. hre grünen Augen waren wie Tierlichter, fein Blid Schliff 
fich an ihnen wund, hr Körper mwippte auf zufammengepreßten Beinen, wie eine jteile 
Schlange, unfagbar gejchmeidig. Jhre zartroten Lippen ichoben fich langjam voneinander, 
wie wenn ein Pfirfich geöffnet würde. Er brannte. Seine Not war preisgegeben. Sie wußte 
feine Kämpfe. Ein meiches Lächeln fpielte um die gejpaltenen gippen, bis fie von jeinem 
Mund Frampfartig verfchloffen waren. Er hatte feine Gedanten, feine Bemwußtheit, bi3 er 
erlofchen war. Aber die Wolfen in feinem Gehirn waren entladen. Er fah rein und reuelo3 
in das o3zilfierende Licht ihrer Augen. Dann mar fie wie eine Mutter, jorgte, date an alles, 
drang ihm die Bulver auf, lachend, er würde fie vielleicht nicht mehr brauchen, war an der 
Tür, die fie zu fchliegen vergefien hatten, führte ihn irgendwo hinaus tie ein Schatten, ohne 
Gewicht. Er Hatte ihren Schritt nicht gehört, ftand nach phantajtiich fühler Liebfojung im 
Garten, fehritt ducch die Tür, Iangfam erwacht. Er ging den Drt ab, mübde, aber mit fin» 
gendem, verdünntem Blut, al3 wäre alles in ihm erneut. Cr grüßte die Menschen, jah. voll 
in ihr Geficht; ihr Bliel hatte nicht? Forfchendes, Ungewohntes. Er bog in-Wiefen ein, juchte 
den Wald, fand keine Bedenken, die Welt war wie hinter Glas, die Farben mild, die Geräufche 
gedämpft. Exrftam Abend, jehr jpät jchon, er hatte in. einem Gafthof gegelien, beim Betreten 
de3 Haufes kam Unficherheit, Anklage, Verzweiflung. Sein ernüchterter - Verftand zerpflüdte 
den Verrat, nahm Zuflucht zu logijhen Auzfchweifungen. Aber feine Jugend hielt den Gieg 














Eduard Paul Danzziy: Mamynha 301 








in Händen. Er date den Namen „Mamynha” noch nicht. In feinem Zimmer waren frifche 
Blumen. Er ftellte die Pulver auf fein Nachttiichchen, brach fie nicht auf. Ex fchrieb auf ein 


. Blatt Bapier: 


„sch Habe nur das Tier in mir getötet! 

Der Tag trägt mir von dir nicht Not mehr zu, 
und felbit der Abend ift nur lei gerötet; 

zwar bringt die Nacht nicht vollerquidte Ruh, 
denn in dem tiefjten Traume bift noch du,.:. 
ich habe nur das Tier in mir getötet! 


Run gehen unfre Seelen Hand in Hand, 
abmwandernd unfre3 Wejend Emigfeiten; 
an fremden Flammen bin ich auögebrannt, 
o, fürchte nicht, daß wir im Taumel uns entgleiten, 
die Sehnjucht weiß noch taufend G©eligfeiten 
und unjre Geelen gehen Hand in Hand!" 


Danach jchlief er feit, traumlos, bis in den fommenden Tag hinein. Er erwachte gejfund, 
fand in den Berfen die Erinnerung an den Anlaß, gab die Berje beim Frühftüd Mampnda. 
Sie fahte fienicht im Sinn des unbekannten Erlebnifjes auf, litt nur feine Ohnmacht mit, wußte 
von den Pulvern. Sie erjchraf nad) den Cröffnungen des Gedichtes über die Möglichkeit 
feiner Zerrüttung. Bisher hatte fie feine Not ander? gemejjen, al3 Jugend, al3 Romantik, 
an melcher er feine Phantafie bewies, al3 Protejt gegen die landläufige Erotik, welche ich 
den Kampf erjparte, mweil fie Konkurrenz jcheute, welche das Weib vorbereitete, Damit der 
Betrieb nicht in ernftes Bemühen, vielleicht gar in langwierige Werben ausarte. Nun jah 
fie feine Nerven gefährdet, den Organismus beunruhigt. Sie tat ein Außerftes, wandelte 
fich mit einem Schlag, war zur Genefung entichloffen, ihre Willenäfraft war rührend, ihr 
Bli befam Feuer, die Bläue ihrer Augen hatte Himmlifches, die Bläffe ihrer Haut entlieh 
Blut aus dem Herzen. Sie liebfofte ihn mit dem Wagemut der Unjchuld, wie ein entflammtes 
Kind, das von Sinnen nicht3 weiß, nur mit Worten, mit einem Stammeln, faum daß ihre 
Hände fich öfter trafen. Er müßte wieder ganz gejund werden, forderte fie, ihre Unpäß- 
Yichkeit fei verflogen. Khr rüührender Eifer befchwerte jein Gemilfen, jo daß er unfähig zu Worten 
war. Aber er behielt für Minuten ihre Hand, biS fie fagte: „Sch wußte nicht, daß mir jo zu- 
fammengehören, da3 ändert viel!” Er flüchtete fih in Erinnerungen, fehloß irgendwo an. 
„Bielleicht rettet ung noch der Bruder Prinz?“ rief er. Sie lächelte Hoffnungen. Woher er 
von der Liebe Edoardos zu ihr gewußt hätte? Edoardo hätte weder zu ihrer Hochzeit ge- 
ichrieben, nod) bisher eine Gelegenheit wahrgenommen, mit ihrem Mann befannt zu werden. 
ehrbadh fagte: „Entdedungen an der geliebten Frau gelingen, wie Colombo auf Amerika ge- 
stoßen wurde. Man hat den richtigen Kurs, von Sternen geführt, wenn auch Die Borausjeßungen 
irrig find. Ich habe Sie ganz entdedt, Mamynha! Diez ift das Unverftändlichite an unjerem 
Leben:daß man einen Menjchen fo kennen kann, daß man ihn mit allen Rechten diefe3 erleuc)- 
teten Wiffen, diefes Aufgehens in feiner Wejenheit, befigen kann, und daß ihn das Schidjal 
una dennoch verfagt hält.” Eine tiefe Wehmut Hatte ihn ergriffen, da3 Geftändniß feines un- 
gemollten Verrates, welchen feine Sinne gleichjam ohne fein Wiljen vollführt, ftand beinahe 
auf feinen Lippen. Hielt diefer Verrat fie ihm nicht noch hoffnungslofer verjagt? Er war 
ganz mutlos. Mamynha war von einer Frankhaften Nöte überfloffen. Auch fie Hätte e3 ojt 
bedenfen müffen. Aber einmal habe er ihr felbft den richtigen Troft anheimgegeben. Hätte 
man denn das Klare Einfehen, welcher Befig wahrhafter fei von beiden? Sei denn zwijchen 
dem Befiten der Phantafie und dem vollgogenen Befigen mehr als ein dünner Hauc) Gottes? 
Shre Blide waren mutvoller, während fie nur von fi) fprachen, begierig: immer neue Be- 


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302 Derdeutjfhe&rzähler 








ruhigungen ausfindig zu machen oder Vorwände zu haben, fich auszumeichen, fich wieder 
zu finden. Gie fagte: „Sch jehe Widerjprliche in Jhrem Wefen, warum beängftigen fie mich 
nicht?" Er entgegnete: „Wir wären Engel, nicht Schwache Menjchen, wenn wir unfer Gefühl 
immer auf gleicher Höhe zu halten vermöchten. Das Wichtigfte, Mamynda, ift Die Fähigkeit 
zu immer neuem Aufihmung, zu friiher Befeuerung, wenn fie gleich über die Sehnjucht 
nicht hinausfannn: Die frühere Höhe zu erreichen und feftzuhalten.” 

Ähnliche Gedanken taufchten fie nun Tag für Tag, ftrömten wieder Ruhe und Ergebung 
aufeinander aus, wenngleich der dunkle Mantel eines befonderen Leides nie ganz von Ma- 
mynhas Schultern glitt. 


m Sonnabend brachte der Generaldirektor im Auto den Hofrat Krenelli mit. &3 war 

ber 25. Juli! Der Haushere war niedergejchlagen, hatte gebrochene Flügel, wie ein 
verlegter Hahn, der Hofrat war feierlich, wie ein Medizinmann, der vor einer wichtigen Be- 
Ihmwörung jteht. Kaum war das Auto in den Hof gefahren worden, famen fchon Neugierige 
von allen Geiten. Bor allem die Herrn, welche gerade ihren Urlaub im Orte verbrachten. 
Die Zeitungen trafen mit unglaublichen Verjpätungen ein; man hoffte die Hauptftadt befjer 
unterrichtet. Der Generaldireftor hatte feine bejtimmten Nachrichten, aber die Art feiner 
Antworten ließ Hoffnungslofigkeit Durchleuchten. Seit Übergabe de3 Ultimatums an Serbien 
hatten die Einficht2vollen allen Optimismus begraben. Die Militär? hatten fozufagen ge- 
padt, ihre Nervofität war feit dem 23. akut geblieben. Jrgendiie trälferten alle einen fen- 
timentalen Werd aus einem Soldatenlied vor fich hin. „Morgentot” oder „Im Felde, da 
it der Mann noch was wert“. 

Sehrbady gab nicht der drohende Krieg zu fchaffen, ihn erregte das gewichtige Auftreten 
des Hofrates. War Mamynda wirklich Franf? Er litt Doppelt, daß er zur Geite ftehen, daf 
jeine Teilnahme zmweitgradig bleiben mußte, wenn fie nicht bloßftellen wollte. Der kalte Blid 
de3 Hofrats trieb ihm das Blut ins Geficht. Zn diefen greifenhaften Pupillen drohte ein 
perfider Hohn; wie wenn Blide fichern Fönnten: „Wo ftehen Sie nun, junger Mann? hr 
„vol wird in ein paar Minuten meinem ‚tastus‘ überantwortet fein.“ Der Gedanke, daß 
Krenelli Mamynha ausfultieren würde, machte Fehrbach krank. Das Leben war zu irrjinnig. 
‚ndes er vor Sehnfucht nach der angebeteten Frau verging, ohne ihren herrlichen Körper je 
berührt zu haben, würde diefer Schleicher, welcher nicht mehr die Not der Gefchlechter jpürte, 
welcher den heiligen Trieb nur als Erotif fannte, an ihrem Herzen, an ihren Lenden herum- 
fingern. Zum Glüd wurde von Thumayers Billa angerufen, der Hofrat würde drüben 
erwartet. Er verichwand mit dem Hausheren im oberen Stodwerf, wo Mamynhas Zimmer 
lagen. Erjt beim Souper konnte Fehrbach fragen. Der Generaldirektor erklärte jehr feier- 
ih, gleihjam im Manifeftftil: „ES ijt fein Grund zu Beforgniffen, ich habe der Unterfuchung 
beigewwohnt! Meine Frau ift nicht Frank; e3 ift eine unnatürliche Berjtimmung liber einen 
natürlichen Zuftand.” Er lächelte über das Wortjpiel. Fehrbach empfing das Orakelhafte 
faum, er jah nur Mampynha die Farbe wechjeln. Aber fie nahm fich unjagbar zujammen, 
Ihien irgendwie Beit gewinnen zu wollen. Sie fragte ihren Mann um hundert Dinge. Die 
akute Sriegsgefahr hatte fie fcheinbar vollftändigergriffen. Auch die Mamain und die Schweitern 
waren erregt. Man drang in den Generaldirektor, ob eine Befchränfung des Unheils auf den 
Balkan möglich wäre. Er vermochte gemifje Befürchtungen troß aller Anftrenung nicht zu 
verbergen, dab man im gegenwärtigen Augenblid mit allem zu rechnen hätte. Er bejprach 
jogar eine bejchleunigte Rückfehr nach Wien. Fehrbach widerriet diefem Vorhaben. Man hätte 
zu wenig Berbürgtheiten, um die Frauen und Kinder fchon jeßt der erregten, die Erregung 
swangläufig fteigernden Großitadt zu überantivorten. Wenigitens Fönne man noch eine 
Loche abwarten, bis die Creignifje fich irgendwie geflärt hätten. Der Generaldirektor gab 
ihm recht. Sie würden vielleicht am Montag oder Dienstag allein nad) Wien fahren, Fehr- 
bad) jei doch NReferveoffizier? Ya, er habe e3 gleich gedacht, er fünne alfo im Auto mitfahren. 
Die Familie jollte noch) eine Woche hierbleiben. Wie er ich zu dem Strieg ftelle? Fehrbach 





Eduard Paul Danzzky: Mamynha 303 
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jann den verjtedten Quellen diefes Intereffes nach. Er antivortete: „Dem einzelnen bleibt 
. nichts übrig, al3 mitzutun, nicht nur weil fein Einfpruch unfruchtbar wäre, jondern vom Stand- 
 punft der Männlichkeit. Der Mann hätte nicht nur das Recht und die Tähigfeit zu unbe» 

Ihränktem Altohol- und Tabafgenuf, nicht nur die Freiheit von feinen Beugungsorganen 

den ihm mwohlgefälligen Gebrauch zu machen, fondern auch die Verpflichtung zu irgendeiner 

Sähugleiftung für die Familie, für die Gejellichaft und den diefe Untergruppen zufammens 
- fajjenden Staat.“ 
Der Generaldirektor nidte. Er fagte: „Sie drüden fich etivas draftifch aus, Herr von Fehre 
bach, aber man verfteht Sie troßdem. Obmwohl Sie fich dem bürgerlichen Standpunft fcheinbar 
nur anpafjen. Aber Sie würden doch zweifellos einrüden, nicht?" Fehrbac) gab alle Be- 
tuhigungen, die ihm notwendig fchienen. 
Die Frauen waren ganz fafjungslos. Man trennte fich ziemlich Heinlaut an diefem Abend, 
den niemand auszudehnen tagte, obgleich feiner ruhigen Nacht entgegen zu jehen war. 
Der Sonntag brachte Feine Entjpannung. E3 wurde nur für die Kinder, die Achtzigjährige 
und die Dienjtboten zu Haufe gekocht. Die übrigen nahmen die Mahlzeiten im Gafthof. 
Man mar zu begierig nach neuen Nachrichten. Obmohl niemand eigentlich die Möglichkeit 
hatte, mit Beruhigungen aufzumarten, fchlog man fich doch an die andern an, um ihre meit- 
läufigen Meinungen und Mutmaßungen fennen zu lernen. Befonders die alten Herrn er- 
‚hielten ein neues Anjehen. Jhre Erfahrung wurde fortwährend zu Rate gezogen, wie e3 
da, dort und damals gemwejen. Man hatte feine Vorftellung vom Krieg, wollte indes nicht 
die eigene Ratlofigkeit preisgeben, Angjt zeigen, Mißtrauen in die Kräfte und Fähigkeiten 
de3 Landes fegen oder gar Bedenflichfeiten verraten. Einzig die Frauen warfen ein oder 
das andere bedrohliche Wort auf, ob denn die Genugtuung, welche Serbien gebe oder vor- 
enthalte, eine jo große Sache fei, daß fie plöglich wie ein Duader daftände und die ganze Welt 
jid) die Köpfe daran einfchlagen müßte? Sie fagten e3 nicht mit folcher Eindringlichkeit, 
aber ihre jchüchternen Einwürfe zielten immer wieder in die Richtung diefes Gedankens. Von 
den Männern wurden fie abgefertigt, daß allerdings die Monarchie einmal Ruhe haben müßte, 
jei e3 jo oder jo. E38 müfje einleuchten, daß diefer latente Kriegszuftand nicht Jahre lang an 
halten fönne. Die allgemeine Unficherheit fei jchon unheimlich, das Gefchäft vollftändig 
am Berjiegen. Davon mußten die Kaufleute ein draftifches Lied zu fingen. Überhaupt 

ließen Die Militär bei allen Anläffen den erregten Bürger das Wort führen. Sie wollten 
nicht Ducchicheinen lafjen, daß bald nur mehr ihr Kommandieren vorherrfchen würde; auch 
war ihnen in ihrer romantifchen Bereitfchaft behaglicher, wenn die Notwendigkeit de3 Kriegs 
bon anderer Seite betont und angedeutet wurde, wenn der Soldat gleichjam nur die be> 

‚ drohten Antereffen des Bürgers zu jhügen Hatte. Man verjtand fich einzig dazu, über die 

Wehrkraft der Monarchie beruhigende Übertreibungen in Umlauf zu fegen. Der Krieg 

würde nicht zulange dauern, unfere Artillerie fei ohne Frage die beite. 


m nächiten Abend hatte das plögliche Auftreten Thumayers, welcher mit Schwefter 

Henriette erjchien, einiges Auffehen gemacht. 3 war, al3 hätte die Ereignisjchwäle, 
welche die andern gelähmt, dem abgelebten Alten neue Kräfte verliehen. Ererjchienin dunklem 
Rod, mit breiter, den Kragen erfegender Lordfrawatte aus weißem Pifee, im Krnopfloch 
„asminblüten, nahm neben Mamynha Plab, unheimlich lebendig, ließ Wein fommen. 
„Nehmen Sie etwas, Henriette?" rief er über den Tifch, tätfchelte, ohne auf Antwort zu 
warten, Die Hand der Mamain, welche zu feiner Linfen jaß, wollte die Tochter dafür ent- 
\hädigen. Er belebte den ganzen Tifch, den Heinen Saal, rief fprunghaft fordial Bekannte 
an, hatte für jeden ein Heine Bonmot, auch für den fchweigjamen Affifi. Kamm fragte 
er, Gleichwertigfeit betonend: „Wie fafjen Sie die Lage auf, Generaldireftor?” verbreitete 
ji) aber fofort über das bisher Bekannte. Endlich, alles fchien nur Vorbereitung gemejen 
zu jein, brachte er mit beziehung3vollem Aufwand an Gebärden in Erinnerung, daß er Böhmen 
mitgemacht hätte, Dft gehörte Anefvoten von anno jehsundfechzig erhielten plößlich die 























304 Derdeutihekrzähler 
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frifche Farbe des Erlebenz. Er legte jehr draftiich dar: wie fie von den Preußen in Teich und 
Moraft gedrängt worden wären, da3 ganze Bataillon! Wie Mäufe feien fie hineingefchmiffen 
gemwefen; eine troftlofe, verzmweifelte Lage! Aber am andern Ufer, fomweit bei Dem moor- 
artigen Grund von Ufern zu [prechen wäre, hätte ihnen der Feind wieder felbft herausgeholfen. 
Er fähe noch immer den [chnaugbärtigen Kerl vor fich, der ihm den Gemwehrfolben entgegen- 
gehalten, an dem er fich herauszuarbeiten vermocht hätte. „Faß an, Bruder Ofterreicher”, 
hätte er ihm zugejchrien. Ja, grundanftändige Leute. Freilich Hätte er gleich danach, von 
einem Schrapnell in die Hüfte verwundet, Doc) zwei Tage im Moor gelegen. Das Moor 
fei jeine Rettung gemwejen. &3 hätte mit dem mattierten Rod wie eine Komprefje gewirkt. 
Dann wäre er irgendivo auf einer Bahre vor einer Schloßteraffe zu Bewußtfein gefommen, 
jpäter im Berliner Lazarett vollitändig genefen. Man hätte ihn erftklafjig gepflegt, Wein 
und Tabak hätte nie jo Föftlich gemundet, wie damals dem Zmanzigjährigen. 

Schücdtern wurde Widerfprud und Verdacht laut, da3 Behagen fei ftarf übertrieben, der 
preußiiche Krieg aus der Bogelperfektive gefehn; aber er gab nicht zu, daß die zeitliche Serne 
das Erlebnis verklärt hätte, meinte nur fpöttifch, die Leute von damals wären andre Kerle 
gewejen. Nad) und nad) fand fein drolliger Eifer ein allgemeines Belächeln, man vergaß den 
Krieg, 3098 Thumader auf, ob er denn wirklich heiraten wollte? Er gab angeregt den Jasmin- 
zweig aus feinem Knopflocdh unter einigem Beifall der Frau Generaldirektor. 3 fei nicht 
ausgejchlojjen, lachte der Achtundfechzigjährige. Irgendwie müßte auch er fich in den Krieg 
begeben, nur wären die Weiber nicht fo gemütlich) wie damals die Preußen. 

Al die Unterhaltung wieder laut von Tifch zu Tifch fprang, wandte er fich plößlid) Ma- 
mynha zu. Auf feinem feltfam vergilbtem Geficht lag eine froftige Wehmut. „Ein verdammter 
Zotentanz, diejes Leben. Sehe Sie immer noch al3 Heines Mädel, Frau Lotte, damals in 
Rio, Ihr Herr Papa ift um zehn Jahre jünger als ich gemwefen, na, die Jugend macht e3 
Iheinbar nicht au. Wie gehts denn? Gie find in andern Umftänden, wie mir Krenelli gejagt 
hat, wie? Nicht erröten, Heine Frau, ich weiß, es ift Ihnen nicht jehr behaglich. Hoffentlich 
geht e3 ein wenig Humaner zu al3 das legte Mal bei der Kleinen? Vielleicht wird e3 diesmal 
ein Bub? Na, der jegt fich fozufagen von allem Anfang an leichter durch, ftößt fich gemiffer- 
maßen an nichts, nur feine Angft vor der Sache.“ 

Mamynha war ganz fahl, mußte von dem Rotwein der Mamain trinken. Die Vorftellung 
brachte alles Körperliche, landete fofort in Unbehagen. Wie graue, twolfige, fetttwolfige 
Dämpfe löfte e3 fich von der Magengrube, ftemmte fich gegen das Bett de3 Herzens, nebelte 
duch Hals und Haupt. 

Der Alte gab fie nicht frei. „Wie macht fich der junge Mann? Hm, ein eigenartiger Menjch! 
Wollte Shnen eine Heine Sache erzählen, wie verdammt unvorfichtig die Sugend ift. Auch 
diejer Heine Affifi; natürlich: Heutige Format! Sie wiffen, ich hab ihn mir Alfıli getauft? 
Die Menjchen fliegen ihm nur fo zu: bedienen Sie fich, Herr von Affifi! Bedienen Sie ich! 
Sogar Schober hatte feinen Narren an ihm gefreffen. Hätte ihn adoptiert, wenn er mit- 
gegangen wäre, hätte ihn zmeifellos adoptiert! Dhne Frage ein Glüdspilz. Dennoch wäre 
beinah ein Unglüd gefchehen.“ 

Sie wagte nicht, fich ihm zuzumenden; ganz leife fragte fie nur: „Meinen Sie Herrn von 
Sehrbah?” Er nidte. Einige Male, wie wenn der gelbe Kopf in einer Scharniere ftedte. 
„Stellen Sie fich vor, er war auf dem Zimmer der Schmefter.” „sch weiß“, jagte Mamynha 
leije, aber mit brennender Röte im Geficht. „Sch weiß, er hatte Schlafpulver nötig.” „Aller- 
dings," fuhr er fort, „er hatte Schlafpulver nötig, aber welche Unverfichtigfeit, da3 Zimmer: 
einer fremden Perjon, in fremdem Haus, fo mir nicht3, Dir nichts zu betreten! Die Schweiter 
hatte meinen vierfarätigen Solitär zum Reinigen. Am nächlten Tag, e3 hat mir bereit etwas 
au lange gedauert, ift der Ring nicht zu finden. Sch werde fehr ärgerlich, berdächtige jie, die arme 
Haut ift erftart, verftoct, geradezu verfteint. Obwohl fie mich jonft regelrecht abfnöpft, weiß 
id), daß fie zum Diebitahl nicht fähig ift. Na, erichreden Sie nicht, verehrte Frau, der Ring, 









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Eduard Paul Danzzky: Mamynha 305 
| 
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% 


it ja gefunden. Er war aus irgendeinem Anlak in die Spannfalte ihres Dimans geflemmt. 
| ‚Aber glauben Sie, Henny hätte befannt, daß der Heine Affıfi in ihrem Zimmer gemwefen? 
| Sch hab e8 von andrer Geite erfahren. Und nun reimen Sie fich die Heine Sache entfprechend 
zulammen.” 
\ ‚Mamynha war erjtaunt, daß fie zu atmen vermochte, daß ihr Herz diefen emfigen, fchüt- 
ternden Schlag hatte. Tehrbachs Berfe fielen ihr ein, unfagbare Trauer überfam fie. Sie 
‚fragte: „Weiß Herr von Fehrbadh davon? Zch meine von der Ringgefchichte.” Thumayer 
. berneinte. „Dann bitte ic) Sie recht fchön, ihm davon nichts zu jagen. Vielleicht zeritören 
| Eie ihm etwas Schönes, ein wertvolles Erlebnis? Regen aud) in ihm einen VBerdadht auf?“ 
Bas nicht gar?" lachte der Alte. „Aber die gute Lehre, Frau Lotte, die fo eine Sache gibt!" 
„Ex geht in den Krieg!" fagte fie leife, „und, vielleicht werden Sie lachen, er gehört zu 
' den Menjchen, bei denen der Ring zum Glüd gleich gefunden wird, verftehn Sie? E3 bedarf 
‚ darum feiner Warnung.“ 
Er lächelte ungemein alt, verbraucht, überwunden. „Sie haben recht, Kleine, tapfere Frau. 
. Dafür haben andere doch immer den Berluft, auch wenn ihre Ringe fich wiederfinden. Na, 
‚68 find Heine Eitelfeiten, daß man in meinem Alter Verlufte jo aufbaufcht..., aber über die 
Heine Sadje wird jelbjtverjtändlich gejchwiegen.“ „Auch zu meinem Mann,” fagte fie wieder 
 errötend. Syn feinen Augen war ein Lächeln, wie ein Miasma. 
\ Am Heimmeg fahen Mamynha und Fehrbach, während fie mit der Mamain vorausgingen, 
| den Abendjtern über den Chaufjeebbäumen. Sie empfingen ganz leuchtende Strahlen von 
| ihm, bi8 an da3 Auge beinahe jichtbare Strahlen. Mampyndha ftellte feit, daß niemand fonft 
| dieje3 ungewöhnliche Leuchten gewahr wurde. Sie fragte: „Woran denfen Sie, Ferry?“ 
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„An den Srieg", jagte er, über das lapidare Wort verwundert und wie berührt von dem reinen 
' zärtlihen Klang ihrer Stimme. Die Mamain hielt feine Hand umfchloffen. Er wußte, daß 
| fie Edvardo meinte. Mamynha war ihm ganz nah. Luft, Kleider fchieden fie nicht mehr. 
 Gie bat: „Schreiben Sie mir Jhr lete3 Gedicht in meinen Ulenspiegel, auf da3 Vorblatt; 
ich veritehe e3 nun ganz.” 
| m folgenden Tag faßen fie allein im Garten vor der Urne. Sehrbach Hatte gepadt, der 
| Generaldirektor war bei dem Feldmarfchalleutnant zu Bejuch, mit dem er die nächiten 
Tolgen der Krieggerflärung beipradd. Auch vom Semmering war angerufen worden. Die 
 Beitungen hatten da Manifeit de3 alten Saijerö bereit3 in Sperrlettern gebracht. 
 Mampynha war fehr bleich, aber ruhig, beinahe unbewegt, wie eine Relieffigur an der 
Rehne des Gteintondos. Fehrbacd) fämpfte mit Erfchütterungen, welche der ruhelofe Anblic 
ı ded Haujes, des freundlichen Gartens ftändig vermehrte. Seine Phantafie machte die Dinge 
 einprägjam für immer, unverlierbar. Er wußte, daß er Mampyndha in Wien nod) fehen würde, 
erlebte indes den endgültigen Abjchied jchon jet Durch die an alles bisher Bejeliene hin- 
gegebenen Augen, in welchen, wie ein Mojaif, die Sommerfjtunden waren. Er vergaß, mas 
alles er der geliebten Frau mit Sprengung der Konvention hatte jagen wollen, ftellte nur die 
 irrfinnige Troftlofigfeit feit, daß die Achtzigjährige, wie unberührt von dem gewalttätigen 
ı eben, den gefrümmten Rüden breit der Sonne darbot. hm war Wort und Gedanke verjiegt. 
'  Mamynha war ftärker. Sie begann: „Nun darf ich Shnen alles jagen, auch hier vor Papa. 
ı Gott Hat diefe Heimfuchung gewollt, wir müfjen fie beide tragen. Jch weiß, daß Sie fich 
ı nicht ausfchalten Fönnen, wie jehr ich Sie auch zurüchalten möchte. Sn diefem Eingeftändnijfe 
| haben Sie meine ganze leivende Seele, mein vor dem mweglofen LXeben jchauderndes Herz." 
Shre Hände hatten ihr Herz einige Sekunden umfpannt, dann waren jie wie eine mit dem 
ı Blut diefes Herzens gefüllte Schale zu ihm bewegt. ©ie jagte: „Aber vielleicht ift es gut jo?“ 
Sn ihren Augen war plöglich ein jchärferes, alles durchdringendes, zufunftprägendes Sehen, 
| Prophetie. „Sa, e3 ift gut fo“, beftätigte diefe vifionäre Kraft in ihr. „Ich weiß, daß Gie 
' nach langer Zeit zurüdfehren werden, ganz heil und gefund und dann, dann, wenn der Himmel 
' gleichfam felbft feinen Willen fundgetan, dadurch Fundgetan, daß wir leben, daß mir beide 














gerne nee ee reg Bi da n Sn 
De Fr RE RE RE Br i En 


EEE TEILE WET TALEZENLEEREREN 





















306 Derdeutjhe&rzähler 








erhalten bleiben —." Sie vermochte nicht zu Ende zu fprechen, irgendivo durchgellte Elifas 
Freude den Garten. Er verjtand fie. „Sa, Dieje geiftige Treue, von einficht3vollem Schieffal 
geprüft, wird alles entjühnen, uns beide erhalten.” 

Ein ganz heiliges Lächeln jegnete ihr Antlig. Dann mit der Efftafe des Schmerzes, deijen 
legter Stern der Glaube ijt, rief fie: „Auch ich ftelle mich dem Schidfal!" Sie war ganz fahl, 
ganz erlojchen. Während er ihre Hände ergriff, jagte fie mit der Kälte der abgetanen Ber- 
zweiflung: „Sch fühle mid) Mutter! Mein Mann hat die Kette enger gezogen, welche mich 
an ihn bindet. Jh werde, hören Sie das Blasphemifche diefer Verwahrung nicht, ein 
ungeliebte3, ungemwolltes Kind gebären müfjen oder — —." Fehrbach jprang auf. Die 
phantaftiiche Angit, e3 könne irgendwer noch Zeuge diefer moralifchen Auflöfung eines ge- 
marterten Frauenherzens werden, trieb aus feinem Gehirn alles Blut. Er mußte fih an 
dem falten Stein der Rundbanf anflammern. Stammelte: „‚Mamynha, Mamynha, wir 
bleiben ja beide leben, ich fühle e8; nun muß ich wohl deinetwegen am Leben bleiben. Weißt 
du nicht — gejtern der Stern — unjer Stern — e8 ijt fein Spiel — wir find im Weltganzen 
eine bewachte, mwahrgenommene Einheit.” 

Sie nidte nur immer wieder. Mit unheimlicher, veräußerlichter Faffung fich erheben, 
jagte jie noch: „Wir müjjen Gott auf diefelbe Probe ftellen, wie er ung; unfere Riebe hätte 
ohne dieje Prüfung feinen Segen. Nun it alles Klar, nun wollen wir zurüd zu den andern.” 
Aber ihre Füße vermochten den erften Schritt nicht zu tun. Das Lied der Vögel, eindringlich 
Irill, wie noch nie, die Schönheit der Blumen ungegenftändlich, wie Duft beinahe —, das 
unter.ber Lajt des Lichtes lüftern feufzende Leben war in ihr unerlöft. Khre Hände bewegten 
jich leije zu ihm. Obwohl ihr Blut bloßgelegt war in allen Adern vom Scheitel bis zum zarten 
Geäjt der Zehen, warihr erjter Kuß wie ein Hauch. Er fpürte ihre Lippen wie Rofenblätter... 


>) Bj die behaglich vibrierende Metropole der Freude, welche Menfchen, Kulturen, Rich- 
tungen und Rafjen geheimnisvoll amalgamierte, die einzige Stadt der Welt, welche 
ihr fosmopolitiiches Glaubensbefenntnis wie eine Beftimmung trug, zeigte der drohenden |) 
Kataftrophe noch immer ihr lachendes Antlig. Mufit lähmte die Zudungen erfter Angft, | 
Wein, von den fonnigen Hügeln des Umlandes heiter kredenzt, jchüttelte die flüchtigen Fieber 
der Zeit aus dem Blut. Nur die fchillernde Oberfläche fpiegelte den Alarm. Die Stadt felbft |) 
war umberänbert, hoffte unentmwegt, eitel, ihrer Reize, ihrer Verführungsfünfte bewußt. '' 
Wie eine verftändige Kurtifane hatte fie ihren erhigten Buhlen, fo oft fie einander die Gurgel 
bedrohten, noch immer gejchict die gezücdten Dolche entwunden, in benebelnde Weine Waller 
gemengt, ihre politiihen Buhälter Hug gewechjelt. Durch Glüd Hatte fie fich gefeit gefühlt; 
da3 beitändige Lächeln hatte die Runzeln des Alter? geglättet, verflärt. Auch jet glaubte 
lie nod) an das Wunder im legten Augenblid. Jhre mitgefühlte Erregtheit, der patriotifche 
Moufjeur war Überlieferung, die heroische Maske nur vorgenommen, um Beit zu gewinnen, 
das Wejensfremde rajch zu verbauen, im Notfall von fich zu geben. Xhr Bodenftändiges war 
nur bon leichter Trauer durchträumt. Die ftillen Höfe und Häufer, die mit dem Prunf eigen- 
williger Schönheit beladenen Pläge, erfchauerten vor der Gefahr, wie vor dem Getvitter, 
e3 glimpflich zu überftehn, fhienen Kräfte genug vorhanden. Die mannigfachen Erfehütte- ' 
tung3feime waren von der Wienerluft zu Smpfftoffen gewandelt, Stadt und Bürger irgendwie 
unperlegbar geworden. In ihrem Mittelpunkt fammelte fich als Niederichlag des Völfer- 
gemenge3 in Kultur und Kunft, im markt» und hoffähigen Lebensidiom, twas an der fcheinbar 
Haotiihen Buntheit repräfentabel war. Diefer Borgang verjöhnte, übertufchte immer wieder 
die Fehler der Machthaber, der politifchen Bwilhhenhändler. Die frohlebigen Bürger waren 
unbewußt Weltbürger, hofierten dem Fremden, fanden in rafcher Beziehung zu allen jich 
jelbjt bejaht, ihr mofaifhaft gewordeneg Wejen erweitert, bereichert. 


(Fortjegung folgt.) 








Hans Arthur Thies 































Hang Arthur Thies 


B): Arthur Thies, geboren 1893 in Hannover, feit 1923 in München, gehört mit dem 
Anfängen feiner dichterifchen Begabung in den Krieg. Seine erfte größere Arbeit, eine 
Erzählung die „Snadentwahl” (K. Wolff, 1917), tritt im vierten Kriegsjahr mit einer tieferen 
‚Vemußtheit und Sachlichfeit, als fie die erjte Begeifterung zu geben vermochte, für die Auf- 
‚opferung de3 geiftigen Menfchen an da3 gemeinfame Schicfal des Volkes ein. Der tragijche 
Konflikt zwifchen foldatifcher und teligiöjer Kämpferfchaft wird in höchfter Bejahung von 
'Rampf und Tod gelöft. Die 1921 im „Genius” erfchienene Novelle „Deizer Tod und Ozean”, 3 
‚die auf die Kataftrophen der Titanic und Empreß of Jreland zurüdgeht, bemüht fich erneut | vi | 
| um das Ringen metaphyjiicher Seelenmächte mit Beftimmtheiten der Bivilifation. Sie bringt ns 
‚nen wejentlichen Fortjchritt zugunften dramatifchen Aufbaus und Bildgehalt3 und Teitet Beh 
nmittelbar zu dem vielbeachteten Drama „Guisfard“ (1923) iiber, dem allerdings die Maffen- “u 
‚genen biöher den Weg zur Bühne verfperrt Haben. 1925 wird ein neuer Kreis von Novellen 4 I 
‚segonnen, dem bie hier zuerft gedrudte Gefchichte „Die Mütter” angehört. U. 9. a: | 


| 
| 












Reuerfheinungen ü | 1 


| 
| s)i Bremer Prejje, Deutjchlands vornehmfte Privatpreffe, macht in dem ihr ange= 
| gliederten Verlag der B.P. erlejene Werke um einen Preis zugänglich, der angelicht3 der 
„orbildlichen Ausftattung niedrig genannt werden muß. Goethes Fauft Iund II, in Bapp- 
Hand 11, Ganzleinen 14 M. — Hartmann von Aue, Der Arme Heinrich, Iprachlich beforgt 
md mit einem über 30 Seiten ftarfen Nachwort verfehen von Rudolf Borchardt, in Pappband 
IM. — Heintih von Morungen, mittelhochdeuticher Tert und mwörtliche Übertragung 
‚n Broja, Herausgegeben von Carl von Kraus, Pappband 6 M. — Hugo von Hof mannsthal, Be 
Serjuc) über Victor Hugo: Die berühmte, bisher nur umvoliftändig veröffentlichte wifjen- | 19 
haftliche Sugendarbeit. &3 gehört nicht zu den Ruhmestiteln der Wiener Fakultät, daß ihr ! 
a3 völlig Neue der Schrift nicht aufging, Die den ganzen Gundolf vorwegnimmt. Ein Ejiay 
m großen Stil, wie Goethes Windelmann. Meifterhafte Porträt3 von Chateaubriand, Saint- 
‚Simon, Lamartine, Lamennais, Chönier. Profunde allgemeine Säte (6M.). — Deutjche 
dentreden. Bejorgt von Rudolf Borchardt (Pappband 16, Banzleinen 20 M.): eine der 
ebeutjamjten Beröffentlihungen, fowohl nach Gegenftänden wie Berfaflern.- Herder iit 
oppelt vertreten (über Winkelmann und Leffirig), ebenfo Jakob Grimm (über feinen Bruder 
Bilhelm und über Schiller), und Harnad (über Melanchthon und Neander), Boedh viermal 
‚über Die beiden Humboldt, Steffens und Schelling). Als Gegenftand ift Alerander von Hum- 3 ) 
| oldt zweimal behandelt (von Boedh und Ritter). Bejonders zu erwähnen ift noch Goethes ; 4 
‚tede auf Wieland, die von Treitichte auf die Königin Luife, Mommfens auf Moltke. Be- N in 
‚eutend, wie jede Zeile von ihm, ift Borchardt3 Nachwort, das die eine Seite des deutichen Be 
‚harakter3 jcharf ins Licht ftellt, jo daß auch feine Schatten ftarf hervortreten; und feine 15 Cha- ; 
 afteriftifen, meifterhaft durch Gedrungenheit und Lapidarität. | 4 
ı Rihard Hamann, Die deutiche Malerei vom Rokoko bis zum Expreffionismus (362 Abb. | Mi 
ın Zext, 10 mehrfarbige Tafeln. Verlag Teubner, geb. 40 M.). Jch weiß nicht, ob fich über 
‚en Ausgangspunkt ftreiten läßt, von dem aus man die Welt der Malerei betritt; denn hier 
| andelt e3 jich nicht mehr um eine Trage de3 Gejchmads, fondern um das grundfätliche Ver- 
‚alten zur Kunft: ob man fie erleben, oder ob man nur etivas über fie mwiljen will. Jim zweiten 
|tall ift e8 gleihgültig, wo man anfängt, heraus fommt doch nicht? al Namen von Malern. 

nd Bildern und Funftgefchichtliches Nachgepappel. Bis man fo weit ift, daß man erfennt: Ei. 
3 hat nie eine andere Malerei gegeben, al3 eine moderne, jede große Malerei war für ihre Zeit , 
\todern, neu, unerhört — das dauert eine Weile. Der natürliche Weg, um in die Malerei i 


| 





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308 Neuerjcheinungen 





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hineinzufommen, führt nicht durch die alten Pinafothefen, jondern durch die neuen und Durch 
die Ausftellungen. Nicht, daß man fich nur in den verfhiedenen Gezeffionen und jurgfreien 
Bilderbuden die Farben und Deffins vorlegen ließe, die man heuer trägt, aber von einem 
Gang durch die Staatägalerie in München hat einer entjchieden mehr, ald wenn er mit dem 
Bäpdefer fämtliche Akademien Staliens abHlopft. Darum fommt ein Buch wie das von Hamann 
gelegen. &8 fängt an mit einer Kunft, zu der wir noch unmittelbar ein Verhältnis haben, mit 
der deutichen Malerei vor und um 1800. C3 folgt die der Biedermeier- und Gründerzeit 
(1830— 1880). Befonders gewürdigt find Bödlin, Feuerbach, Marees, Thoma, Leibl, Lieber- 
mann, Uhde, Klinger. Das Buch ift anregend gejchrieben, gar nicht doftrinär, nicht veritiegen, 
man berfteht, mas der Verfafjer meint, aufs erftemal und ohne fich auf den Kopf zu jtellen. Die 
Tertabbildungen find nicht groß, aber fcharf. Aufgefallen ift mir: wenn man jchon einem 
Künftler, der al® Maler fo langweilig war, wie Klinger, joviel Raum gibt, warum fehlt dann 
ein wirklicher Maler von den Qualitäten Hagemeifterd ganz? (ch Habe nebenbei die Kunit- 
händler im Verdacht, daß fie gar nicht erwarten können, bis der alte Mann ftirbt; dann gehts 
natürlich 108 mit Baulen und Trompeten, und die Preife Hettern in die Höhe wie das Thermo- 
meter im Kaftenbad.) Da Haider fehlt, ift mir auch aufgefallen. Bon dem neueiten Tip, 
da& nämlich Corinths Bilder erft nad) dem Schlaganfall die ganz große Kunft find, jteht noch 
nicht3 im Buch. Auch) fehlt das Porträt des Paul Eaffirer, mit dem, wenn ander3 wir den 
Berliner Kunftjobbern glauben follen, die größte Epoche deutfcher Malerei jtand und fiel. Ernit- 
lich: Das Werk von Hamanı ift ein guter Führer. Nur bei den Erpreffioniften fann ic) nice 
mehr mit. Schizophren und fonft nicht3 genügt nicht. 

Aus dem ftrebfamen Verlag PBölfenbacher Gebrüder Giehrl, München, vier bayerifche 
Heimatbücher: „Unfer Singbüdl”. Schöne alte Lieder mit Einführungen bon Fr. &. 
Rambold. Der Gedanke, die Lieder nicht einfach abzudruden, fondern jedem eine Kleine 
Plauderei dreinzugeben, war auögezeichnet, und ihn auszuführen niemand geeigneter alg 
Rambold, deffen Erneuerung eines alten Weihnachtfpiels heuer die Schüler und Schülerinnen 
unfere3®ymnafiums mit Begeifterung aufgeführt haben. —50 Schuhplattler und Bolf3- 
tänze. Noten für eine Stimme (M. 2,50): die erjte authentifche Sammlung diejer alten 
Weifen. Dazu gehört das Lehrbuch „Heimattänge” zum Erlernen der im bayerifchen Ober- 
land beliebten Tänze Dreifteyrer, Achtertanz, Sechfertang, Bandltanz, herausgegeben bon Franz 
Giehrl: Das volfsfundlich Wichtige Diefes Heftes ift, daß die einzelnen Figuren in blattgroßen 
Photographien feftgehalten find, 29 zum erften, 22 zum zweiten, 13 zum dritten, 8 zum vierten. 
C3 ift ja nicht anzunehmen, daß die Schuhplattler im füdlichen Bayern jobald auzfterben;' 
aber der dofumentarifche Wert des Heftes bleibt deswegen doch beftehen (M. 6). — „Scheicht: 
jame Gihichten um Rachel und Lufen” (M. 1,50). Der Bayrifche Wald ift volfsfundlich 
zum erftenmal erfchloffen worden durch das noch von Jakob Grimm begeijtert bejprochene: 
Werk von Schönmwerth, das fat unauftreibbar geworden ift. Diefe „Icheichtiamen‘ (= grur 
jeligen) Gejchichten nun find bemerkenswert wegen der unfrifierten Mundart, in der jie 
wiedergegeben find; ich halte diefe vom Lehrer Biberger wortwörtlich nach den Erzählungen! 
der Einheimischen aufgefchriebenen Grufelgefhhichten für einen der fachlich und | 
wichtigjten Beiträge zur Volkskunde des „Walds“. 


Rofenheim. Sojef Hofmiller. 





Redaktionellabgeschlossen am 18. Juni 1926 
Verantwortlicher Herausgeber: i.V. Dr. Arthur Hübscher in München. — Druck- und Buchbinderarbeiten 
R. Oldenbourg, München. — Papier: Bohnenberger & Cie., Niefern bei Pforzheim, 











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Geleitwort 
Von Präsident Dr. Paul Kaufmann in Berlin 


as im Gedankenreich eines Volkes gärt und treibt, muß sich auch äußerlich 


E, kundtun können; keine größere Torheit als jene, die meint, sie könne mit 


einer Hand voll Staub die brennende Lohe einer ganz hochbewegten Zeit ersticken... 
Nur einzelne, die im Winkel genistet haben, und deren Bestand auf das Dunkel 


angewiesen ist, scheuen die Preßfreiheit, dem Ganzen kann sie nimmer gefährlich sein.“ 


Diese Worte prägte der Koblenzer Josef Görres in seinem „Rheinischen Merkur“ 
vor mehr als einem Jahrhundert, als die politischen Verhältnisse am Rhein und in 
Deutschland ähnlich den heutigen waren. Der französischen Pressepolitik, die im 
großen Rahmen der Französisierungsbestrebungen zur Eroberung der rheinischen 
Seele eine hervorragende Rolle spielt, kann man auch heute diese starken Worte 
entgegenhalten. Schon kurze Zeit nach der Besetzung der Rheinlande hat ein weit- 
verzweigtes System der ‚„penetration intellectuelle‘‘ durch die französische Presse 
eingesetzt. Ihre Wege, Absichten, Erfolge und Mißerfolge sind im Laufe der letzten 
Jahre hier und da in Wort und Schrift beleuchtet worden. Wenn nun heute die 
Süddeutschen Monatshefte der sachlichen und streng objektiven Darstellung der 
französischen Pressepolitik, die durch die Knebelung der freien Meinung am Rhein 
drückender auf den Gemütern gelastet hat, als manche andere Folgeerscheinung 
der Besetzung, ein besonderes Heft widmen, so muß dies von allen Deutschen, 
denen das Schicksal der Rheinlande am Herzen liegt, aufs lebhafteste begrüßt werden, 


Die Presseverordnungen im besetzten Gebiet 


RR: die Entente das Rheinland besetzte, erließ sie eine Anzahl Verfügungen über 
das Verbot der Zeitungen, Bücher und Kundgebungen. Am 29. Juli 1919 
sicherten die vier an der Besetzung beteiligten alliierten Regierungen der Bevölkerung 
freie Ausübung ihrer persönlichen und staatsbürgerlichen Rechte, religiöse Freiheit, 
Freiheit der Presse, der Wahlen und Versammlungen zu und versprachen, daß die 
politischen, rechtlichen, administrativen und wirtschaftlichen Beziehungen der be- 
setzten Gebiete in dem unbesetzten Deutschland nicht gehemmt sein würden. Wie 
sie dieses Versprechen gehalten haben, das kann heute jeder Deutsche nachlesen 
in den „Dokumenten zur Besetzung der Rheinlande‘“, die das Reichsministerium für 
die besetzten Gebiete im Verlag von Carl Heymanns, Berlin, herausgegeben hat. 

Es würde zu weit führen, die zahlreichen Verordnungen der interalliierten Rhein- 


‚landkommission, die Proteste der deutschen Behörden gegen die Maßnahmen, 


Unterdrückungen der freien Meinungsäußerung im besetzten Gebiet hier alle auf- 


| zuführen, es genüge, den Geist kurz zu kennzeichnen, aus dem die Maßnahmen der 
ı Besatzungsbehörden gegen Presse und freie Meinungsäußerung geboren waren. 
| Als die Franzosen im Versailler Diktat nicht das Rheinland, sondern nur eine 
| 15jährige Besatzungsfrist erreicht hatten, da hofften sie durch eine geschickte 
Beeinflussung der öffentlichen Meinung in den besetzten Gebieten das nachzu- 


holen, was ihnen das Diktat versagt hatte. Sie suchten mit allen Mitteln auf die 


| Stimmung im Rheinland zu wirken und da war ihnen selbstverständlich die deutsche 
| Presse, die, bis auf wenige kaum nennenswerte Ausnahmen, immer sich ihrer deutschen 
| Aufgaben bewußt blieb, sehr im Wege. Um bei ihren Maßnahmen, die sich oft recht 
“ wenig mit dem im Kriege der Welt so oft angepriesenen Geiste der westlichen Demo- 
‚ kratie vertrugen, nach außen hin zu rechtfertigen, begründeten die Alliierten sie 
‚damit, daß durch eine freie ungehinderte Sprache und durch eine offene Meinungs- 


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310 Pressefreiheitam Rhein 
(GLEISE ERRESREEERSEEEETREEEEENEREREIEEEEEEREEEERRTEEEEBERTEESEEUETERER EEE nens 





äußerung des rheinischen Volkes die Sicherheit oder das Ansehen der Rheinland- 
kommission oder der Besatzungstruppen beeinträchtigt und die öffentliche Ordnung 
gefährdet werden könne. Mit diesem dehnbaren Paragraphen wurde dann alles, 
was irgendwie unbequem war, verboten, vom wissenschaftlichen Werk des Ge- 
lehrten bis zum Kursbüchlein, von den Märchen Brentanos bis zu den harmlosen 
religiösen Sonntagsblättern. 

Von Anfang an hat sich die Rheinlandkommission nicht damit begnügt, Verbote 
von Druckschriften, besonders Zeitungen, zu erlassen, sondern sie hat in rücksichts- 
loser Weise die an solchen Veröffentlichungen Beteiligten vor die Militärgerichte 
gezogen und bestraft. Während der ganzen Besetzungszeit hat die Rheinland- 
kommission die Bestimmungen über verbotene Veröffentlichungen rücksichtslos ge- 
handhabt. Im Jahre 1920 ging sie mit scharfen Verboten gegen eine Anzahl Zei- 
tungen des besetzten und unbesetzten Gebietes vor, weil sie Nachrichten über Aus- 
schreitungen der farbigen Besatzungstruppen veröffentlichten. Aus diesem Anlaß 
verbot sie im Jahre 1920 die „Kölnische Volkszeitung‘ und die sozialdemokratische 
„Rheinische Zeitung‘ in Köln sowie die „Wiesbadener Neuesten Nachrichten“, die 
„Kuseler Zeitung‘ in Kusel in der Pfalz und drei weitere pfälzische Blätter für 
je 15 Tage. Bei dreien von diesen Zeitungen kürzte sie das Verbot auf fünf Tage 
ab, nachdem die Blätter sich dazu bereit erklärt hatten, eine Art von Berichtigung 
zu veröffentlichen. Dieses schroffe Vorgehen der Rheinlandkommission wirkte auf 
die Presse des besetzten Gebietes stark einschüchternd und hatte zur Folge, daß 
dierheinischen Blätter an den Maßnahmen der Besatzung keine Kritik zu üben wagten, 
ja nicht einmal mehr Tatsachen-Nachrichten über die Besatzung veröffentlichten. 


ie französische Preßpropaganda begnügte sich aber nicht, unangenehme Nach- 
NE durch eine strenge Zensur oder durch Verbot von Blättern für kurze 
oder längere Zeit zu unterdrücken, sondern griff auch aktiv in den Nachrichten- 
dienst des besetzten Gebietes ein. Zwar mißlang der Plan, eigene Havasagenturen 
in Deutschland zu errichten, dafür aber suchte sie das Wolffsche Telegraphenbüro 
von Frankreich abhängig zu machen. Man gestattete ihm eine telephonische Ver- 
bindung mit dem rechtsrheinischen Deutschland nur unter der Bedingung, daß alle 
Meldungen vor der Ausgabe an die Presse von französischen Offizieren zensuriert 
würden. Schon im Frühjahr 1921 beschwerten sich Vertreter der Bevölkerung 
beim Oberkommissar Tirard über diese Vergewaltigung der Meinungsfreiheit, denn 
die Zensur begnügte sich nicht mit dem Streichen von Nachrichten, sondern sie 
verlangte Widerruf von Nachrichten, die den Franzosen unangenehm waren. Das 
Mainzer Büro war außerdem gezwungen, täglich einen Havasdienst von 600 bis 
1000 deutschen Worten unverkürzt und ohne jeden Kommentar zu verbreiten. 
Dies bot natürlich den Franzosen Gelegenheit, alle möglichen Nachrichten in die 
deutsche Presse einzuschmuggeln. Um die Meldungen der deutschen Zeitungen über 
Ausschreitung der Besatzung im Rheinland, besonders über das den Franzosen 
unangenehme Kapitel der Schwarzen Schmach, in ihrer Wirkung abzuschwächen, 
brachte die französische Propaganda. falsche Nachrichten in die deutschen 
Zeitungen, die dann leicht als unrichtig erwiesen werden konnten und Mißtrauen 
gegen die deutsche Berichterstattung über das besetzte Gebiet hervorriefen. Als 
im Sommer 1919 im Saargebiet eine Anzahl Mädchen verschwunden waren und 
man die Untersuchung darüber anstellte, erzählten französische Agenten verschie- 
denen Presseorganen, man habe in einem Düngerhaufen einer Saarbrückener Kaserne 
vier Mädchenleichen gefunden. Diese Geschichte kam dann in die deutsche Presse 
und erregte ungeheures Aufsehen. Die französische Behörde ließ den Fall sofort 
untersuchen, es wurde nichts gefunden und nun rief man entrüstet: „Da seht ihr 
es, wie wir Franzosen von der deutschen Propaganda verleumdet werden“. Die 
deutsche Presse sah sich daher genötigt, bei der Aufnahme solcher sensationeller 
Meldungen über das besetzte Gebiet äußerst vorsichtig zu sein. Die französische 
Propaganda bediente sich einiger deutscher Verräter, die sich in den Nachrichten- 
dienst gedrängt hatten, um solche Falschmeldungen anzufertigen. Sie arbeitete 








Die Presseverordnungen im besetzten Gebiet 311 








besonders auch im Ausland stets mit den deutschen Schauermärchen und suchte 
dadurch auch die Meldungen über wirkliche Übergriffe der Besatzung zu verdächtigen. 


nter dem heuchlerischen Vorgeben, daß durch die heftigen Angriffe der deutschen 

Presse auf die Besatzungstruppen und die Alliierten die friedlichen Beziehungen 
in Europa beschwert werden, verschärfte die Rheinlandkommission im September 
1921 ihre früheren Verfügungen über die Presse und die öffentlichen Kundgebungen. 
Jede periodische Druckschrift, die bereits zweimal von der Rheinlandkommission 
verboten war, konnte nach einer neuen Zuwiderhandlung von der Rheinland- 
kommission für einen längeren Zeitraum als drei Monate, was nach der ersten Ver- 
ordnung das Höchstmaß gewesen: war, oder sogar dauernd verboten werden. Es 
wurde in den Blättern angedroht, daß Verfasser, verantwortliche Redakteure, 
Herausgeber, Drucker und Verbreiter verbotener Druckschriften gerichtlich bestraft 
würden. Jedes Blatt sei auf schriftliches Ersuchen der Rheinlandkommission ver- 
pflichtet, sämtliche Mitteilungen der Kommission im Falle einer Berichtigung un- 
entgeltlich aufzunehmen. Die Rheinlandkommission konnte ferner für eine Zeit 
bis zu drei Monaten die Schließung eines jeden Unternehmens anordnen, in dem 
die ihr nicht genehmen Zeitungen Veröffentlichungen, Abdrucke usw. ausgestellt, 
verkauft oder verteilt werden. Durch diese neue Bedrückung der Meinungsfreiheit 
wollte man vor allem die deutsche Presse einschüchtern, damit sie sich keine Kritik 
des französischen Wortbruches in der „Sanktions‘frage erlaube. 


m Jahre 1923 konnte die rheinische ‚Presse, wenn sie sich nicht selbst aufgeben 
wollte, an der Pfänderpolitik, am Ruhreinmarsch, an dem passiven Widerstand 
und den damit zusammenhängenden Zwangsmaßnahmen nicht stillschweigend 
vorübergehen. Die Franzosen machten ihren Ärger und ihrer Wut über das Fehl- 
schlagen ihrer Politik durch brutales Vorgehen gegen jede unbequeme Äußerung 
Luft. Sie schlossen damals fast sämtliche Blätter des unbesetzten Deutschlands 
vom besetzten Gebiet aus, u. a. auch Blätter, wie die Vossische Zeitung, Germania, 
B. Z. am Mittag, Frankfurter Zeitung und das Berliner Tageblatt. Sie unterdrückten 
damals fast sämtliche größeren im besetzten Gebiet selbst erscheinenden Zeitungen, 
insbesondere die Kölnische Zeitung, Kölnische Volkszeitung, das Kölner Tageblatt, 
die Mainzer Tageszeitung, die Koblenzer Volkszeitung, Koblenzer Zeitung, das Echo 
der Gegenwart in Aachen. Eine genaue Liste der im besetzten Gebiet verbotenen 
Bücher, Lichtbildstreifen und Zeitungen gibt die vom Reichsministerium für die 
besetzten Gebiete veröffentlichte Aufstellung, Berlin 1925, sowie die Statistik über 
die Zeitungsverbote in diesem Heft. 
' Oft wurden Verleger und Redakteure bei Nacht verhaftet. Ganze Verleger- 
familien und das gesamte Personal eines Blattes wurden rücksichtslos ausgewiesen 
und schmachteten in unwürdigen Gefängnissen. Während die. Vertreter einer 
niederen Kulturstufe, deren Väter vielleicht noch Kannibalen waren, in einem der 
ersten Kulturländer der Welt sich alles und jedes erlauben durften, legte man den 
Rheinländern selbst das Schloß der Zensur vor den Mund. 
Die Rheinische Rundschau (demokratisch) war während des passiven Widerstandes 
' zwölfmal verboten, meist für je 3 Tage. Der Hauptschriftleiter H. G. Pauls entzog sich im 
Januar 1923 der Verhaftung. Sein Nachfolger, Redakteur W. Roßbach, wurde im August 
1923 ausgewiesen. Im November 1923 verlangten die Separatisten unter Assistenz der fran- 
zösischen Delegierten die Aufnahme ihrer Proklamation und drohten im Falle der Weigerung 
mit Beschlagnahme der ganzen Druckerei und Ausgabe einer eigenen Zeitung mit dem Kopfe 
der Rheinischen Rundschau. Es blieb nichts übrig, als die Zeitung in derselben Stunde ein- 
"gehen zu lassen. Die Wiedereinführung der Zeitung nach Aufhören der Separatistenbewegung 
war ungeheuer schwer und kostspielig. Ein Versuch führte zur Einstellung des Erscheinens. 
Die Rheinische Warte (sozialdemokratisch) wurde während der Zeit vom 1. Januar 
1923 bis 22. März 1923 viermal 3 Tage und einmal 1 Monat verboten. Am 22. März 1923 
‚erhielt sie ein Verbot von 3 Monaten und ist dann erstmals wieder am 1. Juli 1923 erschienen. 
Am 2. Oktober 1923 kam ein abermaliges Verbot von 3 Monaten. Die Zeitung ist dann 
erst am 1. Februar 1924 wieder erschienen. Der damalige Redakteur Emil Pikard wurde 
verurteilt, und zwar zu einer Geldstrafe von M. 50000, zu einem Monat Gefängnis und wie- 













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312. PressefreiheitamRhein 





















































derum zu 6 Monaten Gefängnis. Am 26. November 1923 wurde Pikard nach Verbüßung 
seiner Strafe ausgewiesen. Der damalige Geschäftsführer J.. Nassen wurde am 24. März | 
1923 ausgewiesen. Der nach Pikard verantwortlich zeichnende Georg Rummel wurde am 
29. März 1923 verhaftet und zu 2 Monaten Gefängnis und M. 30000 Geldstrafe verurteilt. 
Der vom 1. Juli 1923 ab verantwortliche Redakteur Fritz Drouvet wurde am 29. September 


1923 ausgewiesen. 
Die Koblenzer Zeitung wurde verboten: 


Vom 2. Februar 1923 bis 4. Februar= 3 Tage, 
„ 6. „ 1923,08, 0%, = 3, 
IB FIRATATY 1923: ,,- 16. a Vs an 
RATEN 1923 „ 17.März_ :-=30 ,, 
„.5.April. 1923 „ 7.Apili = I u 
ENADIES 1923 bis 9. Juli nt HROERT 

Am 1. August wieder erschienen: 
Vom 3. Oktober 1923 bis 9. Oktober = 3 Tage, 


EN » 1923 ‚„ 6. November =30 „ 


Erscheinen eingestellt. 
Der General-Anzeiger (Koblenz): 
Vom 2. Februar 1923 bis 4. Februar = 3 Tage, 
„ 6. „ 1923 „ 8 = 3 ” 
Am 27. Oktober 1923 und 6./7. November wegen der Separatisten. 
Vom 15. Februar 1924 bis 17. Februar = 3 Tage, 
a 1924: 5, 20.755 ar. 
EN LAN 1924 41:28:12 a RP 
Durch die Franzosen vom 23. März bis 18. Oktober 1923 beschlagnahmt. 
Durch die Separatisten vom 6. November bis 10. Dezember 1923 beschlagnahmt, 


Betrieb vollständig zerstört. 


m Ruhrkampf wurden alle Methoden der Werbearbeit, die Frankreich während 

des Weltkrieges und dann während der Herrschaft im Rheinland hundertfach 
ausgeprobt hatte, gewissermaßen zur großen Entscheidungsschlacht mobil gemacht. 
Vom Umfange und von den Listen und Tücken dieses Ringens mit Papier und 
Druckerschwärze, mit dem Zeichenstift und mit dem Pinsel, mit dem Film und 
mit dem gesprochenen Wort macht sich nur der eine Vorstellung, der es miterlebt 
hat. Die aufgewandten Mittel entsprachen dem Einsatz, galt es doch nichts mehr 
und nichts weniger als die Loslösung der Rheinlande und des Ruhrgebietes von 
Deutschland. Die Gegner waren militärisch gesehen völlig ungleichmäßig aus- 
gerüstet. Dem entwaffneten, verarmten Deutschland stand ein bis an die Zähne 
in Waffen starrendes Frankreich gegenüber, und so bietet denn der Ruhrkrieg 
zum ersten Male in der Weltgeschichte das großartige Beispiel, daß ein Volk ledig- 
lich mit geistigen Waffen um seine Heimat ringt. Wenn es noch eines Beweises: 
bedürfte, daß die Einziehung von „Reparations‘‘geldern, die offizielle Politik Frank- 
reichs den Grund zu ihrem brutalen Vorgehen im Ruhrgebiet angab, nur ein nich- 
tiger Vorwand war, so könnte das Vorgehen der Franzosen im Kampfe um die 
deutsche Seele das Gegenteil beweisen. Auch in diesem Ringen mit geistigen Waffen 
war Frankreich Deutschland gegenüber gewaltig im Vorteil, denn es stand damals 
noch wirtschaftlich ziemlich gesichert da und konnte seine Propaganda mit reichen 
Mitteln ausstatten. Die deutsche Presse hatte demgegenüber einen schweren Stand, 
denn sie konnte nur auf die idealen Güter der Freiheit und der Zugehörigkeit zu 
Deutschland und der damit verbundenen Pflichten für jeden Deutschen hinweisen 
Sie hatte außerdem besonders im letzten Abschnitte des Ruhrkrieges unter den 
wirtschaftlichen Nöten stark zu leiden, und wenn sie trotzdem in ihrer überwäl- 
tigenden Mehrheit die deutsche Sache stets heldenmütig verteidigt hat, so gebührt 
ihr dafür besonderer Dank. Zu rechter Zeit hat der Niederrheinisch-Westfälisch: 
Zeitungsverleger-Verein auf Veranlassung seines rührigen Vorsitzenden, des Ver: 
legers Otto Dierichs in Bochum, eine kleine Schrift erscheinen lassen, die auf bishe: 
unbekanntem statistischem Material sowie auf einer während des Ruhrkampfe: 
angelegten, in Privatbesitz befindlichen Sammlung von über 6000 Zeitungsaus 

} 















Die er im besetzten Gebiet 313 








schnitten aus der gesamten Auslandspresse über den Ruhrkampf eine erschütternde 
Schilderung von den Leiden der deutschen Presse an der Ruhr, sowie einen Über- 
‚Jlick über die unversöhnliche Haltung des französischen Geistes gegenüber Deutsch- 
and und ein. Spiegelbild aus der Satire der Weltpresse über den Ruhrkampf bietet. 

An Hand .eines sorgfältig ausgewählten und überzeugend wirkenden Tatsachen- 
materials schildert Dr. Ippen die drakonischen Maßnahmen der französischen Be- 
satzungsbehörden. Die französische Preßpolitik ist sich im Laufe der Jahrhunderte 
immer gleich geblieben. Nach außen hin tönende Worte der Propaganda: Der 
‚reien Meinungsäußerung dürfen keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden. 
‚Aber ganz andere Taten, wenn es galt, die Preßfreiheit zu beschränken. Napoleon 
drachte es noch fertig, fast den ganzen deutschen Zeitungswald, soweit er ihn be- 
‚herrschte, zu fällen, oder wenigstens die noch erscheinenden Blätter sich gefügig 
»der zu leeren Schemen zu machen. Die deutsche Presse von heute aber, besonders 
‚lie im Ruhrgebiet, war doch zu kräftig entwickelt, als daß ihr selbst ein französischer 
General hätte den Garaus machen können. Zwar schien es anfangs, als ob die fran- 
tösischen Schergen Sieger bleiben sollten, sie ließen ihre Wut an Setzerkästen und 
‘Iruckmaschinen aus. Die brutale Gewalt brachte zwar viele Hunderte von Zei- 
sungen Wochen und Monate zum Schweigen. Wenn man aber heute als unpar- 
‚eiischer Kritiker die Frage nach dem Besiegten aufwirft, so hat Frankreich gerade 
Nhrch seine allen Gesetzen seiner viel gerühmten Überlieferung der Freiheit und 
Menschenrechte hohnsprechenden Maßnahmen gegen Presse und Meinungsfreiheit 
‘m Ruhrkampf eine schwere Niederlage erlitten. Es ist ein furchtbares Schuld- 
xonto, das sich hier auftut. Von den im besetzten Ruhr- und ‚„Sanktions‘‘gebiet 
hestehenden 66 Zeitungen wurden 53 mit insgesamt 201 Verboten von 4661 Tagen 
»elegt. 15 Verleger und 22 Redakteure wurden für längere oder kürzere Zeit ihrer 
reiheit beraubt. 6 Verleger-Redakteure wurden ausgewiesen und 1905 Tage 
‚Strafen vollzogen. Aber das alles konnte die geistige Abwehr nicht dauernd ertöten. 
Die Zeitungen des Ruhrgebiets wiesen zum größten Ärger der Franzosen immer 
wieder diese und ähnliche Überschriften auf: Die Angst vor der Wahrheit, Willkür 
'iber Willkür, die Übergriffe in Bochum und Herne, Schwarze im Ruhrgebiet, Ver- 
aftungen, Ausweisungen, Übergriffe, verschärfte Maßnahmen, aber keine Kohlen, 
genau wie im Kriege usw. Um einen Begriff von den Schwierigkeiten zu geben, die 
en Zeitungen durch die ständigen Übergriffe der französischen Besatzung er- 
‘wuchsen, seien nur die Schilderung Dr. Ippens über die Leiden des Bochumer 
Änzeigers wiedergegeben: 

„Der Bochumer Anzeiger war vom 10. Februar bis zum 5. November 1923. im ganzen 
\echsmal, zusammen für 73 Erscheinungstage, verboten, d.h. er war mehr als ein Viertel 
’ler Zeit am Erscheinen verhindert. In dieser Zeit gab er die verschiedensten Ersatzzeitungen 
ieraus. Während seines letzten, längsten Verbotes wurde die Wanner-Eickeler Zeitung als 
srsatzzeitung geliefert. Für diese Zeitung wurde ein Teil des Textes und die Anzeigen in 
‚ler eigenen Druckerei gesetzt, dann zur Herner Zeitung nach Herne zum Druck gebracht 
‚ind schließlich wurde die Zeitung zusammen mit der Wanne-Eickeler Zeitung, unter deren 
Xopf sie vertrieben wurde, an geheimen Plätzen, Lagerschuppen usw. den Zeitungsboten 
ibergeben, die sie verteilten. Als schließlich die Setzerei besetzt wurde, mußten die ein- 
elnen Seiten der Ersatzzeitung in den verschiedensten Druckereien hergestellt werden. 
'Zs wurden jeweils durch eigenes und fremdes Personal, ein Teil beim ‚Märkischen Sprecher‘, 
“in Teil bei der ‚Westfälischen Volkszeitung‘, zwei Seiten bei der ‚Wanner-Eickeler Zeitung‘, 
"wei Seiten bei der ‚Herner Zeitung‘ hergestellt. Die Zeitung jener Tage ist ein getreues 
spiegelbild dieser verschiedenen Herstellungsorte. Die Anzeigenspaltenzahl ist auf den ver- 
‚chiedenen Seiten eine andere, sie schwankt zwischen 8, 10 und 11 Spalten, normalerweise 
‚at der ‚Bochumer Anzeiger‘ 12 Spalten. In manchen Nummern finden sich Inserate des 
‚Bochumer Anzeigers‘, in anderen wieder nicht. Man denke sich einmal die Schwierigkeiten 
‚ler Redaktion unter solchen Umständen. Die einzelnen Aufsätze, Nachrichten usw. müssen 
‚us der Redaktion in die einzelnen Setzereien befördert werden, teilweise nach Herne und 
‘Manne, beides Orte in 8 Kilometer Entfernung. Ist der Satz beendet, muß der Umbruch 
"orgenommen werden, d.h. der Text muß in die gewünschte Reihenfolge gebracht werden, 
Init Schlagzeilen versehen und so abgepaßt werden, daß sich volle Seiten ergeben. Eine 


























ER ER 
EBTTEEONEREWER, 


314 Pressefreiheitam Rhein 


Arbeit, die natürlich unter diesen Umständen auf außerordentliche Schwierigkeiten stößt, 
Dann kommt als weitere Schwierigkeit der Transport von den Setzereien zur Druckerei 
nach Herne und nach Wanne, wo die Zeitung zusammengestellt wird. Von hier müssen die 
fertigen Zeitungen nach Bochum transportiert werden, um von da aus auf heimlichen Wegen 
in die Hände der Boten zu gelangen. Dabei darf nicht vergessen werden, daß Aktualität 
die Seele der Zeitung ist. Trotz aller dieser Schwierigkeiten und langen Wege mußte also 
der Bochumer Anzeiger doch seine Nachrichten den Lesern wenigstens annähernd. ebenso 
schnell zustellen können wie die übrigen Zeitungen, die unter normalen Verhältnissen ar- 
beiteten. Kamen die Nachrichten auch nur 24 Stunden später, so war die ganze Ersatz- 
zeitungslieferung so gut wie wertlos. Es ist klar, daß unter solchen Umständen von allen 
Mitgliedern des Verlages und der Redaktion zur Erfüllung der Aufgabe die Anspannung 
aller Kräfte notwendig war. Dabei darf natürlich auch nicht vergessen werden, daß aus 
dieser Art dem Verlage erhebliche Mehrkosten entstanden, auf deren Ersatz er kaum rechnen 
konnte. Ganz abgesehen davon, daß im Falle der Entdeckung durch die Franzosen Ver- 
haftung und Bestrafung drohte.“ 


enn nach dem Sturz Poincares 1924 und nach dem Londoner Abkommen die 

Zeitungsverbote spärlicher wurden, so hat es doch auch in den letzten Jahren 
an Zwangsmaßnahmen gegenüber der Presse des besetzten und unbesetzten Ge- 
bietes nicht gefehlt. So verurteilte das französische Militärgericht in Mainz am 
1. September 1925 den Schriftleiter Pfund vom Alzeyer Beobachter von Rheinhessen 
wegen Veröffentlichung eines Artikels über die Räumung der Kölner Zone zu zwei 
Monaten Gefängnis und 2000 Mark Geldstrafe. Noch im Jahre 1925 verbot die 
Rheinlandkommission u. a. für mehrere Monate die Tägliche Rundschau, den Tag, 
die Münchener Jugend, die Münchener Neuesten Nachrichten, die Bayerische Staats- 
zeitung, die Saarbrücker Zeitung. Der Rheinische Beobachter, Berlin, und die 
Süddeutschen Monatshefte sind seit Jahren dauernd verboten. 


ie hat sich nun der Geist von Locarno in den Verhältnissen der Interalliierten 

Rheinlandkommission zu der Meinungsfreiheit im besetzten Gebiet bemerkbar 
gemacht? Die Verordnung 308 der Rheinlandkommission bestimmt im Artikel 19, 
$ 1 über die Behandlung der Presse: 


„Alle Zeitungen, Abhandlungen oder Veröffentlichungen, alle Drucksachen, alle auf mecha- 
nischem oder chemischem Wege hergestellten Vervielfältigungen, alle Schriften, Bilder, 
mit oder ohne Erklärung, Musikalien mit Text oder Kommentar, alle Lichtspielbildstreifen, 
die zur öffentlichen Verbreitung bestimmt und geeignet sind, die öffentliche Ordnung zu ge- 
fährden oder die Sicherheit bzw. das Ansehen der Besatzungsbehörden oder Truppen zu be- 
einträchtigen, sind verboten und können gegebenenfalls auf Veranlassung der hohen Kom- 
mission oder ausnahmsweise in dringenden Fällen auf Befehl der Militärbehörde beschlag- 
nahmt werden. Im letzteren Falle wird die Beschlagnahme nur nach Entscheidung der 
Hohen Kommission endgültig, der darüber unverzüglich Bericht zu erstatten ist. 


$ 2. Alle Theatervorführungen oder Lichtspielvorstellungen, Pantomimen, Vorlesungen, 
Konzerte, Vorträge oder ähnlichen Versammlungen und öffentlichen Kundgebungen, die 
geeignet sind, die Sicherheit und das Ansehen der Behörden und Truppen der Besatzung 
zu beeinträchtigen oder die öffentliche Ordnung zu stören, sind ebenfalls verboten. Die 
Hohe Kommission wird gegebenenfalls zu gütlichen Verhandlungen mit den zuständigen 
deutschen Behörden und mit allen Zeitungsdirektoren, Chefredakteuren, Unternehmungs- 
leitern usw. schreiten. 


Artikel 20. $ 1. Die Verfasser, Redakteure und Verleger und Drucker der beanstandeten 
Veröffentlichungen oder alle anderen für die Lichtspiel-Theatervorstellungen, Vorträge usw. 
verantwortlichen Personen können im Falle eines Verstoßes gegen Titel 6 gegenwärtiger 
Verordnung haftbar gemacht werden. | 


$2. Die gerichtlichen Verfolgungen können gegen diese verantwortlichen Personen bei’ 
den zuständigen Gerichtsbarkeiten nur auf Grund der von seiten der Hohen Kommission | 
oder des Oberbefehlshabers derBesatzungsarmeen geführten Beschwerde eingeleitet werden, 


Artikel 21. $1. Unabhängig von den im vorstehenden Artikel 20 vorgesehenen gericht- 
lichen Verfolgungen ernennt die Hohe Kommission eine gerichtliche Kommission, der auch | 
ein deutscher Justizbeamter angehören kann und der diese beanstandeten Veröffentlichungen | 








Die Presseverordnungen im besetzten Gebiet 315 








‚überwiesen werden. Die Hohe Kommission wird die Befugnis haben, nach Entscheidung 
‘der gerichtlichen Kommission das Verbot dieser Veröffentlichung für einen Zeitabschnitt 
ıvon höchstens einem Monat auszusprechen. Dieses Verbot wird nur ergehen, nachdem der 
‘Leiter oder der Chefredakteur der beanstandeten Veröffentlichung die Möglichkeit gehabt 
‚hat, von der gerichtlichen Kommission vernommen zu werden. Im Rückfalle kann das 
‘Verbot in der gleichen Weise und unter denselben Bedingungen für einen längeren Zeit- 
raum als einen Monat oder auf unbestimmte Zeit verhängt werden.‘“ 


Als eine Erleichterung der bisher geltenden Vorschriften sind die neuen im An- 
'schluß an Locarno erlassenen Preßbestimmungen immerhin zu begrüßen. Das 
Verbot durch die Kreisdelegierten ist nicht mehr erlaubt. Sodann wird eine vor- 
herige Verwarnung der für das Verbot vorgeschlagenen Druckschrift und die 
‚Verhandlung mit den Herausgebern zugelassen. Wenn diese Verhandlungen zu 
‚keinem Ergebnis führen und das Weitererscheinen einer periodischen Veröffent- 
lichung für die Sicherheit und das Ansehen der Hohen Kommission oder der 
Besatzungsarmee bzw. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gefährdet 
'wird, ernennt die Hohe Kommission eine gerichtliche Kommission, der auch ein 
‚deutscher juristischer Beamter angehören kann und der die beanstandete Veröffent- 
lichung überwiesen wird. 


Die Rheinlandkommission wird die Befugnis haben, nach der Entscheidung der 
gerichtlichen Kommission das Verbot der Veröffentlichung für einen Zeitabschnitt 
‚von höchstens einem Monat auszusprechen. Dieses Verbot wird nur ergehen, nach- 
dem der Leiter oder der Chefredakteur der beanstandeten Veröffentlichung die 
‚Möglichkeit gehabt hat, von der Gerichtskommission vernommen zu werden, im 
‚Rückfall kann das Verbot in der gleichen Weise und unter denselben Bedingungen 
‚für einen längeren Zeitraum als einen Monat auf unbestimmte Zeit verhängt werden. 
Zu beachten ist, daß diese Bestimmungen nur für Druckschriften gelten, die im 
(besetzten Gebiet erscheinen. Für periodische Veröffentlichungen des unbesetzten 
‚Gebietes bleibt es bei den alten Bestimmungen. 


Nach wie vor aber hält die Interalliiertte Kommission an ihrem Grundsatz fest, 
daß alles, was die Würde der Besatzungstruppen und die öffentliche Sicherheit 
stören könne, verboten bleibt, und so hat denn die Rheinlandkommission in ihrer 
‚301. Sitzung beschlossen, den Journalisten Glaser aus Oggersheim, der zurzeit 
ine gegen ihn vom französischen Militärgericht verhängte Gefängnisstrafe von 
zwei Jahren abbüßt, nach Ablauf seiner Strafzeit aus dem besetzten Gebiet aus- 
ruweisen, und sie beschloß, bereits am Anfang November die Beschlagnahme aller 
Exemplare des Lahrer Hinkenden Boten und einiger anderen Schriften, da die Ver- 
‚Mfentlichung gegen die oben erwähnte Ordonnanz verstöße. 











Die Zeitungsverbote 
Von Hans Kapfinger in Münden 





9 Reichsministerium für die besetzten Gebiete hat in einer Liste der dauernd von 
dem besetzten Gebiet .ausgeschlossenen Zeitungen und Zeitschriften und der in den 
Jahren 1920 bis 1925 von der Interalliierten Rheinlandkommission erlassenen befristeten 
‚Leitungsverbote eine namentliche Aufzählung der von dem Verbot betroffenen Druck- 
‚chriften und zugleich der Dauer des Verbots veröffentlicht. Doch gewährt diese bloße 
Aufzählung noch keinen lebendigen Einblick in die Schädigung deutschen Kulturgutes. 
m folgenden ist versucht, diesen Einblick durch eine statistische Darstellung zu geben, 
lie die Wirkung der Verbote auf die deutsche Presse der Breite und Tiefe nach ver- 
‚nschaulicht, 


| Dauernd wurden im besetzten Gebiet 25 Zeitungen und Zeitschriften verboten. Davon 
waren 15 national, 2 deutsch-volksparteilich, 2 sozialdemokratisch, 2 demokratisch, 1 kom- 
nunistisch, 1 ausländisch, 1 separatistisch, 1 parteilos. 


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PressefreiheitamRhein are 
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% 
1 
Die zeitlichen Verbote sind in der folgenden Tabelle dargestellt: 


| V 

















erboten im Jahre | 

1920 | 1921 | 1922 | 1923 | 1924 |. 1925 
| (bis 

| April) 





National’. a 10 14 4 
Deutsche Volkspartei . . —— — 1 
Sozialdemokraten 2 4 —_ 
Demokraten . . . :.. 8 3 er 
Zentrum 5 2 — er 
Partellöss x 2.0 2.0 6 2 1 | 
Ausländisch -. - » » . » — 1 Be‘ 
Amtlich. .. . 1 u 
Bürgerlich. .. .. - » 1 1 > | 
VOlkisch Pu a ns _ ey 2 | 10j — | 
Kommunistisch | — ef. — — —_ | — | 


Im ganzen: 550 | 31 | 28 | da | 389 | 52 | 6 


Im Jahre 1923 wurde am meisten vom Zeitungsverbot Gebrauch gemacht. Auf die ein- 
zelnen Monate verteilt, ergibt sich dieses Bild: 1 


Richtung Jan. März |April| Mai 




















Juni 


Juli Aue 















Nattonel ala Pi 24 4) 71/2012 20 | 17 1 _. 
Deutsche Volkspartei. .|— | 3| 4] 1) 7) 5| 1, —|14 _. 
Sozialdemokraten. ...|— | 3 | 9| 8| 3) 6|)—| 3.3 | 
Demokraten ..... - - » 1.1661 a ae See | 
Zenttum u. 125.1 20 DB 3.1. 4° 81 Do | 
Parteilös»..s »... we)» 1:8 1 20.112 |. 19. 127778 re 1321| 
Ausländisch ..1...nu.02 0. 2 1—1|.1r],27 27 Sa _ 
Bitch 222 as 1 as 1 1,5|[.21 71 LT Tee _ | 
Bürgerlich.. ... . u. — ’EITT PP DR DM RE —ii 
NORISCH se ne — 11 | —_— lo | — | 1ı1|- | —-|1— —_. 

| 


Im ganzen: | 7 139. |103 60 54 | 50 | 23 4a\v|z|l3|12 


em # 


Unter das Verbot fielen auch Zeitschriften, deren rein fachlichen, politisch neutral gehal- | 
tenen Charakter man annehmen darf wie: ‚Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker“, „Die 
E 


Lederwelt‘‘, „Bayerische Verkehrsblätter‘‘, „Saalbesitzer-Zeitung‘“, „Hotel-Rundschau“ u. &, 
170 verbotene Zeitungen haben ihren Standort im besetzten Gebiet selbst. | 

Zur Wirkung in die Breite, ausgedrückt durch die Erfassung der Gesamtzahl der verbotenen ' 
Druckschriften, kommt die Wirkung in die Tiefe, veranschaulicht durch die Erfassung 2 | 
Gesamtdauer der Verbote. Die Zahlen in der folgenden Tabelle bedeuten immer Monate, ’ 
hochgestellte Ziffern Tage. ii 















Richtung 


1922 |. 








1920 | 1921 


MAHDNAL. A nee. 141/, | 40 
Deutsche Volkspartei . . 





Sozialdemokraten. .. .| 1 | 61, | 5° 941/,,| 510 — 
Demokraten . ......] 9 12 16 ASIEN BER TE 
RE ne Gars I u 2 A 
a 0 BA EEE 7 6 12 1897 | 121, | — 
Ausländisch ... . .. . _ Bin es 14 2 Ei 
SE Te ER 6 3 5 542 6 Ez 
BWEBERÜCH. >00 ..% — RN x Y Es: ER 
REF VORNE RE _ u ur 9 26,1 — 
. Kommunistisch. . . . . — |12 Re KR SZ RR Al 


Im ganzen: | 44 | 791/, | 109° | 843° ] 99% [ 12° 


Das Jahr 1923 auf die einzelnen Monate verteilt: 













Richtung Jan. |Febr. | März |April| Mai .| Okt. 





National: .. .o » SUR Rh 16 |461/,| 34 1520| 43| 8 14| —| 3/1 3|I| — 
Bscewoesarte 13,113 | 51 6, 5er ano 
Sozialdemokraten. ... 1 — | 6 128:| 19 16% | 171 — | 6 | 9, 3) — I — 
Demokraten vi #..2:7.0].1 12 | 33 19,|:7|—-| 3 5 4 — ii | — 
tu ı | 9 I3s,118y,| | 13 [18 l1e|ay,| ıJ ı la 
BERrerlichN Sara ri —_ | 1 3s-— | —| 31 —1—-|—- I -1- 
A. RES RT EURE BUN JR IP OL Re 
Brrtellos. on ur) a |11|32 3814» | so | 3 lu, lı2l38|3| 3 
Ausländisch -. .. .. . — a Ar’ 1 3 3.:’-—- | — | —- I — 1— 


Im ganzen wurden nationale Blätter auf 33 Jahre, 2 Monate, 20 Tage verboten, deutsch- 
volksparteiliche 5 Jahre, 1 Monat, 11 Tage; völkische 2 Jahre, 11!/, Monate; sozialdemo- 
‚xratische 9 Jahre, 4 Monate, 13 Tage; parteilose 18 Jahre, 11 Monate, 2 Tage; Zentrums- 
reitungen auf 11 Jahre, 1 Monat. 

Die Gesamtdauer der deutschen zeitlichen Presseverbote beträgt fast 99 Jahre, genau 
'1184 Monate, 85 Tage. Mit Einschluß der Dauerverbote unter Berücksichtigung einer etwaigen 
Wiederaufhebung des Verbotes beträgt die Gesamtdauer 146!/, Jahre. 





Die Meinungsfreiheit außerhalb der Presse 
Von Karl Schmitz in Düsseldorf 


eben den Verordnungen über die Presse hat die Rheinlandkommission von 
Anfang an ganz ähnliche Bestimmungen über Versammlungen und Vereine, den 
Rundfunk, das Flaggen und das Singen von Liedern erlassen. 


Sie hat vorgeschrieben, daß „politische Versammlungen‘ 48 Stunden vorher der 
3esatzungsbehörde anzuzeigen sind. Diese darf die Versammlungen überwachen 
assen. Die während des Ruhrkampfes erlassene Verordnung 173 bestimmt außer- 
lem, daß die Oberdelegierten berechtigt seien, jede beliebige Ansammlung bei Tage 
ınd Nacht auf der Straße oder in geschlossenen Räumen zu verbieten, 


































318 Pressefreiheitam Rhein a 
(SCLNnCEBE RN EaBU UNI ULEE LNEN EN ASEREENEOESCEE RETTET EREEENTERD EEE EEFEEnERREeRBTaEIRERTERBEEBEET Ess 


Die Franzosen haben diese Befugnisse rücksichtslos zur Verfolgung ihrer Ziele 
benutzt; namentlich förderten sie hierdurch den Separatistenputsch, indem sie 
einerseits die Zusammenkünfte der staatstreuen Bürger, welche die öffentlichen 
Gebäude vor den Separatisten schützen wollten, als verbotene Ansammlungen be- 
zeichneten, andererseits die bewaffneten Haufen der Separatisten in ihrem hoch- 
verräterischen Treiben nicht behinderten. 

Besonders kennzeichnend war auch das Verhalten der Franzosen gegenüber der 
Rheinischen Jahrtausendfeier. Sie wagten es nicht, diese Kundgebung des Deutsch- 
tums zu verbieten. Sie bemühten sich jedoch, mit Hilfe der Verordnung 173 
die Feier in möglichst kleinem Rahmen zu halten. Sie verlangten, daß das Programm 
der einzelnen Veranstaltungen zur Genehmigung vorgelegt werde. Kundgebungen 
unter freiem Himmel waren grundsätzlich verboten. Mehrfach wurde ausdrücklich 
verboten, daß bei den Feiern das Deutschlandlied gesungen werde. Alles, was den 
Festlichkeiten den Charakter einer Volksfeier geben konnte, war unerwünscht, 
z. B. das Abbrennen von Feuerwerk, das Flaggen der Privathäuser; verschiedentlich 
untersagte man auch die in Aussicht genommenen Festzüge oder, wie z. B. in 
Bingen, die Aufführung eines Theaterstücks auf einer Freilichtbühne. Man achtete 
streng darauf, daß bei den Reden keine „Angriffe auf die Besatzungstruppen‘“ vor- 
kamen, machte sogar häufig zur Bedingung, daß die Reden überhaupt keinen 
politischen Inhalt haben dürften. Kurzum bei der Überwachung der verschiedenen 





Veranstaltungen zur Jahrtausendfeier haben die Franzosen Unglaubliches an klein-' 


lichen Schikanen geleistet, alles mit dem Ziel, die Feier als künstliche Mache der 
Regierung hinzustellen, der die Bevölkerung selbst fernstehe. Wie engherzig die 
französischen Delegierten waren, ergibt sich auch aus folgenden Vorfällen: 


Als der (pazifistisch eingestellte) Dichter Fritz von Unruh in Diez bei einem Sänger- 
fest im Juli 1925 die Festrede halten wollte, verlangte der französische Kreis- 
delegierte, der Dichter solle die Rede vorher mit ihm besprechen. Unruh entzog 
sich dieser Zumutung, indem er auf die Rede verzichtete. 

Im September 1925 wollte der badische Staatspräsident Dr. Hellpach, der be- 
kanntlich bei der Reichspräsidentenwahl als Kandidat der demokratischen Partei 
aufgetreten war, bei einer Heimatfeier in Kehl eine kurze Ansprache halten. Auch 
hier verlangte der französische Delegierte, daß der Staatspräsident sich vörher bei 
ihm einfinde, um den Inhalt der Rede zu besprechen. Da dieses Verlangen un- 
annehmbar war, konnte der Staatspräsident an der Feier nicht teilnehmen. 

In der Reformordonnanz 308 hat die Rheinlandkommission jetzt die Ordonnanz 173 
beseitigt und die Anmeldepflicht beschränkt auf politische Versammlungen in 
Garnisonsstädten. Hiernach ist der Kern des bisherigen Überwachungssystems be- 
stehen geblieben. 


M. ausgesprochener Abneigung verfolgt die Rheinlandkommission die Tätigkeit 
von Vereinen, welche sich irgendwie, mittelbar oder unmittelbar, mit militä- 
rischen Dingen befassen könnten. Unter andern hat sie verboten: den Deutschen 
Offizierbund, die Pfadfindervereine, die Regimentsvereine, die technische Nothilfe, 
die Jugendgruppe der nationalsozialistischen Arbeiterpartei, den Jungdeutschen 
Orden, Stahlhelm usw. 


Mit Argwohn beobachteten sie die Turn-, Sport- und Wandervereine, die Frei-'! 


willige Feuerwehr, die Schützengesellschaften, die Reitervereine, die Kriegervereine 
u. dgl. Die französischen Gendarmen achten streng darauf, daß bei den Übungen 
dieser Vereine nicht etwa militärische Kommandos abgegeben werden oder Übungen 


im Marschieren, im Scharfschießen, Geländeerkunden usw. vorkommen. Die Rhein-’' 
landkommission hat den Schützenvereinen ausdrücklich das Abhalten von Schieß-'! 
übungen verboten und lediglich die Abhaltung eines Schützenfestes gestattet, an’! 
dem sich also nur ungeübte Schützen beteiligen können. Den Freiwilligen Sanitäts-'' 


Vereinen hat die Rheinlandkommission verboten, Uniform zu tragen. Sie hat den 
Sanitätern lediglich das Tragen einer Mütze und einer Armbinde gestattet. 











Karl Schmitz: Die Meinungsfreiheit außerhalb der Presse 319 








Das französische Militärpolizeigericht Landau hat eine Anzahl junger Leute bestraft, 
' die sogenannte Hitler-Uniform (Skimütze und Windjacke) trugen. Die Franzosen 
‚bezeichneten dies als eine militärische Veranstaltung. 
‘Auch den Ortsgruppen des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold hat die Rheinland- 
' kommission das Tragen militärähnlicher Uniformstücke untersagt. Ferner hat sie 
allgemein die Verwendung von Trommlern und Pfeifern bei Vereinsaufzügen verboten. 
Die Militärbehörde fordert von allen Vereinen die Personalien der Vor- 
‚standsbeamten, Abschrift der Satzungen und Angaben über Zahl der Mitglieder. 
Sie will sich hierdurch offenbar die Möglichkeit verschaffen, die Vorstandsmitglieder 
für jedes unerwünschte Vorkommnis verantwortlich zu machen. 
In ihrer Ordonnanz 308 hat die Rheinlandkommission die bisherigen scharfen 
Bestimmungen über das Verbot von Vereinen im wesentlichen aufrecht erhalten. 


n der Ordonnanz 71 vom 26. Januar 1921 über Spionage hat die Rheinland- 
kommission den Besitz von Rundfunkgerät unter schwere Strafe gestellt. Tat- 
sächlich haben die Militärgerichte auch eine ganze Anzahl von Personen, die sich 
“aus Bildungsdrang trotz des Verbots einen Apparat angeschafft hatten, schwer 
‘ bestraft. Alle Bemühungen der deutschen Behörden und der Bevölkerung, dieses 
sinnlose Verbot rückgängig zu machen, waren lange Zeit erfolglos. Der französische 
' Armee-Oberbefehlshaber behauptete, er könne den Rundfunk aus militärischen 
- Gründen nicht zulassen. Er stellte die Sache so dar, als wenn der militärische Funk- 
' dienst leide, wenn er von der Bevölkerung abgehört werden könne. Mit diesem 
Umstand hat man sich jedoch in allen übrigen Ländern abgefunden. Zudem werden 
militärische Nachrichten wohl immer chiffriert gegeben, da sie ja sonst im Ernst- 
'Talle auch vom Gegner mitgehört werden können. 

Das französische Oberkommando erklärte sich nach der Londoner Konferenz zwar 
bereit, in einigen Orten die Aufstellung von Empfangsapparaten zu gestatten, machte 
dies jedoch von der lächerlichen Bedingung abhängig, daß der betreffende Emp- 
 Tangsapparat Tag und Nacht auf Kosten der beteiligten Deutschen unter militärischer 
 Bewachung stehen müsse. Der Oberbefehlshaber wollte etwa für jede größere Stadt 
einen einzigen Empfangsapparat genehmigen, an den die Teilnehmer sich dann 
mit Hilfe der gewöhnlichen Fernsprechleitungen anschließen sollten. Diese Vor- 
 schläge waren aus technischen und wirtschaftlichen Gründen undurchführbar. Trotz- 
' dem hat das französische Oberkommando fast ein Jahr lang daran festgehalten. 
= Nach dem Abkommen von Locarno hat die Ordonnanz 308 der Rheinlandkom- 
mission den Rundfunk neu geregelt. Danach bedarf zwar auch weiterhin die Auf- 
stellung von Empfangsapparaten der vorherigen Genehmigung der Militärbehörde. 





Diese soll jedoch zugesagt haben, daß sie in Zukunft solche Anträge im allgemeinen 
genehmigen werde. 


| ährend die Franzosen ihre Trikolore im besetzten Gebiet nicht selten recht auf- 
dringlich zeigen, u.a. auf zahlreichen beschlagnahmten deutschen Dienst- 
gebäuden, haben sie das Hissen der deutschen Flaggen weitgehenden Beschrän- 
‚kungen unterworfen. In Ordonnanz 30 hatte die Rheinlandkommission vorge- 
schrieben, daß jedes Flaggen 48 Stunden vorher der Besatzung angezeigt werden 
müsse, Die Besatzung konnte das Flaggen verbieten oder von Bedingungen ab- 
hängig machen. Der Handhabung dieser Flaggen-Ordonnanz legten die nach- 
geordneten französischen Stellen große Bedeutung bei. Sie verboten grundsätzlich 
die Farben schwarz-weiß-rot. Die Farben der Länder, namentlich schwarz-weiß 
und weiß-blau durften im allgemeinen nur dann gezeigt werden, wenn gleichzeitig 
daneben die neuen Reichsfarben gehißt wurden. Bei verschiedenen Anlässen ge- 
statteten sie lediglich das Beflaggen der öffentlichen Gebäude, während sie das Be- 
flaggen der Privatgebäude untersagten, z.B. bei der Feier der Vereidigung des 
ı neuen Reichspräsidenten. 
Als anmeldepflichtiges Flaggen betrachteten die Franzosen auch das Mitführen 
von Vereinsfahnen in einem Umzuge, ja sogar das Tragen von Bändchen oder Ab- 


22 





Pressefreiheit am Rhein (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 11) 














320 Pressefreiheitam Rhein 
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zeichen im Knopfloch oder von Wimpeln an Kraftwagen. In Simmern hat ein fran- 
zösischer Gendarm sogar daran Anstoß genommen, daß ein Kaufmann in dem 
Schaufenster seines Ladens je eineschwarze, weiße und rote Banderolle nebeneinander 
ausstellte. Ein Gendarm in Meisenheim beanstandete ein Zigaretten-Reklame- 
schild, weil auf ihm zwei Raucher in schwarzem Frack mit weißer Weste auf rotem 
Untergrund dargestellt waren. Auch dies bezeichneten die Franzosen als verbotenes 
Flaggen. Man sieht, daß die Franzosen in der Abneigung gegen die Symbole des 
Deutschtums sich zu lächerlichen Verstiegenheiten haben verleiten lassen. 

Es ist daher ein Glück, daß die Rheinlandkommission in ihrer neuen Ordonnanz 308 
den Anmeldezwang für Flaggen überhaupt beseitigt hat. 


ach dem Vorstehenden ist es nicht verwunderlich, daß die Franzosen auch 
gegen das Singen gewisser deutscher Lieder, namentlich auch der deutschen 
Nationalhymne, vorgehen. Bemerkenswert ist nur die Begründung. Sie wagen 
auch hier nicht offen, das Absingen der Nationalhymne zu verbieten. Sie erklären 
jedoch, daß es strafbar sei, diese Lieder unter solchen Umständen zu singen, daß 
sie als Provokation und damit als Beleidigung der Besatzung aufgefaßt werden 
können. Tatsächlich haben die Militärgerichte den Begriff „‚Provocation‘“ so weit 
ausgelegt, daß das Singen der Nationalhymne fast stets strafbar ist, wenn es über- 
haupt zur Kenntnis der Franzosen gelangt, einerlei, ob es in geschlossenen Räumen 
oder bei amtlichen Feiern oder bei Vereinsfestlichkeiten, wo Franzosen überhaupt 
nicht anwesend sind, erfolgt. 
Man darf erwarten, daß durch die Locarnopolitik allmählich eine mildere Praxis 
der Militärgerichte Platz greifen wird. 


ach dem Fehlschlagen der Pfänderpolitik und namentlich des Separatisten- 

putsches im Herbst 1923 hätten die Franzosen’ eigentlich einsehen müssen, 
daß alle diese Mittel nicht zum Ziele führen. Die begeisterten Treue-Kundgebungen, 
welche die rheinische Bevölkerung im Jahre 1925 bei der Jahrtausendfeier ver- 
anstaltet hat, haben gezeigt, daß die Franzosen durch ihre Bedrückung nur das 
Gegenteil von dem Gewünschten erreichen. Es ist wohl im wesentlichen auf diese 
Erkenntnis zurückzuführen, daß die Rheinlandkommission in ihrer Ordonnanz 308 
diese bisherigen Bedrückungsmaßnahmen teilweise abgebaut hat. 


Der Pressekampf im Saargebiet 


ie französische Gewaltherrschaft im Saargebiet!) hat vom 23. November 1918, 

dem Tag des Einzugs, bis heute vor allem auch die saarländische Presse fühlen 
müssen. Sie ist ihrer edelsten Aufgabe treu geblieben, in vorderster Reihe im Kampfe 
um das deutsche Volkstum zu stehen. ‚Wir bringen Ihnen die französische Frei- 
heit‘‘, sagte General Garnier-Duplessis prahlerisch bei seinem Erscheinen in Saar- 
brücken, sein Bestreben ging aber sofort dahin, die öffentliche Meinung zu knebeln 
und zu unterdrücken. Die Militärverwaltung führte schärfste Vorzensur ein, und 
zugleich begannen auch die Versuche der Franzosen, ihre eigenen Artikel unauf- 
fällig in die Presse zu bringen. Um hier den Weg zu ebnen, erschien zunächst ein 
Befehl, die der Presse von der Militärverwaltung zugestellten Aufsätze seien ohne 
Kommentar und nähere Bezeichnung der Herkunft als Artikel der Redaktion auf- 
zunehmen. Die erste Arbeit dieser Art handelte über das Wort ‚„Boche‘“. Die 
Zeitungen wandten sich sofort an den Zensor und erklärten ihm die notwendig ent- 
stehenden Schwierigkeiten der Presse durch eine derartige Täuschung der Leser. 
Der die Zensur führende Offizier zeigte sich den ernsten Vorstellungen zugänglich 
und begab sich zum General Garnier, der aber kurzweg erklärte: ‚Die Zeitung, die 
den Artikel nicht bringt, wird unterdrückt!“ In dieser für den Augenblick nicht 


*) Vgl. den Aufsatz von Pieter Molenbroek im Juniheft 1925 der S.M. „Der Völkerbund‘“, 




































| Der Pressekampf im Saargebiet 321 





| 


! 





| mußten die Blätter des gesamten Saargebietes sich fügen. Unmittelbar darauf 
‚wandte sich die Leitung der Saarbrücker-Zeitung unter Vorlegung vieler, aus dem 


| Leserkreise eingelaufenen Proteste wiederum beschwerdeführend an die französische 


\ı Behörde. Nach eingehenden Erörterungen wurde hier die Versicherung gegeben, 
| Artikel dieser Art würden der Presse nicht mehr aufgezwungen. Die Verleger der 
vier in der Stadt Saarbrücken erscheinenden Blätter traten sofort nach dem ersten 
| Attentat auf die Pressefreiheit zusammen und beschlossen, gegen die Unterdrückung 
‚der öffentlichen Meinung fortan einmütigen und bis zum äußersten entschlossenen 
| Widerstand zu leisten. Auf diesen Beschluß hin wurde das nächste welsche Er- 
| zeugnis von der Saarbrücker Stadtpresse abgelehnt mit der Bemerkung, sein Ab- 
| druck sei mit Rücksicht auf den Leserkreis unmöglich. Eine Maßregelung der Zei- 
\ tungen wagte man doch nicht. Die kleine Landpresse, zumeist wirtschaftlich in 
ı bedrängter Lage, war gezwungen, dem Drucke nachzugeben. Mit dem nächsten 
\ Aufsatz erschien zugleich der Befehl, ihn unweigerlich und unbedingt zu bringen. 
| Die um ihre Ehre kämpfenden städtischen Organe suchten und fanden einen Ausweg. 
\ Sie hatten die Verpflichtung, auf der vordersten Spalte der ersten Seite die Be- 
ı kanntmachungen der Militärbehörde zu veröffentlichen. Man einigte sich nun 
dahin, den Artikel als Bekanntmachung des Generals aufzufassen und ihn an der 
ı gekennzeichneten Stelle als solche erscheinen zu lassen. Ein herzliches Lachen über 
‚diesen Streich befreite an jenem Tage die bedrückten Gemüter des ganzen Saar- 
tals und führte zur Wiederholung des probaten Mittels. Die Militärverwaltung hüllte 
\sich in Schweigen, ihre Verbitterung aber löste sich dann von Zeit zu Zeit in Ver- 
boten aus. Trotz strengster Vorzensur traf diese Maßregelung die Saarbrücker- 
ı Zeitung am 13. und 14. Dezember 1918, die Volkszeitung am 31. Januar und 
1. Februar 1919, die Volksstimme vom 18. November bis 1. Dezember 1918, 
| Ähnlich, wenn nicht noch übler, erging es den Blättern in Saarlouis. Saarbrücken 
(sollte erst mit den aufgenötigten Aufsätzen für Frankreich gewonnen werden, Saar- 
‚louis betrachteten die Franzosen jedoch trotz der deutschen Haltung der Presse, 
ı Behörden und Bevölkerung als ihre Domäne. Sie hofften, daß sie im Kreise Saar- 
(louis mit Ausnahme einiger Bürgermeistereien nach Abschluß des Friedens „für 
‚immer bleiben werden‘ (Oberstleutnant Poulet). Nach längeren Quälereien bei 
‚der überaus scharf durchgeführten Vorzensur erhielten die Zeitungen einen Artikel 
‚aus dem „Echo de Paris‘; „Vergangene und gegenwärtige Leiden der vom Feinde 
ı besetzten Länder in Frankreich‘, die Wiedergabe einer Rede des Erzbischofs von 
\Cambrai. Außerdem wurden die Verleger aufgefordert, auch weiterhin Aufsätze, die 
‚ihnen zugehen würden, ohne Erklärung zu veröffentilchen. Sämtliche Zeitungen ließen 
den Befehl, die Rede zu bringen unbeachtet, worauf ihnen folgendes Schreiben zuging: 
„Am 29. Januar habe ich Ihnen zwecks Veröffentlichung eine Erklärung des Marschalls 
Foch an amerikanische Journalisten übersandt. Am 28. Januar habe ich Ihnen zu gleichem 
Zweck eine Rede des Erzbischofs von Cambrai über das Elend der Bevölkerung in den be- 
‚setzten Gebieten von Frankreich zugehen lassen. Bisher ist keiner der beiden Artikel in 
| Ihrer Zeitung erschienen. Sie werden gebeten, sie morgen aufzunehmen, widrigenfalls das 
Erscheinen Ihrer Zeitung bis auf weiteres verboten wird.‘ 
| 
| 








Dieser Drohung mußte sich die Presse fügen. Das Kreisblatt wollte indessen der 

peinlichen Sache noch ausweichen und sie mit folgender Einleitung veröffentlichen: 
„seitens der französischen Militärverwaltung geht uns Nachstehendes zur Ver- 
öffentlichung zu‘, doch wurden diese Worte bei der Vorzensur gestrichen. Die 
‚Redaktionen erhielten im Anschluß hieran noch Zensuranweisungen übermittelt, 
‚in denen es u.a. heißt: ‚„‚Artikel oder Informationen, die der Presse von einer amt- 
lichen Seite zugehen, dürfen nicht mit der Vorbemerkung ‚amtlich‘, aus ‚amtlicher 
Quelle‘ oder mit Einleitungen, wie ‚von amtlicher Quelle erfahren wir usw.‘ ver- 
öffentlicht werden.‘ 


ie Drangsal nahm kein Ende, aber die Presse blieb standhaft wie die Bevölkerung. 


22° 


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| abzuwendenden Zwangslage, die sich zugleich zu einer Lebensfrage gestaltete, 


Um hier Wandel zu schaffen, wurde die Druckerei des Saarbrücker Abend- 


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322 Pressefreiheitam Rhein 


blattes angekauft und dort erschien, von der Militärverwaltung ins Leben gerufen, 
am 15. Juni 1919 zum ersten Male das französische Propagandablatt ‚Le nouveau 
Courrier de la Sarre‘“, das in deutscher und französischer Sprache herausgegeben 
wurde. Zunächst umschmeichelte man hier die Bevölkerung des Saargebietes und 
pries das edle Frankreich als den Retter aus aller wirtschaftlichen Not. Als das 
Liebeswerben vergeblich war, griff man zu einer fortgesetzten Beschimpfung und 
Verleumdung des Deutschtums. Das Blatt hat später, um besser werben zu können, den 
französischen Titel fallen lassen und nannte sich ,‚, Neuer Saarkurier‘‘. Essankaber bald, 
da die Unterstützungsquellen nicht mehr so ergiebig flossen, zu einem Skandalblatt mit’ 
1500 Auflage herab und stellte Anfang 1926 sein Erscheinen ein. Als verantwortliche 
Redakteure wurden bisweilen vor Gericht Straßenkehrer, Ofenheizer und Zeitungsver- 
käufer präsentiert. Der Gutsbesitzer Fabrier, französischer Leutnant, leistete sich mit 
einigen Französlingen 1920 in Saarlouis „zur Wahrung französischer Interessen im 
Kreise Saarlouis“ den Ankauf des alten Saarlouiser Journals, das schnell von seiner 
Höhe herabsank und dessen Auflage heute nur noch auf 500 geschätzt wird. Die 
Propagandapresse ist mithin heute trotz aller aufgewendeten Geldmittel zu voller 
Bedeutungslosigkeit verurteilt. Die Abnehmer sind zumeist von der französischen 
Bergverwaltung abhängige Personen. 

Was der Gewalt versagt blieb, versuchte der unter General Wirbel 1919 bereits 
auftauchende ehemalige Metzer Archivdirektor Hauviller erst durch vorsichtiges, 
dann aber durch herausforderndes Benehmen zu erreichen. Eine übel beleumun- 
dete Persönlichkeit wurde er einst von den Deutschen aus seiner Stellung ohne 
Pension entlassen und versuchte nun nach dem Friedensschluß sein Heil bei den 
Franzosen als einer ihrer eifrigsten Parteigänger. Vergebens suchte dieser Ge- 
schichtsklitterer die Redaktionen heim. Seine überall verteilten Flugschriften wurden 
von den Geschichtskundigen des Saarreviers in der Presse schlagend widerlegt. 


om Regen in die Traufe geriet die Saarbevölkerung und mit ihr die Presse, als 
en 26. Februar 1920 die Treuhänder-Regierung des Völkerbundes ihr Amt 
übernahm. Die Wahl der fünf Mitglieder der Regierung war so getroffen, daß der 
französische Einschlag maßgebend blieb. Der Präsident Rault tat demnach alles, 
die französische Propaganda zu fördern. Er erachtete es für seine Pflicht, sofort 
gegen die Versammlungs- und Pressefreiheit vorzugehen. Die Saarpresse hat den 
schweren Kampf 1920 sofort aufgenommen und trotz harter Schicksalsschläge tat- 
kräftig durchgeführt. Der erste große Schlag erfolgte, als im August 1920 ein in 
voller Ruhe verlaufener Beamten- und Angestelltenstreik zum Ausbruch kam. 
Für den Plan, nunmehr der Presse einen tödlichen Streich zu versetzen, konnte 
Rault keine Gelegenheit bequemer kommen. Obwohl vollständige Ruhe herrschte, 
ließ er am 6. August 1920 ‚„‚mit Rücksicht auf den Streik des Eisenbahnpersonals“ 
den Belagerungszustand über das Saargebiet verhängen. Er übergab dem General 
Brissaud-Desmaillet ohne jedes Recht hierzu die Gewalt und zugleich die Listen 
der deutschen Schriftleiter, die er des Landes verwiesen wissen wollte. Der General 
selbst erließ zunächst für die Zeitungen am 7. August folgenden Befehl: 

„Die Zeitungen haben sich darauf zu beschränken, Nachrichten ohne jeglichen Kom- 
mentar zu veröffentlichen. Sie sind verpflichtet, alle Verfügungen, Anschläge und Be- 
kanntmachungen des Kommandierenden Generals zu veröffentlichen. Jede Übertretung 
des Verbots wird die Einstellung des Erscheinens der Zeitung nach sich ziehen.“ | 

Schon in der Frühe des 8. August wurden indessen die gelesensten Zeitungen 
des Saarreviers auf einen Monat verboten, so die Saarbrücker-Zeitung, die Saar- 
brücker Landes-Zeitung, die Neunkirchner Volkszeitung, die Saar- und Blieszeitung 
in Neunkirchen, die Saar-Zeitung in Saarlouis und die Völklinger-Zeitung. 

Die Mitteilungen hierüber hatten den gleichen Wortlaut: 

Kommando der Saartruppen 
Sonderabteilung. Saarbrücken, den 8. August 1920, 

„Da die (Name der Zeitung) sich nicht nach den Instruktionen des Kommandierenden 
Generals der Truppen des Saargebietes gerichtet und ohne Genehmigung Kundgebungen 
der Streikleitung wiedergegeben hat, wird sie für einen Monat verboten. 











| Der Pressekampf im Saargebiet 323 


Eine Durchsuchung wird am Sitz der Zeitung vorgenommen werden. 

‚ Der Eskadronchef und Kommandant der Gendarmerie des Saargebietes wird mit der 
\ Ausführung dieses Befehls beauftragt.“ 

Sodann begann nach der vom französischen Spionagedienst vorgelegten Liste 
der mißliebigen Personen ein Kesseltreiben durch Marokkaner auf die Redakteure, 
\ die aber durch gute Verbindungen von ihrer bevorstehenden Abführung in die Ge- 
fängnisse unterrichtet waren. Sie konnten sich zumeist rechtzeitig jenseits des 

Rheins in Sicherheit bringen, wenn auch einzelne in abenteuerlicher Weise. Die 
‚Unglücklichen, die man abführen konnte, verbrachten in den schmutzigen und von 
| Ungeziefer belebten Zellen traurige Tage. Nach verschiedenen scharfen Verhören 
| entließ man sie schließlich, da es unmöglich war, ihnen andere Vergehen nach- 
zuweisen, als daß sie ihrer Pflicht gelebt. Die Haussuchung bei mehreren Schrift- 
leitern, bei denen Kisten und Kasten umgestürzt und ausgeräumt wurden, förderten 
| 
| 








' ebenfalls nichts Belastendes zutage. Die Regierung wollte aber den saarländischen 
 Hauptzeitungen den Garaus machen und so stellte sie nach Aufhebung des Be- 
 lagerungszustandes den Verwandten der Geflüchteten die Ausweisungsbefehle ihrer 
Angehörigen zu. Betroffen wurde am schwersten das älteste und bedeutendste 
' Blatt, die „Saarbrücker-Zeitung“. Verbannt wurden neben sämtlichen Redakteuren 
ı der Besitzer und Verleger des Blattes, selbst der kaufmännische Direktor. Sie 
| trafen sich in Mannheim, mieteten eine Reihe von Zimmern in einem Hotel und 
‚leiteten von dort aus über Y, Jahr den politischen und Handelsteil ihrer Zeitung, 
" während in Saarbrücken einige schriftgewandte Herren die lokalen Abteilungen ver- 
sorgten. Tatkraft und Fleiß ließ die schwierige Lage überwinden, auch dadurch, 
daß die Bürgerschaft sie voll zu würdigen wußte. Nicht ein einziges Mal ist es 
übrigens den Franzosen gelungen, den täglich zwischen Mannheim und Saarbrücken 
die Verbindung aufrecht haltenden Kurier, einen jungen, ebenfalls ausgewiesenen 
| Redakteur, mit seiner Manuskriptenmappe abzufangen, obwohl die Schriftleitung 
‚in Mannheim von Spitzeln überwacht wurde. Erst nach 4 und 5 Monaten gelang 
‚es, die Rückkehr nach Saarbrücken zu ermöglichen. 
| Monatelang vertrieben wurden auch am 8. August 1920 u.a. der Verleger und 
ı Redakteur der Neunkirchner Volkszeitung, der Saar- und Blieszeitung in Neun- 
| kirchen und der Saarzeitung in Saarlouis. 
Diese Ausweisungen entbehrten jeder rechtlichen Grundlage. Auch der Be- 
lagerungszustand konnte weder dem General, noch der Regierungskommission das 
ı Recht geben, die ihrem Schutze anvertrauten Personen auszuweisen. Die Stellung 
der Regierungskommission widersprach den obersten Grundsätzen, die im Vertrag 
von Versailles für das Saargebiet festgelegt sind. ; 

Die geheime und offen betriebene Unterdrückung des Deutschtums in allen wirt- 
‚schaftlichen und politischen Fragen, in der Erziehung und Pflege kultureller Güter 
ı vergiftete die Atmosphäre. Versagte man doch selbst deutschen Gelehrten für 

wissenschaftliche Vorträge die Einreise. Konzertprogramme wurden vorher auf 

deutsche Lieder durchschnüffelt und öffentliche Vorträge von Gesangvereinen 
untersagt. Wurde in einem Lokal ein deutsches Lied angestimmt, so mußte die 

Polizei mit Gummiknüppeln gegen die Übeltäter vorgehen. In großen wie in kleinen 
| Dingen zeigte sich das Regiment als unerträglich, zumal die Spitzelwirtschaft und 
die Korruption in ihrem Gefolge der Regierung jedes Ansehen raubten. Den Re- 
daktionen machte sie jede.denkbare Schwierigkeit, im Reiche engagierte Schrift- 
leiter erhielten keine Erlaubnis zur Einreise. Redakteure, die nicht das Recht der 
‚„saareinwohner‘ hatten, wurden ohne Recht und Gesetz, sobald sie sich mißliebig 
| machten, des Landes verwiesen, An die Grenze befördert wurden aus diesem Grunde 
ı zwei Redakteure der „Volksstimme‘“. Es kam bei dieser Gelegenheit zu einem 
scharfen Protest der gesamten Saarpresse, dem sich einmütig das Stadtverordneten- 
| Kollegium anschloß. 

Nur einmal wagte es die Regierung, am 24. Februar 1923, vor das Gericht zu 


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gehen. Der saarländische Minister Hecktor wurde von der. Saarbrücker-Zeitung 

















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324 Pressefreiheitam Rhein 











des Landesverrats und des Betrugs durch Fälschung von Schriftstücken beschuldigt. 
Vor Gericht überführt, mußte er seine Klage zurückziehen und verließ unter dem 
dringenden Verdacht eines Falscheides den Saal. Der Präsident Rault trat bei dem 
Justizminister für ihn ein und schützte ihn vor dem Strafrichter. Raults Schreiben 
hierüber geriet durch Zufall in die Hände der Presse und wurde von der Saarbrücker- 
Zeitung veröffentlicht. 


erschiedene Umstände trafen in jener Zeit zusammen, die den Präsidenten Rault 
drängten, der freien Meinungsäußerung der Saarbevölkerung endlich den Garaus 
zu machen. Bekannt wurde, daß der französische Deputierte Dariac, Vorsitzender 
der Finanzkommission der Kammer, nach einem Besuche des Saargebietes an den 
Präsidenten der Republik eine Denkschrift gerichtet hatte, die den Weg in die eng- 
lische Presse fand. In dieser Denkschrift drang Dariac darauf, die freie Meinung 
und Willensäußerung des Saarvolkes zu unterbinden, da gerade in einer Öffentlichen 
Äußerung der wahren Meinung des Volkes eine große Gefahr für die französische 
Saarpolitik (Annektion) liege. Für Rault kam zu dieser Anregung oder Druck von 
Paris die verbitterte Stimmung über den unerwarteten und schmählichen Ausgang 
des Prozesses Hecktor. Kurz entschlossen, entwarf er wenige Tage später mit den 
ihm gefügigen Ministern mit Ausnahme des Kanadiers Waugh einen ebenso grob- 
körnigen wie perfiden Anschlag gegen die Pressefreiheit, der weit über die Grenzen 
des Saargebietes hinaus, besonders in England, peinliches Aufsehen erregte. 
Zu allgemeiner Überraschung des Saarvolkes erschien am 11. März 1923 im Amts- 
blatt die berüchtigte ‚„Notverordnung zur Aufrechterhaltung der Ordnung und 
Sicherheit im Saargebiet‘‘. Diese Verordnung ist datiert vom 7. März 1923 und trat 





ungesetzlich, ohne Anhörung des Landesrates, bereits am 12. Märzin Kraft. Niemand’! 


begriff den Anlaß zu diesem brutalen Akt, der eine gewaltige Verbitterung in allen 
Volksklassen auslöste. Die einzelnen Bestimmungen griffen so tief in das politische 
Leben des Saargebietes ein, daß sie es völlig unterbanden. Hinzukam eine Dehn- 


barkeit in der Möglichkeit einer Auslegung und so rigorose Härten in der Straf-'! 


androhung, daß die öffentliche Meinung, die Presse, jede Versammlungstätigkeit 
und die Arbeit der politischen Parteien unmöglich wurden. 


Es sei hier gestattet, die Bestimmungen der ‚„Notverordnung‘‘, soweit sie die | 


Presse berühren, anzuführen. Im Artikel I werden Verhältnisse herangezogen, die 
im Saargebiet gar nicht in Frage kommen und überall, wie auch im Landesrat, nur 
großem Gelächter begegneten. Es wurde allen schwere Strafe angedroht, die einen 
Angriff auf Leib und Leben gegen die Mitglieder der Regierungskommission unter- 
nehmen, einer geheimen oder der Regierung feindlichen Verbindung angehören, ein 


Mitglied dieser Bestrebungen mit Rat oder mit Tat unterstützen, Waffenlager ver-|’ 


heimlichen oder sich im Besitz eines Munitionslagers, eines Geschützes, Minen- oder 


Flammenwerfers befinden usw. Der Zweck war natürlich nicht der Schutz der’! 


Regierungskommission und die Aufrechterhaltung der nirgendwo gestörten Ordnung 


a 


und Sicherheit, sondern die vollständige Ertötung des freien Wortes, vor allem‘! 
der Presse. Nach der lustigen Maskerade über Attentate, geheime Verbindungen’! 
und Waffenlager, die wohl dem Völkerbunde in Genf ein Grausen erregen sollte, | 
folgte der Kern der ungeheuerlichen Notverordnung, der die Presse tödlichtreffensollte: |? 


„Mit Gefängnis bis zu fünf Jahren, neben denen auf Geldstrafe bis zu 10000 Franken; 
erkannt werden kann, wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den Friedens-'? 


vertrag von Versailles verächtlich macht; ferner wer den Völkerbund, dessen Mitglieder 
oder die Signatarmächte des Friedensvertrages von Versailles, die Regierung des Saar- 


gebietes, ihre Mitglieder oder die von ihr getroffenen Einrichtungen oder die Beamten, welche" 
beauftragt sind, diese Einrichtungen durchzuführen oder in Gang zu bringen, beschimpft’! 


oder verleumdet; wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene 
Teile der Bevölkerung des Saargebietes, welche auch deren Staatsangehörigkeit sei (Rault 
verlieh den einwandernden Franzosen mit der wunderlichen Bezeichnung ‚Saareinwohner‘ 
die Rechte der einheimischen Deutschen) durch Drohungen, Beschimpfungen oder Ver- 
ächtlichmachung eines Teiles gegeneinander öffentlich aufreizt; wer öffentlich oder wer in 
einer Versammlung die Farben der Regierungs-Kommission beschimpft.‘ 














Der Pressekampf im Saargebiet 325 








Dieser Auszug mag genügen. Hinzuzufügen ist noch, daß neben dem Delinquenten 
auch die Druckschrift leiden soll, sie konnte auf 4 Wochen bis zu 6 Monaten ver- 


‘boten werden. Der Angeklagte hatte nicht etwa vor einem ordentlichen Richter 
"zu erscheinen, der Präsident bestimmte vielmehr, daß ein Strafsenat bei dem obersten 


Gerichtshof in Saarlouis gebildet und mit der Verfolgung von Vergehen gegen die 
Notverordnung zu betreuen sei. Dieser sogenannte Oberste Gerichtshof, an dessen 
Spitze der durch seinen Deutschenhaß bekannte Westschweizer Professor Nippold 


“stand, bestand vorwiegend aus Luxemburgern, Belgiern und Tschechoslowaken. 


Die Saarpresse setzte sich gegen das neue Attentat kräftig zur Wehr und unterzog 
es einer geradezu vernichtenden Kritik. Es regnete Verbote, so wurden die Saar- 
brücker-Zeitung und die Saarbrücker-Landeszeitung auf 24 Stunden verboten 
wegen Wiedergabe eines völlig objektiven Berichtes über Roheiten der Franzosen 
im Ruhrrevier. Welche Stimmung über die erneute Unterdrückung der Blätter in 
der Bevölkerung herrschte, mag daraus erhellen, daß der Stadtrat von Saarbrücken 
zum Zeichen des Protestes gegen diese ungerechtfertigte Maßregelung seine Sitzung 
aufhob. Der erste Fall möge mit wenigen Worten gestreift sein. Er bleibt bezeichnend 
für die Absicht Raults und der Franzosen. Das Verbot hat folgenden Wortlaut: 

„Durch Verfügung vom 23. März des Mitgliedes der Regierungs-Kommission für die An- 
gelegenheiten des Innern ist auf Grund des Artikels 15 der Notverordnung vom 7. März 
1923 zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Saargebiet die Saarbrücker 
Zeitung auf die Dauer von 24 Stunden verboten worden. 

Das Verbot beginnt am 23. März 1923, 6 Uhr abends. 

Grund: Die Nummer 31 der Saarbrücker-Zeitung vom 23. März 1923 enthält unter der 
Überschrift: ‚Die Franzosenherrschaft‘ einen Artikel, welcher den Tatbestand des Artikels II 
der vorbezeichneten Notverordnung erfüllt. 

Gemäß Artikel 16 der genannten Verordnung steht Ihnen der Beschwerdeweg beim Ober- 


' verwaltungsgericht des Saargebietes innerhalb einer Frist von 2 Wochen vom Tage der 


Zustellung vorstehender Verfügung offen. 
Der Direktor der Obersten Polizeiverwaltung. 
gez. Adler“. 

Das Blatt schlug den Beschwerdeweg ein, aber erst nach vielem Drängen kam es 
zu einem Urteil, das den tatsächlichen Inhalt des inkriminierten Artikels nicht 
bestritt, das Recht zum Verbot aber herleitete aus der deutschen Haltung des 
Blattes, aus dem wohl eine beleidigende Absicht der Ehre Frankreichs zu schließen 
sei. Die Saarbrücker Zeitung bemerkt dazu: .‚Der tatsächliche Inhalt der Meldung ist 
nicht angezweifelt, eine Kritik der Nachricht nicht erfolgt. Wenn in der Sache 
selbst etwas die Ehre Frankreichs Verletzendes liegt, so haben nicht die Zeitungen, 
sondern die französischen Soldaten diese Ehre verletzt. Es wird also der Saarpresse 
unmöglich gemacht, reine Tatsachenmeldungen zu veröffentlichen.“ 

Die Verbote gingen weiter. Eine Anzahl Blätter aus dem Reiche litten auch 
darunter. Von saarländischen Organen wurde die Saarbrücker-Zeitung wieder am 
5. April auf eine Woche verboten wegen Veröffentlichung der Schilderung eines 
Amerikaners über die Ruhrbesetzung. Ferner die Sulzbacher Volkszeitung auf zwei 
Wochen. Die Volksstimme, die Neunkirchner Zeitung, die Saarzeitung, die Neun- 
kirchner Volkszeitung, die Saar- und Blieszeitung erfuhren dasselbe Geschick. 
Daneben gingen auch andere Maßnahmen, so wurde ein Redakteur der Volks- 
stimme, dem man das Recht eines „Saareinwohners“ stets versagte, ohne Urteil 
und ohne Recht ausgewiesen. 

Nach eintägigem Erscheinen (13. April) wurde die Saarbrücker-Zeitung wieder 
auf 14 Tage verboten, wegen Veröffentlichung eines kurzen Auszuges aus einem 
Aufruf der „Kommunistischen Internationale“ gegen die Ruhraktion des fran- 
zösischen und belgischen Militärs. Am Samstag, den 28. April 1923, erschien das 
Blatt wieder, betonte aber sofort u. a. in einem Leitartikel: „Wir werden uns durch 
keinen Zwang der Notverordnung das Recht der Kritik, das Recht zur Wahrung 
unseres vaterländischen Standpunktes und das Recht zur Verteidigung der saar- 
ländischen Interessen nehmen lassen. Den Geist der saarländischen Bevölkerung, 


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326 Pressefreiheitam Rhein 1 





der in unserem Blatte ein Echo findet, kann auch diese Verordnung nicht unter- 
drücken“. Inzwischen hatte sich der Verband der Saarpresse am 29. März, wie 
wiederholt, in einer ausführlichen Eingabe an den Völkerbund in Genf um Schutz 
gegen die Notverordnung gewandt, deren dehnbare Klauseln eine Sicherung sinn- 
gemäßer Handhabung nicht böten. Jede sachliche Kritik der Zeitereignisse könnte 
nach der Verordnung als eine Beschimpfung oder Verleumdung der Ententestaaten 
ausgelegt werden. Die Regierungskommission und ihre Beamten entzögen sich jeder 
berechtigten Kritik, indem sie selbst die Grenze der Kritik nach eigenem Gut- 
dünken zu bestimmen in der Lage seien. Die Handhabung der Verordnung beweise 
ihre pressefeindliche Richtung. 

Inzwischen war die Regierungskommission wegen der Vertretung der Notverord- 
nung vor dem Völkerbund voller Sorge. Die englische Presse und auch das Parlament 
hatten den Stab darüber gebrochen. Zur Rettung des Präsidenten Rault aus seiner 
heiklen Lage erfolgte nun durch die politische Polizei ein Satyrspiel ohnegleichen. 
Sie täuschte in Verbindung mit Spitzeln der Welt eine schreckliche Revolution im 
Saargebiet vor. Man berichtete von einer beabsichtigten offenen Empörung, Spren- 
gung von Eisenbahnbrücken und geheimen Rüstungen einer Hitlergruppe, Haus- 
suchungen hätten die Aufstandsbewegung enthüllt usw. Die Regierungskommission 
selbst ließ durch das Wolff-Büro verkünden: „Der Präsident der Regierungskommis- 
sion hat am 5. April die Vornahme von Haussuchungen angeordnet, sowohl bei 
denjenigen Personen, von denen bekannt war, daß sie Mitglieder geheimer Or- 
ganisationen seien, als auch bei denen, deren Namen durch die eingeleiteten Er- 
mittlungen festgestellt worden sind. Der Generalstaatsanwalt beim Obergericht in 
Saarlouis ist mit der Verfolgung der Angelegenheit beauftragt.‘ Mit diesem Re- 
volutionsschwindel arbeitete Rault sodann in Genf am 2. Juli 1923, wurde aber 
durch das Auftreten des kanadischen Mitgliedes der saarländischen Regierung, des 
Ministers Waugh, in die Enge getrieben, so daß der Völkerbund den Auftrag erteilte, 
die Notverordnung aufzuheben. 

Über die Aktion der Franzosen, eine Revolution vorzutäuschen, hier wenige Worte. 
Das Saarvolk und die Presse bezeichneten die Angelegenheit sofort als ein tolles 
Schwindelmanöver, als solches stellte es sich auch heraus, sobald die Franzosen ihren 
Hauptspitzel nicht genügend entlohnten. Er übergab das ganze umfangreiche schrift- 
liche Material, das er sich zu verschaffen wußte, der Saarbrücker-Zeitung, die es 
in spaltenlangen Artikeln veröffentlichte. Die französischen Hauptattentäter der 


Polizeidirektion verschwanden darauf eiligst aus Saarbrücken, wurden aber nicht ° 


schimpflich aus dem Dienst gejagt, sondern von dem Präsidenten in Gestalt einer 
pecule mit je etwa 100000 Franken für ihre Tätigkeit belohnt. 


ault kehrte in gedrückter Stimmung von Genf zurück, hob die Notverordnung 

aber nicht ganz auf, sondern ließ sie in ihrem Kerne bestehen, und zwar den 
Teil, der ihm die Zwangsmittel gegen die Presse und die Pressefreiheit in Händen 
ließ. Diese Anordnung, die sogenannte „Ersatz-Notverordnung‘ erfolgte im Juli 
1923. Danach können auch heute noch und werden in vermehrter Zahl Druck- 
schriften beschlagnahmt, ‚‚die die Regierungskommission oder ihre Mitglieder, oder 
die Beamten, welche beauftragt sind, Einrichtungen durchzuführen oder in Gang 
zu halten, beschimpfen oder verleumden.‘“ Die Fassung dieser gegen die Presse 
gerichteten Bestimmung der heute noch in Geltung befindlichen Ersatz-Notverord- 
nung ist so allgemein und ohne klare Grenzen gehalten, daß es dem Belieben der 
Regierungskommission anheimgegeben ist, jede sachliche Kritik ihrer Maßnahmen 
und Einrichtungen zu unterdrücken und damit jede Preßfreiheit zu unterbinden. 
Die Sühne eines Delikts auf dem einseitigen Verwaltungszwangswege ist nicht 
das geeignete Mittel, denn es verweigert den davon Betroffenen den ordentlichen 
Rechtsschutz, die Beweisführung für die Behauptungen und das gerechte Straf- 
maß. Auch dem Ansehen des Völkerbundes selbst tun diese Zwangsmaßnahmen 
Abbruch, In einer Eingabe des Verbandes der Saarpresse nach Genf heißt es hierüber: 








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Der Pressekampf im Saargebiet 327 
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„Die Unterdrückung und Einschränkung des kulturellen Gutes der Pressefreiheit in einem 
dem Völkerbunde unterstellten Gebiete muß der erhabenen Idee schweren Schaden zu- 
fügen. Die Regierung selbst kann auf Achtung und Ansehen keinen Anspruch machen, 


- die auf dem Wege der sich selbst gegebenen Zwangsmittel eine einseitige Sühne ohne jedes 


richterliche Verfahren sucht und die ordentlichen Gerichte ausschließt.‘ 

Geklagt hat die Regierung nur noch zweimal. Eine längst als sittlich wurm- 
stichig bekannte Persönlichkeit wurde von ihr als französischer Parteigänger zum 
Seminardirektor in St. Wendel ernannt. Die Presse ging gegen diese Ernennung 


- vor und erreichte schließlich eine Gerichtssitzung, in der der Günstling der Franzosen 


wegen schwerer Verfehlungen an seinen Zöglingen zu langer Gefängnisstrafe ver- 
urteilt wurde. Man gab ihm aber Gelegenheit zu entkommen. Er entwischte nach 
der Schweiz und lebt heute in Frankreich. Der zweite Fall betrifft einen separa- 
tistischen Rheinländer, der von einer hiesigen deutschnationalen Zeitung auf das 
schwerste beleidigt und schließlich in derber, allgemein scharf getadelter Sprache 
als das größte Schwein des Saargebietes bezeichnet wurde. Die Regierung beschritt 
nunmehr den Klageweg, trat aber davon im letzten Augenblick zurück, weil sie durch 
die Zeugen für ihren Schützling und wohl für sich selbst peinliche Enthüllungen 
befürchtete. Der vielvermögende Beamte wurde aber nicht weggejagt, sondern als 
treuer Weggenosse monatelang beurlaubt, um sein volles Gehalt beziehen zu können. 
Beute ist er Beamter der französischen Bergverwaltung. 


nter der Ersatz-Notverordnung erfolgten u. a. noch folgende Verbote: Die Saar- 
Großstadtbrille, einsatirisch-humoristisches Wochenblatt, wurde am 28. Februar 
1924 auf die Dauer eines Monats verboten wegen eines Dialektgedichts „Die Männer 


von Pirmasens“. Am 22. Dezember 1924 erlitt dasselbe Schicksal die ‚Deutsche 


Saarzeitung‘‘ wegen der Artikel „Die Hüter der öffentlichen Ordnung im Saar- 
gebiet‘, „Aus dem Beamtenstab der Regierungskommission‘“‘, „Schieber in dem 


 Regierungsstabe‘ und „Die Säuberungsaktion im Saargebiet“. Am 8. Januar 1925 


untersagte man auf vier Wochen die „Sonntagsglocken an der Saar‘‘ und wiederum 
die „Großstadtbrille“ an demselben Tage wegen des humoristischen Gedichtes 
„saarländisches Prosit-Neujahr“. Am 14. Mai 1925 verbot die Regierung die 


„Deutsche Saarzeitung‘‘ auf einen Monat, weil sie die ihr zufällig in die Hände ge- 





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fallene Liste der Saarseparatisten (Saarbund) veröffentlicht hatte. Am 18. Juni 
1925 wurde die Neunkirchner Volkszeitung auf die Dauer von einem Monat ver- 
boten. Sie hatte Kritik geübt an den Erlassen des Kultusministers gegen die Jahr- 
tausendfeier. Die letzte Strafe traf den „Saardeutschen‘‘ am 8. August 1925, er 
durfte während eines Monats nicht erscheinen wegen eines Aufsatzes über die Lage 
in Elsaß-Lothringen. Wie der Verband der Saarpresse in einer Protesteingabe an 
den Völkerbund vom September 1925 feststellen konnte, wurden bis Anfang 
September 1925 insgesamt 21 Zeitungen verboten, einzelne nur für 24 Stunden, 


"andere für eine Woche und wieder. andere für zwei Wochen und einen Monat. 


Das Damoklesschwert der Ersatz-Notverordnung schwebt noch immer über der 
Saarpresse, aber diese läßt sich dadurch nicht hindern, für das Deutschtum einzu- 
treten und die Flamme der Vaterlandsliebe stets aufs neue zu entfachen. Eine tiefe 
Kluft ist aufgerissen zwischen Regierung und Presse. Alle guten Elemente werden 
durch die Methoden der Regierungskommission gegen die Presse abgestoßen. Durch 
Engherzigkeit und Nichtachtung verbriefter Rechte, durch Verständnislosigkeit für 
die Bedürfnisse der Öffentlichkeit und durch groben Mißbrauch der ihr anvertrauten 
Gewalt hat die Regierung nur erreicht, daß sie jegliches Vertrauen bei der Be- 
völkerung verloren hat. 








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328 Pressefreiheitam Rhein 











Französische Pressepropaganda an Rhein und Ruhr 
Von Dr. Walther Heide in Hannover 


las ich einmal über die Propaganda der Franzosen im Rheinland: „Sie 


ist plump und unnütz.‘“ In diesem Ausspruch liegt eine verhängnisvolle Ver- 
kennung der geheimen Triebkräfte, die gerade Frankreich in psychologischer Hinsicht 
auf das Feinste ausgebildet und auf das Geschickteste auf die Seele anderer Völker 
abgestimmt hat. Gerade der Krieg hat uns ja die Erkenntnis ihrer Macht und 
Gefahr gezeigt, und der Pariser Chefredakteur, der in seinem Buch „Hinter den 
Kulissen des französischen Journalismus‘) ein Kapitel der feindlichen Kriegs- 


propaganda widmet und sie zur deutschen in Parallele stellt, hat bewußt das 


Wort Lincolns für Frankreich in Anspruch genommen: ‚The pen is mightier 
than the sword — die Feder ist mächtiger als das Schwert.‘ Diese ganze Ein- 
stellung bestimmte im Januar 1924 auch die französische Kammer, einen Gesetz- 
entwurf anzunehmen, der für Propagandazwecke einen weiteren Betrag von sechs 
Millionen Franken forderte, wodurch die Gesamtaufwendungen Frankreichs für 
Propaganda sich für das Etatjahr 1924 auf 63 Millionen Franken beliefen, wovon 


Pranzösischer Pressedienst! 3. Jahrgang. Nr. 23. 
Coblenı 9. März 1923 





Herausgegeben zur rein sachlichen Berichtigung der Falsch- und Helzmeldungen Über das besetzte Gebiet. 


lachrichtenblat 








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Unsern Lesern zur Mitteilung. dass wir Nochrichien und Aufsälze, welche ihnen zur Verölfentlichung in dem Nach- 
richtenblaft geelgner erscheinen sollten, mit Dank enigegennehmen werden. Wir behallen uns jedoch vor. dieselben 
in unserem Blalte aufzunehmen oder nichl. Manuskripte werden nicht zurückgegeben. 





etwa 47 Millionen auf die Auslandspropaganda entfallen, In der Begründung des 
Kredits hieß es u. a., daß er dazu dienen solle, „die Verbreitung täglicher Nach- 
richten aus französischer Quelle zu fördern‘. Das war wohl auch der bestimmende 
Grund, der Frankreich veranlaßte, nach Besetzung des Rheinlandes ein derartiges 
Verbreitungsorgan zu schaffen und das Gleiche beim Ruhreinbruch zu wiederholen. 

Napoleon I. wird der Ausspruch zugeschrieben, daß vier feindliche Zeitungen 
mehr Schaden anrichten könnten als 100000 Mann im offenen Feld. Das scheint 
einer der wenigen Gedanken des großen Vorgängers zu sein, den die Napoleoniden 
der Nachkriegszeit verstanden haben. Während auf der einen Seite die Unter- 
drückung der deutschen Presse in einem Ausmaß durchgeführt wurde, das der als 
oberstes Menschenrecht proklamierten Freiheit der Presse, auf die man sich jenseits 


der Vogesen gegenüber unserer Kultur so gern beruft, Hohn spricht, schuf man auf’ 





der anderen Seite ein Organ, das ‚als öffentliche Meinung‘ dem unterjochten ? 


deutschen Volksteil von den Machthabern aufgezwungen wurde, 

Am 15. April 1921 erschien in Coblenz zum erstenmal ein von dem französischen 
Pressedienst heraus gegebenes „Nachrichtenblatt“, das von da ab in Zwischen- 
räumen von meist zwei, zuweilen auch bis zu fünf Tagen herauskam, bis es schließB- 
lich zu täglichem Erscheinen überging. Das Blatt trägt keinerlei Impressum, aus 
dem ersichtlich wäre, wer die verantwortlichen Redakteure, Herausgeber oder Ver- 
leger sind. Der „Deutsche“ (Nr. 127, vom 4. Juni 1922) will wissen, daß es von 
einem Herrn Brusquet, dessen Büro sich in den Diensträumen der Alliierten Rhein- 
landkommission befindet, geleitet werde. Brusquet sei Südfranzose, mit einer 
Coblenzerin verheiratet, behaupte, Anhänger der sozialistischen Weltanschauung, 
überzeugter Pazifist und Gegner des Diktats von Versailles zu sein. Er veranstalte 
in Coblenz häufig literarische Tees und sonstige Zusammenkünfte, in denen poli- 


1) Vgl. den Aufs. v.P.M. Baumgarten im Dezemberheft 1925 d. S.M. .‚Französ. Militärjustiz‘. 








Walther Heide: Französische Pressepropaganda an Rhein und Ruhr 329 


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tische Tagesfragen besprochen würden. Zu den Pazifistenvereinigungen Deutsch- 
lands unterhalte er rege Beziehungen. 

Von wem das Blatt anfänglich gedruckt wurde, ist meines Wissens bis heute 
nicht geklärt. Einen kleinen, wenn auch sehr unklaren Anhaltspunkt bietet das 
„Nachrichtenblatt‘“ selbst, wenn es in Nr. 27, Jahrgang 2, schreibt: 

„Gegenwärtig wird unser Blatt von einer anderen Druckerei gedruckt. Ohne uns 
etwas Derartiges voraussehen lassen zu können (!), teilte uns der Direktor der 
früheren Druckerei kürzlich mit, daß er aus politischen Gründen den Druck des 


 ‚Nachrichtenblattes‘ nicht mehr übernehmen könnte. Wir bedauern einen solchen 


Entschluß, der unseres Erachtens durch nichts berechtigt ist.“ 

Danach scheint sich also anfänglich eine deutsche Druckerei für französische 
Vorspanndienste hergegeben zu haben. Einen weiteren Anhaltspunkt erhält man 
aus der nach dem I. November 1924 eingetretenen Veränderung in der Verbreitungs- 
weise des Blattes. Anfänglich und besonders in der Inflationszeit wurde es kostenlos 
vertrieben, in Umschlägen als Drucksache durch die Post, teilweise aber auch durch 
die Kreisdelegierten selbst. Auch die französischen Buchhandlungen trugen eifrig 
zur Verbreitung bei. Die Weitergabe von Hand zu Hand ist nur sehr schwer in 
Rechnung zu stellen. Die ‚Frankfurter Zeitung‘ (Nr. 383, vom 24. Mai 1922) hat 
festgestellt, daß vielfach die Postumschläge das amtliche Siegel der französischen 
Besatzungsbehörde trugen, um die für solche Sendungen geltende Portofreiheit der 
deutschen Post auszunutzen. Im altbesetzten Gebiet wurde damals eine ziemliche 
Verbreitung festgestellt — auf 50000 Einwohner ungefähr 250 Stück —, am stärksten 
offenbar-in der Pfalz, weniger in Trier, Krefeld und Aachen. Wie der „Rheinische 
Beobachter‘ zu melden wußte, ist die Verbreitung auf dem platten Lande gelegent- 
lich mit dem amtlichen Stempel des Landratsamts erzwungen worden. Auch über 


das besetzte Gebiet hinaus fand es auf diese Weise Absatz, indem es der Presse 


und prominenten Persönlichkeiten ins Haus geschickt oder durch Agenten ver- 
trieben wurde. 

Später wurde es gegen ein im Voraus zu zahlendes Monatsabonnement unter 
Kreuzband zugestellt. Eine Neuerung trat im November 1924 nur insofern ein, 
als es nunmehr auch durch die Post bezogen werden kann zu einem Preise von 
0,85 GM., während die frühere Zustellung durch Träger ins Haus (3 Fr. oder 0,85 GM.) 
und unter Kreuzband (5 Fr. oder 1,25 GM.) daneben beibehalten wird. Das hängt 
mit dem Wechsel in der Vertriebsstelle des „Nachrichtenblatt‘‘ zusammen. Früher 
lag der Vertrieb in den Händen der Firma Georg Müller, Coblenz, Viktoriastr. 34, 
seit dem 1. Oktober 1924 hat die Geschäftsstelle des Blattes die ‚Expedition‘ selbst 
übernommen und Georg Müller ist gänzlich ausgeschieden. Mit der Nr. 249, vom 
27. Oktober 1925, ist jede französische Preisbezeichnung auf dem Kopf des Blattes 
verschwunden, es heißt nur noch: Einzelpreis: 5 Pf. Das „Nachrichtenblatt‘“ 
scheint also der deutschen Währung mehr Vertrauen entgegenzubringen als der 
französischen, obwohl es selbst während der Stabilisierungsaktion durch eine zynische 
Zeichnung der deutschen Mark kein langes Leben prophezeite. 

Da Herr Brusquet den Inhalt des Blattes nicht mit seinem Namen decken zu 
können glaubt, läßt er es unter dem nichtssagenden Signum „Französischer Presse- 
dienst, Coblenz‘‘ herausgehen. Weil dieser Pressedienst formell keinen amtlichen 
Charakter trägt, sind auch die französischen Besatzungsbehörden in der Lage, jede 
Verantwortlichkeit für das Blatt und seinen Inhalt abzulehnen. Es liegt aber auf 
der Hand, daß in Wahrheit das Unternehmen durchaus ein Glied der amtlichen 
französischen Rheinpolitik ist. Was das „Nachrichtenblatt‘ eigentlich will, und was 
sich wohl schwerlich aus dem einfachen Kopf herauslesen läßt, brachte es anfäng- 
lich in einem Untertitel zum Ausdruck, wo es hieß: „Herausgegeben zur rein sach- 
lichen Berichtigung der Falsch- und Hetzmeldungen über das besetzte Gebiet. 
Anscheinend aber hat die Redaktion eingesehen, daß der Untertitel dem wirklichen 
Zwecke des Blattes nicht entsprach, denn seit dem 1. Oktober 1924 ist er, ohne 
jede Erklärung, fortgefallen. An und für sich hat das Blatt damit also selbst zu- 





































330 Pressefreiheitam Rhein 
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gegeben, daß es gemäß der Idee seines Ursprungs keine Existenzberechtigung mehr 
hat. Es erscheint aber unentwegt weiter und ist sich auch in seiner inneren Struktur 
vollkommen treu geblieben, nämlich aus dem Zusammenhang gerissene Auszüge 
aus deutschen Zeitungen für seine Zwecke herzurichten und seinerseits Falsch- 
und Hetzmeldungen zu verbreiten. 

Wenn mir auch bedauerlicherweise die erste Nummer des ‚„Nachrichtenblatt“ 
nicht mehr vorliegt, die doch sicherlich eine eingehende Einleitung über Zweck und 
Ziel enthalten hat, so wird dieser Mangel in etwa behoben durch den Begrüßungs- 
aufsatz „An unsere Leser‘, mit dem der zweite Jahrgang sich einführte. Mit voll- 


endeter Ungeniertheit suchte dieser eine freundschaftliche Verbindung mit deutschen 


Lesern vorzutäuschen, aus deren Initiative das Blatt hervorgegangen sei und von 
denen es „unzählige Ermutigungsschreiben‘ erhalten haben will. 

Ich möchte füglich bezweifeln, daß die „Auchdeutschen“ wirklich so „zahlreich“ 
gewesen sind, die als gemeine Landesverräter in schamlosester Weise diesem völker- 
verhetzenden Propagandaorgan zu Leben verholfen haben. Man geht wohl nicht 
fehl in der Annahme, daß die im Rheinland im französischen Solde stehenden 
Separatisten mit diesen „zahlreichen Deutschen“ identisch sind, wozu noch dieser 
oder jener ‚deutsche‘ pazifistische Fanatiker kommt, die, wie der verstorbene 
englische Pazifist Morel mit Bedauern und Verachtung feststellt, sich nicht genug 
tun können in der Beschmutzung ihres eigenen Vaterlandes. Solchen Auchdeutschen 
zuliebe ein derartiges Organ ins Leben zu rufen, kennzeichnet eigentlich dessen 
Absichten schon zur Genüge, würde man bei seiner Lektüre nicht fortgesetzt darauf- 
stoßen, daß es als ein Hetzblatt schlimmster Sorte lediglich der Unterstützung der 
französischen Politik dient. Eine Verherrlichung des Friedensgedankens, der in dem 
erwähnten Artikel folgt, dient zur pazifistischen Verbrämung der französischen 
Rheinpolitik. 

In Nr. 246, vom 23. Oktober 1924, wandte sich die Geschäftsstelle mit einer 
„Abonnementseinladung‘ an .die Bevölkerung, in der es heißt: „Die vor einiger 
Zeit verbreiteten falschen Gerüchte vom Eingehen des Nachrichtenblattes gaben 
vielen Lesern Gelegenheit, uns ihre Sympathie zu bekunden. Wir wiederholen 
unsere bereits abgegebene Versicherung, daß das Nachrichtenblatt nicht daran- 
denkt, sein Erscheinen einzustellen. Es wird auch weiterhin bemüht sein, in sachlich- 
ruhiger Weise der Verständigung und dem Frieden zu dienen....“ Daß gerade das 
„Nachrichtenblatt“ dazu berufen sein soll, der Verständigung zu dienen, wirkt wie 
bitterer Hohn und wird der füglich bezweifeln, der einige Nummern aufmerksam 
verfolgt und dann nur mit lebhaften Bedauern davon Kenntnis nimmt, daß die „Ge- 
rüchte vom Eingehen“ des Nachrichtenblattes sich nicht bewahrheitet haben. 


\Vr sieht nun die „rein sachliche Berichtigung‘ aus? Die meisten deutschen 
Zeitungen scheint das Büro einer sorgfältigen Kritik inbezug auf franzosen- 
feindliche Bemerkungen über das besetzte Gebiet zu unterziehen. Denn sowohl 
viele führende Berliner, wie auch andere bedeutendere Provinzzeitungen werden 
zitiert und „richtiggestellt‘“. Bei dieser Art „Berichtigungen‘ beschränkt sich das 
Blatt meist auf die Wiedergabe der Nachricht mit der Schlußbemerkung, daß nach 
seinen Informationen die Sachlage eine andere sei.. Wie, das wird wohlweislich \ 
verschwiegen. 

Das Blatt war auch einer der eifrigsten Verteidiger der „Schwarzen Schmach“, 
Bestialitäten wurden als unwahr oder als nicht erwiesen bezeichnet. Man zitierte 
sogar Lettow-Vorbeck, um die Vorzüge der Schwarzen zu preisen. Nicht unge- 
schickt war die Gegenüberstellung zweier Aufsätze: „Die Propaganda gegen die 
farbigen Truppen‘ und „Die weißen Bestien in Oberschlesien“ (aus „Die Kom- 
munistin“). Während in dem ersten Aufsatz die Neger als „große Kinder in guter 
Laune‘‘ geschildert wurden, die „gerne an den Spielen der deutschen Kinder teil- 
nehmen“, ergeht sich der folgende Aufsatz in den gemeinsten Anwürfen gegen die 
deutschen Truppen anläßlich ihres damaligen Einzugs in Oberschlesien. Dort ist 
von „Greueltaten‘ die Rede, die sie an „Volksgenossen‘ verübt hätten. Die wider- 
























Walther Heide: Französische Pressepropaganda an Rhein und Ruhr 331 
Ps 








lichsten Bestialitäten werden der Reichswehr angedichtet. Für unkritische Gemüter 


dürften die beiden Artikel gerade in ihrer Gegenüberstellung gefährlich sein. 
Von der Art der vorhin erwähnten Berichtigung ist das ‚„‚Nachrichtenblatt‘ im 
Laufe des 2. Jahrgangs immer mehr abgekommen, immer mehr damit aber auch 
von Meldungen über das besetzte Gebiet. Das, was sich das Blatt zur Haupt- 
aufgabe gestellt hatte, wurde auf ein Mindestmaß beschränkt und kommt jetzt 


\ nur noch dann und wann zum Vorschein. Es gibt wochenlang Nummern des „Nach- 
‚richtenblatts“, in denen überhaupt keine Hetz- oder Falschmeldungen widerlegt, 


sondern nur französische Falsch- und Hetzmeldungen gemacht werden, wenn auch 
in verbrämter und äußerst geschickter Form. Aus der Abwehr ist Angriff geworden, 
aus dem besetzten Gebiet das ganze Deutschland, aus den Berichtigungen wird 
Deutschenhetze schlimmster Art. Man nimmt innerdeutsche Angelegenheiten zum 
Gegenstand eines gehässigen Artikels, man räumt immer wieder der Kriegsschuld- 
frage breitesten Platz ein, wobei der Hunne und Barbare als der Hauptschuldige 
und Alleinschuldige gekennzeichnet wird und alle Gegenströmungen mit dem 
Sammelnamen „alldeutsch‘‘ oder „völkisch“ belegt werden. Wie verkümmert muß 
das Billigkeitsgefühl einer Besatzungsmacht sein, die den Deutschen des besetzten 
Gebietes die Erörterung der Kriegsschuldfrage verwehrt, durch das Blatt ihres 
eigenen Pressedienstes aber immer wieder für die Lüge von der Alleinschuld Deutsch- 
lands Propaganda machen läßt. Man berichtet ebenso über den Wohlstand der 


‚' deutschen Industrie wie über die geringen Beträge der deutschen Steuerzahler. 


Man nennt Bismarcks Emser Depesche eine Fälschung, wie man das Versailler 
Diktat als milde gegenüber dem Frankfurter Frieden bezeichnet. Was das Blatt selbst 
treibt, das wirft es außerdem uns Deutschen vor. „Wie wir schon bemerkt hatten, 
ist es uns unmöglich, alle Falschmeldungen, welche durch die deutsche Propa- 
ganda täglich gegen uns verbreitet werden, zu brandmarken. Wir erlauben uns 
immerhin festzustellen, daß gewisse deutsche Zeitungen, welche der Ansicht sind, 


‚ daß dieser Lügenfeldzug verhängnisvoll ist, heute ihre Leser einladen, diese Nach- 


richten init der größten Vorsicht aufzunehmen.“ 

Kritisch hat „Die Zeit‘ einmal in Nr. 187 ihres 2. Jahrgangs die Propagandaart 
des „Nachrichtenblatt‘ untersucht, indem sie aus der Fülle des Materials den in 
Nr. 104 abgedruckten Brief eines Rheinländers zitiert, der allerdings ein derartiges 
Maß undeutscher Gesinnung aufweist, daß sich die Herausgeber des „Nachrichten- 
blatt“ vor Freude schier nicht lassen können: Darin heißt es u.a.: 

„Warum hat kein deutscher Bischof oder Priester den Mut gefunden, öffentlich 
gegen die Oberste Heeresleitung aufzutreten, die an einem Karfreitag, dein Sterbe- 
tag des Welterlösers, ca. 80 fromme Beter in einer katholischen Kirche von Paris 
durch eine wohlgezielte Granate mordete? Wie konnten in den letzten Jahren des 
Krieges, als schon feststand, daß die deutsche Regierung einen Frieden wollte, 
der den Intentionen des HI. Vaters nicht entsprach und mit den Interessen Christi 
nichts gemein hatte, trotzdem katholische Geistliche von der Kanzel aus Propaganda 
für die Kriegsanleihen machen? Mir hat mal kürzlich ein katholischer Pfarrer 
aus E. bekannt, daß er sich noch heute Gewissensbisse mache, daß er die Kanzel 
nicht zum Verkünden des Wortes Gottes, sondern zur Propaganda für die Kriegs- 
anleihe benutzt habe. Endlich, wann hat ein deutscher Bischof oder Priester pro- 
testiert gegen die allem Christlichen Hohn sprechenden Deportationen, die die Wieder- 
einführung der Sklaverei bedeuten ?“ 

Es verlohnt, diesen Brief einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen. In den 
Bemerkungen, die die Redaktion ihm vorausschickt, heißt es: „Aus leicht begreif- 
lichen Gründen müssen wir leider auf die Angabe des Namens unseres Korrespon- 
denten verzichten.“ Das bedauern auch wir aufrichtig, und wir können uns des 
Verdachts nicht erwehren, daß der Rheinländer, der freiwillig diesen Schmähbrief 
geschrieben haben soll, gar kein Deutscher ist. Denn er steht mit der deutschen 
Sprache auf eigentümlich gespanntem Fuß. Er schreibt so, als wenn er das Ganze 
aus einer fremden Sprache, sagen wir aus dem Französischen, übersetzt hätte. Fol- 


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332 PressefreiheitamRhein 
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gender Satz zum Beweis: „Haben die Kreise, die jetzt gegen die Schwarze Schmach 
protestieren, auch protestiert, als die deutschen Kulturträger in den Kolonien die 
schwarzen Frauen mißbrauchten? Sind sie in ähnlichen Protestversammlungen auf- 
getreten gegen den Dr. Peters, den Begründer der deutschen Kolonien, dessen 
und derandern Treiben damals im Reichstag zu brandmarken ein 
Verdienst desleider von der alldeutschen Meute ermordeten Erz- 
berger ist?‘ Ist das nicht in schlechtes Deutsch übersetztes gutes Französisch ? 


Alles, was in Deutschland Gegenstand des Streites ist, sei es zwischen Parteien, 
sei es zwischen Wirtschafts- oder Interessengruppen, sei es zwischen monarchistischen 
oder republikanischen Anschauungen, oder seien es religiöse Streitfragen, an all 
diesen Dingen kocht auch das „Nachrichtenblatt‘ sein Süppchen. Da wird über 
die „Dolchstoßlegende‘‘ geschrieben, um die Parteien gegeneinander aufzuhetzen, 
Artikel über „Die höheren Zehntausend‘“ und ‚„Klassenjustiz‘‘ sollen die Massen 
aufpeitschen, mit der Überschrift „Positiver Preisabbau‘‘ sucht man das ehrliche 
Bemühen der Regierung herabzusetzen. Mit Wonne wühlt das Blatt in den inner- 
politischen Auseinandersetzungen, die z. B. Locarno ausgelöst haben. „Aus dem 
Cuno-Paradies‘, ‚„‚Fememorde‘“ u.a. hetzen die Verbände aufeinander, fast eine 
halbe Seite ist der Abhandlung über ‚Eine provokatorische monarchische Kund- 
gebung‘‘ gewidmet. „Der Herr von Oels!‘“ kehrt oft wieder, noch häufiger aber 
Aufsätze, wie „Die Politik des Hauses Doorn‘“, um die Sozialdemokraten gruselig 
zu machen, oder „Erinnerungen aus großer Zeit“, „Zur Auffrischung des Gedächt- 
nisses‘‘, die nicht gerade glückliche Aussprüche des ehemaligen Kaisers aufzählen, 
aber vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen sind. „Der Retter Hinden- 
burg‘ und die „Rheinlandfeiern‘‘ waren der Redaktion aber doch erheblich auf die 
Nerven gefallen. Ein Aufsatz über ‚Die Berliner Kolonialpropaganda“ schließt 
mit den bezeichnenden Worten: ‚... die früheren deutschen Kolonien haben seit 
dem Mandatsregime einen bemerkenswerten Aufschwung genommen und sehnen 
sich wöhl kaum wieder unter die Herrschaft der früheren Kolonisatoren zurück“ 
(Nr. 183, vom 9./10. August 1925). Ein „Vom Geist des Friedens und von ,„pa- 
zifistischen Wirrköpfen‘‘ handelnder Aufsatz, der in naiver Konstruierung einer in 
Waffen starrenden Nation eine größere Abrüstung zumißt als einer materiell voll- 
kommen abgerüsteten, wenn sie nur dem Geiste des Krieges abhold sei, schreibt 
von uns: „Da haben wir alles beisammen: diplomatisch, brutal und sentimental 
wird die Stimmung des Volkes hochgepeitscht, und wer darin eine Gefahr für den 
Weltfrieden sieht, ist ein ‚pazifistischer Wirrkopf‘.‘ 


Gemeingefährlicher läßt sich aber wohl kaum eine Nachricht abbiegen, als das 
in einem Aufsatz „Giftgas‘‘ (Nr. 245, vom 22. Oktober 1925) geschieht. Dort ist 
eingangs die Rede von dem Tode eines englischen Professors, dessen Erkrankung 
unter dem Einfluß von Giftgasen erfolgte. Der Professor stirbt in England bei 
englischen Versuchen der Giftgasforschung. Dieses ‚Opfer eines zu kriegerischen 
Zwecken ausgebeuteten Gebietes der Wissenschaften‘ soll nun dem Lande, ‚dessen 
chemische Rüstungsanlagen darauf hinarbeiten, einen künftigen Gaskrieg vor- 
zubereiten‘, zur Einsicht werden und in ihm eine Abwehrbewegung gegen solche 
Unternehmungen zeugen. Wer bis dahin noch daran zweifeln konnte, daß hiermit 
Deutschland gemeint war, der wird eines Besseren belehrt durch den Schlußsatz: 
„Gerade aus deutschen militärischen Kreisen sind immer wieder Stimmen laut 
geworden, die auf die Giftgasforschung als auf die Vorbereitung der chemischen 
Waffen des Zukunftkrieges hingewiesen haben. Man fabelt munter weiter vom 
frischfröhlichen Krieg und braut in den Laboratorien das schleichende Gift der 





Chlorazetophonole und Dichloräthylsulfide, deren Namen dem Laien so geheimnis- |! 


voll unverständlich klingen, und die doch eine unausdenkbare Summe von Schrecken 
in sich bergen.‘“ Es gehört schon die verlogene Umdrehungskunst eines franzö- 
sischen Propagandisten dazu, um aus einer England betreffenden Nachricht Deutsch- 
land einen belastenden Strick zu drehen. 

















! Walther Heide: Französische Pressepropaganda an Rhein und Ruhr 333 
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‘ Die besondere Geschicklichkeit des ‚Nachrichtenblatt“ liegt darin, klug aus- 
‚ gewählte deutsche Stimmen zu Worte kommen zu lassen, besonders aus links- 
‚radikalen oder pazifistischen Blättern, aus denen es überhaupt sein Hauptmaterial 
"bezieht. Sollte dieser oder jener aber einmal einer anderen Quelle entstammen, 
‚so freuen sich gewisse Pressekreise Deutschlands des „gefundenen Fressens‘‘ und 
| können am anderen Morgen ihren Lesern die interessante Sache nicht schmackhaft 
‚ genug vorsetzen. In dem einen wie in dem andern Falle geben sie sich zum Hand- 
enger französischer Interessen auf Kosten deutscher Einigkeit her. 

Auf einen bezeichnenden Zug des Blattes macht der „Rheinische Beobachter“ 
(22. Juni 1922) aufmerksam: „Bekanntlich wird die ganze Loslösungsbestrebung 
der Smeets und Dorten mit französischem Gelde gemacht; im Sinne der fran- 
, zösischen Politik aber liegt es, die Sache so hinzustellen, als ob sie aus der Initiative 
der Rheinländer selbst heraus sich trage. Bezeichnenderweise wird deshalb nie 
ı unter den Zitaten des Nachrichtenblattes — aus denen es sich in der Hauptsache 
zusammensetzt — aus einem Blatt der Sonderbündler, Rheinische Republik, Rhei- 
nischer Herold, Rheinländer und so weiter abgeschrieben. Man denkt den Be- 
strebungen zu schaden, wenn man sie irgendwie offiziös mit den französischen Presse- 
äußerungen im Rheinland in Beziehung bringt.‘ 

In Frankreich selbst scheint man mit den Leistungen des ‚Nachrichtenblatt‘“ 
nicht immer ganz zufrieden zu sein, das zeigt ein Artikel der „L’Action francaise‘: 
| „Linanit& de notre action dans les pays occup&s‘, der in seinem Ingrimm über 
'„la formidable presse de Stinnes et le Heimatdienst‘ es ‚‚une feuille invraisem- 
blable“ (ein unwahrscheinliches Blatt) nennt. Demgegenüber sei ‚die infame 
ı Gazette des Ardennes‘ ein „Musterblatt offizieller Journalistik‘‘ gewesen. „Was 
bringt es? Von allem ein Weniges, eine unverdauliche Masse von Noten, Depeschen 
“und Ausschnitten aus der deutschen sozialistischen Presse, aus französischen 
Blättern!“ Dann wird zu einer großzügigeren Zeitungspropaganda aufgefordert. 
| Es gelte, eine große Tageszeitung an die Stelle dieses Käseblattes zu setzen, „‚plus 

vivant, plus direct, serrant de plus pr&s l’actualit& faite pour la riposte instantande 
comme pour l’attaque brusquee.“ Wenn der Artikelschreiber daneben eine aktive 
| Pressearbeit darin sieht, daß die sogenannten ‚rheinischen‘, in Wirklichkeit ‚preu- 
Bischen‘ Blätter kurzerhand so lange verboten werden sollen, bis sie „Respekt 
gelernt haben vor der Wahrheit und den fremden Siegern‘, so zeigt das klar und 
‚ deutlich, mit welchen propagandistischen Triebkräften Frankreichs wir es am Rhein 
zu tun haben. 


Bi nach dem Ruhreinfall gesellte sich zu dem ‚Nachrichtenblatt‘“ ein in der 
| Tendenz und Aufmachung vollkommen gleichgerichteter Ableger, der „Nach- 
rfichtendienst‘ in Düsseldorf, der in der Druckerei des von den Franzosen be- 
"schlagnahmten „Düsseldorfer Tageblatt‘‘ hergestellt wurde. Auch er wurde durch 
gen Französischen Pressedienst herausgegeben, ohne sich durch die Bezeichnung 
eines Verlegers, Druckers oder Redakteurs zu enthüllen. Die enge Verquickung 
ı des „Nachrichtendienstes‘‘ mit den militärischen Stellen geht einwandfrei aus einer 
\ Dienstnote des Chefs des Generalstabes, Baratier, hervor, in der es heißt: „Die 
Zeitung ‚Nachrichtendienst‘, die vom Generalstab der Rheinarmee herausgegeben 
"wird, soll nächstens vergrößert werden. Es ist möglich, daß sie Mitteilungen von 
deutschen Personen erhalten würde, welche anonym bleiben möchten. Diese können 
‚ihre Briefe für die Zeitung an dieselbe Adresse und unfrankiert in die mit französischer 
| Schrift bezeichneten Briefkästen der Redaktion werfen. Der Dienst, welcher die 
Entleerung dieser Briefkästen besorgt, wird diese Korrespondenz dem Generalstab 
der Armee übermitteln.‘ Auch der „Nachrichtendienst‘‘ war eine Tageszeitung 
‚in deutscher Sprache, die von französischen Soldaten kostenlos auf der Straße ver-- 
‚teilt und weit in das Ruhrgebiet hinein zu Propagandazwecken in hoher Auflage 
| vertrieben wurde, teils durch Agenten, teils durch die französischen Buchhand-- 
‚lungen. Auch der deutsche Straßenhandel wurde zeitweilig gezwungen, das Blatt 
feilzuhalten. In der kostenlosen Verbreitung lag gerade während der Inflationszeit. 


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334 Pressefreiheitam Rhein 








eine große Gefahr für die deutsche Bevölkerung. Viele konnten sich infolge der 
wirtschaftlichen Not keine Zeitung mehr halten und griffen in ihrem Nachrichten- 


hunger gierig nach dem Gedruckten, das sich hier kostenlos bot. Und damit hatte” 


die französische Propaganda gerechnet und das geschickt aufgemachte Blatt gerade 
auf die wirtschaftlich Notleidenden, den Mittelstand, die Arbeiter und die Erwerbs- 


losen, abgestellt. Ebenso wie das „‚Nachrichtenblatt‘‘ wußte es die verschiedensten ’ 


Kreise und Anschauungen gegeneinander auszuspielen, deutsche Regierungsmaß- 
nahmen einer verletzenden Kritik zu unterziehen und daneben die französische Kultur 
der deutschen Bevölkerung ins rechte Licht zu rücken. Der ‚Rheinische Beobachter‘“ 
(27./28., vom 6. Juli 1924) bezeichnete den ‚„‚Nachrichtendienst“ als ein um so gefähr- 
licheres Werkzeugfranzösischer Kulturpropaganda, als die deutsche Presseim besetzten 
Gebiet es aus Furcht vor Unterdrückung nicht wagte, den Bestrebungen dieses Hetz- 
blattesentgegenzutreten. Das Blatt der vorurteilslosen Belehrung und Aufklärung, oder 
wie es sich selbst in einem Untertitel nennt: ,‚Berichtigungs- und Informationsblatt für 
das besetzte Ruhrgebiet“, inhaltlich zu kennzeichnen, liefe auf eine Wiederholung des 
bereitsskizzierten ‚Nachrichtenblattes‘ hinaus. Aber ein Beispiel ausder Nummer vom 





27. Juni 1923 mag sinnfällig den Inhalt kennzeichnen. Über Deutschland steht da ge- ! 


schrieben: ‚In Berlin wird viel gegessen und noch viel mehr getrunken. Man tanzt, und 
derbrave Bürgersmanngeht indie Theater und Kinos, wo pseudonationalistischeStücke 
gegeben werden. Das ist ein angenehmer Zeitvertreib; man wird dicker dabei, und 


es ist nicht gefährlich.“ Und über Frankfurt, denn aus diesen beiden Städten scheint} 


Deutschland in den Augen des Beobachters nur zu bestehen: „Ich möchte sogar 


behaupten, daß viele Einwohner dieser schönen Stadt die Ankunft der Franzosen‘ 
nicht ungern sehen würden. Man hat Angst vor den Kommunisten und den damit 


verbundenen Plünderungen ...“. 

Zur Frage: Welchem Blatt gebührt der Preis, das schmutzigste Blatt der Welt zu 
sein ?, schrieb der „Vorwärts“ u. a. folgendes: 

„Wir möchten den Preis unbedenklich einer Zeitung zuerkennen, die den Titel führt 
‚Nachrichtendienst, herausgegeben durch den französischen Pressedienst Düssel- 


dorf, Berichtigungs- und Informationsblatt für das besetzte Ruhrgebiet‘, Nichts kenn-"% 


zeichnet die Entwürdigung der so vielfach geschändeten ‚Pressefreiheit‘ stärker als 
die Existenz einer Zeitung auf deutschem Boden, die vom französischen Militär- 
kommandanten und von der französischen Regierung subventioniert wird, während die 


wirkliche deutsche Presse desselben Gebiets unter den schwersten Bedrückungen und 


Schädigungen zu leiden hat. Sein Fortbestand bedeutet nach der Beendigung des 
Ruhrkriegs zweifellos eine dreiste Einmischung in die inneren deutschen Verhältnisse, 
Das ganze Streben der Redaktion ist darauf gestellt, alles, was in Deutschland ge- 


schieht, zu verdächtigen und herunterzureißen, die Politik Poincar6s aber und der 
französischen Generale zu verherrlichen. Man denke nur an ein von dem ‚Nachrichten-" 
dienst‘ verbreitetes Bild: ‚Stresemanns Nachgiebigkeit‘. Die Ruhr ist dargestellt durch ° 
einen mächtigen Geldschrank, auf den Herr Poincare, den dickbändigen ‚Friedens- 
vertrag‘ unterm Arm, seine Hand gelegt hat. Daneben Herr Stresemann in dürftige” 


Lumpen gehüllt. ‚Laß ihn los‘ — so läßt man ihn sagen — ‚und alles, was ich sonst 


hab’, sei dein!‘ Mit andern Worten, die Ruhr, den Reichtum Deutschlands, wollte” 
Frankreich festhalten, das übrige Deutschland aber als armseliges Beiwerk beiseite- | 


schieben.“ 


Der „Nachrichtendienst‘ ist bei der Ruhrräumung mit einem ohrasenreicheiil 
Abschiedswort an seine Leser von der Bildfläche verschwunden. Seine Tendenz” 
aber lebt weiter in dem „‚Nachrichtenblatt“ in Coblenz, auf das die Charakterisierung 


des „Nachrichtendienstes“ durch den „Vorwärts“ vollkommen zutrifft. Was sich 


dieses an Beleidigungen der deutschen Staatsmänner und selbst des deutschen) 
Staatsoberhauptes leistet, kann ein Volk von Ehre auf die Dauer nicht länger 


ertragen. Außerdem steht das „Nachrichtenblatt“ in schärfstem Gegensatz zu den 


Folgerungen aus dem Dawes-Gutachten und dem Vertrag von Locarno. Es handelt” 


sich bei der Herstellung dieses „Nachrichtenblattes“, das durch seinen deutschen 











Walther Heide: Französische Pressepropaganda an Rhein und Ruhr 335 
Eu nuQ nun 


Text noch nicht einmal für die französischen Truppen oder andere Angehörige der 
Besatzungsmacht bestimmt sein kann, um völlig unproduktive Ausgaben, die 


indirekt von Deutschland aufgebracht werden, und auch aus diesem Grunde ist 


es erforderlich, daß so schnell wie möglich ein Abbau eintritt. Seine Hetzarbeit ist 
ganz dazu angetan, das große Problem der europäischen Befriedung zu hinter- 


treiben. Was der „Vorwärts“ für den „Nachrichtendienst‘ forderte, trifft daher 
mit ebensolcher Entschiedenheit auch auf das französische ‚‚Nachrichtenblatt“ in 
 Coblenz zu, daß ‚„‚dieses schmutzige Produkt militaristischen Eroberungshochmutes 


auf deutscher Erde so rasch wie möglich verschwindet‘, 


| D:; Darstellung wurde zu einer Zeit geschrieben, in der das „Nachrichtenblatt‘ 


noch bestand. Dem Druck maßgeblicher Stellen in Deutschland hat die franzö- 


| sische Regierung schließlich nachgegeben und das Eingehen des Blattes veranlaßt. 
Mit einem Abschiedswort, das noch einmal dem, der das Blatt die Jahre hindurch 


aufmerksam verfolgt hat, die ganze Verlogenheit des Systems vor Augen führt, 
kündigte es die Einstellung des Erscheinens an. Es schrieb: 

„Die Mitteilungen der verbündeten Regierungen und die vor kurzem erfolgte 
Kundgebung der Rheinlandkommission haben dem Reiche zu erkennen gegeben, in 
welchem Maße die Alliierten entschlossen sind, ihren Wunsch nach Verständigung, 
ihren versöhnlichen Geist und ihren guten Willen zum Ausdruck zu bringen. Ge- 
tragen von dem Geist, aus dem die bisher getroffenen Maßnahmen entsprangen, 
sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß die Aufgabe des Nachrichtenblattes be- 
endigt ist. Während mehrerer Jahre waren wir bemüht, das Ziel, das wir uns ge- 
steckt hatten, zu erreichen, nämlich die Aufklärung über zahlreiche ungenaue Auf- 


 fassungen, die wir bei einer genauen Prüfung der Presse festzustellen in der Lage 
waren. Indem wir so unsere Aufgabe zu erfüllen suchten, handelten wir nur im 





höheren Interesse der Wahrheit und trugen auf diese Weise unsern Teil dazu bei, 
die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die die Annäherung der Völker unter- 
einander verzögerten. Der Vertrag von Locarno hat den Weg der Rettung aus den 
Wirrnissen der Nachkriegszeit geöffnet. Nun ist es Sache der Völker, diesen Pfad 
zu einer breiten und lichten Straße auszubauen. Deshalb muß nun jeder mit seinem 
guten Willen die Staatsmänner, die das Werk begonnen haben, unterstützen.‘ 
Diese einen gewissen hohen Idealismus vortäuschenden Schlußworte mögen mit 


' der von mir gegebenen Charakterisierung dieses Blattes verglichen werden, um zu 
‚ der Erkenntnis zu gelangen, wie es in seiner harmlosen Aufmachung und sehr ge- 


schickten psychologischen Einstellung auf politisch unkritische Gemüter tinen ver- 


‘ derblichen Einfluß ausüben konnte, und wie wichtig es ist, mit kritischem Sinn an 


Presseerzeugnisse heranzugehen, deren Richtung und Zweck nicht unumstößlich 


' feststeht. 


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Das Spottbild des französischen Nachrichtendienstes 
im Ruhrkampf 


ie Franzosen fanden mit ihren Nachrichtenblättern zur Widerlegung der Hetz- 
Di Falschmeldungen: über das besetzte Gebiet nicht überall die Gegenliebe 
der Bevölkerung. Zwar nahmen manche das Blatt als Geschenk gern an, weil man 
sein Butterbrot darein einwickeln und .das Papier auch sonst noch auf manche 
Art nützlich verwenden konnte. Aber die Mehrzahl der Bevölkerung hatte für 
diese Art von Berichtigung und politischer Franzosenpropaganda kein Verständnis, 
Man sanın auf Mittel, das Propagandablatt wohlschmeckender zu gestalten, und da 
verfiel man auf den glücklichen Gedanken, es nach dem Muster mancher fran- 
zösischer Zeitungen mit Spottbildern auszustatten, die auch dem eiligen oder den 


Text nicht beachtenden Leser das nahebrachten, was ihm die französische Pro- 
, Pressefreiheit am Rhein (Südd. Monatshefte, 23, Jahrg., Heft 11) 23 








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336 Pressefreiheitam Rhein 





paganda sagen wollte. Aus der reichen Galerie dieser Spottbilder des Nachrichten- 
blattes sollen ein paar bezeichnende Proben gegeben werden. 

Auf einem reklamehaft wirkenden, eine ganze Seite füllenden Bilde sehen wir 
eine Brunnennymphe, die ‚Wahrheit‘ unterschrieben, die zur Hälfte in einem 


Brunnen steht und sich in einem Spiegel beschaut. Es soll wohl das Symbol für 


die Aufklärungsarbeit des „Nachrichtendienstes‘ sein. Alle wichtigen innen- und 
außenpolitischen Ereignisse der Lage im Ruhrgebiet werden durch den Nach- 
richtendienst im Spottbild 
gezeigt. 

Ein Lieblingsthema ist 
natürlich derpassive Wider- 
stand, der in einen ‚spon- 
tanen‘‘ Widerstand umge- 
deutet wird. Der Reichs- 
kanzler Cuno wäscht als ein 
neuer Pilatus seine Hände 
in Unschuld, darunter sehen 
wir einen harmlos des Weges 
gehenden französischen 
Offizierundhinterihmeinen 
Hakenkreuzler, der mit 
einem Revolver den Franzo- 
senrückwärts zu erschießen 
droht (siehe Bild). In immer 


Thema von der „kranken 
Mark‘ behandelt. Der 
Reichskanzler Cuno geht 
als Zirkuskünstler über ein 


einem Balancierstock die 
Mark. Das Seil aber bricht 
unter seinen Füßen, dem- 


stabile Haltung des Francs 
gerühmt. Mitten im Sturm 
steht Marianne, die Triko- 


Franken, den das Meer ver- 





neuer Aufmachung wird das 


schmales Seil und trägt an 


gegenüber wird dann die 


schlingen will. Darüber liest ° 
man: „Fluctuat nec mergi- 
tur“, er wird nicht unter- 7? 





lore schwingend, auf dem 


gehen! (S. Bild). Auf einem "# 
anderen Bilde sitzt der deutsche Michel auf einer Bank und bläst Seifenblasen in die FE 


Luft. Die Schüssel, aus der er die Lauge nimmt, ist mit Hakenkreuzen geschmückt, 


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. 


mehrere Seifenblasen sind bereits geplatzt: Der passive Widerstand, der Franken- "# 


Sturz und Ludendorff. Dagegen schweben die Rentenmark, Rußland und das 
Moratorium noch in der Luft. Eine neue Seifenblase hatte der unermüdliche Michel 
soeben fast fertig, auf der man das Wort „Revanche“ liest. Marianne schaut ihm, 
hinter einem Zaun versteckt, spöttisch zu, an dem auch der Amerikaner und der 
Engländer mit bedenklichem Gesicht den Michel bei seinem gefährlichen Treiben 


beobachten. Die französische Rheinlandpolitik wird auch ständig im „Nach- ’ 
richtendienst‘‘ behandelt. Aus den Fluten des Rheines taucht der alte Flußgott ° 
Vater Rhein. Auf seinem linken Ufer steht Marianne, sie hat dem Alten ein Band ° 
gereicht, auf dem die Zauberworte der Revolution in Frankreich zu lesen sind: I 


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Das Spottbild des französischen Nachrichtendienstes im Ruhrkampf 33% 








' „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Er reicht das Band der auf dem rechten 
Ufer zaghaft und unschlüssig stehenden mit der republikanischen Mütze geschmück- 


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‚ten deutschen Republik. Darüber steht: „Versöhnung ?‘“. Oder wir sehen einen 
‚ französischen Soldaten an der Grenze des besetzten Gebietes, das durch Stachel- 
| draht vom übrigen Deutschland abgetrennt ist, die Wacht am Rhein halten, während 
| 23* 











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338 Pressefreiheitam Rhein 





ein bolschewistischer Brandstifter, die Brandfackel und den Dolch in der Hand, 
und ein Hakenkreuzler mit dem Revolver heranschleichen. Im unbesetzten Gebiet 
haben sie ihre Arbeit verrichtet, der Rauch brennender Städte steigt auf, und im 
Hintergrund droht eine ganze Reihe Galgen. In Form eines Kalenders wird ein 
deutschvölkisches Spruchkalendarium gegeben, in dem jeden Tag: ein Ausspruch 


irgendeines Deutschen abgedruckt wird, der den Kriegswillen der Nation beweisen | 


soll. Als dann der ‚„Nachrichtendienst‘“ am 3. September 1924 mit der Nr. 206 
des II. Jahrganges sein Erscheinen einstellte, da verabschiedete er sich von den 
Deutschen in einem bezeichnenden Bilde. Ein französischer Soldat, Schaufel und 
Hacke über die Schultern gelegt und die Maurerkelle dazu, worauf bezeichnender- 
weise das Wort ‚„‚Nachrichtendienst‘‘ vorgedruckt ist, verabschiedet sich von dem 
guten deutschen Michel, der die Zipfelmütze über den Kopf gezogen, friedlich seine 
Pfeife raucht, während sein Töchterchen, die deutsche Republik dem scheidenden 
Gast einen Blumenstrauß überreicht. Im Hintergrund ist eine große Brücke, ihre 
Bogen tragen die Aufschrift: „Dawesgutachten‘ und „Londoner Abkommen‘ und 
auf ihr lauert ein Hakenkreuzler. Unter diesem Bilde liest man die Warnung des 
nun aus dem Ruhrgebiet scheidenden Nachrichtendienstes: „Mein Werk istjbe- 
endet, paß auf, Michel, daß der dort auch nicht die Brücke sprengt!“ 


Ein Presseschicksal im Ruhrkampf 
Von Dr. Heinrich $taab in Neuß a, Rh.” 


E fasse die freundliche Einladung, meinen kleinen Fall zu erzählen, so auf, daß 


ein Einzelfall von vielen im Rahmen dieses Heftes dazu dienen soll, dem Leser’ 


ein Bild zu vermitteln, wie es im Ringen des besetzten Gebietes zuging. Denn 
Einzelschicksale sind nichts, wenn es um ein Gesamtziel geht. 

Schon im Spätherbst 1922 verdichteten sich die Anzeichen einer verschärften 
Haltung der Besatzungsbehörde gegenüber der rheinischen Presse. In Neuß fand 
ein Wechsel des belgischen Delegierten statt, wie er auch anderswo eingetreten 
sein soll. Bis dahin hatten wir in unserem Bezirke, abgesehen von der ersten Zeit 


der Besetzung, als Zeitung keinerlei Konflikte mit den Besatzungsbehörden, er-7 


freuten uns vielmehr der Möglichkeit, offen zu den politischen Dingen Stellung 
nehmen zu können. Vor allem an der französischen Politik gegen Deutschland 


durften wir offen Kritik üben. Die belgische war ja auch nur Schlepptaumeinung! 
und in der ganzen Zeit des Poincareschen Regimes niemals initiativ. Dem un- | 


mittelbar Beteiligten konnte es nicht entgehen, daß Kritiken, die im französischen 
Gebiet bereits schwer geahndet wurden, im belgischen keine Beanstandung fanden. 


Da setzte am 11. Januar 1923 der Ruhreinbruch ein. Am 13. desselben Monats i 
erschien in unserer Zeitung, der „Neuß-Grevenbroicher Ztg.‘‘ zu Neuß, ein Aufsatz?) 


„Gewalt über Recht“. Wenige Tage darauf wurde ich als der verantwortliche 
Schriftleiter zum Büro der ‚‚Süret& militaire‘‘ bestellt. Ein hochpeinliches Verhör 


begann mit der Aufforderung, den Namen des Verfassers zu nennen, was ich unter- I 


schriftlich unter Bezugnahme auf das geltende Presserecht ablehnte. 

Das Folgende kann ich kurz abmachen. Es folgte eine Vernehmung der anderen, 
eine Vorstellung des Delegierten an die Zeitungen nach der anderen. Es begann 
der Kampf der Verordnungen. Deutsche Erlasse wurden mit Verboten der Be- 
satzung geahndet. Inzwischen war eine Vorladung vor das Kriegsgericht zu Aachen 
zum 31. Januar infolge der Verkehrsunterbrechung vergeblich gewesen und die 
Sache auf unbestimmte Zeit vertagt. Man konnte also mit einem gewissen Ver- 
zweiflungsmut seine journalistische Pflicht in der Front des passiven Widerstandes 
tun. Es entwickelten sich Themen und Redewendungen, nach deren Abhandlung 
man gleich nach Hause gehen konnte, um Besuchsmontur für den Gang zur Be- 


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satzungsbehörde anzulegen. Die Beunruhigung nahm kein Ende. Smeets undä 



















































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Heinrich Staab: Ein Presseschicksal im Ruhrkampf 339 


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die anderen dunkeln Drahtzieher arbeiteten in ihren Blättern empörend. Die 
„Rheinlandskorrespondenz‘ brachte überraschend intime Informationen. Man hatte 
| Gelegenheit, die Schurken der jounalistischen Aera des Separatismus, deren Geld- 
, geber bekannt waren, vor dem rheinischen Volke bloßzustellen. Sehr bewähren 
'ı Konnte sich auch die Verbindung mit dem Pressedienst des Reichskommissars für 
ı die besetzten Gebiete, solange die Willkür der Besatzung ihn duldete. 

Ein Dorn im Auge jedes Propagandisten wie der Bevölkerung waren die Bekannt- 
machungen der Besatzung. Sie haben nirgendwo lange geklebt und nur achsel- 
zuckende Beachtung gefunden. Das Empörende an ihnen war ihr politisches Phari- 
säertum, das zum Himmel schrie. Ein solches Ding suchte, als nach der Besetzung 
der Eisenbahnen die Eisenbahner getreu den Weisungen ihrer Leitung den Dienst u 
\ niederlegten, die Reisenden gegen die Braven aufzuputschen. Da hieß es, die Bahner ni 

| 
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"hätten leichtfertig die Verkehrssicherheit gestört und die Besatzungsbehörden Eh 
deshalb alle Maßnahmen ergriffen, um die Sicherheit zu gewährleisten. Umgekehrt a 
war die Reihenfolge. Was wollte man tun? Eine offene Polemik gegen diese Be- 18 
‚ Kanntmachung hätte das Erscheinen der Zeitung gefährdet. Also wartete man 
" einige Tage und polemisierte dann gegen diese Lügen als angebliche Äußerungen 
| des Pariser ,‚Echo‘“. Das war janun nicht der Stein der Weisen, aber wer inallemrück- 
| sichtslos seinen jounalistischen Auftrag im Rahmen des passiven Widerstandes er- 





‚ ledigen wollte, konnte damit sein Gewissen beschwichtigen, ohne allzu große Gefahr | 
i zu laufen. Trotzdem wurde unsere Zeitung für mehrere Tage verboten. Auf Grund ven 
" welcher Haltung im einzelnen hat man nicht erfahren, konnte sich also nicht danach 4 
| einrichten. Es kamen schriftliche Hinweise der deutschen Regierung, deutsche Ver- 
| ordnungen zum passiven Widerstande zur Kenntnis der Bevölkerung zu bringen, “4 
" nachdem die Besatzung sie bereits verboten hatte und lustig ihre Tendenzlügen Ku 
unter Berufung auf fadenscheinige Ordonnanzen in die Zeitungen preßte. Das en. 
geschah bald ohne die kommunale deutsche Behörde, bald mit deren Vermittlung. F 
| Oft war auch vorgeschrieben, solche Dinge auf der ersten Seite zu bringen, Man 
" mußte zähneknirschend gehorchen. Das Kapitel ‚„Ausgewiesen, verhaftet, bestraft‘ 
" wurde zur ständigen Rubrik. Immer enger schnürte sich um den Hals der Redakteure 
" die Rheinlandordonnanz mit der berüchtigten „Würde und Sicherheit der Be- 

| satzungstruppen““. ke 
s bedeutete ein gewisses Gefühl der Erleichterung, als ich mit einer Reihe Kollegen 4 
| En 8. März 1923 endlich die Vorladung vor das neu eingerichtete Kriegsgericht | 
‘ zu Krefeld bekam. In dem prächtigen Gerichtssaal am Nordwall saßen wir bei- u 
sammen mit Zollbeamten, die ihrer Dienstpflicht treu geblieben waren. Der Gerichts- Fa 

ı hof zog mit der namentlich Militärgerichten innewohnenden Feierlichkeit ein. 
| Voran einer mit dem senkrecht hochgehaltenen Degen. Wir erhielten von den 
| Gendarmen hinweisende Püffe, uns zu erheben. Vier Militär- und ein Zivilrichter 
| leierten ihr „je juge‘‘ herunter. Man suchte als Angeklagter hinter diesen bärbeißigen 
 Grauköpfen oder hinter den knabenhaften Milchgesichtern zu lesen. Von ihrer 
| Stimmung hing das Schicksal der nächsten Zeit ab. Einer nach dem andern wurde 
aufgerufen. Ich stand plötzlich vor dem Gerichtstisch. Wieder nach Verlesung 
der Anklage die so oft gehörte und abgelehnte Frage „Wer hat den Artikel ver- 
faßt?“ (Man hatte den Artikel bei einer plötzlichen Haussuchung beschlagnahmt 
| und kannte den Verfasser!) Ich berief mich — mehr in psychologisch erklärbarer 
| Erregung als im bewußten Affront — auf das „in allen Kulturstaaten anerkannte 
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Pressegeheimnis, demzufolge ich keiner inländischen noch ausländischen Behörde 
Auskunft geben könne, da ich selbst hafte‘“. Die Wirkung war eine unerwartete: 
Der Gerichtshof fühlte das Wort „Kulturstaaten‘“ in einem bestimmten Sinn im 
Ohre. Erregt antwortete der Zivilrichter, wir Deutschen seien auch keine Kultur- 
nation, wir hätten es im Kriege nicht anders gemacht. Ich ließ mich verleiten, zu ni 

entgegnen: „Das war im Kriege, aber wir haben doch jetzt den Frieden unter- ee 

zeichnet‘. Da ging es erst richtig los. Ich bat um meinen Spruch, indem ich angab, Bi 
auf politische Debatten verzichten zu wollen. Der Staatsanwalt, ein kleiner Mann 


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340 Pressefreiheitam Rhein 


mit stark mongolischen Gesichtszügen, erhob sich zu einem langen Plaidoyer. Da- 
nach war ich ein Rebell. Und wenn solche Leute, wie ich, noch länger in den Re- 
daktionsstuben ihr Handwerk ausübten, ging es „nicht nur um die Sicherheit der 
Armee, sondern um Ihre eigene, persönliche Sicherheit, meine Herren Richter“. 
Den Rechtsanwalt ließ man reden. Er konnte, obwohl einer der besten Anwälte 
der Ruhrkampfzeit, nichts mehr ändern. Spruch: 6 Monate Gefängnis, 100000 Mark 
Geldstrafe und sofortige Verhaftung. Mit einem wegen Schlägerei Verurteilten wurde 
ich von der Gendarmerie einbehalten, bekam den Sitz in der vergitterten Anklage- P 
tribüne und zog nach Räumung des Gerichtssaales durch eine versenkende Wendel- 
treppe zwischen Mauern und durch schwere Türen in eine Gefängnisstube ein. Ich 
kann über die Gefängniszeit im Rahmen dieses Aufsatzes nur allgemeine Angaben 
machen. Nach 14 Tagen ging es unter militärischer Bedeckung, gefesselt, zur Straf- 
anstalt Anrath, die als „Abstellgeleise‘‘ für Langbestrafte galt. Hier hatten wir es 
gut, da die Bewachung nur von deutschen Gefängnisbeamten gestellt wurde, ' 
Während in Krefeld das Rauchen verboten war und man selbst beim Spaziergang 
nicht sprechen durfte, vielmehr in engstem Hofe oft zu 80 Personen eine halbe 
Stunde jeden zweiten Tag im Kreise hintereinander laufen mußte, hatten wir in 
Anrath eine Stunde vor- und eine Stunde nachmittags Spaziergang. Für mich hörte 


die Herrlichkeit bald auf. Zwei Gendarmen holten mich am 14. April wieder zum 


Gefängnis Krefeld. Eine neue Anklage lag vor: Ich sollte eine geheime Versammlung 
gehalten haben. Ich wußte nicht, worum es ging. ‘ 

Am 8. Mai ging es nach mehreren Verhören nach Aachen, wo ich am 21. Mai 1 
zu weiteren zwei Monaten und der entsprechenden Geldstrafe verurteilt wurde, 
Es handelte sich um folgendes: In einer Versammlung der Zentrumsjugendgruppe 


zu Büderich bei Neuß hatte ich einen Vortrag gehalten. Diese Versammlung war 
nicht angemeldet gewesen. Die Tatsache, daß sie in der Schule stattfand, die im 


letzten Augenblick gemietet wurde, verstärkte wohl den Eindruck einer Geheim- E 
versammlung. Auch die Bekanntmachung in der Zeitung beruhigte die Besatzung 


nicht. Seltsam war, daß keine Zeugen vernommen wurden und das Gericht sehr 


überrascht war, als beim Anklageaufruf sich herausstellte, daß der zweite An- 
geklagte Rechtsanwalt Dr. Breuer, Leiter des Vereins, schon am 1. Mai ausgewiesen 
worden war. 


Arbeiter und Bauern, Geschäfts- 
zu den Kommunisten waren zu- 
sammen. Die deutsche Gefängnisverwaltung gewährte alle Erleichterungen, bis ein 


Verbrecher, der von den Belgiern schon gleich nach dem Kriege wegen Raubmordes | 
zu Jahrzehnten Zuchthaus verurteilt war, infolge Streites mit dem Strafanstalts- 


leiter der belgischen Gerichtsbehörde unser „gutes Leben“ anzeigte. Wir erlebten 























Heinrich Staab: Ein Presseschicksal im Ruhrkampf 341 











Vorgänge, die an Aufregung nichts fehlen ließen. Das Gefängnis wurde von Ge- 
heimpolizei überrumpelt, die Beamtenschaft vernommen (irgendwo hatte einer 
„Deutschland über alles gesungen‘, ein Gefangener hatte ‚Ruhrgelder‘‘ ausgegeben, 
einer hatte einen photographischen Apparat u. a. m.). Der Leiter der Anstalt erhielt 
‚6 Monate Gefängnis. In das Gefängnis kam belgische Besatzung, strenge Einzelhaft 
wurde angeordnet und den meisten, auch Beamten, wurde der Charakter als poli- 
tischer Gefangener aberkannt. Sie kamen in die „nichtpolitische Abteilung‘, 
‚mußten Gefängniskleidung tragen und Gefängniskost essen. 

Endlich am 12. November 1923 schlug die Stunde der Freiheit. Die Ungeduld 
war aufs höchste gestiegen. Täglich quälten einen die Zeitungsmeldungen über 
die perfide Separatistenkomödie. Freunde erzählten beim Viertelstündchen Besuch, 
wie prachtvoll und spontan im lieben Neuß die Abwehr organisiert war. Die Lumpen 
kamen nicht. Aber in Krefeld wüteten sie. Eines Tages kam ein Trupp dieses be- 
waffneten Gesindels zur Strafanstalt Anrath, um Freiwillige zu werben, d.h. Ver- 
brecher zu befreien. Ein alter Werkmeister trat dem Häuptling der schwerbe- 
waffneten Rotte gegenüber. Er erkannte in ihm einen ihm unterstellt gewesenen 
Häftling. Man erklärte ihm und seinen Genossen, sie sollten sich von dannen 
‘heben, man kenne als Beamte seine Pflicht. Die verdutzten Kerle schoben unter 
Drohungen ab. 

Die Stunde der Freiheit war nicht ohne Bitternis. Viele hatte man kommen 
"und gehen sehen. - Man hatte sich angewöhnt, in den Gesichtern derjenigen zu 
forschen, die wenige Tage und Stunden vor der Befreiung standen, die zum letzten 
Male die Nacht auf dem Strohlager zubrachten. Nun stand man selbst davor. Aber 
die Ausweisung aus der lieben Heimat und jedenfalls eine lange Zeit Ungewißheit 
"standen bevor. Noch eine Nacht im Gefängnis zu Krefeld, ein entsetzlich langer 
"Tag mit stündlichem Warten, dann gings zusammen mit einem Postdirektor aus 
" Duisburg-Ruhrort mit der Regiebahn über Geldern nach Büderich bei Wesel. Hier 
wurden wir der Wache übergeben, die uns in den Zug nach Wesel setzte. 

Ich bin im August des nächsten Jahres (1924) erst „begnadigt‘“ worden. Die .Be- 
 mühungen lieber Freunde haben die Rückkehr zur alten Arbeitsstätte beschleunigt, 


Wissenschaftliche Rundschau 


Rußland im deutschen Schrifttum der Gegenwart (II) 
Von Ernst Drahn in Berlin 


| TB den Zustandsschilderungen Sowjetrußlands!) gehört in erster Linie ein Kartenwerk, das 
bei Georg Westermann in Braunschweig die Presse verließ. Es ist von einem Ungarn, 
A. Radö, nach amtlichen russischen Quellen entworfen und vielfarbig ausgeführt. Im Ver- 
hältnis von 1:4 Millionen zeigt die ‚Politische und Verkehrskarte der Sowjetrepubliken“ 
nicht nur das europäische Rußland, sondern auch die angrenzenden Staaten im Westen bis 
zur Linie von Stettin und Brünn. Im Norden reicht sie ungefähr bis zur Linie Nordkap— 
Novaja-Semlja, im Süden über die Konstantinopel—Nordostecke Persiens hinaus. Im asia- 
tischen Rußland geht die Ostgrenze der Karte ungefähr bis zur Linie Aralsee—Ob. Kleinere 
Nebenkarten zeigen Petersburg, Moskau im Maßstab 1:400000 und das gesamte russische 
Reich 1:30 Millionen. Die Rückseite des Umschlags gibt in Schwarzdruck das Kohlenrevier 
des Donez in 1:800000 wieder. Der Karte ist ein Textheft mit statistischen Angaben über 
Flächeninhalt, Bevölkerung, politische Gliederung, Ortsgrößen, Änderung von Ortsnamen, 
Wirtschaftsgebiete beigegeben. Ein Ortsregister macht die Feststellung der Ortslage leicht. 
Wer genauer über Rußland Bescheid wissen will, benutze J. P. Trainin; „Der Verband der 
sozialistischen Sowjetrepublik.‘“ (Hoym, Hamburg). 
Eine gewisse Grundlage für zahlenmäßige Kenntnis des großen Ostreiches vermittelt uns 
der ziemlich kritische Spectator (Kriegsname für Nachimson) in seinem Band ‚Wirtschafts- 


1) Vgl. den ergänzenden Aufsatz im Juliheft „‚Entwicklung des Bolschewismus‘, S. 271 ff. 

















342 Wissenschaftliche Rundschau 
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Statistisches Handbuch für Sowjetrußland“, Berlin 1922. Aber auch die offiziellen Stati- 
stiken soll man nicht so achselzuckend abtun, wie es häufig geschieht. Mag auch für manche 
Angabe der Wunsch, daß es so sein möge, bestimmend gewesen sein, so liegt doch kein Grund 
vor, ihnen viel weniger zu glauben, als den offiziellen Statistiken anderer Länder und Insti- 
tutionen. So steht textlich, graphisch und illustrativ jedenfalls auf seltener Höhe das große 
Prachtwerk: „Fünf Jahre Sowjetherrschaft in Rußland.“ Eine Zustandsschilderung, die die 
„Handelsvertretung der S.S.S.R.‘“ in Berlin herausgegeben hat. Von der gleichen Stelle aus 
kamen in den Vertrieb das ‚Handbuch für Handel und Industrie der S.S.S.R.“, Berlin 
1924 ff., und die Zeitschrift ‚‚Aus der Volkswirtschaft der S.S.S.R.“, die die nur offiziöse 
„Russische Korrespondenz‘, die seit 1920 bestand, 1923 ablöste, Der leichten Übersicht 
wegen empfehlenswert ist die neueste Broschüre dieser Art Zustandsschilderungen: ‚Acht 
Jahre Sowjetmacht‘“ (Carl Hoym Nachf., Hamburg). 


Se in Aufnahme gekommen sind in letzter Zeit Rußlandreisen von Arbeitern unter- 

schiedlicher Nationalitäten. Auf Einladung von Gewerkschaften und anderer sowjetistischer 
Institutionen hin wird ihnen gruppenweise das Anschauenswerte in der S.S.S.R., besonders 
in Moskau und Petersburg, gezeigt. Die Zurückgekehrten veröffentlichen gewöhnlich später 
einen Bericht. Mir liegt ein solcher unter dem Titel ‚Rußland. Offizieller Bericht der engli- 
schen Gewerkschafts-Delegation nach Rußland, Nov.—Dez. 1924“ vor. Er erschien auch 
in deutscher Sprache, ‚Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1925. Ein „Bericht der deutschen 
Arbeiter-Delegation‘‘ über ihre Rußlandreise ist bei der „Viva“, Berlin, herausgekommen. 
Die Äußerungen über die Zustände in Rußland im Inhalt dieser Berichte sind verhältnis- 
mäßig günstig, so günstig, daß die sozialdemokratische Partei, die selbstverständlich aus 
Gründen der Konkurrenz in ihren antibolschewistischen Veröffentlichungen alles schwarz 
in schwarz malen läßt, gegen solche Berichterstatter Ausschlußverfahren anstrengt und die 
Berichte auf den hohen Parteiindex setzt. Nun kann man wohl annehmen, daß solchen 
Rußlandreisenden nicht die verlottertsten Betriebe, die schlechtesten Mietskasernen, minder- 
wertigsten Landschulen und vernachlässigte, sanitäre Einrichtungen gezeigt werden, aber 
daß es doch nicht gar so schlecht mit Rußland steffen muß, zeigt eine Äußerung eines Kri- 
tikers dieser Berichte. Gustav Schuler äußerte in einer Dezembernummer der ‚‚Metall- 
arbeiterzeitung‘‘: „Eines steht fest, die russische Regierung versucht mit aller Kraft, etwas 
Besseres zu schaffen. Und dazu sind die russischen Kommunisten andere Kerle als die deut- 
schen ... Kommunisten ...‘“‘“ Was Schuler auszusetzen hatte, war in der Hauptsache, daß 
er seine Fragen durch einen Dolmetscher stellen mußte und diesem gegenüber mißtrauisch 
in bezug auf richtige Übermittlung der Gespräche war. Er wundert sich, daß die Fabrik- 
arbeiter angehalten waren, während des Besuches bessere Kleidung anzulegen, daß Ge- 
fangene von Bewaffneten begleitet werden. Ich glaube, beides kann er in Deutschland auch 
zeitweise beobachten. Er erzählt von einem Arbeiter, der 58 und 46 Rubel usw., von einem 
anderen, der 42 im Monat verdiente. Bei uns in Deutschland kenne ich Postunterbeamte, 
die in der Großstadt Frau und Kinder mit 100 Mark im Monat erhalten sollen. Dabei sind 
die Lebensverhältnisse in Deutschland teurer als in Rußland. Man kann also wohl mit einigen 
Einschränkungen den Berichten glauben, glauben auch schon darum, weil auch andere 
Rußlandreisende, z. B. Sven Hedin, der das Zarenreich kannte, von den Sowjetstaaten einen 
verhältnismäßig günstigen Eindruck erhielten. Sven Hedin schildert seine Reise plastisch 
wie immer in dem Werk: „Von Peking bis Moskau“ (F. A. Brockhaus, Leipzig). 

Auch die russischen Arbeiter entsenden Delegationen in das Ausland zum Besuche ihrer 
Standesgenossen. Die Beschreibung eines solchen in Japan erschien unter dem Titel V, 
Waksow: ‚Sieben Tage, die Japan erschütterten.‘“ Mit einem Vorwort von A. Losowsky 
im Führer-Verlag, Berlin. In diesem Verlage, der besonders Propagandaliteratur für die 
Moskauer Gewerkschaftsinternationale herausbringt, erschien von A. Aluf: ‚Die Gewerk- 
schaften und die Lage der Arbeiter in der Sowjetunion 1921—1925“. — In die Reihe der 
Zustandsschilderungen gehört auch ein Sammelwerk, das von den Vorständen der „Inter- 
nationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie‘‘, den Professoren F. v. Wieser, 
Wien, L. Wenger, München, und Peter Klein, Königsberg, herausgegeben ist (Verlag 
Dr. Walther Rothschild, Berlin): ‚‚Der Staat, das Recht und die Wirtschaft des Bolschewis- 
mus“. Achtzehn deutsche und slawische Gelehrte haben Beiträge geliefert, die sich mit 
den Themen des Titels auseinandersetzen, unter ihnen auch Moskauer und Petersburger 
Professoren. Dem Staatsrecht des neuen Rußlands widmete Prof. N. Timaschew seine Auf- 
merksamkeit. Ein umfangreicher Band, „Grundzüge des sowjetrussischen Staatsrechts‘, ist 
bei J. Bensheimer in Mannheim erschienen. Im gleichen Verlage hat Rechtsanwalt Dr, 
Freund, Berlin, in guter Übersetzung die Texte sowohl des Zivilrechts als auch des Straf- 
rechts und der Strafprozeßordnung herausbringen können. Übrigens kündet auch EERA:, 











Wissenschaftliche Rundschau 343 








‚, Mohr, Tübingen, ein großes Lieferungswerk: „Das Recht Sowjetrußlands“ an und versendet 


Subskriptionsaufforderungen. 


m: solchen Aufklärungsschriften über Verwaltung, Recht und Gesetz fehlt es trotz der 

sonst überreichen Literatur über die S.S.S.R. immer noch an einer Arbeit, die sich wissen- 
schaftlich mit der russischen Polizei befaßt. Vielleicht bringt in diese Terra incognita die inter- 
nationale Polizeiausstellung Licht, die in diesem Jahre (Sept. — Okt.) Berlin veranstaltet. Aller- 
dings haben wir auch schon in der deutschen Literatur Werke, die das Thema behandeln. Unter 
ihnen macht Georg Popoffs ‚‚Tscheka‘ (Verlag der Frankfurter Societäts-Druckerei, Frank- 


 furt a.M.) von sich reden. Tatsächlich besteht in Rußland eine Institution dieses Namens 


schon seit Jahren nicht mehr. Sie hatte durch scharfes Zugreifen mit ähnlichen Methoden, 


wie die alte zaristische Gendarmerie, die Ochrana, unter dem Volkskommissar Dserschinskij 
Furcht und Schrecken in die Reihen der Gegenrevolutionäre getragen, so daß sie auch in 
‚ Deutschland zum politischen Kinderschreck wurde. Popoff ging als Journalist nach Moskau 


| 


und kam auf eine oder die andere Weise mit den herrschenden Gewalten in Konflikt. Er 


‚wurde eingesperrt und erzählt nun über Behandlung und Unterkunft der Untersuchungs- 


gefangenen haarsträubende Dinge. Es ist anzunehmen, daß man ihn nicht so lind und lau 


wie die Gebrüder Barmat, Kutisker und andere willkommene Ausländer in Deutschland be- 


4 


handelt hat; zu glauben ist ihm auch wohl, daß die Fäden aus der Lubjanka Nr. 2 sich weit 


über das europäische Ausland spannen, genau wie vor 1914 das Gebäude der Ochrana in 


Petersburg der Mittelpunkt eines polizeilichen Spinnennetzes war, das den Erdball deckte, 


| 


' Burzew hat vor Jahren oft genug Belangreiches darüber in seiner Zeitschrift „Byloje‘ er- 


zählt. Alles aber zu glauben, was Popoff enthüllt, geht doch über die Fähigkeit eines nor- 


malen, naiven Gemütes. Nicht schlecht ist, wie sich die russischen Machthaber den Angriffen 
des Autors gegenüber verteidigen. Sie erklären nicht nur die Auslassungen Popoffs für Aus- 
geburten einer wild gewordenen Phantasie, sondern sie leugnen auch die angegebenen, politi- 


' schen Motive der Verhaftung ab und erzählen in der „Inprekor“‘, Wien, daß sich Popoff 


innerhalb seines Moskauer Hotels in einer Art kriminell betätigt habe, die in Deutschland 
der $ 175 des Strafgesetzbuches verfolgt. Der Zustand der russischen Wehrmacht ist in 
vielen deutschen Veröffentlichungen geschildert, die im Aprilheft 1926 der S. M., „Militä- 
tische Schulung der Jugend im Ausland“, S.38 f. aufgezählt sind. Man kann nur feststellen, 


daß dieses Machtmittel fest in der Hand des Staates liegt und einen wesentlichen Faktor 


bei innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen bilden wird. Die Eigenart der kom- 
munistischen Partei in Rußland und in den Staaten, die eine der III. Internationale ange- 
schlossene Organisation besitzen, lernt man kennen, wenn man sich mit der Schrift L.M. 
Kaganowitschs: „Der organisatorische Aufbau der K.P.R.“, vertraut macht (Carl Hoym 
Nachf., Hamburg 1926). Die Betriebszelle als Grundlage für die politische Organisation, die 
in diesem Buch nach ihrem wesentlichen Ausmaß dargestellt wird, bedeutet einen entschie- 
denen Bruch mit dem bisherigen Organisationssystem der Parteien. Bisher schmiegte sich 
dieses dem wahltechnisch-geographischen Aufbau in den Staaten an, nunmehr hat die Orga- 
nisation eine wirtschaftlich-geographische Grundlage. Man verlegt damit auch die Grund- 
lage des Kampfgebiets und hat heute organisatorisch ein gemeinsames Aufmarschterrain 
für wirtschaftliche und politische Auseinandersetzungen geschaffen. So ist das kleine Buch 
wichtig für den, der sich mit dem Wesen der Arbeiterorganisationen beschäftigt. Über das 
Memoiren- und biographische Material russischer Politiker ‚wurde schon verschiedentlich in 


dieser Zeitschrift berichtet. An Neuheiten auf diesem Gebiete liegen jetzt vor: „Lenin ruft 


die werktätigen Frauen“, Erinnerungen an Lenin von Clara Zetkin (Verlag ‚Viva‘, Berlin 
1926). In der Tat ist die Herausgeberin die berufene Person, uns in der Frauenfrage zu 
unterrichten, da sie lebenslang die proletarische Frau und ihre kulturellen und politischen 
Nöte untersuchte und klarlegte, natürlich vom Standpunkt der radikalen Sozialdemokratie 
aus. Des weiteren bescherte uns die fleißige Feder des schon häufig erwähnten E. Hurwicz 
einen Band Biographien „Staatsmänner und Abenteurer‘‘ — Russische Porträts von Witte 
bis Trotzki 1891—1925 (C.L. Hirschfeld, Leipzig). Das Buch schildert historisches Ge- 
schehen, wie es sich in den Menschen Graf Witte, Gapon, Rasputin, Nikolaus II., Kerenskij, 


. Zeretelli, Denikin, Machno, Lenin, Trotzkij u. a. m. verkörpert. Der Verfasser hat schon auf 


Grund seiner früheren erfolgreichen Arbeiten das Recht, gehört zu werden. Sein Werk ent- 
täuscht auch diesmal nicht. Zuletzt bleibt noch übrig, auf eine neue Zeitschrift hinzuweisen, 
die zu Anfang dieses Jahres ihr Erscheinen begann: „Osteuropa“ ist ihr Titel, der Berliner 
Professor Otto Hoetzsch ihr Herausgeber im Auftrage der „Deutschen Gesellschaft zum Stu- 
dium Osteuropas‘ (Sitz Berlin). Damit hat sich diese wissenschaftliche Vereinigung, die 
bisher nur in viel beachteten Vortragsfolgen vor die Öffentlichkeit trat, ein Organ in der 
literarischen Öffentlichkeit geschaffen, das, nach allen Seiten unabhängig, wissenschaftliche 

















344 Wissenschaftliche Rundschau 








Arbeiten in laufender Folge veröffentlicht. Die Monatsschrift ist im gleichen Sinne eine 
Kulturtat, wie die Veröffentlichung ‚Das neue Rußland‘, als dessen Herausgeber die ‚‚Ge- 
sellschaft der Freunde des neuen Rußland in Deutschland“ (Sekr. Berlin-Pankow) zeichnet. 

Als starke Gesamterfassung sei die Schrift ‚„‚Räterußland nach Lenins Tod‘ von Axel de 
Vries, Chefredakteur des Revaler Boten, genannt, die anderthalb Jahre nach ihrem ersten 
unscheinbaren Auftreten!) (Reval 1923) nunmehr in Buchform und ergänzt im Verlag Kurt 
Vowinkel-Berlin vorliegt. Ebendort erschienen von Prof. Geörg Obst ‚„‚Russische Skizzen‘, 
die besonders wegen ihres Bildmaterials von Dauerwert sind. H. v. Rimscha ‚‚Der russische 
Bürgerkrieg‘ u. s. w. erwähnten wir als gutes Buch schon im ersten Artikel. Sein Verfasser 
legt Wert auf die Feststellung, daß er seinen Namen von Geburt an trägt und daß er sich 
als Deutscher fühlt und betätigt. 


Aus Zeit und Geschichte 


Neuere Kritik des Weltkrieges 


ie Verfasser der meisten militärischen Darstellungen des Weltkrieges, die uns bald nach 
der Katastrophe beschert wurden, standen noch viel zu sehr unter dem Einfluß der see- 
lischen Erschütterungen des gewaltigen Erlebens, als daß ihnen, auch bei bestem Willen, 
ein ungetrübtes Urteil möglich gewesen wäre. Wir erinnern uns der Tatsache, daß der deutsche 
Generalstab erst nach Beginn des 20. Jahrhunderts in seinen ‚‚Studien zur Kriegsgeschichte und 
Taktik‘ eine wirklich objektive Geschichte des Krieges von 1870/71 herauszugeben anfing. 

Nun sind aber in den letzten Jahren von deutschen und österreichischen Offizieren und 
Historikern ebenso wie von solchen der Feindseite so viele Erinnerungswerke und Darstel- 
lungen veröffentlicht worden, daß ein sicherer kritischer Führer durch diese verwirrende 
Fülle allen willkommen sein wird, die sich von den entscheidenden Momenten ein möglichst 
richtiges Bild machen wollen. Und das ist Pflicht jedes verantwortungsbewußten Deutschen 
angesichts des leichtfertigen und mangelhaft begründeten Aburteilens, wie es heute, sei es aus 
unzureichender Kenntnis, sei es aus parteipolitischer Voreingenommenheit nur zu oft geübt 
wird. Wenn der Historiker Memoiren an sich als Quellen betrachtet, deren Zuverlässigkeit 
stets schärfster Prüfung bedarf, so gilt das natürlich erst recht von Werken, die nach einem 
verlorenen Kriege geschrieben sind. So haben sich z. B. für viele Verfasser gewisse Verhält- 
nisse oder Vorgänge, die ihnen persönlich öfter oder dauernd lästig gewesen sind, derart in den 
Vordergrund gedrängt, daß sie ihre auf verhältnismäßig beschränktem Beobachtungsfeld 
gemachten unerfreulichen Wahrnehmungen für allgemeingültig ansehen, ja wohl geneigt sind, 
gerade darauf den Verlust des ganzen Krieges zurückzuführen. 

Ganz allgemein hat der alte Feldmarschall Moltke über die Eignung des Feldherrn zur Schil- 
derung eigener Taten einmal folgendermaßen geurteilt: ‚Denen die Geschichte machen, 
ist es nicht leicht Geschichte zu schreiben, denn keine der Öffentlichkeit zu übergebende 
Darstellung eines Feldzuges oder überhaupt einer geschichtlichen Begebenheit kann den Ein- 
blick in die inneren Beweggründe, die Schwankungen in der Meinung, das sukzessive Fort- 
schreiten der Entschlüsse darlegen, welches zum schließlichen Resultat führt.“ Er zeigt uns 
aber auch den einzigen Weg einer fruchtbaren Kritik: ‚‚daß es unendlich viel schwieriger ist, 
zu handeln, als hinterdrein zu urteilen, und daß in der Regel das geradezu unzweckmäßig und 
widersinnig Erscheinende ganz verschwindet, sobald man die Motive, die tausend Reibungen 
und Schwierigkeiten übersieht, die sich der Ausführung entgegengestellt haben“. 

So der unbestrittene Sieger in zwei großen Kriegen. Möchten seine Worte eine Warnung 
sein vor aller vorschnellen Besserwisserei und besonders denen Zurückhaltung im Urteil auf- 
erlegen, die nie vor dem Feinde selbständig ein verantwortliches Kommando geführt haben. 


In vorbildlicher Weise wird Moltkes Forderungen gerecht ein Wegweiser durch die massen- 

hafte Kriegsliteratur, den uns Generalleutnant Kabisch in dem Werke Streitfragen 
des Weltkrieges?) darbietet. Der Verfasser hat im Kriege teils in hohen Generalstabs- 
stellungen, teils als Truppenführer gewirkt. Das Buch zeigt nicht nur einen weiten, vorur- 
teilsfreien Blick, sondern auch ein zwar vorsichtig abgewogenes, aber durchaus entschiedenes 


und selbständiges Urteil. Auf Grund seiner persönlichen Beziehungen zu vielen der maß- 


gebenden Führer vermag Kabisch auch manches wertvolle Neue mitzuteilen. 


!) Vgl. den Aufsatz von Dr. Fritz Hasinger ‚„‚Räterußland nach Lenins Tod“ im Dezember. 
heft 1924 „Der Glaube an das Proletariat‘. 2) Stuttgart 1924, Bergers Literar. Büro u. Verlag 


Aus Zeit und Geschichte | 345 
aa nr 


Er beschränkt. seine Untersuchung auf einige der viel erörterten strategischen Haupt- 
probleme des europäischen Landkrieges und behandelt nur die Feldzugspläne, den Fall 
 Prittwitz, den Marnefeldzug 1914, den Streit zwischen Falkenhayn und Hindenburg über 
die Offensive in Litauen, ferner Saloniki, Verdun und die deutsche Märzoffensive 1918. Außer- 
dem erfährt die Heerführung des Feldmarschalls Conrad eine besondere kritische Beleuchtung. 


In jedem Kapitel werden zunächst unter Verwertung aller erreichbaren in- und ausländi- 
schen Quellen die Ereignisse übersichtlich dargestellt. Bei der anschließenden Auseinander- 
setzung mit der Literatur wird die militärische Auffassung unserer Gegner mit besonderer 
Aufmerksamkeit gewürdigt, weil das dem Verfasser förderlicher erscheint, als wenn ‚‚wir uns 
beständig im Gefühl eigener Vollkommenheit sonnen“, Zuletzt gibt er dann stets ein eigenes 
sorgfältig begründetes Urteil ab. Seine Darlegungen sind fast immer überzeugender, wenn ich 
auch gerade seiner Ablehnung der Offensive im Frühjahr 1918 trotz ihrer glänzenden Begrün- 
dung nicht beipflichten kann. Die Front brannte darauf, endlich wieder aus den Gräben 
heraus zu kommen, war bereit, dafür alle blutigen Verluste einer Offensive auf sich zu nehmen, 
und hat mehr als das auch geleistet. Eine strategische Defensive aber, bei der man dem 
Gegner nötigenfalls zunächst Vorteile überlassen mußte, um ihn dann durch Gegenstoß 
der Reserven desto sicherer zu fassen, hätte wohl dem deutschen Heere vom August 1914, 
kaum aber dem vom Frühjahr 1918 zugemutet werden können. 


Im allgemeinen werden gerade die psychologischen Momente von Kabisch besonders ver- 
ständnisvoll behandelt. Wenn er bei den für den Rückzug vom 9. September 1914 ver- 
antwortlichen Offizieren sowie bei unseren gebildetsten Staatsmännern und klügsten Köpfen 
ein „‚greisenhaftes Vorwiegen grübelnder Intelligenz über das Kraftbewußtsein jugendlichen 
' Lebenswillens“ feststellt, so trifft er damit einen Punkt von entscheidender Bedeutung für 
Deutschlands Zukunft. Er sagt dazu u.a.: ‚Denken wir uns Konstantin Alvensleben?), 
denken wir uns Friedrich Karl!) an Bülows Stelle am 8. und 9. September! Diesmal hatte 
Frankreich seinen Foch, seinen Sarrail, als wir einen Bülow hatten — wie es seinen Clemenceau 
einem Hertling, einem Prinzen Max gegenüberstellte.‘“ Man darf vielleicht hinzufügen, daß 
‚jene Rastlosigkeit und Hast, die in den Jahrzehnten vor dem Kriege dem deutschen Leben 
ihren Stempel aufdrückten — ‚‚wir trieben seit den 70er Jahren Raubbau an unseren Kräften“ 
heißt es in einer höchst lesenswerten Schrift des Majors v. Rabenau?) —, auch auf den General- 
stab nicht ohne Einfluß geblieben war. Gerade die durch unausgesetzten Wettbewerb gesteigerte 
Schulung auf höchste Anspannung, die den deutschen Generalstab zu seinen einzigartigen 
Leistungen im Kriege befähigt hat, mag auch wieder dazu beigetragen haben, daß mehr als 
ein Führer und Führergehilfe schon mit geschwächten Nerven in die große Prüfung eintrat. 
Zustimmen muß man auch dem, was Kabisch in seiner Schlußbetrachtung zur Offensive 
von 1918 über den Unterschied des bloßen Willens zum Siege vom unbedingten Glauben an 
den Sieg ausführt. Wie mit dem Schwinden der Zuversicht nach dem Mißerfolg der großen 
Frühjahrsangriffe das Scheitern des ganzen Feldzuges von 1918 unvermeidlich näher rückte, so 
haben wir den Krieg überhaupt letzten Endes vielleicht deshalb verloren, weil im deutschen 
Volke noch nicht der Glaube an den ihm bestimmten weltgeschichtlichen Beruf lebt, wie 
er die Seelen der Franzosen, Engländer und Amerikaner erfüllt. 


Von den beiden nächsten Grenzgebieten der Strategie berührt Kabisch das übergeordnete, 
die Politik nur, wo es unerläßlich ist. Dagegen zieht er öfter das Gebiet der Taktik heran, 
indem er seine Ausführungen im Text durch Mitteilungen von Frontkämpfern erhärtet, die 
in einen auch sonstige Ergänzungen enthaltenden Anhang aufgenommen sind. 


Das ist um so wertvoller, als die meisten bisherigen Kriegsbücher entweder als Truppen- 
geschichten die Ereignisse vorwiegend von unten her oder hauptsächlich von oben unter 
strategischen Gesichtspunkten beleuchten. Die entscheidende Bedeutung der psychologischen 
Faktoren gerade im Weltkriege kann aber nur dann recht erfaßt werden, wenn der Geschicht- 
Schreiber die ständige gegenseitige Einwirkung und Abhängigkeit von Erleben, Stimmung 
und Kampfwert der Truppe auf der einen, den Maßnahmen der Führung auf der anderen 
Seite im Auge behält. Aussichtsvolle Ansätze zu einer solchen von der Zukunft zu erhoffenden 
Darstellungsweise sind schon hie und da zu bemerken. Jedenfalls hat Kabisch durch 
seine glänzende Zusammenfassung unseres gesamten jetzigen Wissens über die von ihm 
behandelten Fragen Grundsteine gelegt, ohne die künftig keine Forschung weiterbauen kann. 





1) Errangen als Führer des III. Armeekorps und des 2. Armee am 16. August 1870 durch 
zähes Ausharren den Sieg von Mars-la-Tour gegen gewaltige Übermacht. 
2) Die alte Armee und die junge Generation. Berlin 1925, S. 143. 











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346 Aus Zeit und Geschichte 











A nliche Ziele wie er verfolgt der in der kriegsgeschichtlichen Literatur seit lange rühmlich 
bekannte Generalleutnant v. Moser. Seine ‚„Ernsthaften Plaudereien über den Welt- 
krieg‘‘!) behandeln gleichfalls in der Hauptsache die ‚‚große Führung“. Er gibt aber ein 
Bild des gesamten Kriegsverlaufes, eingeteilt in drei Abschnitte nach den Männern, die jeweils 
an der Spitze der Obersten Heeresleitung standen. Er will in seinem Werke klarstellen, welcher 
Anteil am Kriegsausgange zufällt: erstens der deutschen militärischen Führung, zweitens den 
politischen Organen des deutschen Volkes einschließlich der Presse und Öffentlichen Meinung, 
drittens Deutschlands Verbündeten und Gegnern. Demgemäß wendet er den Beziehungen 
von Krieg und Politik — auch innerer — besonderes Augenmerk zu. 

Am Schluß seiner Betrachtung des’ verhängnisvollen Moltkeschen Führungsabschnittes tritt 
er der weitverbreiteten Ansicht, als sei mit der Marneschlacht eigentlich schon der ganze 
Krieg verloren gewesen, mit dem durchaus zutreffenden Hinweis entgegen, daß nur die Füh- 
rung, keineswegs aber das deutsche Heer besiegt war. Von dem verheerenden Eindruck dieses 
Mißerfolges in der Welt draußen hat man sich freilich bei uns damals kein Bild gemacht. 
Schon in diesen Tagen fing auch, wie Moser hervorhebt, in Deutschland jene Schönfärberei 
an, jene Scheu die Wahrheit zu sagen, die den Enttäuschungen des Sommers 1918 eine so 
katastrophale Wirkung verliehen hat. 

Bei einer zusammenfassenden Würdigung Falkenhayns, den er sonst scharf kritisiert, 
meint Moser, daß bei seinem Rücktritt noch ‚‚nirgends Unentbehrliches oder Unersetzliches 
verloren‘‘ gewesen sei. Dagegen ist doch verschiedenes einzuwenden. Zunächst hat Falken- 
hayns hinhaltende Kriegführung die Mittelmächte unersetzliche Zeit verlieren lassen: wir 
wurden schwächer, unsere Gegner stärker! Die Bedeutung der Sommeschlacht als Groß- 
kampfschule für das englische Heer hebt ja Moser selbst hervor. Zweitens wurde nicht recht- 
zeitig jene Heranziehung aller personellen und materiellen Kräfte des deutschen Volkes 
eingeleitet, die dann unter Hindenburgs Namen überstürzt nachgeholt werden mußte. Im 
Winter 1914/15 in Angriff genommen, hätte sie wohl ein ganz anderes Bild ergeben. Schließ- 
lich darf man nicht verkennen, daß die Schlachten um Verdun und an der Somme das deutsche 
Heer nicht nur physisch überanstrengt, sondern zum ersten Male auch sein Gefühl unbe- 
dingter Überlegenheit erschüttert haben. 

Die Übernahme des Oberbefehls durch Hindenburg und Ludendorff gibt dem Verfasser 
dann Gelegenheit, ihr beiderseitiges Verhältnis dahin zu kennzeichnen, daß die volkstümliche 
Persönlichkeit Hindenburgs vor allem moralisch erhebend wirkte, Ludendorffs ungeheure 
Arbeits- und Tatkraft aber rasch in tatsächlicher Stärkung der Front durch Truppen und 
Kampfmittel fühlbar wurde. Dazu sei noch bemerkt, daß wir durch diese Doppelbesetzung 
eigentlich erst einen Zustand erreichten, wie er bei den Heeren unserer Gegner von vornherein 
bestand. Da Wilhelm II. weder ein großer Feldherr war, noch es nach Lage der Dinge in der 
Art sein konnte, wie ein Friedrich der Große oder Napoleon, lastete auf Moltke wie auf Falken- 
hayn die Verantwortung des Feldherrn und des Generalstabschefs zugleich. Man darf die 
Dinge vielleicht so ansehen, daß für Deutschland Oberbefehlshaber und Chef des General- 
stabes erst vom Herbst 1916 ab durch verschiedene Persönlichkeiten verkörpert wurden. 

Mosers Bestreben, nicht nur zu kritisieren, sondern auf militärischem wie politischem 
Gebiet auch anzugeben, wie es besser gemacht worden wäre, veranlaßt ihn gelegentlich zu 
anfechtbaren Vorschlägen. Im ganzen aber hat er uns ein lehrreiches Werk geschenkt, das 
ernste Vertiefung lohnt. Daneben hat er für alle, denen heute Zeit und Kraft zu eigenem 
gründlichen Studium der Weltkriegsfragen fehlt, ‚Das Wichtigste vom Weltkriege‘?) in 
einem Vortrag zusammengefaßt, der hoffentlich nicht nur selbst viele Leser findet, sondern sie 
auch zum Durcharbeiten der „Ernsthaften Plaudereien‘ anregt. Wenn derartige summarische 
Übersichten so breit fundiert sind und maßvoll kritisieren, wie es bei Moser der Fall ist, sind 
sie verhältnismäßig unbedenklich. Weniger läßt sich das behaupten von der neuesten Schrift 
des ehemaligen Polizeiobersten Müller-Brandenburg?), dem man gern zugeben wird, daß er 
aus warmem Herzen für Vaterland, Volk und Armee heraus geschrieben hat. Bei dem alten 
Vorkämpfer des Wehrvereins mag viel enttäuschte Liebe mitsprechen; auch steht in dem 
Büchlein manches Zutreffende und Beachtenswerte. Aber mit seinen scharfen Urteilen über 
„Fehler‘‘ wird es gerade bei jenen links gerichteten Kreisen, für die es doch wohl zunächst 
bestimmt ist, überheblichem Verdammen Vorschub leisten. { 

Kabisch hat seinem Buche als zweiten Teil eine „Einführung in die kritische Betrachtung ° 
der Strategie im Weltkriege‘“ beigegeben, die dem Nichtsoldaten die Notwendigkeit fach- 


!) Stuttgart 1925, Chr. Belser. 
2?) Stuttgart 1926, Chr. Belser. 
®) Von Schlieffen bis Ludendorff, Leipzig 1924, Ernst Oldenburg. 





Aus Zeit und Geschichte 347 
Do LmmluuLLLLLnnnnnnnnnunnnnnnnnLLLEEEEEE nm 


männischen Studiums klarmachen und ihn vor Irrwegen seines.Urteils bewahren soll. Deutlich- 
genug haben die zahlreichen Differenzen und Mißverständnisse während des Weltkrieges gezeigt, 
daß für Staatsmänner, Diplomaten und Politiker die Kenntnis gewisser militärischer Grund- 
begriffe unentbehrlich ist. Darum hatte auch General v. Conrad schon vor dem Kriege einmal vor- 
geschlagen, jüngeren österreichischen Diplomaten durch einen Generalstabsoffizier strategische 
Vorträge halten zu lassen: der Ballplatz lehnte ab. Wenn aber Moser das ganze Volk oder 
mindestens alle Gebildeten soweit zu strategischer Urteilsfähigkeit erziehen will, daß sie 
nötigenfalls ihren Einfluß geltend machen können, so rückt die Gefahr eines anmaßlichen 
- Dilettantismus doch bedrohlich nahe. Für die führenden Männer müssen wir freilich solche 
Kenntnisse um so mehr verlangen, als bei uns Fachmenschentum und Ressortgeist wohl gerade 
deshalb besonders üppig wuchern, weil sich der Deutsche seinem Beruf so völlig hinzugeben 
pflegt, daß er nicht ahnt, was nebenan vorgeht. 

Mögen auch die Völker aus der Geschichte wenig lernen, so können und müssen das doch 
die führenden Persönlichkeiten tun. Jeder weiß, was Napoleon oder Bismarck ihren histori- 
schen Studien verdankten. Darum darf sich eine objektive Geschichtsschreibung des Welt- 
krieges wohl die Aufgabe stellen, Deutschlands künftige Führer vor der Wiederholung ver- 
hängnisvoller Fehler zu bewahren. Sie kann aber auch schon heute wesentlich zur Über- 
brückung der tiefen Spaltungen beitragen, die das deutsche Volk zerreißen, indem sie die 
öffentliche Meinung anleitet, das Handeln der Heerführer aus ihren Beweggründen zu be- 
greifen, anstatt kurzerhand über sie abzuurteilen. So allein kann das Volk zur Ehrfurcht 
vor jenen Männern erzogen werden, deren ungeheure Leistungen und Hingabe es nicht min- 
dert, daß sie als Menschen gelegentlich geirrt haben und schließlich unterlegen sind. 


München. Heinrich Heide. 


Der geistige Krieg gegen Deutschland 


W* die wenigsten Deutschen wissen etwas von den gegen Deutschland gerichteten geistigen 
Boykottorganisationen der Entente. Deshalb ist die soeben in zweiter erweiterter 
Auflage unter jenem Titel erschienene Schrift zu begrüßen, die der Professor an der Universi- 
tät Halle-Wittenberg, Georg Karo, geschrieben hat. Sie war ursprünglich nur als Sonderdruck 
der ‚Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen‘ erschienen, ist nun aber auch 
im Buchhandel zu haben. Professor Karo gibt einen klaren Überblick über diese Boykott- 
bewegung, die nichts anderes ist als eine Übertragung des Versailler Friedensdiktats auf 
das Gebiet der Wissenschaft. Die vereinigten alliierten Akademien haben in den Jahren 1918 
und 1919 dreimal in Brüssel getagt und an Stelle der früheren internationalen Assoziation der 
Akademien aller großen Kulturländer zwei neue, rein alliierte wissenschaftliche Vereinigungen 
gebildet. Nach den Satzungen dieses Konzerns sind die deutschen wissenschaftlichen Körper- 
schaften ‚‚zunächst bis 1931‘ (!) von den beiden Organisationen der Entente ausgeschlossen. 
Es sind das der Conseil International de Recherches (International Research Council) für die 
Naturwissenschaften und die Union acad&mique internationale für die Geisteswissenschaften. 
In den Tagen der allmächtigen Kriegspsychose ist der tiefste Zweck der Entente-Organisation 
nicht so klar zum Vorschein gekommen. Immer deutlicher wurde es aber, daß man es hier gar 
nicht mit der Zusammenfassung wissenschaftlicher Kräfte verschiedener Länder, sondern mit 
einem organisierten Weltboykott gegen Deutschland zu tunhat. ‚‚Der oberste Forschungsrat 
beherrscht mit seinem starren Statut alle ihm unterstellten Organe, und er wiederum ist ein 
gefügiges Werkzeug in der Hand weniger Vertreter der Entente-Hauptmächte.‘‘ Es liegt auf 
der Hand, daß hier eine große Gefahr nicht nur für die deutsche Wissenschaft, sondern für die 
wissenschaftliche Arbeit der ganzen Menschheit droht. Es hat an Mißstimmung und Gegen- 
strömungen unter den Neutralen nicht gefehlt, und auch in den Staaten der Entente hat sich 
Widerspruch erhoben. Aber diese einzelnen Stimmen haben eine Veränderung der Satzungen 
des Forschungsrates bisher nicht erzielen können. Neben der Behandlung deutscher Gelehrter 
und Gelehrtengruppen als ebenbürtiger Mitarbeiter an der menschlichen Wissenschaft ist vor 
allen Dingen die Sprachenfrage von großer Wichtigkeit. Die deutsche Sprache muß im inter- 
nationalen gelehrten Verkehr wieder als vollkommen gleichwertig neben der französischen und 
englischen anerkannt werden. Die Vertreter der deutschen Wissenschaft sind nicht dazu da, 
französische Kulturpropaganda treiben zu helfen. Das ist auch auf der letzten Tagung des 
Hochschulverbandes in Darmstadt vortrefflich ausgesprochen und begründet worden. Neu- 
trale Forscher haben die drohende Hegemonie französischer Kulturpolitik und die Notwendig- 
keit, ihr entgegenzuarbeiten, schon früher erkannt. Professor Karo steht es außer Zweifel, daß 
der Eintritt in die Ententeorganisationen für Deutschland nur vom Übel sein kann. Wir 











348 Aus Zeit und Geschichte 
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lüden uns große unproduktive finanzielle Lasten auf und wären im Rate auch dann machtlos, 
wenn sich die Neutralen uns anschlössen, denn England mit seinen Dominien, Frankreich mit 
seinen engeren und weiteren Vasallenstaaten (den Kolonien, der kleinen Entente) würden die 
Mehrheit bilden. Wir würden die einzige uns noch gebliebene Souveränität, nämlich die 
auf dem geistigen Gebiete, aufgeben. Aber auch ‚‚die einfachste Würde verbietet uns jede 
Annäherung an den aus Haß und Verachtung gegen uns geborenen Conseil International de 
Recherches, auch wenn er ein wenig umgestaltet würde.‘ Der ehemalige badische Staats- 
präsident Dr. Hellpach, chauvinistischer Anschauungen unverdächtig, hat die für uns ge- 
gebene Haltung in folgenden treffenden Worten gekennzeichnet: „Die wahre Internationalität 
der Wissenschaft wird um so eher wiederkehren, je peinlicher die Deutschen auch in wissen- 
schaftlichen Dingen auf die ruhige, aber bestimmte Wahrung ihrer nationalen Würde bedacht 
sind. Bis dahin können wir getrost auf solche Veranstaltungen verzichten... Wer was will 
gelten, der mach’ sich selten.“ 

Ihre besondere Bedeutung erhält die zweite Auflage von Karos Schrift durch den Abdruck 
der Adresse französischer Intellektueller an Polen vom 15. Mai 1925. Die 600 Unterzeichner 
nennen sich selbst die geistige Elite Frankreichs. Die in dieser Adresse gegen Deutschland ge- 
richteten Verleumdungen, sechs Jahre nach „Friedensschluß‘“, sind ein vollkommen unmboti- 
vierter Ausbruch des Hasses, den man nicht übersehen darf. Es sind Namen von hohem 
Klang, unter denen besonders zahlreich die Theologen vertreten sind. Professor Karo sagt, das 
könne nicht wundernehmen, beginne doch der Mitherausgeber des großen Dictionnaire d’Ar- 
ch£eologie chretienne et de Liturgie, Dom Leclercq, den Artikel Germanie mit dem Ausdruck 
des Bedauerns, daß ihn das Alphabet zwinge, sich mit „une terre et race maudites‘, mit ‚einem 
verfluchten Lande und einer verfluchten Rasse“ zu beschäftigen. Das geschah im Jahre 1924! 

Für jeden Deutschen, der es mit der wissenschaftlichen Zusammenarbeit der Völker ernst 
meint, ist es selbstverständlich, daß diese in Freiheit geleistete Zusammenarbeit wünschens- 
wert, ja notwendig ist. Aber noch gilt das Wort, das Bismarck über die Teilnahme der Deut- 
schen an der Pariser Weltausstellung 1876 gesagt hat: „Im Privatleben würde ein anständiger 
Mann eine an jedermann ergangene Einladung in das Haus eines anderen unbenutzt lassen, 
wenn dieser andere öffentlich bekundet, daß er ihn haßt und verachtet, aber in seinem Hause 
dulden werde, wenn jener der Einladung dennoch Folge leistet.“ Das hat gar nichts mit 
Chauvinismus zu tun, wohl aber mit dem normalen Stolz, den man in diesen Zeiten jedem 
Deutschen ansinnen kann. 

In der Kirche der Sorbonne in Paris hängt ein großes Kriegsgemälde, in dessen Mittelpunkt 
der Weltheiland, vom Kreuze schwebend, Frankreich, das mit gezücktem Degen vorwärts 
stürmt, segnet. Unter der Gestalt Frankreichs winden sich der deutsche Kaiser, der deutsche 
Kronprinz und sterbende deutsche Krieger; im Vordergrunde liegt der Leichnam einer — na- 
türlich von den Deutschen erschlagenen — Frau mit ihrem toten Kinde. Am 19. März dieses 
Jahres sprach Emil Ludwig in der Sorbonne über Goethe und Napoleon, über das Genie der 
Tat und seinen ‚‚platonischen Bruder“. Es wird in Deutschland kaum jemanden geben, der 
den starken Beifall der Hörer der Sorbonne') Herrn Emil Ludwig nicht neidlos gönnte. 


München. Tim Klein. 


Deutsche Geschichte und deutscher Charakter 


7 und kühn, weitausgreifend ist die Überschrift, die Karl Alexander v. Müller seiner 

Aufsatzsammlung gegeben hat.?) Wenn wir es nur mit politisch-historischen Essays zu tun 
hätten, so möchte man fast zweifeln, ob solches Thema nicht zu Gewaltiges verspricht. 
Aber darum handelt es sich hier nicht. Worte, Sätze und Bilder sind aus deutschem Erleben 
heraus, von der deutschen Geschichte und vom deutschen Charakter geformt worden. Es ist 
wirklich nur ein einziges Thema, über das hier gesprochen wird — der Verfasser sagt es uns ° 
selbst in der Einleitung — der deutsche Zusammenbruch am Ende des Weltkrieges. 


!) Seit diese Zeilen geschrieben wurden, hat der Verfasser unserer „Gegenrechnung‘“, Prof. 
August Gallinger von der Universität München, in den Münchener Neuesten Nachrichten vom 
9. Mai 1926 zum ersten Mal die deutsche Öffentlichkeit darüber anfgeklärt, was es mit den ° 
Vorlesungen deutscher Schriftsteller vor den „Hörern der Sorbonne“ für eine Bewandtnis hat. ° 
Diese Vorlesungen finden in einem kleinen 40-50 Personen fassenden Hörsaal vor einem 
Publikum von Ausländern statt. Die Zahl der anwesenden Franzosen darf auf etwa 10 ge- 
schätzt werden. D. Schr. 

?) Karl Alexander v. Müller, Deutsche Geschichte urd deutscher Charakter. Aufsätze und ° 
Vorträge. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1926. 








Aus Zeit und Geschichte 349 
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Auch diejenigen Aufsätze, die in die Vorkriegszeit fallen, sind nur Variationen. Wir wohnen 
einer Bismarckfeier bei, April 1914, und schon steht riesengroß die deutsche Gefahr vor 
‚uns: der enge Raum, die schwierige äußere Lage, ‚ringsum dem Einfluß und dem Angriff 

offen‘. Oder uns wird ein deutscher Mann geschildert, wie der Demokrat Friedrich Theodor 
Vischer, erklärt aus dem süddeutschen Milieu, so wie es nur ein Süddeutscher ganz verstehen 
kann — und gleich schauen wir ein Stück der lebendigen und reichen deutschen Geschichte, 
wird uns der deutsche Charakter mit seinen Tiefen und Ecken gegenwärtiger. Dann kommen 
die Ansprachen des großen Krieges, die K. A. v. Müller von dem Forum der S.M. aus hielt, 
„nicht schulmeisterlich, aber eindringlich, mit wachsender Sorge, wie sie so viele deutsche Patrio- 
ten in fortschreitenden Kriegsjahren erfüllt hat. Heute ließ er Worte vergangener Menschen 
mit unheimlicher Bedeutung für das Gebot der Stunde reden, morgen suchte er die Gegenwart 
aus der Vergangenheit zu deuten, er zeigte immer das Bleibende, Durchgehende, nicht die 
Parallelen. Nur weniges davon konnte naturgemäß in die vorliegende Sammlung aufgenommen 
werden, aber wie wurde die erzieherische Aufgabe des politischen Historikers im ‚‚Fichte und 
Machiavelli‘‘ vorbildlich gelöst. Dem deutschen Volke, wenn es nur hören wollte, wurde ins 
Bewußtsein gehämmert, daß deutscher Idealismus sich sehr wohl mit harter Erfassung der 
Tatsachen verträgt, so wie es Fichte vermocht hat. Welche indirekte Anklage gegen die deut- 
sche Politik der letzten Jahrzehnte, wenn er Fichte sagen läßt, daß mehr als die Hälfte der 
entstandenen Kriege durch große ständige Fehler der Angegriffenen entstanden seien, welche 
dem Angreifer Hoffnung auf ein glückliches Gelingen gaben. Die ‚Zwiesprach‘ war und ist 
Bekenntnis, persönliches Bekenntnis des einzelnen und von Tausenden. Mehr als dies ist es 
Kriegsdichtung im besten Sinne, deren Mängel man so oft beklagt, weil man das Gute am Wege 
liegen ließ. Prunkloser lassen sich Wort und Idee ‚Deutschland‘ kaum umkleiden als es in 
dem Schlußsatz geschah: Vater: ‚Und ihr Überlebenden alle, welches unendliche Werk bleibt 
euch, welcher ewige Garten, in den ihr alles .Unsagbare dieser Zeiten einpflanzt, Liebe und 
Leid, Grimm und Qual, Hoffnung und Hingebung, Stolz und Demut, wie unsere Toten alles 
in ihn hineingepflanzt haben — sag es mein Sohn mit einem Wort.‘“ — Sohn: ‚‚Deutschland.‘ 

Dann kam das Ende. Zuerst die Tage ohne Hoffnung in die Gegenwart, aber noch im Glau- 
ben, Deutschland würde sich schließlich doch noch für die Ehre der Nation ermannen. In dieser 
Zeit sind die ‚„‚Historischen Glossen‘‘ entstanden. Dann sehr bald nach dem Zusammenbruch 
„Das Ende der deutschen Flotte‘. Diese rein sachliche Darstellung der letzten Tage der deut- 
Schen Flotte bedeutet auch heute noch Erschütterung für den Denkenden. Karl Alexander 
v. Müller schrieb sie mit innerster Überwindung, um Deutschland zu sagen, den kranken ver- 
blendeten Volksgenossen in die Ohren zu schreien, in welchen Abgrund man gestürzt sei und 
welches Vermächtnis man ohne äußerste Not preisgab. In diekommenden Jahre der Verzweif- 
lung, der seelischen Folterung und der neu aufkeimenden Hoffnung führt alles übrige, was er 
uns noch einmal vorlegt. Das meiste natürlich. Denn jetzt wurde es erst möglich, ohne Selbst- 
beruhigung und Vertuschung den Fragen nachzugehen: mußte es so kommen und wie geschah 
dies alles? Manche von uns haben die beiden Aufsätze, die an die Spitze der Sammlung gestellt 
wurden, „Deutschlands Geschichte und deutscher Charakter‘ und ‚‚Die deutsche, Erhebung 
vor hundert Jahren und heute‘‘ als Vortrag gehört. Sie waren gewachsen aus besonderer Not 
der Stunde, hier Ruhreinbruch, dort innere völkische Zerrissenheit. Das Besondere, das in 
diesen Vorträgen lag, sie taten weh, ohne zu zerstören, sie erhoben, ohne leichtfertigen Optimis- 
mus zu erlauben. Wir hörten kein kluges Wort davon, daß es notwendigerweise so Kommen 
mußte, keine überhebliche Prophezeiung, wie sich die Zukunft gestalten werde, sondern nur 
immer das eine: rein zufällig, ohne Zusammenhang mit deutscher Geschichte und deutschem 
Charakter kam die große Katastrophe nicht über uns, kein Wunder wird sich auch ereignen, 
wenn nicht das Lebendige unseres Wesens das Tote und Starre überwindet. Wir sind das Volk 
der Gegensätze: ‚Die gegenwärtige Not wäre schier unerträglich, wenn wir uns nicht daran 
erinnerten, daß es in der deutschen Geschichte immer ein Auf und Nieder gegeben hat‘, so 
ungefähr sagte uns Karl Alexander v. Müller im historischen Seminar schon im Sommer 1919. 
Das ist sein Glaube, den nicht Fatalismus, sondern Liebe zu Deutschland gebar. Aus dieser 
Liebe heraus legt er Deutschland schwere Verantwortung auf. Er hat ihr am Ende des Auf- 
satzes ‚Deutsche Geschichte und deutscher Charakter‘ Ausdruck gegeben: ‚Es ist etwas in 
unserer Brust, was uns glauben macht in aller Not — nicht Stolz auf das, was unser Volk 
schon geleistet hat, sondern im Gegenteil ein Gefühl der Verpflichtung, was ihm noch obliegt, 
das Gefühl, daß wir Deutsche unsere Aufgabe in der Geschichte noch nicht erfüllt haben, daß 
alles Größte uns bisher immer wieder vor der Vollendung abgebrochen ist, daß unser Schicksal 
selbst uns immer wieder neue Wege auferlegt.“ 

Die Leser der ‚Süddeutschen Monatshefte‘“ kennen vieles schon, was in der vor- 
liegenden Sammlung steht. Ist das ein Grund, sie nicht mehr zu lesen? Pflegt man 








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350 Aus Zeit und Geschichte 








denn Bruchstücke eines musikalischen Werkes zu hören, ohne Verlangen zu tragen, das ganze 
Werk kennenzulernen? Jetzt, wo die Melodie des ganzen Liedes da ist, klingt sie voller, eigen- 
artiger und imganzen neuartiger. Trotz der Zeitgebundenheit birgt sieüberzeitlicheWerte in sich. 


Berlin. Dr. Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode. 


Die Rückbildung der deutschen Volkswirtschaft 


19° große Prozeß der Umbildung und Durchorganisierung unserer Wirtschaft wird in einer 
Schrift von Max Marcuse in zusammenfassender Darstellung und fesselnder Sprache 
behandelt.!) Der Verfasser versteht es, aus der Überfülle der wirtschaftlichen und wirtschafts- 
politischen Ereignisse die leitenden Gesichtspunkte herauszugreifen und auch dem volks- 
wirtschaftlich nicht geschulten Leser in knapper Form ein anschauliches Bild von der Ent- 
stehung der gegenwärtigen Krise zu geben, und zugleich den Weg zu markieren, auf dem ihre 
Überwindung erhofft werden kann. Wie es zu der Krise kam, wird an Hand der Lage unserer 
wichtigsten Produktionszweige geschildert. In der organischen Rückbildung der Wirtschaft 
bis zur Wiedergewinnung einer rentablen Produktionsgrundlage sieht der Verfasser mit 
Recht den einzigen Weg, der aus der Krise hinausführt. Das wirksamste Mittel dazu scheint 
ihm, nach Beseitigung aller Rückstände aus der Inflationszeit, die Vereinigung der Arbeits- 
methoden der alten Welt zu sein. Dadurch ließe sich verhüten, daß das Übergewicht Amerikas 
und der erwachende asiatische Osten das in sich zerrissene Europa aus dem Sattel heben. 
Dieser Gedankengang führt den Verfasser zu dem jetzt so viel erörterten Plan der ‚Vereinigten 
Staaten von Europa‘, dessen Verwirklichung er, in allerdings etwas zu großem Optimismus, 
schon in nicht ferner Zeit erhofft. Wer sich der jahrzehntelangen Arbeit erinnert, die das 
Zustandekommen des deutschen Zollvereins erforderte, wird nicht erwarten, daß ‚Pan- 
Furopa‘ so schnell vor unseren Augen entsteht, 


München. Alexander Elfenpein. 


Politische Neuerscheinungen 


irsest Judet, dem wir wichtige Enthüllungen zur Politik Poincar& Iswolsky in der Huma- 
nite verdanken, schrieb bereits 1920 ein polemisches Buch gegen Clemenceau (Le v£ritable 
Clemenceau, Ferdinand Wyss Berne 1920) das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. 
Das Buch führt zu tief in Interna der französischen Innenpolitik vor dem Kriege hinein, 
um als reine Geschichtsquelle gelten zu können, immerhin wirft es interessante Schlag- 
lichter auf den Tiger. Die kriegstreiberische Rolle des Journalisten, die zerstörende Arbeit 
des Friedensmachers Clemenceau kann billig nicht bezweifelt werden. Bedenken steigen 
auf, wenn Judet Clemenceau selbst für das Verschleppen des einheitlichen Oberbefehls Frühjahr 
1918 verantwortlich machen will, von dem Mann, der das Wort ‚‚ich führe Krieg und nichts als 
Krieg‘ sprach, ist alles andere als Sabotierung aller zum Siege notwendigen Mittel zu erwarten. 

Über die Entstehungsgeschichte der russischen Revolution gibt Prinzessin Paley (Souve- 
nirs de Russe 1916/19, Paris, jetzt auch deutsch: Erinnerungen aus Rußland, Awa-Verlag, 


Hamburg) wertvolle Aufschlüsse. Prinzessin Paley ist die morganatische Frau des Großfürsten 


Paul, des Sohnes des Zaren Alexander II. Die Bolschewisten ermordeten ihren Mann und ihren 


Sohn Wladimir. Eine schwergeprüfte Frau erzählt hier ihre Leidensgeschichte, man wird 
Genauigkeit aller Angaben nicht erwarten dürfen. Um so höher ist der Wert für das psycho- 
logische Verständnis der russischen Revolution. Wir sehen hier die klassische Entwicklung: 
Schwäche und Korruption des herrschenden Regimes, Blindheit und zu spätes Einlenken,. 
Entladung der allgemeinen Spannung. Es kommt zur Auflösung jeder Ordnung und zu Ver- 
suchen ihrer Wiederherstellung. Darauf der Sieg der Radikalen und der Beginn des eigent- 
lichen Terrors. Man ist zunächst überrascht, wie lange sich noch Mitglieder der kaiserlichen 
Familie frei bewegen durften, und dann wieder unter dem überwältigenden Eindruck, wie 
wenig menschliches Mitleid sich bei den Bolschewisten fand, um wenigstens die Unschuldigen 
zu schonen, 0. St. 


’) Max Marcuse, Die Rückbildung der deutschen Volkswirtschaft, ihre Ursachen 
und ihre Bekämpfung. Heft 88 der Finanz- und volkswirtschaftlichen Zeitfragen, herausg. 
von Georg v. Schanz und Julius Wolf. Verlag von Ferd. Enke, Stuttgart. 


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Tagebuch 


351 








Tagebuch 


Die Wahrheit 
über Südtirol 1918—1926 


Pte diesem Titel ist im Verlage der 
graphischen Kunstanstalt Josef C. Huber 
in Diessen vor München eine kleine Schrift 
von dem bestbekannten Hans Fingeller in 
Südtirol erschienen, die in gedrängter und 
doch erschöpfender Weise die Entwicklung 
der Lage in Südtirol auf Grund verbürgten 
Tatsachenstoffes bis in die allerletzte Zeit 
darstellt. Das Büchlein, ein kleines Meister- 
werk, getragen von tiefempfundener Heimat- 
liebe ohne jedoch den Weg objektiver und 
sachlich gehaltener Darstellung zu verlassen, 
ist auch in der Gliederung des Stoffes als 
vollendet zu bezeichnen. Ausgehend von Süd- 
tirols Geschichte, daran anschließend und im 
engen Zusammenhange stehend ein Kapitel 
über die Geschichtsfälschungen, ein weiteres 
über das deutsche Volkstum in Welschtirol, 
des heutigen Trentino, dessen Behandlung 
man zum Großteile in den bisher über Süd- 
tirol erschienenen Broschüren vermißte, als 
vierter Teil die Verletzungen des Selbstbe- 
stimmungsrechtes an Südtirol, im Anschlusse 
daran die Stellung Südtirols zur Annexion 
durch Italien, Italiens Versprechungen, Ita- 
liens Minderheitenstandpunkt, die Brenner- 
grenze, eine Bedrohung weiteren deutschen 
Gebietes, die Volkszählungsergebnisse, poli- 
tische und administrative Wahlen leiten zum 
Entnationalisierungsprogramm Senator To- 
lomeis über. Den Unterdrückungsmaßnah- 
men gegen die Gemeindeverwaltungen und 
Gewaltaktengegen Einzelpersonen undPrivat- 
eigentum sind weitere Teile gewidmet. 

Auch das Wirtschaftsleben Südtirols, die 
kirchlichen Verhältnisse, und vor allem auch 
die Schuldfrage, die für das kulturelle Leben 
für die Zukunft des Deutschtums in Südtirol 
von weittragender Bedeutung ist, werden ein- 
gehend unter Verwendung authentischen Ma- 
terials behandelt. 

- Der letzte Teil der kleinen Schrift hat die 
bisherigen Ergebnisse der nationalen Politik 
Italiens zum Gegenstande. Der Verfasser ver- 
tritt in diesem Kapitel den einzig und allein 
berechtigten Standpunkt, daß die Entnatio- 
nalisierungspolitik Italiens in Südtirol nicht 
nur begreiflicherweise starken Gegendruck, 
sondern auch den festen, unerschütterlichen 
Willen ausgelöst hat, auch weiterhin im 
Kampfe auszuharren und der Väter Art und 
der Mutter Sprache unverbrüchliche Treue 
zu bewahren. In dem kurzen, als will- 
kommen zu bezeichnenden Anhange werden 
die beiden Brandreden Mussolinis, die Rede 


Bundeskanzlers Ramek im ungekürzten Ori- 
ginalwortlaute wiedergegeben. Die. bisher 
über die Südtirolerfrage erschienene Literatur 
hat durch diese kleine Zusammenstellung.eine. 
wertvolle Bereicherung erfahren. 


Innsbruck. Egon v. Lentner. 


Germanische Kunst 


enn es ein Kunstgebiet gibt, das uns 

Deutsche am meisten interessieren 
könnte und sollte, so ist es sicher das der 
Kunst unserer germanischen Vorfahren. 
Wenn jemand lächeln sollte beim Lesen dieser 
drei letzten Worte, etwa weil er seit Günthers 
„Rassenkunde des deutschen Volkes“ auf 
die auch in unserem, wie in jedem anderen 
europäischen Volke eingetretene Mischung 
der verschiedensten Typen hinzuweisen im- 
stande ist, so mag er das tun. Sein Lächeln 
wird die Tatsache nicht aus der Welt schaf- 
fen, daß das, was germanische Stämme, Skan- 
dinavier, Angelsachsen, Goten, Langobarden, 
Franken, Vandalen u.a. geschaffen, mit 
zu den herrlichsten Erzeugnissen aller Kunst 
gehört und daß sie diese ihre Kunstübung 
nicht nur auf ihrem ursprünglichen Heimat- 
boden, sondern überallda ausgeübt haben, wo- 
hin sie ihr ins Weite strebender Sinn und die 
Schicksale der Völkerwanderung geführt 
haben. 

Diesen Spuren nachzugehen hat sich ein 
sehr inhaltsreiches und vom Verlag Wasmuth 
vornehm ausgestattetes Buch zum Ziel. ge- 
setzt, dessen Titel lautet ‚‚Die älteste Kunst, 
insbesondere die Baukunst der Germanen 
von der Völkerwanderung bis zu Karl dem 
Großen‘. Als Verfasser zeichnet Albr.,. 
Haupt. Die vorliegende Auflage ist bereits 
die zweite; die erste war schon vor dem 
Kriege vergriffen. Es ist nicht weiter ver- 
wunderlich, daß die zweite erst 1923 erschei- 
nen konnte; der lange Zeitraum ist ihr zugute. 


gekommen, weil sie ganz neu durchgearbeitet 


werden konnte. 

Das Büch ist ein hohes Lied germanischer 
Kunst. Kein Wunder, wenn deren Zeugen 
fast überall in. Europa zu: finden. sind;; 
saßen doch vom 6.. Jahrhundert n.'Chr. an 
germanische Stämme in fast allen euro- 
päischen Ländern: die von ihnen gegründeten 


' Reiche gingen unter; eine andere Kultur 


kam herauf, die ihre Elemente anderswoher, 


: hauptsächlich aus dem Süden’ holte. ‘Die 
, germanische Eigenart versank. Aber sie 


hat, wie gesagt, stolze Spuren hinterlassen, 
und man freut sich aufrichtig und ehrlich, 


Stresemanns sowie die des österreichischen |. daß es Deutsche gibt, die diesen Spuren 
Pressefreiheit am Rhein (Südd, Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 11) 24 











352 Tagebuch 
ESTER USERN REN EIEMPEBRIN SEAN ERSETZEN REFERENT EEE SER EEE EEE EEE EEE ERTEEGSEEREEETEEEEEEEET EEE EGBTEn 





wieder nachgehen, sie ans Licht ziehen und 
uns Spätgeborenen zur Erbauung aufweisen. 
Lange genug hat uns der Humanismus das 
Wissen um unsere Voreltern vorenthalten. 
Es war kein echter Humanismus, denn, 
wenn dies Wort etwas bedeuten soll, so ist 
das doch in dem Goetheschen Sinne: Zweck 
und Ziel allen menschlichen Wissens ist der 
Mensch. Dann aber darf dies Wissen nicht 
starr auf das Gebiet der zuletzt gekom- 
menen klassischen Kultur gerichtet bleiben, 
denn auch diese hat Anleihen gemacht bei 
anderen, früheren Kulturen, wie dies übrigens 
auch die Germanen taten; aber wie die klas- 
sischen Völker, so haben auch die Germanen 
das Lehngut verarbeitet und in ihrem Sinne 
umgestaltet. Man darf also von einer ger- 
manischen Kunst mit derselben Berechti- 
gung sprechen, wie von einer klassischen, 
und dies klar und deutlich herausgehoben 
und bildmäßig aufgezeigt zu haben, ist das 
Hauptverdienst des vorliegenden Werkes. 

Trotz allen anscheinend widersprechenden 
Symptomen läßt sich seit dem für uns so un- 
glücklichen Ausgang des Weltkrieges doch 
eins gut und scharf beobachten: daß sich der 
Deutsche mehr und mehr auf sich selbst und 
seines Volkes Geschichte besinnt. Wenn dies 
vorläufig vielleicht nur unsere Besten tun, 
so macht das nichts und ist in Ordnung, 

Haupt gebührt deshalb unser aufrichtiger 
Dank für sein schönes Buch! 


München, Adolf Dirr. 


Englisches 


De anglikanische Bischof von Gibraltar 
pflegtesich zu tragen wie ein katholischer 
Prälat, dessen Sprengel Südeuropa war. 
„Ich glaube, ich gehöre Ihrer Diözese an, 
Mylord‘“, sagte der Papst lächelnd, als er ihm 
einmal begegnete, 
%* 

Bleiben wir bei unserer alten Firma „Gott 
und Sohn“, war der letzte Trumpf eines 
puritanischen Predigers auf der Kanzel. 


x 


Ein englischer Bischof des 17. Jahrhun- 
derts pflegte vor der Schlacht die Neutrali- 
tät Gottes zu erbitten mit der Begründung: 
„Wir selbst sind zwar Sünder, aber die Feinde 
sind auch keine Heiligen.“ 


+ 


Als der General Wellington zum Kanzler 
der Universität Oxford ernannt wurde,machte 
der Erzbischof Whateley eine offizielle Eingabe 
um das Kommando des Gardekavallerieregi- 


ments, 
% 





„So etwas hat man doch in Wirklichkeit 
noch nie gesehen“, sagte ein Besucher vor Tur- 
ners Bildern. ‚Aber wären Sie nicht froh, 
wenn Sie’s gesehen hätten?“ erwiderte der 
Maler. 

* 

Brüderlichkeit (,fraternite‘“) in England: 

das Erstgeburtsrecht des Ältesten, 


%* 


Die beiden großen Humoristen Dickens 
und Thackeray, die sich persönlich nicht 
kannten, weilsiesich nicht ausstehen konnten, 
stießen eines Tages in der Garderobe des 
Athenäum-Clubs zusammen, indem beide 
denselben Hut ergriffen. Die Szene war so 
komisch, daß sie selbst auf Humoristen 
wirkte, und sie schüttelten sich zum ersten- 
mal die Hand. 

wr 


„Haus der Trinität‘“ (Trinity-House) heißt 
ein Gebäude in London, das einer Körper- 
schaft zur Förderung des Schiffahrtswesens 
gehört. Ihre Mitglieder haben eine eigene 
Tracht und nennen sich ältere und jüngere 
Brüder. Bei einem Empfang auswärtiger Ab- 
geordneter trug Mr. Asquith diese Tracht, 
und einer der Gäste fragte ihn, was sie be- 
deute. Der englische Dissenter erklärte: 
„Ich bin ein älterer Bruder der Trinität“. ‚‚Ah 
— das gibts bei uns zuhause nicht,‘ erwiderte 
höflich der Fremde. 

@ 


Der alte Gladstone ließ sich eines Tages 
gerade Southey vorlesen, als der Prinz von 
Wales, der spätere König Eduard VII., ihn 
besuchte, und darauf drang, daß er gleich ein 
Buch lese, das er, der Prinz, aufs höchste 
schätzte (es war Marie Corellis Barabbas). 
Nachdem ihm eine Stunde aus diesem vorge- 
lesen worden war, sagte der loyale Gladstone 
ein einziges Wort als Urteil: „Southey!“ 


K.A,v.M. 


Gedanken 


Bi dauerhafteste Ergebnis der Philanthro- 
pie des 18. Jahrhundert sagt Thompson, 

war die Guillotine. 
3 


Man fragt sich manchmal, warum auch die 
tollsten Perversitäten in Literatur und Kunst 
das Publikum nicht noch viel verrückter 
machen, als es der Fall ist. Der Grund ist ° 
wohl, daß niemand sie eigentlich ernst 
nimmt, weder das Publikum noch die Autoren. $ 

%* 


Auch die Angst vor dem Aberglauben kann 
Aberglauben sein. 


K,A.v.M. 








Derdeutfche Erzähler 


Novelle in Weiß 


Bon Ernft Denzoldt 


He Heine Trommler Rene Collignon marfchiert als letter der Nachhut der Großen Armee 
in Rußland. Erhatfeine große Bärenmüße längjt verloren und trägt eine Haube von Schnee 
über dem braunen Haar. Denn e3 fehneit feit drei Tagen in großen, freundlichen Floden 
langjam, lautlos und jchwebend vom Himmel. Rene Collignon ift fehr müde und jeine große 
bunte Trommel jo jchwer, daß er fürchtet zurüczubleiben. Die Soldaten vor ihm find alle wie 
er bej'yneit und müde von mühjamer Wanderung. Ein Gerud) von Brand ijt nod) in ihren 
Kleidern und Haaren. Rene Collignon ift aber fchon ganz von Sinnen und nur noch Marich, 
gequälter Rhythmus. Er ift verftummt und beinahe bereit, hinzujinfen mit den großen freund- 
lichen Sloden, aufzugehen im Weißen, und er fpürt, daß ihm leichter wird. „Sib mir deine 
Zeommel, Rene Collignon”, hört er neben fich fagen und wird einen Augenblid wacd) von 
jeinem Namen. Der andere nimmt die große Trommel und tritt hinterihn. Dann ilt e8 wieder 
fill wie vorher, endlofe Wanderung im Weißen. Und immer fommt e3 noch leife, weiß an 
weiß bom Himmel, im Weißen verjinfend. Sonft ift aber nichts ringgumher, Tein Dorf, fein 
zZier, fein Baum. Da wendet fich plößlich Rene Collignon um, daß er ihn fehe, der für ihn feine 
Zrommel trug. Und jener trug fie wirklich noch, obgleich e3 doch fo unfinnig imar, zu denfen, 
daß man je wieder trommle, Collignon jah den andern an und erfannte ihn freundlih. Doch 
geriet er Dabei ind Taumeln und fiel jeitwärts, Al er im Schnee Iag, begehrte er nicht mehr 
aufzuftehen, „Schlafen, jo war ihm, und alles ift wieder gut.” Er jah noch einen Augenblid 
Unzähliges leife und leicht jenfrecht auf fich herabjchweben, dann fchloffen fich feine Augen, 
ganz gab er jich hin dem füßen, gefährlichen Schlaf. Nicht gleich nahm e3 der andere wahr. 
Schhläfrig und ftumpf mar er wie alle. Nun aber büdtte ex fich hinab zu dem mübden, bejchneiten 
Geficht und rüttelte Eollignon: „Aufftehen, du! He! Wach auf!” rief er. Ex griff ihn ins Haar 
und berjuchte ihn hochzureißen. „Collignon,” brüllte er, „vorwärts, oder ich Yaffe dich liegen. 
Eollignon, die Kojafen fommen! 3 ift jeßt nicht Zeit zu fterben!” Aber Collignon mochte nicht. 
„Scählafen,” jagte er untwillig leife. Schon waren die Soldaten fo weit, daß fie im Blide zer- 
gingen. Und dann jah man nur noch rings den ewig fallenden Vorhang fanfter, vergänglicher 
Sloden. Sie jwebten unendlich) herab, Weißes zu Weißem. Der alfo Vereinfamte twarf die 
Ztrommel von ji) und jchlug zornig mit dem Riemen den Schlafenden Collignon. Schon ver- 
Ineiten die Spuren, al3 der Trommler fich regte. Er fehrie laut auf, denn die Hiebe brannten 
auf jeinen frierenden Händen, Der andere aber war ftark und hob ihn auf ftatt der Trommel, 
bereit ihn zu tragen, wenn er nicht gehen wolle. Ein Schlud Branntwein machte Collignon 
bollends wach. Dann trug ihn der Gefährte auf dem Rüden mit fich, den fehwindenden Spuren 
des Heeres zu folgen. Da aber Collignon merkte, daß e3 dunkler wurde, erfchütterte ihn dag 
Vergängliche und, da er noch ein Knabe faft mar, begann er leife zu weinen. Der andere fagte 
fein Wort. Al er einmal raftete, fragte ihn Collignon, wie ex denn heiße, Er nannte fich: 
Marcel Roffignol. E3 Hatte zu fchneien aufgehört, und als die Ebene blau vom Abend wurde, 
jagte Collignon, daß er jet wieder gehen fünne, und nahm fi) zufammen. Nach einer Weile 
aber, da e3 jchon finfter mar — nur der Schnee leuchtete matt — merkten fie, daß fie die Spur 
berloren hatten und im Kreije gegangen waren. „Sft das nicht deine Trommel, Collignon,” 
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354 Derdeutjhe Erzähler 








fagte Marcel und ftieß mit feinem Fuß an einen großen Schneepilz. Sie war e3. „Nicht weinen 
jet," brummte Marcel. „Es genügt, daß wir leben, auc) fern und ganz verlaffen.“ Aber um 
meinetwillen -..“ begann Collignon. Marcel fette fich auf die Trommel. „Was willft du? 
Wir könnten ebenjogut auf dem Marktplag von Aubigny figen, und e8 hat eben gefchneit. 
Macht es dich furchtfam, daß e3 nun nicht fo ift?" Sie waren ja nun unendlich verlaffen in der 
einjamen Ebene. „Was it dein Beruf, Collignon?“ fragte Marcel. „Dichter,“ antwortete 
Ihüchtern der Trommler. Er jagte e3, obgleich e8 doch unfinnig war, e8 jet zu denfen, hier 
bei der großen bunten Trommel in Schnee und Nacht, ganz nahe am Tod, und er lächelte. 
Marcel jchrieb ihre Namen groß in den Schnee und teilte jein Brot mit Rene, ehe fie fich auf- 
machten mweiterzugehen. Sie jchwiegen wieder lange. Einmal ragte ein Arm, eine ftarre Hand 
aus dem Schnee, wie ein Aft bejchneit. Sie fahen es beide und verjchiwiegen ihre Gedanken. 
Marcel begehrte nur immer ein Feines Licht in der Ferne zu fehen oder einen Hund zu hören, 
Manchmal meinte er wirklich, einen Heinen Schimmer im Hintergrund der Nacht zu fchauen. 
Aber e5 war wohl nur Sehnjucht, die e3 erfchuf, als fei e3. Er hörte auch Schlittenglödkhen 
und Dadjte an warme, dampfende Pferde fo ftark, daß fich das Finftere formte und groß und 
warm auf ihn zulam. Da padte ihn Collignon: „Ein Pferd!” fchrie er. Da rafte e8 fchon dunfel 
borbei und war wieder Nacht. Später aber begegnete ihnen ein Baum; da war e3 nicht mehr 
jo einfam. Dort rafteten fie daran gelehnt und wärmten einander. Jeder meinte, der andere 
Ihlafe, und machte mit Mühe. So wachten fie beide. 


Als e3 heil wurde, jahen fie, daß fie nahe bei einem Bauernhof genächtigt hatten. Collig- 
non jah ihn zuerft, und fie gingen hin. Gie Hopften an, und ein Heiner Junge im Schafspelz 
öffnete. Er erjchraf nicht vor ihnen, fondern fagte etwas auf ruffifch, da3 „Soldat“ bedeuten 
mochte, und ließ fie freundlich ein in die heie Stube. €3 ift wohl feltfam, dem Tode entronnen 
zu jein, Dachte Marcel, und es ift nicht anders, als ob eine Tür gehe. So jelbjtverjtändlich und 
gar nicht wunderbar. Sie fahen eine junge Frau in der Stube ftehen, eine Schale heißer, danı- 
pfender Milch in den Händen. &3 gelüftete fie jehr, davon zu trinken. Sie gab ihnen beiden, und 
fie lachten, da fie fich nicht verftanden. &3 war aber eine Feindfchaft gegen jie, jo elend waren 
Rene und Marcel. Vom Dfen Hletterte der Bauer herab, und Knechte und Mägde fahen 
neugierig Durch die Fleinen Fenfter herein. Draußen war Sonne. Marcel trug Rene, der 
Ihon im Sien jchlief auf das Dfenbett, und beide fchliefen tief bi8 zum Abend. Als Collignon 
erwachte, jah er das Geficht der jungen Frau über fich geneigt. Sie machte Ich, jch, wie einem 
Finde. Marcel jah e3 und ftaunte, ob des hellen Haares der jungen rau, jo blond war fie, 
fajt weiß. Nun trugen aud) die beiden Soldaten zottige Schafspelze und halfen den Snechten 
ein wenig. Sie wohnten auch im Stall mit den Pferden ganz nahe. Abends aß Marcel noch 
wac) auf der Futterfijte und jah heiter zu, wie Collignon fchlief. Am Tage faß die junge Frau 
in ber Stube und fie gefchict die Spindel tanzen. Rene Collignon jaß bei ihr und las ihr, 


obgleich jie ja nicht8 verftand, feine Sonette mit lauter Stimme vor. Er hielt dabei das Heine '” 


rote. Buch weit von jich und hob. begeiftert die Hand empor. Die junge Frau lächelte: „Ob,“ 
jagte jie, al er jtolz geendet, und bewunderte ihn, weil er Iefen fonnte. Auch Marcel mußte 


lächeln, der gerade dazu Fam. Dann afen fie alle zufammen aus einer Schüffel in der engen ° j 


heißen Stube. Am Nachmittag aber fpannte der Bauer den Schlitten an, heimlich die Kofaken 
zu holen. | a 


Der Keine Franzofe Collignon aber hatte ein feuriges Herz. Ach, e3 war wunderbar, dem 


Tode entronnen zu fein und zu lieben. Die junge Frau aber lachte ihn aus, als er entzückt und | 


bebend vor ihr niederfniete. Gie ftand auf und wärmte die Hände am Ofen, als fei niemand da. 
Rene Collignon Iniete noch, die Hand auf dem feurigen Herzen mit gefenfter Stirn. ©o ließ 


ihn die Frau allein. Shr Heiner Srnabe im Schafspelz öffnete nach einer Weile die Tür und | 
lugte hinein, fagte freundlich da3 Wort, das „Soldat“ bedeuten mochte, erjchraf aber, da er ° 


Rene nien jah. Da entlief er zu feiner Mutter. 


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3 


| Ernit Penzoldt: Novelle in Weiß 355 
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. AS Rene abendz jo lange nicht in den Stall fam, wurde Marcel unruhig. Er fand die 
junge Frau in der heißen Stube am Spinntoden, aber die Spindel tanzte nicht: Sie wußte 
nicht, wo Collignon geblieben war. Aber der Zunge deutete ins Kreie. „Ad, Collignon,“ 
jagte Marcel und. machte fich auf, den Verkiebten zu fuchen. Er jah jeine taumelnde Spur in 
den Schnee gebrochen und folgte ihr mit der Laterne tief in die Nacht hinein. Einmal mußte 
Nene gejtolpert fein, denn der Schnee war zerftört. Immer wieder rief Marcel des Gefährten 
Namen durch die Hohle Hand in die Finsternis. Aber der Wind riß ihn fort. Marcel fand den 
- Zörichten im Schnee liegen mit gefchloffenen Augen, Rauhreif an Wimpern und Haar. Renes 
Hände aber waren zerriffen vom Harft. Er begehrte nicht aufzuftehen. Schlafen, jo war ihm, 
und alles ift wieder gut. Marcel aber büdte jich zu dem mübden bereiften Angeficht und rüttelte 
Eollignon. Aber Collignon mochte nicht. Da teilte Marcel feine Wärme mit ihm und erwedte 
ihn zunt zweiten Male; er hob ihn auf. Der Wind ruhte und Sloden jchwebten herab auf die 
beiden, al? jie jich ind Unbekannte, Weiße wandten zu neuer mühjeliger Wanderung. „Komm, 
Rene!” fagte Marcel, und fie gingen. | 
- Da formte fich plöglich da3 Finftere, groß und warn fam e8 von allen Seiten, braune, 
dampfende Pierde und Dunkle, feindliche Reiter mit tödlichen Lanzen. „Marcel, die Kojafen !” 
Ihrie Eollignon und ftelfte fich vor den Gefährten. Er hielt das Heine rote Buch der Sonette 
meit von ji) und hob begeiftert die Hand. Die Lanze fuhr durch feinen Hals tief in Marcel 
. Rofjignols Herz. Sie fahen noch einen Augenblid unzähliges Weikes leije und freundlich auf 
fie niederfchweben. Dann gaben fie fich ganz hin dem füßen unendlichen Schlaf. | 





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Unfall auf der Straßenbahn 


| 2 Novelle von Theodor Heinrich Mayer 


3: jpäter von der Polizeibehörde erhoben wurde, hatte Franz Hausner jchon in feiner 
Sugend nicht viel getaugt. Sein Vater jchidte ihn zu einer ganzen Reihe von Handiwer- 
tern in die Lehre, im Anfang zeigte er jedesmal außerordentlichen Fleiß, verfiel dann: bald 
in ein haltlojes Projeftemachen, warf mit. den verftiegenften Plänen herum, ftatt jich die Kennt- 
nijje praftiicher Arbeit anzueignen, und erklärte jchließlich, in dem betreffenden Beruf nicht 
da3 Ziel jeines Lebens erfehen zu können. Der Vater gab ihm für folche Großfprechereien 
ein paar Ohrfeigen und machte mit ihm einen neuen Verfuch bei einem anderen Meifter. 
Nur bei einem Dachdeder hielt er e3 längere Zeit aus, nach feiner Behauptung, weil eg-ein 
bejeligendes Gefühl wäre, im Dienft der Menjchen und doch hoch über ihnen zu ftehen, in 
Wirklichkeit wohl nur deshalb, weil er in die Tochter des Meifters verjchoffen mar. Aber das 
Mädel, heimlich einem andern zugetan, lachte nur über die hartnädige Werbung des Burfchen. 
Da wollte er ihr einmal einen Beweis furchtlojer Kühnheit geben und pflanzte auf dem Firft 
eines Neubaus an gefährlicher Stelle ihr zu Ehren eine Fahne auf. Das Mädel winfte ihm 
bon unten zu, in ehrlidem Erftaunen über feinen Wagemut, er nahm dies für den fo jehnfüchtig 
erwarteten erjten Liebesbeweig, winfte zurüd, wagte fich Dabei zu ftark vor und glitt ab. Ein 
Sandhaufen, der noch vor dein Haus lag, verminderte die Gewalt de3 Sturzes, Franz fam 
mit einem Bruch beider Beine davon und behielt davon ein ftarfes Hinfen im rechten Fuß. 
| Anna hatte ihn im Spital öfter befucht, wohl nur aus Mitleid, aber immerhin beftärkte das 
| jeine Hoffnung, fie nun doch zu erringen. Sein erjter Gang führte zu ihr, aber fie dürfte 
‚ über feinen heifchenden Ton verärgert gemwejen fein, machte dann eine ficherlich nicht taftvolle 








‚ Bemerkung über jein Hinten, worauf er fie tätlich bedrohte und ohne das Dazmwijchentreten ihres 
Geliebten tmohl jchwer verlegt hätte. E3 fam zu einer Verhandlung, aber der Richter nahm 
Einnedverwirrung an, und Franz ging frei aus. 

| 








356 Derdeutjhe Erzähler 








Cine gemalttätige Veranlagung de Burjchen mar aljo erwiejen, wenn fie jonderbarermeife 
auch erft dreißig Jahre [päter zu einer neuen Auswirkung fan. Franz fand eine Beichäftigung 
bei der Straßenbahn, zuerft in den Remifen; aber da fich fein Hinfen verjchlechterte, wie man 
ihm den fißenden Poften eines Weichenmwärterd an, den er bi zum 12. Dezember, dem Tag 
des Unfalls, in zufriedenftellender Weife verfah. Auch über fein Privatleben ließ jich während 
der dreißig Zahre nichts Nachteiliges erheben. 

Soweit der Polizeibericht. 


IT: dem erwähnten Tag trat Franz Hausner um bier Uhr nachmittag feinen Dienft an. &3 
war [chon Dämmerig, ald er das winzige, gerade einer jigenden PBerjon Raum gemwährende 
Hüttchen auf dem Grillparzerplaß betrat. Faft nur aus Glas bejtehend, gewährte es nach aller 
Geiten freien Ausblid, durfte aber während des Dienjtes natürlich niemals verlajjen werden. 
Der feine eleftriiche Heizkörper auf dem Boden hielt die Temperatur recht erträglich. 

Der Berfehr war jeßt, eine Stunde vor Gejchäftsichluß, noch ziemlich Schwach, der Dienft 
erforderte feine bejondere Konzentration, der Wärter brauchte bloß auf die Gtirntafeln der 
berannahenden Züge zu achten und den Weichenhebel in die rechte oder linfe Kerbe zu jeßen, 
je nachdem der Zug rechts hinauf in die Lenauftraße oder links in die Raimundftraße hinab 
zu fahren hatte. 

Franz Efonnte jich ungeftört feinen gewohnten Betrachtungen hingeben. Hübjh war e3 
in dem gläjernen Häuschen — wenn die Vorübergehenden, die durch den nafjen Schnee 
ltapfen mußten, den Mann drinnen fißen fahen, jo beneideten fie ihn ficher um feine Geborgen- 
heit.. Hausner meinte e8 wenigjteng und hielt fich darob für einen Exlefenen im Straßen- 
getriebe der Großftadt. In Wirklichkeit Hatte natürlich niemand einen Blid für das fo wichtige 
Organ des Öffentlichen Verfehrswejeng. Höchitens daß ein junger Mann, der auf frierenden 
Füßen, den Kragen hoch aufgefchlagen, feit einer halben Stunde auf fein Mädchen wartete, 
einen gleichen gewärmten Glasfturz über fich wünfchte, bi3 das endliche Erjcheinen der Er- 
lehnten andere, zärtlichere Wunfchgedanken in ihm ermweckte. 

Franz im Gehäufe fühlte fich aber weiter al3 einen Mittelpunkt im raftlofen Getriebe der 
Stadt. Rings um ihn hafteten Menjchen, Fahrzeuge, Gedanken, das Leben — er aber ruhte 
inmitten wie ein hoher Gebieter, hielt ein jtählerne3 Szepter in der Hand, zwang großen 
roten Wagen eine Richtung auf, und fie gehorchten. Ihre Räder ächzten unter folddem Ge- 
bot, Enirjchten, wenn er fie vom Geradiweg in fcharfer Kurve nad) Iinfs fahren hieß, mußten 
lich Doch fügen. Oder fie glitten mit Schwung, in fanftem Bogen nad) rechts die Lenauftraße 
hinauf, jchmiegten fich wohlig in die blanfen Schienen, fandten leife8 Summen und flirtende3 
Olanzlicht zu ihm al3 Dank, den er mit gnädigem Niden entgegennahm. 

Er war das Ruhende, der ftumme Befehl, die Ordnung, der Sinn. 

Und er jah bi3 in die Geele defjen, das ihm untertan war. Nur er konnte beobachten, wie 
verjchieden die tiefere Art der Wagen-war. Manche fegten ganz weich auf die Schienen auf, 
ihr Rollen glich einem zufriedenen, zuftimmendem Brummen — da3 waren junge Wagen, 
die noch die richtige Spurweite und genau abgeftimmte Federn befaßen und fich wie etivas 
zärtlich Geliebtes ganz in die Hand ihres Herren gaben. Andere famen wieder fchlenfernd und 
bolpernd daher, trugen Auflehnung in jedem Ton ihres Bemwegens, polterten auf die Platte 
der Weiche, daß der hohle Boden darunter dröhnenden Widerhall gab, ald wollte auch er. 
ji) über den Zwang der Menfchen entrüften; ließen ihr Gewicht mit voller Kraft aus den 
harten Federn gegen die Spibjchiene fchlagen, als Tönnten fie da was zerftören; bäumten fich 
dann in zormig-vergeblichem Rücdjtoß auf — das waren die Wagen, in denen der Cigenwille 
des Stahles erwachte und fich dem von Anbeginn über ihn gefeßten Gebieter, dem Menden 
mwiderjegen wollte. Darın gab es noch manche, die dem Ausdienen nahe waren, in den Schienen 
hin und her wadelten wie ein alter Menjch mit fchwanfendem Gang, mit durchgebogenen 
Federn dumpf fortrollten und in die Weiche fanten, als fielen fie geduldig in die Knie, und dann 





Theodor Heinrich Mayer: Unfall auf der Straßenbahn 357 





behutjam, ohne Stoßen und Lärmen meiter glitten, um an ihrem gefchwächten Körper ja 


| feine Bejchädigung zu erfahren. 


Dei jolhen Wagen überlief den Mann im Gehäufe immer ein leifer Schauder: auch für 
ihn fam einmal die Welt, wo feine Knie in ausgeleierten Lagern fchlotterten, jeine Arme 
unelaftijch wurden wie abgebrauchte Federn, fein Rücken fich durchbog gleich einem Tahrgeitell, 
Das baldigjt ausrangiert werden mußte. Und ein Würgen fchloß fich um Kehle und Herz: war 


‚ ber Dienit, den er da verjah, wirklich Das Große, da3 er in ihn dachte, hatte er das Keben, dag 


ihm zubeitimmt war, wirklich au3gelebt, hatte er nichts verfäumt, das ihm zu einen feftlichen 
Zag hätte werden Tönnen, zu einer Stunde der Freude, einer Minute der Größe? 

Wie eine einzige, ungeheure, prangend erleuchtete Auzlage breitete die Stadt ringsum alle 
Schäße des Erlebens und Befitens, aber er durfte die Räume nicht betreten, mo man diefeg 
Gut verhandelte oder auch verjchenkte, er jaß gegenüber al3 Gefangener in einem anderen, 
armjeligen Gehäufe, war nichts als eine Hand, die einen Hebel einmal nach links, einmal nach 
rechts fchob. 

sn jolcher Kümmernis wagte er dann nicht aufzufehen, um dem nahen und doch fo fernen 
Olanz nicht zu erliegen, ließ feine Augen über den Boden gleiten, wo fie auf den Spiegel- 
bildern in den jchmußigen Lachen ruhen blieben. Menjchen eilten darüber hin, wühlten den 
Grund auf, verwirrten die Bilder, verzerrten jeden Schein. Das tat wohl, wenn alles Gefüge 


ı Dort gejtört jchien ... am liebiten wäre er felber hinausgeeilt und hätte dabei mitgeholfen ... 


da hätte er wenigitens einen Widerjchein der Wirklichkeit aus eigener Kraft zerbrochen ... 

Aber e3 war ja jeine Pflicht, in gläfernem Gehäufe geringen Dienft zu verfehen ... 

Der Königsmantel, über und über mit erträumter Wirklichkeit beftickt, fiel von ihm ab, emwig- 

Sfeitöfern Dünften ihm die Zeiten, wo ihm diefer Dienft als ein ftolzges Herrentum erfchien. Er 

hob die Augen wieder, richtete fie auf die Menfchen in den vorbeifahrenden Wagen. Aucd) fie 
waren ihm alle ganz nahe, jeden Zug ihres Gefichtes erfaßte er — aber halten konnte er fie 
nicht, nicht mit den Händen, nicht mit dem Blict ... al3 Lebendige glitten fie an ihm vorüber, 
wurden Ferne, im Schauen Erftarrtes, fchon wenn der Wagen um die Ede bog, dunfelten zu 
einem vergeblichen Erinnern ... 

Einmal nur aus engem Gehäufe vor fie hintreten, ihrem Entjchweben Halt gebieten, ihre 
Gedanken auf ihn jelbft zu fammeln: jeht, da bin ih! Mich müßt ihr fchauen, e3 gibt in diefer 
Minute nicht? neben mir! 

Gein Leben ftand vor ihm auf. Eine Zeit gab e3 einmal, wo fein Wille feine Grenzen erdul- 
den wollte, hundert Wege zu unerfaßbaren Zielen befchritt, jie zuleßt al3 gering erfannte neben 
der Beglüdung, die von einer großen Liebe ausgehen konnte und darum alle Kraft des Lebens 
in ihre Richtung trieb. 

Bergeblih audhdas... Körper und Seele wurden lahm in furchtbarem Sturz von einer Höhe 
... ja, auch an einem 12. Dezember war e3, und dreißig Sahre vergingen feitdem ... ein Men- 
jchenalter ... in gleihem Schritt ernreuerte fic) auch die Zeit... Er verfuchte, jich die Projekte 
ins Gedächtnis zurüdzurufen, mit denen er die Menfchen in feinen Bann ziehen wollte, die 
Erfindungen, um derentwillen fein Namen fi) über die ganze Welt fchreien mußte ... in 
einem Dunkel lag alle begraben, er bejaß nicht. mehr die Kraft, e3 ang Licht der Gegenmart 
zu ziehen. | 

Mehr denn je wurde er fich feines Schicjals bewußt. Jämmerlic) jaß er in feinem gläjernen 
Gehäufe gefangen, nicht einmal fo viel galt er, Daß man acht auf ihn hatte, wenn e8 aud) nur 
aus läjfigem Mitleid oder fpöttifcher Neugierde gejchehen mochte ... ein Nicht3 mar er, ein 
Automat, in den man jeden Samstag den Lohn warf, damit er funktionierte... 

Ein Unbefanntes wuchs in ihm empor. Bor dreißig Jahren war e3 der Ruf der Gewalt ge- 
mwejen, der in jeden Menfchen gelegt ift, wenn ihn auch nur Exlefene zu hören vermögen. Heute 
war e3 nur noch der Wille zur Tat, zu irgendeiner Tat, die ihn aus feinem Gehäufe hob, als 
Menjchen in eine Mitte der Menjchen ftellte, die Augen vieler auf ihn zwang ... 











358 | Derdeutjhe Erzähler 








Cr lachte mit verzerrtem Gejicht. Eine Tat ... Tag um Tag jaß er in einem Glaskäfig, 
erichöpfte allen Sinn feines Lebens darin, einen Hebel nach recht3 und nach Iinf3 zu ftellen .. 
und eine Frau trug daran [huld ... Wie tief ftand fie damals unter ihm und unter der 
Fahne, die Zeichen für allez ftolge Wehen feiner Geele jein follte ... jelbft Heute, ein Menfchen- 
alter jpäter, war der Wille zur Rache nicht erjtorben ... und ihn zu erfüllen, fchien feine Tat 
zu gering ... 

Er richtete feine Blide auf die Menjchen, die in den jegt fchon überfüllten Wagen borbeifuhren. 
Die mußten nicht3 don dem Mann, der ihnen in jeinem Gehäufe diente, hatten nur Eile im 
Sinn oder die Schau auf eine Frau, die ihr ftummes Fragen fofett erwiderte ... die Blonde, 
die eö mit jo lodendem Lächeln tat, war in ihr nicht Anna Wiefer erftanden, die Damals feines 
Lebens Schidjal wurde? rn jedem Zug, jeder Bewegung glich jie ihr ... wenn fie auch nur 
die Ähnlichkeit mit jener andern verband, e8 genügte, damit die Rache an ihr Halt fand .. 

Und wie leicht e3 jeßt zu einer folchen Tat fommen fonnte ... der Zug hielt auf dem Gefälle 
nad Iinks in die Raimundftraße, unmittelbar nad) der Weiche, weil ein Kohlenwagen, dejjen 
Rad niedergebrochen war, plöglich dag Geleije verjperrte ... der Mann im Gehäufe brauchte 
bloß den Wechjel falfch zu ftellen, und der nädhite Zug, der jchon Schwung nahm für die Stei- 
gung der Lenauftraße, fuhr auf den erften auf, viel fonnte dabei wohl nicht gefchehen, aber Glag- 
jplitter flogen herum, zerfchnitten vielleicht auch der blonden Dame das £ofette Gejicht ... 

Das Klirren von Glas ... von allen Seiten lodte e3ihn, war ein Klang, in dem fchon Gebot, 
Gewalt, Berüdung lag... und ein Gleihnis: auch ihn trennten nur gläferne Wände von allem 
großen Leben da draußen und von der Tat, die dort Geltung erziwang ... freie Bahn mußte er 
jich jchaffen, alles Widerftehende rammen, zeriplittern ... 

Ein Zug mit drei Wagen fant heran, „Tolmeinerplaß über Lenauftraße” ftand darauf. Zebt, 
jest mußte e3 gejchehen ... aber Auge und Arm, dreißig Jahre lang durd) eine Nervenleitung 
verbunden, vermochten fich nicht gleich auf die neue Schaltung einzuftellen, ganz von jelbft 
ichob die Hand den Gtellhebel von link nach recht8. 

Nein, nicht ganz ... die Spißjchiene mußte geflemmt fein ... ja, Da3 war e8, ein Kohlenftüc 
rollte von dem bejchädigten Fuhrmwerf auf die Schienen, gerade in den Wechfel hinein ... die 
Weiche blieb nach linf3 angelegt ... der Zug fuhr darüber, bog in die falfche Richtung ein ... 
durch die Erfhütterung loderte fich das Kohlenftüd, fprang wieder heraus ... die Hand, immer 
no) auf den ftärfften Drud nach recht8 eingeftellt, fand plöglich feinen Widerftand mehr, drüdte 
den Hebel in die Kerbe ... zu jpät, Glas Hirrte, Flirrte lauter als die Schredens- und Schmer- 
zensichreie bon Menfchen ... zu früh, denn die beiden Beimagen wurden fchon auf das richtige 
Geleije abgelenkt, entgleijten, ohne ihre lebendige Kraft dem Triebwagen mitzuteilen ... aber 
gläjerne Wände waren zerjprungen, hatten einen Ruf der Befreiung in alle Welt hinausge- 
jandt ... Eirrendes Glas, nie verga man den hellen, jchneidenden Ton ... 

Er tip die Tür des Hüttchens auf, gab aud) den Mann drinnen frei. 


Menjhen drangen auf Hausner ein, bejdhimpften ihn. Ein paar Sekunden lang wanlte er 
— e3 war doch nicht fo leicht, Mittelpunkt bon Augen und Gedanken zu werden ... die ganze 
Gebrüdtheit von dreißig Jahren brach wieder hervor, fammelte fich in der einen Gebärbe DER 
Arme, der auf etwas Schtwarzes neben den Schienen wiee. 


„SG kann nichts dafür... Die Kohle hat fi da eingeflemmt ..." Er wollte noch hinzufügen: ° 
„ iht jeht Doch den fhwarzen Fled drinnen in der Schiene ...” Aber irgend etivas lie 

biefe Begründung feiner Verantwortung nicht über feine Lippen formen. 
Die Leute, rajc) befänftigt, zweifelten übrigens auch fo feine Angaben nicht mehr an, dag ° 
Kohlenftüd lag ja wirklich neben der Schiene. &3 war nicht viel gefchehen, einige der Fahrgäfte ° 
hatten leichte Schnitttvunden Davongetragen. Die Scharen der Neugierigen, die fich in dichten ° 
Scharen. angefammelt hatten, begannen fich zu lichten. Befondere Senfation mar ja von einem 
jolchen bebeutungglojen Unfall auf der Straßenbahn nicht zu erwarten. Ein eleganter Herr, 








Theodor Heinrich Mader: Unfall auf der Straßenbahn 359 





der jich Dem Schugmann gegenüber als ein hoher Beamter Yegitimierte, hatte den Unfall von 
Anfang an verfolgt und erklärte die Berantivortung des Weichenmwärter gleichfalls al3 glaub- 
. würdig. 


He: Mann aus dem Gehäufe, eben noch der Mittelpunkt aufgeregter Menfchen, fiel wieder 
/in feine borige Bedeutungslofigfeit zurüd. Enttäufcht, bedrüdt, verftört fah er, wie fich 
der Kreis umihn öffnete. Der eine und der andere warf noch einen gleichgültigen Blie auf ihn, 
löfte ji) dann mit den Augen und mit allen Gedanken von ihm log. Nicht einmal für einen 
Heinen Unfall bedeutete er etwas ... 

Die legte Erregung der Neugierigen wandte fich den Verlegten zu. Ein paar Männer ließen 
ji mit Sadtüchern die blutenden Hände verbinden, eine anfcheinend fehr hHübfche blonde junge 
Dame preßte einen Schal an die Wange, unter dem gleichfalls ein dinnes Streifchen Blut 
hervorfiderte. Der Herr neben ihr zog ein Paketchen Watte aus feiner Tafche, befreite e8 von 
der Papierhülle: „Sch bin Arzt, gnädiges Fräulein, und freue mich, Ihnen dienen zu 
fünnen ...”. Wobei die Freude erjichtlich der TEIZENDEN neuen Befanntjchaft und weniger. der 
Er zu erweilenben Hilfe galt. 

Die legten, die noch bei Hausner geftanden waren, fchon ohne ihn mehr zu beachten, machten 
ein paar Schritte vor, um die blonde Dame beijer angaffen zu können. 

Dem Einjamen mwirbelte e8 um den Kopf. Er wußte nicht mehr, daß etwas, das er gemolft 
hatte, ohne jein Hinzutun durch einen Zufall tatfächlich gefchah — nur der Wirklichkeit des Wil- 
len3 erinnerte er fih. Wenn er fich dazu befannte, ftand er vielleicht wieder in einer Mitte ... 

„Da3 mit der Kohle ijt nicht wahr!” fehrie er auf. „Sch allein bin fchuld, ich Habe den Wechiel 
abjichtlich Faljch gejtellt ... die Frau dort follte einen Denkzettel befommen, fie gleicht jemand, 

den ich hafjen muß ...” Seine Stimme mwurbde leifer. „... und dann wollte ich das Klirren 
bon Glas hören ... ja, das Klirren ...” 

Der Schumann drehte fich auf dem Abfah herum. „Was jagen Sie da?” fragte er mit fchar- 
fer Stimme. 

„Die gläjernen Wände find zerfprungen ... die Frau blutet ... beides wollte ich haben...” 

Kun wandte jich aucd) der junge Arzt um. „Haben Sie gehört, gnädiges Fräulein ... eine 
Gelbitbeijhuldigung ... der Fall wird plößlich intereffant ...” 

Der Schugmann hatte jchon fein Notizbuch au der Tafche gezogen, begann ein regeltechte3 
Berhör. Aber Hausner hatte auf die nad) allen Regeln der Kriminaliftif geftellten Fragen im- 
mer nur die gleiche Antwort. | 

„Die Wände aus Glas follten Hirren ... diefen lang mußte ich hören ... und was nur noch 
ein dunkles Bild in mir war, blutet it. . joift egredt .... die andere vamal3 wurde nicht 
blutig, man fiel mir in den Arm . 

Smmer mehr Leute jammelten Kich an. Der Arzt hatte Schon den Arm der reizenden jungen 
Dame in den jeinen gelegt. „Der Schumann geht die Sache faljc) an — hier müßte ein 

Piychvanalptifer ftehen !” flüfterte er, und die Dame nidte. „Ia, Freud..." Sie hatte einmal 
diejen Namen in Zufammenhang mit der Piychoanalyfe nennen gehört. Die Nachbarn fchnapp- 
ten das Gejpräd) auf, gaben e3 in einem Dubend von Varianten weiter. Schon begann man 
fich zu drängen und zu ftoßen, um den Übeltäter befjer fehen zu können. Die Verwwundeten 
mwiejen die Hilfe der Sanitätödiener zurüd, die ihnen die Wunden regelrecht verbinden wollten, 
ihre Aufmerffamfeit war auf Wichtigere3 gerichtet. 
- Ein Weichenfteller der Straßenbahn, der au3 ganz verrüdten Motiven abfichtlich einen Un- 
fall herbeiführte — fo wa3 war noch nicht dDagemejen. 

Hausner drehte jich ein wenig im Kreis, jah vierzig, fünfzig Augenpaare ftarr auf jich gerich- 
tet. War e3 nicht Srerjinn, wa3 er tat? Aber die Zahl derer, die für ihn, nur für ihn Blide und 
Gedanken hatten, much mit jeder Sekunde. Schimpfworte fielen — nicht mehr gegen ihn, 
bloß gegen Unverjchämte, die jich auf einen Pla in den erften Reihen vordrängen wollten. 
Auf allen Bänfen in der Nähe ftanden Leute. Jungen Hetterten auf die Laternen. Ein Repor- 








360 Derdeutjhe Erzähler 


TE STETTIN ERREGER EEE EEE EEE EEE PERS SIELIE WETEEIEAESSWERRER EEE ER SEES 





ter, dem man bereitwillig Raum gab, ftellte fich neben ven Schugmann und machte jich Notizert. 

Der Weichenfteller atmete tief. Morgen lafen Hunderttaufende in den Zeitungen bon ihm, 
erörterten feinen Fall mit anderen Hunderttaufenden ... morgen jtand er in der Mitte ... 
vielleicht nur einen Tag, aber doc) einen Tag lang ... mie glüdlich machte das ... 

Er 30g den Gtellhebel aus feiner Fafjung, [ehwang ihn Hoch, fchlug damit die Wände feines 
Schughäuscheng ein. „Hört ihr e8 — jo hat e8 geflirrt! E3 darf nicht fein, daß gläferne Wände 
um einen Menfchen find ... es hat feinen Ginn, feine Augen frei zu machen und feinen Leib 
im Kerfer zu halten ... ihr müßt den Wechjel auf freie Bahn für alle feine Wünfjche ftellen ..." 

„Zabelhaft intereffant ...“ murmelte die junge Dame, hing jich fefter an ihren Begleiter. 
Die Neugierigen waren [chon auf einige Hundert angewachjen, verjperrten die Seitenfahrbahn 
der Straße, jo daß man den Verkehr ablenfen mußte. 

Ein zweiter Reporter war auf das Dach des entgleiften Wagens gejtiegen und nahm die 
Szene mit feiner Nachtfamera auf. 

Hausner fah das Blinfen der Linfe. Nun fam auch fein Bild in die Zeitungen ... ganz ruhig 
mußte er fein, Damit e8 gut ausfiel... Erredte das Haupt empor, hielt e3 jtarr. Eine Minute 
lang, eine zweite. Bi3 der Reporter rief: „Die Aufnahme ift ja jchon lange vorüber ... danke 
beitend ... wenn die Herrfchaften wollen, mache ich eine zweite, für den Morgenboten ... 
bitte ein wenig auseinander zu treten ... etwas linf3, Herr Schumann, Damit der Täter in 
den Mittelpunkt fommt ... ja, fo ...“ 

Hausner hob wieder fein Haupt, und die andern erjchauerten leije vor jeinem Blid. Die Ver- 
Härung eines Menfchen lag darin, der nad) jahrzehntelangem Suchen an einem erjehnten Biel 
jteht und fich Darüber nicht zu fafjen weiß. 

„Sch bin in der Mitte geftanden ... ganz in der Mitte von allen .. .“ flüfterte er vor jich Hin, 
als ihn zwei Schubleute an den Armen padten und fortführten. 


Mampynha 


Wiener Zeitroman von Eduard Paul Danszfy 


(6. Fortjeßung) 
De immer jtand da3 Bol vor den Kundmadhungen der Behörden ratlos, las 
zweimal, dreimal, ohne Verjtändnis des greifen Friedenzkaijerd Bekenntnis zum Krieg, 
ging Eopfichüttelnd, ftumm auseinander. Aber in Mittags- und Abendftunden, wenn Yabrik 
und Kontor ihre ermüdeten Mafjen der Straße anheimgab, die überfüllte Straßenbahn 
die Menjchen faum zu befördern vermochte, zogen Kriegäfreudige Hinter deutjchen und 
öfterreichiichen Emblemen mit erhigtem Zuruf, marjchierte Militär unter den Blutfanfaren 
de3 Radepfy- und Eugenmarfches zu den Bahnhöfen, von Kindern und Eltern, von Frauen 
und Schweitern begleitet. Der Eu. f. Zwang erhielt die pompöje Aufmachung. Wein und 
Tabat jtimmte für den Sieg empfänglich. Frauengunft lachte dem Helden. Mädchen brachten 
gerührt ihre Keufchheit dem Vaterlande zum Opfer. Widerftand der Eltern zerichmolz, 
Ehen wurden jozufagen unter freiem Himmel gejchloffen, die Bräute de3 Kriegsgottes jahen 
mie glüdlihe Witwen aus. | 
Endli wirkte die dDeutjche Erhebung wie ein gigantifcher Strom, der alles mit fich fortriß. 
Der heldenhafte Aufwand des Bundesgenoffen, die große Gebärde, mit welcher die Sad- 
gajje auf dem Balkan gemeinjam gejprengt, der Vernichtung drohende Wall der Feinde, in 
deffen Lüiden fich fat Die ganze Welt einfchob, durchbrochen werden follte , fpornte zum Yußer- 
ften an. Man wollte nicht zurüditehen, mit dem ftarfen Bruder gegen Tod und Teufel aus- 


Eduard Baul Danzzfy: Mamynha 361 





harten. Die bewegliche Phantajie gab ihr raufchendes Gold für unfcheinbares Eijen, aus 
welchent die trauernden Genien der Zeit Taufenden den unbeirrbaren Charakter wie einen 
Banzer zu jchmieden begannen. 

ehrbadh trug die DOffiziersuniform wie ein Kojtüm, hatte mit dem Handwerk noch nichts 
gemein, das auf Vernichtung des Lebens gerichtet war, welches er in allen Formen geliebt, 
angebetet hatte. Aber er wußte, wie die Zeit jedes Gewand Heidjam machte, wie fchrell 
man in die Tracht hineinwuchd. Da drei Bataillone des Regiments gegen Rußland gedacht 
waren, hatte ernoch Zeit gewonnen. Mit dem Unvermeidlichen war er vollftändig abgefunden. 

Sollte er durch die heroiihe rau, melde ihr Schidjal wie eine Krone trug, jich 
beihämen lajjen? Seinen Blid vor der anflagenden Dual ihrer Augen nie rein erheben 
dürfen? Er hatte furchtbaren Anteil an ihrem Schidjal. Vor ihrer traumhaften Begegnung 
war jie nur Priefterin ihrer mütterlichen Liebe, unnahbare Fürftin ihres Schmerzes gemwejen, 
der jchon ein mweltliches Lächeln hatte, war in dem Lebenzitrom mie eine verhängte Gondel 
dahingefahren, beftimmt und willig, fremdes Glüd zu tragen, eigene Geligfeit nur in diefem 
Tragen. Nun war jie durch ihn finnlofem Aufruhr und Sturm überantwortet worden. 

Mit folch purpurroten Gedanken und Träumen verbrachte Fehrbad) die grauenvolle Bereit» 
Ihaft in der Kaferne, leiftete müßigen Dienit, da er noch uneingeteilt war, nur zu ewiger Kon- 
teolle und Snfpektion verwendet; eilte in freien Stunden Durcd) erregt belebte, jtreifte Durch ge» 
miedene, lebensferne Gajjen. Bor feiner Mutter hatte er endgültigen Abjchied vorgegeben, 
‚Da der Schmerz des täglichen Abichiednehmens feine Nerven zerrieb. Al3 Kameraden, der 
bis zum legten mit ihm aushielt, hatte er zwar bedrüdten Gemwiljens — nur die Schaufpielerin 
ertragen, welche ihm unheimlich nahe gefommen war, welche ihm ahnungsloje Treue bewies, 
Mit ihr hatte er da3 Ringcafe wieder bejucht, weil er gehofft hatte, die Freundin würde ihn 
hüten fönnen. Aber die Greife waren wie eine Muräne über ihn hergegangen. Sie waren 
ie infiziert, fünftlich verjüngt, von der unfruchtbaren Begierde getragen, Die Jugend irgendivie 
zu erjegen. Wer in Felduniform erjchien, wurde jofort als ihr perjönlicher, patriotijcher 
Beitrag an die große Zeit reflamiert, fie rückten mit jedem einzelnen aus, genofjen die grauen- 
vollen Martern, welche feiner warten mochten, in ihrer Anteilnahme voraus. Die Fluge 
Freundin war bon diefer nublofen Betriebjamkeit jeltfam ergriffen, gleichwohl rief fie, die 
Beit und ihre Jugend betrauernd: „Wo ift eine Hilfe, da auch Greife Krieg führen? oder — —”, 
Fehrbacd) verjtand fie. Sa, die nicht müfjen, fcheinen von dem Müfjen der andern geradezu 
berauft. 

Auch Ruf hatte mit ihnen eine gehaltvolle Stunde gejejjen, über die Entwidlung der Dinge 
troftlo3. Da er militärfrei war, begriff er da3 grauenvolle 2o3 der zu Mord und Tod Taug- 
lichen in einer gefteigerten Bifionzkraft, welche das Handmwerfmäßig Mögliche nicht Tannte. 
Die alten Kumpane, welchen er früher in die dunfeljten Winkel ihres phantaftiichen Dajeins zu 
folgen vermocht hatte, waren ihm plößlich jchal geworden. 

Einige von den Alten fand Fehrbach nicht vor; die Brüder Sonnenjchein imaren beide 
frank, der Mufifer in Karlabad, wo ein afutes Gallenleiden Heilung finden jollte, der Banl- 
beamte in Nauheim, um feinen Herzmusfel zu ftärfen. Yon den übrigen mußte Fehrbad) 
einzeln Abichied nehmen, jelbit Fremden die Hand drüden, deren Namen er nie gehört, die 
während de3 ftillen Wunfches, welchen fie ihm mitgaben, noch anonym blieben. Die leijen 
Worte des alten Marförs, der vier Söhne auf einmal hatte fortziehen jehen, waren mie der 
fummerbvolle Zuruf einer Kaffandra: „Herr von Fehrbach, ich verjtehe von Politik und Preftige 
natürlich gar nichts, aber ich frage vernünftige Menfchen, ob denn das alles notwendig ift?“ 
Fehrbach hatte feine Antwort. Khm war wohler, al3 die vergrämten Greijengejichter, auf 
melchen die Not der Zeit wie eine Welle de3 Fieber zudte, vor feinem Blid verblaßt waren. 
Dann war er allein in die Kohannesgaffe, zu feiner Tante, gegangen, in das Klofter der 
Uriulinen. Sie hatte ihm durd) die Gitterjtäbe der Befuchszelfe mit ihren glühenden Fingern 
"auf Stirne, Lippen und Bruft Kreuze gezeichnet, in ihrer abgrümdigen Gläubigfeit wie ein 











Derdeutjhe Erzähler 





Ariom feitgeftellt: „So, nun bift du in der heiligen Hand des Gefreuzigten, nun fommit du 

gefund zurüd. ch habe dein Leben von ihm in einer Novene frei befommen, dir gejchieht 
nicht.” Sie war jchon wie eine Vertraute diejes Gefreuzigten, wußte genau um all feine 
heimlichen Wege; feine Maßnahmen waren in ihren Augen wie erfündbare Gepflogenheiten. 
Er füllte fein Herz ganz mit ihrem Glauben an. Ging fort, wie wenn er vom Tod beurlaubt wäre. 

Endlich fam an einem Vormittag eine Karte de Generaldireftors. Kinder und Frau 
feien jeit ein paar Tagen zurüd, wenn er marjchbereit wäre, möge er fich noch für eine Stunde 
frei machen. Er felbjt wäre durch dringende Sigungen am Nachmittag zwar abgehalten, aber 
er hoffe, daß jie jich bald dauernd mwiederjehn würden. Fehrbach erbat fich jofort Urlaub. 
Der Regimentsadjutant, an den er, da er dem Stab angehörte, gewiejen war, lachte, al3 er 
Tehrbachs Gejicht jah. „Na, da ftedt beitimmt eine FZrau dahinter, genligen dir ein, paar 
Stunden?” Fehrbach war über die Einjchränfung enttäufcht. Der Hauptmann fagte eb 
ernit: „Wir gehen heute Nacht ab.“ 

Tehrbah Fam feldgrau auf den Dpernring, wurde jofort in den Salon gemiejen. in 
anmutiges Bild überrajchte ihn. Wäre der Gegenfat diejes Bildes zur troftlofen Kafernenöde 
nicht jo augenfällig gewejen, er hätte der tiefen Rührung faum Herr werden fünnen. Ma- 
mhndha jtand mit den Kindern in Alt-Wienertracht vor ihm, die Mutter in blaffem Maupe 
mit Krinoline, das jonft fait weiß ftrahlende Haar gejcheitelt, üiber den Ohren in geflochtenen 
Bopfhäufchen, wegen des dichten Anliegens gelb, wie Korn bei der Ernte. Die Kinder jchön 
wie Theaterfiguren, ihre Bewegungen der Pracht der Kleider gemäß, ungemein graziös 
und fejttäglid. Er fühte Elija mit all dem ftürmifchen Teuer, da3 Mamynha entgegen- 
glühte. Sie verjtand ihn jogleich, war rot wie ein Mädchen, lud zum Sigen an dem reizenden 
 ‚Ziich ein, auf welchem in Alt-Wiener- Porzellan ferviert wurde. Nach Kaffee und Gugelhupf 
jpielten die Kinder im Nebenzimmer. Fehrbacd) hielt die Hand der geliebten Frau, war 
unfähig zu reden. Weldhen Schwur vermochte er noch zu leiften, welche Wendung mußte 
jeine Liebe, jein Unglüd noch tiefer, verjtändlicher auszudrüden, als diejes ftumme Hand- 
inhandfigen? Einen Augenblid famen Mamain und die Schweitern, jagten ihm adieu, alle 
mit einem mutigen Lächeln auf ihren Zügen. Die Mamain Füßte ihn, jegnete ihn, wie er 
aus dem bejhmörenden Ton der Worte jchloß, denn ihr Heimatlojer Kummer flüchtete in 
die portugiejiihe Sprache. Aber fie liegen ihn gleich) mit Mampynda allein, waren nur irgendwo 
in der Nähe, wie wachende Engel, wie Schußgeijter einer Liebe, die fie nicht ganz verftanden. 

Da Fehrbah aufrecht jtand, fiel ihm ein englicher Stich ins Auge, eine Kompofition nad) 
Lancret geftochen, welche mit der eben aufgelöften Gruppe eine jeltfame Ähnlichkeit hatte. 
Den Fond des Bildes bildeten Gartenkuliffen, in der halben Tiefe rechts pie ein Stein- 
brunnen durch zwei Delphinköpfe Waller in das Halbrund einer Forbartigen Mufchel, den 
oberen Brunnentand hielt ein findlicher Liebesgott erflettert, den rechten Arm an eine Metall- 
berzierung gelegt, die linfe Hand zu eindringlicher Aufforderung den drei jchönen Damen und 
ihrem jungen Freund entgegengehalten; Sonne war nur in der fanften Spiegelung der 
Wolfen, in.der matten Unbemwegtheit der Blätter zu jehen. Der Schönen im Vordergrund 
Ichien die überrafchende Anjprache des dreiften Cupido die gejchmeidigen Glieder gelöft.zu 
haben. Unter dem baufchigen Gewand war die Linie der REHORAT IRRE Schentel fühn an- 
Byeniel Die Sadhjlage war Har durch die Berje: } 

„Boast not my Power (thus Cupid seems to say) 
Your Noon of Youth must like this Noon of Day 
glide gently off! Nature will run her Course; 
Youths fires extinet, I’'m then of little force!“ 


Mampnbha war leije Hinter ihn getreten. Er kehrte ihr plößlich fein Geficht zu, e8 war Hate 
leer, verjtört. Al ob fie allein diefe Erde belebten, legte er plöglich feine Arme um fie, nicht 
irgenwie gewaltfam, fie mochte faum eine Umfchlingung fpüren. Der Reifenrod behinderte 
ihn. Aber jeine Arme hielten Naden und Büfte, jein Mund öffnete ihre Lippen. E83 waren 








Eduard Paul Danzzky: Mamynha 363 
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 bielleiht nur Sekunden, aber Mamynhas grenzenlofe Ohnmacht dehnte ihre Wehrlofigfeit 
über das Bemwußtjein des TÜberfalles einen unendlich Foftbaren Augenblid aus. Dann be- 
‚ freite fie ji) ganz janft, da ihre Hände, mo fie feinem Blut nahe famen, ihn mwollüftig et= 
matteten. Diefer Augenblic Hatte indes hingereicht, ihnen zu vollem Bewußtfein zu bringen, 
mas alles fie jich verjagten, wie unbegreiflich ihr Opfer war. Gie jaßen nebeneinander, mit 
| jinnlos Hopfendem Herzen. Er fagte: „Ich bin über unfer wanfelmütiges, unentjchloffenes 
Scıhidjal zu tiefft betroffen. Scheint nicht die Art, wie e3 ung in legter Stunde vor diefeg 
‚Bild geführt, die eindringlichite, gewiffermaßen unmiderruflichite Mahnung: Nübet den 
Augenblid, vielleicht ift eine andre Stunde euch nicht mehr gegeben?“ 
| Mampnha hatte ihr bezauberndes, eigenwilliges Schütteln mit dem Kopf. „Nicht diefen 
 geotesfen Betrug an unferm wahren Glücd Tann e8 meinen, Geliebter! Der Gieg wäre zu 
| leiht — mit der Angft des langen, de3 vielleicht dauernden Berluftes im Herzen. Unfer 
Sıhidjal muß ehrlicher mit uns verfahren, al3 unfre verzweifelten Nerven, unfer geplagtes 
| 











Blut e8 vermögen.“ 
Er Füßte ihre feine Hand, welche aus der reizenden Spigenfraufe wie eine Kunftichöpfung 
herborwuchs und wie gezeichnet, wie eben entworfen dalag. „Wie weit vermögen ©Gie voraus 
zu denken, lieber Engel?" fagte er träumend. „Möge der Himmel ein einziges Mal vergönnen, 
daß die gejpalteten Hälften, mir ift bei dem graufamen Abreifen diejes Traums, al3 würde 
‚eine Hand bon meinem Körper gefchlagen, wieder zufammenheilen, vermwachjen, wie etiva 
 Xebendiges.” Sie lächelte gläubig: „Man muß nur die tiefe Kraft, den legten Willen zu feinen 
Träumen haben. Wollen wir nun Jhr Rezept anwenden, Ferry? Sie haben Shr Schloß 
noch immer wieder gefunden, wollen wir einmal fehn, ob unjer gemeinjamer Traum ein» 
dringlid) genug ift, daß wir unferm Schloffe begegnen? Und nun gehen Sie mit diejfem 
Gedanken ruhig von mir. Nehmen Sie dies, Ferry!" 
\ ©ie gab ihm ein Kleines Medaillon von gefchliffenem Onyr, mit blauer Seide gefüttert, 
darin eine winzige Lode ihres blonden Haares. „Sie müfjen e8 auf der Bruft tragen,“ lagte 
fie noch mit ungeheurer Wichtigkeit. 
Er füpte jie jhnell noch einmal, verficherte wie zum Troft für fie und ihn: „Ihr Bil, Sr 
Name wird immer wie ein Stern über mir fein. Jeder Gedanke wird nur durd) Sie, für Sie 
Bemußtheit haben.” 
. Sie drüdte nod) einmal feine Hand, jah in feine Augen, al3 müßte fie ihren Ausdrud tal) 
auf-ein fertiges Bild übertragen, wie ein Maler, welcher ein allerlebtes Licht aufjegt, eine 
bejonders leuchtende Farbe. Dann fehritt fie zurück vor die Kompofition des Latıcret, Tas 
die jchelmijchen Berje: „Nature will run her Course, Youths fires extinct, I’m then of 
little force!‘ Diejes Bild würde fie nun jeden Tag anfehn; e8 jollte ihr helfen, an ihre Jugend 
zu denen. Gie juchte Danad) die Kinder auf, jegte fich neben fie auf den Teppich, half ihnen 
alles aufbauen und niederreißen, was ihre eigenmwillige Einbildungsfraft erfann und verwarf. 
Si Stadt war ftiller, daS Leben an feiner Oberfläche menigftens Dinner geworden. Der 
/ großen Gebärde entjagend, flutete fette Pracht des Herbftes fanft von den Straßen ab, 
Haute fich jchüchtern in Haus und Hof, juchte die Enge. Niemand mochte fich vor dem gral- 
jamen Schidjal dauernd bemerfbar machen und ihm den Weg zeigen in die verftecten Winfel 
de3 eigenen Dafeins. Sobald Amt und Beruf die Menfchen freigab, begruben fie fich in 
häuslicher Stille, fchloffen fich dichter zufammen, Hammerten fi an die Familie an. Jeder 
war jhließlich de3 andern unficher geworden, umfaßte den nächiten Befig: Eltern die Kinder, 
Eheleute den Ehegenofjen. Mit diejen teilte man die Erinnerung an Fehlende, fchon Geopferte 
oder Bedrohte. Nebeneinander Lebende waren plöblich herznah zufammengefügt, die Mög- 
lichfeit nur des Verluftes, der Trennung fejtigte die lodere Gemeinfchaft. In den mittleren 
Ständen vollzog jich bisweilen die Rückkehr zu eriten Anfängen der Gefellfchaft; man fondierte 


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| 








mählerijch, jiebte energiich, ftieß Fremde, Eonventionell Gefuchtes oder Geduldetes ab, 
Sreundjchaft erprobte fih rafcher, Zufammengehörigfeit wurde an Opfern gemeffen, immer 








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364 Derdeutjhe Erzähler 
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wieder erhärtet, wenn auch da und dort plößlich Nahe und Nächite entglitten. Bereinzelt 
auftretender Mangel am Lebensgute, da3 die Eriftenz erwärmt, verjchönt und verflärt hatte, 
zwang zu fparjamer Bejchräntung, bloße Stodungen im Bezug des Unbedingten übertrieb 
die Sorge des Haushaltes gejpenftifch. Angitliche forderten jchon verftedt geheimes Feil- 
bieten der Ware, Überhalten begann, finnlofe Teuerung. Das Volk entgalt alles! Jhm wurden 
Kationen ftreng abgezirkelt nad Leiftung und Aufgabe; Fleifh wurde nur mehr dem Mann, 
dem Erhalter, Butter und Mil allein den Kranken, Kindern und Wachjenden zugeteilt, In 
jedem Haus vollzog fich heroifch die Kataftrophe erzwungenen oder gemwollten Berzichted, 

Sn jenen Tagen waren friegferne Frauen, gering oder bornehm, ganz Herz und bejeelte 
Güte, leifteten: einer erträumten Gerechtigkeit Konfidentendienfte. Gie teilten alle mit 
allen, fühlten Wohlftand und Habe unter den Fingern zerrinnen, juchten dennoch Frampf« 
artig die Zeit mit dem unbegreiflichen Schidjal irgendwie zu verfühnen. ©o aud) Mamynda. 
hr abgründiges Leid, ihre ftumpfe Verzweiflung, in Eörperlichem Unbehagen, im Berjagen 
der Nerven täglich tiefer verwurzelt, riß die gebundenen Hände mit legter Entjchlofjenheit 
hoch, fprengte die Feffeln, fuchte in der Zmwedlofigfeit lebendigen Sinn und verbefjerte im 
Heinen, überjehbaren Bereich die taufend Fehler der Borjehung. Da im eigenen Haus jeg- 
licher Vorrat an ihrer Fritiflofen Gebjeligfeit rafch zufchanden wurde, jelbjt mas von Payer- 
bad) fam, immer mwieder zu Dürftigem Nefervebeftand für Kinder und Dienftboten zufammen- 
ichmolz, 30g fie unerbittlich Thumayer und Heller heran, vor allen Direktor Kienberg, der 
einer Schofoladefabrif vorjtand und feinen Wohltätigfeitsfinn mit melandholiidem Schwere- 
nötertum zu einer gefährlichen Einheit verband. Die Huge Frau umgab ihn mit einer Garde 
anmutiger Mädchen aus erften Familien, welche gefchict jein glojendes Herz in Sadgajjen 
platonijchen Eifern3 und Schwärmeng führten. Zeitweife mobilijierte fie die Frankhaft lebendige 
Herreninfel des Ningcafes, fomweit ihr Greifentum mit dem Notwendigjten jelbjt verjorgt war, 
verfügte fühn über Schoberd Verwalter, ließ täglich) von ihrem Mann fi) neue Adrejjen 
nennen. Sobald der Generaldirektor fie von diefem Geben ganz erfüllt jah, half er bei allem 
mit, fette auf ihre Unermüodlichkeit feine Hoffnung, die charitative Gejte würde auch anderes 
unter ihnen gemeinfam machen. Bisweilen jchwindelte ihn bei den Summen, die Durd) ihre 
Hand glitten, obgleich fie vorerft nur Künftler unterftügt hatte, welche von dem puritanifchen 
Eifer gegen Lurus und Aufwand zunächit bedroht, zerrüttet, erledigt waren, Dffentliche 
Sammlungen, überhaupt die organifierte Hilfe, welche Würde und Rang gab, lehnte jie ab, 
beichräntte ihr Nettungsfieber auf perjönliches Eingreifen, auf die verjchleierte Wohltat. 
Sie beriet jich über den gerade betroffenen Haushalt mit jenen Perjonen, welche den Umfang 
ihrer Hilfsbereitjchaft gleichfam Eongenial überblidten und nur das Unbedingte in Anjprud) 
nahmen; aber die wurde in gewiljen Zeiten regelmäßig ergänzt. ©o blieb ihr immer ein 
Allerlegtes in Händen, ward jie vor der Ausplünderung Hug bewahrt, nicht mutlog gemadht 
oder durch Ohnmacht behindert. hr eigener Tijch war einfach gehalten, mit dem Einver- 
ftändnis ihres Mann? Mamain und Carola beigezogen, deren jelbjtändiges Wirtichaften in 
der Gußhaugftraße eingeftellt. Zwar jchien allen ihre gebrechliche, Durch die neue Ruhelofigkeit 
doppelt beanspruchte Lebenskraft deutlich gefährdet, doch fonınte gegen diefen Weg, auf welchen 
fie gleichjam da3 Schidfal gedrängt hatte, nicht Einfpruch oder Bedenken erhoben werden, 
da man ihre findliche Seele von diefer Tätigkeit fo rührend betrogen und mweltabgemwandt jah, 
ohne daß den Kleinen Liebe und Fürforge fühlbar entzogen wurde. Die Kinder famen immer 
zuerjt. hr Wohl und Gedeihen durfte auf Hinderniffe nicht ftoßen, hierin war fie unerbittlidh. 
Den. alten Spracdjlehrer des Knaben, einen troß langen Aufenthaltes in Wien wajhechten 
Sranzofen, aus dejjen ruinenhaften Dafeinsbeftänden grotesf einen Augenblid lang da 
Gejpenft der Gloire die Zähne bledte, mußte ihr Mann unbedingt frei befommen. ©ie überjah 
Geringihägung und Mißtrauen, welche diefe3 humane Verwenden in gewiljen Kreifen ihr 
eintrug, mit anmutigem Nichtbegreifen; der alte Mann durfte, fo oft er erjchien, mit ihnen 
den Mittagstifch teilen, Die Internierung war vollftändig aufgehoben. Ganz heimlich hoffte 

















\ Eduard Paul Danzzky: Mamynha 365 
| nern, 
| fie Edvardo in England ähnlich gefichert, mann wußte ihn in der Hut Gewicht habender Sym- 
pathien. Was fonjt von ihr gefchah, fpielte fich meift in ihrem Haufe felbjt ab, Fremde Woh- 
‚ nungen zu betreten vermied fie, um der verfchämten Armut nicht Dankbarkeit aufzubürden, 
Das Erniedrigende der Wohltat, felbft wenn ihr Vorwand ein Auftrag zu fürderndem Wert 
, war, blieb ihr inftinktiv bewußt, fie jelbjt Hatte zulange fich unmwürdig befchenft gefühlt. 
Bu joldje Dinge begreifendem Denken war fie unfähig geworden, fie hielt den Verftand nur 
‚in zaghafter Bejchränfung ganz auf das Nächte gerichtet. Fhre Emfigkeit, fich hinzugeben 
und zu verlieren, war wie ein Schöpfwerk, an dem ihr Frauengehirn glei) einem Bor- 
. jpann immer im Krei3 herumging, ermattet und dennoch ruhelos, mit Scheuflappen be- 
‚ waffnet, immer im Kreife herumging, bis e3 abgefchirrt wurde, wenn Erfchöpfung und Schlaf 
 Tam, Niemand wagte fie aufzumeden, aus diefer Mühle herauszuführen; man hoffte, mit 
dem Gemwöhnen an diefes augenblidlihe Schidjal würde von jelbft die Flucht in den vollen 
| Wirrkreis de3 Dafeins jich vollziehen und die ermattete Frau endlich nur demütige Magd des 
‚ Altäglichen werden, ohne Hoffnung und Kraft zur Erhebung, zur Auflehnung gegen eine zu 
ı eng gefühlte Beftimmung. Aber das Elend war epidemijch geworden, das Leid wuchs lawinen- 
‚artig. Der Generaldirektor war täglich entjchloffen, der traumhaften Güte der Frau Einhalt 
| zu tun, jand indes nie den Mut, jchuf neue Einnahmen, da er fein 2o3, an dem der andern 
| gemejjen, noch immer leidlich erträglich fand. An Hilfe der Kajtengenojjen war nicht mehr zu 
denken, Die täglich eintreffenden Züge mit Verwundeten, Kranken und Krüppeln, die 
Unzulänglichfeit alle3 Borgefehenen, der Mangel an- Mitteln und Räumen, die vorläufigen 
' Opfer nur unterzubringen, jtellte auch an die Vermögenden, wenn der Appell anihre Menjchen- 
pflicht nicht zu perfönlichem Mafel werden follte, jo Hohe Anforderungen, daß man den Frauen 
‚ihren berblendeten Eifer nachgerade als Hhfterie auslegen mußte. 


DT war bon diejem Berjiegen der ftärfjten Quellen wohl eingefchüchtert und 30g« 
Ä haft, Doch gab fie jo leicht nicht den Kampf auf, plagte ihr unermübdliches Gehirn, big 
| e3 plöglich durch einen furchtbaren Schlag von jelbjt leer war, unempfänglich für alles. mei 
'Zage waren Mamain und Carola bereit3 den gemeinfamen Mahlzeiten ferngeblieben, auch 
| zu den fleinen Arbeiten nicht mehr erjchienen, an welchen fie zu ihrer Unterftüßung beteiligt 
 maren. € lag in diejem Fernbleiben jo wenig Abfonderliches, daß ihrer Angjt um die Mutter 
‚eine tiefere, unheimlichere Bewandtnig zugrunde liegen mochte, Sie fürchtete die gefährliche 
Wendung ihres eigenen Schidjals, ahnte das dunfeljte, unüberfehbarfte Ereignis, denn in 
der Mutter war fie jelbft bedroht, ihr Kindjein war legte Vorausfegung ihres Wejens, von diefer 
| Seite entmündigt, war fie dem Leben nicht mehr gewachlen. Welchen Anlaß fie auıch in Ge- 
Danfen nahm, jeder fteigerte, vermehrte die Angft. Jeder einleuchtende Grund ließe jich durch 
telephonijchen Anruf irgendwie geltend machen; aber die Leitung war unterbrochen, dag 
 Zelephon der Mamain den ganzen Tag abgeftellt. Auch Erminia und der Mann fehienen 
‚bon geheimem Kummer bedrüdt, der fich wie immer in vermehrter Rüdficht gegen fie fundgab, 
alles andeutete, nicht3 verriet. 

Am dritten Tag, e8 war ein Sonnabend, verließ jie endlich das Haus, nachdem fie die 
ı Kinder Erminiad Obhut befohlen hatte. So rafch fie vermochte, fchritt fie die Mfademie- 
fraße entlang gegen den Karlöplah zu. Die herrliche Kirche war wie vor ihre fliehende, 
zuhloje Seele breit aufgetürmt, Zuflucht und Frieden verfprechend, wie eine verfteinerte, 
überirdiiche Mutterfeele mit Fühler Allmächtigfeit Iodend, einladend. Aber fie haftete an 
‚den [himmernden Stufen vorbei, hatte Das jchaudernde Gefühl, fie würde die Ießte nicht mehr 
‚erjteigen können, jo jchwer janf Mutlofigfeit in ihre Knie. Sie bog mit legten Kräften von 
‚der Alleegajje in die Gußhausftraße ein, hielt beflommen, erhöpft vor dem Haus der Mamain, 
‚an das dunkle Tor angelehnt. Wagen, Menjchen, Tiere jchoben fich mie Theaterfiguren an 
‚ihr. vorbei, Eine Bettlerin fam auf jie zu. Sie machte einen jo Hilflofen Eindrud, daß die 
Stau fie) abmandte. Aber endlich raffte fie alles an Kräften zufammen, von der graufamen 
Spannung der Nerven emporgerifjen, ftieg die Flurftufen hinauf zum Hochparterre, fchnellte 



























366 Derdeutfhe Erzähler 


LT — 


die Heine Türklingel. Der Ton fehrillte ab wie das Läutwerf eines Weders bei Nachtzeit: 
Diefer grauenvolle Alarm umriß bereitd deutlich das Unglüd. Der angjtvolle Weg erhielt 
plöglich phantaftifche Vorbedeutung. Nur dem Unglüd rannte man jo entgegen. Gie zitterte 
am ganzen Körper, die Füße waren jhon jeher, fait unbemweglich. An der geöffneten Tür 
nahm fie die Mamain in Empfang, trug fie beinahe auf ihren ftarfen Armen. Sn dem ver« 
düfterten, Heinen Salon fprang Carola neben einem runden Zijh auf, jtarrte ihr aus ge- 
ichwollenen Lidern entgegen. Ein jchwarzes Kleid, an dem jie gearbeitet haben mochte, 
teihmeife gejtecte Nadeln gligerten auf, glitt aus ihren Händen zu Boden. Mampyriha jah 
in das ruhige, bleiche Antlig der Mutter, während Carola lautlos in den Nachbarraum fchritt. 
Sie jah diefes vertrautefte Antlig plößlich gealtert, unjagbar gealtert. hr einziges Gefühl 
war Mitleid mit diefem Geficht, deffen Eranfhafte Ruhe die Furcht in ihr bannte, wie Wind- 
ftille die Segeln ermattet. Dann ward fie von den ftarfen Armen in einen Fauteuil gejebt; 
die Mutter war bor ihr niedergefunfen, das Haupt fo nahe, daß fie zum erftenmal die ergrauten 
Schläfen wahrnehmen fonnte. Auch die Schwarze Farbe des Kleides fiel ihr mit einemmal 
auf. Nun vermochte fie endlich zu fragen: „Was ift dir, Mamain? Liebe, gute Mamain?“ 
Khre Hände hatten ich [hon gefunden. Die Mamain fah fie unverwandt an, ihre tief ein- 
dringenden Blide waren wie bleierne Lote, die den Geelengrund des geliebten Kindes ab- 
maßen, nach dem genauen Stand feiner Lebenskraft. Sie fagte: „Sch habe beunruhigende 
Nachrichten aus England.” Sie rüdte fich damit ganz in den Vordergrund des Unglüds, 
als ob e3 nur fie allein betroffen hätte, bot ihre ganze Bruft diefem Unglüd, damit e3 die 
andern verichone. Mamynha war von diefer Täufchung ganz tief gerührt, obgleich ihr be- 
wachter Schmerz nur diejes einen Stichworte geharrt hatte, um das Unheil in vollem Aus- 
maß zu überfehen. Aber ihr Herz jchlug dennoch weiter, wie an das dunkel podhende Mutter- 
herz angejchloffen. Za, ihr Blut war wie mitgeführt von den ftärferen Strömen des Blutes 
der Frau, die beide Arme um fie gelegt hatte. „Welche Zeit, Mamynha!" jagte jie nad) Mi- 
nuten. „Welche Menjhen!“ Mamynha Löfte fich fanft aus der Umfchlingung. „Gib den 
Brief!” bat fie, „Edoardos Brief, Mamain!“ Das alte Geficht war ganz fahl. Das dunkle 
Herz bebte dem Kinde hörbar. Zhr Schmerz hatte in diejen drei Tagen aus dem Erijtallenen 
Salz ihrer Tränen Stufen gebaut, welche fie Mamynhas Schmerz langjam hinanführen: | 
wollte. Num überfprang das. Kind alle Stufen, rüttelte an der legten Tür des Unfaßbaren. | 
„Woher, Kind, weißt du von einem Brief?” E83 warihr ganz unverjtändlich. Db fie nicht 
vorgeben durfte, fie hätte gar feinen Brief? Aber Mamynha war unbeirrbar. Die Mamain 
erhob fich langfam, mit Bewegungen einer Hundertjährigen. Yon der Kommode nahm fie 
die Befenntniffe des Aurelius Auguftinus, einen uralten Lederband, aus dem Jahr Giebzehn- 
Hundert. Sie gab ihn Mamynha wie Gift und Gegengift.. Auf das Vorblatt des Buches’ | 
waren Verfe gefchrieben, ganz dicht und eng, Zeile an Zeile. Mamynha fannte die Hand- 
schrift. Ihr Bli empfand Sehnfucht, darüber zu weilen; doch fie entnahm der Mitte des | 
Buches Edoardos Brief. Mit ganz heißen, ausgetroctneten Augen las fie: a 
„Liebe Mama! Jch habe nur wenige Augenblide vor mir. Man hat mich verurteilt gegen 
alfes Recht und Gemwifjen. Die Zeichnungen waren nur für meinen Beruf bejtimmt. Aber‘! 
die Menfchen vermögen in diefem Augenblid nur zu glauben, was ihrem unjeligen ‘Haß, | 
ihrer grauenvollen Leidenjchaft noch gemäß ift. Mein einziger Troft, meine Rechtfertigung‘ 
vor Dir und mir ift, daß Du, geliebte Mama, und die Schweftern nie fajfen werdet, wejjen mar! 
mich bejchuldigt. Man hat mit Gewalt einen Deutjchen aus mir gemacht, es ift anders ge= | 
(ungen, al3 meine Henker vermeinen. Ka, ich bin nun ein Deutfcher, nicht weil Brafilien durch 
einen feilen Beamten mich abgelehnt, im Unglüc bin ich ein Deutjcher, — aber nichts auf’) 
der: Welt hätte einen Spion aus mir machen können. Glaub diefer jtolzen Verjicherung, ! 
arme, liebe Mama! Küffe Carlotta von mir, ohne ihr die ganze Wahrheit zu jagen. Aber 
— 0, weldhe Tüde in dem. unfaßbaren Verhängnis, meine Schande ift aller Welt Ange- | 
legenheit, — Carlotta erfährt vielleicht durch die Zeitungen alles? Hier find alle Blätter voll, | 


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| Eduard Paul Danszkty: Mamynha 367 
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‚the germain spy‘, ic) bin ein Titel geworden. Niemand wagt oder wünjcht mir zu helfen. 
Dabei war ic) mit der Tochter de3 Chefs beinahe verlobt — ich habe Dir nichts gefchrieben, 
Du hättejt ein Mädchen gejegnet, das Volk fpielt, mo es Menjch fein könnte, Aber man lobt 
meine männliche Haltung. Welche Komödie diefer Ihamlofe Prozeß, in welchem das Urteil 
tro& heiligem. Anruf des überirdichen Richters fchon fertig dalag, nur durch ein Wunder 
entlräftbar. Diefe Haltung verdanfe ich Dir, geliebte Mama, denn vor diefem finnlofen 
Schidjal wäre auch meine Unfchuld verzweifelt niedergebrochen. Diejes aufrechte Wefen 
hat man dem Spion nicht zugetraut. D, welche grauenhafte Lüge in dem Bedauern, nicht 
' den ehrlichen Feind in mir jehen zu können. Ein Blatt jehrieb: An der Front könnte man 
diejer Haltung ritterliche Achtung nicht ganz verfagen, aber dem Mann, der die Gajtfreund- 
haft eines freien Volkes mißbraucht, um e8 treulog zu verraten — uff. Mama! Sage Car- 
lotta lieber alles, damit jie e3 nicht von Fremden erfährt. Sreilich, wie wirft Du e3 zumege 
bringen, allerärmjte Mama? Wie wird ihre Jugend, ihr edles Herz dies begreifen fünnen? 
Mampnha! Zhr nennt fie nunfo! D, unfre glücliche Kindheit. Warıım haben mir die Heimat 
in Rio verlajjen, da wir uns doch verlieren müffen? Schlimmer verlieren müjjen, al3 durch 
das Fieber, Mama! Aber feid dennoch ftarf und mutig, wie ich e3 bin, bis zuleßt. ‚Esta e 
| vida! Um frenesi!‘ Edoardo. P. S. Man hat mir Eure lieben Bilder zurücdgegeben, welche 
humanen Henker! Jch werde mit Euren lieben, treuen Gejichtern von hier fcheiden. Adieu 
‚ Mama, Adieu Carlotta, Erminia, Carola! Taufend Küffe! Noch einen Kuß für Carlotta”... 
Wie oft hatte fie die teuren Schriftzüge überlejen, jeden Cab, jedes Wort! Welcher ent- 
jeglihe Traum, daß dies alles war, was von Edoardo geblieben. Welche Borjtellung: Der 
mutige, edle, der allerbefte als Spion bejchimpft, hingerichtet, wo taufend Scdufte erzwungenen 
 zod des Helden fterben, mit einem Fluch auf den gippen, daß fie nicht Millionen Keime 
‚de3 Lebens mit einer Fauft dafür zernichten fonnten! Die Mamain füßte jie plößlich weich, 
 ISattenhaft! Sie fagte: „Edvardos Fuß für dich, Mamynha. ch habe ihn geboren, mit der- 
jelben Freude wie dich, ich Tann dir feinen legten Kuß geben.“ 

Mampynha nidte. Nun war alles vollzogen, fie faßen, wie wenn fie allein von einem Be- 
‚geäbniffe heimgefehrt wären. Dann fagte die Mamain: „Nun haben wir nur- noch ung.“ 
Sie holte leife Carola ins Zimmer, welche von Tränen ganz lberftrömt mar. Mamyndha 
nidte ihr entgegen, empfing fie, drüdte fie an fich, fagte ohne Vorwurf: „Wie gut haft du eg, 

Barola, daß dein Herz dich meinen läßt." 
‚Sie mußten fie gleich darnac auf die Ottomane betten. Der Atem würgte jie, Brechreiz 
am, während auf ihrer Stirne Kalter Schweiß in Tropfen ftand. Ein irrfinniges’Schluden 
ftieß ihren Kopf wie gegen eine unfichtbare Wand! Sie rieben ihr Fölnifches Wafler in die 
Haut ein, wujhen ihr Geficht und Hände, Auch alten, feurigen Wein flökte ihr die Mamain 
ein, bis ihr Blut wieder Freifte, Da erhob fie fich, ging in dem abendlichen Düfter des Zimmers 
auf und nieder, über dem weichen Teppich, der fie an die Kindheit erinnerte, Wie oft hatte 
jie auf diefem Teppich im Zimmer der Mutter mit Edoardo gefefjen, gefpielt, getollt! Edvardo! 
Sie jah jeine Züge ganz deutlich vor fich aus den roten Feldern des Teppiche treten. Die 
Büge Des Knaben. Welches wahnmwigige Schidfal! Die lichte, feine Stimme in Schmuß ge- 
jtampft, die. blauen Augen geblendet vom Efel an der entgötterten Welt, für immer exlojchen. 
Gie entjann jich des leßten Bildes, das er ihnen von England gefchict. Sie hatten erfreut und 
ftolz feitgeitellt, daß er ganz wie ein Engländer ausjehe. Unjagbare Bitterfeit ftieg in ihr auf. 
Engländer! Gleichwohl war fie unfähig, Haß zu fühlen. Ihr Schmerz war fo vorherrichend, 
ihre Enttäufchung an der Menjchheit. jo troftlos, dak für nichts andres mehr Raum blieb; 
a3 halfen Feindjchaft und Haß, wenn das Befte erledigt war? Alle Not, alle Verzweiflung, 
die dieje Sröijchkeit gab, war gegen ihr Herz wie ein Bündel giftiger Pfeile gezlict. Nicht 
fieben Schwerter, Hundert vergiftete Pfeile! Wa3 übrig blieb, dünfte fie grauenvoll; auch) 
wenn fie der Kinder gedachte. Wie follte man fie bewahren, fchügen? Wo gab es noch Schuß? 
&, Heines, unmündiges Herz der ahnungdlofen Elifa! Sie irrte noch immer in dem Heinen 


‚Pressefreiheit am Rhein (Südd. Monatshefte, 23, Jahrg., Heft 11) 25 


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Derdeutjhe Erzähler | en 
LEITETE EEE EEE CEEEEEENEEEETEEEEEIEEOSSEEREEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEESEEEREEEENEEEEEREEEEEEEEEEEESEEEEEEEEEEREEESEEEEEEIESREERESEEREREERNERIEISERESEEEREEEEEEEEESEEENEEEEEENEERESEEEEREEEEEETEERSEERETEEEEESETEEEE 
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Zimmer auf und nieder, in einer troftlofen Diagonale, von Türe zu Yenfter, von Tenjter zu 
Türe. Aber nun traten Mamain und Carola auf fie zu. Die Mamain war wie ein geübteil 
Fifcher, fie angelte nad) dem Leid mit verfänglichem Hafen. Gie jagte: „Du mußt nun Das 
Borblatt Iefen, Mamynha.” Die Angeredete war betroffen, daß fie gleichjam gemwaltjam an 
Fehrbac) gemahnt werden mußte. Sie nahm den alten Lederband in Die Hand, entzifferte 
Fehrbach8 winzige Schrift: | 1 

„Sede Mutter muß wie Monica glauben: if 

Dah Liebe allmäcdhtig fein fann wie das Schidjal, 

allem Emwigen ebenbürtig. Denn Mutterliebe ijt 

bereit3: Gnade! 

Monicas Hände waren um Gottes Knie geflammert; 

gegen diefen Starrframpf des Gebetes 

ift Gott madıtlo2. 


Srgendwie ift jeder muttergeborene Sohn 
ein Auguftinus. 
Ein Lebensichiffbrüciger, 
an dem Eiland der Liebe gejtrandet. 
Cein irrender Weg ift ein Ummeg, 
der dicht an dem Herzen der Mutter 
in Gott mündet.” | 
Mampynha hielt das gefchloffene Buch über ihrem Schoß in den Händen. „Ein edler Be 
trug, Mamain !"jagte fie leife. „Alles was er gejagt und gefchrieben, ift nun ein folder Betrug!“ 
„Warum, Kind?” fragte die Mamain. „Warum? Cdoardo ift meinem Herzen nie jo nahe 
gemwejen, Mamynha, wie am Ende diejer grauenhaften Flucht zu mir.“ 
Mampyndha nidte gedankfenfern. Sie jagen nun dicht um fie. Mamain und Carola an dem 
Tifch, der an die Dttomane gerüdt war, auf welcher Mamynha jich niedergelajjen Hatte. 
Die Mamain fprach jehr behutfam. „Es ift, wie wenn fich das furchtbare Unglüd jcho 
lang angefündigt hätte. Wir waren nur blind, nur halb jehend! Erinnert du dich, wie ge- 
blendet wir von feinem Ebenbild in Payerbacd) waren? Nun fommt e8 mir wie eine Ab- 
ipaltung von Edoardo3 Wefen vor. Ya, Kinder, Fehrbad) in diefem furzen, unwahrjchein- 
lichen Auftauchen und jähem Berfchwinden einen Sommer lang, war wie eine borgejtrige 
Mahnung, dem rajch enteilenden Kind in Gedanken näher zu fein. Mir war, wenn id) Fehr-! 
bach jah, als jähe ich durch feinen Blid in Edoardos liebe, treue Augen. Die andern fonnten‘! 
'e3 nicht verftehn, wir jelbft mochten e3 nicht jo Har aufgefaßt haben; aber in diefem Augen- 
blid, wo allen Klar ift, daß wir den einen nicht wiederjehn fünnen” — fie war von Mamynhag 
Bliden jchmerzlich betroffen, die mit unjeligem Feuer durch die Dunkelheit glänzten. Nody } 
nie hatte fie die hellen Augen fo weltabgewandt leuchten jehen, dunkel vor Schmerz. Auch 
ihre Stimme war fo fchmerzdunfel. „Sie find jchiwer voneinander zu trennen; aber Yehr- 
bad) wird nicht al3 Spion fterben, er ift nicht von fo unglüdlihem Blut!" Die Mamain? 
nahm ihre Hände, Füßte fie demütig, eine Magd ihrer Liebe, verwies ihr bejchwichtigend nur 
den Kleinmut, der gegen das Blut eiferte und die Geburt befledte. „Sagtejt du ‚nicht, Dia 
‚mynba, er würde zurüdfommen? Du mwüßtejt e3 jo bejtimmt?" | 
„sa! nidte Mampyndha, „aber mit welchen Kräften, Mamain, joll id) warten, warten und 
‚leben? Und wozu von doppeltem Unglüd jprechen? Genügt nicht von beiden eins, das 
Herz um alle Zebenzfreude zu bringen? Wer weiß, arme Mamain, ob es nicht unrecht it 
von ihm zu prechen?“ 
Die Mamain gab nicht nad. Der Name, welchen fie heilfam gemähnt, wurde immer 
‚wieder janft, innig heraufbejchiworen. „Es ift nicht unrecht, von ihm zu fprechen, Mamynhat 
Auch in diejer Stunde dürfen wir an ihn denken. Wir werden in ihm immer unjern Edoardo 








Eduard Paul Danzzty: Mamynha 369 
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haben, er muß ihn fortjegen, Mampynha. Man müßte dem Menjchen die Bäume verbieten, 
| die Blumen und Sterne. Wofür Gott unfer Aug und Herz geöffnet, weil e8 nad) jeinem 
‚ Willen da ift — mie könnte e3 unrecht fein?“ 

Sie war in der Tiefe ihres Mutterfchmerzes noch glücklich, daß fie folche Troftwworte fand, 
um iht lebendes Kind zu ftügen, da fie dem toten Kind nicht mehr zu helfen vermochte. Schon 
janden fie einige Fehrbachgedanfen, welche von Tod und Erlöfung gehandelt, gingen, da3 ge- 
maltjame Auslöjdhen des Sohnes und Bruders immer wieder gräßlich vor Augen, der Heinen 

MWahrheitsfpur nach, welche in gewilfen Gedanfenfunden des Sreundes zu lejen und halb 
zu verfolgen war. Das Ergebnis war für ihren Fall nicht tröftlich. Fehrbach Hatte gegen 
Zodjhlag und Selbitmord geeifert, hatte das mähliche, naturgeplante Hinfterben ald dem 
Zeben jowohl wie dem Tod gemäßes Vermwefen hinftellen wollen. Berwejen nur in dem 
Sinn gedacht: jein Wefen zu Ende führen! Zeit und Ort war für diefes Abdienen unfrer 
Endlichkeit nicht von Belang, einzig die heilige Demut und Freude: diefen herrlichen, lang- 
jamen Opferprogeß nicht gewaltfam zu unterbrechen, damit die Seele, das Bemußte an ung 
— gleich ermüdet, gleich twohlig ermattet wie der erfchöpfte Körper — von uns abgleiten 
 Zönnte, geteilt oder ungeteilt, ins NichtS oder zu Gott! Wenn aber da3 blutheiße, Iebensvolle 
Gehäufe der Seele mit einem Schlag, völlig finnlos zertrümmert würde, wohin follte die 
unvorbereitete Seele ji) alsdann wenden? Die fcheinbar abergläubifche Meinung der 
‚ Alten: gewaltfam Getötete fänden nicht Ruhe, habe ihm oft zu denfen gegeben; auch ihm 
 jei bei dem Anblid eine3 Selbftmörbers nicht anders zumute, al3 flattere die vertriebene Seele 
ratio um die falten Gebeine des Leichnam2. 


©o ergängten fie ji) langjam, wa von des Freundes Gedanken in ihnen noch mindefte 
Sarbe hatte, wollten gerade zu troftreicherem Ausfchweifen fi) Mut machen, als unverfeheng 
die Türklingel jehrillte. Obgleich fie nicht furchtfam waren, fhrafen fie doch, an ihren Nerven 
geihmächt, unheimlich zufammen, als ob der gellende Ton, der in dem Dunfel der ftillen 
Räume länger ald möglich nachhallte, mir der Marm wäre, welcher neues Unheil anmelden 
jollte. Aber Carola, welche fich endlich beherzt aufgerafft Hatte, fam mit dem Generaldirektor 
| zurüd, dejjen Stimme jie auf ihr vorfichtiges Fragen fofort erfannt, bevor fie zu öffnen ge- 
neigt war. Er fand in der vorwaltenden Dämmerung fich fehr fehwer zurecht und ftand 
jefundenlang unjchlüffig. Dann ging er auf die Mamain los, füßte ihre Hand und jprad) feine 
' Zeilnahme aus. Carola drüdte er mortlos die Rechte. Zulebt ging er auf Mamyndha zu, hob 
fie behutfam auf, jagte mit unbemeifterter, echter Ergriffenheit: „Du haft nun nur die Kinder 
und deinen Mann, Lotte!” Cr hielt dabei ihre Hände feit, aber jede Gewalt vermeidend. 
| „Das Schidjal vermweift dich immer wieder auf ung, es ift nicht ander3 mehr zu verftehen.” 
Sie war verfchlchtert dankbar. Er bat: „Wollen wir nicht Licht machen, Mama? €3 nükt 
nicht3, dem Leben auszumeichen.” Er fuchte den Schalter, da die Frauen regungslos da- 
| 








jtanden. Das Licht, obgleich e3 von matten Birnen fam, fehmerzte die tränenentzündeten 
Lider. Aud) Mampyndha vertrug e3 nur fchmwer, obwohl ihre Tränen fich noch nach innen ver- 
trömten. Betroffen überjchatteten fie ihre Augen. Der Generaldirektor erblicte zum erften- 
mal Mamynhas Gejicht in Handnähe. E3 jah unbedingt wie da3 Geficht einer gefährlich 
Erkrankten aus. Angft befiel ihn. Furchtbare Angjt. Er vermochte nicht untätig zu jigen, 
jchüttelte alle Trauer und Feierlichkeit ab. „Wir müfjen nad) Haufe, Lotte, du mußt an die 
Luft fommen. Wir wollen einen Heinen Umweg machen. Überhaupt mußt du für dich etwas 
tun, Lotte! Du jiehjt gar nicht gut aus. Die verdammte Humanität gegen andere Leute 
muß endlich aufhören, verjtehft du? Komm, fomm! Wir wollen nun gehn!” Er fprad) un- 
| aufhörlich auf fie ein, ftüßte fie an fich, fürforglich, ihre Arme mit einer Vorficht anfaffend, 
‚ als fürchtete er, ihr weh zu tun. Nur jeine Worte waren nicht ganz von der gleichen Borjicht 
| bewacht. Er beichuldigte jchließlich verjtecdt alle Welt, daß fie mithelfe, die Findliche Frau 
franf zu maden. ! 





25* 











370 Derdeutjihe Erzähler 








Mampyndha Hatte fich bereit fertig gemacht. Sie fühte Mamain und Carola und fchritt 
mit ihrem Manne hinaus, durch die Tür. Aber im Vorzimmer fehrte fie um und fagte: „Yhr 
müßt nachfommen, Mamain, Erminia weiß ja von nicht3. Jch bin dazu nicht mehr imftande !“ 

Der Generaldirektor holte jie lächelnd zurüd und gejtand, Erminia hätte Durch ihn bereits 
alles erfahren; aber die Schwiegermama und Carola Fönnten natürlich troßdem mitfommen, 
wenn e3 Lotte etiwa beruhigen jollte. &3 jet durchaus verftändlich, daß fie an Diefem Tag — dag 
Unglüd liege ja leider um Wochen zurüd — ordentlich zufammenhalten wollten. Nur daz- 
Milteu hier behage ihm nicht, die alten Erinnerungen feien zu fehr mit den jeit Kindheit 
vertrauten Möbeln verwoben. Er bot Mampndha den Arm und führte fie fanft in den Abend 
hinaus. Er redete tief beruhigend auf fie ein, erinnerte, daß fie einen ganz alten weißen 
Bordeaur hätten, ein Glas davon würde ihr ficher fehr wohl tun. Das Ejjen fünne man 
ihr ans Bett bringen; ob fie jeine Gejellichaft vertrüge? Er wolle ihr gerade heute zur Seite 
jtehen, aber ihr ja nicht läftig fallen. ©ie fafje alles fo furchtbar jchwerblütig an, das Leben 
fei folcher Überfeinheiten nicht würdig. 

Endlich waren jie angelangt. Die Mädchen famen gelaufen, nahmen fie gleich in Empfang. 
Nunä trug jie ganz ohne Hilfe wie eine Beute ind Schlafzimmer, 

Der Generaldirektor traf rajch einige Anordnungen. Al Mamyndha vernahm, daß er den 
Hofrat anrief, ließ fie ihn davon abjtehn, überzeugte ihn eindringlich, daß fie nur erjchöpft 
bon den Aufregungen wäre; jie würde bejtimmt jchlafen können, er möge ihr Gute Nacht 
jagen. Sie würde zu aller Beruhigung auch morgen im Bett bleiben, würde fich fchonen, 
3a, jie würde jich bejtimmt jchonen. Er Füßte fie, verließ fie, heimlich entjchloffen, Krenellt 
und feinen eigenen Bruder unbedingt fommen zu lafjen. 

Nunä zog jie heute allein aus, aß auf dem Boden, jchnürte die hohen Schuhe geduldig aus, 
Plöglich mit jtrahlendem Lächeln gab fie ihr eine Feldpoftfarte, erklärte, fie hätte fie für die 
gute Senhora in Empfang genommen. Täglich) warte fie heimlich den Briefträger ab. Nun 
jei ihre Mühe belohnt, ihre Mühe würde immer belohnt werden! Fehrbach fehrieb: „Liebe, 
gnädige Frau! Sch lebe! E3 ijt unmwahrfcheinlich, bisweilen grotesf, aber ich Iebe! hr 
Stern ijt unheimlich wirfam. Wie mir im Anblid diefer Gewißheit zumute ift, ann ich nicht 
Ichreiben. Was fommen mag ift belanglos, denn über meinem ‚inferno‘ jehwebt fanft unfer 
Stern. Mamynha! Wo find nun Brüder und Schweftern? Bewahren Sie mir nur die eine !“ 

Mampniha lächelte. An der Schwelle de3 Schlafes Fehrte fie noch einmal zurüd, Ya, fie 
würde jich chonen, fagte fie leiß in den verlaffenen Raum, Ob fie gefund wiirde? Sicher! 
E35 war wie eine Zwieprache mit Quftgeftalten. Denn Nuna war fchon hinausgeglitten, 
ohne das füße Lächeln jelbjt zu fehn, aber in ihrem Heinen Zimmer, im tiefften Duntel jah 
jie auf einmal diejes Lächeln aufleuchten wie ein magijches Zittern des Mondes auf dem 
Meere der jüdlichen Heimat... 

Mampynha jchlief bis in den nächjten Abend hinein. Der Generaldireftor war den Tag 
über zu Haufe geblieben. Aber die Mamain hatte ihn vollitändig beruhigt, e3 fei ein 
gejunder Schlaf, eine Art Selbfthilfe, zu welcher der erjchöpfte Organismus leider gezwungen 
wäre. Am jpäten Nachmittag erft, gegen jechs Uhr etwa, hatten fich ihre Augen geöffnet, 
Zum Glüd hatte fie alS erftes die gute Mamain lächeln gefehn, davon war fie fo berubigt, 
daß jie Tee mit Milch und ein weiches Ei zu fich nehmen fonnte. Darauf mußte ihr Mädchen 
fie rajch frijieren, damit fie die Kinder empfangen konnte. Sie taten unbändig froh, als ihre 
Nampnbha für alles ein freundliches Lächeln hatte. Sie zeigte ihnen nur, was an ihr gefund 
war: ihre Liebe! Erzählten fie jchnell erfundene Märchen, in welchen Ihon Kriegsgreuel 
geheimmisoll eingemifcht twaren, die fie von törichten Dienftboten nur halb aufgefangen, dann 
überbot fie die Kleinen Fälfcher mit einer ebenfo unmwahrjcheinfichen HBaubergejchichte, in 
welcher der edle Feind, ein englifcher General, einem gefangenen Deutjchen, ob feiner auf- 
rechten, ritterlich-feurigen Haltung Leben und Freiheit fchentte. „Schöne Märchen,” fagte 
ie Lächelnd, der guten Mamain ihre heimliche Träne mit fanftem Scelten de3 Blidle3 ver- 

















Eduard Paul Danzziy: Mamynha 371 

EEE 
mweijend, „Ihöne Märchen, beinahe für dieje Welt zu |hön! Aber wenn ihr groß und gut fein 
werdet, wenn alle Menfchen, tvie iht, edel und mohlgefittet fein werden, dann wird e3 Feine 
Kriege mehr geben!” 

AS der Generaldirektor Yeife eintrat, fah er Nuna am Werl, wie fie der Schlummernden 
unfühlbar das Haar von den Kämmen und Nadeln befreite. Er trat ganz dicht heran und 
 hidte der Schwarzen verfonnenen Dank zu. Aber er verließ mit ihr das Zimmer, wartete, 
bis ji) die Tür ihrer Manfarde fchloß. Dann fuchte er Zhumader auf, der im Ringcafe feiner 
\ harte. Hellerund Ruf waren verjtändigt, man mußte im Rartenfpiel etwas Bergefjenheit juchen. 

n einem der lebten Herbittage Fam plöglich Krenelli unangefagt, jhüchtern, mit fahriger 
Gejte beruflichen Wohlmollens. Auch Rofen hatte er in den Händen, aber fie hatten 
nicht? zu jagen, waren gleichfam Requifit des früher beliebten Frauenarztes. 

Mampynha rief die Mamain, Sie dachte: auf alle Fälle. 

‚Er war gegen diefes Miktrauen machtlos, beruhigte ohne Pathos, jtellte Menfchenjchicale 
‚ wie eine Wand bor fie hin, damit zwifchen ihm und ihrer Zurcht etwas wäre und von feiner 
‚ aufgedrungenen Erjcheinung ablenkte. Spiter hätte Veronal genommen! rief er jehr bor- 
| murjsvoll. 3 hätte fein Anlaß hierfür beftanden, nichts Menjchlich-Triftiges önnte geltend 
| gemacht werden. Er hätte den Leuten geholfen, den hohen Bins bezahlt, ihnen die Haupt» 





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lajten abgenommen. Und num diefer Selbftmord, um ihn als Menjhen und Arzt zu jchädigen, 
bloßzuftellen; eine finnlofe Rache — wofür? 

‘ Die Mamain fam. SKrenelli beugte fich tief über ihre Hand, jpradh fein Beileid aus. Er 
| hätte zwar eine Karte gejchrieben, aber nun möchte er neuerlich aufrichtigen Anteil nehmen. 
 Da3 Schidjal ginge grotesf-gewalttätig vor, man wüßte nicht Rat noch Hilfe. „Denfen Sie, 
ı Spiger!" rief er, jich fteif an die Kante des Stuhles fegend, den die Mamain ihm angeboten, 
| Die Frauen bejprachen erregt den gräßlichen Ausgang. Mampynha beharrte darauf: man 
\ habe diefen Ausgang fommen jehn. Aher ihr Gedankengang ftodte. Die Schuld der Yrau 
‚ war plöglich Halb auf fie felbit abgewälzt. Sreilich, welche Vorausjegungen dort und in ihrem 
\ Tall! 

|  Krenelli glitt vorjichtig näher. „EI fterben täglich Taufende junger Leute! Schon dieje 
| Zatjache erledigt da Alter. Die Anftändigen tragen der graufamen Zmangslage Rechnung, 
| verjagen ji, Wein und Tabak. Mir gehen nun fo viele alte Patienten fang- und Hanglos 
hinüber. Auch die Brüder Somnenfchein find faft gleichzeitig geftorben. Der Mufiter am 
| 11. Oftober in Karl3bad, der Banfbeamte am 20. in Wien. Die Kur hat in beiden Fällen 
| die Kataftrophe bejchleunigt. Ja, gräßlich, unheimlich, aber Selbftmord zu begehn, ijt dennoch) 
‚ berabjheuungsmwürdig. Das blutrünftige Antli der Zeit verjühnt doch mit den Heinen, 
perjünlihen Leiden. Was ift denn der einzelne noch?“ 

Die Frauen ftarıten ihn an, überrumpelt von diefem herzlofen, unbeteiligten Voltefchlagen, 
diejer zunijchen Zeitdiagnofe. Mamyndha rief ganz überwältigt: „Aber warum hört man 
von alldem nichts? Auf hat doch geftern-erft angefragt. Man follte die Lektionen aufnehmen. 
Niemand hat einem das leifefte nur verraten oder angedeutet.“ 

„3a, gnädige Frau, man wollte Sie fchonen, ich nehme e3 an; obgleich ich diefe Angftlich- 
‚Zeit, diefe8 übertriebene Zartgefühl gerade jeßt nicht teile. Al Arzt vermag ich nur feftzu- 

ftellen, daß dem Kranken geradezu nüßlich ift, zu wiffen: wie fchwer e8 die andern haben, 
vie alle Welt leidet. Das gibt für den eigenen Zuftand die richtige Einjchäßung, bringt dem 
(Bewußtfein ein neues, gefundes Übergewicht. Ja, gnädige Frau, man befommt wieder die 
| Oberhand, und glüdliche Seelenftimmungen find das wertvollfte bei jedem Genefungsprogeß.” 
} 








Mamyndha jah in den Herbittag hinaus. Blätter wirbelten, halbnadte te fehwankten im 
Winde. KRaftanien lagen in flahen Muben, in Wafjfermulden, welche wie aufgejchnittene 
‚Schläuche an den Fuß der alten, riffigen Stämme gepreft waren. Am Himmel wölbte ein 
ärmliches Blau immer wieder Keine Kuppeln zwifchen den jagenden, graugelben Wolfen- 
‚Tämmen. Der Film der Straße flimmerte unruhig. Menfchen eilten an Auslagen vorbei, 


1 

























































372 Derdeutjihe Erzähler 


a EEE En re EEE EEE ET T, FETTE EEE EEE EEE EEE EEE SEITE TEEN SEE RESET FEN ESEEE EE 








nur mit dem Anprall der Windftöße fimpfend. Ja, nun war überall Kampf, erbitterter Kampf, 

Der Hofrat hatte mit der Mamain eindringlich gefprochen. Hatte fie vom Yenjter gejhidt 
an entlegene Stellen des geräumigen Zimmers geführt. AS Mampnha jich langjam ums 
wandte, fah fie ein gemwifjes Einvernehmen fchon hergeftellt; aber diefe durch die Sachlage 
bedingte Bundesgenofjenjchaft beunruhigte nicht; imo die Mamain mitging, war feine Gefahr. 

Krenelli jtand plößlich vor ihr. „Nun wollen wir einmal nachjehen, Frau Lotte!” Au) ar 
die Mamain fam Wort und Gefte wie ein Appell an das verftändige Mutterherz: „Darf ich 
bitten, gnädige Frau?“ | 

Sie half Mampyndha das lindenfarbige Hausfleid öffnen, über die jtrahlende Frifur heben. | 
53 war eine unfagbar nüchterne Entblätterung, ein Raub ohne Feuer! Der Hofrat fan | 
hüftelnd näher, fein halbes Greifentum, jfonft lodere Maske, ward vorgeführt, mit Anjtand 
getragen. Die Augen während de3 Ausfultierens gejchloffen. Er nidte Anerfennung dem | 
Schlag des Herzens, dem ruhigen Strömen in der Norta. Winzige Geräusche an der Mitral- | 
flappe ftörten ihn nicht, die Schöne Frau war anämijch. Die leichte Schwellung des Leibes 
mochte der Zeit entjprechen, vielleicht war die Frucht leicht irritiert? „Brad !” fagte er ab- ') 
ichliegend. Niemand wußte, ob er damit der Natur ein ‚sufficienter‘ erteilte, oder ob die 
BZenfur auf feine Beobachtung allein Bezug Hatte. | 

„Wiffen Sie den genauen Tag, Frau Lotte? Ya, ja, wir haben in Bayerbach fchon darüber: 
gejprochen, aber immerhin, immerhin!" | 

Er führte, indes Mampynha ihre Kleidung ordnete, die Mamain ‚für ein paar Minuten’ 
hinaus. Zurücdgefommen jah er der jungen Frau mit aufmunterndem Lächeln entgegen. ’! 
„Einige Worte nur, Frau Lotte! Der gemwifjenhafte Arzt ift Freund des Patienten, Ver 
trauensmann. hr Zuftand bietet zu Beunruhigungen nicht Anlaß, dennoch ift meine Pflicht, ' 
zu fragen, ob ihre Mutterjchaft fie bedrüdt? Gie verzeihen, ich begreife, daß jchöne Frauen’! 
durch joldhe Ausfihten aus dem Gleichgewicht gebracht werden fünnen, aber ich frage aug« 'i 
drüdlich: ob [hweriwiegende Gründe geltend gemacht werden können? Ych würde zu Shrer 'i 
Verfügung jtehen, auch gegen gewijje Vorurteile, gegen die Willensäußerung einer be= 
ftimmten Geite.“ . 

Schamhafte Röte war wie verflochtenes Glühen aufihrem Antlit. Wie eine Iuftloje Flamme’! 
ichwelte ein heiliges Zürnen in ihrem Herzen. hr Gehirn war in ae; Hälften gejpalten. '' 
In der einen dachte e3 fiebernd: Rettung, Flucht vor dem Verhängnis. Ir der andern vollzog 
ich blutträge: Man muß das Schiejal walten lafjen, auf Gnade und Ungnade fich Gott erz !} 
geben. Sie lehnte gefaßt fein Anerbieten ab, mit fühlen, verjchleiertem Danfen. Er krümmte ”' 
jich leife weg, fpürte melandolifch das Abweifende, den Heroismus, der vielleicht verzichtete, ” 
weil der Partner mißfiel. „Sch bedaure, hr Bertrauen nicht zu befigen,” ftellte er jchon ? 
ernüchtert fejt; „aber e8 war meine Pflicht.“ 1 

Sie fand plöglic) Worte, dankte überfcehivenglich, bat um Hilfe gegen die Atemnot, gegen ! 
das furchtbare Würgen. Sie wollte fo gern wieder fingen, fie müffe eg! Ob e8 denn nicht ein} 
Mittel gäbe gegen diefen Brechreiz, durch den ihr jedes Erwachen, jeder Morgen vergällt } 
jei? Noch nie hätte Schwangerfchaft Martyrium für fie bedeutet, befonder3 am Dec | 
nad drei — vier Monaten jchon. | 

Cr griff nad) ihrer Hand, maß noch einmal Blutdrud und Puls: „Nun machen Sie alles} 
geltend, was dieje Martyrium im bedingten Fall al unnüge Graufamfeit auffcheinen läßt. “1 

Sie lachte beinahe Hyfterifch: „Nein, nein! Sie mißverftehen mich, ich denke an feinen 
Kompromiß, ich fuche aus meinen Mutterpflichten nicht den lasziven Ausweg.“ I 

Er nidte abjchliegend, im Grunde war er unbeteiligt, da3 eigene Leid, der grauenvolle 
Selbjtmord Spiger, hatte ihn nur zu allem befähigt, auch zur Gefühlsfontroverfe mit feinem 
Auftraggeber, dem Generaldirektor. Er verfchrieb ihr Tropfen und Pulver. „Natürlich } 
lafjen fich diefe Kleinen Übel beheben, mit Erfolg befämpfen. Das wichtigfte find aber die} 
Nerwen! Wollen Sie nicht doch ein Sanatorium auffuchen? Sie haben es ja fo leicht, Ihr | 





Eduard Paul Danszfy: Mamynha 313 
. Schtwager ift.doc) Chefarzt und Eigentümer einer erftklajjigen Heilanftalt! Die Kinder kann 
man nicht al Einwand gelten laffen, wenn e3 um die Gejundheit geht. Wa3 haben denn 
‘ Kinder bon einer Franken, überreizten Mama? Nein, nein! Dies verftehe ich nicht, Sie 
‚ müfjen mir verzeihen, wenn ich Verjtändnis dafür nicht aufbringen Fan.“ | 

Sie jhnitt den Wortjeäwall de3 Übereifrigen mit einer edlen, frauenhaften Gejte ganz: 
plöglid, ab. „Wir wollen jehen,“ jagte fie freundlich; mit jener Freundlichkeit, mit welcher 
allerhödhjite Zrauen einem Wohltätigfeitsfeite beivohnen. „Wir wollen fehen, Herr Hofrat!” 

Er murmelte vor fich hin: „Schön zufammennehmen, Frau Lotte!” Er fühlte felbft, daß 
jein Zufprud) irgendivie nicht am Pla war. Jm Vorzimmer fragte er die Mamain: „Geht 
e3 den Kinderlen gut, find jie wohl? Ja? Sehr erfreulich, fehr erfreulich, gnädige Frau !” 
Mampniha Fam mit den Rojen nad), die er gebracht hatte, händigte fie dem Verblüfften ein. 
Sun ihrer Stimme war ein janftes, jchwermütiges Beben. „Diefe Blumen, Herr Hofrat, 
legen Sie Spiter in unfer beider Namen mitten aufs Herz. Werden Sie die Kraft dazu 
haben? Auch die Freundlichkeit, Herr Hofrat? Ja? Dann jchönen Dank für die Blumen.“ 

Er richtete jich zu ganzer Länge auf, bog die Hruf rudartig ein paarmal heraug, repräfen- 
tierte. hr Auftrag würde felbjtverjtändlich genau vollzogen werden, minutiög! 

Mampyndha jtrich über die grauen Haare der Mamain, die im Geficht des Kindes forjchte, 
Sie flingelte , Nunä fam, gleich nach ihr die Zofe. „Die Mamain ift heute mein Saft”, 
lachte die junge Zrau unter Tränen. „Man foll hier fervieren !" 

Die Bofe jtellte Tropfen und Pulver auf ein Heines Tifchchen. Zurüdkommend ftrich das 
Mädchen ganz fein, religiös fozufagen, über Mamynhas Hand, jagte mit einem das Dreifte 
abbittenden Lächeln: „Sch war gleich jelbjt in der Apothefe, damit die gnädige Frau rafch ge- 
fund wird. Was gäbe man nicht dafür? Das Herz!" ‚Herz‘ hatte bei ihr eine ganz unerhörte 
Bedeutung wie bei jehr rührenden Romanen. Sie war ganz rot, a8 Mamynha ihre Wange 
ltiebfojte, rot wie Samt. „Sie jehen heute gefund aus,” fchmeichelte fie. 

‘ Mampndha nidte: „Das kommt von einem winzigen, ganz winzigen Glüd! Man follte 
zwar heute nicht glücdlich jein, Sophie; zwei alte Herren find geftorben und Spiker hat Veronal 
genommen. Und dennoc, fanrı ich plößlich Lachen, Sophie, verjtehn Sie das?" 

Sa! jagte das Mädchen geheimnispoll-wichtig, die Karte jei gerade zuvor abgegeben worden, 
anderntags finde das Begräbnis jtatt. Bei dem Wort Begräbnis Hatte jie wieder ganz große 
Augen. „Daß Herr Spiber nun begraben wird !” fagte fie erfchauernd. „Erhat jo jchön gejpielt." 

Die Mamain hatte mitgeholfen. Von jechs fiebrigen Händen war einladend der Tijch ge- 
det. Mamynha ließ noch eine einzige Rofe in einer jchlanfen Krijtallvafe aufitellen, eine 
Rofe von dunkler Nöte. Im Hinausgehn raunte da3 Mädchen leije der Schwarzen Nunä zu; 
„Belhe Einfälle Mamynha hat!" Im geheimen nannten fie alle Mampynha‘. Aber in 
Nunas Gehirn war Mamynha noch das Mädchen, das Kind; diejes Wiljen um Damals war 
wie Brafilien und der opalfarbige Dzean gegen Wien und die Donau. Um fo viel fühlte 
Nuna ihren Stolz auf die ‚minha senhora‘ berechtigter al3 alle andern. 

Die Frauen fahen allein wie an fremder Hochzeitätafel. Mit derfelben Freude und feier- 
lihen Erregtheit, welche den Anlaß in der romantifhen Form hat und vom: Zeremontiell 
den ganzen Duft in die Boren aufnimmt. „So ift das Leben, Mamain! In einem Meer von 
Trauer und Unglüd Schwimmt eine vergoldete Nußfchale. Darüber it man jo froh. Morgen 
werden wir zu Spiberd Begräbnis gehn, e3 wird mich furchtbar aufregen.” Sie faßte jogleich 
ihr Herz an, als hätte der morgige Schmerz jchon darin Wohnung. 

Die Mamain riet von der Teilnahme ab. Aber Mamynda erklärte, jie fönne jich nicht ent- 
ziehen. „Du meißt nicht, wie wir geftanden haben. &8 ift ganz unmöglich, einen Menfchen 
fo teilnahm3!los begraben werden zu lajjen, in deifen armem Herzen man fo furchtbar zu 
Haufe war. ch muß dabei fein, wenn ich gejund bin.” 

Die Mamain fühlte fich wirklich begaftet. Sie ließ ihr Kind reden, zeigte durch freundliches 
 Niden, daß fie jedes Wort der Gaftgeberin ungewogen al3 Offenbarung hinnahm. 











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374 Derdeutjhe Erzähler 








"Mampnda fuhr fort: „Solche Ehen, Mamain! Weißt du, daß Spiger ganz dasjelbe Schidfal 
hatte wieich? it es dir gar nicht aufgefallen? Einen beftimmten Schnitt Haben unsre Schidfale 
gemein: eben dies Nicht-anders-KRönnen, verjtehft vu? dem Spiber nun auf einmal in einem 
längft fälligen Anfall von Efel ein Ende gemacht. Er hat beftimmt gewußt, daß nicht die 
Untreue der Frau das Furchtbare mar, jondern feine eigene Ohnmacht, feine zynifche Duldung 
de3 Hausfreunded. Nun ijt mir alle ganz Har, da er den Hofrat den Zins bezahlen lief. 
Denk dir, Krenelli hatte die Wohnung bezahlt und wie viel andre3! Darunter litt wohl der 
arme Teufel am meijten. Und gerade darin find wir ähnlich. ch laffe ven Mann den Zins 
bezahlen, verjtehft du? ch dulde, daß mein Mann ein Generaldirektor ift und für mic) Miete 
bezahlt. Ja, er bejtreitet den ganzen Aufwand. Täglich wird ein Stüd meiner Seele von ihm 
gegen bar eingelöft!" Sie lachte. Die Mamain verwies ihr diejes fich jelbft zerfleifchende 
Lachen mit unendliher Sanftmut und Geduld. 

„Bute Mamain. ch bin reich, ja, meine Mitgift ift unangetaftet, war nur geliehen, ift 
nun mit Binjen wieder zurüderftattet und liegt weiter auf Zinfen. Einiges ift zwar nun 
aufgemwendet für ein paar arme Teufel, aber da3 Leben beftreitet der Mann; mein Geld ift 
den Kindern bejtimmt, damit ift e8 Flug ausgefchaltet, ich bin eine Bettlerin. Wie könnte ich 
je die Kinder und euch, Mamain, mein Glüc bezahlen laffen? Aber das ift e8 ja nicht. Man 
forın alles den Mann beftreiten laffen, wenn man e8 nicht al Kauf fühlt, wenn man fich 
nicht bezahlt weiß, wenn die Gegenleiftung nicht fo entjeglich mit der Leiftung verbunden ift.” 

Die alte Frau Ffannte jede zerriffene Fajer diefes langfam verblutenden Herzens, welchen 
Namen das Kind auc) immer dem Schmerz gab, fannte das troftlofe Verhängnis der eigenen 
Ohnmadt. Noch nie hatte den Fluch ratlofer Liebe, zum Zufehn verdammten Mitleids 
jie grauenhafter gefühlt. Dem verfänglichen Troft ihrer Worte felbjt mißtrauend, begann 
jie: „Auch meine Che, Mamynha, war nicht der volle, fich gleichbleibende Segen de3 Glüdea; 
der Sonnenjchein, welcher davon in eure Findlichen Augen geftrahlt, war von zwei willigen 
Herzen dem trüben Tag nur aufgefeßt, euch zu täufchen. Aber dazu gehört ganzer Verzicht, 
bebdenfenloje Entäußerung, Kind, wozu du vielleicht nicht fähig bift? Vielleicht nur in einer 
ganz großen Liebe, in einer Leidenschaft, welche fich jelbft jo vergift und wegwirft, daß alles, 
was von dem geliebten Mann kommt, befeligend ift und Eoftbar, auch Verrat, Gewalt und 
Roheit. Ander3 vermagjt du dich nicht zu verlieren. Dein Unglüd und Fehler ift, daß du noch) 
ganz Das Mädchen und Kind bift, auch al Mutterund Frau. Du haft nicht Wefentliches von dir 
abgegeben; eine wenig Hoheit und Stolz nur, welches du gut angemerkt haft. Aber dein eigen- 
williges Herz hat den gleichen Schlag wie damals. Vielleicht warft du aufrichtigem Weg, bift dann 
plöglich erjchroden ftehen geblieben, haft dich Tranfhaft auf dich zurückbefonnen. Diez ift in 
der Ehe unmöglich. Jch habe jo jung wie du die Ehe gefchloffen. Vielleicht Hatte ich mehr ° 
Sorge und Arbeit al3 du, aber wichtig war doch dag eine, daß ich weniger auf deinen Papa 
einwirken fonnte, al3 er auf mich. Dennoch war diejes Farblaffen des Wefens ung beiden 
gemeinfam. Wer nicht mit den Augen des andern zu fehn, mit deffen Ohren zu hören, mit 
dejjen Tafte zu fpüren vermag, ift zur Ehe nicht fähig, Mamynha. ch habe dir diefe Er- 
fenntni3 in Heinfter Münze lange jchon dargeliehen, du twußteft im jeweiligen Augenblid 
damit nicht richtig zu fchalten, vielleicht war euer Wefen auch zu fehr verfchievden? Aber wenn 
du mehr von deinem Mann übernommen hätteft, wie man Krankheiten mit ihren eigenen 
Keimen befämpft — o, e3 fehüttelt dich nun bei dem bloßen Gedanken — doch verwittert da3 
Seljenartige unfrer Art nicht durch einen Regen, der die Boren erfüllt, nicht durch einmaliges 
Anmärmen der Sonne... Du hätteft fein eigenes Wefen, Bruchftüde davon — feiner Un- ° 
gebärbigteit, feinem zeittwweife rohen Anfinnen entgegengehalten, er hätte auf jich jelbjt die ° 
Hauptbürde geworfen, dich nur an der Oberfläche erreicht, der Kern deines von Fremden 
umbegten Wejeng hätte leicht triumphiert. Eheleute find oft wie Nachbarböffer, Artmifchungen, ° 
bejinnen fi zeitweife nur ihres Befonderen, legen ohne allerlebte Nötigung nicht Wert und 
Gewicht auf da3 Unveräußerliche ihres Beftandes. Du haft Panzer und Schild nicht gemollt, 





| Eduard Paul Danszky: Mamynda 375 

En 
haft Haupt und Herz unbewehrt dem Streich entgegengehalten, immer wie vamal al Rind! 
Darin wart du mit Edvardo eins! Man hat euch felten bedroht, aber wenn ihr mit andern 
 gebalgt, ihr wart nie gedect. Dazu wart ihr zu edel und eigenmillig, zu ftolz und findlich- 
berblendet. Sieh, ich fan von den Gedanken nicht Iog, daß Edvardo in Yeßter Stunde das 
feindlich-ertegte Land hätte verlaffen können. Mein Bruder in Hamburg, dein Onkel Andre, 
hat ihn im richtigen Zeitpunkt befchtworen, den amerifanijhen Konful für ihn bemüht, er 
wollte nicht, Kind! Er hätte auf neutrale Gebiet flüchten fönnen, von dort leicht die Ber- 
bindung mit jeiner Braut aufrecht erhalten fönnen. DO, was nügt nun das müßige Wägen 
der nicht verwendeten Möglichkeiten! Aber ich hab fo viel nachdenken müfjen über euch beide, 
und jchlaflofe Nächte Haben fo fcharfe, Hare, eisflare Gedanken.“ 

Sie jaßen ganz dicht umfangen, fo daß ihre Hände und Arme um die bereinigten Körper 
wie Rettungstaue gejchlungen waren, welche fie beide emporziehn oder verjenfen mußten. 

Mampnda flüfterte: „Wir wollen nun nicht mehr fprechen, Mamain! Piel ijt wahr, ent- 
jeblic) war, was du weißt; aber Edoardo ift tot und ich Iebe, jolang e3 mir vergünnt ift, Yebe 
ein Leben, welches jo Har ift wie deine Gedanken, lebe e8 mit aller Kraft, die ich von den 
Kindern Habe, leidend aber willig! Freilich, auch deine Erfahrung von dem jehrittweifen 
Aufgeben des Eigenen, des allzu Schgemäßen, ift richtig; aber bleibt nicht am wichtigiten, 
mas ein Herz dabei einhandelt? Wem du es Hingibft? Sonft wäre ja unjer Srauentum 
 geiffig wie eine Münze, die von Hand zu Hand geht und ihre Prägung vollitändig verliert. 
Bas Füme dabei exit heraus? Gewiß, Mamain, du haft recht, daS Leben ift fo. Die meijten, 
faft alle jind jo abgegriffene Münzen, fehen einander fo grauenhaft ähnlich, alle glatt, nur dem 
Gewicht nach noch unterfchiedlich, von ihrem Antliß ift nichts mehr zu fehn.“ 


a der folgenden Zeit blieb da3 Leben für Mamynha nur Bürde, demütig von ihr ge- 
tragen nad) einem verhängnispollen Gebot Gottes. Auch unbedingte Unterwerfung, wozu 
jie endlich jich veritand, machte da3 Gewicht diefer leidvollen Beftimmung nicht Yeichter; 
eher jchien ihr von Tag zu Tag mehr zugemutet, je twilliger fie alles erlitt. Zufehends fchwand 
ihre Gejundheit dahin, Förperliches Behagen wurde feltener, Nervenjchmerzen ftellten fich 
ein, melde SKrenelli auf Erkältung zurüdführte. Zeitweife erftarrte fie vor der furchtbaren 
Angit, Die Beweglichkeit ihrer Glieder ganz zu verlieren, wenn fieberartig Ermattungen 
dureh ihr Blut riefelten, die Musfel erjchlafften, den gefchmeidigen Körper wie in einen 
untillfommenen Schlaf bannten. Heißes Baden, welches das Tlbel, vor allem die 
Lethargie ihrer Musfel gebeffert hatte, durfte fie des machlenden Kinderfeimes wegen nicht 
üben, Abreibungen halfen vorübergehend. In einer Nacht rettete fie Nuna, rieb, fobald 
alles jchlief, die Herrin mit heißem Ol ein, umhüllte Schenkel und Beine mit warmen Tüchern, 
türmte einen Berg von Deden über die reglos Liegende, welche nad) einem ungefährlichen 
Schhlafmittel rafch entjehlummert war. Am frühen Morgen wachte die Arme entjebt auf, 
entjeßt über einen unverjtändlichen Traum, aber froh, Arme und Beine nach) Luft rühren zu 
fünnen. Nunä, welche vor ihrem Bette noch wie am Abend gefauert hatte, wurde abgefüßt, 
zur Belohnung der gräßliche Traum ihr vertraut: 

„Dent dir, in dDiefer Nacht bin ich geftorben, wirklich geftorben! Aber ich jah und hörte euch 
alle, nahm alles wahr, was um mich und mit mir gefchah. Nur fprechen konnte ich nicht, 
aber vielleicht hätte ich e3 veritiocht, ich war nicht verfucht dazu. hr Habt mich richtig begraben, 
d, garitige Milhmutter Nuna, auch du haft dazu mitgeholfen, und wie habt ihr euch alle be- 
eilt! Aber ihr habt mich fo wunderhübfch angezogen; fein Spiegel jagte mir dies, ich wußte, 
daß ich Schön war wie nie im Leben. Ych war wie aus weißem Wachs von einem herrlichen 
Küntler gebildet, ohne Sünde, ohne Begehren in meinen Zügen, mit weißem Blut. Dann 
‚ward ich mit jchiverem, metallenem Sarg verjenft in die Erde, ohne Angft, ohne Schmerzen, 
ohrte irgendein Gefühl von früher; nur daß ich alles wußte und jah, daß ich |pürte, was mit 
mir borging. Denn e3 ereignete jich viel mit mir, unjagbar viel. Leben, winziges Leben 














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376 Derdeutjhe Erzähler 





fam und durcchdrang mich, Wurzeln griffen wie ohne Schwere und Kraft, wie ftofflos in 
mein Fleisch, ducchitiegen, durchwuchjen mich wie während einer Narkofe, zogen das weiße 
Blut aus meinen Adern langjam empor; alles jtieg in mir und erhob fich, im felbft war jchme- 
bende Erde, verjenkftes und wieder erwachendes Leben. ch war außer mir vor Staunen, daß 
mir dies alles nicht weh tat, daß ich jo leicht begriff, wie es nach dem Tod fein mußte, daß ich 
gar nicht empfindlich war. Aus der Grube hätte ich euch rufen, vieles euch jagen mollen, 
aber wie? Borher hatte ich nicht diefe Sehnfucht, folang ihr damwaret. Ja! Aber eure furchtbar 
berdugten Gefichter! Du jahjt genau jo perpler drein wie eben jebt, ihr wart alle riejig perpler! 
Mein Mann aber, der Herr Generaldirektor, hatte Carola am Arm, denk dir! Sc fah ganz 
genau meinen Ehring an ihrem Ringfinger, jah e8 durch die fhwarzen Lederhandichuhe. 
Meinft du, daß fie zu ihm paßt? Sie it freilich älter al8 ich, bedeutend älter!“ 

Nunä hatte ji) über jie geworfen mie eine verwundete Tigerin. Aber ihr tränenüber- 
ftrömtes Gejicht, mit weldhem fie die graufame Wiedergabe des Traums an deffen Duelle 
zurüdbeichwor, tat gute Wirkung. Mampndha jprang aus dem Bette, ließ fich warm frottieren, 
;0g wollene Strümpfe an und juchte in den ängftlichen Gefichtern der andern die Züge des 
Traum. Aber den Traum felbjt erzählte fie nur der Mama. 

Später, um neun Uhr etwa, erhielt jie unverhofften Bejuh. Eine Rote-Kreuz-Schweiter 
ward angemeldet. Erjtaunt jah Mampynha die Diakonifjin vor fi, Thumayerd Schweiter 
Henriette. Sie nahm fie jehr freundlich auf, führte fie in ihren Heinen Salon, hieß fie nieder- 
jigen, dachte jofort an Fehrbach. Sie jelbt fchritt auf und nieder, nachdem fie heiter wie 
noch nie berjichert hatte, für Kriegshilfe fäme fie nicht mehr in Frage. 

Die Schmweiter nahm fie entichlojfen unter den Arm. 

„nommen Gie, gnädige Frau,” bat fie jchmeichelnd, „zeigen Sie mir Zhre Wohnung! 


3% habe von diefer Wohnung foviel gehört! Während des Gehens Fann ich mein Anliegen 


bejjer vorbringen, Ste werden meine Bitte ficher erfüllen. Mein Wunjch weicht von der 
üblichen Bettelei weit ab, es ijt etwas, mas Sie mit ganzer Seele tun können, font wären 
Sie niht Mamyndha.” 


Und wirklich führte fie die Frau Generaldirektor durch alle Räume, mit dem Herrenzimmer 


beginnend, welches gerade von den Mädchen injtand gebracht wurde. Auch in das Kleine 


ZTropendorado, zu ihrem Papagei brachte fie die Schweiter, erinnerte fich rajch des erften 
Bejuches Fehrbadhs, jah blisjchnell alles Erlebte, den ganzen Sommer vor fi. Zärtlich 
hielt fie die Hand der Schwefter Fehrbachs wegen. ‚Sch habe nur das Tier in mir getötet! 
Sie wußte die Verje auswendig. „Sagen Sie mir nun, warıım Gie zu mir geflommen find !" 


ermunterte jie mit Derjelben Zärtlichkeit. Che fie jich zu wehren vermochte, hatte die Schwefter ° | 
ihre Hand an die Lippen geführt, auch die Finger ganz jinnlos füfjfend. Dann fpradh fie ° | 
ruhig, von Wort zu Wort nüchterner und verftändiger, dennoch mit der Wärme, welche der 


mwerbenden Abjicht nottat. Sie jei von dem Faiferlichen Rat jchon feit Kriegsbeginn fort, habe fich 


zum Roten Kreuz gemeldet, Stabsarzt Krenelli — ja, der Hofrat jet Stabsarzt geworden, ° 


habe fie gleich in einem großen Rejervefpital untergebracht. Sie fei jehr begeiftert geiefen, 
nicht für den Krieg, für die armen Soldaten nur, welchen man ja irgendwie helfen müffe. 


Der Dienft fei, bei Gott, nicht leicht, da e3 ftändig an Menjchen und Mitteln mangle, aber fie ° 


habe zum Glüd gejunde Nerven, eine unheimlich Eräftige, eine ideale Gefundheit. Und mın 
wolle fie ihre Bitte vorbringen: die gnädige Frau fänge doch fo über alles jchön. Yon diefer 
Gottesgabe müßtenihre Vermundeten aud) etivag Haben, darum bitte fie recht innig, Mamynba 
möge den Kranken an einem Nachmittag vorfingen. Ya? Sicher würde fie e3 tun, ficher! 


Mamynha war ganz rot. Fhre Freude, guten Menfchen zu dienen war oft wie Scham bei 
ihr. Al jchämte fie fich zuzeiten, daß andren Menfchen etivas not war, woran fie Überfluß 
hatte. Aber diefe Freude lag auf dem dornigen Weg ihrer Liebe, ihrer fernjchmebenden 
Sehnjucht. „Natürlich !" rief fie begeiftert, „natürlich, Schweiter, wird man Yhren Ber» 


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Eduard Paul Danzzfy: Mamynha 377 








wundeten die jhönjten Lieder vorfingen. Wenn e3 fie nur nicht ftört, ihren Buftand am Ende 


berichlimmert, denn der Gegenfaß ift zu groß, zu furchtbar.” 











En BEE u urn En CE EEE NEE 


„Ach Oott, gnädige Frau, die meiften jpüren e3 nicht fo fehr, fommen Sie nur! Kreilich 
hab ich noch eine andre, eine jehr unbejcheidene Bitte: Iaffen Sie uns Shren Flügel hin- 
Ihaffen; denn wie mein jchönes Programm Ausgaben verurfacht, ift es erledigt. Auch müfjen 
Gie Alfons Ruf mitbringen, damit e3 ganz herrlich und vollfommen wird. Sie ahnen ja 


nicht, welche Freude Sie allen machen werden!" 


Schnell war alles beiprochen, ein Tag feftgejegt. Einige Zeit müßte fie fchon zum fiben 
haben, meinte Mampynha, fie habe ja an ihrem armen Körper jo grauenhaft zu leiden gehabt, 
daß an ihren Gejang fie faum mehr gedacht hätte. Nur an dem Tag von Spiters Begräbnis 
wäre ihr ein Kleines, jehr trauriges Lied gelungen, dem armen Spiber zu Ehren. 

Schweiter Henriette war überaus dankbar. Während der legten Worte waren fie fchon 
in den Salon gelangt. Ohne dag Mamynha e8 recht gewahr wurde, hatte die Huge, energifche 
Schweiter jie in einen Armjtuhl verftaut, war auf dem runden Brofatfiffen, welches den 
Füßen beitimmt war, niedergelafjen, die jchöne Frau mit ihren rüftigen Armen umfpannend. 
Run jah fie ihr ganz tief in die Augen und diefer liebevoll dreifte Blick fchloß alles auf, rückte 
ihre Srauenherzen jo nahe, daß fie nur deren tiefite Tiefe ftaunend erblicten, an welcher ihre 
Liebe gebettet lag, vielleicht diejelbe Liebe. Alles Beimerf: Temperament und Bildung, Kafte 
und Geijt war verdedt und vergefjen. 

„Darf man Gie nicht einmal anjehn, liebe gnädige Frau? Jch bin freilich nicht älter als 
Gie, aber ich habe immer Klar jehen müfjen, ich mußte gewifjermaßen dazufehn. hre Zörper- 
lichen Martern jcheinen mir auch in Anbetracht jehr gejhmächter, vielleicht fogar: erfranfter 
Nerven — der Schwangerfchaft nicht angemefjen, in foldem Ausmaß beftimmt nicht. Auch 
hab ich Yhren BZuftand vielleicht bereit3 einmal erlebt und mitgemacht. Sch habe ein Kind 
geboren; jpäter, alö mich die ftete Gefahr, die Angft vor der chronischen Mutterfchaft zu fehr 
bedrüdte, meinen jchwierigen Zebensgang geradezu hemmte, ließ ich mich operieren und bin 
jeitdvem unfruchtbar.” 

Mamynda jah in das milchweiße Geficht mit den verftreuten Sommersproffen. Zum 
eritenmal war ihr dieje3 Gejicht ganz vertraut, ganz mohlgefällig. „Armes Kind!" fagte fie 
tief mütterlih. „Shr Kleines können Sie nicht bei ich haben?“ 

„Kein! Nur während meines Urlaubs, das ift im Jahr ein paar Tage. Dieje wenigen 
Tage müjjen jo viel an Liebe geben wie bei andern ein ganzes Yahr.” 

„Schreklich!" Flüfterte Mamynda, an ihre Kleine Elifa erinnert. 

„Rein, e8 ijt nicht gar fo fchredlich, gnädige Frau! Das Kind Iebt bei meiner Mutter, 
erfährt nichts davon, Daß e3 ein Kind der Liebe ift, wie man uneheliche Kinder fo tief bezeichnend 
umijchreibt, und ich jelbjt Habe Ruhe. 3 ift das 2o3 der meijten Frauen und Mädchen, welche 
arbeiten müjjen. Arbeitenden Müttern find die Kinder immer zur Laft. hre Liebe fchlummert, 
gilt nur in Gefahren, in entjcheidenden Stunden, fonft, für den Werktag muß fie jchlafen. 
Nur müßige Menjchen können ihrer LXiebe, ihrem Hafje jich hingeben.” 

Mamynha war von diefen harten bewußten Worten befremdet, Doch verjtand fie die Ver- 
bittertheit Der Sprechenden, war dankbar, daß fie nicht anflagte, Daß fie die fahle Wahrheit nur 
mit dem gemäßen, pajjenden Namen nannte. 

Die Schweiter ftrich nach diefem fat ungemwollten Abjchmweifen über den Leib der Schwange- 
ren, bat dieje Ungeniertheit mit einem Blid ab, geitand, daß fie von Krenelli Hinlänglich unter- 
richtet wäre. „Er beipricht viele Fälle mit mir, damit ich im Notfall gewiffermaßen zur Hand 
bin, wenn e3 entichlofjenen Handelns bedarf. Mehrmals habe ich ihm bei gefährlihem Ein- 
greifen mit Glüd ajfijtiert. Hier bin ich entjchieden beunruhigt. Sie müjjen unbedingt einen 
andern Arzt aufjuchhen, gnädige Frau. Zn unjerm Spital leijtet gerade ein Deutihböhnte 
Dienit: Doktor Hilsner! hm können Sie fic) getroft anvertrauen. Jch bin einem folchen 
Seal unter Ärzten noch nicht begegnet. Auch al3 Menfch ift er merkwürdig, er hat eine Nonne 









































378  Detdeutjhe Erzähler 





geheiratet, eine ehemalige Vinzentinerin, und ift ihretiwegen fatholifch geworden. Sie leben 
wie gute Chrijten, wie Ehriften der erjten Jahrhunderte, Dft fommt e3 mir fo bor: der 
unbeugjam-gütige Menjch will nur allen bemweijen, daß man al3 Chrift fich in jeder Stunde 
bewähren fann. Bisweilen nimmt fich fein Handeln aus wie eine heilfame Zurechtweifung 
heutiger Chriften, welche ihr Chriftentum mohl geerbt haben, aber diejeg Erbe planlos und 
Ihimpflid) vergeuden, zum mindeften damit nicht zu wirtfchaften verftehen. Seien Sie mutig, 
gnädige Frau, fommen Sie zu ung, vielleicht nach ihrem Konzert? Doktor Hildner betreibt 
feinen Beruf wie Prieftertum, nicht als bevorzugtes Gefchäft, welches dem Kunden Teine 
Möglichkeit läßt, jich einzufchränfen.“ 

„Delte, Klügfte!" mußte Mampynha nur auf dieje liebevollen Mühen, zu welchen die gute 
Schweiter ji) ohne Ende verjtand. „Wir wollen fehen!" Dies war ihr gemöhnliches, dDuldfames 
Abwehren. Leider hatte die Schweiter nur diefe Stunde, aber beglücdt von Mamynhas 
Bujage wollte fie gar nicht länger fäumen, um die bevorftehende Überraschung allen möglichft 
bald anzuzeigen. | 

Mampynha dachte an diefem ganzen Tag mit grenzenlofem Staunen, wie human ihr eigenes 
Schidjal mit ihr verfuhr. Mit diefem grenzenlofen Staunen fchlief fie ein, fo lebensmüde 
tie fie an diefem Morgen erwacht war. Jm Halbjchlaf murmelte fie: „Ach, Schwefter Hen- 
riette, welcher Arzt vermag da zu helfen, wenn ein Kind ohne Liebe geboren wird? Wenn 
nicht nur die Seele, wenn aud) der Leib die Sünde nicht tragen will, nicht tragen fan? 
Erzmwungene Luft ift Sünde!”... 


ers brachten die nächjten Tage Mufik, fleifiges Üben! Mamynda fang wieder. Zwar 
gewöhnlicd, nur eine Stunde im Tag, während welcher fie Ruf behutjam einübte, aber 
biöweilen fand fie noch eine den laftenden Sorgen abgeliftete rafche Gelegenheit mit Erminia 
zu wiederholen, two jie allein verjuchte, womit Auf fie geplagt hatte. Da der Atem ihr zeit- 
mweije verjagte, hatte Ruf Mühe, die Stimme nicht zu üiberbürden. Aber er ruhte nicht eher, 
bis jeder Ton feft jaß, den früheren Wohllaut hatte, bis ihr Gefang die alte Schönheit wieder 
empfing. Mampyrha war angejpannt zu edelftem Wollen, zäheften Aushalten. Mehr al3 
je war ihr die Kunft Heiligite Zuflucht, Afyl! Sie mußte den Tag darnad) einteilen. Schon 
die Morgenftunde befam Eifer und Wichtigkeit, beginnend mit Heinen Übungen der Atem- 
technif. Hierauf wurde der Haushalt befprochen und fiberall mitgeholfen, die Kinder berjorgt, 
bi3 um elf Uhr Ruf fam. Am Nachmittag, wenn fie jchlaflofer Nachtftunden wegen nicht allzu 
müd war, jaß fie mit der Mamain im Heinen Salon über einer Handarbeit, zuzeiten mußte 
fie Rund auf einem Schemel vor fich haben. Außer diefen beiden half ihr niemand mit ähn- 
licher, fich jelbft ausjchließender Zähigfeit der Hingabe, mit jenem Berjtändnifje, welches 
auc) Unbegreifliches nod) begriff. Bei aller Liebe vermuteten doch die andern, wenn auch mit 
heimlihjten Falten der Stirne nur, daß ihr Unglüd in ihrer Hand läge; eriwarteten immer 
wieder, daß jie endgültig fi aufraffte, zufammennahm. Sreili) ward fie dauernd 
wie ein Kind gehegt, zur Unmündigfeit geradezu angehalten, aber ihre Mitwirfung an 
feinem Verrat doch zeitwweife verjtedt gefordert, über ihr Berjagen nicht jelten der Kopf 
gejhüttelt. Auch die Beiten fuchten fie an ihren Mann mit Lift zu verfuppeln, legten un» 
überbrüdbare Enttäufhung al Schmollen, al3 weibchenhaftefte Kofetterie aus. Die Tragit 
deö Mannes war, daß er Totes lebendig machen, den Leichnam der Liebe liebfofen wollte; 
daß er jtet3 zur Gewalt fich berechtigt glaubte, wenn er reuig jie hinterher abbat und der 
Entheiligten billigen Weihraud) ftreute. Das Martyrium der zweiten Empfängnis hatte er 
planvoll vergeffen, ihr ohnmächtiges Ringen mit Tod und Giehtum al3 Ehepflicht gebucht. 
Die Onade des Himmels, die bei Elifa Nachficht gezeigt, wurde eigenfinnig auf eine lebte 
Probe geitellt. ZHr ausgefchalteter Wille follte das Wunder leiften, zu welchem ihre betrogene 
Liebe nicht fähig war. Aber wa half ihre demütige Unterwerfung, wenn ihr Wefjen jelbit 
fid) auflehnte, wenn Stärferes in ihr als ihr Wollen zu jpät gegen die Gewalt aufftand? 
Der jechite Monat hatte bereit3 unerträgliche Schmerzen, grauenhaftes Unbehagen, Stim« 




















Eduard Paul Danzzky: Mamynha 379 
EEE een] 


mungen bon unbegreiflicher Melancholie gebracht. ymmer wieder mußte fie ihre Farge 
Widerjtandskraft jtählen, alle Hilfskräfte zujammenfajjen; twas je belebend und hell in ihr 


geben gejpielt, oft in Gedanken nehmen und wie einen Taligman bon Otunde zu Stunde 


tragen. Alte Erinnerungen aber lebten von jelbit, wenn fie fang, wenn fie zum ©ingen nur 
ih anjchidte. 
- Für ihr Konzert im Referveipital war alles geprobt; Doch mußte der Tag verjchoben werden, 


Da Ruf einige Tage in Graz fonzertieren follte. Die Unternehmung johien auch von vorn- 


herein einträglich genug für ihn, fie mußte den angebotenen Berzicht jomohl wie feine Be- 
teittwilligfeit ablehnen, die Reife ihr zuliebe aufzufchieben. 
Am eriten Tag feiner Abmejenheit las fie Wagners Briefe an Frau Wejendonf, am zweiten 
Zage mar jie ruhlos, durch Nachfühlen des fremden Leidens in ihr eigenes rücfällig geworden. 
Nach) fait jhlaflofer Nacht, in deren fieberhaftem Verlauf ihre Liebe in fremdartige, woll- 
lüftige Phantafien fich Hüllte, ftand fie ganz jrüh auf, wedte Crminia,verließ mit ihr dag Haus, 
um einen Tag in Payerbach zu verbringen. Da ihr Mann mit dem Auto nad) Wiener- 
Neuftadt gefahren war, mußten fie den eg zum Südbahnhof zu Fuß antreten. Su der 
Jaquingafje, jie waren eben die lange Mauerumfriedung des botanischen Garten entlang 
gej'hritten, drang aus der Klofterficche zu dem Spiel einer janften Orgel Gejang der 
Nonnen. Sogleich faßte Mamynha die lähelnde Erminia unter und zog fie in die zu fo 


‘ früher Morgenftunde faft leere Kirche. 








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Erminia war nicht ganz einverftanden, fürchtete mit der lebenzfeindlichen Bürde diefer 
Stunde, mit diefem Verzicht in Hymnen — beladen zurüdzufommen. „Wird e3 dir denn 
nicht wohl tun, Carlotta, wenn du Payerbach wiederfiehjt? Wir wollen die lieben Wege 
ganz jchnell dDurchwandern." Mamyndha fchüttelte mit dem Kopf. Aber bald darauf zog fie 
Erminia Doch aus dem Bereich des Mlofterd. Schon waren fie aufgefallen. In ihren jehmarzen 
Trauerfleidern mochten fie fich wie Weltflüchtige ausnehmen und der Phantafie der Neu- 


gierigen einfältigen Grund zum Bereden geben. „Sch weiß Bejjeres, Mamyndha, tomm !" 


Eine volle Stunde faßen fie im botanischen Garten, ergingen jich zeitweife auf beinahe 
gänzlich verlajjenen und gemiedenen Wegen, fuchten ein paar Zreibhäufer auf, wo fie ihre 
Schweitern aus dem brajiliichen Süden begrüßten. Nur Ihmer gelang ihnen die Trennung. 
segendwie war die Ähnlichkeit ihres Schiejals in ihrem Bewußtfein rafch beleuchtet. Ge- 
fangene jie und diefe! Vertrieben aus reicher, romantijcher Heimat, hinter Mauer und Glas! 
Behmütig lächelnd benannten fie jich nach den grünen Schmweitern: jene du, diefeich! Darnach 
begleitete Erminia die plößlich erblühte Mamynha, welche Ihon von dem rüftigen Gehen, 
bon der Nähe der Heimatflora lebhafte Farbe befommen hatte, nach der Stadt zu. Durch den 
Nonnengejang war Mampynha an die Urfuline erinnert, an Tehrbachs Tante. Wie ein freudigez 
Lächeln war diefer Gedanke in ihr aufgebligt. Auch in Payerbach hatte jie Fehrbach begegnen 
wollen, damit er ihr treue3 Gedenken in der blutrünftigen Ferne fpüre; nun wirde lie ihm 
biel näher jein, ihm eine verjtärkte Welle tröftenden Gtüdes zufenden. 


Am Dpernring trennte fie jich von Erminia, fehritt Schnell durch die Kärmtnerjtraße. Hier 
folgte auch zu frühen Stunden des Tages aufreizender Müßiggang. Dreift fragte Blie und 
Gebärde ji an. Sie mußte die Augen jenken, Kriegswitwwen hatten jonderlichjten Anmwert, 
jie galt al3 Kriegswitwe. Der Begriff bohrte fich graufam in ihr Gehirn: Edvardo und Fehr- 
bay. Starr jah fie vor fich Hin, teilmahmslos an der fadenfcheinigen Eleganz, welche jich 
allenthalben aufdringlich vorführte, Nein, ihr Trauerkleid jchüßte fie nicht, ein Sprühregen 


zudringlicher Blide fegte an ihren Zügen vorbei, immer wieder fchoß Schamröte in ihre 
Wangen. Endlich bog fie in die Zohannesgafje ein, gefolgt von hallenden Schritten. Wie 


gehebt, halb zur Strede gebracht, erreichte fie müde dag Kloftertor. Exft in dem eiligkühlen 
Slur bejann fie ihr Vorhaben bligartig, Doch jchien ein Zurüc ihr nach allem unmöglich. 
or. der Heinen, ganz düfteren Innenpforte tif fie mechanisch an dem Slodenzug, dumpf- 








380 Derdeutjihe Erzähler 








Hlagende3, rojtig jammerndes Läuten jhmwang durch die ängftliche, angftauffcheuchende Stille. 
Eine Nonne fam, wie zur Abwehr mit einem lauten Qob Chrifti grüßend. 

„Mater Genofeva” artifulierte Mampynha unter eigenartigem Grufeln. ‚Mater Genofeva.' 
Der frembdartige Name war Vorwand für alles, während unheimlich da8 Dunkel an fie heran- 
much?, gleichjam mit den fcheuen Augen der Nonne fie bannend. 

„en darf ich melden?" — Mampynha erjchraf. Welchen Namen follte fie nennen? 
Welchen Grund, welche Abjicht fundgeben? Zhr Eindringen fehien plölich ihr felbft finnlos. 
„grau Generaldirektor Kamm“ jagte fie tonlos. 

Die Nonne nidte. Der Rang war wie ein Schlüffel zu allen Türen. 

„Dernühen Gie ji, gnädige Frau, die Stufen hinauf, hier links, ich öffne.“ Sie zog an 
einer Drahtleine, jenjeit3 des Gitters, die Türe nach den Stodwerfen jprang auf. „Bitte 
Ihliegen!” bejehiwor die ängftliche Stimme. 

Sie jhloß hinter ji, war wie gefangen; auc) hier fehlte die Klinke, ein jchwarzer, von 
taujend Händen polierter Eijenfnopf war alles. Während fie mühjfelig die enggeführten 
Stufen hinanftieg, mit [hwindelnden Schläfen, fiel ihr zu fpät ein, fie hätte fich al® Kremde 
borjtellen müfjen; aber fie lächelte fih Mut. ES war unnüß, wie Fehrbadhd Tante in 
ihren Gedanten lebte, würde fie darnad) nicht fragen. Sie trat in die nächite Bejuchzzelle, 
in melde ber furze Stiegengang von jelbft einmündete. E3 war ein niedriges, flaches Ge- 
mwölbe, durch ein bogenförmiges Gitter in zwei ungleiche Räume geteilt. Auch dag Feniter, 
das nach der Gafje ging, war mit diden Eifenftäben vergittert, überdies nod) das fpärliche Licht 
durch Vorhänge aufgefangen. Zwei Armjtühle aus Holz, uralt, täufchten Betwohnbarfeit vor. 

Sie blieb jtehen, vor Erregung zitternd, bang wie ein unbefonnenes Kind, das unfolgjam 
ji) in Gefahr begeben. Plöglic) acht hallende Glodenjchläge in feltfam gejagtem Rhythmus, 
ein Häffender, eijerner Puls, von dem da3 Gelaf bebte, wovon ihr eigener Körper ohn- 
mädtig mitjhwang. Wie wenn mit einem Hammer an ein riejige Metallbeden gepocht 
würde, um Tote aus ihrem Schlaf zu weden. Dann ward die Türe hinter dem ihmwarzen 
Gitter geöffnet, eine von flatterndem Schleier umhüllte Geftalt Fam mit dem Rüden zuerft, 
wandte fich plöglich ihr zu, füftete fchnell den Kopffchleier, der rafchelnd, nifternd über der 
gefteiften, enganliegenden Leinenhaube jheuerte. Zwei große, blaue Augen leuchteten 
aus einem jaltenlofen Antlit, daS vor der weißen Haube, dem weißen Kollar der Klojter- 
tracht in ein bildhaft-[chmales Oval geflüchtet war. „Gelobt fei Seins Chriftus!” &3 Hang wie '' 
ein heller Hymmus, unfagbar freudig. Sie fchritt dicht an das Gitter heran, legte die beiden ' 
Hände an das eintönig-düftre Geflechte, warf die großen Augen mie Scheinwerfer auf Ma- 
monhas Gejicht. „Eine fremde Dame, welche Überrafchung ! Auch feine ehemalige Schülerin ! 
Vielleicht jhidt jie Gott zu mir? Beftimmt, ganz beftimmt fchidt fie Gott zu mir.” 

Da Mampyndha faffungslos fchwieg, Fehrbad) zu hören bermeinte, den in den Zügen der 
Sprecdhenden fie gejucht, hob fich die Nonne ungemein lebhaft auf die Fußjpigen, wie um ihr ° 
näherzufommen. Dann ftedte jie ihre weißen Finger durch die winzigen Quadrate des 
Gitterd, welche nicht einmal einer fchmalen Hand Durdlaß gewährten. | 

„Beben Sie mir Jhre Hand“ rief fie, fügte, um alle Zweifel rajch zu zerftreuen, „Mater 
Genofeva” ihrer Aufforderung bei. Mit den weißen und Ihmarzen Tüchern fam fie Mamynha 
wie eine Riefenjchtwalbe vor, zwifchen Himmelund Erde pendelnd. „Kommen Sie, liebes Kind * ° 

Nampynda jah nur die leuchtenden, blauen Augen, in welchen eine bejinnungsloje Freude 
auffhwamm, unbewußt, in feinem Einklang mit dem unergiebigen Augenblid; dann fühlte ° 
fie ihre Hand von den warmen Fingern umflammert. Die inger der andern Hand drangen ° 


durch benachbartes Gitterwerf, wie führend, mweiterlodend, bis Mamynha in dem linfen ° 


Armftuhl gebettet jaß und jprach, urplöglich. Wie wenn jie zum erjtenmal redend geworden " 
märe. Gie jei mit Erminia, ihrer Schwefter, an diefem Morgen in der Jaquingaffe gemwefen, ° 
zufällig hätte fie die Mefje gehört, ven wunderbaren Gejang der Nonnen. Und diefer Gejang 


hätte ihr Mut gemacht, hätte wie von jelbft fie hieher geführt. (Schluß folgt). ' 


Ar 


an 


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Die mohlerzählte Anekdote 


| - Die wohlerzählte Anekdote 


ohann Peter Hebel, der dag Schagkäftlein des rheinifchen Hausfreundes und die alemanni- 
hen Gedichte jchrieb, gehört zu den Menjchen, die mehr geworden find, al fie vielleicht 
wollten. Er geftaltete die Anefoote, jenes gepflegte Erbe des ältern Schtwanfez, jener Heinen 
Gejdichte, die im Rahmen von Sakung und Sreiheit, von gepflegter Sprache und feinem 
Humor, lehrhaften Wefen und tragifchem Ernit jich betvegt, wobei Roffierlichkeit mit fnappem 


 Ausdrud und die Anmut des feinen Wortes fich mit Biederfeit und Würde verbindet. Die 


Kultur der Zeit, alles, mas Menjchen, Sdeen und Dinge den Mitlebenden und Miterlebenden 
bebeuteten, jei e8 nun tragifches Gefchehen oder ein gelungener Scherz, lebt in Diefen Gefchich- 
ten auf; da3 Abjonderliche wird erträglich und das Wunderliche und Wunderbare irgendwie 
begreiflich, vielleicht, weil eine exlejene Kultur ung jeltfam gedämpft fcheint, vielleicht auch, 
‚weil fie fich im abfonderlichen Spiegel de3 Hebelfchen Charakter bricht. Korm und Gelin- 
nung, Snhalt und Ausdrud, auch der wohltuende Ausgleich zroischen Phantafie und Verftand 
beitimmen die3 Kleine Kunftiverf. Dazu fommt noch der Reiz der Vergangenheit, ein gemüt- 
licher Nationalismus, viel Güte, viel Menjchlichkeit, viel Verftändnig für alles Einfache und 
Volkhafte. Hebel erzählt nach Art des Volkes: an Stelle der Unterordnung tritt das Neben- 


- einander der Bilder, der |deen und Vergleiche, an Stelle logijcher Sprache die verfnüpfende 


(affoziative) Rede. Das Lieft fich alles ganz einfach), vergnüglich faft, und man verzeiht e3 Hebet 
gern, wenn hie und da foldhe Schlichtheit etivag gewollt erjcheint. Alles in allem genommen 
Iheint jeine Sprache lauter, in jenem bufolifchen Sinne, den nur ein ganz tiefes Weltgefühl 
hervorzubringen vermag. 

Den heutigen Menfchen ift ein Teil der alemannifchen Gedichte das Beifpiel einer wunder- 
lien Anpaffung antiker Form an volfstümliche Gegenftände: Hebel verivandte, bei einigen 
diejer Gedichte, ein herameterähnliches Gebilde, und da zeigt fich, überrafchend und beruhigend 
zugleich, wie der Herameter etivag ganz anderes wird als beabjichtigt: er wird zum Gejpräch, 
zur rhythmijch belebten Zwieiprache, zum Sprechvers reinfter Art; er wird zum Anhalt, fast 


zum lodern Gerüfte der deutjchen Gedanken; er hält etwas zujammen, das vielleicht Gefahr 


liefe, außeinanderzuftürzen. Dazu belebt er die Sprache, fanft zivar, Doch nicht unfräftig; 
man fühlt die jech3 betonten Silben, aber man freut fich mehr der unbetonten, die für den 
Deutichen Die Freiheit bedeuten, und die zuden, de3 Gegenfates wegen, in unferer Sprache 
die betonten Silben erft heben. 

Eine neue Ausgabe der Werke Hebel3 hat Dr. Wilhelm Zentner veranftaltet (bei C. %. 
Müller, Karlzruhe, Preis 16,50 Halbleinen, 25,— Halbleder). Er hat mit aller Sorgfalt die 


‚Gedichte und Anefooten gefammelt und zur Erklärung alles getan, was möglich war. Die Le- 


benöbejchreibung Hebel, die er jchrieb, fällt vor allem in den Ießten Teilen durch Ichlichte 
Sprache und [höne Menfchlichkeit auf. Es ift befonder3 erwähnenswert, daß der dritte Band der 
Ausgabe die biblifchen Erzählungen Hebel3 bringt, die al3 Brofa an fich genommen von hohem 
Reiz find. ym Anhang werden Proben von Predigten und Auffäsen Hebels gegeben, deren 


‚einer, „über Geifter und Gefpenfter” durch merfwürdige Gedanken auffällt. Der Tert wird 


durch Teinerlei Anmerkungen gejtört; alles Erflärungsbedürftige, desgleichen ein Wortverzeich- 
niß, ift in einem Anhang zufammengefaßt. 
. Köln-Marienburg. Albert Klödner. 


Reuerfdeinungen 


3: dem Sturm. Erinnerungen an Erzherzog Thronfolger Franz Ferdinand. Von 


jeinem Privatjefretär BaulNikitich-Boulles, herausgegeben von Karl Toth. Berlin, Verlag 


für Kulturpolitit. Jr mehr als einer Beziehung auffchlußreich. Vor allem fieht man wieder, 


wie verheerend Überlange NRegierungszeiten wirken wie Die des Kaifers Franz Sofeph. ©. 82 















382 Keuerjicheinungen 
N EEE EEE EEE EEE EEE. 





tteht, Anfang Juni 1914 jei einer der bedeutendjten Programmpunfte für die Zufammen- 
funft Wilhelms IL. und des Thronfolgers gewefen, „ob e3 nicht angezeigt wäre, dem jeit 
langem jchwerfranfen Dreibund endgültig den Todesftoß zu verjegen‘. Wichtig ift Die Dar- 
ftellung der Creignifje des Frühlommers 1912 (©. 133Ff.): marnendes Schreiben König 
Carol3 bor dem unmittelbar drohenden erjten Balfanfrieg, Warnung vor Schwächung der 
Zürfei, Notwendigkeit eines Ultimatum3 an die anderen Balfanftaaten, Franz Yofephs 
Anfrage in Berlin, Berliner Optimismus, neue dringendfte Warnung Carols, Berliner 
Euphorie, erjter VBalfankrieg, Erjhütterung der mittelmächte-freumdlichen Regierung Ru- 
mäniens, König Carol erflärt zum Kriege gezwungen zu fein, zweiter Balfanfrieg. Ebenjo 
wichtig ©. 148: Franz Ferdinand und Conrad dv. Högendorf für nachdrücflichiten Schub des 
türfijchen Stolonialbejiges gegen Jtalien, Conrads Sturz. Wichtig die Darftellung der 150000- 
öranfen-Affäre Ejjad Pajchas wegen der Eiferfucht Ofterreich! und Staliens in Albanien. 
Menjchlich verfucht der Berfafjer dem ermordeten Thronfolger gerecht zu werden, ohne jedoch 
im geringiten Iafaienhaft oder ferbil zu werden. Yedenfalls ift daS Buch von Belang, und 
jeine Herausgabe ein Verdienjt (20 ganzfeitige Photographien). 

Auf Die mwiljenihaftliche Bedeutung der Veröffentlichung „Milet: Ergebnifje der Ausgra- 
bungen und Unterfuchungen feit dem Jahre 1899", Herausgegeben von Geheimrat Theodor 
Wiegand, dem Direktor an den ftaatlichen Mufeen zu Berlin, wurde in Heft des Sahrgangs 
hingemwiejen. Nunmehr ift dem von Profeffor Hubert Knadfuß bearbeiteten Südmarkt 
ein weiterer Band gefolgt, von Arnim von Gerkan, der die Kalabaktepe, den Uthenetempel und 
Umgebung behandelt (56 Abb. im Text, 6 Beilagen und 29 Tafeln. Verlag Shoe & Parrhy- 
fius in Berlin). Eine Befprechung der wifjenfchaftlichen Ergebniffe diejer Ausgrabungen liegt 
außerhalb de3 Rahmens unferer eitjchrift. Was hingegen fehr zu betonen ilt, wurde neulich 
bereit3 ausgejprochen: während nämlich ausländische archäologische Forihungen vielfach mit 
einem Speftafel publiziert werden, der an die Gepflogenheiten von Provinzjahrmärkten in 
Sübitalien erinnert (3.8. der Tutenchamen-Rummel), ift e8 deutjche Art, das Ergebnis 
jahrelanger Forfhung ohne Auffehen vorzulegen. Wir verdanken dem Verlage Schoeb und 
Parrhyfius eine Anzahl wertvoller Einzeldarftellungen aus der antiken Kunftgejchichte, 
wie die Bände über die Akropolis und die griechiichen Bronzen. Auch, dieje3 monumentale 
Werk über Milet ift gediegen ausgeftattet. 

A3 Nachtrag zu unferem Hefte „Die deutiche Zugendbewegung“ jeien zwei Erjcheinungen 
verzeichnet. Hana Hehyd verfucht in dem Roman „Die Halbgöttin und die Andere” (Leipzig, 
Staadmann, geh. 5, Leinen 7M.) die Bewegung Fünftlerifch zu bewältigen. Nachdem die 
Jugendbemwegung offenbar eine jo fomplizierte Sache ift, daß die an ihr aftiv Beteiligten 
jelbft fich über fie alles andere al3 einig find, kann ein Vüchtbeteiligter über da3 Thema über- 
haupt nichts jagen und muß fich auf die Feftftellung befchränfen, daß da8 Buch Heyds friich 
und anregend gejchrieben ift, daß die Geftalten gejehen find, daß es ganz beitiumt ein be- 
merfenswertes Dokument der Zeit ift und der Probleme, die die Jugend bewegen. Vielleicht 
it Yugend,bewegung“ überhaupt zum mindeften ebenjogut pafjiv aufzufaffen wie aktiv. 
„ebenfalls erfährt man aus dem Buch über diefe Bewegung mehr als aus den längjten Artikeln 
über fie. Die andere Erjcheinung ift Rudolf ©. Bindings „Deutiche Jugend vor den Toten 
des Striege3" (bei Karl Rauch in Defjau hervorragend jchön gedruct erjchienen): eine Er- 
innerung an die Einweihung de3 Langemard-Dentmalg auf dem Heidelftein in der Rhön 
(im nörblichiten Zipfel von Bayern, nahe der hejjen-nafjauijchen Grenze, weitlich von Fla- 
dungen), in edler gehaltener Sprache, wirdig, phrajenlos, ein Dußend Seiten nur, aber fo 
gewichtig wie manches Buch, auf den Iehten 4 Seiten eine pojitive Verkündung von einer 
Joealität, bei der Stellen aus des Perikles Leichentede bei Thufydides anflingen. | 

Rojenheim. SsojefHofmiller. 
07 SRedaktioneikabgaschionsen nen ToLpatı 10207, 


Verantwortlicher Herausgeber: I.V. Dr. Arthur Hübscher in München. — Druck- und Buchbinderarbeiten: 
R. Oldenbourg, München. — Papier: Bohnenberger & Cie., Niefern bei Pforzheim. 











Fremdes Blut für Frankreich 


Von Oberst Ludwig von Oertzen in Berlin 





I: Deutschland bringt man dem Wesen der Fremdenlegion wenig Verständnis 
entgegen. Wir können uns schwer denken, daß man zu diesen aus Ausländern ge- 
'worbenen Truppenteilen Vertrauen haben kann. In Deutschland befanden sich zwar 
‚unter den Söldnern des Absolutismus auch Ausländer, aber doch nicht überwiegend. 
Und die damals zeitgemäßen Mittel, unter diesem hemmungslosen Volk Mannes- 
zucht zu halten, können in Deutschland seit langem nicht mehr angewandt werden. 
‚Die Franzosen stehen anders zu diesen Dingen. Sie haben fast zu jeder Zeit Aus- 
länder in ihren Diensten gehabt. 

' Im früheren Mittelalter finden wir besonders Schotten und Iren; dann stellte 
‚Italien Condottieri-Mannschaften; dann folgten deutsche und schweizerische 
Landsknechte. Als Karl V. den deutschen Landsknechten bei Strafe verbot, in fran- 
zösische Dienste zu treten, erließ Franz I. folgendes bezeichnende Rundschreiben 
an die deutschen Fürsten: ‚Das so edle und blühende Frankreich, mit Euch Fürsten 
‚Deutschlands durch eine Art von Brüderlichkeit eng verbunden, erblickt Ihr jetzt 
angegriffen und abgesperrt von den heftigsten Feinden. Um so großer Wut zu 
‚widerstehen, haben wir in unserem Lande kein Fußvolk, weil unsere Vorfahren 
‚unsere Bauern mehr an den Ackerbau als an den Krieg gewöhnten. Deshalb bedürfen 
'wir der Fremden, wie wir immer ihrer bedurften, wenn uns ein großer Krieg heim- 
suchte.‘ Frankreich beanspruchte damals ebenso das Recht, Deutsche seine Schlachten 
‚schlagen zu lassen, wie heute auf Grund des Vertrages von Versailles. 

' Ludwig XV. hatte neben 138000 Franzosen 45000 Ausländer unter seinen Fahnen. 
1752 zählte das französische Heer 82 französische und 12 deutsche, 10 schwei- 
'zerische, 2 italienische, 1 irisches Infanterie-Regiment und 56 französische Kavallerie- 
‚Regimenter neben 3 deutschen, I irischen, 3 ungarischen. 

' Die französische Revolution schaffte für kurze Zeit die ausländischen Söldner ab, 
Be schon in demselben Jahre rief die Nationalversammlung die Soldaten ihrer 
‚Gegner zum Eintritt in ihre Regimenter auf, versprach ihnen dafür die dreifarbige 
‚Kokarde und eine lebenslängliche Pension. 

| Napoleon verstärkte seine Heere durch Massen ausländischer Truppen, In der 
‚großen Armee, die er nach Rußland führte, waren die Garde und das I. bis IV. Korps 
eat französische; aber auch in ihnen standen neben 156 Bataillonen 88 Ba- 
‚taillone Ausländer. Die anderen Korps, V. bis XIl., stellten die Hilfsvölker. 


| 


‚Ceit 1831 besteht die Fremdenlegion. Diese Truppe hat sich in Frankreich in 
| dem nationalsten aller Jahrhunderte gehalten. Die Franzosen fanden nichts dabei 
‚und haben mit diesem Hinwegsehen über die Grundsätze des Nationalismus gute 
Geschäfte gemacht. Die Franzosen verstehen die ausländischen, fremdsprachigen 
Soldaten, die sie in ihre Regimenter stecken, an sich zu fesseln und sie dahin zu 
| bringen, daß sie für den Sold ihr Leben hingeben. Wenn sie das nicht könnten, 
| würden sie nicht mit solcher Zähigkeit an dieser Organisation festhalten, die in 
Europa einzigartig ist. Wie würde die F.L.') die öffentliche Meinung der 
‚ganzen Welt aufregen, wenn es nicht die Franzosen wären, die sich 
ihrer bedienen! 

| Frankreich hat die Regimenter der F.L. immer dort verwendet, wo ernste und 
verlustreiche Kämpfe erwartet wurden und wo schwere Arbeit zu leisten war. 
\Die Fremden-Regimenter haben fast nie versagt. Algier, Syrien, Indochina, Mada- 
|gaskar und Marokko sind mit ihnen erobert und unterworfen worden. Sie kämpften 
in Spanien, in der Krim, wo sie sich besonders beim Sturm auf den Malakoff aus- 





1) Künftighin in diesem Hefte als Abkürzung für Fremdenlegion gebraucht. 


| 





) 














384 Diefranzösische Fremdenlegion 
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zeichneten; in Italien und Mexiko, wo die Fremden-Regimenter die Hauptlast des 
Kampfes trugen; die Erinnerung lebt heute noch in der Legion. Der Gedenktag von 
Camerone wird jährlich, auch bei den kleinsten Posten der Legion, gefeiert. 1870/71 
stritten die Fremden-Regimenter gegen Deutschland in den Loire-Kämpfen und 
an der Lisaine und waren an dem Niederwerfen der Commune beteiligt. Im Großen 
Kriege ist eine geschlossene Einheit (Bataillon oder Regiment) an der französisch- 
deutschen Front verwendet worden. Die Deutschen waren vorher aus diesem 
Truppenteil entfernt. Die F.L, hat aber während des Krieges den Franzosen die 
militärische Arbeit in Nordafrika geleistet und ihnen gestattet, die französischen 
Truppen von dort auf den westlichen Kriegsschauplatz zu ziehen. 

Überall hat sich die F.L. bewährt. Aus dem Munde eines ihrer Führer stammt 
das Wort: „Noch niemals hatte ich die Ehre, bewunderungswürdigere Soldaten zu 
befehligen. Man kann alles von ihnen verlangen.“ 

Die Leistungen, die die F.L, aufzuweisen hat, auch jetzt kürzlich wieder in den 
Kämpfen gegen die Rifkabylen, lassen sich mit den Mitteln einer harten Mannes- 
zucht allein nicht aus der Truppe herausholen, Die französische Führung muß 
verstehen, einen starken Korpsgeist in dieser buntzusammengewürfelten Schar 
großzuziehen. Im Großen Kriege sollen Angehörige von 51 Nationen für Frank- 
reich in ihr geblutet haben. Jedenfalls sind die Truppenteile der F.L, militärisch 
als sehr gut zu beurteilen; ihre Verwendungsfähigkeit ist unbeschränkt. Sie nehmen 
dem französischen Volke einen großen Teil der regelmäßigen Blutopfer ab, die die 
französische Politik zur Erreichung ihrer Ziele verlangt. Uns dünkt, nicht nur die 
Franzosen sollte man tadeln, daß sie Ausländer als Fremdenlegionäre für sich 
sterben lassen, sondern auch die Regierungen der Länder, aus denen die Opfer 
für Frankreich stammen, daß sie nicht Mittel finden, diesem Mißbrauch der Volks- 
kraft für die Ziele eines fremden Staates Einhalt zu gebieten. | 


Die Fremdenlegion in der franz. Kolonialpolitik 


Von Rittmeister a. D. Wilhelmvon Trotha in Halensee 


M:; der französischen F.L., ihrem Entstehen, ihrer Geschichte und ihrer Ver- | 
wendung ist die Geschichte Frankreichs seit 1831 auf das engste verknüpft. | 
In der Zeit nach dem Weltkriege, kann man sagen, steht und fällt Frankreichs‘! 
Geschick mit der Legion, die heute nicht mehr nur eine Schutztruppe in der Haupt- ) 
sache für das nordafrikanische Kolonialreich Frankreichs ist, sondern schlechthin! 
die Schutztruppe, unter deren Sicherheit Frankreich seine militärischen Aushebungen 
zugunsten der Verstärkung seiner Armee durchführt, die für Frankreich kämpfen und 
sich aufreiben lassen muß, um schließlich noch neben den kriegerischen Leistungen || 
das Land kolonialwirtschaftlich zu bearbeiten und zu erschließen. Die nach Süden, 
in die Wüste hineingetragene Kultur in Tunis und Algier — in geringem Umfange 
wohl auch schon in Französisch Marokko — ist in erster, fast einziger Linie das 
Werk der F.L., im besonderen das der Strafbataillone und Kompanien. Frankreich 
hat der Legion den großspurigen Namen ‚Corps d’elite“ gegeben. „Korps des 
Todes‘ wäre die richtigere Bezeichnung. 

Unzertrennlich von der Legion sind alle Kolonialkämpfe der Franzosen, und 
die Geschichte der F.L. schreiben, heißt die Kette von Aufständen fast des letzten 
Jahrhunderts in Algier, Tunis, Marokko sowie der Eroberungen von Madagaskar, 
Dahome und Hinterindien schildern, denn größere Erfolge waren den Franzosen meist 
erst dann beschieden, wenn sie in ihrer Rücksichtslosigkeit ‚das Blut der fremden 


ner Festansprache am 


Männer“ verspritzten, von denen Oberst Bouquereau in sei 
Geburtstage des Bei von Tunis im Jahre 1913 sagte: 

„Zu allen Zeiten waren die Le 
taten sie es mit Freuden. Dar 


gionäre bereit, Blut zu opfern für Frankreichs Ruhm; immer 
um hört mich, ihr Mütter Frankreichs! Wenn einer dieser 











Wilhelm von Trotha: Die Fremdenlegion in der franz. Kolonialpolitik 385 





fremden Männer verblutet, so spart er das Leben eines euerer Kinder. Weiht unseren namen- 
losen Helden Tränen der Erinnerung, denn ihr Mut erhält Glück und Freude in französischen 
‚Familien.‘ 

Die Psychologie der Franzosen stellt sich den fremden Söldnern gegenüber ganz 
‚anders ein als die unsere. Einmal sieht jeder Franzose seit Jahrhunderten in sich eine 
Art „kleinen Herrn der Welt“, der sich alles erlauben darf, namentlich, wenn er 
Soldat ist. — Frankreich huldigt heute, ja heute noch viel mehr als zu den 
‚Zeiten der drei Ludwige, des XIIl., XIV., XV., der für jeden Franzosen feststehenden 
These: „Der französische Soldat ist der Soldat Gottes“) — und ganz besonders 


den Fremden gegenüber, die er als Söldner bezahlt, und die auch jeder Franzose als 
Abschaum der Welt ansieht. 


D: Gründung der F.L. fällt in die Zeit der letzten Kämpfe der Franzosen um 
die Eroberung Algiers im Jahre 1830. Algier und bestimmte Plätze von Tunis 
waren im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Mittelpunkte, von denen aus die 
Schiffahrt im Mittelmeer und im Atlantischen Ozean an der nordafrikanischen 
Küste durch Seeräuber auf das schwerste geschädigt wurde. Dieser Urgrund führte 
zu den schnell aufeinander folgenden Zwistigkeiten, die 1827 den Kampf der Fran- 
zosen gegen Dei Hussein hervorriefen. Da die militärischen Unternehmungen der 
Franzosen bis 1830 keine durchschlagenden Erfolge erzielten, wurde in diesem Jahre 
eine für damalige Zeiten ungemein starke Expedition zur endgültigen Eroberung 
Algiers ausgerüstet, die im Mai 1830 in Algier landete und der 1831 die nach der 
Julirevolution gebildete F.L. angegliedert wurde, 

Fremde an der Revolution beteiligt gewesene Elemente, verzweifelte Lumpen 
und desertierte Soldaten, denen Straffreiheit für ihre Vergehen zugesichert wurde, 
falls sie drei oder fünf Jahre Dienst in der Fremdenlegion nähmen, wurden in der 
zweiten Hälfte des Jahres 1830 von dem Abenteurer Baron de Boegard zu einer 
Söldnertruppe angeworben. In einer Stärke von 1600 Mann schiffte die Regierung 
des Bürgerkönigs Louis Philippe dieseLegion 1831 nach Algier zum Kampfe gegen die 
Araber-, Berber- und Beduinenstämme des Landes ein. Damit begann das Werk 
blutiger Arbeit in jenen heißen Ländern, das wohl nie ein vollkommenes Ende 
finden wird. Die Geschichte der F.L., soweit sie politisch bewertet werden muß, 
ist eine Kette von Kämpfen gegen die Freiheit der nordafrikanischen Stämme, 
die also im Legionär ihren Todfeind sehen. Der Kampf ist daher aufgebaut auf dem 
uralten Gesetz der Wüste: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut“. 

Der fast hundertjährige Weg der Legion ist eine lange und breite Blutspur in Nord- 
afrika, Madagaskar, Dahome und Hinterindien-Tonkin — eine Blutspur, die frei- 
lich ebenso spurlos vom heißen Sande der Wüste oder den Urwäldern und Dschungeln 
aufgesogen ist, wie der einzelne Legionär gleich einem Windhauch als Mensch und 
Soldat verschwindet. Den Haß der Eingeborenen kennt Frankreich genau. Es 
hat darauf seine noch heute in Tunis, Algier und Marokko geltende Sicherheits- 
politik den Eingeborenen, wie der Legion gegenüber errichtet und auch bisher mit 
Erfolg durchgeführt. Die Eingeborenen werden gegen die Legion und die Legion 
gegen die Eingeborenen ausgespielt. Daß diese Taktik Bestand haben kann, wird 
‚allgemein bezweifelt. 
= Im Jahre 1832 sehen wir die Legion an den Kämpfen gegen die Araber und an 
der fast völligen Niedermetzelung des Stammes der EI-Uffia teilnehmen. Dieses 
Vergehen legte den Grund zur Blutrache. Inzwischen war die Legion durch Neuanwer- 
bungen auf 4000 Mann erhöht. und die Truppe in 4 Bataillone eingeteilt worden. 
Schon im folgenden Jahre wurde das eine dieser Bataillone durch Araber über- 
fallen und fast bis auf den letzten Mann niedergemacht. An allen sich nun 
besonders um die Provinz Constantine entwickelnden Kämpfen war die Legion mit 
schweren Verlusten beteiligt. Sie wurde mit dem Anwachsen ihrer Aufgaben mehr 





1) Vgl. den Aufsatz von Franz Buhl, Französische Revanchepolitik, im Januarheft 1917 
der S.M. ‚Äußere Politik“, 

















386 Die französische Fremdenlegion 





und mehr verstärkt. In die großen Kämpfe bei Makta am 28. Juni 1835 trat sie mit 
6 Bataillonen in einer Gesamtstärke von 5600 Mann ein, erlitt aber so schwere Ver- 
luste, daß sie für afrikanische Kämpfe nicht mehr in Betracht kam. So wurde 
sie nach erneuter Auffüllung im Jahre 1835 für 500000 Francs an Spanien zum 
Kampfe gegen die Karlisten verkauft. Der Legionär war damit ein internationales 
Handelsobjekt geworden. Auch in diesen Kämpfen schrumpfte die F.L. infolge 
des aufreibenden Kleinkrieges und durch völlig unzureichende Verpflegung, trotz 
ihrer militärischen Erfolge, so stark zusammen, daß schließlich im Jahre 1837 von 
7000 gelandeten Legionären noch 400 am Leben waren. 


m gleichen Jahre wurde aber in Frankreich für die Kolonialkämpfe in Algier 
Pa: neue F.L., 2 Regimenter stark, errichtet, die sofort wieder nach Algier 
gebracht wurde und im Oktober an dem Sturm auf Constantine rühmlichsten Anteil 
nahm. Mit der Einnahme der Hauptstadt war die ganze gleichnamige Provinz 
in die Hände der Franzosen gefallen und Aufgabe der Legion war es nun, das eroberte 
Land zu halten und Pionierdienste zur Erschließung des Landes zu leisten. 

Die Legion war damals in 2 Regimenter mit 6 Bataillonen formiert, von denen 
das 1,, 2., 3., 6. Bataillon nur aus Deutschen und einigen Schweizern bestand. 
Demnach machte das deutsche Element schon damals 66 vH aller Legionäre aus. 

Zur Vervollständigung des Bildes sei noch angeführt, daß die Franzosen nach 
der Eroberung Algiers 1831 sofort begonnen hatten, aus Eingeborenen neue Regi- 
menter zu bilden, die die Namen Turko- und Zuaven-Regimenter führten und 
als Vorläufer der heutigen afrikanischen Tirailleur-Regimenter der französischen 
farbigen Armee anzusprechen sind. 


Die nach 1835 neuformierte Legion kämpfte tapfer weiter und nahm rühmlichen 
Anteil an den aufreibenden Einzelkämpfen gegen den arabischen Nationalhelden 
Algiers, Abd el Kader, dessen Truppen erst 1840 bei Miliana durch die F.L. ent- 
scheidend geschlagen werden konnten, womit in diesem Teil Algiers Ruhe ge- 
schafft wurde, nachdem auch Abd el Kader hatte landesflüchtig werden müssen. In 
immerwährenden Kämpfen stand die F.L. trotzdem gegen die nie zur Ruhe kommen- 
den Eingeborenenstämme und so mußte sie infolge der fortlaufenden hohen Verluste, 
die nicht durch Neuanwerbungen gedeckt werden konnten, 1849 in ein Regiment 
zurückformiert werden; sie trug in dieser Zeit die Bezeichnung: „Fremdenregiment“. 


Nach der Thronbesteigung Napoleons III. wurde wieder ein zweites Regiment 
aufgestellt, so daß die Legion im Jahre 1854 wieder in den Krimfeldzug entsandt 
werden konnte. Sie nahm an den schweren Kämpfen rühmlichsten Anteil und wurde 
nach beendeter Kampftätigkeit in der Krim 1857 dem in Großkabylien in Nord- 
afrika kommandierenden Marschall Bugeaud zugeteilt. Sie half an ihrem Teile 
mit, dieses Land endgültig unter das Szepter Frankreichs zu zwingen. Dieser 
ganze Eroberungskrieg hatte 1841 begonnen und sich über 16 Jahre hingezogen. 
Teilaufstände waren aber auch in späteren Zeiten dauernd zu verzeichnen und auch 
heute ist das Land nach Süden nur insoweit einigermaßen ruhig, als Legionsexpe- 
ditionen in die Wüste vordringen können. 


Der Löwenanteil an der Erschließung des Landes fällt der Fremdenlegion zu. Die 
eigentlichen Kulturträger in Algier waren die Legionäre; fast alle befahrbaren, 
festeren Straßen, Brunnen, Wassergräben, Festungen, Forts, Blockhäuser, Kasernen, 
Länderrodungen, Anpflanzungen, Plätze, Eisenbahnen sind von Legionären angelegt. 


General Mercier, ein alter Legionsoffizier, sagte einmal in bezug auf die nicht- |} 
militärische Arbeitsleistung der Legion: | 


„Die Fremdenlegion ist eine sonderbare Truppe, bei ihr gibt es keine Hindernisse. Verlange '} 
ich den Bau einer Eisenbahnlinie, so wird sie gebaut, Ingenieure, Techniker und Architekten, 
die mit derartigen Dingen vertraut sind, treten als gewöhnliche Soldaten hervor und die 
Arbeit wird gemacht. Ist es nötig, eine Amputation vorzunehmen, und ist kein Militär- 
arzt zu haben, so tritt ein Arzt aus den Reihen der gewöhnlichen Legionäre hervor und ver- 
richtet die Arbeit. Mit der Legion kann man eben alles machen!‘ 







































| Wilhelm von Trotha: Die Fremdenlegion in der franz. Kolonialpolitik 387 
N EEE EEE EEE EEE EEE NEE EEE EEE EEE TEE EEE EEE ETTCLTENETTETEN LTE NLEIEEEN EINEN BRETT CHEN DEE ET NEED ENTE TTTENEE TEEN 





' Kaum aus den Kabylenkämpfen zurückgekehrt, wurde die Legion 1859 der in 
‚Italien kämpfenden Armee Mac Mahons, der übrigens auch ein alter Legionsoffizier 
‘war, zugeteilt und hat bei Magenta und bei Solferino ruhmreich mitgekämpft. 
Im Jahre 1862 ist das 2. Regiment wieder aufgelöst worden. Es ist anzunehmen, 
daß bei den verschiedenen Reduzierungen der Legion die Geldfrage und die geringe 
Zahl der Angeworbenen eine gewisse Rolle gespielt haben, denn schon sehr bald wird 
immer wieder das 2. Regiment neu errichtet. Möglich ist, was in früherer Zeit von 
ehemaligen Legionären berichtet wurde, daß ein ausgesprochenes Werbesystem 
damals noch nicht vorhanden war. Dieses wäre also eine Erscheinung der neueren und 
besonders der Nachkriegszeit, die für den heutigen kulturellen Tiefstand Frank- 
reichs bezeichnend ist. In früheren Zeiten hat allem Anscheine nach die Zahl der von 
selbst der F.L. zuströmenden Abenteurer genügt. 

Ob aus Menschlichkeitsgründen oder aus Mangel an Zulauf läßt sich nur schwer 
feststellen, jedenfalls löste Napoleon III. die Legion 1862 auf. Den Hauptdienst in 
Algier taten an ihrer Stelle die 1831 formierten Turko- und Zuaven-Regimenter. Die 
Turko-Regimenter waren aus den Eingeborenentruppen der früheren Kabylenfürsten 
gebildet worden, die als angeworbene Söldnertruppen ihren Dienst bei ihren heimat- 
lichen Fürsten wohl taten, als französische Truppen aber deshalb dauernd keine 
Verwendung finden konnten, weil sie in Massen desertierten; 1838 mußte diese 
‚Eingeborenentruppe aufgelöst werden. Der Rest von 2 Kompanien wurde in die 
gleichzeitig mit den Turkoregimentern gebildeten Zuavenregimenter, in denen 
Franzosen dienten, verteilt. 


M:: und mehr hatte sich im Laufe der Jahre eine Verwendung der Legion bei 
überseeischen Expeditionen herausgebildet. So befahl Napoleon III. 1863 
eine Neuaufstellung der F.L. Er entsandte ein Bataillon mit den anderen Truppen 
nach Mexiko, während die größeren Teile der Legion wieder nach Algier, und zwar 
‚auf die südlichsten Posten kamen. .Von den 800 nach Mexiko abtransportierten 
‚Legionären sollen nur wenige Mann Europa wiedergesehen haben. 


Das Standquartier der F.L. war von nun an Sidi-bel-Abbes, ihr Kampfgebiet 
lag, soweit Nordafrika in Frage kam, in den beiden Provinzen Oran und Constantine. 
‚Die frei im Lande lebenden Araber, besonders die Kabylen und Beduinen, zu denen 
sich Räuberbanden gesellten, wehrten sich dauernd gegen die französische Herr- 
'schaft, so daß sich die F.L. in einem fortwährenden Kampfe mit diesen Teilen der 
'Eingeborenenbevölkerung befand. Der Hauptgrund zu den neuen Unruhen war 
in der Bestrafung eines der Araberhäuptlinge der Ulad Sidi im südlichen 'Oran zu 
suchen. Diese Kämpfe währten bis zum Jahre 1867. Mit Ausnahme von kleineren 
Unternehmungen hatte die F.L. in dieser Zeit Kampfruhe und wurde nun zu ange- 
'strengtestem Arbeitsdienst herangezogen. 

Der militärische Oberbefehlshaber mit fast unumschränkter Gewalt in Algier 
war zu dieser Zeit seit dem Jahre 1864 Marschall Mac Mahon, dem auch die Legion 
unterstellt war. Sie hatte bis 1870/71 wiederholt Expeditionen in die noch nicht 
zur Ruhe gekommenen Provinzen Oran und Constantine durchzuführen. Jeder 
neue Posten, der in die Wüste vorgeschoben wurde, mußte von den Legionären 
erobert, erbaut und vollkommen eingerichtet werden. 


In dieser Zeit schwankte. die Stärke der Legion zwischen einem und zwei Regi- 
mentern. Bei Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 verblieb die zu der 
Zeit gerade wieder einmal zwei Regimenter starke Legion zunächst in Algier. Erst 
nach dem Zusammenbruch des zweiten französischen Kaiserreiches 1870 und der 
Aufstellung der. durch Gambetta geschaffenen Volksheere wurde ein Regiment der 
'F.L., aus dem alle Deutschen entfernt worden waren, der Armee an der Loire 
‚eingegliedert und kämpfte bei Orleans gegen die deutschen Armeen. Das ist das ein- 
ziee Mal vor dem Weltkriege, daß Legionssoldaten gegen deutsche Truppen im Felde 
gestanden haben. 1872 wurde wieder einmal das eine Regiment aufgelöst, erstand 
aber schon 1874 wieder unter dem Namen ‚‚Legion &Etrangere““. 














388 Diefranzösische Fremdenlegion 








nfang der 80er Jahre begann Frankreich, nachdem es sich von den Schlägen 
Seat 1870/71 dank der Gutmütigkeit der Sieger und besonders der ausgesprochen 
friedlichen Politik Bismarcks erholt hatte, seine Kolonialpolitik auf eine breite 
Grundlage zu stellen, und zwar mit der Eroberung von Madagaskar und Tongking 
und der Erweiterung seines hinterindischen Kolonialbesitzes. 


Durch die ewigen Grenzkämpfe und Überfälle durch chinesische Seeräuber sah 
sich Frankreich 1885 zu einer starken Expedition unter der Führung des Generals 
de Negrier gezwungen. Diesem Expeditionskorps wurde auch ein Regiment der 
Fremdenlegion zugeteilt, das nunmehr als Truppe dauernd mit einem Bataillon in 
Tongking stationiert wurde. Bei dieser Expedition sind die klassischen Worte N&griers 
gelegentlich einer Ansprache an die Legionäre gefallen, die den ganzen Zynismus 
und zugleich auch die ganze Verachtung der Vollblutfranzosen gegenüber den Legio- 
nären zeigen, und die sich jeder Deutsche merken sollte: „Legionäre, ihr seid 
Soldaten, um zu sterben, und ich sende euch dahin, wo man stirbt!“ 
In dem Zeichen kämpften und starben die Legionäre immer für Frankreich. Nicht 
die feindlichen Waffen allein, sondern das furchtbare Fieberklima und die Gefahren 
der Dschungeln rafften mehr als 80 vH aller Legionäre dahin. 


Gelegentlich der Beisetzung eines Legionärs in Tonkin hielt der Hauptmann 
einer Kompanie folgende Ansprache: 

„Adieu, Legionär, auf Wiedersehen! Seht, Legionäre, hier liegt ein braver, tapferer Soldat, 
der in Tonkin für Frankreichs Ehre gekämpft, sich durch seine Tapferkeit besonders ausge- 
zeichnet hat und sich die ‚Gallons de soldat de la premiere classe aux feux‘ verdiente. Diese 
Ehre sowie die letzte Ehre, die ihm Frankreich erweist, seine Überreste umflort mit der Trikolore 
Frankreichs zu bestatten, nachdem er für die glorreiche Nation gestorben, ist ehrenvoller, 
als irgendwo in einer Ecke der Welt vaterlandslos zu sterben.“ 

Diese Rede hielt der Hauptmann der 21. Kompanie einem gefallenen deutschen 
Legionär! Im übrigen ist eine solche Beerdigung eine große Ausnahme, denn der 
größte Teil der Legionäre wird überhaupt nicht begraben, sondern von den Aas- 
geiern, Schakalen und Hyänen gefressen, wo sie auf dem Marsche liegen geblieben 
oder im Gefecht gefallen sind, nachdem ihnen, wenn möglich, Waffen und Munition 
abgenommen worden sind. 


In gleicher Weise wie in Tonkin nahm auch ein Teil der Legion an den 1883 
beginnenden Kämpfen auf Madagaskar teil. Auch hier raffte das Klima den 
größten Teil der Mannschaften hinweg. Dieser Eroberungskampf endigte erst | 
1896. Während Tonkin und Nordafrika dauernd Legionsbesatzungen haben, 
ist auf Madagaskar zurzeit kein Teil der Legion stationiert. 


Von 1882 bis zum Ausbruch des Weltkrieges war die Legion in zwei Regimenter 
zu 6 Bataillonen zu 4 Kompanien mit je einer Depotkompanie je Regiment for- 
miert und schwankte in der Gesamtstärke zwischen 8000 bis 13000 Mann. Ein Re- 
giment istim Verein mit Kolonialtruppen auch im Weltkriege in Frankreich verwendet 
worden. Die deutschen Legionäre wurden wie 1871 sofort bei Kriegsausbruch in die 
südlichsten Saharastationen verschickt, wo sie im dauernden Kampfe mit aufstän- 
digen Araber-, Beduinen- und Kabylenstämmen lagen. 


Se Beendigung des Weltkrieges begann Frankreich sofort in großzügiger Weise 
die Fremdenlegion auszubauen. Den Grund hierfür sehen wir in der ungeheuren 
Verstärkung seiner farbigen Armee; denn der Legionär ist auch heute noch der Poli- 
zeisoldat der französischen Kolonien zur Sicherung der Aushebung der farbigen Sol- 
daten und zur Niederhaltung unruhiger Eingeborenenstämme. 


Deshalb wurde durch Ministerialbeschluß festgelegt, daß die F.L, mit dem 
Jahre 1921 auf 4 Regimenter Infanterie, 1 Regiment Kavallerie, 1 Regiment Artillerie 
und I Bataillon Pioniere mit einer Gesamtstärke von 25000 Mann gebracht werden 
sollte. Noch im gleichen Jahre setzte ein Ministerialbeschluß dann für das Jahr 
1923 eine nochmalige Verdoppelung der F.L. fest, so daß sie von da an 50000 Mann 

















Wilhelm von Trotha: Die Fremdenlegion in der franz. Kolonialpolitik 389 
stark sein sollte. In den offiziellen Etatsstärken der französischen Friedensarmee 
sind diese letzten Zahlen insofern nicht zu finden, als die Durchführung der 
"Verdoppelung der Regimenterzahlen nicht angegeben ist. Ebenso scheint 


das etatsmäßig vorgesehene Artillerie-Regiment nur auf dem Papier vorhanden 
zu Sein. Es ist bis heute nirgends in Erscheinung getreten. 


Die Höchststärke von 50000 Mann ist trotz angestrengtester Werbetätig- 
keit nach übereinstimmenden Aussagen heimgekehrter deutscher Legionäre 
nie erreicht worden. Man nimmt an, daß die F.L. im Höchstfall etwas über 
30000 Mann erreicht hat. 


Der jetzt zur Beratung stehende Entwurf des Ausbaues der „nationalen Verteidi- 
gung in Frankreich‘, der die Heranziehung aller Franzosen, Männer und Frauen, 
verlangt, sieht vor, daß in der Heereszusammensetzung allmählich ein Stand von 
5:6 weißer zu farbiger französischer Soldaten erreicht werden soll, d. h. daß die far- 
bige Armee später stärker sein soll als die weiße! Die farbige Armee hat zurzeit eine 
Stärke von 240000 Mann. Von diesen gehen allein rd. 30000 europäische weiße Vor- 
gesetzte und 60000 in Frankreich stehende farbige Soldaten ab, so daß für 
die Kolonialbesatzung nur noch 150000 Mann aktive farbige Soldaten übrig 
bleiben, demnach also auf drei farbige Soldaten ein weißer Legionär kommt. 
Die eingeborene Truppe soll ja auch nicht durch die Legion im Zaume gehalten 
werden, sondern die unruhigen und meuternden Farbigenstämme in den unzugäng- 
lichen Teilen des Landes. 


D; Verwendung der F.L. gegen die Eingeborenen ist taktisch sehr geschickt, denn 
der aufsässige Araber weiß ganz genau, daß in der F.L. die Fremden, besonders die 
Deutschen, und so gut wie keine Franzosen stehen. So setzt gerade hier ein politisches 
Moment ein, das dazu angetan ist, uns Deutsche als Nation auch den Arabern, 
Beduinen und Kabylen gegenüber in ein falsches Licht zu setzen. 


Von dieser Seite betrachtet, ist die Legion mit ihren vielen Deutschen eine große 
politische Gefahr, die leider dadurch äußerlich einen rechtlichen Anstrich für die 
Franzosen erhält, daß in Teil V, A I, Kapitel 3, Artikel 179, des Versailler Vertrages 
die Anwerbung von Deutschen vorgesehen ist: 


Deutschland verpflichtet sich, vom Inkrafttreten dieses Vertrages an keine Militär-, 
Marine- oder Luftschiffahrtsmission in fremden Ländern zu beglaubigen oder dorthin zu senden, 
noch irgendeiner solchen Mission das Verlassen ihres Gebietes zu erlauben. :Es verpflichtet sich 
ferner, geeignete Maßnahmen zu treffen, um deutsche Reichsangehörige zu hindern, deutsches 
Gebiet zu verlassen, um in die Armee, Marine oder die Luftstreitkräfte irgendeiner fremden 
Macht einzutreten oder denselben angegliedert zu werden, um bei der Ausbildung zu helfen 
oder Unterricht im Heer-, Marine- oder Luftfahrwesen zu erteilen. 

Die alliierten und assoziierten Mächte kommen überein, für ihr Teil vom Inkrafttreten dieses 
Vertrages an in ihre Armeen, Marinen oder Luftstreitkräfte deutsche Reichsangehörige zur 
Beihilfe in der militärischen Ausbildung nicht aufzunehmen oder sie ihnen anzugliedern oder 
iberhaupt keinen deutschen Reichsangehörigen als Lehrer im Militär-, Marine- oder Luftfahr- 
wesen anzustellen. 

Diese Bestimmung berührt jedoch nicht das Recht Frankreichs, gemäß den französischen 
Militärgesetzen und Verordnungen Rekruten für die Fremdenlegion anzuwerben. 

Ehe sich Deutschland nicht von dieser Bestimmung, der leider eine deutsche 
Nachkriegsregierung und ein deutscher Reichstag in seiner Mehrheit durch Annahme 
les Versailler Vertrages zugestimmt hat, aufgehoben ist, wird es schwer sein, dieses 


Jolitische Moment gegen uns aus der Welt zu schaffen. 


eute zählt die F.L. 6 Infanterie-Fremdenregimenter, 1 Fremdenreiterregiment 
H und Pionier- und Genie-Kompanien, die auf die einzelnen Regimenter verteilt sind. 
die Regimenter sind mit 1., 2., 3., 4. Fremdenregiment bezeichnet. Die Nummern 2 
ind 4 erscheinen doppelt und zwar nochmals in den beiden Fremdenregimentern in 
Fonkin und in Syrien. 











- 


390 Diefranzösische Fremdenlegion f 
BEE TE EEE TEE TEEN TE RT EEE EEE EEE EEE EEE HE EEE EEE EEE DEZE NEE ENTER 
1. Fremdenregiment: Garnison Sidi-bel-Abbes, Provinz Oran, Algier: 
28 Compagnien, je 230 Mann 6440 Mann 
1 Compagnie montee (auf Mauleseln beritten) rn 
1 ‚„,„  instruction (Depot) 
1 »»  hors rang (Schreiber, Musiker, Burschen usw.) 
1 „,  . Maschinengewehre 
1 „» Genietruppe 
1 passage (Sammelkompanie für Leute, die.zur Truppe 
abgehen oder nach Tonkin und Syrien kommen) . . . . 1000 


Zusammen . 9340 Mann 


Die anderen 5 Regimenter setzen sich zusammen aus: 
12 Compagnien, je 350 Mann 4200 Mann 
1 Compagnie montee .. s 
1 hors rang .. ;% 
1 d Pioniere : ..i‘-. = 
1 2 Genietruppen R\ 


Zusammen . 5500 Mann 


Das Reiterregiment hat eine Stärke von 2000 Mann, so daß die Sollstärke der ganzen | 
Legion rund 38000 Mann betragen müßte. 
Die Garnisonen sind: 


l. Fremdenregiment Sidi-bel-Abbes in Algier 
2. % Meknes in Marokko 
3 


x % Fez und Taza in Marokko 
4. Marrakesch F Br 
2.2 Regiment in Tonkin 
2. 4tes Regiment in Syrien 


Das Reiterregiment steht in Friedenszeiten in Suz in Tunis. 


Ein Oberkommando der F.L. gibt es nicht. Sie ist militärisch eingegliedert dem 
19. französischen Armee-Corps in Algier. Das I. Fremdenregiment stellt auch den 
Nachschub für die Regimenter in Tonkin und Syrien auf und sendet sienach dort ab. 


Von den 4 Regimentern in Algier und Marokko liegen nur die Regimentstäbe 
im Garnison-Quartier. Die Truppen selbst sind in den Sommermonaten im Felde 
und auf „‚Colonne‘‘, im Winter beziehen sie ihre Posten in Marokko. 


Zum Schluß sei auf die Mitteilung des französischen Kriegsministers vom Mai 
1926 hingewiesen, nach der die F.L. bei der Umformierung der französischen 
Armee, der neuen autonomen Kolonialarmee in einer Etatsstärke von nur noch 
20000 Mann eingegliedert werden soll. 


Wann und ob dies geschieht, hängt von der Bewilligung dieser ANBEDSDYEH 
änderung von Regierung, Senat und Deputiertenkammer ab. 


eder die Kommandos der Fremdenregimenter, noch das algerische General-' 
kommando, noch die französische Heeresverwaltung geben Verlustlisten oder 
Rechenschaftsberichte über den Verbleib der Legionäre heraus. Kein französisches | 
Ministerium, geschweige denn Parlament hat je über den Verbleib der Legionäre eine 


Anfrage an das Kriegsministerium gerichtet. Geht ein Legionär mit Tod ab, so wird! 
er in den Listen gestrichen, ein neuer tritt an seine Stelle und damit ist der Fall er-| 


ledigt. So ist die Zahl der vielen Tausende von Deutschen, denen die F.L. allein seit 
1919 das Leben gekostet hat, nur schätzungsweise mit 30—40000 anzugeben. 


Man nimmt wohl auch in halbamtlichen Kreisen nicht mit Unrecht an, daß die! 


29000 nie wieder zum Vorschein gekommenen und verschollenen deutschen Kriegs- 
gefangenen in Frankreich Opfer der F.L. geworden sind. 





! 











Max Blümner: Ersatz und Werbeverfahren 391 








Ersatz und Werbevertahren 
Von Oberst a. D. Max Blümner in Berlin-Wilmersdorf 


er Mannschaftsersatz für die Fremdenlegion soll nach französischem Militär- 
L/ gesetz durch freiwillige Verpflichtung von Ausländern!) oder durch deren Wieder- 
verdingung erfolgen. Franzosen werden nur in wenigen Ausnahmefällen, die der 
Zustimmung des Kriegsministers bedürfen, eingestellt. In der Fremdenlegion nutzt 
‚also Frankreich unter Schonung der eigenen Rasse die Angehörigen anderer Völker 
für seine Zwecke aus. Hiergegen spricht sich u. a. Graf Montgelas mit den schärfsten 
Worten aus?): „Es ist ein seltener Tiefstand der Zivilisation, daß es heut noch 
möglich ist, den Leichtsinn und zeitweilige Verirrungen junger Leute dazu auszu- 
nutzen, daß sie in fremden Weltteilen unter dem Zwange einer mittelalterlichen 
Disziplin ihre Gesundheit und ihr Leben für die imperialistischen Zwecke einer 
Regierung opfern, die möglicherweise dem eigenen Volkstum der unglücklichen 
Legionäre die schwerste Schädigung zufügt.“ 


England und die Vereinigten Staaten von Amerika haben es durchgesetzt, daß 
Angehörige ihrer Staaten nicht in die F.L. aufgenommen werden. Deutschland 
stand der Legionswerbung außerhalb der Reichsgrenzen immer machtlos gegenüber. 


Auf deutschem Boden ist die Werbetätigkeit allerdings strafbar, und zwar nach 
'&141 des Reichsstrafgesetzbuches: „Wer einen Deutschen zum Militärdienst einer 
ausländischen Macht anwirbt oder den Werbern der letzteren zuführt, in- 
gleichen wer einen deutschen Soldaten vorsätzlich zum Desertieren verleitet oder die 
Desertion desselben vorsätzlich fördert, wird mit Gefängnis von 3 Monaten bis zu 
3 Jahren bestraft.“ Die Werber können unter Umständen auch nach $ 234 wegen 
Menschenraub oder nach $ 144 wegen betrügerischer Verleitung zur Auswanderung 
bestraft werden. Auf Grund dieser strafgesetzlichen Bestimmungen hat das kaiserliche 
Deutschland eine Werbung auf deutschem Boden niemals geduldet. Die französische 
Regierung hat in Vorkriegszeiten auch immer behauptet, innerhalb der Grenzen 
des Deutschen Reiches sei niemals angeworben worden, und Ministerialdirektor 
Dr. Lewald hat im Reichstag am 4. Januar 1913 erklärt, amtlich sei kein Fall 
‚erwiesen, daß Werber auf deutschem Boden zur F.L. angeworben hätten, Un- 
zweifelhaft aber ist es nach den Aussagen vieler Legionäre doch geschehen?) und der 
‚belgische Gesandte in Paris, Baron Guillaume, hat es in seinem Bericht an den 
‚belgischen Minister des Äußeren Davignon vom 4. März 1911%) bei Besprechung 
‚eines Zwischenfalls bezüglich der F.L. bezeugt: 


„Wie ich übrigens höre, wird in Deutschland längs der französischen Grenze an- 
dauernd eine regelrechte Propaganda getrieben, um Desertionen aus. der deutschen 
Armee in die französische Fremdenlegion herbeizuführen.“ 


Das Werbesystem war eben damals viel zu geschickt angelegt, als daß eine Werbung 
auf deutschem Boden amtlich nachgewiesen werden konnte. Die Werbestellen hatten 
ihren Sitz niemals im Reichsgebiet und die Agenten konnten nur heimlich und 
unter den äußersten Vorsichtsmaßregeln ihrem unsauberen Handwerk nachgehen. 


as neue, „freistaatliche‘‘ Deutsche Reich hat sich durch Unterzeichnung des 
Vertrages von Versailles des Rechtes begeben, gegenüber einem fremden Staate 
‚die Freiheit seiner Bürger im eigenen Lande zu schützen (s. oben S. 389). 


1) Auch Ausländer, die in Frankreich leben, werden in die F.L. eingestellt, wenn sie sich noch 
nicht volle 8 Jahre in einer französischen Familie oder einem französischen Fremdenheim auf- 
gehalten haben. ?) In ‚Der Deutsche Gedanke“ von P. Rohrbach, 2. Jahrg., Nr.24. 3) So er- 
‚klärt z. B. Georg Mentler (,‚Selbsterlebtes in der Fremdenlegion‘, Michael Prögel, Ansbach), 
‚daß er 1890 in Straßburg, und Chr. Müller (,,5 Jahre Fremdenlegionär in Algerien, Marokko 
| und Tunis‘), daß er 1894 in Stuttgart angeworben sei. *) Belgische Aktenstücke 1905—1914, 
Berichte der belgischen Vertreter in Berlin, London und Paris an den Minister des Äußeren 
in Brüssel. Herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Berlin. E.S. Mittler & Sohn. 


ı 


| Die französische Fremdenlegion (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 12) 27 





Strafbarkeit 
der Werbung 


Friedens- 
vertrag und 
Werbung 

























Verbrecher? 


392 Diefranzösische Fremdenlegion 








Damit hat Deutschland den Franzosen einen Schein des Rechts zur Anwerbung 
von Deutschen in die Hand gegeben und sieht ruhig mit an, wie im Widerspruch 
mit dem RStGB. die Franzosen im besetzten Gebiet offen und unter dem Schutz 
militärischer Gewalt eine umfangreiche Werbetätigkeit für die F.L entfalten. 


Die Entwürdigung geht aber noch weiter: 


1. Das Deutsche Reich bezahlt sogar die Kosten für die Werbung auf deutschem Boden. 
1919 waren es 200 Mill. G.-M., die in den Etat der Besatzungskosten für die Werbe- 
tätigkeit eingestellt waren. 

2. Die deutsche Regierung duldet es, daß deutsche Zeitungen im besetzten Gebiet ge- 
zwungen werden, Werberufe für die F.L. zu veröffentlichen (siehe Saarbrückener Zei- 
tung Nr. 158 vom 11. Juni 1919). 

3. Die deutsche Regierung läßt es zu, daß deutsche Staatsbürger von französischen Ge- 
richten zu schweren Freiheitsstrafen verurteilt werden, weil sie auf deutschem Boden 
Landsleute vor der F.L. gewarnt haben. 


So wurden zwei junge Deutsche durch das französische Kriegsgericht zu Mainz am 8. Okt. 
1925 zu 10 und 12 Jahren Kerker verurteilt — angeblich wegen Spionage, in Wirklichkeit aber, 
weil sie Legionswerber in Nähe von Arbeitsnachweisen und Bahnhöfen des besetzten Gebietes 
beobachtet und ihnen die Opfer, die mit Hilfe von betäubenden Mitteln (Zigarren, Zigaretten, 
Schokolade, Getränke) in die F.L. verschleppt werden sollten, wieder entrissen hatten. 
Dieser Vergewaltigung von zwei seiner treuesten Söhne auf deutschem Boden steht das Reich 
tatenlos gegenüber. 


Karl Hartung, der im Ruhrkampfe seine Stellung als Polizeiwachtmeister in Düsseldorf 
verlor, und dann in Kehl a. Rh. kaufmännisch tätig war, warnte dort einen jungen Deutschen 
vor der Legion. Dafür wurde er von den Franzosen wegen Spionageverdacht verhaftet, seiner 
ganzen Habe beraubt und zwei Jahre lang unter fürchterlichen Mißhandlungen im Gefängnis 
gehalten. Schwer krank wurde er dann stellungslos und ohne Mittel in das unbesetzte Deutsch- 
land abgeschoben. Die deutsche Regierung hat nichts gegen diese Gewalttaten unternommen, 
siehat demsich für deutsche Belange opfernden Mann nicht einmal eine Entschädigung gezahlt. 
































Ein weiterer Fall: Das französische Militär-Polizeigericht in Mainz verurteilte nach Locarno 
einen Schriftleiter wegen eines Aufsatzes ‚15000 Deutsche in der Marokkoarmlee“‘, zu 15 Tagen 
Gefängnis und 1000 M. Geldstrafe, weil er die Anwerbung zur F.L. richtig gekennzeichnet hatte. 


M: findet leider häufig die Ansicht vertreten, die Legion sei eine Herde zusammen- 
gelaufener Verbrecher, um die esnichtschadeist. Das trifft für die Deutschennicht 
zu und jetzt weniger denn je. Die Franzosen verbreiten geflissentlich diese Unwahr- 


heit, um das Bestehen einer so kulturfeindlichen Einrichtung zu beschönigen und die 


menschenunwürdige Behandlung der Legionäre, besonders der Deutschen, zu be- 


gründen. Sind die Legionäre Menschen zweiter Klasse, Verbrecher oder sittlich 
Verkommene, dann hat die Legion sie erst dazu gemacht. 


Natürlich hat die Legion auch solche aufgenommen, denen in der Heimat der 
Boden zu heiß war und die wegen irgendeines Verbrechens in die F.L. geflüchtet 
sind, um dort unter falschem Namen in einem anderen Leben unterzutauchen. 
Das sind aber immer nur verschwindend wenige gewesen. Wer wollte jene leicht- 
sinnigen jungen Leute wohl Verbrecher nennen, die aus Furcht vor Strafe bei ge- 
ringfügigern Vergehen aus dem Elternhaus, aus der Lehre oder aus dem Heeresdienst 
entwichen und den Werbern in die Hände gefallen sind? 


Einen großen Teil der Angeworbenen stellten alle Zeit die deutschen und öster- 
reichischen Handwerksburschen und Arbeiter, die Süddeutschland und Elsaß- 


Lothringen, ja Frankreich und Belgien durchwanderten, um nach einem alten’ 
deutschen Zuge die Welt kennen zu lernen. Wars nicht Not, List oder Gewalt, so wars’! 
der jugendliche Drang nach Abenteuern, durch Indianergeschichten, Erzählungen | 


von Karl May u. dgl. angeregt, der die jungen Burschen dann in die F.L. trieb. 


Auch die Erwerbslosigkeit führte viele, nach dem Kriege wohl die meisten aller ange- | 


worbenen Deutschen, der Legion zu. 


Im Großen und Ganzen ist das Werbesystem immer das gleiche gewesen, im ein- 
zelnen aber hat die Art der Werbung, je nach Ort und Opfer gewechselt. 







































Max Blümner: Ersatz und Werbeverfahren 393 








Die Werbetätigkeit vor dem Welikriege 


\WV: schon angedeutet, lagen die Werbebüros für die Legion nicht in Deutschland, 
sondern in Frankreich bis auf die beiden geheimen Geschäftsstellen in Basel 
und Luxemburg. Der Hauptwerbeort für die Deutschen war Nancy, wo in den 
Jahren vor dem Kriege der Elsässer Bastiany als „commissaire special‘ der fran- 
zösischen Regierung seine Geschäftsstelle auf dem Hauptbahnhof hatte. Belfort 
und Epinal waren Unterwerbeorte, Luneville und St. Die in den Vogesen Neben- 
stellen. Längs der ganzen deutschen Grenze befanden sich Werbestellen, z. B. un- 
mittelbar vor Metz auf den Bahnhöfen in Marsla Tour, franz. Avricourt, Pont ä& Mous- 
son und Pagny; weiterhin in Frouard, Verdun, Bar le Duc, Longuyon, ME£zieres, 
Petit Croix, Chalons s. M.; natürlich war in Paris eine Hauptgeschäftsstelle, die ihre 
Nebenstellen auf allen Pariser Bahnhöfen hatte. 


Die Kommissare betraten deutschen Boden nicht; das Wild wurde ihnen von 
haupt- oder nebenberuflich tätigen Werbern zugetrieben; auch half jeder Franzose, 
wenn sich Gelegenheit bot, bei diesem Gimpelfang der Deutschen mit. 


Als Werber bediente man sich, wie auch heute noch, meist alter, mit Ruhegehalt 
entlassener Unteroffiziere und Mannschaften der F.L. oder der Kolonialtruppen, 
besonders geborener Elsaß-Lothringer, die Deutsch und Französisch beherrschten 
und sich zu ihrem kümmerlichen Ruhegehalt nach 15jährigem Dienst durch die 
‚Werbung einen Nebenverdienst schaffen mußten. Neben den angestellten Agenten 
gibt es noch zahlreiche Gelegenheitswerber, die sich als entlassene Legionäre wieder 
in Deutschland niedergelassen haben und bei Nachweis einer vermittelten Anwer- 
bung eine Vergütung erhalten. Die altgedienten Legionäre haben sich zu Vereinen 
(societes d’anciens legionaires) zusammengeschlossen, die von der französischen 
Regierung gefördert werden, um ihre Werbetätigkeit anzuregen; es ist auffallend, 
daß ihre Vorsitzenden fast durchgängig deutsche Namen habent). Derartige Vereine 
zibt es vermutlich auch in Deutschland (München ?). Bezeichnend ist die Anweisung, 
die der französische Kriegsminister 1912 über die Verwendung der alten Legionäre als 
Werber gab (Geheim J. III. L. M. 1864/1912, Seite 16): 

„Die angestellten Legionäre werden von den Sonderkommissaren mit allen Einzelheiten 
vertraut gemacht; auch sollen sie sich nie länger als ein bis zwei Wochen in Deutschland auf- 
alten. Reisegebühren und Auslagen werden vom Sonderkommissar bezahlt. Für jeden 
‚auglichen, neu geworbenen Legionär erhält der Werber eine Vergütung von 20 Frs. Namentlich 
‚oll bei den neu eingetretenen preußischen Soldaten, den Rekruten in Elsaß-Lothringen, 
ine gute Agitation entfaltet werden. Ist doch die Fahnenflucht an der annektierten Landes- 
renze nicht allzu schwer. ...“ 


Die Werbe- 
stellen 


Die Werber 


Daß die Elsaß-Lothringer damals mehr als die Hälfte aller deutschen Legionäre _Werbung in 


wsmachten, lag zum Teil an der Nähe der französischen Grenze, zum Teil aber 
uch daran, daß gewisse Elemente im Reichslande gegen alles deutsche Wesen und 
las deutsche Heer in unverantwortlicher Weise hetzten. Leider duldete unsere 
zegierung. deutschfeindliche Bestrebungen von Vereinen wie ‚„Jeunesse lorraine‘‘ 
ıder dem Metzer „Lorraine sportive“, der uniformiert, mit Blumen in französischen 
‚“arben geschmückt und unter den Klängen französischer Hörner Sonntags auf die 
Yörfer zog und Unlust gegen den deutschen Heeresdienst bei der. Jugend schürte, 


So fanden die französischen Werber, denen ihre Vertrauensleute (Gastwirte, 
‚dändler usw.) die Musterungstermine, die Ankunft der Rekruten u. dgl. mitteilten, 
en Boden gut vorbereitet, um: Gestellungspflichtige und verblendete Rekruten 
ur Flucht über die Grenze anzustiften, häufig unter der Vorspiegelung, als Söhne 
hemaliger Franzosen wären sie dem Vaterlande der Eltern den Heeresdienst schuldig. 
ı Wirklichkeit hatten fast keine Elsaß-Lothringer 1871 für Frankreich optiert, 
‚hre Söhne konnten daher nach dem französischen Gesetz nicht im national-fran- 
ösischen Heere dienen, sie wurden vielmehr rücksichtslos in die F.L. eingestellt. 





2) Laut Feststellung des Majors a. D. Frhr. v. Autenried, Charlottenburg. 
| 27* 


Elsaß-Lothrin- 


gen 





394 Die französischeFremdenlegion | 
L—————————ä—ä—6— 

Das Hinüber-- Die Werber knüpften, wie zufällig, ein Gespräch mit ihren Opfern an, gaben sich 

ee als wohlhabende Kaufleute oder Fabrikanten aus, und setzten ihnen ein gutes Essen 
und reichliche Getränke vor. Im Gegensatz zum schweren Dienst in der Kaserne 
schilderten sie in unwahrer Weise das bequeme Leben und die gute Arbeitsmöglich- 
keit in Frankreich und boten ihnen schließlich eine Stelle an, die dort „zufällig“ 
frei wäre; nötigenfalls zahlten sie auch die Fahrkarte bis zum nächsten Werbeamt. 
Niemals aber erwähnten sie die F.L., damit sie nicht als Werber ertappt und die 
jungen Leute nicht stutzig wurden. Waren diese erst jenseits der Grenze, dann 
wurde offen für die Legion geworben. Hierbei wurden sie hingezogen, bisihnen das Geld 
ausging; arbeitslos im fremden Lande, ohne Paß und oft unkundig der Sprache, 
waren sie bald völlig in der Hand der Werber. Wollten sie nicht von französischen 
Gendarmen über die Grenze zurückgeschafft und in Deutschland wegen Fahnen-/ 
flucht oder Entziehung vom Heeresdienst bestraft werden, so mußten sie sich für 
die Legion entscheiden, zumal ihnen der Dienst als angenehm, die Löhnung als reichlich 
und die Verpflegung als gut hingestellt, eine schnelle Beförderung und eine hohe} 
Rente nach der Entlassung in Aussicht gestellt wurde. 

So wurde z. B. Georg Mentler!), der 1890 als Freiwilliger in ein Metzer Regiment 
eintreten wollte, in Straßburg von drei freundlichen Herren überredet, sich erst in 
Frankreich beruflich zu vervollkommnen. In Nancy erging esihm dann wie geschildert, 

Die Werbetätigkeit wurde von französischen Unternehmern längs der deutschen 
Grenze (z. B. von der „Societ& Alsacienne-Lorraine de construction mecanique‘ 
in Belfort) unterstützt; sie stellten jeden Deutschen, der ihnen von den Werbern zu- 
getrieben wurde, in ihren Betrieb ein — allerdings zu einem Hungerlohn, der die 
Unglücklichen bald in Not bringen und den Werbern gefügig machen sollte. 

Aus einer Verhandlung vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichts vom Ende August 1925 
erfahren wir, daß der Bauschlosser Franz Xaver Hecht aus Straubing, der 1913 von seinem 
Metzer Arbeitgeber mit einem Auftrag nach Verdun geschickt worden war, dort in die Hände 
von Legionswerbern geriet; sie machten ihn betrunken und erschlichen von ihm die Unter- 
schrift unter den Verpflichtungsschein für den fünfjährigen Dienst in der Legion. 

Das gleiche Verfahren wandte man bei Wilh. R. aus Steglitz an, der sich 1912 mit Ka- 
meraden zu einer Seereise nach Marseille begeben hatte. Nach einer Kneiperei mit Matrosen 
fand er sich anderntags auf dem Fort St. Jean als Legionsrekrut. 

Leopold Gheri?), ein Salzburger, geriet auf der Wanderschaft durch Belgien in die Hände) 
eines entlassenen ‚„‚troupier d’Afrique‘‘, der durch eine glühende Schilderung des „‚roman:- | 
tischen Lebens“ in der F.L. den abenteuerlustigen jungen Menschen für die Legion einzu- 
fangen wußte. Nicht anders erging es Rudolf Pohlmey?), der in Paris in Not geriet, und vom | 
Wandergenossen, einem ehemaligen Legionär, den Werbern ausgeliefert wurde. | 

Ähnliche Beispiele liegen in großer Zahl vor; denn die Anwerbung mußte bei dem schnellen 
Verbrauch der Legionäre rege betrieben werden und der französischen Regierung war jedes, | 
auch das verwerflichste Mittel recht, das die Lücken der Fremdenregimenter wieder auffüllte. } 

Zahl derdeut- Den Anteil der Deutschen an der Zahl der Legionäre jeweils festzustellen, ist 

schen Legionäreschwer, da sie häufig eine falsche Herkunft angeben. Nach allem aber ist anzur 
nehmen, daß in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts durchschnittlich immer 
5000 Deutsche in der Legion waren, daß ihre Zahl bis 1910 auf etwa die Hälfte herab- 
sarık, bis zum Weltkriege aber wieder erheblich stieg, so daß 1914 anscheinend 60 vH 
der Legionäre von deutschem Stamme (einschl. Österreicher und Deutsch-Schweizer) 
waren; in den gefährdeteren südlicheren Teilen von Algerien soll der deutsche Anteil 
noch stärker gewesen sein. 


Ersatz der Legionäre während des Krieges 


er Feldzug forderte unausgesetzt große Opfer an Menschen in Frankreich. Die] 
Werbungfür die Legion wurde daher in rücksichtslosester Weise fortgesetzt. Hatte 
man sich doch entschlossen, die Legion, die nach den Bestimmungen nur außerhalb 


1) Vgl. S. 391, A.3. 2) „‚Drei Jahre Fremdenlegion“ von Leopold Gheri. °) „9 Jahre Fremden 
legionär. Selbsterlebtes.‘“ Von Rudolf Pohlmey. Klotz, Magdeburg. 








Max Blümner: Ersatz und Werbeverfahren 395 











Frankreichs verwendet werden sollte, mit Ausnahme der deutschen Legionäre an 
‚der Front einzusetzen, und zwar immer an den gefahrvollsten Stellen. 


«  Dadie Legionswerbung im Kriege auf Deutsche (bis auf einige nach Frankreich über- Das Einfangen 
. gelaufene Elsaß-Lothringer) verzichten mußte, suchte man Neutrale einzufangen; Bee: 
"sie wurden wie der „Fremdenlegionär Kirsch‘, der sich auf seinem abenteuerlichen 

Weg zur deutschen Front als Schweizer ausgab, nicht für 5 Jahre, sondern nur 

„für die Dauer des Krieges“ verpflichtet. In Auswirkung des Lügenfeldzuges fanden 

sich zu Anfang des Krieges tatsächlich Angehörige neutraler Staaten, die auf fran- 

ı zösischer Seite mitkämpfen wollten, um an der „gloire‘‘ der „grande nation‘ Anteil 

‚ zu haben. In die F.L. gesteckt, bereuten sie diesen Schritt bald bitter. 


| 

Da war z. B. ein spanischer Unteroffizier, der seiner Truppe entlaufen war, um sich als ein- 
 facher Legionär Kriegslorbeeren zu pflücken; er entfloh wieder nach Spanien und zog die zu 
ı erwartende Bestrafung wegen Fahnenflucht der Legionärsbehandlung vor. Da gab es tsche- 
‚chische Studenten, Kaufleute und Kellner, die, als Mitglieder der Sokol-Turnvereine in Eng- 
«land ausgebildet, nach Frankreich abgeschoben waren. Auch viele Polen zählte damals die 
‚Legion; über die schlechte Behandlung verärgert, freuten sich viele von ihnen über jeden 
deutschen Erfolg. Alle die Russen, die sich bei der Mobilmachung als Studenten oder Land- 
' und Hüttenarbeiter in Frankreich aufhielten, mußten sich auf Anweisung des russischen 
| Konsuls zum französischen Heeresdienst melden und wurden Legionäre. Auch mit List und 
' Gewalt beförderte man Neutrale und ‚‚Freunde Frankreichs‘ in die F.L. Einem schweizer 
"Mechaniker, der sich im August 1914 arbeitslos in einer französischen Großstadt aufhielt, 
"wurde von der Polizei versichert, er könne eine Stellung in einer Waffenfabrik erhalten, 
. sobald er französische Militärperson geworden sei; er ließ sich daraufhin für die Legion an- 
._ werben und wurde wider seinen Willen darin festgehalten. Ein junger Tscheche, der in Paris 
| Medizin studierte und sich bei Kriegsbeginn freiwillig als Krankenwärter beim französischen 
Heere meldete, wurde zwangsweise in die F. L. gesteckt und mit der Waffe ausgebildet?). 


| Die Begeisterung der Neutralen für die F.L. hörte bald auf, da die für ihren frei- 
willigen Eintritt mit Mißhandlungen belohnten Legionäre ihre Landsleute warnten. 
Außer den elsaß-lothringischen Überläufern und einigen Auslanddeutschen, die sich, 
"wie der Fremdenlegionär Kirsch, unter Verschweigung ihrer deutschen Herkunft 
" aus bestimmten Gründen in die Legion einstellen ließen, waren auch einige jüdische 
" Bankiers und Goldwarenhändler aus Paris, die vom Vater her deutsche Staats- 
angehörigkeit besaßen, in die Legion eingetreten, um der Überführung in ein Kon- 
| 





zentrationslager und der Enteignung ihres Vermögens zu entgehen?). Mit ihren großen 
Geldmitteln wußten sie sich in der Legion eine erträgliche Stellung zu schaffen. 


ss R u . : > . . der deutschen 
sofort erklärt: sie hätten ihren Dienst weiter zu verrichten, jeder Fahnen- Legionäre 


flüchtige würde erschossen. Weil man ein Überlaufen zu den deutschen Linien 

fürchtete, brachte man sie nicht an die französische Front, sondern verwendete 
‚sie, um die Kolonialtruppen für den europäischen Kriegsschauplatz freizumachen, 
im Süden von Algerien und Marokko. Hier hatten sie die aufständischen Araber- 
‚ stämme niederzuhalten und ermöglichten dadurch erst die Aushebung und Ver- 
schickung der Eingeborenen nach der französischen Front. Sie haben also dazu 
beitragen müssen, die französische Kampffront zu stärken. 


| Ein Amerikaner®), der während der Kriegszeit in der Legion in Algerien diente, gibt 
\ den Anteil der Deutschen im 1. Fremden-Rgt. im Jahre 1916 auf 70 vH an. Unter 
anderem waren alle Köche und Krankenwärter Deutsche sowie alle Unteroffiziere 
bis auf zwei und alle Feldwebel bis auf einen. Selbst ein Major war ein Elsässer und 
ein Leutnant hatte einen deutschen Namen. Der Krieg räumte dann schnell 
mit den Deutschen auf. Im dauernden Kleinkrieg mit den für ihre Freiheit streitenden 
' Arabern, unter den maßlosen Anstrengungen und bei den schlimmsten gesundheit- 
‘ lichen Zuständen wurden sie großenteils aufgerieben. 


) Deutschen, die sich bei Ausbruch des Krieges in der Legion befanden, wurde Verwendung 


| 2) Siehe „‚Fremdenlegionär Kirsch‘. ?) „Memoirs of the Foreign Legion.“ By M. H., Lon- 
| don. Martin Secker, 1924. °) Siehe,, Memoirs of the Foreign Legion‘. 





396 Diefranzösische Fremdenlegion 
a ET EEE EEE EEE Er, 


Dieentlassenen Diejenigen deutschen Legionäre aber, deren Dienstverpflichtung während des 
Wiederverain. Krieges ablief, wurden, soweit sie noch lebten, im Interniertenlager Frigolet (Dep. 
gung gepreßt Bouches du Rhöne) festgehalten. 300 von ihnen sollen nach Dr. v. Papen!) 1918 teils 
durch schlechte Behandlung, Hunger und Kälte, teils durch Versprechungen, Bar- 
vorschüsse und Zigarettenspenden von neuem zur F.L. gepreßt worden sein. 
Dies wird durch die Aussagen des Franz Xaver Hecht vor dem Reichsgericht im 
großen und ganzen bestätigt. Als er sich bei Ablauf seiner Dienstverpflichtung im 
April 1918 weigerte, eine Weiterverpflichtung einzugehen, wurde er nach einem Kon- 
zentrationslager in Frankreich gebracht. Hier versuchte man ihn, zusammen mit 
120 deutschen Kameraden, durch mangelhaftes Essen gefügig zu machen. | 
Ein Deutscher, der entfloh, wurde erschossen. Die übrigen wurden bei dem schwei- | 
zerischen Ausschuß vorstellig. Darauf besuchte ein Schweizer Oberst das Lager und | 
soll ihnen erklärt haben: ihre Vorstellungen seien zwecklos, da die deutschen Legionäre 
als Auswurf ihres Volkes betrachtet würden. Hecht hat sich dann, wie er sagt, um 
seine schlimme Lage zu verbessern, nochmals bis Kriegsende für die Legion unter der | 
Bedingung verpflichtet, daß er nicht im Kampfe gegen Deutschland verwendet würde. 


Die Werbetätigkeit nach dem Kriege 


er Weltkrieg hat Frankreich ebenso wie Deutschland rd. 2 Millionen Menschen 
gekostet, die sich in Deutschland auf eine Bevölkerung von 70 Millionen verteil- 

ten, in Frankreich auf 39 Millionen. Nach diesem gewaltigen Aderlaß und bei seinem 
unaufhaltsamen Geburtenrückgang kann Frankreich die Vormachtstellung in 
Europa mit eigenen Volksgenossen allein nicht verteidigen, sondern bedarf hierzu 
noch seines umfangreichen Afrika-Reiches, das ihm im Frieden ein Drittel seiner 
Soldaten, im Kriege aber 3 Millionen Streiter stellen soll. Die Aufrechterhaltung des 
Kolonialreiches und die gewaltsame Unterdrückung der Eingeborenen kostet viel 
Truppen und einen fortwährenden Ersatz der immer schnell verbrauchten Mann- 
schaften. Hierzu dienen die vom Ausland bezogenen Fremdenlegionäre. 

Wachsender Die Legion war im Kriege größtenteils aufgerieben worden und von den Überleben- 

Ars Trage den wurden die Polen, Tschechen und Slowenen nach dem Waffenstillstand an die 

Legionären betreffenden Lehnsstaaten abgegeben. So mußte man denn die beiden Fremden- 
regimenter neu aufbauen und vermehrte sogar noch in den letzten Jahren die Truppen- 
teile der Legion. Die Anwerbung Deutscher wurde daher sofort nach dem Kriege mit 
Hochdruck betrieben — ganz besonders aber, nachdem man mit den 192] aus der 
russischen Wrangelarmee und in den Balkanstaaten angeworbenen Legionären 
schlechte Erfahrungen gemacht hatte, ebenso wie mit den Russen und Ukrainern, 
die als landwirtschaftliche Arbeiter am Rhein beschäftigt waren. 

Werbeämteer In absichtlich falscher Auslegung des 8 179 des Friedensvertrages, gestützt auf 

onem Militärgewalt, maßt sich Frankreich das Recht an, im Widerspruch mit deutschen 
Strafgesetzbestimmungen auf deutschem Grund und Boden amtliche Werbestellen 
für die F.L. einzusetzen, das besetzte Gebiet also als Rekrutierungsbezirk Frank- 
reichs anzusehen! Und eine deutsche Regierung erklärt sich für machtlos dagegen. 

Unter der Hauptwerbestelle für das besetzte Gebiet in Mainz?) befinden sich in 

Anlehnung an die Besatzungsbehörden Werbeämter in Bingen, Kreuznach, Trier, 
Eschweiler, Aachen, Düren u. a.m.; sie treten als Arbeitsnachweise oder deutsche 
Handelsgesellschaften auf, stehen aber unter einem französischen Offizier mit teil- 
weis deutschem Personal. Mit dem Abzug der Franzosen aus Köln, Schießplatz Wahn, 
Düsseldorf und Duisburg sind auch die dortigen Werbestellen, ebenso wie die nicht- 
offiziellen in Dortmund und Essen fortgefallen. Es befindet sich ferner im Wider- 
spruch mit dem Versailler Vertrag und dem Saarstatut eine Werbestelle in Saar- 





‘) „Die französische Fremdenlegion.‘“ Eine Warnung für Deutschlands Söhne. Von Dr. 
v. Papen. H. Plasnick, Großenhain i. S. °) Die Hauptwerbestellen des Westens sollen kürzlich 
vom besetzten Gebiet, wo die Opfer öfter durch Eingriffe der Bevölkerung und der Polizei 
wieder entschlüpften, nach Metz und Straßburg zurückverlegt sein. 





Max Blümner: Ersatz und Werbeverfahren 397 








‚ brücken; in den abgetretenen Gebieten sind in Memel, Graudenz, Posen und Katto- 

Witztür den Osten und in Prag für den Süden Werbestellen, ebenso in Elsaß-Lothringen 

längs der neuen deutschen Grenze vor allem in Saargemünd. Die polnischen und 
tschechischen Werbeämter haben das Einverständnis der dortigen Regierungen unter 

der Bedingung, daß nur Deutsche angeworben werden. 

' Die Angeworbenen kommen von den Werbestellen zunächst in die Sammellager 

“ (centres de rassemblement) Euskirchen (C.R.E.)!), Grießheim (C.R.G.), Lacher-Speyer- 

dorf bei Neustadt a. H. und Wittlich. Von da werden sie truppweise nach dem 

‘ Hauptsammellager Metz (dgl. Straßburg und Zabern?) befördert. 

© Die Franzosen scheuen sich durchaus nicht, Werbestellen auch in die neutrale Zone, , Werbestellen 

ja bis ins unbesetzte Gebiet Deutschlands vorzuschieben, z. B. nach Frankfurt a. M.,  oebiet 

| von wo aus die Zutreiber 1920 bis nach Thüringen, ja bis nach Berlin entsandt 

| wurden. In Erfurt wurden damals 16- bis 17jährige Burschen von einem gut- 

gekleideten Manne durch Versprechung günstiger Arbeitsgelegenheit mit nach 
‘Frankfurt a. M. genommen und dort im Wartesaal des Hauptbahnhofs einem 

Werber zugeführt. Nach der polnischen Zeitung ‚„Polwona“ vom 17. Juli 1920 

wurde der Handlungsgehilfe Richard Müller als Werber der- F.L. 1920 von der 
Strafkammer zu Frankfurt a.M. zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt. 

Man beobachtete damals häufig, wie die Werbeopfer mit einem Zug aus Frank- 
furt a. M. in Mainz-Kastell — täglich bis zu 20 Mann — ankamen und von einem 
elsässischen Dolmetscher nach der Prinz. Karl-Kaserne geführt wurden. Ihre Ange- 
| hörigen umlagerten vergeblich die Kaserne, um sie wieder frei zu bekommen; 
| schließlich wurde die Werbestelle aus der Stadt hinaus nach der Elisabeth-Kaserne 
verlegt; ihr Leiter war damals ein entlassener Volksschullehrer Drahota aus Mainz. 


Ä Er wußte die große wirtschaftliche und politische Not in Deutschland. Arbeitslosig- 





| 
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| 
| 
1 


trefflich auszunutzen und die Werbetätigkeit allezeit in die richtigen Bahnen Ziträuensseilgkeft 


lenken. Nach dem Kriege war es ja vor allem die zunehmende Arbeitslosigkeit?), 
die den Werbern ihre Tätigkeit so erleichterte. Wie gern sucht der junge Deutsche den 
sagenumkränzten Rhein auf; nach altem Brauch wandert er zu Fuß durch die 
Rheintäler und knüpft hier und da mit lustigem Rheinlandvolk ein Gespräch an. 
Ahnungslos gibt er auch dem Herrn Auskunft, der sich so teilnehmend nach Heimat 
und Beruf erkundigt. ‚Ein günstiger Zufall‘ will es, daß der Fremde gerade Leute 
dieses Handwerks sucht. ‘Er stellt gutes Gehalt, freie Wohnung und Verpflegung 
in Aussicht und der junge Mann willigt ein, zumal: die Arbeitsstätte in der Nähe 
ist, und der nette Herr ihn gleich mitnehmen will; nach rheinischer Sitte trinken 
sie zuvor noch ein Glas Wein auf ein gutes Arbeitsverhältnis. Aus einem Glas werden 
mehrere, dazu wird tüchtig geraucht und im halben Rausch gehts in den Zug. Am 
anderen Morgen erwacht der junge Mensch — jenseits der Grenze. Statt des freund- 
lichen Herrn führen französische Gendarmen den Betrogenen zu seiner neuen Arbeits- 
stätte — in die Kaserne. Tausenden von jungen Deutschen ist es so gegangen. 

So befragte z. B. 1925 im Wartesaal des Bahnhofes Gemünden in Unterfranken ein Unbe- 
kannter einen Arbeiter nach den dortigen Arbeitsverhältnissen; er werbe für die Firma H. 
| Holzmann in Frankfurt a. M. Arbeiter für Australien an. Der Gemünder Arbeiter verpflich- 
‚ tetesich für eine zweijährige Arbeitszeit. Durch Anfrage bei der Firma erfuhr man, daß die Sache 

Schwindel war und es sich nur um eine Anwerbung zur Legion handeln konnte. 

Ein Opfer seiner Vertrauensseligkeit wurde dagegen 1920 ein Diener in Leipzig, den ein 
unbekannter ‚‚Fabrikbesitzer Dagobert La Parre‘ unter sehr günstigen Bedingungen mit auf 
seine Güter in Nizza nehmen wollte, Trotz einer Warnung fuhr der Diener ab, schrieb noch aus 
| Wiesbaden einen kurzen Gruß an seine Angehörigen; das war die letzte Nachricht von ihm. 
Die französischen Besatzungstruppen fördern die Werbung vom Offizier bis zum einfachen 

Soldaten. Der minderjährige Kö. aus Verden a. Aller war mit drei Kameraden in Mainz auf 
\ Arbeitssuche; in ihrer Not bettelten sie auf der Straße einen französischen Soldaten an. Der 
| gab ihnen Bier zum Besten und führte dann die Angetrunkenen zur Werbestelle. 





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1) Im Mai 1925 soll das rührige C.R.E. jeden Donnerstag etwa 30 Geworbene über Trier- 
| Perl-Sierk nach Metz gesandt haben. 
2) Noch nie war der Andrang zur F.L. so groß wie in diesen letzten Monaten. 








„‚Wiederauf- 
bau“ 


398 Diefranzösische Fremdenlegion 

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Auf Grund einer Zeitungsanzeige, nach der kaufmännisches Personal bei hohem Gehalt ge- 

sucht wurde, ließ sich ein junger Innsbrucker 1919 nach Paris locken. Ein Auto brachte ihn 


in die Kaserne, wo er noch 14 Mann traf, die auf ähnliche Weise betrogen worden waren. Am 
13. Tag gelang es ihm zu entfliehen. 


In den ersten Jahren nach dem Kriege war die Lüge von der Wiederaufbautätig- 
keit in Frankreich ein beliebtes Werbemittel. Ein Sachse namens Prager oder 
Prater soll damals in Wien zahlreiche Erwerbslose für diese Arbeiten gedungen 
haben. Ersicherte ihnen reichliche Entlohnung und eine Sonderprämie von 7000 Kro- 
nen zu. Im März 1920 sind etwa 200 Arbeitssuchende mit dem französischen Agenten 
nach Chambery in Frankreich gefahren; dort erst erfuhren sie, daß es sich um die 
F.L. handelte, und in der Not und infolge glänzender Schilderung vom Legionärs- 
leben unterschrieben sie schließlich die Verpflichtung. Die sich Sträubenden wurden 
durch Hunger und Freiheitsentziehung gefügig gemacht. 


Auf eine Anzeige in einer deutschen Zeitung fuhr Richard Weiß im Juni 1922 nach Straß- 
burg, um sich zur Arbeit im zerstörten Gebiet Nordfrankreichs zu melden. Er wurde dort mit 
etwa 250 deutschen Arbeitswilligen nach Dijon verladen, wo angeblich Arbeitsgerät empfangen 
werden sollte. Da es sich dort ‚‚versehentlich‘“ nicht vorfand, wurden sie nach Marseille 
weitergeleitet und von hier die Reise zur ‚Arbeitsstelle‘ zu Schiff fortgesetzt. Nach mehr- 
tägiger Seefahrt fanden sie sich plötzlich in Oran in Algerien, wo sie unter schwarzer Bedeckung 
nach dem Lager der F.L. gebracht und gegen ihren Willen zu Legionären gestempelt wurden. 
— Leider sind damals Anzeigen zur Anwerbung Deutscher im französischen Aufbaugebiet 
in deutschen Zeitungen von den Behörden geduldet worden. 


Eine ebenso niederträchtige Art der Werbung schildert v. Papen in seinem Buche. Zwei 
frühere Legionäre sagten vor der Kriminalpolizei zu M. am 10. Dezember 1920 aus, daß sie 
im Juni 1919 in Saargemünd von Louis Licht aus Saarbrücken und Wilhelm Bauer aus Landau 
für das zerstörte französische Gebiet angeworben seien. Unter den Arbeitsvertrag hatten die 
Werber unbemerkt eine Legionsverpflichtung mit Pauspapier gelegt, so daß sich die zwei 
Arbeitswilligen durch ihre mit Tintenstift geleistete Unterschrift ohne ihr Wissen zugleich 
für den fünfjährigen Dienst bei der F.L. verpflichteten. Auf Grund des Legionsvertrags mit 
der erschlichenen Unterschrift wurden sie trotz ihres Einspruchs zwangsweise in die F.L. 
gesteckt, aus der sie nach °/, Jahren flüchteten. — Den deutschen Behörden sind mehrere 
dieser Fälle bekannt geworden. Man hat aber nichts davon gehört, daß die deutsche Regierung 
gegen diese unerhörten Vergewaltigungen deutscher Staatsbürger Schritte unternommen hat. 


Oberschlesische Als der französisch eingestellte Völkerbund Oberschlesien vom Deutschen Reiche 


Bergarbeiter 


Ruhrkommu- 
nisten 


Sonderbündler 


und Landes- 
verräter 


losriß, wurden Zehntausende von deutschen Bergleuten brotlos; das benutzte die 
Legionswerbung, um viele dieser Unglücklichen in die französische Bergindustrie 
zu locken und sie dann durch Not, Betrug oder Gewalt der F.L. zuzutreiben. 


Der Kommunistenaufstand im westfälischen Industriegebiet im Jahre 1920 war 
durch General Frh. v. Wattern niedergeschlagen worden; die zersprengten Rotgar- 
disten sammelten die Franzosen in einem Lager bei Siegburg und wußten sie nach 
guter Verpflegung und vielen Versprechungen zu Hunderten für die F.L. zu werben. 
Bonner Einwohner beobachteten damals, wie täglich mindestens 10 Rotgardisten 
unter Führung eines französischen Unteroffiziers auf der Straßenbahn nach Bonn 
gebracht wurden, um über Mainz-Marseille nach Afrika verschickt zu werden. Welche 
Ironie des Schicksals: Diese „Nie-wieder-Krieg-Leute‘ knechten für den französischen 
Imperialismus in einem der grausamsten Kriege das freie Volk der Araber. 

Ebenso liefen den Werbern zahllose Sonderbündler vom Rhein-, Pfalz- und Saar- 
gebiet ins Garn. Sie hatten ausgespielt und konnten sich in der Heimat nicht mehr 
blicken lassen. So ist z.B. der als Führer der Sonderbündler bekannte Krefelder 
Gastwirt Willi Weiß, in dessen Wirtschaft sich das Hauptquartier befand, in die 


F.L. eingetreten, wo er jetzt Unteroffiziersdienste tut. — Desgleichen werden alle im’! 
Dienst französischer Spionage stehenden Deutschen, die man hierzu nicht mehr : 
verwenden will, unter der Drohung, sie sonst an Deutschland auszuliefern, zur F.L.' 



















































gezwungen; das geschah besonders beim Abzug der Franzosen aus dem Ruhr- und 


Kölner Gebiet gegenüber den dort ansässigen Verrätern, die ja bei Rückkehr der | 
deutschen Verwaltung schwere Bestrafung zu erwarten hatten. Auch solche, die das 








Max Blümner: Ersatz und Werbeverfahren 399 











besetzte Gebiet aufsuchen, um sich einer deutschen Strafverfolgung zu entziehen, 

werden von den Überwachungs- und Paßprüfstellen den Werbern zugeführt. 
Um die im Weltkriege bewährten vorzüglichen Eigenschaften des deutschen Entlassene 
Soldaten für die Legion nutzbar zu machen, sind die Werber angewiesen, sich Pzeibeamte, 
besonders an abgehende Reichswehrsoldaten, entlassene Schutzpolizeibeamte und und Reichs- 
ehemalige Angehörige der Freikorps heranzumachen. So haben sie leider zahlreiche Be 
Schutzpolizeibeamte, die seinerzeit durch den rechtswidrigen Einbruch der Fran- 
zosen ins Ruhrgebiet um ihre Stellung kamen und anscheinend bei der deutschen 
Regierung kein Verständnis für ihre Lage fanden, durch falsche Versprechungen für 
die Legion geködert. Leider verfielen auch verdiente, tapfere Soldaten bei Auflösung 
der deutschen Freikorps durch Betrug und Gewalt der Legion. 


Otto Peukert, der nach dreimaliger Verwundung im Kriege beim Grenzschutz Schlesien 
(Dtach. Hasse) bis 1920 tätig war, nahm auf eine Zeitungsanzeige hin als Elektrotechniker 
Arbeit bei den französischen Kasernen in Gleiwitz an; darnach wurden er und vier andere von 
den Franzosen mit gleichen Arbeiten in Ludwigshafen in der Pfalz beschäftigt. Bei der Ent- 
lohnung wurden die fünf zu einem Essen mit Wein eingeladen, wobei sie bald ihre Besinnung 
verloren. Am nächsten Tage eröffnete ihnen ein französischer Major, sie hätten sich tagszuvor 
zur französischen Fremdenlegion verpflichtet. Peukert bestritt das und kämpfte um sein 
Recht und seine Freiheit, wurde aber nach seiner Aussage gefesselt über Metz, Marseille in die 
F.L. verschleppt. Als er dort die Annahme des Handgeldes verweigerte, erhielt er 20 Tage 
 Arrest. 1925 gelang ihm die Flucht nach Deutschland. 


Ebenso wurden der Reisende Peter Kl. aus Gelsenkirchen und ein-Bergmann aus Königsteele 
im Sommer 1925 durch gespendetes Bier betäubt und der F.L. einverleibt. — Nicht so leicht 
machte es den Werbern Karl K. aus St. Alser am 24. Juni 1925 nach Magdeburg fahren wollte, 
um bei der Reichswehr einzutreten, bot ihm auf Bahnhof Hannover ein Herr Zigaretten an, 
die ihn besinnungslos machten. Anderntags befand er sich in Dortmund, schrieb eine Karte 
nach Haus und verlor nach einem vorgesetzten Glas Bier wieder die Besinnung. Als er dann 
in Saarbrücken aufwachte, wollte man ihn unter zwei Mann Bewachung nach Frankreich 
schaffen; es gelang ihm aber unterwegs aus dem Kraftwagen zu springen und zu entfliehen. 
Der vaterländische Verband, dem er angehört, berichtet, daß er nach Empfang der Karte aus 
Dortmund und zweier Karten aus Saarbrücken Verdacht schöpfte und dies sofort der Kriminal- 
polizei meldete. Diese aber hätte ein Einschreiten mit der Begründung abgelehnt, die deutsche 
Regierung sei demgegenüber machtlos, da sich K. im besetzten Gebiet befunden hätte. 


Bei dieser Einstellung der Behörden ist es kein Wunder, daß die Franzosen sogar versuchen, 
deutsche Reichswehrsoldaten in die F. L. zu verschleppen. Nach der deutschen Soldaten-Ztg. 
(Nr. 18/25 vom 25. Sept. 1925) geriet 1925 ein nach dem Rheinland beurlaubter Reichswehr- 
soldat versehentlich in einen Ort des besetzten Gebiets. Von einem französischen Kriminal- 
beamten wurde er trotz Gegenwehr festgenommen und auf das Geschäftszimmer der fran- 
zösischen Kriminalpolizei in Mettmann gebracht. Hier versuchte man ihn durch Kaffee mit 
viel Schnaps betrunken zu machen, um ihn bei glänzendster Schilderung der F.L. hierfür 
zu pressen, doch ohne Erfoig. Da warf man ihn in das Polizeigefängnis zu Düsseldorf und ver- 
suchte ihn über die Reichswehr auszuhorchen — ebenfalls ergebnislos. Darauf wurde 
er kriegsgerichtlich wegen Betreten des besetzten Gebietes, falschen Passes und tätlichen 
Angriffs auf einen Beamten zu 45 Tagen Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft 
und 20 M. Geldstrafe verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe, nach 47 Tagen im ganzen, 
wurde er endlich entlassen. Die ihm bei der Verhaftung abgenommenen Sachen erhielt er 
nur z. T. zurück. Meines Wissens ist in keinem der angeführten Fälle Rechenschaft von 
Frankreich gefordert worden. 


Das $Saargebiet 


ach $ 141 des auf das Saargebiet zugeschnittenen Strafgesetzbuches wird derjenige, 

der es unternimmt, Einwohner des Saargebietes zum Dienst im Heere eines 
fremden Landes zu veranlassen, mit einer Gefängnisstrafe nicht unter drei Monaten 
bestraft. Trotzdem wird die Anwerbung zur F.L. sowie ihre Werbestelle in Saar- 
brücken nicht nur von der Regierungskommission geduldet, sondern sogar unter- 
stützt. Es ist erwiesen, daß die Franzosen in zahlreichen Fällen Saarländer und be- 
sonders solche, die in Elsaß-Lothringen geboren sind, dem französischen Heeres- 





400 Die französische Fremdenlegion 
Enno nn nenn bern nenne nnnmnnDennbernmer nm mn Do bonn en nmennnnnnnmnn nn mne mn m n nn n 





dienst zugeführt haben. Die Regierungskommission hat es jedoch bisher nicht für 
angebracht gehalten, gegen derartige Verletzungen der Verträge vorzugehen. 

Die politischen Parteien haben sich durch Eingaben an die Saarbrücker Regie- 
rung und den Völkerbund gegen dieses Verhalten der Regierungskommission ge- 
wandt und der Landesrat des Saargebiets hat gegen die gesetzwidrige Verschlep- 
pung von Saarländern in die Legion scharfen Einspruch erhoben. Die Saarbrücker 
Zeitung hat im Sommer 1925 sogar an Hand von photographischen Urkunden den 
untrüglichen Beweis von der Legionswerbung im Saargebiet erbracht. Trotzdem 
nimmt das Treiben der Werber seinen Fortgang und die Regierung greift nicht ein. 


Im September 1925 wurde aus Alschbach im Saargebiet gemeldet, daß ein Unbekannter zwei 
junge Burschen unter dem Vorgeben, ihnen Arbeitsgelegenheit in Frankreich zu verschaffen, 
bewog, mit ihm zu fahren. Ein Arbeiter aus St. Ingbert aber hatte Verdacht geschöpft und 
rief durch Fernsprecher die Saarbrücker Kriminalpolizei an, die den Fremden, der unzweifel- 
haft ein Legionswerber war, bei der Ankunft in Saarbrücken festnahm und die jungen Leute 
befreite. Desgleichen wurde in Großrosseln i. Saargebiet im Juli 1925 ein Werber ertappt. 

Bezeichnend ist das Verhalten der Regierungskommission im folgenden Falle: Ein gewisser 
Moses aus St. Ingbert suchte im Sommer 1924 mit mehreren Kameraden die französische 
Werbestelle in Saarbrücken, Vorstadtstr. 42, auf. Während man seine jüngeren Kameraden 
wegen Schwäche zurückwies, stellte man ihn den Saarbestimmungen zuwider ein. Der Junge 
bereute den unüberlegten Schritt und sein Vater machte eine Eingabe zur Herausgabe seines 
Sohnes an die Regierungskommission; diese aber wies ihn ab, weil sie nichts zur Freigabe 
des jungen Mannes tun könne, da er volljährig sei. 1925 befand er sich noch bei der 12. Komp. 
des Fremdenregiments von Fez-Dschedid in Marokko. Eine Aufnahme von dort zeigt ihn mit 
13 anderen Saarländern, gruppiert um eine Tafel mit der Inschrift: „‚Es lebe die Saar“. 


NATScHleR" anz unverantwortlich ist es, daß die unter französischem Einfluß stehende Re- 
un inder- . . . . . . . ... . . . . 
P jähriger gierungskommission nicht einmal die Verschleppung Minderjähriger in die Legion 


verhindert. So wurde z. B. der älteste, noch minderjährige Sohn eines armen Berg- 
arbeiters, des Vaters von 9 Kindern, aus dem Saardorf Berus, in die F.L. gelockt. 
Um die Minderjährigkeit zu verdecken, wurde der Junge um zwei Jahre älter gemacht. 
Als dann der Vater im Bergwerk verunglückte, wandte er sich mehrfach an die Re- 
gierung wegen Herausgabe seines Sohnes, doch immer vergebens. 

Mit der Verschleppung Minderjähriger in die Legion beschäftigte sich auch eine 
Eingabe über die Mißstände in der Verwaltung des Saargebiets, die die Landesrat- 
fraktionen der Deutsch-Saarländischen Volkspartei und der Zentrumspartei am 
10. Januar 1925 gemeinschaftlich an den Völkerbund richteten. Es heißt hierin u. a.: 
„Die Werber der französischen F.L. entführen Minderjährige aus dem Saargebiet, 
ohne daß die sonst glänzend orientierte Oberste Polizeiverwaltung eingreift. ° Es 
macht den Eindruck, als ob die Gesetze nur gegen die Saarländer, nicht aber zu 
ihrem Schutze da sind. Es rührt sich keine Hand in den dem Herrn Präsidenten 
Rault unterstehenden Abteilungen des Innern und des Äußeren, um die nach Afrika 
verschleppten, unglücklichen minderjährigen Fremdenlegionäre in ihre Saarheimat 
zurückzuführen.‘ Der Eingabe ist ein Verzeichnis von 38 zum Teil minderjährigen 
Saarländern beigefügt, die widerrechtlich für die F.L. angeworben wurden!). 

Einspruch ds In seiner Sitzung vom 5. Februar 1925 nahm der Landesrat — nicht zum ersten 
„andesrats Male — scharf gegen die gesetzwidrigen Zustände bezügl. der Legionswerbung 
Stellung. Es vergehe kaum ein Tag, sagte unter anderem der Sprecher des Zen- 
trums, Abgeordneter Levacher, an dem nicht irgendeine tief betrübte Mutter oder 
ein gebeugter Vater zu ihm komme, die ihn um Vermittelung für ihr Kind angingen, |! 
das in der F.L. schmachte. 14 minderjährige Saarländer ständen in der Legion 
in Tunis oder anderen französischen Kolonien. Der Landesrat habe bereits früher 
eine Eingabe an den Völkerbund gerichtet; die Regierungskommission habe jedoch 
bestritten, daß im Saargebiet eine Werbestelle der F. L. sei oder französische Garni- 
sonstruppen etwas damit zu tun hätten. Dies widerlegte der Abgeordnete durch 
Vorlesen des in seine Hände gelangten Berichts eines französischen Majors der Saar- 





!) Eine neuerliche Denkschrift der Parteien vom Aug. 1926 stellt fest, daß die Klagen über 
die Verschleppung Minderjähriger noch heute zu Recht bestehen. 








| Max Blümner: Ersatz und Werbeverfahren 401 

WI 
Garnisonstruppen über einen Minderjährigen: „Der N.N. hat sich heute zur F.L. 
gemeldet. Ich habe ihn an das Werbebüro in Metz verwiesen.‘‘ Nachdem Levacher 
noch erwähnt, daß er sich anfangs Dezember 1924 an den Präsidenten der Regie- 
rungskommission zwecks Freigabe eines minderjährigen Saarländers gewandt, aber 
bis dahin noch keinen Bescheid erhalten habe, weist er auf den Widersinn hin, daß 
man ausgerechnet Frankreich die Vertretung der auswärtigen Interessen des Saar- 
gebietes übertragen habe; wenn man also in der Sache der F.L. etwas unternehmen 
‚wollte, müsse man es durch Frankreich gegen Frankreich tun. 

Auch diese Aussprache im Landesrat und scharfe Angriffe in den ZeitungenDie Werbestelle 
fruchteten nichts. Die französischen Werber setzen ihr verbrecherisches Treiben mit yanacn Bere 
unglaublicher Frechheit fort in der Zuversicht, daß der Einfluß Frankreichs in der 
Völkerbundskommission diese Tätigkeit zulasse. Man war nur so vorsichtig, die 
Werbestelle nach ihrer Aufdeckung im ehemaligen Bezirkskommando der Saar- 
brücker Vorstadtstraße nun in ein amtliches Gebäude, in die Bergwerksdirek- 
tion, zu verlegen, und zwar in die Geschäftsstelle des Vertreters des französischen 
Auswärtigen Amtes, Köchlin, der auch 2, Vorsitzender der ‚„Societe des amis de la 
Sarre‘‘ und Führer des berüchtigten ‚„Saarbundes“ ist. 

Diese Ungeheuerlichkeit wurde plötzlich durch den Fall Mathäs offenkundig. Der Maschinist 
Heinrich Mathäs aus Bochum war auf der Suche nach Arbeit im August 1925 auf dem Haupt- 
bahnhof in Essen an einen Werber geraten, der ihn unter Zusicherung guter Arbeitsmöglichkeit 
über Saarbrücken nach dem Grenzort Hanweiler lockte, um ihn zu Fuß nach Saargemünd 
zu dem „‚Arbeitsbureau‘‘ zu führen. Mathäs aber wußte, daß Saargemünd bereits in Elsaß- 
Lothringen liegt, und weigerte sich, weiter zu gehen. Darauf fuhr der Werber mit ihm nach 
Saarbrücken zurück und brachte ihn, wie Mathäs vor der Staatsanwaltschaft in Saarbrücken 
unter Eid aussagte, in die Bergwerksdirektion. Hier auf Zimmer Nr. 17 erfuhr er, daß er für die 
F. L. angeworben werden sollte. Der dortige Beamte erklärte ihm ausdrücklich, daß dieses 
Bureau Werbungsarbeiten für die Legion zu erledigen habe. Mathäs, über die Legion genügend 
unterrichtet, Konnte sich noch der Werbung entziehen. Die Staatsanwaltschaft hat sich der 
Angelegenheit angenommen; ob die Zustände dadurch geändert werden, ist eine andere Frage. 





ie traurigen Folgen des Verhaltens der Regierungskommission machen sich Foigen der 
D:; den Verlustnachrichten aus Marokko ernstlich bemerkbar. Bis Juli 1925 Werbung im 
hatte man Kunde, daß bereits 12 jüngere Saardeutsche gefallen waren, 9 aus Han- z 
weiler, 2 aus Kirkel und 1 aus Rohrbach bei St. Ingbert. Über die Zahl der Verwun- 
deten ist nichts sicheres bekannt. Nur ein im Oktober 1925 entlassener 18jähriger 
Legionär machte darüber einige Angaben. 


Als er zur Legion geschafft wurde, traf er in Constantine mit Elsässern und in Oran mit 
einem frisch aus Metz kommenden Transport von 47 Saarländern zusammen, Leuten aus 
Saarbrücken, Mettlach, Merzig, Völklingen, Dillingen, Saarburg und dem Birkenfeldischen ;man 
hatte sie unter Arbeitsvorspiegelung nach einer Metzer Grube verschleppt und. dort zu Legionä- 
ren gepreßt. Nach einer Ausbildung von 8 Wochen wurde er mit den Saarländern, Elsässern 
und anderen Deutschen, zusammen etwa 160 Mann, an die Front geschickt, während Fran- 
zosen, Schweden und Holländer zurückblieben. Bei einem Überfallim Abschnitt Taza am 6. Juni 
1925 erlitt seine Postenabteilung starke Verluste; er selbst einen Brustschuß. Die ärztliche 
Behandlung soll derart mangelhaft gewesen sein, daß von 23 verwundeten Saarländern inner- 
halb 2 Tagen 7 Mann an Wundfieber starben. Da er nicht mehr kv. war, wurde er mit 20 an- 
deren wieder nach Deutschland abgeschoben, bar jeder Mittel, ohne eine Entschädigung oder 
eine Rente für seine Kriegsverletzung zu erhalten. 

ie Elsaß-Lothringer nehmen in der F.L. eine besondere Stellung ein. Mit der Werbe 
Annektierung des Reichslandes-konnten elsässische und lothringische Legionäre, “gem 

"wenn siein Elsaß-Lothringen geboren waren und vor dem Kriege dort gelebt hatten, 
naturalisierte Franzosen und als solche zum Offizier befördert werden, was anders- 
stämmigen Deutschen versagtist. Ihrer Sprachkenntnisse wegensindsiezur Ausbildung 
und Überwachung der anderen Deutschen in der Legion sowie als Legionswerber und 
Dolmetscher in Werbestellen und Sammellagern sehr erwünscht. Die Werber stellten 
daher auch nach dem Kriege den Elsaß-Lothringern eifrig nach, besonders den Aus- 
gewiesenen und Verdrängten im besetzten Gebiet, die man gern mit dem Versprechen 





































402 DiefranzösischeFremdenlegion 
ce ET BE TITTEN TEE TEE TEE BEE EEE EEE EEE RT ERLERNT TEE EEE EEE DIE SEHE FETTE VENEN ET EEE SER 








köderte, sie könnten ‚als französische Heeresangehörige‘‘ mit ihren in Elsaß-Loth- 
ringen zurückgelassenen Angehörigen und Freunden wieder in Verbindung treten. 

Auch der ausgewiesene Oskar G. hatte eine Wiedervereinigung mit seiner in Mühl- 
hausen zurückgebliebenen Frau erhofft, als er 1920 in die Legion trat; er wurde 
anfangs in Epinal zum Bau von Geschützständen verwendet, bald aber nach Afrika 
verschickt, wo auch ihn die grausame Behandlung zur Flucht trieb. 

Um die Werbung zu erleichtern, verbreiten die französischen Behörden geflissent- 
lich die Behauptung, Elsässer und Lothringer befänden sich nur noch als Offiziere 
und Unteroffiziere in der Legion. Das trifft höchstens für die Elsaß-Lothringer zu, 
die jetzt französische Staatsangehörigkeit haben, aber nicht für die vielen Vertrie- 
benen, die auch nur Kanonenfutter abgaben, wie es oben der Saarländer bestätigte. 


Werbeschriften ie Tätigkeit der Werber wird durch deutsch geschriebene Lockschriften und 
Dee Erzählungen von Abenteuern der Legionäre gut unterstützt?). 
Außerdem versucht man harmlose Aufsätze über die F.L., die aber die Werbung 
fördern, in deutsche Zeitungen zu bringen. Leider gibt es im besetzten Gebiete 
— außer der im Solde Frankreichs stehenden Presse — deutsche Blätter, die es mit 
ihrer Ehre vereinbar halten, solche Werbeaufsätze abzudrucken. 

Auch im unbesetzten Deutschland bringt es französische Unverfrorenheit fertig, 
eine verlogene Flugschrift „Wahrheiten über die Fremdenlegion‘“ durch ihre Ver- 
tretungen in Deutschland, z. B. durch das französische Generalkonsulat in Berlin, 
zu vertreiben. Unter Verschweigung des Drucks und Verlags wird als Verfasser ein 
angeblicher Fremdenlegionär Emil Schmalz genannt, der das Machwerk 1923 in 
Offenburg geschrieben haben soll. Es wäre wichtig, zu erfahren, ob die deutsche 
Regierung gegen die Verbreitung dieser Flugschrift eingeschritten ist. 


Der Legionärsverirag 


RRRNDE.DEL Sin die Opfer der Werber erst einmal in der Werbestelle oder im Sammellager, 
dann hat ihre Freiheit ein Ende; sie werden dauernd überwacht und dürfen das 
Gebäude (meist eine Kaserne) nicht verlassen. Zunächst werden sie einem scharfen 
Verhör über militärische, politische und wirtschaftliche Dinge unterzogen. Kommen 
sie aus einer Fabrik, besonders einer chemischen, so wird aus ihnen herausgeholt, 
was man dort herstellt und durch welches Verfahren. (Handelsspionage!) 

Dann wird ihnen Essen vorgesetzt und bei Wein und Zigaretten schildert man 
ihnen den ‚Dienst in der französischen Kolonie‘‘ oder in ‚der Kolonialtruppe“ in 
den verlockendsten Farben und macht ihnen neben der Aussicht auf ein Handgeld 
von 500 Fr. (jetzt anscheinend nur 750 der entwerteten Fr.) die größten Verspre-/ 
chungen, bis sie schließlich den französischen Schein, den sie meist nicht verstehen, ! 
ahnungslos unterschreiben und sich damit für den Dienst in der F.L. für 5 Jahre’ 
verpflichten. Wer die Unterschrift verweigert, wird durch Entziehung 
der Nahrung und Einzelhaft dazu gezwungen. Nutzt auch das 
nichts, dann wird wirkungsvollere Gewalt angewendet; man sperrt 
den Betreffenden z.B. in eine Zelle, die bis zu 30 cm Höhe mit a | 
angefüllt ist und alle paar Stunden nachgefüllt wird, bis er gefügigist.! 

Nach einigen Legionärsaussagen soll das im besetzten Deutschland unter! 
Ense Papier nur ein vorläufiger Verpflichtungsschein sein; der eigentliche | 
Dienstvertrag werde erst auf französischem Boden, meist in Metz, nach der endgül- | 

tigen ärztlichen Untersuchung unterschrieben. 
tal Die erste ärztliche Besichtigung wegen der Tauglichkeit ist seit einigen Jahren, ' 
da der Menschenfang erfolgreicher ist, etwas gründlicher geworden, aber immerhim! 
noch sehr kurz; es wird nur Wert auf gute Augen, gesunde Zähne und normale Füße} 
gelegt. Früher war die Untersuchung oberflächlich; die Legionärsanwärter wurden? 


ET un 





!) Leider sind die von ehemaligen Legionären verfaßten Schilderungen — auch ohne fran- 
zösische Einwirkung — oft so überspannt und abenteuerlich verfaßt, daß sie, mit phantasie- 
vollen Bildern geschmückt, dann eher anreizend als abschreckend wirken. 








Max Blümner: Ersatz und Werbeverfahren 403 











z. B. im Gänsemarsch an dem Arzt vorübergeführt und dieser rief bei jedem, wenn 
er nur seine vier Gliedmaßen hatte, ‚bon‘. Damit war dessen Einstellung gesichert. 
"Die Einstellung von geistig Minderwertigen ist hierbei nicht ausgeschlossen, 
1920 befand sich ein solcher in der Legion; seine Angehörigen versuchten vergeblich, 
ihn frei zu bekommen. 


erkunft, Namen und Alter kann der Angeworbene nach Belieben angeben; es 
| wird nicht nachgeprüft. Früher war das Mindestalter für den Legionär 18 Jahre; 
seit Juni 1920 wurde es auf 20 Jahre entsprechend der französischen Dienstpflicht, 
heraufgesetzt. Wollen 18- oder 19jährige in die Legion eintreten, so müssen sie 
bestimmungsgemäß eine amtlich beglaubigte Einwilligung des Vaters oder Vor- 
munds vorlegen. Um diese Bestimmungen kümmert sich aber niemand bei der 
Einstellung der Legionäre und niemals wird nach einem Ausweis oder einer Zu- 
stimmungserklärung gefragt. Den Allzujugendlichen wird sogleich im Ton, der 
keinen Widerspruch zuläßt, gesagt: „Sie sind natürlich über 20 Jahre!‘ Nicht nur 
vor dem Kriege sondern bis in die neueste Zeit hinein wird immer wieder bezeugt, 
daß sich dauernd eine große Zahl von Minderjährigen in der Legion befindet. Georg 
Mentler!) erzählt von einem 18jährigen Elsässer aus guter Familie, der in der Legion 
zum Trunke angehalten wurde und verkommen ist. Chr. Müller!) berichtet von einem 
17 jährigen, der nach I Dienstjahr in der Legion durch Überanstrengung den Tod fand. 
Rudolf Pohlmey!) erzählt sogar von einem 141, jährigen deutschen Legionär, dessen 
Grab er neben dem anderer Minderjähriger auf dem Legionsfriedhof sah. 


Auf Ansuchen der Eltern oder Vormünder von minderjährigen Legionären hat 
die deutsche Regierung es mehrfach durchgesetzt, daß junge Leute deutscher Staats- 
angehörigkeit, die am Tage des Vertragsabschlusses als Fremdenlegionär nicht voll- 
jährig waren, wieder entlassen wurden. Frankreich sucht diese Reklamationen natür- 
lich mit allen möglichen Vorwänden zu hintertreiben, z. B. wird von einer Ent- 
lassung abgesehen, wenn der Jüngling bei seiner Anwerbung in unwahrer Weise 
seine Volljährigkeit bescheinigt hat oder wenn er eine Strafe abzubüßen hat. 


Herr v. Papen führt in seiner Schrift an, daß das Entlassungsgesuch für einen 15- 
jährigen zurückgewiesen wurde, weil er wegen Fluchtversuchs vor ein Kriegsgericht 
gestellt werden sollte. Das ist vom rechtlichen Standpunkt aus völlig unhaltbar 
und die deutsche Regierung durfte sich mit der Zurückweisung nicht zufrieden geben. 
Es liegt hier einer der Fälle vor, die Dr. Albrecht Weiß in seiner Schrift „Die recht- 
liche Stellung des deutschen Fremdenlegionärs‘ als einen fehlerhaften Anwerbeakt 
bezeichnet; denn die einstellende Behörde mußte von dem Jungen den ‘Nachweis 
des zurückgelegten 21. Lebensjahres fordern; ohne die Ermächtigung des gesetz- 
lichen Vertreters ist die Zustimmung des Minderjährigen zum Eintritt nichtig. 


Das ist Rechtens, wenn auch die französische Regierung nur die Verpflichtung 
zugeben will, einen Legionär zu entlassen, sobald er unter 18 Jahren ist. Bei einem 
Verfahren wegen Flucht eines Minderjährigen muß ein Kriegsgericht gerechterweise 
dahin erkennen, daß keine Fahnenflucht vorliegt, da der Betreffende infolge fehler- 
haften Anwerbeaktes gar: nicht Legionär war. 

Die Franzosen ziehen die Reklamationsverhandlungen derart hin, daß bis zur 
Entlassung eines Legionärs Jahre vergehen; sie geben ihn auch erst frei, sobald er 
das Handgeld von 500 Fr. zurückgezahlt hat und das ist für unvermögende Eltern 
außerordentlich schwer aufzubringen. Der oben erwähnte Kö.... aus Verden, der 
bei seiner Anwerbung 1920 noch nicht 20 Jahre alt war, wurde erst im September 
1922 entlassen. Julius Abendroth, der sich 1920 in der Ulanenkaserne in Saar- 
‚ brücken als Arbeiter für. das zerstörte Gebiet Nordfrankreichs gemeldet hatte und 
mit 17 Jahren in die Legion eingestellt worden war, konnte nach vielen Anstren- 
gungen der Eltern mit Hilfe des Auswärtigen Amtes und des Roten Kreuzes erst 
‘nach 2%, jährigem Dienst freikommen. 


1) Siehe S.391 bzw. 394. 


Minder- 
jährige 


Fehlerhafte 
Anwerbeakte 











404 Die französische Fremdenlegion 
nn nn see 








Was bezüglich des fehlerhaften Anwerbeaktes bei Minderjährigen gesagt wurde, 
gilt auch, wenn der Zustand des Vertragschließenden die freie Willensbestimmung 
bei der Werbung ausschloß. War also die Unterschrift unter die Legionsverpflich- 
tung im Zustande der Trunkenheit, unter Gewalt oder in Geisteskrankheit und 
Geistesminderwertigkeit gegeben, so ist der Vertrag nichtig. Anfechtbar ist er, 
wenn der Wille des Verpflichteten durch falsche Vorspiegelung, arglistige Täuschung 
oder Irrtümer beeinträchtigt war. Beides liegt aber, wie wir in vielen Beispielen 
nachgewiesen haben, in zahllosen Fällen vort). 


Die Verschie- is zum Hauptsammellager Metz, wo in der Regel die Einkleidung vor sich geht, 
Due BE IS die Verpflichteten durch befriedigende Verpflegung, Wein und Zigaretten 
bei guter Stimmung erhalten; dann aber mit der Überführung nach Marseille ins 
Fort St. Jean setzt die rücksichtslose, grauenvolle Legionsbehandlung ein. Über 
die dortigen Schlafräume schreibt J. Abendroth?): „Auf dem Boden lag faulendes 
Stroh, das derartig mit Läusen, Flöhen und Wanzen bevölkert war, daß die einzelnen 
Strohhalme zu leben schienen.‘ Und über die Beschäftigung, die im Steinekarren, 
Abortreinigen usw. besteht, und über die Verpflegung im Fort äußert er sich: „Dann 
wurden wir an die Arbeit getrieben mit rohen Stößen und Flüchen .... je 10. Mann 
erhielten einen Kübel zusammengekochter Kohlblätter und Kartoffeln. Ohne Gabel, 
Messer oder Löffel bekamen wir alles vorgesetzt und sahen uns gezwungen, den 
ekelerregenden Brei mit den Händen aus dem Topf zum Munde zu führen.“ 
Wenn St. Jean überfüllt ist, werden die neuen Legionäre im Fort de Jouvre unter- 
gebracht, wo die Behandlung anscheinend besser ist. Hier gibt es einige „Auf- 
munterungsdeutsche‘“, langgediente Legionäre, die die Aufgabe haben, ihre betro- 
genen und entrüsteten Landsleute durch Schilderungen des besseren Lebens in 
Afrika bei gutem Mut zu erhalten und ihnen alle Befürchtungen auszureden. — 
Nach einem mehrtägigem Aufenthalt in Marseille bringt ein Dampfer den frischen 
Legionsersatz nach Oran in Algerien, von wo aus die Rekruten den verschiedenen 
Fremdenregimentern zugeführt werden. 


Abwehr gegen die Werbung zur Legion 


n der Vorkriegszeit bemühten sich die deutschen Behörden eifrigst, die französische 
ee für die F.L. zu bekämpfen, und unterstützten in jeder Weise die 
bestehenden Stellen zur Warnung vor der Legion; u. a. wurden auch bei allen 
Truppenteilen Vorträge über die F.L. gehalten. Heutzutage genügen die Abwehr- 
maßnahmen der Reichsregierung sowie Aufklärung und Warnung bei weitem nicht, 

Amtliche Das preuß. Ministerium für Handel und Gewerbe hat unterm 23. April 1925 
SE und verordnet, daß in den Fach- und Fortbildungsschulen, in Arbeitsnachweisen und 
nahmen  Berufsberatungsstellen in regelmäßigen Zwischenräumen und bei jeder sich bietenden 
Gelegenheit vor der F.L. gewarnt wird. Wenn, wie behauptet wird, solche War- 
nungen auswanderungslustige Kreise im Hinblick auf die Marokkokämpfe geradezu 
zum Eintritt in die Legion gereizt hätten, dann muß die Aufklärung wohl in falscher 
Weise geschehen sein. Der Unterricht an den genannten Stellen über die Legion und 
ihre Werbetätigkeit, der auch auf alle Reichswehrsoldaten und Polizeibeamte auszu- 

dehnen ist, sollte nach amtlich abgefaßten Aufklärungsschriften erfolgen. 

Im allgemeinen entsprechen die von deutschen Gerichten über Werber verhängten 
Strafen nicht dem furchtbaren Schaden, den sie dem einzelnen und dem Volkstum 
antun. Wohlhat.das Gerichtzu Frankfurta.M. gegenden Privatdetektiv Paul Moysiczik ) 
aus Breslau, der wegen Landesverrats vom Reichsgericht zu 12 Jahren Zuchthaus '! 
verurteilt war und nun noch wegen Verschleppung zur F.L. angeklagt wurde, auf 
eine Gesamtzuchthausstrafe von 121, Jahren, 5600 M. Geldstrafe und übliche 














‘) Siehe auch über die Rechtsungültigkeit des Legionsvertrags S. 405 und die leider ver- 
griffene Schrift von Victor Reven, Die Fremdenlegion (R. Lutz, Stuttgart). 
?) „Im Solde Frankreichs.“ Von Friedrich Wenker. 









































Max Blümner: Ersatz und Werbeverfahren 405 
‚ Nebenstrafen erkannt. Glaubt man aber, daß die 6monatige Gefängnisstrafe gegen 

‚ den früheren Lehrer Schäfer, der vor kurzem 5 junge Deutsche dem Werbelager 
Euskirchen auszuliefern versuchte, oder daß die von der Strafkammer Frank- 

| furt a. M. gegen den Werber Richard Müller verhängte Strafe von I Jahr Gefängnis 

Ä abschreckend wirken und die gewissenlosen und gerissen vorgehenden Menschen- 

\ Tänger künftig von ihrem verwerflichen Treiben abhalten wird? 

- Im Deutschen Offiziersblatt vom 4. November 1925 wird berichtet, daß man vor Schwäche der 
‚ einiger Zeit von fünf ergriffenen Werbern, bei denen viel belastendes Material vor- Kegierung — 
ı lag, zunächst vier laufen ließ und schließlich, auf Druck von Frankreich hin, auch Werbung 
den fünften freigab! Wir können nur dem beipflichten, daß solche Art Einschreiten 

ı die Franzosen nicht veranlassen wird, von der Werbung abzulassen. 

| Dieser Einstellung der deutschen Regierung ist es mit zu verdanken, daß die 

ı Zahl der Deutschen in der Legion ständig wächst!); im Jahre 1925 waren schon min- 

| destens 70 vH aller Legionäre deutscher Abstammung. Der Telegraphenunion zufolge 

ı zählte die F.L. in Marokko im August 1925, 20000 Mann, davon 14000 Deutsche und 

| Deutsch-Österreicher. Von den Verlusten entfielen damals nach dreimonatlichen 

| Kämpfen 2500 Tote und rund 5000 Verwunderte auf die Deutschen. Wenn die ameri- 

ı Kanische Hearst-Presse geringere Zahlen verbreitet, so hat diese Fälschung nur den 

| Zweck, die deutsche öffentliche Meinung zu beruhigen und die Abwehrtätigkeit zu 
schwächen. Frankreich zählt absichtlich nur diejenigen als deutsche Legionäre, die 
! 









1 


der Legion aus dem Reiche zugeführt werden, und unterschlägt all die Deutschen, 
' die es in Österreich, Schweiz, Polen, den Randstaaten, Tschechien, Rumänien und 
Südslawien einfängt. 





arena hätte bei seinem stärksten Anteil an der Zahl der Legionäre wohl Eee 
die größte Veranlassung, gegen die Beseitigung dieser europäischen Schmach auf- "Völkerbund 
I ee: Leider ist von deutscher Seite nichts dafür geschehen; wohl aber haben 
(sich die anderen, von der Legion betroffenen Länder zusammengetan und Anfang 
| 1925 dem Völkerbund eine Denkschrift „L’engagement A la l&gion &trangere et le 
| droit international civil“ überreicht, in der scharf gegen die Art der Verpflichtung 
‚zur F.L. Stellung genommen wird. Diese 8 Seiten umfassende Schrift bemüht sich, 
ı von allem Gefühlsmäßigen abzusehen und nur durch unwiderlegliche juristische Aus- 
‚ führungen die Rechtsungültigkeit des Legionsvertrages nachzuweisen. 
| . Jeder Vertrag müsse ein Erzeugnis des freien Willens sein, dagegen sei der Ver- 
a der einen Sklavenzustand herbeiführt, rechtsungültig. Durch: Unterzeichnung 
des Söldnervertrages gehört aber der Legionär dem französischen Staate wie leib- 
| eigen an; denn der Staat hat dem Legionär gegenüber alle Rechte, der Legionär allein 
alle Pflichten; die Gegenleistung des Staates ist fast null. Der Staat ist dem Le- 
| gionär gegenüber wie der Sklavenbesitzer gegenüber dem Sklaven sein eigener 
Gesetzgeber und Richter. Der Legionsvertrag unterscheidet sich von einem Sklaverei- 
vertrag nur in dem einen Punkte, daß der Söldner nicht verkauft werden kann; 
dafür aber braucht der Staat dem Legionär gegenüber nicht einmal die Vertrags- 
| dauer innezuhalten, sondern kann ihn zu beliebig langem Strafdienst zurückbehalten. 
Die Legionärsverpflichtung sei ein sogenannter „unmoralischer Vertrag‘, wie er in 
| jedem zivilisierten Staat für ungültig erklärt wird; er habe alle kennzeichnenden 
| Merkmale eines Sklavereivertrags und könne daher von keinem anderen Staat als 
nase anerkannt werden. 

Es wird schließlich zur Schaffung einer übervölkischen Bestimmung folgenden 
\ Inhaltes aufgefordert: ‚Ein militärischer Vertrag zwischen einem bestimmten Staat 
„und dem Bürger eines anderen Staates ist nur gültig, wenn der anwerbende Staat 








\  *) Vgl. S. 386, 390, 394, 395. Eine Aufstellung über die Zusammensetzung des 1. Btl. des 
"2. Rgt. in Saida (Stärke850 Mann) am 1.1.1921 gibt der ehem. Legionär Walter Hessel: Deutsche 
146 vH, Russen 12 vH, Ungarn und Tschechen 11 vH, Dänen 8 vH, Franzosen 7 vH, Öster- 


reicher 5 vH, Bulgaren 3 vH, Polen 2 vH, Belgier, Luxemburger, Italiener, Spanier und andere 
| Nationen je ivH. D. Schr. 


| 





406 DiefranzösischeFremdenlegion 


den angeworbenen Fremden naturalisiert. Jederzeit lösbare Dienstverträge be- 


dingen diese Verpflichtung nicht.‘ 

Die Verfasser der Denkschrift geben sich der Hoffnung hin, die Franzosen würden 
niemals mehr Minderjährige einstellen, wenn sie sie naturalisieren müßten, und sie 
würden für die ‚Menschenrechte‘ der als Legionäre naturalisierten Franzosen ein- 
treten. Weit gefehlt! Mit der obigen Bestimmung würde man Frankreich nur das 
Recht in die Hand geben, anderen Staaten die jungen Arbeitskräfte zu rauben 
und sie bis zur Vernichtung zu verbrauchen. Die Werber werden schon für frische 
Ware sorgen. Das einzige Mittel, das gegen die Legion hilft, ist ihre Auflösung; 
leider hat die sonst so vorzüglich verfaßte Denkschrift diesen Schluß nicht gezogen. 


Das Schriftstück mit seinem flammenden Einspruch gegen die Legion hat auf den 
Völkerbund keinen Eindruck gemacht; er, der sich mit allen möglichen nebensäch- | 
lichen Dingen beschäftigt, hat für diese, in das Zusammenleben der Völker tief ein- 
greifende Frage keine Zeit. Man sagt, die Urkunde sei auf Betreiben des französischen 
Vertreters Regnault in einer Versenkung verschwunden — eine Vorbedeutung für den 
Eintritt Deutschlands in den Völkerbund und ein Hinweis, wie bei dieser Völker- | 
gesellschaft Angelegenheiten bearbeitet werden, die Frankreich unangenehm sind. 





Von Major a. D. Hans W. Fell in Berlin 


rankreich verdankt seinen afrikanischen und asiatischen Kolonialbesitz zum 
ee größten Teil den Bajonetten der F.L. In den wasserlosen Wüsten Nord- | 

afrikas, im Mangrovendickicht Dahomes und Madagaskars, in den fieberschwangeren 

Dschungeln Tonkins — überall haben die Bataillone der Heimatlosen für den Ruhm 
ihrer Fahne mit der mageren Inschrift „Valeur et Discipline‘ geblutet und Zehn- | 
tausende der schmucklosen schwarzen Kreuzlein mit Namen und Matrikelnummer | 
zurückgelassen, dieihren Weg zeichnen. Legendäre Heldentaten haben sie verrichtet, | 
die kein Lied, kein Geschichtsbuch meldet. Warum sollten sie auch den Tod fürchten ? ! 
Ihr Leben ist ja tausendmal schlimmer. Die Legion kämpft nicht aus Zwang oder | 
um des Sieges willen, sie kämpft aus „Cafard‘, aus jenem eigenartigen, tollwütigen | 
Halbirrsinn heraus, dem Sterben und Morden Wollust wird, weil das Dasein nicht | 
mehr zu ertragen ist. Die F.L. ist das einzige Regiment des französischen Heeres, | 
| 
N 


Die Legion im Dienst 


bei dem das Rückzugssignal nicht einmal im Manöver geblasen werden darf. 


Vom rein militärischen Standpunkt aus ist die F.L. vielleicht das vollendetste | 
Kampfwerkzeug, das sich ein Führer in Kolonialkriegen — nur für diese wird sie | 
ausgebildet — wünschen kann. Aber mit welchen Opfern wird dieser Ruhm, von || 
dem der arme Söldner selbst gar nichts hat, erkauft! Kein Parlament, keine humani- | 
täre Gesellschaft, keine Regierung fordert Rechenschaft über die Fremden, die seit 
fast hundert Jahren täglich in allen Ecken der Welt für Frankreich verbluten oder | 
unter unsagbaren Qualen an Strapazen, Überanstrengung und Krankheiten zu- N 
grunde gehen. Ihr Tod kostet ja nichts, keine Hinterbliebenenversorgung, keine 
Pensionen, nichts als das schwarze Holzkreuz, das die Fourgons der Kompanie 
in reicher Zahl mitführen. Wo sich eine Aufgabe bietet, deren Lösung nur mit Ver-! 
nichtung der angreifenden Truppe bezahlt werden kann, wo ein Teil der Kolonne! 
geopfert werden muß, um den anderen den Rückzug zu ermöglichen, stets heißt! 
das Kommando: „En avant la legion!“ Wir sehen es in unseren Tagen in Marokko 
und Syrien, wie es seit einem Jahrhundert in Algier, Mexiko, Indien die Regel van] 


die Vorhut des Marsches gegen den Feind, die Nachhut auf dem Rückmarsche, die 
Seitendeckung in dem weglosen Gebirgslande des Rif wie des Dschebel Druz bilden 
die fremden Landsknechte. So schont man das kostbare Blut weißer und farbiger! 
Franzosen, vermeidet peinliche Interpellationen neugieriger Deputierter. | 


F 
N 


























Hans W. Fell: Die Legion im Dienst 407 


| 1): gleiche Grundsatz beherrscht die Ausbildung der F.L. Rücksichtslosester Ein- 


satz und Ausnutzung aller Kräfte bis zum letzten. Weresnicht aushält, mag kre- 


!"pieren. Unter diesem Gesichtspunkt angesehen, ist das Ausbildungssystem recht 


‘ zweckmäßig. Schießen, Felddienst und Exerzieren lernt der Legionär, der ja meist 


bereits in einem anderen Heere die militärischen Grundbegriffe erfaßt hat, spielend. 
Die Hauptsache aber ist für ihn marschieren, marschieren bis die Füße ein blutiger 
Klumpen, die Lungen ein ausgedörrter Fetzen sind, das Gehirn wie geschmolzenes 


- Blei im verblödeten Schädel liegt. Darauf zielt die Ausbildung vom ersten Tage an. 


Jeden Morgen, wenn das lustig hüpfende Signal zum Wecken über die Backstein- 
kasernen von Saida und Sidi-bel-Abbes erklungen ist, wenn die Legionäre in hasten- 


der Eile ihr „jus‘“, den starken, anfeuernden Kaffee hinuntergeschüttet haben, 
" beginnt der Tag mit dem berüchtigten „Dejeuner de la legion‘, dem Legionsfrüh- 
stück. Dreißig Minuten Dauerlauf ohne Pause. Seitenstiche, Atemnot, Herzklopfen 


eibts nicht. „Allez —schieb los!‘“t) Wer nicht mehr kann, wandert, wenn alle Püffe 
des Korporals nichts mehr nützen, zunächst ein paar Tage wegen Dienstverweigerung 
in die „salle de police‘“. 

Ist der Legionär in dieser Knochenmühle einigermaßen trainiert und in die Grund- 
formen des französischen Reglements eingeweiht, so wird er, meist schon nach vier 
bis fünf Wochen, in die Kompanie eingestellt und nimmt dann an der zweiten Stufe 
der Marschausbildung, den wöchentlich mindestens zweimal stattfindenden marches 
militaires, teil. Für diese Übungsmärsche ist eine Mindestleistung von 40 kın vor- 
geschrieben, die, von den reglementsmäßigen Pausen von fünf Minuten je Stunde ab- 
gesehen, in einem Zuge zurückzulegen sind. Das Pensum wird von Zeit zu Zeit auf 
50, manchmal auf 60 Kilometer gesteigert. Die Marschübung wird grundsätzlich um 
| Uhr mittags, also in der heißesten Zeit angetreten, nachdem vorher der gewöhnliche 


 Vormittagsdienst abgehalten worden ist. Die Truppe trägt dabei vollständige 


Feldausrüstung (‚tenue de campagne d’Afrique‘) mit vorgeschriebener Patronen- 
zahl, Brennholz, eiserner Portion, Trinkwasser usw. (Die Fremdenregimenter 
besitzen zwar Feldküchen, müssen aber, da sie häufig in kleinen und kleinsten Ab- 
teilungen verwendet werden, ihre Verpflegung im Gepäck des einzelnen Mannes mit- 
führen.) Es wird auf einer der von den Garnisonsorten ausgehenden schnurgraden 
schattenlosen Militärstraßen bis zur Hälfte der befohlenen Kilometerzahl vormar- 
schiert, dann kehrtgemacht und eingerückt. Irgend eine taktische Idee liegt den 
Märschen nicht zugrunde, sie dienen ausschließlich der Erhöhung ‚der Marschfähig- 
keit. Diese Märsche sind selbst für ältere Legionäre eine furchtbare Quälerei, 
bedeuten eine Auspressung aller Körperkräfte bis zum äußersten. Zurückbleiben, 
schlappmachen gibt es nicht, ist ein unverzeihliches Verbrechen, das schwerste, 
das der Legionär überhaupt begehen kann, denn zum Marschieren ist er da. Ist 
ein Mann gar nicht mehr weiter zu bekommen, so wird er, soweit Platz ist, mit den 
Schultern hinten an eins der Fahrzeuge gebunden und, wenn er die Füße nicht mehr 
regen kann, mitgeschleift. Sind diese „bevorzugten“ Plätze besetzt, so nimmt man 
dem Maroden Waffen und Munition und läßt ihn liegen. Schweifende Beduinen und 
Raubtiere erledigen das weitere. ‚Marche ou creve” — marschier’ oder verreck’! 

In der unglaublichen Marschfähigkeit der F.L. liegt im Kolonialkriege, für den 
sie bestimmt ist, ihr größter militärischer Wert. Keine andere Truppe kann mit der- 
artiger Schnelligkeit an gefährdete Punkte geschoben werden wie sie. Sie erreicht 


| Leistungen, die für Linientruppen undenkbar erscheinen. Das II. Bataillon des 


1. Fremdenregiments legte im ‚Jahre 1912 bei einem Vorstoße an die Marokkogrenze 
in neun Tagen ohne Ruhetag 417 Kilometer zurück, das sind fast 46%, Kilometer 
am Tage. Die Truppe verlor dabei allerdings, ohne ins Gefecht getreten zu sein, 


I. allein 53 Tote und 102 Zurückgebliebene, die auch wohl restlos zugrunde gegangen 
' sind. Noch gewaltigere Strecken bringen die sogenannten compagnies mont&es 


hinter sich, bei denen mit stündlicher Abwechslung die Hälfte der Mannschaft auf 


1) In dem aus allen Sprachen gemischten Legionsjargon = „Vorwärts!“ 
Die französische Fremdenlegion (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 12) 28 





Militärische 
Ausbildung 







































Der Legionär 
als Arbeits- 
soldat 








408 Diefranzösische Fremdenlegion 
a Enns: 
Maultieren reitet, die auch das Gepäck der zu Fuß marschierenden Hälfte tragen. 
Die compagnie montee des 2. Regiments stellte im Jahre 1923 bei einem Übungs- 
marsch in der Umgegend ihrer Garnison den Rekord von 82 Kilometern an einem Tage 
auf. Bei diesen Ziffern muß man sich vor Augen halten, daß sie unter der unbarm- 
herzigen Sonne Nordafrikas etwas ganz anderes bedeuten als im gemäßigten Klima 
Mitteleuropas, und selbst hier würden sie eine ungewöhnliche Leistung darstellen. 
(Übrigens sind alle Vorgesetzten vom Feldwebel aufwärts beritten.) 

Nächst dem Marschieren, das immer in erster Linie steht, wird größter Wert 
auf die Schießausbildung gelegt, in der die Legion auch Vorzügliches leistet, ferner 
auf Patrouillendienst, Ausnutzung des Geländes und Feldpionierdienst. Gefechts- 
übungen im europäischen Sinne werden weniger betrieben, da sie auf afrikanischen 
Kriegsschauplätzen kaum in Betracht kommen. Ebenso wird wenig Wert auf ge- 
schlossenes Exerzieren, Griffe usw. gelegt. Das Ziel der ganzen Ausbildung ist höchste 
Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen Mannes, auf den es 
im Kolonialkampfe ja meistens ankommt. Dem dienen auch die nebensächlicheren 
Dienstzweige, wie Turnen, Boxen, Fechten usw. 

Die Ausbildung liegt im wesentlichen in den Händen der Unteroffiziere. Die 
Offiziere treten in die Erscheinung, wenn die Truppe zum Kriege oder zu größeren 
Übungen die Garnison verläßt, sowie stets bei den geheiligten marches militaires. 
Die Folge davon ist, daß der Legionär bei dem an anderer Stelle behandelten eigen- 
artigen Strafsystem der Willkür der fast durchweg brutalen, ungebildeten und 
moralisch minderwertigen niederen Dienstgrade wehrlos ausgeliefert ist. Die 
meisten Unteroffiziere sind Franzosen!), aber es sind nicht die besten Elemente der 
Linienregimenter, die sich zum Dienste in der F.L. melden. Meist haben sie etwas 
auf dem Kerbholz, das sie durch ihren freiwilligen Eintritt in die Fremdenregimenter 
vergessen machen wollen. Irgendein menschliches Vertrauensverhältnis zu den Vor- 
gesetzten besteht nicht, kann ja auch kaum bestehen. Der Unteroffizier ist der 
mitleidlose Peiniger, der Offizier kennt seine Leute kaum, ist auch naturgemäß durch 
eine unüberbrückbare Kluft von diesem Riffraff aller Länder geschieden. 

Nach vorsichtiger Schätzung sind seit Aufstellung der Legion etwa 200000 
Mann allein im Kampfe gefallen, davon ungefähr die Hälfte bis dreiviertel 
Deutsche. Wieviele Opfer der rücksichtslose und unmenschliche Raubbau mit 
Leben und Gesundheit der Landsknechte, den das Ausbildungssystem der Truppe 
darstellt, im Lauf der Jahrzehnte gefordert hat, wird sich niemals feststellen lassen, 


ie F.L. hat aber Frankreich seine Kolonien nicht nur erobert, sondern sie auch 
DR und wertvoll gemacht. Wohl keiner der unzähligen Abenteuer- 
lustigen und Leichtfertigen, die jährlich den listigen Werbern ins Garn gehen, 
würde auf ihren Schwindel hereinfallen, wenn er wüßte, daß er nicht einem vielleicht 
schweren, aber in seinen Vorstellungen immerhin romantischen Soldatenleben ent- 
gegengeht, sondern in erster Linie ein armseliger, ausgebeuteter Arbeitssklave wird. 
Wer durch Algier, Tunis, in neuerer Zeit auch durch Marokko fährt, denkt wohl 
kaum daran, daß die tadellose breite Chaussee, auf der sein Auto leicht dahinrollt, 
die erstklassige Bahnlinie, die den Schnellzug bis tief in die Wüste führt, das Werk 
jener Männer in der blau-roten, heute kakifarbigen Uniform ist, die er mit miß- 
trauischer Neugier in den Straßen der kleinen nordafrikanischen Garnisonen beob- 
achtet hat. Jener Ausgestoßenen, denen der brave Spießbürger Algeriens gern aus 
dem Wege geht, trotzdem er ihnen alles verdankt. Sobald die Legion in den jahr- 
zehntelangen blutigen Kämpfen die braunen Herren des Landes wieder ein Stück 
ins Innere zurückgedrückt, ihre Blockhäuser tiefer in die Wüste vorgeschoben hatte, 
stellte sie die Flinte beiseite und nahm Schaufel und Hacke, Mauerkelle, Karst und 
Pflug in dierauhe Hand. Sie kann alles, kein einziger Beruf fehlt in diesem Sammel- 
becken verlorener Söhne. Der Geometer im Legionärsrock vermaß das Land, der 


Architekt zeichnete die Pläne der Häuser, der Ingenieur die Karten der Straßen, 


*) Vgl. aber den Aufsatz Blümner über Ersatz und Werbeverfahren, S. 395 in diesem Heft. 








Hans W. Fell: Die Legion im Dienst 409 








Eisenbahnen und Bewässerungsgräben. Die große Masse ihrer Kameraden aber 
'streifte die Ärmel hoch und ging stöhnend und fluchend an die furchtbare Arbeit 
‚unter dem ewig wolkenlosen Himmel. Zehn, zwölf Stunden lang, getrieben von der 
' Fuchtel gefühlloser Vorgesetzter, bedroht durch ein Strafsystem von unmensch- 
‚licher Härte. Und wenn sich die Straßen und Bahnen streckten, wenn fruchtbare, 
"wohlbewässerte Felder sich breiteten, wo vordem dürre Wüste war, und die freund- 
lichen weißen Häuschen der kommenden französischen Ansiedler warteten, dann 
‚schulterten Geometer, Architekt, Ingenieur und Arbeiter wieder ihre Knarren und 
. zogen weiter, zu neuem Kampf, neuer knochen- und nervenzermürbender Schufterei. 


Was Algier ist, wurde es durch die F.L. Ein Beispiel: Vor 60 Jahren war Saida 
ein elendes Araberdorf aus wenigen schmutzigen Lehmhütten, umstanden von ein 
paar struppigen Palmen am Rande eines sumpfigen Tümpels mitten in unfrucht- 
. barer Wüste. Fieberdünste lagerten über der trostlosen Gegend. Heute ist es eine 
' zwar langweilige aber freundliche Kleinstadt mit hübschen Gebäuden und einem 
«schönen Öffentlichen Park, umgeben von Weinbergen und wertvollem Ackerland, auf 
dem zahlreiche Bauern ihr Brot finden. Legionäre des 2. Regiments haben die ersten 
“Häuser, die öffentlichen Gebäude, die mächtigen Kasernen gebaut, haben das Land 
auf viele Kilometer im Umkreis drainiert, haben den Park, der ein Museum der nord- 
afrikanischen Flora ist, unter Leitung eines ihrer Kameraden, eines gelehrten Botani- 
kers, angelegt. 

"So war es seit fast hundert Jahren, so ist es heute. Die gesamten öffentlichen 
"Arbeiten in den Garnisonsstädten der Fremdenregimenter werden von Legionären 
| ausgeführt. Vor mir liegt der Wochendienstplan einer Legionskompanie. Er führt 
fünfmal an Vor- oder Nachmittagen aus: Arbeitsdienst nach Anordnung des Platz- 
"kommandos. Die Zusätze des Feldwebels zeigen, daß darunter etwas anderes zu 
ı verstehen ist, als der Arbeitsdienst, den wir in der alten Armee kannten: 
| 15 Mann zu Arbeiten im Stadtpark, 

30 Mann zu Straßenarbeiten, 

40 Mann zu Arbeiten für die Stadtverwaltung, 

10 Mann zum Futterholen für die Spahikaserne, 

10 Bestrafte zu Reinigungsarbeiten im Eingeborenengefängnis usw. 





| Wir sehen schon aus dieser kurzen Aufzählung, daß der Legionär von Militär- und 
| Zivilbehörden als Mädchen für alles betrachtet wird. Nicht nur, daß er, der weiße Sol- 
dat, dem farbigen Spahi die Arbeit des Futterholens abnehmen muß, er wird sogar 
ı dazu verwendet, reine Zivilarbeit zu leisten, ja, man mutet ihm die Erniedrigung zu, 
| den eingeborenen Strolchen und Verbrechern ihr verpestetes Gefängnis zu reinigen, 
Alle diese Arbeiten gehören zum normalen Dienst des Legionärs und werden nicht 
etwa besonders entlohnt. Die Ausbeutung geht aber noch weiter. Es ist gang und 
gäbe, die Legionäre als Sklaven an Privatunternehmer zu vermieten, und zwar 
werden sie auch dazu kommandiert, ohne daß man sie um ihre Einwilligung fragt. 
| Sie erhalten dann eine gewisse, weit unter den ortsüblichen Löhnen liegende Ent- 
schädigung, müssen aber einen Teil davon an die Kasse ihrer Kompanie abliefern. 


In den neuerschlossenen Teilen Marokkos geht ihre Kolonisationsarbeit genau so 
weiter, wie es die Truppe seit ihrer Gründung gewohnt ist. Auch dort kämpft nur der 
kleinere Teil, der andere scharwerkt an Bahn- und Wegebauten. 


Es mag auch hier an die auf gleichem Gebiete liegende nur noch um viele Grade 
Lentsetzlichere Fronarbeit der Strafabteilungen erinnert werden, auf die an anderer 
Stelle näher eingegangen wird. Denn die Disziplinar-Bataillone gehören zur Legion 
| — dreiviertel ihrer Angehörigen sind ehemalige Legionäre. Das Werk, an dem diese 
ı weißen Slaven zurzeit in der Einöde der Südsahara arbeiten, ist für Frankreich im 
| höchsten Maße lebenswichtig: es sind die strategischen Bahnlinien und Heerstraßen, 
| die die Verbindung zwischen Äquatorial-Afrika, dem Reservoir der schwarzen Armee, 
| und dem Mittelmeer darstellen werden. 





28» 








410 Diefranzösische Fremdenlegion 


Löhnung nd diese todesmutigen Soldaten, diese ausgezeichneten, unermüdlichen Arbeiter 
Una für Frankreich so billig, daß der erbärmlichste chinesische Kuli eine derartige 
Entlohnung ablehnen würde. Wenn man alle ethischen und nationalen Bedenken 
gegen die Legion beiseite läßt, so ist es schon unter rein materiellen Gesichtspunkten 
kaum glaublich, daß sich in unserem real denkenden Zeitalter noch Leute zu Tau- 
senden finden, die ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Arbeitskraft auf fünf lange 
Jahre für einen solchen Spottpreis verkaufen. 

Wie die Besoldungsverhältnisse sich unter der Einwirkung der gegenwärtigen 
französischen Inflation entwickelt haben, läßt sich nicht genau feststellen. Ich 
lege daher die Zahlen der Friedenswährung zugrunde. Danach erhält der Gemeine 
(soldat 2. classe) am Tage 5 Centimes, d.h. nach deutschem Gelde 4 Pfennige! 
Diese fürstliche Summe aber ist nun nicht etwa reines Taschengeld, für das sich der | 
Legionär ‚amüsieren‘ kann, sondern davon muß er auch noch einen Teil seines 
Putzzeuges bestreiten. Der Gefreite (soldat 1. classe) erhält 10, der Obergefreite 
(caporal), auf dem die Hauptlast des Dienstes ruht und der bereits Strafgewalt | 
besitzt, 15 Centimes. Die Löhnung der Unteroffiziere ist demgegenüber leidlich, 
etwa um ein Drittel höher als in den Linienregimentern. Aber wie wenige Legionäre 
bringen es so weit! Wenn man von der militärischen Leistung absieht, so bringt 
jeder Legionär durch seine Arbeit allein das Vieltausendfache dessen ein, was er| 
kostet. Ein schamloseres Ausbeutungssystem dürfte es auf der Welt nicht geben. | 

Versorgung Ebenso sind die Versorgungsverhältnisse, Anspruch auf Pension oder Verstümme- | 
lungsrente hat der Legionär auf Grund seines Vertrages nicht. Wenn Frankreich 
in den letzten Jahren einzelnen Schwerverwundeten kleine Renten zahlt — in einem 
mir bekannten Falle bei völliger Zerschmetterung und Lähmung eines Beines 120 
Inflationsfranken im Vierteljahr — so ist das eine Vergünstigung, die jedenAugenblick | 
wieder aufgehoben werden kann. Erst nach fünfzehnjähriger Dienstzeit, also nach | 
dreimal erneuertem Vertrag, hat der Legionär die Wahl zwischen einer einmaligen 
Abfindung von früher 1500 Goldfranken oder einer Anstellung im niederen Zivil- | 
dienst Algeriens als Straßenwärter, Gefangenenaufseher oder ähnlichem. Das er- | 
reichen natürlich nur die allerwenigsten. | 

Die Beförderungsaussichten in der F.L. können für diese armselige Entlohnung 
keinen Ersatz bieten, sie sind für Ausländer kläglich. Auf dem Papier allerdings steht | 
jedem Legionär sogar die Offizierslaufbahn offen. In Wirklichkeit aber sind selbst die 
Unteroffiziere zu etwa vier Fünfteln Franzosen. Im Jahre 1914 waren unter den 
beiden Regimentern (damals neun kriegsstarke Bataillone) drei ausländische Offi- 
ziere, zwei Dänen und ein Norweger, die aber gleich als Offiziersaspiranten aus ihren 
heimatlichen Armeen in die Legion übergetreten waren. Unter den Adjudants 
(Feldwebel) waren sieben Ausländer, nach den mir gewordenen Auskünften durchweg 
frühere Offiziere anderer Heere. Also auch hier gibt es nichts, was etwa als ideeller | 
Anreiz zum Eintritt in die F.L. reizen könnte, 

Verpflegung Die Verpflegung der F.L. in der Garnison ist nicht schlecht. Wie sie sich ihre Ka- 
sernen selbst baut, ihre Uniformen schneidert, so zieht sie sich auch ihre Lebens- 
mittel an Fleisch und Gemüse selbst. Der Krebsschaden liegt hier in der Kompanie- 
wirtschaft. Wie in den Söldnerheeren des 18, Jahrhunderts erhält auch in der Legion | 
der Chef eine gewisse Pauschalsumme, für die er seine Kompanie unterhalten muß.'! 
Unterschleifen, und zwar vom Kapitän bis zum Küchenunteroffizier, ist dadurch 
Tür und Tor geöffnet. Selbst an den Legionären, den Ärmsten der Armen, wissen! 
sich gewissenlose Vorgesetzte noch zu bereichern. | 

Sanitätsdient Unter jeder Kritik schlecht ist die sanitäre Versorgung der F.L. Der französische‘! 
Militärarzt genießt an sich wissenschaftlich geringen Ruf, und die Sanitätsoffiziere 
der Legion sind wegen ihrer Unfähigkeit, Brutalität und Gewissenlosigkeit be-'] 
rüchtigt. Das Übel liegt aber auch schon im ganzen System und ist vielleicht der! 
deutlichste Beweis dafür, wie wenig in den Soldknechten Frankreichs der Mensch 
geachtet wird. Wer sich krank meldet, ohne geradezu zusammenzubrechen, gilt 
als Drückeberger und wird, fast stets ohne Untersuchung, ‚‚non malade“ geschrieben. 


























































Hans W. Fell: Die Legion im Dienst | 411 








‚Das aber bedeutet nach Legionsgebrauch mindestens acht Tage prison (Mittel- 
arrest). Die Zustände in den Lazaretten sind derartig, daß ich Legionäre gesprochen 
\'habe, die lieber mit 41° Fieber Dienst taten, als in jene Pesthöhlen zu gehen. 


|' bsolute Herrscher im inneren Dienst sind Feldwebel und Korporal. Sie können Innerer Dienst 
N einem mißliebigen Legionär nicht nur das Leben auf seiner Stube zur Hölle 
machen, sondern ihn auch mit leichter Mühe in das unerbittlich arbeitende Räder- 

“werk der Strafmaschine hineintreiben, das den Unglücklichen meist bei den Z&phirs 

It enden läßt. Der Tag des Legionärs ist vom frühen Morgen bis um sieben Uhr abends 

ı von militärischem und Arbeitsdienst ausgefüllt. In den spärlichen Pausen und iR 
|; nachher ist er von der schwierigen und bei der Armut der Leute unter ständigem 
|-Materialmangel leidenden Instandhaltung seiner Bekleidung, Ausrüstung und Be- | 
hwaffnung in Anspruch genommen, auf die in der Legion peinlich genauer Wert N 
gelegt wird. Daß das Kasernenleben bei einer nach Nationalität, Bildung und Her- a 
\ kommen so verschiedenartig zusammengesetzten Truppe für einen seelisch empfind- | 
lichen Menschen zur unerträglichen Qual werden muß, bedarf keiner Erklärung. 
Eine Atmosphäre von Rohheit, Verderbtheit und Lastern jeder nur denkbaren Art 
'"lastet über den Kasernen der Legion. 

Wer nach Beendigung des aufreibenden Dienstes noch Zeit, Lust und vor allem 
Geld hat, mag in die Stadt gehen. Auch dort aber wartet seiner nichts, was ihn 
nur auf Minuten sein elendes Dasein vergessen machen könnte. Das Bürgertum 
| meidet den Legionär wie die Pest, kein noch so einfaches Mädchen würde sich mit 
| ihm einlassen. Die Eingeborenen hassen und die Angehörigen anderer französischer 
| Truppenteile verachten ihn. Es bleibt ihm nur, wenn er noch ein paar Sous besitzt, 
| die Kantine oder einige sog. Cafes niederster Sorte. Er, der dieses Land mit seinem 
| Blute gewonnen und zu einem der wertvollsten Besitztümer Frankreichs gemacht 
hat, ist ein Paria, über den jeder Lump sich erhaben dünkt. 

' Urlaub gibt es natürlich für den Legionär überhaupt keinen. 

| Wenn nicht sein Leben, so mindestens fünf Jahre, fünf endlose, qualerfüllte 
Jahre seines Lebens hat der Legionär geopfert, wenn er leichtsinnig oder ver- 
zweifelt genug war, den teuflischen Kontrakt des Werbers zu unterschreiben. 
Nichts findet er von der vielleicht erträumten farbigen Romantik des ruhmgekrönten 
Soldaten, sondern nur ein graues, unsäglich nüchternes Dasein zermürbender Ar- 
beit, unausdenkbarer Strapazen und nie endender Leiden, wie es kein Zuchthaus- 
sträfling in irgendeinem zivilisiertten Lande auch nur annähernd. zu ertragen hat. 


ee ne 











Die Kriegsschauplätze der Legion 


Von Generalmajor a. D. Prof. Dr. Karl Haushofer in München 


ach dem ersten französischen Kolonialreich, das zwar ohne Verständnis 
der Massen für seinen großartigen Aufbau und die weiten, darin beschlossenen 
Möglichkeiten, aber doch. von großzügigen Männern mit umfassenden Zielen auf- 
gerichtet war und das in dem Riesensturz Napoleons bis auf einige letzte Trümmer 
begraben wurde, hat das zweite Königtum und die zweite Republik, das zweite 
Kaiserreich und die dritte Republik ein zweites Kolonialreich geschaffen. Es wurde 
ein Gebilde von großer Raumweite und mit bedeutenden Möglichkeiten, aber eben . 
doch aus einer zweiten Wahl, als Nachlese des vom Angelsachsentum übrig Ge- 
lassenen und vielfach auf Nebengeleisen zusammengebracht. Es hat viel Gewalt 
und Blut gebraucht, bis es zusammengeleimt war, und der Kitt ist größtenteils deut- 
sches Blut, das der berühmten Fremdenregimenter und Legionen, gewesen. 
Wohl wissen wir aus alter Erfahrung der politischen und Kolonialgeographie, 
| daß man Toren nicht durch die Stimme der Vernunft vom Hineinrennen in ein 
aus Trotz gesuchtes Schicksal abhalten kann; aber trotzdem soll hier versucht 
werden, wenigstens durch einen Rundblick um den Erdkreis zu zeigen, auf welchem 





412 Diefranzösische Fremdenlegion 
m mnmhRhR RR Rn] nn nn 
Boden, in welchem Klima diese Fremdentruppen zu fechten haben, wenn wir 


schon unsere Söhne nicht anders als durch solche Warnung vom Eintritt in ihre 
Reihen zurückhalten können, 


Reines Prestige-Bedürfnis, politischer und wirtschaftlicher Machtwille, durch 


Bevölkerungsdruck in der Heimat nicht gerechtfertigt, hat den Antrieb zur Schaf- 
fung dieses zweiten Kolonialreiches gegeben, und nur die Macht kann es auf die 


Dauer erhalten, freilich wohl nur auf beschränkte Dauer — denn die Füße derer, 
die seinen Leichnam hinaustragen werden, sind schon, wenigstens an einzelnen 








Stellen, vor der Schwelle deutlich erkennbar. Ihre Spuren, ihr bloßer Schatten 
ist hie und da so stark, daß gar kein ernstlicher Kampf um die von anderen Mächten 
begehrten Gebiete stattfinden wird, wenn sich die Ansprüche der Nachfolger wirk- 
lich anmelden. Darum lassen wir die wirtschaftlich verfallenden Reste der west- 


indischen Inselwelt, die Tropenhölle von Guyana-Cayenne und die pazifischen 
Inseln, diesen landschaftlich und klimatisch liebenswürdigsten Teil des französischen 
Kolonialbesitzes, bei unserer Betrachtung beiseite, denn diese Teile werden früher 
oder später durch Zwangskauf, eine in der Ausdehnung der Vereinigten Staaten 
von Amerika häufige Erwerbsform, der großen nordamerikanischen Republik zu- 
fallen, wie ihr Louisiana, eines ihrer besten Terraingeschäfte, für 15 Millionen 
Dollar zufiel, ebenso Haiti, ein weniger günstiges, aber für strategisch nötig gehal- 
tenes Kuratel-Unternehmen, von dem die Union noch manches Kopfzerbrechen 
in der Rassenfrage erleben wird. 

Anders steht es mit den afrikanischen Landräumen der französischen Republik, 
anders auch mit dem reichen hinterindischen Gebiet. Für diese Reichsbestand- 
teile wird Frankreich kämpfen — auch mit der lateinischen Schwester, die An- 
sprüche darauf anmeldet, und soweit wie möglich mit fremdem Blut; gekämpft 
hat es auch schon für seinen Prestigeanteil in Syrien, so wenig er sich auf die Dauer 
bezahlt machen mag. 

Die große Kolonialausstellung in Marseille 1923 bewies dem, der zu sehen ver- 
stand, deutlich, in welchen seiner überseeischen Räume Frankreich noch mit starkem 
Wollen, mit großen Zukunftshoffnungen, mit der rastlos aufgewendeten Arbeit 
Seiner besten Männer vorwärts streben zu können glaubt, und wo man mit müder 
Lässigkeit zu erkennen anfängt: hier sind natürliche Grenzen der Kraft, zu große 
Entfernungen, zu sehr widerstrebende Landesnaturen, auch vielleicht schon zu 
starke Erben in Bereitschaft, denen man lieber rechtzeitig verkauft, als in un- 
günstiger Lage und gezwungen unentschädigt Abtretungen leistet, 

Darum betrachten wir als solche Gebiete, in denen zunächst das fremde, erkaufte, 
gemietete Blut wirklich zur Erhaltung mit Gewalt, wohl noch zur Erweiterung 
eingesetzt werden mag, nur den gewaltigen Komplex des nordafrikanischen Ko- 
lonialreiches (in seinen einzelnen Teilen sehr verschieden nach Wert, Kulturhöhe, 
Eignung als Kriegsschauplatz großen oder kleinen Krieges), den durch Faschoda 
davon abgetrennten Gebietsteil in Ostafrika, und das hinterindische Kolonial- 
reich. Dieses ist freilich für sich allein, wie an der Jahrhundertwende die Denk- 
schrift des japanischen Generalstabschefs Baron Kodama nachwies, gegenüber 
einer asiatischen Macht so gut wie wehrlos — nicht aber, wenn es einer klugen 
Außenpolitik gelingt, Siam mit seinen zehn Divisionen, seinen zehn Millionen 


Menschen und seinen guten, von Frankreich ausgebildeten und organisierten Flug- "F 


streitkräften in das französische Interesse zu ziehen. Ein solcher Erfolg franzö- 


sicher Staatskunst wäre so aussichtslos nicht, denn es ist eine große Frage, ob die '} 
gen Kann, an dieser Stelle Hinterindiens Nach- . 


britische Politik es noch einmal wa 


barn zu vergrämen; eine weitere, ob Japan noch einmal die Kühnheit hat, wie vor 
Shimonoseki, sich auf das kostbare Reisüberschußland zu werfen, wovon es die 


unglückliche deutsche Ostasienpolitik 1895 abhielt, und ob die leisen japanisch- ' 


siamesischen Reibungen, die 
geschwollenen ostasiatischen 
der Südländer für einander n 


Angst vor der schon auf vier Millionen Chinesen an- 
Einwanderung und eine gewisse kongeniale Vorliebe 
icht die Politik des einzigen noch wahlfreien hinter- 

























Karl Haushofer: Die Kriegsschauplätze der Legion 413 








‚ indischen Mittelstaats ganz unerwartete Wege und an die Seite Frankreichs führt. 
' Dann entwickeln sich dort ähnliche Verhältnisse wie in Deutsch-Ostafrika, Mög- 
lichkeiten zu jahrelanger Tropenkriegführung; es ist vielleicht unwahrscheinlich, 


daß neue französische Streitkräfte hinkommen, aber was dort ist, ist eben dort 


‚und wird sich dort ausbluten müssen. 


ie unserer nordischen Rasse ungewohntesten Kriegsverhältnisse, in denen sie ohne 
den Schutz einer überlegenen und liebevoll angewandten Tropenhygiene hin- 


"sterben müssen wie die Fliegen, bestehen in der tropischen Hylaea, demimmerfeuchten 


Tropenwald, in dessen Bereich der größte Teil von Französisch-Hinterindien, des 
belgischen Kongostaats, wie des französischen Kongo, des Deutschland geraubten 
Kamerungebietes, Teile von Zentralafrika und Djibuti gehören. Schlafkrankheit, 
Malaria, Schwarzwasserfieber fordern dort Hekatomben, und man braucht nur 
die Notrufe des trefflichen Arztes, Philosophen und echten Menschenfreundes 
Albert Schweitzer aus seinem Tätigkeitsbereich „zwischen Sumpf und Urwald“ 
zu lesen, um einen Eindruck zu gewinnen, was die Fremdenlegionäre dort erwartet, 


‚ wenn es sich einmal ernstlich darum handelt, einer Krise zu begegnen, in der man 


als Fremdenlegionär nicht mit dem Willen zur Hygiene einer gut erzogenen Schutz- 
truppe eigenen Blutes rechnen darf. Denn eine kämpfende Truppe findet dort 
nicht die Daseinsbedingungen, die wir von lang vorbereiteten Kolonialkriegen 
heute für selbstverständlich halten, sondern etwa solche, wie sie nach der Kata- 
strophe von Kut el Amara trotz dem besten Willen der wenigen und ohnmächtigen 
Hilfsversuche die Inder hinrafften, oder solche, wie wir sie aus den vorzüglichen 
Übersetzungen des französischen Marineoffiziers Septans über „Les Expeditions 
d’Outre-mer“ in Afrika und Asien, auch heute wenig verbessert, Kennen. Denn es 
ist ein ungeheurer Unterschied, ob wenige weiße Führer mit allen Mitteln einer 
großen Expedition durch verderbliche Landschaften bewegt werden oder ob eine 
ganze Truppe aus Klimafremden darin kämpft, und der volksfremde Führer sich 
dann von dem nicht mehr Kampffähigen mit derselben Kühle abwendet, mit der 
Marschall Ney einem Verzweifelnden im russischen Winter beim Rückzug an der 
Beresina zurief: Was willst du, du bist eben ein Opfer des Kriegs! So wird sich 
der künftige Fremdenlegionär auch nicht mit den edlen gegenseitigen Hilfeleistungen 
der Truppe Lettow-Vorbecks trösten dürfen, denn ein solches Kameradschafts- 
verhältnis zwischen Vorgesetzten und Mannschaften kennt die aus verlorenen 
Söhnen zusammengefangene Fremdentruppe nicht. In ihr fällt, wer fällt, und bleibt 
dann der tropischen Hylaea und ihrer Insektenwelt überlassen — und ‚wenn er 
sich aus dem Moder des Urwalds retten könnte, ihrer erbarmungslosen Sonne, 
ihrem giftigen Wasser und ihrer Nahrungslosigkeit. 


us der tropischen Hylaea geht das afrikanische Kolonialreich zunächst in Land- 
N dien über, die großen Völkerbewegungen, also auch kriegerischem Handeln 
günstig, dementsprechend aber auch volkreicher sind und nur mit Gewalt nieder- 
gehalten werden können, die längst von der gemeinsamen Abwehrbewegung des 
Islam gegen den Raub seiner Selbstbestimmung erfaßt sind. Zwischen die beiden 
Kulturgürtel, in deren nördlichem, nordafrikanisch-mittelmeerischen, die fran- 
zösischen Fremdentruppen augenblicklich im Kampfe stehen — und zwar im Rif 
in einem sehr verlustreichen, dem schon viele Tausende deutscher Landeskinder 
zum Opfer gefallen sind, in Syrien in einem schon fast verlorenen Kampf — schiebt 
sich ein seltsamer Schlachtengrund: die Wüste mit ihren Steppenrändern. 

Wohl wissen wir, daß kaum eine natürliche Landschaft von freien und kühnen 
Bewohnern so geliebt wird, wie eben der Wüsten- und Steppenrand, es sei denn 
das Hochgebirge mit seinen Gauen und Tälern; aber die Nomaden, die dort ihre 
Heimat sehen, sind in dünnen Volkszahlen mit allen den Hilfsmitteln ausgestattet, 
die im Frieden und Krieg das Leben in der Steppe und Wüste erträglich machen, 
und sie vermeiden scheu, was darin auf die Dauer tödlich wird, das Marschieren 
in engen, geschlossenen Reihen und Verbänden. Eben das aber ist in diesen Land- 








414 Die französische Fremdenlegion 
III LEERE 
schaften eine der Hauptaufgaben der Fremdentruppen, die man da einsetzt, wo 
man die eigenen Landeskinder schonen will, für die man die kargen Transport- 
mittel, die weniger ausgesetzten Stellen aufspart — vom herben Gesichtspunkt 
des völkischen Selbsterhaltungstriebes mit Recht. 

Eines unterscheidet ja für den nordischen Menschen die Savannen-, Steppen- 
und Wüstenlandschaft zu ihrem großen Vorteil von der immer feuchten tropischen: 
die freie atembare Luft, der Gegensatz zwischen Nachtkühle, ja Frost, und trockener, 
wenn auch hie und da niederwerfender Tageshitze, das klare freiere Licht, die Blick- 
weite, wie sehr auch dazwischen die Fata Morgana das überanstrengte Auge täusche, 
So ist denn, trotz dem lähmenden Durst, der Abhängigkeit von sehr unvollkom- 
menen Transportmitteln, den besonderen Gefahren, die dem Kämpfer zu Fuß 
von leichtbeweglichen Kampfmitteln drohen, das Kämpfenmüssen in Steppe und 
Wüste immer noch weit dem in tropenfeuchter Landschaft vorzuziehen. Und nach 
und nach mag sich des jahrelang verschont gebliebenen Ausländers wohl eine ge- 
wisse Gewöhnung, ja eine rauhe Liebe für Hochsteppe und Wüste bemächtigen, 
die soviele Streiter unserer ersten Kolonialkriege in Südwestafrika ergriff, die zu- 
letzt sogar bewirkte, daß dieser herbste unter den uns vor dem Weltkrieg ver- 
bliebenen Teilen der Erde vielleicht der am meisten und beständigsten unter ihnen 
geliebte war. Aber freilich sind, abgesehen von den Herzbeschwerden wegen der 
großen Höhenlagen, die Kampfbedingungen in Deutsch-Südwest landschaftlich 
zumeist viel günstiger gewesen als in den französischen Wüstengebieten. Und 
gerade in den Mauren und Berbern, den Drusen des Hauran und den Kurden hat 
man auf den französischen Wüstenkriegsschauplätzen einige der tüchtigsten Krieger- 
völker der Erde als Feinde gegenüber. 


nd in diesen Fällen will es die besondere Eigenart des französischen Kolonial- 
ee, dab die eigenartigen Schwierigkeiten subtropischer Bergwelt in Hoch- 
ländern mit besonderen jahreszeitlichen starken und zusammenhängenden Nieder- 
schlägen die Eigenart des Steppen- und Wüstenrandes ergänzen. Das ist die Spiel- 
art der Kampfbedingungen des Rif, die schon in der viel zugänglicheren und ge- 
pflegteren algerischen und tunesischen Halbkulturlandschaft jahrelangen, schweren 
Krafteinsatz forderten, sich aber im Atlas aufs höchste steigern. Wohl geht eine 
wenig leistungsfähige Schmalspurbahn hinter dem ganzen Kriegsschauplatz des 
Rif von Algier zu den großen Siedelungsmittelpunkten Marokkos; aber sie ist 
kaum imstande, den nötigsten Bedarf zu decken, gar nicht im großen Stil Truppen- 
verschiebungen zu genügen, so wie wir etwa die Tätigkeit der Bahnen unmittelbar 
hinter der Front in der Erinnerung haben. Außerhalb des schmalen Bereiches, 
in den diese Bahn etwas von den Vorzügen der Zivilisation hinein verbreitet, an 
die schon oft eine Angriffswelle der Rifleute dicht heranschlug, haben wir es mit 
mittelalterlichen Kampfbedingungen zu tun, die an Ausdauer, Gewöhnung pri- 
mitivster Verhältnisse die höchsten Anforderungen an den einzelnen Streiter wie 
an die Truppe stellen, — und dabei immer mit dem lähmenden Gefühl, daß jeder 
Erfolg ein tapferes Volk sinnlos seiner Freiheit beraubt, um einige wenige reiche 
Leute im Feindesland noch reicher zu machen, die Menschheit als Ganzes noch 
mehr in Fesseln zu schlagen, 


rei Kampfplätze, alle drei mit diesem Fluch beladen, sind es also zunächst, deren 

Landesnatur sich klarmachen muB, wer mit dem bösen Gedanken spielt, sich als 
Völkerdünger schlimmster Art in die französischen Fremdentruppen hineinzu- 
werfen und dort einstampfen zu lassen: Als erster die Stelle, wo das Rif seine Frei- 
heit, die Erze seines Bodens gegen die Fremdlinge von jenseits des Meeres ver- 
teidigt, als zweiter die weite Landschaft in Syrien, wo die Eingesessenen bemüht 
sind, das Joch eines unbegehrten Mandats von den Schultern zu werfen oder doch 
wenigstens wie im Irak Sicherheiten zu gewinnen, daß dieses Joch einmal ver- 
schwinden wird, wenn gewisse Vorbedingungen erfüllt sind; das dritte Kampffeld 
naher Zukunft kann wohl das südostasiatische sein, wo gründliche französische 











Karl Haushofer: Die Kriegsschauplätze der Legion 415 








Landeskenner, wie der Botschafter in Tokio, erst kürzlich von beunruhigenden 


"Nachrichten sprachen, vom Überfall auf Dörfer und dem Bau von Schädel- 
‚pyramiden am Roten Fluß, an jener Stelle, an der Frankreich mit großen Opfern 
eine Kolonialbahn von Hanoi nach dem chinesischen zinnreichen Yünnan hinauf- 


baute durch ein ‘wahres ‚„Todestal‘, in dem jede Schiene auf Tote gebettet ist, 
in dem aber natürlich bei der ersten Eisenbahnunterbrechung gekämpft wie mar- 
schiert werden müßte. Denn gerade diese Bahn ist ja zur Erschließung, zur fried- 


‚lichen Durchdringung von Südchina gebaut worden; daß sie tatsächlich weit eher 


zu einem Werkzeug chinesischer Durchdringung von Französisch-Indochina wurde, 


daß in den 19 Millionen Französisch-Indochinas leicht soviel chinesischer Anteil 
stecken mag, als in den 10 Millionen von Siam, nämlich nicht weniger als 40 Prozent, 


und zwar mit wilden Stämmen und scharfen Kämpfern durchsetzte, ist mehr als 
wahrscheinlich. Der harmloseste Wanderer aber kann sich danach ausrechnen, 
wie es in einem solchen Ringen, wenn die ganze Kraft und Glut des schwerverletzten 
chinesischen Nationalempfindens im Hinterlande emporflammen sollte, mit den 
rückwärtigen Verbindungen stünde, was er zu erwarten hat, wenn er von seiner 
Truppe getrennt wird, wenn er dem mörderischen Klima und sei es nur durch 
einen unzeitigen Fieberanfall seinen Tribut zahlt. 

Je mehr der natürliche Wunsch, in die weite Welt zu fahren, fremde überseeische 
Länder zu betreten und zu erkennen, dem Mitteleuropäer verbaut ist, um so schärfer 


‘muß man ihm die Nachtseiten des Weges zu solchen Erlebnissen durch die fran- 
 zösischen und spanischen, auch die niederländischen Fremden- und Kolonial- 
''truppen zeigen. Leuchtend malt sich der tropische Urwald auf Bücherumschläge, 


in brennenden Farben lockt die Wüste von ihnen herab, und wir sind die letzten, 
die der Jugend die Freude am Erleben außerhalb des Schattens des Heimatkirch- 


'turms mißgönnen. Aber freier Herr seiner Arbeitsleistung und seines Weges durch 


die Welt muß bleiben, wer nicht als Durchschnittsmensch allzu leicht den Tücken 
eines fremden Bodens und eines ungewohnten Klimas erliegen will; und beides 
tritt dem Deutschen in keinem Machtbereich so schonungslos entgegen, wie gerade 
im französischen Kolonialreich und Interessenkreis, den man dort so gern mit 
deutschem Blute schützt und weitet. Dabei soll nicht geleugnet werden, daß wir 
die Schöpfung des französischen zweiten Kolonialreichs mit seinen 12 Millionen 
qkm — um ein Viertel größer als Europa! — für eine bewunderungswürdige Tat 
eines raumwachen Volkswillens halten, auch wenn wir die dabei angewandten 


' Methoden, vor allem die Verwendung fremden Blutes nicht billigen können. Vom 








Standpunkt französischer Außenpolitik kann man uns entgegenhalten: Wenn wir 
genug Menschen fanden, die dumm genug waren, für einen Bettellohn und ge- 
währte Abenteuermöglichkeit ihr Fell zu verkaufen, warum dann nicht zugreifen, 


' wenn der mitteleuropäische Markt die weiße Gladiatorenware darbietet? Aber 


man kann dem entgegenhalten: Eben eure Politik beständiger Beschneidung und 
Verengung des mitteleuropäischen Lebensraumes war es, die für so viele der kühnsten 
und lebendigsten seiner Söhne keine Betätigungsmöglichkeit, keine Weite mehr 


| bot, so daß sie zuletzt auf so unwürdigem Wege den Drang ins Ferne, Weite zu be- 
| friedigen suchten, auch vielfach von falschen Versprechungen verlockt. 


Auch ein anderes soll nicht geleugnet werden, daß jenes weite Reich, gerade 


| weil es einige der schroffsten Klimaunterschiede der Erde enthält, Landschaften von 
| verführerischer Schönheit umschließt, nicht nur an der Küste des Mittelmeers 
| in den Ruinen einer uralten Kultur, mit der Fremdprägung der Schöpfungen des 


Islam, auch gerade in seinen tropischen Bereichen. Niemand, der einmal die maje- 


| stätischen Ruinen altindischer Tempelbauten aus dem Dschungel sich hat erheben 
|'sehen, wird das vergessen. Aber unsere jungen Abenteurer mögen sich klar sein, 
ı daß es sehr selten ist, wenn kriegerische Handlungen gerade an solche Höhepunkte 
| eines sehr weiten Kolonialreichs führen, und daß es ein ganz anderes Ding ist, 
| die Gegensätze der Wüstenlandschaft vom hindurchgleitenden Dampfer oder aus 

der eigenen Karawane zu beobachten, als sich todmüde mit schwerem Gepäck, an 








416 Diefranzösische Fremdenlegion 
EEE EEE EEERESEEEEEETEEDEREEEGEENEEEEEEEEEEEEEEENEEEEEEEEREEENEEREEEEEEEEEEEE EEE EEE 












verschmachtenden Kameraden vorbei, durch sie hinzuschleppen; daß es ein anderes ist, 
im weißen Tropenanzug zu sicheren Tageszeiten die Ruinenstätten aufzusuchen 
und die im Verfall noch hinreißend schöne indische Kunst zu bewundern, oder 
in schwülen Tropennächten im Dschungel an solchen Spuren einstiger Menschen- 
würde zu biwakieren, wenn die Stechmücken sie umsingen und Giftschlangen 
durch ihre Gänge huschen, und wenn ein klimagewöhntes, hartes und gegen den 
Söldner der Fremden erbarmungsloses, seinen Boden verteidigendes Volk sich 
zum Überfall heranschleicht, lautlos und zeichenlos, wie sich Überfälle dort in den 
Tropenländern vollziehen, wo kaum das sich leicht bewegende hohe Gras verrät, 
ob sich eine Kobra dort durchwindet oder ein schußbereiter, mit den gleichen guten 
Waffen ausgerüsteter, ja vom euramerikanischen Waffenschmuggel vielleicht besser 
als der Fremdenlegionär bedienter Feind. Sein ist die Erde, für die der Fremde 
sinnlos blutet; und die große Bewegung der Geschichte geht darauf hin, jedem 
das Recht auf den Boden wieder zu schaffen, den er mit seiner Mühe bebaut, den 
der Schweiß der Bodenwüchsigen gedüngt hat, nicht fremdes Söldnerblut, das ihn, 
auf die Dauer vergeblich, rötet. 



















































Mit der Legion in Syrien und Marokko 


Selbserlebtes von Alfred Lorensen, ehem. Legionär, in Berlin 


Wir geben aus den uns im Original vollständig vorliegenden Aufzeichnungen von 
Lorensen die im Zusammenhang dieses Heftes besonders interessierende Dar- 
stellung seiner Kriegserlebnisse in Syrien und Marokko. 


N vierteljährlicher Ausbildungszeit in Saida wurde ich anfangs April 1921 zum 4. Batl. des 
4. Regiments versetzt, das zur Bekämpfung Mustafa Kemal Paschas und des Beduinen- 
scheichs Saleh nach Syrien in Marsch gesetzt wurde. Nach sechstägiger Fahrt kamen wir 
am 15. April 1921 wohlbehalten in Beyruth an. Da das Bataillon hauptsächlich aus Deutschen 
bestand, und die Bewohner sehr deutschfreundlich sind, wurde uns ein guter Empfang zuteil. 
Allerdings waren die Einwohner erstaunt, Deutsche als französische Soldaten zu sehen. 
Man griff zu Notlügen: Mit Gewalt erpreßt, in Gefangenschaft geraten usw. Die Führung des 
Bataillons lag in der Hand des Major Wermerch, eines sittlich verkommenen Menschen. 

In Beyruth erhielten wir 120 Patronen und unsere Gewehre. Ich wurde der 13. Kompanie 
zugeteilt. Am 20. April fuhren wir mit dem Dampfer ‚‚Bürgermeister von Helle‘ nach der 
Front. Schon am anderen Morgen landeten wir in L’attaquie, einer kleinen türkisch-arabischen 
Stadt, welche als Operationsbasis im ‚‚Territoir d’Allonit“ galt und auch das französische 
Generalkommando beherbergte. 

Ungewohnt der schweren Last des Tornisters traten wir noch am selben Tag den 36 km 
langen Marsch nach Babana ins Libanongebirge an. Wir langten ungefähr am anderen Morgen 
kurz vor 3 Uhr vor Babana an und bekamen plötzlich Feuer. Späher der feindlichen Beduinen 
tauchten vor unseren Marschkolonnen auf schnellen Pferden in der Dunkelheit auf, feuerten 
und verschwanden. Wir waren gezwungen, zu halten, wo wir waren, ohne jeglichen Schutz. 
Meine Kompanie war Spitzenkompanie und mußte auch die Vorposten ausstellen. Zwei 
Stunden später kam der Befehl zum Angriff. Trotz des wütenden Feuers waren die Verluste 
im Bataillon gering. Als die 14. Kompanie den Haupteingang des Dorfes besetzte und zum 
Straßenkampf überging, rückte das Bataillon im Verein mit der Gebirgs-Artillerie nach, und 
nach kurzer Zeit wurde das Dorf im Sturm genommen. Ein wahres Blutbad begann. Jeder, 
der mit der Waffe in der Hand angetroffen wurde, wurde niedergemacht, gleichgültig ob Mann, 
Frau, Greis oder Kind. Die Häuser wurden in Brand gesteckt. Was übrig blieb, wurde gefangen 
abgeführt und gekettet zu schwerer Zwangsarbeit überführt. Die Verluste im Bataillon waren 
6 Tote und 16 Verwundete. 10 Tage blieben wir in Babana. Dann ging das Bataillon im Verein 
mit anderen Kräften zum allgemeinen Vormarsch über. Die Gefechte bei Ketif el Bir, Moham- 
med ben Juffir, Bechragi, Kadmus, Nar el Kebir waren nicht besonders ernst, denn die Araber 
streckten größtenteils freiwillig die Waffen. Im August wurden die Feindseligkeiten einge- 
stellt und wir bezogen Ruhestellung in Banias, L’attaquie und Jebli. Dort verrichteten wir 
Brücken- und Straßenbau. Mein Aufenthalt in Syrien dauerte 18 Monate, bis August 1922. 
Im September 1922 wurde ich mit 400 Kameraden wieder nach Afrika zurückbefördert. Die 






















Alfred Lorensen: Mit der Legion in Syrien und Marokko 417 








Verluste im Bataillon vor dem Feinde in Syrien betrugen bis August 1922 18 Tote, 34 Ver- 
ı wundete. Dagegen war die Anzahl der Deserteure bedeutend stärker. Allein von meiner Kom- 
'panie waren in einem Zeitraum von drei Monaten 40 Mann desertiert, die alle glücklich Mu- 
ı stafa Kemal oder den Kaukasus erreicht haben. 


iesmal kam ich zum 1. Regiment nach Sidi-bel-Abbes. Schon nach 10 Tagen wurde ich dem 

1. Bataillon des 1. Regiments in El-Aricha überwiesen. Die 385 km lange Strecke von Bel- 
Abbes dahin wurde in einem Fußmarsche von 7 Tagen mit vollem Gepäck zurückgelegt. 
.El-Aricha ist ein kleiner Posten, 83km von der marokkanischen Grenze entfernt, inmitten 
eines öden, baumlosen Halfagebiets. Hier herrschte ein eintöniger Dienst. Exerzieren, 
" Marschübung, Wachdienst in bunter Reihenfolge, dazu schlechtes Essen, Unterkunft und Be- 
handlung. Hier machte ich zum ersten Male Bekanntschaft mit dem Prison (Arrest). Weil 
| ich bei einem Antreten nicht erschienen war, erhielt ich 8 Tage Prison von dem Capitaine 
" De la Haye. Es war im Monat Januar, bittere Kälte herrschte. In dem engen ungeheizten 
" Raum, wo knapp 8 Mann Platz fanden, waren wir mit 16 Arrestanten untergebracht. Morgens 
um 4 Uhr Wecken, anschließend ohne Kaffee zum Arbeitsdienst, wie Steine schleppen, Sand 
tragen, Exerzieren mit gefülltem feldmarschmäßigen Tornister. Eine Stunde Mittagspause, 
dann dasselbe bis abends um 6 Uhr. Als Verpflegung erhielten wir 16 Mann für einen Tag 
zusammen einen Laib Brot von 2 Pfund, dazu jeder Mann 5 g Fleisch, 2 Löffel Gemüse, Y/, 1 
Brühe mit einer gehörigen Portion Salz, aber kein Trinkwasser. Nicht einmal einen Mantel 
durfte man mit hineinnehmen, und zum Zudecken diente ein kleiner Fetzen von einer ehema- 
\ ligen Decke auf dem blanken Steinboden. Als ich bei einem Besuche des Bataillonskomman- 
ıdeurs La Croix wegen dieser menschenunwürdigen Behandlung vorstellig wurde, erhielt ich 
"noch 4 Tage dazu und wurde in eine Einzelzelle überführt. Dort wurde ich splitternackt aus- 
ı gezogen, auf eine Betonpritsche angebunden und alle 4 Stunden mit einem Eimer eiskalten 
Wasser begossen. Diese Folter dauerte 2 Tage. Am 3. Tage brach ich bewußtlos zusammen 
ı und wurde dem Lazarett mit einer Lungenentzündung überführt, wo ich ungefähr 6 Wochen 
"bei einer erträglichen Behandlung durch den Arzt verblieb. 
Noch volle 4 Monate blieb ich in der Hölle dieser Garnison. Desto mehr begrüßte ich die 
' Stunde im Juni 1923, wo ich als Ersatz zum 2. Regiment nach Marokko ging. 


I)‘ Strecke von El-Aricha nach Oudjda legten wir in 5 Tagen zurück. Oudjda ist die erste 
marokkanische Stadt. Von da aus nahmen wir die Bahn, die uns über Taurid, Guerzit, Sidi 
ı Abdullah, Fez nach Meknes zum 2. Regiment brachte. Ich wurde der 1. Kompanie des Re- 
|'giments überwiesen, welche sich mit den übrigen Kompanien an der Front im mittleren Atlas- 
Gebirge befand. Wieder waren ungefähr 500 km zu Fuß zurückzulegen, um an Ort und Stelle zu 
gelangen. Am 10. Tage, am 14. Juli, kamen wir an. Die französischen Operationen im Atlas- 
Gebirge waren in vollem Gange. Schon am 17. Juli hatte ich mein erstes Gefecht bei Ait- 
| Makhlouf zu bestehen. Wir verloren an diesem Tage 22 Tote und 43 Verwundete, darunter den 
ı Kompanieführer und den Bataillonskommandeur Büchsenschütz, einen Elsässer. Drei Viertel 
der Kompanie waren vernichtet. Am 11. und 13. August hatten wir das Gefecht bei Djebel Idlam 
und am 3. September das bei Ait-Bazza zu bestehen. Auch diese drei letzten Gefechte waren 
ı sehr verlustreich für das Bataillon. Endlich, im Oktober 1923, wurden die Operationen beendigt 
"und wir blieben zurück, um in den neuen, eroberten Gebieten Posten zu bauen. Diese Posten 
werden auffolgende Weise gebaut. Die Steine werden heraufgetragen, von den Macons (Maurern) 
verarbeitet, die sofort anfangen, eine hohe, viereckige, mit Schießscharten versehene Mauer 
aufzuführen. Im Innern dieser Mauer befindet sich eine Baracke für die Mannschaften und eine 
besondere Baracke für die Unteroffiziere und Kommandanten dieser kleinen Festung. Neben- 
| bei noch eine Küche, eine Bäckerei, ein Raum für Lebensmittel, welche alle 6 Monate erneuert 
werden, ein Bassin für Trinkwasser und ein Stall für das Schlachtvieh. Der Posten ist 
| von einem Drahtverhau umgeben, um vor den häufigen feindlichen Angriffe geschützt zu sein, 
Weiter sind zwei Kanonen, 7,5 cm, vorhanden, Maschinengewehre, Minenwerfer usw., um zu 
| jeder Zeit einen Angriff abzuschlagen. Gewöhnlich werden diese Posten auf einer Höhe er- 
| richtet. Die Besatzung beträgt ungefähr 30 Mann, die Chargierten eingerechnet. Nebenbei 
| gibt es dann noch einen Hauptposten, auf dem sich der Kapitän befindet, dieses Fort ist dem- 
gemäß auch größer. 
Volle 17 Monate blieb ich auf einem solchen Posten. Im April 1925 wurde ich auf 20 Tage 
ı nach Kabab auf Urlaub geschickt. Der erste in 5 Jahren Dienstzeit. Wie froh war ich, nach 
| 41/, Jahren mich endlich etwas erholen zu können, aber schon nach 8 Tagen wurde ich mit den 
anderen Urlaubern zurückgerufen, da Abd el Krim den Krieg erklärt hatte. In Meknes wurde 
| ich der Compagnie-Marche (Marsch-Kompanie) zugeteilt. Auf Umwegen erreichten wir Fez 
el Bali, den Hauptbrennpunkt. Es machte den Eindruck, als wollte der an Zahl überlegene 


| 


























































418 Die französische Fremdenlegion 
N TEN TEE FE ET ERITREA TEE TEE NEE EEE TEEN DEE TEEN EEE EEE TEE, 





Feind unsere Kräfte durch stete Beunruhigung langsam zermürben. Im offenen Kampf 
zog er stets den Kürzeren, da unsere Geschütze und Maschinengewehre ihm die nötigen Ver- 
luste beifügten. So gingen die Wochen bis Anfang Mai in kleineren Geplänkeln vorüber. Mit 
welchem Hasse die Rifkabylen uns verfolgten, das sahen wir jedesmal an unseren Toten, 
die auf gräßlichste Weise verstümmelt waren. Daß dieser wilde Haß durch die Art der fran- 
zösischen Kriegsführung in den Kolonien hervorgerufen wird, unterliegt keinem Zweifel. 

So rückte allmählich der 25. Mai 1925 heran. Unser Ziel war Bibane. Bibane liegt im Süd- 
winkel eines Tales. Gegen Südost erhebt sich das Gebirge zu zerklüfteten Höhen, deren steile 
Wände, tiefe Schluchten und Täler zahllose Schlupfwinkel bieten. In diesen kahlen Bergen 
sollten wir den Feind angreifen. Die Kompanie ging unter Führung des Leutnants Riciot als 
Spitze voraus. In dem Augenblick, wo die Kompanie ausgeschwärmt die Schlucht durch- 
schritt, wurden wir von einem mörderischen Gewehr- und Maschinengewehrfeuer emp- 
fangen. Im Eilmarsch durch die Schlucht und vorwärts auf den Berg. Die Gebirgsartillerie 
kam langsam nach. Die Geschütze mußten mit Tauen an den Wänden hochgezogen werden. 
Selbst die Maultiere versagten hier; aber wir Legionäre mußten nieder. Es war 10 Uhr morgens 
und an ein Vorwärtskommen kein Gedanke. Viele Kameraden lagen in ihrem Blute. Endlich, 
kurz nach I Uhr mittags, hatten wir die Hochebene erreicht, stets umschwirrt von den gut- 
sitzenden Schüssen der marokkanischen Schützen. Nun sahen wir die dichten Massen des 
Feindes vor uns. Die Kabylen hatten uns offenbar absichtlich das Plateau erklimmen 
lassen, um keinen von uns entweichen zu lassen. Sie griffen an. Von den Höhen prasselten 
Steine und Felsblöcke herab. Ganze Lawinen von Steinen fielen auf uns herab. Sie hatten aber 
nicht darauf gerechnet, daß unsere Artillerie so schnell folgen würde. Einige Volltreffer in 
ihren Reihen und fluchtartig verließen sie die Hochfläche von Bibane, die sofort von uns aus- 
gebaut und befestigt wurde. An eine Verfolgung war vorläufig nicht zu denken. Jetzt trat der 
Sanitätsdienst erst in Tätigkeit, die Toten wurden gesucht und die Verwundeten auf Trag- 
tieren nach hinten zum Hauptverbandplatz gebracht. Wir hatten in der Kompanie an 
diesem Tage 32 Tote und 68 Verwundete und Vermißte. Im ganzen hat der 25. Mai 1925 den 
Franzosen ungefähr 750 Tote und etwas über 1250 Verwundete gekostet auf einer Frontlänge 
von 8km. Die Nacht blieb ruhig. 

So verging Tag für Tag. Am 21. Juli war das Gefecht bei Tamzimet, das ungefähr 300 Tote 
und etwas über 500 Verwundete und Vermißte kostete. Das Gefecht bei Mulaih Puchdu 
endigte mit einem vollen Rückzuge der Franzosen aus ihren Stellungen vom Hai. Im Sep- 
tember kam ich infolge starken Fiebers nach Meknes zurück und zählte noch 2°’/, Monate bis 
zu meiner endgültigen Befreiung. Die Kämpfe am Rif hatten mir den Rest gegeben. 

(Lorensen wurde nach Ablauf der fünfjährigen Dienstzeit in erbärmlicher Kleidung, in 
seiner Löhnung verkürzt, mittellos bis auf eine Wegzehrung von 10 Frs. entlassen — immer 
noch unvergleichlich glücklicher als seine zahllosen Genossen in den Irrenhäusern, Gefäng- 
nissen und Gräbern Afrikas. D. Schr.) 


Das Strafsystem 
Von Major a. D. Hans W. Fell in Berlin 


Bi: einer kritischen Würdigung des Strafsystems der F.L. muß man, um zu rich- 
tiger Beurteilung zu gelangen, zwei Gesichtspunkte zugrunde legen. Die Fremden- 
regimenter sind als reguläre Einheiten des französischen Heeres wie alle anderen 
Truppen der auf die Zeit Napoleons I. zurückgehenden Disziplinarvorschrift (Manuel 
sur le service interieur des troupes) und Militärstrafgerichtsordnung (Code p&nal mili- 
taire) unterworfen, diesich durch besondere Härte von den gleichartigen Bestimmungen 
anderer Armeen unterscheiden. So kennt das französische Gesetz auch im Frieden 
die Todesstrafe für eine Reihe militärischer Vergehen, die beispielsweise im deutschen 
Heere nur mit Festungs-, Gefängnis- oder in schweren Fällen Zuchthausstrafe 
bedroht werden. Dazu gehören u. a. Meuterei, tätlicher Angriff auf Vorgesetzte 
mit der Waffe und Verrat militärischer Geheimnisse. Das Disziplinarstrafrecht 
beginnt bereits beim Obergefreiten (Caporal), der bis zu drei Tagen salle de police 
(Kasernenarrest) verhängen kann und steigert sich nach dem Dienstgrade bis zu 
der für unsere Begriffe ungeheuerlichen Höhe von 60 Tagen cellule (strenger Arrest) 
beim Regimentskommandeur. Im alten deutschen Heere endete die Disziplinar- 













































Hans W. Fell: Das Strafsystem 419 


(REELEEEENTEEEEEEEETETEEETEREEEESEEEIEEERETEETN TEHERAN HEREIN SEITE EEE NE DEETDEEREN SERIE BESTSEENE ENT BON EHE UTESSSEERERENETESRSITTESER SE BENEES ER TE BITESE STETTEN 
nn ED EEEEEEERISEEEEESSREREENBEESEREEEEEEBEEEEREREIRSSESSEREEEEESBSOSTNIESBSREREDE 





strafbefugnis mit 28 Tagen strengem Arrest, während heute diese Strafe in Friedens- 
zeiten überhaupt abgeschafft ist. | 

Das französische Militärstrafrecht kennt ferner) den in allen zivilisierten Ländern 
gültigen juristischen Grundsatz ‚ne bis in idem‘“ nicht. Es ist dort im Gegenteil 
' Regel, daß jeder Vorgesetzte die von einem seiner Untergebenen verhängte Strafe 
nach Strafart und Strafdauer erhöht. Mir sind Fälle in großer Zahl bekannt, in 
denen eine vom Korporalschaftsführer verhängte Strafe von drei Tagen salle de 
“police beim Kompagniechef auf acht Tage prison (Mittelarrest) und beim Regiments- 

kommandeur auf 40 Tage cellule anwuchs. 

Natürlich ist in einer Truppe wie der Fremdenlegion eiserne Handhabung der 
Disziplin unbedingt notwendig. Diese aus aller Welt zusammengelaufenen Men- 
schen verschiedensten Bildungs- und Moralstandes sind nicht mit den ethischen 
Mitteln zu erziehen, die den Soldaten nationaler Truppenteile Pflichterfüllung 
als selbstverständliche Schuldigkeit gegen das Vaterland erkennen lassen. Die 
F.L. kennt nur die krasseste Abschreckungstheorie und wendet das an sich über- 
mäßig harte Gesetz mit brutalster Strenge an. Jeder Legionsoffizier steht auf dem 
Standpunkt, daß seine Untergebenen tapfere Soldaten, aber Schurken sind, die 
wie schlecht gebändigte Raubtiere einzig durch Furcht im Zaum zu halten sind. 
Selbst ein persönlich so vornehmer und wohlwollender Offizier wie General de 

. Negrier, der die Legion liebte und hochschätzte, hat sich von dieser Auffassung 
" niemals freimachen können, wenn es ihm auch zu verdanken ist, daß die barbarischen 
Strafen des silo und der crapaudine aus der Legion selbst verschwunden sind. 


ie Stufenleiter der Disziplinarstrafen beginnt mit der corv&e extraordinaire 

(Strafarbeitsdienst), die stets tageweise zudiktiert wird und von dem Bestraften 
in der kärglichen Freizeit abzuleisten ist. Schon diese leichteste Strafe ist eine 
erniedrigende Quälerei: beispielsweise Steineklopfen oder Sandfahren, Reinigen 
der städtischen Abortgruben und Eingeborenengefängnisse. Und das unter den 
erbarmungslosen Strahlen der afrikanischen Sonne und in aller Öffentlichkeit, 
vor den Augen und häufig unter Aufsicht grinsender Farbiger. 

Die nächste Stufe ist salle de police, Kasernenarrest, wobei der Legionär 
seinen vollen Dienst zu tun hat, aber die Kaserne nicht verlassen darf und sich in 
den Freistunden alle Viertelstunden auf dem Kasernenhofe beim Unteroffizier vom 
Dienst melden muß, also praktisch keine Minute zur Ruhe kommt. Von 9. Uhr 
abends bis 5 Uhr früh werden die Arrestanten in die stets überfüliten Massenzellen 
eingesperrt. Wer je Gelegenheit hatte, einen Blick in diese fensterlosen, verpesteten 
Höhlen zu werfen, in denen sich auf einem Raume von etwa 5 Quadratmetern 
bis zu vierzig elende Menschen drängen, wird dieses Bild nicht los werden. An ein 
Hinlegen ist natürlich nicht zu denken. Zitternd vor Frost kauern und stehen die 
Gefangenen in ihren dünnen Drillichanzügen dicht aneinandergepreßt umher, 
mühsam nach Luft ringend, im Kot des nie gereinigten Bodens versinkend — um 
am nächsten Morgen hungrig und von Schlafmangel zermürbt ihren schweren 
Dienst anzutreten. Das aber ist die leichteste Arreststrafe, die jeder mißgelaunte 
Sergeant auf die Dauer von acht Tagen verhängen kann. 

Prison, Mittelarrest, wird gleichfalls in ähnlichen Massenzellen verbüßt. Die 
Verschärfung besteht bei ihm darin, daß die Bestraften auf den vierten Teil der 
normalen Verpflegungsration gesetzt sind und schwersten Arbeitsdienst leisten 
müssen. Außerdem haben sie vor- und nachmittags je zwei Stunden Strafexerzieren 
mit dreißig Pfund schwerem Sandsack im Tornister. Das peloton des punis — jedem 
alten Legionär eine unvergeßliche Erinnerung! Einer Gespensterschar gleich, tief 
gebeugt unter der drückenden Last des Tornisters, grünlich die hageren Gesichter 
von der giftigen Luft der Zelle, stampfen die Elendsgestalten in schmutziger Drillich- 
uniform stumpfsinnig zwei lange Stunden in großem Kreise herum, ohne Pause 
angetrieben vom scharfen Kommando des Korporals. Wer zusammenbricht, erhält 
eine schwere Zusatzstrafe wegen „Dienstverweigerung‘. Ein französischer Maler, 
der selbst das Unglück hatte, fünf Jahre lang die capote der Legion zu tragen, 















420 Diefranzösische Fremdenlegion 
 — — — — — — — ———— = === — 


stellte im Jahre 1910 im Pariser Salon ein geradezu erschütterndes Bild aus, ‚Les 
hommes punis“, das die hoffnungslose Entsetzlichkeit dieser täglich wiederholten 
Folter schilderte. Auf Veranlassung des Kriegsministeriums mußte das Bild trotz 
Protestes der Ausstellungsleitung entfernt werden. 

Die höchste Disziplinarstrafe ist cellule, strenger Arrest. Er entspricht dem 
prison, nur daß die Bestraften in Einzelhaft sitzen und außer an den Sonntagen 
als einzige Verpflegung die verringerte Brotration erhalten. Dabei aber bleibt 
auch für sie der gleiche Dienstplan vorgeschrieben, wie er für die Insassen des 
prison gilt, die doch wenigstens täglich zweimal etwas warmes Essen bekommen. 
Und diese Strafe kann bis zu 60 Tagen — sechzig Tagen! — verhängt werden. 
Kein Chronist wird je feststellen, wieviele Menschenleben dieser Tortur im Laufe 
der Jahrzehnte zum Opfer gefallen sind. 

Man bedenke: alle bisher aufgeführten Strafarten stellen die Sühne für kleine 
Disziplinarvergehen dar. Sie hängen von der Willkür irgendeines niederen Vor- 
gesetzten ab. Ein schlecht gereinigtes Gewehr, ein fehlender Knopf, ein unrichtig | 
gepackter Tornister bringt den armen Sünder bei dem infamen System der Zusatz- 
strafen unter Umständen auf Wochen in jene höllischen Löcher, wo er körperliche 
und seelische Qualen zu erdulden hat, wie sie in keinem zivilisierten Lande der 
Welt dem gefährlichsten Verbrecher angetan werden. 

Und es braucht gar nicht viel, bis der Legionär auch die höhere Militärjustiz 
Frankreichs kennenlernt, die sich für ihn in dem wegen seiner unglaublichen Härte 
berüchtigten Kriegsgericht des algerischen XIX. Armeekorps verkörpert. Fran- 
zösische Offiziere haben mir selbst gesagt, daß sie sich keines einzigen Freispruchs 
vor diesem Tribunal entsinnen könnten. Es kennt nur drei Strafen: Tod durch 
Erschießen — Zuchthaus — Zwangsarbeit. Im letzteren Falle wird regelmäßig 
gleichzeitig auf zeitweise oder dauernde Versetzung in das Strafbataillon (Detache- 
ment disciplinaire des incorrigibles) erkannt. 


he ich auf die Verhältnisse bei dieser Truppe eingehe, die in nur allzu engem 

Zusammenhange mit der Fremdenlegion steht, will ich mich kurz mit den Grund- 
sätzen beschäftigen, die bei den Fremdenregimentern für die Beurteilung von Straf- 
taten maßgebend sind. Vier Vergehen sind es, die als die schwerwiegendsten an- 
gesehen und meistens kriegsgerichtlicher Behandlung zugeführt werden: Meuterei 
bzw. tätlicher Angriff auf Vorgesetzte, Desertion, Drückebergerei und Diebstahl 
von Ausrüstungsgegenständen. Daß die beiden erstgenannten Verfehlungen häufig 
mit dem Tode bestraft werden, ist immerhin zu verstehen. Bei den unerträglichen 
Lebensverhältnissen in der F.L. versucht natürlich jeder, sich diesem Sklaven- 
dasein zu entziehen, wenn er auch nur die geringste Möglichkeit dazu sieht. Deser- 
tionsversuche würden, wenn die schweren Strafen nicht abschreckend wirkten, 
bald zu einer Auflösung der Truppe führen. Ebenso ist es klar, daß die Sicherheit 
und Autorität der Vorgesetzten, die unter diesen Verzweifelten eigentlich immer 
in Gefahr ist, durch strenge Strafandrohungen für Disziplinvergehen geschützt 
wird. Anders aber steht es mit den beiden zuletzt aufgeführten Straftaten. Als 
Drückeberger wird jeder bestraft, der sich krank meldet und vom Arzt den gefürch- 
teten Zettel mit dem Befund ‚‚non malade“ erhält. Bei der Unfähigkeit und Ge- 
wissenlosigkeit des Sanitätspersonals aber ist die Aussicht, krank geschrieben zu 
werden, höchstens für den vorhanden, der nicht mehr auf den Beinen stehen kann. 
Ich habe selbst Leute gesehen, die mit 41 Grad Fieber ins Prison eingeliefert wurden, 
weil es dem Herrn medecin major beliebte, den Schwerkranken ohne Untersuchung 
als gesund zu bezeichnen. Das bedeutet für den Unglücklichen im ersten Falle 
mindestens vierzehn Tage Arrest, bei mehrfacher Wiederholung — Kriegsgericht. 
Ebenso liegt es mit dem Diebstahl von Ausrüstungsstücken. 80 bis 90’v. H. der 
kriegsgerichtlichen Verhandlungen dürften sich mit diesem Delikt beschäftigen. 
Gewiß kommt es vor, daß hier und da einer der armselig bezahlten Landsknechte 
eine Drillichhose, eine Schärpe, ein Koppel den raffgierigen Schacherern im village 
negre von Sidi-bel-Abbes für ein paar Centimes verkauft, um sich an dem geliebten 








Hans W. Fell: Das Strafsystem 421 








\„Litre‘“ eine Stunde des Vergessens anzutrinken. Die Regel aber ist es nicht. In 
der F.L. gilt jedoch die Maxime: wem ein Stück seiner Ausrüstung fehlt, der hat 
nes gestohlen und verkauft. Dafür gibt es regelmäßig ohne Gnade mindestens fünf 
Monate Zwangsarbeit — um einen alten Fetzen, der vielleicht einen halben Franc 
"Wert hat. Jeder alte Legionär kennt die Stunden zitternder Angst, wenn ihm ein 
'Uniformteil abhanden gekommen ist. Das Strafbataillon ist ihm sicher, wenn 
"esihmnicht gelingt, den fehlenden Gegenstand, natürlich auf Kosten eines Kameraden, 
ızu beschaffen, „sich damit zu dekorieren‘, wie der Legionsjargon sagt. 


nd damit komme ich auf das Strafbataillon, die „zephirs“. Vor dem Kriege 
bereits hat ein französischer Schriftsteller auf die geradezu grauenhaften Zu- 
‚stände bei dieser Truppe in einem aufsehenerregenden Buche hingewiesen, ‚L’enfer 
du soldat‘‘ — die Hölle des Soldaten.!) Auch in letzter Zeit beschäftigte sich die 
französische Presse wieder mit den berüchtigten ‚‚Bat’s d’Af’‘“ (Bataillons d’Afrique). 
Erfolg hatte sie eingestandenermaßen damit nicht. In die glühende Einsamkeit des 
‚algerischen Südens, wo die Zeltlager der Zephirs stehen, gelangt kein Abgeordneter, 
‚keine Revisionskommission. Nur der Abschaum des französischen Offizierskorps gibt 
‚sich zum Führer dieser Straftruppe her. Die Unteroffiziere, viele davon Farbige, 
sind, wenn auch nur ein Bruchteil der zahllosen Berichte zutrifft, Bestien. Unge- 
nügend ernährt, überanstrengt, mißhandelt müssen die unglücklichen Angehörigen 
‚der Strafbataillone unter starker Bewachung arabischer Gendarmen in einem 
'Klima, in dem körperliche Arbeit für den Europäer an sich fast Selbstmord bedeutet, 
|Straßen- und Bahnbauten ausführen. Selbstverständlich ist ihr Schicksal dort 
‚noch mehr von der Willkür der durchweg moralisch minderwertigen Vorgesetzten 
| ‚abhängig als bei den regulären Truppen. Dem Zephir drohen heute noch "silo und 
|crapaudine als gebräuchlichste Disziplinarstrafen. Von arabischen Sklavenhändlern 
Isoll die französische Kolonialarmee diese Foltern einst gelernt haben. Der silo, 
\der Trichter, ist ein vier Meter tiefes, sich nach unten verengendes Loch im Boden, 
in dem die Insassen nur stehen oder höchstens kauern können. Viele Tage lang 
| stecken die Bestraften in ihren dünnen Drillichanzügen in diesen Löchern, fast er- 
| stickt von den Dünsten ihres eigenen Unrats, am Tage den sengenden Strahlen 
| (der Sonne, nachts der eisigen Kälte der Wüste preisgegeben. Als General de N£grier 
| die damals auch noch bei der Legion verwendeten silos in Sidi-bel-Abbes leeren 
‚ließ, war keiner der Befreiten mehr imstande, zu stehen oder zu gehen. Bei der 
'crapaudine, dem ‚„‚Krötchen‘“, werden den Verurteilten-Hände und Füße auf dem 
|Rücken so eng zusammengeschnürt, daß der Körper einen Halbkreis bildet: Dann 
‚läßt man sie in Hitze, Kälte und Regen auf dem Boden liegen. Nur eine Viertel- 
stunde am Tage werden sie entfesselt, um ihr Stückchen Brot zu verschlingen. 
Noch keiner hat diese Marter überstanden, ohne lebenslängliches Siechtum davon- 
if zutragen. Es ist auch nicht selten vorgekommen, daß die Opfer während der Nacht 
in ihrer hilflosen Stellung von Hyänen oder Schakalen angefressen wurden. Das 
[übliche Anfeuerungsmittel bei den Disziplinarabteilungen ist die Matraque, der 
Kurze, biegsame Stock, den die Beduinen als Viehtreiber benutzen. Die erwähnten 
|französischen Zeitungsmeldungen, die auf den Berichten früherer Z&phirs beruhen, 
'tühren Fälle auf, in denen den Strafsoldaten durch die Stockhiebe ihrer Peiniger 
|Arme und Beine zersplittert wurden. Trotzdem zwang man die Leute zur Weiter- 
arbeit, solange sie bei Bewußtsein waren. 

Wenn ich mich mit den Zuständen in den Strafbataillonen befaßt habe, so liegt 
der Grund darin, daß mindestens Dreiviertel der Zephirs Fremdenlegionäre sind, 
während der Rest etwa zu gleichen Teilen den farbigen Kolonialtruppen und den 
Inationalfranzösischen Einheiten entstammt. Ein großer Teil der Legionäre macht 
"während seiner Dienstzeit mit dieser Hölle Bekanntschaft, die ein Franzose selbst 
inen Schandfleck der Zivilisation nannte, 





1) Vgl. auch den Aufsatz von Erich Brock, Franzosen als Teufel, im Dez.-Heft 1925 der 
3. M. „Französische Militärjustiz‘. 









422 Die französische Fremdenlegion 
ren ei na TEE Fr TE EA MEET CE AT RTALETEET FUEL AET E RAT EE TR EN. DATE ERETRANFAENLT SEE EEBNEERETDEn (SAÄRNTREN DE VARENEFREN SENDE TREE CP EEE URHG VERSENDER ET OO BEER REEER EEE 


Bei Beurteilung des Strafsystems in den Fremdenregimentern darf auch nicht 
vergessen werden, daß jede Strafe von über vier Wochen Dauer nicht auf die Dienst- 
verpflichtung zur Anrechnung kommt und nachgeholt werden muß. Ich habe 
Legionäre kennengelernt, die auf diese Weise die fünf Jahre ihres ursprünglichen 
Kontraktes verdoppelt haben. Irgend ein kleines Versehen, eine harmlose Nach- 
lässigkeit, bildete meist den Beginn — dann setzte zwangsläufig die mitleidlos 
funktionierende Strafmaschine ein. Die Bosheit ungebildeter und urteilsloser 
Unteroffiziere, die gewissenlose Leichtherzigkeit der Offiziere bei grundsätzlicher 
Erhöhung der von ihren Untergebenen verhängten Strafen sind Tausenden zu 
furchtbarem Schicksal geworden. Denn wer die unerhörte Härte dieses Systems 
erst einmal an sich erprobt hat, ist in den allermeisten Fällen nachher ein seelisch, 
moralisch und körperlich gebrochener Mensch. | 

So sieht der Dank Frankreichs für die Toren aus, die verblendet genug waren, 
sich von den Vorspiegelungen skrupelloser Verführer für den Dienst unter der Tri- 
kolore einfangen zu lassen. Ich habe unter Hunderten von Legionären, darunter} 
solchen, die von ihren eigenen Offizieren als tüchtige, pflichttreue Soldaten bezeich-| 
net wurden, keinen einzigen gefunden, der nicht im Laufe seiner Dienstjahre zum 
mindesten einige Male in jenes zermalmende Räderwerk geraten wäre. „Salle de 
police, c’est le normal‘ sagt das Legionärssprichwort. Wer aber erst ein paarmal 
im Arrest saß, gehört schnell zu den Incorrigibles und trägt dann bald den braunen] 
Kittel der Zephirs. 


Die Verschleppung von Kriegsgefangenen in die 
Fremdenlegion 
Von Oberst a. D. Max Blümner in Berlin-Wilmersdorf 


ährend des Weltkriegs haben die Franzosen vielfach in völkerrechtswidriger 

Weise deutsche Kriegsgefangene und Internierte in den Gefangenen- und} 
Sammellagern für die Legion angeworben, ja sogar dazu gepreßt. Einen Beweis 
hierfür liefert uns eine kürzliche Verhandlung vor dem 4. Strafsenat des Reichs- | 
gerichts. Der Bauhilfsarbeiter Georg Mayerhofer aus Bonn arbeitete 1914 bei Kriegs- 
ausbruch in Nancy. Nach mißlungener Flucht kam er in ein Internierungslager, wo 
„es mehr Schläge als Essen‘ gab. Nach drei Wochen rohester Behandlung hatte man 
ihn so weit, daß er sich in die Auslieferung an die Legion ergab, mit der er 1915 bis 
1917 in Algerien und Marokko kämpfte, bis 1919 seine Dienstzeit abgelaufen war. | 

Wie Dr. v. Papen mitteilt, haben sich die beiden elsaß-lothringischen Landes- 
verräter Wetterle und Blumenthal in französischen Zeitungen selbst damit gebrüstet, 
zuerst kriegsgefangene deutsche Soldaten der F.L. zugeführt zu haben. 

Wir müssen sogar den schweren Vorwurf gegen Frankreich erheben, daß es deutsche 
Kriegsgefangene in die Legion verschleppt hat. Es ist im Augustheft 1925 der S. M., 
„Die Zurückführung der deutschen Kriegsgefangenen‘, bereits eingehend besprochen 
worden, wie die damalige deutsche Regierungin unverantwortlicher Weise durch Unter- 
zeichnung des übereilten Waffenstillstandes auf eine einseitige Freilassung der Kriegs- 
gefangenen durch Deutschland einging und wie Frankreich durch immer neue Forde- 
rungen an Deutschland zwei Jahre lang die Freigabe der unglücklichen Kriegsge- 
fangenen hinauszuschieben wußte. Endlich nach ihrer Rückkehr stelltesich heraus, daß 
außer zahllosen anderen Vermißten 650 deutsche Soldaten fehlten, die sich in fran- 
zösischer Kriegsgefangenschaft befunden hatten; teils sind sie von ihren Kameraden 
in französischen Gefangenenlagern gesehen worden, teils haben sie aus ihrer Ge- 
fangenschaft nach Deutschland geschrieben. 

Zur Nachforschung nach ihnen wurden der französischen Regierung in der Zeit 
vom Oktober 1920 bis April 1921 von deutscher Seite vier gedruckte Listen mit 
genauen Angaben über die Vermißten übersandt. Nach. vielen Verhandlungen hat 





| 
| 
I 








|'Max Blümner: Die Verschleppung von Kriegsgefangenen in die Fremdenlegion 423 





dann endlich die französische Regierung eine klägliche Auskunft gegeben. Darnach 
+ sind von den Vermißten 


SL INES ESEL REEL A RS RN ERTL BEN OR WBENE D  R 194 
2. inzwischen heimgekehrt . . 2... BR U RER EN VE EN SR Le 
Bas polnische: Heer eingestellt... N... Et ARE A an ker 
ee (2) in: Frankreich verblieben ns Near +22 
Banden iefangenschaft entwichen‘.. , u." runs ae er. KIELER 
ee Zivilpefänpnis:überwiesen. 2. 2. cn lern ie n eanna 1 
7. von französischen Militärbehörden an deutsche Lazarette oder deutsche Sanitäts- 
Er ESHFDDELOCDE. N a N ALL a en ee 12 
8. solche, von denen lediglich bestätigt wird, daß sie sich zu einem angegebenen Zeit- 
punkt in einem bestimmten Kriegsgefangenenlager bzw. bei einer Kompanie be- 
funden haben, ohne daß ihr weiterer Verbleib festgestellt wird . . . ..... 64 
9. keinerlei Angaben kann das französische Nachrichtenbureau machen über . . . 109 


Man fragt sich hiernach, was mit diesen 109 deutschen Kriegsgefangenen unter 9. 


| "und mit jenen 64 unter 8. geschehen ist, über deren Verbleib nichts festgestellt 
| werden konnte. Und wo sind die 18 aus der Gefangenschaft Entwichenen geblieben, 


\ die ja Deutschland nicht erreicht haben? Wenn sie nicht auf der Flucht erschossen 
"wurden, dann müssen sie doch in Frankreich wieder aufgegriffen sein. Da es die 
Franzosen in ihrer Unmenschlichkeit fertig brachten, auf die Wiederergreifung eines 


geflohenen Kriegsgefangenen, ob tot oder lebend, einen Kopfpreis zu setzen, und die 
' Wiedereingefangenen, auch wenn sie verwundet waren, in entsetzlicher Weise zu 











ı mißhandeln!), so ist es wahrscheinlich, daß sie die wieder eingelieferten Gefangenen 


in die F. L. verschleppten, d.h. sie vor die Wahl stellten, entweder unmenschlich 


"hart bestraft, ja erschossen zu werden oder sich für die F.L. zu verpflichten. 


Auch ist es nicht ausgeschlossen, daß von den 194 gestorbenen Kriegsgefangenen 


(zu 1.) ein Teil erst nach Verschleppung in die F.L. gefallen ist. Haben doch die 


deutschen Behörden niemals erfahren können, auf welche Weise und an welcher Krank- 
heit ein Kriegsgefangener nach dem Waffenstillstand gestorben ist. 


ie Kriegsgefangene zur F.L. gepreßt wurden, wird uns in Friedrich Wenkers 
Buch ‚‚Im Solde Frankreichs‘‘ von Julius Abendroth berichtet. Nach seiner 
Versicherung sind während des Krieges viele deutsche Kriegsgefangene zum Straßen- 
bau in Marokko verwendet worden. Als sie durch die ungeheuren Entbehrungen in 
den wüsten Landstrichen zu Mundraub und kleinen Übergriffen verleitet wurden, 


"ließ man sie zwischen dem Kriegsgericht, das selbst geringe Vergehen mit unmensch- 
lich harten Strafen belegt, und dem Eintritt in die F.L. wählen. Aus Furcht vor 
| den entsetzlichen Strafen entschieden sich viele für die Legion, für die sie sich bis 
f1 Jahr nach Kriegsende verpflichten mußten. 


Ein Bataillon dieser zu Legionären gepreßten Gefangenen sei nach dem von 
hohen Bergen eingeschlossenen Posten Thalihallid verbannt worden; an einem 


"ausgetrockneten Flußbett gelegen, war er so fieberverseucht, daß innerhalb weniger 
‘ Monate die Hälfte der 600 Unglücklichen dahinstarb. Auf dem Friedhof des Postens 
| rage noch hier und da ein Kreuz aus dem Sande, das den Namen des Deutschen, 
I den Tag seiner Kriegsgefangenschaft und seines Todes kündet. 


Ein Student aus Charlottenburg?), der 1914 als Kriegsfreiwilliger des Res.-Inf.-Rgts. 203 


| verwundet gefangen wurde, hörte im Lazarett Calais von französischen Offizieren, daß die 
"Gefangenen der freiwilligen Regimenter, die man alle nach Nordafrika ge- 
Iischafft habe, von Arabern überfallen und ins Innere überführt seien (anscheinend die amt- 
liche Darstellung von der Verbannung in die Wüste)?). — Der 1917 in den Vogesen gefangene 
und März 1925 aus der algerischen Strafkolonie Berruaghia entlassene Deutsch-Österreicher 


1) Vgl. S.M., Augustheft 1925, Die Zurückführung der deutschen Kriegsgefangenen S. 15. 
2) Nach seinem Bericht an Eltern der vermißten 203er. 
3) Schreiben durften sie ja nicht, wie es einer der Freiwilligen, P. aus Charlottenburg, im 


"Pariser Lazarett 1915 jener Schweizerin anvertraute, die nach vermißten 203ern im Auftrage 
ihrer Angehörigen forschte; erst 8 Tage vor seinem Tode durfte P, Nachricht geben. 
Die französische Fremdenleglon (Siidd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 12) 29 








424 Diefranzösische Fremdenlegion 
RE EN EEE EN REED BEE NEAR GETRETEN EEE BE EEE ET EEE SER NT EEE EEE EL EEE RRREEREEEE 








Alois Lange berichtet ebenfalls, daß er mit vielen anderen Kriegsgefangenen bis 1919 beim 
Straßenbau in Marokko verwendet wurde. 1919 wären viele statt ihrer Heimsendung aus 


nichtigen Gründen zu schwersten Strafen verurteilt worden — er zu 5 Jahren Strafkolonie | 


wegen ‚„‚Spionage‘‘, weil man harmlose Lichtbilder bei ihm fand. 

Ähnlich kam, seinem Bericht zufolge, der Kriegsgefangene Philipp Rohrbart vom 3. Bat. 
I. R. 161 am 28. Dez. 1915 in das Strafbtl. nach Bougin; mit 4 andern Deutschen wurde er 
unter dem berüchtigten Maresco beim Wegebau in Setif verwendet und erst nach 8 Monaten 
nach Frankreich zurückgebracht. 

Auch der 1925 aus der F.L. zurückgekehrte H. H., Leipzig, hat vor dem dortigen Land- 
gericht unter Eid ausgesagt, daß er auf Märschen in Nordafrika mehrmals Strafgefangene 
vom Lager Da bel Amre u.a. gesprochen habe, die sächsischen Jägerbataillonen angehört hätten. 

Die Angaben des H.H. bestätigen nur, was der der F.L. vor einigen Jahren entflohene ehem. 
Vizefeldw. Sg. behauptet: in den Gefangenenlagern der F.L., besonders in Tuilat) 
schmachten unter den fürchterlichsten Qualen an 400 Deutsche, meist 
Kriegsgefangene; unter ihnen der (Zahlmeister-)Untoffz. W. der 1. Battr. Feldart.-Rgts. 19 
aus Liegnitz, der am 11. Sept. 1918 auf einem Dienstweg spurlos verschwand; ferner die Flieger- 
leutnants Kurt W., Walter B. und Hst. sowie der Gardejäger Willi Sch. aus Gera, den Sg. 
sofort aus einem ihm vorgelegten Gruppenbild richtig herausfand; schließlich noch der Kriegs- 
freiwillige der 10. Komp. Res.-Inf.-Rgts. 203 H. aus Charlottenburg und der Offz.-Stellver- 
treter im Fußart.-Batl. 88 Schn., Lehrer aus Berlin, der August 1918 nach Bekunden seines 
Batr.-Chefs ‚‚mit großer Wahrscheinlichkeit lebend in Gefangenschaft‘ geraten ist. Diese 
beiden hat Sg. genau beschrieben, sogar mit besonderen, nur Eingeweihten bekannten Kenn- 
zeichen. 


uf Veranlassung der Eltern der von Sg. genannten Kriegsgefangenen hat das 
EN Mate Amt die französische Regierung gebeten, durch eine Umfrage festzu- 
stellen, ob sich die Vermißten in der F.L., ihren Strafkompanien oder Gefangenen- 
lagern befänden. Darauf teilten die Franzosen der Deutschen Botschaft in Paris 
(unter U. P. G. IV. I/A) mit, „daß die von dort erbetenen Listen der für die F.L. 
verpflichteten Deutschen (früheren Kriegsgefangenen) keineswegs diejenigen An- 
gaben enthalten würden, auf die die deutschen Behörden rechnen, da eine ziemlich 
große Anzahl Fremdenlegionäre sich unter falschem Namen und unter Verschleierung 
ihrer Identität verpflichtet hat.‘ Jede Angabe über Fremdenlegionäre wurde rund- 
weg abgelehnt, ‚da keine einen Legionär betreffende Auskunft ohne dessen aus- 
drückliche Ermächtigung gegeben werden kann.‘‘ Damit geben die Franzosen zu, daß 
ehemalige Kriegsgefangene zur F.L. verpflichtet wurden. Warum wird nicht 
deren Ermächtigung zu einer Auskunft über sie herbeigeführt ? 

Der erwähnte H. wurde nach dem Angriff der jungen Regimenter bei Dixmuiden am 
25. Oktober 1914 vermißt. Da berichtet ein Austauschgefangener Dr. Müller, Karlsruhe, 
daß er mit H. zusammen im Lazarett Cassel in Nordfrankreich gelegen habe (wie dieser an 
Oberschenkelschuß). Als aber das Rote Kreuz in Genf beim Lazarett Cassel nach dem Ver- 
bleib von H. fragte, bestätigte der französische Lazarettkommandant telegraphisch, daß H. 
dort gelegen habe, verweigerte aber die Auskunft, wohin er transportiert sei. 

Auch im Fall Hans Schmidt, Breslau (4. Garde-Rgt. z. Fuß 3. M.-G.-Komp., 
vermißt 26. Sept. 1915 zu Varennes), leugnete die französische Regierung solange 
wie möglich; bis sie endlich 1922 eingestehen mußte, daß sich Schm. in der F.L. 
vorgefunden habe, wo er zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt sei. Ist Schm. in- 
zwischen seinen Qualen erlegen oder hat das Auswärtige Amt ihn vergessen ? 

Auf eine deutsch-völkische Anfrage im Reichstage bezüglich unserer Kriegs- 
gefangenen erwiderte Staatssekretär v. Schubert im Februar ds. Js.: „In franzö- 
sischen Händen befindet sich nach sorgfältigen Ermittelungen nur noch ein deutscher 
Kriegsgefangener, namens Hoppe?). Die Meinung, als befänden sich noch zahlreiche 
Kriegsgefangene in französischen Händen, geht darauf zurück, daß die Zahl der 
Vermißten sehr hoch ist und häufig deren Angehörige von Betrügern beschwindelt 


!) Die entsetzlichen Menschenschindereien in diesen Lagern, von den Arabern „Biribi“ 
genannt, schildert der Pariser Schriftsteller Londres in dem kürzlich erschienenen Buche 
„Biribi‘‘ oder ‚Dante hat nichts gesehen“. 


?) Er verbüßt angeblich wegen Mordes lebenslängl. Zwangsarbeit in Cayenne. 






















































































































Max Blümner: Die Verschleppung von Kriegsgefangenen in die Fremdenlegion 425 
(ENDEN ERBETEN FEIERN SE BEFORE RES EGEZASEERGRERET RER ET BPRBLSSURRLEESRESTECNE SORT EBENE ELTERN SERLTETSU (NETTES EEE TEE TEE EEE EEE LET EEE TEEN EEETEN 





werden.‘ Wie kommt der Staatssekretär zu dieser Behauptung? Doch wohl auf Grund 
von Angaben französischer Behörden. Wir haben nach den Kriegsgreuellügen, den 
„Kriegsverbrecher“-Prozessen und Ruhrkämpfen zur Genüge erfahren, daß fran- 
zösische Behörden zur Verdeckung von rechtswidrigen oder unmenschlichen Hand- 
lungen, auch vor Unwahrheiten niemals zurückschrecken. Sie bezeichnen die deut- 
schen Kriegsgefangenen nicht mehr als solche, sondern als Legionäre, Strafgefangene 
oder Verbrecher und führen sie unter anderem Namen; dann glauben sie, leugnen zu 
können, daß noch Kriegsgefangene in ihren Händen sind. 


‘= Wie der Kriegsgefangene Alois Lange bis März 1925 in einer algerischen Straf- 
ı Kolonie zurückgehalten wurde, so können sich noch heute viele, längst tot geglaubte 
Kriegsgefangene in den Klauen der Franzosen befinden, und (wie Langes Freund, 
‚Alfred Hintz aus Netzschkau i. S.) den Mißhandlungen der Franzosen allmählich 
‚ erliegen, wenn wir nicht endlich etwas zu ihrer Rettung unternehmen. 


| Sollten nicht unter den in der Hölle von Cayenne schmachtenden Deutschen auch 
Kriegsgefangene sein, die nach Verschleppung in die F;L. wegen irgendeines angeb- 
‚lichen Verbrechens nach der Heils- oder Teufelsinsel deportiert sind? Von Vieren 
"wissen wirs, daß sie wegen Flucht aus der F.L. zu 20 Jahren bzw. lebenslänglicher 
"Zwangsarbeit verurteilt sind; der eine von ihnen, der am 24. Nov. 1914 verurteilte 
I Georg Batzler, könnte ein nach Nordafrika verschleppter Kriegsgefangener sein. 


Diese vier und weitere sechs Cayenne-Gefangene hat die französische Regierung 
auf eine Anfrage unseres Auswärtigen Amts im Juli 1925 mit Namen genannt. 
Als dann auf die Nachforschung der tapferen Frau Anita Bode aus Danzig ein 
deutsch-österreichischer Arzt aus Paramaribo in Holländisch Guayana schrieb, daß 
nicht 10, sondern noch 100 deutsche (Kriegs-) Gefangene in Cayenne wären!), ersuchte 
das Auswärtige Amt am 16. Sept. 1925 die französische Regierung um eine genaue 
Liste der in jener Strafkolonie befindlichen deutschen Gefangenen unter Angabe von 
Namen und Aufenthaltsort. Am 14. Okt.-1925 wurde von Paris die Übersendung 
des Verzeichnisses in Aussicht gestellt, doch ist es bis heute noch nicht eingetroffen. 








egen unsere Behauptung, daß sich außer Hoppe noch andere deutsche Kriegs- 

gefangene in der F.L., ihren Strafkompanien und Gefangenenlagern befinden, 
wird gern eingewendet: Die zwangsweise eingestellten Legionäre hätten doch 
sicherlich in der vergangenen Zeit aus der F.L. nach Deutschland geschrieben. 
Ganz gewiß, soweit es ihnen gestattet wird; die Legionspost sorgt aber dafür, daß 
Briefe, die die Legion oder Frankreich bloßstellen, Deutschland nicht erreichen. 
Im übrigen werden diese Unglücklichen dahin geschickt worden sein, ‚wo man stirbt“, 
wie es General de N£grier seinen Legionären einst zurief. Oder sie sind auf einem 
Fluchtversuch umgekommen, sitzen im Gefängnis oder im Irrenhaus?). 

Wie man in solchen Fällen in der Legion verfährt, zeigt das nachfolgende, vom 
ehem. Regimentsschreiber der F.L., dem Elsässer Paul Schüler, übermittelte Schreiben 
ı ‚des französischen Kriegsministeriums an den Kommandeur des 1. Fremdenregiments 
ıXJ. I. B. Nr. 148/15. L. J, 1912 v. 2.2. 1912). „Da zurzeit in den deutschen Zei- 
| tungen verschiedene Artikel über die F.L. erscheinen, die sie bloßstellen, gebe ich 
Ihnen die Befugnis, das deutsche Menschenmaterial soweit möglich, auf die entlegen- 
| sten, südlichsten isolierten Posten zu verteilen. Sie wollen übrigens anordnen, daß 
für die Dauer von 6 Monaten die Briefe aller Legionäre, die nach Deutschland 
| adressiert sind, durch die Feldpost vernichtet werden, damit endlich dem Unfug der 
ı Preußenblätter Einhalt getan wird.“ 


en 


1) Von denen niemand etwas wisse, denen niemand helfen könne, die nicht mehr Menschen 
ı seien. Wer je ins Hospital gebracht würde, käme lebend nicht mehr heraus. 

2) Nach einer Mitteilung des ‚‚Berliner Tageblatts‘“‘ vom Juni 1925 beträgt der Abgang in der 
F.L. jährlich 80 vH. In einer Irrenanstalt in Algerien sollen sich allein 585 geisteskranke 
| Legionäre befinden. 


29* 


Wissenschaftliche Rundschau 


Wissenschaftliche Rundschau 


Neue Aufgaben der Ägyptologie 
Von Friedrich Wilhelm Frhr. von Bissing im Haag (Holland) 


it dem Erscheinen des ersten Bandes von Erman-Grapows Wörterbuch der ägyptischen 

Sprache, Spiegelbergs Demotischer Grammatik und bis zu einem gewissen Grad auch 
seines koptischen Wörterbuches ist ein großer Abschnitt in der Geschichte der Ägyptologie 
beschiossen worden: auf die erste, von Peyron und Champollion eingeleitete, von Lepsius, 
Brugsch und Maspero fortgesetzte gleichsam stürmische Eroberung der Hinterlassenschaft 
der Kultur der alten Ägypter, folgte die Zeit geduldiger Forschung, die auf philologischem 
Gebiet immer mit den Namen Ermans, Sethes, Steindorffs verbunden bleiben wird, auf 
archäologischem mit dem Flinders Petries und seiner Schule. In Schaefers Buch von der 
ägyptischen Zeichenkunst, in meinen Denkmälern ägyptischer Skulptur und meinem ‚‚Gronds- 
lag der oostersche kunstgeschiedenis“, in Curtius I. Band seiner Antiken Kunst, ist der 
Versuch gemacht, die Ergebnisse der kunstgeschichtlichen Forschung zusammenzufassen 
und zu einem lebendigen Bild zu gestalten. Aber die Ausgrabungen und die Durchforschung 
der Denkmäler in unseren Museen, der Texte und Zeugnisse aller Art haben den Blick 
dauernd erweitert und uns gelehrt, über die Grenzen Ägyptens hinauszublicken. Äußere 
Umstände haben da zunächst die afrikanischen Nachbargebiete Ägyptens in den Vorder- 
grund geschoben. Die Errichtung des gewaltigen Staudamms bei Assuan setzte große Ge- 
biete Nubiens bis in die Gegend von Kalabsche unter Wasser. Nicht nur die Tempel auf der 
Insel Philae und eine ganze Reihe nubischer Heiligtümer versanken in dem Stausee und 
mußten zu diesem Zweck ausgebessert und widerstandsfähig gemacht werden, sondern un- 
gezählte Begräbnisplätze aller Zeiten wurden ein Opfer der Fluten. Nicht alle, aber doch 
einen beträchtlichen Teil hat die ägyptische Regierung ausgraben lassen; in unsere ägyp- 
tische Sammlung sind reichliche Proben dieser Ausgrabungen durch meine Vermittlung 
gekommen. Durch diese Funde, die in einer Anzahl kleinerer und größerer Veröffentlichungen 
des Archaeological Survey of Nubia vorgelegt wurden, wurde die Aufmerksamkeit der Ge- 
lehrten auf Nubien und den Sudan gelenkt, die seit mehreren Generationen als Stiefkinder 
der Ägyptologie gegolten hatten. Garstang ging nach Mero&, Griffith nach Faras im südlichen 
Nubien und nach Napata am Berge Barkal, Randall Mac Iver und die Mitglieder der ameri- 
kanischen Ekhel-Coxe-Expedition nach Wadi Halfa und zu den nördlicher gelegenen Ruinen- 
stätten von Areika und Kasanog. Einer der Bände befaßte sich auch mit den christlichen 
Kirchen der Gegend um den zweiten Katarakt, während der englische Architekt Somers 
Clarke die koptischen Klöster und Kirchen des eigentlichen Niltals einschließlich Nubiens 
vorlegte, beide leider ohne hinreichende Berücksichtigung des Bildschmucks. Somers Clarke 
legte auch neue Pläne der nubischen Festungen vor; sein Bericht wird aufs glücklichste er- 
gänzt durch Borchardts von der Sieglinexpedition herausgegebene Aufnahmen. Reisner 
aber, der einst in Unternubien die Forschung für die ägyptische Regierung eingeleitet hatte, 
setzte den Spaten in Napata und Mero&, vor allem aber in Kerma am dritten Nilkatarakt 
ein. Keiner jedoch hat sich dem Studium aller Fragen, die mit Nubien zusammenhängen, 
mit solchem Eifer gewidmet wie der Wiener Akademiker Hermann Junker. Er ist zum 
fast leidenschaftlichen Parteigänger der Nubier und der Selbständigkeit ihrer Kultur ge- 


worden, er hat das nubische Problem bis tief ins eigentliche Ägypten verfolgt. Gehörte 
doch lange Zeit der südlichste Teil Ägyptens bis in die Gegend von Edfu zum nubischen Gebiet. | 


Dre der merkwürdigen Tatsachen, die Junker festgestellt hat, nachdem ich zuerst in den | 
„Denkmälern‘“ die Aufmerksamkeit unter rein typologischen Gesichtspunkten darauf! 
gelenkt hatte, ist das späte Auftreten der Neger auf ägyptischen Denkmälern. Im Alten | 


Reich sind sie noch unbekannt, im Mittleren noch keineswegs häufig dargestellt, das Wort 
nehesi bezeichnet vielmehr den Nubier, der südlich von Uaua, dem Grenzgebiet mit der 
unverständlichen Sprache, wohnt. Erst im Neuen Reich, von 1600 ab, begegnen wir auf den 
Denkmälern regelmäßig Schwarzen mit Negertypus. Hier aber erhebt sich ein Problem. 
In eben jenen Gegenden, aus denen uns die ägyptischen Bilder eine reine Negerbevölkerung 


vorführen, wohnten nach dem anthropologischen Befund vorwiegend Hamiten, also Ver- 5 
wandte der Ägypter, wenn auch öfters mit negroidem Einschlag. Anscheinend zog die ägyp- 


tischen Maler der fremde Typus mehr an, sie verallgemeinerten sein Vorkommen. Manche 
dieser ‚„‚Neger‘‘ tragen in Tracht wie Gebärde alle: Anzeichen primitivster Kultur an sich; 
andere haben ägyptische Sitten angenommen, verbinden damit aber allerhand Barbarisches: 
Riesige goldene Ohrringe, Muschelketten um den Hals, Straußenfedern im Haar, Pardelfelle 




























































































Wissenschaftliche Rundschau 427 








"um die Schultern. Nach ihren Gaben zu schließen, sind sie geschickt in mancherlei Arbeit; 
auch hier macht sich der Einfluß ägyptischer Vorbilder geltend. Und so ist es von je ge- 
"wesen. Die Ausgrabungen der letzten ‚Jahrzehnte haben uns gezeigt, wie in den Nilgebieten 


südlich Edfus und vor allem des ersten Katarakts Kulturgebräuche herrschten, die mit 
denen Ägyptens in engster Beziehung stehen; aber sie bewahren Formen und Gebräuche, 


"die der Ägypter längst abgelegt hatte, noch jahrhundertelang. Dabei steht aber diese Kultur 
ı ihrerseits nicht still: sie vervollkommnet die überkommenen Dinge, z.B. die Technik und 


Formgebung der Keramik, sie entwickelt das ererbte Gut weiter und nimmt auch eine Aus- 


"lese vor. Naturgemäß treten die im Land vorhandenen Güter, Gold, Straußenfedern und 


-eier, Leopardenfelle, Elfenbein, stärker hervor. In Kesma, am dritten Katarakt, hat sich 
eine Industrie aus Marienglas geschnittener Tier- und Pflanzenfiguren entwickelt; die Stili- 
sierung mutet zunächst ganz archaisch an. Der Doppeladler, in Ägypten völlig unbekannt, 
begegnet hier um 2400 v. Chr. zum erstenmal neben anderen Doppelwesen. Die nubischen 
Produkte einschließlich der feinen Keramik sind zu allen Zeiten gern nach Ägypten ausgeführt 
worden, meist wohl im Austausch gegen ägyptische Waren. Dieses Vorkommen kann, aber 


ı braucht keinesfalls mit einer stärkeren ägyptischen Besiedlung zusammenzuhängen. Im all- 


gemeinen hatten Nubien und der Sudan nicht allzuviel Anziehendes für den Ägypter, der 
sich beklagenswert fand, wenn er in dem fernen Land etwa seine letzte Ruhestätte suchen 
mußte. Außerhalb der Festungen und Heiligtümer werden nicht viele Ägypter in dem zum 
guten Teil wenig fruchtbaren Land gewohnt haben. 

Aber der Zusammenhang mit dem eigentlichen Ägypten ist nie verloren gegangen: nicht 
in ältester Zeit, als eine einheitliche Kultur herrschte, nicht im Alten Reich, als die Pyramiden- 
erbauer und die Gaugrafen von Assuan ihre Hand nach den Schätzen Nubiens ausstreckten, 
nicht im Mittleren Reich, dessen Könige die stolzen Festungen zur Sicherung von Handel 
und Wandel bauten. Auch nicht im Neuen Reich, als hohe Beamte, Vizekönige gleichsam, 
den Titel eines Königssohnes von Kusch (Südnubien) führten, in Anerkennung gewisser- 
maßen, daß es sich hier um ein selbständiges Königreich handelte. Ganz besonders eng 


- wurde die Beziehung, als mit Pianchi aus dem Sudan gebürtige Könige den Thron der Pharao- 


nen bestiegen. Am Hof von Napata und später an dem von Mero& herrschte ägyptische 
Sitte, aber immer bleibt z. B. in der Form der Pyramiden ein barbarischer Einschlag. Im 
eigentlichen Ägypten aber leiten die äthiopischen Könige, die sich als echte Pharaonen erweisen 
wollen, die Periode der Restauration ein, des Archaismus in Kunst und äußerer Lebensform, 
selbst in Schrift und Sprache, die Ägypten vom 8. bis zum 3. Jahrhundert beherrscht. 
Höchst merkwürdig ist nun, wie der ägyptische Hellenismus auf Nubien und den Sudan 
einwirkt: wir wissen von dem Griechenfreund Ergamenes, der in den ersten Jahrzehnten der 


| Ptolemäerherrschaft Nubien bis in die Gegend des ersten Kataraktes beherrscht. Aber wir 


haben noch viel eindringlichere Zeugnisse in einer merkwürdigen Klasse von Gefäßen, die 


ı vor allem in Nekropolen nördlich des zweiten Kataraktes auftauchen. Sie sind in vorzüg- 


licher Technik hergestellt, meist in Schwarz, Braun oder Rot reich bemalt. Die Zeichnungen, 
Tiere, Pflanzen, selten Menschen, vierlerlei Ornamente, sind stark ägyptisch beeinflußt, 
aber in der Ausführung so frei, geistvoll geradezu, daß die griechische Grundlage, die auch 
aus den Gefäßformen spricht, keinen Augenblick zweifelhaft bleibt. Daß die Töpfe an Ort 
und Stelle hergestellt sind, wo Tonlager von einer Qualität anstehen, die sich in Ägypten 
nirgends findet, kann nicht bestritten werden. Aber ebenso sicher müssen die Vorbilder 
der Zeichnungen im alexandrinischen Kreis gesucht werden: nirgends sonst ist eine so enge 
Vereinigung ägyptischer und griechischer Elemente denkbar. Wir können den Einfluß dieser 
Keramik zunächst in der eigentlich römischen Keramik Nubiens und des Sudans, dann weiter 
in den römischen Fabriken Ägyptens bis zur ‚„‚koptischen‘‘ Ware verfolgen. Während aber 
in Nubien und Mero&@ neben der hellenistisch-römischen Ware stets die einheimischen Gat- 
tungen sich finden, fehlen diese in Ägypten, z. B. in Antinoe&, völlig. Hier tritt dafür die rot- 
gefärbte, an Sigillata erinnernde Keramik viel mehr in den Vordergrund. 


ie nubischen und äthiopischen Funde haben Ägypten in den Kreis der innerafrikanischen 
Kulturen gerückt. Andere Funde haben auf die Zusammenhänge mit den westlichen 
Grenzländern des Niltals, dem alten Libyen, hingewiesen. In ihren Libyan Notes suchten 
Randall-Maciver und Anthony Wilkin nachzuweisen, daß altägyptische Bräuche, Kunst- 
formen sogar ältester Zeit bei den heutigen Kabylen fortleben, Oric Bates stellte in einem 


‚ etwas eilig abgefaßten Buch das Material für die Eastern Libyans zusammen, der gleich 


ihm zu früh verstorbene Georg Moeller suchte auch philologisch enge Zusammenhänge zwi- 


. schen Ägypten und Libyen zu erweisen. Ganz neuerdings hat, zum Teil im Anschluß an die 
ı Forschungen von Leo Frobenius, bekanntlich einer mit Vorsicht zu benutzenden Quelle, 
Elise Baumgärtel den unglücklichen Versuch gemacht, Dolmen und Mastaba in nähere Be- 





428 Wissenschaftliche Rundschau 

EEE EEE EEE ER NEE EEE EEE RETTET Ben 
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ziehung zueinander zu bringen. Ihr „stellt sich jetzt die Entwicklung des frühen ägyptischen 
Grabes so dar: Das Ägypten in der Urzeit eigentümliche Grab ist das Sandgrab, das sich 
zum Grab mit Einsteigeschacht oder Treppe weiterentwickelt. In mittel- oder spätprähisto- 
rischer Zeit wird Ägypten bekannt mit dem Dolmengrab mit Steinhügel, wie es in Nord- 
afrika gebaut wurde, speziell dem Bassinatyp mit Kultnische. Dieser Einfluß trifft ver- 
mutlich zuerst auf Oberägypten. Aus dem Dolmengrab hat sich dann unter Verwendung 
einheimischer Formen die Mastaba entwickelt. Dem Dolmen selbst — in Ägypten aus der 
Frühzeit bisher nur in Hierakonpolis erhalten — steht das Menesgrab am nächsten. Es be- 
gräbt noch oberirdisch und verdeckt die Grabanlage selbst mit dem Schalenbau, dem ägyp- 
tisch umgewandelten Steinhaufen mit Steinkreis, an dessen Außenwand ohne Verbindung 
mit der Grabkammer sich Kultnischen befinden. Später gewinnt das mit Einsteigeschacht 
oder Treppe versehene Sandgrab wieder stärkere Bedeutung; aus der Verbindung von ihm 
mit dem Dolmen entsteht der spätere Typus der Mastaba.“ 

Wirr wie diese „Entwicklungsgeschichte‘“, die allen sicheren Ergebnissen unserer Wissen- 
schaft hohnspricht und dadurch nicht besser wird, daß die Verfasserin unmittelbar danach 
neben den angeblichen Dolmen von Hierakonpolis einen ebenso eingebildeten von Naga ed 
Der stellt, sind alle Ausführungen Elise Baurmgärtels, die sich durch eine gelegentliche Ver- 
mutung Hubert Schmidts anscheinend hat verleiten lassen. Dolmen, um nur eines zu be- 
merken, sind megalithische Bauten. Die unbehauenen Steine aber, die beim Dach oder der 
Fütterung der alten ägyptischen Gräber Verwendung fanden, sind mit verschwindenden 
Ausnahmen von kleinem Maß. Die Datierung der nordafrikanischen Gräber kann keines- 
wegs „auf das Vorkommen des Schnabelnapfes und des Henkelkrugs‘‘ gegründet werden, 
denn unter dem Begriff des Schnabelnapfes faßt E. Baumgärtel die allerverschiedenartig- 
sten Gefäße zusammen — Gußschalen, Gußnäpfe, wie sie bei der Brauerei Verwendung 
finden, Lampen usw. Zu den Henkelkrügen aber ist zu bemerken, daß nach den von der 
Verfasserin nicht berücksichtigten Funden von Abydos in Verbindung mit Darstellungen 
auf Reliefs der 5. Dynastie aus Abusir, Gefäße mit Henkeln im syrischen Kreis heimisch 
waren und von da schon in sehr früher Zeit im Niltal eingeführt wurden. 


ID Betrachtung der Geräte und Waffen aus Feuerstein scheint darauf hinzuweisen, daß 
in ältester Zeit eine nähere Beziehung zwischen Ägypten und Palästina-Phönikien bestand 
und daß diese Beziehungen auch hinüberreichten nach Libyen. Die wahrscheinlichste Annahme 
scheint zu sein, daß eine einheitliche hamitische Bevölkerung damals in diesen Küstenstrichen 
des Mittelmeeres wohnte. Wenn dieser Bevölkerung die älteren Dolmen in Palästina und in 
Libyen zuzuschreiben sein sollten, so ließe sich das Fehlen dieser Grabform in Ägypten 
damit erklären, daß in Unterägypten das Steinmaterial so gut wie fehlt und allfallsiger Ziegel- 
bau-Ersatz zugrunde gegangen wäre. Oberägypten aber ging seine eigenen Wege, die es viel- 
leicht lange vor der Entwicklung jener nördlich-afrikanischen Kultur beschritten hatte. 
Vielleicht sind hier die Feuersteinformen entwickelt, die dann auf den Norden einwirkten. 
Jedenfalls hat sich im Niltal schneller als anderswo eine eigenartige Kultur herausgebildet, 
und die Ereignisse der späteren Zeit zeigen, daß die ägyptische Kultur immer die Neigung 
hatte, über die Grenzen des Niltals auszustrahlen. Die Oasen und das Fayum, z. T. wohl wie 
das westliche Delta von einer libysch-hamitischen Bevölkerung bewohnt, waren die natürlichen 
Vorposten Ägyptens nach Libyen und Libyens nach Ägypten zu. Aber es verdient doch 
festgehalten zu werden, daß jene enge Beziehung der Oasen zum Niltal, die seit dem Neuen 
Reich bis auf unsere Tage fast ohne Unterbrechung bestanden hat, in älterer Zeit bisher 
nicht nachweisbar ist. Manche Annahme libysch-ägyptischer Beziehungen hat bei genauerem 
Zusehen keine Bestätigung gefunden, und mit der Zeit jedenfalls hat das Eindringen hell- 
häutiger, blauäugiger, rothaariger Elemente in Libyen auch einen ethnographischen Gegen- 
satz zu dem rotbraunen Ägypter geschaffen. Der vorsichtigen Forschung bleibt ganz wie 
bei der Bestimmung des Verhältnisses Ägyptens zum Innern Afrikas bei der Würdigung des 
Verhältnisses zu Libyen noch viel zu tun übrig. 

In gewisser Beziehung liegen seit neuestem die Dinge klarer in bezug auf Phönikien und 
Palästina. Die überaus erfolgreichen, wenn auch noch immer nicht genligend bekanntge- 
gebenen französischen Ausgrabungen in Byblos und andere Funde lassen eine Beeinflus- 
sung der phönikischen Kultur durch die ägyptische seit ältester Zeit erkennen. Dabei be- 
wahren die phönikischen Fundstücke meist ihren eigenen Charakter, und die dort entwik- 
kelten Techniken und Formen scheinen seit dem Anfang des Neuen Reiches auf die ägyp- 
tische Kunst eingewirkt zu haben, wie die Sprache jener Länder auf die ägyptische. Bor- 
chardts großangelegter Untersuchung über die kanaanäischen Fremdwörter im Ägyptischen 
und meinem eigenen Versuch über die Stellung der ägyptischen Kunst im Kunstleben der 
Völker muß nun eine weit umfassendere Untersuchung über die Wechselbeziehungen des Nil- 




















Wissenschaftliche Rundschau 429 








tals und seiner asiatischen Nachbarländer folgen. Auch hier muß man in der ältesten Zeit 
einsetzen und bis in christliche Jahrhunderte herabgehen. In Phönikien trafen vermutlich 


'Tauch zuerst ägyptische und kretische Kultur zusammen und erst nach einer hinreichenden 


Erforschung der phönikisch-syrischen Kultur, in der z. B. früh auch Gefäße mit schnabel- 


| förmigem Ausguß auftraten, wird man über die Beziehungen Ägyptens zu Kreta sicher ur- 


teilen können. Es ist höchst merkwürdig, aber in Übereinstimmung mit den antiken Zeug- 
nissen jeder Art, daß die Goldschmiedekunst bei den Fragen nach dem Wesen der phöniki- 


‘schen Kunst eine führende Rolle spielt. 


n den Zeiten der Begründung der ägyptologischen Wissenschaft herrschte vielfach die 

Neigung, Ägypten als den Urbronn aller Kultur zu betrachten, dem nur etwa Indien den 
Rang ablaufen konnte. Mit dem Einsetzen der philologisch-kritischen Methode seit 1880 
etwa trat demgegenüber die mehr isolierende Betrachtungsweise in den Vordergrund. Es 
galt zunächst, die innerägyptische Entwicklung zu begreifen, und weder von ägyptisch- 
semitisch-indogermanischer Sprachvergleichung noch von all zu engen Beziehungen zur 
Afrikanistik wollten die berufensten Forscher viel hören. Einzig die Verwandtschaft mit 
den semitischen Sprachen ließen, anfangs unter dem Widersprüch sehr ernst zu nehmender 
Stimmen, Gelehrte wie Erman, Sethe gelten und wiesen sie in umfangreichen Arbeiten nach. 
Es konnte nicht ausbleiben, daß zu den philologischen Beziehungen auch die kulturellen 
traten, daß Ägypten aus seiner Isolierung wieder befreit wurde. Allmählich lernte man die 
Nachbarländer besser kennen, gewann so eine sichere Grundlage für die Beurteilung. Der 
Aberglaube an ein vor allen Fremden ängstlich geschlossenes Ägypten wurde überwunden. 
Das Niltal stellte sich nun mitten in das Weltgetriebe. Aber noch stehen wir hier überall 
am Anfang, und es werden Jahre dahingehen, ehe auch nur das bereits vorhandene Material 
genügend gesichtet und verwertet sein wird. Aber diese Arbeit wird der Teilnahme weiter 
Kreise sicher sein, denn durch sie werden wir erst die Zusammenhänge begreifen, die die 
orientalischen Völker untereinander und mit den europäischen Ahnen unserer Kultur verknüpfen 


Aus Zeit und Geschichte 


Die Negerfrage in den Vereinigten Staaten 
Von Erich Brock in Freiburg i.B. 


m letzten Jahrhundert begann die Menschheit so schnell anzuwachsen, daß die Überfüllung 

der Erde ein ernst zu nehmendes Problem zu werden anfängt. Während in früheren Jahr- 
hunderten trotz der größeren Geburtenziffern durch Seuchen, kurze Lebensdauer infolge un- 
hygienischen Lebens, große Säuglingssterblichkeit, häufige Kriege, Zölibat eine gewisse natür- 
liche Selbstregulierung der Anzahl der Menschen bestand, hat diese infolge der technischen 
Fortschritte des letzten Jahrhunderts nahezu jede Wirkung verloren. Versuche der Natur, 
ähnlich wie bei plötzlichen Überschwemmungen durch irgendeine Tier- oder Pflanzenart, die 
zufällig auf einmal günstige Vermehrungsmöglichkeiten fand, durch in diesem Falle geistige 
Seuchen das Gleichgewicht wieder herzustellen, wie den Weltkrieg und die russische Revolu- 
tion, blieben unzulänglich; schon nach wenigen Jahren ist der Millionenverlust jenes Jahr- 
fünftes überwunden. Zwischen 1905 und 1911 war die Vermehrung derart, daß in je 60 Jahren 
eine Verdoppelung der Menschenzahl eintrat. Bei einem Fortgang dieses Anwachsens wäre die 
Erde in 120 Jahren am Rande ihrer Fassungskraft; dann würde ein Kampf aller gegen alle 
beginnen, gegen den alles Dagewesene nur ein Kinderspiel bedeutete. Schon der letzte Krieg 
spielte sich zwischen Übervölkerten und Entvölkerten ab. Auch bei Vervollkommnung aller 
denkbaren Boden- und Kraftausnützungsmöglichkeiten ließe sich der Zeitpunkt des Schlusses 
der Vermehrungsmöglichkeit nicht über das Jahr 3000 hinausziehen. 

So werden vermutlich die kommenden Jahrhunderte unter dem Zeichen des Kampfs um 
den Boden stehen. Wenn unter den europäischen Völkern ein gewisses Gleichgewicht hergestellt 
ist, so wird der Rassenkampf an den Platz der innereuropäischen Kämpfe treten. Europa selbst 
hat ihn entfacht. Einerseits dadurch, daß es auch den Farbigen durch technische Vervoll- 
kommnungen die Möglichkeit uferloser Vermehrung bot, andererseits dadurch, daß es sie 
in seinen Dienst zwang und so diesen Völkern, um sie arbeitstüchtiger zu machen, Bildung und 
Selbstbewußtsein vermittelte und gleichzeitig durch skrupellose Ausnützung ihnen das Problem 
aufzwang, ob sie nicht Recht und Macht hätten, für sich selbst zu arbeiten. Auch hier bedeutet 
der Weltkrieg einen Wendepunkt. Läßt sich offenbar geringerwertigen Rassen, wie etwa den 







































































430 Aus Zeit und Geschichte 
sigü4g4g4gßg9g959üg9g4g4gpg5984g4g4191 nennen 
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Negern gegenüber, in aller Ehrlichkeit der Standpunkt verteidigen, daß Europa das Recht, 
ja sogar die Pflicht habe, diese Rassen unter Vormundschaft zu nehmen und daratıs auch für 
sich einen maßvollen Nutzen zu ziehen, so entfernten sich doch die Kolonisationsmethoden der 
europäischen Völker mehr und mehr von diesem berechtigten Ideal. Frankreich insbesondere 
hat während des Weltkrieges weit über eine Million Farbiger auf die europäischen Kriegs- 
schauplätze geführt, von denen Hunderttausende gefallen sind. Diese Farbigen waren selbst- 
verständlich weit entfernt, sich freiwillig für eine unbegriffene und für sie gleichgültige Sache 
zu opfern, sondern wurden zum allergrößten Teil mit Waffengewalt zum Dienst gepreßt. Und 
im Kolonialkrieg selbst sind weitere Zehntausende von Negern auch als Träger durch rücksichts- 
lose Überanstrengung und Seuchenaussetzung zugrunde gegangen. Auch heute führt Frank- 
reich die Kriege, die ihm die Aufrechterhaltung seines Weltreichs bei völligem Nachlassen der 
eigenen Lebenskraft aufnötigt, ganz vorwiegend mit Farbigen, mit Negern gegen Marokko, 
mit Madagassen und Indochinesen gegen Syrien und bei Bedarf wohl auch umgekehrt. Die 
Vorherrschaft der weißen Rasse ist durch nichts so bedroht wie durch dies Verfahren. 

Dazu kommt, daß trotz dieser.Blutopfer infolge der sinkenden Geburtenziffer Europas die 
Vermehrung der farbigen Rassen heute weit schneller geschieht als die der Europäer. So hat 
Indien zwischen 1872 und 1911 seine Bevölkerung um 109 Millionen Köpfe vermehrt; und die 
Bevölkerungsvermehrung in Afrika ist trotz der französischen Aushebungen, trotz Schlaf- 
krankheit und Tsetsefliege heute die schnellste auf der ganzen Welt. Trotzdem ist der Anteil 
der Gebiete, in welchen Farbige sich selbst regieren, noch nie so gering gewesen wie heute und 
beträgt nur ?/, der Erdoberfläche, während der zahlenmäßige Anteil der weißen Rasse nur ein 
Drittel der Menschheit ausmacht. Noch vor 400 Jahren war ganz Asien, Afrika, Amerika 
und Australien unter eigener Herrschaft. Der jetzt angeschnittene Prozeß der Abschüttlung 
europäischer Herrschaft über farbige Gebiete wird unaufhaltsam weiter fortschreiten. Genau 
wie in den vergangenen Jahrhunderten innerhalb der europäischen Staaten die sozialen reinen 
Herrschaftsverhältnisse überwunden wurden, obwohl über die Zweckmäßigkeit dieser Entwick- 
lung sehr ernsthafte Zweifel möglich sind — so werden auch die Herrschaftsverhältnisse zwi- 
schen den Rassen zerstört werden. Der Wendepunkt in diesen beiden Entwicklungen wurde 
durch den Mißbrauch der Herrschaft bezeichnet; und in beiden Entwicklungen war es der 
Kapitalismus, welcher in der Herbeiführung dieses Punktes eine bedeutsame Rolle spielte. Die 
russischen Bolschewiki haben die innere Verwandtschaft dieser beiden Entwicklungen mit 
großer Denkklarheit begriffen und setzen ein großes Zerstörungswerk daran, den sozial- 
revolutionären Tendenzen nun auf dem Rassengebiet Geburtshilfe zu leisten. Undda die Gebiete, 
in welchen noch eine erhebliche Siedelung möglich ist, nicht mehr allzu groß sind — die aı 
Möglichkeiten reichsten davon sind Sibirien und Australien, welche beide noch ein Vielfaches 
ihrer gegenwärtigen Bevölkerung aufnehmen können — so wird der Kampf der Rassen sich 
dann auch um solche Gebiete entfesseln. Wie weit die weiße Rasse bei diesen Kämpfen noch 
mit in Betracht kommt, hängt von der Fortentwicklung der Geburtenziffern ab. Bei gleich- 
bleibenden Tendenzen wird esim Jahre 2200 ungefähr 2%/, Milliarden Chinesen und 16 Millioner 
Europäer geben. 

F" äußerst lehrreiches Beispiel für diese Rassenkämpfe und ihre möglichen Entwicklunge:: 
bieten die Vereinigten Staaten von Nordamerika, obwohl hier infolge der ganz erstaunliche 
Fernhaltung des Sozialismus die Verschärfung des Rassengegensatzes durch den sozialen noch 
weitgehend fehlt. Das kommt auch daher, daß bislang daselbst es an Arbeit und Verdiensi 
selten mangelte; sollte das einmal anders werden, so würde auch dort sich schwerlich ver: 
hindern lassen, daß der Sozialismus, ja Bolschewismus sein Haupt erhöbe, und dann würd« 
wohl auch Europa mehr von der dortigen Negerfrage hören, als es heute zu wissen pflegt. 

Die Negerbevölkerung der Vereinigten Staaten datiert in beträchtlichem Prozentsatz ers! 
vom Ende des 17. Jahrhunderts. Gegen Ende des 18. betrug sie ®/, Millionen, heute 12 Mil: 
lionen, bei 105 Millionen Gesamtbevölkerung, so daß ein Neger auf etwa 7%, Weiße kommt. De: 
Prozentsatz schwankt in den einzelnen Staaten zwischen 1 und 60. In einer Grafschaft beträg 
das Verhältnis der Neger zu den Weißen 9:1. Dabei ist zu berücksichtigen, daß unter den Ne 
gern auch alle Halbblutmenschen mitgezählt werden, selbst bei stark überwiegendem weiße: 
Anteil. Seit der Aufhebung der Sklaverei haben die Neger wirtschaftlich und auf dem Bildungs 
gebiet große Fortschritte gemacht. Man rechnet, daß etwa 25—30% sich über das Proletaria 
erheben und in stetem wirtschaftlichen Fortschritt begriffen sind. Seit jenem Jahr hat sic! 
die Zahl der von ihnen besessenen Farmen von 20000 auf eine Million gehoben. Leitende Stelle: 
im Wirtschaftsleben nehmen 60000 gegen damals 2000 ein. In derselben Zeit fiel der Antei 
der Analphabeten von 90 auf 20%, die Zahl der Lehrer an den Negerschulen wuchs von 60‘ 
auf 44000. Sie besitzen mehrere eigene Universitäten, sowie Zugang zu einer Reihe angesehene 
weißer Universitäten. Es gibt unter ihnen eine Anzahl mit Erfolg wissenschaftlich Tätige: 




















Dam Er u > Tg Pe = Teen 





Aus Zeit und Geschichte 431 


———— 


Zwar hat man von beachtlichen selbständigen Leistungen dieser Art noch nichts gehört, doch 


genügt ihre hier entfaltete Tätigkeit immerhin, um der Rasse ein starkes Selbstgefühl und tüch- 
tige Führer zu liefern. In stärkstem Gegensatz dazu steht die immer noch bestehende politische 


und soziale Benachteiligung. Nachdem im ersten Jahrzehnt nach der Befreiung die Neger in 


mehreren Staaten Parlamentsmehrheiten und leitende Staatsämter inne hatten, führte das zu 


Zuständen, die den Weißen so unerträglich dünkten, daß sie in den Einzelstaaten überall 


' Verfassungsänderungen erreichten, welche in geschickter Formulierung einen allgemeinen Cha- 


rakter vorgaben und daher dem obersten Gerichtshof keinen Anlaß zu einer Bundesverfassungs- 


"widrigkeits-Erklärung boten, in Wahrheit aber sich lediglich gegen die Neger richteten. Der 


Erfolg war, daß mehrere Jahrzehnte lang die Neger nicht einen einzigen Vertreter mehr in den 
Parlamenten der Einzelstaaten besaßen und in den Südstaaten daher ein Drittel der Bevöl- 
kerung trotz voller Steuerlast ohne jede politische Interessenvertretung war. Die soziale Be- 
nachteiligung hat als Kernstück die bekannte Lynchjustiz. In den Nord- und Weststaaten hat 
diese fast ganz aufgehört, in den Südstaaten dagegen blüht sie nach wie vor. Im Jahre 1921 
fanden noch 61 Fälle statt, wovon 59 Neger und 2 Frauen. Es ist vollständig unrichtig, an- 
zunehmen, daß die Lynchjustiz sich nur gegen überführte Mörder oder Frauenschänder richte; 
in vielen Fällen wurde, nachdem ein Schwarzer auf die grauenvollste Art zu Tode gebracht 
worden war, kurz darauf seine Unschuld festgestellt oder es handelte sich überhaupt um 


' ganz belanglose Anlässe, leichte Diebstahlsfälle oder auch nur, daß der Betreffende durch ir- 
' gendeine vollständig harmlose Gebärde oder Rede einen aufgeregten Mob zur Raserei gebracht 


hatte. So wurden von 1900 bis 1922 1550 Schwarze umgebracht. Eine weitere Beschwerde 
der Neger richtet sich gegen ein bestimmtes industrielles Schuldsklavensystem, nach welchem 
Neger häufig wirkliche oder konstruierte Schulden unter praktischem Verlust ihrer persönlichen 
Freiheit abarbeiten müssen. Bekannt sind dann ferner die zahlreichen Ausschließungen, welche 
das soziale Leben gegen die Neger richtet. Ein Negerprofessor darf nicht an der Staatsbiblio- 
thek arbeiten; Neger sind von der Christlichen Vereinigung junger Männer ausgeschlossen. 
Besonders scharf ist die Scheidung auf der Eisenbahn, wo die Neger besondere Wagen ange- 
wiesen erhalten, welche erheblich schlechter sind, als die für die Weißen. Da alle Mischlinge 
zu den Negern zählen, finden bei der Abfahrt der Züge häufig die aufgeregtesten Debatten 
über Abstammung und Blutreinheit statt, bis alle Mitreisenden gebührend eingeordnet sind. 
Den Schaffnern fällt dabei eine wenig beneidenswerte Rolle zu, da sie sich ebenso hüten 
müssen, einen nicht rein Weißen in einen weißen Wagen hineinzulassen, wie auch die Blut- 
reinheit eines wirklich Weißen zu bezweifeln, da sonst die Eisenbahngesellschaft zu einem 
schweren Schadenersatz für diese Beleidigung verurteilt werden könnte. Natürlich hat der 
Neger keinen Zutritt zu Schlaf- und Speisewagen, so daß z. B. die Studentinnen einer Neger- 
universität, welche 36 Stunden Bahnfahrt nach Hause haben, diese ohne jene Erleichterungen 
zurücklegen müssen. In den Nordstaaten fallen diese Scheidungen fort, dafür ist aber das 
Berufsleben dem Neger fast ganz verschlossen; nicht einmal die Gewerkschaften nehmen ihn 
auf, so daß für ihn nur die niedrigste ungelernte Arbeit bleibt. Im Süden hat er Bildungs- und 
Aufstiegsmöglichkeiten, doch bleibt im öffentlichen Leben die schärfste Scheidung der Rassen 
bestehen. In den Südstaaten, wie auch in einer Anzahl Nordstaaten ist die Ehe zwischen 
Schwarzen und Weißen verboten, und es steht eine Strafe bis zu 10 Jahren Gefängnis darauf, 
welcher auch der unterliegt, der die Ehe in einem sie zulassenden Staate schloß und dann sich 
in einem Verbotsstaate niederließ. 


uf Grund dieser Gebräuche gestaltete sich bis vor dem Kriege das Zusammenleben der 

Rassen höchst reibungsvoll. Die Erbitterung der Rassen gegeneinander wuchs unauf- 
hörlich, und viele sahen einen Bürgerkrieg voraus. Der Krieg brachte zunächst durch gute 
Verdienstmöglichkeiten eine gewisse Entspannung. Infolge des Aufhörens der Einwanderung 
entstand in den nördlichen Industriestaaten ein starker Arbeiterbedarf der Kriegslieferanten, 
was zu einer Wanderung von ca. ?/, Millionen Negern von Süd nach Nord führte. Dann kam der 
Eintritt Amerikasin den Krieg. 400000 Neger wurden mobilisiert und viele Negerinnen dienten 
als Pflegerinnen usw. Es ist bekannt, daß die Einsetzung der Neger weit rücksichtsloser war, 
als der weißen Amerikaner. Trotzdem Konnten die Neger durch ihre Kriegstaten sich keine 
neuen Rechte erwerben. Nach dem Kriege kam es infolgedessen mehrfach zu Straßenkämpfen 
mit Dutzenden von Toten und Verwundeten und darauf folgenden Todesurteilen gegen die 
Schwarzen. Die Nordwanderung der schwarzen Arbeitermassen hielt an und führte zu den 
ernsthaftesten Arbeitskrisen in den Südstaaten, wo man stellenweise versuchte, die Arbeiter 
mit Gewalt zurückzuhalten. Nach und nach wurden sie daselbst durch Weiße ersetzt, sO daß 
die Südstaaten nun eine starke Abnahme ihrer Negerbevölkerung zu verzeichnen haben, wäh- 
rend in einigen hauptsächlichen Nordstaaten dieselbe derart angewachsen ist, daß die Neger 
bei einem Fortschreiten ihrer politischen Organisation teils geradezu die Gewalt an sich reißen, 





















































432 Aus Zeit und Geschichte 
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teils wenigstens durch die Masse ihrer verfügbaren Stimmen von den politischen Parteien 
große Zugeständnisse sich werden sichern können. So wächst der Einfluß und das Selbstgefühl 
der Massen der Farbigen und im selben Maß der Haß und die Furcht der Weißen vor ihnen. 
Infolgedessen ist von einem Abflauen des Gegensatzes nichts zu bemerken, sondern im Gegen- 
teil ist die Möglichkeit seines gewaltsamen Ausbruches durchaus nicht von der Hand zu 
weisen. Letzteres um so mehr, als, so wenig dem Neger gewisse gute Eigenschaften besonders 
als Arbeiter abgesprochen werden können, doch andere weniger erfreuliche durch ‘die 
wachsende Zivilisierung offenbar nicht wesentlich zurückgedämmt werden. Auch heute noch 
gibt es Gegenden in den Südstaaten, wo weiße Frauen nicht in der Dunkelheit allein ausgehen 
können und sozusagen unter einem ständigen Terror leben. Auch ernsthafte Neger haben 
diesen Fleck ihrer Rasse mitunter zugegeben. 

Es ist nicht erstaunlich, daß unter der Drohung dieser Problematik man sich in weiterblicken- 
den Kreisen Amerikas vielfach mit Lösungsmöglichkeiten befaßt. Ein Gehenlassen der Rassen- 
vermischung findet wenig Anwälte; es entspräche dies dem angelsächsischen und überhaupt 
germanischen Empfinden nicht. Eine Ausnahme macht z. B. der bekannte englische Schrift- 
steller H. G. Wells, welcher aus sozialistischem Doktrinarismus gegen jedes Rassenbewußtsein 
ist und eine allgemeine Promiskuität predigt. Zunächst allerdings geht die Rassenvermischung 
ungehindert weiter. Schon jetzt beträgt der Anteil der Mulatten an der Negerbevölkerung 
25%, und echte tiefschwarze Neger gehören zu den Ausnahmen. Die Anzahl der Geburten 
aus Mischehen oder unehelichen Verbindungen zwischen Schwärz und Weiß nimmt unaus- 
gesetzt zu. Selbst in den Staaten, wo absolute Eheverbote zwischen Weiß und Farbig bestehen, 
können diese gegenüber Verbindungen mit dem Weißen näherstehenden Mischlingen nicht mehr 
praktisch durchgeführt werden. Geht diese Rassenvermischung ungehemmt weiter, so wird 
schließlich die Bevölkerung der Vereinigten Staaten als Ganzes irgendwo zwischen Mulatten 
und Weißen stehen. Infolgedessen würde es zu einem vollständigen kulturellen Niedergang 
kommen, wofür Portugal ein warnendes Beispiel abgibt. Dieses war zur Zeit der Renaissance 
kulturell führend, führte dann aber zum Ersatz der in das ungeheure Kolonialreich abströ- 
menden Bevölkerungsteile Neger ein, welche die Rasse in einem Grade mestizisierten, daß der 
Niedergang des Landes unausbleiblich wurde. Diese Möglichkeit wird von den Amerikanern 
durchaus abgelehnt; die Fortsetzung der bisherigen Scheidungsformen der Rassen ist aber 
unfähig, das Verderben aufzuhalten. Man hat nun eine Idee in die Diskussion geworfen, von 
welcher man sich mehr verspricht. Sie erinnert ein wenig an die kulturelle Autonomie, welche 
in einigen östlichen Staaten jetzt den nationalen Minderheiten gewährt wird. Die Neger sollen 
in gewissem Ausmaße ihre Angelegenheiten selbst besorgen durch gewählte Vertreter, welche 
unter der Leitung von Weißen erprobtester Integrität an der Erziehung ihrer Rasse arbeiten 
würden. Sie wären in gewisser Weise unter der Vormundschaft der ganzen Nation und genössen 
keinerlei politische Rechte innerhalb von deren Gesamtheit. Abgesehen von dem durch Bildung 
und Wirtschaftsgeltung über eine solche Organisation hinausgewachsenen Selbstbewußtsein 
der Farbigen dürfte die große Anzahl der den Weißen in ihrer Mischung nahestehenden Bastar- 
den die Ausführung dieses Planes verunmöglichen. So bleibt als eine Lösung, welche immer 
wieder empfohlen worden ist, die Deportation der 12 Millionen Neger nach Afrika oder West- 
indien. Obwohl Geld- und Materialaufwand dafür ungeheuer sein müßte — wenn man z.B. 
jährlich nur 300000 verschiffte, so genügte das lediglich, um den Zuwachs der Negerzahl 
aufzuhalten, welcher bei Zurückdrängung der großen Säuglingssterblichkeit noch wüchse — so 
bestünde hier doch keine absolute Unm ö glichkeit. Liberia und Haiti, welche als Bestim- 
mungsland in erster Linie in Frage kämen, böten bei hinlänglicher Entwicklung Raum genug 
für die einströmenden Massen. In 25 Jahren könnte das Werk vollendet sein. Es fragt sich 
nur, ob diese Länder aufnahmewillig wären, und daß die Neger selbst nicht freiwillig gingen, 
steht fest. Haben sie doch den bekannten Markus Garvey, den Apostel des Panafrikanismus, 
welcher die Rückkehr nach Afrika predigte, als Verräter an ihrer Rasse bezeichnet. Und es ist 
nicht zu sehen, wie man solche Menschenmassen wirksam zwingen sollte. Auch eine geschlos- 
sene Ansiedelung der Neger auf einem amerikanischen Territorium ist unmöglich, da es ein 
solches von hinlänglicher Größe und Fruchtbarkeit nicht mehr unbesiedelt innerhalb Amerikas 
gibt. Das einzig Mögliche wäre vielleicht, die Neger wenigstens in abgeschlossene Kommunen 
innerhalb der weißen Bevölkerung zu sammeln, wo sie in genossenschaftlichem Zusammen- 
schluß hauptsächlich landwirtschaftliche Arbeit leisten könnten. Zu bedenken ist auch, daß 
die Pflanzer der Südstaaten bei einem plötzlichen Herausnehmen der Neger aus ihren Betrieben 
ruiniert wären. Nur ganz allmählich kann hier ihr Ersatz durch Hereinlassung anspruchsloser 
Arbeiter aus den slawischen und romanischen, besonders italienischen Gebieten Europas in 
Frage kommen. Hierzu wird eine Milderung der Einwanderungsvorschriften erforderlich sein. 
Da die slawischen und romanischen Völker nicht die Rassenabneigung der Nordvölker gegen 























Aus Zeit und Geschichte 433 


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den Neger haben, so wird in diesem Falle wohl in den Stidstaaten sich eine schnelle und gründ- 
liche Rassenvermengung anbahnen, wodurch hier eine homogene Mestizenbevölkerung in der 


‘Art des tropischen Südamerika entstünde. 
Pike zeigt das Ergebnis eines Beieinanderlebens verschiedener Rassen, wenn die 


weiße nicht in ihrem Instinkte eine Schutzwehr gegen die Vermengung besitzt. Schon in 
Frankreich sehen wir, daß hier ein ganz anderes Empfinden herrscht. Der Schwarze darf sich 
in jeder Weise unter die Weißen mischen, unbedenklich gibt man ihm sogar Offiziersstellen 


in weißen Regimentern. Vor einiger Zeit berichteten elsässische Blätter, man habe vor dem 


Schirmecker Tor in Straßburg bei der Fahrübung einer Artillerieeskadron sehen können, wie 
ein schwarzer Unteroffizier seine Reitpeitsche am Kopfe eines weißen Soldaten, der die verlang- 
ten Bewegungen nicht schnell genug ausführte, in Fetzen schlug. Die Zeitungen konnten noch 
einen leichten Schauder angesichts dieses Vorgangs nicht unterdrücken. Der Franzose hat 
hier offenbar keinen natürlichen Aberwillen. Derart finden in Frankreich auch in wachsendem 
Maße Eheschließungen zwischen Weißen und Farbigen statt, und die Zahl der Mischlinge nimmt 
unaufhörlich zu. So zeigt sich auch in Südamerika kein tieferer Widerwillen gegen Rassen- 
vermischung, und dieser Erdteil ist schon sehr weit fortgeschritten auf dem Wege zu einer 
einheitlichen Mischlingsrasse zwischen Weißen, Indianern und Negern, wobei der Anteil rein- 
blütig Weißer heute kaum noch mehr als 10% beträgt. Natürlich ist das Mischungsverhältnis 
zwischen Mexiko und Patagonien in den einzelnen Gegenden verschieden — so besteht die 
stärkste Verbreitung der Neger in Brasilien, wo ihre Anzahl mehr als 8 Millionen beträgt — 
jedoch wird sich das mit der Zeit ausgleichen. Neuerdings kommt noch eine erhebliche japa- 
nische Einwanderung dazu, welche in Nordamerika durch strenge Gesetze abgewandt worden 


' ist, sonst hätte sich dadurch dort eine zweite, der Negerfrage ebenbürtige Rassenfrage heraus- 


gebildet. Und Nordamerika wird schon an dieser mehr als ihm lieb ist zu verdauen haben. 

Die Aussichten, welche diese fortschreitende Rassenvermengung dem Kulturleben der 
Menschheit bieten, mag sich jeder selbst ausmalen. Auf kulturellem Gebiete bahnt sich 
ja ohnehin schon eine parallele Erscheinung an, der amerikanische Typus des sog. Geistes- 
lebens, welches daselbst in breiten Schichten von Handel, Fußball, Kino, dem andern Ge- 
schlecht und dem gesellschaftlichen Leben ausgefüllt wird, eine Geistesform, die sich mit 
Geschwindigkeit über die ganze Erde verbreitet. 


Die Politik Kaiser Karls 


he Buch!) ist ein interessantes Experiment. Es wird heute oftmals die Frage auf- 
geworfen, ob es möglich sei, über den letzten Krieg schon etwas von bleibendem Wert 
zu schreiben. Sind die bisher bekannt gewordenen Quellen ausreichend? Wird die Be- 
lichtung nicht zu scharf und eindeutig? Festers Buch bedeutet im Gesamtinhalt zweierlei. 
Es gibt eine Reihe von Zeitdokumenten, die der Vergessenheit anheimzufallen drohen, wenn 
die jetzt lebende Generation sich ihrer nicht annimmt, und es verpflichtet uns zu einer Stellung- 
nahme gerade zu den jüngsten Ereignissen, die, so weit sie auf begründetem Urteil beruht, 
späterer Forschung von hohem Wert sein wird. Es ist selbstverständlich, daß solches 
Urteil nicht sine ira sein kann, der Verfasser gibt das selbst im Vorwort freimütig zu, 
dazu steht der Einzelne den Dingen innerlich zu nahe. Aber was soll das schaden, wenn 
jeder die Möglichkeit besitzt, sich ein eigenes Urteil zu bilden? Es ist erstaunlich, was selbst 
der politisch einigermaßen geschulte Leser an Tatsachen erfährt, die ihm entweder voll- 
kommen unbekannt waren oder die er noch nie in so großen Zusammenhängen gesehen hatte. 
Mit größter Sorgfalt und Ausdauer hat Fester alle vorhandenen Quellen, insbesondere die 
Zeugenaussagen herangezogen und ausgewertet, bei manchen spürt man deutlich, daß sie 
nur das Gedächtnis des Mitlebenden zu beschaffen wußte, Erkundigungen bei Mitspielern 
und Eingeweihten ergänzten die Lücken. Wenn das Buch auch den Titel führt: ‚Die Politik 
Kaiser Karls und die Wende des Weltkrieges‘, so liegt das Schwergewicht nicht bei der Mission 
des Prinzen Sixtus. Denn die große Verschwöreraktion des Hauses Parma Bourbon konnte 
nicht gelingen, soweit sich das jetzt sagen läßt, so geschickt sie auch eingeleitet war, so Ver- 
derblich ihre Wirkung für die Mittelmächte auch sein sollte. Auch der aufrichtigste 
Verratswille Kaiser Karls und seiner Hintermänner vermochte den starken italienischen 
Eroberungswillen nicht aufzuheben. Strategisch blieb Österreich immer von seinem deutschen 
Verbündeten abhängig, jeder russische oder italienische militärische Druck mußte die Pläne 


1) Richard Fester, Die Politik Kaiser Karls und der Wendepunkt des Weltkrieges. München, 
J. F. Lehmann, 1925. 








434 Aus Zeit und Geschichte 





Sixtus-Zita zum Scheitern bringen. Und so ist es auch gekommen. An der Wende des Jahres 
1917 freilich hat die österreichische Sonderpolitik eine bestimmende Rolle gespielt. 

Fester glaubt, daß diese Wende mit der Juli-Resolution gekommen war. In der ersten Hälfte 
des Jahres 1917. war die große Krise bei der Entente, hervorgerufen durch eine Häufung von 
Schlägen, russische Revolution, U-Bootserfolge und französische .Meuterei. In dieser Krise 
waren die verschiedenen Friedensfühler verhältnismäßig am aufrichtigsten gemeint. Als 
dann die Friedensresolution des deutschen Reichstages kam, fiel.der Vorhang. Alles Weitere 
blieb nur noch Nachspiel. Es ist die bleibende Leistung des Festerschen Buches, die Friedens- 
resolution in die großen Zusammenhänge hineingestellt zu haben. Sie ist nun nicht mehr 
eine Tatsache unter vielen, sondern ein Durchbruch an der deutschen politischen Front, 
sie steht nicht in der Mitte der Friedensmöglichkeiten, sondern am Ende, sie ist der Beginn 
der Vorgeschichte des Zusammenbruchs. Hatte bereits Martin Spahn den schädlichen 
Vorstoß Erzbergers in seiner „Päpstlichen Friedensvermittlung‘‘ scharf unter die Lupe ge- 
nommen, so blicken wir nun bei Fester in eines der traurigsten Kapitel der deutschen Kriegs- 
politik hinein. Vieles kommt zusammen. Auf der einen Seite haben wir die Hilflosigkeit 
des Reichskanzlers, die Krise der Entente irgendwie praktisch auszunutzen, auf der anderen 
sehen wir Erzberger als Werkzeug der österreichischen Politik und auch wieder diese durch- 
kreuzend, damit beschäftigt, den Kanzler zu stürzen, der seinen ehrgeizigen Plänen im Wege 
steht. Er findet dabei unfreiwillige Unterstützung bei der obersten Heeresleitung, die die 
Beseitigung des schwachen politischen Führers wünschen muß. Wir erleben den Partei- 
egoismus des deutschen Reichsparlaments, dem Fester mit beschämender Wirkung das 
patriotische Verhalten»der französischen Kammer anläßlich der Besprechung der Meuterei 
gegenüberstellt. Dem Faß schlägt dann Erzbergers Indiskretion den Boden aus, als dieser 
in Frankfurt den Czerninschen Geheimbericht über die Lage der Donaumonarchie bekannt- 
gibt, der vermutlich so seinen Weg zur Entente fand. Man hat von deutscher Seite versucht, 
die Unschädlichkeit der Friedensresolution durch Veröffentlichung feindlicher Äußerungen 
zu bestreiten. Nichts aber vermag etwas an der Tatsache zu ändern, daß die verantwortlichen 
Kreise der Entente von diesem Augenblick an wußten: man glaubt in Deutschland nicht mehr 
an den Sieg. 

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie weit wenigstens bei England 1917 der Wunsch 
bestand, zum Frieden zu kommen. Auch wenn man nicht daran zweifelt, daß der Friedens- 
fühler des Nuntius Pacelli im Juni nicht ohne Fühlungnahme mit der Entente gewagt werden 
konnte, fragt es sich immer noch, ob von dieser nicht nur ein taktisches Ziel angestrebt wurde. 
Vieles, insbesondere die Dokumente, sprechen dafür. Man darf bei aller Würdigung der schwieri- 
gen Lage bei der Entente besonders bei England, die moralische Wirkung des Eintritts der 
Vereinigten Staaten und die Schwierigkeiten, die in den Ententeländern gegenüber der 
öffentlichen Meinung bestanden, nicht zu gering veranschlagen. Eines nur steht fest: 
Bei der Zerfahrenheit der deutschen Politik war irgendein greifbarer Erfolg nicht zu 
erzielen und wie ein roter Faden zieht sich auch bei Fester der verhängnisvollste Fehler 
Bethmannscher Regie durch, die verfehlte Polenpolitik, die jede Möglichkeit eines Sonder- 
friedens mit Rußland zerstörte. 

Für die Leser der Süddeutschen Monatshefte, insbesondere für diejenigen, die der grund- 
sätzlichen Auffassung dieser Zeitschrift in Kriegszeiten beigepflichtet haben, wird das be- 
deutende Buch vieles ins Gedächtnis zurückrufen, Selbstempfundenes aus den Tatsachen 
bestätigen und eine Fülle von neuen Aufschlüssen vermitteln. 


Berlin. Dr. Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode. 


Ein Jahrbuch für Seeinteressen 


AR die vor dem Kriege. durch Beruf oder Neigung zur Erkenntnis von der Lebensnot- 
wendigkeit überseeischer Geltung für unser Vaterland geführt worden waren, schätzten 
den alljährlich erscheinenden Nauticus, Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen, als’zu- 
verlässiges Handbuch. Ursprünglich aus der Flottenagitation hervorgegangen, wuchs er 
rasch über diesen Sonderzweck hinaus und strebte mit Erfolg danach, den Deutschen die 
Vorbedingungen ihres Aufstieges zum gleichberechtigten Weltvolke vor Augen zu führen. 
Der Geist seiner Arbeit wird gekennzeichnet durch die Namen Gneisenau, Friedrich List, 
Richthofen, Ratzel, Alexander v. Peez. BEN 
Wenn unsere führenden Politiker im Kriege so gar nicht vom kontinentalen Denken los- 
kommen konnten, wird man einen wesentlichen Grund dafür in dem Umstande zu suchen 
haben, daß Deutschland erst seit so kurzer Zeit Kolonien und eine Flotte sein Eigen nennen 





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Aus Zeit und Geschichte 435 


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"konnte. Nachdem uns beides bis auf Trümmer einer Flotte wieder geraubt worden ist, haben 


wir es um so nötiger, wenigstens geistig eine weltumspannende Anschauungsweise zu pflegen. 


Esist darum höchst verdienstlich, daß der Nauticus seiner Überlieferung getreu die Arbeit wieder 


aufgenommen hat. Einem schon 1923 erschienenen 17. Bande ist jetzt mit etwas verändertem 


‚ Titel der 18. gefolgt'). 


Er bringt aus der Feder namhafter Sachkenner eine Reihe von Aufsätzen wirtschaftlich- 
‚politischen und militärisch-politischen Inhalts, ferner solche über die See-, Binnen- und Luft- 
‚schiffahrt. Sie werden ergänzt durch einen technischen Teil und eine inhaltreiche Statistik. 

Die Artikel sind mit weltumfassendem Weitblick abgefaßt und dabei kurz gehalten. Auf 
diese Weise bieten sie allen, denen Zeit und Gelegenheit zu eingehendem Studium fehlt, 
einen trefflichen Überblick über die zurzeit brennendsten Fragen der Weltpolitik und Welt- 
wirtschaft. Möge der Nauticus so zahlreiche Leser finden, daß Herausgeber und Verleger 
ihre wertvolle nationale Arbeit künftig wieder mit alljährlichen Bänden fortsetzen können. 
München. Heinrich Heide. 


Ein Engländer über Tirpitz 


I)® kleine Buch von Thomas Rhodes, The real Kühlmann ist jetzt in deutscher Über- 
setzung erschienen.?} Haben wir bei Besprechung der englischen Ausgabe hauptsächlich 
die Tapferkeit betont, mit der ein Engländer für einen viel verleumdeten Deutschen ein- 
getreten ist, so müssen wir jetzt auch einmal das Bedenkliche herausstellen. Der Verfasser 
hat nämlich die Tendenz, um den Freund Kühlmann reinzuwaschen, Tirpitz und auch Luden- 


| dorff zu den schwarzen Böcken zu stempeln. Der deutsche Leser könnte glauben, daß 


eine gewichtige englische Stimme Tirpitz verdammt, in Wahrheit haben wir den seltenen 
Fall, daß ein Ausländer sich von Deutschen beeinflussen ließ; was er über deutsche Flotten- 


' politik schreibt, ist nichts anders, als die Einstellung, wie sie für einen Teil der deutschen Vor- 


kriegsdiplomaten typisch war. 0. St. 


Clausewitz als Richter 


F° ist ein fruchtbarer Gedanke, Politik und Kriegführung an Clausewitz zu messen, um aus 
dem Weltkriege grundlegende Lehren für unsere Zukunft zu gewinnen.?) Der große Kriegs- 
theoretiker ist heute Mode geworden, aber das Anrufen seines Namens verpflichtet auch: 
der vielseitig belesene und philosophisch bewanderte Verfasser des neuen Werkes weiß hohen 
Ansprüchen zu genügen. Er behandelt jedoch nur einige Grundfragen aus der Vorbereitung 
und dem Beginn des Krieges bis zur Schlacht von Mons (23. August 1914). Gelegentlich 
vereinfacht Leinveber die Dinge zu sehr, z. B. wenn er den Kriegsverlust ganz allgemein 
auf das Überwiegen des Materiellen gegenüber dem Geistigen zurückführt und behauptet, 
wir hätten uns, anstatt Clausewitz zu studieren, mit der Routine begnügt. 

Zwei Gedanken aus Tacitus Germania durchziehen als Leitmotive das Buch‘ einmal, 
Deutschland habe nicht bedacht, daß es auf den Führer noch mehr ankomme, als auf das Heer, 
und zweitens, wir seien nur zur Schlacht, nicht zum Kriege ausgezogen. Kann man dem letzten 
Satze in weitem Umfange zustimmen, zumal im Sinne, von Napoleons Wort, daß mit einer 
Minderzahl wohl Schlachten zu gewinnen sind, aber kaum ein Krieg, so muß dem ersten Vor- 
wurf entschieden widersprochen werden. Führer großen Stiles sind in Politik wie Strategie 
eine Gabe der Vorsehung, aber züchten lassen sie sich nicht. Möchten nur die Leser des 
anregenden Buches über Clausewitz nicht vergessen, daß auch Moltke uns Kriegslehren 
geschenkt hat. 

München. Heinrich Heide. 


Erwin Rosens Kampf gegen die Fremdenlegion 


Tr: diesem Hefte ist ein Hinweis auf die langjährige Tätigkeit Erwin Rosens im Kampf gegen die 
Fremdenlegion angebracht. Sie beginnt mit seinem Erlebnisbuch ‚In der Fremdenlegion‘ 
(33. Aufl, Verlag Robert Lutz, Stuttgart), setzt sich in einem zähen und unerbittlichen 
Pressekampf fort und gipfelt noch in seinem letzten Buch ‚Allen Gewalten zum Trotz‘ (im 





1) Nauticus, Jahrbuch für Seeinteressen und Weltwirtschaft, herausgegeben von Fregatten- 
kapitän a. D. Scheibe. Berlin 1926, Mittler & Sohn. 

2) Kühlmann, wie er wirklich ist, Berlin 1926. 

2) Generalmajor a. D. Leinveber, Mit Clausewitz durch die Rätsel und Fragen, Irrungen 
und Wirrungen des Weltkrieges. Berlin und Leipzig 1926, B. Behrs Verlag. 








436 Aus Zeit und Geschichte 


gleichen Verlag) in einer machtvollen Anklage gegen Frankreich. Der Verfasser des ‚Deutschen 
Lausbuben in Amerika‘ hat 1904 und 1905 in der Legion gedient und seine Erfahrungen zu- 
erst 4 Jahre später veröffentlicht. Gewiß hat die Pause vom Erlebnis bis zur Niederschrift das 
Einerlei des maßlosen Leides in mancher Hinsicht gegenüber dem wenigen zurücktreten lassen, 
was an Spannung und Abenteuer hätte versöhnen müssen. Aber dieser scheinbare Mangel wird 
zu einem großen Vorzug: Das Buch ist die erste großzügige, erlebnis- und wirkungsvolle 
Kampfschrift gegen die Fremdenlegion geworden, die heute ebenso wie zur Zeit ihres Ent- 
stehens wertvollste Aufklärungsdienste leisten kann. Daran ändert sich nichts, auch wenn die 
Verhältnisse, wie allen Berichten zufolge angenommen werden muß, seit Rosens Dienstzeit 
noch schlimmer geworden sind. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß die barbarischen Folter- 
qualen in den Strafabteilungen durchaus nicht endgültig abgeschafft sind, sondern, wie auch 
die Berichte dieses Heftes dartun, ungehindert weiter bestehen. Um so mehr allerdings kann 
man die Sätze des Vorworts unterschreiben, die auf die sonderbare Gleichgültigkeit der Sozial- 
demokratiegegenüber dieser Kulturschande hinweisen: ‚‚Warumistnoch keindeutscher Sozialist 
auf den Gedanken gekommen, diesen gräßlichen französischen Verschleiß von fremden Menschen- 
leben an den Pranger zu stellen? Wann kommt der deutsche Staatsmann, der den Poincares 
die Legionsschande entgegenhält? Wo ist jenes ‚Weltgewissen‘, das endlich der hundert- 
jährigen Legionsschande ein Ende macht ?“ A.H. 


Aus anderen Zeitschriften 


T: der Historischen Zeitschrift, Band 134, Heft 1, beschäftigt sich Veit Valentin mit 

der Vorgeschichte des Waffenstillstandes nach der These „Ludendorff der Schuldigste.‘ 
Wir haben den Eindruck, daß die Untersuchung dieser These eine ähnliche Zeitbegrenzung 
verlangt wie die der Versailler Schuldformel. Vergißt man dort gern, daß die unmittelbare 
Vorgeschichte des Krieges, 1912, zum mindesten bei Serajewo beginnt, so wird hier beim 
29. September 1918 und nicht bei der Juli-Resolution 1917 angefangen. Diese Ähnlichkeit 
gibt zu denken. 

Wir möchten unsere Leser besonders auf den tiefen Aufsatz von Hans Rothfels „Friedrich 
der Große in den Krisen des Siebenjährigen Krieges“, in der gleichen Nummer der Historischen 
Zeitschrift, hinweisen. Rothfels hat verstanden, worin die besondere Leistung des großen 
Königs in dieser furchtbaren Zeit liegt, und weshalb wir immer wieder zu dieser Gestalt 
und besonders zu seinem Verhalten im Siebenjährigen Kriege zurückkehren müssen. Man 
kann es nicht besser als mit Rothfels’ Worten ausdrücken: „Eben darin liegt, wie wir meinen, 
die einmalige und ‚einzigartige Leistung des Königs: Siege, glänzendere, ergebnisreichere 
Siege, als die seinen, sind wiederholt in der preußisch-deutschen Geschichte errungen worden. 
Aber die passive Kraft, die nie in der Passivität sich erschöpft, die Fähigkeit unerschüttert 
fest zu bleiben, durch Jahre gehäuften Unheils, diese von der deutschen Geschichte recht 
eigentlich dem deutschen Volke verhängte Aufgabe hat er erfüllt und bewährt wie kein 
anderer. Er hat damit ein nationales Symbol aufgestellt von tief ergreifender Bedeutung.“ 

Das Archiv für Politik und Geschichte, Heft 4/5, 1926, bringt aus der Feder von Her- 
mann Lutz eine Studie über ‚Sir Edwards freie Hand‘, die einem in Kürze erscheinenden 
Buch vorweggenommen ist. Grey war kein Staatsmann, dazu fehlte ihm jeder konstruktive 
Gedanke. Aber wir möchten nicht so weit gehen wie Lutz, ihm seiner Unfähigkeit wegen 
im allgemeinen guten Glauben zuzubilligen. Grey war vor allem ein Meister der Regie. Dazu 
gehört, wenn nicht die grobe Lüge, zum mindesten die Drapierung der Wahrheit. Übrigens 
ist es nicht sicher, ob nicht die Beurteilung Greys als Politiker günstiger sein wird, wenn wir 
seine innere Politik mehr als bisher kennen. Er scheint hier doch einige beträchtliche Erfolge 
erzielt zuhaben. Im gleichen Heft ist der Aufsatz von Hermann Wätjen ‚Die großen Vier auf der 
Pariser Friedenskonferenz von 1919“ beachtenswert. Das große Werk über die Friedens- 
konferenz ist noch nicht geschrieben. Aber mit der Zeit ist eine Menge durchgesickert und 
heute ist es schon einigermaßen möglich die treibenden Kräfte zu unterscheiden. Nach 
Wätjen war der stärkste Wille der Konferenz der alte Clemenceau, Wilson dagegen der 
Theoretiker ohne die Leidenschaft des Schöpfers. 

Im Juniheft 1925 ‚‚Der Völkerbund‘“ haben wir zum erstenmal auf das Organ des Landes- 
verbandes Bayerischer Volksbildungsvereine, die von Hans Ludwig Held herausgegebene 
Halbmonatsschrift ‚‚Volk und Heimat“ hingewiesen. Seitdem hat die Zeitschrift in ver- 
schiedener Hinsicht noch gewonnen, vor allem durch Verbreiterung des Mitarbeiterkreises 
und durch Verbreiterung des Kreises, an den sie sich wendet. Sie weicht den schwierigsten 
Fragen der Bildungsarbeit nicht aus, aber sie versteht sie in einer Form zu behandeln, die 
allgemeiner Teilnahme sicher sein kann. 














Tagebuch 


437 








Tagebuch 


Deutsche Landsknechte 


2) in Straßburg erscheinende französisch- 
chauvinistische ‚, Journal de l’Est‘“ ent- 
rollt in seiner Nummer vom 30. August 1925 
das folgende trübe Bild deutschen Lands- 
knechtstums, wie es, mag es in diesem einen 
Falle zutreffend geschildert sein oder nicht, 
durch den unglücklichen Kriegsausgang für 
viele oft wertvolle Kräfte des deutschen 
Volks zum Schicksal geworden ist. 

„Szene: Ein Abteil 3. Klasse des Schnell- 
zugs Weißenburg— Straßburg. Der Zug ist 
überfüllt mit Marokkanern, die nach Marokko 
zurückkehren, und auch mit Deutschen, 
die für die Fremdenlegion rekrutiert sind 
und sich nach Metz begeben, dem Sammel- 
punkt, von wo sie über Marseille nach Sidi- 
bel-Abbes gebracht werden. Als wir, durch 
die marokkanischen Lieder angezogen, den 


" Durchgang betreten, sind wir erstaunt, alle 


diese Zivilisten sich deutsch unterhalten und 
sich mit den marokkanischen Soldaten ver- 
brüdern zu sehen. Auf unsere Frage sagt uns 
einer von ihnen: ‚Wir sind Deutsche (ich 
aus Westfalen) und begeben uns zur Fremden- 
legion nach Marokko. Einige Kameraden 
haben sich schlecht betragen (womit er 


| einige mehr oder weniger Betrunkene meint), 





ss; a EEE EEE EEE EEE EEE ZER 


aber das wird anders, wenn wir erst Soldaten 
sind.‘ — Wo kommen Sie her? — ‚Wir sind 
fast alles deutsche Offiziere; ich selbst ent- 
stamme einer alten Adelsfamilie, den Grafen 
von Arnim (in der Tat bemerken wir auf 
seinem Taschentuch die entsprechenden 
Initialen mit einer Grafenkrone), viele unter 
uns sind adlig; einer ist auch ein russischer 
Graf. FrankreichbrauchtSoldateninMarokko, 
deswegen haben wir uns verpflichtet. Trotz 
meiner sozialen Stellung und meines Ranges 


bin ich jetzt gewöhnlicher Fremdenlegionär.‘ . 


— Wir wenden uns an einen andern, Typus 
des Kavallerieoffiziers, der auf seiner Mütze 
ein Abzeichen mit zwei blau-weiß-roten 
Fahnen trägt. ‚Ich komme aus Mecklen- 
burg.‘ Darauf stimmt er mit angenehmer 
Stimme ein deutsches Lied an (!!). Wir 
wenden uns wieder dem Grafen von Arnim 
zu: ‚Warum haben Sie sich anwerben lassen ?" 
— ‚Um uns für Frankreich zu schlagen. 
Ich gehe keineswegs dorthin, weil ich etwa 
mein Vaterland verabscheute. Ich habe 
vielmehr ganz spezielle Gründe, die mich allein 
angehen. Die Reichswehr hatte mir eine 
Offiziersstelle angeboten, aber sie ist mir zu 
sozialistisch. Das ist natürlich eine persön- 
liche Anschauung. Aber, was das Wesent- 
lichste ist, wir wollen uns schlagen, und 
darum gehen wir in die Legion. Innerhalb 





6 Monaten sind wir tot oder Offiziere — 
nicht französische, sondern Kolonialoffi- 
ziere. Wir wollen dann nach St. Cyr.‘ — 
‚Und wenn dann ein Krieg kommt und Ihr 
Regiment an die Front geschickt wird?‘ 
— ‚Dann desertieren wir alle und schlagen 
uns für unser Vaterland, Deutschland. Wir 
werden niemals gegen unser Vaterland 
kämpfen. Wir sind und bleiben Deutsche. 
Nur die Freiwilligen würden an die Front 
geschickt. Wir können ja in Algerien, Ma- 
rokko oder Tonkin Krieg führen, aber nie- 
mals gegen Deutschland.’ —,Donnerwetter! 
Dann begreife ich eigentlich nicht, daß Sie 
bei solcher Vaterlandsliebe in die Fremden- 
legion eintreten. Ein französischer Offizier 
würde niemals so etwas machen.‘ — ‚Das 
geht mich allein an; die Gründe zu meinem 
Schritt sind intimer Natur; Außenstehende 
würden sie nicht begreifen. Außerdem 
wollen wir Ihnen als Legionäre zeigen, wie 
preußische Offiziere sich schlagen.‘ — ‚Das 
weiß man schon in der Legion, da diese 
Elitetruppe Ihnen bei Verdun gegenüber- 
gestellt wurde. Übrigens werden Sie er- 
staunt sein, da unten festzustellen, wie herz- 
lich die Beziehungen zwischen den Offi- 
zieren und Soldaten sind. Und Sie wollen 
unter Ihrem Namen fechten?‘ — ‚Aber ja, 
ich habe keinen Grund ihn zu verbergen.‘ 
— — ‚Hagenau, aussteigen!‘ Und alle diese 
Krautjunker reisen weiter nach Metz, um 
dort ihrem Schicksal zu begegnen.“ 

Wenn diese Schilderung einigermaßen 
wahrheitsliebend ist — wofür allerdings die 
beachtliche Kühnheit, dem preußischen 
Offizier die Fremdenlegion als Vorbild kor- 
dialer Soldatenbehandlung hinzustellen, nicht 
gerade spricht — so zeigen die Äußerungen 
dieses angeblichen Grafen Arnim eine zwar 
reichlich verworrene, aber nicht unedle Natur, 
für deren Abenteuerdrang andere Länder in 
ihren Kolonien eine für beide Teile fruchtbare 
Verwendung besässen. 


Freiburg i. Br. Erich Brock. 


Eine Ehrentafel des deutschen Adels 


enn sich heute die Zahl jener Ehren- 

bücher mehrt, die Namen und Taten 
auf dem Feld der Ehre Gefallener für be- 
stimmte Kreise, Stände und Gesellschafts- 
schichten zusammenfassen, so geschieht das, 
um den Toten gerade in ihren Kreisen ein 
Denkmal zu errichten und nicht etwa aus dem 
Bestreben, damit den Versuch einer höheren 
Selbsteinschätzung im Gegensatz zu anderen 
zu begründen. Draußen im Granattrichter 





438 


Tagebuch 


süsses 
nn isst nn hen snnbnnnnnnnnnnnnn On nn EEE TEE TE 


und im Sturm galten keine Unterschiede 
— der Mann,. die Persönlichkeit kämpfte, 
siegte und sank dahin, gleichgültig, ob 
Bauer oder Gelehrter, Soldat oder Offizier, 
Arbeiter oder Adeliger. Keiner aus der 


großen Frontgemeinschaft, auf welcher poli- | 
tischen Seite er auch stehe, wird je daran | 
Und doch sprechen Zahlen und | 


rühren. 
Namen aus diesen Büchern den Verleumdun- 
genderRevolution unddernachrevolutionären 
Zeit ein vernichtendes Urteil! 


Vor Jahren hat General von Altrock die | 
| Hofers zuschreiben, in unserer Zeit aber 


Ehre des aktiven Offizierskorps mit dem 
nüchternen zahlenmäßigen Nachweise ge- 
wahrt, daß es in selbstverständlicher Pflicht- 


erfüllung fast das Doppelte der Blutopfer | 
ı wehr der Serben durchgesetzt wurde und 


trug wie die Gesamtzahl der Kriegsteilnehmer. 


Heute legt der Verlag Justus Perthes, Gotha, | 
in 2. Auflage die Ehrentafel der Kriegs- | 
Adels | 


opfer des reichsdeutschen 
1914—1918 vor. In stiller Ehrfurcht neigt 
sich der Leser vor diesem Denkmal, das, 
mit der Benennung von Namen und kurzen 
sachlichen Angaben eine erschütternde und 


doch erhebende Sprache spricht. Kaum eine | 
Familie des deutschen Adels fehlt in diesem | 


Buche; auf allen Kriegsschauplätzen, in 


stellungen haben Angehörige des deutschen 


und von den Puttkammer 21 fielen, wenn 
wir mehr ahnen als feststellen, wie ganze 
Familien alter Namen durch den Krieg aus- 
gerottet wurden, dann drängt sich uns — 
ohne Hintansetzung eines anderen Gesell- 


der deutsche Adel in seiner Gesamtheit sich 
seiner Führeraufgabe bewußt gezeigt und, 


die 
Prinz 


in vollem 
eingelöst 


Umfange 
hat, die Heinrich 
Heldentode zeichnete: ‚‚Adel verpflichtet, 
nicht der der Geburt, 
Gesinnung‘, 

München. 


Reisebrief aus Kärnten 


19° Kärntner Land ist neben den großen, 
immer wieder genannten Brennpunkten 
in Kampf um das Grenzlanddeutschtum, 
neben Sudetendeutschland, Posen, Südtirol, 
seit den Freiheitskämpfen der Jahre 1919 und 





ı und wieder 
allen Waffengattungen, Dienst- und Rang- | wird. 
ı Velden am Wörthersee auf Betreiben führen- 
Adels ihr Leben für das Vaterland gelassen. | 
Wenn wir — um nur einige Beispiele aus der | 
Zahl der 4780 Gefallenen herauszunehmen — | 
lesen, daß von der’Familie Bülow 34 Mitglie- | 
der, von den Arnim28, von den Oertzen 22 und | 


| einer 
| Volkstums noch entgegenstehen. So war die 





| 1920 ziemlich vergessen worden. Man er- 


innert sich noch dunkel der Wochen und 
Monate, in denen die schweren Erschütte- 
rungen, die Kriegsende und Friedensschluß 


| für Deutschland mit sich brachten, dem Ge- 


danken an das kleine Land nur wenig Raum 
ließen, das ‚nach den langen Kriegsjahren 
noch einmal mit der Wehrkraft seiner 
Bevölkerung für seine Unabhängigkeit ein- 
trat, noch einmal gegen die aufgezwungene 
Fremdherrschaft mit einer Aufopferung 
stritt, wie wir sie den Tirolern Andreas 


vielleicht nur noch in Schlesien gesehen 
haben. Seit dem Erfolg der Volksabstimmung, 
die nach der zweimaligen siegreichen Ab- 


das Land dem Deutschtum erhielt, pflegt 
man sein Schicksal für endgültig entschieden 
zu halten und erachtet es nicht für nötig, auf 
die ernsten Anzeichen eines nun mit anderen 


| Mitteln fortgeführten Kampfes zu achten, der 


von jenseits der Karawanken genährt wird. 


Im Zeitalter der Reklame lebt eine Frage 
im allgemeinen nur dann, wenn sie dem Be- 
wußtsein des ganzen Volkes immer wieder 
eindringlich nahegebracht 
In dieser Erkenntnis hat der Kurort 


der Kärntner Männer einer Reihe von deut- 
schen Schriftstellern und Pressevertretern im 
Juni dieses Jahres Gelegenheit gegeben, 
Land und Leute in längerem Aufenthalt 
kennen zu lernen. Nicht in täglich- fest- 
gelegten Besichtigungen und Führungen, 
sondern in einer den eigenen Wünschen 
Rechnung tragenden Ungebundenheit, die 
den Eindruck des wenigen gemeinsam Ge- 


ı schauten um so mehr vertiefte: Bilder der 
schaftskreises — die Überzeugung auf, daß | 


römischen Ruinenstätte Teurnia, des Doms 


ı in Gurk, des Warmbads Villach: Vergangen- 


Ze “ | heit und Gegenwart, und immer wieder 
würdig seiner Stellung und seiner Über- | 


lieferung, die Ehre über das Leben gesetzt | 
hat. So legt die schlichte Ehrentafel Zeugnis | 
dafür ab, daß der deutsche Adel von Geburt | ziehung 
Verpflichtungen | 
von | 
Bayern mit den letzten Worten vor seinem | 


durch Persönlichkeiten nahegebracht, die 
in Natürlichkeit und Herzlichkeit des Ent- 
gegenkommens so selbstverständlich Be- 
herzustellen wußten wie der 
Landeshauptmann Schumy und der Kärntner 
Heimatdichter Josef Friedrich Perkonig. 
Es war zu fühlen, daß die persönliche Be- 


ı rührung in mancher Hinsicht mehr erreichen 
sondern der der | kann als alle Anschlußkundgebungen und 

ä | Aufklärungsvorträge: Das Wissen um die 
Hptm.a.D.Walter Schenk. 


Eigenart des anderen läßt Mißverständ- 
nisse von vornherein nicht aufkommen, die 
innigsten Verschmelzung deutschen 


Einladung, der Angehörige aller . Parteien 
und Richtungen Folge geleistet haben, der 
Absicht und dem Erfolg nach nur sehr be- 
dingt im Sinne einer Werbung für den 
Fremdenverkehr oder für ein neu zu er- 


} 
| 

















schließendes Wirtschaftsgebiet aufzufassen. 
Es stand Größeres dahinter: Die Frage nach 
Wesen und Zukunft eines bedrohten deut- 


| schen Volksteils, der im Rahmen eines 
ı künftigen großdeutschen Reiches vielleicht 
mehr zu geben als zu empfangen hat. 


ir haben gerade in Kärnten die besten 
Beispiele, wie den Linien von Industrie 
ı und Verkehr entlang Bevölkerungsfragen ent- 
schieden werden. Von den beiden Landes- 
‚ mittelpunkten Klagenfurt und Villach aus 
‚ hat sich das Deutschtum über Gebiete, die 
| vor hundert Jahren noch rein slovenisch 
| waren, langsam und stetig vorgeschoben, so 
ı daß heute nur mehr ein schmaler slovenischer 
ı Streifen westlich von Velden die Begegnung 
ı in der Mitte hindert. Diese ungeschwächte 
 Ausdehnungsfähigkeit seines deutschen Volks- 
ı tums hat Kärnten in den Stand gesetzt, seine 
\ Selbständigkeit mit eigener Kraft zu wahren, 
\'und hat es bis heute davor bewahrt, an der 
‚allgemeinen, seit Jahrhunderten feststell- 
' baren Verminderung deutschen Volksbodens 
an den Grenzländern teilzunehmen. So 
unzweifelhaft überzeugt und verpflichtet hier 
ı das Deutschtum, daß der Abstimmungssieg 
ı von 1920 wesentlich durch die Stimmen der 
ı"windischen Bevölkerung zustande gekommen 
ist, die ihre Wahl sicher nicht — wie noch 
| immer gern behauptet wird — auf Grund 
| innerer Zuneigung zum deutschen Gedanken 
ı getroffen hat, sondern auf Grund einer 
' Schicksalsverbundenheit, wie sie nur aus der 
 werbenden und Mittelpunkte schaffenden 
Macht der höheren Kultur erwachsen konnte. 
Die Kärntner Slovenen besitzen ein ausge- 
prägtes Heimatgefühl, aber es fehlt ihnen 
ganz natürlich das deutsche Nationalgefühl. 

Und an diesem Punkte allerdings setzt 
nun die planmäßige Unterwühlung ein, die 
| heute in Laibach ihren Mittelpunkt hat. Sie 
erschöpft sich durchaus nicht in der Werbe- 
tätigkeit der slovenischen Lehrer und Geist- 
lichen und der von Wien stillschweigend ge- 
duldeten Tätigkeit rühriger Agitatoren, und 
sie wird nicht dadurch wettgemacht, daß 
sich neben dem slovenischen Einfluß in 
zunehmender Stärke schon der italienische 
festsetzt — was an wirtschaftlichen Kräften 
heute Geltung hat (es wären so ausgedehnte 
Unternehmungen zu nennen, wie die Holz- 
firma Agostino Scarpa fu Giuseppe, Venezia- 
Villach), das muß bereits die Forderung des 
italienischen Schulvereins Dante Alighieri 
nach einer Schule in Villach begründen. 
Leider weiß man sich gegen die Ansprüche der 
Nachbarstaaten nicht mit dem nötigen Nach- 
druck zu wehren. Noch ist in frischer Erin- 
nerung, wie das Laibacher Geschrei von 
Minderheitenunterdrückung und die Drohung 
ı mit Gegenmaßnahmen bei der deutschen 





Tagebuch 





439 


Minderheit im S.H. S.-Staat die Wieder- 
anstellung des berüchtigten Lehrers Eich- 
holzer erzwang. Ähnliche Fälle haben sich 
noch in jüngster Zeit ereignet. Zu allem 
droht der planmäßig geförderte Zustrom 
von Triest und Laibach her den noch nie 
besonders starken reichsdeutschen Fremden- 
verkehr langsam zurückzudrängen und damit 
ein weiteres Bindeglied mit dem Mutter- 
lande zu zerstören. 


Es ist ein Kampf zwischen kolonisatori- 
scher Kraft ohne staatlichen Willen und staat- 
lichem Willen ohne kolonisatorische Kraft, 
zwischen natürlicher Ausdehnung und einer 
gewaltsamen Überfremdung, die sich um so 
leichter in wirtschaftlichen Tatsachen fest- 
legen könnte, als Kärnten weder so reich ist, 
um fremder Kräftigung entraten zu können, 
noch die vorhandenen Möglichkeiten bis 
heute im erwünschten Maße auszuwerten 
vermocht hat. Noch stehen Bergbau und 
Holzverwertung in den Anfängen, noch be- 
gegnen Ackerbau und Viehzucht den Hinder- 
nissen eines wenig gepflegten Bodens. Das 
Gailtal, durch den großen Bergrutsch des 
Dobratsch 1348 abgeriegelt, zunächst zu 
einem großen See gestaut und langsam 
in ein Sumpfgelände umgewandelt, harrt 
noch heute der Wiederherstellung seiner 
einstigen Fruchtbarkeit. Hier wie sonst 
verhindert die dünne Besiedelung den wirt- 
schaftlichen Aufschwung. Und doch sind 
Landschaft und Klima bereitet, Ansprüche zu 
erfüllen, die in Überlieferung und Gewöhnung 
festgelegt und vielfach in den Modeländern 
überfeinert sind. Oft sind es nur die vorge- 
faßten Meinungen, die dem Vertrauen auf 
eine materielle Zufriedenstellung ebenso 
entgegenstehen wie der Ansiedelung4nancher 
nordsüdlicher Schicksalsträume im Bereich 
der wärmsten Alpenseen und des tiefer 
blauen Himmels südlich der Hohen Tauern. 

Es liegt nahe, auf die nördliche Ergän- 
zung des südlich weicheren Temperaments 
Erwartungen zu setzen. Doch immer müßte 
Organisation und Unternehmungsgeist als die 
natürliche Folge geistiger Verbundenheit 
kommen. Der Kärntner wüßte es wenig zu 
schätzen, wenn man ihm mit den Gesten des 
Berliner Emissärs ins Land käme. Die 
tausendjährige Bedrohung durch das Slaven- 
tum hat eben glücklicherweise ganz andere 
Werte in den Vordergrund geschoben als die 
sekundär materiellen und wirtschaftlichen. 
Es ist beachtenswert, daß der Anschluß- 
gedanke, der in Kärnten so wie nirgends 
Gemeingut aller Parteien ist, nicht eigentlich 
als Hoffnung auf die Vereinigung mit dem 
größeren Wirtschaftsgebiete lebt, sondern 
als jenes Wissen um eine Zusammengehörig- 
keit, das einzig wirksam der südslavischen 


Die französische Fremdenlegion (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 12) 30 








440 


Tagebuch 








Propaganda entgegenzustellen ist. Wenn 
die deutsche Pressefahrt diese Erkenntnis 
stärken konnte, hat sie ihren Zweck erfüllt, 

Velden am Wörthersee. 
Dr. Arthur Hübscher. 


Die Schilljugend 
B:" Lesen des Juniheftes Ihrer sehr 
geschätzten Zeitschrift fand ich zu meinem 
Erstaunen in dem Aufsatze von Kemmer 


„Deutsche Jugendbewegung‘‘, die Nennung | 


unseres Namens, Ich hätte sie in diesem 
Zusammenhang nicht erwartet, hätte in 
einem Fehlen auch gar kein Übel gesehen, 
da die Wertschätzung derartiger Öffentlicher 


Anpreisungen uns abgeht. Daß der Aufsatz | 
Kemmers ein völlig verdrehtes Bild des | 
| ist, dürfte in diesem Zusammenhang nur von 
lediglich, Sie mit dem Abdruck dieser Be- | 


Wesens der Schilljugend gibt, veranlaßt mich 


richtigung bemühen zu müssen. 


Der grundlegende Irrtum Kemmers liegt | 





darin, daß er die Schilljugend zur Kategorie | 


der Parteijugendgruppen zählt... Wir lehnen 
jede Partei ab, da ihr Wesen ungesund ist und 
der vielbeschworenen Volksgemeinschaft wie 
nichts hindernd im Wege steht. Vielleicht 
geht der Irrtum darauf zurück, daß die 
Salzburger Gruppe, die Samenkorn des 
Bundes wurde, aus einer national-soziali- 
stischen Jugend hervorging. 

Der nationale Sozialismus dieser Gruppe 
war so gesund, daß ihm eine national-soziali- 
stische Partei unnatürlich erschien. Aus 
dieser anfangs demokratischen Gruppe wuchs 
um Gerhard Roßbach eine aristokratische 
Gemeinschaft. Gerhard Roßbach, der Frei- 
korpsführer, der damals als politischer 
Flüchtling in Österreich weilte, erregte zu 
dieser Zeit mit seinem Ruf ‚Quo vadis‘ 
an die deutschen Wehrverbände Unbehagen 
und Unwillen bei den deutschen Patrioten, 
derenVaterlandsbewußtseinsichingefahrlosen 
parademarschartigen Aufzügen und vater- 
ländischen Bierabenden erschöpfte. Ihm 
folgten die Jungen aus den Wehrverbänden 
und Parteien, denen in der Unwahrhaftig- 
keit, der die ganze völkische Bewegung nach 
dem Jahre 1923 durch den oben gekennzeich- 
neten Patriotismus verfallen war, ein zweites 
Steglitzer Erlebnis zuteil wurde. Es waren 
anfänglich die Marken des Reiches, in 
denen diese Jungen wach wurden und einen 
Gürtel um das Herz des Reiches zogen. 
Es ist so das Wesen des Bundes immer 
Kampf und Abwehr gewesen. Die Läuterung 
erfolgte, wie immer, im Kampf. 

Wenn nun Kemmer meint, daß ‚‚neuerdings 
auch von maßgebenden Führern eine Ver- 
bindung mit dem Geiste der Jugendbewe- 





ı wo Unklarheit Begriffe verwirrte. 





gung gefordert wird,‘ so irrt er wieder. 
Man brauchte uns nicht noch der Zweck- 
mäßigkeit wegen einen Fahrtenkittel über- 
zuziehen. Wir haben selbst schon so viel 
bewegt, daß man uns nicht mehr zu ‚,‚be- 
wegen‘‘ braucht. 

Bemerkenswert für die Entwicklung des 
Bundes ist, daß aus den alten Bünden der 
Jugendbewegung trotz der anfänglichen Ab- 
lehnung, die einer erklärlichen Furcht ent- 
sprang, zahlreiche, nicht unbedeutende Men- 
schen Gerhard Roßbach auf seinem Wege 
folgten, da sie glaubten, hier eine Lösung der 
besorgniserregenden Führerfrage zu sehen. 

So wurde ein Bund, dessen Ziel die Heran- 


| bildung einer Führerschicht junger Menschen 


ist, deren vornehmste Arbeit im Berufsleben 
beginnt. Daß vollkommene Enthaltsamkeit 
natürliche Voraussetzung der Bundesarbeit 


untergeordneter Bedeutung sein. 

In nicht gewollten Gegensatz zur Mehrzahl 
der übrigen Bünde stellt uns die bewußte 
Bejahung des Befehls. Wir sehen keine 
Beschränkung der persönlichen Freiheit des 
einzelnen darin, daß der Führer befiehlt. Der 
Führer muß befehlen. Er besitzt in so hohem 
Maße das Vertrauen der Gemeinschaft, daß 
sein Befehl eine Willensäußerung der Ge- 
samtheit darstellt, 

Der Zweck dieses Briefes ist, aufzuklären, 
Ich bitte, 
ihn so aufzufassen. 

Waren (Müritz) Jupp Hoven. 


Man sieht, wie schwierig es für den best- 
meinenden Darsteller ist, zur Zufriedenheit der 
dargestellten Verbände die deutsche Jugend- 
bewegung zu schildern. Doch das ist nicht die 
Hauptsache, denn die Verbände sind nicht da- 
zu da, literarisch behandelt zu werden. Die 
Hauptsache wäre, daß alle Verbände, dienicht 
international, sondern bewußt deutsch einge- 
stellt sind, sich untereinander immer näher 
kämen. An gemeinsamen Aufgaben fehlt es 
nicht. D. Schr. 


Gedanken 
1° lieben Gott ersetzt der Philosophie- 
Professor durch sich selbst. 
* 
Geschichte: In der Vergangenheit die 


Größe suchen, die man der Gegenwart 
nicht zu geben vermag. 


* 


Das Beste, was man von den Frauen 
sagen kann: daß unter ihnen mehr kind- 
gleiche Menschen: sind als unter uns. 


x 








\ 
1 
| 


| 
| 


Derdeutiche Erzähler 


| 
| 
| 








Der Fahrmann 
Novelle von Paul Berglar-Schröer 


Hi teerichtwarze Hütte de3 Klas Derkjen lugte aus vier Heinen, meift ettva3 blinden Zeniter- 
augen nach allen Richtungen. Die drei fchmalen Pfade, die von Huftede, Wittwarden 
und Braffiel her jujt vor der Tür des Fährmanns mündeten, glichen geloderten Fäden, 
‚Die fich erft vor Dem Deichbudel zu dem Leitjeil zwirbelten, an dem der breite Kahn des Flag, 
fttomgetrieben, über3 Waffer glitt. Drüben am anderen Ufer jchien der Strang fic) wieder 
‚zu löfen, als fpringe er deichab durch fattes Wiejengrün nad) Liefe und Woogjiel. 
Wenn Klas Derkjen, einen groben Wollftrumpf ftridfend, vor jeiner Hütte Hodte, — das 
tat er immer, jobald er feine Fijchneße gelegt hatte, und Sroft oder Unmetter oder das Fähr- 
geichäft e3 nicht gerade anders beitimmten, — dann fam er wohl ins Sinnieren: Das it 
wie bei ven Menihen! Alle fommen. einen anderen Weg, treffen fich, und gehen wieder 
auseinander! Manchmal im Guten, öfter im Böfen, immer aber ift der Tod zwijchen ihnen! 
Das ift nun mal jo! — Damit endete der Gedanfengang in einer zmweifelöfteien Selbit- 
derftändlichkeit. 
7 Oft aud) dachte er weiter: Wenn die Menjchen jchon auseinander gerifjen werden, märe 
'e3 da nicht beffer, fie gingen menigitens die furze Wegftrede zufammen? — Hier in jeinent 
Kahn mußten fie jich ja auch vertragen, denn fie wollten doc) alle ans andere Ufer! — Gejtern 
erft der Köppche und der Tiedje! Und die fuhren gar zum Richter nad) Liefe! Hatten den 
Prozek wegen der Kuh! — Aber wie ftill Hatten fie dagejeifen! Und feiner fonnte Den anderen 
borfahren lafjen, weil der Termin nicht mwartet!... 
' Zeife lacht las Derkjen in fich hinein. So jonderbar it das zu denken; Der Richter da 
| drüben wartet nicht. Er fordert Beide vor fich. Was geht den die Kuh an! Wo Recht und 
Unrecht ift, will der nur wien! Und dann gehts ans Bezahlen! Hahaha: Der Köppdhe 
— dem gönnt erd, weil der fo'n großmäuliger Saufaus ijt! — der Köppche wird den Sad 
\lappen! Er wirds müfjen, mweil eine Macht über ihm ift, der er jich zu fügen hat! Und jpäter 
werden Beide wieder in feinem Kahn fein!... 

Freilich, freilich: Beide find jelbander in feinem Kahn gejeljen. Mudsmäuschenitill waren 
fie, Wie ein Grab. Er hat fie noch) ein Stüd Wegs mit neugierig fragenden Augen verfolgt. 
Aber dann ift juft das Wetter von See her aufgezogen. Bon allem anderen weiß er nicht3, 
da.er in der Hütte faß. Aber anderen Tags hat man erzählt: Der Köppche ift im Bufch vor 
Wittmarden tot aufgefunden worden! Und der Tiedje ift ver Mörder! Er hats jelbit ein- 
| geitanden! Der hatte Doch den Prozeß gemonnen!... Warum denn nur hat er dann?... 

Das geht über die Gedankenfraft des Klas Derkjen. — Aber er Tommt ja an diejem Tage 

auch nicht recht zum Nachdenken! Erxft quält ihn eine vage Luft, den Toten lich anzujehen. 

| Doc) ift da auch, eine gewilfe Scheu, die ihn wieder hindert, Und ein zerrijfenes Bild, da3 
fi in feiner Phantafie malt, mat ihn jchaudern. 

&o verhartt er vor der Hütte, Und weil ihn das alles jo verwirrt, geht er zu den Neben, 
ob fie richtig liegen. Eigentlich müßten jebt in den Reufen Yale jein! 3 ijt Wandermwetter, 
und die Flut ftaut aufwärt3! Esift aber nichts da. Merkwürdigift das! ©o merkwürdig, wie... 
| Damit find feine unbieggamen Gedanten doch wieder bei dem Morde: Ä 














| 





30% 








442 Derdeutjdhe Erzähler 
———eLLL666eeeeeeeeeeeeEnn 


Kenn der Köppche den Prozek bezahlen mußte, und der Tiedje im Recht war, dann konnte 
der doch wahrhaftig zufrieden fein! Und er hatte gewiß feinen Grund, den anderen zu er- 
ichlagen! — Umgefehtt, ... ja, da fände fich unjchwer eine Erklärung! Denn... 


Weiter famen die Gedanken des Klas Derffen nicht. Sie verhedderten fich, daß er an den 


grauen Schädel griff. Er mar faft froh, ala vom anderen Ufer her Rufe famen: „Heio!... 


Flag! Heio!" Da ging er zum Kahn. Er ftellte da3 Ruder hart zum Strom, damit dag | 


MR 


Boot fchneller glitte. Die Minuten aber, die der Weg von Ufer zu Ufer dauerte, hatte et 
doch wieder bejinnliche Heit. 

&o fah er die treibende Kraft, Die jeewärtS eilte, und die Kraft des blanfen Geiles, Die den 
Wogenschwall hielt und den Trieb feitlich zum Ziele bog. Und er vermunderte fich, daß Die 
Menschen fich nahe Wege erjannen, die fie jelbjt untereinander nicht mandelten. 

Gelbit zwifchen Mann und Frau war dag jo... 












Shm fiel plöglich ein: Al er damals die Leute vom Holterhof zur Kindstaufe ans Liefer 


Ufer fuhr, faßen die Beiden wie zu Eins verwachjen in feinem Kahn und ihre Augen waren 
glücsblanf über dem Keinen Menfchlein. — Und genau zehn Jahre jpäter, da jaß die Jeic) 
wieder bei ihm, und fie holten den Mann aus dem Waffer. — Inder Trunfenheit jei er dahinein 
gelaufen, jagte man. 


Die Zefch hät mit einem ftahlfalten Bit auf den Toten gejchaut, hat fi dann aufgeredt 


und einen tiefen Atemftoß getan, daß er meint: Jebt bricht ihre Spannung vor den Menjchen 
zufammen. Weinen wird die Frau nun, einen wehen Schrei tun wie ein wundgetrofjenes 
Tier! — Aber al3 er ihr ein teilnehmendes Wort jagt, ftrafft die Jejch jich zum anderen Mal: 
„Lab man, las. Nu muß das ja wohl alle wieder bejjer werden!..." 

Blipfchnell und wirr fpringen die Gedanken in fein Hirn. Türmen fich ohne rechten Zu- 
fammenhang. Ganz im Untergrunde aber ift immer wieder dag eine Freijend in ihm: a3 
muß das für ein furchtbarer Ha zwifchen den Menjchen fein, der tötet, wo Liebe lebte! 


Er verjteht diefe Welt und die Menfchen nicht! — Wenn jegt jein Weib, die Kathrin bei 


ihm märe, fie würde feine Hand nehmen: „Lak uns man nad) Haus gehen, Klas; und wir 
riegeln zu, daß nichts Böjes herein Fann...” 

Wie merkwürdig ift das alles, erjchridt er, daß die Gedanken jo funterbunt von dem Ber- 
brechen zur SZejch und zu feiner toten Kathrin taumeln! Und irgend etivas Lajtendes ijt über 
ihm, grau, gefpenftjich, unfaßbar... Er weiß; nicht, was das ift. Aber es ijt jo, daR er 
meint, fich unter diefem Unheimlichen duden zu müfjen. Und der Schreden lähmt ihn jo, Daß 
der Kahn ihn faft ummirft, ald er ans andere Ufer trifft. 

Nur allmählich umgreift fein Blid die Wartenden bewußter: € find zwei Landjäger, 
die ihre Karabiner unterm Arm tragen, Der dritte, unauffällig in Dunfel gefleidet, Hält 
gewiljen Abjtand. Fragt er etwas, ftehen die Beiden jehr jtramm und dienitlich. 

Nun ift in deren Schweigen irgendein Bellemmendes, das er nicht deuten Tann. Doc) 
verjegt e8 ihm den Atem, und er fühlt ungewiß, daß er jebt felbjt unter den beobachtenden 
Augen diefer Obrigkeit fteht. Gleich wird einer von ihnen mit Dir |prechen, — denkt er und 
wartet. Aber fie fiten aufrecht und ftumm in feinem Kahn. Das Wafjer ftrömt, das blinfende 
Geil nirjcht. 

Wie breit ift heut nur der Fluß! ... Al liefen die Ufer weit und weit auseinander! ... 
Will denn die Fahrt gar fein Ende nehmen? ... So geht e8 ihm durch den Kopf. 

Erjt beim Ausfteigen jagt ihm der Dunfle: 

„Wir wollen in Shre Hütte gehen, Sie dort zu vernehmen.” 

Da zudt der Klas wie unter einem Hieb zujammen. 

Db er ettwas wifje, das der Aufhellung des Verbrechens dienen fünne? Cr möge alles 
berichten und denken, daß er fpäter wohl unter Eid geftellt werde! 











Paul Berglar-Schröer: Der Fährmann 443 


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| Bei der Kremdheit der drei Fommt des Alas Antwort jtodend, dann fehneller: 
„Sch weiß nur, daß der Köppche und der Tiedje jpinnefeind waren. Wegen der Kuh, um 
‚ bie fie ja auch progeflierten. Ich habe fie am Ungfüdstage zweimal gefahren. Kein lautes 
Wort ift zwifchen ihnen gemwejen. Und jo habe id) jie auch den Sährmeg gehen gejehen.” 
 „Hmhmbm...", macht da det Dunkle, und die Landjäger jehen ihn jonderbar an. Das 
Schweigen liegt jo jhwer in dem Heinen Raum, daß man die Fliegen furren Hört. 

j Dann folgen etliche belanglofe Fragen: nad) jeinem Alter, jeinet Frau, dem Tag der Che- 
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ichliegung und des Todes ujm. — Yreier und Elarer gibt der Klas feine Antworten. 
„Derkien, Sie haben doc; aud) eine Tochter?” — Yait freundlich legt der Dunkle die Frage 
hin und ergänzt fie: „Erzählen Sie von ihr! Sie joll ja wohl hübfch fein .... und zeitig jrüh- 
| reif gemwejen ... auch recht vergnüglich, — jagt man menigitend.” 
„So eigentümlich fingen diefe Tragen“, — denkt Klas Derkjen und er fühlt Dabei, wie 
das Blut ihm in die Kehle fteigt, daß e3 am Halfe haftig Hämmert. Cr empfindet die Tragen 
ı jo körperlich, daß er gleichfam ihre brennenden Augen gierig auf jich gerichtet fieht. Heftig 
ı Ichludt er ein paarmal. 
| „Hübih?" fragt er Ieife dagegen: „Vielleicht! Das weiß ich nicht !" 
 „Srühreif? — Wenn der Herr ‚altflug meint, Tann e3 ftimmen! Kinder fpäter Liebes- 
 Teute find das oft, hat man mir mal gefagt . .. und ich fanıı das auch ungefähr verjtehen!" 


| Bei den lebten Worten hält der las den Blid am Boden und eine zaghafte Nöte jteigt 
| 





unter das Wetterbraun der faltigen Wangen. — Und meiter jagt er: 
'  „Bergnüglich? — Nein, ich glaube das nicht! Ceit die Mutter jtarb, aljo feit ihrem drei- 
| zehnten Jahr, dient die Antje auf dem Voggenhof. Da muß fie jehwer arbeiten! Und wer 
jo früh im fremden Gejchtrr geht, fann doch nicht wohl vergnüglich fein!” 
= Bitter Hingen feine Worte. Dxdentlih warm ift ihm Dabei germorden. 
| „Sit jie öfter bei Xhnen gewejen?" fragt der Herr. Und der Klas antwortet: 
„Ale drei Wochen war die Antje bei mir, ... eö mögen wohl auch mal vier gewejen jein!” 
Bann ift fie zulegt bei Jhnen gewejen?” will der Dunkle wiljen. 
Der Alte befinnt fi. Ein fein bohrender Schmerz ift plößlich da. Ex zaubert eine Weile, 
rechnet an den Fingern. Sein Schmerz wählt zum Vorwurf: 
„&3 find ficher diesmal jechd Wochen, daß die Antje nicht Fanı!" 
Und e8 zudt durch feine Gedanfen: Wie hat er nur iolange in den Tag leben fönnen? 
| „Hit Ihnen das nicht aufgefallen?“ 
or diefer Frage mwittert der Klaz etwas Geheimnisvolles. Taftend gibt er zurüd: „set 
\ fällt e3 mir wohl auf! ... Aber im Frühjahr ift Hilde Arbeit! ... Und dann hab ic) auch 
| nad den Fijchen jehen müffen ... und das Boot neu verieeren " Saft entjchuldigend jagt 
| der las da3. 
Dann ift eine Kleine, Hinterhältige Paufe. Und inzwifchen fchießt e3 ihm in den Sinn: 
Paz foll das nur! Was hat denn die Antje mit diefer ganzen furchtbaren Sache zu tun? 
Bölfig ratlos ift er und ganz verbieftert. Und in folcher Ratlofigfeit gleitet fein Auge über 
das flimmernde Fährfeil. — Sonit konnte er e3 bis ana andere Ufer verfolgen! Und jegt auf 
einmal fieht er e3 nicht mehr! Al falle es in das rinnende Wafler! ... a, fo ift dasl... 
Und plößlich jagt er und wundert ji) noch über den brüchigen Klang jeiner Stimme: 
„Der Kahn gleitet ab! Das Ceil ift zerrifjen !" 
Die Drei lauern blinzelnd aus ihren Augenminfeln und lächeln ein wenig: 
„Der Alte fpielt ein gefchietes Spiel!”, — mag es bedeuten. 
‘Ras Derffen aber erfchauert, als greife ein jcharfer Troft ihn an. 
|. Unerbittlich fragt der Dunkle weiter: „War Shre Tochter ftet3 offen und ehrlich zu Shnen?” 
| „Sal — Das glaub ich feit!" 
„Hat fie Ihnen von ihren, ... na, jagen wir mal Ziebeleien- erzählt?” 





444 Derdeutjihbe Erzähler 


Wie mag denn das nur enden? quält den Kla3 ganz innen die Frage. Und mie ein | 
Stöhnen fommt e3 ausihm: „Sie wird feine Liebe gehabt Haben! — Wer follte denn aud)?.. .“ 

Das Weitere erjtirbt in einer jchnellen Unficherheit. 

„Smhm ... hat jie feine Beziehungen zum Köppche gehabt?” 

Da torfelt der Stlas an die Brettermand, daß die Hütte zittert. Totbleich ift das Geficht, | 
Die Stimme lallt. Und ift dann wie ein Schrei: „Zu dem Ermordeten?” 

„sa... umd auch zu dem Mörder! ... Eiferfucht fagt man...” Scharf fchneidet dies | 
„a, mit dem der Dunkle die furchtbare Anklage heraushebt und noch erweitert. 

Der Klas [mwankt wie ein Betrunkener. Er weiß nicht: Soll er dem Hund da an die Gurgel? 
— Nimmt er nicht bejjer den ARuderftumpen da aus der Ecke und zerbricht dem anderen mit 
einem einzigen Schlag den Schädel? Er Fralit zum Hals, in dem das Blut fich zum Beriten | 
Itaut. Aufbrüllen möchte er! — Aber auf einmal ift ein würgendes Schluden in feiner Kehle, | 
und heiß jteigt e3 ihm in die Augen! — Als er endlich fpricht, zittert verhaltenes Weinen von | 
jeinen Lippen: „Herr, jeit die Kathrin von mir ging, hab ich nur noch das Kind und meinen | 
reinen Namen! ... Nehmt mir das nicht! ... Tut e3 nicht, ihr Herren! ... Geht, — arm | 
und alt bin ih!... Ich hab nichts weiter auf der Welt!“ | 

Der Klas ijt in die Knie gefunfen und liegt wie hingemäht. Leidvoll hebt er die Augen 
zu dem Dunklen. Seine Hände faltet er zu einer unendlich demütigen Gebärde! | 

Da hebt ihn der andere auf, jegt ihn auf feinen Stuhl. Steht jelbft faft hilflos neben ihm: | 
„wart ijt das, las Derkfen. Furchtbar hart! Ich frage nicht gerne fo graufam, will Euch } 
nicht mehe tun! Aber ich muß ja, weil es mein Amt ift! Glaubt mir dag doch !" | 

Einen Herzichlag lang macht gutes Wort das Leid ebben. Und ein wirres Lächeln blüht | 
unter grauen Bartfranjen. Ein wenig fcheu, doch gläubig, ift in dem Mas das Vertrauen 
eines Kindes: „Ya, — fragen müßt hr wohl! Aber Khr nehmt mir mein Lebtes nicht! ... 
Nein ... nehmts nicht! ... hr lieben Herren!....“ 

Da jhweigen die drei, und der Dunkle fagt Ieife: 

„sa tat Cuc) weh, Klas Derkjen! E3 ging nicht anders! Jch fühle mit Euch: denn auch 
ic) hab ein Kind! ... eine gar liebe Deern!... Weiß, wie dag wohl jein muß!.. .“ 

Dann gibt er dem Alas die Hand: „Wie’3 auch enden mag: Euch) trifft feine Schuld! .... 
Oanz gewiß nicht! ... Shr fteht rein da vor Gott und den Menjchen !“ 

Und jo gehen die drei Männer. 


IT: der Kla3 wieder allein ift, atmet er einmal recht tief und breit auf, als finfe eine Laft 
bon ihm. Er findet gar ein Heines Lächeln. So munderjchön ift das: „Nein vor Gott 
und den Menschen! . . .“ 

Und fo leicht wird ihm, daß er vor feine Hütte tritt. Eine Lerche zuct hoch über ihm in 
unaufhörlihem Jubel. Srgendwo fchilt eine Amfel. Eine Nachtigall fendet weiche Schlirchzer 
zu ihm. Ein Schilffänger verträumt fich in den hellen Tag. Scheu Hufchen jchmwarze Laufch- 
hühnden ins Uferrohr. 

las Derkjen jegt fich in den Kahn und läßt ihn biS zur Waffermitte gleiten. Dort hält 
er die Spibe gegen den Strom, daß der Nachen faft ftill liegt. So... und wenn er jet auf- 
haut, fieht er überm Deichzug fünf Kicchtürme in den Himmel fchneiden. 

Stille Feierlichkeit ift ringSher, daß man jich wohl fromm darein verjenft. 

Morgen werden dort die Kinder jingen, denkt der las. Sie fingen mit Heinen, hohen 
Stimmen! Und die Orgel flingt, und die Gloden läuten... Morgen it Sonntag! — 
Dann will ich an das Grab der Kathrin gehen, und die Antje geht mit... 

Er weiß nicht recht, wie das Fommt: Aber auf einmal fieht er mitten in all dem goldenen 
Sonnenleuchten einen toten Menjchen Tiegen. Das ift der Köppche, überjchauert e ihn. 
Und der Tiedje ift der Mörder. Jebt wird er wohl von den dreien verhört und dann in Ketten 
gelegt. Und die Antje, die wird... 

















Paul Berglar-Schröer: Der Fährmann 445 


Er zudt zufammen, al3 greife eine eisfalte Knochenhand aus dem Ungemiljen ar fein 


"warmes Fleifch. Dann mälzt fi) ein drohendes Dunkel Yaftend über ihn. 


Verjtört bliekt er um fich. Da ift aber nur eine Woffe, die ihn überjchattet und ein zugiger 
Wind ift fühl aufgeitanden. 

AS die Sonne wieder aufbricht, fieht er ihren Glanz nicht mehr. Er hat nur da3 Emp- 
finden, daß es ftill um ihn her ift. ©o einfam ftill, als fei in der weiten Nunde jedes Reben 


“erjtorben. Unheilvolles Warten lauert aus diefer Stille. Verjebt ihm den Herzichlag. NWürgt 


ihm den Atem meg. 

Gefpenftifch folgt e3 ihm in-jeine Hütte, jebt Sich zu ihm, wijpert aus den Winkeln, tiert 
glogend auz blutroten Augen. Der Klas will fich wehren. Aber das Unheimliche weicht nicht 
mehr. Immer wieder mwälzt es ihm die Fragen in ven Weg: Nach der Antje... nad) dem 
Köppche und Tiedje ... nach dem Morde... Einmal fchreit der Klad dem ungreifbaren 
Ungeheuer entgegen: „Rein vor Gott und den Menichen!.. 

„Haft du nicht gehört, was alles Der Duntle fagte?” — zijchelt e3 ihn tüdiich an. 

„&3 ift nicht wahr! ... ift nicht wahr!" — ftöhnt las Derkjen noch einmal auf. 

Unbarmherzig aber krallt daS Gefpenft jich in jeine Seele. Mehrt Not und Dual darin, 
und ftürzt feinen Naden, daß die Stirn hart auf den Tiich fällt. 

Dann reißt e8 ihn hoch. Er taftet taumelnd zur Tür. Und nun läuft er. Atemlos, wie 
auf der Flucht. „Jh muß fie fragen... die Antje fragen... und fie wird wohl die Wahr- 
heit jagen... daß e3 nicht jo it ... nur nicht fol... lieber Gott!" 

Pieseinwärts quert er. Stolpert. Nafft fich auf. Furien peitjchen ihn borwärtd. Das 
Grauhnar verklebt die Stirn. Raub und verdorrt liegt die Zunge zwijchen den Zähnen. 
Der Alas läuft, fegt über Sielgräben, läuft... „Antje fragen... Antje fragen..." 
Und steht im Poggenhof. Sprechen Tann er nicht, fo ausgepumpt ift er. Aber der Bauer 
mweiß auch jo jchon um feine Not: „Die Antje” — drudft er, da er den mirr jlehenden Blid 

fieht — „die Antje ift verhaftet worden, ja... und fteht vor Gericht, meil jie BR 

Da bricht ihm der Klas Derkjen unter den Händen weg, wie ein Baum fällt. 

Suft als fie ihn aufheben und beiten wollen, tut er die Augen wieder auf und mürgt an 
der Frage: „Aber es ijt nicht mah, Bauer?” 

Der fchweigt jehwer. Da hebt der las ich mählich Hoc. Steingrau ift ein Selicht: „Wo?“ 
— fragt er nur. Und als er die Antwort hört, kann ihn fein Menfch mehr halten. © jteht 
er bald vor dem Hufteder Krug. Ä 

Er drängt fich durch die Kinder, die die Tür belagern. Er jchiebt einige Frauen zur Geite. 
Hält dann in der Heinen Stube. Bor den dreien und dem Tiedje und der Antje. Ext lehnt 
er an dem braunen Türpfoften. Die Augen hält er gejchlojien. 

Als er die Hände Löft, ift aber eine heilige Ruhe in ihm, daß e3 ihn felbft fajt wundert. ©o 
erdfern und jchidjalyaft empfindet er nun alles. 

„23 wär id) ein anderer. Menjc) I — YHufcht e8 ihm durch den Sinn. 

Und der Dunkle hat fich wie unter einem Zwang erhoben. Die Landjäger jtehen iteif 
mit krummen Nüden. 

„Wie ein Heiliger, den Leid dem Reid enthob!" — denkt der Richter und ftarri fait un- 
gläubig auf den Fährmann, dejjen Dual noch allzu frifch in feinem Erinnern lebt. 

Klas Derkfjen tut ein — zwei langjame Schritte. Sein Blie ruht fejt und forfchend auf 
der Antje, und Doch fo, als dringe er durch fie Hindurch in eine himmelweite Ferne. 

So ftill ift e$ in der Stube, Daß man das feine Tiden der Uhr, Die auf dem Tische Liegt, 
deutlich vernimmt. Dieje Stille erjchüttert die Menichen. Nur der Tiedje verharrt in einer 
falttrogigen. ©tarre. 

las Derkjen durchbricht fie mit feinem Ruf: „Antje? 
Da fenft das Mädchen den Scheitel. 
Und nochmals ganz behutfam: „Antje! 








446 Derdeutjhe Erzähler 
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Da geht ein Beben duch ihre Schultern und fie birgt den Kopf in ihren Händen. 

Und nun voll heimlidher Zärtlichkeit: „Antje...“ 

Da ift ein |hmaler Schrei in der ftillen Stube, und die Antje liegt vor feinen Füßen. Sshre 
Singer umframpfen feine Knie: „Vater... lieber Vater!.. .” 

Der jtreichelt da3 fture Blondhaar und hebt fie auf, daf fie vor ihm fteht. Kaum hörbar 
flüftert er zu ihr hin: „Rein vor Gott und den Menfchen?... .“ 

Klas Derkjen fühlt, wie fie [huldhaft chwer in feinen Armen liegt. 

„upt jest nicht |prechen, Antje" — und ein Zittern ift in feiner Stimme, 

Und nad) einer Kleinen Weile: „Gott fei ung allen gnädig.. .” 

Dann geht er aufrecht und mit weiten Schritten. Geht wie ein Traummandler. 

Die Menjhen da drinnen laufchen auf feinen Fuß, und die draußen machen den Weg frei, 
jtehen mit gejenften Augen. 

Als der Klas am Grabe feiner Frau fteht, fällt ihm irgendwie ein Spruch ein, den er früher 
— das ift jchon lange her — einmal gelefen hat: 

„Siehe, in jeiner Hand ift die Wurffchaufel. Er wird feine Tenne jegen und den Weizen 
in jeine Scheune fammeln und die Spreu im ewigen Teuer verbrennen!.. .“ 

Der Spruch läßt ihn nicht mehr Io. Immer find auf dem Heimimeg feine Fragen und 
Hoffnungen in ihm. Mählich aber erfüllt daraus eine große, jelige Zuverficht feine Seele. 

©o jteht er vor feiner Hütte und laufcht in den finfenden Abend, der einen goldenen Mante. 
um jeine Schultern webt. Der Fluß raunt und murmelt. Vogellaute jagen jchon Gutnacht, 
Ströjche quarren in einem Gieltümpel. Die Rohrdommel hujcht im Uferried. Und das Fährfeil 
gleißt noch einmal über das Wafler. Von Ufer zu Ufer... 

63 ijt ihm, al ob aud) er noch etivas fagen müjje. Aber dann ijt plöglich eine unausfprech- 
lihe Müdigkeit in ihm. Er geht in feine Hütte und legt fich auf das farge Bett. 

Mitten in der Nacht, die einen milden Sternenjchimmer durch die Fleinen Fenfter fendet, 
erwacht er. Hat ihn jemand gerufen? E3 war doch eine fernferne Stimme... 

Da fällt dem las ein, da er noch) nicht gebetet hat. Aber er fann jett die Worte nicht 
finden. Und als er fich wieder ftredt, geht nur ein hauchender Seufzer über feine Lippen, 
und ein ganz Kleines Lächeln legt fih um den Mund... | 

Leije hat ihn jo der Tod ans andere Ufer geholt. 


Mampnha 


Wiener Zeitroman von Eduard Paul Dangzty 


(7. Fortjegung und Schluß) 
Hi Nonne nicte immer wieder, ermunterte die hajtigen Worte zu noch größerer Haft 
al3 müßte in Minuten ein ganzes Leben, ein ungeheures Schidjal aufgetan werden. In 
ein furze3 Stoden Mamynhas fragte fie: „Sie tommen aus Bayerbach?” Und faum die Ant- 
wort erwartend, rief fie: „Sie find Mamynha? 3a, Ferrys Mutter, meine Biwillingsjchweiter, 
hat mir alles erzählt. Jch muß Shen für meine Schwefter danken, was immer man einem 
Sohn Liebes tut, fpiürt die Mutter, ift Doppelte Wohltat. Sind Sie eine gute Mutter? Sie 
haben doc Kinder? Oh, Sie jind ficher die allerbeite Mutter. Eine Frau, welche einem 
Mutterfohn gut mill, Yiebt auch die eigenen Kinder.“ 
Mampynha war wie fortgetragen auf Wolfen, auf fonnebeftrahlten Wolfen, Wieder Ichiwin- 
delte ihr vor diefer gütigen Stimme, vor diefem anftedlenden Glauben an Menjchengüte. 
„Sie müfjen mir Ihre Kinder bringen, ich will ihnen ein Kreuzlein auf ihre füßen Lippen 
zeichnen, denn Kinder fann man nicht Ängftlich genug behüten. Sehen Sie Terry! Welcher 











Eduard Paul Danzziy: Mamynha 447 











Schmerz, welche Liebe für diefes Kind! Mit fieben Jahren hat er bereit3 in diefem Stuhl 
‚gejefjen, in welchem auch Sie nun fiben. Welches Fuge Kind mit jieben Jahren! Hier nebenan, 
in der Nachbarzelle, hat ein Weihbiichof gejejfen und heimlich dem Knaben zugehört! — Er 
it immer noch Kind, ein trogendes, unbefonnenes Kind, blind vor Liebe und Güte. Und 
denken Gie diejes Kind in dem fchredlichen Krieg, denken Sie! Aber ich fpreche zuviel von 
‚mir, verzeihn Sie, Frau Generaldirektor; die Schweiter Pförtnerin hat mir gejagt, daß ©ie 
‚eine Stau Generaldirektor find. Sie find eine auserwählte Frau! Denn Gott ftellt die 
ı Menjchen auf ihre Pläbe, ihr Dazutun ift nur vermeintlich, ift Einbildung. Aber immer 
‚ wieder, vor Treude laffe ich Sie gar nicht jprechen. D, die Freude macht jo geiywähig zum 
‚ Unterfhied vom wahren Glüd, welches die Lippen verjiegelt.” 

Sn falfungslofer Freude fchritt fie Hinter dem dunklen Gitter den Heinen Raum ab, immer 
| wieder zurücdfehrend, Mamynhas Hände mit ihren warmen Fingern liebfojend. 

“ Bor diejer Eindlichen Überfchwenglichkeit fand Mamynha den Mut zu rüdhaltlojent Be- 
| fennen. Wie wenn ihr Schmerz zwifchen diefen Markiteinen ihres Lebens blind Hin und 
| widergewandert wäre, ftellte fie alles Wichtige in bewegter, nicht anders Tünnender DOffen- 
| heit dar, ohne Beichönern, ohne eitles Entitellen. 

Wie ihre Freude war das Staunen der Nonne fafjungslos. „Was diefe armen Frauen 
erleiden! Welche Höllen im Herzen!" Sie fand feine anderen Worte. „Weldhe Höllen im 
Herzen!” Dann fam Mamynha auf ihre neue Mutterjchaft zu fprechen; zum erjtenmal 
| zögernd, Wange, Stine, da3 ganze Gejicht blutüberriefelt. Die großen, blauen Augen der 
| Nonne erlojchen. Aber ihr Entjegen überlebte Sekunden nur, war jofort gewandelt; eiferboll 
\ tief fie: „Dies ift die einzige Sünde!" Nuhlos wanderte fie an dem Gitter auf und ab, wie 
) eine Biene Gottes fuchte jie Honig, mußte fie den Stachel züden? 


| 





\ 
) 





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| 
N 


| „D wie viel Sie, arme3 Kind, mit meiner Schweiter gemein haben! Gejchieden von ihrem 
| treulofen Mann hat fie ihm nod Kinder gebären müfjen. Müjjen, liebes, verirries Kind; 
denn die Srau, Die Mutter ift da8 wertvollite, heiligfte Gefäß Gottes. Aus ihm werden Gottes 
Seelen erwedt. Die Frau ift nur Werkzeug, nicht eigenes Eigentum ihrer Liebeswillfür. 
| Eine Mutter, welche ein Kind verfagt, betrügt Gott um eine Seele. Gott braucht immer 
| wieder Seelen, um die Lüden rafch auszufüllen, welche Abirrende, Abgeirrte verurjachen, 
\ Gott hungert nad) feinen Seelen wie wir nad) der Freude Hungern. Die Seelen ind Gottes 
| Glüd, Gottes Recht und Eigentum. D, nehmen Sie alle Kraft und Liebe zufammen, bringen 
| Sie eine glüdliche Seele zuftande. Denken Sie nicht an den Mann, wenn er Shrer Achtung 
| und Liebe nicht wert ift, fehen Sie nur das Werkzeug der Vorjehung in ihm, die Welt und 
Gott durch Sie zu bereichern. Vergefjen Sie nie, Gott it ohne ung arm.” 
| Mamynha erfakte alles. Fehrbadhe Schatten half ihr dabei. Seinen Glauben fand fie in 
ı jedem Wort wieder, jah breit die Quelle jeines Glaubens von Diefem Herzen ausjtrömen. 
. Aber Troft war nur, daß aus den lebendigen Bliden der Nonne fie ihn beichwören und helfen 
| fah. Denn das umerbittliche Auslöfhen ihres gequälten Jchs, die Aufhebung ihres Frauen- 
| willen fpürte fie al3 graufames Urteil, al3 grnadenlojen Bannftrahl, welcher ihr Leid Feines 








| Segens, feiner Würdigung werthielt. Wie gerne wäre aud) ie Gefäß der Liebe, aber nicht 
| ftarrer, verfteinerter Behälter gefegmäßigen Fluches, nein, erleuchtetes und durchleuchtendes 
| Kriftall, in welchem das Leben der Liebe blutete, alles reinigend, alles erfüllend. Sie mar ganz 
fill geworden, ihre Liebe zu Fehrbach verleugnend. Mit diejer Heiligen mochte fie mweiter 

nicht um ihr Glück ringen, welches fo unficher und dunfel im Schoß der Zukunft lag, daß e3 
| vielleicht nie wirklich wurde. Nun jollte nicht auch die Berechtigung: dieje jchwanfe Gelig- 
' feit zu erhoffen, ihr noch verwehrt werden. Mit diefer lebenzferniten Frau mußte der Freund, 
der Geliebte einft felbit fämpfen, er kannte die Waffen, welche die gotthingegebene Ber- 
| wandte verwunden, befiegen fonnten; fein Glaube mır konnte ihren Glauben nody über- 
| winden, verfemter Seligfeit Duldung erringen. 














448 Derdeutfhe Erzähler 










Mampynha Sprach von Edoardos jchmerzlichem os. Jhr eigenes Leid jah fie vor jolchen 
Berzichte abgedanft, ärmlich, des Erwähnens nicht würdig; aber das Schidjal des herrlichen 
Bruders Ichien der Anführung wert. | 

„Er ijt al3 Held gejtorben” jagte die Nonne, „er hat die Märtyrerfrone, e3 ijt die Höchfte | 
Krone, der Dornenfrone de3 Erlöjers am nädhjjten und ähnlichiten. Trauern Sie nicht, je 
mehr Sie ihn geliebt haben, dejto näher find Sie nun Gott. Glüdliche Frau, welche jo viel’) 
erleiden darf, welche Gott folchen Unglüds würdigt. Denten Sie ftet3 daran, daß Gott der 
glüdlihen Menjchen nicht achtet, fie Haben ihr Teil genojjen; aber welch rührende Umftände 
rird er mit jenen machen, die er der Prüfung wert erachtet. Daraus werden feine reiniten, 
heiligiten Seelen.“ 

Tlöglic) wie in einer Eingebung fragte fie: „Sind Sie eine mächtige Frau? Gie find die 
Stau eined Generaldireftord. Ya, Sie find eine mächtige Frau, Sie haben ficher viel Not 
gelindert, viel Gutes getan!“ 

Scheu regte in diefem Augenblid fi) in Mamynhas Seele ein Gedanke. Ya, fie hätte 
allerdings Not zu lindern getrachtet, aber vor dem unausdenkbaren Unheil des Krieges wäre 
jedes Wollen, jedes Bemühen ohnmäcdhtig. Darum wolle fie fich an die mächtigfte Frau diefes 
Landes wenden, an die mächtigfte Mutter, an Zita. Nur wäre der Weg ihr unklar, fie fürchte, 
daß ein Brief nicht in die Hand der Erzherzogin, der fpäteren Kaiferin würde gelangen Tönnen. 

Der Atem der Nonne jegte fefundenlang aus; ein Röcheln erftarb. Sie janf nieder, ihre 
Stirne mit beiden Händen an das fchwarze Gitter prefjend. Dann erhob fie fich haftig, wie 
angetrieben von etwas Unfichtbarem. 

„sh werde hnen einen Priefter nennen, einen mächtigen Priefter, an ihn dürfen Sie 
ruhig Shren Brief abjenden, er wird ihn ficher beitellen.” 

Sie nannte ihr einen befannten Domheren. „Sie find eine gute Frau” fügte mit Tieb- 
fojenden Worten fie bei. „Wie lieb muß Gott Sie haben, daß er Ihre Jugend Schon mit folcher 
Umficht bedacht hat, daß er Yhr fchwaches Gehirn für alle Mütter denken und forgen läßt.“ 

Endlich nahmen die Frauen voneinander Abjchied. Mamynha befam auf ihre Stine von 
den heißen Fingern ein Kreuz gezeichnet. Dies bedeute Erleuchtung, fagte die Nonne mit | 
ihren großen, frohlodenden Augen fie lange anblidend. Ihre Niederfunft möge fie Gott 
anheimjtellen, ihn für das irrige, winzige Leben verantwortlicy machen. Sie felbft würde mit ! 
allen Gedanfen bei ihr fein und ihrerjeit3 den Himmel beftürmen, daß er über Mutter und Kind 
das DBeite verhänge. Verträumt fchritt Mamynha hinaus, ihren Brief an die Frau Erz 
herzogin in Gedanken flüchtig abfafjend. 


Sri einer Woche fam Ruf zucüd. Er hatte an Graz Marburg und Klagenfurt angefchloffen, 
jeine Konzerte hatten reichlichen Beifall gefunden. Sofort war für Mamynhas Liedervor- | 
trag eine legte Probe gehalten, ihre Ruhe und Sicherheit auch von dem Künftler, der durch frifche 
Siege verwöhnt war, gerühmt und bewundert; die Vorführung für den nächiten Tag, einen 
Sreitag, anberaumt; alle Vorbereitungen im Einverftändnis mit Scmweiter Henriette ge- 
troffen, wobei der Generaldirektor alles Materielle erledigte. Der Tag felbit trug freundliche 
Vorzeichen an der Stirne, zwei Briefe! Fehrbad) chrieb aus dem Feld, daß fein Regiment 
abgefämpft, die fpärlichen Refte in einem Wald auffrifche. Nun hätte er Muße zu einigem 
Nüdbejinnen, vermöge gleichfall® die Bruchftüde feiner PVerjönlichkeit traummandelnd auf 
der blutbefudelten Erde aufzulefen! Sie lebten wie Vorzeitmenfchen in Höhlen, in fchnell- 
gezimmerten Hütten, die Mannjchaft in Erdlöchern mit Zeltleinen zugededt. Welche Einfach- 
heit und Einfalt in ihren jegigen Forderungen oder Bedürfniffen, welche unfruchtbare 
Größe in der Gelbftverjtändlichkeit folchen BVerzichtes! Welche Berheißungen erwedte in 
allen Gehirnen diefe finnlofe Prüfung in den brachliegenden Herzen! DO, wer dies alles; 
nur überlebte! Mit welcher ftammelnden Dankbarkeit würde er zu feinem friedlichen Tage3- 
werk zurüdkehren, ven Kopf tief begrabend in dem Schoß des endlich verfühnten Lebens, der 
wieder entfefjelten Güte, der aus dem Grab auferjtehenden Treue! Er rufe Mamynba nur || 
















































Eduard Baul Danzzty: Mamynda 449 


I EEE EEE EEE EEERTE ERTEILT EHE SEE EEE SEE EEE NEE SET ERLEBT ZAEEEDESEBEN BT SEELE RETTET BETTEN 
m ng nn nen m An nr Gear DENE Se Een 





eins zu: der Haß fei organifiert worden. Mamynha müfje die Liebe organifieren. Niemand 


‚jei hiezu fähiger al3 fie. Er leide felbit ja verhältnismäßig wenig, beinahe nichts, da er un- 


 begreiflich empfindung3los für alles fei. Er lebe nur mit den Augen. Er blide allem, mas 


fommen könne, entgegen, ehe e3 da fei. Dies bringe grauenhaftefte Bilder um ihre jchred- 
lichfte, die überrafchende Wirkung, verfürze jede verlebendigte Viftion um ihren Sieg über 


\ feine Nerven. Mit diefem Shitem einer nie abdankenden Selbtherrlichkeit werde jeine Seele 
| jchlieglich alles verwinden, fäme nicht zum Vermittern, nur der Körper jei dem getwogenen 


| 








Bufall allein überantwwortet, wirklich: getwogenem Zufall. Jmmer fiele der Nebenmann. 
Gr eile bisweilen allen voraus, ftürme voran, um diejes Glüdsjpiel ihnen zu erleichtern, 


| Dann ichlüge inde3 die Granate hinter ihm ein, in die zögernde, Feuchende Linie der andern... 


Welcher brennende Stachel war diefer Brief für die gleichfalls bedrohte Frau, mie trieb 


' feine Zuverficht einer mollüftigen Geißel ähnlich fie an. Wie ein törichtes Mädchen füßte jie 


feinen Brief, al3 empfinge fie den erjten Liebesbrief. 

Der andere Brief Fam aus Konftantinopel. Die Schriftzüge waren ihr fremd: 

„Liebe, gnädige Frau, ich bin mit Mühe der Internierung entgangen. Nur mit beträchtlichen 
Geldopfern und rafchem Verzicht auf umftändliches aber liebgemordenes Neijegepäd ijt mir 
die Ausfchiffung auf türfifches Gebiet gelungen. Auf abenteuerlichen Wegen Tam ich nad 


' Konftantinopel. Alles Ausführliche folgt in einem Brief an Thumader, dejjen Vermittlung 


ich werde beanspruchen müfen. Für Sie will ich diefe Zeilen nur ala Lebenszeichen denfen 


| und Ihnen verraten, daß meine reifige Flucht in eine reuige Rüdfehr auszuarten beginnt. 


Lebt Fehrbach noch? ch bin von unferen augenblidfichen Zeitläuften auf alles gefaßt. 
Grüßen Sie die Lieben! Shr immer getreuer Schober.” 


Sie ftürmte mit diefen Briefen fofort zu Mamain und den Schweitern, la bot, ließ die 
andern Iefen. Auch die Kinder befamen ganz Heiße Wangen und Blide. Mijter oe war 


| unermüdlich im Fragen. Sie dichtete Landichaften, malte Menjchen, Koftüme, entwarf 
| Schilderungen. Was fie nur wußte, mußte über Rußland und die Türkei jie den unerjättlichen 


Kindergemütern vorftellen helfen. Zum Mittagefjen mar Ruf beitellt, damit jie ihn felbit 
bewachen, damit nicht Unvorhergefehenes ihn plößlich ihr ftreitig machen fonnte. Shre Ruhe 
tar einem reizenden Fieber gewichen. Ye näher indes die Stunde rüdte, dejto beherrichter 
ward fie. Endlich fuhr fie mit ihrem Mann und Ruf ab, Mamain und die Schweitern be- 
nusten die Trambahn. j 

Sm Spital wurde fie von lauter weißen Mänteln empfangen, an deren Spibe der Hofrat 
mit fämtlichen Irzten die Ioder figende militärifche Alfüre einige unbeholfene Schritte Der 
ichönen Frau entgegenmachen ließ. Schweiter Henriette am mit Thumayer auf jie zu, da 
ftelgende Zeremoniell mußte fein Jnkognito Füften. Dann betrat fie den langen, riejigen 
Saal, an deijen Längsfeiten zwei Reihen Betten endlos fidh dehnten, die Türen waren ges 
öffnet, an zwei Stellen war der Saal in gleichjall3 Dicht belegte Bimmer wie in abzweigende 
Stollen fortgefegt. Sm der ungefähren Mitte des Hauptjaals ftand ihr Bechjteinflügel von 
dem borherrichenden Weiß und Grau der Mäntel und Bettwäsche fich fchmwarz, tiefjchtwarz 
abhebend, ven Dedel aufgejchlagen wie einen Niejenfittich. hr jchmarzes Kleid ftad) davon 
nicht. ab, ven fuchenden, flarımenden Bliden der Vermundeten und Kranten leuchtete nur 
ihr blafjeg Geljicht auf. 

Durch die Türen fchoben, drängten fi, in Heinen Häufchen bon Drdonanzen und Note- 
Kreuz-Schmeftern geführt, jene Olüclichen, welche gehen Fonnten, Halbgenefene, Fieberlofe, 
an den Armen Verlegte, und Amputierte. 

Mamynha war von diefem Aufmarjch gehäuften Elend3 zwar tief betroffen, doch dachte 
fie inniger mır der Freude, welche fie allen geben wollte, der füßen Ohnmacht, welche ihr 
Herz fchon allen zubewegte. Sie mußte fich an Dem Flügel aufftügen, den Blic jenfen, Damit 
fie für ihre Sammlung wenigftend der grauenvollen Beritimmelung ein wenig vergaß. 





450 Derdeutjhe Erzähler 


Ruf fpielte ein Furzes Klavierfongert, welches ihr Mut machen jollte, Sie jang als Erite das 
Lied der Agathe: 
Und ob die Wolfe fie verhülle, 
die Sonne jteht am Himmelszelt, 
e3 waltet dort ein heilger Wille, 
nicht blindem Zufall dient die Welt. 
Ein Auge ewig, rein und Har, 
nimmt aller Wejen liebend wahr! 


3 war eine glüdliihe Wahl, denn niemand hatte dieje Verficherung notwendiger, daß, 
ein überirdiiche8 Auge alles Elend diejer Zeit liebend wahrnahm, al diefe Schar Krüppel, 
diefer Haufe Unglüdlicher, welche für furze Zeit einem entjeglichen Los entriffen waren, 
denen die janft verjprechende Stimme, der rührend geöffnete Mund, das mild flammende 
Auge wie eine Offenbarung war, ein greifbares Unterpfand de3 Heiligen Willen, von 
welchem das Lied wußte. In diefem bezaubernden Bild lag mehr als die Himmliihe Mahnung, 
den Blid von der augenblidlihen Heimjuchung abzuwenden und hoffnungsfreudig auszu- 
harren. Die folgende Arie der Heinen Japanerin, welche Mampndba, jelbjt mit aller Snnigfeit 
die Rüdfehr de Geliebten erhoffend, auch die Horchenden miterleben ließ, zeigte das zärt- 
lihe Martyrium der wartenden Frau aud) einfältigiten Gemütern. 

Dann famen Lieder von Brahms: ‚Thereje‘ und ‚Sapphilche Ode‘; von Schumann: 
‚Ach, wenn e3 der König auch wüßt‘; von Schubert: ‚Die Forelle‘ und ‚Fülle der Liebe‘; 
bon Sohann Strauß: ‚An der [chönen, blauen Donau‘! 

Die Soldaten, welche ihren Beifall vernehmlich Fundgeben konnten, waren darin unermüd- "| 
ih. Obgleich der Stab3arzt in aller Namen ihr gedankt, famen viele an fie heran, dankten 
mit einigen Worten, an welchen der bebende Ton ihre Aufgemwühltheit verriet. | 

Schmwejter Henriette brachte ihr Dr. Hilgner und dejjen Frau, welche in dem Spital ala 
Oberin wirkte; der etwa Fünfundvierzigjährige hatte den Rang eines Affiftenzarztes. Sie 
jah zwei leidende Menjchen, welche mit fremdem Leid zum Zufammenbrechen beladen waren 
gab ihnen [pontan ihre beiden Hände preis, wie in einer bligjchnellen Verbrüderung. 

Der Generaldirektor hatte inzwijchen eine Unmenge Zigaretten verteilt und verteilen lafjen. 
Nun war er ftändig an Mamynhas Seite, reffamierte die in ihrem Glück verfchönte, in manchen 
Augenbliden förmlich verflärte Frau, drängte zum Aufbruch, von den vielen Gebreiten in 
einer gefunden Zebendigfeit offenjichtlich behindert. 

Ruf rief ihr ein: „Prächtig, gnädige Frau!” zu, die Kranken gaben ungern Plab, riefen: 
„Danke" und „Auf Wiederjehn”. 

Sie winkte ihnen zu, nidte glüdlich nad) allen Seiten, beftieg mit ihrem Mann und Ruf 
den Wagen, als legte — die Hände der Schwefter Henriette fanft ablöfend... 


; ies war ihr einziges öffentliches Singen, überhaupt ihr lete3 ereignispolles Hervortreten. 
Der Erfolg hatte fie wunderbar beraufcht, geradezu vergiftet. Sie fang in den nächiten 
Tagen mit von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde fich fteigernder Empfindfamfeit. Die 
ducchjcheinende Hülle ihrer Seele in folhem Augenblid war dünn zum zerreißen, Ihien nur 
mehr Andeutung, trennte nicht mehr vom Subftanziellen, vielmehr zeigte diejed die eigen- 
artigjte Belebung und Ducchdringung mit Geiftigem. Je mehr ihr Leib unter den Holterungen 
eines gefürchteten Blutprozefjes fich dehnte und anfchwoll, je mehr ihr Chenmaß, ihre Anmut 
davon entjtellt, die wunderbare Feljel der Form gefprengt war, deito häufiger gelang ihr 
während des mufifalifchen Gottesdienftes die Opferung ihres Seins, umlauerte jie in jenen 
Tagen die Bifion. Zeitweije mit folder Eindringlichkeit, mit folch exlöfendem Eindrud, da 
jie den im Lied vorgezeichneten, den vertrauten Gefühlspfad verlor, nur mehr vibrierendes 
Snftrument war, von der Wirklichkeit des Liedinhaltes abgelöft, befeelt nur vom Seherifchen. 











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| 


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Eduard Paul Danzziy: Mamynha 451 


a — 


Diez war eine Woche, bevor fie das Bett nicht mehr verlafjen follte! Denn plöglich fieberte 
auch ihr Körper, das Fieber ihrer Seele jchien nur al3 Warnung, al Vorbote vorausgejandt. 
63 war ein tüdifches, ein ganz willfürliches Fiebern, ein launenhaftes Frieren oder Ber- 
Hammen; ein Erlöfchen der Sinne und ein Übereritarfen der Sinne; eine wechjelnde Schlaff- 
heit oder Schärfe; ein wacher Schlaf voll drohender Phantafien, deren ohnmäcdhtiges Emtpor- 
fodern, deren verräterifches Stammeln fo jehwer erjchredte, daß in lichten, Haren Augenbliden 


die Kranke gegen Mamain, die Schweftern und Nunä bejcämörend die Hände rang, jie dürfe 
| in feiner Stunde mit diefem gefährlichen Beleben ihrer Angft und Freude, mit diefen iprechen- 
\ den Gefichten ihrer Verzweiflung und Sehnfucht allein gelaffen werden. Den Mann möge 
| man in folhen Augenbliden nicht an ihrem Bette dulden, müjje ihm Harmacdhen, daß er ihre 


Angit bis zum Ausjegen ihres Herzichlages treibe, wenn er fie anhöre. Denn fie wüßte auch 
fiebernd, wer um fie wäre, anihrem Bett oder im Zimmer fäße, fie wüßte alles unnötig genau! 


\ Wirklich wurde ein Wachdienft von den dazu Augerjehenen abgehalten, welcher Mamynha 


| erftaunlich beruhigte. Ihr Leiden ertrug fie mit unheimlicher Faffung; denn ihr Leib jchwoll 


} 





| 


unter den ungeheuerlichften Schmerzen auf. Troßdem jchien fie zuzeiten von der Ohnmacht Des 


Hofrat befuftigt. Auch wenn fie ihm und dem Mann ihre Bermeifenheit heiter verwies, jchien 
fie ganz außerhalb ihres Zuftandez, ftrömte auf andre no Ruhe aus, da ihre Geduld, ihre 
Unerfchrodenheit jeder als günftiges Zeichen Hinnahı. Man trieb übrigens einen in ihren 
Augen fündhaften Kult mitihr. Nad) einer Woche ihrer Bettlägrigfeit war ihr Unfall, wie man 
fagte, jo ftadtbefannt, daß in ihren Zimmern mit Blumen das lebte Bläschen veritellt war, 
wobei Krenelfi in ihrem Kranfenzimmer außer ein paar Rojen Blumen nicht duldete. 

Bon den Beuchern war an ihr Bett nur Thumayer und ein uralter Graf vorgedrungen, 
Thumader wäre nicht abzumeijen gemwejen, er trug Schober3 Brief wie einen Taligman it 
feiner Brufttafche. In diefem Brief war Schobers KRückunft angezeigt, Thumayer zu einem 
heimlichen Eingreifen Fehrbadh& wegen veraniaht. Mamynha ergögte dez Alten Galan- 


| terie und Zuverficht. „Sind Sie denn Logenbrüder?” fragte fie immer wieder lächelnd, denn 


was nübte alles Eingreifen vor dem Teuer, welches fie Tangjam verbrannte? Der Alte zeigte 
eine anmutig-grotesfe Machtliebe. „Jch bin Gropmeilter eines Landes, Sie dürfen Darüber 
mit niemand fprechen, Schober ift in einem andern Land, eigentlich in mehreren Ländern 
mächtig gemwejen." Mamynhaz Lächeln riejelte wie ein Bächlein über ihre Lippen, wie ein 
Bächlein, das aus ihrem Mund hervorquoll. „Und ich habe ein feptifches Fieber, Herr Örop- 
meister! Ir welcher Zoge wollen Sie Dieje3 feptifche Fieber beihwören? Die Zeit drängt aber 


| furchtbar, man hat e3 eilig mit mir.” 


Am andern Tag hatte der uralte Graf, welcher od) eine allerhöchite Charge bekleidete, 


| durch fein wiürdevolles Auftreten jowohl die Mamain al auch den Generaldirektor beitimmt, 





ihn vor Mampynha zu führen. In ihrem Bimmer, an dem SKranfenbette, auch Nunä hatte 
fie verlajfen müfjen, ftand er plöglich ohne Mantel, mit vem goldenen ließ, beide Nochälften 
von glikernden, funfelnden Drben und Kreuzen fo dicht bejebt, daß ihr feine Brujt, wenn Licht 
dDarauffiel, wie ein Panzer dünkte. Aber diefes Uralter, dieje3 Greijentum von Gotted und 
Kaifer8 Gnaden, diefes unjagbar vormehme, fehlerlofe Gefäk der Treue, diejer Yüdenloje 
Abglanz huldvoller Majeftät erftidte die Bitterfeit, welche fein militärisches Auftreten auf ihre 
Sippen drängte. Nachdem er ihr ehrfücchtig die Hand gefüßt hatte, bligartig mit der Willen- 
ichaft und Herzenzerfahrung bon beinahe neunzig Jahren ihr VBerjehwelen an ihren verzüdten 
Bliden gewahrt merbend, jah er noch einmal bie Wände ab, ob nirgends eine Tür offen ftände. 
Dann überbrachte er ein huldoolles Grüßen der Trau Eraherzogin Bita. 

„Ihre Eaiferliche Hoheit hat Jhren Brief mit größter Teilnahme gelejen und mich beauftragt, 
perjönlich Sie zu verfichern, wie ohmmächtig die durchlauchtigite Frau Srzherzogin fei, Jhrem 
menjchenliebenden aber weltfremden Wunfch zu fehundieren.” 

Num folgte ein vorjichtiges, leifes Erklären diefer abmeijenden aber dennod) gemogenen 
Höchiten Kundgebung. Ein Hinabbeugen, ein Zuflüftern, al fühle der alte Hofmann die Ber- 





452 Der dvdeutjhe Erzähler 


pflichtung, für die hohe Frau zu einem Sprachrohr zufammenzufchrumpfen, welches nicht dicht 
genug an das Ohr der Stranfen gebracht werden konnte, damit diejenige, welche von der 
höchiten Auftraggeberin jolcher Huld gewürdigt, auc) nicht ein Wort vermijfe. Genau grenzte 
er eigene Meinung bon jener der Erzherzogin ab, ging geiftesgegenmwärtig, aß Mampynba bei 
genauem Eingehen auf wichtigite Dinge die hohe Frau im Eifer „Zita” genannt, auf folche 
bannmürdige Jntimität ein, anerfannte in der Souveränität ihrer bradhliegenden Geelen- 
größe, ihrer phantaftiichen Menjchenliebe Ebenbürtigfeit und umzeichnete gewandt ein Drei- 
ed imaginärften Vertrauens, aus ihm und den beiden Frauen gebildet. Die Erzherzogin finde 
den Brief der Frau Generaldirektor, nachdem fie über deren Abjtammung, Lebenzchidjale, 
perjönliche Vorzüge und Tugenden fic) genau unterrichtet Habe, ganz ihrer eigenen mütterlichen 
Liebe und ihres folidariichen Geiftes würdig. Auch fie empfände mit der Briefjchreiberin, wie 
furchtbar die Mitverantwortung an diefem Blutvergiegen, an diefem Elend ohne Maß und 
Ziel auf der faijerlihen Majeftät und der ganzen Dynaftie ruhe. Gleichwohl Fönne fie nicht ir- 
gendwvie helfend eingreifen, in diefem Augenblid wenigjteng nicht. Aber fie wolle davon nicht 
Iprechen, wolle der human denfenden Frau, welche ihre zweite Heimat in Öfterreich gefunden 
nur das zwiejpältige Lo8 diejes Landes vor Augen führen, welches mit dem 2o8 der Dynaftie 
jo tief vereinigt wäre, Daß nad) ihrer vor Gott ehrlichen Überzeugung das Reich nur durch die 
Dhnajtie, nur durch das alte in taufend Gefahren bewährte Erbhaus, welches in der ganzen 
Zelt Freunde habe, jich lebend erhalten könnte. Nicht verwerflicher Eigennuß fei eg, wenn aud) 
jie auf diejer blutigen Eintracht mit der habsburgijchen Familie beftehen müffe, damit die 
legte, entjcheidende Gefahr des Reiches beftanden und das gemeinfame Dafein erhalten bleibe. 

Der Uralte lächelte, deutete mit automatischer Bewegung auf etliche feiner Ordensfreuze, 
al3 müfje er die Wahrheit der höchiten Worte beftätigen und befcheiden erinnern, daß er in 
mehreren der erwähnten Gefahren feine Pflicht gleichfall3 getan, daß die jekige Krifis 
nur vor den augenblidlich Betroffenen dies Fataftrophale Geficht zeige; er habe mit neunzehn 
Jahren „Achtundvierzig" mitgemacht, al® Hauptmann bereit, denn mit fünfzehn Sahren 
hätte er jchon ein Leutnantpatent innegehabt, ei „‚Neunundvierzig, Achtundfünfzig, Neun- 
undfünfzig, Vierundjechzig und Sechsundfechzig” dabei geweien! Damals wäre die Not und 
da3 Elend um nicht3 geringer geivefen, eher zeigte dag jekige Schiefal des Landes mehr eine 
alle verpflichtende, fajt humane Gerechtigkeit, weil von dem Fluch der Kriegsopfer niemand 
dauernd verjchont jei! Darnach gab er der Kranken ungemein artig zu veritehen, daß hiemit 
der delifatere Ziwed feines Befuches fich erjchöpft hätte; er bitte, num ihren Mann, den Herrn 
Generaldirektor fommen zu laffen. 

Nampnha Eingelte. Sie ging verjtändnisvoll auf die Auszeichnung ein. „Er braucht e3 
vielleicht?" Lächelte e8 in ihren Gedanken. Laut meinte fie: „Es ift gut Erzellenz, daß Sie ihm 
jelbit alles beftellen, was für die Öffentlichkeit beftimmt ift; wir Frauen jagen vielleicht bis- 
meilen ein wenig zu viel!“ 

Er lächelte unter einer Verbeugung. Um einen unbeftimmbaren Ton haftiger fragte er 
noch: „it Ihnen mit der Beurlaubung eines Frontdienft leiftenden Dffizier3 befonders ge- 
dient, gnädigite Frau? Dann bitte ich, mir Namen, Charge und Regiment auf einem kleinen 
Bettelchen zu vermerken.“ 

Mampyndha flammte auf, glühender noch al3 von der twochenlangen Hibe de3 Fiebers, von 
einer braujenden Glut überflammt. Aber fie fagte nad) zwei jchidjalßfchweren Minuten: 
„sch danke, lieber Graf! Jch glaube von diefem Edelmut nicht Gebrauch machen zu müfjen, 
mein Bruder ift al Spion in England erfchoffen tworden, mein Mann ift befreit.” Sie jah ihn 
jejt an. Erverbeugte fich tiefer noch, fühte mit einem winzigen Mehr an Bemwegtheit ihre Hand. 

Der Öeneraldirektor kam mit unficheren Gefühlen auf den hohen Würdenträger zugejchrit- 
ten, aber unter dreimaligem, tiefem Verbeugen, welches der Graf nur einmal bemerkte. Für 
den Generaldirektor befand fich der hohe Bejuch gewöhnlich in jolcher nächjten Nähe des Thro- 
nes, daß erihm einen geradezu unbefchränften Anteil an der hödhiten Macht beimaß. Andrer- 












Eduard Paul Danzzky: Mampnha 453 


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113 verblüffte ihn die geheimnispolle Sendung, welche feine Perfönlichkeit bisher ausgejchal- 
t, denn auch jein leifeftes Ahnen war an dem Brief feiner Frau unbeteiligt, 

Über Mamynda ging ihr Verzicht auf Fehrbachs Enthebung in ruhigem Bedenken mie lang- 
mes Reiffallen, ihr Herz umfruftete fich mit Froft. Sie fürhtete Phantafien. „Erzellenz 
at bis jet ohne Bequemlichkeit an meinem Kranfenlager gejeilen, Erzellenz wird ung die 
‚reude machen, Dir in den Salon zu folgen!" Sie verfügte über Throntrabanten wie eine 
yerticherin. Aber der Graf jpürte die Rafje. Bor zwanzig Jahren hätte er für die verflam- 
Inende Blonde nod) Begeilterung fühlen können. Nun begegnete fein gütiges Greijenlächeln 
hrem lebenzfernen Lächeln fameradichaftlih. Ex folgte dem ftrahlenden, feierlichjt-würde- 
sollen Generaldirektor. Sm Salon wurde der erfchrodene Gatte gemefjen über die romantijche 
| Bittfchrift unterrichtet, Die Antwort der Hohen Frau auf diefes weltfremde Anfinnen in gut- 
ı Heinendem Umfang ihm mitgeteilt. Er hatte fich verfärbt, war von eiferndem Zorn erfüllt, 
‚aß feine Angft fich verraten, noch mehr aber darüber, daß e3 jo wichtige Dinge gab, welche 
| eine rau, dieje3 unkontrollierbare Kind, ohne ihn unternahm. „Sch brauche Erzellenz nicht 
seit zu verfichern, daß ich von diefem Schritt meiner Frau auf das Höchite überrajcht bin, 
\yaß ich ihn tief bedauere!“ 
| Die freundlichen Blicle des Uralten erfalteten einen Augenblid wieder zu totem Gtarren, 
‚welche den Partner gar nicht mehr wahrnahm. Während er die bereits in Brand gefebte, 
von dem Haushern dargebotene Zigarette mit einer vermummten Gejte des Efels auf dent 
"blaugrümen Maladhjit einer mächtigen Ajchenfchale ablegte, jagte er langfam: „Shr Bedauern 
‚ geht vielleicht zu meit, Herr Generaldirektor! €3 ift Ihrer Faiferlichen Hoheit ausdrüdlichiter 
'Wunjch, daß unter den Eingemweihten der Hochherzige Schritt Jhrer gnädigen Frau Gemahlin 

nicht ala Sauz-pa3 oder Entgleifung aufgefaßt wird. Menichenliebe und Herzenseinfalt ver- 

| mögen nicht gut zu entgleifen. Die allerhöchfte Frau Hat mich jogar beauftragt, Durch) Sie, 
Herr Generaldirektor, erfunden zu lafjen, ob Jhre gnädige Frau Gemahlin eine allerhöchite 
| Auszeichnung entgegenzunehmen gewillt ift . ... 

„Sewillt, Exzellenz? Gemillt?” jtammelte der Generaldirektor ratlo3. 

Der Graf nicte fühl. „Im übrigen müßte natürlich der Grund diejer Auszeichnung jowohl 
wie überhaupt meine Sendung in Jhrem Haufe vertraulich behandelt werden!" 

Sndem er fich behutfam erhob, fagte er: „sch erbitte mir in abjehbarer Zeit Shre Ber- 
ftändigung über die Geneigtheit der gnädigen Frau.” 

„Uber fofort, Erzellenz, jofort! — — 

Der Graf hielt ihn mit einer rajchen Gefte zurüd; einen Augenblid Elirrten und zitterten die 
Dichten Reihen der Orden, Kreuze und Medaillen an ber Bruft des hohen Generals. Ein 
Übereilen, fagte ex vorfichtig, eine fofortige Entjcheidung jei nicht gefordert, dadurd) vertirre 
man eine jehr intime Sachlage und fee vielleicht beide hochherzige Frauen in eine unjagbare 
Berlegenheit. Er erwarte lieber, daß der Generaldireltor bon dem Ganzen in der Art eines 
beiten Batrioten Gebrauch machen werde. Er fei hier gewefen, um der Frau Erzherzogin über 
das Befinden der erkrankten Frau Generaldirektor Kamm, einer ftadtbefannten Kriegsmohl- 
täterin, Bericht zu erftatten. Mit diefer Aufklärung empfehle er fich. Der gnädigen Frau aber, 
bitte er, feine aufrichtige Verehrung übermitteln zu wollen. Was ihr denn fehle? 

Sie waren bereit? auf der Stiege: Der Generaldirektor nahm jeufzend die Stufen. Der 
Hofrat fei noch unfehlüffig! In zwei Monaten jollte fie eines Kindes genejen, aber plößlich 
habe fich ein hartnädiges Fiebern eingejchlichen, feptiicher Natur, welches vielleicht ein opera- 
tives Eingreifen notwendig mache. „Die rmfte," fagte der Graf mehrmals, während der 
Generaldirektor ihn bi an die Hofequipage begleitete. 

Der Generaldirektor ftürmte die Stiegen hinauf, betrat jofort das Kranfenzimmer, jcheuchte 
una hinaus, welche wie ein Schatten an den Möbeln fich anzuflammern fchien. Beinahe 
hätte er feinen Zorn an der alten Mulattin bemwiefen, welche er unterbewußt für alles Lältige 


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Derdeutfhe Erzähler 








verantwortlich machte. Dann ftarrte er unbegreiflich jeine rau an, ihre ruhig flammenden 
Augen, ihr unberührtes, reglojes Schwelen, das er beinahe fühlte. / 

„Welchen Ruin Tönntejt Du heraufbejchwören, Lotte? Diefe überjchwenglichen Zeichen 
der Gnade find unbedingt nur Ausweg aus einer Sadgajje, in welche Du allerhöchite Herr= | 
ichaften gedrängt haft!" | | 

Er wartete vergebens auf eine Antwort. Ungemwollt nur vollzog jic) eine abwehrende Gejte 
gegen ihn. Darüber war er empört: „Wozu überhaupt diefe hirnlofe Humanität? diejez Vor 
jehungsspielen für andre Leute? Mit welhem Recht auch jolche Eigenmächtigfeit, welche den 
Mann, feine joziale Stellung geradezu bedroht? Wen willt Du denn retten vor Diefem 
Krieg? Fit denn Dein Dann in Gefahr? Sind Deine Kinder in einer Bedrängnis?” 

Mampynda phantafierte. Seinen Anfhuldigungen wußte fie nur in jchaudervollen Delirien 
zu begegnen. Unruhiges Zuden warf ihren Kopf zwilchen den weißen Schlangen ihres gerin- 
gelten Haares hin und her. Rührend hilflos, al3 juchte der trodene Mund zwiichen Rechts und. 
Links der Mutterbruft. 

Er jchüttelte den Kopf. Da ihre Augen weit offen jtanden, meinte er jich beifer verjtändlic) 
machen zu müljen und jchrie: „Nun bietet man Dir einen Orden an, um mit dem Gewicht 
diejer Wohltat uns zu beweijen, wie über alles gnädig, wie über alles umjichtig an Höchfter' 
Stelle man den Affront beantwortet, wie über alle8 nadhjlichtig man und auf das lebenz- 
erhaltende Bemußtjein des Standes vermweilt. Du wirft natürlich die Auszeichnung mit Dant, 
mit gerührtem Dank annehmen!“ 

Er gejtilulierte. Die Mamain fiel ihm in die Hände. „LXeo!” rief fie entjegt, „sieht Du nicht, 
daß jie fiebert?” Er verfärbte fich, gleichzeitig vor Wut und Scham. „Sa,” fuhr die Mamain 
fort, „te vermag Dich nicht anzuhören!” E3 war mit bewußter Zwiejpältigfeit gejagt. „Zhre 
Krankheit ift immer mehr Flut!" .... 


IT: Nachmittag kam Krenelli und Dr. Kamm, der Bruder des Generaldirektor. Die Über- 
führung ins Sanatorium war unvermeidlich geworden. Aber in einem wachen Augenblid 
forderte die Kranfe das Beiziehen Dr. Hilsners. Sie verpflichtete die Mamain dazu, batihren 
Mann jo rührend, daß er jofort antief. Krenelli war im Vorzimmer ärgerlich, mußte ji) indes 
fügen. „Nun wird hier irgendein objkurer Arzt und Weisheiten aufdeden, der vielleicht nie 
mit Nerböjen zu tun gehabt.“ 

Der Generaldirektor beruhigte ihn ohne Nachorud, bot den Herren eiu Gläschen Liqueur, 
[ud jie ind Herrenzimmer auf eine Zigarette. Vor dem Bruder apojtrophierte er erbarmung?- 
[03 Krenelli: „Ste haben alle Sicherheiten geboten, da3 Leben meiner Frau fozujagen garan- 
tiert, Herr Hofrat? Wieviel vermögen Sie von diejen Zuficherungen aufrechtzuerhalten?” 

Krenelli ja ganz fteif. „Ich habe für die Schwangerjchaft diejenigen Sicherheiten in Aus- | 
jicht geftellt, welche wir Ärzte im allgemeinen zu geben vermögen. Meinem Herrn Kollegen, 
Shrem Bruder, Herr Generaldirektor, wird nicht fremd fein, daß eg unter den Batienten 
geradezu objtinate Kranfe gibt, welche den Arzt zu einer gemiffen Ohnmacht verdammen.” 

Dr. Kamm nidte ftarr. Er gab Krenelli bereitwillig alles und noch mehr zu. 

Der Generaldirektor war trojtlos, empört; hielt fich für benachteiligt, für Hintergangen. 
Dr. Hilöner empfing er mit einem unerträglichen Höchftmaß an Spannung, an Vertrauen, an 
abdanfender Würde: „Meine Frau hat zu Ihnen unbegrenztes Vertrauen, Herr Doktor; ich 
bin über die Beweggründe diefes Vertrauens nicht unterrichtet, aber ich teile e3 blind; ich bitte 
Sie inftändigft, dem Fieber meiner Fran endlich Einhalt zu tun!” 

Dr. Hilsner jtand in der grünen Feldblufe, einer glänzenden, alten Hofe, zwar jchwarz aber 
ohne Pajjepoil, vielleicht einer alten Fradhofe. Nachdem ihm Waffer und Geife angewiejen, 
folgte er den beiden Berufsfapazitäten ins Kranfenzimmer, fühlte den Puls, fah fofort Delirien 
in das Bemwußtfein der jungen Frau eingebrochen, hob Dede und Hemd ab, wandte erjtaunt 
jein Geficht Krenelli zu. „Wie weit ift die Schwangerjchaft vorgefchritten 9” 




















Eduard Paul Danzzfy: Mamynha 455 


ee 


Krenelli mit einem verlegenen Blid auf die Mamain bekannte: „&3 find fieben Monate!“ 
Seine Blicle waren wie Lanzen gegen das Gejicht des Affiftenzarztes gezüdt. Die Autorität 
zettend fagte er mit verlegendem Hochmut: „Sie werden mir Ihren Befund melden, Herr“ 
— nad) einigem Zögern — „Herr Kollege!" | 
Dr. Hilsner hob leicht die Hand in Halshöhe, bejchwörend und bejchwichtigend, abbittend 


„und doch befehlend. Er iprad) ungemein ruhig: „Die Schwangerjchaft jcheint hier nicht in Frage 
su fommen, denn der Leibumfang fpräche für den zehnten Monat, jedenfall3 den neunten Er 


„Die rapide Anjchwellung ift allerneueften Datums!" Häffte gereizt Krenelli. 

Hilsner fant an dem Bett nieder, halb fniend, Hald fauernd, tajtierte vorjichtig, ausfultierte, 
Iplitte dem Herzichlag des Kindes nach, juchte mit Dem Ohr, immer wieder! Plöglich jah er 
in die Augen der Schwangeren, jchob die Lider, hob die Dedel. „Die Kranke it jofort zu ope- 
tieren!" Das Unperfönliche diejes Diktates drückte den Generaldirektor unfäglich zu Boden. 
Eine tiefgehäffige Verzweiflung padte ihn, jchleifte ihn auf und nieder, wirbelte in jeinem Blut 
bis ins Gehirn. Mit blutunterlaufenen Augen fah er abmechjelnd Krenelli und Hilsner ins Gelicht. 

Dr. Kamm brachte im Fritifchiten Augenblid eine bejchauliche Sachjlichkeit in den getitter- 
Ichwillen Vordergrund der Ereigniffe. „Sie find mahrjeheinlich Chirurge, Herr Kollege — 
iwie ift bitte, hr Name?" Mit diefem verfuchten Unterjchlagen feines Namens ichten des 


 gemeinjamen Widerjachers gemwichtiges Auftreten beträchtlich in Zweifel gejebt. 


Dr. Hilsner lächelte: „Sch bin hier nur Arzt, Herr Chefarzt, . . . Herr Sanatoriumöpdirektor! 
Namen jind Schall!" 

Zu Krenelli fagte er: „Wir müfjen das Fieber ftillen, wenigitens unterbrechen, einige Fragen 
an die Kranke wären wichtig, wa8 ordnen Sie an, Herr Hofrat?” 
2,3) werde die Gabe erhöhen, werm Sie wünjchen, aber das Sieber tritt nur [prunghaft 
auf, das Bewußtjein it von wellenartig einbrechenden Delitien verhängt. Sn einer halben 
Stunde dürfte die jebige Welle abgeebbt fein. Der Ausweg, die gnädigite Frau zu operieren, 
mar auch bon mir ind Auge gefaßt worden, aber als piece de resistance. Auch ich habe eine 
Srritierung der Frucht wahrgenommen, feit Ausbruch des Fiebers jie feitgejteltt.“ 

Dr. Hilsner lächelte zuftimmend, beinahe unterwürfig: „ES jheint ein Leberangion von 


ungewöhnlicher Größe, von ungeheurem Gewicht, welches der wachjenden Frucht entgegen- 
mwuchert, ein Kavernom! Meine erfte Annahme eines Mejenterialtumotz oder einer Nieren- 


geichwoufft hat nicht die gleiche Wahrjcheinlichkeit; denn der über Sindesfopf große Tumor 


wandert im rechten Hypochondrium unter Drudrengenz von recht3 nacı Inf, er ift hart und 


| 








höderig, erjtrect fich nach unten bis in die Höhe des Nabels, ift nicht Scharf vom Lebergemwebe 
abgegrenzt, ergibt jich demnach, als Fall eines progredienten Reberfavernoms. Eine jeptifche 


Komplikation ift durch Die Durchdringung, durd) eine gemwebliche Verwachjung mit der Leibes- 


Frucht nicht ausgefchloffen. Lebte Aufflärungen über Dieje der Kranken vermehrte Fehlgeburt 
vermag nur die Operation jelbjt zu geben.” 

Krenelli erhob fich. „Sch bin Ihrer Meinung, Herr Kollege! 3 fragt fich, ob. der Herr 
Generaldirektor tro Gefährdung des Embryo3 in eine Operation rilligt?" 

Berblüfft Sah Hilsner nach dem Natjchlagenden, Würdigtuenden. 

Der Generaldirektor fagte endfich Hlagend, anklagend: „Zah willige in alles! Sch wünjche 
überhaupt nicht immer wieder mit einer Hauptverantworkung beteilt zu werden, ©ie 
find doch Arzt, find Hofrat, Krenelli! Um Gottesmwillen bemeifen Sie Jhre Erfahrungen, 
Shre Kenntniffe Doch endlich an meiner Frau!“ 

Dr. Hilsner war bereits taftooll an der Türe. „ch Itehe auf ausdrüdlichen Wunjc zu Ihrer 
Berfügung!” rief er leije zurüd. 

Aber Kamm ftürzte ihm nach, hielt ihn am mel feit, bat ihn ins Arbeitszimmer. „Sagen 
Sie, bitte, wie nach Ihrer Meinung die Operation ausgehen muß! Bleiben Sie, bitte, Herr 
Doktor! Herr Affittenzarzt !" Ex fürchtete in feiner Verzweiflung einen Titel zu unterjhlagen, 
Eränkte den alten Arzt mit einer Charge, welche gewöhnlich Abjolventen der Fakultät befleiven. 


Die französische Fremdenlegion (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 12) 31 











456 Derdeutjdhe Erzähler 
—— m — 

Dr. Hilsner befhtwichtigte ihn, Löfte janft jeinen Arm ab. „Das Kind wird wahrjcheinlich 
nicht zu retten fein, aber vielleicht Die Mutter! Alles wird die Operation ergeben. Der Foetus 
fcheint mir überhaupt bereits tot, zumindeft fehr lebensunfähig, ich vermag feinen Herzichlag 
zu hören, aber der riefige Tumor jcheint Die Geräusche aufzufaugen !" 

Kamm mar blutlos. „Nehmen Sie mein ganzes Vermögen, Herr Affiitenzarzt!” 

„Doktor Hilsner!” fagte der Angeredete hilflos abmwehrend. „Wir afiftieren zwar alle, Herr 
Generaldirektor, affiitieren Gott, oder der Natur, wenn Sie wollen, aber ich lege auf meine 
militärifche Charge nicht Gericht, ich bin nur Arzt!" 

„Mein Vermögen, Herr Arzt! Verfügen Sie über alles, Hert Arzt! Retten Sie nurdie Frau!" 

„Sc kann nur an der Operation teilnehmen, wenn Sie wünjchen; der Hofrat ift ein tüchtiger 
Chirurge, ich werde ihm afjijtieren !“ 

Der Generaldirektor wußte nicht, was er fpradh! Immer wieder bejtand er darauf: „ein 
ganzes Vermögen, Herr Arzt!" Plöglich meinte er ratlos, faflungslos, wütend. 

Der Hofrat fam ruhlos mit Dr. Kamm. Der Bruder de3 Generaldireftor3 übernahm e3, 
ihr Eindringen zu rechtfertigen. Auch ihm hatte das Fränfende Überjchägen des unbekannten 
Arztes unleidlich gefchienen, er identifizierte fich mit dem Hofrat, [hlißte indes vor, man müjje, 
wenn der fremde Kollege recht hätte, um fo eher alles bejprechen! Er nehme doch an, daß die 
Operation in feinem Sanatorium vollzogen würde? Man müffe die enticheidenden Berfügun- 
gen treffen, es fei ja vier Uhr am Nachmittag, wann man denn operieren wolle? 

Der Generaldirektor entäußerte fich aller Kraft, alles Wollens, alles bewußten Eingreifens. 

„Machen Sie nur, was Khnen gut feheint! Auch Du, Konrad, mußt alles aufbieten! Du 
bift doch fchon folange Arzt! Auch Sie, Herr Hofrat! Aud) Sie, Herr! — — — 

Dr. Hilsner machte nur mehr eine Verbeugung. Er gab es auf, einen Namen in Erinnerung 
zu bringen, welcher in feinem Gedächtniffe haften zu Fönnen jchien. 

m einem rafchen Konfilium ward die Überführung im Auto für die neunte Stunde bejchloj- 
fen, die Operation im Kammfchen Sanatorium auf zehn Uhr fejtgejeßt. 

Nach ein paar Stunden fam der Generaldireftor mit den Kindern zu Mamynha. Er führte 
die Kleinen, nahm Elifa auf feine Arme, trug fie wie einen Schild. 

Sie fah, daß er geweint hatte, war rührend gut zu ihm. Für die Kleinen hatte jie gerade 
zuvor fich gefcehminkt, Schmud angelegt. Sie jah furchtbar aus, aufgedunfen, die Haut zer- 
riffen, fahl, die Augen brennend wie aus grauer Afche. Die Kinder füßte fie lange, innig. 
Mifter Woe widerftand diefem atemberaubenden Küffen ein wenig. Sein Gejicht war ganz 
ftteng, die Stirne üiber dem Nafenwinfel faltig. „Warn ftehft Du denn wieder auf, Mamynya? 
Warn ftehft Du denn endlich auf? Du mußt wieder aufjtehn, Mamynha!” 

Shre Hand traf fich mit ihres Mannes Hand auf dem Scheitel des mweinenden Stnaben. 

‚Warum denn, Mifter Woe? Soll ic) denn nicht einmal tüchtig ausruhn? Warum joll ic) 
denn aufitehn?” 

„Sonft ftirbft Du,” fagte er unter neu ausbrechenden Tränen. 

Der Mann führte die Kinder hinaus, indes Mamynha mit großen, plößlich ganz Haren Augen 
den weißen Plafond anftarıte, als fehle fie die alte Stucaturarbeit über ihr, ein Kranz von 
PButten, welche fich, im Kreife herumfchwebend, an der Ferje gefaßt hielten; in Der Mitte war 
ein Relief von Obft, Trauben, Birnen und Pflaumen. Sie bat Mamain um Objt. Sie hätte 
Appetit befommen! Man konnte esihr nicht geben. Sie follte bis zur Operation nüchtern bleiben. 

Sie lächelte merkwürdig beluftigt: „Nicht einmal dies, Mamain? Aber Zhr Habt recht, Zhr 
Guten, e8 ift fchon überflüfjig! Und wie fpät ift e8 jet? Wenn nur das Fieber nicht wieder- 
fommt! Sch möchte diefe Stunden bis abends noch ganz wach bleiben, obgleich auch Diejes 
ichredfliche Fieber vielleicht eine Wohltat Gottes ift. Glaubjt Du, daß es notwendig ift, einen 

Prieiter zu holen? Dder bin ich mit Gott verfühnt? Man muß wohl mit Gott verjöhnt fein?“ 























Eduard Paul Danzzty: Mamynha 457 





Die Mamain war zum Glüd zu Tränen nicht fähig, fie begriff diefe Stunde nicht. Sie jagte: 
„Gott weiß alle3 genau, Kind. Auch wird Dir die Operation ja helfen. Gie wird Dich gejund 
macen, Kind.” 

„Sa, Mamain! Aber ich hab Euch ja noch jo viel zu jagen. Nur die Kinder müßt hr mir 
fern halten, fie brechen mir das Herz, Mamain! Jch will fie erft am Abend jehen, Furz bevor ich 
fort muß. Und Ruf fagft Du einen fchönen, Herzlichen Gruß von mir, ich hab ihm jo viel 
zu danken. Er ift fein Arzt, Mamain, und hat mir das Leben folange verlängert. Was Fehr- 
bach wohl fagen wird? hr müßt ihn fofort verftändigen. Übrigens muß ich Dir aud) etwas 
Tröftliches verraten, auch Diefes Sterben ift nicht endgültig — Mamain, ich weiß e3 ganz genau. 
Sch habe mic alß zmweijähriges Mädchen gefehen; nicht mit den Zügen, welche ich jelbit jo 
iung hatte, e3 war etiva3 winzig Fremdes daran; nur das Herz war ganz dazjelbe, und mit 
mei Sahren fiel ich dann von irgendtvo herab, unfagbar hoc. Dver flog ich? Dies war mein 
letter Tod! Glaube nicht, Mamain, daß dies Träume jind. So Hare Träume, für die Geele 
Hat, weißt Du, gibt e3 nicht; aber in diefen Fiebern ift das Blut wie beleuchtet, und man jiehl 
diefen ganzen hellen Gang voraus. Sa, zwei Jahre muß ich nod) als Heine Mädchen abdienen, 
dann ift alle gut, Mamain!“ 

Rlöglich bat fie, Erminia müffe fommen, fie hätte eine „lete” Bitte an fie. Wie jie „Iegte” 
‚jagen fonnte, diefer nüchterne Tonfall brachte auch die mutige Carola zum Weinen; alle 
meinten hinter Türen, famen mit jchrell gemajchenen Augen, wenn jie rief. Aber die Tränen 
entitammten verjchiedenen Leidquellen. 

„Que hä, Carlotta?“ fragte Erminia an der Tür, mit der leifen Hoffnung, e3 Eönnte eine 
Berrichtung ihr abverlangt werden, welche nicht zwänge, in der nädjiten Nähe des Herdes 
dieje3 unendlichen Kummers zu fein. 

Aber Mamynda rief fie geheimnisvoll näher, ganz nahe. „Smmer leifer wird mein Schlum- 
mer” flüfterte fie dicht an ihrem Ohr. „Wirft Du e3 mir nod) einmal jpielen?” 

AB Erminia überlegte, bat fie fo rührend, daß e3 unerträglich war. Denn ihre Stimme dabei 
berriet irgendiwie, daß fie Beftändigfeit an diefe Bitte nicht wagte, al3 fühlte fie jhon, Daß 
fie wenig Recht mehr zu Forderungen hätte, daß ihre Macht abgetan wäre. 

Mit einer leifen Kopfitimme fette fie ein, gab nur der graufamen Stimmung ein dünnes, 
gebrechlichites Gehäufe. Die Türen waren alle offen. Bom Salon drangen die Stlavierafforde 
— und au3 Mamynhas Kiffen ftieg diefe dünne, gebrecliche Stimme ganz fenkrecht empor, 

‚Schlich an der Dede entlang... Aber FiS-A-A-F-L-H-B erreichte fie nicht mehr, fie jang nur 
"das tiefere: A-D-G-F des F-Dur-Sabes. Yenes allerlette, Hoffnungslofefte: „Komm, o fommte 
"bald!" Sie dankte Erminia überfchwenglich. Genau fah, hörte fie jenes erftemal im Salon 
fi fingen, fah Spiber, Thumaper, Heller, Schober, Auf und Fehrbadh. Und nun Hatte fie 
‚ auch ihre Stimme verloren. Db fie damals nichts geahnt hatte? ES war jchiwer, ji) defjen 
| genau zu entjinnen! Aber fie wußte, wie innig-traurig fie damals gefungen hatte. „Man weiß 
e3 unbewußt !” lächelte fie vor fi Hin... Dann ftand ihr Blid ftarr über der Türe. Eine 
| wahnfinnig-vermefjene Hoffnung quälte ihr Herz. „Kommt niemand?” fragte fie leije bie 
‚ Schweftern. Sie bejchied fich felbft, Ließ die Augen nur wie auf alle Fälle, für eine allerlegte 
Überrafchung an der Tür. 


/ m fieben Uhr Hatte der Generaldirektor noch einmal Krenelli zu fich beitellt. Die Angt ließ 
ihn nicht arbeiten, nicht effen, nicht fhlafen, nicht reden oder anderen zuhören. Er tar die 
ganze Zeit in feinem Arbeitszimmer auf und ab gejchritten, vder hatte erfchöpft irgendtvo inne- 
' gehalten, den Rüden bisweilen an dem einzigen Kaften, dem riefigen Zrejor, angeftügt. 
Krenelli erfchien fofort. Er fragte: „Hat die gnädige Frau Schmerzen? Jh habe Die Wior- 
' phiumfprige mitgenommen!” 
' Der Generaldirektor nahm ji) unfagbar zufammen. Dem Blic des alten Hausarztes au$- 
. weichend, wies er diftatorifch auf einen Stuhl. Einige Minuten vergingen unter einem jchwülen 
31% 



























458 Derdeutfde Erzähler 
LLLL———eeeee — 


Schweigen. Krenelfi rauchte mit jolcher Hungrigen Haft, daß jeine Hände zitterten. Endlich 
nach furchtbaren Kämpfen aufftehend verlor ber Generaldirektor alle Beherrichung, bleich, 
jtöhnend warf er die Frage auf: „Nun gerade heraus, Krenelli! Sit Died eine Stümperei 
von Shnen, haben Sie denn bis heute von alldem nicht8 gewußt? Sch muß jagen, ich würde 
mich mit folchen Kenntnifjen nicht an einen Brotberuf wagen.” 

Der Hofrat fuhr in die Höhe, maß Kamm mit offener Gegnerjchaft, Happte Dennod) Eraft- 
{03 zufammen. Seine Antwort Klang mühjelig, unmwahricheinlich: 

„Sc habe leider die Pflicht, Ihre finnlofe Beleidigung in dDiefem Augenblid über mich ergehen 
zu laffen. Sie wifjen in vem Parorysmus hres Schmerzes nicht, was Sie reden. ch muß e3 
annehmen, Herr Generaldirektor. Jm Übrigen ftünde mir frei, die Behandlung jofort nieder- 
zulegen. Sie haben vor einem Untergebenen, vor einem Ajliftenzarzt meines Spitals mid) 
offenfichtlich blamiert. Aber ich bin gewiß, Jhmen ein andermal alles Klar machen zu fönnen. 
Heute muß ich zu meiner Verteidigung nur dies Eine jagen: in diejem Tall hätte fein Arzt, 
auch fein Dr. Hilsner, deffen Tiagnofe allerdings verblüffend ficher jcheint, etwas vermocdht” ... 

„Und dies jagen Sie mir erjt heute, Herr?” 

„Sch bin erftaunt, daß Sie fich nicht mehr zu erinnern vermögen, warn ich Shnen zum erjten- 
maldavon Mitteilung gemacht habe; e8 war in Bayerbach, Herr Generaldirektor. Damals habe 
ich mir erlaubt, Ihnen nahezulegen, der gnädigen Frau die ungewollte Empfängnis zu er- 
iparen, die neue Mutterfchaft gewiffermaßen zeitgerecht zu ftornieren. Aber Sie haben den 
Kampf mit den Eraltationen Jhrer nervöfen Frau ruhigen Bluts aufnehmen zu müjjen, auf- 
nehmen zu fünnen geglaubt.” 

„Wie gehört denn dies alles hieher? Die Arme ift ja leber- oder nierenfranf, wie der Ajliitenz- 
arzt feitftellen fonnte, dies ändert ja alles. Davon haben Sie aber niemals eine Erwähnung 
gemacht, weil Shnen bis heute davon nichts befannt war.” 

Krenelfi bohrte fich twie eine ausgemergelte Larve in das fchaurig blutoolle Gemebe jeiner 
Doftrin, welche allein ihn noch aufrecht hielt und belebte. 

‚Welche organische Komplikation das feelifche Leid Jhrer Frau im legten Augenblid, jozu- 
Sagen im Entfcheidungsfampfe al Verbündeten fich zugejtellt hat, die vermag allerdings Die 
Operation noch zu entblößen und endgültig feitzuftellen. Auch ijt möglich, daß Diejes progre- 
diente Kavernom fchon früher bejtanden hat, e3 entwidelt jich oft erjt in Jahren. Sie fernen 
die Natur Xhrer Frau. Eine eingehende Unterfuchung war mir ja meift verwehrt. Exit nad) der 
Schwängerung vermochte ich fie genauer zu unterfuchen. Bon diefem Moment war indes 
unnötig geworden, etwas andre al3 die feitjtellbare, die lebende Frucht als Bejchmwernis 
aufzudeden. Allerdings jprechen nachträglich die bei meinem erjten Ausfultieren in Wien 
geäußerten lagen der gnädigen Frau über eine abnormale Atemnot aud) dafür, dab ic) 
vielleicht fchon damals diefes Kavernom gemeldet haben fünnte. Uber was bejagt dies alles? 
Solche Tumore fchneidet man ohne Gefahr aus. Sogar neben der Schwangerjchaft jtellt Dieje 
Wucherung fibröfer Bindegewebe mit infarzerierten, degenerierten Zeberzellen den erfahrenen 
Arzt noch lange nicht vor unlösbare Aufgaben. Was unfren Fall jo jehiwierig geftaltet, ji 
ettvas andres, Herr Generaldirektor Kamm. Der Wille der Frau! Eine Heilung gegen den 
Willen der Kranken ift ausficht3los. Ah, Sie verjtehen nicht? Sie vermeinen noch immer 
nicht zu verftehen? 8 gibt nervöfe Kranke melche fich vor dem Leben in ihre Krankheit 
flüchten, welche mit allen Kräften und Gedanken in diefe Krankheit jic) einmwühlen, jich ber- 
anfern, geradezu feitbeißen. Gegen jolche Kranke ift der Arzt folange machtlos, als er nicht den 
Grund des nervöfen Leidens befeitigt hat. Denken Sie nach, Herr Generaldireftor, welches 
der Grund diefes Leidens bei Khrer Frau fein könnte, bejeitigen Sie diefen Grund, wenn Ihnen 
irgendtvie möglich, fuchen Ste auf alle Fälle eine Verftändigung mit der Kranken auf den von 
mir angedeuteten Weg, dann fünnen wir alle der Operation beruhigter entgegenjehen. Und 
nun entfchuldigen Sie mich gefälligft, ich muß mich nun etwas hinlegen, um neun Uhr jtehe ich 
zu Shrer Berfügung. Jhr Diener, Herr Generaldirektor !" 


Eduard Paul Danzzky: Mamhnha 459 








Entgeiftert hielt ihn Kamm an. Er könne fich hier hinlegen, in irgendeinem Zimmer, Doch 
 müffe er unbedingt verfügbar fein. Jmmer hätte er ihn über den Zuftand der Frau beruhigt, 
‚ihm jogar gegen ihre nervöfen Bedenfen eine energijche Haltung entjcjieden angeraten; nun 

fönne auf feine Bequemlichkeit niemand Rüdficht nehmen, das Befinden der Frau jei allein 
entjcheidend, jie dürfe nicht unnüß leiden. 

Nac) diefer Auseinanderjegung und nachdem ihn der Hofrat ohne längere3 Baudern 
berlaffen, allerdings um im Nebenzimmer fich hinzulegen, Kopfte Kamm an der Türe ins 
‚Kranfenzimmer. Mampynha rief: „Sa, bitte!” Sie fah fofort feine vermandelten, blutunter- 
laufenen Augen und wie er ohne feine fonftige gemwalttätige Kraft, ohne den gewöhnlichen 
Schwung feiner rüdjichtölofen Entjchloffenheit fchritt, wie er nur fhlich, gleichjam in leeren 
Kleidern wie in Hülfen, ohne mindefte Muskulatur. „Du Eopfit?” fragte fie ganz zart und 
verwundert. 

Für ihn lag in diefem Ton fchon Vorwurf. Seine Seele war plößlich wie ein Nebauge nad) 
allen Seiten jehend. a, fie war verwundert, daß er fie diesmal nicht überrafcht hatte. Daß 
er fich zum erftenmal angefragt hatte. Exrfchlich rafch auf ihr Bett zu. Kauerte fich vorihr nieder, 
wie er am Morgen dem Affiftenzarzt e8 abgefehn, nahm ihre Hand, Füte fchaudernd dieje gelb- 
weiße Hand, die er nicht wieder zu erfennen vermochte. 

Sie lächelte traurig. Dann fah fie nad) der Dede, unaufhaltiam. Das gab ihm Mut zu 
‚Worten. Daß er ihren Blic nicht auf feinem Geficht ruhen fühlte, daß fie die Wahrheit nicht 
prüfte, welche er num vor fie hinbreitete, felbft vollftändig gebrochen, in Verzweiflung md 

Schmerz aufgelöft. Er hätte fie wahrhaft geliebt. Nun fähe diefes Bekenntnis allerdings jurdht- 
bar rücftändig aus, gemacht und gezwungen. Aber er Zönne bei gutem Gemifjen nichts andre3 
zu feiner Rechtfertigung vorbringen, als daß er fie immer geliebt habe. Sicher hätte er jehr 


biel verkehrt angefaßt und ihr nur weh getan, wo er ihr Beftes gemollt, ihr beider Beites, 
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| 





| denn ohne fie hätte er allerdings fein Dajein nicht denken fünnen, und Died hätte ihn zu dem 
' Stertum verführt: ohne ihn ließe ihr Beftes fich gleichfalls nicht denten. 
> Sr Blid Fam von oben, in ihren Gedanfen war eine flare, vor diejer Stunde bollberechtigte 
Anklage; wie nie zubor wußte fie, wa3 er an ihr gefündigt hatte, und daß in diefem Augenblid 
fie haarjcharf ihm alles vorhalten Zönnte, wenn e3 defjen beburft hätte; aber fie war jo weid,, 
fo verjöhnlich geftimmt, daß fie nicht3 vorzubringen vermochte. ©ie jah feinen Sinn in folder 
ı Ausfprache, welche ihr Leid vor defjen fcheinbarer Vollendung dem Gebrochenen aufbündelte. 
ı Was nligte der Schrei: Sieh hier Dein Werk, freue Dich, daß Dein Wille mein Herz, mein 
eben gebrochen und liberwunden? Sie fagte: „Vor diefer Verantwortung: ‚Liebe, bin ic) 
| mehrlos, Zeo. Jh muß in diefer Stunde menigjtens Dir glauben fönnen. Jch danke Dir für 
alles, was Du gut gemeint hatteft.” Gie ftrich fanft über feinen Kopf. Dann mußte auch er 
| fie verlaffen, nur die Mamain hielt diefem Kampfe de3 geliebteften Kindes ftand. Denn mwieder 
| begann ein mildes, fonpuljivifcheg Zuden und Schütteln. Schmerz hadte jeine veigenden 
| ' Zähne in ihr Fleifch, fie warf fich ftöhnend auf, fiel zurüd, ihre Arme griffen nad) Halt und 
Hilfe. Sie betete portugiefifch; aber ihr Gebiß fheuerte fich frampfartig, die Stiefer Happten 
| mit lauten Schlägen aufeinander. Beitweife fam ein entjeglicher Schrei, ein Anruf Gottes. 
\  Krenelli injizierte ihr Kampfer und Morphium. Nach einer Viertelftunde, weldhe wie eine 
Emigfeit gejchienen, wurde fie ruhiger, rief nach der Mamain und den Schweitern, welche dicht an 
ihrem Bett jtanden. Dann famen irre Worte. 
| Als man fie für die Abfahrt wujc und anfleidete, verlangte fie halbivach noch einmal die 
' Kinder, hieß die andern hinausgehn, als fie vorgeführt waren. Sie fah fie immer wieder an, 
füßte fie auf Wangen und Haar, füßte ihre Hände. Ihre Lippen wagte fie nicht mehr zu 
Kiffen. Wie ein guter Engel twitrde fie immer in ihrer Nähe fein, verjprach fie ihnen. Gie wür- 
\ den fie vielleicht nicht fehen, aber ihre Liebe Eönne nicht fterben, ünne nicht aufhören. Sie folle 
ten zueinander gut fein. Clifa hätte mehr Liebe zu vergeben, fie müfje Difter oe davon jehr 
\ vielabgeben. Dann fieß fie die Mädchen tommen, gab ihnen lächeln die Hand, Duldeteihre Küffe, 


! 




















460 Derdeutfhe Erzähler | 
—————Ä—— em 
ihr faffungslofes Weinen, nidte zu ihrem ungejchicten Tröften, welches von der Operation ihr 
Wunder verfprach, welches töricht Gott und den Himmel verpflichtete, die gütige Frau am 
geben zu laffen. Noch einmal kam der Mann, fuchte eine Minute nur ihre ungeteilte Nähe, Dem 
Berhängniffe noch immer mißtrauend. Blöglich in unbegreiflicher Angft verlangte fie ungebär- 
dig: „Nun mußt Du mir Fehrbadh jhiden. sch habe mit ihm zu jprechen. ch habe ihm jo 
unendlich viel zu fagen, jchnell, Qeo!“ 

Befimmungslog log er: „Ya, erift bereitö verjtändigt, Lotte, Du follft ganz allein mit ihm [pre- 
chen; aber nun mußt Du ftill und vernünftig fein, willft Du es mir versprechen? Willft Du 
nun alles aufbieten, tieder gefund zu werden? E3 liegt nur in Deiner Macht, Lotte!” 

„Sch weiß,” fagte fie, „aber wo ift Nunä? Wer hat Nunä von meinem Bett gewiefen? Wer 
hat dies vermocht, Xeo?“ 

‚Sie ift Dir vorausgeeilt! Im Sanatorium wirft Du fie wiederjehn.” 

Carola antwortete e8 auf gut Glüd. Der Mann nidte zu allem. 

Mampnha lächelte Schweiter Henriette entgegen, welche mit der Mamain und Erminia 
fie in den Wagen trug. Die Rote-Sreuz-Schwefter war wie eine Amazone. Mit aller Kraft 
ichien fie die Kranfe verteidigen zu wollen. 

m Sanatorium ward Mamynha auf eine Bahre gelegt. Auf dem Korridor jtand die 
achtzigjährige Schwiegermutter, die ihr mit ftarren Bliden entgegenjah. Die alte Frau ging 
neben der Bahre einher, faß auch in Mampynhas Zimmer noch vor ihr, während man jie ent- 
Heidete und für die Operation vorbereitete. Dr. Hilner bejorgte das Unvermeidliche, jo daß 
fie im Operationszimmer fofort die Ütherhaube befam. Die Achtzigjährige war das lette Bild, 
welches fie mitnahm. Dann fam ein fchwer beraufchender Schlaf, aus welchem fie nicht mehr 
zu erwachen die Kraft hatte... .. . 





Ende. 


Der Bamberger Dom 


($% man fi daran macht, am Bamberger Dom neuerdings herumzuerperimentieren, 
wäre e3 vielleicht nicht unzwectmäßig fich vor Augen zu ftellen, mas Durch die biöherigen 
Reftaurationen an ihm gejündigt worden ift. 

Die erfte Umgeftaltung dauerte fünf Jahre: 1648 bis 1653, und bernüchterte dag Innere. 
3 wurde durchweg mweißgrau übertüncht, alle Glasgemälde entfernt, die gotijchen Altäre 
durch barode erfeßt und das Kaifergrab auf den Georgenchor tranzferiert. 

Die zweite dauerte vierundzmwanzig Jahre, 1744 bis 1768, und verballhornte Das Außere. 
Das alte malerische Ziegeldach wurde durd) Schiefer erjeßt, der reizende Dachreiter Über der 
Mitte des Langhaufes abgetragen und damit das Auge der idealen Zäjur zwijchen Dft- und 
Wefttürmen beraubt, die 4 Türme felbft uniform und unverftändig neu bedacht. , Aus dem 
Relief der Alten Hofhaltung und aus zahlreichen Türmen von Landlicchen im Bistum Tarın 
man erjehen, wie richtig die damaligen Turmabichlüffe waren. Die heutigen find zu hoc) 
und zu jpik. 

Die dritte dauerte neun Jahre, 1828 bi8 1837. „Jh wünfche," fehrieb Ludwig I. an den Erz- 
bifchof Baron Fraunberg, „daß der große verunftaltende Altar megfäme, der weiße Anjtrich 
bis auf die Spur abgerieben werde, fo daß der Stein in feiner natürlichen Farbe erjcheine, 
desgleichen die Ölfarbe, mit welcher die Bildfäulen übertüncht wurden, abgemeißelt werde, 
wenn felbe auf feine andere Art wegzunehmen". K.X. vo. Heideloff führle den Auftrag 
„der Hinwegräumung aller fpäteren Zutaten“ rlcfichtslos aus. „Zehn Grabmäler von 
Fürftbifchöfen fanden feine Gnade vor dem pedantifchen Gotifer, und wurden in die Michels- 





} 
I} 





| 





Der Bamberger Dom 461 











\ Kirche gebracht, wo jie gar feine Erijtenzberechtigung haben; die Kreuzigungsgruppe nebjt 
‚ neun anderen Holzfiguren um ganze 19 Gulden 10 Kreuzer verjchleudert; vier bronzene 
 Kandelaber, 13 Zentner jchwer, fowie ein eifernes Gitter, 70 Zentner fchmwer, nach dem 
" Gewicht verfauft; das herrliche DOrgelgehäufe, ein Prachtjtüd des Baroditils, verichmand 
ı unbefannt wohin." (Weihbijchof Adam Senger, Der Bamberger SKaijerdom.) 


Was wurde an Stelle deifen gejegt? „Etwas Minderwertigeres und Handwerfsmäßigereg 
‚als das ‚romanische‘ Mobilar des Dome ift nicht leicht zu finden. Das meijteng vorbildliche 


‚Mobiliar der Renaifjance- und Nokofozeit ift ‚verjtrichen‘ worden, um neuzlihen Mik- 


geburten Pla zu machen. Die Rejtauration, die rund 90000 Gulden gefojtet hat, muß als 
Ganzes abgelehnt werden.” 


Ak: it der Plan aufgetaucht, ven Dom innen zum Teil zu bemalen. Ganz abgejehen 
bon der Intoleranz des Steines gegen Bemalung (er jehuppt jie immer wieder ab, vgl. 
Zeitherer, Führer durch Bamberg ©. 25), find die Erfahrungen, die man mitder Ausmalung von 
Kirchen in neuerer Zeit gemacht hat, alles andere al3 ermutigend. Die neue St.-Anna-Siirhe in 
München 3.B. hat dadurch an feierlicher Raumgröße ebenfoviel verloren, al3 jie an frag- 
würdiger Tarbigfeit gewonnen hat. Beder-Gundahls Fresten insbejondere lajjen jeinen 
zu frühen Tod im Hinblic auf den Bamberger Dom minder tragijch erjcheinen. Wenn unjere 
Beit plößlich den Beruf zur Fresfomalerei in fich entdedt, muß man ihr zurufen: Fiat ex- 


 perimentum in corpore vili, aber den Bamberger Dom verjhont mit Erperimenten! 


Was im Bamberger Dom ftört, ift faft alles auf die phylloxera renovatrix (wie Semper 


jagte) zurückzuführen. Die puritanische Wiederromanifierung unter Ludwig I. war jo gut 


gemeint und jo unfünftlerifch, wie das von ihm geftiftete Bifchofsdenfmal vor der alten Hoj- 


\ Haltung, von dem nur zu bedauern ift, daß es nicht im Krieg eingejchmolgen wurde, wenn 





| 


8 auch nicht ganz jo fümmerli an jeinem Plake jteht wie das Prinzregentendenfmal, 
offenbar ein Mifverftändnis der Wiener Albrechtstampe, unmittelbar unter dem Djichor. 


Wenn man will, daß der Tom im Innern weniger nüchtern wirkt, muß man wieder feierlichere 


ichtverhältniffe Schaffen. Dazu ift durchaus nicht nötig, daß man bei einem efitatijcgen 


\ Expreffioniften Entwürfe für Glasgemälde bejtellt: wer dürfte e8 wagen, für den Bamberger 


' Dom Glasmalereien auf Beftellung zu fertigen! Genügt nicht fchon der Streuzweg? 3 


| 
I 





| läßt fich viel einfacher machen duch Marmordünnschliffe anftatt der unteren Tenjter, mie jie 
' Auguft Thierjch, nad) dem Mufter des Aachener Münfters und des Orvietaner Doms in jeiner 
St. Urfulaficche in Schwabing außerordentlich wirkungsvoll verwendet hat. "Allerdings muß 


dann der Unfug aufhören, da3 vordere Tor auf der Nordfeite jperrangelmeit offen zu: Halten, 


' damit ganze Sturzbäche von Licht auf den Reiter und die linken Chorjchranten fallen: eine 
| völlig barbarifche Lichtzuführung! Diefes Portal muß immer gejchlojjen bleiben, jonjt er 
\ Hält man niemaß das für die innere Wirkung im doppelten Sinne, nämlich im nnern des 


Doms und aufs Innere des Beichauers, unerläßliche jafrale Licht. Will man den Dftchor 


| räumlich gliedern, jo braucht man nur einen möglichft großen tomanijchen Seruzifigus aus einem 


unferer Mufeen im Bamberger Dom vom hohen Chorbogen herunterzuhängen, man wird 
ftaumen, wie dann die Apfis zurlicweicht, und die ganze Ausmalerei ift überflüllig. 
Unbedingt nötig ift die Bejeitigung nicht nur der beiden Altäre unten vor dem Oft und 


| dem Weftchor, fondern auch der Hobigen fteinernen Schranken neben deren Treppen und in 


der Mitte. Hier gehört nicht? hin, gar nichts! Unbedingt nötig ift ferner Die Entfernung 
aller hölzernen Kirchentühle im Mittelichiff, und wünfchenswert wäre endlich die Verlegung 


" des Kaifergrabz in den großen, hellen, hervorragend jchönen Raum in der Nordieitede. 


Erft dann, wenn alles bejeitigt wäre, was im Mitteljchiff den Raum beeinträchtigt, füme es 
großartiger heraus. Die Transferierung des Kaifergrabs ift durchaus nicht ohne Präzedenz- 
fälle: man erinnere fich nur, wieviel die Srauenkirche in München dadurch gewonnen hat! 
Der Bamberger Dom ift von Anfang an aus Gründen, auf die hier nicht näher eingegangen 


\ werden foll, um mindeftens ein Zoch, eher um zwei Joche zu furz gebaut worden. Diejer 





































Derpdeutjhe Erzähler 
LT 


Mifftand läßt fich einigermaßen beheben nur durch Entfernung alles dejjen, was den Blid 
vom hinteren Chorabihluß zum öftlichen irgendwie hemmt, das find vor allem die beiden 
unteren Altäte, die Schranken recht3 und links davon, die (nod) dazu achjenparallel gejtellten) 
Kirchenftühle, aber auch — e3 hilft alles nit? — das Kaifergrab. Warum machen fajt alle 
italienischen und franzöfifhen Kathedralen von vornherein einen größeren Eindrud? Weil 
der Bli aufs Ganze des Raumes und auf die gleihjam aus dem Boden herauswachjenden 
Säulen nicht durch Maffen von Kirchenftühlen zerjtört wird. Till man, was unbedingt zur 
Wirkung gehört, einen Innenraum mit einem einzigen Blid überjehen können, jo gibt e& 
nur mei Möglichkeiten: entweder der Fußboden des Raumes liegt bedeutend tiefer alö das 
Portal, wie 3. B. beim Dom zu Freifing, dann ftört das Geftühl nicht, oder aber der Mittel- 
raum muß völlig frei gehalten werden. Wollte man nach deuticher Gepflogenheit Das Mittel- 
schiff mit Kicchenftühlen- vollftopfen und womöglich noch an jeden Pfeiler eine Kreuzmeg- 
tation hängen, außerdem muöglichit viele moderne Heiligenftatuen davor Hinftellen, dazu 
roch Fahnen an den Bankenden, eine Lourdesgrotte, jede Kapelle jhön ausgemalt ujw., jo 
fieße fich im Lauf der Zeit fogar aus der Petersfirche in Nom eine ganz nette und nicht mehr 
fo unangenehm leer wirkende Pfarr- oder Wallfahrtsfirche „Für Gmüat” machen. 
Rojenheim. Sojef Hofmiller. 


Reuerfcheinungen 


IL: Kuno Frandes „Kulturwerte der deutfchen Literatur” wurde unlängft an diejer Stelle 
(Heft 3, ©. 247) hingewiefen, da der von der Reformation bi3 zur Aufklärung reichende 
9. Band eben erfchienen war, und fchon darf ich mit Genugtuung verzeichnen, daß Der erite, 
der das Mittelalter umfaßt, in 2. Auflage herausgefommen ift (Berlin, Weidmann). Strandes 
ungemeines Berdienft um das geiftige Deutjchland hat inzwijchen durch feine Berufung in 
die deutfche Akademie endlich auch äußere Anerkennung gefunden. ch fann nur wiederholen: 
diefe Literatur- und Kulturgefchichte des deutfchen Volfes ift eines der felbjtändigiten, horizont- 
mweiteften und förderndften, die mir befannt find. Sch Iefe darin lieber al3 in jedem andern 
Werf diefer Art. &8 ift nicht nur wiffenfchaftlich durchdacht und aufgebaut (der Verfajjer hat 
den Lehrjtuhl für deutfche Literatur an der Hartward-Univerjität Cambridge in Mafjadjufetts 
inne), e8 ift von Fünftlerifcher Wärme durchpulft und eignet fich Hervorragend für die Bücheret 
ieded Gebildeten. 

Sine „Gejchichte der deutjchen Dichtung” in dem Fnappen Umfange von nur 130 ©eiten 
zu geben verfucht Profeffor Friedrich non der Leyen (Münden, 3. Brudmann; geh. 4, 
geb. 5, Leinen 6M.). Diefer Abrif ift ein Verfuch: nachdem die Darftellung der Deutjhen 
Literatur immer mehr zerfällt und die Gelehrten nicht mehr den Mut aufzubringen jcheinen, 
da8 Ganze darzuftellen, wollte von der Leyen zeigen, daß eine joldhe Gejamtdarjtellung 
durch einen einzigen noch fehr gut möglich ift, und fein Verfuch ift aufs erftemal gelungen. 
Wer den Abrig aufmerkffam lieft, fühlt fich auf jeder Seite angeregt, teild durch die Kunft, 
das Wefentliche herauszuheben, teil® durch Hinmweife, Beziehungen, Ausblide, deren un- 
aufdringliche Einfügung genau an der gegebenen Stelle man dejto bejjer würdigen wird, 
je mehr man vom Gegenftande felbjt weiß. Für die ficher bald zu erwartende neue Auflage 
bitten wir um Berfonen- ımd Sachregifter. Gleichzeitig erjchien in der ausgezeichneten 
Sammlung „Wilfenichhaft und Bildung“ des Verlags Duelle & Mehyer von der Leyens 
„Märchen“ in 3. Auflage: über Urfprünge und Gefchichte des Märchens aller Zeiten und 
Bölfer anerfanntermaßen das Belte. 

Rojenheim. Sofef Hofmiller. 





\ Redaktionell abgeschlossen am 18. August 1926. 
Verantwortlicher Herausgeber: Paul Nikolaus Cossmann in München. — Druck- und Buchbinderarbeiten: 
R. Oldenbourg, München. — Papier: Bohnenberger & Cie., Niefern bei Pforzheim. 








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Jeder gebildete Deutsche sollte diese wich- 
tige, hochaktuelle Schrift lesen. Näherer 
Bericht im Textteil dieser Nummer. 


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Versicherungseinrichtungen und Bedingungen und weitgehende Berücksichtigung der beson- 
deren Bedürfnisse jedes einzelnen Versicherten haben den Bayerischen Versicherungs- 
banken in den mehr als 90 Jahren ihres Bestehens das Ansehen verschafft, das sie heute in 
der deutschen Privatversicherung und im deutschen Wirtschaftsleben überhaupt genießen. 
Die sparsame Geschäftsführung in Verbindung mit den hohen Garantiemitteln der Banken 
bieten allen Versicherten unbedingte Sicherheit für die Erfüllung der übernommenen Ver- 
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Zielbewußt haben die Bayerischen Versicherungsbanken den Wiederaufbau des durch die 
Inflation vernichteten Geschäftes in der kurzen Zeit seit der Stabilisierung der Währung durch- 
geführt, und es ist ihnen im Jahre 1925 trotz der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse 
gelungen, die Ergebnisse des Jahres 1924 wesentlich zu überholen. So beträgt z. B. in der 
Lebensversicherung der Antragszugang rd. 70°, mehr als im Vorjahr. Die geschäftlichen 
Beziehungen zu zahlreichen Vereinen und Verbänden der Industrie, des Handels und der Land- 
wirtschaft beweisen das große Vertrauen, dessen sich die Bayerischen Versicherungsbanken 
in allen Bevölkerungskreisen erfreuen. 

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den gebildeten deutschen Mittelstand erfreuen sich deswegen einer so großen Bebliebtheit, 
weil sie mit größtmöglicher Billigkeit die Tendenz verfolgen, aus dem Besuche des Auslandes so 

‚ viel Nutzen für eine Erweiterung des Gesichtskreises zu ziehen, als sich mit dem Charakter 
einer Erholungsreise verbinden läßt. Hauptsächlich ist durch die Auswahl der als Führer in 
Frage kommenden Herren und durch die erfahrungsgemäß sehr angenehme Zusammensetzung 
der einzelnen kleinen Gruppen (höchstens 30) eine Gewähr gegen schematischen Gesellschafts- 
reisebetrieb gegeben und ein gewisses hohes Niveau der Veranstaltungen sichergestellt. Die 
Reisen finden regelmäßig während des ganzen Sommers statt und führen nach Dänemark, 

. Schweden, Norwegen und Finnland. Prospekte und alles Nähere durch die Nordische Gesell- 
schaft, Lübeck, Schüsselbuden 2. 


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Zede gewünfchte Auskunft erteilen die Direktionen d. Banken in München, £udwigflr.12, 
fowie alle ihre Sefchäftsftellen und Vertreter. 





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Das Werk „Die Familienärztin‘“ von Dr. Beda Müller (Süddeutsches Verlags-Institut, 
München) ist in neuer Auflage erschienen. Es bedarf nach den vielen günstigen Urteilen 
über Inhalt und Ausstattung von Ärzten der verschiedensten Richtungen wie nach seiner 
Bewährung kaum noch einer Empfehlung. Nur auf den sittlich hochstehenden Geist, aus dem 
heraus es geschrieben ist, darf wiederum verwiesen werden. Es ist der Frau als der Hüterin 
der Familie gewidmet. Wie hoch diese Aufgabe ist und wie notwendig für uns ihre Erfüllung 
gerade heute, das mag auch dem Manne aus diesem Werke der Praxis klar werden. 

Die Frage über die Einführung allgemeiner Hochschulbildung für die Volksschullehrer wird 
allmählich der parlamentarischen, d. h. der gesetzgeberischien Entscheidung zugedrängt. Da 
ist eine kleine, sachliche, zu einem ablehnenden Standpunkt gelangende Schrift ‚Zur Ausbildung 
der Volksschullehrer‘ von A. Beißhardt (im Richard Bauer Verlag, Leipzig) besonderer Beach- 


tung wert. 


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durch die Literatur aller Zeiten und Völker: Aufsehenerregend in seiner umwälzenden 

Methode, unentbehrlich für Lehrende und Lernende, ist das in Lieferungen neu er- 

scheinende „Handbuch der Literaturwissenschaft‘“, herausgegeben in Verbin- 
dung mit ausgezeichneten Universitätsprofessoren 


- von Professor Dr. Oskar Walzel-Bonn. Mit etwa 
’ ern in Doppeltondruck und vielen Tafeln z. T. in Vier- f ,— m a 
farbendruck. Gegen monatliche Zahlung von nur 


Urteile der Presse: „Das unentbehrliche Handbuch für jeden Gebildeten“ (Essener Allg. Ztg.).— „Das 
wichtigste Werk der Zeit“ (Liter. Jahresbericht des Dürerbundes). — „Ein gewaltiger Dienst am Volksganzen 
wird geleistet‘ (Deutsche Allgemeine Zeitung). — „Ein großer Plan, frisch, lebendig und verheißungsvoll“ 
(Königsberger Allg. Ztg.). — „Eine monumentale Geschichte der Dichtung‘ (Vossische Zeitung). 
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Es ist eine helle Freude in diesem Buch zu blättern, das in wundervollen 
Abbildungen eine der schönsten deutschen Landschaften mit ihrem Volks- 
leben und ihrer Architektur aufgefangen hat, Abbildungen von einer Voll- 
endung wie sie nur die besten Reisewerke aufweisen. Jedem Freunde 
deutscher Landschaft, jedem Wanderlustigen, der weiß, daß er erst 
die Heimat kennen sollte, ehe er über ihre Grenzen hinausgeht, sei dies 
köstliche Werk empfohlen. (Der Aufbau, Lübeck.) 


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Der Weg zur Freiheit 

Halbmonatsfchriftd. Arbeitsausfchuffes Deutfcher Verbände, Berlin i 
Feitfchrift für Außenpolitif 

Herausgeber: Dr. Heinrich Schnee und Hans Draeger 





Die Zeitfchrift behandelt alle mit dem Diktat von Derfailles zufammenhängenden 
außenpolitifchen Sragen, u. a, 


die Kriegsfchulöfenge 
die Reparationsfrage 
die Sicherheitsftage 
die Abrüftungsfrage 
die Minderheitenfrage 
die Kriegsgreuelftage 
die Kolonialfrage 


Dom 1. Juni ab wird die Zeitfcheift nur noch; Im Abonnement abgegeben. Der Preis 
beträgt für die Einzelnummer 0,60 AM., im Monatsabonn. (2 Nummern) ,— AM. 
Beftellungen find zu richten an den Acheitsausfhuß Deutfcher Derbände, Berlin 
ID 7, Schadotoftr. 2, für Süödeutfchland aud; an deffen Gefchäftsftelle in Mündjen £, 
330 1, Bayerfteaße 43. Abonnementsbeträge fonnen übertviefen werden auf das Poft- 
(chedtonto: Arbeitsausfhuß Deutfcher Derbände, „Deg zur Freiheit’, Berlin 39985. 


die Dölferbundfrage | 
- Die Zeitfeheift unterrichtet ferner fortlaufend über die Stellung des Muslandes in # 
diefen Sragen. 


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aus Deutschlands heutiger furchtbarer Willenlosigkeit, Stumpf- 
heit und Unwissenheit muß daß Buch 

DIE DEUTSCHEN TRÄUMER von P. N. Cossmann und K. A, v. Müller 
Warum, das können Josef ‘Hofmillers Worte auf Seite 286 
dieses Heftes zeigen! 

Das Werk von 264 Seiten Umfang kostet M. 2.50, in Halbleinen 
M. 3.50 und ist in jeder Buchhandlung zu haben. Buchverlag 
der Süddeutschen Monatshefte, München, Amalienstraße 6, 




























Neue Bücher 


13° grauen Bücher. Eine Bücherreihe des Stahlhelm-Verlags (Magdeburg), schon 
durch den Zeitpunkt ihres Erscheinens glücklich zu nennen, mehr aber noch durch die hohe 
Erfüllung ihres Inhalts, des Kriegserlebnisses, das hier jene aus echtem Menschtum zu wahrem 
Nationalismus führende Vertiefung erfährt. Da ist „Feuer und Blut“, ein Ausschnitt 
aus der deutschen Angriffsschlacht. Ernst Jünger ist es wahrhaft gelungen, in hinreißender 
Schilderung die Schlacht als Organismus eines Übergeordneten, des Schicksals, zu fassen, 
als unheimlich bestimmt durch führenden Verstand und unberechenbaren Instinkt, durch 
Geist und Leben, durch Feuer und Blut. — „Der Gefreite“ von Friedrich Freksa gibt 
in feiner, schlichter Form das Schicksal eines Einsamen und Stillen inmitten fremd gewordener 
Heimat, der schließlich still und ohne Befehl sein Leben hingibt für einen Toten. — „Von 
der Seele des Kriegsfreiwilligen‘ nennt Adolf Delbanco einundzwanzig Skizzen, die 
nichts in sich haben von dem halb ästhetischen Kitzel satten, überfeinerten Bürgertums 
am Kriegserlebnis, sondern nur vom Kriege sagen, ‚‚wie wir Freiwilligen durch ihn wurden“, 
— Neben dieser prächtig begonnenen Reihe der Grauen Bücher schenkt der Stahlhelm- 
Verlag allen, die den grauen Rock getragen, und noch vielen anderen „Schwere Brocken“, 
3000 Worte Front-Deutsch. Ein rauhes, aber herzliches Wörterbuch, herausgegeben von 
S. Graff und W. Bormann und ebenso urwüchsig mit Bildern und Initialen versehen von 
Eduard Thöny. Es ist so ziemlich alles darin, und manches ganz Schwierige sogar erklärt, so 
daß auch der Philologe dran seine kleine Extra-Freude haben kann. 


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Sehen und Erkennen. Von Paul Brandt (Alfred Kröner-Verlag, Leipzig. In Ganz- 
leinen M. 18). Die sechste Auflage des an dieser Stelle schon mehrmals gewürdigten Werks 
tritt ihren Gang im festlichen Schmuck der Farbtafeln an, einer neuen Bereicherung der | 
immer schon so vornehmen Ausstattung. Die Schwarzweiß-Bilder sind um 75 vermehrt. 
Diese Vermehrung kommt besonders dem Abschnitt über die deutsche Holz- und Steinplastik 
zugute. Das Kapitel von der deutschen Madonna wurde ergänzt und umgruppiert. Fast 


ganz unberührt geblieben ist der letzte, sich mit den modernsten Spielarten auseinander- 
setzende Teil. 


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Die zehnte Muse, das bekannte Kabaret- und Vortragsbuch (Verlag Otto Elsner, Berlin) 
ist in ganz neuer Form von Richard Zoozmann herausgegeben, Man kann sagen, es hat 
dadurch an Wert gewonnen und ist in vielem erfreulicher geworden. 


Das Koloniale Jahrbuch 1926, herausgegeben vom Deutschen Kolonialverein (Verlag 
Brücke zur Heimat, Berlin) zeigt wiederum den gewohnt reichen Inhalt an weltpolitischen, 
wirtschaftlichen und kulturellen Aufsätzen und guten Aufnahmen. Bei seinem billigen Preis 
ist es das volkstümliche, auch für die Jungmannschaft geeignete Kolonialbuch. 


Almanach S. Fischer-Verlag (Berlin). Eine Sammlung charakteristischer, abgeschlos- 
ı -sener Stücke aus den reichen Neuerscheinungen des Verlags, mit 16 ganzseitigen Abbildungen. 


‚Der Todesweg des Zaren. Von Sokoloff. Verlag für Politik u. Wirtschaft, Berlin. 
' Über diese grundlegende Arbeit des russischen Untersuchungsrichters hat gleich nach Er- 
, scheinen der französischen Urausgabe im Heft ‚‚Der Bosch‘ (September 1924) W. v. Blücher 
‚in dem Aufsatz ‚„‚Die Rolle der Deutschen in der Zaren-Tragödie‘ sich eingehend und kritisch 
geäußert. Die dort gegebenen Berichtigungen zu den politischen Schlußforderungen Soko- 
| loffs sind bei der Lesung der deutschen Ausgabe höchst notwendig. 





| Eindrücke in England von Rudolf Kapp und Nordlandfahrt von Siegfried Leffler 
| aus dem jungen, rührigen Verlag der Bärenreiter, Augsburg, sind zwei schöne, wertvolle 
' Früchte jungdeutschen, besinnlichen Wanderns von heute. Das erstere gibt sehr beachtliche, 
| kritische Beobachtungen aus jüngster Zeit, das Nordlandbüchlein, mit hübschen Bildern, 
| läßt die Menschen in ihrer Landschaft erleben. PH: 


| Kreuzerfahrten. Bilder von unserer Reichsmarine. Von Kapitänleutnant Fritz Otto 
' Busch. Verlag E. Haberland, Leipzig. Ein Frontoffizier schildert in kleinen, zusammen- 
' hanglosen Skizzen ein Dienstjahr an Bord des Kreuzers ‚Hamburg‘: Fahrten in Nord- und 
| Ostsee, Helgoland und Hamburg, Artillerie- und Torpedoschießen, Sommerreise nach Nor- 
| wegen, Regatta, Kohlen- und Werftliegezeit, Ein anschauliches Bild von der Arbeit der 
‘heutigen Reichsmarine. 


JOSEF HOFMILLER 


Versuche 
Nietzsches Testament — Nietzsche und 
Rohde — Der Heilige - Catarina von 
Siena - Emerson —- Thoreau — Maeter- 
linck — Die Briefe des Abbe Galiani. 
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eines deutschen 
Seeoffiziers 


| 373 S. mit 111 Abb. und 9 Kartenskizzen 
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Zeitgenossen 
Hauptmann — Wedekind — Ibsen — 
Wilhelm Bush — ‚Pontoppidan — 
Widmann — Ruederer — Bartsh — 
Hofmannsthal — Schröder. 
Brosch. Mk. 2.—- 


Diese Neuerscheinung gehört zum Besten, 
was über den Krieg, insonderheit über den 
Seekrieg, geschrieben worden ist. Der Ver- 
deser hal die Kriegszeit in durchweg her- 
vorragenden Kommandostellen verbracht. 
Seine Schilderungen über die Zerrissenheit 
der obersten Kriegsleitung, über die Weich- 
heit der Auffassung, den Mangei an Ent- 
schlußkraft bei allen Fragen, die den See- 
krieg betreffen, wirkt erschütternd. 


rag Ahr im 
«Deutschen Offiziersblatt», Berlin) 





















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Heft ist unsere Schrift 






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Die Seele des Südseeinsula- und Deutschlands 
ners schildert dieses neue 

reich illustrierte Kolonial- 

werk des letzten deutschen Zukunft 

Gouverneurs von Samoa, 


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Soeben erschien Band V, Heft 5 
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Paul Ritterbusch: I Julius Krämer: 

Staat und Minderheitenrecht | Das Deutschtum in Galizien 
Theodor Rudolph: | Friedrich Säckel: 

Freie Stadt Danzig | Nordschleswig 






BernhardFürstenau: ı Rudolf Schulze: 
sterreich und das Deutsche Die Deutschen Minderheiten in der 
Reich Sowjetunion 


AUS DER RUNDSCHAU: 
Hans Maier: 


Zahl u. Verbreitung der Deutschen | Ernst Schmidt: In Rumäni 
im Ausland (mit Karte) | Das Deutschtum in Rumänien 


BÜCHERSCHAU 


Preis: Vierteljährlich Mk. 2.25; Einzelheft Mk. 1.— 


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Alleinige Anzeigenannahme: Ala Anzeigen-Aktiengesellschaft In Interessengemeinschaft mit Haasenstein & VoglerA.-G, 

und Daube& Co. G.m.b.H. München, Karlsplatz 8, Augsburg, Berlin, Bremen, Breslau, Cassel, Chemnitz, Dortmund, 

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I „Diefes Buch wird mit Reht Epoche machen... Kers $ - a 
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" Sremdenlegion gefchrieben; fo ftarf und ehrlich dem eingeätzten Zeichen: 
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Fäufte Ballen lafen werden. Jeden Deutfhen? | Optische Werke A.-6. Optische Industrie 
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Neerinte Übersicht über die verfassungsrechtlichen Teile des deutschen Staatsrechts 
der Gegenwart); Bergmann, Einführung in die Philosophie, 2 Bände (ein beachtenswerter 
Versuch, der Paulsenschen Einleitung in die Philosophie von 1892 ein modernes Seitenstück 
zu schaffen); Brubz, Holländische Philosophie (eine zusammenfassende Darstellung, deren 
Mittelpunkte die mittelalterliche flämische Mystik und der Kartesianismus des 17. Jahr- 
hunderts bilden); Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart; Koellreuter, Die politischen 
Parteien im modernen Staate; Waldmann, Französische Maler des 19. Jahrhunderts; Unger, 
Sumerische und akkadische Kunst; Schlesinger, Das bolschewistische Rußland (ein Über- 
blick über das mit der Neuredaktion der Russischen Landesverfassung vom 11. Mai 1925 einst- 
weilen zum Abschluß gelangte Verfassungsrecht des Sowjetstaates und seine Grundlagen. 
Wertvoll ist der Anhang, der die Verfassungsgesetze im Wortlaut mitteilt. Die Leser unseres 
Juliheftes „Entwicklung des Bolschewismus‘‘ werden dem Band, der viel unbekanntes Material 
enthält, besonderes Interesse entgegenbringen.) 


Neue Bändchen der Sammlung „Wissen und Wirken‘ (G. Braun, Karlsruhe): Wie- 
leitner, Die Geburt der modernen Mathematik. I. Die analytische Geometrie, 11. Die In- 
finitesimalrechnung; diese zwei Bändchen gehören zu den besten Leistungen volkstümlicher 
Wissenschaft in Deutschland. M. Müller, Die französische Philosophie der Gegenwart, eine in- 
teressante Antithesezwischen der verstandesfeindlichen, auf die Betonung desFreiheitsgedankens 
zugeschnittenen Richtung, die in Bergson gipfelt, und der Schule des starren Determinismus 
und Mechanismus eines Le Dantec. 


In der Sammlung von Frommanns Philosophischen Taschenbüchern wird eine neue Gruppe, 
Deutsches Volkstum, eröffnet. Die ersten Bändchen behandeln: Deutsches Volkstum 
von Tacitus bis Luther (Jos. Spamer); Deutsches Volkstum im Zeitalter der Aufklärung 
(Karl Pagel); Deutscher Volksgeist in der Zeit des Idealismus und der Romantik (Hans Thimme); 
Deutscher Nationalstaat im Zeitalter Bismarcks (W. Michael); Die deutschen Stämme (Josef 
Nadler). Die billigen Bändchen geben brauchbare Zusammenstellungen der wichtigsten zeit- 
genössischen Texte und werden sich bei ihrem billigen Preise rasch einführen. 








WII ISIWIITEGIEIWWE IT DIES 


Politische Wochenschrift 
für Bolfstum und Staat 


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Weise mit der Verfassung des heutigen Rußland bekannt 


Eine Sammlung Heilige und Helden des Mittelalters gibt Wolfram von den Steinen 
bei Ferd. Hirt in Breslau heraus. Die ersten Bände, nach Inhalt und Ausstattung muster- 
gültig, enthalten: Franziskus und Dominikus, Leben und Schriften; Bernhard von Clairvaux, 
Leben und Briefe; Dante, Die Monarchie. 


Gleichzeitig erscheint der zweite Band des von Friedrich Wolters herausgegebenen Lese- 
werks Der Deutsche unter dem Titel: Sicht in Vorzeit und Mittelalter (Ferd. Hirt, 
Breslau). Er führt, wie der erste an Hand von ausgewählten Quellen, in die germanische 
Vorzeit, die Entfaltung von Christentum und Kirche, die Idee des weltlichen Reichs und den 
Geist der christlichen Kunst ein. 


Friedrich Wolters, Der Donauübergang und der Einbruch in Serbien durch das IV. Re- 
servekorps im Herbst 1915. Ein Erinnerungsbuch aus dem Weltkrieg, das Anordnung, 
Verlauf und Leistung einer modernen Kriegshandlung einprägsam vor Augen rückt. 


Eine dankenswerte Neuausgabe von F.A. Langes Geschichte des Materialismus 
legt Heinrich Schmidt, Jena, im Verlag A. Kröner, Leipzig, vor. Das Werk hat in dem 
Streit um den Materialismus, der seit Moleschotts Kreislauf des Lebens (1852) und L. Büch- 
ners Kraft und Stoff (1855) tobte, eine bedeutsame Rolle gespielt und bildet eine unentbehr- 


“ liche Grundlage für jeden, der dem Gegenstande wissenschaftlich nahetreten will. 


Zu den verschiedenen belletristischen Bücherreihen, die in den letzten Jahren begonnen 
wurden, gesellt sich, nach Inhalt und Ausstattung wettbewerbsfähig, die bei Koehler und Ame- 
lang, Leipzig, erscheinende Sammlung ‚Amelangs Taschenbücherei‘. Die ersten Bände 
bringen Märchen und Legenden von Gertrud Busch, Novellen von Oskar Jellinek, Franz Adam 
Beyerlein, Bartsch, Charlotte Niese u. a., Albrecht Schaeffers Komödie ‚Der verlorene Sohn‘, 
Julius Kühns schon in 5. Auflage verbreitetes, nun erweitertes Thüringer Skizzenbuch u. a. 
Preis M.3, für Doppelbände M. 4. 


Waldemar Bonsels, Die Mundharmonika. Eine Reihe von Lebenserinnerungen, Ge- 
stalten und Bildern, in den letzten 10 Jahren entstanden. (Koehler & Amelang, Leipzig.) 
Das in seiner Schlichtheit köstliche Buch dürfte ähnliche Verbreitung finden wie ‚Die Biene 
Maja“ und ‚Indienfahrt‘“. 


DAS 
BOLSCHEWISTISCHE 
RUSSLAND 


_ ‚Erwin Roien 
sn der Hremdenlegion 


Große Ausgabe geh. Am. 5.50, Halbleinen 


von | geb. Nm. 7.—, 33. Auflage. Billige Jugend» 

und Bolfsausgabe, 26. Auflage, Im, 2,80, 

DR. M. - SCHLESINGER = Südd Monatshefte:... Es it ungefhminktes, wilde 8 

Kammergerichtsrat in Berlin Leben in diefen Blättern der fpannendften und eigenartigften 
x der jüngften Memoiren-Literatur, 

" 3 R = rof. Dr. BrunnerinderMordd. Allg. Zeitung 

Aus 5! edermannsBücherei'. 1926. “ . Das befte Bud) über die Fremdenlegion von literarifchem. 


; i j i Wert ift das von Erwin Nofen. Mit padender Anfhaulicpkeit 
112 Seiten. In Halbleinwand R.M. 3.50. > und gerade deshalb mit abıchresfender Wirkung wird hier das 


Leben und Treiben in der Frempdenlegion gefhildert. Das Bud) 
ift fo gewandt gejchrieben, daß es zugleich anziehend durd) die 
Das vorliegende Bändden will in gemeinverständlicher 3 fpannende Darftellung abenteuerlihen Erlebens und abftogend 
8 durd die Enthüllung all der Scheußlichkeiten, die jeder dort 
ndet, wirken muß. 
machen. Es verräf den Kenner. Gemeinverständlicdh heißt : rudeh, Ü Von einer 


im vorliegenden Falle einmal nicıt oberflählich. Der Ver- 


ässer verspricht im Vorwort Objektivität. Wo wäre sie un- = 
denn im russischen Staatsredit | Das Versprechen = Zodihande der Zranzoien 
‚wird in bewunderungswürdiger Konsequenz gehalten. Das e Diefe {berfchrift trägt ein Kapitel in Gemein 
Buch ist klar und flüssig geschrieben. Es ist als Einführung Er Nofens neuem Buch; Allen Gewaltenz. Troß, 
‚ in die Probleme des Verfassungsredhtes des, Sowjetstaates = Lebenskänpfe, Niederlagen, Arbeitsfiege, 
jedem zu empfehlen. Auch der Eingeweihte wird es mit . 12. MN ufl, Geh. Nm. 5.50, HalbleinenXfm.7,.2 
Nutzen lesen, er wird manche feine Bemerkung darin finden. x Hierin beihäftigt fih der Verfafer mit der franz. Fremden- 
Dr. Heinrich Freund, Berlin. | Tegion im Anflug an feine Erlebniffe. (Siehe oben). 


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23. Jahrgang September 1928 


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im Ausland bleiben in enger Verbindung mit ihrer Heimat und 
erhalten ein umfassendes, zuverlässiges Bild der dortigen politischen, 
wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse durch die 


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des Schwäbischen Merkur 


Der seit 1785 in Stuttgart erscheinende Merkur ist bekannt als das 
Blatt der Schwahen, er hat im ganzen Lande seine eigenen Bericht- 
erstatter, und die führenden Männer Württembergs nehmen in ihm‘ 
Stellung zu allen schwäbischen Angelegenheiten 











Man bestellt bei der 
Vertriebsabteilung des Schwäbischen Merkur in Stuttgart 












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geistiger Standpunkt und umfassende Kenntnis aller historischen, 
soziologischen und mechanischen Triebkräfte des Weltgeschehens 
nicht minder als ihre echte Vaterlandsliebe und ihr im besten 
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| Die französische Fremdenlegion (Südd. BRETT, 23. Jahrg., Heft 12) 














} PR RERREITTETTTTETERITITTRTRTTERLLTLT EN areas guuonniasadenean FREKESSEEEITSENSEETIIIERNEEN EEIIIKERIXKEINENINTIEITEN EETEEIEIIIKEEIET ebene ıee n ELFRIEDE 
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Süddeuische Monatshefte 


September 1926 
Die französische Fremdenlegion 











































Seite Seite 
Fremdes Blut für Frankreich. Von Oberst Die Kriegsschauplätze der Legion. Von 
Ludwig von Oertzen in Berlin .......... 383 Generalmajor a.D. Dr.Karl Haushofer, Prof. 
: ar: RL d. Geographie an der Universität München 411 
Die Fremdenlegion in der französischen Mi Lericnin vn Marokk 
Kolonialpolitik. Von Rittmeister a. D. it der Legion in Syrien und Marokko, 
Wilhelm von Trotha in Halensee ........ 384 | Selberlebtes von Alfred Lorensen, ehem. 
Legionär, in Berlin 3 ass 416 
Ersatz und Werbeverfahren. Von Oberst Das Strafsystem. Von Major a. D. Hans 
a. D..Max Blümner Am-Berlin- Wilmersdorf 391 | Fell in'Berlin 7 SF 418 
Die Legion im Dienst. Von Major a. D. Die Verschleppung von Kriegsgefange- 
Hans W. Fell, Schriftleiter des Berliner ı  nenin die Fremdenlegion. Von Oberst 
Lokalanzeigers in Berlin ................ 406) a.D. Max Blümner in Berlin-Wilmersdorf 422 
Wissenschaftliche Rundschau Clausewitz als Richter. Von Oberstl. a.D. Heinrich 


Heide in München’. 5. 5 2 es 435 | 


Neue Aufgaben der Ägyptologie. Von Friedrich Wil- Erwins Rosens Kampf gegen die Fremdenlegion .. 435. 


helm Frh. v. Bissing im Haag, Professor für, Ägypto- 











Aus anderen Zeitschriften . 2.2.00. | 
logie und orientalische Altertumskunde an der ee pl. > ) 
Rüksuniversität Utrecht 5.5. Fr near 426 Tagebuch | 

Aus Zeit und Geschichte | Deutsche Landsknechte. Von Erich Brock in Freiburg | 
Die Negerfrage In den Vereinigten Staaten. Von Erich Br... 30% ara: 20 Da Be 437 
Bröck3t FreWurgLBr. 0. ee De 429 | Eine Ehrentafel des deutschen Adels. Von Hptm.a.D. | 
Die Politik Kaiser Karls. Von Dr. Otto Graf zu Stol- | Walter Schenk in München . ... 2 2 2 22... 437 
berg-Wernigerode in Berlin - . . - 2 2.22... 433 | Reisebrief aus Kärnten. Von Dr. Arthur Hübscher in 
Ein Jahrbuch für Seeinteressen. Von Oberstit. a.D. | _, München .. .....=7 a SEE 438 
Heinrich Heidein München . . .. 2.2... «- 434 | Die Schilljugend. Von Jupp Hoven in Waren (Müritz) 440 
Ein Engländer über Tirpitz . .. . 2» 2220... .. 435 | Gedanken -—% 377 u. Kap Tee BEER 440 
Der deutsche Erzähler 
Der Fährmann. Novelle von Paul Berglar-Schröer.......u2u2onseeeeenaeenuneenen onen 441 
Mamynha. Wiener Zeitroman von Eduard Paul Danszky (VII und Schluß) su DE 7 ee 446 
Der Bamberger Dom. Von Dr. Josef Hofmiller in Rosenheim .........uecoononnnnnun 00. 460 
Neuerscheinungen. Von Dr. Josef Hofmiller in Rosenheim »...:..22222200e oo oem nun 462 





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Verlagsleitung: München, Amalienstraße 6 | Erscheinungstag 1. September 1926 
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Berg? 


Dir haben 2 Millionen Arbeitslofe, 1 Million Rurzarbeiter, erfchredenden Geburteneüdgang und trogdem mangeln- |‘ 
den Eebensraum, wir fehen viele der beften Kräfte fi in Parteijader verzehren, während der Druf von außen 
immer unerträglicher wird. Mir fehen, wie Deutfchland vor den Augen der Melt fhulöbeladen bleiben [oll, wir fehen 
aus dem vorliegenden Heft, wie es mit feinem Blut zahlen foll fort und fort... Ift da die Jortfeung der jahrzefnte- 
langen Rampfarbeit der Jüödeutfchen Monatshefte überflüffig geworden? Diefe Stage an unfere Lefer zu richten, 
fheint ung unnötig. Dagegen die: Ift die weitere Ausbreitung unferer Arbeit heute erft recht wichtig? Jeden unferer 
gelreuen Mittampfer, der mit Ja antwortet, fordern wir dann auf, mitzußelfen am Werk und uns jett, zum beginnen“ 
den neuen Jahrgang, einen neuen Bezieher zu melden! Zu zeigen, wie und was die 3. M. find, Verfteht jeder alte a 
von felbft. Trogdem mörhten wir vorfchlagen, dabei gleich; das zu beachten, was wir auf 3.1X diefer Nummer über | 
den weiteren Ausbau der Zeitfchrift fagen. dur Zeiterfparnis empfehlen wir die beiliegende Rarte an ung zu richten. 


Mit deutfchem Gruß 
Die Suddeutfchen Monatshefte. 





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Deutfchland 
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erfährt im Oktober 1926 beginnenden XXIV. Jahrgang der S.M. einen weiteren 
Ausbau nach Umfang und Inhalt. 


Cine befondere Pflege wird dag Gebiet der Autobiographie erfahren: 


Aus der Dorgefchichte von Bismards Sturz 


Unveröffentlichtes aus dem Nadjlaß des Hofpredigers Stöder 


Ein fpannendes Stüd deutfcher Zeitgefhihte — die auf Bismards Sturz gerichteten Beftrebungen 
der hriftlih-fozialen Partei — wird hier zum erftenmalauf rund der wichtigften, bisher unerfchloffenen 
Quelle, des Rachlaffes von Adolf Stöder, mit vielen unbefannten Briefen des ftreitbaren Hofpredigers 
dargeftelft. Wertvoll niht nur für die ältere Generation, die jene entfcheidende Zeit der neueffen 
Sefhichte miterlebt hat, fondern aud) für eine Jugend, die die Sehler der Bergangenheit fennen lernen 
will, um eine beffere Zufunft zu geffalten. 


Im Ofttoberheft beginnt: 
Die Erinnerungen von Bismards Anwalt 


Ausdemlacjlaß des verftorbenen Iuftizeatsgerdinand Philipp 

erftmals mitgeteilt durch Dr. Max Philipp 
Rad) den zahlreihen Veröffentlihungen, ingbefondere des Bismardjahres 1915, 
wurde wohl vielfach angenommen, daß wichtige neue Quellen der Erfenntnis von 
Sigmards Leben und Geftalten nicht mehr erfchloffen werden fönnten. Als tiber- 
rafchung daher und als wertvolle Klärung für die weiteften reife des deutfchen Volfeg 
erfheinen nunmehr mit Beginn des neuen Jahrgangs desdeutfhenGEr- 
zählerg die Erinnerungen von Bismarde fangjährigem Rechtebeiftand. Sie find 
um fo wertpolfer, als fie ohne jede politifhe Tendenz unm ittelbar nad) den 
Zufammenfünften mit dem großen Kanzler niedergefchrieben wurden. Eine ganz be- 
fondere Bedeutung haben diefe Aufzeihnungen für den Sefhichtsfreund; denn fie ent- 
halten die frühefte auf Bigmard unmitttelbar zurüdgehende 
Darftellung der Entlafjung. 


Serhard Hufama-Kıcop 
Autobiographifche Aufzeichnungen 


aus dem Nachlaß des 1913 verfforbenen Romandichters, des Verfaffers der pfohologifh-fatirifien 
Werke Gebald Soefer, Die Hohmögenden u.a. Die Erinnerungen ftellen die Jugendzeit big in dag 
erfte niverfitätsjahr dar und geben wertvolle Auffchläffe über Perfönlichfeit und Grundlagen des 
Schaffens diefer eigenartigen Dichtergeftalt, der dag Erbe feiner nordischen Heimat im deutfchen Süden 


zu Reife und Frucht bradite. 


Sleihfalls im Oftoberheft beginnt 


Die Flucht aus dem Miemandsland 
Aus den Aufzeichnungen des Percy Kreuzwendedidh Senton 


Roman von Lene Wend 


Die Lefer der 6. M. fennen die Verfafferin vor allem aug ihrem.von heißem Erleben 
erfüllten Leitauffaß „Auslanddeutfche im Weltfrieg“ im Heft „Uderfeedeutfche”. Welt 
weite Luft weht aud) aus ihrem neuen Romanwerf. Enfign oder Fahnenjunfer im 12. 
britifchen Suffolf Srenadier Regiment ift zufeßt der Held diefer auf einem wirflihen 
Sıhidfal beruhenden Erzählung. Bei dem Sohn einer deutfhen Generalstodhter und 
eines englifchen Rolonialoffiziers beginnt das Schidfalfchon mit der Entfremdung feiner 
Eltern, um fid) fchließlic) durch das Erwahen zu Deutfchland im Kriege und durch 
Zwang des Vaters tragifch zu erfüllen. Die Schaupläße der äußeren Handlung find bunt 
und mannigfaltig: Ebene und Berge Indiens, Kaffel und Marburg im Kriege, die 
britiihe Infel nad) dem großen Ringen. In diefem Einzelfhidfal fpiegelt fih er- 
Ihütternd die Wefensfremdheit der zwei großen Nationen England und Deutfchland. 


Mir erwarben Hervorragende größere novelliftifche Arbeiten von Dichten aus dem 
Norden und Süden der germanifchen Welt und kennzeichnen im folgenden einige davon: 


dofef Friedrich Perkonig - Philippi 


Der weit im ganzen deutfchen Sprachgebiet befannte Kärntner Dichter gibt hier die 
Zragödie eines Schülers, in wenigen Stunden eines unheilvollen Abende enthüflt 
und dem Ende zugeführt. In immer neuen !berrafchungen fteigert fich die Handlung 
von Kapitel zu Kapitel, bis zuleßt, wieder ganz Überrafhend, die Zöfung fommt, 


Meinrad Lienert - Die Füchfe 


Deite Kunft des Schweizer KHeimatdichters, fräftige, überzeugende ©eftalten im 
Rahmen der großartigen Schweizer Landidhaft. 


Henril Pontoppidan - Der Eisbär 


Perjonen und Landfchaften von feltener Einprägfamteit. Der Hauptheld eine vollendet 
plaftifhe Seftalt. Ganz große Epif, ebenbürtig den beften Zeiftungen des dänischen 
Dichters, der den Lefern der 6.M. aus friedlicheren Jahren her fein Iinbefannter ift. 


Auguft Winnig - Das Richtfeft 


Daß der Schöpfer der Grundfhrift „Der Glaube an das Proletariat“, der ehemalige 
Bauarbeiter Auguff Winnig aud) ein wahrhafter Dichter if, wiffen alle Kenner der 
wunderbar fhlihten Sefhichte feiner Kindheit, „Zrührot“. Im Richtfeft, feiner erften 
Nobelle, [henft er den Lefern der GM. ein von Föftfihftem Sumor erfülltes Stüd 
deutfhen Handwerferfebeng. 


In jedem Heft werden literarifche Neuheiten befproden dur 


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bemegfbedadhtiom das Shidfal onwadien, mit einer Tolhen 
Beftaltungstraft, daß man das Duc unbedingt lefen mund.” 
Hamburger Fremdenblatt, 


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diefes Buches tut man neun Zehntel ber Weltliteratur — wir 
fogen mit vollem Bewußtfein: ber Weltliteratur — Ihmeigend 
beifeite, weil man fie flau ober bombafife findet.” Micherfahien, 


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deutfhen SERIEN. Epenbürtiges. Büdermurm. — 
„eben und mit Tariens „Martha und Maris‘! die wunder 
harfte Gabe der Weihnantszeit.” Bonner Zeitung. 


DER MANN mır En MASKEN 
2198.80, Sch. M, 4.—, up, M. 5.50. wog unferer neuen 
Literatur kein Noman mit einem fo reihen und reinwollen Motiv... 


dem Dichter mit geradezu vollenbeter Kunft gelungen! 
Allg, Thüringer Landeszeitung. 


@.H. BECK 
VERLAG 
| MÜNCHEN 











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